HANDBOUND
AT THE
UNIVERSITY OF
TORONTO PRESS
c^
FRANZ BLEI
DAS
GROSSE
BESTIARIUM
DER MODERNEN
LITERATUR
19 2 2
ERNST ROWOHLT VERLAG
BERLIN
ES WURDEN
DREI VERSCHIEDENE AUSGABEN GEDRUCKT:
Ausgabe A: Auf van Geldern -Bütten in 30 numerierten
Exemplaren mit je 6 handkolorierten Lithographien von
Olaf Gulbransson, Thomas Theodor Heine und Rudolf
Großmann von den Künstlern und dem Verfasser signiert,
Ausgabe B: Auf Hadernpapier in 400 numerierten Exem-
plaren mit je 6 handkolorierten Lithographien von Olaf
Gulbransson, Thomas Theodor Heine und Rudolf Großmann.
Ausgabe C : Auf holzfreiem Papier ohne die Lithographien.
*
DAS "WERK WURDE IN DER
BUCHDRUCKEREI POESCHEL & TREPTE IN LEIPZIG,
DIE LITHOGRAPHIEN BEI DR. C. WOLF & SOHN IN
MÜNCHEN GEDRUCKT.
*
DIES EXEMPLAR DER AUSGABE B TRÄGT
DIE NUMMER
LG.
595080
VORWORTE
VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE
IN diesem Bestiarium habe ich, nicht abgeschreckt von
vielen Vorgängern, neuerlich den Versuch gemacht, eine
so kurze wie anschauliche und genaue Beschreibung derer
lebenden Tiere zu geben, so ans Licht der Bücherwelt zu
stellen Gott dem Herrn gefallen hat und soweit sie im Ge-
biete der deutschen Sprache wesen und unwesen. Wenn
wir Menschen Sinn- und Zweckmäßiges von Gottes Schöp-
fungen an den Geschöpfen dieser von uns beschriebenen
Fauna noch weit seltener als sonst erkennen, so sollen
wir uns und nicht dem Schöpfer daraus einen Vorhalt
machen, indem wir ja einerseits vieles sehr Sinnvolles Seines
Werkes so einsehen als auch bewundern und darum wohl
annehmen müssen, daß es auch mit dem uns sinnlos Er-
scheinenden schon eine sinnvolle Bewandtnis haben werde ;
andererseits die kurze Spanne nicht nur unseres eignen,
sondern auch des von uns überschaubaren Lebens bedenkend
nicht in Eitelkeit darauf versessen sein sollen, es habe alle
und jede Absicht Gottes uns durchaus geläufig zu sein aus
den Mitteln unseres eingeschränkten Verstandes. Und möchte
denen Zweiflern an der inneren Ordnung in der Person
Gottes auch dieses Dritte noch gesagt sein: daß es uns
nicht häretisch dünke, Gott von Seinem müh vollen Tag-
und Nachtwerke Sich ausruhend zu denken, wo Er dann
in lustiger Laune gewissermaßen solches werden lasse wie
zum Exempel unsere literarische Fauna, deren neuerliche
Beschreibung ich hier dem Hypokriten, meinem Leser,
meinem Freunde vorlege, nachdem ich mich sine ira, aber
multo studio um Art, Aussehen und Lebensweise dieser
Tiere bemüht habe, solche festzustellen. Ich glaube sagen
zu können, dai mir keines von einiger Wichtigkeit oder
Notorität entgangen ist und daß ich sie ziemlich beiein-
ander habe in diesem Käfig meines Bestiariums oder Tier-
parke, wie ich besser sage, denn in einen einzigen Käfig
alle diese Bestiae zu sperren, würde ich bei der außer-
ordentlichen Unverträglichkeit derer Tiere nur dann wagen,
wenn mir an ihrer wechselseitigen Ausrottung gelegen wäre,
womit ich aber Gott in Seine schaffende Hand zu fallen
mir anmaßte, was mir ganz fem. Sollte dennoch der Leser
in diesem Bestiarium ein oder das andere Tier vermissen,
so ist dieses entweder nur ihm oder seiner Familie bekannt
als ein Privat- oder Familientier gewissermaßen; oder ich
habe es in zwiefacher Absicht nicht erwähnt. Es gibt nämlich
eine weit verbreitete Mikrobe, den Bacillus imbecillus, der
im gemeinen Leben viele tausend Namen bekommt, aber
immer der gleiche Bacillus ist: wen er heimsucht — und
er befällt die Grobhäutigen aller Stände und Klassen —
der fühlt erst ein ihm angenehm dünkendes Kitzeln, was
mit der groben Haut zusammenhängt, dann aber verfällt
der Patient rasch der völligen Verblödung, Es ist dieser
Bacillus imbecillus also mehr ein Krankheitserreger denn
ein Tier, gehört demnach in die Bakteriologie und nicht
in ein Bestiarium. Wenn ich darin doch ein und den andern
Bacillus aufführte, so geschah es, weil ich einer weit ver-
breiteten Anschauung, daß es sich in diesen Fällen um Tiere
handle, mit meiner Auktorität entgegentreten wollte.
Ich habe fem er auch einige Tiere wissentlich ausgelassen —
sehr wenige — damit die gelehrten Rezensenten das Ver-
gnügen genießen, mir dies nachzuweisen und damit die Not-
wendigkeit ihrer Existenz wieder einmal zu erhärten.
Den Nutzen dieses kurz und bündig abgefaßten Bestiariums
wird der Tierfreund und -feind beim Durchblättern also-
gleich mit Vergnügen bemerken. Es verzichtet auf alles
übliche wortreiche und doch nichtssagende Beiwerk, wie
CS allen Naturhistorien unserer literarischen Fauna eigen-
tümlich ist, gänzlich und befleißigt sich einer Kürze von
Merksprüchen, die leicht zu behalten sind.
8
7)er ^a^r
^^.ki^
/ J
%
Wenn ich auch mit meinem verehrten Freunde Dr. Nege-
linus durchaus der Ansicht bin, solchem wie jedem andern
praktischen Nutzen würde dieses Bestiarium bald entzogen
sein und sein Wert nur mehr im Historischen liegen. Denn
es steht doch wohl allen Anzeichen nach eine terrestrische
Katastrophe nahe bevor, und es wird danach das Wenige,
das diese andere Sintflut von den meisten der jetzt noch
lebenden literarischen Tiere übriggelassen, nur mehr in
spärlichen Fragmenten in den paläontologischen Museen zu
finden sein, zumal sich gewiß kein neuer Noah wird ge-
winnen lassen, der gutmütig diesem Getier eine es rettende
Arche bauen möchte. Um so dringlicher stellte sich die
Aufgabe, unsere Tiere e vivo zu beschreiben.
Aller Kritik unserer Viecher habe ich mich enthalten, wie
man merkt. Wir müssen sie hinnehmen, wie Gott sie ge-
schaffen. Ihm allein die Ehre und die Verantwortung. Ganz
allgemein will ich nur zu einer in der letzten Zeit wieder
lebhafter gewordnen Streitfrage kurz Stellung nehmen, der
Frage, ob unsere Tiere Intelligenz besitzen oder nicht. Daß
unsere alte, ausgestorbene literarische Tierwelt Intelligenz
in hohem Maße besaß, steht außer Zweifel. Ebenso, daß sie
die heutigen Tiere mit nichten auszeichnet, von ganz wenigen
Ausnahmen abgesehen. Trotzdem hat man gerade für unsere
heutigen Tiere das sie charakterisieren sollende Wort ,,Die
Intellektuellen" erfunden. Wohl nach dem Beispiel des
canis a non canendo. Denn unsere heutigen Tiere handeln
mit wenigen Ausnahmen durchaus affektiv und gar nicht
intelligent, ja, sie setzen, wie man beobachten kann, förm-
lichen Stolz darein, ihren unklaren Gefühlen unbedacht zu
erliegen, nichts als Gefühl zu sein und gar keinen Ver-
stand zu haben, nicht einmal in ihren partikularen Ver-
richtungen. Vulgär ausgedrückt kriechen sie auf jeden Leim,
wenn es nur Leim ist und er nur geschickt gestrichen wird,
— von wem ist unsern Tieren gleichgültig. Denn gerade
das, was einige von unsern heutigen Tieren behaupten, das
tun sie gar nicht: denken. Sie sind daher gar nicht ,, In-
tellektuelle", sondern weit treffender ,, Affektionelle" oder
„Sensibilisten" zu nennen, die jeder Gelegenheit erliegen, die
sie mit ihrem Gefühle ergreifen können: daß sie ihre Ge-
fühle zuweilen Gedanken nennen, diesen Irrtum haben unsere
literarischen Tiere mit den heutigen Menschen gemein.
More eruditorum obliegt mir noch die Pflicht, denen Herren
zu danken, welche sich um dieses Bestiarium Verdienste
insofern erworben haben, als sie, gew^issermaßen Hagen-
becke der Fauna literaria, oft mit beträchtHchen Opfern an
Zeit, Geld, Geduld und Kraft unseren Tieren ihre Teil-
nahme bewiesen, sei es, daß sie sie überhaupt entdeckten,
sei es, daß sie ihnen auf ihr Leben gewissermaßen Vor-
schuß gegeben haben, sei es endlich, daß sie für die Mög-
lichkeit komfortabler Betrachtung dieser Tiere sorgten durch
Anlegen von Steigen, Reservaten, Käfigen und Behältern.
Namentlich möchte ich hier für solche nützliche Hilfe mich
bedanken zuvörderst bei dem Doyen unserer literarischen
Hagenbecke, dem ebenso um- wie einsichtigen Herrn
S. Fischer -Berlin, dem weitschichtigen Herrn G. Müller-
München, dem immer neugierigen Herrn K. Wolff-München,
dem kühnen E. Rowohlt-Berlin, dem herzlichen G. H. Meyer-
München, dem vorsichtigen A. Kippenberg-Leipzig, dem un-
entwegten G. Kiepenheuer-Potsdam, dem lebhaften P. Cas-
sirer-Berlin und dem Herrn Reiß schlechthin. Allen denen
Herren meinen Dank dafür, daß sie das ihre tun, in die
seltsamen Geschöpfe aus der mannigfach bildenden Hand
Gottes einige Ordnung zu bringen, wie wir Menschen sol-
ches in Unkenntnis der höhern göttlichen Ordnung brau-
chen in diesem Erdenleben. Bei meinem Freund, dem
Dr. Negelinus, muß ich mich noch bedanken für seinen
auf SpezialStudien gegründeten Beitrag, die Beschreibung
der Fackelkraus.
VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE
Äußere, vom Verfasser nicht änderbare Umstände ließen das
Bestiarium in seiner ersten nur für eine eingeschränkte
Leserzahl gedruckten Auflage etwas im Improvisato stecken,
10
bei dem der Ernst manchmal um den Witz zu kurz kam
und umgekehrt. Dieser kleine Schönheitsfehler ist in der
neuen vorliegenden Ausgabe beseitigt. Es ist aber noch
mehr als das getan worden. Eine Menge Zutaten, Ergän-
zungen, Feststellungen, ferner Ordnungen und generelle
Bemerkungen zum Gattungsbegriff der bestia literarica, des
weitern die Einbeziehung fremder in Deutschland dome-
sticierter Tiere wie die Beschreibung solcher, die kürzlich
bürgerlich wohl verstorben, aber literarisch noch lebendig
sind — : alles dies macht das Bestiarium zum Großen
Bestiarium und zu dem, was trotz vieler solcher Titel auf
dicken Büchern durchaus gefehlt hat: zur ersten gründ-
lichen kritischen Darstellung dessen, was man einem Sprach-
gebrauch mehr als der Sache folgend die Moderne Lite-
ratur nennt. Der wißbegierige Leser sei versichert: diese
abstrusen Kompilationen aus Geburtsdaten, Büchertiteln,
Waschzetteln und Zeitungsausschnitten, welche sich mo-
derne Literaturgeschichten nennen, weil es ihren Verfer-
tigem so beliebt, sind insgesamt ein öder Mist, jawohl,
meine Herrn Verfasser, öder Mist, wie man nur noch von
den Geschichten der altern deutschen Literatur sagen kann
mit der einzigen, aber auch grandiosen Ausnahme des
Werkes von Josef Nadler, der weder, wie sonst üblich, von
seinen Vorgängern das Schema übernimmt, noch die Ur-
teile, noch die Unkenntnis von Gegenstand und Methode.
Will einer die Geschichte der Mathematik lesen, so muß
er einigermaßen die Mathematik kennen. Das gilt auch von
der Geschichte der Literatur, so sehr sich auch alle deren
sogenannte Historiker anstrengen, mit Inhaltsangaben und
sogenannten Werturteilen ihren Lesern diese Kenntnis ganz
überflüssig erscheinen zu lassen. Der mit dem Gegenstand
nicht vertraute Leser des Großen Bestiarium wird mit
dessen Urteilen wenig anzufangen wissen, denn sie sind
weder geschmacklich, noch gefühlig, weder schöngeistig,
noch messen sie den Hinz und Kunz an einem als bekannt
angenommenen Standardwert, Goethe zum Beispiel oder
Schiller. Wer die Gegenstände dieses Traktates nicht kennt,
11
der wird den Wald vor Bäumen, die Zoologie vor Tieren
nicht sehen. Ich sagte ja schon: das Bestiarium ist die
erste kritische Darstellung der neuern Literatur, also ein
dialektisches Buch.
VORWORT ZUR DRITTEN AUFLAGE
Es ist mir ein Vergnügen, zwei Briefe mitzuteilen, die ich
nach Erscheinen der zweiten Ausgabe des Bestiarium von
zwei indignierten Belletristen oder Literatieren bekam,
weil sie nicht als Löwen, die sie doch wären, darin vor-
kamen. Der eine schreibt: ,, . . . hat mich Literatur, wenn
Dichter darunter faßbar, nur gering, denn zunächst ist
mein Dasein in dem Leben. Ich turne, radle, schwimme,
rudere, segle, steige Berg, fahre Auto, fliege Luft, boxe,
ringe, reite, skie, verführe jede Frau mit Hastenichgesehn,
spiele Tennis, Golf, Football, Baseball, Laferme, Poker,
führe überhaupt das openste aer live — ich spreche auch
englisch wie darmstädtisch — , nehme an allen Rauf- und
Liebeshändeln der Welt teil, schlage mich in allen Waffen
des Erdkreises und habe, dies auch nebenbei, zum min-
desten den Deutschen in der Erneuerung der Sprache und
der dichterischen Prosa Wege gewiesen und neue Möglich-
keiten geboten, die zu ergreifen und zu gehen nur mehr
an den Deutschen liegt, helas, worüber mir C. Sternheim
schrieb : ,Das ist Klasse ! Ist Baudelaire einfach ! Ich schüttle
Ihnen die schwielige Proletarierfaust.' Außer daß ich, wie
jeder Gentleman, diese Faust natürlich auch besitze, habe
ich dem nichts von Bedeutung hinzuzufügen."
Der andere Brief: ,, . . . Ihr unmenschliches Buch . . . ich
habe mindestens den Deutschen zum erstenmal gezeigt, was
Prosa ist. Das gabs vor mir nicht. Satz wie dieser mein
Satz: ,Sie stülpte, lag er in sie gestürzt, Begriffe und
brachte es fertig, schwächte er sie, ihn stärker zu schwä-
chen' ist einfach deutscher Sprache nicht nur erstes, son-
dern pyramidalstes Monument. Um Schweiß, mich gekostet,
weiß ich allein und C. Edschmid, der mir schreibt; ,Sie
12
haben den klassischen Stil in Deutschland.' Ich habe dem
nichts von Bedeutung hinzuzufügen."
\X'"er wollte, könnte diesen beiden den Begriff der Bedeu-
tung so schlagend definierenden Briefen noch etwas von
Bedeutung hinzufügen, ohne sich damit das Zeugnis der
lächerlichsten Bedeutungslosigkeit auszustellen?
VORWORT ZUR VIERTEN AUFLAGE
Siebentausendvierhundertfünfund vierzig Postkarten , auf
denen sich eben so viele (7445) deutsche männliche, weib-
liche, mittelstufige und geschlechtslose Schriftsteller, Belle-
tristen und Poeten entrüsten, im Bestiarium nicht ,, vorzu-
kommen", seien hiemit summarisch erwähnt, damit sie vor-
kommen. Man erstaune nicht über die hohe Zahl. Es sind
so viele Militärs und Beamte darunter, die, wie man weiß,
nach dem Kriege das Inland mit ihrer Literatur überfielen,
einerseits weil der Deutsche überhaupt so gerne schreibt,
andrerseits des Gewinnes wegen, dritterseits um ihre LTn-
schuld am Kriege zu beweisen, viertens zu versichern, daß
sie nichts als das Beste gewollt hätten. Die Unschuld, das
Beste und die Literatur blieben auch hier nicht Sieger; sie
verloren auf der ganzen Linie.
Als ich aber nochmals die große Zahl der nicht vorge«
kommenen und darüber empörten Poeten überdachte, kam
mir der naheliegende Gedanke, es einmal damit zu ver-
suchen, von der Literatur zu leben. Ich erließ eine öffent-
liche Bekanntmachung, daß jeder nicht vorgekommene
Dichter gegen Einsendung einer Reichsmark in der neuen
Auflage vorkommen werde. Ich war mit meiner Forderung
so bescheiden, um dem Vorwurf zu entgehen, daß ich die
Köpfe zu hoch einschätze. Aber dies schien doch der Fall
zu sein, denn ich bekam nur noch einige grobe Postkarten,
aber keine einzige Mark. Man kann eben von der Litera-
tur doch nicht leben. Nun soll man mich abei: kennen
lernen, sagte ich mir. Ich öffnete der "Weste meiner Ge-
nerosität sämtliche Knöpfe und stürzte mich in das Stu-
13
dium der ungenannten Verfasser, mußte es aber bald auf-
geben, systematisch dabei zu verfahren, denn diese Fülle
ging weder in ein vorhandenes noch in ein zu erdenkendes
System. Ich griff also aus der alten Hutschachtel, in
welche ich die Proteste der Ungenannten getan hatte,
heraus und ließ den Zufall walten. Man findet, was ich
fand, in jenem Kapitel des Großen Bestiarium, das über-
schrieben ist: Die großen Dichter deutscher Nation.
Ich muß noch nachtragen, daß w^ir beide, ich und der
Leser, uns für die Mithülfe einiger Freunde an diesem
Großen Bestiarium zu bedanken haben. Dr. Maturin Melas
und der Baron Albrecht Peyronnet haben einige Beiträge
für dieses Buch geschrieben — , welche, dies wird der
darauf neugierige und feinhörige Leser leicht erkennen.
Peregrin Steinhövel
[Franz Blei]
14
DAS GROSSE BESTIARIUM
X)£r^ d ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^
ALTENBERG oder auch den Peter nannte man aus un-
bekannten Gründen die seltsame Laune Gottes, der hier
ein "Wesen schuf, das nur aus einem einzigen Organe be-
stand: aus einem Auge, dem der Fliegen gleich in tausend
Fazetten zerlegt und die sichtbare Welt in kleinsten Bildern
von großer Schärfe et\(ras übersichtig auffangend. Einem
solchen seltsamen Wesen war von Natur aus nur eine kurze
Lebensdauer bestimmt. Aber gegen die Natur und die Ab-
sicht Gottes bildete dieses stolz gewordene Auge so etwas
wie einen Leib aus. Der war nun etwas schwächlich ge-
raten, wie nicht anders zu erwarten, und das Auge Peter
hatte mit ihm seine argen Molesten, die schließlich auch
dem Auge nicht gut bekamen. Das Auge Peter hatte sich
mit der Erzeugung seiner Verdauungs- und sonstigen Organe
übernommen, und es sah am Ende nichts mehr als den
prekären eigenen Mageninhalt : es spiegelte keine umgebende
Welt mehr, sondern nur die Farben seiner Exkremente.
D'ANNUNZIO. Ist er nicht des heutigen Italien Apoll, so
doch dessen Pegasus, auf dem apollinisch für eine Weile
die leichte Libelle Pascoli Platz nahm und den später dann
der Clown Marinetti zu erklettern versuchte, ärschlings
natürlich, wie es sich für den Clown gehört; doch blieben
ihm von dem Versuch nur ein paar Schweifhaare in der
Hand und auf dem Pegasus zu reiten wurde und blieb
Futurismo. Der Pegasus d'Annunzio schlug mit seinen ele-
ganten Hufen die herrlichsten, herrischesten Takte der letzten
drei Jahrzehnte, ihm darin gleich nur des Northumberland-
hirsches Swinburne Flug und Fougue. Später dann verlangte
die Zeit Probe aufs große Wort, und der Pegasus gab sie.
Er ließ sich die Hufe mit Eisen beschlagen, wirbelte damit
2 17
die Trommel und wieherte Fanfaren, Die an tönenden
"Worten reichste Zeit, die des Krieges und seines Aprfes,
machte aus dem Pegasus nicht den Tyrtaios, aber das laut-
hinwiehernde Schlachtpferd gab den hellen italienischen
Trompeten Brust, Luft und Schwung. Ein römischer Kaiser
hat sein Leibpferd zum Konsul gemacht — der Pegasus
d'Annunzio konnte es für möglich halten, daß ihn sein
Volk zum Kaiser der Adria erhebe.
ANDRIAN. Dies ist ein im Jesuitenkon vikt Kalksburg ge-
bräuchlicher Name für eine Jugendsünde, deren man sich
nur mehr bei Eintritt ins Greisenalter erinnert. In der
Zwischenzeit spricht man nicht davon.
AVENARIUS ist eine so sehr sächsische Angelegenheit, daß
sie in einer Beschreibung dieses merkwürdigen Volksstammes
glatt aufgeht. Aber diese Ethnographie ist nicht unsere Sache.
"Wie alles Sächsische hat auch das Avenarius den Ehrgeiz,
nicht nur für das spezifisch Deutsche, sondern das schlecht-
hin Menschliche zu gelten. Man nimmt eben in diesem Er-
findungs- und Herstellungslande des Odol den Mund voll.
AUERNHEIMER ist der Name des Jockeis, der am häu-
figsten den Schnitzler geritten hat. Derzeit gibt er Tips in
der Neuen Freien Presse.
DER BAHR. Den Bahr gibt es nur mehr in einem einzigen
Exemplar, das im Salzburgischen gehalten wird. Seinen
frühern scharfen Geruch hat es in den milderen der Heilig-
keit gewandelt, und die Hörner hat das Tier, seit es den
Teufel fürchtet, ebenso wie die Zähne, längst verloren.
Dafür wuchsen ihm Mähne und Bart immer länger, was
dem Bahre ein ehrwürdiges Aussehen gibt. So kann es der
"Wanderer in seinem Reservat am Untersberg beobachten
oder mit ihm Zwiesprach pflegen, denn der Bahr ist ein
ungemein gesprächiges und, fehlt ihm der Partner, selbst-
gesprächiges Tier. Seine "Wärter, wie der überaus fromme
Pater A. B, C. D. Schmitz, fürchten immer, der Bahr werde
sich noch einmal nicht totstürzen, sondern totreden. Denn
18
gefallen ist der Bahr schon öfter ohne Schaden zu nehmen
und auf die Knie fällt er gut zweimal im Tage, welche
Alterserscheinung eine leichtgläubige fromme Bevölkerung
wie die salzburgerische als bei solchem Tiere seltene und
um so anerkennungswertere Frömmigkeit auslegt. Ein Kapu-
ziner hat den Bahr deshalb einmal ganz frei in die Heilige
Messe mitgenommen, und das Tier unterschied sich, wie
Augenzeugen berichten, in nichts von seinem frommen
Führer, so daß man nicht hätte sagen können, war der
Bahr mit einem Kapuziner oder ein Kapuziner mit dem
Bahr in der Messe. Um so mehr oder um so weniger als
der Bahr bei diesem frommen Besuche über seine flinken,
kleinen, scharfen und klugen Äugerln seine ehrw^ürdige
Mähne hatte fallen lassen.
BARRl^S. Als ihm in der Jugend auffiel, daß ihm nichts
einfiel, machte er daraus eine sublime Fümisterie. Da dieser
Culte du Moi nicht lange anhalten konnte, erfand er auf
Reisen den Culte de Terre de ses morts und wurde fromm.
Denn er mußte Gott jeden Tag danken, daß er nicht als
Findelkind das Licht der Welt erblickt hatte.
BARTELS ist der Name eines Zoologen der deutschen Fauna
literarica, der solches erst wurde, nachdem er als ein Tier be-
sagter Fauna begonnen hatte. Schwer festzustellen, was er zu-
vor und überhaupt war. Jedenfalls hat er als Literatier wenig
Glück gehabt, wessen er Schuld gibt, daß die Ställe mit jüdi-
schen Literatieren so überfüllt seien, daß ein dünnes Christen-
schwänzchen darin keinen Platz fände. Als Zoologe hat er
einen Radiometer für Nasen erfunden, die ihm nicht passen.
DER BAHR HOFMANN sieht bloß so aus. Wirklich ist er
ein jüdischer Hirtenknabe des alten Bundes, der auf den
Fluren von Zion die Schalmei bläst, wobei ihm der zweite
Wiener Stadtbezirk, die Leopoldstadt, entzückt zuhört.
DER BAUDISCH. Das ist ein für die weichlichen klima-
tischen Verhältnisse seines Vorkommensgebietes — wohl
aus nördlichen Gegenden eingewandert? Schlesien? — sehr
2' 19
kräftig gebautes, ruppig befelltes, einzelgängerisches Tier
aus der Gattung der Quadrupeden. Sehr harter Schädel
zeichnet es aus.
BECHER. Gehört nicht hierher. Denn was man Becher
nennt ist eine Rakete der neueren Feuerwerkerei, die ihr
den Namen Becher oder Raketenvogel gegeben hat, aus
welch letzterer Bezeichnung sich wohl der Irrtum her-
schreibt, diese Rakete für ein Tier zu halten. Mit Lebe-
wesen hat sie nur das gemein, daß sie nie so geht wie der
Schöpfer will. Mit allem Möglichen und Unmöglichen prall
geladen platzt sie entweder gar nicht oder zur unrechten
Zeit, fliegt statt in die Höhe in den Zuschauerraum, ver-
pufft mit Gestank statt in Feuergarben und derlei mehr.
DER BENN ist ein kleiner Lanzettfisch, den man zumeist
in Leichenteilen Ertrunkener festgestellt hat. Fischt man
solche Leichen an den Tag, so kriecht gern der Benn aus
After oder Scham oder in diese hinein.
DIE BIE. Die Bie ist ein in der Scheinform einer Molluske
auftretendes Krebschen mit Bartfäden. Lebt seit Jahrzehnten
in den Spalten der Tageszeitungen, ohne an Unschuld ein-
zubüßen. Nährt sich von Tanz und Musik. Bildet einmal
im Monat einen blattförmigen, rasch verkalkenden Panzer
aus den Ausscheidungen der deutschen Literatur, wobei sie
wilde Rückwärtsbewegungen ausführt. In diesem Zustand
von Fischern sehr geschätzt.
DER BIERBAUM, wie im Sächsisch-Meißenschen der Birn-
baum ausgesprochen wird, war aus Pappe, Buchbinderleim,
Bütten und Vorsatzpapieren ein Gemachte. Seine Früchte
waren aus der Zuckerspritze gegossene krumpelige Dinger
aus Dragant. Kinder schleckten daran und riefen: ,,wie süß!"
Dieser papierne Birnbaum w^ar eine Zeitlang beliebtes Ver-
setzstück des zweitwilhelminischen Puppentheaters deutscher
Kulturkonjunktur. Alt und Jung spielte Volkslied und Minnig-
liches im Schatten seiner kleisterpapiernen Blättchen und
tanzte mit O- und X-Beinen, so Christ wie Jud wie Ber-
20
liner, neckisch, schelmisch, meierisch und bieder mit Kling-
klang und Gloribusch Ringelreihen um den als deutsche Eiche
betätschelten Stamm aus Pappe. Poetischer schon konnte
man nicht mehr, als man sich hatte 1902 unter dem Bier-
baume. Ihn fällte nicht die Axt des Krieges. Lange zuvor schon
moderte er in der Rumpelkammer der deutschen Poeterei.
BJÖRNSON. Das Land Norwegen hatte einmal zwei Könige,
einen für zu Hause, den andern fürs Ausland. Den ersten
zahlte das Ländchen, den zweiten zahlte er selber. Dieser
zweite nannte sich Björnson I. Er kam gewaltig daher, seine
goldenen Brillen blitzten und alle alten Ehren Jungfern standen
Spalier. Mein Gott, Norwegen ist ein kleines Land, und man
darf von seinen zwei Königen nicht zu viel verlangen. Zu-
dem ist, was ich hier erzählte, längst Legende.
DER BLEI. Ist ein Süßwasserfisch, der sich geschmeidig
in allen frischen Wassern tummelt und seinen Namen —
mhd. bli, ahd. blio = licht, klar — von der außerordent-
lich glatten und dünnen Haut trägt, durch welche die je-
weilige Nahrung mit ihrer Farbe deutlich sichtbar wird.
Man kann so immer sehen, was der Blei gerade gegessen
hat, und ist des Fraßes Farbe lebhaft, so wird der Blei
ganz unsichtbar und nur die Farbe bleibt zu sehen. Unser
Fisch ißt sehr mannigfaltig, aber gewählt, weshalb er auch,
in Analogie zu jenem Schweine, der Trüffelfisch genannt
wird wegen seiner Fähigkeit, Leckerbissen aufzuspüren.
Gefangen und in einen Pokal gesteckt dient er oft Damen-
boudoirs als Zimmerschmuck und macht da, weil er sich
langweilt, zur Beschauerin nicht ganz einwandfreie Kunst-
stücke mit Flossen und Schwänzchen. Aber es ist dies
wahrhaft ein Mißbrauch mit dem die Freiheit liebenden
Fisch zu nennen, welcher der Jagd nach seinem Belieben
entzogen und gefüttert eingeht. Eine merkwürdige Freund-
schaft unterhält der Blei mit dem Kartäuserkrebs ebenso
wie mit dem Rothecht, aber über die Natur dieser Freund-
schaft ist man noch nicht genügend im Klaren, als daß
hier gewissenhafter Bericht möglich wäre. Zumal der echte
21
Kartäuserkrebs sehr selten ist und über die Lebensweise
des Rothechtes die unsinnigsten Fabeln im Umlaufe sind.
BLEIBTREU. In den grauen Zeiten Anfang der achtziger
Jahre des vorigen Jahrhunderts tobte im Berlinischen ein
Krieg um die moralische Anerkennung der intimeren Be-
ziehungen zu den Kellnerinnen, Nun, man hat schon um
weniger bedeutende Sachen Krieg geführt, 1914 — 18 z. B.
Jener heißt in der Geschichte der erste Naturalistenkrieg.
Die Namen der Krieger sind vergessen. Aber in irgend-
einem Zeughaus von Groi&lichterfelde gibt es so was wie
Waffen jener Helden. Eine hölzerne Kanone trägt den
Namen ,, Bleibtreu", wie ihn wohl neckisch, aber voll trüber
Ahnung eine der weißbierschenkenden Helenen dem harm-
losen Blasrohr gab.
ERNST BLOCH ist der chaldäische Name für die Be-
ziehung des Beziehungslosen. Das Sternbild des Herkules,
eine bayrische Weißwurst und ein jüdischer Witz haben
einen gemeinsamen Schnittpunkt, den man Ernst Bloch
nennt. Die Ebene ist nicht bestimmbar, man weiß nicht,
ob auf, über oder unter dem Tisch.
DAS BONSELS. Der zuverlässige Zoologe Reiser hat sich
besonders mit diesem Tiere beschäftigt, das er mir also
beschreibt: englische, sehr bewegliche Windhundrasse, die
nur männlich, aber mit starken weiblichen Merkmalen be-
haftet vorkommt. Daher liebt es das Bonseis, auch außer-
halb der läufigen Zeit nach weiblichen Hunden zu jagen,
um dadurch die Männlichkeit seines Geschlechts auffälliger
zu machen. Da sich aber alle echten weiblichen Tiere von
der Zwitterhaftigkeit des Bonseis abgestoßen fühlen, so ge-
sellen sich ihm nur solche Hündinnen, deren weibliches
Geschlecht ebenso fragwürdig ist wie sein männliches, wo-
durch wieder sein Verhalten illusorisch wird. Dem ölig
glatten Fell entspricht ebensolche Gangart. Elsterhafte Vor-
liebe für glänzende Gegenstände. Sehr eifersüchtig auf fremde
Eindringlinge im Salon, wo es sehr beliebt ist. Die Gattung
wird wegen starker Blutleere nicht alt.
22
DER BORCHARDT. Ist eia sehr sporadisch vorkommender,
immer allein und hoch fliegender schöngefiederter Vogel aus
der Gattung der Edelfasane. Er zeigt nur in der Höhe sein
über alle Maßen kostbares Gefieder, im Busche kriechend
weüä er es so geschickt zu verbergen, daß man nur die
graue Unterseite seines Federschmuckes sieht, was Beob-
achter, welche den Borchardt im Fluge nicht gesehen haben,
sondern nur manchmal im Buschwerk, zu der Behauptung
veranlagte, der Borchardt sei grau und nicht so prächtig.
Es gehören aber klare und scharfe Augen dazu, ihn in der
Höhe zu sehen. Auch das solitäre Vorkommen des Borchardts
haben einige bestritten und behauptet, er sei ein Gefolgs-
vogel der George. Doch stimmt dieses mit nichten. Denn
da& der Borchardt zuweilen hoch über den George hin-
fliegt, darin kann Gefolgschaft nicht gesehen werden. Darin
ganz unähnlich den Fasanen ist des Borchardts Schrei von
prächtigem Klange und fast ein Gesaug zu nennen, in dem
manche vieler Singvögel Sing weise zu entdecken meinen.
Aber die wenigen, die sich ohrbegabt genauer mit dem
Gesang des Borchardts befaßt haben, sprechen, er habe
eine ihm durchaus eigene Melodie, nur singe er viel zu
selten, als daß man sie sich merken könne.
PAUL BOURGET. In der grünenden Jugend versprach
eine ungemein mondän gebügelte Hosenfalte, was ihr Inhalt
auch hielt. Für kurze Zeit. Dann gab's eine lange Zeit nur
mehr mondän gebügelte Hose in allen Salons, wo man seit
Generationen weiß, daß es Schenkel und "Wade nicht gibt,
sondern nur Hosenfalte. Ganz zuletzt und kurz vor dem
unvermeidlichen Knick auch der besten Hose verwandelte
sich dieses Schneiderkunststück wie immer in Frankreich
in einen Palmenfrack und kam in das Depot Akademie.
DAS BROD. Oder auch Maxbrod genannt ist ein neuer-
dings viel in jüdischen Tempeln gehaltenes Haustier. Es
ist harmlos und nimmt, auch wenn es gereizt wird, das
Futter aus der Hand. Woraus man eben auf seine Eignung
zu einem religiösen Tier geschlossen hat. Einige wollen
23
voraussagen, daß das Maxbrod noch einmal die Verehrung
genießen werde wie das Buber, das bekannte heilige Tier
der Juden. Doch fehlt dazu dem kleinen, gar nicht statt-
lichen Maxbrod das Format, so gro&e Mühe es sich dazu
auch gibt. Vergleichsweise gesprochen; das Format der
Gartenlaube wird nicht dadurch größer, daß ich den hef-
tenden Bindfaden durchschneide und den Bogen ausein-
anderfalte. Vergleichsweise gesprochen.
BREZINA = 2X2 = .y + -(^) + ...
(cf Öl + tf Ö2) = 4 .
DER BROWNING. So hieß der Riese, dessen eines Bein
weit kürzer war als das andere. Das machte seinen Gang
exzentrisch, um so mehr, als er wie ein echter Engländer,
der er war, immer nur seiner Nase nach ging. Gar nicht
wie der Zwerg Tennyson mit dem einen einzigen Riesen-
bein, der sich immer ernst nahm, sondern der sich eigen-
sinnig nahm wie er war.
DER BURTE. Das ist ein Schwarzwaldhirsch und leiden-
schaftlicher Alleingänger. Erträgt sein vielendiges, an manchen
Stellen etwas verhakenkreuztes Geweih mit großem Stolze.
Seine Kraft imponiert ihm außerordentlich. Seine Stimme
ist so stark, daß sie siebenmal ihr eigenes Echo machen kann.
DAS CHESTERTON bedient sich nur imbeobachtet seiner
Beine, vor andern nie. Öffentlich geht es immer auf dem
Kopfe und hat es darin zu einer Virtuosität gebracht,
welche ihm erlaubt, jede beliebige Gangart auf dem Kopfe
zu gehen: das Chesterton kann schlendern, schreiten, tor-
keln, taumeln, marschieren, hüpfen, springen, laufen, alles
auf dem Kopfe. Zum Schrecken der Gläubigen liebt das
Chesterton, la tete terrible, diese seine Virtuosität besonders
in Kirchen während des Gottesdienstes zu zeigen. Es hält
sein Auf dem-Kopfgehen für den unwiderleglichsten Beweis
für das Dasein Gottes.
24
z
o
ci
CA.BELL. Das ist der sieghaft-trunkene Schrei eines ameri-
kanischen Zauberpferdes auf der Prärie unendlicher Seele
und horizont weiten Denkens. Wie aus stählernem Silber
ist dieses federnde Pferd, sein Schrei ein Lachen. Vielleicht
ist es der Kentaur, vor zwei Jahrtausenden über den Ozean
geschwommen tind dort aus Land gestiegen, wo die Häuser
hoch wie Wälder stehen. Wo der Große Pan als Whitman
auferstand, da — ja, Cabell ist der Kentaur.
CLAUDEL. Er hat einige religiöse Stücke geschrieben, um
damit zu beweisen, daß es Gott nicht gibt. Er bekam dafür
von einer republikanischen Regierung das Kreuz der Ehren-
legion. Er trägt es wie Jesus Christus das seine.
DAS CONRAD. Das Conrad gehört, da längst ausgestorben
und nur mehr in ein paar Knocheoresten vorhanden, schon
in die Paläontologie. Der in München gezeigte museale
Rest bestätigt die Annahme, daß es sich um einen stark
mikrokephalen Zwergstier handelt, dem eine wollige flachs-
gelbe Mähne auffallend um die Ohren stand. Aus seinen
Hörnern machten, wie Funde beweisen, deutschnationale
Vereine gerne Trinkhör ner, die sich aber als unbrauchbar
bewiesen, denn sie brachten das in sie Hineingegossene in
leeres Schäumen.
KORRODY. Das ist der Name des distinguiertesten Zoologen
der schweizerischen literarischen Fauna. Sehr elegant hält
er sich oft bei seinen Untersuchungen sein Spitzentaschen-
tuch vor die Nase. Dieses zeigt über dem Monogramm etwas
wie eine Krone. Er trägt ein Einglas, aber seiner Lands-
leutc wegen nur des Nachts im Schlaf.
DIE COURTHSMAHLER. Ist eine Laus, die in der Sekunde
eine Million Eier legt. Sie tut das am liebsten in Kinobuden,
wo sie am sichersten ist, die Ausbrütung und Ernährung
ihrer zahlreichen Eier zu finden. In Warenhäusern streichen
sich ältere Ladnerinnen die Eier der Courthsmahler als Kaviar-
ersatz aufs Brot.
25
CHAMBERLAIN ist der Name eines englischen Präparates,
das, eingenommen, rasche Verblödung bewirkt. England hatte
seine Ausfuhr mit hohen Prämien bedacht und erreichte
damit, daß die gesamte Produktion nach Deutschland kam.
Darauf fing England frohen Mutes den Krieg mit diesem
Lande an, sicher, ihn zu gewinnen. Und es hat Recht be-
halten. Die Wirkung des genossenen Chamberlains ist so
stark, daß sie jahrzehntelang vorhält.
DAS DAUTHENDEY heißt jene scharmante Erfindung,
welche die Farben des Sonnenspektrums zum Tönen bringt.
Man hat sie auch das singende Sonnenspektrum genannt.
Einige wollten behaupten, man habe damit die Musik der
Sphären eingefangen.
DIE DÄUBLER. Sie ist eine mächtige Qualle, welche in der
Adria lebt und vornehmlich silbergrau ist. Doch vermag sie
auch andere Farben hervorzurufen. Das System ihrer Ge-
därmfäden ist außerordentlich verwickelt. Oft kennt sie sich
selber darin nicht aus, und verwickelt sich, im Bemühen,
sich zu entwickeln, noch mehr. Wobei sie immer die Fähig-
keit des Farbenspieles verliert.
DEHMEL. Frühzeitig beschloß er, seine Sämtlichen Werke
zu verfassen. Er überblickte die Zeitlage und seine eigenen
Bestände, Mit Mädchen, Wein, forsch sah er seinen altern
Freund Liliencron den saloppen Versetrab Heinescher Bei-
läufigkeit reiten. Das schien leicht, und war es. Heine, Weine,
das Weibliche besaß man. Dazu war man eines Försters
Sohn, und der deutsche Wald gab einem keine Rätsel auf.
Die Zeitlage war sozial. Das nahm man mit. Und nun
konnte es losgehn. Der Gesamtaufstieg der neuen Literatur
manifestierte sich, und daß man damit mitstieg schien selbst-
verständlich. Es ging ja so natürlich zu. Zumal mancher
Vers gelang. Da gab es im Gewissen Dehmels einen Knax.
Er sah, daß Liliencrons schlendriger Ritt direkt in den
Bierbaum führte, der auch schon da war. Und Dehmel bog
ins Problematische ab, ein Dichtziel für sich zu suchen.
Er schulmeisterte sich. Aber die dichterische Substanz war
26
nicht groß und bedeutend genug, sich gegen den Schul-
meister zu behaupten. Dehmel begann zu schwitzen. Er
reimte und versifizierte Gott und die Welt: die beiden aber
blieben hartnäckig draußen. Er dachte mehr, als er sich
seinem Talente nach erlauben konnte, dessen kleines Herz
davon die Sklerose bekam.
DER DÖBLIN, Dieses ist der Name eines vortrefflich und
stark gebauten Tieres, das fest auf seinen vier Beinen steht
und schreitet. Es hat irgendwann einmal in seiner Lebens-
zeit, und man weiß nicht weshalb, eine immer nur kurz-
dauernde seltsame Gewohnheit, nämlich auf seiner linken
Vorderpfote zu stehen und die "Welt verkehrt durch seine
Hinterbeine zu begucken, wodurch sie ihm, ob sie nun
wirklich so ist oder nur wegen der Nähe eines bestimmten
Organes unseres Tieres, recht dreckig erscheint. Aber unser
Döblin gibt diesen Gang auf der linken Pfote bald als
doch nicht seiner Art entsprechend auf, und sieht man ihn
dann wieder mit Vergnügen seinen guten straffen eigen-
sinnig geraden Weg gehen; ein starkes, ausdauerndes, vor-
treffliches Tier.
DAS DRÖHM. Das früher von seinem Entdecker Dr. Spengler
***, dannDröhm genannte winzige Tier fand sein Entdecker
im Blech, mit dem er sich gerade beschäftigte. Der Profes-
sor behauptete, es entdeckt zu haben. Aber es ergaben mi-
kroskopische Untersuchungen, daß, was Spengler für ein
selbständiges Lebewesen hielt, nur des Professors Finger-
spuren auf eben dem Bleche waren. An des Spenglers Fin-
gern haftete etwas Druckerschwärze von dreitausend ge-
lesenen Gedichtebüchern. Was man erst ftlr ein Tier halten
konnte, dann für einen Blechpilz ansah, klärte sich auf. Nur
sein Entdecker, der zu seinem Tier ein viele hundert Seiten
langes Vorwort genannt ,,Der Untergang des Abendlandes"
geschrieben hat, hält an seiner Entdeckung und am Tier-
charakter des Dröhms fest.
DAS EDSCHMID. Ein erst kürzlich vom Träger selber ent-
deckter Parasit auf dem Sternheim, das sehr stolz darauf
27
ist, es im struggle for life bis zu einem Schmarotzertierchen
gebracht zu haben. Doch bestreitet der Frankfurter Ama-
teurzoologe Dr. H. Simon den parasitären Charakter des Ed-
schmids unter Berufung auf des Tieres große Lebhaftig-
keit, welche es zeigt, sowie man es auf Gelatine setzt, die
beim Edschmide aus Papiermasse und Druckerschwärze
hergestellt sein muß. Jedenfalls hat das Edschmid weder
Beine noch Augen, weshalb es sich in rasenden Drehungen
weiterbewegt ohne den Schwindel zu bekommen. Von der
Wirkung auf die Ursache tibertragend, hat man das Ed-
schmid auch das Geschwindel- oder kürzer Schwindel-
ticrchen genannt.
DER EINSTEIN. Das ist eine kometarische Angelegenheit,
insofern der Einstein ein Schwanz- oder Irrstern des meta-
physischen Himmels ist, aus dem er zuweilen, auf nicht
erklärbare Weise, da seine Bahn nicht berechenbar, in die
Erdatmosphäre abirrt, hier zum Glühen kommt und zum
Sprühen und Spucken. Sein also irdisches Auftauchen ist
katastrophal für bürgerliche Hirne, deren breiige Substanz
bei Einsteins größter Erdnähe vor Wut zum Kochen kommt.
Worauf der Einstein wieder seine metaphysische Laufbahn
fortsetzt, von der nicht einmal sein schärfster Beobachter
Rowohlt weiß, wie sie verläuft.
DAS EHRENSTEIN ist ein um eine ganz schiefe Achse ge-
legtes Tier, das von der einen Seite, wo es einen Flügel hat,
einem Vogel gleicht, der es nicht ist, von der andern, wo
es eine Tatze hat, einem Wolfe, der es auch nicht ist.
Wie zum Hohne über seinen einseitigen Flügel liebt das
Ehrenstein, diesen Flügel im Dreck zu schleifen. Dann aber
wieder breitet es ihn zu großer Überraschung aus und man
sieht, daß es ein Flügel voller Schwungfedern ist.
DER ELOESSER. Er gehört zur Familie der Kopffüßler,
jener überall gleich heimischen Tierart, die mit Hilfe ihres
Kopfes in der Advokatur ebenso gut vorwärts kommt wie
in der Literatur. In letzterem Falle entsteht durch eine
28
metaphysische Senkung des Mittelfu£knochens der soge-
nannte Plattkopf.
DER PAULERNST. So heißt eine hartnäckige Bandwurm-
art, die dem bekannten längst toten Friedrich Hebbel
noch immer abgeht. Die Stücke unseres Bandwurmes sind
ganz harmlos, trotzdem empfindet der Mensch, gewahrt
er zufällig eines, ein Grauen unbegreiflicher Art davor, das
sich in Gähnkrämpfen äußert. Um die völlige Harmlosig-
keit dieser Stücke zu zeigen, hat sie der bekannte Münchner
Zoologe Georg Müller gesammelt. Aber er konnte auch
dadurch die Menschen nicht von ihrem Irrwahne abbringen.
Vielleicht gelingt dies erst, wenn die Sammlung aller Stücke
dieses Paulernstes vorliegt, was aber noch lange nicht der
Fall sein dürfte, denn unser Paulernst ist ein außerordentlich
langer Bandwurm.
ESSIG. Das wurde am Ende aus einem gut duftenden
kleinen schwäbischen Land wein, als die Flasche unge-
trunken, aber offen, zu lange auf einem Berliner Schank-
tisch der Kaschemme ,,zum Sturm" stand.
DAS EULENBERG. Das Eulenberg ist ein Pechvogel aus
der Familie der Käuzchen. Es baute sein kunstvolles Nest
in den Trümmern von Barock- oder Rokoko- oder Bieder-
meierpalästen oder sonstigen Schlössern. Es hat aber, da
man es da immer aufstöberte und verjagte, auf solchen
Nestbau verzichtet und lebt seitdem im Riß von anderer
Schatten. Man gönnt ihm diesen Platz, wenn es auch keiner
an der Sonne ist, und nimmt es auch hin, daß es zuweilen
seinen Ruhplatz in einem fremden Schattenriß auf abscheu-
liche Weise verunreinigt.
EUCKEN. Dieses rätselhafte Wort findet man in alle Kuh-
glocken des deutschen Ideal-Idealismus graviert. Das Läuten
der so gravierten Glocken ist am hohlen schönen Klang
erkenntlich. Die damit geschmückten Tiere sind, in der
österreichischen Metzgermundart gesprochen, Beinlvieh. Das
heißt sehr mager und zu Braten gar nicht gesucht.
29
DAS EWERS. Eine kleine Hunderasse harmloser Erschei-
nung, dem ein launiges Naturspiel ein Bauchfell gegeben
hat, das Nicht -Kenner für Leopardenfell halten können.
Jede Berliner Nutte wünscht sich, wie man weiß, zu ihrem
dreizehnten Geburtstag ein Ewers an die Leine für die
Tauentzienstraße, und bekommt es auch ganz nahe bei,
wo das KDW immer einen großen Vorrat auf Lager hält.
Mehr ist darüber nicht zu sagen.
DIE FACKELKRAUS. Die Fackelkraus hat eine Anti-Natur,
weil sie aus dem Kote dessen geboren ist, den sie ver-
nichten will. Sie ist stets wutgeschwollen wegen ihrer un-
reinen Geburt. Ausgezeichnet ist sie durch ihre Fähigkeit,
die Stimmen der Menschen nachzuahmen. Sie tut solches
auf verschiedene Art. Sie ahmt die Stimmen von Propheten
und Dichtern nach, um ihnen zu gleichen und mit ihnen
verwechselt zu werden. Die Stimmen anderer Menschen
hinwieder, um sie zu verhöhnen und zu vernichten. Bevor
das Wedekind ausstarb, war die Fackelkraus dessen Freun-
din und stellte sich auf das erhöhte Podium, wenn das
"Wedekind sich begattete oder sonst sekretierte. Die Fackel-
kraus äußerte dann immer lauten Beifall, damit man sie
höre. Sie gerät in großen Zorn und wird äußerst boshaft
bis zur Giftigkeit, wenn sie meint, daß man andere höre.
Um zu verhindern, daß andere gehört werden, gebraucht
sie zwei Mittel: das eine ist, daß die Fackelkraus diese
andern lobt, das andere, daß sie sie verhöhnt. Beides tut
sie mit überschreiender Fistelstimme, damit man sie hört.
Die Fackelkraus hat nämlich keine Natur, sondern sie ist
nichts als Stimme und lebt infolgedessen nur so lange,
als man sie hört. Da sie das weiß und den Tod fürchtet, wie
jedes Lebewesen, hat sie ihre Stimme kunstvoll geübt auf
Gehörtwerden. In der Wut wird die Stimme der Fackel-
kraus oft besonders kunstvoll, weil sie aus Angst, man würde
sie sonst nicht hören, mit immer neuen Stimmen schreit.
Sieht sie dann, daß man sie hört, so ist sie sehr stolz und
wiederholt alles, was man über sie gesagt hat, noch einmal.
30
Dann kann man eine Stimme bei ihr hören, die sie sonst nicht
zeigt, da sie in solchen Augenblicken ihre Angst vergißt.
Der Atem der Fackelkraus ist häßlich zu riechen, weil sie
aus dem Kot ihrer Feinde geboren ist. Weil sie jedoch
ihre Feinde zu vertilgen meint, wenn sie deren Exkrement
vertilgt, so frißt sie zornig ungeheure Mengen davon. Darum
ist die Fackelkraus ein nützliches Tier, wenn es auch in
ihrer Nähe nur aushält, wer ohne Geruchsinn geboren ist.
Hier kann der Mensch Gottes Weisheit bewundern, der
den meisten Tieren nur eine Stimme gab, weil sie nur
eine Natur haben. Die Fackelkraus aber hat keine Natur,
sondern eine Anti-Natur, dafür hat sie aber zahllose ver-
schiedene Stimmen. Wegen der Stimmen hören manche auf
sie, und diesem Umstände, daß sie von manchen gehört
wird, verdankt sie ihr Leben und kann große Mengen von
dem Exkrement vertilgen, aus dem sie geboren ist.
DAS FLAKE im Kleinen Bestiarium war ein Irrtum, wie
die folgende Mitteilung des Flakes beweist: ,, Lieber Stein-
hövel, aus dem neuen Bestiarium: Peregrin Steinhövel, ein
Esel, von dem man naturgemäß nur Eselsfußtritte erwarten
kann. Gar nicht ergebenst Flake." Das Flake wäre demnach
ein Löwe. Aber ein toter. Lieber, gescheuter Flake!
DER FONTANA. Inmitten einer Fauna, deren Regel die
schwächliche Absonderheit ist, macht ein so gut und ge-
rade gewachsenes Tier wie der an den Quellen des Lebens
äsende Fontana leicht einen ungewöhnlichen Eindruck statt
des starken, der ihm zugehört. Gute Witterung und scharfes
Geäug sind dem Fontana eigentümlich.
DER FRANK. Der Frank ist ein Schaltier ohne Schale,
trotzdem es in einer so derben Umgebung lebt, daß sein
sehr weicher, empfindlicher Leib sehr wohl einer Schale
bedürfte. Diese Weichheit erstreckt sich bis auf des Franks
Gemüt und erlaubt es ihm nicht, daß er sich, wozu er
imstande wäre, eine feste Schale durch Ausschwitzung von
harter Substanz bilde. Alles was der Frank vermag, ist,
31
mit lieben Augen die ihn tretende und stoBende Umgebung
anzuflehen, daß sie doch so gut sein möge wie sie sei.
Man muß glauben, es habe hier dem Herrn gefallen, einen
Sankt Franziskus des Tierreiches zu erschaffen.
DAS FRIEDRICH- WILHELM- FÖRSTER. Das Friedrich-
Wilhelm-Förster ist ein Tier, das sich am liebsten unge-
schlechtlich fortpflanzen möchte. Es hat deshalb sein Haupt-
aufenthaltsgebiet in die Ethik verlegt. Dort nährt es sich
von den Wurzeln des christlichen Glaubens. Es ist sehr
sozial und liebt das Gute. Es hat nur einen einzigen Feind,
gegen den es blindwütig anrennt, das ist das Bessere. Es
sieht genau so aus, wie der Mensch in seinen Idealen aus-
sehen möchte. Hilfreich, edel, beharrlich, diszipliniert, rein
usw. Im irdischen Jammertal ist er also ein Ideal. In den
Gefilden der Ideale ist er aber ein Jammer, ein Nachzügler,
der das längst Überholte noch einmal einholt. Sein bio-
technischer Typ ist Massenbeförderung; das hat in der
Wirklichkeit Vorzüge und im Geist Nachteile. Manchmal
kämpft er nur mit dem Weihwedel, manchmal aber mit
starken und verläßlichen Schlägen. Er ist alles in allem in
einer sehr sympathischen Weise unsympathisch und hat
deshalb starken Einfluß auf das deutsche Volk. Daß man
ihm eine undeutsche Haltung vorwirft, ist nur eine Meinungs-
verschiedenheit. Denn es kommt doch nicht darauf an, was
man denkt, sondern wie man denkt, und der undeutsche
Mensch ist der, welcher auch in ethischen Fragen so tief
denkt, wie es der deutsche nur in wissenschaftlichen tut.
Diesen Vorwurf läßt sich das Friedrich -Wilhelm -Förster
aber nicht machen.
DER FREUD. Siehe: Zur ideologischen Morphologie. S. 97.
FRANCE, So heißt ein immer schon alter geistvoller und
scharmanter Herr in Paris, berühmt durch eine Bibliothek
voller Wunder. Seit vierzig Jahren pflegt er jedes Jahr
seine Bibliothek zu ordnen, wobei er mit seiner spirituellen
Nase in den Büchern schmökert. Und das Ergebnis des
Ordnens und Schmökems ist immer ein Buch. Und weil er
32
j>ie: p/vüßL^/^
ein ganz alter, guter, lieber, mokanter Franzose ist, widmet
er jedes Buch dem Andenken Voltaires.
DAS FRIEDELL. Nicht zu verwechseln mit dem Frettchen,
da eher verwandt mit dem archaischen Enu, einem Mega-
therium aus der Vielsaufgruppe. Nährt sich vornehmlich
von Chesterton, Kierkegaard, Shaw, Hegel, Nietzsche und
anderm Kraut. Verdaut vorzüglich mit dem großen Kopfe;
die dabei ausgestoßenen Geräusche sind weithin gefürchtet
als Humor.
DIE GEORGE. Die George, auch die große George ge-
nannt, ist ein hochbeiniger Watvogel, der durch die außer-
ordentlich schöne Proportion seiner Glieder wie auch durch
seine Größe weit über seine Genossen im \)C^asser hinaus-
ragt, die es ihm mit Strecken und Recken ihrer kurzen
mißgeformten Glieder gleichtun wollen zum großen Ver-
gnügen der zuschauenden Kinder. Aber die George nimmt
solches Stelzen der andern lächelnd hin, weil es ihr ihre
Einzigartigkeit und Mustergültigkeit beweist. Die George
hat Töne, die sie nur im Gehen von sich gibt, und es be-
kommen diese vom wohlgeordneten Spiel der Glieder eine
gefällige Rhythmik. Das Gesicht der George ist von ge-
ringem Umfang und wird von ihren Beinen beherrscht,
insofern ihr Sehen darüber nicht hinausgeht. Ihr subtiler
Organismus macht sie Krankheiten geneigt, die leicht chro-
nisch, aber nicht gefährlich werden. So ist die George
dauernd mit der leichten Indisposition einer Wolfskehl be-
haftet. Den Schmitz, den sie einmal am Bein hatte, hat
sie rasch überwunden. Einen irritierenden Gerardy ist sie
aber so wenig los geworden wie an ihrer linken Pfote
einen Gundelfinger, der sich da breit macht.
GIDE, ANDRE ist ein zartgebautcr Schüler des Port Royal,
aus ihm entsprungen und seitdem — es ist leicht, aus einer
Stadt zu entfliehen, aber schwer, dann die rechte Straße
zu finden — seitdem müht sich dieses vom Port Royal
sublimierte Gewissen um Weg und Wege zwischen Genf
und Paris, Rom und Moskau. Es flüchtet bisweilen er-
3 33
schöpft in Gärten, vergeblich von Blumen derbe Früchte
dieser Erde erwartend. Oder es eilt ins Parisische und
trinkt sich ein ganz kleines Voltairesches Schwippschen an.
Manchmal auch bleibt es zwischen Paris und Genf in der
Provinz liegen. Die Saiten dieser Kunst, eine Zuflucht,
sind über eine offene Wunde seiner Seele gespannt; er
schlägt sie wie es nur möglich ist: diskret und mit pein-
lichster Gewissenhaftigkeit.
DIE GODWINTRINE, Eine schöne pusseliche weiße Katze
mit chronischen Tintenflecken am Fellchen. Sie kam näm-
lich auf einem Schreibtisch zur "Welt und hält daher dieses
Möbelstück für den natürlichsten Aufenthalt der Katzen.
Sonst sehr empfindlich gegen alle Unsauberkeit macht sie
sich aus den Tintenpatzen gar nichts.
DER VONDERGOLTZ. Die schwarz-weiß gestreifte Raupe
ließ einen ähnlichen Schmetterling erwarten. Man riet auf
einen Kaisermantel. Aber die Puppe nahm schon ungewöhn-
liche Form an, zuckte heftig. Der Falter ist weiß mit einem
farbigen Schimmer, morgenrötlich. Das Wetter ist noch zu
trübe, um aus der zarten Farbe zu deuten, ob eine kleine
Aurora oder eine neue Art daraus wird.
GORKI. Ein braver Bursch, den man, Propheten aus Ruß-
land immer vermeinend, als der alte Tolstoi Rückkehr zum
Schweinekofen vorschlug, ebenfalls für einen Propheten
hielt. Kurzatmiger Nacherzähler des breitbrüstigen Koro-
lenko war und ist er ein braver Bursch.
DAS GÜTERSLOH. Das Gütersloh ist ein Animal, von
dem nur feststeht, daß es ewig ante coitum triste: woraus
man erkennt, daß es nur in der männlichen Art vorkommt.
Im Hinblick auf diese seine zwecklose Virilität hat man
es auch das Nönnchen oder den Klostermatz genannt. Das
Gütersloh ist eigentlich ein leichter Vogel, fliegt aber so
selten, daß man ihn einen ethisch verkommenen Wind-
beutel nennen kann. Will man ihn zum Fluge zwingen,
so soll er, wie einige behaupten, die sogar hören können,
34
was er singt, anfangen, in rührender Art seine Hemmungen
zu besingen. Diese Vogelsprache eines Flügellahmen, dieser
Ton, der seine eigene Existenz wieder aufhebt — : es ist
zu bezweifeln, ob er auf den Wachsplatten des literarischen
Institutes sich wird festhalten lassen, von einer gebräuch-
lichen Literatur meinen wir, wo alle, die reden können,
auch reden wollen. Der Klostermatz liebt die Vernunft
über alles. Glaubt aber, sie nicht deutlich genug accen-
tuieren zu können. Daher gilt sein spärlicher Gesang wegen
der allzu großen optischen Nähe des großgeschriebenen
Kleinsten den Meisten bestenfalls als unverständlich,
schlimmstenfalls als pedantisch. Da er überdies kein wasch-
echter Sänger ist, färbt sein prächtiges Gefieder leicht ab,
wodurch das Gerücht entstand, das Gütersloh habe etwas
mit der Malerei zu tun.
HÄCKEL, So heißt der Schwurgott der deutschen Frei-
denker, Denn hier ist wahrhaft der Mensch Gott geworden,
durch nichts als daß er das den Deutschen sagte, was
sich Darwin den Engländern zu sagen gehütet hat: daß
der Mensch vom Affen abstammt. Eine begeisterte deutsche
Menschheit kletterte auf die Stammbäume solcher Erkennt-
nis und klatschte mit allen vier Beinen Beifall, Nach einigem
"Währen dieses Affenspektakels mußte in die Sache ein
Sinn kommen. Und da erfand der Menschenaffe das ihm
nächstliegende, den Monismus, Und weil solches sich in
protestantischen Ländern vollzog, stellten sich auch alsbald
die monistischen Sonntagsprediger ein — natürlich aus dem
Lande Sachsen, Die Monisten erkennen sich untereinander
am deutlich getragenen Stammbaum.
DIE HALBE. Die Halbe ist, was man in ihrer Jugend noch
nicht erkennt, ein letzter "Wurf der Marlittziege kurz vor
ihrem Tode und daher ist die Halbe wenig lebensfähig.
Bei zunehmenden Jahren der Halbe kommt die Mutter
immer mehr zum Vorschein, die von so robuster Konsti-
tution war, daß sie ihrem letzten Sprößling noch das wenige
Leben schenken konnte, das er besitzt.
3* 35
DAS HAMSUN, die schönste der lebenden Echsen, ein
Naturspielwerk, Obwohl von Größe der Alligatoren und
scheinbarer Unbeholfenheit der Glieder, brütend im Zu-
stand versonnener Ruhe, ist es doch von einer geradezu
absurden und unwahrscheinlichen Behendigkeit. Sehr scheu
wohnt es verschlüpft im Gefels. Gesehen hat es eigentlich
nur ein einziger Forscher, wie man sagt, und zwar bei
Sprengung eines Steinbruchs, wo sich das Hamsun mitten
im Pulverdampf aufrichtete. Daraus entstand wohl die Mär,
es sei im Grunde ein schlichter, biederer Geometer mit ge-
nial gestörten, beinahe weiblichen Launen. Aber dies dürfte
eine Großstadterfindung sein. Das Hamsun ist nicht einmal
durch den Nobelpreis aus seiner Höhle zu locken. Es leidet
etwas an seinem großen Maule, einem Organ, das bei
Amphibien, die in mehreren Elementen, aber auf jeden
Fall im Element leben, immer rachenähnlich ausgebildet
ist. Da das Hamsun nun scheu, bescheiden und demütig
ist, verargt es sich dies wie auch sein großes Maul sehr.
Denn seine Schönheit läßt sich oft nicht verleugnen, und
es nimmt oft den Rachen dagegen voll.
DIE HANDELMAZETTE. Die Handelmazette ist ein aus-
gezeichnet erhaltenes Paradepferd aus dem Hofstall des
Kaisers Ferdinand des Andern. Sie hat den 30jährigen
Krieg als junge Schimmelstute auf der katholischen Seite
mitgemacht, ließ sich einmal von den Schweden fangen,
was ihr kaiserlicher Herr, zu dem sie zurückkehrte, ihr
etwas übel nahm. Heute, in hohem Alter, trägt die Handel-
mazette immer noch Heerpauken wie ein Junges durch die
längsten Prozessionen. Unter dem letzten österreichischen
Kaiser trug sie dessen Kinder auf ihrem Rücken manch-
mal in den Prater. Aber das stand der alten Schlachtstute
so wenig, daß die Passanten sie ob dieser Kindischkeit
belächelten. Aber die gegen heutiges Licht etwas erblindete
Handelmazette merkte es nicht.
DER HARDEKOPF. Dieses Käuzchen wird nur bei Nacht
sichtbar, doch schläft es auch nicht bei Tage, denn es
36
schläft überhaupt nicht. Das Hardckopf ist immer nur etwas
müde, nie schläfrig. Es verbreitet einen leicht phosphores-
zierenden Schein, Vielleicht verwest es. Es ist den selt-
samen Käuzchen zuzurechnen.
DER HARDEN. Dieser Specht hat die Manie, bedrucktes
Zeitungspapier in sein Nest zu schleppen und es derart
damit auszustopfen, daß er selber gar nicht mehr darin
hausen kann. Er muß daher immer neue Nester machen,
die alsbald wieder mit Papier gefüllt sind. Auch hohle
Bäume stopft er auf diese Weise aus, damit sie nicht in
den Himmel wachsen.
DER ERNSTHARDT. Der Emsthardt ist aus der Familie
der Spatzen, die wir alle kennen. Ihn zeichnet nur die
seltsame Gewohnheit aus, daß er es einem Kolibri gleich-
macht, insofern als er, was er dank seiner Kleinheit auch
leicht vermag, in große Blütenkelche eintaucht, um hier
so zu tun, als suche und fände er darin sein Futter. Er
kommt vom Blütenstaub ganz bestäubt und betäubt zum
Vorschein, so daß er immer eine Weile taumelt, was einen
sehr komischen Anblick gewährt. In ungebildeten Kreisen
hielt man den Fliegenfänger manchmal für einen wirklichen
Kolibri, aber man wurde rasch belehrt, daß die Landschaft
des deutschen Mittelgebirges, in welcher der Emsthardt
lebt, das Vor- und Fortkommen eines echten Kolibris ganz
ausschließe. Heute weiß jedermann über die Spatzennatur
des Ernsthardts Bescheid.
DAS HASENCLEVER. Weil sie clever wie ein Hase ist,
hat man eine stark überzüchtete Windhundrasse so ge-
nannt. Das Hasenclever besteht zu Zeiten nur aus Nase
und Wedel, das andere ist alles Wind. Das bedauerns-
werte Tier kommt dann immer in die fatale Lage, nicht
mehr sein Vorne und sein Hinten zu unterscheiden, so
daß es mit dem Schweiferl riecht und mit der Nase wedelt.
Es ist zum Erbarmen. Wenn es auf die immer alerte cle-
vemess verzichtete, könnte vielleicht noch ein guter rich-
tiger Hund aus ihm werden.
37
HATVANY. So heißt der antiphilologische Philologe, der
sämtliche neueren ungarischen Literatiere, wenn nicht er-
funden, so auf dem Gewissen hat. Er stehe also hier als
das Totum pro partibus. Das von ihm erfundene Ungarn
rächte sich an seinem Erfinder damit, daß es ihn ver-
bannte. Der Hatvany aber staunt im Auslande über solche
Stärke seiner Schemen.
DAS GEHAUPTMANN, Das Gehauptmann ist der umfang-
reichste Vierfüßler der deutschen Fauna, bei außerordent-
lich kleinem Kopf, der mit zunehmendem Alter immer
kleiner wird, dafür wächst der Leib immer mehr. Die ur-
sprüngliche Form dieses Leibes ist nicht mehr zu erkennen.
Es bleibt erstaunlich, daß vier Füße alle diese Buckel,
"Wülste, Täler, Auswüchse, Beulen, Geschwülste tragen
können. An manchen Stellen dieses Leibes wachsen kleine
Federn, an andern wieder Haare, an dritten liegt die Haut
ganz bloß, an vierten ist sie eingestürzt oder zu Stein ge-
worden. Die Unförmigkeit unseres Tieres erklärt es wohl,
daß sich auf einige Stellen seines Leibes ganze Schichten
von Schutt gehäuft haben, die es geduldig trägt, ebenso wie
auf andern Stellen wieder eine kleine Wiese grünt. Ja, an
einer Stelle hatte sich eine Zeitlang ein pygmäisches Köhler-
volk angesiedelt. Aber das Gehauptmann ist so ungeheuer-
lich, daß seine Moral gar nicht merkt, was auf ihm vor-
geht. Das Gehauptmann ißt nur Vegetabilien in ungeheuren
Mengen. Fleischnahrung bekommt ihm schlecht. Sein kleiner
Kopf bleibt oft ganz unsichtbar; oft enthält er sich aller
Funktionen. Woraus sich auch das ungeheure Leibwachs-
tum und der unsicher schwankende Gang unseres Gehaupt-
mann erklären dürfte.
DAS GEHAUPTMANN. Das Gehauptmann war ein kleinerer
Verwandter des Gehauptmann, zeigt aber im übrigen alle
dessen Eigenschaften. Um es dem Gehauptmann im Wachs-
tum gleichzutun, hat man beobachtet, daß das Gehauptmann
seinen ursprünglich richtig gebildeteu Kopf verstümmelte,
woraus man eben schloß, daß des Gehauptmanns Minimal-
38
köpf Ursache seines macht- und planlosen Körperwachs-
tumes sei. Das Cehauptmann war in den letzten dreißig
Jahren im Aussterben.
HAUSENSTEIN, Wer kennt nicht diesen Namen des schnell-
sten derzeit lebenden Schnelläufers? Hausenstein hat, wie
man weiß, jeden aufgestellten Schnelligkeitsrekord gebrochen.
Er ist unüberlaufen. Sein Wettlauf mit der Zeit steht einzig
da. Er hat, wie man weiß, die Zeit — die absolute nota-
bene — um eine Stunde vierzig Minuten sechseindrittel
Sekunden geschlagen. Sein Laufen war dabei so rasch, daß
die Zuschauer von dem durch den Laufenden erzeugten
Wind umgeworfen wurden.
DER HEIMANN. Der Heimann lebte ehemals freischwim-
mend in den nördlichen Gewässern der Mark, wo er aber
außerordentlich selten mehr gefunden wird, seitdem die
Menschen eine physiologische Eigentümlichkeit des Hei-
manns entdeckt und ihrem gemeinen Nutzen dienstbar ge-
macht haben. Der Heimann ist nämlich mit außerordentlich
sensiblen, fast rational arbeitenden Tastfäden ausgestattet,
mit denen er alles Unordentliche in Ordnung bringt, allen
Schmutz beseitigt, alles Vergessene erinnert, alles Verlorene
auffindet usw. Wegen dieser für die Freiheit des Heimanns
so bedauerlichen Fähigkeit wird er in Aquarien als ordnung-
schaffendes, differenzierendes Tier gehalten.
DIE HENNINGS. Herz, das ein Schmerz nicht zu brechen
vermag. Es hat nur einen kleinen Sprung bekommen, aus
dem es Rede gewann wie aus einer Stimmritze. Herz, dem
ein Schmerz ein engelhaftes Lächeln gab, nicht jenes ge-
wisse ,, unter Tränen", oder sinds schon Tränen, dann
klingeln auch diese, fallen sie, wie silberne Schellen.
DIE HESSE, So wird eine liebliche Waldtaube genannt,
die man aber wild nicht mehr antrifft. Ihrer Zierlichkeit
wegen wurde sie ein beliebter Käfigvogel, der den Be-
schauer damit ergetzt, daß er im Käfig immer noch Ge-
bärden tut, als wäre er im freien Walde. Er verschafft
39
dadurch dem ihn haltenden Stadtbewohner die Sensation
der Natur, und wird solches erhöht von ganz kleinen Drüsen
unserer Hesse, aus denen sie einen Geruch absondert, der
leise an Tannenduft erinnert.
HILLE nannte man in Norddeutschland einmal einen weiten
Havelock — Hille = Hülle. Er, den wir besonders so be-
nannt finden, war ganz vollgestopft mit Zetteln, beschrieben
mit orphischen Zeichen. Man fand diese Hille samt Inhalt
einmal steinhart gefroren auf der Landstraße zwischen
Berlin und Niederschönhausen.
HILLER. Der Umstand, daB man ihm manchmal aus un-
bekannten Gründen Tiernamen gab, ließ bei Fernstehenden
— und wer steht hier nicht gerne fern? — die Meinung
aufkommen, es handle sich um ein Geschöpf der Fauna
literarica. Das ist ein Irrtum. Herr Hiller ist ein Berliner
Journalist und hat nie ein Hehl daraus gemacht.
DAS HOFMANNSTHAL. Dieses gazellen artige, außerordent-
lich dünnbeinige, daher nur stolzierende, schönfelligc Tier
ist Produkt interessanter Kreuzung aus italienischer Wind-
hündin — Züchter d'Annunzio — und englischem Nor-
thumberlandhirsch — var. Swinburne — , und sein Zu-
standekommen war so bestaunt, daß man menschlichem
Sprachgebrauch folgend von einem Wunderkind sprach,
das es auch eben wegen des Bestauntwerdens sozusagen
bis ins mannbare Alter hinein blieb und als welches es
auch, und sei es mit achtzig Jahren, stirbt. Das sehr kost-
bare, zerbrechliche Tier kann nur künstliche Luft atmen,
wovon es einen außerordentlich vornehmen Geruch hat.
Sein Geschmack ist durch die Fragilität seines gekreuzten
Magens so verfeinert, daß es oft monatelang überhaupt
nichts frißt, um zarteste Därme nicht in Gefahr der Ver-
stopfung zu bringen, die sein geheimes Leiden ist, das es
zu solchen Zeiten von seiner silbernen Terrasse aus mit
klagender Stimme in die Schwermut eines Sonntagnach-
mittags im Juli röhrt. Manchmal äußert das Hofmannsthal
gern erfüllten "Wunsch nach einer ländlichen Heuwiese, wo
40
>
es dann ein paar humorige Sprünge tut, welche alle die
CS sehen zu Trauer und Tränen rühren, die aber das Hof-
mannsthal sehr lustig findet, wenn es auch bald davon
sehr erschöpft ist. Damen haben seiner oder ihrer Zeit dem
hübschen Tiere den Namen Cherubin gegeben und es hört,
wenn auch in den Jahren lang darüber hinaus, immer noch
darauf, einerseits aus Liebenswürdigkeit, andererseits aus
Melancholie. Es ist eines unserer schönsten Tiere.
DER HOLZ. So heißt eine Finkenart. Er zwitschert so
lange er jung ist seinen Reim Fink-Flink wie alle Finken.
Aber im kritischen Alter wird der Holzfink dessen über-
drüssig. Er reißt sich mit einer spaßigen Theorie die Stimm-
ritze seines Fink- Flink durch, und alles was der Fink in
der Kehle hat läuft aus. Mit dem Schwänzchen wippt es
zu diesem Lautestrom etwas, das wie eine Caesur in der
abstrusen Melodie aussieht.
DIE HÜCH ist eine Schleiereule. Sie befindet sich am
wohlsten im Keller. Ihr Ruf klingt manchmal heyser, manch-
mal luther, wie ein hier spaßender mittelhochdeutscher Be-
schreiber sagt, der sein Mittelhochdeutsch eben nur so
kennt, wie man's heute auf der Schule gelehrt bekommt.
DER HÜYSMANS. Dieser ist ein salamandrisches "Wesen.
Es verbrannte auch in den Feuern der Hölle nicht, in die
es sich stürzte. Sondern erglühte darin wie der Teufel in
einer Nonnenzelle.
IBSEN. Als Apothekerlehrling wurde er beim Pillen-
drehen und Pulverstampfen nachdenklich über die Men-
schen, welche schluckten was er da herstellte. Und erstaunt
darüber, daß sie es schluckten, machte er sich selbständig
und verkaufte nach eigenen Rezepten, deren Formulare er
von der Pariser Firma Dumas Fils bezog. Die Firma war
in der kleinen Stadt gut eingeführt und gewährte dem
kleinen Apotheker, der sich selbständig gemacht hatte,
Kredit. Die Rohstoffe seiner Heilmittel bezog er mannig-
fach, insonders aber aus England, Durch zu lange Lage-
41
rung seiner Sendungen in dem kleinen fensterlosen Magazin
seines nordischen Städtchens wurden die Sachen etwas
muffig, was aber gerade den Deutschen schmeckte, an die
er eine Zeitlang ausschließlich exportierte. Erst heimlich,
dann schon kühner, schließlich sehr ostentativ nahm jede
halbwegs miß- oder unverstandene deutsche Frau Nora-
oder Heddapillen. Was einen schwedischen Exporteur mit
schärfern Pastillen auf die Beine brachte, wodurch die des
norwegischen etwas aus der Mode kamen. Der bedachte
die Sache in seinem kleinen Laden und kam zum Schlüsse:
nosce te Ibsen. Und begann, seinen frühern Schwindel
aufzudecken.
DER JACOBSOHN. Er ist wie der Kerr und der Harden
aus der Familie der Spechte, deren Glieder sich in den
Tod nicht leiden können, was mit dem bedauerlichen Ver-
fall der Familie zusammenhängt. Der Jacobsohn ist von
ihnen allen der geschickteste in der Unterscheidung voller
und tauber Nüsse. Im Verspeisen eines guten Kernes zeigt er
weniger Fertigkeit als im Zerschnitzeln eines tauben Gehäuses.
FRANCIS JAMMES: ein bäurisch -simpel, aber zierlich
mit Herzen und Rosen bemalter Nachttopf, der in lächeln-
der Demut und sonnbeschienen auf der Holzgallerie des
ländlichen Pfarrhofes steht. Die lawendelduftende, leicht
hinkende ältliche Schwester des guten Pfarrers hat in
frommer Unschuld und nicht ein bißchen lächelnd weiße
Lilien in den Pot de chambre gesteckt. Eine Schwalbe
fliegt nah dran vorbei.
DER JOHST. Voll Kraft der Glieder und innerm Feuer
trägt dies wohlgebaute Tier, auf leichte Sprünge verzich-
tend, herzhaft und klug selbstauferlegte Halfter und Zügel.
Es sieht Weg und Ziel.
DIE KAFKA. Die Kafka ist eine sehr selten gesehene pracht-
volle mondblaue Maus, die kein Fleisch frißt, sondern sich
von bittem Kräutern nährt. Ihr Anblick fasziniert, denn
sie hat Menschenaugen.
42
DAS KAISERÄFFCHEN. Der Affe ist wie man weiß ein
in der Nachahmung des Menschen sehr geschicktes Tier.
Man hat ihn auch deshalb oft vom Menschen abgeleitet,
behauptend, der Affe sei ein degenerierter Mensch. Solches
haben aber nur Gelehrte aus einem so eingeschränkten
Beobachtungsfeld w^ie den heute lebenden Menschen be-
hauptet. Das Kaiseräffchen tibertrifft seine Mitaffen in der
Nachahmung des Menschen um ein Bedeutendes. Beson-
deres Geschick zeigt das Kaiseräffchen in der Nachahmung
aller menschlichen Exzentrizitäten und Ungewöhnlichkeiten.
Kaum geht so etwas an seinem Käfig vorbei, so kann es
das Kaiseräffchen schon zum großen Gaudium der Kinder.
Da diese Eigenschaft auch dem Kaiseräffchen viel Ver-
gnügen zu machen scheint, liegt es immer in den Gitter-
stäben seines Käfigs auf der Lauer und es ist so gar nicht
vorhanden. Denn das Kaiseräffchen ist nur da, wenn es
nachahmend, also nicht da ist. Das Kaiseräffchen an sich,
das reine Kaiseräffchen, gibt es nicht.
DER KASSNER. Der Kassner ist ein Bohrwurm, der die
Eigentümlichkeit zeigt, sich selbst zu durchbohren und
dabei mit so außerordentlichem Geschick zu Werk geht,
daß es ihm nicht schadet. Der Kassner lebt in Büchern
sehr verborgen und tritt nur ans Licht, wenn er sich aus
ihnen ganz voll, ja fast überfressen hat. "Wegen seiner oben-
erwähnten Eigentümlichkeit wird er in gewissen Zirkeln
schöngeistigen Tischrückens gern gezeigt.
KELLER. Diese deutsch-schweizerische Nationalflagge steht
auf dem Verlagshausc Cotta 1921 halbmast. Auf allen
andern deutschen Verlagshäusem ist sie hochgezogen, denn
man ist hier fieberhaft dabei, das im Keller lagernde Gold
in derzeitige deutsche Mark zu verwandeln, also ein glän-
zendes Valutageschäft zu machen. Mehr ist darüber nicht
zu sagen 1921.
DIE CELLARMAN REGTE KELLERMANN. Das ist ein
modischer Konkurrent des Jensens, mit dem es in Folge
äußerer Hurtigkeit verwechselt werden könnte, wäre sie
43
nicht ein Tausendfüßler, Die interessant geformte und be-
gabte Assel gedeiht im Schatten anderer Riesenbegabungen.
Oft hält sie sich warm unter dem Leibe des trag liegenden
Hamsuns. Die tausend Beine bringen die Kellermann be-
liebig schnell und auf allen Flanken, vorn, hinten, am
Rücken, auf der Nasenspitze fort. Seine Zartheit ist Licht-
scheu. Lebt im wilden Westen des ,, Gefühligen" eben so gut
wie in "Wallstreet des ,, Gedanklichen". Kommt aber auch in
der Küche vor, unter Backtrögen.
DAS KERR. Das lebhafte Kerr ist eine Abart des Bunt-
spechtes. Es beklopft mit seinem ausgebildeten Schnabel
alles, was es auf der Welt gibt, und unternimmt, um noch
mehr beklopfen zu können, oft weite Reisen. Wenn es
klopft, stößt es immer seinen Schrei aus ,,Kerrkerr" oder
,,Cri-Tik", in allen Modulationen versucht, aber immer
deutlich bleibend. So daß man ihn im Walde an diesem
Schrei sofort erkennt schon von weitem. Man nennt ihn
den König der Grunewälder. Erhebt er sich gegen seine
Natur um einen Meter höher als sein Baumwipfel, so duldet
das ein auf dem Nachbarbaum horstender Verwandter des
Kerrs nicht, welcher Harden heißt.
DER KEYSERLING. Der Keyserling war ein Kranich, also
ein Wandervogel. Er wanderte aber immer. Nirgends blieb
er länger, als bis der sehr neugierige Vogel die Denkge-
wohnheiten seiner Hausgenossen ausgekundschaftet hatte,
die sich der Keyserling am liebsten unter den Philosophie-
professoren aussuchte. Dieses gelang ihm bei seiner großen
Übung darin und bei den wenig eigentümlichen Denkge-
wohnheiten der Professoren meist schon in einer halben
Stunde. Zur Zeit brütet er Tecier in Darmstadt.
KIPLING. So taufte man die große Kanone, die zum ersten
Male über dem Grabe der Queen abgeschossen wurde und
deren Echo die Buren ebenso hörten wie die Hindus, die
Kanadier wie die Australier und das im Jahre 1914 end-
lich auch die deutschen Langohren schmerzlich erreichte,
indem es ihnen das Trommelfell in jedem Sinn des Wortes
44
zerriß. Daß man da ein Lissauerchen in die Hose pi&te,
konnte nicht erleichtern.
DER KLABÜND, Der Klabund ist ein überaus buntfarbiger
Kugelkäfer, dem seine natürliche Buntheit noch nicht genügt.
Wo immer er was Farbiges findet, rollt er sich darin herum,
so lange, bis er auf seinen kleinen Stacheln einiges davon
aufgespießt hat, was ihn noch bunter erscheinen läßt als
er ist. Solches macht dem Klabunde Spaß.
DIE KOLB ANNETTE. Ist der Name einer Edelziege von
vornehmem Pedigree. Ihr Fell ist seidig und hat einen
Schimmer ins Romantisch-Blaue. Ihre vier graziösen Beine
tragen sie leicht, aber nicht immer sicher überall dorthin,
wohin sie, mit einer Leidenschaft zu hohen Bergen, gern
möchte. So muß sie bisweilen, wenn sie sich wieder irgendwo
verstiegen hat, heruntergetragen werden. Die Kolbannette
ist außerordentlich soigniert.
DIE KOLBENHEYER. Die Kolbenheyer ist die größte in
Österreich vorkommende Ameise, welche mit ungeheurem
Fleiße eine Art Termitenbau errichtet gegen Feinde, die
sie ihrer Harmlosigkeit wegen gar nicht hat, und mit vielen
Räumen, die alle hohl und leer sind. Aber sehr sauber
gehalten.
DAS KORNFELD. Es ist aber trotzdem ein Tier, wenn
auch ein seltsames. Von seinen sechs Beinen sind nur die
vordem beiden so weit ausgewachsen, daß das Kornfeld
damit springen könnte. Die beiden mittleren Beine sind
nur zum langsamen Gehen geeignet und die beiden hintern,
die ganz verkümmert sind, schleppt das Tier nach. Daher
hat es einen grotesken Gang Es versucht oft, seine Hinter-
beine abzubeißen, aber es gelingt ihm nicht. Es würde
auch, gelänge es ihm, daran zu grund gehen, denn diese
Hinterbeine sind mit seinem Herzen verwachsen.
DER KRELL. So heißt ein scharfäugiger Sperber, gewandt
im Niederstoß auf das Kleinzeug heutiger "Welt. Nicht immer
gut bei Stimme klingt diese oft grell. Daher der Name.
45
DER LASKERSCHÜLER. Er ist die einzige Art Scarabäus,
den man, ehemals Königsmumien beigegeben, heute noch
lebend antrifft. Er entfliegt einem geöffneten Mumiensarge,
indem er seine bläulich-grün schillernden Flügel schwirrend
entfaltet. Er stirbt aber allsofort im heutigen Wüstensand,
wobei der Käfer einen seltsam melodischen Seufzer hören läßt.
DIE LOERKE. Ist wie der Name sagt eine nahe Ver-
wandte der Lerche. Sie steigt singend hoch über die Höhe
eines Fabrikschornsteines hinaus, dessen Rauch ihr oft die
Kehle irritiert. Ihn zu vermeiden macht sie höchst kunst-
volle und dabei äußerst anmutige Spiralen. Die Loerke ist
weder zu fangen noch zu zähmen. Sie gehört zu unsern
tönendsten und schönsten Sängern.
LAUTENSACK. Diesen Namen gab man einem in der
Zeit verspäteten altbayrischen Landstreicher, der nie die
Knoten des Sackes zu lösen vermochte, der seine Laute
enthielt. So spielte er darauf durch den Sack durch, was
sonderbar klang und dem vortrefflichen Spieler einen wild-
wütigen barocken Humor gab. Einmal wäre es ihm fast
schon gelungen, den fatalen Knoten zu lösen, da fiel er
von einem zufälligen Streich. Oder Gott schlug ihn, denn
dieser Lautensack sollte, guter Katholik der er war, nur
gedämpft spielen.
MAETERLINCK. Unter den vielen Leichenwäschern des
toten Sardou war auch einer namens Maeterlinck. Er nahm
sich des Verstorbenen Hausapotheke mit. Die kleinen Reste
populärer Gifte, die sie enthielt, verbrauchte er in seiner
rasch etablierten Konditorei, deren also zart vergiftete
Kuchen großen Zuspruch fanden. Nach Verbrauch dieser
Giftreste wickelte der Konditor seine Ware in mit Weis-
heiten und Banalitäten bedrucktes Papier. Die Weisheiten
waren von Emerson, die Banalitäten von ihm. Als die
Deutschen der Duncan-Zeit unseligen Gedenkens nackte weib-
liche Beine auf der Bühne für höchste Kunstoffenbarung
hielten, schickte ihnen der Konditor sein Ladenfräulein
46
Monna Vanna, die nur einen Mantel anhatte. Die deutsche
Kunstbegeisterung saß in enthusiastischem Schweiß gebadet.
DER MELL. Dieses ist der Name eines in Österreich vor-
kommenden Rehs, das auffallend schüchtern ist. Es traut
sich aus Schüchternheit kaum zu leben. Besitzt aber eine
Festigkeit des Leibes, die oft weit größeren seiner Gattung
nicht eigen.
DER MAUPASSANT. Ein Tauchervogel, der mit unend-
licher Grazie Perlen aus der Tiefe holt. Diese Tiefe darf
allerdings nicht tiefer sein als jene profondeurs du cceur,
wie man sie um 1880 in Paris gelotet hat.
DIE MALLARME. Ein zartes Insekt von außerordentlich
geistvoller Konstruktion und ametystblauer Farbe. Es ist
eingeschlossen in ein Stück glashellen Bernsteins, das,
selber ein Unikum, eine kristallische Form zeigt. Das Er-
staunliche ist, daß das Insekt in dieser Eingeschlossenheit
zu leben vermag.
DER MORGENSTERN. Ist, wie man weiß, dasselbe wie
der Abendstern. Es kommt nur darauf an, zu welcher
Tageszeit man für den Stern schwärmt, ihn so oder so zu
nennen. Unser Morgenstern hatte am Morgen allerlei schöne
und allgemeine Gefühle, die ihm am Abend nicht mehr ge-
fielen. Also wiederholte er sie abends, indem er sie per-
siflierte. Um doch andern morgens wieder in den Gemein-
platz seiner stemhaften Stereotypie zu fallen.
DER THOMASMANN UND DER HEINRICHMANN, Beide
diese Tiere gehören zu einer Familie mittelgroßer Holz-
böcke. Sie sind von verschiedener Farbe bei sonstiger
Gleichheit der Lebensweise und Natur. Man findet sie
immer auf demselben Baume lebend, aber auf dessen gegen-
gesetzten Seiten, da sich die beiden Holzkäfer durchaus
nicht leiden können. Bohrt der Thomasmann unten an
einem Baum, so sitzt auf dem gleichen der Heinrichmann
oben. Findet der eine die bebohrtc Linde saltig, so findet
47
sie der andere morsch, und umgekehrt. Das Seltsame ist,
daB sich beide immer im Baume irren. Sie glauben auf
einer Eiche zu käfern, wenn sie auf einer Tür aus Kiefern-
holz sitzen, auf einer Fichte, wenn es eine Kommode aus
Lindenholz ist. Immer aber findet aus Ärger über des
andern Anwesenheit der eine morsch, was der andere saftig
findet. Nur wenn man die beiden Käfer auf einen Feder-
halter setzt, geben sie sich eifrig ihrer Tätigkeit hin, indem
sie emsig darauf hinunter und hinauf laufen. Was die
Farbe anlangt, so zeigt der Thomasmann schwarzweiä ge-
streifte Flügeldecken, während die des Heinrichmanns blau-
weißrot mit manchmal auftauchenden, doch bei mensch-
licher Annäherung rasch wieder verschwindenden roten
Tupfen sind. Diese roten kleinen Tupfen lassen sich übrigens
durch leichtes Reiben entfernen.
DAS MEYRINK. Das Meyrink ist das einzige auf die
Erde gefallene Mondkalb, das einzufangen gelang. Das
Meyrink w^ird von seinem Einfänger zeitweilig gezeigt.
Schwangeren Frauen ist derzeit das Anschauen des Mey-
rinks wieder erlaubt, nachdem es anfangs wegen einiger
aus Schrecken vorgekommener Frühgeburten verboten war.
Inzwischen haben sich die Frauen in jenen Umständen an
den Anblick so gewöhnt, daß sie ihn schmunzelnd ertragen,
österreichisch -ungarische Offiziere wie deutsch -nationale
Abgeordnete wollten die Schaustellung des Meyrinks ver-
bieten, weil es sie mit seinem einen großen Auge verzerrt,
wie sie sagten, spiegele. Der Besitzer wies aber nach, daß
die Spiegelung gar nicht verzerrt war, sondern daß das
Objekt des Meyrinks Auge verzerrte. Der Besuch des Mey-
rinks hat nachgelassen, seitdem man viele Mondkälber frey
herumlaufen sieht, von denen man nicht sicher sagen kann,
ob sie vom Monde, wohl aber, daß sie auf den Kopf
gefallen sind.
DAS MOMBERT. Das Mombert ist ein Invertebrat und
dadurch merkwürdig, daß es seine nicht zu große Hirn-
masse in Ganglien verwandelt besitzt. Dieser Umstand
48
K-6lvsfel}j
hängt zusammen mit des Tieres Lautäußerung, welche eine
auffallende Ähnlichkeit mit dem Lallen deutscher Lyriker
zeigt. Das friedliche, einsam lebende Tier ist ein Wieder-
käuer, doch nimmt es seit seiner ersten Nahrung keine
neue mehr auf, sondern kaut die erste immer wieder.
DER HANSMÜLLER. So nannte der kleine Moritz Bene-
dikt seinen Papierdrachen, den er meist des Sonntags in
der Fichtegasse aufsteigen ließ. Da der kleine Moritz viel
Schnur hatte, flog der Hansmüller sehr hoch, so daß Kin-
der ihn für einen Vogel hielten, was aber nur ein Gemachte
aus alten Zeitungsblättern war. Später riß der Faden, und
der Hansmüller fiel auf das Dach eines alten Theaters,
wo man ihn manchmal auf f läppen sieht. Jetzt wissen auch
die Kinder, daß der gerissene Hansmüller nur aus Papier-
fetzen besteht.
DER ROBERTMÜLLER. Eine genaue Beschreibung dieses
stark angegriffenen Tieres zu geben ist dadurch erschwert,
daß es seinen Standpunkt sehr oft wechselt und selber
nicht immer genau weiß, wo es steht. Um genau zu sein,
sei hervorgehoben, daß es aber immer sein eigener Stand-
punkt ist, den es wechselt. Er ist ein amerikanisch prä-
parierter Windhund mit Flügeln, fliegt und läuft im Zick-
zack und ist un verfolglich. Ähnlich der keltischen Shaw-
blüte, die auf kymbrischen Gespensterschäften wächst und
ihren Geruch über Nacht ändert, ist unser Tier schwer
festzustellen. Manche sagen, er sei gar kein Tier, sondern
sein eigener Trick. Andere wieder, er sei ein Abstämmling
des Jensens, nur seien seine Vorderpfoten nicht zum Greifen
eingerichtet, sondern mit einer metaphysischen Spannung
überzogen, welche den Robertmüller befähigt, im letzten
Augenblick immer in die Luft zu fliegen oder in die Zu-
kunft. Die Zoologen streiten noch, ob diese Verkümmerung
der Vorderpfoten ein Vorzug oder eine Schwäche unseres
Tieres sei.
MENCKEN. So heißt der bedeutendste lebende amerika-
nische Zoologe, und das heißt, da Lowell nur amerikanisch,
4 49
aber nicht bedeutend war, dieser Mencken ist nicht nur
der bedeutendste, sondern auch der erste. Sein scharfer
Witz macht es bedauerlich, daß man den Mencken keiner
bessern Fauna gegenüber sieht als der zumeist ridikülen
nordamerikanischen, die von presbyterianischen Pfarrers-
frauen — und das sind 90°|o aller Bürger der U. S. — auf
die dürre Weide geführt wird.
DER MEREDITH. Dies ist ein anglo-keltisches Synonym
für Einhorn. Was sich sonst in dieser christlichen Zeit als
dieses heidnische Tier gebärdete, war Kostüm und Pappe.
BloB das Meredith war ein natürliches richtiges Einhorn,
das gigantische weibliche Wesen zeugte wie ein Gott. Das
bekannteste heißt Diana. Zuweilen verwickelt das Meredith
sein Hörn in die Telegraphendrähte, befreit sich davon mit
vielem Witz, aber ohne auch nur für einen Augenblick
seine schöne Haltung zu verlieren. Als man das Meredith
im protestantischen Deutschland zeigte, scheute das poetisch
dressierte Deutschland davor, denn es kannte und liebte
das Einhorn nur von Böcklin in Öl gemalt. Mit einer Jung-
frau darauf. Und Schweigen im Walde genannt.
MÜNCHHAUSEN. Dies ist der Name eines heraldischen
Scherzes, der ein aus sämtlichen Wappentieren zusammen-
gesetztes Tier darstellt. Im Innern des Münchhausens ist
ein Spielwerk angebracht, das, zieht man an einer Schnur,
schmetternde Musik macht.
DER MUSIL, Der Musil ist ein edles, in schönen Pro-
portionen kräftiggebautes Tier, an dem, da es zu der
kleinen Familie der Damhirsche gehört, wo solches nicht
Brauch, auffällt, daß es Winterschlaf hält. Der Musil
schläft nach jedem reißend verlebten Jahre fünf Jahre lang
in unzugänglichem Forst. Seine ungeheure Kraft der Mus-
keln nicht nur, sondern auch die hohe Sensibilität seines
nervösen Lebens, welche der Musil in seinem wachen
Jahre zeigt, scheinen den auffallend langen Winterschlaf
nötig zu machen.
50
MARTENS. So heißt der steifste Stehkragen, der zu den Vor-
hemden heutiger deutscher Literatur getragen wird. Marke:
never clean.
MEYER C. F. heißt ein kleiner spaßiger Hügel am Züricher-
see, der eine Zeitlang für einen sehr hohen Berg gehalten
wurde. Es war aber nur eine auf den Hügel gestellte Ku-
lisse. Was den Hügel selber betrifft, so zeigt seine Spitze
ein Häuschen, eingerichtet im Geschmack jener Renaissance,
die man um 1885 für Renaissance hielt. Der Zoologe Franz
Baumgarten hat ein ganz vortreffliches Buch über den
Hügel geschrieben.
NIETZSCHE. Er ist vielleicht der bedeutendste Zoologe
des Naturparkes. Nicht nur etwa, weil er die George Sand
als Schreibbuch agnosziert hat — ,,wie sie dagelegen haben
mag" — und Zola als ,,die Freude am Stinken". Solche
Seitenblicke auf das Unwesentliche im Unwesenhaften messen
ja nur immer wieder jene unabmeßbare Distanz ab zwischen
Literatier und Schriftsteller und fallen wie Lote von fremder
Oberfläche in eigne Tiefe. Haß gegen alles Angemaßte, wenn
man gekommen ist, das Schwert zu bringen, scheidet von
den bloßen Lebewesen die positive Person. Und diese ver-
achtet die Kunst der Begabungen und die Talente, den
Schauspieler Kunst, durch Verwandlung im Räume sich
fortzubewegen, während ungenützt von ihren Seelen die
Zeit verstreicht oder stillsteht im Kopf der Gaffer. So sind
ja auch die Europäer, in Sonderheit die Deutschen, diese
begabtesten unter den Juden, Alles geworden, was man
bis zur jeweilig letzten Stunde werden kann, sind Christen
geworden, ja Buddhisten sogar, aber — sie sind gar nichts,
Sie machen mit nichts Ernst, diese Deutschen. Sie spielen
Nation und Bekenntnis, Krieg und Frieden, spielen Pots-
dam gegen Weimar, Weimar gegen Potsdam aus, je nach-
dem man in einem symbolischen Versailles 1871 oder 1918
schreibt; und so bewegen sie sich durch äußerliche Ver-
wandlung, durch Modulation, bei ungerührtem Wesens-
kerne, bei still- und strammstehender Zeit im Räume fort.
4* 51
Daß sie aber irgendwo mit irgend etwas anfingen, endlich
Ernst zu machen, dazu bedarf ihr Leben des Paradoxes,
denn bloße Belehrung tuts nicht: Cesare Borgia als Papst.
Des Zoologen Nietzsche Böses ist das Gladiatorennetz,
worin der deutsche Spiegelfechter endlich sich verfinge,
ist das erstgeborne Konkrete, woran der Spiegelnde end-
lich Lust fände zu Verhaftung, dieser Nein sagende Deutsche
aus Bequemlichkeit, aus Komödianterie, aus Koketterie des
Geistes mit den allerletzten Dingen endlich Ja und Eins
sagte in der Zeit. Und Nietzsche, der Lust zur Geschichte
macht, nannte dieses Böse mit den süßesten Namen gar
verführerisch für nordische Ohren, nannte es Süden, Italien,
Bizet . . . und er war eifersüchtig auf diesen Süden des
Geistes wie auf einen Körper — ,,ich habe fehlerhafte Linien
bei Sorrent gesehen". Ja, der mit der metaphysischen Schuld
der Schauspielerei beladene Mensch — Wagner oder der
Deutsche, oder der Europäer — muß um aus dem puren
Werden zu einem Sein zu kommen ein ganz gefährliches
Übriges tun, ein Monströses. Wie, wenn seine Bekehrung
zum Kreuze in und durch den Antichrist erst geschähe?
(Was erwartete Nietzsche von Wagner?) Damit der ahas-
verisch Werdende aus seinem Schicksale sich risse: ist sein
erstes bewußtes Nein zum Guten, Spät- Heiligen, nicht sein
erstes Ja zum Leben? Das Kreuz als zu früh, als arrogiert
und als Arroganz gegen ein noch unbekanntes Leben, als
noch nicht möglich, als geschichtlich noch nicht erreichbar,
als das Vorurteil, man hätte schon Geschichte, die sich
taufen lassen dürfte, als Religion vielleicht des jüngsten,
sicher nicht des heutigen Tages — : es bleibt als ungeheure
Aufgabe der große Rebus gegen ein vielleicht einmal be-
stätigtes, jetzt noch verfrühtes und daher unsittliches Urteil
über die Instinkte, ein Urteil aus Mäulern und Mündern,
die im christlichen Tonfall Musik treiben, bevor sie eine
Sprache haben, es bleibt nur die Heraklesarbeit der Vor-
ausnahme des Antichristlichen, um in der liberalen Gegen-
wart eine Gegenantike zu schaffen, eine ,, Fülle der Zeit"
noch einmal und immer wieder zu ermöglichen. Das Nietzsche-
52
sehe Böse als das geschichtliche ens realissimum , woran
man eigene Realität und Konsistenz erst empfängt; Re-
naissance der demiurgischen Zeitalter, wie die ein und
selbe Erscheinung des Humanismus und der Reformation
sie ans Licht hob, hier als Antike, dort als den Alten
Bund; Renaissance als die eine ,, mystische" Idee aller
, .Bildung", um im Augenblicke des Einzelnen ,, Fülle der
Zeit", das Demiurgisehe, bis zu seiner Selbsterkenntnis und
Selbstüberwindung zu wiederholen, aber als historische
Tat, nicht auf dem "Wege des Historismus: Cesare Borgia
also als Papst, als Paulseinheit des Verfolgers und Apostels,
ja noch in der Judaseinheit des Verräters und ,,Aller-
gläubigsten", und im Antichrist!
Das hier in den ewigen Augenblick und in die historische
Gegenwart gerissene Erleben und Überwinden der demi-
urgischen Periode als hypothetische Negation des Logos,
um der vollendeten Erkenntnis seiner in der Kirche, um
seiner mit dem Indifferentismus korrespondierenden theo-
logischen Überreife die Gefahr zu bereiten, ohne welche
der Advent weder in der Zeit noch in der Seele seinen
Begriff erfüllte: das ist zugleich die Vorausnahme des vor-
nehmsten und tiefsten eschatologischen Geheimnisses und
seine Integration in den Einzelnen — der Antichrist als
Provokation des Christos. Die letzten Dinge und Gestalten,
in die Zukunft projiziert, sind da vom bisher kühnsten
Protestanten entdeckt als heuristische Prinzipe für die
höchste Not des Glaubens, anzuwenden vom fast Über-
menschlichen gegen sich selbst, gegen das Phantomatischc
in ihm, entdeckt als die verzweifeltsten Aphrodisiaca zum
amor dei.
DER PANN\X^ITZ. So heißt eine kürzlich entdeckte Papa-
geienart. Er sagt alles was man ihm vorsagt nach, nur
in der umgekehrten Reihenfolge der Worte. Dadurch wird
das vorgesagte Einfachste dunkel oder, modern gesprochen,
orphisch. Also orphisch finden des Pannwitzes Rede alle
mit der Sprache nicht Vertraute.
53
PELADAN. Peladans nennt man die billigen Bazarartikel,
die in den Fremdenläden der rue Rivoli in Paris be-
sonders an sächsische reisende Hochzeitspaare verkauft
werden. Die Dinger sind aus unbestimmbarem, aber billig-
stem Material hergestellt. So gibt es Richard "Wagners
Kopf als Zigarrenabschneider, den persischen Flügelmen-
schen als Futteral für Röllchen, Siegfried das Hörn blasend
als Stockgriff, Isolde als Zigarrenspitze usw. Die kaufenden
Paare sehen entzückt in diesen Peladans eine Vereinigung
von gallischem Esprit und deutscher Gemütstiefe.
DIE PFEMFERT. Ist eine Bremse, die sich mit Vorliebe
Parteipferden auf die Nase setzt und sie durch ihren Stich
zum Scheuen oder wenigstens zum Schäumen zu bringen
sucht. Von dem schwachen Blute, das die Pfemfert bei
diesen Gelegenheiten ihren Opfern zapft, lebt sie recht und
schlecht, aber mit großer Leidenschaft. Ihre rotgefärbten
Flügel haben der Pfemfert auch den Namen der Revo-
lutionsbremse eingetragen. Ihre Tätigkeit bei den Pferden
nennt man eine Aktion. Daß ihr Stich so starke Wirkung
haben könne, ein Parteipferd zu töten, ist übertrieben. "Wer
solches glaubt, unterschätzt die Robustheit der Parteipferde,
die es mit jedem starken Karussellgaul aufnehmen.
PHILIPPE, CHARLES LOUIS oder — : Unsere liebe Frau
von der Träne im Auge. Oder des Menschenfreundes aller-
demütigster Monolog, Nachts um Eins auf einer Bank bei
Regen gehalten in Erinnerung an einen weiblichen Mit-
menschen aus dem Viertel Grenelle: Daß Du Marie hießest,
sagtest Du, und ich verstand alles. Aßen wir manchmal
zusammen bei Vater Tageuille, so stieg das Mitleid und
die Margarine in uns hoch. Du sprachst kein Wort, aber
in unsern Herzen war Zwiesprach, daß uns Tränen in die
Augen traten. Ich ging gebeugten Hauptes hinter Dir Deine
Leidenswege. Hin und zurück, hin und zurück. Wir teil-
ten das Brot, und die Taube, die heilige, war über uns.
Wir teilten das letzte Hemd. Ich gab dir des guten Wortes
Steuer, denn ich weiß, die Frauen sind steuerlos. Ich gab
54
dir meine Umarmung. Und endlich gab ich dir meine
arme Syphilis. Wie ein leuchtender Sternenmantel wird sie
sich um dein Elend legen. Du wirst ins Spital kommen,
wirst das weiße Linnen haben und die gute Suppe. Es
muß der Mensch sein Letztes, sein Einziges, das ihm blieb,
hingeben, um eine Seele zu retten.
DIE POLGAR. Das ist eine feine, stille, silbergraue Maus,
besonders artig anzusehn, wenn sie — was das kluge Tier
mit gut gespielter Unbewußtheit tut — über die verstimmte
Leier der Zeit läuft, hiebei ein verstaubtes, sehnsuchts-
volles kleines Geklimper verursachend. Die große Menge
hält das Polgar für harmlos, doch hat unsere Untersuchung
ergeben, daß jenes zarte Mehl aus dem von unserm Tiere
angenagten Fundamenten Ekrasit, wenn auch in sehr fein
verteiltem und abgeschwächten Zustande, enthält. Aus win-
zigen Vornehmheiten und Bösheiten, unvermeidlichem Zei-
tungspapier, Lyrismen und Lozelachs und mit schönen
roten Blutkörperchen eines bessern Lebens baut das Polgar
Viennensis aparte Gedankennestcr, die man wegen ihrer
seltsamen Zusammensetzung aus Fragilität und Dauer Fili-
granitkunstwerke nennt.
DER PULVER. Dies ist eine Tagfaltcrart aus der großen
Gattung der Kohlweißlinge. Doch zeichnen ihn zarte blaß-
rosa- farbige Flügel aus, die aus "Wachs geformt sind.
Auch an Kunstblumen können sie erinnern. Sitzt das Pulver
auf einer Rose, so sieht es aus, als hätte man auf eine
natürliche Blume eine aus dünnem Stoff geheftet.
PREVOST MARCELLE hieß eine französische im Berlin
der neunziger Jahre etablierte Sprachlehrerin, die sich
großen Zuspruchs bei jenen Mädchen erfreute, welche un-
gestraft unter Palmen wandeln wollen. Sie lernten bei Mllc
Prevost ein niederträchtiges Französisch, aber sie kamen
in ihren Liebesaffairen damit aus.
DER RATHENAU ist aus der wegen ihres Nestbaues ku-
riosen Gattung der "Webervögel. Er baut höchst kunstvolle
55
Nester. Aber nicht nur für sich, sondern auch für andere,
nicht selbstbauende Vögel, die sich aber, da sie schwei-
fend sind, nicht in diese Nester hineinbegeben. Der Eigen-
sinn des Rathenaus, der sich auf den Stolz seiner Nest-
baukunst gründet, geht so weit, daß er anderer Vögel Nester
oft ausbessert und ändert, ja auch zerstört, um ein Nest
nach seinem Plane hinzuhauen. Das Nest des Rathenaus
ist höchst kunstvoll. Wärme besitzt es der vielen sehr ver-
nünftig erdachten Öffnungen wegen wenig. Da aber der
Rathenau, immer Nester bauend beschäftigt, selten in sei-
nem Neste weilt, geniert ihn das nicht.
DER RINGELN ATZ. Kam die bordeauxroten Ozeane her-
untergeschwommen, zwischen bottle und battle, weiß Gott
woher, setzt er unvermittelt auf tiefsten Grund eines Witzes
höchste Spitze. Vielleicht aus des Wanderers Rimbaud
Lenden entsprungen irgendwo zwischen Abessynien, dem
Niederrhein und der Welt.
RABINDRANATAGORE ist der Name des auf Europa
heruntergekommenen Indien. Auf die Dauer konnte der
schwächliche indische Mauerrest dem Ansturm englischer
Bibelgesellschaften, amerikanischer Theosophen, sächsischer
Naturapostel, französischer Bergsonianer und preußischer
Monisten nicht widerstehen. Das sterbende Indien gibt von
sich, woran es starb, und diesen Vorgang nennt man Ra-
bindranatagore.
DIE RILKE. Um die Zugehörigkeit der Rilke zum Ticr-
oder Pflanzenreiche streiten miteinander die Zoologen und
die Botaniker, indem sie diese nicht haben wollen und
der Zoologie, die Zoologen sie nicht haben wollen und
der Botanik oder Pflanzenkunde zuweisen; und sagen die
Zoologen, es fehle der Rilke das Blut, weshalb sie sie von
sich weisen, und sagen hinwieder die Botanisten, sie habe
ein tierisches Gebiß, welches sie instand setze, Verszeilen
jeder Länge immer dort auseinanderzubeißen, wo kein Ge-
lenk sei, weder ein melodisches, noch ein rhythmisches.
56
und CS muß dieses Gebiß und seine sonderbare Benützung
wirklich zugegeben werden. Seltsam ist hinwieder der Um-
stand, daß die Rilke nur weiblich vorkommt, wenn auch
gewisse äußere Geschlechtsmerkmale, wie Barthaare, männ-
lichen Charakter haben. Doch neigen sich diese Merkmale,
wie der Bart der Rilke, sanft melancholisch nach abwärts,
als ob sie eigentlich nicht da sein wollten und nur aus
Verlegenheit da wären, dementiert auch von der hohen
weiblich zarten Stimme der Rilke, die sich zu verflüstern
geneigt ist oder zu verhauchen. Ähnlich darin dem Werfel
ist auch die Rilke als Schoßtier beliebt, aber mehr von
älteren Damen wegen seiner sexuellen Stubenreinheit und
des frommen etwas blöden Augenaufschlages, der das bei
jenen Damen so sehr geliebte Entzückens wort ,, himmlisch"
auslöst. Unter sieben solchen Damen kann man sicher
immer als die siebente die Rilke treffen. Um ihr Geschlecht
zu betonen, bekommt sie da gern ein Häubchen aufgesetzt,
das ihr, wie die Damen ausrufen, ,, himmlisch" steht. Das
Tier hat von dieser dauernden Verhimmelung die Neigung
angenommen, seine Naseweise in theologische Bücher, Ma-
rienlegenden und ähnliches zu stecken.
ROSTAND, auch Fulda ausgesprochen, Fulda, auch Ro-
stand ausgesprochen, war das Steckenpferd des deutschen
und französischen Geist-Philisters, das er für den leibhaf-
tigen Pegasus hielt. Mit einem kleinen Unterschied: der
deutsche Bildungsspießbürger glaubte dem Genius der fran-
zösischen Poesie zu huldigen, wenn er sich für Rostand
entzückte. Aber der französische Epicier tat ein Gleiches
nicht mit Fulda,
RUSKIN. Dies ist der Name eines Propheten, der sich zu-
weilen, ohne jede geschlechtliche Entschuldigung, in eine
englische Gouvernante verwandelte, und als solche die
kirchliche Kunst gegen die Kirche ausspielte. Die Gouver-
nante Ruskin litt an chronischem sittlichen Kopfweh. Der
Prophet schrieb mit der rechten Hand, was die linke Hand
der Gouvernante nicht geschrieben haben wollte. In Ger-
57
many ist er nur als die Gouvernante geschätzt, denn hier
zumal ist man sittlich, bieder, keusch etc. pp.
DAS SALTEN. Es gibt eine Fliegenart, die man unter
dem Namen Saiten nur in ihrem Zustande als Larve kennt.
Als solche Larve lebt das Saiten in und von Zeitungs-
papier jeder Farbe und jeder Zusammensetzung, unan-
sehnlich, aber hartnäckig. Die ausgeschlüpfte Saltenlarve
führt in mannigfachen Formen ein Eintagsleben. Sie kriecht
aus als grüne, als blaue, als schwarzgelbe Fliege, je nach
den Abwässern, über denen sie ihren Tag auslebt.
DER SCHAUKAL. Dieses harmlose Tier ist nicht mit dem
Schakal zu verwechseln, wenn der Schaukai auch, solange
er jung ist, sich vom Aase nährt und das Gehaben eines
reißenden Tieres anzunehmen pflegt, sofern er sich unter
Schafen befindet. Ausgewachsen kann er sein Bäh-Bäh
nicht mehr verstellen, so gern er ihm auch einen bedeu-
tungsvollen Klang geben möchte. Manchmal gelingt es ihm
dabei, sein Bäh sozusagen himmlisch tönen zu lassen, aber
man hört dies aus der großen Schar der Mitblökenden
nur heraus, wenn es so still ist wie im Hochland.
DIE SCHELER. Die Scheler ist eine Echsenart von be-
trächtlicher Länge und geschmeidiger Dünne. Beides setzt
sie in stand, überall hinzukommen, wo man sie nicht er-
wartet. Sie legt ihre zahlreichen Eier um verwitternde
Steine, so daß sie deren Oberfläche oft ganz überdecken,
zumal die Scheler die von Eiern unbedeckten Stellen mit
einer schillernden Masse überzieht. Die Scheler besitzt zwei
Augen, von denen eines sehr scharfsichtig, das andere aber
blind ist. Was aber nicht hindert, daß das Tier das gut-
sehende Auge oft schließt, um mit dem blinden Sehversuche
anzustellen, bei welcher Anstrengung es meist jenen Saft
absondert. Die vier Füße hat unsere Scheler unter der Haut
verborgen, wodurch sie eine sehr leise Gangart bekommt.
In den langwährenden Brunstzeiten ist die Scheler außer-
ordentlich lebhaft. Von den Eiern ist noch nachzuholen,
58
da£ sie oft das gleiche Ei einigemale legt. "Was die Farbe
betrifft, so ist die Scheler auf dem Rücken tiefschwarz mit
einem ganz dünnen roten Streifen, Auf dem Bauche aber
schillert sie vieldeutig und beziehungsreich.
DER SCHIEBELHUTH. Ein stolzbefiederter, hochfliegender
Vogel aus der Familie der singenden Schwäne. Nur sieht
man ihn nie im Wasser plätschern. Seine Rastplätze im
unzugänglichen Dickicht des Urwalds. Voller Stimme und
Stimmen, wie Orgel oft, dann wie zarte Kinderflöte ist des
Schiebelhuth Gesang weithin tragend und tief eindringend,
posaunisch und zärtlich, Schlittenglöcklein und Münster-
glocke. Er gehört wie der Borchardt zu der allerselten-
stcn Art.
DAS SCHICKELE. Das zierliche Schickele ist wegen seines
rötlichen Pelzes viel gejagtes, elegantes Wiesel. Das Schickele,
zu lebhaft und unruhig, immer im Laufen, immer im Suchen
und immer gejagt, auch wenn es nicht gerade gejagt wird,
den Jäger auf der Ferse glaubend, setzt keinerlei Fett an,
wodurch das leidenschaftliche Tier in Deutschland, wo der
Bauch die Würde bedeutet, nicht beliebt ist.
DIE SCHLAF. Die Schlafente gilt als der deutsche Marabu,
weil sie kahlköpfig ist und auf einem Beine steht. Sie gilt
darum als ein nachdenklicher Vogel. Aber die Schlafente
denkt nur, warum sie keine Federn auf dem Kopfe hat.
Manchmal versucht sie auf keinem Bein zu stehen und
fällt um.
SüARifeS. Dieses ist nur mehr der große Schrei eines nor-
mannischen Wild vogels grauen oder steinschwarzen Gefieders
nach dem lateinischen Süden. Aus Sterbensangst nach dem
Leben, aus Regen nach der Sonne, aus Einsamkeit nach
Gott: darum der Schrei.
DIE SCHMIDTBONN ist eine weit kräftigere Henne, als
sie aussieht. In der Jugend gackert sie beim ersten Ei,
daß man meint, ein Kind sei vom Himmel gefallen. Aus-
gewachsen gewöhnt sie sich das ab, und legt in Nach-
59
denklichkeit ihre Eier, die, noch nicht ganz gewürdigt wie
sie es verdienen, oft liegen bleiben,
DIE FRIEDSCHNACK. Die Friedschnack ist eine große Li-
belle mit Flügeln, deren Farben alle orientalische Teppich-
buntheit überstrahlen. Sie bewegt sich in schönen Bögen
mit außerordentlicher Grazie. Läßt sie sich nieder, so ver-
meint man, sie habe einen Tanz beendigt.
SHA-W. Ist der Name eines Gärtners, der sich zum Bock
gemacht hat. Also ein Zoologe, der sich in der Rolle des
Zoon gefällt, wenn er auch immer wieder aus der Rolle
herausfällt. Oft sehr amüsante Bocksprünge nimmt er zu-
zück, indem er ihren Witz erklärt. Daß Shaw ein Pseudo-
nym für Trebitsch sei, wurde eine Zeitlang behauptet wegen
einer gewissen philologischen Inkommensurabilität. Bis fest-
gestellt wurde, daß die Trebitsch den Namen Shaw nicht
einmal aussprechen, geschweige führen kann.
DAS SCHAEFFER, auch die pretiöse Albrecht genannt,
ein Wesen mit vier Füßen, aber doch drei Meter über der
Erde schwebend oder pendelnd oder — man kann's nicht
genau sagen. Es geht auf Luft, scheint sich von ihr zu
nähren. Das ganze noble Tier macht den Eindruck, als
wäre es eine Einbildung seiner selbst. Oder eine Reminis-
zenz aus Sagenhaftem. Oder aus vielem Gelesenen.
DER SCHNITZLER. Schnitzler ist der Name eines seiner
Zeit bei allen Wiener Damen und süßen Mädeln wegen
seines melancholischen Feuers sehr beliebten Rennpferdes
in der Freudenau, Stallbesitzer Fischer. Man setzte aus
Sympathie auf Schnitzler, auch wenn man wußte, daß er
nicht einmal auf Platz kommt. Weil Schnitzler so beliebt
war und auf daß die Enkelinnen der süßen Mädeln in die
Freudenau gehen, ist man im Jockeiklub übereingekommen,
Schnitzler, wenn und so lang er rennt, immer Dritter sein
zu lassen, auch wenn er nach der ersten Runde aufgegeben.
Möge er noch lang so rennen.
60
DAS SCHÖNHERR. Großstadtbewohner halten das Schön-
herr für einen Hirsch und sein braves Muh für einen Brunst-
schrei. Auf dem tirolischen Lande, aus dem er stammt,
steht das Schönherr im Stall des Bauern Kranewitter, wird
aber da wegen seiner wässrigen Milch nicht gemolken.
Dieser Wiederkäuer geht auch unter dem Namen des Tho-
mas — bayrische Varietät — und des Ganghofers — öster-
reichische Varietät. Alle drei Varietäten sind sehr stolz auf
den idiomatischen Klang, den sie ihrem Muh geben können.
DER WEVONSCHOLZ. Das ist ein Vogel, der sich da-
durch nützlich erweist, daß er die Bandwurmstücke, die
dem Hebbel abgehn und die auch dem Paulernst als un-
verdaulich abgehn, nicht liegen läßt, sondern mit vielem
Behagen verzehrt. Manchmal singt dieser Vogel ganz schön.
Und er sänge vielleicht noch besser, wenn er andere Nah-
rung zu sich nähme.
DIE ERASCHRÖDER, scherzweise auch R. A. Schröder
geschrieben, hat man einige Zeit für einen vertriebenen
Paradiesvogel gehalten, der seioe Vertriebenheit in opal-
farbenen Tränen so still wie ausdauernd beweint. Als
dann unser Vogel sein Paradies in Preußen wiederfand,
erkannte man, daß er aus dem andern nie vertrieben wor-
den war, sondern immer in diesem preußischen beheimatet
gewesen.
SO MBART. So Mbart heißt der eherne Stier, dem die
Juden an ihrem großen Reinigungstage, der alle zehn Jahre
statt hat, ihre unreinen Glaubensgenossen opfern. Die wirk-
liche Opferung ist aber seit langem durch die Symbol-
handlung eines Huldigungstelegrammes an So Mbart er-
setzt worden,
DAS STEFFEN, Dieses ist ein apokalyptisches Tier und
derzeit nur in einem Exemplare mehr sagenhalt als wirk-
lich bekannt. Doch ist an seiner Existenz zu zweifeln nicht
erlaubt. Es besitzt das Steifen nur ein Auge, kann dieses
aber von einer Stelle seines seltsam geformten Leibes auf
61
jede andere Stelle bewegen. Sein Geschlecht hält es ver-
borgen. Es hat Flügel, doch sind diese derart angebracht,
da& es damit nicht fliegen kann. Es hat Beine, doch macht
CS davon aus bisher nicht erkannten Gründen nur selten
Gebrauch. Meistens hockt das Steffen, pflanzt sein Auge
mitten im Gesicht auf und läßt eine Welt sich seltsam
darin spiegeln.
DIE STEHR. So heißt eine große Made, die man im Fla-
den des Gehauptmann entdeckt hat. Ihre auffallende Größe
brachte auf die Vermutung, daß sie nur zufällig in diese Um-
gebung geraten sei. Man hat daher versucht, dieStehr in andere
Lebensbedingungen zu setzen, was mit großer Vorsicht, wenn
auch selten, gelang. Aber die Stehr ist eine Made geblieben.
STEINER. Saxa loquuntur ruft jene Menschheit, die
gegen gutes Entree, das dieser Noah einhebt, in seine
Arche steigt, deren Zukunft nicht auf "Wasser, sondern
auf Steiner liegt. Schnell, schnell, gleich wird es regnen,
ruft der Unternehmer, und die Schäfchen laufen. In hoc
petro hat der Kapitalismus das, was er seine Kirche
nennen mag, gebaut, und siehe, der Stein mehrte sich und
wurde Steiner. Und alles Geschiebe und Geröll der ge-
scheiterten, zerdrückten Seelen sammelte sich um ihn, um
sie, um es, um diesen religiösen Großunternehmer auf
Aktien, der was je zum Religiösen gedacht und geformt
worden ist entdachie und entformte, zu Grus zermahlte,
mit Schleim und Seich befeuchtete und Brot daraus buk
für zahnlose Gebisse. Solches Tun nannte man Sophia,
dem Theos schon seinen Segen geben müsse. Aber Gottes
Segen war nur bei Steiner wie ehemals bei Cohn.
DER SCHWABACH. Ein langsam zu gut gebauten Knochen
Fleisch der Muskel gewinnender Quadruped. Klug und nobel
legt er sich keine heute so billigen Wattons bei, die je
nach äußerm Anlaß dort und dahin rutschen, um aufzufallen.
DAS STERNHEIM. Dieses Tieres Hartnäckigkeit, mit der
CS in norddeutschen großen Städten lebt, führte nicht ge-
62
rade zu seiner Domestizierung, aber zu seiner Duldung,
insoweit jenen Großstädtern erträglich gemacht, als das
Sternheira durchaus und gerne deren Neigungen teilt, deren
Gewohnheiten mitmacht und sich eigentlich nur mehr durch
seine Absonderungen von dem Berliner unterscheidet. Diesen
mischt das schadenfrohe Tier einen ätzenden Geruch bei,
der die Hausgenossen etwas ärgert. Man nimmt an, daß
das sonst wenig bemerklichc Sternheim, welches ein sehr
eitles Tier ist, sich durch diese Beimengung bemerkbar
zu machen sucht- Es ist von der Art, daß es, erreichte
es damit seinen Zweck, bemerkt zu werden, auch ange-
nehmen Duft beimengte, wenn anders dies nur aus der
bestimmten Natur seiner Verdauungsorganc und der von
diesen bedingten Nahrung, welche allerlei Abfall oder sonst
Liegengelassenes ist, möglich wäre. Auch verlangt der
scharfsäuerliche Geruch seiner berlinerischen Hausgenossen
einen ähnlichen, weil ein angenehmer nicht gegen den
scharfen aufkäme. Das Sternheim ist, wenn solcher An-
thropomorphism erlaubt, von einem geradezu menschlichen
Geltimgstrieb besessen, worauf sich auch sein besonderer
Mimetismus zurückführen läßt. Dieser Mimetismus gilt, wie
man annimmt, als ein Selbstschutz der Tiere und er äußert
sich in der Fähigkeit, Aussehen und Farbe der Unterlage
anzunehmen, auf welcher das Tier lebt. Das zu seinem
Ärger gar nicht auffallende, weil kleine und graue Stem-
heim mimetiert nun Auffallen. Es wechselt grau in rot,
wenn man es auf Grau setzt, wird blau auf gelb usw.
Das Tier gefährdet sich übrigens nicht durch dieses Auf-
fallen. Mit dem Unangenehmen seiner Absonderung ver-
sucht es durch das Ungewöhnliche, wie es absondert, aus-
zusöhnen. Was ihm machmal auch gelingt. Manchmal aber
so mißlingt, daß es schon nicht mehr schön ist.
DAS STORM. Man kann von ihm nicht sagen, es sei lange
tot, denn es hat nie lebendig existiert, sondern immer nur
im ausgestopften Zustande. Es besaß also nie etwas, was
man innere Organe nennt. Die glatte graugclbe Haut war
63
mit Seegras, Heidekraut, Möwenfedern und derlei ausge-
stopft, wodurch das Storm einen faden, laulichen Geruch
bekam, um dessentwillen es heute noch in den braven
deutschen nordischen Bürgerhäusern pastorlichen Zuschnit-
tes über alles geschätzt ist. Der Geruch ist das "Wesent-
liche des damit ausgestopften Stormes. Man nennt diesen
Geruch Stimmung. Er ist vielfach eingefangen, auf nuU-
prozentigen Spiritus gebunden und in Fläschchen aller For-
mate auf den Markt gebracht worden. Das bekannteste
dieser Stimmungswässer hieß einmal Jörn Uhl und war
dies eine Zeit durch das beliebteste Mundwasser des deut-
schen Gemütes bis in seine zahnlosesten Tiefen.
STÖSSL. So heißt ein humorvoller Wiener Gassenhund
ohne bestimmte Rasse. Bei allen netten Leuten bekannt
und beliebt ist der Stößl klug, ruppig und immer guter
Laune.
DER STRAUSS. Dieser schwäbische Strauß hat mit dem
afrikanischen nur den Namen und ihn deshalb gemein,
weil er sonst nichts mit ihm gemein hat. So verträgt des
schwäbischen Straußes Magen nur die allereinfachste, gut
verkochte Nahrung und seine kurzen Beine tragen ihn nur
vom Schlafzimmer ins Schreibzimmer und wieder zurück.
DAS STUCKEN heißt eine kleine Pelzmottc. Sie haust in
altem Pelzwerk, aber weniger weil es da warm ist, als
um es aufzufressen. Das flügellose Tierchen wird in kür-
zester Zeit mit einem stattlichen Pelz fertig, dessen Farbe
es jeweils annimmt. Darum kann man es auch mit dem
Auge nicht wahrnehmen. Wohl aber mit dem Ohr, denn
das Stucken macht beim Zerfressen des Pelzes ein rhyth-
misches Geräusch mit seinen vielen Beinen. Ans Tages-
licht gezogen, merkt man, daß das Stucken keine Augen hat.
DIE SUDERMANN. So heißt eine in den ganz, aber schon
ganz feinen Kreisen von Berlin WW vorkommende Milbe,
welche einen Hautausschlag erzeugt, den man Eleganz oder
auch Elejanz nennt. Davon Befallene reden außerordent-
64
2)l& ^e cvye
X^'
lieh fein, wenn sie auch geschwollen sind. Die Krankheit
ist nur dadurch zu heilen, da6 man dem davon Befallenen
das Bankdepot, das wirkliche oder behauptete, wegnimmt
und ihn eine ehrliche Arbeit verrichten läßt. Die Suder-
mann selber ist unausrottbar.
STRINDBERG. Das war ein nordischer Kater, am Ascher-
mittwoch des bürgerlich liberalen Lebens geboren, ewig
triste, immer post festum. Ein Dämon verdorbenen Magens
hielt er am Ende den Ichthys für den Hering seines Dalles.
Hungernd eigentlich nur nach dieser Fastenspeise, d. h.
nach dem einsamen Genüsse der Wut und voll Gier nach
luziferischer Einsamkeit im All und unter den Allen, leben
der Strindberg und sein anderes Geschlecht wie Hund und
Katze miteinander, weil sie zur Zeit der Brunst bis zur
vollkommenen Unmöglichkeit selbst der innern Einsamkeit
einander besessen haben. Das groBe Geschrei, das dieser
Kater nach jeder Paarung erhebt und das man bezeich-
nend den Katzenjammer genannt hat, kommt tief aus Leib
und Seel des Tieres, das da im strafenden Feuer des Gc-
heimnislosen brennt, weil erotische Wut und psycholo-
gische Gier gleichzeitig am Weibchen gezehrt und so ihn
wie es völlig jedes Noch-Sinnes entleert haben. Das Be-
streben des Katers am einzigen Tage, den das nächtliche
Tier als solchen erkennt, am Aschermittwoch, geht dahin, die
ernüchterte Welt auf dem pessimistischen Wege, von unten
her, wo die Ratten und Mäuse wohnen, aus dem Jugend-
reich des chat noir und des schwarzen Ferkel wieder mit
Sinn zu laden ; erstens um überhaupt weiterleben zu können ;
zweitens um in den aufgezeigten Tragödien der seelischen
Delikatesse und der Diskretion die Genüsse der Defloration
des Sekreten noch einmal zu durchrasen. Diesen Versuch,
sich selber und das Mitgeschöpf vor Gott noch einmal zu
desavouieren, die Diskretion in einer permanenten theo-
retischen Indiskretion immer wieder zu brechen, dies nannte
man einst, als der große Kater von Strindberg noch nicht
gewichen war, seinen Naturalismus.
5 65
DER SWINBURNE. Dieser große englische Zaubervogel sang
einmal vor dem Aufgang einer Sonne, die nicht aufging: ein
Versehen. Er sang einmal vor dem Kruzifix gegen das Kruzi-
fix; das war ein Mißverständnis, Das Wunder dieses Vogels
ist, daß er trotzdem voll außerordentlichen Gesanges ist,
menschlich gesprochen einen Stil hat, wie ihn männlicher
keiner seinerzeit und später besaß. Dieser Stil ist so un-
nachahmlich, daß der Swinburne selber ihn nicht imitieren
konnte, wie er alt geworden versuchte.
TENNYSON. Mit Musikbegleitung rezitiert bisweilen ein
älterer Mime Enoch Arden — mehr ist von diesem Vergil
der Provinz nicht bei uns vorhanden. Er war poeta laur-
eatus; niemand lachte darüber, denn es paßte zu ihm; er
dachte genau das, was seine Königin dachte, und er schrieb
nur einen besseren Stil. Er nahm sich immer furchtbar
ernst, was bei einem Engländer, wie Chesterton sagt, ein
grauenvoller Anblick ist. Er hatte einiges zu sagen, besaß
aber weit mehr Worte, als dafür nötig war; darum weiß
er, redet er länger, nicht mehr was er sagt.
DER TOLSTOI, Der war ursprünglich ein Steppenpferd,
doch aus einer bereits gepflegten Rasse. Er wurde zuerst
von grusinischen, tscherkessischen Häuptlingen und Ko-
sakenhetmans geritten. Später gehörte er zur regulären
schweren Kavallerie der Literatur. Machte im Norden und
Süden der Zeit und des Raumes alle größern Feldzüge
mit, auch solche, die mehrere Bände dauern. Zäh, trocken,
aber feurig, immer voll Kapriolen, als feiner Steppenklepper
mit Wut Champagner aus Kübeln saufend, aber immer an
der Krippe und eigentlich verwöhnt, nahm der Tolstoi sein
Schicksal, Stabstrompeterroß zu werden, als selbstverständ-
lich hin. Es hatte Sieger durch die Schlacht getragen; es
wieherte nur freundlich und herablassend, als man seine
spätem Äpfel als Goldäpfel anbetete. Das Ausschlaggebende
an diesem Pferde ist sein Steppenpferdverstand, Es wollte
niemals begreifen, daß es die Funken schließlich aus seinem
Huf zog, wenn es dahinsprengte; daß aber sein stupsnasiger
6$
kurzer Kopf zottig, schwerfällig und unschön war, auch
wenn es das große naive Auge rollte, bis es glotzig hervor-
trat; und daß der lange Schweif, den man ihm wachsen
ließ, einer geistigen Wüste Gobi angehörte, ein Rudiment
war aller asiatischen Wüstenrassen ohne Heiterkeit. Mit
dem Besen dieses Schweifes peitschte es sich christlich die
Lenden und glaubte dabei, die Welt zu kehren und zu
stäupen — es entsprach das eben seinem engstirnigen Pferde-
verstand. Aber die Funken, die ihm ehmals von den Hufen
stoben, bleiben unvergessen.
DIE ULLMANN. Dieses Wesen gibt es nur in einem ein-
zigen Exemplar. Es wird wohl ,,die" genannt wegen ge-
wisser äiißerlicher Zeichen, scheint aber alle möglichen und
denkbaren Geschlechte in sich auf dunkle urtümliche Weise
zu vereinen. Die Stimme der Ullmann erinnert an länd-
lichen Orgelton in einer leeren Frühkirche. Der organische
Bau der Ulimann scheint einer ganz frühen Zeit anzuge-
hören, zu der uns die Brücken verloren gegangen sind.
So ähnlich muß der erste Mensch gesprochen haben, als
er dem was er sah die ersten Benennungen gab und an-
betete Gott im Wort und das Wort in Gott.
DAS UNRUH. Das Unruh ist ein netter Frosch, der nor-
maler Weise im Teich lebt und sich hier von kleinen
Wasserläufern nährt. Doch ist es mit einer großen Kehl-
blase ausgestattet, mit der es vielleicht singt, die es aber
manchmal mit Luft zu füllen das Bedürfnis besitzt. Dazu
begibt es sich, wozu ihm sonst alle Eignungen fehlen, auf
das feste Land. Und zieht ordentlich Luft ein. Seine Kehl-
' blase dehnt sich aus bis zur Größe eines Kindskopfes. Da-
durch erregt das kleine Unruh die Aufmerksamkeit der
Passanten. Und es verdoppelt seine Anstrengungen, Luft
einzuziehen. Was dazu führt, daß seine Kehlblase den
Umfang einer großen Wassermelone annimmt. Zu seinem
Glücke verliert das Unruh bei diesem Mißverhältnis von
Leib und aufgenommener Luft das Gleichgewicht und
rollt ins Wasser zurück, wo sich die Blase sofort leert.
5* 67
In diesen seinem Elemente ist das Unruh ein zierliches
Fröschchen.
VAIHINGERS BAUCH IN JENA.
Es kahnt ein Ich im Mondlichtschein
Zweikantig um das Kantenbein
Sowohl als ob, als ob so auch,
Obwohl dann auch als ob im Bauch.
Sowohl — als ob, als ob — so auch,
Ob auch — der Bauch wohl so — wohl auch
So wohl — als auch Kant redet hier
Als Ob und Bauch.
DIE VOLLMÖLLER. Die Vollmöller ist eine Seeschlange,
von der nur manchmal ein Stück auf der Oberfläche des
Meeres sichtbar wird. Wie lang sie ist weiß man nicht,
aber die Behauptung, sie sei länger als achtzig Zentimeter
ist als übertrieben zurückzuweisen.
DAS "WALSER. Dieses ist ein überaus zierliches, graziöses
und launiges Tierchen aus der Familie der Eichhörn-
chen. Auf den allerhöchsten Bäumen sieht man es nicht;
es macht auch keine Versuche, da hinauf zu gelangen.
Aber den mittleren gibt des Walsers naive und schelmische
Anmut eine frohmütige Lebendigkeit.
WASSERMANN. Auch mögen jaakob genannt ist ein Stern
von größerer Kleinheit im Sternbild des Fischers und kann
besonders gut von der hohen Warte des Beer-Hofmann
gesichtet werden. Er steht so hoch über Wien wie unter
Dostojewski und wurde berühmt durch einen mysteriösen
Sphärenklang, der wie von Jahwe selber kommend den'
Deutschen, dem neuen auserwählten Volke, beziehungs-
weise dem Deutschen schlechthin seinen endgültigen ahas-
vcrischen Namen gab: Wahnschaffe. Diesen geheimnis-
vollen Namen fand man auch eingeprägt einem Meteoriten
von unlesbarer Größe, der bei näherer Untersuchung sich
als ein Gemengsei von Graphit, Dinte, Holzpapier, Mezieh,
Ambition und Filmbändern entpuppte.
68
DIE WEDEKIND. So hieß eine Sphynx, halb Geschlecht, halb
Kopf, doch beides in verkehrter Weise angeordnet, so daß
das Geschlecht den Ober-, der Kopf den Unterleib bildete.
Also ruhte sie und zeigte ohne Respektlosigkeit, sondern
aus ihrer Natur, dem Beschauer den Hintern und was in
dessen Gegend liegt. Die Sphynx Wedekind gab sich ihre
Rätselfragen selber auf. Diese beschäftigten sich in der
Hauptsache so sehr mit ihrer umgestülpten Natur, daß
kein menschliches Wesen sich für dieses Fragespiel inter-
essierte. Darüber wurde die Wedekind sehr indigniert.
Sie erkannte, daß man sie verkannte. Sie hatte sich gefragt:
Warum wollen die Menschen nicht im Geschlechtsakt ihre
einzige würdige Tätigkeit sehen? Warum sind die Huren
nicht die Königinnen der Welt, Muster der Frau? Warum
genießt der Phallus nicht die Ehren des Gottes? Warum
wird nicht ununterbrochen Tag und Nacht . . . ? Als sie
so lange gefragt und sich Antwort gegeben hatte, weil
niemand kam, die Rätsel dieser Sphynx zu lösen, stürzte
sie sich in den Abgrund ihres Tiefsinnes, sich selbst und
die Welt dreimal beklagend, daß sie ihren Propheten nicht
erkannt hätte.
DIE WEIGAND ist unsere größte Süßwasserschnecke, die
ihren schleimigen Leib in einem Gehäuse birgt, dem sie mit
großer, im Altern zunehmenden Fertigkeit, eine umfangreiche
Form gibt. An deren zerbrechlichen Rändern setzt die
Weigand einen feinen Farbenschmelz ab, der an jene See-
schnecken erinnert, die sich an der französischen Küste
finden. Das Fleisch der Weigand schmeckt süß. Es ziert
den bürgerlichen Mittagstisch, ohne da sonderliche Auf-
regung hervorzurufen. Das Gehäuse ist bei manchen Ra-
ritätensammlern beliebt.
WEININGER. Nicht in geweihter Erde, sondern als Selbst-
mörder hier unter den Literatieren, doch gleich einem Pfahle
im Fleische sumpfigen Bodens, ruht, fest in protestanti-
schen Händen das Kreuz, worein durch ein Wunder Gottes
die Waffe sich verwandelt hatte, O. Weiniger, ein Wiener
69
und Jude, der diese Beiden in sich aufgehoben hat mutig,
ehe Wandel und Lehre ihm sich spalteten. Solange er die
Unschuld des denkerischen Menschen umspannte, durfte
er alles dissociieren ; solange er nicht selber fiel, durfte er
das eine Geschlecht in die beiden Geschlechter fällen; so-
lange das X ihm nicht konkret wurde, durfte er es aus-
drücken durch M -f- W: Mann gekreuzigt an Weib und
umgekehrt. Die Waffe in seinen Händen war das für sich
da stehende Funktionszeichen einer gelösten Verbindung,
und uns ziemt nicht zu wissen, welch ein Element da frei
und aufgegeben worden ist. Nur eines kann man sagen
über diesem Heldengrabe: er hatte gehört in den Lüften
des Mannesalters das Heranbrausen des Konkreten. Das
X lief in der Funktionsreihe Gefahr, seinen mathematischen
Ausdruck zu verlieren und Impression zu werden. Da emp-
fahl er sich der unbekannten Barmherzigkeit Gottes.
DER KONRADWEISS. Der Konradweiß ist ein Klopfkäfer,
der am liebsten im Gestühl katholischer Kirchen oder im
Holz der Altäre bohrt. Er erzeugt dabei mit seinem harten
Kopf ein klopfendes, stark rhythmisches Geräusch, wodurch
er manchmal die Frommen stört. Der Konradweiß hört
mit seinem Klopfen auf, wenn die Orgel spielt, woraus
man auf sein musikalisches Gehör geschlossen hat. Um so
lebhafter klopft er bei der Predigt in einem seltsamen
Gegentakt zum Takt des Predigers.
DAS WERFEL. Von kugeliger Runde besitzt das Werfel
nicht wie der Igel dessen Fähigkeit sich einzurollen, son-
dern eher auszubreiten. Aber es hat vom Igel dessen Sta-
cheln. Nur sind diese ganz zart und weich und manchmal
auch, das Tier schmerzend, nach innen gekrümmt mit der
Spitze. Dieser Widerspruch zwischen dem Aussehen und
dem Sein des Werfeis machen das runde, weichmütige,
etwas faule Tier zu einem heute sehr beliebten mondänen
Schoßigel empfindsamer Seelen. Kaum ein Salon, in dem
man ihm nicht begegnet und wo es nicht herumgereicht
wird. So im Schöße liegend wie eine spitzstachlige Gra-
70
nate bewundert der mit der Art dieser Stacheln nicht Ver-
traute die Hände, welche diesen Stachelhügel streicheln
können wie eine Katze und soll solches auch in der Tat
beim Streichelnden sehr angenehme Gefühle auslösen. Doch
ist das "Werfel vornehmlich um einer andern Eigenschaft
willen beliebt, mit der es Gott ausgestattet hat. Es kann
singen wie ein Caruso und tut es so gern wie oft, beson-
ders wenn Lärm ist. Lärmt zum Beispiel ein Krieg, so
singt das Werfel, daß, druckte man das Gesungene, leicht
ein Oktavband von 308 Seiten damit zu füllen wäre. Um
dieser seiner ausgezeichnet Arien und Triller singenden
Tenorstimme wird das Werfel von andern Tieren, die es
nachzuahmen suchen, stark beneidet.
WHITMAN. So heißt der Große Pan, nie gestorben, weil
unsterblich, er allein unter den Göttern, wenn auch oft
Zeiten lang verschwunden in der tiefsten Grotte der Erde.
Auf des Greises verrunzelter Hand ruht ein Schmetterling,
die er für das hält, was sie ist: Ast vom Baum der Erde,
aus dem man auch jenes Kreuz auf dem Scherbenberge
zimmerte.
DAS WILDE. Dies w^ar ein berühmter und berüchtigter
Scherenschnitt vom Ende des verflossenen Jahrhunderts
nach einem menschlichen Kostüme, in welchem mit Vor-
liebe und mit dem Anstände eines Brummeil das Wilde,
eine Schönheit von Raubtier, also die Negation der Nega-
tion, vor den Urvätern unserer Snobs aufzutreten liebte.
Nero ähnlich, der als Komödiant auftrat, um mehr noch
als Kaiser, um Alles, um Proteus selber zu sein. Getreu-
lich nahm Wilde teil an dem falschen Universalismus einer
Zeit, eines Systems in ihren Hypokrisen: was man ist,
man kann es auch scheinen, was man hätte werden müssen,
auch spielen. Nur durch furchtbare Exzesse vermögen die
nun einmal noch bestehenden Gesetze den Schranken der
Kasten Ehrfurcht und dem Schauder der Charaktere vor
dem Schicksal dessen offizielle Ahnung zu verschaffen.
Einem solchem legalen Exzesse fiel auch das Wilde zum
71
Opfer, zu einem vergeblichen Opfer, denn dieselbe Kaste,
die es ersetzte, verurteilte das Wilde, indem sie ihre Klei-
der wechselte, statt des Cutaway die Robe anzog.
WILAMOWITZ. Wilhelminische Monumentalfigur des preu-
ßischen Pastors, bekleidet mit Löwenfell und Keule des
Herakles. Auf Rollen gestellt ist es verschiebbar. Man
konnte es vor dem Berliner Dom, vor der Universität und
vor dem Neuen Schloß sehen. Tönt wie eine Memnons-
säule mit Hilfe eines Grammophons deutsche sogenannte
Verse in antikischen Metren. Bürger halten's für Griechisch.
Dichter halten's für gar nichts.
DIE WILDGANS. Die Wildgans ist eine ganz zahme Haus-
gans, gern in Wiener Kleinwohnungen gehalten. Kinder
binden ihr, da ihr Flügel fehlen, solche aus Papier an,
worauf die Wildgans sehr stolz ist und Flugbewegungen
macht. Dabei stöBt sie Schreie aus, w^elche durchaus die
einer Gans seiend den Tonfall von oft gehörten Leier-
kästen angenommen haben. Kleine Bürgermädchen sagen
,,Mein Schwan" zur Wildgans.
DAS WOLFENSTEIN. Das grämliche Wolfenstein ist das
Murmeltier der Flachlandschaft, die es vergeblich durch
eifriges Graben mit seinen Pfoten, ja mit dem Kopfe, zu
vertiefen sucht. Es hat von dieser Leidenschaft, das Flache
tiefer zu machen, etwas Verbissenes bekommen, so daß
es sich manchmal ohne es zu merken in seine eigenen
Pfoten beißt.
DAS ZAHN, Dieses ist wie das Heer ein in der Schweiz
gezogenes Haustier, das gepökelt massenhaft nach Deutsch-
land exportiert wird. Es wird bei armen Leuten als Keller-
fleisch gegessen. Doch schmeckt es nach Kuhleder.
DER ZECH. So heißt ein in Kohlenbergwerken lebender
Höhlenkäfer, wo er das einförmige Geräusch der Spitzhacke
mit seinem guten Takte begleitet. In den belgischen Gruben
nannten die dortigen Leute den Zech auch Verhaeren.
72
DAS ZOBELTIETZ. Ein weitverbreitetes Tier, das unter
Ullsteinen am liebsten haust und dessen Fell Zobel vor-
täuscht. Man kauft es und verkauft das Fell dieses Tieres
ganz billig bei Tietz. Daher der Name.
ZOLA. Besaß ein weitläufiges Fabrik sgebäude zur Her-
stellung sozialer Schematismen. Seine Situationsmaschinen
stanzten den Menschen glatt und sauber heraus. Andere
Maschinen, welche die Wahrheit in der Kausalitätsreihe
platt walzten, nahmen die ausgestanzten Menschen auf und
setzten sie zu Ensembles zusammen, die auf einer Versuchs-
bühne abgerichtet wurden, so natürlich wie die Natur zu
spielen. Ein kleiner Mond aus Silberpapier macht die nötige
Sentimentalität.
DAS STEFFZWEIG. Des Steffzweige muß in diesem Bestia-
rium Erwähnung geschehen, da es von einigen wenigen
immer noch als ein Lebewesen angesehen wird. Aber es
ist das Steffzweig ein Kunstprodukt, hergestellt anläßlich
eines Wiener Dichter kongresses aus Federn, Haut, Haaren
usw. aller möglichen europäischen Tiere. Es ist sozusagen
ein Volapüktier. An seine organische Existenz glaubt man
zur Zeit nur mehr in entlegenen Ländern und in gewissen
Genfer Kreisen. Einige wollen das Steffzweig in einem
Leipziger Hause, Kurze Straße 7, unter einem kleinen
Glassturz gesehen haben. In den letzten Jahren hörte man
von einem Amzweig als einem richtigen Tier. Es zu er-
kunden war noch keine Möglichkeit, da es in Zion vor-
kommen soll. Dieses Land ist hinwieder in der Geographie
nicht festzustellen. Verbürgte Nachrichten melden, daß der
Arnzweig ein gutes, ehrliches, von Gott geschaffenes Tier sei.
73
DIE GROSSEN DICHTER
DEUTSCHER NATION
ABELES — nicht vorzustellen, wie eine so große Mensch-
heitsliebe in so kleine Gedichte hineingehen kann!
AMAN — hat nur eine kleine Geschichte von 11 Zeilen
veröffentlicht, aber sie ist der Daumennagel eines Riesen.
ARNHEIM — hat sich mit einem Roman, in dem nur Parti-
zipialsätze vorkommen, so sehr selbst übertroffen, daß wir
ihm raten, es bei diesem einen Roman bleiben zu lassen.
Nach solcher erreichter Gaurisankarhöhe kann nur ein Ab-
stieg folgen.
BEMAN — der größte Dichter der aller] üngsten Generation.
Statt einer Probe geben wir dem Leser unser Ehrenwort.
BERNHEIM — seine unvergängliche Tat ist die Abschaffung
jedes Artikels in der deutschen Sprache. Sternheims schüch-
terner Versuch charakterisiert diesen Verfasser doch als
einen Schriftsteller des Überganges.
BRONNEN — sein Drama, in welchem der Embrio seinen
Erzeuger mit der Nabelschnur erdrosselt, hat dem tradi-
tionellen jüdischen Familienproblem bis auf weiteres das
größte Monument der Lösung gesetzt.
BUMCKE — um von ihm zu sprechen, müßte man von
allem sprechen, aber das Leben ist zu kurz.
BUSSE - — man zittert , dieser Dichter könnte einmal auf-
hören, denn die Nation würde den Schmerz nicht ertragen.
Wir raten, sich allmählich diesem Sirenengesang zu entziehen.
CERFEL — er läßt seine Lieder des ersten Lebensjahres
auf seine Windeln drucken. Der Effekt der Dichtungen wird
durch jenen auf den Olfactorius außerordentlich gesteigert.
77
COHEN — Verfasser eines Stückes, das zu sehen man nie
müde wird, weil man es nicht spielt.
CORI NOY — ist durch einen einzigen Vers berühmt ge-
worden, der so viel enthält, daß der Nachwelt nichts mehr
zu sagen bleibt.
DEDEKIND — hat gegen das Sprichwort Sotto umbilico
ne religione ne veritä beides dort gefunden.
DON AT — seit sie dichtet, nennt man Gefühle nur mehr
Donate.
EMANN — ist trotz herrlichster Werke so unbekannt ge-
blieben, als hätte er den deutschen Schillerpreis bekommen.
ERFEL — hat in seine Gedichte die Menschheit so völlig
hineingepreßt, daß sie außerhalb dieses Bandes nicht mehr
vorhanden ist.
FECHER — war durch seine proletarischen Dichtungen der
Retter des Vaterlandes. Das Proletariat gab seine Revolution
auf, als es an Fecher sah, wohin sie führe.
FLAISCHLEN — seine Gedichte gehen so direkt zu Herzen,
daß man gegen die unvermeidlichen Überraschungen der
ersten Lektüre Vorsichtsmaßregeln treffen muß.
GAUKE — seine Sonette stehen neben denen Petrarcas,
mit dem Unterschied, daß der Italiener nur eine Frau,
unser Dichter aber vier Dutzend unsterblich gemacht hat.
GEHMEL — hat 999 Gedichte an seine Frau gemacht;
alles von ihr ist drin; nichts fehlt.
GINZKEY — ist der Stolz seines kleinen Landes, das sich
in seinem Unglück nur an ihm aufzurichten vermag.
GRAT AUS — hat sich aus seinem Talent einen kleinen
Bezirk gemacht und ist da nie herausgegangen.
GRUTSCHKE — hat einen Einakter gemacht und ge-
schworen, einen zweiten erst dann zu dichten, wenn der
erste vergessen ist.
78
HAUSER — hat Dante so meisterlich übersetzt, daß seit-
dem der Italiener ganz vergessen ist. So ist zu übersetzen!
HÄUBLER — ist das Genie der "Wortzusammensetzungen.
Er hat das berühmte Gedicht gemacht, dessen vierund-
zwanzig Zeilen, jede zu elf Silben, nur aus einem einzigen
"Wortekomposit bestehen.
HORLICKA — sein Roman ,,Die Not von Wien" hat die
Bevölkerung dieser Stadt ihre Not vergessen machen. Der
Roman ist Österreichs einziger Ausfuhrartikel.
HUNCKE — sie hat ein Gedicht gegen Amerika gemacht,
über das Amerika schäumt. Huncke aber wird von Japan
gehalten.
HÜTERSLOH — hat, konsequent einen Versuch eines im
Namen Gleichklingenden weiterbildend, eine leider aus
äußern Umständen unvollendete Periode geschrieben: nach
Verbrauch von 7860 Kilo Papier ging dieses in Deutsch-
land aus. Die wieder gehobene Produktion läßt hoffen, daß
Hütersloh seinen Satz vollendet.
KARLCHEN — seine bissigen Satiren machen seinem harm-
losen Herzen Ehre.
KURCKE — man hat zur Erklärung seiner tiefen Gedichte
eine Kommission eingesetzt.
LIENH ARD — hat den Erdgeruch entdeckt und versucht, da-
mit den Fußgeruch aus der deutschen Literatur zu vertreiben.
LISSAUER — sein Lied gegen England erschien unter glück-
lichen Umständen, hatte aber schlimme Folgen, denn es
machte die andern Nationen eifersüchtig auf ein Volk, das
solch ein Genie besitzt. Sie beschlossen daher Deutschlands
Untergang. Es ist manchmal unpatriotisch, zu schöne pa-
triotische Verse zu machen-
LÖBELES — hat grönländische Dichter so gut übersetzt,
daß das Übersetzen Mode wurde, wodurch wir leider eine
Unmenge Originaldichter verloren haben.
79
MARIE MADELAINE — die "Wollust ihrer Gedichte stellt
ihrer Keuschheit das beste Zeugnis aus.
MEVERS — eine Erzählung von ihm wurde ins Französische
übersetzt. Es sind schon wegen geringerer Ursachen Kriege
entstanden,
MOLFSKEHL — hat ein Distichon geschrieben, das nur
einige Längen hindern, den Versen des Meisters gleich zu sein.
MUNDELFINGER — hat seine Trilogie Shakespeare Goethe
George nur mehr durch einen Namen zu einer Tetralogie
zu erweitem: Gundolf.
NORA, NUSCHE, NOWAK, NUMBERGER, NIEZKI,
NUTSCHKE, NOGIGES, NIERENDORF, NOWASIS — eine
Milchstraße von Sternen! Unsere Mühe, sie einzeln fest-
zustellen, war größer als die, sich diese Namen zu merken.
Man merke sie sich!
OMPTEDA — er ist so fruchtbar, daß wir alle seine Ta-
lente nicht aufzählen können.
PAWALKE — die Verse, die er den Musen abringt, lassen
den Geiz der Damen bedauern.
PRESBER — der Homer des deutschen gutbürgerlichen
Abtrittes.
RADAU, PETER PAUL EMIL HEINRICH — hat sich vier
Vornamen gegeben in der Hoffnung, wenigstens mit einem
von ihnen auf die Nachwelt zu kommen.
RAUBE — ist unter allen knorrigen Dichtern der Knorrigste.
SALUS — seine Gedichte sind so beruhigend, daß sie in
Spitälern als Umschläge für Kranke verwendet werden.
Der Dichter ist auch Arzt — ist nicht Apoll der Dichter
und Ärzte Gott?
SCHERING — hat durch seine Übersetzung Strindbergs die
Schwerverständlichkeit dieses Schweden erwiesen.
80
^us' CeAuuiitrnatxn
SCHROIKER — setzt alle seine Opemtextc in Musik, was
sonst nie jemand gemacht hätte.
SOBELSOHN — seine Verse sind einziger Genuß einer
Pension Berlin Augsburgerstraße. Egoisten wie Genießer
schon sind lassen sie den Dichter nicht bekannt werden.
TEITELBAUM — hat die Milch seiner Amme in freien
Rhythmen bedichtet. Die gerührte Amme spendet ihm seit-
dem das doppelte Quantum. Der Dichter ist die Freude
seiner jungen Eltern,
WRZIZCINSKI — es gehört ein ungeheures Talent dazu,
mit solcher Vorsicht, Rhythmus, Reim, Harmonie, Sinn und
Klang zu vermeiden und doch solche herrliche Gedichte
zustand zu bringen.
ZARUK — hat eine Hymne auf Zion verfaßt. Als sie dort
bekannt wurde, verließen die 7600 Juden Palästina.
ZUBER BÜHLER — für ihn wurde das Wort „wurzelecht"
erfunden.
81
ZUR IDEOLOGISCHEN MORPHOLOGIlfe
DER LITERARISCHEN BESTIAE
DAS FAUSTISCHE URVIECH
BEI Bearbeitung der norddeutschen Fauna — soweit sie
sich nicht mit der europäischen Abart der felis leo
palestinensis gekreuzt hat, welche Abart ihre Behandlung
im Bestiarium erfuhr — konnten wir einer immer mehr sich
aufdrängenden letzten Konsequenz aus den bisherigen
Schlüssen uns nicht mehr entziehen, und mußten wir zu
der Annahme schreiten, daß alle jene unbeschnittenen Tiere
von der Gattung der genannten "Wiederkäuer, die ihre Homer
nur mehr zum geistigen Aufstoßen tragen, ihren Ahnen in
einem Geschöpf zu erkennen hätten, dessen exorbitante
Reste in den verkohlten Wäldern des 30 jährigen Krieges
gefunden zu haben wir so glücklich waren. Die Schwierig-
keiten der Rekonstruktion waren groJ». Fest stand, daß
wir es hier mit einem vollkommen isoliert lebenden Tiere
zu tun haben, das (zum Unterschied vom gleichfalls iso-
liert lebenden romantischen Einhorn, welches jungfräuliche
Geschöpf seine Gehirntätigkeit in aller gottgefälligen Un-
schuld emaniert) sein Hörn in eifersüchtiger Weise nach
innen gebogen trägt, wie uns ein tiefes Loch in der Stirn-
wand und ein in das Hirn gehender hörnener Kanal be-
wiesen. Mit diesem Hörne hat also das Tier, statt sich
oder seinen Daseinsprozeß in die Welt zu integrieren, diese
Welt gierig in sich selber integriert. Was wir zum Unter-
schiede von einem faktischen Vorgange auf der mensch-
lichen Ebene als die metaphysische Seite des Nasenbohrens
ansprechen müssen. Diese anatomische Kuriosität forderte
den Schluß heraus, daß dieses Tier sowohl sehr tiefsinnig
wie sehr bockbeinig gewesen sein muß, denn bei so auf-
reibender und unendlich zu denkender Beschäftigung mit
85
sich selbst, als welches das Nasenbohren oder Hineinstopfen
der "Welt in sich selber beschrieben werden muß, ist eine
bis zu ibsenischer Tollwut gehende Gereiztheit gegen alle
selbständige Umwelt unmittelbare "Wirkung, wenn diese Um-
welt es wagt, den geschlossenen Kreislauf des kompletten
Ichgefühles zu stören. Der Starke ist am mächtigsten allein,
besonders unter dünner gesäter provinzialer Bevölkerung,
wo der als ein Starker mißverstandene Sonderling, das
monströse Ich nämlich, eine gewisse panische "Wirkung übt
und die Korrektur durch eine das schrankenlose Indivi-
dualisieren hassende, ja verachtende Gassenbubenschaft
fehlt. Des immanent jähzornigen und überheblichen Cha-
rakters unsres Tieres gewiß, schlössen wir auch sofort auf
bösartige Absonderungen, und richtig: die Analyse der Reste
seiner Hervorbringungen ergab, daß es seine Nahrung in
Gestalt und Geruch des Problema von sich gegeben habe,
chemisch also bereits so gespalten, daß kein Spatzenmagen
mehr darin Nahrung gefunden hätte, zum Unterschiede von
den Äpfeln des freundlich spenderischen Pferdes. Diese
boshafte Art, eine restlose "Verdauung durchzuführen, also
nichts sonst zu scheißen als den abstrakten Dreck, den
Mist an sich, das vollkommen "Verwertete — dies muß aus
dem Umkreis des Tieres jede Natur verscheucht haben.
"Was so egozentrisch fäkalisierte, kannte nicht "Vogel noch
Käfer in seinem Umkreis. Kein Gemeingefühl, keine engere
Horde kann es gehabt haben, ja, daß es in der weiblichen
Art vorgekommen sein sollte, auch das ist, wenigstens
theoretisch, undenkbar. Jedenfalls hat ein ursprünghches
Mitteilungsbedürfnis ihm nicht ingewohnt, was seine Be-
schränktheit auf den nordgermanischen Boden beweist. "Wir
haben uns daher auch nicht weiter bemüht, Spanien, Frank-
reich, Italien oder andere gottes- und himmelsüchtige Länder
nach Spuren unseres Tieres zu durchforschen. Erscheint
doch in diesen Ländern durch das "Vorhandensein eines
echten Publikums das Mitteilungsbedürfnis, auch wenn es
dem literarischen Ego nicht ab ovo ingewohnt haben sollte,
in dieses per nationis gratiam einverleibt, woraus folgt, daß
86
eine Entartung des kunstfertigen Tieres zum wildschweifen-
den Schöpfer, der sucht, wie er sich selber verschlinge,
nicht vorkommen oder schlimmsten Falles nicht zu Ende
kommen kann. Hier möchten wir zu bemerken nicht unter-
lassen, daß ein ursprüngliches Interesse der Deutschen für
ihre Literatur natürlich nicht besteht, dasselbe vielmehr
erst durch Parasiten und Bakterien kritischer Art vermittelt
werden mu&. Das so erzeugte Interesse ist, wie ohneweiters
klar, ein krampf- und krankhaftes, denn es entsteht durch
Bildung, als welche ein äußerst unangenehmer und pene-
tranter Aussatz ist.
Nach vollendeter Rekonstruktion des Skelettes haben wir
das so wiedergewonnene Tier, das in sich selber eine Niete
ist, als das ,, faustische Urviech" klassifiziert, stolz darauf,
den bisher illegitimen Bälgern der Gedankenblässe mit der
ungestümen Leiblichkeit damit einen Vater und dem nichts als
Individuellen sogar eine Vergangenheit verschafft zu haben.
DIE STRUKTUR DES MEIERSCHULZE
Es war an einem Maiabend des Jahres 1785, daß Fried-
rich Wilhelm Meierschulze aus einem Hause der Metzger-
gasse in Königsberg trat, leichten Schrittes und stramm
gehobenen Hauptes, und ohne rechts und links zu blicken
die Postgasse hinunterging, wo vor einem scheunenartigen
Gebäude eine Kutsche schon länger auf ihn gewartet zu
haben schien. Denn der Kutscher saß bereits auf ihrem
Bock, und sie rumpelte alsbald die Gasse hinunter, nach-
dem F. W. Meierschulze darin Platz genommen hatte. Vor
der Stadt schlugen die Pferde einen muntern Trab auf
der Chaussee ein, die nach Berlin führte, des Reisenden
Heimatsort, in dem eine zahlreiche Verwandt- und Be-
kanntschaft seine Rückkehr seit etlichen Jahren schon un-
geduldig erwartete, welch alle Zeit unser Meierschulze in
jenem Sanatorium zu Königsberg zugebracht hatte.
Sehr gehobenen Hauptes, leichten Schrittes und ohne nach
rechts und Unks zu sehen, genau so verließ er das Haus.
87
Und dessen war nicht Ursache die fein wehende Frühlings-
luft, die ihn umfing — er achtete ihrer gar nicht im ge-
ringsten — und auch nicht, daß die Behandlung in dem
Hause ganz ohne ihre Widerwärtigkeiten gewesen war, im
Gegenteil, sie war oft recht rigoros, ja hart gewesen, wenn
es auch der Patient nicht so gar sehr spürte. Denn er
hatte in seinem Dasein so viel ertragen gelernt, daß es
ihm dauernd den Rücken krumm bog — und diesen Schön-
heitsfehler zu korrigieren war er ja besonders in das Sana-
torium des berühmten Mannes gegangen. Und der Fehler
war korrigiert. Der Mann in immerhin schon gut mittleren
Jahren hielt sich und stand und ging und sprach aufrecht
wie ein Pfahl. Es saß sogar in seiner kommoden Kutsche
wie ein Pfahl. Er hörte, brauchte man ihn später, diesen
Vergleich nicht gerne. Denn es war gar keiner, und ge-
rade daran wollte er nicht erinnert sein. Er wollte seinen
überaufrechten Gang durchaus aus seiner Moral abgeleitet
wissen, nicht, nun, es muß gesagt werden, aus dem Stock,
den er auf Anraten des alten Professors verschluckt hatte,
da nichts sonst helfen wollte. Als er nämlich die Geschichte
seiner Leiden dem Königsberger Hexenmeister erzählte,
kam er auch auf den Stock zu sprechen, den der alte
König des öftern auf ihn hatte niedersausen lassen, zu-
gleich mit dem Paradox: daß man ihn ,, nicht fürchten,
sondern lieben" solle. Und da hatte schließlich der Königs-
berger, der doch sonst ein Feinschmecker war, den sonder-
baren Einfall und Rat für den gekrümmten Patienten ge-
habt, er möge den Stock verschlucken, denn dann hätte
er ja das Mittel, das zur Liebe zwinge, im eigenen Leibe,
zugleich mit der den Stock schwingenden Kraft jenes, der
die Liebe heische. Und nichts war einfacher als das. Fried-
rich Wilhelm Meierschulze schluckte und hatte seitdem
einen aufrechten Gang, der etwas übertrieben aussah, aber
immerhin Eindruck machte, wie er aus der Kutsche mer-
ken konnte, fuhr sie durch einen Krug; denn da standen
die Bauernkerle bei seinem Anblick mit heruntergefallenen
Armen und sperrten Maul und Augen auf.
88
Wie sagte der alte Herr beim Abschied? „Handle so, als
ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum
allgemeinen Gesetz werde!" Ja, das war, so wußte er, wohl
die kürzeste Fassung eines von jenem oft wiederholten
Satzes, wobei es immer um Willen und Handlung herging,
zwei Dinge, welche das arme Metökenherz unseres Meier-
schulze außerordentlich erfrischten, denn er fühlte sich,
nach langen vergeblichen Anstrengungen zum Sein, durch-
aus zum Handeln geboren, wodurch er in einem Enkel
und mit Hilfe eines kleinen philologischen Schnitzers —
,,das Leben ist ein Geschäft, drum handle" witzelte der
Enkel — mühlos vom Handeln auf den Großhandel kam.
Mit dem Willen, da wird es schon werden, dachte unser
Held und schrie plötzlich laut auf ,,ich kann was ich will",
so daß der fromme litauische Kutscher ganz erschrocken
auf dem Bock zusammenfuhr und ein Kreuz mit der Hand
schlug, welche die Peitsche hielt. Denn er hatte die Gottes-
lästerung gehört und ihn schauderte.
Was ihm der alte Herr in Königsberg für den Anfang
prophezeit hatte, das traf ein: daß man F.W. Meierschulze
eine Zeit lang für sehr krank halten und darum meiden
würde, aber daß dies kleine Martyrium ihn, wenn dies
überhaupt möglich, nur noch gesunder machen würde. ,,Das
ist die Konkurrenz der veralteten Doktoren, wissen Sie,
die ihre Wut über meine Heilerfolge an Ihnen auslassen
werden. Besonders den Willen wird Ihnen gelegentlich
einer arg verekeln wollen. Aber nur immer aufrecht, lieber
Freund! Und da Sie ja den Stock — ". ,,Ich weiß, Herr
Professor", wehrte etwas in F. W. Meierschulze ab, denn
der genannte Stock war noch nicht ganz fest eingewachsen
und rührte sich manchmal als ein richtiger Fremdkörper,
der er im immerhin fleischigen Leibe war.
Man mied F. W. M, in der Tat. Man sah ihn nicht gern.
Er litt. In der soi-disant Verbannung tröstete es den un-
entwegt Aufrechten nur wenig, daß er sie mit einem Frei-
herrn von Stein teilte, so nutzbringend ihm auch die Unter-
haltung mit diesem Manne war, der an unseres Helden
89
Aufrechtheit eine etwas ironische Freude zu haben schien.
Es war wohl nur ein Scherz, doch Friedrich Wilhelm Meier-
schulze liebte solche Scherze mit heiligen Dingen nicht;
aber es gab ihm doch einen hoffnungsvollen Trost, als
der Freiherr einmal zu ihm sagte: ,,Tu es Petrus et in
hoc petro ..."
Darunter, seinem König nicht dienen zu können, litt unser
Held damals unsäglich. Denn es fehlte so im Schachbrett
seiner erkannten Pflichten ein Stein, und er war, auf das
unbesetzte Feld stierend, gezwungen, diesen fehlenden Stein
noch stärker als bisher zu denken, wodurch er sich ein
theoretisches Wissen sowohl über seine Königstreue wie
über seinen Pflichten komplex erwarb, womit er dann vier
Generationen seiner Landsleute ausstatten konnte, ja, es
profitierte sogar, tind bis an den Bauch, eine siebente
davon.
Daß ihm das Exil und seine vorübergehende Dauer vor-
hergesagt worden waren, bestärkte ihn in seinem Glauben
an die gelungene Kur und hinderte die Ausbildung eines
Ressentiments, wozu übrigens auch die Zeit im Exil zu
kurz war. So kurz, daß er es bald darauf überhaupt ver-
gaß. Und dies um so leichter, als sich Meierschulze inzwi-
schen so ausgedehnt hatte, daß er sich selbstverständlich
vorkam. Und da begann er sich historisch zu konzipieren,
was anfangs nicht ohne einige dialektische Kunststücke ab-
ging, da es galt, das historisch Vergangene so in das Gegen-
wärtige hineinzubringen, daß eine dem moralischen Habi-
tus Meierschulzes entsprechende Zukunft herauskommen
mußte. Worin dieses schwierige Kunststück der Geschichts-
konstruktion versagte, darin kamen später andere Umstände
zu Hilfe.
Unser Held konnte ein gewisses Lächeln nicht vertragen,
das er an seinen im Süden und Westen wohnenden Ver-
wandten immer dann zu bemerken glaubte, wenn er das
Wort ,, deutsch" aussprach. ,,Ihr wollt mir wohl mein
Deutschtum nicht glauben?" konnte er da auffahren und
machte sich bolzensieif mit Bauch heraus und Brust hin-
90
ein, daß das zweireihige Jakett im Jägerschnitt nur so
knackte. Er bekam darauf verschiedene Antworten, je
nachdem er, sein Enkel, sein Urenkel, sein Ururenkel,
sein Urururenkel die Frage stellte. Etwa diese: ,,"Wir haben
das Deutsche nur nicht so jede Zeit parat wie du, weil
es bei uns ein guter alter Kasten ist. Nur Neuvermählte
zeigen gern ihre Wohnungseinrichtung, die ihnen selber
noch auffällt, weil sie ihnen noch nicht ganz richtig ge-
hört. Unser alter Kasten, der steht schon so lang auf dem
Fleck, daß wir ihn gar nicht mehr merken." — ,,Jawoir',
sagte da giftig Friedrich Wilhelm Meierschulze VIII, ,,auch
nicht, daß ihn Stück für Stück die tschechischen Würmer
davon tragen." Oder man sagte ihm: ,,Wir können halt in
der Herstellung eines Champagners aus Apfelmost und
Zucker so was besonders ehrenwert Deutsches nicht sehen,
außer in der Benennung dieses Sudes, den du ,Kaiser-
blumc' taufst." Darauf antwortete hohnlachend Friedr.
Wilh. Meierschulze IX: ,, Deutschlands Zukunft liegt auf
dem Wasser" und stimmte das Flottenlied an. Einer sagte
ihm einmal: „Wenn seinerzeit die Tschechen so wie ihr
Preußen und Wenden und Sachsen deutsch von uns ge-
lernt hätten, dann wären diese verdeutschten Tschechen
unsere Preußen, und in Wien hätte man statt tschechische
Klofars und Kramars mit einem lauten ars deutsche Kra-
mars und Klofars mit einem stummen ars, wie Ihr deutsche
Bülows und Quitzows mit einem stummen Weh habt." —
,,Also du meinst, es sei eine Rassenfrage innerhalb der
deutschen Nation?" schnarrte Friedrich Wilhelm Meier-
schulze X, — ,,Das meint er wohl nicht," sagte ein Frem-
der, ,, sondern nur, daß Sprachgemeinschaft noch nicht un-
bedingt Volksgemeinschaft oder gar Kidturgemeinschaft be-
deutet. Die englisch sprechenden Irländer sind deshalb noch
keine Engländer. Und die französisch redenden Vlamen noch
keine Franzosen. Zu Metöken werden jene, welche Sprache
und Sitte der Eroberer annehmen." — ,,Wir Metöken?"
— ,,Ja, in der Seele, dort, wo ihr den Staat herumtragt."
— ,,Und der Staat ist nichts?" — ,,Er ist euer zum Ge-
91
setz der Welt erhobenes Metökentum," — „Handel und
Gewerbe lagen in Griechenland allein auf den Schultern
der Metöken." — ..Wie heute in der Welt. Ganz richtig.
Nur daß damals Handel und Gewerbe nicht den Staat aus-
machten wie heute. Neben Perikles saß nicht ein Schnei-
der im Amte kraft seines Schneidertums. Darum seid ihr
heut die Mächtigen, denn ihr habt heute die Macht des
Staates, kennt daher nichts als ihn und wollt nichts anderes
als ihn, denn Zweck und Sinn eures Lebens erfüllen sich nicht
menschlich oder göttlich, wie es sonst der Brauch, sondern
staatlich, und das heißt ohne persönliche Verantwortung."
Nach solchen Debatten pflegte der jeweilige Meierschulzc
auf sein wohlgeordnetes Besitztum zu sehen, seine Kon-
tore, Kanzleien, Krane, Lifte, "W. C.'s, Schiffe, Soldaten
und der zweifelhaften Wirtschaft dieser oder jener seiner
südlichen Verwandten vergleichend sich zu erinnern, um
allsofort wieder sein vollkommenes Gleichgewicht zu fin-
den. Aus dem er eigentlich nie gekommen war, denn er
verstand die andern gar nicht, und die andern ihn nur
wenig. Auch deshalb, weil man, um sich etwas zu ver-
ständigen, auf ein Deutsch sich geeinigt hatte, das eigent-
lich kein Mensch redete. Und zudem war es ein reiner
Zufall, daß sie überhaupt miteinander und deutsch redeten.
Ein anderes Mal ging ein Gespräch so: ,, Lieber Bruder,
du bist vortrefflich in der Not . . .!" — ,,Ohne mich" — ,,Gc-
w^iß, ohne dich verloren in der heutigen Welt für Heutiges.
Aber deine Art schafft uns eben die Not! Ja, manchmal
kommts mir vor, als ob du wie vom bösen Geist besessen
die Not extra schafftest, um dich so recht als Nothelfer
zu zeigen, dein Dasein schön zu beweisen, dem ohne die
Not der Sinn fehlte, den wir ihm zu geben gewohnt sind
und den du aus deiner Art nicht anerkennen, kaum ver-
stehen kannst, weil er dir nicht Pflicht wird und der als
Pflicht, als ein so Selbstgesetztes, überhaupt nicht zu fassen
ist." — „Aber du siehst doch den Zerfall überall dort, wo
mein Pflichtbewußtsein nicht herrscht." — ,,Und die andern
sehn den Verfall dort, wo es herrscht, oder sie geben ihren
92
Verfall zu und sagen, dein Pflichtleben verursache ihn,
denn es verdränge das Leben. Was du lebst, das impos-
tierst du andern, denen es nicht im Wesen liegt und bei
denen es daher nicht gedeihen kann, wie bei dir. Das
nennst du dann Verfall der Welt, aber es ist nur deine
bestimmte Welt, die auf die ganze Welt ausgedehnt über-
all dort verfällt, wo sie eben nicht leben kann." — ,,Gut
ist, was im heutigen Leben — " — ,, Verzeih die Unhöf-
lichkeit der Unterbrechung, aber wir wollen nicht aus
Vergleichen gut und schlecht, wahr und falsch bestimmen,
denn das Urteil ist hier unwichtiger als dies, daß es und
von wem es und wie es ausgesprochen wird. Und da ist
nichts weiter zu sagen, als daß du in der heutigen Welt
mit deiner Pflicht dich bis auf weiteres besser behauptest
als der andere, den nicht die Pflicht vollkommen definiert,
wie du sie allein kennst. Du bist nichts als der Stärkere
in der jetzigen Welt, die in ihrer augenblicklichen Artung
deiner Art günstiger ist. Du hast wie die Juden, die Schot-
ten, die Norweger, die Amerikaner, lauter deinige Ver-
wandte, die größere Anpassungsfähigkeit an das heute Kur-
rante, und das ist für dich gut, und deshalb auch, aber
nur für dich, an und für sich gut, das Gute schlechthin."
— ,,Ich handle nach Maximen, die sich selbst zugleich als
allgemeine Naturgesetze zum Gegenstand haben können,"
antwortete der betreffende Meierschulze, nunmehr schon
nichts mehr sonst als der leibhaftige kategorische Impe-
rativ. Und das ist sein Malheur, dachte der andere, daß
dieser Meierschulze mit uns sprachverwandt ist, und sich
daher zugleich auch noch denken kann. Er wäre sonst
ein so umgänglicher Amerikaner.
Friedrich Wilhelm Meierschulzc machte sich seine Ge-
schichte, denn Unsicherheiten der Herkunft verlangten eine
Ahnenreihe, die auch bis Wittenberg zustande kam. Bis
dahin. Denn da es ihm vor allem und auf nichts sonst
eigentlich ankam als auf das Fortschreiten, ließ sich in
Hinsicht auf den Weg bis Luther nichts weiter empfinden
als die Freude, daß diese Zeiten wirklich überstanden
93
seien, die er mit Vorliebe und stiller Verachtung die , dunklen'
oder, redete er öffentlich, ,finstem' nannte. Und er war
glücklich, in der absoluten Gegenwart, nach der er strebte
— und die ihm auch die Zukunft einschlang — keine
andern Spuren jener finstem Zeiten zu finden als solche,
die er sich ästhetisch zurecht legen und damit, wie auch
mit der universellen Bildung, vom Halse schaffen konnte.
Ja, es setzte ihn das Unhistorische seiner eigenen Lebens-
form, welcher der Begriff der Dauer fremd war, erst recht
in stand, jenen Historismus zu produzieren, den einer die
historische Krankheit nannte. Sie bestand darin, da& der
hermetisch in seinen Pflichtbegriff wie Insekt in Bernstein
eingeschlossene "W. F. M. um sich ein Leben sah, dessen
organisch sich formenden Werte aus historischer Konti-
nuität des Seins — und nicht des WoUens — sich pro-
duzierten, und die selber zu produzieren er sich ganz
au^er stand merkte. So versuchte er, sich diese Werte aus
der wissenschaftlich disziplinierten Bildung wenigstens an-
zueignen, worin er auch bald jeden schlug. F. W. Meier-
schulze wurde der wissenschaftliche Mensch schlechthin.
Er w^urde der Mann, den man überall in der Welt und
in allen Sprachen »Professor' nannte. Er verfaßte dickste
Bücher über Malerei, trotzdem er den einen Maler in sei-
ner Familie als einen Taugenichts auslachte und einen
anderen, der überhaupt kein Maler war, ein malerisches
Genie nannte. Er schrieb Abhandlungen über den Ge-
schmack, trotzem er Stilformen aus dem Zweckgedanken
erfand. Er beherrschte sämtliche indianischen Dialekte,
nur die deutsche Sprache schrieb er, daß einem speiübel
wurde. Er erfand das Gesamtkunstwerk mit ethischen Ab-
sichten, weil er das Einzelkunstwerk mit ästhetischen Ab-
sichten weder zustande bringen noch aufnehmen konnte.
Nichts war vor seinem wissenschaftlich gedrillten Verstände
sicher, nicht einmal der Verstand selber. Denn gelegent-
lich verleitete ihn sein in allem Gewesenen und Seienden
herumvagabundierender und suchender Bildungstrieb dazu,
seinem Verstand eine mystische Maske zu geben und gegen
94
den Verstand zu Felde zu ziehen: er wurde höchst ver-
ständig verrückt. Aber das waren seltene Extratouren
von sehr kurzer Dauer. Im Grunde waren unserm Helden
beide Formen, in denen Outsider der Familie gegen die
Aufklärung, diesen falschen Vertrag zwischen Wissenschaft
und Orthodoxie, protestierten, gleich zuwider: sowohl die
Form Goethes, der zugunsten des Denkens entschied, wie
auch die Form der Romantik, welche zugunsten der Ortho-
doxie entschied. Unser Held war für Schiller, für die Auf-
klärung und den Fortschritt, seines ethischen Pflichten-
komplexes als des Normativen sicher.
Im verschluckten Stock, dem physiologisch-anatomischen
Erbstück der Familie Meierschulze, besaS unser Held ein
Attribut des Königs, der Stock und Pflichten auferlegte,
im eigenen Leibe. Der Untertan wurde sein eigener Unter-
tan und erkannte sich. "W. F. M. propagierte den Demokra-
tismus der Pflicht, die er hinreichend abstrakt faite, so
daß sie leicht alle Konkretiemngen annehmen konnte. Er
schuf damit keine Demokratie, di^ ja nichts als ein ge-
fühlter Zustand ist, sondern die Organisation.
Der Begriff des Lebens deckte sich ihm mit dem Vor-
stellungskomplex einer zweckhaften Organisation erkannter
Pflichten, wobei sich die Pflicht immer mehr aus ihrer bis-
herigen ethischen Kategorie herausbegab und gern jedem
Ding als Etikette aufgeklebt wiirde, das sich ohne diese
Tabulierung nicht hantieren ließ. Diesem seinen Lebens-
begriff ordnete unser Held auch die "Wissenschaft unter,
indem er ihre Methoden zu ihrem Sinne überhaupt machte,
— die Wissenschaft wurde nichts als Methode, was sie
gegen den bisherigen Sinn der Wissenschaft so sehr ab-
hob, daß die Meierschulzes nicht ganz unrichtig von einer
deutschen Wissenschaft sprechen konnten.
Friedrich Wilhelm Meierschulze liebte es überhaupt, vor
gewisse Begriffe das Wort deutsch zu setzen, nicht nur
aus dem begreiflichen nationalen Stolze des Herrn gewor-
denen Metöken, sondern in wenn auch nicht ganz deutlich
gewordner Einsicht, daß die Sache in seiner Hand etwas
95
anderes geworden war. Er sagte zum Beispiel: „Der Deutsche
Gott." Oder er sprach von deutscher Treue, etwas mit dem
Tonfall, als ob es wo anders keine gäbe, und es irritierte
ihn wenig, als ihm — es war um 1866 — ein Bayer sagte,
daß sich das Wort deutsche Treue wie eine Übersetzung
von fides punica ausnehme. Er parierte damals mit ,, un-
abwendbarer Folge" — Meierschulzc der Elfte sagte ame-
rikanischer ,, Logik der Tatsachen" — und er flüchtete
sich in die Hegeische Geschichts- und Rechtsphilosophie,
aus der sich eine Auserwähltheit jedes Volkes leichter lesen
läßt als die Juden die ihre aus dem alten Testament.
Wenn Meierschulze sich auf eine Diskussion von Rechts-
gründen damals nicht einließ, so geschah es, indem er,
seines metaphysischen Rechtes wie seiner ewigen Seligkeit
aus dem alleinigen Glauben sicher, sich nur und auf nichts
sonst als auf den Existenzgrund berief. Seit Sadowa stützte
er sich auf die Kanone und trieb Rechtsstudien auf der
Artillerieschießstätte. Das gab ihm so viel Sicherheit, daß
er um diese Tatsache sein Leben gruppierte, später als er
es niederschrieb gelegentlich und unter dem Pseudonym
Heinrich Treitschke veröffentlichte. Meierschulze, der klein
zu bleiben geboren war, wäre ohne den geschluckten Stock
auch klein geblieben. Aber der Stock streckte ihn: er wuchs
an ihm, wurde nicht größer, aber massig.
Dieses Prooemium meines deutschen Romanes, den zu schrei-
ben nur Faulheit hinderte, nicht die oft besprochene Un-
möglichkeit eines deutschen Romanes, steht hier an diesem
Ort, weil es die wichtigsten Strukturteile der deutschen
Seele enthält, wie diese sich heute zeigt. Auch in den
Beiles lettrcs und ihren Verfassern. Kapitel des Romanes
enthalten mit allem Fleische, auf welches das Prooemium
verzichten muß, unter vielem auch dieses: Meierschulzes
Italienreise, id est seine künstlerische Ambition, seine Hoch-
zeitsreise nach Paris, id est seine erotische Ambition, seine
Fahrt nach London, id est seine geschäftliche Ambition.
Enthält Das Wartburgfest, id est seine Religion. Sein Besuch
bei Bismarck, id est seine Politik. Sein Empfang Roosevelts,
96
p i z. Hesse
id est auch seine Politik. Seine Depesche an Ohm Krüger,
id est noch immer seine Politik, Die Gründung des Palais
de Danse, id est seine mit dem Geschäft multiplizierte
„Pariser" Erotik. Sein Kulturkampf, das ist sein Kultur-
kampf. Sein Eucken, das ist sein Idealismus für Minder-
bemittelte. Sein Reserveoffizier, das ist sein Idealismus für
Höhcrbcmittelte usw. usw.
Ich werde den Roman doch noch schreiben und schenke
den Stoff niemandem.
DER FREUD
Der Freud ist zunächst eine zu Fackelkraus analoge Sprach-
bildung. Mit überraschender Weglassung des Vornamens
und durch die Hinzunahme vertraulichen Augenblinzelns
gibt sich hier eine Bekanntheit und zugleich eine Intimität
mit dieser Bekanntheit, die nun ihren Ruhm auch in der
ganzen Menschheit ausbreiten könnte, ohne doch auf-
hören zu können, eine lokale und esoterische Bekannt-
heit zu bleiben. Denn diese ganze begeisterte Menschheit
würde eben bloß zu Wienern, zu Lesern der Fackel und
der psychoanalytischen Schriften: der Begriff der Mensch-
heit würde eingeengt statt erweitert werden kraft einer
fluchartigen Affinität der Leser zu ihren Autoren. Was den
Freud anlangt, so verwandelte sich da der Genius der
Menschheit auf dem Lokus des Allzumenschlichen in den
Genius loci und der Wiener ,, Stock im Eisen" erhöbe sich
zur Säule des Herakles, welcher Name hinwieder nur das
antike Pseudonym für den Fackelkraus ist, der insofern
— allerdings mehr Crepe de Chine als Atlas — die ganze
Schuld am Weltkriege trägt, als und umsomehr er durch
immer heftiger betonte Schuldlosigkeit seiner Person Gefahr
läuft — man soll den Gott nicht an die Wand malen —
zum agnus dei zu werden, das diese fremde Schuld dann
hinwegnehmen müßte. Wie das Sonntagspublikum unserer
Zoologischen Gärten sich um den Affenkäfig drängt, weil
der Affen physiognomische, die Distanz scheinbar wieder
7 97
aufhebende Nähe zur Komik wird, so sammelt sich eine
Waisenschar der illegitimen Kinder ahndungsvoll um ihre
Väter, den Freud und den Fackelkraus, in der verschäm-
ten, aber zudringlichen Form des Abonnenten oder Patienten,
Scheinkomplemente des Wahlvaters, diesen zur Legitimie-
rung von Schemen lockend, die er gezeugt durchs Wort
er weiß nicht wie und weiß es doch; und so muß er in
unerhörter Weise mit diesem Worte, dieser Sprache ringen
gegen Neurose und Lektüre, als Arzt das Leben, das er
geschaffen, abtreibend, als Publizist wieder einsammelnd
in sich, was er ausgegossen. Der Fall, daß ein Publizist
sein Publikum zurücknimmt, also inmitten der Publizität
diese selber aufhebt und nichts sonst schildert als die
Wonne des Wegschaucns von dem, was seine Schilderung
im Konkreten auswirkte: welch eine Verzweiflung, die sich
an den Worten erhängt, welch ein Schauder vor der Er-
kenntnis seiner selbst, aber auch welch ein Genießen am
Strick!
„Lieber krank werden, als unbehandelt von solchem Arzte
durchs Leben wandeln, der mit der Lust, der Libido auf
dem besten Fuße, dem Pferdefuße steht!" so ruft in der
hypokriten Gesellschaft, welche natürliche Bindungen nur
noch markiert und der die Kriege auf das Haupt kommen
müssen, um der eingebildeten Übel wieder Herr zu werden,
das alte Maß der wirklichen Leiden wieder herzustellen, so
ruft am Generationsende aller Laster der Müßiggänger aus.
,, Lieber überhaupt lesen können als nicht lesen können, was
der Kraus über mich geschrieben hat," so ruft des in
Wien so Vielgenannten namenloser Zeitgenosse, dessen von
Gottes Zuchtrute noch unbefriedigter persönlicher Maso-
chismus sich wollüstig getroffen fühlen will in dem allge-
meinen Porträt dieser Zeit. Er nimmt die Gefahr der Bil-
dung in Kauf, die Gefahr des Zusammentreffens mit den
bedeutenden Phänomenen der Schrift, nur um lesen zu
können auf dem Höllentore, wer er sei: ein Schurke, ein
Schieber, ein Schmock — aber er siehts gedruckt, gedruckt
in der ihm heiligen rotbroschierten Schrift, er ist da in ihr,
98
immerhin auf der Seite der Böcke, aber er ist da, er lebt,
er hätte es nicht geglaubt!
,, Dieser ist mein vielgehaßter Sohn, an dem ich mein Miß-
fallen habe", so verkehrt sich im Munde des falschen Pro-
pheten das Wort, und nur bei dieser Verkehrung wohnt
das Blasphemische solcher Schriftstellerei, welcher mit dem
unmöglichen Versuche, den Journalismus in den Bezirk der
Sprache zurückzuführen, aus welchem er sich selber durch
einen Akt der Einsicht gestoßen hat, ein ganz anderes, un-
beabsichtigtes gelungen ist: daß die Steine, die sie hinter
sich gegen die Leute geworfen hat, diese Leute erst aus
dem Boden gestampft haben! Für jeden entlarvten Betrüger
standen ihrer zehn auf und da und hatten anstatt Karriere
plötzlich ein , .Höheres", eine verschwommene, verschmockte
Art Gewissen, die — ,, Hemmung" nämlich, die sie nun
nicht weiterließ, hin zu den ihnen bei den Königen bereiteten
Stühlen, zu den Redaktionsschemeln nämlich. Die Hem-
mung ließ sie nun nicht hin, sehr zum Wehe aller andern
Berufe und insonders der Dichtung, wohinein nun alle Ge-
hinderten können, sofern sie nicht noch immer dichtge-
drängt bei der tausendsten Vorlesung ihres Propheten
stehn, weder vor noch zurück können, die Ausgänge der
Redaktionen verstopfen und die Eingänge zu den psycho-
analytischen Ordinationszimmern — ein Greuel für Gott
und den Teufel.
Jener nahm den mediokren Subjekten die Lust zum Schlech-
ten, aber gab ihnen nicht die Lust zum Guten, gab ihnen
den Stein der Hemmung statt Brotes und zeugte so Wesen,
Menschen, die es nicht in Wahrheit gibt, sondern nur in
der Hysterie. Jener sprach über das Gute nicht dämonisch,
und das machte den Andern nötig, den Regimentsarzt
seiner Marodeure, die zum ewigen Rückzug befehligt werden
und nach den Wonnen eines unerreichbaren geistigen Hin-
terlandes schmachten. Das macht den Freud nötig als den
psychologischen Definitor der Hemmung und machte zum
ersten Male das sittliche Phänomen der Lauheit zu einer
Krankheit, also zu einem außersittlichen Phänomen, also
7* 99
zu nichts und alles, was nach ihrer Behebung geleistet
werden könnte, zunichte, da die volle und werthabendc
sittliche Entscheidung in der Hilflosigkeit und Verlassen-
heit von jedem Außen erreicht werden muß.
Zoologisch gesprochen ist der Freud die zum Wurm im
Apfel der Sünde degenerierte Schlange des Paradieses. Da
der Teufel aus dem Mythologischen ins Psychologische
fiel, tauchte der Verführer auf als der Arzt. In dieser Rolle
korrespondiert er gleichsam unauffällig mit dem Tode, nimmt
ihm zum Schaden der Seele einen Teil der Schrecken. Als
Arzt ist der Teufel trotz seines Falles subaltem geworden.
In der Gestalt der Schlange des Asklepios hält er die
Würde des bösen Prinzipes wenigstens noch an einem
Stabe aufrecht, gleicht jedoch einem Könige ohne Land,
da er dieses doch notwendigerweise durch die Pyrrhus-
siege seiner Therapie verlieren muß, ohne es allerdings
gänzlich durch den wahren Sieg über sich und die Sünde,
wie ein absolvierender Priester, aufgeben zu können. Er
bleibt im beruflichen Protest gegen die Gesundheitsfiktion
Besitzer des Landes, d. h. der Notwendigkeit von Übel und
Sünde. Da dieser Schlange gewesene Wurm gewohnt war,
in unendlichen Zeiträumen zu denken, erscheint ihm sein
Apfel als eine Globe, als eine ganze Welt. Es ist daher
müßig, mit dem Freud über die Allgewalt der Libido zu
streiten. Denn gerade in der Setzung dieser Allgewalt
hat er sein ursprüngliches Wesen wahr. Sprach er als
Schlange einst: eritis sicut deus, so spricht der jetzige
Wurm: seid wie die Psychoanalytiker. Denn die missionie-
rende Kraft der psychoanalytischen Schriften ist größer als
ihre Absicht, die Therapie. Wider den bewußten Willen
ihrer Autoren. Aber so geht nun einmal ihr Verhängnis
und beweist den Satz, daß außer dem einen Arzte kein
Heil, auf lateinisch: extra ecclesiam non est salus. Die
böse Materie ist nämlich durchaus stärker als jeder sie
vorausetzungslos Erkennende. Es kann das Böse nicht
ohne bedeutende Gefahr für den Erkennenden erkannt
werden, insofern dieser nicht auch die letzte Affinität zu
100
ihm in sich gelöscht hat. Aber Wiener und Juden, diese
beiden Kinder des Desillusionismus, können metaphysisch
nicht untergehn; sie vermöchten in einer absoluten Ent-
scheidung nicht zu leben; weswegen sie den Dreh lieben
und den Begriff des Nebbich, also den Trugzug des Matt-
setzens und das anarchistische Attentat auf das Continuum :
den Bombenwurf des Nebbich. Wiener und Juden sind ver-
möge einer ahasverischen Lebensdauer mit allem, was fliegt,
kriecht, singt, malt und dichtet, heilig oder erhaben ge-
nannt wird, intim, weil der Schein, daB sie alles das
könnten, schon und wenn schon und von Akiba her und
für alle Zukunft stärker in ihnen ist als die protestantische
und protestierende Tatsache des schlechthin einmaligen in
Subjekt wie Objekt, woraus der Problematiker seinen tiefen
Respekt vor den Dingen zieht und vor sich selber. Diesen
Respekt können Wiener und Juden nie haben wegen ihrer
pseudometaphysischen Intimität mit sich, untereinander und
mit allem was ist: also haben sie da in dem Freud, in
dem Wurm und seiner Methode sich zu winden die wis-
senschaftliche Erlaubnis gefunden, kein Geheimnis mehr
weiter mit sich noch außer sich zu haben. Zum ersten
Male wieder seit langem tritt der Arzt als Magier auf,
beinah mit einer Irrlehre, eingedenk also seiner Präexistenz
als Schlange, und mit einer Praxis, die bis auf den Dai-
mon des intuitiven Durchschauens ohne weiteres zu er-
lernen ist, welcher Daimon zudem jeden, der ihn besitzt,
zum Arzte macht. Sokrates, der sich selber Arzt ist! Ahnt
man, worum es hier geht? Das hohe Ziel der Erkenntnis
wird unglaublich tief gehängt, die ahasverische Person
möchte sich auf- und auswickeln, zu Ende kommen; die
Schlange, schon Wurm geworden, möchte endlich ganz
verschwinden. Mittelst einer Schein-Nichtexistcnz des Teufels
soll Gott aufgehoben werden. Über alles die Schweigsam-
keit: nichts sagte Franz von Sales lieber. Ich bescheidener
Zoologe sage nur noch: Hütet die Lust in jeder, auch in
gestrafter Gestalt vor den Ärzten! Habt Achtung vor der
Sünde und den Leiden aus ihr! Seid euch selber sehr ge-
101
heimnisvoU auch im Bösen. Geht lieber unter als zum
Arzte geistigen Schiffbruches. Denn eine gewisse Ge-
sundheit möget Ihr gewinnen, was Ihr aber verliert ist
der Adel.
ANTIGONUS UND PHILAMINTE
Jedes Kunstwerk muß exemplifizieren, den Gehalt haben,
muß in seiner Einmaligkeit die Einheit und Universalität
des Gesamtgeschehens aufweisen können. Wir wollen uns
daher keiner zufällig durch die Zeitung oder von der Phan-
tasie uns zugewehten Geschichte hingeben, sondern uns
diese in bewußter Konstruktion selber herstellen.
Annehmend, daß Begriffe mittlerer Allgemeinheit eine all-
seitige Fruchtbarkeit zeitigen, sei der Held im Mittelstande
einer größern Provinzstadt, sagen wir etwa in der Person
eines Gymnasialsupplenten lokalisiert. Soferne derselbe
Mathematik und Physik unterrichtete, kann vorausgesetzt
werden, daß er diesen Beruf aus einer kleinen Neigung
und Begabung zur Auflösung näherer Probleme erwählt
habe, denen er in eigenen Studienjahren mit schöner Hin-
gabe, roten Ohren und einem kleinen Glücksgefühl im klop-
fenden Herzen oblegen haben dürfte, ohne allerdings die
Erstellung weiterer und höherer Aufgaben und Prinzipien
zu bedenken oder zu erstreben, wohl aber mit der Ab-
legung der Lehramtsprüfung einen logischen, definitiven
und bürgerlichen Abschluß findend. Es paßt in den solcher-
art imaginierten Charakter, daß er die Formen des Lebens
mit der gleichen Selbstverständlichkeit hinnehme wie die
Formeln der Mathematik: beide als seiende Dinge, über
deren Realität man sich keine weiteren Gedanken zu machen
hätte, denen Fiktivität zuzumuten verwunderliche Schrulle
wäre und deren einzige Problematik in gewissen Schwierig-
keiten ihrer Kombinationsfähigkeit, das heißt Auflösbar-
keit sich dartue. Die Einteilungsfähigkeit und -aufgäbe der
rechnerischen und erlebten Materie war ihm stete Sorge,
aber auch interessiertes Vergnügen, und immer darauf cr-
102
picht, daß „es genau ausgehe", hatte er zu den Fragen
seiner sogenannten Wissenschaft dasselbe Verhältnis wie
zu denen seiner Stundeneinteilung, seiner Geldsorgen und
denen jener Lebensfreude, die ihn als solche gar nicht
berührte, die er aber irgendwie mitzumachen sich verpflichtet
fühlte, da sie von den Kollegen anerkannt wurde, mithin
ein seiendes Ding darstelle, dessen Forderungen zu erfüllen
waren. Er trank ohne sonderliches Behagen Bier, besuchte
nachher das öffentliche Haus, hatte Wege zum Spezialarzte,
gab Stunden, fuhr auf der Straßenbahn, stand im Labo-
ratorium, fraß in den Ferien an Mutters Tisch, schwarze
Nägel zierten seine Hände, rötlichblonde Haare seinen Kopf,
von Ekel wußte er wenig, Linoleum schien ihm ein gün-
stiger Bodenbelag.
Eine solche Existenz, vollständig determiniert von den
Dingen einer ebenen Außenwelt, in der kleinbürgerlicher
Hausrat und Maxwellsche Theorie einträchtig und pari-
tätisch durcheinanderstehn, muß als Minimum von Persön-
lichkeit angesehn werden, so daß sich mit Recht die Frage
erhebt, ob ein solches Non-Ich Gegenstand menschlichen,
geschweige denn novellistischen Interesses sein dürfe, da
man ja sonst ebensowohl die Geschichte irgend eines toten
Dinges — sagen wir beispielsweise einer Schaufel — ent-
wickeln könnte.
Dieser Einwand ist um so berechtigter, da nicht einzu-
sehn ist, wie sich die Verhältnisse mit Ablegung der Lehr-
amtsprüfung wesentlich ändern sollten. "Wohl mußten im
Kopfe des Helden — Namen tun nichts zur Sache, er heiße
also Antigonus — doch auch irgend welche eigene Ge-
danken gewesen sein, umsomehr als die kleine Denkbe-
gabung zur Mathematik unleugbar vorhanden war, aber
sie blieben an das hier und jetzt Gegebene gebunden.
Immerhin verdichtete sich dieses Denken zur Zeit der Exa-
mina zu gewissen Zukunftshoffnungen und vagen Bildern:
er sah sich im eigenen Heim, sah, wenn auch ein wenig
schwankend, das künftige Speisezimmer, aus dessen abend-
lichem Dunkel die Konturen eines schön geschnitzten An-
103
richteschrankes und der grünliche Schimmer des wohlge-
musterten Linoleumfußbodens deutlicher sich abhoben. Auch
ließ das Futurum exactum dieser Formungen ahnen, daß
in jener Wohnung eine Hausfrau vorhanden zu sein haben
werde, was jedoch alles, wie gesagt, schemenhaft blieb.
Die Erheiratung einer Frau w^ar ihm im Grunde genom-
men unvorstellbare Angelegenheit: wenn ihm auch beim
Bilde der zukünftigen Hausfrau gewisse erotische Schwaden
durchs Gehirn zogen und etwas in ihm meckerte, da& er
deren Unterkleidung so genau kennen werde, mit allen
Fleckchen und Löchern, wie seine eigene, wenn ihm also
jenes Weib einmal als Mieder, einmal als Strumpfband an-
gedeutet wurde — dies auszudrücken, vermöchte eine hier-
herzusetzende Illustration Kokoschkas — so war es ihm
anderseits undenkbar, daß ein konkretes Mädchen oder
Weib, mit dem man normale Dinge in normaler Syntax
reden könnte, irgendeine sexuelle Sphäre hätte. Frauen,
die sich mit derlei beschäftigten, standen völlig abseits,
keinesfalls niedriger als jene, aber in einer völlig andern
Welt, die mit der, in der man lebte, sprach und aß, nichts
gemein hatte : sie waren andere Lebewesen fremdester Kon-
stitution, die stumme oder zumindest unbekannteste irratio-
nale Sprache redend sich vorzustellen ihm nahe lag. Denn
wenn man — ohne auch gerade biervoll zu sein — zu diesen
Frauen gelangte, so geschahn die Dinge mit großer ziel-
bewußter Fixheit, und niemandem wäre es beigefallen, etwa
über Staubtücher — wie seine Mutter — oder über diophan-
tische Gleichungen — wie die Kolleginnen — zu reden. Es
erschien ihm daher unerklärlich, daß es je einen Übergang
geben könne von diesen rein objektiven Themen zu jenen
subjektiven, es war ihm dies ein Hiatus, dessen Entweder-
Oder (ein Urquell alles Sexualmoralismus) sich übrigens
gleicherweise in der Wedekindschen Psyche leicht auf-
weisen läßt.
Wenn wir also Antigonus in die Konstruktion einer ero-
tischen Begebenheit hineinsetzen wollten, so dürfte sich
die Möglichkeit ergeben, daß er im Dilemma seiner Deter-
104
minanten jene voluntaristische Entscheidungsfähigkeit eines
verantwortlichen Ichs erlange, die ihn zu novellistischer
Hcldenhaftigkeit eben doch berechtigen würde.
Vorderhand geschah natürlich nichts dergleichen. Antigonus
legte die Examina ab, erhielt eine Supplentenstelle mit dem
Auftrage, sein nunmehr abgeschlossenes Wissen weiterzu-
geben, was ihm unschwer gelang, denn dieses war ihm,
wie bereits berichtet, in keiner "Weise persönliche Angelegen-
heit, sondern eben ein Paket, das nunmehr säuberlich ab-
geschnürt und handlich sowohl dorthin als daher gelegt
werden konnte. Aus der gleichen Vorstellung heraus gab
er dem Schüler kleine Paketchen seines Wissens, und dieser
muBte sie ihm in Gestalt von Prüfungsergebnissen wieder
zurückgeben. Wußte der Schüler nichts zu antworten, so
bildete sich Antigonus die wenn auch nicht klare Meinung,
jener wolle ihm sein Leihgut vorenthalten, schalt ihn als
verstockt und war solcherart mit einem gewissen Tempe-
ramente an seinem Berufe beteiligt. Hatten die Schüler sein
Wissen zur Leih, so war ihm jedes Klassenzimmer, in dem
er unterrichtete, bald Aufbewahrungsort eines Stücks seines
Ichs, gleich wie der Kasten in seinem kleinen Monatszimmer,
der seine Kleider beherbergte und die er sinngemäß als
ebensolche Teile selbigen Ichs rechnete. Fand er in der
Tertia seine Wahrscheinlichkeitsrechnung, zu Hause im
Waschtisch seine Schuhe vor, so fühlte er sich unzwei-
deutigerweise der Umwelt gegeben und verknüpft.
Solches Leben währte einige Jahre. Hierauf trat die von
uns als notwendig vorweggenommene erotische Erschütte-
rung ein. Um nicht fernab zu schweifen, gesellen wir An-
tigonus ein naheliegendes Komplement bei, nämlich seiner
Hauswirtin Töchterlein, das einem meiner Freunde zuliebe
Philaminthe genannt sei.
Es entsprach der Weibauffassung des Antigonus, jahrelang
ohne irgendeinen Wunschgedanken neben einem Mädchen
einherleben zu können. Ob dieses Negativum auch der
Wesenheit des Mädchens entsprochen hatte, bleibt eigentlich
irrelevant, denn Antigonus wäre sicherlich nicht der Mensch
105
gewesen, ihr bürgerliches Seufzen zu verstehn, und da es
ohne männlichen Angriff eben meistens nicht geht, so wäre
ihr Begehren gewißlich in Kürze eingeschlafen. Es ist da-
her anzunehmen, daß Philaminthes Phantasie, gleichgültig
ob sie sich jemals mit Antigonus befaßt hätte oder nicht,
auf auswärtige Objekte gerichtet war, und man wird nicht
fehl gehn, ihr romantischen Charakter zuzusprechen. Es
ist beispielsweise in kleinern Städten üblich, täglich den
Bahnhof zu besuchen, um den durchfahrenden Schnellzug
anzustaunen, einer Sitte, der Philaminthe gerne folgte. Wie
leicht ist es nun möglich, daß ein junger Herr, am Fenster
des abrollenden Zuges stehend, dem nicht unhübschen
Dinge zugerufen hätte: ,,Komm doch mit", eine Begeben-
heit, die Philaminthe fürs erste in einen blöde lächelnden
Pfahl verwandelt hätte, der nur mit schweren Füßen nach
Hause gelangte, nachts aber sie von nun an immer häufiger
träumen ließ, daß sie mit müden, ach so müden Beinen
enteilenden Zügen nachzulaufen hätte, die auf Griffweite
erlangbar in nichts versanken; blickte sie dann tagsüber
von der Näherei auf, stundenlang den aufreizend unvoll-
kommenen Zickzackflug der Fliegen um die Stubenlampe
verfolgend, so erstand jene Bahnhof szene aufs Neue: es
wurde ihr deutlich, daß sie wohl noch auf den abfahrenden
Zug aufspringen, vielleicht eine rührende Verletzung bei
diesem kühnen Sprunge davontragen hätte können, um
sodann gebettet auf den weichen Polstern der I. Klasse
und handgehalten von ihm in die dunkle Nacht hinaus-
zufahren; Schaffner hätte sich, nachdem er Buße für die
fehlende Fahrkarte samt reichlichem Trinkgeld erhalten,
unterwürfig zurückgezogen, und es blieb nur offen zu über-
legen, ob im entscheidenden Augenblicke die Notbremse
ihrer Ehre erreichbar gewesen wäre oder nicht, da beide
Alternativen atembeklemmende Möglichkeiten boten.
In solcher Sphäre lebend, hatte sie also wenig Sinn für
Antigonus, denn wenn sie auch nicht seine grau- gestrickten
Socken, die sie ausbesserte, gestört hätten — auch den
Schnellzugsgeliebten würde sie wohl nicht anders als grau-
106
sockig präzisiert haben, wenn sie sich die Frage überhaupt
vorgelegt hätte — , so stand doch fest, daß Antigonus seine
Sonntagsausflüge mit Rucksack und Gamsbart IV. Klasse
besorgte, und selbst der Hinweis auf die Pensionsfähigkeit
seiner Laufbahn hätte nicht vermocht, ihr Blut rascher
fließen zu lassen.
So versteht es sich, daß diese beiden Menschen nur aus
raumzeitlicher Zufälligkeit aneinander geraten konnten, daß
in grob-materialer Dunkelheit sich ihre Hände aus wirk-
lichem Zufall begegneten und daß das Begehren, das jäh
zwischen Männer- und Frauenhand da emporflammte, zu
ihren eigensten Erstaunen es tat. Sie sprach die reinste
Wahrheit, als sie, an seinem Halse hängend, wiederholte:
,,ich wußte ja nicht, daß ich dich so lieb habe", denn das
konnte sie vorher wahrlich nicht wissen.
Antigonus fand sich durch den neuen Sachverhalt einiger-
maßen beunruhigt. Er hatte nun den Mund stets voll Küssen,
und stets sah er die Türwinkeln ihrer Umarmungen, die
Bodenstiege ihrer raschen Zusammenkünfte vor sich. Schläf-
rige Pausen erlebte er am Katheder sitzend, kam mit dem
Lehrstoffe nur ruckweise vorwärts, hörte den Prüflingen
nur zerstreut zu und schrieb indessen ,,Philaminthe" oder
,,ich habe dich lieb" aufs Löschblatt, dies jedoch keines-
falls in normaler Buchstaben folge, sondern er verteilte,
damit des Herzens Geheimnis sich nicht verrate, die Buch-
staben nach willkürlich erklügeltem Schlüssel über das
ganze Löschblatt, wobei die nachträgliche Wiederzusammen-
setzung der magischen Worte ein zweites Vergnügen an
ihnen darstellte.
Wenn er dabei Philaminthes über alle Maßen gedachte, so
sah er sie allerdings nur in ihrer flüchtigen Geschlechts-
bereitschaft. Hinter den Türen Gehebte, in der Öffentlich-
keit neutrale Gesprächspartnerin — das heißt, man sprach
vom Essen und der Häuslichkeit — , war ihm das Mädchen
doppeltes Lebewesen geworden, und während er des einen
Namen sehnend aufs Löschpapier malte, war ihm das andre
gleichgültig wie ein Möbelstück.
107
Philaminthe, dieserhalb weniger punktuell veranlagt, faßte
eines Tages ihre Erkenntnis in die glücklich gefundenen,
glücklich gewählten Worte: ,,Du liebst nur meinen Körper",
und wenn sie auch zwar nicht recht wußte, was sonst
Liebenswertes an ihr zu finden wäre, ja wenn sie sich —
und da kann Wedekind wieder als Zeuge angerufen werden
— auch wahrscheinlich jede andre Art Liebe verwundert
verbeten hätte, so w^ar dies weder ihr noch ihm bekannt,
und beide empfanden die aufgeworfene Tatsache als
Kränkung.
Antigonus nahm sichs zu Herzen. Hatte ihr Liebesspiel bis
jetzt erst nachmittags begonnen, wenn er aus der Schule
heimkehrte und die Mutter ausgegangen war, während
stiller Übereinkunft gemäß der Morgenstunden relative Un-
gewaschenheit von dieser ästhetischem amourösen Tätigkeit
ausgeschlossen geblieben war, so bemühte er sich nunmehr,
die Universalität seines Liebens durch dessen Ausdehnung
auf sämtliche Tagesstunden zu beweisen. Nie verabsäumte
er in der Folge, den ihm knapp vor dem Schulgange ge-
brachten Kaffee rasch schlürfend, ihr einige innige und
leidenschaftliche Worte zuzuraunen, und die Zusammen-
künfte auf der Bodenstiege, früher bloß ein eilendes und
ununterbrochenes Finden von Mund zu Mund, wurden nun
vielfach zu einem sinnigen, stummen Anein anderpressen
und Handverschränken verwendet. Auch sie schien Zugang
zu seinem Geiste zu suchen: korrigierte er abends seine
Hefte und waren sie allein zu Hause, so wurde diese Zeit
oft nicht mehr zu tollen Umarmungen verwendet, sondern
sie nötigte ihn bei seiner Arbeit zu bleiben, die er unter der
Petroleumlampe am Speisezimmertische ausführte, räumte
inzwischen im Halbdunkel beim schöngeschnitzten Anrichte-
schranke und kam nur manchmal zu ihm, seinen blonden
unter der Lampe gebeugten Scheitel, der wenigen Haar-
schuppen nicht achtend, zu küssen oder, Hand auf seiner
Schulter oder Schenkel ruhend, sich still und traulich zu
ihm zu setzen.
Wir wollen nicht rechten, ob die Mutter im Hinblick
108
auf seine Pensionsfähigkeit häufig genug abwesend war,
denn weder Antigonus noch Philaminthe dachten in ihren
Seufzern vorderhand an bürgerlichen Segen, vielmehr
hegten sie eine panische Furcht vor plötzlicher Heim-
kehr der Alten, hatten für diesen Augenblick immer einen
genau festgelegten Sitz- und Beschäftigungsplan parat, um
den Kupplerblick, soferne die abgearbeitete Alte einen
solchen gehabt hätte, was aber schließlich doch nicht
unwahrscheinlich gewesen wäre, mit Harmlosigkeit auf-
zufangen.
Es war also keineswegs Angst vor der Ehe, deren Joch
er in seiner Liebesbereitschaft sogar willig akzeptiert hätte,
die ihn in einen Zustand des Unbehagens brachte, sondern
wir müssen, soferne wir die Setzung dieses Unbehagens
gelten lassen, uns der schematischen "Weibauffassung er-
innern, in der Antigonus früher lebte, um zu verstehn, daß
ihm die neue Sachlage nicht sonderlich adäquat sein konnte
und daß sich Komplikationen ergeben werden. Es könnte
beispielsweise Antigonus an seiner steten Aufgabe zur Ge-
fühlssteigerung, an seiner unausgesetzten Spannung, das
,,ich-hab-dich-lieb", das beim ersten Kusse zwar erstaun-
lich aber immerhin einfach ins Wort trat, jetzt mit einem
Pathos erfüllen zu müssen, dessen Arsenal keineswegs ein-
fach zu handhaben war, glattweg ermüden und sich aus
seiner komplizierten Hingabe nach jenen einfachen und
ruhigen Formen der Liebe sehnen, die einst die ausschließ-
lichen für ihn waren; ein Augenblick der Hemmungslosig-
keit könnte bald eintreten, und Antigonus würde fliegenden
Pulses zum Ziel der Sehnsucht seiner niedrigen Lüste ent-
eilen, um allerdings allsobald, im gleichen Tempo und in
schweigender Angst vor dem Spezialarzte, zu Philaminthe
zurückzujagen, die Sprachlose mit der Erzählung einer
romantischen Verführung — die Frau eines Generals zog
ihn in ihr Haus und Schlafgemach — imponierend zu über-
rumpeln. Wir wollen den sich anschließenden atemlosen
Dialog Heinrich Mann überlassen und uns nach andern
Kombinations- und Entwicklungsmöglichkeiten umsehn.
109
Antigonus malte nach wie vor Philaminthes Namen auf
Löschblätter, doch ohne Teilnahme, setzte das Wort auch
nicht wieder aus kunstreicher Zersplitterung zusammen,
sondern verfolgte mit gereizter Aufmerksamkeit die Schüler,
die weniger denn je wußten. Die Anspannung seiner Ge-
fühle hatte ihm den Begriff des Seienden verschoben: lag
es früher in seinem kleinen Wissen, das er mit den Schülern
tauschte, in den Kleidern, die er in bestimmter Ordnung
anlegte, in der pflichtgemäßen Rangordnung, in der er mit
Vorgesetzten und Gleichgestellten zu verkehren hatte, so
hatten diese unzweifelhaft berechtigten Belange nunmehr
unliebsamerweise in seinem Ich keinen Platz mehr: Phila-
minthens Aufgaben, die er eben wie jede andere voll auf
sich genommen hatte, war eine Unendliche, denn mehr als
ihren Körper lieben, hieß nach einem unendlich fernen
Punkte streben, und dies zu vollziehen, bedurfte es aller
Kräfte der armen, erdgebundenen Seele. Und muß diese
das aufgeben, was ihr wirkliche Welt bedeutete, also ihr
ausgebreitetes metaphysisches Werterlebnis, so ist sie leicht
geneigt, nicht nur sich selbst, sondern auch das ganze
wunderbare Phänomen ihres bewußten Seinsbestandes zu
entwerten und zu negieren.
Alles Unendliche ist einmalig und einzig. Und da des Anti-
gonus Liebe sich bis ins Unendliche projizierte, wollte sie
auch einzig und einmalig sein. Dem aber stand die Bedingt-
heit ihres Werdens gegenüber. Nicht nur, daß er zufällig
gerade an das Gymnasium dieser kleinen Stadt versetzt
wurde, nicht nur, daß er zufällig gerade bei Philaminthens
Mutter Zimmerherr werden mußte: es war die wahllose
Zufälligkeit des so plötzlich perfektionierten Liebesbeginns,
die er nunmehr als Ungeheuerlichkeit empfand, und die
Erkenntnis, daß das Begehren, das damals zu ihrem Er-
staunen in ihren Händen emporschoß, das gleiche sei, das
er in den Armen jener Frauen erlebte, die er jetzt als
Huren beschimpfte. Doch hätte er sich über diesen Mangel
an Einmaligkeit, so sehr er ihn auch wirklich schmerzte,
von seiner Seite schließlich hinweggesetzt, wenn er ihn
110
nicht folgerichtiger weise auch bei Philaminthcn hyposta-
sieren hätte müssen. Denn das Subjekt kann in seinem
Streben nach Unendlichkeit zu eigenerlebter, einmaliger
Universalität vielleicht wachsen, seinen objektiven Gegen-
pol zu gleicher Größe zu erweitern, bedarf es aber einer
Phantasie, die wohl Dante, jedoch kaum Gabriel Rossetti,
zum wenigsten Antigonus, aufbrachte. Dies heißt aber, daß
er die Flamme des Begehrens stets um Philaminthens
Händen sah und, obwohl ihrer Treue sicher, an der Mög-
lichkeit ihrer Untreue leiden mußte und sicherlich tiefer
als er es in jedem materialen Fall vermocht hätte.
So wurde er nicht nur in der Schule unleidlich, sondern
auch dem Mädchen gegenüber. Setzte sie sich, ihrer Garten-
laubenhabitüde folgend, traulich zu ihm, so riß er sie
manchmal an sich, biß ihr die Lippen wund, um sie ein-
andermal wieder ungelenk wegzustoßen; kurz, er äußerte
alle Ungezogenheiten der Eifersucht in ihrer rüpelhaftesten
Form. — Es muß eigentlich nicht eigens erzählt werden,
denn es versteht sich von selbst, daß Philaminthe schon
längst, in Mutters Eßzimmer, Antigonus' Geliebte geworden
war. "Wenn sie damals ihre letzte Gunst, wie sie das nannte,
was in Ansehung des von allem Anfang an als selbstver-
ständlich Gewährten eher als symbolische Besitzergreifung
zu bezeichnen wäre, wenn sie diese letzte Gunst auch lange
hintangehalten und sich eigentlich erst gegeben hatte, als
er, um ihr eben zu beweisen, wie seelisch er liebe, keinerlei
diesbezügliche Wünsche und Gesten mehr äußerte, so lag
es jetzt auf dem "Wege ihrer gradlinigen Phantasie, daß
sie, keiner Schuld sich bewußt, die Krise, die sie mit Ver-
stau dnislosigkeit an ihm bemerkte, durch die verpönte
körperhche Liebe zu heilen suchte, ihm eifrig das entgegen-
bringend, was sie sonst, schelmisch erhobenen Fingers,
ihm so gern verzögerte. Die Arme! sie wußte nicht,
daß sie damit nur Öl ins Feuer goß. Denn wenn Anti-
gonus die sogenannte Gunst auch nicht verschmähte, so
war es nachher um so ärger, denn umso klarsichtiger er-
kannte er, daß das ihm Geschenkte ebensowohl und mit
111
gleicher Leidenschaft jedem andern hätte zu Teil werden
können.
Er hatte sich nie mit andern verglichen, hatte stets seinen
Unwert nur an der Unendlichkeit seiner Aufgabe gemessen.
Nun sah er auch mit Schrecken, daü eine Unzahl junger
und eleganter Männer durch die frühsommerlichen Straßen
sich bewegten, und nie verließ ihn mehr der Gedanke, daß
jene mit Leichtigkeit und im Meßbaren bleibend, lächelnd
über ihn, den Über -sich -ausholenden, nicht nur Phila-
minthens, nein aller Frauen Liebe genössen, die allesamt
für ihn bis jetzt unberührbar, doch nichts anderes seien
als schlechte Weiber.
Zu ihr zurückkehrend, würgte er sie am Halse mit der
Motivierung, niemand, hörst du, niemand könne und werde
sie je so lieben wie er, und die Tränen des entsetzt ge-
schmeichelten Mädchens, dessen romantischer Sinn die
Situation bejahte, flössen mit den seinen zusammen, be-
schließend, daß nur der Tod von solcher Qual erlösen
könne.
Philaminthens Phantasie nahm das Wort des Sterbens auf
und wandelte die Vorzüge der Todesarten ab. Die unge-
stümen Formen ihrer Liebe forderten ein großes Ende, und
sie hätte sich nicht gewundert, hätte ihnen Edschmid 1 6 ge-
dungene Mörder auf den Leib geschickt. Da dies jedoch
nicht geschah und sich auch nicht die Erde zu erwünschtem
Beben öffnete, noch der Hügel vor der Stadt Lava zu
speien anflog, vielmehr Antigonus trotz schmerzverzerrter
Miene täglich zur Schule wandelte und sie schon voll
blauer Flecke war, vermochte sie ihn, ein Ende zu be-
reiten, daß er einen Revolver erstünde. Er fühlte, und wir,
die wir es herbeiführen, mit ihm, daß damit die Würfel
gefallen seien. Mit trockenem Munde, feuchten Händen be-
trat er das Waffengeschäft, stotternd das Verlangte be-
zeichnend und gleich sich entschuldigend, daß er solches
zu seiner Verteidigung auf einsamen Wanderungen benötige.
Mehrere Tage hielt er seinen Kauf verborgen, und erst,
als sie, eines Morgens den Kaffee bringend, ihm mit
112
J B S e M
zurückgeworfenem Kopfe zuflüsterte: „Sage mir, daß du
mich liebst", legte er ihr zum Beweise die Waffe auf
den Tisch.
Nun erfolgten die Dinge mit großer Eile. Den nächsten
Sonntag trafen sie sich, sie einen Besuch bei einer Freundin
vorschützend, wie so oft, im Nachbarorte zu gemeinsamer
Wanderung. Ein letztes Mal sich in den Armen zu ruhen,
hatten sie einen verschwiegenen Waldplatz mit schöner Fem-
sicht auf Berg und Tal gewählt, dem sie nun zustrebten.
Aber der Blick, dessen Weite sie sonst als schön bezeich-
neten, sagte ihnen in ihrer Beklommenheit nichts mehr.
Sie durchstreiften bis in die Nachmittagsstunden ziellos den
Wald, hungrig, da das Essen nicht zum Tode paßte, und
ruhten endlich wahllos und erschöpft zwischen den Büschen.
,,Es muß sein", meinte Philaminthe, und Antigonus zog
die Waffe hervor, lud sie behutsam, legte sie vorsichtig
neben sich nieder. ,,Tu's rasch", befahl sie und schloß in
letztem Kusse die Arme um seinen Hals.
Über ihnen rauschten die Bäume, Licht brach in kleinen
Flecken durch leichtbewegte Buchenblätter, und weniges
sah man vom wolkenlosen Himmel. Der Hand erreichbar
lag der Tod, man mußte ihn bloß aufnehmen, jetzt oder
in zwei Minuten oder in fünf, man war völlig frei, und
der Sommertag war zu Neige, ehe ihn die Sonne verblaßte.
In einer einzigen Handbewegung konnte man die Vielheit
der Welt erledigen, und Antigonus empfand, daß sich eine
neue und wesentliche Spannung zwischen ihm und jenem
Komplexe auftat. Der Freiheit eines einigen und einfachen
Entschlusses gegenüber wurde auch dessen Willensobjekt
zur Einheit, wurde rund und schloß sich in sich, handlich
in seiner Totalität wurde es problemlos und ein Wissen
der Ganzheit, wartend, da& er es aufnehme oder wegstelle.
Eine Struktur absolut ausgehender Ordnung, gelöster Klar-
heit, höchster Realität ergab sich, und es wurde sehr licht
in ihm. Fernab rückte der Totaleindruck der Welt, und
mit ihm versank das Gesicht des Mädchens unter ihm,
doch verschwanden sie keineswegs völlig; vielmehr fühlte
8 113
er sich jener Weltliclikcit und dem "Weibe intensiver ge-
geben und verknüpft denn je, erkannte sie weit über jede
Lust hinaus. Sterne kreisten über dem Erleben, und durch
den Fixstcrnhimmel hindurch sah er Welten neuer Zentral-
sonnen im Gesetze seines "Wissens kreisen. Sein "Wissen
war nicht mehr im Denken des Kopfes; erst glaubte er
die Erleuchtung im Herzen zu fühlen, aber sie dehnte sich,
sein Ich mitweitend, über ihn hinaus, floß zu den Sternen
und wieder zurück, erglühte in ihm und kühlte in sehr
wundersamer Milde, öffnete sich und wurde zu unendlichem
Kusse, empfangen von den Lippen der Frau, die er als
Teil seiner selbst und doch schwebend in mafiloser Ent-
fernung erfaßte und erkannte. Denn das Ziel des Eros ist
das Absolute, das erreicht wird, wenn das Ich seine brücken-
lose, hoffnungslose Einsamkeit und Idealität, über sich und
seine Erdgebundenheit hinauswachsend, dennoch durch-
bricht, sich abscheidet und im Ewigen Zeit und Raum
hinter sich lassend die Freiheit an sich erwirbt. Im Un-
endlichen sich treffend, gleich der Geraden, die sich zu
ewigem Kreise schließt, vereinigte sich die Erkenntnis des
Antigonus: „Ich bin das All" mit der des "Weibes: ,,Ich
gehe im All auf" zu letztem Lebenssinn. Denn für Phila-
minthen, im Moose ruhend, erhob sich das Antlitz des
Mannes zu immer weitern Fernen und drang dennoch immer
tiefer in ihre Seele, verschmolz mit dem Rauschen des
"Waldes und dem Knistern des Holzes, mit dem Summen
der Mücken und dem Pfiff der Lokomotive zu einem rühren-
den imd beseligenden Schmerze der vollkommenen Ge-
heimnisenthüllung eines empfangenden und gebärenden
"Wissen des Lebens. Und während sie die Grenzenlosigkeit
ihres wachsenden und erkennenden Fühlens entzückte, war
ihre letzte Angst, solches nicht festhalten zu können: ge-
schlossenen Auges sah sie vor sich, vom Rauschen und
von Sternen umgeben, das Haupt des Antigonus, und ihn
lächelnd von sich haltend, traf sie sein Herz, dessen Blut
sich mit ihrer Schläfe vermischte. Es ist der anmaßende
Irrtum der Naturalisten, daß sie den Menschen aus Milieu,
114
Stimmung, Psychologie und ähnlichen Ingredenzien ein-
deutig determinieren zu können vermeinen. Wir wollen uns
hier mit der materialistischen Beschränktheit nicht ausein-
andersetzen und bloß anmerken, daß der Weg Philaminthens
und Antigonus wohl zur Ekstase hätte führen können, um
in ihr den unendlich fernen Punkt eines außerhalb der
Leiblichkeit und doch in ihr eingeschlossenen Liebeszieles
zu finden. Da aber, wie gesagt, das Menschliche keines-
wegs eindeutig ist, so ist immerhin auch anzunehmen mög-
lich, daß der Weg vom Schäbigen ins Ewige für Antigonus
und Philaminthe vorzeitig abgebrochen worden wäre. Wenn
auch die Todesbereitschaft als solche eine gewisse Katharsis
bildet, deren logische Lösung und Folge als eine kleine
spießbürgerliche Befreiung ihrer armen Seelen zu denken
ist, als eine Festigung der Seinsanschauung aus Labilität
ihrer kleinen Qual, so wäre, nachdem sich die Dinge zwischen
den Gebüschen eben bloß in gewohnt plumper Ungelenk-
heit vollzogen hätten, nichts andres übrig geblieben als
das soi disant natürliche Ende. Spät abends hätten dann
Antigonus und Philaminthe den letzten Zug erreicht, um
einem Brautpaare schon gleich in einem Wagen erster
Klasse, Hand in Hand, der Heimat zuzueilen. Würden
Hand in Hand vor die ängstlich harrende und erschreckte
Mutter hintreten, und pathetischen Gestus des Nachmittages
beibehaltend kniet der Pensionsfähige auf dem grünlich
schimmernden Linoleumboden nieder, den mütterlichen
Segen zu empfangen.
Jedes Kunstwerk muß exemplifizierenden Gehalt haben,
muß in seiner Einmaligkeit, die noch durchaus nicht Ein-
deutigkeit sein muß, die Einheit und Universalität des
Gesamtgeschehens aufweisen können. Wir haben uns nichts
vorgeflunkert, haben unsrc Geschichte nach ihren Möglich-
keiten hin durchdacht und darnach gemeinsam konstruiert.
Wir wollen uns gegenseitig nichts vormachen, wir wollen
uns aber auch nicht verhehlen, daß unsre Geschichte sehr
schön ist.
115
VON DER GEISTIGEN ERNÄHRUNG
DURCH INTUITION
Die Intuition ist eine auf allen Wiesen wachsende "Wunder-
pflanze, deren Alter bis in die Zeit Piatons nachgewiesen
ist, aber wahrscheinlich viel weiter zurückreicht. Die in
Deutschland häufigste Varietät wächst aber nicht auf den
Wiesen, sondern ist nachgewiesenermaßen stets nur auf
dem eigenen Mist derer gewachsen, die sie gebrauchen. Sie
wird langsam zwischen den Zähnen gefletschert und ver-
leiht dann wunderbare Erkenntnisse, wie wir sie bei Spengler
oder in der Mechanik der Zeit von Rathenau finden. Sie
kann aber auch hastig hinuntergeschlungen werden, wie es
der Expressionismus tut, und dann erzeugt sie erhebende
Blähungen, die in Form von Gedichten, Gottesanrufungen,
geistigen Explosionen und sonstigen Ohmenschlichkeiten
abgehen. Bei ganz senilen Leuten, wie dem einst verdienst-
lichen Schleich, wird sie zu einem Brei erweicht, nach
dessen Genuß die Seele aussieht wie der Garten einer
Kriegsgewinnlervilla, in dem der rauhen Natur durch
Gnomen aus Terrakotta und Elfen aus Biskuitmasse eine
Ahnung von Höherem verliehen ist. Das charakteristischste
Symptom fortgesetzten Intuitionsgenusses ist eine sich bei
jeder Gelegenheit zeigende Abneigung gegen den Verstand
von geradezu verheerenden Folgen, so daß heute in Deutsch-
land trotz des eigentlich endemischen Charakters der Er-
scheinungen von einer Intuitionsepidemie gesprochen werden
kann. Es steht heute so damit, daß jeder, der etwas be-
haupten will, das er weder beweisen kann, noch zu Ende
gedacht hat, sich auf die Intuition beruft. Es wäre daher
zu beantragen, daß sich alle deutschen Schriftsteller durch
zwei Jahre dieses Worts enthalten mögen, wonach sie zum
erstenmal ihr wahres Gesicht sehen würden, wie einer, der
einen zeitlebens getragenen Bart abrasiert.
Was die verschiedenen Varietäten der Intuition betrifft,
wird ganz übersehen, daß ihre Stammform auch auf rein
rationalem Boden gedeiht. Der entscheidende Einfall, mag
er noch so methodisch vorbereitet worden sein, springt
116
auch beim wissenschaftlichen Denken wie von außen un-
erwartet vor das Bewußtsein. Ebenso wird durch erhöhte
Gemütszustände auch das rein rationale Denken, das mit
Gefühl scheinbar gar nichts zu tun hat, mächtig gefördert. Wie
viel mehr jenes, das in einer anderen biologischen Abhand-
lung dieses Buches das nicht-ratioide Denken genannt worden
ist, dessen Penetranz und innere Fortpflanzungsgeschwindig-
keit geradezu von der Vitalität der Worte abhängt, einer
um den relativ belanglosen Begriffskern gelagerten Wolke
von Gedanke und Gefühl. Dann erst denke man an jene
Erkenntnisse, die ,,mit einem Schlage das Leben erhellen"
— Paradefälle der Intuition ; man wird dann auch da sehen,
daß es sich nicht um eine plötzlich ausbrechende andere
Art Geistestätigkeit handelt, sondern um einen allmählich
gewordenen kritischen Zustand der Gesamtperson, der end-
lich umschlägt, wobei der aktuelle, vermeintlich zündende
Gedanke gewöhnlich nur der Explosionsblitz ist, der die
große Umreaktion begleitet. , .Etwas, das sich nicht erkennen,
beschreiben, definieren, nur fühlen und innerlich erleben
läßt, das man entweder niemals begreift oder dessen man
völlig gewiß ist" — ,,mit einem Schlage, aus einem Gefühl
heraus, das man nicht lernt, das jeder absichtlichen Ein-
wirkung entzogen ist, das in seinen höchsten Momenten
sich selten genug einstellt" — werden solche Erlebnisse ge-
wöhnlich beschrieben. Das ist aber nur ein Grad auf der
großeil Skala, die von da über den Zustand des Gläubigen,
des Liebenden, des Ethischen zur Haplosis, zur visio beata
und den anderen großen Formen der Weltempfängnis führt;
mit einem sehr bemerkenswerten Nebenast im Pathologischen,
der von der verbreiteten Zyklothymia bis zu schweren Wahn-
zuständen reicht.
Man wirft ein, daß die Analyse der psychologischen Form
menschlich nicht interessiere, sondern nur die Synthese
der in ihr gewonnenen Inhalte. Die Welt, in der wir leben
und gewöhnlich mitagieren, diese Welt autorisierter Ver-
standes- und Seelenzustände, ist nur der Notersatz für eine
andere, zu der die wahre Beziehung abhanden gekommen
117
ist. Zuweilen fühlt man, daß von all dem nichts wesent-
lich ist, für Stunden oder Tage zerschmilzt es in der Glut
eines anderen Verhaltens zu Welt und Mensch. Man ist
Strohhalm und Atem und die "Welt die zitternde Kugel.
In jedem Augenblick erstehen alle Dinge neu; sie als feste
Gegebenheiten zu betrachten, erkennt man als inneren Tod.
Das Pferd vor dem Wagen und der Vorübergehende kommuni-
zieren. Oder wenigstens Mensch und Mensch messen sich
nicht, beschnüffeln einander nicht wie Kundschafter, sondern
wissen voneinander wie Hand und Bein an einem Körper.
Das ist die Stimmung philosophisch schöpferischer — oder
aber auch philosophisch eklektischer Zustände. Man kann
sie intellektuell als verspäteter Christ auslegen oder das
Fließen des Heraklit an ihr demonstrieren, überhaupt aller-
lei heraus- und hineinlesen, unter anderem auch ein ganz
neues Ethos. Glauben wir daran? Nein. Wir spielen damit
Literatur. Galvanisieren Buddho, Christus und andere Un-
genauigkeiten. Ringsum tobt die Vernunft in tausendenl
von PS. Man trotzt ihr und behauptet, in einem ver-
schlossenen Kästchen eine andere Autorität zu haben. Das
ist der Sammelkasten Intuition. Man öffne ihn endUch und
sehe, was darin ist. Man wird auf der einen Seite die
große Gruppe der religiösen Erlebnisse finden, die sich
nach der Durchdringung mit dem Verstand sehnen, auf
der anderen das Ressentiment von Literaten , welche
das bezweifeln, was der Verstand wirklich leisten kann,
dagegen unerhört gläubig gegen alles sind, was ihnen
gerade einfällt.
VON DER STREITFRAGE
ÜBER DIE BIOLOGISCHEN BEGRIFFE
ZIVILISATION UND KULTUR
Es ist eine alte und wie mir scheint recht unfruchtbare
Streitfrage, wie man Zivilisation und Kultur unterscheide
und welche höher stehe. Ich glaube, wenn man unter-
scheiden will, ist es am besten, Kultur dort zu sagen, wo
118
eine Ideologie herrscht und eine noch einheitliche Lebens-
form, Zivilisation dagegen als den diffus gewordenen Kultur-
zustand zu definieren. Jeder Zivilisation ist eine Kultur
voraufgegangen, die in ihr zerfällt; jede Zivilisation ist aus-
gezeichnet durch die bekannte technische Beherrschung der
Natur und ein sehr kompliziertes, sehr viel Intelligenz
forderndes, aber auch schluckendes System sozialer Be-
ziehungen.
Es sind alle Kulturen in verhältnismäßig kleinen Räumen
und Gesellschaften entstanden und haben sich von dort
ausgebreitet. Darin liegt an und für sich eine Verdünnungs-
und Erschöpfungstendenz ; die gleiche liegt in der zeitlichen
Wirkung durch Generationen. Ideen lassen sich nicht über-
geben wie Wissen; sie erfordern gleichen seelischen Zu-
stand und in Wirklichkeit ist höchstens ähnliche seelische
Disposition vorhanden : so sind sie ständig der Veränderung
unterworfen. Solang sie neu sind, werden sie dadurch viel-
leicht bereichert, später korrumpiert. Sie realisieren sich
unterwegs allerdings in Einrichtungen und Lebensformen;
aber eine Idee verwirklichen, heiBt sie schon teilweise zer-
stören. Alle Verwirklichungen sind Zerrbilder, und in höherem
Alter werden sie immer leerer und unverständlicher, denn
Form und Idee haben ein ganz verschiedenes Lebenstempo;
so ragen immer die Formen einer älteren Schicht in die
Ideen einer neuen herein und konkurrieren mit ihnen an
EinfluB. Die Entwicklung selbst ist nichts, das sich in einer
einheitlichen Linie auswirkt. Mit der natürlichen Ab-
schwächung, welche die Idee durch ihre Ausbreitung er-
leidet, kreuzen sich Einflüsse aus neuen Ideenquellen. Der
innerste Lebenskern jeder Zeit, eine neblige, quellende
Masse, ist eingebettet in Formen, die der Niederschlag viel
älterer Zeiten sind. Jede Gegenwart ist gleichzeitig schon
hier und noch um Jahrtausende zurück. Dieser Wurm be-
wegt sich auf politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, bio-
logischen und unbegrenzt viel anderen Gliedern, deren jedes
ein anderes Tempo hat und einen anderen Rhythmus, Das
ist ein Teil der Gründe, warum späte Zeiten so uneinheit-
119
lieh sind und in solchen Zivilisationszeiten die Kulturen
zerfallen wie Gebirge.
Es wird der Kultur fast immer eine unmittelbarere Be-
ziehung zu den Wesenheiten zugeschrieben, eine Art schicksal-
hafter Sicherheit der menschlichen Haltung und noch in-
stinktive Sicherheit, der gegenüber dann der Verstand, das
Zivilisationsgrundsymptom, eine etwas klägliche Unsicher-
heit und Indirektheit besitzen soll. Man kennt die Symptome,
worauf sich das stützt. Der große, besonders aus der Ferne
geschlossen wirkende Gestus von Mythos und Religion,
andererseits die Umständlichkeit, mit dem Verstand das zu
sagen, w^as ein Blick, Schweigen, ein Entschluß viel besser
ausdrücken. Der Mensch ist eben nicht nur Intellekt, son-
dern auch Wille, Gefühl, Unbewußtheit und oft nur Tat-
sächlichkeit wie das Wandern der Wolken am Himmel.
Die aber nur das an ihm sehn, was die Vernunft nicht
bewirkt, müßten schließlich das Ideal in einem Ameisen-
oder Bienenstaat suchen, gegen dessen Mythos, Harmonie
und intuitive Taktsicherheit alles Menschliche vermutlich
sehr ungöttlich ist.
Wie bereits gesagt, muß man das Wachstum der Anzahl
daran beteiligter Menschen für die Hauptursache des Über-
gangs von Kultur in Zivilisation ansehn. Es ist klar, daß
hundert Millionen Menschen zu durchdringen ganz andere
Aufgaben stellt als hunderttausend. Die negativen Seiten
der Zivilisation hängen zum größten Teil damit zusammen,
daß diesem Volumen des sozialen Körpers seine Leitfähig-
keit für Einflüsse nicht mehr entspricht. Man betrachte
den Zivilisationshöhepunkt vor dem Krieg: Eisenbahn, Tele-
graph, Telephon, Flugmaschine, Zeitung, Buchhandel, Schul-
und Fortbildungssystem, Wehrpflicht: alles zusammen völlig
unzureichend. Der Unterschied zwischen Großstadt und
noch schwarzem Land größer als der zwischen Rassen.
Vollkommene Unmöglichkeit, selbst in der eigenen Schicht
in die Voraussetzungen eines anderen Gedankenkreises ein-
zudringen außer unter ungeheurem Zeiteinsatz, Folge:
schmale Gewissenhaftigkeit oder impetuose Oberflächlich-
120
keit. Mit dem "Wachstum der Zahl hält die geistige Orga-
nisation nicht Schritt: darauf sind 98 v. H. aller Zivilisations-
erscheinungen zurückzuführen. Man kann tun, was man
will, Christus könnte auf die Erde wieder niedersteigen:
es ist ganz ausgeschlossen, daß er zur Wirkung käme. Die
Frage auf Leben und Tod ist: geistige Organisationspolitik.
Das ist die erste Aufgabe für alle heute lebenden Tiere.
Wird sie nicht gelöst, so sind alle anderen Anstrengungen
vergeblich, denn sie ist die Voraussetzung dafür, daß sie
überhaupt wirken können.
121
NOTWENDIGE EXKURSE
ERSTER EXKURS
DIE Geschichte der Ideen und ihrer Denkbarkeit ist die
Geschichte ihrer Ausdrückbarkeit. "Wir denken das,
was wir ausdrücken können und sonst nichts. Nur so ist das
Gesetz der Identität von Gedanke und Ausdruck, von Form
und Inhalt zu verstehen: als Gleichzeitigkeit ihres in die
Erscheinungtretens. Nicht die Ideen wachsen oder nehmen
zu, sondern ihre Ausdrückbarkeit. Das Unsagbare wird in
dem Augenblick unser Besitz, in dem wir es als unsagbar
ausdrückten. Es wurde damit ein Paradox des Unmöglichen
"Wirklichkeit: das Unsagbare ist als solches gesagt, das
Formlose ist als solches geformt worden.
Die Geschichte des "Wirksamwerdens einer Idee ist kein
seinslogisches, sondern ein soziales Phänomen. Als solches,
aber nur als solches, wird es in einer historischen Dar-
stellung seine Rolle spielen. Der Zustand heutiger Literatur-
gcschichtsschreibung macht einige prinzipielle Bemerkungen
nötig, auch dazu bestimmt, dem Leser des Folgenden wie
dieses ganzen Buches die Mühe zu ersparen, darin etwas
zu suchen, was er in seinen Literärgeschichten zu finden
gewohnt ist und hier nicht finden wird.
Es ist nicht die Aufgabe einer literargeschichtlichen Dar-
stellung, das "Verständnis der Kunstwerke zu beleben oder
dazu anzuleiten oder es zu wecken. Kürzer: es ist nicht die
Aufgabe solcher Darstellungen, im Leser eine ästhetische
Reproduktion hervorzurufen. Die historische Darstellung
muß vielmehr diese Reproduktion als bereits stattgefunden
voraussetzen, damit sie das werde, was sie sinnvoll — im
Sinne wissenschaftlicher Ökonomie — nur sein kann: Dar-
stellung der künstlerischen und literarischen "Vorgänge, die
sich in "Wirklichkeit ereignet haben. Jene erste ästhetische
125
Reproduktion ist eine einfache und betätigt sich schon,
wenn der Mensch vor einem Kunstwerk in den Ausruf
„wunderbar" ausbricht — womit er aber noch kein Literar-
historiker wird, wie alle jene sogenannten Literarhistoriker
meinen, die in ihren Büchern nichts anderes als solche
„wunderbar" und ,, abscheulich" verlauten lassen, indem
sie in einem willkürlichen oder zufälligen Schematismus
Autorennamen und Büchertitel anhäufen und diese mit einer
Flut von ästhetisch belanglosen lobenden und tadelnden
Beiworten wie mit Fleiß- und Straf zetteln überschütten, ge-
holt aus einem unerschöpflichen Füllhorn ethischen, ästhe-
tischen und politischen Stumpfsinns.
Der Historiker dieses Namens würdig setzt also diese ein-
fache Reproduktion des "Werkes als geschehen voraus und
bringt diese bereits erfolgte Reproduktion zur Darstellung.
Die Literaturgeschichte ist, wie Croce sagt, ein historisches
Kunstwerk über ein oder mehrere andere Kunstwerke. Der
sie zu schreiben unternimmt wird in seiner Person ein
Mensch von Geschmack, ein Unterrichteter und ein Ästhe-
tiker sein müssen, in welchen drei Arbeitsstadien jedes
relativ unabhängig ist, nämlich unabhängig vom folgenden,
nicht aber vom vorausgehenden Stadium. Und er muß
historisch darstellen können. Was aber heißt das? Der Be-
griff des Historischen ist vor jedem Mißverständnis zu
schützen. Die Frage nach dem "Wesen des künstlerischen
Vorganges ist keine historische, indem man etwa nach dem
„Ursprung der Kunst" fragt, sondern sie ist eine philo-
sophische Problemstellung, welche die Ästhetik zu lösen
versucht. Als Frage nach der „historischen Entwicklung
der Kunst" ist sie überhaupt keine Problemstellung, son-
dern nichts als Unsinn aus einem Mißverständnis. Da die
Kunst kein Naturprodukt ist, sondern als menschliches
"Wirken selber die "Voraussetzung der menschlichen Ge-
schichte bildet, kann man nicht ihr historisches Entstehen
suchen wollen. Die Kunst ist keine auftauchende und ver-
schwindende menschliche Einrichtung wie etwa der Staat
oder das Geld oder die Invaliditätsversicherung, deren Ur-
126
Sprünge allerdings historisch feststellbar sind, ebenso wie
deren „Entwicklung" oder deren „Fortschritt" nach einem
allseits bekannten und gebilligten Ziel. Das Kind macht
Fortschritte im Gehen in der Richtung auf das Leistungs-
maximum des Zieles Gehen. Die Sinnlosigkeit, von einem
Fortschritt der Kunst bei nicht vorhandenem Ziel zu sprechen,
leuchtet ein. Es nimmt zwar jede Darstellung menschlicher
Geschichte so etwas wie einen Fortschritt an, aber kein
Gesetz solchen Fortschrittes, mit welchem Gesetze und sei
es wie immer die Darstellung die Geschichte selber auf-
höbe — die Geschichte, d. h. das empirische Geschehen in
konkreten Vorgängen. Es ist aber dieser Begriff des Fort-
schrittes für den Historiker nichts weiter als das, was man
den Gesichtspunkt nennt, nämlich des Historikers Idee von
der Art der Lösung jenes menschlichen Problems, dessen
Geschichte er schreibt. Ohne diesen Begriff des Fortschrittes,
der in Wirklichkeit der Gesichtspunkt ist, entstünde das
Kunstwerk der Geschichtsschreibung gar nicht, sondern
bliebe Chronik, in der Kunst Katalog.
Der Gesichtspunkt ist des Historikers Idee und nur seine,
da es ein anderes als ein subjektives Kriterium hier gar
nicht geben kann. Und kein eunuchisches Kriterium, wenn
auch viele Historiker, besonders der Künste, mit der von
sich ausgesagten absoluten Objektivität jene fatale Operation
an sich vollzogen zu haben behaupten. Die Wertigkeit
des wertenden Subjektes entscheidet über den Wert des
Historikers, nicht aber, daß diese Subjektivität nicht vor-
handen sei.
Kunst ist nicht formulierende wissenschaftliche, sondern
definite Ausdruck gebende Erkenntnis. Die Geschichte
der Kunst ist nicht Geschichte einer Wissenschaft, als
welche der Begriff des Allgemeinen ist, sondern Geschichte
individuellen Ausdrucks, weshalb sie so etwas wie einen
Fortschritt im Sinne wissenschaftlicher Erkenntnis nicht
kennt. Das Äußerste, was sich der Kunsthistoriker erlauben
darf, kann nur sein, daß er innerhalb eines bestimmten
abgegrenzten Problems — das Fresko, die Sonate, der Reim
127
— von einem Mehr oder Minder der Annäherung an die
Problemlösung sprechen kann. Nur so kann man von Auf-
tritt, Höhe und Verfall des elisabethischen Dramas reden.
Oder es kann der Historiker an dem Ideal der Vollendung,
das sich der Künstler selber gesetzt hat, von einer fort-
schreitenden Bewegung des Künstlers zu diesem seinem
Ideal oder von ihm weg sprechen, z. B. von "Wielands Ideal
seiner Verserzählung, Gauguins Ideal seiner Vereinfachung
usw. Man sieht: immer wird das Maß, an dem ein „Fort-
schritt" zu messen, von den zu messenden künstlerischen
Erscheinungen eines Umkreises oder eines Problems selber
aufgestellt, nicht und nie aber von einem außerhalb dieser
Erscheinungen irgendwo am Ende schwebenden Ideal über-
haupt oder von einem irgendwann einmal in einem ganz
andern Problemkreise verwirklichten Ideal. Raffael stellt
in gar keiner Weise einen ,, Fortschritt" gegenüber Giotto
dar, Beethoven keinen gegenüber Händel, Goethe keinen
gegenüber Shakespeare. Aber auch Cezanne keinen ,, Rück-
schritt" gegenüber Ingres und George keinen gegenüber
Mörike. Denn es fehlt hier durchaus alles Gemeinsame,
das einen auf ,, Fortschritt" eingestellten Vergleich recht-
fertigen könnte. Daß die Menschheit — ein sehr halbseitiger
Begriff — einem künstlerischen Ideale zustrebe und man
die Etappen des ihm zustrebenden Genius der Mensch-
heit wahrnehmen und messen könne, ist ein Zeichen
großer Einfältigkeit in allen Dingen der Kunst und eines
ebenso grundlosen wie selbstgefälligen Optimismus in allen
Dingen der Sittlichkeit. Man gewinnt in weitergehenden
Zeiten mehr Wissen, einmal aus dem einfachen zeitlichen
Zuwachs, dann aus dem immer in solchen Zeiten gestei-
gerten Interesse an dem, was einmal war, in denen und
mit denen sich die Menschen nicht ganz wohl fühlen,
weil sie mehr gelebt werden als leben. Der Historismus
wird immer in Zeiten mit geringer presenter Wertlebig-
keit gedeihen. Dieses ,,mehr wissen" ist nun kaum ein
allgemein menschlicher „Fortschritt", ganz bestimmt ist es
kein künstlerischer. Historisch zu wissen, ob man hygie-
128
V.
Die KoLbA^NNtrre
nischcr, komplizierter, sensibler usw. geworden ist, das hat
für die Kunst keinerlei Bedeutung: sie kann davon in der
Richtung auf ein Anders-sein beeinflußt werden, nicht aber
in der Richtung auf ein Besser- oder Schlechtersein als
die künstlerische Aktivität irgendeiner frühern Zeit. Kein
heute lebender Dichter ist ,, schlechter" als Homer, sondern
nvir anders. Wer aus dem Anders-sein ein Besser- oder
Schlechtersein ableitet oder darein gar einschliefet, der gibt
kein Urteil ab, sondern äußert ein unbegründbares Vor-
urteil. Aus dem Vergleich zu gewinnende Kunsturteile sind
nur dann möglich, wenn sie vom Künstler selber bestimmt
dadurch provoziert werden, daß er das Maß angibt, an
dem er gemessen zu sein wünscht, ein erklärter Nacheiferer
Shakespeares an Shakespeare, ein Nachahmer der Goethe-
schen Strophe des Westöstlichen Diwan an dieser Strophe.
Hier begrenzt der Dichter selber sein Problem, verzichtet
bewußt auf die Andershcit und versucht eine Identität mit
seinem Progonen zu erreichen. Aber die Seltenheit solcher
über die in der Zeitnähe vom Vorbild natürlichen Be-
ziehungen hinaus ins Künstliche gebrachten Abhängigkeiten
zeigen ebenso wie die künstlerische Gleichgültigkeit eines
Phänomens, bei dem einer seine Person auslöscht, um der
Schatten einer andern zu sein, die Irrelevanz solcher Aus-
nahme im Kunstablauf, der sich nicht in den Kategorien
der Werte ,, besser" und ,, schlecht er" vollzieht, sondern in
der zunächst indifferenten Wertkategoric des ,, anders".
ZWEITER EXKURS
Je weniger Geld der Mensch hat, desto mehr spricht er
vom Geld. Kein Volk redet in so vielen Literaturgeschichten
so viel von seiner Literatur wie das deutsche. Keine Lite-
ratur ist geschichtsloser d, h. traditionsloser als die deutsche;
jeder fängt sie hier bei Adam und bei sich an und endigt
sie mit sich. Nirgends gibt es daher so viele Bücher, welche
versuchen, dem Deutschen eine Geschichte seiner Literatur
einzureden.
9 129
Denn nur von einem bildungsmäßigen Einreden sind diese
Darstellungen Beweis, da von einem echten Blutkreislauf,
der durch das deutsche Volk und seine Literatur, beide
aneinander und ineinander organisch verwachsen, seine
"Welle trüge, nicht die Rede sein kann. Versuche, wie der
Hofmannsthals, die Tradition des Wiener Barock der Leo-
poldinischen Zeit aufzunehmen, werden mißverstanden.
Andere, w^ie Lautensacks volkstümliches und naives Er-
innern an Blut seines Blutes, an Nithart, an Abraham
a Santa Clara, wird als deutsche Literatur nicht erkannt,
der schwäbisch -bäurische Essig, sehr deutsche Litera-
tur, wird übersehen, Aber eine kunstgewerblich gemachte
Heimatschreiberei wird als deutsch angesprochen, Dumm-
heit als deutsche Gemütstiefe, Albernheit als schlichtes
Gefühl. Man kann sagen, der deutsche Schriftsteller nimmt
seit einem Jahrhundert den Weg zu seinem Volke durch
den Bildungstrichter seiner Literaturgeschichten, nimmt ihn
da, sucht ihn da, formt sich bevor er auszieht schon da-
nach. Das Volk liest in seinen Engel, Koch, Oehlke usw.,
daß es und was es alles für Dichter hat, alte und neue,
große und kleine, und freut sich darüber; im übrigen liest
es, was es freut. Nämlich was anderes. Eine Darstellung
dieses ,, andern" wäre auch in der einfachsten Form einer
Statistik des Meistgelesenen der Deutschen von großem
Werte. Man würde daraus das ästhetische Wollen dieses
Volkes kennen lernen, erfahren, nach welchen Idealen es
sich orientiert, welches sein geistiger Zustand, welches seine
innere Bildung ist. Zwei Seiten unserer Literaturgeschichten,
Stefan George gewidmet, sind, auch wenn sie, was sie nicht
sind, kritisch wertvoll wären, insofern ganz lügenhaft, weil
die wenigen Menschen, welche diesen Dichter lesen, öffent-
lich gar nicht in Betracht kommen. Selbst fünf Seiten
Thomas Mann entsprechen nicht der Wahrheit, wenn ihnen
nicht zwanzig Seiten W. Bloem und vierzig Seiten Courths-
Mahler folgen. Für das Frankreich Ludwig XIV. wäre die
Forderung einer solchen auf das Meist-Gelesene aufgebauten
Darstellung ohne Sinn, ganz gleichgültig wie hier das Re-
130
sultat ausfiele, es wäre ohne Importanz. Aber von höch-
ster ist CS für sogenannte demokratische Zeiten wie der
jetzt gelcbten. Die „führenden Männer" dieser Zeit, Wil-
helm II. oder Strescmann, Scheidemann oder Noske, Heim
oder Hindenburg: keiner dieser Männer wird je von George
gehört haben, aber jeder von ihnen hat Ganghofcr gelesen
oder Stratz oder Herzog. Zwischen diesen Figuren ist Korre-
spondenz. Die ästhetische Belanglosigkeit eines Stratz fest-
zustellen ist nicht die Aufgabe der Literaturgeschichts-
schreiber, zumal sie sich durch das, "was sie über Hof-
mannsthal sagen, nicht ausweisen, daß sie zur ästhetischen
Kategorie Recht auf ein Urteil haben. Aber dies ver-
möchten sie aus Kongenialität: die geistige Bedeutung des
Meistgelesenen als Ausdruck des Nationalgeistes aufzu-
zeichnen, auf ihn wirkend, von ihm Wirkung empfangend.
Die Lektüre der führenden Männer dieses Volkes ist dieses
Volkes Lektüre und enthält dieses Volkes Art nach allen
Dimensionen ausgedrückt.
DRITTER EXKURS
Ein Buch in zwei Bänden, gefüllt mit journalistisch Zu-
sammengehörtem und Lesefrüchten aus dritter Hand, miß-
lungener Versuch, ein plattes Romanschema damit zu füllen,
bei einem richtigen Bühnenschriftsteller begreifliches Miß-
lingen, Personen und Vorgänge seiner Welt erzählend sicht-
bar zu machen — denn der richtige Bühnenschriftsteller
ist Schauspieler — also außerhalb der Bühne wesenlos
oder defektuös — ist dieser Roman „Europa" trotz aller
Anstrengung, das Nichtige der Mitteilung als wichtig ein-
zureden durch eine Sprache, die nur ein Berliner Kommis
so nennen kann, ist, sage ich, dieser Roman Europa sehr
instruktiv für die Erkenntnis unseres belletristischen Zu-
standes. Unsere Naturalisten sei. Gedenkens verabscheuten
die Intelligenz als das Dichten störend oder ungünstig be-
einflussend: Ressentiment geringer Intelligenzen. Niemand
war stolzer auf seine makellose Dummheit als ein deut-
9* 131
scher Dichter der 80 er Jahre, In den 90er Jahren und
später hat sich dies nur insofern geändert, als der damals
moderne Dichter seine Verachtung der Intelligenz zum
System machte. Es hie£, besai er schon Gehirn, dies
wieder in Ganglion zurückbilden. Kurz vor dem Marasmus
trat die mächtige Hilfe Bergsons auf, der den Belletristen
und Dichtem sagte: 1. daß der Künstler sich nicht um die
Dinge bewege, sondern in ihrem Innern installiert selber
diese Bewegung sei; 2. daß die aus ihrem Wesen heraus
unbewußte reine poussee vitale, indem sie sich dilatiere
und distendiere, ihrer selbst bewußt und fähig werde, über
ihr Objekt zu reflektieren. Toute naissance est co-naissance
sagte mit chinesisch-ernstem Gesicht bald darauf Claudel.
Mit andern Worten: Die Empfindung wird ganz von selber
Wissen um die Empfindung, der Baum ganz von selber ij
Botanik, und der Laden Jüngling braucht nur Liebschaften '
zu haben, um ein Wissen über die Liebe wie Stendhal zu
bekommen. Denn das Wissen einer Sache sei Coincidenz
von Person und Sache, ließe man nur die poussee vitale
sich dilatieren und sich an einer gewissen Stelle zwar als
poussee aufheben, ,,zu sich selbst zurückwenden", wie
Bergson sagt, um Intelligenz zu werden, — wie diese Un-
möglichkeit mit der Natur der reinen poussee vereinbar
ist, darauf gibt Bergson nur mit Augenniederschlagen die
Antwort: ,,Ces choses de la vie profonde, l'instinct seul
les trouverait, mais il ne les cherchera pas." Und Strindberg
fing an, mit bloßem Instinkt im Kachelofen eines Berliner
Zimmers aus Schwefel Gold zu machen. Unsere Belletristen
wurden durch solche Zcithaltung, für die Bergson nur
Ausdruck ist, ungemein stolz, wie man bald merkte, denn
was sie machten war ja nicht mehr eine bestimmte Hal-
tung der menschlichen Intelligenz zu den Phänomenen des
Lebens und daraus sich ergebende Transcendenz, sondern
war etwas ganz und gar neues, nämlich das Leben selber
in seiner emotionalen Aktivität. Der neue Dichter letzten
Datums ist also der immediate Ausdruck des Lebens, das
er nicht etwa percipiert, sondern mit dem er identisch ist.
132
Sollte er nicht stolz werden? Fiel ihm doch das absolute
Allcs-Sein zu, ohne Mühe. Und genau wie der natura-
listische Belletrist von 1880 verachtet der expressionistische
von 1918 die Intelligenzia als alles deformierend, was sie
berührt; imd sie nennen sich die ,, Geistigen", die Besitzer
des wahren Intellektualismus und suchen den ,, andern"
als pedantische Vernünftelei zu entwerten. Ganz unintelli-
gent wie sie sind beten sie doch ganz götzendienerisch die
Intelligenz an, den Geist, das Wort Geist wenigstens. Das
Buch Europa strotzt von solchen "Worten aus der Intelli-
genzsphäre, nur von den "Worten, oft genug auch die ganz
falsch verstanden. Ich zähle 8 mal Elan, 5 mal Dynamik,
2 mal Brisanz, femer Mehrwert, Palpitation, Stoßtrieb, Hy-
perbel, motorisches Prinzip, immer vom Autor zum Leser,
nicht von seinen Personen untereinander gesprochen, und
ohne Anlaß. Eine sogenannte philosophische Auseinander-
setzung über Denkinhalte und Begriffsinhalte füllt Seiten
dieses Romanes, weil irgend eine zufällig aufgeschlagene
Seite Kant den Verfasser hilflos konsternierte. Dem Ver-
fasser ist es noch nicht, wie einem andern Belletristen in
einem Romane „Die achatnen Kugeln", gelungen, seine
Identität mit der poussee vitale dadurch zu zeigen, daß
dieses Romanes Helden, ansonst zweibeinig, Raum und
Zeit völlig aufheben, nur mehr die Bewegung schlechtweg
sind, daher jetzt im Schwarzwald, eine halbe Stunde später
am Kansas sind. Der Verfasser der Europa hat für die
Götzenverehrung der Vitalität nur die Vokabel, die er an-
betet. Zwei erzählte Beischlafe versuchen in dem Ablauf
des Romanbäcbleins Niagara zu machen: die asiatische
Banise ist ein Schulaufsatz dagegen. Zu dem Zwecke, vor
dem Leser den geschwellten Biceps der geliebten Vitalität
spielen zu lassen, ist dem Verfasser kein Beiwort gewaltig
genug. Ich zähle folgende Beiwörter: 10 mal kolossal,
3 mal formidabel, 4 mal epochal, 2 mal monumental,
7 mal Fanal, 3 mal fabelhaft, 4 mal enorm, 3 mal pracht-
voll, 3 mal pompös, 2 mal saftig, 2 mal wuchtig, 2 mal
herkulisch usw. Auch dieses immer vom Verfasser zu
133
etwas gesagt, nie von Personen zu deren etwaiger Charakte-
ristik solcher Berliner Kommis-Metaphorie. Eine bei einem
Schriftsteller erstaunliche Unkenntnis der bildhaften Kraft
der Sprache trifft hier glücklich den Ausweg in die Vita-
lität, die man in solchen Beiworten arretiert zu haben glaubt.
VIERTER EXKURS
Jenen einer ästhetischen Wissenschaft Beflissenen, Lehrern
wie Schülern, welche diese ihre "Wissenschaft dessen was
die Kunst ist auf Untersuchungen darüber aufbauen, wie
die Kunst auf den Menschen wirke, um dann daraus wieder
weiter zu finden, was die Kunst oder die ,, wahre" Kunst
sei, — jenen Jüngern ihrer schon ganz unfraglichen Wissen-
schaft seien in dem Folgenden die ganz simpelsten Vor-
aufgaben ihrer Aufgabe gestellt, mit deren Lösung sie schon
einige Semester hinbringen können, lehrend oder lernend.
Ohne weiteren Anspruch auf Originalität der folgenden
Aufstellungen zu machen — der kürzlich verstorbene Remy
de Gourmont hat am besten darüber traktiert, ^- enthalten
sie nur alles Wesentliche in Hinweisen, Fingerzeigen, wo
der fleißige Student sich ausarbeitender Weise einerseits
den Doktorhut, andererseits die aus seiner Arbeit erworbene
Erkenntnis holen kann, daß es auf diesem Wege zur Fest-
stellung dessen was die Kunst ist nie kommen kann, nicht
einmal dessen, was die ,, wahre" Kunst ist. Und er wird
sich dann vielleicht der großen deutschen Philologie erinnern,
die allerdings seit langem nicht mehr auf den deutschen
Hochschulen zuhaus ist, sondern in Neapel, und wird als
solcher Philologe die Ästhetik als Lingustik gewirmen, wie
dieses Benedetto Croce getan hat, der sich allerdings von
Wilh. von Humboldt datiert und nicht von Wilamowitz,
Die bescheidene Sache ist die:
Jeder Akt hat seine eigene Vollendung zum Ziel. In das
Ziel ist die gewollte Wirkung inbegriffen. Jeder Akt will
sich beim Handelnden als erfolgreich vollenden; auch den
Akt des einsamsten Denkers will dieser wirksam.
134
Der Erfolg ist ein Faktum für sich selber und steht außer-
halb des "Werkes und des Aktes, den er begleitet. Für die
künstlerischen Akte ist der Erfolg ein mögliches Faktum,
welcher das "Wesen selber des Aktes nicht ändert. Der
Erfolg schafft nicht ein Werk, sondern bringt es auf eine
Weise ans Licht, daß davon immer etwas in der Erinne-
rung der Menschen bleibt. Hier von einem Kriterium sprechen
hieße zu viel sagen, denn der Erfolg ist ein Faktum wie
eine Blume oder ein Brand oder ein Fluß. Gegen dieses
Faktum ist so gut wie nichts zu stellen, nämlich nichts
als die Ideen gewisser Menschen über die künstlerische
Schönheit. Und auch diese Opposition ist nicht radikal,
da im Prinzip diese Schönheit nicht außer den Möglich-
keiten eines Erfolges steht; in welchen Fällen man dann
das Urteil unterstreichend von einem ,, berechtigten Erfolg"
spricht. Aber jeder Erfolg ist als Erfolg legitim. Die Sonne
ist auch dann legitim, wenn sie das Korn verbrennt, und
nicht nur dann, wenn sie es zur Reife bringt. Der Erfolg
setzt ein "Werk ans Licht: das ist sein Wert, der ganz
unabhängig vom Werte des Werkes ist und von diesem
her nicht bestimmt wird, noch auch von ihm bestimm-
bar ist.
Da die Kunst da ist, hat sie eine Funktion; sie befriedigt
ein menschliches Bedürfnis. Ein Werk erfüllt seine Funktion
um so mehr, je intensiver und extensiver es das mensch-
liche Bedürfnis befriedigt. Es sagt gar nichts, dieses Be-
dürfnis das künstlerische Bedürfnis zu nennen. Dies sagt
so nichts, wie daß der Tabak das Bedürfnis nach Tabak
befriedigt. Das ist naiver Finalismus, der sich auf die ein-
fache Relation von Topf und Deckel beschränkt. Die Kunst
gefällt — : der Erfolg ist der Anfang einer Probe zugunsten
des Werkes. Der Erfolg hat ein Werk zu einem Turm
hoch gehoben, den eine den Wert des Werkes bestreitende
Gruppe anrennt mit dem Effekt, den Turm dadurch nur
noch höher zu machen, statt ihn, wie sie will, zu stürzen.
Der Menge, welche dem Werke den Erfolg gegeben hat,
wird gesagt, daß sie betrogen und dumm sei. Die Menge
135
findet das Werk schön (weil es ihr gefällt). Man kann ihr
nur antworten: Ja, es ist schön (weil es gefällt). Über das
Gefallen etwas später.
Ganz zufällige Umstände wählen ein "Werk für den Erfolg
aus: nach erfolgter "Wahl ist das Werk geheiligt wie die
vom Priester unter vielen Hostien ausgewählte eine Hostie.
Hier nun setzt die häufigste kritische Bemerkung ein: es
gäbe eine Ästhetik, eine Lehre vom Schönen. Es gibt sogar
sehr viele solche Lehren. Aber es sei der Einfachheit halber
nur eine angenommen und diese so, daB sie gute Gründe
hat, sich einem Erfolg, wie immer er auch sei, entgegen-
zustellen. Die Existenz der Ästhetik verpflichtet, ein ab-
solut Schönes anzuerkennen, wonach jene Werke als schön
geurteilt werden, w^elche mit diesem Ideal- Schönen eine
proportionale Ähnlichkeit haben.
Es gibt zwei Gruppen der sensiblen Reaktion : eine, welche
den Erfolg macht (oder ihm nachgibt) und die andere,
welche sich dem Erfolg entgegenstellt und dem erfolghaften
Werke den Charakter des Schönen abspricht. Beide Emp-
findungen sind gleich spontan, aber nicht gleich rein. Die
zweite resümiert sich aus einer Ästhetik, welche eine Mi-
schung ist von Glaubungen, Traditionen, Meinungen, Ur-
teilen, Gewohnheiten, Anschauungen. Sie enthält mit dem
Respekt vor dem, was war, auch noch Angst vor dem
Andern (-Neuen) und Appetit nach dem Neuartigen (-Ver-
änderten).
Alle Ästhetiken prekonisieren das neue Alte — : es handelt
sich ihnen darum, den Nerven und der Bildung einer Kaste
zu schmeicheln (sie zu schonen?). Das künstlerische Urteil
ist ein Amalgam von Sensationen und Aberglauben. Das
Urteil der Menge aber ist nichts als sensationell und gar
nicht ästhetisch. Es ist nicht einmal ein Urteil, sondern
ganz naives Einbekenntnis eines Vergnügens. Woraus folgt,
daß bloß die ästhetische Kaste jene Qualität besitzt, die
eines Urteils über die Schönheit eines Werkes, absprechend
oder zusprechend, fähig ist. Die Menge also macht den
Erfolg, die Kaste macht die Schönheit. Beides ist äquiva-
136
lent, denn in Akten und Empfindungen gibt es keine
Hierarchie, beides ist gleichwertig und beides ist verschie-
den. In Opposition stehen: die Meinung der Empfindung
und die Meinung des Intellektes. Die Empfindung kümmert
sich nur um das Vergnügen; fügt sich zum Vergnügen ein
intellektuelles Moment, so ergibt dies Ästhetik. Die Menge
sagt aus: es gefällt mir und trotzdem ist es nicht schön;
oder: dies mißfällt mir und trotzdem ist es schön. Die
Menge kann nur und nichts sonst als die Wahrheit aus-
sagen. Das ästhetische Urteil hingegen ist eine sehr komplexe
Form der Lüge mit all ihren Reizen.
Antworten nach dem Absoluten der Schönheit, der "Wahr-
heit wie der Gerechtigkeit liegen in der Theologie, die hier
nicht beschäftigt ist. Als in der Vergangenheit bestimmt
gewordene Ideen drücken die Ideen der dichterischen Schön-
heit, der philosophischen Wahrheit^ der sozialen Gerech-
tigkeit, der theologischen Liebe eine bestimmte Konkordanz
aus zwischen unsern derzeitigen Empfindungen und dem
allgemeinen Zustand unserer intellektuellen Einsicht,
Über den emotionalen Ursprung der Schönheit wären ge-
naue Untersuchungen anzustellen, was den Studenten an
Stelle ihres müßigen Historismus empfohlen sei. Die für
die künftige Mutter gewählte Frau wird konform dem
Rassentypus des Wählenden sein, und das heißt — sie
soll „schön" sein. Ist die Frau hier weniger kritlich, so viel-
leicht deshalb, weil der Mann seiner Nachkommenschaft
weniger von sich mitgibt als die Frau. Das erste Zucht-
wesen der Schönheit war die Frau. Das heißt der Mensch.
Es wäre genau festzustellen, daß alle einem Tiere, einer
Landschaft, einem Gegenstande gegebenen ,,Schön"-attri-
bute von d^r menschlichen Schönheit derivieren: Korallen-
(lippen), Saphir(augen), Marmor(kälte), -weiße, -härte. Das
Vokabularium der Klichees dichterischer Sprache ist voll
davon. Auch von dessen Umkehr ung: der Schwan hat
einen Frauenhals für: Schwanenhals der Geliebten. Oder
ebenholzschwarz wie Frauenhaar für: ebenholzschwarzes
Haar. Nebenbei: darauf hin ist der Tropus der allerneuesten
137
Literatur, als das neueste Alte, anzusehen. Der sexuelle
Charakter der Schönheit hat seinen symbolischen Aus-
druck in dem Faktum gefunden, daß "Werke, die nichts
als den nackten menschlichen Körper darstellen, die unbe-
strittensten plastischen und malerischen Kunstwerke sind.
Die Hartnäckigkeit, mit welcher der griechische Plastiker
sexuell blieb, setzte ihn für alle Zeiten außer jede De-
batte, Neben dieser groben Beziehung der äußern Deut-
lichkeit wären noch die feinern Beziehungen zu unter-
suchen, wie sie u. a. die sexuelle Pathologie ans Licht ge-
bracht hat.
Was zur Liebe veranlaßt, erscheint schön, was schön er-
scheint, bringt zur Liebe. Aber es ist natürlich durchaus
nicht notwendig, daß ein Werk, um uns schön zu erscheinen,
sexuell sein muß; es genügt, daß es ,, einnehmend" sei —
wo aber ist der Sitz dieses Sympathiegefühles zu suchen?
Das Gehirn ist nur Transmissionszentrum. Es zum gene-
ralen Zentrum des Menschen zu machen ist nur ein glück-
licher und verdienstlicher Irrtum. Zu untersuchen wäre,
welches das Ziel der menschlichen Aktivität ist und ob
es die Fortpflanzung ist. Zu erinnern, daß es sich nicht
um intensive sinnliche Erregungen oder um sexuell loka-
lisierte handelt, wenn vom genitalen Zentrum versus ästhe-
tisches Vergnügen die Rede ist. Gesagt wird nur: die ästhe-
tische Erregung versetzt den Menschen in einen der ero-
tischen Erregung günstigen Zustand, gleichgültig ob es
Musik, ein Bild, das Drama oder ein pornographisches
Bildchen ist. Das umgekehrte Beispiel ist weniger paradox:
von der erotischen Emotion führt ein leichter oft fataler
Weg zur ästhetischen. Ohne die Liebe keine Kunst, ohne
die Kunst nichts von Liebe als der rohestc physiologische
Funktionalismus.
Aber es handelt sich hier jetzt nicht um die Kunst, son-
dern um die emotionale Kraft alles dessen, was sprachlich
unter das Wort Kunst gebracht wird, oder was sich als
Schau, Spiel, Unterhaltung usw. vor die Menge stellt und
worüber man seine Eindrücke austauscht. Eine hierarchische
138
Wertunterscheidung wird hier nur von der "Wirkungsinten-
sität getroffen. Nun erhöht der Erfolg, den ein Werk hat,
dessen emotionale Kraft. Für die Menge besteht der natür-
liche Glaube, daß jedes Werk, das Erfolg hat, schön ist
und daß jeder Durchfall oder Mißerfolg verdient sind. Was
die Kaste Schönheit nennt, das nennt die Menge Erfolg.
Aber sie entlehnt gerne dafür das sinnbare Wort ,, künst-
lerische Schönheit", um die Qualität ihres Vergnügens zu
erhöhen, ein im Übrigen nicht verwerflicher Vorgang; denn
da Erfolg und Schönheit den gleichen Ursprung im Emo-
tionalen haben, ist der einzige Unterschied der beiden nur
die Verschiedenheit der betreffenden nervösen Systeme,
denen diese Emotionen zugehören. Es wäre hier etwa die
sogenannte stoffliche Identität des erfolgreichen ,, Kitsches"
und des ,, schönen" Dichtwerkes an Beispielen zu zeigen.
Femer historisch zu zeigen, daß jene wenigen, welche einer
nichts als ästhetischen Empfindung fähig sind, Beispiel und
Muster einer weit größeren Menge sind, welche diese nichts
als ästhetische Emotion zu haben vorgibt (Snobismus) und
nur der Suggestion erliegt oder dem Befehl ihrer Jugend-
erziehung und Erinnerung gehorchen oder dem Einfluß
ihres Milieus nachgeben oder der Mode folgen. So kann
es vorkommen, daß eine von der großen Menge abgelehnte
Schönheit einen Kastenerfolg hat; aber wie der Mengenerfolg
ist auch der Kastenerfolg vergänglich: die Kaste von heute
rühmt ein Werk, das die Kaste von morgen verachtet
(Geschichte des Rembrandtbildes, der Wagnermusik).
Es wäre biologisch der Fall jener mehr schwerflüssigen
als diffusen Individuen zu untersuchen, bei denen die Emo-
tionen nicht zum Zentrum der großen Sensibilität hin
widerhallen, sei es, daß dies Zentrum atrophiert ist, sei
CS, daß der emotionale Strom auf einen Widerstand stößt,
auf ein Hindernis, auf ein undurchdringliches Terrain.
Ohne für die Berechtigung der Analogie ein Vorurteil zu
schaffen, sei an einen durch den Draht geleiteten elek-
trischen Strom erinnert : der Draht fällt auf eine Holzunter-
lage und statt Bewegung gibt es Wärme, der Zug fährt
139
nicht, sondern brennt. Die Emotion begegnet auf ihrem
Weg zum erogenen Zentrum einem Widerstand, an dem
sie sich bricht, auf den sie sich aber einrichtet; und alle
Zellen, welche den gleichen Weg gehen, haben das gleiche
Schicksal. Es kann solcherart die ästhetische Emotion in
ihrer reinsten, desinteressiertesten Form als eine Abirrung
von der erogenen Form angesehen werden. Es sei erinnert
an die forensischen Fälle, wo unter dem Zwang der Sitte
und der Straffälligkeit vom Angeklagten oder dessen Sach-
verständigen gegen die Behauptung des Anklägers ver-
sichert wird, daß die Wirkung des beanstandeten Werkes
,,rein künstlerisch" sei und nicht das erogene Zentrum
berührt habe. Wogegen der Ankläger meist bemerkt, da£
dies für die Gebildeten, also für eine Kaste, zugegeben
werden könne, nicht aber für die Menge. Was hier nur
oft behauptet wird, ist aber sonst Faktum: das in der
Aphrodite kultisch gewordene nackte Weib verwirrt den
antiken Gläubigen so wenig wie die zum Säugen entblößte
Brust der Madonna den christlichen Gläubigen sinnlich
erregt, — es bleiben nach Verflüchtigung des Weibes die
reinen Formen als Formen der Schönheit. Jener Wider-
stand im Fluß der Emotion erlaubt uns das Denken, Ver-
gleichen, Urteilen. Der ununterbrochene Strom der Emo-
tion triebe uns an die Schwester der Aphrodite und Ma-
donna, aber in der Unterbrechung entfernt er uns von ihr,
denn: die Schwester ist „weniger schön" als die Göttin, als
die Jungfrau.
Ob das Emotionale in die Intelligenz eindringt und von
daher diese Mischung von Emotionalem und Intellektuellem
entsteht, welche man den ästhetischen Sinn nennt, dieses
ist nur behauptet, aber nicht bewiesen worden. Denn die
Intelligenz ist ein Zufall. Einen Zustand der Menschheit
anzunehmen, in dem uniform Gesundheit, Gleichgewicht,
Gleichartigkeit, Mäßigung, Ordnung herrschen und in dem
die Katastrophen des Genies unmöglich, die Zufälle der
Intelligenz sehr selten wären — dies bedeutete, daß die
Emotionen immer ihr Ziel erreichen, weil die Intelligenz,
140
d. h, die Folge dessen, was wir naiv das Böse nennen,
den Faden des Emotionalen weder verknotet noch ab-
schneidet. Aber es bestünde dann das nicht mehr, was
man die Welt nennt.
In der Formation des ästhetischen Sinnes konkurrieren
also zwei Arten Emotionen: die erogenen und alle andern,
wie immer diese auch seien, und in einer Proportion, die
mit jedem Menschen variabel bis ins Unendliche ist. Die
ersten Emotionen erleben wir bei der Vorstellung eines
vollkommenen Typus unserer Rasse. Für die Mehrzahl der
Menschen ist — jeder vom Sexuell-Sinnlichen bezogene
Begriff rigoros femgehalten — der Anblick Apollos ange-
nehm, weil er das Verlangen weckt, sei es direkt, sei es
je nach dem Geschlecht durch Gegenbeschwörung. Die Schön-
heit ist ein Versprechen von Glück — die sensualistische
Philosophie, die Stendhal diesen Ausspruch tun ließ, sollte
w^issenschaftlich erst einmal aufgearbeitet werden. Eine idea-
listische Philosophie hat für dieses sensualistische Glück-
versprechen das Wort Schönheit erfunden, das man nun
auf alles anwendet, was dem Menschen Realisierung einer
seiner Begehrungen verspricht, die immer zahlreicher und
komplexer wurden. Das emotionale Bedürfnis hat sich bis
in die Extreme der grauenvollen, blutigsten emotionalen
Kausierungen ausgebildet. Um doch als Ziel zu haben: an
die einzige immanente Pflicht der menschlichen Kreatur
zu erinnern, nämlich die Erhaltung der Art. Was immer
auch die Sinne sind, welche die Emotionen zuerst treffen,
sie springen von da zum Zentrum der allgemeinen Sensi-
bilität. Die wilden, grauenvollen Tragödien, an denen sich
die Griechen ergötzten, waren Filter. Hätten sich die Tra-
giker, die als gro&e Dichter (wie die Frauen) weder Ge-
schmack noch Ekel kennen, nicht die Mühe genommen,
die Geschichte des Orest, des Polineukes, der Elektra durch-
zudenken, wir würden diese Geschichten nur als die De-
lirien einer tief verkommenen oder ganz kindlichen Gesell-
schaft ansehen. Keine Tragödie Shakespeares oder Racines,
die nicht hunderte Male von grauenhaften Komparsen vor
141
den Gerichten gespielt wurde. Der Student hätte hier nach
Beispielen aus der forensischen Medizin zu suchen, wie
sich irgendeine Erregung in einen sexuellen Akt umsetzt, (das
Problematische des ,, Lustmordes"), weil der Refraktor fehlt,
an dem sich zum größten Teil der emotionale Strom bricht.
Die auf halben Wege aufgehaltenen Emotionen transfor-
mieren sich in Intelligenz, ästhetischen Geschmack, Fröm-
migkeit, Moralität, Grausamkeit, Verbrechen — nach einem
dunklen dynamischen Modus, in dem noch Umstände und
Umgebung mitspielen, aber nur mitspielen. Und müssen
sich nicht immer nur in dies oder das transformieren,
sondern können auch in nur teilweisen Transformationen
genug für eine zweite Richtung, eine dritte behalten. So
scheint die Liebe an die Grausamkeit gebunden, sei es
deren Exzeß oder deren Mangel, Die Mimik der Liebe
und der Grausamkeit ist die gleiche. Wenn auch geteilt,
bleibt der emotionale Strom stark genug, um intensive
Akte zu produzieren. Grausamkeit, Intelligenz und Fröm-
migkeit zum Beispiel in Torquemada.
Dieses nur Angemerkte auf das Ästhetische gewandt: je
nach der Derivationsstärke des emotionalen Stromes wird
z. B, der eine Zuhörer einer Tragödie alles das aus ihr
behalten, was reine Schönheit ist; er wird weniger sen-
sibel für den Mord sein als für die Geste des Mörders.
Der andere wird die Tragödie verlassen wie einen Box-
kampf. Der eine sagt vor einer Plastik: welche Nacken-
linie! Der andere: ein Prachtweib! Zwischen diesen Extre-
men sind tausend Nuancen. Für den Typus der Mitte gibt
es keine Idee der Schönheit — er beurteilt das Werk nach
der Stärke und Qualität seiner Emotion. Das eine macht
ihm Vergnügen, das andere ,,läßt ihn kalt". Dieser Typus
der Mitte bestimmt den Erfolg.
Die ästhetische Kaste beurteilt das Werk gleichfalls emo-
tional; aber die Emotion ist von einer besondern, nämlich
der sogenannten ästhetischen Ordnung. Zur Kunst gehören
danach nur Werke, welche diese ästhetische Emotion geben
können. Daher sind hier ausgeschlossen die utilitarischen,
142
moralisierenden, sozialen tjsw. "Werke, deren Ziel etwas
abseitig von der ästhetischen Emotion liegt. Auch die
sexuell überbetonten Werke gehören zu den abgelehnten,
weil sie zu direkt wirken und zu deutlich klar mit der
primären vom Menschen konzipierten Idee der Schönheit
korrespondieren. Die ewig unbeständige ästhetische Kate-
gorie ist bei allem Wechsel von Idealismus zu Realismus,
Sentimentalismus zu Brutalismus, Religiosismus zu Sen-
sualismus ein eng geschlossener Bezirk. Kunst ist was eine
,, reine" Emotion gibt, das hei&t eine Emotion ohne Vibra-
tionen außerhalb einer limitierten Zellengruppe. Kunst ist,
was weder zur Tugend, noch zum Patriotismus, weder
zur Ausschweifung noch zum Gelächter, weder zu Krieg
noch zu Frieden, überhaupt zu nichts sonst auffordert,
was nicht die Kunst selber ist. Die Kunst ist unparteilich,
unempfindlich, lacht nicht, weint nicht. Es hat dieser Sach-
verhalt gar nichts, weder mit der Ratio, noch mit irgend
einer Wahrheit Konformes. Es handelt sich um Bräuche
einer bestimmten Kaste. Aus der Unfähigkeit des nervösen
Systems geboren, hat die Idee der Schönheit auf ihrem
Wege alle Arten Regeln, Vorurteile, Glaubungen und Ge-
wohnheiten aggregiert und hat sich einen Kanon geformt,
dessen Form, ohne absolut zu sein, in einem gegebenen Zeit-
moment nur zwischen gewissen Grenzen oszilliert. Und dieser
Vorbehalt ist notwendig. Die ästhetischen Menschen einer
Epoche sind sich über die Idee des Schönen einig; man
könnte hier Werke und Namen nennen, die abzulehnen
so viel hieße, wie keinen künstlerischen Sinn haben. Aber
Werke eines ganz anderen, ja gegensätzlichen Tones wur-
den in andern Epochen von der ganz gleich konstituierten
Gruppe bewundert und als das ,, Schöne" inkarnierend be-
zeichnet. Um 1 700 war alles den Italienern und Franzosen
im Deutschen Nachgeahmte allein den Deutschen die Kunst ;
um 1800 war es die Nachahmung einer vermeinten An-
tike; um 1870 Nachahmung eines vermeinten Mittelalters;
um 1900 die Nachahmung der natürlichsten Natur usw.
Der ästhetische Sinn ist also historisch variabel, aber im
143
jeweils gegebenen Zeitmoment sehr solide. Man kann sagen :
die Geschichte der Künste ist der catalogue raisonne jener
"Werke, welche in der Zeitenfolge von der ästhetischen
Kaste ausgewählt wurden.
Die Urteile der Menge über die von ihnen abgelehnten
Werke sind falsch. Aber nicht minder falsch sind die Ur-
teile der Kaste über die von der Menge gebilligten Werke.
Der Titel Kunstwerk kommt beiden Gattungen zu, da beide
Emotionen hervorrufen, beide also, w^enn auch nicht in der
Qualität, so doch im Wesen gleich sind. Der Appell an
die literarische Gerechtigkeit als entscheidenden Faktor ist
ohne Sinn, da der Begriff dieser Gerechtigkeit von einer
Kaste bestimmt ist. Man kann hundert Verehrer Walter
Bloems viel leichter umbringen als überzeugen, da& Bloem
keine Kunstwerke schreibt. Der Appell supponiert irrig
eine Gleichhaftigkeit der Emotionen bei Menschen verschie-
dener physiologischer Kategorien. Ein Werk ist für jene
schön, denen es Emotion gibt; die Sensibilität ist nicht
zu betrügen und nicht zu bestechen, weder die der Menge
noch die der Kaste. Weshalb auch alle Versuche, die
,, Kunst ins Volk zu bringen", das heißt den Geschmack
zu ändern, absurd sind, als von der Meinung ausgehend,
daß sich der Geschmack an der Kunst lernen lasse wie
die Chemie. Und selbst wenn es gelänge? Weshalb soll
die Menge den Geschmack der kleinen Kaste adoptieren,
warum die Kaste nicht den der Menge?
Jede Ästhetik, welche ihre Elemente und Grundsätze von
der Wirkung dessen, was sie jeweils Kunst nennt, zu ge-
winnen sucht — sei es nun Wirkung auf die Massen oder
die Kasten — kann immer nur relativ sein, denn das Maß
unserer emotionalen Fähigkeit ist bedingt vom Maß unserer
jeweiligen emotionalen Rezeptivität und von dem Stand
unseres nervösen Systemes.
Nichts weiter als Aufgaben sind den Studenten hier ge-
geben, um sie von dem Jammer zu erlösen, mit dem sie
derzeit ihre Zeit in den Kollegien und Seminarien der Ästhe-
tik und Literatur hinbringen.
144
FÜNFTER EXKURS
Was man die Literatur nennt, wird Erscheinung immer
beim Niedergang einer Kultur. Deren frühe Blüte, welche
in den März ihres Daseins fällt, kennt nur die Dichtung,
gebundene Rede eines kultisch verbundenen Volksganzen.
Tritt inmitten der Literatur, also in Verfallszeiten als Ata-
vismus und geniale Katastrophe der Dichter auf, so er-
leidet er die Zeit und die Zeit iho. Ist er das Genie, so
stirbt er frühen Tod. Ist er es weniger, so erhält er sich
am Leben, indem er sich in die schützende Literatur be-
gibt. Das katastrophale Genie inmitten der Literatur hat
bestenfalls eine kleine Gemeinde von Freunden, nie das
Volk. Wie die Literatur die Gebildeten haben, hat die
große Menge die Belletristik, ein Derivat der Literatur,
wie diese ein Derivat der Dichtung. Die homerische
Zeit besaß nicht, was wir Literatur nennen. Der Literat
Lukian trat erst im Verfall auf, wie der Literat Petronius
in der neronischen Zeit. Das christliche Mittelalter ist Lite-
ratur, wo es sich lateinisch dichtend äußert, an die römische
Verfallsreit gebunden, woran die neuen Inhalte nichts än-
dern. Die mönchischen Hymnologen sind literati, in den
literis Gebildete, nicht Dichter. Die Dichter des Mittelalters
sind die Barden der Heldensage ia der Frühzeit. Die Bil-
dung der nationalen Sprachen nimmt diese Heldensage
auf: es sind Dichter, und der letzte Rest der lateinischen
literati verschwindet. Aber die Bindung der mittelalter-
lichen Welt lockert sich, löst sich auf. Das Heldengedicht
schrumpft auf das Volksbuch zusammen, der Minnesang
wird Meistersingerei und Gassenlied. Die Renaissance stellt
Antikisches als Master auf, das befolgt wird: neue Bil-
dungselemente erweitern die Literatur, die von nun ab
der herrschende Begriff w^ird. Außerordentliche Leistungen
werden ihr eigentümlich, denn auch die Bildung im wei-
testen Smnc kann Kultur schaffen, doch bleibt diese ex-
klusiv, nur einem Teile des Volksganzen zukommend, weil
von ihm nur tragbar und förderbar. Innerhalb der Lite-
ratur ist der Dichter nur bedingt Ausdruck seines Volkes.
10 145
In dieser Bedingtheit ist er diskutabel, was Inhalt der
Literaturgeschichten ist. Denn alle kulturellen Verfallszeiten
— und solche sind innerhalb des christlichen Gedankens
auch Tcilkulturen — sind skeptisch, werden von der Skepsis
eingeleitet, begleitet und zu Grabe getragen. Die seltenen
Genies solcher Zeit weinen immer den verlorenen Göttern,
den zerstörten Altären nach. Priester, für die es kein Amt
mehr gibt, sind sie.
Verteilt sich was wir Leben nennen auf die zwei Wag-
schalen des irdischen Tuns und himmlischen Sehnens, auf
das Politische und das Religiöse, so ist die Dichtung das Gleich-
gewicht dieser Schalen. Sie wird dann nicht sein können,
wenn alles Leben nur auf der einen Schale liegt. Im nichts
als religiös bestimmten Leben ist die Dichtung so über-
flüssig wie im nichts als politisch bestimmten Leben. Dich-
tung ist der Ausgleich im Geiste zwischen den Gegensätzen
der nichts als sinnlichen diesseitigen "Welt und der nichts
als jenseitigen, geahnten, geglaubten und gefühlten Welt.
Dem Sinnlichen durch ihre Materie, dem Übersinnlichen
durch ihr Menschentum verhaftet ist die Dichtung nicht
die Überwindung dieser Gegensätze durch ein Drittes, son-
dern die transzendierende Bindung dieser Gegensätze in
einem Dritten, das vom Geiste ist. Denn die Dichtung ist
sinnlich und übersinnlich, zeitlich und überzeitlich, nie-
mals das eine oder das andere.
In Zeiten der Literatur ist der Dichter eine inkommen-
surable Größe, die man zu verstehen sich bemüht, in
welchem Verstehenwollen und bestenfalles Verstehenkön-
nen sich das Unzeitgemäße des Dichters in solchen Zeiten
ausdrückt. Aber das Wesentliche des Dichters, seine bis
zur persönlichen Anonymität gehende Verbundenheit mit dem
Ganzen des Volkes, dessen artikulierter Ausdruck der Dichter
ist, dies ist nicht ,, verstehbar". Es gilt das sowohl für die
retrospektive Betrachtung des Dichters aus dem Blick-
winkel der Literatiir, wie für die Einstellung auf den kata-
strophal inmitten des Literarischen auftretenden Dichters.
Welche Katastrophe übrigens in den letzten siebenhundert
146
Jahren der Deutschen nur ein einziges Mal mit Hölderlin
eintrat, dem Dichter und seinem Volke zum Unheil. Höl-
derlin gab sich in der Literatur kein Ventil und ließ sich
keines in ihr geben. "Wie alle andern, die was sie dem
Genie nahmen ihrem Talente zum Opfer brachten, das
davon steile Flamme zum Himmel bekam.
Dem außerordentlich einfachen Problem der Dichtung und
des Dichters steht die außerordentlich komplizierte Er-
scheinung der Literatur und des Schriftstellers gegenüber.
Vom Schriftsteller als Dichter im folgenden Exkurs.
SECHSTER EXKURS
Der Dichter ist heute bei dem gebräuchlichen Namen Literat
angelangt, worunter einer verstanden wird, den unerforschte
Gebrechen hindern, ein brauchbarer Journalist zu werden.
Die soziale Wichtigkeit dieser Erscheinung ist nicht ge-
ring zu schätzen und rechtfertigt wohl, ihr einige Über-
legung zu widmen. Daß diese sich auf die Betrachtung
der Intellektualität beschränkt und im kleinen wie der
Versuch einer erkenntnistheoretischen Prüfung ausfällt, in-
dem sie den Dichter der literarischen Zeit nur als den in
einer bestimmten "Weise und auf bestimmtem Gebiete Er-
kennenden betrachtet, ist gewollte Einschränkung, die sich
natürlich nur durch ihr Ergebnis rechtfertigen läßt. So oft
aber hierbei vom Dichter, als einer besonderen Gattung
Mensch, die Rede sein wird, sei vorausbemerkt, daß da-
mit nicht nur die gemeint sind, welche schreiben; es ge-
hören auch jene dazu, welche die Tätigkeit scheuen — sie
bilden das reaktive Seitenstück zu dem aktiven Teil des
Typus.
Man könnte ihn beschreiben als den Menschen, dem die
rettungslose Einsamkeit des Ich in dieser Welt und zwi-
schen den Menschen am stärksten zu Bewußtsein kommt,
weil in seinen ihm eingeborenen Urelementen die indivi-
duelle Anonymität der Gemeinschaft besitzt. Als den Emp-
findlichen könnte man ihn auch beschreiben, für den nie
10* 147
Recht gesprochen zu werden vermag. Dessen Gemüt auf
die imponderablen Gründe viel mehr reagiert als auf ge-
wichtige. Der die Charaktere verabscheut mit jener furcht-
samen Überlegenheit, die ein Kind vor den ein halbes
Menschenalter früher sterbenden Erwachsenen voraus hat.
Der noch in der Freundschaft und in der Liebe den Hauch
von Antipathie empfindet, der jedes Wesen von den an-
dern fernhält und das schmerzlich-nichtige Geheimnis der
Individualität ausmacht. Der selbst seine eigenen Ideale
zu hassen vermag, weil sie ihm nicht als die Ziele, son-
dern als die Verwesungsprodukte seines Idealismus er-
scheinen. Dies sind nur einzelne Beispiele und Einzelbei-
spiele. Ihnen allen entspricht oder liegt zu gründe eine be-
stimmte Erkenntnishaltung und Erkenntniserfahrung wie
auch die dieser entsprechende Objektswelt.
Man versteht das Verhältnis des Dichters zu dieser Welt
am besten, wenn man von seinem Gegenteil ausgeht: das
ist der Mensch mit dem festen Punkt a, der rationale
Mensch auf ratioiden Gebiet. Man nehme die ScheuBlich-
keit des Wortversuches hin wie auch die ihm zugrunde-
liegende historische Vortäuschung; denn nicht hat sich die
Natur nach der ratio gerichtet, sondern diese nach der
Natur. Aber ich finde kein Wort, das nicht nur die Me-
thode, sondern auch das Gelingen, gebührend ausdrückt,
nicht bloß die Unterwerfung, sondern auch die Unterwür-
figkeit der Tatsachen, dieses unverdiente Entgegenkommen
der Natur in bestimmten Fällen, das in allen Fällen zu
verlangen dann freilich eine menschliche Taktlosigkeit war.
Dieses ratioide Gebiet umfaßt roh umgrenzt alles wissen-
schaftlich Systematisierbare, in Gesetz und Regel zusammen-
faßbare, vor allem also die physische Natur ; die moralische
aber nur in wenigen Ausnahmefällen des Gelingens. Es ist
gekennzeichnet durch eine gewisse Monotonie der Tat-
sachen, durch das Vorwiegen der Wiederholung, durch
eine relative Unabhängigkeit der Tatsachen voneinander,
so daß sie sich auch in schon früher ausgebildeten Grup-
pen von Gesetzen, Regeln und Begriffen gewöhnhch cin-
148
fügen, in welcher Reihenfolge sie immer entdeckt worden
seien. Vor allem aber schon dadurch, dai sich die Tat-
sachen auf diesem Gebiet eindeutig beschreiben und ver-
mitteln lassen. Eine Zahl, eine Helligkeit, Farbe, Gewicht,
Geschwindigkeit, das sind Vorstellungen, deren subjektiver
Anteil ihre objektive, universal übertragbare Bedeutung
nicht mindert. (Von einer Tatsache des nicht ratioiden
Gebietes dagegen, z. B. dem Inhalt der einfachen Aussage
,,er wollte es", kann man sich niemals ohne unendliche
Zusätze eine hinreichend bestimmte Vorstellung machen.)
Man kann sagen, das ratioide Gebiet ist beherrscht vom
Begriff des Festen und der nicht in Betracht kommenden
Abweichung; vom Begriff des Festen als einer fictio cum
fundamento in re. Zu unterst schwankt auch hier der
Boden; die tiefsten Grundlagen der Mathematik sind lo-
gisch ungesichert, die Gesetze der Physik gelten nur an-
genähert und die Gestirne bewegen sich in einem Koordi-
natensystem, das nirgends einen Ort hat. Aber man hofft,
das alles noch in Ordnung zu bringen. Des Archimedes
Wunsch ist heute noch der Ausdruck für unser hoffnungs-
freudiges Gehaben.
Bei diesem Tun ist die geistige Solidarität entstanden.
Nichts ist daher begreiflicher, als daß die Menschen ver-
suchen, das gleiche Vorgehn auch in den im weitesten
Sinne moralischen Beziehungen einzuhalten, obgleich es
dort täglich schwieriger wird. Auch auf dem moralischen
Gebiet wird heute nach dem Prinzip der Pilotierung vor-
gegangen und werden in das Unbestimmte die erstarren-
den Caissons der Begriffe gesenkt, zwischen denen sich
ein Raster von Gesetzen, Regeln und Formeln spannt. Der
Charakter, das Recht, die Norm, das Gute, das Imperativ
sind solche Pfähle, auf deren Versteintheit gehalten wird,
um daran das Netz der hunderte moralischen Einzelent-
scheidungen, die jeder Tag fordert, aufhängen zu können.
Die heute noch herrschende Ethik ist ihrer Methode nach
eine statische, mit dem Festen als Grundbegriff. Aber da
man auf dem Wege von der Natur zum Geiste gleichsam
149
aus einem starren Mineralienkabinett in ein Treibhaus voll
unausgesprochener Bewegung getreten ist, erfordert ihre
Anwendung eine sehr komische Technik der Einschrän-
kung und des "Widerrufs, deren Kompliziertheit allein schon
unsere Moral zum Untergang reif erscheinen läßt. Man
denke an das populäre Beispiel der Abwandlung des Ge-
bots „Du sollst nicht töten", von Mord über Totschlag,
Tötung des Ehebrechers, Duell, Hinrichtung bis zum Krieg,
und sucht man die einheitliche rationale Formel dafür, so
wird man finden, daß sie einem Sieb gleicht, bei dessen
Anwendung die Löcher nicht weniger wichtig sind als das
feste Geflecht.
Denn hier hat man längst nicht-ratioides Gebiet betreten,
für das uns die Moral bloß ein Hauptbeispiel abgibt, wie
die Naturwissenschaft eines für das andere Gebiet gewesen
ist. War das ratioide Gebiet das der Herrschaft der ,, Regel
mit Ausnahmen", so ist das nicht-ratioide Gebiet das der
Herrschaft der Ausnahmen über die Regel. Vielleicht ist
das nur ein gradueller Unterschied, aber jedenfalls ist er
so polar, daß er eine vollkommene Umkehrung in der Ein-
stellung des Erkennenden verlangt. Die Tatsachen unter-
werfen sich nicht auf diesem Gebiet, die Gesetze sind
Siebe, die Geschehnisse wiederholen sich nicht, sondern
sind unbeschränkt variabel und individuell. Es gelingt mir
nicht, dieses Gebiet besser zu kennzeichnen als darauf hin-
weisend, daß es das Gebiet der Reaktivität des Individuums
gegen die "Welt und die andern Individuen ist, das Gebiet
der Werte und Bewertungen, das der ethischen und ästhe-
tischen Beziehungen, das Gebiet der Idee. Ein Begriff, ein
Urteil sind in hohem Grade unabhängig von der Art ihrer
Anwendung und von der Person; eine Idee ist in ihrer
Bedeutung in hohem Grade von beiden abhängig; sie hat
immer nur okkasionell bestimmte Bedeutung und erlischt,
wenn man sie aus ihren Umständen loslöst. Ich greife eine
beliebige ethische Behauptung heraus: ,,es gibt keine Mei-
nung, für die man sich opfern und in die Versuchung des
Todes begeben darf" — und jeder von den Spuren ethischer
150
Erlebnisse Beschlagene und Behauchte, wird wissen, daB
man ebenso leicht das Gegenteil behaupten kann und da£
es einer langen Abhandlung bedarf, bloß um zu zeigen, in
welchem Sinn man es meint, bloß um Erfahrungen in
einer "Wegweiserrichtung aneinander zu reihen, die dann
doch irgendwo sich unübersehbar verästelt, aber doch
irgendwie ihren Zweck erfüllt hat. Auf diesem Gebiet ist
das Verständnis jedes Urteils, der Sinn jedes Begriffes von
einer zarteren Erfahrungshülle umgeben als Äther, von
einer persönlichen Willkür und nach Sekunden wechseln-
den persönlichen Unwillkür, Die Tatsachen dieses Gebietes
und darum ihre Beziehungen sind unendlich und unbe-
rechenbar.
Dieses ist das Heimatsgebiet des Dichters, das Herrschafts-
gebiet seiner Vernunft. Während sein Widerpart das Feste
sucht und zufrieden ist, wenn er zu seiner Berechnung so
viel Gleichungen aufstellen kann als er Unbekannte vor-
findet, ist hier von vornherein der Unbekannten, der Glei-
chtmgen und der Lösungsmöglichkeiten kein Ende. Die
Aufgabe ist: immer neue Lösungen, Zusammenhänge, Kon-
stellationen, Variable zu entdecken, Prototypen von Ge-
schehensabläufen hinzustellen, lockende Vorbilder, wie man
Mensch sein kann, den innern Menschen erfinden. Ich hoffe,
diese Beispiele sind deutlich genug, um jeden Gedanken
an ,, psychologisches" Verstehen, Erfassen und dergleichen
auszuschließen. Psychologie gehört in das ratioide Gebiet
und die Mannigfaltigkeit ihrer Tatsachen ist auch gar nicht
unendlich, wie die Existenzmöglichkeit der Psychologie als
Erfahrungswissenschaft lehrt. Was unberechenbar mannig-
faltig ist, sind nur die seelischen Motive, und mit ihnen
hat die Psychologie nichts zu tun.
Der Mangel an Erkenntnis, daß es sich überhaupt um zwei
ihrer Wesenheit nach verschiedene Gebiete handelt, ver-
schuldet die bürgerliche Betrachtung des Dichters als eines
Ausnahmemenschen (von wo es zum Unzurechnungsfähigen
nicht weit ist). Er ist nur insofern Ausnahmemensch als
er der Mensch ist, der auf Ausnahmen achtet. Er ist weder
151
der , .rasende", noch der „Seher", noch ,,das Kind", noch
irgend eine Verwachsenheit der Vernunft. Er verwendet
auch gar keine andre Art und Fähigkeit des Erkennens
als der rationale Mensch. Der bedeutende Mensch ist der,
welcher über die größte Tatsachenkenntnis und die größte
ratio zu ihrer Verbindung verfügt — auf dem einen Ge-
biet wie auf dem andern. Nur findet der eine die Tat-
sachen außer sich und der andere in sich, der eine findet
sich zusammenschließende Tatsachenreihen vor, der andre
nicht.
Ich bin nicht sicher, ob es nicht Pedanterie ist, so um-
ständlich auseinanderzulegen, was vielleicht Binsenwahr-
heit ist. Zur Entschuldigung möchte ich hiebei Ungesagtes
anführen, das ebenso wichtig: vor allem die Abgrenzung von
den sog. Geisteswissenschaften und historischen, die nicht
einfach ist, aber das bisher Gesagte bestätigt. Ob solche
Untersuchungen aber als Pedanterie zu bewerten, wird
sich zuletzt nur nach der Wichtigkeit richten, die man dem
Nachweis zumißt: daß die Struktur der Welt und nicht
die seiner Anlagen dem Dichter seine Aufgaben zuweist.
Man hat öfters dem Dichter die Aufgabe zugewiesen, der
Sänger, der Verklärer seiner Zeit zu sein und sie, so wie
sie ist, in die überglänzte Sphäre der Worte zu eksta-
sieren; man hat von ihm Triumphpforten für den ,, guten"
Menschen verlangt und Verherrlichung der Ideale; man
hat ,, Gefühl" — das heißt natürlich nur bestimmte Ge-
fühle — von ihm verlangt und Absage an den kritischen
Verstand, der die Welt verkleinere, indem er ihr die Form
nimmt, so wie der Steinhügel eines zusammengestürzten
Hauses kleiner ist als das einstige Hai'S. Man hat zuletzt
in der Praxis der Expressionisten, die das gemeinsam hat
mit dem alten Neo-Idealismus, von ihm verlangt, daß er die
Unendlichkeit des Gegenstandes verwechsle mit der Un-
endlichkeit der Gegenstandsbezeichnungen, wodurch ein
ganz falsches metaphysisches Pathos entstand. — Alles das
sind Konzessionen an das ,, Statische", ihre Forderung
widerspricht den Forderungen des moralischen Gebietes,
152
ist material widrig. Man wird einwenden, daß das hier Ge-
sagte nur eine rein intellektualistische Auffassung wider-
spiegle. Nun, es gibt Dichtungen, die von allem hier als
Hauptaufgabe Betrachteten wenig haben und dennoch er-
schütternde Kunstwerke sind ; sie haben ihr schönes Fleisch
und das des Homerischen leuchtet durch Jahrtausende zu
uns. Im Grunde kommt das doch nur von gewissen kon-
stant gebliebenen oder wieder zurückgekehrten geistigen
Einstellungen. Die Bewegung der Menschheit seither kam
aber von den Variationen. Und es bleibt bloß die Frage,
ob der Dichter ein Kind seiner Zeit sein soll oder ein Er-
zeuger der Zeiten.
SIEBENTER EXKURS
Ein allerdings jagendlicher Herausgeber bekanntmachte im
August 1914 in den Journalen, daß er das Erscheinen
seiner Zeitschrift einstelle, denn ,,nun sei die Zeit zum
Handeln". Wie verkommen muß das Denken oder vielmehr
das, was man heute so darunter versteht, geworden sein,
um in einen solchen exkludierenden Gegensatz zum Han-
deln gebracht werden zu können! Wie sehr muß das Han-
deln nichts mehr weiter als Handel, Welthandel meinet-
wegen, bedeuten, mit bedenklich vereinbar, aber nicht mehr
mit gedanklich! Aus welchem Denk- oder Handelskreise ja
auch Wort und Sache der Realpolitik stammt, die einer
immer dann zu treiben vorschlägt, wenn er rein nichts
politisch zu denken hat, sondern nur „handeln" will.
Nicht übel hat jemand das Denken ein verhaltenes Han-
deln und Sprechen genannt. Die denkende Vernunft ist
eine Kraft, die sich in Arbeit zu transformieren sucht;
sicher hat sie ihr mechanisches Äquivalent, und alle Denker,
alle wahrhaft Intellektuellen leiden nicht nur nicht an so-
zialer Anästhesie, sondern fühlen sehr lebhaft die soziale
Mission dt:r Wahrheit. Descartes war, was immer er auch
dagegen sagen mochte, verzehrt vom Prosely tismus , und
Leiboiz träumte, wenn er seinen Instinkten Lauf gab, von
153
einem Dienertum der Mikrokephalen und Anthropoiden und
der Retablierung des Despotismus zu Gunsten der denken-
den Gattung. Wenn Renan lächelnd die Macht zu verachten
vorgab, so weil er ein verstümmelter Aristokrat war und
zu stolz, um sich zu beklagen; aber sein Lächeln war
nicht das eines glücklichen Menschen, sondern voll Bitter-
keit des Ressentiments. Auch wenn die Denker die Indiffe-
renz gegenüber der populären Demenz empfahlen, so taten
sie das im Bewußtsein ihrer numerischen Schwäche und
der indiskutabeln materiellen Allmacht des Irrtums: darum
affektieren sie lieber die Unempfindlichkeit , als daß sie
einen ohnmächtigen Haß zugeben. Aber sie lebten w^ahr-
haft nicht in behaglicher Ruhe neben dem Irrtum, denn
dies ist nicht möglich. In jedem Denker ist die Leiden-
schaft eines Ikonoklasten, und er hat gegen jeden Narren
einen physiologischen Haß, — der mag im heutigen rela-
tivistischen Denkbetrieb recht schwach geworden sein, so
schwächlich wie das Denken selber, das abdankt, wenn
ein Krieg die Zeit bringt, wo ,,zu handeln" ist. Irrtum, zu
sagen, daß es abdanke, denn es hat ja nicht geherrscht. Es
hat schon zuvor gehandelt und mit sich handeln lassen.
Das Handeln — politisches, militärisches, wirtschaftliches
— wird heute mehr als je als der schöpferische Akt schlecht-
hin angesprochen, dem das Denken als kritische Anstrengung
des menschlichen Geistes untergeordnet sei. Nur in der
Metapher und fern allem wahrhaften Glauben, daß es
wirklich so sei, wird eine Glaubenshandlung oder ein Dicht-
werk als Tat angesehn. Und dem entspricht, daß man in
der kritischen Tätigkeit ein Tun von noch viel zweifel-
hafterm Wert erblickt, zumal Kritik heute in litteris so
selten ist wie häufig das Rezensententum, das von der Kritik
nichts als sekundär-formale Derivate entlehnt und seinen
Unfug damit treibt; genau so wie das meiste dessen, was
sich heute Kunst nennt oder so genannt wird, von der
Kunst formale Derivate entlehnt und damit seinen manchmal
interessanten Aufwand besorgt: innerhalb dieses Bereiches
protestiert der „Künstler" gegen seinen ,, Kritiker" und zitiert
154
die Goethesche Aufforderung, den Rezensenten totzuschlagen,
womit er sich übrigens nur auf die Seite Goethes schlagen
will. Scheiden wir diese falschen Wertträger und Wert-
geber aus, um in der absoluten Sphäre von Kunst und
Kritik, von schöpferischer und kritischer Kraft zu bleiben,
so geben wir gleich den Rangunterschied zu und sagen,
daß die schöpferische Kraft höhern Ranges ist als die kri-
tische, aber bemerken: daß sich vorhandene schöpferische
Kraft nicht ausschließlich in Werken der Kunst geäußert,
ja daß es Epochen in der Geschichte eines Volkes wie
in der Einzelgeschichte der schöpferischen Person gibt,
wo sich diese Kraft in Kunstwerken gar nicht äußern
kann und als doch vorhanden andre Formen der Äuße-
rung aufsuchen und ausbilden muß. Die schöpferische Kraft
setzt Elemente und Materien vorhanden voraus, mit und
aus denen sie als synthetisch gerichtete Kraft arbeitet: sie
äußert sich in keinerlei Werk, wenn diese Elemente und
Materien nicht gegeben sind, als welche wir in der Schrift-
kunst außer der Sprache die Ideen kennen, die in einer
Zeit gemein vorhanden sind ; also nicht bloß die individuell
erreichbaren Ideen — nach denen immer jeder Epigone
greift — oder gar von der Schriftkunst zu schaffende
Ideen. Ebenso auch nicht individuell erzeugte Sprechformen
oder aus deren altem Bestände erlernte. Nur bedingt ist
der Dichter sprachschöpferisch, aber Ideen zu schaffen ist
gar nicht der Dichtkunst, sondern der Philosophie Aufgabe.
Damit sein Werk Erscheinung werde, muß der Dichter in
einer spirituellen Atmosphäre stehn, in einer gewissen
Ordnung der Ideen hausen, um sein synthetisches Werk
herstellen zu können. Die Seltenheit solcher Atmosphäre
bezeugt die Seltenheit großer schöpferischer Epochen und
bezeugt femer das Zu-kurz-kommen , das Ungenügende,
Untragende im Werke an sich großer Begabungen wie zum
Beispiel Lenaus. Es ist das gelungene Werk eben nicht
allein auf die schöpferische Kraft des Einzelnen zu stellen,
sondern auch auf diese zweite Komponente, welche das
ideell tragende Zeitmoment ist. Dieses Zeitmoment zu schaf-
155
fen, ist nicht nur außerhalb der Kraft des Dichters — selbst
es zu kontrollieren, ist nicht in seiner Artung und Macht.
Aber diese Kontrolle zu üben, liegt im Bereich der kriti-
schen Kraft, deren Äußerung ist, in allen Gattungen des
Wissens, der Philosophie, Theologie, Geschichte, Kunst
den betreffenden Gegenstand zu sehn, wie er an sich wirklich
ist, das heißt aus ihm das Gesetz seines kritischen Me-
thodus abzuleiten. Die Kritik tendiert, eine Ordnung, einen
Kanon der Ideen zu errichten, eine intellektuelle Situation
zu schaffen, in welcher die schöpferische Kraft des Dich-
ters die für ihre Äußerung günstige Atmosphäre findet.
Denn es erreichen die von der Kritik aus der phänome-
nologischen Anschauung ihret Gegenstände gewonnenen
ideellen Werte die Gesellschaft, rühren, bewegen, ändern
deren Leben — und damit ist der Boden geschaffen, auf
dem die schöpferischen Epochen der Literatur zustande
kommen. Ein Hinweis auf die kritische Vorperiode der
deutschen Klassizität, die Tätigkeit der Schweizer und
Lessings, dürfte hier genügen und im Einzelnen nicht aus-
zuführen sein.
Es gibt kein zeitloses Dichten, denn der Dichter lebt als
ethisch höchst wertvoller Teil der menschlichen Gemein-
schaft in und aus einer bestimmten Zeit in die Zeiten,
nicht aus den Zeiten in seine Zeit; er ist nie und nimmer
ein Unmensch, ein Abstraktum, das sich wie zufällig und
mit seinem Unwesentlichen in einem Privatmenschen ver-
steckt, der einen bürgerlichen Namen hat, um mit seinem
Wesentlichen, eben dem Dichterischen, außer der Zeit und
Welt zu sein, die er lebt — bei den Sternen etwa. So
außerzeitlich lebend konzipiert sich rollenden Auges nur
der Dichterling und Dilettant. Es ist vielmehr so, daß der
Dichter seine Zeit am intensivsten lebt — erleidet — aus
Energien solchen Mit-Lebens, deren Übermaß die Unsterb-
lichkeit seines Werkes nähren. Nur dieses Mit-Leben gibt
dem Dichter den Wert, der als ein ethischer sein Tun mit
anderm Tun vergleichen läßt. Es wird die sittliche Größe
und Bedeutung des Werkes daran zu erkennen sein, bis
156
zu welchem Umfang der Dichter seme erlebte und erlittne
Umwelt zum Ausdruck bringt.
Je komplexer das Leben, je durch worfener dessen kultu-
relle Wertigkeit, um so wichtiger wird die kritische Arbeit
zur Bereitung der von der Zeit her bestimmten Möglich-
keit einer dichterischen Entfaltung, welche die Dauer in
sich trägt. Außerordentlich war die kritische Arbeit, welche
dem Erscheinen Goethes voranging, ihm Welt und Leben
als die geordneten Elemente und Materialien in ganz anders
durchgearbeiteter Weise bot als diese Elemente etwa jenen
durchaus genialen frühfertigen Engländern Byron, Shelley,
Keats, Wordsworth gegeben wurden, deren Werk immer
noch, heute noch sanguinische Hoffnungen begleiten und
begleiten müssen, weil es für die in sich ruhende Dauer
nicht vollendet und irgendwie am frühen Sterben ihrer
Schöpfer mitgestorben ist. So haben diese Schöpfungen
nicht viel mehr Dauer als Werke weit weniger glänzender
Epochen, jener etwa, aus der uns Herrick noch etwas be-
deutet, dessen Wert doch gewiß als Eigenwert geringer
ist als der des Keats oder gar Byrons. Man kann sagen:
jene Engländer wußten nicht genug, und so fehlt ihrem
Werke bei allem Glanz, aller Tiefe und aller Energie die
kulturelle Weite, die höchste sittliche Bedeutung und, nicht
zuletzt, die dichterische Mannigfaltigkeit. Dieses Werk blieb
genialisch unvollendet, weil ihm keine kritische vorgehende
Kraft die Atmosphäre schuf. Ein groteskes Beispiel solchen
Nicht- Wissens aus fehlender Kritik, wie wir dies verstan-
den haben wollen, bietet der sogenannte deutsche Natura-
lismus der 80 er Jahre, wo allerdings auch ein sehr grofees
kritisches Wissen nicht vermocht hätte, aus diesen Dilet-
tanten mit Nachahmungstrieb Dichter mit schöpferischer
Kraft zu machen. Einer der Gründe, daß dieses , .jüngste
Deutschland" so etwas wie Epoche sein konnte, lag aber
immer darin, daß keine Zeit kritisch verwahrloster war
als diese vom Jahre 1880 bis 1900 und nicht nur in der
speziell ästhetischen, sondern in jeder Kritik. Der geistige
Zerfall aller dieser Größen, die sich platt auf ein platt-
157
gesehenes Leben warfen, um auf dem Bauche oder tiefer
einen Abdruck davon zu nehmen, muBte darum bereits in
einem Alter eintreten, wo sonst der schöpferische Mensch
erst seines ganzen Umfanges inne wird: hier wurde man
die gähnende Leere inne, in die man rasch Errafftes von
überallher stopfte: Klassik, Romantik, Symbolik, Mystik
— wie es Laune und Mode brachte. Die nachfolgende Ge-
neration erschrak und besann sich: sie wurde kritisch.
Und erst die dritte Generation seit jenen Sudermann und
so weiter ahnt Verantwortung, denn sie ist kritisch vor-
bereitet.
Über die Bedeutung des gebrauchten Wortes Wissen ist
noch einiges zu sagen. Vor allem, daß es nicht etwa Be-
lesenheit bedeutet. Daß der Dichter nichts lesen dürfe, war
ja nur deutsche Meinung jener , .Dichter" um 1880. Aber
daß der Dichter belesen zu sein habe, ist keinerlei Forde-
rung. Shelley war belesen, und Coleridge verschlang Biblio-
theken. Pindar aber dürfte nur sehr wenige Bücher ge-
lesen haben und auch Shakespeare nicht viel mehr. Aber
in jenen Epochen, der des Pindar und der Shakespeares,
gab CS ein immediates Wissen aus einem lebendigen Kul-
turganzcn; Volk oder Gesellschaft waren von Gedanken
durchdrungen, welche das Leben deutlich abformten; es
bedurfte eines Umweges über Lernen und Bücher gar nicht,
um zu wissen; und war der Zustand dieser Gesellschaft,
dieses Volkes eben ein solcher, daß er ohne kritische
Mittler schon die Basis für die Auswirkung der schöpfe-
rischen Kraft gab, von diesem Zustand selber seine Data,
seine Materie und seine Elemente empfing. Nicht anders
im Mittelalter, das die im Verfalls-Latein aufgekommene
Kritik wieder vergessen konnte, weil ein Zustand war, der
unmittelbar dem Minnedichter gab, was er brauchte. Alles
Wissen der Welt ist für den Dichter nur dann von Wert,
wenn es ihm das Zeitmoment vermittelt, das er lebt, da-
mit sich seine schöpferische Kraft äußern kann. Zu dieser
Kraft selber kann er natürlich durch keinerlei Wissen ge-
langen, denn sie ist nicht erlernbar, außer in jenen öden
158
Zeiten, wo für Dichten ein Nachahmen von Mustern galt.
Aber diese Nachahmer von Mustern waren Gelehrte und
Bürgermeister und seltsame Pedanten, Dichter aber in gar
keinem Sinne des Worts.
Wo die Gesellschaft nicht mehr so ist, da£ sie sich ohne
Mittler dem Dichter als Element bietet, da mögen Bücher
und Kenntnisse dazu Hilfen sein, daß Einer sich eine
seinem Bilde der Welt gleichende Welt aus Wissen und
Einsichten konstruiert, in der er leben und wirken möchte.
Dieses Gebilde ist aber für den Künstler durchaus kein
volles Äquivalent für die verlorene kulturelle Voraussetzung
eines Shakespeare — wohl aber kann solches Konstruieren
eine Vorbereitung für eine kommende solche kulturelle
Voraussetzung sein, eine Beschleunigung ihres Eintretens,
und darin liegt der Wert solcher konstruktiver Vorweg-
nahmen dessen, was sein könnte, sein sollte, sein wird.
Nichts war in dem Deutschland von 1750 vorhanden, was
das Pcrikleische Zeitalter auszeichnete oder die Zeit der
Elisabeth. Und hier ist der Grund für die schwierige weil
schwache Seite des Dichters seit dem Ende des Grand
Siöcle. Hier lag die schwierige und schwache Seite auch
Goethes. Aber seine Stärke darin, daß es eine kritisch be-
lebte und lebendige Bildungsschicht gab, diese wenigstens,
und welche bedeutend genug war, da& sie ein Äquivalent
abgeben konnte für den fehlenden allgemeinen Kulturstand.
Goethe fand seiner schöpferischen Kraft den Boden, wenn
auch nicht in einem lebendigen kongenialen Leben der
Nation, so doch in einem lebhaften Dasein einer durchaus
kultivierten gebildeten Schicht gegeben, an deren kritischer
Weiterbildung er, das dichterische Amt beiseitesetzend,
selber noch arbeitete. Jenen Engländern im ersten Viertel
des 19. Jahrhunderts fehlte nicht nur das national-kultu-
relle Leben, sondern auch die kritisch gebildete Schicht,
und so verbrauchten sie ihre schöpferische Kraft in einer
Isolation von allen Seiten: sie kamen nicht zur Welt, die
sie brauchten, um das zu bedeuten, was sie ihrer Anlage
nach bedeuten sollten.
159
Man erwartete von diesem Kriege, von dessen Erlebnis man
überhaupt alles erwartet wie von einem Universalautoma-
ten, auch so etwas wie eine fundamentale geistige Erneue-
rung der Literatur, und man dachte in solcher Erwartung
nicht nur wie auf der daran politisch interessierten Seite
an so etwas wie eine betont national- patriotische Literatur
— die betreffenden Sänger dürften sich ja wohl ausge-
zwitschert haben — sondern an allerlei geistige Vertiefung
und gefühlsmäßige Erweiterung, Mysterienspiele über das
Erbarmen vielleicht oder sonst so was Frommes, Weiches,
Gütiges, Herzübergebendes. Wir erlauben uns, diese damit
dem Kriege zugeschobene Rolle des Kritikers durchaus zu
bezweifeln, denn wir vermissen in ihm gänzlich jene reinen
Ideenkomplexe, die allein für die Künste in Betracht kommen.
Denn die genannten Gefühligkeiten wird man doch wohl
nicht als Ideen ansprechen wollen, so wenig wie vor dem
Kriege die mechanische Tatsache, daß die Menschen das
Telefon bestaunten, weil sie das Telefon mit der Stimme
verwechselten, oder das Flugzeug anbeteten, weil sie diese
Maschine für die darin fahrenden Menschen hielten. Wir
erinnern an die französische Revolution, deren positive
Wirkung auf die Kunst nicht nur außergewöhnlich gering
war im Verhältnis zu dem Ereignis, sondern welche, nach
Goethes Zeugnis, eher eine negative Wirkung auf die Kunst
gehabt hat und nicht nur in Deutschland. So außerordent-
lich stark der Rationalismus von 1700 bis 1770 als ein
reiner Ideenkomplex auf die Gestaltung der europäischen
Literaturen wirkte, so gering war in diesem Bereiche die
Wirkung der Revolution, deren Ideen, sofern welche da
waren, sich sofort auf eine politische Praxis nicht nur
wandten, sondern von ihr überhaupt als Ideen ausgewählt
wurden, indem von jeder Idee die Legitimation ihrer mensch-
lichen Vernünftigkeit verlangt wurde — sehr entsprechend
so dem französischen Geiste, wie es dem englischen Geiste
entsprach, daß man 1642 bei jeder Einrichtung nach deren
Legalität fragte oder bei Ideen danach, ob sie in Überein-
stimmung mit dem Gewissen seien. Solche typisch insulare
160
fm ■ — ■! ■ ■!! »I «■■ UWimii-i I ■
2ier* C^^ t^i ^f*-c cn -77? a'n n
Haltung eroberte sich die Welt nicht, während es den
Ideen der französischen Revolution wohl gelang, die all-
gemeioe Begeisterung zu wecken, weil die geringste Rolle
in den menschlichen Betätigungen überall die Vernunft
spielt. Daß sie, die man ein Jahrhundert lang rein ideell
manipulierte, von nun ab die erste Rolle im praktisch-poli-
tischen Lebtn haben solle, begeisterte zu allem Sinn und
Unsinn, Heroismus und Verbrechen, welche die Revolution
begleiten. Und dies, weil die Ideen der Revolution unmittel-
bar praktisch gerichtet waren als die ganz unkritisch ,, rich-
tigen" Ideen — darum, weil sie in diesem unmittelbaren
Sinn praktisch-politisch waren, sind die Ideen von 1789
nicht mit reinen Ideenkomplexen vergleichbar, wie sie die
Renaissance und die Reformation aufstellten, wohl aber
vergleichbar mit den Ideen von 1917, die aus einer Praxis
abgezogen direkt in eine Praxis gebracht werden sollen.
Das von praktischen Erwägungen geleitete Hin- und Her-
schieben schafft, so riesig auch die darauf verwandte Kraft
ist, nicht das, was als eine geistige Atmosphäre für die
Kunst und den Künstler allein in Betracht kommt. Was
hier geschieht, ist kein geistes-kritisches Werk — das schon
zehn Jahre vor dem Kriege einsetzte und durch ihn gar
nicht geändert oder auch nur modifiziert wurde — son-
dern ist nichts als praktisch-politisches Bessermachen, wo-
durch diese Tätigkeit als höchst wichtige durchaus nicht
für ihren Bereich entwertet werden soll, sondern nur für
den Bereich der Kunst und der Kritik. Wer sich von der
Änderung eines Wahlmodus eine Aufbesserung der Kunst
verspricht, irrt sich entweder über das Wählen oder über
die Kunst. Es sind nichts als praktische Gedanken, die
einer über Wählen, Sozialisierung des Kapitals und so
w^eiter hat, aber es äußert sich hier nicht der kritische
Geist, den die Neugierde nach den besten Ideen leitet, nicht
nach den praktischsten. Indem so der kritische Geist ste-
rile Konflikte vermeidet, indem ^er sich nicht in die Sphäre
begibt, innerhalb w^elcher enge und relative Konzeptionen
allein irgend Wert haben, mag er seinen augenblicklichen
11 161
Einfluß mindern, aber nur dadurch gelangt er zu den
weitern und vollendeteren Konzeptionen, denen er allein
sachlich verpflichtet ist. Jede Art Praxis, sei diese politi-
scher, moralischer, ja selbst religiöser Art, beruht auf nur
sehr inadaequaten Ideen, denn es ist den Menschen in
ihrer großen Mehrzahl nicht eigentümlich, daß sie ein bren-
nendes Verlangen danach haben, die reine Idee zu erkennen ;
sie begnügen sich bestenfalls mit dem Beiläufigen. Aber
auch dieses Beiläufige wird nur dann aufgenommen werden
können, wenn die dem kritischen Geist Verpflichteten eben
nicht dieses Beiläufige besorgen, sondern nur die reinen
Ideen bedenken, mit andern Worten, wenn sie nicht prak-
tisch und relativ, sondern rein und absolut denken, mag
man sie auch im Augenblick wie immer mißverstehn, und
mag dieses Mißverständnis so universal sein wie in unsrer
Zeit. Der spekulativ reine Kritiker wird zu seinem eignen
Mißverständnis, wenn er sich in die unmittelbare praktische
Kritik begibt, denn er muß als spekulativer Kritiker wissen,
daß auf diesem Gebiete die Werte der Wahrheit die ge-
ringste Kompetenz haben und sie darin, wenn überhaupt,
so nur in verzerrender Maskierung eingeschmuggelt werden
können. Diese Verstellung zu besorgen, aus was immer für
Gründen, ist nicht nur nicht Aufgabe des Kritikers, son-
dern deren Aufhebung. Es ist eine flach Uberale Redensart
aller Arten von billigen Welt verbesserem, daß man es satt
habe, solche Subtilitäten echter und falscher Kritik zu
unterscheiden und daß jeder verpflichtet sei, so gut er
könne, praktisch an dem Karren der Menschheit zu ziehn,
damit er aus dem Dreck käme, denn Bewegung sei die
Hauptsache, und alles wolle die Wahrheit, wofür wir nur
schnell noch eine Partei gründen, nämlich die der Prak-
tisch-Denkenden. Nun, auf solche Weise würde die Er-
kenntnis der Wahrheit eine amüsante soziale Angelegen-
heit werden, ein lustiges Wettrennen Aller nach Allem,
mit erheiterndem Übereinanderpurzeln und dem leichten
Glücksgefühl bequem genommener Hindemisse, kurz sehr
viel Staub und sehr wenig Denken. Äußern ungeduldige
162
jugendliche Gefühle den "Wunsch nach solchem Praktisch-
werden der kritischen Kraft, so bedeutet das nicht viel
Irrtum und nur dies, daß diese Jugendlichen nicht wissen,
daß das „Praktische" darin besteht, ein Gesetz über die
Reblausschäden brauchbar zu konzipieren oder eines über
das Lombardgeschäft; diese Jugendlichen denken bei ihrem
"Wunsche nach ,, praktischem Denken" ans "Weltumstürzcn,
weil sie in ihrem Temperamente, wie "W, Rathenau mir
einmal schrieb, nicht wissen dürfen, daß eine umgestürzte
Tonne Teer ihren Inhalt wohl von sich gibt, aber höchst
langsam, und daß sich die Menschen die Form ihres Lebens
in einem mühsamen Schritt vor Schritt ergangen und nicht
in Sprüngen erhüpft haben. Äußern aber die Alten den
"Wunsch, daß das Denken praktisch werde, so wollen sie
damit, wenn überhaupt etwas, die Beuge des Reinen in
ihr Unreines — zumeist aber ist es nichts weiter als Ver-
achtung des Denkens aus dem Unvermögen, aus dem Bauche
das Denken nicht denken zu können.
Allen diesen "Versuchungen gegenüber hat der kritische
Geist zu widerstehn und nicht darauf zu hören, daß auch
er terrae filius sei, Perissons en resistant kann in höchster
Bedrängung immer nur sein letztes "Wort sein. Der kritische
Geist muß geduldig zu warten wissen und darf nicht hurtig
zum Ziel eilen wollen, weil es von praktischer "Wichtigkeit
sei; er muß die Distanz zu den Dingen bewahren; er muß
imstande sein, Elemente auch dann als positive zu werten,
wenn sie einer Macht zugehören, die in ihrer praktischen
Sphäre vom Bösen ist; er muß Elemente auch dann als
negativ wertig erkennen, wenn sie in ihrer praktischen
Sphäre vom Guten sind; denn das Praktisch-Gute und
das Praktisch-Böse sind keine Kriterien; und er muß dies,
ohne hier der praktischen Sphäre zu schmeicheln, dort ihr
zu drohen, denn der kritische Geist ist nicht Partei, Ab
integro saeculorum nascitur ordo: dies ist der Leitsatz für
die kritische Einstellung, was nicht bedeutet, daß er in
eine Abstraktizität verfallen soll, tautologisch wie die Ma-
thematik. Die Einstellung wird ihn nur davor bewahren,
11' 163
in Urteil und "Wertung innerhalb des Relativen zu bleiben,
indem er das ,,"Wenigst-Relative" als das schon ,,Fast-Ab-
solute" auszeichnet. Auf die literarische Kritik, der wir
unsre Beispiele entlehnten, auch hier gewandt, will das
sagen, da£ man etwa bei erkannter Unwertigkeit einer
Literatur — nehmen wir die deutsche von 1880 bis 1900
an — die Vergleichspunkte nun nicht innerhalb dieses Un-
wertes selber sucht und das weniger Schlechte als Maß für
das Ganz-Schlechte aufstellt, sondern daß man auch den
Zustand der gleichzeitigen außerdeutschen Literatur in Be-
tracht zieht oder, wenn auch dies nicht zureicht, um die
kritische, immer positive Aufgabe zu lösen, frühere Lite-
raturen.
Wir haben in diesen Bemerkungen den Umfang des Gegen-
standes kaum angedeutet, geschweige erschöpfend beschrie-
ben; wir wollten nur "Wert und "Wesen der Kritik prinzi-
piell anmerken in einer Zeit, welcher der Begriff der Kritik
sich verunreinigt hat so sehr, daß Kritiker selber, dies nicht
merkend, auch dann noch wahrhaft kritisch zu sein ver-
meinen, wenn sie nichts als praktisch sind.
ACHTER EXKURS
In den literarischen Betätigungen dieser Zeit wird an einem
sehr vieldeutigen Begriff ,, Dichter" aus einem mißverstan-
denen Traditionalismus festgehalten, mit dem sich sowohl
die Produzenten wie die Konsumenten des heute Gedruckten
ihr harmloses "Vergnügen scheinbar veredeln, in "Wahrheit
aber verekeln und verbittern. Es dürfte diese Zeit seit
1880 etwa an fünftausend im Schreiben tätige Deutsche
das Prädikat Dichter vergeben haben; jeder wurde, wenn
auch nicht von allen, so doch von einigen einmal, öfter
oder immer ein Dichter genannt. In dieser noch nie da-
gewesenen Armee von Dichtern mußte der Streit über die
hierarchischen Kompetenzen ausbrechen; es gibt, von
, .schlechten" Dichtem abgesehn, Chargen aller Art vom
,, echten", ,, gottbegnadeten Poeten" an bis hinunter zum
164
„üntcrhaltungsschriftstcller". Zwischendurch gibt es „mittel-
mäßige", „verlogene" und so weiter Dichter, gibt es „Lite-
raten" und gemeinhin ,, Schriftsteller", gibt es ,, Ästheten"
und ,, nichts mit dem Leben zu tun habende Phantasten"
und so weiter. Etwas, das von geringem Gewicht ist, sucht
sich damit Schwere zu geben, daß es noch Leichteres als
es selber ist aufzeigt. Ein Gradunterschied wird als "Wesens-
unterschied behauptet. Das Surrogat entschuldigt sich nicht
mit einem andern Surrogat gleicher Gattung, sondern ver-
sucht das andre schlechthin zu entwerten, weil es dadurch
schon das Ächte zu werden meint. Die wahre innere Zu-
sammengehörigkeit, der Treffpunkt im überhaupt Leichten
wird nicht zugegeben, sondern mit distanzierender Geste
geleugnet, wobei das Surrogat „Unterhaltungsliteratur"
nichts gewinnt, aber das andre Surrogat, das es nicht sein
will, verliert. Man nimmt hier lieber den literarisch zweifel-
haften Ruf der Langweile auf sich, wenn man damit nur
seine Zugehörigkeit zur ,, Literatur" behauptet, als daß
man mit zugegebener Unterhaltlichkeit sich in eine Gegend
rangiert, die kulturell und gesellschaftlich nicht angesehn
ist. Man kann diese krampfige Geste an einer Äußerlich-
keit sehn: die Selbst-Bezeichnung ,, Dichter" wird von diesen
Dichtem als ridikül abgelehnt und nur bei Jubiläen hin-
genommen; Literat gilt ihnen als hämisches Schimpfwort;
Schriftsteller finden sie vom Journalisten entwertet, mit
dem sie nicht verwechselt werden wollen. Da sie mit der
Berufung kokettieren, fühlen sie sich nicht als Beruf. Da
sie nicht stehn, sondern der Nachfrage unterliegen, fühlen
sie sich nicht als Stand. Und ihre Lage erkennen sie nur
an der Auflage. Mit dem Bemühn, sich in einen Wesens-
gegensatz zur Unterhaltungsliteratur zu stellen, haben diese
Schriftsteller in ihre Arbeiten eine aufgeregte Unsicherheit
und in das harmlose Leben ihrer Leser eine Unbehaglich-
keit gebracht, wie sie der Zwang guter Manieren bei jenen
hervorruft, die ohne Kinderstube keine erworben haben.
Der Heraufgekommene, der nur das eine Ziel hat und
haben kann: wie mehre ich meinen Kapitalbesitz und den
165
damit verbundenen Einfluß, läßt sich das kultiviertere Leben,
das ihm als das ihm zukommende eingeredet wird, sauer
werden, aber nicht lange. Der Kaufmann, der Fabrikant,
der Unternehmer, sie lassen sich den Anspruch jener Lite-
ratur auf Dichtung gefallen und begeben sich, beredet von
einer Presse, einer schöngeistigen Gattin, einer dichtenden
Tochter seufzend in das Unbequeme, vor dem Eintritt in
diese Romane und Stücke gewissermaßen ihre Schuhe aus-
zuziehen und kunstrituelle Waschungen vorzunehmen; sie
nehmen das Kreuz der Vornehmheit auch in htteris auf
sich, denn sie sind, wie sonst auch hier, im Voraus ein-
gestellt auf eine Anstrengung, die sich nicht ,, lohnt", die
ihnen eigentlich nicht zukommt und die sie — ihren Geist
in einer ganz andern und ihnen respektablem, nämlich ihr
eines Ziel fördernden Praxis betätigend — nicht im Min- ,;
desten einsehn. Da der Bürger aus seiner eindimensionalen r|
Welt die Bedingungen der Dichtung nicht stellt, ist die
Dichtung nicht nur seiner Zeit nicht für ihn vorhanden,
sondern alle Dichtung überhaupt wird ihm zu einem Frem-
den. Bei dem, was er als die heutige, als sozusagen seine
Dichtung vorgeführt erhält, kommt ihm alsbald eine ver-
blüffende Erkenntnis: daß was er hier als Literatur liest
um nichts besser ist als das Ullsteinbuch, nur zeitrauben-
der, weniger amüsant, umständlicher, psychologisch be-
lasteter und anspruchsvoller. Andre Unterschiede, die wie
die größere Finesse der Bildung zu Gunsten dieser Lite-
ratur ausschlagen, kann er nicht sehn, ja er findet oft bei
genauem Zusehn, daß in dieser Literatur, die mit dem
dokumentarischen Anspruch des ,,Stimmens" auftritt, vieles
nicht stimmt, daß zum Beispiel eine Banktransaktion ohne
jede Kenntnis, die Maschinerie eines Ozeandampfers ganz
falsch und der Seelenzustand eines von seiner Frau hinter-
gangenen Fabrikdirektors unwahr beschrieben sind, auf
welche ,, Richtigkeit" das Unterhaltungsbuch sans phrasc
von vornherein verzichtet und nichts sonst will als das
durchaus Unwahrscheinliche, ja reaUter Unwahre, — fast
könnte man sagen das Ästhetenhafte. Die Abneigung, die
166
der männliche Bourgeois-Leser nach seinen Erfahrungen
damit gegen das bekommt, was sich ihm heute mit hoch-
gezogenen Brauen als Literatur vorstellt und als souveräne
Weiterführung der dichterischen Tradition, — diese Ab-
neigung überträgt er, gefördert von seiner artbedingten
Unproduktivität geistiger "Werte überhaupt, auf alle Dich-
tung überhaupt: die ablehnende Meinung, die er aus der
Literattu- Sudermann und Wassermann gewann, hat er auch
für die Literatur Flaubert, die ihm ,, dasselbe" wird, und
er detestiert Homer wie Spitteler, weil dieser den Homer,
sich von ihm herleitend, zur Literatur macht. Man kann
sagen, daß die heutige Literatur mit ihrem Anspruch auf
dichterische Geltung dem männUchen Teile der heute re-
präsentierenden Klasse alle Dichtung entwertet hat da-
durch, daß sie sich ein Surrogat seiend für das Ächte
ausgab, weil es noch minderwertigere Surrogate gibt. Es
vollzog sich in der Literatur der Neugekommenen, was
auch in ihnen sonst: sie wollen nicht als Leute von heute
erscheinen, wo doch das ganze Heute von ihnen repräsen-
tiert wird; also geben sie sich Ahnen, wenn sie deren
Bildnisse auch ntir an die Hausfassade hängen, denn innen
ist für das riesige Aufgebot von Vorderen, das heute ge-
trieben wird, gar kein Platz. Auch wäre mit ihnen zu le-
ben oder ihnen gar nachzuleben eine Bürde, deren Ver-
pflichtung und Verantwortung sie gar nicht ertrügen, auch
dann nicht, wenn sich die usurpierten Ahnen auf die
Menage einließen. Die Literatur der Neugekommenen macht
als deren Diener die gleiche Bewegung mit: sie sucht ihre
Ennoblierung durch einen Traditionalismus zu erreichen,
um sich durch ihn im Ganzen koordiniert zu datieren;
mehr naiv als insolent hantiert sie mit dem überlieferten
dichterischen Gut, das die Gewerbe- und andern Freiheiten
auf die Gasse gestellt haben zum Gebrauch für jedermann,
der ein Talent hat, denn die Kunst ist zu nichts als einer
Talent-Frage geworden. Die heutige bürgerliche Literatur
tut Unrecht gegen sich, wenn sie sich die neuere Literatur
nennt und damit Maßstäbe für sich und ihre gleich ge-
167
sinnte Kritik provoziert, an denen sie nimmer zu messen
ist. Unrecht, denn sie fälscht damit die einzige Bedeutung,
die sie überhaupt haben kann: nichts als ein zeitliches
Dokument zu sein. Sie kann sich die neue Literatur nennen
und sich dessen bewußt werden, daß sie ihresgleichen in
den Zeiten nie hatte, aus deren Kunst sie nur das sekundär-
formale Convenü entlehnt und solange entlehnen muß, als
sie sich noch, über ihr eigentliches Wesen im Irrtum, der
alten Dichtung blutsverwandter Erbe und direkter Nach-
komme glaubt, deren Ausdruck sie zu sekundär gemachten
Formmitteln mißbrauchen muß — ,,Form" und ,, Inhalt",
dieses Untrennbare trennend — weil sie keinem Kultur-
kreis entwachsend wohl als ein Zeitelement da ist, aber
als vermeinte Dichtung sich selber mißversteht zusamt den
Begriffen der Dichtung und des Dichters.
Es zeichnet das dieser Zeit gemäße und von ihr gebilligte
Verhalten zu dem ihr fremden, weil nicht in ihr bereitungs-
möglichen Dichterischen aus, daß es wählend ist, wo man
nur schöpferisch oder überhaupt nicht sein kann. Und
dieses wählende Verhalten ist nicht einmal eklektisch, da
CS sich nicht für eine der zu wählenden Formen entscheidet,
sondern für keine und alle Formen, da nur Mode die
Wahl trifft und nicht die geringste innere Verwandtschaft
zu irgend einer der historisch gegebenen Formen. Ja manch-
mal glaubt diese Zeit, als ein rechter Münchhausen, der
sich am eignen Schopf aus dem Sumpf zieht, daß sie
gerade im Formlosen ihre spezifische Form gefunden habe.
Oder sie erklärt, sehr konsequent, das Materiale schon für
das Geistige, womit sie auf den Geist verzichtet, den sie
nicht besitzt, und sagt, sie wolle ihn auch gar nicht und
gerade dies sei ihr ,, Geist"; so gebiert sie was sie ganz
von außen sehend einen ,,Stir' nennt aus den GuEformen
des Beton in Bauten oder aus den plastischen Hinterteil-
formen des Sitzenden in Stühlen: in dieser auf jede vom
Geiste hergebrachten Änderung verzichtenden Material-
betonung drückte sich diese Zeit nicht aus, sondern sie
ist es glatterdings.
168
Es muß durch eine Zwischenbemerkung mögliche Ver-
stimmung einiger Leser aufzuheben versucht werden, denn
sie könnten das eine oder aadre Wort als ein mit nichts
als affektiver Betonung gegen sich gerichtetes halten und
entsprechend darauf reagieren: verstimmt, unwillig, geärgert
oder bösartig das Schreiben als ein Rationalisieren auch
des Affektiven verkennen. So wenig wie den einzelnen
Menschen eine negative Beziehung zur Kunst diesen schon
zu einem Menschen mindern Wertes macht, ebenso wenig
wird auch der gesamten heutigen Gesellschaft die Tat-
sache, daß sie die Voraussetzungen zur Dichtung nicht
schafft, als ein Vorwurf gesagt, sondern nur und nichts
als eine Tatsache konstatiert und über ihren Wert oder
Unwert nichts ausgemacht, dadurch allein noch nichts aus-
gemacht. Und daß sich diese Zeit, im Erinnern befangen
und ihrer sehr engen Determination zu entrinnen suchend,
ihre gedruckten und gelesnen Dinge als Dichtwerke einzu-
reden bemüht — wie sie auch alle ihre naturwissenschaft-
lichen Erkenntnisse, Erfindungen und Findungen als Werte
geistiger Art anspricht, — dies ist zu menschlich, als daß
irgend kleinster Spott darüber geschmackvoll wäre, so
grauslich diese Erscheinung auch im Einzelnen sich äußern
mag und als lebenzerstörend von uns erkannt wird. Es
liegt ganz ferne, aufzustellen, daß keine Dichtung zu haben
den Unwert einer Zeit entscheide. Es ist ja durchaus denk-
bar nicht nur, sondern wie wir wissen möglich, daß eine Zeit
die Kräfte, die als Dichtung nicht zum Vorschein kommen,
anderswie äußert, und was dort Kraft wäre, kann in dem
andern auch nur Kraft sein. Wir denken etwa an die
ersten Jahrhundertc der Christenheit, die voll größten Lebens
und innerhalb der Christenheit so gut wie ohne Dichter
waren. Wir vermeinen den Dichter, den Künstler durch-
aus nicht als die Spitze der Pyramide, um derentwillen
der ganze Bau menschlichen Lebens errichtet wird. Der
heldische Mensch, der heilige Mensch, der denkende Mensch
stehn dem Künstler als Höchstleistung der menschlichen
Gattung mindest zur Seite, — alle sich gleichbar in dem
169
Einen, auf das alles menschliche Tun nur bezogen werden
kann: im Ethos, dessen Erscheinungsform sich nur wan-
delt im dichterischen, heiligen, heldischen und denkenden
Menschen. Nur konstatiert, nicht vorgeworfen wird den
führenden Klassen dieser Zeit und den Trägem ihrer so-
genannten Ideale, daß sie die Voraussetzungen ihres Dich-
ters positiv nicht zu schaffen imstande sind und sie ihrem
Wesen nach gar nicht enthalten können; daß sie sich die
Surrogate als das ächte einzureden versuchen; und daß
den Dichter nicht zu haben eine Zeit durchaus nicht schon
als eine im Vergleiche mit andern Zeiten minderwertige
charakterisiert. Und doch wird ein Rest der Verstimmung
nicht zu beheben sein, denn ihn wird diese Zeit immer
über sich selbst empfinden, wenn sie nicht mit Gewalt ihr
Gewissen betäubt und die Minute im Tage nicht flieht,
wo sie sich, mit ihrem Gewissen allein, ins eigne Antlitz
sehn kann und schaudernd kaum mehr ein menschliches
Gesicht erblickt, sondern eine zerworfenc Grimasse.
Die Zwischenbemerkung, getan um den Leser an die Sach-
lichkeit unseres nichts als rational bestimmten Wollens
ausdrücklich und um seinetwillen zn erinnern, ist geschlos-
sen und stellt vor die zu beantwortenden Fragen: warum
soll diese zeittragende und repräsentierende Gesellschaft
außerstande sein, die Bedingungen der Dichtung als kul-
tureller Äußerung in sich zu erzeugen oder zu enthalten?
Zu enthalten, weil die Gesellschaft behaupten könnte, sie
enthielte sie schon, nur fehle es an den dichterischen Per-
sonen. Und die andere Frage: zugegeben, diese Zeit er-
möglicht den Dichter, ihren Dichter nicht, — schafft die
so für andres frei werdende gleiche Kraft nicht ein dem
Dichter in- dem einzig bezüglichen Bereiche, dem ethischen
Bereiche, Gleichwertiges, weil die gleiche produzierte Kraft-
menge enthaltend?
Ernst gefragt und ernst besprochen, unter Männern und
nicht unter schöngeistig schwärmenden Frauen, wird von
jenen rasch zugegeben werden, daß alle diese in den Ga-
zetten und Salons und Theatern genannten und gerühmten
170
Dichter keine Dichter sind, auch nicht kleinere oder minder-
begabtere als Hölderlin, sondern überhaupt keine und nichts
weiter seien als eine Weile mehr oder minder unterhaltende
Leute im schöngeistigen Fache, was aus der "Wirkung auf
das weibliche Wesen und dessen hohe Selbsteinschätzung
begreiflich, aber gar nicht irgendwas oder -wen ernsthaft
verpflichtend wäre, ,,Aber natürlich", hört man, ,,was ist
das neben Bismarck, Zeppelin, Edison, Pierpont Morgan,
Hindenburg! Die Knochen des kleinsten Industrie- Chemi-
kers sind mehr wert als ..." Anstrengung und Leistung
dieser bürgerlichen Dichterei sind ein vom betont Ernst-
haften dieser Zeit, dem Fabrikanten, Kaufmann, Ingenieur,
Bankier rasch überschautes sehr bescheiden eingeschätztes
Quäle und eine Quantite negligeable an den ,, wirklichen
Werten" dieser Zeit gemessen, die für Frauen und Un-
mündige zu garnieren eben diese Literatixr da sei. Die
repräsentativen Männer dieser Zeit wissen mit ihr nichts
andres anzufangen als sie zu verachten und ihr nur dann
einige Aufmerksamkeit zu schenken, wenn sie sich in die
ihnen allein gültige "Wertkategorie begibt: die des zahlen-
mäßig ausgedrückten Gewinnes, Hohe Einkünfte aus lite-
rarischer Tätigkeit haben dem ernsthaften Manne dieser
Zeit einigen Respekt vor dem Schreib wesen abgenötigt;
der kurante Nenner Bankdepot gab dem Stande in der
bürgerlichen Welt einiges Ansehn. Aber es könnte die
bürgerliche Literatur dagegen sagen, daß Aneignung oder
Ablehnung, hohe oder geringe Löhnung ihrer Hervorbrin-
gungen durch den bürgerlichen Menschen nichts gegen den
dichterischen Charakter beweise, da das Verhalten einer
Zeit zu ihren Werten, wie die Geschichte der Wertgel-
tungen zeige, nicht endgültig entscheide. Doch wäre dieser
Einwand auch dann nicht stichhaltig, wenn die Schillersche
Formel von der richtenden Weltgeschichte richtig wäre,
denn es drückt sich in der Stellung des bürgerlichen Men-
schen zu seiner Literatur auch noch ein andres als bloß
kritisches Verhalten aus, nämlich eben das, was im tiefern
Grunde allein hier in Frage steht: ob diese Zeit überhaupt
171
die Vorbedingungen ausbildet für jene "Werte, die sich in
einer Dichtung manifestieren. Wir notieren diese Art, wie
man sich mit dem in litteris Erzeugten abfindet, nur als
einen Oberflächenreflex der innern wert produktiven Fremd-
heit und Unfähigkeit dieser Zeit, deren wirklich vorhan-
dene Dichtung nicht aus ihren Trägern, nicht mit ihrer
Welt, sondern gegen sie zustande kommt, und deren ein-
zige Beziehung zu dieser Zeit negativ ist, nämlich Ableh-
nung, woran nichts ändert, daß Einzelnes dieser Dichtung
eine Art Aneignung durch den Bürger erfährt, weil er dieses
Einzelne mißversteht wie Meredith oder Dostojewski, die
er wesentlich in der ,, Psychologie" vermutet. Er wird diese
Aneignung aus Irrtum auch immer gleich damit einschrän-
ken, daß er das Genannte ,, übertrieben" findet — welche
, .Übertriebenheit" eben das dichterische ist — also etwa:
Strindberg ist dasselbe wie Ibsen, nur , .krankhaft", und
Zola ist der , .Fortsetzer" Flauberts. Von der andern Seite
her ist dann Ernst Hardt dasselbe wie Hofmannsthal, nur
,, weniger ästhetcnhaft", oder Wildgans dasselbe wie George,
nur ,, lebensnäher", und so weiter. Daß das kritische Ver-
halten des kapitalistischen Menschen zu der Dichtung nicht
nur dieser Zeit, sondern zu der jeder Zeit durchaus die
Wertmaßstäbe aus dem gewinnt, was die heutige bürger-
liche Unterhaltungsliteratur aller Grade konstituiert, davon
kann sich der Zweifler aus den deutschen Literaturgeschich-
ten der letzten vierzig Jahre überzeugen: keinen dichte-
rischen Wert irgend einer Zeit vermag eine nicht Werte,
sondern nur Nutzformen ausbildende Gesellschaft anders
sich einzuordnen als durch Aufhebung des spezifisch dichte-
rischen "Wertcharakters und durch Substituierung eines der
Dichtung als einem ästhetischen Phänomen fremden Be-
griffekomplexes aus biologischen, naturwissenschaftlichen,
sozialen, biographischen Elementen mit beiläufigem ästhe-
tisch-philologischem Aufputz zur Rettung der „Wissen-
schaftlichkeit". Die intensivste Anstrengung des bürger-
lichen Geistes dieser letzten Jahrzehnte bringt die Vor-
stellung des Bildungsdichters zustande, und sie macht da-
172
mit die tragische Not des deutschen Dichters seit Goethe,
von keiner kulturellen Bildung des Volkes getragen und
gehalten zu sein, zu einer Tugend. Vergißt, daß diese Not
Hölderlin in den Wahnsinn trieb, und ahnt nicht, was es
den Dichter Goethe kostete, aus sich selber die nicht in
seinem Volke gegebenen Bedingungen des dichterischen
Seins wenigstens für eine Zeitspanne zu schaffen. Noch
ein- und zum letztenmal seitdem versuchten dies die deut-
schen Romantiker, nicht mit den Mitteln der Bildung, son-
dern dem der religiös-politischen Bindung. Auch ihre An-
strengung mußte versagen wie jene dünne Bildungsschicht
sich verbrauchen, die in "Weimar hergestellt worden war,
— es blieben von Beiden nur die historischen Begriffe,
die ein lebendiger Inhalt nicht mehr füllt: Klassik-Ro-
mantik.
Im Epigonentum manifestierten sich nicht Dichter mit nur
„geringerer Begabung" als die Dichter, die sie nachbildeten,
sondern eben diese vom Leben dieser Epigonen abgetrennte
Begabung — das Talent — wurde als dekorative Literatur
manifest und tauschte sich diese für den Begriff der Dich-
tung ein. In dem Jahre, da eine sprachtaub gewordene
Philologie, die Wilhelm von Humboldt nicht zum Meister
hat, den West- östlichen Diwan in ihre banausischen Modi
brachte, feierte ein im Kriege siegreiches Geschlecht den
schalen Witz eines ,,Mirza Schaffi" als Dichtung, schrieb
Vischer, der dickbäuchige Ästhetiker, unter dem Beifall
der Gebildeten eine Parodie auf den Faust, und gründete
sich das Reich, womit die klein-kapitalistische Periode der
Bourgeoisie sich schloß. Was nach der Reichsgründung
noch vom dekorativen Epigonismus hervorgebracht wurde,
erlebte schon Widerspruch und Ablehnung, die sich bis
zu jener ,, Revolution in der Literatur" verdichteten, welche
für das ,,neue Deutschland" eine neue, die ,, veränderten
Lebens- und Zeitumstände wiederspiegelnde Literatur" ver-
langte, womit nicht die Einsetzung des Dichters gefordert
wurde, sondern eine Änderung im Nachzuahmenden. Aber
bei dem epigonischen Nachahmen blieb man durchaus.
173
Nicht mehr die frühere Dichtung sei nachzuahmen, sondern
— das Leben. In dem Maß als dieses neue Leben sich
als kapitalistische Lebensweise determinierte und seine
Sicherungen ausbildete, die es als das Leben schlechthin
erscheinen ließen, anders weder denkbar noch wünschbar,
im selben Maße gewann die Revolution in der Literatur
das Terrain und hatte von dem Augenblick an völlig ge-
siegt, wo sie sich in die ausgebildete bürgerliche "Welt inte-
grierte, die nun, wie für alle andern Kulturdinge, die sie
nicht schaffen konnte, eine Pauschalsumme für die Her-
stellung ihrer Literatur auswarf. Die anfänglichen, aus der
klein-kapitalistischen, vom Epigonentum gebildeten Ideo-
logie stammenden Vorurteile gegen die ,,neue Literatur"
verschwanden — wie die gegen Darwin, Sozialismus, Zola,
Böcklin, Wagner — und vergingen in dem Maße, als sich
das Bürgertum in seine hochkapitalistische Form einlebte
und sich in ihr sozusagen vermenschlichte: von dem Mo-
mente ab erkannte es die neue Literatur als seine Lite-
ratur, was sie von Anfang an gewesen war. Die führende
Klasse hat nicht immer und gleich den Mut zu ihrem Ab-
bild — nicht weil sie in ihre Literatur Zweifel setzt, son-
dern in sich selber Zweifel hat. Nur dieser anfänglich oft
mangelnde Mut erklärt so unbegreifliche Gegnerschaften,
wie man sie erst gegen Ibsen hatte, bis man sich auch in
ihm ungefährdet erkannte und dann auch gleich mit Stolz
als ,, gedichtet" erkannte.
Bewegungen innerhalb der bürgerlichen Literatur wie die
angeblichen Gegensätze Naturalismus - Symbolismus oder
Heimatkunst-Stilkunst und wie diese Streitfälle alle heißen
mögen, in denen sich manchmal so etwas wie ein dumpfes
Gefühl äußerte, daß uns die Flucht aus dem Bann-
kreis des bürgerlichen Geistes Rettung aus der Literatur-
Existenz bringe — , diesen Bewegungen im Einzelnen zu
folgen erübrigt sich, da nur das Wesentliche hier zur Ent-
scheidung steht. Wie auch immer Geste und Ton gewählt
wird, dem Bürger die gegenwärtigen Sehenswürdigkeiten
in seinem Leben abzuspiegeln und zu deuten, mit welchem
174
Aufwand auch immer 'Wcchselfälle und Zufälle dieses bür-
gerlichen Lebens als „menschliche Probleme" angesprochen
werden: das Hin und Her, Frage und Antwort, Aufgabe
und Lösung bleiben Zeitbild und müssen es bleiben, denn
ein "Weltbild konstituiert sich nur aus Werten, als welche
der kapitalistische Geist nicht hervorbringt, wenn er auch
seine naturwissenschaftlichen Methoden als Gesetze im
"Wertsinne mißversteht und behauptet. Er drückt darin nur
seine Form des Hinlebens aus, aber nicht das Leben. Darum
sagten wir in einer andern Schrift, daß was man die moderne
Literatur nennt in der Definition des bürgerlichen Men-
schen dieser Zeit enthalten sei und ein andrer als ein
soziologischer Zugang zu ihr nicht bestünde, wenn man
ihrem Wesen gerecht werden wolle und von ihr nicht Et-
was verlange, was sie sich selber vielleicht imaginiert, aber
was sie nicht ist : Dichtung. Die kapitalistische "Welt kann
eine Literatur, aber sie kann keine Dichtung haben. Die
Gradunterschiede innerhalb dieser Literatur werden von
uns ohne weiteres zugegeben, aber die "Wesensgleichheit be-
tont: sie ist eines Geistes.
Um die Überzeugung des Bourgeois, daß er eine im Be-
griff der Dichtung enthaltene und von diesem Begriff de-
finierte Literatur in dem habe, was er seine ,, moderne
Literatur" nennt, — um diese von Erzeugern wie "Ver-
brauchern dieser Literatur geteilte Überzeugung zu schwä-
chen und damit das ,,gute Gewissen des Kapitalismus"
auch von dieser Seite aus unsicher zu machen, ist fest-
gestellt worden, daß der kapitalistische Geist seiner for-
malen Struktur und den Kategorien seiner Werte nach gar
nicht fähig ist, etwas anderes als ein im Umkreis seines
Hinlebens sich begebendes Schrifttum hervorzubringen, das
bei allen scheinbaren "Verschiedenheiten untereinander we-
sentlich dasselbe und nicht besser als mit dem Worte
Unterhaltungsliteratur zu bezeichnen ist, weil es am deut-
lichsten die zeitliche Hinfälligkeit und die ethische Gleich-
gültigkeit ausdrückt im Gegensatz zu den sittlichen und
ewigen Werten der Kunst, die immer auf ein Weltbild
175
orientiert ist. Wie der kapitalistische Mensch — das heißt
der Vital -Typus, der sich sowohl im ,, Kapitalisten" wie
„klassenbewußten Proletarier" inkarniert — seine immer
umfangreicher werdenden Gesetzbücher für „besser", weil
„fortgeschrittner", hält als das ehmalige ,,auf Treu und
Glauben" der Gemeinschaft; wie er die staatliche oder
vereinliche Ablösung der Nächstenliebe für eine bessere
Praxis dieser Tugend hält und die Naturwissenschaften
für ,,dic moderne Philosophie"; wie er sich mit allen sei-
nen modernen Neuerungen nicht nur nicht als Antagon
des Alten, sondern als dessen Besserer und Vollender
glaubt: so erscheint ihm auch in den von ihm beigestellten
Künsten die Kunst schlechthin zu mindest weitergeführt
und auf die Höhe seines sonstigen Fortschritts gebracht;
er gibt höchstens zu, daß die großen den ehmaligen Künst-
lern ebenbürtigen Talente heute noch nicht da seien, nicht
aber, daß sie gar nicht da sein können; er erwartet sie
vielmehr sicher und seiner Größe entsprechend. Diesen
naiven Glauben zu widerlegen und das gute Gewissen des
kapitalistischen Menschen zu erschüttern war das einzige
positiv kritische Bemühen der letzten zwei Jahrzehnte:
Dilthey, Tönnies, Tröltsch, Scheler, Max Weber, Sombart,
Rathenau, Croce, Chesterton waren, um nur einige der
älteren Generationen zu nennen, solche Kritiker, und posi-
tiv war ihre Kritik, da sie den Typus des kapitalistischen
Menschen feststellte nicht als den Effekt eines besondern
wirtschaftlichen Systems, wie dies die ganz im kapitali-
stischen Geiste geübte sozialistische Kritik tut, sondern als
dessen Erreger, Träger und Verbreiter. Die sozialistische
Kritik vollzieht sich durchaus innerhalb, nicht wie sie
meint außerhalb des kapitalistischen Geistes und sie ist im
angegebnen positiv kritischen Sinne ebensowenig gegen den
kapitalistischen Typus, in dem sie selber aufgeht, wie die
moderne ,, soziale Dichtung" von Hauptmann, Ibsen oder
Gorki gegen ihn ist. Alle heute positive Kritik kann nur
und nichts als den kapitalistischen Geist, der des Men-
schen ist, zum Objekt haben, von einem andern Geiste
176
'*'««.».); VTV. ,-:.'i»frfif3WI*-:
fei*?
her, der ebenfalls des Menschen ist. "Wer in der Folge
die Ursache sieht, den Menschen als Folge seiner Wirt-
schaft, der wird kritisierend Wirtschaft gegen Wirtschaft
setzen und sich damit ganz im Gleise des kapitalistischen
Geistes bewegen, so staatssozialistisch er auch ist oder so
revolutionär er sich auch dünkt. So wie die Sozialgesetz-
gebung Funktion des Kapitalismus ist, den sie in seinem
Geiste nicht nur nicht aufhebt, sondern festigt, genau so
festigt der Literat mit ,, radikaler" Einstellung den kapita-
listischen Geist, indem er dessen ,, übelste Begleiterschei-
nungen und Auswüchse" satirisiert und lächerHch macht.
Beides, die Satire und die Sozialgesetzgebung, hat einen
Nutzwert innerhalb der kapitalistischen Welt und nur da,
nicht und nirgends sonst: jene Gesetzgebung hebt den Geist
nicht auf, sondern nützt ihm, jene Satire ist sozialer Nutz-
wert, aber nicht Dichtung, das heiit menschlicher Wert.
Die Tatsache der erwähnten positiven Kritik am kapita-
listischen Geiste zwingt zur Annahme einer geistigen Posi-
tion, die in dieser Zeit vorhanden ist, aber außerhalb des
herrschenden Geistes dieser Zeit ihre Wertinhalte aus einem
Kulturbegriff bekommt, der mit dem kurrenten bürgerlichen
Kulturbegriff nichts gemein hat und mit dem er nur durch
die negative Ablehnung verbunden ist; was nicht hei&t,
daß er aus dieser negativen Ablehnung erwüchse, denn die
bloße Negation ist zu einer positiven Bildung nicht zurei-
chend. Aus diesem dem herrschenden ,, Geiste" fremden
Geiste dieser Kritik, aus dieser andern als kapitalistisch-
sozialistischen Ethik müssen wir die Speisung auch der
andern immanenten menschlichen Energien annehmen, w^ie
solche jene kritischen sind. Da wir als eine solche mensch-
liche Energie das Kunstwollen kennen und dieses sich in
den verfallenden Schein gebilden der bürgerlichen Literatur
als ethische Energie nicht manifestieren kann, müssen wir
ihre Entfaltung von jenem Punkte ausgehend suchen, von
dem aus das Ganze der bürgerlichen Welt kritisches Ob-
jekt ist, und müssen die Energie des Kunstwollens aus
einem Ethos gespeist annehmen, das nicht jenes des bür-
12 177
gerlichen Typus ist. Dies wird in allen Graden von Intention
bis zu Gelingen das Wesen einer Kunst dieser Zeit cha-
rakterisieren: daj& sie nicht kapitalistischen Geistes ist und
mit ihm nur, wenn überhaupt, durch die bewuüte oder
naive gänzliche Ablehnung zusammenhängt. Um es an Be-
kanntem zu explizieren: der ,, reaktionäre" Dostojewski,
dem sich der Westen als der bürgerliche Geist darstellen
muB, den er als Ganzes ablehnt, ist der Dichter; aber
der „radikale" Mann ist nicht ein ,, weniger talentierter
Dichter", sondern ein von Dostojewski ganz wesens-
verschiedner schreibender Bürger kapitalistischen Geistes.
Flaubert, dem das Ganze der bürgerlichen Welt Objekt
ist aus seinem ganz anders qualifizierten Ethos heraus,
ist der Dichter; aber Zola, der auf ein kleines Ent-
gegenkommen der bürgerlichen, bloß im Besserungssinnc
kritisierten Welt nicht vergeblich zu warten brauchte, ist
bürgerliche Schöngeistigkeit. Daß die bürgerliche Welt
ohne Unterscheidung mit dem einen wie dem andern als
nur im „Talent" oder „Temperament" Verschiedenen sich
abfindet, das sagt nur über das ethische Unvermögen dieser
Welt aus, den Dichter zu erfassen, weil sie ihn ja auch
nicht bedingen kann ; indem der Bürger über die vom Ethos
abgelösten — er kann das! — engern ästhetischen Werte
der Genannten klug redet, unterschlägt er das Problem,
weil es das Problem seiner eigenen Existenz ist. Er unter-
schlägt es aus Angst, wenn es ihm bewußt wurde, oder
aus Taubheit seines sittlichen Zustandes. Im ersten Fall
hat er tausend Kniffe im Kampfe um seine im Innersten
aufgehobene und somit bedrohte Existenz ausgebildet. Das
ehrlich-grobe Mittel jenes Staatsanwaltes, der Flaubert
wegen der Frau Bovary anklagte, hat sich aus Zweck-
mäßigkeitsgründen sehr verfeinert, so sehr, daß innerhalb
der Bürgerlichkeit jener Staatsanwalt heute schon eine
lächerliche Figur wurde, aber die Zensur eine Institution
des den bürgerlichen Typus als den menschlich-allgemei-
nen Typus vertretenden Staates.
Die gespannte Erwartung des Wirtschaftlichen, endlich
178
doch die ihm unbekannten Dichter dieser Zeit genannt
zu bekommen, können wir nicht befriedigen, denn er kennt
sie auf seine Weise längst, schätzt sie und verehrt sie auf
seine Weise zum einen Teil, bezweifelt sie zum andern
und würde sich ihm bis nun unbekannt Gebliebenen nicht
verschließen; er wird mit ihnen nach dem ästhetischen
Schema seiner spezifischen ,, modernen" Literatur — die
kein andres als ein beiläufig ästhetisches hergibt — fertig
werden. Die seine "Welt kompromittierenden Begreiflich-
keiten wird der typische Mensch dieser Zeit unbegreifliche
Schrullen, Snobismen und Pathologien nennen. Die pathe-
tische Einsamkeit Nietzsches, das Verkrochensein Cezannes,
die politische Leidenschaft jenes Russen, das Kreuztragen
van Goghs, die Arbeitszelle Flauberts, Borchardts Hermetik,
der Aufschrei einer gläubigen Jugend : der Bürger, der diese
Bücher liest, diese Bilder kauft, er wird das Leben dieser
Künstler, das er als ,, Privatleben" vom Werke abtrennt,
weil das von ihm Bestellte seiner ,, Kunst" solches Trennen
immer verträgt, ja verlangt, nichts weiter als absonderlich
und gesucht finden und da£ es durchaus ohne solche
„Extravaganz" gehe, wie ihm Sudermann beweist, den er
in jedem Salon ganz wie sich selber trifft, oder Haupt-
mann, dessen 50. Geburtstag doch ein Nationalfest mit
Orden war, oder Bloem, mit dem er die Etappe besuchte.
Umgängliche Leute, mit denen auch ganz gut über Kapi-
talsanlagen zu reden ist. Anschauung und Praxis, daß das
Leben des Menschen in Sein und Tun zerfalle, zwischen
welchen Getrennten allenfalls Berufswahl, Neigung oder
Talent eine nicht nötige Brücke bilde, ist dem bürgerlichen
Menschen dieser Zeit so vollkommen konstitutionell, daß es
ihm wie ein mysthischer Hokus-Pokus vorkommen muß,
wenn gesagt wird, daß in der menschlichen Person das
Werk nichts andres ist als ihr Sein und dies nichts andres
als das Werk und daß hier nur der Draußenstehende eine
Trennung vornimmt, aber sich immer bewußt bleiben muß,
daß diese Trennung willkürlich geschieht, genau so wie
die Trennung eines Gebildes in Inhalt und Form.
12* 179
Es wurde die Grenze gezogen zwischen dem, worin sich
der bürgerlich- kapitalistische Typus als der herrschende
dieser Zeit den seine Literatur genannten Ausdruck gibt
und nur geben kann, und dem, worin sich das Kunst-
wollen in dieser Zeit manifestiert. Es wurde für das Dies-
seits der Grenze der Vital -Typus des bürgerlich-kapita-
listischen Ethos fixiert, von dem das allgemein Unterhal-
tungsliteratur genannte ein vielfach schillerndes und graduell
sehr abgestuftes Derivat ist, eines Geistes bei plumpster
Gemeinheit des Mittels wie bei dessen höchster Raffinie-
rung. Es wurde im kurz hingestellten Gegensatz das Jen-
seits der Grenze angemerkt, gesagt, daß und warum die
Kunst dieser Zeit die Voraussetzung ihres Daseins nicht
in der kapitalistischen Welt haben kann und w^o sie diese
allein in dieser Zeit hat: in einem anders qualifizierten
Ethos als es das des modernen Typus ist und das sich
zum Teil als dessen völlige Negation, zum andern aus noch
zu bestimmenden Komponenten konstituiert.
NEUNTER EXKURS
Unter den menschlichen Werken genießt allein das Kunst-
werk das Privilegium, fast intakt durch die Zeiten zu dauern,
denn das wissenschaftliche "Werk ist provisorisch, das poli-
tische, das wirtschaftliche Werk wandelt sich alsbald in
mechanische Kräfte. Es sind außerhalb des Künstlerischen
ungemein wenige historische Figuren, die, dem Schicksal
des Verblassens und Vergessens entgehend, mit den un-
vergänglichen Gestalten des künstlerischen Ingeniums riva-
lisieren, und auch diese Wenigen tun es nur mit ihrer
Person, nicht mit ihrem Werke, denn Alexanders Reich
zerfiel wie das Cäsars, aber in unverändert reiner Linie
ist bleibend Piatons Dialog und der Vers Vergils. Und es
ist Alexanders und Cäsars Größe nötig, die Schatten des
Vergessens fernzuhalten, und weit weniger genügt, ein
Mimnermos und ein Properz, um als Dichter auf die Nach-
welt zu kommen. Dieser Umstand ist heute dem geringsten
180
Reimer geläufig und nicht nur ihm. Aber — und dies ist
von Wichtigkeit — das Bewußtwerden dieser Tatsache von
der reinen Dauer des Künstlerischen hat ein Gleichgewichts-
verhältnis gestört, das vorhanden war, als die Tatsache
noch, ohne Wissen um sich selber in Bescheidenheit lebend,
die nötigen Korrekturen bekam.
Zeiten eines intensiven Gesamtlebens der Menschen haben
den Künstlern ihren bescheidnen und oft niederträchtigen
Platz angewiesen und sich wenig aus ihnen gemacht. Man
domestizierte diese wilden Tiere, indem man ihren Stolz
bändigte und ihnen bewies, daß sie weniger wichtig wären
als Schuster und Bäcker. Man lese im Plutarch das erste
höchst grausame Kapitel des Lebens des Perikles, und man
denke an die Rolle der Dichter in Piatons Republik. Wohl
strömte das Volk in heiliger Begeisterung zusammen, um
ein neues Werk des Phidias zu sehn, aber es ließ ihn im
Gefängnis oder in der Verbannung sterben — wir wissen
es nicht genau, denn an der künstlerischen Person nahm
die Antike gar keinen oder Anteil nur dann, wenn die
Person ihr politisch nützte oder schadete. Die Antike küm-
merte sich nur um das Werk, woraus sich, wie Plutarch
in der genannten Stelle schreibt, wenn dies gefällt, nicht
notwendig ergebe, daß auch der Verfasser zu loben sei.
Hier reagiert eine ganz bestimmte Moralität, die auf keine
Weise ästhetisch infiziert ist wie alle heutige Moral. Der
antike Mensch ist auf seine Kunst stolz, weil er in ihrer
Leistung ein Zeichen seiner staatlichen Macht und seines
kulturellen Reichtums sieht, aber einen Aristokratismus des
Künstlers duldet er nicht in der sozialen Ordnung; er weist
dem Artifex hinter den letztnützlichen Gewerben einen Platz
an. Kein Zweifel, die Kunst würde in solcher dauernd
dem Künstler zugewiesenen Rolle verkommen, denn der ver-
trägt als ein Neuerer, der er ist, diese untergeordnete staat-
liche Zugehörigkeit nicht, auch in einem weiter gedachten
Staatswesen nicht, als es die Polis war. Der Künstler kann
die geforderte bescheidene Haltung zu einem, zu seinem
Werke nicht bewahren, das eine Nation führt und begeistert,
181
er sei denn ein ganz mediokrer Schuster und Gelegenheits-
poet der Stadtverwaltung. Und er kann deshalb auch die
soziale Geringachtung durch seine Umgebung nicht ver-
tragen, seiner Kunst, nicht seiner privaten Person wegen,
wie er ja auch gegen seine private essende, trinkende, sich
gattende Person von größter Bescheidenheit sein kann und
wohl auch meist sein wird. Von den beiden, dem Kunst-
werke die Form gebenden Elementen, dem materialbeleben-
den Künstler und seiner schöpferischen Umgebung, im
vorigen Exkurs: hier haben diese Elemente als die persönliche
Inbrunst des Künstlers und als die sittliche Wertachtung
durch die Umgebung in ihrer Beziehung aufeinander die
Bedeutung der Belebung, "Weiterbildung und Erneuerung
der Formen. Man kann das relativ Stationäre der Form
immer dort bemerken, wo die Sozietät sich den Künstler
fast handwerklich einordnet, so daß er hinter seinem Werke
verschwindet wie Moli^re und Shakespeare als Komödianten.
Der Konservativismus, der sich für die alten, das heißt ein-
geübten Formen als die allein richtigen ausspricht, ist Aus-
druck der gering-schöpferischen oder überhaupt steril ge-
wordnen Umgebung, die den Künstler sozialisiert, weil sie
ihm als Individuum mißtraut, ihn domestiziert, weil sie die
ausbrechende Bestie seiner unberechenbaren Phantasie
fürchtet. Nicht aber ist dieser Konservativismus Ausdruck
des Künstlers selber und kann das auch gar nicht sein
aus seinem Wesen heraus, das durchaus neuerungserfüUt
ist und anders sich überhaupt aufhöbe. Man erinnere sich
an die ständigen Entschuldigungen des Euripides. Man
denke an das schließlichc Schweigen des freigelassenen
Racine, das mit Port-Royal gar nichts zu tun hat. Man
überlege die Vagabundenexistenz Villons, der nur durch
Elend und Gefängnis die von seiner Umgebung bedrohte
Freiheit des Dichters gewann. Man denke an Christian
Günther, der sich in keinerlei schlesische Dichterschule
finden konnte und um seines Gedichtes willen lieber ver-
reckte, statt als Stadtschreiber überflüssige Reimereien zu
verfertigen. Man erinnere sich an Lenz — aber mit der
182
Figur dieses sich auflehnenden Hofmeisters sind wir schon
in einer wesentlich anders gerichteten Zeit: eine neue Ethik
des Künstlers hebt an, profitierend vom religiösen Zu-
sammenbruch der Zeit und der wirtschaftlichen Neugestal-
tung der Gesellschaft: es beginnt die Literatur.
Die schöpferische Kraft der in Gemeinschaft mit der material-
belebenden Person des Künstlers die Form bildenden Um-
gebung ist schwankend, und sie zerfällt in dem MaB, als
sich diese Umgebung von der ideellen Einheitlichkeit ent-
fernt und in das Tausendfache dessen zerlegt, was man
Interessenten und Publikum nennt. Verschwand früher, in
den Zeiten ideeller Einheitlichkeit, der Künstler hinter seinem
Werk, so dreht sich dies nun um: das Werk verschwindet
hinter dem Künstler. War dieser früher kaum sichtbar, weil
seine Umgebtmg gar keine Notiz von ihm nehmen wollte,
so ist heute die Person des Künstlers öffentliche Notiz und
sein Werk das, was hinter ihm steht. Gab es früher ein
Werk und gar keine sichtbare Person, so gibt es heute
eine Person im Licht von Scheinwerfern und statt eines
Werkes Bücher, die bestenfalls gelungene Skizzen dar-
stellen, Ansätze, Versuche. Wie in den sonstigen Wertträgern
wurde auch hier eine Substitution vorgenommen, indem
man nun die Unsterblichkeit des dichterischen Werkes,
diese bewußt gewordene Tatsache, mit der Unsterblichkeit
der dichterischen Person identifizierte. Man gibt der künst-
lerischen Anschauung der Welt einen absoluten Geltungs-
charakter um so mehr, als die andern dominierenden An-
schauungsweisen, wissenschaftliche, politische, wirtschaft-
liche, technische, sich als nur relativ geltend enthüllen und
die religiöse Anschauung sich gerade in der Deklination
befindet. Jeder Reimer reklamiert heute Goethe für sich,
jeder Kunstgewerbler Michelangelo, und sie entbinden sich
mit solcher Berufung von einer wertschaffenden Verpflich-
tung, weil die bloße künstlerische Anschauung der Welt als
die höchstwertige allein schon genügt. Wenn heute einer
Terzinen macht, so glaubt er, wenn auch an einem kleinen
Seitenaltar, dieselbe Messe zu zelebrieren wie Dante. Klebt
183
ein Steinmetz seine Figürchen an die Fassade eines "Waren-
hauses, so tut er dies mit der Geste des großen Floren-
tiners. Und jeder malende Jüngling weiß sich, je nach Vor-
liebe, dem Greco, dem Rembrandt oder meinetwegen dem
van Dyck ein Bruder. Die Tatsache, daß von allen mensch-
lichen "Werken allein das Kunstwerk sein Gesicht unver-
ändert wertvoll durch die Zeiten bewahrt, ist zu ganz all-
gemein bewußter Notiz gekommen und der Künstler erhebt
ganz erfüllt von diesem Bewußtsein die Prerogative, als
der Herr jeder Zivilisation zu gelten. Fataler Weise erhebt
er diese Prerogative und besitzt er dies Bewußtsein gerade
in einer Periode nachlassender werkschaffender Kraft bei
beiden Komponenten, bei der künstlerischen Person und
bei der Umgebung. Diese bürgerliche Periode besitzt in
Abundanz Neuerungen, Erwerbungen, Erweiterungen, Frei-
heiten bei den künstlerischen Personen und in gleicher
Abundanz ein fast frenetisches Interesse bei der Umgebung,
aber — : das Werk fehlt. Es gibt interessante Bücher, Mu-
siken, Bilder — aber das Werk fehlt. Der Künstler ist sich
seines einzigen absoluten Wertes mit großer Bewußtheit sicher:
er braucht nur zwei Zeilen Daktilen zu klopfen. Vor hundert
und etlichen Jahren freigelassen, ist er es, der heute das
ihm zulauschende Publikum zähmt, das in ihm seinen ein-
zigen Wertschöpfer erkennt, weil er das ,, Gleiche" tut wie
Homer und weil dieses Tun das Ewige ist.
Wir erleben so seit etwa dreißig Jahren das paradoxe
Spektakel einer wachsenden Hegemonie des Künstlers als
Träger des absolut geltenden einzigen Wertes, und dieser
Künstler, der es weniger ist als je zuvor, kommandiert
eine Umgebung, wie sie unschöpferischer nie vorhanden
war. Was einigen Großen der Zeiten als von ihnen etabliert
zukam, das maßt sich heute der ganze Stand an. Der
kleinste Schreiber schüchtert die sentimental gewordene
Bourgeoisie seiner Zuhörerschaft mit der Erinnerung ein,
daß sie einen Büchner nicht erkannt habe, einen Grillparzer
verkümmern, einen Nerval sich erhängen ließ, Kleist und
Keats umgebracht habe, und eingeschüchtert beeilt sich das
184
Publikum, lieber alles herrlich zu finden, als das Verbrechen
zu riskieren, einen neuesten Lyriker mißzuverstehn oder
gar verhungern zu lassen. Dem religiösen Werte entfremdet,
am vrissenschaftlichen verzweifelnd, dem politisch-sozialen
mehr als mL&trauend, gibt sich diese der Kunst überhaupt
geneigte Bourgeoisie ihr ganz hin als ihr Publikum, fühlt
sich ihr verpflichtet und verpflichtet sie ihrerseits wieder,
alles, durch ein mehr oder minder trübes künstlerisches
Medium gebrochen, von den Künstlern zu erhalten, von
der Psychologie des Kindes angefangen bis zum Glauben
an Gott. Und die Künstler werfen sich in die Brust und
quittieren verlegen Schuldscheine, die sie nie einzulösen
gedenken, denn sie wissen in ihrem innersten Gewissen
sehr gut, daß ja die Schuldscheine falsch sind und sein
müssen und es vertragen, mit falschem Gold oder gar nicht
bezahlt zu werden.
Eigentümlich ist unsrer desolaten dichterischen Jugend das
fast zornige Schamgefühl, das sie über ihr schön gelungenes
Gedicht empfindet und das oft so stark ist, daB sie sich
am liebsten in das ,, häßliche" Gedicht stürzen möchte oder
nichts als den Schrei einer am Sittlichen der Welt ver-
zweifelnden Kreatur ausstoßen; sie beschwert sich das Ge-
wissen mit der Frage an sich selber, ob nicht besser ein
nur sittliches als ein auch dichterisches Werk zu verrichten
sei. Neben andern drückt sich in dieser Haltung Verzweif-
lung darüber aus, daß die die Form schaffende Umgebung
fehlt und daß das, was als Publikum die leere Figurantin
solcher Umgebung ist, vollkommen der instinktsichem Er-
kenntnis mangelt, daß das wohlgelungene Werk, an dem
der Dichter und die Umgebung schaffen, ex se ein sitt-
liches ist und eine besonders betonte Sittlichkeit nur dort
immer zeigt, wo der Verfasser mit seiner Kunst nicht
ordentlich zurecht kommt. Nun hat, wie es scheint, die
Armseligkeit dieser ihrer heutigen einzig möglichen Um-
gebung diese jungen Dichter schon infiziert, so daß auch
ihnen selber diese instinktive Erkenntnis vom an sich schon
Sittlichen des vollendeten Werkes sich ihnen vertrübt und
185
sie in ein Ethisches zu divagieren anfangen, das immer
nur problematisch sein kann, und da& sie den Beruf des
Dichters so schmählich ansehn wie König Philipp in jenem
Plutarchschen Kapitel, wo er den bei einem Feste mit
aller Kunst singenden Alexander fragt, ob er sich nicht
schäme, so gut zu singen, und Plutarch hinzufügt, da£
wohl kein Jüngling rechten Verstandes und edler Geburt
bei Betracht des Jupiterbildnisses in Pisa den "Wunsch
hegen werde, ein Phidias zu werden, oder ein Polyktet,
wenn er das Junobildnis in Argos anschaue, oder ein Ana-
kreon, ein Archilochos zu werden verlange, denn all dies
seien niedere und gemeine Künste. Also scheinen sich nicht
wenige der jungen Künstler heute einzustellen, weil sie
den lebendigen formschaffenden Zwang der Umgebung nicht
haben und ihre Kräfte wie ins Leere greifen; denn jenen
billigen Trost der Dilettanten und Könner, die unbekümmert
in die Leere des Zufalles hinein schreiben, malen und
musizieren — solchen Trost können sich diese wenigen
Künstler dieser Zeit nicht geben, weil sie ihres göttlichen
Auftrages inne sind und verantwortlich für das ihnen An-
vertraute sich durchaus fühlen, oder weil sie nur ehrliche
gewissenhafte Männer sind. Aber sie müssen an der Be-
stimmtheit des Auftrags, am Sinn ihrer Arbeit zweifeln in
einer Zeit, die nichts besitzt, was die rechte Erledigung
ihres Auftrages, den rechten Empfang ihrer Arbeit mög-
lich macht, dadurch, daü sie ihnen eben den Zwang der
Form gibt. Die neue Erweiterung der künstlerischen Wir-
kung, wie sie der Verfall der Gemeinschaft in Publikum
und die alle Werte setzende Hegemonie des Künstlertums
mit sich brachten, nahm der nun ins uferlose Leere schwei-
fenden, zu keiner Form gezwungenen Kunst alle spezifische
Wirkung überhaupt und degradierte sie zu einem Inter-
essanten, Amüsanten, jedenfalls niemanden ernsthaft Ver-
pflichtenden, das heiBt zur Kunst verpflichtenden. Das
Kunstwerk ging dabei in Stücke, die, tausend Zwecken
dienend, tausend Namen haben, die alle Kunst meinen und
keiner und alle zusammen nicht die Kunst — ein Begriff,
186
der dtirch die Emanzipation des Künstlers verlorengegangen
zu sein scheint und nur das Wort noch in lamentablen
akademischen Ästhetiken sein Unwesen treibt, deren Ver-
fasser ästhetische Prinzipien dort suchen, wo nur soziale
Zwänge existieren und historisch befangen das Novum der
Literatur nicht sehn. Ist es auch nicht Kunst, so ist es
doch Ausdruck, und dieser ist überhaupt alles — mit diesem
Bekenntnis zum leidenschaftlichen Bekenntnischarakter der
heutigen künstlerischen Person wird das Problem der feh-
lenden Komponente des Werkes, nämlich die formschaffende
Umgebung, nicht erledigt: es ist eine romantische Illusion,
welche das Mittel für den Zweck, die Materie für die Form
hält. Das Problem wird nicht gelöst, sondern beiseite ge-
schoben, der Künstler als Bekenner seiner Leidenschaft in
seiner Isolation gebilligt und von seiner Stimme, außer der
Lauterkeit, nur noch die Lautheit eines Predigers in der
"Wüste verlangt. Er war in diesen letzten dreißig Jahren
so vielerlei gewesen, Abschildercr des Wirklichen mit und
ohne Temperament, Träumer seiner Träume, Deuter des
Natürlichen, Analytiker, stilistischer Synthetiker, Plauderer,
Ästhet, daß er nun, da alles das nichts genützt hatte, um
aus dem sterilen PubUkum formschaffende mittätige Um-
gebung zu machen, der große Aufrufer und sittUche Gesetz-
geber der Menschheit werden müsse, erst recht aus diesem
Kriege, wo alle sittlichen Mächte versagt haben. Daß der
Künstler etwas auszudrücken habe, diese Entdeckung mußten
heute wohl jene machen, welche damals noch Kinder waren,
als bei uns Künstler auftraten, deren Stolz und Titel es
war, daß sie rein gar nichts zu sagen und auszudrücken
hatten, außer ihre kleinen Lesefrüchte aus darwinistischen
und sozialistischen Broschüren. Aber es ist doch nur eine
Wiederentdeckung nach dem kurzen Interregnum einigen
Stumpfsinnes und Ernüchterung dieser Wiederentdecker,
die in jenem Stumpfsinn ,,die Kunst" vermeinten wie alle
Welt und mit aller Welt — , an welche Welt sie sich aber
doch nun wieder wenden, um ihr das neue Schauspiel der
Abwechslung, den Expressionismus, zu bereiten. Denn das
187
Problem des Kunstwerks, in dem die künstlerische Person
und die Umgebung untrennbar miteinander verbunden sind,
ist nicht einseitig dadurch zu lösen, daß der Künstler neue
Saiten aufzieht, mit einer neuen Botschaft auftritt, nach
der ja kein darauf Wartender die Arme ausstreckt, sondern
sich bestenfalls nur zuhörerisch oder zuschauerisch bereit
findet, das Schöne nach seinen eigenen sittlichen, das Sitt-
liche nach seinen eigenen schönen Grundsätzen zu richten.
Es ist da aber nichts weiter passiert als: nach den Parterre-
akrobaten und den Seiltänzern treten die Feuerfresser und
Fakire auf. O, es ist zu verstehn, daß die paar Dichter
dieser Zeit nicht wissen, ob sie die gehobene Hand nicht
lieber zerschmetternd als zupfend auf die so mißgehörte
Leier fallen lassen sollen, daß sie zaudern, irre werden
und verzweifeln und aus der tiefsten Not ihres so sehr
mißverstandenen, übertriebenen, falsch exponierten Daseins
aufschreien in Gedichten, von denen sie bitter zugeben,
daß es keine seien, und ntir die Kühnern den Mut haben
zu sagen, diese gerade seien die rechten Gedichte, und die
Unzahl der konjunkturschnüffelnden Nachlaufer und Mit-
macher in alle Winde verkündet, das seien die überhaupt
einzig schönen und richtigen Gedichte und alles frühere
und andre sei nichts als Dreck.
Aus einer Gemeinschaft, die nicht ist, entbunden, fehlt
dem Künstler die vis superba formae, der Zwang der
Form in einer mitschaffenden Umgebung. Er selber kann
sie nicht schaffen, denn da sein Wesen Mit- Teilung ist,
setzt es, damit diese zustande kommt, den andern Teil,
eben die Umgebung, voraus, welche schöpferisch teilnimmt.
Dieser andre formschaffende Teil fehlt, und des Dichters
ungeformte Leidenschaft explodiert in ein Publikum, dessen
blöde Geile er verachtet, dessen teilnahmsloses um ihn
Herumsein ihn verzweifeln macht darüber, daß er, auf
einer Säule stehend, nichts als sein Ich hat, das ohne
Formgebundenheit zu einer halluzinierten Menschheit auf-
schwillt, von deren Abstraktheit er keine Form empfangen
kann. Der Dichter entblößt sein Eingeweide mit der be-
188
wu6t-häfilichcn Geste einer sittlichen Tat, um nicht durch
eine schöne Geste in den Beifall des Pöbels zu sinken,
der ihm Kunst und Leben verekelt hat als das nichts als
Ästhetische. Und immer noch schustert ja daneben eine
Schar von Leuten Jambendramen und schneidert Entwick-
lungsromane und spinnt Blauveiglein mit und ohne Kriegs-
erlebnis. So nennt also der Dichter sein Buch Verse „Der
Mensch schreit", weil er möchte, daß der stumm sich
krümmende Mensch schreie, — aber es hört den Aufruf
zum Schrei immer nur die schöne Leserin und der ihr be-
freundete Professor, der im Tageblatt die Welt mit einem
neuen Dichter bekannt macht. — Was sich die neue Kunst
nennt, will als sittliche Tat schlechthin genommen sein;
sie lehnt nichts als ästhetische Kriterien ab und fordert
sittliche, denn sie drückt, wie sie erklärt, die sittliche
Wahrheit und nicht die sittlich indifferente Schönheit aus;
die sittliche Wahrheit ist ihr die alleinige Schönheit, und
was man bis nun die Schönheit nannte, hat sie im Ver-
dacht, das Böse zu sein. Der Roman des Familienblattes
ist nicht häßlich, sondern unsittlich und deshalb häßlich;
die Malereien von Franz Marc sind nicht schlechthin schön,
sondern sittliche Wahrheit und deshalb schön. Man könnte
glauben, sich hier in der vorklassischen Ästhetik der
Schweizer zu bewegen oder nichts als eine reaktive Ver-
kehrung des Wildeschen Ästhetizismus zu erleben. Aber
es ist weder das eine noch das andre. Es ist vielmehr
eine, wenn auch sich selber noch unklare Absage an die
Kunst als heute läufigen Begriff überhaupt und eine Dekla-
ration des noch ungeformten Halbgebildes zum Ganzge-
bilde. Man hat es satt, nach einer die Form schaffenden
Umgebung zu hungern, die nicht kommen will. Man lehnt
Verständigung und Verstehbarkeit, das heißt die Mit-Tei-
lung ab, da man sich vom Mißverstehn korrumpiert weiß.
Man will es dem nichts als sensuell alle seine Werte durch
den Kunstgenuß aufnehmenden Publikum mit dem ganz
entsinnlichten, auf die Geometrie reduzierten Kubismus für-
derhin unmöglich machen, sinnlich zu reagieren. Man ver-
189
dämmt die verlockende Metapher. Man vermeidet die sehr
vage und schwindelhafte Gemeinsamkeit im Psychologischen.
Man skelettiert den sprachlichen Ausdruck. Man gibt das
klassische Ideal des Gleichgewichts zwischen gesprochner
und geschriebner Sprache auf, verwirft die erste voll-
kommen als künstlerisches Ausdrucksmittel und erweitert
und erneuert die letzte. Man hat definitiv erkannt, daß
man ganz einsam ist und keine Mit- Teilung mehr möglich,
— wenigstens nicht mehr zu dem bisherigen formsterilen
Publikum hin. Den daraus folgenden fatalen Esoterismus
einer Kunst für die Künstler glaubt man mit dem Appell
an eine neue Menschheit zu überwinden, die auf dem
Marsche ist. Denn diesen seinen Irrtum, sich die Führung
der Menschheit zu arrogieren, hat auch der heutige Künstler
noch nicht aufgegeben, und in diesem Irrtum ist er noch
immer nichts weiter als der Freigelassene der individua-
listischen Bourgeoisie, deren ästhetisch-ethischer Garkoch
er nicht mehr sein will, um ethisch- ästhetischer Küchen-
chef einer Menschheit zu werden, das heißt bis auf weiteres
doch nur für den alten Sensationalismus seines alten Publi-
kums den neuesten Gang zu servieren, zum Beispiel den
Nachtisch des Expressionismus.
Zwei Richtungen markieren sich deutlich, in denen man
auf eine formschaffende Umgebung treffen kann, wenn auf
beiden Seiten, auf der des Künstlers wie auf der dieser
möglichen Umgebung, gewisse Bedingungen erfüllt sind.
Den Einen und den Andern sieht man den Weg nach
diesen Richtungen einschlagen: nach der sozialen Demo-
kratie und nach der Kirche. Daß diese beiden zu ihrem
Geiste erwacht sich vereinigen müssen, um formschaffende
Umgebung (und natürlich nicht nur dies, sondern vor allem
kulturelle Gemeinschaft) sein zu können, davon ist in
diesem Zusammenhang nicht zu sprechen. Der klassenbe-
wußte Radikalismus aus dem Bauche ist auch mit einer
wissenschaftlichen Theorie noch kein kulturelles Prinzip.
Und eine von der Staatsgewalt soutenierte und der herr-
schenden Macht dienende Kirche ist kein Instrument des
190
reinen Gottglaubens, das die civitas dci vorbereitet, son-
dern die vorhandene civitas diaboli verhärtet. Die einen
und andern Künstler, die den "Weg zur Kirche oder zur
sozialen Demokratie betreten, verlassen nicht nur das Publi-
kum, sondern geben auch das Komplement dieses Publi-
kums auf, nämlich die falsche Prärogative des Standes,
die irrige Hegemonie des Künstlertums ; sie stellen sich auf
den Dienstplatz ihrer Verrichtung und dienen, wofür ihnen
die Form zu teil werden wird, die sie mit keiner noch so
titanidenhaften Anstrengung als Herren innerhalb ihres
bourgeoisen Publikums diesem Publikum entringen können,
das selber unbestimmt keine Bestimmung geben kann, das
ein Scherbenhaufen, aber kein Boden ist, in den Wurzeln
schie&en. Halt und Nahrung gewinnen können. Der Ab-
schied vom Publikum wird heute dem Künstler gewiß
leichter sein als je. Schwer aber der Eintritt in den Dienst,
da er solchen Dienstverhältnisses zu lange entwöhnt ist.
Denn nicht darum handelt es sich, der Künstler der so-
zialen Demokratie oder der Kirche zu werden, deren Stoff-
lichkeiten sich thematisch anzueignen und also draußen zu
bleiben, sondern es handelt sich um die volle menschliche
Hingabe, um den Eintritt in eine geistige Ordnung. Nicht
darum handelt es sich, die sozialistische Kunst oder die
katholische besser zu machen, als sie ist, nicht um solches
Äußerliches handelt es sich, denn das ist kein Dienst und
würde alles so lassen wie es ist, indem es nur den Inhalt
des Publikums änderte. Mit der äußersten Bescheidenheit
sich in den gemeinen und religiösen Dienst stellen: ntir
dadurch kann der Dichter zu seinem Werk kommen. Er
muß sich ein-, nicht überordnen.
Hier ist nun der Ort, von dem gebrauchten Begriff „form-
schaffender Umgebung" zu sprechen, der aus dem System-
begriff bei R. Avenarius abgeleitet ist und mir schon im
andern Exkurs zur Aufhellung des Komplexes diente. Auf
seine große Bedeutung für den Gegenstand hat neuerdings
P. Bekker in seiner Schrift über das deutsche Musik-
leben der Gegenwart mit besonderer Anwendung auf das
191
musikalische Kunstwerk hingewiesen, um aber doch wieder
seine kategoriale Aufstellung insofern zu verwischen, als
er die das Werk schaffenden und bestimmenden Momente:
materialgestaltende Person des Künstlers und formgebende
Tätigkeit der Umgebung in eine Wechselbeziehung ver-
tauschter Rollen durchgängig auflöst, während meines Er-
achtens dieser Vertausch nur statthaben kann, nicht aber
muB. Die nach scheinbar innern Gesetzen vom Künstler
geordnete Materie wird Form erst dann, wenn sie wahr-
genommen wird. Den Akt der Wahrnehmung vollzieht die
Umgebung: in diesem Akt ist die Beziehung zwischen
Materie und Umgebung gesetzt, aus der die Form allein
entsteht, das heißt das vollendete Werk. Die Wahrnehmung
ist ein Akt, denn sie ist Tätigkeit, nicht passives, wider-
standsloses Erleiden. Unter Materie ist nicht zu verstehn,
w^as man heute den ,, Inhalt" eines Kunstwerkes nennt,
sondern die spezifischen Ausdrucksmittel aller ,, Inhalte":
Sprache also in der Dichtkunst. Der Schaffensakt der
dichterischen Person ist sprachschöpferisch; durch ihn wird
das Material Sprache nach scheinbar innern Gesetzen dieser
Materie vom Dichter geordnet. Die Gesetze dieser Materie
sind relativ konstant. Veränderlich und damit verändernd
ist aber die wahrnehmende Kraft der Umgebung, von deren
Wahrnehmungsbedingungen die Formwerdung der gestal-
teten Materie abhängt. Diese Bedingungen sind unerschöpf-
lich w^echselnd wie die Umgebung selber, und so wechselnd
sind daher auch die Formwerdungen. Unter Form ist nicht
zu verstehn, was man in heutigem Sprachgebrauch so nennt,
wo man sich ohne formschaffende Umgebung eklektisch
aller bereits Konvention gewordenen, ehmals durch die
aktive Teilnahme einer Umgebung geschaffnen Formen nur
,, bedient". Heute kann der Dichter ganz richtig sagen, daß
er der formgebende Teil sei, insofern er eben der unter
dem Zwang der Konventionen, das heißt erstarrter Formen
die Form wählende, auswählende ist. Der Wahlakt täuscht
ihm einen Schaffensakt um so leichter vor, als sich in
einer eben nicht vorhandnen formschaffenden Umgebung
192
kein Widerspruch erhebt, wenigstens kein positiver, denn
der Einwand gegen ein theatralisches Werk, daß es mehr
ein novellistisches sei, ist kein solcher positiver Wider-
spruch aus Vermögen eignen Formwillens, sondern ist nur
ein ästhetisch- kritischer Einwand von bestrittener Gültig-
keit, denn er hat seine Gründe nur in einer vagen gelehrten
Kunstverständigkeit, nicht in einer produktiven aktiven
Umgebung. Diese ist nicht vorhanden, und was ihre Stelle
vertritt, ist nur ein passives Genießer- oder Kennertum.
Darum fügt der heutige Dichter zu seiner von ihm geord-
neten Materie das zum Werke fehlende der Form aus
scheinbar eigner Kraft hinzu, indem er die Materie in eine
der vorhandenen, früher einmal von der Umgebung ge-
schaffenen Formen hineinpaßt; die Wahl trifft ein Gefühl
für die stärkste Wirkungsmöglichkeit, und diese stärkste
Wirkung erreicht der, der sich am besten mit dem die
Wirkung verspürenden Publikum identifizieren kann. Der
Heutige handelt hier genau, wie der Dichter der Sequenz
Eia recolamus hinsichtlich seiner beigestellten Materie han-
delte, als er sie der formgebenden Umwelt seiner gläubigen
Gemeinde exponierte, deren Glied er war. Hier aber war
die Identifizierung natürlich und ein andres überhaupt
nicht denkbar. Während beim heutigen Unterhaltungs-
schriftsteller diese Identifizierung artifiziell ist, da er nicht
die Form bekommt, sondern unter Kon venu gewordnen
Formen wählt und jene wählt, mit der er auf die breiteste
Eingeübtheit dieser Form beim Publikum stößt. Womit zu-
sammengeht, daß solche im stärksten Konventionialismus
der sekundär gewordnen Formen getroffne Wahl auch
schon eine Wahl in der Materie getroffen und jene ge-
wählt hat, die sich am leichtesten dem Konvenü hingibt:
die Sprache wird auf ein Minimum ihres Ausdrucks ge-
bracht, wodurch der sogenannte Inhalt nackt und betont
zum Vorschein kommt. Das passive Publikum nimmt nur
die am stärksten von ihm eingeübten Schwankungen hin,
deren Lösung keinerlei aktive Teilnahme verlangt, also
nicht Schwierigkeiten bereitet, die es zu lösen nicht ver-
13 193
mag und als ,, unkünstlerisch" alles ablehnt, was ihm solche
Schwierigkeiten der Lösung zumutet. Es hat sich darum
in Verlegern, Direktoren, Agenten, Kunsthändlern ver-
mittelnde Zwischenglieder geschaffen, deren Aufgabe es
ist, das Publikum in erster Instanz gewissermaßen zu re-
präsentieren und welche mit ihrem Gelde dafür garan-
tieren, daß das Publikum nicht Schwankungen ausgesetzt
wird, die es, da es eben Publikum und nicht Umgebung,
das heißt passiv und nicht aktiv ist, nicht mit positivem
Gewinn für sich aufheben kann. Der Hinweis muß hier
genügen, daß die genannten repräsentativen Zwischenglieder
nur darin, daß sie mit ihrem in ihr Unternehmen gesteckten
Kapital bürgen, eine wirtschaftliche Rolle spielen, die ganz
nebensächlich ist neben der geistigen Aufgabe, mit der
sie betraut sind und die darin besteht, ,,ihr Publikum zu
kennen" und zu wissen, ,,was sie ihm bieten können."
— Es wäre ein Abriß der Kunstgeschichte nötig, um an
Beispielen aufzuweisen, daß die hier dargelegte Wechsel-
beziehung zwischen der künstlerischen Person und ihrer
Umgebung notwendige Voraussetzung für das Zustande-
kommen des "Werkes ist, und daß diese notwendige Wech-
selbeziehung zwischen der materialordnenden Person und der
formgebenden Umgebung nvu* dann stattfindet, wenn ein
definiter Kulturkreis als ungebrochne Einheit Person und
Umgebung in der Weise umschließt, daß die künstlerische
Person darin als Glied enthalten ist. Ich müßte beim Bei-
spiel des Aurelius Ambrosius beginnen, um es bis zu dem
Bruch dieser Einheit zu führen, das heißt bis zum Auf-
treten der modernen Gesellschaft im achtzehnten Jahr-
hundert, in welcher Zeit der Schriftsteller beginnt, das
heißt der Abgelöste, der sich der Bildung bedienen muß,
um den kulturellen Bruch zu überbrücken: was ihm im
immer mehr abnehmenden Maße gelingt bis zum Versagen
auch dieser Verbindung im Zeitalter des Hochkapitalismus,
das wir leben und in dem bei weiter bestehendem Kunst-
willen — der als eine der menschlichen Betätigungen ja
nicht aufhören kann — eine völlige Durchwerfung der
194
das Werk konstituierenden Teile statt hat. Der zu keiner
Umgebung mehr zugehörige Dichter entbehrt das formende
Element und vermeint es durch , .Inhalt" und „Gestaltung"
zu ersetzen; schon zweifelt und verzweifelt er am ver-
brauchten Konvenü der sekundär weiter bestehenden For-
men, und seine Haltung gegen seine Mitwelt wird wesent-
lich kritisch, worauf das Publikum ebenso kritisch reagiert.
Das Dichten steht heute im Streite sittlicher Meinungen,
der mit ästhetischen "Waffen geführt wird, an deren Schärfe
weder Dichter noch das Publikum mehr recht glaubt und
die es nur in Erinnerung an die Kunst und in falscher
Anwendung dieses Begriffes braucht, denn die Literatur
stellt in ihrem Wesen ein vollständiges Novum dar, dem
mit den aus der Dichtung gewonnenen Anschauungen nicht
beizukommen ist. Aber dem Wesen der Dichtung auch
nicht aus den Anschauungen aus der Literatur! Denn die
Kunst ist nicht aus den Interpretationen der wirklichen
oder angeblichen Funktionen zu bestimmen, welche sie im
Leben der Menschen und dessen Geschichte erfüllt oder
erfüllen sollte. Gewiß hat alles was ist einen Seins-Grund,
aber der Seins-Grund eines Faktums steckt in der Ursache
des Faktums, nicht in den Funktionen, die es erfüllt. Aus
der Summiervmg aller wirklichen, eingebildeten, möglichen
und denkbaren Funktionen, welche die Kunst erfüllt und
je erfüllt hat, ist deren Wesen so wenig bestimmbar wie
das der Elektrizität aus den Arten ihrer Verwendung. Der
angebliche historische und dokumentarische Wert der Kunst
ist nichts als moderne Prätension einer bestimmten theore-
tischen Anschauung über das Kunstwerk „wie es sein soll",
Victor Hugo gab in einem Kapitel der Miserables ein
historisches Bild des Jahres 1817 mit aller Prätension
historischer Exaktheit, und fast jeder Satz ist ein histori-
scher Irrtum. Die moderne Definition der Kunst als ,, Spiegel
ihrer Zeit" wäre auch dann noch irrtümlich, wenn der
Begriff ,,ihre Zeit" wirklich genau zu bestimmen wäre.
Was sich einen historischen Roman nennt, ist nicht das
irgendwie romanhaft fassonierte Quellenstudium seines Ver-
13* 195
fassers, so viel er dessen aucH getrieben haben mag, und
daß der Leser ihn goutiert, ist mit nichten von seinem
historischen Wissen bestimmt, mit dem er seinerseits das
romanhaft hergerichtete Wissen des Verfassers kontrolliert,
richtig oder mangelhaft findet. Schon beim Historiker ist
die Forderung, daß er ,, alles wissen" müsse, nie zu er-
füllen — an den Romanzier gestellt wird sie ganz absurd,
denn seine Absicht ist auch im sogenannten historischen
Roman keine historische, sondern eine künstlerische, die
primär nicht aus der Welt der Objekte zu bestimmen ist
als „Inhalt", sondern als eine bestimmt geartete indivi-
duelle Aktivität. Was in diese Individualität eingeht, ist die
formende Aktivität der Umgebung, welche dann das Werk
als ein bestimmtes differenziert, und in diesem Sinn kann
man allein von der Kunst einer „bestimmten" Zeit, eines
„bestimmten" Kulturkreises, einer , .bestimmten" Sprache
reden. Die historischen Romane der Frau Handel-Mazzetti
sind interessantes Beispiel, wie hier ein Romanwerk nur
darum historisch wird, weil sich der Dichter eine Um-
gebung fiktiv koordiniert, die als eine kulturelle Einheit
ihm allein die nötige Form gibt, damit das Werk über-
haupt werde. Die Dichterin von ,,Jesse und Maria" ist so-
wohl in ihrer sprachschöpferischen Kraft, wie in der Form
von allen guten Geistern verlassen, wenn sie sich dem
Heutigen überläßt, so sehr, daß sogar die hohen Qualitäten
ihres in den historischen Romanen sichtbar werdenden
Glaubens in ihren modernen Produkten völlig ins Banale
des billigsten Komtessenkatholizismus sinken. Nicht anders
ist der Historismus Hofmannsthals aufzufassen: er fingiert
formschaffende Umgebung, um zum Werke zu gelangen.
— Wenn ich in Früherm die Aufgabe des Ästhetikers als
eine nichts als kritische definiert habe, so sagt das nicht,
daß diese alleinige Aufgabe eine psychologische sei und
die Ästhetik ein Teil der Psychologie. Denn diese studiert
den Mechanismus der mentalen Phänomene, während der
ästhetische Kritiker auf die Inhalte dieses Mechanismus
reflektiert, welche Inhalte die Psychologie ignoriert, um
196
die „passiven" Phänomene voranzustellen, zum Beispiel
die Lustempfindung. Die Psychologie betrachtet die Arten
der ästhetischen Wirkungen, ohne sich dabei aufzuhalten,
daß für das Zustandekommen dieser Wirkungen ein Kunst-
werk da sein muß, und daß dieses zu kennen vor allen
nötig ist. Denn so wenig wie aus den sozialen Neben-
funktionen der Kunst, Erhebung, Besserung, Bildung, Be-
lehrung und so weiter ist ihr "Wesen aus den psychologi-
schen Effekten: Lustempfindung, Erschütterung und so
weiter bestimmbar. Und Kunstwerke, die heute aus solchen
Einstellungen auf die sozialen und psychologischen Wir-
kungen zustande kommen, sind allenfalls heutige Literatur,
aber nicht Kunst.
Folge heutiger Anschauung über das Kunstwerk als ein
durch nichts sonst als die individuelle Aktivität der künst-
lerischen Person zustande Kommendes ist die Reihe jener
extravaganten Theorien über das Genie, sowohl jener,
welche es als ein mystisches Sprachrohr Gottes (oder der
„Menschheit") ansehn, wie der andern, die das Genie als
eine pathologische Erscheinung in die Nähe des Verbrechers
oder des Minderwertigen und Überkompensierenden stellen,
welche beide Anschauungen insofern identisch sind, als sie
die künstlerische Person übermenschlich machen, zu einem
Halbgott oder zu einem Halbidioten, also zu einem De-
menten mit wechselndem Vorzeichen. Ein allgemeines Merk-
mal aller geistigen Demenz ist ein psychischer Automatis-
mus, der von der Schwäche der synthetischen Urteile ab-
hängt, und gerade das Gegenteil, nämlich die Stärke der
synthetischen Kraft, zeichnet die künstlerische Person aus,
also höchste sittliche Stärke, wie den Narren größte sitt-
liche Schwäche: jenen als einen Menschen stärksten Ver-
antwortungsgefühles im Zusammensein mit der Mensch-
heit, den Narren als einen jedes solchen Gefühles Ent-
bundenen, aus der Menschheit Isolierten. Die Isolierung,
die der Dichter dieser Zeit als künstlerische Person durch
die fehlende formschaffende Umgebung in seinem fragmen-
tarischen Werke erleidet, wofür er sozial durch die Mög-
197
lichkeit, bürgerlich-kapitalistischer Besitzer zu werden, ent-
schädigt sein soll, zeitigte solche diagnostische Ästhetik des
Genies als eine moderne Form der Domestizierung des
Künstlers, die nicht seine bürgerliche, sondern seine geistige
Person trifft.
Der Künstler arbeitet nicht um eine Zeit zu spiegeln, nicht
um bestimmte sittliche Gefühle auszulösen, wenn beides
auch als sekundäre Wirkung als im Kunstwerke einge-
schlossen hinzutreten kann. Er „fühlt sich" nicht und in
nichts ,,ein"; er betreibt weder , .äußere" noch ,, innere
Nachahmung" — was sollte er nachahmen? Die andern
,, Spieltriebäußerungen" in andern Büchern? Soll er sich
in ein andres ,, Eingefühltes" einfühlen? Dieses Einfühlen
und innere Nachahmen reduzierte das ästhetische Phänomen
auf einen nichts als subjektiven Akt, der im Belieben dessen
steht, der ihn erfüllt, und damit wäre das Problem ins
Mystische gedrängt, das neben dem Pathologischen der
zweite Ort ist, wohin der verlegene Psycholog flüchtet.
All diese Kunsttheoretiker manifestieren nichts sonst als
ihre Inkompetenz in den Dingen der Kunst, weil sie ,, zu-
rückführen" wollen auf mehr oder minder vertraute allge-
meine biologische, psychologische, anthropologische und
gesellschaftliche Phänome, insoweit diese eine wissenschaft-
liche Gruppierung bekommen haben. Aber es manifestiert
sich im Kunstwerke ,,eine ganz neue Kraft" (Schiller),
nämlich die Kraft der künstlerischen Person, das Material
in der Wirkungsrichtung auf eine formschaffende Umgebung
wählend zu ordnen. Beim Läuten einer Türklingel wie bei
einer Symphonie handelt es sich um Töne, bei einer Wiese
wie bei einem Bilde um Farben, bei den Bezeichnungen
eines Fahrplanes wie eines Gedichtes um Worte, bei einem
natürlichen Menschenleib wie bei einer Plastik um eine
Gestalt im Raum, aber Töne, Farben, Worte und Plastik
drücken als geordnete und geformte Materie in der Kunst
ein vollkommen Neues aus, das mit den korrespondierenden
Bildungen, Geräuschen, Erscheinungen des natürlichen
Lebens wohl vergleichbar, aber von ihnen nicht ableitbar
198
oder abgeleitet oder in dessen Nachahmung entstanden ist,
noch in dessen Vereinfachung (,,Stir'), noch in dessen
Steigerung zum „Sinn" („Symbol"). Die Materien bekommen
ihren Ausdruckswert erst durch die synthetische Kraft der
sittlichen Person, die man Künstler nennt.
Alle nicht der Kunst selber abgewonnenen Methoden ihrer
Begrifflichkeit sind, auf sie angewandt, falsch und ergeb-
nislos, so gelehrt auch ihr Herkommen sein mag und so
angesehn die "Wissenschaft, deren sie sich bedient. Es ist
so, als benützte man für die Probleme der Botanik die Me-
thode der Rechtswissenschaft oder für die Aufgaben der
Astronomie die Arbeitsweisen der Medizin. Das Naturge-
gebene ist nicht die wesenbestimmende Substanz der Kunst,
und darum ist sie wissenschaftlich von keiner jener Dis-
ziplinen her zu bestimmen oder zu erkennen, welche mit
den Naturgegebenheiten als ihrer Substanz arbeiten. Die
Kunst ist nicht ,, zurückführbar" auf etwas andres als auf
ihr ganz autonomes Selbst innerhalb der sittlichen Welt.
Von dem, der sich mit der Kunst der Kunst beschäftigt,
ist eine wissenschaftlich nicht erwerbbare Zugehörigkeit
zu verlangen, die absoluter ist als die zur Chemie etwa
oder einer sonstigen wirklichen Wissenschaft, die ohne
solche innre Zugehörigkeit durchaus erlernbar ist. Ästhetik
als Kritik der Kunst ist so wenig erlernbar wie die Philo-
sophie, die man , .haben" mu£, um sie wissenschaftlich
das heißt methodisch zu treiben, die man aber nicht er-
lernen kann, um sie dann zu ,, haben", wenn auch die
Tatsache so außerordentlich vieler Professoren der Philo-
sophie und Dozenten der Ästhetik dagegen zu sprechen
scheint. Aber Professor der Philosophie und Philosoph
ist ja wie man weiß nicht dasselbe ; Schiller hat als Künstler
in seinen ästhetischen Schriften Wahrheiten zum Gegen-
stande gesagt, die ein bloßer Gelehrter wie zum Beispiel
Groos nur mißverstehn kann, im Ganzen wie im Einzelnen.
Denn es gibt keine ästhetischen ,, Einzelphänomene", die
allenfalls von dem in der Kunst inkompetenten Gelehrten
studiert und gelöst werden können. Die künstlerischen
199
Phänomene stehen untereinander in unlösbarer Abhängig-
keit von einander und sind nicht isolierbar, — werden
sie doch isoliert, so sind sie damit völlig um ihre ästhe-
tische Zugehörigkeit gebracht und in irgendwas gewandelt,
das mit der Kunst das Geringste nicht mehr zu tun hat
— , (Kunst und Krieg", ,,der Arbeiter und die Kunst" und
so weiter; aber auch alle sogenannten sinnespsychologischen
Einzeluntersuchungen werden ästhetisch nur dann in Be-
tracht kommen, w^enn der sie Untersuchende in seinem
Gesichtsfelde die Kunst als ein Ganzes und zudem kriti-
schen Sinn genug hat, den untersuchten Teil immer auch
Teil eines angeschalteten Ganzen sein zu lassen, welches
Ganzes die Kunst ist, nicht der Krieg, der Arbeiter, die
Netzhautreaktion. Ästhetik wäre danach autonome, nach
ihrem eigenen Methodus vorgehende Kritik der künstleri-
schen Sachgegebenheiten, welche nur und nichts sonst
als das Kunstwerk beibringt, wie es aus der Kraft der
materialschaffenden Person des Künstlers und der aktiven,
die Form gebende Teilnahme der Umgebung zustande
kommt. Daß die heutige Ästhetik, insofern sie die moderne
Kunst in ihre Betrachtung zieht, dieser Definition nicht
entspricht und gar nicht entsprechen kann, ergibt sich aus
dem mit keiner Dichtung vergleichbaren Charakter der
heutigen Literatur.
ZEHNTER EXKURS
Dieser handelt von der deutschen Sprache. Hört man einen
deutschnationalen Parteiführer oder Abgeordneten, so könnte
ein Naiver für Sprache das halten, worin sich die Leute
einer Gegend kaufend, verkaufend und zeitungschreibend
verständigen, möchte ein Naiver, sage ich, fast glauben, es
läge jenem Patrioten vor Gott und der Welt nichts anderes
am abgeordneten Herzen, als Wahrung des Kulturgutes
deutsche Sprache. Ich will den Standpunkt des Naiven zu
dem meinen machen und nicht im Leisesten glauben, daß
die lauten Hüter der deutschen Sprache, seien es Abgeord-
200
ncte, Professoren oder Studenten, ganz andere Moventia
eignen. Will glauben, daß alle diese teutschen Männer
Profit, Dividende, Bonus, Kapitalvermehrung, Avancement,
Protektion usw. usw. vergaßen, als ob es nichts wäre, weil
sie sich in dem Einen zusammenfanden: in der schweren
Sorge um das bedrängte Kulturgut der deutschen Sprache.
Und nicht etwa um solche in beiläufigem ,, Deutsch" geredete
Internationalismen wie ,,dic nächste Zuckerkampagne soll
bringen eine Erhöhung der Dividende um fünfzehn Prozent",
oder weniger gejüdelt, doch deutsch auch nur so geredet,
da& es ebensogut botokudisch gesagt werden könnte: ,,die
böhmische Industrie ist deutsch- völkisch und wird es bleiben
immerdar, hie alle Wege, das walte Gott, ei Potz!" Liest
oder hört man unsere Nationalisten, so kommen einem ja
schwere Bedenken, ob sie den hier angedeuteten Unter-
schied zwischen Sprache, die ein Kulturgut, und dem so
Reden, was ein Verkehrsmittel ist, auch nur zu ahnen ver-
mögen, denn in dem nationalistischen Reden ist meist nicht
ein Satz deutscher Sprache zu finden, den sie je gebildet
hätten. Sie bedienen sich deutscher Bezeichnungen, in
Figuren und Wendungen geordnet, die sicher irgendwie
aus der deutschen Sprache herkommen, aber gewiß nie
wieder zu ihr zurückkehren, sie hütend, wahrend oder gar
mehrend. Sie reden auf deutsch und sie meinen, sie sprächen
deutsche Sprache. Sie reden auf deutsch, auch wenn sie
ängstlich Fremdwörter vermeiden, wie ihre Sprachreiniger
es fordern, die wissen sollten, was die Nationalisten nicht
zu wissen brauchen: daß das Deutsche so etwas wie eine
tote Sprache ist — was nicht bedeutet, eine nicht mehr ge-
sprochene. Ohne weiter fremdartig zu wirken, gehen alle
Neubildungen römisch- griechischer Art in den Besitz jener
Sprache über, die man Tochtersprachen des Romanischen
nennt, besonders des Französischen, welches die Lehns-
sprache ist, die man auf französischem Boden heute spricht,
wo das autochthone Baskisch und Bretonisch so gut wie
ganz verschwunden sind, in welchen beiden Sprachen das
Wort ,, Automobil" ein Fremdwort sein würde, das es im
201
Französischen gar nicht und im Englischen nur bei dichten-
den Fanatikern des Angelsächsischen — und das es im
Deutschen immer ist. Denn das Deutsche ist als eine
autochthone Sprache längst fertig in seinem wesentlichen
Bestand an "Wörtern wie an Grammatik. Daraus erklärt
sich die „Dunkelheit" der deutschen Sprache, von der die
Franzosen sprechen, denn wir haben eine nicht geringe
Anzahl von Wörtern, deren je eines für drei und mehr
Begriffe verschieden da ist. Wir sagten Kielfeder, als man
mit der Kielfeder schrieb. Wir blieben bei Feder, als man
schon nicht mehr mit der Feder schrieb, sondern mit der
geteilten Stahlspitze. Und wir gebrauchen das gleiche Wort
Feder für die Spirale in der Uhr und für einen Teil des
Schiffsbodens. So haben wir ein Wort für vier verschiedene
Begriffe, ein Wort, das wir nicht einmal im Geschlechte
differenzieren. Neunundneunzig neue Bezeichnungen für
Gegenstände betreffen seit fünfzig Jahren technische Dinge :
wir müssen dafür entweder das ,, Fremd wort" hinnehmen,
oder wir müssen mit einem Wort bezeichnen, das schon
andern Begriffen als Attribut dient oder wir müssen den
Begriff umschreiben, was dem Individuellen des Begriffes
widerspricht, der ein Wortindividuum verlangt. Die erste
Möglichkeit, das Fremdwort zu adoptieren, ist die beste,
und die alten sprachreinigenden Gesellschaften haben der
deutschen Sprache wie der deutschen Politik einen schlechten
Dienst mit ihrer Tätigkeit erwiesen, eine deutsche Sprache
dadurch rein zu erhalten, daß sie in neunundneunzig von
hundert Fällen für fremde Worte deutsche Sprachungetüme
erfanden. Oder sie haben deutsche Politik richtig geahnt,
indem sie ihr jeden Expansionismus und Imperialismus als
sprachlich unmöglich absprachen. Denn die Sprache hat
eine politische Immanenz: England kommt zu seiner Welt-
stellung dank seiner Sprache, die in der glücklichen Lage
ist, germanisch und romanisch in sich zu vereinigen, Eng-
land kommt sprachorganisch zu Kolonien, weil die englische
Sprache dafür ein englisches Wort hat. Deutschland verliert
die seinen, weil es dafür kein deutsches Wort hat.
202
Die Bezeichnung „Telegraph" ist die bestmögliche in deut-
scher Sprache. Der absolute Purismus würde die deutsche
Sprache unter Monstrositäten begraben. Zu Beginn des
Krieges, als dem deutschnationalen Patriotismus der Schaum
vor dem Munde stand, wütete man gegen die ,, Fremd-
wörter". Man wußte nämlich nicht, daß der Mensch die
Sprache nicht erfunden hat wie eine weittragende Kanone,
denn der Mensch ist, wie Wilhelm von Humboldt sagt,
Mensch durch die Sprache. Die Nationalisten aber glaubten,
der Mensch habe die Sprache erfunden und könne daher
immer weiter erfinden mit gutem Rechte. Sie hielten Ge-
rücheerzeuger, das sie für Parfumeur forderten, für ein
deutsches "Wort, wie Kraftwagen für Auto und Fernsprecher
für Telephon. Im Jahr 1915 erschien ein dickes patriotisches
Verdeutschungswörterbuch, ein Monument der Sprach-
mißhandlung — es ist seltsam, wie unbekannt die deutsche
Sprache gerade jenen ist, die sich aus Patriotismus mit ihr
beschäftigen. Es ist bemerkenswert, wie unbekannt über-
haupt alles jenen ist, die sich aus nationalistischem Pa-
triotismus mit irgendwas beschäftigen. Es ist nicht der
sittliche Defekt nationaler Schwäche, der den Deutschen
inmitten eines anderssprachigen, etwa des englischen Milieus
in den U. S., das Deutsche vergessen läßt. Wer für den
Begriff keine andere Bezeichnung hat als Autorität, der
wird eben sehr bald autority sagen und der Rest folgt
bald nach. Man hat im wilhelminischen Deutschland diesen
imperialistischen Mangel der deutschen Sprache in den im-
perialistischen Zentren empfunden und sich so etwas wie
ein kosmopolitisches Deutsch erfunden in all den Abbre-
viaturen, Wörtern aus Anfangsbuchstaben usw. Man empfand,
daß die neuen Wörter, die man für die neuen Gegenstände
vorschlug, keineswegs neue deutsche Wörter, sondern nur
sehr grausliche Zusammensetzungen alter Wörter und dazu
auch ohne die Fähigkeit wären, den Gegenstand zu be-
zeichnen so eindeutig, wie es nötig war. Man empfand das
Hindernis, das den Deutschen die deutsche Sprache in einer
industrialisierten Zeit und deren politischen Auswirkungen
203
bereitet, und machte verzweifelte aber vergebliche An-
strengungen, über dieses Hindernis wegzukommen — ver-
gebliche, denn: die deutsche Sprache ist keine lebende
Sprache. Man mache eine Statistik der Verhältniszahlen.
Man wird in den ungefähr tausend Worten, die der durch-
schnittliche Berliner Kaufmann kennt und braucht, fünf-
hundert nicht deutsche finden. Man wird unter den ungefähr
vierzigtausend deutschen Worten, die es gab und gibt, mehr
als zehntausend zählen, die weder mehr gekannt, noch gar
gesprochen oder auch nur geschrieben werden. Die Zei-
tungen sorgen für die Verkümmerung der letzten Sprach-
quelle, der Dialekte, denn die Zeitungen sind alle in dem
ins sogenannte Hochdeutsche übertragene Argot der Groß-
städte geschrieben, also in einem Verkehrsdeutsch, das mit
dem nationalen Kulturgut der Sprache nichts zu tun hat.
Denn ob die Frage: ,,Wie hoch stehen De Beer- Aktien?"
auf deutsch, englisch oder krowotisch gestellt wird, das
ist im Sinn des Kulturgutes Deutsche Sprache gänzlich
gleichgültig.
Ich kann der politischen Bedeutung der Sprache im Zu-
sammenhange dieses Buches nicht ins Einzelne nachgehen,
aber ich muß die Aufmerksamkeit auf einige Fakten lenken.
Im Süden wie im Westen endete die Expansion Germaniens,
das bis zur Saale und zur Elbe reichte, damit, daß die in
Italien und Gallien eindringenden Germanen als die kultu-
rell schwächeren von den romanisierten Galliern und Ita-
likern aufgesogen wurden. Das gleiche Schicksal, das die
germanischen Stämme der Langobarden in Italien erlitten,
die fränkischen Stämme in Gallien, erlitten die sächsischen
in Britannien. Wie sie es heute noch in Amerika erleiden.
Anders war es mit der Expansion nach dem Osten. Die
slavischen Völker der Wenden, Kassuben, Sorben, Prussen
waren kulturell schwächer als die Germanen, welche über
die Elbe gingen und hier das Herrenvolk wurden im Laufe
der Jahrhunderte. Kulturell unterwertig war, was die Ger-
manen nach dem Süden und Westen brachten, wo sie sich
romanisierten. Kulturell überwertig war, was sie den sla-
204
vischen Stämmen brachten, mit deren Blut sie sich wohl
vermischten, deren Sprache aber nicht nur nicht annahmen,
sondern ihnen die ihre gaben — ein Prozeß, der bis in den
Anfang des 19. Jahrhunderts dauerte, um sich bis an die
Weichsel auszuwirken; und dem auch die Tschechen nicht
widerstanden hätten, wäre das Werk anders getan worden
als durch die Gegenreformation, wo es zu spät war; denn
von einer kulturellen Minderwertigkeit der Tschechen gegen-
über den Deutschen konnte nun nicht mehr die Rede und
kein Grund sein, daß diese Slaven von den Deutschen
etwas annahmen, was sie selber schon besaßen. Heute ist
der Prozeß sprachlicher Eroberungen durch die Deutschen,
der nach Westen nie statt hatte, auch nach dem Osten ge-
schlossen. An der Weichsel hatte das Deutsche seinen ent-
ferntesten Punkt der Wirkung erreicht, um auch diese Linie
zu verlieren, weil es in den letzten fünfzig Jahren wieder
von dem Vergeblichen, nach dem Westen zu expandieren,
gefangen war. Es hat für die Deutschen immer nur den
östUchen Weg gegeben, aber man ging unbelehrt die Wege
in allen Richtungen der Windrose. Um sich damit auch
den östlichen Weg ungangbar zu machen. Wäre die deutsche
Philologie ihren Begründern treu geblieben, so hätte die
deutsche Politik vielleicht ein anderes Gesicht bekommen
als das ihr jene Philologen gaben, die sich damit legitimierten,
daß sie aus Telegramm ,, Funkspruch" machten.
ELFTER EXKURS
Dem Veranstalter eines teuern Literaturblattes — es kosten
die vier Hefte zweitausend Mark — sagte eine Berliner
Zeitung, daß er mit seinem Unternehmen auf Kriegsgewinner
spekuliere, und in einem Ghetto-Deutsch verteidigte sich
der Mann damit, daß ,, Kriegsgewinner lieber Sachen zum
Hängen als zum Hinlegen haben" und rief Sternheim zum
Zeugen, der bestätigte, daß ,,von Volk niemals Anregung
oder Hülfe für die Dichter komme". Hier wurde vorbei-
geredet. Der Veranstalter verteidigte mit Augenaufschlag
205
nur seine Spekulation, was Sternheim mißverstand. Aber
er rührte an eine wichtige Sache. Was die Publizität be-
trifft, so kommen dabei weder ,,Volk" noch „Reiche" ins
Spiel, das ausschließlich dem Geschäftlichen und seiner
Überlegung gehört; denn der Dichter arbeitet weder für
viele, noch für wenige, sondern für alle Menschen. "Wie
viele es dann praktisch- geschäftlich sind, entscheidet oder
vermutet der Verleger nach der ersten Auflage, und das
Resultat kann den Dichter erfreuen oder betrüben, aber
nicht veranlassen, anders zu dichten oder es überhaupt sein
zu lassen. Bei ehrlichem künstlerischen Gewissen hätte
jener Veranstalter die einfachste weil selbstverständlichste
Antwort geben können, daß es an dem Faktum vorhandner
Literatur nichts ändert, ob man sie in Massen für viele
billig oder in kleiner Zahl der Auflage für wenige teuer
verbreitet, ob sie von vielen, von wenigen oder von keinem
gelesen wird. Aber er sprach als Unternehmer die Erfahrung
aus, die er sich vom irregeführten Sternheim bestätigen
ließ, daß der Sinn für die Kunst bei denen sei, die sie hoch
bezahlen können. Er meinte damit aber: das Geschäft mit
der Kunst ist nur mit den Reichen zu machen, womit er
durchaus recht hat. Er traute sich nur nicht, diese geschäfts-
tüchtige Wahrheit zu sagen und schrieb den Reichen den
Sinn für die Kunst zu. Der ist aber weder bei ihnen noch
bei den Armen, wenn wir auch bemerken können, daß der
Bankdirektor X, wenn er überhaupt etwas liest, den Schund-
roman, sein armer Kommis aber die Gedichte von Werfel
liest. Aber dies zu verallgemeinem, wäre falsch, denn in
dem Gegensatz Arm-Reich liegt gar nicht das hier prin-
zipiell trennende Moment oder wenigstens nicht in so
schematischer Form, Sicher korrespondiert die jeweils neue
Literatur mit der herrschenden Klasse, nicht in dem Taine-
schen Sinn, daß die Literatur Ausdruck der herrschenden
Gesellschaft sei, denn das ist sie, so allgemein gesagt, nicht,
sondern sie steht in einer direkten Beziehung zu dem
Bildungsniveau, das die herrschende Klasse erreicht hat.
Dieses Bildungsniveau setzt die herrschende Klasse in Stand,
206
sogar eine Literatur zu gouticrcn, deren Tendenz ihren
politischen und sonstigen Idealen und Interessen entgegen-
gesetzt ist und diese angreift wie im Fall Leonhard Frank.
Und eben dieses Niveau, eben dieser der ästhetischen
Sensibilität der herrschenden Klassen entsprechende formale
Ausdruck wird jenen Klassen als „zu gebildet" nicht liegen,
die mit der Tendenz eines Frank durchaus sympathisieren.
So wird ein Francis Jammes dem Wiener christlich-sozial
Gläubigen viel „zu literarisch" sein, er wird ihn nicht vcr-
stehn, wie wir ja auch in neuern Kirchen den Kreuzweg
nicht von Marees, Hofer oder Feistauer gemalt sehn, son-
dern von dem ödesten Kitschier, in den katholischen
Feuilletons eine fromme aber schlechte Literatur finden,
in den sozialdemokratischen eine schlechte aber gesinnungs-
tüchtige und, wie gleich gesagt sei, in den Zeitungen der
herrschenden Klassen eine zumeist schlechte, aber ge-
sinnungslose. Träte heute jene vielbesprochene Revolution
ein, durch welche die herrschenden Klassen von den bis-
her beherrschten des Proletariats und Kleinbürgertums ab-
gelöst würden, so wäre die dann herrschende Literatur
ganz der heutigen Bildung dieser Klassen entsprechend:
Spielhagen, Rosegger, Freiligrath, Schiller — dieser als
Grenze nach rückwärts wie als Grenze nach vorwärts — ,
Björnson, der Ibsen des Volkfeinds, der Hauptmann der
Weber und des Rautendelein. Es ist unleugbar, daß —
wofür die Ursachen auf der Hand liegen — die derzeit
herrschende bürgerliche Klasse das Privilegium der künst-
lerischen Kultur besitzt und allein nur besitzen kann. Denn
was das Volk besitzt, ist nicht eine besondre Literatur,
sondern Abfall der Literatur der herrschenden Klasse, ver-
mehrt um die vom Volke konservierte Literatur aus frühern
Epochen eben dieser herrschenden Klasse. Alle Bemühungen
der Volksbildungs vereine verbreitern im besterreichten Fall
die Masse der herrschenden bürgerlichen Bildung, bringen
aber kein neues Element in sie, gar nicht zu reden davon,
daß dieses Bemühn keine wesentlich andre Bildung schafft,
auf die der Dichter sich beziehn und die herrschende bürgcr-
207
liehe Bildung entbehren könnte. Die Literatur des Volkes,
das heißt das, was das Volk liest, ist immer konservativ
die Literatur von ehegestem und wird paradoxer Weise
künstlerisch reaktionär immer dort sein, wo das Volk poli-
tisch radikal oder revolutionär ist: sozialdemokratische
Liederdichter, katholische Erzähler in klerikalen Blättern.
Während die vorlaufende, sich auf das gebildete Niveau
der herrschenden Klassen stützende Literatur immer künst-
lerisch revolutionär ist, auch bei „reaktionärer" Gesinnung:
Huysmans, Claudel, Sorge. Man erinnere sich an das durch-
aus Reaktionäre in der französischen Revolutionsdichtung,
die jede Tradition unterbrechend auf den Formausdruck
von 1700 zurückging, während die Neuerer unter den
reaktionären Emigranten waren.
Käme heute das sozialdemokratische Proletariat zur Herr-
schaft, es würde als seinen besten literarischen Ausdruck
so etwas wie den Zolaismus entdecken, also künstlerisch
reaktionär sein. Die ununterbrechbare künstlerische Tra-
dition aber würde von den überlebenden Besiegten getragen
werden, und von ihnen müßte die neue herrschende Klasse
empfangen.
Das alles hat mit den ,, Reichen" nichts zu tun. Die wenigen
Schöpfer neuer dichterischer Gebilde korrespondieren mit
wenigen, die für die Aufnahme bereit sind. Diese wenigen
werden sich gewiß immer nur in den herrschenden oder
diesen bildungsgemäß affilierten Klassen finden, aber von
einer absoluten Koinzidenz der Dichter und der herrschen-
den Klasse ist nicht zu sprechen. Die wenigen, den Dichter
Erkennenden sind, wenn auch zur herrschenden Klasse ge-
hörig, weder in deren Herrschaftsinteressen befangen, noch
deren vornehmste Träger, am allerwenigsten sind sie aber
mit den Reichen schlechthin zu identifizieren, wie jener
Herr mit Händen und Schultern behauptet, der den Ge-
schundenen auf Japanpapier vorführt — wie er behauptet,
um sich einen sittlichen Grund für das unsittliche Geschäft
zu geben, daß er eine Novelle, die man im Verlage Wolff
für achtzig Pfennige haben kann, für etwa zwanzig Mark
208
I
vi
4 ^''''.'- <■■ "•*&
7=-
>4\. >
liefert — ja, das ist das Wort, denn seine Reichen sind
nicht nur ,,die, wo was zum Hängen lieben", denn sie mögen,
wo was teuer kostet, auch wenn man nur kann hinlegen
und ist nur nebbich Literatur.
ZWÖLFTER EXKURS
Dem Urteil der Eingeweihten überlasse ich es, ob ich eine
Wirklichkeit oder eine Utopie mit dem folgenden Versuch
eines Geistes der konservativen Parteien beschreibe. Ihn
anzustellen schreckt mich der Umstand nicht ab, daB
O. A. H. Schmitz einmal als Retter des preußischen Konser-
vativismus versagte. Möglich, daß ich mit meinem Versuch
Eulen nach Danzig oder München, oder wie sonst das kon-
servative Athen heißt, trage und das, was sich in den rc-
spektiven Blättern und Reden äußert, nur Maske ist für
den wahren und verborgen gehaltnen Geist und dieser sich
mit meinem Versuche deckt. Doch ist Tatsache, daß der
sich äußernde Geist doch mehr ,,Jeist" ist und nur höchst
dürftig eine im übrigen recht korpulente Blöße deckt,
strotzend in Interessen höchst ungeistiger, wenn auch (kar-
toffel-) spiritueller Art, Das Mantelstück, das sich der hei-
lige Schmitz abschnitt, war gut gemeint, aber es rutschte
ob seiner Kleine vom umfangreichen Leibe des Bettlers im
Geist. Wir wollen freigebiger sein, nicht nur ab-, sondern
auch gleich zuschneiden, wobei es uns auf den Umfang
des zu Bedeckenden, nämlich die konservative Partei im
Engern so wenig ankommt, daß wir sie gleich im Wei-
testen erfassen, ganz Alldeutsch dazunehmen, ferner die
D. V. P. und das Zentrum dort, wo es dem Grundsatz
huldigt: commercialia non sunt turpia.
Unbekümmert darum, ob ich damit zu spät komme, bringe
ich also den folgenden Geist der konservativen Parteien
zum Vorschlag und schicke voraus: politischer Geist ist
ein zweckhafter Geist, kein reiner, w^eshalb es hier ohne
Belang ist, die Existenz Gottes oder eine geoffenbartc
christliche Religion überhaupt vorauszusetzen, denn wichtig
14 209
ist hier allein, die Religion als dem konservativen Zwecke
dienend zu beweisen. Ich nehme uns unter uns an und
vermeide darum aufhaltende Redensarten. Wir tun also
ganz ungeniert so, als gäbe es so etwas wie Gott und
christliche Religion nicht, oder noch nicht, um freien Platz
für eine dem konservativen Geiste taugende erkenntnis-
theoretische Grundeinstellung zu bekommen, hinreichend,
darauf alles andre, auch Gott und die Religion, aufzubauen.
Unsre Grundeinstellung krümmt allerdings den menschlichen
Stolz in den spitzesten Winkel, aber solches ist die not-
wendige Voraussetzung jeder rohen Machtpolitik, die ja
niemals von einer Würde des Menschen abgeleitet werden
kann. Und wir sagen demnach: wenn auch der Determi-
nismus, das hei&t die mechanische Konzeption der Welt
nicht alles erklärt, so versteht man doch hinwieder ohne
ihn überhaupt nichts. Somit erkennen wir, daß wir nichts
sind als Effekt und Resultat von elementaren Kräften, un-
bekannt und unerkennbar der lebendigen Materie. Wir
produzieren nur leere Worte darüber, wie Freiheit, diesen
kindUchen Traum eines verzweifelten Wahnes, wie Gleich-
heit, ewig dementiert von den Fakten, wie Gerechtigkeit,
diese Jeremiade der Besiegten. Das Individuum, mecha-
nisches Produkt von es determinierenden Ursachen, ist
nicht frei, sondern liegt in den Ketten des Erbes, ist ver-
wurzelt den Toten, die es im Weiterschreiten der Zeit
immer mehr und stärker beherrschen. Es ist aber auch
nicht gleich, sondern verschieden, und darum als Einzelnes,
als Rasse, als Klasse unterlegen oder überlegen. Der Nach-
bar ist nicht der Bruder, sondern der Gegner, wenn nicht
der Feind, so will es das vitale Gesetz, welchen Konflikt
die Gerechtigkeit, diese unwissenschaftliche, ideologische
Illusion des menschlichen Geistes, nicht lösen kann. Aus
dem Zusammenstoß komplexer und ungleicher Kräfte im-
postiert sich diese amoralische Feststellung: der Sieg des
besser Geeigneten. Somit ist die Gewalt das Regulativ des
Fortschrittes und der Krieg der Vater aller guten Dinge.
Der Krieg ist der natürliche Zustand alles dessen, was lebt.
210
Im Kriege bilden sich und lösen sich die Rassen auf. Er
ist der Schmelztiegel, in den die in ihrer Fruchtbarkeit
unparteiische Natur die Gattungen wirft, die sie schafft.
Der Krieg eliminiert die Untauglichen des Lebens, die miß-
glückten Elemente, die minderwertigen Völker. Durch den
Krieg hat der Mensch gelernt, daß er sich der Notwendig-
keit einer DiszipUn zu unterwerfen habe; durch den Krieg
hat er begriffen, daß und warum es ihm Bedürfnis ist,
sich einem Plan unterzuordnen. Aus Mißtrauen gegen den
Nachbar, aus Furcht vor ihm, hat er seine eigene Rasse
lieben und den Wert des moralischen und materiellen
Patriotismus schätzen gelernt, den er von seinen Vorderen
überkommen hat. Der Krieg vereinigte die Individuen des
gleichen ethnischen Charakters, der gleichen Sprache, der
gleichen sittUchen und geistigen Artung und der gleichen
Geschichte. Die aus dem Kriege geborene Disziplin ist die
Kraft, welche es dem Menschen mögUch gemacht hat, der
gegenwärtige zivilisierte Mensch zu sein. Er erkennt nun,
daß er nur als Folge seiner Ahnen existiert: aus seiner
Tradition. Hier wäre Kant, der viel für den ewigen Frieden
Mißbrauchte, mit jener Bemerkung zu zitieren, die ausführt,
daß es Zustände der Zivilisation geben könne, die keinerlei
Freiheit des Geschehens mehr erlauben und wo der Krieg
das einzige und unerläßliche Mittel ist, eine also erstarrte
Zivilisation weiter zu bringen. Es hat die aus dem Kriege
als notwendig erkannte Disziplin den Menschen notwendig
bescheiden gemacht und ihn an die geringe Rolle erinnert,
die ihm zu spielen zukommt. Diese Disziplin hat seinen
Wahn gemindert, sie hat ihm die Freude des Verzichtes
beigebracht und den Enthusiasmus des Opfers,
Aber erst die Religionen geben dieser Disziplin den defini-
tiven Sinn und die Subtilität, indem sie das bloße Seins-
bedürfnis des Menschen und die Freude daran versöhnen
mit der harten und absoluten Notwendigkeit, sich in die
Tyrannei der natürlichen Gesetze des Lebens zu finden.
Die Religionen machen das Transitorische und Gelegent-
liche der aus dem Kriege gebornen Disziplin zur dauernden
14* 211
Zucht. Der Anthropomorphismus der Religion verrät den
Geist, der sie konzipiert hat, und aus dem Anthropo-
morphismus haben hier wieder die Religionen die Macht
des Einflusses auf den Menschen, den sie nun ihrerseits
ändern, indem sie ihn aus einem tierischen, niedern und
gemeinen Instinkten unterworfenen Wesen zu einem sitt-
lichen und frommen Geschöpf umbildeten. Von der Religion
lernten die dem Tierischen nahestehenden Massen die Re-
signation; die Religion schuf den Begriff der Ordnung; und
sie gestattete und sicherte das Überleben und die Veredlung
der Gattung, indem sie das Individuum durch eine notwendige
Lüge dahin brachte, sich ihrer Funktion zu unterwerfen.
Von der Gewalt erhalten die Menschen das Gut ihrer Ge-
meinschaft in der Rasse; von der Religion die Hilfe der
Tradition, der Autorität und des Verzichtes, die allein das
Dasein in der Gemeinschaft möglich machen, in welcher der
Einzelne nichts bedeutet, weil er nur als Erbe lebt und
nur das vom Krieger und vom Priester bewahrte und ge-
hütete Erbgut ihm das Leben als gesitteter Mensch über-
haupt möglich macht.
Es kann den konservativen Geist nur zieren, wenn er sich
etwas an Darwin akkommodiert, der ja über die Zeit, wo
er nicht fair war, hinaus ist. Zudem wird es den grund-
besitzenden Konservativen, soweit sie etwas Landwirtschaft-
liches gelernt haben, leicht sein, eine Fülle neuerer natur-
wissenschaftlicher Beobachtungen hier beizusteuern, welche
das Gesagte stützen. Ich erinnere nur an die Veredlungs-
vcrsuche und die Rolle, welche dabei der Atavismus spielt ;
auch die Chemie der Dungmittel liefert Belege, die sich
nur im Grade der Komplexität von dem über den Menschen
Gesagten unterscheiden. Zudem ist, wen der Darwin schrecken
sollte, rasch mit einem Zitat aus Joseph de Maistre zu be-
ruhigen, der sagt: ,,Ii faut purifier les volontös ou les en-
chainer; leur donner un frein moral ou une entrave mate-
rielle; les gouvernements ont besoin d'une foule muette
forcee d'obeir, ou d'une foule croyante ä qui l'on persuade
d'obeir." (Ich will dieses Zitat nicht den Proletariern preis-
212
geben, weshalb ich es französisch zitiere.) Eigentlich ist in
diesem Zitat alles gesagt, wovon ein konservativer Geist
leben kann. Doch aber ist die modernere wissenschaftliche
Begründung nötig, einmal weil Wissenschaftlichkeit heute
beliebt und angesehn ist, und dann, weil sie schönere
Paradepferde liefert. Das Haben, Behalten und Mehrhaben
der konservativen Pleonexie ist ja öffentlich nicht vorführ-
bar und ist auch allein noch kein Geist, als welcher eben
die Aufgabe hat, diese Pleonexie mit guten philosophischen
Gründen zu rechtfertigen nicht nur, sondern ihre Einzig-
gültigkeit zu etablieren. Jeder Geist einer Partei muß an
sich die Forderung stellen und zu erfüllen trachten, daß
er der Geist der Menschheit sei. Der Konservativismus
muB beweisen können, daß nur jene den Sinn des Lebens
ergreifen, welche ihn als eine ständige Exaltation des Kultus
der Ehre und Befolg der Ahnen tugenden betrachten, jener
Ahnen unsres Stammes, welche den Boden erobert haben,
auf dem wir hausen, welche die Quellen unsres nationalen
Patrimoniums aufgeschlossen haben, von denen wir leben,
und welche uns mit der heroischen Leidenschaft des Opfers
die Freude am Verzicht auf all das überliefert haben, was
den Menschen vom moralischen Ideal seiner Rasse, seines
Volkes entfernt. Ob wir an den offenbarten Charakter der
christlichen Religion glauben oder nicht — wichtig ist, daß
wir diese Religion als Regel unsres Lebens erkennen: als
die verstärkte Tradition und den Ruf zum Gehorsam.
Diesen wahren Sinn der "Welt fälscht der Individualismus,
als welcher eine unwissenschaftliche aus der Reformation
geborene Ideologie ist, die den Protest und die Revolte als
eine konstante Notwendigkeit behauptet. In allen Revo-
lutionen ging immer der Geist eines Volkes zugrunde, wurde
immer eine vorhandene Zivilisation einer Ideologie geopfert,
die ohne Zusammenhang mit irgendeiner Rasse, einem Volke
jene Internationalität besitzt, welche als der wahre Träger
einer toll gewordenen Modernität diese zwei auflösenden
Elemente gezeugt hat: den Freimaurer und den emanzipierten
Juden. Und als drittes die Forderung der Demokratie, die
213
dem Volke das "Wort gibt, das ihm wie dem Caliban nur
dazu dient, jene zu verfluchen und zu verleumden, von
denen es das Wort gelernt hat. Gegen diese zerstörenden,
die Größe vernichtenden Tendenzen gibt es nur diese beiden
Gewalten: die Kirche und die Armee.
Der hier vorgeschlagene Geist hat seine schwachen Stellen,
wir verhehlen das nicht. Es ist von der Rasse die Rede,
und wir wissen auch ohne den Semi-Gotha, daß hier im
Punkt der Reinheit nicht alles stimmt. Man wird darum
die Bedeutung des nationalen Erbgutes mit einer Rassen-
theorie stützen müssen, die sich mehr auf Geist und Seele
als auf Nasen und hängende Schultern gründet. Die Götter
der Wagnerschen Opern wären ganz aus dem Spiel zu
lassen, wie sich überhaupt die Alldeutschen bei dieser
theoretischen Grundlegung etwas mäßigen müßten. Aber
im ganzen sind wir überzeugt, daß man in Ansehung der
Wichtigkeit, die eine wohlfundierte konservative Welt-
anschauung für alles, was konservativ ist, besitzt, die
Lücken ohne Fehl sowohl in der Rassentheorie ausbauen
wird, wie auch die in der andern Voraussetzung des De-
terminismus. Dieser kann nämlich so komplex sein, daß es
unmöglich wird, wissenschaftlich den Anteil der verschie-
denen Elemente zu fixieren, welche den Menschen ändern.
Die im Kampfe Überlebenden werden bei geänderten Kampf-
mitteln und mit dem Auftreten der Masse problematisch.
Dies zu hindern, wird der Konservative in seiner Geld-
heirat mit der Industrie bestrebt sein müssen, der Stärkere
zu bleiben und immer zu bedenken, daß die schwachen
Stunden der Frau ihre starken sind. Die Kinder dieser
Stunden sind die bewußt werdenden Massen und deren
Spielzeug die Maschinen, sowohl die der Fabrikation wie
die andern der Wahlurnen. Ein drittes Bedenken beträfe
die Möglichkeit einer Änderung der Anschauungen über
das summum bonum, aber dieses Bedenken ist so lange
das geringste, als die kirchliche Lehre sich bewußt ist, eine
Machtlehre zu sein, das heißt über Gott nicht den Priester
vergißt. Und dies ist bis auf weiteres nicht zu befürchten.
214
KLEINE GRAMMATIK FÜR ANFÄNGER
1.
EINE grammatische Regel ist die Sanktion eines schönen
Brauches, nichts mehr und nichts weniger. Wer mit
dem Brauche bricht, muß sehr erwogene Gründe sowohl
als auch Anstand besitzen.
2.
Hat auch der Instinkt mehr Rechte über die Sprache als
die Intelligenz, so ist es in zweifelhaften Fällen doch besser,
ein Wörterbuch und eine Grammatik um Rat zu fragen,
als das eigene Gefühl.
3.
Dies gilt ganz besonders für jene jungen Leute, welche
ihre Sprache nicht in einem Dialekte, sondern in dem Argot
einer Großstadt kennen gelernt haben. Oder welche aus
einer Branche des werktätigen Lebens — Handel und In-
dustrie — in die Literatur treten.
4.
Aber auch für jene, welche die Sprache in philosophischen
Seminarien gelernt haben. Diese mögen sich erinnern, daß
erwägen wägen heißt und daß alle abstrakten Worte Figu-
rationen eines materiellen Aktes sind.
5,
Über die ausschlagende Bedeutung des "Wortes und der
Rede wird die Formel noch gegeben werden. Vorläufig sei
bemerkt, daß ratio = oratio, wie Xoyoq Wort und Vernunft,
aXoyoq unredend und undenkend bedeutet.
6.
Und erinnert, daß der Mensch, sich der Sprache bedienend,
ihr Gefangener wurde auf immer.
217
7.
Das Wort folgte einer Bewegung, erfolgte aus ihr: gute
Augen sehen noch die mimische Bewegung. Man spricht,
man denkt nach vorwärts.
8.
Nur ein geringster Teil der Worte einer Sprache, der
deutschen z, B., ist in der Schrift fixiert. Die Schrift ist
hinter dem gesprochenen "Wort zurück, wie das Wort immer
etwas hinter dem Gedanken zurück ist.
9.
Da der Mensch das Ganze nicht zu umfassen vermag, trennt
er es in Teile. Er trennt, um zu herrschen. Dies ist die erste
Tätigkeit der Intelligenz. Analysieren, das ist entbinden.
10.
Nicht zu vergessen, daß wir mehr als vier Jahrtausende
Schrift hinter uns haben. Das kindliche Wunder der Me-
tapher packt uns nicht mehr wie zu Zeiten Homers. Die
Freude an einem Bilde wissen wir kindlich. Aber wir wissen
auch, daß unsere Intelligenz keine andern Interpreten und
Dolmetsche hat als die Bilder, die mit einer Geste den
,,Sinn" unseres Gedankens anzeigen.
11.
Es kommen deshalb die einsilbigen Sprachen, wie das
Chinesische, zur Abstraktion nur durch die Metapher, denn
sie haben keine Organe entwickelt, die geeignet wären,
die verschiedenen Stufen der Analyse zu notieren. In den
zarten Fingern des Symbols behaupten sie, die flüchtige
Essenz festzuhalten.
12.
Die Sprache transponiert dank dem Gehör, von dem sie
direkt abhängig scheint, in die Dauer die Notierungen des
Gesichtes, welche dem Räume zugehören. Man kann von
einer augenblicklichen Transmutation der Werte eines Sinnes
in die Werte des andern Sinnes sprechen. Aber während
218
uns die beiden Ohren einen identischen Eindruck geben,
vermitteln uns unsere Augen von dem gleichen Gegenstand
zwei etwas verschiedene Bilder, Die Ohren messen die
aufeinanderfolgenden Momente, kennen nur die Zeit. Das
gehörte Gedicht läuft ab und wir sind währenddem in
dem Zustand einer gewissen Unsicherheit. Gegenstände des
Raumes kommunizieren uns die Augen sofort.
13.
Man kann nur in Worten, das heiBt in Bildern, denken.
Darum führen die Worte die Welt, und die Ideen gehören,
in ihrer unmittelbaren Aktion, den Worten.
14.
Im Anfange genügte es, Worte zu schaffen, um göttliche
Figuren zu schaffen. Gewisse Gottheiten des Rig-Veda sind
nur verschiedene Bezeichnungen zum Beispiel der Sonne,
ihr gegeben entweder nach ihren Aspekten oder von ver-
schiedenen Stämmen des Volkes oder zu verschiedenen
Zeiten. Im Verlaufe sterben dann die Götter ins Abstrakte.
Man kann von einer Eucharistie der Worte sprechen, durch
die wir mit dem Universum kommunizieren.
15.
Die Gottheit als letzte Ursache und als zentrales Prinzip
ist uns nur durch ihr proteiformes Attribut faßbar. Das
Wort ist das Attribut der Idee. Es bleiben uns zum spielen
nur die Reflexe. Uns unbewußt und auch, wüßten wir es,
es nicht ändern könnend, endet der Bezeichner damit, das
Bezeichnete in sich aufzunehmen, und das präponderierende
Zeichen, ausgestoßen kraft der virtuellen Wahrheit der
Dinge wegen seines reinen Ausdruckes, wird Werkzeug
des Irrtums.
16.
Der Schriftsteller hat das feinste Ohr dafür, zu hören, wann
in einem Wortleibe das Herz zu schlagen aufgehört hat.
Denn dieser herzlose Leib lebt noch lange weiter und ver-
langt Achtung für das, was er einmal war. Und ist doch
219
schon längst in die leere Abstraktion gestorben, in ein
Klischee. Nur ins Lächerliche ließe sich eine so abstrakt ge-
wordene Konzeption wie „Freiheit" anthropomorphisieren.
17.
Die Worte sind Daguerreotypbilder: sie entfärben sich.
Aber die Aspekte der Welt sind unzählbar und wechselnd:
ein Aspekt ist vorstellbar nur in Proportion zu allen andern
und in instinktiver Vergleichung. Daher wird immer ge-
ordnet, und diese Klassifikation hob an mit der ersten
wörtlichen Qualifizierung. Es herrscht eine Hierarchie.
18.
Die Reihenfolge im Traktement unserer Grammatiken be-
ruht auf einem Brauche; sie korrespondiert weder mit der
Geschichte der Sprache, noch folgt sie einer psychologischen
Methode. Sprachgeschichtlich im Anfange steht das Pro-
nomen und das Verbum, und auch die Pronomina sind aus
indikativen Partikeln konstituiert worden, bezeichnend das
Nähere und das Fernere. Sie schmolzen mit dem zusammen,
was später Adverb und Proposition werden sollte. Die auf-
zeigende Bewegung, die Geste, welche der Wortbildung
vorausging und sie begleitete, um zu verschwinden, nach-
dem das Wort hinreichend fixiert war, wird in der Sprache
immer deutlich bleiben. Theoretisch reduziert sich alle
Grammatik darauf, die Termini einer variablen Beziehung
zwischen Objekt und Subjekt mit allen Resultanten und Um-
ständen zu fixieren.
19,
Im primordialen ,sein' sind Subjekt und Objekt ineinander-
geschmolzen. Ihm folgen alsbald die Attribute des ,sein'
und all das, was dem Subjekt zugehört, es begleitet, quali-
fiziert. Durch die Besitzergreifung wird das Subjekt Herr
des Objekts, aber das Subjekt selber kann nur erwachen
aus dem vielfachen AnstoB des Objektes, vielfach wie die
Gegenstände und Umstände des Lebens. Den Expressionisten
sei Hegel zitiert: Jede Wirkung ist die Ursache ihrer Ursache
und jede Ursache ist die Wirkung ihrer Wirkung.
220
20,
Alle primitiven Verba sind qualitativ, drücken Variationen
von ,sein* aus. Sie sind den Pronomen analog, insofern sie
eine innere Handlung, welche direkt das Subjekt angeht, über-
setzen. Das ausschließlich ein Tun ausdrückende Verbum ist
Frucht einer ersten Differentiation von Subjekt und Objekt.
Psychologisch sind alle grammatischen Kategorien das Resultat
progressiver Differentiationen, Knospenbildung am Stamme
— am unendlichen?
21.
Du sollst den Namen Gottes nicht eitel nennen. Das ist ein
magisches Verbot, bei den Primitiven sprachlich noch ganz
lebendig, denn für sie ist der Gegenstand und das ihn be-
zeichnende Wort noch ganz eng verbunden. Es gibt Stämme,
deren Glieder dem Fremden weder ihren eigenen noch den
Namen ihres Dorfes sagen aus Furcht, er könne bösen Ge-
brauch davon machen. Alles Heilige und daher alles Ge-
fürchtete darf nicht bei seinem Namen genannt werden.
Genau so verfährt der Argot: die sprachlichen Deforma-
tionen, zu denen Gruppen von Individuen gebracht werden,
fürchten sich, die magische Konzeption als Basis, aus Gründen
einer andern Ordnung, aber immer Personen und Dinge bei
ihren wirklichen Namen zu nennen und geben ihnen Namen
aus Übereinkunft. Der Argot ist in einem gewissen Sinn der
Sprache gegenläufig, indem diese mitteilen, der Argot aber
intentional heimlich bleiben will: er dient der Verteidigung
einer Gruppe. Der Argot bildet sich in jeder Gruppe aus:
im Liebespaar, in Handwerksgemeinschaften, in politischen
Bünden usw. usw.
22.
In dem magischen Verbot, den Namen nicht eitel zu nennen,
drückt sich vielleicht die Tendenz aus, die Bezeichnung sta-
tisch zu erhalten und diese Statik vor Erschütterungen mög-
lichst zu schützen.
23.
Im tiefsten Sinne des Wortes sind die Sprachen gegen-
einander verschlossen. In jeder Übersetzung geht etwas
221
verloren und dieses Etwas ist das flüchtige \)Certvollste.
Die Übersetzung zeigt die Unterseite einer Stickerei. Sie
gibt das Metall einer Münze, aber ohne dessen Prägung.
Ich sage Stickerei und Prägung: die Unübersetzbarkeit einer
Sprache in eine andere gilt also nur eingeschränkt. Man
sagt, unübersetzbar seien Gedichte, weil deren Eigentüm-
liches bestimmt sei von einer Abfolge unnachahmbarer
Klänge. Diese Meinung sieht das Wesentliche nicht. Ich ver-
suche, es in eine brauchbare allgemeine Formel zu bringen.
24.
Die Physiker unterscheiden eine kinetische und eine poten-
tielle Energie, bezeichnen mit dem ersten eine aktuaUter
ausgeübte Kraft, mit dem zweiten eine Kraft, die ein Kör-
per auszuüben in der Lage ist. Diese Terminologie, auf die
Sprache angewendet, stellt sich das literarische Mittel *dar
als eine gradierte Mischung von kinetischem und poten-
tiellem Sprechen, Kinetisch ist und nichts als das die AX/"ort-
folge: der Zug geht um 8 Uhr 20. Eine rein kinetische
Sprache gibt es als literarisches Mittel nicht, auch nicht
in der absurdesten Romanprosa. Nichts als potentielle
Sprache gibt es literarisch nicht, denn man kann aus
Worten keine Musik machen, oder Worte eines Gedichtes
werden, mir vorgelesen, bloße Klanggebilde dann, wenn ich
die Sprache des Gedichtes nicht kenne. Jede literarische
Sprache jeder Zeit und jedes Volkes ist Mischung aus kine-
tischer und potentieller Sprache: Grad und Energie dieser
Mischung sind variabel im Werke sowohl w^ie in den
Literaturen der Zeiten und der Völker.
25.
Dem Liede oder der Ballade, deren Sprache sich dem Kine-
tischen sehr annähert, ist das Potentielle durch die in
Rhythmus und Reim mitschwingende Musik gegeben. Ohne
diese Musik, etwa in Prosasätze aufgelöst, wäre die grobe
Kynesis von ,,Über allen Wipfeln" eine Banalität, als welche
das Lied oft jenen erscheint, die es nicht zu hören ver-
meinen. Auf die dvirch Rhythmus und Reim beigebrachte
222
potentielle Qualität verläßt sich auch immer der Dilettant
in der Herstellung seiner Gedicht -Erzeugnisse. Das anzu-
deutende Extrem ist die Primadonna, welche mit höchster
Wirkung das Alphabet singt.
26.
Zur Vermeidung des Mißverständnisses unserer Termino-
logie, daß damit als literarisches Sprachmittel jenes be-
zeichnet sei, das eine doppelte Meinung habe, also allegorisch
sei, hat Robert Musil für potentiell das Wort irisierend
vorgeschlagen. Ich zitiere es, um damit das Gemeinte deut-
licher zu machen. Es hat die Formel nichts mit der Alle-
gorie zu tun, auch nicht mit dem bewußten Symbolismus.
Sie betrifft nicht die Dinge, sondern die Worte selber, in
deren Wahl, Ordnung und Melos man die Verbindung kine-
tischer und potentieller Sprache zu erkennen hat. Dies wird
deuthch im Falle der Übersetzung aus einer Sprache in
eine andere. Ohne jeden Verlust ist rein kinetisches aus
jeder Sprache in jede Sprache übertragbar. Aber potentielle
Sprache wäre es nicht, sondern wäre kinetisch, wenn sie
sich anders ausdrücken ließe als durch sich selber. Die
Übersetzung eines Gedichtes gibt nur dessen kinetischen
Gehalt, den ,,Sinn", wieder, und der ist das wenigst wert-
volle des Gedichtes. Die bedeutendste Leistung deutscher
übersetzter Kunst, Borchardts Dante und Swinburne sind
Gedichte Borchardts — Dantes und Swinburnes nur in der
philologischen Bedingtheit, nicht in der ästhetischen.
27.
Je näher ein Gedicht dem kinetischen Sprechen kommt,
um so größer ist seine Popularität und umgekehrt: je stärker
die potentielle Sprache eines Gedichtes ist, um so ,, unver-
ständlicher" wird es für die Menge, welche sich nur des
kinetischen Sprechens bedient in der Vorbringung von Fakten,
Situationen, Geschichten. Da die Prosa in der Regel einen
größeren Teil kinetischen Sprechens enthält als potentiellen,
ist die Prosa mehr gelesen als das Gedicht. Im Zeitlichen:
was ehmals potentiell war, verliert dies: das ganze 18. Jahr-
223
hundert beurteilte das elisabethanische Drama kinetisch:
dieses hatte in diesem Zeitalter seinen potentiellen Charakter
verloren, um ihn erst durch die kritische Restauration Lambs
wieder zu gewinnen. Die außerordentliche Popularität des
Verses im 18. Jahrhundert verdankt er seinem starken
kinetischen Charakter, der das Potentielle fast gänzUch ver-
drängte. Das Extrem des Gedichtes im 18. Jahrhundert
ist schlechte Prosa. Das Extrem des symbolistischen Ge-
dichtes — nommer un objet, c'est supprimer les trois quarts
de la jouissance du poöme, qui est faite du bonheur de
deviner peu ä peu, le sugg^rer, voilä le reve (Mallarme) —
ist völlige Entsinnung zugunsten einer suggestiven Musik.
28,
Voltaire würde das fast rein kinetische seiner Gedichte als
das gute Gedicht bezeichnet haben, wie es Mallarm6 mit
seinem fast rein potentiellen Gedichte tat. Dieser hat jenes
schlecht, jener hätte dieses schlecht genannt. Wer die
Formel von kinetischem und potentiellem Sprechen ge-
braucht, vergesse nicht, daß es sich immer um eine Relevanz
handelt.
29.
In einem frühern Paragraph dieser kleinen Grammatik ist
gesagt, daß der Gedanke immer um ein kleines dem Worte
vorhergeht, dem bestimmten Worte, das ihn dann ausdrückt.
Das wird ketzerisch jenen vorkommen, die aus den Worten
denken, besser noch: welche die Worte denken lassen,
durch eine Wortwüste schwimmen, von einer Wortoase zur
andern, d, h, sich von stark mit Assoziationen geladeneu
Worten diktieren lassen, was sie zu denken haben. Dies
ist nur eine zeitgemäße Notierung. Denn in früheren Zeiten
wäre kein Anlaß gewesen, so Selbstverständliches auszu-
sprechen. Was auch von den folgenden Paragraphen zum
Kapitel StU gilt.
30.
Der Stil ist des Menschen, sagte Buffon. Er meint, er sei
das Zeichen einer menschlichen Intelhgenz und Sensibilität,
224
^ / .v"-'-:V.:';-':
o
H
o
also der Person zugehörig und änderbar nur mit dieser.
Die Physiologie bestimmt ihn gewiß stärker als Lernen und
Belehrtwerden. Die Zahl des Gegenständlichen in der Kunst
— ,, Motiv", „Sujet", ,, Problem", ,, Inhalt" — ist sehr be-
schränkt, aber unbeschränkt ist die Zahl der Personen,
welche diese Gegenstände denkend variieren. Daß die nach-
goetheschen Faustdichtungen nichts taugen, liegt nicht an
der banal gewordenen Fabel, sondern an der gewollten
stilistischen Imitation der Epigonen.
31.
Es gibt keine Überlegungen des Stiles. Er kommt dadurch
nicht zustande, daß man seiner bedacht ist. Man sieht,
empfindet, denkt und — riskiert die Mitteilung, das ist
alles. ,,Der große Schriftsteller," sagt Emest Hello, ,,gibt
seinen Stil, das beißt sein Wort." Aber immer ist auch an
des Naturforschers Wort ,,le style est l'hommc meme" zu
denken, der die Artikulation des Wortes in Abhängigkeit
bringt von besonderer Art des Schnabels, Befestigung der
Zunge, Diameter der Kehle, Kapazität der Lunge.
32,
Man spricht von einem visuellen und einem emotiven Ge-
dächtnis. Welche bloß das erste besitzen, werden von einer
Landschaft die Erinnerung eines mehr oder weniger deut-
lichen Bilds bewahren. Der Emotive wird sich bloß der
Empfindungen erinnern, welche der Anblick der Landschaft
in ihm auslöste. In glücklichen Fällen gibt es eine sich
das Gleichgewicht haltende Mischung beider Gedächtnisse.
Wo das Visuelle dominiert, dort wird man einen stärkeren
Stilwillen merken können, und dort, wo das Emotive stärker
ist, wird, was man Stil nennt, auf den zweiten Platz rücken,
wohin es gehört. Es ist außer Zweifel, daß die Visuellen,
arbeitend wie Maler in Kombinationen von Farben und
Worten, intellektuell jenen unterlegen sind, welche für die
Dinge die Zeichen substituieren und sie ohne Intervention
von Sensibilitäten mitteilen: denn dieses ist die höchst-
mögliche Leistung dann, wenn, der sie übt, diesen Zeichen
15 225
seine eigene Sensibilität zu geben vermag, kraft derer sie
allein den Sinn bekommen. Die Worte und Sätze werden
lebendig nur von dem Leben dessen, der sie braucht, nicht
aber sind sie es schon durch die in ihnen angehäufte
Sentimentalität, was sie zu Klischees macht. Rilke ist der
umfangreichste Dichter dieser Klischees.
33.
Der Anfänger achte darauf, daß die Worte nicht nur eine
plastische und eine emotionale Eigenschaft haben, daß sie
nicht nur klingen und mehr oder minder selten sind, son-
dern daß sie ihre Rasse haben; und daß viel auf die Rein-
heit ihrer Rasse ankommt, denn in ihr liegt der Eigenwert
des Wortes.
34.
Den Stil bestimmt die Struktur des Denkens: das Material
der Fakten erhält das Denken von dem, mit dem es in
Beziehung steht. Dieser Gedanke Taines ist der frucht-
barste zu der ganzen Angelegenheit,
35.
Der Vergleich, heute von denen meist unglücklich geübt,
welche, man weiß nicht warum, Kampf der Metapher an-
kündigen, ist die Elementarform der visuellen Phantasie.
Er ist, Vorläufer der Metapher, eine Metapher, in der beide
Vergleichspunkte genannt sind. In der Metapher ist nur
ein Vergleichspunkt genannt. Homer hat keine Metaphern,
So wenig wie die älteren Veden, die ganz symbolischer
Ausdruck sind, wie alles Sakrale. Die Metapher ist durch-
aus modern. Erst die modernen Dichter, ganz entsprungen
dem Gefängnis des Wortes und doch dessen Mal wie ein
Sklavenzeichen tragend, können lügen, Flaubert kann lügen,
Homer nicht. Der Moderne opfert die visuelle Logik der ima-
ginativen Logik. Der Moderne vermag das doppelte, dreifache
gleichzeitig auftauchende Bild bei der Idee eines Faktums
nicht zu dissoziieren. Der Antike sieht, die Märtyrerin mit
226
der Taube vergleichend, die Seele der Jungfrau als Taube
zum Himmel fliegen. Die Kinder werden mit Engeln ver-
glichen, also werden sie Engel im Himmel, wenn sie sterben.
Die ersten schüchternen Metaphern schufen, falsch ver-
standen, sekundäre Mythologien. Jedes Klischee war einmal
eine neue Metapher. Diejenigen, die heute gegen die Metapher
sind, gebrauchen sie trotzdem und unfähig, neue zu bilden:
Klischees.
36.
Das Klischee auszuschließen, ein solches Verlangen würde,
erfüllt, jeden Satz rätselhaft machen, so sinnlos wie die
Forderung nichts als potentieller Rede im Gedichte. Man
muß nur die Scheiben der alten Laterne putzen und sie
richtig halten, dann kann sie besser leuchten als ein
neuerfundenes Patentstreichholz. Man soll nur Worte ge-
brauchen, deren Sinn man gut kennt, das heißt den sym-
bolischen Konnex mit der Realität. Die naive Dummheit
ist weit wertvoller als die falsche Gcscheutheit. Jeder Stil
ist nur so viel wert wie der Gedanke, den er mitteilt.
Alle gut gedachten Werke sind auch gut geschriebene.
Aber der Satz gilt nicht in seiner Umkehrung. Man darf
sich nicht schreiben hören (wie die deutschen Wildes).
37.
Jemand schreibt ,, einen klassischen Stil". Das wird ge-
wöhnlich über Leute schulmeisterlicher Art ausgesagt, die
gar keinen Stil haben, also überhaupt nichts zu schreiben
haben. Diese Leute haben schreibend immer ihre Sonntags-
kleider an und fordern die Aufmerksamkeit dafür vom Leser.
Da ist keine Zeile, die den Eindruck macht, als ob sie
sich selber geschrieben hätte. Solches Schreiben ist der bis
ins Greisenalter perpetuierte Schulaufsatz, den abzuschaffen
höchste Zeit ist, wenn die Kunst des Schreibens gerettet
werden soll.
38..
Die Prosa ist ihrem Wesen nach und aus ihren großen
Künstlern dahin definierbar, daß der Prosaist zwei Funk-
IS* 227
tionen erfüllt: er integriert in die geschriebene Sprache alles
das aus der gesprochenen Sprache seiner Zeit, das ihm er-
halten zu bleiben wertvoll dünkt. Dies ist die eine Funk-
tion. Die andere ist: er formt Grammatik und Syntax über
die subtilsten und lebendigsten Bewegungen seines Denk-
Fühlens, seines und dessen seiner Zeit. Er wählt und
verwirft nach einem unbekannten, aber ihm geläufigen
Gesetze.
228
QUELLENSCHRIFTEN DES BESTIARIUM
Es erübrigt sich, den interessierten Leser auf seine
Lieblingsbücher zu verweisen, als da sind des Herrn
E. Engel ,,Historia Naturalis der teutschen literarischen
Fauna im 19. Jahrhundert, aus dem Genius der teutschen
Sprache, wie ich sie rede, erfaßt". Oder des Herrn Bartels
"Werk ,,Die Deutschen Literatiere nach ihren Nasen be-
trachtet". Oder des Herrn Richard M, Meyer ,, Einer- und
anderseitige Literatur des 19. Jahrhunderts dem deutschen
Gemüte nach". Oder der ähnlichen Bücher von Kluge,
Koch usw. Es werden im folgenden Quellennachweis viel-
mehr nur Schriften aufgeführt, die sich spezialisiert mit
dem Gegenstande befassen. Und auch hier war Auswahl
geboten. Denn Tag um Tag kommt hier Neues an den Tag,
den es heute nicht zu scheuen braucht. Zahllos sind die
staatlichen Institute oder Seminarien, in denen sonst be-
schäftigungslose junge Leute aller Geschlechter von den
dazu Berufenen in der Erforschung unserer Tiere durch
Woit, Zuruf, Schrift und ermunterndes Beispiel angelernt
werden. Man arrangiert Ausflüge zu den kürzlichen Ge-
burtsstädten modemer Dichter, deren glückliche Mütter sich
oft nicht scheuen, das Wochenbett zu verlassen, in dem
sie noch von dem Dichter liegen, um die wissensdurstige
Schar zu empfangen. Man veranstaltet Bierabende und
Kegelschieben, um die noch Säumigen auf diesem Umwege
zur Kenntnis der modernen Literatur zu bringen. Aber
nicht nur die offizielle Wissenschaft ist fieberhaft tätig.
Jeden Tag bringen auch die Gazetten neue Details. Vor-
träge überstürzen sich. Preisaufgaben stoßen sich im Räume
— kurz, es ist überwältigend zu sehen, mit welchem Eifer
sich eine Nation mit ihren Tieren beschäftigt. Hier also nur
aus erdrückender Fülle eine kleine Auswahl der wichtigsten
Ergebnisse solchen Eifers.
231
Sainie-Beuve, Causeries du Lundi. Tome 47. SS. 125 bis
210. Artikel La Weigand.
Schienther, Paul, Das Nu nu - nee nee des Gehauptmann.
Berlin. Bondi 1900.
Swinburne, Short Notes on the character of the Borchardts
Melodies, In: Miscellanies. London 1890.
Catonis Ut., De Borchardti Moribus Libri Tres, Edit.
J. Zeitler. Lipsiae 1899.
Carol Smith, Die Darmverschlingungen des Däublers. Mün-
chen 1909.
Liegler, Die Fackelkraus und das ABC. "Wien, Lany 1920.
Sully Prudhomme, La George. Paris 1890.
Paul Cassirer, Das letzte Hasenclever. Berl. Diss. 1920.
Brenner, D., Der Hecker. Eine Monographie. Innsbruck o, J.
Hille, Peter, Die Anthuma des Laskerschülers. Berlin 1880.
Friedenthal, Dr. J., Die Verdauung des Heinrichmanns,
Deutschlands größtem Holzkäfer. Berl. Tageblatt passim.
Noske, Die Pfemfert in Gefangenschaft. Vorwärtsverlag.
Aovxiavov 2a[i. üeqi xov BXeitjß ^lyß^vdiov AiaXoyoq. Gr.
et Lat. c. not. edit. Philipp Funk. Kempten 1919.
Schmitz, O. A. H., Der fromme Bock von Salzburg. Inns-
bruck, Tyroliaverlag o. J.
Antonius Escoba.r S. J., De Scheleri virtutibus et vitiis
tractatus. Lugdin. 1665.
Johannes Negelinus, Schattenrisse. Leipzig 1913.
Flaischlen, C, Das Nee nee - nu nu des Gehauptmann. Habili-
tationsschrift. Berlin.
Stünzi- Käsly , Das Zahn, ein Schweizer Original- Export-
Artikel. Luzern 1900.
Gräfin 1. Hahn-Hahn, Die Rilke und der Salon. ,, Die Dame."
Jänner 1915.
Salz, Dr., Über die Selbstdurchbohrung des Kassners.
Sitzungsbericht der Bayer. Akademie der Wissenschaften.
Oktober 1917.
Sombart, Prof. W., Das Rathenau, die Juden und der Ka-
pitalismus. Berlin 1918.
232
Zuckerkandel, Frau Prof., Observationes de ranis et lacertis.
Tur. 1916. PP. 210 bis 211. De Unruh rana.
Bleibtreu, Historia maris alpini et vetus vocabularium ani-
malium. Monach, 1888. Pag, 702. De Conrado.
Tschurischenialer, Sepp, S'Adel\^^oaß, eine Sammlung scherz-
hafter Vierzeiler auf das Schönherr. Heimatverlag Partsch
in Tyrol.
W. V. Molo, Des Thoma's Mist, ausgewählt und eingeleitet.
München, A. Langen, 1918.
Herzl, Dr. Theodor, Buber Hakkadosch. Brombergische
Druckerei in Venedig, o. J.
Starke-Siranitzki, Hof rat Prof. Dr. Ottomar, Das Sternheim
und seine Schippeliana. Leipzig, K. WoUf, 1909.
Lauer, Dr. Kamillo, Über den Brauch der Wiener Haus-
meisterinnen, sich eine Wildgans als Singvogel zu halten.
Urania- Vortrag, 1915.
Brombacher, Dr. Hugo, Des Stemheims invertierte Gang-
art unter Vermeidung der Artikulation. K. Wolff Ver-
lag 1919,
Habich, Hoffriseur, Das Tovote-Öl, den durch den Suder-
mann erzeugten Ausschlag wohlriechend zu machen.
Berlin o. J.
Strauß, Richard, Die Kunst, aus dem Hofmannsthal Musik
zu schlagen. Mit vielen Beispielen, Forstner, Leipzig.
Hebbel, Friedr., Der Paulernst, in: Hebbels sämtliche dra-
matische Werke,
Oppenheimer, Ibsenspirillen im Bindegewebe des Paulernsts.
Berliner Mediz. Wochenschrift, 18, 6, 1913.
Martersteig, Geheimrat, DerEmsthardt, Deutschlands Riesen-
kolibri. Leipziger Tageblatt 17. i, 1910.
Brulat, Paul, L.dL Kolbannette, une französische-allemande
Nobleziege et ses herzliche aspirations dans la Frage de
l'humanite deutsch-fran?aise mixte. Genf. Edit. Carmel 1916.
Benedikt, Moriz, ehem. österr. Herrenhausmitglied, Synopsis
reptilium emendata. Viennae, o. J.
Conrad von Hötzendorf, Das Meyrink, ein Schandfleck der
k. u. k, Armee. Danzers Armeezeitung, Febr. 1912,
233
Derselbe, Meine strategischen Pläne gegen das Meyrink,
ebenda März 1912 etc. etc. etc.
Kutscher, Prof. Dr. Arthur, Rassenaufzucht aus der Halbe
durch Kreuzung mit dem Wedekind. Münchner semi-
naristische Übungen, Sommersemester 1912.
Muncker, Prof. Dr. Franz, Der Thomasmann in seiner Be-
ziehung zu Klopstocks Züricher Wohnung an der. Schiff-
lände. Lit. Centralblatt Nr. 110, pp. 378 bis 380.
Borchert, Dr. Privatdozent, Das Gehauptmann und die
sozialphilosophische Gedankenwelt in Schreiberhau und
Umgebung. Lehmanns Verlag, München 1919.
Bölsche, Wilhelm, Mein Liebesleben mit der Natur, Scherl
Verlag o. J.
Derselbe, Vom Affenmenschen bis zu Bruno Wille. Ebenda o. J.
Martens, Kurt, Das Z'o la la des Heinrichmanns. Der
Zwiebelfisch, Februar 1916.
Rapaport-Mosse, Dr., Oberrabiner, Die Bedeutung des So
Mbart für die religiöse Kultur der Juden. Krotoschin.
L J, 2234 (1912).
Pastor 7h. Hecker, K. Kraus der Vollender Kierkegaards.
Brennerverlag 1912.
B. A. Fuchs, De iridibus doctrina Schelerae certa methodo
comprehensa, explicata et tarn necessariis demonstratio-
nibus quam moralibus et politicis aucta a B. A. F. Mo-
nach,, Oldenburg 1915.
A. W. Heymel, Ein Dutzend Wiegenlieder zu des Hofmanns-
thals 40. Geburtstag. Privatdruck in einem halben Exem-
plar. Auf Pergament. (1913).
Cohn, S., Die Lebensgeschichte der Handelmazette. Linz,
Herz Jesu-Verlag, 1912.
Baco de Verulamio, De Ventis, Lugd, Bat. 1662. P. 96.
Hasenclever.
Dr. H. Simon, Die Entdeckung des Edschmids. Mit Zeich-
nungen von O. Gulbransson. Verlag der Clart^. O. J.
Krawutschke, Friedr. Wilh., Die Freksa und der Genius
des deutschen Volkes. Verlag der Davidis Kochbücher,
234
Pringsheim, Die familiären Antinomien des Thomasmanns.
Bonner Diss. 1920.
Fischer, Johannes, De terris coelestibus earumque omato
conjuncturae. Hitzingiae 1918. PP. 570 ff: Gütersloh.
Spengler, Prof., Der Untergang des Abendljindes, München
1919.
Dalago, Carl, Die Fackelkraus, ein Vorschlag zur Papst-
wahl. Innsbruck 1914.
Auemheimer, R., Meine Siege auf Schnitzler. Erinnerungen
emes Achtzigjährigen. Wiener N. F. P. Nr. 2760 ff.
Siaackmann, De bacilli imbecilli varietate nominum, Lip-
siae s. d.
Idetn, Catalogus bacilli imbecilli nominum in Germania pro-
venientium. Lipsiae s, d.
Wolters, Fr., Ist die Wolfskehl operabel? München. Med.
Wochenschrift. Febr. 1912.
Patt«, Verzeichnis von 2768 Grammophonplatten. Arien
des "Werf eis.
Schleich, Strindberg der Entdecker des Schwefels. Berlin
1910.
Schering, Strindbergs benutztes Toilettenpapier, gesammelt,
übersetzt und herausgegeben. Zehn Bände. 1917 — 1921.
235
BIOGRAPHISCHE BELUSTIGUNGEN
DIE beim deutschen Volke beliebtesten Literaturge-
schichten stellen den Inhaltsangaben der respektiven
"Werke immer eine Erzählung des Lebens ihrer Verfasser
voraus, kürzer oder länger, je nach der Beliebtheit. Manche
gehen weiter und verflechten Werk und Leben des Belle-
tristen oder Dichters in ein Ganzes, wobei das private Leben
immer dort den Faden aufnimmt, wo dem Historiker der
ästhetische Faden ausgeht oder umgekehrt. Der Erfolg des
großen Bestiarium sollte nicht unter dem Mangel solcher
biographischer Belustigungen leiden. Wir haben sie vom
kritischen Teile sauber abgetrennt und geben sie in der
essentiellen Form der Anekdote. Zu einer umfangreicheren
Konzession konnten wir uns nicht entschließen. Einerseits
sind wir, wie man sieht, theoretisch anders verpflichtet,
andrerseits fürchteten wir, bei näherer Kenntnisnahme des
Lebens unserer Verfasser das geringe Interesse, das sie uns
einflößen, ganz zu verlieren. Mit den Anekdoten taten wir
unser Möglichstes. Ultra posse, nicht wahr?
*
Ein junger revolutionärer Literat rief: ,,Ich brauche zehn-
tausend Bourgeoisköpfe!" — ,,Ich würde mich mit dem Ihren
begnügen", sagte Rudolf Kassner,
*
Jemand fragte Arthur Schnitzler, der aus einer Gesellschaft
kam, wie er sich unterhalten habe. ,,Ohne mich," sagte der
Plauderer, ,, hätte ich mich sehr gelangweilt-"
*
In Wien wurde einmal der Nachlaß einer wegen ihrer Lieb-
schaften mehr als wegen ihrer Kunst berühmten Schau-
spielerin öffentlich versteigert. Einige bejahrte Damen fanden
239
entrüstet, daß die Preise zu hoch gingen, ,, Diese Damen,"
sagte Franz Blei, ,, hätten die Sachen am liebsten zum
Selbstkostenpreis. ' '
Bei der Aufführung eines Stückes von Georg Kaiser sagte je-
mand: ,, Das Stück ist sehr schmeichelhaft für Carl Sternheim."
*
Es war Schickele, der einmal die Annette Kolb le plus
honnete homme du monde nannte. Die selbige Annette
nannte jemand in Bern, als sie große Sympathien für den
Kommunismus zeigte, die Precieuse radicale.
*
Auf den ehrgeizigen Carl Sternheim hat man folgendes
Epitaph verfaßt: ,,Hier ruht Carl Sternheim. Es ist der
einzige Platz, nach dem er nicht gestrebt hat."
*
In Berlin trat ein sehr mageres Tanzpaar auf. Wedekind
sagte: ,,Es ist, als ob zwei Hunde um einen Knochen rauften."
*
Oscar Wilde wollte einen Roman über die Blutschande
schreiben und ihn Jean Lorrain widmen als ,,Dem Ein-
zigen, der mich verstehen kann". „Aber," sagt etwas kon-
sterniert Lorrain, ,,ich habe gar keine Schwester." — ,,Mein
Lieber, haben Sie nicht Ihre alte Mutter?"
*
Jemand traf Carl Sternheim allein in den Isarauen spa-
zieren. ,,"W"as machen Sie da, Herr Sternheim?" — ,,Ich
unterhalte mich mit mir selbst." — ,,Dann seien Sie auf
der Hut, Herr Stemheim, Sie unterhalten sich mit einem
großen Schmeichler."
K. Edschmid las an einem Morgen seines achttägigen
Pariser Aufenthaltes im Petit Journal, daß nachts vorher
in der Rue Frochot eine Rauferei gewesen und dabei ein
persischer Untertan verhaftet worden sei. Edschmid war
es so, als hätte er vor zwei Tagen eine Gasse passiert, die
240
er Rue Frochot las. Er pflegt seitdem gern zum Beweise
seiner Lebenserfahrung seine Rede mit den Worten ein-
zuleiten: ,,Ich, der ich mich in Paris mit Persern stach ..."
*
Wedekind betrat ein Speiselokal, dessen alle Tische besetzt
waren, bis auf einen, an dem nur Halbe saß, mit dem er
gerade ,,bös" war. Er ging trotzdem auf den Tisch zu,
fragte, ob hier Platz sei. ,,Ich pflege allein zu essen", sagte
Max knurrend. Wedekind wies auf den Kalbskopf, den der
berühmte Dramatiker verspeiste und sagte: ,,Aber, Sic sind
doch bereits zwei, Herr Doktor Halbe."
•
Es war der neue Roman ,,Das Herz in der Faust" von
Ganghofer erschienen, und der Dichter wiirde von seinem
kaiserlichen Herrn im Hauptquartier empfangen mit den
Worten: ,,Das war wieder mal ein Schu& ins Schwarze, mein
lieber Ganghofer." — ,,Wir tun alle nur unsere gutdeutsche
Pflicht", sagte schlicht der Verfasser. Die gerade anwesende
Kaiserin zerdrückte gerührt eine Träne.
*
Franz Werfel wurde im Kriegspressequartier damit beatif-
tragt, Worte und Aussprüche zu erfinden, die Kaiser Karl
bei öffentlichen Anlässen von sich geben könne. Werfel
erfand mit vieler Freunde Hilfe eine Menge. Das beste
Wort aber machte der viel mehr als witzige Anton Kuh: ,,In
meinem Reiche geht die Sonne nie auf."
*
Altenberg trifft auf der Straße einen seiner vielen ihm un-
bekannten Bekannten und wird zum zweiten Frühstück
eingeladen. Herr Buda macht auf Altenberg einen nervösen
Eindruck und erklärt das damit, daß er zehntausend Kronen
in der Tasche habe. Er woUe sie nachher auf die Bank
tragen. Peter A.: ,,Auf die Bank? Um von einem schmie-
rigen Kommis darüber eine schmutzige Quittung zu er-
halten? Für zehntausend Kronen bekommen Sie das schönste
Mädchen von Wien, das Ihnen und Ihnen allein ihr Lächeln
16 241
schenkt, ihre Seele, ihren süßen Leib. Und die Bank?
Kauft Papiere dafür, die Sie schlaflose Nächte kosten, die
Sie, auch schlaflos, aber wie anders, in den Armen . . ."
Altenberg redet sich in Ekstase, Herr Buda springt auf,
er werde in zehn Minuten wieder zurück sein. Herr Buda
kommt zurück. ,, Meine Nervosität war zu groß. Ich habe
mein Geld auf die Bank getragen. Ich hab nur zwanzig
Kronen zurück behalten." — ,, Zwanzig Kronen? Dafür
können Sie das schönste Mädchen von Wien haben." —
„Was für ein Mädchen?" — nVon dem ich Ihnen vorhin
erzählt hab, das schönste Mädchen von Wien, nur viel
jünger."
Jemand, der viel von Altenbergs Witz gehört hatte, setzte
sich an seinen Tisch. Peter schwieg eine geschlagene
Stande lang. Der Herr äußerte sein Erstaunen. Darauf
Altenberg: ,,Ich glaube, Sie verwechseln mich mit dem
Doktor Frieden."
*
Flake sagt, daß ihm ein Manuskript gestohlen worden sei.
Schickele bemerkt: ,,Der Dieb kann nur einer sein, der
nie was von dir gelesen hat."
*
Wilhelm II. hatte nach Sanssouci seine Tafelrunde geladen:
Lauff, Ganghofer, Herzog, den Dichter von Charleys Tante
und Leoncavallo. Clewing hatte seine Gitarre mitgebracht,
daher bliesen Majestät nicht die Flöte. Sonst aber war
alles fridericianisch.
Wedekind war in Komplimenten nicht glücklich. Einer
Schauspielerin, welche in der Rolle der Kleopatra aufge-
treten w^ar und meinte, für die Rolle müsse man schön
und jung sein, sagte Frank: ,,Nun, meine Gnädige, Sie
beweisen das Gegenteil."
*
Schüchtern wie Wedekind war, fiel er immer mit der Tür
ins Haus und manchmal auch gleich durch das ganze Haus
242
durch. Manche seiner Tischdamen werden sich seiner stereo-
typen Frage nach der ersten halben Stunde Schweigens
erinnern: „Mein Fräulein, sind Sie noch Jungfrau?" Von
einer Siebzehnjährigen bekam er einmal die Antwort: „In
Ihrer Gesellschaft bliebe ich es bestimmt bis an mein
Lebensende."
Dem höchst fruchtbaren und redseligen C. Hauptmann ent-
schlüpfte in einer Gesellschaft ein Geräusch. Jemand sagte:
„Dieser Ton von ihm ist mir lieber als wenn er redet."
*
"Wedekind lag an einem gebrochenen Bein zu Bett und
Halbe besuchte ihn, trotzdem man ,,bös" war. Man ver-
söhnte sich. Als Wedekind wieder ausging, begegnete ihm
der berühmte Verfasser schöner Stücke, der ihn grüßte.
Wedekind sah in die Luft. ,,Aber Frank, wir haben uns
doch versöhnt!" — ,,Das war nur für den Sterbefall, Herr
Doktor Halbe", sagte Frank und ging weiter.
*
Schnitzler sagte: ,,Als Redakteur der Schönen blauen Donau
hat mich Rudolf Lothar in die Literatur gebracht, jetzt hätte
er mich allerdings lieber w^ieder draußen."
*
Hermann Bahr wollte vor Jahren eine Reise nach Rußland
machen, hatte aber nicht genug Geld. ,,Ich schreib halt
erst die russische Reise und fahr für das Honorar hin,
nachschaun, ob's stimmt." Damit ist H. Bahr auch, wie
alles sonstigen Modernen, der Stammvater des Expressio-
nismus geworden.
Vom Nebenzimmer aus vernahm man Geräusch eines leb-
haft geführten Gespräches, das Carl Stemheim und ein
sächsischer Diplomat miteinander führten. Und zwar über
Marx. Erst nach eineinhalb Stunden kamen die beiden
Herren darauf, daß Stemheim den Marx, Herr von N. den
Max von Baden gemeint hatte.
16* 243
Max Halbe wurden in einem Berliner Hotel die Stiefel ge-
stohlen. Er depeschiert seiner Frau: „Stiefel gestohlen,
kann nicht reisen." Antwort von Frau Halbe: „Unbegreif-
lich. Nimm sofort besten Anwalt."
Frieden stand vor einer gerahmten Sache, auf der mit blauer
und roter Ölfarbe Kreise und Elipsen gemalt waren. Der
Maler erklärte, das sei Ragusa. ,,Da sehen Sie", sagte
Fridell, ,,wie ich von Kunst gar nichts verstehe. Ich hätte
das für Spalato gehalten."
■k
An dem Tage, da der achtzehnjährige Lyriker T. Kriegs-
minister w^urde und zum ersten Male mit einem Porte-,
feuille — . Wie? Aber die Anekdote ist ja schon zu Ende,
meine Herren.
Franz Hessel hat lang in Paris gelebt und Heimweh da-
nach. Ich treffe ihn in München, es scheint die Sonne.
Aber er hat den Regenschirm aufgespannt, die Hose auf-
gekrempelt. ,, "Warum denn, Herr H.?" — ,,Es regnet in
Paris," sagt er.
November 19 sagte Sternheim: ,,Man kann schon wieder
mit Paris verkehren." Meine Bemerkung, es dürfte noch
Peinlichkeiten haben, überhörend, fährt er fort: ,,Ich habe
gestern zwei Hypotheken nach Frankreich vergeben."
*
Als d'Annunzio, il Imaginifico, in seiner Villa in Cappon-
cina w^ohnte, kam er jeden Sonntag mittag in schneeweißem
Anzug auf alabast er weißem Schimmel auf den Marktplatz
geritten und hörte da, unbeweglich er und das Pferd, der
Musik der Dorf kapeile zu. ,,Signore Gabriele probiert sein
Monument," sagten die Bauern.
*
Als Wilde im Sterben lag, sagte ein Bekannter zu ihm:
„Wenn Sie droben im Himmel meine Frau sehen, sagen
244
Sie ihr — " Wilde unterbrach: „Ach besorgen Sic doch
Ihre Angelegenheiten selber."
*
Einige Wochen nach einer Börsenhausse erzählt Sternheim
bei dem Dichter E. A. Rheinhart: „Ich hab da ein paar
Literaten Tipps gegeben, und sie haben ganz nett verdient.
Mein Gott, keine großen Summen, aber für einen Literaten
ganz nett."
245
VERABSCHIEDUNG DES LESERS
AUCH das Beste inu& einmal zum Schluß kommen.
. Zumal Dickleibigkeit dem Bestiarium im guten Fort-
kommen nicht hinderlich sein soll. Aber es wird demnächst
der Vorhang aufs neue in die Höhe gehen und agiert soll
werden: Neue Gespräche Goethes mit Eckermann. Mit
allerlei Scherz- und Zwischenspielen. Man sei aber immer
an das gute Wort von Chesterton erinnert, das lautet: It
is better to speak wisdom foolishly, like the Saints, rather
then to speak folly wisely, like the Dons. Unzufriedene
werden sagen, daß sie hier die Weisheit vergeblich suchten.
Denen aber sage ich mit dem Apostel: ,, Nicht daß ich es
schon ergriffen hätte oder schon vollkommen sei, ich jage
ihm aber nach, ob ich es auch ergreifen möchte." Wobei
mir einfällt, daß ich diese Verabschiedung des Lesers recht
eigentlich mit Zitaten füllen könnte, da Zitieren einen kennt-
nisreichen und gebildeten Eindruck macht und der Leser,
zumal der deutsche, solchen Eindruck liebt. Nahe liegt da
Jean Paul mit dem Satze: ,, Ideen sind unser Schwert, die
Literatur unser Schlachtfeld." Etwas weiter hergeholt, aber
passend ein Satz aus dem Novum Organon des Bacon:
,,Intellectm non plumae, sed plumbum addenda", was ich
übersetze: ,,Dem Geiste tut nicht Federn (Karl), sondern
Blei (Franz) not."
Das Bestiarium ist, ich weiß es, der Gefahr ausgesetzt, von
den Witzbolden mißverstanden zu werden, zumal bei uns,
wo mangels esprit der Witzbold so heimisch ist wie der
Trauerbold, jener von diesem durch einen untiefen Ab-
grund getrennt, über den das fragliche Gebilde des deutschen
246
Humores die Brücke zu schlagen versucht. Ich weiß mich
jedes Humores gänzlich unschuldig. Ich bin mehr für die
fröhliche Weisheit des Lächelns, jene gentilezza des Lächelns,
welche den Lächelnden in das Belächelte einschließt. Dazu
gehören als Voraussetzung Freiheit und Froheit des Geistes,
Gefühl guten Blutes, nachbarlicher Anstand, liebwerte Sitten,
— lauter Tugenden, die, wie man weiß, die heutigen Deutschen
in so hohem Maße besitzen.
Nun sage ich Adieu. Der Mannigfaltigkeit dieses Inhaltes
wenigstens eine äußere Einheit zu geben, folgt hierauf ein
von Katja Schatzberger genau angefertigtes Register der
Personennamen, Edschmid neben Homer, Bonseis neben
Goethe und Karl Kraus neben
Ihrem Diener
Fr. Blei.
247
REGISTER DER EIGENNAMEN
Abraham a St. Clara 130.
Alexander d. Gr. 180.
Altenberg 17, 241, 242.
Anakreon 186.
Andrian 18.
d'Annunzio 17, 40, 244.
Archilochos 186.
Archimedes 149.
Auernheimer^ R. 18, 235.
Aurelius Ambrosius 194.
Avenarius, Richard 18, 191.
Baco von Verulam 234, 246.
Bahr, H. 18, 243.
Beer-Hoffmann 19, 68.
Barres, M. 19.
Bartels, A. 19, 231.
Bauch, Prof. 68.
Baudelaire 12.
Baudisch, O. 19.
Baumgarten, F. F. 51.
Becher, J. R, 20.
Beethoven 128,
Bekker, P. 191,
Benedikt, M. 234.
Benn, G. 20.
Bergson 132.
Bie, O, 20,
Bierbaum, O. J, 20, 26,
Bizet 52,
Björnson 21, 207.
Blei, F. 21, 232, 240, 246, 247.
Bleibtreu, K. 21, 233.
Bloch, E. 22.
Bloehm, W. 130, 144, 179.
Boecklin, A. 50, 174.
Boelsche, W, 234.
Bonseis, W. 22, 247.
Bourget, P. 23.
Borchardt, R. 23, 59, 179, 223,
232.
Borchert, Prof. 234.
Borgia, Cesare 52,
Brod, M. 23.
Brombacher, H. 233.
Brezina, F. 24.
Bronnen 77,
Browning, R. 24,
Buber, M. 24, 233.
Buddho 118.
Buffon 224,
Burte 25.
Busse, C. 77.
Byron 157.
Cabell 25.
Caesar, Jul. 180.
Cassirer, P, 10, 232.
Cezanne 128, 179.
Chamberlain 26.
Chesterton 24, 33, 176, 246.
Claudel, P. 25, 132, 208.
Clewing 242.
Coleridge 158, 167.
Conrad, M. G. 25, 233,
Conrad v. Hötzendorf 233.
Courts-Mahler 25, 130.
Croce, B. 126, 134, 176,
248
Dalago, K, 235.
Dante 79, 111, 183, 223.
Darwin 35, 174, 212.
Däubler, Th. 26, 232.
Dauthendey, M 26.
Dehmel, R. 26.
Descartes 153.
DUthcy, W. 176.
Döblin, A. 27.
Dostojewski 68, 172, 178.
Dröhm 27.
Dumas fils 41.
Dyck, van 184.
Eckermann 245.
Edschmid, K. 12, 27, 234, 247.
Ehrenstein, A. 28.
Einstein, K. 28.
Eloesser, Dr. 28.
Emerson, R. "W. 46.
Engel, Prof. 130, 231.
Ernst, P. 29, 61, 233.
Essig, H. 29, 130.
Eulenberg, H. 29.
Eucken, Prof. 29.
Euripides 182-
Ewers, H. H. 30.
Federn, K. 246.
Feistauer 207.
Fischer, J. 235.
Fischer, S. 10, 60.
Flaischlen, C 78, 232.
Flake, O. 31, 242.
Flaubert 167, 172, 178, 226.
Fontana, M. 31.
Förster, F. W. 32.
France, A. 32.
Frank, L. 31, 207.
Freiligrath 207.
Freksa, F. 234.
Frenssen 64.
Freud, S. 32.
Frey 48.
Friedenthal, J. 232.
Frieden, Dr. 33, 242, 244.
Fulda, L. 57.
Fuchs, B, A. 234.
Funk, Ph. 232.
Ganghofer, L. 61, 130, 242.
Gauguin 128.
George, St. 23, 33, 80, 128, 130,
172, 232.
Gerardy 33.
Gide, A. 33.
Ginzkey 78.
Giotto 128.
Godwin, K. 34.
Goethe 11, 80, 95, 128, 129, 155,
159, 173, 183, 245, 247.
Gogh, van 179.
Goltz, J. V. d. 34.
Gorki, M. 34, 176.
Gourmont, R. de 134.
Greco, II 184.
Grillparzer 184.
Groos, K. 199.
Gulbransson, O. 234.
Gundelfinger 33.
Gundolf 80.
Guenther, Chr. 182.
Gütersloh, P. 34, 79, 235.
Haeckel, E. 35.
Haendl 128.
Halbe, M. 35, 234, 243, 244.
Hamsun, K. 36, 44.
Handl-Mazetti, E. 36, 196, 234.
Hardekopf, F. 36.
Harden, M. 37, 44.
Hardt, E. 37, 172, 233.
Hasenclever, W. 37, 232, 234.
Hatvany, L. 38.
Hauptmann, Carl 38, 232, 243.
Hauptmann, Gerhard 38, 62, 176,
179, 207, 232, 234.
Hausenstein, "W. 39.
Hauser, K. 79.
Hecker, Th. 232, 234.
249
Heer, J. C. 72.
Heim, Dr. 130.
Heimann, M. 39.
Hello, E. 225.
Hennings, E. 39.
Heraklitos 118.
Herrick, R. 157.
Herzl, Th. 233.
Hesse, H. 39.
Hessel, F. 233, 244.
Herzog, L. 130, 242.
Heymel, A. W. 234.
Hille, P. 40, 232.
Hiller, K. 40.
Hindenburg 130.
Hölderlin 147, 171, 173.
Hofer, K. 207.
Hofmannsthal 40, 130, 131, 172,
196, 233, 234.
Holz, A. 41.
Homer 129, 153, 167, 184, 226,
247.
Huch, R. 41.
Hugo, V. 195.
Humboldt, W. v. 134^ 173, 203.
Huysmans, J. R. 41, 208.
Ibsen 41, 86, 172, 176, 207.
Ingres 128.
Jacobsohn, S. 42.
Jammes, F. 42, 207.
Jean Paul 245.
Jensen, J. V. 43, 49.
Johst, H. 42.
Kafka, F. 42.
Kaiser, G. 43, 240.
Kant, J. 68, 133.
Karlchen 79.
Kassner, R. 43, 239.
Keats 158, 184.
Keller, G, 41, 43, 72.
Kellermann, B. 43.
Kerr, A. 44.
Keyserling, Graf 44.
Kiepenheuer 10.
Kierkegaard, S. 33.
Kipling, R. 44.
Kippenberg, A. 10.
Klabund 45.
Kleist 184.
Kluge, Prof. 231.
Kokoschka 104,
Kolb, A. 45, 233.
Kolbenheyer 45.
Kornfeld 45.
Korolenko, W. 34.
Kranewitter 61.
Kraus, K. 10, 30, 97, 232, 234,
235, 247.
Kutscher, A. Prof. 234.
Lasker-Schüler 46, 232.
Lauer, K. 233.
Lauff, K. 242.
Lautensack, H. 46, 130.
Leibnitz, W. 153.
Lenau, N. 155.
Lenz, M. R. 182.
Leoncavallo 242.
Lessing 156.
Liegler, K. 232.
Lienhardt, F. 79.
Liliencron, D. v. 26.
Lissauer 45, 79.
Loerke, O. 46.
Lothar, R. 243.
Lowell, W. D. 49.
Lukianos 145, 232.
Luther, M. 93.
Maeterlinck 46.
Maistre, J. de 212.
Marees, H. von 207.
Marinetti 17.
Mallarme, St. 47, 224.
Mann, H. 47, 109, 178, 232, 234.
Mann, Th. 47, 130, 235.
Marc, F. 189,
250
Marie Madelaine 80.
Marlitt 35.
Martens, K. 51, 234.
Martersteig 233.
Maupassant 47.
Max von Baden 243.
Melas, M. 14.
Meli, M. 47.
Mencken, L. B. 49.
Meredith, G. 50, 172.
Meyer C F. 51.
Meyer, R. M. 231.
Meyrink, E. 48, 233.
Michelangelo 183.
Mimnermos 180.
Moliere 182.
Molo, W. von 233.
Mombert 48.
Mörike 128.
Morgenstern, Chr. 47.
Müller, G. 10, 29.
Müller, H. 49.
Müller, R. 49.
Muncker, F. Prof. 234.
Münchhausen, von 50.
Musil, R. 50, 223.
Nadler, J 11.
Negelinus, Dr. 9, 10, 232.
Nerval, G. de 184.
Nietzsche 51, 33, 179.
Nithart 130.
Noske, Gen. 130, 232.
Oehlke, Prof. 130.
Ompteda, von 80.
Pascoli, G. 17.
Pannwitz 53.
Paulus 245.
Peladan, S. 54.
Perikles 181.
Petronius 145.
Peyronnet, A. 14.
Pfemfert, F. 54, 232.
Phidias 181, 186.
Philippe, Charles Louis 54,
Pindaros 158.
Piaton 116, 180, 181.
Plutarchos 181, 186.
Polgar, A. 55.
Prövost, M. 55.
Presber 80.
Propertius 180.
Pulver, M. 55.
Rabindranath Tagore 56.
Racine 182.
Raffael 128.
Rathenau, "W. 55, 116, 163, 176,
232,
Reiser 22.
Reiß, E. 10.
Rembrandt 139, 184.
Renan, E. 153.
Rilke, R. M. 56, 226, 232.
Rimbaud, A. 56.
Ringelnatz, J. 56.
Rosegger 207.
Rossetti, D. G. 111,
Rostand, E. 57.
Rowohlt, E. 10, 28.
Ruskin 57.
Salus, H. 80.
Saiten, F. 58.
Salz, Prof. A. 232.
Sand, G. 51.
Sardou 46.
Saint-Beuve 232.
Shakespeare 80, 128, 129, 141,
158, 182.
Shaw, B. 33, 49, 60.
Schaeffer, A, 60,
Schaukai, R. 58,
Scheidemann, Gen. 130.
Scheler, M. 58, 176, 232. 234.
Schering 235.
Schiebelhuth, H. 59.
Schickele, R. 59, 240, 243-
251
Schiller 11, 95, 171, 198, 199, 207.
Schlaf, J. 59.
Schleich, Prof. 116, 235.
Schlenther, P. 232.
Schmidtbonn 59.
Schmitz, O. A. H. 33, 209, 232.
Schnack, F. 60.
Schnitzler, A. 18, 60, 235,239,243.
Schönherr 61, 233.
Scholtz, W. von 61.
Schröder, R. A. 61.
Schwabach, E. E. 62.
Simon, H. 28.
Sokrates 101.
Sombart, "W. 61, 176, 232, 234.
Sorge, J. 208.
Spengler, O. 27, 116, 235.
Spielhagen 207,
Spitteler 167.
Staackmann 235.
Starke, O. 233.
Steffen, A. 61.
Stehr, H. 62.
Stein, Frhr. v. 89.
Steiner, R. 62.
Stendhal 132, 141.
Sternheim, C. 12, 27, 62, 205, 206,
233, 240, 243, 244, 245.
Storm 63.
Stößl 64.
Stratz 130.
Strauß, E. 64.
Strauß, R. 233.
Stresemann, Dr. 130,
Strindberg 65, 80, 132, 172, 235.
Stucken 64.
Suarfes, A. 59.
SuUy Prudhomme 232.
Swinburne 17, 40, 66, 223, 232.
Taine, H. 206, 226.
Tennyson 24, 66.
Thoma, L. 61, 233.
Tönnies, Prof. 176.
Tolstoi 34, 66.
Torquemada 142.
Tovote, H. 233.
Trebitsch, S. 60.
Treitschke, H. 96,
Tröltzsch, Prof. 176.
Tyrtaios 18.
Ulimann, R. 67.
Unruh, F. von 67, 233.
Vaihinger, Prof. 68.
Vergil 180.
Verhaeren, E. 72.
Vischer, F. T. 173.
Villon, F. 182.
Vollmöller, K. 68.
Voltaire 33.
Wagner, R. 52, 54, 139, 174, 214.
Walser, R. 68.
Wassermann, J. 68, 167.
Weber, M. von 176.
Wedekind, F. 69, 104, 108, 234,
240, 241, 242, 243.
Weigand, W. 69, 232.
Weininger 69.
Weiß, Konr. 70.
Werfel, F. 70, 206, 235.
Whitman, W. 25, 71.
Wieland 128.
Wilamowitz, Prof. 72, 134.
Wilde, O. 71, 189, 227, 244.
Wildgans 72, 172, 233.
Wilhelm II. 130, 242.
Wille, B. 234,
Wolff, K. 10.
Wolfenstein, A. 72.
Wolfskehl, K. 33, 235.
Wolters, Fr, 235.
Zahn, E. 232.
Zech, P. 72.
Zobeltitz 73.
Zola, E. 51, 73, 172, 174, 178, 208.
Zuckerkandel, B. 233.
Zweig, A. 73.
Zweig, St. 73,
252
INHALTSVERZEICHNIS
Vorworte :::;:::::::::::::::::::::: 5
Das große Bestiarium :: :: :: :: :: 15
Die großen Dichter deutscher Nation :: :: 75
Zur ideologischen Morphologie der litera-
rischen Bestiae :: :: :: :: :: :: :: :: :: :: :: 83
Notwendige Exkurse:: :: :: :: :: :: :: :: :: 123
Kleine Grammatik für Anfänger :: :: :: :: 215
Quellenschriften des Bestiarium :: :: :: 229
Biographische Belustigungen :: :: :: :: :: :: 237
Verabschiedung des Lesers :: :: :: :: 246
Register der Eigennamen :: :: :: :: :: 248
#♦##♦■
ERNST ROWOHLT VERLAG
B ERLIN W 35
*
Rudolf Borchardt
JUGEND GEDICHTE
Geheftet M 50.— • Gebunden M 80.—
Halbpergament M 140. —
PROSA I
Geheftet M 75.— • Gebunden M 110.—
Halbpergament M 160, —
DANTES VITA NOVA (Deutsch)
Geheftet M 50.— • Gebunden M 80.—
Halbpergament M 140. —
50 signierte Exemplare auf van Geldern - Bütten
Kartoniert M 200. — • Ganzpergament M 600. —
DER DURANT
Ein Gedicht aus dem männlichen Zeitalter
In einer Auflage von 680 numerierten Exemplaren in
der Offizin W. Drugulin in Leipzig gedruckt
Gebunden M 120. — ■ Halbpergament M 250. —
Die Exemplare 1 — 45 wurden auf van Geldern-Bütten
abgezogen und von Rudolf Borchardt
handschriftlich signiert
Ganzpergament M 800. —
DAS GESPRÄCH ÜBER FORMEN UND
PLATONS LYSIS (Deutsch)
Geheftet M 50. — ■ Halbpergament M 140. —
ERNST ROWOHLT VERLAG
BERLIN AXi^ 35
*
Rudolf Borchardt
DIE HALBGERETTETE SEELE
Ein Gedicht. Einmalige Auflage von 650 numerierten
Exemplaren auf Japanbütten
Halbleder M160.—
DER KRIEG UND DIE DEUTSCHE
VERANTWORTUNG
Gebunden M 40. —
KRIPPENSPIEL
Druck von Otto v. Holten. Druckanordnung von
E. R. "Weiß. Auf echtem Bütten
Gebunden M 50. —
DIE DIALOGE JAMES LANDORS
(Deutsch) Geheftet ca. M 40 — • Gebunden ca. M 70.—
Halbpergament ca. M 100. —
POETISCHE ERZÄHLUNGEN
Geheftet ca. M 60.— • Gebunden ca. M 90.—
Halbpergament ca. M 140. —
REDE ÜBER HOFMANNSTHAL
Geheftet M 50. Halbpergament M 140.—
SWINBURNE (Deutsch)
Einmalige Auflage von 600 numerierten Exemplaren
Halbpergament M 300. —
VERKÜNDIGUNG / Dramatisches Gedicht
Geh. M 50.— • Geb. M 80,— • Halbleder M 140.—
ERNST ROWOHLT VERLAG
BERLIN W 35
*
MENSCHHEITSDÄMMERUNG
Symphonie jüngster Dichtung
Herausgegeben von Kurt Pinthus
Dichtungen von Becher, Benn, Däubler, Ehrenstein,
Goll, Hasenclever, Heym, Heynicke, van Hoddis, Klemm,
Lasker- Schüler, Leonhard, Lichtenstein, Lotz, Otten,
Rubiner, Schickele, Stadler, Stramm, Trakl, Werfel,
Wolf enstein. Zech. Mit den Selbstbiographien der Dichter
und ihren Porträts von Kokoschka, Meidner,
Lehmbruck, Engert, Schiele usw.
Gebunden M 120.— ■ Halbleder M 200.—
n
i
DIE ENTFALTUNG
Novellen an die Zeit
Herausgegeben von Max Krell
Novellen von Adler, Benn, Brod, Buber, Däubler,
Döblin, Edschmid, A, Ehrenstein, Leonhard Frank, Jung,
Kafka, Kolb, Lasker-Schüler , W. Lehmann, H. Mann,
Meidner, Sack, Schickele, Steffen, Sternheim,
E. Weiß, Werfel
Gebunden M 120.- ■ Halbleder M 200.—
ERNST ROWOHLT VERLAG
BERLIN W 35
*
Walter Hasenclever
GEDICHTE AN FRAUEN
Einmalige Auflage von 200 numerierten und liand-
schriftlich signierten Exemplaren. Kartoniert M 300, —
GOBSECK
Drama • Geheftet M 40.— • Gebunden M 70.—
JENSEITS
Drama • Geheftet M 40,— • Gebunden M 70.—
Halbleder M 120.—
DER POLITISCHE DICHTER
Gedichte • Broschiert M 10. —
DER RETTER/ Dramatische Dichtung
Geheftet M 40.— • Gebunden M 70.—
Paul Kornfeld
DER EWIGE TRAUM
Komödie • Geheftet ca.M 40. — Gebunden ca.M70.—
HIMMEL UND HÖLLE
Tragödie • Geheftet M 40.— • Gebunden M 70.—
LEGENDE
Geheftet M 40.— • Gebunden M 70.—
DIE VERFÜHRUNG
Tragödie • Geheftet M 40.— • Gebunden M 70.—
ERNST ROWOHLT VERLAG
BERLIN W 35
*
Johannes R. Becher
EWIG IM AUFRÜHR
Umschlagzeichnung von Ludwig Meidner
Broschiert M 10, —
*
Max Brod
ERLÖSERIN
Ein Hetärengespräch
Geheftet M 30.— • Gebunden M 60.—
*
Albert Ehrenstein
>Xr I E N
Gedichte
Gebunden M 34.— • Halbleder M 120.—
*
Carl Einstein
DIE SCHLIMME BOTSCHAFT
20 Szenen
Geheftet M 40.— • Gebunden M 70.—
*
Albrecht Schaeffer
DEMETRIUS
Ein Trauerspiel
Geheftet ca. M 60.— • Gebunden ca. M 90.—
*
Carl Sternheim
FAIR FAX
Kartoniert M 30.—
W»V»»»»»»»»»»»»»»»»»V»»»»»»##»»»»»»#'»#»»»»»»»»*»»^^»»»<
»»»##»#»»#»»»»»»»»»»»»*»»»»»» V»»V»»V»»»V»V»»»»»»»»»'V»W»V»»
1
ERNST ROWOHLT VERLAG ;>
BERLIN W 35
*
Arnolt Bronnen
SEPTEMBER NOVELLE
Geheftet M 40.— • Gebunden M 70.—
*
Max Krell
DIE MARINGOTTE
Roman. Umschlagzeichnung von Rudolf Großmann
Geheftet M 30.— • Gebunden M 60.—
Halbledcr M 100.—
DER SPIELER CORMICK
Roman
Geheftet ca. M 70.— • Gebunden ca. M 100.—
*
Heinrich Lautensack
LEBEN, TATEN UND MEINUNGEN <:
(kurz zusammengefaßt) \\
des sehr berühmten russischen Detektivs
MAXIMOW
Beamter zu besonderen Aufträgen im Ministerium <;
des Innern zu St. Petersburg
Geheftet M 30.— • Gebunden M 60.—
Halbleder M 120.—
*
ALLE PREISE SIND UNVERBINDLICH
SCHRIFTEN VON FRANZ BLEI
Vermischte Schriften
Sechs Bände. Zweite Auflage. G. Müller Verlag, München
Menschliche Betrachtungen zur Politik
Zweite Auflage. G. Müller Verlag, München
Die Puderquaste des Prinzen Hippolyt
Elfte Auflage. G. Müller Verlag, München
Die Abenteurer
Vierte Auflage. G. Müller Verlag, München
Der bestrafte Wollüstling
Avalun-Verlag, Wien
Leben und Traum der Frauen
Dritte Auflage. Rösl & Cie., München
Das Evangelium des Appolonios
Avalun-Verlag, "Wien
Logik des Herzens
S. Fischer, Berlin
Lehrbücher der Liebe
Nr. 1—4. G. Müller Verlag, München
Die verliebte "Weisheit der Ninon
G. Müller Verlag, München
Der lose Vogel
Kurt Wolff Verlag, München
Der Lustknabe Ganymed
oder das geplatzte Strumpfband
Kurt Wolff Verlag, München
Die unsittliche Literatur und der § 184 |
Paul Steegemann, Hannover J
fv \
BINBIN« SECT. APR 1 9 196Ö8
>
m
w
H
CD
Oq »^
3 §
CO »
■71
CD
tü
<D
CO
_I^ .