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Full text of "Das grosse bestiarium der modernen literatur"

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HANDBOUND 
AT  THE 


UNIVERSITY  OF 
TORONTO  PRESS 


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FRANZ   BLEI 


DAS 
GROSSE 

BESTIARIUM 

DER  MODERNEN 

LITERATUR 


19    2    2 

ERNST  ROWOHLT  VERLAG 

BERLIN 


ES  WURDEN 
DREI  VERSCHIEDENE  AUSGABEN  GEDRUCKT: 
Ausgabe  A:  Auf  van  Geldern -Bütten  in  30  numerierten 
Exemplaren  mit  je  6  handkolorierten  Lithographien  von 
Olaf  Gulbransson,  Thomas  Theodor  Heine  und  Rudolf 
Großmann  von  den  Künstlern  und  dem  Verfasser  signiert, 
Ausgabe  B:  Auf  Hadernpapier  in  400  numerierten  Exem- 
plaren mit  je  6  handkolorierten  Lithographien  von  Olaf 
Gulbransson,  Thomas  Theodor  Heine  und  Rudolf  Großmann. 
Ausgabe  C :  Auf  holzfreiem  Papier  ohne  die  Lithographien. 

* 

DAS  "WERK  WURDE  IN  DER 

BUCHDRUCKEREI  POESCHEL  &  TREPTE  IN  LEIPZIG, 

DIE  LITHOGRAPHIEN  BEI  DR.  C.  WOLF  &  SOHN  IN 

MÜNCHEN  GEDRUCKT. 

* 

DIES  EXEMPLAR  DER  AUSGABE  B  TRÄGT 

DIE  NUMMER 


LG. 
595080 


VORWORTE 


VORWORT  ZUR  ERSTEN  AUFLAGE 

IN  diesem  Bestiarium  habe  ich,  nicht  abgeschreckt  von 
vielen  Vorgängern,  neuerlich  den  Versuch  gemacht,  eine 
so  kurze  wie  anschauliche  und  genaue  Beschreibung  derer 
lebenden  Tiere  zu  geben,  so  ans  Licht  der  Bücherwelt  zu 
stellen  Gott  dem  Herrn  gefallen  hat  und  soweit  sie  im  Ge- 
biete der  deutschen  Sprache  wesen  und  unwesen.  Wenn 
wir  Menschen  Sinn-  und  Zweckmäßiges  von  Gottes  Schöp- 
fungen an  den  Geschöpfen  dieser  von  uns  beschriebenen 
Fauna  noch  weit  seltener  als  sonst  erkennen,  so  sollen 
wir  uns  und  nicht  dem  Schöpfer  daraus  einen  Vorhalt 
machen,  indem  wir  ja  einerseits  vieles  sehr  Sinnvolles  Seines 
Werkes  so  einsehen  als  auch  bewundern  und  darum  wohl 
annehmen  müssen,  daß  es  auch  mit  dem  uns  sinnlos  Er- 
scheinenden schon  eine  sinnvolle  Bewandtnis  haben  werde ; 
andererseits  die  kurze  Spanne  nicht  nur  unseres  eignen, 
sondern  auch  des  von  uns  überschaubaren  Lebens  bedenkend 
nicht  in  Eitelkeit  darauf  versessen  sein  sollen,  es  habe  alle 
und  jede  Absicht  Gottes  uns  durchaus  geläufig  zu  sein  aus 
den  Mitteln  unseres  eingeschränkten  Verstandes.  Und  möchte 
denen  Zweiflern  an  der  inneren  Ordnung  in  der  Person 
Gottes  auch  dieses  Dritte  noch  gesagt  sein:  daß  es  uns 
nicht  häretisch  dünke,  Gott  von  Seinem  müh  vollen  Tag- 
und  Nachtwerke  Sich  ausruhend  zu  denken,  wo  Er  dann 
in  lustiger  Laune  gewissermaßen  solches  werden  lasse  wie 
zum  Exempel  unsere  literarische  Fauna,  deren  neuerliche 
Beschreibung  ich  hier  dem  Hypokriten,  meinem  Leser, 
meinem  Freunde  vorlege,  nachdem  ich  mich  sine  ira,  aber 
multo  studio  um  Art,  Aussehen  und  Lebensweise  dieser 
Tiere  bemüht  habe,  solche  festzustellen.  Ich  glaube  sagen 


zu  können,  dai  mir  keines  von  einiger  Wichtigkeit  oder 
Notorität  entgangen  ist  und  daß  ich  sie  ziemlich  beiein- 
ander habe  in  diesem  Käfig  meines  Bestiariums  oder  Tier- 
parke, wie  ich  besser  sage,  denn  in  einen  einzigen  Käfig 
alle  diese  Bestiae  zu  sperren,  würde  ich  bei  der  außer- 
ordentlichen Unverträglichkeit  derer  Tiere  nur  dann  wagen, 
wenn  mir  an  ihrer  wechselseitigen  Ausrottung  gelegen  wäre, 
womit  ich  aber  Gott  in  Seine  schaffende  Hand  zu  fallen 
mir  anmaßte,  was  mir  ganz  fem.  Sollte  dennoch  der  Leser 
in  diesem  Bestiarium  ein  oder  das  andere  Tier  vermissen, 
so  ist  dieses  entweder  nur  ihm  oder  seiner  Familie  bekannt 
als  ein  Privat-  oder  Familientier  gewissermaßen;  oder  ich 
habe  es  in  zwiefacher  Absicht  nicht  erwähnt.  Es  gibt  nämlich 
eine  weit  verbreitete  Mikrobe,  den  Bacillus  imbecillus,  der 
im  gemeinen  Leben  viele  tausend  Namen  bekommt,  aber 
immer  der  gleiche  Bacillus  ist:  wen  er  heimsucht  —  und 
er  befällt  die  Grobhäutigen  aller  Stände  und  Klassen  — 
der  fühlt  erst  ein  ihm  angenehm  dünkendes  Kitzeln,  was 
mit  der  groben  Haut  zusammenhängt,  dann  aber  verfällt 
der  Patient  rasch  der  völligen  Verblödung,  Es  ist  dieser 
Bacillus  imbecillus  also  mehr  ein  Krankheitserreger  denn 
ein  Tier,  gehört  demnach  in  die  Bakteriologie  und  nicht 
in  ein  Bestiarium.  Wenn  ich  darin  doch  ein  und  den  andern 
Bacillus  aufführte,  so  geschah  es,  weil  ich  einer  weit  ver- 
breiteten Anschauung,  daß  es  sich  in  diesen  Fällen  um  Tiere 
handle,  mit  meiner  Auktorität  entgegentreten  wollte. 
Ich  habe  fem  er  auch  einige  Tiere  wissentlich  ausgelassen  — 
sehr  wenige  —  damit  die  gelehrten  Rezensenten  das  Ver- 
gnügen genießen,  mir  dies  nachzuweisen  und  damit  die  Not- 
wendigkeit ihrer  Existenz  wieder  einmal  zu  erhärten. 
Den  Nutzen  dieses  kurz  und  bündig  abgefaßten  Bestiariums 
wird  der  Tierfreund  und  -feind  beim  Durchblättern  also- 
gleich mit  Vergnügen  bemerken.  Es  verzichtet  auf  alles 
übliche  wortreiche  und  doch  nichtssagende  Beiwerk,  wie 
CS  allen  Naturhistorien  unserer  literarischen  Fauna  eigen- 
tümlich ist,  gänzlich  und  befleißigt  sich  einer  Kürze  von 
Merksprüchen,  die  leicht  zu  behalten  sind. 

8 


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Wenn  ich  auch  mit  meinem  verehrten  Freunde  Dr.  Nege- 
linus  durchaus  der  Ansicht  bin,  solchem  wie  jedem  andern 
praktischen  Nutzen  würde  dieses  Bestiarium  bald  entzogen 
sein  und  sein  Wert  nur  mehr  im  Historischen  liegen.  Denn 
es  steht  doch  wohl  allen  Anzeichen  nach  eine  terrestrische 
Katastrophe  nahe  bevor,  und  es  wird  danach  das  Wenige, 
das  diese  andere  Sintflut  von  den  meisten  der  jetzt  noch 
lebenden  literarischen  Tiere  übriggelassen,  nur  mehr  in 
spärlichen  Fragmenten  in  den  paläontologischen  Museen  zu 
finden  sein,  zumal  sich  gewiß  kein  neuer  Noah  wird  ge- 
winnen lassen,  der  gutmütig  diesem  Getier  eine  es  rettende 
Arche  bauen  möchte.  Um  so  dringlicher  stellte  sich  die 
Aufgabe,  unsere  Tiere  e  vivo  zu  beschreiben. 
Aller  Kritik  unserer  Viecher  habe  ich  mich  enthalten,  wie 
man  merkt.  Wir  müssen  sie  hinnehmen,  wie  Gott  sie  ge- 
schaffen. Ihm  allein  die  Ehre  und  die  Verantwortung.  Ganz 
allgemein  will  ich  nur  zu  einer  in  der  letzten  Zeit  wieder 
lebhafter  gewordnen  Streitfrage  kurz  Stellung  nehmen,  der 
Frage,  ob  unsere  Tiere  Intelligenz  besitzen  oder  nicht.  Daß 
unsere  alte,  ausgestorbene  literarische  Tierwelt  Intelligenz 
in  hohem  Maße  besaß,  steht  außer  Zweifel.  Ebenso,  daß  sie 
die  heutigen  Tiere  mit  nichten  auszeichnet,  von  ganz  wenigen 
Ausnahmen  abgesehen.  Trotzdem  hat  man  gerade  für  unsere 
heutigen  Tiere  das  sie  charakterisieren  sollende  Wort  ,,Die 
Intellektuellen"  erfunden.  Wohl  nach  dem  Beispiel  des 
canis  a  non  canendo.  Denn  unsere  heutigen  Tiere  handeln 
mit  wenigen  Ausnahmen  durchaus  affektiv  und  gar  nicht 
intelligent,  ja,  sie  setzen,  wie  man  beobachten  kann,  förm- 
lichen Stolz  darein,  ihren  unklaren  Gefühlen  unbedacht  zu 
erliegen,  nichts  als  Gefühl  zu  sein  und  gar  keinen  Ver- 
stand zu  haben,  nicht  einmal  in  ihren  partikularen  Ver- 
richtungen. Vulgär  ausgedrückt  kriechen  sie  auf  jeden  Leim, 
wenn  es  nur  Leim  ist  und  er  nur  geschickt  gestrichen  wird, 
—  von  wem  ist  unsern  Tieren  gleichgültig.  Denn  gerade 
das,  was  einige  von  unsern  heutigen  Tieren  behaupten,  das 
tun  sie  gar  nicht:  denken.  Sie  sind  daher  gar  nicht  ,, In- 
tellektuelle", sondern  weit  treffender  ,, Affektionelle"  oder 


„Sensibilisten"  zu  nennen,  die  jeder  Gelegenheit  erliegen,  die 
sie  mit  ihrem  Gefühle  ergreifen  können:  daß  sie  ihre  Ge- 
fühle zuweilen  Gedanken  nennen,  diesen  Irrtum  haben  unsere 
literarischen  Tiere  mit  den  heutigen  Menschen  gemein. 
More  eruditorum  obliegt  mir  noch  die  Pflicht,  denen  Herren 
zu  danken,  welche  sich  um  dieses  Bestiarium  Verdienste 
insofern  erworben  haben,  als  sie,  gew^issermaßen  Hagen- 
becke  der  Fauna  literaria,  oft  mit  beträchtHchen  Opfern  an 
Zeit,  Geld,  Geduld  und  Kraft  unseren  Tieren  ihre  Teil- 
nahme bewiesen,  sei  es,  daß  sie  sie  überhaupt  entdeckten, 
sei  es,  daß  sie  ihnen  auf  ihr  Leben  gewissermaßen  Vor- 
schuß gegeben  haben,  sei  es  endlich,  daß  sie  für  die  Mög- 
lichkeit komfortabler  Betrachtung  dieser  Tiere  sorgten  durch 
Anlegen  von  Steigen,  Reservaten,  Käfigen  und  Behältern. 
Namentlich  möchte  ich  hier  für  solche  nützliche  Hilfe  mich 
bedanken  zuvörderst  bei  dem  Doyen  unserer  literarischen 
Hagenbecke,  dem  ebenso  um-  wie  einsichtigen  Herrn 
S.  Fischer -Berlin,  dem  weitschichtigen  Herrn  G.  Müller- 
München,  dem  immer  neugierigen  Herrn  K.  Wolff-München, 
dem  kühnen  E.  Rowohlt-Berlin,  dem  herzlichen  G.  H.  Meyer- 
München,  dem  vorsichtigen  A.  Kippenberg-Leipzig,  dem  un- 
entwegten G.  Kiepenheuer-Potsdam,  dem  lebhaften  P.  Cas- 
sirer-Berlin  und  dem  Herrn  Reiß  schlechthin.  Allen  denen 
Herren  meinen  Dank  dafür,  daß  sie  das  ihre  tun,  in  die 
seltsamen  Geschöpfe  aus  der  mannigfach  bildenden  Hand 
Gottes  einige  Ordnung  zu  bringen,  wie  wir  Menschen  sol- 
ches in  Unkenntnis  der  höhern  göttlichen  Ordnung  brau- 
chen in  diesem  Erdenleben.  Bei  meinem  Freund,  dem 
Dr.  Negelinus,  muß  ich  mich  noch  bedanken  für  seinen 
auf  SpezialStudien  gegründeten  Beitrag,  die  Beschreibung 
der  Fackelkraus. 

VORWORT  ZUR  ZWEITEN  AUFLAGE 

Äußere,  vom  Verfasser  nicht  änderbare  Umstände  ließen  das 
Bestiarium  in  seiner  ersten  nur  für  eine  eingeschränkte 
Leserzahl  gedruckten  Auflage  etwas  im  Improvisato  stecken, 

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bei  dem  der  Ernst  manchmal  um  den  Witz  zu  kurz  kam 
und  umgekehrt.  Dieser   kleine  Schönheitsfehler  ist  in   der 
neuen  vorliegenden  Ausgabe  beseitigt.    Es  ist  aber  noch 
mehr  als  das  getan  worden.  Eine  Menge  Zutaten,  Ergän- 
zungen,  Feststellungen,    ferner   Ordnungen    und    generelle 
Bemerkungen  zum  Gattungsbegriff  der  bestia  literarica,  des 
weitern  die  Einbeziehung  fremder  in   Deutschland  dome- 
sticierter  Tiere  wie  die  Beschreibung  solcher,  die  kürzlich 
bürgerlich  wohl  verstorben,  aber  literarisch  noch  lebendig 
sind  — :   alles   dies    macht    das    Bestiarium    zum    Großen 
Bestiarium  und  zu  dem,  was  trotz  vieler  solcher  Titel  auf 
dicken  Büchern  durchaus  gefehlt  hat:   zur  ersten  gründ- 
lichen kritischen  Darstellung  dessen,  was  man  einem  Sprach- 
gebrauch mehr  als  der  Sache  folgend  die  Moderne  Lite- 
ratur nennt.  Der  wißbegierige  Leser  sei  versichert:   diese 
abstrusen   Kompilationen  aus   Geburtsdaten,    Büchertiteln, 
Waschzetteln  und   Zeitungsausschnitten,   welche  sich  mo- 
derne Literaturgeschichten   nennen,    weil   es   ihren  Verfer- 
tigem so  beliebt,   sind  insgesamt  ein   öder  Mist,   jawohl, 
meine  Herrn  Verfasser,  öder  Mist,  wie  man  nur  noch  von 
den  Geschichten  der  altern  deutschen  Literatur  sagen  kann 
mit   der    einzigen,    aber    auch    grandiosen   Ausnahme    des 
Werkes  von  Josef  Nadler,  der  weder,  wie  sonst  üblich,  von 
seinen  Vorgängern  das  Schema  übernimmt,   noch  die  Ur- 
teile, noch  die  Unkenntnis  von  Gegenstand  und  Methode. 
Will  einer  die  Geschichte  der  Mathematik  lesen,   so  muß 
er  einigermaßen  die  Mathematik  kennen.  Das  gilt  auch  von 
der  Geschichte  der  Literatur,  so  sehr  sich  auch  alle  deren 
sogenannte  Historiker  anstrengen,  mit  Inhaltsangaben  und 
sogenannten  Werturteilen  ihren  Lesern  diese  Kenntnis  ganz 
überflüssig  erscheinen  zu  lassen.  Der  mit  dem  Gegenstand 
nicht    vertraute    Leser    des    Großen    Bestiarium    wird    mit 
dessen  Urteilen  wenig  anzufangen  wissen,   denn  sie  sind 
weder  geschmacklich,   noch  gefühlig,   weder  schöngeistig, 
noch  messen  sie  den  Hinz  und  Kunz  an  einem  als  bekannt 
angenommenen  Standardwert,   Goethe  zum   Beispiel  oder 
Schiller.  Wer  die  Gegenstände  dieses  Traktates  nicht  kennt, 

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der  wird  den  Wald  vor  Bäumen,  die  Zoologie  vor  Tieren 
nicht  sehen.  Ich  sagte  ja  schon:  das  Bestiarium  ist  die 
erste  kritische  Darstellung  der  neuern  Literatur,  also  ein 
dialektisches  Buch. 

VORWORT  ZUR  DRITTEN  AUFLAGE 

Es  ist  mir  ein  Vergnügen,  zwei  Briefe  mitzuteilen,  die  ich 
nach  Erscheinen  der  zweiten  Ausgabe  des  Bestiarium  von 
zwei  indignierten  Belletristen  oder  Literatieren  bekam, 
weil  sie  nicht  als  Löwen,  die  sie  doch  wären,  darin  vor- 
kamen. Der  eine  schreibt:  ,,  .  .  .  hat  mich  Literatur,  wenn 
Dichter  darunter  faßbar,  nur  gering,  denn  zunächst  ist 
mein  Dasein  in  dem  Leben.  Ich  turne,  radle,  schwimme, 
rudere,  segle,  steige  Berg,  fahre  Auto,  fliege  Luft,  boxe, 
ringe,  reite,  skie,  verführe  jede  Frau  mit  Hastenichgesehn, 
spiele  Tennis,  Golf,  Football,  Baseball,  Laferme,  Poker, 
führe  überhaupt  das  openste  aer  live  —  ich  spreche  auch 
englisch  wie  darmstädtisch  — ,  nehme  an  allen  Rauf-  und 
Liebeshändeln  der  Welt  teil,  schlage  mich  in  allen  Waffen 
des  Erdkreises  und  habe,  dies  auch  nebenbei,  zum  min- 
desten den  Deutschen  in  der  Erneuerung  der  Sprache  und 
der  dichterischen  Prosa  Wege  gewiesen  und  neue  Möglich- 
keiten geboten,  die  zu  ergreifen  und  zu  gehen  nur  mehr 
an  den  Deutschen  liegt,  helas,  worüber  mir  C.  Sternheim 
schrieb :  ,Das  ist  Klasse !  Ist  Baudelaire  einfach !  Ich  schüttle 
Ihnen  die  schwielige  Proletarierfaust.'  Außer  daß  ich,  wie 
jeder  Gentleman,  diese  Faust  natürlich  auch  besitze,  habe 
ich  dem  nichts  von  Bedeutung  hinzuzufügen." 
Der  andere  Brief:  ,,  .  .  .  Ihr  unmenschliches  Buch  .  .  .  ich 
habe  mindestens  den  Deutschen  zum  erstenmal  gezeigt,  was 
Prosa  ist.  Das  gabs  vor  mir  nicht.  Satz  wie  dieser  mein 
Satz:  ,Sie  stülpte,  lag  er  in  sie  gestürzt,  Begriffe  und 
brachte  es  fertig,  schwächte  er  sie,  ihn  stärker  zu  schwä- 
chen' ist  einfach  deutscher  Sprache  nicht  nur  erstes,  son- 
dern pyramidalstes  Monument.  Um  Schweiß,  mich  gekostet, 
weiß  ich   allein   und   C.  Edschmid,   der   mir  schreibt;    ,Sie 

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haben  den  klassischen  Stil  in  Deutschland.'  Ich  habe  dem 
nichts  von  Bedeutung  hinzuzufügen." 

\X'"er  wollte,  könnte  diesen  beiden  den  Begriff  der  Bedeu- 
tung so  schlagend  definierenden  Briefen  noch  etwas  von 
Bedeutung  hinzufügen,  ohne  sich  damit  das  Zeugnis  der 
lächerlichsten  Bedeutungslosigkeit  auszustellen? 

VORWORT  ZUR  VIERTEN  AUFLAGE 

Siebentausendvierhundertfünfund  vierzig  Postkarten ,  auf 
denen  sich  eben  so  viele  (7445)  deutsche  männliche,  weib- 
liche, mittelstufige  und  geschlechtslose  Schriftsteller,  Belle- 
tristen und  Poeten  entrüsten,  im  Bestiarium  nicht  ,, vorzu- 
kommen", seien  hiemit  summarisch  erwähnt,  damit  sie  vor- 
kommen. Man  erstaune  nicht  über  die  hohe  Zahl.  Es  sind 
so  viele  Militärs  und  Beamte  darunter,  die,  wie  man  weiß, 
nach  dem  Kriege  das  Inland  mit  ihrer  Literatur  überfielen, 
einerseits  weil  der  Deutsche  überhaupt  so  gerne  schreibt, 
andrerseits  des  Gewinnes  wegen,  dritterseits  um  ihre  LTn- 
schuld  am  Kriege  zu  beweisen,  viertens  zu  versichern,  daß 
sie  nichts  als  das  Beste  gewollt  hätten.  Die  Unschuld,  das 
Beste  und  die  Literatur  blieben  auch  hier  nicht  Sieger;  sie 
verloren  auf  der  ganzen  Linie. 

Als  ich  aber  nochmals  die  große  Zahl  der  nicht  vorge« 
kommenen  und  darüber  empörten  Poeten  überdachte,  kam 
mir  der  naheliegende  Gedanke,  es  einmal  damit  zu  ver- 
suchen, von  der  Literatur  zu  leben.  Ich  erließ  eine  öffent- 
liche Bekanntmachung,  daß  jeder  nicht  vorgekommene 
Dichter  gegen  Einsendung  einer  Reichsmark  in  der  neuen 
Auflage  vorkommen  werde.  Ich  war  mit  meiner  Forderung 
so  bescheiden,  um  dem  Vorwurf  zu  entgehen,  daß  ich  die 
Köpfe  zu  hoch  einschätze.  Aber  dies  schien  doch  der  Fall 
zu  sein,  denn  ich  bekam  nur  noch  einige  grobe  Postkarten, 
aber  keine  einzige  Mark.  Man  kann  eben  von  der  Litera- 
tur doch  nicht  leben.  Nun  soll  man  mich  abei:  kennen 
lernen,  sagte  ich  mir.  Ich  öffnete  der  "Weste  meiner  Ge- 
nerosität sämtliche  Knöpfe  und  stürzte  mich  in  das  Stu- 

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dium  der  ungenannten  Verfasser,  mußte  es  aber  bald  auf- 
geben, systematisch  dabei  zu  verfahren,  denn  diese  Fülle 
ging  weder  in  ein  vorhandenes  noch  in  ein  zu  erdenkendes 
System.  Ich  griff  also  aus  der  alten  Hutschachtel,  in 
welche  ich  die  Proteste  der  Ungenannten  getan  hatte, 
heraus  und  ließ  den  Zufall  walten.  Man  findet,  was  ich 
fand,  in  jenem  Kapitel  des  Großen  Bestiarium,  das  über- 
schrieben ist:  Die  großen  Dichter  deutscher  Nation. 
Ich  muß  noch  nachtragen,  daß  w^ir  beide,  ich  und  der 
Leser,  uns  für  die  Mithülfe  einiger  Freunde  an  diesem 
Großen  Bestiarium  zu  bedanken  haben.  Dr.  Maturin  Melas 
und  der  Baron  Albrecht  Peyronnet  haben  einige  Beiträge 
für  dieses  Buch  geschrieben  — ,  welche,  dies  wird  der 
darauf  neugierige  und  feinhörige  Leser  leicht  erkennen. 

Peregrin  Steinhövel 
[Franz  Blei] 


14 


DAS    GROSSE    BESTIARIUM 


X)£r^        d   ^   ^  ^    ^   ^   ^   ^ 


ALTENBERG  oder  auch  den  Peter  nannte  man  aus  un- 
bekannten Gründen  die  seltsame  Laune  Gottes,  der  hier 
ein  "Wesen  schuf,  das  nur  aus  einem  einzigen  Organe  be- 
stand: aus  einem  Auge,  dem  der  Fliegen  gleich  in  tausend 
Fazetten  zerlegt  und  die  sichtbare  Welt  in  kleinsten  Bildern 
von  großer  Schärfe  et\(ras  übersichtig  auffangend.  Einem 
solchen  seltsamen  Wesen  war  von  Natur  aus  nur  eine  kurze 
Lebensdauer  bestimmt.  Aber  gegen  die  Natur  und  die  Ab- 
sicht Gottes  bildete  dieses  stolz  gewordene  Auge  so  etwas 
wie  einen  Leib  aus.  Der  war  nun  etwas  schwächlich  ge- 
raten, wie  nicht  anders  zu  erwarten,  und  das  Auge  Peter 
hatte  mit  ihm  seine  argen  Molesten,  die  schließlich  auch 
dem  Auge  nicht  gut  bekamen.  Das  Auge  Peter  hatte  sich 
mit  der  Erzeugung  seiner  Verdauungs-  und  sonstigen  Organe 
übernommen,  und  es  sah  am  Ende  nichts  mehr  als  den 
prekären  eigenen  Mageninhalt :  es  spiegelte  keine  umgebende 
Welt  mehr,  sondern  nur  die  Farben  seiner  Exkremente. 

D'ANNUNZIO.  Ist  er  nicht  des  heutigen  Italien  Apoll,  so 
doch  dessen  Pegasus,  auf  dem  apollinisch  für  eine  Weile 
die  leichte  Libelle  Pascoli  Platz  nahm  und  den  später  dann 
der  Clown  Marinetti  zu  erklettern  versuchte,  ärschlings 
natürlich,  wie  es  sich  für  den  Clown  gehört;  doch  blieben 
ihm  von  dem  Versuch  nur  ein  paar  Schweifhaare  in  der 
Hand  und  auf  dem  Pegasus  zu  reiten  wurde  und  blieb 
Futurismo.  Der  Pegasus  d'Annunzio  schlug  mit  seinen  ele- 
ganten Hufen  die  herrlichsten,  herrischesten  Takte  der  letzten 
drei  Jahrzehnte,  ihm  darin  gleich  nur  des  Northumberland- 
hirsches  Swinburne  Flug  und  Fougue.  Später  dann  verlangte 
die  Zeit  Probe  aufs  große  Wort,  und  der  Pegasus  gab  sie. 
Er  ließ  sich  die  Hufe  mit  Eisen  beschlagen,  wirbelte  damit 

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die  Trommel  und  wieherte  Fanfaren,  Die  an  tönenden 
"Worten  reichste  Zeit,  die  des  Krieges  und  seines  Aprfes, 
machte  aus  dem  Pegasus  nicht  den  Tyrtaios,  aber  das  laut- 
hinwiehernde  Schlachtpferd  gab  den  hellen  italienischen 
Trompeten  Brust,  Luft  und  Schwung.  Ein  römischer  Kaiser 
hat  sein  Leibpferd  zum  Konsul  gemacht  —  der  Pegasus 
d'Annunzio  konnte  es  für  möglich  halten,  daß  ihn  sein 
Volk  zum  Kaiser  der  Adria  erhebe. 

ANDRIAN.  Dies  ist  ein  im  Jesuitenkon vikt  Kalksburg  ge- 
bräuchlicher Name  für  eine  Jugendsünde,  deren  man  sich 
nur  mehr  bei  Eintritt  ins  Greisenalter  erinnert.  In  der 
Zwischenzeit  spricht  man  nicht  davon. 

AVENARIUS  ist  eine  so  sehr  sächsische  Angelegenheit,  daß 
sie  in  einer  Beschreibung  dieses  merkwürdigen  Volksstammes 
glatt  aufgeht.  Aber  diese  Ethnographie  ist  nicht  unsere  Sache. 
"Wie  alles  Sächsische  hat  auch  das  Avenarius  den  Ehrgeiz, 
nicht  nur  für  das  spezifisch  Deutsche,  sondern  das  schlecht- 
hin Menschliche  zu  gelten.  Man  nimmt  eben  in  diesem  Er- 
findungs-  und  Herstellungslande  des  Odol  den  Mund  voll. 

AUERNHEIMER  ist  der  Name  des  Jockeis,  der  am  häu- 
figsten den  Schnitzler  geritten  hat.  Derzeit  gibt  er  Tips  in 
der  Neuen  Freien  Presse. 

DER  BAHR.  Den  Bahr  gibt  es  nur  mehr  in  einem  einzigen 
Exemplar,  das  im  Salzburgischen  gehalten  wird.  Seinen 
frühern  scharfen  Geruch  hat  es  in  den  milderen  der  Heilig- 
keit gewandelt,  und  die  Hörner  hat  das  Tier,  seit  es  den 
Teufel  fürchtet,  ebenso  wie  die  Zähne,  längst  verloren. 
Dafür  wuchsen  ihm  Mähne  und  Bart  immer  länger,  was 
dem  Bahre  ein  ehrwürdiges  Aussehen  gibt.  So  kann  es  der 
"Wanderer  in  seinem  Reservat  am  Untersberg  beobachten 
oder  mit  ihm  Zwiesprach  pflegen,  denn  der  Bahr  ist  ein 
ungemein  gesprächiges  und,  fehlt  ihm  der  Partner,  selbst- 
gesprächiges Tier.  Seine  "Wärter,  wie  der  überaus  fromme 
Pater  A.  B,  C.  D.  Schmitz,  fürchten  immer,  der  Bahr  werde 
sich  noch  einmal  nicht  totstürzen,  sondern  totreden.  Denn 

18 


gefallen  ist  der  Bahr  schon  öfter  ohne  Schaden  zu  nehmen 
und  auf  die  Knie  fällt  er  gut  zweimal  im  Tage,  welche 
Alterserscheinung  eine  leichtgläubige  fromme  Bevölkerung 
wie  die  salzburgerische  als  bei  solchem  Tiere  seltene  und 
um  so  anerkennungswertere  Frömmigkeit  auslegt.  Ein  Kapu- 
ziner hat  den  Bahr  deshalb  einmal  ganz  frei  in  die  Heilige 
Messe  mitgenommen,  und  das  Tier  unterschied  sich,  wie 
Augenzeugen  berichten,  in  nichts  von  seinem  frommen 
Führer,  so  daß  man  nicht  hätte  sagen  können,  war  der 
Bahr  mit  einem  Kapuziner  oder  ein  Kapuziner  mit  dem 
Bahr  in  der  Messe.  Um  so  mehr  oder  um  so  weniger  als 
der  Bahr  bei  diesem  frommen  Besuche  über  seine  flinken, 
kleinen,  scharfen  und  klugen  Äugerln  seine  ehrw^ürdige 
Mähne  hatte  fallen  lassen. 

BARRl^S.  Als  ihm  in  der  Jugend  auffiel,  daß  ihm  nichts 
einfiel,  machte  er  daraus  eine  sublime  Fümisterie.  Da  dieser 
Culte  du  Moi  nicht  lange  anhalten  konnte,  erfand  er  auf 
Reisen  den  Culte  de  Terre  de  ses  morts  und  wurde  fromm. 
Denn  er  mußte  Gott  jeden  Tag  danken,  daß  er  nicht  als 
Findelkind  das  Licht  der  Welt  erblickt  hatte. 

BARTELS  ist  der  Name  eines  Zoologen  der  deutschen  Fauna 
literarica,  der  solches  erst  wurde,  nachdem  er  als  ein  Tier  be- 
sagter Fauna  begonnen  hatte.  Schwer  festzustellen,  was  er  zu- 
vor und  überhaupt  war.  Jedenfalls  hat  er  als  Literatier  wenig 
Glück  gehabt,  wessen  er  Schuld  gibt,  daß  die  Ställe  mit  jüdi- 
schen Literatieren  so  überfüllt  seien,  daß  ein  dünnes  Christen- 
schwänzchen darin  keinen  Platz  fände.  Als  Zoologe  hat  er 
einen  Radiometer  für  Nasen  erfunden,  die  ihm  nicht  passen. 

DER  BAHR  HOFMANN  sieht  bloß  so  aus.  Wirklich  ist  er 
ein  jüdischer  Hirtenknabe  des  alten  Bundes,  der  auf  den 
Fluren  von  Zion  die  Schalmei  bläst,  wobei  ihm  der  zweite 
Wiener  Stadtbezirk,  die  Leopoldstadt,  entzückt  zuhört. 

DER  BAUDISCH.  Das  ist  ein  für  die  weichlichen  klima- 
tischen Verhältnisse  seines  Vorkommensgebietes  —  wohl 
aus  nördlichen  Gegenden  eingewandert?  Schlesien?  —  sehr 

2'  19 


kräftig  gebautes,  ruppig  befelltes,  einzelgängerisches  Tier 
aus  der  Gattung  der  Quadrupeden.  Sehr  harter  Schädel 
zeichnet  es  aus. 

BECHER.  Gehört  nicht  hierher.  Denn  was  man  Becher 
nennt  ist  eine  Rakete  der  neueren  Feuerwerkerei,  die  ihr 
den  Namen  Becher  oder  Raketenvogel  gegeben  hat,  aus 
welch  letzterer  Bezeichnung  sich  wohl  der  Irrtum  her- 
schreibt, diese  Rakete  für  ein  Tier  zu  halten.  Mit  Lebe- 
wesen hat  sie  nur  das  gemein,  daß  sie  nie  so  geht  wie  der 
Schöpfer  will.  Mit  allem  Möglichen  und  Unmöglichen  prall 
geladen  platzt  sie  entweder  gar  nicht  oder  zur  unrechten 
Zeit,  fliegt  statt  in  die  Höhe  in  den  Zuschauerraum,  ver- 
pufft mit  Gestank  statt  in  Feuergarben   und   derlei  mehr. 

DER  BENN  ist  ein  kleiner  Lanzettfisch,  den  man  zumeist 
in  Leichenteilen  Ertrunkener  festgestellt  hat.  Fischt  man 
solche  Leichen  an  den  Tag,  so  kriecht  gern  der  Benn  aus 
After  oder  Scham  oder  in  diese  hinein. 

DIE  BIE.  Die  Bie  ist  ein  in  der  Scheinform  einer  Molluske 
auftretendes  Krebschen  mit  Bartfäden.  Lebt  seit  Jahrzehnten 
in  den  Spalten  der  Tageszeitungen,  ohne  an  Unschuld  ein- 
zubüßen. Nährt  sich  von  Tanz  und  Musik.  Bildet  einmal 
im  Monat  einen  blattförmigen,  rasch  verkalkenden  Panzer 
aus  den  Ausscheidungen  der  deutschen  Literatur,  wobei  sie 
wilde  Rückwärtsbewegungen  ausführt.  In  diesem  Zustand 
von  Fischern  sehr  geschätzt. 

DER  BIERBAUM,  wie  im  Sächsisch-Meißenschen  der  Birn- 
baum ausgesprochen  wird,  war  aus  Pappe,  Buchbinderleim, 
Bütten  und  Vorsatzpapieren  ein  Gemachte.  Seine  Früchte 
waren  aus  der  Zuckerspritze  gegossene  krumpelige  Dinger 
aus  Dragant.  Kinder  schleckten  daran  und  riefen:  ,,wie  süß!" 
Dieser  papierne  Birnbaum  w^ar  eine  Zeitlang  beliebtes  Ver- 
setzstück des  zweitwilhelminischen  Puppentheaters  deutscher 
Kulturkonjunktur.  Alt  und  Jung  spielte  Volkslied  und  Minnig- 
liches  im  Schatten  seiner  kleisterpapiernen  Blättchen  und 
tanzte  mit  O-  und  X-Beinen,  so  Christ  wie  Jud  wie  Ber- 

20 


liner,  neckisch,  schelmisch,  meierisch  und  bieder  mit  Kling- 
klang und  Gloribusch  Ringelreihen  um  den  als  deutsche  Eiche 
betätschelten  Stamm  aus  Pappe.  Poetischer  schon  konnte 
man  nicht  mehr,  als  man  sich  hatte  1902  unter  dem  Bier- 
baume. Ihn  fällte  nicht  die  Axt  des  Krieges.  Lange  zuvor  schon 
moderte  er  in  der  Rumpelkammer  der  deutschen  Poeterei. 

BJÖRNSON.  Das  Land  Norwegen  hatte  einmal  zwei  Könige, 
einen  für  zu  Hause,  den  andern  fürs  Ausland.  Den  ersten 
zahlte  das  Ländchen,  den  zweiten  zahlte  er  selber.  Dieser 
zweite  nannte  sich  Björnson  I.  Er  kam  gewaltig  daher,  seine 
goldenen  Brillen  blitzten  und  alle  alten  Ehren  Jungfern  standen 
Spalier.  Mein  Gott,  Norwegen  ist  ein  kleines  Land,  und  man 
darf  von  seinen  zwei  Königen  nicht  zu  viel  verlangen.  Zu- 
dem ist,  was  ich  hier  erzählte,  längst  Legende. 

DER  BLEI.  Ist  ein  Süßwasserfisch,  der  sich  geschmeidig 
in  allen  frischen  Wassern  tummelt  und  seinen  Namen  — 
mhd.  bli,  ahd.  blio  =  licht,  klar  —  von  der  außerordent- 
lich glatten  und  dünnen  Haut  trägt,  durch  welche  die  je- 
weilige Nahrung  mit  ihrer  Farbe  deutlich  sichtbar  wird. 
Man  kann  so  immer  sehen,  was  der  Blei  gerade  gegessen 
hat,  und  ist  des  Fraßes  Farbe  lebhaft,  so  wird  der  Blei 
ganz  unsichtbar  und  nur  die  Farbe  bleibt  zu  sehen.  Unser 
Fisch  ißt  sehr  mannigfaltig,  aber  gewählt,  weshalb  er  auch, 
in  Analogie  zu  jenem  Schweine,  der  Trüffelfisch  genannt 
wird  wegen  seiner  Fähigkeit,  Leckerbissen  aufzuspüren. 
Gefangen  und  in  einen  Pokal  gesteckt  dient  er  oft  Damen- 
boudoirs als  Zimmerschmuck  und  macht  da,  weil  er  sich 
langweilt,  zur  Beschauerin  nicht  ganz  einwandfreie  Kunst- 
stücke mit  Flossen  und  Schwänzchen.  Aber  es  ist  dies 
wahrhaft  ein  Mißbrauch  mit  dem  die  Freiheit  liebenden 
Fisch  zu  nennen,  welcher  der  Jagd  nach  seinem  Belieben 
entzogen  und  gefüttert  eingeht.  Eine  merkwürdige  Freund- 
schaft unterhält  der  Blei  mit  dem  Kartäuserkrebs  ebenso 
wie  mit  dem  Rothecht,  aber  über  die  Natur  dieser  Freund- 
schaft ist  man  noch  nicht  genügend  im  Klaren,  als  daß 
hier  gewissenhafter  Bericht  möglich  wäre.  Zumal  der  echte 

21 


Kartäuserkrebs  sehr  selten  ist  und  über  die  Lebensweise 
des  Rothechtes  die  unsinnigsten  Fabeln  im  Umlaufe  sind. 

BLEIBTREU.  In  den  grauen  Zeiten  Anfang  der  achtziger 
Jahre  des  vorigen  Jahrhunderts  tobte  im  Berlinischen  ein 
Krieg  um  die  moralische  Anerkennung  der  intimeren  Be- 
ziehungen zu  den  Kellnerinnen,  Nun,  man  hat  schon  um 
weniger  bedeutende  Sachen  Krieg  geführt,  1914 — 18  z.  B. 
Jener  heißt  in  der  Geschichte  der  erste  Naturalistenkrieg. 
Die  Namen  der  Krieger  sind  vergessen.  Aber  in  irgend- 
einem Zeughaus  von  Groi&lichterfelde  gibt  es  so  was  wie 
Waffen  jener  Helden.  Eine  hölzerne  Kanone  trägt  den 
Namen  ,, Bleibtreu",  wie  ihn  wohl  neckisch,  aber  voll  trüber 
Ahnung  eine  der  weißbierschenkenden  Helenen  dem  harm- 
losen Blasrohr  gab. 

ERNST  BLOCH  ist  der  chaldäische  Name  für  die  Be- 
ziehung des  Beziehungslosen.  Das  Sternbild  des  Herkules, 
eine  bayrische  Weißwurst  und  ein  jüdischer  Witz  haben 
einen  gemeinsamen  Schnittpunkt,  den  man  Ernst  Bloch 
nennt.  Die  Ebene  ist  nicht  bestimmbar,  man  weiß  nicht, 
ob  auf,  über  oder  unter  dem  Tisch. 

DAS  BONSELS.  Der  zuverlässige  Zoologe  Reiser  hat  sich 
besonders  mit  diesem  Tiere  beschäftigt,  das  er  mir  also 
beschreibt:  englische,  sehr  bewegliche  Windhundrasse,  die 
nur  männlich,  aber  mit  starken  weiblichen  Merkmalen  be- 
haftet vorkommt.  Daher  liebt  es  das  Bonseis,  auch  außer- 
halb der  läufigen  Zeit  nach  weiblichen  Hunden  zu  jagen, 
um  dadurch  die  Männlichkeit  seines  Geschlechts  auffälliger 
zu  machen.  Da  sich  aber  alle  echten  weiblichen  Tiere  von 
der  Zwitterhaftigkeit  des  Bonseis  abgestoßen  fühlen,  so  ge- 
sellen sich  ihm  nur  solche  Hündinnen,  deren  weibliches 
Geschlecht  ebenso  fragwürdig  ist  wie  sein  männliches,  wo- 
durch wieder  sein  Verhalten  illusorisch  wird.  Dem  ölig 
glatten  Fell  entspricht  ebensolche  Gangart.  Elsterhafte  Vor- 
liebe für  glänzende  Gegenstände.  Sehr  eifersüchtig  auf  fremde 
Eindringlinge  im  Salon,  wo  es  sehr  beliebt  ist.  Die  Gattung 
wird  wegen  starker  Blutleere  nicht  alt. 

22 


DER  BORCHARDT.  Ist  eia  sehr  sporadisch  vorkommender, 
immer  allein  und  hoch  fliegender  schöngefiederter  Vogel  aus 
der  Gattung  der  Edelfasane.  Er  zeigt  nur  in  der  Höhe  sein 
über  alle  Maßen  kostbares  Gefieder,  im  Busche  kriechend 
weüä  er  es  so  geschickt  zu  verbergen,  daß  man  nur  die 
graue  Unterseite  seines  Federschmuckes  sieht,  was  Beob- 
achter, welche  den  Borchardt  im  Fluge  nicht  gesehen  haben, 
sondern  nur  manchmal  im  Buschwerk,  zu  der  Behauptung 
veranlagte,  der  Borchardt  sei  grau  und  nicht  so  prächtig. 
Es  gehören  aber  klare  und  scharfe  Augen  dazu,  ihn  in  der 
Höhe  zu  sehen.  Auch  das  solitäre  Vorkommen  des  Borchardts 
haben  einige  bestritten  und  behauptet,  er  sei  ein  Gefolgs- 
vogel  der  George.  Doch  stimmt  dieses  mit  nichten.  Denn 
da&  der  Borchardt  zuweilen  hoch  über  den  George  hin- 
fliegt, darin  kann  Gefolgschaft  nicht  gesehen  werden.  Darin 
ganz  unähnlich  den  Fasanen  ist  des  Borchardts  Schrei  von 
prächtigem  Klange  und  fast  ein  Gesaug  zu  nennen,  in  dem 
manche  vieler  Singvögel  Sing  weise  zu  entdecken  meinen. 
Aber  die  wenigen,  die  sich  ohrbegabt  genauer  mit  dem 
Gesang  des  Borchardts  befaßt  haben,  sprechen,  er  habe 
eine  ihm  durchaus  eigene  Melodie,  nur  singe  er  viel  zu 
selten,  als  daß  man  sie  sich  merken  könne. 

PAUL  BOURGET.  In  der  grünenden  Jugend  versprach 
eine  ungemein  mondän  gebügelte  Hosenfalte,  was  ihr  Inhalt 
auch  hielt.  Für  kurze  Zeit.  Dann  gab's  eine  lange  Zeit  nur 
mehr  mondän  gebügelte  Hose  in  allen  Salons,  wo  man  seit 
Generationen  weiß,  daß  es  Schenkel  und  "Wade  nicht  gibt, 
sondern  nur  Hosenfalte.  Ganz  zuletzt  und  kurz  vor  dem 
unvermeidlichen  Knick  auch  der  besten  Hose  verwandelte 
sich  dieses  Schneiderkunststück  wie  immer  in  Frankreich 
in  einen  Palmenfrack  und  kam  in  das  Depot  Akademie. 

DAS  BROD.  Oder  auch  Maxbrod  genannt  ist  ein  neuer- 
dings viel  in  jüdischen  Tempeln  gehaltenes  Haustier.  Es 
ist  harmlos  und  nimmt,  auch  wenn  es  gereizt  wird,  das 
Futter  aus  der  Hand.  Woraus  man  eben  auf  seine  Eignung 
zu  einem  religiösen  Tier   geschlossen  hat.    Einige  wollen 

23 


voraussagen,  daß  das  Maxbrod  noch  einmal  die  Verehrung 
genießen  werde  wie  das  Buber,  das  bekannte  heilige  Tier 
der  Juden.  Doch  fehlt  dazu  dem  kleinen,  gar  nicht  statt- 
lichen Maxbrod  das  Format,  so  gro&e  Mühe  es  sich  dazu 
auch  gibt.  Vergleichsweise  gesprochen;  das  Format  der 
Gartenlaube  wird  nicht  dadurch  größer,  daß  ich  den  hef- 
tenden Bindfaden  durchschneide  und  den  Bogen  ausein- 
anderfalte. Vergleichsweise  gesprochen. 

BREZINA  =  2X2  =  .y  +  -(^)  +  ... 
(cf  Öl  +  tf  Ö2)  =  4 . 

DER  BROWNING.  So  hieß  der  Riese,  dessen  eines  Bein 
weit  kürzer  war  als  das  andere.  Das  machte  seinen  Gang 
exzentrisch,  um  so  mehr,  als  er  wie  ein  echter  Engländer, 
der  er  war,  immer  nur  seiner  Nase  nach  ging.  Gar  nicht 
wie  der  Zwerg  Tennyson  mit  dem  einen  einzigen  Riesen- 
bein, der  sich  immer  ernst  nahm,  sondern  der  sich  eigen- 
sinnig nahm  wie  er  war. 

DER  BURTE.  Das  ist  ein  Schwarzwaldhirsch  und  leiden- 
schaftlicher Alleingänger.  Erträgt  sein  vielendiges,  an  manchen 
Stellen  etwas  verhakenkreuztes  Geweih  mit  großem  Stolze. 
Seine  Kraft  imponiert  ihm  außerordentlich.  Seine  Stimme 
ist  so  stark,  daß  sie  siebenmal  ihr  eigenes  Echo  machen  kann. 

DAS  CHESTERTON  bedient  sich  nur  imbeobachtet  seiner 
Beine,  vor  andern  nie.  Öffentlich  geht  es  immer  auf  dem 
Kopfe  und  hat  es  darin  zu  einer  Virtuosität  gebracht, 
welche  ihm  erlaubt,  jede  beliebige  Gangart  auf  dem  Kopfe 
zu  gehen:  das  Chesterton  kann  schlendern,  schreiten,  tor- 
keln, taumeln,  marschieren,  hüpfen,  springen,  laufen,  alles 
auf  dem  Kopfe.  Zum  Schrecken  der  Gläubigen  liebt  das 
Chesterton,  la  tete  terrible,  diese  seine  Virtuosität  besonders 
in  Kirchen  während  des  Gottesdienstes  zu  zeigen.  Es  hält 
sein  Auf  dem-Kopfgehen  für  den  unwiderleglichsten  Beweis 
für  das  Dasein  Gottes. 

24 


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CA.BELL.  Das  ist  der  sieghaft-trunkene  Schrei  eines  ameri- 
kanischen Zauberpferdes  auf  der  Prärie  unendlicher  Seele 
und  horizont weiten  Denkens.  Wie  aus  stählernem  Silber 
ist  dieses  federnde  Pferd,  sein  Schrei  ein  Lachen.  Vielleicht 
ist  es  der  Kentaur,  vor  zwei  Jahrtausenden  über  den  Ozean 
geschwommen  tind  dort  aus  Land  gestiegen,  wo  die  Häuser 
hoch  wie  Wälder  stehen.  Wo  der  Große  Pan  als  Whitman 
auferstand,  da  —  ja,  Cabell  ist  der  Kentaur. 

CLAUDEL.  Er  hat  einige  religiöse  Stücke  geschrieben,  um 
damit  zu  beweisen,  daß  es  Gott  nicht  gibt.  Er  bekam  dafür 
von  einer  republikanischen  Regierung  das  Kreuz  der  Ehren- 
legion. Er  trägt  es  wie  Jesus  Christus  das  seine. 

DAS  CONRAD.  Das  Conrad  gehört,  da  längst  ausgestorben 
und  nur  mehr  in  ein  paar  Knocheoresten  vorhanden,  schon 
in  die  Paläontologie.  Der  in  München  gezeigte  museale 
Rest  bestätigt  die  Annahme,  daß  es  sich  um  einen  stark 
mikrokephalen  Zwergstier  handelt,  dem  eine  wollige  flachs- 
gelbe Mähne  auffallend  um  die  Ohren  stand.  Aus  seinen 
Hörnern  machten,  wie  Funde  beweisen,  deutschnationale 
Vereine  gerne  Trinkhör ner,  die  sich  aber  als  unbrauchbar 
bewiesen,  denn  sie  brachten  das  in  sie  Hineingegossene  in 
leeres  Schäumen. 

KORRODY.  Das  ist  der  Name  des  distinguiertesten  Zoologen 
der  schweizerischen  literarischen  Fauna.  Sehr  elegant  hält 
er  sich  oft  bei  seinen  Untersuchungen  sein  Spitzentaschen- 
tuch vor  die  Nase.  Dieses  zeigt  über  dem  Monogramm  etwas 
wie  eine  Krone.  Er  trägt  ein  Einglas,  aber  seiner  Lands- 
leutc  wegen  nur  des  Nachts  im  Schlaf. 

DIE  COURTHSMAHLER.  Ist  eine  Laus,  die  in  der  Sekunde 
eine  Million  Eier  legt.  Sie  tut  das  am  liebsten  in  Kinobuden, 
wo  sie  am  sichersten  ist,  die  Ausbrütung  und  Ernährung 
ihrer  zahlreichen  Eier  zu  finden.  In  Warenhäusern  streichen 
sich  ältere  Ladnerinnen  die  Eier  der  Courthsmahler  als  Kaviar- 
ersatz aufs  Brot. 

25 


CHAMBERLAIN  ist  der  Name  eines  englischen  Präparates, 
das,  eingenommen,  rasche  Verblödung  bewirkt.  England  hatte 
seine  Ausfuhr  mit  hohen  Prämien  bedacht  und  erreichte 
damit,  daß  die  gesamte  Produktion  nach  Deutschland  kam. 
Darauf  fing  England  frohen  Mutes  den  Krieg  mit  diesem 
Lande  an,  sicher,  ihn  zu  gewinnen.  Und  es  hat  Recht  be- 
halten. Die  Wirkung  des  genossenen  Chamberlains  ist  so 
stark,  daß  sie  jahrzehntelang  vorhält. 

DAS  DAUTHENDEY  heißt  jene  scharmante  Erfindung, 
welche  die  Farben  des  Sonnenspektrums  zum  Tönen  bringt. 
Man  hat  sie  auch  das  singende  Sonnenspektrum  genannt. 
Einige  wollten  behaupten,  man  habe  damit  die  Musik  der 
Sphären  eingefangen. 

DIE  DÄUBLER.  Sie  ist  eine  mächtige  Qualle,  welche  in  der 
Adria  lebt  und  vornehmlich  silbergrau  ist.  Doch  vermag  sie 
auch  andere  Farben  hervorzurufen.  Das  System  ihrer  Ge- 
därmfäden ist  außerordentlich  verwickelt.  Oft  kennt  sie  sich 
selber  darin  nicht  aus,  und  verwickelt  sich,  im  Bemühen, 
sich  zu  entwickeln,  noch  mehr.  Wobei  sie  immer  die  Fähig- 
keit des  Farbenspieles  verliert. 

DEHMEL.  Frühzeitig  beschloß  er,  seine  Sämtlichen  Werke 
zu  verfassen.  Er  überblickte  die  Zeitlage  und  seine  eigenen 
Bestände,  Mit  Mädchen,  Wein,  forsch  sah  er  seinen  altern 
Freund  Liliencron  den  saloppen  Versetrab  Heinescher  Bei- 
läufigkeit reiten.  Das  schien  leicht,  und  war  es.  Heine,  Weine, 
das  Weibliche  besaß  man.  Dazu  war  man  eines  Försters 
Sohn,  und  der  deutsche  Wald  gab  einem  keine  Rätsel  auf. 
Die  Zeitlage  war  sozial.  Das  nahm  man  mit.  Und  nun 
konnte  es  losgehn.  Der  Gesamtaufstieg  der  neuen  Literatur 
manifestierte  sich,  und  daß  man  damit  mitstieg  schien  selbst- 
verständlich. Es  ging  ja  so  natürlich  zu.  Zumal  mancher 
Vers  gelang.  Da  gab  es  im  Gewissen  Dehmels  einen  Knax. 
Er  sah,  daß  Liliencrons  schlendriger  Ritt  direkt  in  den 
Bierbaum  führte,  der  auch  schon  da  war.  Und  Dehmel  bog 
ins  Problematische  ab,  ein  Dichtziel  für  sich  zu  suchen. 
Er  schulmeisterte  sich.  Aber  die  dichterische  Substanz  war 

26 


nicht  groß  und  bedeutend  genug,  sich  gegen  den  Schul- 
meister zu  behaupten.  Dehmel  begann  zu  schwitzen.  Er 
reimte  und  versifizierte  Gott  und  die  Welt:  die  beiden  aber 
blieben  hartnäckig  draußen.  Er  dachte  mehr,  als  er  sich 
seinem  Talente  nach  erlauben  konnte,  dessen  kleines  Herz 
davon  die  Sklerose  bekam. 

DER  DÖBLIN,  Dieses  ist  der  Name  eines  vortrefflich  und 
stark  gebauten  Tieres,  das  fest  auf  seinen  vier  Beinen  steht 
und  schreitet.  Es  hat  irgendwann  einmal  in  seiner  Lebens- 
zeit, und  man  weiß  nicht  weshalb,  eine  immer  nur  kurz- 
dauernde seltsame  Gewohnheit,  nämlich  auf  seiner  linken 
Vorderpfote  zu  stehen  und  die  "Welt  verkehrt  durch  seine 
Hinterbeine  zu  begucken,  wodurch  sie  ihm,  ob  sie  nun 
wirklich  so  ist  oder  nur  wegen  der  Nähe  eines  bestimmten 
Organes  unseres  Tieres,  recht  dreckig  erscheint.  Aber  unser 
Döblin  gibt  diesen  Gang  auf  der  linken  Pfote  bald  als 
doch  nicht  seiner  Art  entsprechend  auf,  und  sieht  man  ihn 
dann  wieder  mit  Vergnügen  seinen  guten  straffen  eigen- 
sinnig geraden  Weg  gehen;  ein  starkes,  ausdauerndes,  vor- 
treffliches Tier. 

DAS  DRÖHM.  Das  früher  von  seinem  Entdecker  Dr.  Spengler 
***,  dannDröhm  genannte  winzige  Tier  fand  sein  Entdecker 
im  Blech,  mit  dem  er  sich  gerade  beschäftigte.  Der  Profes- 
sor behauptete,  es  entdeckt  zu  haben.  Aber  es  ergaben  mi- 
kroskopische Untersuchungen,  daß,  was  Spengler  für  ein 
selbständiges  Lebewesen  hielt,  nur  des  Professors  Finger- 
spuren auf  eben  dem  Bleche  waren.  An  des  Spenglers  Fin- 
gern haftete  etwas  Druckerschwärze  von  dreitausend  ge- 
lesenen Gedichtebüchern.  Was  man  erst  ftlr  ein  Tier  halten 
konnte,  dann  für  einen  Blechpilz  ansah,  klärte  sich  auf.  Nur 
sein  Entdecker,  der  zu  seinem  Tier  ein  viele  hundert  Seiten 
langes  Vorwort  genannt  ,,Der  Untergang  des  Abendlandes" 
geschrieben  hat,  hält  an  seiner  Entdeckung  und  am  Tier- 
charakter des  Dröhms  fest. 

DAS  EDSCHMID.  Ein  erst  kürzlich  vom  Träger  selber  ent- 
deckter Parasit  auf  dem  Sternheim,  das  sehr  stolz  darauf 

27 


ist,  es  im  struggle  for  life  bis  zu  einem  Schmarotzertierchen 
gebracht  zu  haben.  Doch  bestreitet  der  Frankfurter  Ama- 
teurzoologe Dr.  H.  Simon  den  parasitären  Charakter  des  Ed- 
schmids  unter  Berufung  auf  des  Tieres  große  Lebhaftig- 
keit, welche  es  zeigt,  sowie  man  es  auf  Gelatine  setzt,  die 
beim  Edschmide  aus  Papiermasse  und  Druckerschwärze 
hergestellt  sein  muß.  Jedenfalls  hat  das  Edschmid  weder 
Beine  noch  Augen,  weshalb  es  sich  in  rasenden  Drehungen 
weiterbewegt  ohne  den  Schwindel  zu  bekommen.  Von  der 
Wirkung  auf  die  Ursache  tibertragend,  hat  man  das  Ed- 
schmid auch  das  Geschwindel-  oder  kürzer  Schwindel- 
ticrchen  genannt. 

DER  EINSTEIN.  Das  ist  eine  kometarische  Angelegenheit, 
insofern  der  Einstein  ein  Schwanz-  oder  Irrstern  des  meta- 
physischen Himmels  ist,  aus  dem  er  zuweilen,  auf  nicht 
erklärbare  Weise,  da  seine  Bahn  nicht  berechenbar,  in  die 
Erdatmosphäre  abirrt,  hier  zum  Glühen  kommt  und  zum 
Sprühen  und  Spucken.  Sein  also  irdisches  Auftauchen  ist 
katastrophal  für  bürgerliche  Hirne,  deren  breiige  Substanz 
bei  Einsteins  größter  Erdnähe  vor  Wut  zum  Kochen  kommt. 
Worauf  der  Einstein  wieder  seine  metaphysische  Laufbahn 
fortsetzt,  von  der  nicht  einmal  sein  schärfster  Beobachter 
Rowohlt  weiß,  wie  sie  verläuft. 

DAS  EHRENSTEIN  ist  ein  um  eine  ganz  schiefe  Achse  ge- 
legtes Tier,  das  von  der  einen  Seite,  wo  es  einen  Flügel  hat, 
einem  Vogel  gleicht,  der  es  nicht  ist,  von  der  andern,  wo 
es  eine  Tatze  hat,  einem  Wolfe,  der  es  auch  nicht  ist. 
Wie  zum  Hohne  über  seinen  einseitigen  Flügel  liebt  das 
Ehrenstein,  diesen  Flügel  im  Dreck  zu  schleifen.  Dann  aber 
wieder  breitet  es  ihn  zu  großer  Überraschung  aus  und  man 
sieht,  daß  es  ein  Flügel  voller  Schwungfedern  ist. 

DER  ELOESSER.  Er  gehört  zur  Familie  der  Kopffüßler, 
jener  überall  gleich  heimischen  Tierart,  die  mit  Hilfe  ihres 
Kopfes  in  der  Advokatur  ebenso  gut  vorwärts  kommt  wie 
in   der  Literatur.    In  letzterem  Falle  entsteht  durch  eine 

28 


metaphysische  Senkung  des  Mittelfu£knochens  der  soge- 
nannte Plattkopf. 

DER  PAULERNST.  So  heißt  eine  hartnäckige  Bandwurm- 
art, die  dem  bekannten  längst  toten  Friedrich  Hebbel 
noch  immer  abgeht.  Die  Stücke  unseres  Bandwurmes  sind 
ganz  harmlos,  trotzdem  empfindet  der  Mensch,  gewahrt 
er  zufällig  eines,  ein  Grauen  unbegreiflicher  Art  davor,  das 
sich  in  Gähnkrämpfen  äußert.  Um  die  völlige  Harmlosig- 
keit dieser  Stücke  zu  zeigen,  hat  sie  der  bekannte  Münchner 
Zoologe  Georg  Müller  gesammelt.  Aber  er  konnte  auch 
dadurch  die  Menschen  nicht  von  ihrem  Irrwahne  abbringen. 
Vielleicht  gelingt  dies  erst,  wenn  die  Sammlung  aller  Stücke 
dieses  Paulernstes  vorliegt,  was  aber  noch  lange  nicht  der 
Fall  sein  dürfte,  denn  unser  Paulernst  ist  ein  außerordentlich 
langer  Bandwurm. 

ESSIG.  Das  wurde  am  Ende  aus  einem  gut  duftenden 
kleinen  schwäbischen  Land  wein,  als  die  Flasche  unge- 
trunken,  aber  offen,  zu  lange  auf  einem  Berliner  Schank- 
tisch der  Kaschemme  ,,zum  Sturm"  stand. 

DAS  EULENBERG.  Das  Eulenberg  ist  ein  Pechvogel  aus 
der  Familie  der  Käuzchen.  Es  baute  sein  kunstvolles  Nest 
in  den  Trümmern  von  Barock-  oder  Rokoko-  oder  Bieder- 
meierpalästen oder  sonstigen  Schlössern.  Es  hat  aber,  da 
man  es  da  immer  aufstöberte  und  verjagte,  auf  solchen 
Nestbau  verzichtet  und  lebt  seitdem  im  Riß  von  anderer 
Schatten.  Man  gönnt  ihm  diesen  Platz,  wenn  es  auch  keiner 
an  der  Sonne  ist,  und  nimmt  es  auch  hin,  daß  es  zuweilen 
seinen  Ruhplatz  in  einem  fremden  Schattenriß  auf  abscheu- 
liche Weise  verunreinigt. 

EUCKEN.  Dieses  rätselhafte  Wort  findet  man  in  alle  Kuh- 
glocken des  deutschen  Ideal-Idealismus  graviert.  Das  Läuten 
der  so  gravierten  Glocken  ist  am  hohlen  schönen  Klang 
erkenntlich.  Die  damit  geschmückten  Tiere  sind,  in  der 
österreichischen  Metzgermundart  gesprochen,  Beinlvieh.  Das 
heißt  sehr  mager  und  zu  Braten  gar  nicht  gesucht. 

29 


DAS  EWERS.  Eine  kleine  Hunderasse  harmloser  Erschei- 
nung, dem  ein  launiges  Naturspiel  ein  Bauchfell  gegeben 
hat,  das  Nicht -Kenner  für  Leopardenfell  halten  können. 
Jede  Berliner  Nutte  wünscht  sich,  wie  man  weiß,  zu  ihrem 
dreizehnten  Geburtstag  ein  Ewers  an  die  Leine  für  die 
Tauentzienstraße,  und  bekommt  es  auch  ganz  nahe  bei, 
wo  das  KDW  immer  einen  großen  Vorrat  auf  Lager  hält. 
Mehr  ist  darüber  nicht  zu  sagen. 

DIE  FACKELKRAUS.  Die  Fackelkraus  hat  eine  Anti-Natur, 
weil  sie  aus  dem  Kote  dessen  geboren  ist,  den  sie  ver- 
nichten will.  Sie  ist  stets  wutgeschwollen  wegen  ihrer  un- 
reinen Geburt.  Ausgezeichnet  ist  sie  durch  ihre  Fähigkeit, 
die  Stimmen  der  Menschen  nachzuahmen.  Sie  tut  solches 
auf  verschiedene  Art.  Sie  ahmt  die  Stimmen  von  Propheten 
und  Dichtern  nach,  um  ihnen  zu  gleichen  und  mit  ihnen 
verwechselt  zu  werden.  Die  Stimmen  anderer  Menschen 
hinwieder,  um  sie  zu  verhöhnen  und  zu  vernichten.  Bevor 
das  Wedekind  ausstarb,  war  die  Fackelkraus  dessen  Freun- 
din und  stellte  sich  auf  das  erhöhte  Podium,  wenn  das 
"Wedekind  sich  begattete  oder  sonst  sekretierte.  Die  Fackel- 
kraus äußerte  dann  immer  lauten  Beifall,  damit  man  sie 
höre.  Sie  gerät  in  großen  Zorn  und  wird  äußerst  boshaft 
bis  zur  Giftigkeit,  wenn  sie  meint,  daß  man  andere  höre. 
Um  zu  verhindern,  daß  andere  gehört  werden,  gebraucht 
sie  zwei  Mittel:  das  eine  ist,  daß  die  Fackelkraus  diese 
andern  lobt,  das  andere,  daß  sie  sie  verhöhnt.  Beides  tut 
sie  mit  überschreiender  Fistelstimme,  damit  man  sie  hört. 
Die  Fackelkraus  hat  nämlich  keine  Natur,  sondern  sie  ist 
nichts  als  Stimme  und  lebt  infolgedessen  nur  so  lange, 
als  man  sie  hört.  Da  sie  das  weiß  und  den  Tod  fürchtet,  wie 
jedes  Lebewesen,  hat  sie  ihre  Stimme  kunstvoll  geübt  auf 
Gehörtwerden.  In  der  Wut  wird  die  Stimme  der  Fackel- 
kraus oft  besonders  kunstvoll,  weil  sie  aus  Angst,  man  würde 
sie  sonst  nicht  hören,  mit  immer  neuen  Stimmen  schreit. 
Sieht  sie  dann,  daß  man  sie  hört,  so  ist  sie  sehr  stolz  und 
wiederholt  alles,  was  man  über  sie  gesagt  hat,  noch  einmal. 

30 


Dann  kann  man  eine  Stimme  bei  ihr  hören,  die  sie  sonst  nicht 
zeigt,  da  sie  in  solchen  Augenblicken  ihre  Angst  vergißt. 
Der  Atem  der  Fackelkraus  ist  häßlich  zu  riechen,  weil  sie 
aus  dem  Kot  ihrer  Feinde  geboren  ist.  Weil  sie  jedoch 
ihre  Feinde  zu  vertilgen  meint,  wenn  sie  deren  Exkrement 
vertilgt,  so  frißt  sie  zornig  ungeheure  Mengen  davon.  Darum 
ist  die  Fackelkraus  ein  nützliches  Tier,  wenn  es  auch  in 
ihrer  Nähe  nur  aushält,  wer  ohne  Geruchsinn  geboren  ist. 
Hier  kann  der  Mensch  Gottes  Weisheit  bewundern,  der 
den  meisten  Tieren  nur  eine  Stimme  gab,  weil  sie  nur 
eine  Natur  haben.  Die  Fackelkraus  aber  hat  keine  Natur, 
sondern  eine  Anti-Natur,  dafür  hat  sie  aber  zahllose  ver- 
schiedene Stimmen.  Wegen  der  Stimmen  hören  manche  auf 
sie,  und  diesem  Umstände,  daß  sie  von  manchen  gehört 
wird,  verdankt  sie  ihr  Leben  und  kann  große  Mengen  von 
dem  Exkrement  vertilgen,  aus  dem  sie  geboren  ist. 

DAS  FLAKE  im  Kleinen  Bestiarium  war  ein  Irrtum,  wie 
die  folgende  Mitteilung  des  Flakes  beweist:  ,, Lieber  Stein- 
hövel,  aus  dem  neuen  Bestiarium:  Peregrin  Steinhövel,  ein 
Esel,  von  dem  man  naturgemäß  nur  Eselsfußtritte  erwarten 
kann.  Gar  nicht  ergebenst  Flake."  Das  Flake  wäre  demnach 
ein  Löwe.  Aber  ein  toter.  Lieber,  gescheuter  Flake! 

DER  FONTANA.  Inmitten  einer  Fauna,  deren  Regel  die 
schwächliche  Absonderheit  ist,  macht  ein  so  gut  und  ge- 
rade gewachsenes  Tier  wie  der  an  den  Quellen  des  Lebens 
äsende  Fontana  leicht  einen  ungewöhnlichen  Eindruck  statt 
des  starken,  der  ihm  zugehört.  Gute  Witterung  und  scharfes 
Geäug  sind  dem  Fontana  eigentümlich. 

DER  FRANK.  Der  Frank  ist  ein  Schaltier  ohne  Schale, 
trotzdem  es  in  einer  so  derben  Umgebung  lebt,  daß  sein 
sehr  weicher,  empfindlicher  Leib  sehr  wohl  einer  Schale 
bedürfte.  Diese  Weichheit  erstreckt  sich  bis  auf  des  Franks 
Gemüt  und  erlaubt  es  ihm  nicht,  daß  er  sich,  wozu  er 
imstande  wäre,  eine  feste  Schale  durch  Ausschwitzung  von 
harter  Substanz  bilde.  Alles  was  der  Frank  vermag,  ist, 

31 


mit  lieben  Augen  die  ihn  tretende  und  stoBende  Umgebung 
anzuflehen,  daß  sie  doch  so  gut  sein  möge  wie  sie  sei. 
Man  muß  glauben,  es  habe  hier  dem  Herrn  gefallen,  einen 
Sankt  Franziskus  des  Tierreiches  zu  erschaffen. 

DAS  FRIEDRICH- WILHELM- FÖRSTER.  Das  Friedrich- 
Wilhelm-Förster  ist  ein  Tier,  das  sich  am  liebsten  unge- 
schlechtlich fortpflanzen  möchte.  Es  hat  deshalb  sein  Haupt- 
aufenthaltsgebiet in  die  Ethik  verlegt.  Dort  nährt  es  sich 
von  den  Wurzeln  des  christlichen  Glaubens.  Es  ist  sehr 
sozial  und  liebt  das  Gute.  Es  hat  nur  einen  einzigen  Feind, 
gegen  den  es  blindwütig  anrennt,  das  ist  das  Bessere.  Es 
sieht  genau  so  aus,  wie  der  Mensch  in  seinen  Idealen  aus- 
sehen möchte.  Hilfreich,  edel,  beharrlich,  diszipliniert,  rein 
usw.  Im  irdischen  Jammertal  ist  er  also  ein  Ideal.  In  den 
Gefilden  der  Ideale  ist  er  aber  ein  Jammer,  ein  Nachzügler, 
der  das  längst  Überholte  noch  einmal  einholt.  Sein  bio- 
technischer Typ  ist  Massenbeförderung;  das  hat  in  der 
Wirklichkeit  Vorzüge  und  im  Geist  Nachteile.  Manchmal 
kämpft  er  nur  mit  dem  Weihwedel,  manchmal  aber  mit 
starken  und  verläßlichen  Schlägen.  Er  ist  alles  in  allem  in 
einer  sehr  sympathischen  Weise  unsympathisch  und  hat 
deshalb  starken  Einfluß  auf  das  deutsche  Volk.  Daß  man 
ihm  eine  undeutsche  Haltung  vorwirft,  ist  nur  eine  Meinungs- 
verschiedenheit. Denn  es  kommt  doch  nicht  darauf  an,  was 
man  denkt,  sondern  wie  man  denkt,  und  der  undeutsche 
Mensch  ist  der,  welcher  auch  in  ethischen  Fragen  so  tief 
denkt,  wie  es  der  deutsche  nur  in  wissenschaftlichen  tut. 
Diesen  Vorwurf  läßt  sich  das  Friedrich -Wilhelm -Förster 
aber  nicht  machen. 

DER  FREUD.  Siehe:  Zur  ideologischen  Morphologie.  S.  97. 

FRANCE,  So  heißt  ein  immer  schon  alter  geistvoller  und 
scharmanter  Herr  in  Paris,  berühmt  durch  eine  Bibliothek 
voller  Wunder.  Seit  vierzig  Jahren  pflegt  er  jedes  Jahr 
seine  Bibliothek  zu  ordnen,  wobei  er  mit  seiner  spirituellen 
Nase  in  den  Büchern  schmökert.  Und  das  Ergebnis  des 
Ordnens  und  Schmökems  ist  immer  ein  Buch.  Und  weil  er 

32 


j>ie:      p/vüßL^/^ 


ein  ganz  alter,  guter,  lieber,  mokanter  Franzose  ist,  widmet 
er  jedes  Buch  dem  Andenken  Voltaires. 

DAS  FRIEDELL.  Nicht  zu  verwechseln  mit  dem  Frettchen, 
da  eher  verwandt  mit  dem  archaischen  Enu,  einem  Mega- 
therium  aus  der  Vielsaufgruppe.  Nährt  sich  vornehmlich 
von  Chesterton,  Kierkegaard,  Shaw,  Hegel,  Nietzsche  und 
anderm  Kraut.  Verdaut  vorzüglich  mit  dem  großen  Kopfe; 
die  dabei  ausgestoßenen  Geräusche  sind  weithin  gefürchtet 
als  Humor. 

DIE  GEORGE.  Die  George,  auch  die  große  George  ge- 
nannt, ist  ein  hochbeiniger  Watvogel,  der  durch  die  außer- 
ordentlich schöne  Proportion  seiner  Glieder  wie  auch  durch 
seine  Größe  weit  über  seine  Genossen  im  \)C^asser  hinaus- 
ragt, die  es  ihm  mit  Strecken  und  Recken  ihrer  kurzen 
mißgeformten  Glieder  gleichtun  wollen  zum  großen  Ver- 
gnügen der  zuschauenden  Kinder.  Aber  die  George  nimmt 
solches  Stelzen  der  andern  lächelnd  hin,  weil  es  ihr  ihre 
Einzigartigkeit  und  Mustergültigkeit  beweist.  Die  George 
hat  Töne,  die  sie  nur  im  Gehen  von  sich  gibt,  und  es  be- 
kommen diese  vom  wohlgeordneten  Spiel  der  Glieder  eine 
gefällige  Rhythmik.  Das  Gesicht  der  George  ist  von  ge- 
ringem Umfang  und  wird  von  ihren  Beinen  beherrscht, 
insofern  ihr  Sehen  darüber  nicht  hinausgeht.  Ihr  subtiler 
Organismus  macht  sie  Krankheiten  geneigt,  die  leicht  chro- 
nisch, aber  nicht  gefährlich  werden.  So  ist  die  George 
dauernd  mit  der  leichten  Indisposition  einer  Wolfskehl  be- 
haftet. Den  Schmitz,  den  sie  einmal  am  Bein  hatte,  hat 
sie  rasch  überwunden.  Einen  irritierenden  Gerardy  ist  sie 
aber  so  wenig  los  geworden  wie  an  ihrer  linken  Pfote 
einen  Gundelfinger,  der  sich  da  breit  macht. 

GIDE,  ANDRE  ist  ein  zartgebautcr  Schüler  des  Port  Royal, 
aus  ihm  entsprungen  und  seitdem  —  es  ist  leicht,  aus  einer 
Stadt  zu  entfliehen,  aber  schwer,  dann  die  rechte  Straße 
zu  finden  —  seitdem  müht  sich  dieses  vom  Port  Royal 
sublimierte  Gewissen  um  Weg  und  Wege  zwischen  Genf 
und  Paris,   Rom  und  Moskau.   Es  flüchtet   bisweilen  er- 

3  33 


schöpft  in  Gärten,  vergeblich  von  Blumen  derbe  Früchte 
dieser  Erde  erwartend.  Oder  es  eilt  ins  Parisische  und 
trinkt  sich  ein  ganz  kleines  Voltairesches  Schwippschen  an. 
Manchmal  auch  bleibt  es  zwischen  Paris  und  Genf  in  der 
Provinz  liegen.  Die  Saiten  dieser  Kunst,  eine  Zuflucht, 
sind  über  eine  offene  Wunde  seiner  Seele  gespannt;  er 
schlägt  sie  wie  es  nur  möglich  ist:  diskret  und  mit  pein- 
lichster Gewissenhaftigkeit. 

DIE  GODWINTRINE,  Eine  schöne  pusseliche  weiße  Katze 
mit  chronischen  Tintenflecken  am  Fellchen.  Sie  kam  näm- 
lich auf  einem  Schreibtisch  zur  "Welt  und  hält  daher  dieses 
Möbelstück  für  den  natürlichsten  Aufenthalt  der  Katzen. 
Sonst  sehr  empfindlich  gegen  alle  Unsauberkeit  macht  sie 
sich  aus  den  Tintenpatzen  gar  nichts. 

DER  VONDERGOLTZ.  Die  schwarz-weiß  gestreifte  Raupe 
ließ  einen  ähnlichen  Schmetterling  erwarten.  Man  riet  auf 
einen  Kaisermantel.  Aber  die  Puppe  nahm  schon  ungewöhn- 
liche Form  an,  zuckte  heftig.  Der  Falter  ist  weiß  mit  einem 
farbigen  Schimmer,  morgenrötlich.  Das  Wetter  ist  noch  zu 
trübe,  um  aus  der  zarten  Farbe  zu  deuten,  ob  eine  kleine 
Aurora  oder  eine  neue  Art  daraus  wird. 

GORKI.  Ein  braver  Bursch,  den  man,  Propheten  aus  Ruß- 
land immer  vermeinend,  als  der  alte  Tolstoi  Rückkehr  zum 
Schweinekofen  vorschlug,  ebenfalls  für  einen  Propheten 
hielt.  Kurzatmiger  Nacherzähler  des  breitbrüstigen  Koro- 
lenko  war  und  ist  er  ein  braver  Bursch. 

DAS  GÜTERSLOH.  Das  Gütersloh  ist  ein  Animal,  von 
dem  nur  feststeht,  daß  es  ewig  ante  coitum  triste:  woraus 
man  erkennt,  daß  es  nur  in  der  männlichen  Art  vorkommt. 
Im  Hinblick  auf  diese  seine  zwecklose  Virilität  hat  man 
es  auch  das  Nönnchen  oder  den  Klostermatz  genannt.  Das 
Gütersloh  ist  eigentlich  ein  leichter  Vogel,  fliegt  aber  so 
selten,  daß  man  ihn  einen  ethisch  verkommenen  Wind- 
beutel nennen  kann.  Will  man  ihn  zum  Fluge  zwingen, 
so  soll  er,  wie  einige  behaupten,  die  sogar  hören  können, 

34 


was  er  singt,  anfangen,  in  rührender  Art  seine  Hemmungen 
zu  besingen.  Diese  Vogelsprache  eines  Flügellahmen,  dieser 
Ton,  der  seine  eigene  Existenz  wieder  aufhebt  — :  es  ist 
zu  bezweifeln,  ob  er  auf  den  Wachsplatten  des  literarischen 
Institutes  sich  wird  festhalten  lassen,  von  einer  gebräuch- 
lichen Literatur  meinen  wir,  wo  alle,  die  reden  können, 
auch  reden  wollen.  Der  Klostermatz  liebt  die  Vernunft 
über  alles.  Glaubt  aber,  sie  nicht  deutlich  genug  accen- 
tuieren  zu  können.  Daher  gilt  sein  spärlicher  Gesang  wegen 
der  allzu  großen  optischen  Nähe  des  großgeschriebenen 
Kleinsten  den  Meisten  bestenfalls  als  unverständlich, 
schlimmstenfalls  als  pedantisch.  Da  er  überdies  kein  wasch- 
echter Sänger  ist,  färbt  sein  prächtiges  Gefieder  leicht  ab, 
wodurch  das  Gerücht  entstand,  das  Gütersloh  habe  etwas 
mit  der  Malerei  zu  tun. 

HÄCKEL,  So  heißt  der  Schwurgott  der  deutschen  Frei- 
denker, Denn  hier  ist  wahrhaft  der  Mensch  Gott  geworden, 
durch  nichts  als  daß  er  das  den  Deutschen  sagte,  was 
sich  Darwin  den  Engländern  zu  sagen  gehütet  hat:  daß 
der  Mensch  vom  Affen  abstammt.  Eine  begeisterte  deutsche 
Menschheit  kletterte  auf  die  Stammbäume  solcher  Erkennt- 
nis und  klatschte  mit  allen  vier  Beinen  Beifall,  Nach  einigem 
"Währen  dieses  Affenspektakels  mußte  in  die  Sache  ein 
Sinn  kommen.  Und  da  erfand  der  Menschenaffe  das  ihm 
nächstliegende,  den  Monismus,  Und  weil  solches  sich  in 
protestantischen  Ländern  vollzog,  stellten  sich  auch  alsbald 
die  monistischen  Sonntagsprediger  ein  —  natürlich  aus  dem 
Lande  Sachsen,  Die  Monisten  erkennen  sich  untereinander 
am  deutlich  getragenen  Stammbaum. 

DIE  HALBE.  Die  Halbe  ist,  was  man  in  ihrer  Jugend  noch 
nicht  erkennt,  ein  letzter  "Wurf  der  Marlittziege  kurz  vor 
ihrem  Tode  und  daher  ist  die  Halbe  wenig  lebensfähig. 
Bei  zunehmenden  Jahren  der  Halbe  kommt  die  Mutter 
immer  mehr  zum  Vorschein,  die  von  so  robuster  Konsti- 
tution war,  daß  sie  ihrem  letzten  Sprößling  noch  das  wenige 
Leben  schenken  konnte,  das  er  besitzt. 

3*  35 


DAS  HAMSUN,  die  schönste  der  lebenden  Echsen,  ein 
Naturspielwerk,  Obwohl  von  Größe  der  Alligatoren  und 
scheinbarer  Unbeholfenheit  der  Glieder,  brütend  im  Zu- 
stand versonnener  Ruhe,  ist  es  doch  von  einer  geradezu 
absurden  und  unwahrscheinlichen  Behendigkeit.  Sehr  scheu 
wohnt  es  verschlüpft  im  Gefels.  Gesehen  hat  es  eigentlich 
nur  ein  einziger  Forscher,  wie  man  sagt,  und  zwar  bei 
Sprengung  eines  Steinbruchs,  wo  sich  das  Hamsun  mitten 
im  Pulverdampf  aufrichtete.  Daraus  entstand  wohl  die  Mär, 
es  sei  im  Grunde  ein  schlichter,  biederer  Geometer  mit  ge- 
nial gestörten,  beinahe  weiblichen  Launen.  Aber  dies  dürfte 
eine  Großstadterfindung  sein.  Das  Hamsun  ist  nicht  einmal 
durch  den  Nobelpreis  aus  seiner  Höhle  zu  locken.  Es  leidet 
etwas  an  seinem  großen  Maule,  einem  Organ,  das  bei 
Amphibien,  die  in  mehreren  Elementen,  aber  auf  jeden 
Fall  im  Element  leben,  immer  rachenähnlich  ausgebildet 
ist.  Da  das  Hamsun  nun  scheu,  bescheiden  und  demütig 
ist,  verargt  es  sich  dies  wie  auch  sein  großes  Maul  sehr. 
Denn  seine  Schönheit  läßt  sich  oft  nicht  verleugnen,  und 
es  nimmt  oft  den  Rachen  dagegen  voll. 

DIE  HANDELMAZETTE.  Die  Handelmazette  ist  ein  aus- 
gezeichnet erhaltenes  Paradepferd  aus  dem  Hofstall  des 
Kaisers  Ferdinand  des  Andern.  Sie  hat  den  30jährigen 
Krieg  als  junge  Schimmelstute  auf  der  katholischen  Seite 
mitgemacht,  ließ  sich  einmal  von  den  Schweden  fangen, 
was  ihr  kaiserlicher  Herr,  zu  dem  sie  zurückkehrte,  ihr 
etwas  übel  nahm.  Heute,  in  hohem  Alter,  trägt  die  Handel- 
mazette immer  noch  Heerpauken  wie  ein  Junges  durch  die 
längsten  Prozessionen.  Unter  dem  letzten  österreichischen 
Kaiser  trug  sie  dessen  Kinder  auf  ihrem  Rücken  manch- 
mal in  den  Prater.  Aber  das  stand  der  alten  Schlachtstute 
so  wenig,  daß  die  Passanten  sie  ob  dieser  Kindischkeit 
belächelten.  Aber  die  gegen  heutiges  Licht  etwas  erblindete 
Handelmazette  merkte  es  nicht. 

DER  HARDEKOPF.  Dieses  Käuzchen  wird  nur  bei  Nacht 
sichtbar,   doch  schläft  es  auch  nicht  bei  Tage,    denn  es 

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schläft  überhaupt  nicht.  Das  Hardckopf  ist  immer  nur  etwas 
müde,  nie  schläfrig.  Es  verbreitet  einen  leicht  phosphores- 
zierenden Schein,  Vielleicht  verwest  es.  Es  ist  den  selt- 
samen Käuzchen  zuzurechnen. 

DER  HARDEN.  Dieser  Specht  hat  die  Manie,  bedrucktes 
Zeitungspapier  in  sein  Nest  zu  schleppen  und  es  derart 
damit  auszustopfen,  daß  er  selber  gar  nicht  mehr  darin 
hausen  kann.  Er  muß  daher  immer  neue  Nester  machen, 
die  alsbald  wieder  mit  Papier  gefüllt  sind.  Auch  hohle 
Bäume  stopft  er  auf  diese  Weise  aus,  damit  sie  nicht  in 
den  Himmel  wachsen. 

DER  ERNSTHARDT.  Der  Emsthardt  ist  aus  der  Familie 
der  Spatzen,  die  wir  alle  kennen.  Ihn  zeichnet  nur  die 
seltsame  Gewohnheit  aus,  daß  er  es  einem  Kolibri  gleich- 
macht, insofern  als  er,  was  er  dank  seiner  Kleinheit  auch 
leicht  vermag,  in  große  Blütenkelche  eintaucht,  um  hier 
so  zu  tun,  als  suche  und  fände  er  darin  sein  Futter.  Er 
kommt  vom  Blütenstaub  ganz  bestäubt  und  betäubt  zum 
Vorschein,  so  daß  er  immer  eine  Weile  taumelt,  was  einen 
sehr  komischen  Anblick  gewährt.  In  ungebildeten  Kreisen 
hielt  man  den  Fliegenfänger  manchmal  für  einen  wirklichen 
Kolibri,  aber  man  wurde  rasch  belehrt,  daß  die  Landschaft 
des  deutschen  Mittelgebirges,  in  welcher  der  Emsthardt 
lebt,  das  Vor-  und  Fortkommen  eines  echten  Kolibris  ganz 
ausschließe.  Heute  weiß  jedermann  über  die  Spatzennatur 
des  Ernsthardts  Bescheid. 

DAS  HASENCLEVER.  Weil  sie  clever  wie  ein  Hase  ist, 
hat  man  eine  stark  überzüchtete  Windhundrasse  so  ge- 
nannt. Das  Hasenclever  besteht  zu  Zeiten  nur  aus  Nase 
und  Wedel,  das  andere  ist  alles  Wind.  Das  bedauerns- 
werte Tier  kommt  dann  immer  in  die  fatale  Lage,  nicht 
mehr  sein  Vorne  und  sein  Hinten  zu  unterscheiden,  so 
daß  es  mit  dem  Schweiferl  riecht  und  mit  der  Nase  wedelt. 
Es  ist  zum  Erbarmen.  Wenn  es  auf  die  immer  alerte  cle- 
vemess  verzichtete,  könnte  vielleicht  noch  ein  guter  rich- 
tiger Hund  aus  ihm  werden. 

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HATVANY.  So  heißt  der  antiphilologische  Philologe,  der 
sämtliche  neueren  ungarischen  Literatiere,  wenn  nicht  er- 
funden, so  auf  dem  Gewissen  hat.  Er  stehe  also  hier  als 
das  Totum  pro  partibus.  Das  von  ihm  erfundene  Ungarn 
rächte  sich  an  seinem  Erfinder  damit,  daß  es  ihn  ver- 
bannte. Der  Hatvany  aber  staunt  im  Auslande  über  solche 
Stärke  seiner  Schemen. 

DAS  GEHAUPTMANN,  Das  Gehauptmann  ist  der  umfang- 
reichste Vierfüßler  der  deutschen  Fauna,  bei  außerordent- 
lich kleinem  Kopf,  der  mit  zunehmendem  Alter  immer 
kleiner  wird,  dafür  wächst  der  Leib  immer  mehr.  Die  ur- 
sprüngliche Form  dieses  Leibes  ist  nicht  mehr  zu  erkennen. 
Es  bleibt  erstaunlich,  daß  vier  Füße  alle  diese  Buckel, 
"Wülste,  Täler,  Auswüchse,  Beulen,  Geschwülste  tragen 
können.  An  manchen  Stellen  dieses  Leibes  wachsen  kleine 
Federn,  an  andern  wieder  Haare,  an  dritten  liegt  die  Haut 
ganz  bloß,  an  vierten  ist  sie  eingestürzt  oder  zu  Stein  ge- 
worden. Die  Unförmigkeit  unseres  Tieres  erklärt  es  wohl, 
daß  sich  auf  einige  Stellen  seines  Leibes  ganze  Schichten 
von  Schutt  gehäuft  haben,  die  es  geduldig  trägt,  ebenso  wie 
auf  andern  Stellen  wieder  eine  kleine  Wiese  grünt.  Ja,  an 
einer  Stelle  hatte  sich  eine  Zeitlang  ein  pygmäisches  Köhler- 
volk angesiedelt.  Aber  das  Gehauptmann  ist  so  ungeheuer- 
lich, daß  seine  Moral  gar  nicht  merkt,  was  auf  ihm  vor- 
geht. Das  Gehauptmann  ißt  nur  Vegetabilien  in  ungeheuren 
Mengen.  Fleischnahrung  bekommt  ihm  schlecht.  Sein  kleiner 
Kopf  bleibt  oft  ganz  unsichtbar;  oft  enthält  er  sich  aller 
Funktionen.  Woraus  sich  auch  das  ungeheure  Leibwachs- 
tum und  der  unsicher  schwankende  Gang  unseres  Gehaupt- 
mann erklären  dürfte. 

DAS  GEHAUPTMANN.  Das  Gehauptmann  war  ein  kleinerer 
Verwandter  des  Gehauptmann,  zeigt  aber  im  übrigen  alle 
dessen  Eigenschaften.  Um  es  dem  Gehauptmann  im  Wachs- 
tum gleichzutun,  hat  man  beobachtet,  daß  das  Gehauptmann 
seinen  ursprünglich  richtig  gebildeteu  Kopf  verstümmelte, 
woraus  man  eben  schloß,  daß  des  Gehauptmanns  Minimal- 

38 


köpf  Ursache  seines  macht-  und  planlosen  Körperwachs- 
tumes  sei.  Das  Cehauptmann  war  in  den  letzten  dreißig 
Jahren  im  Aussterben. 

HAUSENSTEIN,  Wer  kennt  nicht  diesen  Namen  des  schnell- 
sten derzeit  lebenden  Schnelläufers?  Hausenstein  hat,  wie 
man  weiß,  jeden  aufgestellten  Schnelligkeitsrekord  gebrochen. 
Er  ist  unüberlaufen.  Sein  Wettlauf  mit  der  Zeit  steht  einzig 
da.  Er  hat,  wie  man  weiß,  die  Zeit  —  die  absolute  nota- 
bene  —  um  eine  Stunde  vierzig  Minuten  sechseindrittel 
Sekunden  geschlagen.  Sein  Laufen  war  dabei  so  rasch,  daß 
die  Zuschauer  von  dem  durch  den  Laufenden  erzeugten 
Wind  umgeworfen  wurden. 

DER  HEIMANN.  Der  Heimann  lebte  ehemals  freischwim- 
mend in  den  nördlichen  Gewässern  der  Mark,  wo  er  aber 
außerordentlich  selten  mehr  gefunden  wird,  seitdem  die 
Menschen  eine  physiologische  Eigentümlichkeit  des  Hei- 
manns entdeckt  und  ihrem  gemeinen  Nutzen  dienstbar  ge- 
macht haben.  Der  Heimann  ist  nämlich  mit  außerordentlich 
sensiblen,  fast  rational  arbeitenden  Tastfäden  ausgestattet, 
mit  denen  er  alles  Unordentliche  in  Ordnung  bringt,  allen 
Schmutz  beseitigt,  alles  Vergessene  erinnert,  alles  Verlorene 
auffindet  usw.  Wegen  dieser  für  die  Freiheit  des  Heimanns 
so  bedauerlichen  Fähigkeit  wird  er  in  Aquarien  als  ordnung- 
schaffendes, differenzierendes  Tier  gehalten. 

DIE  HENNINGS.  Herz,  das  ein  Schmerz  nicht  zu  brechen 
vermag.  Es  hat  nur  einen  kleinen  Sprung  bekommen,  aus 
dem  es  Rede  gewann  wie  aus  einer  Stimmritze.  Herz,  dem 
ein  Schmerz  ein  engelhaftes  Lächeln  gab,  nicht  jenes  ge- 
wisse ,, unter  Tränen",  oder  sinds  schon  Tränen,  dann 
klingeln  auch  diese,  fallen  sie,  wie  silberne  Schellen. 

DIE  HESSE,  So  wird  eine  liebliche  Waldtaube  genannt, 
die  man  aber  wild  nicht  mehr  antrifft.  Ihrer  Zierlichkeit 
wegen  wurde  sie  ein  beliebter  Käfigvogel,  der  den  Be- 
schauer damit  ergetzt,  daß  er  im  Käfig  immer  noch  Ge- 
bärden tut,   als  wäre  er  im  freien  Walde.   Er  verschafft 

39 


dadurch  dem  ihn  haltenden  Stadtbewohner  die  Sensation 
der  Natur,  und  wird  solches  erhöht  von  ganz  kleinen  Drüsen 
unserer  Hesse,  aus  denen  sie  einen  Geruch  absondert,  der 
leise  an  Tannenduft  erinnert. 

HILLE  nannte  man  in  Norddeutschland  einmal  einen  weiten 
Havelock  —  Hille  =  Hülle.  Er,  den  wir  besonders  so  be- 
nannt finden,  war  ganz  vollgestopft  mit  Zetteln,  beschrieben 
mit  orphischen  Zeichen.  Man  fand  diese  Hille  samt  Inhalt 
einmal  steinhart  gefroren  auf  der  Landstraße  zwischen 
Berlin  und  Niederschönhausen. 

HILLER.  Der  Umstand,  daB  man  ihm  manchmal  aus  un- 
bekannten Gründen  Tiernamen  gab,  ließ  bei  Fernstehenden 
—  und  wer  steht  hier  nicht  gerne  fern?  —  die  Meinung 
aufkommen,  es  handle  sich  um  ein  Geschöpf  der  Fauna 
literarica.  Das  ist  ein  Irrtum.  Herr  Hiller  ist  ein  Berliner 
Journalist  und  hat  nie  ein  Hehl  daraus  gemacht. 

DAS  HOFMANNSTHAL.  Dieses  gazellen artige,  außerordent- 
lich dünnbeinige,  daher  nur  stolzierende,  schönfelligc  Tier 
ist  Produkt  interessanter  Kreuzung  aus  italienischer  Wind- 
hündin —  Züchter  d'Annunzio  —  und  englischem  Nor- 
thumberlandhirsch  —  var.  Swinburne  — ,  und  sein  Zu- 
standekommen war  so  bestaunt,  daß  man  menschlichem 
Sprachgebrauch  folgend  von  einem  Wunderkind  sprach, 
das  es  auch  eben  wegen  des  Bestauntwerdens  sozusagen 
bis  ins  mannbare  Alter  hinein  blieb  und  als  welches  es 
auch,  und  sei  es  mit  achtzig  Jahren,  stirbt.  Das  sehr  kost- 
bare, zerbrechliche  Tier  kann  nur  künstliche  Luft  atmen, 
wovon  es  einen  außerordentlich  vornehmen  Geruch  hat. 
Sein  Geschmack  ist  durch  die  Fragilität  seines  gekreuzten 
Magens  so  verfeinert,  daß  es  oft  monatelang  überhaupt 
nichts  frißt,  um  zarteste  Därme  nicht  in  Gefahr  der  Ver- 
stopfung zu  bringen,  die  sein  geheimes  Leiden  ist,  das  es 
zu  solchen  Zeiten  von  seiner  silbernen  Terrasse  aus  mit 
klagender  Stimme  in  die  Schwermut  eines  Sonntagnach- 
mittags im  Juli  röhrt.  Manchmal  äußert  das  Hofmannsthal 
gern  erfüllten  "Wunsch  nach  einer  ländlichen  Heuwiese,  wo 

40 


> 


es  dann  ein  paar  humorige  Sprünge  tut,  welche  alle  die 
CS  sehen  zu  Trauer  und  Tränen  rühren,  die  aber  das  Hof- 
mannsthal sehr  lustig  findet,  wenn  es  auch  bald  davon 
sehr  erschöpft  ist.  Damen  haben  seiner  oder  ihrer  Zeit  dem 
hübschen  Tiere  den  Namen  Cherubin  gegeben  und  es  hört, 
wenn  auch  in  den  Jahren  lang  darüber  hinaus,  immer  noch 
darauf,  einerseits  aus  Liebenswürdigkeit,  andererseits  aus 
Melancholie.  Es  ist  eines  unserer  schönsten  Tiere. 

DER  HOLZ.  So  heißt  eine  Finkenart.  Er  zwitschert  so 
lange  er  jung  ist  seinen  Reim  Fink-Flink  wie  alle  Finken. 
Aber  im  kritischen  Alter  wird  der  Holzfink  dessen  über- 
drüssig. Er  reißt  sich  mit  einer  spaßigen  Theorie  die  Stimm- 
ritze seines  Fink- Flink  durch,  und  alles  was  der  Fink  in 
der  Kehle  hat  läuft  aus.  Mit  dem  Schwänzchen  wippt  es 
zu  diesem  Lautestrom  etwas,  das  wie  eine  Caesur  in  der 
abstrusen  Melodie  aussieht. 

DIE  HÜCH  ist  eine  Schleiereule.  Sie  befindet  sich  am 
wohlsten  im  Keller.  Ihr  Ruf  klingt  manchmal  heyser,  manch- 
mal luther,  wie  ein  hier  spaßender  mittelhochdeutscher  Be- 
schreiber  sagt,  der  sein  Mittelhochdeutsch  eben  nur  so 
kennt,  wie  man's  heute  auf  der  Schule  gelehrt  bekommt. 

DER  HÜYSMANS.  Dieser  ist  ein  salamandrisches  "Wesen. 
Es  verbrannte  auch  in  den  Feuern  der  Hölle  nicht,  in  die 
es  sich  stürzte.  Sondern  erglühte  darin  wie  der  Teufel  in 
einer  Nonnenzelle. 

IBSEN.  Als  Apothekerlehrling  wurde  er  beim  Pillen- 
drehen und  Pulverstampfen  nachdenklich  über  die  Men- 
schen, welche  schluckten  was  er  da  herstellte.  Und  erstaunt 
darüber,  daß  sie  es  schluckten,  machte  er  sich  selbständig 
und  verkaufte  nach  eigenen  Rezepten,  deren  Formulare  er 
von  der  Pariser  Firma  Dumas  Fils  bezog.  Die  Firma  war 
in  der  kleinen  Stadt  gut  eingeführt  und  gewährte  dem 
kleinen  Apotheker,  der  sich  selbständig  gemacht  hatte, 
Kredit.  Die  Rohstoffe  seiner  Heilmittel  bezog  er  mannig- 
fach, insonders  aber  aus  England,   Durch  zu  lange  Lage- 

41 


rung  seiner  Sendungen  in  dem  kleinen  fensterlosen  Magazin 
seines  nordischen  Städtchens  wurden  die  Sachen  etwas 
muffig,  was  aber  gerade  den  Deutschen  schmeckte,  an  die 
er  eine  Zeitlang  ausschließlich  exportierte.  Erst  heimlich, 
dann  schon  kühner,  schließlich  sehr  ostentativ  nahm  jede 
halbwegs  miß-  oder  unverstandene  deutsche  Frau  Nora- 
oder Heddapillen.  Was  einen  schwedischen  Exporteur  mit 
schärfern  Pastillen  auf  die  Beine  brachte,  wodurch  die  des 
norwegischen  etwas  aus  der  Mode  kamen.  Der  bedachte 
die  Sache  in  seinem  kleinen  Laden  und  kam  zum  Schlüsse: 
nosce  te  Ibsen.  Und  begann,  seinen  frühern  Schwindel 
aufzudecken. 

DER  JACOBSOHN.  Er  ist  wie  der  Kerr  und  der  Harden 
aus  der  Familie  der  Spechte,  deren  Glieder  sich  in  den 
Tod  nicht  leiden  können,  was  mit  dem  bedauerlichen  Ver- 
fall der  Familie  zusammenhängt.  Der  Jacobsohn  ist  von 
ihnen  allen  der  geschickteste  in  der  Unterscheidung  voller 
und  tauber  Nüsse.  Im  Verspeisen  eines  guten  Kernes  zeigt  er 
weniger  Fertigkeit  als  im  Zerschnitzeln  eines  tauben  Gehäuses. 

FRANCIS  JAMMES:  ein  bäurisch -simpel,  aber  zierlich 
mit  Herzen  und  Rosen  bemalter  Nachttopf,  der  in  lächeln- 
der Demut  und  sonnbeschienen  auf  der  Holzgallerie  des 
ländlichen  Pfarrhofes  steht.  Die  lawendelduftende,  leicht 
hinkende  ältliche  Schwester  des  guten  Pfarrers  hat  in 
frommer  Unschuld  und  nicht  ein  bißchen  lächelnd  weiße 
Lilien  in  den  Pot  de  chambre  gesteckt.  Eine  Schwalbe 
fliegt  nah  dran  vorbei. 

DER  JOHST.  Voll  Kraft  der  Glieder  und  innerm  Feuer 
trägt  dies  wohlgebaute  Tier,  auf  leichte  Sprünge  verzich- 
tend, herzhaft  und  klug  selbstauferlegte  Halfter  und  Zügel. 
Es  sieht  Weg  und  Ziel. 

DIE  KAFKA.  Die  Kafka  ist  eine  sehr  selten  gesehene  pracht- 
volle mondblaue  Maus,  die  kein  Fleisch  frißt,  sondern  sich 
von  bittem  Kräutern  nährt.  Ihr  Anblick  fasziniert,  denn 
sie  hat  Menschenaugen. 

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DAS  KAISERÄFFCHEN.  Der  Affe  ist  wie  man  weiß  ein 
in  der  Nachahmung  des  Menschen  sehr  geschicktes  Tier. 
Man  hat  ihn  auch  deshalb  oft  vom  Menschen  abgeleitet, 
behauptend,  der  Affe  sei  ein  degenerierter  Mensch.  Solches 
haben  aber  nur  Gelehrte  aus  einem  so  eingeschränkten 
Beobachtungsfeld  w^ie  den  heute  lebenden  Menschen  be- 
hauptet. Das  Kaiseräffchen  tibertrifft  seine  Mitaffen  in  der 
Nachahmung  des  Menschen  um  ein  Bedeutendes.  Beson- 
deres Geschick  zeigt  das  Kaiseräffchen  in  der  Nachahmung 
aller  menschlichen  Exzentrizitäten  und  Ungewöhnlichkeiten. 
Kaum  geht  so  etwas  an  seinem  Käfig  vorbei,  so  kann  es 
das  Kaiseräffchen  schon  zum  großen  Gaudium  der  Kinder. 
Da  diese  Eigenschaft  auch  dem  Kaiseräffchen  viel  Ver- 
gnügen zu  machen  scheint,  liegt  es  immer  in  den  Gitter- 
stäben seines  Käfigs  auf  der  Lauer  und  es  ist  so  gar  nicht 
vorhanden.  Denn  das  Kaiseräffchen  ist  nur  da,  wenn  es 
nachahmend,  also  nicht  da  ist.  Das  Kaiseräffchen  an  sich, 
das  reine  Kaiseräffchen,  gibt  es  nicht. 

DER  KASSNER.  Der  Kassner  ist  ein  Bohrwurm,  der  die 
Eigentümlichkeit  zeigt,  sich  selbst  zu  durchbohren  und 
dabei  mit  so  außerordentlichem  Geschick  zu  Werk  geht, 
daß  es  ihm  nicht  schadet.  Der  Kassner  lebt  in  Büchern 
sehr  verborgen  und  tritt  nur  ans  Licht,  wenn  er  sich  aus 
ihnen  ganz  voll,  ja  fast  überfressen  hat.  "Wegen  seiner  oben- 
erwähnten Eigentümlichkeit  wird  er  in  gewissen  Zirkeln 
schöngeistigen  Tischrückens  gern  gezeigt. 

KELLER.  Diese  deutsch-schweizerische  Nationalflagge  steht 
auf  dem  Verlagshausc  Cotta  1921  halbmast.  Auf  allen 
andern  deutschen  Verlagshäusem  ist  sie  hochgezogen,  denn 
man  ist  hier  fieberhaft  dabei,  das  im  Keller  lagernde  Gold 
in  derzeitige  deutsche  Mark  zu  verwandeln,  also  ein  glän- 
zendes Valutageschäft  zu  machen.  Mehr  ist  darüber  nicht 
zu  sagen  1921. 

DIE  CELLARMAN  REGTE  KELLERMANN.  Das  ist  ein 
modischer  Konkurrent  des  Jensens,  mit  dem  es  in  Folge 
äußerer  Hurtigkeit  verwechselt  werden  könnte,   wäre  sie 

43 


nicht  ein  Tausendfüßler,  Die  interessant  geformte  und  be- 
gabte Assel  gedeiht  im  Schatten  anderer  Riesenbegabungen. 
Oft  hält  sie  sich  warm  unter  dem  Leibe  des  trag  liegenden 
Hamsuns.  Die  tausend  Beine  bringen  die  Kellermann  be- 
liebig schnell  und  auf  allen  Flanken,  vorn,  hinten,  am 
Rücken,  auf  der  Nasenspitze  fort.  Seine  Zartheit  ist  Licht- 
scheu. Lebt  im  wilden  Westen  des  ,, Gefühligen"  eben  so  gut 
wie  in  "Wallstreet  des  ,, Gedanklichen".  Kommt  aber  auch  in 
der  Küche  vor,  unter  Backtrögen. 

DAS  KERR.  Das  lebhafte  Kerr  ist  eine  Abart  des  Bunt- 
spechtes. Es  beklopft  mit  seinem  ausgebildeten  Schnabel 
alles,  was  es  auf  der  Welt  gibt,  und  unternimmt,  um  noch 
mehr  beklopfen  zu  können,  oft  weite  Reisen.  Wenn  es 
klopft,  stößt  es  immer  seinen  Schrei  aus  ,,Kerrkerr"  oder 
,,Cri-Tik",  in  allen  Modulationen  versucht,  aber  immer 
deutlich  bleibend.  So  daß  man  ihn  im  Walde  an  diesem 
Schrei  sofort  erkennt  schon  von  weitem.  Man  nennt  ihn 
den  König  der  Grunewälder.  Erhebt  er  sich  gegen  seine 
Natur  um  einen  Meter  höher  als  sein  Baumwipfel,  so  duldet 
das  ein  auf  dem  Nachbarbaum  horstender  Verwandter  des 
Kerrs  nicht,  welcher  Harden  heißt. 

DER  KEYSERLING.  Der  Keyserling  war  ein  Kranich,  also 
ein  Wandervogel.  Er  wanderte  aber  immer.  Nirgends  blieb 
er  länger,  als  bis  der  sehr  neugierige  Vogel  die  Denkge- 
wohnheiten seiner  Hausgenossen  ausgekundschaftet  hatte, 
die  sich  der  Keyserling  am  liebsten  unter  den  Philosophie- 
professoren aussuchte.  Dieses  gelang  ihm  bei  seiner  großen 
Übung  darin  und  bei  den  wenig  eigentümlichen  Denkge- 
wohnheiten der  Professoren  meist  schon  in  einer  halben 
Stunde.  Zur  Zeit  brütet  er  Tecier  in  Darmstadt. 

KIPLING.  So  taufte  man  die  große  Kanone,  die  zum  ersten 
Male  über  dem  Grabe  der  Queen  abgeschossen  wurde  und 
deren  Echo  die  Buren  ebenso  hörten  wie  die  Hindus,  die 
Kanadier  wie  die  Australier  und  das  im  Jahre  1914  end- 
lich auch  die  deutschen  Langohren  schmerzlich  erreichte, 
indem  es  ihnen  das  Trommelfell  in  jedem  Sinn  des  Wortes 

44 


zerriß.  Daß  man  da  ein  Lissauerchen  in  die  Hose  pi&te, 
konnte  nicht  erleichtern. 

DER  KLABÜND,  Der  Klabund  ist  ein  überaus  buntfarbiger 
Kugelkäfer,  dem  seine  natürliche  Buntheit  noch  nicht  genügt. 
Wo  immer  er  was  Farbiges  findet,  rollt  er  sich  darin  herum, 
so  lange,  bis  er  auf  seinen  kleinen  Stacheln  einiges  davon 
aufgespießt  hat,  was  ihn  noch  bunter  erscheinen  läßt  als 
er  ist.  Solches  macht  dem  Klabunde  Spaß. 

DIE  KOLB ANNETTE.  Ist  der  Name  einer  Edelziege  von 
vornehmem  Pedigree.  Ihr  Fell  ist  seidig  und  hat  einen 
Schimmer  ins  Romantisch-Blaue.  Ihre  vier  graziösen  Beine 
tragen  sie  leicht,  aber  nicht  immer  sicher  überall  dorthin, 
wohin  sie,  mit  einer  Leidenschaft  zu  hohen  Bergen,  gern 
möchte.  So  muß  sie  bisweilen,  wenn  sie  sich  wieder  irgendwo 
verstiegen  hat,  heruntergetragen  werden.  Die  Kolbannette 
ist  außerordentlich  soigniert. 

DIE  KOLBENHEYER.  Die  Kolbenheyer  ist  die  größte  in 
Österreich  vorkommende  Ameise,  welche  mit  ungeheurem 
Fleiße  eine  Art  Termitenbau  errichtet  gegen  Feinde,  die 
sie  ihrer  Harmlosigkeit  wegen  gar  nicht  hat,  und  mit  vielen 
Räumen,  die  alle  hohl  und  leer  sind.  Aber  sehr  sauber 
gehalten. 

DAS  KORNFELD.  Es  ist  aber  trotzdem  ein  Tier,  wenn 
auch  ein  seltsames.  Von  seinen  sechs  Beinen  sind  nur  die 
vordem  beiden  so  weit  ausgewachsen,  daß  das  Kornfeld 
damit  springen  könnte.  Die  beiden  mittleren  Beine  sind 
nur  zum  langsamen  Gehen  geeignet  und  die  beiden  hintern, 
die  ganz  verkümmert  sind,  schleppt  das  Tier  nach.  Daher 
hat  es  einen  grotesken  Gang  Es  versucht  oft,  seine  Hinter- 
beine abzubeißen,  aber  es  gelingt  ihm  nicht.  Es  würde 
auch,  gelänge  es  ihm,  daran  zu  grund  gehen,  denn  diese 
Hinterbeine  sind  mit  seinem  Herzen  verwachsen. 

DER  KRELL.  So  heißt  ein  scharfäugiger  Sperber,  gewandt 
im  Niederstoß  auf  das  Kleinzeug  heutiger  "Welt.  Nicht  immer 
gut  bei  Stimme  klingt  diese  oft  grell.  Daher  der  Name. 

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DER  LASKERSCHÜLER.  Er  ist  die  einzige  Art  Scarabäus, 
den  man,  ehemals  Königsmumien  beigegeben,  heute  noch 
lebend  antrifft.  Er  entfliegt  einem  geöffneten  Mumiensarge, 
indem  er  seine  bläulich-grün  schillernden  Flügel  schwirrend 
entfaltet.  Er  stirbt  aber  allsofort  im  heutigen  Wüstensand, 
wobei  der  Käfer  einen  seltsam  melodischen  Seufzer  hören  läßt. 

DIE  LOERKE.  Ist  wie  der  Name  sagt  eine  nahe  Ver- 
wandte der  Lerche.  Sie  steigt  singend  hoch  über  die  Höhe 
eines  Fabrikschornsteines  hinaus,  dessen  Rauch  ihr  oft  die 
Kehle  irritiert.  Ihn  zu  vermeiden  macht  sie  höchst  kunst- 
volle und  dabei  äußerst  anmutige  Spiralen.  Die  Loerke  ist 
weder  zu  fangen  noch  zu  zähmen.  Sie  gehört  zu  unsern 
tönendsten  und  schönsten  Sängern. 

LAUTENSACK.  Diesen  Namen  gab  man  einem  in  der 
Zeit  verspäteten  altbayrischen  Landstreicher,  der  nie  die 
Knoten  des  Sackes  zu  lösen  vermochte,  der  seine  Laute 
enthielt.  So  spielte  er  darauf  durch  den  Sack  durch,  was 
sonderbar  klang  und  dem  vortrefflichen  Spieler  einen  wild- 
wütigen barocken  Humor  gab.  Einmal  wäre  es  ihm  fast 
schon  gelungen,  den  fatalen  Knoten  zu  lösen,  da  fiel  er 
von  einem  zufälligen  Streich.  Oder  Gott  schlug  ihn,  denn 
dieser  Lautensack  sollte,  guter  Katholik  der  er  war,  nur 
gedämpft  spielen. 

MAETERLINCK.  Unter  den  vielen  Leichenwäschern  des 
toten  Sardou  war  auch  einer  namens  Maeterlinck.  Er  nahm 
sich  des  Verstorbenen  Hausapotheke  mit.  Die  kleinen  Reste 
populärer  Gifte,  die  sie  enthielt,  verbrauchte  er  in  seiner 
rasch  etablierten  Konditorei,  deren  also  zart  vergiftete 
Kuchen  großen  Zuspruch  fanden.  Nach  Verbrauch  dieser 
Giftreste  wickelte  der  Konditor  seine  Ware  in  mit  Weis- 
heiten und  Banalitäten  bedrucktes  Papier.  Die  Weisheiten 
waren  von  Emerson,  die  Banalitäten  von  ihm.  Als  die 
Deutschen  der  Duncan-Zeit  unseligen  Gedenkens  nackte  weib- 
liche Beine  auf  der  Bühne  für  höchste  Kunstoffenbarung 
hielten,    schickte   ihnen  der   Konditor  sein   Ladenfräulein 

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Monna  Vanna,  die  nur  einen  Mantel  anhatte.  Die  deutsche 
Kunstbegeisterung  saß  in  enthusiastischem  Schweiß  gebadet. 

DER  MELL.  Dieses  ist  der  Name  eines  in  Österreich  vor- 
kommenden Rehs,  das  auffallend  schüchtern  ist.  Es  traut 
sich  aus  Schüchternheit  kaum  zu  leben.  Besitzt  aber  eine 
Festigkeit  des  Leibes,  die  oft  weit  größeren  seiner  Gattung 
nicht  eigen. 

DER  MAUPASSANT.  Ein  Tauchervogel,  der  mit  unend- 
licher Grazie  Perlen  aus  der  Tiefe  holt.  Diese  Tiefe  darf 
allerdings  nicht  tiefer  sein  als  jene  profondeurs  du  cceur, 
wie  man  sie  um  1880  in  Paris  gelotet  hat. 

DIE  MALLARME.  Ein  zartes  Insekt  von  außerordentlich 
geistvoller  Konstruktion  und  ametystblauer  Farbe.  Es  ist 
eingeschlossen  in  ein  Stück  glashellen  Bernsteins,  das, 
selber  ein  Unikum,  eine  kristallische  Form  zeigt.  Das  Er- 
staunliche ist,  daß  das  Insekt  in  dieser  Eingeschlossenheit 
zu  leben  vermag. 

DER  MORGENSTERN.  Ist,  wie  man  weiß,  dasselbe  wie 
der  Abendstern.  Es  kommt  nur  darauf  an,  zu  welcher 
Tageszeit  man  für  den  Stern  schwärmt,  ihn  so  oder  so  zu 
nennen.  Unser  Morgenstern  hatte  am  Morgen  allerlei  schöne 
und  allgemeine  Gefühle,  die  ihm  am  Abend  nicht  mehr  ge- 
fielen. Also  wiederholte  er  sie  abends,  indem  er  sie  per- 
siflierte. Um  doch  andern  morgens  wieder  in  den  Gemein- 
platz seiner  stemhaften  Stereotypie  zu  fallen. 

DER  THOMASMANN  UND  DER  HEINRICHMANN,  Beide 
diese  Tiere  gehören  zu  einer  Familie  mittelgroßer  Holz- 
böcke. Sie  sind  von  verschiedener  Farbe  bei  sonstiger 
Gleichheit  der  Lebensweise  und  Natur.  Man  findet  sie 
immer  auf  demselben  Baume  lebend,  aber  auf  dessen  gegen- 
gesetzten Seiten,  da  sich  die  beiden  Holzkäfer  durchaus 
nicht  leiden  können.  Bohrt  der  Thomasmann  unten  an 
einem  Baum,  so  sitzt  auf  dem  gleichen  der  Heinrichmann 
oben.  Findet  der  eine  die  bebohrtc  Linde  saltig,  so  findet 

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sie  der  andere  morsch,  und  umgekehrt.  Das  Seltsame  ist, 
daB  sich  beide  immer  im  Baume  irren.  Sie  glauben  auf 
einer  Eiche  zu  käfern,  wenn  sie  auf  einer  Tür  aus  Kiefern- 
holz sitzen,  auf  einer  Fichte,  wenn  es  eine  Kommode  aus 
Lindenholz  ist.  Immer  aber  findet  aus  Ärger  über  des 
andern  Anwesenheit  der  eine  morsch,  was  der  andere  saftig 
findet.  Nur  wenn  man  die  beiden  Käfer  auf  einen  Feder- 
halter setzt,  geben  sie  sich  eifrig  ihrer  Tätigkeit  hin,  indem 
sie  emsig  darauf  hinunter  und  hinauf  laufen.  Was  die 
Farbe  anlangt,  so  zeigt  der  Thomasmann  schwarzweiä  ge- 
streifte Flügeldecken,  während  die  des  Heinrichmanns  blau- 
weißrot  mit  manchmal  auftauchenden,  doch  bei  mensch- 
licher Annäherung  rasch  wieder  verschwindenden  roten 
Tupfen  sind.  Diese  roten  kleinen  Tupfen  lassen  sich  übrigens 
durch  leichtes  Reiben  entfernen. 

DAS  MEYRINK.  Das  Meyrink  ist  das  einzige  auf  die 
Erde  gefallene  Mondkalb,  das  einzufangen  gelang.  Das 
Meyrink  w^ird  von  seinem  Einfänger  zeitweilig  gezeigt. 
Schwangeren  Frauen  ist  derzeit  das  Anschauen  des  Mey- 
rinks  wieder  erlaubt,  nachdem  es  anfangs  wegen  einiger 
aus  Schrecken  vorgekommener  Frühgeburten  verboten  war. 
Inzwischen  haben  sich  die  Frauen  in  jenen  Umständen  an 
den  Anblick  so  gewöhnt,  daß  sie  ihn  schmunzelnd  ertragen, 
österreichisch -ungarische  Offiziere  wie  deutsch -nationale 
Abgeordnete  wollten  die  Schaustellung  des  Meyrinks  ver- 
bieten, weil  es  sie  mit  seinem  einen  großen  Auge  verzerrt, 
wie  sie  sagten,  spiegele.  Der  Besitzer  wies  aber  nach,  daß 
die  Spiegelung  gar  nicht  verzerrt  war,  sondern  daß  das 
Objekt  des  Meyrinks  Auge  verzerrte.  Der  Besuch  des  Mey- 
rinks hat  nachgelassen,  seitdem  man  viele  Mondkälber  frey 
herumlaufen  sieht,  von  denen  man  nicht  sicher  sagen  kann, 
ob  sie  vom  Monde,  wohl  aber,  daß  sie  auf  den  Kopf 
gefallen  sind. 

DAS  MOMBERT.  Das  Mombert  ist  ein  Invertebrat  und 
dadurch  merkwürdig,  daß  es  seine  nicht  zu  große  Hirn- 
masse  in    Ganglien    verwandelt   besitzt.    Dieser   Umstand 

48 


K-6lvsfel}j 


hängt  zusammen  mit  des  Tieres  Lautäußerung,  welche  eine 
auffallende  Ähnlichkeit  mit  dem  Lallen  deutscher  Lyriker 
zeigt.  Das  friedliche,  einsam  lebende  Tier  ist  ein  Wieder- 
käuer, doch  nimmt  es  seit  seiner  ersten  Nahrung  keine 
neue  mehr  auf,  sondern  kaut  die  erste  immer  wieder. 

DER  HANSMÜLLER.  So  nannte  der  kleine  Moritz  Bene- 
dikt seinen  Papierdrachen,  den  er  meist  des  Sonntags  in 
der  Fichtegasse  aufsteigen  ließ.  Da  der  kleine  Moritz  viel 
Schnur  hatte,  flog  der  Hansmüller  sehr  hoch,  so  daß  Kin- 
der ihn  für  einen  Vogel  hielten,  was  aber  nur  ein  Gemachte 
aus  alten  Zeitungsblättern  war.  Später  riß  der  Faden,  und 
der  Hansmüller  fiel  auf  das  Dach  eines  alten  Theaters, 
wo  man  ihn  manchmal  auf f läppen  sieht.  Jetzt  wissen  auch 
die  Kinder,  daß  der  gerissene  Hansmüller  nur  aus  Papier- 
fetzen besteht. 

DER  ROBERTMÜLLER.  Eine  genaue  Beschreibung  dieses 
stark  angegriffenen  Tieres  zu  geben  ist  dadurch  erschwert, 
daß  es  seinen  Standpunkt  sehr  oft  wechselt  und  selber 
nicht  immer  genau  weiß,  wo  es  steht.  Um  genau  zu  sein, 
sei  hervorgehoben,  daß  es  aber  immer  sein  eigener  Stand- 
punkt ist,  den  es  wechselt.  Er  ist  ein  amerikanisch  prä- 
parierter Windhund  mit  Flügeln,  fliegt  und  läuft  im  Zick- 
zack und  ist  un verfolglich.  Ähnlich  der  keltischen  Shaw- 
blüte, die  auf  kymbrischen  Gespensterschäften  wächst  und 
ihren  Geruch  über  Nacht  ändert,  ist  unser  Tier  schwer 
festzustellen.  Manche  sagen,  er  sei  gar  kein  Tier,  sondern 
sein  eigener  Trick.  Andere  wieder,  er  sei  ein  Abstämmling 
des  Jensens,  nur  seien  seine  Vorderpfoten  nicht  zum  Greifen 
eingerichtet,  sondern  mit  einer  metaphysischen  Spannung 
überzogen,  welche  den  Robertmüller  befähigt,  im  letzten 
Augenblick  immer  in  die  Luft  zu  fliegen  oder  in  die  Zu- 
kunft. Die  Zoologen  streiten  noch,  ob  diese  Verkümmerung 
der  Vorderpfoten  ein  Vorzug  oder  eine  Schwäche  unseres 
Tieres  sei. 

MENCKEN.   So  heißt  der  bedeutendste  lebende  amerika- 
nische Zoologe,  und  das  heißt,  da  Lowell  nur  amerikanisch, 

4  49 


aber  nicht  bedeutend  war,  dieser  Mencken  ist  nicht  nur 
der  bedeutendste,  sondern  auch  der  erste.  Sein  scharfer 
Witz  macht  es  bedauerlich,  daß  man  den  Mencken  keiner 
bessern  Fauna  gegenüber  sieht  als  der  zumeist  ridikülen 
nordamerikanischen,  die  von  presbyterianischen  Pfarrers- 
frauen —  und  das  sind  90°|o  aller  Bürger  der  U.  S.  —  auf 
die  dürre  Weide  geführt  wird. 

DER  MEREDITH.  Dies  ist  ein  anglo-keltisches  Synonym 
für  Einhorn.  Was  sich  sonst  in  dieser  christlichen  Zeit  als 
dieses  heidnische  Tier  gebärdete,  war  Kostüm  und  Pappe. 
BloB  das  Meredith  war  ein  natürliches  richtiges  Einhorn, 
das  gigantische  weibliche  Wesen  zeugte  wie  ein  Gott.  Das 
bekannteste  heißt  Diana.  Zuweilen  verwickelt  das  Meredith 
sein  Hörn  in  die  Telegraphendrähte,  befreit  sich  davon  mit 
vielem  Witz,  aber  ohne  auch  nur  für  einen  Augenblick 
seine  schöne  Haltung  zu  verlieren.  Als  man  das  Meredith 
im  protestantischen  Deutschland  zeigte,  scheute  das  poetisch 
dressierte  Deutschland  davor,  denn  es  kannte  und  liebte 
das  Einhorn  nur  von  Böcklin  in  Öl  gemalt.  Mit  einer  Jung- 
frau darauf.  Und  Schweigen  im  Walde  genannt. 

MÜNCHHAUSEN.  Dies  ist  der  Name  eines  heraldischen 
Scherzes,  der  ein  aus  sämtlichen  Wappentieren  zusammen- 
gesetztes Tier  darstellt.  Im  Innern  des  Münchhausens  ist 
ein  Spielwerk  angebracht,  das,  zieht  man  an  einer  Schnur, 
schmetternde  Musik  macht. 

DER  MUSIL,  Der  Musil  ist  ein  edles,  in  schönen  Pro- 
portionen kräftiggebautes  Tier,  an  dem,  da  es  zu  der 
kleinen  Familie  der  Damhirsche  gehört,  wo  solches  nicht 
Brauch,  auffällt,  daß  es  Winterschlaf  hält.  Der  Musil 
schläft  nach  jedem  reißend  verlebten  Jahre  fünf  Jahre  lang 
in  unzugänglichem  Forst.  Seine  ungeheure  Kraft  der  Mus- 
keln nicht  nur,  sondern  auch  die  hohe  Sensibilität  seines 
nervösen  Lebens,  welche  der  Musil  in  seinem  wachen 
Jahre  zeigt,  scheinen  den  auffallend  langen  Winterschlaf 
nötig  zu  machen. 

50 


MARTENS.  So  heißt  der  steifste  Stehkragen,  der  zu  den  Vor- 
hemden heutiger  deutscher  Literatur  getragen  wird.  Marke: 
never  clean. 

MEYER  C.  F.  heißt  ein  kleiner  spaßiger  Hügel  am  Züricher- 
see, der  eine  Zeitlang  für  einen  sehr  hohen  Berg  gehalten 
wurde.  Es  war  aber  nur  eine  auf  den  Hügel  gestellte  Ku- 
lisse. Was  den  Hügel  selber  betrifft,  so  zeigt  seine  Spitze 
ein  Häuschen,  eingerichtet  im  Geschmack  jener  Renaissance, 
die  man  um  1885  für  Renaissance  hielt.  Der  Zoologe  Franz 
Baumgarten  hat  ein  ganz  vortreffliches  Buch  über  den 
Hügel  geschrieben. 

NIETZSCHE.  Er  ist  vielleicht  der  bedeutendste  Zoologe 
des  Naturparkes.  Nicht  nur  etwa,  weil  er  die  George  Sand 
als  Schreibbuch  agnosziert  hat  —  ,,wie  sie  dagelegen  haben 
mag"  —  und  Zola  als  ,,die  Freude  am  Stinken".  Solche 
Seitenblicke  auf  das  Unwesentliche  im  Unwesenhaften  messen 
ja  nur  immer  wieder  jene  unabmeßbare  Distanz  ab  zwischen 
Literatier  und  Schriftsteller  und  fallen  wie  Lote  von  fremder 
Oberfläche  in  eigne  Tiefe.  Haß  gegen  alles  Angemaßte,  wenn 
man  gekommen  ist,  das  Schwert  zu  bringen,  scheidet  von 
den  bloßen  Lebewesen  die  positive  Person.  Und  diese  ver- 
achtet die  Kunst  der  Begabungen  und  die  Talente,  den 
Schauspieler  Kunst,  durch  Verwandlung  im  Räume  sich 
fortzubewegen,  während  ungenützt  von  ihren  Seelen  die 
Zeit  verstreicht  oder  stillsteht  im  Kopf  der  Gaffer.  So  sind 
ja  auch  die  Europäer,  in  Sonderheit  die  Deutschen,  diese 
begabtesten  unter  den  Juden,  Alles  geworden,  was  man 
bis  zur  jeweilig  letzten  Stunde  werden  kann,  sind  Christen 
geworden,  ja  Buddhisten  sogar,  aber  —  sie  sind  gar  nichts, 
Sie  machen  mit  nichts  Ernst,  diese  Deutschen.  Sie  spielen 
Nation  und  Bekenntnis,  Krieg  und  Frieden,  spielen  Pots- 
dam gegen  Weimar,  Weimar  gegen  Potsdam  aus,  je  nach- 
dem man  in  einem  symbolischen  Versailles  1871  oder  1918 
schreibt;  und  so  bewegen  sie  sich  durch  äußerliche  Ver- 
wandlung, durch  Modulation,  bei  ungerührtem  Wesens- 
kerne, bei  still-  und  strammstehender  Zeit  im  Räume  fort. 

4*  51 


Daß  sie  aber  irgendwo  mit  irgend  etwas  anfingen,  endlich 
Ernst  zu  machen,  dazu  bedarf  ihr  Leben  des  Paradoxes, 
denn  bloße  Belehrung  tuts  nicht:  Cesare  Borgia  als  Papst. 
Des  Zoologen  Nietzsche  Böses  ist  das  Gladiatorennetz, 
worin  der  deutsche  Spiegelfechter  endlich  sich  verfinge, 
ist  das  erstgeborne  Konkrete,  woran  der  Spiegelnde  end- 
lich Lust  fände  zu  Verhaftung,  dieser  Nein  sagende  Deutsche 
aus  Bequemlichkeit,  aus  Komödianterie,  aus  Koketterie  des 
Geistes  mit  den  allerletzten  Dingen  endlich  Ja  und  Eins 
sagte  in  der  Zeit.  Und  Nietzsche,  der  Lust  zur  Geschichte 
macht,  nannte  dieses  Böse  mit  den  süßesten  Namen  gar 
verführerisch  für  nordische  Ohren,  nannte  es  Süden,  Italien, 
Bizet  .  .  .  und  er  war  eifersüchtig  auf  diesen  Süden  des 
Geistes  wie  auf  einen  Körper  —  ,,ich  habe  fehlerhafte  Linien 
bei  Sorrent  gesehen".  Ja,  der  mit  der  metaphysischen  Schuld 
der  Schauspielerei  beladene  Mensch  —  Wagner  oder  der 
Deutsche,  oder  der  Europäer  —  muß  um  aus  dem  puren 
Werden  zu  einem  Sein  zu  kommen  ein  ganz  gefährliches 
Übriges  tun,  ein  Monströses.  Wie,  wenn  seine  Bekehrung 
zum  Kreuze  in  und  durch  den  Antichrist  erst  geschähe? 
(Was  erwartete  Nietzsche  von  Wagner?)  Damit  der  ahas- 
verisch  Werdende  aus  seinem  Schicksale  sich  risse:  ist  sein 
erstes  bewußtes  Nein  zum  Guten,  Spät- Heiligen,  nicht  sein 
erstes  Ja  zum  Leben?  Das  Kreuz  als  zu  früh,  als  arrogiert 
und  als  Arroganz  gegen  ein  noch  unbekanntes  Leben,  als 
noch  nicht  möglich,  als  geschichtlich  noch  nicht  erreichbar, 
als  das  Vorurteil,  man  hätte  schon  Geschichte,  die  sich 
taufen  lassen  dürfte,  als  Religion  vielleicht  des  jüngsten, 
sicher  nicht  des  heutigen  Tages  — :  es  bleibt  als  ungeheure 
Aufgabe  der  große  Rebus  gegen  ein  vielleicht  einmal  be- 
stätigtes, jetzt  noch  verfrühtes  und  daher  unsittliches  Urteil 
über  die  Instinkte,  ein  Urteil  aus  Mäulern  und  Mündern, 
die  im  christlichen  Tonfall  Musik  treiben,  bevor  sie  eine 
Sprache  haben,  es  bleibt  nur  die  Heraklesarbeit  der  Vor- 
ausnahme des  Antichristlichen,  um  in  der  liberalen  Gegen- 
wart eine  Gegenantike  zu  schaffen,  eine  ,, Fülle  der  Zeit" 
noch  einmal  und  immer  wieder  zu  ermöglichen.  Das  Nietzsche- 

52 


sehe  Böse  als  das  geschichtliche  ens  realissimum ,  woran 
man  eigene  Realität  und  Konsistenz  erst  empfängt;  Re- 
naissance der  demiurgischen  Zeitalter,  wie  die  ein  und 
selbe  Erscheinung  des  Humanismus  und  der  Reformation 
sie  ans  Licht  hob,  hier  als  Antike,  dort  als  den  Alten 
Bund;  Renaissance  als  die  eine  ,, mystische"  Idee  aller 
, .Bildung",  um  im  Augenblicke  des  Einzelnen  ,, Fülle  der 
Zeit",  das  Demiurgisehe,  bis  zu  seiner  Selbsterkenntnis  und 
Selbstüberwindung  zu  wiederholen,  aber  als  historische 
Tat,  nicht  auf  dem  "Wege  des  Historismus:  Cesare  Borgia 
also  als  Papst,  als  Paulseinheit  des  Verfolgers  und  Apostels, 
ja  noch  in  der  Judaseinheit  des  Verräters  und  ,,Aller- 
gläubigsten",  und  im  Antichrist! 

Das  hier  in  den  ewigen  Augenblick  und  in  die  historische 
Gegenwart  gerissene  Erleben  und  Überwinden  der  demi- 
urgischen Periode  als  hypothetische  Negation  des  Logos, 
um  der  vollendeten  Erkenntnis  seiner  in  der  Kirche,  um 
seiner  mit  dem  Indifferentismus  korrespondierenden  theo- 
logischen Überreife  die  Gefahr  zu  bereiten,  ohne  welche 
der  Advent  weder  in  der  Zeit  noch  in  der  Seele  seinen 
Begriff  erfüllte:  das  ist  zugleich  die  Vorausnahme  des  vor- 
nehmsten und  tiefsten  eschatologischen  Geheimnisses  und 
seine  Integration  in  den  Einzelnen  —  der  Antichrist  als 
Provokation  des  Christos.  Die  letzten  Dinge  und  Gestalten, 
in  die  Zukunft  projiziert,  sind  da  vom  bisher  kühnsten 
Protestanten  entdeckt  als  heuristische  Prinzipe  für  die 
höchste  Not  des  Glaubens,  anzuwenden  vom  fast  Über- 
menschlichen gegen  sich  selbst,  gegen  das  Phantomatischc 
in  ihm,  entdeckt  als  die  verzweifeltsten  Aphrodisiaca  zum 
amor  dei. 

DER  PANN\X^ITZ.  So  heißt  eine  kürzlich  entdeckte  Papa- 
geienart. Er  sagt  alles  was  man  ihm  vorsagt  nach,  nur 
in  der  umgekehrten  Reihenfolge  der  Worte.  Dadurch  wird 
das  vorgesagte  Einfachste  dunkel  oder,  modern  gesprochen, 
orphisch.  Also  orphisch  finden  des  Pannwitzes  Rede  alle 
mit  der  Sprache  nicht  Vertraute. 

53 


PELADAN.  Peladans  nennt  man  die  billigen  Bazarartikel, 
die  in  den  Fremdenläden  der  rue  Rivoli  in  Paris  be- 
sonders an  sächsische  reisende  Hochzeitspaare  verkauft 
werden.  Die  Dinger  sind  aus  unbestimmbarem,  aber  billig- 
stem Material  hergestellt.  So  gibt  es  Richard  "Wagners 
Kopf  als  Zigarrenabschneider,  den  persischen  Flügelmen- 
schen als  Futteral  für  Röllchen,  Siegfried  das  Hörn  blasend 
als  Stockgriff,  Isolde  als  Zigarrenspitze  usw.  Die  kaufenden 
Paare  sehen  entzückt  in  diesen  Peladans  eine  Vereinigung 
von  gallischem  Esprit  und  deutscher  Gemütstiefe. 

DIE  PFEMFERT.  Ist  eine  Bremse,  die  sich  mit  Vorliebe 
Parteipferden  auf  die  Nase  setzt  und  sie  durch  ihren  Stich 
zum  Scheuen  oder  wenigstens  zum  Schäumen  zu  bringen 
sucht.  Von  dem  schwachen  Blute,  das  die  Pfemfert  bei 
diesen  Gelegenheiten  ihren  Opfern  zapft,  lebt  sie  recht  und 
schlecht,  aber  mit  großer  Leidenschaft.  Ihre  rotgefärbten 
Flügel  haben  der  Pfemfert  auch  den  Namen  der  Revo- 
lutionsbremse eingetragen.  Ihre  Tätigkeit  bei  den  Pferden 
nennt  man  eine  Aktion.  Daß  ihr  Stich  so  starke  Wirkung 
haben  könne,  ein  Parteipferd  zu  töten,  ist  übertrieben.  "Wer 
solches  glaubt,  unterschätzt  die  Robustheit  der  Parteipferde, 
die  es  mit  jedem  starken  Karussellgaul  aufnehmen. 

PHILIPPE,  CHARLES  LOUIS  oder  — :  Unsere  liebe  Frau 
von  der  Träne  im  Auge.  Oder  des  Menschenfreundes  aller- 
demütigster  Monolog,  Nachts  um  Eins  auf  einer  Bank  bei 
Regen  gehalten  in  Erinnerung  an  einen  weiblichen  Mit- 
menschen aus  dem  Viertel  Grenelle:  Daß  Du  Marie  hießest, 
sagtest  Du,  und  ich  verstand  alles.  Aßen  wir  manchmal 
zusammen  bei  Vater  Tageuille,  so  stieg  das  Mitleid  und 
die  Margarine  in  uns  hoch.  Du  sprachst  kein  Wort,  aber 
in  unsern  Herzen  war  Zwiesprach,  daß  uns  Tränen  in  die 
Augen  traten.  Ich  ging  gebeugten  Hauptes  hinter  Dir  Deine 
Leidenswege.  Hin  und  zurück,  hin  und  zurück.  Wir  teil- 
ten das  Brot,  und  die  Taube,  die  heilige,  war  über  uns. 
Wir  teilten  das  letzte  Hemd.  Ich  gab  dir  des  guten  Wortes 
Steuer,  denn  ich  weiß,  die  Frauen  sind  steuerlos.  Ich  gab 

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dir  meine  Umarmung.  Und  endlich  gab  ich  dir  meine 
arme  Syphilis.  Wie  ein  leuchtender  Sternenmantel  wird  sie 
sich  um  dein  Elend  legen.  Du  wirst  ins  Spital  kommen, 
wirst  das  weiße  Linnen  haben  und  die  gute  Suppe.  Es 
muß  der  Mensch  sein  Letztes,  sein  Einziges,  das  ihm  blieb, 
hingeben,  um  eine  Seele  zu  retten. 

DIE  POLGAR.  Das  ist  eine  feine,  stille,  silbergraue  Maus, 
besonders  artig  anzusehn,  wenn  sie  —  was  das  kluge  Tier 
mit  gut  gespielter  Unbewußtheit  tut  —  über  die  verstimmte 
Leier  der  Zeit  läuft,  hiebei  ein  verstaubtes,  sehnsuchts- 
volles kleines  Geklimper  verursachend.  Die  große  Menge 
hält  das  Polgar  für  harmlos,  doch  hat  unsere  Untersuchung 
ergeben,  daß  jenes  zarte  Mehl  aus  dem  von  unserm  Tiere 
angenagten  Fundamenten  Ekrasit,  wenn  auch  in  sehr  fein 
verteiltem  und  abgeschwächten  Zustande,  enthält.  Aus  win- 
zigen Vornehmheiten  und  Bösheiten,  unvermeidlichem  Zei- 
tungspapier, Lyrismen  und  Lozelachs  und  mit  schönen 
roten  Blutkörperchen  eines  bessern  Lebens  baut  das  Polgar 
Viennensis  aparte  Gedankennestcr,  die  man  wegen  ihrer 
seltsamen  Zusammensetzung  aus  Fragilität  und  Dauer  Fili- 
granitkunstwerke nennt. 

DER  PULVER.  Dies  ist  eine  Tagfaltcrart  aus  der  großen 
Gattung  der  Kohlweißlinge.  Doch  zeichnen  ihn  zarte  blaß- 
rosa- farbige  Flügel  aus,  die  aus  "Wachs  geformt  sind. 
Auch  an  Kunstblumen  können  sie  erinnern.  Sitzt  das  Pulver 
auf  einer  Rose,  so  sieht  es  aus,  als  hätte  man  auf  eine 
natürliche  Blume  eine  aus  dünnem  Stoff  geheftet. 

PREVOST  MARCELLE  hieß  eine  französische  im  Berlin 
der  neunziger  Jahre  etablierte  Sprachlehrerin,  die  sich 
großen  Zuspruchs  bei  jenen  Mädchen  erfreute,  welche  un- 
gestraft unter  Palmen  wandeln  wollen.  Sie  lernten  bei  Mllc 
Prevost  ein  niederträchtiges  Französisch,  aber  sie  kamen 
in  ihren  Liebesaffairen  damit  aus. 

DER  RATHENAU  ist  aus  der  wegen  ihres  Nestbaues  ku- 
riosen Gattung  der  "Webervögel.  Er  baut  höchst  kunstvolle 

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Nester.  Aber  nicht  nur  für  sich,  sondern  auch  für  andere, 
nicht  selbstbauende  Vögel,  die  sich  aber,  da  sie  schwei- 
fend sind,  nicht  in  diese  Nester  hineinbegeben.  Der  Eigen- 
sinn des  Rathenaus,  der  sich  auf  den  Stolz  seiner  Nest- 
baukunst gründet,  geht  so  weit,  daß  er  anderer  Vögel  Nester 
oft  ausbessert  und  ändert,  ja  auch  zerstört,  um  ein  Nest 
nach  seinem  Plane  hinzuhauen.  Das  Nest  des  Rathenaus 
ist  höchst  kunstvoll.  Wärme  besitzt  es  der  vielen  sehr  ver- 
nünftig erdachten  Öffnungen  wegen  wenig.  Da  aber  der 
Rathenau,  immer  Nester  bauend  beschäftigt,  selten  in  sei- 
nem Neste  weilt,  geniert  ihn  das  nicht. 

DER  RINGELN  ATZ.  Kam  die  bordeauxroten  Ozeane  her- 
untergeschwommen, zwischen  bottle  und  battle,  weiß  Gott 
woher,  setzt  er  unvermittelt  auf  tiefsten  Grund  eines  Witzes 
höchste  Spitze.  Vielleicht  aus  des  Wanderers  Rimbaud 
Lenden  entsprungen  irgendwo  zwischen  Abessynien,  dem 
Niederrhein  und  der  Welt. 

RABINDRANATAGORE  ist  der  Name  des  auf  Europa 
heruntergekommenen  Indien.  Auf  die  Dauer  konnte  der 
schwächliche  indische  Mauerrest  dem  Ansturm  englischer 
Bibelgesellschaften,  amerikanischer  Theosophen,  sächsischer 
Naturapostel,  französischer  Bergsonianer  und  preußischer 
Monisten  nicht  widerstehen.  Das  sterbende  Indien  gibt  von 
sich,  woran  es  starb,  und  diesen  Vorgang  nennt  man  Ra- 
bindranatagore. 

DIE  RILKE.  Um  die  Zugehörigkeit  der  Rilke  zum  Ticr- 
oder  Pflanzenreiche  streiten  miteinander  die  Zoologen  und 
die  Botaniker,  indem  sie  diese  nicht  haben  wollen  und 
der  Zoologie,  die  Zoologen  sie  nicht  haben  wollen  und 
der  Botanik  oder  Pflanzenkunde  zuweisen;  und  sagen  die 
Zoologen,  es  fehle  der  Rilke  das  Blut,  weshalb  sie  sie  von 
sich  weisen,  und  sagen  hinwieder  die  Botanisten,  sie  habe 
ein  tierisches  Gebiß,  welches  sie  instand  setze,  Verszeilen 
jeder  Länge  immer  dort  auseinanderzubeißen,  wo  kein  Ge- 
lenk sei,  weder  ein  melodisches,   noch  ein  rhythmisches. 

56 


und  CS  muß  dieses  Gebiß  und  seine  sonderbare  Benützung 
wirklich  zugegeben  werden.  Seltsam  ist  hinwieder  der  Um- 
stand, daß  die  Rilke  nur  weiblich  vorkommt,  wenn  auch 
gewisse  äußere  Geschlechtsmerkmale,  wie  Barthaare,  männ- 
lichen Charakter  haben.  Doch  neigen  sich  diese  Merkmale, 
wie  der  Bart  der  Rilke,  sanft  melancholisch  nach  abwärts, 
als  ob  sie  eigentlich  nicht  da  sein  wollten  und  nur  aus 
Verlegenheit  da  wären,  dementiert  auch  von  der  hohen 
weiblich  zarten  Stimme  der  Rilke,  die  sich  zu  verflüstern 
geneigt  ist  oder  zu  verhauchen.  Ähnlich  darin  dem  Werfel 
ist  auch  die  Rilke  als  Schoßtier  beliebt,  aber  mehr  von 
älteren  Damen  wegen  seiner  sexuellen  Stubenreinheit  und 
des  frommen  etwas  blöden  Augenaufschlages,  der  das  bei 
jenen  Damen  so  sehr  geliebte  Entzückens  wort  ,, himmlisch" 
auslöst.  Unter  sieben  solchen  Damen  kann  man  sicher 
immer  als  die  siebente  die  Rilke  treffen.  Um  ihr  Geschlecht 
zu  betonen,  bekommt  sie  da  gern  ein  Häubchen  aufgesetzt, 
das  ihr,  wie  die  Damen  ausrufen,  ,, himmlisch"  steht.  Das 
Tier  hat  von  dieser  dauernden  Verhimmelung  die  Neigung 
angenommen,  seine  Naseweise  in  theologische  Bücher,  Ma- 
rienlegenden und  ähnliches  zu  stecken. 

ROSTAND,  auch  Fulda  ausgesprochen,  Fulda,  auch  Ro- 
stand ausgesprochen,  war  das  Steckenpferd  des  deutschen 
und  französischen  Geist-Philisters,  das  er  für  den  leibhaf- 
tigen Pegasus  hielt.  Mit  einem  kleinen  Unterschied:  der 
deutsche  Bildungsspießbürger  glaubte  dem  Genius  der  fran- 
zösischen Poesie  zu  huldigen,  wenn  er  sich  für  Rostand 
entzückte.  Aber  der  französische  Epicier  tat  ein  Gleiches 
nicht  mit  Fulda, 

RUSKIN.  Dies  ist  der  Name  eines  Propheten,  der  sich  zu- 
weilen, ohne  jede  geschlechtliche  Entschuldigung,  in  eine 
englische  Gouvernante  verwandelte,  und  als  solche  die 
kirchliche  Kunst  gegen  die  Kirche  ausspielte.  Die  Gouver- 
nante Ruskin  litt  an  chronischem  sittlichen  Kopfweh.  Der 
Prophet  schrieb  mit  der  rechten  Hand,  was  die  linke  Hand 
der  Gouvernante   nicht  geschrieben  haben  wollte.   In  Ger- 

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many  ist  er  nur  als  die  Gouvernante  geschätzt,  denn  hier 
zumal  ist  man  sittlich,  bieder,  keusch  etc.  pp. 

DAS  SALTEN.  Es  gibt  eine  Fliegenart,  die  man  unter 
dem  Namen  Saiten  nur  in  ihrem  Zustande  als  Larve  kennt. 
Als  solche  Larve  lebt  das  Saiten  in  und  von  Zeitungs- 
papier jeder  Farbe  und  jeder  Zusammensetzung,  unan- 
sehnlich, aber  hartnäckig.  Die  ausgeschlüpfte  Saltenlarve 
führt  in  mannigfachen  Formen  ein  Eintagsleben.  Sie  kriecht 
aus  als  grüne,  als  blaue,  als  schwarzgelbe  Fliege,  je  nach 
den  Abwässern,  über  denen  sie  ihren  Tag  auslebt. 

DER  SCHAUKAL.  Dieses  harmlose  Tier  ist  nicht  mit  dem 
Schakal  zu  verwechseln,  wenn  der  Schaukai  auch,  solange 
er  jung  ist,  sich  vom  Aase  nährt  und  das  Gehaben  eines 
reißenden  Tieres  anzunehmen  pflegt,  sofern  er  sich  unter 
Schafen  befindet.  Ausgewachsen  kann  er  sein  Bäh-Bäh 
nicht  mehr  verstellen,  so  gern  er  ihm  auch  einen  bedeu- 
tungsvollen Klang  geben  möchte.  Manchmal  gelingt  es  ihm 
dabei,  sein  Bäh  sozusagen  himmlisch  tönen  zu  lassen,  aber 
man  hört  dies  aus  der  großen  Schar  der  Mitblökenden 
nur  heraus,  wenn  es  so  still  ist  wie  im  Hochland. 

DIE  SCHELER.  Die  Scheler  ist  eine  Echsenart  von  be- 
trächtlicher Länge  und  geschmeidiger  Dünne.  Beides  setzt 
sie  in  stand,  überall  hinzukommen,  wo  man  sie  nicht  er- 
wartet. Sie  legt  ihre  zahlreichen  Eier  um  verwitternde 
Steine,  so  daß  sie  deren  Oberfläche  oft  ganz  überdecken, 
zumal  die  Scheler  die  von  Eiern  unbedeckten  Stellen  mit 
einer  schillernden  Masse  überzieht.  Die  Scheler  besitzt  zwei 
Augen,  von  denen  eines  sehr  scharfsichtig,  das  andere  aber 
blind  ist.  Was  aber  nicht  hindert,  daß  das  Tier  das  gut- 
sehende Auge  oft  schließt,  um  mit  dem  blinden  Sehversuche 
anzustellen,  bei  welcher  Anstrengung  es  meist  jenen  Saft 
absondert.  Die  vier  Füße  hat  unsere  Scheler  unter  der  Haut 
verborgen,  wodurch  sie  eine  sehr  leise  Gangart  bekommt. 
In  den  langwährenden  Brunstzeiten  ist  die  Scheler  außer- 
ordentlich lebhaft.  Von  den  Eiern  ist  noch  nachzuholen, 

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da£  sie  oft  das  gleiche  Ei  einigemale  legt.  "Was  die  Farbe 
betrifft,  so  ist  die  Scheler  auf  dem  Rücken  tiefschwarz  mit 
einem  ganz  dünnen  roten  Streifen,  Auf  dem  Bauche  aber 
schillert  sie  vieldeutig  und  beziehungsreich. 

DER  SCHIEBELHUTH.  Ein  stolzbefiederter,  hochfliegender 
Vogel  aus  der  Familie  der  singenden  Schwäne.  Nur  sieht 
man  ihn  nie  im  Wasser  plätschern.  Seine  Rastplätze  im 
unzugänglichen  Dickicht  des  Urwalds.  Voller  Stimme  und 
Stimmen,  wie  Orgel  oft,  dann  wie  zarte  Kinderflöte  ist  des 
Schiebelhuth  Gesang  weithin  tragend  und  tief  eindringend, 
posaunisch  und  zärtlich,  Schlittenglöcklein  und  Münster- 
glocke. Er  gehört  wie  der  Borchardt  zu  der  allerselten- 
stcn  Art. 

DAS  SCHICKELE.  Das  zierliche  Schickele  ist  wegen  seines 
rötlichen  Pelzes  viel  gejagtes,  elegantes  Wiesel.  Das  Schickele, 
zu  lebhaft  und  unruhig,  immer  im  Laufen,  immer  im  Suchen 
und  immer  gejagt,  auch  wenn  es  nicht  gerade  gejagt  wird, 
den  Jäger  auf  der  Ferse  glaubend,  setzt  keinerlei  Fett  an, 
wodurch  das  leidenschaftliche  Tier  in  Deutschland,  wo  der 
Bauch  die  Würde  bedeutet,  nicht  beliebt  ist. 

DIE  SCHLAF.  Die  Schlafente  gilt  als  der  deutsche  Marabu, 
weil  sie  kahlköpfig  ist  und  auf  einem  Beine  steht.  Sie  gilt 
darum  als  ein  nachdenklicher  Vogel.  Aber  die  Schlafente 
denkt  nur,  warum  sie  keine  Federn  auf  dem  Kopfe  hat. 
Manchmal  versucht  sie  auf  keinem  Bein  zu  stehen  und 
fällt  um. 

SüARifeS.  Dieses  ist  nur  mehr  der  große  Schrei  eines  nor- 
mannischen Wild  vogels  grauen  oder  steinschwarzen  Gefieders 
nach  dem  lateinischen  Süden.  Aus  Sterbensangst  nach  dem 
Leben,  aus  Regen  nach  der  Sonne,  aus  Einsamkeit  nach 
Gott:  darum  der  Schrei. 

DIE  SCHMIDTBONN  ist  eine  weit  kräftigere  Henne,  als 
sie  aussieht.  In  der  Jugend  gackert  sie  beim  ersten  Ei, 
daß  man  meint,  ein  Kind  sei  vom  Himmel  gefallen.  Aus- 
gewachsen gewöhnt  sie  sich   das  ab,   und  legt  in  Nach- 

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denklichkeit  ihre  Eier,  die,  noch  nicht  ganz  gewürdigt  wie 
sie  es  verdienen,  oft  liegen  bleiben, 

DIE  FRIEDSCHNACK.  Die  Friedschnack  ist  eine  große  Li- 
belle mit  Flügeln,  deren  Farben  alle  orientalische  Teppich- 
buntheit überstrahlen.  Sie  bewegt  sich  in  schönen  Bögen 
mit  außerordentlicher  Grazie.  Läßt  sie  sich  nieder,  so  ver- 
meint man,  sie  habe  einen  Tanz  beendigt. 

SHA-W.  Ist  der  Name  eines  Gärtners,  der  sich  zum  Bock 
gemacht  hat.  Also  ein  Zoologe,  der  sich  in  der  Rolle  des 
Zoon  gefällt,  wenn  er  auch  immer  wieder  aus  der  Rolle 
herausfällt.  Oft  sehr  amüsante  Bocksprünge  nimmt  er  zu- 
zück, indem  er  ihren  Witz  erklärt.  Daß  Shaw  ein  Pseudo- 
nym für  Trebitsch  sei,  wurde  eine  Zeitlang  behauptet  wegen 
einer  gewissen  philologischen  Inkommensurabilität.  Bis  fest- 
gestellt wurde,  daß  die  Trebitsch  den  Namen  Shaw  nicht 
einmal  aussprechen,  geschweige  führen  kann. 

DAS  SCHAEFFER,  auch  die  pretiöse  Albrecht  genannt, 
ein  Wesen  mit  vier  Füßen,  aber  doch  drei  Meter  über  der 
Erde  schwebend  oder  pendelnd  oder  —  man  kann's  nicht 
genau  sagen.  Es  geht  auf  Luft,  scheint  sich  von  ihr  zu 
nähren.  Das  ganze  noble  Tier  macht  den  Eindruck,  als 
wäre  es  eine  Einbildung  seiner  selbst.  Oder  eine  Reminis- 
zenz aus  Sagenhaftem.  Oder  aus  vielem  Gelesenen. 

DER  SCHNITZLER.  Schnitzler  ist  der  Name  eines  seiner 
Zeit  bei  allen  Wiener  Damen  und  süßen  Mädeln  wegen 
seines  melancholischen  Feuers  sehr  beliebten  Rennpferdes 
in  der  Freudenau,  Stallbesitzer  Fischer.  Man  setzte  aus 
Sympathie  auf  Schnitzler,  auch  wenn  man  wußte,  daß  er 
nicht  einmal  auf  Platz  kommt.  Weil  Schnitzler  so  beliebt 
war  und  auf  daß  die  Enkelinnen  der  süßen  Mädeln  in  die 
Freudenau  gehen,  ist  man  im  Jockeiklub  übereingekommen, 
Schnitzler,  wenn  und  so  lang  er  rennt,  immer  Dritter  sein 
zu  lassen,  auch  wenn  er  nach  der  ersten  Runde  aufgegeben. 
Möge  er  noch  lang  so  rennen. 

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DAS  SCHÖNHERR.  Großstadtbewohner  halten  das  Schön- 
herr für  einen  Hirsch  und  sein  braves  Muh  für  einen  Brunst- 
schrei. Auf  dem  tirolischen  Lande,  aus  dem  er  stammt, 
steht  das  Schönherr  im  Stall  des  Bauern  Kranewitter,  wird 
aber  da  wegen  seiner  wässrigen  Milch  nicht  gemolken. 
Dieser  Wiederkäuer  geht  auch  unter  dem  Namen  des  Tho- 
mas —  bayrische  Varietät  —  und  des  Ganghofers  —  öster- 
reichische Varietät.  Alle  drei  Varietäten  sind  sehr  stolz  auf 
den  idiomatischen  Klang,  den  sie  ihrem  Muh  geben  können. 

DER  WEVONSCHOLZ.  Das  ist  ein  Vogel,  der  sich  da- 
durch nützlich  erweist,  daß  er  die  Bandwurmstücke,  die 
dem  Hebbel  abgehn  und  die  auch  dem  Paulernst  als  un- 
verdaulich abgehn,  nicht  liegen  läßt,  sondern  mit  vielem 
Behagen  verzehrt.  Manchmal  singt  dieser  Vogel  ganz  schön. 
Und  er  sänge  vielleicht  noch  besser,  wenn  er  andere  Nah- 
rung zu  sich  nähme. 

DIE  ERASCHRÖDER,  scherzweise  auch  R.  A.  Schröder 
geschrieben,  hat  man  einige  Zeit  für  einen  vertriebenen 
Paradiesvogel  gehalten,  der  seioe  Vertriebenheit  in  opal- 
farbenen  Tränen  so  still  wie  ausdauernd  beweint.  Als 
dann  unser  Vogel  sein  Paradies  in  Preußen  wiederfand, 
erkannte  man,  daß  er  aus  dem  andern  nie  vertrieben  wor- 
den war,  sondern  immer  in  diesem  preußischen  beheimatet 
gewesen. 

SO  MBART.  So  Mbart  heißt  der  eherne  Stier,  dem  die 
Juden  an  ihrem  großen  Reinigungstage,  der  alle  zehn  Jahre 
statt  hat,  ihre  unreinen  Glaubensgenossen  opfern.  Die  wirk- 
liche Opferung  ist  aber  seit  langem  durch  die  Symbol- 
handlung eines  Huldigungstelegrammes  an  So  Mbart  er- 
setzt worden, 

DAS  STEFFEN,  Dieses  ist  ein  apokalyptisches  Tier  und 
derzeit  nur  in  einem  Exemplare  mehr  sagenhalt  als  wirk- 
lich bekannt.  Doch  ist  an  seiner  Existenz  zu  zweifeln  nicht 
erlaubt.  Es  besitzt  das  Steifen  nur  ein  Auge,  kann  dieses 
aber  von  einer  Stelle  seines  seltsam  geformten  Leibes  auf 

61 


jede  andere  Stelle  bewegen.  Sein  Geschlecht  hält  es  ver- 
borgen. Es  hat  Flügel,  doch  sind  diese  derart  angebracht, 
da&  es  damit  nicht  fliegen  kann.  Es  hat  Beine,  doch  macht 
CS  davon  aus  bisher  nicht  erkannten  Gründen  nur  selten 
Gebrauch.  Meistens  hockt  das  Steffen,  pflanzt  sein  Auge 
mitten  im  Gesicht  auf  und  läßt  eine  Welt  sich  seltsam 
darin  spiegeln. 

DIE  STEHR.  So  heißt  eine  große  Made,  die  man  im  Fla- 
den des  Gehauptmann  entdeckt  hat.  Ihre  auffallende  Größe 
brachte  auf  die  Vermutung,  daß  sie  nur  zufällig  in  diese  Um- 
gebung geraten  sei.  Man  hat  daher  versucht,  dieStehr  in  andere 
Lebensbedingungen  zu  setzen,  was  mit  großer  Vorsicht,  wenn 
auch  selten,  gelang.  Aber  die  Stehr  ist  eine  Made  geblieben. 

STEINER.  Saxa  loquuntur  ruft  jene  Menschheit,  die 
gegen  gutes  Entree,  das  dieser  Noah  einhebt,  in  seine 
Arche  steigt,  deren  Zukunft  nicht  auf  "Wasser,  sondern 
auf  Steiner  liegt.  Schnell,  schnell,  gleich  wird  es  regnen, 
ruft  der  Unternehmer,  und  die  Schäfchen  laufen.  In  hoc 
petro  hat  der  Kapitalismus  das,  was  er  seine  Kirche 
nennen  mag,  gebaut,  und  siehe,  der  Stein  mehrte  sich  und 
wurde  Steiner.  Und  alles  Geschiebe  und  Geröll  der  ge- 
scheiterten, zerdrückten  Seelen  sammelte  sich  um  ihn,  um 
sie,  um  es,  um  diesen  religiösen  Großunternehmer  auf 
Aktien,  der  was  je  zum  Religiösen  gedacht  und  geformt 
worden  ist  entdachie  und  entformte,  zu  Grus  zermahlte, 
mit  Schleim  und  Seich  befeuchtete  und  Brot  daraus  buk 
für  zahnlose  Gebisse.  Solches  Tun  nannte  man  Sophia, 
dem  Theos  schon  seinen  Segen  geben  müsse.  Aber  Gottes 
Segen  war  nur  bei  Steiner  wie  ehemals  bei  Cohn. 

DER  SCHWABACH.  Ein  langsam  zu  gut  gebauten  Knochen 
Fleisch  der  Muskel  gewinnender  Quadruped.  Klug  und  nobel 
legt  er  sich  keine  heute  so  billigen  Wattons  bei,  die  je 
nach  äußerm  Anlaß  dort  und  dahin  rutschen,  um  aufzufallen. 

DAS  STERNHEIM.  Dieses  Tieres  Hartnäckigkeit,  mit  der 
CS  in  norddeutschen  großen  Städten  lebt,  führte  nicht  ge- 

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rade  zu  seiner  Domestizierung,  aber  zu  seiner  Duldung, 
insoweit  jenen  Großstädtern  erträglich  gemacht,  als  das 
Sternheira  durchaus  und  gerne  deren  Neigungen  teilt,  deren 
Gewohnheiten  mitmacht  und  sich  eigentlich  nur  mehr  durch 
seine  Absonderungen  von  dem  Berliner  unterscheidet.  Diesen 
mischt  das  schadenfrohe  Tier  einen  ätzenden  Geruch  bei, 
der  die  Hausgenossen  etwas  ärgert.  Man  nimmt  an,  daß 
das  sonst  wenig  bemerklichc  Sternheim,  welches  ein  sehr 
eitles  Tier  ist,  sich  durch  diese  Beimengung  bemerkbar 
zu  machen  sucht-  Es  ist  von  der  Art,  daß  es,  erreichte 
es  damit  seinen  Zweck,  bemerkt  zu  werden,  auch  ange- 
nehmen Duft  beimengte,  wenn  anders  dies  nur  aus  der 
bestimmten  Natur  seiner  Verdauungsorganc  und  der  von 
diesen  bedingten  Nahrung,  welche  allerlei  Abfall  oder  sonst 
Liegengelassenes  ist,  möglich  wäre.  Auch  verlangt  der 
scharfsäuerliche  Geruch  seiner  berlinerischen  Hausgenossen 
einen  ähnlichen,  weil  ein  angenehmer  nicht  gegen  den 
scharfen  aufkäme.  Das  Sternheim  ist,  wenn  solcher  An- 
thropomorphism  erlaubt,  von  einem  geradezu  menschlichen 
Geltimgstrieb  besessen,  worauf  sich  auch  sein  besonderer 
Mimetismus  zurückführen  läßt.  Dieser  Mimetismus  gilt,  wie 
man  annimmt,  als  ein  Selbstschutz  der  Tiere  und  er  äußert 
sich  in  der  Fähigkeit,  Aussehen  und  Farbe  der  Unterlage 
anzunehmen,  auf  welcher  das  Tier  lebt.  Das  zu  seinem 
Ärger  gar  nicht  auffallende,  weil  kleine  und  graue  Stem- 
heim  mimetiert  nun  Auffallen.  Es  wechselt  grau  in  rot, 
wenn  man  es  auf  Grau  setzt,  wird  blau  auf  gelb  usw. 
Das  Tier  gefährdet  sich  übrigens  nicht  durch  dieses  Auf- 
fallen. Mit  dem  Unangenehmen  seiner  Absonderung  ver- 
sucht es  durch  das  Ungewöhnliche,  wie  es  absondert,  aus- 
zusöhnen. Was  ihm  machmal  auch  gelingt.  Manchmal  aber 
so  mißlingt,  daß  es  schon  nicht  mehr  schön  ist. 

DAS  STORM.  Man  kann  von  ihm  nicht  sagen,  es  sei  lange 
tot,  denn  es  hat  nie  lebendig  existiert,  sondern  immer  nur 
im  ausgestopften  Zustande.  Es  besaß  also  nie  etwas,  was 
man  innere  Organe  nennt.  Die  glatte  graugclbe  Haut  war 

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mit  Seegras,  Heidekraut,  Möwenfedern  und  derlei  ausge- 
stopft, wodurch  das  Storm  einen  faden,  laulichen  Geruch 
bekam,  um  dessentwillen  es  heute  noch  in  den  braven 
deutschen  nordischen  Bürgerhäusern  pastorlichen  Zuschnit- 
tes über  alles  geschätzt  ist.  Der  Geruch  ist  das  "Wesent- 
liche des  damit  ausgestopften  Stormes.  Man  nennt  diesen 
Geruch  Stimmung.  Er  ist  vielfach  eingefangen,  auf  nuU- 
prozentigen  Spiritus  gebunden  und  in  Fläschchen  aller  For- 
mate auf  den  Markt  gebracht  worden.  Das  bekannteste 
dieser  Stimmungswässer  hieß  einmal  Jörn  Uhl  und  war 
dies  eine  Zeit  durch  das  beliebteste  Mundwasser  des  deut- 
schen Gemütes  bis  in  seine  zahnlosesten  Tiefen. 

STÖSSL.  So  heißt  ein  humorvoller  Wiener  Gassenhund 
ohne  bestimmte  Rasse.  Bei  allen  netten  Leuten  bekannt 
und  beliebt  ist  der  Stößl  klug,  ruppig  und  immer  guter 
Laune. 

DER  STRAUSS.  Dieser  schwäbische  Strauß  hat  mit  dem 
afrikanischen  nur  den  Namen  und  ihn  deshalb  gemein, 
weil  er  sonst  nichts  mit  ihm  gemein  hat.  So  verträgt  des 
schwäbischen  Straußes  Magen  nur  die  allereinfachste,  gut 
verkochte  Nahrung  und  seine  kurzen  Beine  tragen  ihn  nur 
vom  Schlafzimmer  ins  Schreibzimmer  und  wieder  zurück. 

DAS  STUCKEN  heißt  eine  kleine  Pelzmottc.  Sie  haust  in 
altem  Pelzwerk,  aber  weniger  weil  es  da  warm  ist,  als 
um  es  aufzufressen.  Das  flügellose  Tierchen  wird  in  kür- 
zester Zeit  mit  einem  stattlichen  Pelz  fertig,  dessen  Farbe 
es  jeweils  annimmt.  Darum  kann  man  es  auch  mit  dem 
Auge  nicht  wahrnehmen.  Wohl  aber  mit  dem  Ohr,  denn 
das  Stucken  macht  beim  Zerfressen  des  Pelzes  ein  rhyth- 
misches Geräusch  mit  seinen  vielen  Beinen.  Ans  Tages- 
licht gezogen,  merkt  man,  daß  das  Stucken  keine  Augen  hat. 

DIE  SUDERMANN.  So  heißt  eine  in  den  ganz,  aber  schon 
ganz  feinen  Kreisen  von  Berlin  WW  vorkommende  Milbe, 
welche  einen  Hautausschlag  erzeugt,  den  man  Eleganz  oder 
auch  Elejanz  nennt.   Davon  Befallene  reden  außerordent- 

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2)l&  ^e  cvye 


X^' 


lieh  fein,  wenn  sie  auch  geschwollen  sind.  Die  Krankheit 
ist  nur  dadurch  zu  heilen,  da6  man  dem  davon  Befallenen 
das  Bankdepot,  das  wirkliche  oder  behauptete,  wegnimmt 
und  ihn  eine  ehrliche  Arbeit  verrichten  läßt.  Die  Suder- 
mann selber  ist  unausrottbar. 

STRINDBERG.  Das  war  ein  nordischer  Kater,  am  Ascher- 
mittwoch des  bürgerlich  liberalen  Lebens  geboren,  ewig 
triste,  immer  post  festum.  Ein  Dämon  verdorbenen  Magens 
hielt  er  am  Ende  den  Ichthys  für  den  Hering  seines  Dalles. 
Hungernd  eigentlich  nur  nach  dieser  Fastenspeise,  d.  h. 
nach  dem  einsamen  Genüsse  der  Wut  und  voll  Gier  nach 
luziferischer  Einsamkeit  im  All  und  unter  den  Allen,  leben 
der  Strindberg  und  sein  anderes  Geschlecht  wie  Hund  und 
Katze  miteinander,  weil  sie  zur  Zeit  der  Brunst  bis  zur 
vollkommenen  Unmöglichkeit  selbst  der  innern  Einsamkeit 
einander  besessen  haben.  Das  groBe  Geschrei,  das  dieser 
Kater  nach  jeder  Paarung  erhebt  und  das  man  bezeich- 
nend den  Katzenjammer  genannt  hat,  kommt  tief  aus  Leib 
und  Seel  des  Tieres,  das  da  im  strafenden  Feuer  des  Gc- 
heimnislosen  brennt,  weil  erotische  Wut  und  psycholo- 
gische Gier  gleichzeitig  am  Weibchen  gezehrt  und  so  ihn 
wie  es  völlig  jedes  Noch-Sinnes  entleert  haben.  Das  Be- 
streben des  Katers  am  einzigen  Tage,  den  das  nächtliche 
Tier  als  solchen  erkennt,  am  Aschermittwoch,  geht  dahin,  die 
ernüchterte  Welt  auf  dem  pessimistischen  Wege,  von  unten 
her,  wo  die  Ratten  und  Mäuse  wohnen,  aus  dem  Jugend- 
reich des  chat  noir  und  des  schwarzen  Ferkel  wieder  mit 
Sinn  zu  laden ;  erstens  um  überhaupt  weiterleben  zu  können ; 
zweitens  um  in  den  aufgezeigten  Tragödien  der  seelischen 
Delikatesse  und  der  Diskretion  die  Genüsse  der  Defloration 
des  Sekreten  noch  einmal  zu  durchrasen.  Diesen  Versuch, 
sich  selber  und  das  Mitgeschöpf  vor  Gott  noch  einmal  zu 
desavouieren,  die  Diskretion  in  einer  permanenten  theo- 
retischen Indiskretion  immer  wieder  zu  brechen,  dies  nannte 
man  einst,  als  der  große  Kater  von  Strindberg  noch  nicht 
gewichen  war,  seinen  Naturalismus. 

5  65 


DER  SWINBURNE.  Dieser  große  englische  Zaubervogel  sang 
einmal  vor  dem  Aufgang  einer  Sonne,  die  nicht  aufging:  ein 
Versehen.  Er  sang  einmal  vor  dem  Kruzifix  gegen  das  Kruzi- 
fix; das  war  ein  Mißverständnis,  Das  Wunder  dieses  Vogels 
ist,  daß  er  trotzdem  voll  außerordentlichen  Gesanges  ist, 
menschlich  gesprochen  einen  Stil  hat,  wie  ihn  männlicher 
keiner  seinerzeit  und  später  besaß.  Dieser  Stil  ist  so  un- 
nachahmlich, daß  der  Swinburne  selber  ihn  nicht  imitieren 
konnte,  wie  er  alt  geworden  versuchte. 

TENNYSON.  Mit  Musikbegleitung  rezitiert  bisweilen  ein 
älterer  Mime  Enoch  Arden  —  mehr  ist  von  diesem  Vergil 
der  Provinz  nicht  bei  uns  vorhanden.  Er  war  poeta  laur- 
eatus;  niemand  lachte  darüber,  denn  es  paßte  zu  ihm;  er 
dachte  genau  das,  was  seine  Königin  dachte,  und  er  schrieb 
nur  einen  besseren  Stil.  Er  nahm  sich  immer  furchtbar 
ernst,  was  bei  einem  Engländer,  wie  Chesterton  sagt,  ein 
grauenvoller  Anblick  ist.  Er  hatte  einiges  zu  sagen,  besaß 
aber  weit  mehr  Worte,  als  dafür  nötig  war;  darum  weiß 
er,  redet  er  länger,  nicht  mehr  was  er  sagt. 

DER  TOLSTOI,  Der  war  ursprünglich  ein  Steppenpferd, 
doch  aus  einer  bereits  gepflegten  Rasse.  Er  wurde  zuerst 
von  grusinischen,  tscherkessischen  Häuptlingen  und  Ko- 
sakenhetmans  geritten.  Später  gehörte  er  zur  regulären 
schweren  Kavallerie  der  Literatur.  Machte  im  Norden  und 
Süden  der  Zeit  und  des  Raumes  alle  größern  Feldzüge 
mit,  auch  solche,  die  mehrere  Bände  dauern.  Zäh,  trocken, 
aber  feurig,  immer  voll  Kapriolen,  als  feiner  Steppenklepper 
mit  Wut  Champagner  aus  Kübeln  saufend,  aber  immer  an 
der  Krippe  und  eigentlich  verwöhnt,  nahm  der  Tolstoi  sein 
Schicksal,  Stabstrompeterroß  zu  werden,  als  selbstverständ- 
lich hin.  Es  hatte  Sieger  durch  die  Schlacht  getragen;  es 
wieherte  nur  freundlich  und  herablassend,  als  man  seine 
spätem  Äpfel  als  Goldäpfel  anbetete.  Das  Ausschlaggebende 
an  diesem  Pferde  ist  sein  Steppenpferdverstand,  Es  wollte 
niemals  begreifen,  daß  es  die  Funken  schließlich  aus  seinem 
Huf  zog,  wenn  es  dahinsprengte;  daß  aber  sein  stupsnasiger 

6$ 


kurzer  Kopf  zottig,  schwerfällig  und  unschön  war,  auch 
wenn  es  das  große  naive  Auge  rollte,  bis  es  glotzig  hervor- 
trat; und  daß  der  lange  Schweif,  den  man  ihm  wachsen 
ließ,  einer  geistigen  Wüste  Gobi  angehörte,  ein  Rudiment 
war  aller  asiatischen  Wüstenrassen  ohne  Heiterkeit.  Mit 
dem  Besen  dieses  Schweifes  peitschte  es  sich  christlich  die 
Lenden  und  glaubte  dabei,  die  Welt  zu  kehren  und  zu 
stäupen  —  es  entsprach  das  eben  seinem  engstirnigen  Pferde- 
verstand. Aber  die  Funken,  die  ihm  ehmals  von  den  Hufen 
stoben,  bleiben  unvergessen. 

DIE  ULLMANN.  Dieses  Wesen  gibt  es  nur  in  einem  ein- 
zigen Exemplar.  Es  wird  wohl  ,,die"  genannt  wegen  ge- 
wisser äiißerlicher  Zeichen,  scheint  aber  alle  möglichen  und 
denkbaren  Geschlechte  in  sich  auf  dunkle  urtümliche  Weise 
zu  vereinen.  Die  Stimme  der  Ullmann  erinnert  an  länd- 
lichen Orgelton  in  einer  leeren  Frühkirche.  Der  organische 
Bau  der  Ulimann  scheint  einer  ganz  frühen  Zeit  anzuge- 
hören, zu  der  uns  die  Brücken  verloren  gegangen  sind. 
So  ähnlich  muß  der  erste  Mensch  gesprochen  haben,  als 
er  dem  was  er  sah  die  ersten  Benennungen  gab  und  an- 
betete Gott  im  Wort  und  das  Wort  in  Gott. 

DAS  UNRUH.  Das  Unruh  ist  ein  netter  Frosch,  der  nor- 
maler Weise  im  Teich  lebt  und  sich  hier  von  kleinen 
Wasserläufern  nährt.  Doch  ist  es  mit  einer  großen  Kehl- 
blase ausgestattet,  mit  der  es  vielleicht  singt,  die  es  aber 
manchmal  mit  Luft  zu  füllen  das  Bedürfnis  besitzt.  Dazu 
begibt  es  sich,  wozu  ihm  sonst  alle  Eignungen  fehlen,  auf 
das  feste  Land.  Und  zieht  ordentlich  Luft  ein.  Seine  Kehl- 
'  blase  dehnt  sich  aus  bis  zur  Größe  eines  Kindskopfes.  Da- 
durch erregt  das  kleine  Unruh  die  Aufmerksamkeit  der 
Passanten.  Und  es  verdoppelt  seine  Anstrengungen,  Luft 
einzuziehen.  Was  dazu  führt,  daß  seine  Kehlblase  den 
Umfang  einer  großen  Wassermelone  annimmt.  Zu  seinem 
Glücke  verliert  das  Unruh  bei  diesem  Mißverhältnis  von 
Leib  und  aufgenommener  Luft  das  Gleichgewicht  und 
rollt  ins  Wasser  zurück,   wo  sich  die  Blase  sofort  leert. 

5*  67 


In  diesen  seinem  Elemente  ist  das  Unruh  ein  zierliches 
Fröschchen. 

VAIHINGERS  BAUCH  IN  JENA. 

Es  kahnt  ein  Ich  im  Mondlichtschein 

Zweikantig  um  das  Kantenbein 

Sowohl  als  ob,  als  ob  so  auch, 

Obwohl  dann  auch  als  ob  im  Bauch. 

Sowohl  —  als  ob,  als  ob  —  so  auch, 

Ob  auch  —  der  Bauch  wohl  so  —  wohl  auch 

So  wohl  —  als  auch  Kant  redet  hier 

Als  Ob  und  Bauch. 

DIE  VOLLMÖLLER.  Die  Vollmöller  ist  eine  Seeschlange, 
von  der  nur  manchmal  ein  Stück  auf  der  Oberfläche  des 
Meeres  sichtbar  wird.  Wie  lang  sie  ist  weiß  man  nicht, 
aber  die  Behauptung,  sie  sei  länger  als  achtzig  Zentimeter 
ist  als  übertrieben  zurückzuweisen. 

DAS  "WALSER.  Dieses  ist  ein  überaus  zierliches,  graziöses 
und  launiges  Tierchen  aus  der  Familie  der  Eichhörn- 
chen. Auf  den  allerhöchsten  Bäumen  sieht  man  es  nicht; 
es  macht  auch  keine  Versuche,  da  hinauf  zu  gelangen. 
Aber  den  mittleren  gibt  des  Walsers  naive  und  schelmische 
Anmut  eine  frohmütige  Lebendigkeit. 

WASSERMANN.  Auch  mögen  jaakob  genannt  ist  ein  Stern 
von  größerer  Kleinheit  im  Sternbild  des  Fischers  und  kann 
besonders  gut  von  der  hohen  Warte  des  Beer-Hofmann 
gesichtet  werden.  Er  steht  so  hoch  über  Wien  wie  unter 
Dostojewski  und  wurde  berühmt  durch  einen  mysteriösen 
Sphärenklang,  der  wie  von  Jahwe  selber  kommend  den' 
Deutschen,  dem  neuen  auserwählten  Volke,  beziehungs- 
weise dem  Deutschen  schlechthin  seinen  endgültigen  ahas- 
vcrischen  Namen  gab:  Wahnschaffe.  Diesen  geheimnis- 
vollen Namen  fand  man  auch  eingeprägt  einem  Meteoriten 
von  unlesbarer  Größe,  der  bei  näherer  Untersuchung  sich 
als  ein  Gemengsei  von  Graphit,  Dinte,  Holzpapier,  Mezieh, 
Ambition  und  Filmbändern  entpuppte. 

68 


DIE  WEDEKIND.  So  hieß  eine  Sphynx,  halb  Geschlecht,  halb 
Kopf,  doch  beides  in  verkehrter  Weise  angeordnet,  so  daß 
das  Geschlecht  den  Ober-,  der  Kopf  den  Unterleib  bildete. 
Also  ruhte  sie  und  zeigte  ohne  Respektlosigkeit,  sondern 
aus  ihrer  Natur,  dem  Beschauer  den  Hintern  und  was  in 
dessen  Gegend  liegt.  Die  Sphynx  Wedekind  gab  sich  ihre 
Rätselfragen  selber  auf.  Diese  beschäftigten  sich  in  der 
Hauptsache  so  sehr  mit  ihrer  umgestülpten  Natur,  daß 
kein  menschliches  Wesen  sich  für  dieses  Fragespiel  inter- 
essierte. Darüber  wurde  die  Wedekind  sehr  indigniert. 
Sie  erkannte,  daß  man  sie  verkannte.  Sie  hatte  sich  gefragt: 
Warum  wollen  die  Menschen  nicht  im  Geschlechtsakt  ihre 
einzige  würdige  Tätigkeit  sehen?  Warum  sind  die  Huren 
nicht  die  Königinnen  der  Welt,  Muster  der  Frau?  Warum 
genießt  der  Phallus  nicht  die  Ehren  des  Gottes?  Warum 
wird  nicht  ununterbrochen  Tag  und  Nacht  .  .  .  ?  Als  sie 
so  lange  gefragt  und  sich  Antwort  gegeben  hatte,  weil 
niemand  kam,  die  Rätsel  dieser  Sphynx  zu  lösen,  stürzte 
sie  sich  in  den  Abgrund  ihres  Tiefsinnes,  sich  selbst  und 
die  Welt  dreimal  beklagend,  daß  sie  ihren  Propheten  nicht 
erkannt  hätte. 

DIE  WEIGAND  ist  unsere  größte  Süßwasserschnecke,  die 
ihren  schleimigen  Leib  in  einem  Gehäuse  birgt,  dem  sie  mit 
großer,  im  Altern  zunehmenden  Fertigkeit,  eine  umfangreiche 
Form  gibt.  An  deren  zerbrechlichen  Rändern  setzt  die 
Weigand  einen  feinen  Farbenschmelz  ab,  der  an  jene  See- 
schnecken erinnert,  die  sich  an  der  französischen  Küste 
finden.  Das  Fleisch  der  Weigand  schmeckt  süß.  Es  ziert 
den  bürgerlichen  Mittagstisch,  ohne  da  sonderliche  Auf- 
regung hervorzurufen.  Das  Gehäuse  ist  bei  manchen  Ra- 
ritätensammlern beliebt. 

WEININGER.  Nicht  in  geweihter  Erde,  sondern  als  Selbst- 
mörder hier  unter  den  Literatieren,  doch  gleich  einem  Pfahle 
im  Fleische  sumpfigen  Bodens,  ruht,  fest  in  protestanti- 
schen Händen  das  Kreuz,  worein  durch  ein  Wunder  Gottes 
die  Waffe  sich  verwandelt  hatte,  O.  Weiniger,  ein  Wiener 

69 


und  Jude,  der  diese  Beiden  in  sich  aufgehoben  hat  mutig, 
ehe  Wandel  und  Lehre  ihm  sich  spalteten.  Solange  er  die 
Unschuld  des  denkerischen  Menschen  umspannte,  durfte 
er  alles  dissociieren ;  solange  er  nicht  selber  fiel,  durfte  er 
das  eine  Geschlecht  in  die  beiden  Geschlechter  fällen;  so- 
lange das  X  ihm  nicht  konkret  wurde,  durfte  er  es  aus- 
drücken durch  M  -f-  W:  Mann  gekreuzigt  an  Weib  und 
umgekehrt.  Die  Waffe  in  seinen  Händen  war  das  für  sich 
da  stehende  Funktionszeichen  einer  gelösten  Verbindung, 
und  uns  ziemt  nicht  zu  wissen,  welch  ein  Element  da  frei 
und  aufgegeben  worden  ist.  Nur  eines  kann  man  sagen 
über  diesem  Heldengrabe:  er  hatte  gehört  in  den  Lüften 
des  Mannesalters  das  Heranbrausen  des  Konkreten.  Das 
X  lief  in  der  Funktionsreihe  Gefahr,  seinen  mathematischen 
Ausdruck  zu  verlieren  und  Impression  zu  werden.  Da  emp- 
fahl er  sich  der  unbekannten  Barmherzigkeit  Gottes. 

DER  KONRADWEISS.  Der  Konradweiß  ist  ein  Klopfkäfer, 
der  am  liebsten  im  Gestühl  katholischer  Kirchen  oder  im 
Holz  der  Altäre  bohrt.  Er  erzeugt  dabei  mit  seinem  harten 
Kopf  ein  klopfendes,  stark  rhythmisches  Geräusch,  wodurch 
er  manchmal  die  Frommen  stört.  Der  Konradweiß  hört 
mit  seinem  Klopfen  auf,  wenn  die  Orgel  spielt,  woraus 
man  auf  sein  musikalisches  Gehör  geschlossen  hat.  Um  so 
lebhafter  klopft  er  bei  der  Predigt  in  einem  seltsamen 
Gegentakt  zum  Takt  des  Predigers. 

DAS  WERFEL.  Von  kugeliger  Runde  besitzt  das  Werfel 
nicht  wie  der  Igel  dessen  Fähigkeit  sich  einzurollen,  son- 
dern eher  auszubreiten.  Aber  es  hat  vom  Igel  dessen  Sta- 
cheln. Nur  sind  diese  ganz  zart  und  weich  und  manchmal 
auch,  das  Tier  schmerzend,  nach  innen  gekrümmt  mit  der 
Spitze.  Dieser  Widerspruch  zwischen  dem  Aussehen  und 
dem  Sein  des  Werfeis  machen  das  runde,  weichmütige, 
etwas  faule  Tier  zu  einem  heute  sehr  beliebten  mondänen 
Schoßigel  empfindsamer  Seelen.  Kaum  ein  Salon,  in  dem 
man  ihm  nicht  begegnet  und  wo  es  nicht  herumgereicht 
wird.  So  im  Schöße  liegend   wie  eine  spitzstachlige  Gra- 

70 


nate  bewundert  der  mit  der  Art  dieser  Stacheln  nicht  Ver- 
traute die  Hände,  welche  diesen  Stachelhügel  streicheln 
können  wie  eine  Katze  und  soll  solches  auch  in  der  Tat 
beim  Streichelnden  sehr  angenehme  Gefühle  auslösen.  Doch 
ist  das  "Werfel  vornehmlich  um  einer  andern  Eigenschaft 
willen  beliebt,  mit  der  es  Gott  ausgestattet  hat.  Es  kann 
singen  wie  ein  Caruso  und  tut  es  so  gern  wie  oft,  beson- 
ders wenn  Lärm  ist.  Lärmt  zum  Beispiel  ein  Krieg,  so 
singt  das  Werfel,  daß,  druckte  man  das  Gesungene,  leicht 
ein  Oktavband  von  308  Seiten  damit  zu  füllen  wäre.  Um 
dieser  seiner  ausgezeichnet  Arien  und  Triller  singenden 
Tenorstimme  wird  das  Werfel  von  andern  Tieren,  die  es 
nachzuahmen  suchen,  stark  beneidet. 

WHITMAN.  So  heißt  der  Große  Pan,  nie  gestorben,  weil 
unsterblich,  er  allein  unter  den  Göttern,  wenn  auch  oft 
Zeiten  lang  verschwunden  in  der  tiefsten  Grotte  der  Erde. 
Auf  des  Greises  verrunzelter  Hand  ruht  ein  Schmetterling, 
die  er  für  das  hält,  was  sie  ist:  Ast  vom  Baum  der  Erde, 
aus  dem  man  auch  jenes  Kreuz  auf  dem  Scherbenberge 
zimmerte. 

DAS  WILDE.  Dies  w^ar  ein  berühmter  und  berüchtigter 
Scherenschnitt  vom  Ende  des  verflossenen  Jahrhunderts 
nach  einem  menschlichen  Kostüme,  in  welchem  mit  Vor- 
liebe und  mit  dem  Anstände  eines  Brummeil  das  Wilde, 
eine  Schönheit  von  Raubtier,  also  die  Negation  der  Nega- 
tion, vor  den  Urvätern  unserer  Snobs  aufzutreten  liebte. 
Nero  ähnlich,  der  als  Komödiant  auftrat,  um  mehr  noch 
als  Kaiser,  um  Alles,  um  Proteus  selber  zu  sein.  Getreu- 
lich nahm  Wilde  teil  an  dem  falschen  Universalismus  einer 
Zeit,  eines  Systems  in  ihren  Hypokrisen:  was  man  ist, 
man  kann  es  auch  scheinen,  was  man  hätte  werden  müssen, 
auch  spielen.  Nur  durch  furchtbare  Exzesse  vermögen  die 
nun  einmal  noch  bestehenden  Gesetze  den  Schranken  der 
Kasten  Ehrfurcht  und  dem  Schauder  der  Charaktere  vor 
dem  Schicksal  dessen  offizielle  Ahnung  zu  verschaffen. 
Einem  solchem  legalen  Exzesse  fiel  auch  das  Wilde  zum 

71 


Opfer,  zu  einem  vergeblichen  Opfer,  denn  dieselbe  Kaste, 
die  es  ersetzte,  verurteilte  das  Wilde,  indem  sie  ihre  Klei- 
der wechselte,  statt  des  Cutaway  die  Robe  anzog. 

WILAMOWITZ.  Wilhelminische  Monumentalfigur  des  preu- 
ßischen Pastors,  bekleidet  mit  Löwenfell  und  Keule  des 
Herakles.  Auf  Rollen  gestellt  ist  es  verschiebbar.  Man 
konnte  es  vor  dem  Berliner  Dom,  vor  der  Universität  und 
vor  dem  Neuen  Schloß  sehen.  Tönt  wie  eine  Memnons- 
säule  mit  Hilfe  eines  Grammophons  deutsche  sogenannte 
Verse  in  antikischen  Metren.  Bürger  halten's  für  Griechisch. 
Dichter  halten's  für  gar  nichts. 

DIE  WILDGANS.  Die  Wildgans  ist  eine  ganz  zahme  Haus- 
gans, gern  in  Wiener  Kleinwohnungen  gehalten.  Kinder 
binden  ihr,  da  ihr  Flügel  fehlen,  solche  aus  Papier  an, 
worauf  die  Wildgans  sehr  stolz  ist  und  Flugbewegungen 
macht.  Dabei  stöBt  sie  Schreie  aus,  w^elche  durchaus  die 
einer  Gans  seiend  den  Tonfall  von  oft  gehörten  Leier- 
kästen angenommen  haben.  Kleine  Bürgermädchen  sagen 
,,Mein  Schwan"  zur  Wildgans. 

DAS  WOLFENSTEIN.  Das  grämliche  Wolfenstein  ist  das 
Murmeltier  der  Flachlandschaft,  die  es  vergeblich  durch 
eifriges  Graben  mit  seinen  Pfoten,  ja  mit  dem  Kopfe,  zu 
vertiefen  sucht.  Es  hat  von  dieser  Leidenschaft,  das  Flache 
tiefer  zu  machen,  etwas  Verbissenes  bekommen,  so  daß 
es  sich  manchmal  ohne  es  zu  merken  in  seine  eigenen 
Pfoten  beißt. 

DAS  ZAHN,  Dieses  ist  wie  das  Heer  ein  in  der  Schweiz 
gezogenes  Haustier,  das  gepökelt  massenhaft  nach  Deutsch- 
land exportiert  wird.  Es  wird  bei  armen  Leuten  als  Keller- 
fleisch gegessen.  Doch  schmeckt  es  nach  Kuhleder. 

DER  ZECH.  So  heißt  ein  in  Kohlenbergwerken  lebender 
Höhlenkäfer,  wo  er  das  einförmige  Geräusch  der  Spitzhacke 
mit  seinem  guten  Takte  begleitet.  In  den  belgischen  Gruben 
nannten  die  dortigen  Leute  den  Zech  auch  Verhaeren. 

72 


DAS  ZOBELTIETZ.  Ein  weitverbreitetes  Tier,  das  unter 
Ullsteinen  am  liebsten  haust  und  dessen  Fell  Zobel  vor- 
täuscht. Man  kauft  es  und  verkauft  das  Fell  dieses  Tieres 
ganz  billig  bei  Tietz.  Daher  der  Name. 

ZOLA.  Besaß  ein  weitläufiges  Fabrik sgebäude  zur  Her- 
stellung sozialer  Schematismen.  Seine  Situationsmaschinen 
stanzten  den  Menschen  glatt  und  sauber  heraus.  Andere 
Maschinen,  welche  die  Wahrheit  in  der  Kausalitätsreihe 
platt  walzten,  nahmen  die  ausgestanzten  Menschen  auf  und 
setzten  sie  zu  Ensembles  zusammen,  die  auf  einer  Versuchs- 
bühne abgerichtet  wurden,  so  natürlich  wie  die  Natur  zu 
spielen.  Ein  kleiner  Mond  aus  Silberpapier  macht  die  nötige 
Sentimentalität. 

DAS  STEFFZWEIG.  Des  Steffzweige  muß  in  diesem  Bestia- 
rium  Erwähnung  geschehen,  da  es  von  einigen  wenigen 
immer  noch  als  ein  Lebewesen  angesehen  wird.  Aber  es 
ist  das  Steffzweig  ein  Kunstprodukt,  hergestellt  anläßlich 
eines  Wiener  Dichter kongresses  aus  Federn,  Haut,  Haaren 
usw.  aller  möglichen  europäischen  Tiere.  Es  ist  sozusagen 
ein  Volapüktier.  An  seine  organische  Existenz  glaubt  man 
zur  Zeit  nur  mehr  in  entlegenen  Ländern  und  in  gewissen 
Genfer  Kreisen.  Einige  wollen  das  Steffzweig  in  einem 
Leipziger  Hause,  Kurze  Straße  7,  unter  einem  kleinen 
Glassturz  gesehen  haben.  In  den  letzten  Jahren  hörte  man 
von  einem  Amzweig  als  einem  richtigen  Tier.  Es  zu  er- 
kunden war  noch  keine  Möglichkeit,  da  es  in  Zion  vor- 
kommen soll.  Dieses  Land  ist  hinwieder  in  der  Geographie 
nicht  festzustellen.  Verbürgte  Nachrichten  melden,  daß  der 
Arnzweig  ein  gutes,  ehrliches,  von  Gott  geschaffenes  Tier  sei. 


73 


DIE      GROSSEN      DICHTER 
DEUTSCHER    NATION 


ABELES  —  nicht  vorzustellen,  wie  eine  so  große  Mensch- 
heitsliebe in  so  kleine  Gedichte  hineingehen  kann! 

AMAN  —  hat  nur  eine  kleine  Geschichte  von  11  Zeilen 
veröffentlicht,  aber  sie  ist  der  Daumennagel  eines  Riesen. 

ARNHEIM  —  hat  sich  mit  einem  Roman,  in  dem  nur  Parti- 
zipialsätze vorkommen,  so  sehr  selbst  übertroffen,  daß  wir 
ihm  raten,  es  bei  diesem  einen  Roman  bleiben  zu  lassen. 
Nach  solcher  erreichter  Gaurisankarhöhe  kann  nur  ein  Ab- 
stieg folgen. 

BEMAN  —  der  größte  Dichter  der  aller] üngsten  Generation. 
Statt  einer  Probe  geben  wir  dem  Leser  unser  Ehrenwort. 

BERNHEIM  —  seine  unvergängliche  Tat  ist  die  Abschaffung 
jedes  Artikels  in  der  deutschen  Sprache.  Sternheims  schüch- 
terner Versuch  charakterisiert  diesen  Verfasser  doch  als 
einen  Schriftsteller  des  Überganges. 

BRONNEN  —  sein  Drama,  in  welchem  der  Embrio  seinen 
Erzeuger  mit  der  Nabelschnur  erdrosselt,  hat  dem  tradi- 
tionellen jüdischen  Familienproblem  bis  auf  weiteres  das 
größte  Monument  der  Lösung  gesetzt. 

BUMCKE  —  um  von  ihm  zu  sprechen,  müßte  man  von 
allem  sprechen,  aber  das  Leben  ist  zu  kurz. 

BUSSE  - —  man  zittert ,  dieser  Dichter  könnte  einmal  auf- 
hören, denn  die  Nation  würde  den  Schmerz  nicht  ertragen. 
Wir  raten,  sich  allmählich  diesem  Sirenengesang  zu  entziehen. 

CERFEL  —  er  läßt  seine  Lieder  des  ersten  Lebensjahres 
auf  seine  Windeln  drucken.  Der  Effekt  der  Dichtungen  wird 
durch  jenen  auf  den  Olfactorius  außerordentlich  gesteigert. 

77 


COHEN  —  Verfasser  eines  Stückes,  das  zu  sehen  man  nie 
müde  wird,  weil  man  es  nicht  spielt. 

CORI  NOY  —  ist  durch  einen  einzigen  Vers  berühmt  ge- 
worden, der  so  viel  enthält,  daß  der  Nachwelt  nichts  mehr 
zu  sagen  bleibt. 

DEDEKIND  —  hat  gegen  das  Sprichwort  Sotto  umbilico 
ne  religione  ne  veritä  beides  dort  gefunden. 

DON  AT  —  seit  sie  dichtet,  nennt  man  Gefühle  nur  mehr 
Donate. 

EMANN  —  ist  trotz  herrlichster  Werke  so  unbekannt  ge- 
blieben, als  hätte  er  den  deutschen  Schillerpreis  bekommen. 

ERFEL  —  hat  in  seine  Gedichte  die  Menschheit  so  völlig 
hineingepreßt,  daß  sie  außerhalb  dieses  Bandes  nicht  mehr 
vorhanden  ist. 

FECHER  —  war  durch  seine  proletarischen  Dichtungen  der 
Retter  des  Vaterlandes.  Das  Proletariat  gab  seine  Revolution 
auf,  als  es  an  Fecher  sah,  wohin  sie  führe. 

FLAISCHLEN  —  seine  Gedichte  gehen  so  direkt  zu  Herzen, 
daß  man  gegen  die  unvermeidlichen  Überraschungen  der 
ersten  Lektüre  Vorsichtsmaßregeln  treffen  muß. 

GAUKE  —  seine  Sonette  stehen  neben  denen  Petrarcas, 
mit  dem  Unterschied,  daß  der  Italiener  nur  eine  Frau, 
unser  Dichter  aber  vier  Dutzend  unsterblich  gemacht  hat. 

GEHMEL  —  hat  999  Gedichte  an  seine  Frau  gemacht; 
alles  von  ihr  ist  drin;  nichts  fehlt. 

GINZKEY  —  ist  der  Stolz  seines  kleinen  Landes,  das  sich 
in  seinem  Unglück  nur  an  ihm  aufzurichten  vermag. 

GRAT  AUS  —  hat  sich  aus  seinem  Talent  einen  kleinen 
Bezirk  gemacht  und  ist  da  nie  herausgegangen. 

GRUTSCHKE  —  hat  einen  Einakter  gemacht  und  ge- 
schworen, einen  zweiten  erst  dann  zu  dichten,  wenn  der 
erste  vergessen  ist. 

78 


HAUSER  —  hat  Dante  so  meisterlich  übersetzt,  daß  seit- 
dem der  Italiener  ganz  vergessen  ist.  So  ist  zu  übersetzen! 

HÄUBLER  —  ist  das  Genie  der  "Wortzusammensetzungen. 
Er  hat  das  berühmte  Gedicht  gemacht,  dessen  vierund- 
zwanzig Zeilen,  jede  zu  elf  Silben,  nur  aus  einem  einzigen 
"Wortekomposit  bestehen. 

HORLICKA  —  sein  Roman  ,,Die  Not  von  Wien"  hat  die 
Bevölkerung  dieser  Stadt  ihre  Not  vergessen  machen.  Der 
Roman  ist  Österreichs  einziger  Ausfuhrartikel. 

HUNCKE  —  sie  hat  ein  Gedicht  gegen  Amerika  gemacht, 
über  das  Amerika  schäumt.  Huncke  aber  wird  von  Japan 
gehalten. 

HÜTERSLOH  —  hat,  konsequent  einen  Versuch  eines  im 
Namen  Gleichklingenden  weiterbildend,  eine  leider  aus 
äußern  Umständen  unvollendete  Periode  geschrieben:  nach 
Verbrauch  von  7860  Kilo  Papier  ging  dieses  in  Deutsch- 
land aus.  Die  wieder  gehobene  Produktion  läßt  hoffen,  daß 
Hütersloh  seinen  Satz  vollendet. 

KARLCHEN  —  seine  bissigen  Satiren  machen  seinem  harm- 
losen Herzen  Ehre. 

KURCKE  —  man  hat  zur  Erklärung  seiner  tiefen  Gedichte 
eine  Kommission  eingesetzt. 

LIENH  ARD  —  hat  den  Erdgeruch  entdeckt  und  versucht,  da- 
mit den  Fußgeruch  aus  der  deutschen  Literatur  zu  vertreiben. 

LISSAUER  —  sein  Lied  gegen  England  erschien  unter  glück- 
lichen Umständen,  hatte  aber  schlimme  Folgen,  denn  es 
machte  die  andern  Nationen  eifersüchtig  auf  ein  Volk,  das 
solch  ein  Genie  besitzt.  Sie  beschlossen  daher  Deutschlands 
Untergang.  Es  ist  manchmal  unpatriotisch,  zu  schöne  pa- 
triotische Verse  zu  machen- 

LÖBELES  —  hat  grönländische  Dichter  so  gut  übersetzt, 
daß  das  Übersetzen  Mode  wurde,  wodurch  wir  leider  eine 
Unmenge  Originaldichter  verloren  haben. 

79 


MARIE  MADELAINE  —  die  "Wollust  ihrer  Gedichte  stellt 
ihrer  Keuschheit  das  beste  Zeugnis  aus. 

MEVERS  —  eine  Erzählung  von  ihm  wurde  ins  Französische 
übersetzt.  Es  sind  schon  wegen  geringerer  Ursachen  Kriege 
entstanden, 

MOLFSKEHL  —  hat  ein  Distichon  geschrieben,  das  nur 
einige  Längen  hindern,  den  Versen  des  Meisters  gleich  zu  sein. 

MUNDELFINGER  —  hat  seine  Trilogie  Shakespeare  Goethe 
George  nur  mehr  durch  einen  Namen  zu  einer  Tetralogie 
zu  erweitem:  Gundolf. 

NORA,  NUSCHE,  NOWAK,  NUMBERGER,  NIEZKI, 
NUTSCHKE,  NOGIGES,  NIERENDORF,  NOWASIS  —  eine 
Milchstraße  von  Sternen!  Unsere  Mühe,  sie  einzeln  fest- 
zustellen, war  größer  als  die,  sich  diese  Namen  zu  merken. 
Man  merke  sie  sich! 

OMPTEDA  —  er  ist  so  fruchtbar,  daß  wir  alle  seine  Ta- 
lente nicht  aufzählen  können. 

PAWALKE  —  die  Verse,  die  er  den  Musen  abringt,  lassen 
den  Geiz  der  Damen  bedauern. 

PRESBER  —  der  Homer  des  deutschen  gutbürgerlichen 
Abtrittes. 

RADAU,  PETER  PAUL  EMIL  HEINRICH  —  hat  sich  vier 
Vornamen  gegeben  in  der  Hoffnung,  wenigstens  mit  einem 
von  ihnen  auf  die  Nachwelt  zu  kommen. 

RAUBE  —  ist  unter  allen  knorrigen  Dichtern  der  Knorrigste. 

SALUS  —  seine  Gedichte  sind  so  beruhigend,  daß  sie  in 
Spitälern  als  Umschläge  für  Kranke  verwendet  werden. 
Der  Dichter  ist  auch  Arzt  —  ist  nicht  Apoll  der  Dichter 
und  Ärzte  Gott? 

SCHERING  —  hat  durch  seine  Übersetzung  Strindbergs  die 
Schwerverständlichkeit  dieses  Schweden  erwiesen. 

80 


^us'  CeAuuiitrnatxn 


SCHROIKER  —  setzt  alle  seine  Opemtextc  in  Musik,  was 
sonst  nie  jemand  gemacht  hätte. 

SOBELSOHN  —  seine  Verse  sind  einziger  Genuß  einer 
Pension  Berlin  Augsburgerstraße.  Egoisten  wie  Genießer 
schon  sind  lassen   sie  den  Dichter  nicht  bekannt  werden. 

TEITELBAUM  —  hat  die  Milch  seiner  Amme  in  freien 
Rhythmen  bedichtet.  Die  gerührte  Amme  spendet  ihm  seit- 
dem das  doppelte  Quantum.  Der  Dichter  ist  die  Freude 
seiner  jungen  Eltern, 

WRZIZCINSKI  —  es  gehört  ein  ungeheures  Talent  dazu, 
mit  solcher  Vorsicht,  Rhythmus,  Reim,  Harmonie,  Sinn  und 
Klang  zu  vermeiden  und  doch  solche  herrliche  Gedichte 
zustand  zu  bringen. 

ZARUK  —  hat  eine  Hymne  auf  Zion  verfaßt.  Als  sie  dort 
bekannt  wurde,  verließen  die  7600  Juden  Palästina. 

ZUBER  BÜHLER  —  für  ihn  wurde  das  Wort  „wurzelecht" 
erfunden. 


81 


ZUR  IDEOLOGISCHEN  MORPHOLOGIlfe 
DER  LITERARISCHEN  BESTIAE 


DAS  FAUSTISCHE  URVIECH 

BEI  Bearbeitung  der  norddeutschen  Fauna  —  soweit  sie 
sich  nicht  mit  der  europäischen  Abart  der  felis  leo 
palestinensis  gekreuzt  hat,  welche  Abart  ihre  Behandlung 
im  Bestiarium  erfuhr  —  konnten  wir  einer  immer  mehr  sich 
aufdrängenden  letzten  Konsequenz  aus  den  bisherigen 
Schlüssen  uns  nicht  mehr  entziehen,  und  mußten  wir  zu 
der  Annahme  schreiten,  daß  alle  jene  unbeschnittenen  Tiere 
von  der  Gattung  der  genannten  "Wiederkäuer,  die  ihre  Homer 
nur  mehr  zum  geistigen  Aufstoßen  tragen,  ihren  Ahnen  in 
einem  Geschöpf  zu  erkennen  hätten,  dessen  exorbitante 
Reste  in  den  verkohlten  Wäldern  des  30  jährigen  Krieges 
gefunden  zu  haben  wir  so  glücklich  waren.  Die  Schwierig- 
keiten der  Rekonstruktion  waren  groJ».  Fest  stand,  daß 
wir  es  hier  mit  einem  vollkommen  isoliert  lebenden  Tiere 
zu  tun  haben,  das  (zum  Unterschied  vom  gleichfalls  iso- 
liert lebenden  romantischen  Einhorn,  welches  jungfräuliche 
Geschöpf  seine  Gehirntätigkeit  in  aller  gottgefälligen  Un- 
schuld emaniert)  sein  Hörn  in  eifersüchtiger  Weise  nach 
innen  gebogen  trägt,  wie  uns  ein  tiefes  Loch  in  der  Stirn- 
wand und  ein  in  das  Hirn  gehender  hörnener  Kanal  be- 
wiesen. Mit  diesem  Hörne  hat  also  das  Tier,  statt  sich 
oder  seinen  Daseinsprozeß  in  die  Welt  zu  integrieren,  diese 
Welt  gierig  in  sich  selber  integriert.  Was  wir  zum  Unter- 
schiede von  einem  faktischen  Vorgange  auf  der  mensch- 
lichen Ebene  als  die  metaphysische  Seite  des  Nasenbohrens 
ansprechen  müssen.  Diese  anatomische  Kuriosität  forderte 
den  Schluß  heraus,  daß  dieses  Tier  sowohl  sehr  tiefsinnig 
wie  sehr  bockbeinig  gewesen  sein  muß,  denn  bei  so  auf- 
reibender und  unendlich  zu  denkender  Beschäftigung  mit 

85 


sich  selbst,  als  welches  das  Nasenbohren  oder  Hineinstopfen 
der  "Welt  in  sich  selber  beschrieben  werden  muß,  ist  eine 
bis  zu  ibsenischer  Tollwut  gehende  Gereiztheit  gegen  alle 
selbständige  Umwelt  unmittelbare  "Wirkung,  wenn  diese  Um- 
welt es  wagt,  den  geschlossenen  Kreislauf  des  kompletten 
Ichgefühles  zu  stören.  Der  Starke  ist  am  mächtigsten  allein, 
besonders  unter  dünner  gesäter  provinzialer  Bevölkerung, 
wo  der  als  ein  Starker  mißverstandene  Sonderling,  das 
monströse  Ich  nämlich,  eine  gewisse  panische  "Wirkung  übt 
und  die  Korrektur  durch  eine  das  schrankenlose  Indivi- 
dualisieren hassende,  ja  verachtende  Gassenbubenschaft 
fehlt.  Des  immanent  jähzornigen  und  überheblichen  Cha- 
rakters unsres  Tieres  gewiß,  schlössen  wir  auch  sofort  auf 
bösartige  Absonderungen,  und  richtig:  die  Analyse  der  Reste 
seiner  Hervorbringungen  ergab,  daß  es  seine  Nahrung  in 
Gestalt  und  Geruch  des  Problema  von  sich  gegeben  habe, 
chemisch  also  bereits  so  gespalten,  daß  kein  Spatzenmagen 
mehr  darin  Nahrung  gefunden  hätte,  zum  Unterschiede  von 
den  Äpfeln  des  freundlich  spenderischen  Pferdes.  Diese 
boshafte  Art,  eine  restlose  "Verdauung  durchzuführen,  also 
nichts  sonst  zu  scheißen  als  den  abstrakten  Dreck,  den 
Mist  an  sich,  das  vollkommen  "Verwertete  —  dies  muß  aus 
dem  Umkreis  des  Tieres  jede  Natur  verscheucht  haben. 
"Was  so  egozentrisch  fäkalisierte,  kannte  nicht  "Vogel  noch 
Käfer  in  seinem  Umkreis.  Kein  Gemeingefühl,  keine  engere 
Horde  kann  es  gehabt  haben,  ja,  daß  es  in  der  weiblichen 
Art  vorgekommen  sein  sollte,  auch  das  ist,  wenigstens 
theoretisch,  undenkbar.  Jedenfalls  hat  ein  ursprünghches 
Mitteilungsbedürfnis  ihm  nicht  ingewohnt,  was  seine  Be- 
schränktheit auf  den  nordgermanischen  Boden  beweist.  "Wir 
haben  uns  daher  auch  nicht  weiter  bemüht,  Spanien,  Frank- 
reich, Italien  oder  andere  gottes-  und  himmelsüchtige  Länder 
nach  Spuren  unseres  Tieres  zu  durchforschen.  Erscheint 
doch  in  diesen  Ländern  durch  das  "Vorhandensein  eines 
echten  Publikums  das  Mitteilungsbedürfnis,  auch  wenn  es 
dem  literarischen  Ego  nicht  ab  ovo  ingewohnt  haben  sollte, 
in  dieses  per  nationis  gratiam  einverleibt,  woraus  folgt,  daß 

86 


eine  Entartung  des  kunstfertigen  Tieres  zum  wildschweifen- 
den Schöpfer,  der  sucht,  wie  er  sich  selber  verschlinge, 
nicht  vorkommen  oder  schlimmsten  Falles  nicht  zu  Ende 
kommen  kann.  Hier  möchten  wir  zu  bemerken  nicht  unter- 
lassen, daß  ein  ursprüngliches  Interesse  der  Deutschen  für 
ihre  Literatur  natürlich  nicht  besteht,  dasselbe  vielmehr 
erst  durch  Parasiten  und  Bakterien  kritischer  Art  vermittelt 
werden  mu&.  Das  so  erzeugte  Interesse  ist,  wie  ohneweiters 
klar,  ein  krampf-  und  krankhaftes,  denn  es  entsteht  durch 
Bildung,  als  welche  ein  äußerst  unangenehmer  und  pene- 
tranter Aussatz  ist. 

Nach  vollendeter  Rekonstruktion  des  Skelettes  haben  wir 
das  so  wiedergewonnene  Tier,  das  in  sich  selber  eine  Niete 
ist,  als  das  ,, faustische  Urviech"  klassifiziert,  stolz  darauf, 
den  bisher  illegitimen  Bälgern  der  Gedankenblässe  mit  der 
ungestümen  Leiblichkeit  damit  einen  Vater  und  dem  nichts  als 
Individuellen  sogar  eine  Vergangenheit  verschafft  zu  haben. 

DIE  STRUKTUR   DES  MEIERSCHULZE 

Es  war  an  einem  Maiabend  des  Jahres  1785,  daß  Fried- 
rich Wilhelm  Meierschulze  aus  einem  Hause  der  Metzger- 
gasse in  Königsberg  trat,  leichten  Schrittes  und  stramm 
gehobenen  Hauptes,  und  ohne  rechts  und  links  zu  blicken 
die  Postgasse  hinunterging,  wo  vor  einem  scheunenartigen 
Gebäude  eine  Kutsche  schon  länger  auf  ihn  gewartet  zu 
haben  schien.  Denn  der  Kutscher  saß  bereits  auf  ihrem 
Bock,  und  sie  rumpelte  alsbald  die  Gasse  hinunter,  nach- 
dem F.  W.  Meierschulze  darin  Platz  genommen  hatte.  Vor 
der  Stadt  schlugen  die  Pferde  einen  muntern  Trab  auf 
der  Chaussee  ein,  die  nach  Berlin  führte,  des  Reisenden 
Heimatsort,  in  dem  eine  zahlreiche  Verwandt-  und  Be- 
kanntschaft seine  Rückkehr  seit  etlichen  Jahren  schon  un- 
geduldig erwartete,  welch  alle  Zeit  unser  Meierschulze  in 
jenem  Sanatorium  zu  Königsberg  zugebracht  hatte. 
Sehr  gehobenen  Hauptes,  leichten  Schrittes  und  ohne  nach 
rechts  und  Unks  zu  sehen,  genau  so  verließ  er  das  Haus. 

87 


Und  dessen  war  nicht  Ursache  die  fein  wehende  Frühlings- 
luft, die  ihn  umfing  —  er  achtete  ihrer  gar  nicht  im  ge- 
ringsten —  und  auch  nicht,  daß  die  Behandlung  in  dem 
Hause  ganz  ohne  ihre  Widerwärtigkeiten  gewesen  war,  im 
Gegenteil,  sie  war  oft  recht  rigoros,  ja  hart  gewesen,  wenn 
es  auch  der  Patient  nicht  so  gar  sehr  spürte.  Denn  er 
hatte  in  seinem  Dasein  so  viel  ertragen  gelernt,  daß  es 
ihm  dauernd  den  Rücken  krumm  bog  —  und  diesen  Schön- 
heitsfehler zu  korrigieren  war  er  ja  besonders  in  das  Sana- 
torium des  berühmten  Mannes  gegangen.  Und  der  Fehler 
war  korrigiert.  Der  Mann  in  immerhin  schon  gut  mittleren 
Jahren  hielt  sich  und  stand  und  ging  und  sprach  aufrecht 
wie  ein  Pfahl.  Es  saß  sogar  in  seiner  kommoden  Kutsche 
wie  ein  Pfahl.  Er  hörte,  brauchte  man  ihn  später,  diesen 
Vergleich  nicht  gerne.  Denn  es  war  gar  keiner,  und  ge- 
rade daran  wollte  er  nicht  erinnert  sein.  Er  wollte  seinen 
überaufrechten  Gang  durchaus  aus  seiner  Moral  abgeleitet 
wissen,  nicht,  nun,  es  muß  gesagt  werden,  aus  dem  Stock, 
den  er  auf  Anraten  des  alten  Professors  verschluckt  hatte, 
da  nichts  sonst  helfen  wollte.  Als  er  nämlich  die  Geschichte 
seiner  Leiden  dem  Königsberger  Hexenmeister  erzählte, 
kam  er  auch  auf  den  Stock  zu  sprechen,  den  der  alte 
König  des  öftern  auf  ihn  hatte  niedersausen  lassen,  zu- 
gleich mit  dem  Paradox:  daß  man  ihn  ,, nicht  fürchten, 
sondern  lieben"  solle.  Und  da  hatte  schließlich  der  Königs- 
berger, der  doch  sonst  ein  Feinschmecker  war,  den  sonder- 
baren Einfall  und  Rat  für  den  gekrümmten  Patienten  ge- 
habt, er  möge  den  Stock  verschlucken,  denn  dann  hätte 
er  ja  das  Mittel,  das  zur  Liebe  zwinge,  im  eigenen  Leibe, 
zugleich  mit  der  den  Stock  schwingenden  Kraft  jenes,  der 
die  Liebe  heische.  Und  nichts  war  einfacher  als  das.  Fried- 
rich Wilhelm  Meierschulze  schluckte  und  hatte  seitdem 
einen  aufrechten  Gang,  der  etwas  übertrieben  aussah,  aber 
immerhin  Eindruck  machte,  wie  er  aus  der  Kutsche  mer- 
ken konnte,  fuhr  sie  durch  einen  Krug;  denn  da  standen 
die  Bauernkerle  bei  seinem  Anblick  mit  heruntergefallenen 
Armen  und  sperrten  Maul  und  Augen  auf. 

88 


Wie  sagte  der  alte  Herr  beim  Abschied?  „Handle  so,  als 
ob  die  Maxime  deiner  Handlung  durch  deinen  Willen  zum 
allgemeinen  Gesetz  werde!"  Ja,  das  war,  so  wußte  er,  wohl 
die  kürzeste  Fassung  eines  von  jenem  oft  wiederholten 
Satzes,  wobei  es  immer  um  Willen  und  Handlung  herging, 
zwei  Dinge,  welche  das  arme  Metökenherz  unseres  Meier- 
schulze außerordentlich  erfrischten,  denn  er  fühlte  sich, 
nach  langen  vergeblichen  Anstrengungen  zum  Sein,  durch- 
aus zum  Handeln  geboren,  wodurch  er  in  einem  Enkel 
und  mit  Hilfe  eines  kleinen  philologischen  Schnitzers  — 
,,das  Leben  ist  ein  Geschäft,  drum  handle"  witzelte  der 
Enkel  —  mühlos  vom  Handeln  auf  den  Großhandel  kam. 
Mit  dem  Willen,  da  wird  es  schon  werden,  dachte  unser 
Held  und  schrie  plötzlich  laut  auf  ,,ich  kann  was  ich  will", 
so  daß  der  fromme  litauische  Kutscher  ganz  erschrocken 
auf  dem  Bock  zusammenfuhr  und  ein  Kreuz  mit  der  Hand 
schlug,  welche  die  Peitsche  hielt.  Denn  er  hatte  die  Gottes- 
lästerung gehört  und  ihn  schauderte. 

Was  ihm  der  alte  Herr  in  Königsberg  für  den  Anfang 
prophezeit  hatte,  das  traf  ein:  daß  man  F.W.  Meierschulze 
eine  Zeit  lang  für  sehr  krank  halten  und  darum  meiden 
würde,  aber  daß  dies  kleine  Martyrium  ihn,  wenn  dies 
überhaupt  möglich,  nur  noch  gesunder  machen  würde.  ,,Das 
ist  die  Konkurrenz  der  veralteten  Doktoren,  wissen  Sie, 
die  ihre  Wut  über  meine  Heilerfolge  an  Ihnen  auslassen 
werden.  Besonders  den  Willen  wird  Ihnen  gelegentlich 
einer  arg  verekeln  wollen.  Aber  nur  immer  aufrecht,  lieber 
Freund!  Und  da  Sie  ja  den  Stock  — ".  ,,Ich  weiß,  Herr 
Professor",  wehrte  etwas  in  F.  W.  Meierschulze  ab,  denn 
der  genannte  Stock  war  noch  nicht  ganz  fest  eingewachsen 
und  rührte  sich  manchmal  als  ein  richtiger  Fremdkörper, 
der  er  im  immerhin  fleischigen  Leibe  war. 
Man  mied  F.  W.  M,  in  der  Tat.  Man  sah  ihn  nicht  gern. 
Er  litt.  In  der  soi-disant  Verbannung  tröstete  es  den  un- 
entwegt Aufrechten  nur  wenig,  daß  er  sie  mit  einem  Frei- 
herrn von  Stein  teilte,  so  nutzbringend  ihm  auch  die  Unter- 
haltung mit  diesem   Manne  war,   der  an  unseres   Helden 

89 


Aufrechtheit  eine  etwas  ironische  Freude  zu  haben  schien. 
Es  war  wohl  nur  ein  Scherz,  doch  Friedrich  Wilhelm  Meier- 
schulze liebte  solche  Scherze  mit  heiligen  Dingen  nicht; 
aber  es  gab  ihm  doch  einen  hoffnungsvollen  Trost,  als 
der  Freiherr  einmal  zu  ihm  sagte:  ,,Tu  es  Petrus  et  in 
hoc  petro  ..." 

Darunter,  seinem  König  nicht  dienen  zu  können,  litt  unser 
Held  damals  unsäglich.  Denn  es  fehlte  so  im  Schachbrett 
seiner  erkannten  Pflichten  ein  Stein,  und  er  war,  auf  das 
unbesetzte  Feld  stierend,  gezwungen,  diesen  fehlenden  Stein 
noch  stärker  als  bisher  zu  denken,  wodurch  er  sich  ein 
theoretisches  Wissen  sowohl  über  seine  Königstreue  wie 
über  seinen  Pflichten  komplex  erwarb,  womit  er  dann  vier 
Generationen  seiner  Landsleute  ausstatten  konnte,  ja,  es 
profitierte  sogar,  tind  bis  an  den  Bauch,  eine  siebente 
davon. 

Daß  ihm  das  Exil  und  seine  vorübergehende  Dauer  vor- 
hergesagt worden  waren,  bestärkte  ihn  in  seinem  Glauben 
an  die  gelungene  Kur  und  hinderte  die  Ausbildung  eines 
Ressentiments,  wozu  übrigens  auch  die  Zeit  im  Exil  zu 
kurz  war.  So  kurz,  daß  er  es  bald  darauf  überhaupt  ver- 
gaß. Und  dies  um  so  leichter,  als  sich  Meierschulze  inzwi- 
schen so  ausgedehnt  hatte,  daß  er  sich  selbstverständlich 
vorkam.  Und  da  begann  er  sich  historisch  zu  konzipieren, 
was  anfangs  nicht  ohne  einige  dialektische  Kunststücke  ab- 
ging, da  es  galt,  das  historisch  Vergangene  so  in  das  Gegen- 
wärtige hineinzubringen,  daß  eine  dem  moralischen  Habi- 
tus Meierschulzes  entsprechende  Zukunft  herauskommen 
mußte.  Worin  dieses  schwierige  Kunststück  der  Geschichts- 
konstruktion versagte,  darin  kamen  später  andere  Umstände 
zu  Hilfe. 

Unser  Held  konnte  ein  gewisses  Lächeln  nicht  vertragen, 
das  er  an  seinen  im  Süden  und  Westen  wohnenden  Ver- 
wandten immer  dann  zu  bemerken  glaubte,  wenn  er  das 
Wort  ,, deutsch"  aussprach.  ,,Ihr  wollt  mir  wohl  mein 
Deutschtum  nicht  glauben?"  konnte  er  da  auffahren  und 
machte  sich  bolzensieif  mit  Bauch  heraus  und  Brust  hin- 

90 


ein,  daß  das  zweireihige  Jakett  im  Jägerschnitt  nur  so 
knackte.  Er  bekam  darauf  verschiedene  Antworten,  je 
nachdem  er,  sein  Enkel,  sein  Urenkel,  sein  Ururenkel, 
sein  Urururenkel  die  Frage  stellte.  Etwa  diese:  ,,"Wir  haben 
das  Deutsche  nur  nicht  so  jede  Zeit  parat  wie  du,  weil 
es  bei  uns  ein  guter  alter  Kasten  ist.  Nur  Neuvermählte 
zeigen  gern  ihre  Wohnungseinrichtung,  die  ihnen  selber 
noch  auffällt,  weil  sie  ihnen  noch  nicht  ganz  richtig  ge- 
hört. Unser  alter  Kasten,  der  steht  schon  so  lang  auf  dem 
Fleck,  daß  wir  ihn  gar  nicht  mehr  merken."  —  ,,Jawoir', 
sagte  da  giftig  Friedrich  Wilhelm  Meierschulze  VIII,  ,,auch 
nicht,  daß  ihn  Stück  für  Stück  die  tschechischen  Würmer 
davon  tragen."  Oder  man  sagte  ihm:  ,,Wir  können  halt  in 
der  Herstellung  eines  Champagners  aus  Apfelmost  und 
Zucker  so  was  besonders  ehrenwert  Deutsches  nicht  sehen, 
außer  in  der  Benennung  dieses  Sudes,  den  du  ,Kaiser- 
blumc'  taufst."  Darauf  antwortete  hohnlachend  Friedr. 
Wilh.  Meierschulze  IX:  ,, Deutschlands  Zukunft  liegt  auf 
dem  Wasser"  und  stimmte  das  Flottenlied  an.  Einer  sagte 
ihm  einmal:  „Wenn  seinerzeit  die  Tschechen  so  wie  ihr 
Preußen  und  Wenden  und  Sachsen  deutsch  von  uns  ge- 
lernt hätten,  dann  wären  diese  verdeutschten  Tschechen 
unsere  Preußen,  und  in  Wien  hätte  man  statt  tschechische 
Klofars  und  Kramars  mit  einem  lauten  ars  deutsche  Kra- 
mars und  Klofars  mit  einem  stummen  ars,  wie  Ihr  deutsche 
Bülows  und  Quitzows  mit  einem  stummen  Weh  habt."  — 
,,Also  du  meinst,  es  sei  eine  Rassenfrage  innerhalb  der 
deutschen  Nation?"  schnarrte  Friedrich  Wilhelm  Meier- 
schulze X,  —  ,,Das  meint  er  wohl  nicht,"  sagte  ein  Frem- 
der, ,, sondern  nur,  daß  Sprachgemeinschaft  noch  nicht  un- 
bedingt Volksgemeinschaft  oder  gar  Kidturgemeinschaft  be- 
deutet. Die  englisch  sprechenden  Irländer  sind  deshalb  noch 
keine  Engländer.  Und  die  französisch  redenden  Vlamen  noch 
keine  Franzosen.  Zu  Metöken  werden  jene,  welche  Sprache 
und  Sitte  der  Eroberer  annehmen."  —  ,,Wir  Metöken?" 

—  ,,Ja,  in  der  Seele,  dort,  wo  ihr  den  Staat  herumtragt." 

—  ,,Und  der  Staat  ist  nichts?"  —  ,,Er  ist  euer  zum  Ge- 

91 


setz  der  Welt  erhobenes  Metökentum,"  —  „Handel  und 
Gewerbe  lagen  in  Griechenland  allein  auf  den  Schultern 
der  Metöken."  —  ..Wie  heute  in  der  Welt.  Ganz  richtig. 
Nur  daß  damals  Handel  und  Gewerbe  nicht  den  Staat  aus- 
machten wie  heute.  Neben  Perikles  saß  nicht  ein  Schnei- 
der im  Amte  kraft  seines  Schneidertums.  Darum  seid  ihr 
heut  die  Mächtigen,  denn  ihr  habt  heute  die  Macht  des 
Staates,  kennt  daher  nichts  als  ihn  und  wollt  nichts  anderes 
als  ihn,  denn  Zweck  und  Sinn  eures  Lebens  erfüllen  sich  nicht 
menschlich  oder  göttlich,  wie  es  sonst  der  Brauch,  sondern 
staatlich,  und  das  heißt  ohne  persönliche  Verantwortung." 
Nach  solchen  Debatten  pflegte  der  jeweilige  Meierschulzc 
auf  sein  wohlgeordnetes  Besitztum  zu  sehen,  seine  Kon- 
tore, Kanzleien,  Krane,  Lifte,  "W.  C.'s,  Schiffe,  Soldaten 
und  der  zweifelhaften  Wirtschaft  dieser  oder  jener  seiner 
südlichen  Verwandten  vergleichend  sich  zu  erinnern,  um 
allsofort  wieder  sein  vollkommenes  Gleichgewicht  zu  fin- 
den. Aus  dem  er  eigentlich  nie  gekommen  war,  denn  er 
verstand  die  andern  gar  nicht,  und  die  andern  ihn  nur 
wenig.  Auch  deshalb,  weil  man,  um  sich  etwas  zu  ver- 
ständigen, auf  ein  Deutsch  sich  geeinigt  hatte,  das  eigent- 
lich kein  Mensch  redete.  Und  zudem  war  es  ein  reiner 
Zufall,  daß  sie  überhaupt  miteinander  und  deutsch  redeten. 
Ein  anderes  Mal  ging  ein  Gespräch  so:  ,, Lieber  Bruder, 
du  bist  vortrefflich  in  der  Not . .  .!"  —  ,,Ohne  mich"  —  ,,Gc- 
w^iß,  ohne  dich  verloren  in  der  heutigen  Welt  für  Heutiges. 
Aber  deine  Art  schafft  uns  eben  die  Not!  Ja,  manchmal 
kommts  mir  vor,  als  ob  du  wie  vom  bösen  Geist  besessen 
die  Not  extra  schafftest,  um  dich  so  recht  als  Nothelfer 
zu  zeigen,  dein  Dasein  schön  zu  beweisen,  dem  ohne  die 
Not  der  Sinn  fehlte,  den  wir  ihm  zu  geben  gewohnt  sind 
und  den  du  aus  deiner  Art  nicht  anerkennen,  kaum  ver- 
stehen kannst,  weil  er  dir  nicht  Pflicht  wird  und  der  als 
Pflicht,  als  ein  so  Selbstgesetztes,  überhaupt  nicht  zu  fassen 
ist."  —  „Aber  du  siehst  doch  den  Zerfall  überall  dort,  wo 
mein  Pflichtbewußtsein  nicht  herrscht."  —  ,,Und  die  andern 
sehn  den  Verfall  dort,  wo  es  herrscht,  oder  sie  geben  ihren 

92 


Verfall  zu  und  sagen,  dein  Pflichtleben  verursache  ihn, 
denn  es  verdränge  das  Leben.  Was  du  lebst,  das  impos- 
tierst  du  andern,  denen  es  nicht  im  Wesen  liegt  und  bei 
denen  es  daher  nicht  gedeihen  kann,  wie  bei  dir.  Das 
nennst  du  dann  Verfall  der  Welt,  aber  es  ist  nur  deine 
bestimmte  Welt,  die  auf  die  ganze  Welt  ausgedehnt  über- 
all dort  verfällt,  wo  sie  eben  nicht  leben  kann."  —  ,,Gut 
ist,  was  im  heutigen  Leben  — "  —  ,, Verzeih  die  Unhöf- 
lichkeit  der  Unterbrechung,  aber  wir  wollen  nicht  aus 
Vergleichen  gut  und  schlecht,  wahr  und  falsch  bestimmen, 
denn  das  Urteil  ist  hier  unwichtiger  als  dies,  daß  es  und 
von  wem  es  und  wie  es  ausgesprochen  wird.  Und  da  ist 
nichts  weiter  zu  sagen,  als  daß  du  in  der  heutigen  Welt 
mit  deiner  Pflicht  dich  bis  auf  weiteres  besser  behauptest 
als  der  andere,  den  nicht  die  Pflicht  vollkommen  definiert, 
wie  du  sie  allein  kennst.  Du  bist  nichts  als  der  Stärkere 
in  der  jetzigen  Welt,  die  in  ihrer  augenblicklichen  Artung 
deiner  Art  günstiger  ist.  Du  hast  wie  die  Juden,  die  Schot- 
ten, die  Norweger,  die  Amerikaner,  lauter  deinige  Ver- 
wandte, die  größere  Anpassungsfähigkeit  an  das  heute  Kur- 
rante,  und  das  ist  für  dich  gut,  und  deshalb  auch,  aber 
nur  für  dich,  an  und  für  sich  gut,  das  Gute  schlechthin." 
—  ,,Ich  handle  nach  Maximen,  die  sich  selbst  zugleich  als 
allgemeine  Naturgesetze  zum  Gegenstand  haben  können," 
antwortete  der  betreffende  Meierschulze,  nunmehr  schon 
nichts  mehr  sonst  als  der  leibhaftige  kategorische  Impe- 
rativ. Und  das  ist  sein  Malheur,  dachte  der  andere,  daß 
dieser  Meierschulze  mit  uns  sprachverwandt  ist,  und  sich 
daher  zugleich  auch  noch  denken  kann.  Er  wäre  sonst 
ein  so  umgänglicher  Amerikaner. 

Friedrich  Wilhelm  Meierschulzc  machte  sich  seine  Ge- 
schichte, denn  Unsicherheiten  der  Herkunft  verlangten  eine 
Ahnenreihe,  die  auch  bis  Wittenberg  zustande  kam.  Bis 
dahin.  Denn  da  es  ihm  vor  allem  und  auf  nichts  sonst 
eigentlich  ankam  als  auf  das  Fortschreiten,  ließ  sich  in 
Hinsicht  auf  den  Weg  bis  Luther  nichts  weiter  empfinden 
als    die    Freude,    daß    diese   Zeiten   wirklich   überstanden 

93 


seien,  die  er  mit  Vorliebe  und  stiller  Verachtung  die , dunklen' 
oder,  redete  er  öffentlich,  ,finstem'  nannte.  Und  er  war 
glücklich,  in  der  absoluten  Gegenwart,  nach  der  er  strebte 
—  und  die  ihm  auch  die  Zukunft  einschlang  —  keine 
andern  Spuren  jener  finstem  Zeiten  zu  finden  als  solche, 
die  er  sich  ästhetisch  zurecht  legen  und  damit,  wie  auch 
mit  der  universellen  Bildung,  vom  Halse  schaffen  konnte. 
Ja,  es  setzte  ihn  das  Unhistorische  seiner  eigenen  Lebens- 
form, welcher  der  Begriff  der  Dauer  fremd  war,  erst  recht 
in  stand,  jenen  Historismus  zu  produzieren,  den  einer  die 
historische  Krankheit  nannte.  Sie  bestand  darin,  da&  der 
hermetisch  in  seinen  Pflichtbegriff  wie  Insekt  in  Bernstein 
eingeschlossene  "W.  F.  M.  um  sich  ein  Leben  sah,  dessen 
organisch  sich  formenden  Werte  aus  historischer  Konti- 
nuität des  Seins  —  und  nicht  des  WoUens  —  sich  pro- 
duzierten, und  die  selber  zu  produzieren  er  sich  ganz 
au^er  stand  merkte.  So  versuchte  er,  sich  diese  Werte  aus 
der  wissenschaftlich  disziplinierten  Bildung  wenigstens  an- 
zueignen, worin  er  auch  bald  jeden  schlug.  F.  W.  Meier- 
schulze wurde  der  wissenschaftliche  Mensch  schlechthin. 
Er  w^urde  der  Mann,  den  man  überall  in  der  Welt  und 
in  allen  Sprachen  »Professor'  nannte.  Er  verfaßte  dickste 
Bücher  über  Malerei,  trotzdem  er  den  einen  Maler  in  sei- 
ner Familie  als  einen  Taugenichts  auslachte  und  einen 
anderen,  der  überhaupt  kein  Maler  war,  ein  malerisches 
Genie  nannte.  Er  schrieb  Abhandlungen  über  den  Ge- 
schmack, trotzem  er  Stilformen  aus  dem  Zweckgedanken 
erfand.  Er  beherrschte  sämtliche  indianischen  Dialekte, 
nur  die  deutsche  Sprache  schrieb  er,  daß  einem  speiübel 
wurde.  Er  erfand  das  Gesamtkunstwerk  mit  ethischen  Ab- 
sichten, weil  er  das  Einzelkunstwerk  mit  ästhetischen  Ab- 
sichten weder  zustande  bringen  noch  aufnehmen  konnte. 
Nichts  war  vor  seinem  wissenschaftlich  gedrillten  Verstände 
sicher,  nicht  einmal  der  Verstand  selber.  Denn  gelegent- 
lich verleitete  ihn  sein  in  allem  Gewesenen  und  Seienden 
herumvagabundierender  und  suchender  Bildungstrieb  dazu, 
seinem  Verstand  eine  mystische  Maske  zu  geben  und  gegen 

94 


den  Verstand  zu  Felde  zu  ziehen:  er  wurde  höchst  ver- 
ständig verrückt.  Aber  das  waren  seltene  Extratouren 
von  sehr  kurzer  Dauer.  Im  Grunde  waren  unserm  Helden 
beide  Formen,  in  denen  Outsider  der  Familie  gegen  die 
Aufklärung,  diesen  falschen  Vertrag  zwischen  Wissenschaft 
und  Orthodoxie,  protestierten,  gleich  zuwider:  sowohl  die 
Form  Goethes,  der  zugunsten  des  Denkens  entschied,  wie 
auch  die  Form  der  Romantik,  welche  zugunsten  der  Ortho- 
doxie entschied.  Unser  Held  war  für  Schiller,  für  die  Auf- 
klärung und  den  Fortschritt,  seines  ethischen  Pflichten- 
komplexes als  des  Normativen  sicher. 

Im  verschluckten  Stock,  dem  physiologisch-anatomischen 
Erbstück  der  Familie  Meierschulze,  besaS  unser  Held  ein 
Attribut  des  Königs,  der  Stock  und  Pflichten  auferlegte, 
im  eigenen  Leibe.  Der  Untertan  wurde  sein  eigener  Unter- 
tan und  erkannte  sich.  "W.  F.  M.  propagierte  den  Demokra- 
tismus der  Pflicht,  die  er  hinreichend  abstrakt  faite,  so 
daß  sie  leicht  alle  Konkretiemngen  annehmen  konnte.  Er 
schuf  damit  keine  Demokratie,  di^  ja  nichts  als  ein  ge- 
fühlter Zustand  ist,  sondern  die  Organisation. 
Der  Begriff  des  Lebens  deckte  sich  ihm  mit  dem  Vor- 
stellungskomplex einer  zweckhaften  Organisation  erkannter 
Pflichten,  wobei  sich  die  Pflicht  immer  mehr  aus  ihrer  bis- 
herigen ethischen  Kategorie  herausbegab  und  gern  jedem 
Ding  als  Etikette  aufgeklebt  wiirde,  das  sich  ohne  diese 
Tabulierung  nicht  hantieren  ließ.  Diesem  seinen  Lebens- 
begriff ordnete  unser  Held  auch  die  "Wissenschaft  unter, 
indem  er  ihre  Methoden  zu  ihrem  Sinne  überhaupt  machte, 
—  die  Wissenschaft  wurde  nichts  als  Methode,  was  sie 
gegen  den  bisherigen  Sinn  der  Wissenschaft  so  sehr  ab- 
hob, daß  die  Meierschulzes  nicht  ganz  unrichtig  von  einer 
deutschen  Wissenschaft  sprechen  konnten. 
Friedrich  Wilhelm  Meierschulze  liebte  es  überhaupt,  vor 
gewisse  Begriffe  das  Wort  deutsch  zu  setzen,  nicht  nur 
aus  dem  begreiflichen  nationalen  Stolze  des  Herrn  gewor- 
denen Metöken,  sondern  in  wenn  auch  nicht  ganz  deutlich 
gewordner  Einsicht,  daß  die  Sache  in  seiner  Hand  etwas 

95 


anderes  geworden  war.  Er  sagte  zum  Beispiel:  „Der  Deutsche 
Gott."  Oder  er  sprach  von  deutscher  Treue,  etwas  mit  dem 
Tonfall,  als  ob  es  wo  anders  keine  gäbe,  und  es  irritierte 
ihn  wenig,  als  ihm  —  es  war  um  1866  —  ein  Bayer  sagte, 
daß  sich  das  Wort  deutsche  Treue  wie  eine  Übersetzung 
von  fides  punica  ausnehme.  Er  parierte  damals  mit  ,, un- 
abwendbarer Folge"  —  Meierschulzc  der  Elfte  sagte  ame- 
rikanischer ,, Logik  der  Tatsachen"  —  und  er  flüchtete 
sich  in  die  Hegeische  Geschichts-  und  Rechtsphilosophie, 
aus  der  sich  eine  Auserwähltheit  jedes  Volkes  leichter  lesen 
läßt  als  die  Juden  die  ihre  aus  dem  alten  Testament. 
Wenn  Meierschulze  sich  auf  eine  Diskussion  von  Rechts- 
gründen damals  nicht  einließ,  so  geschah  es,  indem  er, 
seines  metaphysischen  Rechtes  wie  seiner  ewigen  Seligkeit 
aus  dem  alleinigen  Glauben  sicher,  sich  nur  und  auf  nichts 
sonst  als  auf  den  Existenzgrund  berief.  Seit  Sadowa  stützte 
er  sich  auf  die  Kanone  und  trieb  Rechtsstudien  auf  der 
Artillerieschießstätte.  Das  gab  ihm  so  viel  Sicherheit,  daß 
er  um  diese  Tatsache  sein  Leben  gruppierte,  später  als  er 
es  niederschrieb  gelegentlich  und  unter  dem  Pseudonym 
Heinrich  Treitschke  veröffentlichte.  Meierschulze,  der  klein 
zu  bleiben  geboren  war,  wäre  ohne  den  geschluckten  Stock 
auch  klein  geblieben.  Aber  der  Stock  streckte  ihn:  er  wuchs 
an  ihm,  wurde  nicht  größer,  aber  massig. 
Dieses  Prooemium  meines  deutschen  Romanes,  den  zu  schrei- 
ben nur  Faulheit  hinderte,  nicht  die  oft  besprochene  Un- 
möglichkeit eines  deutschen  Romanes,  steht  hier  an  diesem 
Ort,  weil  es  die  wichtigsten  Strukturteile  der  deutschen 
Seele  enthält,  wie  diese  sich  heute  zeigt.  Auch  in  den 
Beiles  lettrcs  und  ihren  Verfassern.  Kapitel  des  Romanes 
enthalten  mit  allem  Fleische,  auf  welches  das  Prooemium 
verzichten  muß,  unter  vielem  auch  dieses:  Meierschulzes 
Italienreise,  id  est  seine  künstlerische  Ambition,  seine  Hoch- 
zeitsreise nach  Paris,  id  est  seine  erotische  Ambition,  seine 
Fahrt  nach  London,  id  est  seine  geschäftliche  Ambition. 
Enthält  Das  Wartburgfest,  id  est  seine  Religion.  Sein  Besuch 
bei  Bismarck,  id  est  seine  Politik.  Sein  Empfang  Roosevelts, 

96 


p  i  z.      Hesse 


id  est  auch  seine  Politik.  Seine  Depesche  an  Ohm  Krüger, 
id  est  noch  immer  seine  Politik,  Die  Gründung  des  Palais 
de  Danse,  id  est  seine  mit  dem  Geschäft  multiplizierte 
„Pariser"  Erotik.  Sein  Kulturkampf,  das  ist  sein  Kultur- 
kampf. Sein  Eucken,  das  ist  sein  Idealismus  für  Minder- 
bemittelte. Sein  Reserveoffizier,  das  ist  sein  Idealismus  für 
Höhcrbcmittelte  usw.  usw. 

Ich  werde  den  Roman  doch  noch  schreiben  und  schenke 
den  Stoff  niemandem. 

DER  FREUD 

Der  Freud  ist  zunächst  eine  zu  Fackelkraus  analoge  Sprach- 
bildung. Mit  überraschender  Weglassung  des  Vornamens 
und  durch  die  Hinzunahme  vertraulichen  Augenblinzelns 
gibt  sich  hier  eine  Bekanntheit  und  zugleich  eine  Intimität 
mit  dieser  Bekanntheit,  die  nun  ihren  Ruhm  auch  in  der 
ganzen  Menschheit  ausbreiten  könnte,  ohne  doch  auf- 
hören zu  können,  eine  lokale  und  esoterische  Bekannt- 
heit zu  bleiben.  Denn  diese  ganze  begeisterte  Menschheit 
würde  eben  bloß  zu  Wienern,  zu  Lesern  der  Fackel  und 
der  psychoanalytischen  Schriften:  der  Begriff  der  Mensch- 
heit würde  eingeengt  statt  erweitert  werden  kraft  einer 
fluchartigen  Affinität  der  Leser  zu  ihren  Autoren.  Was  den 
Freud  anlangt,  so  verwandelte  sich  da  der  Genius  der 
Menschheit  auf  dem  Lokus  des  Allzumenschlichen  in  den 
Genius  loci  und  der  Wiener  ,, Stock  im  Eisen"  erhöbe  sich 
zur  Säule  des  Herakles,  welcher  Name  hinwieder  nur  das 
antike  Pseudonym  für  den  Fackelkraus  ist,  der  insofern 
—  allerdings  mehr  Crepe  de  Chine  als  Atlas  —  die  ganze 
Schuld  am  Weltkriege  trägt,  als  und  umsomehr  er  durch 
immer  heftiger  betonte  Schuldlosigkeit  seiner  Person  Gefahr 
läuft  —  man  soll  den  Gott  nicht  an  die  Wand  malen  — 
zum  agnus  dei  zu  werden,  das  diese  fremde  Schuld  dann 
hinwegnehmen  müßte.  Wie  das  Sonntagspublikum  unserer 
Zoologischen  Gärten  sich  um  den  Affenkäfig  drängt,  weil 
der  Affen  physiognomische,  die  Distanz  scheinbar  wieder 

7  97 


aufhebende  Nähe  zur  Komik  wird,  so  sammelt  sich  eine 
Waisenschar  der  illegitimen  Kinder  ahndungsvoll  um  ihre 
Väter,  den  Freud  und  den  Fackelkraus,  in  der  verschäm- 
ten, aber  zudringlichen  Form  des  Abonnenten  oder  Patienten, 
Scheinkomplemente  des  Wahlvaters,  diesen  zur  Legitimie- 
rung von  Schemen  lockend,  die  er  gezeugt  durchs  Wort 
er  weiß  nicht  wie  und  weiß  es  doch;  und  so  muß  er  in 
unerhörter  Weise  mit  diesem  Worte,  dieser  Sprache  ringen 
gegen  Neurose  und  Lektüre,  als  Arzt  das  Leben,  das  er 
geschaffen,  abtreibend,  als  Publizist  wieder  einsammelnd 
in  sich,  was  er  ausgegossen.  Der  Fall,  daß  ein  Publizist 
sein  Publikum  zurücknimmt,  also  inmitten  der  Publizität 
diese  selber  aufhebt  und  nichts  sonst  schildert  als  die 
Wonne  des  Wegschaucns  von  dem,  was  seine  Schilderung 
im  Konkreten  auswirkte:  welch  eine  Verzweiflung,  die  sich 
an  den  Worten  erhängt,  welch  ein  Schauder  vor  der  Er- 
kenntnis seiner  selbst,  aber  auch  welch  ein  Genießen  am 
Strick! 

„Lieber  krank  werden,  als  unbehandelt  von  solchem  Arzte 
durchs  Leben  wandeln,  der  mit  der  Lust,  der  Libido  auf 
dem  besten  Fuße,  dem  Pferdefuße  steht!"  so  ruft  in  der 
hypokriten  Gesellschaft,  welche  natürliche  Bindungen  nur 
noch  markiert  und  der  die  Kriege  auf  das  Haupt  kommen 
müssen,  um  der  eingebildeten  Übel  wieder  Herr  zu  werden, 
das  alte  Maß  der  wirklichen  Leiden  wieder  herzustellen,  so 
ruft  am  Generationsende  aller  Laster  der  Müßiggänger  aus. 
,, Lieber  überhaupt  lesen  können  als  nicht  lesen  können,  was 
der  Kraus  über  mich  geschrieben  hat,"  so  ruft  des  in 
Wien  so  Vielgenannten  namenloser  Zeitgenosse,  dessen  von 
Gottes  Zuchtrute  noch  unbefriedigter  persönlicher  Maso- 
chismus sich  wollüstig  getroffen  fühlen  will  in  dem  allge- 
meinen Porträt  dieser  Zeit.  Er  nimmt  die  Gefahr  der  Bil- 
dung in  Kauf,  die  Gefahr  des  Zusammentreffens  mit  den 
bedeutenden  Phänomenen  der  Schrift,  nur  um  lesen  zu 
können  auf  dem  Höllentore,  wer  er  sei:  ein  Schurke,  ein 
Schieber,  ein  Schmock  —  aber  er  siehts  gedruckt,  gedruckt 
in  der  ihm  heiligen  rotbroschierten  Schrift,  er  ist  da  in  ihr, 

98 


immerhin  auf  der  Seite  der  Böcke,  aber  er  ist  da,  er  lebt, 
er  hätte  es  nicht  geglaubt! 

,, Dieser  ist  mein  vielgehaßter  Sohn,  an  dem  ich  mein  Miß- 
fallen habe",  so  verkehrt  sich  im  Munde  des  falschen  Pro- 
pheten das  Wort,  und  nur  bei  dieser  Verkehrung  wohnt 
das  Blasphemische  solcher  Schriftstellerei,  welcher  mit  dem 
unmöglichen  Versuche,  den  Journalismus  in  den  Bezirk  der 
Sprache  zurückzuführen,  aus  welchem  er  sich  selber  durch 
einen  Akt  der  Einsicht  gestoßen  hat,  ein  ganz  anderes,  un- 
beabsichtigtes gelungen  ist:  daß  die  Steine,  die  sie  hinter 
sich  gegen  die  Leute  geworfen  hat,  diese  Leute  erst  aus 
dem  Boden  gestampft  haben!  Für  jeden  entlarvten  Betrüger 
standen  ihrer  zehn  auf  und  da  und  hatten  anstatt  Karriere 
plötzlich  ein  , .Höheres",  eine  verschwommene,  verschmockte 
Art  Gewissen,  die  —  ,, Hemmung"  nämlich,  die  sie  nun 
nicht  weiterließ,  hin  zu  den  ihnen  bei  den  Königen  bereiteten 
Stühlen,  zu  den  Redaktionsschemeln  nämlich.  Die  Hem- 
mung ließ  sie  nun  nicht  hin,  sehr  zum  Wehe  aller  andern 
Berufe  und  insonders  der  Dichtung,  wohinein  nun  alle  Ge- 
hinderten können,  sofern  sie  nicht  noch  immer  dichtge- 
drängt bei  der  tausendsten  Vorlesung  ihres  Propheten 
stehn,  weder  vor  noch  zurück  können,  die  Ausgänge  der 
Redaktionen  verstopfen  und  die  Eingänge  zu  den  psycho- 
analytischen Ordinationszimmern  —  ein  Greuel  für  Gott 
und  den  Teufel. 

Jener  nahm  den  mediokren  Subjekten  die  Lust  zum  Schlech- 
ten, aber  gab  ihnen  nicht  die  Lust  zum  Guten,  gab  ihnen 
den  Stein  der  Hemmung  statt  Brotes  und  zeugte  so  Wesen, 
Menschen,  die  es  nicht  in  Wahrheit  gibt,  sondern  nur  in 
der  Hysterie.  Jener  sprach  über  das  Gute  nicht  dämonisch, 
und  das  machte  den  Andern  nötig,  den  Regimentsarzt 
seiner  Marodeure,  die  zum  ewigen  Rückzug  befehligt  werden 
und  nach  den  Wonnen  eines  unerreichbaren  geistigen  Hin- 
terlandes schmachten.  Das  macht  den  Freud  nötig  als  den 
psychologischen  Definitor  der  Hemmung  und  machte  zum 
ersten  Male  das  sittliche  Phänomen  der  Lauheit  zu  einer 
Krankheit,  also  zu   einem  außersittlichen  Phänomen,   also 

7*  99 


zu  nichts  und  alles,  was  nach  ihrer  Behebung  geleistet 
werden  könnte,  zunichte,  da  die  volle  und  werthabendc 
sittliche  Entscheidung  in  der  Hilflosigkeit  und  Verlassen- 
heit von  jedem  Außen  erreicht  werden  muß. 
Zoologisch  gesprochen  ist  der  Freud  die  zum  Wurm  im 
Apfel  der  Sünde  degenerierte  Schlange  des  Paradieses.  Da 
der  Teufel  aus  dem  Mythologischen  ins  Psychologische 
fiel,  tauchte  der  Verführer  auf  als  der  Arzt.  In  dieser  Rolle 
korrespondiert  er  gleichsam  unauffällig  mit  dem  Tode,  nimmt 
ihm  zum  Schaden  der  Seele  einen  Teil  der  Schrecken.  Als 
Arzt  ist  der  Teufel  trotz  seines  Falles  subaltem  geworden. 
In  der  Gestalt  der  Schlange  des  Asklepios  hält  er  die 
Würde  des  bösen  Prinzipes  wenigstens  noch  an  einem 
Stabe  aufrecht,  gleicht  jedoch  einem  Könige  ohne  Land, 
da  er  dieses  doch  notwendigerweise  durch  die  Pyrrhus- 
siege seiner  Therapie  verlieren  muß,  ohne  es  allerdings 
gänzlich  durch  den  wahren  Sieg  über  sich  und  die  Sünde, 
wie  ein  absolvierender  Priester,  aufgeben  zu  können.  Er 
bleibt  im  beruflichen  Protest  gegen  die  Gesundheitsfiktion 
Besitzer  des  Landes,  d.  h.  der  Notwendigkeit  von  Übel  und 
Sünde.  Da  dieser  Schlange  gewesene  Wurm  gewohnt  war, 
in  unendlichen  Zeiträumen  zu  denken,  erscheint  ihm  sein 
Apfel  als  eine  Globe,  als  eine  ganze  Welt.  Es  ist  daher 
müßig,  mit  dem  Freud  über  die  Allgewalt  der  Libido  zu 
streiten.  Denn  gerade  in  der  Setzung  dieser  Allgewalt 
hat  er  sein  ursprüngliches  Wesen  wahr.  Sprach  er  als 
Schlange  einst:  eritis  sicut  deus,  so  spricht  der  jetzige 
Wurm:  seid  wie  die  Psychoanalytiker.  Denn  die  missionie- 
rende Kraft  der  psychoanalytischen  Schriften  ist  größer  als 
ihre  Absicht,  die  Therapie.  Wider  den  bewußten  Willen 
ihrer  Autoren.  Aber  so  geht  nun  einmal  ihr  Verhängnis 
und  beweist  den  Satz,  daß  außer  dem  einen  Arzte  kein 
Heil,  auf  lateinisch:  extra  ecclesiam  non  est  salus.  Die 
böse  Materie  ist  nämlich  durchaus  stärker  als  jeder  sie 
vorausetzungslos  Erkennende.  Es  kann  das  Böse  nicht 
ohne  bedeutende  Gefahr  für  den  Erkennenden  erkannt 
werden,  insofern  dieser  nicht  auch  die  letzte  Affinität  zu 

100 


ihm  in  sich  gelöscht  hat.  Aber  Wiener  und  Juden,  diese 
beiden  Kinder  des  Desillusionismus,  können  metaphysisch 
nicht  untergehn;  sie  vermöchten  in  einer  absoluten  Ent- 
scheidung nicht  zu  leben;  weswegen  sie  den  Dreh  lieben 
und  den  Begriff  des  Nebbich,  also  den  Trugzug  des  Matt- 
setzens und  das  anarchistische  Attentat  auf  das  Continuum : 
den  Bombenwurf  des  Nebbich.  Wiener  und  Juden  sind  ver- 
möge einer  ahasverischen  Lebensdauer  mit  allem,  was  fliegt, 
kriecht,  singt,  malt  und  dichtet,  heilig  oder  erhaben  ge- 
nannt wird,  intim,  weil  der  Schein,  daB  sie  alles  das 
könnten,  schon  und  wenn  schon  und  von  Akiba  her  und 
für  alle  Zukunft  stärker  in  ihnen  ist  als  die  protestantische 
und  protestierende  Tatsache  des  schlechthin  einmaligen  in 
Subjekt  wie  Objekt,  woraus  der  Problematiker  seinen  tiefen 
Respekt  vor  den  Dingen  zieht  und  vor  sich  selber.  Diesen 
Respekt  können  Wiener  und  Juden  nie  haben  wegen  ihrer 
pseudometaphysischen  Intimität  mit  sich,  untereinander  und 
mit  allem  was  ist:  also  haben  sie  da  in  dem  Freud,  in 
dem  Wurm  und  seiner  Methode  sich  zu  winden  die  wis- 
senschaftliche Erlaubnis  gefunden,  kein  Geheimnis  mehr 
weiter  mit  sich  noch  außer  sich  zu  haben.  Zum  ersten 
Male  wieder  seit  langem  tritt  der  Arzt  als  Magier  auf, 
beinah  mit  einer  Irrlehre,  eingedenk  also  seiner  Präexistenz 
als  Schlange,  und  mit  einer  Praxis,  die  bis  auf  den  Dai- 
mon  des  intuitiven  Durchschauens  ohne  weiteres  zu  er- 
lernen ist,  welcher  Daimon  zudem  jeden,  der  ihn  besitzt, 
zum  Arzte  macht.  Sokrates,  der  sich  selber  Arzt  ist!  Ahnt 
man,  worum  es  hier  geht?  Das  hohe  Ziel  der  Erkenntnis 
wird  unglaublich  tief  gehängt,  die  ahasverische  Person 
möchte  sich  auf-  und  auswickeln,  zu  Ende  kommen;  die 
Schlange,  schon  Wurm  geworden,  möchte  endlich  ganz 
verschwinden.  Mittelst  einer  Schein-Nichtexistcnz  des  Teufels 
soll  Gott  aufgehoben  werden.  Über  alles  die  Schweigsam- 
keit: nichts  sagte  Franz  von  Sales  lieber.  Ich  bescheidener 
Zoologe  sage  nur  noch:  Hütet  die  Lust  in  jeder,  auch  in 
gestrafter  Gestalt  vor  den  Ärzten!  Habt  Achtung  vor  der 
Sünde  und  den  Leiden  aus  ihr!  Seid  euch  selber  sehr  ge- 

101 


heimnisvoU  auch  im  Bösen.  Geht  lieber  unter  als  zum 
Arzte  geistigen  Schiffbruches.  Denn  eine  gewisse  Ge- 
sundheit möget  Ihr  gewinnen,  was  Ihr  aber  verliert  ist 
der  Adel. 

ANTIGONUS  UND  PHILAMINTE 

Jedes  Kunstwerk  muß  exemplifizieren,  den  Gehalt  haben, 
muß  in  seiner  Einmaligkeit  die  Einheit  und  Universalität 
des  Gesamtgeschehens  aufweisen  können.  Wir  wollen  uns 
daher  keiner  zufällig  durch  die  Zeitung  oder  von  der  Phan- 
tasie uns  zugewehten  Geschichte  hingeben,  sondern  uns 
diese  in  bewußter  Konstruktion  selber  herstellen. 
Annehmend,  daß  Begriffe  mittlerer  Allgemeinheit  eine  all- 
seitige Fruchtbarkeit  zeitigen,  sei  der  Held  im  Mittelstande 
einer  größern  Provinzstadt,  sagen  wir  etwa  in  der  Person 
eines  Gymnasialsupplenten  lokalisiert.  Soferne  derselbe 
Mathematik  und  Physik  unterrichtete,  kann  vorausgesetzt 
werden,  daß  er  diesen  Beruf  aus  einer  kleinen  Neigung 
und  Begabung  zur  Auflösung  näherer  Probleme  erwählt 
habe,  denen  er  in  eigenen  Studienjahren  mit  schöner  Hin- 
gabe, roten  Ohren  und  einem  kleinen  Glücksgefühl  im  klop- 
fenden Herzen  oblegen  haben  dürfte,  ohne  allerdings  die 
Erstellung  weiterer  und  höherer  Aufgaben  und  Prinzipien 
zu  bedenken  oder  zu  erstreben,  wohl  aber  mit  der  Ab- 
legung der  Lehramtsprüfung  einen  logischen,  definitiven 
und  bürgerlichen  Abschluß  findend.  Es  paßt  in  den  solcher- 
art imaginierten  Charakter,  daß  er  die  Formen  des  Lebens 
mit  der  gleichen  Selbstverständlichkeit  hinnehme  wie  die 
Formeln  der  Mathematik:  beide  als  seiende  Dinge,  über 
deren  Realität  man  sich  keine  weiteren  Gedanken  zu  machen 
hätte,  denen  Fiktivität  zuzumuten  verwunderliche  Schrulle 
wäre  und  deren  einzige  Problematik  in  gewissen  Schwierig- 
keiten ihrer  Kombinationsfähigkeit,  das  heißt  Auflösbar- 
keit sich  dartue.  Die  Einteilungsfähigkeit  und  -aufgäbe  der 
rechnerischen  und  erlebten  Materie  war  ihm  stete  Sorge, 
aber  auch  interessiertes  Vergnügen,  und  immer  darauf  cr- 

102 


picht,  daß  „es  genau  ausgehe",  hatte  er  zu  den  Fragen 
seiner  sogenannten  Wissenschaft  dasselbe  Verhältnis  wie 
zu  denen  seiner  Stundeneinteilung,  seiner  Geldsorgen  und 
denen  jener  Lebensfreude,  die  ihn  als  solche  gar  nicht 
berührte,  die  er  aber  irgendwie  mitzumachen  sich  verpflichtet 
fühlte,  da  sie  von  den  Kollegen  anerkannt  wurde,  mithin 
ein  seiendes  Ding  darstelle,  dessen  Forderungen  zu  erfüllen 
waren.  Er  trank  ohne  sonderliches  Behagen  Bier,  besuchte 
nachher  das  öffentliche  Haus,  hatte  Wege  zum  Spezialarzte, 
gab  Stunden,  fuhr  auf  der  Straßenbahn,  stand  im  Labo- 
ratorium, fraß  in  den  Ferien  an  Mutters  Tisch,  schwarze 
Nägel  zierten  seine  Hände,  rötlichblonde  Haare  seinen  Kopf, 
von  Ekel  wußte  er  wenig,  Linoleum  schien  ihm  ein  gün- 
stiger Bodenbelag. 

Eine  solche  Existenz,  vollständig  determiniert  von  den 
Dingen  einer  ebenen  Außenwelt,  in  der  kleinbürgerlicher 
Hausrat  und  Maxwellsche  Theorie  einträchtig  und  pari- 
tätisch durcheinanderstehn,  muß  als  Minimum  von  Persön- 
lichkeit angesehn  werden,  so  daß  sich  mit  Recht  die  Frage 
erhebt,  ob  ein  solches  Non-Ich  Gegenstand  menschlichen, 
geschweige  denn  novellistischen  Interesses  sein  dürfe,  da 
man  ja  sonst  ebensowohl  die  Geschichte  irgend  eines  toten 
Dinges  —  sagen  wir  beispielsweise  einer  Schaufel  —  ent- 
wickeln könnte. 

Dieser  Einwand  ist  um  so  berechtigter,  da  nicht  einzu- 
sehn  ist,  wie  sich  die  Verhältnisse  mit  Ablegung  der  Lehr- 
amtsprüfung wesentlich  ändern  sollten.  "Wohl  mußten  im 
Kopfe  des  Helden  —  Namen  tun  nichts  zur  Sache,  er  heiße 
also  Antigonus  —  doch  auch  irgend  welche  eigene  Ge- 
danken gewesen  sein,  umsomehr  als  die  kleine  Denkbe- 
gabung zur  Mathematik  unleugbar  vorhanden  war,  aber 
sie  blieben  an  das  hier  und  jetzt  Gegebene  gebunden. 
Immerhin  verdichtete  sich  dieses  Denken  zur  Zeit  der  Exa- 
mina zu  gewissen  Zukunftshoffnungen  und  vagen  Bildern: 
er  sah  sich  im  eigenen  Heim,  sah,  wenn  auch  ein  wenig 
schwankend,  das  künftige  Speisezimmer,  aus  dessen  abend- 
lichem Dunkel  die  Konturen  eines  schön  geschnitzten  An- 

103 


richteschrankes  und  der  grünliche  Schimmer  des  wohlge- 
musterten Linoleumfußbodens  deutlicher  sich  abhoben.  Auch 
ließ  das  Futurum  exactum  dieser  Formungen  ahnen,  daß 
in  jener  Wohnung  eine  Hausfrau  vorhanden  zu  sein  haben 
werde,  was  jedoch  alles,  wie  gesagt,  schemenhaft  blieb. 
Die  Erheiratung  einer  Frau  w^ar  ihm  im  Grunde  genom- 
men unvorstellbare  Angelegenheit:  wenn  ihm  auch  beim 
Bilde  der  zukünftigen  Hausfrau  gewisse  erotische  Schwaden 
durchs  Gehirn  zogen  und  etwas  in  ihm  meckerte,  da&  er 
deren  Unterkleidung  so  genau  kennen  werde,  mit  allen 
Fleckchen  und  Löchern,  wie  seine  eigene,  wenn  ihm  also 
jenes  Weib  einmal  als  Mieder,  einmal  als  Strumpfband  an- 
gedeutet wurde  —  dies  auszudrücken,  vermöchte  eine  hier- 
herzusetzende Illustration  Kokoschkas  —  so  war  es  ihm 
anderseits  undenkbar,  daß  ein  konkretes  Mädchen  oder 
Weib,  mit  dem  man  normale  Dinge  in  normaler  Syntax 
reden  könnte,  irgendeine  sexuelle  Sphäre  hätte.  Frauen, 
die  sich  mit  derlei  beschäftigten,  standen  völlig  abseits, 
keinesfalls  niedriger  als  jene,  aber  in  einer  völlig  andern 
Welt,  die  mit  der,  in  der  man  lebte,  sprach  und  aß,  nichts 
gemein  hatte :  sie  waren  andere  Lebewesen  fremdester  Kon- 
stitution, die  stumme  oder  zumindest  unbekannteste  irratio- 
nale Sprache  redend  sich  vorzustellen  ihm  nahe  lag.  Denn 
wenn  man  —  ohne  auch  gerade  biervoll  zu  sein  —  zu  diesen 
Frauen  gelangte,  so  geschahn  die  Dinge  mit  großer  ziel- 
bewußter Fixheit,  und  niemandem  wäre  es  beigefallen,  etwa 
über  Staubtücher  —  wie  seine  Mutter  —  oder  über  diophan- 
tische  Gleichungen  —  wie  die  Kolleginnen  —  zu  reden.  Es 
erschien  ihm  daher  unerklärlich,  daß  es  je  einen  Übergang 
geben  könne  von  diesen  rein  objektiven  Themen  zu  jenen 
subjektiven,  es  war  ihm  dies  ein  Hiatus,  dessen  Entweder- 
Oder  (ein  Urquell  alles  Sexualmoralismus)  sich  übrigens 
gleicherweise  in  der  Wedekindschen  Psyche  leicht  auf- 
weisen läßt. 

Wenn  wir  also  Antigonus  in  die  Konstruktion  einer  ero- 
tischen Begebenheit  hineinsetzen  wollten,  so  dürfte  sich 
die  Möglichkeit  ergeben,  daß  er  im  Dilemma  seiner  Deter- 

104 


minanten  jene  voluntaristische  Entscheidungsfähigkeit  eines 
verantwortlichen  Ichs  erlange,  die  ihn  zu  novellistischer 
Hcldenhaftigkeit  eben  doch  berechtigen  würde. 
Vorderhand  geschah  natürlich  nichts  dergleichen.  Antigonus 
legte  die  Examina  ab,  erhielt  eine  Supplentenstelle  mit  dem 
Auftrage,  sein  nunmehr  abgeschlossenes  Wissen  weiterzu- 
geben, was  ihm  unschwer  gelang,  denn  dieses  war  ihm, 
wie  bereits  berichtet,  in  keiner  "Weise  persönliche  Angelegen- 
heit, sondern  eben  ein  Paket,  das  nunmehr  säuberlich  ab- 
geschnürt und  handlich  sowohl  dorthin  als  daher  gelegt 
werden  konnte.  Aus  der  gleichen  Vorstellung  heraus  gab 
er  dem  Schüler  kleine  Paketchen  seines  Wissens,  und  dieser 
muBte  sie  ihm  in  Gestalt  von  Prüfungsergebnissen  wieder 
zurückgeben.  Wußte  der  Schüler  nichts  zu  antworten,  so 
bildete  sich  Antigonus  die  wenn  auch  nicht  klare  Meinung, 
jener  wolle  ihm  sein  Leihgut  vorenthalten,  schalt  ihn  als 
verstockt  und  war  solcherart  mit  einem  gewissen  Tempe- 
ramente an  seinem  Berufe  beteiligt.  Hatten  die  Schüler  sein 
Wissen  zur  Leih,  so  war  ihm  jedes  Klassenzimmer,  in  dem 
er  unterrichtete,  bald  Aufbewahrungsort  eines  Stücks  seines 
Ichs,  gleich  wie  der  Kasten  in  seinem  kleinen  Monatszimmer, 
der  seine  Kleider  beherbergte  und  die  er  sinngemäß  als 
ebensolche  Teile  selbigen  Ichs  rechnete.  Fand  er  in  der 
Tertia  seine  Wahrscheinlichkeitsrechnung,  zu  Hause  im 
Waschtisch  seine  Schuhe  vor,  so  fühlte  er  sich  unzwei- 
deutigerweise der  Umwelt  gegeben  und  verknüpft. 
Solches  Leben  währte  einige  Jahre.  Hierauf  trat  die  von 
uns  als  notwendig  vorweggenommene  erotische  Erschütte- 
rung ein.  Um  nicht  fernab  zu  schweifen,  gesellen  wir  An- 
tigonus ein  naheliegendes  Komplement  bei,  nämlich  seiner 
Hauswirtin  Töchterlein,  das  einem  meiner  Freunde  zuliebe 
Philaminthe  genannt  sei. 

Es  entsprach  der  Weibauffassung  des  Antigonus,  jahrelang 
ohne  irgendeinen  Wunschgedanken  neben  einem  Mädchen 
einherleben  zu  können.  Ob  dieses  Negativum  auch  der 
Wesenheit  des  Mädchens  entsprochen  hatte,  bleibt  eigentlich 
irrelevant,  denn  Antigonus  wäre  sicherlich  nicht  der  Mensch 

105 


gewesen,  ihr  bürgerliches  Seufzen  zu  verstehn,  und  da  es 
ohne  männlichen  Angriff  eben  meistens  nicht  geht,  so  wäre 
ihr  Begehren  gewißlich  in  Kürze  eingeschlafen.  Es  ist  da- 
her anzunehmen,  daß  Philaminthes  Phantasie,  gleichgültig 
ob  sie  sich  jemals  mit  Antigonus  befaßt  hätte  oder  nicht, 
auf  auswärtige  Objekte  gerichtet  war,  und  man  wird  nicht 
fehl  gehn,  ihr  romantischen  Charakter  zuzusprechen.  Es 
ist  beispielsweise  in  kleinern  Städten  üblich,  täglich  den 
Bahnhof  zu  besuchen,  um  den  durchfahrenden  Schnellzug 
anzustaunen,  einer  Sitte,  der  Philaminthe  gerne  folgte.  Wie 
leicht  ist  es  nun  möglich,  daß  ein  junger  Herr,  am  Fenster 
des  abrollenden  Zuges  stehend,  dem  nicht  unhübschen 
Dinge  zugerufen  hätte:  ,,Komm  doch  mit",  eine  Begeben- 
heit, die  Philaminthe  fürs  erste  in  einen  blöde  lächelnden 
Pfahl  verwandelt  hätte,  der  nur  mit  schweren  Füßen  nach 
Hause  gelangte,  nachts  aber  sie  von  nun  an  immer  häufiger 
träumen  ließ,  daß  sie  mit  müden,  ach  so  müden  Beinen 
enteilenden  Zügen  nachzulaufen  hätte,  die  auf  Griffweite 
erlangbar  in  nichts  versanken;  blickte  sie  dann  tagsüber 
von  der  Näherei  auf,  stundenlang  den  aufreizend  unvoll- 
kommenen Zickzackflug  der  Fliegen  um  die  Stubenlampe 
verfolgend,  so  erstand  jene  Bahnhof szene  aufs  Neue:  es 
wurde  ihr  deutlich,  daß  sie  wohl  noch  auf  den  abfahrenden 
Zug  aufspringen,  vielleicht  eine  rührende  Verletzung  bei 
diesem  kühnen  Sprunge  davontragen  hätte  können,  um 
sodann  gebettet  auf  den  weichen  Polstern  der  I.  Klasse 
und  handgehalten  von  ihm  in  die  dunkle  Nacht  hinaus- 
zufahren; Schaffner  hätte  sich,  nachdem  er  Buße  für  die 
fehlende  Fahrkarte  samt  reichlichem  Trinkgeld  erhalten, 
unterwürfig  zurückgezogen,  und  es  blieb  nur  offen  zu  über- 
legen, ob  im  entscheidenden  Augenblicke  die  Notbremse 
ihrer  Ehre  erreichbar  gewesen  wäre  oder  nicht,  da  beide 
Alternativen  atembeklemmende  Möglichkeiten  boten. 
In  solcher  Sphäre  lebend,  hatte  sie  also  wenig  Sinn  für 
Antigonus,  denn  wenn  sie  auch  nicht  seine  grau- gestrickten 
Socken,  die  sie  ausbesserte,  gestört  hätten  —  auch  den 
Schnellzugsgeliebten  würde  sie  wohl  nicht  anders  als  grau- 

106 


sockig  präzisiert  haben,  wenn  sie  sich  die  Frage  überhaupt 
vorgelegt  hätte  — ,  so  stand  doch  fest,  daß  Antigonus  seine 
Sonntagsausflüge  mit  Rucksack  und  Gamsbart  IV.  Klasse 
besorgte,  und  selbst  der  Hinweis  auf  die  Pensionsfähigkeit 
seiner  Laufbahn  hätte  nicht  vermocht,  ihr  Blut  rascher 
fließen  zu  lassen. 

So  versteht  es  sich,  daß  diese  beiden  Menschen  nur  aus 
raumzeitlicher  Zufälligkeit  aneinander  geraten  konnten,  daß 
in  grob-materialer  Dunkelheit  sich  ihre  Hände  aus  wirk- 
lichem Zufall  begegneten  und  daß  das  Begehren,  das  jäh 
zwischen  Männer-  und  Frauenhand  da  emporflammte,  zu 
ihren  eigensten  Erstaunen  es  tat.  Sie  sprach  die  reinste 
Wahrheit,  als  sie,  an  seinem  Halse  hängend,  wiederholte: 
,,ich  wußte  ja  nicht,  daß  ich  dich  so  lieb  habe",  denn  das 
konnte  sie  vorher  wahrlich  nicht  wissen. 
Antigonus  fand  sich  durch  den  neuen  Sachverhalt  einiger- 
maßen beunruhigt.  Er  hatte  nun  den  Mund  stets  voll  Küssen, 
und  stets  sah  er  die  Türwinkeln  ihrer  Umarmungen,  die 
Bodenstiege  ihrer  raschen  Zusammenkünfte  vor  sich.  Schläf- 
rige Pausen  erlebte  er  am  Katheder  sitzend,  kam  mit  dem 
Lehrstoffe  nur  ruckweise  vorwärts,  hörte  den  Prüflingen 
nur  zerstreut  zu  und  schrieb  indessen  ,,Philaminthe"  oder 
,,ich  habe  dich  lieb"  aufs  Löschblatt,  dies  jedoch  keines- 
falls in  normaler  Buchstaben  folge,  sondern  er  verteilte, 
damit  des  Herzens  Geheimnis  sich  nicht  verrate,  die  Buch- 
staben nach  willkürlich  erklügeltem  Schlüssel  über  das 
ganze  Löschblatt,  wobei  die  nachträgliche  Wiederzusammen- 
setzung der  magischen  Worte  ein  zweites  Vergnügen  an 
ihnen  darstellte. 

Wenn  er  dabei  Philaminthes  über  alle  Maßen  gedachte,  so 
sah  er  sie  allerdings  nur  in  ihrer  flüchtigen  Geschlechts- 
bereitschaft. Hinter  den  Türen  Gehebte,  in  der  Öffentlich- 
keit neutrale  Gesprächspartnerin  —  das  heißt,  man  sprach 
vom  Essen  und  der  Häuslichkeit  — ,  war  ihm  das  Mädchen 
doppeltes  Lebewesen  geworden,  und  während  er  des  einen 
Namen  sehnend  aufs  Löschpapier  malte,  war  ihm  das  andre 
gleichgültig  wie  ein  Möbelstück. 

107 


Philaminthe,  dieserhalb  weniger  punktuell  veranlagt,  faßte 
eines  Tages  ihre  Erkenntnis  in  die  glücklich  gefundenen, 
glücklich  gewählten  Worte:  ,,Du  liebst  nur  meinen  Körper", 
und  wenn  sie  auch  zwar  nicht  recht  wußte,  was  sonst 
Liebenswertes  an  ihr  zu  finden  wäre,  ja  wenn  sie  sich  — 
und  da  kann  Wedekind  wieder  als  Zeuge  angerufen  werden 
—  auch  wahrscheinlich  jede  andre  Art  Liebe  verwundert 
verbeten  hätte,  so  w^ar  dies  weder  ihr  noch  ihm  bekannt, 
und  beide  empfanden  die  aufgeworfene  Tatsache  als 
Kränkung. 

Antigonus  nahm  sichs  zu  Herzen.  Hatte  ihr  Liebesspiel  bis 
jetzt  erst  nachmittags  begonnen,  wenn  er  aus  der  Schule 
heimkehrte  und  die  Mutter  ausgegangen  war,  während 
stiller  Übereinkunft  gemäß  der  Morgenstunden  relative  Un- 
gewaschenheit von  dieser  ästhetischem  amourösen  Tätigkeit 
ausgeschlossen  geblieben  war,  so  bemühte  er  sich  nunmehr, 
die  Universalität  seines  Liebens  durch  dessen  Ausdehnung 
auf  sämtliche  Tagesstunden  zu  beweisen.  Nie  verabsäumte 
er  in  der  Folge,  den  ihm  knapp  vor  dem  Schulgange  ge- 
brachten Kaffee  rasch  schlürfend,  ihr  einige  innige  und 
leidenschaftliche  Worte  zuzuraunen,  und  die  Zusammen- 
künfte auf  der  Bodenstiege,  früher  bloß  ein  eilendes  und 
ununterbrochenes  Finden  von  Mund  zu  Mund,  wurden  nun 
vielfach  zu  einem  sinnigen,  stummen  Anein anderpressen 
und  Handverschränken  verwendet.  Auch  sie  schien  Zugang 
zu  seinem  Geiste  zu  suchen:  korrigierte  er  abends  seine 
Hefte  und  waren  sie  allein  zu  Hause,  so  wurde  diese  Zeit 
oft  nicht  mehr  zu  tollen  Umarmungen  verwendet,  sondern 
sie  nötigte  ihn  bei  seiner  Arbeit  zu  bleiben,  die  er  unter  der 
Petroleumlampe  am  Speisezimmertische  ausführte,  räumte 
inzwischen  im  Halbdunkel  beim  schöngeschnitzten  Anrichte- 
schranke und  kam  nur  manchmal  zu  ihm,  seinen  blonden 
unter  der  Lampe  gebeugten  Scheitel,  der  wenigen  Haar- 
schuppen nicht  achtend,  zu  küssen  oder,  Hand  auf  seiner 
Schulter  oder  Schenkel  ruhend,  sich  still  und  traulich  zu 
ihm  zu  setzen. 
Wir   wollen   nicht   rechten,    ob    die    Mutter   im    Hinblick 

108 


auf  seine  Pensionsfähigkeit  häufig  genug  abwesend  war, 
denn  weder  Antigonus  noch  Philaminthe  dachten  in  ihren 
Seufzern  vorderhand  an  bürgerlichen  Segen,  vielmehr 
hegten  sie  eine  panische  Furcht  vor  plötzlicher  Heim- 
kehr der  Alten,  hatten  für  diesen  Augenblick  immer  einen 
genau  festgelegten  Sitz-  und  Beschäftigungsplan  parat,  um 
den  Kupplerblick,  soferne  die  abgearbeitete  Alte  einen 
solchen  gehabt  hätte,  was  aber  schließlich  doch  nicht 
unwahrscheinlich  gewesen  wäre,  mit  Harmlosigkeit  auf- 
zufangen. 

Es  war  also  keineswegs  Angst  vor  der  Ehe,  deren  Joch 
er  in  seiner  Liebesbereitschaft  sogar  willig  akzeptiert  hätte, 
die  ihn  in  einen  Zustand  des  Unbehagens  brachte,  sondern 
wir  müssen,  soferne  wir  die  Setzung  dieses  Unbehagens 
gelten  lassen,  uns  der  schematischen  "Weibauffassung  er- 
innern, in  der  Antigonus  früher  lebte,  um  zu  verstehn,  daß 
ihm  die  neue  Sachlage  nicht  sonderlich  adäquat  sein  konnte 
und  daß  sich  Komplikationen  ergeben  werden.  Es  könnte 
beispielsweise  Antigonus  an  seiner  steten  Aufgabe  zur  Ge- 
fühlssteigerung, an  seiner  unausgesetzten  Spannung,  das 
,,ich-hab-dich-lieb",  das  beim  ersten  Kusse  zwar  erstaun- 
lich aber  immerhin  einfach  ins  Wort  trat,  jetzt  mit  einem 
Pathos  erfüllen  zu  müssen,  dessen  Arsenal  keineswegs  ein- 
fach zu  handhaben  war,  glattweg  ermüden  und  sich  aus 
seiner  komplizierten  Hingabe  nach  jenen  einfachen  und 
ruhigen  Formen  der  Liebe  sehnen,  die  einst  die  ausschließ- 
lichen für  ihn  waren;  ein  Augenblick  der  Hemmungslosig- 
keit könnte  bald  eintreten,  und  Antigonus  würde  fliegenden 
Pulses  zum  Ziel  der  Sehnsucht  seiner  niedrigen  Lüste  ent- 
eilen, um  allerdings  allsobald,  im  gleichen  Tempo  und  in 
schweigender  Angst  vor  dem  Spezialarzte,  zu  Philaminthe 
zurückzujagen,  die  Sprachlose  mit  der  Erzählung  einer 
romantischen  Verführung  —  die  Frau  eines  Generals  zog 
ihn  in  ihr  Haus  und  Schlafgemach  —  imponierend  zu  über- 
rumpeln. Wir  wollen  den  sich  anschließenden  atemlosen 
Dialog  Heinrich  Mann  überlassen  und  uns  nach  andern 
Kombinations-  und  Entwicklungsmöglichkeiten  umsehn. 

109 


Antigonus  malte  nach  wie  vor  Philaminthes  Namen  auf 
Löschblätter,  doch  ohne  Teilnahme,  setzte  das  Wort  auch 
nicht  wieder  aus  kunstreicher  Zersplitterung  zusammen, 
sondern  verfolgte  mit  gereizter  Aufmerksamkeit  die  Schüler, 
die  weniger  denn  je  wußten.  Die  Anspannung  seiner  Ge- 
fühle hatte  ihm  den  Begriff  des  Seienden  verschoben:  lag 
es  früher  in  seinem  kleinen  Wissen,  das  er  mit  den  Schülern 
tauschte,  in  den  Kleidern,  die  er  in  bestimmter  Ordnung 
anlegte,  in  der  pflichtgemäßen  Rangordnung,  in  der  er  mit 
Vorgesetzten  und  Gleichgestellten  zu  verkehren  hatte,  so 
hatten  diese  unzweifelhaft  berechtigten  Belange  nunmehr 
unliebsamerweise  in  seinem  Ich  keinen  Platz  mehr:  Phila- 
minthens  Aufgaben,  die  er  eben  wie  jede  andere  voll  auf 
sich  genommen  hatte,  war  eine  Unendliche,  denn  mehr  als 
ihren  Körper  lieben,  hieß  nach  einem  unendlich  fernen 
Punkte  streben,  und  dies  zu  vollziehen,  bedurfte  es  aller 
Kräfte  der  armen,  erdgebundenen  Seele.  Und  muß  diese 
das  aufgeben,  was  ihr  wirkliche  Welt  bedeutete,  also  ihr 
ausgebreitetes  metaphysisches  Werterlebnis,  so  ist  sie  leicht 
geneigt,  nicht  nur  sich  selbst,  sondern  auch  das  ganze 
wunderbare  Phänomen  ihres  bewußten  Seinsbestandes  zu 
entwerten  und  zu  negieren. 

Alles  Unendliche  ist  einmalig  und  einzig.  Und  da  des  Anti- 
gonus Liebe  sich  bis  ins  Unendliche  projizierte,  wollte  sie 
auch  einzig  und  einmalig  sein.  Dem  aber  stand  die  Bedingt- 
heit ihres  Werdens  gegenüber.  Nicht  nur,  daß  er  zufällig 
gerade  an  das  Gymnasium  dieser  kleinen  Stadt  versetzt 
wurde,  nicht  nur,  daß  er  zufällig  gerade  bei  Philaminthens 
Mutter  Zimmerherr  werden  mußte:  es  war  die  wahllose 
Zufälligkeit  des  so  plötzlich  perfektionierten  Liebesbeginns, 
die  er  nunmehr  als  Ungeheuerlichkeit  empfand,  und  die 
Erkenntnis,  daß  das  Begehren,  das  damals  zu  ihrem  Er- 
staunen in  ihren  Händen  emporschoß,  das  gleiche  sei,  das 
er  in  den  Armen  jener  Frauen  erlebte,  die  er  jetzt  als 
Huren  beschimpfte.  Doch  hätte  er  sich  über  diesen  Mangel 
an  Einmaligkeit,  so  sehr  er  ihn  auch  wirklich  schmerzte, 
von  seiner   Seite    schließlich  hinweggesetzt,    wenn  er  ihn 

110 


nicht  folgerichtiger  weise  auch    bei  Philaminthcn    hyposta- 
sieren  hätte  müssen.    Denn  das  Subjekt  kann  in   seinem 
Streben    nach    Unendlichkeit    zu    eigenerlebter,    einmaliger 
Universalität  vielleicht  wachsen,  seinen  objektiven  Gegen- 
pol zu  gleicher  Größe  zu  erweitern,   bedarf  es  aber  einer 
Phantasie,  die  wohl  Dante,  jedoch  kaum  Gabriel  Rossetti, 
zum  wenigsten  Antigonus,  aufbrachte.  Dies  heißt  aber,  daß 
er    die    Flamme    des    Begehrens    stets    um    Philaminthens 
Händen  sah  und,  obwohl  ihrer  Treue  sicher,  an  der  Mög- 
lichkeit ihrer  Untreue   leiden  mußte  und  sicherlich  tiefer 
als  er  es  in  jedem  materialen  Fall  vermocht  hätte. 
So  wurde  er  nicht  nur  in  der  Schule  unleidlich,   sondern 
auch  dem  Mädchen  gegenüber.  Setzte  sie  sich,  ihrer  Garten- 
laubenhabitüde    folgend,    traulich    zu    ihm,    so   riß    er   sie 
manchmal  an  sich,  biß  ihr  die  Lippen  wund,  um  sie  ein- 
andermal  wieder  ungelenk  wegzustoßen;    kurz,  er  äußerte 
alle  Ungezogenheiten  der  Eifersucht  in  ihrer  rüpelhaftesten 
Form.  —  Es  muß   eigentlich  nicht  eigens   erzählt  werden, 
denn  es  versteht  sich  von  selbst,   daß  Philaminthe  schon 
längst,  in  Mutters  Eßzimmer,  Antigonus'  Geliebte  geworden 
war.  "Wenn  sie  damals  ihre  letzte  Gunst,  wie  sie  das  nannte, 
was  in  Ansehung  des  von  allem  Anfang  an  als  selbstver- 
ständlich Gewährten  eher  als  symbolische  Besitzergreifung 
zu  bezeichnen  wäre,  wenn  sie  diese  letzte  Gunst  auch  lange 
hintangehalten  und  sich  eigentlich  erst  gegeben  hatte,    als 
er,  um  ihr  eben  zu  beweisen,  wie  seelisch  er  liebe,  keinerlei 
diesbezügliche  Wünsche  und  Gesten  mehr  äußerte,  so  lag 
es  jetzt  auf  dem  "Wege  ihrer  gradlinigen  Phantasie,   daß 
sie,  keiner  Schuld  sich  bewußt,  die  Krise,  die  sie  mit  Ver- 
stau dnislosigkeit   an    ihm    bemerkte,    durch    die    verpönte 
körperhche  Liebe  zu  heilen  suchte,  ihm  eifrig  das  entgegen- 
bringend,   was  sie  sonst,    schelmisch    erhobenen  Fingers, 
ihm    so    gern    verzögerte.     Die    Arme!    sie    wußte    nicht, 
daß  sie  damit  nur  Öl  ins  Feuer  goß.   Denn  wenn  Anti- 
gonus   die  sogenannte  Gunst  auch  nicht  verschmähte,   so 
war  es  nachher  um  so  ärger,  denn  umso  klarsichtiger  er- 
kannte er,   daß  das  ihm  Geschenkte  ebensowohl  und  mit 

111 


gleicher  Leidenschaft  jedem  andern  hätte  zu  Teil  werden 
können. 

Er  hatte  sich  nie  mit  andern  verglichen,  hatte  stets  seinen 
Unwert  nur  an  der  Unendlichkeit  seiner  Aufgabe  gemessen. 
Nun  sah  er  auch  mit  Schrecken,  daü  eine  Unzahl  junger 
und  eleganter  Männer  durch  die  frühsommerlichen  Straßen 
sich  bewegten,  und  nie  verließ  ihn  mehr  der  Gedanke,  daß 
jene  mit  Leichtigkeit  und  im  Meßbaren  bleibend,  lächelnd 
über  ihn,  den  Über -sich -ausholenden,  nicht  nur  Phila- 
minthens,  nein  aller  Frauen  Liebe  genössen,  die  allesamt 
für  ihn  bis  jetzt  unberührbar,  doch  nichts  anderes  seien 
als  schlechte  Weiber. 

Zu  ihr  zurückkehrend,  würgte  er  sie  am  Halse  mit  der 
Motivierung,  niemand,  hörst  du,  niemand  könne  und  werde 
sie  je  so  lieben  wie  er,  und  die  Tränen  des  entsetzt  ge- 
schmeichelten Mädchens,  dessen  romantischer  Sinn  die 
Situation  bejahte,  flössen  mit  den  seinen  zusammen,  be- 
schließend, daß  nur  der  Tod  von  solcher  Qual  erlösen 
könne. 

Philaminthens  Phantasie  nahm  das  Wort  des  Sterbens  auf 
und  wandelte  die  Vorzüge  der  Todesarten  ab.  Die  unge- 
stümen Formen  ihrer  Liebe  forderten  ein  großes  Ende,  und 
sie  hätte  sich  nicht  gewundert,  hätte  ihnen  Edschmid  1 6  ge- 
dungene Mörder  auf  den  Leib  geschickt.  Da  dies  jedoch 
nicht  geschah  und  sich  auch  nicht  die  Erde  zu  erwünschtem 
Beben  öffnete,  noch  der  Hügel  vor  der  Stadt  Lava  zu 
speien  anflog,  vielmehr  Antigonus  trotz  schmerzverzerrter 
Miene  täglich  zur  Schule  wandelte  und  sie  schon  voll 
blauer  Flecke  war,  vermochte  sie  ihn,  ein  Ende  zu  be- 
reiten, daß  er  einen  Revolver  erstünde.  Er  fühlte,  und  wir, 
die  wir  es  herbeiführen,  mit  ihm,  daß  damit  die  Würfel 
gefallen  seien.  Mit  trockenem  Munde,  feuchten  Händen  be- 
trat er  das  Waffengeschäft,  stotternd  das  Verlangte  be- 
zeichnend und  gleich  sich  entschuldigend,  daß  er  solches 
zu  seiner  Verteidigung  auf  einsamen  Wanderungen  benötige. 
Mehrere  Tage  hielt  er  seinen  Kauf  verborgen,  und  erst, 
als    sie,    eines    Morgens    den   Kaffee    bringend,    ihm    mit 

112 


J   B  S    e     M 


zurückgeworfenem  Kopfe  zuflüsterte:  „Sage  mir,  daß  du 
mich  liebst",  legte  er  ihr  zum  Beweise  die  Waffe  auf 
den  Tisch. 

Nun  erfolgten  die  Dinge  mit  großer  Eile.  Den  nächsten 
Sonntag  trafen  sie  sich,  sie  einen  Besuch  bei  einer  Freundin 
vorschützend,  wie  so  oft,  im  Nachbarorte  zu  gemeinsamer 
Wanderung.  Ein  letztes  Mal  sich  in  den  Armen  zu  ruhen, 
hatten  sie  einen  verschwiegenen  Waldplatz  mit  schöner  Fem- 
sicht auf  Berg  und  Tal  gewählt,  dem  sie  nun  zustrebten. 
Aber  der  Blick,  dessen  Weite  sie  sonst  als  schön  bezeich- 
neten, sagte  ihnen  in  ihrer  Beklommenheit  nichts  mehr. 
Sie  durchstreiften  bis  in  die  Nachmittagsstunden  ziellos  den 
Wald,  hungrig,  da  das  Essen  nicht  zum  Tode  paßte,  und 
ruhten  endlich  wahllos  und  erschöpft  zwischen  den  Büschen. 
,,Es  muß  sein",  meinte  Philaminthe,  und  Antigonus  zog 
die  Waffe  hervor,  lud  sie  behutsam,  legte  sie  vorsichtig 
neben  sich  nieder.  ,,Tu's  rasch",  befahl  sie  und  schloß  in 
letztem  Kusse  die  Arme  um  seinen  Hals. 
Über  ihnen  rauschten  die  Bäume,  Licht  brach  in  kleinen 
Flecken  durch  leichtbewegte  Buchenblätter,  und  weniges 
sah  man  vom  wolkenlosen  Himmel.  Der  Hand  erreichbar 
lag  der  Tod,  man  mußte  ihn  bloß  aufnehmen,  jetzt  oder 
in  zwei  Minuten  oder  in  fünf,  man  war  völlig  frei,  und 
der  Sommertag  war  zu  Neige,  ehe  ihn  die  Sonne  verblaßte. 
In  einer  einzigen  Handbewegung  konnte  man  die  Vielheit 
der  Welt  erledigen,  und  Antigonus  empfand,  daß  sich  eine 
neue  und  wesentliche  Spannung  zwischen  ihm  und  jenem 
Komplexe  auftat.  Der  Freiheit  eines  einigen  und  einfachen 
Entschlusses  gegenüber  wurde  auch  dessen  Willensobjekt 
zur  Einheit,  wurde  rund  und  schloß  sich  in  sich,  handlich 
in  seiner  Totalität  wurde  es  problemlos  und  ein  Wissen 
der  Ganzheit,  wartend,  da&  er  es  aufnehme  oder  wegstelle. 
Eine  Struktur  absolut  ausgehender  Ordnung,  gelöster  Klar- 
heit, höchster  Realität  ergab  sich,  und  es  wurde  sehr  licht 
in  ihm.  Fernab  rückte  der  Totaleindruck  der  Welt,  und 
mit  ihm  versank  das  Gesicht  des  Mädchens  unter  ihm, 
doch  verschwanden  sie  keineswegs  völlig;  vielmehr  fühlte 

8  113 


er  sich  jener  Weltliclikcit  und  dem  "Weibe  intensiver  ge- 
geben und  verknüpft  denn  je,  erkannte  sie  weit  über  jede 
Lust  hinaus.  Sterne  kreisten  über  dem  Erleben,  und  durch 
den  Fixstcrnhimmel  hindurch  sah  er  Welten  neuer  Zentral- 
sonnen im  Gesetze  seines  "Wissens  kreisen.  Sein  "Wissen 
war  nicht  mehr  im  Denken  des  Kopfes;  erst  glaubte  er 
die  Erleuchtung  im  Herzen  zu  fühlen,  aber  sie  dehnte  sich, 
sein  Ich  mitweitend,  über  ihn  hinaus,  floß  zu  den  Sternen 
und  wieder  zurück,  erglühte  in  ihm  und  kühlte  in  sehr 
wundersamer  Milde,  öffnete  sich  und  wurde  zu  unendlichem 
Kusse,  empfangen  von  den  Lippen  der  Frau,  die  er  als 
Teil  seiner  selbst  und  doch  schwebend  in  mafiloser  Ent- 
fernung erfaßte  und  erkannte.  Denn  das  Ziel  des  Eros  ist 
das  Absolute,  das  erreicht  wird,  wenn  das  Ich  seine  brücken- 
lose, hoffnungslose  Einsamkeit  und  Idealität,  über  sich  und 
seine  Erdgebundenheit  hinauswachsend,  dennoch  durch- 
bricht, sich  abscheidet  und  im  Ewigen  Zeit  und  Raum 
hinter  sich  lassend  die  Freiheit  an  sich  erwirbt.  Im  Un- 
endlichen sich  treffend,  gleich  der  Geraden,  die  sich  zu 
ewigem  Kreise  schließt,  vereinigte  sich  die  Erkenntnis  des 
Antigonus:  „Ich  bin  das  All"  mit  der  des  "Weibes:  ,,Ich 
gehe  im  All  auf"  zu  letztem  Lebenssinn.  Denn  für  Phila- 
minthen,  im  Moose  ruhend,  erhob  sich  das  Antlitz  des 
Mannes  zu  immer  weitern  Fernen  und  drang  dennoch  immer 
tiefer  in  ihre  Seele,  verschmolz  mit  dem  Rauschen  des 
"Waldes  und  dem  Knistern  des  Holzes,  mit  dem  Summen 
der  Mücken  und  dem  Pfiff  der  Lokomotive  zu  einem  rühren- 
den imd  beseligenden  Schmerze  der  vollkommenen  Ge- 
heimnisenthüllung eines  empfangenden  und  gebärenden 
"Wissen  des  Lebens.  Und  während  sie  die  Grenzenlosigkeit 
ihres  wachsenden  und  erkennenden  Fühlens  entzückte,  war 
ihre  letzte  Angst,  solches  nicht  festhalten  zu  können:  ge- 
schlossenen Auges  sah  sie  vor  sich,  vom  Rauschen  und 
von  Sternen  umgeben,  das  Haupt  des  Antigonus,  und  ihn 
lächelnd  von  sich  haltend,  traf  sie  sein  Herz,  dessen  Blut 

sich  mit  ihrer  Schläfe  vermischte. Es  ist  der  anmaßende 

Irrtum  der  Naturalisten,  daß  sie  den  Menschen  aus  Milieu, 

114 


Stimmung,  Psychologie  und  ähnlichen  Ingredenzien  ein- 
deutig determinieren  zu  können  vermeinen.  Wir  wollen  uns 
hier  mit  der  materialistischen  Beschränktheit  nicht  ausein- 
andersetzen und  bloß  anmerken,  daß  der  Weg  Philaminthens 
und  Antigonus  wohl  zur  Ekstase  hätte  führen  können,  um 
in  ihr  den  unendlich  fernen  Punkt  eines  außerhalb  der 
Leiblichkeit  und  doch  in  ihr  eingeschlossenen  Liebeszieles 
zu  finden.  Da  aber,  wie  gesagt,  das  Menschliche  keines- 
wegs eindeutig  ist,  so  ist  immerhin  auch  anzunehmen  mög- 
lich, daß  der  Weg  vom  Schäbigen  ins  Ewige  für  Antigonus 
und  Philaminthe  vorzeitig  abgebrochen  worden  wäre.  Wenn 
auch  die  Todesbereitschaft  als  solche  eine  gewisse  Katharsis 
bildet,  deren  logische  Lösung  und  Folge  als  eine  kleine 
spießbürgerliche  Befreiung  ihrer  armen  Seelen  zu  denken 
ist,  als  eine  Festigung  der  Seinsanschauung  aus  Labilität 
ihrer  kleinen  Qual,  so  wäre,  nachdem  sich  die  Dinge  zwischen 
den  Gebüschen  eben  bloß  in  gewohnt  plumper  Ungelenk- 
heit vollzogen  hätten,  nichts  andres  übrig  geblieben  als 
das  soi  disant  natürliche  Ende.  Spät  abends  hätten  dann 
Antigonus  und  Philaminthe  den  letzten  Zug  erreicht,  um 
einem  Brautpaare  schon  gleich  in  einem  Wagen  erster 
Klasse,  Hand  in  Hand,  der  Heimat  zuzueilen.  Würden 
Hand  in  Hand  vor  die  ängstlich  harrende  und  erschreckte 
Mutter  hintreten,  und  pathetischen  Gestus  des  Nachmittages 
beibehaltend  kniet  der  Pensionsfähige  auf  dem  grünlich 
schimmernden  Linoleumboden  nieder,  den  mütterlichen 
Segen  zu  empfangen. 

Jedes  Kunstwerk  muß  exemplifizierenden  Gehalt  haben, 
muß  in  seiner  Einmaligkeit,  die  noch  durchaus  nicht  Ein- 
deutigkeit sein  muß,  die  Einheit  und  Universalität  des 
Gesamtgeschehens  aufweisen  können.  Wir  haben  uns  nichts 
vorgeflunkert,  haben  unsrc  Geschichte  nach  ihren  Möglich- 
keiten hin  durchdacht  und  darnach  gemeinsam  konstruiert. 
Wir  wollen  uns  gegenseitig  nichts  vormachen,  wir  wollen 
uns  aber  auch  nicht  verhehlen,  daß  unsre  Geschichte  sehr 
schön  ist. 


115 


VON  DER  GEISTIGEN  ERNÄHRUNG 
DURCH  INTUITION 

Die  Intuition  ist  eine  auf  allen  Wiesen  wachsende  "Wunder- 
pflanze,  deren  Alter  bis  in  die  Zeit  Piatons  nachgewiesen 
ist,  aber  wahrscheinlich  viel  weiter  zurückreicht.  Die  in 
Deutschland  häufigste  Varietät  wächst  aber  nicht  auf  den 
Wiesen,  sondern  ist  nachgewiesenermaßen  stets  nur  auf 
dem  eigenen  Mist  derer  gewachsen,  die  sie  gebrauchen.  Sie 
wird  langsam  zwischen  den  Zähnen  gefletschert  und  ver- 
leiht dann  wunderbare  Erkenntnisse,  wie  wir  sie  bei  Spengler 
oder  in  der  Mechanik  der  Zeit  von  Rathenau  finden.  Sie 
kann  aber  auch  hastig  hinuntergeschlungen  werden,  wie  es 
der  Expressionismus  tut,  und  dann  erzeugt  sie  erhebende 
Blähungen,  die  in  Form  von  Gedichten,  Gottesanrufungen, 
geistigen  Explosionen  und  sonstigen  Ohmenschlichkeiten 
abgehen.  Bei  ganz  senilen  Leuten,  wie  dem  einst  verdienst- 
lichen Schleich,  wird  sie  zu  einem  Brei  erweicht,  nach 
dessen  Genuß  die  Seele  aussieht  wie  der  Garten  einer 
Kriegsgewinnlervilla,  in  dem  der  rauhen  Natur  durch 
Gnomen  aus  Terrakotta  und  Elfen  aus  Biskuitmasse  eine 
Ahnung  von  Höherem  verliehen  ist.  Das  charakteristischste 
Symptom  fortgesetzten  Intuitionsgenusses  ist  eine  sich  bei 
jeder  Gelegenheit  zeigende  Abneigung  gegen  den  Verstand 
von  geradezu  verheerenden  Folgen,  so  daß  heute  in  Deutsch- 
land trotz  des  eigentlich  endemischen  Charakters  der  Er- 
scheinungen von  einer  Intuitionsepidemie  gesprochen  werden 
kann.  Es  steht  heute  so  damit,  daß  jeder,  der  etwas  be- 
haupten will,  das  er  weder  beweisen  kann,  noch  zu  Ende 
gedacht  hat,  sich  auf  die  Intuition  beruft.  Es  wäre  daher 
zu  beantragen,  daß  sich  alle  deutschen  Schriftsteller  durch 
zwei  Jahre  dieses  Worts  enthalten  mögen,  wonach  sie  zum 
erstenmal  ihr  wahres  Gesicht  sehen  würden,  wie  einer,  der 
einen  zeitlebens  getragenen  Bart  abrasiert. 
Was  die  verschiedenen  Varietäten  der  Intuition  betrifft, 
wird  ganz  übersehen,  daß  ihre  Stammform  auch  auf  rein 
rationalem  Boden  gedeiht.  Der  entscheidende  Einfall,  mag 
er  noch  so  methodisch  vorbereitet  worden  sein,    springt 

116 


auch  beim  wissenschaftlichen  Denken  wie  von  außen  un- 
erwartet vor  das  Bewußtsein.  Ebenso  wird  durch  erhöhte 
Gemütszustände  auch  das  rein  rationale  Denken,  das  mit 
Gefühl  scheinbar  gar  nichts  zu  tun  hat,  mächtig  gefördert.  Wie 
viel  mehr  jenes,  das  in  einer  anderen  biologischen  Abhand- 
lung dieses  Buches  das  nicht-ratioide  Denken  genannt  worden 
ist,  dessen  Penetranz  und  innere  Fortpflanzungsgeschwindig- 
keit geradezu  von  der  Vitalität  der  Worte  abhängt,  einer 
um  den  relativ  belanglosen  Begriffskern  gelagerten  Wolke 
von  Gedanke  und  Gefühl.  Dann  erst  denke  man  an  jene 
Erkenntnisse,  die  ,,mit  einem  Schlage  das  Leben  erhellen" 
—  Paradefälle  der  Intuition ;  man  wird  dann  auch  da  sehen, 
daß  es  sich  nicht  um  eine  plötzlich  ausbrechende  andere 
Art  Geistestätigkeit  handelt,  sondern  um  einen  allmählich 
gewordenen  kritischen  Zustand  der  Gesamtperson,  der  end- 
lich umschlägt,  wobei  der  aktuelle,  vermeintlich  zündende 
Gedanke  gewöhnlich  nur  der  Explosionsblitz  ist,  der  die 
große  Umreaktion  begleitet.  , .Etwas,  das  sich  nicht  erkennen, 
beschreiben,  definieren,  nur  fühlen  und  innerlich  erleben 
läßt,  das  man  entweder  niemals  begreift  oder  dessen  man 
völlig  gewiß  ist"  —  ,,mit  einem  Schlage,  aus  einem  Gefühl 
heraus,  das  man  nicht  lernt,  das  jeder  absichtlichen  Ein- 
wirkung entzogen  ist,  das  in  seinen  höchsten  Momenten 
sich  selten  genug  einstellt"  —  werden  solche  Erlebnisse  ge- 
wöhnlich beschrieben.  Das  ist  aber  nur  ein  Grad  auf  der 
großeil  Skala,  die  von  da  über  den  Zustand  des  Gläubigen, 
des  Liebenden,  des  Ethischen  zur  Haplosis,  zur  visio  beata 
und  den  anderen  großen  Formen  der  Weltempfängnis  führt; 
mit  einem  sehr  bemerkenswerten  Nebenast  im  Pathologischen, 
der  von  der  verbreiteten  Zyklothymia  bis  zu  schweren  Wahn- 
zuständen reicht. 

Man  wirft  ein,  daß  die  Analyse  der  psychologischen  Form 
menschlich  nicht  interessiere,  sondern  nur  die  Synthese 
der  in  ihr  gewonnenen  Inhalte.  Die  Welt,  in  der  wir  leben 
und  gewöhnlich  mitagieren,  diese  Welt  autorisierter  Ver- 
standes- und  Seelenzustände,  ist  nur  der  Notersatz  für  eine 
andere,  zu  der  die  wahre  Beziehung  abhanden  gekommen 

117 


ist.  Zuweilen  fühlt  man,  daß  von  all  dem  nichts  wesent- 
lich ist,  für  Stunden  oder  Tage  zerschmilzt  es  in  der  Glut 
eines  anderen  Verhaltens  zu  Welt  und  Mensch.  Man  ist 
Strohhalm  und  Atem  und  die  "Welt  die  zitternde  Kugel. 
In  jedem  Augenblick  erstehen  alle  Dinge  neu;  sie  als  feste 
Gegebenheiten  zu  betrachten,  erkennt  man  als  inneren  Tod. 
Das  Pferd  vor  dem  Wagen  und  der  Vorübergehende  kommuni- 
zieren. Oder  wenigstens  Mensch  und  Mensch  messen  sich 
nicht,  beschnüffeln  einander  nicht  wie  Kundschafter,  sondern 
wissen  voneinander  wie  Hand  und  Bein  an  einem  Körper. 
Das  ist  die  Stimmung  philosophisch  schöpferischer  —  oder 
aber  auch  philosophisch  eklektischer  Zustände.  Man  kann 
sie  intellektuell  als  verspäteter  Christ  auslegen  oder  das 
Fließen  des  Heraklit  an  ihr  demonstrieren,  überhaupt  aller- 
lei heraus-  und  hineinlesen,  unter  anderem  auch  ein  ganz 
neues  Ethos.  Glauben  wir  daran?  Nein.  Wir  spielen  damit 
Literatur.  Galvanisieren  Buddho,  Christus  und  andere  Un- 
genauigkeiten.  Ringsum  tobt  die  Vernunft  in  tausendenl 
von  PS.  Man  trotzt  ihr  und  behauptet,  in  einem  ver- 
schlossenen  Kästchen  eine  andere  Autorität  zu  haben.  Das 
ist  der  Sammelkasten  Intuition.  Man  öffne  ihn  endUch  und 
sehe,  was  darin  ist.  Man  wird  auf  der  einen  Seite  die 
große  Gruppe  der  religiösen  Erlebnisse  finden,  die  sich 
nach  der  Durchdringung  mit  dem  Verstand  sehnen,  auf 
der  anderen  das  Ressentiment  von  Literaten ,  welche 
das  bezweifeln,  was  der  Verstand  wirklich  leisten  kann, 
dagegen  unerhört  gläubig  gegen  alles  sind,  was  ihnen 
gerade  einfällt. 

VON    DER    STREITFRAGE 

ÜBER    DIE    BIOLOGISCHEN    BEGRIFFE 

ZIVILISATION    UND    KULTUR 

Es  ist  eine  alte  und  wie  mir  scheint  recht  unfruchtbare 
Streitfrage,  wie  man  Zivilisation  und  Kultur  unterscheide 
und  welche  höher  stehe.  Ich  glaube,  wenn  man  unter- 
scheiden will,  ist  es  am  besten,  Kultur  dort  zu  sagen,  wo 

118 


eine  Ideologie  herrscht  und  eine  noch  einheitliche  Lebens- 
form, Zivilisation  dagegen  als  den  diffus  gewordenen  Kultur- 
zustand zu  definieren.  Jeder  Zivilisation  ist  eine  Kultur 
voraufgegangen,  die  in  ihr  zerfällt;  jede  Zivilisation  ist  aus- 
gezeichnet durch  die  bekannte  technische  Beherrschung  der 
Natur  und  ein  sehr  kompliziertes,  sehr  viel  Intelligenz 
forderndes,  aber  auch  schluckendes  System  sozialer  Be- 
ziehungen. 

Es  sind  alle  Kulturen  in  verhältnismäßig  kleinen  Räumen 
und  Gesellschaften  entstanden  und  haben  sich  von  dort 
ausgebreitet.  Darin  liegt  an  und  für  sich  eine  Verdünnungs- 
und Erschöpfungstendenz ;  die  gleiche  liegt  in  der  zeitlichen 
Wirkung  durch  Generationen.  Ideen  lassen  sich  nicht  über- 
geben wie  Wissen;  sie  erfordern  gleichen  seelischen  Zu- 
stand und  in  Wirklichkeit  ist  höchstens  ähnliche  seelische 
Disposition  vorhanden :  so  sind  sie  ständig  der  Veränderung 
unterworfen.  Solang  sie  neu  sind,  werden  sie  dadurch  viel- 
leicht bereichert,  später  korrumpiert.  Sie  realisieren  sich 
unterwegs  allerdings  in  Einrichtungen  und  Lebensformen; 
aber  eine  Idee  verwirklichen,  heiBt  sie  schon  teilweise  zer- 
stören. Alle  Verwirklichungen  sind  Zerrbilder,  und  in  höherem 
Alter  werden  sie  immer  leerer  und  unverständlicher,  denn 
Form  und  Idee  haben  ein  ganz  verschiedenes  Lebenstempo; 
so  ragen  immer  die  Formen  einer  älteren  Schicht  in  die 
Ideen  einer  neuen  herein  und  konkurrieren  mit  ihnen  an 
EinfluB.  Die  Entwicklung  selbst  ist  nichts,  das  sich  in  einer 
einheitlichen  Linie  auswirkt.  Mit  der  natürlichen  Ab- 
schwächung,  welche  die  Idee  durch  ihre  Ausbreitung  er- 
leidet, kreuzen  sich  Einflüsse  aus  neuen  Ideenquellen.  Der 
innerste  Lebenskern  jeder  Zeit,  eine  neblige,  quellende 
Masse,  ist  eingebettet  in  Formen,  die  der  Niederschlag  viel 
älterer  Zeiten  sind.  Jede  Gegenwart  ist  gleichzeitig  schon 
hier  und  noch  um  Jahrtausende  zurück.  Dieser  Wurm  be- 
wegt sich  auf  politischen,  wirtschaftlichen,  kulturellen,  bio- 
logischen und  unbegrenzt  viel  anderen  Gliedern,  deren  jedes 
ein  anderes  Tempo  hat  und  einen  anderen  Rhythmus,  Das 
ist  ein  Teil  der  Gründe,  warum  späte  Zeiten  so  uneinheit- 

119 


lieh  sind  und  in  solchen  Zivilisationszeiten  die  Kulturen 
zerfallen  wie  Gebirge. 

Es  wird  der  Kultur  fast  immer  eine  unmittelbarere  Be- 
ziehung zu  den  Wesenheiten  zugeschrieben,  eine  Art  schicksal- 
hafter Sicherheit  der  menschlichen  Haltung  und  noch  in- 
stinktive Sicherheit,  der  gegenüber  dann  der  Verstand,  das 
Zivilisationsgrundsymptom,  eine  etwas  klägliche  Unsicher- 
heit und  Indirektheit  besitzen  soll.  Man  kennt  die  Symptome, 
worauf  sich  das  stützt.  Der  große,  besonders  aus  der  Ferne 
geschlossen  wirkende  Gestus  von  Mythos  und  Religion, 
andererseits  die  Umständlichkeit,  mit  dem  Verstand  das  zu 
sagen,  w^as  ein  Blick,  Schweigen,  ein  Entschluß  viel  besser 
ausdrücken.  Der  Mensch  ist  eben  nicht  nur  Intellekt,  son- 
dern auch  Wille,  Gefühl,  Unbewußtheit  und  oft  nur  Tat- 
sächlichkeit wie  das  Wandern  der  Wolken  am  Himmel. 
Die  aber  nur  das  an  ihm  sehn,  was  die  Vernunft  nicht 
bewirkt,  müßten  schließlich  das  Ideal  in  einem  Ameisen- 
oder Bienenstaat  suchen,  gegen  dessen  Mythos,  Harmonie 
und  intuitive  Taktsicherheit  alles  Menschliche  vermutlich 
sehr  ungöttlich  ist. 

Wie  bereits  gesagt,  muß  man  das  Wachstum  der  Anzahl 
daran  beteiligter  Menschen  für  die  Hauptursache  des  Über- 
gangs von  Kultur  in  Zivilisation  ansehn.  Es  ist  klar,  daß 
hundert  Millionen  Menschen  zu  durchdringen  ganz  andere 
Aufgaben  stellt  als  hunderttausend.  Die  negativen  Seiten 
der  Zivilisation  hängen  zum  größten  Teil  damit  zusammen, 
daß  diesem  Volumen  des  sozialen  Körpers  seine  Leitfähig- 
keit für  Einflüsse  nicht  mehr  entspricht.  Man  betrachte 
den  Zivilisationshöhepunkt  vor  dem  Krieg:  Eisenbahn,  Tele- 
graph, Telephon,  Flugmaschine,  Zeitung,  Buchhandel,  Schul- 
und  Fortbildungssystem,  Wehrpflicht:  alles  zusammen  völlig 
unzureichend.  Der  Unterschied  zwischen  Großstadt  und 
noch  schwarzem  Land  größer  als  der  zwischen  Rassen. 
Vollkommene  Unmöglichkeit,  selbst  in  der  eigenen  Schicht 
in  die  Voraussetzungen  eines  anderen  Gedankenkreises  ein- 
zudringen außer  unter  ungeheurem  Zeiteinsatz,  Folge: 
schmale  Gewissenhaftigkeit  oder  impetuose  Oberflächlich- 

120 


keit.  Mit  dem  "Wachstum  der  Zahl  hält  die  geistige  Orga- 
nisation nicht  Schritt:  darauf  sind  98  v.  H.  aller  Zivilisations- 
erscheinungen zurückzuführen.  Man  kann  tun,  was  man 
will,  Christus  könnte  auf  die  Erde  wieder  niedersteigen: 
es  ist  ganz  ausgeschlossen,  daß  er  zur  Wirkung  käme.  Die 
Frage  auf  Leben  und  Tod  ist:  geistige  Organisationspolitik. 
Das  ist  die  erste  Aufgabe  für  alle  heute  lebenden  Tiere. 
Wird  sie  nicht  gelöst,  so  sind  alle  anderen  Anstrengungen 
vergeblich,  denn  sie  ist  die  Voraussetzung  dafür,  daß  sie 
überhaupt  wirken  können. 


121 


NOTWENDIGE      EXKURSE 


ERSTER  EXKURS 

DIE  Geschichte  der  Ideen  und  ihrer  Denkbarkeit  ist  die 
Geschichte  ihrer  Ausdrückbarkeit.  "Wir  denken  das, 
was  wir  ausdrücken  können  und  sonst  nichts.  Nur  so  ist  das 
Gesetz  der  Identität  von  Gedanke  und  Ausdruck,  von  Form 
und  Inhalt  zu  verstehen:  als  Gleichzeitigkeit  ihres  in  die 
Erscheinungtretens.  Nicht  die  Ideen  wachsen  oder  nehmen 
zu,  sondern  ihre  Ausdrückbarkeit.  Das  Unsagbare  wird  in 
dem  Augenblick  unser  Besitz,  in  dem  wir  es  als  unsagbar 
ausdrückten.  Es  wurde  damit  ein  Paradox  des  Unmöglichen 
"Wirklichkeit:  das  Unsagbare  ist  als  solches  gesagt,  das 
Formlose  ist  als  solches  geformt  worden. 
Die  Geschichte  des  "Wirksamwerdens  einer  Idee  ist  kein 
seinslogisches,  sondern  ein  soziales  Phänomen.  Als  solches, 
aber  nur  als  solches,  wird  es  in  einer  historischen  Dar- 
stellung seine  Rolle  spielen.  Der  Zustand  heutiger  Literatur- 
gcschichtsschreibung  macht  einige  prinzipielle  Bemerkungen 
nötig,  auch  dazu  bestimmt,  dem  Leser  des  Folgenden  wie 
dieses  ganzen  Buches  die  Mühe  zu  ersparen,  darin  etwas 
zu  suchen,  was  er  in  seinen  Literärgeschichten  zu  finden 
gewohnt  ist  und  hier  nicht  finden  wird. 
Es  ist  nicht  die  Aufgabe  einer  literargeschichtlichen  Dar- 
stellung, das  "Verständnis  der  Kunstwerke  zu  beleben  oder 
dazu  anzuleiten  oder  es  zu  wecken.  Kürzer:  es  ist  nicht  die 
Aufgabe  solcher  Darstellungen,  im  Leser  eine  ästhetische 
Reproduktion  hervorzurufen.  Die  historische  Darstellung 
muß  vielmehr  diese  Reproduktion  als  bereits  stattgefunden 
voraussetzen,  damit  sie  das  werde,  was  sie  sinnvoll  —  im 
Sinne  wissenschaftlicher  Ökonomie  —  nur  sein  kann:  Dar- 
stellung der  künstlerischen  und  literarischen  "Vorgänge,  die 
sich  in  "Wirklichkeit  ereignet  haben.  Jene  erste  ästhetische 

125 


Reproduktion  ist  eine  einfache  und  betätigt  sich  schon, 
wenn  der  Mensch  vor  einem  Kunstwerk  in  den  Ausruf 
„wunderbar"  ausbricht  —  womit  er  aber  noch  kein  Literar- 
historiker wird,  wie  alle  jene  sogenannten  Literarhistoriker 
meinen,  die  in  ihren  Büchern  nichts  anderes  als  solche 
„wunderbar"  und  ,, abscheulich"  verlauten  lassen,  indem 
sie  in  einem  willkürlichen  oder  zufälligen  Schematismus 
Autorennamen  und  Büchertitel  anhäufen  und  diese  mit  einer 
Flut  von  ästhetisch  belanglosen  lobenden  und  tadelnden 
Beiworten  wie  mit  Fleiß-  und  Straf  zetteln  überschütten,  ge- 
holt aus  einem  unerschöpflichen  Füllhorn  ethischen,  ästhe- 
tischen und  politischen  Stumpfsinns. 

Der  Historiker  dieses  Namens  würdig  setzt  also  diese  ein- 
fache Reproduktion  des  "Werkes  als  geschehen  voraus  und 
bringt  diese  bereits  erfolgte  Reproduktion  zur  Darstellung. 
Die  Literaturgeschichte  ist,  wie  Croce  sagt,  ein  historisches 
Kunstwerk  über  ein  oder  mehrere  andere  Kunstwerke.  Der 
sie  zu  schreiben  unternimmt  wird  in  seiner  Person  ein 
Mensch  von  Geschmack,  ein  Unterrichteter  und  ein  Ästhe- 
tiker sein  müssen,  in  welchen  drei  Arbeitsstadien  jedes 
relativ  unabhängig  ist,  nämlich  unabhängig  vom  folgenden, 
nicht  aber  vom  vorausgehenden  Stadium.  Und  er  muß 
historisch  darstellen  können.  Was  aber  heißt  das?  Der  Be- 
griff des  Historischen  ist  vor  jedem  Mißverständnis  zu 
schützen.  Die  Frage  nach  dem  "Wesen  des  künstlerischen 
Vorganges  ist  keine  historische,  indem  man  etwa  nach  dem 
„Ursprung  der  Kunst"  fragt,  sondern  sie  ist  eine  philo- 
sophische Problemstellung,  welche  die  Ästhetik  zu  lösen 
versucht.  Als  Frage  nach  der  „historischen  Entwicklung 
der  Kunst"  ist  sie  überhaupt  keine  Problemstellung,  son- 
dern nichts  als  Unsinn  aus  einem  Mißverständnis.  Da  die 
Kunst  kein  Naturprodukt  ist,  sondern  als  menschliches 
"Wirken  selber  die  "Voraussetzung  der  menschlichen  Ge- 
schichte bildet,  kann  man  nicht  ihr  historisches  Entstehen 
suchen  wollen.  Die  Kunst  ist  keine  auftauchende  und  ver- 
schwindende menschliche  Einrichtung  wie  etwa  der  Staat 
oder  das  Geld  oder  die  Invaliditätsversicherung,  deren  Ur- 

126 


Sprünge  allerdings  historisch  feststellbar  sind,  ebenso  wie 
deren  „Entwicklung"  oder  deren  „Fortschritt"  nach  einem 
allseits  bekannten  und  gebilligten  Ziel.  Das  Kind  macht 
Fortschritte  im  Gehen  in  der  Richtung  auf  das  Leistungs- 
maximum des  Zieles  Gehen.  Die  Sinnlosigkeit,  von  einem 
Fortschritt  der  Kunst  bei  nicht  vorhandenem  Ziel  zu  sprechen, 
leuchtet  ein.  Es  nimmt  zwar  jede  Darstellung  menschlicher 
Geschichte  so  etwas  wie  einen  Fortschritt  an,  aber  kein 
Gesetz  solchen  Fortschrittes,  mit  welchem  Gesetze  und  sei 
es  wie  immer  die  Darstellung  die  Geschichte  selber  auf- 
höbe —  die  Geschichte,  d.  h.  das  empirische  Geschehen  in 
konkreten  Vorgängen.  Es  ist  aber  dieser  Begriff  des  Fort- 
schrittes für  den  Historiker  nichts  weiter  als  das,  was  man 
den  Gesichtspunkt  nennt,  nämlich  des  Historikers  Idee  von 
der  Art  der  Lösung  jenes  menschlichen  Problems,  dessen 
Geschichte  er  schreibt.  Ohne  diesen  Begriff  des  Fortschrittes, 
der  in  Wirklichkeit  der  Gesichtspunkt  ist,  entstünde  das 
Kunstwerk  der  Geschichtsschreibung  gar  nicht,  sondern 
bliebe  Chronik,  in  der  Kunst  Katalog. 
Der  Gesichtspunkt  ist  des  Historikers  Idee  und  nur  seine, 
da  es  ein  anderes  als  ein  subjektives  Kriterium  hier  gar 
nicht  geben  kann.  Und  kein  eunuchisches  Kriterium,  wenn 
auch  viele  Historiker,  besonders  der  Künste,  mit  der  von 
sich  ausgesagten  absoluten  Objektivität  jene  fatale  Operation 
an  sich  vollzogen  zu  haben  behaupten.  Die  Wertigkeit 
des  wertenden  Subjektes  entscheidet  über  den  Wert  des 
Historikers,  nicht  aber,  daß  diese  Subjektivität  nicht  vor- 
handen sei. 

Kunst  ist  nicht  formulierende  wissenschaftliche,  sondern 
definite  Ausdruck  gebende  Erkenntnis.  Die  Geschichte 
der  Kunst  ist  nicht  Geschichte  einer  Wissenschaft,  als 
welche  der  Begriff  des  Allgemeinen  ist,  sondern  Geschichte 
individuellen  Ausdrucks,  weshalb  sie  so  etwas  wie  einen 
Fortschritt  im  Sinne  wissenschaftlicher  Erkenntnis  nicht 
kennt.  Das  Äußerste,  was  sich  der  Kunsthistoriker  erlauben 
darf,  kann  nur  sein,  daß  er  innerhalb  eines  bestimmten 
abgegrenzten  Problems  —  das  Fresko,  die  Sonate,  der  Reim 

127 


—  von  einem  Mehr  oder  Minder  der  Annäherung  an  die 
Problemlösung  sprechen  kann.  Nur  so  kann  man  von  Auf- 
tritt, Höhe  und  Verfall  des  elisabethischen  Dramas  reden. 
Oder  es  kann  der  Historiker  an  dem  Ideal  der  Vollendung, 
das  sich  der  Künstler  selber  gesetzt  hat,  von  einer  fort- 
schreitenden Bewegung  des  Künstlers  zu  diesem  seinem 
Ideal  oder  von  ihm  weg  sprechen,  z.  B.  von  "Wielands  Ideal 
seiner  Verserzählung,  Gauguins  Ideal  seiner  Vereinfachung 
usw.  Man  sieht:  immer  wird  das  Maß,  an  dem  ein  „Fort- 
schritt" zu  messen,  von  den  zu  messenden  künstlerischen 
Erscheinungen  eines  Umkreises  oder  eines  Problems  selber 
aufgestellt,  nicht  und  nie  aber  von  einem  außerhalb  dieser 
Erscheinungen  irgendwo  am  Ende  schwebenden  Ideal  über- 
haupt oder  von  einem  irgendwann  einmal  in  einem  ganz 
andern  Problemkreise  verwirklichten  Ideal.  Raffael  stellt 
in  gar  keiner  Weise  einen  ,, Fortschritt"  gegenüber  Giotto 
dar,  Beethoven  keinen  gegenüber  Händel,  Goethe  keinen 
gegenüber  Shakespeare.  Aber  auch  Cezanne  keinen  ,, Rück- 
schritt" gegenüber  Ingres  und  George  keinen  gegenüber 
Mörike.  Denn  es  fehlt  hier  durchaus  alles  Gemeinsame, 
das  einen  auf  ,, Fortschritt"  eingestellten  Vergleich  recht- 
fertigen könnte.  Daß  die  Menschheit  —  ein  sehr  halbseitiger 
Begriff  —  einem  künstlerischen  Ideale  zustrebe  und  man 
die  Etappen  des  ihm  zustrebenden  Genius  der  Mensch- 
heit wahrnehmen  und  messen  könne,  ist  ein  Zeichen 
großer  Einfältigkeit  in  allen  Dingen  der  Kunst  und  eines 
ebenso  grundlosen  wie  selbstgefälligen  Optimismus  in  allen 
Dingen  der  Sittlichkeit.  Man  gewinnt  in  weitergehenden 
Zeiten  mehr  Wissen,  einmal  aus  dem  einfachen  zeitlichen 
Zuwachs,  dann  aus  dem  immer  in  solchen  Zeiten  gestei- 
gerten Interesse  an  dem,  was  einmal  war,  in  denen  und 
mit  denen  sich  die  Menschen  nicht  ganz  wohl  fühlen, 
weil  sie  mehr  gelebt  werden  als  leben.  Der  Historismus 
wird  immer  in  Zeiten  mit  geringer  presenter  Wertlebig- 
keit  gedeihen.  Dieses  ,,mehr  wissen"  ist  nun  kaum  ein 
allgemein  menschlicher  „Fortschritt",  ganz  bestimmt  ist  es 
kein  künstlerischer.   Historisch  zu  wissen,   ob  man  hygie- 

128 


V. 


Die  KoLbA^NNtrre 


nischcr,  komplizierter,  sensibler  usw.  geworden  ist,  das  hat 
für  die  Kunst  keinerlei  Bedeutung:  sie  kann  davon  in  der 
Richtung  auf  ein  Anders-sein  beeinflußt  werden,  nicht  aber 
in  der  Richtung  auf  ein  Besser-  oder  Schlechtersein  als 
die  künstlerische  Aktivität  irgendeiner  frühern  Zeit.  Kein 
heute  lebender  Dichter  ist  ,, schlechter"  als  Homer,  sondern 
nvir  anders.  Wer  aus  dem  Anders-sein  ein  Besser-  oder 
Schlechtersein  ableitet  oder  darein  gar  einschliefet,  der  gibt 
kein  Urteil  ab,  sondern  äußert  ein  unbegründbares  Vor- 
urteil. Aus  dem  Vergleich  zu  gewinnende  Kunsturteile  sind 
nur  dann  möglich,  wenn  sie  vom  Künstler  selber  bestimmt 
dadurch  provoziert  werden,  daß  er  das  Maß  angibt,  an 
dem  er  gemessen  zu  sein  wünscht,  ein  erklärter  Nacheiferer 
Shakespeares  an  Shakespeare,  ein  Nachahmer  der  Goethe- 
schen  Strophe  des  Westöstlichen  Diwan  an  dieser  Strophe. 
Hier  begrenzt  der  Dichter  selber  sein  Problem,  verzichtet 
bewußt  auf  die  Andershcit  und  versucht  eine  Identität  mit 
seinem  Progonen  zu  erreichen.  Aber  die  Seltenheit  solcher 
über  die  in  der  Zeitnähe  vom  Vorbild  natürlichen  Be- 
ziehungen hinaus  ins  Künstliche  gebrachten  Abhängigkeiten 
zeigen  ebenso  wie  die  künstlerische  Gleichgültigkeit  eines 
Phänomens,  bei  dem  einer  seine  Person  auslöscht,  um  der 
Schatten  einer  andern  zu  sein,  die  Irrelevanz  solcher  Aus- 
nahme im  Kunstablauf,  der  sich  nicht  in  den  Kategorien 
der  Werte  ,, besser"  und  ,, schlecht  er"  vollzieht,  sondern  in 
der  zunächst  indifferenten  Wertkategoric  des  ,, anders". 

ZWEITER  EXKURS 

Je  weniger  Geld  der  Mensch  hat,  desto  mehr  spricht  er 
vom  Geld.  Kein  Volk  redet  in  so  vielen  Literaturgeschichten 
so  viel  von  seiner  Literatur  wie  das  deutsche.  Keine  Lite- 
ratur ist  geschichtsloser  d,  h.  traditionsloser  als  die  deutsche; 
jeder  fängt  sie  hier  bei  Adam  und  bei  sich  an  und  endigt 
sie  mit  sich.  Nirgends  gibt  es  daher  so  viele  Bücher,  welche 
versuchen,  dem  Deutschen  eine  Geschichte  seiner  Literatur 
einzureden. 

9  129 


Denn  nur  von  einem  bildungsmäßigen  Einreden  sind  diese 
Darstellungen  Beweis,  da  von  einem  echten  Blutkreislauf, 
der  durch  das  deutsche  Volk  und  seine  Literatur,  beide 
aneinander  und  ineinander  organisch  verwachsen,  seine 
"Welle  trüge,  nicht  die  Rede  sein  kann.  Versuche,  wie  der 
Hofmannsthals,  die  Tradition  des  Wiener  Barock  der  Leo- 
poldinischen  Zeit  aufzunehmen,  werden  mißverstanden. 
Andere,  w^ie  Lautensacks  volkstümliches  und  naives  Er- 
innern an  Blut  seines  Blutes,  an  Nithart,  an  Abraham 
a  Santa  Clara,  wird  als  deutsche  Literatur  nicht  erkannt, 
der  schwäbisch -bäurische  Essig,  sehr  deutsche  Litera- 
tur, wird  übersehen,  Aber  eine  kunstgewerblich  gemachte 
Heimatschreiberei  wird  als  deutsch  angesprochen,  Dumm- 
heit als  deutsche  Gemütstiefe,  Albernheit  als  schlichtes 
Gefühl.  Man  kann  sagen,  der  deutsche  Schriftsteller  nimmt 
seit  einem  Jahrhundert  den  Weg  zu  seinem  Volke  durch 
den  Bildungstrichter  seiner  Literaturgeschichten,  nimmt  ihn 
da,  sucht  ihn  da,  formt  sich  bevor  er  auszieht  schon  da- 
nach. Das  Volk  liest  in  seinen  Engel,  Koch,  Oehlke  usw., 
daß  es  und  was  es  alles  für  Dichter  hat,  alte  und  neue, 
große  und  kleine,  und  freut  sich  darüber;  im  übrigen  liest 
es,  was  es  freut.  Nämlich  was  anderes.  Eine  Darstellung 
dieses  ,, andern"  wäre  auch  in  der  einfachsten  Form  einer 
Statistik  des  Meistgelesenen  der  Deutschen  von  großem 
Werte.  Man  würde  daraus  das  ästhetische  Wollen  dieses 
Volkes  kennen  lernen,  erfahren,  nach  welchen  Idealen  es 
sich  orientiert,  welches  sein  geistiger  Zustand,  welches  seine 
innere  Bildung  ist.  Zwei  Seiten  unserer  Literaturgeschichten, 
Stefan  George  gewidmet,  sind,  auch  wenn  sie,  was  sie  nicht 
sind,  kritisch  wertvoll  wären,  insofern  ganz  lügenhaft,  weil 
die  wenigen  Menschen,  welche  diesen  Dichter  lesen,  öffent- 
lich gar  nicht  in  Betracht  kommen.  Selbst  fünf  Seiten 
Thomas  Mann  entsprechen  nicht  der  Wahrheit,  wenn  ihnen 
nicht  zwanzig  Seiten  W.  Bloem  und  vierzig  Seiten  Courths- 
Mahler  folgen.  Für  das  Frankreich  Ludwig  XIV.  wäre  die 
Forderung  einer  solchen  auf  das  Meist-Gelesene  aufgebauten 
Darstellung  ohne  Sinn,  ganz  gleichgültig  wie  hier  das  Re- 

130 


sultat  ausfiele,  es  wäre  ohne  Importanz.  Aber  von  höch- 
ster ist  CS  für  sogenannte  demokratische  Zeiten  wie  der 
jetzt  gelcbten.  Die  „führenden  Männer"  dieser  Zeit,  Wil- 
helm II.  oder  Strescmann,  Scheidemann  oder  Noske,  Heim 
oder  Hindenburg:  keiner  dieser  Männer  wird  je  von  George 
gehört  haben,  aber  jeder  von  ihnen  hat  Ganghofcr  gelesen 
oder  Stratz  oder  Herzog.  Zwischen  diesen  Figuren  ist  Korre- 
spondenz. Die  ästhetische  Belanglosigkeit  eines  Stratz  fest- 
zustellen ist  nicht  die  Aufgabe  der  Literaturgeschichts- 
schreiber, zumal  sie  sich  durch  das,  "was  sie  über  Hof- 
mannsthal sagen,  nicht  ausweisen,  daß  sie  zur  ästhetischen 
Kategorie  Recht  auf  ein  Urteil  haben.  Aber  dies  ver- 
möchten sie  aus  Kongenialität:  die  geistige  Bedeutung  des 
Meistgelesenen  als  Ausdruck  des  Nationalgeistes  aufzu- 
zeichnen, auf  ihn  wirkend,  von  ihm  Wirkung  empfangend. 
Die  Lektüre  der  führenden  Männer  dieses  Volkes  ist  dieses 
Volkes  Lektüre  und  enthält  dieses  Volkes  Art  nach  allen 
Dimensionen  ausgedrückt. 

DRITTER  EXKURS 

Ein  Buch  in  zwei  Bänden,  gefüllt  mit  journalistisch  Zu- 
sammengehörtem und  Lesefrüchten  aus  dritter  Hand,  miß- 
lungener Versuch,  ein  plattes  Romanschema  damit  zu  füllen, 
bei  einem  richtigen  Bühnenschriftsteller  begreifliches  Miß- 
lingen, Personen  und  Vorgänge  seiner  Welt  erzählend  sicht- 
bar zu  machen  —  denn  der  richtige  Bühnenschriftsteller 
ist  Schauspieler  —  also  außerhalb  der  Bühne  wesenlos 
oder  defektuös  —  ist  dieser  Roman  „Europa"  trotz  aller 
Anstrengung,  das  Nichtige  der  Mitteilung  als  wichtig  ein- 
zureden durch  eine  Sprache,  die  nur  ein  Berliner  Kommis 
so  nennen  kann,  ist,  sage  ich,  dieser  Roman  Europa  sehr 
instruktiv  für  die  Erkenntnis  unseres  belletristischen  Zu- 
standes.  Unsere  Naturalisten  sei.  Gedenkens  verabscheuten 
die  Intelligenz  als  das  Dichten  störend  oder  ungünstig  be- 
einflussend: Ressentiment  geringer  Intelligenzen.  Niemand 
war  stolzer  auf  seine  makellose  Dummheit  als  ein  deut- 

9*  131 


scher  Dichter  der  80  er  Jahre,  In  den  90er  Jahren  und 
später  hat  sich  dies  nur  insofern  geändert,  als  der  damals 
moderne  Dichter  seine  Verachtung  der  Intelligenz  zum 
System  machte.  Es  hie£,  besai  er  schon  Gehirn,  dies 
wieder  in  Ganglion  zurückbilden.  Kurz  vor  dem  Marasmus 
trat  die  mächtige  Hilfe  Bergsons  auf,  der  den  Belletristen 
und  Dichtem  sagte:  1.  daß  der  Künstler  sich  nicht  um  die 
Dinge  bewege,  sondern  in  ihrem  Innern  installiert  selber 
diese  Bewegung  sei;  2.  daß  die  aus  ihrem  Wesen  heraus 
unbewußte  reine  poussee  vitale,  indem  sie  sich  dilatiere 
und  distendiere,  ihrer  selbst  bewußt  und  fähig  werde,  über 
ihr  Objekt  zu  reflektieren.  Toute  naissance  est  co-naissance 
sagte  mit  chinesisch-ernstem  Gesicht  bald  darauf  Claudel. 
Mit  andern  Worten:  Die  Empfindung  wird  ganz  von  selber 
Wissen  um  die  Empfindung,  der  Baum  ganz  von  selber  ij 
Botanik,  und  der  Laden  Jüngling  braucht  nur  Liebschaften  ' 
zu  haben,  um  ein  Wissen  über  die  Liebe  wie  Stendhal  zu 
bekommen.  Denn  das  Wissen  einer  Sache  sei  Coincidenz 
von  Person  und  Sache,  ließe  man  nur  die  poussee  vitale 
sich  dilatieren  und  sich  an  einer  gewissen  Stelle  zwar  als 
poussee  aufheben,  ,,zu  sich  selbst  zurückwenden",  wie 
Bergson  sagt,  um  Intelligenz  zu  werden,  —  wie  diese  Un- 
möglichkeit mit  der  Natur  der  reinen  poussee  vereinbar 
ist,  darauf  gibt  Bergson  nur  mit  Augenniederschlagen  die 
Antwort:  ,,Ces  choses  de  la  vie  profonde,  l'instinct  seul 
les  trouverait,  mais  il  ne  les  cherchera  pas."  Und  Strindberg 
fing  an,  mit  bloßem  Instinkt  im  Kachelofen  eines  Berliner 
Zimmers  aus  Schwefel  Gold  zu  machen.  Unsere  Belletristen 
wurden  durch  solche  Zcithaltung,  für  die  Bergson  nur 
Ausdruck  ist,  ungemein  stolz,  wie  man  bald  merkte,  denn 
was  sie  machten  war  ja  nicht  mehr  eine  bestimmte  Hal- 
tung der  menschlichen  Intelligenz  zu  den  Phänomenen  des 
Lebens  und  daraus  sich  ergebende  Transcendenz,  sondern 
war  etwas  ganz  und  gar  neues,  nämlich  das  Leben  selber 
in  seiner  emotionalen  Aktivität.  Der  neue  Dichter  letzten 
Datums  ist  also  der  immediate  Ausdruck  des  Lebens,  das 
er  nicht  etwa  percipiert,  sondern  mit  dem  er  identisch  ist. 

132 


Sollte  er  nicht  stolz  werden?  Fiel  ihm  doch  das  absolute 
Allcs-Sein  zu,  ohne  Mühe.  Und  genau  wie  der  natura- 
listische Belletrist  von  1880  verachtet  der  expressionistische 
von  1918  die  Intelligenzia  als  alles  deformierend,  was  sie 
berührt;  imd  sie  nennen  sich  die  ,, Geistigen",  die  Besitzer 
des  wahren  Intellektualismus  und  suchen  den  ,, andern" 
als  pedantische  Vernünftelei  zu  entwerten.  Ganz  unintelli- 
gent  wie  sie  sind  beten  sie  doch  ganz  götzendienerisch  die 
Intelligenz  an,  den  Geist,  das  Wort  Geist  wenigstens.  Das 
Buch  Europa  strotzt  von  solchen  "Worten  aus  der  Intelli- 
genzsphäre, nur  von  den  "Worten,  oft  genug  auch  die  ganz 
falsch  verstanden.  Ich  zähle  8  mal  Elan,  5  mal  Dynamik, 

2  mal  Brisanz,  femer  Mehrwert,  Palpitation,  Stoßtrieb,  Hy- 
perbel, motorisches  Prinzip,  immer  vom  Autor  zum  Leser, 
nicht  von  seinen  Personen  untereinander  gesprochen,  und 
ohne  Anlaß.  Eine  sogenannte  philosophische  Auseinander- 
setzung über  Denkinhalte  und  Begriffsinhalte  füllt  Seiten 
dieses  Romanes,  weil  irgend  eine  zufällig  aufgeschlagene 
Seite  Kant  den  Verfasser  hilflos  konsternierte.  Dem  Ver- 
fasser ist  es  noch  nicht,  wie  einem  andern  Belletristen  in 
einem  Romane  „Die  achatnen  Kugeln",  gelungen,  seine 
Identität  mit  der  poussee  vitale  dadurch  zu  zeigen,  daß 
dieses  Romanes  Helden,  ansonst  zweibeinig,  Raum  und 
Zeit  völlig  aufheben,  nur  mehr  die  Bewegung  schlechtweg 
sind,  daher  jetzt  im  Schwarzwald,  eine  halbe  Stunde  später 
am  Kansas  sind.  Der  Verfasser  der  Europa  hat  für  die 
Götzenverehrung  der  Vitalität  nur  die  Vokabel,  die  er  an- 
betet. Zwei  erzählte  Beischlafe  versuchen  in  dem  Ablauf 
des  Romanbäcbleins  Niagara  zu  machen:  die  asiatische 
Banise  ist  ein  Schulaufsatz  dagegen.  Zu  dem  Zwecke,  vor 
dem  Leser  den  geschwellten  Biceps  der  geliebten  Vitalität 
spielen  zu  lassen,  ist  dem  Verfasser  kein  Beiwort  gewaltig 
genug.    Ich    zähle    folgende    Beiwörter:    10    mal    kolossal, 

3  mal  formidabel,  4  mal  epochal,  2  mal  monumental, 
7  mal  Fanal,  3  mal  fabelhaft,  4  mal  enorm,  3  mal  pracht- 
voll, 3  mal  pompös,  2  mal  saftig,  2  mal  wuchtig,  2  mal 
herkulisch   usw.    Auch    dieses   immer   vom    Verfasser    zu 

133 


etwas  gesagt,  nie  von  Personen  zu  deren  etwaiger  Charakte- 
ristik solcher  Berliner  Kommis-Metaphorie.  Eine  bei  einem 
Schriftsteller  erstaunliche  Unkenntnis  der  bildhaften  Kraft 
der  Sprache  trifft  hier  glücklich  den  Ausweg  in  die  Vita- 
lität, die  man  in  solchen  Beiworten  arretiert  zu  haben  glaubt. 

VIERTER  EXKURS 

Jenen  einer  ästhetischen  Wissenschaft  Beflissenen,  Lehrern 
wie  Schülern,  welche  diese  ihre  "Wissenschaft  dessen  was 
die  Kunst  ist  auf  Untersuchungen  darüber  aufbauen,  wie 
die  Kunst  auf  den  Menschen  wirke,  um  dann  daraus  wieder 
weiter  zu  finden,  was  die  Kunst  oder  die  ,, wahre"  Kunst 
sei,  —  jenen  Jüngern  ihrer  schon  ganz  unfraglichen  Wissen- 
schaft seien  in  dem  Folgenden  die  ganz  simpelsten  Vor- 
aufgaben ihrer  Aufgabe  gestellt,  mit  deren  Lösung  sie  schon 
einige  Semester  hinbringen  können,  lehrend  oder  lernend. 
Ohne  weiteren  Anspruch  auf  Originalität  der  folgenden 
Aufstellungen  zu  machen  —  der  kürzlich  verstorbene  Remy 
de  Gourmont  hat  am  besten  darüber  traktiert,  ^-  enthalten 
sie  nur  alles  Wesentliche  in  Hinweisen,  Fingerzeigen,  wo 
der  fleißige  Student  sich  ausarbeitender  Weise  einerseits 
den  Doktorhut,  andererseits  die  aus  seiner  Arbeit  erworbene 
Erkenntnis  holen  kann,  daß  es  auf  diesem  Wege  zur  Fest- 
stellung dessen  was  die  Kunst  ist  nie  kommen  kann,  nicht 
einmal  dessen,  was  die  ,, wahre"  Kunst  ist.  Und  er  wird 
sich  dann  vielleicht  der  großen  deutschen  Philologie  erinnern, 
die  allerdings  seit  langem  nicht  mehr  auf  den  deutschen 
Hochschulen  zuhaus  ist,  sondern  in  Neapel,  und  wird  als 
solcher  Philologe  die  Ästhetik  als  Lingustik  gewirmen,  wie 
dieses  Benedetto  Croce  getan  hat,  der  sich  allerdings  von 
Wilh.  von  Humboldt  datiert  und  nicht  von  Wilamowitz, 
Die  bescheidene  Sache  ist  die: 

Jeder  Akt  hat  seine  eigene  Vollendung  zum  Ziel.  In  das 
Ziel  ist  die  gewollte  Wirkung  inbegriffen.  Jeder  Akt  will 
sich  beim  Handelnden  als  erfolgreich  vollenden;  auch  den 
Akt  des  einsamsten  Denkers  will  dieser  wirksam. 

134 


Der  Erfolg  ist  ein  Faktum  für  sich  selber  und  steht  außer- 
halb des  "Werkes  und  des  Aktes,  den  er  begleitet.  Für  die 
künstlerischen  Akte  ist  der  Erfolg  ein  mögliches  Faktum, 
welcher  das  "Wesen  selber  des  Aktes  nicht  ändert.  Der 
Erfolg  schafft  nicht  ein  Werk,  sondern  bringt  es  auf  eine 
Weise  ans  Licht,  daß  davon  immer  etwas  in  der  Erinne- 
rung der  Menschen  bleibt.  Hier  von  einem  Kriterium  sprechen 
hieße  zu  viel  sagen,  denn  der  Erfolg  ist  ein  Faktum  wie 
eine  Blume  oder  ein  Brand  oder  ein  Fluß.  Gegen  dieses 
Faktum  ist  so  gut  wie  nichts  zu  stellen,  nämlich  nichts 
als  die  Ideen  gewisser  Menschen  über  die  künstlerische 
Schönheit.  Und  auch  diese  Opposition  ist  nicht  radikal, 
da  im  Prinzip  diese  Schönheit  nicht  außer  den  Möglich- 
keiten eines  Erfolges  steht;  in  welchen  Fällen  man  dann 
das  Urteil  unterstreichend  von  einem  ,, berechtigten  Erfolg" 
spricht.  Aber  jeder  Erfolg  ist  als  Erfolg  legitim.  Die  Sonne 
ist  auch  dann  legitim,  wenn  sie  das  Korn  verbrennt,  und 
nicht  nur  dann,  wenn  sie  es  zur  Reife  bringt.  Der  Erfolg 
setzt  ein  "Werk  ans  Licht:  das  ist  sein  Wert,  der  ganz 
unabhängig  vom  Werte  des  Werkes  ist  und  von  diesem 
her  nicht  bestimmt  wird,  noch  auch  von  ihm  bestimm- 
bar ist. 

Da  die  Kunst  da  ist,  hat  sie  eine  Funktion;  sie  befriedigt 
ein  menschliches  Bedürfnis.  Ein  Werk  erfüllt  seine  Funktion 
um  so  mehr,  je  intensiver  und  extensiver  es  das  mensch- 
liche Bedürfnis  befriedigt.  Es  sagt  gar  nichts,  dieses  Be- 
dürfnis das  künstlerische  Bedürfnis  zu  nennen.  Dies  sagt 
so  nichts,  wie  daß  der  Tabak  das  Bedürfnis  nach  Tabak 
befriedigt.  Das  ist  naiver  Finalismus,  der  sich  auf  die  ein- 
fache Relation  von  Topf  und  Deckel  beschränkt.  Die  Kunst 
gefällt  — :  der  Erfolg  ist  der  Anfang  einer  Probe  zugunsten 
des  Werkes.  Der  Erfolg  hat  ein  Werk  zu  einem  Turm 
hoch  gehoben,  den  eine  den  Wert  des  Werkes  bestreitende 
Gruppe  anrennt  mit  dem  Effekt,  den  Turm  dadurch  nur 
noch  höher  zu  machen,  statt  ihn,  wie  sie  will,  zu  stürzen. 
Der  Menge,  welche  dem  Werke  den  Erfolg  gegeben  hat, 
wird  gesagt,  daß  sie  betrogen  und  dumm  sei.    Die  Menge 

135 


findet  das  Werk  schön  (weil  es  ihr  gefällt).  Man  kann  ihr 
nur  antworten:  Ja,  es  ist  schön  (weil  es  gefällt).  Über  das 
Gefallen  etwas  später. 

Ganz  zufällige  Umstände  wählen  ein  "Werk  für  den  Erfolg 
aus:  nach  erfolgter  "Wahl  ist  das  Werk  geheiligt  wie  die 
vom  Priester  unter  vielen  Hostien  ausgewählte  eine  Hostie. 
Hier  nun  setzt  die  häufigste  kritische  Bemerkung  ein:  es 
gäbe  eine  Ästhetik,  eine  Lehre  vom  Schönen.  Es  gibt  sogar 
sehr  viele  solche  Lehren.  Aber  es  sei  der  Einfachheit  halber 
nur  eine  angenommen  und  diese  so,  daB  sie  gute  Gründe 
hat,  sich  einem  Erfolg,  wie  immer  er  auch  sei,  entgegen- 
zustellen. Die  Existenz  der  Ästhetik  verpflichtet,  ein  ab- 
solut Schönes  anzuerkennen,  wonach  jene  Werke  als  schön 
geurteilt  werden,  w^elche  mit  diesem  Ideal- Schönen  eine 
proportionale  Ähnlichkeit  haben. 

Es  gibt  zwei  Gruppen  der  sensiblen  Reaktion :  eine,  welche 
den  Erfolg  macht  (oder  ihm  nachgibt)  und  die  andere, 
welche  sich  dem  Erfolg  entgegenstellt  und  dem  erfolghaften 
Werke  den  Charakter  des  Schönen  abspricht.  Beide  Emp- 
findungen sind  gleich  spontan,  aber  nicht  gleich  rein.  Die 
zweite  resümiert  sich  aus  einer  Ästhetik,  welche  eine  Mi- 
schung ist  von  Glaubungen,  Traditionen,  Meinungen,  Ur- 
teilen, Gewohnheiten,  Anschauungen.  Sie  enthält  mit  dem 
Respekt  vor  dem,  was  war,  auch  noch  Angst  vor  dem 
Andern  (-Neuen)  und  Appetit  nach  dem  Neuartigen  (-Ver- 
änderten). 

Alle  Ästhetiken  prekonisieren  das  neue  Alte  — :  es  handelt 
sich  ihnen  darum,  den  Nerven  und  der  Bildung  einer  Kaste 
zu  schmeicheln  (sie  zu  schonen?).  Das  künstlerische  Urteil 
ist  ein  Amalgam  von  Sensationen  und  Aberglauben.  Das 
Urteil  der  Menge  aber  ist  nichts  als  sensationell  und  gar 
nicht  ästhetisch.  Es  ist  nicht  einmal  ein  Urteil,  sondern 
ganz  naives  Einbekenntnis  eines  Vergnügens.  Woraus  folgt, 
daß  bloß  die  ästhetische  Kaste  jene  Qualität  besitzt,  die 
eines  Urteils  über  die  Schönheit  eines  Werkes,  absprechend 
oder  zusprechend,  fähig  ist.  Die  Menge  also  macht  den 
Erfolg,  die  Kaste  macht  die  Schönheit.  Beides  ist  äquiva- 

136 


lent,  denn  in  Akten  und  Empfindungen  gibt  es  keine 
Hierarchie,  beides  ist  gleichwertig  und  beides  ist  verschie- 
den. In  Opposition  stehen:  die  Meinung  der  Empfindung 
und  die  Meinung  des  Intellektes.  Die  Empfindung  kümmert 
sich  nur  um  das  Vergnügen;  fügt  sich  zum  Vergnügen  ein 
intellektuelles  Moment,  so  ergibt  dies  Ästhetik.  Die  Menge 
sagt  aus:  es  gefällt  mir  und  trotzdem  ist  es  nicht  schön; 
oder:  dies  mißfällt  mir  und  trotzdem  ist  es  schön.  Die 
Menge  kann  nur  und  nichts  sonst  als  die  Wahrheit  aus- 
sagen. Das  ästhetische  Urteil  hingegen  ist  eine  sehr  komplexe 
Form  der  Lüge  mit  all  ihren  Reizen. 

Antworten  nach  dem  Absoluten  der  Schönheit,  der  "Wahr- 
heit wie  der  Gerechtigkeit  liegen  in  der  Theologie,  die  hier 
nicht  beschäftigt  ist.  Als  in  der  Vergangenheit  bestimmt 
gewordene  Ideen  drücken  die  Ideen  der  dichterischen  Schön- 
heit, der  philosophischen  Wahrheit^  der  sozialen  Gerech- 
tigkeit, der  theologischen  Liebe  eine  bestimmte  Konkordanz 
aus  zwischen  unsern  derzeitigen  Empfindungen  und  dem 
allgemeinen  Zustand  unserer  intellektuellen  Einsicht, 
Über  den  emotionalen  Ursprung  der  Schönheit  wären  ge- 
naue Untersuchungen  anzustellen,  was  den  Studenten  an 
Stelle  ihres  müßigen  Historismus  empfohlen  sei.  Die  für 
die  künftige  Mutter  gewählte  Frau  wird  konform  dem 
Rassentypus  des  Wählenden  sein,  und  das  heißt  —  sie 
soll  „schön"  sein.  Ist  die  Frau  hier  weniger  kritlich,  so  viel- 
leicht deshalb,  weil  der  Mann  seiner  Nachkommenschaft 
weniger  von  sich  mitgibt  als  die  Frau.  Das  erste  Zucht- 
wesen der  Schönheit  war  die  Frau.  Das  heißt  der  Mensch. 
Es  wäre  genau  festzustellen,  daß  alle  einem  Tiere,  einer 
Landschaft,  einem  Gegenstande  gegebenen  ,,Schön"-attri- 
bute  von  d^r  menschlichen  Schönheit  derivieren:  Korallen- 
(lippen),  Saphir(augen),  Marmor(kälte),  -weiße,  -härte.  Das 
Vokabularium  der  Klichees  dichterischer  Sprache  ist  voll 
davon.  Auch  von  dessen  Umkehr ung:  der  Schwan  hat 
einen  Frauenhals  für:  Schwanenhals  der  Geliebten.  Oder 
ebenholzschwarz  wie  Frauenhaar  für:  ebenholzschwarzes 
Haar.  Nebenbei:  darauf  hin  ist  der  Tropus  der  allerneuesten 

137 


Literatur,  als  das  neueste  Alte,  anzusehen.  Der  sexuelle 
Charakter  der  Schönheit  hat  seinen  symbolischen  Aus- 
druck in  dem  Faktum  gefunden,  daß  "Werke,  die  nichts 
als  den  nackten  menschlichen  Körper  darstellen,  die  unbe- 
strittensten plastischen  und  malerischen  Kunstwerke  sind. 
Die  Hartnäckigkeit,  mit  welcher  der  griechische  Plastiker 
sexuell  blieb,  setzte  ihn  für  alle  Zeiten  außer  jede  De- 
batte, Neben  dieser  groben  Beziehung  der  äußern  Deut- 
lichkeit wären  noch  die  feinern  Beziehungen  zu  unter- 
suchen, wie  sie  u.  a.  die  sexuelle  Pathologie  ans  Licht  ge- 
bracht hat. 

Was  zur  Liebe  veranlaßt,  erscheint  schön,  was  schön  er- 
scheint, bringt  zur  Liebe.  Aber  es  ist  natürlich  durchaus 
nicht  notwendig,  daß  ein  Werk,  um  uns  schön  zu  erscheinen, 
sexuell  sein  muß;  es  genügt,  daß  es  ,, einnehmend"  sei  — 
wo  aber  ist  der  Sitz  dieses  Sympathiegefühles  zu  suchen? 
Das  Gehirn  ist  nur  Transmissionszentrum.  Es  zum  gene- 
ralen  Zentrum  des  Menschen  zu  machen  ist  nur  ein  glück- 
licher und  verdienstlicher  Irrtum.  Zu  untersuchen  wäre, 
welches  das  Ziel  der  menschlichen  Aktivität  ist  und  ob 
es  die  Fortpflanzung  ist.  Zu  erinnern,  daß  es  sich  nicht 
um  intensive  sinnliche  Erregungen  oder  um  sexuell  loka- 
lisierte handelt,  wenn  vom  genitalen  Zentrum  versus  ästhe- 
tisches Vergnügen  die  Rede  ist.  Gesagt  wird  nur:  die  ästhe- 
tische Erregung  versetzt  den  Menschen  in  einen  der  ero- 
tischen Erregung  günstigen  Zustand,  gleichgültig  ob  es 
Musik,  ein  Bild,  das  Drama  oder  ein  pornographisches 
Bildchen  ist.  Das  umgekehrte  Beispiel  ist  weniger  paradox: 
von  der  erotischen  Emotion  führt  ein  leichter  oft  fataler 
Weg  zur  ästhetischen.  Ohne  die  Liebe  keine  Kunst,  ohne 
die  Kunst  nichts  von  Liebe  als  der  rohestc  physiologische 
Funktionalismus. 

Aber  es  handelt  sich  hier  jetzt  nicht  um  die  Kunst,  son- 
dern um  die  emotionale  Kraft  alles  dessen,  was  sprachlich 
unter  das  Wort  Kunst  gebracht  wird,  oder  was  sich  als 
Schau,  Spiel,  Unterhaltung  usw.  vor  die  Menge  stellt  und 
worüber  man  seine  Eindrücke  austauscht.  Eine  hierarchische 

138 


Wertunterscheidung  wird  hier  nur  von  der  "Wirkungsinten- 
sität getroffen.  Nun  erhöht  der  Erfolg,  den  ein  Werk  hat, 
dessen  emotionale  Kraft.  Für  die  Menge  besteht  der  natür- 
liche Glaube,  daß  jedes  Werk,  das  Erfolg  hat,  schön  ist 
und  daß  jeder  Durchfall  oder  Mißerfolg  verdient  sind.  Was 
die  Kaste  Schönheit  nennt,  das  nennt  die  Menge  Erfolg. 
Aber  sie  entlehnt  gerne  dafür  das  sinnbare  Wort  ,, künst- 
lerische Schönheit",  um  die  Qualität  ihres  Vergnügens  zu 
erhöhen,  ein  im  Übrigen  nicht  verwerflicher  Vorgang;  denn 
da  Erfolg  und  Schönheit  den  gleichen  Ursprung  im  Emo- 
tionalen haben,  ist  der  einzige  Unterschied  der  beiden  nur 
die  Verschiedenheit  der  betreffenden  nervösen  Systeme, 
denen  diese  Emotionen  zugehören.  Es  wäre  hier  etwa  die 
sogenannte  stoffliche  Identität  des  erfolgreichen  ,, Kitsches" 
und  des  ,, schönen"  Dichtwerkes  an  Beispielen  zu  zeigen. 
Femer  historisch  zu  zeigen,  daß  jene  wenigen,  welche  einer 
nichts  als  ästhetischen  Empfindung  fähig  sind,  Beispiel  und 
Muster  einer  weit  größeren  Menge  sind,  welche  diese  nichts 
als  ästhetische  Emotion  zu  haben  vorgibt  (Snobismus)  und 
nur  der  Suggestion  erliegt  oder  dem  Befehl  ihrer  Jugend- 
erziehung und  Erinnerung  gehorchen  oder  dem  Einfluß 
ihres  Milieus  nachgeben  oder  der  Mode  folgen.  So  kann 
es  vorkommen,  daß  eine  von  der  großen  Menge  abgelehnte 
Schönheit  einen  Kastenerfolg  hat;  aber  wie  der  Mengenerfolg 
ist  auch  der  Kastenerfolg  vergänglich:  die  Kaste  von  heute 
rühmt  ein  Werk,  das  die  Kaste  von  morgen  verachtet 
(Geschichte  des  Rembrandtbildes,  der  Wagnermusik). 
Es  wäre  biologisch  der  Fall  jener  mehr  schwerflüssigen 
als  diffusen  Individuen  zu  untersuchen,  bei  denen  die  Emo- 
tionen nicht  zum  Zentrum  der  großen  Sensibilität  hin 
widerhallen,  sei  es,  daß  dies  Zentrum  atrophiert  ist,  sei 
CS,  daß  der  emotionale  Strom  auf  einen  Widerstand  stößt, 
auf  ein  Hindernis,  auf  ein  undurchdringliches  Terrain. 
Ohne  für  die  Berechtigung  der  Analogie  ein  Vorurteil  zu 
schaffen,  sei  an  einen  durch  den  Draht  geleiteten  elek- 
trischen Strom  erinnert :  der  Draht  fällt  auf  eine  Holzunter- 
lage und  statt  Bewegung  gibt  es  Wärme,   der  Zug  fährt 

139 


nicht,  sondern  brennt.  Die  Emotion  begegnet  auf  ihrem 
Weg  zum  erogenen  Zentrum  einem  Widerstand,  an  dem 
sie  sich  bricht,  auf  den  sie  sich  aber  einrichtet;  und  alle 
Zellen,  welche  den  gleichen  Weg  gehen,  haben  das  gleiche 
Schicksal.  Es  kann  solcherart  die  ästhetische  Emotion  in 
ihrer  reinsten,  desinteressiertesten  Form  als  eine  Abirrung 
von  der  erogenen  Form  angesehen  werden.  Es  sei  erinnert 
an  die  forensischen  Fälle,  wo  unter  dem  Zwang  der  Sitte 
und  der  Straffälligkeit  vom  Angeklagten  oder  dessen  Sach- 
verständigen gegen  die  Behauptung  des  Anklägers  ver- 
sichert wird,  daß  die  Wirkung  des  beanstandeten  Werkes 
,,rein  künstlerisch"  sei  und  nicht  das  erogene  Zentrum 
berührt  habe.  Wogegen  der  Ankläger  meist  bemerkt,  da£ 
dies  für  die  Gebildeten,  also  für  eine  Kaste,  zugegeben 
werden  könne,  nicht  aber  für  die  Menge.  Was  hier  nur 
oft  behauptet  wird,  ist  aber  sonst  Faktum:  das  in  der 
Aphrodite  kultisch  gewordene  nackte  Weib  verwirrt  den 
antiken  Gläubigen  so  wenig  wie  die  zum  Säugen  entblößte 
Brust  der  Madonna  den  christlichen  Gläubigen  sinnlich 
erregt,  —  es  bleiben  nach  Verflüchtigung  des  Weibes  die 
reinen  Formen  als  Formen  der  Schönheit.  Jener  Wider- 
stand im  Fluß  der  Emotion  erlaubt  uns  das  Denken,  Ver- 
gleichen, Urteilen.  Der  ununterbrochene  Strom  der  Emo- 
tion triebe  uns  an  die  Schwester  der  Aphrodite  und  Ma- 
donna, aber  in  der  Unterbrechung  entfernt  er  uns  von  ihr, 
denn:  die  Schwester  ist  „weniger  schön"  als  die  Göttin,  als 
die  Jungfrau. 

Ob  das  Emotionale  in  die  Intelligenz  eindringt  und  von 
daher  diese  Mischung  von  Emotionalem  und  Intellektuellem 
entsteht,  welche  man  den  ästhetischen  Sinn  nennt,  dieses 
ist  nur  behauptet,  aber  nicht  bewiesen  worden.  Denn  die 
Intelligenz  ist  ein  Zufall.  Einen  Zustand  der  Menschheit 
anzunehmen,  in  dem  uniform  Gesundheit,  Gleichgewicht, 
Gleichartigkeit,  Mäßigung,  Ordnung  herrschen  und  in  dem 
die  Katastrophen  des  Genies  unmöglich,  die  Zufälle  der 
Intelligenz  sehr  selten  wären  —  dies  bedeutete,  daß  die 
Emotionen  immer  ihr  Ziel  erreichen,   weil  die  Intelligenz, 

140 


d.  h,  die  Folge  dessen,  was  wir  naiv  das  Böse  nennen, 
den  Faden  des  Emotionalen  weder  verknotet  noch  ab- 
schneidet. Aber  es  bestünde  dann  das  nicht  mehr,  was 
man  die  Welt  nennt. 

In  der  Formation  des  ästhetischen  Sinnes  konkurrieren 
also  zwei  Arten  Emotionen:  die  erogenen  und  alle  andern, 
wie  immer  diese  auch  seien,  und  in  einer  Proportion,  die 
mit  jedem  Menschen  variabel  bis  ins  Unendliche  ist.  Die 
ersten  Emotionen  erleben  wir  bei  der  Vorstellung  eines 
vollkommenen  Typus  unserer  Rasse.  Für  die  Mehrzahl  der 
Menschen  ist  —  jeder  vom  Sexuell-Sinnlichen  bezogene 
Begriff  rigoros  femgehalten  —  der  Anblick  Apollos  ange- 
nehm, weil  er  das  Verlangen  weckt,  sei  es  direkt,  sei  es 
je  nach  dem  Geschlecht  durch  Gegenbeschwörung.  Die  Schön- 
heit ist  ein  Versprechen  von  Glück  —  die  sensualistische 
Philosophie,  die  Stendhal  diesen  Ausspruch  tun  ließ,  sollte 
w^issenschaftlich  erst  einmal  aufgearbeitet  werden.  Eine  idea- 
listische Philosophie  hat  für  dieses  sensualistische  Glück- 
versprechen das  Wort  Schönheit  erfunden,  das  man  nun 
auf  alles  anwendet,  was  dem  Menschen  Realisierung  einer 
seiner  Begehrungen  verspricht,  die  immer  zahlreicher  und 
komplexer  wurden.  Das  emotionale  Bedürfnis  hat  sich  bis 
in  die  Extreme  der  grauenvollen,  blutigsten  emotionalen 
Kausierungen  ausgebildet.  Um  doch  als  Ziel  zu  haben:  an 
die  einzige  immanente  Pflicht  der  menschlichen  Kreatur 
zu  erinnern,  nämlich  die  Erhaltung  der  Art.  Was  immer 
auch  die  Sinne  sind,  welche  die  Emotionen  zuerst  treffen, 
sie  springen  von  da  zum  Zentrum  der  allgemeinen  Sensi- 
bilität. Die  wilden,  grauenvollen  Tragödien,  an  denen  sich 
die  Griechen  ergötzten,  waren  Filter.  Hätten  sich  die  Tra- 
giker, die  als  gro&e  Dichter  (wie  die  Frauen)  weder  Ge- 
schmack noch  Ekel  kennen,  nicht  die  Mühe  genommen, 
die  Geschichte  des  Orest,  des  Polineukes,  der  Elektra  durch- 
zudenken, wir  würden  diese  Geschichten  nur  als  die  De- 
lirien einer  tief  verkommenen  oder  ganz  kindlichen  Gesell- 
schaft ansehen.  Keine  Tragödie  Shakespeares  oder  Racines, 
die  nicht  hunderte  Male  von  grauenhaften  Komparsen  vor 

141 


den  Gerichten  gespielt  wurde.  Der  Student  hätte  hier  nach 
Beispielen  aus  der  forensischen  Medizin  zu  suchen,  wie 
sich  irgendeine  Erregung  in  einen  sexuellen  Akt  umsetzt,  (das 
Problematische  des  ,, Lustmordes"),  weil  der  Refraktor  fehlt, 
an  dem  sich  zum  größten  Teil  der  emotionale  Strom  bricht. 
Die  auf  halben  Wege  aufgehaltenen  Emotionen  transfor- 
mieren sich  in  Intelligenz,  ästhetischen  Geschmack,  Fröm- 
migkeit, Moralität,  Grausamkeit,  Verbrechen  —  nach  einem 
dunklen  dynamischen  Modus,  in  dem  noch  Umstände  und 
Umgebung  mitspielen,  aber  nur  mitspielen.  Und  müssen 
sich  nicht  immer  nur  in  dies  oder  das  transformieren, 
sondern  können  auch  in  nur  teilweisen  Transformationen 
genug  für  eine  zweite  Richtung,  eine  dritte  behalten.  So 
scheint  die  Liebe  an  die  Grausamkeit  gebunden,  sei  es 
deren  Exzeß  oder  deren  Mangel,  Die  Mimik  der  Liebe 
und  der  Grausamkeit  ist  die  gleiche.  Wenn  auch  geteilt, 
bleibt  der  emotionale  Strom  stark  genug,  um  intensive 
Akte  zu  produzieren.  Grausamkeit,  Intelligenz  und  Fröm- 
migkeit zum  Beispiel  in  Torquemada. 

Dieses  nur  Angemerkte  auf  das  Ästhetische  gewandt:  je 
nach  der  Derivationsstärke  des  emotionalen  Stromes  wird 
z.  B,  der  eine  Zuhörer  einer  Tragödie  alles  das  aus  ihr 
behalten,  was  reine  Schönheit  ist;  er  wird  weniger  sen- 
sibel für  den  Mord  sein  als  für  die  Geste  des  Mörders. 
Der  andere  wird  die  Tragödie  verlassen  wie  einen  Box- 
kampf. Der  eine  sagt  vor  einer  Plastik:  welche  Nacken- 
linie! Der  andere:  ein  Prachtweib!  Zwischen  diesen  Extre- 
men sind  tausend  Nuancen.  Für  den  Typus  der  Mitte  gibt 
es  keine  Idee  der  Schönheit  —  er  beurteilt  das  Werk  nach 
der  Stärke  und  Qualität  seiner  Emotion.  Das  eine  macht 
ihm  Vergnügen,  das  andere  ,,läßt  ihn  kalt".  Dieser  Typus 
der  Mitte  bestimmt  den  Erfolg. 

Die  ästhetische  Kaste  beurteilt  das  Werk  gleichfalls  emo- 
tional; aber  die  Emotion  ist  von  einer  besondern,  nämlich 
der  sogenannten  ästhetischen  Ordnung.  Zur  Kunst  gehören 
danach  nur  Werke,  welche  diese  ästhetische  Emotion  geben 
können.  Daher  sind  hier  ausgeschlossen  die  utilitarischen, 

142 


moralisierenden,  sozialen  tjsw.  "Werke,  deren  Ziel  etwas 
abseitig  von  der  ästhetischen  Emotion  liegt.  Auch  die 
sexuell  überbetonten  Werke  gehören  zu  den  abgelehnten, 
weil  sie  zu  direkt  wirken  und  zu  deutlich  klar  mit  der 
primären  vom  Menschen  konzipierten  Idee  der  Schönheit 
korrespondieren.  Die  ewig  unbeständige  ästhetische  Kate- 
gorie ist  bei  allem  Wechsel  von  Idealismus  zu  Realismus, 
Sentimentalismus  zu  Brutalismus,  Religiosismus  zu  Sen- 
sualismus ein  eng  geschlossener  Bezirk.  Kunst  ist  was  eine 
,, reine"  Emotion  gibt,  das  hei&t  eine  Emotion  ohne  Vibra- 
tionen außerhalb  einer  limitierten  Zellengruppe.  Kunst  ist, 
was  weder  zur  Tugend,  noch  zum  Patriotismus,  weder 
zur  Ausschweifung  noch  zum  Gelächter,  weder  zu  Krieg 
noch  zu  Frieden,  überhaupt  zu  nichts  sonst  auffordert, 
was  nicht  die  Kunst  selber  ist.  Die  Kunst  ist  unparteilich, 
unempfindlich,  lacht  nicht,  weint  nicht.  Es  hat  dieser  Sach- 
verhalt gar  nichts,  weder  mit  der  Ratio,  noch  mit  irgend 
einer  Wahrheit  Konformes.  Es  handelt  sich  um  Bräuche 
einer  bestimmten  Kaste.  Aus  der  Unfähigkeit  des  nervösen 
Systems  geboren,  hat  die  Idee  der  Schönheit  auf  ihrem 
Wege  alle  Arten  Regeln,  Vorurteile,  Glaubungen  und  Ge- 
wohnheiten aggregiert  und  hat  sich  einen  Kanon  geformt, 
dessen  Form,  ohne  absolut  zu  sein,  in  einem  gegebenen  Zeit- 
moment nur  zwischen  gewissen  Grenzen  oszilliert.  Und  dieser 
Vorbehalt  ist  notwendig.  Die  ästhetischen  Menschen  einer 
Epoche  sind  sich  über  die  Idee  des  Schönen  einig;  man 
könnte  hier  Werke  und  Namen  nennen,  die  abzulehnen 
so  viel  hieße,  wie  keinen  künstlerischen  Sinn  haben.  Aber 
Werke  eines  ganz  anderen,  ja  gegensätzlichen  Tones  wur- 
den in  andern  Epochen  von  der  ganz  gleich  konstituierten 
Gruppe  bewundert  und  als  das  ,, Schöne"  inkarnierend  be- 
zeichnet. Um  1 700  war  alles  den  Italienern  und  Franzosen 
im  Deutschen  Nachgeahmte  allein  den  Deutschen  die  Kunst ; 
um  1800  war  es  die  Nachahmung  einer  vermeinten  An- 
tike; um  1870  Nachahmung  eines  vermeinten  Mittelalters; 
um  1900  die  Nachahmung  der  natürlichsten  Natur  usw. 
Der  ästhetische  Sinn  ist  also  historisch  variabel,  aber  im 

143 


jeweils  gegebenen  Zeitmoment  sehr  solide.  Man  kann  sagen : 
die  Geschichte  der  Künste  ist  der  catalogue  raisonne  jener 
"Werke,  welche  in  der  Zeitenfolge  von  der  ästhetischen 
Kaste  ausgewählt  wurden. 

Die  Urteile  der  Menge  über  die  von  ihnen  abgelehnten 
Werke  sind  falsch.  Aber  nicht  minder  falsch  sind  die  Ur- 
teile der  Kaste  über  die  von  der  Menge  gebilligten  Werke. 
Der  Titel  Kunstwerk  kommt  beiden  Gattungen  zu,  da  beide 
Emotionen  hervorrufen,  beide  also,  w^enn  auch  nicht  in  der 
Qualität,  so  doch  im  Wesen  gleich  sind.  Der  Appell  an 
die  literarische  Gerechtigkeit  als  entscheidenden  Faktor  ist 
ohne  Sinn,  da  der  Begriff  dieser  Gerechtigkeit  von  einer 
Kaste  bestimmt  ist.  Man  kann  hundert  Verehrer  Walter 
Bloems  viel  leichter  umbringen  als  überzeugen,  da&  Bloem 
keine  Kunstwerke  schreibt.  Der  Appell  supponiert  irrig 
eine  Gleichhaftigkeit  der  Emotionen  bei  Menschen  verschie- 
dener physiologischer  Kategorien.  Ein  Werk  ist  für  jene 
schön,  denen  es  Emotion  gibt;  die  Sensibilität  ist  nicht 
zu  betrügen  und  nicht  zu  bestechen,  weder  die  der  Menge 
noch  die  der  Kaste.  Weshalb  auch  alle  Versuche,  die 
,, Kunst  ins  Volk  zu  bringen",  das  heißt  den  Geschmack 
zu  ändern,  absurd  sind,  als  von  der  Meinung  ausgehend, 
daß  sich  der  Geschmack  an  der  Kunst  lernen  lasse  wie 
die  Chemie.  Und  selbst  wenn  es  gelänge?  Weshalb  soll 
die  Menge  den  Geschmack  der  kleinen  Kaste  adoptieren, 
warum  die  Kaste  nicht  den  der  Menge? 
Jede  Ästhetik,  welche  ihre  Elemente  und  Grundsätze  von 
der  Wirkung  dessen,  was  sie  jeweils  Kunst  nennt,  zu  ge- 
winnen sucht  —  sei  es  nun  Wirkung  auf  die  Massen  oder 
die  Kasten  —  kann  immer  nur  relativ  sein,  denn  das  Maß 
unserer  emotionalen  Fähigkeit  ist  bedingt  vom  Maß  unserer 
jeweiligen  emotionalen  Rezeptivität  und  von  dem  Stand 
unseres  nervösen  Systemes. 

Nichts  weiter  als  Aufgaben  sind  den  Studenten  hier  ge- 
geben, um  sie  von  dem  Jammer  zu  erlösen,  mit  dem  sie 
derzeit  ihre  Zeit  in  den  Kollegien  und  Seminarien  der  Ästhe- 
tik und  Literatur  hinbringen. 

144 


FÜNFTER  EXKURS 
Was  man  die  Literatur  nennt,  wird  Erscheinung  immer 
beim  Niedergang  einer  Kultur.  Deren  frühe  Blüte,  welche 
in  den  März  ihres  Daseins  fällt,  kennt  nur  die  Dichtung, 
gebundene  Rede  eines  kultisch  verbundenen  Volksganzen. 
Tritt  inmitten  der  Literatur,  also  in  Verfallszeiten  als  Ata- 
vismus und  geniale  Katastrophe  der  Dichter  auf,  so  er- 
leidet er  die  Zeit  und  die  Zeit  iho.  Ist  er  das  Genie,  so 
stirbt  er  frühen  Tod.  Ist  er  es  weniger,  so  erhält  er  sich 
am  Leben,  indem  er  sich  in  die  schützende  Literatur  be- 
gibt. Das  katastrophale  Genie  inmitten  der  Literatur  hat 
bestenfalls  eine  kleine  Gemeinde  von  Freunden,  nie  das 
Volk.  Wie  die  Literatur  die  Gebildeten  haben,  hat  die 
große  Menge  die  Belletristik,  ein  Derivat  der  Literatur, 
wie  diese  ein  Derivat  der  Dichtung.  Die  homerische 
Zeit  besaß  nicht,  was  wir  Literatur  nennen.  Der  Literat 
Lukian  trat  erst  im  Verfall  auf,  wie  der  Literat  Petronius 
in  der  neronischen  Zeit.  Das  christliche  Mittelalter  ist  Lite- 
ratur, wo  es  sich  lateinisch  dichtend  äußert,  an  die  römische 
Verfallsreit  gebunden,  woran  die  neuen  Inhalte  nichts  än- 
dern. Die  mönchischen  Hymnologen  sind  literati,  in  den 
literis  Gebildete,  nicht  Dichter.  Die  Dichter  des  Mittelalters 
sind  die  Barden  der  Heldensage  ia  der  Frühzeit.  Die  Bil- 
dung der  nationalen  Sprachen  nimmt  diese  Heldensage 
auf:  es  sind  Dichter,  und  der  letzte  Rest  der  lateinischen 
literati  verschwindet.  Aber  die  Bindung  der  mittelalter- 
lichen Welt  lockert  sich,  löst  sich  auf.  Das  Heldengedicht 
schrumpft  auf  das  Volksbuch  zusammen,  der  Minnesang 
wird  Meistersingerei  und  Gassenlied.  Die  Renaissance  stellt 
Antikisches  als  Master  auf,  das  befolgt  wird:  neue  Bil- 
dungselemente erweitern  die  Literatur,  die  von  nun  ab 
der  herrschende  Begriff  w^ird.  Außerordentliche  Leistungen 
werden  ihr  eigentümlich,  denn  auch  die  Bildung  im  wei- 
testen Smnc  kann  Kultur  schaffen,  doch  bleibt  diese  ex- 
klusiv, nur  einem  Teile  des  Volksganzen  zukommend,  weil 
von  ihm  nur  tragbar  und  förderbar.  Innerhalb  der  Lite- 
ratur ist  der  Dichter  nur  bedingt  Ausdruck  seines  Volkes. 

10  145 


In  dieser  Bedingtheit  ist  er  diskutabel,  was  Inhalt  der 
Literaturgeschichten  ist.  Denn  alle  kulturellen  Verfallszeiten 
—  und  solche  sind  innerhalb  des  christlichen  Gedankens 
auch  Tcilkulturen  —  sind  skeptisch,  werden  von  der  Skepsis 
eingeleitet,  begleitet  und  zu  Grabe  getragen.  Die  seltenen 
Genies  solcher  Zeit  weinen  immer  den  verlorenen  Göttern, 
den  zerstörten  Altären  nach.  Priester,  für  die  es  kein  Amt 
mehr  gibt,  sind  sie. 

Verteilt  sich  was  wir  Leben  nennen  auf  die  zwei  Wag- 
schalen des  irdischen  Tuns  und  himmlischen  Sehnens,  auf 
das  Politische  und  das  Religiöse,  so  ist  die  Dichtung  das  Gleich- 
gewicht dieser  Schalen.  Sie  wird  dann  nicht  sein  können, 
wenn  alles  Leben  nur  auf  der  einen  Schale  liegt.  Im  nichts 
als  religiös  bestimmten  Leben  ist  die  Dichtung  so  über- 
flüssig wie  im  nichts  als  politisch  bestimmten  Leben.  Dich- 
tung ist  der  Ausgleich  im  Geiste  zwischen  den  Gegensätzen 
der  nichts  als  sinnlichen  diesseitigen  "Welt  und  der  nichts 
als  jenseitigen,  geahnten,  geglaubten  und  gefühlten  Welt. 
Dem  Sinnlichen  durch  ihre  Materie,  dem  Übersinnlichen 
durch  ihr  Menschentum  verhaftet  ist  die  Dichtung  nicht 
die  Überwindung  dieser  Gegensätze  durch  ein  Drittes,  son- 
dern die  transzendierende  Bindung  dieser  Gegensätze  in 
einem  Dritten,  das  vom  Geiste  ist.  Denn  die  Dichtung  ist 
sinnlich  und  übersinnlich,  zeitlich  und  überzeitlich,  nie- 
mals das  eine  oder  das  andere. 

In  Zeiten  der  Literatur  ist  der  Dichter  eine  inkommen- 
surable Größe,  die  man  zu  verstehen  sich  bemüht,  in 
welchem  Verstehenwollen  und  bestenfalles  Verstehenkön- 
nen sich  das  Unzeitgemäße  des  Dichters  in  solchen  Zeiten 
ausdrückt.  Aber  das  Wesentliche  des  Dichters,  seine  bis 
zur  persönlichen  Anonymität  gehende  Verbundenheit  mit  dem 
Ganzen  des  Volkes,  dessen  artikulierter  Ausdruck  der  Dichter 
ist,  dies  ist  nicht  ,, verstehbar".  Es  gilt  das  sowohl  für  die 
retrospektive  Betrachtung  des  Dichters  aus  dem  Blick- 
winkel der  Literatiir,  wie  für  die  Einstellung  auf  den  kata- 
strophal inmitten  des  Literarischen  auftretenden  Dichters. 
Welche  Katastrophe  übrigens  in  den  letzten  siebenhundert 

146 


Jahren  der  Deutschen  nur  ein  einziges  Mal  mit  Hölderlin 
eintrat,  dem  Dichter  und  seinem  Volke  zum  Unheil.  Höl- 
derlin gab  sich  in  der  Literatur  kein  Ventil  und  ließ  sich 
keines  in  ihr  geben.  "Wie  alle  andern,  die  was  sie  dem 
Genie  nahmen  ihrem  Talente  zum  Opfer  brachten,  das 
davon  steile  Flamme  zum  Himmel  bekam. 
Dem  außerordentlich  einfachen  Problem  der  Dichtung  und 
des  Dichters  steht  die  außerordentlich  komplizierte  Er- 
scheinung der  Literatur  und  des  Schriftstellers  gegenüber. 
Vom  Schriftsteller  als  Dichter  im  folgenden  Exkurs. 

SECHSTER  EXKURS 

Der  Dichter  ist  heute  bei  dem  gebräuchlichen  Namen  Literat 
angelangt,  worunter  einer  verstanden  wird,  den  unerforschte 
Gebrechen  hindern,  ein  brauchbarer  Journalist  zu  werden. 
Die  soziale  Wichtigkeit  dieser  Erscheinung  ist  nicht  ge- 
ring zu  schätzen  und  rechtfertigt  wohl,  ihr  einige  Über- 
legung zu  widmen.  Daß  diese  sich  auf  die  Betrachtung 
der  Intellektualität  beschränkt  und  im  kleinen  wie  der 
Versuch  einer  erkenntnistheoretischen  Prüfung  ausfällt,  in- 
dem sie  den  Dichter  der  literarischen  Zeit  nur  als  den  in 
einer  bestimmten  "Weise  und  auf  bestimmtem  Gebiete  Er- 
kennenden betrachtet,  ist  gewollte  Einschränkung,  die  sich 
natürlich  nur  durch  ihr  Ergebnis  rechtfertigen  läßt.  So  oft 
aber  hierbei  vom  Dichter,  als  einer  besonderen  Gattung 
Mensch,  die  Rede  sein  wird,  sei  vorausbemerkt,  daß  da- 
mit nicht  nur  die  gemeint  sind,  welche  schreiben;  es  ge- 
hören auch  jene  dazu,  welche  die  Tätigkeit  scheuen  —  sie 
bilden  das  reaktive  Seitenstück  zu  dem  aktiven  Teil  des 
Typus. 

Man  könnte  ihn  beschreiben  als  den  Menschen,  dem  die 
rettungslose  Einsamkeit  des  Ich  in  dieser  Welt  und  zwi- 
schen den  Menschen  am  stärksten  zu  Bewußtsein  kommt, 
weil  in  seinen  ihm  eingeborenen  Urelementen  die  indivi- 
duelle Anonymität  der  Gemeinschaft  besitzt.  Als  den  Emp- 
findlichen könnte  man  ihn  auch  beschreiben,  für  den  nie 

10*  147 


Recht  gesprochen  zu  werden  vermag.  Dessen  Gemüt  auf 
die  imponderablen  Gründe  viel  mehr  reagiert  als  auf  ge- 
wichtige. Der  die  Charaktere  verabscheut  mit  jener  furcht- 
samen Überlegenheit,  die  ein  Kind  vor  den  ein  halbes 
Menschenalter  früher  sterbenden  Erwachsenen  voraus  hat. 
Der  noch  in  der  Freundschaft  und  in  der  Liebe  den  Hauch 
von  Antipathie  empfindet,  der  jedes  Wesen  von  den  an- 
dern fernhält  und  das  schmerzlich-nichtige  Geheimnis  der 
Individualität  ausmacht.  Der  selbst  seine  eigenen  Ideale 
zu  hassen  vermag,  weil  sie  ihm  nicht  als  die  Ziele,  son- 
dern als  die  Verwesungsprodukte  seines  Idealismus  er- 
scheinen. Dies  sind  nur  einzelne  Beispiele  und  Einzelbei- 
spiele. Ihnen  allen  entspricht  oder  liegt  zu  gründe  eine  be- 
stimmte Erkenntnishaltung  und  Erkenntniserfahrung  wie 
auch  die  dieser  entsprechende  Objektswelt. 
Man  versteht  das  Verhältnis  des  Dichters  zu  dieser  Welt 
am  besten,  wenn  man  von  seinem  Gegenteil  ausgeht:  das 
ist  der  Mensch  mit  dem  festen  Punkt  a,  der  rationale 
Mensch  auf  ratioiden  Gebiet.  Man  nehme  die  ScheuBlich- 
keit  des  Wortversuches  hin  wie  auch  die  ihm  zugrunde- 
liegende historische  Vortäuschung;  denn  nicht  hat  sich  die 
Natur  nach  der  ratio  gerichtet,  sondern  diese  nach  der 
Natur.  Aber  ich  finde  kein  Wort,  das  nicht  nur  die  Me- 
thode, sondern  auch  das  Gelingen,  gebührend  ausdrückt, 
nicht  bloß  die  Unterwerfung,  sondern  auch  die  Unterwür- 
figkeit der  Tatsachen,  dieses  unverdiente  Entgegenkommen 
der  Natur  in  bestimmten  Fällen,  das  in  allen  Fällen  zu 
verlangen  dann  freilich  eine  menschliche  Taktlosigkeit  war. 
Dieses  ratioide  Gebiet  umfaßt  roh  umgrenzt  alles  wissen- 
schaftlich Systematisierbare,  in  Gesetz  und  Regel  zusammen- 
faßbare, vor  allem  also  die  physische  Natur ;  die  moralische 
aber  nur  in  wenigen  Ausnahmefällen  des  Gelingens.  Es  ist 
gekennzeichnet  durch  eine  gewisse  Monotonie  der  Tat- 
sachen, durch  das  Vorwiegen  der  Wiederholung,  durch 
eine  relative  Unabhängigkeit  der  Tatsachen  voneinander, 
so  daß  sie  sich  auch  in  schon  früher  ausgebildeten  Grup- 
pen von  Gesetzen,   Regeln  und  Begriffen  gewöhnhch  cin- 

148 


fügen,  in  welcher  Reihenfolge  sie  immer  entdeckt  worden 
seien.  Vor  allem  aber  schon  dadurch,  dai  sich  die  Tat- 
sachen auf  diesem  Gebiet  eindeutig  beschreiben  und  ver- 
mitteln lassen.  Eine  Zahl,  eine  Helligkeit,  Farbe,  Gewicht, 
Geschwindigkeit,  das  sind  Vorstellungen,  deren  subjektiver 
Anteil  ihre  objektive,  universal  übertragbare  Bedeutung 
nicht  mindert.  (Von  einer  Tatsache  des  nicht  ratioiden 
Gebietes  dagegen,  z.  B.  dem  Inhalt  der  einfachen  Aussage 
,,er  wollte  es",  kann  man  sich  niemals  ohne  unendliche 
Zusätze  eine  hinreichend  bestimmte  Vorstellung  machen.) 
Man  kann  sagen,  das  ratioide  Gebiet  ist  beherrscht  vom 
Begriff  des  Festen  und  der  nicht  in  Betracht  kommenden 
Abweichung;  vom  Begriff  des  Festen  als  einer  fictio  cum 
fundamento  in  re.  Zu  unterst  schwankt  auch  hier  der 
Boden;  die  tiefsten  Grundlagen  der  Mathematik  sind  lo- 
gisch ungesichert,  die  Gesetze  der  Physik  gelten  nur  an- 
genähert und  die  Gestirne  bewegen  sich  in  einem  Koordi- 
natensystem, das  nirgends  einen  Ort  hat.  Aber  man  hofft, 
das  alles  noch  in  Ordnung  zu  bringen.  Des  Archimedes 
Wunsch  ist  heute  noch  der  Ausdruck  für  unser  hoffnungs- 
freudiges Gehaben. 

Bei  diesem  Tun  ist  die  geistige  Solidarität  entstanden. 
Nichts  ist  daher  begreiflicher,  als  daß  die  Menschen  ver- 
suchen, das  gleiche  Vorgehn  auch  in  den  im  weitesten 
Sinne  moralischen  Beziehungen  einzuhalten,  obgleich  es 
dort  täglich  schwieriger  wird.  Auch  auf  dem  moralischen 
Gebiet  wird  heute  nach  dem  Prinzip  der  Pilotierung  vor- 
gegangen und  werden  in  das  Unbestimmte  die  erstarren- 
den Caissons  der  Begriffe  gesenkt,  zwischen  denen  sich 
ein  Raster  von  Gesetzen,  Regeln  und  Formeln  spannt.  Der 
Charakter,  das  Recht,  die  Norm,  das  Gute,  das  Imperativ 
sind  solche  Pfähle,  auf  deren  Versteintheit  gehalten  wird, 
um  daran  das  Netz  der  hunderte  moralischen  Einzelent- 
scheidungen, die  jeder  Tag  fordert,  aufhängen  zu  können. 
Die  heute  noch  herrschende  Ethik  ist  ihrer  Methode  nach 
eine  statische,  mit  dem  Festen  als  Grundbegriff.  Aber  da 
man  auf  dem  Wege  von  der  Natur  zum  Geiste  gleichsam 

149 


aus  einem  starren  Mineralienkabinett  in  ein  Treibhaus  voll 
unausgesprochener  Bewegung  getreten  ist,  erfordert  ihre 
Anwendung  eine  sehr  komische  Technik  der  Einschrän- 
kung und  des  "Widerrufs,  deren  Kompliziertheit  allein  schon 
unsere  Moral  zum  Untergang  reif  erscheinen  läßt.  Man 
denke  an  das  populäre  Beispiel  der  Abwandlung  des  Ge- 
bots „Du  sollst  nicht  töten",  von  Mord  über  Totschlag, 
Tötung  des  Ehebrechers,  Duell,  Hinrichtung  bis  zum  Krieg, 
und  sucht  man  die  einheitliche  rationale  Formel  dafür,  so 
wird  man  finden,  daß  sie  einem  Sieb  gleicht,  bei  dessen 
Anwendung  die  Löcher  nicht  weniger  wichtig  sind  als  das 
feste  Geflecht. 

Denn  hier  hat  man  längst  nicht-ratioides  Gebiet  betreten, 
für  das  uns  die  Moral  bloß  ein  Hauptbeispiel  abgibt,  wie 
die  Naturwissenschaft  eines  für  das  andere  Gebiet  gewesen 
ist.  War  das  ratioide  Gebiet  das  der  Herrschaft  der  ,, Regel 
mit  Ausnahmen",  so  ist  das  nicht-ratioide  Gebiet  das  der 
Herrschaft  der  Ausnahmen  über  die  Regel.  Vielleicht  ist 
das  nur  ein  gradueller  Unterschied,  aber  jedenfalls  ist  er 
so  polar,  daß  er  eine  vollkommene  Umkehrung  in  der  Ein- 
stellung des  Erkennenden  verlangt.  Die  Tatsachen  unter- 
werfen sich  nicht  auf  diesem  Gebiet,  die  Gesetze  sind 
Siebe,  die  Geschehnisse  wiederholen  sich  nicht,  sondern 
sind  unbeschränkt  variabel  und  individuell.  Es  gelingt  mir 
nicht,  dieses  Gebiet  besser  zu  kennzeichnen  als  darauf  hin- 
weisend, daß  es  das  Gebiet  der  Reaktivität  des  Individuums 
gegen  die  "Welt  und  die  andern  Individuen  ist,  das  Gebiet 
der  Werte  und  Bewertungen,  das  der  ethischen  und  ästhe- 
tischen Beziehungen,  das  Gebiet  der  Idee.  Ein  Begriff,  ein 
Urteil  sind  in  hohem  Grade  unabhängig  von  der  Art  ihrer 
Anwendung  und  von  der  Person;  eine  Idee  ist  in  ihrer 
Bedeutung  in  hohem  Grade  von  beiden  abhängig;  sie  hat 
immer  nur  okkasionell  bestimmte  Bedeutung  und  erlischt, 
wenn  man  sie  aus  ihren  Umständen  loslöst.  Ich  greife  eine 
beliebige  ethische  Behauptung  heraus:  ,,es  gibt  keine  Mei- 
nung, für  die  man  sich  opfern  und  in  die  Versuchung  des 
Todes  begeben  darf"  —  und  jeder  von  den  Spuren  ethischer 

150 


Erlebnisse  Beschlagene  und  Behauchte,  wird  wissen,  daB 
man  ebenso  leicht  das  Gegenteil  behaupten  kann  und  da£ 
es  einer  langen  Abhandlung  bedarf,  bloß  um  zu  zeigen,  in 
welchem  Sinn  man  es  meint,  bloß  um  Erfahrungen  in 
einer  "Wegweiserrichtung  aneinander  zu  reihen,  die  dann 
doch  irgendwo  sich  unübersehbar  verästelt,  aber  doch 
irgendwie  ihren  Zweck  erfüllt  hat.  Auf  diesem  Gebiet  ist 
das  Verständnis  jedes  Urteils,  der  Sinn  jedes  Begriffes  von 
einer  zarteren  Erfahrungshülle  umgeben  als  Äther,  von 
einer  persönlichen  Willkür  und  nach  Sekunden  wechseln- 
den persönlichen  Unwillkür,  Die  Tatsachen  dieses  Gebietes 
und  darum  ihre  Beziehungen  sind  unendlich  und  unbe- 
rechenbar. 

Dieses  ist  das  Heimatsgebiet  des  Dichters,  das  Herrschafts- 
gebiet seiner  Vernunft.  Während  sein  Widerpart  das  Feste 
sucht  und  zufrieden  ist,  wenn  er  zu  seiner  Berechnung  so 
viel  Gleichungen  aufstellen  kann  als  er  Unbekannte  vor- 
findet, ist  hier  von  vornherein  der  Unbekannten,  der  Glei- 
chtmgen  und  der  Lösungsmöglichkeiten  kein  Ende.  Die 
Aufgabe  ist:  immer  neue  Lösungen,  Zusammenhänge,  Kon- 
stellationen, Variable  zu  entdecken,  Prototypen  von  Ge- 
schehensabläufen hinzustellen,  lockende  Vorbilder,  wie  man 
Mensch  sein  kann,  den  innern  Menschen  erfinden.  Ich  hoffe, 
diese  Beispiele  sind  deutlich  genug,  um  jeden  Gedanken 
an  ,, psychologisches"  Verstehen,  Erfassen  und  dergleichen 
auszuschließen.  Psychologie  gehört  in  das  ratioide  Gebiet 
und  die  Mannigfaltigkeit  ihrer  Tatsachen  ist  auch  gar  nicht 
unendlich,  wie  die  Existenzmöglichkeit  der  Psychologie  als 
Erfahrungswissenschaft  lehrt.  Was  unberechenbar  mannig- 
faltig ist,  sind  nur  die  seelischen  Motive,  und  mit  ihnen 
hat  die  Psychologie  nichts  zu  tun. 

Der  Mangel  an  Erkenntnis,  daß  es  sich  überhaupt  um  zwei 
ihrer  Wesenheit  nach  verschiedene  Gebiete  handelt,  ver- 
schuldet die  bürgerliche  Betrachtung  des  Dichters  als  eines 
Ausnahmemenschen  (von  wo  es  zum  Unzurechnungsfähigen 
nicht  weit  ist).  Er  ist  nur  insofern  Ausnahmemensch  als 
er  der  Mensch  ist,  der  auf  Ausnahmen  achtet.  Er  ist  weder 

151 


der  , .rasende",  noch  der  „Seher",  noch  ,,das  Kind",  noch 
irgend  eine  Verwachsenheit  der  Vernunft.  Er  verwendet 
auch  gar  keine  andre  Art  und  Fähigkeit  des  Erkennens 
als  der  rationale  Mensch.  Der  bedeutende  Mensch  ist  der, 
welcher  über  die  größte  Tatsachenkenntnis  und  die  größte 
ratio  zu  ihrer  Verbindung  verfügt  —  auf  dem  einen  Ge- 
biet wie  auf  dem  andern.  Nur  findet  der  eine  die  Tat- 
sachen außer  sich  und  der  andere  in  sich,  der  eine  findet 
sich  zusammenschließende  Tatsachenreihen  vor,  der  andre 
nicht. 

Ich  bin  nicht  sicher,  ob  es  nicht  Pedanterie  ist,  so  um- 
ständlich auseinanderzulegen,  was  vielleicht  Binsenwahr- 
heit ist.  Zur  Entschuldigung  möchte  ich  hiebei  Ungesagtes 
anführen,  das  ebenso  wichtig:  vor  allem  die  Abgrenzung  von 
den  sog.  Geisteswissenschaften  und  historischen,  die  nicht 
einfach  ist,  aber  das  bisher  Gesagte  bestätigt.  Ob  solche 
Untersuchungen  aber  als  Pedanterie  zu  bewerten,  wird 
sich  zuletzt  nur  nach  der  Wichtigkeit  richten,  die  man  dem 
Nachweis  zumißt:  daß  die  Struktur  der  Welt  und  nicht 
die  seiner  Anlagen  dem  Dichter  seine  Aufgaben  zuweist. 
Man  hat  öfters  dem  Dichter  die  Aufgabe  zugewiesen,  der 
Sänger,  der  Verklärer  seiner  Zeit  zu  sein  und  sie,  so  wie 
sie  ist,  in  die  überglänzte  Sphäre  der  Worte  zu  eksta- 
sieren;  man  hat  von  ihm  Triumphpforten  für  den  ,, guten" 
Menschen  verlangt  und  Verherrlichung  der  Ideale;  man 
hat  ,, Gefühl"  —  das  heißt  natürlich  nur  bestimmte  Ge- 
fühle —  von  ihm  verlangt  und  Absage  an  den  kritischen 
Verstand,  der  die  Welt  verkleinere,  indem  er  ihr  die  Form 
nimmt,  so  wie  der  Steinhügel  eines  zusammengestürzten 
Hauses  kleiner  ist  als  das  einstige  Hai'S.  Man  hat  zuletzt 
in  der  Praxis  der  Expressionisten,  die  das  gemeinsam  hat 
mit  dem  alten  Neo-Idealismus,  von  ihm  verlangt,  daß  er  die 
Unendlichkeit  des  Gegenstandes  verwechsle  mit  der  Un- 
endlichkeit der  Gegenstandsbezeichnungen,  wodurch  ein 
ganz  falsches  metaphysisches  Pathos  entstand.  —  Alles  das 
sind  Konzessionen  an  das  ,, Statische",  ihre  Forderung 
widerspricht  den  Forderungen   des  moralischen   Gebietes, 

152 


ist  material widrig.  Man  wird  einwenden,  daß  das  hier  Ge- 
sagte nur  eine  rein  intellektualistische  Auffassung  wider- 
spiegle. Nun,  es  gibt  Dichtungen,  die  von  allem  hier  als 
Hauptaufgabe  Betrachteten  wenig  haben  und  dennoch  er- 
schütternde Kunstwerke  sind ;  sie  haben  ihr  schönes  Fleisch 
und  das  des  Homerischen  leuchtet  durch  Jahrtausende  zu 
uns.  Im  Grunde  kommt  das  doch  nur  von  gewissen  kon- 
stant gebliebenen  oder  wieder  zurückgekehrten  geistigen 
Einstellungen.  Die  Bewegung  der  Menschheit  seither  kam 
aber  von  den  Variationen.  Und  es  bleibt  bloß  die  Frage, 
ob  der  Dichter  ein  Kind  seiner  Zeit  sein  soll  oder  ein  Er- 
zeuger der  Zeiten. 

SIEBENTER  EXKURS 

Ein  allerdings  jagendlicher  Herausgeber  bekanntmachte  im 
August  1914  in  den  Journalen,  daß  er  das  Erscheinen 
seiner  Zeitschrift  einstelle,  denn  ,,nun  sei  die  Zeit  zum 
Handeln".  Wie  verkommen  muß  das  Denken  oder  vielmehr 
das,  was  man  heute  so  darunter  versteht,  geworden  sein, 
um  in  einen  solchen  exkludierenden  Gegensatz  zum  Han- 
deln gebracht  werden  zu  können!  Wie  sehr  muß  das  Han- 
deln nichts  mehr  weiter  als  Handel,  Welthandel  meinet- 
wegen, bedeuten,  mit  bedenklich  vereinbar,  aber  nicht  mehr 
mit  gedanklich!  Aus  welchem  Denk-  oder  Handelskreise  ja 
auch  Wort  und  Sache  der  Realpolitik  stammt,  die  einer 
immer  dann  zu  treiben  vorschlägt,  wenn  er  rein  nichts 
politisch  zu  denken  hat,  sondern  nur  „handeln"  will. 
Nicht  übel  hat  jemand  das  Denken  ein  verhaltenes  Han- 
deln und  Sprechen  genannt.  Die  denkende  Vernunft  ist 
eine  Kraft,  die  sich  in  Arbeit  zu  transformieren  sucht; 
sicher  hat  sie  ihr  mechanisches  Äquivalent,  und  alle  Denker, 
alle  wahrhaft  Intellektuellen  leiden  nicht  nur  nicht  an  so- 
zialer Anästhesie,  sondern  fühlen  sehr  lebhaft  die  soziale 
Mission  dt:r  Wahrheit.  Descartes  war,  was  immer  er  auch 
dagegen  sagen  mochte,  verzehrt  vom  Prosely tismus ,  und 
Leiboiz  träumte,  wenn  er  seinen  Instinkten  Lauf  gab,  von 

153 


einem  Dienertum  der  Mikrokephalen  und  Anthropoiden  und 
der  Retablierung  des  Despotismus  zu  Gunsten  der  denken- 
den Gattung.  Wenn  Renan  lächelnd  die  Macht  zu  verachten 
vorgab,  so  weil  er  ein  verstümmelter  Aristokrat  war  und 
zu  stolz,  um  sich  zu  beklagen;  aber  sein  Lächeln  war 
nicht  das  eines  glücklichen  Menschen,  sondern  voll  Bitter- 
keit des  Ressentiments.  Auch  wenn  die  Denker  die  Indiffe- 
renz gegenüber  der  populären  Demenz  empfahlen,  so  taten 
sie  das  im  Bewußtsein  ihrer  numerischen  Schwäche  und 
der  indiskutabeln  materiellen  Allmacht  des  Irrtums:  darum 
affektieren  sie  lieber  die  Unempfindlichkeit ,  als  daß  sie 
einen  ohnmächtigen  Haß  zugeben.  Aber  sie  lebten  w^ahr- 
haft  nicht  in  behaglicher  Ruhe  neben  dem  Irrtum,  denn 
dies  ist  nicht  möglich.  In  jedem  Denker  ist  die  Leiden- 
schaft eines  Ikonoklasten,  und  er  hat  gegen  jeden  Narren 
einen  physiologischen  Haß,  —  der  mag  im  heutigen  rela- 
tivistischen Denkbetrieb  recht  schwach  geworden  sein,  so 
schwächlich  wie  das  Denken  selber,  das  abdankt,  wenn 
ein  Krieg  die  Zeit  bringt,  wo  ,,zu  handeln"  ist.  Irrtum,  zu 
sagen,  daß  es  abdanke,  denn  es  hat  ja  nicht  geherrscht.  Es 
hat  schon  zuvor  gehandelt  und  mit  sich  handeln  lassen. 
Das  Handeln  —  politisches,  militärisches,  wirtschaftliches 
—  wird  heute  mehr  als  je  als  der  schöpferische  Akt  schlecht- 
hin angesprochen,  dem  das  Denken  als  kritische  Anstrengung 
des  menschlichen  Geistes  untergeordnet  sei.  Nur  in  der 
Metapher  und  fern  allem  wahrhaften  Glauben,  daß  es 
wirklich  so  sei,  wird  eine  Glaubenshandlung  oder  ein  Dicht- 
werk als  Tat  angesehn.  Und  dem  entspricht,  daß  man  in 
der  kritischen  Tätigkeit  ein  Tun  von  noch  viel  zweifel- 
hafterm  Wert  erblickt,  zumal  Kritik  heute  in  litteris  so 
selten  ist  wie  häufig  das  Rezensententum,  das  von  der  Kritik 
nichts  als  sekundär-formale  Derivate  entlehnt  und  seinen 
Unfug  damit  treibt;  genau  so  wie  das  meiste  dessen,  was 
sich  heute  Kunst  nennt  oder  so  genannt  wird,  von  der 
Kunst  formale  Derivate  entlehnt  und  damit  seinen  manchmal 
interessanten  Aufwand  besorgt:  innerhalb  dieses  Bereiches 
protestiert  der  „Künstler"  gegen  seinen ,, Kritiker"  und  zitiert 

154 


die  Goethesche  Aufforderung,  den  Rezensenten  totzuschlagen, 
womit  er  sich  übrigens  nur  auf  die  Seite  Goethes  schlagen 
will.  Scheiden  wir  diese  falschen  Wertträger  und  Wert- 
geber aus,  um  in  der  absoluten  Sphäre  von  Kunst  und 
Kritik,  von  schöpferischer  und  kritischer  Kraft  zu  bleiben, 
so  geben  wir  gleich  den  Rangunterschied  zu  und  sagen, 
daß  die  schöpferische  Kraft  höhern  Ranges  ist  als  die  kri- 
tische, aber  bemerken:  daß  sich  vorhandene  schöpferische 
Kraft  nicht  ausschließlich  in  Werken  der  Kunst  geäußert, 
ja  daß  es  Epochen  in  der  Geschichte  eines  Volkes  wie 
in  der  Einzelgeschichte  der  schöpferischen  Person  gibt, 
wo  sich  diese  Kraft  in  Kunstwerken  gar  nicht  äußern 
kann  und  als  doch  vorhanden  andre  Formen  der  Äuße- 
rung aufsuchen  und  ausbilden  muß.  Die  schöpferische  Kraft 
setzt  Elemente  und  Materien  vorhanden  voraus,  mit  und 
aus  denen  sie  als  synthetisch  gerichtete  Kraft  arbeitet:  sie 
äußert  sich  in  keinerlei  Werk,  wenn  diese  Elemente  und 
Materien  nicht  gegeben  sind,  als  welche  wir  in  der  Schrift- 
kunst außer  der  Sprache  die  Ideen  kennen,  die  in  einer 
Zeit  gemein  vorhanden  sind ;  also  nicht  bloß  die  individuell 
erreichbaren  Ideen  —  nach  denen  immer  jeder  Epigone 
greift  —  oder  gar  von  der  Schriftkunst  zu  schaffende 
Ideen.  Ebenso  auch  nicht  individuell  erzeugte  Sprechformen 
oder  aus  deren  altem  Bestände  erlernte.  Nur  bedingt  ist 
der  Dichter  sprachschöpferisch,  aber  Ideen  zu  schaffen  ist 
gar  nicht  der  Dichtkunst,  sondern  der  Philosophie  Aufgabe. 
Damit  sein  Werk  Erscheinung  werde,  muß  der  Dichter  in 
einer  spirituellen  Atmosphäre  stehn,  in  einer  gewissen 
Ordnung  der  Ideen  hausen,  um  sein  synthetisches  Werk 
herstellen  zu  können.  Die  Seltenheit  solcher  Atmosphäre 
bezeugt  die  Seltenheit  großer  schöpferischer  Epochen  und 
bezeugt  femer  das  Zu-kurz-kommen ,  das  Ungenügende, 
Untragende  im  Werke  an  sich  großer  Begabungen  wie  zum 
Beispiel  Lenaus.  Es  ist  das  gelungene  Werk  eben  nicht 
allein  auf  die  schöpferische  Kraft  des  Einzelnen  zu  stellen, 
sondern  auch  auf  diese  zweite  Komponente,  welche  das 
ideell  tragende  Zeitmoment  ist.  Dieses  Zeitmoment  zu  schaf- 

155 


fen,  ist  nicht  nur  außerhalb  der  Kraft  des  Dichters  —  selbst 
es  zu  kontrollieren,  ist  nicht  in  seiner  Artung  und  Macht. 
Aber  diese  Kontrolle  zu  üben,  liegt  im  Bereich  der  kriti- 
schen Kraft,  deren  Äußerung  ist,  in  allen  Gattungen  des 
Wissens,  der  Philosophie,  Theologie,  Geschichte,  Kunst 
den  betreffenden  Gegenstand  zu  sehn,  wie  er  an  sich  wirklich 
ist,  das  heißt  aus  ihm  das  Gesetz  seines  kritischen  Me- 
thodus  abzuleiten.  Die  Kritik  tendiert,  eine  Ordnung,  einen 
Kanon  der  Ideen  zu  errichten,  eine  intellektuelle  Situation 
zu  schaffen,  in  welcher  die  schöpferische  Kraft  des  Dich- 
ters die  für  ihre  Äußerung  günstige  Atmosphäre  findet. 
Denn  es  erreichen  die  von  der  Kritik  aus  der  phänome- 
nologischen Anschauung  ihret  Gegenstände  gewonnenen 
ideellen  Werte  die  Gesellschaft,  rühren,  bewegen,  ändern 
deren  Leben  —  und  damit  ist  der  Boden  geschaffen,  auf 
dem  die  schöpferischen  Epochen  der  Literatur  zustande 
kommen.  Ein  Hinweis  auf  die  kritische  Vorperiode  der 
deutschen  Klassizität,  die  Tätigkeit  der  Schweizer  und 
Lessings,  dürfte  hier  genügen  und  im  Einzelnen  nicht  aus- 
zuführen sein. 

Es  gibt  kein  zeitloses  Dichten,  denn  der  Dichter  lebt  als 
ethisch  höchst  wertvoller  Teil  der  menschlichen  Gemein- 
schaft in  und  aus  einer  bestimmten  Zeit  in  die  Zeiten, 
nicht  aus  den  Zeiten  in  seine  Zeit;  er  ist  nie  und  nimmer 
ein  Unmensch,  ein  Abstraktum,  das  sich  wie  zufällig  und 
mit  seinem  Unwesentlichen  in  einem  Privatmenschen  ver- 
steckt, der  einen  bürgerlichen  Namen  hat,  um  mit  seinem 
Wesentlichen,  eben  dem  Dichterischen,  außer  der  Zeit  und 
Welt  zu  sein,  die  er  lebt  —  bei  den  Sternen  etwa.  So 
außerzeitlich  lebend  konzipiert  sich  rollenden  Auges  nur 
der  Dichterling  und  Dilettant.  Es  ist  vielmehr  so,  daß  der 
Dichter  seine  Zeit  am  intensivsten  lebt  —  erleidet  —  aus 
Energien  solchen  Mit-Lebens,  deren  Übermaß  die  Unsterb- 
lichkeit seines  Werkes  nähren.  Nur  dieses  Mit-Leben  gibt 
dem  Dichter  den  Wert,  der  als  ein  ethischer  sein  Tun  mit 
anderm  Tun  vergleichen  läßt.  Es  wird  die  sittliche  Größe 
und  Bedeutung  des  Werkes  daran  zu  erkennen  sein,   bis 

156 


zu  welchem  Umfang  der  Dichter  seme  erlebte  und  erlittne 
Umwelt  zum  Ausdruck  bringt. 

Je  komplexer  das  Leben,  je  durch worfener  dessen  kultu- 
relle Wertigkeit,  um  so  wichtiger  wird  die  kritische  Arbeit 
zur  Bereitung  der  von  der  Zeit  her  bestimmten  Möglich- 
keit einer  dichterischen  Entfaltung,  welche  die  Dauer  in 
sich  trägt.  Außerordentlich  war  die  kritische  Arbeit,  welche 
dem  Erscheinen  Goethes  voranging,  ihm  Welt  und  Leben 
als  die  geordneten  Elemente  und  Materialien  in  ganz  anders 
durchgearbeiteter  Weise  bot  als  diese  Elemente  etwa  jenen 
durchaus  genialen  frühfertigen  Engländern  Byron,  Shelley, 
Keats,  Wordsworth  gegeben  wurden,  deren  Werk  immer 
noch,  heute  noch  sanguinische  Hoffnungen  begleiten  und 
begleiten  müssen,  weil  es  für  die  in  sich  ruhende  Dauer 
nicht  vollendet  und  irgendwie  am  frühen  Sterben  ihrer 
Schöpfer  mitgestorben  ist.  So  haben  diese  Schöpfungen 
nicht  viel  mehr  Dauer  als  Werke  weit  weniger  glänzender 
Epochen,  jener  etwa,  aus  der  uns  Herrick  noch  etwas  be- 
deutet, dessen  Wert  doch  gewiß  als  Eigenwert  geringer 
ist  als  der  des  Keats  oder  gar  Byrons.  Man  kann  sagen: 
jene  Engländer  wußten  nicht  genug,  und  so  fehlt  ihrem 
Werke  bei  allem  Glanz,  aller  Tiefe  und  aller  Energie  die 
kulturelle  Weite,  die  höchste  sittliche  Bedeutung  und,  nicht 
zuletzt,  die  dichterische  Mannigfaltigkeit.  Dieses  Werk  blieb 
genialisch  unvollendet,  weil  ihm  keine  kritische  vorgehende 
Kraft  die  Atmosphäre  schuf.  Ein  groteskes  Beispiel  solchen 
Nicht- Wissens  aus  fehlender  Kritik,  wie  wir  dies  verstan- 
den haben  wollen,  bietet  der  sogenannte  deutsche  Natura- 
lismus der  80  er  Jahre,  wo  allerdings  auch  ein  sehr  grofees 
kritisches  Wissen  nicht  vermocht  hätte,  aus  diesen  Dilet- 
tanten mit  Nachahmungstrieb  Dichter  mit  schöpferischer 
Kraft  zu  machen.  Einer  der  Gründe,  daß  dieses  , .jüngste 
Deutschland"  so  etwas  wie  Epoche  sein  konnte,  lag  aber 
immer  darin,  daß  keine  Zeit  kritisch  verwahrloster  war 
als  diese  vom  Jahre  1880  bis  1900  und  nicht  nur  in  der 
speziell  ästhetischen,  sondern  in  jeder  Kritik.  Der  geistige 
Zerfall  aller  dieser  Größen,   die  sich  platt  auf  ein  platt- 

157 


gesehenes  Leben  warfen,  um  auf  dem  Bauche  oder  tiefer 
einen  Abdruck  davon  zu  nehmen,  muBte  darum  bereits  in 
einem  Alter  eintreten,  wo  sonst  der  schöpferische  Mensch 
erst  seines  ganzen  Umfanges  inne  wird:  hier  wurde  man 
die  gähnende  Leere  inne,  in  die  man  rasch  Errafftes  von 
überallher  stopfte:  Klassik,  Romantik,  Symbolik,  Mystik 
—  wie  es  Laune  und  Mode  brachte.  Die  nachfolgende  Ge- 
neration erschrak  und  besann  sich:  sie  wurde  kritisch. 
Und  erst  die  dritte  Generation  seit  jenen  Sudermann  und 
so  weiter  ahnt  Verantwortung,  denn  sie  ist  kritisch  vor- 
bereitet. 

Über  die  Bedeutung  des  gebrauchten  Wortes  Wissen  ist 
noch  einiges  zu  sagen.  Vor  allem,  daß  es  nicht  etwa  Be- 
lesenheit bedeutet.  Daß  der  Dichter  nichts  lesen  dürfe,  war 
ja  nur  deutsche  Meinung  jener  , .Dichter"  um  1880.  Aber 
daß  der  Dichter  belesen  zu  sein  habe,  ist  keinerlei  Forde- 
rung. Shelley  war  belesen,  und  Coleridge  verschlang  Biblio- 
theken. Pindar  aber  dürfte  nur  sehr  wenige  Bücher  ge- 
lesen haben  und  auch  Shakespeare  nicht  viel  mehr.  Aber 
in  jenen  Epochen,  der  des  Pindar  und  der  Shakespeares, 
gab  CS  ein  immediates  Wissen  aus  einem  lebendigen  Kul- 
turganzcn;  Volk  oder  Gesellschaft  waren  von  Gedanken 
durchdrungen,  welche  das  Leben  deutlich  abformten;  es 
bedurfte  eines  Umweges  über  Lernen  und  Bücher  gar  nicht, 
um  zu  wissen;  und  war  der  Zustand  dieser  Gesellschaft, 
dieses  Volkes  eben  ein  solcher,  daß  er  ohne  kritische 
Mittler  schon  die  Basis  für  die  Auswirkung  der  schöpfe- 
rischen Kraft  gab,  von  diesem  Zustand  selber  seine  Data, 
seine  Materie  und  seine  Elemente  empfing.  Nicht  anders 
im  Mittelalter,  das  die  im  Verfalls-Latein  aufgekommene 
Kritik  wieder  vergessen  konnte,  weil  ein  Zustand  war,  der 
unmittelbar  dem  Minnedichter  gab,  was  er  brauchte.  Alles 
Wissen  der  Welt  ist  für  den  Dichter  nur  dann  von  Wert, 
wenn  es  ihm  das  Zeitmoment  vermittelt,  das  er  lebt,  da- 
mit sich  seine  schöpferische  Kraft  äußern  kann.  Zu  dieser 
Kraft  selber  kann  er  natürlich  durch  keinerlei  Wissen  ge- 
langen, denn  sie  ist  nicht  erlernbar,  außer  in  jenen  öden 

158 


Zeiten,  wo  für  Dichten  ein  Nachahmen  von  Mustern  galt. 
Aber  diese  Nachahmer  von  Mustern  waren  Gelehrte  und 
Bürgermeister  und  seltsame  Pedanten,  Dichter  aber  in  gar 
keinem  Sinne  des  Worts. 

Wo  die  Gesellschaft  nicht  mehr  so  ist,  da£  sie  sich  ohne 
Mittler  dem  Dichter  als  Element  bietet,  da  mögen  Bücher 
und  Kenntnisse  dazu  Hilfen  sein,  daß  Einer  sich  eine 
seinem  Bilde  der  Welt  gleichende  Welt  aus  Wissen  und 
Einsichten  konstruiert,  in  der  er  leben  und  wirken  möchte. 
Dieses  Gebilde  ist  aber  für  den  Künstler  durchaus  kein 
volles  Äquivalent  für  die  verlorene  kulturelle  Voraussetzung 
eines  Shakespeare  —  wohl  aber  kann  solches  Konstruieren 
eine  Vorbereitung  für  eine  kommende  solche  kulturelle 
Voraussetzung  sein,  eine  Beschleunigung  ihres  Eintretens, 
und  darin  liegt  der  Wert  solcher  konstruktiver  Vorweg- 
nahmen dessen,  was  sein  könnte,  sein  sollte,  sein  wird. 
Nichts  war  in  dem  Deutschland  von  1750  vorhanden,  was 
das  Pcrikleische  Zeitalter  auszeichnete  oder  die  Zeit  der 
Elisabeth.  Und  hier  ist  der  Grund  für  die  schwierige  weil 
schwache  Seite  des  Dichters  seit  dem  Ende  des  Grand 
Siöcle.  Hier  lag  die  schwierige  und  schwache  Seite  auch 
Goethes.  Aber  seine  Stärke  darin,  daß  es  eine  kritisch  be- 
lebte und  lebendige  Bildungsschicht  gab,  diese  wenigstens, 
und  welche  bedeutend  genug  war,  da&  sie  ein  Äquivalent 
abgeben  konnte  für  den  fehlenden  allgemeinen  Kulturstand. 
Goethe  fand  seiner  schöpferischen  Kraft  den  Boden,  wenn 
auch  nicht  in  einem  lebendigen  kongenialen  Leben  der 
Nation,  so  doch  in  einem  lebhaften  Dasein  einer  durchaus 
kultivierten  gebildeten  Schicht  gegeben,  an  deren  kritischer 
Weiterbildung  er,  das  dichterische  Amt  beiseitesetzend, 
selber  noch  arbeitete.  Jenen  Engländern  im  ersten  Viertel 
des  19.  Jahrhunderts  fehlte  nicht  nur  das  national-kultu- 
relle Leben,  sondern  auch  die  kritisch  gebildete  Schicht, 
und  so  verbrauchten  sie  ihre  schöpferische  Kraft  in  einer 
Isolation  von  allen  Seiten:  sie  kamen  nicht  zur  Welt,  die 
sie  brauchten,  um  das  zu  bedeuten,  was  sie  ihrer  Anlage 
nach  bedeuten  sollten. 

159 


Man  erwartete  von  diesem  Kriege,  von  dessen  Erlebnis  man 
überhaupt  alles  erwartet  wie  von  einem  Universalautoma- 
ten, auch  so  etwas  wie  eine  fundamentale  geistige  Erneue- 
rung der  Literatur,  und  man  dachte  in  solcher  Erwartung 
nicht  nur  wie  auf  der  daran  politisch  interessierten  Seite 
an  so  etwas  wie  eine  betont  national- patriotische  Literatur 
—  die  betreffenden  Sänger  dürften  sich  ja  wohl  ausge- 
zwitschert haben  —  sondern  an  allerlei  geistige  Vertiefung 
und  gefühlsmäßige  Erweiterung,  Mysterienspiele  über  das 
Erbarmen  vielleicht  oder  sonst  so  was  Frommes,  Weiches, 
Gütiges,  Herzübergebendes.  Wir  erlauben  uns,  diese  damit 
dem  Kriege  zugeschobene  Rolle  des  Kritikers  durchaus  zu 
bezweifeln,  denn  wir  vermissen  in  ihm  gänzlich  jene  reinen 
Ideenkomplexe,  die  allein  für  die  Künste  in  Betracht  kommen. 
Denn  die  genannten  Gefühligkeiten  wird  man  doch  wohl 
nicht  als  Ideen  ansprechen  wollen,  so  wenig  wie  vor  dem 
Kriege  die  mechanische  Tatsache,  daß  die  Menschen  das 
Telefon  bestaunten,  weil  sie  das  Telefon  mit  der  Stimme 
verwechselten,  oder  das  Flugzeug  anbeteten,  weil  sie  diese 
Maschine  für  die  darin  fahrenden  Menschen  hielten.  Wir 
erinnern  an  die  französische  Revolution,  deren  positive 
Wirkung  auf  die  Kunst  nicht  nur  außergewöhnlich  gering 
war  im  Verhältnis  zu  dem  Ereignis,  sondern  welche,  nach 
Goethes  Zeugnis,  eher  eine  negative  Wirkung  auf  die  Kunst 
gehabt  hat  und  nicht  nur  in  Deutschland.  So  außerordent- 
lich stark  der  Rationalismus  von  1700  bis  1770  als  ein 
reiner  Ideenkomplex  auf  die  Gestaltung  der  europäischen 
Literaturen  wirkte,  so  gering  war  in  diesem  Bereiche  die 
Wirkung  der  Revolution,  deren  Ideen,  sofern  welche  da 
waren,  sich  sofort  auf  eine  politische  Praxis  nicht  nur 
wandten,  sondern  von  ihr  überhaupt  als  Ideen  ausgewählt 
wurden,  indem  von  jeder  Idee  die  Legitimation  ihrer  mensch- 
lichen Vernünftigkeit  verlangt  wurde  —  sehr  entsprechend 
so  dem  französischen  Geiste,  wie  es  dem  englischen  Geiste 
entsprach,  daß  man  1642  bei  jeder  Einrichtung  nach  deren 
Legalität  fragte  oder  bei  Ideen  danach,  ob  sie  in  Überein- 
stimmung mit  dem  Gewissen  seien.  Solche  typisch  insulare 

160 


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Haltung  eroberte  sich  die  Welt  nicht,  während  es  den 
Ideen  der  französischen  Revolution  wohl  gelang,  die  all- 
gemeioe  Begeisterung  zu  wecken,  weil  die  geringste  Rolle 
in  den  menschlichen  Betätigungen  überall  die  Vernunft 
spielt.  Daß  sie,  die  man  ein  Jahrhundert  lang  rein  ideell 
manipulierte,  von  nun  ab  die  erste  Rolle  im  praktisch-poli- 
tischen Lebtn  haben  solle,  begeisterte  zu  allem  Sinn  und 
Unsinn,  Heroismus  und  Verbrechen,  welche  die  Revolution 
begleiten.  Und  dies,  weil  die  Ideen  der  Revolution  unmittel- 
bar praktisch  gerichtet  waren  als  die  ganz  unkritisch  ,, rich- 
tigen" Ideen  —  darum,  weil  sie  in  diesem  unmittelbaren 
Sinn  praktisch-politisch  waren,  sind  die  Ideen  von  1789 
nicht  mit  reinen  Ideenkomplexen  vergleichbar,  wie  sie  die 
Renaissance  und  die  Reformation  aufstellten,  wohl  aber 
vergleichbar  mit  den  Ideen  von  1917,  die  aus  einer  Praxis 
abgezogen  direkt  in  eine  Praxis  gebracht  werden  sollen. 
Das  von  praktischen  Erwägungen  geleitete  Hin-  und  Her- 
schieben schafft,  so  riesig  auch  die  darauf  verwandte  Kraft 
ist,  nicht  das,  was  als  eine  geistige  Atmosphäre  für  die 
Kunst  und  den  Künstler  allein  in  Betracht  kommt.  Was 
hier  geschieht,  ist  kein  geistes-kritisches  Werk  —  das  schon 
zehn  Jahre  vor  dem  Kriege  einsetzte  und  durch  ihn  gar 
nicht  geändert  oder  auch  nur  modifiziert  wurde  —  son- 
dern ist  nichts  als  praktisch-politisches  Bessermachen,  wo- 
durch diese  Tätigkeit  als  höchst  wichtige  durchaus  nicht 
für  ihren  Bereich  entwertet  werden  soll,  sondern  nur  für 
den  Bereich  der  Kunst  und  der  Kritik.  Wer  sich  von  der 
Änderung  eines  Wahlmodus  eine  Aufbesserung  der  Kunst 
verspricht,  irrt  sich  entweder  über  das  Wählen  oder  über 
die  Kunst.  Es  sind  nichts  als  praktische  Gedanken,  die 
einer  über  Wählen,  Sozialisierung  des  Kapitals  und  so 
w^eiter  hat,  aber  es  äußert  sich  hier  nicht  der  kritische 
Geist,  den  die  Neugierde  nach  den  besten  Ideen  leitet,  nicht 
nach  den  praktischsten.  Indem  so  der  kritische  Geist  ste- 
rile Konflikte  vermeidet,  indem  ^er  sich  nicht  in  die  Sphäre 
begibt,  innerhalb  w^elcher  enge  und  relative  Konzeptionen 
allein  irgend  Wert  haben,  mag  er  seinen  augenblicklichen 

11  161 


Einfluß  mindern,  aber  nur  dadurch  gelangt  er  zu  den 
weitern  und  vollendeteren  Konzeptionen,  denen  er  allein 
sachlich  verpflichtet  ist.  Jede  Art  Praxis,  sei  diese  politi- 
scher, moralischer,  ja  selbst  religiöser  Art,  beruht  auf  nur 
sehr  inadaequaten  Ideen,  denn  es  ist  den  Menschen  in 
ihrer  großen  Mehrzahl  nicht  eigentümlich,  daß  sie  ein  bren- 
nendes Verlangen  danach  haben,  die  reine  Idee  zu  erkennen ; 
sie  begnügen  sich  bestenfalls  mit  dem  Beiläufigen.  Aber 
auch  dieses  Beiläufige  wird  nur  dann  aufgenommen  werden 
können,  wenn  die  dem  kritischen  Geist  Verpflichteten  eben 
nicht  dieses  Beiläufige  besorgen,  sondern  nur  die  reinen 
Ideen  bedenken,  mit  andern  Worten,  wenn  sie  nicht  prak- 
tisch und  relativ,  sondern  rein  und  absolut  denken,  mag 
man  sie  auch  im  Augenblick  wie  immer  mißverstehn,  und 
mag  dieses  Mißverständnis  so  universal  sein  wie  in  unsrer 
Zeit.  Der  spekulativ  reine  Kritiker  wird  zu  seinem  eignen 
Mißverständnis,  wenn  er  sich  in  die  unmittelbare  praktische 
Kritik  begibt,  denn  er  muß  als  spekulativer  Kritiker  wissen, 
daß  auf  diesem  Gebiete  die  Werte  der  Wahrheit  die  ge- 
ringste Kompetenz  haben  und  sie  darin,  wenn  überhaupt, 
so  nur  in  verzerrender  Maskierung  eingeschmuggelt  werden 
können.  Diese  Verstellung  zu  besorgen,  aus  was  immer  für 
Gründen,  ist  nicht  nur  nicht  Aufgabe  des  Kritikers,  son- 
dern deren  Aufhebung.  Es  ist  eine  flach  Uberale  Redensart 
aller  Arten  von  billigen  Welt  verbesserem,  daß  man  es  satt 
habe,  solche  Subtilitäten  echter  und  falscher  Kritik  zu 
unterscheiden  und  daß  jeder  verpflichtet  sei,  so  gut  er 
könne,  praktisch  an  dem  Karren  der  Menschheit  zu  ziehn, 
damit  er  aus  dem  Dreck  käme,  denn  Bewegung  sei  die 
Hauptsache,  und  alles  wolle  die  Wahrheit,  wofür  wir  nur 
schnell  noch  eine  Partei  gründen,  nämlich  die  der  Prak- 
tisch-Denkenden. Nun,  auf  solche  Weise  würde  die  Er- 
kenntnis der  Wahrheit  eine  amüsante  soziale  Angelegen- 
heit werden,  ein  lustiges  Wettrennen  Aller  nach  Allem, 
mit  erheiterndem  Übereinanderpurzeln  und  dem  leichten 
Glücksgefühl  bequem  genommener  Hindemisse,  kurz  sehr 
viel  Staub  und  sehr  wenig  Denken.   Äußern  ungeduldige 

162 


jugendliche  Gefühle  den  "Wunsch  nach  solchem  Praktisch- 
werden der  kritischen  Kraft,  so  bedeutet  das  nicht  viel 
Irrtum  und  nur  dies,  daß  diese  Jugendlichen  nicht  wissen, 
daß  das  „Praktische"  darin  besteht,  ein  Gesetz  über  die 
Reblausschäden  brauchbar  zu  konzipieren  oder  eines  über 
das  Lombardgeschäft;  diese  Jugendlichen  denken  bei  ihrem 
"Wunsche  nach  ,, praktischem  Denken"  ans  "Weltumstürzcn, 
weil  sie  in  ihrem  Temperamente,  wie  "W,  Rathenau  mir 
einmal  schrieb,  nicht  wissen  dürfen,  daß  eine  umgestürzte 
Tonne  Teer  ihren  Inhalt  wohl  von  sich  gibt,  aber  höchst 
langsam,  und  daß  sich  die  Menschen  die  Form  ihres  Lebens 
in  einem  mühsamen  Schritt  vor  Schritt  ergangen  und  nicht 
in  Sprüngen  erhüpft  haben.  Äußern  aber  die  Alten  den 
"Wunsch,  daß  das  Denken  praktisch  werde,  so  wollen  sie 
damit,  wenn  überhaupt  etwas,  die  Beuge  des  Reinen  in 
ihr  Unreines  —  zumeist  aber  ist  es  nichts  weiter  als  Ver- 
achtung des  Denkens  aus  dem  Unvermögen,  aus  dem  Bauche 
das  Denken  nicht  denken  zu  können. 

Allen  diesen  "Versuchungen  gegenüber  hat  der  kritische 
Geist  zu  widerstehn  und  nicht  darauf  zu  hören,  daß  auch 
er  terrae  filius  sei,  Perissons  en  resistant  kann  in  höchster 
Bedrängung  immer  nur  sein  letztes  "Wort  sein.  Der  kritische 
Geist  muß  geduldig  zu  warten  wissen  und  darf  nicht  hurtig 
zum  Ziel  eilen  wollen,  weil  es  von  praktischer  "Wichtigkeit 
sei;  er  muß  die  Distanz  zu  den  Dingen  bewahren;  er  muß 
imstande  sein,  Elemente  auch  dann  als  positive  zu  werten, 
wenn  sie  einer  Macht  zugehören,  die  in  ihrer  praktischen 
Sphäre  vom  Bösen  ist;  er  muß  Elemente  auch  dann  als 
negativ  wertig  erkennen,  wenn  sie  in  ihrer  praktischen 
Sphäre  vom  Guten  sind;  denn  das  Praktisch-Gute  und 
das  Praktisch-Böse  sind  keine  Kriterien;  und  er  muß  dies, 
ohne  hier  der  praktischen  Sphäre  zu  schmeicheln,  dort  ihr 
zu  drohen,  denn  der  kritische  Geist  ist  nicht  Partei,  Ab 
integro  saeculorum  nascitur  ordo:  dies  ist  der  Leitsatz  für 
die  kritische  Einstellung,  was  nicht  bedeutet,  daß  er  in 
eine  Abstraktizität  verfallen  soll,  tautologisch  wie  die  Ma- 
thematik. Die  Einstellung  wird  ihn  nur  davor  bewahren, 

11'  163 


in  Urteil  und  "Wertung  innerhalb  des  Relativen  zu  bleiben, 
indem  er  das  ,,"Wenigst-Relative"  als  das  schon  ,,Fast-Ab- 
solute"  auszeichnet.  Auf  die  literarische  Kritik,  der  wir 
unsre  Beispiele  entlehnten,  auch  hier  gewandt,  will  das 
sagen,  da£  man  etwa  bei  erkannter  Unwertigkeit  einer 
Literatur  —  nehmen  wir  die  deutsche  von  1880  bis  1900 
an  —  die  Vergleichspunkte  nun  nicht  innerhalb  dieses  Un- 
wertes selber  sucht  und  das  weniger  Schlechte  als  Maß  für 
das  Ganz-Schlechte  aufstellt,  sondern  daß  man  auch  den 
Zustand  der  gleichzeitigen  außerdeutschen  Literatur  in  Be- 
tracht zieht  oder,  wenn  auch  dies  nicht  zureicht,  um  die 
kritische,  immer  positive  Aufgabe  zu  lösen,  frühere  Lite- 
raturen. 

Wir  haben  in  diesen  Bemerkungen  den  Umfang  des  Gegen- 
standes kaum  angedeutet,  geschweige  erschöpfend  beschrie- 
ben; wir  wollten  nur  "Wert  und  "Wesen  der  Kritik  prinzi- 
piell anmerken  in  einer  Zeit,  welcher  der  Begriff  der  Kritik 
sich  verunreinigt  hat  so  sehr,  daß  Kritiker  selber,  dies  nicht 
merkend,  auch  dann  noch  wahrhaft  kritisch  zu  sein  ver- 
meinen, wenn  sie  nichts  als  praktisch  sind. 

ACHTER  EXKURS 

In  den  literarischen  Betätigungen  dieser  Zeit  wird  an  einem 
sehr  vieldeutigen  Begriff  ,, Dichter"  aus  einem  mißverstan- 
denen Traditionalismus  festgehalten,  mit  dem  sich  sowohl 
die  Produzenten  wie  die  Konsumenten  des  heute  Gedruckten 
ihr  harmloses  "Vergnügen  scheinbar  veredeln,  in  "Wahrheit 
aber  verekeln  und  verbittern.  Es  dürfte  diese  Zeit  seit 
1880  etwa  an  fünftausend  im  Schreiben  tätige  Deutsche 
das  Prädikat  Dichter  vergeben  haben;  jeder  wurde,  wenn 
auch  nicht  von  allen,  so  doch  von  einigen  einmal,  öfter 
oder  immer  ein  Dichter  genannt.  In  dieser  noch  nie  da- 
gewesenen Armee  von  Dichtern  mußte  der  Streit  über  die 
hierarchischen  Kompetenzen  ausbrechen;  es  gibt,  von 
, .schlechten"  Dichtem  abgesehn,  Chargen  aller  Art  vom 
,, echten",   ,, gottbegnadeten  Poeten"   an   bis  hinunter  zum 

164 


„üntcrhaltungsschriftstcller".  Zwischendurch  gibt  es  „mittel- 
mäßige", „verlogene"  und  so  weiter  Dichter,  gibt  es  „Lite- 
raten" und  gemeinhin  ,, Schriftsteller",  gibt  es  ,, Ästheten" 
und  ,, nichts  mit  dem  Leben  zu  tun  habende  Phantasten" 
und  so  weiter.  Etwas,  das  von  geringem  Gewicht  ist,  sucht 
sich  damit  Schwere  zu  geben,  daß  es  noch  Leichteres  als 
es  selber  ist  aufzeigt.  Ein  Gradunterschied  wird  als  "Wesens- 
unterschied behauptet.  Das  Surrogat  entschuldigt  sich  nicht 
mit  einem  andern  Surrogat  gleicher  Gattung,  sondern  ver- 
sucht das  andre  schlechthin  zu  entwerten,  weil  es  dadurch 
schon  das  Ächte  zu  werden  meint.  Die  wahre  innere  Zu- 
sammengehörigkeit, der  Treffpunkt  im  überhaupt  Leichten 
wird  nicht  zugegeben,  sondern  mit  distanzierender  Geste 
geleugnet,  wobei  das  Surrogat  „Unterhaltungsliteratur" 
nichts  gewinnt,  aber  das  andre  Surrogat,  das  es  nicht  sein 
will,  verliert.  Man  nimmt  hier  lieber  den  literarisch  zweifel- 
haften Ruf  der  Langweile  auf  sich,  wenn  man  damit  nur 
seine  Zugehörigkeit  zur  ,, Literatur"  behauptet,  als  daß 
man  mit  zugegebener  Unterhaltlichkeit  sich  in  eine  Gegend 
rangiert,  die  kulturell  und  gesellschaftlich  nicht  angesehn 
ist.  Man  kann  diese  krampfige  Geste  an  einer  Äußerlich- 
keit sehn:  die  Selbst-Bezeichnung ,, Dichter"  wird  von  diesen 
Dichtem  als  ridikül  abgelehnt  und  nur  bei  Jubiläen  hin- 
genommen; Literat  gilt  ihnen  als  hämisches  Schimpfwort; 
Schriftsteller  finden  sie  vom  Journalisten  entwertet,  mit 
dem  sie  nicht  verwechselt  werden  wollen.  Da  sie  mit  der 
Berufung  kokettieren,  fühlen  sie  sich  nicht  als  Beruf.  Da 
sie  nicht  stehn,  sondern  der  Nachfrage  unterliegen,  fühlen 
sie  sich  nicht  als  Stand.  Und  ihre  Lage  erkennen  sie  nur 
an  der  Auflage.  Mit  dem  Bemühn,  sich  in  einen  Wesens- 
gegensatz zur  Unterhaltungsliteratur  zu  stellen,  haben  diese 
Schriftsteller  in  ihre  Arbeiten  eine  aufgeregte  Unsicherheit 
und  in  das  harmlose  Leben  ihrer  Leser  eine  Unbehaglich- 
keit  gebracht,  wie  sie  der  Zwang  guter  Manieren  bei  jenen 
hervorruft,  die  ohne  Kinderstube  keine  erworben  haben. 
Der  Heraufgekommene,  der  nur  das  eine  Ziel  hat  und 
haben  kann:  wie  mehre  ich  meinen  Kapitalbesitz  und  den 

165 


damit  verbundenen  Einfluß,  läßt  sich  das  kultiviertere  Leben, 
das  ihm  als  das  ihm  zukommende  eingeredet  wird,  sauer 
werden,  aber  nicht  lange.  Der  Kaufmann,  der  Fabrikant, 
der  Unternehmer,  sie  lassen  sich  den  Anspruch  jener  Lite- 
ratur auf  Dichtung  gefallen  und  begeben  sich,  beredet  von 
einer  Presse,  einer  schöngeistigen  Gattin,  einer  dichtenden 
Tochter  seufzend  in  das  Unbequeme,  vor  dem  Eintritt  in 
diese  Romane  und  Stücke  gewissermaßen  ihre  Schuhe  aus- 
zuziehen und  kunstrituelle  Waschungen  vorzunehmen;  sie 
nehmen  das  Kreuz  der  Vornehmheit  auch  in  htteris  auf 
sich,  denn  sie  sind,  wie  sonst  auch  hier,  im  Voraus  ein- 
gestellt auf  eine  Anstrengung,  die  sich  nicht  ,, lohnt",  die 
ihnen  eigentlich  nicht  zukommt  und  die  sie  —  ihren  Geist 
in  einer  ganz  andern  und  ihnen  respektablem,  nämlich  ihr 
eines  Ziel  fördernden  Praxis  betätigend  —  nicht  im  Min-  ,; 
desten  einsehn.  Da  der  Bürger  aus  seiner  eindimensionalen  r| 
Welt  die  Bedingungen  der  Dichtung  nicht  stellt,  ist  die 
Dichtung  nicht  nur  seiner  Zeit  nicht  für  ihn  vorhanden, 
sondern  alle  Dichtung  überhaupt  wird  ihm  zu  einem  Frem- 
den. Bei  dem,  was  er  als  die  heutige,  als  sozusagen  seine 
Dichtung  vorgeführt  erhält,  kommt  ihm  alsbald  eine  ver- 
blüffende Erkenntnis:  daß  was  er  hier  als  Literatur  liest 
um  nichts  besser  ist  als  das  Ullsteinbuch,  nur  zeitrauben- 
der, weniger  amüsant,  umständlicher,  psychologisch  be- 
lasteter und  anspruchsvoller.  Andre  Unterschiede,  die  wie 
die  größere  Finesse  der  Bildung  zu  Gunsten  dieser  Lite- 
ratur ausschlagen,  kann  er  nicht  sehn,  ja  er  findet  oft  bei 
genauem  Zusehn,  daß  in  dieser  Literatur,  die  mit  dem 
dokumentarischen  Anspruch  des  ,,Stimmens"  auftritt,  vieles 
nicht  stimmt,  daß  zum  Beispiel  eine  Banktransaktion  ohne 
jede  Kenntnis,  die  Maschinerie  eines  Ozeandampfers  ganz 
falsch  und  der  Seelenzustand  eines  von  seiner  Frau  hinter- 
gangenen  Fabrikdirektors  unwahr  beschrieben  sind,  auf 
welche  ,, Richtigkeit"  das  Unterhaltungsbuch  sans  phrasc 
von  vornherein  verzichtet  und  nichts  sonst  will  als  das 
durchaus  Unwahrscheinliche,  ja  reaUter  Unwahre,  —  fast 
könnte  man  sagen  das  Ästhetenhafte.  Die  Abneigung,  die 

166 


der  männliche  Bourgeois-Leser  nach  seinen  Erfahrungen 
damit  gegen  das  bekommt,  was  sich  ihm  heute  mit  hoch- 
gezogenen Brauen  als  Literatur  vorstellt  und  als  souveräne 
Weiterführung  der  dichterischen  Tradition,  —  diese  Ab- 
neigung überträgt  er,  gefördert  von  seiner  artbedingten 
Unproduktivität  geistiger  "Werte  überhaupt,  auf  alle  Dich- 
tung überhaupt:  die  ablehnende  Meinung,  die  er  aus  der 
Literattu-  Sudermann  und  Wassermann  gewann,  hat  er  auch 
für  die  Literatur  Flaubert,  die  ihm  ,, dasselbe"  wird,  und 
er  detestiert  Homer  wie  Spitteler,  weil  dieser  den  Homer, 
sich  von  ihm  herleitend,  zur  Literatur  macht.  Man  kann 
sagen,  daß  die  heutige  Literatur  mit  ihrem  Anspruch  auf 
dichterische  Geltung  dem  männUchen  Teile  der  heute  re- 
präsentierenden Klasse  alle  Dichtung  entwertet  hat  da- 
durch, daß  sie  sich  ein  Surrogat  seiend  für  das  Ächte 
ausgab,  weil  es  noch  minderwertigere  Surrogate  gibt.  Es 
vollzog  sich  in  der  Literatur  der  Neugekommenen,  was 
auch  in  ihnen  sonst:  sie  wollen  nicht  als  Leute  von  heute 
erscheinen,  wo  doch  das  ganze  Heute  von  ihnen  repräsen- 
tiert wird;  also  geben  sie  sich  Ahnen,  wenn  sie  deren 
Bildnisse  auch  ntir  an  die  Hausfassade  hängen,  denn  innen 
ist  für  das  riesige  Aufgebot  von  Vorderen,  das  heute  ge- 
trieben wird,  gar  kein  Platz.  Auch  wäre  mit  ihnen  zu  le- 
ben oder  ihnen  gar  nachzuleben  eine  Bürde,  deren  Ver- 
pflichtung und  Verantwortung  sie  gar  nicht  ertrügen,  auch 
dann  nicht,  wenn  sich  die  usurpierten  Ahnen  auf  die 
Menage  einließen.  Die  Literatur  der  Neugekommenen  macht 
als  deren  Diener  die  gleiche  Bewegung  mit:  sie  sucht  ihre 
Ennoblierung  durch  einen  Traditionalismus  zu  erreichen, 
um  sich  durch  ihn  im  Ganzen  koordiniert  zu  datieren; 
mehr  naiv  als  insolent  hantiert  sie  mit  dem  überlieferten 
dichterischen  Gut,  das  die  Gewerbe-  und  andern  Freiheiten 
auf  die  Gasse  gestellt  haben  zum  Gebrauch  für  jedermann, 
der  ein  Talent  hat,  denn  die  Kunst  ist  zu  nichts  als  einer 
Talent-Frage  geworden.  Die  heutige  bürgerliche  Literatur 
tut  Unrecht  gegen  sich,  wenn  sie  sich  die  neuere  Literatur 
nennt  und  damit  Maßstäbe  für  sich  und  ihre  gleich  ge- 

167 


sinnte  Kritik  provoziert,  an  denen  sie  nimmer  zu  messen 
ist.  Unrecht,  denn  sie  fälscht  damit  die  einzige  Bedeutung, 
die  sie  überhaupt  haben  kann:  nichts  als  ein  zeitliches 
Dokument  zu  sein.  Sie  kann  sich  die  neue  Literatur  nennen 
und  sich  dessen  bewußt  werden,  daß  sie  ihresgleichen  in 
den  Zeiten  nie  hatte,  aus  deren  Kunst  sie  nur  das  sekundär- 
formale Convenü  entlehnt  und  solange  entlehnen  muß,  als 
sie  sich  noch,  über  ihr  eigentliches  Wesen  im  Irrtum,  der 
alten  Dichtung  blutsverwandter  Erbe  und  direkter  Nach- 
komme glaubt,  deren  Ausdruck  sie  zu  sekundär  gemachten 
Formmitteln  mißbrauchen  muß  —  ,,Form"  und  ,, Inhalt", 
dieses  Untrennbare  trennend  —  weil  sie  keinem  Kultur- 
kreis entwachsend  wohl  als  ein  Zeitelement  da  ist,  aber 
als  vermeinte  Dichtung  sich  selber  mißversteht  zusamt  den 
Begriffen  der  Dichtung  und  des  Dichters. 
Es  zeichnet  das  dieser  Zeit  gemäße  und  von  ihr  gebilligte 
Verhalten  zu  dem  ihr  fremden,  weil  nicht  in  ihr  bereitungs- 
möglichen Dichterischen  aus,  daß  es  wählend  ist,  wo  man 
nur  schöpferisch  oder  überhaupt  nicht  sein  kann.  Und 
dieses  wählende  Verhalten  ist  nicht  einmal  eklektisch,  da 
CS  sich  nicht  für  eine  der  zu  wählenden  Formen  entscheidet, 
sondern  für  keine  und  alle  Formen,  da  nur  Mode  die 
Wahl  trifft  und  nicht  die  geringste  innere  Verwandtschaft 
zu  irgend  einer  der  historisch  gegebenen  Formen.  Ja  manch- 
mal glaubt  diese  Zeit,  als  ein  rechter  Münchhausen,  der 
sich  am  eignen  Schopf  aus  dem  Sumpf  zieht,  daß  sie 
gerade  im  Formlosen  ihre  spezifische  Form  gefunden  habe. 
Oder  sie  erklärt,  sehr  konsequent,  das  Materiale  schon  für 
das  Geistige,  womit  sie  auf  den  Geist  verzichtet,  den  sie 
nicht  besitzt,  und  sagt,  sie  wolle  ihn  auch  gar  nicht  und 
gerade  dies  sei  ihr  ,, Geist";  so  gebiert  sie  was  sie  ganz 
von  außen  sehend  einen  ,,Stir'  nennt  aus  den  GuEformen 
des  Beton  in  Bauten  oder  aus  den  plastischen  Hinterteil- 
formen des  Sitzenden  in  Stühlen:  in  dieser  auf  jede  vom 
Geiste  hergebrachten  Änderung  verzichtenden  Material- 
betonung drückte  sich  diese  Zeit  nicht  aus,  sondern  sie 
ist  es  glatterdings. 

168 


Es  muß  durch  eine  Zwischenbemerkung  mögliche  Ver- 
stimmung einiger  Leser  aufzuheben  versucht  werden,  denn 
sie  könnten  das  eine  oder  aadre  Wort  als  ein  mit  nichts 
als  affektiver  Betonung  gegen  sich  gerichtetes  halten  und 
entsprechend  darauf  reagieren:  verstimmt,  unwillig,  geärgert 
oder  bösartig  das  Schreiben  als  ein  Rationalisieren  auch 
des  Affektiven  verkennen.  So  wenig  wie  den  einzelnen 
Menschen  eine  negative  Beziehung  zur  Kunst  diesen  schon 
zu  einem  Menschen  mindern  Wertes  macht,  ebenso  wenig 
wird  auch  der  gesamten  heutigen  Gesellschaft  die  Tat- 
sache, daß  sie  die  Voraussetzungen  zur  Dichtung  nicht 
schafft,  als  ein  Vorwurf  gesagt,  sondern  nur  und  nichts 
als  eine  Tatsache  konstatiert  und  über  ihren  Wert  oder 
Unwert  nichts  ausgemacht,  dadurch  allein  noch  nichts  aus- 
gemacht. Und  daß  sich  diese  Zeit,  im  Erinnern  befangen 
und  ihrer  sehr  engen  Determination  zu  entrinnen  suchend, 
ihre  gedruckten  und  gelesnen  Dinge  als  Dichtwerke  einzu- 
reden bemüht  —  wie  sie  auch  alle  ihre  naturwissenschaft- 
lichen Erkenntnisse,  Erfindungen  und  Findungen  als  Werte 
geistiger  Art  anspricht,  —  dies  ist  zu  menschlich,  als  daß 
irgend  kleinster  Spott  darüber  geschmackvoll  wäre,  so 
grauslich  diese  Erscheinung  auch  im  Einzelnen  sich  äußern 
mag  und  als  lebenzerstörend  von  uns  erkannt  wird.  Es 
liegt  ganz  ferne,  aufzustellen,  daß  keine  Dichtung  zu  haben 
den  Unwert  einer  Zeit  entscheide.  Es  ist  ja  durchaus  denk- 
bar nicht  nur,  sondern  wie  wir  wissen  möglich,  daß  eine  Zeit 
die  Kräfte,  die  als  Dichtung  nicht  zum  Vorschein  kommen, 
anderswie  äußert,  und  was  dort  Kraft  wäre,  kann  in  dem 
andern  auch  nur  Kraft  sein.  Wir  denken  etwa  an  die 
ersten  Jahrhundertc  der  Christenheit,  die  voll  größten  Lebens 
und  innerhalb  der  Christenheit  so  gut  wie  ohne  Dichter 
waren.  Wir  vermeinen  den  Dichter,  den  Künstler  durch- 
aus nicht  als  die  Spitze  der  Pyramide,  um  derentwillen 
der  ganze  Bau  menschlichen  Lebens  errichtet  wird.  Der 
heldische  Mensch,  der  heilige  Mensch,  der  denkende  Mensch 
stehn  dem  Künstler  als  Höchstleistung  der  menschlichen 
Gattung  mindest  zur  Seite,  —  alle  sich  gleichbar  in  dem 

169 


Einen,  auf  das  alles  menschliche  Tun  nur  bezogen  werden 
kann:  im  Ethos,  dessen  Erscheinungsform  sich  nur  wan- 
delt im  dichterischen,  heiligen,  heldischen  und  denkenden 
Menschen.  Nur  konstatiert,  nicht  vorgeworfen  wird  den 
führenden  Klassen  dieser  Zeit  und  den  Trägem  ihrer  so- 
genannten Ideale,  daß  sie  die  Voraussetzungen  ihres  Dich- 
ters positiv  nicht  zu  schaffen  imstande  sind  und  sie  ihrem 
Wesen  nach  gar  nicht  enthalten  können;  daß  sie  sich  die 
Surrogate  als  das  ächte  einzureden  versuchen;  und  daß 
den  Dichter  nicht  zu  haben  eine  Zeit  durchaus  nicht  schon 
als  eine  im  Vergleiche  mit  andern  Zeiten  minderwertige 
charakterisiert.  Und  doch  wird  ein  Rest  der  Verstimmung 
nicht  zu  beheben  sein,  denn  ihn  wird  diese  Zeit  immer 
über  sich  selbst  empfinden,  wenn  sie  nicht  mit  Gewalt  ihr 
Gewissen  betäubt  und  die  Minute  im  Tage  nicht  flieht, 
wo  sie  sich,  mit  ihrem  Gewissen  allein,  ins  eigne  Antlitz 
sehn  kann  und  schaudernd  kaum  mehr  ein  menschliches 
Gesicht  erblickt,  sondern  eine  zerworfenc  Grimasse. 
Die  Zwischenbemerkung,  getan  um  den  Leser  an  die  Sach- 
lichkeit unseres  nichts  als  rational  bestimmten  Wollens 
ausdrücklich  und  um  seinetwillen  zn  erinnern,  ist  geschlos- 
sen und  stellt  vor  die  zu  beantwortenden  Fragen:  warum 
soll  diese  zeittragende  und  repräsentierende  Gesellschaft 
außerstande  sein,  die  Bedingungen  der  Dichtung  als  kul- 
tureller Äußerung  in  sich  zu  erzeugen  oder  zu  enthalten? 
Zu  enthalten,  weil  die  Gesellschaft  behaupten  könnte,  sie 
enthielte  sie  schon,  nur  fehle  es  an  den  dichterischen  Per- 
sonen. Und  die  andere  Frage:  zugegeben,  diese  Zeit  er- 
möglicht den  Dichter,  ihren  Dichter  nicht,  —  schafft  die 
so  für  andres  frei  werdende  gleiche  Kraft  nicht  ein  dem 
Dichter  in- dem  einzig  bezüglichen  Bereiche,  dem  ethischen 
Bereiche,  Gleichwertiges,  weil  die  gleiche  produzierte  Kraft- 
menge enthaltend? 

Ernst  gefragt  und  ernst  besprochen,  unter  Männern  und 
nicht  unter  schöngeistig  schwärmenden  Frauen,  wird  von 
jenen  rasch  zugegeben  werden,  daß  alle  diese  in  den  Ga- 
zetten und  Salons  und  Theatern  genannten  und  gerühmten 

170 


Dichter  keine  Dichter  sind,  auch  nicht  kleinere  oder  minder- 
begabtere als  Hölderlin,  sondern  überhaupt  keine  und  nichts 
weiter  seien  als  eine  Weile  mehr  oder  minder  unterhaltende 
Leute  im  schöngeistigen  Fache,  was  aus  der  "Wirkung  auf 
das  weibliche  Wesen  und  dessen  hohe  Selbsteinschätzung 
begreiflich,  aber  gar  nicht  irgendwas  oder  -wen  ernsthaft 
verpflichtend  wäre,  ,,Aber  natürlich",  hört  man,  ,,was  ist 
das  neben  Bismarck,  Zeppelin,  Edison,  Pierpont  Morgan, 
Hindenburg!  Die  Knochen  des  kleinsten  Industrie- Chemi- 
kers sind  mehr  wert  als  ..."  Anstrengung  und  Leistung 
dieser  bürgerlichen  Dichterei  sind  ein  vom  betont  Ernst- 
haften dieser  Zeit,  dem  Fabrikanten,  Kaufmann,  Ingenieur, 
Bankier  rasch  überschautes  sehr  bescheiden  eingeschätztes 
Quäle  und  eine  Quantite  negligeable  an  den  ,, wirklichen 
Werten"  dieser  Zeit  gemessen,  die  für  Frauen  und  Un- 
mündige zu  garnieren  eben  diese  Literatixr  da  sei.  Die 
repräsentativen  Männer  dieser  Zeit  wissen  mit  ihr  nichts 
andres  anzufangen  als  sie  zu  verachten  und  ihr  nur  dann 
einige  Aufmerksamkeit  zu  schenken,  wenn  sie  sich  in  die 
ihnen  allein  gültige  "Wertkategorie  begibt:  die  des  zahlen- 
mäßig ausgedrückten  Gewinnes,  Hohe  Einkünfte  aus  lite- 
rarischer Tätigkeit  haben  dem  ernsthaften  Manne  dieser 
Zeit  einigen  Respekt  vor  dem  Schreib wesen  abgenötigt; 
der  kurante  Nenner  Bankdepot  gab  dem  Stande  in  der 
bürgerlichen  Welt  einiges  Ansehn.  Aber  es  könnte  die 
bürgerliche  Literatur  dagegen  sagen,  daß  Aneignung  oder 
Ablehnung,  hohe  oder  geringe  Löhnung  ihrer  Hervorbrin- 
gungen durch  den  bürgerlichen  Menschen  nichts  gegen  den 
dichterischen  Charakter  beweise,  da  das  Verhalten  einer 
Zeit  zu  ihren  Werten,  wie  die  Geschichte  der  Wertgel- 
tungen zeige,  nicht  endgültig  entscheide.  Doch  wäre  dieser 
Einwand  auch  dann  nicht  stichhaltig,  wenn  die  Schillersche 
Formel  von  der  richtenden  Weltgeschichte  richtig  wäre, 
denn  es  drückt  sich  in  der  Stellung  des  bürgerlichen  Men- 
schen zu  seiner  Literatur  auch  noch  ein  andres  als  bloß 
kritisches  Verhalten  aus,  nämlich  eben  das,  was  im  tiefern 
Grunde  allein  hier  in  Frage  steht:  ob  diese  Zeit  überhaupt 

171 


die  Vorbedingungen  ausbildet  für  jene  "Werte,  die  sich  in 
einer  Dichtung  manifestieren.  Wir  notieren  diese  Art,  wie 
man  sich  mit  dem  in  litteris  Erzeugten  abfindet,  nur  als 
einen  Oberflächenreflex  der  innern  wert  produktiven  Fremd- 
heit und  Unfähigkeit  dieser  Zeit,  deren  wirklich  vorhan- 
dene Dichtung  nicht  aus  ihren  Trägern,  nicht  mit  ihrer 
Welt,  sondern  gegen  sie  zustande  kommt,  und  deren  ein- 
zige Beziehung  zu  dieser  Zeit  negativ  ist,  nämlich  Ableh- 
nung, woran  nichts  ändert,  daß  Einzelnes  dieser  Dichtung 
eine  Art  Aneignung  durch  den  Bürger  erfährt,  weil  er  dieses 
Einzelne  mißversteht  wie  Meredith  oder  Dostojewski,  die 
er  wesentlich  in  der  ,, Psychologie"  vermutet.  Er  wird  diese 
Aneignung  aus  Irrtum  auch  immer  gleich  damit  einschrän- 
ken, daß  er  das  Genannte  ,, übertrieben"  findet  —  welche 
, .Übertriebenheit"  eben  das  dichterische  ist  —  also  etwa: 
Strindberg  ist  dasselbe  wie  Ibsen,  nur  , .krankhaft",  und 
Zola  ist  der  , .Fortsetzer"  Flauberts.  Von  der  andern  Seite 
her  ist  dann  Ernst  Hardt  dasselbe  wie  Hofmannsthal,  nur 
,, weniger  ästhetcnhaft",  oder  Wildgans  dasselbe  wie  George, 
nur  ,, lebensnäher",  und  so  weiter.  Daß  das  kritische  Ver- 
halten des  kapitalistischen  Menschen  zu  der  Dichtung  nicht 
nur  dieser  Zeit,  sondern  zu  der  jeder  Zeit  durchaus  die 
Wertmaßstäbe  aus  dem  gewinnt,  was  die  heutige  bürger- 
liche Unterhaltungsliteratur  aller  Grade  konstituiert,  davon 
kann  sich  der  Zweifler  aus  den  deutschen  Literaturgeschich- 
ten der  letzten  vierzig  Jahre  überzeugen:  keinen  dichte- 
rischen Wert  irgend  einer  Zeit  vermag  eine  nicht  Werte, 
sondern  nur  Nutzformen  ausbildende  Gesellschaft  anders 
sich  einzuordnen  als  durch  Aufhebung  des  spezifisch  dichte- 
rischen "Wertcharakters  und  durch  Substituierung  eines  der 
Dichtung  als  einem  ästhetischen  Phänomen  fremden  Be- 
griffekomplexes aus  biologischen,  naturwissenschaftlichen, 
sozialen,  biographischen  Elementen  mit  beiläufigem  ästhe- 
tisch-philologischem Aufputz  zur  Rettung  der  „Wissen- 
schaftlichkeit". Die  intensivste  Anstrengung  des  bürger- 
lichen Geistes  dieser  letzten  Jahrzehnte  bringt  die  Vor- 
stellung des  Bildungsdichters  zustande,  und  sie  macht  da- 

172 


mit  die  tragische  Not  des  deutschen  Dichters  seit  Goethe, 
von  keiner  kulturellen  Bildung  des  Volkes  getragen  und 
gehalten  zu  sein,  zu  einer  Tugend.  Vergißt,  daß  diese  Not 
Hölderlin  in  den  Wahnsinn  trieb,  und  ahnt  nicht,  was  es 
den  Dichter  Goethe  kostete,  aus  sich  selber  die  nicht  in 
seinem  Volke  gegebenen  Bedingungen  des  dichterischen 
Seins  wenigstens  für  eine  Zeitspanne  zu  schaffen.  Noch 
ein-  und  zum  letztenmal  seitdem  versuchten  dies  die  deut- 
schen Romantiker,  nicht  mit  den  Mitteln  der  Bildung,  son- 
dern dem  der  religiös-politischen  Bindung.  Auch  ihre  An- 
strengung mußte  versagen  wie  jene  dünne  Bildungsschicht 
sich  verbrauchen,  die  in  "Weimar  hergestellt  worden  war, 
—  es  blieben  von  Beiden  nur  die  historischen  Begriffe, 
die  ein  lebendiger  Inhalt  nicht  mehr  füllt:  Klassik-Ro- 
mantik. 

Im  Epigonentum  manifestierten  sich  nicht  Dichter  mit  nur 
„geringerer  Begabung"  als  die  Dichter,  die  sie  nachbildeten, 
sondern  eben  diese  vom  Leben  dieser  Epigonen  abgetrennte 
Begabung  —  das  Talent  —  wurde  als  dekorative  Literatur 
manifest  und  tauschte  sich  diese  für  den  Begriff  der  Dich- 
tung ein.  In  dem  Jahre,  da  eine  sprachtaub  gewordene 
Philologie,  die  Wilhelm  von  Humboldt  nicht  zum  Meister 
hat,  den  West- östlichen  Diwan  in  ihre  banausischen  Modi 
brachte,  feierte  ein  im  Kriege  siegreiches  Geschlecht  den 
schalen  Witz  eines  ,,Mirza  Schaffi"  als  Dichtung,  schrieb 
Vischer,  der  dickbäuchige  Ästhetiker,  unter  dem  Beifall 
der  Gebildeten  eine  Parodie  auf  den  Faust,  und  gründete 
sich  das  Reich,  womit  die  klein-kapitalistische  Periode  der 
Bourgeoisie  sich  schloß.  Was  nach  der  Reichsgründung 
noch  vom  dekorativen  Epigonismus  hervorgebracht  wurde, 
erlebte  schon  Widerspruch  und  Ablehnung,  die  sich  bis 
zu  jener  ,, Revolution  in  der  Literatur"  verdichteten,  welche 
für  das  ,,neue  Deutschland"  eine  neue,  die  ,, veränderten 
Lebens-  und  Zeitumstände  wiederspiegelnde  Literatur"  ver- 
langte, womit  nicht  die  Einsetzung  des  Dichters  gefordert 
wurde,  sondern  eine  Änderung  im  Nachzuahmenden.  Aber 
bei    dem    epigonischen    Nachahmen    blieb    man    durchaus. 

173 


Nicht  mehr  die  frühere  Dichtung  sei  nachzuahmen,  sondern 
—  das  Leben.  In  dem  Maß  als  dieses  neue  Leben  sich 
als  kapitalistische  Lebensweise  determinierte  und  seine 
Sicherungen  ausbildete,  die  es  als  das  Leben  schlechthin 
erscheinen  ließen,  anders  weder  denkbar  noch  wünschbar, 
im  selben  Maße  gewann  die  Revolution  in  der  Literatur 
das  Terrain  und  hatte  von  dem  Augenblick  an  völlig  ge- 
siegt, wo  sie  sich  in  die  ausgebildete  bürgerliche  "Welt  inte- 
grierte, die  nun,  wie  für  alle  andern  Kulturdinge,  die  sie 
nicht  schaffen  konnte,  eine  Pauschalsumme  für  die  Her- 
stellung ihrer  Literatur  auswarf.  Die  anfänglichen,  aus  der 
klein-kapitalistischen,  vom  Epigonentum  gebildeten  Ideo- 
logie stammenden  Vorurteile  gegen  die  ,,neue  Literatur" 
verschwanden  —  wie  die  gegen  Darwin,  Sozialismus,  Zola, 
Böcklin,  Wagner  —  und  vergingen  in  dem  Maße,  als  sich 
das  Bürgertum  in  seine  hochkapitalistische  Form  einlebte 
und  sich  in  ihr  sozusagen  vermenschlichte:  von  dem  Mo- 
mente ab  erkannte  es  die  neue  Literatur  als  seine  Lite- 
ratur, was  sie  von  Anfang  an  gewesen  war.  Die  führende 
Klasse  hat  nicht  immer  und  gleich  den  Mut  zu  ihrem  Ab- 
bild —  nicht  weil  sie  in  ihre  Literatur  Zweifel  setzt,  son- 
dern in  sich  selber  Zweifel  hat.  Nur  dieser  anfänglich  oft 
mangelnde  Mut  erklärt  so  unbegreifliche  Gegnerschaften, 
wie  man  sie  erst  gegen  Ibsen  hatte,  bis  man  sich  auch  in 
ihm  ungefährdet  erkannte  und  dann  auch  gleich  mit  Stolz 
als  ,, gedichtet"  erkannte. 

Bewegungen  innerhalb  der  bürgerlichen  Literatur  wie  die 
angeblichen  Gegensätze  Naturalismus  -  Symbolismus  oder 
Heimatkunst-Stilkunst  und  wie  diese  Streitfälle  alle  heißen 
mögen,  in  denen  sich  manchmal  so  etwas  wie  ein  dumpfes 
Gefühl  äußerte,  daß  uns  die  Flucht  aus  dem  Bann- 
kreis des  bürgerlichen  Geistes  Rettung  aus  der  Literatur- 
Existenz  bringe  — ,  diesen  Bewegungen  im  Einzelnen  zu 
folgen  erübrigt  sich,  da  nur  das  Wesentliche  hier  zur  Ent- 
scheidung steht.  Wie  auch  immer  Geste  und  Ton  gewählt 
wird,  dem  Bürger  die  gegenwärtigen  Sehenswürdigkeiten 
in  seinem  Leben  abzuspiegeln  und  zu  deuten,  mit  welchem 

174 


Aufwand  auch  immer  'Wcchselfälle  und  Zufälle  dieses  bür- 
gerlichen Lebens  als  „menschliche  Probleme"  angesprochen 
werden:  das  Hin  und  Her,  Frage  und  Antwort,  Aufgabe 
und  Lösung  bleiben  Zeitbild  und  müssen  es  bleiben,  denn 
ein  "Weltbild  konstituiert  sich  nur  aus  Werten,  als  welche 
der  kapitalistische  Geist  nicht  hervorbringt,  wenn  er  auch 
seine  naturwissenschaftlichen  Methoden  als  Gesetze  im 
"Wertsinne  mißversteht  und  behauptet.  Er  drückt  darin  nur 
seine  Form  des  Hinlebens  aus,  aber  nicht  das  Leben.  Darum 
sagten  wir  in  einer  andern  Schrift,  daß  was  man  die  moderne 
Literatur  nennt  in  der  Definition  des  bürgerlichen  Men- 
schen dieser  Zeit  enthalten  sei  und  ein  andrer  als  ein 
soziologischer  Zugang  zu  ihr  nicht  bestünde,  wenn  man 
ihrem  Wesen  gerecht  werden  wolle  und  von  ihr  nicht  Et- 
was verlange,  was  sie  sich  selber  vielleicht  imaginiert,  aber 
was  sie  nicht  ist :  Dichtung.  Die  kapitalistische  "Welt  kann 
eine  Literatur,  aber  sie  kann  keine  Dichtung  haben.  Die 
Gradunterschiede  innerhalb  dieser  Literatur  werden  von 
uns  ohne  weiteres  zugegeben,  aber  die  "Wesensgleichheit  be- 
tont: sie  ist  eines  Geistes. 

Um  die  Überzeugung  des  Bourgeois,  daß  er  eine  im  Be- 
griff der  Dichtung  enthaltene  und  von  diesem  Begriff  de- 
finierte Literatur  in  dem  habe,  was  er  seine  ,, moderne 
Literatur"  nennt,  —  um  diese  von  Erzeugern  wie  "Ver- 
brauchern dieser  Literatur  geteilte  Überzeugung  zu  schwä- 
chen und  damit  das  ,,gute  Gewissen  des  Kapitalismus" 
auch  von  dieser  Seite  aus  unsicher  zu  machen,  ist  fest- 
gestellt worden,  daß  der  kapitalistische  Geist  seiner  for- 
malen Struktur  und  den  Kategorien  seiner  Werte  nach  gar 
nicht  fähig  ist,  etwas  anderes  als  ein  im  Umkreis  seines 
Hinlebens  sich  begebendes  Schrifttum  hervorzubringen,  das 
bei  allen  scheinbaren  "Verschiedenheiten  untereinander  we- 
sentlich dasselbe  und  nicht  besser  als  mit  dem  Worte 
Unterhaltungsliteratur  zu  bezeichnen  ist,  weil  es  am  deut- 
lichsten die  zeitliche  Hinfälligkeit  und  die  ethische  Gleich- 
gültigkeit ausdrückt  im  Gegensatz  zu  den  sittlichen  und 
ewigen  Werten    der  Kunst,    die    immer  auf  ein  Weltbild 

175 


orientiert  ist.  Wie  der  kapitalistische  Mensch  —  das  heißt 
der  Vital -Typus,  der  sich  sowohl  im  ,,  Kapitalisten"  wie 
„klassenbewußten  Proletarier"  inkarniert  —  seine  immer 
umfangreicher  werdenden  Gesetzbücher  für  „besser",  weil 
„fortgeschrittner",  hält  als  das  ehmalige  ,,auf  Treu  und 
Glauben"  der  Gemeinschaft;  wie  er  die  staatliche  oder 
vereinliche  Ablösung  der  Nächstenliebe  für  eine  bessere 
Praxis  dieser  Tugend  hält  und  die  Naturwissenschaften 
für  ,,dic  moderne  Philosophie";  wie  er  sich  mit  allen  sei- 
nen modernen  Neuerungen  nicht  nur  nicht  als  Antagon 
des  Alten,  sondern  als  dessen  Besserer  und  Vollender 
glaubt:  so  erscheint  ihm  auch  in  den  von  ihm  beigestellten 
Künsten  die  Kunst  schlechthin  zu  mindest  weitergeführt 
und  auf  die  Höhe  seines  sonstigen  Fortschritts  gebracht; 
er  gibt  höchstens  zu,  daß  die  großen  den  ehmaligen  Künst- 
lern ebenbürtigen  Talente  heute  noch  nicht  da  seien,  nicht 
aber,  daß  sie  gar  nicht  da  sein  können;  er  erwartet  sie 
vielmehr  sicher  und  seiner  Größe  entsprechend.  Diesen 
naiven  Glauben  zu  widerlegen  und  das  gute  Gewissen  des 
kapitalistischen  Menschen  zu  erschüttern  war  das  einzige 
positiv  kritische  Bemühen  der  letzten  zwei  Jahrzehnte: 
Dilthey,  Tönnies,  Tröltsch,  Scheler,  Max  Weber,  Sombart, 
Rathenau,  Croce,  Chesterton  waren,  um  nur  einige  der 
älteren  Generationen  zu  nennen,  solche  Kritiker,  und  posi- 
tiv war  ihre  Kritik,  da  sie  den  Typus  des  kapitalistischen 
Menschen  feststellte  nicht  als  den  Effekt  eines  besondern 
wirtschaftlichen  Systems,  wie  dies  die  ganz  im  kapitali- 
stischen Geiste  geübte  sozialistische  Kritik  tut,  sondern  als 
dessen  Erreger,  Träger  und  Verbreiter.  Die  sozialistische 
Kritik  vollzieht  sich  durchaus  innerhalb,  nicht  wie  sie 
meint  außerhalb  des  kapitalistischen  Geistes  und  sie  ist  im 
angegebnen  positiv  kritischen  Sinne  ebensowenig  gegen  den 
kapitalistischen  Typus,  in  dem  sie  selber  aufgeht,  wie  die 
moderne  ,, soziale  Dichtung"  von  Hauptmann,  Ibsen  oder 
Gorki  gegen  ihn  ist.  Alle  heute  positive  Kritik  kann  nur 
und  nichts  als  den  kapitalistischen  Geist,  der  des  Men- 
schen ist,   zum  Objekt  haben,  von  einem  andern   Geiste 

176 


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her,  der  ebenfalls  des  Menschen  ist.  "Wer  in  der  Folge 
die  Ursache  sieht,  den  Menschen  als  Folge  seiner  Wirt- 
schaft, der  wird  kritisierend  Wirtschaft  gegen  Wirtschaft 
setzen  und  sich  damit  ganz  im  Gleise  des  kapitalistischen 
Geistes  bewegen,  so  staatssozialistisch  er  auch  ist  oder  so 
revolutionär  er  sich  auch  dünkt.  So  wie  die  Sozialgesetz- 
gebung Funktion  des  Kapitalismus  ist,  den  sie  in  seinem 
Geiste  nicht  nur  nicht  aufhebt,  sondern  festigt,  genau  so 
festigt  der  Literat  mit  ,, radikaler"  Einstellung  den  kapita- 
listischen Geist,  indem  er  dessen  ,, übelste  Begleiterschei- 
nungen und  Auswüchse"  satirisiert  und  lächerHch  macht. 
Beides,  die  Satire  und  die  Sozialgesetzgebung,  hat  einen 
Nutzwert  innerhalb  der  kapitalistischen  Welt  und  nur  da, 
nicht  und  nirgends  sonst:  jene  Gesetzgebung  hebt  den  Geist 
nicht  auf,  sondern  nützt  ihm,  jene  Satire  ist  sozialer  Nutz- 
wert, aber  nicht  Dichtung,  das  heiit  menschlicher  Wert. 
Die  Tatsache  der  erwähnten  positiven  Kritik  am  kapita- 
listischen Geiste  zwingt  zur  Annahme  einer  geistigen  Posi- 
tion, die  in  dieser  Zeit  vorhanden  ist,  aber  außerhalb  des 
herrschenden  Geistes  dieser  Zeit  ihre  Wertinhalte  aus  einem 
Kulturbegriff  bekommt,  der  mit  dem  kurrenten  bürgerlichen 
Kulturbegriff  nichts  gemein  hat  und  mit  dem  er  nur  durch 
die  negative  Ablehnung  verbunden  ist;  was  nicht  hei&t, 
daß  er  aus  dieser  negativen  Ablehnung  erwüchse,  denn  die 
bloße  Negation  ist  zu  einer  positiven  Bildung  nicht  zurei- 
chend. Aus  diesem  dem  herrschenden  ,, Geiste"  fremden 
Geiste  dieser  Kritik,  aus  dieser  andern  als  kapitalistisch- 
sozialistischen Ethik  müssen  wir  die  Speisung  auch  der 
andern  immanenten  menschlichen  Energien  annehmen,  w^ie 
solche  jene  kritischen  sind.  Da  wir  als  eine  solche  mensch- 
liche Energie  das  Kunstwollen  kennen  und  dieses  sich  in 
den  verfallenden  Schein gebilden  der  bürgerlichen  Literatur 
als  ethische  Energie  nicht  manifestieren  kann,  müssen  wir 
ihre  Entfaltung  von  jenem  Punkte  ausgehend  suchen,  von 
dem  aus  das  Ganze  der  bürgerlichen  Welt  kritisches  Ob- 
jekt ist,  und  müssen  die  Energie  des  Kunstwollens  aus 
einem  Ethos  gespeist  annehmen,  das  nicht  jenes  des  bür- 

12  177 


gerlichen  Typus  ist.  Dies  wird  in  allen  Graden  von  Intention 
bis  zu  Gelingen  das  Wesen  einer  Kunst  dieser  Zeit  cha- 
rakterisieren: daj&  sie  nicht  kapitalistischen  Geistes  ist  und 
mit  ihm  nur,  wenn  überhaupt,  durch  die  bewuüte  oder 
naive  gänzliche  Ablehnung  zusammenhängt.  Um  es  an  Be- 
kanntem zu  explizieren:  der  ,, reaktionäre"  Dostojewski, 
dem  sich  der  Westen  als  der  bürgerliche  Geist  darstellen 
muB,  den  er  als  Ganzes  ablehnt,  ist  der  Dichter;  aber 
der  „radikale"  Mann  ist  nicht  ein  ,, weniger  talentierter 
Dichter",  sondern  ein  von  Dostojewski  ganz  wesens- 
verschiedner  schreibender  Bürger  kapitalistischen  Geistes. 
Flaubert,  dem  das  Ganze  der  bürgerlichen  Welt  Objekt 
ist  aus  seinem  ganz  anders  qualifizierten  Ethos  heraus, 
ist  der  Dichter;  aber  Zola,  der  auf  ein  kleines  Ent- 
gegenkommen der  bürgerlichen,  bloß  im  Besserungssinnc 
kritisierten  Welt  nicht  vergeblich  zu  warten  brauchte,  ist 
bürgerliche  Schöngeistigkeit.  Daß  die  bürgerliche  Welt 
ohne  Unterscheidung  mit  dem  einen  wie  dem  andern  als 
nur  im  „Talent"  oder  „Temperament"  Verschiedenen  sich 
abfindet,  das  sagt  nur  über  das  ethische  Unvermögen  dieser 
Welt  aus,  den  Dichter  zu  erfassen,  weil  sie  ihn  ja  auch 
nicht  bedingen  kann ;  indem  der  Bürger  über  die  vom  Ethos 
abgelösten  —  er  kann  das!  —  engern  ästhetischen  Werte 
der  Genannten  klug  redet,  unterschlägt  er  das  Problem, 
weil  es  das  Problem  seiner  eigenen  Existenz  ist.  Er  unter- 
schlägt es  aus  Angst,  wenn  es  ihm  bewußt  wurde,  oder 
aus  Taubheit  seines  sittlichen  Zustandes.  Im  ersten  Fall 
hat  er  tausend  Kniffe  im  Kampfe  um  seine  im  Innersten 
aufgehobene  und  somit  bedrohte  Existenz  ausgebildet.  Das 
ehrlich-grobe  Mittel  jenes  Staatsanwaltes,  der  Flaubert 
wegen  der  Frau  Bovary  anklagte,  hat  sich  aus  Zweck- 
mäßigkeitsgründen sehr  verfeinert,  so  sehr,  daß  innerhalb 
der  Bürgerlichkeit  jener  Staatsanwalt  heute  schon  eine 
lächerliche  Figur  wurde,  aber  die  Zensur  eine  Institution 
des  den  bürgerlichen  Typus  als  den  menschlich-allgemei- 
nen Typus  vertretenden  Staates. 
Die    gespannte    Erwartung    des    Wirtschaftlichen,    endlich 

178 


doch   die    ihm    unbekannten   Dichter   dieser  Zeit   genannt 
zu  bekommen,  können  wir  nicht  befriedigen,  denn  er  kennt 
sie  auf  seine  Weise  längst,  schätzt  sie  und  verehrt  sie  auf 
seine  Weise  zum   einen  Teil,   bezweifelt  sie   zum  andern 
und  würde  sich  ihm  bis  nun  unbekannt  Gebliebenen  nicht 
verschließen;    er    wird    mit  ihnen  nach  dem   ästhetischen 
Schema  seiner  spezifischen   ,, modernen"   Literatur   —   die 
kein  andres  als  ein  beiläufig  ästhetisches  hergibt  —  fertig 
werden.    Die    seine  "Welt    kompromittierenden   Begreiflich- 
keiten wird  der  typische  Mensch  dieser  Zeit  unbegreifliche 
Schrullen,  Snobismen  und  Pathologien  nennen.  Die  pathe- 
tische Einsamkeit  Nietzsches,  das  Verkrochensein  Cezannes, 
die  politische  Leidenschaft  jenes  Russen,  das  Kreuztragen 
van  Goghs,  die  Arbeitszelle  Flauberts,  Borchardts  Hermetik, 
der  Aufschrei  einer  gläubigen  Jugend :  der  Bürger,  der  diese 
Bücher  liest,  diese  Bilder  kauft,   er  wird  das  Leben  dieser 
Künstler,   das  er  als  ,, Privatleben"  vom  Werke  abtrennt, 
weil  das  von  ihm  Bestellte  seiner  ,, Kunst"  solches  Trennen 
immer  verträgt,  ja  verlangt,  nichts  weiter  als  absonderlich 
und   gesucht    finden    und   da£    es    durchaus    ohne   solche 
„Extravaganz"  gehe,  wie  ihm  Sudermann  beweist,  den  er 
in  jedem  Salon  ganz  wie  sich  selber  trifft,   oder  Haupt- 
mann,   dessen   50.  Geburtstag    doch    ein  Nationalfest  mit 
Orden  war,  oder  Bloem,  mit  dem  er  die  Etappe  besuchte. 
Umgängliche  Leute,   mit  denen  auch  ganz  gut  über  Kapi- 
talsanlagen zu  reden  ist.  Anschauung  und  Praxis,  daß  das 
Leben  des  Menschen  in  Sein  und  Tun  zerfalle,   zwischen 
welchen  Getrennten    allenfalls  Berufswahl,    Neigung  oder 
Talent  eine  nicht  nötige  Brücke  bilde,  ist  dem  bürgerlichen 
Menschen  dieser  Zeit  so  vollkommen  konstitutionell,  daß  es 
ihm  wie  ein  mysthischer  Hokus-Pokus  vorkommen  muß, 
wenn  gesagt  wird,   daß  in  der  menschlichen  Person  das 
Werk  nichts  andres  ist  als  ihr  Sein  und  dies  nichts  andres 
als  das  Werk  und  daß  hier  nur  der  Draußenstehende  eine 
Trennung  vornimmt,  aber  sich  immer  bewußt  bleiben  muß, 
daß  diese  Trennung  willkürlich  geschieht,    genau  so  wie 
die  Trennung  eines  Gebildes  in  Inhalt  und  Form. 

12*  179 


Es  wurde  die  Grenze  gezogen  zwischen  dem,  worin  sich 
der  bürgerlich- kapitalistische  Typus  als  der  herrschende 
dieser  Zeit  den  seine  Literatur  genannten  Ausdruck  gibt 
und  nur  geben  kann,  und  dem,  worin  sich  das  Kunst- 
wollen in  dieser  Zeit  manifestiert.  Es  wurde  für  das  Dies- 
seits der  Grenze  der  Vital -Typus  des  bürgerlich-kapita- 
listischen Ethos  fixiert,  von  dem  das  allgemein  Unterhal- 
tungsliteratur genannte  ein  vielfach  schillerndes  und  graduell 
sehr  abgestuftes  Derivat  ist,  eines  Geistes  bei  plumpster 
Gemeinheit  des  Mittels  wie  bei  dessen  höchster  Raffinie- 
rung. Es  wurde  im  kurz  hingestellten  Gegensatz  das  Jen- 
seits der  Grenze  angemerkt,  gesagt,  daß  und  warum  die 
Kunst  dieser  Zeit  die  Voraussetzung  ihres  Daseins  nicht 
in  der  kapitalistischen  Welt  haben  kann  und  w^o  sie  diese 
allein  in  dieser  Zeit  hat:  in  einem  anders  qualifizierten 
Ethos  als  es  das  des  modernen  Typus  ist  und  das  sich 
zum  Teil  als  dessen  völlige  Negation,  zum  andern  aus  noch 
zu  bestimmenden  Komponenten  konstituiert. 

NEUNTER  EXKURS 

Unter  den  menschlichen  Werken  genießt  allein  das  Kunst- 
werk das  Privilegium,  fast  intakt  durch  die  Zeiten  zu  dauern, 
denn  das  wissenschaftliche  "Werk  ist  provisorisch,  das  poli- 
tische, das  wirtschaftliche  Werk  wandelt  sich  alsbald  in 
mechanische  Kräfte.  Es  sind  außerhalb  des  Künstlerischen 
ungemein  wenige  historische  Figuren,  die,  dem  Schicksal 
des  Verblassens  und  Vergessens  entgehend,  mit  den  un- 
vergänglichen Gestalten  des  künstlerischen  Ingeniums  riva- 
lisieren, und  auch  diese  Wenigen  tun  es  nur  mit  ihrer 
Person,  nicht  mit  ihrem  Werke,  denn  Alexanders  Reich 
zerfiel  wie  das  Cäsars,  aber  in  unverändert  reiner  Linie 
ist  bleibend  Piatons  Dialog  und  der  Vers  Vergils.  Und  es 
ist  Alexanders  und  Cäsars  Größe  nötig,  die  Schatten  des 
Vergessens  fernzuhalten,  und  weit  weniger  genügt,  ein 
Mimnermos  und  ein  Properz,  um  als  Dichter  auf  die  Nach- 
welt zu  kommen.  Dieser  Umstand  ist  heute  dem  geringsten 

180 


Reimer  geläufig  und  nicht  nur  ihm.  Aber  —  und  dies  ist 
von  Wichtigkeit  —  das  Bewußtwerden  dieser  Tatsache  von 
der  reinen  Dauer  des  Künstlerischen  hat  ein  Gleichgewichts- 
verhältnis gestört,  das  vorhanden  war,  als  die  Tatsache 
noch,  ohne  Wissen  um  sich  selber  in  Bescheidenheit  lebend, 
die  nötigen  Korrekturen  bekam. 

Zeiten  eines  intensiven  Gesamtlebens  der  Menschen  haben 
den  Künstlern  ihren  bescheidnen  und  oft  niederträchtigen 
Platz  angewiesen  und  sich  wenig  aus  ihnen  gemacht.  Man 
domestizierte  diese  wilden  Tiere,  indem  man  ihren  Stolz 
bändigte  und  ihnen  bewies,  daß  sie  weniger  wichtig  wären 
als  Schuster  und  Bäcker.  Man  lese  im  Plutarch  das  erste 
höchst  grausame  Kapitel  des  Lebens  des  Perikles,  und  man 
denke  an  die  Rolle  der  Dichter  in  Piatons  Republik.  Wohl 
strömte  das  Volk  in  heiliger  Begeisterung  zusammen,  um 
ein  neues  Werk  des  Phidias  zu  sehn,  aber  es  ließ  ihn  im 
Gefängnis  oder  in  der  Verbannung  sterben  —  wir  wissen 
es  nicht  genau,  denn  an  der  künstlerischen  Person  nahm 
die  Antike  gar  keinen  oder  Anteil  nur  dann,  wenn  die 
Person  ihr  politisch  nützte  oder  schadete.  Die  Antike  küm- 
merte sich  nur  um  das  Werk,  woraus  sich,  wie  Plutarch 
in  der  genannten  Stelle  schreibt,  wenn  dies  gefällt,  nicht 
notwendig  ergebe,  daß  auch  der  Verfasser  zu  loben  sei. 
Hier  reagiert  eine  ganz  bestimmte  Moralität,  die  auf  keine 
Weise  ästhetisch  infiziert  ist  wie  alle  heutige  Moral.  Der 
antike  Mensch  ist  auf  seine  Kunst  stolz,  weil  er  in  ihrer 
Leistung  ein  Zeichen  seiner  staatlichen  Macht  und  seines 
kulturellen  Reichtums  sieht,  aber  einen  Aristokratismus  des 
Künstlers  duldet  er  nicht  in  der  sozialen  Ordnung;  er  weist 
dem  Artifex  hinter  den  letztnützlichen  Gewerben  einen  Platz 
an.  Kein  Zweifel,  die  Kunst  würde  in  solcher  dauernd 
dem  Künstler  zugewiesenen  Rolle  verkommen,  denn  der  ver- 
trägt als  ein  Neuerer,  der  er  ist,  diese  untergeordnete  staat- 
liche Zugehörigkeit  nicht,  auch  in  einem  weiter  gedachten 
Staatswesen  nicht,  als  es  die  Polis  war.  Der  Künstler  kann 
die  geforderte  bescheidene  Haltung  zu  einem,  zu  seinem 
Werke  nicht  bewahren,  das  eine  Nation  führt  und  begeistert, 

181 


er  sei  denn  ein  ganz  mediokrer  Schuster  und  Gelegenheits- 
poet der  Stadtverwaltung.  Und  er  kann  deshalb  auch  die 
soziale  Geringachtung  durch  seine  Umgebung  nicht  ver- 
tragen, seiner  Kunst,  nicht  seiner  privaten  Person  wegen, 
wie  er  ja  auch  gegen  seine  private  essende,  trinkende,  sich 
gattende  Person  von  größter  Bescheidenheit  sein  kann  und 
wohl  auch  meist  sein  wird.  Von  den  beiden,  dem  Kunst- 
werke die  Form  gebenden  Elementen,  dem  materialbeleben- 
den Künstler  und  seiner  schöpferischen  Umgebung,  im 
vorigen  Exkurs:  hier  haben  diese  Elemente  als  die  persönliche 
Inbrunst  des  Künstlers  und  als  die  sittliche  Wertachtung 
durch  die  Umgebung  in  ihrer  Beziehung  aufeinander  die 
Bedeutung  der  Belebung,  "Weiterbildung  und  Erneuerung 
der  Formen.  Man  kann  das  relativ  Stationäre  der  Form 
immer  dort  bemerken,  wo  die  Sozietät  sich  den  Künstler 
fast  handwerklich  einordnet,  so  daß  er  hinter  seinem  Werke 
verschwindet  wie  Moli^re  und  Shakespeare  als  Komödianten. 
Der  Konservativismus,  der  sich  für  die  alten,  das  heißt  ein- 
geübten Formen  als  die  allein  richtigen  ausspricht,  ist  Aus- 
druck der  gering-schöpferischen  oder  überhaupt  steril  ge- 
wordnen Umgebung,  die  den  Künstler  sozialisiert,  weil  sie 
ihm  als  Individuum  mißtraut,  ihn  domestiziert,  weil  sie  die 
ausbrechende  Bestie  seiner  unberechenbaren  Phantasie 
fürchtet.  Nicht  aber  ist  dieser  Konservativismus  Ausdruck 
des  Künstlers  selber  und  kann  das  auch  gar  nicht  sein 
aus  seinem  Wesen  heraus,  das  durchaus  neuerungserfüUt 
ist  und  anders  sich  überhaupt  aufhöbe.  Man  erinnere  sich 
an  die  ständigen  Entschuldigungen  des  Euripides.  Man 
denke  an  das  schließlichc  Schweigen  des  freigelassenen 
Racine,  das  mit  Port-Royal  gar  nichts  zu  tun  hat.  Man 
überlege  die  Vagabundenexistenz  Villons,  der  nur  durch 
Elend  und  Gefängnis  die  von  seiner  Umgebung  bedrohte 
Freiheit  des  Dichters  gewann.  Man  denke  an  Christian 
Günther,  der  sich  in  keinerlei  schlesische  Dichterschule 
finden  konnte  und  um  seines  Gedichtes  willen  lieber  ver- 
reckte, statt  als  Stadtschreiber  überflüssige  Reimereien  zu 
verfertigen.    Man  erinnere  sich  an  Lenz  —  aber  mit  der 

182 


Figur  dieses  sich  auflehnenden  Hofmeisters  sind  wir  schon 
in  einer  wesentlich  anders  gerichteten  Zeit:  eine  neue  Ethik 
des  Künstlers  hebt  an,  profitierend  vom  religiösen  Zu- 
sammenbruch der  Zeit  und  der  wirtschaftlichen  Neugestal- 
tung der  Gesellschaft:  es  beginnt  die  Literatur. 
Die  schöpferische  Kraft  der  in  Gemeinschaft  mit  der  material- 
belebenden Person  des  Künstlers  die  Form  bildenden  Um- 
gebung ist  schwankend,  und  sie  zerfällt  in  dem  MaB,  als 
sich  diese  Umgebung  von  der  ideellen  Einheitlichkeit  ent- 
fernt und  in  das  Tausendfache  dessen  zerlegt,  was  man 
Interessenten  und  Publikum  nennt.  Verschwand  früher,  in 
den  Zeiten  ideeller  Einheitlichkeit,  der  Künstler  hinter  seinem 
Werk,  so  dreht  sich  dies  nun  um:  das  Werk  verschwindet 
hinter  dem  Künstler.  War  dieser  früher  kaum  sichtbar,  weil 
seine  Umgebtmg  gar  keine  Notiz  von  ihm  nehmen  wollte, 
so  ist  heute  die  Person  des  Künstlers  öffentliche  Notiz  und 
sein  Werk  das,  was  hinter  ihm  steht.  Gab  es  früher  ein 
Werk  und  gar  keine  sichtbare  Person,  so  gibt  es  heute 
eine  Person  im  Licht  von  Scheinwerfern  und  statt  eines 
Werkes  Bücher,  die  bestenfalls  gelungene  Skizzen  dar- 
stellen, Ansätze,  Versuche.  Wie  in  den  sonstigen  Wertträgern 
wurde  auch  hier  eine  Substitution  vorgenommen,  indem 
man  nun  die  Unsterblichkeit  des  dichterischen  Werkes, 
diese  bewußt  gewordene  Tatsache,  mit  der  Unsterblichkeit 
der  dichterischen  Person  identifizierte.  Man  gibt  der  künst- 
lerischen Anschauung  der  Welt  einen  absoluten  Geltungs- 
charakter um  so  mehr,  als  die  andern  dominierenden  An- 
schauungsweisen, wissenschaftliche,  politische,  wirtschaft- 
liche, technische,  sich  als  nur  relativ  geltend  enthüllen  und 
die  religiöse  Anschauung  sich  gerade  in  der  Deklination 
befindet.  Jeder  Reimer  reklamiert  heute  Goethe  für  sich, 
jeder  Kunstgewerbler  Michelangelo,  und  sie  entbinden  sich 
mit  solcher  Berufung  von  einer  wertschaffenden  Verpflich- 
tung, weil  die  bloße  künstlerische  Anschauung  der  Welt  als 
die  höchstwertige  allein  schon  genügt.  Wenn  heute  einer 
Terzinen  macht,  so  glaubt  er,  wenn  auch  an  einem  kleinen 
Seitenaltar,  dieselbe  Messe  zu  zelebrieren  wie  Dante.  Klebt 

183 


ein  Steinmetz  seine  Figürchen  an  die  Fassade  eines  "Waren- 
hauses,  so  tut  er  dies  mit  der  Geste  des  großen  Floren- 
tiners. Und  jeder  malende  Jüngling  weiß  sich,  je  nach  Vor- 
liebe, dem  Greco,  dem  Rembrandt  oder  meinetwegen  dem 
van  Dyck  ein  Bruder.  Die  Tatsache,  daß  von  allen  mensch- 
lichen "Werken  allein  das  Kunstwerk  sein  Gesicht  unver- 
ändert wertvoll  durch  die  Zeiten  bewahrt,  ist  zu  ganz  all- 
gemein bewußter  Notiz  gekommen  und  der  Künstler  erhebt 
ganz  erfüllt  von  diesem  Bewußtsein  die  Prerogative,  als 
der  Herr  jeder  Zivilisation  zu  gelten.  Fataler  Weise  erhebt 
er  diese  Prerogative  und  besitzt  er  dies  Bewußtsein  gerade 
in  einer  Periode  nachlassender  werkschaffender  Kraft  bei 
beiden  Komponenten,  bei  der  künstlerischen  Person  und 
bei  der  Umgebung.  Diese  bürgerliche  Periode  besitzt  in 
Abundanz  Neuerungen,  Erwerbungen,  Erweiterungen,  Frei- 
heiten bei  den  künstlerischen  Personen  und  in  gleicher 
Abundanz  ein  fast  frenetisches  Interesse  bei  der  Umgebung, 
aber  — :  das  Werk  fehlt.  Es  gibt  interessante  Bücher,  Mu- 
siken, Bilder  —  aber  das  Werk  fehlt.  Der  Künstler  ist  sich 
seines  einzigen  absoluten  Wertes  mit  großer  Bewußtheit  sicher: 
er  braucht  nur  zwei  Zeilen  Daktilen  zu  klopfen.  Vor  hundert 
und  etlichen  Jahren  freigelassen,  ist  er  es,  der  heute  das 
ihm  zulauschende  Publikum  zähmt,  das  in  ihm  seinen  ein- 
zigen Wertschöpfer  erkennt,  weil  er  das  ,, Gleiche"  tut  wie 
Homer  und  weil  dieses  Tun  das  Ewige  ist. 
Wir  erleben  so  seit  etwa  dreißig  Jahren  das  paradoxe 
Spektakel  einer  wachsenden  Hegemonie  des  Künstlers  als 
Träger  des  absolut  geltenden  einzigen  Wertes,  und  dieser 
Künstler,  der  es  weniger  ist  als  je  zuvor,  kommandiert 
eine  Umgebung,  wie  sie  unschöpferischer  nie  vorhanden 
war.  Was  einigen  Großen  der  Zeiten  als  von  ihnen  etabliert 
zukam,  das  maßt  sich  heute  der  ganze  Stand  an.  Der 
kleinste  Schreiber  schüchtert  die  sentimental  gewordene 
Bourgeoisie  seiner  Zuhörerschaft  mit  der  Erinnerung  ein, 
daß  sie  einen  Büchner  nicht  erkannt  habe,  einen  Grillparzer 
verkümmern,  einen  Nerval  sich  erhängen  ließ,  Kleist  und 
Keats  umgebracht  habe,  und  eingeschüchtert  beeilt  sich  das 

184 


Publikum,  lieber  alles  herrlich  zu  finden,  als  das  Verbrechen 
zu  riskieren,  einen  neuesten  Lyriker  mißzuverstehn  oder 
gar  verhungern  zu  lassen.  Dem  religiösen  Werte  entfremdet, 
am  vrissenschaftlichen  verzweifelnd,  dem  politisch-sozialen 
mehr  als  mL&trauend,  gibt  sich  diese  der  Kunst  überhaupt 
geneigte  Bourgeoisie  ihr  ganz  hin  als  ihr  Publikum,  fühlt 
sich  ihr  verpflichtet  und  verpflichtet  sie  ihrerseits  wieder, 
alles,  durch  ein  mehr  oder  minder  trübes  künstlerisches 
Medium  gebrochen,  von  den  Künstlern  zu  erhalten,  von 
der  Psychologie  des  Kindes  angefangen  bis  zum  Glauben 
an  Gott.  Und  die  Künstler  werfen  sich  in  die  Brust  und 
quittieren  verlegen  Schuldscheine,  die  sie  nie  einzulösen 
gedenken,  denn  sie  wissen  in  ihrem  innersten  Gewissen 
sehr  gut,  daß  ja  die  Schuldscheine  falsch  sind  und  sein 
müssen  und  es  vertragen,  mit  falschem  Gold  oder  gar  nicht 
bezahlt  zu  werden. 

Eigentümlich  ist  unsrer  desolaten  dichterischen  Jugend  das 
fast  zornige  Schamgefühl,  das  sie  über  ihr  schön  gelungenes 
Gedicht  empfindet  und  das  oft  so  stark  ist,  daB  sie  sich 
am  liebsten  in  das  ,, häßliche"  Gedicht  stürzen  möchte  oder 
nichts  als  den  Schrei  einer  am  Sittlichen  der  Welt  ver- 
zweifelnden Kreatur  ausstoßen;  sie  beschwert  sich  das  Ge- 
wissen mit  der  Frage  an  sich  selber,  ob  nicht  besser  ein 
nur  sittliches  als  ein  auch  dichterisches  Werk  zu  verrichten 
sei.  Neben  andern  drückt  sich  in  dieser  Haltung  Verzweif- 
lung darüber  aus,  daß  die  die  Form  schaffende  Umgebung 
fehlt  und  daß  das,  was  als  Publikum  die  leere  Figurantin 
solcher  Umgebung  ist,  vollkommen  der  instinktsichem  Er- 
kenntnis mangelt,  daß  das  wohlgelungene  Werk,  an  dem 
der  Dichter  und  die  Umgebung  schaffen,  ex  se  ein  sitt- 
liches ist  und  eine  besonders  betonte  Sittlichkeit  nur  dort 
immer  zeigt,  wo  der  Verfasser  mit  seiner  Kunst  nicht 
ordentlich  zurecht  kommt.  Nun  hat,  wie  es  scheint,  die 
Armseligkeit  dieser  ihrer  heutigen  einzig  möglichen  Um- 
gebung diese  jungen  Dichter  schon  infiziert,  so  daß  auch 
ihnen  selber  diese  instinktive  Erkenntnis  vom  an  sich  schon 
Sittlichen  des  vollendeten  Werkes  sich  ihnen  vertrübt  und 

185 


sie  in  ein  Ethisches  zu  divagieren  anfangen,  das  immer 
nur  problematisch  sein  kann,  und  da&  sie  den  Beruf  des 
Dichters  so  schmählich  ansehn  wie  König  Philipp  in  jenem 
Plutarchschen  Kapitel,  wo  er  den  bei  einem  Feste  mit 
aller  Kunst  singenden  Alexander  fragt,  ob  er  sich  nicht 
schäme,  so  gut  zu  singen,  und  Plutarch  hinzufügt,  da£ 
wohl  kein  Jüngling  rechten  Verstandes  und  edler  Geburt 
bei  Betracht  des  Jupiterbildnisses  in  Pisa  den  "Wunsch 
hegen  werde,  ein  Phidias  zu  werden,  oder  ein  Polyktet, 
wenn  er  das  Junobildnis  in  Argos  anschaue,  oder  ein  Ana- 
kreon,  ein  Archilochos  zu  werden  verlange,  denn  all  dies 
seien  niedere  und  gemeine  Künste.  Also  scheinen  sich  nicht 
wenige  der  jungen  Künstler  heute  einzustellen,  weil  sie 
den  lebendigen  formschaffenden  Zwang  der  Umgebung  nicht 
haben  und  ihre  Kräfte  wie  ins  Leere  greifen;  denn  jenen 
billigen  Trost  der  Dilettanten  und  Könner,  die  unbekümmert 
in  die  Leere  des  Zufalles  hinein  schreiben,  malen  und 
musizieren  —  solchen  Trost  können  sich  diese  wenigen 
Künstler  dieser  Zeit  nicht  geben,  weil  sie  ihres  göttlichen 
Auftrages  inne  sind  und  verantwortlich  für  das  ihnen  An- 
vertraute sich  durchaus  fühlen,  oder  weil  sie  nur  ehrliche 
gewissenhafte  Männer  sind.  Aber  sie  müssen  an  der  Be- 
stimmtheit des  Auftrags,  am  Sinn  ihrer  Arbeit  zweifeln  in 
einer  Zeit,  die  nichts  besitzt,  was  die  rechte  Erledigung 
ihres  Auftrages,  den  rechten  Empfang  ihrer  Arbeit  mög- 
lich macht,  dadurch,  daü  sie  ihnen  eben  den  Zwang  der 
Form  gibt.  Die  neue  Erweiterung  der  künstlerischen  Wir- 
kung, wie  sie  der  Verfall  der  Gemeinschaft  in  Publikum 
und  die  alle  Werte  setzende  Hegemonie  des  Künstlertums 
mit  sich  brachten,  nahm  der  nun  ins  uferlose  Leere  schwei- 
fenden, zu  keiner  Form  gezwungenen  Kunst  alle  spezifische 
Wirkung  überhaupt  und  degradierte  sie  zu  einem  Inter- 
essanten, Amüsanten,  jedenfalls  niemanden  ernsthaft  Ver- 
pflichtenden, das  heiBt  zur  Kunst  verpflichtenden.  Das 
Kunstwerk  ging  dabei  in  Stücke,  die,  tausend  Zwecken 
dienend,  tausend  Namen  haben,  die  alle  Kunst  meinen  und 
keiner  und  alle  zusammen   nicht  die  Kunst  —  ein  Begriff, 

186 


der  dtirch  die  Emanzipation  des  Künstlers  verlorengegangen 
zu  sein  scheint  und  nur  das  Wort  noch  in  lamentablen 
akademischen  Ästhetiken  sein  Unwesen  treibt,  deren  Ver- 
fasser ästhetische  Prinzipien  dort  suchen,  wo  nur  soziale 
Zwänge  existieren  und  historisch  befangen  das  Novum  der 
Literatur  nicht  sehn.  Ist  es  auch  nicht  Kunst,  so  ist  es 
doch  Ausdruck,  und  dieser  ist  überhaupt  alles  —  mit  diesem 
Bekenntnis  zum  leidenschaftlichen  Bekenntnischarakter  der 
heutigen  künstlerischen  Person  wird  das  Problem  der  feh- 
lenden Komponente  des  Werkes,  nämlich  die  formschaffende 
Umgebung,  nicht  erledigt:  es  ist  eine  romantische  Illusion, 
welche  das  Mittel  für  den  Zweck,  die  Materie  für  die  Form 
hält.  Das  Problem  wird  nicht  gelöst,  sondern  beiseite  ge- 
schoben, der  Künstler  als  Bekenner  seiner  Leidenschaft  in 
seiner  Isolation  gebilligt  und  von  seiner  Stimme,  außer  der 
Lauterkeit,  nur  noch  die  Lautheit  eines  Predigers  in  der 
"Wüste  verlangt.  Er  war  in  diesen  letzten  dreißig  Jahren 
so  vielerlei  gewesen,  Abschildercr  des  Wirklichen  mit  und 
ohne  Temperament,  Träumer  seiner  Träume,  Deuter  des 
Natürlichen,  Analytiker,  stilistischer  Synthetiker,  Plauderer, 
Ästhet,  daß  er  nun,  da  alles  das  nichts  genützt  hatte,  um 
aus  dem  sterilen  PubUkum  formschaffende  mittätige  Um- 
gebung zu  machen,  der  große  Aufrufer  und  sittUche  Gesetz- 
geber der  Menschheit  werden  müsse,  erst  recht  aus  diesem 
Kriege,  wo  alle  sittlichen  Mächte  versagt  haben.  Daß  der 
Künstler  etwas  auszudrücken  habe,  diese  Entdeckung  mußten 
heute  wohl  jene  machen,  welche  damals  noch  Kinder  waren, 
als  bei  uns  Künstler  auftraten,  deren  Stolz  und  Titel  es 
war,  daß  sie  rein  gar  nichts  zu  sagen  und  auszudrücken 
hatten,  außer  ihre  kleinen  Lesefrüchte  aus  darwinistischen 
und  sozialistischen  Broschüren.  Aber  es  ist  doch  nur  eine 
Wiederentdeckung  nach  dem  kurzen  Interregnum  einigen 
Stumpfsinnes  und  Ernüchterung  dieser  Wiederentdecker, 
die  in  jenem  Stumpfsinn  ,,die  Kunst"  vermeinten  wie  alle 
Welt  und  mit  aller  Welt  — ,  an  welche  Welt  sie  sich  aber 
doch  nun  wieder  wenden,  um  ihr  das  neue  Schauspiel  der 
Abwechslung,  den  Expressionismus,  zu  bereiten.  Denn  das 

187 


Problem  des  Kunstwerks,  in  dem  die  künstlerische  Person 
und  die  Umgebung  untrennbar  miteinander  verbunden  sind, 
ist  nicht  einseitig  dadurch  zu  lösen,  daß  der  Künstler  neue 
Saiten  aufzieht,  mit  einer  neuen  Botschaft  auftritt,  nach 
der  ja  kein  darauf  Wartender  die  Arme  ausstreckt,  sondern 
sich  bestenfalls  nur  zuhörerisch  oder  zuschauerisch  bereit 
findet,  das  Schöne  nach  seinen  eigenen  sittlichen,  das  Sitt- 
liche nach  seinen  eigenen  schönen  Grundsätzen  zu  richten. 
Es  ist  da  aber  nichts  weiter  passiert  als:  nach  den  Parterre- 
akrobaten und  den  Seiltänzern  treten  die  Feuerfresser  und 
Fakire  auf.  O,  es  ist  zu  verstehn,  daß  die  paar  Dichter 
dieser  Zeit  nicht  wissen,  ob  sie  die  gehobene  Hand  nicht 
lieber  zerschmetternd  als  zupfend  auf  die  so  mißgehörte 
Leier  fallen  lassen  sollen,  daß  sie  zaudern,  irre  werden 
und  verzweifeln  und  aus  der  tiefsten  Not  ihres  so  sehr 
mißverstandenen,  übertriebenen,  falsch  exponierten  Daseins 
aufschreien  in  Gedichten,  von  denen  sie  bitter  zugeben, 
daß  es  keine  seien,  und  ntir  die  Kühnern  den  Mut  haben 
zu  sagen,  diese  gerade  seien  die  rechten  Gedichte,  und  die 
Unzahl  der  konjunkturschnüffelnden  Nachlaufer  und  Mit- 
macher in  alle  Winde  verkündet,  das  seien  die  überhaupt 
einzig  schönen  und  richtigen  Gedichte  und  alles  frühere 
und  andre  sei  nichts  als  Dreck. 

Aus  einer  Gemeinschaft,  die  nicht  ist,  entbunden,  fehlt 
dem  Künstler  die  vis  superba  formae,  der  Zwang  der 
Form  in  einer  mitschaffenden  Umgebung.  Er  selber  kann 
sie  nicht  schaffen,  denn  da  sein  Wesen  Mit- Teilung  ist, 
setzt  es,  damit  diese  zustande  kommt,  den  andern  Teil, 
eben  die  Umgebung,  voraus,  welche  schöpferisch  teilnimmt. 
Dieser  andre  formschaffende  Teil  fehlt,  und  des  Dichters 
ungeformte  Leidenschaft  explodiert  in  ein  Publikum,  dessen 
blöde  Geile  er  verachtet,  dessen  teilnahmsloses  um  ihn 
Herumsein  ihn  verzweifeln  macht  darüber,  daß  er,  auf 
einer  Säule  stehend,  nichts  als  sein  Ich  hat,  das  ohne 
Formgebundenheit  zu  einer  halluzinierten  Menschheit  auf- 
schwillt, von  deren  Abstraktheit  er  keine  Form  empfangen 
kann.  Der  Dichter  entblößt  sein  Eingeweide  mit  der  be- 

188 


wu6t-häfilichcn  Geste  einer  sittlichen  Tat,  um  nicht  durch 
eine  schöne  Geste  in  den  Beifall  des  Pöbels  zu  sinken, 
der  ihm  Kunst  und  Leben  verekelt  hat  als  das  nichts  als 
Ästhetische.  Und  immer  noch  schustert  ja  daneben  eine 
Schar  von  Leuten  Jambendramen  und  schneidert  Entwick- 
lungsromane und  spinnt  Blauveiglein  mit  und  ohne  Kriegs- 
erlebnis. So  nennt  also  der  Dichter  sein  Buch  Verse  „Der 
Mensch  schreit",  weil  er  möchte,  daß  der  stumm  sich 
krümmende  Mensch  schreie,  —  aber  es  hört  den  Aufruf 
zum  Schrei  immer  nur  die  schöne  Leserin  und  der  ihr  be- 
freundete Professor,  der  im  Tageblatt  die  Welt  mit  einem 
neuen  Dichter  bekannt  macht.  —  Was  sich  die  neue  Kunst 
nennt,  will  als  sittliche  Tat  schlechthin  genommen  sein; 
sie  lehnt  nichts  als  ästhetische  Kriterien  ab  und  fordert 
sittliche,  denn  sie  drückt,  wie  sie  erklärt,  die  sittliche 
Wahrheit  und  nicht  die  sittlich  indifferente  Schönheit  aus; 
die  sittliche  Wahrheit  ist  ihr  die  alleinige  Schönheit,  und 
was  man  bis  nun  die  Schönheit  nannte,  hat  sie  im  Ver- 
dacht, das  Böse  zu  sein.  Der  Roman  des  Familienblattes 
ist  nicht  häßlich,  sondern  unsittlich  und  deshalb  häßlich; 
die  Malereien  von  Franz  Marc  sind  nicht  schlechthin  schön, 
sondern  sittliche  Wahrheit  und  deshalb  schön.  Man  könnte 
glauben,  sich  hier  in  der  vorklassischen  Ästhetik  der 
Schweizer  zu  bewegen  oder  nichts  als  eine  reaktive  Ver- 
kehrung des  Wildeschen  Ästhetizismus  zu  erleben.  Aber 
es  ist  weder  das  eine  noch  das  andre.  Es  ist  vielmehr 
eine,  wenn  auch  sich  selber  noch  unklare  Absage  an  die 
Kunst  als  heute  läufigen  Begriff  überhaupt  und  eine  Dekla- 
ration des  noch  ungeformten  Halbgebildes  zum  Ganzge- 
bilde. Man  hat  es  satt,  nach  einer  die  Form  schaffenden 
Umgebung  zu  hungern,  die  nicht  kommen  will.  Man  lehnt 
Verständigung  und  Verstehbarkeit,  das  heißt  die  Mit-Tei- 
lung  ab,  da  man  sich  vom  Mißverstehn  korrumpiert  weiß. 
Man  will  es  dem  nichts  als  sensuell  alle  seine  Werte  durch 
den  Kunstgenuß  aufnehmenden  Publikum  mit  dem  ganz 
entsinnlichten,  auf  die  Geometrie  reduzierten  Kubismus  für- 
derhin  unmöglich  machen,  sinnlich  zu  reagieren.  Man  ver- 

189 


dämmt  die  verlockende  Metapher.  Man  vermeidet  die  sehr 
vage  und  schwindelhafte  Gemeinsamkeit  im  Psychologischen. 
Man  skelettiert  den  sprachlichen  Ausdruck.  Man  gibt  das 
klassische  Ideal  des  Gleichgewichts  zwischen  gesprochner 
und  geschriebner  Sprache  auf,  verwirft  die  erste  voll- 
kommen als  künstlerisches  Ausdrucksmittel  und  erweitert 
und  erneuert  die  letzte.  Man  hat  definitiv  erkannt,  daß 
man  ganz  einsam  ist  und  keine  Mit- Teilung  mehr  möglich, 
—  wenigstens  nicht  mehr  zu  dem  bisherigen  formsterilen 
Publikum  hin.  Den  daraus  folgenden  fatalen  Esoterismus 
einer  Kunst  für  die  Künstler  glaubt  man  mit  dem  Appell 
an  eine  neue  Menschheit  zu  überwinden,  die  auf  dem 
Marsche  ist.  Denn  diesen  seinen  Irrtum,  sich  die  Führung 
der  Menschheit  zu  arrogieren,  hat  auch  der  heutige  Künstler 
noch  nicht  aufgegeben,  und  in  diesem  Irrtum  ist  er  noch 
immer  nichts  weiter  als  der  Freigelassene  der  individua- 
listischen Bourgeoisie,  deren  ästhetisch-ethischer  Garkoch 
er  nicht  mehr  sein  will,  um  ethisch- ästhetischer  Küchen- 
chef einer  Menschheit  zu  werden,  das  heißt  bis  auf  weiteres 
doch  nur  für  den  alten  Sensationalismus  seines  alten  Publi- 
kums den  neuesten  Gang  zu  servieren,  zum  Beispiel  den 
Nachtisch  des  Expressionismus. 

Zwei  Richtungen  markieren  sich  deutlich,  in  denen  man 
auf  eine  formschaffende  Umgebung  treffen  kann,  wenn  auf 
beiden  Seiten,  auf  der  des  Künstlers  wie  auf  der  dieser 
möglichen  Umgebung,  gewisse  Bedingungen  erfüllt  sind. 
Den  Einen  und  den  Andern  sieht  man  den  Weg  nach 
diesen  Richtungen  einschlagen:  nach  der  sozialen  Demo- 
kratie und  nach  der  Kirche.  Daß  diese  beiden  zu  ihrem 
Geiste  erwacht  sich  vereinigen  müssen,  um  formschaffende 
Umgebung  (und  natürlich  nicht  nur  dies,  sondern  vor  allem 
kulturelle  Gemeinschaft)  sein  zu  können,  davon  ist  in 
diesem  Zusammenhang  nicht  zu  sprechen.  Der  klassenbe- 
wußte Radikalismus  aus  dem  Bauche  ist  auch  mit  einer 
wissenschaftlichen  Theorie  noch  kein  kulturelles  Prinzip. 
Und  eine  von  der  Staatsgewalt  soutenierte  und  der  herr- 
schenden Macht  dienende  Kirche  ist  kein  Instrument  des 

190 


reinen  Gottglaubens,  das  die  civitas  dci  vorbereitet,  son- 
dern die  vorhandene  civitas  diaboli  verhärtet.  Die  einen 
und  andern  Künstler,  die  den  "Weg  zur  Kirche  oder  zur 
sozialen  Demokratie  betreten,  verlassen  nicht  nur  das  Publi- 
kum, sondern  geben  auch  das  Komplement  dieses  Publi- 
kums auf,  nämlich  die  falsche  Prärogative  des  Standes, 
die  irrige  Hegemonie  des  Künstlertums ;  sie  stellen  sich  auf 
den  Dienstplatz  ihrer  Verrichtung  und  dienen,  wofür  ihnen 
die  Form  zu  teil  werden  wird,  die  sie  mit  keiner  noch  so 
titanidenhaften  Anstrengung  als  Herren  innerhalb  ihres 
bourgeoisen  Publikums  diesem  Publikum  entringen  können, 
das  selber  unbestimmt  keine  Bestimmung  geben  kann,  das 
ein  Scherbenhaufen,  aber  kein  Boden  ist,  in  den  Wurzeln 
schie&en.  Halt  und  Nahrung  gewinnen  können.  Der  Ab- 
schied vom  Publikum  wird  heute  dem  Künstler  gewiß 
leichter  sein  als  je.  Schwer  aber  der  Eintritt  in  den  Dienst, 
da  er  solchen  Dienstverhältnisses  zu  lange  entwöhnt  ist. 
Denn  nicht  darum  handelt  es  sich,  der  Künstler  der  so- 
zialen Demokratie  oder  der  Kirche  zu  werden,  deren  Stoff- 
lichkeiten sich  thematisch  anzueignen  und  also  draußen  zu 
bleiben,  sondern  es  handelt  sich  um  die  volle  menschliche 
Hingabe,  um  den  Eintritt  in  eine  geistige  Ordnung.  Nicht 
darum  handelt  es  sich,  die  sozialistische  Kunst  oder  die 
katholische  besser  zu  machen,  als  sie  ist,  nicht  um  solches 
Äußerliches  handelt  es  sich,  denn  das  ist  kein  Dienst  und 
würde  alles  so  lassen  wie  es  ist,  indem  es  nur  den  Inhalt 
des  Publikums  änderte.  Mit  der  äußersten  Bescheidenheit 
sich  in  den  gemeinen  und  religiösen  Dienst  stellen:  ntir 
dadurch  kann  der  Dichter  zu  seinem  Werk  kommen.  Er 
muß  sich  ein-,  nicht  überordnen. 

Hier  ist  nun  der  Ort,  von  dem  gebrauchten  Begriff  „form- 
schaffender Umgebung"  zu  sprechen,  der  aus  dem  System- 
begriff bei  R.  Avenarius  abgeleitet  ist  und  mir  schon  im 
andern  Exkurs  zur  Aufhellung  des  Komplexes  diente.  Auf 
seine  große  Bedeutung  für  den  Gegenstand  hat  neuerdings 
P.  Bekker  in  seiner  Schrift  über  das  deutsche  Musik- 
leben der  Gegenwart  mit  besonderer  Anwendung  auf  das 

191 


musikalische  Kunstwerk  hingewiesen,  um  aber  doch  wieder 
seine  kategoriale  Aufstellung  insofern  zu  verwischen,  als 
er  die  das  Werk  schaffenden  und  bestimmenden  Momente: 
materialgestaltende  Person  des  Künstlers  und  formgebende 
Tätigkeit  der  Umgebung  in  eine  Wechselbeziehung  ver- 
tauschter Rollen  durchgängig  auflöst,  während  meines  Er- 
achtens  dieser  Vertausch  nur  statthaben  kann,  nicht  aber 
muB.  Die  nach  scheinbar  innern  Gesetzen  vom  Künstler 
geordnete  Materie  wird  Form  erst  dann,  wenn  sie  wahr- 
genommen wird.  Den  Akt  der  Wahrnehmung  vollzieht  die 
Umgebung:  in  diesem  Akt  ist  die  Beziehung  zwischen 
Materie  und  Umgebung  gesetzt,  aus  der  die  Form  allein 
entsteht,  das  heißt  das  vollendete  Werk.  Die  Wahrnehmung 
ist  ein  Akt,  denn  sie  ist  Tätigkeit,  nicht  passives,  wider- 
standsloses Erleiden.  Unter  Materie  ist  nicht  zu  verstehn, 
w^as  man  heute  den  ,, Inhalt"  eines  Kunstwerkes  nennt, 
sondern  die  spezifischen  Ausdrucksmittel  aller  ,, Inhalte": 
Sprache  also  in  der  Dichtkunst.  Der  Schaffensakt  der 
dichterischen  Person  ist  sprachschöpferisch;  durch  ihn  wird 
das  Material  Sprache  nach  scheinbar  innern  Gesetzen  dieser 
Materie  vom  Dichter  geordnet.  Die  Gesetze  dieser  Materie 
sind  relativ  konstant.  Veränderlich  und  damit  verändernd 
ist  aber  die  wahrnehmende  Kraft  der  Umgebung,  von  deren 
Wahrnehmungsbedingungen  die  Formwerdung  der  gestal- 
teten Materie  abhängt.  Diese  Bedingungen  sind  unerschöpf- 
lich w^echselnd  wie  die  Umgebung  selber,  und  so  wechselnd 
sind  daher  auch  die  Formwerdungen.  Unter  Form  ist  nicht 
zu  verstehn,  was  man  in  heutigem  Sprachgebrauch  so  nennt, 
wo  man  sich  ohne  formschaffende  Umgebung  eklektisch 
aller  bereits  Konvention  gewordenen,  ehmals  durch  die 
aktive  Teilnahme  einer  Umgebung  geschaffnen  Formen  nur 
,, bedient".  Heute  kann  der  Dichter  ganz  richtig  sagen,  daß 
er  der  formgebende  Teil  sei,  insofern  er  eben  der  unter 
dem  Zwang  der  Konventionen,  das  heißt  erstarrter  Formen 
die  Form  wählende,  auswählende  ist.  Der  Wahlakt  täuscht 
ihm  einen  Schaffensakt  um  so  leichter  vor,  als  sich  in 
einer   eben  nicht  vorhandnen  formschaffenden  Umgebung 

192 


kein  Widerspruch  erhebt,  wenigstens  kein  positiver,  denn 
der  Einwand  gegen  ein  theatralisches  Werk,  daß  es  mehr 
ein  novellistisches  sei,  ist  kein  solcher  positiver  Wider- 
spruch aus  Vermögen  eignen  Formwillens,  sondern  ist  nur 
ein  ästhetisch- kritischer  Einwand  von  bestrittener  Gültig- 
keit, denn  er  hat  seine  Gründe  nur  in  einer  vagen  gelehrten 
Kunstverständigkeit,  nicht  in  einer  produktiven  aktiven 
Umgebung.  Diese  ist  nicht  vorhanden,  und  was  ihre  Stelle 
vertritt,  ist  nur  ein  passives  Genießer-  oder  Kennertum. 
Darum  fügt  der  heutige  Dichter  zu  seiner  von  ihm  geord- 
neten Materie  das  zum  Werke  fehlende  der  Form  aus 
scheinbar  eigner  Kraft  hinzu,  indem  er  die  Materie  in  eine 
der  vorhandenen,  früher  einmal  von  der  Umgebung  ge- 
schaffenen Formen  hineinpaßt;  die  Wahl  trifft  ein  Gefühl 
für  die  stärkste  Wirkungsmöglichkeit,  und  diese  stärkste 
Wirkung  erreicht  der,  der  sich  am  besten  mit  dem  die 
Wirkung  verspürenden  Publikum  identifizieren  kann.  Der 
Heutige  handelt  hier  genau,  wie  der  Dichter  der  Sequenz 
Eia  recolamus  hinsichtlich  seiner  beigestellten  Materie  han- 
delte, als  er  sie  der  formgebenden  Umwelt  seiner  gläubigen 
Gemeinde  exponierte,  deren  Glied  er  war.  Hier  aber  war 
die  Identifizierung  natürlich  und  ein  andres  überhaupt 
nicht  denkbar.  Während  beim  heutigen  Unterhaltungs- 
schriftsteller diese  Identifizierung  artifiziell  ist,  da  er  nicht 
die  Form  bekommt,  sondern  unter  Kon  venu  gewordnen 
Formen  wählt  und  jene  wählt,  mit  der  er  auf  die  breiteste 
Eingeübtheit  dieser  Form  beim  Publikum  stößt.  Womit  zu- 
sammengeht, daß  solche  im  stärksten  Konventionialismus 
der  sekundär  gewordnen  Formen  getroffne  Wahl  auch 
schon  eine  Wahl  in  der  Materie  getroffen  und  jene  ge- 
wählt hat,  die  sich  am  leichtesten  dem  Konvenü  hingibt: 
die  Sprache  wird  auf  ein  Minimum  ihres  Ausdrucks  ge- 
bracht, wodurch  der  sogenannte  Inhalt  nackt  und  betont 
zum  Vorschein  kommt.  Das  passive  Publikum  nimmt  nur 
die  am  stärksten  von  ihm  eingeübten  Schwankungen  hin, 
deren  Lösung  keinerlei  aktive  Teilnahme  verlangt,  also 
nicht  Schwierigkeiten  bereitet,  die  es  zu  lösen  nicht  ver- 

13  193 


mag  und  als  ,, unkünstlerisch"  alles  ablehnt,  was  ihm  solche 
Schwierigkeiten  der  Lösung  zumutet.  Es  hat  sich  darum 
in  Verlegern,  Direktoren,  Agenten,  Kunsthändlern  ver- 
mittelnde Zwischenglieder  geschaffen,  deren  Aufgabe  es 
ist,  das  Publikum  in  erster  Instanz  gewissermaßen  zu  re- 
präsentieren und  welche  mit  ihrem  Gelde  dafür  garan- 
tieren, daß  das  Publikum  nicht  Schwankungen  ausgesetzt 
wird,  die  es,  da  es  eben  Publikum  und  nicht  Umgebung, 
das  heißt  passiv  und  nicht  aktiv  ist,  nicht  mit  positivem 
Gewinn  für  sich  aufheben  kann.  Der  Hinweis  muß  hier 
genügen,  daß  die  genannten  repräsentativen  Zwischenglieder 
nur  darin,  daß  sie  mit  ihrem  in  ihr  Unternehmen  gesteckten 
Kapital  bürgen,  eine  wirtschaftliche  Rolle  spielen,  die  ganz 
nebensächlich  ist  neben  der  geistigen  Aufgabe,  mit  der 
sie  betraut  sind  und  die  darin  besteht,  ,,ihr  Publikum  zu 
kennen"  und  zu  wissen,  ,,was  sie  ihm  bieten  können." 
—  Es  wäre  ein  Abriß  der  Kunstgeschichte  nötig,  um  an 
Beispielen  aufzuweisen,  daß  die  hier  dargelegte  Wechsel- 
beziehung zwischen  der  künstlerischen  Person  und  ihrer 
Umgebung  notwendige  Voraussetzung  für  das  Zustande- 
kommen des  "Werkes  ist,  und  daß  diese  notwendige  Wech- 
selbeziehung zwischen  der  materialordnenden  Person  und  der 
formgebenden  Umgebung  nvu*  dann  stattfindet,  wenn  ein 
definiter  Kulturkreis  als  ungebrochne  Einheit  Person  und 
Umgebung  in  der  Weise  umschließt,  daß  die  künstlerische 
Person  darin  als  Glied  enthalten  ist.  Ich  müßte  beim  Bei- 
spiel des  Aurelius  Ambrosius  beginnen,  um  es  bis  zu  dem 
Bruch  dieser  Einheit  zu  führen,  das  heißt  bis  zum  Auf- 
treten der  modernen  Gesellschaft  im  achtzehnten  Jahr- 
hundert, in  welcher  Zeit  der  Schriftsteller  beginnt,  das 
heißt  der  Abgelöste,  der  sich  der  Bildung  bedienen  muß, 
um  den  kulturellen  Bruch  zu  überbrücken:  was  ihm  im 
immer  mehr  abnehmenden  Maße  gelingt  bis  zum  Versagen 
auch  dieser  Verbindung  im  Zeitalter  des  Hochkapitalismus, 
das  wir  leben  und  in  dem  bei  weiter  bestehendem  Kunst- 
willen —  der  als  eine  der  menschlichen  Betätigungen  ja 
nicht    aufhören    kann  —  eine    völlige    Durchwerfung    der 

194 


das  Werk  konstituierenden  Teile  statt  hat.  Der  zu  keiner 
Umgebung  mehr  zugehörige  Dichter  entbehrt  das  formende 
Element  und  vermeint  es  durch  , .Inhalt"  und  „Gestaltung" 
zu  ersetzen;  schon  zweifelt  und  verzweifelt  er  am  ver- 
brauchten Konvenü  der  sekundär  weiter  bestehenden  For- 
men, und  seine  Haltung  gegen  seine  Mitwelt  wird  wesent- 
lich kritisch,  worauf  das  Publikum  ebenso  kritisch  reagiert. 
Das  Dichten  steht  heute  im  Streite  sittlicher  Meinungen, 
der  mit  ästhetischen  "Waffen  geführt  wird,  an  deren  Schärfe 
weder  Dichter  noch  das  Publikum  mehr  recht  glaubt  und 
die  es  nur  in  Erinnerung  an  die  Kunst  und  in  falscher 
Anwendung  dieses  Begriffes  braucht,  denn  die  Literatur 
stellt  in  ihrem  Wesen  ein  vollständiges  Novum  dar,  dem 
mit  den  aus  der  Dichtung  gewonnenen  Anschauungen  nicht 
beizukommen  ist.  Aber  dem  Wesen  der  Dichtung  auch 
nicht  aus  den  Anschauungen  aus  der  Literatur!  Denn  die 
Kunst  ist  nicht  aus  den  Interpretationen  der  wirklichen 
oder  angeblichen  Funktionen  zu  bestimmen,  welche  sie  im 
Leben  der  Menschen  und  dessen  Geschichte  erfüllt  oder 
erfüllen  sollte.  Gewiß  hat  alles  was  ist  einen  Seins-Grund, 
aber  der  Seins-Grund  eines  Faktums  steckt  in  der  Ursache 
des  Faktums,  nicht  in  den  Funktionen,  die  es  erfüllt.  Aus 
der  Summiervmg  aller  wirklichen,  eingebildeten,  möglichen 
und  denkbaren  Funktionen,  welche  die  Kunst  erfüllt  und 
je  erfüllt  hat,  ist  deren  Wesen  so  wenig  bestimmbar  wie 
das  der  Elektrizität  aus  den  Arten  ihrer  Verwendung.  Der 
angebliche  historische  und  dokumentarische  Wert  der  Kunst 
ist  nichts  als  moderne  Prätension  einer  bestimmten  theore- 
tischen Anschauung  über  das  Kunstwerk  „wie  es  sein  soll", 
Victor  Hugo  gab  in  einem  Kapitel  der  Miserables  ein 
historisches  Bild  des  Jahres  1817  mit  aller  Prätension 
historischer  Exaktheit,  und  fast  jeder  Satz  ist  ein  histori- 
scher Irrtum.  Die  moderne  Definition  der  Kunst  als  ,, Spiegel 
ihrer  Zeit"  wäre  auch  dann  noch  irrtümlich,  wenn  der 
Begriff  ,,ihre  Zeit"  wirklich  genau  zu  bestimmen  wäre. 
Was  sich  einen  historischen  Roman  nennt,  ist  nicht  das 
irgendwie  romanhaft  fassonierte  Quellenstudium  seines  Ver- 

13*  195 


fassers,  so  viel  er  dessen  aucH  getrieben  haben  mag,  und 
daß  der  Leser  ihn  goutiert,  ist  mit  nichten  von  seinem 
historischen  Wissen  bestimmt,  mit  dem  er  seinerseits  das 
romanhaft  hergerichtete  Wissen  des  Verfassers  kontrolliert, 
richtig  oder  mangelhaft  findet.  Schon  beim  Historiker  ist 
die  Forderung,  daß  er  ,, alles  wissen"  müsse,  nie  zu  er- 
füllen —  an  den  Romanzier  gestellt  wird  sie  ganz  absurd, 
denn  seine  Absicht  ist  auch  im  sogenannten  historischen 
Roman  keine  historische,  sondern  eine  künstlerische,  die 
primär  nicht  aus  der  Welt  der  Objekte  zu  bestimmen  ist 
als  „Inhalt",  sondern  als  eine  bestimmt  geartete  indivi- 
duelle Aktivität.  Was  in  diese  Individualität  eingeht,  ist  die 
formende  Aktivität  der  Umgebung,  welche  dann  das  Werk 
als  ein  bestimmtes  differenziert,  und  in  diesem  Sinn  kann 
man  allein  von  der  Kunst  einer  „bestimmten"  Zeit,  eines 
„bestimmten"  Kulturkreises,  einer  , .bestimmten"  Sprache 
reden.  Die  historischen  Romane  der  Frau  Handel-Mazzetti 
sind  interessantes  Beispiel,  wie  hier  ein  Romanwerk  nur 
darum  historisch  wird,  weil  sich  der  Dichter  eine  Um- 
gebung fiktiv  koordiniert,  die  als  eine  kulturelle  Einheit 
ihm  allein  die  nötige  Form  gibt,  damit  das  Werk  über- 
haupt werde.  Die  Dichterin  von  ,,Jesse  und  Maria"  ist  so- 
wohl in  ihrer  sprachschöpferischen  Kraft,  wie  in  der  Form 
von  allen  guten  Geistern  verlassen,  wenn  sie  sich  dem 
Heutigen  überläßt,  so  sehr,  daß  sogar  die  hohen  Qualitäten 
ihres  in  den  historischen  Romanen  sichtbar  werdenden 
Glaubens  in  ihren  modernen  Produkten  völlig  ins  Banale 
des  billigsten  Komtessenkatholizismus  sinken.  Nicht  anders 
ist  der  Historismus  Hofmannsthals  aufzufassen:  er  fingiert 
formschaffende  Umgebung,  um  zum  Werke  zu  gelangen. 
—  Wenn  ich  in  Früherm  die  Aufgabe  des  Ästhetikers  als 
eine  nichts  als  kritische  definiert  habe,  so  sagt  das  nicht, 
daß  diese  alleinige  Aufgabe  eine  psychologische  sei  und 
die  Ästhetik  ein  Teil  der  Psychologie.  Denn  diese  studiert 
den  Mechanismus  der  mentalen  Phänomene,  während  der 
ästhetische  Kritiker  auf  die  Inhalte  dieses  Mechanismus 
reflektiert,   welche  Inhalte  die  Psychologie  ignoriert,    um 

196 


die  „passiven"  Phänomene  voranzustellen,  zum  Beispiel 
die  Lustempfindung.  Die  Psychologie  betrachtet  die  Arten 
der  ästhetischen  Wirkungen,  ohne  sich  dabei  aufzuhalten, 
daß  für  das  Zustandekommen  dieser  Wirkungen  ein  Kunst- 
werk da  sein  muß,  und  daß  dieses  zu  kennen  vor  allen 
nötig  ist.  Denn  so  wenig  wie  aus  den  sozialen  Neben- 
funktionen der  Kunst,  Erhebung,  Besserung,  Bildung,  Be- 
lehrung und  so  weiter  ist  ihr  "Wesen  aus  den  psychologi- 
schen Effekten:  Lustempfindung,  Erschütterung  und  so 
weiter  bestimmbar.  Und  Kunstwerke,  die  heute  aus  solchen 
Einstellungen  auf  die  sozialen  und  psychologischen  Wir- 
kungen zustande  kommen,  sind  allenfalls  heutige  Literatur, 
aber  nicht  Kunst. 

Folge  heutiger  Anschauung  über  das  Kunstwerk  als  ein 
durch  nichts  sonst  als  die  individuelle  Aktivität  der  künst- 
lerischen Person  zustande  Kommendes  ist  die  Reihe  jener 
extravaganten  Theorien  über  das  Genie,  sowohl  jener, 
welche  es  als  ein  mystisches  Sprachrohr  Gottes  (oder  der 
„Menschheit")  ansehn,  wie  der  andern,  die  das  Genie  als 
eine  pathologische  Erscheinung  in  die  Nähe  des  Verbrechers 
oder  des  Minderwertigen  und  Überkompensierenden  stellen, 
welche  beide  Anschauungen  insofern  identisch  sind,  als  sie 
die  künstlerische  Person  übermenschlich  machen,  zu  einem 
Halbgott  oder  zu  einem  Halbidioten,  also  zu  einem  De- 
menten mit  wechselndem  Vorzeichen.  Ein  allgemeines  Merk- 
mal aller  geistigen  Demenz  ist  ein  psychischer  Automatis- 
mus, der  von  der  Schwäche  der  synthetischen  Urteile  ab- 
hängt, und  gerade  das  Gegenteil,  nämlich  die  Stärke  der 
synthetischen  Kraft,  zeichnet  die  künstlerische  Person  aus, 
also  höchste  sittliche  Stärke,  wie  den  Narren  größte  sitt- 
liche Schwäche:  jenen  als  einen  Menschen  stärksten  Ver- 
antwortungsgefühles im  Zusammensein  mit  der  Mensch- 
heit, den  Narren  als  einen  jedes  solchen  Gefühles  Ent- 
bundenen, aus  der  Menschheit  Isolierten.  Die  Isolierung, 
die  der  Dichter  dieser  Zeit  als  künstlerische  Person  durch 
die  fehlende  formschaffende  Umgebung  in  seinem  fragmen- 
tarischen Werke  erleidet,  wofür  er  sozial  durch  die  Mög- 

197 


lichkeit,  bürgerlich-kapitalistischer  Besitzer  zu  werden,  ent- 
schädigt sein  soll,  zeitigte  solche  diagnostische  Ästhetik  des 
Genies  als  eine  moderne  Form  der  Domestizierung  des 
Künstlers,  die  nicht  seine  bürgerliche,  sondern  seine  geistige 
Person  trifft. 

Der  Künstler  arbeitet  nicht  um  eine  Zeit  zu  spiegeln,  nicht 
um  bestimmte  sittliche  Gefühle  auszulösen,  wenn  beides 
auch  als  sekundäre  Wirkung  als  im  Kunstwerke  einge- 
schlossen hinzutreten  kann.  Er  „fühlt  sich"  nicht  und  in 
nichts  ,,ein";  er  betreibt  weder  , .äußere"  noch  ,, innere 
Nachahmung"  —  was  sollte  er  nachahmen?  Die  andern 
,, Spieltriebäußerungen"  in  andern  Büchern?  Soll  er  sich 
in  ein  andres  ,, Eingefühltes"  einfühlen?  Dieses  Einfühlen 
und  innere  Nachahmen  reduzierte  das  ästhetische  Phänomen 
auf  einen  nichts  als  subjektiven  Akt,  der  im  Belieben  dessen 
steht,  der  ihn  erfüllt,  und  damit  wäre  das  Problem  ins 
Mystische  gedrängt,  das  neben  dem  Pathologischen  der 
zweite  Ort  ist,  wohin  der  verlegene  Psycholog  flüchtet. 
All  diese  Kunsttheoretiker  manifestieren  nichts  sonst  als 
ihre  Inkompetenz  in  den  Dingen  der  Kunst,  weil  sie  ,, zu- 
rückführen" wollen  auf  mehr  oder  minder  vertraute  allge- 
meine biologische,  psychologische,  anthropologische  und 
gesellschaftliche  Phänome,  insoweit  diese  eine  wissenschaft- 
liche Gruppierung  bekommen  haben.  Aber  es  manifestiert 
sich  im  Kunstwerke  ,,eine  ganz  neue  Kraft"  (Schiller), 
nämlich  die  Kraft  der  künstlerischen  Person,  das  Material 
in  der  Wirkungsrichtung  auf  eine  formschaffende  Umgebung 
wählend  zu  ordnen.  Beim  Läuten  einer  Türklingel  wie  bei 
einer  Symphonie  handelt  es  sich  um  Töne,  bei  einer  Wiese 
wie  bei  einem  Bilde  um  Farben,  bei  den  Bezeichnungen 
eines  Fahrplanes  wie  eines  Gedichtes  um  Worte,  bei  einem 
natürlichen  Menschenleib  wie  bei  einer  Plastik  um  eine 
Gestalt  im  Raum,  aber  Töne,  Farben,  Worte  und  Plastik 
drücken  als  geordnete  und  geformte  Materie  in  der  Kunst 
ein  vollkommen  Neues  aus,  das  mit  den  korrespondierenden 
Bildungen,  Geräuschen,  Erscheinungen  des  natürlichen 
Lebens  wohl  vergleichbar,  aber  von  ihnen  nicht  ableitbar 

198 


oder  abgeleitet  oder  in  dessen  Nachahmung  entstanden  ist, 
noch  in  dessen  Vereinfachung  (,,Stir'),  noch  in  dessen 
Steigerung  zum  „Sinn"  („Symbol").  Die  Materien  bekommen 
ihren  Ausdruckswert  erst  durch  die  synthetische  Kraft  der 
sittlichen  Person,  die  man  Künstler  nennt. 
Alle  nicht  der  Kunst  selber  abgewonnenen  Methoden  ihrer 
Begrifflichkeit  sind,  auf  sie  angewandt,  falsch  und  ergeb- 
nislos, so  gelehrt  auch  ihr  Herkommen  sein  mag  und  so 
angesehn  die  "Wissenschaft,  deren  sie  sich  bedient.  Es  ist 
so,  als  benützte  man  für  die  Probleme  der  Botanik  die  Me- 
thode der  Rechtswissenschaft  oder  für  die  Aufgaben  der 
Astronomie  die  Arbeitsweisen  der  Medizin.  Das  Naturge- 
gebene ist  nicht  die  wesenbestimmende  Substanz  der  Kunst, 
und  darum  ist  sie  wissenschaftlich  von  keiner  jener  Dis- 
ziplinen her  zu  bestimmen  oder  zu  erkennen,  welche  mit 
den  Naturgegebenheiten  als  ihrer  Substanz  arbeiten.  Die 
Kunst  ist  nicht  ,, zurückführbar"  auf  etwas  andres  als  auf 
ihr  ganz  autonomes  Selbst  innerhalb  der  sittlichen  Welt. 
Von  dem,  der  sich  mit  der  Kunst  der  Kunst  beschäftigt, 
ist  eine  wissenschaftlich  nicht  erwerbbare  Zugehörigkeit 
zu  verlangen,  die  absoluter  ist  als  die  zur  Chemie  etwa 
oder  einer  sonstigen  wirklichen  Wissenschaft,  die  ohne 
solche  innre  Zugehörigkeit  durchaus  erlernbar  ist.  Ästhetik 
als  Kritik  der  Kunst  ist  so  wenig  erlernbar  wie  die  Philo- 
sophie, die  man  , .haben"  mu£,  um  sie  wissenschaftlich 
das  heißt  methodisch  zu  treiben,  die  man  aber  nicht  er- 
lernen kann,  um  sie  dann  zu  ,, haben",  wenn  auch  die 
Tatsache  so  außerordentlich  vieler  Professoren  der  Philo- 
sophie und  Dozenten  der  Ästhetik  dagegen  zu  sprechen 
scheint.  Aber  Professor  der  Philosophie  und  Philosoph 
ist  ja  wie  man  weiß  nicht  dasselbe ;  Schiller  hat  als  Künstler 
in  seinen  ästhetischen  Schriften  Wahrheiten  zum  Gegen- 
stande gesagt,  die  ein  bloßer  Gelehrter  wie  zum  Beispiel 
Groos  nur  mißverstehn  kann,  im  Ganzen  wie  im  Einzelnen. 
Denn  es  gibt  keine  ästhetischen  ,, Einzelphänomene",  die 
allenfalls  von  dem  in  der  Kunst  inkompetenten  Gelehrten 
studiert   und   gelöst    werden    können.    Die    künstlerischen 

199 


Phänomene  stehen  untereinander  in  unlösbarer  Abhängig- 
keit von  einander  und  sind  nicht  isolierbar,  —  werden 
sie  doch  isoliert,  so  sind  sie  damit  völlig  um  ihre  ästhe- 
tische Zugehörigkeit  gebracht  und  in  irgendwas  gewandelt, 
das  mit  der  Kunst  das  Geringste  nicht  mehr  zu  tun  hat 
—  , (Kunst  und  Krieg",  ,,der  Arbeiter  und  die  Kunst"  und 
so  weiter;  aber  auch  alle  sogenannten  sinnespsychologischen 
Einzeluntersuchungen  werden  ästhetisch  nur  dann  in  Be- 
tracht kommen,  w^enn  der  sie  Untersuchende  in  seinem 
Gesichtsfelde  die  Kunst  als  ein  Ganzes  und  zudem  kriti- 
schen Sinn  genug  hat,  den  untersuchten  Teil  immer  auch 
Teil  eines  angeschalteten  Ganzen  sein  zu  lassen,  welches 
Ganzes  die  Kunst  ist,  nicht  der  Krieg,  der  Arbeiter,  die 
Netzhautreaktion.  Ästhetik  wäre  danach  autonome,  nach 
ihrem  eigenen  Methodus  vorgehende  Kritik  der  künstleri- 
schen Sachgegebenheiten,  welche  nur  und  nichts  sonst 
als  das  Kunstwerk  beibringt,  wie  es  aus  der  Kraft  der 
materialschaffenden  Person  des  Künstlers  und  der  aktiven, 
die  Form  gebende  Teilnahme  der  Umgebung  zustande 
kommt.  Daß  die  heutige  Ästhetik,  insofern  sie  die  moderne 
Kunst  in  ihre  Betrachtung  zieht,  dieser  Definition  nicht 
entspricht  und  gar  nicht  entsprechen  kann,  ergibt  sich  aus 
dem  mit  keiner  Dichtung  vergleichbaren  Charakter  der 
heutigen  Literatur. 

ZEHNTER  EXKURS 

Dieser  handelt  von  der  deutschen  Sprache.  Hört  man  einen 
deutschnationalen  Parteiführer  oder  Abgeordneten,  so  könnte 
ein  Naiver  für  Sprache  das  halten,  worin  sich  die  Leute 
einer  Gegend  kaufend,  verkaufend  und  zeitungschreibend 
verständigen,  möchte  ein  Naiver,  sage  ich,  fast  glauben,  es 
läge  jenem  Patrioten  vor  Gott  und  der  Welt  nichts  anderes 
am  abgeordneten  Herzen,  als  Wahrung  des  Kulturgutes 
deutsche  Sprache.  Ich  will  den  Standpunkt  des  Naiven  zu 
dem  meinen  machen  und  nicht  im  Leisesten  glauben,  daß 
die  lauten  Hüter  der  deutschen  Sprache,  seien  es  Abgeord- 

200 


ncte,  Professoren  oder  Studenten,  ganz  andere  Moventia 
eignen.  Will  glauben,  daß  alle  diese  teutschen  Männer 
Profit,  Dividende,  Bonus,  Kapitalvermehrung,  Avancement, 
Protektion  usw.  usw.  vergaßen,  als  ob  es  nichts  wäre,  weil 
sie  sich  in  dem  Einen  zusammenfanden:  in  der  schweren 
Sorge  um  das  bedrängte  Kulturgut  der  deutschen  Sprache. 
Und  nicht  etwa  um  solche  in  beiläufigem  ,, Deutsch"  geredete 
Internationalismen  wie  ,,dic  nächste  Zuckerkampagne  soll 
bringen  eine  Erhöhung  der  Dividende  um  fünfzehn  Prozent", 
oder  weniger  gejüdelt,  doch  deutsch  auch  nur  so  geredet, 
da&  es  ebensogut  botokudisch  gesagt  werden  könnte:  ,,die 
böhmische  Industrie  ist  deutsch- völkisch  und  wird  es  bleiben 
immerdar,  hie  alle  Wege,  das  walte  Gott,  ei  Potz!"  Liest 
oder  hört  man  unsere  Nationalisten,  so  kommen  einem  ja 
schwere  Bedenken,  ob  sie  den  hier  angedeuteten  Unter- 
schied zwischen  Sprache,  die  ein  Kulturgut,  und  dem  so 
Reden,  was  ein  Verkehrsmittel  ist,  auch  nur  zu  ahnen  ver- 
mögen, denn  in  dem  nationalistischen  Reden  ist  meist  nicht 
ein  Satz  deutscher  Sprache  zu  finden,  den  sie  je  gebildet 
hätten.  Sie  bedienen  sich  deutscher  Bezeichnungen,  in 
Figuren  und  Wendungen  geordnet,  die  sicher  irgendwie 
aus  der  deutschen  Sprache  herkommen,  aber  gewiß  nie 
wieder  zu  ihr  zurückkehren,  sie  hütend,  wahrend  oder  gar 
mehrend.  Sie  reden  auf  deutsch  und  sie  meinen,  sie  sprächen 
deutsche  Sprache.  Sie  reden  auf  deutsch,  auch  wenn  sie 
ängstlich  Fremdwörter  vermeiden,  wie  ihre  Sprachreiniger 
es  fordern,  die  wissen  sollten,  was  die  Nationalisten  nicht 
zu  wissen  brauchen:  daß  das  Deutsche  so  etwas  wie  eine 
tote  Sprache  ist  —  was  nicht  bedeutet,  eine  nicht  mehr  ge- 
sprochene. Ohne  weiter  fremdartig  zu  wirken,  gehen  alle 
Neubildungen  römisch- griechischer  Art  in  den  Besitz  jener 
Sprache  über,  die  man  Tochtersprachen  des  Romanischen 
nennt,  besonders  des  Französischen,  welches  die  Lehns- 
sprache ist,  die  man  auf  französischem  Boden  heute  spricht, 
wo  das  autochthone  Baskisch  und  Bretonisch  so  gut  wie 
ganz  verschwunden  sind,  in  welchen  beiden  Sprachen  das 
Wort  ,, Automobil"  ein  Fremdwort  sein  würde,  das  es  im 

201 


Französischen  gar  nicht  und  im  Englischen  nur  bei  dichten- 
den Fanatikern  des  Angelsächsischen  —  und  das  es  im 
Deutschen  immer  ist.  Denn  das  Deutsche  ist  als  eine 
autochthone  Sprache  längst  fertig  in  seinem  wesentlichen 
Bestand  an  "Wörtern  wie  an  Grammatik.  Daraus  erklärt 
sich  die  „Dunkelheit"  der  deutschen  Sprache,  von  der  die 
Franzosen  sprechen,  denn  wir  haben  eine  nicht  geringe 
Anzahl  von  Wörtern,  deren  je  eines  für  drei  und  mehr 
Begriffe  verschieden  da  ist.  Wir  sagten  Kielfeder,  als  man 
mit  der  Kielfeder  schrieb.  Wir  blieben  bei  Feder,  als  man 
schon  nicht  mehr  mit  der  Feder  schrieb,  sondern  mit  der 
geteilten  Stahlspitze.  Und  wir  gebrauchen  das  gleiche  Wort 
Feder  für  die  Spirale  in  der  Uhr  und  für  einen  Teil  des 
Schiffsbodens.  So  haben  wir  ein  Wort  für  vier  verschiedene 
Begriffe,  ein  Wort,  das  wir  nicht  einmal  im  Geschlechte 
differenzieren.  Neunundneunzig  neue  Bezeichnungen  für 
Gegenstände  betreffen  seit  fünfzig  Jahren  technische  Dinge : 
wir  müssen  dafür  entweder  das  ,, Fremd  wort"  hinnehmen, 
oder  wir  müssen  mit  einem  Wort  bezeichnen,  das  schon 
andern  Begriffen  als  Attribut  dient  oder  wir  müssen  den 
Begriff  umschreiben,  was  dem  Individuellen  des  Begriffes 
widerspricht,  der  ein  Wortindividuum  verlangt.  Die  erste 
Möglichkeit,  das  Fremdwort  zu  adoptieren,  ist  die  beste, 
und  die  alten  sprachreinigenden  Gesellschaften  haben  der 
deutschen  Sprache  wie  der  deutschen  Politik  einen  schlechten 
Dienst  mit  ihrer  Tätigkeit  erwiesen,  eine  deutsche  Sprache 
dadurch  rein  zu  erhalten,  daß  sie  in  neunundneunzig  von 
hundert  Fällen  für  fremde  Worte  deutsche  Sprachungetüme 
erfanden.  Oder  sie  haben  deutsche  Politik  richtig  geahnt, 
indem  sie  ihr  jeden  Expansionismus  und  Imperialismus  als 
sprachlich  unmöglich  absprachen.  Denn  die  Sprache  hat 
eine  politische  Immanenz:  England  kommt  zu  seiner  Welt- 
stellung dank  seiner  Sprache,  die  in  der  glücklichen  Lage 
ist,  germanisch  und  romanisch  in  sich  zu  vereinigen,  Eng- 
land kommt  sprachorganisch  zu  Kolonien,  weil  die  englische 
Sprache  dafür  ein  englisches  Wort  hat.  Deutschland  verliert 
die  seinen,  weil  es  dafür  kein  deutsches  Wort  hat. 

202 


Die  Bezeichnung  „Telegraph"  ist  die  bestmögliche  in  deut- 
scher Sprache.  Der  absolute  Purismus  würde  die  deutsche 
Sprache  unter  Monstrositäten  begraben.  Zu  Beginn  des 
Krieges,  als  dem  deutschnationalen  Patriotismus  der  Schaum 
vor  dem  Munde  stand,  wütete  man  gegen  die  ,, Fremd- 
wörter". Man  wußte  nämlich  nicht,  daß  der  Mensch  die 
Sprache  nicht  erfunden  hat  wie  eine  weittragende  Kanone, 
denn  der  Mensch  ist,  wie  Wilhelm  von  Humboldt  sagt, 
Mensch  durch  die  Sprache.  Die  Nationalisten  aber  glaubten, 
der  Mensch  habe  die  Sprache  erfunden  und  könne  daher 
immer  weiter  erfinden  mit  gutem  Rechte.  Sie  hielten  Ge- 
rücheerzeuger, das  sie  für  Parfumeur  forderten,  für  ein 
deutsches  "Wort,  wie  Kraftwagen  für  Auto  und  Fernsprecher 
für  Telephon.  Im  Jahr  1915  erschien  ein  dickes  patriotisches 
Verdeutschungswörterbuch,  ein  Monument  der  Sprach- 
mißhandlung —  es  ist  seltsam,  wie  unbekannt  die  deutsche 
Sprache  gerade  jenen  ist,  die  sich  aus  Patriotismus  mit  ihr 
beschäftigen.  Es  ist  bemerkenswert,  wie  unbekannt  über- 
haupt alles  jenen  ist,  die  sich  aus  nationalistischem  Pa- 
triotismus mit  irgendwas  beschäftigen.  Es  ist  nicht  der 
sittliche  Defekt  nationaler  Schwäche,  der  den  Deutschen 
inmitten  eines  anderssprachigen,  etwa  des  englischen  Milieus 
in  den  U.  S.,  das  Deutsche  vergessen  läßt.  Wer  für  den 
Begriff  keine  andere  Bezeichnung  hat  als  Autorität,  der 
wird  eben  sehr  bald  autority  sagen  und  der  Rest  folgt 
bald  nach.  Man  hat  im  wilhelminischen  Deutschland  diesen 
imperialistischen  Mangel  der  deutschen  Sprache  in  den  im- 
perialistischen Zentren  empfunden  und  sich  so  etwas  wie 
ein  kosmopolitisches  Deutsch  erfunden  in  all  den  Abbre- 
viaturen, Wörtern  aus  Anfangsbuchstaben  usw.  Man  empfand, 
daß  die  neuen  Wörter,  die  man  für  die  neuen  Gegenstände 
vorschlug,  keineswegs  neue  deutsche  Wörter,  sondern  nur 
sehr  grausliche  Zusammensetzungen  alter  Wörter  und  dazu 
auch  ohne  die  Fähigkeit  wären,  den  Gegenstand  zu  be- 
zeichnen so  eindeutig,  wie  es  nötig  war.  Man  empfand  das 
Hindernis,  das  den  Deutschen  die  deutsche  Sprache  in  einer 
industrialisierten  Zeit  und  deren  politischen  Auswirkungen 

203 


bereitet,  und  machte  verzweifelte  aber  vergebliche  An- 
strengungen, über  dieses  Hindernis  wegzukommen  —  ver- 
gebliche, denn:  die  deutsche  Sprache  ist  keine  lebende 
Sprache.  Man  mache  eine  Statistik  der  Verhältniszahlen. 
Man  wird  in  den  ungefähr  tausend  Worten,  die  der  durch- 
schnittliche Berliner  Kaufmann  kennt  und  braucht,  fünf- 
hundert nicht  deutsche  finden.  Man  wird  unter  den  ungefähr 
vierzigtausend  deutschen  Worten,  die  es  gab  und  gibt,  mehr 
als  zehntausend  zählen,  die  weder  mehr  gekannt,  noch  gar 
gesprochen  oder  auch  nur  geschrieben  werden.  Die  Zei- 
tungen sorgen  für  die  Verkümmerung  der  letzten  Sprach- 
quelle, der  Dialekte,  denn  die  Zeitungen  sind  alle  in  dem 
ins  sogenannte  Hochdeutsche  übertragene  Argot  der  Groß- 
städte geschrieben,  also  in  einem  Verkehrsdeutsch,  das  mit 
dem  nationalen  Kulturgut  der  Sprache  nichts  zu  tun  hat. 
Denn  ob  die  Frage:  ,,Wie  hoch  stehen  De  Beer- Aktien?" 
auf  deutsch,  englisch  oder  krowotisch  gestellt  wird,  das 
ist  im  Sinn  des  Kulturgutes  Deutsche  Sprache  gänzlich 
gleichgültig. 

Ich  kann  der  politischen  Bedeutung  der  Sprache  im  Zu- 
sammenhange dieses  Buches  nicht  ins  Einzelne  nachgehen, 
aber  ich  muß  die  Aufmerksamkeit  auf  einige  Fakten  lenken. 
Im  Süden  wie  im  Westen  endete  die  Expansion  Germaniens, 
das  bis  zur  Saale  und  zur  Elbe  reichte,  damit,  daß  die  in 
Italien  und  Gallien  eindringenden  Germanen  als  die  kultu- 
rell schwächeren  von  den  romanisierten  Galliern  und  Ita- 
likern  aufgesogen  wurden.  Das  gleiche  Schicksal,  das  die 
germanischen  Stämme  der  Langobarden  in  Italien  erlitten, 
die  fränkischen  Stämme  in  Gallien,  erlitten  die  sächsischen 
in  Britannien.  Wie  sie  es  heute  noch  in  Amerika  erleiden. 
Anders  war  es  mit  der  Expansion  nach  dem  Osten.  Die 
slavischen  Völker  der  Wenden,  Kassuben,  Sorben,  Prussen 
waren  kulturell  schwächer  als  die  Germanen,  welche  über 
die  Elbe  gingen  und  hier  das  Herrenvolk  wurden  im  Laufe 
der  Jahrhunderte.  Kulturell  unterwertig  war,  was  die  Ger- 
manen nach  dem  Süden  und  Westen  brachten,  wo  sie  sich 
romanisierten.  Kulturell  überwertig  war,  was  sie  den  sla- 

204 


vischen  Stämmen  brachten,  mit  deren  Blut  sie  sich  wohl 
vermischten,  deren  Sprache  aber  nicht  nur  nicht  annahmen, 
sondern  ihnen  die  ihre  gaben  —  ein  Prozeß,  der  bis  in  den 
Anfang  des  19.  Jahrhunderts  dauerte,  um  sich  bis  an  die 
Weichsel  auszuwirken;  und  dem  auch  die  Tschechen  nicht 
widerstanden  hätten,  wäre  das  Werk  anders  getan  worden 
als  durch  die  Gegenreformation,  wo  es  zu  spät  war;  denn 
von  einer  kulturellen  Minderwertigkeit  der  Tschechen  gegen- 
über den  Deutschen  konnte  nun  nicht  mehr  die  Rede  und 
kein  Grund  sein,  daß  diese  Slaven  von  den  Deutschen 
etwas  annahmen,  was  sie  selber  schon  besaßen.  Heute  ist 
der  Prozeß  sprachlicher  Eroberungen  durch  die  Deutschen, 
der  nach  Westen  nie  statt  hatte,  auch  nach  dem  Osten  ge- 
schlossen. An  der  Weichsel  hatte  das  Deutsche  seinen  ent- 
ferntesten Punkt  der  Wirkung  erreicht,  um  auch  diese  Linie 
zu  verlieren,  weil  es  in  den  letzten  fünfzig  Jahren  wieder 
von  dem  Vergeblichen,  nach  dem  Westen  zu  expandieren, 
gefangen  war.  Es  hat  für  die  Deutschen  immer  nur  den 
östUchen  Weg  gegeben,  aber  man  ging  unbelehrt  die  Wege 
in  allen  Richtungen  der  Windrose.  Um  sich  damit  auch 
den  östlichen  Weg  ungangbar  zu  machen.  Wäre  die  deutsche 
Philologie  ihren  Begründern  treu  geblieben,  so  hätte  die 
deutsche  Politik  vielleicht  ein  anderes  Gesicht  bekommen 
als  das  ihr  jene  Philologen  gaben,  die  sich  damit  legitimierten, 
daß  sie  aus  Telegramm  ,, Funkspruch"  machten. 

ELFTER  EXKURS 

Dem  Veranstalter  eines  teuern  Literaturblattes  —  es  kosten 
die  vier  Hefte  zweitausend  Mark  —  sagte  eine  Berliner 
Zeitung,  daß  er  mit  seinem  Unternehmen  auf  Kriegsgewinner 
spekuliere,  und  in  einem  Ghetto-Deutsch  verteidigte  sich 
der  Mann  damit,  daß  ,, Kriegsgewinner  lieber  Sachen  zum 
Hängen  als  zum  Hinlegen  haben"  und  rief  Sternheim  zum 
Zeugen,  der  bestätigte,  daß  ,,von  Volk  niemals  Anregung 
oder  Hülfe  für  die  Dichter  komme".  Hier  wurde  vorbei- 
geredet.   Der  Veranstalter  verteidigte  mit  Augenaufschlag 

205 


nur  seine  Spekulation,  was  Sternheim  mißverstand.  Aber 
er  rührte  an  eine  wichtige  Sache.  Was  die  Publizität  be- 
trifft, so  kommen  dabei  weder  ,,Volk"  noch  „Reiche"  ins 
Spiel,  das  ausschließlich  dem  Geschäftlichen  und  seiner 
Überlegung  gehört;  denn  der  Dichter  arbeitet  weder  für 
viele,  noch  für  wenige,  sondern  für  alle  Menschen.  "Wie 
viele  es  dann  praktisch- geschäftlich  sind,  entscheidet  oder 
vermutet  der  Verleger  nach  der  ersten  Auflage,  und  das 
Resultat  kann  den  Dichter  erfreuen  oder  betrüben,  aber 
nicht  veranlassen,  anders  zu  dichten  oder  es  überhaupt  sein 
zu  lassen.  Bei  ehrlichem  künstlerischen  Gewissen  hätte 
jener  Veranstalter  die  einfachste  weil  selbstverständlichste 
Antwort  geben  können,  daß  es  an  dem  Faktum  vorhandner 
Literatur  nichts  ändert,  ob  man  sie  in  Massen  für  viele 
billig  oder  in  kleiner  Zahl  der  Auflage  für  wenige  teuer 
verbreitet,  ob  sie  von  vielen,  von  wenigen  oder  von  keinem 
gelesen  wird.  Aber  er  sprach  als  Unternehmer  die  Erfahrung 
aus,  die  er  sich  vom  irregeführten  Sternheim  bestätigen 
ließ,  daß  der  Sinn  für  die  Kunst  bei  denen  sei,  die  sie  hoch 
bezahlen  können.  Er  meinte  damit  aber:  das  Geschäft  mit 
der  Kunst  ist  nur  mit  den  Reichen  zu  machen,  womit  er 
durchaus  recht  hat.  Er  traute  sich  nur  nicht,  diese  geschäfts- 
tüchtige Wahrheit  zu  sagen  und  schrieb  den  Reichen  den 
Sinn  für  die  Kunst  zu.  Der  ist  aber  weder  bei  ihnen  noch 
bei  den  Armen,  wenn  wir  auch  bemerken  können,  daß  der 
Bankdirektor  X,  wenn  er  überhaupt  etwas  liest,  den  Schund- 
roman, sein  armer  Kommis  aber  die  Gedichte  von  Werfel 
liest.  Aber  dies  zu  verallgemeinem,  wäre  falsch,  denn  in 
dem  Gegensatz  Arm-Reich  liegt  gar  nicht  das  hier  prin- 
zipiell trennende  Moment  oder  wenigstens  nicht  in  so 
schematischer  Form,  Sicher  korrespondiert  die  jeweils  neue 
Literatur  mit  der  herrschenden  Klasse,  nicht  in  dem  Taine- 
schen  Sinn,  daß  die  Literatur  Ausdruck  der  herrschenden 
Gesellschaft  sei,  denn  das  ist  sie,  so  allgemein  gesagt,  nicht, 
sondern  sie  steht  in  einer  direkten  Beziehung  zu  dem 
Bildungsniveau,  das  die  herrschende  Klasse  erreicht  hat. 
Dieses  Bildungsniveau  setzt  die  herrschende  Klasse  in  Stand, 

206 


sogar  eine  Literatur  zu  gouticrcn,  deren  Tendenz  ihren 
politischen  und  sonstigen  Idealen  und  Interessen  entgegen- 
gesetzt ist  und  diese  angreift  wie  im  Fall  Leonhard  Frank. 
Und  eben  dieses  Niveau,  eben  dieser  der  ästhetischen 
Sensibilität  der  herrschenden  Klassen  entsprechende  formale 
Ausdruck  wird  jenen  Klassen  als  „zu  gebildet"  nicht  liegen, 
die  mit  der  Tendenz  eines  Frank  durchaus  sympathisieren. 
So  wird  ein  Francis  Jammes  dem  Wiener  christlich-sozial 
Gläubigen  viel  „zu  literarisch"  sein,  er  wird  ihn  nicht  vcr- 
stehn,  wie  wir  ja  auch  in  neuern  Kirchen  den  Kreuzweg 
nicht  von  Marees,  Hofer  oder  Feistauer  gemalt  sehn,  son- 
dern von  dem  ödesten  Kitschier,  in  den  katholischen 
Feuilletons  eine  fromme  aber  schlechte  Literatur  finden, 
in  den  sozialdemokratischen  eine  schlechte  aber  gesinnungs- 
tüchtige und,  wie  gleich  gesagt  sei,  in  den  Zeitungen  der 
herrschenden  Klassen  eine  zumeist  schlechte,  aber  ge- 
sinnungslose. Träte  heute  jene  vielbesprochene  Revolution 
ein,  durch  welche  die  herrschenden  Klassen  von  den  bis- 
her beherrschten  des  Proletariats  und  Kleinbürgertums  ab- 
gelöst würden,  so  wäre  die  dann  herrschende  Literatur 
ganz  der  heutigen  Bildung  dieser  Klassen  entsprechend: 
Spielhagen,  Rosegger,  Freiligrath,  Schiller  —  dieser  als 
Grenze  nach  rückwärts  wie  als  Grenze  nach  vorwärts  — , 
Björnson,  der  Ibsen  des  Volkfeinds,  der  Hauptmann  der 
Weber  und  des  Rautendelein.  Es  ist  unleugbar,  daß  — 
wofür  die  Ursachen  auf  der  Hand  liegen  —  die  derzeit 
herrschende  bürgerliche  Klasse  das  Privilegium  der  künst- 
lerischen Kultur  besitzt  und  allein  nur  besitzen  kann.  Denn 
was  das  Volk  besitzt,  ist  nicht  eine  besondre  Literatur, 
sondern  Abfall  der  Literatur  der  herrschenden  Klasse,  ver- 
mehrt um  die  vom  Volke  konservierte  Literatur  aus  frühern 
Epochen  eben  dieser  herrschenden  Klasse.  Alle  Bemühungen 
der  Volksbildungs vereine  verbreitern  im  besterreichten  Fall 
die  Masse  der  herrschenden  bürgerlichen  Bildung,  bringen 
aber  kein  neues  Element  in  sie,  gar  nicht  zu  reden  davon, 
daß  dieses  Bemühn  keine  wesentlich  andre  Bildung  schafft, 
auf  die  der  Dichter  sich  beziehn  und  die  herrschende  bürgcr- 

207 


liehe  Bildung  entbehren  könnte.  Die  Literatur  des  Volkes, 
das  heißt  das,  was  das  Volk  liest,  ist  immer  konservativ 
die  Literatur  von  ehegestem  und  wird  paradoxer  Weise 
künstlerisch  reaktionär  immer  dort  sein,  wo  das  Volk  poli- 
tisch radikal  oder  revolutionär  ist:  sozialdemokratische 
Liederdichter,  katholische  Erzähler  in  klerikalen  Blättern. 
Während  die  vorlaufende,  sich  auf  das  gebildete  Niveau 
der  herrschenden  Klassen  stützende  Literatur  immer  künst- 
lerisch revolutionär  ist,  auch  bei  „reaktionärer"  Gesinnung: 
Huysmans,  Claudel,  Sorge.  Man  erinnere  sich  an  das  durch- 
aus Reaktionäre  in  der  französischen  Revolutionsdichtung, 
die  jede  Tradition  unterbrechend  auf  den  Formausdruck 
von  1700  zurückging,  während  die  Neuerer  unter  den 
reaktionären  Emigranten  waren. 

Käme  heute  das  sozialdemokratische  Proletariat  zur  Herr- 
schaft, es  würde  als  seinen  besten  literarischen  Ausdruck 
so  etwas  wie  den  Zolaismus  entdecken,  also  künstlerisch 
reaktionär  sein.  Die  ununterbrechbare  künstlerische  Tra- 
dition aber  würde  von  den  überlebenden  Besiegten  getragen 
werden,  und  von  ihnen  müßte  die  neue  herrschende  Klasse 
empfangen. 

Das  alles  hat  mit  den  ,, Reichen"  nichts  zu  tun.  Die  wenigen 
Schöpfer  neuer  dichterischer  Gebilde  korrespondieren  mit 
wenigen,  die  für  die  Aufnahme  bereit  sind.  Diese  wenigen 
werden  sich  gewiß  immer  nur  in  den  herrschenden  oder 
diesen  bildungsgemäß  affilierten  Klassen  finden,  aber  von 
einer  absoluten  Koinzidenz  der  Dichter  und  der  herrschen- 
den Klasse  ist  nicht  zu  sprechen.  Die  wenigen,  den  Dichter 
Erkennenden  sind,  wenn  auch  zur  herrschenden  Klasse  ge- 
hörig, weder  in  deren  Herrschaftsinteressen  befangen,  noch 
deren  vornehmste  Träger,  am  allerwenigsten  sind  sie  aber 
mit  den  Reichen  schlechthin  zu  identifizieren,  wie  jener 
Herr  mit  Händen  und  Schultern  behauptet,  der  den  Ge- 
schundenen auf  Japanpapier  vorführt  —  wie  er  behauptet, 
um  sich  einen  sittlichen  Grund  für  das  unsittliche  Geschäft 
zu  geben,  daß  er  eine  Novelle,  die  man  im  Verlage  Wolff 
für  achtzig  Pfennige  haben  kann,  für  etwa  zwanzig  Mark 

208 


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liefert  —  ja,  das  ist  das  Wort,  denn  seine  Reichen  sind 
nicht  nur  ,,die,  wo  was  zum  Hängen  lieben",  denn  sie  mögen, 
wo  was  teuer  kostet,  auch  wenn  man  nur  kann  hinlegen 
und  ist  nur  nebbich  Literatur. 

ZWÖLFTER  EXKURS 

Dem  Urteil  der  Eingeweihten  überlasse  ich  es,  ob  ich  eine 
Wirklichkeit  oder  eine  Utopie  mit  dem  folgenden  Versuch 
eines  Geistes  der  konservativen  Parteien  beschreibe.  Ihn 
anzustellen  schreckt  mich  der  Umstand  nicht  ab,  daB 
O.  A.  H.  Schmitz  einmal  als  Retter  des  preußischen  Konser- 
vativismus versagte.  Möglich,  daß  ich  mit  meinem  Versuch 
Eulen  nach  Danzig  oder  München,  oder  wie  sonst  das  kon- 
servative Athen  heißt,  trage  und  das,  was  sich  in  den  rc- 
spektiven  Blättern  und  Reden  äußert,  nur  Maske  ist  für 
den  wahren  und  verborgen  gehaltnen  Geist  und  dieser  sich 
mit  meinem  Versuche  deckt.  Doch  ist  Tatsache,  daß  der 
sich  äußernde  Geist  doch  mehr  ,,Jeist"  ist  und  nur  höchst 
dürftig  eine  im  übrigen  recht  korpulente  Blöße  deckt, 
strotzend  in  Interessen  höchst  ungeistiger,  wenn  auch  (kar- 
toffel-)  spiritueller  Art,  Das  Mantelstück,  das  sich  der  hei- 
lige Schmitz  abschnitt,  war  gut  gemeint,  aber  es  rutschte 
ob  seiner  Kleine  vom  umfangreichen  Leibe  des  Bettlers  im 
Geist.  Wir  wollen  freigebiger  sein,  nicht  nur  ab-,  sondern 
auch  gleich  zuschneiden,  wobei  es  uns  auf  den  Umfang 
des  zu  Bedeckenden,  nämlich  die  konservative  Partei  im 
Engern  so  wenig  ankommt,  daß  wir  sie  gleich  im  Wei- 
testen erfassen,  ganz  Alldeutsch  dazunehmen,  ferner  die 
D.  V.  P.  und  das  Zentrum  dort,  wo  es  dem  Grundsatz 
huldigt:  commercialia  non  sunt  turpia. 

Unbekümmert  darum,  ob  ich  damit  zu  spät  komme,  bringe 
ich  also  den  folgenden  Geist  der  konservativen  Parteien 
zum  Vorschlag  und  schicke  voraus:  politischer  Geist  ist 
ein  zweckhafter  Geist,  kein  reiner,  w^eshalb  es  hier  ohne 
Belang  ist,  die  Existenz  Gottes  oder  eine  geoffenbartc 
christliche  Religion  überhaupt  vorauszusetzen,  denn  wichtig 

14  209 


ist  hier  allein,  die  Religion  als  dem  konservativen  Zwecke 
dienend  zu  beweisen.  Ich  nehme  uns  unter  uns  an  und 
vermeide  darum  aufhaltende  Redensarten.  Wir  tun  also 
ganz  ungeniert  so,  als  gäbe  es  so  etwas  wie  Gott  und 
christliche  Religion  nicht,  oder  noch  nicht,  um  freien  Platz 
für  eine  dem  konservativen  Geiste  taugende  erkenntnis- 
theoretische Grundeinstellung  zu  bekommen,  hinreichend, 
darauf  alles  andre,  auch  Gott  und  die  Religion,  aufzubauen. 
Unsre  Grundeinstellung  krümmt  allerdings  den  menschlichen 
Stolz  in  den  spitzesten  Winkel,  aber  solches  ist  die  not- 
wendige Voraussetzung  jeder  rohen  Machtpolitik,  die  ja 
niemals  von  einer  Würde  des  Menschen  abgeleitet  werden 
kann.  Und  wir  sagen  demnach:  wenn  auch  der  Determi- 
nismus, das  hei&t  die  mechanische  Konzeption  der  Welt 
nicht  alles  erklärt,  so  versteht  man  doch  hinwieder  ohne 
ihn  überhaupt  nichts.  Somit  erkennen  wir,  daß  wir  nichts 
sind  als  Effekt  und  Resultat  von  elementaren  Kräften,  un- 
bekannt und  unerkennbar  der  lebendigen  Materie.  Wir 
produzieren  nur  leere  Worte  darüber,  wie  Freiheit,  diesen 
kindUchen  Traum  eines  verzweifelten  Wahnes,  wie  Gleich- 
heit, ewig  dementiert  von  den  Fakten,  wie  Gerechtigkeit, 
diese  Jeremiade  der  Besiegten.  Das  Individuum,  mecha- 
nisches Produkt  von  es  determinierenden  Ursachen,  ist 
nicht  frei,  sondern  liegt  in  den  Ketten  des  Erbes,  ist  ver- 
wurzelt den  Toten,  die  es  im  Weiterschreiten  der  Zeit 
immer  mehr  und  stärker  beherrschen.  Es  ist  aber  auch 
nicht  gleich,  sondern  verschieden,  und  darum  als  Einzelnes, 
als  Rasse,  als  Klasse  unterlegen  oder  überlegen.  Der  Nach- 
bar ist  nicht  der  Bruder,  sondern  der  Gegner,  wenn  nicht 
der  Feind,  so  will  es  das  vitale  Gesetz,  welchen  Konflikt 
die  Gerechtigkeit,  diese  unwissenschaftliche,  ideologische 
Illusion  des  menschlichen  Geistes,  nicht  lösen  kann.  Aus 
dem  Zusammenstoß  komplexer  und  ungleicher  Kräfte  im- 
postiert  sich  diese  amoralische  Feststellung:  der  Sieg  des 
besser  Geeigneten.  Somit  ist  die  Gewalt  das  Regulativ  des 
Fortschrittes  und  der  Krieg  der  Vater  aller  guten  Dinge. 
Der  Krieg  ist  der  natürliche  Zustand  alles  dessen,  was  lebt. 

210 


Im  Kriege  bilden  sich  und  lösen  sich  die  Rassen  auf.  Er 
ist  der  Schmelztiegel,  in  den  die  in  ihrer  Fruchtbarkeit 
unparteiische  Natur  die  Gattungen  wirft,  die  sie  schafft. 
Der  Krieg  eliminiert  die  Untauglichen  des  Lebens,  die  miß- 
glückten Elemente,  die  minderwertigen  Völker.  Durch  den 
Krieg  hat  der  Mensch  gelernt,  daß  er  sich  der  Notwendig- 
keit einer  DiszipUn  zu  unterwerfen  habe;  durch  den  Krieg 
hat  er  begriffen,  daß  und  warum  es  ihm  Bedürfnis  ist, 
sich  einem  Plan  unterzuordnen.  Aus  Mißtrauen  gegen  den 
Nachbar,  aus  Furcht  vor  ihm,  hat  er  seine  eigene  Rasse 
lieben  und  den  Wert  des  moralischen  und  materiellen 
Patriotismus  schätzen  gelernt,  den  er  von  seinen  Vorderen 
überkommen  hat.  Der  Krieg  vereinigte  die  Individuen  des 
gleichen  ethnischen  Charakters,  der  gleichen  Sprache,  der 
gleichen  sittUchen  und  geistigen  Artung  und  der  gleichen 
Geschichte.  Die  aus  dem  Kriege  geborene  Disziplin  ist  die 
Kraft,  welche  es  dem  Menschen  mögUch  gemacht  hat,  der 
gegenwärtige  zivilisierte  Mensch  zu  sein.  Er  erkennt  nun, 
daß  er  nur  als  Folge  seiner  Ahnen  existiert:  aus  seiner 
Tradition.  Hier  wäre  Kant,  der  viel  für  den  ewigen  Frieden 
Mißbrauchte,  mit  jener  Bemerkung  zu  zitieren,  die  ausführt, 
daß  es  Zustände  der  Zivilisation  geben  könne,  die  keinerlei 
Freiheit  des  Geschehens  mehr  erlauben  und  wo  der  Krieg 
das  einzige  und  unerläßliche  Mittel  ist,  eine  also  erstarrte 
Zivilisation  weiter  zu  bringen.  Es  hat  die  aus  dem  Kriege 
als  notwendig  erkannte  Disziplin  den  Menschen  notwendig 
bescheiden  gemacht  und  ihn  an  die  geringe  Rolle  erinnert, 
die  ihm  zu  spielen  zukommt.  Diese  Disziplin  hat  seinen 
Wahn  gemindert,  sie  hat  ihm  die  Freude  des  Verzichtes 
beigebracht  und  den  Enthusiasmus  des  Opfers, 
Aber  erst  die  Religionen  geben  dieser  Disziplin  den  defini- 
tiven Sinn  und  die  Subtilität,  indem  sie  das  bloße  Seins- 
bedürfnis des  Menschen  und  die  Freude  daran  versöhnen 
mit  der  harten  und  absoluten  Notwendigkeit,  sich  in  die 
Tyrannei  der  natürlichen  Gesetze  des  Lebens  zu  finden. 
Die  Religionen  machen  das  Transitorische  und  Gelegent- 
liche der  aus  dem  Kriege  gebornen  Disziplin  zur  dauernden 

14*  211 


Zucht.  Der  Anthropomorphismus  der  Religion  verrät  den 
Geist,  der  sie  konzipiert  hat,  und  aus  dem  Anthropo- 
morphismus haben  hier  wieder  die  Religionen  die  Macht 
des  Einflusses  auf  den  Menschen,  den  sie  nun  ihrerseits 
ändern,  indem  sie  ihn  aus  einem  tierischen,  niedern  und 
gemeinen  Instinkten  unterworfenen  Wesen  zu  einem  sitt- 
lichen und  frommen  Geschöpf  umbildeten.  Von  der  Religion 
lernten  die  dem  Tierischen  nahestehenden  Massen  die  Re- 
signation; die  Religion  schuf  den  Begriff  der  Ordnung;  und 
sie  gestattete  und  sicherte  das  Überleben  und  die  Veredlung 
der  Gattung,  indem  sie  das  Individuum  durch  eine  notwendige 
Lüge  dahin  brachte,  sich  ihrer  Funktion  zu  unterwerfen. 
Von  der  Gewalt  erhalten  die  Menschen  das  Gut  ihrer  Ge- 
meinschaft in  der  Rasse;  von  der  Religion  die  Hilfe  der 
Tradition,  der  Autorität  und  des  Verzichtes,  die  allein  das 
Dasein  in  der  Gemeinschaft  möglich  machen,  in  welcher  der 
Einzelne  nichts  bedeutet,  weil  er  nur  als  Erbe  lebt  und 
nur  das  vom  Krieger  und  vom  Priester  bewahrte  und  ge- 
hütete Erbgut  ihm  das  Leben  als  gesitteter  Mensch  über- 
haupt möglich  macht. 

Es  kann  den  konservativen  Geist  nur  zieren,  wenn  er  sich 
etwas  an  Darwin  akkommodiert,  der  ja  über  die  Zeit,  wo 
er  nicht  fair  war,  hinaus  ist.  Zudem  wird  es  den  grund- 
besitzenden Konservativen,  soweit  sie  etwas  Landwirtschaft- 
liches gelernt  haben,  leicht  sein,  eine  Fülle  neuerer  natur- 
wissenschaftlicher Beobachtungen  hier  beizusteuern,  welche 
das  Gesagte  stützen.  Ich  erinnere  nur  an  die  Veredlungs- 
vcrsuche  und  die  Rolle,  welche  dabei  der  Atavismus  spielt ; 
auch  die  Chemie  der  Dungmittel  liefert  Belege,  die  sich 
nur  im  Grade  der  Komplexität  von  dem  über  den  Menschen 
Gesagten  unterscheiden.  Zudem  ist,  wen  der  Darwin  schrecken 
sollte,  rasch  mit  einem  Zitat  aus  Joseph  de  Maistre  zu  be- 
ruhigen, der  sagt:  ,,Ii  faut  purifier  les  volontös  ou  les  en- 
chainer;  leur  donner  un  frein  moral  ou  une  entrave  mate- 
rielle; les  gouvernements  ont  besoin  d'une  foule  muette 
forcee  d'obeir,  ou  d'une  foule  croyante  ä  qui  l'on  persuade 
d'obeir."  (Ich  will  dieses  Zitat  nicht  den  Proletariern  preis- 

212 


geben,  weshalb  ich  es  französisch  zitiere.)  Eigentlich  ist  in 
diesem  Zitat  alles  gesagt,   wovon  ein  konservativer  Geist 
leben  kann.  Doch  aber  ist  die  modernere  wissenschaftliche 
Begründung  nötig,  einmal  weil  Wissenschaftlichkeit  heute 
beliebt  und   angesehn  ist,    und  dann,    weil   sie    schönere 
Paradepferde  liefert.  Das  Haben,  Behalten  und  Mehrhaben 
der  konservativen  Pleonexie  ist  ja  öffentlich  nicht  vorführ- 
bar und  ist  auch  allein  noch  kein  Geist,  als  welcher  eben 
die  Aufgabe  hat,  diese  Pleonexie  mit  guten  philosophischen 
Gründen  zu  rechtfertigen  nicht  nur,   sondern  ihre  Einzig- 
gültigkeit  zu  etablieren.   Jeder  Geist  einer  Partei  muß  an 
sich  die  Forderung  stellen  und  zu  erfüllen  trachten,   daß 
er   der  Geist    der  Menschheit   sei.    Der  Konservativismus 
muB  beweisen  können,  daß  nur  jene  den  Sinn  des  Lebens 
ergreifen,  welche  ihn  als  eine  ständige  Exaltation  des  Kultus 
der  Ehre  und  Befolg  der  Ahnen tugenden  betrachten,  jener 
Ahnen  unsres  Stammes,  welche  den  Boden  erobert  haben, 
auf  dem  wir  hausen,  welche  die  Quellen  unsres  nationalen 
Patrimoniums  aufgeschlossen  haben,  von  denen  wir  leben, 
und  welche  uns  mit  der  heroischen  Leidenschaft  des  Opfers 
die  Freude  am  Verzicht  auf  all  das  überliefert  haben,  was 
den  Menschen  vom  moralischen  Ideal  seiner  Rasse,  seines 
Volkes  entfernt.  Ob  wir  an  den  offenbarten  Charakter  der 
christlichen  Religion  glauben  oder  nicht  —  wichtig  ist,  daß 
wir  diese  Religion  als  Regel  unsres  Lebens  erkennen:   als 
die    verstärkte    Tradition    und    den    Ruf    zum    Gehorsam. 
Diesen  wahren  Sinn  der  "Welt  fälscht  der  Individualismus, 
als  welcher  eine  unwissenschaftliche  aus  der  Reformation 
geborene  Ideologie  ist,  die  den  Protest  und  die  Revolte  als 
eine    konstante  Notwendigkeit    behauptet.    In   allen  Revo- 
lutionen ging  immer  der  Geist  eines  Volkes  zugrunde,  wurde 
immer  eine  vorhandene  Zivilisation  einer  Ideologie  geopfert, 
die  ohne  Zusammenhang  mit  irgendeiner  Rasse,  einem  Volke 
jene  Internationalität  besitzt,  welche  als  der  wahre  Träger 
einer  toll  gewordenen  Modernität  diese  zwei  auflösenden 
Elemente  gezeugt  hat:  den  Freimaurer  und  den  emanzipierten 
Juden.  Und  als  drittes  die  Forderung  der  Demokratie,  die 

213 


dem  Volke  das  "Wort  gibt,  das  ihm  wie  dem  Caliban  nur 
dazu  dient,  jene  zu  verfluchen  und  zu  verleumden,  von 
denen  es  das  Wort  gelernt  hat.  Gegen  diese  zerstörenden, 
die  Größe  vernichtenden  Tendenzen  gibt  es  nur  diese  beiden 
Gewalten:  die  Kirche  und  die  Armee. 
Der  hier  vorgeschlagene  Geist  hat  seine  schwachen  Stellen, 
wir  verhehlen  das  nicht.  Es  ist  von  der  Rasse  die  Rede, 
und  wir  wissen  auch  ohne  den  Semi-Gotha,  daß  hier  im 
Punkt  der  Reinheit  nicht  alles  stimmt.  Man  wird  darum 
die  Bedeutung  des  nationalen  Erbgutes  mit  einer  Rassen- 
theorie stützen  müssen,  die  sich  mehr  auf  Geist  und  Seele 
als  auf  Nasen  und  hängende  Schultern  gründet.  Die  Götter 
der  Wagnerschen  Opern  wären  ganz  aus  dem  Spiel  zu 
lassen,  wie  sich  überhaupt  die  Alldeutschen  bei  dieser 
theoretischen  Grundlegung  etwas  mäßigen  müßten.  Aber 
im  ganzen  sind  wir  überzeugt,  daß  man  in  Ansehung  der 
Wichtigkeit,  die  eine  wohlfundierte  konservative  Welt- 
anschauung für  alles,  was  konservativ  ist,  besitzt,  die 
Lücken  ohne  Fehl  sowohl  in  der  Rassentheorie  ausbauen 
wird,  wie  auch  die  in  der  andern  Voraussetzung  des  De- 
terminismus. Dieser  kann  nämlich  so  komplex  sein,  daß  es 
unmöglich  wird,  wissenschaftlich  den  Anteil  der  verschie- 
denen Elemente  zu  fixieren,  welche  den  Menschen  ändern. 
Die  im  Kampfe  Überlebenden  werden  bei  geänderten  Kampf- 
mitteln und  mit  dem  Auftreten  der  Masse  problematisch. 
Dies  zu  hindern,  wird  der  Konservative  in  seiner  Geld- 
heirat mit  der  Industrie  bestrebt  sein  müssen,  der  Stärkere 
zu  bleiben  und  immer  zu  bedenken,  daß  die  schwachen 
Stunden  der  Frau  ihre  starken  sind.  Die  Kinder  dieser 
Stunden  sind  die  bewußt  werdenden  Massen  und  deren 
Spielzeug  die  Maschinen,  sowohl  die  der  Fabrikation  wie 
die  andern  der  Wahlurnen.  Ein  drittes  Bedenken  beträfe 
die  Möglichkeit  einer  Änderung  der  Anschauungen  über 
das  summum  bonum,  aber  dieses  Bedenken  ist  so  lange 
das  geringste,  als  die  kirchliche  Lehre  sich  bewußt  ist,  eine 
Machtlehre  zu  sein,  das  heißt  über  Gott  nicht  den  Priester 
vergißt.  Und  dies  ist  bis  auf  weiteres  nicht  zu  befürchten. 

214 


KLEINE  GRAMMATIK  FÜR  ANFÄNGER 


1. 

EINE  grammatische  Regel  ist  die  Sanktion  eines  schönen 
Brauches,  nichts  mehr  und  nichts  weniger.  Wer  mit 
dem  Brauche  bricht,  muß  sehr  erwogene  Gründe  sowohl 
als  auch  Anstand  besitzen. 

2. 

Hat  auch  der  Instinkt  mehr  Rechte  über  die  Sprache  als 
die  Intelligenz,  so  ist  es  in  zweifelhaften  Fällen  doch  besser, 
ein  Wörterbuch  und  eine  Grammatik  um  Rat  zu  fragen, 
als  das  eigene  Gefühl. 

3. 

Dies  gilt  ganz  besonders  für  jene  jungen  Leute,  welche 
ihre  Sprache  nicht  in  einem  Dialekte,  sondern  in  dem  Argot 
einer  Großstadt  kennen  gelernt  haben.  Oder  welche  aus 
einer  Branche  des  werktätigen  Lebens  —  Handel  und  In- 
dustrie —  in  die  Literatur  treten. 

4. 
Aber  auch  für  jene,  welche  die  Sprache  in  philosophischen 
Seminarien  gelernt  haben.  Diese  mögen  sich  erinnern,  daß 
erwägen  wägen  heißt  und  daß  alle  abstrakten  Worte  Figu- 
rationen  eines  materiellen  Aktes  sind. 

5, 
Über  die   ausschlagende  Bedeutung    des  "Wortes  und  der 
Rede  wird  die  Formel  noch  gegeben  werden.  Vorläufig  sei 
bemerkt,  daß  ratio  =  oratio,  wie  Xoyoq  Wort  und  Vernunft, 
aXoyoq  unredend  und  undenkend  bedeutet. 

6. 

Und  erinnert,  daß  der  Mensch,  sich  der  Sprache  bedienend, 
ihr  Gefangener  wurde  auf  immer. 

217 


7. 
Das  Wort  folgte  einer  Bewegung,   erfolgte  aus  ihr:   gute 
Augen  sehen  noch  die  mimische  Bewegung.   Man  spricht, 
man  denkt  nach  vorwärts. 

8. 
Nur   ein    geringster    Teil    der   Worte    einer   Sprache,    der 
deutschen  z,  B.,   ist  in  der  Schrift  fixiert.   Die  Schrift  ist 
hinter  dem  gesprochenen  "Wort  zurück,  wie  das  Wort  immer 
etwas  hinter  dem  Gedanken  zurück  ist. 

9. 
Da  der  Mensch  das  Ganze  nicht  zu  umfassen  vermag,  trennt 
er  es  in  Teile.  Er  trennt,  um  zu  herrschen.  Dies  ist  die  erste 
Tätigkeit  der  Intelligenz.  Analysieren,  das  ist  entbinden. 

10. 

Nicht  zu  vergessen,  daß  wir  mehr  als  vier  Jahrtausende 
Schrift  hinter  uns  haben.  Das  kindliche  Wunder  der  Me- 
tapher packt  uns  nicht  mehr  wie  zu  Zeiten  Homers.  Die 
Freude  an  einem  Bilde  wissen  wir  kindlich.  Aber  wir  wissen 
auch,  daß  unsere  Intelligenz  keine  andern  Interpreten  und 
Dolmetsche  hat  als  die  Bilder,  die  mit  einer  Geste  den 
,,Sinn"  unseres  Gedankens  anzeigen. 

11. 

Es  kommen  deshalb  die  einsilbigen  Sprachen,  wie  das 
Chinesische,  zur  Abstraktion  nur  durch  die  Metapher,  denn 
sie  haben  keine  Organe  entwickelt,  die  geeignet  wären, 
die  verschiedenen  Stufen  der  Analyse  zu  notieren.  In  den 
zarten  Fingern  des  Symbols  behaupten  sie,  die  flüchtige 
Essenz  festzuhalten. 

12. 
Die  Sprache  transponiert  dank  dem  Gehör,  von  dem  sie 
direkt  abhängig  scheint,  in  die  Dauer  die  Notierungen  des 
Gesichtes,  welche  dem  Räume  zugehören.  Man  kann  von 
einer  augenblicklichen  Transmutation  der  Werte  eines  Sinnes 
in  die  Werte  des  andern  Sinnes  sprechen.   Aber  während 

218 


uns  die  beiden  Ohren  einen  identischen  Eindruck  geben, 
vermitteln  uns  unsere  Augen  von  dem  gleichen  Gegenstand 
zwei  etwas  verschiedene  Bilder,  Die  Ohren  messen  die 
aufeinanderfolgenden  Momente,  kennen  nur  die  Zeit.  Das 
gehörte  Gedicht  läuft  ab  und  wir  sind  währenddem  in 
dem  Zustand  einer  gewissen  Unsicherheit.  Gegenstände  des 
Raumes  kommunizieren  uns  die  Augen  sofort. 

13. 
Man  kann  nur  in  Worten,   das  heiBt  in  Bildern,   denken. 
Darum  führen  die  Worte  die  Welt,  und  die  Ideen  gehören, 
in  ihrer  unmittelbaren  Aktion,  den  Worten. 

14. 
Im  Anfange  genügte  es,  Worte  zu  schaffen,  um  göttliche 
Figuren  zu  schaffen.  Gewisse  Gottheiten  des  Rig-Veda  sind 
nur  verschiedene  Bezeichnungen  zum  Beispiel  der  Sonne, 
ihr  gegeben  entweder  nach  ihren  Aspekten  oder  von  ver- 
schiedenen Stämmen  des  Volkes  oder  zu  verschiedenen 
Zeiten.  Im  Verlaufe  sterben  dann  die  Götter  ins  Abstrakte. 
Man  kann  von  einer  Eucharistie  der  Worte  sprechen,  durch 
die  wir  mit  dem  Universum  kommunizieren. 

15. 
Die  Gottheit  als  letzte  Ursache  und  als  zentrales  Prinzip 
ist  uns  nur  durch  ihr  proteiformes  Attribut  faßbar.  Das 
Wort  ist  das  Attribut  der  Idee.  Es  bleiben  uns  zum  spielen 
nur  die  Reflexe.  Uns  unbewußt  und  auch,  wüßten  wir  es, 
es  nicht  ändern  könnend,  endet  der  Bezeichner  damit,  das 
Bezeichnete  in  sich  aufzunehmen,  und  das  präponderierende 
Zeichen,  ausgestoßen  kraft  der  virtuellen  Wahrheit  der 
Dinge  wegen  seines  reinen  Ausdruckes,  wird  Werkzeug 
des  Irrtums. 

16. 
Der  Schriftsteller  hat  das  feinste  Ohr  dafür,  zu  hören,  wann 
in  einem  Wortleibe  das  Herz  zu  schlagen  aufgehört  hat. 
Denn  dieser  herzlose  Leib  lebt  noch  lange  weiter  und  ver- 
langt Achtung  für  das,  was  er  einmal  war.  Und  ist  doch 

219 


schon  längst  in  die  leere  Abstraktion  gestorben,  in  ein 
Klischee.  Nur  ins  Lächerliche  ließe  sich  eine  so  abstrakt  ge- 
wordene Konzeption  wie  „Freiheit"  anthropomorphisieren. 

17. 
Die  Worte  sind  Daguerreotypbilder:  sie  entfärben  sich. 
Aber  die  Aspekte  der  Welt  sind  unzählbar  und  wechselnd: 
ein  Aspekt  ist  vorstellbar  nur  in  Proportion  zu  allen  andern 
und  in  instinktiver  Vergleichung.  Daher  wird  immer  ge- 
ordnet, und  diese  Klassifikation  hob  an  mit  der  ersten 
wörtlichen  Qualifizierung.  Es  herrscht  eine  Hierarchie. 

18. 

Die  Reihenfolge  im  Traktement  unserer  Grammatiken  be- 
ruht auf  einem  Brauche;  sie  korrespondiert  weder  mit  der 
Geschichte  der  Sprache,  noch  folgt  sie  einer  psychologischen 
Methode.  Sprachgeschichtlich  im  Anfange  steht  das  Pro- 
nomen und  das  Verbum,  und  auch  die  Pronomina  sind  aus 
indikativen  Partikeln  konstituiert  worden,  bezeichnend  das 
Nähere  und  das  Fernere.  Sie  schmolzen  mit  dem  zusammen, 
was  später  Adverb  und  Proposition  werden  sollte.  Die  auf- 
zeigende Bewegung,  die  Geste,  welche  der  Wortbildung 
vorausging  und  sie  begleitete,  um  zu  verschwinden,  nach- 
dem das  Wort  hinreichend  fixiert  war,  wird  in  der  Sprache 
immer  deutlich  bleiben.  Theoretisch  reduziert  sich  alle 
Grammatik  darauf,  die  Termini  einer  variablen  Beziehung 
zwischen  Objekt  und  Subjekt  mit  allen  Resultanten  und  Um- 
ständen zu  fixieren. 

19, 
Im  primordialen  ,sein'  sind  Subjekt  und  Objekt  ineinander- 
geschmolzen.  Ihm  folgen  alsbald  die  Attribute  des  ,sein' 
und  all  das,  was  dem  Subjekt  zugehört,  es  begleitet,  quali- 
fiziert. Durch  die  Besitzergreifung  wird  das  Subjekt  Herr 
des  Objekts,  aber  das  Subjekt  selber  kann  nur  erwachen 
aus  dem  vielfachen  AnstoB  des  Objektes,  vielfach  wie  die 
Gegenstände  und  Umstände  des  Lebens.  Den  Expressionisten 
sei  Hegel  zitiert:  Jede  Wirkung  ist  die  Ursache  ihrer  Ursache 
und  jede  Ursache  ist  die  Wirkung  ihrer  Wirkung. 

220 


20, 
Alle  primitiven  Verba  sind  qualitativ,  drücken  Variationen 
von  ,sein*  aus.  Sie  sind  den  Pronomen  analog,  insofern  sie 
eine  innere  Handlung,  welche  direkt  das  Subjekt  angeht,  über- 
setzen. Das  ausschließlich  ein  Tun  ausdrückende  Verbum  ist 
Frucht  einer  ersten  Differentiation  von  Subjekt  und  Objekt. 
Psychologisch  sind  alle  grammatischen  Kategorien  das  Resultat 
progressiver  Differentiationen,  Knospenbildung  am  Stamme 
—  am  unendlichen? 

21. 
Du  sollst  den  Namen  Gottes  nicht  eitel  nennen.  Das  ist  ein 
magisches  Verbot,  bei  den  Primitiven  sprachlich  noch  ganz 
lebendig,  denn  für  sie  ist  der  Gegenstand  und  das  ihn  be- 
zeichnende Wort  noch  ganz  eng  verbunden.  Es  gibt  Stämme, 
deren  Glieder  dem  Fremden  weder  ihren  eigenen  noch  den 
Namen  ihres  Dorfes  sagen  aus  Furcht,  er  könne  bösen  Ge- 
brauch davon  machen.  Alles  Heilige  und  daher  alles  Ge- 
fürchtete darf  nicht  bei  seinem  Namen  genannt  werden. 
Genau  so  verfährt  der  Argot:  die  sprachlichen  Deforma- 
tionen, zu  denen  Gruppen  von  Individuen  gebracht  werden, 
fürchten  sich,  die  magische  Konzeption  als  Basis,  aus  Gründen 
einer  andern  Ordnung,  aber  immer  Personen  und  Dinge  bei 
ihren  wirklichen  Namen  zu  nennen  und  geben  ihnen  Namen 
aus  Übereinkunft.  Der  Argot  ist  in  einem  gewissen  Sinn  der 
Sprache  gegenläufig,  indem  diese  mitteilen,  der  Argot  aber 
intentional  heimlich  bleiben  will:  er  dient  der  Verteidigung 
einer  Gruppe.  Der  Argot  bildet  sich  in  jeder  Gruppe  aus: 
im  Liebespaar,  in  Handwerksgemeinschaften,  in  politischen 
Bünden  usw.  usw. 

22. 
In  dem  magischen  Verbot,  den  Namen  nicht  eitel  zu  nennen, 
drückt  sich  vielleicht  die  Tendenz  aus,  die  Bezeichnung  sta- 
tisch zu  erhalten  und  diese  Statik  vor  Erschütterungen  mög- 
lichst zu  schützen. 

23. 
Im    tiefsten  Sinne    des   Wortes  sind  die  Sprachen  gegen- 
einander verschlossen.    In  jeder   Übersetzung  geht    etwas 

221 


verloren  und  dieses  Etwas  ist  das  flüchtige  \)Certvollste. 
Die  Übersetzung  zeigt  die  Unterseite  einer  Stickerei.  Sie 
gibt  das  Metall  einer  Münze,  aber  ohne  dessen  Prägung. 
Ich  sage  Stickerei  und  Prägung:  die  Unübersetzbarkeit  einer 
Sprache  in  eine  andere  gilt  also  nur  eingeschränkt.  Man 
sagt,  unübersetzbar  seien  Gedichte,  weil  deren  Eigentüm- 
liches bestimmt  sei  von  einer  Abfolge  unnachahmbarer 
Klänge.  Diese  Meinung  sieht  das  Wesentliche  nicht.  Ich  ver- 
suche, es  in  eine  brauchbare  allgemeine  Formel  zu  bringen. 

24. 
Die  Physiker  unterscheiden  eine  kinetische  und  eine  poten- 
tielle Energie,  bezeichnen  mit  dem  ersten  eine  aktuaUter 
ausgeübte  Kraft,  mit  dem  zweiten  eine  Kraft,  die  ein  Kör- 
per auszuüben  in  der  Lage  ist.  Diese  Terminologie,  auf  die 
Sprache  angewendet,  stellt  sich  das  literarische  Mittel  *dar 
als  eine  gradierte  Mischung  von  kinetischem  und  poten- 
tiellem Sprechen,  Kinetisch  ist  und  nichts  als  das  die  AX/"ort- 
folge:  der  Zug  geht  um  8  Uhr  20.  Eine  rein  kinetische 
Sprache  gibt  es  als  literarisches  Mittel  nicht,  auch  nicht 
in  der  absurdesten  Romanprosa.  Nichts  als  potentielle 
Sprache  gibt  es  literarisch  nicht,  denn  man  kann  aus 
Worten  keine  Musik  machen,  oder  Worte  eines  Gedichtes 
werden,  mir  vorgelesen,  bloße  Klanggebilde  dann,  wenn  ich 
die  Sprache  des  Gedichtes  nicht  kenne.  Jede  literarische 
Sprache  jeder  Zeit  und  jedes  Volkes  ist  Mischung  aus  kine- 
tischer und  potentieller  Sprache:  Grad  und  Energie  dieser 
Mischung  sind  variabel  im  Werke  sowohl  w^ie  in  den 
Literaturen  der  Zeiten  und  der  Völker. 

25. 
Dem  Liede  oder  der  Ballade,  deren  Sprache  sich  dem  Kine- 
tischen sehr  annähert,  ist  das  Potentielle  durch  die  in 
Rhythmus  und  Reim  mitschwingende  Musik  gegeben.  Ohne 
diese  Musik,  etwa  in  Prosasätze  aufgelöst,  wäre  die  grobe 
Kynesis  von  ,,Über  allen  Wipfeln"  eine  Banalität,  als  welche 
das  Lied  oft  jenen  erscheint,  die  es  nicht  zu  hören  ver- 
meinen.  Auf  die  dvirch  Rhythmus  und  Reim  beigebrachte 

222 


potentielle  Qualität  verläßt  sich  auch  immer  der  Dilettant 
in  der  Herstellung  seiner  Gedicht -Erzeugnisse.  Das  anzu- 
deutende Extrem  ist  die  Primadonna,  welche  mit  höchster 
Wirkung  das  Alphabet  singt. 

26. 
Zur  Vermeidung  des  Mißverständnisses  unserer  Termino- 
logie, daß  damit  als  literarisches  Sprachmittel  jenes  be- 
zeichnet sei,  das  eine  doppelte  Meinung  habe,  also  allegorisch 
sei,  hat  Robert  Musil  für  potentiell  das  Wort  irisierend 
vorgeschlagen.  Ich  zitiere  es,  um  damit  das  Gemeinte  deut- 
licher zu  machen.  Es  hat  die  Formel  nichts  mit  der  Alle- 
gorie zu  tun,  auch  nicht  mit  dem  bewußten  Symbolismus. 
Sie  betrifft  nicht  die  Dinge,  sondern  die  Worte  selber,  in 
deren  Wahl,  Ordnung  und  Melos  man  die  Verbindung  kine- 
tischer und  potentieller  Sprache  zu  erkennen  hat.  Dies  wird 
deuthch  im  Falle  der  Übersetzung  aus  einer  Sprache  in 
eine  andere.  Ohne  jeden  Verlust  ist  rein  kinetisches  aus 
jeder  Sprache  in  jede  Sprache  übertragbar.  Aber  potentielle 
Sprache  wäre  es  nicht,  sondern  wäre  kinetisch,  wenn  sie 
sich  anders  ausdrücken  ließe  als  durch  sich  selber.  Die 
Übersetzung  eines  Gedichtes  gibt  nur  dessen  kinetischen 
Gehalt,  den  ,,Sinn",  wieder,  und  der  ist  das  wenigst  wert- 
volle des  Gedichtes.  Die  bedeutendste  Leistung  deutscher 
übersetzter  Kunst,  Borchardts  Dante  und  Swinburne  sind 
Gedichte  Borchardts  —  Dantes  und  Swinburnes  nur  in  der 
philologischen  Bedingtheit,  nicht  in  der  ästhetischen. 

27. 

Je  näher  ein  Gedicht  dem  kinetischen  Sprechen  kommt, 
um  so  größer  ist  seine  Popularität  und  umgekehrt:  je  stärker 
die  potentielle  Sprache  eines  Gedichtes  ist,  um  so  ,, unver- 
ständlicher" wird  es  für  die  Menge,  welche  sich  nur  des 
kinetischen  Sprechens  bedient  in  der  Vorbringung  von  Fakten, 
Situationen,  Geschichten.  Da  die  Prosa  in  der  Regel  einen 
größeren  Teil  kinetischen  Sprechens  enthält  als  potentiellen, 
ist  die  Prosa  mehr  gelesen  als  das  Gedicht.  Im  Zeitlichen: 
was  ehmals  potentiell  war,  verliert  dies:  das  ganze  18.  Jahr- 

223 


hundert  beurteilte  das  elisabethanische  Drama  kinetisch: 
dieses  hatte  in  diesem  Zeitalter  seinen  potentiellen  Charakter 
verloren,  um  ihn  erst  durch  die  kritische  Restauration  Lambs 
wieder  zu  gewinnen.  Die  außerordentliche  Popularität  des 
Verses  im  18.  Jahrhundert  verdankt  er  seinem  starken 
kinetischen  Charakter,  der  das  Potentielle  fast  gänzUch  ver- 
drängte. Das  Extrem  des  Gedichtes  im  18.  Jahrhundert 
ist  schlechte  Prosa.  Das  Extrem  des  symbolistischen  Ge- 
dichtes —  nommer  un  objet,  c'est  supprimer  les  trois  quarts 
de  la  jouissance  du  poöme,  qui  est  faite  du  bonheur  de 
deviner  peu  ä  peu,  le  sugg^rer,  voilä  le  reve  (Mallarme)  — 
ist  völlige  Entsinnung  zugunsten  einer  suggestiven  Musik. 

28, 
Voltaire  würde  das  fast  rein  kinetische  seiner  Gedichte  als 
das  gute  Gedicht  bezeichnet  haben,  wie  es  Mallarm6  mit 
seinem  fast  rein  potentiellen  Gedichte  tat.  Dieser  hat  jenes 
schlecht,  jener  hätte  dieses  schlecht  genannt.  Wer  die 
Formel  von  kinetischem  und  potentiellem  Sprechen  ge- 
braucht, vergesse  nicht,  daß  es  sich  immer  um  eine  Relevanz 
handelt. 

29. 
In  einem  frühern  Paragraph  dieser  kleinen  Grammatik  ist 
gesagt,  daß  der  Gedanke  immer  um  ein  kleines  dem  Worte 
vorhergeht,  dem  bestimmten  Worte,  das  ihn  dann  ausdrückt. 
Das  wird  ketzerisch  jenen  vorkommen,  die  aus  den  Worten 
denken,  besser  noch:  welche  die  Worte  denken  lassen, 
durch  eine  Wortwüste  schwimmen,  von  einer  Wortoase  zur 
andern,  d,  h,  sich  von  stark  mit  Assoziationen  geladeneu 
Worten  diktieren  lassen,  was  sie  zu  denken  haben.  Dies 
ist  nur  eine  zeitgemäße  Notierung.  Denn  in  früheren  Zeiten 
wäre  kein  Anlaß  gewesen,  so  Selbstverständliches  auszu- 
sprechen. Was  auch  von  den  folgenden  Paragraphen  zum 
Kapitel  StU  gilt. 

30. 

Der  Stil  ist  des  Menschen,  sagte  Buffon.  Er  meint,  er  sei 
das  Zeichen  einer  menschlichen  Intelhgenz  und  Sensibilität, 

224 


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also  der  Person  zugehörig  und  änderbar  nur  mit  dieser. 
Die  Physiologie  bestimmt  ihn  gewiß  stärker  als  Lernen  und 
Belehrtwerden.  Die  Zahl  des  Gegenständlichen  in  der  Kunst 
—  ,, Motiv",  „Sujet",  ,, Problem",  ,, Inhalt"  —  ist  sehr  be- 
schränkt, aber  unbeschränkt  ist  die  Zahl  der  Personen, 
welche  diese  Gegenstände  denkend  variieren.  Daß  die  nach- 
goetheschen  Faustdichtungen  nichts  taugen,  liegt  nicht  an 
der  banal  gewordenen  Fabel,  sondern  an  der  gewollten 
stilistischen  Imitation  der  Epigonen. 

31. 
Es  gibt  keine  Überlegungen  des  Stiles.  Er  kommt  dadurch 
nicht  zustande,  daß  man  seiner  bedacht  ist.  Man  sieht, 
empfindet,  denkt  und  —  riskiert  die  Mitteilung,  das  ist 
alles.  ,,Der  große  Schriftsteller,"  sagt  Emest  Hello,  ,,gibt 
seinen  Stil,  das  beißt  sein  Wort."  Aber  immer  ist  auch  an 
des  Naturforschers  Wort  ,,le  style  est  l'hommc  meme"  zu 
denken,  der  die  Artikulation  des  Wortes  in  Abhängigkeit 
bringt  von  besonderer  Art  des  Schnabels,  Befestigung  der 
Zunge,  Diameter  der  Kehle,  Kapazität  der  Lunge. 

32, 
Man  spricht  von  einem  visuellen  und  einem  emotiven  Ge- 
dächtnis. Welche  bloß  das  erste  besitzen,  werden  von  einer 
Landschaft  die  Erinnerung  eines  mehr  oder  weniger  deut- 
lichen Bilds  bewahren.  Der  Emotive  wird  sich  bloß  der 
Empfindungen  erinnern,  welche  der  Anblick  der  Landschaft 
in  ihm  auslöste.  In  glücklichen  Fällen  gibt  es  eine  sich 
das  Gleichgewicht  haltende  Mischung  beider  Gedächtnisse. 
Wo  das  Visuelle  dominiert,  dort  wird  man  einen  stärkeren 
Stilwillen  merken  können,  und  dort,  wo  das  Emotive  stärker 
ist,  wird,  was  man  Stil  nennt,  auf  den  zweiten  Platz  rücken, 
wohin  es  gehört.  Es  ist  außer  Zweifel,  daß  die  Visuellen, 
arbeitend  wie  Maler  in  Kombinationen  von  Farben  und 
Worten,  intellektuell  jenen  unterlegen  sind,  welche  für  die 
Dinge  die  Zeichen  substituieren  und  sie  ohne  Intervention 
von  Sensibilitäten  mitteilen:  denn  dieses  ist  die  höchst- 
mögliche Leistung  dann,  wenn,  der  sie  übt,  diesen  Zeichen 

15  225 


seine  eigene  Sensibilität  zu  geben  vermag,  kraft  derer  sie 
allein  den  Sinn  bekommen.  Die  Worte  und  Sätze  werden 
lebendig  nur  von  dem  Leben  dessen,  der  sie  braucht,  nicht 
aber  sind  sie  es  schon  durch  die  in  ihnen  angehäufte 
Sentimentalität,  was  sie  zu  Klischees  macht.  Rilke  ist  der 
umfangreichste  Dichter  dieser  Klischees. 

33. 
Der  Anfänger  achte  darauf,  daß  die  Worte  nicht  nur  eine 
plastische  und  eine  emotionale  Eigenschaft  haben,  daß  sie 
nicht  nur  klingen  und  mehr  oder  minder  selten  sind,  son- 
dern daß  sie  ihre  Rasse  haben;  und  daß  viel  auf  die  Rein- 
heit ihrer  Rasse  ankommt,  denn  in  ihr  liegt  der  Eigenwert 
des  Wortes. 

34. 

Den  Stil  bestimmt  die  Struktur  des  Denkens:  das  Material 
der  Fakten  erhält  das  Denken  von  dem,  mit  dem  es  in 
Beziehung  steht.  Dieser  Gedanke  Taines  ist  der  frucht- 
barste zu  der  ganzen  Angelegenheit, 

35. 
Der  Vergleich,  heute  von  denen  meist  unglücklich  geübt, 
welche,  man  weiß  nicht  warum,  Kampf  der  Metapher  an- 
kündigen, ist  die  Elementarform  der  visuellen  Phantasie. 
Er  ist,  Vorläufer  der  Metapher,  eine  Metapher,  in  der  beide 
Vergleichspunkte  genannt  sind.  In  der  Metapher  ist  nur 
ein  Vergleichspunkt  genannt.  Homer  hat  keine  Metaphern, 
So  wenig  wie  die  älteren  Veden,  die  ganz  symbolischer 
Ausdruck  sind,  wie  alles  Sakrale.  Die  Metapher  ist  durch- 
aus modern.  Erst  die  modernen  Dichter,  ganz  entsprungen 
dem  Gefängnis  des  Wortes  und  doch  dessen  Mal  wie  ein 
Sklavenzeichen  tragend,  können  lügen,  Flaubert  kann  lügen, 
Homer  nicht.  Der  Moderne  opfert  die  visuelle  Logik  der  ima- 
ginativen Logik.  Der  Moderne  vermag  das  doppelte,  dreifache 
gleichzeitig  auftauchende  Bild  bei  der  Idee  eines  Faktums 
nicht  zu  dissoziieren.  Der  Antike  sieht,  die  Märtyrerin  mit 

226 


der  Taube  vergleichend,  die  Seele  der  Jungfrau  als  Taube 
zum  Himmel  fliegen.  Die  Kinder  werden  mit  Engeln  ver- 
glichen, also  werden  sie  Engel  im  Himmel,  wenn  sie  sterben. 
Die  ersten  schüchternen  Metaphern  schufen,  falsch  ver- 
standen, sekundäre  Mythologien.  Jedes  Klischee  war  einmal 
eine  neue  Metapher.  Diejenigen,  die  heute  gegen  die  Metapher 
sind,  gebrauchen  sie  trotzdem  und  unfähig,  neue  zu  bilden: 
Klischees. 

36. 
Das  Klischee  auszuschließen,  ein  solches  Verlangen  würde, 
erfüllt,  jeden  Satz  rätselhaft  machen,  so  sinnlos  wie  die 
Forderung  nichts  als  potentieller  Rede  im  Gedichte.  Man 
muß  nur  die  Scheiben  der  alten  Laterne  putzen  und  sie 
richtig  halten,  dann  kann  sie  besser  leuchten  als  ein 
neuerfundenes  Patentstreichholz.  Man  soll  nur  Worte  ge- 
brauchen, deren  Sinn  man  gut  kennt,  das  heißt  den  sym- 
bolischen Konnex  mit  der  Realität.  Die  naive  Dummheit 
ist  weit  wertvoller  als  die  falsche  Gcscheutheit.  Jeder  Stil 
ist  nur  so  viel  wert  wie  der  Gedanke,  den  er  mitteilt. 
Alle  gut  gedachten  Werke  sind  auch  gut  geschriebene. 
Aber  der  Satz  gilt  nicht  in  seiner  Umkehrung.  Man  darf 
sich  nicht  schreiben  hören  (wie  die  deutschen  Wildes). 

37. 

Jemand  schreibt  ,, einen  klassischen  Stil".  Das  wird  ge- 
wöhnlich über  Leute  schulmeisterlicher  Art  ausgesagt,  die 
gar  keinen  Stil  haben,  also  überhaupt  nichts  zu  schreiben 
haben.  Diese  Leute  haben  schreibend  immer  ihre  Sonntags- 
kleider an  und  fordern  die  Aufmerksamkeit  dafür  vom  Leser. 
Da  ist  keine  Zeile,  die  den  Eindruck  macht,  als  ob  sie 
sich  selber  geschrieben  hätte.  Solches  Schreiben  ist  der  bis 
ins  Greisenalter  perpetuierte  Schulaufsatz,  den  abzuschaffen 
höchste  Zeit  ist,  wenn  die  Kunst  des  Schreibens  gerettet 
werden  soll. 

38.. 
Die  Prosa  ist  ihrem  Wesen  nach  und  aus  ihren  großen 
Künstlern  dahin  definierbar,  daß  der  Prosaist  zwei  Funk- 
IS*  227 


tionen  erfüllt:  er  integriert  in  die  geschriebene  Sprache  alles 
das  aus  der  gesprochenen  Sprache  seiner  Zeit,  das  ihm  er- 
halten zu  bleiben  wertvoll  dünkt.  Dies  ist  die  eine  Funk- 
tion. Die  andere  ist:  er  formt  Grammatik  und  Syntax  über 
die  subtilsten  und  lebendigsten  Bewegungen  seines  Denk- 
Fühlens,  seines  und  dessen  seiner  Zeit.  Er  wählt  und 
verwirft  nach  einem  unbekannten,  aber  ihm  geläufigen 
Gesetze. 


228 


QUELLENSCHRIFTEN  DES  BESTIARIUM 


Es  erübrigt  sich,  den  interessierten  Leser  auf  seine 
Lieblingsbücher  zu  verweisen,  als  da  sind  des  Herrn 
E.  Engel  ,,Historia  Naturalis  der  teutschen  literarischen 
Fauna  im  19.  Jahrhundert,  aus  dem  Genius  der  teutschen 
Sprache,  wie  ich  sie  rede,  erfaßt".  Oder  des  Herrn  Bartels 
"Werk  ,,Die  Deutschen  Literatiere  nach  ihren  Nasen  be- 
trachtet". Oder  des  Herrn  Richard  M,  Meyer  ,, Einer-  und 
anderseitige  Literatur  des  19.  Jahrhunderts  dem  deutschen 
Gemüte  nach".  Oder  der  ähnlichen  Bücher  von  Kluge, 
Koch  usw.  Es  werden  im  folgenden  Quellennachweis  viel- 
mehr nur  Schriften  aufgeführt,  die  sich  spezialisiert  mit 
dem  Gegenstande  befassen.  Und  auch  hier  war  Auswahl 
geboten.  Denn  Tag  um  Tag  kommt  hier  Neues  an  den  Tag, 
den  es  heute  nicht  zu  scheuen  braucht.  Zahllos  sind  die 
staatlichen  Institute  oder  Seminarien,  in  denen  sonst  be- 
schäftigungslose junge  Leute  aller  Geschlechter  von  den 
dazu  Berufenen  in  der  Erforschung  unserer  Tiere  durch 
Woit,  Zuruf,  Schrift  und  ermunterndes  Beispiel  angelernt 
werden.  Man  arrangiert  Ausflüge  zu  den  kürzlichen  Ge- 
burtsstädten modemer  Dichter,  deren  glückliche  Mütter  sich 
oft  nicht  scheuen,  das  Wochenbett  zu  verlassen,  in  dem 
sie  noch  von  dem  Dichter  liegen,  um  die  wissensdurstige 
Schar  zu  empfangen.  Man  veranstaltet  Bierabende  und 
Kegelschieben,  um  die  noch  Säumigen  auf  diesem  Umwege 
zur  Kenntnis  der  modernen  Literatur  zu  bringen.  Aber 
nicht  nur  die  offizielle  Wissenschaft  ist  fieberhaft  tätig. 
Jeden  Tag  bringen  auch  die  Gazetten  neue  Details.  Vor- 
träge überstürzen  sich.  Preisaufgaben  stoßen  sich  im  Räume 
—  kurz,  es  ist  überwältigend  zu  sehen,  mit  welchem  Eifer 
sich  eine  Nation  mit  ihren  Tieren  beschäftigt.  Hier  also  nur 
aus  erdrückender  Fülle  eine  kleine  Auswahl  der  wichtigsten 
Ergebnisse  solchen  Eifers. 

231 


Sainie-Beuve,  Causeries  du  Lundi.  Tome  47.  SS.  125  bis 
210.  Artikel  La  Weigand. 

Schienther,  Paul,  Das  Nu  nu  -  nee  nee  des  Gehauptmann. 
Berlin.  Bondi  1900. 

Swinburne,  Short  Notes  on  the  character  of  the  Borchardts 
Melodies,  In:  Miscellanies.  London  1890. 

Catonis  Ut.,  De  Borchardti  Moribus  Libri  Tres,  Edit. 
J.  Zeitler.  Lipsiae  1899. 

Carol  Smith,  Die  Darmverschlingungen  des  Däublers.  Mün- 
chen 1909. 

Liegler,  Die  Fackelkraus  und  das  ABC.  "Wien,  Lany  1920. 

Sully  Prudhomme,  La  George.  Paris  1890. 

Paul  Cassirer,   Das  letzte  Hasenclever.    Berl.    Diss.    1920. 

Brenner,  D.,  Der  Hecker.  Eine  Monographie.  Innsbruck  o,  J. 

Hille,  Peter,  Die  Anthuma  des  Laskerschülers.  Berlin  1880. 

Friedenthal,  Dr.  J.,  Die  Verdauung  des  Heinrichmanns, 
Deutschlands  größtem  Holzkäfer.  Berl.  Tageblatt  passim. 

Noske,  Die  Pfemfert  in  Gefangenschaft.  Vorwärtsverlag. 

Aovxiavov  2a[i.  üeqi  xov  BXeitjß  ^lyß^vdiov  AiaXoyoq.  Gr. 
et  Lat.  c.  not.  edit.  Philipp  Funk.  Kempten  1919. 

Schmitz,  O.  A.  H.,  Der  fromme  Bock  von  Salzburg.  Inns- 
bruck, Tyroliaverlag  o.  J. 

Antonius  Escoba.r  S.  J.,  De  Scheleri  virtutibus  et  vitiis 
tractatus.  Lugdin.  1665. 

Johannes  Negelinus,  Schattenrisse.  Leipzig  1913. 

Flaischlen,  C,  Das  Nee  nee  -  nu  nu  des  Gehauptmann.  Habili- 
tationsschrift. Berlin. 

Stünzi- Käsly ,  Das  Zahn,  ein  Schweizer  Original- Export- 
Artikel.  Luzern  1900. 

Gräfin  1.  Hahn-Hahn,  Die  Rilke  und  der  Salon.  ,, Die  Dame." 
Jänner  1915. 

Salz,  Dr.,  Über  die  Selbstdurchbohrung  des  Kassners. 
Sitzungsbericht  der  Bayer.  Akademie  der  Wissenschaften. 
Oktober  1917. 

Sombart,  Prof.  W.,  Das  Rathenau,  die  Juden  und  der  Ka- 
pitalismus. Berlin  1918. 

232 


Zuckerkandel,  Frau  Prof.,  Observationes  de  ranis  et  lacertis. 
Tur.  1916.  PP.  210  bis  211.  De  Unruh  rana. 

Bleibtreu,  Historia  maris  alpini  et  vetus  vocabularium  ani- 
malium.  Monach,   1888.  Pag,  702.  De  Conrado. 

Tschurischenialer,  Sepp,  S'Adel\^^oaß,  eine  Sammlung  scherz- 
hafter Vierzeiler  auf  das  Schönherr.  Heimatverlag  Partsch 
in  Tyrol. 

W.  V.  Molo,  Des  Thoma's  Mist,  ausgewählt  und  eingeleitet. 
München,  A.  Langen,   1918. 

Herzl,  Dr.  Theodor,  Buber  Hakkadosch.  Brombergische 
Druckerei  in  Venedig,  o.  J. 

Starke-Siranitzki,  Hof  rat  Prof.  Dr.  Ottomar,  Das  Sternheim 
und  seine  Schippeliana.  Leipzig,  K.  WoUf,  1909. 

Lauer,  Dr.  Kamillo,  Über  den  Brauch  der  Wiener  Haus- 
meisterinnen, sich  eine  Wildgans  als  Singvogel  zu  halten. 
Urania- Vortrag,   1915. 

Brombacher,  Dr.  Hugo,  Des  Stemheims  invertierte  Gang- 
art unter  Vermeidung  der  Artikulation.  K.  Wolff  Ver- 
lag 1919, 

Habich,  Hoffriseur,  Das  Tovote-Öl,  den  durch  den  Suder- 
mann erzeugten  Ausschlag  wohlriechend  zu  machen. 
Berlin  o.  J. 

Strauß,  Richard,  Die  Kunst,  aus  dem  Hofmannsthal  Musik 
zu  schlagen.  Mit  vielen  Beispielen,  Forstner,  Leipzig. 

Hebbel,  Friedr.,  Der  Paulernst,  in:  Hebbels  sämtliche  dra- 
matische Werke, 

Oppenheimer,  Ibsenspirillen  im  Bindegewebe  des  Paulernsts. 
Berliner  Mediz.  Wochenschrift,  18,  6,  1913. 

Martersteig,  Geheimrat,  DerEmsthardt,  Deutschlands  Riesen- 
kolibri. Leipziger  Tageblatt  17.  i,  1910. 

Brulat,  Paul,  L.dL  Kolbannette,  une  französische-allemande 
Nobleziege  et  ses  herzliche  aspirations  dans  la  Frage  de 
l'humanite  deutsch-fran?aise  mixte.  Genf.  Edit.  Carmel  1916. 

Benedikt,  Moriz,  ehem.  österr.  Herrenhausmitglied,  Synopsis 
reptilium  emendata.  Viennae,  o.  J. 

Conrad  von  Hötzendorf,  Das  Meyrink,  ein  Schandfleck  der 
k.  u.  k,  Armee.  Danzers  Armeezeitung,  Febr.  1912, 

233 


Derselbe,  Meine  strategischen  Pläne  gegen  das  Meyrink, 
ebenda  März  1912  etc.  etc.  etc. 

Kutscher,  Prof.  Dr.  Arthur,  Rassenaufzucht  aus  der  Halbe 
durch  Kreuzung  mit  dem  Wedekind.  Münchner  semi- 
naristische Übungen,  Sommersemester  1912. 

Muncker,  Prof.  Dr.  Franz,  Der  Thomasmann  in  seiner  Be- 
ziehung zu  Klopstocks  Züricher  Wohnung  an  der. Schiff- 
lände. Lit.  Centralblatt  Nr.  110,  pp.  378  bis  380. 

Borchert,  Dr.  Privatdozent,  Das  Gehauptmann  und  die 
sozialphilosophische  Gedankenwelt  in  Schreiberhau  und 
Umgebung.  Lehmanns  Verlag,  München  1919. 

Bölsche,  Wilhelm,  Mein  Liebesleben  mit  der  Natur,  Scherl 
Verlag  o.  J. 

Derselbe,  Vom  Affenmenschen  bis  zu  Bruno  Wille.  Ebenda  o.  J. 

Martens,  Kurt,  Das  Z'o  la  la  des  Heinrichmanns.  Der 
Zwiebelfisch,  Februar  1916. 

Rapaport-Mosse,  Dr.,  Oberrabiner,  Die  Bedeutung  des  So 
Mbart  für  die  religiöse  Kultur  der  Juden.  Krotoschin. 
L  J,  2234  (1912). 

Pastor  7h.  Hecker,  K.  Kraus  der  Vollender  Kierkegaards. 
Brennerverlag  1912. 

B.  A.  Fuchs,  De  iridibus  doctrina  Schelerae  certa  methodo 
comprehensa,  explicata  et  tarn  necessariis  demonstratio- 
nibus  quam  moralibus  et  politicis  aucta  a  B.  A.  F.  Mo- 
nach,,  Oldenburg  1915. 

A.  W.  Heymel,  Ein  Dutzend  Wiegenlieder  zu  des  Hofmanns- 
thals 40.  Geburtstag.  Privatdruck  in  einem  halben  Exem- 
plar. Auf  Pergament.  (1913). 

Cohn,  S.,  Die  Lebensgeschichte  der  Handelmazette.  Linz, 
Herz  Jesu-Verlag,  1912. 

Baco  de  Verulamio,  De  Ventis,  Lugd,  Bat.  1662.  P.  96. 
Hasenclever. 

Dr.  H.  Simon,  Die  Entdeckung  des  Edschmids.  Mit  Zeich- 
nungen von  O.  Gulbransson.  Verlag  der  Clart^.  O.  J. 

Krawutschke,  Friedr.  Wilh.,  Die  Freksa  und  der  Genius 
des  deutschen  Volkes.  Verlag  der  Davidis  Kochbücher, 

234 


Pringsheim,  Die  familiären  Antinomien  des  Thomasmanns. 

Bonner  Diss.  1920. 
Fischer,  Johannes,   De  terris  coelestibus  earumque  omato 

conjuncturae.  Hitzingiae  1918.  PP.  570 ff:  Gütersloh. 
Spengler,  Prof.,  Der  Untergang  des  Abendljindes,  München 

1919. 
Dalago,  Carl,   Die  Fackelkraus,   ein  Vorschlag  zur  Papst- 
wahl. Innsbruck  1914. 
Auemheimer,  R.,  Meine  Siege  auf  Schnitzler.  Erinnerungen 

emes  Achtzigjährigen.  Wiener  N.  F.  P.  Nr.  2760  ff. 
Siaackmann,   De  bacilli  imbecilli  varietate  nominum,   Lip- 

siae  s.  d. 
Idetn,  Catalogus  bacilli  imbecilli  nominum  in  Germania  pro- 

venientium.  Lipsiae  s,  d. 
Wolters,  Fr.,  Ist  die  Wolfskehl  operabel?  München.  Med. 

Wochenschrift.  Febr.  1912. 
Patt«,   Verzeichnis    von    2768   Grammophonplatten.    Arien 

des  "Werf eis. 
Schleich,   Strindberg  der  Entdecker  des  Schwefels.   Berlin 

1910. 
Schering,  Strindbergs  benutztes  Toilettenpapier,  gesammelt, 

übersetzt  und  herausgegeben.  Zehn  Bände.  1917 — 1921. 


235 


BIOGRAPHISCHE  BELUSTIGUNGEN 


DIE  beim  deutschen  Volke  beliebtesten  Literaturge- 
schichten stellen  den  Inhaltsangaben  der  respektiven 
"Werke  immer  eine  Erzählung  des  Lebens  ihrer  Verfasser 
voraus,  kürzer  oder  länger,  je  nach  der  Beliebtheit.  Manche 
gehen  weiter  und  verflechten  Werk  und  Leben  des  Belle- 
tristen oder  Dichters  in  ein  Ganzes,  wobei  das  private  Leben 
immer  dort  den  Faden  aufnimmt,  wo  dem  Historiker  der 
ästhetische  Faden  ausgeht  oder  umgekehrt.  Der  Erfolg  des 
großen  Bestiarium  sollte  nicht  unter  dem  Mangel  solcher 
biographischer  Belustigungen  leiden.  Wir  haben  sie  vom 
kritischen  Teile  sauber  abgetrennt  und  geben  sie  in  der 
essentiellen  Form  der  Anekdote.  Zu  einer  umfangreicheren 
Konzession  konnten  wir  uns  nicht  entschließen.  Einerseits 
sind  wir,  wie  man  sieht,  theoretisch  anders  verpflichtet, 
andrerseits  fürchteten  wir,  bei  näherer  Kenntnisnahme  des 
Lebens  unserer  Verfasser  das  geringe  Interesse,  das  sie  uns 
einflößen,  ganz  zu  verlieren.  Mit  den  Anekdoten  taten  wir 
unser  Möglichstes.  Ultra  posse,  nicht  wahr? 

* 
Ein  junger  revolutionärer  Literat  rief:  ,,Ich  brauche  zehn- 
tausend Bourgeoisköpfe!"  —  ,,Ich  würde  mich  mit  dem  Ihren 
begnügen",  sagte  Rudolf  Kassner, 

* 
Jemand  fragte  Arthur  Schnitzler,  der  aus  einer  Gesellschaft 
kam,  wie  er  sich  unterhalten  habe.  ,,Ohne  mich,"  sagte  der 
Plauderer,  ,, hätte  ich  mich  sehr  gelangweilt-" 

* 
In  Wien  wurde  einmal  der  Nachlaß  einer  wegen  ihrer  Lieb- 
schaften mehr  als   wegen  ihrer  Kunst  berühmten  Schau- 
spielerin öffentlich  versteigert.  Einige  bejahrte  Damen  fanden 

239 


entrüstet,  daß  die  Preise  zu  hoch  gingen,  ,, Diese  Damen," 
sagte  Franz  Blei,  ,, hätten  die  Sachen  am  liebsten  zum 
Selbstkostenpreis. ' ' 

Bei  der  Aufführung  eines  Stückes  von  Georg  Kaiser  sagte  je- 
mand: ,, Das  Stück  ist  sehr  schmeichelhaft  für  Carl  Sternheim." 

* 
Es  war  Schickele,   der  einmal  die  Annette  Kolb  le  plus 
honnete  homme  du  monde    nannte.    Die    selbige  Annette 
nannte  jemand  in  Bern,  als  sie  große  Sympathien  für  den 
Kommunismus  zeigte,  die  Precieuse  radicale. 

* 

Auf  den  ehrgeizigen  Carl  Sternheim  hat  man  folgendes 
Epitaph  verfaßt:  ,,Hier  ruht  Carl  Sternheim.  Es  ist  der 
einzige  Platz,  nach  dem  er  nicht  gestrebt  hat." 

* 
In  Berlin  trat  ein  sehr  mageres  Tanzpaar  auf.   Wedekind 
sagte:  ,,Es  ist,  als  ob  zwei  Hunde  um  einen  Knochen  rauften." 

* 

Oscar  Wilde  wollte  einen  Roman  über  die  Blutschande 
schreiben  und  ihn  Jean  Lorrain  widmen  als  ,,Dem  Ein- 
zigen, der  mich  verstehen  kann".  „Aber,"  sagt  etwas  kon- 
sterniert Lorrain,  ,,ich  habe  gar  keine  Schwester."  —  ,,Mein 
Lieber,  haben  Sie  nicht  Ihre  alte  Mutter?" 

* 

Jemand  traf  Carl  Sternheim  allein  in  den  Isarauen  spa- 
zieren. ,,"W"as  machen  Sie  da,  Herr  Sternheim?"  —  ,,Ich 
unterhalte  mich  mit  mir  selbst."  —  ,,Dann  seien  Sie  auf 
der  Hut,  Herr  Stemheim,  Sie  unterhalten  sich  mit  einem 
großen  Schmeichler." 

K.  Edschmid  las  an  einem  Morgen  seines  achttägigen 
Pariser  Aufenthaltes  im  Petit  Journal,  daß  nachts  vorher 
in  der  Rue  Frochot  eine  Rauferei  gewesen  und  dabei  ein 
persischer  Untertan  verhaftet  worden  sei.  Edschmid  war 
es  so,  als  hätte  er  vor  zwei  Tagen  eine  Gasse  passiert,  die 

240 


er  Rue  Frochot  las.  Er  pflegt  seitdem  gern  zum  Beweise 
seiner  Lebenserfahrung  seine  Rede  mit  den  Worten  ein- 
zuleiten: ,,Ich,  der  ich  mich  in  Paris  mit  Persern  stach  ..." 

* 
Wedekind  betrat  ein  Speiselokal,  dessen  alle  Tische  besetzt 
waren,  bis  auf  einen,  an  dem  nur  Halbe  saß,  mit  dem  er 
gerade  ,,bös"  war.  Er  ging  trotzdem  auf  den  Tisch  zu, 
fragte,  ob  hier  Platz  sei.  ,,Ich  pflege  allein  zu  essen",  sagte 
Max  knurrend.  Wedekind  wies  auf  den  Kalbskopf,  den  der 
berühmte  Dramatiker  verspeiste  und  sagte:  ,,Aber,  Sic  sind 
doch  bereits  zwei,  Herr  Doktor  Halbe." 

• 

Es  war  der  neue  Roman  ,,Das  Herz  in  der  Faust"  von 
Ganghofer  erschienen,  und  der  Dichter  wiirde  von  seinem 
kaiserlichen  Herrn  im  Hauptquartier  empfangen  mit  den 
Worten:  ,,Das  war  wieder  mal  ein  Schu&  ins  Schwarze,  mein 
lieber  Ganghofer."  —  ,,Wir  tun  alle  nur  unsere  gutdeutsche 
Pflicht",  sagte  schlicht  der  Verfasser.  Die  gerade  anwesende 
Kaiserin  zerdrückte  gerührt  eine  Träne. 

* 
Franz  Werfel  wurde  im  Kriegspressequartier  damit  beatif- 
tragt,  Worte  und  Aussprüche  zu  erfinden,  die  Kaiser  Karl 
bei  öffentlichen  Anlässen  von  sich  geben  könne.  Werfel 
erfand  mit  vieler  Freunde  Hilfe  eine  Menge.  Das  beste 
Wort  aber  machte  der  viel  mehr  als  witzige  Anton  Kuh:  ,,In 
meinem  Reiche  geht  die  Sonne  nie  auf." 

* 

Altenberg  trifft  auf  der  Straße  einen  seiner  vielen  ihm  un- 
bekannten Bekannten  und  wird  zum  zweiten  Frühstück 
eingeladen.  Herr  Buda  macht  auf  Altenberg  einen  nervösen 
Eindruck  und  erklärt  das  damit,  daß  er  zehntausend  Kronen 
in  der  Tasche  habe.  Er  woUe  sie  nachher  auf  die  Bank 
tragen.  Peter  A.:  ,,Auf  die  Bank?  Um  von  einem  schmie- 
rigen Kommis  darüber  eine  schmutzige  Quittung  zu  er- 
halten? Für  zehntausend  Kronen  bekommen  Sie  das  schönste 
Mädchen  von  Wien,  das  Ihnen  und  Ihnen  allein  ihr  Lächeln 

16  241 


schenkt,  ihre  Seele,  ihren  süßen  Leib.  Und  die  Bank? 
Kauft  Papiere  dafür,  die  Sie  schlaflose  Nächte  kosten,  die 
Sie,  auch  schlaflos,  aber  wie  anders,  in  den  Armen  .  .  ." 
Altenberg  redet  sich  in  Ekstase,  Herr  Buda  springt  auf, 
er  werde  in  zehn  Minuten  wieder  zurück  sein.  Herr  Buda 
kommt  zurück.  ,, Meine  Nervosität  war  zu  groß.  Ich  habe 
mein  Geld  auf  die  Bank  getragen.  Ich  hab  nur  zwanzig 
Kronen  zurück  behalten."  —  ,, Zwanzig  Kronen?  Dafür 
können  Sie  das  schönste  Mädchen  von  Wien  haben."  — 
„Was  für  ein  Mädchen?"  —  nVon  dem  ich  Ihnen  vorhin 
erzählt  hab,  das  schönste  Mädchen  von  Wien,  nur  viel 
jünger." 

Jemand,  der  viel  von  Altenbergs  Witz  gehört  hatte,  setzte 
sich  an  seinen  Tisch.  Peter  schwieg  eine  geschlagene 
Stande  lang.  Der  Herr  äußerte  sein  Erstaunen.  Darauf 
Altenberg:    ,,Ich   glaube,    Sie  verwechseln    mich   mit   dem 

Doktor  Frieden." 

* 

Flake  sagt,  daß  ihm  ein  Manuskript  gestohlen  worden  sei. 
Schickele  bemerkt:  ,,Der  Dieb  kann  nur  einer  sein,  der 
nie  was  von  dir  gelesen  hat." 

* 
Wilhelm  II.  hatte  nach  Sanssouci  seine  Tafelrunde  geladen: 
Lauff,  Ganghofer,  Herzog,  den  Dichter  von  Charleys  Tante 
und  Leoncavallo.  Clewing  hatte  seine  Gitarre  mitgebracht, 
daher  bliesen  Majestät  nicht  die  Flöte.  Sonst  aber  war 
alles  fridericianisch. 

Wedekind  war  in  Komplimenten  nicht  glücklich.  Einer 
Schauspielerin,  welche  in  der  Rolle  der  Kleopatra  aufge- 
treten w^ar  und  meinte,  für  die  Rolle  müsse  man  schön 
und   jung   sein,    sagte   Frank:    ,,Nun,   meine  Gnädige,   Sie 

beweisen  das  Gegenteil." 

* 

Schüchtern  wie  Wedekind  war,  fiel  er  immer  mit  der  Tür 
ins  Haus  und  manchmal  auch  gleich  durch  das  ganze  Haus 

242 


durch.  Manche  seiner  Tischdamen  werden  sich  seiner  stereo- 
typen Frage  nach  der  ersten  halben  Stunde  Schweigens 
erinnern:  „Mein  Fräulein,  sind  Sie  noch  Jungfrau?"  Von 
einer  Siebzehnjährigen  bekam  er  einmal  die  Antwort:  „In 
Ihrer  Gesellschaft  bliebe  ich  es  bestimmt  bis  an  mein 
Lebensende." 

Dem  höchst  fruchtbaren  und  redseligen  C.  Hauptmann  ent- 
schlüpfte in  einer  Gesellschaft  ein  Geräusch.  Jemand  sagte: 
„Dieser  Ton  von  ihm  ist  mir  lieber  als  wenn  er  redet." 

* 

"Wedekind  lag  an  einem  gebrochenen  Bein  zu  Bett  und 
Halbe  besuchte  ihn,  trotzdem  man  ,,bös"  war.  Man  ver- 
söhnte sich.  Als  Wedekind  wieder  ausging,  begegnete  ihm 
der  berühmte  Verfasser  schöner  Stücke,  der  ihn  grüßte. 
Wedekind  sah  in  die  Luft.  ,,Aber  Frank,  wir  haben  uns 
doch  versöhnt!"  —  ,,Das  war  nur  für  den  Sterbefall,  Herr 
Doktor  Halbe",  sagte  Frank  und  ging  weiter. 

* 

Schnitzler  sagte:  ,,Als  Redakteur  der  Schönen  blauen  Donau 
hat  mich  Rudolf  Lothar  in  die  Literatur  gebracht,  jetzt  hätte 
er  mich  allerdings  lieber  w^ieder  draußen." 

* 

Hermann  Bahr  wollte  vor  Jahren  eine  Reise  nach  Rußland 
machen,  hatte  aber  nicht  genug  Geld.  ,,Ich  schreib  halt 
erst  die  russische  Reise  und  fahr  für  das  Honorar  hin, 
nachschaun,  ob's  stimmt."  Damit  ist  H.  Bahr  auch,  wie 
alles  sonstigen  Modernen,  der  Stammvater  des  Expressio- 
nismus geworden. 

Vom  Nebenzimmer  aus  vernahm  man  Geräusch  eines  leb- 
haft geführten  Gespräches,  das  Carl  Stemheim  und  ein 
sächsischer  Diplomat  miteinander  führten.  Und  zwar  über 
Marx.  Erst  nach  eineinhalb  Stunden  kamen  die  beiden 
Herren  darauf,  daß  Stemheim  den  Marx,  Herr  von  N.  den 
Max  von  Baden  gemeint  hatte. 

16*  243 


Max  Halbe  wurden  in  einem  Berliner  Hotel  die  Stiefel  ge- 
stohlen. Er  depeschiert  seiner  Frau:  „Stiefel  gestohlen, 
kann  nicht  reisen."  Antwort  von  Frau  Halbe:  „Unbegreif- 
lich. Nimm  sofort  besten  Anwalt." 

Frieden  stand  vor  einer  gerahmten  Sache,  auf  der  mit  blauer 
und  roter  Ölfarbe  Kreise  und  Elipsen  gemalt  waren.  Der 
Maler  erklärte,  das  sei  Ragusa.  ,,Da  sehen  Sie",  sagte 
Fridell,  ,,wie  ich  von  Kunst  gar  nichts  verstehe.  Ich  hätte 
das  für  Spalato  gehalten." 

■k 

An  dem  Tage,  da  der  achtzehnjährige  Lyriker  T.  Kriegs- 
minister w^urde  und  zum  ersten  Male  mit  einem  Porte-, 
feuille  — .  Wie?  Aber  die  Anekdote  ist  ja  schon  zu  Ende, 
meine  Herren. 

Franz  Hessel  hat  lang  in  Paris  gelebt  und  Heimweh  da- 
nach. Ich  treffe  ihn  in  München,  es  scheint  die  Sonne. 
Aber  er  hat  den  Regenschirm  aufgespannt,  die  Hose  auf- 
gekrempelt. ,, "Warum  denn,  Herr  H.?"  —  ,,Es  regnet  in 
Paris,"  sagt  er. 

November  19  sagte  Sternheim:  ,,Man  kann  schon  wieder 
mit  Paris  verkehren."  Meine  Bemerkung,  es  dürfte  noch 
Peinlichkeiten  haben,  überhörend,  fährt  er  fort:  ,,Ich  habe 
gestern  zwei  Hypotheken  nach  Frankreich  vergeben." 

* 

Als  d'Annunzio,  il  Imaginifico,  in  seiner  Villa  in  Cappon- 
cina  w^ohnte,  kam  er  jeden  Sonntag  mittag  in  schneeweißem 
Anzug  auf  alabast  er  weißem  Schimmel  auf  den  Marktplatz 
geritten  und  hörte  da,  unbeweglich  er  und  das  Pferd,  der 
Musik  der  Dorf  kapeile  zu.  ,,Signore  Gabriele  probiert  sein 
Monument,"  sagten  die  Bauern. 

* 

Als  Wilde  im  Sterben  lag,  sagte  ein  Bekannter  zu  ihm: 
„Wenn  Sie  droben  im  Himmel  meine  Frau  sehen,   sagen 

244 


Sie  ihr  — "   Wilde  unterbrach:    „Ach    besorgen  Sic    doch 
Ihre  Angelegenheiten  selber." 

* 
Einige  Wochen  nach  einer  Börsenhausse  erzählt  Sternheim 
bei  dem  Dichter  E.  A.  Rheinhart:  „Ich  hab  da  ein  paar 
Literaten  Tipps  gegeben,  und  sie  haben  ganz  nett  verdient. 
Mein  Gott,  keine  großen  Summen,  aber  für  einen  Literaten 
ganz  nett." 


245 


VERABSCHIEDUNG  DES  LESERS 

AUCH  das  Beste  inu&  einmal  zum  Schluß  kommen. 
.  Zumal  Dickleibigkeit  dem  Bestiarium  im  guten  Fort- 
kommen nicht  hinderlich  sein  soll.  Aber  es  wird  demnächst 
der  Vorhang  aufs  neue  in  die  Höhe  gehen  und  agiert  soll 
werden:  Neue  Gespräche  Goethes  mit  Eckermann.  Mit 
allerlei  Scherz-  und  Zwischenspielen.  Man  sei  aber  immer 
an  das  gute  Wort  von  Chesterton  erinnert,  das  lautet:  It 
is  better  to  speak  wisdom  foolishly,  like  the  Saints,  rather 
then  to  speak  folly  wisely,  like  the  Dons.  Unzufriedene 
werden  sagen,  daß  sie  hier  die  Weisheit  vergeblich  suchten. 
Denen  aber  sage  ich  mit  dem  Apostel:  ,, Nicht  daß  ich  es 
schon  ergriffen  hätte  oder  schon  vollkommen  sei,  ich  jage 
ihm  aber  nach,  ob  ich  es  auch  ergreifen  möchte."  Wobei 
mir  einfällt,  daß  ich  diese  Verabschiedung  des  Lesers  recht 
eigentlich  mit  Zitaten  füllen  könnte,  da  Zitieren  einen  kennt- 
nisreichen und  gebildeten  Eindruck  macht  und  der  Leser, 
zumal  der  deutsche,  solchen  Eindruck  liebt.  Nahe  liegt  da 
Jean  Paul  mit  dem  Satze:  ,, Ideen  sind  unser  Schwert,  die 
Literatur  unser  Schlachtfeld."  Etwas  weiter  hergeholt,  aber 
passend  ein  Satz  aus  dem  Novum  Organon  des  Bacon: 
,,Intellectm  non  plumae,  sed  plumbum  addenda",  was  ich 
übersetze:  ,,Dem  Geiste  tut  nicht  Federn  (Karl),  sondern 
Blei  (Franz)  not." 

Das  Bestiarium  ist,  ich  weiß  es,  der  Gefahr  ausgesetzt,  von 
den  Witzbolden  mißverstanden  zu  werden,  zumal  bei  uns, 
wo  mangels  esprit  der  Witzbold  so  heimisch  ist  wie  der 
Trauerbold,  jener  von  diesem  durch  einen  untiefen  Ab- 
grund getrennt,  über  den  das  fragliche  Gebilde  des  deutschen 

246 


Humores  die  Brücke  zu  schlagen  versucht.  Ich  weiß  mich 
jedes  Humores  gänzlich  unschuldig.  Ich  bin  mehr  für  die 
fröhliche  Weisheit  des  Lächelns,  jene  gentilezza  des  Lächelns, 
welche  den  Lächelnden  in  das  Belächelte  einschließt.  Dazu 
gehören  als  Voraussetzung  Freiheit  und  Froheit  des  Geistes, 
Gefühl  guten  Blutes,  nachbarlicher  Anstand,  liebwerte  Sitten, 
—  lauter  Tugenden,  die,  wie  man  weiß,  die  heutigen  Deutschen 
in  so  hohem  Maße  besitzen. 

Nun  sage  ich  Adieu.  Der  Mannigfaltigkeit  dieses  Inhaltes 
wenigstens  eine  äußere  Einheit  zu  geben,  folgt  hierauf  ein 
von  Katja  Schatzberger  genau  angefertigtes  Register  der 
Personennamen,  Edschmid  neben  Homer,  Bonseis  neben 
Goethe  und  Karl  Kraus  neben 

Ihrem  Diener 

Fr.  Blei. 


247 


REGISTER  DER  EIGENNAMEN 


Abraham  a  St.  Clara  130. 
Alexander  d.  Gr.  180. 
Altenberg  17,  241,  242. 
Anakreon  186. 
Andrian  18. 
d'Annunzio  17,  40,  244. 
Archilochos  186. 
Archimedes  149. 
Auernheimer^  R.  18,  235. 
Aurelius  Ambrosius  194. 
Avenarius,  Richard  18,  191. 

Baco  von  Verulam  234,  246. 

Bahr,  H.  18,  243. 

Beer-Hoffmann  19,  68. 

Barres,  M.  19. 

Bartels,  A.  19,  231. 

Bauch,  Prof.  68. 

Baudelaire  12. 

Baudisch,  O.  19. 

Baumgarten,  F.  F.  51. 

Becher,  J.  R,  20. 

Beethoven  128, 

Bekker,  P.  191, 

Benedikt,  M.  234. 

Benn,  G.  20. 

Bergson  132. 

Bie,  O,  20, 

Bierbaum,  O.  J,  20,  26, 

Bizet  52, 

Björnson  21,  207. 

Blei,  F.  21,  232,  240,  246,  247. 

Bleibtreu,  K.  21,  233. 

Bloch,  E.  22. 


Bloehm,  W.  130,  144,  179. 

Boecklin,  A.  50,  174. 

Boelsche,  W,  234. 

Bonseis,  W.  22,  247. 

Bourget,  P.  23. 

Borchardt,  R.  23,  59,   179,  223, 

232. 
Borchert,  Prof.  234. 
Borgia,  Cesare  52, 
Brod,  M.  23. 
Brombacher,  H.  233. 
Brezina,  F.  24. 
Bronnen  77, 
Browning,  R.  24, 
Buber,  M.  24,  233. 
Buddho  118. 
Buffon  224, 
Burte  25. 
Busse,  C.  77. 
Byron  157. 

Cabell  25. 
Caesar,  Jul.  180. 
Cassirer,  P,  10,  232. 
Cezanne  128,  179. 
Chamberlain  26. 
Chesterton  24,  33,  176,  246. 
Claudel,  P.  25,  132,  208. 
Clewing  242. 
Coleridge  158,  167. 
Conrad,  M.  G.  25,  233, 
Conrad  v.  Hötzendorf  233. 
Courts-Mahler  25,  130. 
Croce,  B.  126,  134,  176, 


248 


Dalago,  K,  235. 
Dante  79,  111,  183,  223. 
Darwin  35,  174,  212. 
Däubler,  Th.  26,  232. 
Dauthendey,  M    26. 
Dehmel,  R.  26. 
Descartes  153. 
DUthcy,  W.  176. 
Döblin,  A.  27. 
Dostojewski  68,  172,  178. 
Dröhm  27. 
Dumas  fils  41. 
Dyck,  van  184. 

Eckermann  245. 

Edschmid,  K.  12,  27,  234,  247. 

Ehrenstein,  A.  28. 

Einstein,  K.  28. 

Eloesser,  Dr.  28. 

Emerson,  R.  "W.  46. 

Engel,  Prof.  130,  231. 

Ernst,  P.  29,  61,  233. 

Essig,  H.  29,  130. 

Eulenberg,  H.  29. 

Eucken,  Prof.  29. 

Euripides  182- 

Ewers,  H.  H.  30. 

Federn,  K.  246. 
Feistauer  207. 
Fischer,  J.  235. 
Fischer,  S.  10,  60. 
Flaischlen,  C  78,  232. 
Flake,  O.  31,  242. 
Flaubert  167,  172,  178,  226. 
Fontana,  M.  31. 
Förster,  F.  W.  32. 
France,  A.  32. 
Frank,  L.  31,  207. 
Freiligrath  207. 
Freksa,  F.  234. 
Frenssen  64. 
Freud,  S.  32. 
Frey  48. 
Friedenthal,  J.  232. 


Frieden,  Dr.  33,  242,  244. 
Fulda,  L.  57. 
Fuchs,  B,  A.  234. 
Funk,  Ph.  232. 

Ganghofer,  L.  61,  130,  242. 

Gauguin  128. 

George,  St.  23,  33,  80,  128,  130, 

172,  232. 
Gerardy  33. 
Gide,  A.  33. 
Ginzkey  78. 
Giotto  128. 
Godwin,  K.  34. 
Goethe  11,  80,  95,  128,  129,  155, 

159,  173,  183,  245,  247. 
Gogh,  van  179. 
Goltz,  J.  V.  d.  34. 
Gorki,  M.  34,  176. 
Gourmont,  R.  de  134. 
Greco,  II  184. 
Grillparzer  184. 
Groos,  K.  199. 
Gulbransson,  O.  234. 
Gundelfinger  33. 
Gundolf  80. 
Guenther,  Chr.  182. 
Gütersloh,  P.  34,  79,  235. 

Haeckel,  E.  35. 

Haendl  128. 

Halbe,  M.  35,  234,  243,  244. 

Hamsun,  K.  36,  44. 

Handl-Mazetti,  E.  36,  196,  234. 

Hardekopf,  F.  36. 

Harden,  M.  37,  44. 

Hardt,  E.  37,  172,  233. 

Hasenclever,  W.  37,  232,  234. 

Hatvany,  L.  38. 

Hauptmann,  Carl  38,  232,  243. 

Hauptmann,  Gerhard  38,  62, 176, 

179,  207,  232,  234. 
Hausenstein,  "W.  39. 
Hauser,  K.  79. 
Hecker,  Th.  232,  234. 


249 


Heer,  J.  C.  72. 

Heim,  Dr.  130. 

Heimann,  M.  39. 

Hello,  E.  225. 

Hennings,  E.  39. 

Heraklitos  118. 

Herrick,  R.  157. 

Herzl,  Th.  233. 

Hesse,  H.  39. 

Hessel,  F.  233,  244. 

Herzog,  L.  130,  242. 

Heymel,  A.  W.  234. 

Hille,  P.  40,  232. 

Hiller,  K.  40. 

Hindenburg  130. 

Hölderlin  147,  171,  173. 

Hofer,  K.  207. 

Hofmannsthal  40,  130,  131,  172, 

196,  233,  234. 
Holz,  A.  41. 
Homer   129,   153,  167,   184,  226, 

247. 
Huch,  R.  41. 
Hugo,  V.  195. 

Humboldt,  W.  v.  134^  173,  203. 
Huysmans,  J.  R.  41,  208. 

Ibsen  41,  86,  172,  176,  207. 
Ingres  128. 

Jacobsohn,  S.  42. 
Jammes,  F.  42,  207. 
Jean  Paul  245. 
Jensen,  J.  V.  43,  49. 
Johst,  H.  42. 

Kafka,  F.  42. 
Kaiser,  G.  43,  240. 
Kant,  J.  68,  133. 
Karlchen  79. 
Kassner,  R.  43,  239. 
Keats  158,  184. 
Keller,  G,  41,  43,  72. 
Kellermann,  B.  43. 
Kerr,  A.  44. 


Keyserling,  Graf  44. 

Kiepenheuer  10. 

Kierkegaard,  S.  33. 

Kipling,  R.  44. 

Kippenberg,  A.  10. 

Klabund  45. 

Kleist  184. 

Kluge,  Prof.  231. 

Kokoschka  104, 

Kolb,  A.  45,  233. 

Kolbenheyer  45. 

Kornfeld  45. 

Korolenko,  W.  34. 

Kranewitter  61. 

Kraus,  K.   10,  30,  97,   232,   234, 

235,  247. 
Kutscher,  A.  Prof.  234. 

Lasker-Schüler  46,  232. 
Lauer,  K.  233. 
Lauff,  K.  242. 
Lautensack,  H.  46,  130. 
Leibnitz,  W.  153. 
Lenau,  N.  155. 
Lenz,  M.  R.  182. 
Leoncavallo  242. 
Lessing  156. 
Liegler,  K.  232. 
Lienhardt,  F.  79. 
Liliencron,  D.  v.  26. 
Lissauer  45,  79. 
Loerke,  O.  46. 
Lothar,  R.  243. 
Lowell,  W.  D.  49. 
Lukianos  145,  232. 
Luther,  M.  93. 

Maeterlinck  46. 
Maistre,  J.  de  212. 
Marees,  H.  von  207. 
Marinetti  17. 
Mallarme,  St.  47,  224. 
Mann,  H.  47,  109,  178,  232,  234. 
Mann,  Th.  47,  130,  235. 
Marc,  F.  189, 


250 


Marie  Madelaine  80. 
Marlitt  35. 
Martens,  K.  51,  234. 
Martersteig  233. 
Maupassant  47. 
Max  von  Baden  243. 
Melas,  M.  14. 
Meli,  M.  47. 
Mencken,  L.  B.  49. 
Meredith,  G.  50,  172. 
Meyer  C  F.  51. 
Meyer,  R.  M.  231. 
Meyrink,  E.  48,  233. 
Michelangelo  183. 
Mimnermos  180. 
Moliere  182. 
Molo,  W.  von  233. 
Mombert  48. 
Mörike  128. 
Morgenstern,  Chr.  47. 
Müller,  G.  10,  29. 
Müller,  H.  49. 
Müller,  R.  49. 
Muncker,  F.  Prof.  234. 
Münchhausen,  von  50. 
Musil,  R.  50,  223. 

Nadler,  J    11. 
Negelinus,  Dr.  9,  10,  232. 
Nerval,  G.  de  184. 
Nietzsche  51,  33,  179. 
Nithart  130. 
Noske,  Gen.  130,  232. 

Oehlke,  Prof.  130. 
Ompteda,  von  80. 

Pascoli,  G.  17. 
Pannwitz  53. 
Paulus  245. 
Peladan,  S.  54. 
Perikles  181. 
Petronius  145. 
Peyronnet,  A.  14. 
Pfemfert,  F.  54,  232. 


Phidias  181,  186. 

Philippe,  Charles  Louis  54, 

Pindaros  158. 

Piaton  116,  180,  181. 

Plutarchos  181,  186. 

Polgar,  A.  55. 

Prövost,  M.  55. 

Presber  80. 

Propertius  180. 

Pulver,  M.  55. 

Rabindranath  Tagore  56. 

Racine  182. 

Raffael  128. 

Rathenau,  "W.  55,  116,  163,  176, 

232, 
Reiser  22. 
Reiß,  E.  10. 
Rembrandt  139,  184. 
Renan,  E.  153. 
Rilke,  R.  M.  56,  226,  232. 
Rimbaud,  A.  56. 
Ringelnatz,  J.  56. 
Rosegger  207. 
Rossetti,  D.  G.  111, 
Rostand,  E.  57. 
Rowohlt,  E.  10,  28. 
Ruskin  57. 

Salus,  H.  80. 

Saiten,  F.  58. 

Salz,  Prof.  A.  232. 

Sand,  G.  51. 

Sardou  46. 

Saint-Beuve  232. 

Shakespeare  80,   128,   129,  141, 

158,  182. 
Shaw,  B.  33,  49,  60. 
Schaeffer,  A,  60, 
Schaukai,  R.  58, 
Scheidemann,  Gen.  130. 
Scheler,  M.  58,  176,  232.  234. 
Schering  235. 
Schiebelhuth,  H.  59. 
Schickele,  R.  59,  240,  243- 


251 


Schiller  11, 95, 171,  198, 199,  207. 

Schlaf,  J.  59. 

Schleich,  Prof.  116,  235. 

Schlenther,  P.  232. 

Schmidtbonn  59. 

Schmitz,  O.  A.  H.  33,  209,  232. 

Schnack,  F.  60. 

Schnitzler,  A.  18,  60,  235,239,243. 

Schönherr  61,  233. 

Scholtz,  W.  von  61. 

Schröder,  R.  A.  61. 

Schwabach,  E.  E.  62. 

Simon,  H.  28. 

Sokrates  101. 

Sombart,  "W.  61,  176,  232,  234. 

Sorge,  J.  208. 

Spengler,  O.  27,  116,  235. 

Spielhagen  207, 

Spitteler  167. 

Staackmann  235. 

Starke,  O.  233. 

Steffen,  A.  61. 

Stehr,  H.  62. 

Stein,  Frhr.  v.  89. 

Steiner,  R.  62. 

Stendhal  132,  141. 

Sternheim,  C.  12,  27,  62,  205,  206, 

233,  240,  243,  244,  245. 
Storm  63. 
Stößl  64. 
Stratz  130. 
Strauß,  E.  64. 
Strauß,  R.  233. 
Stresemann,  Dr.  130, 
Strindberg  65,  80,  132,  172,  235. 
Stucken  64. 
Suarfes,  A.  59. 
SuUy  Prudhomme  232. 
Swinburne  17,  40,  66,  223,  232. 

Taine,  H.  206,  226. 
Tennyson  24,  66. 
Thoma,  L.  61,  233. 
Tönnies,  Prof.  176. 
Tolstoi  34,  66. 


Torquemada  142. 
Tovote,  H.  233. 
Trebitsch,  S.  60. 
Treitschke,  H.  96, 
Tröltzsch,  Prof.  176. 
Tyrtaios  18. 
Ulimann,  R.  67. 
Unruh,  F.  von  67,  233. 

Vaihinger,  Prof.  68. 
Vergil  180. 
Verhaeren,  E.  72. 
Vischer,  F.  T.  173. 
Villon,  F.  182. 
Vollmöller,  K.  68. 
Voltaire  33. 

Wagner,  R.  52,  54,  139,  174,  214. 
Walser,  R.  68. 
Wassermann,  J.  68,  167. 
Weber,  M.  von  176. 
Wedekind,  F.  69,  104,  108,  234, 

240,  241,  242,  243. 
Weigand,  W.  69,  232. 
Weininger  69. 
Weiß,  Konr.  70. 
Werfel,  F.  70,  206,  235. 
Whitman,  W.  25,  71. 
Wieland  128. 

Wilamowitz,  Prof.  72,  134. 
Wilde,  O.  71,  189,  227,  244. 
Wildgans  72,  172,  233. 
Wilhelm  II.  130,  242. 
Wille,  B.  234, 
Wolff,  K.  10. 
Wolfenstein,  A.  72. 
Wolfskehl,  K.  33,  235. 
Wolters,  Fr,  235. 

Zahn,  E.  232. 

Zech,  P.  72. 

Zobeltitz  73. 

Zola,  E.  51,  73,  172,  174, 178,  208. 

Zuckerkandel,  B.  233. 

Zweig,  A.  73. 

Zweig,  St.  73, 


252 


INHALTSVERZEICHNIS 

Vorworte    :::;::::::::::::::::::::::        5 
Das  große  Bestiarium    ::   ::  ::  ::  ::      15 

Die  großen  Dichter  deutscher  Nation  ::  ::  75 
Zur  ideologischen  Morphologie  der  litera- 
rischen Bestiae  ::  ::  ::  ::  ::  ::  ::  ::  ::  ::  ::  83 
Notwendige  Exkurse::  ::  ::  ::  ::  ::  ::  ::  ::  123 
Kleine  Grammatik  für  Anfänger  ::  ::  ::  ::  215 
Quellenschriften  des  Bestiarium  ::  ::  ::  229 
Biographische  Belustigungen  ::  ::  ::  ::  ::  ::  237 
Verabschiedung  des  Lesers    ::  ::  ::   ::  246 

Register  der  Eigennamen  ::        ::        ::  ::  ::  248 


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ERNST    ROWOHLT    VERLAG 
B  ERLIN    W  35 

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Rudolf  Borchardt 

JUGEND  GEDICHTE 

Geheftet  M  50.—  •  Gebunden  M  80.— 
Halbpergament  M  140. — 

PROSA   I 

Geheftet  M  75.—  •  Gebunden  M  110.— 
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DANTES  VITA  NOVA  (Deutsch) 

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50   signierte   Exemplare    auf   van   Geldern  -  Bütten 

Kartoniert   M  200. —    •    Ganzpergament  M  600. — 

DER  DURANT 
Ein  Gedicht  aus  dem  männlichen  Zeitalter 

In   einer  Auflage  von  680  numerierten  Exemplaren  in 
der  Offizin  W.  Drugulin  in  Leipzig  gedruckt 

Gebunden  M  120. —  ■  Halbpergament  M  250. — 

Die  Exemplare  1 — 45  wurden  auf  van  Geldern-Bütten 

abgezogen  und  von  Rudolf  Borchardt 

handschriftlich  signiert 

Ganzpergament  M  800. — 

DAS  GESPRÄCH  ÜBER  FORMEN  UND 

PLATONS  LYSIS  (Deutsch) 

Geheftet  M  50. —  ■  Halbpergament  M  140. — 


ERNST    ROWOHLT    VERLAG 
BERLIN    AXi^  35 

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Rudolf  Borchardt 
DIE  HALBGERETTETE   SEELE 

Ein  Gedicht.  Einmalige  Auflage  von  650  numerierten 

Exemplaren  auf  Japanbütten 

Halbleder  M160.— 

DER  KRIEG  UND  DIE  DEUTSCHE 
VERANTWORTUNG 

Gebunden  M  40. — 

KRIPPENSPIEL 

Druck  von  Otto  v.  Holten.  Druckanordnung  von 

E.  R.  "Weiß.  Auf  echtem  Bütten 

Gebunden  M  50. — 

DIE   DIALOGE   JAMES    LANDORS 

(Deutsch)  Geheftet  ca.  M  40  —  •  Gebunden  ca.  M  70.— 
Halbpergament  ca.  M  100. — 

POETISCHE  ERZÄHLUNGEN 

Geheftet  ca.  M  60.—  •  Gebunden  ca.  M  90.— 
Halbpergament  ca.  M  140. — 

REDE  ÜBER  HOFMANNSTHAL 

Geheftet  M  50. Halbpergament  M  140.— 

SWINBURNE  (Deutsch) 

Einmalige  Auflage  von  600  numerierten  Exemplaren 
Halbpergament  M  300. — 

VERKÜNDIGUNG  /  Dramatisches  Gedicht 
Geh.  M  50.—  •  Geb.  M  80,—  •  Halbleder  M  140.— 


ERNST    ROWOHLT  VERLAG 
BERLIN  W  35 

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MENSCHHEITSDÄMMERUNG 

Symphonie  jüngster  Dichtung 
Herausgegeben  von  Kurt  Pinthus 

Dichtungen  von  Becher,  Benn,  Däubler,  Ehrenstein, 
Goll,  Hasenclever,  Heym,  Heynicke,  van  Hoddis,  Klemm, 
Lasker- Schüler,  Leonhard,  Lichtenstein,  Lotz,  Otten, 
Rubiner,  Schickele,  Stadler,  Stramm,  Trakl,  Werfel, 
Wolf  enstein.  Zech.  Mit  den  Selbstbiographien  der  Dichter 
und  ihren  Porträts  von  Kokoschka,  Meidner, 
Lehmbruck,  Engert,  Schiele  usw. 

Gebunden  M  120.—  ■  Halbleder  M  200.— 


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DIE  ENTFALTUNG 

Novellen  an  die  Zeit 

Herausgegeben  von  Max  Krell 

Novellen   von    Adler,    Benn,    Brod,    Buber,    Däubler, 

Döblin,  Edschmid,  A,  Ehrenstein,  Leonhard  Frank,  Jung, 

Kafka,  Kolb,   Lasker-Schüler ,   W.  Lehmann,  H.  Mann, 

Meidner,  Sack,  Schickele,  Steffen,  Sternheim, 

E.  Weiß,  Werfel 

Gebunden  M  120.-    ■  Halbleder  M  200.— 


ERNST    ROWOHLT    VERLAG 
BERLIN   W  35 

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Walter  Hasenclever 
GEDICHTE  AN  FRAUEN 

Einmalige    Auflage    von    200   numerierten    und    liand- 
schriftlich  signierten  Exemplaren.    Kartoniert  M  300, — 

GOBSECK 

Drama  •   Geheftet  M  40.—  •   Gebunden  M  70.— 

JENSEITS 

Drama  •   Geheftet  M  40,—  •  Gebunden  M  70.— 
Halbleder  M  120.— 

DER  POLITISCHE  DICHTER 

Gedichte  •  Broschiert  M  10. — 

DER  RETTER/  Dramatische  Dichtung 
Geheftet  M  40.—  •  Gebunden  M  70.— 


Paul  Kornfeld 

DER  EWIGE  TRAUM 

Komödie  •  Geheftet  ca.M  40. —  Gebunden  ca.M70.— 

HIMMEL  UND  HÖLLE 

Tragödie  •  Geheftet  M  40.—  •  Gebunden  M  70.— 

LEGENDE 
Geheftet  M  40.—  •  Gebunden  M  70.— 

DIE  VERFÜHRUNG 

Tragödie  •  Geheftet  M  40.—  •  Gebunden  M  70.— 


ERNST    ROWOHLT   VERLAG 
BERLIN    W  35 

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Johannes  R.  Becher 

EWIG  IM  AUFRÜHR 

Umschlagzeichnung  von  Ludwig  Meidner 

Broschiert  M  10, — 

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Max  Brod 
ERLÖSERIN 

Ein  Hetärengespräch 
Geheftet  M  30.—  •  Gebunden  M  60.— 

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Albert  Ehrenstein 

>Xr  I  E  N 

Gedichte 

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Carl  Einstein 

DIE  SCHLIMME  BOTSCHAFT 

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W»V»»»»»»»»»»»»»»»»»V»»»»»»##»»»»»»#'»#»»»»»»»»*»»^^»»»< 


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ERNST    ROWOHLT    VERLAG  ;> 

BERLIN    W  35 

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Arnolt  Bronnen 

SEPTEMBER  NOVELLE 

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Max  Krell 
DIE  MARINGOTTE 

Roman.  Umschlagzeichnung  von  Rudolf  Großmann 

Geheftet  M  30.—  •  Gebunden  M  60.— 

Halbledcr  M  100.— 


DER  SPIELER  CORMICK 

Roman 
Geheftet  ca.  M  70.—  •  Gebunden  ca.  M  100.— 

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Heinrich  Lautensack 
LEBEN,  TATEN    UND  MEINUNGEN    <: 

(kurz  zusammengefaßt)  \\ 

des  sehr  berühmten  russischen  Detektivs 

MAXIMOW 

Beamter  zu  besonderen  Aufträgen  im  Ministerium     <; 

des  Innern  zu  St.  Petersburg 

Geheftet  M  30.—  •  Gebunden  M  60.— 

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ALLE   PREISE    SIND    UNVERBINDLICH 


SCHRIFTEN  VON  FRANZ  BLEI 

Vermischte  Schriften 

Sechs  Bände.  Zweite  Auflage.  G.  Müller  Verlag,  München 

Menschliche  Betrachtungen  zur  Politik 

Zweite  Auflage.  G.  Müller  Verlag,  München 

Die    Puderquaste    des    Prinzen   Hippolyt 

Elfte  Auflage.  G.  Müller  Verlag,  München 

Die  Abenteurer 

Vierte  Auflage.  G.  Müller  Verlag,  München 

Der  bestrafte  Wollüstling 

Avalun-Verlag,  Wien 

Leben  und  Traum  der  Frauen 

Dritte  Auflage.  Rösl  &  Cie.,  München 

Das  Evangelium  des  Appolonios 

Avalun-Verlag,  "Wien 

Logik  des  Herzens 

S.  Fischer,  Berlin 

Lehrbücher  der  Liebe 

Nr.  1—4.  G.  Müller  Verlag,  München 

Die  verliebte  "Weisheit  der  Ninon 

G.  Müller  Verlag,  München 

Der  lose  Vogel 

Kurt  Wolff  Verlag,  München 

Der  Lustknabe  Ganymed 
oder  das  geplatzte  Strumpfband 

Kurt  Wolff  Verlag,  München 

Die  unsittliche   Literatur  und  der  §  184     | 

Paul  Steegemann,  Hannover  J 


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BINBIN«  SECT.  APR  1  9 196Ö8 


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