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$?arl'avl) tfoUrgf libraru
JAMES WALKER, D.D., LL.D.,
i
Das Ich als Grandproblem der Metaphysik.
Das Ich
Grundproblem der Metaphysik.
Eine Einfiihning in die spekulative Philosophie
Arthur Drews, Dr. phil.,
Freiburg i. B.
Leipzig mad Tübingen
Terlag von J. C. B. Mohi (FkuI Siebeok)
"PVvx L ^■^'^. \<:{,
y/'y(C.
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<L
Alle Rechte vorbehalten,
\
Drack von C. A. Wagner's Üniversitäts-Bnchdruckerei is Freibarg i. B.
V
Vorwort.
Dass der Kern einer jeden Weltanschauung durch nichts so sehr
wie durch die SteUung zum Ichproblem bedingt ist, wird keinem
Widerspruch begegnen. Ein Versuch, die wesentlichsten Prinzipien der
Metaphysik aus dieser Wurzel abzuleiten, ihre Verästelungen bis in
die äussersten Enden zu verfolgen und die Beziehungen jener Prin-
zipien zum Ich nachzuweisen, wird daher kaum etwas Auffälliges
haben. Indem ich mich in dem vorliegenden Werke bemüht habe,
das gesamte Gebiet der Spekulation aus diesem einen Gesichtspunkt
zu beleuchten, und die Grundfragen aller Metaphysik dabei wenig-
stens im Allgemeinen erörtert habe, so mag sich dasselbe wohl mit
Recht als eine Einführung in die spekulative Philosophie be-
zeichnen.
Seit Descartes sein Cogito ergo sum gesprochen, kann keine
Behandlung des Ichproblems umhin, in irgend einer Weise an ihn
anzuknüpfen. Hängt doch die Lösung des fragKchen Problems letzten
Endes nur von der Stellung ab, die man zu jenem Satze einnimmt.
Ich gestehe nun frei, dass ich mich niemals von der Wahrheit des-
selben habe überzeugen können. Ich vermag nicht einzusehen, wie
bei dem vorstellungsartigen Charakter unserer Wahrnehmungen der
Gegenstand der inneren Wahrnehmung hiervon- eine Ausnahme machen
und unmittelbar von uns erkannt werden sollte, und ich wundere
mich um so mehr über eine solche Behauptung im Munde derjenigen,
die von der Höhe ihres „Kritizismus" herab nur mit mitleidigem
Spotte von der „intellektuellen Anschauung" sprechen und die „Iden-
tität des Ideellen, und Realen" für ein phantastisches Himgespinnst
der Metaphysiker halten. Thatsächlich ist denn auch die Wahrheit des
Cogito ergo sum bisher fast immer nur von den Gegnern der Meta-
VI Vorwort.
physik bestritten worden, wohingegen die Metaphysiker, wie weit
auch im übrigen ihre Gedanken auseinander gegangen sind, ihre
Abhängigkeit von jenem Prinzip nicht haben verleugnen können.
Das gilt nicht bloss von den unmittelbaren Nachfolgern des Des-
cartes, die sich selbst dabei auf ihn berufen haben, wie Spinoza
und Leibniz, sondern es gilt auch von denjenigen Metaphysikern,
die sich ihres Zusammenhanges mit dem Eartesianismus nicht be-
wusst gewesen sind, ja, einen solchen wohl gar ausdrücklich be-
stritten haben, wie Fichte, Schelling, Hegel, Schopenhauer,
Wundt und Bahnsen.
Diese Abhängigkeit der modernen Spekulation vom kartesianischen
Grunddogma bei den Hauptträgem derselben nachzuweisen und damit
die Bedeutung des Cogito ergo sum für die neuere Philosophie ins
rechte Licht zu setzen, dafür dürfte die Zeit gerade jetzt gekommen
sein. Die Aufgabe der Metaphysik besteht nach meiner Ansicht darin,
das Wesen des realen Seins im Unterschied vom ideellen, d. h. von
unseren Vorstellungen, zu bestimmen. Wenn sich nun herausstellen
sollte, dass jeder Versuch, diese Bestimmung von der unmittelbar er-
kannten Realität des eigenen Ich aus zu treffen, durch eine Art
von immanenter Dialektik zur gänzlichen Leugnung des Realen hin-
führt, so wäre damit der schlagende Beweis geliefert, dass jene
Voraussetzung selbst unhaltbar sein muss und dass wir auch im
eigenen Ich nicht mehr als eine blosse Vorstellung des realen Seins
besitzen. Nun zeigt sich aber femer, dass auch die Gegner der
Metaphysik, die zugleich die Wahrheit des Cogito ergo sum be-
streiten, mögen sie sich nun Empiristen, Sensualisten , subjektive
und transcendentale Idealisten oder Positivisten nennen, trotzdem
die Berechtigung für ihre Weltanschauung im Grunde nur aus
jenem Satze schöpfen. Damit erweitert sich die Kritik des letz-
teren zu einer Kritik der gesamten modernen Philosophie,
vor welcher die verschiedenen Standpunkte derselben nur als eben-
so viele Möglichkeiten erscheinen, das Cogito ergo sum auszu-
deuten.
Vielleicht ist hierin der tiefste Grund zu suchen, wodurch die
allgemeine Entmutigung auf philosophischem Gebiete und der Nieder-
gang der Spekulation in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts be-
dingt sind. Die im Cogito ergo sum implizite enthaltenen MögKch-
keiten sind expUziert, und jede von ihnen ist in einem besonderen Stand-
punkte durchgearbeitet, aber dem Realen ist man damit nicht näher
gekommen, und das Gefühl ist allgemein, dass die Philosophie, die
vom Centrum des Cogito ergo sum aus dem Realen zustrebt, sich
Vorwort. VII
nur im Kreise des ideellen Seins herumbewegt, ohne irgendwo
über die Peripherie desselben hinauszukommen. Der erkenntnis-
theoretische Idealismus und Skeptizismus mit ihrem Verbot, jene
Grenze zu überschreiten, und ihrem Unglauben an die Leistungsfähig-
keit des menschlichen Verstandes sind nur der wissenschaftlich for-
mulierte Ausdruck für die Unzulänglichkeit des erwähnten Ausgangs-
punktes. Aber wer heisst uns denn, uns in jenen Kreis überhaupt
erst hineinzustellen, wenn wir innerhalb desselben nicht bleiben können
und eine Durchbrechung seiner Grenzen nicht möglich ist? Descartes
zog sich auf das Centrum des Bewusstseins zurück, weil er glaubte,
in ihm die gesuchte Realität gefunden zu haben. Wir müssen das
Reale von vornherein ausserhalb des Bewusstseins suchen, nachdem
die Entwickelung bewiesen hat, dass sich im Bewusstsein kein Reales
findet. Bisher haben die Philosophen geglaubt, dem Sein das Prädikat
der Bewusstheit zuerteilen zu müssen, weil sie in Uebereinstimmung
mit Descartes im Selbstbewusstsein das Reale unmittelbar erkannt
zu haben glaubten. Wenn aber alles Sein, sofern es Inhalt des Be-
wusstseins ist, eben deshalb nur Bewusst-Sein oder ideelles Sein ist,
so folgt, dass das wirkliche reale Sein nur ein ausserbewusstes , un-
bewusstes sein kann.
Diese selbstverständliche Konsequenz ist bisher noch so gut wie
garnicht beachtet worden. Denn in der Gegnerschaft gegen das so-
genannte Unbewusste stimmen alle verschiedenen Richtungen der
zeitgenössischen Philosophie zusammen. Zumal die Psychologen haben
sich bisher am abfälligsten über den Begriff des unbewusst-Seelischen
ausgesprochen. Gilt doch bei ihnen gegenwärtig fast allgemein die
Ansicht, dass wir unser eigenes Inneres unmittelbar, so, wie es ist,
erkennen, wohingegen wir die äusseren Gegenstände mittelbar, nur als
Erscheinungen erkennen. Dies führt dahin, die Psychologie als eine
bloss empirische aufzufassen, und umgekehrt zwingt die Aufstellung
einer rein empirischen Psychologie zur Annahme der Unmittelbarkeit
der Selbstwahmehmung. So kommen diese Psychologen dazu, den
ganzen Inhalt unseres Seelenlebens aus blossen Bewusstseinselementen
abzuleiten und die Hypothese des unbewusst-Seelischen in das Reich
metaphysischer Phantastereien zu verweisen. Dass ihre eigenen sich
korrelativ bedingenden Voraussetzungen nur die verschiedenen Seiten
sind, wie das Cogito ergo sum sich darstellt, und sie folglich selbst
ohne nähere Kritik einer im Grunde metaphysischen Annahme huldigen,
dessen sind sie sich so wenig bewusst, dass die meisten empirischen
Psychologen ihre Gegnerschaft gegen die Metaphysik als etwas sich
von selbst Verstehendes betrachten oder doch jedenfalls ihre meta-
VIII Vorwort
physische Weltanschauung für unabhängig von ihrer psychologischen
Orundansicht halten^. Bedächten diese Psychologen nur, dass der
Streit, ob es ein unbewusst- Psychisches giebt, ganz wesentlich
durch das kartesianische Grunddogma bedingt ist und folglich
nur auf metaphysischem Boden ausgefochten werden kann, dann
würden sie gewiss auch etwas zurückhaltender sein , sich selbst
als kompetente Richter in dieser Frage aufzuwerfen, dann würden
sie doch vielleicht Bedenken tragen, das Unbewusste deshalb zu
verwerfen, weil es innerhalb des empirischen Gebietes der Psy-
chologie nicht vorkommt. Jetzt sehen wir Psychologen auf die
Unmittelbarkeit der Selbstwahrnehmung schwören, die trotzdem
zugleich Metaphysiker sind, und Metaphysiker sich gegen die An-
erkennung des unbewusst-Psychischen sträuben, die in der Psycho-
logie von der Unmittelbarkeit der Selbstwahmehmung nichts wissen
wollen.
Ein Ende dieser Verwirrung ist nur dadur<^h möglich, dass man
die Grenzen der unmittelbaren Selbstwahrnehmung überschreitet und
ein unbewusst-Psychisches im absoluten Sinne (nicht bloss als
ein Unter- oder relativ Bewusstes) annimmt. Nur so ist zugleich
eine Reihe der wichtigsten Probleme lösbar, womit sich die Psycho-
logie bisher vergeblich abgemüht hat. Fragen, wie die nach der Ein-
teilung der „Seelenvermögen", die mit der anderen verwandt ist, welche
psychischen Elemente als primäre und welche als sekundäre anzu-
nehmen seien, lassen sich auf dem bisherigen Boden der Psychologie
überhaupt nicht beantworten. Oder kann es wohl etwas Auffälligeres
geben als den Umstand, dass trotz der behaupteten „Unmittelbarkeit"
ihrer Selbstwahrnehmung die Psychologen sich noch immer nicht dar-
über geeinigt haben, ob die Vorstellung oder das Gefühl oder ob der
^ So zählt Wundt in einem Aufsatze „Ueber die Definition der Psycho-
logie" (Phil. Studien Bd. XII) unter den besonderen Vorzügen seiner Auf-
fassung der letzteren, als Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung, auch den
Umstand auf, dass sie gar keine metaphysische Voraussetzung mache und darum
an sich mit jeder metaphysischen Anschauung vereinbar sei (a. a. 0. 22). Als
ob seine eigene Metaphysik, wie ich an seiner Stelle zeigen werde, nicht ganz
offenbar durch jene psychologische Grund anschauung bedingt und seine Annahme
der realen Natur der Bewusstseinsinhalte nicht selbst schon Metaphysik im
höchsten Sinne wäre ! Angesichts jener angeführten Behauptung nimmt es sich
seltsam aus, wennWundt gegen den „völlig unwissenschaftlichen, höchstens für
die Konstruktionen einer mystischen Metaphysik brauchbaren Begriff des Unbe-
wussten** polemisiert (ebd. 34 f.). Oder zeigt es nicht, dass seine Auffassung
der Psychologie metaphysischen Theorien gegenüber keineswegs so duldsam ist,
wie Wun d t dies annimmt ?
Vorwort. IX
Wille die Wurzel und das Grundelement unserer Seele bildet? Wie
kommt es, dass die Einen allen Inhalt des Psychischen auf blosse
Willenselemente zurückzuführen streben, wohingegen die Andern mit
der gleichen Zuversicht die reale Existenz des Willens überhaupt be-
streiten ? Wie soll man es sich erklären, dass die Intellektualisten im
Allgemeinen die Substantialität des psychischen Seins behaupten und
hiervon eine „unmittelbare" Erkenntnis zu besitzen glauben, während
die Voluntaristen auf Grund derselben Unmittelbarkeit über das „starre
Klötzchen" der Seelensubstanz ihren Spott ausgiessen und den „ak-
tuellen" Seelenbegriff für die einzige wissenschaftlich haltbare Auf-
fassung unserer Psyche ausgeben ? Man pflegt den spekulativen Philo-
sophen vorzuwerfen, dass sie immanente psychologische Begriffe zu
transcendenten metaphysischen Potenzen emporschrauben. Ich glaube,
die Metaphysiker können den heutigen Psychologen darauf mit Recht
erwidern, dass sie selbst metaphysische Potenzen zu psychologischen
Begriffen stempeln. Denn diejenigen Vorstellungen und Willensakte,
die nach ihrer Ansicht das Grundgerüst des seelischen Daseins bilden
sollen, sind absolut unbewusste seelische Faktoren und folglich auch
kein Gegenstand einer unmittelbaren Selbstwahmehmung. Diejenigen
jedoch, die sich unmittelbar in unserem Bewusstsein finden, sind
bloss die subjektiven Repräsentanten oder ideellen Abspiegelungen
der realen seeKschen Faktoren und folglich nicht der Kern und das
Grundgerüst unserer psychischen Gebilde. Solange man dies nicht an-
erkennt, werden alle Bemühungen der Psychologen fruchtlos sein, die
Vorstellung aus dem Willen oder den Willen aus der Vorstellung
oder beide aus Gefühlen, Empfindungen u. s. w. abzuleiten — man
kann es aber solange nicht anerkennen, als die Frage nicht erledigt
ist, ob wir wirklich in der Selbstwahmehmung die Gegenstände, wie
sie an sich sind, erkennen.
Unsere Psychologen operieren heute mit der Unmittelbarkeit der
Selbstwahmehmung, als ob darüber gar kein Zweifel bestehen könnte,
ohne zu bedenken, dass sie mit dieser Behauptung einer intellektuellen
Anschauung des psychischen Seins eigentlich gar keine psychologische,
sondern eine metaphysische Behauptung aussprechen. Es zeigt sich
hier, wie unmöglich es ist, auf irgend einem Gebiete der Philosophie
ohne metaphysische Voraussetzungen auszukommen. Sogar die Psy-
chologie, die scheinbar so selbständig ist, weist trotzdem schon in
Hinsicht ihrer Methode auf eine Annahme zurück, die als solche
eigentlich aus den Grenzen ihres eigenen Gebiets hinausfällt. Denn
ob sie rein empirisch in dem Sinne sein muss, dass sie ohne alle
transcendenten Hypothesen auskommt, wie die sogenannte Assoziations-
X Vorwort.
Psychologie, oder ob sie in gewissen Fällen auf solche Hypothesen
zurückgreifen darf, nSmlich dann, wenn die unmittelbar erkannten
Inhalte unserer Selbstwahmehmung zur Erklärung der psychischen
Erscheinungen nicht zureichen, das ist ohne bestimmte Stellungnahme
zum metaphysischen Cogito ergo sum nicht zu entscheiden. Die
heutige Psychologie hält an der ersten Annahme, wie an etwas Selbst-
verständlichem, fest, weil der allgemeine Niedergang der Metaphysik
und das Misstrauen gegen diese sie selbst erst in die Höhe gebracht
hat. Aber muss denn dieser Zustand von Dauer sein, und könnte
nicht gerade das erneute Interesse an der Metaphysik sich feindlich
gegen die heutige kartesianische Grundvoraussetzung der Psychologen
kehren? —
Ich habe früher in meiner Schrift über Kant versucht, die Be-
ziehungen der Naturwissenschaft zur Metaphysik klarzustellen und in
der Untersuchung des Begriffes der Materie die Grundlinien einer
modernen Naturphilosophie zu ziehen^. In dem vorliegenden Werke
ging mein Streben dahin, die allgemeinsten Grundzüge einer Philo-
sophie der Psychologie oder metaphysischen Unterlage dieser
Wissenschaft zu liefern. Der Gedanke, der mich dabei leitete, war
der, dass die weit verbreitete Abneigung gegen die spekulative Phi-
losophie nicht so sehr im Wesen der Sache selbst begründet, als
vielmehr durch gewisse Zeitströmungen und Verhältnisse bedingt ist
und daher unmöglich von langer Dauer sein kann. Es scheint mir
nicht wertlos, die empirischen Wissenschaften von Zeit zu Zeit auf
ihren Zusammenhang mit dem allgemeinen Centrum alles Wissens
hinzuweisen, zumal wenn sich dieselben, wie die moderne Psychologie,
ganz und gar auf ihre eigenen Füsse stellen wollen und ihre Prin-
zipien, um die Erscheinungen zu erklären, ausschliesslich im Bereiche
der Erfahrung suchen. Die Psychologie hat erst vor noch nicht
langer Zeit sich selbständig gemacht und ist daher auch weit ent-
fernt, die Notwendigkeit eines solchen Hinweises einzusehen. Ihre
Vertreter werden unter diesen Umständen ein Unternehmen, wie das
vorliegende, mit Misstrauen ansehen und darin vielleicht nur einen
reaktionären Versuch erblicken, die kaum errungene Freiheit wieder
in Frage zu stellen. Erst muss das Gebiet der inneren Erfahrung
noch viel gründlicher durchforscht und die Probe noch viel häufiger
gemacht sein, wie weit mit bloss empirischen Erklärungen zu ge-
langen ist, bevor die Psychologen selbst ein Bedürfnis empfinden
werden, den zerrissenen Faden mit der Metaphysik wieder anzu-
^ Kants Naturphilosophie als Grundlage seines Systems (1894).
Vorwort. XI
knüpfen. Allein das darf doch nicht daran verhindern, die Bezie-
hungen zwischen beiden anzuerkennen und darzulegen, wenn solche
thatsächlich vorhanden sind. Wie die Naturwissenschaft schon jetzt
von ihren stolzen Ansprüchen einer Welterklärung mehr und mehr
zurückkommt und der Wunsch nach Vertiefung derselben zur Natur-
philosophie heute bereits von ihren Vertretern selbst erhoben wird,
so wird auch für die Psychologie die Stunde kommen, wo sie ihren
Blick wieder nach der alten Mutter Metaphysik hinrichtet, und die
Einsicht in die Unzulänglichkeit der rein empirischen Erklärungs-
weise sie wieder Anschluss bei der Spekulation wird suchen lassen.
Ihr dann ein blindes Umhertappen zu ersparen und ihr den Weg zu
einer geeigneten Metaphysik offen zu halten, das scheint mir ein des
Philosophen nicht unwürdiges Unternehmen.
Denn darüber braucht man sich keiner Täuschung hinzugeben:
die bisherige Metaphysik, die Metaphysik, wie sie auf dem Boden
des Cogito ergo sum erwachsen ist, hat der heutigen Psychologie
keine geeignete Grundlage darzubieten. Gewisse Thatsachen des
Seelenlebens, die das Interesse der Psychologen besonders auf sich
gezogen haben, wie die Vorgänge des Traums und der Hypnose, die
Teilung der Persönlichkeit, überhaupt alle diejenigen Erscheinungen,
die man als Schwankungen des Ich bezeichnen kann, und die auf
eine quantitative Beschaffenheit der Seele schliessen lassen, sind mit
dem bisherigen qualitativen Seelenbegriffe nicht vereinbar, wodurch
uns die ursprüngliche substantielle Einheit der Seele durch unser Ich
verbürgt sein soll. Die Psychologie hat daher versucht, von der
Seelensubstanz überhaupt gänzlich zu abstrahieren, den gesamten In-
halt des psychischen Seins aus den einfachsten seelischen Elementen,
den Gefühlen, Empfindungen u. s. w., zu erbauen und dabei auch das
Ich als Produkt eines rein quantitativen Prozesses aufzufassen. Allein
so wenig die quantitative Weltbetrachtung der Naturwissenschaft zur
Erklärung der verwickelten Erscheinungen, vor allem des geistigen
Lebens ausreicht, so wenig ist es bisher auch der Psychologie ge-
lungen, die höheren seelischen Gebilde aus blosser Assoziation und
Summati on der niederen Gebilde abzuleiten. Wie der Materialismus
sich genötigt sieht, seine stofflichen Atome mit immer höheren Kräften
und Qualitäten auszustatten, um den Thatsachen der Erfahrung ge-
recht zu werden, so muss auch die positivistische Assoziationspsycho-
logie zu immer geheinmisvolleren Beziehungen zwischen den ursprüng-
lichen Bewusstseinselementen ihre Zuflucht nehmen, um nur über-
haupt über die einfachsten seelischen Erscheinungen hinauszukommen,
ohne dass sie doch bisher imstande gewesen wäre, die zerstörte Ein-
XII Vorwort.
heit des Ich aus der Vielheit seiner Elemente wieder aufzubauen.
Mehr und mehr drängt sich den Psychologen die Ueberzeugung auf,
dass die höheren seelischen Gebilde nicht blosse Summationsphänomene
sein oder aus blossen bewusstseinsimmanenten Assoziationsvorgängen
hervorgehen können, sondern die Annahme einer psychischen Syn-
these fordern. Wenn aber diese nach Beseitigung des alten Seelen-
begriffs nicht die Thätigkeit eines substantiell gedachten Bewusst-
seins sein kann, wenn vielmehr die ursprünglichsten Bewusstseins-
elemente selbst den Stoff der aufbauenden Thätigkeit bilden sollen,
woraus das Gesamtbewusstsein erst hervorgeht, was bleibt übrig, als
die Synthesis als vorbewusste und unbewusste aufzufassen?
So drängt gerade die Psychologie, deren Vertreter sich bisher
am heftigsten gegen die Anerkennung der unbewussten Geistesthätig-
keit gesträubt haben, am meisten auf diese Annahme hin und dürfte
sie sich gerade hier von besonderer Fruchtbarkeit erweisen. Der
Grund dieser Abneigung liegt, wie gesagt, nur im Cogito ergo sum,
unter dessen Bann heute noch alle diejenigen Philosophen stehen, die
dem Bewusstsein irgendwelche reale und prinzipielle Bedeutung zu-
schreiben. —
Man hat in unserer Zeit das Heil der Philosophie im Kritizismus
gesucht und gemeint, indem man auf Kant zurückging, den Aus-
gangspunkt gefunden zu haben, um die Philosophie aus der Sack-
gasse, worin sie sich verrannt hat, wieder hinauszuführen. Ich glaube,
die Resultate, zu denen man gelangt ist, sprechen nicht dafür, dass
man sich damit auf dem richtigen Wege befindet. Ich bin weit ent-
fernt, das Gute zu verkennen, was das erneuerte Studium Kants
für die Philosophie gehabt hat. Es hat zunächst unser historisches
Verständnis des Kritizismus in einer Weise gefördert, wie es ohne
die Hoffnung, in Kant zugleich die Grundlage für eine moderne
Weltanschauung zu finden, wohl schwerlich im gleichen Masse der
Fall gewesen wäre. Es hat die Flamme des philosophischen Denkens
lebendig erhalten zu einer Zeit, wo sie unter dem Ansturm der em-
pirischen Wissenschaften gänzlich zu verlöschen drohte, und dem
Materialismus im transcendentalen Idealismus ein Gegengewicht ge-
boten, als derselbe bereits anfing, die feinsten Blüten unserer geisti-
gen Kultur zu bedrohen. Es hat endlich der Philosophie die Ver-
anlassung gegeben, dasjenige nachzuholen, was die Spekulation un-
mittelbar nach Kant versäumt hatte, nämlich die Klarstellung und
Durcharbeitung der erkenntnistheoretischen Probleme. Nur was man
von ihm ursprünglich erwartet hatte, die Förderung einer wahrhaft
modernen Weltanschauung, das hat uns der Kritizismus nicht ge-
Vorwort. XIII
bracht; im Gegenteil hat das Miss Verständnis, als ob Kant die
Unmöglichkeit der Metaphysik bewiesen habe, die Bemühungen um
eine solche lange hintangehalten und den spekulativen Trieb unter-
bunden zu einer Zeit, die dessen gerade am wenigsten entbehren
konnte ^.
Dies Ergebnis ist nur selbstverständlich, wenn man bedenkt, dass
auch Kant nur ein Glied in der Kette jener Entwickelung bildet,
die aus dem Cogito ergo sum hervorgegangen ist und sich gegen-
wärtig erschöpft und ausgelebt hat. Man pflegt zwar gewöhnlich
diese Entwickelung mit Kant abzuschliessen und von ihm eine neue
Epoche in der Philosophie zu datieren; und zweifellos laufen ja auch
die beiden Gabelungen aus der Wurzel des Cogito ergo sum, der
Rationalismus und Empirismus, in ihm zusammen. Nur überschätzt
man die Bedeutung Kants gewaltig, wenn man meint, dass sie in
ihm zur Versöhnung gekommen seien und dass überhaupt mit der
kantischen Philosophie ein neuer Grund für das philosophische Denken
gelegt sei, der für unsere Zeit noch irgendwelche positive Bedeutung
habe. In dem Vorworte meiner Schrift über „Kants Naturphilosophie
als Grundlage seines Systems" habe ich gesagt, dass, wenn man, um
eine positive philosophische Grundlage zu gewinnen, an Kant an-
knüpfen wolle, man von Kant, dem Erkenntnistheoretiker, abstrahieren
und auf Kant, den Naturphilosophen und Metaphysiker, zurückgreifen
müsse. Büer behaupte ich, dass, wenn man schon eine neue philo-
sophische Weltanschauung durch Anknüpfung an die Vergangenheit
gewinnen will, dass man dann überhaupt nicht auf Kant^ son-
dern auf die ursprüngliche Quelle auch des kantischen Ge-
dankensystems, nämlich auf DescartBS zurückgehen muss.
Dies hat Anton Günther zuerst eingesehen und seine Schule seitdem
mit Recht gegenüber den verschiedenen Richtungen der modernen
Philosophie vertreten. Laufen doch im Cogito ergo sum alle Fäden
zusammen, woran diese Philosophie bisher gesponnen hat — nur dass
seit Hegels und Schopenhauers Tod ein wirklicher Fortschritt in
der Philosophie nicht mehr erreicht ist, von denjenigen wenigstens
nicht erreicht ist, die bewusster oder unbewusster Weise sich auf
De sc arte 8 bezogen haben. Jeder Versuch, auf der Grundlage des Co-
gito ergo sum eine neue Weltanschauung zu errichten, ist daher
schon im Prinzip verfehlt und führt nur dazu, die Menge von
philosophischen Systemen und Gesichtspunkten zu vermehren, die
^ Vgl. meinen Aufsatz : „Zur modernen Kantbewegung" in den Freussischen
Jahrbüchern. Bd. LXXXVI, Hft. 1.
XIV Vorwort.
Philosophie in die Breite auszudehnen, aber nicht, sie auf eine höhere
Stufe empor zu heben. Ein wirklicher Fortschritt beruht nur auf
dem völligen Bruch mit dem Cogito ergo sum, in der Einsicht,
dass die Entwickelung aus dem letzteren an den Punkt gelangt ist,
wo sie notwendig in ihr Gegenteil umschlagen muss, und dass das
Ergebnis dieses dialektischen Prozesses kein anderes als — das Un-
bewusste ist.
Karlsruhe im Juni 1897.
Arthur Drews.
Inhalts - Verzeiclmis.
XV
Seite
Einleitung.
Die Aufgabe der Metaphysik imd ihr Ausgangspunkt 1
Erster Teil.
Das Problem des Ich in der neueren Philosophie . 14
A. Das Ich als metaphysisches Prinzip.
I. Das Ich als Bewusstseinsform.
1. Der Dualismus: Descartes und der Occasionalismus 16
2. Der Spiritualismus:
a) Der phänomenalistische Spiritualismus : Berkeley 28
b) Der monadologische Spiritualismus : Leibniz 31
c) Der transcendentale (subjektive) Idealismus: Kant >S9
d) Der Solipsismus 46
3. Der reine Bewusstseinsidealismus 47
IL Das Ich als Bewusstseinsinhalt.
1. Das Ich als absolute Substanz: Spinoza 51
2. Das Ich als absolute Thatigkeit: Fichte 61
3. Das Ich als absolute Vernunft : a) Schelling 72
b) Hegel 83
4. Das Ich als Wille : a) Das Ich als absoluter Wille : Schopenhauer . . 95
b) Das Ich als individueller Wille: a) Wundt . . 110
ß) Bahnsen . 118
B. Das Ich als empirisches Prinzip.
1. Der Empirismus Lockes und Humes 123
2, Der Sensualismus und Materialismus 128
Ergebnis 130
Zweiter TeiL
Die Metaphysik des Ich.
A. Die Erkenntnis des Ich.
L Das Ich als Bewusstseinsform 134
II. Das Ich als Bewusstseinsinhalt.
1. Das Ich als innere Wahrnehmung 156
2. Das Ich als Empfindung • 16(5
3. Das Ich als Wille 181
4. Ergebnis 188
XVI Inhalts-Verzeichnis.
Seite
B. Das Sein des Ich.
I. Die Voraussetzungen des Ich.
1. Das reale Sein 193
2. Das ideelle Sein 207
IL Das empirische Ich.
1. Die Ichheit und Persönlichkeit 224
2. Die psychologische Entwickelung des Ich 232
B. Die Schwankungen des Ich 238
III. Das metaphysische Ich.
1. Das Ich und die Materie 259
2. Das substantielle Wesen des Ich 266
3. Die absolute Persönlichkeit 279
4. Die Dauer des Ich 299
6. Die Freiheit und Verantwortlichkeit des Ich 309
Einleitung.
Die Aufgabe der Metaphysik und ihr Ausgangspunkt.
Wenn man die Philosophie mit Aristoteles als die „Wissen-
schaft von den Prinzipien" ansieht, eine Bezeichnung, die in unserer
Zeit bekanntlich von Ueberweg wiederum zur Geltung gebracht ist,
so erscheint die Metaphysik als die Wissenschaft von den letzten
und allgemeinsten Prinzipien, die allen übrigen Bedingungen der
Wirklichkeit zu Grunde liegen. Dabei pflegt vorausgesetzt zu wer-
den, dass diese Prinzipien zu. einer Sphäre hinter dem unmittelbar
erkannten Sein hinführten, und die Metaphysik, die ihren Namen ur-
sprünglich nur von ihrer äusserlichen Stellung in der Sammlung der
aristotelischen Schriften herschreibt, wird dadurch zur Wissenschaft
von dem „{leta m ^ootxa", dem Jenseits der Erscheinungswelt, zur
Wissenschaft von ihrem substanziellen Wesen.
Diese Bestimmung hat nur Ein Missliches. Das naive Bewusst-
sein weiss von einem solchen Unterschiede zwischen dem gegebenen
und einem hinter ihm liegenden Sein, der Erscheinungswelt und ihrem
Wesen nichts. Es vermag daher die Notwendigkeit einer Wissen-
schaft nicht einzusehen, deren Möglichkeit auf dieser Trennung be-
ruhen soll. Das naive Bewusstsein setzt voraus, die Ursachen der
Erscheinungen, wie sie ihm unmittelbar entgegentreten, müssten auch
innerhalb derselben Sphäre liegen; es ist geneigt, nur diejenige Er-
klärung für eine solche anzusehen, die eine Erscheinung auf wahr-
nehmbare Momente gründet. Die moderne naturwissenschaftliche Bil-
dung hat viel dazu beigetragen, diese Auffassung zu befestigen.
Wenn der Naturforscher zur Erklärung eines chemischen Vorganges
die Faktoren desselben in ihre Elemente zerlegt, die letzteren in ihre
Moleküle auflöst und diese auf Atome zurückführt, so nimmt er
zwar selbst die Atome nicht wahr, allein er zweifelt auch nicht, dass,
wenn ihm nur die geeigneten Instrumente zu Gebote ständen, ihm
Drews. \
2 Einleitung.
diese auch die Möglichkeit verschaffen würden, jene letzten Bestand-
teile aller Erscheinungen unmittelbar als solche anzuschauen. Dazu
kommt, dass selbst manche Philosophen von einem Sein hinter dem
wahrgenommenen Sein nichts wissen wollen und dem naiven Bewusst-
sein darin beistimmen, dass eine Erklärung die Grenzen der Er-
scheinungswelt nicht überschreiten dürfe. Diese alle .werden von
ihrem Standpunkt aus mit Eecht in jener obigen Bestimmung der
Metaphysik eine petitio principii erblicken, sofern sie sich aaf eine
Voraussetzung gründet, deren Richtigkeit sie keineswegs ohne weiteres
anzuerkennen vermögen. Sie werden sagen, sie verständen nicht, was
das sei, ein Sein, das auf keine Weise je erscheinen könne, und
hätten keine Veranlassung, einem solchen nachzuspüren, da schon der
Begriff desselben ihnen einen reinen Nonsens zu enthalten scheine.
Es ist klar, dass eine Bestimmung, der eine solche Schwierigkeit
anhaftet, den Zwecken der Wissenschaft nicht genügen kann. Offen-
bar hat auch gerade sie die Metaphysik vielfach in Misskredit ge-
bracht und dazu beigetragen, das Misstrauen gegen sie wachzurufen.
Dass all unser Wissen bloss in der Erscheinung wurzelt, diese That-
sache scheint so selbstverständlich, wie der Schluss, dass es folglich
ein leeres Unterfangen sein muss, mit jenem Instrument das Jenseits
der Erscheinung zu erforschen. Die Metaphysik hat daher in der
Bestimmung ihrer Aufgabe alle Anspielungen auf ein Sein hinter dem
gegebenen zu unterlassen, wofern sie auf allgemeine Anerkennung
Anspruch macht. Es ist schon Metaphysik, das Sein in ein erschei-
nendes und wesenhaftes auseinanderzureissen, und jene Wissenschaft
hat wahrlich alle Ursache, sich vor zweifelhaften Ansprüchen und
Bestimmungen zu hüten.
Man kann nun darüber streiten, ob es ein Sein hinter dem, wie
es sich uns in der Erfahrung darstellt, giebt und welches daher
Gegenstand einer besonderen Wissenschaft sein kann, aber man kann
nicht darüber streiten, ob es überhaupt etwas giebt. Dass ich
existiere, der ich diesen Satz ausspreche, dass der Tisch Eealität
besitzt, woran ich schreibe, das kann nur einer mit Grund bean-
standen, wofern er mit den Worten Realität und Existenz schon
einen Sinn verbindet, der in ihnen unmittelbar nicht enthalten ist.
Es lässt sich auch nicht leugnen, dass der bloss gedachte Tisch ein
anderer ist als der wahrgenommene, oder genauer, dass ich den Tisch,
als reinen Inhalt meiner Vorstellungsthätigkeit, von demjenigen unter-
scheide, dem ich das Prädikat der Wirklichkeit beilege. In beiden
Fällen ist der Tisch ein Gegebenes, der Inhalt, den ich mit diesem Be-
griff verbinde, kann sich zum Verwechseln ähnlich sehen — man denke
Einleitung. 3
nur an die Erfahrungen des Traumes und der Halluzination! — und
doch wird auch der extremste subjektive Idealist, der ein Sein nur
als Inhalt des Bewusstseins , nur als Bewusst-Sein gelten lässt, im
ersteren Falle nur von einem Vorstellungs- oder ideellen Sein,
im letzteren dagegen von einem realen Sein des Tisches reden.
Der subjektive Idealist mag sich noch so sehr darauf versteifen, alles
Sein seinem Wesen nach als ideelles, und zwar als ein subjektiv-
ideelles Sein, d. h. als ein Sein in der Form des Bewusst-Seins, an-
zusehen: er wird sich doch gegen die Anerkennung jenes Unter-
schiedes innerhalb der Sphäre des ideellen Seins nicht sträuben,
und er wird, ebensowenig wie jeder Andere, wenn er Hunger em-
pfindet, mit dem eingebildeten Genüsse einer bloss vorgestellten
Speise sich begnügen können. Auch er erkennt sonach an, dass, trotz
ihrer inhaltlichen Ununterschiedenheit, die reale Speise ein Mehr
gegenüber der bloss vorgestellten oder ideellen Speise enthält, ein
Mehr, welches der ersteren einen solchen Wert und eine solche Be-
deutung für seine eigene Existenz verleiht, dass es durch keine, auch
nicht durch die inhaltvollste Bereicherung jenes Gegenstandes inner-
halb der Sphäre des Ideellen ersetzt werden kann. Es ist also einfach
eine Thatsache der Erfahrung, dass sich uns das Sein als ein
doppelartiges, als ideelles und als reales darstellte Wer das be-
zweifelt, der rüttelt an der Erfahrung selbst, der macht andere Er-
fahrungen als wir übrigen Menschen, und wir dürfen nicht hoffen,
mit ihm jemals eine Uebereinstimmung zu erzielen.
Worin besteht nun jenes Mehr des realen Seins, oder wodurch
unterscheidet sich das reale Sein vom ideellen?
Die Wissenschaft im Allgemeinen kümmert sich um diese Frage
nicht. Sie handelt nur von dem einzelnen Seienden, d. h. von den
existierenden Gegenständen und ihren Gesetzen, ohne jedoch die Art
ihrer Existenz als solche zu untersuchen. Die Erkenntnistheorie hat
zwar mit dem Gegensatze des ideellen und realen Seins zu thun,
aber doch nur, sofern es sich um die Frage handelt, in welchem
Verhältnis das reale Sein zum erkennenden Bewusstsein steht. Sie
legt zwar das grösste Gewicht darauf, ob es eine Art des Seins auch
ausserhalb des Bewusstseins giebt; allein sie hat gar kein Interesse
daran, ob, wenn es ein solches giebt, dies selbst ein ideelles oder ein
reales Sein ist. Es muss also Gegenstand einer besonderen Wissen-
schaft sein, den Unterschied des ideellen und realen Seins und das
Wesen dieser letzteren zu untersuchen. Ei^ muss eine Wissenschaft
geben, die nicht so sehr auf den Inhalt als vielmehr auf die Art oder
Gattung des Seienden, auf das Sein als solches und seine eigen-
1*
4 Einleitung.
tümliche Beschaffenheit ausgeht, mit anderen Worten: eine Wissen«
Schaft vom Sein, und diese ist es, die wir mit dem Namen der
Metaphysik bezeichnen.
Wird die Aufgabe der Metaphysik in dieser Form gestellt, so
kann sich auch derjenige ihr nicht entziehen, der die obige Unter-
scheidung zwischen erscheinendem und wesenhaftem Sein nicht aner-
kennt, weil ihm alles Sein eben nur in der Erscheinung aufgeht.
Denn irgendwie muss doch auch er das Reale vom Ideellen unter-
scheiden, um die Erfahrung verständlich zu machen, und auch wenn
er in ihrer Beantwortung die Sphäre des Bewuisstseins nicht über-
schreitet, so kann er doch die Frage selbst nicht als eine falsch
gestellte zurückweisen. Jene Fragestellung beseitigt aber auch zu-
gleich das alte Missverständnis, als sei es möglich, den ganzen Inhalt
der Metaphysik auf rein logischem Wege von irgend einem allgemeinen
Begriff abzuleiten. Denn dass sich aus dem Begriff des Seins, der,
als der abgezogenste, zugleich auch der allerleerste ist, ohne weiteres
gar nichts ableiten lässt, das dürfte auch dem subtilsten Dialektiker
unmittelbar einleuchten. Die Metaphysik aber hat es gamicht mit
dem Begriff des Seins, sondern nur mit dem wirklichen Sein zu
thun. Sie muss also, wie jede andere Wissenschaft, mit dem Ge-
gebenen beginnen. Gegeben aber ist uns alles Sein zunächst
und unmittelbar nur als Bewusst-Sein.
Dieser Satz besagt, dass alles Sein erst selbst die Form des
Bewusstseins angenommen haben muss, bevor es als Inhalt in ihm
enthalten sein kann. Um sich das klar zu machen, beachte man den
Unterschied des Baumes in der Wirklichkeit und des Baumes im
Femrohr. Ich kann den wirklichen Baum nicht durch das Femrohr
wahrnehmen, ohne dass ein Bild von ihm hinter der Linse steht;
was ich aber dann wahrnehme, ist nicht der Baum in der Wirk-
lichkeit, sondern eben nur sein Bild, der Baum, sowie er im Fem-
rohr enthalten und die ihm von diesem erteilte Form empfangen hat.
Dabei handelt es sich garnicht darum, ob dem Inhalt im Bewusstsein
ein Gegenstand ausserhalb des Bewusstseins („Ding an sich") korre-
spondiert, sowie der Baum im Fernrohr das unkörperliche Abbild
des Baumes in der Wirklichkeit ist. Es kommt bloss darauf an,
dass das Bewusstsein allem Inhalt seine eigene Form gleichsam über-
zieht: diese Form aber ist diejenige des Objekts eins für ein
Subjekt — folglich, da Subjekt und Objekt Korrelate sind, die
sich wechselseitig bedingen, das Subjekt aber das vorstellende Be-
wusstsein ist, so ist auch das Objekt nur die Vorstellung dieses
Subjekts, Sein als Vorstellung oder ideelles Sein.
Einleitung. 5
„Die Welt", sagt daher Schopenhauer vom unmittelbaren
Inhalt des Bewusstseins, „die Welt ist meine Vorstellung: — dies
ist eine Wahrheit, welche in Beziehung auf jedes lebende und er-
kennende Wesen gilt, wiewohl der Mensch allein sie in das
reflektierte und . abstrakte Bewusstsein bringen kann : und thut er
dies wirklich, so ist die philosophische Besinnung bei ihm eingetreten.
Es wird ihm dann deutlich und gewiss, dass er keine Sonne kennt
und keine Erde, sondern immer nur ein Auge, das eine Sonne sieht,
eine Hand, die eine Erde fühlt; dass die Welt, welche ihn umgiebt,
nur als Vorstellung da ist, d. h. durchweg nur in Beziehung auf ein
Anderes, das Vorstellende, welches er selbst ist^.** Auch für
Schopenhauer ist das Zerfallen in Subjekt und Objekt die charakteri-
stische Form für den Inhalt des Bewusstseins. Aber er schliesst
nicht, dass derselbe Vorstellung sei, weil er Objekt eines Subjekts
sei, sondern umgekehrt ist ihm jenes Zerfallen „diejenige Form,
unter welcher allein irgend eine Vorstellung, welcher Art sie auch
sei, abstrakt oder intuitiv, rein oder empirisch, nur überhaupt mög-
lich und denkbar ist^." Damit schiesst er indessen offenbar über
das Ziel hinaus. Denn es ist zwar ganz gewiss, dass das Objekt
eines Subjekts die Vorstellung dieses Subjekts, aber es ist nicht
ebenso gewiss, dass die Vorstellung immer Objekt eines Subjekts
sein muss.
Wenn das Sein uns unmittelbar nur als ideelles vorliegt, so
erleidet dadurch unsere obige Bestimmung der Metaphysik eine nähere
Einschränkung. Metaphysik, sagten wir, ist Wissenschaft vom Sein.
Nun ist es aber von dem ideellen Sein, dem Sein unserer Vor-
stellungen leicht, zu zeigen, dass es jeder weiteren Erklärung spottet.
Erklären heisst klar machen, und dies geschieht dadurch, dass wir
das zu Erklärende auf eine andere uns bekannte Vorstellung be-
ziehen. Die Logik nennt klar eine Vorstellung dann, wenn sie von
anderen ihres Gleichen unterschieden ist. Wovon aber soll ich das
Sein meiner Vorstellungen unterscheiden? Alles Sein, worauf ich es
beziehen könnte, fällt, als Vorstellung, selbst in das Vorstellungssein
und führt mich also über den Kreis des Ideellen nicht hinaus. Ich
kann wohl Vorstellungen von einander unterscheiden, allein ich habe
nichts, wovon ich das Vorstellen selbst unterscheiden könnte, ohne
jenes eben dadurch vorzustellen. Mein Wissen besteht in Vorstel-
lungen, setzt also das Vorstellen schon voraus. Ich müsste über
* Schopenhauer: Die Welt als Wüle und Vorstellung I, 3.
' Ebenda.
6 Einleitung«
meinen eigenen Kopf springen können, wenn ich hinter das Vor-
stellen gehen, mir es gegenüberstellen und doch zugleich es vorstellen,
in ihm bleiben sollte. Gesetzt auch, ich wiisste, was das reale Sein
ist, so könnte ich wohl das ideelle Sein darauf beziehen und angeben,
was das letztere nicht ist, wofern nämlich ein wesentlicher Unter-
schied zwischen ihnen bestehen sollte; allein ich könnte nicht sagen,
was es ist, weil es mir dazu einfach an jeglichen Begriffen mangelt.
Was also das Yorstellungssein oder das ideelle Sein ist, das lässt sich
nicht erklären. Man muss es in sich erzeugen, muss vorstellen, um es
zu erfahren, sowie man die Empfindung eines bestimmten Tones oder
einer Farbe haben muss, um ihre Beschaffenheit kennen zu lernen^.
Hiernach ist Metaphysik, als Wissenschaft vom Sein, genauer
bloss Wissenschaft vom realen Sein, und dies ist sie selbst
dann, wenn der erkenntnis-theoretische Standpunkt ein solches ausser-
halb des Bewusstseins nicht gelten lässt. Denn auch der subjektive
Idealist und Positivist kann sich, wie gesagt, der Frage nach dem
Wesen der Realität nicht entziehen. Die Auflösung des gesamten
realen Seins ins ideelle ist selbst schon garnichts Anderes als Meta-
physik, und wenn die subjektiven Idealisten dies bestreiten, so liegt
dies nur an ihrer einseitigen Auffassung, die sie vom Wesen jener
Wissenschaft haben. Sie denken nämlich dabei an eine Wissenschaft
vom „Ding an sich" und leugnen ihre Möglichkeit, weil sie die
Existenz von „Dingen an sich*" nicht anerkennen. Darin haben sie
insofern ganz recht, weil die Annahme von solchen ganz ebenso eine
petitio principii in sich einschliesst, wie die oben abgewiesene Zer-
legung der Wirklichkeit in ein erscheinendes und wesenhaftes Sein.
Bestimmt man dagegen ganz allgemein die Metaphysik als die
Wissenschaft vom realen Sein, dann fallen damit zugleich auch die
Bedenken hinweg, welche ihre Gegner gegen die Möglichkeit der-
selben anzuführen pflegen. Denn auch das ideelle Sein kann unter
Umständen die Stelle des realen übernehmen, ja, es liegt sogar hierin
allein die Berechtigung für eine subjektiv-idealistische Erkenntnistheorie,
auch heute noch die alte kantische Bezeichnung Metaphysik beizu-
behalten, obwohl eine solche gerade auf die Bestreitung der Mög-
lichkeit einer Metaphysik hinausläuft, und obwohl die Voraussetzung,
worauf Kant jene Bestreitung gründet, heute wohl selbst von den
ergebensten Anhängern Kants nicht mehr geteilt wird^.
^ Vgl. Baumann: Phüosophie als Orientierung über die Welt (1872)
S. 90—96.
' Vgl. mein Werk: Kants Naturphilosophie als Grundlage seines Systems
(1894); insbes. S. 246.
Einleitung. 7
Das reale Sein also ist das eigentlich erklärungsbedürftige Sein,
das ideelle Sein erklärt sich selbst, indem wir vorstellen. Dem
naiven Menschen freilich erscheint es anders. Er meint, es gäbe
gamichts Bekannteres als das reale Sein, und wenn man ihn fragen
wollte, was es denn eigentlich heisse, etwas sei real, so schlägt er
mit der Hand auf den Tisch und sagt, das sei Realität. Schopen-
hauer behauptet zwar: „Keine Wahrheit ist gewisser, von allen
anderen unabhängiger und eines Beweises weniger bedürftig als diese,
dass alles, was für die Erkenntnis da ist, also diese ganze Welt,
nur Objekt in Beziehung auf das Subjekt ist, Anschauung des An-
schauenden, mit Einem Wort Vorstellung^." Wer sich jedoch einmal
der Mühe unterzogen hat, einen Menschen, der noch ganz in den
Banden der naiven Anschauungsweise befangen war, von der bloss
ideellen Natur des wahrgenommenen Seins zu überzeugen, der weiss,
wie unendlich schwer es ist, einem solchen auch nur den springenden
Punkt der Sache klar zu machen. Und in wessen Bewusstsein jene
Einsicht zum ersten Male aufgeblitzt ist, dem wird es für immer
unvergesslich bleiben, welche Revolution in seiner ganzen bisherigen
Weltanschauung hervorgebracht wurde, als ihm, was er für die aller-
bekannteste Realität gehalten hatte, sich plötzlich in ein blosses
Vorstellungssein verwandelte, und wie er nun überall auf Rätsel
stiess, wo er bis dahin nur Selbstverständliches gefunden hatte. Mit
Recht hebt daher auch Bau mann hervor, wie die Beweise für die
ideelle Natur des Seins, so zwingend sie auch sein mögen, doch für
die meisten Menschen nicht einleuchtend sind: „sie erfüllen den Geist
nicht mit Licht, sie haben eher die Eigenschaft, ihn dunkel und trübe
über sich selbst zu machen. Der Mensch, wenn er zuerst diese Be-
weise hört und sich ihnen nicht entziehen kann, meint alle Herr-
lichkeit der Welt sei damit zerstört. Alles ist Vorstellung, das ist
ihm so viel wie: alles ist blass und öde; er ist gewohnt, Vorstellung
in Gegensatz zur Wirklichkeit, Denken in Gegensatz zum Leben,
Theorie in Gegensatz zur Praxis zu stellen. Das ist nur Vorstellung,
ist ihm soviel wie: das ist ein leerer Gedanke, eine müssige Ein-
bildung. Aber Realität, das ist, was alle Sinne belebt, alle Lebens-
kräfte schwellt. Wirklichkeit ist der Zauberklang, der Millionen zu
sich lockt, die Gott danken, dass sie nicht von des ^edankens Blässe
angekränkelt sind. Denken, was ist das gegen Leben? Denken ist
soviel wie Brüten in sich selbst, Leben aber, das heisst die ganze
Welt in sich aufnehmen, alle Seiten unseres Daseins hingeben an sie
und sich erfüllen lassen von ihr^.**
* Schopenhauer a. a. 0. ^ Baumann a. a. 0. S. 82.
8 Einleitung.
In der That ist hiermit der Unterschied des ideellen und realen
Seins treffend geschildert, wie er sich im Bewusstsein des naiven
Menschen darstellt. Der Mensch muss erst aus seinem ganzen bis-
herigen Anschauungskreis herausgerissen und auf einen völlig neuen
Boden gestellt werden, er muss erst, was er bis dahin für wahr ge-
halten hat, als nichtig durchschaut haben, bevor er flir eine höhere
Erkenntnis die nötige Reife erlangt hat. Streben nach Wahrheit ist
Streben nach realem Sein. Man muss die Realität erst verloren haben,
ehe man das Bedürfnis empfinden kann, ihr nachzuforschen. Wem
niemals die Welt um ihn her sich in schwankenden Schein aufgelöst
hat, wo er eine Wirklichkeit zu fassen glaubte, wer an sich selbst
niemals den Hunger nach der Realität gespürt hat, der wird nicht
begreifen, wie man sich um sie bemühen kann, der wird nur ein
mitleidiges Lächeln haben für alle, die dort eine umständliche Unter-
suchung glauben anstellen zu müssen, wo ihm selbst alles kHpp und
klar erscheint. Das ist auch die Bedeutung des kartesianischen Zweifels,
womit die neuere Philosophie begonnen hat. Es ist leicht gesagt, für
die Philosophie gäbe es nichts Selbstverständliches. Damit sich aber
Jemand der Untersuchung dessen hingiebt, was Anderen als selbst-
verständlich erscheint, dazu muss er erst den inneren Drang in sich
verspüren, und dieser kann nicht leichter in ihm entzündet werden
als durch die Einsicht in die ideelle Natur des unmittelbar erkannten
Seins. Alle Realität ist bloss vorgestellte Realität, ist Vor-
stellung von Realität und somit Nichtrealität. Erst wer die
vernichtende Wucht dieses Gedankens an sich empfunden und die
Notwendigkeit begreift, über diesen widerspruchsvollen Zirkel hinaus-
zukommen, erst der kann wirklich von einem „metaphysischen Be-
dürfnis" reden; ein solcher hat damit aber auch bereits die Grenze
überschritten, innerhalb deren er sich als naiver Mensch bewegte.
Aus diesem Grunde ist der Satz, dass die Welt nur Vorstellung ist,
die Eingangspforte zur Metaphysik, und wie Plato für seinen
Unterricht die Bedingung aufstellte; „(lYjSstc aYecöjiirpTjTOc sictta)", so
wird Niemand die Halle der Metaphysik betreten können, ohne vorher
den Sinn jenes Satzes begriffen zu haben.
Wenn uns nun das Sein nur als Vorstellung gegeben ist, woran
liegt es, dass uns dieser Gedanke so schwer in den Kopf geht, und
wie kommt es, dass, selbst wenn wir uns von seiner Wahrheit über-
zeugt haben, wir trotzdem nicht aufhören, von einer Wirklichkeit
zu reden, die mehr ist als blosses Vorstellungssein? Woher mit
Einem Worte der Gedanke des realen Seins?
Die Antwort liegt nahe. Mag nämlich immerhin das Sein uns
Einleitang. 9
unmittelbar nur als ideelles gegeben sein, so ist es doch an ein
Etwas gebunden, dessen andersartige Beschaffenheit keinen Zweifel
duldet. Die Welt, als Objekt des vorstellenden Subjekts, ist Vor-
stellung dieses Subjekts; aber dies Subjekt, das die Vorstellung hat,
kann selbst nicht wieder blosse Vorstellung sein. Die Welt, als
Vorstellung, ist getragen vom vorstellenden Subjekt; dies letztere
jedoch, dieser Träger der vorgestellten Welt, muss jenseits alles
Vorstellungsmässigen in einem Eealen wurzeln, weil er andernfalls
selbst bloss ein Getragenes und nicht der Träger wäre. Gesetzt, das
Objekt oder die Welt umher verschwände, indem sie aufhörte vor-
gestellt zu werden, es bliebe noch das Subjekt mit der Möglichkeit
des Vorstellens übrig. Gesetzt, das Bewusstsein dieses Subjektes hörte
auf, zu existieren, so fiele mit der Möglichkeit des Vorstellens auch
die ganze Welt zusammen, und es bliebe weder ein Subjekt noch
ein Objekt übrig. Das Subjekt also ist die gesuchte Realität, woran
das ideelle Sein haftet. Die Welt ist meine Vorstellung: Das Ich,
ich selbst bin der reale Träger alles Daseins.
Dieser Schluss hängt mit dem Satze, dass die Welt unmittelbar
bloss Vorstellung ist, so nahe zusammen, dass ihn Jeder zieht, der
nur überhaupt die ideelle Natur des Bewusstseinsinhalts behauptet.
So wenig an dieser gezweifelt werden kann, so gewiss, scheint es,
muss auch die Realität des Bewusstseinsträgers zugestanden werden.
Das Ich erscheint nun gleichsam als ein fester Punkt, vor welchem
die einzelnen Vorstellungen, die den Gesamtinhalt der Welt als
Vorstellung bilden, nur wie flüchtige Wellen vorüberziehen. Mögen
sie kommen und verschwinden, das Ich bleibt, und der Schatten seiner
Realität fäUt nun auch auf jene Welt der vergänglichen Vorstellungen
und macht, dass auch sie mit dem Gepräge der Realität behaftet
scheinen. In Wahrheit, so scheint es also, ist zwar nur das Ich
wirklich real, aber diese Realität des Ich wird instinktiv auch auf
die Welt seiner Vorstellungen übertragen und bedingt dadurch jenen
naiven Glauben an das reale Sein, der innerhalb einer reinen Vor-
stellungswelt sonst unerklärlich wäre.
Wenn der Mensch, dem die Auflösung seiner Welt in blosse
Vorstellungen bisher so unerträglich schien, an diesen Punkt der
Reflexion gelangt ist, so fängt jene Einsicht an, ihre Schrecken für
ihn zu verlieren. Denn nun ist die Realität doch kein blosser Schein,
nun giebt es doch ein Sein, das sich von dem ideellen unterscheidet,
und was ihm vor allem zur Beruhigung gereicht, dieses Sein ist
sogar sein eigenes, ist er selbst, er, der sich schon vom allgemeinen
Strudel unaufhaltsam einander ablösender Vorstellungen mit fort-
10 Einleitung.
gerissen sah. Möglich bleibt es freilich immerhin, dass diese ganze
Ueberlegung hinflLllig ist und dass auch der Glaube an die Realität
des Ich zu den illusorischen Bestandteilen unseres Erkenntnisinhaltes
gehört. Unsere Vorstellungen bedürfen vielleicht gar keines Trikgers,
woran sie angeknüpft sind, sie schweben, wie Seifenblasen, gleichsam
im Nichts und erzeugen auch das Ich nur als eine Vorstellung unter
anderen. Allein diese Annahme erscheint auf unserm jetzigen Stand-
punkte so absurd, dass wir sie vorläufig ganz bei Seite lassen können.
Thatsache ist, dass wer die ideelle Natur des gegebenen Seins durch-
schaut hat, zunächst sich dafür um so heftiger an die Realität des
eigenen Ich anklammert, und daher kann die Untersuchung des realen
Seins nur mit der Untersuchung dieses Ich beginnen. Die Welt
ausserhalb des Ich mag unerforschlich sein; sie bleibt ja für das Ich
doch immer nur ein Fremdes, Mittelbares. Das Ich als solches
kann dem Ich nicht verschlossen sein, denn es ist selbst das zu
lösende Geheimnis und der Hüter dieses Geheimnisses zugleich.
Wenn irgendwo, so scheinen demnach hier die Bedingungen der
Erkenntnis günstig, so günstig, dass man glauben möchte, das Ich
und damit das Wesen der Realität müsste hiemach vor unseren
Blicken offen liegen und überhaupt gar kein Problem mehr sein.
Und doch ist die Metaphysik die schwerste aller Wissenschaften —
wird sie doch sogar von Vielen für unmöglich gehalten! — und
bildet innerhalb der Metaphysik gerade das Ich eine der dunkelsten
Partien. Der Grund liegt offenbar in folgendem. Gesetzt nämlich,
die Realität des Ich ist nicht überhaupt nur ein trügerischer Schein,
so ist doch das Ich kein bloss reales Sein. Denn indem ich mich
auf mich selbst besinne , oder indem ich mein Ich zum Gegenstande
der Reflexion erhebe, mache ich das Subjekt selbst zum Objekt und
werfe es damit in den Strom der Vorstellungen wieder hinein , aus
dem ich es eben gerettet zu haben glaubte. Allein das Ich ist auch
kein bloss ideelles Sein. Denn nur insofern es selbst nicht Vor-
stellung ist, kann das Ich, wie gesagt, Träger der Vorstellungswelt
sein. Das Ich ist somit ideelles und reales Sein zugleich: das
Erstere, sofern es jederzeit Objekt sein kann, das Letztere, sofern es
doch auch als Objekt nicht aufhört , zugleich und in Einem auch
Subjekt zu sein. Das Ich, hat man daher gesagt, ist die Identität
von Subjekt und Objekt, oder es ist der Punkt, w^o Objekt und
Subjekt, Ideelles und Reales in Eins zusammenfallen. Indessen hat
man damit die Schwierigkeit nur bestimmt, aber nicht gehoben. Denn
wie etwas Vorstellung sein und doch zugleich über die Sphäre des
Vorstellungsmässigen hinausreichen, Träger und Getragenes in Einem
EinleitaDg. 1 1
sein kann, ist so wenig unmittelbar einzusehen, dass es vielmehr das
dunkelste aller Probleme darstellt.
Daher hat denn auch Schopenhauer jene Identität im Ich den
„Weltknoten'^ genannt und seine Lösung überhaupt für unmöglich
gehalten^. Wäre sie dies wirklich, so würde uns die Welt des
Realen verschlossen bleiben, d. h. es gäbe keine Metaphysik. Vor-
läufig haben wir jedoch keinen Grund, schon an der Schwelle zu
verzagen; hat doch auch Schopenhauer selbst sich einen Eingang
in jenes Gebiet zu bahnen gewusst, der mitten durch das Thor des
Ich hindurchfiihrt. Soviel ist gewiss: Wer jenen Widerspruch im
Ich gelöst hat, der hat damit zugleich das Problem des Ich über-
haupt erschlossen, und wer in die Tiefe des Ich mit der Fackel der
Erkenntnis geleuchtet hat, der weiss damit zugleich auch um das
Wesen des Realen, wer aber das Geheimnis der Realität ergründet
hat, der hat die höchste Aufgabe der Philosophie gelöst, der ist da-
mit bis zu jenem Punkte vorgedrungen, in welchem alle übrigen
Probleme des menschlichen Denkens zusammenlaufen. So ist das
Ich das Grundproblem der Metaphysik; die Aufdeckung der
Möglichkeit jener Identität von Subjekt und Objekt aber ist der
Schlüssel, womit wir das AUerheiligste der Welt uns öffnen müssen.
Wenn das Ich als Identität von Subjekt und Objekt, von ideellem
und realem Sein bezeichnet wird, so soll damit selbstverständlich
noch keine metaphysische Wahrheit ausgesprochen werden. Jene
Identität soll hier noch nichts weiter als Ausdruck für eine That-
sache der Erfahrung sein. Denn dass es wirklich so scheint, als ob
wir im Ich mehr als ein bloss ideelles Sein besässen, das kann auch
auf antimetaphysischem Standpunkte nicht bezweifelt werden. Wir
wissen nicht, ob die Welt ausserhalb des Ich, die uns unmittelbar
nur als ideelles Sein gegeben ist, nicht ebenso, wie das Ich, in einem
realen Grunde wurzelt. Wir erfahren nur, dass, wenn wir den Stand-
punkt des naiven Bewusstseins überschritten und die ideelle Natur
des vorher für real gehaltenen Seins erkannt haben, der Gedanke des
realen Seins nicht zuerst wieder draussen an der Peripherie der
äusserlichen Welt, sondern drinnen im Centrum des eigenen Ich
emportaucht. Wir wissen nicht, ob dieser Gedanke mehr ist als ein
blosser Gedanke, ob die Realität, die sich im Ich ankündigt, nicht
auch nur eine bloss vorgestellte ist. Aber das wissen wir ganz
genau, dass sie mehr zu sein scheint, dass wir im Ichgedanken die
^ Schopenhauer: Ueber die 4-fache Wurzel des Satzes vom zureichenden
Grunde, S. 143.
12 Emleitong.
Bealität nicht bloss zu denken, sondern sie zu besitzen, uns ihrer .
unmittelbar inne zu werden glauben. Auch die Susseren Gegenstände
glauben wir unmittelbar in ihrer RealitSt wahrzunehmen, und doch
lehrt die erkenntnistheoretische Besinnung, dass alles, was wir von
ihnen wahrnehmen, nicht die Gegenstände selbst, sondern nur unsere
subjektiven Wahrnehmungen von ihnen sind. Beim Ich dagegen findet
ein solcher äusserer Wahrnehmungsakt nicht statt, wobei das Wahr-
genommene dem Ich als ein Fremdes gegenübersteht, sondern Wahr-
nehmendes und Wahrgenommenes scheinen hier identisch: ich
selbst, das wahrnehmende Subjekt, bin zugleich das Objekt, und da-
her scheint die Eealit&t hier noch viel unmittelbarer, als wie sie
es in der äusseren Wahrnehmung ist.
Was soll man nun von diesem Scheine halten? Ist er ein blosser
Schein, oder liegt ihm eine Realität zu Grunde? Ergreife ich, indem
ich mich in mich versenke, ein Sein, das mehr ist, als blosses Vor-
stellungssein? Ist das Ich bloss ideelles oder zugleich reales
Sein? Das ist die Frage, auf deren Entscheidung zunächst alles an-
kommt, und die ganze Metaphysik ist nichts Anderes als die nähere
Ausführung dieses einen Gedankens.
Es liegt nun im Wesen des menschlichen Geistes, zunächst die
Erfahrung der Realität im Ich unmittelbar als ein metaphysisches
Faktum anzusehen. Wie der naive Mensch kein Bedenken trägt, den
Gegenständen der Aussenwelt ohne Weiteres das Prädikat der Rea-
lität beizulegen, so hat auch das philosophische Denken, sobald es
seine Aufmerksamkeit auf das Ich, als den Träger der Innenwelt,
gerichtet hat, damit begonnen, dieses letztere für ein reales Wesen
zu halten. Schon frühzeitig hat sich die Philosophie von jenem in-
stinktiven Glauben an die Wahrheit der äusseren Erfahrung frei
gemacht. Mehr und mehr ist sie im Fortgange ihrer Entwickelung
dahin gelangt, das eigentliche Wesen der Dinge immer weiter hinter
den ursprünglichen Inhalt der Erfahrung zurückzuverlegen, um schliess-
lich auf dem entgegengesetzten Standpunkt anzukommen, dass sie
der Erfahrung alle metaphysische Wahrheit abgesprochen hat; gerade
deshalb, weil sie Erfahrung ist. Allein was die innere Erfahrung
anbetrifft, so steht sie fast allgemein noch auf dem Standpunkte des
naiven Menschen, indem sie ihr ein unerschütterliches Vertrauen ent-
gegenbringt. Diese Thatsache kann uns nicht wundern, wenn wir
daran denken, wie viel inniger der Glaube an die unmittelbare Rea-
lität des Ich mit unserm ganzen sonstigen Bewusstseinsinhalt ver-
schmolzen ist als der Glaube an die Realität der äusseren Dinge.
Zumal unser Gefühl ist mit seinem Urteil schnell zur Hand und
Einleitung. 13
besteht darauf, dass ihm aller Boden unter den Füssen sinke, wenn
„das Unbegreifliche" hier nicht „Ereignis", unser Ich nicht ein reales
Wesen sei. Die Wissenschaft aber sollte sich hüten, bei der Ent-
scheidung so wichtiger Fragen den ungeprüften Ansprüchen des
Gefühls ohne weiteres Gehör zu geben.
Was hat denn die Philosophie dazu veranlasst, den Glauben an
die Wahrheit der äusseren Erfahrung zu verwerfen? Doch offenbar
nur der Umstand, dass sie die Unmöglichkeit erkannte, mit dieser
Voraussetzung die Wirklichkeit verständlich zu machen. Thaies
meinte, aus dem Wasser, wie die sinnliche Anschauung es ihm dar-
bot, den ganzen Reichtum der Erscheinungswelt erklären zu können,
und die jonische Naturphilosophie ist nichts Anderes als der Versuch,
die Welt aus einem unmittelbaren Erfahrungsprinzip zu konstruieren.
Aber gerade weil dieser Versuch missglückte, weil alle Bemühungen
scheiterten, die Wirklichkeit aus dem rohen Stoff der sinnlichen An-
schauung aufzubauen, gerade deshalb sah sich das Denken genötigt,
den Standpunkt der Erfahrung zu verlassen, und stieg Plato zu
jenem reinen Aether der Abstraktion empor, wo die sinnliche An-
schauung der Erfahrung vor dem Glanz der übersinnlichen Ideenwelt
verblasste. Wie, wenn sich herausstellen sollte, dass auch der Glaube
an die Realität des Ich bisher nicht gehalten hat, was man sich von
ihm versprochen? Dass er das Denken in unlösbare Widersprüche
verstrickt? Dass jeder Versuch, mittelst seiner in das Weltgeheim-
nis einzudringen, das Problem in eine undurchdringliche Finsternis
gehüllt hat? Von allen Bestandteilen einer Weltanschauung hat man
diesen bisher für den bestbegründeten gehalten. Allein das enthebt uns
nicht der Mühe, ihn einer Prüfung zu unterziehen, um so weniger, wenn
die Realität des Ich, wie es nach unserer Auffassung der Fall ist, das
eigentliche Kernproblem der metaphysischen Untersuchung bildet.
In der That scheint dies Problem nicht passender angefasst
werden zu können, als indem wir uns zunächst die verschiedenen
Weisen vor Augen führen, wie sich die Metaphysik unter der Vor-
aussetzung der Realität des Ich bisher gestaltet hat. Wir dürfen
hoffen, auf diese Weise nicht bloss eine tiefere Einsicht in die Trag-
weite und Bedeutung des Ichproblems zu erlangen, sondern ausserdem
auch noch diejenigen Wege kennen zu lernen, worauf die Natur des
Ich nicht zu ergründen ist. Diese Einsicht ist vielleicht bloss nega-
tiv. Indess wo das Problem so schwierig und der Eingang in seine
Tiefe so verwachsen ist, da muss man schon froh sein, wenn es
einem gelingt, sich wenigstens erst einmal freie Bahn zu jenem Ein-
gang zu verschaffen.
u
Erster Teü.
Das Problem des Ich in der neneren PhilosopMe.
Daa Problem des Ich ist in der Geschichte der Philosophie ein
yerhältnismSssig jniiges* Die antike Philosophie kennt es noch nicht.
Ein Volk, wie die Griechen, bei welchem die naive Ueberzeugung
von der Einheit des Geistigen und Natürlichen sich in seinem ganzen
Denken, in allen seinen Gewohnheiten und Handlungsweisen ausspricht,
vermag auch in seiner Philosophie den Gedanken des subjektiven,
ideellen Seins noch nicht im Gegensatze zum realen Sein zu fassen,
am wenigsten aber ist es schon imstande, den Begriff der geistigen
Subjektivität zu demjenigen des Ich, als seinem Kern und Centrum,
zuzuspitzen und dieses als eine besondere Realität der objektiven
Natur gegenüberzustellen. Zwar hat Plato mit seiner Ideenlehre
den Bruch mit dem griechischen Geist insofern vollzogen, als er das
geistige Sein vom natürlichen abgesondert und, was mehr ist, seinen
Wert vor diesem letzteren erkannt hat. Indessen haben doch auch
die Ideen Piatos mehr ein objektives Naturdasein, als dass sich in
ihnen der wahre Gegensatz zwischen beiden schon klar herausgebildet
hätte. Darum konnte Plato in seinem „Phaedon" es unternehmen,
die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen, ohne dabei die Frage
aufzuwerfen, ob und inwieweit zugleich auch ein Bewusstsein der
Fortdauer erhalten bliebe. Er kannte eben, wie Volkelt hieraus
mit Recht geschlossen hat, die eigentliche Bedeutung des Bewusst-
seins noch garnicht, das Bewusstsein war ihm selbst noch kein Ob-
jekt des Bewusstseins ^. Aus demselben Grunde aber hat auch Ari-
stoteles, obschon ihm das Wissen um das Wissen nicht fremd war
und er den richtigen Begriff des Selbstbewusstseins in seiner be-
kannten Darstellung der Vernunft gestreift hat^, sich dennoch auf
^ Volkelt: Das Unbewusste und der Pessimismus (1873), S. 11.
^ Aristoteles: Metaphysik XII. Kap. 7 u. 9.
Das Problem des Ich in der neueren Philosophie. 15
eine nähere Erörterung desselben nicht eingelassen. Allen diesen
Philosophen erschien es noch als selbstverständlich, dass Begriff und
Gegenstand einander entsprächen, sie machten sich noch keine Ge-
danken darüber, wie der Inhalt in unser Bewusstsein hineinkommt,
d. h. sie gingen über das erkenntnistheoretische Problem mit einer
Sorglosigkeit hinweg, die wir heute kaum noch recht verstehen
können.
Ueber diese Betrachtungsweise ist auch der Neupiatoni smus
im Wesentlichen nicht hinausgekommen, obwohl gerade Plotin mit
seiner Auffassung des Selbstbewusstseins als einer Reflexion, wodurch
das Subjekt von dem mit ihm identischen Objekt zu sich selbst zurück- ^
kehrt, vor allem aber durch seine tiefsinnigen Untersuchungen über das
Wesen des Geistes auch in dieser Hinsicht den Höhepunkt der antiken
Philosophie erklommen und die neueren Spekulationen über das Ich in
einer Weise vorbereitet hat, die in dem späteren Begriffe der intellek-
tuellen Anschauung wiederklingt. Wie hier, so ist es auch bei jenem
der Nus, die göttliche Vernunft oder das Denken des Denkens, das
im Selbstbewusstsein in das endliche Subjekt hineinscheint, und der
Akt des Selbstbewusstseins ist demgemäss ein Sicherheben zum Nus,
w^odurch er in seiner Reinheit und Wesenheit erkannt wird. Indessen
erklärte doch erst Augustin das Ich für den eigentlichen Kern des
geistigen Seins und nahm er den Beginn der modernen Philosophie
voraus, indem er das eigene subjektive Sein als das erste und un-
mittelbar Gewisse hinstellte. „Nicht aus dich selbst hinaus, sondern
in dich gehe, im Innern des Menschen selber wohnt die Wahrheit!**
Die Seele kennt nichts besser als sich selbst ; sie kann an den äusseren
Objekten zweifeln, aber sie kann nicht daran zweifeln, dass sie
zweifelt. Damit war nun in der That die antike Philosophie in ihr
Gegenteil aufgehoben und der Schwerpunkt vom Äusseren in das In-
nere, vom Objektiven in das Subjektive verlegt, womit die Behand-
lung des Ichproblems erst angebahnt war. Wenn es trotzdem noch so
lange gedauert hat, ehe jener Gedanke der Unmittelbarkeit des Ich
für die Philosophie wahrhaft fruchtbar gemacht werden konnte, so
liegt das an dem eigenthümlichen Charakter der mittelalterlichen Spe-
kulation, die viel zu sehr auf das Jenseits und die praktischen Be-
ziehungen des Individuums zur Oekonomie des Weltalls gerichtet
war, um Zeit und Aufmerksamkeit für eine nüchterne Untersuchung
der eigenen psychologischen Beschaffenheit zu haben.
Die antike Philosophie war , wie das ganze antike Denken über-
haupt, ihrem Wesen nach auf äussere, sinnliche Anschauung gegründet
und konnte daher das Ich nicht zum Problem erheben, weil dieses
16 Das Ich als metaphysisches Prinzip.
in der äusseren Anschauung nicht vorkommt. Die mittelalterliche
Philosophie musste es ebenso auf der Seite liegen lassen, weil sie
ganz und gar auf Offenbarung gegründet war, die Offenbarung aber
das Ich als selbstverständliche Voraussetzung betrachtet. Daher
konnte erst die neuere Philosophie, welche der sinnlichen Anschauung
der Antike und der Offenbarung des Mittelalters die Alleinherrschaft
der Vernunft entgegenstellte, die wahre Bedeutung des Ich für die
Lösung des Weltproblems begreifen und musste sie ihre Untersuchung
mit dem Ich beginnen, gerade weil es bis dahin für etwas Selbst-
verständliches gegolten hatte.
A. Das Ich. als metaphysisclies Prinzip.
L Das Ich als Bewnsstseinsform.
1. Der Dualismus.
Descartes und der Occasionalismus.
Es ist die grosse That des Descartes, wodurch er sich mit Recht
den Titel des Begründers der neueren Philosophie verdient hat, dass
er diesen Zusammenhang des Ich mit der Vernunft erkannt und mit
der Behauptung der unmittelbaren Realität des Selbstbewusstseins den
Schwerpunkt der philosophischen Untersuchung von der Aussen-
in die Innenwelt verlegt hat.
Bekanntlich hat Descartes damit begonnen, das reale Sein, das
die Antike sich durch die sinnliche Anschauung, das Mittelalter durch
die Offenbarung hatte verbürgen lassen, überhaupt für zweifelhaft zu
halten. Denn dass es Wahrheiten giebt, unumstössliche Wahrheiten,
*
und dass sie auch als solche von uns erkannt werden können, das
ist die Voraussetzung alles Denkens, ohne welche es müssig wäre,
die Operation des Denkens anzustellen, und die auch durch jede ma-
thematische oder rein logische Erkenntnis, z. B. durch den Satz der
Identität bewiesen wird. Auch das kann nicht der Sinn jenes
Zweifels sein, die Realität als solche in Frage zu stellen. Irgend-
welche Realität muss ja den Dingen natürlich zukommen, sonst gäbe
es ja auch nicht einmal ein Bewusstsein von ihnen. Die Frage kann
also nur sein, was für eine Art von Realität dies ist, ob sie eine
bloss ideelle, oder eine reale, oder ob sie vielleicht eine Mischung
aus beiden ist.
Ich nehme Gegenstände ausser mir wahr — sie sind farbig, ich
höre Töne, fühle weich und hart. An alledem ist nicht zu zweifeln;
es würde ganz ebenso sein, auch wenn ich träumte. Aber dass mir
überhaupt im Traum eine Welt erscheint, die sich inhaltlich von der-
Descartes und der Occasionalismus. 17
jenigen im wachen Zustande nicht unterscheidet, dass ich Gegen-
stände ausser mir wahrnehme, auch dann, wenn sie, wie im Traume,
bloss in mir, blosse Bilder meines träumenden Bewusstseins sind, das
eben macht mich stutzig und legt mir die Frage nahe, ob denn auch
wirklich irgendwelchen Gegenständen ein Sein ausserhalb meines Be-
wusstseins zukommt. Ich habe kein Mittel, um den Traum vom
Wachen zu unterscheiden; wer beweist mir, dass ich nicht am Ende
immer träume, dass der instinktiv gesetzte Unterschied zwischen
Traum und Wachen nicht vielleicht bloss auf einen Unterschied zweier
verschiedenen Phasen innerhalb desselben Traums hinausläuft? Ich
nehme für gewöhnlich an, ^er geträumte Gegenstand sei nur in
meiner Vorstellung wirklich, seine Existenz erschöpfe sich in dem
von mir Geträumtsein. Allein wenn Traum und Wachen sich inhaltr
lieh nicht unterscheiden, wie kann ich wissen, ob nicht alle Realität
überhaupt bloss eine solche ideelle Realität ist, woher nehme ich
das Recht, den im wachen Zustande wahrgenommenen Gegenständen
ein anderes Sein als ein solches in der Sphäre des Bewusstseins zu-
zuschreiben ?
Wir wissen ' sonach nicht, ob es etwas giebt, was ausserhalb un-
serer Vorstellungen ein reales Sein besitzt. Insbesondere ist das
Sein der Aussenwelt in alle Ewigkeit nicht mit Sicherheit zu be-
stimmen. Denn ich weiss von ihr nur durch die Vermittelung
meiner Sinne. All unser Wissen hinsichtlich der Realität der Dinge
ist zweifelhaft. Nur am Zweifel selbst kann nicht gezweifelt werden.
Nun heisst aber Zweifeln nichts Anderes als Denken, und dieses
setzt wiederum ein Ich voraus, das die Thätigkeit des Denkens aus-
übt. Folglich muss ich, um zu zweifeln, existieren, und zwar als
ein denkendes Ich existieren. Es ist möglich, dass es keine Ge-
genstände ausser mir giebt, dass jener ganzen sinnlich wahrgenom-
menen Welt kiöine Wirklichkeit ausser in meinem Denken zukommt:
ich kann nicht bestreiten, dass wenigstens dies Denken ist, dass
ich bin, der ich die Funktion des Denkens ausübe. Es ist möglich,
dass ein allmächtiger Betrüger mir nur den Schein des Realen vor-
gaukelt: er könnte mich doch nicht täuschen, wenn ich nicht existierte,
und er könnte nicht bewirken, dass ich nicht real bin, solange ich
denke, dass ich bin. Es ist möglich, dass ich keine Augen habe, um
zu sehen, sondern mir dies nur denke; aber es ist unmöglich, dass,
wenn ich zu sehen denke, ich nicht selbst ein denkendes Reales bin.
Ich denke, also bin ich: Cogito ergo sum. An diesem
Felsen prallen alle Zweifel ab und versichern mir nur um so gewisser,
dass es ausser dem ideellen auch noch ein reales Sein giebt, ein
Drews. 2
18 I)&8 Ich als metaphysisches Prinzip.
Sein, das selbst nicht wieder Vorstellung oder abhängig von irgend-
welcher Vorstellung, sondern wovon alle Vorstellung abhängig ist.
Ich denke, also bin ich: das ist kein Schluss, als ob ich mir das
Sein nur zuschriebe, weil ich denke. Vielmehr ist der Satz un-
mittelbar gewiss, eine selbstevidente Wahrheit, wie die mathema-
tischen Axiome, die ich nicht aussprechen kann, ohne sie eo ipso zu
bejahen. Wenn ich also sage: „Ich denke ^, so sage ich damit zu-
gleich: „Ich bin." Das ist nur ein verschiedener Ausdruck für die-
selbe Sache. Statt deshalb zu sagen: „Cogito ergo sum, ich denke,
also bin ich", kann ich ebenso gut sagen: „Sum cogitans, ich bin
denkend." Aber ich kann nicht mit der gleichen Sicherheit be-
haupten: „Ich atme oder ich gehe spazieren, also bin ich." Denn
das sind beides körperliche Zustände, deren Erkenntnis mir nur
durch die Sinne vermittelt ist. Ich könnte mir ja bloss einbilden,
dass ich mich von der Stelle bewege, wie z. B. im Traume. Mein
Spazierengehen ist also möglicher Weise bloss ideeller Art; mein
Zweifel über die Art des Seins wird dadurch nicht gehoben. Wohl
aber kann ich sagen: „Ich glaube oder ich bilde mir ein, spazieren
zu gehen, also bin ich." Denn das ist eine geistige Thätigkeit, die
durch sich selbst bezeugt wird.
Im Denken meiner selbst besitze ich ein reales Sein oder werde
ich eines solchen unmittelbar inne. Descartes kennt keinen Zu-
stand, keine Thätigkeit, keine Funktion, die nicht die Thätigkeit
eines thätigen Subjekts und damit eines Seienden, Realen ist. Alle
meine übrigen Thätigkeiten aber können auch bloss gedachte sein;
das Denken allein kann von mir nicht abgetrennt werden. Daher
ist auch das Ich, als Subjekt des Denkens, ein reales Sein, weil die
Thätigkeit des Denkens als solche nicht wiederum gedacht ist.
Während überall sonst der Unterschied zwischen meinem Denken und
dem Seienden bestehen bleibt, mein Denken also gleichsam nur die
Oberfläche des Seienden beleuchtet, ohne eine nähere Verbindung mit
ihm einzugehen, so kommt es beim Ich gleichsam hinter das Sein
und löst es mit Haut und Haaren in die Form des Wissens auf.
In dem „Ich denke" spiesse ich so zu sagen den Schmetterlijig des
Seins, der sich überall sonst hinter meinen Gedanken verbirgt, wie
auf einer Nadel auf und lasse seine Flügel in der Sonne des Denkens
funkeln.
Das Denken also erschöpft das Sein des Ich, denn dieses ist un-
mittelbar im Denken. Folglich kann es im Ich auch keine Elemente
geben, die sich der Auflösung in das Denken widersetzten, oder mit
andern Worten: alle besonderen Aeusserungsweisen und Funktionen
Descartes und der Occasionaüsmus. 19
des Ich sind ihrer eigentlichen Natur nach Denken. Nicht nur das
Vorstellen und Erkennen, sondern ebenso auch das Empfinden, Fühlen
und Wollen müssen unter der Kategorie des Denkens begriffen
werden. Das ist kein Resultat der Selbstbeobachtung, sondern es
folgt einfach aus der Bestimmung des Ich als Denkens.
Nun bin ich mir im Ichgedanken der Eealität meiner selbst be-
wusst, mein Denken ist also ein bewusstes Denken. Daraus ergiebt
sich, dass auch alle jene Thätigkeiten des Ich an der Form des Be-
wusstseins Teil haben müssen. Es giebt keine psychische Funktion
in uns, die als solche nicht eine bewusste wäre. Wenn ich z. B.
will, so weiss ich zugleich auch, dass ich will.
Sind aber alle besonderen Funktionen des Ich nur ebenso viele
bewusste Aeusserungsweisen des Denkens oder modi cogitandi, was
ist alsdann das Denken selbst? Die Modi sind nicht ohne das Denken,
wohl aber ist das Denken ohne sie. Die Modi werden nur durch
das Denken erkannt und begriffen, das Denken aber wird durch sich
selbst begriffen. Es ist dem Ich nicht wesentlich, Empfinden, Fühlen,
Wollen zu sein, wohl aber ist es ihm wesentlich, Denken zu sein.
Das (bewusste) Denken also ist die Eigenschaft, ohne welche das
Ich nicht gedacht werden kann, und die sein Wesen oder seine
eigentümliche Natur ausmacht, wodurch es sich von anderem Realen
unterscheidet. Diese seine Grundeigenschaft nennt Descartes das
Attribut des Ich im Gegensatze zu den Modis oder Accidenzen.
Indessen ist doch auch das Denken eben nur Eigenschaft, nur
Prädikat des Ich und setzt daher das letztere als Subjekt voraus,
dessen Eigenschaft es ist, oder woran es, als an seinem realen Sub-
strate, haftet. Wie die Modi nicht sind ohne das Attribut des
Denkens, so ist auch das Denken nicht ohne dies Substrat. Folglich
bedarf es, als Voraussetzung des wesenhaften Denkens, keines Anderen
weiter, um zu existieren. Es ist ein von keinem mehr abhängiges,
ein unbedingtes, ursprüngliches und selbständiges Reales, und wird
in dieser Hinsicht von Descartes auch als Substanz bezeichnet.
Substantia est „res, quae ita existit, ut nulla alia re indigeat ad exi-
stendum". Wie das Denken das Attribut des Ich, so ist folglich das
Ich das bewusste Denken, so wie es als Substanz gedacht ist. Als
solches aber ist es das Bewusstsein.
Der substantielle Träger der psychischen Funktionen heisst
Seele oder Geist. Folglich ist das Ich die Seele oder der Geist,
und was von jenem gilt, das findet zugleich auch auf die Seele und
den Geist Anwendung. Besteht also das Wesen des Ich im Denken,
so auch 'dasjenige der Seele; und ist das Ich Bewusstsein, so hat
2*
so I^fts Ich als metaphysisches Prinzip.
auch die Seele nicht bloss Bewusstsein, sondern ist sie selbst Bewusst-
sein. Als denkendes Bewusstsein aber, das alles Sein bestimmt, ist die
Seele die Vernunft. Indem also Descartes das Ich zum Prinzip
der Wirklichkeit erhebt, so setzt er damit zugleich die Vernunft
(ratio) auf den Thron des philosophischen Denkens und wird damit
zum Begründer jener Oeistesrichtung , die unter dem Namen des
Rationalismus die ganze geistige Entwicklung der Folgezeit be-
stimmt hat.
Das Wesen des Rationalismus besteht bekanntlich darin, das
blosse Nachdenken über die Natur der Prinzipien an die Stelle der
Beobachtung und des Versuchs, die „reine Vernunft" oder das Wissen
a priori an die Stelle der Erfahrung und ihrer aposteriorischen Er-
kenntniss zu setzen. Denn die Erfahrung ist, wie wir gesehen
haben, nicht imstande, unsere Zweifel hinsichtlich der Wirklichkeit
zu beseitigen, und nur das reine Denken führt uns zu gewissen Re-
sultaten. Ist aber erst einmal im Ichgedanken die Ueberzeugung
einer Wirklichkeit gewonnen, dann braucht man sich nur darüber
klar zu werden, worauf sich jene Ueberzeugung gründet, um alsbald
von diesem festen Punkte aus zugleich auch alle übrige Realität zu
bestimmen. Dies Kriterium der Gewissheit findet Descartes nun
darin, dass jenes unser Wissen von der Realität des Ich eine „klare
und deutliche Erkenntnis" darstellt. Alles demnach, was ich ebenso
klar und deutlich, wie meine eigene Existenz, erkenne, das ist auch
eben deshalb ein reales Sein, und seine Erkenntnis ist apodiktisch
gewiss, weil sie ebenso rein aus dem Wesen der Vernunft ge-
schöpft ist.
Zwar erfasse ich unmittelbar nur mich selbst und erkenne ich
nur mein eigenes substantielles Ich in intuitiver Weise; allein damit
ist doch nicht gesagt, dass es ausser mir keine Dinge geben könne.
Vielmehr drängt sich mir mit derselben Klarheit und Deutlichkeit,
womit ich mich erkenne, auch die Annahme von ausser mir vorhan-
denen Ichen, von Seelen oder Geistern auf, und erkenne ich auch
die Körper als reale Wesen, die unabhängig von mir selber existieren
und den geraden Gegensatz zu jenen Seelen bilden. Der Körper hat
eine fest umschriebene Gestalt, nimmt eine bestimmte Lage ein und
kann sich bewegen. Das Ich kann nur denken, fühlen, wollen, vor-
stellen u. s. w., und eine Gestalt kann man ihm nicht zuerkennen.
Gestalt, Bewegung, Lage setzen den Raum voraus und sind äusser-
liche Momente. Die Zustände und Thätigkeiten des Ich sind ganz
unabhängig vom Raum und haben nur statt in einer rein innerlichen
Welt. Diese letzteren finden ihre gemeinschaftliche Form im Denken.
D^scartes und der Occasionalismus. 21
Jene ersteren finden sie dagegen in der Ausdehnung. Denken und
Ausdehnung aber haben untereinander nur das gemeinsam, dass beide
bloss als Eigenschaften (Attribute) an Substanzen haften können. Wenn
nun das Attribut der Ausdehnung begriffen werden kann ohne
Rücksicht auf das Denken, dieses letztere aber ebenso ohne Rück-
sicht auf die Ausdehnung, so folgt, dass auch die Substanz des
Körpers und die Substanz des Denkens oder das Ich sich gegenseitig
ausschliessen und dass somit eine Gemeinschaft zwischen ihnen nicht
bestehen kann. Damit ist der extreme Dualismus begründet. Der
Körper kann deutlich erkannt werden ohne das Attribut des
Geistes, der Geist ganz ebenso ohne das Attribut des Körpers: folg-
lich sind sie auch beide von einander unabhängig. Der Geist ist
unausgedehnt, der Körper ohne Denken. Geist und Körper sind ein-
ander entgegengesetzte Realitäten, Substanzen, die so beschaffen sind,
dass jede von ihnen das ist, was eben deshalb die andere nicht ist.
Auf der einen Seite steht die Welt der substantiellen Iche, der
Seelen oder Geister, auf der anderen die Körperwelt — das alles
aber als Resultat einer klaren und deutlichen Erkenntnis.
Diese reinliche Scheidung zwischen Körper und Geist hat ihre
Früchte vor allem auf naturphilosophischem Gebiet getragen.
Sie hat einen Begriff der Materie erzeugt, der jede Vermischung
mit psychischen Faktoren ausschliesst und ihr Wesen überall nur als
Ausdehnung gelten lässt. Dass die Materie nicht denken könne, wird
zu einem Fundamentalsatze dieses Systems, der lange auch in der
Philosophie der Folgezeit noch nachgewirkt hat. Jede Kraft wird
aus der Natur verbannt, jeder Gedanke an eine Zweckverknüpfung
beim Zusammenwirken der materiellen Elemente ausgeschlossen. Die
Materie wird so zu sagen auf ihre eigenen Füsse gestellt, um zu
zeigen, was sie für sich allein als Erklärungsprinzip zu leisten ver-
möge. Aus der mythologisch-phantastischen Naturanschauung jener
Zeit mit ihrer unklaren Vermischung von geistigen und körperlichen
Elementen entwickelt sich eine rein mechanische Theorie der äusseren
Erscheinungen, welche die Mathematik in ihren Dienst nimmt und den
Anspruch erhebt, an Evidenz und Sicherheit ihrer Resultate es mit
den geometrischen Lehrsätzen aufnehmen zu können. Der Begriff
der Natur, den das Mittelalter nicht gekannt, und womit bis dahin
die sogenannte Naturphilosophie der Renaissance, ein Paracelsus,
Cardanus, Telesius, Campanella u. s. w. vergeblich gerungen
hatte, empfängt zum ersten Male seine philosophische Bestimmung,
die eine eigentliche, d. h. methodische, Naturwissenschaft ermöglicht.
Viel weniger günstig als auf naturphilosophischem Gebiete sind
22 I^fts Ich als metaphysischea Prinzip.
die Folgen, die sich fUr die Geis tesphilosop hie aus den prinzi-
piellen Bestimmungen des Descartes ergeben. Schon darin liegt eine
Schwierigkeit, wie bei der Identifikation des Ich mit der Vernunft
die unvernünftigen Handlungen des ersteren, die Irrtümer u. s. w. sich
erklären lassen. Vor allem aber führt die obige Scheidung zwischen
Geist und Körper hier zu Eonsequenzen, die für das ganze System als
solches verhängnisvoll werden. Denn während die Materie von jeder
Vermischung mit psychischen Elementen sich freihalten lässt, so
ist dagegen der Geist nicht ohne die Körperwelt zu denken, schon
deshalb nicht, weil ein grosser Teil seines Inhalts, wie die sinnlichen
Empfindungen, eine offenbare Hindeutung auf das materielle Sein
enthält. Es besteht also thatsächlich eine Beziehung zwischen
Geist und Körper, ja, die Seele ist nicht bloss im Körper gegen-
wärtig, wie der Steuermann in seinem Schiffe, sondern sie ist mit
ihrem organischen Leibe so eng verbunden, dass beide eine untrenn-
bare Einheit bilden. Wie reimt sich dies mit ihrer substantiellen
Natur zusammen, infolge wovon sie sich gegenseitig ausschliesäen
sollen? Die Vernunft muss ihre Unfähigkeit eingestehen, hierüber
Auskunft geben zu können. Jene Einheit ist auch garnicht aus der
Vernunft erschlossen, sondern sie ist einfach eine Thatsache der Er-
fahrung. Allein sie muss doch wenigstens klar und deutlich einge-
sehen werden können, wenn anders die Vernunft ihre Alleinherrschaft
behaupten soll.
Descartes sucht sich dadurch zu helfen, dass er das Gebiet
des seelischen Lebens möglichst einschränkt und alles, was etwa
für eine Folge des Zusammenwirkens von Geist und Körper gehalten
werden könnte, als einen rein äusserlichen Vorgang deutet. Darum
leitet er die natürlichen Verrichtungen des Körpers aus dem blossen
Mechanismus der sich bewegenden materiellen Elemente desselben her
und spricht er den Tieren ^ie seelische Innerlichkeit ab, indem er
sie für blosse „wandelnde Maschinen" ausgiebt. Die Berechtigung zu
dieser letzteren Behauptung schöpft er offenbar nur aus seiner Iden-
tifikation von Seele und Ich, denn klarer und deutlicher scheint
nichts, als dass den Tieren der Ichgedanke nicht zukommen kann.
Ist aber die Tierwelt eine gefühl- und seelenlose Welt, dann ist auch
das Vorurteil gegen das Tierexperiment beseitigt, und jene Annahme
giebt damit die Möglichkeit an die Hand, die mechanistische Auf-
fassung auch auf dem Gebiete der Organismen durchzuführen. So
absurd und empörend uns daher auch heute die kartesianische Auf-
fassung der Tierwelt scheinen mag, sie hat doch für ihre Zeit eine
grosse Bedeutung gehabt, indem sie den Prinzipien der modernen
Descartes und der Occasionalismus. 23
Naturwissenschaft den Zugang in die Anatomie und Physiologie ge-
bahnt hat. Es ist kein Zufall, dass gerade diese beiden Wissenschaften
unter dem Einflüsse des Kartesianismus einen besonderen Aufschwung
genommen haben und dass eine Anzahl bedeutender Aerzte aus der
Schule des Descartes hervorgegangen ist.
Indessen wie sehr auch durch die erwähnte Annahme das Gebiet
der Wechselwirkung von Geist und Körper eingeschränkt sein mag, es
bleiben doch immer noch genug Thatsachen übrig, die sich ohne eine
solche Wechselwirkung nicht erklären lassen. Das gilt insbesondere
von den willkürlichen oder automatischen Handlungen. Diese müssen
aus der Seele stammen, oder man sieht nicht, welchen Zweck die An-
nahme einer solchen überhaupt haben soll. Das gilt aber ebenso
auch von den Vorstellungen, welche die Seele nachweislich aus dem
Körper empfängt. Dass mein Wille meinen Arm bewegt und dass
ich Schmerz empfinde, wenn Jemand mir eine Wunde zufügt, ist
nur zu erklären, wenn wenigstens an einem Punkte meines Körpers
die reine Mechanik dieses letzteren durch ein entgegengesetistes
Prinzip bestimmt wird. Daraus entspringt dann die berüchtigte
Frage nach dem Sitz der Seele und das andere nicht minder be-
deutsame Problem des Seelenorgans, d. h. der Art und Weise,
wie Seele und Körper ihre wechselseitigen Einwirkungen auf ein-
ander vermitteln.
Descartes ist keineswegs der Erste gewesen, der die Frage
nach dem Sitz der Seele aufgeworfen hat. Schon die alten Juden
hatten diesen in das Blut verlegt und darum den Genuss des letzteren
verboten. Andere hatten dagegen das Herz, die Eingeweide, die
Leber oder Brust für. das Centrüm der psychischen Funktionen ange-
sehen, und auch die Annahme des Pythagoras, dass die Seele in
näherer Beziehung zum Gehirne stehe, scheint keineswegs eine all-
gemeine Zustimmung gefunden zu haben. Konnte doch noch Plato
eine denkende, empfindende und begehrende Seele unterscheiden und
diese verschiedenen Bestimmungen auf das Haupt, die Brust und den
Unterleib verteilen. Wohl aber hat Descartes die Frage dadurch
in eine neue Bahn gelenkt, dass seine Identifizierung der Seele mit
dem Ich die Annahme getrennter Seelenteile ein für alle Mal beseitigt
und die Seele auf das Centrum des Gehirns beschränkt hat, weil hier
allein von einem Ich die Bede sein kann. Allein auch so schien sie
noch mit dem Prädikate der Räumlichkeit behaftet, woran sie ihrem
Wesen nach keinen Anteil haben durfte. Darum schränkte Descartes
den eigentlichen Sitz der Seele auf einen einzigen bestimmten Punkt
des Gehirns, die Zirbeldrüse, ein, weil diese, als das einzige
24 I^ Ich als metaphysisches Prinzip.
unpaarige Organ an jener Stelle, in der That zugleich der Mittel-
punkt des gesamten Körpers zu sein schien.
Seitdem ist die Frage nach dem Sitz der Seele nicht zur Buhe
gekommen. Sogar auf die Anatomie hat sie hinübergewirkt und die
Forscher lange Zeit hindurch veranlasst, einen solchen Punkt in der
Struktur des menschlichen Körpers ausfindig zu machen, worin die
Empfindungsnerven zusammenlaufen, und von welchem zugleich die
verschiedenen Bewegungsnerven ihren Ausgang nehmen. Denn dass
die Zirbeldrüse den Anspruch nicht erfüllt, in diesem Sinne Mittel-
punkt des Gehirns zu sein, das konnte sich der Forschung nicht lange
entziehen. Ein Haller verlegte daher den Sitz der Seele in die Varols-
brücke, Boerhave in das verlängerte Mark, noch Andere verlegten
ihn in die Vierhügel oder erklärten, wie Sömmering, die Hirnhöhlen
mit dem darin enthaltenen Wasser für das Gentrum der psychischen
Funktionen, ja Herbart brachte es sogar, um die Unversehrtheit der
psychischen Aeusserungen bei körperlichen Verletzungen zu erklären,
fertig, den Sitz der Seele innerhalb gewisser Grenzen im Gehirne füi*
verschiebbar auszugeben. Soviel ist jedenfalls sicher, dass die An-
nahme eines anatomischen Mittelpunktes des Nervensystems mit der
Erfahrung nicht vereinbar ist. Je weiter die Anatomie in die Struk-
tur des Körpers eindringt, desto mehr überzeugt sie sich, dass von
einem Zusammenlaufen der Nerven in einen einzigen Punkt nicht die
Rede sein kann, und so leuchtet schon aus diesem Grunde die Wahr-
heit des Ausspruches von Ennemoser ein, dass die ganzen Bemüh-
ungen um die Entdeckung des Seelensitzes nur ein interessantes Ka-
pitel in der Geschichte der menschlichen Narrheiten bilden.
Gesetzt jedoch, die Seele habe wirklich ihren Sitz irgendwo im
Gehirne, hebt nicht diese LokaUsation, so klein man sich jenen Punkt
auch denken möge, den Begriff einer absolut unräumlichen Substanz
ebenso auf, als wenn man sich die Seele etwa im ganzen Körper ver-
teilt vorstellen wollte? Oder wie lässt sich eine solche räumliche
Fixierung damit vereinigen, dass die Seele ihrem Wesen nach ausser
aller Beziehung zum Räume stehen soll? Und femer: wie soll man
sich die Wechselwirkung zwischen Seele und Körper denken? Des-
cartes nimmt als vermittelnde Organe die sogenannten „Lebens-
oder Nervengeister" (spiritus animales sive corporales) an, beweg-
liche Blutteilchen von äusserster Kleinheit, die beständig unter dem
Einflüsse der Herzwärme dem Gehirn zuströmen, durch die Bewe-
gung der Zirbeldrüse von Seiten der Seele nach solchen Richtungen
in die motorischen Nerven zurückgelenkt werden, dass sie daselbst die
gewünschten Bewegungsprozesse auslösen und ebenso auch die Seele
Descartes und der Occasionalismus. 26
veranlassen, auf ihre von den Sinnesorganen herkommenden Bewe-
gungsarten mit besonderen Vorstellungen u. s. w. zu reagieren. Der
Wert dieser Hypothese liegt offenbar darin, dass sie auch das Ver-
hältnis der Seele zu ihren Thätigkeiten unter dem Gesichtspunkte des
Mechanismus zu begreifen sucht. Allein wer sieht nicht, dass die
Bewegung, welche die Seele der Zirbeldrüse erteilt, so unbedeutend
sie auch an sich sein mag, dennoch aus dem Rahmen einer streng
mechanischen Auffassungsweise herausfallt? Wer sieht nicht, dass die
berühmten Lebensgeister nur in anderer Form den alten Naturalis-
mus, d. h. die Vermischung von psychischen und körperlichen Prin-
zipien, wieder einführen, dessen prinzipielle Ueberwindung durch die
reinliche Scheidung zwischen Körper und Geist wir oben gerade als
ein besonderes Verdienst des Descartes erkannten? Denn mag man
sich die Lebensgeister so fein und ätherisch denken, wie man will,
sie bleiben doch körperliche, räumlich ausgedehnte Substanzen und
können folglich zur unräumlichen Seele nicht in Beziehung treten.
Descartes aber bildet sich ein, wenn er die Körper nur möglichst
verdünnte und verflüchtigte, so würden sie damit zugleich auch der
Seele verwandter, er setzt also Unerkennbarkeit für unsere Sinne
gleich Immaterialität, ein offenbares Taschenspielerkunststück, das die
Unmöglichkeit der Lösung nur verschleiert, nicht beseitigt.
Betrachtet man Körper und Geister als verschiedene und einan-
der entgegengesetzte Substanzen, wie Descartes bei seiner Grund-
annahme der Substantialität des Ich es thun muss, so kann die Ver-
mittelung zwischen beiden Reichen nicht innerhalb, sondern nur ausser-
halb derselben gefunden werden. Dass die Seele an den Leib ge-
bunden ist, das ist nicht in der Natur der beiden Substanzen be-
gründet, sondern es liegt über alle Natur hinaus, ist ein von Gott
gewolltes Faktum. Man muss dies Faktum anerkennen, aber man
kann es nicht aus reiner Vernunft begreifen. So gelangen wir zur
Annahme des unendlichen Wesens Gottes, das wir ebenfalls als Sub-
stanz bestimmen müssen. Descartes hat das Dasein Gottes bekannt-
lich unabhängig von der Rücksicht auf die übrigen Substanzen aus
der Idee des Unendlichen in uns zu beweisen versucht. Er hat
ausserdem zur Stütze dieses seines eigenen Beweises auch das alte
ontologische Argument des Anseimus wiederum hervorgezogen und
aus dem blossen Begriff des absolut realen Wesens auch die Existenz
desselben in der gleichen Weise gefolgert, wie er die Realität des Ich
durch das „Ich denke" begründet hatte. Dabei hat er nur vergessen,
dass er die reale Existenz des eigenen Ich ja garnicht erschlossen,
sondern sie unmittelbar in der Erfahrung vorgefunden hat.
26 ^&8 Ich als metaphysisches Prinzip.
Hiemach giebt es nun also drei Formen der Realität, drei
Arten von Substanzen, die sich alle mit der gleichen Sicherheit er-
kennen lassen: die Ichsubstanz oder denkende Substanz, als Inbegriff der
Seelen oder Geister, die ausgedehnte Substanz, als Inbegriff der Körper,
und diesen beiden neben einander existierenden Substanzen übergeordnet
die göttliche Substanz. Jene bilden zusammen die Welt, das ge-
schaffene oder das endliche Sein, diese dagegen ist das schöpferische,
unendliche Sein, welchem jene beiden ihre Existenz verdanken. Hält
man an dem strengen Sinne des Substanzbegriffes fest, wonach er das
unbedingte, absolut selbständige Sein bedeutet, so giebt es in Wahr-
heit nur Eine Substanz, die unendliche schöpferische göttliche Sub-
stanz. Die beiden endlichen Substanzen sind zwar selbständig gegen
einander, sofern eine jede von ihnen auch ohne die ihr entgegen-
gesetzte gedacht werden und existieren kann; allein sie sind beide
gleich abhängig von Gott und werden nur von ihm in ihrer Existenz
erhalten. —
Man brauchte diesem Gedanken des Unterschiedes zwischen den
endlichen, relativen Substanzen und der absoluten Substanz bloss nach-
zugehen, um in ihm alsbald die Lösung für die Schwierigkeit zu
suchen, wie eine Wechselwirkung zwischen Leib und Seele statt-
finden kann. Descartes hat selbst schon hierauf hingewiesen. Ar-
nold Geulincx fügt dem Argumente aus der Wesens Verschiedenheit
der beiden Substanzen ganz richtig das weitere hinzu, dass eine un-
mittelbare Wechselwirkung auch deshalb unmöglich sei, weil wir
von ihrem Zustandekommen kein Bewusstsein haben. Sind Seele, Ich,
Bewusstsein identische Begriffe, dann muss ich auch wissen, wie die
Seele es anfängt, eine Bewegung meines Leibes hervorzubringen, denn
alle Thätigkeiten meines Ich müssen dann unmittelbar, vom Lichte des
Bewusstseins durchleuchtet vor mir liegen. Wo nicht, so kann die
Thätigkeit auch nicht von mir ausgehen. Dann kann ich nur an-
nehmen, dass Gott dies alles thut, und ich kann meinen Willen,
den Arm zu heben, nur mehr als die Veranlassung oder Gelegen-
heit (occasio) betrachten, wobei mein Arm von Gott gehoben wird.
Und ebenso muss ich mir dann auch die Entstehung meiner Vor-
stellungen erklären. Nicht die Körper wirken auf meine Seele ein,
sondern die Körper wirken^ und bei Gelegenheit dieser Wirkung ruft
Gott in meiner Seele eine dieser Wirkung entsprechende Vorstellung
hervor.
Dass nun hiermit der Occasionalismus die Schwierigkeit wirk-
lich gehoben und nicht vielmehr die Unlösbarkeit desselben auf dem
Boden des Kartesianismus eingeräumt hat, darüber braucht man sich
Descartes und der Occasionalismus. 27
keinen Illusionen hinzugeben. Der Eingriff des ausserweltlichen Gottes
in die Welt der Geister und Körper bleibt nach wie vor ein Wunder,
vor welchem der Verstand um so mehr Ursache hat, einfach still zu
stehen, als dieses Wunder sich fortwährend und ohne Unterlass er-
eignet. Dabei fügt das Zurückgreifen auf Gott zu der l)Mtehenden
Schwierigkeit auch noch die hinzu, dass nun ganz in derselben Weise
die Vermittelung zwischen Gott und Welt zum Rätsel wird. Denn
wie, muss man fragen, kann die göttliche Substanz, die, als geistige
Substanz, dem Ich verwandt sein muss, auf die von ihr verschiedenen
Körper wirken? Es ist ein Grundsatz des Descartes, dass in der
Wirkung nicht mehr enthalten sein könne, als in der Ursache. Wenn
Gott nun selbst nicht ausgedehnt ist, wie konnte er die ausgedehnten
Substanzen schaffen? —
Der Dualismus mit seiner Annahme zweier verschiedenartigen
und entgegengesetzten Substanzen scheitert an der Unmöglichkeit, die
erfahrungsmässig gegebene Wechselwirkung zwischen Geist und Kör-
per verständlich zu machen. Ein Ausweg kann nur in einer Verein-
fachung der Prinzipien durch Beseitigung des einen oder Zurück-
fuhrung des einen auf das andere gefunden werden. Darum sehen
wir die ganze Philosophie der Eolgezeit sich in der Richtung auf
den Monismus hin bewegen. Wo nun aber die Realität des Ich den
Ausgangspunkt der philosophischen Bewegung bildet, da kann darüber
kein Zweifel sein, ob der Geist oder der Körper dem anderen zu
weichen habe. Der Geist gilt für unmittelbar durch das Attribut des
Denkens verbürgt. Das kann man jedoch vom Körper nicht behaup-
ten. Die Annahme einer Körperwelt beruht nach Descartes auf der
Klarheit und Deutlichkeit unserer Begriffe, die wir von ihr haben.
Allein vermag uns dies Kriterium die Selbständigkeit und Unabhän-
gigkeit jener Welt von unserem Bewusstsein zu verbürgen? Klar und
deutlich würde sie ja auch von uns erkannt werden, wenn sie bloss
als Vorstellung im Bewusstsein existierte. Dann hätte sie jedoch nur
ein ideelles Sein; das reale aber ist es, dessen ich mich zu verge-
wissem wünsche. Jenes Kriterium kann also zwar von Nutzen sein,
wo es sich bloss um den Inhalt eines Seienden und seinen Unterschied
von anderen Objekten handelt; allein über die besondere Art des
Seins, ob ich es mit einem realen oder ideellen Sein zu thun habe,
darüber vermag es garnichts festzustellen. Ich kann auch nicht sagen,
es müsste deshalb eine Körperwelt ausserhalb meines Bewusstseins
existieren, weil Gott sonst an mir zum Betrüger würde. Die Körper
könnten auch blosse Vorstellungen sein, ohne dass ich darum Gott
der Unwahrhaftigkeit zu zeihen brauchte. Denn jenem mir von Gt)tt
28 ^M Ich als metaphysisches Prinzip.
verliehenen Kriterium der Wahrheit widerspricht es gamicht, dass die
Körper nur ein ideelles Sein besitzen.
So liegt denn die Uebereilung klar zu Tage, wenn Descartes
aus der Deutlichkeit ihrer Erkenntnis sofort auf die substantielle
Natur der Körper geschlossen und diese als eine zweite Welt von
Realitäten den Ichsubstanzen an die Seite gestellt hat. Erkenne ich
nur die Realität des Ich mit absoluter Gewissheit, so berechtigt mich
nichts, ausser der Welt von Geistern auch noch eine Welt von Kör-
pern anzunehmen. Damit ist an die Stelle des Dualismus von Geist
und Körper der reine Spiritualismus gesetzt, der nun selbst wie-
derum eine verschiedene Form annehmen kann, je nachdem ob man
den Körper für eine blosse Vorstellung ansieht, oder ob man die
Vorstellung des Körpers in uns zu einem realen Korrelate ausser uns
in Beziehung setzt.
8. Der SpirituaJisnius.
a) Der phSnomenalistische Spiritualismus Berkeleys.
Die erstgenannte Form des Spiritualismus hat Berkeley ver-
treten. Mit äusserster Entschiedenheit hat er die Annahme be-
kämpft, dass es Körper ausserhalb der Geister geben könne. Jeder
Körper hat bestimmte sinnliche Eigenschaften, wodurch er einen Ge-
genstand unserer äusseren Wahrnehmung bildet. Allein schon Des-
cartes wusste, dass die Sinnesqualitäten, wie Farbe, Ton, Geruch,
Geschmack, Härte oder Weichheit u. s. w. nicht objektive Realitäten
an den Gegenständen, sondern bloss subjektive Empfindungszustände
in unserem Bewusstsein sind, die wir nur instinktiv auf die Gegen-
stände übertragen. Locke hatte die sinnlichen Qualitäten als sekun-
däre von den sogenannten primären Qualitäten unterschieden und hier-
unter diejenigen Beschaffenheiten verstanden, welche den Gegenstän-
den an sich selbst zukommen. Als solche hatte er die Ausdehnung,
Figur, Zahl, Bewegung, die Ruhe und Undurchdringlichkeit bezeichnet.
Allein, wie Berkeley zeigt, sind auch diese teils nur Empfindungen,
wie die Undurchdringlichkeit, als das Gefühl des Widerstandes, teils
sind sie, wie die Ausdehnung, Bewegung, Grösse u. s. w., nur Ver-
hältnisse, worin wir uns die sekundären Qualitäten denken, und welche
daher auch bloss in unserer Vorstellung existieren. So bleibt denn
als einzige Realität, die sich nicht in Vorstellungsinhalt auflöst, die
sogenannte körperliche Substanz, als Träger aller derjenigen Eigen-
schaften übrig, deren ideelle Beschaffenheit wir nicht bezweifeln
können. Wie aber subjektive Vorstellungen, die nur in unserem Be-
wusstsein sind, eines realen Trägers bedürfen sollten, der ausser-
Der phänomeDalistische Spiritualismus Berkeleys. 29
halb des Bewusstseins ist, davon werden uns die „Materialisten" nie
überzeugen können.
Die Annahme einer realen Körperwelt kann weder durch die
Sinne, noch durch die Vernunft bewiesen werden. Durch die Sinne
nicht — denn diese lassen uns immer nur unsere eigenen Empfin-
dungen erkennen, aber nicht, ob ihnen ein reales Sein zu Grunde
liegt. Durch die Vernunft nicht — denn der Schluss von unseren
Vorstellungen auf reale Gegenstände ist unzulänglich, weil wir ganz
die gleichen Vorstellungen auch im Traum, in Fieberzuständen u. s. w.
haben können, ohne dass ihnen eine Wirklichkeit entspricht. Nicht
einmal das kann eingeräumt werden, dass unsere subjektive Vor-
stellungswelt sich leichter durch die Annahme von Körpern erklären
Hesse. Denn wir wissen nicht, wie der Körper auf den Geist ein-
wirkt, um irgend eine Vorstellung in ihm hervorzurufen, wir müssen
sogar geradezu eingestehen, dass eine solche Wirkung unmöglich ist,
wenn Geist und Körper entgegengesetzte Substanzen bilden. Gäbe
es also selbst Körper ausser uns, wir könnten doch von ihnen kein
Bewusstsein haben. Gäbe es keine, so würden doch die gleichen
Gründe, wie jetzt, für ihr reales Dasein sprechen. Denn immer
könnten unsere Vorstellungen einer Körperwelt nur unabhängig von
dieser selbst zustande kommen. Was aber ist ein Gegenstand, der
existiert, ohne wahrgenommen zu werden, eine Empfindung oder Vor-
stellung, die das Abbild von etwas ist, was selbst nicht Empfindung,
noch Vorstellung ist? — ein Widerspruch, ein reiner Nonsens, der
uns zu der Annahme nötigt, dass die Körper überhaupt nur Vor-
stellungen sind oder vielmehr eine Verknüpfung von sinnlichen Em-
pfindungen und abstrakten Vorstellungen, die bloss in unserem Be-
wusstsein eine Einheit bilden.
Die Existenz der Körper besteht in ihrem Vorgestelltwerden, ihr
Sein ist lediglich ihr Bewusst-Sein. Nun sind alle unsere Vorstellun-
gen als solche passiv und ohne innere Möglichkeit der Veränderung
und des Wechsels. Die Ausdehnung, Figur, Bewegung u. s. w.
können folglich nicht Ursachen anderer Vorstellungen in uns sein.
Die Ursache der Vorstellungen kann nicht selbst wiederum Vorstel-
lung, sondern nur Substanz, und zwar, wenn es eine körperliche
Substanz nicht geben kann, nur eine unkörperliche oder geistige
Substanz sein. Der Geist oder die Seele unterscheidet sich von den
Körpern dadurch, dass er nicht passiv, wie diese, sondern thätig
ist, und dass seine Existenz nicht im Vorgestelltwerden, sondern viel-
mehr in der Thätigkeit des Vorstellens besteht. Wird daher der
Körper von uns vorgestellt, wie er an sich ist, sofern er ja eben
30 1^&8 Ich als metaphysisches Prinzip.
nur Vorstellung ist, so kann hingegen der Geist von uns nicht vor-
gestellt werden, weil dieser, als ein Thätiges, nicht irgend einer Vor-
stellung ähnlich sein und folglich auch durch eine solche nicht reprä-
sentiert werden kann. Vom Geiste können wir höchstens einen „Be-
griff" (notion) besitzen. Ist aber der Geist nicht Vorstellung, nicht
ideelles Sein, so kann er nur ein Reales sein und dieses nur durch
innere Anschauung (inward feeling), d.h. durch einen Akt unmittel-
barer Selbstwahrnehmung begriffen werden. Im Ich, in diesem
„Begriff" meiner selbst erkenne ich den realen Träger oder Produ-
zenten meiner Vorstellungen als solchen; alles Andere aber, was ich
sonst erkenne, ist abhängig vom Ich und blosse „Vorstellung" des-
selben.
So ist also der Standpunkt des Berkeley ein phänomena-
listischer Spiritualismus, indem er die Körper als bloss subjek-
tive Erscheinungen betrachtet. Es giebt nach ihm nur Ein reales
Sein, das Sein der individuellen Geister, das identisch ist mit dem
Bewusstsein, sofern es als substantieller Träger der Vorstellungswelt
gedacht wird. Das körperliche Sein dagegen ist ein ideelles oder ist
Bewusst-Sein, sofern darunter diese besondere Art des Seins verstan-
den wird. Im ersten Falle bezieht sich das Wort Bewusstsein auf die
blosse Porm desselben, und steht das Bewusstsein, als Substanz, im
Gegensatz zu seinen Accidenzen. Im zweiten Falle bezieht es sich
auf den Inhalt des Bewusstseins und steht es, als ideelles Sein, im
Gegensatze zum realen. Es giebt sonach auf diesem Standpunkte,
genau genommen, nur Ein Sein, nämlich das Bewusstsein; reales und
ideelles Sein aber unterscheiden sich von einander nur wie Form und
Inhalt des Bewusstseins. Demnach ist also der Spiritualismus seinem
Wesen nach Bewusstseinsrealismus, und jede Annahme eines
Seins, das nicht entweder Form oder Inhalt des Bewusstseins ist, ein
Bruch mit der spiritualistischen Grundvoraussetzung.
Bei dieser Stellungnahme nun, wie sie Berkeley eigenthümlich
ist, verwandelt sich die Frage nach der Wechselwirkung zwischen
Geist und Körper, woran der Kartesianismus gescheitert war, in die
andere, auf welche Art die Vorstellungen in uns zustande kommen.
Unsere Vorstellungen sind teils sinnliche Empfindungen (Wahr-
nehmungen), teils sind sie Phantasievorstellungen. Diese letzteren
sind zufällig, in jedem Einzelnen verschieden und werden von uns
selbst erzeugt. Jene ersteren dagegen spiegeln im Bewusstsein aller
Geister eine und dieselbe Welt von durchgängiger Gesetzmässigkeit,
müssen folglich der individuellen Willkür entzogen und können nur
von Gott in uns hervorgebracht sein. Ihre Gesammtheit bildet die
Der monadologiache Spiritualismus: Leibniz. 31
Natur, ihre Regelmässigkeit und Ordnung, wie sie im Bewusstsein
auftreten, erzeugen den Begriff der Naturgesetze. Alle vermeintliche
Wirkung zwischen Natur und Geist ist also in Wahrheit nur eine
unmittelbare Wirkung Gottes auf uns. Wenn ich den Arm aufhebe,
so ist meine eigene Handlung dabei nur mein Wille, ihn zu heben.
Dass ich und Andere zugleich das Wahmehmungsbild der Bewegung
meines Armes haben, das kommt nur daher, weil Gott es auf Grund
und bei Gelegenheit meines Willens in mir und ebenso auch in allen
übrigen Geistern hervorruft.
Diese Lösung des Problems ist nun freilich von derjenigen des
Occasionalismus kaum verschieden. Das Wunder eines fortwährenden
Eingreifens Gottes in die Welt der endlichen Realitäten besteht auch
hier in derselben Weise fort. Nur darin liegt ein Fortschritt, dass
nach Berkeley Gott, als Geist, es nur mit Geistern, aber nicht auch
mit Körpern zu thun hat, die seinem Wesen widersprechen. Gott
achtet nicht, wie beim Occasionalismus, darauf, wie die Körper wirken,
um alsdann eine jener Wirkung entsprechende Vorstellung in mir
hervorzubringen, sondern er affiziert mich unmittelbar, indem er in
mir die Vorstellung eines körperlichen Vorganges erzeugt.
Indessen wie verträgt sich diese Annahme damit, dass der Geist
im Gegensatze zu den passiven Vorstellungen ein durchaus aktives
Wesen sein soll? Auf dieser Aktivität soll die Realität und die Sub-
stantialität des Geistes beruhen. Allein wenn der letztere Einwir-
kungen empfängt und insofern passiv sein muss, so nähert er sich da-
mit der Natur des Körpers, so ist er am Ende gar selbst bloss ein
ideelles Wesen. Kein Zweifel: die Annahme eines göttlichen Eingriffs
in die endliche Welt hebt die spiritualistische Theorie der substan-
tiellen Geister ganz ebenso aus den Angeln, wie den Dualismus von
Geist und Körper. Der Occasionalismus verträgt sich mit keiner Phi-
losophie, die an der Substantialität der endlichen Realen festhält.
Diese letztere schliesst jeden äusseren Eingriff aus, sowohl von Seiten
einer Körperwelt, als auch von Seiten der übrigen Geister, als endlich
auch von Seiten Gottes, und lässt als Erklärung der gemeinschaft-
lichen Vorstellungswelt nur die Annahme einer ursprünglichen
Harmonie der Geister übrig.
b) Der monadologische Spiritualismus: Leibniz.
Es ist Leibnizens Verdienst, diese Konsequenz zuerst gezogen
und daraus eine neue Form des Spiritualismus hergeleitet zu haben.
Wie Descartes, so geht auch er davon aus, dass wir im Ich-
gedanken oder Selbstbewusstsein unmittelbar ein reales Sein ergreifen.
32 I^as ^cl^ ftls metaphysisches Prinzip.
Das Reale ist aus diesem Grunde auch bei ihm ein individuelles;
und wie dessen restloses Aufgehen in unsere Gedankenwelt uns nötigt,
sein Wesen in die Thätigkeit des Denkens zu verlegen, so müssen
wir es wegen seiner Selbständigkeit und Unabhängigkeit auch als
Substanz bestimmen, indem wir ihm eine für sich abgeschlossene Exi-
stenz zuschreiben. Die Substanz besitzt also nach Leibniz nicht bloss
die Fähigkeit, thätig zu sein oder zu handeln, sondern ihr Sein ist
durchaus nur ihre Thätigkeit. Was nicht thätig ist, das ist
auch nicht, ist wenigstens nicht im Sinne eines Realen. Daher lässt
sich die Substanz auch als thätige Kraft, als vis activa definieren,
die nicht von aussen in Bewegung gesetzt wird, sondern sich selbst
bewegt, sobald ihr kein Hindernis entgegensteht. Aus solchen im
Denken thätigen und in der Thätigkeit existierenden Substanzen, be-
steht das reale Sein. Die Präge ist demnach nicht, ob es noch eine
andersartige Realität, wie die Körper, neben den Ichsubstanzen oder
Geistern giebt, sondern es fragt sich, ob es noch andere im Denken
thätige Substanzen auch ausserhalb der Ichsubstanzen giebt.
Diese Frage ist mit der anderen identisch, ob es ein Denken giebt,
welches als solches nicht ein Denken des Ich (Bewusstseins) ist, oder
mit andern Worten: ob es ausser dem bewussten Denken auch noch
ein unbewusstes Denken giebt.
Descartes hatte die Frage, wie wir gesehen haben, verneint,
weil Ich, Bewusstsein und Denken für ihn identische Begriffe waren.
Allein schon Locke hatte von dieser Voraussetzung aus die Annahme
von angeborenen Ideen bestritten, die eine so wichtige Rolle im Sy-
stem des Descartes gespielt hatten, und er hatte daraus den ferneren
Schluss gezogen , dass der Geist nicht immer denken könnte. Denn
wenn es nachweislich Zustände giebt, wie den Schlaf, wo die Konti-
nuität des Bewusstseins unterbrochen ist, und von denen man doch
nicht behaupten kann, dass in ihnen der Geist selbst aufgehört habe,
zu existieren, wie kann man alsdann das Wesen des Geistes in das
Denken setzen? Nun kann aber Descartes ganz Recht haben, dass
der Geist immer denkt, und es kann ganz wohl angeborene Ideen
geben, auch wenn wir uns ihrer nicht immer bewusst sind: man muss
nur nicht Denken und Bewusstsein verwechseln. Im Gegensatze zu
Lock es Auffassung des Geistes als blosser „tabula rasa", behauptet
daher Leibniz, wir seien vielmehr selbst uns angeboren, d. h. es gäbe
in uns einen Schatz von unbewussten logischen Ideen, die gleichsam
in der Tiefe der Seele lebendig sind und dadurch den Zusammenhang
unserer Gedankenwelt vermitteln. Sonach sind es also nicht so sehr
psychologische Gründe, die Leibniz auf die Entdeckung der unbe-
Der monadologische Spiritualismus: Leibuiz. 33
wussten Vorstellung geführt haben, als vielmehr bedient er sich dieses
Begriffs, um damit die metaphysische Grundannahme seines Systems,
die Gleichsetzung des Realen mit dem Denken, zu unterstützen.
Giebt es nun unbewusste Vorstellungen, so ist also die Grenze
des Denkens nicht zugleich auch die Grenze des Bewusstseins , und
wenn das Denken notwendig einen substantiellen Träger voraussetzt,
so giebt es folglich denkende Substanzen auch ausserhalb der Geister
oder Ichsubstanzen. Descartes hatte sonach ganz Recht, Substanzen
ausserhalb der Iche anzunehmen; sein Unrecht bestand nur darin, ihre
Verschiedenheit vom Ich als Gegensatz zum Geiste überhaupt zu
deuten. Und ebenso hatte Berkeley Recht, eine solche vom Geisti-
gen wesentlich verschiedene Realität zu leugnen; er hätte nur nicht
alles nichtichliche Sein für nichts als blosse Vorstellung des Ich halten
sollen. Alle Realität beruht auf der Thätigkeit des Denkens; allein
nicht alles Denken ist bewusstes Denken. Alles reale Sein reicht so
weit, wie das Gebiet der individuellen denkenden Substanzen; allein
das letztere reicht weiter als das Gebiet der Ichsubstanzen. Hatte
Descartes den Tieren das Denken abgesprochen, so hatte er inso-
fern Recht, als ihnen allerdings ein bewusstes Denken, ein Ich nicht
zukommt. Allein dies kann nicht heissen, dass die Tiere überhaupt
nicht denken und dass ihnen jede Art von seelischer Innerlichkeit
abgeht. Wenn die Gleichsetzung des Denkens und Bewusstseins
eingesehen und damit ein Denken auch ausserhalb der Iche aner-
kannt ist, dann enthüllt sich auch das bisher für körperlich ge-
haltene Sein als ein abgestuftes Reich von denkenden Sub-
stanzen, und an die Stelle toter ausgedehnter Körper ohne andere
als bloss räumliche Unterschiede tritt eine Welt von seelischen Wesen
oder Monaden, die auf der untersten Stufe, als Atomseelen, nicht
weniger real sind als auf der höchsten Stufe als Geister.
Bedenkt man, wie Leibniz die individuelle Natur seiner Realen
doch nur aus ihrem Umschlossensein von der Form des Bewusstseins
abgeleitet hat, so scheint es ein Widerspruch zu sein, auch die
Träger der unbewussten Vorstellungen als solche für individuell zu
halten. Wenn etwas, so deutet dieser Widerspruch darauf hin, dass
Leibniz den Unterschied der unbewussten von den bewussten Vor-
stellungen im Grunde wohl nur als einen quantitativen aufgefasst
hat und dass die „petites perceptions", worauf auch seine dafür gege-
benen Beispiele zielen , bei ihm in der Regel nur einen niederen
Grad des Bewusstseins bedeuteten. Damit soll indessen nicht ge-
leugnet werden, dass bei ihm nicht zeitweilig jener Begriff auch die
Bedeutung annimmt, als handle es sich um einen qualitativen Unter-
Drews. f\
34 ^^ ^^^ ^8 metaphysischeB Prinzip.
schied des ünbewussten vom Bewussten und bezeichne derselbe das
blosse ideelle Enthaltensein der Vielheit in der Einheit. Jedenfalls
steht diese Verwendung des Begriffs der ünbewussten Vorstellung
nicht im Einklang mit der Grundvoraussetzung des leibnizschen
Systems und braucht daher hier nicht weiter erörtert zu werden.
Das aber müssen wir als Resultat feststellen, dass Leibniz mit
seinem monado logischen Spiritualismus den Dualismus des
Descartes ganz ebenso überwunden hat, wie den phänomenalistischen
Spiritualismus des Berkeley. Jener Standpunkt kennt kein zwie-
faches reales Sein, ein körperliches und ein seelisches, sondern alle
Realität ist nach ihm eine seelische. Er kennt aber auch kein bloss
bewusst-seelisches, ichliches Sein, sondern ausser den bewussten Seelen
oder Geistern (Ichen) nimmt er auch noch eine Welt von andern
denkenden Substanzen an. Geister und Körper sind hiernach weder
reale Gegensätze, noch Gegensätze von verschiedener Art des Seins,
sondern nichts als verschiedene reale Abstufungen, die einer und der-
selben Monaden weit angehören.
Nach Descartes und Berkeley hatte der Körper, als dem aktiven
Geist entgegengesetzt, ein passives Sein, nur dass er nach jenem zu-
gleich ein Reales war und ausserhalb des Geistes existierte, wohingegen
er nach diesem ein Ideelles war und seine Vorstellung dem aktiven
Geiste von Gott eingepflanzt wurde. Wenn nun der Gegensatz von Geist
und Körper aufgehoben und auch der Körper für ein Aggregat von
seelischen Substanzen oder Monaden erklärt ist, so kann auch jener
Gegensatz von Aktivität und Passivität nicht mehr ein absoluter
sein, sondern die Passivität des Körpers kann nur darin beruhen,
dass die Aktivität der Körpermonade eine geringere als diejenige der
Geistmonade ist. Nicht der Körper also ist passiv, sondern die
Thätigkeit, welche die Natur der Körpermonade bedingt, ist eine
irgendwie eingeschränkte, und die niederen Stufen der Monaden unter-
scheiden sich nur dadurch von den höheren, dass in ihnen das Ver-
hältnis der Aktivität zur Passivität als solches ein verschiedenes ist.
Nun heisst aktiv sein für die Monade nichts Anderes als vor-
stellen. Die Grade der Aktivität sind folglich Grade des Vorstellens,
d. h. Unterschiede der Klarheit und Deutlichkeit, die den Vorstellungen
zukommt. Zugleich aber sind sie auch Grade der Realität, weil real
sein nichts Anderes heissen soll als thätig sein. Unter allen bekannten
Vorstellungen ist aber diejenige des Ich die klarste und deutlichste,
denn nur in ihr fällt das Sein unmittelbar mit dem Denken zu-
sammen und wird daher völlig und erschöpfend von uns erkannt.
Insoweit wir demnach unser Ich oder unsere eigenen seelischen Zu-
Der monadologische Spiritualismus: Leibniz. 35
stände vorstellen, insoweit sind wir reine Thätigkeit und zugleich
realste Realität. Allein schon der Inhalt unseres Bewusstseins reicht
weiter als das Selbstbewusstsein und umschliesst ausser den Vor-
stellungen, die wir von uns selbst besitzen, auch diejenige einer
Aussenwelt. Diese letztere Vorstellung ist sonach weder klar, noch deut-
lich und kann daher auch nicht auf reiner Thätigkeit, sondern nur
auf einer Hemmung dieser Thätigkeit, d. h. auf Leiden, beruhen. In der
gleichen Weise können wir nun schliessen, dass auch in allen übrigen
Monaden ein Leiden neben der Thätigkeit, eine unklare oder ver-
worrene Vorstellung neben der klaren und deutlichen besteht, und
solche verworrenen Vorstellungen sind es, die sich in unserem Be-
wusstsein in der Gestalt der Materie widerspiegeln. So wird denn
das Leiden der Monade von Leibniz geradezu als die materia prima,
die Vorstellung der Materie dagegen oder die Erscheinung der körper-
lichen Masse als die materia secunda bezeichnet. Die materia prima
ist die Ursache, dass wir neben der klaren und deutlichen Vor-
stellung von uns selbst auch die unklare und verworrene Vor-
stellung der materia secunda haben; diese letztere aber ist die
Wirkung, die aus der Verworrenheit unserer Vorstellungen her-
vorgeht. Beide Arten von Materien aber haben ihren Ursprung in
den Monaden selbst und weisen somit nicht auf ein Reales, dessen
Wesen sich nicht völlig in demjenigen der Monadenwelt erschöpfte.
Je weiter sich die Vorstellungen einer Monade von der Vor-
stellung des Ich entfernen, je unklarer und verworrener sie erscheinen,
je mehr also in der Monade die Passivität ihres Vorstellens die Ak-
tivität desselben überwiegt, desto grösser ist in ihr auch das Ueber-
gewicht der materiellen Paktoren über die geistigen, desto niedriger
ist der Grad ihres Bewusstseins und ihrer Realität, desto tiefer steht
die Monade in der Stufenreihe der realen Wesen. Die reine Körper-
monade oder Atomseele müssen wir uns folglich als eine solche
denken, wo die Aktivität einen möglichst geringen Grad besitzt und
die Tiefe ihres Bewusstseins dem reinen Unbewusstsein gleichkommt.
Gott dagegen besitzt nur klare und deutliche Vorstellungen und mit-
hin gar kein Bewusstsein eines von ihm verschiedenen materiellen
Seins. £r ist das absolute Bewusstsein, das reine Ich, die absolut
thätige Monade, actus purus ohne alle Potentialität und sonach zu-
gleich das allerrealste Wesen. Zu ihm, als der reinsten Aktivität,
steigt von der reinsten Passivität der Körpermonade die ganze übrige
Monadenwelt in kontinuierlicher Stufenfolge empor. Die Unterschiede
zwischen den einzelnen Stufen der Monaden aber sind so mannig-
faltig, wie die Unterschiede in dem Klarheitsgrade ihrer Vorstellungen.
36 - I^fts Ich als metaphysisches Priimp.
Weil jede Monade ein selbständiges, substantielles Wesen ist,
so ist sie auch lediglich mit sich selbst beschäftigt. Sie hat keine
Fenster, durch die etwas von aussen in sie hineinkommen, oder wo-
durch sie nach aussen etwas abgeben könnte. Es besteht keine Wir-
kung der verschiedenen Monaden auf einander, kein sogenannter
influxus physicus, sondern alles, was in der Monade vorgeht, das hat
sie spontan aus ihrer eigenen Natur heraus geschaffen. Besitzt daher
auch nur eine einzige Monade eine Vorstellung des Universums, so
müssen alle eine solche besitzen, weil sonst die gegenseitige Ueber-
einstimmung ihrer Vorstellungen nicht erklärlich wäre. Alle Monaden
tragen der Potenz nach die Vorstellung des ganzen Universums in sich, sie
stellen dasselbe nur, eine jede von ihrem besonderen Standpunkt aus,
verschieden mit verschiedenen Graden der Klarheit vor. Und zwar
stellen sie die übrigen Monaden um so klarer vor, in je engerer Be-
ziehung sie zu ihnen stehen, also z. B. den eigenen Leib klarer als
die Leiber fremder Geister. Jede Monade also ist ein lebendiger
Spiegel des Universums. Wer daher den Vorstellungsinhalt einer
einzigen von ihnen vollständig zu erkennen vermöchte, der würde in
ihr das ganze All erkennen. Sie selbst jedoch erkennt nur, was sie
klar und deutlich vorstellt. Versteht man unter Perception die Vor-
stellung überhaupt, unter Apperception die Vorstellung, sofern sie ins
unmittelbare Bewusstsein aufgenommen ist, so kann man demnach
sagen, dass alle Monaden die gleichen Perceptionen haben und dass
sie sich nur dadurch unterscheiden, wieviel sie von jenen auch apper-
cipieren und welchen Grad von Klarheit hierbei ihre Vorstellungen
besitzen. Die Entwickelung der Monaden besteht sonach darin, dass
immer mehr Vorstellungen aus dem Zustande der blossen Perception
in denjenigen der Apperception versetzt oder aus dem Unbewusstsein
und der Verworrenheit ans Licht des Bewusstseins gezogen und zur
Klarheit gebracht werden. Dies alles jedoch bleibt ein ideeller Vor-
gang rein innerhalb der einzelnen Monaden.
Wie soll man sich nun unter diesen Voraussetzungen das Ver-
hältnis von Seele und Leib vorstellen?
Wenn bei der substantiellen Beschaffenheit der Monaden weder
eine Wechselwirkung dieser letzteren unter einander , noch eine Ein-
wirkung Gottes auf sie stattfinden kann, dann müssen sie von An-
fang an so eingerichtet sein, dass jedem Vorgang in der einen ein
entsprechender Vorgang in den ander-en zur Seite geht. Obwohl
also jede einzelne Monade nur den immanenten Gesetzen ihrer eigenen
Vorstellungsthätigkeit gehorcht, so herrscht doch im Ganzen eine so
genaue Uebereinstimmung unter ihnen, als ob eine gegenseitige Be-
Der monadologische Spiiitualismus: Leibniz. 37
einflussung zwischen ihBcn stattfände. Dies ist die Hypothese der vor-
herbestimmten oder prästabilierten Harmonie, die Leibniz an
dem bekannten Beispiel von zwei völlig gleichgehenden Uhren erläutert
hat. Wenn ich hiemach den Willen habe, meinen Arm zu heben,
genauer, wenn ich die Vorstellung dieses Willens habe, so findet
gleichzeitig der gewollte Vorgang auf Seiten der Körpermonaden, die
meinen Arm bilden, statt. Und wenn die Monaden meines Leibes
eine Störung erleiden, so erhalte ich zugleich die entsprechende Em-
pfindung eines Schmerzes. Da nun aber alle Vorgänge nur Vor-
stellungen der Monaden sind, von einer Störung und Bewegung der
Monaden, streng genommen, also nicht die Rede sein kann, so kann
ich folglich auch sagen, dass die Körpermonaden meines Armes, resp.
Leibes, in demselben Augenblick die Vorstellung einer Bewegung,
resp. einer Störung, haben, wo ich die Vorstellung habe, meinen Arm
bewegen zu wollen, oder wo ich die Empfindung eines äusseren Ein-
griffs in den normalen Zustand meines Leibes habe.
Vor den occasionalistischen Theorien des Geulincx und Ber-
keleys, die auch die alltäglichsten Vorgänge zu reinen Wundem
machten, hat diese Annahme offenbar den Vorzug der grösseren Ein-
fachheit voraus. Die substantielle Natur der Monaden wird durch
Ausschliessung aller äusseren Einwirkungen von Leibniz doch wenig-
stens im Weltprozesse gewahrt; und wenn man es ein Wunder
nennen will, dass die Vorstellungen der Monaden einander stets ent-
sprechen, obwohl zwischen ihnen keine reale Beziehung herrscht, so
hat es doch nur einmal, vor Beginn des Weltprozesses stattge-
funden, als Gott bei Erschaffung der Monaden das Uhrwerk der
prästabilierten Harmonie zuerst aufgezogen hat. Auch das ist ein
Fortschritt Leibnizens gegenüber Berkeley, dass dieser, um die
Wechselwirkung zwischen Seele und Körper zu erklären, den letz-
teren, wie im Grunde überhaupt alles nichtichliche Sein, für ein
bloss ideelles Sein innerhalb der Iche hatte erklären müssen, während
jener in seiner monadologischen Auffassung des realen Seins die
Möglichkeit erwiesen hat, auch die Realität des nichtichlichen Seins
als solche festzuhalten, ohne darum in den Dualismus zurückzu-
fallen. —
Alle Realität soll nach Leibniz auf der Thätigkeit des Vorstellens
beruhen. Nun giebt es aber, entsprechend dem Klarheitsgrade der
Vorstellungen, zugleich auch Grade der Thätigkeit. Da entsteht die
Präge, ob den Vorstellungen, die aus der Passivität, d. h. aus der
Hemmung jener Thätigkeit, entsprungen sind, dieselbe Realität zu-
kommt, vrie dem eigenen unmittelbaren Subjekt. Diese Frage hat
38 I^AB Ich als metaphysisches Prinzip.
Leibniz selbst yemeint, indem nach ihm die Abstufungen in der
Monadenreihe zugleich Abstufungen in dem Grade ihrer Bewusstheit
und Realität bedeuten und Gott, die höchste, absolut bewusste Mo-
nade, den höchsten Grad von Realität besitzen soll. Steht die Sache
aber so, dann erscheint auch jener ganze Fortschritt, den Leibniz über
Berkeley hinaus gemacht hat, illusorisch. Denn er kann alsdann die
Realität des ausserichlichen Seins wohl postulieren ; allein insbesondere
die Körperwelt, deren Monaden den geringsten Grad der Vorstellungs-
thätigkeit besitzen sollen, kann folglich nur als ideelles Sein, als
blosse Vorstellung innerhalb der Iche angesehen werden, und es giebt
nur eine Geisterwelt, die sich bloss noch durch ihre prästabilierte
Harmonie von derjenigen des Berkeley unterscheidet.
Wenn der Vorstellungsinhalt des gesamten Lebens schon von
Anfang an in den Tiefen meines Geistes schlummert und sonach
meine ganze Thätigkeit nur ein ununterbrochenes ins Bewusstsein
Heben oder Explizieren des implicite in mir von jeher Enthaltenen
ist, so besteht offenbar keine Nötigung, meine Vorstellungen eines
nichtichlichen Seins für mehr als blosse Vorstellungen anzusehen.
Ich kann sogar unter dem Begriffe des nichtichlichen Seins auch die
Realität von andern Ichen fassen und die ganze Aussenwelt über-
haupt für ideell erklären, da mir ausser meinem Ich kein reales Sein
gegeben und die Annahme eines solchen zur Erklärung meiner Vor-
stellungswelt nichts beiträgt. Die Realität der Aussenwelt kann auch
nicht dadurch verbürgt werden, dass mir Gott von Fall zu Fall die
Vorstellung einer solchen einpflanzt. Denn alsdann komme ich wieder-
um über das Vorstellungssein nicht hinaus und kann nicht wissen,
ob meinen Vorstellungen auch wirklich ein reales Sein entspricht.
Streng genommen, kann also auch Berkeley die Annahme einer
Mehrheit von Geistern nicht begründen, und wenn er nur die Körper
ausserhalb der Geister leugnet, weil ihre Annahme überflüssig sei,
so gilt ganz das Gleiche auch von den Geistern ausser mir, denn
auch die Vorstellung von ihnen muss ich von Gott unmittelbar em-
pfangen, ihr Vorgestelltwerden ist also unabhängig von ihrem Wirk-
lichsein.
Die Realität der Aussenwelt kann nur dadurch verbürgt werden,
dass sie direkt zu mir in Beziehung tritt und dass meine Vor-
stellungen von ihr als solche schon den Hinweis auf ihre Realität
enthalten. Meine Vorstellungen von ihr müssen Wirkungen der
realen Aussenwelt sein. Ich kann also von dieser keine Vorstellungen
haben, ohne solche Wirkungen zu empfangen, d. h. ich weiss vom
realen Sein nur durch Erfahrung, und nichts ist real, als was die
Der transcendentale (subjektive) Idealismus: Kant. , 39
Erfahrung mir bestätigt. Das eigene reale Ich zwar erkenne ich als
solches unmittelbar ; bei allem anderen Realen aber muss ich warten,
bis die Erfahrung an mich herankommt. Es giebt folglich bloss ein
aposteriorisches, kein apriorisches Wissen vom Realen. Es giebt keine
reale Erkenntnis aus reiner Vernunft und sonach auch keine apo-
diktisch gewisse Erkenntnis. Es ist eine vergebliche Hoffnung, auf
rein logischem Wege, also etwa mittelst des Prinzips der Klarheit
und Deutlichkeit unserer Vorstellungen, zur Gewissheit über die
Seinsart ihres Inhaltes zu gelangen. Ist aber dies der Fall, dann
stürzt das ganze Fundament, worauf Descartes die Philosophie er-
richtet hat, zusammen, denn dieser ging ja gerade darauf aus, die
Möglichkeit einer apodiktischen Erkenntnis des realen Seins oder
einer realen Erkenntnis von apodiktischer Gewissheit zu begründen.
c) Der transcendentale (subjektive) Idealismus: Kant.
Zwei Triebfedern haben den Charakter der kantischen Philo-
sophie bestimmt: auf der einen Seite der Wunsch, die Realität der
Aussenwelt gegenüber dem Phänomenalismus festzustellen, auf der
anderen Seite das Bestreben, die Annahme des influxus physicus,
wodurch allein jene Realität verbürgt wird, mit dem apriorischen
und apodiktischen Charakter der philosophischen Erkenntnis zu ver-
einen. Der erstere war in Kant infolge seiner Eigenschaft als Natur-
forscher hervorgerufen, weil die Naturwissenschaft eine reale Be-
deutung des Begriffs Natur voraussetzt, und fand seinen Ausdruck
in den empiristischen Bestandteilen der kantischen Philosophie. Das
andere entsprang aus seiner Eigenschaft als Metaphysiker, weil nach
der Ansicht jener Zeit nur eine apodiktisch gewisse Erkenntnis den
Namen einer philosophischen verdiente, und gelangte in den rationa-
listischen Bestandteilen seiner Philosophie zum Ausdruck. Beide
Triebfedern zusammen veranlassten ihn, die berühmte Fragestellung
seiner Vernunftkritik dahin zu formaliren: „Wie sind synthetische
Urteile a priori möglich?'* Denn diese Frage läuft einfach auf die ver-
ständlichere hinaus, wie es eine apodiktische Erkenntnis vom realen
Sein, d. h. eine metaphysische Erkenntnis, geben kann, wenn dieses
Sein uns nicht unmittelbar, sondern nur aus seinen Wirkungen be-
kannt ist.
Der influxus physicus zwingt dazu, mit dem Begriffe der Passi-
vität des Geistes Ernst zu machen und die letztere nicht mehr, wie
es Leibniz gethan hatte, als einen geringeren Grad von Aktivität, son-
dern als ein wirkliches Leiden der Monade aufzufassen, worin sie
durch eine Affektion von aussen versetzt wird. In diesem Falle
40 . Das Ich als metaphysisches Prinzip.
ist das Produkt der Passivität, die Gesamtheit der sinnlichen Em-
pfindungen oder die Materie, wie Leibniz sie bezeichnet hatte, auch
nicht mehr eine blosse „verworrene Vorstellung", die folglich aus
dem Innern der Monade abgeleitet werden könnte, sondern das Ma-
terial der sinnlichen Empfindungen ist ein ihr von aussen Gege-
benes und Aufgedrängtes, an dessen Entstehung sie sich selbst nicht
beteiligt weiss und wovon sie daher auch nur eine aposteriorische
Erkenntnis haben kann. Gleichzeitig ist aber auch die Aktivität der
Monade nicht mehr eine freie in dem Sinne, dass sie imstande
wäre, aus sich selbst heraus ohne Rücksicht auf die sinnlichen Em-
pfindungen Erkenntnis des Realen zu erzeugen, sondern sie ist, als
die Thätigkeit derselben Monade, worin auch jene Passivität gesetzt
ist, an die letztere gebunden und auf sie angewiesen. Mit andern
Worten: die reine Denkthätigkeit des „Verstandes", obschon sie als
solche ihrem Inhalte nach a priori zu erkennen ist, kann sich den-
noch nur auf die sinnlichen Empfindungen beziehen, wofern es eine
Erkenntnis des Realen geben soll.
Es giebt also nicht, wie Leibniz angenommen hatte, eine
doppelte Erkenntnis des realen Seins, eine sinnliche und eine Ver-
standeserkenntnis, wovon sich die eine aus der Passivität, die andere
aus der Aktivität des Geistes herschreibt, sondern eine jede reale
Erkenntnis ist aktiv und passiv zugleich und beruht auf dem
unmittelbaren Ineinandergreifen spontaner und refiektierter Thätigkeiten.
Verstand und Sinnlichkeit unterscheiden sich auch nicht bloss quan-
titativ durch den verschiedenen Grad ihrer Thätigkeiten von ein-
ander, sondern beide sind spezifisch verschieden, weil Aktivität
und Passivität einander entgegengesetzt sind. Der Verstand mit
seiner Thätigkeit des reinen, d. h. empfindungslosen, Denkens ist
des Vermögen der Begriffe, sofern die reinen Verstandesbegriffe
oder Kategorien den Inhalt jenes Denkens bilden. Die Sinnlichkeit
mit ihrer passiven Empfänglichkeit für Einwirkungen von aussen ist
das Vermögen der Empfindungen, die an und für sich noch
gar keinen begrifflichen Charakter haben. Jener Gegensatz zwischen
den beiden Vermögen kommt aber auch darin zum Ausdruck, dass,
ebenso wie dem aktiven Verstände die passive Sinnlichkeit entgegen-
steht, so innerhalb der Sinnlichkeit die Passivität der reinen Em-
pfindungen durch die Aktivität der reinen Anschauungs formen
von Raum und Zeit paralysiert wird. Das an sich chaotische
Material der sinnlichen Empfindungen, wie es unmittelbar
dem Geiste von aussen gegeben wird, muss erst in jene beiden
Formen eingeordnet und damit zu Anschauungen umgewandelt
Der transcendentale (subjektive) Idealismus: Kant. 41
werden, bevor es zur weiteren Verarbeitung der Thätigkeit des Ver-
standes überliefert werden kann. Diese Verarbeitung aber besteht
darin, dass, ebenso wie die Sinnlichkeit die Empfindungen in die
Formen der Anschauung einordnet, so auch der Verstand seine reinen
Begriffe auf die Anschauungen als solche in Anwendung bringt. An-
schauungen ohne Begriffe sind blind. Begriffe ohne Anschauungen
sind leer. Erst Anschauungen und Begriffe zusammen ergeben eine
wirkliche Erkenntnis, sie stellen, als Produkt eines komplizierten In-
einanderwirkens von Spontaneität und Reflexion, jene geordnete Welt
von Dingen vor uns hin, die wir in ihrer Unmittelbarkeit gewöhnlich
als Erfahrung bezeichnen.
So übt also der Geist in seiner Spontaneität eine formierende
Thätigkeit auf die Mannigfaltigkeit der sinnlichen Empfindungen aus,
indem er sie in Baum, Zeit und Kategorien einordnet. Alle diese
Formen liegen a priori in ihm bereit, wie die Gesamtheit ihrer
Vorstellungen nach Leibniz in der Monade schlummern sollte, und
treten erst bei Gelegenheit der Erfahrung in Wirksamkeit, d. h.
wenn der Geist von aussen affiziert wird. Indem sie aber alsdann
den sinnlichen Empfindungen die Form als ein Moment hinzufügen,
was in jenen unmittelbar nicht enthalten ist und was eben nur aus
dem Geiste selbst hervorgeht, so setzen sie damit unsere gesamte
Vorstellungswelt zur blossen Erscheinungswelt herab und machen,
dass wir es in aller unserer Erkenntnis nie mit dem realen Sein als
solchen, sondern immer nur mit unsem subjektiven Vorstellungen
desselben zu thun haben.
Versteht man unter dem realen Sein das transcendente Jenseits
des Bewusstseins oder die Aussenwelt im Sinne einer Welt von
„Dingen an sich", wie sie unmittelbar die sinnlichen Empfindungen
in uns hervorruft, so giebt es offenbar von dieser keine apodiktische
Erkenntnis, weil es von ihr überhaupt keine Erkenntnis giebt. Es
giebt folglich auch keine Metaphysik, als apodiktische Wissenschaft
vom Ding an sich. Apodiktisch gewiss ist, wie wir gesehen haben,
nur diejenige Erkenntnis, bei welcher das Bewusstsein und sein
Gegenstand zusammenfallen. Was also die Dinge an sich betrifft, so
ist sogar ihre Realität nicht einmal sicher, denn diese befindet sich
jenseits des Bewusstseins oder ist eine transcendente Realität; meine
Erkenntnis jedoch ist eine bloss immanente und reicht über die Sphäre
des Bewusstseins nicht hinaus. Wohl aber kann ich an der immanenten
Realität der wahrgenommenen Erscheinungswelt, an der sogenannten
„empirischen Realität" der letzteren nicht zweifeln, weil diese
ja nur die Realität meines eigenen Bewusstseins darstellt. Allein
42 ^fts Icli aIb metuphysisches Prinzip.
auch von dieser giebt es keine apodiktische Erkenntnis, sofern was
an ihr Empfindung ist, uns, wie wir gezeigt haben, ja nur von aussen
gegeben und folglich auch nicht a priori erkennbar ist. Nun sahen
wir aber gleichzeitig, dass die ganze Fülle des Formalen der Er-
scheinung, die Anschauungsformen, Begriffe und die aus ihnen ge-
bildeten Grundsätze vor aller Erfahrung in unserem Geiste liegen.
Demnach müssen sie auch a priori von uns erkannt werden können.
Insofern also die objektiven Gesetze der Erscheinungswelt nichts
Anderes als die subjektiven Bedingungen des Daseins jener Welt in
unserem Bewusstsein und durch die Spontaneität des eigenen Geistes
in den passiven Empfindungsstoff gleichsam hineingewebt sind, in-
sofern muss es eine apodiktische Erkenntnis der empirischen Realität
im dargelegten Sinne geben, insofern giebt es folglich auch eine
Metaphysik, und zwar als apodiktische Wissenschaft der apriorischen
Bedingungen des immanent Bealen.
Das ist der Standpunkt des transcendentalen Idealismus, so
genannt, weil er den Begriff der Realität, soweit sie erkennbar sein
soll, auf den ideellen Inhalt des Bewusstseins einschränkt, und weil
ihm die objektiven Gesetze dieser Realität mit den apriorischen Be-
dingungen der letzteren im Bewusstsein zusammenfallen. Obschon
also diese Gesetze an sich bloss immanent sind, so werden sie trotz-
dem so angesehen, als ob sie eine transcendente Bedeutung hätten,
oder sie werden auf ein transcendentes Sein bezogen, und dies ist
es, was in dem Worte „transcendental" ausgedrückt ist. Es ist klar,
dass wir auch hierin nur eine besondere Form des Spiritualismus,
und zwar eine solche vor uns haben, die eine nähere Verwandtschaft
mit der monadologischen Gestalt desselben aufweist. Der kantische
Idealismus ist wesentlich nichts Anderes als eine Umbildung der
leibniz sehen Monadologie, wie diese sich unter der Voraussetzung
gestalten musste, dass der Begriff der Passivität nicht im rationali-
stischen Sinne einer verminderten Aktivität, sondern im empiristischen
Sinne eines wirklichen Leidens gedeutet wurde. Daher beruht denn
auch im Kritizismus, ganz ebenso wie bei den vorangegangenen
Philosophen, die apodiktische Gewissheit des realen Seins letzten
Endes bloss auf der ungeprüften und daher dogmatischen Voraus-
setzung der unmittelbaren Realität des eigenen Bewusst-
seins: ich erkenne die Gesetze der Erscheinungswelt (des immanent
realen Seins) als solche a priori und darum mit apodiktischer Gewiss-
heit, weil diese auf der reinen Aktivität des Ich beruhen, die letztere
mir aber unmittelbar bekannt ist. Mein Bewusstsein von den
apriorischen Funktionen meines Geistes ist selbst ein
Der transcendentale (subjektive) Idealismiis : Kant. 43
apriorisches Bewusstsein, d. h. es fällt mit jenen apriorischen
Funktionen zusammen, weil der reale Grund oder das metaphy-
sische Subjekt jener Funktionen nichts Anderes als mein Ich-
bewusstsein ist.
In der „transcendentalen Deduktion der reinen Verstandes-
begriffe", jenem Abschnitte der Vernunftkritik, der, wie kein anderer,
wegen seiner Dunkelheit berüchtigt ist, sucht Kant daher den Nach-
weis zu liefern, dass zur Möglichkeit einer realen Erkenntnis nicht
bloss das Mannigfaltige des sinnlichen Empfindungsstoffes, auch nicht
bloss die Einordung dieses Mannigfaltigen in die Formen der An-
schauung und die Verknüpfung der Anschauungen durch die Kategorien
gehört. Eine solche Verknüpfung oder Synthesis ist vielmehr gamicht
möglich ohne reale Einheit, die aller Synthesis vorhergeht und die,
als Substrat der apriorischen Funktionen unseres Geistes, sich gleich-
zeitig als das Subjekt der verknüpfenden Thätigkeit erweist. Diese
letzte und höchste Bedingung des ganzen Erkenntnisprozesses ist aber
nichts Anderes als die Einheit des Bewusstseins, das „Ich denke,
das alle meine Vorstellungen muss begleiten können", wofern sie zu
meinem Bewusstsein gehören sollen. „Nur dadurch, dass ich ein
Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewusstsein ver-
binden kann, ist es möglich, dass ich mir die Identität des Bewusst-
seins in diesen Vorstellungen selbst vorstellet" Mit andern Worten:
mein Bewusstsein jener Einheit ist unmittelbar die Einheit selbst,
wodurch in meinem Bewusstsein die Vorstellungen verbunden werden.
„Das ursprüngliche und notwendige Bewusstsein der Identität seiner
selbst ist also zugleich ein Bewusstsein einer ebenso notwendigen
Einheit dfer Synthesis aller Erscheinungen nach Begriffen^." „Ich
bin mir des identischen Selbst bewusst in Ansehung des Mannig-
faltigen der mir in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen, weil
sie insgesamt meine Vorstellungen sind, die eine ausmachen. Das
ist aber soviel, als dass ich mir einer ursprünglichen Synthesis
derselben a priori bewusst bin, welche die ursprüngliche syn-
thetische Einheit der Apperception heisst, unter der alle
mir gegebenen Vorstellungen stehen, aber unter die sie auch durch
eine Synthesis gebracht werden müssen^."
So läuft denn die ganze „transcendentale Deduktion der reinen
Verstandesbegriffe" auf nichts Anderes hinaus, als was wir schon
früher hervorgehoben haben, dass nämlich die Thätigkeit des Denkens
^ Kants Werke, hrsg. v. Hartenstein. III. S. 116.
« Ebenda S. 572.
» Ebenda S. 117.
I
i
44 Daa Ich als metaphysisches Prinzip.
ein reales. Substrat voraussetzt und dass ich im Ich, d. h. im eigenen
Bewusstsein, das reale Substrat als solches unmittelbar erfasse. Ein
derartiges Zusammenfallen von Denken und Sein im Ich hatte auch
schon dem Rationalismus des Descartes zu Grunde gelegen. Aber
während Descartes diesen wahren Grund, der ihm seine apriorischen
Konstruktionen ermöglicht hatte, verkannt und statt dessen die Klar-
heit und Deutlichkeit der Vorstellungen zum Kriterium der Erkenntnis
erhoben hatte, so ist es Kants Verdienst, auf das richtige Prinzip
zurückgegriffen, die Identität des Seins und des Bewusstseins als das
wahre Fundament einer apriorischen Erkenntnisweise aufgestellt und
damit den Rationalismus neu begründet zu haben.
Kant weiss nun zwar recht gut, dass jenes apriorische Bewusst-
sein, durch dessen apriorische Thätigkeit im Verein mit dem a po-
steriori gegebenen Empfindungsstoffe die Erfahrung erst zustande
kommt, er weiss recht gut, dass jenes Bewusstsein nicht mit dem
unmittelbaren empirischen Bewusstsein verwechselt werden darf, weil
dieses ja selbst mit zur Erfahrung gehört. Die synthetische Einheit
der Apperception ist nicht die subjektive Einheit des Bewusstseins,
welche die empirisch gegebenen Inhalte meines Vorstellungslebens
oder die psychologischen Bestandteile der Erfahrungswelt verbindet.
Sie ist vielmehr eine objektive Einheit des Bewusstseins, keine
empirische, mit Empfindungsstoff durchwebte , sondern eine reine oder
transcendentale Apperception, indem sie ja selbst erst den Grund
alles Empirischen enthält. Das Ich, worin ich diesen Grund meiner
gesamten Vorstellungswelt erkenne, ist daher auch nicht das empi-
rische Ich, worauf ich bloss die psychologischen Inhalte der Erfahrung
beziehe, sondern es ist das reine oder transcendentale Ich,
worauf die gesamte Erfahrung überhaupt bezogen werden muss. Trotz-
dem glaubt Kant, vom Empirischen aus unmittelbar zu diesem Grunde
alles Empirischen hinabsteigen zu können, und betont er, dass die
blosse Vorstellung Ich in Beziehung auf alle anderen (deren
kollektive Einheit sie möglich macht), das transcendentale Be-
wusstsein sei^. Fassen wir hiernach die Ansicht Kants noch einmal
kurz zusammen, so können wir also sagen: a priori und daher mit
apodiktischer Gewissheit wird ein Sein nur erkannt, sofern seine Er-
kenntnis eine unmittelbare (nicht durch Zwischenglieder ver-
mittelte) ist; unmittelbar aber erkenne ich nur mein eigenes Bewusst-
sein. Nun sind mir aber, was den Inhalt dieses Bewusstseins anbe-
^ Ebenda S. 577 f. Vgl. hierzu mein "Werk „Kants Naturphilosophie als
Grundlage seines Systems", S. 227—238, 477—483.
Der transcendentale (subjektive) IdeaÜBinus: Kant. 45
trifft, die Empfindungen von aussen gegeben, können folglich auch
nicht unmittelbar erkannt werden. Die Formen jedoch, in welche
diese Empfindungen eingeordnet werden müssen, damit eine wirkliche
Erkenntnis zustande kommt, die erkenne ich unmittelbar, weil sie
zu den angestammten Momenten meines Bewusstseins selbst gehören.
Synthetische Urteile a priori sind also inöglich, weil jene a priori
erkannten Formen sich auf den Inhalt der Empfindungen beziehen,
die einem Urteile seinen synthetischen Charakter verleihen.
Die Aktivität des Geistes, welche die Vorstellungen hervorbringt,
ist nichts Anderes als die Aktivität des Bewusstseins. Mag daher
das Wesen des Geistes (das transcendentale Ich) immerhin tiefer
reichen als das empirische Bewusstsein, wie es durch die Einschrän-
kung jener Aktivität durch das Ding an sich bedingt ist: es ist doch
unmöglich, über die Grenzen des Bewusstseins selbst hinauszukommen.
Wenn der Geist in der Erkenntnis des realen Seins auf das Zu-
sammenwirken von Aktivität und Passivität, Verstand und Sinnlich-
keit angewiesen ist, so mag die Vernunft, die reine Aktivität für
sich allein, wie sie abgesehen von ihrem Verhältnis zur Sinnlichkeit
ist, immerhin von transcendenten Dingen reden: ihre „Ideen" be-
ziehen sich nicht auf ein wirkliches Sein, eine Realität im transcen-
denten Sinne, sondern ebenfalls nur auf ein Bewusst-Sein , nur dass
es nicht das ideelle Sein des bloss empirischen Bewusstseins, sondern
dasjenige des transcendentalen Bewusstseins ist. Verstand und Sinn-
lichkeit beziehen sich nur auf das relative oder endliche Sein der
Erfahrungswelt, weil beide nur in gegenseitiger Beschränkung funktio-
nieren. Die Vernunft dagegen in ihrer Freiheit von der Sinnlichkeit
bezieht sich eben deshalb auf das absolute Sein der übersinnlichen,
transcendenten Welt; sie vermag indessen keine wirkliche Erkenntnis
dieses Seins zu liefern, weil sie selbst auch nur die Thätigkeit
eines Bewusstseins ist. Die Vernunft geht ins Unendliche hin-
aus, weil ihre Thätigkeit nicht von aussen eingeschränkt ist. Allein
eben darum haben ihre Ideen auch keine konstitutive, sondern
bloss eine regulative Bedeutung, d. h. sie drücken zwar den Inhalt
eines Seienden aus, ohne dessen Realität als solche verbürgen zu
können. —
Nun gehört auch die Kategorie der Kausalität zu den apriorischen
Funktionen unseres Geistes. Wenn aber alle apriorischen Intellektual-
funktionen bloss Funktionen des Bewusstseins sind und folglich über
die Sphäre des Bewusstseins nicht hinausreichen und wenn auch die
Kausalität nur dazu dienen soll, den rohen Empfindungsstofi' zu ord-
nen, wie kann mir diese Materie von aussen gegeben, wie kann sie
46 I^&8 Ich als metaphysisches Prinzip.
die Wirkung der transcendenten Aussenwelt auf mein Bewusstsein
und dadurch für mich Beweis ihrer realen Existenz sein?
Kant ist davon ausgegangen, die Passivität des Geistes als ein
wirkliches Leiden, als Afifektion von aussen anzusehen; und er endet
mit dem Eingeständnis, dass es eine solche AfTektion überhaupt nicht
geben könne, weil die Kausalität nur innerhalb des Bewusstseins
Geltung hat. Kant sucht ursprünglich die eigentliche Bealität in der
Sphäre jenseits des Bewusstseins und glaubt sich ihrer dadurch ver-
gewissem zu können, dass er, was Inhalt des Bewusstseins ist, als
Wirkung oder ideelles Abbild des Realen ansieht; und er sieht
sich zu der Behauptung fortgedrängt, dass die wahre nur die imma-
nente Realität sein könne. Kant musste den Schwerpunkt des realen
Seins aus der Transcendenz in die Sphäre des Bewusstseins verlegen,
weil es nur unter dieser Voraussetzung von ihm eine apriorische,
auf der reinen Thätigkeit des Bewusstseins beruhende Erkenntnis
geben konnte. Allein eben damit verblasst die reale Welt der Mo-
naden zur Schattenwelt von unerkennbaren und zweifelhaften Dingen
an sich und tritt an die Stelle eines wirklich realen Seins das ideelle
Sein blosser subjektiver Vorstellungen.
So zeigt sich die Unmöglichkeit, auf dem spiritualistischen Stand-
punkte, den Kant einnimmt, die Realität der Aussenwelt mit dem
Nachweis der Möglichkeit ihrer apodiktischen Erkenntnis zu vereinen.
Der kantische transcendentale Idealismus enthüllt sich in erkenntnis-
theoretischer Beziehung am Ende als ein blosser subjektiver Idea-
lismus, der überhaupt keine Realität ausser derjenigen der bewussten
Subjekte anerkennt und alle unsere Erkenntnis auf Erscheinungen,
d. h. auf die unmittelbaren Inhalte unseres Bewusstseins, einschränkt.
Damit sind wir aber im Hinblick auf das Problem der Realität nicht
über den Standpunkt des Berkeley und L e ib n iz hinausgekommen,
und wenn schon diese, wie wir oben sahen, die Annahme von realen
Existenzen ausserhalb des Ich nicht begründen konnten , so ist Kant
hierzu erst recht nicht imstande. Denn die Gleichsetzung des realen
mit dem ideellen Sein der Erfahrung führt notwendig dazu , eine
reale Aussenwelt, als Welt von Dingen an sich, zu leugnen.
d) Der Solipsismus.
In der That ist der Solipsismus die nächste Konsequenz des
kantischen Idealismus, sobald man von dessen Prinzipien aus weiter
schliesst. Giebt es Dinge an sich, so ist es falsch, zu sagen, dass
die Kategorien der Realität, der Substantialität und Kausalität bloss
subjektive Geltung haben. Dann giebt es aber auch keine apriorische
Der Solipsismus. 47
Erkenntnis des Realen. Giebt es eine solche und gelten mithin die
Kategorien bloss für die Erfahrung, dann giebt es auch keine Dinge
an sich, und das Subjekt der Kategorien ist das einzige reale Wesen.
Wenn alles Sein ein bloss vorgestelltes des vorstellenden Bewusst-
seins ist, dann ist dies Bewusstsein die alleinige Realität, ich selbst
hin der Schöpfer dieser Welt und lasse sie sich- um das Centrum
meines Ich bewegen.
Die offenkundige Absurdität dieses Standpunktes hat verhindert,
dass derselbe in der theoretischen Spekulation einen ernsthaften Ver-
treter gefunden hat. Nur in der praktischen Philosophie und im
gemeinen Leben pflegt der Solipsismus eine gewisse, wenn auch meist
nur pathologische und sporadische Bedeutung zu behaupten, indem
sich St im er („Der Einzige und sein Eigentum") und in gewissem
Sinne auch der moderne Anarchismus auf seine Prinzipien berufen
können. Das hindert indessen nicht die Anerkennung, dass die Be-
hauptung der alleinigen Realität des Ich einen notwendigen Durch-
gangspunkt der hier entwickelten Gedankenreihe bildet und dass der
Spiritualismus alle Ursache hat, sich vorzusehen, um nicht schliesslich
mit dem Fahrzeuge seiner Spekulation auf die Sandbank der solipsi-
stischen Weltanschauung aufzulaufen.
8. Der reine Bewusstseinsidealisxnus.
Wenn der Umfang des Realen soweit eingeschränkt ist, dass nur
noch das eigene Ich als Realität anerkannt wird, so liegt die Frage
nahe, mit welchem Rechte überhaupt von einem realen Sein ge-
sprochen wird, und ob nicht am Ende auch die Sonderstellung des
Ich in Hinsicht auf das Problem der Realität sich als ein Schein
herausstellt.
Real sollte nach Kant nur diejenige Erkenntnis sein, worin das
Moment der Empfindung enthalten ist. Nun ist aber gerade in der
Erkenntnis des transcendentalen Ich durchaus nichts Empfindungsmässiges
enthalten. Von den aktiven und spontanen Funktionen unseres
Geistes hiess es, sie lieferten bloss die leere Form, von den passiven,
sie lieferten bloss den inhaltlichen Stoff zu einer realen Erkenntnis.
Die Erkenntnis des transcendentalen Ich beruht nur auf der Aktivi-
tät und Spontaneität des Geistes, und doch sollen in ihr Form und
Inhalt zusammenfallen, indem sie nur so als reale gelten kann. Aprio-
risch sollten nur die aktiven Funktionen unseres Geistes sein, sie
sollten eben deshalb aber auch bloss formale Geltung haben. Vom
transcendentalen Ich giebt es eine apriorische Erkenntnis, aber diese
soll als solche zugleich realer Natur sein. Die apriorische Erkennt-
48 ^&8 Icli Als metaphysisches Prinzip.
nis sollte bloss logisch sein. Das transcendentale Ich ist nicht nur
nicht bloss logisch, sondern es ist zugleich der Grund des Logischen
und des Realen. Bei jeder realen Erkenntnis sollten Sinnlichkeit
und Verstand zusammenwirken. Bei der Erkenntnis des transcen-
dentalen Ich dagegen ist weder die Sinnlichkeit, noch der Verstand,
als Vermögen der Kategorien, beteiligt, denn der apriorische Grund
unseres Geist liegt jenseits jener beiden Vermögen, die vielmehr erst
von ihm getragen werden ; und trotzdem soll hier von Erkenntnis ge-
sprochen werden? Alle Realität, die wir erkennen, soll bloss em-
pirisch, d. h. nur eine solche der Vorstellungen in unserem Bewusst-
sein, sein. Nur i|i diesem einen Falle sollen wir eine transcendente
Realität erkennen, ja, solle eine apriorische Erkenntnis jener empi-
rischen Realität überhaupt nur möglich sein, sofern wir die transcen-
dente Realität des transcendentalen Ich erkennen.
Man braucht sich diese Widersprüche nur klar zu machen, um
die Annahme der Realität des Ich selbst auf dem kantischen Stand-
punkt abzuweisen. Soweit das Ich von uns erkannt wird, insoweit
ist es mit Empfindungsstoff durchsetzt, unterscheidet es sich dem-
nach in nichts von allen übrigen Inhalten unseres Bewusstseins und
ist ein bloss empirisches Ich. Insoweit es dagegen ein mehr als
empirisches Ich, der reale Grund unseres Bewusstseinsinhalts ist, in-
soweit ist es ein transcendentes Ich und können wir es ebenso wenig,
wie die transcendente Aussenwelt der Dinge an sich, erkennen. Wenn
wir die Annahme einer transcendenten Welt verwerfen mussten, weil
die Realität überall nur eine immanente sein kann, dann müssen wir
ganz ebenso auch das transcendente Ich verwerfen und ist das ver-
meintliche „transcendentale" Ich, so genannt, weil wir von ihm eine
apriorische Erkenntnis haben sollen, nicht weniger eine Illusion
unserer dialektischen Vernunft, als alle unsere übrigen Vorstellungen
übersinnlicher Realitäten.
Mit anderen Worten: es giebt gar kein reales Sein, das nicht
mit dem empirischen Inhalte unseres Bewusstseins unmittelbar zu-
sammenfiele. Alles Sein ist wesentlich Bewusst-Sein, dies
Wort nicht in dem früher erwähnten doppelten Sinne genommen, wo-
nach es ausser dem Inhalt auch die Form des Bewusstseins bedeutet,
sondern so, dass es bloss auf den Bewusstseinsinhalt ankommt.
Hatten wir dort den Spiritualismus als Bewusstseinsrealismus be-
zeichnet, sofern er Inhalt und Form des Bewusstseins als Ideelles
und Reales unterscheidet, so haben wir es hier mit einem Bewusst -
Seinsidealismus zu thun, der jene Unterscheidung höchstens noch im
erkenntnistheoretischen, aber nicht mehr im metaphysischen Sinne gelten
Der reine Bewusstseinsidealismus. 49
lässt. Der reine Bewusstseinsidealismus ist der Bruch mit dem
Spiritualismus, indem sich auch die letzte noch übriggebliebene
Realität des Ich nach ihrer gänzlichen Vereinsamung im Solipsismus in
den Ocean des ideellen Seins hinabstürzt.
Auf diesem Standpunkte also giebt es kein Bewusstsein, das nicht
unmittelbar in und an seinen Vorstellungen existierte. Es giebt
keinen gemeinsamen Träger dieser Vorstellungen, keine substantielle
Monas, wovon sie zur Einheit zusammengehalten würden, kein Ich,
das beherrschend durch sie hindurchgriffe und sie nach seinen Zwecken
lenkte. Das Ich ist nur eine Vorstellung unter anderen, ein Glied
in jener Perlenschnur oder Kette von Vorstellungen , die nichts mit
einander gemein haben, als dass sie bewusster Art sind. Es ist ein
blosser Schein, dass es ein vom ideellen Sein verschiedenes Reales
giebt. Es giebt in Wahrheit nur ein Sein, das ideelle, und das von
uns so genannte ideelle und reale Sein sind blosse Momente innerhalb
des Ideellen. Das Verhältnis ist genau so, wie im Traume, wo die
Subjekte der Traumhandlungen nicht weniger bloss ideell sind, als
die Vorstellungen, die sie haben, und wonach sich ihre Handlungen
gestalten. Der Unterschied ist nur, dass, während die Vorstellungs-
welt des Traumes den Bewusstsetnsinhalt eines realen Träumers aus-
macht, die Traumwelt des Bewusstseinsidealismus sich gleichsam selber
träumt und unter ihren übrigen Traumgestalten gleichzeitig auch
immer die Fiktion eines vermeintlichen Träumers mitträumt.
Dass diese Ansicht auf metaphysischem Standpunkte bisher nicht
durchgeführt ist, begreift sich ebenso leicht, wie beim Solipsismus,
aber nicht, weil sie absurd ist, wie der letztere, sondern weil sie mit
ihrer Leugnung des realen Seins die Negation aller Metaphysik
überhaupt bedeutet. Es begreift sich aber auch, dass der reine Be-
wusstseinsidealismus gerade aus diesem Grunde von den Gegnern der
Metaphysik vielfach vertreten wird und Eingang bei denjenigen Er-
kenntnistheoretikem gefunden hat, die Anspruch darauf erheben, für
die echten Schüler Kants zu gelten (Schuppe, v. Schubert-
Soldern, V. Leclair, Albrecht Krause).
Trotzdem stellt auch der reine Bewusstseinsidealismus solange
noch nicht die letzte Konsequenz des transcendentalen Idealismus dar,
als noch in irgend welchem Sinne die Zeitlichkeit der Traumfunktion
anerkannt wird. Der Gipfel der kritischen Besonnenheit ist erst
dann erstiegen , wenn man damit Ernst macht , auch die Zeit mit
Kant für eine blosse Form der Anschauung anzusehen und wenn
man diese Form ganz ebenso im Inhalt des Bewusstseins untergehen
lässt, wie diejenige des Bewusstseins selbst und seiner Eigenschaften.
Drews. 4
60 ^M Ich ah metaphysisches Prinzip.
^Nun existiert der Traum nicht einmal mehr als Akt des Träu-
mens, nun besteht der Traum ohne Träumer nicht mehr wirklich,
nun träumt er bloss noch sein eigenes Dasein, nun wird es zum
Traum, dass ein Traum sich fortspinne. Der Schein scheint nicht
mehr in Wahrheit, er scheint bloss noch zu scheinen. Die absolute
Bealität, mit welcher das Gegebensein des Scheins als solchen uns
imponieren wollte, ist zerstreut; wir begreifen, dass es eine letzte,
unzerstörbare Illusion ist, an diese absolute Realität des Scheines zu
glauben; wir sehen ein, es sei illusorisch, zu meinen, der Schein
scheine, da er doch nur zu scheinen scheint, wir entdecken endlich
den Begriff des absoluten Scheins, welcher nicht einmal eine Wirk-
lichkeit seiner Funktion des Scheinens zulässt^.^
Damit hebt die Ansicht von der Realität des Ich, als der Form
unseres Bewusstseins , sich selber auf, und grinst uns am Ende aus
dem verdampfenden Nebel des realen Seins der Wahnsinn des abso-
luten Illusionismus entgegen, wie er etwa der Weltanschau-
ung des Buddhismus zu Grunde liegt. Wenn wir oben sagten, dass
der Ausgangspunkt des Dualismus zwischen Geist und Körper der
Gedankenentwickelung notwendig die Richtung zum Monismus weise,
so ist von der hier festgehaltenen Voraussetzung aus dieser Stand-
punkt im Solipsismus erklommen. Denn das Ich oder die Form des
Bewusstseins ist selbst die absolute Monas, die, als alleinige Sub-
stanz, den realen Träger aller übrigen Existenzen bildet. Indessen
die Substanz des Ich ist gleichsam nicht imstande, allein diese Fülle
des ausserichlichen Seins zu tragen. Der Widerspruch zwischen der
endlichen Form und der Unendlichkeit ihres Inhalts sprengt sie aus-
einander und setzt an die Stelle des realen Ich das Scheinich in der
Traumwelt blosser Vorstellungen. Das Ich, einmal als Substanz und
Realität gesetzt, zieht sonach eine der ausserichlichen Existenzen nach
der anderen in sich hinein, bis es schliesslich von dieser Vollheit
platzt und das gesamte reale Sein in eine Vielheit bloss ideeller
Atome auseinandersplittert. Damit ist zugleich eine neue Form des
Monismus erreicht, der reine Bewusstseinsidealismus, als die absolute
Einheit von Form und Inhalt des Bewusstseins. Aber dieser Monis-*
mus hat höchstens einen Sinn, solange man ihn bloss vom erkenntnis-
theoretischen Gesichtspunkt aus betrachtet. Metaphysisch dagegen ist
er die reductio ad absurdum der ganzen bisherigen Voraus-
setzung, dass die Form unseres Bewusstseins als solche real ist. Denn
^ E. y. Hartmann: Kritische Grundlegung des transcendentalen Realis-
mus. 3. Aufl. S. 47. Vgl. dessen Schrift „Das Grundproblem der Erkenntnis-
theorie" S. 57 ff.
Das Ich als absolute Sabstanz: Spinoza. 51
seine ideellen Realitäten müssen doch selbst substantiellen Wesens
sein. Wie aber bei dem gänzlichen Mangel einer durchgreifenden
Beziehung unter ihnen auch nur der Schein einer einheitlichen realen
Welt sollte entstehen können, das ist auf diesem Standpunkt nie-
mals einzusehen.
So bleibt nur übrig, jene Voraussetzung selbst fallen zu lassen, und
das Problem des Ich von einem neuen Gesichtspunkte aus anzufassen.
U. Das Ich als Bewasstseinsinhalt.
1. Das Ich. als absolute Substanz: Spinoza.
Descartes und der Spiritualismus hatten das Ich als die sub-
stantielle Bewusstseinsform bestimmt in dem Sinne, dass im realen
Ichgedanken unmittelbar auch die Bestimmung der Substanz ent-
halten sei. Sie hatten daher, weil sie mit dem Ich zusammenfiel,
die Substanz für eine ichliche oder individuelle gehalten und alle
weiteren ^Folgerungen aus dieser Annahme einer individuellen, ihrer
selbst unmittelbar bewussten Substanz gezogen.
Nun ist allerdings die Substanz mit dem Ichgedanken unmittel-
bar gegeben, weil dieThätigkeit des Denkens nicht ohne einen realen
Träger sein kann. Allein sie ist eben deshalb nicht die Form des
Bewusstseins selbst, sondern da sie das Prius des Denkens ist, das
Wesen, zu welchem sich dieses nur als Accidenz verhält, so ist sie
die Voraussetzung der Bewusstseinsform und nur aLs solche zu-
gleich ein Inhalt unseres Bewusstseins. Daraus folgt, dass die
Substanz nicht, wie Descartes behauptet, bloss im Ichgedanken be-
griffen und in ihm erst als reales Sein enthalten sein kann, sondern
die Substanz ist in sich selbst enthalten und kann nur durch sich
selbst begriffen werden.
„Substantia id est, quod in se est et per se concipitur.** Mit
dieser Definition, wie Spinoza sie aufstellt, ist die Selbständigkeit
des Substanzbegriffs gegenüber unserem Ich begründet. Das Ich und
die Substanz sind nicht identische Begriffe, als ob die Substanz un-
mittelbar schon Ich wäre, sondern die Substanz ist als solche ein
selbständiges und unabhängiges Wesen, das Ich dagegen nur, sofern
es durch die Substanz verursacht und von ihr getragen ist. Nicht
im Begriff des Denkens, auch nicht in dem des Ich, sondern erst in
demjenigen der Substanz ist die letzte Tiefe erreicht, die sich dem
zergliedernden Denken im Cogito ergo sum aufthut, und darum ist
erst sie das Wesen, das keine Ursache mehr hinter sich hat, die
Causa sui, die keines Anderen bedarf, um selbst gedacht zu werden,
wovon auch das Ich vielmehr abhängig ist und welche eben deshalb
4*
52 ^&8 Ich als metaphysisches Prinzip.
im Gegensatz zu diesem ein freies und absolutes Wesen sein
muss. Nicht die Substanz also wird durch das Ich begriffen, sondern
das Ich wird durch die Substanz begriffen. Sie würde aber keine
absolute und fr^eie Bedingung sein, wenn es ausser ihr noch irgend
etwas anderes Reales gäbe. Daher ist sie nicht bloss die Bedingung
des Ich, sondern alles Seins, die absolute Bedingung schlechthin
oder das Unbedingte. Descartes hatte die Substanz durch das
Ich bestimmt und folgerichtig so viele Substanzen angenommen, als
er Iche vorfand. Spinoza bestimmt umgekehrt das Ich durch die
Substanz und gelangt auf diesem Wege zum Begriffe einer einzigen
absoluten Substanz, um in ihr den Ausgangspunkt für eine neue
Entwicklungsreihe des spekulativen Gedankens zu finden.
Die Substanz ist, als das Unbedingte, zugleich die absolute Ur-
sache und das absolute Sein. Daraus folgt, dass die Wirkungen, die
von ihr gesetzt werden, nicht aus der Substanz herausfallen und
eine selbständige Existenz besitzen können, sondern dass sie in ihrem
absoluten Grunde verharren und an diesem ihren gemeinschaftlichen
Träger haben müssen. Jene Ursache bleibt mithin selbst in ihren
Wirkungen enthalten, ist causa immanens*, nicht transiens, und
eben in diesem Enthaltensein in der absoluten Substanz besteht die
Unselbständigkeit und Abhängigkeit der endlichen Dinge. Das Ver-
hältnis ist, wie dasjenige des Dreiecks zu seinen Winkeln. Die Win-
kel sind nicht ausserhalb des Dreiecks und von ihm verschieden,
sondern sie sind nur die Bestimmungen, die den Begriff des Dreiecks
konstituieren. Wie aus der Natur des Dreiecks folgt, dass die
Summe seiner Winkel gleich 2 R ist, in derselben Weise folgen auch
die wirklichen Dinge aus der Natur der absoluten Substanz und müssen
sie aus ihr sich ableiten lassen.
Daraus folgt zugleich, dass es in der Kette der Begebenheiten
keine Freiheit und keinen Zufall geben kann. Nur wenn es für
sich abgesonderte Substanzen, als selbständige Centra des Geschehens,
gäbe, könnten freie und notwendige Handlungen von einander unter-
schieden werden, aber nicht, wenn jene bloss die Wirkungen des ab-
soluten substantiellen Wesens sind. Im ersteren Falle brauchen die
einzelnen Substanzen in ihrem Handeln keine Rücksicht auf die übrigen
zu nehmen. Im letzteren würde die Unterbrechung der Gleichartigkeit
des Geschehens an irgend einem Punkte den ganzen Zusammenhang
des Geschehens selbst verwirren. Es giebt folglich nur Eine Art des
Geschehens, wie es nur Eine Substanz giebt, und dies kann nur ein
notwendiges Geschehen sein.
Dies notwendige Geschehen aber kann nicht zeitlich sein. Wie
Das Ich als absolute Substanz: Spinoza. 53
die Wirkung in der Ursache, so ist auch das Spätere unmittelbar im
Früheren enthalten; das Nacheinander kann folglich keine Wahrheit
sein, die Zeit keine Realität im eigentlichen Sinne haben. Alles Ge-
schehen kann somit nur ein Folgen im logischen Sinne, alles Ver-
ursachen nichts Anderes als ein Bedingen sein, oder mit andern
Worten: die logische Verknüpfung der Begriffe und die
reale Verknüpfung der Dinge sind völlig Eines und Das-
selbe, die realen Naturgesetze sind zugleich logische Denk-
gesetze, causari und sequi sind Wechselbegriflfe. Das thatsächliche
Verhältnis der Substanz zu ihren Wirkungen ist sonach dasjenige des
Begriffs zu den in ihm enthaltenen Momenten. So scheint es möglich,
bei der Erkenntnis des realen Seins die mathematische Methode
in Definitionen, Axiomen, Propositionen, Demonstrationen u. s. w.
anzuwenden ; denn diese besteht ja letzten Endes darin, auf logischem
Wege zu explizieren, was der Raumbegriff implicite in sich enthält.
Damit ist nun in Wahrheit das Fundament gelegt, um daraut
eine Wissenschaft aus reiner Vernunft, ein System von Begriffen zu
errichten, das zugleich eine adäquate Darstellung des Systems der
Dinge sein kann. Wenn früher Descartes als der Vater der rationa-
listischen Philosophie bezeichnet wurde, so war dessen Rationalismus
doch nur ein naiver im Vergleich mit jener metaphysischen Substruk-
tion gewesen, worauf Spinoza seine rationale Erkenntnis des Realen
gründet. Denn wenn Descartes aus der unzweifelhaften Realität
des Ich die Möglichkeit einer apodiktischen Erkenntnis auch des
übrigen realen Seins gefolgert hatte, welches Recht hatte er gehabt,
über die Sphäre des eigenen Ich hinauszugehen, da doch das ausser-
ichliche reale Sein selbständig neben dem Ich und unabhängig von
ihm bestehen sollte? Das Kriterium der klaren und deutlichen Er-
kenntnis hatte, wie wir sahen, jene Kluft nicht überbrücken können,
denn es konnte nicht entscheiden, ob unseren Vorstellungen von einer
Aussenwelt auch wirklich ein reales Sein entspräche. Ganz anders
dagegen, wenn die im Ich ergriffene Substanz nicht eine bloss indi-
viduelle, sondern die absolute Substanz ist, wenn sie folglich sich zu
den ausserichlichen Existenzen ganz ebenso, wie zu meinem Ich verhält,
oder mit andern Worten: wenn Denken und Sein in der absoluten
Substanz identisch sind. Denn alsdann erkenne ich ja durch mein
Denken unmittelbar auch das Sein aller übrigen Existenzen, und jedem
Begriff, der nur widerspruchslos und richtig gebildet ist, muss folglich
auch ein Gegenstand entsprechen.
Als die absolute Ursache heisst die absolute Substanz die natura
naturans oder die wirkende Natur. Die Gesamtheit ihrer Wir-
54 ^ft* ^ch als metaphysisches Prinzip.
kungen dagegen bildet die gewirkte Natur oder die natura naturata.
Descartes hatte die Substanzen näher durch ihr Attribut bestimmt
und jene als denkende und ausgedehnte von einander unterschieden.
Spinoza muss bei seiner Annahme einer einzigen Substanz Denken
und Ausdehnung als deren gemeinschaftliche Attribute fassen.
Diesem Wesen der Substanz mit ihren beiden Attributen oder der
natura naturans gegenüber ist die unselbständige Welt der Wirkungen
nur Erscheinung. Die natura naturata hat kein substantielles
Sein. Ihre Inhalte, die Einzeldinge, sind blosse Zustände, Einschrän-
kungen, Bestimmungen des absoluten Wesens; sie verhalten sich zu
ihm nur, wie das Besondere zum Allgemeinen, sind nicht in sich,
sondern nur in jenem Allgemeinen, d. h. sie sind Modi der absoluten
Substanz und haben bloss eine Existenz als Affectionen jener Attribute.
Wenn nun Denken und Ausdehnung die gemeinschaftlichen
Attribute des substantiellen Wesens bilden, das letztere sich also in
ihnen beiden immer zugleich bethätigt, dann müssen auch die end-
lichen Affektionen jener Attribute gleichzeitig sowohl denkend, wie
ausgedehnt sein. Jeder Vorstellung, als einem Modus des Denkens,
muss ein Modus der Ausdehnung korrespondieren , jedem Körper oder
Modus der Ausdehnung eine Vorstellung. Da nun aber beide, als
Modi, keine Selbständigkeit besitzen und folglich auch nur durch Ver-
mittlung der absoluten Substanz eine Wirkung ausüben können, alles
Wirken dieser letzteren jedoch, wie wir gesehen haben, ein einheit-
liches und unzeitliches Bedingen ist, so findet auch gar kein Kausal-
verhältnis zwischen ihnen statt: jeder Modus des Denkens hat viel-
mehr seinen erzeugenden Grund nur wieder in einem Modus des
Denkens, jeder Modus der Ausdehnung wird von seines Gleichen ver-
ursacht, ja es giebt in Wahrheit gar keine doppelte Kausalverknüpfung,
sondern diese ist nur eine einzige, die sich bloss infolge der Doppeltheit
der Attribute in zwei parallel nebeneinander herlaufende Reihen aus-
einanderlegt.
Unzweifelhaft ist hiermit die Schwierigkeit der Vereinigung von
Geist und Körper gehoben und damit ein für alle Mal der Weg ge-
wiesen, um über den Dualismus hinauszukommen. Jene Schwierigkeit,
woran wir die spiritualistischen Systeme scheitern sahen, existiert für
den Monismus des Spinoza gar nicht, weil Geister und Körper
ihm nicht für selbständige Realitäten gelten. Allein dafür erhebt sich
nun eine andere Frage, die auf jenen früheren Standpunkten nicht auf-
geworfen werden konnte. Dort war die Realität des Ich die letzte
nicht weiter ableitbare Voraussetzung gewesen, jene Standpunkte hatten
also von vorneherein mit dem Individuellen angefangen. Spinoza
Das Ich als absolute Substanz: Spinoza. 55
jedoch betrachtet das Ich nur als eine vorläufige Eealitöt, gleichsam
als die Leiter, um darauf in die Tiefe der absoluten Substanz hinab-
zusteigen. Wie kann man nun aus diesem dunklen Grunde zur Ober-
fläche der Erscheinungswelt zurückgelangen, wie soll man aus dem
absoluten Sein die Existenz des eigenen relativen Ich erklären?
Jede Vorstellung, so sahen wir, hat ihren entsprechenden Ge-
genstand in einem Körper, eine einfache mithin in einem einfachen,
eine aus mehren anderen Vorstellungen zusammengesetzte Vorstellung
in einem zusammengesetzten Körper. Eine solche zusammengesetzte
Vorstellung ist die Seele. Es giebt also keinen zusammengesetzten
Körper, der nicht beseelt wäre, und es giebt keine Seele, die nicht
mit einem derartigen Körper verbunden wäre. Das heisst bei der
Identität ihres substantiellen Trägers nichts Anderes, als dass die Seele
die Vorstellung ihres Leibes, der Leib das jener Vorstellung korre-
spondierende Wirkliche ist, oder anders ausgedrückt: Leib und Seele
sind dasselbe Wesen, nur entweder unter döm Attribute der Aus-
dehnung oder aber unter demjenigen des Denkens betrachtet*
Je mehr zusammengesetzt und je verschiedenartiger affizierbar
infolgedessen der Körper ist, um so vorzüglicher ist auch die ihm
korrespondierende Seele, die alle diese AfFectionen in sich wieder-
spiegelt. Der am meisten zusammengesetzte Körper aber, den wir
kennen, ist der menschliche, und daher ist auch seine Seele die zur
Erkenntnis am meisten geeignete; in dieser ihrer Vorzüglichkeit heisst
sie Geist. Der menschliche Geist (mens humana) ist die Vorstellung
des* menschlichen Körpers (idea corporis), d. h. die Erkenntnis aller
in ihm stattfindenden Affektionen (idea affectionum corporis). Nun
ist aber alles Denken nach Spinoza ein bewusstes. Die Vorstellung,
als Modification des Denkens, ist mithin nicht bloss ein Erkennendes,
sondern zugleich ein Erkanntes, nicht ein stummes, ungehörtes Abbild
auf einer Tafel, sondern ein Licht, dass sich selbst und zugleich die
Finsternis erleuchtet. Folglich ist auch der menschliche Geist, als die
Vorstellung des menschlichen Körpers, die Vorstellung der Vorstellung
dieses Körpers (idea ideae corporis), und da nun die letztere, wie
gesagt, nichts Anderes ist, wie der menschliche Geist, so ist er die
Vorstellung des menschlichen Geistes (idea mentis), d. h. Selbst-
bewusstsein oder Ich.
So ist denn der Geist ein Aggregat, eine Summe von Vorstellungen
(complexus idearum), die sich sämtlich auf den menschlichen Körper
beziehen. Nun ist uns aber der Körper nur als eine einheitliche
Totalität gegeben und wird nur als ein Ganzes von uns vorgestellt.
Jede einzelne Vorstellung dagegen spiegelt nur eine besondere Affektion
56 Das Ich als metaphysisches Prinzip.
der Ausdehnung, nur einen Teil des Körpers. Da fragt es sich : wie
kann aus der Vielheit von Einzelspiegelungen die Gesamtspiegelung
des Körpers sich zusammensetzen?
Der Einheit des menschlichen Leibes auf der objektiven Seite
entspricht auf der subjektiven das einheitliche Ich. Spinoza sucht
das Selbstbewusstsein daraus abzuleiten, dass jede Vorstellung, ausser-
dem dass sie den ihr entsprechenden Körper spiegelt, auch noch sich
selbst im Spiegel sieht. Indessen was berechtigt ihn dazu, das Wissen
von Etwas zugleich auch als ein Wissen dieses Wissens aufzufassen?
Offenbar nur seine. Abhängigkeit von Descartes, wonach Denken
und Bewusstsein identisch sein sollen. Wenn aber das Denken sich
in sich reflektiert, dann ist ja eben damit der behauptete Parallelismus
zwischen den Modis des Denkens und der Ausdehnung beseitigt. Denn
hiernach sollen die beiden verschiedenartigen Reihen ihre Ergänzung
nur eine in der anderen finden: die Vorstellung soll ihren Gegenstand
nur am Körper haben, der Körper nur Gegenstand für die Vorstellung
sein. Wenn die Vorstellung ausser dem Körper auch noch sich selbst
zum Gegenstande hat, so ist ja auf Seiten der Denkmodifikationen ein
Plus vorhanden, für das sich in der entsprechenden Körperreihe kein
Analogon findet.
Die Möglichkeit einer solchen Reflexion aber selbst zugegeben,
so erhalten wir zwar eine Vielheit von einzelnen Selbstbewusstseinen,
aber immer noch kein einheitliches Ich. Denn ebenso, wie es nach
unserer obigen Auseinandersetzung an einem Spiegel fehlt, um die
körperlichen Einzelaffektionen als Affektionen eines und desselben
Körpers darzustellen, ebenso fehlt es auch an einem gemeinschaftlichen
Träger oder Subjekt, um die vielen besonderen Selbstbewusstsein e
zur Einheit eines und des nämlichen Ich zusammenzufassen. Die ab-
solute Substanz kann dies Subjekt nicht sein. Denn wiewohl das
Bewusstsein der Vorstellungen von sich im Grunde nur das Bewusst-
sein ist, das die absolute Substanz von jenen Vorstellungen hat, wie-
wohl sie also sämtlich in dieser Bezogenheit auf die Substanz den
gemeinschaftlichen Hintergrund besitzen, um nicht auseinanderzufaUen,
so wird zwar dadurch ein mosaikartiges Nebeneinander der einzelnen
Vorstellungen, aber keineswegs jene centrale Beziehung derselben auf
das Ich verbürgt, die gerade das Wesentliche des Selbstbewusstseins
ausmacht. Das Ich ist ja nicht eine Vorstellung neben anderen,
sondern hinter andern, oder vielmehr es thront gleichsam als Herrscher
über ihnen, es wechselt auch nicht und verändert sich nicht mit den
körperlichen Affektionen, sondern es bleibt in allem Wechsel mit sich
selbst identisch. Während sonach alle übrigen Vorstellungen ihren
Das Ich als absolute Substanz: Spinoza. 57
objektiyen Gegenstand am Körper haben, so fehlt es dem Ich an
einem solchen Gegenstande, denn der Körper ist in beständiger Ver-
änderung begriffen, und seine Affektionen sind nicht auf einen ge-
meinschaftlichen Mittelpunkt bezogen. Die absolute Substanz aber
steht zum Ich in keinem anderen Verhältnis, wie zu allen übrigen
Vorstellungen, und daher vermag sie die Ausnahmenatur des Ich nicht
zu erklären.
Das Verhältnis der Substanz zu ihren Modifikationen ist dasjenige
der unmittelbaren Identität, denn die Wirkungen sind von der
absoluten Ursache nicht verschieden, oder Wesen und Wirken sind im
Absoluten Eines und Dasselbe. Spinoza hatte diese Annahme darauf
gegründet, dass das Ich ebenso die Wirkung der Substanz, wie ein
reales Wesen darstellt, das letztere infolge des Cogito ergo sum, das
erstere weil die Substanz ihrem Begriff nach eine absolute, das Ich
aber nur ein Relatives ist. Wenn sonach das Ich unmittelbar ein
Absolutes ist, wie kann es sich von den übrigen Modifikationen unter-
scheiden, die sich alle in der gleichen Lage befinden, wie ist über-
haupt der Unterschied im Gebiete des Modalen, die Relation und die
Vielheit der endlichen Existenzen möglich?
Da die Vielheit und Besonderheit der endlichen Erscheinung eine
Thatsache der Erfahrung, die Identität von Wesen und Erscheinung
hingegen und die absolute Einheit jenes Wesens ein notwendiges Er-
gebnis des reinen Denkens ist, so kann dieser Widerstreit zwischen
unserer Vernunft und der Erfahrung nur zu Ungunsten der letzteren
entschieden werden. Der Inhalt der Erfahrung ist kein reales Sein,
d. h. es muss an der unvollkommenen Einrichtung unseres Erkenntnis-
vermögens liegen, wenn Vielheit und Besonderheit mit dem Scheine
der Realität auftreten. Es stimmt dies damit überein, dass die Zeit
nach Spinoza und folglich auch Veränderung und Werden keine reale
Bedeutung haben sollen. Damit ist die Erscheinungswelt für einen
blossen Schein, für eine reine Täuschung unserer Einbildung (imaginatio)
erklärt, deren Gebilde, wie ein Nebel, vor dem wahrhaft Wirklichen
lagern. Unser Wissen von den sinnlichen Gegenständen ist gar kein
Wissen, sondern nur eine verworrene Erkenntnisweise, indem wir ein
Ideelles für ein Reales halten.
Dann können folglich auch die sogenannten Gattungsbegriffe (no-
tiones universales) nicht Ausdruck einer Wirklichkeit sein, denn diese
sind bloss von den sinnlichen Gegenständen abgezogen. Dass die An-
nahme einer Freiheit und von Zweckursachen im System des Spinoza
keine Berechtigung hat, wurde oben schon hervorgehoben. Diese Be-
griffe stammen alle nur aus der Imagination und bilden den Haupt-
58 I^&B Ic^ ft^ metapbyBisches Prinzip.
Inhalt jener sogenannten inadäquaten Erkenntnis, die wir nur durch
unser Denken überwinden können.
Im Gegensatze zur Imagination ist der Intellekt oder die Ver-
nunft das Vermögen der adäquaten Erkenntnis. Den Gegenstand
ihrer Operationen machen die Gemeinschaftsbegriffe (notiones com-
munes), die Vorstellungen der beiden Attribute (Denken und Aus-
dehnung) und ihres absoluten substantiellen Trägers aus. Solange
indessen jene Begriffe bloss vorausgesetzt werden und von ihnen aus
auf die Beschaffenheit des Seins geschlossen wird, solange stehen wir
noch nicht im Mittelpunkte der Erkenntnis und besteht noch ein
Unterschied zwischen dem wirklichen Sein und unseren subjektiven
Vorstellungen von demselben. Dieser Unterschied hört auf, wenn
wir jene Gemeinschaftsbegriffe selbst ins Auge fassen. Denn da sie
die Voraussetzung alles rationalen Erkennens bilden, so können sie
nicht wiederum aus anderen Begriffen abgeleitet, sondern können sie
uns nur unmittelbar gegeben, nur ursprüngliche Vorstellungen
unseres Geistes sein, die einzig durch sich selbst begriffen werden.
Die Erkenntnis der Substanz und ihrer Attribute ist also im Gegen-
satze zur begrifflichen rationalen eine anschauliche, im Gegensatze
zur sinnlichen imaginativen eine intellektuelle Erkenntnis, sie ist
mithin eine intellektuelle Anschauung, worin Sein und Bewusst-
sein unmittelbar zusammenfallen.
Je adäquater unsere Vorstellungen sind, desto vollkommener ist
die Thätigkeit des Denkens. Am vollkommensten ist sie folglich in der
intellektuellen Anschauung, denn hier sind die Vorstellungen mit ihrem
Gegenstande selbst identisch. Das vollkommenste Denken ist somit
zugleich die höchste Realität, oder Vollkommenheit, Realität und
Thätigkeit sind Wechselbegriffe, weil das adäquateste Vorstellen sich
nicht mehr vom Realen unterscheidet. Die Einschränkungen der Thä-
tigkeit, die Leiden oder Affekte haben demnach ihren Grund bloss
in den verworrenen und inadäquaten Vorstellungen. Werden diese
berichtigt, so wird damit zugleich die Freiheit von der Knechtschaft
der Affekte gewonnen, oder mit anderen Worten: das Aufsteigen
zu höheren Stufen der Sittlichkeit ist nichts Anderes als ein Fort-
schreiten auf dem Wege der Erkenntnis. Und da nun das Fort-
schreiten auf diesem Wege in der Annäherung unserer Vorstellungen
an das Sein besteht, jeder Schritt mithin zugleich einen Zuwachs an
Realität bedeutet, ein solcher aber innerlich von uns als Freude
oder Lust empfunden wird, so folgt, dass ebenso, wie auf der ob-
jektiven Seite Vollkommenheit und Realität, so auf der subjektiven
Seite auch Weisheit, Tugend und Seligkeit identisch sein müssen:
Das Ich als absolute Substanz: Spinoza. 59
„Die Seligkeit ist nicht der Lohn der Tugend, sondern die Tugend
selbst."
Je mehr wir unsere Vorstellungen dem Sein annähern, desto in-
niger wächst unsere üeberzeugung von der Nichtigkeit des Endlichen,
desto mehr lernen wir alle irdischen Gegenstände auf den Mittelpunkt
der absoluten Substanz oder Gottes beziehen. Je vollständiger es
also gelingt, durch die Nebel der Sinnlichkeit hindurch zum über-
sinnlichen absoluten Wesen vorzudringen und dies als die Wahrheit
der endlichen Erscheinungswelt zu begreifen, um so grösser wird
auch unsere Freude, die wir bei unseren Vorstellungen empfinden.
Nun ist Freude, sofern sie mit der Vorstellung ihrer Ursache ver-
bunden ist, Liebe. Der Gipfel der Erkenntnis also, wo Gott un-
mittelbar von Angesicht zu Angesicht geschaut wird, die intellektuelle
Anschauung, als die höchste Seligkeit, ist zugleich auch die höchste
Liebe Gottes. In dieser intellektuellen Liebe zu Gott giebt der
Mensch seine eigene Persönlichkeit und Realität dahin, aber nur um
in dem geliebten Wesen eine höhere Bealität dafür wiederzugewinnen.
Die Seligkeit, die er in jener Liebe empfindet, ist folglich nur des-
halb die höchste, weil er in ihr die Seligkeit des absoluten und voll-
kommenen Wesens mitgeniesst. So ist die intellektuelle Liebe
zu Gott, der amor intellectualis dei zugleich die höchste Freiheit,
wie die höchste Tugend, indem er die Freiheit und Vollkommenheit
des Absoluten ist. Und da wir nun alle nur Teile in der göttlichen
Vernunft, nur Modi am Attribut des Denkens sind, so ist dieser
höchste Akt des Denkens, die intellektuelle Liebe des Menschen zu
Gott, nur ein Teil der unendlichen Liebe, womit Gott sich selbst
liebt; d. h. aber nichts Anderes, als die Liebe des Menschen zu Gott
und die Liebe Gottes zu den Menschen ist identisch.
Man sieht: die Realität, die der Mensch durch seine Erkenntnis
und seine Sittlichkeit gewinnt, ist nicht von der göttlichen Realität
verschieden. Weit entfernt, dass irgend ein endliches Wesen für
sich selbst eine reale Bedeutung in Anspruch nehmen könnte, führt
der einzige Weg, um einen Zuwachs an Realität zu erlangen, nur
um so tiefer in die absolute Realität hinein, und jeder Versuch, das
Sein in sich zu steigern, endet damit, dass die irdische Individualität
einem Tropfen gleich im Ozean des absoluten Seins sich auflöst.
Spinoza will die endliche Realität erklären; aber er erklärt sie
dadurch, dass sie garnicht zu erklären ist, nicht weil seine Prinzipien
dazu nicht ausreichen, sondern weil sie überhaupt nicht ist.
Jener Stufengang durch die Welt der Vielheit und Besonderheit
mit ihren Unzulänglichkeiten und ihren Leidenschaften war ein Gang
60 I^fts Ich als metaphyBisches Prinzip.
durch eine bloss getränmte Welt. Der Zweck des sittlichen Han-
delns kann nur sein, den Wahn der endlichen Truggestalten zu
durchschauen und im Centrum des wahren absoluten Seins vom
zwecklosen Wirbeltanz der Scheinwelt auszuruhen. Spinoza sieht
nicht, dass diese Ruhe freilich nur die Ruhe des Todes ist und dass
das Erwachen aus dem Traum der Endlichkeit nicht ein Erwachen
zu neuem Leben, sondern nur das Einstellen aller irdischen Funk-
tionen sein kann. Er sieht nicht, dass, was er als die höchste Sitt-
lichkeit preist, das Ende aller Sittlichkeit bedeutet.
Aber es ist zugleich auch das Ende aller menschlichen Erkenntnis.
Denn wenn das Sein mit Ausnahme der Substanz und ihrer Attribute
kein wirkliches, sondern nur ein Scheinsein ist, was kommt darauf
an, die endlichen Zusammenhänge zu untersuchen, da diese ja doch
bloss auf Illusion beruhen? Und kann man es wirklich als Er-
klärung gelten lassen, dass Spinoza die Welt einfach für nicht seiend
ausgiebt? Bei diesem Ergebnis war ja schliesslich auch der
Spiritualismus angelangt, indem er, als reiner Bewusstseinsidealismus,
alle Realität ins bewusst-ideelle Sein verflüchtigt hatte. Was hilft
es, dass Spinoza neben die Ideellität der endlichen Erscheinungswelt
die absolute Substanz als die wahre Realität hinstellt, wenn nicht
einzusehen ist, wie die eine aus der anderen hervorgeht? —
Der Spiritualismus endet beim reinen Bewusstseinsidealismus,
weil er die Substanz unmittelbar mit dem Bewusst-Sein identifiziert.
Der Spinozismus kommt zum Akosmismus, d. h. zu seiner Annahme
von der Nichtrealität der Welt und des Bewusstseins , weil er die
Realität unmittelbar mit der Substanz identifiziert. Dort herrscht die
richtige Einsicht vor, dass die Dinge unmittelbar nur im Bewusstsein
(Ich) gesetzt sind. Hier tritt die ebenso richtige Erkenntnis zu
Tage, dass auch das Bewusstsein nur in und mit den Dingen gesetzt
ist. Die Wahrheit des Spiritualismus beruht in dem Satze, dass die
endlichen Dinge unmittelbar nur meine Vorstellungen sind. Die
Wahrheit des Spinozismus in dem andern Satze, dass die endlichen
Dinge die Erscheinung eines identischen Absoluten sind. Aber der
Spiritualismus vermag nicht aus der Vielheit des Bewusstseins zur
einheitlichen Substanz zu gelangen, ohne dabei in die Absurdität des
Solipsismus zu geraten. Der Spinozismus vermag ebenso wenig aus
der Einheit der Substanz die Vielheit der endlichen Dinge und das
Bewusstsein abzuleiten. Der Spiritualismus ist abstrakter Plura-
lismus, weil er die Einheit des absoluten Wesens nicht zulässt.
Der Spinozismus ist abstrakter Monismus, weil er der Vielheit
der endlichen Erscheinungen nicht gerecht wird. Wenn es gelingt,
Das Ich als absolute Thätigkeit: Fichte. 61
die beiden entgegengesetzten Weltanschauungen des Spiritualismus und
des Spinozismus zu vereinigen, die Wahrheiten beider in einen höheren
Standpunkt hinüberzuretten, dann scheint damit das Problem gelöst zu
sein, Bewusstsein und Sein mit einander auszugleichen, ohne eins in
dem anderen verschwinden, das eine durch das andere vernichten zu
lassen.
2. Das Icli als absolute Thätigkeit: Fichte.
Diese Vereinigung hat Joh. Gottlieb Fichte, und zwar auf
dem Boden des kantischen Idealismus vollzogen.
Mit Kant und dem Rationalismus ist auch Fichte überzeugt,
dass die Philosophie nur als apodiktische Erkenntnis Wissenschaft
sein könne und dass eine solche nur mögüch sei, wenn es gelingt,
aus einem Prinzip a priori den ganzen Inhalt des realen Seins
durch reine Vernunft ohne Zuhülfenahme der Erfahrung abzuleiten.
Nun hat Kant die Möglichkeit jener Erkenntnis darauf gegründet,
dass die objektiven Formen und Gesetze des Seins zugleich die sub-
jektiven Bedingungen seiner Entstehung im Bewusstsein bilden, dass
folglich unser Bewusstsein oder Ich, die transcendentale Einheit der
Apperception, wie Kant sie bezeichnet, als solche mit dem metaphysi-
schen Grunde des Seins zusammenfällt. Allein Kant hat weder jene
Formen und Gesetze aus dem Ich, als ihrem obersten Grunde, abgeleitet,
noch hat er bei seiner Annahme von Dingen an sich, die jenseits
des Bewusstseins existieren und dem Geiste den Stoff zu seinen For-
men von aussen liefern sollen, eine andere als eine bloss formale
Erkenntnis, eine apriorische Erkenntnis des Seins bloss seiner allge-
meinen Beschaffenheit nach für möglich gehalten. Soll es eine aprio-
rische Erkenntnis des gesamten Seins , sowohl seiner Form , wie
seinem Inhalte nach, geben, so müssen folglich die transcendenten
Dinge an sich geleugnet werden. Dann „konstruiert" also die Phi-
losophie nicht bloss das Sein, das allen übrigen Wissenschaften zu
Grunde liegt, sondern da sie seine Wurzeln im Bewusstsein aufdeckt,
so zeigt sie zugleich, wie das Wissen von ihm zustande kommt. Die
Philosophie ist mithin nicht nur Wissenschaft vom Sein, sondern sie
ist gleichzeitig Wissenschaft vom Wissen des Seins, sie ist Wissen-
schaft sichre, und ihre Aufgabe gegenüber den Einzelwissenschaften,
die sich bloss mit den zufälligen Inhalten des Seins befassen, ist,
diejenigen notwendigen Handlungen des Selbstbewusstseins darzulegen,
wodurch aus dem ideellen ein reales, aus dem subjektiven ein objek-
tives Sein hervorgeht.
Wäre nun das Ich ein individuelles, wie Kant es ansieht, so
wäre, da es Dinge ausserhalb des Ich nicht geben soll, dem Solip-
63 Dfts Ich als metaphysisches Prinzip.
sismus auf keine Weise zu entgehen. Insofern hatte Spinoza
Recht, den Grund des Seins über alle Relation hinauszuheben. Wäre
andrerseits das Ich eine Substanz, wäre es selbst ein Sein, so wäre es
eben deshalb nicht der Grund des Seins und brauchte das letztere
nicht erst von ihm abgeleitet zu werden. Um Grund und Quelle
des Seins zu sein, muss das Ich rein, d. h. frei von aller Vorstellung
des Seins, aufgefasst werden. Das Gegenteil des starren Seins aber
ist das Handeln. Darum kann der Grundsatz, womit die Wissen-
schaftslehre beginnt, nicht eine Thatsache, sondern nur eine That-
handlung sein.
Um Prinzip nicht bloss des philosophierenden Ich, sondern aller
endlichen Existenzen überhaupt zu sein, muss diese Thathandlung
eine absolute sein. Die absolute Thathandlung oder die produktive
Funktion des Seins ist sonach nicht die Funktion eines Ich, das sich
zu ihr als Substrat zu seiner Thätigkeit verhielte, sondern nur als
diese Handlung ist sie Ich. Da sie aber eine absolute Handlung
ist, so geht sie ins Unendliche hinaus, um eben deshalb wiederum in
sich zurückzukehren. Sie ist also zwar eine reflektierte Thätigkeit,
aber nicht eine solche, die durch irgend etwas von aussen, etwa ein
Ding an sich, reflektiert wird, sondern eine Thathandlung, die sich in sich
selbst reflektiert. Auf der Reflexion beruht nun aber, wie wir
wissen, nach Kant das Sein, der freilich die erstere in passivem Sinne
als Aflektion der Sinnlichkeit verstanden hatte. Indem also die absolute
Thätigkeit in sich zurückkehrt, so setzt sie damit ebenfalls ein Sein,
aber nicht ein von ihr verschiedenes, sondern ihr eigenes Sein.
„Das Ich setzt sich selbst und es ist vermöge dieses blossen
Setzens durch sich selbst, und umgekehrt, das Ich ist und setzt
sein Sein vermöge seines blossen Seins. Es ist zugleich das Han-
delnde und das Produkt der Handlung , das Thätige und das , was
durch diese Thätigkeit hervorgebracht wird; Handlung und That sind
Eins und Dasselbe, und daher ist das: Ich bin Ausdruck einer That-
handlung, aber auch der einzig möglichen^." „Das Ich setzt sich
selbst, schlechthin weil es ist. Es setzt sich durch sein blosses
Sein und ist durch sfein blosses Gesetztsein." „Ich bin Ich.*'
„Dasjenige, dessen Sein (Wesen) bloss darin besteht, dass es sich
selbst als seiend setzt, ist das Ich als absolutes Subjekt*." Oder
anders ausgedrückt: das Ich, als ein Wesen, das sich selber setzt,
ohne dazu eines Andern zu bedürfen, dies Ich ist kein individuelles ,
* Fichte, Sämtl. Werke, I, S. 96.
» Ebenda S. 97.
Das Ich als absolute Thätigkeit: Fichte. 63
sondern ein absolutes Ich; als solches aber ist es die Bedingung
sowohl des Seins, wie aller übrigen Akte des Bewusstseins. Das ab-
solute Ich ist die Identität des Setzenden und des Gesetzten, des
Vorstellenden und des Vorgestellten, des Subjekts und des Objekts.
Folglich können wir uns jener ursprünglichen ELandlung nicht bewusst
werden, ohne dass wir sie zugleich in uns vollziehen. Unser Be-
wusstsein von der Handlung und die Handlung selbst müssen Eins
und Dasselbe sein, d. h. wir können das absolute Ich nur unmittelbar,
durch intellektuelle Anschauung erkennen.
Die intellektuelle Anschauung ist nach Fichte „das unmittel-
bare Bewusstsein, dass ich handle und was ich handle. Sie ist das,
wodurch ich etwas weiss, weil ich es thue. Dass es ein solches
Vermögen der intellektuellen Anschauung gäbe, lässt sich nicht durch
Begriffe demonstrieren, noch, was es sei, aus Begriffen entwickeln.
Jeder muss es unmittelbar in sich selbst finden oder er wird es nicht
kennen lernen. Die Forderung, man* solle es ihm durch Räsonnement
nachweisen, ist noch um vieles wunderbarer, als die Forderung eines
Blindgeborenen sein würde, dass man ihm, ohne dass er zu sehen
brauche, erklären müsse, was die Farben seien ^". Allerdings hat
Kant die Möglichkeit einer solchen intellektuellen Anschauung für
uns Menschen bestritten. Indessen verstand er darunter das unmittel-
bare Bewusstsein eines nichtsinnlichen Seins. Ein solches kann es
freilich aus dem Grunde nicht geben, weü alles Sein, als Sein, ein
sinnliches ist. Die intellektuelle Anschauung der Wissenschaffcslehre
dagegen bezieht sich garnicht auf ein Sein, sondern auf ein Handeln.
In diesem Sinne aber hat Kant selbst eine intellektuelle Anschauung
angenommen, denn das: „Ich denke, das alle meine Vorstellungen
muss begleiten können'^, ist selbst die unmittelbare Identität des Sub-
jekts und des Objekts. Wie die transcendentale Einheit der Apperception
nach Kant das apriorische Bewusstsein von dem apriorischen Grunde
des Bewusstseins ist, so ist auch die intellektuelle Anschauung
Fi cht es nichts Anderes als dies Bewusstsein, nur mit dem spinozisti-
schen Zusatz, dass jener Grund ein absoluter sein muss.
Vom absoluten unterscheidet sich das empirische Bewusstsein,
indem seine Thätigkeit sich auf ein Objekt richtet, das nicht mit
ihm identisch ist. Beruht nun die unmittelbare Identität von Sub-
jekt und Objekt im absoluten Bewusstsein auf der absoluten in sich
selbst zurückkehrenden Thätigkeit, so kann mithin jene Verschieden-
heit im empirischen Bewusstsein nur zustande kommen, indem die
»Fichte, Samtl. Werke, I, S. 463.
64 ^&> ^cb als metaphysisches Prinzip.
reine absolute Thätigkeit sich selbst beschränkt, indem sie, anstatt in
die Unendlichkeit hinauszugehen, an irgend einem Punkte Halt macht
und an ihren Ausgangspunkt zurückkehrt, ein Vorgang, den Fichte
büdlich auch so darstellt, dass die absolute produktive Thätigkeit
einen „Anstoss" erhält und dadurch in sich reflektiert wird.
Demnach müssen im Ich zwei entgegengesetzte Thätigkeiten unter-
schieden werden, durch deren Zusammen- und Ineinanderwirken aller
Inhalt des empirischen Bewusstseins entsteht: eine produktive, cen-
trifugale, expansive, die ins Unendliche hinausgeht, und eine reflexive,
centripegale, kontrahierende Thätigkeit, die jener ersteren Schranken
setzt und dieselbe zu ihrem ursprünglichen Centrum zurücktreibt.
Die produktive Thätigkeit äussert sich als Einbildungskraft, wo-
durch die Anschauung im endlichen Bewusstsein zunächst überhaupt
gesetzt wird. Die reflexive Thätigkeit macht die an sich unbestimmte
Anschauung zu einer bestimmten, stellt sie dadurch als Objekt dem
Subjekt gegenüber und ist, sofern sie hiermit die Thätigkeit der Ein-
bildungskraft gleichsam „zum Stehen bringt", der Verstand im wei-
testen Sinne dieses Wortes.
Alle geistigen Vermögen und Arten von Objekten sind demnach
nur Stufen und Modifikationen dieser beiden Urvermögen, die dadurch
entstehen, dass die beiden Thätigkeiten im absoluten Ich jedes Pro-
dukt ihres Zusammenwirkens als Ausgangspunkt zu einem neuen
Doppelakt benutzen, worin das Ich ins Unendliche hinausgeht, um
alsbald wieder zu sich selbst zurückzukehren.
So entsteht, als Produkt des ersten Zusammenwirkens von pro-
duktiver und reflexiver Thätigkeit, die Empfindung. Das Ich re-
flektiert auf die Empfindung und erhebt sie dadurch zur Anschau-
ung im engeren Sinne. Es reflektiert auf die Anschauung und unter-
scheidet sie, indem es darauf die Anschauungsformen und Kategorien
anwendet, als Bild von dem wirklichen Gegenstande. Es reflektiert
wiederum auf dies Bild, d. h. es setzt den Gegenstand als Ursache
der Anschauung, fixiert dadurch die letztere zum Begriff und wird
Verstand im engeren Sinne. Es wird sich damit seines Vermögens,
einen bestimmten Inhalt betrachten und von ihm absehen zu können,
bewusst und erhebt sich zur Urteilskraft, um schliesslich sich
selbst als dasjenige zu erkennen, wovon auf keine Weise abstrahiert
werden kann, d. h. sich als Vernunft zu offenbaren, die ebenso die
letzte und höchste Stufe der geistigen Produktionen darstellt, wie sie
selbst allen übrigen als Voraussetzung zu Grunde liegt.
Solange das Produkt nur erst durch die Einbildungskraft gesetzt,
aber noch nicht durch die reflexive Thätigkeit des Verstandes fixiert
Das Ich als absolute Thätigkeit: Fichte. 65
ist, kann man ihm noch keine eigentliche Realität zusprechen. „Nur
im Verstände also, wiewohl erst durch die Einbildungskraft, ist
Realität. Er ist das Vermögen des Wirklichen, in ihm erst wird das
Ideale zum Realen. Die Einbildungskraft produziert Realität, aber
es ist in ihr keine Realität. Erst durch die Auffassung und das Be-
greifen im Verstände wird ihr Produkt etwas Reales^."
Nun ist aber dasjenige, was auf diese Weise zustande kommt,
^wie gesagt, nichts Anderes als unser endliches Bewusstsein. Der
ganze Prozess g,ls solcher liegt also vor- und jenseits des Bewusst-
seins. Ich selbst habe folglich noch kein Bewusstsein davon, wie die
Realität in mein Bewusstsein hineinkommt, denn ich bin ja erst mit
jener Realität zugleich entstanden. Ich weiss nur, dass mein Ich sie
nicht gesetzt hat, dass sie ausser mir entstanden sei und existieren
müsse und schreibe sie daher einem Nicht ich zu, obwohl sie nur aus
Selbstbegrenzung oder Hemmung der produktiven Thätigkeit des Ich
hervorgegangen ist. In Wahrheit also fühlt die Intelligenz in den
Vorstellungen äusserer Dinge nicht einen Eindruck von aussen, son-
dern das jenen Vorstellungen eigentümliche Gefühl der Notwendig-
keit erklärt sich daher, weil das Ich in ihnen die Schranken seines
eigenen Wesens empfindet.
Es kann nicht bezweifelt werden, dass diese Art und Weise, wie
Eichte die Möglichkeit einer apriorischen Erkenntnis des Realen be-
gründet, weit mehr im Sinne der kantischen Prinzipien ist als der
Solipsismus und der reine Bewusstseinsidealismus. Wer sich über-
zeugt hat, wie auch bei Kant jene Möglichkeit auf der transcenden-
talen Einheit der Apperception , d. h. auf dem Bewusstsein von der
unmittelbaren Realität des Ich, beruht, der wird in der Erweiterung
des individuellen transcendentalen zum transcendentalen absoluten Ich
keine grössere Willkür finden können , als in der Erweiterung der
endlichen Substanz Descartes zur absoluten Substanz Spinozas.
Ein solcher wird daher die Ansicht auch nicht teilen können, dass
Fichte in seinem Monismus des absoluten Ich vom transcendentalen
Idealismus Kants „abgefallen" sei. Daran ändert auch die That-
sache nichts, dass Kant selbst die f ich te sehe Philosophie so ange-
sehen und sie des Missverstehens seiner eigenen Lehren beschuldigt
hat. Hat doch auch er, wie sein nachgelassenes Manuskript „Vom
TJebergange von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwis-
senschaft zur Physik" beweist, im späten Alter jenen ficht eschen
Weg einer Konstruktion des ganzen Seins beschritten, ohne freilich.
» Ebenda S. 233 f.
Drews.
66 Das Ich als metaphysisches Prinzip.
wie Fichte, das reine Ich eben deshalb als ein absolutes zu er-
kennen ^.
Wie Spinoza durch seine Verabsolutierung des SubstanzbegrifPes
dem Rationalismus, d. h. der apriorischen Erkenntnis des Realen, erst
diejenige metaphysische Unterlage zu Grunde gelegt hat, wodurch
sie auf das gesamte Sein Anwendung finden konnte, so hat Fichte
durch seine Verabsolutierung des Ich der transcendentalen Art der
apriorischen Erkenntnis die gleiche Wendung ins Allgemeine gegeben.
Seine Philosophie bedeutet aber auch insofern einen Fortschritt über
Kant hinaus, als Fichte nicht bloss die apriorischen Bedingungen
der Erfahrung, sondern auch die verschiedenen Seelenvermögen aus
dem absoluten Selbstbewusstsein abgeleitet hat. Fichte hat zuerst
den Versuch gemacht, eine Geschichte unseres Ich zu liefern, wie
es sich aus seinem yorempirischen und vorbewussten Grunde zur
Höhe der ihrer selbst bewussten Vernunft entwickelt. Es ist in
der Folgezeit bedeutsam geworden, dass er hierbei den beiden Ur-
thätigkeiten des Ich, die Kant im Anschluss an Leibniz als Ver-
stand und Sinnlichkeit bezeichnet hatte, mit den Namen der Ein-
bildungskraft und des Verstandes belegt hat. Indem nämlich hier-
mit die frühere Missachtung der Sinnlichkeit auf den passiven Ver-
stand übergegangen ist, so ist dadurch von Fichte jene Opposition
gegen den abstrakten Rationalismus, des achtzehnten Jahrhunderts und
jene Verachtung des „kahlen" Verstandes eingeleitet worden, die für
den ganzen spekulativen Idealismus nach Kant charakteristisch ist
und die ihren schärfsten Ausdruck bei Hegel und in der Weltanschau-
ung der Romantik erhalten hat.
Der Verstand hört auf, ein produktives Prinzip zu sein und muss
seine frühere Stellung der Vernunft überlassen. Schon Kant hatte,
wie wir sahen, diese letztere als ein höheres Vermögen vom Verstände
unterschieden. Er hatte ihre Aeusserungsweise darin gesetzt, dass sie,
als eine auf das Unendliche gerichtete Funktion, die Gesamtheit des
Erfahrungsinhalts, d. h. des gemeinschaftlichen Produkts der Sinnlich-
keit und des Verstandes, auf die Einheit der „Idee" bezieht. Indessen
sollten die Ideen der Vernunft nach Kant keine objektiv-reale, son-
dern nur eine subjektiv-ideelle, die Vernunft mithin für die Er-
kenntnis keine konstitutive, sondern nur eine regulative Bedeutung
haben. Das war folgerichtig, solange alle objektive Realität auf Re-
flexion und diese auf der Einschränkung der spontanen Thätigkeit
durch das Ding an sich beruhen sollte. Alsdann bedeutete ja näm-
^ Vgl. mein Werk: Kants Naturphilosophie u. s. w., S. 442 — 495.
Das Ich als absolute Thätigkeit: Fichte. 67
lieh die Vernunft nur die spontane Thätigkeit, sofern sie von allem
Anstoss frei gedacht wird und folglich beständig die Grenzen des
empirischen Bewusstseins überschreitet. Jene Bestimmung der Ver-
nunft jedoch, wie Kant sie gegeben, fiel hinweg, wenn das Ich als
absolutes gefasst und damit der Gedanke einer äusserlichen Affektion
beseitigt wurde. Denn wenn die spontane Thätigkeit, als absolute,
in sich selbst zurückkehrt, ohne dass es dazu einer transcendenten
Wirklichkeit bedarf, dann ist sie schon selbst eine seinsetzende Funk-
tion, nur dass dies Sein nicht ein objektives, bewusstseinsimmanentes,
sondern das Sein des absoluten Bewusstseins selber ist, dann ist also
auch die Vernunft ein konstitutives Vermögen, ja im Grunde das
einzige konstitutive Vermögen, das es giebt, denn jene ist selbst
das absolute Ich als Träger und Prinzip alles Ideellen und Realen.
So ist in der That Fi cht es Wissenschaftslehre mit allen
diesen Folgerungen nur die konsequente Ausgestaltung und systema-
tische Vollendung der Vernunftkritik, indem sie das Prinzip des Ich
aus seiner Verborgenheit bei Kant hervorgezogen und den ganzen
Inhalt der Philosophie aus ihm entwickelt hat. Mit seiner energischen
Herausarbeitung der subjektiv-idealistischen Bestandteile der Vernunft-
kritik und seiner Beseitigung des Dinges an sich hat nun Fichte
allerdings gerade dasjenige Moment wiederum aufgehoben, wodurch
sich Kant von Leibniz unterscheidet, nämlich den influxus physicus.
Darum entsprechen denn auch die beiden Urthätigkeiten des absoluten
Ich viel mehr der Aktivität und Passivität der Monade, wie Leibniz
sie auffasst, als dem Verstände und der Sinnlichkeit bei Kant. Auch
die reflexive Thätigkeit Fi cht es ist ja nicht eine durch äussere Ein-
wirkung bedingte, nicht Passivität im eigentlichen Sinne, sondern sie
ist eine durch das Ich selbst gesetzte, eine freiwillige Aeusserung
seines eigenen inneren Wesens, genau so wie die Passivität bei
Leibniz. Demgemäss ist auch der Unterschied zwischen den beiden
Urthätigkeiten nur ein gradueller: die Reflexion des absoluten Ich
ist verringerte Thätigkeit, seine Produktion nur die Totalität seiner
wesenhaften Aeusserungsweise. Das fichtesche Ich ist folglich gar-
nichts Anderes als die leibniz sehe Monade in absoluter Form, und
die von Fichte dargestellte Geschichte des Ich ist nur die Beschrei-
bung der Stufen, welche die Monade zurücklegt, um ihren unbe-
wussten Vorstellungsinhalt ins Bewusstsein zu erheben.
Das fichtesche Ich stimmt auch darin mit der leibniz sehen
Monade überein, dass es nicht ein reines Sein ist, sondern ein reines
Handeln. Aber es unterscheidet sich von ihr, wie gesagt, durch seine
Absolutheit und gleicht in dieser Hinsicht der Substanz des Spinoza.
6*
68 I^M Ich als metaphysisches Prinzip.
Für Spinoza ist der Begriff des Seins der erste, und das Handeln
ist von ihm abgeleitet. Für Fichte dagegen ist das Sein ein abge-
leiteter Begriff, und das Handeln ist der absolute Grund des Seins.
Nach Spinoza also ist das Sein ein substantielles, und die Realität
liegt in der Substanz. Nach Fichte ist das Sein bloss ein modales
oder accidentielles, und die Realität liegt folglich in der Erscheinung.
Beide haben sie zu ihrem Ausgangspunkte die Realität des Ich ge-
nommen. Nach Spinoza ist jedoch dies Ich Substanz. Nach Fichte
ist die Substanz dagegen Ich. Daher hat man auch nicht mit Un-
recht die Wissenschaftslehre einen umgekehrten Spinozismus genannt.
Die unmittelbare Erkenntnis des absoluten Grundes der empi-
rischen Realität hat Fichte im Anschluss an Spinoza als intellek-
tuelle Anschauung bezeichnet. Jenes Erkennen gehört als solches
zur empirischen Realität, denn sonst wäre es ja nicht mein Erkennen.
Es muss aber zugleich auch eine transcendente Realität besitzen, denn
sonst wäre es ja nicht ein unmittelbares Erkennen. Sonach muss es
in derselben Zeit ein Endliches und Unendliches, Erscheinung und
Wesen in der nämlichen Beziehung sein. Dass dies ein Widerspruch
ist, liegt klar vor Augen. Im Spinozismus konnte er sich den Blick
verschleiern, weil bei dem rein logischen Charakter dieses Systems
der Unterschied zwischen dem substantiellen Wesen und seinen Modi-
fikationen nur ein begrifflicher war. Um so deutlicher tritt er da-
gegen in der Wissenschaftslehre zu Tage, wo zwischen dem absoluten
Ich und seinen Produktionen ein essentieller und realer Unterschied
besteht. Dort war die intellektuelle Anschauung eine Einkehr aus
der Flucht der reaHtätslosen Erscheinungswelt in die Ruhe des realen
Seins. Hier ist sie ein Hinuntertauchen in ein Etwas, das, als die
Quelle alles Seins, selbst frei von allem Sein gedacht werden muss.
Wie soll aber etwas zugleich sein und doch nicht sein? Wie soll
es zugleich Produzent und Produkt, Ursache und Wirkung, Substanz
und Accidenz, ein Handeln und ein Sein in einem realen Prozesse
sein können?
Zwar handelt es sich bei der genetischen Betrachtung des Ich
nicht um ein Hinausgehen über die Erfahrung, sondern um ein Hinein-
gehen in ihren Grund, nicht um eine transcendente, sondern um eine
transcendentale Untersuchung. Aber lässt nicht Fichte selbst das
empirische Bewusstsein aus unbewussten und vorbewussten Faktoren
sich entwickeln? Dann wäre also die intellektuelle Anschauung ein
geistiger Akt, wobei unsere Erkenntnis zugleich bewusst und unbe-
wusst, zugleich diskursiv, abstrakt und intuitiv, unser endUches Ich
zugleich das absolute Ich sein müsste. Ist aber der Akt des empi-
Das Ich als absolute Thätigkeit: Fichte. 69
rischen Bewusstseins zugleich auch ein Akt des absoluten Bewusst-
seins, was bedarf es dann noch einer G-enesis des Ich, was soll dann
noch die Wissenschaftslehre, die das endliche Ich in seiner Entstehung
ans den Akten des absoluten Ich betrachtet? Denn ist das endliche
unmittelbar das absolute Ich, so ist ja die ganze Ableitung des einen
aus dem andern nur ein Schein, ein subjektives Phantasiespiel ohne
objektiv-reale Bedeutung. Dann ist aber auch das endliche Ich nicht
weniger ursprünglich und weniger absolut als das sogenannte absolute
Ich: das endliche Ich ist selbst das Absolute, und Fi cht es Versuch,
die Spekulation aus der Sackgasse des Solipsismus hinauszubringen,
führt gerade erst recht in sie hinein.
Fichte selbst hat dies empfunden und sich Mühe gegeben, den
Tadel des metaphysischen Egoismus von seiner Weltanschauung ab-
zuwehren. Er fand sich hierzu um so mehr genötigt, als der Grund
seines Philosophierens wesentlich «ein ethischer war und seine Be-
mühungen um die Erkenntnis des Weltzusammenhanges letzten Endes
nur darauf abzielten, dem praktischen Handeln eine theoretische Be-
gründung zu verschaffen. Diesen Grund des sittlichen Handelns er-
blickt Fichte darin, dass unser endliches Ich, auf dem Gipfelpunkte
seiner stufenartigen Entwickelung angelangt, in der Vernunft sich als Ich
gegenüber dem Nichtich erfasst und damit zugleich seiner selbst als dessen
Produzenten bewusst wird. Das Ich, das bis dahin nur theoretisch
war, erkennt sein innerstes Wesen im Handeln, und wird praktisch,
indem es sich fortan mit Bewusstsein jenem inneren unbewussten Wesen
gemäss bestimmt. Diese Bestimmung aber kann nur darin liegen, reine
Thätigkeit zu sein und immer mehr seine Abhängigkeit von jenen
selbstgesetzten Schranken des Nichtich aufzuheben. Das theoretische
Ich wird durch das Nichtich bestimmt. Das praktische Ich bestimmt
sich selbst, ist autonom und sucht durch Unterwerfung der Natur
und beständiges Hinausrücken ihrer Grenze in unendlichem Fort-
schritt sich seinem höchsten Ziele anzunähern, selbst schrankenloses
absolutes Ich zu sein.
War sonach die Welt der Objekte für das theoretische Ich bloss
Mittel, um an ihr zum Bewusstsein seiner selbst zu kommen, so
erscheint sie nunmehr für das praktische Ich als Bedingung zur Mög-
Hclikeit seiner sittlichen Bethätigung, als das blosse „versinnlichte
Material unserer Pflicht". Dieselbe Funktion, die im theoretischen
Ich als Anschauung setzende Funktion hervortrat, offenbart sich im
praktischen Ich als Wille. Und wie aus der fortgesetzten Reflexion
auf die objektiv gesetzte Welt die verschiedenen Erkenntnisstufen
bis hinauf zur völligen Identität von Subjekt und Objekt hervor-
70 I^as Ich als metaphyBisches Prinzip.
gingen, so erhebt sich in parallel gehendem Stufengange auch der
Wille durch fortgesetzte Einwirkung auf jene Welt zum eigentlichen
oder sittlichen Willen (Tugend), worin der Widerstreit zwischen
den subjektiven sinnlichen Trieben und dem objektiven absoluten
Willen überwunden ist.
Der ganze Prozess des Ich läuft sonach auf nichts Anderes als
auf die Realisierung des sittlichen Ideals hinaus. Folglich muss es
auch eine Mehrheit von Ichen geben. Denn das Ich könnte sich nicht
sittlich bethätigen, ohne andere Iche ausser sich vorauszusetzen, wo-
durch es zu seiner Thätigkeit veranlasst würde.
Freilich sieht man nicht ein, warum es zur Erweckung der sitt-
lichen Freiheit mehr als ein einziges Ich neben dem meinigen geben
sollte. Aber selbst die Einräumung eines solchen verstösst schon
gegen die Grundvoraussetzung der ficht eschen Philosophie, weil es
sich zu meinem Ich als Ding anr sich verhalten würde. Nun soll
aber nach Fichte alles Sein nur in und mit dem Ich zugleich gesetzt,
d. h. es soll nur ein Sein in meinem Bewusstsein sein. Damit ist
jedoch in Wahrheit die Realität der Welt negiert, denn im Bewusst-
sein giebt es nur ein ideelles Sein, und es ist irreleitend und ein
offenbarer Missbrauch des Begriffs, wenn Fichte jenes Sein als
„Realität** bezeichnet. Bei Kant schwankt bei seiner Annahme von
Dingen an sich dieser Begriff zwischen einer realen und einer bloss
ideellen Bedeutung. Fichte, der alles Sein ausserhalb des Bewusst-
seins leugnet, hat keine Veranlassung, seine wahre Meinung durch
die schillernde Zweideutigkeit jenes Begriffes zu verbergen. „Die
Dinge", sagt er, „erscheinen dir nicht durch einen Repräsentanten.
Des Dinges, das da ist und sein kann, wirst du dir unmittelbar
bewusst, und es giebt kein anderes Ding als das, dessen du
dir bewusst bist. Du selbst bist dieses Ding, du selbst bist durch
den innersten Grund deines Wesens, deine Endlichkeit, vor dich selbst
hingestellt und aus dir selbst hinausgeworfen, und alles, was du
ausser dir erblickst, bist immer du selbst^"
Wäre das endliche Ich der Träger und das Subjekt jener Mehr-
heit von Ichen, die Fichte mit Recht als die Bedingung zur Mög-
lichkeit des sittlichen Handelns ansieht, so bestände in der That diese
Möglichkeit gar nicht. Allein Fichte täuscht sich offenbar, wenn er
meint, dem Solipsismus dadurch entgehen zu können, dass er auch das
endliche Ich, wie es das Subjekt des sittlichen Handelns' ist, zur Vor-
stellung im Bewusstsein des absoluten Ich herabsetzt. Ihrer Seinsar^
* Fichte: Sämmtl. Werke H, S. 228 f.
Das Ich als absolute TMtigkeit: Fichte. 71
nach sind dadurch zwar die sittlichen Subjekte einander gleich; insofern
jedoch dies Sein nur ein ideelles ist und folglich jene Iche den Grund
ihrer gegenseitigen Einwirkungen und Beziehungen nicht in sich selbst,
sondern nur im absoluten Ich besitzen, wird damit auch die Realität
der sittlichen Beziehungen aufgehoben und sinken sie zu blossen Illu-
sionen herunter.
Im Solipsismus ist die Welt eine Halluzination des endlichen Ich,
und dieses hat deshalb keine Veranlassung, sich sittlich zu bethätigen,
weil bloss halluzinierte Subjekte das Ich nicht ethisch motivieren
können. Bei Fichte ist sie ein Traum des absoluten Ich, und da
auch mein eigenes Ich nur ein geträumtes ist, so ist es hier erst recht
bedeutungslos, ob ich mich den übrigen Traumfiguren gegenüber
sittlich oder unsittlich verhalte. Genügte aber auch wirklich die von
Fichte ihnen zugestandene Bewusstseinsrealität , um die endlichen
Iche als sittliche Subjekte aufzufassen, und wäre nicht das einzige
Reale aller ihrer Handlungen die Traumfunktion des absoluten Ich,
so wüyde doch die Möglichkeit eines sittlichen Prozesses daran
scheitern, dass Fichte die einzige Bedingung leugnet, unter welcher
ein solcher allein möglich ist, die natürliche Vermittelung ihrer
Einwirkungen aufeinander.
Die endlichen Iche sind selbständige Realitäten gegen einander
und insofern objektive Erscheinungen, obwohl sie alle zusammen nur
im absoluten Bewusstsein und folglich für das absolute Ich nur als
subjektive Erscheinungen existieren. Die Natur dagegen oder das
nichtichliche Sein ist in der Wissenschaftslehre auch schon für das end-
liche Ich bloss eine subjektive Erscheinung. Ist also das Sein der
endlichen Iche schon ein ideelles, so ist es das Sein der Natur erst
recht. Jene haben so zu sagen ein ideelles Sein aus erster Hand,
diese dagegen hat ein solches nur aus zweiter Hand. Jene besitzen
wenigstens eine scheinbare Selbständigkeit für einander. Diese besitzt
auch nicht einmal eine scheinbare Selbständigkeit, sondern ist ein
reiner Schein, ein blosses Enthaltensein im Bewusstsein von Ichen,
die selbst nur wieder im Bewusstsein des absoluten Ich existieren.
Nun ist aber auch das absolute Ich kein substantielles Sein, sondern
absolut substratlose Thätigkeit, woraus erst das eigentliche Sein hervor-
geht. Damit läuft denn auch die Wissenschaftslehre auf den reinen
Illusionismus hinaus.
„Ich weiss", gesteht Fichte selbst, „überall von keinem Sein
und auch nicht von meinem eigenen. Es ist kein Sein. Ich selbst
weiss überhaupt nicht und bin nicht; Bilder sind, sie sind das Ein-
zige, was da ist, und sie wissen von sich nach Weise der Bilder, —
72 I^as Ich als metaphysisches Prinzip.
Bilder, die vorüberschweben, die durch Bilder von den Bildern zu-
sammenhängen, Bilder ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Zweck.
Ich selbst bin eins dieser Bilder, ja, ich bin selbst dies nicht, sondern
nur ein verworrenes Bild von den Bildern. Alle Realität ver-
wandelt sich in einen wunderbaren Traum ohne ein Leben,
von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, dem da
träumt, in einen Traum, der in einem Traume von sich selbst zu-
sammenhängt. Das Anschauen ist der Traum. Das Denken, die Quelle
alles Seins und aller Realität, die ich mir einbilde, meines Seins,
meiner Kraft, meiner Zwecke, ist der Traum von jenem Traum ^."
Unter diesen Umständen ist es kein Wunder, wenn Fichte das
Urteil über sein eigenes System resigniert dahin zusammenfasst: „Wahr-
heit geben kann es nicht, denn es ist in sich selbst absolut leer*.**
Es ist aber auch klar, dass eine solche Weltanschauung zur Unter-
lage für die Ethik nicht geeignet sein kann. Der fichtesche Monis-
mus des absoluten Ich ist ein ebenso abstrakter, wie der Monismus
der absoluten Substanz Spinozas, nur dass er von der realen Seite
der Welt abstrahiert, während dieser ihrer ideellen Seite nicht gerecht
wird. Die Metaphysik aber findet beide verschiedenen Arten des Seins
gegeben und kann erst in einer befriedigenden Erklärung ihrer unter-
schiedlichen Natur zur Ruhe kommen.
8. Das Ich als absolute Vernunft.
a) Schelling.
Die Verflüchtigung des realen Seins ins ideelle hatte Fichte an
keinem Punkte so weit getrieben, wie bei der Natur. Er hatte sie
bloss negativ als Nichtich bestimmt, d. h. er hatte sie nur als den
objektiven Gegenpol des Ich innerhalb des endlichen Bewusstseins,
als passives und unselbständiges Werkzeug für das Ich betrachtet,
woran sich das letztere zu höheren Formen der Existenz empor-
entwickelt. Nun mag die Natur immerhin bloss des Ich wegen da
sein, mag sie bloss als Bedingung des Selbstbewüsstseins existieren,
dass sie lediglich im endlichen Bewustsein existieren und nur vom
Ich getragen sein soll, das war eine Behauptung, die sich nur erklärt,
weil Fichte für die Eigentümlichkeit der Natur kein Herz besessen
hatte. Fichte wollte, als Ethiker, die Realität des Ich erhöhen und
that es auf Kosten der Natur, indem er die Realität der letzteren auf
eine möglichst tiefe Stufe herunterdrückte. Es brauchte nur ein
* Fichte: Ebenda II, S. 245.
« Ebenda S. 247.
Das Ich als absolute Vernunft: Schelling. 73
Philosoph, wie Schelling, als Physiker, an der Natur das gleiche
Interesse zu nehmen, wie Fichte es für die sittlichen Subjekte ge-
habt hatte, so lag es nahe, gegenüber diesem Gegner der Natur für
die unterdrückte Realität der letzteren in die Schranken zu treten.
Die Natur ist Korrelat des Ich, darum muss sie auch die gleiche
Art der Realität, wie dies, besitzen. Hat nun das Ich den Grund
seiner Existenz direkt im absoluten Selbstbewusstsein, so kann auch
die Natur nicht aus dem endlichen Ich und der reflexiven Thätigkeit
abgeleitet werden, wodurch bloss dies Ich zustande kommt, sondern
sie muss gleichfalls aus dem Doppelakte von centrifugaler und centri-
petaler Thätigkeit hervorgehen, wie Fichte dies vom Ich erwiesen
hat. Die Natur ist folglich auch nichts weniger als die einmalige
Setzung des Gegenteils vom Ich, sondern ebenso, wie nach Fichte
das Ich einem Entwickelungsprozesse unterliegt, so kann auch die Natur
nur schrittweise durch fortgesetzte Wiederholung jener Doppelthätigkeit
zustande kommen, indem dabei die Stufen ihrer äusseren Entwickelung
mit der inneren Entwickelung des Selbstbewusstseins parallel gehen
müssen.
Nun beruht, wie wir wissen, die Entwickelung auf der geistigen
Seite darin, dass die Intelligenz sich ein Nichtich gegenüberstellt, an
ihm sich selbst als Ich erfasst und diesen Unterschied zwischen Ich
und Nichtich durch fortschreitende Erkenntnis ihres identischen Wesens
wieder aufhebt. Auf der Seite der Natur kann demnach die Ent-
wickelung nur in der Weise verlaufen, dass jene eine Intelligenz aus
sich heraussetzt und sich dadurch immer mehr zum Ich emporentwickelt.
Beide Prozesse streben also, nur von entgegengesetzten Seiten, dem-
selben Ziel entgegen, nämlich der Identität von Natur und Geist.
Da nun, auf das absolute Bewusstsein bezogen, der geistige Prozess
ein subjektiver, der Naturprozess zugleich ein objektiver ist, so
flQlt dies Ziel mit der Uebereinstimmung von Subjekt und Objekt oder
Wissen und Sein zusammen, worauf allein es in der philosophischen
Erkenntnis ankommt.
Geist und Natur stehen sich also nicht fremd gegenüber, sondern
sie verhalten sich vne Subjekt und Objekt zu einander und sind auf
einander angewiesen, so zwar, dass sie nicht ohne ihren Gegensatz
existieren können. Beide sind sie Produkte einer und derselben Ur-
thätigkeit des absoluten Ich, die sich darin nach zwei entgegengesetzten
Richtungen hin gabelt, indem sie auf der subjektiven Seite als Ich, das
sich zur Natur entwickelt, auf der objektiven als Natur, die sich zum
Ich entwickelt für unser Bewusstsein zur Erscheinung kommt. Die
Natur ist dasjenige in einem noch unentwickelten, bewusstlosen.
74 I^&s Ich als metaphysisches Prinzip.
schlummernden und gleichsam erstarrten Zustande, was im Ich auf
bewusste und lebendige Weise ist. Die Natur ist der sichtbare G-eist;
der Geist die unsichtbare Natur. Diese beruht auf dem Doppelakte
einer expandierenden, repulsiven und attrahierenden , jener auf dem
Doppelakte einer ideellen und realen oder einer subjektiven und ob-
jektiven Thätigkeit, wovon die reale die Objekte setzt, während die
ideelle sie ins Bewusstsein erhebt. Zu zeigen, wie auf Grund dieser
letzteren die Stufen oder „Epochen" des Selbstbewusstseins sich er-
geben, ist Aufgabe der Transcendentalphilosophie, wie Fichte
sie in seiner Wissenschaftslehre entwickelt hat. Die Naturphilo-
sophie dagegen ist die Darlegung des Prozesses, wie aus dem Zu-
sammenwirken der expandierenden und attraktiven Thätigkeit die
Stufen der Natur entstehen. Diese Zweiteilung tritt an die Stelle des
ficht eschen Gegensatzes von theoretischer und praktischer Philo-
sophie. Das praktische Ich hört auf, dem theoretischen an die Seite
gestellt zu werden, und sinkt zu einer blossen Stufe innerhalb der
Transcendentalphilosophie herab. Indem es sich aber sowohl hier,
wie in der Naturphilosophie nur um die Entwickelung des Ich aus
seinem transcendentalen Grunde handelt, so ist auch für Schelling
die gesamte Philosophie nur eine Geschichte des Selbstbewusst-
seins, deren Aufgabe es ist, das Ich den Weg mit Bewusstsein zurück-
legen zu lassen, den es selbst als unbewnisstes Ich vollendet hat.
Wenn die objektive Natur und der subjektive Geist nur die beiden
herausgesetzten Seiten eines und desselben Dritten sind, so kann dies
letztere selbst weder Natur, noch Geist, weder Subjekt noch Objekt,
noch beides zugleich, sondern nur ihre absolute Identität, als
Grund der Harmonie des Subjektiven und des Objektiven, sein. Wenn
ferner der ganze Prozess in der Natur- und G-eisteswelt ein Hinstreben
vom Bewusstlosen zum Bewusstsein ist, alles Bewusstsein aber auf
der G-egensätzlichkeit von Subjekt und Objekt beruht, so kann jene
Identität des Subjektiven und des Objektiven eben deshalb selbst kein
Bewusstes sein. Der absolute Grund des Bewusstseins ist selbst „das
ewig Unbewusste, was, gleichsam als die Sonne im Reiche der
Geister, durch sein eigenes ungetrübtes Licht sich verbirgt", was da-
her auch „nie Objekt des Wissens, sondern nur des ewigen Voraus-
setzens im Handeln, d. h. des Glaubens sein kann^".
Wäre es Schelling mit dieser letzteren Behauptung Ernst ge-
wesen, so hätte er darauf verzichten müssen, den Inhalt des
Seins a priori zu konstruieren, denn die Möglichkeit einer solchen
1 SchelliDg; Sämmtl. Werke I, m, S. 609.
Das Ich als absolute Yernunft: Schelling. 75
Konstruktion beruht ja gerade auf der Identität des konstruierenden
Bewusstseins mit seinem Gegenstande. Die absolute Identität oder,
wie Schelling diese „unsichtbare Wurzel" des Seins auch einfach
nennt, das Absolute kann nicht bloss Objekt des Glaubens sein,
wenn anders Philosophie, d. h. apriorische Wissenschaft, überhaupt
möglich sein soll, denn der Glaube ist „das Ende der Spekulation".
Eine unmittelbare Erkenntnis des Absoluten, als der Identität des
Subjektiven und des Objektiven, kann es jedoch nur geben, wenn auch
an irgend einem Punkte in unserem Bewusstsein jener Gegensatz auf-
gehoben ist. Ein solcher aber ist das Ich, und daher ist die Er-
kenntnis dieser Identität im Ich eine absolute Erkenntnisart oder
eine Erkenntnis des Absoluten, weil das Wesen des Ich unmittelbar
auch das Wesen des Absoluten ist.
Freilich nicht Jeder vermag im Ich unmittelbar das Absolute
zu erkennen. Die intellektuelle Anschauung, wie Schelling jene ab-
solute Erkenntnisart im Anschluss an Fichte und Spinoza bezeichnet,
ist gleichsam ein besonderes „Organ der Philosophie", das nur bei
Wenigen zur Erscheinung kommt, obschon es Alle wenigstens der
Möglichkeit nach besitzen. „Uns allen", so beschreibt es Schelling,
„wohnt ein geheimes wunderbares Vermögen bei, aus dem Wechsel
der Zeit in unser Innerstes, von allem, was von aussenher hinzukam,
entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Unwandelbarkeit
des Ewigen in uns anzuschauen. Diese Anschauung ist die innerste,
eigenste Erfahrung, von welcher allein alles abhängt, was wir von
einer übersinnlichen Welt wissen und glauben. Diese Anschauung
zuerst tiberzeugt uns, dass irgend etwas im eigentlichen Sinne ist,
während alles Uebrige nur erscheint, worauf wir jenes Wort über-
tragen. Sie unterscheidet sich von jeder sinnlichen Anschauung da-
durch, dass sie nur durch Freiheit hervorgebracht und jedem Anderen
fremd und unbekannt ist, dessen Freiheit, von der eindringenden Macht
der Objekte überwältigt, kaum zur Hervorbringung des Bewusstseins
hinreicht. Doch giebt es auch für diejenigen, die diese Freiheit der
Selbstanschauung nicht besitzen, wenigstens Annäherung zu ihr, mittel-
bare Erfahrungen, durch welche sie ihr Dasein ahnen lässt^." „Diese
intellektuelle Anschauung tritt dann ein, wo wir für uns selbst auf-
hören, Objekt zu sein, wo, in sich selbst zurückgezogen, das an-
schauende Selbst mit dem angeschauten identisch ist. In
diesem Moment der Anschauung schwindet für uns Zeit und Dauer
dahin: nicht wir sind in der Zeit, sondern die Zeit — oder vielmehr
' Ebenda I, i, S. 318.
76 Das Ich als metaphysisches Prinzip.
nicht sie, sondern die reine absolute Ewigkeit ist in uns. Nicht
wir sind in der Anschauung der objektiven Welt, sondern sie ist in
unserer Anschauung verloren ^"
Was für uns Objekt des Erkennens ist, das ist in der intellek-
tuellen Anschauung zugleich auch Subjekt des Erkennens, weil Subjekt
und Objekt in ihr identisch sind. Die absolute Erkenntnisart im ob-
jektiven Sinne ist also zugleich eine absolute Erkenntnis im sub-
jektiven Sinne, d. h. die Erkenntnis, die wir vom Absoluten haben,
ist zugleich die Erkenntnis, die das Absolute hat, und diese ist wiederum
gamichts Anderes als das Absolute, sofern wir das letztere unmittelbar
erkennen. Bezeichnet man das absolute Erkennen als die Form, das
Absolute selbst oder den substantiellen Träger der Erkenntnisthätigkeit
als Wesen, so sind mithin im Absoluten Wesen und Form
identisch, und die intellektuelle Anschauung ist nicht nur eine Er-
kenntnis des Absoluten seiner Form nach, sondern die formell absolute
Erkenntnis ist notwendig eine Erkenntnis des Absoluten auch seinem
Wesen nach. Das Wesen verbirgt sich demnach im Absoluten nicht
hinter seiner Form, das Sein ist in ihm nicht vom Denken verschieden,
es giebt nicht ein absolutes Wissen und ausser ihm ein Absolutes,
als seinen substantiellen Träger, sondern so gewiss in ihm Subjekt
und Objekt identisch sind, so gewiss ist die Substanz des Absoluten
gamichts Anderes als das absolute Wissen, so gewiss besteht sein
Sein eben nur in seinem Wissen, seine Realität nur in dieser
Ideellität.
In der intellektuellen Anschauung ist das Wissen um das Absolute
und das Absolute völlig Eins. Es ist in ihr uns gleichsam eingebildet
als die Idee und das Wesen unserer Seele, „sodass unsere Erkenntnis
in ihm und es selbst in unserer Erkenntnis ist und wir in ihm so
klar zu sehen vermögen, als wir in uns selbst sehen und alles in
einem Lichte erblicken, gegen welches jedes andere, besonders aber
die sinnliche Erkenntnis tiefes Dunkel ist^". „Diese ewige dem Ab-
soluten selbst gleiche Form ist der Tag, in welchem wir jene Nacht
und die in ihr verborgenen Wunder begreifen, das Licht, in dem wir
das Absolute klar erkennen, der ewige Mittler, das allsehende und
alles offenbarende Auge der Welt, der Quell aller Weisheit und Er-
kenntnis^." Der Damm, welcher das endliche vom absoluten Denken
unterscheidet, ist in der intellektuellen Anschauung durchbrochen.
Der Ozean des Absoluten wälzt seine Wogen frei durch diese Oeffnung,
» Ebenda S. 325.
2 Ebenda I, iv, S. 404.
8 Ebenda S. 405.
Das Ich als absolate Vernunft: Schelling. 77
die absoluten Funktionen strahlen, wie durch einen Spalt, in die Nacht
des endlichen Bewusstseins hinein. Unter solchen Umständen bleibt
dem philosophierenden Subjekt nur übrig, um ihr Wirken in der end-
lichen Erscheinung zu erkennen, dieselben in sich gewähren zu lassen
und der Thätigkeit des absoluten Wesens passiv zuzuschauen.
Sonach ist also auch die Identitätslehre Schellings, als Einheit
von Natur- und Transcendentalphilosophie, ihrer allgemeinen Form
und Methode nach betrachtet, transcendentaler Idealismus, so-
fern sie den ganzen Inhalt des Seins durch transcendentale Intellektual-
funktionen gesetzt sein lässt und ihn aus diesen a priori meint, ab-
leiten zu können. In Hinsicht auf ihre Bestimmung der Art des
Seins oder in metaphysischer Beziehung ist sie objektiver Idealis-
mus im Gegensatze zum ficht eschen subjektiven Idealismus, sofern
ihr die Natur ebenso real ist, wie das Ich, und ist sie absoluter
Idealismus, sofern ihr alles reale Sein als solches unmittelbar ein
deelles Sein ist.
Im subjektiven Idealismus ist das Objekt bloss für das Subjekt
und alles Sein ist Objekt-für-ein-Subjekt-Sein. Im objektiven Idealis-
mus ist das Objekt, ausserdem, dass es für das Subjekt ist, auch für
sich selbst, und Subjekt und Objekt sind Funktionen des absoluten
Seins. Dort ist also die Welt bloss eine subjektive Erscheinung. Hier
ist sie dagegen eine objektive Erscheinung. Die subjektive Erschei-
nung steht im Gegensatze zum realen Sein. Die objektive Erscheinung
steht im Gegensatze zum Wesen. Dort ist das Sein bloss im Bewusst-
sein. Hier ist es Ding an sich und als solches jenseits des Bewusst-
seins. Der absolute Idealismus endlich behauptet die Identität des
Bewusstseins und des Seins oder des Ideellen und Realen, so zwar,
dass beide keine realen, sondern bloss ideelle Gegensätze im
Realen bilden. Nach ihm ist real nur ihre Einheit, und diese ist wesent-
lich ideeller Art; die Differenz des Ideellen und Realen dagegen
existiert nur in der Sphäre des Begriffs. Der absolute Idealismus
behauptet daher, dass Idealismus und Realismus bloss relative, nur
im Endlichen vorhandene Betrachtungsarten seien. Im Absoluten heisst
Denken zugleich Sein und umgekehrt, und daher ist die einzig zu-
treffende Art, die Dinge zu betrachten, der Realidealismus oder Ideal-
realismus.
So sehr nun hiermit auch die schellingsche Identitätsphilosophie
sich dem Standpunkte des Bewusstseinsidealismus nähert, indem sie
das reale Sein in den Aether der reinen Ideellität verflüchtigt, der
fundamentale Unterschied besteht doch zwischen beiden, dass Schelling
die Form des Bewusstseins vom Ideellen abstreift, die gerade das
78 ^M Ich als metaphysisclies PriziEip.
charakteristische Merkmal des Bewusstseinsidealismus ausmacht.
Das ideelle Sein, als absolut gedacht, kann nicht in der Form
des Bewusstseins eingeschlossen sein, denn diese verträgt sich nicht
mit dem Begriff des Absoluten. Zwar ist das Absolute nicht bewusst-
los in dem Sinne, dass es ausserhalb aller Möglichkeit des Bewusst-
seins läge. Denn es ist ja, als Einheit des Subjektiven und des Objek-
tiven, Prinzip und Quelle des Bewusstseins und Seins. Trotzdem darf
man es aber auch nicht für bewusst ansehen. Denn alles Bewusstsein
beruht auf der relativen Einheit von Denken und Sein, im Abso-
luten hingegen ist absolute Einheit. Als Prinzip des Bewusstseins
mag das Absolute immerhin „absolutes Bewusstsein" heissen, obwohl
dies ein uneigentlicher Ausdruck ist. Als Prinzip des Seins dagegen
kann es nicht Bewusstsein heissen, weil dieses von aller Bewusstheit
unterschieden ist. Warum mithin die absolute Einheit bloss in ihrer
Beziehung auf das Bewusstsein benennen, wenn doch die andere Seite
derselben, das reale Sein, nicht weniger ursprünglich ist als das Be-
wusstsein? „Erst dann werde ich glauben, dass du sie wahrhaft an
sich erkennst und die intellektuelle Anschauung von ihr habest, wenn
du sie auch von der Beziehung auf das Bewusstsein befreit haben
wirst ^ " Die einzige ihr angemessene Weise ist daher, die intellektuelle
Anschauung oder das Wissen vom Absoluten und des Absoluten als
unbewusstes absolutes Wissen aufzufassen. So aber ist sie die
absolute Vernunft, worin auch das Bewusstsein und seine Unter-
schiede bloss aufgehobene Momente bilden.
Dass nun mit dieser Erweiterung des absoluten Ich zur abso-
luten Vernunft die Schwierigkeit gehoben sei, worin wir die intellek-
tuelle Anschauung bei Fichte verstrickt sahen, das wird man leider
nicht behaupten können. Es bleibt nach wie vor ein Widerspruch,
dass die intellektuelle Anschauung Erkenntnisart des Absoluten
und doch zugleich des individuellen Ich, ein Widerspruch, dass die
absolute Erkenntnisart unbewusst und doch zugleich dem endlichen
Subjekt im Akte des Philosophierens bewusst sein soll. Nur als be-
wusste ist die intellektuelle Anschauung Erkenntnisart des philosophie-
renden Subjekts; nur als unbewusste ist sie absolute Erkenntnisart.
Wie aber etwas unbewusst und gleichzeitig in der nämlichen Be-
ziehung auch bewusst sein kann, das stimmt mit den logischen Ge-
setzen nicht zusammen.
„Die Vernunft ist das wahre Ansich der Dinge; ausser ihr ist
nichts, und in ihr ist alles*." Die absolute Vernunft ist die ewige
^ Ebenda I, iv, S. 266. ^ Ebenda I, iv, S. 116.
Das Ich als absolute Vernunft: Schelling. 79
Gleichheit des Subjektiven und des Objektiven, worin das Erkennende
zugleich auch das Erkannte und nicht, wie in der endlichen Vernunft,
das subjektive Denken dem objektiven Sein entgegengesetzt ist. Im
Endlichen ist das Denken, wie Kant gezeigt hat, eine Form, der ihr
Stoff von anderswoher gegeben werden muss, und nur in der Em-
pfindung ist die Realität enthalten. Im Absoluten dagegen ergiebt
sich aus seinem Begriff auch seine Existenz; es ist dasjenige, was,
indem es gedacht wird, unmittelbar auch ist, oder worin in seinem
Wesen unmittelbar auch seine Form enthalten und beide so zu sagen
wechselseitig in einander übergehen. Der absolute ewige Erkenntnis-
akt ist sich selbst Stoff und Form, ein reines Produzieren ohne Re-
flexion, indem sein Wesen ewig in die Form, seine Form ebenso
ewig wiederum in das Wesen umschlägt und sonach die absolute
Identität sich ewig zwischen ihren immanenten Gegensätzen, dem
Realen und dem Ideellen, hin und her bewegt.
Auf dem Uebergehen des Wesens in die Form oder des Ideellen
ins Reale beruht der Naturprozess. Auf der Rückkehr der Form ins
Wesen oder der Wiederaufnahme des Realen ins Ideelle beruht der
Prozess des Geistes. Das Absolute nach der Seite seiner Produktivität,
als Ueberfliessen des Ideellen ins Reale, ist die ewige Natur (natura
naturans). Das Absolute als Produkt des üeberfliessens, oder als
Realität betrachtet, ist die erscheinende Natur (natura naturata). Das
Absolute nach der Seite seiner Reflexion, als die Selbstbehauptung des
Ideellen im Realen ist die Geisteswelt. In ihr wird es offenbar, dass
alle Setzung des Realen ihrem Wesen nach bloss ideelle Thätigkeit ist.
„In der ewigen Natur wird das Absolute für sich selbst in seiner
Absolutheit ein Besonderes, ein Sein, aber auch hierin ist es absolut
Ideales, absoluter Erkenntnisakt. In der erscheinenden Natur wird
nur die besondere Form als besondere erkannt, das Absolute ver-
hüllt sich hier in ein Anderes, als es selbst in seiner Absolutheit ist,
in ein Endliches, ein Sein, welches sein Symbol ist und als solches, wie
alle Symbole, ein von dem, was es bedeutet, unabhängiges Leben an-
nimmt. In der ideellen Welt legt es die Hülle gleichsam ab, es er-
scheint auch als das, was es ist, als Ideales, als Erkenntnisakt, aber
so, dass es dagegen die andere Seite zurücklässt und nur die eine,
die der Wiederauflösung der Endlichkeit in die Unendlichkeit, des
Besonderen in das Wesen erhält^.''
Sonach ist der Unterschied zwischen Natur und Geist kein quali-
tativer, sondern bloss eine „quantitative Differenz", beruhend auf dem
^ Ebenda I, n, S. 67.
80 I^AS Ich s^s metaphysisches Prinzip.
verschiedenen Grade der Einbildung des Unendlichen in das Endliche,
welche Grade von Schelling auch als „Potenzen** bezeichnet werden.
„Die Kraft, die sich in der Masse der Natur ergiesst, ist dem Wesen
nach dieselbe mit der, welche sich in der geistigen Welt darstellt,
nur dass sie dort mit dem üebergewicht des Reellen, wie hier mit
dem des Ideellen zu kämpfen hat; aber auch dieser Gegensatz, welcher
nicht ein Gegensatz dem Wesen, sondern der blossen Potenz nach
ist, erscheint als Gegensatz nur dem, welcher sich ausser der In-
differenz befindet und die absolute Identität nicht selbst als das Ur-
sprüngliche erblickt^.**
In der absoluten Identität oder dem Wesen ist alles Eins. Da
nun das Wesen mit der Form identisch und diese der absolute
Erkenntnisakt in der Vielheit seiner einzelnen Gestalten ist, so ist
mithin das Eine Alles, oder die absolute Identität ist unmittelbar die
absolute Totalität. „Gott und Universum sind Eins oder nur ver-
schiedene Ansichten Eines und desselben. Gott ist das Universum, von
der Seite der Identität betrachtet, er ist alles, weil er das allein
Reale, ausser ihm also nichts ist. Das Universum ist Gott, von
Seiten der Totalität aufgefasst^.** Wie im Ich, aus dessen Verab-
solutierung der Begriff des absoluten Erkenntnisaktes genommen ist,
das reale Sein zugleich das ideelle und die Identität eine unmittel-
bare, durch keine logischen oder kausalen Zwischenglieder vermittelte
ist, so ist auch Gott nicht der transcendente Grund, nicht die Ur-
sache des Alls, sondern er ist das All selbst. Das letztere wird also
nicht, sondern es ist unmittelbar mit Gott, die ganze Fülle des gött-
lichen Seins ist restlos in die Totalität der Erscheinungswelt ergossen.
Daraus folgt, dass alles, was möglich ist, im göttlichen Universum
unmittelbar auch wirklich ist. Nun ist Gott schlechthin unteilbar,
ewig und unendlich. Folglich ist auch das Universum unteilbar, ewig
und unendlich. Das Universum ist der ewige absolute Erkenntnisakt;
dieser letztere aber muss als solcher zeitlos sein. Sonach giebt es
auch im Universum kein Vor und Nach, sondern alles ist in ihm zu-
gleich und ohne Zeitverhältnis.
Im absoluten Erkenntnisakte kann sein Inhalt nur als Idee ent-
halten sein. Das göttliche Universum, das identisch ist mit dem abso-
luten Erkenntnisakte, ist somit nichts Anderes als die (platonische)
Ideenwelt, die Gesamtheit der Ideen, die Idee aller Ideen, die Idee
schlechthin oder die absolute Idee, die Form aller Formen, die
Gott von Ewigkeit her als identisch mit ihm selbst gezeugt hat, und
^ Ebenda I, iv, S. 128. « Ebenda I, v, S. 366.
Das Ich als absolute YemuBft: Schelling. 81
welche daher bildlich auch von Seh ellin g der dem Absoluten odör
Gott „eingeborene Sohn" genannt wird. Die Idee an und für sich
aber ist die Einheit des Wesens und der Form, des Unendlichen und
des Endlichen, des Allgemeinen und Besonderen, der Gattung und des
Individuums, nicht eine abstrakte Allgemeinheit, wie der Begriff,
sondern ein konkretes Gedankengebilde, worin die Besonderheiten
ebenso als aufgehobene Momente sind, wie im Ich die Vielheit seiner
einzelnen Funktionen.
Weil das Universum schlechthin Eins und unteilbar ist, so
können folglich auch die Ideen in ihm nicht einzelne, sich gegen-
seitig ausschliessende Existenzen sein, sondern jede Idee, die den
Inhalt jenes Universums bildet, muss zugleich das ganze ungeteilte
Universum und damit auch selbst ein Absolutes sein. Das Universum
ist in seiner Allgemeinheit absolut, die Idee dagegen ist es in ihrer
Besonderheit. Sie ist das Universum in der Gestalt des Besonderen,
das Absolute, angeschaut in dieser Einzelform, ein ideelles Bild oder
Symbol, in dessen Einzelheit das Ganze seinen eigentümlichen Aus-
druck findet. „Was von allen bekannten und sichtbaren Dingen der
Art des Endlichen, im Unendlichen zu sein, am nächsten kommt, ist
die Art, wie das Einzelne im organischen Leibe zum Ganzen ver-
bunden ist. Denn so wenig dieser einzelne organische Teil im orga-
nischen Leibe als einzelner gesetzt ist, eben so wenig auch im Abso-
luten das Einzelne als Einzelnes. Und gleichwie ein organischer
Teil dadurch, dass er, reell betrachtet, nicht einzeln ist, nicht auf-
hört, ideell oder für sich selbst einzeln zu sein, ebenso auch das
Endliche, sofern es im Absoluten ist\"
Da entsteht die Frage: woher bei der reinen Indifferenz, der
Au%ehobenheit der Besonderheiten in der absoluten Identität die
Unterschiede? woher jene Differenz von Denken und Sein, wodurch
die blosse Ideellität der Betrachtungsweise, der Schein, als ob die
Dinge selbst einzelne und relative wären, gesetzt wird? woher die
Möglichkeit des Zeitverlaufes und überhaupt jene völlige Gegensätz-
lichkeit zur absoluten Identität, die eben das Wesen der Endlichkeit
ausmacht ?
Schelling vermag hierauf keine andere Antwort zu geben, wie
Spinoza. Er sieht den Grund in der subjektiven Auffassungs weise
des Bewusstseins , in der Sinnlichkeit, die das lautere Eine ausein-
anderzerrt und das helle Licht der ewigen und unendlichen Ideen nur
getrübt, wie durch einen dunklen Schleier, darstellt. „In den Dingen
> Ebenda I, iv, S. 250.
DrewB. 5
g2 ^As ^cb ^ xnetaphysischeB Prinzip.
siebest du nichts als die verschobenen Bilder jener absoluten Einheit
und selbst im Wissen, sofern es eine relative Einheit ist, siehst du
nichts Anderes als ein nur nach anderer Richtung verzogenes Bild
jenes absoluten Erkennens, in welchem so wenig das Sein durch das
Denken, als das Denken durch das Sein bestimmt ist^.**
Allein nun fragt es sich: woher das Bewusstsein, woher dieser
Grund der Trübung und Verschiebung des Realen? Die endliche
Welt mag Immerhin nur im Bewusstsein und folglich, sofern sie vor-
giebt, eine reale Welt zu sein, nicht mehr als eine blosse Scheinwelt
sein: dass sie als Scheinwelt wirklich ist, das kann doch nicht be-
zweifelt werden. Die Scheinwelt mag gegenüber dem realen gött-
lichen Universum von Schelling immerhin als ein Nichtsein be-
stimmt werden: mit der Leugnung ihrer Realität wird er darum doch
die Ideellität des Scheins nicht los, und diese eben ist es, die eine
Erklärung fordert. Zugegeben aber auch, dass die Identität des Ideellen
und Realen ein endliches Bewusstsein setzen kann: sie kann doch auf
keine Weise einen Bewusstseinsinhalt setzen, der nicht ein adäquates
Abbild des Realen wäre. „Das Absolute ist das einzige Reale, die
endlichen Dinge dagegen sind nicht real; ihr Grund kann daher nicht
in einer Mitteilung von Realität an sie oder an ihr Substrat, welche
Mitteilung vom Absoluten ausgegangen wäre, er kann nur in einer
Entfernung, in einem Abfall vom Absoluten liegen^." Nicht die
absolute Identität des Ideellen und Realen hat das endliche ideelle
Sein produziert, sondern durch einen vorzeitlichen Akt der
Preiheit sind die endlichen Dinge von selbst aus dem absoluten Sein
herausgetreten und haben damit zugleich die ewige Idee in den Strom
der Zeitlichkeit hinabgerissen. So haben sie zwar ihre Absolutheit
eingebüsst, aber sie haben dafür erhalten, was sie früher nicht be-
sassen, eine selbständige Realität, nur dass sie nicht die ursprüng-
lich reale, d. h. unbewusst-ideale, sondern vielmehr eine solche im Be-
wusstsein ist.
Wie diese Annahme einer selbständigen Bewusstseinswelt neben
dem göttlichen Universum sich mit dem ursprünglichen Monismus des
schellingschen Systems vertragen soll, ist schwer zu sagen. Gesetzt
aber selbst, dass ein solcher Abfall der Dinge vom Absoluten und
ein selbständiges Leben des Endlichen möglich wäre, diejenige Art
von Realität, die Schelling der Welt zuschreibt, genügt doch nicht,
um sein System vor dem Abgrund des absoluten Illusionismus zu
* Ebenda I, iv, S. 256.
8 Ebenda I, iv, S. 38.
J
Das leb als absolute Vernunft : Hegel. 83
scbützen. Aucb Scbellings Monismus bleibt abstrakter Art, denn er
vermag von der Aetherhöhe der intellektuellen Anschauung aus den
Rückweg zur Endlichkeit nicht zurück zu finden. Seine Verflüchtigung
der Welt in einen blossen ideellen Sinnenschein gegenüber der allei-
nigen Realität des Absoluten ist auch nur die notwendige Kehrseite
davon, dass Schelling das Bewusstsein des eigenen Ich zu einem
realen absoluten Sein emporschraubt.
b) Hegel.
Schelling hatte in der intellektuellen Anschauung die absolute
Vernunft gefunden, die über alle Relativität erhaben sein muss.
Trotzdem hatte er jene gleichsam nur für ein Talent, eine seltene
Anlage des menschlichen Geistes angesehen und sie damit von der
ZuföUigkeit und Besonderheit der philosophierenden Subjekte abhängig
gemacht. Schelling hatte die intellektuelle Anschauung als absolute
Erkenntnisart bestimmt, und doch sollte diesem Wissen gänzlich die
Beweglichkeit und innere Lebendigkeit des Ideellen mangeln, und hatte
er sie so beschrieben, dass sie sich thatsächlich von der starren Sub-
stanz des Spinoza nicht unterschied. Schelling hatte in ihr die
Einheit des Wesens und der Form erkannt. Aber es war ihm nicht
eingefallen, die göttliche Form im ganzen Reichtum der in ihr ent-
haltenen Momente darzustellen, sondern er hatte sich statt dessen auf
die dürftigen Bestimmungen des Subjektiven und Objektiven, des
Ideellen und Realen, des Endlichen und Unendlichen u. s. w. be-
schränkt. Die näheren Unterschiede der Form dagegen hatte er so
gänzlich übersehen, dass die inhaltliche Fülle der göttlichen Erkenntnis
nur als die reine Nacht erschien, in welcher alle Kühe schwarz sind,
Schelling hatte endlich die intellektuelle Anschauung als Identität
des Subjekts und Objekts gedeutet. Weit entfernt jedoch, das Subjekt
im Objekt und dieses wiederum in jenem auf- und untergehen zu
lassen, d. h. die göttliche Vernunft, wie es doch hätte der Fall sein
müssen, in gänzlicher Abstraktion vom denkenden Subjekt aufzufassen,
weit entfernt hiervon, hatte er den Gegensatz von Subjekt und Objekt
im Akte der philosophischen Erkenntnis doch beibehalten, die Form
wie ein dem Subjekt gegenüberstehendes Objekt behandelt und das
Subjekt den ErkenntnisstofF bloss äusserlich an die absolute Form
heranbringen und durch sie bestimmen lassen. Das hiess indess, die
Willkür und die gährende Begeisterung an die Stelle der kalt fort-
schreitenden Notwendigkeit der Sache, das hiess, an die Stelle der
objektiven Klarheit des Begriffs die trüben Ahnungen der subjektiven
Empfindung setzen.
6*
84 I^fts Ich als metaphysisches Prinzip.
Es war Hegel, der solche Einwände gegen die intellektuelle An-
schauung Schellings erhob und aus der Art, wie dieser sie ursprüng-
lich bestimmt hatte, den Inhalt der Philosophie zu entwickeln suchte.
Wenn der absolute Erkenntnisakt die Identität des Subjekts und
des Objekts ist, so können die Begriffe nicht ein totes Material sein,
das erst vom Subjekt in Bewegung gesetzt und nur äusserlich zu
den Gegenständen in Beziehung gebracht wird. Die Begriffe müssen
dann vielmehr selbst die Gegenstände und zugleich in sich beweglich sein,
sodass sie auch ohne ein von ihnen unterschiedenes und sie denken-
des Subjekt kraft ihrer eigenen Natur imstande sind, von Bestimmung
zu Bestimmung sich fortzuentwickeln. Folglich können die einzelnen
Begriffe nicht feste, gegen einander selbständige Elemente sein, die
warten müssen, bis das Subjekt sie äusserlich nach den Sätzen der
Identität und des Widerspruchs unter einander verbindet, sondern
die Begriffe müssen von selbst in einander übergehen und sich ver-
binden und diejenigen Momente auch als reale aus sich heraussetzen
können, die vorerst nur als ideelle in ihnen enthalten sind.
Nur im subjektiven, menschlichen Denken oder im Verstand
ist das denkende Subjekt das Prinzip der Denkbewegung; dies Denken
ist daher aber auch bloss endlicher Natur. Im objektiven, göttlichen
Denken oder in der Vernunft dagegen muss das Prinzip der Denk-
bewegung selbst ein objektives, in der Sphäre des Begriffes ver-
bleibendes sein, und dies kann nur der Widerspruch, als das Ne-
gative des Begriffes, sein. Der Widerspruch, der also selbst ein
Moment des Gedankeninhalts ist, bringt die Begriffe in Fluss und
nötigt sie, in die ihnen entgegengesetzten Bestimmungen umzu-
schlagen. Nur dadurch ist das Denken ein absolutes, dass in ihm
dem Gedankeninhalt seine innere Bestimmtheit nicht äusserlich von
einem Andern aufgeheftet wird, sondern dass er sich jene Bestimmt-
heit selbst verleiht, indem er unter dem beständigen Stachel des
Widerspruches die ganze Fülle seiner inneren Besonderheiten zu Tage
fördert.
Der endliche Verstand lässt sich seinen Inhalt von aussen geben
und sucht durch diskursive Denkoperationen, durch Vergleichen,
Schliessen, Beweisen u. s. w. zur Wahrheit vorzudringen, ohne da-
mit über die Grenzen der Endlichkeit und der Zufälligkeit eines
bloss subjektiven Räsonnements hinauszukommen. Die wahre Methode
der Wissenschaft kann nur darin bestehen, dass der Begriff sich selbst
bestimmt imd durch seine eigene immanente Bewegung den Inhalt als
einen notwendigen und apodiktischen aus sich entfaltet. Nicht jene
kahle Abstraktheit des schellingschen Absoluten, worin alle Unter-
Das Ich als absolate Vernunft: Hegel. 85
schiede ausgelöscht sind, auch nicht die blosse Einsicht, dass dies
Absolute seiner Natur nach ein absoluter Erkenntnisakt sei, kann
sonach als Bestimmung des Realen gelten. Dazu muss vielmehr der
Erkenntnisakt wirklich auch als Akt gefasst, das Wissen als Pro-
zess gedeutet werden, der seine Momente selbst durchläuft, indem
er sie hervorbringt, dazu muss diese ganze Bewegung allein als
das Wirkliche und seine Wahrheit angesehen werden.
Bas reale Sein ist als solches unmittelbar ein ideelles, nicht ein
subjektives, von einem Subjekt getragenes, sondern ein objektiv-ide-
elles, das in sich selbst Bestand hat. Dies ideelle Sein aber ist die
Selbstbewegung des Begriffs. Sofern nun das treibende Mo-
ment dieser Bewegung das Negative oder, wie Hegel es auch nennt,
das Dialektische ist, so ist die Bewegung dialektische Bewegung.
Der ganze dialektische Erkenntnisprozess aber ist nichts Anderes als
eine Wiederholung des göttlichen Erkenntnisprozesses auf Grund der
dialektischen Methode. Eine solche Wiederholung ist daher auch
kein willkürlicher Akt, den nur wenige besonders begnadete Geister
vollziehen könnten, sondern er kann von einem Jeden jeder Zeit
vollzogen werden, und nur das ist nötig, dass das philosophierende
Subjekt sich gänzlich des Einfallens in den immanenten Rythmus der
Begriffe entschlägt und, statt ihren Fluss zu unterbrechen, ihn ruhig
in sich gewähren lässt.
Wie kommen wir nun dazu, die Selbstbewegung des Begriffes
als objektive Thätigkeit anzusehen?
Diese Einsicht wird uns nicht unmittelbar durch intellektuelle
Anschauung gegeben, wie Schelling meint, sodass sie als eine Aus-
nahme unter unserer sonstigen Erkenntnis dasteht. Sie ist vielmehr
eine durch seine eigene Natur vermittelte, notwendige Phase in der
Entwickelung unseres Bewusstseins, oder wie Hegel sich ausdrückt,
eine der geforderten „Gestalten des Bewusstseins", d. h. der ver-
schiedenen Möglichkeiten, wie das Bewusstsein sich zu seinen Gegen-
ständen verhält. Unmittelbar oder an sich ist uns ja nämlich die
ideelle Substanz nur in der Spaltung des Bewusstseins gegeben. Der
Widerspruch indes bewirkt, dass diese Substanz von der untersten
Stufe des bloss sinnlichen Bewusstseins mit seinem schroffen Gegen-
satz von Subjekt und Objekt, ihn ausgleichend, zu immer höheren
Stufen des Bewusstseins emporsteigt, um schliesslich auf der höchsten
Stufe die Identität des Subjekts und des Objekts zu erkennen. In
dieser Gestalt ist sie dasjenige, was sie vorher bloss an sich war,
auch für sich oder ist sie sich ihres wesenhaften Seins bewusst,
und dies ist es, was Hegel als den Geist bezeichnet. Indem es
86 ^^^ ^cli ^^ metaphysisches Prinzip.
sich also in diesem ganzen Prozesse um die Geburt des Geistes, d. h.
um die gewusste Identität der an sich seienden Substanz und ihres
bis dahin ihr Susserlich gegenüberstehenden Gegenstandes handelt,
worin das Wissen sich objektiv geworden ist, so ist die Darstellung
jenes Prozesses die Phänomenologie des Geistes. Das Ziel des-
selben aber ist das absolute Wissen, das Sein des Geistes als Be-
wusstsein, der sich in Geistesgestalt wissende Geist, das begreifende
Wissen, worin die Momente des Geistes nicht ferner in den Gegen-
satz von Sein und Wissen auseinander fallen, sondern in der Einfach-
heit des Wissens beschlossen bleiben, indem ihre Verschiedenheit nur
eine solche des ideellen Inhalts ist. Daher stellen sich denn auch
auf dieser höchsten Stufe des Bewusstseins die Momente der Bewe-
gung nicht selbst wieder als bestimmte Gestalten des Bewusst-
seins, sondern als bestimmte Begriffe dar und als deren organische,
in sich selbst gegründete Bewegung. Diese Bewegung ist folglich
auch nicht mehr die Phänomenologie des Geistes, die es bloss mit den
realen Gestalten des Bewusstseins zu thun hat, sondern es ist die
Logik, die eigentliche spekulative Philosophie, und ihre Aufgabe ist
es, als reine Wissenschaft, den Begriff in seiner Losgelöstheit von
aller empirischen Realität zu betrachten.
So müssen wir denn in der fortlaufenden Kette der Begriffe an
irgend einem Punkte ansetzen und von ihm aus den Entwickelungs-
prozess verfolgen, um eine Erkenntnis vom Realen zu gewinnen. Beruht
nun dieser Prozess auf der Aufschliessung des Begriffs zu immer
konkreteren Gestalten, so kann folglich sein Ausgangspunkt nur in
der einfachsten Bestimmung liegen, in einer Bestimmung des Be-
griffs, die implicite zwar den ganzen Reichtum seiner einzelnen Mo-
mente in sich schliesst, explicite jedoch die allgemeinste, abstrakteste
und dürftigste von allen ist. Demnach muss auch dem realen Sein
der Welt eine Reihe von Entwickelungsformen des Begriffs voraus-
gehen, die selbst noch nicht real im Sinne des gegebenen, empiri-
schen Daseins sind, worin sich vielmehr der Begriff nur erst so-
weit verdichtet und konkresziert , um unmittelbar Element jenes Da-
seins zu werden. In der Logik, als der Darstellung dieses vor-
realen und vorempirischen Prozesses, durchläuft das unmittelbare
Sein des Anfangs die Stufen des Wesens, des Begriffes, der Idee
u. s. w., um schliesslich in der Idee des absoluten Erkennens oder
als absolute Idee sich selbst als die reine Form des Begriffes zu
erkennen, die ihren Inhalt als sich selbst anschaut.
Die „Realität" in der he gel sehen Logik bezieht sich demnach
nicht auf die endlichen Dinge, sie bezieht sich weder auf das natür-
Das Ich als absolute Vernunft: Hegel. 87
liehe, noch auf das geistige Sein, weder auf die reale, noch auf die
ideelle Realität des Bewusstseins, sondern sie bedeutet hier nur die
Bestimmtheit des Begriffs im Gegensatze zu seiner ursprünglichen
Unbestimmtheit. Und ebenso sind die Ausdrücke Dasein, Existenz
und Objektivität nicht Bestimmungen der empirischen Wirklichkeit,
sondern Dasein bedeutet nur das Herausgesetztsein der ideellen Be-
stimmungen in der logischen Sphäre des Seins, Existenz dasselbe in
der logischen Sphäre des Wesens, Objektivität das Herausgesetztsein
der ideellen Bestimmungen in der logischen Sphäre des BegrifiPes.
Alle drei also sind nur Unterarten jener logischen Realität, die
noch vor der eigentlichen Wirklichkeit der Dinge liegt. Ist diese,
als b^riffliche, eine ideelle Realität, so ist jene vorempirische
Realität der Logik eine reale Ideellität und als solche das
reine Denken oder reine Wissen, dessen Reinheit, wie gesagt, da-
rin besteht, dass es mit der unmittelbaren Realität der empirischen
Erscheinungswelt noch nicht behaftet ist. Die Logik aber ist das
System der reinen Vernunft, das Reich des reinen Gedankens. „Dieses
Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst
ist. Man kann sich deswegen ausdrücken, dass dieser Inhalt die
Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Er-
schaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist^."
Hegel glaubt, wie gesagt, den Beweis für die objektive Not-
wendigkeit des Zusammenfallens von Subjekt und Objekt, von Wissen
und Sein, von Dasein und Bewusstsein in seiner Phänomenologie des
Geistes erbracht zu haben, indem er sie als eine Stufe des Bewusst-
seins darstellt. Man sieht jedoch leicht, dass jene Identität des Ide-
ellen und Realen die stillschweigende Voraussetzung ist, ohne welche
es keine Entwickelung des Bewusstseins geben könnte. Wie wenig sich
also aucb Hegel selbst darüber klar ist, er steht so gut, wie Schelling,
auf dem Boden der intellektuellen Anschauung, deren Annahme er bei
jenem tadelt, aber er hat dies Prinzip zur höchsten Vollendung fort-
entwickelt, wodurch erst seine ganze Bedeutung ans Licht hervortritt.
Auch Spinoza war durch das Thor der intellektuellen Anschau-
ung unmittelbar ins Centrum des Absoluten eingedrungen, ohne in-
dessen in ihr etwas mehr als bloss die abstrakten allgemeinen Um-
risse des absoluten Wesens, die Substanz als den Träger ihrer At-
tribute zu erkennen. Auch Fichte hatte sich vermittelst ihrer zur
Erkenntnis des Absoluten als der absoluten Thätigkeit erhoben; aber
er hatte alle Akte dieser Thätigkeit nur auf das Zustandekommen
' Hegel: Sämtliche Werke, HI, S. 85f.
88 •E>a8 Ich als metaphysisches Prinzip.
der endlichen Bewusstseinswelt bezogen. Auch Schelling hatte die
intellektuelle Anschauung als göttlichen Erkenntnisakt bestimmt,
doch hatte er sich nicht einfallen lassen, in der himmlischen Klarheit
dieser absoluten Gedankenwelt die einzelnen Momente als solche
unterscheiden zu wollen. Hegel jedoch, der jenen Erkenntnisprozess
als die Selbstbewegung des Begriffes auffasst, der zugleich in seiner
Dialektik das Prinzip entdeckt zu haben meint, wie die Begriffe aus-
einander hervorgehen, Hegel erhebt den Anspruch, mit dem end-
lichen subjektiven Denken die Schritte des objektiven göttlichen Den-
kens selbst nachgehen zu können, und zwar des göttlichen Denkens,
nicht bloss wie es innerhalb der Welt die Wunder seines unend-
lichen Inhaltes aufschliesst, sondern auch wie es vor aller empirischen
Wirklichkeit den Grundriss eines eventuellen Weltdaseins entfaltet.
Damit ist nun, wie gesagt, die höchste Sprosse erklommen, die
auf der Leiter der Identität von Denken und Sein überhaupt er-
reichbar ist. Was der ganze Rationalismus seit Descartes erstrebt
hatte, eine apriorische Erkenntnis der Wirklichkeit, eine Erkenntnis,
die, unabhängig von der Zufälligkeit der Erfahrung, bloss aus dem
Wesen der Vernunft geschöpft und darum auch apodiktisch gewiss
ist, das findet in der heg eischen Dialektik seine Erfüllung, indem in
ihr die Methode der metaphysischen Wissenschaft zugleich als die
Ausführung dieser letzteren selbst sich darstellt. Es giebt Fälle, wo
der Zeitgeist seinen vielverzweigten Inhalt gleichsam zusammenfasst
und die Fülle seiner treibenden Ideen in einer einzigen Persönlich-
keit zum Ausdruck bringt. Hegel ist eine solche Persönlichkeit;
darum ist es begreiflich, wenn er selbst, getragen von diesem allge-
meinen Zeitbewusstsein , einen Glauben an die Vernunft, ein Ver-
trauen auf die Macht und die Fähigkeit des menschlichen Geistes
äussert, wie ihn selbst ein Spinoza nicht besessen hatte. „Das
verschlossene Wesen des Universums hat keine Kraft in sich, welche
dem Mute des Erkennens Widerstand leisten könnte; es muss sich
vor ihm aufthun und seinen Reichtum und seine Tiefen ihm vor
Augen legen und zum Genüsse bringen^."
Wenn nun die Logik bloss die allgemeinen Formen und Begriffe
darlegt, die, falls es zu einer Weltwirklichkeit kommt, in dieser ihre
bestimmte Stelle erhalten sollen, wenn in der absoluten Idee oder
der explizierten Totalität aller b^rifflichen Momente der logische
Prozess sich in seinen Anfangspunkt zurückschlingt, ohne irgendwie
die Sphäre des Logischen selbst zu überschreiten, so ist klar, dass
1 Ebenda VI, xi.
Das Ich als absoluta Yernanft : Hegel. 89
dieses ganze Reich der logischen Ideen erst eine fundamentale Um-
wandlung erfahren muss, um Prinzip der empirischen Wirklichkeit
sein zu können. Hegel denkt sich diesen Uebergang der Logik oder
der reinen Idealwissenschaft in die Realwissenschaften der endlichen
Existenz so, dass die Idee, nachdem sie alle Stufen ihrer logischen
Entwickelung durchlaufen, sich selbst durch einen Akt der Freiheit
in die ihrer eigenen Subjektivität und Ideellität entgegengesetzte
Aeusserlichkeit des Raumes und der Zeit hineinbegiebt : „Die absolute
Freiheit der Idee ist, dass sie in der absoluten Wahrheit ihrer selbst
sich entschliesst, das Moment ihrer Besonderheit oder des ersten
Bestimmens und Andersseins, die unmittelbare Idee als ihren
Widerschein, sich als Natur frei aus sich zu entlassend"
Mit diesem Akte der absoluten Freiheit also tritt die Idee aus
der ihr allein angemessenen Sphäre der reinen Idealität oder des bloss
logischen Seins, aus der Verschlossenheit des Insichseins heraus, ge-
langt sie ausser sich und wird Weltidee, Prinzip des empirischen,
realen Daseins. Freilich erinnert dieser Uebergang zu sehr an den
seh elling sehen „Abfall^ der leeen, um den Widerspruch, den er in
sich schliesst, verbergen zu können. Der Freiheitsakt kann dies nur
als grundloser sein; als solcher ist er gleich dem reinen Zufall. Wie
aber in der Entwickelung des Begriffs, wo alle Momente durch die
logische Notwendigkeit zusammenhängen, der Abgrund des Zufalls
zwischen zwei Momenten gähnen kann, dies bleibt auf dem heg eischen
Standpunkte des Panlogismus unverständlich.
Ebenso unverständlich ist es, woher Hegel das Recht nimmt,
das „Anderssein" der Idee in der empirischen Wirklichkeit trotzdem
noch als ein Ideelles zu betrachten, als ob jene ganze Wirklichkeit
sich restlos in logische Bestimmungen zergliedern liesse. Wenn die
Identität des Ideellen und Realen in ihrer Reinheit und Lauterkeit
nur in der logischen Sphäre des Begriffes angetroffen wird, so müsste
doch die Realität der empirischen Erscheinungswelt eben nicht mehr
reine Ideellität sein können. Und doch soll, ebenso wie der Begriff
in der rein logischen Sphäre sich nicht in der Objektivität seiner
herausgesetzten Bestimmungen verliert, sondern die ideelle, begriffs-
mässige Einheit der Besonderheiten sich immer wieder aus diesen her-
stellt, doch soll es die „Macht des Begriffes" sein, sich auch im realen
Dasein zu erhalten, die Fremdheit, die ihm im Aussersichsein der
Natur anhaftet, zu tiberwinden und aus den mannigfaltigen Natur-
gestalten sich selbst in seinem Wesen zurückzugewinnen. Der ganze
' Ebenda S. 413 f.
90 I)ft* Ich als metaphysisches Prinzip.
Naturprozess soll eben nichts Anderes sein als die Bemtiliang des Be-
griffs, den Widerspruch des raumzeitlichen Daseins mit seinem Wesen
aufzuheben und das, was er in der Natur bloss an sich ist, auch für
sich, d. h. Geist, zu sein. Wie wenig jedoch Hegel selbst imstande
ist, auch nur die einfachsten Erscheinungen der Natur als rein begriff-
liche Momente darzustellen, dafür liefert seine eigene Naturphilosophie
das beste Beispiel. Weit entfernt, in der Natur einen vernünftigen
Entwickelungsprozess zu finden, vermag er sie nur als ein regelloses
Durcheinander gleichgültiger und sinnloser Gestalten zu begreifen.
Die vielgerühmte Macht des Begriffs offenbart sich hier thatsächlich
als die reine Ohnmacht, ja, Hegel bequemt sich schliesslich selbst zu
dem Eingeständnis, es sei das Ungehörigste, vom Begriffe zu ver-
langen, er solle alle die Willkürlichkeiten in dieser Sphäre begreifen,
und meint, die Zufälligkeit und Bestimmbarkeit von aussen
behaupte in der Natur ihr Recht.
Man sollte hiemach glauben, diese UnftOügkeit des Begriffes, die
einzelnen Naturgestalten zu erklären, würde aufgehoben durch die Art
und Weise, wie jenes Prinzip sich in der Geistesphilosophie bewährt.
Leider treten seine Mängel hier nur noch greller zu Tage, und zwar
weü es nicht imstande ist, die individuellen Besonderheiten in der
Geistessphäre zu bestimmen. Gewiss hat Hegel Recht, zu betonen,
es komme in der Philosophie nur darauf an, das Wahre im Menschen,
d. h. das Wesen seines Geistes, zu erkennen, und wenn er infolge-
dessen die blosse Menschenkenntnis, die Sammlung von zufälligen
Einzelheiten und das „selbstgefällige Sichherumwenden des Individuums
in seinen ihm teuren Absonderlichkeiten'', als unwissenschaftliches Rä-
sonnement verwirft. Wenn diese Abstraktion von allen Besonder-
heiten, „diesen sogenannten Palten des menschlichen Herzens", sein
fortwährendes Hindrängen zum Allgemeinen nur nicht den Sinn hätte,
dass überhaupt nichts daran gelegen sei, die Realität des Individuellen
zu begreifen ! Mag Hegel nun den subjektiven Geist in der Anthro-
pologie, Phänomenologie und Psychologie, oder mag er den objek-
tiven Geist im Rechtsleben, der Moralität und der Sittlichkeit, oder
mag er endlich den absoluten Geist in Kunst, Religion und Philo-
sophie betrachten, immer handelt er nur von einem allgemeinen Be-
griff des Geistes und seinen abstrakten Bestimmungen, als ob diese
für sich existierten und nicht alle Geistgestalten doch überall nur von
konkreten Individuen getragen würden.
Indem er zunächst in der Empfindung aus dem Zustande seines
Aussersichseins oder Naturseins erwacht, ist der Geist nach Hegel
Seelei Unter dieser ist indessen nicht etwa die besondere reale Seele
\
Das Ich als absolute Yemunft: Hegel. 91
als solche, sondern nur „die allgemeine Immaterialität der Natur, deren
einfaches, ideelles Leben" zu verstehen, „die Substanz, die absolute
Grundlage aller Besonderung und Vereinzelung des Geistes, sodass er
in ihr allen Stoff seiner Bestimmung hat und sie die durchdringende,
identische Idealität derselben bleibt^". Die Seele darf jedoch auch
nicht als Weltseele „fixiert" werden, als ob sie ein handelndes Subjekt
wäre, das hinter seinen Erscheinungen steht. Wohl aber ist sie Sub-
stanz in dem Sinne, dass sie nur als Einzelheit Wahrheit hat, d. h.
sie ist selbst noch kein Individuum, sondern nur das stets sich Indi-
vidualisierende, der Mutterschoss aller individuellen Gestaltungen.
Individuum ist der Geist erst durch seine Verflechtung mit der Natür-
lichkeit, in die er sich hineinbildet^ indem er sie dadurch zu seinem
Leib gestaltet. Die ganze Arbeit des Geistes innerhalb der seelischen
Stufe besteht darin, durch eine solche fortgesetzte Hineinbildung in
die Natürlichkeit des Leibes sich selbst als das Wesen dieses Leibes
zu erkennen, den letzteren als Objekt von sich, als Subjekt, zu unter-
scheiden und damit im Begriff des Ich zur nächsthöheren Stufe des
Bewusstseins emporzusteigen.
Das Ich ist die abstrakte Allgemeinheit für die Allgemeinheit,
„dies Allgemeine, dies Einfache, das in Wahrheit erst dann existiert,
wenn es sich selbst zum Gegenstande hat^". „In ihm erfolgt somit
ein Erwachen höherer Art als das auf das blosse Empfinden Einzelner
beschränkte natürliche Erwachen; denn das Ich ist der durch die
Naturseele schlagende und ihre Natürlichkeit verzehrende Blitz ; im Ich
wird daher die Idealität der Natürlichkeit, also das Wesen der Seele
für die Seele ^"
Offenbar ist auch hiermit noch nicht das einzelne, reale Ich, sondern
höchstens der allgemeine Begriff des Ich, die Ichheit abgeleitet, wie
sie, falls es zum realen Dasein kommt, dem wirklichen Ich als Vor-
bild oder schöpferische Form vorangeht. Gesetzt aber auch, dass sie
mit dem wirklichen Ich identisch wäre, so wäre doch damit immer
nur erst die Existenz eines einzigen Ich bewiesen; woher jedoch die
vielen Iche stammen, das wäre aus der Einheit und Einzigkeit der
Idee nicht zu begreifen. Auch hier weiss Hegel sich nur zu helfen,
indem er den „Zufall" in sein System aufnimmt. „Die einzelnen Seelen
unterscheiden sich von einander durch eine unendliche Menge von
zufälligen Modifikationen. Diese Unendlichkeit gehört aber zur schlechten
Art des Unendlichen*." Das heisst jedoch, das Problem nur einfach bei
* Ebenda VH, S. 46 f. « Ebenda S. 247.
* Ebenda S. 248. * Ebenda S. 82.
92 Das Ich als metaphysisches Prinzip.
Seite schieben, aber nicht, es lösen, wenn man seine Beantwortung mit
der Würde der philosophischen Betrachtung für unvereinbar erklärt.
Dass die Ichvorstellung uns Allen gemeinsam ist und insofern
mein Ich sich von den anderen nicht unterscheidet, soll beweisen,
dass die Einzelheit eigentlich nur ein nichtiges Moment, dass aber
das eigentlich Reale am Ich, die Wahrheit desselben, der Allgemeingeist
ist. Ich ist „das individuell bestimmte Allgemeine", die Idee, sofern
sie durch Abstossung und Negation aller Schlacken der Natürlichkeit
ihr Wesen als ideelles Sein im Anderssein der empirischen Wirklichkeit
zurückgewinnt. „Ich, als diese absolute Negativität, ist an sich die
Identität im Anderssein ; Ich ist es selbst und greift über das Objekt
als ein an sich aufgehobenes über, ist eine Seite des Verhältnisses
und das ganze Verhältnis, das Licht, das sich und Anderes offenbart^."
Wie der Geist durch die Stufe der Seele hindurch sich zum Be-
wusstsein fortentwickelt, so nämlich geht die Entwickelung des Be-
wusstseins in der Weise vor sich, dass das Subjekt das Objekt als
seine eigene Bestimmung, eben dadurch als mit sich identisch begreift
und in der Erkenntnis des Ich = Ich die höhere Stufe des Selbst-
bewusstseins erklimmt. In diesem Ausdruck : Ich = Ich ist zugleich
das Prinzip der absoluten Vernunft und Freiheit ausgesprochen. „Die
Freiheit und die Vernunft besteht darin, dass ich mich zu der Form
des Ich = Ich erhebe, dass ich alles als das Meinige, als Ich erkennne,
dass ich jedes Objekt als ein Glied in dem System desjenigen fasse,
was ich selbst bin, kurz darin, dass ich in einem und demselben Be-
wusstsein Ich und die Welt habe, in der Welt mich selber wieder-
finde und umgekehrt in meinem Bewusstsein das habe, was ist, was
Objektivität hat 2."
Eben damit aber befreit sich auch der Geist aus der Enge des
Selbstbewusstseins und erkennt sich als das, was er seinem Wesen
nach ist. Die Einzeliche, die auf der Stufe des Selbstbewusstseins
noch als besondere festgehalten werden, sind nunmehr als unter-
geordnetes Material überwunden. „Ihr Unterschied ist in dieser Iden-
tität die ganz unbestimmte Verschiedenheit, oder vielmehr ein Unter-
schied, der keiner ist. Ihre Wahrheit ist die an und für sich seiende
Allgemeinheit und Objektivität des Selbstbewusstseins, die Vernunft^."
Diese Gewissheit des Selbstbewusstseins, dass seine Bestimmungen
ebenso sehr gegenständlich, Bestimmungen des Wesens der Dinge,
wie seine eigenen Gedanken sind, diese „unendliche Allgemeinheit"
der sich wissenden Wahrheit, diese ist der Geist im eminenten
Ebenda S. 249. « Ebenda S. 267. » Ebenda S. 285.
Das Ich als absolute Yemunfl: Hegel. 93
Sinne, die letzte und höchste Stufe der Idee in der Sphäre des
realen Daseins, womit sich zugleich ihre endliche Entwickelung wieder
in die Unendlichkeit des Anfangs zurückschlingt.
„Der Geist als solcher ist die Vernunft, wie sich dieselbe einerseits
in die reine unendliche Form, in das schrankenlose Wissen, und andrer-
seits in das mit diesem identische Objekt trennt^." Er ist endlich,
solange das Wissen das An- und Fürsichsein seiner Vernunft noch
nicht erfasst, oder was dasselbe ist, solange die Vernunft sich nicht
zur vollen Manifestation im Wissen gebracht hat. „Die Endlichkeit
des Geistes darf daher nicht für etwas absolut Festes gehalten, sondern
muss als eine Weise der Erscheinung des nichtsdestoweniger seinem
Wesen nach unendlichen Geistes erkannt werden. Darin liegt, dass
der endliche Geist unmittelbar ein Widerspruch, ein Unwahres und
zugleich der Prozess ist, diese Unwahrheit aufzuheben^." Denn der
Geist ist in seiner Wahrheit erst, wenn alle Besonderheiten in ihm nur als
Momente begriffen sind, oder wenn er als die schlechthin allgemeine,
durchaus gegensatzlose Gewissheit seiner selbst erkannt ist. Ein
solches Moment des Geistes ist das endliche Bewusstsein. „Er selbst
ist das Sichunterscheiden, das Sichbestimmen, d. h. sich als endliches
Bewusstsein zu setzen. Dadurch aber ist er nur als durch das Be-
wusstsein oder den endlichen Geist vermittelt, sodass er sich zu ver-
endlichen hat, um durch diese Verendlichung Wissen seiner selbst zu
werdend"
Das endliche Bewusstsein ist sonach ein notwendiges Moment
am Geiste. Der Allgemeingeist muss in der Natur ausser sich gehen,
um endliches Bewusstsein, und er muss sich in der Enge des end-
lichen Bewusstseins einschränken, um absolutes Bewusstsein zu sein.
Nichtsdestoweniger ist das endliche Bewusstsein ein an und für sich
unwahres und darum aufzuhebendes Moment am Geiste, der vielmehr
Allgemeingeist und Allgeist nur in der Freiheit von allen Schranken
des Bewusstseins ist. „Der Geist ist sonach dieses, sich ewig zu
erkennen, sich aufzuschliessen zu endlichen Lichtfunken des einzelnen
Bewusstseins und sich aus dieser Endlichkeit wieder zu sammeln und
zu erfassen, indem in dem endlichen Bewusstsein das Wissen von
seinem Wesen und so das göttliche Selbstbewusstsein hervorgeht*."
„Dass der Mensch von Gott weiss, ist nach der wesentlichen Ge-
meinschaft ein gemeinschaftliches Wissen, d. i. der Mensch weiss
nur von Gott, insofern Gott im Menschen von sich selbst
weiss. Dies Wissen ist Selbstbewusstsein Gottes, aber ebenso
^ Ebenda S. 289. ^ Ebenda S. 293.
» Ebenda XI, S. 200. * Ebenda XII, S. 330.
94 Pas Ich als metaphysisches Prinzip.
ein Wissen desselben vom Menschen, und dies Wissen Gottes
vom Menschen ist Wissen des Menschen von Gott. Der Geist
des Menschen, von Gott zu wissen, ist nur der Geist Gottes
selbst^."
So ist denn also auch nach Hegel der Geist seinem Wesen nach,
als aktiver, funktionierender, sich entwickelnder, ein vorbewusster und
unbewusster und nur erst in seinem höchsten Produkte, dem Menschen,
kommt er zum Bewusstsein. Damit erhebt sich aber auch hier das
Bedenken, wie das bewusste Denken des Menschen unmittelbar zu-
gleich das ■ unbewusste Denken Gottes sein, ja, wie es auch nur den
Anspruch erheben kann, ein völlig adäquates Abbild dieses Denkens
zu sein. Als Inhalt des Bewusstseins haben die heg eischen Bestim-
mungen der Idee und des Geistes bloss ein subjektiv -ideelles Sein.
Als Inhalt des absoluten Denkens sollen sie nicht bloss ein objektiv-
ideelles, sondern als solches zugleich ein absolut -reales Sein besitzen.
Der Widerspruch kann nicht dadurch gehoben werden, dass man den
subjektiven Denkprozess als die ideelle Abspiegelung des realen Pro-
zesses auffasst. Denn entweder ist dies richtig, dann ist das Denken
nicht identisch mit dem Sein, weil Bewusstsein und Sein alsdann zwei
getrennte Sphären bilden. Oder sie sind identisch, dann ist auch die
Realität der idealen Bestimmungen nur eine subjektiv-ideelle, und der
fichtesche subjektive Idealismus ist die Konsequenz des Panlogismus,
über den hinausgeschritten zu sein, die hegelsche Philosophie sich
gerade als Verdienst anrechnet.
Man versteht so, wie auch bei Hegel die empirische Wirklichkeit
die Gestalt eines bloss subjektiven Scheins annehmen kann, um den
sich die eigentlich so genannte spekulative Betrachtung nicht weiter
kümmert. Darum erscheint auch bei ihm die Welt als „das für sich
negative Moment des Andersseins, des Aussersichseins, das als solches
keine Wahrheit hat, sondern nur ein Moment, der Zeit nach nur ein
Augenblick und selbst kein Augenblick ist, sondern nur dem endlichen
Geiste gegenüber diese Weise der Selbständigkeit hat, insofern er
selbst in seiner Existenz diese Art und Weise der Selbständigkeit
ist" ^. So wenig der Begriff imstande ist, die Individualität in ihrer
konkreten Besonderheit und die Vielheit der endlichen Individuen zu
bestimmen, so wenig vermag er die Realität aus sich hervorzutreiben,
sondern er bleibt mit allen seinen Bestimmungen in der Sphäre des
Ideellen und bloss Logischen stecken. Diese Welt, wie sie unmittel-
bar ist, das Sinnliche, Zeitliche, darf daher auch gar nicht als seiend
Ebenda S. 496. » Ebenda XII, S. 252.
Das Ich als absoluter Wille: Schopenhauer. 96
angenommen werden. Sie ist nur „ein verschwindendes Moment der
Erscheinung in Gott". Hegel vergleicht sie dem flüchtigen Aufleuchten
eines Blitzes oder dem Tönen eines Wortes, das, indem es gesprochen
und vernommen, in seiner äusserlichen Existenz verschwunden ist,
womit er freilich diese, wenn auch noch so flüchtige Existenz selbst
nicht fortleugnen kann.
Natürlich ist mit solchen Behauptungen, ebenso wie mit der An-
nahme eines rein logisch-idealen Entwickelungsprozesses des Begriffes
vor und jenseits des empirisch-realen Geistprozesses, wie die Logik
ihn im Gegensatze zur Realphilosophie darstellt, der Monismus der
he gel sehen Philosophie doch wieder nur zum Dualismus und zur Ab-
straktheit verurteilt. So gewiss daher diese Philosophie die höchste
Form und den Gipfel des Rationalismus darstellt, so gewiss ist sie
zugleich auch sein Absturz und seine reductio ad absurdum, denn an
ihr wird es offenbar, was schon Kant geahnt hatte, dass das
Ideelle und das Reale nicht identisch sein können und
dass man daher über denBegriff hinausgehen muss, um
den festenBoden des wahrhaft Wirklichen zu erreichen.
4. Das IcIl als Wille,
a) Das Ich als absoluter Wille: Schopenhauer.
Der Rationalismus war aus dem Streben hervorgegangen, eine
apodiktische Erkenntnis des Realen zu gewinnen. Apodiktisch gewiss
ist aber bloss die apriorische Erkenntnis, d. h. die Erkenntnis aus reiner
Vemunfb. Darum hatte der Rationalismus ganz folgerichtig das ge-
samte reale Sein in ideelle, vernunftgemässe Bestandteile aufgelöst und
hatte er seine höchsten Stufen im reinen Bewusstseinsidealismus und
absoluten Idealismus der he gelschen Philosophie erstiegen, weil nur,
wenn das Sein selbst vernünftig ist oder wenn Ideelles und Reales,
Denken und Sein unmittelbar zusammenfallen, eine apriorische Erkennt-
nis des letzteren möglich ist. Wer folglich auf den apodiktischen
Charakter der Metaphysik verzichtet, der braucht auch das Sein nicht
für bloss logisch zu halten; und umgekehrt: wer im Sein nicht lauter
Vemimfb und reine Logik finden kann, der darf auch keine apodik-
tische Erkenntnis dieses Seins erwarten. Ein solcher darf dann frei-
lich auch das Wesen des Ich nicht in die reine Thätigkeit des Er-
kennens setzen, wenn anders dies Ich mit dem Realen selbst identisch
sein soll; denn wäre das Ich in blosse Erkenntnis auflösbar, dann
müsste das Gleiche auch vom Sein behauptet werden.
In solcher Lage nun befindet sich Schopenhauer. Dieser ist weit
entfernt, auf apodiktische Gewissheit der Erkenntnis zu pochen und
96 ^&8 Ich als metaphyBisches Prinzip.
erklärt den Begriff einer a priori zu findenden Metaphysik für „not-
wendig eitel" und und auf Missverständnis beruhend^. Wenn sonach
auch er die rein vorstellungsmässige Natur der Welt als den erkenntnis-
theoretischen Ausgang seines Philosophierens hinstellt, so muss er,
scheint es, hierzu ganz andere Gründe haben, wie z. B. Kant; denn
dieser hatte, wie wir früher gesehen haben, die subjektive Ideellität
der Erfahrungswelt bloss deshalb behauptet, um durch die Ermög-
lichung einer apriorischen Erkenntnis dieser Welt der Metaphysik einen
apodiktischen Charakter zu verschaffen. Kant nahm deswegen eine
apriorische Erkenntnis der apriorischen Bedingungen der Erfahrung
an und konstruierte sich daraus den Begriff eines transcendentalen
Ich, als des substantiellen Trägers jener apriorischen Funktionen.
Schopenhauer dagegen hält es gerade für seine Hauptaufgabe,
„diesen uralten und ausnahmslosen Grundirrtum, dieses
proton pseudos und fundamentale hysteron proteron" zu
beseitigen, als ob der Kern des Menschen das erkennende Bewusst-
sein und folglich dessen „transcendente Hypostase" , genannt Seele,
zunächst und wesentlich denkend sei^. Man muss demnach annehmen,
dass er selbst ein solches Zusammenfallen des Ich und des Eealen und
folglich auch die ichliche Beschaffenheit des Realen leugnet.
„Die Welt", sagt Schopenhauer, „ist meine Vorstellung". Aber
sie ist es, weil sie Objekt ist; denn Objekt für ein Subjekt sein und
Vorstellung sein ist eines und dasselbe. Wie das Objekt -für -ein-
Subjekt-Sein die allgemeinste Form ist des Vorstellens überhaupt, so
sind Eaum, Zeit und Kausalität die wesentlichen und allgemeinen
Formen, unter denen allein uns ein Objekt erscheinen kann. Sie sind
das Formale der Erscheinung, von welchem Kant gezeigt hat, dass
es a priori in unserem Bewusstsein liegt. Der gemeinschaftliche Aus-
druck für alle diese Formen aber ist der Satz vom Grunde, sodass
mithin alles, was wir a priori wissen, nur der Inhalt jenes Satzes, in
ihm also eigentlich unsere ganze a priori gewisse Erkenntnis aus-
gesprochen ist.
Wie reimt sich nun die hiermit eingeräumte Möglichkeit einer
apriorischen Erkenntnis des Formalen der Erfahrung damit, dass
Schopenhauer die Realität der Bewuss tseinsf orm leugnet ? Denn offen-
bar kann ja eine solche Erkenntnis nur stattfinden, wenn das Be-
wusstsein als solches hinter die Erfahrung reicht und folglich ihm eine
substantielle, metaphysische und reale Bedeutung zukommt. Und wie
1 Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, H, S. 200f.
2 Ebenda S. 222 f.
Das Ich als absoluter "Wille: Schopenhauer. 97
soll man es femer mit seinem Proteste gegen die Realität der Be-
wusstseinsform vereinen, wenn Schopenhauer auch darin mit Kant
übereinstimmt, jenen Formen alle transcendente Bedeutung abzu-
sprechen? Denn eine solche Beschränkung ihrer Geltung auf die
Sphäre des Objekts hat ja einen Sinn wiederum nur, wenn dieselben,
wie bei Kant, bloss Formen des Bewusstseins sind.
Man sollte meinen, Schopenhauer habe noch viel mehr Grrund als
Kant, das Bewusstsein zum metaphysischen Träger der Welt zu
machen. Denn Kant ist zeitlebens, was ihm Schopenhauer mit Recht
vorwirft, von der Annahme einer transcendenten Kausalität nicht los-
gekommen, hat also damit im Widerspruche mit seinen Prinzipien eine
Realität auch jenseits des Bewusstseins zugegeben. Schopenhauer aber
leugnet die Annahme von Dingen an sich in diesem Sinne, er über-
spannt den kantischen transcendentalen Idealismus zum reinen Sub-
jektivismus und rückt damit seine eigene Philosophie dem verhassten
Fichte so nahe, dass man nicht einsieht, mit welchem Rechte er sich
selbst als den direkten Fortsetzer und Vollender Kants bezeichnet.
Wie der ganzen Transcendentalphilosophie überhaupt, so liegt
auch dem scho penhau ersehen Idealismus die Annahme der Identität
von Sein und Bewusstsein zugrunde, und zwar liegt sie ihr in der
fichteschen Form der intellektuellen Anschauung zugrunde, weil
auch Schopenhauer die Existenz von Dingen an sich bestreitet und da-
mit das Sein als ein absolutes auffasst. Wie wenig er sich jedoch
selbst hierüber klar ist, das beweist seine beständige Polemik gegen
jenes „in uns liegende, unmittelbar auf Metaphysik angelegte orakel-
artige Vermögen", woran man gleichsam ein in die supralunarische,
ja, übernatürliche Welt sich öffnendes Fensterlein hat, um alle die
Wahrheiten ganz fertig und zugerichtet in Empfang nehmen zu können,
um welche die bisherige, altmodische, ehrliche, reflektierende und be-
sonnene Vernunft sich Jahrhunderte lang vergeblich abgemüht und
gestritten hat. Schopenhauer erklärt die Annahme einer solchen un-
mittelbaren Vemunftanschauung für eine „bare Lüge" und behauptet,
von ihr nicht den mindesten Begriff zu haben. Um so mehr, sollte
man meinen, hätte er sich hüten müssen, sich ihrer auch nur als einer
stillschweigenden Voraussetzung zu bedienen.
Wie Fichte, so ist sich auch Schopenhauer darüber völlig klar,
dass seine Annahme der subjektiven Ideellität der Welt ihr allen Boden
unterauszieht und jedes Bemühen vergeblich erscheinen lässt, den
Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit zu bestimmen. Ist die
Welt, wie wir sie in Raum und Zeit und dem Gesetze der Kausalität
unterworfen sehen, bloss meine Vorstellung, dann gilt von ihr die
DrewB. 7
98 I^&s Ich als metaphysisches Prinzip.
uralte Weisheit der Inder, wo es heisst: „ Es ist die Maja, der Schleier
des Truges, welcher die Augen der Sterblichen umhüllt und sie eine
Welt sehen lösst, von der man weder sagen kann, dass sie sei, noch
auch, dass sie nicht sei: denn sie gleicht dem Traume, gleicht dem
Sonnenglanz auf dem Sande, welchen der Wanderer von ferne für ein
Wasser hält, oder auch dem hingeworfenen Strick, den er für eine
Schlange ansieht^."
Zwar tröstet sich Schopenhauer damit, dass diese Vorstellungs-
natur der Welt ihre Realität nicht aufhebe und sie keineswegs zur
Lüge und zum Schein degradiere. Denn, meint er, sie gäbe sich
völlig als das, was sie ist, als Vorstellung, und bloss einem durch
Vernünfteln verschrobenen Geiste könne es einfallen, über ihre Rea-
lität zu streiten. Allein er weiss auch zu gut, dass diese ihre „em-
pirische Realität", wie Kant sie genannt hat, garnicht gemeint ist,
wenn es sich um die Realität der Dinge handelt. „Was uns zum
Forschen antreibt, ist eben, dass es uns nicht genügt, zu wissen,
dass wir Vorstellungen haben, dass sie solche und solche sind und
nach diesen oder jenen Gesetzen, deren allgemeiner Ausdruck der
Satz vom Grunde ist, zusammenhängen. Wir wollen die Bedeutung
jener Vorstellungen wissen: wir fragen, ob diese Welt nichts weiter
als Vorstellung sei, in welchem Falle sie wie ein wesenloser Traum
oder ein gespensterhaftes Luftgebilde an uns vorüberziehen müsste,
nicht unserer Beachtung wert, oder aber ob sie noch etwas Anderes,
noch etwas ausserdem ist, und was sodann dieses sei^." Dies Andere,
dies „Ding an sich", wie Schopenhauer das reale Sein mit Kant im
Unterschiede vom ideellen Sein bezeichnet, muss etwas von der
Vorstellung völlig und seinem ganzen Wesen nach Grund-
verschiedenes sein. Folglich kann man es auch nicht objektiv, am
Leitfaden des Satzes vom Grunde erkennen wollen, denn dieser ver-
bindet nur Objekte, d. h. Vorstellungen, unter einander. Wer meint,
von aussen, von der Vorstellung aus oder auf logischem Wege dem
Wesen der Dinge beikommen zu können, der gleicht nach Schopen-
hauer Einem, der um ein Schloss herumgeht, vergeblich einen Eingang
suchend, und der einstweilen die Fassaden skizziert.
Zum Glück giebt es noch einen ganz anderen, durch das Innere
der Dinge führenden Weg, gleichsam einen unterirdischen Gang, eine
geheime Verbindung, die uns, wie durch Verrat, mit einem Schlage
in die Festung versetzt, die wir durch Angriffe von aussen nicht
nehmen können. Wir besitzen nämlich neben dem objektiven Erkennen
1 Ebenda I, S. 9. * Ebenda S.117f.
Das Ich als absoluter Wille: Schopenhauer. 99
vermittelst der Vorstellungen noch eine Art subjektiver, unmittelbarer
Erkenntnis, welche darauf beruht, dass wir selbst dag Wesen sind,
wovon wir in den Objekten unseres Bewusstseins bloss die Erscheinung
finden.
Von allen Objekten ist keins mir so nahe, wie mein eigener Leib.
Dieser ist das unmittelbare Objekt, durch dessen Vermittlung ich alle
anderen Objekte erst erkenne. Eben dieser Leib nun ist mir nicht
bloss als Vorstellung in Raum und Zeit, als Objekt unter Objekten
gegeben, sondern er kommt auch noch in einer ganz anderen, von
jener toto genere verschiedenen Art in meinem Bewusstsein vor, in
welcher Beziehung ich ihn Wille nenne. Der Leib ist der nach aussen
projizierte, in Raum und Zeit auseinandergezogene und objektiv ge-
wordene Wille. Der Wille ist der auf einen Punkt konzentrierte, in
der Innerlichkeit verharrende und allem Objektsein entrückte Leib.
Der Leib ist der von aussen gesehene Wille, der Wille der von innen
betrachtete Leib. Dieser ist die Erscheinung des Willens, jener da-
gegen ist das Wesen des Leibes. Eben deshalb ist jeder wahre Akt
des Willens sofort und unausbleiblich auch eine Bewegung des Leibes
und umgekehrt. „Der Willensakt und die Aktion des Leibes sind
nicht zwei objektiv erkannte verschiedene Zustände, die das Band der
Kausalität verknüpft, stehen nicht im Verhältnis der Ursache und
Wirkung, sondern sie sind feines und Dasselbe, nur auf zwei gänzlich
verschiedene Weisen gegeben: einmal ganz unmittelbar und einmal
in der Anschauung für den Verstand^."
Wie im Cogito ergo sum des Descartes die Erkenntnis des realen
Seins nur unmittelbar vollzogen, aber nicht aus Begriffen abgeleitet
werden konnte, so kann auch nach Schopenhauer die Identität des
Willens und des Leibes nur ^nachgewiesen , d. h. aus dem unmittel-
baren Bewusstsein, aus der Erkenntnis in concreto zum Wissen der
Vernunft erhoben oder in die Erkenntnis in abstracto übertragen werden,
hingegen kann sie ihrer Natur nach niemals bewiesen, d. h. als mittel-
bare Erkenntnis aus einer anderen unmittelbaren abgeleite b werden,
eben weil sie selbst die unmittelbarste ist". Sie ist nicht, wie alle
übrige Erkenntnis, die Beziehung einer abstrakten Vorstellung auf eine
andere Vorstellung, sondern sie ist „eine Erkenntnis ganz eigener Art",
nämlich die Beziehung eines Urteils auf das Verhältnis, welches die
anschauliche Vorstellung des Leibes zum Willen hat, als demjenigen,
was gar nicht Vorstellung, sondern ein von dieser ganz Verschiedenes
ist. Darum möchte Schopenhauer sie vor allen übrigen auszeichnen
* Ebenda S. 119.
100 Das Ich als metaphysisches Prinzip.
und diese Wahrheit „philosophische Wahrheit** im eminenten Sinne
nennen^. Sie beruht aber darauf, dass nicht das Bewusstsein sich des
Willens bemächtigt und diesem seine apriorischen Formen aufzwingt,
sondern dass umgekehrt der Wille in das passive Bewusstsein gleich-
sam hineinscheint 9 dass das Ding an sich ganz unmittelbar ins Be-
wusstsein tritt, sich hier selbst bewusst wird und dadurch mit dem
Bewusstsein zur Identität verschmilzt. „Der Begriff Wille ist der
einzige unter allen möglichen, welcher seinen Ursprung nicht in der
Erscheinung, nicht in bloss anschaulicher Vorstellung hat, sondern aus
dem Innern kommt, aus dem unmittelbarsten Bewusstsein eines Jeden
hervorgeht, in welchem dieser sein eigenes Individuum seinem Wesen
nach unmittelbar ohne alle Form, selbst ohne die von Subjekt
und Objekt, erkennt und zugleich selbst ist, da hier das Er-
kennende und das Erkannte zusammenfallen^.** Es ist schwer,
zu sagen, wie Schopenhauer nach solchen Erklärungen noch gegen den
Begriff der intellektuellen Anschauung polemisieren und wie er noch
fernerhin behaupten kann, dass er selbst von einer solchen Anschauung
keine Ahnung habe.
Als Ding an sich muss der Wille von denjenigen Formen und
Beschaffenheiten frei sein, die nur dem Zustande seiner objektiven Er-
scheinung anhaften. Der Wille ist folglich nicht Objekt für ein Subjekt,
er ist auch dem Satze vom Grunde nicht unterworfen, liegt nicht in
Raum und Zeit und ist, da diese beiden das principium individua-
tionis bilden, wodurch alle Vielheit erst zustande kommt, schlechthin
nur Einer und als solcher absoluter Wille. Als das wesenhaft Reale,
muss der Wille ferner das Gegenteil alles Ideellen, Vorstellungsartigen
sein. Wie er somit seiner Abstammung nach grundlos ist, so ist
er auch seiner eigentümlichen Bethätigung nach erkenntnislos: er
ist ein an sich blinder Wille, ein finsterer, dumpfer Drang, ein end-
loses Streben ohne Sinn und Zweck und folglich dem vernünftigen
Erkennen oder dem Lögischen gegenüber das absolut Unvernünftige,
Alogische.
Vergleicht man mit diesen Bestimmungen den Willen, wie wir
ihn unmittelbar in unserem Bewusstsein finden, so ist freilich wenig
genug davon zu spüren. Schopenhauer selbst muss einräumen, dass,
weil die Erkenntnis, die ich von meinem Willen habe, von derjenigen
meines Leibes nicht zu trennen und folglich der Leib Bedingung meines
Willens ist, ich diesen auch nicht im Ganzen, nicht als absolute Ein-
heit, sondern dass ich ihn bloss in seinen einzelnen Akten, mithin in
Ebenda S. 122. « Ebenda S. 133.
Das loh als absoluter Wille: Sohopenhauer. IQl
der Zeit erkenne, welche die Fonn, wie des Objekts überhaupt, so
auch der Erscheinung meines Leibes bildete Die Identität des Sub-
jekts und des Objekts, wodurch wir das letztere als ein Reales im
Gegensatze zur Vorstellungswelt erkennen, ist sonach keineswegs eine
absolute, die Ideellität des Objekts ist nicht in der Realität des Sub-
jekts völlig untergegangen. Denn so frei auch die innere Erkenntnis
von zwei Formen ist, welche der äusseren anhaften, von den Formen
des Raumes und der Kausalität: es bleibt ihr noch „die Form der Zeit,
wie auch die des Erkanntwerdens und Erkennens überhaupt".
Auch die innere Wahrnehmung, die wir von unserem Willen
haben, liefert also keineswegs schon eine erschöpfende und adäquate
Erkenntnis des Realen^. Ich erkenne den Willen nur, wie ich mir
desselben „bewusst bin" ^, mithin nur so, wie er mir erscheint,
und auch dies nicht einmal a priori, sondern ganz und gar nur a
posteriori*, vermag indessen keineswegs durch unmittelbares Bewusst-
sein zu ermitteln, was er an sich und ohne das Bewusstsein ist. Dar-
aus folgt, dass der Wille, wie wir uns seiner unmittelbar bewusst
sind, auch nicht Ding an sich, nicht das wesenhaffc Reale, sondern
ebenso gut nur Objekt und folglich abhängig vom erkennenden Subjekt
sein kann, wie alles, was wir als Inhalt in unserem Bewusstsein finden.
Wenn der Inhalt unseres Bewusstseins eben deshalb Bewusst -Sein,
Ideelles, bloss subjektive Vorstellung ist, so folgt, dass der Wille
höchstens insoweit ein Reales sein kann, als er selbst nicht in unserem
Bewusstsein ist. Wenn die Form des Bewusstseins nicht als solche
ein Reales ist, das wir unmittelbar erfassen, der Wille kann es schon
deshalb nicht sein, weil wir ihn immer nur als Inhalt unseres Be-
wusstseins erfassen. Diesen selbstverständlichen Schluss zieht jedoch
Schopenhauer nicht. Zwar kann er nicht leugnen, dass auch die Er-
kenntnis, die wir von unserem Willen haben, an die Form der Vor-
stellung gebunden, Objekt ist; aber er meint, wenn in der inneren
Wahrnehmung das Ding an sich auch noch nicht völlig nackt aufträte,
so habe es dennoch seinen Schleier hier wenigstens „grossenteils" ab-
geworfen und stelle es sich „in der allerleichtesten Verhüllung" dar.
Daraus glaubt er aber das Recht ableiten zu können, diese nächste
und deutlichste Erscheinung des Dinges an sich mit diesem selbst
unmittelbar identifizieren zu können^.
Ist nun damit der Traumidealismus Schopenhauers überwunden?
Meine eigene Realität ist ja natürlich durch den Willen gesichert, aber
» Ebenda S. 121. ^ Ebenda II S. 220. » Ebenda I, S. 122.
* Ebenda II, S. 219. ^ Ebenda S. 221.
102 ^as Ich als xnetaphysiBohes Prinzip.
ist es auch diejenige der übrigen Existenzen? Dem Verfasser der
^Welt als Wille und Vorstellung" erscheint dies selbstverständlich.
Der „theoretische Egoismus" (Solipsismus), der alle Erscheinungen
ausser seinem eigenen Individuum für Phantome hält, meint Schopen-
hauer, spielt in der Philosophie nur die Rolle eines skeptischen Sophis-
mas und ist in ihr nur zum Scheine gebraucht worden. „Als ernst-
liche Überzeugung hingegen könnte er allein im Tollhause gefunden
werden; als solche bedürfte es dann gegen ihn nicht sowohl eines
Beweises, als einer Kur^.** Ist die Wahrnehmung, wodurch wir die
Regungen und Akte des eigenen Willens erkennen, der Punkt, wo
das Ding an sich am unmittelbarsten in die Erscheinung tritt und in
grösster Nähe vom erkennenden Subjekt beleuchtet wird, ist der Wille
ein uns so unmittelbar Bekanntes, dass wir, was Wille sei, viel besser
wissen und verstehen als sonst irgend etwas, dann liegt nichts näher,
als ihn als Zauberformel oder als Schlüssel zu benutzen, um das
innerste Wesen der Erscheinungswelt uns aufzuschliessen. Wir be-
urteilen dann also alle Objekte ausser uns, die uns sonach nicht auf
doppelte Weise, als Leib und Wille, sondern lediglich als Vorstellungen
in unserem Bewusstsein gegeben sind, nach Analogie des Leibes und
nehmen an, dass, wie sie einerseits, ganz -so wie er, Vorstellung sind,
so andererseits diese Vorstellung ihres Leibes doch nur die Erscheinung
eines Willens sein muss.
Nun sind sich aber, als Objekte, alle Dinge gleich, mögen diese
nun reale Individuen, oder mögen sie blosse Gebilde eines Traumes
sein. Wenn also Schopenhauer sich ausser Stande erklärt, einen
Unterschied zwischen Traum und Wachen festzustellen, wie will er
von dem einen Objekt behaupten, dass es Erscheinung eines Willens,
mithin ein Reales, von dem anderen, dass es blosses Objekt, Erscheinung
von rein ideeller Seinsart sei? Mit anderen Worten: Schopenhauer
müsste bereits auf anderem Wege die Gewissheit der Realität eines
Objekts erlangt haben, um dieses als Erscheinung eines Willens zu
deuten. Mein Wille mag immerhin der Schlüssel zur Erkenntnis des
inneren Wesens der Dinge sein: ob es Dinge giebt, und ob sie über-
haupt ein Inneres besitzen, wozu ein Schlüssel nötig ist, darüber giebt
mir mein eigener Wille gar keinen Aufschluss. Mein Wille kann mir
höchstens nur die Realität meines eigenen Leibes verbürgen, weil
dieser seine unmittelbare Erscheinung darstellt, aber nicht diejenige
von fremden Leibern, zu denen er in gar keiner Beziehung steht. Alle
Beziehungen sollen ja bloss solche von Objekten und folglich auf die
1 Ebenda I, S. 124,
Das Ich als absoluter Wille: Schopenhauer. 103
Sphäre des eigenen Bewusstseins eingeschränkt sein. Wenn also mein
Leib eine Bewegung vollzieht, so muss ich sie bei der Identität von
Leib und Wille für eine reale halten. Wenn ich dagegen einen Anderen
eine Bewegung vollziehen sehe, so weiss ich von einer Identität des
fremden Leibes mit einem Willen nichts und habe daher keine Ver-
anlassung, sie für mehr als eine ideelle anzusehen. Gesetzt aber, es be-
stände eine solche Identität, so wäre damit nicht bloss der subjektive
Idealismus Schopenhauers, sondern auch sein metaphysischer Monis-
mus über den Haufen geworfen, indem an die Stelle des Einen ab-
soluten Willens alsdann eine Vielheit von individuellen Willensakten
treten müsste.
Entweder also ist die Welt meine Vorstellung im schopen-
hauerschen Sinne und real nur, sofern ich mich selbst unmittelbar als
Willen erfasse, dann ist damit der theoretische Egoismus erwiesen.
Oder aber die ausserichlichen Objekte sind ebenso real, wie ich,
dann müssen Raum, Zeit und Kausalität auch jenseits des Bewusst-
seins Geltung haben, und der subjektive Idealismus ist notwendig
falsch. Es hat gewiss seinen guten Grund, dass Schopenhauer
selbst sich ausser Stande bekennt, den theoretischen Egoismus durch
Beweise zu widerlegen. Er bescheidet sich damit, ihn als eine „kleine
Grenzfestung" anzusehen, „die zwar auf immer unbezwinglich ist,
deren Besatzung aber durchaus auch nie aus ihr herauskann, daher
man an ihr vorbeigehen und ohne Gefahr sie im Rücken liegen lassen
darf^" „Das angeschaute Objekt muss etwas an sich selbst sein
und nicht bloss etwas für Andere : denn sonst wäre es schlechthin nur
Vorstellung und wir hätten einen absoluten Idealismus, der am Ende
theoretischer Egoismus würde, bei welchem alle Realität wegfällt und
die Welt zum blossen Phantasma wird^" Leider vermag nur Schopen-
hauer dies „muss" nicht zu begründen und hat er selbst alle Be-
rechtigung verloren, dem Objekt ein Ansich zuzuschreiben, nachdem
er es durch seinen erkenntnistheoretischen Idealismus in blossen Be-
wusstseinsinhalt aufgelöst hat. —
Mit dem Willen als Schlüssel hat nun bekanntlich Schopen-
hauer die ganze Welt als ein abgestuftes Reich von Objektivationen,
Erscheinungen jenes Willens zu begreifen versucht, auf dessen untersten
Stufen die allgemeinen Naturkräfte, unorganischen Wesen, Pflanzen
u. s. w. stehen, während die oberste Stufe, durch das materielle Sub-
strat des Gehirns vermittelt, vom menschlischen Intellekt eingenommen
wird. Da hiernach also das empirische Bewusstsein selbst eine Er-
» Ebenda I, S. 125. ^ Ebenda II, S. 216.
104 ^M Ich als metaphysisches Prinzip.
scheinung des Willens darstellt, alle Erscheinung aber nach Schopen-
hauer bloss subjektiv ist, so fragt es sich, was jene Formen und
Stufen der Objektivation des Willens ihrem Wesen nach oder abge-
sehen davon sind, dass sie Inhalt in unserem Bewusstsein sind. Trans-
cendente Bestimmungen des Willens können sie nicht sein, weil ja
alle Vielheit und Mannigfaltigkeit nur der Sphäre der Erscheinung
angehören soll. Blosse Objekte für das empirische Subjekt können
sie aber auch nicht sein; denn alsdann könnten sie nicht vor dem
Subjekt sein. Jene Formen müssen also zwar Objekte sein, um
Erscheinungen sein zu können, aber sie dürfen doch nicht Ob-
jekte des empirischen Subjekts sein, um vorempirische und vor-
intellektuelle Bestimmungen sein zu können. So bezeichnet sie
denn Schopenhauer im Anschlüss an Plato und Schelling als
Ideen.
Die Ideen bilden die Welt ihrer objektiven Bedeutung nach, wie
sie, abgesehen von den Formen des endlichen Intellekts sich darstellt.
Indem sie zu den einzelnen Dingen sich wie ihre Formen oder Muster-
bilder verhalten, sind sie selbst das begriffliche Prius der empirischen
Welt, die universalia oder unitates ante rem, die species rerum oder
die allgemeinen Typen, die das Bleibende und Unterscheidende der
endlichen Objekte bilden. Raum, Zeit und Kausalität sind nur end-
liche „Trübungen" der Idee. Sie aber ist ihrer Natur nach weder
räumlich, noch zeitlich, weder vielheitlich, noch wechselnd; während
die Individuen, in denen sie sich darstellt, unzählige sind und unauf-
hörlich werden und vergehen, bleibt sie als die eine und unveränder-
liche stehen, ohne dass für sie der Satz vom Grunde irgend welche
Bedeutung hätte. Trotzdem aber ist die Idee nicht das Ding an sich.
Denn wenn sie auch die untergeordneten Formen der Erscheinung
abgelegt hat, oder vielmehr noch gar nicht in sie eingegangen ist,
deren gemeinschaftlicher Ausdruck der Satz vom Grunde ist, so ist
sie doch der ersten und allgemeinsten Form, derjenigen der Vor-
stellung überhaupt, unterworfen: sie ist Objekt für ein Subjekt, Er-
scheinung, Objektivation und dadurch eben vom Ding an sich ver-
schieden. Die Idee ist sonach ein Mittleres zwischen dem Ding an
sich, dem Willen, und der subjektiven Erscheinungswelt im end-
lichen Bewusstsein, Sie ist nicht real im wesentlichen, substan-
tiellen Sinne, aber ihre Existenz ist auch nicht eine bloss subjek-
tiv-ideelle. Vielmehr bildet sie gleichsam das Verbindungsglied
zwischen jenen beiden Arten des Seins: wie das einzelne in Gemäss-
heit des Satzes vom Grunde erscheinende Ding nur eine mittelbare,
so ist die Idee die ^illeinigQ unmittelbare, „adäquat^ Objektität des
Das Ich als absoluter Wille: Schopenhauer. 105
Willens, ja, selbst das ganze Ding an sich, nur unter der Form der
Vorstellung* ^
Welches ist nun das Subjekt, das von der objektiven Idee als
ihr notwendiges Korrelat vorausgesetzt wird? Das endliche, empi-
rische Subjekt kann es nicht sein, weil die Idee ja gamicht sein
Objekt ist. Das Subjekt der ewigen Idee, als Voraussetzung des
empirischen Subjekts, kann nur ein absolutes Subjekt sein. Dies
Subjekt ist die durchgängige, stets vorausgesetzte Bedingung alles
Objekts, dasjenige, was alles erkennt, allein eben darum selbst nicht
Objekt der Erkenntnis sein kann. Darum liegt es selbst auch nicht
in den Formen des Objektseins, es kommt ihm also, ebenso wie der
Idee als seinem Objekt, weder Vielheit noch Wechsel zu, sondern als
zeitloses, reines Subjekt der Erkenntnis bleibt es ganz und ungeteilt
in jedem einzelnen Wesen. Dies Subjekt ist, wie Schopenhauer
es mit Schelling nennt, das „ewige Weltauge, welches, wenn auch
mit sehr verschiedenen Graden der Klarheit, aus allen lebenden Wesen
sieht, unberührt vom Entstehen und Vergehen derselben, und so, als
identisch mit sich, als stets Eines und Dasselbe, der Träger der Welt
der beharrenden Ideen, d. i. der adäquaten Objektität des Willens,
ist« \
Wäre nun das reine absolute Subjekt des Erkennens von seinem
Objekt, der Ideenwelt, verschieden, so wäre es eine selbständige
Realität, und der Panthelismus Schopenhauers, die Lehre von
der alleinigen Realität des Wülens, wäre aufgehoben. Folglich muss
es die Identität des Subjekts und des Objekts, des Erkennenden
und des Erkannten sein. Im endlichen Bewusstsein sind Subjekt und
Objekt verschieden, weil jenes die Identität des Wollens und Denkens,
dieses dagegen die Objektivation des Willens ist. Im absoluten Sub-
jekt fällt dieser Unterschied fort, „und wie das Objekt auch hier nichts
als die Vorstellung des Subjekts ist, so ist auch das Subjekt, indem
es im angeschauten Gegenstand ganz aufgeht, dieser Gegenstand selbst
geworden, indem das ganze Bewusstsein nichts mehr ist als dessen
deutlichstes Bild" ^. In der Idee sind Subjekt und Objekt nicht zu
trennen, sondern erst, indem sich beide vollkommen erfüllen und durch-
dringen, ist die Idee die Welt als Vorstellung. Da nun aber diese,
wie gesagt, nichts Anderes ist als die adäquate Objektität des Willens,
oder da es der Wille ist, der in jener Welt erscheint, so sind auch
das absolute Subjekt des Erkennens und der Wille nicht verschieden,
sondern beide sind identisch. Wie das absolute Subjekt sich in seinem
Ebenda I, S. 206. ^ Ebenda II, S. 422. » Ebenda I, S. 212.
106 I^As Ich als metaphysisches Prinzip.
Objekt, der Ideenwelt, erkennt, so erkennt sich der Wille in dem
absoluten Subjekt -Objekt. Und wie nach Hinwegnahme der unter-
geordneten Formen des (empirischen) Objekts das absolute Subjekt-
Objekt, die Welt als Vorstellung in ihrer unmittelbaren Reinheit her-
vortritt, so bleibt nach Hinwegnahme der Form der Vorstellung
überhaupt nur der Wille, als das Ding an sich oder als das wesen-
haft Reale, übrig. —
Alle Realität liegt demnach jenseits der Sphäre der Individualität.
Wie sollen wir uns nun aber die letztere entstanden denken?
Dass es überhaupt Individuen giebt, hängt nicht vom Willen ab,
denn dieser ist in allen Erscheinungen nur mit sich selbst identisch.
„So wenig ich ohne das Objekt, ohne die Vorstellung erkennendes
Subjekt bin, sondern blosser blinder Wille, ebenso wenig ist ohne
mich, als Subjekt des Erkennens, das erkannte Ding Objekt, sondern
blosser Wille, blinder Drangt.** So also ist es die Form des Subjekt-
Objekts, wodurch erst alle Verschiedenheit und Besonderheit in die
Welt hineinkommt, und zwar indem das erkennende absolute Subjekt
sein Vorstellen, statt auf die Gesamtheit der Ideen, auf die einzige
Idee des Leibes richtet und diesen zugleich innerlich als Willen em-
pfindet^. Das Individuum überhaupt ist „das Subjekt des Erkennens
in seiner Beziehung auf eine bestimmte einzelne Erscheinung des
Willens" ^. Der Intellekt des Individuums aber ist jenes Subjekt in
seiner Beziehung auf einen besonderen Teil des Leibes, das Gehirn.
Folglich ist unser Intellekt auch bloss empirischer Art, durch Ein-
schränkung des absoluten Subjekts entstanden und durch das indi-
viduelle Gehirn vermittelt. Die bewusste Erkenntniss findet sich nur
per accidens in der Welt, was Schopenhauer dann freilich in mate-
rialistischer Weise dahin überspannt, alle Erkenntnis überhaupt bloss
als „Gehirnphänomen" zu betrachten.
„Indem der Wille zum Zweck der Auffassung seiner Beziehungen
zur Aussenwelt in tierischen Individuen ein Gehirn hervorbringt, ent-
steht erst in diesem das Bewusstsein des eigenen Selbst mittelst des
Subjekts des Erkennens, welches die Dinge als daseiend, das Ich als
wollend auffasst^." Wie das Ich die höchste Entfaltung des bewussten
Intellektes darstellt, so ist es auch gleichsam der „Brennpunkt" der
gesamten Gehimthätigkeit. „Erst mittelst desselben wird der Wille
sich seiner selbst bewusst, indem dieser Fokus der Gehimthätigkeit
oder das Erkennende sich mit seiner eigenen Basis, daraus er ent-
1 Ebenda I S. 212. ^ Ebenda S. 123.
8 Ebenda S. 211. * Ebenda II, S. 314.
Das Ich als absoluter Wille: Schopenhauer. 107
Sprüngen, dem Wollenden, als identisch auffasst und so das Ich ent-
steht." Im Ich also fliesst das Subjekt des Erkennens mit dem Sub-
jekt des Wollens in Einem Punkt zusammen. „Jener Brennpunkt der
Grehirnthätigkeit (das Subjekt der Erkenntnis) ist, als unteilbarer
Punkt zwar, einfach, deshalb aber doch keine Substanz (Seele),
sondern ein blosser Zustand. Das, dessen Zustand er selbst ist,
kann nur indirekt, gleichsam durch Reflexion von ihm erkannt
werden. Aber das Aufhören des Zustandes darf nicht angesehen
werden als die Vernichtung dessen, von dem es ein Zustand ist.
Dieses erkennende und bewusste Ich verhält sich zum Willen, welcher
die Basis der Erscheinung desselben ist, wie das Bild im Fokus
des Hohlspiegels zu diesem selbst, und hat, wie jenes, nur eine
bedingte, ja, eigentlich bloss scheinbare Realität. Weit ent-
fernt, das schlechthin Erste zu sein (wie Fichte lehrte), ist es im
Grunde tertiär, indem es den Organismus voraussetzt, dieser aber
den Willen ^"
Wie nun freilich eine solche Identität des Erkennens und des
Willens bei der absolut entgegengesetzten Natur der beiden möglich
ist, davon können wir uns gar keine Vorstellung machen. Schopen-
hauer selbst räumt ein: „Die Identität des Subjekts des Wollens
mit dem erkennenden Subjekt, vermöge w^elcher (und zwar notwendig)
das Wort „Ich" beide umschliesst und bezeichnet, ist der Welt-
knoten und daher unerklärlich. Denn nur die Verhältnisse der Ob-
jekte sind uns begreiflich: unter diesen aber können zwei nur insofern
Eins sein, als sie Teile eines Ganzen sind« Hier hingegen, wo vom
Subjekt die Rede ist, gelten die Regeln für das Erkennen der Objekte
nicht mehr, und eine wirkliche Identität des Erkennenden mit dem
Erkannten, also des Subjekts mit dem Objekte ist unmittelbar ge-
geben. Wer aber das Unerklärliche dieser Identität sich recht ver-
gegenwärtigt, w4rd sie mit mir das Wunder xat IJo^^TjV nennen^."
Man begreift auch femer nicht, wie das Ich die Identität des
Denkens und Wollens oder, da das letztere das wesenhaft Reale sein
soll, des Denkens und Seins und trotzdem nur ein blosser Zustand
sein kann. Ein Reales kann ja freilich das Ich auch nicht sein, weil
der Wille, womit die Erkenntnis hier identisch sein soll, nicht der
unmittelbare metaphysische Wille, sondern bloss dessen subjektives
Abbild ist; denn er ist, wie wir sahen, im Ich in die Zeitform und
* Ebenda.
' Ueber die vierfache "Wurzel des Sat^ses vom zureichenden Grunde,
S. 143.
108 ^AB Ich als metaphysisches Prinzip.
die Form des Objektseins eingegangen^. Und doch soll diese empi-
rische Identität von Denken und Sein zugleich die metaphysische Iden-
tität des Willens und der Idee beweisen, doch ist es nur die Auf-
fassung des Ich als eines realen Seins, die Schopenhauer veranlasst,
auch innerhalb der Ideenwelt die Identität von Subjekt, und Objekt
zu behaupten.
Die Bestätigung hierfür findet Schopenhauer bekanntlich in der
Ästhetik. Das Wesen der künstlerischen Betrachtungsweise beruht auf
der Erkenntnis der Idee. Nun können aber die Ideen nur Objekt der Er-
kenntnis werden durch gänzliche Aufhebung der Individualität. Das
Subjekt muss sich völlig beim Anschauen in seinen Gegenstand verlieren,
seine Ichheit, seinen Willen bei Seite lassen, sodass es ist, als ob der
Gegenstand allein da wäre ohne Jemanden, der ihn wahrnimmt, und
man also nicht mehr den Anschauenden von der Anschauung trennen,
sondern beide nur als Eins betrachten kann. Wenn so das ganze Be-
wusstsein von einem einzigen anschaulichen Bilde gänzlich erfüllt und
eingenommen, wenn damit das Objekt aus aller Relation zu etwas
ausser ihm, das Subjekt aus aller Relation zum Willen gesetzt ist,
„dann ist, was also erkannt wird, nicht mehr das einzelne Ding als
solches, sondern es ist die Idee, die ewige Form, die unmittelbare
Objektität des Willens auf dieser Stufe, und eben dadurch ist zugleich
der in dieser Anschauung Begriffene nicht mehr Individuum, denn das
Individuum hat sich eben in solcher Anschauung verloren, sondern er
ist reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis ^. "
Die ästhetische Anschauungsweise beweist demnach die Identität
des Subjekts und des Objekts. Da nun aber das Subjekt der Ideen-
welt nur das absolute Subjekt sein kann, so behauptet folglich
Schopenhauer, das bewusste , individuelle Subjekt oder das Ich
könne sich unmittelbar zu jenem „erheben" oder zu ihm werden. In
der ästhetischen Betrachtung ist der Mensch alle Dinge, sofern er sie
anschaut, oder mit anderen Worten: sie ist intellektuelle An-
schauung in gar keinem anderen Sinne, als wie Schelling das
Wesen dieser letzteren bestimmt hat. Nach Schelling soll sie Organ
der Philosophie und nur wenigen begnadeten Menschen verliehen sein.
Nach Schopenhauer soll sie Organ der künstlerischen Bethätigung,
und eben ihr Besitz soll es sein, was den genialen Menschen aus der
übrigen „Fabrikware der Natur" heraushebt.
Auch darin stimmt diese Auffassung Schopenhauers mit der-
^ Vgl. auch: Parerga und Paralipomena II, S. 92.
2 Ebenda I, S. 210.
Das Ich als absoluter Wille: Schopenhauer. 109
jenigen Schellings überein, dass beide an demselben Widerspruche
leiden. Wenn nämlich die Erkenntnis der Idee nur zustande kommt
durch Aufhebung der Individualität, so kann sie keine bewusste sein,
denn Bewusstsein setzt Individualität voraus. „Das Bewusstsein ist
nur da möglich, wo das Wesen an sich in die Erscheinung ausläuft,
durch deren Form die geschiedene Individualität möglich wird , auf
der das Bewusstsein beruht, welches eben deshalb auf Erscheinungen
beschränkt bleibt^." Die Idee, als ihr Prius, liegt jenseits der Er-
scheinungswelt und ist sonach von Natur eine absolut unbewusste.
Zum Bewusstsein gehört ein Erkennendes und ein Erkanntes. Das
absolute Subjekt-Objekt, worin sich beide völlig decken, jene „reine
Intelligenz" ohne alle Gegensätze ist deshalb das Gegenteil des Be-
wusstseins. Dann müsste also auch das Hineingleiten des individuellen
in das absolute Subjekt, wie die ästhetische Betrachtung es darstellen
soll, unmittelbar ein Erlöschen des Bewusstseins sein, was Schopen-
hauer doch unmöglich behaupten kann. Daraus folgt, dass es nicht
angeht, das bewusste Ich mit dem unbewussten Subjekt -Objekt zu
identifizieren. Mit diesem Zugeständnisse ist aber der ganzen Schopen-
hauer sehen Philosophie ihr Boden unteraus gezogen.
Wie sehr nämlich auch Schopenhauer gegen die intellektuelle
Anschauung polemisiert, so hat er doch selbst, wie wir jetzt behaupten
können, den ausgiebigsten Gebrauch von ihr gemacht. Es ist intel-
lektuelle Anschauung — um es noch einmal hervorzuheben — , wenn
Schopenhauer die formalen Bestandteile der Erfahrung a priori zu
erfassen und das Sein mit dem Bewusstsein identifizieren zu können
glaubt. Es ist intellektuelle Anschauung, das Reale mit dem Willen,
diesen letzteren wiederum mit dem Leibe gleichzusetzen und die Iden-
tität des Leibes und des Willens sich unmittelbar durch das Selbst-
bewusstsein verbürgen zu lassen. Es ist intellektuelle Anschauung,
anzunehmen, dass Subjekt und Objekt im Ich zusammenfallen und
darauf den Begriff des absoluten Subjekt-Objekts oder das Wesen der
Idee zu gründen, intellektuelle Anschauung, auf Grund jener näm-
Hchen Identität die Einheit des Willens und der Idee zu behaupten.
Es giebt somit überhaupt keine Form der intellektuellen Anschau-
ung, die im schopenhauerschen System nicht ihre Stelle hätte. Wie
Ficht es absolutes Ich seinem erkenntnistheoretischen subjektiven Idea-
lismus, so liegt Schellings Identität von Subjekt und Objekt seinem
objektiven ästhetischen Idealismus zugrunde, und wie er in seiner
Ideenlehre mit dem Panlogismus das reale Sein als ein objektiv-ideelles
^ Ebenda 11, S. 370.
110 Das Ich als metaphysisches Prinzip.
auffasst, so huldigt er in seiner Willensmetaphysik dem Spinozismus,
sofern er das ideell-reale Sein dem Sein des Willens unterordnet, der
Anschauung Fichtes dagegen, sofern er dieses wesenhaft reale Sein
als absolute Thätigkeit des Willens auffasst. Ausgehend von der
Identität des Denkens und des Seins, legt er sonach den Nachdruck
bald auf das Denken, bald auf das Sein und findet keinen Widerspruch
darin, das Reale bald als Bewusstseinsform (in der Erkenntnistheorie),
bald als Willen (in der Metaphysik), bald als Idee (in der Ästhetik)
erscheinen zu lassen. Die intellektuelle Anschauung, woraus er alle
diese verschiedenen Bestimmungen schöpft, ist auch ganz unfähig, den
Widerspruch zu heben, denn sie giebt, wie hieraus hervorgeht, allen
jenen Bestimmungen in der gleichen Weise Raum, ohne indessen über
ihr gegenseitiges Verhältnis etwas auszumachen. —
In den Augen Schellings und Hegels liess die intellektuelle An-
schauung das reale Sein als die absolute Idee erscheinen, weshalb eben
Schopenhauer diese beiden Philosophen so gründlich verachtet. Das
Berechtigte dieser Abneigung liegt darin, dass Schopenhauer sich
der Unmöglichkeit wohl bewusst ist, das Reale ohne Rest in ein
Ideales aufzulösen, weil jenes aus diesem nie abgeleitet werden kann.
Wenn er aber statt dessen selbst die intellektuelle Anschauung als
den absoluten Willen deutet, so verkennt er, dass der Wille doch nur
als das Gegenteil des Idealen ein wesenhaft Reales sein kann, dass
aber nun umgekehrt aus dem realen, alogischen Willen die logische
Idealität sich nicht herausfiltrieren lässt. Es ist also nur die ent-
gegengesetzte Einseitigkeit, wenn der Panlogismus nicht vom Denken
zum Sein, der Panthelismus nicht vom Sein zum Denken gelangen
kann. Indem er an die Stelle des Seins den Willen setzt und dem-
nach die Identität von Denken und Sein als diejenige von Idee und
Wille auffasst, so koppelt damit Schopenhauer zwei Faktoren zu-
sammen, deren gegensätzliche Natur alle Identität ausschliesst. Diese
letztere bleibt also bei ihm eine unbewiesene Behauptung, und Wille
und Idee stehen sich in seinem System als zwei verschiedene Sphären
gegenüber, ohne dass zwischen ihnen eine Vermittelung aufgezeigt
wäre. Darum verhungert bei Schopenhauer der blinde, alogische
Wille, weil er nicht zur Erfüllung mit der Idee gelangen, und die
Idee stirbt an der Schwindsucht, weil sie nicht durch den Willen
realisiert werden kann.
b) Das Ich als individueller Wille: a) Wundt.
Die in sich gegliederte absolute Idee hatte zwar nicht das reale
Sein aus sich erzeugen können, aber sie hatte in ihrer vielheitlichen
Das Ich als individueller Wille: Wundt. 111
Gliederung doch wenigstens ein Mittel an die Hand gegeben, um den
konkreten Inhalt der Welt daraus abzuleiten. Der Eine identische
Wille Schopenhauers ist auch nicht einmal hierzu imstande, solange
er als unteilbar und absolut gefasst wird. Denn als solcher kann er
zwar verschiedene Grade der Intensität an den Tag legen, aber nie-
mals die individuelle Verschiedenheit und konkrete Vielheit aus sich
setzen, deren Gesamtheit wir als die Welt bezeichnen. Das ist der
Grund, warum die Anhänger Schopenhauers, die mit ihm die Rea-
lität in den reinen, blinden Willen setzen, den Boden des Schopen-
hauer sehen Monismus verlassen und den letzteren im Sinne eines
pluralistischen oder individualistischen Thelismus umgebildet
haben. Als hervorragendster Vertreter dieser Richtung darf Wundt
in seinem ^System der Philosophie" (1889) betrachtet werden.
Wundt geht, wie alle diese Philosophen, davon aus, das reale
Sein des Subjekts und das Bewusstsein von demselben im Ich als
unmittelbar identisch anzusehen. Allein er knüpft mit dieser Vor-
aussetzung nicht sowohl an die intellektuelle Anschauung der moni-
stischen Philosophen, wonach das individuelle Bewusstsein dem Sein
untergeordnet und bloss ein Moment des absolut gefassten Realen sein
soll, als vielmehr an das individualistische Prinzip der reinen oder
transcendentalen Apperception an, wie Kant sie für die substantielle
Bedingung aller Geistesthätigkeit erklärt hat. Diese Thätigkeit der
Apperception fasst Wundt nun aber nicht, wie Kant, als Bewusst-
seins- oder Vorstellungsthätigkeit auf, sondern er deutet sie mit
Schopenhauer als reine Thätigkeit des Willens . „ Es giebt schlechter-
dings nichts ausser dem Menschen, noch in ihm, was er voll und ganz
sein eigen nennen könnte, ausser seinem Willen. Wir finden den
Willen als thätiges Element im inneren Vorstellen, in der Appercep-
tion der Vorstellungen; wir finden ihn als thätiges Element in dem
Wirken des Ich nach aussen, in den äusseren Willenshandlungen, die
aber, rein psychologisch betrachtet, wiederum nur eine besondere,
durch gewisse Merkmale ausgezeichnete Form der Apperception sind^"
Der kan tische Begriff der transcendentalen Apperception litt,
wie erinnerlich, an dem Widerspruch, dass jene sowohl die blosse
formale Bedingung des Bewusstseins als auch zugleich dessen unmittel-
barer Inhalt sein sollte. Ist Wundt diesem Widerspruch entgangen?
Die transcendentale Apperception bedeutet bei ihm einerseits die
konstante Thätigkeit des Willens oder das Wollen in seiner reinen,
von allen Inhaltsbestimmungen unabhängig gedachten Form. Als solche
* Wandt: System der Philosophie, S. 387.
112 Das Ich als metaphysisches Prinzip.
ist sie „die letzte nicht weiter zurückzuverfolgende Bedingung der
inneren Erfahrung". Allein da Wundt, wie gesagt, der Ansicht
huldigt, dass in der Selbstwahmehmung Bewusstsein und Sein zu-
sammenfallen, so wird ihm jener Begriff zugleich zur unmittelbaren
Erkenntnis der Bedingung unserer inneren Erfahrung. Wundt kann
nicht leugnen, dass die reine Apperception in der inneren Erfahrung
nirgends wirklich anzutreffen ist, weil alles empirische Wollen als
solches ein konkretes, d. h. inhaltlich bestimmtes, Wollen ist, dass sie
folglich eine „alle Erfahrung überschreitende und doch zugleich zu
jeder Einzelerfahrung vorauszusetzende Thätigkeit" ist^. Er muss
aber doch andererseits das konstante Wollen, das allem Inhalt unseres
seelischen Geschehens erst Einheit und Zusammenhang verleiht, als
„Bestandteil des Bewusstseins" und jene Einheit sonach für eine „un-
mittelbar erlebte" betrachten, weil sonst ja ein Rest hinter dem
Bewusstseinsinhalt übrig bliebe und Sein und Bewusstsein sich in der
inneren Erfahrung nicht decken würden^. Wundt geht, wie alle
seine Vorgänger, an diesem Widerspruch vorbei, aber dieser Bruch
im Fundamente muss notwendig das ganze darauf errichtete Gebäude
zu Fall bringen.
Zunächst: wie fängt der individuelle Wille, als Voraussetzung
und Grund unseres seelischen Daseins, es an, den thatsächüchen In-
halt der Selbstwahmehmung zu erzeugen? Zwar das Fühlen ist leicht
als eine Modifikation des Willens zu begreifen. Es ist offenbar nur
die Subjekte Reaktion des Willens auf ein Fremdes und fügt der Kon-
stanz des WoUens ein qualitatives Element hinzu, das von der Be-
schaffenheit der Vorstellungen und der jeweiligen Anlage des Bewusst-
seins abhängt. Was aber ist die Vorstellung und in welcher Beziehung
steht, da es keine andere Thätigkeit giebt als Wollen, mithin auch
die vorstellende Thätigkeit nach Abzug des Vorstellungsinhaltes reines
Wollen sein muss, die Vorstellung mit ihrem wechselnden Inhalt zum
konstanten Willen?
Aus einem einzigen absoluten Willen, wie Schopenhauer an-
nimmt, ist die Vorstellung jedenfalls nicht abzuleiten, weil der blosse
Wille aus sich selbst zu keinem Inhalte gelangen kann. Die That-
sache der Existenz von Vorstellungen setzt daher nach Wundt eine
Vielheit individueller Willenseinheiten voraus, die auf einander
wirken und in der Verschiedenheit ihres hierbei erfahrenen Leidens
sich selbst einen verschiedenartigen Inhalt geben. Die Vorstellung ist
das Produkt aus den Konflikten der verschiedenen Willenseinheiten
Ebenda S. 388. » Ebenda S. 387. 565.
Das Ich als individueller Wille: Wundt. 113
unter einander. Indem sie aber die bewusste Beziehungsform dieser
Einheiten zu einander ist, so ist sie zugleich auch das Mittel zur Zu-
sammenfassung mehrer von ihnen und damit zur Entwickelung des
Willens überhaupt.
Nun hat jede einzelne Willenseinheit nicht an sich selbst, sondern
nur erst an ihren Wechselbeziehungen zu anderen ihren qualitativ
bestimmten, unterschiedlichen Inhalt. Das reine Wollen ist inhalts-
leer und darum ein unbestimmtes Wollen. Erst durch die Wechsel-
beziehungen wird das Einzelwollen zu vorstellendem und damit zu
konkretem Wollen. Das unbestimmte, vorstellungslose Wollen ist aber
auch noch kein wirkliches Wollen, sondern es wird dies erst durch
seine Beziehung auf die Vorstellungen. Insofern ist also „das Vor-
stellen als nicht minder real wie das Wollen vorauszusetzen; denn
das Wesen der Willenseinheiten besteht ganz und gar in ihrer Wechsel-
bestimmung, indem ohne die letztere jene aufhören würden, thätig zu
sein und damit überhaupt aufhören würden, zu sein^."
Die Vorstellung also soll aus den Konflikten der Willenseinheiten
hervorgehen; die Willenseinheiten sind dies aber garnicht und können
garnicht mit einander konfligieren, ohne bereits durch Vorstellungen
individualisiert zu sein. Das ideelle Sein soll Produkt des realen sein ;
das reale Sein aber ist garnicht als „unendliche Totalität individueller
Willenseinheiten" zu denken, wofern es nicht als reales schon ideell
bestimmt ist. Das Wesen der Realität soll im Willen beruhen; der
Wille aber könnte niemals zur Realität gelangen, das reine Wollen
bliebe ewig unwirkliches Wollen, ohne unmittelbar vorstellendes Wollen,
d. h. nicht reines Wollen, zu sein. Wäre aber der reine Wille selbst
real, so könnte er doch die Vorstellung nicht aus sich erzeugen, weil
von der blossen Form des Willens die Form der Vorstellung durch-
aus verschieden ist; bemerkt doch Wundt selbst, dass die Vorstellung,
wie sie aus den passiven Empfindungen hervorgeht, keineswegs bloss
die Summe dieser letzteren, sondern vielmehr ein neuer Akt unseres
Oeistes sei, der als solcher eine Art schöpferischer Synthesis enthalte^.
Insofern besass Schopenhauer jedenfalls die bessere Einsicht,
wenn er, um das Dasein der Vorstellung neben dem Willen zu er-
klären, sie unmittelbar durch intellektuelle Anschauung verbürgt sein
liess, anstatt den in jedem Sinne aussichtslosen Versuch zu machen,
die Vorstellung aus dem reinen Willen abzuleiten, Dass Wundt sich
vor dieser Einsicht verschliesst , kommt daher, weil er in Gedanken
immer den Willen schon als einen konkreten und daher vorstellenden
> Ebenda S. 418. « Ebenda S. 314.
Drews. 8
114 D&B Ixsli als metaphysiBches Prinzip.
Willen hat, von dem er doch nicht müde wird, mit Worten zu be-
tonen, dass er an sich ein reiner Wille sei. Dies aber ist wiederum
nur die Folge davon, dass er den Willen, wie er unmittelbar im Be-
wusstsein ist, den empirischen, vorstellungsbestimmten Willen, mit
dem Willen als Qrund der inneren Erfahrung gleichsetzt. Der eine
Widerspruch treibt den anderen aus sich hervor und zwingt die wundt-
sche Philosophie, sich in einem Zirkel herumzudrehen, der ihr meta-
physisches Grundgelüste über den Haufen wirft. —
Wenn in der inneren Erfahrung der Gegensatz von Sein und
Bewusstsein hinweg&llt, so haben wir keine Veranlassung, wie bei
der äusseren Wahrnehmung, um den Inhalt des seelischen Lebens zu
erklären, zu zweifelhaften Hypothesen unsere Zuflucht zu nehmen.
„Jede Umdeutung, welche irgend ein Gegebenes als blosse Erschei-
nung eines davon verschiedenen Seins betrachtet, verfälscht die wahre
Aufgabe der psychologischen Forschung^."
Was hiermit vor allem abgewehrt werden soll, ist die Annahme
einer Substanz hinter dem, was in der inneren Erfahrung vorkommt.
Denn natürlich, wenn unser Bewusstsein in der Selbstwahrnehmung
bis auf den Grund des Seins hinabreicht, so kann es eine Substanz,
als transcendentes Sein, das verschieden wäre von den seelischen Zu-
ständen, nicht geben. Wenn unsere psychischen Funktionen als seiende
gewusst werden, so hat es keinen Sinn, nach ihrem Substrat zu fragen.
Unsere Selbstwahrnehmung aber zeigt uns immer nur das wechselvolle
Spiel unter einander verknüpfter Aktionen, kein ruhendes Sein, das
auf eine Substanz hindeutet. Die innere Kausalität unserer Geistes-
welt lässt sich nicht mit dem unveränderlichen Beharren eines sub-
stantiellen Wesens vereinen. Die Seele ist folglich nicht eine von
dem geistigen Geschehen verschiedene Substanz, sondern sie ist dieses
geistige Geschehen selbst.
Aus dem Zusammenfallen von Sein und Bewusstsein ergiebt sich
ferner, dass alle diese Vorgänge in uns bewusste sind. „Alles geistige
Geschehen ist bewusste geistige Wirksamkeit. Ein „unbewusster
Geist" ist, wenn man diesen Ausdruck im absoluten Sinne versteht, ein
in sich widersprechender Begriff. Er bezeichnet ein geistiges Wirken,
von welchem gleichzeitig ausgesagt wird, dass es unwirklich sei"^. Be-
wusstsein, meint Wundt, könne nie aus irgend einem anderen geistigen
Inhalt entstehen, der nicht selbst schon Bewusstsein wäre^. Dabei
vergisst er nur, dass er ja selbst diesen Widerspruch begeht, indem
er die bewusste Intelligenz aus dem reinen, d. h. doch wohl auch
Ebenda S.'289f. « Ebenda S. 551. » Ebenda S» 553.
Das Ich als individueller Wille: Wundt. 115
bewusstlosen, Willen entstehen lässt. Oder aber das Reale ist nicht
der blosse, sondern vielmehr der bewusste Wille, d. h. der Wille in
Verbindung mit einer bewussten Vorstellung. „Da somit das Bewusst-
sein nur ein Gesamtausdruck für das Vorhandensein irgend welcher
geistigen Thatsachen ist, so ist es nichts von diesen Thatsachen
Verschiedenes, sondern lediglich ein von der besonderen
Beschaffenheit derselben abstrahierender Hinweis auf ihre
Existenz"^
Eine verhängnisvollere Behauptung kann es freilich für Wundt
nicht geben. Denn hiermit enthüllt sich das reale Sein, das er in der
Selbstwahmehmung unmittelbar erfasst zu haben glaubt, als ein sub-
jektiv-ideelles, als ein Sein, das überhaupt nur in der Form des Be-
wusstseins ist! Jetzt begreift man, warum der Philosoph den wider-
spruchsvollen Begriff des reinen individuellen Willens nicht missen
kann, obwohl er sich in der Selbstwahrnehmung doch nirgends findet: auf
ihm allein beruht sein ganzer Realismus, und dieser verdampft sofort
in den Nebel der blossen Ideellität, sobald man von jenem Prius des
Bewusstseins absieht. Nun ist aber nur eines von beiden möglich:
entweder ist der Wille das reale Prius des Bewusstseins; dann kann
er dies nur als unbewusster Wille sein, d. h. das Reale ist als solches
ein Unbewusstes. Oder aber es giebt überhaupt nur ein Bewusst-
Sein; dann kann der Wille nicht das Prius des Bewusstseins sein.
Wundts Idealismus ist kein subjektiver, wonach der Inhalt des
Bewusstseins aus der Quelle eines substantiellen Wesens gespeist wird,
sondern da er ja gerade die Existenz eines solchen Wesens leugnet, so
erscheint nunmehr die Wirklichkeit als eine Vielheit von bewusst-
ideellen Paktoren, von denen jeder eine ebenso in sich abgeschlossene
und individuelle Einheit darstellt, wie Wundt dies von seinen Realen
behauptet. Immerhin mag unter diesen der Wille die grösste Rolle
spielen, aber nicht mehr als Form, sondern nur noch als Bewusst-
seinsinhalt. Man braucht sich diese Annahme nicht weiter auszumalen,
um zu sehen, dass sie garnichts Anderes als reiner Bewusstseins-
idealismus ist, dessen innere Lebendigkeit seiner Elemente wir ebenso
wenig zu begreifen vermögen, wie die relative Konstanz und den
logischen Zusammenhang derselben.
Auf diesem Standpunkte ist eine Wechselwirkung der verschiedenen
Seinsfaktoren nicht möglich. Denn selbst die „aktuelle Kausalität",
wie Wundt sie im Gegensatze zur „substantiellen Kausalität" der-
jenigen Systeme annimmt, die allem Geschehen in der Welt ein be-
Ebenda.
8'
116 Bas Ich als metaphysisches Prinzip.
harrendes, substantielles Sein zugrunde legen, selbst diese scheitert
daran, dass blosse Bewusstseinselemente wegen ihrer Kraftlosigkeit
nicht auf einander wirken können. Man versteht auch nicht, wie sie
übereinander übergreifen, sich zu höheren Einheiten zusammenordnen
und damit das Material für die Entwickelung bilden sollen.
Eine solche Einheit soll nach Wundt die Seele sein, ein Kom-
plex einer Mehrheit von Seinsfaktoren, die ihre eigene Selbständigkeit
zu Gunsten einer höheren Stufe der Individualität geopfert haben, um
darin nun selbst als aufgehobene Momente zu existieren. Das Seelen-
leben ist jedoch nicht bloss die dünne Kette unserer jeweilig bewussten
Vorstellungen, sondern es besteht in einer unendlich komplizierten
Mannigfaltigkeit gleichzeitiger bewusster und minder oder unter-
bewusster Vorgänge, die zwar ausserhalb des Zusammenhanges mit
unserem unmittelbaren Bewusstsein stehen, aber dennoch mit gewissen
psychischen Endeffekten in diesen Zusammenhang eintreten und da-
durch ihre Zugehörigkeit zu derselben Einheit beweisen, dass sie unter
Umständen unmittelbarer Inhalt des Bewusstseins werden könnend
Indessen worauf beruht jene Einheit des seelischen Lebens, wie
sie uns in der Erfahrung thatsächlich gegeben ist? Ein hinter ihnen
existierendes Wesen soll den psychischen Zuständen, wie gesagt, keinen
inneren Zusammenhang verleihen. Die Aeusserlichkeit des Körpers
kann es aber auch nicht sein, woran die Einheit des seelischen Ge-
schehens haftet, da Wundt mit Schopenhauer übereinstimmt, dass
Seele und Körper nicht an sich, sondern nur in unserer Auffassung
verschieden seien, indem wir dort den lebenden Körper vom Stand-
punkte unmittelbarer innerer Wahrnehmung, hier aber von demjenigen
der äusseren Naturbeobachtung aus betrachten^. So kann denn die
Einheit des Bewusstseins nur auf dem Zusammenhange der inneren
Zustände selbst beruhen. Das ist aber offenbar keine Erklärung,
sondern nur eine Wiederholung des zu erklärenden Thatbestandes, denn
wir wollten ja gerade wissen, woher jener Zusammenhang der inneren
Zustände stammt.
Auch Wundt kann sich schliesslich der Annahme einer über-
greifenden Einheit nicht entziehen, wodurch die individuellen Willens-
faktoren erst Halt und Zusammenhang empfangen. Natürlich reicht
hierzu das Zukunftsideal eines „ Gesamtgeistes ^, als eines universellen
* Vgl. Paulsen: Einleitung in die Philosophie (1892) S. 116— 149, 382—379,
wo dieser „voluntaristische Seelenbegriff" Wundts eine nähere Ausgestaltung
in populärer Form erhalten hat, ohne dadurch freilich an Haltbarkeit und Klar-
heit gewonnen zu haben.
> Ebenda S. 389.
Das Ich als iDdividueller Wille: Wundt. 117
Oeisterbundes, nicht aus, denn dieser wird ja selbst bedingt durch die
gesuchte Einheit. So bleibt nur übrig, einen absoluten Weltgrund
anzuehmen, den Wundt natürlich nur als Weltwillen auffassen kann,
und die Weltentwickelung als Entfaltung dieses absoluten Willens und
Wirkens zu bestimmen, indem er dabei an das lessing'sche Wort
erinnert, man könne sich wohl Gott ausserhalb der Welt, aber niemals
die Welt ausserhalb Gottes denken. Allein wo bleibt bei dieser
Annahme eines absoluten Willens die Voraussetzung Wundt s, dass
der Wille nur als individueller denkbar sein soll, wodurch er sich gerade
von Schopenhauer unterscheidet? Was wird aus seiner Polemik
gegen den Begriff der Substanz, mit deren Beseitigung Wundt sich
rühmt, die Anschauung des alten Heraklit zu neuem Leben erweckt
zu haben? Und wie soll man mit dem Satze, dass die Selbstwahr-
nehmung das reale Sein unmittelbar erkenne, den anderen zusammen-
reimen, dass hinter dem realen Sein der Welt und ihrem individuellen
Willen noch ein absoluter Wille stecke?
Wundt fühlt nur zu wohl die Notwendigkeit, die Kette seiner
metaphysischen Gedankenwelt an einen höchsten, unverrückbaren Pol
aufzuhängen; indessen seine Grundvoraussetzung der transcendentalen
Apperception bewirkt, dass er hier, auf dem höchsten Gipfel seiner
Spekulation angelangt, die Hände nur ins Leere ausstreckt. Er hat mit
ihr das Sein ins Bewusstsein verlegt und hat daher kein Recht mehr,
nach einem Grund des Seins zu fragen, wenn dieser nicht selbst un-
mittelbar im Bewusstsein vorkommt. Daher hat es seinen guten
Grund, dass Wundt so wenig wie möglich über sein Absolutes aus-
sagt und sich offenbar nur widerwillig zu der Annahme eines solchen
herbeilässt. Der Weltgrund ist für ihn absolut transcendent , er ist
zwar der adäquate Grund der Wirklichkeit, aber dennoch „an sich
völlig unbekannt, sodass er nicht einmal, wie die aus ihm abgeleitete
Folge (der Gesamtgeist), in Gestalt eines Ideals von uns gedacht werden
kann", er ist ein „absolut imaginäres Sein"(!), womit sich weder theore-
tisch, noch praktisch etwas anfangen lässt, eine Idee, die sich durch ihre
Unbestimmtheit selbst verflüchtigt, und daher auch auf keine Art mit
logischen Gründen zu beweisend Wie bei allen Ideen, welche die
Erfahrung überschreiten, so kann auch hinsichtlich der Gottesidee der
Philosophie nur die Aufgabe zufallen, darzuthun, dass sie unbeweis-
bar ist. Sie kann den Grund ihrer Allgemeingültigkeit nachweisen,
aber sie muss gänzlich davon abstehen, ausser jener Notwendigkeit
der Idee auch die Notwendigkeit einer der Idee entsprechenden
' Ebenda S. 443. 406.
118 Das loh als metaphysisches Prinzip.
Realität aufzuzeigen. „Die Philosophie kann die Notwendigkeit des
Qlaubens beweisen; ihn in Wissen umzuwandeln, dazu reicht ihre
Macht nicht aus^*"
ß) Bahnsen.
Schopenhauer und Wundt setzen beide die Realität in den
Willen, d. h. in ein Alogisches, ohne sich dabei die Frage vorzulegen,
ob bei einer solchen Bestimmung des Realen eine Erkenntnis des-
selben überhaupt möglich ist. Mit dieser Frage an den Thelismus
zuerst herangetreten zu sein, darin liegt die Bedeutung von Bahnsens
Realdialektik.
Auch sie gründet sich auf das „Selbstinnesein des Willenswesens **
oder auf die „Selbsterfassung des Ich als eines wollenden''. Diese
Selbsterfassung ist keine bloss empirische Erkenntnis, sondern eine
Gewissheit metaphysischer Art, eine „dogmatische Willensanerken-
nung", wodurch sich das Ich ohne Vermittelung durch Schlüsse un-
mittelbar in seinem Wesenskem erfasst, sich jenen als Willen zum
Bewusstsein bringt und damit den archimedischen Punkt gewinnt, um
von ihm aus zum Verständnis des Weltganzen fortzuschreiten. Da
nun der Wille von uns als ein besonderer (ichlicher) erfasst wird, so
kann er auch von Natur nur ein individueller sein. Das Indivi-
duum ist folglich nicht, wie Schopenhauer annimmt, ein bloss
durch die Zauberlaterne des Bewusstseins erzeugtes Bild, auch nicht
bloss ein eingeschränkter Punktionenkomplex eines absoluten Wesens.
Das AU-eine oder die absolute Substanz ist vielmehr selbst nur die
in sich zusammenhängende und zusammengehörige, geschlossene und
mit konstanten Kräften sich in sich selbst wechselseitig bedingende
Summe von Individuallebensfaktoren. Die Vielheit der Welt
ist eine ursprüngliche, beruhend auf der Selbständigkeit ewiger
Urindividuen, Henaden, wie Bahnsen sie auch nennt, die ihrem
Wesen nach Willensakte sind. So gewiss sich das Ich als wollen-
des, und zwar als aktuell wollendes und in dieser Hinsicht als Ding
an sich erfasst, so gewiss giebt es nicht einen Willen als blosse Po-
tenz des WoUens, ein wollendes Wesen oder Substrat hinter der Funktion
des Wollens, sondern „der Wille selber als solcher ist der Wollende
und ist nur' qua wollender", das wollende Ich oder das ichliche Wollen
ist selbst das Subsistierende, dem folglich auch Aseität zugeschrieben
werden muss.
Mit Schopenhauer bestimmt nun auch Bahnsen den Willen
näher als einen blinden, verAUUftlogen Trieb, als Alogisches und An-
1 Ebenda S. 442. 444,
Das Ich als individueller Wille: Bahnsen. 119
tilogisches, und zwar erfasst sich nach ihm der Wille unmittelbar und
gleichsam a priori als das Gegenteil des Logischen, indem er sich
selbst in seinem innersten Wesen als behaftet mit einem Widerspruch
erkennt. Dieser Widerspruch besteht darin, dass der Wille sich zu
den Gegensätzen von Ja und Nein gleich verhält, will, v«ras er nicht
will, und nicht will, was er will, oder mit andern Worten, dass er
in jedem seiner Akte das Etwas und zugleich sein Gegenteil will.
Nicht von aussen ist ihm die Selbstentzweiung zugefügt, als ob der
Widerspruch eine reale Macht wäre, die in der Welt zu kommandieren
hätte. Vielmehr ist er nur der Ausdruck für das selbstentzweite
Wesen der Welt oder für das Reale, ein Prädikat des Seienden,
nicht dieses selbst, ein Attribut des Weltwesens, nicht dessen Sub-
stanz, eine Bestimmung, der sich jenes auf keine Weise entziehen
kann.
Jedes Existierende findet sich unmittelbar im Widerspruche mit
den Existenzen ausser ihm, im Widerspruche auch mit seinem eigenen
Wesen. Dieser intraindividuelle Widerspruch des WoUens und Nicht-
wollens ist nur das Seitenstück zu jenem interindividuellen Wider-
spruch der verschiedenen Existenzen unter einander und erstreckt sich
bis in die untersten Atome hinab, wie auch der zerbrochene Magnet
nicht aufhört, seine Polarität zu haben, sondern diese an jedem klein-
sten Teilchen wieder bethätigt. „Der Riss der universellen Selbst-
entzweitheit geht mitten durch's Herz der Welt, d. h. jedes Einzel-
nen." Auf diesem Konflikte der entgegengesetzten Strebungen be-
ruht der Weltprozess, und der Ausdruck für diesen Widerstreit der rein
realen, von aller logischen Beimischung freien Seinsfaktoren ist die
Realdialektik, wie Bahnsen sie in seinem Hauptwerk „Der Wider-
spruch im Wissen und Wesen der Welt" (1880) näher ausgeführt hat.
Wenn alle Realität auf dem Willen beruhen, jedem Wollen aber
durch ein Nichtwollen das Gleichgewicht gehalten werden soll, so
scheint es, als ob bei diesem Widerspruch von Ja und Nein, der einer
jeden Aktion des metaphysischen Wesens anhaftet^ allerhöchstens ein
blosses Ringen um das Sein, ein Streben nach Realität herauskommen
könnte, die Welt sonach in alle Ewigkeit in der Schwebe zwischen
Sein und Nichtsein bleiben müsste. Diesen Widerspruch, den Wundt
nur durch einen logischen Zirkel verdecken konnte, braucht Bahnsen
nicht zu fürchten, weil die logischen Gesetze vom Widerspruch und
vom ausgeschlossenen Dritten in der Sphäre der alogischen Realität
nicht gelten sollen. Das Logische ist ja für die Realdialektik erst
ein Produkt des Unlogischen, und es kann dies sein, weil es zur
widerspruchsvollen Natur des Willens selbst gehört, aus seiner anti-
120 I)a8 Ich als metaphysisches Prinzip.
logischen Beschaffenheit heraus ein scheinbar (?) Logisches und Teleo-
logisches zu gebären.
Schopenhauers „blinder** Wille benimmt sich auch schon vor
der Erzeugung des Bewusstseins auf den untersten Stufen des Natur-
lebens so, als ob er der Leitung des Verstandes folgte, und das Licht
des Bewusstseins dient ihm als willkommene Leuchte auf seinem
Wege zur Erlösung. Nach Bahnsen entzündet sich jenes Licht rein
„zufällig** an den Widersprüchen der realen Seinsfaktoren. Selbst
eine Illustration für die widerspruchsvolle Beschaffenheit des Seins,
hat es nicht irgendwelchen vernünftigen Zweck, sondern es dient nur
dazu, die Unvernunft des Seins noch zu vermehren, indem es den
realen Widerspruch in einen ideellen verwandelt und so, was schon
an sich wertlos ist, noch überflüssiger Weise im Bilde festhält und
verdoppelt. Wie freilich die Essenz des Willens darin bestehen kann,
einen seiner Natur widersprechenden Vorstellungsinhalt zunächst der
Potenz nach in sich zu tragen und dann auch aktuell aus sich her-
auszusetzen, wie der blinde alogische Wille sich nach dem Bewusst-
sein hinbewegen und trotzdem ein von allem Vorstellungsartigen so-
weit, wie möglich, nämlich um den Abstand des diametralen Gegen-
teils entfernt sein kann, wie ein solcher Wille das Mittel sein kann,
um ein Sein zu setzen, welches idealiter jedem Einzelakte seiner Rea-
lisation voraufgeht, wie überhaupt der Wille in sein Gegenteil um-
schlagen, die reine Unvernunft sich zur Vernunft entwickeln kann,
dies bleibt auch auf dem Standpunkte der Eealdialektik unverständ-
lich, so unverständlich, dass Bahnsen es selbst für das „Urrätsel" er-
klärt, da doch das Wollen zum Wissen als solches selber nicht wissen
kann, dass es das Wissen will. Es kann daher auch nichts Verfehl-
teres geben, als sich zur Erklärung dieser Thatsache auf die Akkom-
modationstheorie des Darwinismus zu berufen. Denn hier handelt es
sich doch bloss um Umformungen und Veränderungen innerhalb der-
selben Art des Seins ; in der Realdialektik dagegen handelt es sich um
den Uebergang des rein realen, alogischen zum logischen, ideellen
Sein, d. h. um ganz verschiedene Seinsarten.
Hat dieser Uebergang nun stattgefunden, so ist es natürlich kein
Wunder^ wenn das reale Sein der logischen Legislatur, die es selbst
erst geschaffen hat, nicht unterthänig ist, sondern in seiner innersten Na-
tur die logischen Urgesetze Lügen straft. Der Realdialektik ist das
logisch Unmögliche ein Wirkliches, das logisch Notwendige aber ein
Unmögliches. Da lässt sich denn freilich das Problem nicht mehr
umgehen, wie das Antilogische mit den Hülfsmitteln des logischen
Denkens erkannt und beschrieben, wie das r^ale Sein im Spiegel
Das Ich als individueller Wille: Bahnsen. 121
des ideellen aufgefangen werden, wie die Realdialektik als Wissen-
schaft überhaupt möglich sein kann. Die Antwort, die Bahnsen hier-
auf giebt, zeugt jedenfalls von bewundernswerter Aufrichtigkeit.
Was hilft es nämlich, dass die Realdialektik sich nicht vermisst,
dem Sein die Gesetze des Denkens aufdrängen zu wollen, dass Bahn-
sen dem Denken einschärft, sich vor dem Sein zu beugen und nicht
von diesem zu verlangen, es solle sich in die starre Maschinerie seiner
schematischen Formeln einzwängen lassen? Die Realdialektik korri-
giert die Logik des Denkens durch die Gesetze des Seienden, sie
fordert daher vom Denken, von den eigenen angestammten Ge-
setzen sich zu emanzipieren und stachelt es zum Widerstände gegen
diese Gesetze auf. Nach ihrer Ansicht ist das sich Widersprechende
auch im Denken mit einander vereinbar, weil beides in der Wirklich-
keit vereinigt ist. Trotzdem bedient sie sich selbst des logischen
Verfahrens, wünscht sie in der praktischen Handhabung ihrer Argu-
mentationsweise in nichts sich vom striktesten Rationalismus zu unter-
scheiden und trachtet sie in ihrer Darlegung des antilogischen Prin-
zips gerade so eifrig und aufrichtig, wie jede andere Weltanschauung,
nach dem Lobe untadelhafter Logicität.
Dies ist nun aber offenbar ganz unberechtigt. Wenn beide abso-
lute Gegensätze sind, so muss das logische Denken das allerungeeig-
netste Mittel sein, um dem Realen beizukommen. Ein Sein, dessen
Beschaffenheit den logischen Anforderungen schnurstracks zuwiderläuft,
kann nur durch eine ungeheure Selbsttäuschung des Verstandes in die
Form der Erkenntnis hineingezwängt werden. Darum gesteht Bahn-
sen selbst, die Realdialektik sei nicht imstande, die Wirklichkeit als
solche zu erkennen. Da der Widerspruch dem Sein unerbittlich an-
hängt, so muss sie zu einander wechselsweise aufhebenden Worten,
zu lauter Widersprüchen greifen, um den Inhalt desselben wenigstens
annähernd im Symbole darzustellen, ohne dass sie es doch im besten
Falle über das induktive Sammeln von Einzelbelegen für die Wider-
spruchsnatur des Seins hinauszubringen vermöchte. Sie muss sich
darauf beschränken, die letztere „mittelst deskriptiver Präsentation
ins rechte Licht zu stellen" und bekennt sich in dieser Hinsicht nicht
ohne Stolz zu einer Art von Empirismus, der freilich schon des-
halb nicht Wissenschaft sein kann, weil das Denken bei der absoluten
Inkongruenz von Denken und Sein nie wissen kann, ob es irgendwie
mit der Wirklichkeit übereinstimmt.
So entspringt die Realdialektik „aus einer tiefen Demütigung
des Denkens. Ihre Keime entspriessen dem Moder der Verzweiflung
an einer logisch korrekten Erkennbarkeit der Welt". Indem sie nicht
122 Das Ich als metaphysisches Prinzip.
darauf ausgeht, wie sonst die Wissenschaften, die Sphinx des Wider-
spruches in den Abgrund zu stürzen, indem sie die vorgefundenen
Widersprüche statt dessen in ihrer Unüberwindlichkeit zu fassen, zu
begreifen strebt, dass es kein ander Heil giebt, als sich bei der Ein-
sicht in ihre Unausrottbarkeit zu beruhigen, stellt sie selbst die höchste
und letzte Form des Skeptizismus dar, welche das Denken verur-
teilt und die Vernunft für ein Unvernünftiges erklärt, weil sie ihrem
Zweck der Welterklärung nicht gewachsen ist.
Der Versuch sonach^ im Gegensatze zu den Systemen der logi-
schen Realität den alogischen Willen als das Wesen des Realen nach-
zuweisen, scheitert nicht bloss daran, dass es unmöglich ist, das logi-
sche und ideelle Sein aus seinem Gegenteile abzuleiten, sondern er
lässt es auch als reinen Widerspruch erscheinen, ein alogisches Reales
erkennen zu wollen. Bahnsen täuscht sich nur dadurch über die Un-
möglichkeit hinweg, indem er den Widerspruch selbst für real erklärt,
und Wundt vermag nur durch beständige Verwechselung des reinen
abstrakten mit dem konkreten inhaltserfüllten Wollen den Schein einer
Erzeugung der Vorstellung aus dem Willen vorzuspiegeln.
Nun ist aber, genau genommen, nicht einzusehen, warum der
Wille realer als die Vorstellung sein soll, wenn beide doch nur als
Inhalt des Bewusstseins existieren. Wenn überhaupt die Selbstwahr-
nehmung eine unmittelbare Erkenntnis ist, dann erscheint es rein
willkürlich, jene Unmittelbarkeit bloss auf den Willen oder auf die
Vorstellung zu beschränken und eines aus dem anderen abzuleiten, an-
statt die inneren Zustände in der gleichen Weise als ursprüngliche
Realitäten anzusehen. Unsere inneren Zustände sind alsdann, wie
dies auch Wundt behauptet, als was sie von uns wahrgenommen
werden, und jede Beziehung derselben auf eine von ihnen verschie-
dene Realität, jede Deutung unserer seelischen Vorgänge als Erschei-
nungen eines metaphysischen Wesens verliert im Hinblick auf ihre
Unmittelbarkeit den Sinn.
Die Gewissheit unserer psychischen Inhalte beruht darin, dass sie
Objekte der inneren Erfahrung sind. Haben wir es folglich hier
nicht nötig, die Erfahrung zu überschreiten, so scheint auch die Aussen-
welt nicht besser erkannt werden zu können, als indem man sie bloss
als Objekt der äusseren Erfahrung auffasst. Descartes hatte ge-
meint, über die blosse Erkenntnis des eigenen Ich zu derjenigen von
anderen Gegenständen dadurch hinausgelangen zu können, dass er jene
für eine klare imd deutliche ansah. Man braucht aber nur darauf zu
reflektieren, dass die Sicherheit derselben auf ihrer Unmittelbarkeit
Der Empirismus Lockes und Humes. 123
beruht, und es scheint möglich, auf Grund einer solchen Unmittel-
barkeit auch sonst tiberall zu sicheren Ergebnissen zu gelangen. Da-
mit tritt dann die Erfahrung an die Stelle der Spekulation, und zwar
die reine Erfahrung, befreit von allen Elementen, die nicht erfahren
sind und niemals Objekt der Erfahrung werden können, und über dem
Grabe einer in die Irre gegangenen Metaphysik erhebt sich das Banner
der positivistischen Weltanschauung.
B. Das Ich. als empirisclies Prinzip.
1. Der Empirismus Lockes und Hum.es.
Erfahrenwerden heisst vorgestellt werden, d. h. unmittelbarer
Inhalt unseres Bewusstseins sein. Eine Philosophie, die sich ausdrück-
lich auf das Gebiet der Erfahrung einschränkt, kann folglich nichts
Anderes sein als eine Untersuchung über den Ursprung und den Zu-
sammenhang unserer Vorstellungen. In diesem Sinne hat zuerst Locke
im Anschluss an Descartes und sein Cogito ergo sum den Gegen-
stand der Philosophie behandelt.
Descartes hatte die Vorstellungen ihrem Ursprünge nach in an-
geborene, von aussen aufgenommene und selbst gebildete eingeteilt
und davon den ersteren, weil zu ihnen auch die Vorstellung des eige-
nen Ich und Gottes gehören sollte, die grösste Bedeutung zugeschrie-
ben. Wenn nun im Ich Bewusstsein und Sein zusammenfallen und
folglich unser Denken, als Wesen des Ich, unmittelbar und notwendig
ein bewusstes sein muss, so müssen sich alle solche Vorstellungen
auch jederzeit in der Selbstwahrnehmung nachweisen lassen. Davon
kann nun aber wenigstens in Hinsicht der angeborenen Vorstellungen,
wie Locke bemerkt, gamicht die Rede sein.
Das Beispiel der Unmündigen und Laien inbetreff der logischen
Gesetze, der Mangel an Uebereinstimmung hinsichtlich der sittlichen
Gebote, der Existenz Gottes u. s. w. beweisen, dass die sogenannten
angeborenen Vorstellungen nicht als unmittelbarer Inhalt in unserem
Bewusstsein existieren. Wären alle jene Vorstellungen wirklich ange-
boren, so müssten sie uns auch früher als alle übrigen Vorstellungen
zum Bewusstsein kommen, was durch die Erfahrung nicht bestätigt
wird. Besässen wir sie aber unbewusst, und wären sie uns einge-
prägt, ohne dass wir darum wissen, so stände das im Widerspruche
mit der Annahme, dass in der Seele sein soviel heissen soll, wie ver-
standen oder gewusst werden. Folglich kann es keine angeborenen
Vorstellungen geben. Dann kann aber das Wesen der Seele über-
haupt nicht im Denken bestehen, weil sonst die SqcIq immer denken
124 Das Ich als empirisches Prinzip.
und demnach von Anbeginn ihrer Existenz an immer Vorstellungen
haben müsste. Sonach kann sie ursprünglich nichts Anderes sein als
der leere Behälter des Bewusstseins, eine reine Tafel (tabula rasa),
die erst von fremder Hand beschrieben werden muss.
Aller Erkenntnisinhalt stammt aus der Erfahrung, der Susseren
und inneren Wahrnehmung. Er ist das Produkt aus dem passiven
Empfindungsstoffe einerseits und der Thätigkeit unserer Seele anderer-
seits. Allein die letztere ist hierbei nicht schöpferisch, wie der
Rationalismus annimmt, sondern ihre ganze Leistung besteht bloss
darin, den Empfindungsstoff durch Kombinieren, Beziehen, Setzen
und Trennen seiner Elemente zu ordnen und zu gestalten. Dabei
vermag freüich Locke schon hier diesem seinem Grundprinzip nicht
treu zu bleiben. Denn da er die primären Qualitäten von den se-
kundären unterscheidet und die letzteren blosse Empfindungen sind,
die durch äussere Bewegung nur in uns hervorgerufen werden, so
ist eigentlich schon damit eine schöpferische Thätigkeit der Seele zu-
gegeben.
Die Vorstellungen der primären Qualitäten (Ausdehnung, Solidität,
Bewegung, Ruhe, Zahl und Figur) gehören zu den ursprünglichen oder
einfachen Vorteilungen und haben ihre Originale ausserhalb der Seele,
womit sie in ähnlicher Weise übereinstimmen, wie die Bilder im
Spiegel mit ihren Gegenständen. Eine Vorstellung jedoch giebt es,
die zusammengesetzt ist, und trotzdem ein reales Sein zu ihrem Korre-
late hat, und dies ist die Substanzvorstellung. Wenn mehre
einfache Vorstellungen als einem und demselben Dinge angehörend be-
trachtet werden, so bilden wir die Vorstellung eines Trägers oder
einer Unterlage jener Vorstellungen. Was diese eigentlich ist, lässt
sich nicht sagen. Trotzdem sind wir logisch genötigt, sie als
existierend anzusehen.
Offenbar ist auch der Träger unserer eigenen subjektiven Zu-
stände uns keineswegs bekannter als die körperliche Substanz. Denn
zwar beruht die Identität der Person oder das Ich auf dem Be-
wusstsein; allein das Bewusstsein ist nicht die Substanz,
ja, es liesse sich sogar denken, dass selbst bei einem Wechsel der
Substanzen das Ich trotzdem dasselbe bliebe, oder umgekehrt, dass
ein Geist durch den Verlust des Bewusstseins früherer Lebensperioden
als zwei oder mehr Personen erschiene. Locke selbst freilich hält
an der Einheit des beharrenden Substrates auch für die inneren Zu-
stände fest und begnügt sich damit, die Frage, was die Seele sei,
als eine ihrer Natur nach unlösbare anzusehen. „Unzweifelhaft haben
wir in uns etwas, was denkt; selbst die Zweifel, was es sei, be-
Der EmpirismuB Lockes und Humes. 125
stätigen das Dasein desselben, wenn man sich auch darein finden muss,
dass man die Art seines Seins nicht weiss ^"
Dass diese Annahme einer unerfahrbaren Substanz hinter dem
Inhalt unseres Bewusstseins mit Lockes Erfahrungsphilosophie nicht
tibereinstimmt, liegt klar zu Tage. Locke ist durch sein Ausgehen
vom kartesianischen Cogito ergo sum zur Selbstgewissheit der Er-
fahrung gekommen, die Realität der Bewusstseinsform liegt seiner
ganzen Philosophie zugrunde. Da aber in der Erfahrung eine solche
reine Form nicht vorkommt, so sieht er sich im Verlaufe seiner Unter-
suchungen gezwungen, die Form des Bewusstseins zum Inhalt selbst
zu schlagen, d. h. den letzteren als einen an und für sich bewussten
aufzufassen, und behält nun an Stelle der realen Bewusstseinsform
nur den Schatten der Substanz zurück, ein Sein, das im Widerspruche
mit seinem Erfahrungsprinzip ihm bloss durch die Vernunft verbürgt
ist und das ihm bei seiner Getrenntheit vom Bewusstsein im übrigen
natürlich eine unbekannte Grösse bleiben muss, —
Diesen letzten dünnen Faden, der den Empirismus noch mit dem
Rationalismus des Descartes verknüpft, hat H u m e mit kühner Hand
durchschnitten.
Hume hat zuerst das Erfahrungsprinzip seiner ganzen Bedeutung
nach erfasst und ist dadurch recht eigentlich zum Vater des Posi-
tivismus geworden, den Locke nur erst vorläufig eingeleitet hatte.
Auch er sieht die Quelle aller unserer Vorstellungen in der inneren
und äusseren Wahrnehmung. Auch er schreibt der Seele keine andere
Fähigkeit zu, als diejenige, den gegebenen Erfahrungsstoff nach be-
stimmten Gesetzen zu verknüpfen und zu ordnen. Allein er bemüht
sich zugleich, was Locke nur angedeutet hatte, diese Gesetze der
Vorstellungsverknüpfungen zu bestimmen.
Die spekulativen Richtungen der Philosophie verlegten, wie wir
sahen, die Verknüpfungsgesetze in die Thätigkeit des metaphysischen
Wesens unseres Geistes, sei es, dass sie darunter die besondere, indi-
viduelle Seele, sei es, dass sie darunter die Weltseele (das Absolute)
verstanden hatten. Ihrer Annahme einer unmittelbaren Erkenntnis
des realen Seins gemäss schillerten bei ihnen die sogenannten aprio-
rischen Intellektualfunktionen zwischen einer empirischen und einer
metaphysischen Bedeutung. Hume, der nur ein empirisches Dasein
kennt und als das Reale in der Selbstwahmehmung nur die Mannig-
faltigkeit der seelischen Zustände findet, verwirft alles Apriorische,
* Locke: Untersuchung über den menschlichen Verstand, IV, 3, § 6;
vgl. n, 23. 27, §§ 9-17.
126 I^as Ich als empirisches Prinzip.
und damit yerwandeln sich für ihn die transcendentalen Intellektual-
funktionen in blosse psychologische Assoziationsgesetze.
Aus ihnen nun sucht er den ganzen Inhalt der Erfahrung zu er-
klären und alles aus jenem herauszuschaffen, was nicht ein unmittelbarer
Gegenstand unserer Wahrnehmung ist. So leugnet er die Annahme
einer kontinuierlichen Wirklichkeit, weil der Inhalt unseres Bewusst-
seins nur eine beständig unterbrochene Folge von Momenten darstellt,
und glaubt er die angenommene Kontinuität auf die verknüpfende
Thätigkeit der Einbildungskraft zurückführen zu können. So wendet
er sich gegen den Begriff der Kraft und behauptet er (im schroffsten
Qegensatze zum Thelismus), dass eine solche in der inneren Erfahrung
sich nicht nachweisen lasse. Vor allem aber bekämpft er die Kausa-
lität, indem er die reale Notwendigkeit in den Dingen aus der psycho-
logischen Notwendigkeit erklärt, wonach wir durch die Gewohnheit
veranlasst werden, zwei Ereignisse uns immer in dem nämlichen Zu-
sammenhange vorzustellen, worin wir sie häufig beobachtet haben.
Bei der Kausalität lässt Hume es dahingestellt, ob der vorge-
stellten Notwendigkeit in unserem Bewusstsein auch eine reale des
Geschehens entspricht, da wir jedenfalls die Kausalität nur aus der
inneren Erfahrung kennen. Beim Substanzbegriff dagegen leugnet er
ein solches Entsprechen gänzlich. Was wir faktisch wahrnehmen, sind
nicht Substanzen, sondern immer nur Zustände und Thätigkeiten.
Nun soU aber bloss das wirklich Erfahrene objektive Geltung haben.
Folglich muss Hume auch jenes „unbekannte Etwas" , den Träger
der Zustände und Thätigkeiten, dem Locke wenigstens das Prädikat
der Existenz nicht vorenthalten hatte, für ein blosses Produkt unserer
Einbildungskraft erklären, das ebenfalls nur in dem psychologischen
Faktor der Gewohnheit seinen Grund hat.
So wenig es körperliche Substanzen als reaW Existenzen giebt,
so wenig giebt es auch Geister oder Seelen. Alle unsere Vorstellungen
von real Seiendem entspringen aus Empfindungen. Aus welcher Em-
pfindung aber sollte die Vorstellung der Seele und damit auch des
Selbst oder der Person entstehen? Offenbar ist dieselbe durchaus
keine Empfindung, sondern nur das, worauf alle unsere Empfindungen
und Vorstellungen bezogen werden. „Wenn irgend eine Empfindung
die Vorstellung vom Selbst erzeugt, so muss sie im Verlauf unseres
ganzen Lebens dieselbe bleiben, wofern das Selbst auf diese Weise
existieren soll. Es giebt aber keine stetige und unveränderliche Em-
pfindung. Schmerz und Lust, Kummer und Freude, Leidenschaften
und Sinnesempfindungen lösen einander ab und existieren nie alle
zugleich. Die Vorstellung des Selbst lässt sich daher nicht aus irgend
Der Empirismus Lockes und Humes. 127
einer dieser Empfindungen oder aus irgend einer anderen herleiten,
und folglich giebt es gar keine solche Vorstellung. Was mich be-
trifft", gesteht wenigstens Hume, „so stosse ich jedes Mal, wenn ich
in das, was ich mein Selbst nenne, am tiefsten eindringe, auf irgend
eine spezielle Empfindung von Wärme oder Kälte, Licht oder Schatten,
Liebe oder Hass, Schmerz oder Lust. Nie kann ich mich selbst ohne
eine Empfindung erfassen und nie etwas Anderes als Empfindungen
entdecken^."
Demnach ist die Seele ein blosses „Bündel oder die Summe ver-
schiedener Empfindungen, die einander mit unmerklicher Schnellig-
keit folgen und sich in beständigem Flusse befinden". Sie gleicht
einer Schaubühne, wo mehre Empfindungen nach einander auftreten
und sich zu einer unendlichen Mannigfaltigkeit von Stellungen und
Situationen vermischen, aber wir wissen nicht, wo sich jene Bühne be-
findet, wir wissen auch nicht, aus welchem Materiale sie aufgebaut ist.
Nur das wissen wir, dass die Aufeinanderfolge von Empfindungen
das ganze Wesen der Seele ausmacht und dass jene Empfindungen
unter einander nach den Assoziationsgesetzen der Ähnlichkeit, Be-
rührung und Verursachung verknüpft sind.
Wie wenig freilich diese Gesetze das innere Band der seelischen
Zustände erklären können, das konnte sich dem Scharfsinne eines
Hume doch nicht entziehen, und es verdient doppelte Anerkennung,
dass er selbst aus dieser Einsicht kein Hehl gemacht hat. Im „An-
hange" zu seiner „Untersuchung über die menschliche Natur" kommt
er noch einmal auf die Frage des Ich zurück und gesteht, dass ihm
seine frühere Erklärung für die Identität der Person nicht mehr ge-
nüge. Wie können, so lautet jetzt die Frage, verschiedene Existenzen,
wie es die seelischen Zustände und Thätigkeiten sind, auch nur den
Schein einer solchen Identität erzeugen? Würden unsere Empfin-
dungen einer einfachen individuellen Substanz inhärieren, oder ver-
möchten wir ein reales Band unter ihnen wahrzunehmen, so bestände
natürlich keine Schwierigkeit. Nun ist aber das letztere nicht der
Fall, und das erstere widerspricht dem Prinzip der reinen Erfahrung.
Darum bleibt Hume mit dieser Frage ganz und gar im Skeptizismus
stecken und schliesst er seine Untersuchung über das Ich mit dem
Eingeständnis, dass dies Problem für seinen Verstand unlösbar sei.
Und doch beweist die hume sehe Fragestellung nichts gegen die
Lösbarkeit des Ichproblems, sondern höchstens etwas gegen die Be-
rechtigung des positivistischen Ausgangspunktes. Es zeigt sich hier,
^ Hume: Treatise on human nature, I, iv, 6.
128 Das leb als empirisches Prinzip.
dass der Positivismus, der seinen Ursprung gerade aus der Abweisung
aller apriorischen Faktoren hernimmt, in seinen Konsequenzen zu der
nämlichen metaphysischen Anschauung über die Natur des Seins ge-
langt, wie der aus dem Apriorismus hervorgegangene reine Bewusst-
Seinsidealismus. Denn was sind die Empfindungen, worin sich für
jenen der Begriff des Seins erschöpft, Anderes als jene reinen Be-
wusstseinselemente, in welche der Idealismus die ganze Wirklichkeit
auflöst? Führt aber die Annahme der Unmittelbarkeit der Selbst-
wahrnehmung dahin, die Empfindungen an die Stelle des realen Seins
zu setzen, dann bedarf es nur einer weiteren Reflexion auf den Be-
griff der Empfindung, um den vom Positivismus festgehaltenen Vor-
rang der inneren vor der Susseren Empfindung aufzuheben.
2. Der SensaaJisxnus und Materialismus.
Es ist ja nKmlich selbst eine Thatsache der Erfahrung, dass wir
unser eigenes Wesen nur durch Vermittelung der Gegenstände ausser
uns erkennen und früher eine Erfahrung von der Aussenwelt als von
uns selbst gewinnen. Die Sinne sind es, wodurch uns zuerst über-
haupt eine Erkenntnis zuströmt, und alle unsere Erkenntnis der inneren
seelischen Zustände hängt ab von den Empfindungen äusserer Gegen-
stände. Wenn nun alles bloss Empfindung ist, sind dann nicht am
Ende die inneren Empfindungen das Produkt der äusseren und sind
nicht vielleicht alle psychischen Thätigkeiten, wie Vorstellen, Fühlen,
Wollen u. s. w., bloss umgeformte äussere Empfindungen? Condillac
hat diese Frage bejaht und damit den locke sehen Empirismus in den
Standpunkt des Sensualismus umgewandelt. Diese Umwandlung ist
aber auch zugleich der Bruch mit der ganzen bisherigen Ge-
dankenreihe. Denn während alle anderen Standpunkte, die wir bis
jetzt betrachtet haben, in der Unmittelbarkeit der Selbstwahrnehmung
wurzelten, verlegt der Sensualismus den Schwerpunkt der Weltan-
schauung vom Centrum in die Peripherie und lässt das gesamte innere
Sein aus der unmittelbaren Wahrnehmung der äusseren Wirklichkeit
entspringen. —
Nun kann man aber auf dem Boden des Sensualismus unmöglich
stehen bleiben. Denn die Annahme, dass die sinnliche Empfindung
der ursprüngliche und gewisseste Ausgangspunkt für den ganzen In-
halt unserer Erkenntnis ist, diese Annahme führt notwendig weiter
zu der Frage, woher denn die Empfindung selbst entsteht. Der Idea-
lismus, der jenen Ausgangspunkt in der inneren Empfindung des
eigenen Subjekts annimmt, hat darin ein Ursprüngliches, das selbst
als die Ursache alles übrigen seelischen Inhalts hervortritt. Die äussere
Der Sensualifimus und Materialismus. 129
Sinnesempfindung dagegen weist über sich hinaus, indem sie sich als
die Wirkung einer von ihr verschiedenen Ursache darstellt. Offen-
bar nun kann diese Ursache nur in unserem Nervensystem und der
Bewegung der stofflichen Elemente liegen, mit welchen unsere körper-
lichen Organe in Berührung kommen. Damit verschiebt sich aber
der Schwerpunkt der Weltanschauung auch noch über die Peripherie
des innerlichen Seins hinaus, die äusserliche stoffliche Welt masst
sich die Herrschaft über die Seele an, und der Sensualismus schlägt
um in den Materialismus.
Es zeigt sich hier, was davon zu halten ist, wenn man den
Materialismus durch den Hinweis auf die Unmittelbarkeit des Ich und
das Cogito ergo sum glaubt widerlegen zu können. Wenn damit ge-
sagt sein soll, dass die Seele nichts Anderes sei als das Bewusstsein,
so hat der Materialist gewonnen Spiel; denn das Bewusstsein ist er-
fahrungsmässig an die stoffliche Substanz des Gehirns, der Ganglien-
zellen, Nerven u. s. w. gebunden und abhängig von ihrer Beschaffen-
heit: wie sollte sich da die Annahme nicht ganz von selbst ergeben,
dass die Seele überhaupt kein selbständiges Reales, sondern nur das
zufällige Resultat der körperlichen Bewegungsprozesse und dass unser
geistiges, innerliches Sein nur den Widerschein des allein realen Stoffes
darstellt? Weit entfernt also, den Materialismus zu widerlegen, führt
die Annahme der unmittelbaren Realität des Ich erst recht zu diesem
Standpunkt hin, und die kaum erfasste psychische Realität verwandelt
sich unter der Hand in eine materielle.
Wird nun aber die Frage aufgeworfen, wie von diesem Stand-
punkt aus die Vorstellung des Ich erklärt werden könne, dann stehen
wir vor demselben Rätsel, wie dasjenige, woran wir auch den Posi-
tivismus scheitern sahen. Der Materialismus stellt die entgegengesetzte
Parallele zum Positivismus und reinen Bewusstseinsidealismus dar,
sofern die letzteren trotz ihrer Abweisung des Substanzbegriffes in
ihren Konsequenzen doch eine Vielheit von selbständigen Bewusst-
seinselementen postulieren müssen, auf deren Bewegung und Verbin-
dung der ganze Prozess der Wirklichkeit beruht. Dieser psychischen
stellt der Materialismus seine stoffliche Vielheit von Atomen gegen-
über und lässt aus ihrer Trennung und Zusammensetzung die körper-
liche sowohl, wie die geistige Welt entstehen. Wie man aber nicht
begreift, dass rein ideelle Einheiten zur Starrheit des realen Seins
gefrieren, dass selbständige, von keiner übergreifenden Macht be-
herrschte Seinsfaktoren sich um den festen Kern eines beharrenden
Ich herumkrystallisieren und zur Einheit eines Gesamtbewusstseins
zusammenfliessen können, ebenso wenig versteht man auch, wie über-
Drews. 9
130 I^as Ich als empirisches Prinzip.
haupt ein ideelles Sein aus seinem geraden Gegenteile, dem rein realen
Stoffe und seiner mechanischen Bewegung hervorgehen kann.
Ergebnis.
Fragen wir nunmehr nach dem Ergebnis unserer ganzen Unter-
suchung, so hat sich gezeigt, dass jeder Versuch, das Reale un-
mittelbar vom Ich aus zu bestimmen, in seinen Konsequenzen
sich schliesslich selber aufhebt. Überall — wenn man vom Mate-
rialismus absieht, der selbst schon auf einer bloss mittelbaren Bestim-
mung des Realen durch das Ich beruht und damit zu einer neuen Art der
Bestimmung hinüberleitet — überall enthüllt sich das für real gehaltene
Sein am Ende als ein bloss ideelles Sein. So fest wir auch auf Grund des
Cogito ergo sum die Realität gepackt zu haben glaubten, immer löste
sich uns dieselbe gleichsam unter den Händen auf, und was wir
schliesslich zurückbehielten, das war nur der Nebeldunst des reinen
Bewusstseinsidealismus und Illusionismus, in dessen Idealität sich auch
das Ich verflüchtigte. Wir glaubten, den Schlüssel des Weltgeheim-
nisses in der Hand zu halten, und fanden uns von dem blossen Schein
eines realen Seins geäfft, den wir auch nicht einmal als Schein er-
klären konnten. Wir gingen davon aus, das Ich sei mehr als ideelles
Sein, und langten am Ende bei der Einsicht an, dass es ein vom
Ideellen verschiedenes Reales überhaupt nicht giebt und dass wir uns
als blosse Vorstellungen in einer Welt von blossen Vorstellungen be-
finden. Eine schlagendere reductio ad absurdum lässt sich offenbar
nicht denken. Eine Behauptung, die, in ihre Konsequenzen verfolgt,
das Gegenteil ihrer selbst zu Tage fördert, eine solche Behauptung
hat auf Wahrheit keinen Anspruch, auch dann nicht, wenn sie dem
naiven Bewusstsein als das Selbstverständlichste von der Welt er-
scheinen sollte.
Offenbar haben wir hier den tiefsten Grund jener allgemeinen
Entmutigung und Verzweiflung an der Kraft des Denkens vor uns,
welche die charakteristische Signatur der Philosophie in den letzten
beiden Dritteln unseres Jahrhunderts ausmacht. Alle Standpunkte,
deren wesentliche Momente wir uns vorgeführt haben, sind nur
ebenso viele Versuche, vom Cogito ergo sum aus zum Realen
zu gelangen, sie stellen nur die verschiedenen möglichen Ansichten
dar, die implicite bereits in jenem Fundamentalsatze des Descartes
verborgen liegen. Die Möglichkeiten sind expliziert, und jede von
ihnen ist in einem besonderen Standpunkte durchgearbeitet — aber
das Ziel ist nicht erreicht, und am Ende sind wir nur wieder beim
Ausgangspunkte, der gänzlichen Verzweiflung am Realen, angekommen.
J
Ergebnis. 131
Allein welchen Wert kann man einer Annahme zuschreiben, die
sich so oder anders auslegen lässt, je nachdem von welchem Gesichts-
punkte aus man sie betrachtet? Gesetzt, wir besässen im Ich wirk-
lich ein reales Sein, was ist damit gewonnen, wenn sich auf diese
Voraussetzung ebenso wohl der Logisnius, wie der Thelismus, ebenso
wohl der subjektive, wie der objektive und absolute, der trans-
cendentale, wie der reine Idealismus des Bewusstseins, ebenso wohl
die Monadologie , wie F i c h t e s Ichheitslehre , der Rationalismus,
wie der Empirismus und Positivismus, der Pluralismus, wie der Mo-
nismus und Solipsismus gründen lassen? Man könnte denken, es
sei doch nichts Geringes, im Ich wenigstens seiner eigenen Realität
versichert zu sein, es sei doch etwas wert, im Wogenschlage des
Geschehens wenigstens diesen Einen Halt zu haben, das Dass unserer
Existenz zu wissen, auch wenn wir über das Was derselben nie
etwas Sicheres erfahren sollten. Aber ist denn das Ich überhaupt
ein fester Punkt, und könnten nicht am Ende diejenigen Recht haben,
nach denen die sogenannte Wirklichkeit nichts Anderes ist als der
unaufhörliche Wechsel des Geschehens?
Dem Gemüte also kann die Annahme der Realität des Ich nichts
nützen, solange der Verstand nicht ihr Wesen bestimmt hat. Dem
Verstände jedoch kann jene Annahme auch nichts nützen, weil alle
Versuche, wie gesagt, das Wesen des Realen unmittelbar vom Ich
aus zu bestimmen, durch eine Art von immanenter Dialektik sich in
ihre Gegensätze fortentwickeln. Wenn jeder sich rühmt, das Reale
gleichsam unmittelbar in der Hand zu halten, und jeder bei näherem
Zusehen etwas Verschiedenes vorzeigt, lässt sich dann überhaupt noch
an die Wahrheit jener Behauptung glauben, und liegt es nicht viel
näher, dass keiner von allen das gesuchte Reale in Besitz hat?
Man sollte meinen, wenn das Reale sich so unmittelbar in das
Netz des menschlichen Bewusstseins einfangen Hesse, so müsste es
auch eindeutig sein. Da hiervon nicht die Rede sein kann, so ist
damit der schlagende Beweis geliefert, dass garnicht das Reale als
solches erkannt ist, sondern dass wir auch vermittelst der Selbst-
wahrnehmung nur wie durch ein Fenster in die reale Welt hinaus-
blicken und dass sie uns deshalb verschieden erscheint, weil die Fenster
bei den verschiedenen Naturen eine verschiedenartige Färbung haben.
Wie sehr nun auch dieses Resultat als ein bloss negatives er-
scheint, so dürfte doch eins zugleich klar geworden sein, und das ist
die Bedeutung des Ich für die gesamte Weltanschauung. Es hat sich
nämlich gezeigt, dass bei den verschiedenen Philosophen von ihrer
Auffassung des Ich der ganze Charakter ihrer Metaphysik abhängt
9*
132 Ergebnis.
und dass jene Auffassung auch dort vielfach mit hineinspielt und einen
bestimmenden Einfluss ausgeübt hat, wo sie selbst nur als eine Kon-
sequenz aus Prinzipien dasteht, die scheinbar auf ganz anderem Wege
gewonnen sind. Offenbar liegt auch nicht darin der Mangel der be-
trachteten Weltanschauungen, dass sie zur Bestimmung des realen
Seins sich an die Selbstwahmehmung wenden, sondern darin, dass sie
im Ich den Kern der Realität schon unmittelbar erfasst zu haben
glauben, während doch auch das Ich nur erst Schale ist, dass
die spiegelnde Oberfläche des Wassers schon für dessen Tiefe halten
und darum verkennen, dass der eigentliche feste Grund der Realität
sich noch hinter und unter dem eigenen Ich befindet. Gewiss geht
der Weg in die metaphysische Welt des realen Seins nicht durch die
äussere Wahrnehmung, sondern durch das Thor des Ich, weil dieses
jener Welt offenbar näher liegt als die äusseren Gegenstände, die von
uns verschieden sind und daher erst recht bloss mittelbar erkannt
werden können. Allein falsch und nur ein unkritisches Vorurteil ge-
heimer Wünsche ist es, die Unmittelbarkeit der Selbstwahmehmung
absolut, anstatt sie bloss relativ auf die äussere Wahrnehmung zu
verstehen. Das Ich ist für unsere Erkenntnis die nächste und
unmittelbarste Erscheinung des realen Seins, aber es selbst ist nicht
dieses Sein, sondern eben nur eine Erscheinung desselben.
Der historisch bedeutsamste und prägnanteste Ausdruck für jene
falsche Auffassung des Ich ist im Cogito ergo sum gegeben. Erwägt
man, welche ungeheure, bisher noch immer viel zu wenig gewürdigte
Bedeutung der falsche Grundsatz des Descartes für die Philosophie
der Folgezeit gehabt hat, vergegenwärtigt man sich, wie fast alle
hervorragenden und charakteristischen Richtungen innerhalb des mo-
dernen Denkens aus dieser Quelle herausgeflossen, von ihrem Wasser
gespeist und, ohne es oft selbst zu wissen, in bestimmte Bahnen ge-
lenkt sind, begreift man, wie alle jene stolzen Gedankensysteme der
intellektuellen Anschauung, der transcendentalen Apperception , oder
unter welchem Namen das Cogito ergo sum in ihnen enthalten sein
mag, auf trügerischem Grunde aufgebaut sind, übersieht man dies
Alles und erinnert man sich, mit wie tiefer Überzeugung die Erbauer
derselben an die Unerschütterlichkeit ihres Fundaments geglaubt, welche
überschäumende Kraft und himmelstürmende Begeisterung sie gerade aus
diesem Glauben gezogen haben, dann mag einem wohl bange werden
um den Wert der metaphysischen Gedankenarbeit und mag man wohl
überhaupt an dem Erfolge der menschlichen Spekulation verzweifeln.
In der That giebt es wenige so folgenschwere und unheilvolle
Irrtümer in der Geschichte unserer Erkenntnis als das Cogito ergo
Ergebnis. 133
sum, das mit Flammenschrift den Eingang in die neuere Philosophie
bezeichnet. Gleich der ptolemäischen Ansicht über die Konstruktion
des Kosmos, deren Autorität so lange die wahre Erkenntnis verhindert
hat, gleich dem alchymistischen Glauben an die Möglichkeit, auf künst-
liche Weise Gold herzustellen, unter dessen Herrschaft die richtige
Einsicht in die Natur und ihre Gesetze unterdrückt ist, gleich ihnen
hat das Cogito ergo sum das philosophische Denken Jahrhunderte lang
in die Irre geführt und die besten Köpfe mit seinem trügerischen
Schein geblendet. Und doch, ist nicht gerade aus dem Aberglauben
der mittelalterlichen Adepten die zukunftsreiche Wissenschaft der mo-
dernen Chemie erwachsen, welche die Naturgeister in einer Weise zu
beschwören und sich dienstbar zu machen weiss, wie die kühnste
Phantasie eines Dr. Faust sich nicht konnte träumen lassen? Und
ist nicht das ptolemäische Weltsystem eine der augenscheinlichsten
Stützen für die Wahrheit der christlichen Religion gewesen zu einer
Zeit, wo die geistige Unreife junger Völkerschaften nach handgreif-
lichen Beweisen für ihren Glauben verlangte? So könnte auch die
Gedankenent Wickelung , die sich an den Grundsatz des Descartes
anschliesst , auch wenn sie sich in ihren Resultaten selbst aufheben
sollte, nur das notwendige, historisch geforderte Durchgangsmoment
zu einer höheren Stufe der philosophischen Erkenntnis bilden.
Was Macchiavelli von den geistigen Körperschaften des Staates
und der Religion behauptet, dass bei ihnen der Rückgang an den An-
fang zugleich als ein Fortschritt zu betrachten sei, dasselbe gilt auch
im Bereiche des philosophischen Denkens. Descartes und Kant sind
dadurch die Begründer einer neuen Epoche in der Philosophie ge-
worden, dass sie mit der vorangegangenen Gedankenentwickelung in
gewissem Sinne aufgeräumt und gleichsam von vorne begonnen haben.
Aus jenem Grunde kann es auch nicht überflüssig sein, wenn im
Vorigen der Nachweis geliefert wurde, dass die Geschichte der neueren
Philosophie die verschiedenen implicite im Cogito ergo sum enthaltenen
Bestimmungen des Realen explicite herausgesetzt und wenn wir an
der Betrachtung seiner Konsequenzen die Falschheit jenes Satzes selbst
bewiesen haben. Lange genug hat das Cogito ergo sum für ein un-
erschütterliches Axiom der philosophischen Erkenntnis gegolten. Es
ist Zeit, nach einer fast dreihundertjährigen Herrschaft desselben im
Gebiete der Philosophie mit diesem Satze endlich aufzuräumen und
damit die Bahn für eine Auffassung des Realen frei zu machen, die
geeignet scheint, eine neue Epoche in der Geschichte der Metaphysik
heraufzuführen.
134
Zweiter Teil.
Die Metaphysik des Ich.
A. Die Erkenntnis des Ich.
I. Das Ich als Bewasstseinsform.
Das Problem des Ich, wie Des carte s es in die neuere Philo-
sophie eingeführt hat, gipfelt in der Frage:
Ergreife ich, indem ich mich denke oder indem ich mein Ich
in den Blickpunkt meines Bewusstseins erhebe, ein Sein, das mehr
ist als blosses Vorstellungssein; erkenne ich mein Ich unmittelbar als
reales Sein im Gegensatze zum bewusst-ideellen Sein meiner Vor-
stellungen; ist im Ichgedanken das ideelle Objekt zugleich das reale
Subjekt des Denkens, oder mit andern Worten: fallen im Ich Be-
wusstsein und Sein, Ideelles und Reales, Objekt und Subjekt zur
Identität zusammen?
Descartes hat die Frage bekanntlich mit Ja beantwortet. Er
hat gemeint, im Denken werde ich mir der Realität meiner selbst
unmittelbar bewusst, käme ich gleichsam an oder hinter das Sein und
zöge es ins Bewusstsein herein, oder vielmehr mein Denken sei g'ar-
nichts Anderes als mein Sein, es sei jedenfalls der sicherste Beweis
dafür, dass ich sei, weil ich, ohne zu sein, auch nicht zu denken ver-
möchte. Cogito ergo sum. Mit diesem Satze hat Descartes geglaubt,
das Ich wenigstens aus den Stürmen des Zweifels gerettet und den
festen Punkt gewonnen zu haben, von dem aus er das ganze meta-
physische Gerüste der Welt aus den Angeln heben könnte. Ich bin,
und zwar als reales Subjekt des Denkens, mein Denken bedarf als
Thätigkeit oder Accidenz eines substantiellen Trägers, und diese Sub-
stanz, diese Quelle des Denkens bin ich selbst, dessen Realität mir
somit durch die Thatsache des eigenen Denkens unmittelbar verbürgt
wird.
Was soll man nun von dieser Ansicht halten? Fast alle hervor-
ragenden Philosophen bis in die Gegenwart hinein haben sie ange-
Das Ich als Bewusstseinsform. 135
nommen, und wenn sie den Satz des Descartes auch noch so ver-
schieden gedeutet und noch so abweichende Folgerungen aus ihm
gezogen haben, an seiner Wahrheit selbst haben sie doch nicht gerüttelt
und sind nicht müde geworden, das Cogito ergo sum als ein unver-
lierbares Gut der philosophischen Erkenntnis zu preisen. Nur ganz
gelegentlich sind hin und wieder Zweifel laut geworden ; allein meist
sind solche nur von Grössen zweiten oder dritten Ranges ausgegangen
und jedenfalls sind sie nicht imstande gewesen, das hohe Ansehen
jenes Satzes zu erschüttern. Dazu mag vielleicht nicht wenig auch
der Umstand beigetragen haben, dass die berühmtesten Weltanschau-
ungen, die mit ihren Grundgedanken den philosophischen Ideenkreis
beherrschen, mehr oder weniger auf ihm fussen, wohingegen bis jetzt
noch kaum ein bedeutendes System hervorgetreten ist, das in derselben
Weise auf der Negation des Cogito ergo sum aufgebaut wäre.
Und doch ist die Bereitwilligkeit, womit man wenigstens in
diesem einen Punkte dem Descartes beistimmt, um so schwerer
verständlich, als das Cogito ergo sum eine Ausnahme gerade des-
jenigen philosophischen Satzes bildet, der ebenfalls für einen der
bestbegründeten gilt. Die Welt ist meine Vorstellung, d. h. unmittelbar
und zunächst betrachtet nimmt alles, was Inhalt meines Bewusstseins
ist, als solches auch Teil an der Form des Bewusstseins : es ist Vor-
stellungs- oder ideelles Sein, und mag es immerhin Zeichen oder
Repräsentant eines Realen sein, so ist es doch, so wie ich es unmittel-
bar besitze, das gerade Gegenteil des realen eigentlichen Seins. Nur
das Ich soll ausserdem, dass es Inhalt des Bewusstseins und somit
Vorstellung ist, zugleich noch etwas Anderes sein, etwas, was dem
luftigen, flüchtigen und zerfliessenden Charakter des Ideellen gegen-
über von dauernderer und gleichsam härterer Beschaffenheit ist. Es
soll nicht bloss ein im Bewusstsein Enthaltenes und von ihm Ge-
tragenes, sondern zugleich der Träger des Bewusstseins, nicht bloss
ein Erkanntes, sondern das Erkennende, das Abbild im Spiegel und
der Spiegel selbst, mit Einem Worte ein Reales sein. Diese Ausnahme -
natur des Ich aber soll darauf beruhen, dass das Ich in dem: Ich
denke ein Unmittelbares, d. h. dass seine Vorstellung im Bewusstsein
dem letzteren durch keine Zwischenglieder weder logischer, noch
funktioneller Art vermittelt ist.
Nun lässt sich allerdings, wenn man den Satz des Descartes
unbefangen betrachtet, das Ich von dem: Ich denke garnicht trennen.
Das Ich ist nicht etwas vor oder ausser dem Denken, nicht etwas,
zu dem sich das letztere nur gleichsam hinbewegte, um es, wie einen
Schmetterling, aufzuspiessen und in Besitz zu nehmen, sondern das
136 I^e Erkenntnis des Ich.
Denken oder Vorstellen ist gamicht, ohne dass Ich die Thätigkeit
des Vorstellens ausübte, und Ich bin garnicht, ohne mich im Vor-
stellen zu bethätigen. Ich kenne das Vorstellen nur als mein Vor-
stellen und ich weiss von mir nur dadurch, dass ich vorstelle. Ich
brauche das Ich nicht immer auch im Blickpunkte meines Bewusstseins
zu haben, der objektive Vorstellungsinhalt kann meine Aufmerksamkeit
dermassen an sich fesseln, dass mir darüber der subjektive Pol des Be-
wusstseins entschwindet, ja, vielleicht^spielt sich sogar der grösste Teil
meines Vorstellungslebens auf der Bühne des Bewusstseins unter einer
derartigen Verdunkelung der Ichvorstellung ab. Allein wenn ich den
Bewusstseinsinhalt zergliedere, so drängt sich mir ausser den objektiven
Momenten zugleich auch immer das Ich mit auf, und zwar mit
einer solchen Heftigkeit, dass es trotz seiner Einzelnheit imstande
scheint, der Vielheit des Objektiven jederzeit das Gleichgewicht zu
halten. Kein Subjekt ohne Objekt, kein Objekt ohne Subjekt gilt
allgemein und notwendig für alles bewusste Denken; aber es gilt
auch eben nur für die Sphäre des Bewusstseins, für das ideelle Sein,
und daher führt uns diese Unmittelbarkeit des Ich im Denken
nicht auf den ersehnten Boden des Realen hinüber.
Es ist ja nämlich klar, dass wenn uns das Ich nur in und
mit dem Vorstellen zugleich gegeben ist, es vor diesem auch
nichts voraus hat und folglich das Sein desselben durchaus nur das
ideelle Sein des bewussten Vorstellens bedeutet. Zwar erlebe ich
infolge jenes Enthaltenseins des Ich im Vorstellen das Ich unmittelbar
und steht mir seine Existenz folglich ausser allem Zweifel : nur über das
Vorstellungssein bin ich mitkeinem Schritt hinausgekommen,
an welchem zu zweifeln überhaupt sinnlos war. Ich wollte ja gerade
wissen, ob mein Sein noch etwas mehr enthält als diese blosse
Ideellität, und erfahre nun, dass ich, als Vorstellung, allerdings real
bin. Ich hoffte im Sum des Cogito ergo sum die Füsse auf den
festen Grund einer selbständigen, in sich ruhenden Realität zu setzen,
aber diese Realität ist nur die luftige zwischen den Gegensätzen
von Subjekt und Objekt hin- und herfliessende Realität des bewussten
Denkens, wobei ich das Gefühl nicht los werde, als müsste ich durch
sie hindurch in eine unendliche Tiefe fallen. Sum cogitans , ich bin
vorstellend — gewiss; aber damit ist auch garnichts Anderes gesagt
als: Ich stelle vor. Cogito ergo sum, ich denke, also bin ich; aber
dies „ergo" bedeutet hier nicht, was auch Descartes hervorhebt,
einen Schluss, als ob mein Sein die Folge meines Denkens wäre,
sondern es dient nur zur Erklärung: Cogito ergo sum, ich denke,
d. h. so als mein Denken bin ich. Descartes durfte offenbar
Das Ich als Bewusstseinsform. 137
nur behaupten, dass das Denken ist und dass in diesem Denken
auch der Ichgedanke vorkommt. Allein dass der letztere etwas
mehr als ein Gedanke, dass er der reale Träger des Denkens ist,
das ist schon ein Schluss von der Wirkung auf die Ursache, wie
Descartes ihn gerade ausdrücklich vermeiden wollte.
Die Meinung, als ob ich im Denken meiner selbst über das ideelle
Sein hinaus und ins reale hinübergriffe, besagt, dass es ein Erkennen
des Erkennens, d. h. ein ins Bewusstsein Heben desjenigen realen
Prozesses gäbe, der die Unterlage oder Voraussetzung alles ins Be-
wusstsein Hebens bildet. Dass dies möglich sei, hat bereits Schopen-
hauer mit Recht bestritten, „weil dazu erfordert würde, dass das
Subjekt sich vom Erkennen trennte und nun doch das Erkennen
erkennte**, oder weil bei der Zusammengehörigkeit von Subjekt und
Objekt das Subjekt sich nicht ins Objekt aufheben , sondern immer
nur Subjekt des Erkennens sein kann. „Dein Wissen von deinem
Erkennen ist von deinem Erkennen nur im Ausdruck unterschieden.
„Ich weiss, dass ich erkenne", sagt nicht mehr als „Ich erkenne",
und dieses, so ohne weitere Bestimmung, sagt nicht mehr als „Ich".
Wenn dein Erkennen und dein Wissen von diesem Erkennen zweierlei
sind, so versuche nur ein Mal, jedes für sich allein zu haben, jetzt
zu erkennen, ohne darum zu wissen, und jetzt wieder bloss vom
Erkennen zu wissen, ohne dass dies Wissen zugleich das Erkennen
sei. Ereilich lässt sich von allem besonderen Erkennen abstrahieren
und so zu dem Satz „Ich erkenne" gelangen, welches die letzte uns
mögliche Abstraktion ist, aber identisch mit dem Satz „für mich sind
Objekte" und dieser identisch mit dem „Ich bin Subjekt" , welcher
nicht mehr enthält als das blosse „Ich"^. Freilich, können wir hinzu-
fügen, lässt sich auch von einem Erkennen des Erkennens reden, denn
der abstrakte Begriff desselben existiert ja natürlich. Nur braucht
damit nicht auch ein solches Erkennen zu existieren, denn damit
wäre die Zusammengehörigkeit von Subjekt und Objekt aufgehoben,
und wäre dasjenige selbst ein Objekt des Erkennens, was immer
nur Voraussetzung des Erkennens sein kann. Wir gewinnen dadurch
keinen Zuwachs an Erkenntnis, dass wir auf den Akt unseres Er-
kennes reflektieren, sondern das Vorstellen und das Wissen von
unserem Vorstellen ist Eines und Dasselbe, es ist nämlich
gamichts Anderes als eben nur die einfache Thatsache unseres
Bewusstseins. Dies hat Niemand klarer ausgeführt als Baumann:
^ Schopenhauer: Ueber die 4 fache Warzel des Satzes vom zureichenden
Grunde, S. 141.
138 Die Erkenntnis des Ich.
„Wir stellen nicht erst vor und dann stellen wir weiter vor, dass
wir vorstellen, sondern beides geschieht mit Einem Schlage; dadurch
dass wir vorstellen, stellen wir zugleich vor, dass wir vorstellen; im
Akt unseres Vorstellens ist dies alles mit einander enthalten^.** Wie
das zugeht, darüber sagt uns unser Vorstellen gamichts aus. Unser
Vorstellen ist selbst zugleich ein unmittelbares Innewerden
unseres Vorstellens, aber niemals und auf keine Weise kommen
wir damit um unser Bewusstsein herum und über die einfache That-
sache hinaus, dass wir vorstellen.
Es erhellt hieraus, wie sehr sich Fichte täuschte, wenn er in
der Bestimmung des Ich als Subjekt-Objekts den metaphysischen Grund
des Seins erfasst zu haben glaubte. Das Ich ist Subjekt: aber dies
bedeutet nicht das reale denkende Subjekt, sondern nur den sub-
jektiven Pol des Bewusstseins, dem das Objekt als sein not-
wendiges Korrelat gegenübersteht. Das Ich ist Objekt: aber so bedeutet
es wiederum nicht das reale Subjekt, sondern nur den subjek-
tiven Repräsentanten desselben fürs Bewusstsein, der nicht
bloss numerisch verschieden vom realen Subjekt, sondern seiner Natur
nach auch später als dieses ist. Das Ich ist Subjekt-Objekt: aber das
heisst nicht, dass in ihm ideelles und reales Sein, Bewusstsein und
Sein zusammenfallen, sondern es heisst nur, dass in meinem Be-
wusstsein, innerhalb dieser Sphäre der blossen Ideellität das vor-
stellende und das vorgestellte Ich zusammenfallen oder genauer, dass
ich in meinem Bewusstsein und durch dasselbe unmittelbar inne
werde, dass ich vorstelle.
Ich kann auch nicht mit Fichte sagen, das Ich setze sich selbst
und sei nur vermöge dieses Setzens durch sich selbst, als ob ich
durch die blosse Handlung des Denkens zugleich mein Sein hervor-
brächte. Ich weiss von keinem Sein, das nicht das Sein des Denkens
ist ; dieses aber bringe ich nicht erst hervor, sondern ich finde es un-
mittelbar in meinem Denken. Brächte ich aber auch wirklich ein
Sein hervor, so wäre dies doch wiederum nicht das Denkend-Sein,
sondern das Gedacht-Sein, nicht das Ich als Subjekt, sondern als Ob-
jekt, und jede Identifizierung des Denkens mit dem Sein, d. h. meines
bewussten Denkens mit dem Realen selbst, ein einfacher Verstoss
gegen die logische Verschiedenheit des Produzierenden und des Pro-
duktes. Ich mag mich wenden und drehen, wie ich will, ich erfasse
doch niemals mit meinem Bewusstsein ein reales Sein. Daher war
es auch bloss ein logisches Taschenspielerkunststück, wenn Schelling
^ Baumann: Philosophie als Orientierung über die Welt, S. 96.
Das Ich als Bewusstseinsform. 139
an die Stelle des ficht eschen Ich die „Identität des Ideellen und
Realen" setzte, als ob die beiden ursprünglich verschieden und in
jenem Punkte nur in ihrem Gegensatze gebunden wären, um durch ihr
Hervortreten in Geist und Natur die Welt aus sich herauszusetzen.
Ist der Weltgrund unmittelbarer Inhalt unseres Bewusstseins , dann
sind Denken und Sein zwar identisch, aber sie sind dies nicht als
ursprüngliche Gegensätze, sondern weil das Eine überhaupt nur das An-
dere ist, weil das Sein im Bewusstsein eben nur das Bewusst-Sein ist.
Der Ruhm, den Irrtum des Cogito ergo sum, sofern es ein reales
Sein enthalten soll, zuerst durchschaut zu haben, gebührt keinem
Geringeren als Kant. Bekanntlich zieht sich, wie ein rother Faden,
ein merkwürdiger Widerspruch durch die ganze Vernunftkritik hin-
durch. Kants Ziel nämlich ist, die Möglichkeit einer apodiktischen Er-
kenntnis des Realen zu begründen, die als solche nur a priori sein
kann. Nun können wir nach Kant zwar das ganze Reale als solches
nicht a priori erkennen, weil ein Teil desselben, die Empfindungen,
uns von aussen gegeben werden müssen und also nur a posteriori
erkannt werden können. Wohl aber können wir die apriorischen
Bedingungen des Realen a priori erkennen, und zwar weil diese an
unserem eigenen Ich, als ihrem realen Grunde oder (transcendentalen)
Substrate, haften, das Ich aber a priori von uns erkannt werden kann.
Die „synthetische Einheit der Apperception" bedeutet also bei Kant
nicht bloss die verknüpfende Bedingung des Erkenntnisinhaltes, welche
diesem erst Einheit und Zusammenhang verleiht, indem sie die Em-
pfindungen ordnet und verbindet, sondern ebenso wohl auch unser Be-
wusstsein von derselben. In dieser Hinsicht also gehört Kant selbst in
die Reihe derjenigen Philosophen, die den Faden des Cogito ergo
sum nur weiter ausgesponnen haben, und deren ganzes System sich
auf der Möglichkeit eines unmittelbaren Bewusstseins des realen
Substrates unseres Bewusstseinsinhalts aufbaut. Allein weil dieses Sub-
strat eben nur unser Bewusstsein ist und mithin auch das von
ihm Getragene, imser Erkenntnisinhalt, über die Grenzen des Be-
wusstseins nicht hinausreicht, so folgt, dass es überhaupt unmöglich
ist, irgend ein Reales zu erkennen, dass alles, was wir erkennen, als
solches nur ein Ideelles, oder mit Kant zu reden, nur Erscheinung,
nicht aber ein Ding an sich selber ist. Dem Satze, die blosse Vor-
stellung Ich sei das transcendentale Bewusstsein, tritt damit der
andere entgegen, dass wir auch unser eigenes Subjekt nur als Er-
scheinung, nicht aber nach dem, was es an sich selbst ist, erkennend
* Kant: Werke, hrsg. von Hartenstein, IH, S. 578, 129.
140 Die Erkenntnis des loh.
Damit nimmt aber zugleich auch die synthetische Einheit der Apper-
ception die harmlosere Bedeutung an, das: „Ich denke", das „alle
meine Vorstellungen muss begleiten können", damit sie meine Vor-
stellungen seien oder insgesamt zu einem und dem n&oilichen Selbst-
bewusstsein gehören, beziehe sich nur auf die Möglichkeit, sich jederzeit
des Ich in seinem Vorstellen zu erinnern.
Das „mögliche Bewusstsein" Kants hat also einerseits diese bloss
modale Bedeutung, dass es einen möglichen Inhalt des Urteilens
ausdrückt, auf der andern Seite dagegen bedeutet es jene meta-
physische Einheit, in welche alle Fäden der Erkenntnisthätigkeit
zusammenlaufen, oder vielmehr die geistige Potenz, die möglicher
Weise die Form des Bewusstseins produziert. Kein Wunder, dass bei
diesem Doppelsinn ihres FundamentalbegrifPes die metaphysischen
Idealisten Fichte, Schelling und Hegel mit dem gleichen Rechte
sich auf die kantische Philosophie berufen können, wie die Gegner
der Metaphysik, die subjektiven Idealisten und Positivisten, und dass
sich auch solche als Kantianer betrachten dürfen, die, wie Albert
Lange, die realistische oder metaphysische Auslegung des Cogito
ergo sum verwerfen^.
Indem nun für Kant die realistische Bedeutung dieses Satzes,
wovon er ausging, sich unter der Hand in die bloss logische ver-
wandelte, so wurde er dadurch in den Stand gesetzt, die metaphysische
Auslegung des Cogito ergo sum als Paralogismus zu durchschauen. In
dieser Hinsicht zeigt er daher, dass nichts verkehrter sei, als das Ich in dem:
Ich denke für den Ausdruck einer realen Substanz zu halten. Der Begriff
der Substanz bezieht sich inuner nur auf Anschauungen, die irgendwie
gegeben sein müssen. Das Ich in jenem Satze aber ist gar keine An-
schauung, keine empirische, sondern eine rein intellektuelle Vorstellung,
die auf das Empirische der inneren Wahrnehmung nur angewendet
wird. „Das Ich ist zwar in allen Gedanken, es ist aber mit dieser
Vorstellung nicht die mindeste Anschauung verbunden, die es von
anderen Gegenständen der Anschauung unterschiede. Man kann also
zwar wahrnehmen, dass diese Vorstellung bei allem Denken immer
wiederum vorkommt, nicht aber dass es eine stehende und bleibende
Anschauung sei, worin die Gedanken (als wandelbar) wechselten^."
In der That dient das Urtheil „Ich denke" nur dazu, alles Denken
als zum Bewusstsein gehörig aufzuzeigen. Das Ich ist eine bloss
logische Einheit, nur die Einheit im Denken oder dasBewusst-
^ A. Lange: Geschichte des Materialismus I, S. 328 ff.
2 Kant: a. a. 0. S. 587.
Das Ich als Bewusstseinsform. 141
sein meines Denkens. Das Bewusstsein aber ist an sich nicht
sowohl eine Vorstellung, die ein besonderes Objekt unterscheidet,
sondern eine Form derselben überhaupt, sofern sie Erkenntnis
genannt werden soll. Ich glaube in der Vorstellung „Ich" das reale
Substrat des Erkenntnisprozesses unmittelbar erfasst zu haben: dabei
wird aber fälschlich die logische Erörterung des Denkens für die
metaphysische Bestimmung des Objekts gehalten. Die Einheit des
Bewusstseins, welche den Kategorien zu Grunde liegt, wird für An-
schauung des Subjekts als Objekts genommen und darauf die Kate-
gorie der Substanz angewandt^." „Folglich verwechsele ich die
mögliche Abstraktion von meiner empirisch bestimmten Existenz mit
dem vermeinten Bewusstsein einer abgesondert möglichen Existenz
meines denkenden Selbst und glaube das Substantiale in mir als das
transcendentale Subjekt zu erkennen, indem ich bloss die Einheit des
Bewusstseins, welche allem Bestimmen, als die blosse Form der Er-
kenntnis, zu Grunde liegt, in Gedanken habe^." „Gleichwohl ist
nichts natürlicher und verführerischer, als der Schein, die Einheit in
der Synthesis der Gedanken für eine wahrgenommene Einheit im
Subjekte dieser Gedanken zu halten. Man könnte ihn die Subreption
des hypostasierten Bewusstseins nennend"
Danach scheint denn allerdings von der ursprünglichen realen
Bedeutung des Cogito ergo sum so gut wie nichts mehr übrig zu
bleiben. Es ist „nur eine vermeintlich neue Einsicht," wenn man
das beständige logische Subjekt des Denkens für die Erkenntnis des
realen Subjekts der Inhärenz hält. Das Bewusstsein ist das einzige,
was alle Vorstellungen zu Gedanken macht, und worin mithin alle
unsere Wahrnehmungen enthalten sind. Ausser dieser logischen Be-
deutung des Ich aber haben wir keine unmittelbare Erkenntnis des
Subjektes, was diesem und seinen Gedanken als Substrat zu Grunde
liegt*. Zwar bin ich in allen Urteilen immer das bestimmende Sub-
jekt desjenigen Verhältnisses, welches das Urteil ausmacht. „Dass
aber Ich, der ich denke, im Denken immer als Subjekt und als etwas,
was nicht bloss wie Prädikat dem Denken anhängt, gelten müsse,
ist ein apodiktischer und selbst identischer Satz; aber er bedeutet
mcbt, dass ich als Objekt ein für mich selbst bestehendes Wesen oder
Substanz sei^." Ich denke ist ein empirischer Satz und enthält den
Satz: „ich existiere" in sich; allein dies Urteil: „ich existiere denkend"
ist nicht synthetisch, d. h. ich komme damit nicht über das Denken
^ Ebenda S. 286. * Ebenda S. 289. » Ebenda S. 617.
* Ebenda S. 587. » Ebenda S. 278.
142 Die Erkenntnis des Ich.
selbst, über das ideelle zum realen Sein hinaus, sondern meine Exi-
stenz ist eben nur im Denken. Oder wie es in dem nachgelassenen
Manuskripte Kants vom Uebergange von den metaphysischen Anfangs-
gründen der Naturwissenschaft zur Physik heisst: „Der logische Akt :
Ich denke ist noch kein Urteil, d. i. noch keine Vorstellung des
Verhältnisses eines Gegenstandes zum anderen, noch weniger ein
Vemunftschluss (ratiocinium cogito ergo sum), kein Fortschreiten von
einer Vorstellung als Prädikats zur anderen als Bestimmung eines
Begriffs, sondern bloss das Formale des Urteilens nach der Regel der
Identität, nicht ein reales Verhältnis der Dinge, sondern ein bloss
logisches Verhältnis der Begriffe zu einander^."
Bei dieser klaren Einsicht in die Wertlosigkeit des Cogito ergo
sum in metaphysischer Beziehung ist es allerdings begreiflich, wenn
Kant sich energisch von der Verwandtschaft mit der ficht eschen
Wissenschaftslehre lossagte und diese für „blosse Logik" erklärte.
Mit Recht warf er ihr vor, dass sie sich mit ihren Prinzipien garnicht
bis zum wirklichen Inhalte des Wissens verstiege, sondern indem sie
hiervon gänzlich abstrahiert, sich vergeblich abmühte, aus dem blossen
Begriffe: Ich irgend eine reale Erkenntnis herauszuklauben. Um so
auffälliger und in der ganzen Geschichte der Philosophie vielleicht
einzig dastehend ist es, dass er nicht bemerkt hat, wie er mit jener
Kritik des kartesianischen Fundamentalprinzips seiner eigenen Philo-
sophie den Boden unter den Füssen herausgezogen hat. Denn
darüber muss man sich nur völlig klar sein, dass Kant nicht aufgehört
hat, auch trotz seiner Einsicht in die bloss logische Natur des Ich
an der transcendentalen Apperception in ihrem ursprünglichen Sinne
festzuhalten und dass der ganze subjektiv-ideaUstische Charakter seiner
Philosophie letzten Endes nur auf der „Subreption des hypostasierten
Bewusstseins" ruht. Nur weil Kant das Bewusstsein selbst für ein
Reales hielt, nur darum wurde ihm alles übrige Reale zu einer blossen
Vorstellung innerhalb des Bewusstseins und glaubte er, in diesem
Inhalt des Bewusstseins schon die Realität als solche zu besitzen.
Wenn irgend etwas imstande ist, die Macht des philosophischen
Zeitbewusstseins zu beweisen, der selbst ein Kant sich nicht zu ent-
ziehen vermochte, so ist es die Art und Weise, wie der letztere die
logische und die reale Bedeutung des Cogito ergo sum beständig mit
einander verwechselt und wie er, wenn beide verschiedenen Bedeutungen
in seinem Bewusstsein kollidieren, sich bemüht, den Widerspruch zu
^ Vgl. mein Werk: Kants Naturphilosophie als Grundlage eines Systems
(1894), S. 478.
Das Ich als Bewusstseinsform. 143
heben oder ihn doch so viel wie möglich zu verschleiern. Das Schillernde
und Schwankende der Vernunftkritik, das von jeher das Verständnis
derselben so sehr erschwert hat, die offenbaren zahlreichen Wider-
sprüche, von welchen dieses Werk, wie wenige philosophische Schriften
von hervorragender Bedeutung, angefüllt ist, dies alles hat seinen
tiefsten Grund nirgends anders als in dem geschilderten Doppelsinne,
wie Kant das Cogito ergo sum auffasst. Es lässt sich aber zugleich
nicht leugnen, dass eben aus derselben Quelle auch jener erstaunliche
Gedankenreichtum, jene Vielseitigkeit der Ausblicke und Gesichts-
punkte entspringt, die fast ein jedes philosophisches System, welcher
Art es auch sein mag, eine Anknüpfung in der Vernunftkritik finden
lässt. Man hat Kant oft genug gerühmt, dem Dogmatismus ein
Ende gemacht zu haben — mit Unrecht, sofern man darunter die
Ansicht versteht, auf Grund des Cogito ergo sum durch reines Denken
zu irgend welcher Erkenntnis des Realen zu gelangen. Denn der
transcendentale Idealismus Kants, der die Dinge für blosse Erschei-
nungen und das reale Sein in jeder Beziehung für unerkennbar
hält, steht selbst durchaus auf dem Boden des Dogmatismus. Dieser
Idealismus, der sich „Kritizismus" nennt, ist wesentlich nichts Anderes
als der unkritische Versuch, eine apodiktische, rein logische Erkenntnis
des realen Seins aus der widerspruchsvollen Behauptung abzuleiten,
dass Ideelles und Reales, Bewusstsein und Sein zusammenfallen. Wohl
aber hat Kant in jenem Kapitel über die Paralogismen der reinen
Vernunft dieses Fundament des Dogmatismus zerstört und damit der
Philosophie den Weg aus der Sackgasse hinausgewiesen, in welche
sie, ausgehend vom Cogito ergo sum, sich früher oder später not-
wendig verrennen musste. —
Das Ich ist nichts Anderes als die Form des Bewusstsein s:
das ist das positive Ergebnis auch der k an tischen Kritik des Cogito
ergo sum. Nun kennen wir aber gar keine Bewusstseinsform, die als
solche nicht Form eines bestimmten Vorstellungsinhalts wäre; wir kennen
aber auch ebenso wenig einen Vorstellungsinhalt, der losgelöst von der
Form des Bewusstseins existierte. Das ist nur ein anderer Ausdruck für
die oben betonte Thatsache, dass es gar kein Subjekt ohne Objekt giebt.
Alles Bewusstsein ist nur an und durch seinen Inhalt, die Objekte; diese
aber sind Objekte nur, weil sie innerhalb der Form des Bewusstseins
existieren oder weil sie das Subjekt zu ihrem Korrelate haben. Wir
können uns die Bewusstseinsform zwar losgelöst von ihrem Inhalt
denken, sowie wir uns ein Erkennen des Erkennens denken konnten,
aber das gelingt uns nur vermittelst unserer Fähigkeit der Ab-
straktion, wodurch wir unseren ganzen Bewusstseinsinhalt in seine
144 Die Erkenntnis des leb.
Elemente zergliedern können. Sowenig wir bei dieser Zergliederung
auf ein reales Sein, sondern immer nur auf Elemente unseres Be-
wusstseins stossen, die ihre objektive Bedeutung und ihre Existenz
nur erst in unserem Bewusstsein erhalten, sowenig kann auch die
Abstraktion der Bewusstseinsform als solche auf irgend eine reale
Bedeutung oder etwa auf eine selbständige Existenz Anspruch machen.
Diese Form des Bewusstseins ist ja nur bewusste Bewusstseins-
form, ist ja selbst nur mein Gedanke und folglich ganz unfähig,
mir über das Verhältnis der Form des Bewusstseins zu ihrem Inhalt
irgend welche Aufklärung zu verschaffen. Weit entfernt, der Träger
oder die Substanz des Bewusstseinsinhaltes zu sein, gehört sie selbst nur
mit zum Bewusstseinsinhalt und setzt folglich das Bewusstsein schon
voraus. Weit entfernt, konkreter und realer als der sonstige Inhalt
des Bewusstseins zu sein, ist sie vielmehr, als Abstraktion, noch weit
leerer und formaler, indem sie ja aus jenem erst nachträglich abge-
zogen ist.
Eben deshalb ist es nicht statthaft, die abstrakte, leere Form
des Bewusstseins für das aktive und produktive Subjekt zu halten,
das unter dem Namen des „reinen Ich" oder des „transcendentalen
Subjekts" den ganzen Inhalt des Bewusstseins aus sich selbst heraus
entfaltet. Nicht das Subjekt trägt oder produziert das Ob-
jekt, das letztere steht überhaupt nicht in irgendwelchem
ursächlichen Verhältnis zum Subjekt, sondern beide sind
nur die entgegengesetzten Pole des Bewusstseins, die eben
in diesem korrelativen Verhältnis zu einander diejenige Form
konstituieren, die wir Bewusstsein nennen. Mit Unrecht also
stellt man sich häufig das Bewusstsein als eine Art Springquell vor,
der aus unterirdischen Tiefen seine Wasser in das Sonnenlicht empor-
schleudert. Das Bewusstsein kann ein solcher Springquell einfach des-
halb nicht sein, weil es gamicht in die Tiefe der Dinge hinabreicht,
weil seine ganze Eigentümlichkeit eben darin beruht, bloss acci-
dentielle Form der Oberfläche der Dinge zu sein, eine Form,
die als solche nicht aktiv, nicht produktiv, sondern immer nur rein
passiv und unproduktiv sein kann, sich allem gegebenen Inhalte
gleichmässig anschmiegt und, wie ein Schatten, die lebendige Fort-
bewegung ihres Inhalts begleitet. Wie der Schatten nichts Selbstän-
diges und Substantielles, sondern immer nur an seinem Gegen-
stande ist und nur mit diesem sich fortbewegt, genau so ist es auch
mit der Form des Bewusstseins: sie haftet dem Vorstellungsinhalt
unzertrennlich an und erhält nur von ihm eine scheinbare Lebendig-
keit geliehen.
Das leb als Bewusstseinsform. 145
Ist sonach das Bewusstsein eine blosse Abstraktion ohne
Selbständigkeit und Aktivität, so ist es naturgemäss auch
ausser stände, sich auf sich selbst zurückzuwenden oder sich selbst
in der Form des Bewusstseins zu erkennen. Die Form des Bewusst-
seins, welche das Bewusstsein zu seinem Inhalte hat, dieses Objekt
ist keineswegs das Bewusstsein als Subjekt, selbst dann nicht wenn
dem wirklichen Bewusstsein eine Existenz an sich selbst zukäme,
sondern es ist nur die subjektive Vorstellung des wirklichen Be-
wusstseins, der ideelle Repräsentant desselben, aber auch dies
nicht als Vorstellung des gegenwärtigen Bewusstseins, d. h. nicht
als Anschauung unmittelbar, sondern als Begriff, als Abstraktion aus
einer Reihe von Bewusstseinsakten, die jenem gegenwärtigen Bewusst-
sein vorangegangen sind. Daher ist es ein zweckloses Sichdrehen im
Kreise, sich selbst als Objekt, d. h. als Anschauung desjenigen Sub-
jekts erfassen zu wollen, das Subjekt in dem nämlichen Bewusstseins-
akte ist. „Das Subjekt der Kategorien", sagt Kant, ,,kann dadurch,
dass es diese denkt, nicht von sich selbst, als einem Objekte der
Kategorien, einen Begriff bekommen, denn um diese zu denken, muss
es sein reines Selbstbewusstsein, welches doch hat erklärt werden
sollen, zu Grunde legend" Versuche nur einmal, dich selbst, d. h.
dein Bewusstsein, zu erkennen! Was du erkennst, ist bloss der ab-
strakte Begriff des Bewusstseins; das wirkliche Bewusstsein dagegen
bleibt immer nur Voraussetzung deiner bewussten Erkenntnis. Sehr
gut bemerkt daher Liebmann: „Das Ich als ein Objekt erfassen
wollen ist ungefähr soviel, wie über seinen eigenen Schatten springen
oder so schnell um den Baum herumlaufen wollen, dass man sich selbst
beim Kragen erfassen kann. Wohl verstanden! Ich weiss ganz sicher,
dass ich bin; sicherer als irgend sonst etwas. Aber nie bin ich Objekt.
Das Licht leuchtet; jedoch es beleuchtet nicht sich selbst, sondern seine
Umgebung ^. " In dem gleichen Sinne hat auch Schopenhauer das Ich
„das Erkennende, niemals Erkannte" genannt, und hat man das Ich mit
dem Auge verglichen, das alles Andere, nur sich selbst nicht sehen kann.
Weil das Ich die Abstraktion der Bewusstseinsform im Gegen-
satze zu ihrem Inhalt ist, so lassen sich ferner die beiden Ausdrücke:
Bewusstsein und Ich von einander garnicht trennen. Das Ich reicht
genau so weit, wie das Bewusstsein; daher ist es ein Wider-
spruch, von einer unbewussten Thätigkeit des Ich zu reden. Wer
sonach das Ich für ein Reales hält und es demgemäss der Seele gleich-
^ Kant: a. a. 0. S. 286.
* 0. LiebmaDD: Psychol. Aphorismen in Zeitschrift f. Philos. u. philos.
Kritik Bd. 102, Hft. 1, S. 42.
Drews. 10
146 I^ie ErkenntDis des Ich.
setzt, der muss sich entschieden gegen die Annahme sträuben, dass es
eine unbewusste Seelenthfitigkeit, eine unbewusste Intelligenz, oder wie
man es nennen mag, giebt. Descartes handelte folglich nur konse-
quent, die seelischen Funktionen bloss als bewusste gelten zu lassen,
und Alle, die das Cogito ergo sum im kartesianischen Sinne für eine
Wahrheit halten, müssen Gegner des unbewusst Seelischen sein. Ganz
anders dagegen, wer den Doppelsinn des Cogito ergo sum durch-
schaut, wer erkannt hat, dass die Selbstverständlichkeit der Annahme,
als ob wir im Ich unmittelbar ein Reales besässen, schon bei Des-
cartes nur aus einer Verwechselung des logischen mit einem realen
Ich sich herschreibt. Ein solcher hat gar keinen Grund, die Mög-
lichkeit der unbewussten Seelenthätigkeit von vornherein zu leugnen ;
denn die Seele und das Ich sind für ihn ja nicht identisch, und es
würde daher mindestens voreilig sein, die schöpferische Kraft des Be-
wusstseinsinhaltes, die aus der Seele stammt, bloss deshalb für bewusst
zu halten, weil das Ich mit dem Bewusstsein zusammenfallt. ^ Es ist
inkonsequent, auf das Cogito ergo sum zu schwören und dennoch
eine Region des Unbewussten in der Seele einzuräumen, wie Leibniz
es gethan hat. Es ist aber nicht weniger inkonsequent, das Ich in
dem: „Ich denke ^ bloss für logisch und abstrakt und trotzdem die
unbewusste Seelenthätigkeit für einen Widerspruch zu halten. Dass
man überhaupt insbesondere bei dem Begriff des unbewussten Denkens
so schnell mit dem Vorwurf des Widerspruches bei der Hand ist,
das hat nur darin seinen Grund, weil es in der That ein Widerspruch
ist, denken und nicht selbst zugleich dabei sein zu sollen, oder wie
man es im HinbUck auf die logische Natur des Ich auch ausdrücken
kann, ein Prädikat ohne das entsprechende Subjekt zu setzen. Mein
Denken ist ein bewusstes Denken, und diese Bewusstheit findet ihren
Ausdruck in dem Worte: Ich. Aber dies Ich bedeutet nicht, dass es
das Bewusstsein ist, welches die Thätigkeit des Denkens ausübt.
Ist das Bewusstsein nur die notwendige Form des Denkens und
das Ich nur der abstrakte Ausdruck für diese Form, so kann natür-
lich das Ich als solches überhaupt nicht denken. Wenn ge-
dacht wird, so kommt darin der Ichgedanke immer zugleich mit vor,
weil das Gedachte eben ein Bewusstes ist; aber das Ich ist selbst
nur ein Gedachtes, nur das ideelle und nicht das reale Subjekt des
Denkens. Darum hatte Lichtenberg recht: „Es denkt, sollte man
sagen, wie man sagt: es blitzt. Zu sagen: cogito, ist schon zuviel,
sobald man es durch: Ich denke übersetzt ^" Damit fällt aber zu-
^ Lichtenberg: Vermischte Schriften, S. 70, 99.
Das Ich als Bewusstseinsform. 147
gleich auch der Grund hinweg, der das unbewusste Denken als Wider-
spruch erscheinen lässt. Denn so selbstverständlich es ist, dass das
Bewusstsein nicht Form eines unbewussten Inhalts sein kann, so wenig
versteht es sich von selbst, dass die Form des Bewusstseins sich auch
auf eine Thätigkeit erstrecken sollte, wodurch jener Inhalt erst her-
vorgebracht wird. Nur solange das Ichbewusstsein als reales Subjekt
des Denkens aufgefasst wird, erscheint auch alles Denken unmittelbar
als ein. bewusstes. Die Einsicht in die bloss formale Natur des Be-
wusstseins vernichtet auch diesen Schein und zeigt, dass nicht der
Begriff des unbewussten Denkens, wohl aber die Ansicht sich selbst
widerspricht, wonach der Produzent des Bewusstseinsinhaltes selbst
schon ein Inhalt von dessen Bewusstsein sein soll.
Wenn sonach das Bewusstsein nicht tiefer reicht als das Ich,
das Ich aber wiederum nichts Anderes ist als das Bewusstsein, so ist
es unmöglich, durch das Thor des Ich unmittelbar in das Gebiet des
Realen einzudringen. Dass der Bewusstseinsinhalt als solcher nur
Erscheinungen enthält, zu denen wir das reale Korrelat nur hinzu-
denken können, darf gegenwärtig wohl als allgemein zugestanden
gelten. Dass aber auch die Bewusstseinsform, sobald sie Inhalt des
Bewusstseins wird, nur Erscheinung, nur subjektiver Reprä-
sentant des wirklichen Bewusstseins sein, dass das Bewusstsein
sich seiner selbst nie unmittelbar bewusst sein, sich niemals als reales
Sein, sondern schon deshalb nur als abstrakte Form des Ideellen er-
fassen kann, weil ihm selbst überhaupt alle Selbständigkeit und Rea-
lität abgeht, das vernichtet auch die letzte Hoffnung, mittelst des
Bewusstseins über die reine Ideellität des Bewusstseinsinhalts hinaus-
zukommen. Alles Sein im Bewusstsein ist bewusstes oder ideelles
Sein. Es ist ein Rest von naivem Realismus, zu glauben, dieser selbst-
verständliche, weil eigentlich tautologische Grundsatz der Erkenntnis-
theorie erlitte eine Ausnahme beim Ichbewusstsein. —
Gesetzt, es gäbe eine unmittelbare Anschauung des Realen, so
müsste das Zusammenfallen unseres Bewusstseins mit dem Sein zur
Folge haben, dass uns nichts bekannter wäre als dies Sein, unsere
Seele müsste für uns das AUergewisseste, sie müsste, wie ein Buch,
vor uns aufgeschlagen sein, und alle ihre Eigenschaften müssten so
offen vor uns liegen, dass wir sie nur einfach daraus abzulesen
brauchten. Davon zeigt nun aber die Wirklichkeit das gerade Gegen-
teil. Niemand hat ein Bewusstsein von seiner eigenen seelischen Be-
schaffenheit; nur indirekt und gleichsam von hinten herum gelingt es
uns, durch Reflexion einen flüchtigen Blick in jene centrale Tiefe
unseres eigenen Selbst zu werfen, und was unser Wissen von ihm
10*
148 I^ie Erkecntnis des Ich«
anbetrifiPt, so gehört gerade das Substrat unserer seelischen Erschei-
nungen noch immer zu den dunkelsten Gebieten metaphysischer Er-
kenntnis. Oder welches greifbare Ergebnis ist wohl dabei heraus-
gekommen, dass alle Philosophen von Descartes bis Hegel sich in
irgend welchem Sinne auf die Unmittelbarkeit ihrer Erkenntnis vom
Realen gestützt haben? Pochen wir nicht immer noch mit Zweifeln
und Fragen an das Thor jener alten Geheimnisse, die das Wesen
unseres eigenen Selbst verhüllen ? Die intellektuelle Anschauung hat
uns bisher, so scheint es, auch nicht einmal einen Spalt an jenem
Thor entdecken lassen. Vermöchte sie uns wirklich auch nur einen
Schritt weiter zu führen, wie soll man es sich erklären, dass noch
immer der Streit darüber nicht beigelegt ist, was eigentlich als das
Wesen unserer seelischen Funktionen anzusehen ist, wie dürfen die
Empiristen alsdann noch fortfahren, alles substantielle Sein der Psyche
in den actus purus der innerlichen Thätigkeiten und Zustände aufzu-
lösen, was ermöglicht es, die Realität und Selbständigkeit des See-
lischen überhaupt zu leugnen und, wie die Materialisten thun, die
psychischen Gebilde als bloss zufälliges Resultat ungeistiger, stofflicher
Atome aufzufassen? Man kann hiemach nur sagen: es giebt keine
intellektuelle Anschauung, kein unmittelbares Bewusstsein eines für
sich existierenden Realen; giebt es aber ein solches Bewusstsein nicht,
so ist damit rückwärts der Beweis geliefert, dass auch das Ich, als
die reine Form des Bewusstseins , kein reales Wesen, kein Ding an
sich sein kann.
Aus der Auffassung des Ich als intellektueller Anschauung des
Realen ist die sogenannte Wissenschaft der rationalen Psychologie er-
wachsen. Es braucht nur daran erinnert zu werden, dass Kant ihr
in seiner Vernunftkritik den Todesstoss versetzt hat, indem er die
bloss logische Natur des Ich und damit die Unmöglichkeit bewiesen
hat, aus dem reinen Ich heraus a priori metaphysische Konsequenzen
zu entwickeln. Was aber weniger beherzigt zu werden pflegt, ist,
dass Kant selbst übersehen hat, wie alle apriorische Philosophie über-
haupt, alles Streben der letzteren, in Hinsicht auf Notwendigkeit und
apodiktische Gewissheit der Erkenntnis der Mathematik es nachthun
zu können, auf keiner anderen Voraussetzung ruht, als derjenigen,
die er selbst durch seine Kritik der rationalen Psychologie zerstört hat.
Es kann nämlich kein Zweifel sein, dass die Metaphysik seit den
Tagen des Descartes nur deshalb die Methode der Mathematik nach-
geahmt hat, weil sie hierzu durch die Identität des Ideellen und Realen
sich berechtigt glaubte, deren Thatsächlichkeit ihr durch das Cogito
bewiesen schien. In denjenigen Wissenschaften, die von realen Ob-
Das Ich als BewusstseinBform. 149
jekten handeln, sind Vorstellung und Gegenstand zweierlei, der Gegen-
stand lässt sich von verschiedenen Seiten betrachten, er ist auch
vielleicht unter verschiedenen Bedingungen verschieden, und es ist
sehr die Frage, ob diese oder jene Ansicht seinem Wesen mehr ent-
spricht. Daher ist in den realen Wissenschaften die Erkenntnis nie
apodiktisch gewiss, und kann man nur aus der Erfahrung wissen, ob
ein bestimmtes Resultat nicht schon im nächsten Augenblicke durch
Aenderung der bedingenden Umstände verändert werden kann. Die
reine Mathematik dagegen hat es bloss mit ideellem Sein zu thun, das
immer mit sich selbst identisch bleibt. • Darum ist sie eine apodiktische
Wissenschaft und lassen sich ihre Wahrheiten a priori aus den ein-
mal gegebenen Voraussetzungen entwickeln. Gesetzt nun, das Reale,
als der Gegenstand der Metaphysik, wäre mit dem ideellen Sein iden-
tisch, Vorstellung und Gegenstand fielen in ihr zusammen, so würde,
was von der Vorstellung gilt, zugleich auch eine absolute und reale
Bedeutung haben, die Metaphysik hätte folglich vor allen übrigen
Wissenschaften das voraus, dass sie apriorisch und apodiktisch, wie
die Mathematik, und doch zugleich eine reale Wissenschaft wäre. Dem-
nach braucht man das reale Sein, das uns unmittelbar im Bewusstsein
verbürgt wird, nur allgemein und absolut zu fassen, so eröffnet sich
damit die Aussicht, aus der intellektuellen Anschauung dieses Seins
den ganzen Inhalt der Wirklichkeit a priori, d. h. zugleich mit apo-
diktischer Gewissheit, zu entwickeln.
Der Rationalismus ist bekanntlich diesen Weg gegangen, ohne
freilich die Voraussetzung überall erfüllt zu haben, durch welche eine
apriorische Erkenntnis der gesamten Wirklichkeit allein möglich ist.
Geleitet vom Cogito ergo sum und bestrebt, die Substantialität des
Individuums zu retten, hat schon Descartes die Wirklichkeit in eine
Vielheit individueller Substanzen zersplittert und damit die Verbindung
unterbrochen, die von einem zum anderen Realen hinüberführt. Bei
dieser Annahme war es denn freilich ein von vornherein unmögliches
Unterfangen, aus dem Mittelpunkte des einen philosophierenden Indi-
viduums den Inhalt auch aller übrigen herauszuspinnen und allgemein-
gültige Gesetze aufzustellen, deren Quelle nur im eigenen beschränkten
Wesen liegen sollte. Daher gilt mit Recht erst der Monist Spinoza
für den eigentlichen Vater des Rationalismus und konnte der letztere
seine höchste Blüte erst entfalten, nachdem Fichte die individua-
listische Entwickelungsreihe aus dem Cogito ergo sum in das Bett
des Monismus hinübergeleitet hatte. In jedem Falle ist der Rationa-
lismus mit seinem Streben, den ganzen Inhalt des realen Seins a priori,
d. h. auf rein logischem Wege ohne Zuhülfenahme der Erfahrung, ab-
150 I^ie firkenntDis des Ich.
zuleiten, nur die methodologische Konsequenz aus der Grundannahme
des Descartes. Wie folglich das Erreichen seiner Absicht ein augen-
scheinlicher Beweis für die Wahrheit seiner metaphysischen Voraus-
setzung sein würde, so beweist sein thatsächliches Fiasko die Unhalt-
barkeit derselben und kann das historische Schicksal des Rationalismus
zugleich als Kritik der intellektuellen Anschauung gelten.
Bedenkt man, wie diese Erkenntnisart nach der Aussage ihrer
energischsten Verteidiger nur wenigen Auserwählten zu eigen, wie
sie auch bei diesen Wenigen keineswegs ein normales Instrument,
sondern nur das zufallige Gnadengeschenk ekstatischer Zustände sein
soll, die sich bei gewöhnlichen Menschen nur als die gänzliche Zer-
rüttung des Geistes und des Körpers darstellen, so ist damit ihr
Wert wohl genügend gekennzeichnet, und bedarf es nicht weiter der
Erinnerung daran, dass ihr Inhalt von allen ihren Besitzern verschieden
ausgelegt wird, dass die Einen in ihr die absolute Substanz, die An-
deren das absolute Ich, die Dritten die absolute Vernunft, noch Andere
endlich die absolute Idee oder gar den absoluten Willen zu besitzen
glauben. Darum hat Volk mann Recht: „Die Realität als solche kann
nie angeschaut werden, denn die Anschauung giebt immer nur Er-
scheinungen. Mag der Inhalt der Anschauung noch so sublim sein:
dass das Sein mit dem Denken identisch sei, kann so wenig ange-
schaut werden, als dass der eine Stein näher liegt als der andere,
sondern ist und bleibt Sache des Urteils, welches sich dadurch eine
Art von Evidenz anmasst, dass es sich für blosse Anschauung aus-
giebt. Fragen nach der Realität lassen sich nicht durch Anschau-
ungen erledigen, sondern das Gebiet der Anschauungen bleibt auf das
Phänomen abgegrenzt, das Reale aber steht hinter dem Phänomen^.''
Es gereicht Herbart und seiner Schule zur höchsten Ehre, in einer
Zeit, wo das Wichtigthun mit intellektueller Anschauung für das eigent-
liche Kennzeichen eines Philosophen galt, den Besitz eines solchen
übersinnlichen Erkenntnismittels als Selbstbetrug durchschaut und da-
durch nicht wenig dazu beigetragen zu haben, dem Rationalismus seine
eigentliche Quelle zu verstopfen.
Der gewöhnliche Einwand, der hiergegen geltend gemacht zu
werden pflegt, ist der, dass, wenn man die Wahrheit des Cogito ergo
sum bestreitet, die Säulen der Erkenntnis ins Wanken gerieten. Wie,
sagt man, wenn es unmöglich ist, an irgend einem Punkte das Reale
zu erkennen, wenn die Hoffnung uns trügt, mit dem Nachen des Be-
wusstseins an den sicheren Strand des Seins zu stossen, hat es dann
^ Volkmann: Lehrbuch der Psychologie II, S. 238.
Das Ich als Bewusstseinsform. .151
überhaupt noch einen Zweck, sich um die Wahrheit zu bemühen, ent-
sinkt uns damit nicht der feste Ankergrund der theoretischen Gewiss-
heit, und sind wir dann nicht abermals ins Meer des Skeptizismus
hinausgestossen , aus dem Descartes uns eben auf den Felsen des
Cogito ergo sum hinaufgerettet hat? Der gesunde Menschenverstand
glaubte, so sicher auf diesem Fels zu ruhen, und empfindet es nun wie
einen Raub am AUerheiligsten , wie ein förmliches Attentat auf die
Majestät der Wissenschaft, wenn man ihn darauf aufmerksam macht,
wie sein vermeintlich festes Eiland nur der flache Rücken eines See-
ungeheuers ist, das in jedem Augenblicke wieder unter den Fluten
verschwinden kann.
Und doch liegt auch hierbei nur wieder die alte Verwechselung
des logischen mit einem realen Cogito vor. Man überträgt die Selbst-
verständlichkeit der ideellen Existenz des Ich auf die Annahme einer
realen Existenz desselben und bedenkt nicht, dass einem die letztere
nicht genommen werden kann, weil man sie garnicht besitzt und sie
aus logischen Gründen auch niemals und auf keine Weise je erreichen
kann. Freilich: wenn unter Wissenschaft in rationalistischem Sinne
nur die Erkenntnis der realen Gegenstände verstanden wird, sofern
sie apodiktisch ist, dann giebt es ausser den bloss ideellen Wissen-
schaften der reinen Mathematik und der reinen Logik gar keine eigent-
liche Wissenschaft; denn alle Aussagen über ein Reales, das ausser-
halb der Sphäre des Bewusstseins liegt, können darum nur durch das
Medium des Bewusstseins erkannt werden, d. h. sie bleiben subjektiv
und können schon deshalb nicht apodiktisch sein, weil sie eben nur
aus der Erfahrung abgezogen werden können. Indessen wäre es ein
über das Ziel hinausschiessender Vorwurf, eine Ansicht sofort schon
als Skeptizismus zu verurteilen, weil sie bescheiden genug ist, sich
nicht für unfehlbar zu halten. Eine Zeit des Erwachens der Philo-
sophie zu eigenem Selbstbewusstsein , wie diejenige des Descartes,
oder des erneuten Aufschwungs auf Grund vielverheissender Prinzipien,
wie Kant sie angebahnt hatte, eine solche Zeit mag wohl im ersten
jugendlichen Kraftgefühl dem menschlichen Denken das Unmögliche
zumuten und nur da von wirklicher Erkenntnis reden wollen, wo die
Hydra des Zweifels tot am Boden liegt. Die kritische Besinnung
lehrt, und das Schicksal aller derartigen titanenhaften Bestrebungen,
die Wahrheit unmittelbar vom Himmel herunterholen zu wollen, sollte
keinen Zweifel mehr darüber lassen, dass wir bei der Erkenntnis des
Realen uns überall mit der blossen Wahrscheinlichkeit begnügen
müssen und dass die apodiktische Erkenntnis desselben für uns immer
nur Ideal sein und bleiben kann. Jene Wahrscheinlichkeit mag der Ge-
152 Die Erkennims des Ich.
wissheit bis an die Susserste Grenze nahe kommen, so nahe, dass sie
praktisch für Gewissheit gelten kann: die völlige Ausfüllung der Lücke
zwischen unserem Denken und der Wirklichkeit gelingt uns nie, weil
wir niemals die Grenzen unseres Bewusstseins überschreiten, den Fuss
auf das jenseitige Ufer setzen und gleichsam eine Stellung zwischen
oder über den beiden Gebieten des Ideellen und Realen einnehmen
können.
Es ist demnach eine unbegründete Furcht, dass mit der Bestrei-
tung der realen Existenz des Ich dem Skeptizismus Thor und Thür
geöffnet würde. Wir bedürfen allerdings, um überhaupt erkennen zu
können, einer festen und unverbrüchlichen Substanz unserer Erkennt-
nisthätigkeit; aber dies ist nicht die Identität des Ideellen und Rea-
len im Sinne der intellektuellen Anschauung, sondern die Identität
und Unerschütterlichkeit der logischen Gesetze, nach denen sich alle
unsere Erkenntnis vollzieht. Ist diese gewährleistet, dann bedarf es
nur noch einer Art Uebereinstimmung zwischen unserm Denken und
der Wirklichkeit, einer Uebereinstimmung, die jedoch keineswegs das-
selbe wie numerische Einheit zu sein braucht, und es sind damit alle
Bedingungen gegeben, die eine Erkenntnis auch desjenigen Seins für
uns ermöglichen, das ausserhalb unseres Bewusstseins liegt. Eine
solche Uebereinstimmung kann aber wiederum nicht unmittelbar auf
Grund einer intellektuellen Anschauung konstatiert, sondern sie kann
von uns zum Behuf e der Erkenntnis nur postuliert, nur als notwen-
dige Voraussetzung des Erkennens a priori angenommen werden, wo-
raus folgt, dass unsere gefsamte Erkenntnis des Realen letzten Endes
auf einem unbeweisbaren Fundamente ruht und demnach auch aus
diesem Grunde auf apodiktische Gewissheit keinen Anspruch machen
kann.
Die Wissenschaften, die von den einzelnen realen Gegenständen
handeln, fahren trotzdem ruhig fort, ihre ideellen Werte, womit sie
operieren, für Zeichen, Symbole und Ausdrücke jener Realitäten an-
zusehen, deren faktische Anschauung ihnen verschlossen bleibt, und
sie stehen sich nicht schlechter dabei, zu wissen, dass zwischen ihren
Begriffen und den Gegenständen an keinem Punkte eine wirkliche Be-
rührung stattfindet. Wenn die Metaphysik es nicht mit dem einzel-
nen, bestimmten Realen, sondern lediglich mit dem realen Sein als
solchen zu thun hat, dessen Wesen und Zusammenhang sie zu er-
gründen sucht, so ist nicht einzusehen, warum ihr dies verwehrt sein
sollte, und warum sie nicht ebenso gut zu wertvollen Resultaten sollte
gelangen können, wie jene sogenannten empirischen Wissenschaften.
Der subjektive Idealismus weist dem gegenüber auf die imma-
Das Ich als Bewusstseinsform. 153
nente Geltung unserer Vorstellungen hin. Er meint, selbst wenn es
ein reales Sein, als transcendenten Grund unserer Vorstellungen, gäbe,
so könnten wir es doch niemals erkennen; weil alle unsere Erkennt-
nis im Bewusstsein verläuft. Allein wir leugnen ja nicht, dass unsere
Vorstellungen, als Vorstellungen, eben nur subjektiv, bloss ideelle
Wesenheiten sind; wir behaupten nur, dass sie ein Reales bedeuten,
dass sie hinweisen auf ein Sein, welches an und für sich mehr ist
als Vorstellungssein und welches allein in diesem seinem Unter-
schiede von unserem Vorstellen als reales Sein bezeichnet wird.
Auch der subjektive Idealismus bleibt nicht bei dem unmittelbaren
Bewusstseinsinhalt stehen. Auch er sucht, um überhaupt nur Wissen-
schaft zu sein, die spezifische Beschaffenheit dieses Inhalts zu erklären,
und geht, wofern er nicht die Grenzen des Bewusstseins in der An-
nahme einer transcendenten Affektion nach aussen überschreitet, in
das innerste Centrum des Bewusstseins zurück, indem er den rohen
Stoff der Erfahrung durch formale und kategoriale Intellektualfunk-
tionen geordnet werden lässt. Dass aber diese Intellektualfunktionen,
die den wirklichen Inhalt des Bewusstseins erst bedingen und produ-
zieren, selbst mit zu diesem Inhalt gehörten und folglich ihm un-
mittelbar zugänglich seien, das kann doch ein Standpunkt unmöglich
behaupten, der vorzugsweise gerade Anspruch darauf macht, als „kri-
tischer** zu gelten. Von Kant steht es freilich fest, dass er geglaubt
hat, es gäbe ein apriorisches Bewusstsein der apriorischen Funktionen
unserer Erkenntnis, und sein ganzer transcendentaler Idealismus beruht,
wie wir gesehen haben, auf dieser unmöglichen Voraussetzung ^. Inso-
fern also der subjektive Idealismus im Bewusstsein selbst den tiefsten
Grund aller Vorstellungen glaubt erfasst zu haben und alles Sein für
bloss subjektiv und ideell erklärt, weil er es damit zum Accidenz im
Bewusstsein herabsetzt, begeht er selbst die erkenntnistheoretische
Ursünde der unmittelbaren Erkenntnis des realen Seins und hat da-
her am wenigsten ein Recht, das Hinausgehen über das Vorstellungs-
sein zu verbieten. Dieser Standpunkt verwirft alle Metaphysik als
„unwissenschaftlich** und pocht auf den Anspruch, allein für Wissen-
schaft zu gelten, indem er sich damit bescheidet, bloss Erkenntnis-
theorie zu sein; allein er kann schon Erkenntnistheorie nicht sein,
ohne zugleich gegen seinen Willen Metaphysik zu sein. Denn mag
er nun die apriorischen Intellektualfunktionen für vorbewusste und
vorempirische halten, die bloss durch Reflexion aus dem Bewusst-
' Vgl. mein Werk: Kants Naturphilosophie als Grundlage seines Systems,
S. 227—238.
154 Die Erkenntnis des Ich.
Seinsinhalt a posteriori gewonnen werden können, oder mag er sich
mit Kant der Täuschung hingeben, sie unmittelbar im Bewusstsein
anzutreffen: in beiden Fällen geht er über die rein ideelle Subjekti-
vität hinaus und gelangt zu einem Sein, das entweder schon als be-
wusstes real oder aber von dem unmittelbaren Inhalt des Bewusst-
seins doch jedenfalls verschieden ist und folglich seine Behauptung
widerlegt, als ob wir nur jenen allein erkennen könnten.
Wäre es dem subjektiven Idealismus wirklich Ernst mit seinem
Verbot, das Reale als solches erkennen zu wollen, so müsste er auch
darauf verzichten, das Bewusstsein selbst als ein Reales anzusehen,
d. h. er müsste aufhören, subjektiver und transcendentaler Idealismus
im kantischen Sinne zu sein, und reiner, konsequenter Bewusst-
seinsidealismus werden. So lange die einzelnen Bewusstseinsinhalte
noch auf den Mittelpunkt eines realen Bewusstseinssubjekts, einer
individuellen Bewusstseinssubstanz, als eines ^transcendentalen Ich",
bezogen werden, woran die Verknüpfungsgesetze des Wirklichen als
apriorische Funktionen haften, solange muss auch die Behauptung
aufrecht erhalten werden, dass dieses Bewusstsein Gegenstand einer
unmittelbaren Erkenntnis sei und ist das verpönte Ding an sich, an-
statt beseitigt zu sein, nur in versteckter Form durch eine Hinterthür
wieder eingelassen. Fällt aber das Bewusstseinssubjekt hinweg, dann
fällt damit zugleich auch 'das Substrat der apriorischen Funktionen,
und bleibt nur mehr übrig, die Gesetzmässigkeit des Wirklichen un-
mittelbar im Bewusstseinsinhalt selbst zu suchen. Der reine Be-
wusstseinsidealismüs stimmt mit dem subjektiven Idealismus überein,
alles Sein nur als Bewusst-Sein gelten zu lassen; aber er thut dies
nicht, weil es Inhalt oder Accidenz an einem als substantiell gedach-
ten Bewusstsein ist, sondern weil es seine eigene Natur ist, ideell
zu sein, weil die untrennbare Einheit von Bewusstseinsform und Be-
wusstseinsinhalt sein ursprüngliches, unveräusserliches Wesen ausmacht.
Damit scheint denn der Gipfel der kritischen Besonnenheit er-
stiegen und scheint ein Standpunkt gewonnen zu sein, zu welchem
der Vorwurf des Metaphysischen nicht mehr hinaufreicht. Und doch
ist klar, dass wenn unter Metaphysik Erkenntnis des realen Seins
verstanden wird, ein Standpunkt sich diesem Vorwurf am wenigsten
entziehen kann, der das Sein im Bewusstsein zu erschöpfen glaubt,
oder für welchen der Bewusstseinsinhalt selbst real ist. E. v. Hart-
mann hat den konsequenten Bewusstseinsidealismus als den „abso-
luten Lebenstraum ** beschrieben ^ Bei dem gänzlichen Fehlen eines
^ V. Hartmann: Das Grundproblera der Erkenntnistheorie, S, 57 ff.
Das Ich als BewusstseiDsform. 155
träumenden Subjektes erscheinen aber die einzelnen Inhalte dieses
Traumes als selbständige, gleichsam substantielle Elemente, und es
ist ebenso wenig einzusehen, wie aus solchen, die, als bewusste, doch
gegen einander abgeschlossen sein müssten, der Schein eines einheit-
lichen Bewusstseins sollte entstehen können, wie die Vielheit selb-
ständiger Atome imstande ist, den Zusammenhang, sowie die Ordnung
und vernünftige Beschaifenheit des Daseins zu erklären. Immerhin
bereitet es keine Schwierigkeit, die stofflichen Atome des Materialis-
mus als Realitäten vorzustellen, und kann man auch allenfalls die
anorganische Natur aus der mechanischen Bewegung solcher Atome
sich entstanden denken. Wie aber selbständige Bewusstseinselemente
sieb gegenseitig hervorrufen und sich in gesetzmässiger Weise an
einander reihen, und wie sie auch nur den Schein des Realen erzeu-
gen können, zumal wenn infolge ihrer Zeitlosigkeit nicht einmal von
einer Funktion bei ihnen die Rede sein kann, das übersteigt in der
That all unser menschliches Begreifen und erscheint uns ungeheuer-
licher als alles, was jemals ein Metaphysiker sich ausgedacht hat.
Wenn das Sein nur ideeller und bewusster Art ist, ohne als
Accidenz an einem substantiellen Bewusstsein zu existieren, so können
die Verknüpfungsgesetze seiner inneren Momente nicht metaphysisch
und apriorisch sein, sondern sie können nur mit den logischen und
psychologischen Gesetzen identisch sein, die auch den Zusammenhang
unsrer seelischen Gebilde regeln. In dieser Weise fasst der Positi-
vismus das Problem, indem er darauf verzichtet, den Bewusstseins -
Charakter des Realen zu betonen, und sich dadurch von metaphysischen
Konsequenzen fernzuhalten sucht, dass er den Begriff des Bewusst-
seinsinhalt, der immer schon auf eine bestimmte Seinsart deutet, durch
den unverfänglichen Begriff der blossen „Erfahrung" ersetzt. Erfahren
werden nämlich heisst wahrgenommen oder empfunden werden, und dies
ist der Sinn, wie der Positivismus das Bewusstsein auffasst. Wenn aber
nur ist, was wahrgenommen ist, und der psychische Akt des Empfin-
dens den Massstab für die Wirklichkeit bildet, dann ist damit die
Priorität der inneren vor der äusseren Wahrnehmung bewiesen und
ist damit nur in anderer Weise ausgesprochen, dass die psychischen
Gebilde selbst reale sind.
Nach der Ansicht des Positivismus also ist nicht die abstrakte
und, wie wir gesehen haben, rein unselbständige Form des Bewusst-
seins das Reale, sondern dies ist ein bestimmter Inhalt des Bewusst-
seins, und zwar ist es gerade derjenige Inhalt, der in unmittelbarster
Beziehung steht zum Ich. Es liegt auf der Hand, dass diese Be-
hauptung unserer ganzen bisherigen Untersuchung eino neue Wendung
156 Die ErkenntniB des Ich.
geben muss. Bisher erklärten wir das Ich für identisch mit der
Form des Bewusstseins und leugneten wir die Möglichkeit einer un-
mittelbaren Erkenntnis desselben, weil die Form des Bewusstseins
kein Reales sein und folglich auch nicht unmittelbar als solches erkannt
werden könne. Wenn nun aber die psychologischen Funktionen des
Ich unmittelbar von uns erkannt werden und wenn sie zugleich
Realitäten sind, kann das Ich dann noch die blosse Form dea Be-
wusstseins sein, und werden wir uns dann nicht genötigt sehen,
auch dem Ich eine Realität in irgend welchem Sinne zuzuschreiben?
Die Frage nach der Seinart des Ich nimmt also nunmehr die speziellere
Gestalt an: in welchem Sinne kann den Objekten der inneren Wahr-
nehmung Wahrheit zugeschrieben werden? Diese Frage aber kann
nicht mehr durch rein erkenntnistheoretische Reflexionen, sondern nur
mit Zuhülfenahme der Psychologie beantwortet werden, in deren
Gebiet sie hinübergreift.
II. Das Ich als Bewnsstseinsinhalt.
1. Das loh. als innere Wahmelmiung.
Bei der äusseren Wahrnehmung ist leicht einzusehen, dass sie
uns vermittelst der sinnlichen Empfindungen keine Gegenstände,
sondern nur unsere subjektiven Auffassungen von solchen zeigt.
Unsere Sinnesqualitäten, die Töne, Farben, Gerüche u. s. w., ohne
welche uns kein Gegenstand erscheint, haben kein Dasein ausser uns,
sondern sind bloss gesetzmassig hervorgerufene Modifikationen des
Empfindungsvermögens in uns, und diejenigen pflegen heute als philo-
sophische Sonderlinge angestaunt zu werden, die, wie v. Kirchmann,
den Dingen ausser uns neben den rein quantitativen (mechanischen)
auch noch qualitative Eigentümlichkeiten zuschreiben. Aber auch
die sogenannten primären Eigenschaften, wie Locke sie im Unter-
schiede von den Sinnesqualitäten, als den sekundären Eigenschaften,
bezeichnet hat, die Ausdehnung, Dichtigkeit, Figur, Zahl und Be-
wegung, können nicht ohne Weiteres den Dingen zuerkannt und
jedenfalls nicht unmittelbar an ihnen wahrgenommen werden. Wie
das nämliche Wasser uns kalt oder warm erscheint, je nachdem ob
wir vorher die Hand in warmes oder kaltes Wasser eingetaucht
haben, und wir doch dem Wasser als solchen nicht beide Eigenschaften
gleichzeitig zuschreiben können, genau so erscheint uns auch die Aus-
dehnung und Figur eines Gegenstandes verschieden, je nachdem aus
welcher Entfernung und in welcher Beleuchtung wir ihn erblicken,
woraus folgt, dass beim Zustandekommen einer Wahrnehmung neben
dem transcendenten (realen) auch noch ein subjektiver Faktor mit-
r
Das Ich als innere Wahrnehmung. 157
spielt. Die Sinne also täuschen sicherlich, indem sie uns eine
Wirklichkeit vorgaukeln, die keine ist, ein ideelles Sein uns dar-
bieten, das mit dem Anspruch auftritt, für ein reales zu gelten.
Versteht man daher unter Wahrheit ganz allgemein die Ueberein-
stimmung unserer Vorstellungen mit der Wirklichkeit oder dem
realen Sein, so kommt mithin der äusseren Wahrnehmung keine
Wahrheit zu.
Ganz anders die psychologische Selbstwahmehmung. Hier findet
dem Anschein nach ein Unterschied zwischen Sein und Erscheinung
gar nicht statt. Unsere Vorstellungen, Gefühle, Willensakte u. s. w.
sind auch in Wirklichkeit, als was sie uns erscheinen, wir können
sie gamicht anders vorstellen, als wie sie existieren, ihr Wahr-
genommenwerden ist ihr Sein und umgekehrt. Bei der äusseren
Wahrnehmung verwickeln wir uns in Widersprüche, sobald wir unsere
subjektiven Empfindungen den Gegenständen selbst zuschreiben, weil
diese alsdann in derselben Zeit in derselben Beziehung verschiedene
Qualitäten haben müssten. In der inneren Wahrnehmung giebt es
wohl einen Widerstreit entgegengesetzter Gedanken, Gefühle und
Begehrungen, allein die Faktoren dieses Gegensatzes sind hier entweder
nicht gleichzeitig in Aktion, sondern treten nur nach einander über
die Schwelle des Bewusstseins , oder aber sie streiten nicht in der-
selben Beziehung gegen einander und sind daher weit entfernt, einen
Widerspruch zu konstituieren. Dort ist die Zuständlichkeit des
Bewusstseins ein Anderes als der Gegenstand, durch welchen sie in
uns gesetzt wird. Hier dagegen ist die Zuständlichkeit selbst der
Gegenstand und jede Veranlassung aufgehoben, in diesem Gegenstande
mehr zu suchen als eben jene Zuständlichkeit. Bei der äusseren
Wahrnehmung muss ich wenigstens in Gedanken die Grenzen des
Bewusstseins überschreiten, um zur realen Ursache meiner Wahrnehmung
vorzudringen. Bei der inneren Wahrnehmung bleibe ich innerhalb
des ideellen Seins auch dann, wenn das Objekt, wie bei der Erinne-
rungsvorstellung, einer früheren Phase des Bewusstseins angehört, und
daher kann selbst bei der Erinnerungstäuschung das unmittelbare
Objekt von seinem Gegenstande nicht so verschieden sein, wie in der
äusseren Wahrnehmung, wo Objekt und Gegenstand zwei verschiedenen
Seinsarten angehören.
Wir dürfen uns sonach nicht wundern, wenn der inneren Wahr-
nehmung ein unbedingtes Vertrauen selbst von denen entgegengebracht
wird, für welche im übrigen der erkenntnistheoretische Gegensatz von
Sein und Erscheinung zu den selbstverständlichen Bestandstücken ihrer
Philosophie gehört. Wo immer die Wahrheit unserer Wahrnehmung
158 I^ie Erkenntnis des Ich.
bestritten wird, pflegt diese Negation sich in der Regel nur auf die
äussere Wahrnehmung zu beziehen. Schon Augustin behauptete,
nur bei der Vorstellung äusserer Gegenstände sei eine Täuschung
möglich, glaubte jedoch das Bewusstsein, welches der Geist von seinen
eigenen Zuständen hat, von aller Unwahrheit freisprechen zu müssen :
„Noli foras ire, in te redi, in interiore homine habitat veritas!" In der
neueren Zeit hat bekanntlich Locke, der im Anschluss an Descartes
die erkenntnistheoretische Untersuchung recht eigentlich in Fluss ge-
bracht und das Vertrauen in die Wahrheit unserer Wahrnehmung mit
wissenschaftlichen Gründen erschüttert hat, zwischen der Sensation
oder äusseren und der Reflexion oder inneren Wahrnehmung unter-
schieden und die letztere von der Möglichkeit einer Nichtüberein-
stimmung zwischen Vorstellung und Gegenstand ausgenommen, weil
wir selbst das unmittelbare Objekt unseres „inneren Sinnes'* seien.
Diese Ansicht zuerst bezweifelt zu haben, ist eine der revo-
lutionärsten Thaten der kan tischen Vernunftkritik, Während selbst
Hume an jener Meinung Lockes nicht gerüttelt, sondern seinen
Skeptizismus nur gegen die Erkennbarkeit der Aussenwelt gerichtet
und gerade auf die Wahrheit der Selbstwahrnehmung seinen Posi-
tivismus errichtet hat, behauptet Kant, dass wir auch in der inneren
Wahrnehmung unser eigenes Sein nur als Erscheinung, nicht aber
nach dem, was es an sich selbst ist, erkennen. Wie die äussere
Wahrnehmung der räumlichen Gegenstände es nur mit Erscheinungen
zu thun hat_, weil der Raum bloss eine Form unserer Anschauung ist,
die, als subjektive, den Dingen an sich selbst nicht zukommt, gerade so
fügt nach Kant der innere Sinn den Bestimmungen desselben die subjek-
tive Form der Zeit hinzu und setzt sie damit gleichfalls zu Erschein-
ungen herab, deren eigentliches Wesen wir durch diese Brille nie zu er-
kennen vermögen. Von allen Behauptungen der kan tischen Vemunft-
kritik hat diese sich von jeher die heftigsten Vorwürfe gefallen lassen
müssen und am meisten dazu beigetragen, den transcendentalen Idealis-
mus in den Ruf des Skeptizismus zu bringen. Schien es doch in der
That, als ob alle Bande, die uns mit der Wirklichkeit verknüpfen, zer-
rissen wären und wir uferlos auf dem Ocean der Ungewissheit trieben,
wenn das Senkblei unserer Erkenntnis an keinem Punkte das reale Sein
erreichen sollte! Es war daher nur die natürliche Antwort auf jene
Behauptung Kants, wenn seine Nachfolger um so heftiger auf den
Besitz einer direkten Verbindung mit der Wirklichkeit pochten. Ja c obi
und Schleiermacher glaubten im Gefühl die Nabelschnur gefunden
zu haben, die unser Denken mit der Wirklichkeit, das ideelle mit
dem realen Sein verknüpft. Schelling und Hegel rühmten sich,
Das Ich als innere Wahrnehmung. 159
auf dem Flügelrosse des spekulativen Gedankens ins Land der
metaphysischen Realität hinüberreiten zu können, und Schopen-
hauer hielt diesen Anhängern eines logischen realen Seins den
unlogischen Willen als das gesuchte Ding an sich entgegen, in
allen übrigen Punkten ihr erbitterter Gegner, nur darin nicht,
dass er , wie sie , der Ueberzeugung war , den kantischen Phäno-
menalismus auf Grund der inneren Wahrnehmung überwinden zu
können.
Wenn die genannten Philosophen irgend einen besonderen
Faktor unseres Seelenlebens herausgegriffen und an ihm die Wahr-
heit der Selbstwahrnehmung nachgewieself haben, so hat dagegen
Beneke die Gesammtheit unserer psychischen Gebilde gegen die
Behauptung einer bloss mittelbaren Erkenntnis derselben verteidigt
und darauf seine metaphysische Weltanschauung errichtet. Es steht
für Beneke ausser Zweifel, dass uns das Sein irgendwie in einer
Anschauung gegeben, an irgend einem Punkte erreichbar sein müsse,
weil wir sonst auch seinen Begriff nicht besitzen, über das Verhältnis
des Vorstellens zu ihm nichts bestimmen und das Problem der Meta-
physik nicht einmal als Problem auffassen könnten. Der Idealismus
hat Recht: „Wir sind und bleiben wir selbst, wir mögen es anstellen,
wie wir wollen, und wir können also nie ausser uns selbst und ohne
uns selbst die vorgestellten Dinge erfassen, um sie mit unseren Vor-
stellungen zu vergleichen. Aber es giebt Ein Sein, im Verhältnis
zu welchem diese Schwierigkeit nicht stattfindet. Wir sind selbst
ein Sein, und hier also brauchen wir, um das Sein zu erreichen,
nicht aus uns hinaus, nicht in ein Anderes hineinzugehen. Hier haben
oder sind wir Vorstellen und Sein zugleich und können somit das
Vorstellen wirklich und vollgenügend mit dem Sein vergleichen."
„In der inneren Wahrnehmung geht das Sein in die Wahrnehmung
oder Vorstellung unmittelbar ein, und wenn dies geschehen, und also
sobald die Vorstellung fertig ist, sind Sein und Vorstellen Eins;
das Sein, und zwar vollständig, Bestandteil oder Grundlage der
Vorstellung, und ohne dass irgend etwas Fremdartiges hinzugekommen
wäre." „Bei den Wahrnehmungen unseres Selbstbewusstseins ist das
Sein nicht nur erreichbar durch das Vorstellen, sondern beim Vor-
stellen fallen beide unmittelbar zu Einem Akte zusammen. In
der Wahrnehmung jenes Gefühles existiert jenes Gefühl fort, und nur
dadurch, dass es in ihr fortexistiert, kann das Gefühl darin vorgestellt
werden." „Jede Erkenntnis unserer Seelenthätigkeit ist demnach die
Erkenntnis eines Seins an sich, d. h. die Erkenntnis eines Seins,
welche dasselbe vorstellt, wie es an und für sich oder unabhängig
160 l^ie Erkenntnis des leb.
von seinem Vorgestelltwerden ist." Wir stellen uns selber vor, wie
wir an und für uns selber sind, nicht bloss, wie wir uns
erscheinend"
Im Anschluss an Beneke hat auch Ueberweg eine unmittel-
bare Erkenntnis der psychischen Akte und Gebilde von materialer
Wahrheit angenommen und darin für die Erkenntnistheorie den ersten
festen Punkt ihrer Erörterungen gefunden. „Wie gegenwärtig unsere
Vorstellungen, Gedanken, Gefühle, Begehrungen, überhaupt die Ele-
mente unseres psychischen Lebens und deren Verbindungen unter
einander wirklich sind, so sind wir uns ihrer bewusst, und wie wir
uns ihrer bewusst sind, so ist ihr wirkliches Sein, indem bei den
SeelenthätigkeitcA als solchen Bewusstsein und Dasein identisch sind^."
Wie verbreitet diese Ansicht über den Wahrheitsgrad unserer inneren
Wahrnehmungen besonders auch unter den Psychologen ist, das zei^
auch Brentano, der die absolute Realität unserer seelischen Gebilde
für die Grundvoraussetzung aller wissenschaftlichen Psychologie er-
klärt — es würde indessen zu weit führen, alle Denker mit Namen
hervorzuheben, die in irgend einer Weise sich auf die Selbstbezeugung
des Seins in der inneren Wahrnehmung stützen, und nur daran mag
hier noch erinnert werden, dass unter den hervorragenden Philosophen
der Gegenwart auch Wundt sich zum Vertreter jener Ansicht auf-
geworfen und dass sie, wenn man auf den Kern der Sache eingeht,
den Mittelpunkt und die Wurzel seiner gesammten Weltanschauung
bildet. —
Nehmen wir einmal die Behauptung als erwiesen an, dass wir in
der inneren Wahrnehmung ein Sein an sich erkennen, so wird davon
natürlich zunächst die Psychologie betroffen. Es fällt damit näm-
lich der Grund hinweg, in den seelischen Gebilden mehr zu suchen,
als wie uns das unmittelbare Bewusstsein zeigt. Wohl können sich
etwa Zweifel darüber erheben, ob die Akte des Fühlens und des
WoUens zusammengehörige oder verschiedenartige innere Vorgänge
sind, ob das Wollen eine Empfindung oder ein von der Empfindung
verschiedener, nur durch gewisse äussere Bedingungen mit Empfin-
dungen verbundener Vorgang ist, ob die Gemütsbewegungen erst aus
Wechselwirkung der Vorstellungen hervorgehen, oder ob sie ebenso
primäre innere Vorgänge sind, wie die Vorstellungen selber u. s. w.
Von alle dem jedoch bleiben die einzelnen Gegenstände der inneren
Wahrnehmung als solche unberührt, und wenn hier Hypothesen auf-
^ Beneke: System d. Metaphysik (1840), S. 68 f., 72 f., 75. Ders.: Neue
Grundlegung zur Metaphysik (1822), S. 10.
* Ueberweg: System d. Logik (5. Aufl.), S. 101.
Das Ich als innere Wahrnehmung. 161
gestellt werden, so beziehen sie sich doch niemals auf ein Begriffs-
objekt, das von den Gegenständen der Wahrnehmung selbst verschieden
wäre^ Alle Psychologie ist demnach bloss empirische Psychologie,
d. h. sie geht über den Inhalt der Selbstwahmehmung nicht hinaus,
und ihr Verfahren kann nur darin bestehen, die gegebenen Erfahrungen
zu analysieren und zu versuchen, sie in ihrer wechselseitigen Ab-
hängigkeit zu begreifen; und wie jene ihre naturgemässe Begründung
in der Unmittelbarkeit der Selbstwahrnehmung hat, so führt umge-
kehrt die Auffassung der Psychologie als einer bloss empirischen
dazu, der psychologischen Wahrnehmung unmittelbare Gewissheit zu-
zuschreiben.
Damit büsst die Psychologie keineswegs an ihrer Würde etwas
ein. Denn wenn sie es auch bloss mit Empirischem zu thun hat und
insofern mit den Naturwissenschaften auf einer Stufe steht, so ist
doch das Empirische der Psychologie zugleich auch ein Reales und
obendrein ein solches, das wir unmittelbar erkennen. Alle Wissen-
schaften, wenn man von der reinen formalen Logik und der reinen
Mathematik absieht, die sich nur mit ideellem Sein befassen, haben
nur den Einen Zweck, das real Existierende seinem Wesen und seinem
Zusammenhange nach zu erkennen, und sie pflegen um so höher
im Range geschätzt zu werden, je grösser die Erkennbarkeit und
je bedeutsamer der von ihnen behandelte Gegenstand erscheint. An
diesem Massstabe gemessen kann demnach keine Wissenschaft der Psy-
chologie den Rang ablaufen und muss selbst die Naturwissenschaft,
die im Hochgefühle ihrer eigenen glänzenden Errungenschaften noch
immer auf die junge Schwesterwissenschaft herabzusehen liebt, der
letzteren die Palme zuerkennen, kann sie es doch selbst bei der Ver-
schiedenheit von Objekt und Ding an sich bloss zu einer relativen,
die Psychologie dagegen zu einer absoluten Wahrheit bringen! Bren-
tano weist denn auch von seinem Standpunkt aus mit Recht auf diese
besondere „Würde" der Psychologie hin und lässt sie als die Königin
aller empirischen Wissenschaften überhaupt erscheinen — um so mehr
muss man es bedauern, dass er es versäumt hat, seine Ansicht von
der unmittelbaren Wahrheit der inneren Erfahrung, die doch keines-
wegs unbestritten dasteht, mit Gründen zu unterstützen und damit
jenen Vorzug der Psychologie für. Alle in das hellste Licht zu setzen.
Wie die Meisten, die jener Ansicht huldigen, stellt auch Brentano
sie einfach als selbstverständlich hin: „Die Phänomene der inneren
Wahrnehmung sind wahr in sich selbst. Wie sie erscheinen, so sind
» Wundt: System d. Philosophie (1889), S. 163 ff., 306, 369 ff.
Drews. 11
162 Die firkenntDiB des Ich.
sie auch in Wirklichkeit. Dafür bürgt die Evidenz, mit der sie
wahrgenommen werden*.*^
Die Anhänger der empirischen Psychologie pflegen häufig zu-
gleich Gegner der Metaphysik zu sein. Nun ist aber das Reale als
solches recht eigentlich das Objekt der Metaphysik, deren Aufgabe
eben darin besteht, die Beschaffenheit und den Sinn desselben fest-
zustellen. Wenn also auch die Psychologie es mit Realem zu thun
hat, dann ist sie in diesem Sinne Metaphysik. Mit dem gleichen
Rechte also, womit aus der Unmittelbarkeit der Selbstwahrnehmung
die empirische Beschaffenheit der Psychologie gefolgert wurde, kann
alsdann auch ihre metaphysische Beschaffenheit erschlossen werden,
und es erscheint als eine reine Sache des Geschmacks, ob Jemand lieber
für einen empirischen Psychologen oder lieber für einen Metaphysiker
gelten will. Alle Fragen der Metaphysik können dann ebenso gut
durch Psychologie erledigt, wie alle Aufgaben der Psychologie in der
Metaphysik entschieden werden. Die Psychologen haben dann keinen
Grund, von einer „Psychologie ohne Seele" zu reden und die Unter-
suchung dieser letzteren vorsichtig der Metaphysik zuzuweisen, weil
es ein besonderes Seelenwesen hinter dem psychischen Realen ja als-
dann nicht geben kann. Die Metaphysiker aber haben ebenso wenig
Grund, sich vornehm einer Untersuchung der seelischen Aeusserungs-
weisen zu enthalten, weil diese alsdann ihre eigentliche Aufgabe aus-
macht. Bei Lebzeiten der rationalistischen Denkart in der Philosophie
pflegten die Metaphysiker auf die Psychologie herabzublicken , bloss
deshalb, weil sie empirisch ist. Heute rächen die empirischen Psycho-
logen sich dadurch, dass sie alle Metaphysik für eitel Wind erklären.
In Wahrheit löscht die Unmittelbarkeit der Selbstwahrnehmung alle
Gegensätze von Empirie und Spekulation, von immanenter und trans-
cendenter Weise der Erkenntnis aus, und wer sie trotzdem glaubt
festhalten zu können, der beweist damit nur, dass er die Konsequenzen
jener Voraussetzung sich noch nicht klar gemacht hat.
Wie soll man es nun aber hiermit vereinen, dass die unmittel-
bare Erkenntnis ihres Gegenstandes trotzdem in der Psychologie keine
apodiktische Erkenntnis ist? Die Metaphysiker haben längst darauf
verzichtet, für ihre Erkenntnis auf apodiktische Gewissheit Anspruch
zu machen. Die Psychologen thun dies gleichfalls nicht; und doch,
sollte man meinen, müssten sie sich hierzu veranlasst sehen, wenn sie
wirklich ein Reales als solches unmittelbar erkennten. Nun gehen
aber trotz der behaupteten unmittelbaren Selbstbezeugung der psycho-
* Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkt (1874), 24 f.
Das Ich als innere Wahrnehmung. 163
logischen Gebilde sogar hinsichtlich ihres eigentlichen Grundelementes
die Ansichten der Psychologen noch ebenso auseinander, wie die-
jenigen der Metaphysiker in der Bestimmung des Realen. So wenig
die intellektuelle Anschauung in der Metaphysik eine Uebereinstimmung
hinsichtlich ihres Inhaltes herbeizuführen vermocht hat, ebenso wenig
haben sich bis jetzt die Psychologen darüber verständigen können,
welche psychischen Gebilde primärer Natur und welche als sekundäre
aufzufassen seien. Welche Wandlungen hat nicht die Grundauffassung
des Seelischen seit Descartes und Leibniz durchgemacht! Diese
erblickten im Vorstellen das Wesen des seelischen Realen und ord-
neten ihm das Fühlen und Wollen als blosse Modifikationen unter.
Andere fanden, dass dem Willen mindestens die gleiche prinzipielle
Bedeutung zukomme, wie dem Denken, und setzten es dem letzteren
als zweites Grundvermögen an die Seite, bis unter Rousseaus mäch-
tigem Einfluss den Psychologen die Augen darüber aufgingen, dass
die Seele ein dreieiniges Wesen sei, in welchem neben dem Erkennt-
nis- und Begehrungs vermögen auch dem Gefühls vermögen eine Stelle
einzuräumen sei. Eine Zeit lang hat man wohl geglaubt, in dieser
Auffassung ein getreues Spiegelbild des seelischen Organismus zu be-
sitzen, und populäre Darstellungen der Psychologie pflegen sie auch
heute noch im Allgemeinen festzuhalten. In der Wissenschaft dagegen
stehen sich schroffer als je eine intellektualistische durch Hegel
und Herbart begründete und eine voluntaristische auf Schopen-
hauer basierende Auffassung der seelischen Elemente gegenüber und
finden ihren gemeinsamen Gegner in der sensu alistischen Psycho-
logie, welche die Empfindung als Wurzel und Kern aller psychischen
Erscheinungen ansieht.
Haben die Metaphysiker bald diese, bald jene seelische Grund-
kraft zum Prinzip erhoben und geglaubt, die übrigen aus ihm ableiten
zu können, so haben sie sich dabei vielleicht in der intellektuellen
Anschauung versehen, sei es, dass sie für eine solche hielten, was
keine war, sei es, dass sie im Geheimen nach den Wirkungen schiel-
ten, die sie aus eben jenen Prinzipien erklären wollten, und sich da-
durch selbst die Reinheit ihres spekulativen Blickes trübten. Wie
aber soll man sich diese Verschiedenheit der Auffassungen in der
Psychologie erklären? Hier handelt es sich doch nicht um Folge-
rungen von universeller Bedeutung, sondern nur um ein ganz passives
Aufnehmen des unmittelbar Gegebenen; hier müsste folglich eine
Täuschung doch gar nicht möglich sein, so wenig wie ich darüber
im Zweifel sein kann, dass meine Vorstellung eben meine Vorstellung
ist. Darauf wird man doch nicht etwa verfallen, zu meinen, das
11*
164 I)ie Erkenntnis des Ich.
seelische Reale sei zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen
Personen nicht identisch; denn damit wäre die Unmöglichkeit einer
allgemeingültigen Psychologie behauptet. Oder tritt es nur nicht
überall in völliger Nacktheit auf, geht es etwa nur zu einem Teil
mit seinem Wesen ein in das Bewusstsein der Psychologen? Aber
dann wären bei ihm Sein und Bewusstsein auch nicht identisch,
dann w8re eben damit das Gegenteil von dem behauptet, was be-
wiesen werden soll: die innere Wahrnehmung hätte vor der äusseren
nichts voraus, sie lieferte dann keine absolute Wahrheit.
In der That beweist die wirkliche Beschaffenheit der Psycholo-
gie, dass von irgendwelcher grösseren Sicherheit ihrer Erkenntnis in
keiner Hinsicht die Rede sein kann. Es ist gewiss zu weit gegangen,
wenn Comte und Maudsley die innere Wahrnehmung als Quelle
psychologischer Erkenntnis überhaupt . verwerfen, die ganze Psycholo-
gie für illusorisch erklären und ihre Aufgabe ganz und gar der Phy-
siologie zuweisen. Darin aber stimmen doch alle Psychologen über-
ein, auch diejenigen, die auf die Wahrheit der Selbstwahmehmung
schwören, dass nichts so schwer sei, wie die Beobachtung der eigenen
inneren Zustände und Erscheinungen.
Fast jedes Lehrbuch der Psychologie pflegt auf diese Schwierig-
keit im einleitenden Kapitel hinzuweisen. Unsere Vorstellungsgebilde,
Gefühle und Willensakte gleichen flinken Vögeln, die an einem
schmalen Fenster vorüberhuschen, und die wir uns vergeblich bemü-
hen, festzuhalten. Der Naturforscher kann sich, worauf auch Höff-
ding hinweist, der Beobachtung seines Gegenstandes in Ruhe hin-
geben, seine Gedanken dabei auch wohl seitwärts schweifen lassen, um
den Faden der Betrachtung später wieder aufzunehmen. Er braucht
nicht zu besorgen, dass sein Gegenstand inzwischen sich verändert
habe, und wenn er ihn im Experimente bestimmten Bedingungen unter-
wirft, so spielt sich der Umwandlungsprozess gleichsam vor seinen Augen
ab, und er behält in der Regel die Gewalt über die Naturvorgänge.
Der Psychologe dagegen ist ausser Stande, einen einzelnen Bewusst-
seinszustand auszusondern, beliebig mit ihm zu experimentieren und
seine Wirkungen und Beziehungen zu den übrigen Bewusstseinsinhalten
zu beobachten. In dem nämlichen Momente, wo er ihn festzuhalten
glaubt, verwandelt sich ihm derselbe, wie ein Proteus, unter den
Händen, und der Strom neu hinzukommender Inhalte reisst ihn un-
aufhaltsam in den Abgrund der Vergangenheit mit sich fort. Es ist
eine triviale Wahrheit, dass der Zorn sofort aufhört, er selbst zu
sein, sowie ich ihn zum Gegenstande meiner Aufmerksamkeit erhebe.
Die Reflexion bricht allen psychischen Faktoren gleichsam die Spitze
Das Ich als innere Wahrnehmung. 165
ab, wofern sie dieselben nicht überhaupt gänzlich in Stücke zer-
bröckelt. Was ich dann nachträglich aus den einzelnen Bestandteilen
wieder zusammensetze, das ist nicht der ursprüngliche Gegenstand,
sondern höchstens ein mehr oder minder abgeblasstes und abstraktes
Büd desselben. Dies geht so weit, dass Brentano sich veranlasst
sieht, einen prinzipiellen Unterschied zwischen innerer Wahrnehmung
und innerer Beobachtung zu statuieren, und es geradezu als ein all-
gemein gültiges psychologisches Gesetz ausspricht, dass die innere
Wahrnehmung nie innere Beobachtung werd.en könne, d. h. dass wir
niemals dem Gegenstande der inneren Wahrnehmung als solchem unsere
Aufmerksamkeit zuzuwenden imstande sind^ Nur durch das Ge-
dächtnis kann der Psychologe von inneren Thatsachen Kenntnis er-
langen, sofern nämlich dieses ihm in den Erinnerungsvorstellungen
einen mittelbaren Ersatz für dasjenige liefert, was seiner Auf-
merksamkeit unmittelbarer Weise entzogen ist. Oder wie Höff-
ding es ausdrückt: „Das rythmische Wechseln des Selbstvergessens
und Selbstbewusstseins ermöglicht die psychologische Selbstuntersu-
chung, und das psychologische Talent beruht auf der Leichtigkeit und
Elastizität, mit welcher man aus dem einen dieser Zustände in den
andern übergehen kann, sodass man das unmittelbar Erlebte in den
Augenblicken der Erinnerung und Reflexion klar und rein behält,
umgekehrt aber die unmittelbaren Regungen nicht durch die Reflexion
stören lässt^."
Die Thatsachen sind unbestreitbar, nur ist schwer zu sagen, wie
sich dieselben mit der Unmittelbarkeit und Selbstgewissheit der inneren
Wahrnehmung reimen lassen. Dass jene „Beobachtung im Gedächtnis"
kein volles Aequivalent für die unmittelbare Beobachtung gegen-
wärtiger Ereignisse sein kann, räumt selbst Brentano ein, wie er denn
auch zugiebt, dass durch diesen Umstand die Psychologie den anderen
empirischen Wissenschaften gegenüber in grossem Nachteil sei; „Denn
ohne Experiment sind zwar manche unter ihnen, wie namentlich die
Astronomie; ohne Beobachtung aber ist keine ^." Das Gedächtnis ist
so sehr den mannichfachsten Täuschungen ausgesetzt, dass etwas, was
ich nur durch seine Vermittelung weiss, auf absolute Wahrheit keinen
Anspruch haben kann. Aber selbst wenn die Erinnerungsvorstellung
dem ursprünglichen Zustande völlig äquivalent ist, so ist sie es doch
höchstens dem Inhalte nach, der Form nach dagegen oder ihrer Seins-
* Brentano: a. a. 0. S. 35 ff.
^ Hoff ding: Psychologie in Umrissen auf Grundlage der Erfahrung
(1887), S. 22.
' Brentano: a. a. 0. S. 42f.
166 Die Erkenntnis des Ich.
art nach verhält sie sich zu ihm nur wie ein Ideelles zum Realen, das
Spiegelbild zum wirklichen Gegenstande: von einer Identität des
Schauenden und des Geschauten kann mithin keinesfalls die Rede
sein. —
Soviel steht jedenfalls fest: ob ich sage: die Selbstwahrnehmung
erschliesst uns das innerste Sein des Psychologischen unmittelbar,
oder ob ich behaupte: unsere psychischen Gebilde sind auch ihrer
Existenz nach nichts Anderes, als was sie als Inhalte in unse-
rem Bewusstsein sind, ist Eines und Dasselbe. In jedem Falle
muss, um jene Behauptung zu rechtfertigen, der Akt des Bewusst-
sein s von unsern psychischen Gebilden mit dem Akt ihres Zu-
standekommens überhaupt zusammenfallen, d. h. es darf im Ge-
biete des Psychologischen kein Moment vorkommen, das
nicht völlig in Bewusstseinsinhalt aufzulösen wäre. Dies
hat auch Beneke eingesehen: nur wenn das Produkt, als Objekt
unseres Bewusstseins, den Paktoren, woraus es entstanden ist, genau
entspricht, wenn beide sich decken, wie beim Rechnen, das Sein der
psychischen Gebilde restlos in unserem Bewusstsein aufgeht, nur dann
ist sicher, dass wir in der inneren, nicht wie bei der äusseren Wahr-
nehmung, bloss die Wirkungen des Realen auf uns, sondern unmittel-
bar das Reale selbst wahrnehmend Zerlegen wir also, um jetzt die
Frage direkt zu entscheiden, die psychischen Gebilde, wie sie uns
unmittelbar gegeben sind, in ihre Elemente! Weisen diese sich sämt-
lich alsBewusstseinselemente aus, bleiben wir folglich mit ihnen
innerhalb des Empirischen stehen, und gelingt es uns, aus jenen
Faktoren das ursprüngliche Gebilde in Gedanken wiederum zu rekon-
struieren, dann, aber auch nur dann erschöpft das Bewusstsein in der
Selbstwahrnehmung das Reale und stellt sich die Behauptung als ge-
rechtfertigt heraus, dass wir die psychologischen Gebilde als solche
unmittelbar erkennen.
2. Das Ich als Empfindung.
Man pflegt die Elemente des Seelenlebens ganz allgemein in
solche des Vorstellens, des Fühlens und des Wollens einzuteilen,
ohne dass damit über die Berechtigung dieser Einteilungsweise hier
vorerst ein Urteil abgegeben werden soll. Was zunächst die Vor-
stellungselemente anbetrifft, so stimmen alle Psychologen überein, dass
sie sich letzten Endes auf Empfindungen zurückführen lassen. Die
Empfindung bezieht sich unmittelbar noch nicht auf ein Gegenständ-
liches und stellt es gleichsam vor das Bewusstsein hin, wie die Vor-
* Beneke: a. a. 0. S. 97 f.
Das Ich als Empfindung. 167
Stellung im eigentlichen Sinne. Insofern also gleicht sie dem Gefühle,
wofern sie nicht gar mit diesem selbst identisch ist. Allein sie trägt
doch schon den Keim des Objektiven in sich und muss daher mit
den Vorstellungselementen zusammen betrachtet werden, deren Vor^
stufe, Baustein und aufgehobenes Moment sie darstellt. Die Empfin-
dung ist das Insichfinden der Seele. In ihr wird sich die letztere
ihres eigenen Zustandes als eines qualitativ bestimmten inne
im Unterschiede von den blossen Quantitätsunterschieden des Gefühls
mit seinem Wechsel zwischen Lust und Unlust. Eben deshalb aber
geht sie in der Empfindung auch noch nicht über sich selbst hinaus,
bezieht sich die Seele in ihr noch nicht auf ein ihr Fremdes. Wenn
es daher irgend ein psychisches Gebilde giebt, in welchem sich Dasein
und Bewusstsein decken, so muss es die Empfindung sein, denn diese
ist thatsächlich , als was sie gefunden wird, sie ist nur, indem sie
und dadurch dass sie erkannt wird, so sehr, dass eine „unbewusste
Empfindung" ein Widerspruch in sich selber ist.
Von allen Vorstellungsgebilden erscheint die Empfindung als das
einfachste und ursprünglichste. Damit ist indessen nicht gesagt, dass
sie als solches in unserm unmittelbaren Bewusstsein auch vorkommen
müsste. Thatsächlich ist die sogenannte einfache Empfindung das
Resultat einer blossen Abstraktion, die wir vollziehen müssen, um in
der Analyse unserer psychischen Gebilde überhaupt nur irgendwo Halt
zu machen, die wir aber ebenso wenig als wirklichen Inhalt unseres
Bewusstseins nachzuweisen vermögen, wie die Atome, mit denen die
Naturwissenschaft operiert. Wie weit entfernt die Empfindungen
imserer einzelnen Sinne von dem Charakter der Einfachheit und Iso-
liertheit sind, hat Wundt eingehend nachgewiesen ^ Insbesondere gilt
dies von den sogenannten Gemeinempfindungen, deren eigentümlich
schillernder Charakter darin seine Erklärung findet, dass zu ihrer Ent-
stehung Empfindungen aus den verschiedensten Organen des Körpers
zusammenfliessen , ohne als einzelne zum Bewusstsein zu kommen.
Unsere Bewegungsempfindungen setzen sich zusammen aus Druckem-
pfindungen, Kontraktions- und centralen Innervationsempfindungen, so
zwar, dass eine reinliche Trennung derselben nicht möglich ist. Be-
kannt ist die innige Verschmelzung unserer Geschmacks- und Geruchs-
empfindungen unter einander sowie mit Tastempfindungen, worauf
zum Teil die Qualitäten der ersteren beruhen. Ein solches Verschmel-
zungsprodukt ist z. B. der süsslich-faulige Geruch des Schwefelwasser-
stoffes, wobei nur das Faulige als Geruch, das Süssliche dagegen als
* Wundt: Grundzüge d. physiol. Psychologie I. (2. Aufl.), S. 365 ff.
168 Die ErkenntDis des Ich.
Geschmacksempfindung zu betrachten ist. Der saure, alkalische, sal-
zige und bittere Geschmack sind ebenso nur Verbindungen von Ge-
schmacks- mit Tastempfindungen, wie der stechende Geruch (des Am-
moniaks) nur eine Verbindung von Tast- mit Geruchsempfindungen
ist. Aber auch die höheren Sinne liefern uns keine einfachen Em-
pfindungen und schliessen jedenfalls den Streit darüber nicht aus, ob
eine Empfindung als einfache oder als zusammengesetzte anzusehen sei.
Wie jeder Ton eines Instrumentes seine spezifische Klangfarbe besitzt,
die Helm hol tz als Kombination eines Grundtones mit schwächeren
Obertönen erkannt hat, so ist nach Wundt mit jeder Farbenempfin-
dung zugleich auch ein farbloser Lichtreiz verbunden, der freilich erst
deutlich bei starker Abnahme oder Zunahme des Reizes hervortritt.
Mit Recht weist auch Hoff ding in dieser Beziehung auf die Uneinig-
keit der Psychologen darüber hin, welche Farbenempfindungen als
ursprünglich und welche als abgeleitet anzusehen seien, eine Meinungs-
verschiedenheit, die gamicht stattfinden könnte, wenn die Empfindungen
uns wirklich als einfache gegeben wären.
Wenn etwas, so beweist die thatsächliche Zusammengesetztheit
dessen, was wir einfache Empfindung nennen, wie komplizierte gleich-
zeitige psychische Erregungen in unserem Bewusstsein den Eindruck der
Einfachheit und Ursprünglichkeit hervorzubringen vermögen, der ihnen
an sich in keiner Weise zukommt. Nur auf weiten Umwegen können
wir oft durch Experiment und Reflexion die einzelnen Komponenten
des Verschmelzungsresultates erkennen, um einzusehen, dass vielfach
erst auf der Art und Weise ihrer Zusammensetzung das Be-
deutsame und Charakteristische der Empfindung beruht. Beim
Tasten ist die Verbindung der Bewegungsempfindungen mit den Druck-
empfindungen das vorzüglichste Hülfsmittel, um eine Vorstellung von
der psychischen Beschaffenheit der Körper zu gewinnen, und gerade
aus seiner Klangfarbe erschliessen wir den Ursprung und die eigen-
tümliche Quelle eines Tones. Wie soll man sich die Verschmelzung
gewisser Bewusstseinselemente zu einem einheitlichen charakteristischen
Eindruck erklären, wenn andere gleichzeitige Empfindungen, wie die
Geräusche, die manche Klänge begleiten, sich auf keine Weise in die
spezifische Empfindung aufheben? Unser Bewusstsein kann als solches
hierzu unmittelbar nichts beitragen. Denn dieses ist ja, wie wir
wissen, kein fertiger Brennspiegel, der die einzelnen Empfindungen
zu einem totalen Eindruck in Einem Punkte sammelt, sondern um-
gekehrt kommt vielmehr unser einheitliches Bewusstsein aus der Ver-
Schmelzung der Einzelempfindungen erst zustande. Wie aber gleich-
zeitige Bewusstseinsinhalte , wie die Einzelempfindungen, von denen
Das Ich als Empfindung. 169
jeder ein abgeschlossenes und gleichsam substantielles Dasein für sich
hat, trotzdem zu einer einzigen Gesamtempfindung zusammenfliessen
können, das scheint auch aus einer rein passiven Mechanik unserer
seelischen Gebilde nicht erklärlich. Denn die verschiedenen Kompo-
nenten, welche die vermeintlich einfache Empfindung bilden, gehen
als einzelne in jenem Produkte unter und sind , wiewohl sie an sich
bestehen bleiben, in ihm doch nur als aufgehobene Momente enthalten,
d. h. das Produkt ist nicht die einfache Summe im physikalischen,
sondern im chemischen Sinne die Synthese der Einzelempfindungen.
Hiemach bleibt nur übrig, die ^einfache" Empfindung als das Resultat
einer synthetischen Thätigkeit unserer Seele aufzufassen, welche
die verschiedenen gleichzeitigen Einzelempfindungen zur Einheit eines
bestimmten Sinneseindrucks zusammenfasst. —
Jede Empfindung, so lehrt uns die Sinnesphysiologie, haben wir
uns verknüpft zu denken mit einem materiellen Vorgang in unserem
Gehirn, welcher durch den äusseren Wahmehmungsreiz ausgelöst wird.
Wiewohl also die Empfindung als letztes Glied eines komplizierten
ihr vorangegangenen Prozesses erscheint, so dürfen wir doch nicht
annehmen, dass sie unvorbereitet und plötzlich an irgend einem Punkte
jenes Prozesses hervortritt. Nur vom physiologischen Standpunkt aus
betrachtet erscheint nämlich der Prozess als ein mechanischer und
materieller, indem eine Bewegung unter pulsierenden Stössen mit einer
Geschwindigkeit, die in den verschiedenen Nerven und unter ver-
schiedenen Umständen verschieden ist, von den peripherischen End-
organen aus sich zum Gehirne fortpflanzt. Aus psychologischem
Gesichtspunkt dagegen erscheint er als ein solcher, bei welchem, ent-
sprechend den einzelnen Stössen und Schwingungen der materiellen
Teile, eine Elementarempfindung nach der anderen zugleich mit
ausgelöst wird. Wenn wir nun annehmen müssen, dass dasjenige Cen-
trum im Gehirne, in welchem die Endempfindung schliesslich zustande
kommt, die wir „unsere" Empfindung nennen, von den zuleitenden
Nervenbahnen und Verbindungsfasern nur die physikalische Anregung
zu bestimmten molekularen Bewegungsformen seiner Gangliensubstanz
empfängt, so kann auch jene schliessliche Empfindung in unmittelbarer
Beziehung nur zu denjenigen Elementarempfindungen stehen, die den
Schwingungen im betreflFenden Centrum entsprechen. Daraus geht
hervor, dass, ebenso wie die sogenannte einfache Empfindung als ein
Verschmelzungsprodukt aus mehren gleichzeitigen Einzelempfindungen
erscheint, in der gleichen Weise auch eine solche Einzelempfindung
kein ursprüngliches psychisches Gebilde, sondern das Resultat ihm
vorangegangener Elementarempfindungen ist, welche jene er-
170 I^ie Erkenntnis des Ich.
wähnten materiellen Vorgänge zum objektiven Korrelate haben. Wie
die einzelnen Lichtempfindungen eines im Dunkeln schnell umge-
schwiAigenen Schwefelhölzchens sich für unser Bewusstsein in die
Raumfigur eines leuchtenden Kreises verwandeln, so ist in unserer
Grosshirnempfindung die Zeitlichkeit ihrer Komponenten aufgehoben
in die Momentanität eines einzigen qualitativ bestimmten Eindrucks.
Bedenkt man nun, dass jene Elementarempfindungen an und für sich
den geringsten Grad von objektiver Bestimmtheit haben
müssen, die erst aus ihrer Kombination zustande kommt, dass sie
mithin den Quantitätsunterschieden des Gefühles so nahe, wie möglich,
stehen und schliesslich mit diesen selbst zusammenfallen müssen, so
wird uns damit der Weg gewiesen, die Qualität unserer Empfindungen
aus quantitativen Komponenten abzuleiten.
Leider bleibt diese Ableitung mehr ein Postulat, zu dessen Auf-
stellung wir uns eben durch die Verknüpfung unserer Empfindungen
mit den Nerven- und Gehirnvorgängen genötigt sehen, als dass sie
auch thatsächlich durchzuführen wäre. Nur in ganz wenigen Fällen,
wie z. B. bei der Zerlegung eines Tones in eine Reihe einzelner
Luftstösse vermittelst der Sirene, gelingt es uns, dasjenige auch sub-
jektiv-ideal als Komplikation von Quantitätsunterschieden zu erkennen,
was bei mangelnder Analyse in seiner einheitlichen Gesamtauffassung
unserem Bewusstsein als Qualität erscheint. In der Regel müssen wir
uns damit begnügen, bloss den transcendent-realen Wahmehmungsreiz
in quantitative Elemente aufzulösen, ohne dass wir doch auch hier
bis zur percipierenden Hirnzelle und ihren konstituierenden Elementen
selbst vorzudringen vermöchten. Wir können genau berechnen, wie
viel Luftschwingungen ein Ton in der Sekunde macht, und auf wie
viel Aetherschwingungen ein bestimmter Lichtstrahl beruht, aber wir
können nie erfahren, welche Form die Bewegung desselben innerhalb
unseres Organismus annimmt, und wie viel Schwingungen er von den
peripherischen Endorganen bis zum percipierenden Centrum in unserem
Gehirne braucht, geschweige denn welche Empfindungen diesen äusseren
Vorgängen korrespondieren.
Der Grund, warum es unmöglich ist, die Empfindung selbst in
ihre quantitativen Komponenten aufzulösen, liegt darin, weil eben diese
Komponenten um so tiefer unter der Bewusstseinsschwelle liegen,
einer je höheren Individualitätsstufe das percipierende Centrum ange-
hört. Mit der Stufe der Individualität wächst nämlich auch die Kom-
plikation der materiellen Zusammensetzung eines Organismus. Je kom-
plizierter aber das physische Gebilde ist, das wir als Substrat einer
qualitativ bestimmten Empfindung betrachten, um so grösser muss
Das Ich als EmpfiDdung. 171
auch die Zahl der Elementarempfindungen sein, die bei jeder Art von
Bewegung in jedem seiner konstituierenden Elemente vom Gehirn
und seinen Ganglien bis hinunter zu den Molekülen und Atomen aus-
gelöst werden. Nun wachsen infolge dieser komplizierten Beschaffen-
heit mit der Stufe der Individualität zugleich auch die Widerstände
gegen die Fortpflanzung der Empfindung. Folglich steigt auch die
Bewusstseinsschwelle immer höher, indem immer mehr Einzel- und
Elementarempfindungen unter ihr zurückbleiben, die nunmehr ihren
quantitativen und abgesonderten Charakter verlieren und bloss noch
als qualitativ färbende Elemente in das Bewusstsein der höheren In-
dividuaUtätsstufe eingehen.
Betrachten wir die physische BeschaflFenheit der Organismen näher,
so ist jedes Individuum aufzufassen als zusammengesetzt aus den es
konstituierenden Individuen niederer Ordnung, so zwar, dass es nicht
bloss die äusserliche Summe derselben, sondern eine organische Ein-
heit bildet, welche die Individuen niederer Ordnung als dienende
Glieder in sich aufgehoben enthält. Darin liegt , dass das höhere
Individuum Funktionen ausüben kann, die in seinen Komponenten als
solchen nicht enthalten sind, in ähnlicher Weise wie im chemischen
Produkte Eigenschaften hervortreten, die nur erst durch die synthe-
tische Einheit seiner Elemente möglich werden. Die Empfindung eines
Individuums höherer Ordnung ist demnach auch nicht bloss das Ver-
dichtungsprodukt der es konstituierenden Individuen niederer Ordnung,
sondern es sind in ihr, entsprechend der organischen Beschaffenheit
ihres materiellen Substrates, noch diejenigen besonderen Em-
pfindungen enthalten, die aus den jedes Mal hinzukommen-
den Centralf unktionen stammen. Die Grosshirnempfindung eines
solchen Individuums also ist ein Integral der Himganglienzellenem-
pfindungen, die Zellenempfindung ein Intregal ihrer Molekularempfin-
dungen, die Molekularempfindung ein Integral ihrer Atomempfindungen.
In je tiefere Stufen der Individualität wir hinabsteigen, um so mehr
verschwindet der qualitative Charakter der Empfindung und macht
blossen Quantitätsunterschieden Platz. Die Atomempfindung also,
wenn es eine solche giebt, muss aller Qualität überhaupt entbehren
und kann, da nach Abzug der letzteren nichts mehr übrig bleibt, nur
noch Unterschiede der Intensität von Lust und Unlust zeigen. Dem
entspricht es, dass, je weiter wir uns von den höheren zu den nie-
deren Sinnen entfernen, desto mehr auch die Qualitäten der Empfin-
dung, die Nüancierungen und Besonderheiten derselben, je tiefer wir
von den höheren zu den niederen Lebewesen hinuntersteigen, desto
mehr auch die Zahl der Empfindungsmodalitäten, der spezifischen
172 Die Erkenntnis des Ich.
Klassen von Empfindungen, zusammenschrumpfen. Bei den untersten
Lebewesen, den Moneren, die aller Sinneswerkzeuge entbehren, kann
man bekanntlich darüber streiten, ob man ihnen überhaupt noch
spezifische Empfindungen zuschreiben darf. Schwerlich geht ihr Ver-
mögen über die Empfindung von blossen Tast- und Temperaturunter-
schieden hinaus. Um wie viel einfacher noch werden wir die Em-
pfindungen der niederen Individuen (Zellen, Moleküle, Atome) uns
zu denken haben, die das psychische Element unserer eigenen Em-
pfindung bilden! Steigt man alsdann von den einfachen Atomen zu
höheren Gebilden, etwa zu den Molekülen empor, so werden schon
sie die Atomempfindungen kaum noch als einzelne verspüren. Wohl
aber können wir uns denken, dass die Intensitätsunterschiede von Lust
und Unlust, wie sie in den Atomen bestehen, in den Molekülen be-
reits sich zu qualitativer Färbung integrieren. Denn das Molekül ist
schon nicht mehr ein schlechthin einfaches und gleichmässig gestaltetes
Gebilde, wie das Atom, sondern es zeigt bereits Unterschiede in der
äusseren Form und muss folglich Einwirkungen, die von verschiedenen
Seiten kommen, mit verschiedenen Intensitätsunterschieden der Em-
pfindung beantworten. Diese Unterschiede der Intensität aber fliessen
in dem höheren Bewusstsein des Moleküls zu unterschiedlich gefärbten
Empfindungen zusammen.
In dieser Weise also können wir uns auch vom psychologischen
Standpunkt aus die Entstehung der Empfindungsqualitäten aus quan-
titativen Unterschieden verständlich machen, wofern wir nicht mit
den Materialisten annehmen wollen, die Empfindung trete plötzlich,
wie Athene aus dem Haupte des Zeus, als fertiges und nicht weiter
in psychische Elementarbestandteile auflösbares Produkt an irgend
einer Stelle des Bewegungsprozesses stofflicher Gebilde in die Er-
scheinung. Was physiologisch oder von aussen betrachtet als Be-
wegungsprozess organischer Bestandteile sich darstellt, dasselbe ist
von innen oder psychologisch angesehen, ein Integrationsprozess
rein psychischer Elemente, indem die zeitlich hervorgerufenen Elemen-
tarempfindungen der Atome, Moleküle u. s. w. sich zu der momen-
tanen Gesamtempfindung im letzten percipierenden Centrum verdichten.
In noch w^it höherem Grade als bei der Entstehung von „einfachen"
Empfindungen aus ihren verschiedenen Komponenten ergiebt sich hier-
aus, dass bei dem geschilderten Prozess an eine blosse psychische
Mechanik nicht zu denken ist. Beim mechanischen Prozess wirkt
jeder einzelne Faktor nur insofern auf das Endglied ein, als er seine
eigene Bewegung jedem benachbarten Gliede und dieses wiederum die
seinige dem ihm zunächststehenden Gliede mitteilt u. s. w. Das ein-
Das Ich als Empfindung. 173
zelne Moment bleibt ausserhalb des Endeffektes stehen und ist, wie
dieses, bloss Bewegungsmoment. Bei der Integration der Elementar-
empfindungen zu einer qualitativ gefärbten Gesamtempfindung dagegen
geht jedes einzelne Empfindungsmoment als solches in den Endeffekt
mit ein, bleibt gleichsam in ihm aufgehoben, nun aber nicht mehr als
das, was es an seiner eigenen Stelle war, als subjektives Lust- und
TJnlustmoment, sondern vielmehr als Qualitätsmoment, in welchem die
früheren bloss subjektiven Unterschiede den Charakter der Objektivität
erhalten haben. So ist mithin der psychische Integrationsprozess dem
chemischen Prozesse zu vergleichen. Wie in diesem das chemische
Produkt hervorgeht aus dem Zusammenwirken aller seiner Elemente,
selbst aber etwas spezifisch Neues ist gegenüber jedem seiner
Elemente, so kommt auch die qualitativ gefärbte Endempfindung zwar
zustande nur auf Grund ihrer Elementarempfindungen, aber sie selbst
ist mehr als die blosse Summe derselben, nämlich ihre Synthese, die zu
ihrem Zustandekommen ausser den Elementarempfindungen, als Kompo-
nenten, eine schöpferische synthetis che Funktion voraussetzt.
Welcher Art ist nun diese Funktion, welche die Elementarem-
pfindungen zum Aufbau höherer psychischer Gebilde verwendet und
wodurch sich ein solches höheres Gebilde als Synthese von dem
blossen mechanischen Aggregat unterscheidet? Offenbar kann sie nur
eine logische Intellektualfunktion sein, weil es sich hier eben
um das Material unserer Vorstellungen und nicht irgendwelcher
anderen Gebilde handelt. Man kann indessen zur Bestätigung auch
noch auf das logische und teleologische Moment hinweisen, das in
jenem Integrationsprozesse der Elementarempfindungen liegt. Es ist
logisch, dass bei der Wahrnehmbarkeit des einzelnen Eindrucks auch
die Gesamtheit vieler Eindrücke ein Gegenstand der Wahrnehmung
bleibt. Es wäre aber unzweckmässig, wenn unser Centralorgan auch
diese vielen Eindrücke noch sämtlich als einzelne percipieren würde.
Das Individuum höherer Ordnung müsste unter der Masse der jeder-
zeit auf es einstürmenden Eindrücke erdrückt werden, wenn auch die
Eindrücke der es konstituierenden Individuen niederer Ordnung ihm
als solche zum Bewusstsein kämen. Statt dessen verdichten sich die
vielen einzelnen Elementarempfindungen zu einer einzigen Gesamtem-
pfindung, und über die Welt des Quantitativen mit ihrem niederprasseln-
den Hagelschauer von subjektiven Lust- und Unlustempfindungen spannt
sich der Regenbogen der objektiven Qualitätsunterschiede aus, der
uns verheissungsvoU den Ausblick in eine ganz neue Welt eröffnet ^ —
^ Vgl. hierzu: v. Hartmann: Kategorienlehre (1896), S. 1 — 33.
174 I^ie ErkeDDtnis des leb.
Wer die Annahme einer besonderen synthetischen Funktion ver-
wirft und an einen psychischen Mechanismus glaubt, wonach die see-
lischen Elemente kraft ihrer eigenen Natur in ihre verschiedenen
Verbindungen und Formen übergehen, für den muss die Empfindung
selbst ein Letztes, in sich Beschlossenes und Subsistierendes sein, in
dem gleichen Sinne wie das Atom für den Naturforscher das Urele-
ment aller physischen Erscheinungen darstellt. Dass hiervon that-
sächlich nicht die Rede sein kann, ergiebt sich, wenn wir nun den
letzten Schritt der Analyse thun und die Entstehung der Elementar-
empfindung als solchen betrachten. Der Empirismus eines Locke
und der Sensualismus konnten die Seele noch für eine leere Tafel
halten, worauf die Empfindungen von aussen unmittelbar eingedrückt
würden, und selbst Kant, obwohl ihm die richtige Einsicht nicht
fehlte, begnügte sich doch meistens damit, ein passives ^Vermögen
der Empfindungen^ anzunehmen, die „Sinnlichkeit, wodurch er uns
die Empfindungen nur so einfach „gegeben'' sein lässt, als ob die
vom Reiz angeregte Bewegung der Nervenmoleküle gleichsam von
selbst in die Seele hinüberglitte, um dort als Empfindung wiederum
zum Vorschein zu kommen. Wir sehen gerade darin heute den Grund-
irrtum jener Denkrichtungen und halten es für eine wesentliche Ein-
sicht einer jeden sich kritisch nennenden Philosophie, dass die Em-
pfindung, wie aller Inhalt des Bewusstseins , durch eine spontane
Thätigkeit der Seele von innen heraus erzeugt wird. Nur so-
lange man das Bewusstsein selbst für ein reales Sein und gleichsam
für einen leeren Behälter ansieht, der allen Eindrücken von aussen
offen steht, kann man auch seinen ursprünglichsten Inhalt, die Em-
pfindung, so betrachten, als ob sie rein passiver Natur und gleichsam
von aussen dem Bewusstsein eingepflanzt wäre. Die richtige Einsicht
in die Natur des Bewusstseins verlangt, die Empfindung nur als den
subjektiv-ideellen Effekt anzusehen, womit die Seele reflektorisch auf
den transcendent-realen Gehimreiz reagiert.
Nach dieser Auffassung bildet die Bewegung der Gehirnmoleküle,
die selbst wiederum durch den äusseren Reiz verursacht ist, so zu
sagen nur das Wecksignal, bei dessen Ertönen die Empfindung aus
dem Dunkel der Seele hervorspringt. Welcher Modalität oder Klasse
von Empfindungen sie angehört, ob sie eine Gesichts-, Gehörs- oder
Tastempfindung u. s. w. ist, und welche Qualität ihr innerhalb der-
selben zukommt, das hängt von der Geschwindigkeit, sowie von der
Form der Bewegung ab , durch welche sie verursacht wird. Dass
aber überhaupt die Seele auf Bewegung mit Empfindungen antwortet,
dem physikalischen oder physiologischen Vorgang den psychologischen
Das Ich als Empfindung. 175
Eindruck korrespondieren lässt, dafür kann die Ursache nicht mehr
im Reiz, sondern nur in ihrer eigenen inneren Beschaffenheit gefunden
werden. Es giebt mithin in der Seele Funktionen, die vor dem eigent-
lichen Elemente des empirischen Daseins, der Empfindung, in ihr ent-
halten sind. Und zwar verhält die Seele sich bei der Erzeugung der
Empfindung sowohl reflexiv und passiv, als aktiv und spontan: sie
verhält sich passiv, sofern sie die Bewegung im Nerven als Wirkung
auffasst, wodurch sie zu einer Gegenwirkung genötigt wird; sie ver-
hält sich dagegen aktiv, sofern sie jene Wirkung durch eine ihr genau
entsprechende Thätigkeit in die ihr allein eigentümliche Empfindung
verwandelt. Sonach ist die Empfindung das Produkt beider ent-
gegengesetzten Verhaltungsweisen oder Thätigkeiten in der Seele, und
damit fällt der Glaube an ihre Einfachheit und Unmittelbarkeit in sich
zusammen. Vielmehr wie die Gesamtempfindung nach unserer obigen
Auseinandersetzung die Vielheit der Einzelempfindungen, die konkrete
qualitativ gefärbte Einzelempfindung die Vielheit der Elementarem-
pfindungen nebst ihren Synthesen hinter sich und zur Voraussetzung
hat, genau so hat die Elementarempfindung selbst hinter sich die
Mannigfaltigkeit des Thuns und Leidens, der Spontaneität und Re-
flexion, als deren gemeinschaftliches Produkt sie hervortritt.
Es versteht sich, dass diese vorempirischen und im wahren Sinne
apriorischen Funktionen unserer Seele nicht aller Bestimmtheit
ermangeln können. Die Seele, sagten wir, beantwortet mit ihnen
den Bewegungsreiz, und diese Antwort fällt verschieden aus je nach
der Form und Geschwindigkeit der Nervenbewegung. Mithin besteht
eine ge setz massige Beziehung zwischen Reiz und Empfindung,
Quantität und Qualität, und dies nicht bloss bei einem einzelnen In-
dividuum, sondern wie wir annehmen müssen, bei allen Individuen
überhaupt, indem gleiche Bewegungsformen gleicher Moleküle in
gleich organisierten Hirnzellen gleiche Empfindungen hervorrufen. Die
Empfindung ist mit andern Worten sowohl nach ihrer Beschaffen-
heit, wie nach ihrem Intensitätsgrade, wie nach ihrem Vorzeichen
(Lust oder Unlust) logisch bestimmt. Folglich müssen, wie die
synthetischen Funktionen, auch jene die Empfindung erzeugenden
Funktionen ihrem Wesen nach logisch bestimmte, Intellektual-
funktionen sein, und thut sich damit vor unseren Blicken eine
Welt des Logischen und Intellektuellen auf, wovon wir schon in den
sogenannten Urelementen des Psychologischen, den Elementarempfin-
dungen, nur ihre Wirkungen erfahren. —
Wie sehr Kant den aktiven und spontanen Charakter der Em-
pfindung, wo nicht tibersehen, so doch jedenfalls unterschätzt hat,
176 I^ie Erkenntnis des Ich.
darin hatte er doch Recht, die Empfindung für den ursprünglichen
und zunächst einzigen Inhalt unseres Bewusstseins anzusehen, der
aber als solcher noch nicht Erkenntnis genannt werden kann. Gäbe
es solch^ Empfindungen an und für sich, so würden dieselben nur
einem Haufen zufällig und regellos hingesetzter Punkte gleichen,
welche die leere Fläche einer Tafel bedecken und die nur durch
Künstlerhand zu einem sinnvollen Bilde verbunden werden können.
Daraus folgt, dass alle diejenigen Bestandteile in unserer Erfahrung,
die nicht auf dem Wege der Nerven von aussen in die Seele gelangen
können, von dieser selbst zu den Empfindungen hinzugefügt sein
müssen und mithin nur sie allein imstande ist, aus dem ungeordneten
Materiale der Empfindungen den Teppich der Erfahrung zu weben.
Bekanntlich hat Kant zu jenen Bestandteilen auch die Form der
Zeit gerechnet. Es scheint dies jedoch um so weniger berechtigt,
als die Zeit mit den Schwingungen in unserem Gehirn unmittelbar
gegeben ist und folglich mit diesen zugleich in die Empfindung
übertragen wird. Der transcendenten Zeitfolge von Schwingungs-
zuständen entspricht in unserem Bewusstsein die subjektive Zeitfolge
von Empfindungen; und nur das kann Gegenstand der Untersuchung
sein, auf welche Art wir eine Vorstellung der Zeitverhältnisse
gewinnen. Eine zeitlose Empfindung ist ein so unmöglicher BegriflP,
wie derjenige einer Empfindung ohne Intensität. Die Zeit ist sonach
keine apriorische Funktion der Seele, weil es ohne Zeit auch keine
Empfindung geben könnte. Keineswegs aber gehört auch der Raum
zum Begriffe der Empfindung. Dieser könnte in der That garnicht
in unser Bewusstsein kommen und niemals einen Bestandteil der Er-
fahrung bilden, wenn die Seele ihn nicht aus ihrem Eigenen als die
Form der äusseren Anschauung schöpferisch heraus gestaltete. Eine
Psychologie, wie diejenige des Positivismus und sensualistischen Em-
pirismus, die alles Apriorische leugnet, hat freilich versucht, auch die
RaumauflPassung aus blosser Assoziation von Gesichtsempfindungen
mit Tast- und Bewegungsempfindungen abzuleiten. Eine solche Er-
klärung reicht indessen höchstens für die dritte Dimension der Tiefe
oder Entfernung aus, weil wir hier noch am ehesten imstande sind,
die einzelnen Empfindungen, woraus sich jene Auffassung bildet, aus-
zusondern und den Prozess ihrer Komplikation bis zu einem gewissen
Grade empirisch zu verfolgen. Der Kernpunkt des Problems, die
Projektion der Empfindung über die Grenzen des eigenen Körpers
hinaus, deutet freilich auch hier auf einen besonderen Akt der Seele
hin, welcher dem logischen Schlüsse verwandt und mit irgend welcher
Art von Assoziation kaum noch eine Aehnlichkeit zu haben scheint.
Das Ich als Empfindung. 177
Sicherlich aber kann unsere Auffassung der Flächenausbreitung so
wenig aus Verschmelzungsprozessen der an sich unräumlichen Em-
pfindungen begriffen werden, wie sich aus blossen Punkten eine Linie
konstruieren lässt. In der Anschauung sind unsere Empfindungen
räumlich geordnet oder extensiv. Unsere Empfindungen als solche
aber können nur intensive und qualitative Unterschiede zeigen. Dem-
nach können wir mit Lotze diese Unterschiede der verschiedenartig
lokalisierten Empfindungen nur als die Merkmale oder „Lokalzeichen"
betrachten, welche die Seele benutzt, um die zweidimensionale Ord-
nung der Empfindungen daraus herzustellen. Wie wir oben sahen,
dass die qualitativen Unterschiede der Empnndungen aus intensiven
Komponenten hervorgegangen sind und diese wiederum ihren letzten
Grund in den extensiv verschiedenen Schwingungszuständen ihrer
physischen Substrate haben, in derselben Weise, müssen wir annehmen,
wird rückwärts von der Seele die extensive Verschiedenheit der aus
den Empfindungen aufgebauten Anschauungen aus den intensiven und
qualitativen Unterschieden ihrer Elemente rekonstruiert. Vermochten
wir uns dort den Integrationsprozess nicht ohne eine besondere
synthetische Funktion der Seele zu erklären, so können wir auch
hier unsere Raumauffassung uns nur durch eine Art „psychischer
Chemie" entstanden denken, indem das Produkt eine Eigenschaft
empfängt, die in keinem seiner Faktoren enthalten war, die Eigen-
schaft nämlich, in der Fläche ausgebreitet und im Raum lokalisiert
zu sein.
In der That ist diese Annahme nicht zu umgehen; würden doch
unsere Empfindungen, selbst wenn sie schon an und für sich, wie
der Nativismus meint, mit der Form der Räumlichkeit behaftet wären,
immer nur ein diskontinuierliches Nebeneinander von Raumelementen
bilden, während unser thatsächliches Anschauungsbild vom Räume
uns überall nur eine kontinuierliche Einheit zeigt. Unsere Nerven
setzen sich aus mehren gegen einander isolierten Primitivfasern
zusammen, von denen uns jede einzelne einen gesonderten Eindruck
vermittelt, unsere Netzhaut enthält sogar eine Stelle, den sogenannten
„blinden Fleck", die überhaupt nicht für Lichtreize empfönglich ist,
und doch findet sich nirgends in unserem Gesichtsbilde eine Lücke
und nehmen wir die Gegenstände nicht als Konglomerate von diskreten
Punkten, sondern stets nur als reine Kontinua währ. Auch hier also
fügt erst die Seele das an sich Diskrete zusammen und füllt die
Lücken in derselben Weise aus, wie sie nach unserer obigen Darlegung
die zeitlich getrennten Quantitätsunterschiede der Elementarempfin-
dungen zu kontinuierlichen Gesamtempfindungen verdichtet.
Drews. 12
178 Bie Erkenntnis des Ich.
Es würde zu weit führen, den Aufbau der höheren Vorstellungs-
gebilde aus ihren einfachen Elementen näher darzulegen. Aufgabe
der Psychologie ist es, zu zeigen, wie die in den Raum hinaus verlegten
Empfindungen oder Anschauungen unter Zugrundelegung der Kate-
gorie der Einheit zu Wahrnehm ungs Objekten erhoben, wie die
Wahrnehmungen der verschiedenen Sinne unter einander zu konkreten
höheren Einheiten verschmolzen und vermittelst der Kategorien der
Substantialität und Kausalität unter einander in Beziehung gesetzt und
zu Bestandteilen der Erfahrungswelt gestempelt werden, woraus
dann wiederum mit Hülfe des Gedächtnisses durch Umformung, Ver-
dichtung, Kombination und Abstraktion ihrer unmittelbaren sinnlichen
Unterschiede die Welt der zusammengesetzten Vorstellungen und
Begriffe sich entwickelt. Ueberall müssen erst die Kategorien hin-
zukommen, um Ordnung, Einheit und Zusammenhang in die Mannig-
faltigkeit unserer sinnlichen Erfahrungswelt hineinzubringen ; diese aber
kommen unmittelbar nicht in der Erfahrung vor und können daher
ebenfalls, wie Kant behauptet, nur als apriorische Intellektual-
funktionen angesehen werden.
Wenn die englische Assoziationspsychologie glaubt, auch hier mit
den allgemeinen Gesetzen der blossen Verbindung von Vorstellungen
auskommen zu können, so übersieht sie, dass die Empfindungen als
solche sich niemals zu einem vernünftigen Wahrnehmungsbilde grup-
pieren können; hat doch auch gerade John Stuart Mill, einer der
Hauptvertreter jener Psychologie, den Begriff der psychischen Chemie
erfunden und damit die Wirksamkeit eines Faktors bei der Entstehung
unserer Vorstellungsgebilde zugestanden, der ausserhalb unserer Er-
fahrung liegt, und ohne welchen wir über das formlose Aggregat von
blossen Empfindungen doch nie hinausgelangen könnten. Mit Recht
wendet sich daher auch Wundt gegen die einseitigen Bestrebungen
der Assoziationspsychologen und verteidigt ihnen gegenüber den Be-
griff der psychischen Synthese, für dessen Berechtigung er sowohl
in seinen „Beiträgen zur Theorie der Sinnes Wahrnehmung" , wie in
seinen „Grundzügen der physiologischen Psychologie" , wie auch in
seinem „System der Philosophie" eingetreten ist. Und doch sollte
man denken, dass gerade Wundt ein Interesse daran haben müsste,
sich ganz auf die Seite der von ihm bekämpften Richtungen zu stellen.
Denn er selbst kennt die Psychologie nur als empirische und leugnet
die Existenz von psychischen Prozessen, die nicht letzten Endes in
Bewusstseinselemente auflösbar sind. Wie aber die einfachen psychischen
ürelemente selbst Träger synthetischer Funktionen sein können, wo-
durch erst alle höheren Formen des Psychischen zustande kommen.
Das Ich als Empfindung. 179
das bleibt auf psychologischem Gebiete ein mindestens ebenso grosses
Rätsel, wie der Aufbau der höheren organischen Gebilde aus der rein
mechanischen Bewegung der unorganischen, stoflFlichen Atome. —
Wir erkannten oben die einfache Empfindung als eine Abstraktion,
die wir bloss im Interesse der psychologischen Erkenntnis machten.
Genau genommen aber ist es schön eine Abstraktion, eine besondere
Klasse von Vorstellungsgebilden, deren ursprüngliches Element eben
die Empfindung bildet, für sich herauszustellen, und kann eine jede
derartige Unterscheidung unserer psychischen Erscheinungen nur aus
methodologischen Gründen zugelassen werden. Die Selbstbeobachtung
lehrt, dass alle seelischen Gebilde nur in inniger Verknüpfung im Be-
wusstsein enthalten sind. So giebt es keine Vorstellungsgebilde, die
nicht in irgend welchem Grade zugleich gefühlsmässig betont
w^ren. Dies tritt zwar bei den Empfindungen des Gesichtssinnes
weniger hervor, und überhaupt scheinen die Formen unserer Erkennt-
nis um so mehr der Gefühlsbetontheit zu entbehren, je höher sie in
der Rangordnung der psychischen Gebilde stehen, d. h. je umfang-
reicher und verwickelter die ihnen vorangehende Bearbeitung ihrer
konstituierenden Empfindungselemente vermittelst der Intellektual-
funktionen war. Der Schein der gänzlichen Freiheit vom Gefühle
entspringt jedoch bei ihnen wohl nur aus unserem Mangel an Auf-
merksamkeit, sowie daraus, dass jene Gefühle nicht stark genug sind,
um dem sonstigen Bewusstseinsinhalt gegenüber sich zur Geltung zu
bringen. Wenn wir im Verfolg eines bestimmten Gedankenganges
auf dem Strom abstrakter Begriffe dahinfahren, so denken wir eben
nur an unser Ziel und achten nicht auf die feinen Schwankungen
der Gefühle, die mit dem Flusse der Begriffe in unserem Bewusstsein
auf und nieder wogen. Indessen ist es doch eine bekannte Wahrheit,
dass auch die verschiedenen Farben eine verschiedenartige Stimmung
bei ihrer Wahrnehmung in uns erwecken, dass überhaupt alle Em-
pfindungen bei Ueberschreitung einer gewissen Reizgrenze in ein
deutliches Unlustgefühl übergehen und dass es in Krankheitszuständen
eine Hyperalgesie unserer Empfindungsapparate giebt, infolge wovon
alle Sinneseindrücke an den betreffenden Stellen nur mehr als schmerz-
hafte Gefühlserregungen empfunden werden. Es wird daher wohl
erlaubt sein, mit Lotze eine „Allgegenwart der Gefühle" anzunehmen
und die gegenteiligen Ansichten gewisser Metaphysiker mit ihrem
„reinen" Denken als blosse Spekulationen vom grünen Tisch aus zu be-
trachten, die mit der thatsächlichen Erfahrung im Wiederspruche sind.
Diese unmittelbare Verknüpftheit unserer Vorstellungsgebilde mit
Gefühlen kann uns nicht wundern, wenn unsere Behauptung richtig
12*
180 Die Erkenntnis des Ich.
ist, dass alle Vorstellungen aus Empfindungen, alle Empfindungen aber
letzten Endes aus den Intensitätsunterschieden von Gefühlen hervor-
gegangen sind. Weit entfernt also, das Gefühl, wie Herbart thut,
aus der Wechselwirkung der Erkenntniselemente zu erklären (eine
Annahme, die schon dadurch widerlegt wird, dass bereits eine einfache
für sich existierende Empfindung von einem Gefühle begleitet sein
kann, ohne dass es dazu eines Gegeneinanderstrebens oder einer
^Spannung^ verschiedener Vorstellungen bedürfte), weit entfernt hier-
von, betrachten wir vielmehr das Gefühl als den Keim und die
Wurzel auch unserer Erkenntniselemente und finden es durch-
aus berechtigt, wenn manche Philosophen in ihm den eigentlichen
Kern des Psychologischen, d. h. der bewussten seelischen Er-
scheinungen, zu sehen glauben. Je niedrigere Klassen von Em-
pfindungen wir betrachten und je tiefer wir von den höheren Stufen
der Individualität zu niederen hinuntersteigen, desto mehr tritt, wie
gesagt, der objektive Charakter der Empfindung hinter dem subjektiven
Gefühl zurück. Die Gemeinempfindungen und zum Teil auch schon
die Tast- und Geschmacksempfindungen haben bereits eine so über-
wiegend subjektive Färbung, dass wir sie von qualitativ-geförbten
Lust- und Unlustgefühlen kaum mehr zu unterscheiden vermögen,
weshalb denn auch die Sprache Gemein empf in düng und Gemein-
gefühl als Wechselbegriffe braucht. Indessen geht mit der Integration
der elementaren Gefühle zu Empfindungen und Vorstellungen der ur-
sprüngliche Gefühlscharakter keineswegs verloren. Es tritt nur in
den zusammengesetzten psychischen Gebilden aus teleologischen Gründen
nicht unmittelbar hervor, sondern verstärkt nur entweder den spezi-
fischen Charakter jener Gebilde, indem er mit ihnen eine innige Verbin-
dung eingeht, oder aber er verschmilzt mit anderen bereits vorhandenen
Gefühlen zur sogenannten „Stimmung'*, welche gleichsam den dunklen
Hintergrund des gesamten Spieles unserer seelischen Prozesse bildet.
Nun wissen wir, dass Lust und Unlust sich von einander nur
durch ihre Vorzeichen als Positives und Negatives, von ihres Gleichen
aber nur dem Grade nach unterscheiden, dass beide nur intensiv
quantitative, aber keine qualitativen Verschiedenheiten zeigen, sodass also
z. B. ein Schmerz qualitativ überall identisch ist, an welchem Teile
unseres Nervensystems er auch immer lokalisiert sein möge. Alle
qualitativen Unterschiede kommen in unsere Gefühle nur erst durch
die mit ihnen verbundenen Vorstellungselemente, Empfindungen und
Wahrnehmungen hinein ^. Demnach werden wir uns jenen Ver-
* V. Hartmann: PhUosophie d. Unbewussten I, 210 fi. — "Wundt: Bei-
träge zur Theorie d. SianeswahrnehmaDg 391 ff.
Das Ich als Wüle. 181
scbmelzungsprozess der elementaren Gefühle zu umfassenden Gesamt-
gefiihlen um so eher als einen bloss mechanischen und automatischen
zu denken haben, je mehr wir uns oben genötigt sahen, die Zusammen-
setzung unserer Gefühle zu qualitativ bestimmten Empfindungen, sowie
zu den höheren Formen der Erkenntnis einer besonderen synthetischen
Funktion zuzuschreiben. Im Gebiete des Quantitativen herrscht auch
im Psychologischen der Mechanismus. Es wäre daher unangebracht,
zu höheren Prinzipien seine Zuflucht zu nehmen, wo die niederen
zur Erklärung völlig ausreichend sind. Und zwar wird der Lust- und
Unlustcharakter ihrer Komponenten nur da sich in der Gesamt-
empfindung eines höheren Individuums erhalten, wo die Vorzeichen
dieser Komponenten überwiegend gleiche sind, oder wo die Intensität
der einen Art diejenige der anderen tiberwiegt. Wo dagegen die
Empfindungskomponenten entgegensetzte Vorzeichen haben, da werden
sich die Empfindungen gegenseitig kompensieren, ihr Lust- resp.
ünlustcharakter wird ausgelöscht, und nur ihre Intensitätsunterschiede
werden sich zu Qualitäten integrieren, resp. als Intensitäten der höheren
psychischen Gebilde erhalten bleiben.
8. Das loh' als Wille.
Mit der Zergliederung des Gefühls, als dem Kerne des Psycho-
logischen, sind wir nun an denjenigen Punkt gelangt, wo wir entweder
einen neuen Weg einschlagen müssen, um den ganzen Inhalt unseres
Bewusstseins kennen zu lernen, oder aber wo sich uns der letzte
Grund der bisher betrachteten psychischen Gebilde offenbaren muss,
aus dem sie, wie aus einer verborgenen Quelle, in. das Licht des
Bewusstseins herausgeflossen sind. Bisher bewegte sich unsere Unter-
suchung bloss in der Ebene auf das Centrum des Bewusstseins hin;
jetzt steigt sie in die Tiefe desselben hinunter.
Lust und Unlust nämlich, als die beiden Pole des Gefühls, sind
Affektionen, Bestimmungen oder Zustände des Willens, sie sind der
Ausdruck dafür, dass ein Wille entweder sein Ziel erreicht hat, be-
friedigt ist oder nicht. Demnach sehen wir uns genötigt, den Unter-
schieden des Gefühls und der Empfindung in uns, die zur Einheit eines
Gesamtresultates synthetisch verschmolzen werden , ebenso viele
Willensakte zu Grunde zu legen, jenes Gesamtresultat aber selbst
als Bestimmung eines Willens aufzufassen, der genau so sehr ein
Neues gegenüber den in ihm verschmolzenen Einzelwillen ist, wie
die konkrete qualitativ gefärbte Empfindung mehr als die Summe
ihrer Komponenten, das Individuum höherer Ordnung mehr als die
Gesamtheit der es konstituierenden Individuen niederer Ordnung
182 Die Erkenntnis des Ich.
darstellt. Gefühle und Empfindungen sind Zuständlichkeiten unserer
Seele und als solche bloss passive und reflexive Gebilde, die auf der
Spontaneität der psychischen Funktionen ruhen, wodurch sie ins Dasein
gerufen werden. Der Wille dagegen ist selbst diese Sponta-
neität und kann folglich nicht wieder auf anderweitigen spontanen
Funktionen beruhen, wofern wir den unlogischen und tiberflüssigen
regressus in inflnitum vermeiden wollen. Darum aber ist er nicht
bloss das Prius jener zuständlichen Gebilde, sondern zugleich ihr
tragendes und beherrschendes Prinzip. Der Wille ist gleich-
sam das Substrat der Empfindungen und Gefühle, indem er, als ihre
gemeinschaftliche Einheit, jene Zuständlichkeiten nur als die Formen
seiner Wirksamkeit aus sich heraussetzt.
Aus blossen selbständigen Einzelwillen könnte ja ebenso wenig
jemals ein höherer Gesamtwille resultieren, wie aus selbständigen
Atomen oder Monaden ein Individuum höherer Ordnung mit seinem
wunderbaren Ineinandergreifen von über- und untergeordneten Funk-
tionen sich erbauen könnte. Ein neues ^organisierendes Prinzip"
mit neuen Gesetzen muss die Atome und ihre tote Mechanik in ihren
Dienst nehmen, um neue höhere Gebilde hervorzubringen. In der
gleichen Weise müssen wir uns auch den Gesamtwillen eines Indi-
viduums höherer Ordnung als einen zu den bereits vorhandenen hinzu-
kommenden Willen denken, müssen wir annehmen, dass derselbe
durch Unterordnung jener unter seine eigenen höheren Ziele eine
innere organische Einheit herstellt, die als solche das psychische
Gegenstück des äusseren materiellen Organismus bildet. So begreift
es sich, wie die Empfindung zu den Befriedigungen und Nichtbe-
friedigungen, aus welchen sie hervorgegangen ist, in jedem höheren In-
dividuum einen Zuwachs an Qualität erhalten kann: die synthetische
Funktion, die wir oben als logische Intellektualfunktion
bezeichnet haben, ist unmittelbar auch eine Willensfunktion
und bringt jenes Plus an Empfindung hinzu, das eben für
diese Stufe der Individualität charakteristisch ist.
Als der jüngere Fichte in seiner „Anthropologie" (1855) und
„Psychologie" (1864) zum ersten Mal es unternahm, von diesem Ge-
sichtspunkt aus den Geist als ein „Triebwesen" darzustellen, stand
die herbartsche Psychologie noch in voller Blüte, und diejenigen
Psychologen, die sich nicht zu ihr bekannten, standen zum grössten
Teile noch zu sehr unter dem Banne des hegelschen Intellektualismus,
um die Zurückführung psychischer Gebilde auf Willensfunktionen
nicht für paradox zu halten. Heute ist uns diese Auffassung durch
den Einfluss Schopenhauers schon ganz geläufig, und hervorragende
Das Ich als Wille. 183
Psychologen, wie Hoff ding und Wandt, haben viel dazu beigetragen,
ihre Berechtigung nachzuweisen und sie dadurch in weiteren Kreisen
zu befestigen. Die intellektualistische Auffassung der Seelenvorgänge,
die ihre höchste Ausbildung durch Herbart erhalten hat, ist gegen-
wärtig einer „voluntaristischen" Psychologie gewichen. Als wollte
man ihn für die Zurücksetzung entschädigen, die er im rationalistischen
Zeitalter der Philosophie sich hat gefallen lassen müssen, so begegnet
man jetzt überall dem Bestreben, den Willen als Kern und Prinzip
aller psychischen Erscheinungen nachzuweisen. Das scheint nun
freilich unserer obigen Behauptung zu widersprechen, wonach wir
das Gefühl für die Wurzel des seelischen Daseins erklärten. Dieser
Widerspruch wird indessen seine Lösung finden, wenn wir nunmehr
der Frage näher treten, in welchem Sinne der Wille einen Gegenstand
unserer Erkenntnis bildet.
Wenn es wahr ist, dass wir den Willen in uns unmittelbar er-
kennen, so unmittelbar, wie wir die Vorstellungsgebilde und Gefühle
erkennen, so besitzen wir eine intellektuelle Anschauung des realen
Seins. Denn der Wille, als der tiefste Grund aller psychischen Er-
scheinungen, zu welchem sich die letzteren gleichsam nur wie Acci-
denzen zur Substanz verhalten, verdient, wenn irgend etwas, die
Bezeichnung der Realität, und daher sehen wir uns erst bei seiner
Betrachtung recht eigentlich vor die Entscheidung gestellt, welcher
Erkenntniswert den Objekten der inneren Wahrnehmung zukommt.
Unsere Gefühle und die aus ihnen zusammengesetzten Empfindungen
und Vorstellungen verändern sich dadurch nicht, dass sie Objekte
unseres Bewusstseins sind. Denn sie sind überhaupt nur als Inhalte
des Bewusstseins und haben ausserhalb des letzteren keine Existenz.
Dass wir ein bestimmtes Gefühl oder eine bestimmte Vorstellung
haben, darüber können wir uns nicht täuschen, weil ihr Haben eben
unser Wissen um sie ist. Wenn das Gleiche auch vom Willen gilt,
dann hatte Schopenhauer Recht, eine Erfassung unseres eigenen
Selbst im und durch den Willen zu behaupten, und hatte er jeden-
falls um ebenso viel mehr Recht, als Descartes in Hinsicht auf das
Denken hatte, wie der Wille dem letzteren an Tiefe überlegen ist.
Schon hier freilich muss es uns bedenklich machen, dass es
Täuschungen über unsren Willen giebt. Nicht umsonst stand das
„Erkenne dich selbst!" über dem Tempel zu Delphi. Die Priester
des alten Gottes wussten wohl, wie unendlich schwer es ist, die ver-
schiedenen in uns schlummernden Begehrungen und Triebe zu erkennen ;
sie hielten es schon für eine Art von Weisheit, wenn Jemand durch
Einsicht in das Verhältnis zwischen Wille und Motiv und durch Ver-
184 I^ie Erkenntnis des Ich.
gleichung der Art und Stärkegrade der Gefühle, welche die Gegen-
stände in ihm hervorrufen, befthigt wird, seine Willensentscheidungen
im Voraus zu berechnen und dadurch zur Herrschaft über seine Triebe
zu gelangen. Wir wissen oft nicht, was wir wollen, und wenn wir
eine bestimmte Entscheidung treffen, so wird uns zu unserem Er-
staunen an den Gefühlen, die wir bei unserer That erfahren, offenbar,
dass wir eigentlich etwas ganz Anderes wollten, als was uns als
Ziel vor unserem Bewusstsein schwebte. Wie oft begeistert sich
nicht Jemand für eine That und wünscht, dass auch ihm Gelegenheit
gegeben werde, seine eigene Vortrefflichkeit an ihr zu bewähren; aber
die Gelegenheit kommt, und er lässt sie unbenutzt vorübergehen,
indem er einsieht, dass doch etwas mehr dazu gehört als bloss der
abstrakte Vorsatz, sie auszuführen! Wie oft verwerfen wir nicht eine
Handlungsweise, um, wenn wir in die Lage kommen, sie trotzdem
zu wollen! Oder es erinnert sich Jemand einer Lust, die er früher bei
irgend einer Gelegenheit empfunden, und sucht sich dieselbe nun
von Neuem zu verschaffen; allein die erhoffte Lust bleibt aus und
Unlust tritt vielleicht an ihre Stelle, nicht weil die äusseren Umstände
sich geändert haben, sondern weil sein eigener Wille inzwischen ein
anderer geworden ist, ohne dass sein Bewusstsein etwas davon ge-
merkt hatte. Hierher gehört auch die bekannte Erscheinung, dass
Menschen, die nichts mehr vom Leben zu hoffen haben, sich den Tod
herbeiwünschen und mitleidig die Achseln darüber zucken, wie Andere
vor ihm in beständiger Angst und Sorge leben; aber packt sie selbst
der Tod etwa in der Gefahr eines Schiffbruches, dann klammert sich
auch bei ihnen der Wille zum Leben verzweiflungsvoll an die Planken
an, und dieser stärktse aller Triebe, der nur in ihrer Seele verborgen
geschlummert hatte, macht alle Erwägungen und Ziele ihrer bewussten
Reflexion zu Schanden.
Wie soll man sich diese Thatsachen erklären, wenn der Wille ein
unmittelbarer Gegenstand unseres Bewusstseins ist? Eine Täuschung
ist überall nur möglich, wo das Bewusstsein und sein Gegenstand
verschieden sind. Folglich kann auch der Wille als solcher über-
haupt nicht im Bewusstsein sein, und sind wir für unser Wissen
vom Willen nur auf ein indirektes Erschliessen desselben aus ander-
weitigem Bewusstseinsinhalt angewiesen.
In der That findet sich beim Willensakte im Bewusstsein unmittel-
bar nur eine Vorstellung dessen, was gewollt wird, an deren Stelle
beim dunklen instinktiven Triebe ein unbestimmtes Gefühl der Lust
und Unlust tritt, dazu eine mehr oder minder deutliche Vorstel-
lung der zur Erreichung des Zweckes erforderlichen Mittel, Gefühle
Das Ich als Wille.
185
der Lust und Unlust in Beziehung auf das Erreichen oder Verfehlen jenes
Zwecks, eine gewisse Unruhe aus erwachenden oder vorstellungsmässig
antecipierten Bewegungs emp findungen, Innervations empfindungen
im Anspannen und Sammeln der Kräfte und endlich wirkliche Beweg-
ungs- und Muskelempfindungen, gemischt mit reflektorisch hervor-
gerufenen körperlichen Gefühlen, wie solche z. B. aus dem Blut-
andrang zum Gehirn, aus dem Zusammenziehen der Stirnhaut oder
dem Druck der Finger gegen die innere Handfläche entstehen, wenn
es gilt, ein vorhandenes Hindernis zu überwinden. In alledem ist
also nichts enthalten, was sich nicht als Vorstellung oder Gefühl
nachweisen Hesse. Ein besonderer Wille findet sich jedenfalls daneben
im Bewusstsein ebenso wenig, wie wir bei unserer Wahrnehmung
der Aussenwelt die Realität der letzteren unmittelbar empfinden.
So begreift es sich, dass diejenigen, die alles Psychische nur als be-
wusstes gelten lassen, falls sie konsequent sind, die Existenz einer
spezifischen Willensfunktion überhaupt leugnen und die letztere aus
blossen Gefühlen und Vorstellungselementen glauben konstruieren zu
können. Trotzdem sieht sich eine vorurteilsfreie Psychologie genötigt,
dem Willen ebenso gut eine eigene Wirklichkeit zuzuschreiben, wie
wir dies bei den äusseren Gegenständen thun müssen, auch abgesehen
von der Vorstellung, die wir von ihnen im Bewusstsein haben. Denn
so wenig aus den rein subjektiven Empfindungen und Intellektual-
funktionen, wodurch die Vorstellung in uns zustande kommt, ihr
Wirklichkeitscharakter sich erklären lässt, so wenig gelingt es, aus
einer blossen Kombination von Vorstellungen, Empfindungen und
Gefiihlen die eigentümliche Natur des Willens abzuleiten.
Gefühle, Empfindungen u. s. w. sind passive Gebilde, ihrer ganzen
Beschaffenheit nach abhängig von der Wirklichkeit, zu welcher sie
sich gleichsam wie das Spiegelbild zu seinem Gegenstande verhalten,
und bleiben auf die Sphäre des Bewusstseins beschränkt. Der Wille
allein geht über das Bewusstsein hinaus, erprobt sich draussen an der
Wirklichkeit, indem er den fremden Gegenständen seinen Stempel
aufdrückt, und bildet neue Objekte für den Spiegel des Bewusstseins.
Wie anders ist ein solches Hinausgehen über das Bewusstsein ver-
ständlich, als dadurch dass er garnicht erst in das Bewusstsein ein-
geht? Ins Bewusstsein eingehen heisst passiv sein, heisst unfähig
werden zu eigenen spontanen Aeusserungen, denn das Wesen des Be-
wusstseins ist Reflexion. Bewusst-sein ist ideelles Sein; der Wille aber
unterscheidet sich, wie wir sahen, gerade dadurch von den übrigen
Funktionen unsrer Seele, dass er ihr realer Träger ist. Darum
muss er auch hinter dem Bewusstsein bleiben, um auf dasjenige ein-
186 I^ie Erkenntnis des Ich.
wirken zu können, was immer nur ein Jenseits des Bewusstseins sein
kann, und wovon wir in dem letzteren nur die Wirkungen erfahren.
Der Wille, wie er im Bewusstsein ist, ist mithin so wenig der
wirkliche aktive Wille, wie die Vorstellung eines äusseren Gegen-
standes selbst dieser äussere Gegenstand ist. Wir schliessen auf einen
solchen Gegenstand als Ursache unserer Vorstellung, weil diese nicht
willkürlich von uns verändert werden kann, sondern mit unwider-
stehlicher Gewalt sich unserem Bewusstsein aufdrängt. In derselben
Weise haben wir die Vorstellung einer Veränderung, die Wahrnehmung
einer auf sie gerichteten Bewegung nebst den erwähnten Empfindungen
und Gefühlen, die uns jene Bewegung als die unsrige erkennen lassen,
und schliessen instinktiv, dass die Ursache jener Veränderung in uns
selber liegen müsse. Diese Ursache, die wir also unmittelbar
garnicht erkennen, die wir aus den angegebenen Daten eben nur
erschlossen haben, diese Ursache nennen wir unseren Willen. Unser
bewusster Wille ist sonach nur der subjektive Repräsentant, die
abbildliche Vorstellung der eigentlichen Willensfunktion, die als
solche immer hinter dem Bewusstsein bleibt. Weil dies Be-
wusstsein von unserem Willen später ist als jene Daten, woraus wir
seine Existenz erschlossen haben, und weil dieser Schluss, als instink-
tiver, nicht selbst in unser Bewusstsein fällt, so entsteht daraus der
subjektive Schein, als habe sich auch objektiv der Wille aus den
Empfindungen und Gefühlen u. s. w. erst entwickelt. Weil unsere
Vorstellung von unserem Willen natürlich eine bewusste ist, so liegt
es ferner nahe, den Willen überhaupt nur als bewussten gelten zu
lassen. In Wahrheit beruht diese Annahme nur auf einer Ver-
wechselung des wirklichen mit dem vorgestellten Willen und hat daher
nicht mehr Berechtigung als die Annahme des subjektiven Idealismus,
dass alles Sein überhaupt nur ein subjektiv-ideelles sei, weil uns
allerdings das Sein nur in der Form der bewussten Vorstellung ge-
geben ist.
Dass der Wille seiner Natur nach stets ein Jenseits des Be-
wusstseins bleibt, ist die psychologische Wahrheit der schopen-
hauerschen Lehre von der Blindheit des Willens. Seit v. Hartmann
diese Lehre empirisch näher begründet hat, beginnt sie allmählich auch
weitere Kreise zu erfassen und immer mehr das alte rationalistische Dogma
von der selbstverständlichen Bewusstheit des Willens zu verdrängen.
In der That kann eine Psychologie sich ihr garnicht entziehen, die
den Willen für den Kern und die Wurzel alles Psychischen er-
klärt, und Hoff ding hat daher jedenfalls die höhere Wahrheit vor
Wundt voraus, wenn jener die Gründe für die Unbewusstheit des
Das Ich als Wille. 187
Willens anerkennt, wahrend dieser den Widerspruch Schopenhauers
teilt, den Willen für die Quelle des Bewusstseinslebens und trotzdem
selbst für bewusst zu halten. Auch Ulrici vermag nur dadurch die
Bewusstheit des Willens zu verteidigen, dass er in einer psychologisch
ganz unzulässigen Weise zwischen Willen und Trieb als abgesonderten
Funktionen unterscheidet. Vom letzteren aber muss doch auch er
eingestehen: „Die Empfindung scheint das Streben, den Trieb erst
hervorzurufen, weil er nur mit ihr und durch sie uns zum Bewusst-
sein kommt, weil er also für uns erst mit ihr und durch sie entsteht.
Aber an sich ist der Trieb, das Streben, die Erregung und Bewegung
der Seele das Prius, weil der Grund der Empfindung, des Gefühls ^"
So meint auch Lotze: „Hunger und Durst sind ursprünglich nicht
identisch mit Nahrungstrieben; sie sind nichts als unangenehme Ge-
fühle der Veränderung, die in den Nerven der Eingeweide durch
den Mangel der Nahrung eingetreten ist und in fortwährendem Wachs-
tum die Nerven in beständiger Aufregung erhält. W^orauf aber diese
Gefühle deuten, durch welches Heilmittel sie zu endigen, in welchen
andern Zustand sie überzuführen sind, das offenbaren sie an sich gar-
nicht, und ein Tier, das nur diese Gefühle besässe, würde ohne Zweifel
verhungern, ohne Rath und Abhülfe zu wissen, ja, ohne nur auf
solche zu denken.'* Daher verwirft Lotze mit Recht die Ansicht,
die in den Trieben Erkenntnisquellen sieht. „Es existiert nichts der
Art, und nirgends giebt die Natur ihren Geschöpfen Triebe mit, welche
sie unmittelbar in Beziehung zu Objekten setzten, deren Bewusstsein
sie nicht durch die gewöhnlichen Mittel der Erkenntnis erlangten^."
Die angegebenen Gefühle sind hiernach Wirkungen des Nahrungs-
triebes, dessen Existenz erst auf den höheren Stufen der Erkenntnis
aus ihnen nachträglich erschlossen wird. Daraus folgt, dass er an
sich nicht bewusst sein kann, sondern dies erst im Laufe der Er-
fahrung wird. Diesen selbstverständlichen Schluss zieht aber Lotze
nicht, sondern sucht ihm dadurch auszuweichen, dass er den Trieb
erst aus den Gefühlen entstehen lässt, was ganz richtig ist für unser
Bewusstsein des Triebes, die objektive Natur des letzteren jedoch
garnicht berührt. Wohl aber hat Göring jene Konsequenz erkannt
und darin mit Recht eine Bestätigung seiner Ansicht von der TJn-
bewusstheit des Willens gefunden. Der entscheidende Beweis für die
ursprüngliche Unbewusstheit des Willens besteht auch für ihn in der
Thatsache, dass er nicht wahrgenommen wird, sondern durch einen
Schluss von seinen Wirkungen aus mittelbar ins Bewusstsein kommt.
* Ulrici: Leib und Seele, S. 593.
' Lotze: Medizinische Psychologie, S. 298.
188 I^e Erkenntnis des Ich.
„Niemand wird imstande sein, mittelst der inneren Wahrnehmung eine
konkrete Willensrichtung anders als durch das sie begleitende Gefühl
und den vorgestellten Inhalt des Willens zu erfassen, daher der
letztere nur Gegenstand eines sogenannten abstrakten Vorstellens
werden, d. h. nur durch den Begriff „Willen" ausgedrückt werden
kann, während die Merkmale dieses Begriffes andern Seelenthätig-
keiten angehören ^^ Wenn man bedenkt, wie fern dem Positivisten
Göring alles Metaphysische liegt und wie ängstlich er überall bemüht
ist, die Grenzen der Erfahrung einzuhalten, so wird man nicht länger
der Ansicht sein können, als handle es sich bei der Unbewusstheit
des Willens um eine Theorie, die bloss von gewissen Metaphysikern
im Interesse ihrer transcendenten Spekulationen erfunden sei.
4. Ergebnis.
Versuchen wir nunmehr die Frage zu beantworten, inwiefern
den Objekten unserer inneren Wahrnehmung Wahrheit zukommt, so
erkennen wir, wie gesagt, unsere Vorstellungen, Empfindungen und
Gefühle unmittelbar und insofern mit absoluter Wahrheit, als ihr Sein
nur unser Bewusstsein von ihnen ist. Allein in diesem Sinne erkennen
wir auch die äusseren Gegenstände unmittelbar, nämlich als die sub-
jektiven Inhalte unseres Bewusstseins. Vorstellungen, Empfindungen
und Gefühle, als Objekte unseres Bewusstseins, sind aber nur die
Endprodukte eines verwickelten Integrationsprozesses, dessen ver-
schiedene passive Faktoren zwar ebenfalls Bewusstseinselemente sind;
die jedoch von einer aktiven synthetischen Funktion in ihren Dienst
genommen werden, und diese muss hinter dem ursprünglichen Inhalte
des Bewusstseins liegen, kann folglich nur mittelbar erschlossen,
aber nicht selbst unmittelbarer Inhalt des Bewusstseins werden. Mag
diese nun mit dem Willen zusammenfallen, wie wir vermutet haben, oder
nicht, in jedem Falle erkennen wir auch den letzteren nicht unmittel-
bar, sondern nur in einem Spiegelbilde. Wie wir sonach von den
äusseren Gegenständen nur ihre Wirkung auf unser Bewusstsein
unmittelbar erkennen, sie selbst aber ihrem Dasein nach hinter dessen
Grenzen bleiben, so vermögen wir auch unsere psychischen Gebilde nur
als Wirkungen, aber niemals zugleich als Ursachen wahrzunehmen.
Der Akt des Bewusstseins von unsern psychischen Gebilden
und der Akt ihres Zustandekommens sind zwei verschiedene
Akte; eben deshalb können wir über den letzteren nur Vermutungen
aufstellen.
» Göring: System der kritischen Philosophie (1874), I, S. 60 ff.
Ergebnis. 189
Unser Bewusstsein also erschöpft nicht das gesamte
psychische Sein. Werfen wir das Senkblei der Reflexion auch
noch so tief hinab, wir erreichen doch niemals den eigentlichen Boden
unserer Seele. Wie die Bilder einer latema magica, tauchen die
psychischen Gebilde vor unserm inneren Auge auf. Aber wie jene
nicht von selbst auf der weissen Fläche erscheinen oder sich gegen-
seitig hervorrufen, sondern aus dem Apparate hinter unserm Rücken
dorthin projiziert werden, so dürfen wir auch nicht glauben, dass
der Inhalt unserer Selbstwahrnehmung ein selbständiges und ursachloses
Dasein habe. Der Unterschied ist nur, dass wir bei den Bildern
der latema magica uns nur umzuwenden brauchen, um ihre Quelle
wahrzunehmen, wohingegen die Augen unseres Bewusstseins gleich-
sam nur nach vorn gerichtet sind und niemals erblicken können, was
hinter ihnen vorgeht. Indem jeder Versuch, sich der psychischen
Gebilde unmittelbar zu bemächtigen, ihr Sein zerstört oder doch ihre
ursprüngliche Gestalt verändert, so gleicht unsere Selbstwahrnehmung
jenem Orpheus, dem die Gattin, die er aus dem Hades heraufholt,
vor seinen Blicken verschwindet, sobald er sich nach ihr umkehrt,
um sich von ihrem Dasein zu überzeugen. Nur aus dem hinter ihm
herhallenden Schritten vermag der Psychologe sich ein Urteil darüber
zu bilden, welcher Art das Wesen ist, das er in das helle Licht des
Wissens heraufführt. Aber er hüte sich, in ungestümem Drange die
Hände nach ihm auszustrecken; er wird nur ein nebelhaftes Gespenst
in seine Arme schliessen.
Unser Bewusstsein beleuchtet überall nur die Oberfläche der
Gegenstände, aber es lässt uns über ihren inneren Kern im Dunkeln.
Darum hatte Kant Recht, auch der Selbstwahrnehmung nur die Mög-
lichkeit der Erkenntnis von Erscheinungen zuzugestehen. Es war
nur ein schiefer Ausdruck, diesen Erscheinungscharakter des psychischen
Seins einem „inneren Sinne" zuzuschreiben, als ob es zur Selbstwahr-
nehmung eines besonderen Organs bedürfe und dadurch, wie bei
den äusseren Gegenständen, dem wirklichen psychischen Sein die Form
der Erscheinung erst gleichsam übergezogen würde. Es war auch
ein Irrtum, diese Form des inneren Sinnes in der Anschauungsform
der Zeit zu suchen, ohne welche es doch überhaupt kein Geschehen
geben und folglich das Psychische, als Ding an sich, den inneren
Sinn auch nicht affizieren könnte. Ein solches spezifisches Organ der
Selbstwahrnehmung hat Beneke mit Recht als „metaphysische Er-
dichtung" verworfen. Der Ercheinungscharakter kommt in das innere
Sein nicht durch eine ihm fremde Form hinein, sondern dadurch dass
es Wirkung und Zustand eines Realen ist, bis zu welchem das Licht
190 Die Erkenntnis des Ich.
des Bewusstseins nicht hinabdringt. Das innere Sein ist ein
blosses ideelles Sein; insofern hat es nichts voraus vor
unserer Erkenntnis der äusseren Gegenstände. Es wird uns
nur so viel schwerer, die psychischen Gebilde als Erscheinungen zu
erkennen, weil bei ihnen die produktive Funktion, wodurch sie Inhalt
unseres Bewusstseins werden, mit ihrem realen Kern zusammenfällt
und wir diesen im Willen unmittelbar zu erfassen glauben. Bei den
äusseren Gegenständen dagegen ist ihr realer Kern, wodurch sie Ur-
sachen unserer Vorstellungen von ihnen werden, von der produktiven
Funktion dieser Vorstellungen in uns numerisch verschieden, und
daher vermögen wir sie leichter von diesen Vorstellungen zu unter-
scheiden, zu welcher sie sich wie die Ursachen zu ihren Wirkungen
verhalten.
Hiemach erscheint es ganz berechtigt, die Psychologie in Ueber-
einstimmung mit der Naturwissenschaft nur im empirischen Sinne
gelten zu lassen. Sie ist nur nicht deshalb eine empirische Wissen-
schaft, weil die Empirie oder unser Bewusstsein die psychischen Er-
scheinungen erschöpft, sodass mit der psychologischen Untersuchung
die Erkenntnis unseres seelischen Daseins schon vollendet wäre,
sondern weil nur auf Grund der Selbstbeobachtung diejenigen Daten
gewonnen werden können, vermittelst welcher eine solche Erkenntnis
allein erst möglich ist. Die Psychologie untersucht, ebenso wie die
Naturwissenschaft, die Bedingungen und Gesetze, unter denen eine
bestimmte Erscheinung zustande kommt und giebt eine möglichst voll-
ständige Aufzählung der in ihr enthaltenen Momente. Wie aber die
letzteren es anfangen, jene Erscheinung zu konstituieren, welcher Art
an sich der Vorgang und wie beschaffen das Wesen ist, von welchem
die Erscheinungen hervorgebracht werden, darüber etwas auszumachen,
liegt ausserhalb ihres beiderseitigen Gebietes. Psychologie und Natur-
wissenschaft , als koordinierte Wissenschaften, welche den beiden
Seiten der inneren und äusseren Erfahrung entsprechen, drängen
sonach nur von entgegengesetzten Punkten aus auf eine Untersuchung
der ihnen beiden zu Grunde liegenden Voraussetzungen hin; die
Wissenschaft von diesen aber ist die Metaphysik, worin sich erst
der Umkreis unserer gesamten Erkenntnis vollendet.
Es kann fraglich erscheinen, ob es unter diesen Umständen noch
berechtigt ist, die Psychologie zu den eigentlich philosophischen
Disziplinen zu zählen, wofern man nämlich der Ansicht ist, dass die
Philosophie es in allen ihren Teilen nicht sowohl mit den empirisch
gegebenen Erscheinungen, als vielmehr mit der Beziehung derselben
auf ihr reales Wesen zu thun hat. Auch die Logik kommt mehr und mehr
Ergebnis. 191
davon zurück, als bloss formale Logik, nur die empirischen Gesetze
unseres bewussten Denkens festzustellen und gewinnt ein um so
philosophischeres Aussehen, je mehr sie danach strebt, die Beziehung
dieser Gesetze zur gegebenen Wirklichkeit einerseits, zu ihrem höheren
metaphysischen Grunde andererseits ausfindig zu machen. Es war nur
eine Folge ihrer falschen Ansicht vom realen Sein, wenn sie glaubte,
sich selbst an die Stelle der Metaphysik setzen zu können, und Hegel
die formale Logik in der spekulativen Logik auf- und untergehen
Hess. Wenn die Einsicht in den blossen Erscheinungscharakter der
seelischen Gebilde die Psychologie trotzdem nicht ihrer philosophischen
Natur entkleidet und in dieser Beziehung ihr immer noch ein gewisser
Vorzug vor den Wissenschaften der Natur verbleibt, so liegt dies
daran, weil es leichter ist, von der Betrachtung der inneren Erschei-
nungen aus zum wesenhaft Realen vorzudringen, als durch die Ver-
mittelung der äusseren Gegenstände. Denn die bewussten psychischen
Gebilde sind auf jenem Grunde gleichsam unmittelbar erwachsen,
wohingegen unsere Vorstellungen von äusseren Gegenständen nur
mittelbar, nämlich durch die äussere Anregung derjenigen produktiven
Funktionen, die hinter unserem Bewusstsein liegen, in diesem selbst
hervorgerufen sind. Die inneren psychischen Objekte sind eine Wir-
kung aus erster Hand, die äusseren physischen Objekte dagegen
sind eine solche nur aus zweiter Hand. Darum ist es ganz be-
rechtigt, das Bewusstsein der eigenen Realität zum Erkenntnis-
grunde der fremden Realitäten zu machen ; man muss sich nur hüten,
unser Bewusstsein von der Realität mit dieser selbst für iden-
tisch zu halten.
Der Positivismus begeht diese Verwechselung des Realen mit
dem Psychologischen, wenn er glaubt, die gesamte bisherige Meta-
physik durch die psychologische Erkenntnis entthronen zu können.
Wie der subjektive Idealismus, mit dem er die Verachtung alles Meta-
physischen teilt, ist er selbst nur eine verkappte Metaphysik, aber er
ist, ebenso wie jener, eine unrichtige Metaphysik, weil er von vorne-
herein auf einer falschen Voraussetzung aufgebaut ist. Der subjektive
Idealismus widerspricht sich selbst, wenn er die Existenz eines Realen
leugnet, das Bewusstsein dagegen als solches für ein Reales ansieht.
Der Positivismus widerspricht sich ebenso, wenn er die Erkenntnis
des Realen für unmöglich erklärt, die eigenen psychischen Punktionen
aber unmittelbar zu erkennen behauptet, obwohl sie doch eben damit
zu Realitäten werden. Sind die psychischen Funktionen, soweit wir
sie als Objekt in unserem Bewusstsein haben, nur ideelle Zustände,
Erscheinungen und Spiegelbilder eines bewusstseinstranscendenten Seins,
192 Die Erkenntnis des Ich.
so haben wir also überhaupt kein Reales in unserem Be-
wusstsein und kann folglich das Ich, als Gegenstand unseres
Bewusstseins, mit dem realen Träger jener Funktionen nicht
identisch sein. Weit entfernt also, unsere frühere Behauptung um-
zustossen, bestätigt uns auch die Selbstwahmehmung, dass wir im Ich
nicht über das ideelle Sein hinausgelangen, und können wir um so eher
dabei bleiben, das Ich für die blosse Form unseres Bewusstseins anzu-
sehen, als es die gemeinschaftliche Form unserer psychischen Funk-
tionen ist, nach Abzug ihres realen Grundes aber nur die Form des
Bewusstseins ihnen noch gemeinsam bleibt.
In Wahrheit ist es, wie dies auch schon ausgesprochen wurde,
nur selbstverständlich, dass, wenn es ein vom Inhalt unseres Bewusst-
seins, d. h. vom ideellen Sein, verschiedenes Beales giebt, dies eben
nur ein Jenseits des Bewusstseins sein kann. Die ganze Er-
kenntnistheorie ist bloss der wissenschaftliche Nachweis dieser an sich
tautologischen Wahrheit, der nur deshalb erforderlich ist, weil wir
durch eine eigentümliche Notwendigkeit unseres Erkenntnisvermögens
allen Inhalt unseres Bewusstseins unmittelbar für ein Beales ansehen
oder weil wir, kantisch gesprochen, unsere Objekte, als blosse Er-
scheinungen, geneigt sind, für Dinge an sich zu nehmen. Es ist
daher auch nur die gleiche Illusion, zu glauben, dass unser Ich hier-
von eine Ausnahme mache. Unsere eigene Realität wird dadurch
nicht aufgehoben und das Dasein zum blossen wesenlosen Schein ver-
flüchtigt, dass wir auch uns selbst unmittelbar nur als Erscheinungen
erkennen, vielmehr liegt gerade darin erst ihre Bestätigung. Nur
weil die eigentliche Realität unseres bewussten Innenlebens als solche
hinter dem Bewusstsein liegt und nur instinktiv aus dem Inhalte des
letzteren erschlossen wird, nur darauf beruht es, dass wir überhaupt
real sind. Wir sind nicht ein bloss ideelles Sein, weil wir uns
unmittelbar nur als ein solches erkennen, sondern wir er-
kennen uns unmittelbar als ideelles Sein, weil wir an sich
oder unserm Wesen nach ein reales sind. Alle Philosophen
daher, die eine unmittelbare Erkenntnis des Realen in irgendwelchem
Sinne lehren, besitzen überhaupt gar kein reales Sein, weil
das, was wir als Inhalt unseres Bewusstseins besitzen, als solches
immer und ewig nur ein Ideelles sein kann. In dieser Lage aber be-
findet sich die ganze moderne Philosophie, soweit sie bewusster oder
unbewusster Weise das Cogito ergo sum ihren Untersuchungen zu
Grunde legt. Von dem Augenblick an, wo die Philosophie, überzeugt
von der trügerischen Beschaffenheit dieses Fundamentes, jede Ge-
meinschaft mit dem Kartesianismus aufgiebt und auf Grund ihrer
Das reale Sein. 193
veränderten Stellungnahme zum Realen neue, tiefere Prinzipien des
Seins entdeckt, von diesem Augenblick an wird eine spätere Zeit
eine neue Epoche in der Philosophie datieren. Dann wird man auch
die Bedeutung des k an tischen Lebenswerkes nicht mehr darin
setzen, dass es die Unmöglichkeit einer Erkenntnis des Realen über-
haupt bewiesen habe, sondern man wird Kant auch dann als Re-
formator feiern, weil er die Möglichkeit einer unmittelbaren Er-
kenntnis des Realen bestritten und hiervon auch das Ich nicht aus-
genommen hat.
B. Das Sein des Ich.
I. Die Toraussetzungen des Ich.
1. Das reale Sein.
Es entsteht nun die Aufgabe, das Reale näher zu bestimmen,
das wir als den metaphysischen Grund und das Substrat des be-
wussten Innenlebens erkannt haben.
Unsere Vorstellungen und Wahrnehmungen lösten sich durch die
kritische Analyse letzten Endes in Gefühle von verschiedenen Inten-
sitätsverhältnissen auf. Im Gefühle aber erkannten wir eine Affektion
des Willens. Sonach ruht also der gesamte Inhalt unserer Selbst-
wahrnehmung auf dem Willen, der, als reales Prius und Produzent
des bewusßten Seelenlebens, ein unbewusster Wille ist. Dieser Wille
enthüllte sich uns als das reale Substrat, woran die übrigen psy-
chischen Gebilde als Zustände und Erscheinungen haften, und zwar
muss den verschiedenen Affektionen auch eine Verschiedenheit in den
tragenden Willensakten entsprechen. Was bedeutet sonach die Ver-
schiedenheit des Willens?
Den Unterschieden der Gefühls in tensität korrespondiert eine
verschiedene Intensität des WoUens, beruhend auf der Heftigkeit, womit
der Wille etwas begehrt oder etwas verabscheut. Was aber die Qua-
lität der seelischen Gebilde anbetrifft, so müssen wir uns diese durch
einen Integrationsprozess entstanden denken, indem unter dem Hin-
zutritt immer neuer Willensakte, die den jeweiligen Stufen der Indi-
vidualität entsprechen, die Gefühlsintensitäten der Individuen niederer
Ordnung als Momente in die Empfindungen der höheren Individuen
aufgehoben werden.
Hier tritt also der ursprünglichen Intensität des Willens eine
weitere Bestimmung an die Seite: der höhere Wille nimmt die nie-
deren Willensfunktionen gleichsam in seinen Dienst und verwertet sie
zum Aufbau von neuen Gebilden, die in den einfachen Elementar-
gefühlen als solchen nicht enthalten waren. Um dies zu können,
Drews. 23
194 Bas Sein des Ich.
muss nun aber der schöpferiBche Wille nicht bloss eine Kenntnis
der höheren zu schaffenden Gebilde, er muss auch ein genaues Wissen
der Mittel und Wege haben, wodurch er seinen Zweck erreicht, und
demnach auch um die Elemente wissen, die das passive Material bei
seiner Schöpfung bilden sollen.
Nun haben wir bereits oben gesehen, wie bei der Verschmelzung
mehrer Einzelempfindungen zur sogenannten einfachen Empfindung,
ebenso auch bei der Entstehung qualitativ gefärbter Sinnesempfin-
dungen aus den Gefühlsintensitäten der beteiligten Individuen niederer
Ordnung u. s. w. ein teleologischer und intellektueller Faktor mit-
wirkt, weshalb wir auch dort jene produktive synthetische Funktion
der Seele als Intellektualfunktion bezeichnet haben. Wenn diese
Funktion, von anderer Seite her betrachtet, als tragende Willens-
funktion erscheint, was liegt näher, als die Intellektualität für jene
Bestimmtheit des Willens zu erklären, woraus in Verein mit dessen
Intensität der ganze Reichtum des Psychologischen hervorgeht? Die
Intellektualfunktion, deren Wirksamkeit wir besonders in den be-
stimmten, objektiven und qualitativen Elementen unsrer Seele, den
Empfindungen, Anschauungen, Vorstellungen u. s. w. anerkennen
mussten, und die Willensfunktion, die sich in der Subjektivität des
Gefühlslebens offenbart, sind folglich nicht zwei verschiedene Funk-
tionen, sondern sie sind eine und dieselbe Funktion, indem sich
die Intellektualität an ihr als die logische Bestimmtheit des
Willens darstellt.
Wenn nun so der höhere Wille logisch bestimmt ist, so können
auch die niederen Willensfunktionen, woran die Empfindungen der
tieferen Individualitätsstufen haften, nicht gänzlich blind in dem Sinne
sein, dass sie überhaupt aller logischen Bestimmtheit ermangelten.
Es geht nicht an, dem Willen eines Moleküls die logische Bestimmt-
heit zuzusprechen, sie aber bei dem Willen jedes einzelnen Atoms zu
leugnen und diesem etwa nur noch Unterschiede der Intensität zu
lassen. Vielmehr wie nach der gewöhnlichen Anschauung das Atom
als solches stofflich, d. h. im Räume ausgedehnt (stereometrisch) bleibt,
in wie kleine Teile der Stoff auch zerlegt werden mag, so bleibt auch
der Wille ein logisch bestimmter, auch wenn man in noch so tiefe
Stufen der Individualität hinuntersteigt. Der Unterschied liegt nur
in dem inhaltlichen Reichtum jener logischen Bestimmung. Denn
während die letztere beim Atomwillen die denkbar einfachste und
lediglich auf das Atom selbst gerichtet ist, enthält der Wille einer
höheren Stufe der Individualität ausser der Bestimmung, die gerade
dieses Individuum charakterisiert, als Momente auch noch die Be-
Das reale Sein. 195
Stimmungen der konstituierenden Individuen niederer Ordnung in sich,
um diese zur Erreichung seines eignen Zweckes zu verwerten.
Bezeichnet man die logische Bestimmtheit des unbewussten Willens
in Uebereinstimmung mit derjenigen des bewussten Willens als Vor-
stellung, so kann man demnach sagen: die Vorstellung der Indivi-
duen niederer Ordnung schliesst die Vorstellungen der höheren Indivi-
dualitätsstufen aus, worin sie als konstituierende Glieder funktionieren;
die Vorstellung der höheren Individualitätsstufen dagegen schliesst die
Vorstellungen der niederen Stufen als Momente ein, und zwar nach
Massgabe desjenigen herrschenden Momentes, wodurch eben das Wesen
jener höheren Stufe bestimmt wird. Dem Organismus von Willens-
funktionen auf den höheren Stufen der Individualität, worin der je-
weilige höchste oder Individualwille gleichsam die Seele, die übrigen
Willen der konstituierenden Individuen niederer Ordnung dagegen den
Leib darstellen, entspricht ein organisches Ineinander von Vorstel-
lungen, so zwar, dass die Vorstellungen der niederen Individualwillen
als aufgehobene Momente in einer Gesamtvorstellung existieren, welche
diejenige des höheren Individual willens ist.
In der That ist die Annahme der logischen Bestimmtheit des
realen Willens garnicht zu umgehen, wenn anders eine Erkenntnis
dieses Realen möglich sein soll. Der vorkan tische Dogmatismus stellte
über das Reale Behauptungen auf, ohne sich darum zu kümmern, ob
es auch so beschaffen sei, um Objekt unserer Erkenntnis sein zu
können. Seitdem jedoch Kant die Frage nach der Möglichkeit des
Erkennens an die Spitze der Philosophie gestellt hat, sind alle Philo-
sophen darin einig, dass, wenn es ein erkennbares Reales giebt, die
Uebertragung unserer Denkformen und Gesetze auf dasselbe durch
dessen Natur auch gerechtfertigt sein muss. Dies heisst aber nichts
Anderes, als dass in irgendwelchem Sinne eine Gleichartigkeit des
Denkens und Seins vorhanden sein muss, denn sonst würde sich unser
Bewusstsein ganz umsonst bemühen, einen Strahl des Realen in seinem
Spiegel aufzufangen. Eine Beziehung zwischen dem Ideellen und
Realen ist nur möglich, wenn beide in einem gewissen Punkt zu-
sammenstimmen. Dies kann aber nur im Logischen sein, das als
solches ebenso am Realen, wie am Ideellen teilnimmt.
Der Thelismus, der das Reale .als reinen Willen auffasst und
die Vorstellung für ein blosses Accidenz und Produkt des Willens
hält, übersieht, dass er von einem solchen Realen gar keine Erkennt-
nis haben könnte. Der Wille soll nach ihm das Gegenteil des Lo-
gischen, und doch soll die Logik zugleich imstande sein, das Alogische
und Antilogische in ihre Form zu giessen! Die Willensmetaphysik
13*
196 Das Sein des Ich.
eines Schopenhauer rühmt sich ihrer üebereinstimmung mit dem
kantischen Kritizismus, sie umgiebt sich, wie bei Wundt, mit dem
ganzen umständlichen Apparate der modernen Erkenntnistheorie und
Logik, aber sie selbst wirft die erste und notwendigste Bedingung
alles Erkennens über den Haufen und fUUt in den vorkantischen Dog-
matismus zurück, indem sie sich einbildet, auf der photographischen
Platte des Logischen die Nacht des alogischen Willens fixieren zu
können. Es ist Bahnsens Verdienst, den absoluten Skeptizismus
als die selbstverständliche Konsequenz dieser Ansicht erwiesen zu
haben. Nachdem aber einmal die „Realdialektik" ihr Urteil an der
abstrakten Willensmetaphysik vollstreckt hat , sollte es nachgerade
allgemein anerkannt sein, dass der Wille nur durch seine eigene logische
Bestimmtheit, nur durch die Vorstellung, als inhaltliche Erfüllung des
an sich bloss formalen Willens, ein Gegenstand unserer Erkenntnis
sein kann. —
Wie nun? Oben erklärten wir die Vorstellung für ein Produkt
aus Empfindungen und Gefühlen und bestimmten das Gefühl als
AfFektion des Willens. Und jetzt soll die Vorstellung auf einmal die
Bestimmtheit des Willens und soll sie folglich das Prius des Gefühles
sein? Oben leiteten wir den Inhalt der Vorstellung aus intensiven
Gefühlsunterschieden ab. Und doch sollen nach unserer jetzigen Aus-
einandersetzung die erwähnten Unterschiede des Gefühles durch den
Reichtum der Vorstellung an Momenten bedingt sein? Das kann
offenbar nur dann kein Zirkel sein, wenn der Vorstellung in beiden
Fällen eine verschiedene Bedeutung zukommt.
Nun ist, wie wir gesehen haben, der Wille nur insofern das
Substrat und die schöpferische Ursache des bewussten Innenlebens,
als er selbst ein unbewusster Wille ist. Er könnte aber nicht Ur-
sache der bewussten Vorstellung sein, wenn die Vorstellung, die ihn
selbst bestimmt, als solche schon ein Inhalt des Bewusstseins wäre.
Der Wille ist an sich stets unbewusst. Das Prädikat der Bewusst-
heit bezieht sich folglich immer nur auf die bestimmende Vorstellung
desselben. Wenn nun die bewusste Vorstellung durch Vermittelung
der synthetischen Thätigkeit des Willens aus Empfindungen und Ge-
fühlen entstanden ist, und wenn diese letzteren bestimmte Empfin-
dungen und Gefühle nur als der Ausdruck eines bestimmten Willens
sind, so kann folglich die Bestimmung dieses ursprünglichen produk-
tiven Willens nur eine unbewusste Vorstellung sein.
Diese Folgerung ist so selbstverständlich, dass spätere Geschlechter
den Widerstand der heutigen Philosophen gegen die Anerkennung
der unbewussten Vorstellung schwer begreifen werden. Eine Zeit,
Das reale Sein. 197
die, wie die unsrige, unter dem Einfluss der positivistischen Denk-
weise ihren Blick, wie nie zuvor, geschärft hat für das, was den that-
sächlichen Inhalt unseres Bewusstseins bildet und was zu diesem in-
stinktiv hinzugedacht ist, eine solche Zeit vermag sich freilich der
Einsicht nicht zu verschliessen, dass der Wille sich als solcher nicht
im Bewusstsein fijidet. Dass aber ein unbewusster Wille einen
bestimmten Bewusstseinsinhalt nur setzen kann, wenn er selbst
ein bestimmter Wille ist, und dass die Bestimmtheit des an sich
unbewussten Willens nur eine unbewusste Vorstellung sein kann,
diese Folgerung weigert man sich entschieden, zu ziehen. Man macht
dem Materialismus mit Recht zum Vorwurf, dass er sich einbildet,
aus der blossen Bewegung rein stofflicher Atome den ganzen inner-
lichen Reichtum der Geisteswelt erklären zu können. Aber dass der
„vorstellungslose blinde Drang", die Heftigkeit des plan- und ziellosen
Vorwärtsstrebens imstande sein müsse, sein gerades Widerspiel, die
stille, sanfte und bestimmte Vorstellung zu produzieren, das hält man
für eine ganz natürliche Sache. Und doch, welche Veranlassung sollte
der blosse unbestimmte Wille haben, überhaupt etwas Bestimmtes zu
produzieren, und wie kann es eine Mehrheit von Willensfunktionen
geben, ausser wenn jede einzelne von ihnen schon an sich selbst be-
stimmt ist? Solange daher die voluntaristische Philosophie nicht ge-
zeigt hat, wie ein einziger Wille für sich selbst allein schon produktiv
sein kann, und wie verschiedene Willensfunktionen sich anders als
durch ihre verschiedenen Vorstellungen unterscheiden können, solange
bewegt sie sich in dem fehlerhaften Zirkel, die Vorstellung aus Fak-
toren abzuleiten, die selbst nur erst durch ihre Vorstellungen wirk-
lich sind.
Der Wille muss bestimmt sein, um produktiv sein zu können,
und er muss ein unbewusster Wille sein, um Produzent der bewussten
Vorstellung sein zu können. Die Bestimmung des unbewussten pro-
duktiven Willens aber kann nur die unbewusste Vorstellung sein.
Man kann dieser Folgerung dadurch nicht ausweichen , dass
man die unbewusste Vorstellung für eine bloss relativ unbewusste,
die nur für unser jeweiliges Grosshirnbewusstsein unbewusst ist, er-
klärt. Denn es handelt sich hier ja garnicht darum, wie die höheren
aus niederen Bewusstseinselementen hervorgehen, sondern darum, wie
überhaupt eine Vorstellung entstehen kann aus etwas, was selbst das
gerade Gegenteil aller Vorstellung ist. Die voluntaristische Philo-
sophie behauptet nur so einfach, dass die Vorstellung aus dem vor-
stellungslosen Willen hervorgehe. Sie gefällt sich in phantasievollen
Erzählungen von jenem blinden Drange, der sich trotzdem auf ein
198 I^AB Sein des Ich.
bestimmtes Ziel hinbewegt, und welchem in der aufsteigenden Reihe
der biologischen Entwickelung die Intelligenz „allmälich anwächst" ^
Das wird man jedoch solange als ein reines Märchen betrachten
dürfen, als die Möglichkeit einer solchen Entwickelung nicht näher
aufgezeigt ist, und man wird annehmen dürfen, dass die voluntaristi-
schen Philosophen nur deshalb über die Sache so. unbefangen reden,
weil sie im Geheimen beständig den produktiven unbewussten Willen
mit unserer Vorstellung vom Willen verwechseln. Die Gegner der
unbewussten Vorstellung nennen diese einen „widerspruchsvollen Be-
griff". Soweit sie jedoch Voluntaristen sind, lässt dieser Einwand
sich ihnen mit dem gleichen Rechte zurückgeben: nicht jener Begriff
enthält einen Widerspruch, wohl aber die Theorie eines ursächlichen
Willens, der das Gegenteil seiner selbst aus sich hervorbringt.
Man hat gegen die unbewusste Vorstellung auch eingewendet,
dass sie bloss ein Ergebnis unseres reflektierenden Denkens sei. Selbst
Göring, der, wie wir früher gesehen haben, den Willen nur als un-
bewussten gelten lässt, glaubt die unbewusste Vorstellung aus jenem
Grunde abweisen zu müssen. Als ob er nicht auch die Existenz des
Willens nur erschlossen und durch ein „abstrakt logisches Räsonne-
ment" erkannt hat! Als ob nicht überhaupt die Existenz eines von
unserem Bewusstsein verschiedenen Realen nur durch logische Schluss-
folgerungen zu beweisen sei! Es ist ja auch nur eine „Möglichkeit",
dass ein Wille existiert, da wir im Bewusstsein einen solchen nicht
entdecken können. Allein darum ist es doch keine „leere" Möglich-
keit«, weil wir ohne jene Annahme eines ursächlichen Willens auch
den Inhalt unseres Bewusstseins nicht erklären können. Die unbe-
wusste Vorstellung ist eine Hypothese, so gut wie der unbewusste
Wille. Aber diese Hypothese ist durch die Erwägung gefordert, dass
erst die konkrete Bestimmtheit des Willens den letzteren zur Ursache
des konkreten Bewusstseinsinhalts macht ^.
Woran liegt es denn nun, dass unsere modernen Philosophen so
wenig von der unbewussten Vorstellung wissen wollen? Sagen wir
es kurz; der .tiefste und vielleicht einzige Grund für diese Gegner-
schaft ist lediglich in dem alten Glauben an die Wahrheit des Cogito
ergo sum zu suchen. Es ist nur die Verwechselung des Ideellen mit
dem Realen, das Vorurteil, als ob das Bewusstsein als solches ein
Reales sei, welches jene Philosophen davon abhält, die Vorstellung
als wirklich anzusehen, wenn sie ausser dem Bewusstsein ist, die sie
^ Vgl. Pauls en: „Einleitung in die Philosophie", S. 118 ff.
3 Vgl. Göring: a. a. 0. S. 184 ff.
Das reale Sein. 199
sonst nur gewohnt sind, als Inhalt des Bewusstseins zu betrachten.
Sie meinen, es sei der Vorstellung wesentlich, ein Inhalt des Be-
wusstseins zu sein, weil sie im Stillen das Bewusstsein für den realen
Träger halten, durch welchen die Vorstellung hervorgebracht wird.
Sie bedenken nicht, dass das Bewusstsein nur eine blosse Form ohne
Aktivität und Produktivität ist und dass, wenn es sich um ein Tragen
und Produzieren handelt, die Vorstellung sich hierzu viel eher eignet
als der blosse Schatten des Bewusstseins. Wir, die wir gerade in
der Entthronung des Cogito ergo sum die Bedingung einer neuen
und fruchtbaren Weltanschauung erblicken, wir fühlen uns damit auch
der Hochachtung enthoben, welche die Philosophie seither der ab-
strakten Form des Bewusstseins gezollt hat. Wir erblicken gerade
umgekehrt die Wahrheit darin, dass die Vorstellung aus ihrem bis-
herigen Dienstverhältnis zum Bewusstsein losgelöst und selbst auf
dessen leer gewordenen Thron gesetzt wird: Die Vorstellung aber,
als Produzent und Herrscher des Bewusstseins, ist eben die unbe-
wusste Vorstellung.
Von allen Gegnern der unbewussten Vorstellung sind die Psy-
chologen die weitaus zahlreichsten und heftigsten, zumal wenn sie sich
empirische und exakte Psychologen nennen. Das scheint nicht gerade
zu Gunsten jenes Begriffe zu sprechen, denn wenn es hierüber kom-
petente Richter giebt, so müssten es, sollte man denken, die Psycho-
logen sein.
Es ist Aufgabe der Psychologie, die Gesetze der inneren Er-
scheinungswelt zu untersuchen, so wie die Aufgabe der Naturwissen-
schaft darin besteht, der äusseren Erscheinungswelt und ihren Ge-
setzen nachzuforschen. Nun hängt der Erscheinungscharakter der psy-
chischen Gebilde, wie wir gesehen haben, an der Form des Bewusst-
seins, und also reicht das Gebiet des Psychologischen genau so weit,
wie die Grenzen des Bewusstseins. Die unbewusste Vorstellung ist
sonach gar kein psychologischer Begriff: über seine Berechti-
gung oder Nichtberechtigung kann folglich auch die Psychologie kein
entscheidendes Urteil fällen.
Offenbar ist dies der Grund, warum vor allem die Psychologen
jenen Begriff bekämpfen. Die Anerkennung der unbewussten Vor-
stellung enthält das Eingeständnis, dass die Psychologie den Umfang
des Psychischen nicht erschöpft. Davon mögen indess die Psychologen
ebensowenig etwas hören, wie die Naturforscher zugestehen mögen,
dass die Natur noch etwas mehr sei als bloss diese Aeusserlichkeit
von mechanisch durcheinander wirbelnden Stoffelementen. Die Natur-
wissenschaft zergliedert die äusserlichen Phänomene und findet als
200 Das Sein des Ich.
ihre letzten Bestandteile die Atome. Ebenso zergliedert die Psycho-
logie die seelischen Gebilde und begreift sie als Produkte und Synthesen
aus Elementargefuhlen. Ob aber die Elementargefuhle und Atome
überhaupt ein Letztes sind, und was sie ihrem eigentlichen Wesen
nach sind, das bleibt für beide Wissenschaften eine offene Frage.
Die unbewusste Vorstellung ist ein metaphysischer Begriff.
Ihn ohne Weiteres abweisen kann folglich nur, wer in Atomen und
Gefühlen die letzten Prinzipien des Seins schon zu besitzen glaubt.
Das ist aber nur der Materialismus und Positivismus. Wer dagegen
jene beiden Elementarbestandteile der äusseren und inneren Welt für
blosse Erscheinungen eines Seins und demgemäss Naturwissenschaft
und Psychologie für blosse empirische Wissenschaften hält, die über
das metaphysische Wesen der Realität als solches nichts bestimmen,
der darf auch die unbewusste Vorstellung nicht deshalb verwerfen,
weil diese natürlich in der psychologischen Erfahrung unmittelbar
nicht vorkommt. —
Wenn es nach unserer früheren Auseinandersetzung schon nicht
möglich ist, was überhaupt eine Vorstellung ist, mit Worten aus-
zudrücken, wie viel schwieriger muss es sein, einen Begriff von der
unbewussten Vorstellung zu geben, wovon wir uns auch nicht, wie
von der bewussten Vorstellung, durch den Akt des Vorstellens selbst
eine Erkenntnis verschaffen können! Die unbewusste Vorstellung ist
ein bestimmt-ideales Gebilde, wie die bewusste Vorstellung, und wir
nennen sie „Vorstellung" wegen dieser Bestimmtheit. Wie aber jene
an sich ist, und wodurch sie sich von der bewussten Vorstellung
unterscheidet, das können wir nur indirekt durch Vergleichung mit
der letzteren bestimmen und müssen es dem spekulativen Vermögen
jedes Einzelnen überlassen, die verschiedenen Bestimmungen zu einem
Gesamtbilde zusammenzufügen. Dass dies nicht jedem möglich ist,
ist ohne Zweifel ein Grund mehr, warum man die unbewusste Vor-
stellung leugnet, und zwar um so entschiedener leugnet, je geringer
das eigene spekulative Vermögen ist.
Es ist hier jedenfalls der Punkt, wo das philosophische Denken
und die künstlerische Gestaltungskraft sich berühren. Um sich einen
Begriff von der unbewussten Vorstellung zu verschaffen, bedarf es
nicht weniger einer synthetischen Produktivität, wie dazu, die Idee
eines Kunstwerks zu konzipieren. Insofern hatte Schelling ganz
Recht, von einem besonderen „Organ" des Philosophierens zu sprechen.
Das Wesen der Spekulation beruht eben nur in der Fähigkeit, die
zerstreuten Momente in Eins gleichsam zusammenzuschauen. Man muss
sich nur hüten, was Schelling nicht gethan hat, den Begriff der
Das reale Sein. 201
unbewussten Vorstellung, wie er in unserem Bewusstsein ist, mit
dieser selbst für identisch zu halten, während er doch nur ihr sub-
jektives Abbild oder Zeichen ist, dessen indirekte Beschaffenheit
sich deutlich genug in seiner grösseren oder geringeren Abstraktheit
äussert.
Die bewusste Vorstellung ist, wie gesagt, das Integral aus den
Empfindungen und Gefühlen derjenigen Nerven- und Gehirnbestand-
teile, die bei ihrer Entstehung beteiligt sind. Daraus ergeben sich
alle Merkmale, wodurch sich die unbewusste von der bewussten Vor-
stellung unterscheidet.
In dieser nämlich sind die konstituierenden Faktoren als einzelne
ausgelöscht, und das Resultat ist ein einfacher Gesammteindruck, etwa
wie in der grünen Farbe des Malers sich Gelb und Blau zu einem
einfarbigen Gemisch vereinigt haben. Die unbewusste Vorstellung
dagegen hält in der Einheit ihres Zweckes nicht allein die Vielheit
und Mannigfaltigkeit der inneren Momente, und zwar in ihrer Eigen-
tümlichkeit fest, sondern sie schliesst ausserdem noch den ganzen
Reichtum von logischen und teleologischen Beziehungen in sich, wo-
durch jene Momente unter einander verbunden und sie selbst eben
diese bestimmte Vorstellung ist. Die bewusste Vorstellung also ist
trotz ihrer eigenen Bestimmtheit abstrakt im Vergleich mit der Viel-
heit ihrer inneren Momente; die unbewusste Vorstellung dagegen ist
die konkrete Totalität derselben, worin jedes seine ihm zukommende
Stellung bewahrt. Die bewusste Vorstellung ist hervorgegangen aus
Faktoren, die den zeitlichen Schwingungen der nervösen Bestandteile
im Gehirn entsprechen, sie ist mithin durch und durch zeitlich be-
dingt. Die unbewusste Vorstellung ist als solche ausser aller Zeit
und wird erst durch den sie realisierenden Willen in den zeitlichen
Prozess hineingerissen. Wenn folglich die inhaltlichen Momente der
bewussten Vorstellung nur nach einander von der Reflexion durch-
laufen werden können, so schaut das unbewusste Denken die Gesammt-
heit seiner Momente, wie in einem Augenblick, zusammen: es ist
intuitiv, wohingegen das bewusste Denken seiner zeitlichen Ge-
bundenheit wegen bloss diskursiv ist. Die Reflexion vermag aus
der bewussten Vorstellung durch ihr analytisches Verfahren nicht mehr
herauszuholen, als was die unbewusste Geistesthätigkeit vorher syn-
thetisch in sie hineingelegt hat. Die unbewusste Vorstellung schliesst
die ganze Fülle aller möglichen Bestimmungen und ihrer Verknüpfungen
in sich, um diese am Leitfaden der logischen Notwendigkeit bei Ge-
legenheit ihrer Realisation durch den Willen zu entfalten. Jene gleicht
daher nach Schopenhauers Ausspruch einem „toten Behältnis", das
202 Das Sein des Ich.
immer nur einer bestimmten Anzahl von Momenten Raum giebt; diese
dagegen einem „lebendigen, sich entwickelnden, mit Zeugungs-
kraft begabten Organismus", deren Produktivität nur zugleich
mit ihrem Willen aufhört. Jene bedarf einer neuen Zufuhr von aussen
■
(durch Empfindungen), um mit neuem Inhalt erfüllt zu werden, und
eines neuen Aktes der unbewussten Geistesthätigkeit, um zu neuen
Bestimmungen sich fortzuentwickeln. Diese trägt, wie gesagt, ihren
ganzen Reichtum in sich, und alles, was sie an neuen Inhalten setzt,
sind immer nur ihre eigenen Bestimmungen.
Die unbewusste Vorstellung also ist universell, wohingegen
die bewusste Vorstellung stets individuell ist. Die letztere kann
in ihrer Beimischung von subjektivem Gefühlsinhalte ihre Abstam-
mung aus Elementargefühlen nicht verleugnen. Die erstere ist das
Prius des Gefühls und ist daher auch durch und durch objektiv.
Spiegelt die bewusste Vorstellung in Folge ihrer sinnlichen Vermitte-
lung das Seiende nur als Erscheinung wieder, so spiegelt die un-
bewusste Vorstellung überhaupt nichts wieder, sondern sie ist das
Seiende selbst, nur freilich nicht das ganze Seiende, sondern nur
die eine ideale Seite desselben, deren andere reale Seite der Wille
ist. Von der unbewussten Vorstellung kann man daher auch sagen,
dass sie die Dinge an sich selbst erkenne. Die bewusste Vorstellung
ist sinnlich, die unbewusste Vorstellung jedoch ist übersinnlich.
Jene ist aus der Reaktion des Willens gegen die Gehirnschwingungen
entstanden und also reflexiv. Diese geht aller Reaktion voran und
bestimmt durch ihren Inhalt den Willen zur Produktion der bewussten
Vorstellung, ist sonach produktiv. Jene ist passiv, als Produkt,
diese ist aktiv, als bestimmendes Prinzip des Willens. Fassen wir
alle diese Bestimmungen zusammen, so ist mithin die unbewusste Vor-
stellung die Einheit des Allgemeinen und Besonderen, der Vielheit
und der Einzelheit, des Begriffs und der Anschauung, des Ideellen
und Realen. Mit anderen Worten: die unbewusste Vorstellung ist
intellektuelle Anschauung, die aber eben deshalb niemals unsere
Anschauung sein kann, sie ist dasselbe, was Plato, Schelling und
Hegel die „Idee" genannt haben.
Nunmehr wird es deutlich, was wir unter dem Realen zu ver-
stehen haben. Der unbewusste Wille, sagten wir, ist das reale Sub-
strat- der psychischen Gebilde, jedoch nur, sofern er ein bestimmter
Wille ist. Die Bestimmtheit des unbewussten Willens aber ist die
unbewusste Vorstellung. Unbewusster Wille und unbewusste Vor-
stellung im Verein stellen mithin die Wurzel desjenigen dar, wovon
das Bewusstsein und sein Inhalt gleichsam nur die Blüte bildet. Wenn
Das reale Sein. 203
wir bisher jene beiden Faktoren von einander unterschieden haben,
so konnte dies nur in der analysierenden Reflexion geschehen. Der
Wirklichkeit nach stellen beide eine unauflösliche Einheit dar und
sind nur als Momente des konkreten inhaltlich bestimmten Willens,
indem sie sich wechselseitig tragen und bedingen, das wurzelhafte
Prinzip des bewusst-psychischen Seins. Das Reale ist also nicht etwas
Stoffliches, wie der Materialismus meint, denn der Stoff ist bloss eine
subjektive Vorstellung in unserem Bewüsstsein. Es ist auch nicht,
wie Descartes und im Anschluss an ihn Berkeley, Leibniz (und
Kant) behauptet haben, das substantiell und produktiv gedachte Be-
wüsstsein selbst, denn dieses ist bloss eine begriffliche Abstraktion ohne
alle Aktivität und Substantialität. Das Reale ist ferner auch nicht
die absolute Idee Schellings und Hegels, noch der absolute Wille
Schopenhauers, noch endlich der individuelle Wille Wundts und
Bahnsens, denn diese alle sind, sofern sie als bewusste gedacht sind,
bloss ein Ideelles, sofern sie aber als unbewusste vorgestellt werden,
doch höchstens nur eine Seite des Realen. Das Reale dagegen ist
der durch die unbewusste Vorstellung bestimmte unbewusste Wille
oder es ist die Einheit des unbewussten Willens und der un-
bewussten Vorstellung, in welcher diese nur die beiden Seiten
desselben konkreten Ganzen bilden.
Es ist unmöglich, dies Verhältnis des unbewussten Willens zur
unbewussten Vorstellung treffender zu charakterisieren, als es Eduard
von Hartmann gethan hat. „Die Vorstellung", sagt er, „ist be-
stimmt, aber ohne eigene Realität und ohne die Fähigkeit, ihre
ideelle Bestimmtheit von sich aus zu realisieren ; das Wollen ist diese
Fähigkeit, einen Inhalt zu realisieren, die aber ohne ideellen In-
halt nicht zur Bethätigung gelangen kann. Die unbewusste Vor-
stellung ist auch Thätigkeit, insofern sie den jeweiligen Willensinhalt
den Umständen gemäss nach logischer Gesetzmässigkeit modifiziert;
aber so ist sie bloss eine rein ideale Thätigkeit. Das Wollen ist
realisierendeThätigkeit, vorausgesetzt, dass ihm die ideale Thätig-
keit vorarbeitet und einen Inhalt zum Realisieren giebt. Erst die
Einheit beider Thätigkeiten, der idealen und der realisierenden, ist
reale Thätigkeit, aber nur weil und sofern sie ideale und reale in
Einem ist^" —
Von hier aus fallt nun auch Licht auf die gewöhnliche sogenannte
Theorie der menschlichen „Seelenvermögen".
Versteht man unter Vermögen diejenigen wurzelhaften Thätigkeiten
^ V. Hart mann: Preussische Jahrbücher Bd. 66 Hft. 2.
204 Das Sein des Ich.
unserer Seele, woraus alle übrigen psychischen Gebilde sich entwickeln,
so giebt es nämlich nur zwei Vermögen: den unbewussten Willen
und die unbewusste Vorstellung. Beide sind gleich ursprünglich, und
gleich einfach und lassen sich nicht auf eine dritte Thätigkeit oder
aber auf einander zurückführen. Verstellt man dagegen unter Ver-
mögen die seelischen Gebilde, soweit sie sich durch ihre charak-
teristischen Verschiedenheiten dem Bewusstsein aufdrängen, so ist die
übliche Dreiteilung in Vorstellungs-, Gefühls- und Willenselemente
wohl annehmbar, man muss sich nur gegenwärtig halten, dass erstens
diese Dreizahl eben nur für die bewussten Elemente gilt, dass zweitens
der Wille in diesem Sinne nur der subjektive Repräsentant des eigent-
lichen unbewussten Willens ist und daher sich zu den beiden übrigen
Elementen wie ein Ideelles zum Realen verhält, und drittens dass die
bewusst-psychischen Gebilde überhaupt keine Vermögen und Elemente
im realen Sinne, sondern blosse passive Produkte und Erscheinungen
sind, die mit fliessenden Grenzen in einander übergehen.
Die ältere populäre Psychologie betrachtete jene verschiedenen
Klassen als gleichberechtigt und sah in ihnen gleich ursprüngliche
Gebilde. Die neuere Psychologie hat sich gewöhnt, eine Rangordnung
unter ihnen anzunehmen und die einen aus den anderen abzuleiten.
Auf dem Standpunkte der gewöhnlichen Psychologie, die alles Psychische
nur als bewusstes kennt, eignet der Wille sich jedenfalls am wenigsten
dazu, an den Anfang der psychischen Entwickelung gestellt und
als Wurzel und Kern aller übrigen Gebilde angesehen zu werden.
Denn der bewusste Wille ist, wie gesagt, bloss unser Begriff des
Willens, gehört also, streng genommen, mit zu den Vorstellungsele-
menten des bewussten Seelenlebens und kann nicht früher als die
Vorstellungen und Gefühle sein, woraus er selbst erst abgezogen ist.
Es ist daher nur ein Missverstehen ihrer eigenen Ansicht und ein
offenbarer Widerspruch gegen ihr Prinzip, wenn voluntaristische
Psychologen, wie Wundt und Paulsen, ihre Augen krampfhaft gegen
den Begriff der unbewussten Geistesthätigkeit verschliessen und diese
höchstens als unterbewusste gelten lassen.
Wohl aber ist auf dem Boden des bewussten Seelenlebens das
Gefühl jenes Ur- und Grundelement, das den Baustein unserer Vor-
stellungen und bewussten Willensakte darstellt. „Im Gefühl dringen
wir bis zu der tiefsten Tiefe des psychischen Lebens vor, soweit als
überhaupt empirisch vor- und eingedrungen werden kann ^ . " Wenn
es sich also darum handelt, sich selbst im Centrum zu erfassen, so
» Th. Ziegler: Das Gefühl (1893) S. 320.
Das reale Sein. 205
kann dies nur im Gefühle geschehen, denn dieses ist gleichsam das
Knochengerüste unseres seelischen Daseins und verleiht allen übrigen
Inhalten unseres Bewusstseins erst Wert und Bedeutung. Sahen wir
doch, dass alle bewusst-psychischen Gebilde nur Umformungen und
Integrationsprodukte aus Gefühlen auf Grund der synthetischen Thätig-
keit unserer Seele waren! Darum war es von Seiten Jacobis und
Schleiermachers ganz berechtigt, der intellektuellen Anschauung
des absoluten Idealismus gegenüber auf die substantielle Beschaffen-
heit des Gefühls hinzuweisen. Ein Irrtum war es nur, wenn diese
Philosophen glaubten, im Gefühl ein realeres Sein erfasst zu haben,
als die absolute Idee repräsentirt. Denn real im Sinne der Selb-
ständigkeit und Ursächlichkeit ist das Gefühl so wenig, wie die Idee,
sofern sie Inhalt unseres Bewusstseins ist. Wie die bewusste Idee
das Abbild oder der subjektive Repräsentant der einen Seite am
Realen, so ist das Gefühl nur der Ausdruck oder das Zeichen für
die andere; es ist ein Anzeichen von Realität, aber nicht selbst
etwas Reales. „Gefühl", sagt J. H. Fichte, „drückt überhaupt nur
aus die subjektive Wertbestimmung, welche ein Bewusstseinszustand
für den Geist besitzt; es entspringt aus der Förderung oder der
Hemmung irgend eines im objektiven Wesen unseres Geistes liegenden
Triebes und ist nichts Anderes als das unwillkürlich entstehende
Bewusstsein dieses Doppelverhältnisses ^." „Freilich haben wir im
Bewusstsein als das Elementarste die Gefühle, aber dies darf nicht
dazu verleiten, dieses Verhältnis auch auf die objektive Natur der
Gefühle zu übertragen. Objektiv sind sie Wirkungen eines Willens,
von dessen Vorhandensein wir überhaupt erst durch die Gefühle
mittelbar unterrichtet werden^.** Gefühl also ist bloss der Zustand
eines realen Seins; dasjenige aber, was diesen Zustand hat, ist die
Einheit des unbewussten Willens und der unbewussten Vorstellung,
die ihrer Natur nach niemals Inhalt des Bewusstseins werden kann.
Hiemach ist es ganz richtig, wie die intellektualistische Psycho-
logie dies thut, den (bewussten) Willen aus der (bewussten resp. un-
bewussten) Vorstellung abzuleiten (Hegel, Herbart). Allein es ist
ebenso richtig, mit der voluntaristischen Psychologie die (bewusste)
Vorstellung auf den (unbewussten) Willen zurückzuführen (Schopen-
hauer, Wundt). Es ist richtig, das Gefühl als Affektion des (un-
bewussten) Willens anzusehen. Allein der (bewusste) Wille ist nichts
destoweniger das Posterius des Gefühls, als dessen Ursache er vorgestellt
* J. H. Fichte: Psychologie I S. 197.
- Göring: a. a. O. S. 103.
206 I)m Sein des Ich.
wird. Die Gefühlspsychologie hat ganz Recht, die (bewusste) Vor-
stellung in Elementargefühle aufzulösen. Allein auch die Vorstellungs-
psychologie hat Recht, die Unterschiede des Gefühles aus Unterschieden
der (unbewussten) Vorstellungen herzuleiten. Man versteht so, wie
die Psychologen zu so wiederspruchsvoUen Ansichten gelangen
konnten. Alle entgegengesetzten Behauptungen, welche die Psychologie
über das Verhältnis der seelischen Elementarbestandteile bisher aufge-
stellt hat, entspringen nur aus ihrer Unkenntnis und Nichtberück-
sichtigung des unbewussten Seelenlebens, stellen sich jedoch sofort
als einstimmig heraus, sobald man, wie es hier geschehen ist, zwischen
den unbewussten und bewussten Faktoren genauer unterscheidet.
Grundfalsch ist es nur, Gefühl und bewusste Vorstellung für Er-
scheinungen des bewussten Willens auszugeben, grundfalsch auch,
den Willen und die Vorstellung in abstrakter Isoliertheit für produktive
Elemente der seelischen Erscheinungen zu halten.
Damit ist nun das metaphysische Fundament der Psychologie
gelegt, metaphysisch aus dem Grunde, weil alle Aktivität (des un-
bewussten Willens und der unbewussten Vorstellung), wodurch die
seelischen Gebilde in uns zustande kommen, als solche vor und jen-
seits der Erfahrung liegt. Es bleibt jener Wissenschaft selbst vor-
behalten, zu untersuchen, wie aus der unbewussten Geistesthätigkeit
der ganze Inhalt des bewussten Geistes emporwächst, in welchen
Beziehungen die psychischen Gebilde zu einander und rückwärts
wieder zu ihrer ernährenden Wurzel stehen, welche Gesetze sie in
ihrem Ablauf befolgen, und durch welche Stufen das höhere Gebilde
sich aus dem niederen entwickelt u. s. w. Freilich ist es für die
Psychologie „nicht ohne Misslichkeit", ihre eigentliche Erklärung und
ihre wesentliche Hülfe bei einer Voraussetzung holen zu müssen, die
jenseits ihres eigenen Gebietes und noch dazu in einer Sphäre liegt,
woran man wegen der in ihr herrschenden Dunkelheit und Unbequem-
lichkeit am liebsten scheu vorüberschleichen möchte. Es ist zumal
für den „empirischen" Psychologen fatal, von seiner Wissenschaft
eingestehen zu müssen, dass dieselbe an keinem Punkte bis zum
wirklichen Geschehen vordringt, indem sie in den einfachsten Be-
wusstseinselementen doch höchstens nur das passive Material aufzuzeigen
vermag, woraus erst die unbewusste Geistesthätigkeit die psychischen
Gebilde herstellt. Sie findet im Gebiete des Bewusstseins überall nur
gleichsam die toten Spuren auf, die der Schritt eines unbekannten Wesens
darin zurückgelassen, das Schreiten selbst jedoch bleibt ihr
gänzlich verborgen, und sie darf sich nicht verleiten lassen, eine
unmittelbare Erkenntnis gerade dieses wesentlichen Prozesses zu be-
Das ideelle Sein. 207
haupten. Kein Wunder, wie gesagt, dass die empirischen Psychologen
gerade die eifrigsten Gegner des unbewussten Seelenlebens sind!
Trotzdem gereicht es ihrer Wissenschaft nicht zum Vorteil, wenn
man, um jene „Misölichkeit" zu heben, wie Höffding, für eine An-
zahl allgemeiner Bewusstseinserscheinungen ihre Entstehung aus
unbewusster synthetischer Geistesthätigkeit zwar zugiebt, dagegen Be-
denken trägt, die nämliche Erklärung auch bei den speziellen psy-
chologischen Problemen heranzuziehen. Ist alle eigentliche Thötigkeit
der Seele eine unbewusste, so weist auch schon die einfachste psy-
chische Erscheinung über das Bewusstsein hinaus; die Psychologie
aber kann, ebenso wie die Naturwissenschaft, dem Vorwurf des „ deus
ex machina" nicht dadurch entgehen, dass sie überhaupt die Bezieh-
ungen des Empirischen zum Transcendenten leugnet, sondern nur da-
durch, dass sie durch die Ueberzeugung von solchen Beziehungen sich
nicht abhalten lässt, die empirischen Faktoi:en einer Erscheinung in
möglichster Vollständigkeit zu ergründen^. Aber freilich, je grösser
die Vollständigkeit aller empirischen Daten wird, desto näher liegt
es auch, den psychischen Prozess überhaupt für einen bloss em-
pirischen zu halten — als ob die Annahme einer schreitenden Be-
wegung dadurch beseitigt würde, dass die Spuren möglichst dicht
beisammen liegen!
2. Das ideelle Sein.
Das reale Sein, erkannten wir, ist das unbewusste Sein; die be-
wussten Vorstellungen und Willensakte sind, als Produkte aus Ele-
mentargefühlen, nur der blosse Zustand eines Seins. Jene psy-
chischen Gebilde sind mithin, aber sie sind nicht real. Wir können
ihnen die Existenz nicht in jedem Sinne absprechen, aber wir können
sie ihnen doch auch nicht in dem Sinne zusprechen, worin wir sie
von der unbewussten Geistesthätigkeit behauptet haben. Diese Art
mm der psychischen Gebilde, zu sein, bezeichen wir als ideelles
oder als Bewusst-Sein und glauben uns nach der vorangegangenen
Untersuchung imstande, seine Entstehung und seine Beziehungen zum
Realen zu bestimmen.
Das Bewusst-Sein ist eine Wirkung oder Erscheinung des unbe-
wussten Seins. Das letztere aber könnte gamicht erscheinen, wenn
es dazu nicht von aussen veranlasst würde. Denn der unbewusste
Wille will unmittelbar nur den Inhalt seiner Vorstellung, die aber
selbst wieder unbewusst ist. Bekäme also der unbewusste Wille
seinen Willen, d. h. ginge das Setzen seines Inhalts ohne Störung vor
* Höffding: a. a. O. S. 255.
208 Das Sein des Ich.
sich, so könnte immer nur ein Unbewusstes aus dem Unbewussten
resultieren. Empirisch wird diese Erwägung dadurch bestätigt, dass
die Lust, als Befriedigung des Willens, keineswegs unmittelbar ein
Bewusstsein hervorruft, sondern erst durch die Reflexion auf die Un-
lustmomente, durch welche sie hindurchgeht, ein mittelbares Be-
wusstsein von sich konstituiert. Wohl aber kommt die Nichtbefrie-
digung des Willens stets zum Bewusstsein, und dies ist auch ganz
natürlich, wenn man bedenkt, dass die Unlust vom Willen nicht ge-
wollt sein, nicht von ihm selbst unmittelbar ausgehen kann und
dennoch von ihm gesetzt sein muss, weil ohne ihn überhaupt keine
Existenz gesetzt wird. Das Bewusstsein beruht sonach auf einer
Störung des an sich unbewussten Willens, auf einem Widerstände,
den er bei der Realisation seines unbewussten Vorstellungsinhalts
findet: vorher ein freier und selbstherrlicher Wille, der nur realisiert,
was die unbewusste Vorstellung ihm als Inhalt bietet, unterliegt er
jetzt dem Zwange, zu wollen, was er nicht will, einen Inhalt zu
setzen, der nicht der seine ist, ein Sein zu produzieren, das kein
Unbewusst-Sein ist, und dies nicht reale, aber doch seiende Sein,
dies ist das Ideelle oder das Bewusst-Sein.
Dass es sich bei der Entstehung des Bewusstseins um eine Hem-
mung der ursprünglichen seelischen Thätigkeit und die Reaktion
gegen eine Störung von aussen handelt, dies hatte auch J. G. Fichte
im Auge, wenn er mit Uebertragung des psychischen Vorgangs in
ein vom Räume hergenommenes Bild eine aus sich herausgehende und
eine in sich zurückkehrende Handlung annahm und das Bewusstsein
als Produkt einer produktiven und reflexiven, einer centrifugalen und
centripetalen Thätigkeit konstruierte. Sehr gut hat E. v. Hartmann,
ohne das Gebiet des Psychischen zu verlassen, das Bewusstsein „die
Stupefaktion des Willens über die von ihm nicht gewollte und doch
empfindlich vorhandene Vorstellung" genannt ^
Worauf es wesentlich ankommt, ist, dass der Wille den ihm auf-
gedrängten Inhalt nicht will und ihn doch wollen muss, dass er ihn
negiert und trotzdem zugleich und in demselben Akt ponieren muss.
Dieser Widerspruch zwischen Nein und Ja macht recht eigentlich das
Wesen des Ideellen aus und spiegelt sich in seinem Schweben
zwischen Sein und Nichtsein wieder. Darum erscheint uns der
blosse Bewusstseinsinhalt als ein so Flüchtiges und Vergängliches, so
geradezu Unwirkliches und Scheinhaftes gegenüber dem soliden Boden
des Realen, dass wir niemals in ihm befriedigt ruhen können und
* V. Hartmaun: Philosophie des Unbewussten, II, S. 33.
Das ideelle Sein. 209
doch immer wieder darüber hinaus nach der „wahren Wirklichkeit"
verlangen. Das Ideelle ist eben nur der blosse Schatten des Realen,
weil es zwar vom Willen, als Prinzip der Realität, gesetzt, aber doch
nicht als sein ursprünglicher und angestammter Inhalt gesetzt ist, im
Verein womit er das Reale bildet.
Aus dem Widerspruche also wird das ideelle Sein geboren, aus
der Not des Willens im Konflikte gegen einander prallender Potenzen,
und die Unlust, die, einem Funken gleich, in der Nacht des Unbe-
wussten aufblitzt, ist nur das äussere Zeichen dafür, dass ein Wille
mit sich selbst in Widerspruch geraten ist. Wenn vorher und abge-
sehen vom Konflikt alle inhaltliche Bestimmtheit im Unbewussten
durch die Vorstellung bedingt, der Wille aber nur die Thätigkeit des
Setzens ist, so wird nun mit der Unlust ein Inhalt gesetzt, der nicht
von einem Unterschied in der Vorstellung abhängt, der gleichsam im
ursprünglichen Plan des Willens nicht vorgesehen war und daher wie
ein ungehöriger „Eindringling in den Frieden des Unbewussten", wie
eine Negation der Oekonomie im Reiche des Realen dasteht. Die
Unlust erscheint nun selbst als Widerspruch : als Affektion des Willens,
gehört sie der formalen Willensseite im Realen an und trotzdem ist
sie ein inhaltliches Moment, obwohl sonst aller Inhalt durch die Vor-
stellung bestimmt wird. Die Unlust ist unlogisch und sollte logisch
sein. Dies ist der Grund, warum, wie oben auseinandergesetzt wurde,
das Logische die Affektionen des Willens mit seinem eigenen idealen
Inhalt durchtränkt, aus den Gefühlen Empfindungen, aus den Empfin-
dungen Anschauungen, aus den Anschauungen die objektiven Wahr-
nehmungen und Vorstellungen u. s. w. synthetisch aufbaut. Diese
aufbauende Thätigkeit ist nur die Folge der logischen Seite am
Realen. Unsere Seele ist logisch genötigt, den ganzen Reichtum der
psychischen Gebilde zu entwickeln, weil sie nicht im Widerspruch
beharren kann, in den sie durch die Affektion des Willens geraten
ist, weil dies unlogische Moment am Willen sie veranlasst, ihre eigene
logische Thätigkeit auf dasselbe anzuwenden. Die Objektivität unserer
seelischen Gebilde ist somit der Protest des Logischen gegen das Un-
logische der Unlust: das Logische pumpt gleichsam den subjektiven
Gefiihlsinhalt aus den Affektionen des Willen heraus und überwindet
so fortschreitend den Widerspruch, indem es durch Verknüpfung ihrer
einzelnen Momente die unlogische Gefühlswelt immer mehr zu einer
Welt des logischen Denkens emporläutert, die innerhalb der Sphäre des
Bewusstseins das abbildliche Gegenstück des unbewusstenDenkens bildet.
Man begreift so, dass es unmöglich sein muss, den Inhalt des
ideellen Seins ganz und restlos in logische Momente aufzulösen. Die
Drews. 14
210 Dfts Sein des Ich.
sinnlichen Qualitäten z. B. sind logisch umgewandelte Affektionen des
Willens und lassen sich nicht, wie der absolute Idealismus will, als
blosse Modifikationen des Logischen verstehen. Das Wesen dieser
bestimmten Farbe oder dieses Tones kann nicht auf eine rein logische
Formel gebracht werden; es entzieht sich der Bestimmung des Be-
griffs und ist nur durch die sinnliche Anschauung als solche zu er-
kennen. Aber die ursprünglich unlogische Natur dieser Empfindungen
tritt hier so weit hinter der Arbeit zurück, die das Logische an ihr
vorgenommen hat, dass wir garnicht mehr auf ihre Entstehung aus
Gefühlen reflektieren. Nur bei den untersten Klassen der Empfin-
dungen, den Geschmacks-, Geruchs- und zum Teil auch bei den Tast-
empfindungen überwiegt vielfach der subjektive gefühlsmässige Cha-
rakter die objektive Bestimmtheit derselben und spiegelt sich somit
der unlogische Grund jener Empfindungen im Bewusstsein wieder.
Man begreift aber so auch, wie das Logische durch Umwandlung
und Erhebung jener Aflfektionen in das Gebiet der Vorstellung zur
Freiheit vom Willen gelangen kann. Die unbewusste Vorstellung ist
nur, wie gesagt, sofern sie mit dem unbewussten Willen verbunden
ist: nur getragen, beseelt und bewegt von diesem, kann sie ihren
Inhalt aus sich selbst entfalten. Die bewusste Vorstellung dagegen,
die sich durch Vermittelung des unbewusst Logischen auf dem Boden
der Willensaffektionen erhebt, gelangt eben dadurch zu einer relativen
Selbständigkeit gegenüber dem Willen: sie besteht, auch ohne dass
sie gerade Inhalt eines Willens ist, weil sie diesen gleichsam unter
sich gelassen hat, weil zwischen ihr und dem unbewussten Willen die
passiven Affektionen in der Mitte liegen, und dies ist es, was E.
V. Hartmann treffend „die Emancipation der Vorstellung vom Willen,
die Losreissung derselben von ihrem Mutterboden, dem Willen zu
ihrer Verwirklichung", genannt hat^.
Indessen ist doch jene Selbständigkeit eben nur eine relative,
und das ideelle Sein bleibt ein abhängiges Sein, das ohne das reale
nicht bestehen könnte. Denn der ganze Inhalt des Ideellen baut sich
aus Elementargefühlen auf; die Gefühle aber bleiben dem Willen ver-
haftet, dessen blosse Affektionen sie sind, und bilden somit das un-
zerreissbare Band, das beide Seinsarten, das Ideelle und das Reale,
an einander kettet.
Wie im Bereiche des Realen der unlogische Wille so zu sagen
die feste Unterlage bildet, woran das Logische seine Arbeit des Idea-
lisierens, d. h. des ErfüUens mit logischem Inhalt, vornimmt, so dienen
^ V. Hart mann: a. a. 0., vgl. auch die Anmerkung daselbst.
"
Das ideelle Sein. 211
ihm hierzu im Ideellen jene Affektionen, die von ihm in ein Logisches
verwandelt werden. Darum ist das reale ein aktives Sein, das ideelle
dagegen ein bloss passives Sein, von jenem in dieser Hinsicht so
verschieden, wie die passiven Affektionen des Willens verschieden
von ihrem aktiven Träger sind. Im Ideellen, wie im Realen also ist
der Grund ein dunkler (unlogischer), den das Logische bestrebt ist,
in seinen Teilen zu durchleuchten, nur dass im Realen das Unlogische
ein Selbständiges und gleichsam Substantielles, im Ideellen dagegen
ein bloss Zuständliches ist. Dass mithin das Ideelle ein Sein ist,
liegt, wie überall, an der Unterlage des unlogischen Willens, der hier
sich nur mittelbar in der Gestalt des Gefühles äussert. Dass es kein
reales Sein ist, liegt an der unselbständigen und passiven Form des
Wülens. Dass es aber ein ideelles Sein ist, dies ist in dem Ueber-
gewichte des Logischen, der Idee oder des Idealen über jene Form
begründet, und dieses wieder wird dadurch hervorgerufen, dass nur
der Wille durch den Konflikt in den passiven Zustand versetzt wird,
während die unbewusste Idee nach dem Konflikt ihre logische Akti-
vität zugleich auch auf die passiven Affektionen richtet und damit
zur Herrschaft über den Willen emporsteigt.
Offenbart sich im scheinhaften Charakter des ideellen Seins der
Widerspruch des Willens, woraus dies Sein hervorgeht, so spiegelt
sich im Gefühle der Umstand wieder, dass die Aktion des Willens
hierbei eine Reaktion, ein Zurückweichen des Willens von seinem
ursprünglichen Ziele ist. Nur weil der ganze Inhalt des Ideellen sich
aus Gefühlen aufbaut, in wie abgeblasster und verdünnter Gestalt sie
auch (z. B. in den Vorstellungen) erscheinen mögen, nur darin liegt
jenes nach innen Gekehrtsein, jener reflexive Charakter des Be-
wusstseins begründet, der auch dem abstraktesten Gedanken zukommt.
Dasjenige, worauf sich das Gefühl rückwärts bezieht, ist der
Wille, das thätige Subjekt, das allen Inhalt trägt. Darum ist das
Gefühl der ideelle Ausdruck für das Subjektsein, der Wille aber ist
der Grund der Subjektivität im Ideellen. Indem nun die bestim-
mende Vorstellung des Willens ihre logische Aktivität auf die passiven
Affektionen richtet und diese ihres unlogischen Charakters entkleidet,
so hebt sie zugleich auch die Subjektivität derselben, ihre Rück-
beziehung auf den Willen auf und ist das Prinzip der Objektivität
im Ideellen.
Im Realen also ist die (unbewusste) Vorstellung rein gegenständ-
lich und ruht sie gleichsam in sich selbst, ohne ihre Abhängigkeit vom
tragenden Willen hervorzukehren. Hier sind Subjekt und Objekt
völlig Eins, oder vielmehr dieser Gegensatz ist noch garnicht vor-
14*
212 Das Sein des Ich.
banden, weil Vorstellung und Wille hier noch in absoluter Einheit
sind. Erst im Ideellen treten sie als Verschiedene auseinander, weil
Vorstellung und Wille sich hier als Gegensätze trennen, ohne dass
doch Subjekt und Objekt etwas Anderes als bloss verschiedene Pole
eines und desselben Ideellen wfiren. Das ursprüngliche Gefühl ist der
Indifferenzpunkt, worin jener Gegensatz noch unvermittelt schlummert.
Als Gefühl weist es auf den Willen hin und ist subjektiv. Als be-
stimmtes Gefühl trägt es zugleich den Keim des Objektiven in sich,
weil alle Bestimmtheit des Gefühls in der objektiven unbewussten
Vorstellung begründet ist. Damit dieser Keim ans Licht tritt und
die Blüte sich entfaltet, dazu bedarf es der synthetischen Verknüpfung
verschiedener Elementargefühle unter einander. Und zwar wird die
Blüte um so vollkommener sein und der Gegensatz von Subjekt und
Objekt um so schärfer hervortreten, je mehr solcher Elementargefühle
in die Synthesis hineingezogen werden, je verwickelter sich folglich
die Arbeit des Logischen gestaltet, je mehr Gelegenheit ihm gegeben
ist, seine eigene Natur den unlogischen Affektionen gegenüber zur
Geltung zu bringen. Dies ist der Grund, warum von einem Subjekt
im eigentlichen Sinne, d. h. in klarer Gegenüberstellung gegen das
Objekt, erst auf den höchsten Stufen der Individuation , und auch
hier nur im Zustande der Reife gesprochen werden kann, weil näm-
lich erst die komplizierte materielle Konstitution der höchst organi-
sierten Lebewesen im Reifezustande das geeignete Substrat für das
Logische darstellt, um seine verwickeltsten Synthesen daran vorzu-
nehmen.
Nach dem, was wir früher über die Entstehung der Empfindungen
und Gefühle, als der primitiven Bewusstseinsinhalte, ausgemacht haben^
versteht es sich ja nämlich, dass die materielle Konstitution beim Zu-
standekommen des Bewusstseins nicht bedeutungslos sein kann.
Die Empfindung, sagten wir, entsteht aus der Reaktion, womit
die Seele den äusseren Reiz beantwortet. Wenn nun alle Thätigkeit
der Seele Willensthätigkeit, die Wirkung des Reizes abei' die Schwingung
ist, worin er die Teile des Gehirns versetzt, so muss mit jedem Unter-
schiede* in der Schwingung auch ein Unterschied in der reagierenden
Willensthätigkeit gesetzt sein. Dieser Unterschied ist jedoch nicht
ein freiwillig gewollter, sondern er wird dem Willen von aussen auf-
gedrängt, und darum ist die materielle Schwingung die Ursache
der Nichtbefriedigung des Willens, die Ursache somit auch
für die Entstehung des Bewusstseins. So giebt es kein Be-
wusstsein ohne Materie. Aber die Materie ist nicht, wie der
Materialismus annimmt, die produktive Substanz des Bewusstseins, da
Das ideelle Sein. 213
dies vielmehr die Einheit des unbewussten Willens und der unbe-
wussten Vorstellung ist, sondern sie ist nur die notwendige Be-
dingung desselben, woran sich das Licht des Bewusstseins ent-
zündet und wovon es. in allen Phasen seiner Existenz begleitet ist.
Die Einheit des unbewussten Willens und der unbewussten Vorstel-
lung ist das Prius des Bewusstseins und würde sein, auch wenn
es gar keine Materie gäbe. Um aber bewusster Wille und be-
wusste Vorstellung zu sein, dazu bedarf sie des Konflikts mit der
Materie.
Dass die Wirkung des Willens Gegenwirkung gegen die mate-
rielle Schwingung ist, darauf beruht, wie gesagt, die reine Form des
Bewusstseins als solche. Die Gegenwirkung von Seiten des Willens
ist der Stärke des Reizes und demnach auch der materiellen Schwin-
gung proportional, und dieser entspricht der Grad oder die sogenannte
Helligkeit des Bewusstseins. Was aber den Inhalt des Bewusst-
seins angeht, so wird er durch die Art der Schwingung bedingt, von
der es abhängt, wie der Wille auf die Störung von aussen reagiert;
er kann aber doch nur darum verschieden reagieren, weil er selbst
ein verschiedenartig bestimmter Wille ist.
Demnach haben wir uns den jeweiligen Bewusstseinsinhalt vor-
zustellen als das Resultat eines Kompromisses zwischen der ur-
sprünglich gewollten und der aufgedrungenen Aktion des Willens oder
zwischen seinem eigenen (unbewussten) Vorstellungsinhalt und dem
Inhalt, den er, nur von aussen gezwungen, setzen muss. Bei den
niederen Lebewesen muss dieser Inhalt ärmer sein, weil, entsprechend
ihrer einfacheren materiellen Konstitution, auch die Form der Schwin-
gungen in ihnen nur einfach sein und folglich auch der Wille, der
den materiellen Bestandteilen ihrer Konstitution entspricht, seinem
Inhalte nach nur ein relativ abstrakter sein kann. Die Moneren,
ebenso wie die Moleküle und Zellen im Gehirn, dürften an und für
sich kaum etwas Anderes als dunkle, ganz unbestimmte Unlustgefühle
haben. Denn die logische Bestimmtheit ihres Willens hat noch zu
wenig Gelegenheit, ihren eigenen potentiellen Reichtum den unlogischen
Affektionen des Willens gegenüber zu entfalten. Kompliziert sich
dagegen mit fortschreitender Entwickelung die materielle Konstitution
der Lebewesen, baut sich durch Einordnung der Elementarorganismen
in höhere organische Formen ein abgestuftes Reich von Individuen
auf, und wächst, entsprechend dieser Mannigfaltigkeit von materiellen
Elementen, die Vielheit und Eigenartigkeit ihrer möglichen Schwin-
gungsformen, so nimmt zugleich die Konkretheit der korrespon-
dierenden Willensinhalte zu und gestaltet sich auch der Bewusstseins-
214 ^M Sein des Ich.
Inhalt der Lebewesen immer reicher, auf je höherer Stufe der Indi-
vidualität sie stehen. —
Die gemeinsame materielle Unterlage aller Schwingungen, worin
sie am Ende zusammenlaufen, ist das Gehirn. Die Nerven mit ihrer
„spezifischen Energie **, d. h. ihrer verschiedenartigen Empfönglichkeit
für bestimmte Schwing^ngsformen , haben nur den Zweck, diese
Schwingungsformen auseinanderzuhalten und sie abgesondert ins Ge-
hirn zu leiten, um damit die Bestimmtheit und Unterschiedenheit des
resultierenden Bewusstseinsinhalts zu ermöglichen. Indem nun ver-
schiedene „Provinzen** des Gehirns verschiedenen Teilen des Körpers
entsprechen, deren Nerven in jenen endigen, so ist das Gehirn ein
verkleinertes Abbild des ganzen Körpers, worin, auf engen Raum zu-
sammengedrängt, sich alle diejenigen Prozesse wiederfinden, die ur-
sprünglich in den auseinanderliegenden Körperteilen vor sich gehen.
Man wird annehmen dürfen, dass auch schon in den untergeordneten
Teilen des Gehirns, im Kleinhirn, den Sehhügeln, sowie im Rücken-
marke u. s. w., selbständige Bewusstseinscentra entstehen können.
Dafür sprechen nicht bloss die relativ selbständige Struktur dieser
Gebilde und ihre biologische Entwickelung, sondern auch experimen-
telle Thatsachen, wie die Erscheinungen des sogenannten „Unter-
bewusstseins", von denen wir später noch zu reden haben werden.
Aber nur im Grosshirn, genauer, in der grauen Rindenschicht der
Grosshirnhemisphären, als dem Aufnahmeorte für die Resultante aller
möglichen Schwingungen im Körper, kommt dasjenige zustande, was
wir das Gesamtbewusstsein eines Individuums oder das spezi-
fische Individualbewu sstsein nennen. Nur in ihm tritt jene
vollständige Unterscheidung des Subjektiven vom Objektiven und Be-
herrschung des Willens durch die logische Idee zu Tage, die dem
Individuum erst den Stempel der „ Vernünftigkeit " aufdrückt und den
Schein hervorruft, als ob das Bewusstsein des Individuums, von allem
Zusammenhange mit seinem unbewussten Mutterboden losgerissen,
selbständig im reinen Aether des Idealen schwebte.
Das Grosshirnbewusstsein erfährt im allgemeinen nichts von dem,
was in den niederen Teilen des Gehirns vorgeht. Nur dunkel reflek-
tieren sich besonders stark betonte Empfindungen jener niederen Be-
wusstseinscentra im sogenannten Gemeingefühl des höchsten Individual-
bewusstseins. Der Grund liegt an der Güte der Leitung, d. h. an
der Art und Beschaffenheit der Widerstände, die eine materielle
Schwingung zu überwinden hat, um sich durch die Nerven und die
niederen Teile des Gehirns hindurch bis zur obersten Rindenschicht
fortzupflanzen, wie ja auch die Kreise, die ein ins Wasser geworfener
Das ideelle Sein. 215
Stein um sich zieht, nicht gerade bis zum Rand des Wassers zu ge-
langen brauchen. Mit der komplizierteren Zusammensetzung des In-
dividuums wachsen jene Widerstände, müssen folglich am stärksten
im Grrosshim sein, dessen reflexhemmende Thätigkeit den Ansturm der
niederen Gehirnreize abhält und damit dem höchsten Centrum eine
Menge von Erschütterungen erspart, worin es sonst beständig versetzt
werden würde. Das ist aber bloss der physiologische Ausdruck für
die psychologische Thatsache, dass mit der komplizierteren materiellen
Beschaffenheit eines Individuums auch die Logicität seines Bewusst-
seinsinhalts zunimmt. Denn was das Grosshirnbewusstsein von den
niederen Centren empfängt, sind nicht sowohl die rein subjektiven
Gefühlsintensitäten derselben, als vielmehr ein synthetisch verarbeitetes
Empfindungsmaterial, wobei die Unlogicität seiner Bl^mentarbestand-
teile hinter der Arbeit des Logischen bereits soweit zurückgetreten
ist, um als solche nicht mehr ins Bewusstsein zu fallen. Darum ist
das Grosshirnbewusstsein zwar die Resultante der ihm zu Grunde
liegenden Bewusstseine in den niederen Centren des Gehirns, jedoch
nicht als ihre blosse Summe, sondern als das Produkt einer syn-
thetischen Zusammenfassung aller einzelnen Bewusstseine,
dessen besonderer Inhalt zugleich nach teleologischen Gesichtspunkten
gestaltet ist.
Nun ist, wie wir aus dem ersten Kapitel wissen, das Ich nichts
Anderes als die Form des Bewusstseins. Die Erklärung und Ablei-
tung dieser Form aus ihren Elementen erklärt somit zugleich auch
die Entstehung des Ich. Wenn wir früher behaupteten, in allen
unseren Vorstellungen sei das Ich unmittelbar enthalten und es sei
unmöglich, vom Bewusstsein anders als von einer Abstraktion zu
sprechen, so erkennen wir jetzt den Grund dieser Thatsache darin,
dass die Form des Bewusstseins mit dem Inhalt immer nur zugleich
gesetzt wird. Wir sagten, das Ich vermöge sich selbst nicht zu er-
kennen. „Dies ist eine notwendige Folge davon, dass diese Vor-
stellung sich auf eine stets (d. h. solange das Bewusstsein dauert)
fortgesetzte und wiederholte Thätigkeit gründet: auf die zusammen-
fassende Thätigkeit, welche jedes Bewusstsein voraussetzt^." Wir
konstatierten, es gäbe nicht bloss keine unbewusste, sondern überhaupt*
keine Thätigkeit des Ich. Wohl aber giebt es eine (unbewusste)
Thätigkeit, wodurch das Ich gesetzt wird, und die auch zugleich allen
seinen Inhalt setzt. Wir folgerten, es sei aussichtslos, das reale Sein
des Ich unmittelbar in unser Bewusstsein heben zu wollen. Das ist
^ Höffding: a.a.O. S. 171.
216 X^fts Sein des Ich.
nur natürlich, weil das reale Sein als solches das unbewusste Sein
ist. Auch Hoff ding räumt ein, ^dass wir uns nie unsrer selbst
völlig bewusst werden können. Denn eben der Zustand, in welchem
wir unser Ich denken, ist durch die Synthese bedingt; das Selbst-
bewusstsein sowohl als jede andere Art von Bewusstsein ist nur durch
diese möglich. Die Synthese aber, die innere Einheit in uns, verbirgt
sich uns stets, wie tief wir auch in unser Bewusstsein einzudringen
suchen; sie ist die beständige Voraussetzung ^^^ Allein sie ist dies
nicht als eine bloss relativ unbewusste, die abgesehen von unserem
Grosshirnbewusstsein und an sich eine bewusste ist, sondern sie ist
in jeder Beziehung unbewusst und streng von dem relativ ün-
bewussten oder Unterbewussten zu unterscheiden.
So hat Volkmann Recht, „dass nicht das Bewusstsein dem Ich,
sondern das Ich dem Bewusstsein angehört und zukommt^.** Wir
erkennen nicht erst uns selbst und auf Grund dieser Selbsterkenntnis
andere Gegenstände, wie dies nach den Systemen des Cogito ergo
sum der Fall sein müsste, sondern wir vermögen uns selbst nur zu
erkennen, nachdem wir bereits eine Erkenntnis anderer Gegenstände
gewonnen haben , weil schon Bewusstsein da sein muss , bevor wir
uns der abstrakten Form des Bewusstseins bewusst sein können.
Alles Bewusstsein ist als solches unmittelbar ein Bewusstsein von
Objekten und wird erst dadurch Selb st bewusstsein, dass die Vor-
stellung des Subjekts, d. h. des thätigen Substrates unseres Be-
wusstseinsinhaltes, ihm Objekt wird^.
Damit sind wir nun in den Stand gesetzt, jenen Widerspruch im
Ich zu lösen, worauf, wie wir früher gesehen haben, die eigentliche
Schwierigkeit des Ichproblems beruht. Das Ich ist die Identität des
Subjekts und des Objekts; aber das Subjekt bedeutet hier nicht das
reale Subjekt, welches das Objekt denkt, sondern bloss den ideellen
Repräsentanten desselben. Jene Identität hat folglich nicht mehr
Schwierigkeit als die Identität des Objekts, d. h. des Gegenstandes
ifi der Vorstellung, und des Gegenstandes in der Wirklichkeit, d. h.
sie ist nur scheinbar eine Identität von Gegenständen, die eine ver-
schiedene Seinsart besitzen. Wie es bloss eine Illusion des naiven Realis-
mus ist, dass wir die äusseren Gegenstände an sich selbst erkennen,
während wir doch in Wahrheit nur unsere Vorstellungen von ihnen er-
kennen, so ist es auch eine ebenso naiv realistische Illusion, dass wir den
Gegenstand der inneren Erkenntnis als realen im Bewusstsein hätten.
1 Höffding: a. a. 0. S. 171.
^ Volk mann: Psychologie, II, S. 176..
^ V. Hartmann: Phil. d. Unbew., 11, S. 30.
Das ideelle Sein. 217
Subjekt und Objekt im Ichbewusstsein sind beide bloss gedacht, bloss
Gegenstände ideeller Art; das Subjekt dagegen, das beide denkt,
das reale Subjekt, ist ein unbewusst denkendes Subjekt und folg-
lich nur sein Substrat, aber nicht selbst das Ichbewusstsein.
Die viel erörterte Einheit des Ich beruht sonach, wie bereits
Kant dies wusste, auf dem einheitlichen Akte des Zusammenfassens
verschiedener Bewusstseinselemente; dieser Akt ist aber ein einheit-
licher nur, weil er der Akt des stets mit sich einheitlichen Willens
ist. Darum haben auch Wundt und Hoff ding Recht, die Existenz
des Bewusstseins auf eine Thätigkeit des Willens zurückzuführen.
„Soviel als ich in jedem Augenblick zu übersehen, zu beherrschen
und geistig zu umspannen vermag, ist wirkUch mein und konstituiert
in diesem Moment mich und mein Ich; jene einheitliche Form ist kein
fertiges Gefäss von unendlichem oder beliebig grossem Umfang für
eine Mannigfaltigkeit des Inhalts, sondern ist der Akt des einheitlichen
Zusammenfassens, der sich, als diskursiver, nicht gleichzeitig an be-
liebig vielen vollziehen lässt^" Das Bewusstsein gleicht dem Regen-
bogen über dem Wasser eines Springbrunnens, nicht diesem selbst:
es ist ein Zustand, aber „nicht ein ruhender Zustand, sondern ein
Prozess, ein stetiges Bewusstwerden ^. "
Hier bestätigt sieh nun zugleich das Resultat unserer früheren
Untersuchung, dass auch die Selbstwahmehmung uns nur Erscheinungen
darbietet. Wären die psychischen Objekte Dinge an sich, ginge folg-
lich ihre Existenz in ihrer Erscheinung auf, so wäre die Einheit des
Ich nicht zu erklären, weil die innere Wahrnehmung uns überall keine
Einheit, sondern nur ein beständiges Kommen und Gehen von Ge-
fühlen, Empfindungen und Vorstellungen zeigt, die nur zum aller-
geringsten Teile in näherem Zusammenhange mit einander stehen.
Das Problem des Ich ist denn auch die Achillesferse des Positivismus,
woran die Unhaltbarkeit dieses Standpunktes klar wird.
So versuchte Hume den ganzen Inhalt unseres Bewusstseins aus
der Assoziation von Empfindungen abzuleiten. Nun ist aber das Ich
nicht eine Empfindung neben anderen, sondern es ist ein Bewusst-
seinsinhalt, worauf alle unsere Empfindungen bezogen werden. Folg-
lich müsste diejenige Empfindung, welche den Begriff des Ich erzeugt,
im Verlaufe unseres Lebens eine und dieselbe bleiben. Eine solche
stetige und unveränderliche Empfindung aber giebt es nicht. Hume
sieht sich daher genötigt, die Seele für die blosse Summe oder für
ein „Bündel" von Empfindungen zu erklären, ohne jedoch selbst mit
^ Ziegler: a. a. 0. S. 58.
' y. Hartmann: a. a. 0., H, S. 29.
218 ^^ Sc^Q cLos ^<^^*
dieser Erklärung zufrieden sein zu können. Denn wenn die psychi-
schen Gebilde Realitäten sind, so sind sie folglich selbständige, gleich-
sam substantielle Existenzen. Wie aber unter solchen eine Einheit
möglich ist, und durch welches Band sie zusammengehalten werden,
sodass sie in der That ein „Bündel" bilden, darauf muss der Positivist
die Antwort schuldig bleiben. Es ist dem Positivismus hoch anzu-
rechnen, dass wenigstens seine bedeutendsten Vertreter, ein Hume
und John Stuart Mill, jene Unmöglichkeit selbst zugegeben, mit
diesem Eingeständnis aber auch zugleich ihr eigenes Prinzip verur-
teilt haben.
Ebenso wenig, wie der Positivismus, vermag auch der herbart-
sche Pluralismus das Ich zu erklären. Das Problem des Ich gehört
zu den frühesten, worüber Herbart nachgedacht hat, und das in ge-
wisser Hinsicht bestimmend für seine ganze Metaphysik geworden ist.
In einer Zeit, wo die Auffassung des Ich als intellektueller Anschau-
ung beinahe als selbstverständlich galt und zur Grundlage der ge-
wagtesten Spekulationen dienen musste, hat Herbart allein unter den
hervorragenden Philosophen nach Kant den empirischen Ursprung des
Ich behauptet und seine Ableitung aus psychologischen Paktoren
unternommen ; das soll ihm unvergessen bleiben. Es ist in der That
ein für jene Zeit unerhörter Ausspruch, wenn Her bar t betont: „Die
innere Erfahrung hat nicht das allergeringste Vorrecht, wodurch sie
mehr gelten könnte als die äussere, was auch die Schwärmerei für
innere Anschauungen von besonderer Wahrheit und Würde ersonnen
hat und noch ersinnen mag, die man denen, welche einmal daran
glauben wollen, nicht entreissen kann^." Wenn der Herbartianismus
sich irgend ein Verdienst um die Psychologie erworben hat, so ist es
dies, auf die blosse Phänomenalität der inneren Objekte immer wieder
hingewiesen und damit eine Reihe von Problemen aufgedeckt zu haben,
die für die Systeme der intellektuellen Anschauung nicht bestanden.
Nur hindert ihn leider die notorische Unfruchtbarkeit seiner eigenen
Prinzipien daran, eine richtige Erklärung des Ich zu geben.
Für Herbart gehört bekanntlich das Ich zu jenen widerspruchs-
vollen Begriffen, deren Widersprüche aufzulösen, seine Metaphysik
sich zur wesentlichen Aufgabe gestellt hat. Es ist noch der geringste
seiner Widersprüche, dass unser Ich, als Träger und Urquell einer
Mannigfaltigkeit von Vorstellungen, zu gleicher Zeit Vieles und Eins
sein soll. Nach Fichte, gegen den sich Herbarts Ausführungen
vor allem richten, soll es ausserdem die Identität des Subjekts
^ Herbart: Lehrbuch zur Psychologie (3. Aufl.), S. 11.
Das ideelle Sein. 219
und des Objekts, des Vorstellens und des Vorgestellten sein. Das
Ich also stellt sich vor; wer ist dies „sich"? Die Antwort ist: es
selbst, also das sich Vorstellende. Auf diese Weise aber kommen
wir nie zum Ende, indem überall für das Sich das Ich und für dieses
wiederum das Sich eingesetzt werden muss. Der Begriff des Ich,
wie Fichte ihn aufstellt, ist mithin garnicht zu vollziehen. Daraus
folgt, dass es nicht ein Reales sein und unmittelbar von uns erfasst
werden kann, sondern dass wir auf einem ganz anderen Wege als
durch intellektuelle Anschauung zu seinem Begriffe gelangt sein müssen ^.
Herbart sucht nun jene Widersprüche vermittelst des ihm eigen-
tümlichen Seelenbegriffes aufzulösen. Nach ihm ist die Seele ein
schlechthin einfaches, vorstellungs- und bewusstloses Wesen, ohne
Vielheit qualitativer Bestimmungen, ohne Beziehung zu Raum und
Zeit, ohne eigene Kräfte, Vermögen und Strebungen. Nur im Zu-
sammen mit andern realen Wesen, die ihren Leib und weiterhin die
Aussendinge bilden, entsteht infolge der wechselseitigen Störungen
und Selbsterhaltungen der Realen ein metaphysisches Analogon des
Geschehens und dieses macht den ganzen Inhalt des seelischen Lebens
aus. Jene Selbsterhaltungen sind Vorstellungen. Die Vorstellungen
sind mithin nicht Erzeugnisse der Seele von innen heraus, sondern
lediglich ein Geschehen in ihr oder vielmehr ein Zustand an ihr,
worin sie bloss zufällig und gleichsam äusserlich versetzt wird.
Indem nun gewisse Vorstellungen zu einheitlichen Gruppen oder
Vorstellungsmassen verschmelzen, entsteht durch diese „Zusammen-
fassung in Ein Vorstellen" jener erste gemeinsame Mittelpunkt, der
die Unterlage für das vorstellende Subjekt bildet. Das Objekt hin-
gegen entsteht, indem die älteren, verdichteten und festgewurzelten
Vorstellungsmassen, als handelnde Subjekte, immer neue Vorstellungen
an ziehen, sich einordnen und mit sich verschmelzen, was Herbart
als „Apperception" bezeichnet, und durch dieses „Auffangen der eigenen
Vorstellungen und Vorstellungsreihen in einer höheren damit ver-
schmolzenen Vorstellung", d. h. durch Denken, den Unterschied des
Denkenden und des Gedachten setzen.
Hiernach nimmt das Ich an Stärke zu , je mehr Vorstellungen
sich um den gemeinsamen Mittelpunkt herumgruppieren. Das Ich ist
auch nicht eiii Einmaliges und Substantielles, sondern es ist das Re-
sultat der Komplexion von Vorstellungen, worin stets das Selbe mit-
gedacht wird, kein fester Punkt, sondern eine beständig wechselnde
Stelle bald in dieser, bald in jener appercipierenden Vorstellungs-
* Herbart: Psychologie als Wissenschaft, I, §§ 24 — 27.
220 Bas Sein des Ich.
gruppe, denn es ist durchaus nichts Anderes als die Durchkreuzungs*
stelle unzähliger Vorstellungsreihen und überall vorhanden, wo eine
ältere Vorstellungsmasse eine neue Vorstellung „appercipiert". Sieht
man daher von den bestimmten Vorstellungsmassen und ihren Ver-
schiedenheiten ab und behält man die Ichvorstellung rein für sich
zurück, so entsteht der Schein, als sei das Ich eine Vorstellung, „die
an sich selbst das Sein enthalte und alle Glieder jener Komplexion
entbehren könne ^, das Ich sei mithin selbst die Seele und diese also
die Einheit des Subjektiven und des Objektiven. In Wahrheit jedoch
ist das Ich nicht die Quelle, nicht das handelnde Subjekt jener Akte
der Apperception, das vor ihnen und ohne sie bestände, sondern das
sogenannte „reine Ich" ist nur ein letztes Abstraktionsergebnis, dem
jene Akte selbst zu Grunde liegen^.
Der wesentliche Zweck dieser Konstruktion des Seelenlebens ist,
das psychische Geschehen als ein mechanisches darzustellen, um es
demgemäss auch mathematisch beschreiben zu können. Dabei ist leider
nur gänzlich die Aktivität und Spontaneität der Seele übersehen, wie
sie sich in der Bewegung und Beherrschung unserer Vorstellungen
nact bestimmten Zwecken, in der willkürlichen Hervorruf ung eines
Gedankens, überhaupt in allen denjenigen Fällen äussert, die in das
Gebiet der sogenannten „Freiheit" des Geistes gehören. Zwar besitzt
Herbart im Unterschiede von Hume an seinen seelischen Eealen
scheinbar ein Einheitsband, wodurch die verschiedenen Vorstellungen
zusammengehalten werden; allein es besteht doch kein Zusammenhang
zwischen den Vorstellungen und dem Realen, kein Verhältnis des
üebergreifens und Herrschens der einen über die anderen: die Vor-
stellungen werden nicht von der Seele hervorgerufen, sondern sie
blitzen nur, wie Lichter, vor dem dunklen Hintergrunde der Realen
auf und bewegen sich vor ihnen auf und ab, ohne dass man begreift,
wie das schlechthin einfache, vorstellungs- und bewusstlose Seelen-
wesen sich diese Lichter anzünden konnte. Herbart nennt die Vor-
stellungen einfach Selbsterhaltungen der Seele; aber er zeigt nicht,
wie kraft- und qualitätslose Realen sich selbst gegen Störungen er-
halten, ja, wie sie überhaupt die Störungen auch nur als solche em-
pfinden können. Er besitzt aber auch in Wahrheit gar kein reales
Substrat, dem das Ich, als subjektiver Repräsentant desselben, zuge-
rechnet werden könnte, das Ich also schwebt bei ihm haltlos in der
Luft, denn das einzige Subjekt, als dessen Repräsentant es betrachtet
werden könnte, hat, als einfache und unveränderliche Seelensubstanz,
» Herbart: Psychologie, II, §§ 132—138.
Das ideelle Sein. 221
gar keine Beziehung zu der Vielheit und dem Wechsel seiner Vor-
stellungen.
Von allen Gegnern der herb art sehen Philosophie hat J. H.
Fichte, der Sohn des grossen Johann Gottlieb Fichte, ihren
Seelenbegriff wohl am energischsten und erfolgreichsten bekämpft.
Jener hat aber ausserdem auch noch das Verdienst, mit einer Klar-
heit und Entschiedenheit, wie wenige, für den Begriff des unbewussten
Geisteslebens eingetreten zu sein und ihn als das Fundament der
ganzen künftigen Entwickelung der Philosophie erkannt zu haben.
Wie keiner vor Johann Gottlieb Fichte ein helleres Bewusstsein
von der spekulativen Bedeutung des Ich gehabt und tiefere Blicke in
sein Wesen gethan hat, so hat daher auch keiner vor dessen Sohn
Immanuel Hermann Fichte die wahre Natur des Ich und des Be-
wusstseins und ihre Stellung innerhalb des Psychologischen besser
eingesehen. Ist jener der kühnste Vertreter der falschen Ansicht,
wonach das Ich intellektuelle Anschauung sein soll, und hat er durch
sein Vorgehen diese Ansicht zu ihrem höchsten Gipfelpunkt geführt,
worauf sie sich schliesslich selbst aufheben musste, so hat dagegen
dieser, als Anbahner und Verkündiger des Unbewussten, das wert-
vollste Erbe der abgestorbenen idealistischen Spekulation in eine neue
Periode der Philosophie hinübergerettet. In seiner „Anthropologie" und
„Psychologie" hat Fichte zum ersten Male das ganze Gebiet des
Seelenlebens von dem neuen Gesichtspunkte aus durchzuarbeiten und
die Grenzen des Bewussten und Unbewussten klar zu ziehen versucht.
Das sichert diesen Werken für immer ihre Stellung nicht bloss in
der psychologischen, sondern in der ganzen philosophischen Litteratur
unseres Jahrhunderts überhaupt. Wir erfüllen darum nur eine Ehren-
pflicht an dem selten genannten und fast schon vergessenen Philo-
sophen, wenn wir die eigene Untersuchung über das Wesen des Ich
und des Bewusstseins mit übereinstimmenden Aeusserungen J. H.
Fichtes schliessen, die zugleich zur näheren Verdeutlichung, wie als
Zusammenfassung des bisher Gesagten dienen können.
In ausgesprochenem Gegensatze zu derjenigen seines Vaters hat
Fichte seine Ansicht ober das Ich entwickelt. „Das Ich als solches",
heisst es bereits in der Vorrede zu seiner „Psychologie", als „reines",
„allgemeines", und mit welchen Prädikaten man es sonst noch aus-
zustatten gedenkt, ist weder ein Reales, noch viel weniger Prinzip
eines Realen, sondern lediglich das Produkt einer psychologischen
Abstraktion, mit welcher die allen Geistern gemeinsame Vorstellung
derselben von sich zu einem Allgemeinbegriff erhoben und als
charakteristisches Produkt des Geistes als solchen bezeichnet wird.
222 ^^^ ^^ des ^<^^*
Das Ich ist die für sich leere Form des Selbstbewusstseins, in
welcher der Geist seine realen, aber ihm bewusst gewordenen Unter-
schiede vorstellend zusammenfasst : Zeichen eines Realen, aber selbst
nichts Reales (Inhaltliches), aus welchem daher auch nichts Inhalt-
liches im Bewusstsein „abgeleitet", das überhaupt nicht in realem
Sinne ium „Prinzipe" gemacht werden kann^.**
Wie sehr daher auch Fichte überzeugt ist, dass auch jetzt noch
alles darauf ankomme, „die synthetische Einheit der Apperception,
welche Kant zum gestaltenden Prinzipe der theoretischen Vernunft,
des blossen Erkennens machte, zum universalen Prinzip zu erheben,
oder auch, um an J. G. Ficht es bestimmtere Fassung der Aufgabe
zu erinnern, das „transcendentale Ich" (genauer „das transcendentale
Wesen des Geistes") zum Fundamentalbegriffe der gesamten Geistes-
lehre zu machen", so gewiss weiss er auch: „ein transcendentales Ich
in seiner Unmittelbarkeit und Ausdrücklichkeit wird im Bereiche
der psychischen Thatsachen nirgends gefunden, kann nicht
gefunden werden, weil im gegebenen wirklichen Bewusstsein oder
„Ich" jenes Apriorische, Transcendentale, als innerster Grund und
Prinzip dieses Bewusstseins oder Ich, eben darum notwendig ein ihm
verdeckter Hintergrund, ein Un- oder Vorbewusstes bleiben muss^."
Denn wie die „Anthropologie" zu zeigen sucht, hat der Geist nicht
bloss apriorische Bestandteile in seinem Bewusstsein, sondern er ist
seinem eigentlichen Bestände nach ein apriorisches, vorempirisches
Wesen, er geht seinem eigenen Bewusstwerden und seiner
Erfahrungserkenntnis voraus, indem er aus seinen übersinnlichen
Grundanlagen sich in Wechselwirkung mit den andern Realen heraus-
gestaltet in die Sinnenwelt und daraus sich selbst ein Bewusstsein
dieser Welt erzeugt. Darum ist es, wie Fichte wiederholt betont,
ganz unzulänglich, Bewusstsein und Geist für identisch und für zwei
sich völlig deckende Begriffe zu halten^. Wir sind nicht ursprüng-
lich bewusst, sondern wir werden es. Wir werden aber nicht zii-
ständHcher Weise oder ohne unser Zuthun bewusste Wesen, sondern
Bewusstsein ist unser Werk, wir bringen es aus eigener Kraft
hervor. Diese Fähigkeit aber, Bewusstsein zu erzeugen, beruht dar-
auf, dass die Seele „ein instinktbehaftetes Triebwesen" ist und dass
sie, durch äussere Reize veranlasst, ihren ursprünglich unbewussten
Inhalt aus sich selbst entfaltet*.
Bewusstsein, als ursprünglichstes Zeugnis einer in der Seele er-
regten Veränderung, ist eben damit zugleich der sicherste Beweis
1 J. H. Fichte; a. a. 0. XVm f.
^ Ebenda XVU, XIX. « Ebenda S. 167 ff. * Ebenda S. 84, 85 ff.
Das ideelle Sein. 223
ihrer Wechselwirkung mit anderen Realen, deren gemeinsames Produkt
das unmittelbarste Bewusstsein, die Empfindung, der Anfangs- und
Ausgangspunkt des Bewusstseinslebens ist^. Bewusstsein ist auch
garnichts Dauerndes, sondern nur ein vorübergehender Zustand,
eine „Nebenerscheinung am Geiste, deren G-rund in einer hinter
dem Bewusstsein liegenden (vorbewussten) Eigenschaft desselben, auf-
zusuchen wäre, welche, da uns unmittelbar allein seine bewussten
Zustände zugänglich und durchsichtig sind, nur auf dem Wege der
Vermittelung, des Rückschlusses zu entdecken gelingen
kann^." „Bewusstsein ist nichts Ansichseiendes , sondern Eigen- .
jschaft oder Wirkung eines Ansichseienden. Ich ist nichts Sub-
stantielles, sondern Prädikat und Merkmal eines im Bewusstsein
sich erfassenden realen Wesens, des Geistes^." Bewusstsein er-
scheint bei allen Geistesvermögen als Etwas, „was dabei hinzutreten
kann mit einem höheren oder geringeren Grade der Erleuchtung, aber
auch fehlen darf, ohne dass die eigentliche (objektive) Realität des
Geistes dadurch beeinträchtigt würde*." Das Wesen des Bewusstseins
aber lässt sich bestimmen als „innere Erleuchtung vorhandener Zu-
stände, sodass sie nunmehr für das Wesen selber existieren, welches
sie besitzt ^** „Bewusstsein ist das Ins ich- und Fürsichsein eines
realen Wesens (Geistes), und seine Wirkung besteht in der Klarheit,
Durchleuchtung der inneren Zustände dieses Geistes für ihn selber.
Wir können nach analogen Bildern es bezeichnen als inneren „Licht-
zustand", als nach Innen gewandtes „Auge", als die auf sich selbst
zurückkehrende „Sehe" des Geistes u. dgl.®." „Das Bewusstsein als
solches ist daher auch nicht produktiv, bringt nichts Neues
hervor, sondern es begleitet nur mit seinem Lichte gewisse reale
Zustände und Veränderungen in der Seele, während zugleich gewisse
andere, ebenso real in ihr vorhandene im Dunkel bleiben^." Dass
es sich hierbei aber überall nicht um einen blossen Gradunter-
schied zwischen dem unbewussten und dem bewussten Vorstellungs-
inhalt in der Seele handelt, wie man dies gewöhnlich durch Ver-
wechselung des absolut Unbewussten mit dem relativ Unbewussten
oder Unterbewussten behauptet, darauf hat vor Fichte auch schon
K. Fortlage hingewiesen, indem er das Bewusstsein „eine durch die
Wahrnehmung hinzukommende ganz neue Eigenschaft" nennt, „welche
der Vorstellungsinhalt zu seinen früheren Eigenschaften hinzubekommt
* Ebenda S. 6. « Ebenda S. 152.
8 Ebenda S. 167. * Ebenda S. 96.
"^ Ebenda S. 81. ^ Ebenda S. 161.
' Ebenda S. 82, 86.
224 I^a* Sein des Ich.
und wovon er in seinem früheren Zustande noch schlechterdings
nichts an sich hattet**
n. Das empirische Ich.
1. Die lohheit und Fersönliohkeit
t
•Zwei Bedingungen wirken zum Zustandekommen des Ich zu-
sammen: eine materiale oder inhaltliche, nämlich die Vielheit und
Mannigfaltigkeit der materiellen Prozesse, woran das Bewusstsein als
Begleiterscheinung haftet, und eine formale, die unbewusste synthe-
tische Thätigkeit der Seele, wodurch die gegebenen Bewusstseins-
elemente zur ii^neren Einheit verschmolzen werden. Die formale Be-
dingung tritt nur in Wirksamkeit, sobald ihr durch die materiale der
Stoff geboten wird, um ihre Synthesen daran zu vollziehen. Die
materiale aber würde gar keine Veranlassung zu einer einheitlichen
Synthese bieten , wofern nicht die materiellen Elemente auch selbst
schon zu einer äusserlichen organischen Einheit verbunden wären.
Demnach hängt es von dem äusseren Zusammenhange ab, worin
die materiellen Elemente durch die Schwingung versetzt werden, wie
weit sich die innere Zusammenfassung erstreckt und welche Bewusst-
seinsmomente in sie hineinbezogen werden. Wo ein solcher äusserer
Zusammenhang fehlt, d. h. wo die Leitung zwischen den verscJdedenen
Teilen des Organismus zu ungenügend ist, um die materielle Schwin-
gung von einem zum andern fortzupflanzen, da kann auch kein ein-
heitliches Individualbewusstsein und sonach auch kein Ich entstehen.
Ein Korallenstock mag wohl der Träger verschiedener Bewusstseins-
centren sein, ein übergreifendes G^esamtbewusstsein wird man ihm
nicht zugestehen können. Ebenso wenig aber wird man ein solches
dort annehmen dürfen, wo zwar ein Gehirn, als einheitlicher Auf-
nahmeort aller Schwingungen im Organismus vorhanden ist, die
einzelnen Teile desselben sich jedoch noch nicht durch lieber- und
Unterordnung zu Repräsentanten des Stufenbaus von Individuen aus-
gebildet haben, aus denen der ganze Organismus besteht. Das Gross-
hirn eines Kindes z. B. besitzt in der ersten Lebenszeit noch keine
innere Festigkeit und nimmt noch nicht diejenige herrschende Stellung
über die andern niederen Gehirnteile ein, um Träger eines einheitlichen
Bewusstseins sein zu können. Darum beginnt nach Vierer dt das
Seelenleben des Kindes mit abgesonderten, selbständigen Empfindungen,
die erst nachträglich zusammengefasst und zur inneren Einheit ver-
^ K. Fortlage: System der Psychologie als empirischer Wissenschaft
(1858), I, S. 62.
Die Ichheit und Persönlichkeit. 225
«
schmolzen werden^, darum hat es auch trotz Höffdings Einspruch
einen guten Sinn, dem Kinde mit Preyer im Anfang eine Mehrheit
von Ichen (ein Grosshirn-, Rückenmark- u. s. w.-Ich) beizulegen, die
dann später, nachdem das Grosshim die Herrschaft über die übrigen
Teile des Gehirns erlangt hat, zum einheitlichen Grosshirnich zu-
sammenfliessen ^.
Das Grosshirnich — und nur dieses meinen wir, wenn wir von
„unserm" Ich sprechen — ist hiemach die Synthese aller derjenigen
Empfindungen des Organismus, deren materielle Schwingungen sich
bis in die Grosshimrinde fortpflanzen. In ihm fliesst gleichsam in
ein Centrum zusammen, was sich an den verschiedenen Punkten in
der Peripherie unseres Leibes abspielt. Kein Wunder, dass der naive
Mensch, der von der philosophischen Reflexion noch unberührt ist,
unter dem Ich nicht bloss jenen imaginären Mittelpunkt seiner psy-
chischen Gebilde, sondern ebensowohl seinen Leib begreift. Auch die
Kirche redet bekanntlich nur von einer „Auferstehung des Fleisches"
und findet keine Schwierigkeit darin, den Leib für die Sünden
seines Ich im Fegefeuer schmoren zu lassen. Ich bin nach dieser
Auffassung die Identität des Leibes und der Seele und schliesse in
die Vorstellung meines Ich auch diejenigen Prozesse und Thätigkeiten
ein, die'^lediglich meinen äusseren Organismus betreffen und der Herr-
schaft meines Willens ganz und gar entrückt sind. Wie aber das
Ich infolge der Verbindung des Grosshirns mit den übrigen Teilen
des Organismus die peripherischen Empfindungen im Centrum sammelt,
so hat es infolge der nämlichen materiellen Vermittelung die Tendenz,
seinen Umfang über die Grenzen des Leibes hinaus zu erweitem und
auch dasjenige in sich hineinzuziehen, was in naher Beziehung zu
jenem steht. So unterscheidet die Mutter das Kind noch nicht von
ihr, solange es noch einen Teil ihres Organismus bildet, und empfindet
sie dessen Schmerzen auch dann noch als ihre eigenen, wenn der
materielle Zusammenhang beider aufgehört hat.
Diesen Zusammenhang des Ich mit seinem Leibe muss man sich
gegenwärtig halten, um alle rein logischen Konstruktionen des Ich
als eitel metaphysisches Geflunker zu durchschauen. Seitdem Des-
cartes sein Cogito ergo sum gesprochen, noch mehr aber seitdem
Kant das sogenannte transcendentale oder reine Ich zum metaphy-
sischen Substrat des Erkenntnisprozesses gemacht hat, hat man die Vor-
stellung des Ich zu einer Bedeutung emporgeschroben, die zu ihrem
^ Vierordt: Physiologie des Kindesalters, S. 157, 169.
' Preyer: Die Seele des Kindes, S. 368.
Drews. X5
226 Bas Sein des Ich.
wahren Charakter in gar keinem Verhältnisse steht. Kant selbst
findet es „merkwürdig, dass das Kind, was schon ziemlich fertig
sprechen kann, doch ziemlich spät (vielleicht wohl ein Jahr nachher)
erst anfängt, durch Ich zu reden, solange aber von sich in der dritten
Person sprach (Karl will essen, gehen u. s. w.) und dass ihm gleich-
sam ein Licht aufgegangen zu sein scheint, wenn es den Anfang macht,
durch Ich zu sprechen, von welchem Tage an es niemals mehr in
jene Sprechart zurückkehrt. Vorher fühlte es bloss sich selbst, jetzt
denkt es sich selbst ^.'^ Dagegen ist zu bemerken, dass Kant sich
irrt; denn wenn sie auch schon angefangen haben, von sich in der
ersten Person zu sprechen, so fahren die Kinder doch noch ruhig
fort, daneben auch die dritte Person anzuwenden. Der verhältnis-
mässig späte Gebrauch des persönlichen Fürworts erklärt sich aber
einfach daraus, dass ein Kind von Anderen gewöhnlich nur bei seinem
Namen angeredet wird (Will Karl essen? Karl soll gehen u. s. w.),
sodass es also zunächst gar keine Veranlassung hat, diesen Namen
mit dem abstrakten „Ich" zu vertauschen. „Es bedarf" , wie auch
Görin g hervorhebt, „nur einer kurzen üeberlegung, um einzusehen,
dass die persönlichen Fürwörter lediglich zur Bequemlichkeit des
sprachlichen Verkehrs dienen, inhaltlich jedoch durchaus keine andere
Bedeutung haben können, als die durch sie vertretenen Nomina haben.
Der von sich Sprechende bezeichnet daher mit „Ich" ganz dasselbe,
was Andere mit seinem Namen ausdrücken, oder was „Du" hinsicht-
lich der zweiten, „Er" hinsichtlich der dritten Person bedeutet, wie
schon von Jacobi und Schleiermacher bemerkt worden ist. Aus
diesem Grunde ist das auf einer vorgeschrittenen Kulturstufe hervor-
tretende „Ich" mit der Persönlichkeit und der Einheit des Bewusst-
seins in keinen näheren Zusammenhang zu bringen als der Eigenname
der Person^."
Nicht die Thatsache selbst also, sondern nur der Umstand, dass
man an dem späten Gebrauche des Wortes „Ich" etwas Besonderes
hat finden können, verdient es, als „merkwürdig" bezeichnet zu
werden, wenn damit ausgedrückt sein soll, dass das Kind noch nicht
von Anfang an ein Selbstbewusstsein habe. Oder hat Ziegler etwa
nicht Recht, das Kind, indem es alles auf sich bezieht, einen „grossen
Egoisten" und „Ichmenschen" zu nennen? „Ihm fehlt somit schon
längst nicht das Bewusstsein, das Gefühl und die Vorstellung seines
Ich, sondern nur das Wort dafür ^" In diesem Sinne wird man auch
1 Kant: Anthroprologie Ww., VII, S. 437.
2 Göring: a. a. 0., S. 161 ff.
' Ziegler: a. a. 0., S. 58.
Die Ichheit und Persönlichkeit. 227
sagen können, dass Bewusstsein ohne Selbstbewusstsein ein Unding
ist. „Der ziehende Ochse hat das Bewusstsein, das die Peitsche ihn,
ihn selbst bedroht; wie könnte er denn dies Bewusstsein haben,
wenn er nicht zuvor das Bewusstsein seiner selbst hätte? Die Fliege
sucht deiner Hand, die sie fangen will, zu entwischen; sie hat ein
Bewusstsein davon, dass sie gefangen werden kann und jetzt gefangen
werden soll; wie könnte sie denn dies Bewusstsein haben, wenn sie
nicht das Bewusstsein ihrer selbst, ihres Daseins im Unterschiede vom
Dasein anderer Dinge hätte? Ein Bewusstsein ohne Selbstbewusstsein
wäre mehr als das durchlöcherte Fass der Danaiden, es wäre ein Fass
ganz und gar ohne Boden ^."
Wäre wirklich der Gebrauch des persönlichen Fürworts der
Massstab für die Existenz des Selbstbewusstseins und hätten sonach
die Tiere noch kein Selbstbewusstsein, sondern bloss Bewusstsein, wie
der spekulative Idealismus behauptet, müssten dann nicht ebenso gut
auch alle diejenigen Menschen, deren Sprache noch nicht zur Aus-
bildung der Pronomina gelangt ist, mit den Tieren auf eine und
dieselbe Stufe gestellt werden? Bekanntlich gehören die Pronomina
zu den spätesten Ergebnissen der Spracherzeugung. Wenn ihnen
eine metaphysische Bedeutung innewohnen, wenn durch die Vorstellung
des Ich allein, wie Kant behauptet, der Mensch sich „unendlich**
über alle anderen auf Erden lebenden Wesen erheben soll, wie konnte
es eine Periode geben, wo die Menschen überhaupt noch kein Prono-
men besassen? Man braucht diesem Gedanken nur weiter nachzugehen,
um die Bedeutung, die Fichte demjenigen Tage im Leben seines
Sohnes beilegte, wo er zum ersten Male von sich als Ich gesprochen,
für eine wunderliche Grille anzusehen.
In Wahrheit ist auch schon das Tier ein Ich, wenn auch nur
ein potentielles, indem es sich in Ermangelung einer artikulierten
Sprache unmittelbar nur in der Form des Gefühls besitzt. Ein Ich
nämlich in diesem erweiterten Sinne ist überall da vorhanden, wo
eine Mehrheit von Empfindungen in die Einheit eines und des näm-
lichen Bewusstseins zusammengefasst wird. Darum ist zwar ein un-
organisches Aggregat (ein Stein) oder ein Artefakt (ein Tisch) selbst
dann kein Ich, wenn seine Atome und Moleküle, woraus es zusammen-
gesetzt ist, an sich ein Bewusstsein haben sollten, weil diese im
Anorganischen unverbunden bloss neben einander existieren. Wohl
aber ist jedes einzelne Molekül ein potentielles Ich, so dunkel und
* Gr. Knauer: Seele und Geist und das Problem der Ichlichkeit, S. 3Ö fif.
vgl. auch S. 65.
15*
228 Das Sein des Ich.
nnbestimmt auch seine Selbstempfindung sein mag, weil seine Em-
pfindungen demselben Bewusstsein angehören.
Die sogenannte „Ichheif* beruht hiernach auf der oben erwähnten
formalen Bedingung des Ich, dem einheitlichen Akte des Zusammen-
fassens, der als solcher bei allen Wesen identisch ist. Von der in-
haltlichen Bedingung aber, d. h. von der materiellen Beschaffenheit
eines Wesens hängt es ab, wieviel und welcherlei Inhalt vom Bewusst-
sein umspannt und mit dem Begriff des Ich zum inhaltlich bestimmten
oder empirischen Ich verschmolzen wird; und diese inhaltliche Be-
stimmtheit eines Wesens ist es, die man gewöhnlich als seine Indi-
vidualität bezeichnet. Versteht man das Ich in jenem weiteren
Sinne, worin es auch das potentielle Ich umschliesst, so kann man
folglich sagen: nicht jedes materielle oder äussere Individuum ist ein
Ich, sofern die mangelhafte Güte der Leitung zwischen seinen
materiellen Teilen die Entstehung eines einheitlichen Bewusstseins
verhindern kann. Wohl aber ist jedes (potentielle oder wirkliche)
Ich eine Individualität, weil nur auf Grund seiner inhaltlichen Be-
stimmungen ein einheitliches Bewusstsein desselben möglich ist. Jedes
Ich ist ein empirisches Ich, und ein anderes als ein solches
kann es garnicht geben, weil alle inhaltliche Bestimmtheit, als
Gegenstand der einheitlichen Zusammenfassung, infolge ihres Ver-
knüpftseins mit dem materiellen Organismus durchaus in der Sphäre
der Erscheinung wurzelt.
Nun umschliesst die formale Synthese nicht bloss die gegen-
wärtigen Bewusstseinselemente, die momentanen Gefühle, Empfindungen,
Vorstellungen u. s. w., die auf der direkten Erregung der Gehim-
bestandteile beruhen, sondern sie erstreckt sich auch auf die vergangenen
Inhalte, die selbst einmal aus einer ebenso direkten Gehimerregung
hervorgingen. Jeder Bewusstseinsinhalt nämlich lässt bestimmte
„Spuren" im Gehirn zurück, sei es, dass wir uns dieselben als eine
XJmlagerung seiner Moleküle oder als eine sonst irgendwie begründete
Neigung seiner Elemente zu bestimmten Schwingungsformen vorzu-
stellen haben; diese Spuren aber können unter Umständen auch wieder
„aufgefrischt" werden. Der Vorgang ist ähnlich wie beim Telephon
zu denken. Die Atome des Gehirns geraten in den Schwingungs-
zustand, welcher demjenigen ihrer ersten direkten Erregung entspricht
und veranlassen dadurch die Seele, auf diese in derselben Weise, wie
beim ersten Mal zu reagieren, womit dann natürlich im Bewusstsein
auch wiederum der gleiche Inhalt gesetzt wird.
Jenen Schatz im Gehirn aufgespeicherter Bewusstseinsspuren
nennen wir Gedächtnis. Die Fähigkeit, auf Grund dieser Spuren
Die Ichheit und Persönlichkeit. 229
vergangene Bewusstseinsinhalte von neuem wieder hervorzurufen,
heisst Erinnerung. Vermöge der Erinnerung also erstreckt sich die
Einheit unseres Bewusstsein auch in die Vergangenheit zurück und
erscheinen unsere Bewusstseinszustände Perlen gleich, die auf dem
gemeinsamen Faden unseres Ich aufgereiht sind. Freilich ist diese
Reihe nicht lückenlos. Aus dem- ganzen Verlaufe unseres Lebens
bleiben nur die wichtigsten Ereignisse im Gedächtnis haften, oft genug
reisst für unser Bewusstsein der Zusammenhang der Kette ab, und
selten reicht diese über das dritte Lebensjahr zurück. Aber wir
zweifeln trotzdem nicht an dem kontinuierlichen Zusammenhange der
früheren mit den späteren Bewusstseinsinhalten, weil es eine und dieselbe
Synthese ist, die auf Grund desselben Gehimsubstrats oder doch der
gleichen formalen Beschaffenheit seiner Elemente das Heute mit dem
Gestern zusammenschliesst. Diese Einheit und Dieselbigkeit der Be-
wusstseinsform bei allem wechselnden Inhalt ist es, was als die
„Identität der Person" eine so grosse Rolle besonders in der
neueren Philosophie gespielt hat. —
Da wir oben den Tieren Selbstbewusstsein zugesprochen haben,
so versteht es sich, dass wir ihnen auch den Keim oder die Anlage
dessen, was beim Menschen die Identität der Person heisst, nicht
vorenthalten können. Denn auch die Tiere besitzen die Fähigkeit der
Erinnerung und sind imstande, ihre Erinnerungen auf ihr eigenes be-
wusstes Subjekt zu beziehen. Gewiss leben die Tiere, zumal auf den
untersten Stufen, fast ausschliesslich in der Gegenwart; gewiss folgen
auch die höher gearteten Tiere in der Regel mehr impulsiven Trieben
als einer vernünftigen üeberlegung, die sie veranlasste, auch die Ver-
gangenheit bei ihren Handlungen in Betracht zu ziehen und die Zu-
kunft den gemachten Erfahrungen anzupassen. Trotzdem Messe es,
seine Augen gewaltsam gegen die Thatsachen verschliessen, wenn
man leugnen wollte, dass auch die Tiere vielfach infolge der Erinne-
rungen ihr gegenwärtiges Selbst mit dem vergangenen zusammen-
schliessen und danach ihre Handlungen einrichten. Die moderne
Tierpsychologie gelangt denn auch mehr und mehr dahin, auch auf
psychischem Gebiete die starre Scheidewand zwischen Tier und Mensch
einzureissen , die in biologischer Hinsicht schon längst nicht mehr
besteht.
Auch hier also liegt der Unterschied nur in der verschiedenen
materiellen Konstitution der beiden, aber nicht in einer Verschieden-
heit der formalen Synthese. Wo bleibt nun aber unter diesen Um-
ständen die „Persönlichkeit", die allein den Menschen vor allen
übrigen Wesen auszeichnen soll?
230 Das Sein des Ich.
Es scheint, als ob auch hier metaphysische und theologische
Vorurteile diesen Begriff zu einer Bedeutung aufgebauscht und mit
einem Nimbus umkleidet haben, die für die Erkenntnis der bezüg-
lichen Sache selbst nicht förderlich gewesen sind. Zerlegt man näm-
lich den Begriff in seine einzelnen Momente, so enthiQt er nichts, was
die Grösse des Unterschiedes zwischen Thier und Mensch, wofür er
ein Ausdruck sein soll, zu rechtfertigen vermöchte. Gewiss werden
wir das Tier nicht Person nennen trotz seines Selbstbewusstseins
und trotz des einheitlichen Fadens seiner Erinnerung, und ist es
keine Persönlichkeit. Allein dies liegt nicht an einem gänzlichen
Mangel aller Vorbedingungen zur Persönlichkeit, sondern daran,
weü diese Bedingungen beim Tiere noch nicht denjenigen Grad von
Ausbildung erlangt haben, von dem an wir erst von Persönlichkeit
sprechen.
Erst im Menschen nämlich erreicht infolge seiner komplizierteren
materiellen Beschaffenheit die Entfernung der Vorstellung vom Willen
ihren höchsten Grad, aus deren Losreissung von ihrem ursprünglichen
Mutterboden wir alles Bewusstsein hervorgehen sahen. Auf den
niederen Stufen der Tierwelt und beim Kinde in den ersten Lebens-
jahren liegt die Vorstellung noch gleichsam im Gefühl, als dem ur-
sprüngüchen Resultat der Reaktion des WiUens auf die äussere Ein-
Wirkung, eingeschlossen. Mit fortschreitender Entwickelung aber löst
sie sich von diesem Grunde los und gewinnt ein scheinbar selbständiges
Dasein zugleich mit den Empfindungen, Gefühlen und bewussten
Willensakten. Ursprünglich nur ein Gebilde neben anderen, wird
die Vorstellung dadurch zur Herrscherin über sie: sie überstrahlt
gleichsam mit ihrem Lichte die Gefühle, löst sie immer mehr in die
Klarheit des abstrakten Denkens auf und nimmt den Willen in ihren
Dienst, indem sie ihm immer gerade diejenigen Motive vorhält, die
ihrem jeweiligen Zweck entsprechen. Wenn auf diese Weise der
Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt den höchsten Grad der
Spannung erreicht hat, sodass beide sich in vollster Klarheit gegen-
überstehen, wenn das ganze Gebiet des Seelenlebens unter der Herr-
schaft bewusster Zwecke steht, die vom Verstände eingedämmten Ge-
fühle nicht mehr die angebauten Felder der Erkenntnis überschwemmen
und der Wille, der stets bereit ist, der Vernunft das Scepter zu ent-
winden, in den Fesseln wohl überlegter Grundsätze und Prinzipien
gebändigt liegt, wenn insbesondere der Mensch diejenigen aktuellen
Begehrungen, die, als sinnliche, unmittelbar mit den materiellen Be-
standteilen seines Organismus verknüpft sind, von den höheren und
allgemeinen Zwecken bestimmt sein lässt, woraus sich seine Stellung
Die Ichheit und Persönlichkeit. 231
im Weltganzen herschreibt, dann pflegen wir ihn eine Person im
höchsten und eigentlichen Sinne zu nennen und ist dasjenige gegeben,
was man als Persönlichkeit bezeichnet.
Natürlich sind selbst innerhalb der menschlichen Gattung die
Grenzen zwischen den angegebenen Momenten keine festen. Gewisse
Momente, wie z. B. die ethischen, können fehlen, ohne dass man doch
darum einem Menschen das Prädikat der Persönlichkeit vorenthalten
könnte. Im Allgemeinen pflegt man schon da von Persönlichkeit zu
sprechen, wo nur überhaupt der Zweck, wovon die Handlungen eines
Subjekts bestimmt sind, ein einheitlicher und vom Lichte des Be-
wusstseins beleuchtet ist. Nur wer sich heute so und morgen anders
entscheidet, wessen Handlungen jede Stetigkeit und jeden bestimmten
Zweck vermissen lassen, oder wer sich ohne Bewusstsein eines Zweckes
von dunklen Trieben leiten lässt, nur den wird man Bedenken tragen, eine
Persönlichkeit in demjenigen begrenzten Sinne des Wortes zu nennen,
worauf es in unserm Falle ankommt.
Eine derartige Unselbständigkeit und Unbestimmtheit seiner
Handlungsweise kann bei einem Menschen die Folge von äusseren
Einflüssen (mangelhafter Erziehung, übermässigen Alkoholgenusses)
oder eines masslosen Ueberschwanges der Gefühle sein, wie dies nicht
selten beim weiblichen Geschlecht der Fall ist. Sie kann aber auch
bei einem Menschen entstehen, wenn ein Anderer ihm die Zügel seiner
Selbstbeherrschung aus der Hand nimmt, wofür der Hypnotisierte
das augenfälligste Beispiel liefert. Bei einem solchen scheint das
eigene Ich ausser Funktion gesetzt und die Leitung zwischen der
Peripherie und dem ursprünglichen Willenscentrum gleichsam ausge-
schaltet und mit einem fremden Ich verbunden zu sein. Der Mensch
gleicht einem unterjochten Staate, der ohne alle Selbstverwaltung und
eigene Kraft der Willkür des Siegers preisgegeben ist. Unfähig, sich
gegen die von draussen überkommenen Befehle aufzulehnen, sinkt er
von der Stufe der Persönlichkeit zu einem kraftlosen Automaten,
einem unselbständigen Werkzeug in der Hand des Magnetiseurs herab,
je weniger er im Stande ist, seine Handlungen durch das hinschwin-
dende Bewusstsein des normalen Ich zu kontrollieren.
Persönlichkeit schHesst also zwar Charakter ein, denn nur auf
Grund bestimmter Anlagen und Willensrichtungen kann der Mensch
sich einen bestimmten Zweck vorsetzen. Aber sie schliesst alle
Passivität und alles Automatische der Handlung aus, weil diese immer
ein Zeichen dafür sind, dass irgendwo die Leitung zwischen dem Ich
und seinen normalen Funktionen unterbrochen ist. ' In diesem Sinne
lässt sich dieselbe definieren als „bewusste Herrschaft des be-
232 Das Sein des Ich.
wussten individuellen Zwecksystems durcli bewusste Re-
flexion und Selbstdetermination des Willens^.**
In der That setzt Persönlichkeit Bewusstsein voraus und kann
sie nichts Anderes sein als die höchste Blüte des bewusst-geistigen
Lebens. Denn darin sind alle einig, sie für den Triumph der Vor-
stellung über den Willen zu erklären; einen solchen aber kann es
nur innerhalb des Bewusstseins geben, worin allein, wie wir gesehen
haben, ein Widerstreit zwischen beiden möglich ist. Persönlichkeit
bedeutet die Herrschaft des Ich über seine Funktionen, der vernünf-
tigen Reflexion über die impulsiven Triebe, des Bewussten über das
Unbewusste. Wo aber kein Bewusstsein ist, wie sollte da ein Ver-
hältnis zwischen beiden stattfinden können? Allerdings ist die wirk-
liche Persönlichkeit von einer unbestrittenen Herrschaft des einen
über das andere meist weit entfernt. Durch seine Verknüpfung mit
dem materiellen Organismus, welche die Psychologie nie übersehen
darf, ist zugleich auch das Bewusstsein den Stürmen und Wechsel-
fällen des empirischen Daseins preisgegeben. Darum ist auch die
Persönlichkeit etwas, was erworben, sich durchsetzen, was im Kampfe
mit widerstrebenden Elementen gleichsam täglich von neuem wieder
erobert werden muss. Dieses Moment des Sichdurchsetzens und Sich-
behauptens ist dadurch so innig mit dem Begriffe der Persönlichkeit
verschmolzen, dass wir es kaum mehr von ihm zu trennen vermögen.
Persönlichkeit ist eben ein Ideal, das immer nur annähernd von uns
realisiert werden kann ; Ideale aber giebt es nur innerhalb der Sphäre
des Bewusstseins, weil es hier allein eine Trennung zwischen Denken
und Wollen und damit zwischen Sollen und Vollbringen giebt.
2. Die psychologisclie Entwickelung des IcIl
Es handelt sich nun zunächst darum, die allmäliche Herausbildung
des Gegensatzes von Subjekt und Objekt darzulegen und diejenigen
Momente anzugeben, durch welche hindurch sich die Vorstellung des
Ich entwickelt.
Wir haben gesehen, wie das Erwachen des Bewusstseins sich
zunächst bloss im Gefühl ankündigt. Schon im Mutterleibe hat das
Kind Gefühle, zunächst wohl bloss seines vegetativen Wohl- oder
üebelbefindens. Alsbald aber gesellen sich zu ihnen Empfindungen
von mehr oder weniger bestimmter Art, je mehr das Kind seine
Gliedmassen und Organe zu gebrauchen anfängt. Ein dunkles instinkt-
* Vgl. mein Werk: Die deutsche Spekulation seit Kant mit besonderer
Rücksicht auf das Wesen des Absoluten und der Persönlichkeit Gottes (1893),
S. 57—59.
Die psychologische Entwickelung des Ich. 233
artiges Wollen, der allgemeine Drang nach Bethätigung seiner Organe,
veranlasst es, gewisse Bewegungen zu vollziehen. Die hiermit ge-
gebenen Bewegungs- und Muskelempfindungen verbinden sich mit den
Tastempfindungen, die aus der Berührung des eigenen Körpers und
der Wände der G-ebärmutter entstehen, und tragen dadurch zur Diffe-
renzierung des ursprünglichen Gefühlszustandes bei, worin wir den
Keim des ganzen späteren Bewusstseinslebens zu erblicken haben.
Rechnet man hierzu noch die Geschmacksempfindungen hinzu, wie
solche nach Kussmaul auf dem zeitweiligen Verschlucken des Frucht-
wassers beruhen^, so finden sich also schon in jenem ersten Gegen-
satze rein innerlicher und von aussen hervorgerufener Empfindungs-
unterschiede alle diejenigen Momente in gefühlsmässiger Gestaltung
vor, die später zur Unterscheidung von Subjekt und Objekt führen.
Das Kind kommt sonach schon mit einem ziemlich differenzierten Be-
wusstseinsinhalt zur Welt, und alle weitere Entwickelung seines
geistigen Lebens beruht nur auf einer schärferen Herausbildung des
erwähnten Gegensatzes.
Anfangs freilich weisen auch nach der Geburt die Empfindungen
des Kindes noch schwerlich über den eigenen Organismus hinaus. Das
Schreien des neugeborenen Menschen ist nicht, wie Hegel meint,
eine Offenbarung seiner höheren Natur, keine „ideelle Thätigkeit",
wodurch das Kind sich sogleich von der Gewissheit durchdrungen
zeigt, dass es von der Aussenwelt die Befriedigung seiner Bedürfnisse
zu fordern ein Recht habe, dass die Selbständigkeit der Aussenwelt
gegen den Menschen eine nichtige sei^, es bedeutet auch nicht nach
Michelets Ausdruck das Entsetzen des Geistes über das ünterworfen-
sein unter die Natur und was dergleichen Erdichtungen mehr sein
mögen, sondern es hat wahrscheinlich seine Ursache einfach in dem
ungewöhnlichen plötzlichen Eindruck der äusseren kalten Luft, sowie
in dem „Gefühl des Lufthungers", das mit der Geburt und der Unter-
brechung des Placentarkreislaufes eintritt^.
Von nun an aber beginnt sich das Bewusstsein des Kindes mit
solchen Eindrücken zu erfüllen, die von den bisherigen sehr verschie-
den sind. Wenn nämlich diese wegen ihrer starken Gefühlsbetonung
mit der Subjektivität des Kindes eng verhaftet blieben, so kommen
jetzt zu ihnen ausser den Geruchs- und Gehörsempfindungen vor allem
die Lichtempfindungen hinzu, unter deren Einfluss nun auf einmal
^ Kussmaul: Untersuchungen über das Seelenleben des neugeborenen
Menschen (1859), S. 38.
» Hegel: Ww., VH, U S. 93.
' Kussmaul: a. a. 0. S. 27 ff.
j
234 Das Sein des Ich.
der Schwerpunkt der Empfindungen vom Centrum in die Peripherie
hinaus verlegt wird. Schon am zweiten Tage nach der Geburt suchen
Kinder wiederholt den Lichtreiz auf, vielleicht weil er ihnen im
Gegensatze zu den meisten übrigen Empfindungen trotz seiner Stärke
Lust verursacht. Jedenfalls wird es an der Häufigkeit und Gleich-
mässigkeit liegen, womit dieser Reiz ihr Bewusstsein umspielt, dass
die Lichtempfindungen am frühesten ihren Gefühlston verlieren und
den Charakter der reinen Gegenständlichkeit erhalten.
Nun sind es nicht mehr bloss unwillkürliche und instinktive Be-
wegungen, worin sich die vegetative Energie entladet, sondern ange-
lockt durch den Lichtreiz, greift das Elind mit Bewusstsein in die
Welt hinein, um hier überall auf weit stärkere Widerstände zu stossen,
als sich ihm in der weichen und flüssigen Umgebung des Mutterleibes
darboten. Dazu kommt, dass infolge der grösseren Intensität seiner
Funktionen, wie sie mit der Veränderung seiner Lebensbedingungen
und dem Ersätze des kontinuierlichen Nahrungs- und Atmungszuflusses
durch periodische Unterbrechungen desselben gegeben ist, auch die
Gefühle und Empfindungen ein viel deutlicheres Bewusstsein konsti-
tuieren und eine bestimmtere Form annehmen, die zugleich mit der
Unterscheidung auch ein Wiedererkennen und damit Erinnerung be-
gründet ^ Jetzt nimmt das Kind die Empfindungen nicht mehr einfach
hin, sondern die Empfindung einer gehemmten Bewegung erweckt
in ihm, besonders wenn sie eine schmerzhafte ist, das Bewusstsein
eines Andern, das nicht es selbst ist, das ihm feindlich entgegen-
strebt, und die Erinnerung, die ihm jene Widerstandsempfindung ins
Bewusstsein zurückruft, hält den Gedanken des Andern selbst dann
noch fest, wenn es nur ein Gegenstand seiner Vorstellung, aber nicht
auch seiner unmittelbaren sinnlichen Empfindung ist. Hat das Kind
einmal mit der Hand ins Licht gegriffen oder sich an der Tischkante
gestossen, so empfindet es von jetzt an diesen Gegenständen gegen-
über eine gewisse Scheu, die es nötigt, sich vor ihnen auf sich selbst
zurückzuziehen, und erst wenn es die Gesichtswahmehmungen beider
öfter gehabt, ohne dass sich mit ihnen zugleich die Schmerzempfin-
dung verknüpft bat, verblasst diese Empfindung in seinem Bewusst-
sein immer mehr zur blossen unbetonten Vorstellung eines von ihm
verschiedenen Objektes. So verknüpft sich unter dem Einflüsse vor
allem der Tast- und Gesichtsempfindung mit einem Gegenstande nach
dem andern der Gedanke des Nichtich, und die täglich sich mehr
entwickelnde Erinnerung und Reflexion sorgen dafür, dass auch solche
VHöffding: a. a. 0. S. 5.
Die psychologische Entwickelung des Ich. 236
Objekte zum Nichtich gestempelt werden, an denen der Widerstand
durch Berührung nicht unmittelbar erprobt ist. Uebrigens ist auch
schon, von aller Berührung abgesehen, ein Widerstand überall dort
gegeben, wo ein Objekt sich unseren Sinnen von aussen aufdrängt,
ohne durch den Willen unmittelbar beseitigt, werden zu können. Die
Gegenstände in der blossen Vorstellung unterliegen in der Regel der
Willkür des vorstellenden Subjektes und lassen daher den Gedanken
nicht aufkommen, ihrem Wesen nach ein Anderes als das Subjekt
zu sein.
Zunächst wird auch der eigene Körper mit zum Nichtich ge-
rechnet. Denn so gut, wie das Kind mit seinen Händen fremde Gegen-
stände berührt, berühren sich auch die verschiedenen Gliedmassen seines
Leibes unter einander und erzeugen dadurch wechselseitig die Em*
pfindung des Widerstandes. Das Kind, das seine Hand schlägt, weil
sie sich an der Bettstelle gestossen und ihm dadurch Schmerz verur-
sacht hat, beweist, dass es jenes Glied als ein fremdes Objekt be-
trachtet; und wenn es (nach Hoff ding) noch gegen Ende des zweiten
Jahres dem eigenen Fuss einen Zwieback anbietet, so zeigt das, wie
viele Erfahrungen nötig sind, um die innerliche Einheit des Ich mit
den verschiedenen Teilen seines Körpers herzustellen.
Trotzdem wird man annehmen dürfen, dass von Anfang an eine
viel engere Beziehung zwischen dem Ich und dem ihm zugehörigen
Körper, als zwischen dem Ich und der Aussenwelt besteht. Und zwar
sind es wohl zuerst die Hände, womit das Kind am frühesten bekannt
wird, und die es als sein Eigentum begreift. Schon am ersten Tage
nach der Geburt steckt das Kind die Finger in den Mund, um sie
dann auch bei allen übrigen Bewegungen zu gebrauchen. Die Vor-
stellung der sich bewegenden Gliedmassen verschmilzt aber überall
mit den begleitenden Muskel- und Innervationsempfindungen, und dieser
enge Zusammenhang des Aeusseren mit dem Inneren hebt den Unter-
schied zwischen Ich und Nichtich auf. „Das grosse Interesse", meint
Hoff ding, „womit das Kind seine Gliedmassen und deren Bewegungen
betrachtet, lässt sich vielleicht aus dem sonderbaren Umstand herleiten,
dass hier etwas Seh- und Greifbares und Widerstandleistendes ist,
welches sich dennoch an der aktiven Bewegung beteiligt. Es ist ein
Objekt, welches doch zum Subjekt mitgehört. Das Kind macht hier
dieselbe Erfahrung, wie der Hund, der sich nach dem eignen Schwanz
umdreht^." In solcher Weise sondert sich allmälich die Vorstellung
des eigenen Körpers von den übrigen Vorstellungen des Nichtich ab
» Hoff ding: a.a.O. S. 7.
236 ^M Seia des leb.
und tritt auf die Seite des Ich herüber. Der Körper bleibt Objekt,
wie alles, was Widerstand leistet, aber er sfreift die Art des blossen
Nichtich ab und verschmilzt mit der Vorstellung des Ich zu einer Art
Mittelding zwischen Ich und Nichtich, wodurch nun die Beziehungen
zwischen beiden vermittelt werden.
Haben sich einmal die beiden entgegengesetzten Yorstellungs-
kreise der widerstandleistenden, selbständigen, nichtichlichen Aussen-
weit und der rein innerlichen Gefühle, Empfindungen u. s. w. in ihrer
Bezogenheit auf den Körper von einander abgesondert, dann ist es
nur ein weiterer selbstverständlicher Schritt, dass beide auch unter
bestimmte Begriffe zusammengefasst werden und die subjektive Ein^
heit an dem Worte „Ich" ihren sprachlichen Ausdruck findet. Was
dies Wort bezeichnet, ist eben nur die Einheit des Bewusstseinslebens,
der Umstand, dass aller wechselnde Inhalt des Bewusstseins zu einer
und der nämlichen Bewusstseinsform gehört oder dass es einer und
derselbe formale Akt ist, wodurch die verschiedenen Bewusstseins-
Inhalte zur einheitlichen Innerlichkeit verschmolzen werden. Wir be-
ziehen deshalb alle subjektiven Inhalte auf denselben Mittelpunkt,
weil die Subjektivität überhaupt der unmittelbare Index des thätigen
Substrates alles Bewusstseinsinhalts ist. Aber das Wort „Ich** be-
deutet nicht dies thätige Substrat oder reale Subjekt selbst, sondern
nur den identischen Akt seines beständigen Zusammenfassens. Weil
es gar keinen Bewusstseinsinhalt giebt, der nicht in die Synthese un-
mittelbar mit eingeschlossen wäre, so müssen wir alle Vorstellungen,
auch diejenigen der Aussenwelt, auf unser Ich beziehen, oder ist aller
Inhalt, sofern er nur Bewusstseinsinhalt ist, mein Inhalt: „Die Welt
ist meine Vorstellung.'* Aber alles Bewusstsein meiner selbst oder
alles Selbstbewusstsein ist zugleich Bewusstsein eines Anderen, weil
das Selbst eben nur die Form des Zusammenfassens ist, der von ihr
verschiedene Inhalt ihr aber stets gegeben sein muss. So versteht
man, dass es kein Selbstbewusstsein ohne Bewusstsein einer von ihm
verschiedenen Aussenwelt giebt, indem auch die rein subjektiven Be-
wusstseinsinhalte (Gefühle, Empfindungen u. s. w.) nur erst durch den
Widerstand der Aussenwelt veranlasst werden. So versteht man aber
auch, dass die Aussenwelt das Interesse des Kindes früher in An-
spruch nehmen muss als die eigene subjektive Innerlichkeit, weil diese
zunächst nur als die Wirkung aufgefasst wird, zu welcher das Kind
die Ursache unwillkürlich im Objektiven aufsucht.
Ursprünglich wird der Körper, wie gesagt, zum Ich gerechnet,
und wenn er nicht als der substantielle Träger der seelischen Funk-
tionen aufgefasst wird, so verschmelzen doch beide in der Vorstellung
Die psychologisclie Entwickelung des leb. 237
zur unmittelbaren Einheit. Diese Auffassung besteht jedoch nur auf
den niederen Stufen des Bewusstseins und ist nur solange aufrecht
zu erhalten, als die Reflexion eine bestimmte Grenze noch nicht über-
schritten hat. Je deutlicher indess der Gegensatz zwischen den inneren
psychischen Gebilden und der äusseren Wahrnehmung vermittelst be-
sonderer Organe sich dem Bewusstsein aufdrängt und je mehr dadurch
die Aehnlichkeit des Körpers mit dem Nichtich zur Erscheinung kommt,
desto mehr lockert sich auch sein Verhältnis zum Ich, und der Körper
fängt an, sich aus der Einheit mit der Psyche loszulösen. Den Körper
nehme ich sinnlich wahr, aber ich habe keine Sinne, um die Wahr-
nehmung als solche wahrzunehmen. Jener ist, wie die Dinge ausser
mir, dem beständigen Wechsel unterworfen; die Einheit meines Ich
dagegen erhält sich in der Vielheit ihrer Accidenzen. Wo dieser
Unterschied zum Bewusstsein kommt, da ist es um die Identität
von Körper und Ich geschehen. Das Ich stösst den Körper gleich-
sam «von sich ab, und dieser gleitet wiederum auf die Seite des
Nichtich hinüber, woher ihn das Subjekt früher zu sich angezogen
hat. Von nun an erkennt sich das Ich als das Höhere gegenüber
dem Körper. Es fangt an, den thatsächlichen Zusammenhang mit ihm
als ein Verhängnis, den Leib als den „Kerker der Seele** zu em-
pfinden und ihn, ebenso wie die übrige nichtichliche Welt, der Bot-
mässigkeit des teleologisch bestimmten Bewusstseinsinhaltes zu unter-
werfen.
Diese Stufe in der Entwickelung des Ich ist überall gegeben, wo
nur überhaupt das Sinnliche (Körperliche) vom höheren Geistigen
unterschieden und dieses als das Zwecksetzende anerkannt wird. So-
lange der Mensch noch Ich und Körper mit einander identifiziert,
solange hat er gar keine Veranlassung, das Eine dem Anderen vor-
zuziehen und etwa die körperliche Lust der Verfolgung irgend-
welcher geistigen Ziele hintanzusetzen. Thut er dies, so hat er die
Trennung beider bereits unbewusst vollzogen und damit die Bahn für
ein sittliches Handeln und die Entwickelung der Persönlichkeit im
höheren ethischen Sinne frei gemacht. Offenbar liegt nun auch hier
die Grenze zwischen Tier und Mensch. Alle übrigen Stufen des Be-
wusstseins können in mehr oder weniger vollkommener Weise auch
vom Tier erstiegen werden. Die Trennung zwischen Körper und Ich,
Natur und Geist, die Unterscheidung der eigenen sinnlichen Triebe
und Bedürfnisse von Zwecken, die über die blosse Natürlichkeit
hinausreichen, diese kann nur vom Menschen vollzogen werden, und
daher ist der Mensch allein ein sittliches Wesen und ruht auf seinen
Schultern der Kulturprozess , weil alle Kultur nichts Anderes ist als
238 I^fts Sein des Ich.
die fortschreitende Emanzipation des Geistes von der Natur, der
Vorstellung von dem ihr widerstrebenden Willen. —
Eins geht aus dieser Entwickelung jedenfalls hervor, und das ist
die empirische Natur des Ich. Denn Entwickelung kann es nur
im Eeiche der Erscheinung geben und setzt eine materielle Unter-
lage voraus. Auch diejenigen, die dem Ich eine über die Erscheinungs-
sphäre hinausreichende Geltung zuschreiben und ein reines, transcen-
dentales, metaphysisches Ich annehmen, können doch nicht leugnen,
dass es in der Erscheinungswelt zunächst nur als „Eeim^ vorhanden
sei. Nun kann aber vom Ich nur die Eede sein, wo Bewusstsein ist,
und folglich lässt sich unter einer Eeimgestalt desselben vernünftiger
Weise nichts Anderes als jener ursprüngliche Gefühlszustand ver-
stehen, der schon im Mutterleibe das ganze bewusste Seelenleben des
Kindes ausmacht, und woraus sich die Ichvorstellung durch Differen-
zierung entwickelt. Gefühl aber ist etwas durchaus Empirisches, ent-
steht erst durch den Eindruck der Aussenwelt und ist ein ideelles
Sein, ja, Anfang und Kern des Ideellen und folglich ein bloss Zu-
ständliches, Accidentielles. Ein metaphysisches Ich dagegen müsste
als solches ein Reales und somit auch schon als blosser Keim der
substantielle Träger der psychischen Funktionen sein. Der sogenannte
„Keim** des Ich also ist kein metaphysisches Substrat und folglich
nicht Keim eines metaphysischen, sondern immer nur eines empirischen
Ich. Das metaphysische Substrat aber des empirischen Ich ist wieder-
um nicht Keim des Ich, weil es nichts als die Einheit des unbewussten
Willens und der unbewussten Vorstellung ist. Allerdings also ist das
ursprüngliche Gefühl der Anfang und Ausgangspunkt aller Entwicke-
lung des Bewusstseins. Aber es ist nur der Grund des bewussten
Seelenlebens in empirischer Beziehung und darf nicht mit dem
metaphysischen Grunde desselben verwechselt werden, als ob auch
dieser letztere ein keimhaftes Ich sein könnte.
8. Die Schwankiingexi des Ich..
Gesetzt, das Ich wäre metaphysischer, realer Art, so müsste es
vom Zufall unbeeinflusst bleiben. Nun ist aber unser Ich nichts
weniger als ein Leuchtturm, dessen Licht in allem Unwetter der em-
pirischen Ereignisse ruhig weiter brennte. Im Gegenteil ist auch das
Ich, ebenso wie sein Körper, den mannigfachsten Schwankungen unter-
worfen, und diese beruhen überall auf Veränderungen des materiellen
Organismus.
Jede Ohnmacht löscht die Flamme des Bewusstseins aus, jeder
Schlaf unterbricht den Verlauf des wachen Lebens und reisst den
Die SchwaDkungen des Ich. 239
kontinuierlichen Faden unseres Ich in eine Eeihe unzusammenhängen-
der Bestandteile auseinander. Zwar stellt nachher die Erinnerung den
Zusammenhang zwischen den verschiedenen Phasen unseres Wachseins
wieder her, sodass wir bei einer nachträglichen Rückschau auf die
durchlaufenen Zustände kaum an die beständigen Unterbrechungen
denken. Trotzdem führt diese Brücke über finstere Abgründe und
giebt es Zeiten, wo wir weder von einem Objekt, noch von uns selbst,
als Subjekt, etwas wissen.
Dies ist möglich, wenn unser Bewusstsein überhaupt nur die Syn-
these einer Mehrheit von physischen Momenten auf Grund eines einheit-
lichen Zusammenhanges unserer Gehirnteile ist. Dann kann durch
irgendwelchen äusseren Einfluss dieser Zusammenhang so weit auf-
gehoben werden, dass eine Synthese der mit ihnen verbundenen phy-
sischen Inhalte nicht mehr stattfinden und folglich auch ein einheit-
liches Bewusstsein nicht entstehen kann, wie bei der Ohnmacht.
Aber es ist nicht möglich, wenn das Wesen unseres Geistes ein un-
mittelbares Wissen von sich selbst, unser Ich die Identität des Sub-
jekts und des Objekts ist. Dass Schlaf und Ohnmacht wirklich auf
materiellen Vorgängen im Organismus beruhen, dass insbesondere der
Schlaf nur den Ermüdungszustand unseres Gehirns, zumal seiner höhe-
ren Teile darstellt, wird von Niemandem bezweifelt. Wie könnte der
bloss materielle Gehirnzustand eine Verdunkelung und zeitweilige
Aufhebung unseres Ich bewirken, wenn dieses von metaphysischer
Art und folglich das Substrat und Prinzip des materiellen Organismus
wäre?
Dem äusseren Zusammenhange unserer Gehirnbestandteile und
der Gleichheit ihrer Schwingungsarten, wie sie die materielle Be-
dingung der einheitlichen Bewusstseinsform darstellen, entspricht
im Bewusstsein selbst eine gewisse Gleichartigkeit des Inhalts, ein
konstantes Bewusstseinselement, das der Erinnerung die Verknüpfung
der verschiedenen Phasen unseres Ich erleichtert. Wenn wir oben
sagten, dass die inhaltliche Bestimmtheit eines Subjekts, seine Indivi-
dualität, von der Beschaffenheit und Thätigkeit seines materiellen Or-
ganismus abhängt, so müssen wir nun hinzufügen, dass diese Indivi-
dualität keine innere Festigkeit und gleichsam kein tragendes Rück-
grat besitzen würde, wenn ihre konstituierenden Inhalte beständig
wechselten und gar keine bleibenden Spuren hinterliessen. Zwar
würde auch dann noch auf Grund des materiellen Zusammenhanges ein
einheitliches Bewusstsein möglich sein. Allein bei dem beständig
fiiessenden und zerfiiessenden Inhalt desselben würde es zu gar keiner
innerlichen Konzentrierung kommen, das Subjekt würde kraft- und
240 Das Sein des leb.
haltlos von den mannigfaltigen Eindrücken mit fortgerissen werden.
Es muss daher einen konstanten Inhalt im Bewnsstsein geben, um
den sich, wie um einen festen Kern, die neu hinzukommenden Inhalte
jederzeit herumgruppieren.
Dass die Vorstellungen hierbei eine weit geringere Eolle spielen
werden als Triebe, Willensakte und Gefühle ist bei dem flüchtigen
Charakter der ersteren vorauszusehen. Die Gefühle vor allem reprä-
sentiren das konservative Element in unserem Bewusstsein. In allem
Wechsel seines Inhalts dauern sie am längsten und machen sich in
ihrer alten Beschaffenheit oft auch dann noch geltend, wenn die Vor-
stellungen längst über den früheren Standpunkt hinausgewachsen sind.
Religiöse und wissenschaftliche Urteile und Vorurteile haben bekannt-
lich ihre Hauptstütze im Gefühle. Der Verstand schwingt sich auf den
Flügeln der logischen Notwendigkeit unbedenklich und skrupellos von
Inhalt zu Inhalt; aber schwer&llig und langsam, wie der Tross des
Heeres, bewegen sich die Gefühle in der Entwickelung unseres Be-
wusstseins fort. Da sie aber selbst nur der unmittelbare Index für
den Inhalt eines Willens sind, so liegt darin zugleich der Beweis für
die relative Konstanz unserer konstituierenden Willensakte.
Die Vorstellungen enthüllen uns häufig nur gleich einem Blitz
die Dinge, ohne dass sie für uns irgendwelche Bedeutung erlangten.
Erst am Gefühl erkennen wir, welchen Eindruck ein Gegenstand auf uns
gemacht hat, und werden wir uns unseres Verhältnisses zu den Gegen-
ständen inne. Erst an unsem Wünschen und Interessen, die sich auf
bestimmte Gegenstände richten, sie festzuhalten oder abzuwehren
suchen, erfahren wir, wie und was wir sind und werden wir in den
Stand gesetzt, unser Verhalten zu den Gegenständen im voraus zu
bestimmen. Was man Charakter nennt, ist nichts Anderes als die Art
und Weise, wie Jemand auf die verschiedenen Arten von Motiven mit
seinem Gefühl und Willen reagiert. Dies ist aber wieder nur der
psychologische Ausdruck für die Art und Form der Schwingungen,
womit imser Gehirn die äusseren Reize beantwortet. Die Stetigkeit
unseres Charakters setzt folglich auch eine Stetigkeit seiner ma-
teriellen Unterlage voraus und umgekehrt: die Konstanz der ma-
teriellen Unterlage bedingt auch den einheitlichen Inhalt der Bewusst-
seinsform und damit die Persönlichkeit im oben dargelegten Sinne.
„Keine wahre Persönlichkeit entwickelt sich ohne Koncentration des
Gefühls- und Willenslebens. Ein Mensch, der kein vorherrschendes
Gefühl hat, sondern stets etwas Neues suchend, von einem zum an-
dern eilt, bekommt nicht Zeit und Kraft genug, um sich zu sam-
meln oder er selbst zusein: sich selbst kennen, ist sich selbst wie-
Die Schwankungen des Ich. 241
der erkennen, und dies setzt beständig wiederkehrende Bewusstseins-
elemente voraus ^
Von allen Inhalten des Bewusstseins kommt dem Gemeingefiihl
hierbei die grösste Bedeutung zu, wovon das abhängt, was wir unsere
Stimmung nennen. Das Gemeingefühl umfasst denjenigen üeber-
schuss von Lust und Unlust, der aus dem Gefühlsgehalt der konsti-
tuierenden niederen Individuen unseres Organismus als solcher un-
mittelbar in das höhere Bewusstsein mit eingeht. So bildet es gleich-
sam den dunklen Hintergrund, der allem unserem Bewusstseinsinhalt
eine bestimmte Färbung leiht, den Boden, worauf sich unsere jewei-
lige Bewusstseinswelt aufbaut, und dessen eigenthümliche Beschaffen-
heit durch allen ihren wechselnden Inhalt hindurchscheint. Von ihm
aber ist es zweifellos, dass es rein in den körperlichen Veränderungen
des Organismus wurzelt.
Die Veränderungen in unserm Ichbewusstsein gehen in der Regel
von einer Aenderung im Gemeingefühl aus. Eines der bekanntesten
Beispiele bietet in dieser Hinsicht das Erwachen (oder Erlöschen) der
Geschlechtsfunktionen. Hier treten neue , ungewöhnliche Gefühle,
Begierden und Vorstellungsverbindungen auf und versetzen das Indi-
viduum in einen Zustand, worin es sich selbst nicht wiedererkennt.
Es ist, als spalteten unterirdische Explosionen auf einmal die ganze
Welt des bisherigen Bewusstseinsinhalts auseinander, als brächen ver-
borgene Quellen auf und förderten neuen Inhalt an die Oberfläche
des Bewusstseins. Nur mühsam strebt das Individuum nach einem
Halt und sucht die zusammenhangslosen Erfahrungen um einen festen
Mittelpunkt zu sammeln. Aber mit dem veränderten Inhalt des Be-
wusstseins verändert sich auch der Charakter seines Ich, und oft genug
hat das neu entstandene Ich kein Verständnis mehr für den Inhalt
seiner früheren Entwickelungsphase.
Man hat oft beobachtet, dass Menschen nach einer überstandenen
schweren Krankheit oder starken körperlichen Erschütterungen ganz,
neue Seiten ihres Charakters im guten oder schlechten Sinne, ja, einen
ganz veränderten Charakter zeigen. Wir sehen Frauen von unliebens-
würdiger und selbstsüchtiger Art nach der Geburt des ersten Kindes
die zärtlichsten Mütter werden und einen Opfermut, eine Tapferkeit
gegenüber den Stürmen des Lebens an den Tag legen, die wir ihnen
vorher niemals zugetraut haben würden. Und umgekehrt sehen wir
sanfte und liebevolle Charaktere im gleichen Falle sich in zänkische
Xanthippen verwandeln. Aus den Schwankungen des Gemeingefühls,
^ Höffding: a. a. 0. S. 173.
Drews. 16
242 Das Sein des Ich.
die den Störungen im körperlichen Organismus entsprechen, taucht
gleichsam ein neues Ich empor, das mit dem alten häufig nur noch
durch die blosse Erinnerung verknüpft ist. Der Grundstock des Ge-
fühls ist ein anderer geworden, und damit sind auch die Interessen,
Vorstellungs- und Handlungsweisen verändert. Unter diesem Ge-
sichtspunkte hat man auch die sogenannten ^Bekehrungen" zu be-
trachten, von denen uns die Lebensbeschreibungen der katholischen
Heiligen und Märtyrer erzählen. Auch bei ihnen gehen die geistigen
Revolutionen Hand in Hand mit Veränderungen ihres materiellen
Organismus, und immer pflegen sie mit einer tiefen seelischen Er-
regung oder Depression, mit einer Auflösung ihres bisherigen Ge-
fühlszustandes zu beginnen.
Alle diese Erscheinungen nun beweisen, dass die formale Synthese
des Bewusstseinsinhalts, von der wir sahen, dass sie den materiellen
Prozessen korrespondiert, nur solange mit diesen gleichen Schritt
hält und ein einheitliches, zusammenhängendes Ichbewusstsein kon-
stituiert, als die materiellen Veränderungen in unserem Organismus
keine allzu gewaltsamen und plötzlichen Schwankungen erleiden.
Bildet sich der Inhalt des Bewusstseins bloss allmählich um, so unter-
liegt auch das Ich keinen wesentlichen Schwankungen und bleibt
seine Einheit gewahrt, auch wenn der Organismus neue Formen an-
nimmt und alle seine bisherigen Bestandteile sich verändern. So
wächst oft der Mensch aus seinem früheren Zustande heraus, ohne
selbst die Veränderung im Ichbewusstsein zu bemerken.
Ganz anders dagegen wenn die körperliche Veränderung sprung-
weise und plötzlich erfolgt oder Inhalte im Bewusstsein auftauchen,
die mit den vorhandenen Vorstellungen nicht verschmelzen können.
Dann findet mit dem Kampfe der alten und neuen Bewusstseins-
inhalte eine Gährungs- und Üebergangsperiode im Leben eines In-
dividuums statt, und kann sich die ursprüngliche formale Einheit
nur behaupten, wenn der Inhalt des bisherigen Ich nicht gänzlich
fortgeschwemmt wird und irgendwie ein Kompromiss zustande kommt.
Gelingt es dagegen nicht, 'den neuen mit dem alten Bewusstseins-
inhalt auszusöhnen oder an ihn an zu gliedern ^ bleibt jener allein
als Sieger zurück, oder gehen die Spuren der bisherigen Ichheit
verloren, so vermag die alte Form den neuen Inhalt nicht mehr zu-
sammenzuhalten, die Grösse der Gegensätze sprengt die Einheit aus-
einander, und es entsteht entweder ein völlig neues Ich, oder jene
Auflösung der geistigen Individualität, jene gänzliche Zersetzung des
Ichbewusstseins tritt ein, wie wir sie bei den Geisteskranken be-
obachten können.
Die Schwankungen des Ich. 243
Diese Thatsachen sollten genügen, um die Annahme eines wurzel-
haften und realen Ich zu zerstören, die das Ich über die Sphäre der
Erscheinungswelt hinaushebt. Ist schon das Bewusstsein nicht ohne
die materielle Unterlage des Gehirns zu denken, so gilt dies vom
Selbstbewusstsein oder Ich erst recht. Denn dieses ist bloss ein be-
sonderer Modus des Bewusstseins, insofern sich alles Bewusstsein auf
ein Objekt richtet und es gleichgültig und zufällig ist, ob dieses
Objekt gerade das Subjekt, d. h. das reale thätige Substrat des Be-
wusstseinsinhalts, ist. —
Wenn sonach das Subjekt uns niemals selbst als Subjekt, sondern
immer nur als Objekt zum Bewusstsein kommt, wenn es folglich dem
Geiste nicht wesentlich ist, sich selbst vor allem Andern zu wissen,
so brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn das Subjekt zeitweilig
vor dem Objekt verschwinden und dieses allein auf der Bühne des
Bewusstseins bleiben kann. Nicht das reale Subjekt ist in solchem
Falle aufgehoben, sondern nur unsere Reflexion auf dasselbe, d. h. das
ideelle, logische Subjekt. Einen solchen Fall aber können die Systeme
des Cogito ergo sum so wenig erklären, wie die gänzliche zeitweilige
Vernichtung des Bewusstseins.
Wer das Selbstbewusstsein für die Grundlage und den Kern alles
sonstigen Bewusstseinsinhalts hält, für den muss es füglich das Rätsel
aller Rätsel bleiben, wie jemand sich selbst über dem Objekt ver-
gessen, sich gleichsam in dieses ganz und gar verlieren kann. Und
doch ist dies oft genug während der Lektüre, beim Kunstgenuss, in
der angestrengten Verfolgung eines Gedankens u. s. w., ganz besonders
aber bei der künstlerischen und wissenschaftlichen Produktion der
Fall, die geradezu dadurch bedingt ist, dass während derselben alle
subjektiven Interessen schweigen. Die Aufmerksamkeit, die für ge-
wöhnlich an der Kette der praktischen Lebenszwecke des Individuums
gefesselt liegt, reisst sich hier von dieser los und jagt den freien
Vorstellungen nach, die am entgegengesetzten Pole des Bewusstseins
vorüberziehen. Da mag es denn vorkommen, dass jemand nicht
bloss seine Umgebung, sondern über der Vertiefung in den Gegen-
stand sogar seinen eigenen Namen vergisst und sich erst darauf
besinnen muss, wenn Einer ihn plötzlich während seiner Arbeit an-
ruft. Drängen sich dann aber solche Inhalte auf, die, wie z. B.
körperliche Schmerzen, in unmittelbarer Beziehung zum realen Sub-
jekt stehen, dann taucht auch das ideelle Subjekt wieder aus der
Versenkung empor, und die Aufmerksamkeit wendet sich alsbald
v^ieder solchen Objekten zu, die den praktischen Zwecken des Indi-
viduums entsprechen.
16*
244 ^M Sein des Ich.
Derjenige Teil des Organismus, woran die Funktionen der be-
wussten Willkür und zweckthätigen Besonnenheit, als Beziehung alles
Bewusstseinsinhalts auf die leitenden Lebenszwecke des Individuums,
haften, ist nach der allgemeinen Ansicht die graue Rindenschicht der
Grosshimhemisphären. Daher ist diese, wie wir gesehen haben, recht
eigentlich das Organ der Persönlichkeit mit ihren wesentlich aufs
Praktische gerichteten Bestimmungen. Folglich wird man, wo jene
Beziehung fehlt, wie in den erwähnten Fällen, an eine Aufhebung
oder doch Herabsetzung der Thätigkeit eben dieses Organes denken
und demnach schliessen müssen, dass die Produktivität oder das Ver-
mögen der Einbildungskraft, wie man es gewöhnlich nennt, nicht auf
der grauen Rindenschicht der Hemisphären, sondern auf tiefer ge-
legenen, subkortikalen Teilen des Gehirns beruht.
Nun wissen wir, dass dem Hemisphären- oder Grosshimbewusst-
sein sein wesentlichster Inhalt aus eben diesen niederen Gehimteilen
zugeführt wird. Zum mindesten erhält es von ihnen die sinnlichen
Wahrnehmungen, indem die Reize der Sinnesnerven schon hier ge-
ordnet und zu fertigen Gebilden verarbeitet werden. Das Grosshirn-
bewusstsein ist mithin auf das ganze Gehirn und die Mitwirkung
seiner verschiedenen Teile angewiesen. Allein die reflexhemmende
Thätigkeit der grauen Rinde lässt unter normalen Verhältnissen die
besonderen Funktionen der niederen Centren als solche nicht über
die Schwelle gelangen, und daher weiss das Grosshirnbewusstsein un-
mittelbar nichts von ihnen und erkennt es nur solche neuen Vor-
stellungen als die seinigen an, die sich sinngemäss in den Zusammen-
hang seines jeweiligen Inhalts eingliedern. Daraus folgt, dass der
Bewusstseinsinhalt um so konkreter sein muss und neue ungeahnte
Schätze aus unterirdischer Tiefe ans Licht des Bewusstseins herauf-
befbrdert werden müssen, sobald die hemmende Thätigkeit des Gross-
hirns herabgesetzt ist. Denn damit ist das Hindernis beseitigt, dessent-
wegen die subkortikalen Teile ausser Stande waren, die ganze Fülle
ihres Reichtums auszubreiten.
Eine solche zeitweilige Herabsetzung der Hemisphärenthätigkeit
findet auch im Schlafe statt. Ist doch von aUen Teilen des Organis-
mus die graue Rindenschicht bei ihrem beständigen Herrscheramte
über die niederen Gehirnteile am stärksten angestrengt und infolge
ihrer zarten und verwickelten Struktur am meisten der Ruhe be-
dürftig! Man hat oft das Einschlafen mit dem Uebergange des Tages
in die Nacht verglichen, wo ein eintöniges Schwarz die bunten Farben
der Gegenstände auslöscht und ihre Umrisse in einander verschwimmen.
Allein wenn es hier die Thäler sind, die von der Dunkelkeit zuerst
Die Schwankungen des leb. 245
ergriffen werden, die Gipfel jedoch noch längere Zeit von unbestimmtem
Licht umflossen liegen, so bleiben beim Einschlafen gerade umgekehrt
die tieferen Schichten des Gehirns noch hell, während die Gipfel
schon mehr und mehr in der Finsternis verschwinden. Besonders
wenn wir so überangestrengt sind, dass wir, wie man sagt, vor Müdig-
keit nicht schlafen können, tauchen oft noch seltsam phantastische
Gebilde, die sogenannten Schlaf bilder, über die Schwelle des däm-
mernden Grosshirnbewusstseins empor und legen Zeugnis ab von der
fortdauernden Thätigkeit in den Tiefen unseres Organismus; und nicht
bloss am Ende, sondern auch am Beginne des Schlafes pflegen wir
am lebhaftesten zu träumen, wenn die obersten Gehirnschichten schon
im tiefsten Dunkel liegen.
Wir wissen nicht, wie tief der Schlaf von der Peripherie zum
Centrum, von der Rindenschicht zu den subkortikalen Teilen, hinunter-
steigt und welche Gehirnteile von ihm ergriffen werden. Es giebt
Leute (L es sing gehörte bekanntlich zu ihnen), die niemals geträumt
zu haben behaupten. Vielleicht lässt sich daraus auf einen ziemlich
beträchtlichen Umfang des Schlafgebietes schliessen, wenngleich sich
der Schlaf natürlich niemals auch auf solche Gehimteile erstrecken
kann, von deren Thätigkeit der Fortbestand des Lebens abhängt.
Sicher ist, dass es auch die tieferen, mehr centralen Teile sind, die
der kürzesten Ruhe bedürfen, sich daher am ersten wieder zu
regen beginnen und durch ihre Thätigkeit ein einheitliches Bewusst-
sein konstituieren, worin sich alsdann die Vorgänge des Traumes
abspielen.
Oft genug kommt es hierbei nicht zur Bildung eines Selbstbe-
wusstseins. Der Mangel an spontaner Bewegung, an deren Wider-
ständen sich Gefühle von der nötigen Intensität entzünden könnten,
lässt die Spaltung in Subjekt und Objekt nicht zur Bestimmtheit
kommen. Dadurch wird aber auch das Auftauchen der Ichvorstellung
verhindert, und diese bleibt, ebenso wie die Vorstellung der Gegen-
stände, unklar und verschwommen. Dazu kommt, dass der schnellere
Verlauf des Traumbewusstseins , der seinen Grund in einer Hyper-
ästhesie des träumenden Centrums, als Ausgleichungserscheinung der
sinkenden Innervationsenergie des Organismus, hat, die Bjrystallisation
des Bewusstseinsinhalts um einen festen Mittelpunkt verhindert und
die Traumvorstellungen haltlos durcheinander wirbeln. Da wird es
denn begreiflich, wenn wir in einem solchen Falle an die Stelle des
„ich träumte" lieber das „es träumte mir** setzen; denn wir haben
das Bewusstsein, dass wir selbst die Vorgänge des Traumes nicht
verursacht und dass wir höchstens als passive Zuschauer interesselos
246 ^&8 S^i^ <lc8 ^<^^'
einem Schauspiel beigewohnt haben, über dessen Veranlassung wir
uns weiter keine Rechenschaft geben können.
Die wesentlichste Eigentümlichkeit unseres Traumbewusstseins
ist nun die, dass es allen Inhalt unmittelbar in sinnlich -anschauliche
Formen giesst, ihn objektiviert oder vergegenständlicht und in einen
imaginären Raum hinaus projiziert. Selbst Gefühlseindrücke rein sub-
jektiver Art, die an sich gar keinen Hinweis auf ein Objekt enthalten,
Gedächtnisvorstellungen und abstrakte Gedankenreihen werden von
ihm verbildlicht, symbolisiert und zu Dingen und Personen umge-
wandelt oder in Beziehung gesetzt, um alsbald in den wunderlichsten
Verkleidungen und Zusammenhängen ihre Rolle auf der Bühne des
Bewusstseins zu spielen. Der Grund für diese Objektivationstendenz
und Bildlichkeit des Traumbewusstseins ist wahrscheinlich in seiner
Gebundenheit an diejenigen Centren des Gehirns zu suchen, die in
näherer Verbindung mit den Sinnesnerven stehen, und deren gewöhn-
liche Thätigkeit darin beruht, die aus den Sinnesorganen empfangenen
Eindrücke für das Grosshirnbewusstsein zu verarbeiten.
Eine weitere Eigentümlichkeit ist die unlogische Beschaffenheit
des Traumbewusstseins, die Zügellosigkeit und phantastische Seltsam-
keit seiner Vorstellungen. Hier werden wir den Grund in der Aus-
schaltung der Thätigkeit des Grosshirns suchen müssen; denn dieses
ist, wie gesagt, der eigentliche „Sitz der Besonnenheit". Im wachen
Zustande bewegen sich unsere Vorstellungen am Massstabe teleolo-
gischer Beziehungspunkte fort, und werden alle diejenigen Inhalte
unseres Bewusstseins abgewiesen, die nicht in das System der jewei-
ligen Mittel und Zwecke passen. Im Traume dagegen giebt es ent-
weder keine Zwecke oder sie tauchen zusammenhangslos auf, um
alsbald wieder zu verschwinden. Daher fehlt es hier an einer Rang-
ordnung der Vorstellungen, sie haben sämtlich nichts vor einander
voraus und sind nur nach den Gesetzen der Assoziation mit einander
verbunden. So kreuzen sich zusammenhängende Vorstellungsreihen
nicht selten mit solchen Inhalten, die ganz andere Voraussetzungen
hinter sich und gar keine innerliche Beziehung zu jenen haben.
Während nun das wache Bewusstsein beide Reihen auseinanderhält,
wird im Traum entweder die eine von der anderen verdrängt, und
schiebt sich plötzlich ein ganz neuer Inhalt an die Stelle des alten,
oder aber irgend ein zufalliges Merkmal in der einen Reihe führt
unmittelbar zur Verbindung mit der anderen, und beide Reihen laufen
alsdann in einander verschlungen weiter, ohne dass wir an dem Un-
logischen und Unsinnigen dieser Verschlingung Anstoss nehmen. Im
Traume mangelt uns eben die kritische Besonnenheit, wodurch wir
Die Schwankungen des Ich. 247
mehre Inhalte von einander unterscheiden, sie annehmen oder ver-
werfen können. Daher steht hier das Bewusstsein allen Eindrücken
von aussen offen, verbildlicht sie, einerlei, ob sie zu seinem jeweiligen
Inhalt passen oder nicht, und lässt die verschiedenen Bilder sich
gleichsam mechanisch mit einander vereinigen und fortbewegen, ohne
selbst vorher das Ziel und die Richtung dieser Bewegung zu kennen.
Erhebt sich nun auf solcher Grundlage ein Selbstbewusstsein, so
wird es natürlich auch eine entsprechende Beschaffenheit zeigen. Wie
der Traumleib durch seine Verflechtung mit den übrigen Gegen-
ständen des Traumes gleich diesen über die Schranken des Raums
hinausgehoben wird, so fügt sich auch das Traumich in diesen Zu-
sammenhang mit ein und lässt sich passiv die Aufhebung der Unter-
schiede in der Zeit gefallen. Eine der gewöhnlichsten Erscheinungen
im Traume ist, dass Jemand sich auf eine frühere Stufe seiner Ent-
wickelung zurückversetzt glaubt. Wie oft träumt sich nicht der Mann
in die Jahre seiner Schulzeit, der Greis in seine Kindheit zurück, so
zwar, dass mit der leiblichen Verjüngung zugleich auch eine Wieder-
auflfrischung entschwundener Gedächtnisspuren Hand in Hand geht!
Mit dem Traumich verschmelzen Erinnerungen, worauf das wache
Bewusstsein nie verfallen würde. Gedanken, die es längst begraben
glaubte, tauchen hier mit einer Klarheit wieder auf, als würde die
Vergangenheit selbst unmittelbar in der Gegenwart lebendig. Im
Traum erscheinen einem Richard IH. die Geister der von ihm Er-
mordeten und rütteln sein Gewissen auf, wie sehr sich auct sein
waches Bewusstsein dagegen abgestumpft hatte. Darum fürchtet den
Schlaf, wer Grund hat, sich gegen die Stimme seines Gewissens zu
verschliessen, weil längst unterdrückte Gefühle moralischer und reli-
giöser Art im Traum über ihn die Oberhand gewinnen und er hier
nicht, wie im wachen Leben, imstande ist, die Furien durch bewusste
Reflexion und willkürliche Ableitung seiner Gedanken in die Nacht
der Vergessenheit zurückzudrängen. Aber nicht bloss kehrt der Traum
die ursprüngliche bessere Natur des Menschen hervor, er spottet auch
oft aller Erfolge unserer Erziehung und wirft uns in einen Zustand
der Natürlichkeit zurück, den wir längst schon hinter uns zurück-
gelassen zu haben glaubten. Wir meinten, uns durch harte Selbst-
zucht, durch unerbittliche Unterdrückung unserer niedrigen Triebe
und Begehrungen zur Höhe einer edlen Menschlichkeit emporgearbeitet
zu haben, und müssen erleben, dass eben diese Triebe uns im Traume
zum Spielball ihres schamlosen Gebahrens machen, dass längst ver-
gessene Wünsche uns zu Thaten mit fortreissen, woran wir im wachen
Zustande nicht einmal denken würden. Mit der Ausschaltung des
248 Das Sein des Ich.
Organes der Besonnenheit ist gleichsam eine ganze Schicht in unserem
Gehirn abgetragen und darunter eine Hölle aufgedeckt, wohinab wir
alle diejenigen Elemente gestossen hatten, auf deren Ausmerzung und
beständiger Unterdrückung der Fortschritt unserer geistigen Kultur
beruht.
Man hat aus diesem Grunde nicht mit Unrecht die subkortikalen
Teile des Gehirns als die materiellen Unterlagen für zurückgelegte
Stufen unserer individuellen Bewusstseinsentwickelung und demgemäss
den Traum als ^ atavistischen Eückfall*" in diese Stufen angesehen,
worüber uns unser Grosshimbewusstsein hinausgeführt hat. Allein
nicht immer weist der Traum auf frühere Entwickelungsphasen hin:
er kann auch die Anzeichen einer neuen Phase enthalten, die sich
in den Tiefen unseres Organismus vorbereitet, und dies verleiht ihm
alsdann den prophetischen Charakter.
In jedem Falle kann auch hier ein Ich nur entstehen, wo die
Bedingungen zu einem solchen zusammentreffen, die formale synthe-
tische Thätigkeit, die überall im Hintergründe lauert, und die Ein-
heit und zusammenhängende Beschaffenheit der materiellen Unterlage.
Indem „unser" Ich immer dasjenige ist, das jeweilig an dem höchsten
in Funktion befindlichen Centrum unseres Organismus haftet, so steigt
es zu tieferen Teilen des Gehirns hinab, wenn unser Grosshirn, wie
im Schlafe, ausser Funktion gesetzt ist. Unser Ich ist sonach im
Traum ein anderes, wie im Wachen, weil der Inhalt seines Bewusst-
seins ein anderer ist, und dieser ist ein anderer, weil das Bewusst-
sein auf anderen Centren des Gehirns beruht. Das Traumich ist das
Selbstbewusstsein desjenigen Centrums, das nach Ausschaltung der
Großshimthätigkeit als höchstes übrig bleibt. Es liegt also unter
dem Grosshimbewusstsein und entbehrt folglich der bewussten Will-
kür und zweckthätigen Besonnenheit, weil diese bloss an der grauen
Rindenschicht der Hemisphären haften. Das Grosshimbewusstsein
erfährt daher auch im Allgemeinen nichts vom Inhalt des Traum-
bewusstseins oder empfängt von ihm doch nur zufällig und auch dann
meist nur unvollständige und verworrene Kunde, weil es selbst an
der Entstehung jenes Inhalts nicht beteiligt ist. Wohl aber erstreckt
sich das Gedächtnis des Traumbewusstseins auch auf das wache Ich
und seine Erlebnisse, weil der Wahrnehmungsinhalt durch die sub-
kortikalen Centren hindurchgehen muss, um Inhalt des Grosshirn-
bewusstseins zu werden.
Nun sahen wir, dass unser Ichbewusstsein nicht bloss durch die
jeweilig gegenwärtigen Momente, sondern auch durch die vergangenen
individuell gefärbt wird. Jede Gedächtnisvorstellung, die als solche
Die Schwankungen des Ich. 249
wiedererkannt, d. h. erinnert, wird, rechnet das Ich ohne Weiteres
sich selber zu, und auch wenn es bei plötzlich auftauchenden Vor-
stellungen nicht zu bestimmen weiss, woher sie stammen und unter
welchen Umständen es dieselben schon einmal gehabt hat, wie bei
Reproduktionen von Traumvorstellungen, hat es doch über ihren Zu-
sammenhang mit dem eigenen Bewusstsein keinen Zweifel. Das Traum-
bewusstsein jedoch projiziert auch diesen Inhalt nach aussen hinaus
und überträgt ihn auf abgesonderte Traumfiguren, die zum Subjekt
des Träumens in nähere Beziehung treten. So entstehen solche Träume,
wie die, wo ich als Kandidat im Examen die Antwort schuldig bleibe,
die ein Anderer mir vorwegnimmt, oder wo mir ein Fremder Rat-
schläge giebt, die ihre Quelle doch nur in der Tiefe des eigenen Be-
wusstseins haben. Das Traumich hat in solchem Falle verschiedene
Personen von sich abgespalten und umfasst nur einen begrenzten Teil
vom Gesamtinhalt des Traumbewusstseins , ^während der andere Teil
zur Aufrechterhaltung von neuen Persönlichkeiten verwendet wird,
wie wenn ein Dichter aus dem Schatze seiner Menschenkenntnis heraus
die Charaktere seines Dramas gestaltet. Dass es sich hierbei in der
That nur um Personifikationen der eigenen Gedächtnisvorstellungen
handelt, ergiebt sich daraus, dass diese Vorstellungen jederzeit als
geliehenes Eigentum erkannt und als solches vom Traumich wiederum
sich zugerechnet werden können. Damit wird dann auch die ge-
träumte Person ins Traumich wieder zurückgenommen, oder aber das
letztere tritt selbst an deren Stelle und führt die Traumhandlung in
der fremden Rolle weiter.
Nunmehr sind wir von der Betrachtung unserer Traumvorstel-
lungen aus der schöpferischen Einbildungskraft des Künstlers
so nahe gekommen, dass es begreiflich scheint, wie man von jeher
einen inneren Zusammenhang zwischen beiden hat vermuten und den
einen Faktor durch den anderen hat erklären können. Diese Ver-
mutung gewinnt an Wahrscheinlichkeit, wenn wir von der Herstellung
von Kunstwerken im Traumzustande hören (Walter Scott). Wie
das Traumich mit seinen Traumgestalten, so lebt der Künstler mit
den Geschöpfen seiner Einbildungskraft. Seine Gedanken werden ihm
unmittelbar zu sinnlich anschaulichen Bildern, indem sein Traum-
bewusstsein sich selbständig gegenüber seinem wachen Ich entfaltet.
Natürlich handelt es sich hier bloss um eine Herabsetzung des Gross-
hirnbewusstseins, nicht aber um eine gänzliche Aufhebung desselben.
Das beweist die teleologische Verknüpfungsart der Phantasiegebilde,
wodurch sich die schöpferische Einbildungskraft von der Zügellosig-
keit und Launenhaftigkeit des Traumbewusstseins unterscheidet. Beim
260 Das Sein des Ich.
letzteren wird meist durch Organreize und zusammenhangslose Schwin-
gungen einzelner Teile des betreffenden Centrums zufällig und auf kurze
Strecken ein vernünftiger Ablauf und eine sinnvolle Verknüpfung der
einzelnen Bilder hervorgebracht. Dagegen gehört es zum Wesen der
Produktion, dem Bilderablauf ein bestimmtes Ziel zu setzen, mit kri-
tischer Besonnenheit die Gestaltungen des Traumbewusstseins zu über-
wachen und überall nur das Gelungene festzuhalten. Diese Zügelung
des Pegasus ist jedoch nur durch zweckthötige Einwirkung von Seiten
des wachen Bewusstseins möglich, indem es den Yorstellungsablauf
entweder durch ein einmaliges Inkrafttreten für eine gewisse Zeit oder
aber fortlaufend so bestimmt, dass wenigstens die Marksteine des zu
durchlaufenden Weges von ihm selbst gesetzt und abgemessen werden.
Seiner Natur nach pflegt das Grosshirnbewusstsein diese Anwei-
sungen meist in abstrakter Form den tiefer gelegenen Centren des
Gehirns zu übermitteln. Allein das Traumbewusstsein formt sie unter
Zuhülfenahme seines reichen Gedächtnisschatzes alsbald zu anschau-
lichen und konkreten Gebilden um und hebt sie in dieser neuen Ge-
stalt wieder über die Schwelle des wachen Bewusstseins, um sie dessen
beständiger Kritik zu unterbreiten. Darum darf der Künstler die
Ausbildung seines Grosshirnbewusstseins und seines leitenden und
zügelnden Einflusses, den es auf die tieferen Gehirnteile ausübt, eben-
sowenig vernachlässigen, wie er gleichzeitig die bildererzeugende
Thätigkeit des Traumbewusstseins als passiver Zuschauer in sich ge-
währen lassen muss. Wer beständig mit seiner Reflexion in die ideale
Bilderwelt hineinfährt und den Blütenstaub von ihren zarten Gebilden
abstreift, der verfällt damit nur in den entgegengesetzten Fehler, wie
derjenige, der bei seinem Mangel an Kritik sich blindlings den Launen
seines Traumbewusstseins hingiebt. Die wahre künstlerische Produk-
tivität besteht nur in dem innigen Zusammen- und Ineinanderwirken,
in der Einheit von Freiheit und Notwendigkeit, der Freiheit, wie sie
der natürlichen Schöpferkraft des Traumbewusstseins zukommt, und der
Notwendigkeit, die ihr durch die regelnde Thätigkeit des Grosshirn-
bewusstseins auferlegt wird, und nur wenn beide in dem richtigen Ver-
hältnis zusammenwirken, können wahrhaft wertvolle Produkte entstehen.
Es ist Hartmanns Verdienst, die Einbildungskraft zuerst als
„Hineinscheinen oder Hineinwirken des Traumbewusstseins ins wache
Bewusstsein" gegenüber dem Hineinwirken des wachen Bewusstseins
ins Traumbewusstsein oder der „Autosuggestion" gefasst und dem-
gemäss die produktive Phantasie aus der Wechselwirkung der ent-
«
sprechenden Gehirnteile erklärt zu haben ^. Damit ist Licht in ein
^ V. Hartmann: Aesthetik, II, S. 568 — 586.
Die SchwankuDgen des Ich. 251
Problem gebracht, das bisher zu den dunkelsten der Psychologie ge-
hört hat. Auf diesem Wege weiter gehend, hatDessoir alsdann auf
Grund der Thatsache, dass in allen unseren Vorstellungen und Be-
griffen ein Bild oder eine Bildgruppe gegenwärtig ist, die ganze be-
wusste Denkthätigkeit überhaupt auf den halluzinatorischen Charakter
der niederen Gehirnteile zurückzuführen und als eine „Reihe unvoU-
3tändiger Halluzinationen" zu bestimmen versucht, die nur infolge
der kritischen Reflexion des Grosshirnsbewusstseins nicht nach aussen
projiziert und zu wirklichen Halluzinationen ausgestaltet werden.
„Grade was gemeinhin als das Fundamentale gepriesen wird (das be-
wusste Denken) ist in Wirklichkeit die Unterdrückung unserer natür-
lichen Anlage, und die Halluzination, die man gewöhnlich für eine
krankhafte Verirrung hält, bildet wenigstens in statu nascendi den
Stamm unseres ' geistigen Lebens ^"
So fällt Licht auch auf die scheinbar paradoxe Thatsache, dass
sich beim Kinde früher ein Bewusstsein vom Objekt als vom Subjekt
entwickelt, und erklärt es sich zugleich, wie psychische Zustände auf
Gegenstände übertragen werden können, die sich ausserhalb des Sub-
jekts befinden. Das ursprüngliche Bewusstsein der niederen Gehirn-
teile projiziert eben alle subjektiven Eindrücke nach aussen, überträgt
sie auf fremde Gegenstände oder bildet sie zu ausserichlichen Ge-
stalten um und nimmt sie erst dann wieder ins Subjekt zurück, wenn
das Grosshirn die nötige Ausbildung erlangt hat, um der Produktion
durch seine Reflexion das Gegengewicht zu halten. Darum beruht,
ebenso wie die künstlerische Produktivität, auch die Möglichkeit des
ästhetischen Genusses auf der zeitweiligen Unterdrückung oder Herab-
setzung der Thätigkeit des Grosshirnbewusstseins , um den niederen
Gehimteilen Gelegenheit zu geben, ihre eigenen subjektiven Zustände
zu objektivieren und die Gegenstände damit auszustatten, und ist eine
stark entwickelte Reflexion so häufig ein Hindernis des ästhetischen
Genusses. Darum ist, wie Ziegler es ausdrückt, das Nicht-Ich des
Kindes noch ein Auch-Ich, schlägt das Kind den Tisch, an dem es
sich stösst, und tröstet es die zerbrochene Puppe, weil es allen Dingen
sein eigenes Empfinden zuschreibt. Darum findet eine gleiche Be-
seelung der Aussenwelt auch im Kindesalter der Völker, auf niedrigen
Kulturstufen oder überall dort statt, wo ein naives Sichausleben und
ein inniges Verwachsensein mit der Natur der Phantasie noch den
weitesten Spielraum gestattet. Da werden Hain und Wiesen lebendig,
Quellnymphen wandeln im Regenbogen über die Gewässer, in Bergen
1 Dessoir: Das Doppel-Ich (1889), S. 37.
352 Das Sein des Ich.
und Schluchten hausen wilde Geister, und leblose Gegenstände reden
eine den Menschen vertraute Sprache.
Aus solchem primitiven Zustande des Bewusstseins ist ursprüng-
lich auch die Religion mit ihrer Tendenz zur Personifikation und ihrer
symbolisierenden Deutung oft zufällig aufgegriffener und an sich be-
ziehungsloser Gegenstände hervorgegangen. Auf dem Standpunkte
der Reflexion wird es dem Menschen um so viel schwerer, ein passen-
des Symbol für seine metaphysischen Vorstellungen zu finden, je mehr
er sich daran gewöhnt hat, den kausalen Zusammenhängen der Dinge
nachzugehen und jede seiner Vorstellungen unmittelbar durch ihren
abstrakten Begriff auszudrücken. Daran liegt es, warum es der
Gegenwart trotz aller Sehnsucht nach einem neuen Ausdruck ihrer
religiösen Geisteswelt so schwer wird, über die bisherigen Symbole
hinauszukommen, und scheint überhaupt die Zeit vorbei zu sein, wo
neue Kulturreligionen auf sinnlich anschaulicher, symbolischer Grund-
lage entstehen können. Die moderne Reflexion zersetzt die anschau-
lichen Gebilde der Phantasie, so wie unser waches Bewusstsein unsem
Traumvorstellungen ihre bildliche Hülle abstreift; sie verwandelt das
Bild in den entsprechenden Begriff, das jenem zwar nicht an Objek-
tivität, wohl aber an unmittelbarer gefühlsmässiger Verständlichkeit
nachsteht, und nur durch die Kunst lassen wir uns zu Zeiten in jenen
ursprünglichen Zustand des Bewusstseins zurückversetzen, dessen zügel-
lose Ausschweifungen wir im Traume vor uns haben.
Welche Rolle das Traumbewusstsein in unserm Geistesleben spielt,
das konnte erst richtig gewürdigt werden, nachdem durch die ge-
nauere Kenntnis der Hypnose und des Somnambulismus ein Mittel
an die Hand gegeben war, um dasselbe zu isolieren und seine Aeusse-
rungen auf experimentellem Wege zu studieren. In Deutschland hat
wiederum v. Hartmann das umfangreiche Material des modernen
Hypnotismus zuerst philosophisch verwertet und eine psycho -physio-
logische Theorie der abnormen Seelenvorgänge aufgestellt, die auch
Dessoir im wesentlichen angenommen und auf Grund eigener Ex-
perimente bestätigt hat^. In seiner Schrift über „das Doppel-Ich"
hat der Letztere eine Reihe charakteristischer Fälle zusammengestellt,
welche die Existenz eines „Unterbewusstseins" neben dem „Ober-
bewusstsein" beweisen, und überzeugend dargelegt, wie vielfach auch
schon in den gewöhnlichsten Verrichtungen unseres wachen Lebens
ein inniges Zusammen- und Ineinanderwirken beider stattfindet.
* V. Hartmann; er Spiritismus (1885). Moderne Probleme (1886). Die
Geisterhypothese des Spiritismus u. seine Phantome (1891), Phil. d. Unbew.,
10. Aufl., S. 475—478.
Die Schwankungen des Ich. 253
Eine absichtliche Beeinflussung unseres Traumbewusstseins durch
das wache Bewusstsein findet z. B. statt, wenn wir uns vornehmen,
einen bestimmten Traum zu haben oder zu einer bestimmten Zeit
aufzuwachen. Hier pflegen wir bei dämmerndem Grosshirnbewusst-
sein meist unruhig zu schlafen, und in unsere Träume' weben sich
Bilder ein, die zu jenem Vorsatz in irgendwelcher Beziehung stehen.
Auch die automatische Ausführung von Handlungen, zu denen es
einer intelligenten Leitung bedarf, während gleichzeitig unsere Ge-
danken sich mit ganz andern Dingen beschäftigen, ist nur durch Be-
zugnahme auf das Unterbewusstsein zu erklären. Denn wenn (nach
Dessoirs Beispiel) der Korrektor bei der Durchsicht des Satzes sich
mit seinem Nachbar unterhält, so muss er den Unterschied von Richtig
und Falsch im Bewusstsein haben, um gleichzeitig die Fehler ver-
bessern zu können. Es ist aber nicht denkbar, wie zwei so ver-
schiedene Gedankenreihen gleichzeitig in einem und demselben Be-
wusstsein verlaufen sollten.
Dies zeigt sich noch deutlicher beim unbewussten Rechnen, so-
wie in den bekannten Fällen des automatischen Schreibens. Es kommt
vor, dass Jemand, der in seine Arbeit vertieft ist, nichts hört von
dem, worüber sich Andere in seiner Nähe unterhalten. Wohl aber
ist ein solcher bisweilen imstande, gleichsam automatisch den Gegen-
stand der Unterhaltung niederzuschreiben, ohne dass er darüber be-
sonders nachzudenken brauchte. Hier spielt also zugleich die Er-
innerung in den Vorgang hinein, und indem selbst die unbedeutendsten
Erlebnisse, wie z. B. die Anzahl der Schritte, die Jemand bei einem
Gange gemacht, oder die Aufschriften von Strassenschildern , die er
zufallig mit seinen Blicken gestreift hat, auf diese Weise reproduziert
werden können, so erkennen wir darin jenes unterbewusste Gedächt-
nis wieder, das wir auch bereits im Traume funktionieren sahen.
Trotzdem besteht hier ein Unterschied. Beim automatischen Schreiben
nämlich hat das Traumbewusstsein zugleich die Herrschaft über den
Organismus an sich gerissen und die Ausführung willkürlicher Be-
wegungen übernommen, ohne dass hiervon das wache Bewusstsein
eine Ahnung hätte. Darum pflegt man hier auch nicht mehr einfach von
Traumbewusstsein, sondern vielmehr von „somnambulem Bewusstsein"
zu reden und ist mit dem gleichzeitigen Nebeneinanderbestehen von
Handlungen des somnambulen und des wachen Bewusstseins jener
Zustand gegeben, den Hartmann im Unterschiede vom oflfenen und
reinen als „larvierten Somnambulismus" bezeichnet hat. In solchem
Falle scheint in einem und demselben körperlichen Organismus sich
eine zweite Persönlichkeit hinter dem normalen Ich zu verbergen, die
264 l^&B Sein des Ich.
mit diesem gleichsam um die Herrschaft ringt. Das normale Ich
ist von einem fremden Ich „ besessen ** und damit diejenige Er-
scheinung eingeleitet, die den Gegenstand des ^doppelten Bewusst-
seins** bildet.
Es ist bloss eine Gradverschiedenheit, wenn das Unterbewusst-
sein dem wachen oder Oberbewusstsein soviel von seiner normalen
Energie entzieht, dass dieses unter die Schwelle sinkt und das Indi-
viduum in eine Art von hypnotischem Zustande (den sogenannten
„Trance**' der Spiritisten) verfallt. Dann befinden wir uns dem eigent-
lichen Somnambulismus gegenüber. In ihm ist die Bewegung der
willkürlichen Muskeln ganz und gar der Zufälligkeit und Launenhaftig-
keit des somnambulen Bewusstseins unterworfen, und während beim
gewöhnlichen Schlafe das Bewusstsein sich um so fester gegen die
Aussenwelt abschliesst, je tiefer er ist, so nähert gerade umgekehrt
der Somnambulismus mit steigender Tiefe sich um so mehr dem Zu-
stande des wachen Lebens.
Wie im Traum, bildet sich auch beim Somnambulismus ein Ich-
bewusstsein mit besonderem Inhalt heraus. Eine neue Persönlichkeit
tritt an die Stelle des alten Ich, sei es, dass ihr Charakter durch eine
spontane Laune des somnambulen Bewusstseins auf Grund von zu-
fälligen Assoziationen und Organreizen, sei es, dass er durch willkür-
liche Autosuggestion, wie beim Mediumismus, sei es endlich, dass er
durch die Fremdsuggestionen des Magnetiseurs bestimmt wird. Es
ist bekannt, mit welcher Bereitwilligkeit Hypnotisierte die ihnen an-
suggerierten Rollen übernehmen, wie lebhaft sie alle entsprechenden
Vorstellungen in Geberden und Sprache zum Ausdruck bringen und
mit wahrhaft schauspielerischer Virtuosität eine Rolle oft bis in alle
Einzelheiten zu Ende führen, gerade wie wir im Traum uns ebenso
leicht in die Würde und Gehobenheit eines Königs, wie in die Nieder-
geschlagenheit und Verzweiflung eines Bettlers hineinfinden. Diese
Aehnlichkeit des somnambulen Bewusstseins mit dem Traumbewusst-
sein zeigt sich auch darin, dass beide, sich selbst überlassen, oft eine
Herabminderung ins Kindliche, Unentwickelte, aber auch gesteigerte
Fähigkeiten, abnorme Gedächtnis- und Sinnesschärfe, zeigen^. Wie
das Traumbewusstsein , ist auch das somnambule Bewusstsein zwar
orientiert über den Vorstellungsinhalt des normalen (wachen) Ich, hin-
gegen hat das Ich des wachen Lebens entweder gar keine oder höchstens
nur schwache Erinnerungen von den Vorgängen im somnambulen Be-
wusstsein. Das normale Ich fasst die Zustände des letzteren als blosse
* Dessoir: a. a. 0. S. 28.
Die Schwankungen des Ich. 255
Schlafzustände mit unbestimmten Träumen auf. Das somnambule Ich
aber unterscheidet sich vom normalen Ich wie von einer ganz fremden
Persönlichkeit und betrachtet sich selbst als das eigentliche Ich des
Organismus.
Demnach haben wir es hier überall nicht mit zwei verschiedenen
Bewusstseinen , sondern nur mit verschiedenen Zuständen eines und
desselben Bewusstseins zu thun, die ihren Grund in physiologischen
Bedingungen haben, und deren Grenzen unter Umständen über einan-
der übergreifen. Noch baut die Gemeinsamkeit des körperlichen Sub-
strats eine Brücke vom einen zum andern Ich und gestattet einen
Austausch der beiderseitigen Vorstellungen. Wird aber auch dieser
Zusammenhang unterbrochen, dann bildet sich ein doppeltes Be-
wusstsein heraus, indem die beiden verschiedenen Bewusstseins-
zustände periodisch mit einander abwechseln, so zwar, dass keiner
von beiden eine Kenntnis vom andern hat.
Auch beim Traume kommt es vor, dass Jemand in der folgenden
Nacht dort fortfährt, zu träumen, wo er in der vorigen aufgehört hat.
In derselben Weise schliessen sich beim Doppelbewusstsein nach statt-
gehabter Unterbrechung des einen durch den anderen Zustand die
entsprechenden Perioden an einander an und bilden zusammen-
hängende Reihen mit verschiedenen Inhalten, denen ganz verschiedene
Iche zu Grunde liegen. Am bekanntesten ist wohl der Fall des
holländischen Arztes Schroeder van der Kolk aus seiner Schrift
über Geisteskrankheiten vom Jahre 1863. Dieser behandelte ein
junges Mädchen, das vier Jahre vorher eine schwere Krankheit über-
standen hatte und seitdem an einem wunderbaren Wechsel der Per-
sönlichkeit litt. Während sie an dem einen Tage nach krampfartigen
Zuckungen in einen Zustand verfiel, worin sie sich läppisch, wie ein
Kind, benahm, war sie am nächsten Tage ein ganz verständiges
Mädchen, konnte verschiedene Sprachen verstehen und unterhielt sich
ganz vernünftig mit ihrer Umgebung; von ihrem Zustand am Tage
vorher aber hatte sie keine Ahnung. Dies ging so weit, dass sie
am kindischen Tage wieder angefangen hatte, französisch zu lernen,
ohne besondere Fortschritte zu machen, während sie es doch am
folgenden Tage fliessend sprach. Als sie am kranken Tage an einen
fremden Ort gebracht war, wusste sie am gesunden nicht, wie sie
dorthin gekommen. Dementsprechend erkannte sie auch ihren Arzt,
der sie vierzehn Tage hindurch nur an den kranken Tagen besucht
hatte, nicht wieder, als er zum ersten Mal an einem gesunden Tage
zu ihr kam. Aehnliche Beobachtungen sind auch an Gewohnheits-
säufern und Epileptikern, bei anhaltendem Opiumgenuss, sowie nach
256 Das Sein des Ich.
Fieberan&llen gemacht worden, und jedes Werk über Geisteskrank-
heiten weiss davon zu berichten.
Es ist nun aber nicht nötig, dass, wie im Falle Schroeders
van der Kolk, die beiden Bewusstseinszustände mit einander ab-
wechseln. Es kann auch vorkommen, dass sie ohne irgendwelche
Vermittelung neben einander bestehen. So glaubt Jemand sich selbst
in zwei Personen verwandelt und sieht er beständig einen Anderen
neben sich, der ihm alles nachmacht und dessen er sich nicht er-
wehren kann, obwohl er mit seinem normalen Bewusstsein die
Täuschung durchschaut. Bei einem solchen Kranken ist das Unter-
bewusstsein in abnormer Weise über die Schwelle gehoben. Da je-
doch die Leitung zwischen den beiden verschiedenen Bewusstseins-
sphären unterbrochen ist, so ist sein normales Bewusstsein ausser
Stande, des abnormen Herr zu werden und es gleichsam in seine
ursprüngliche Tiefe zurückzuschleudem.
Es ist schon der Beginn der eigentlichen Geisteskrankheit, wenn
das abnorme Bewusstsein sich, wie im Somnambulismus, der einzelnen
Sinnesorgane bemächtigt, sie der willkürlichen Herrschaft des normalen
Ich entwindet und ihre Aeusserungen in unnatürlicher Weise ver-
fälscht. Dann erscheint dem Kranken seine eigene Stimme wie die-
jenige eines Fremden, die Welt um ihn nimmt ein verändertes Aus-
sehen an, er findet sich in seiner Umgebung nicht mehr zurecht, und
alle gewöhnlichen Bestimmungen von Raum und Zeit verschieben
und verzerren sich in seinem Bewusstsein. Mit solchen Veränderungen
der normalen Vorstellungswelt geht gewöhnlich auch eine Verfälschung
der Vorstellung des eigenen Leibes Hand in Hand. Gemeinempfin-
dungen und Muskelempfindungen, die auf bestimmte Stellen des
Körpers bezogen werden, rufen Halluzinationen eigentümlicher Art
hervor und setzen sich unter dem Einflüsse der Assoziation zum so-
genannten „Wahnleib'* zusammen. Die erwähnte Einbildung einer
zweiten Person neben dem eigenen Leibe ist in der Regel mit Lähmung
der einen Körperhälfte, die Annahme, dass der eigene Leib aus Glas
bestehe, mit Hyperästhesie der Tastorgane verbunden. Wo aber die
Haut gänzlich unempfindlich wird, da sieht sich der Kranke selbst
für einen Leichnam an, genau wie der Traum auf Grund bestimmter
Gemeinempfindungen die Vorstellung des Fallens, des Fliegens u. s. w.
vorspiegelt.
Wenn es nun wahr ist, wie wir oben gesehen haben, dass die
Gemeinempfindungen die wichtigste Rolle bei der Bildung der Ich-
vorstellung spielen und von ihnen auch im normalen Leben alle Ver-
änderungen des Ich ihren Ausgang nehmen, so muss natürlich die
Die Schwankungen des Ich. 257
von ihnen herbeigeführte Verfälschung der Leibesvorstellung auch
wiederum auf das normale Ich zurückwirken und dieses mit in den
Verwandlungsprozess hineinziehen. Immer höher steigt gleichsam die
fremde Persönlichkeit auf den Stufen der verwandelten Gemein-
empfindung aus den Tiefen des Organismus empor und wirft ihren
Schatten voraus in das normale Bewusstsein. Auf ein immer engeres
Gebiet sieht das ursprüngliche Ich sich eingeschränkt, immer dünner
wird der Faden der Erinnerung, der es noch mit seinen früheren
Zuständen verbindet, bis er schliesslich an einem bestimmten Punkte
reisst, bis das einstige Ich zusammenschwindet und zerplatzt, wie
eine Seifenblase. Dann setzt sich ein fremder Dämon auf den Thron
des normalen Bewusstseins — die Nacht des Wahnsinns ist über das
Individuum hereingebrochen.
„Solange die dunklen Umgestaltungen der Gemeinempfindung
samt den daran geknüpften Vorstellungs- und Gefühlskreisen der
Alienierung des Leibes, die Sinnesvorspiegelungen aus der Aussenwelt
samt den verfälschenden Auffassungen der eigenen Erlebnisse blosse
Gedanken, Objekte der inneren Wahrnehmung, Vorgestelltes vor dem
Vorstellenden bleiben, solange ich noch sagen kann: Mein Leib ist
anders geworden, ich sehe und höre die Welt anders, ich mache
mir über meine Lebensgeschichte und somit über mich selbst ganz
eigene, neue Gedanken — solange halte ich noch an meinem alten
normalen Ich fest, und solange ist auch noch die Abnormität des
neuen Ich kein neues Ich, sondern nur ein neuer Gedanke des alten
Ich über sich selbst. Seelenkrank bin ich aber von da ab, wo das
Verhältnis sich umkehrt, d. h. das, was vor mir als Nichtich als Ob-
jekt dastand, zum Ich und Subjekt wird und das bisherige Ich zum
Objekt, zum blossen Gedanken herabsinkt^". Das abnorme Ich, das
im normalen Zustande unter der Schwelle bleibt und nur unter be-
sonderen Umständen (im Schlaf, während der Hypnose, im Fieber, in
Rauschzuständen u. s. w.) zur Erscheinung kommt, dieses Ich ist in
der Geisteskrankheit das Ich des gewöhnlichen Lebens, während das
ursprüngliche normale Ich unter die Schwelle gesunken ist und
köchstens nur im Traume, wie der Schatten eines Verstorbenen,
darüber emportaucht oder künstlich durch Hypnose heraufgeholt
werden kann. Diese Umkehrung der inneren Wahrnehmung, dieses
Herausgerücktsein der beiden verschiedenen Iche aus ihrer normalen
Stellung, wobei die Verbindung unter ihnen abgerissen und keine
Kunde mehr von einem zum andern hinüberdringt, dies eben macht
^ Volkmann: Psychologie II, S. 225.
Drews. 17
258 ^^ ^^ des Ick
«
das Wesen der „ Verrücktheit '^ aus: der Ejranke hält seine fingierte
Traumwelt für die wirkliche Welt, das wirklich Erlebte dagegen für
blosse Traumvorgünge, „er lenkt", wie Volkmann es ausdrückt,
„aus der allgemeinen Heerstrasse der Wirklichkeit in einen Seiten-
pfad ein, der bloss von der farbigen Lampe seines kranken Organis-
mus beleuchtet wird."
Offenbar nämlich handelt es sich ja auch hier nur um einen
psychischen Reflex aus der jeweiligen Beschaffenheit des körperlichen
Organismus. Forel hat die Hypnose als psychischen Zersetzungs-
prozess beschrieben und sie aus einer Decentralisation und Des-
organisation der materiellen Gehimbestandteile abgeleitet. Traum,
Hypnotismus, Somnambulismus und Geisteskrankheit sind aber bloss
verschiedene Stadien eines und des nämlichen Prozesses, wobei sich
die niederen Individuen und Individuengruppen eines Organismus der
Herrschaft der übergeordneten Centren entziehen und aufsichtslos
ihren subjektiven Launen die Zügel schiessen lassen. Je höher wir
uns in der Stufenreihe der Geschöpfe aufwärts bewegen, desto mehr
ordnen sich die konstituierenden Individuen niederen Ranges den
höheren Individuen unter, desto bestimmter strebt gleichsam der
Oi^anismus aus der Demokratie seiner einzelnen Bestandteile der
monarchischen Staatsform zu, desto enger schiessen alle psychischen
Strahlen aus den Einzelindividuen im Brennpunkt eines einzigen Ich
zusammen, bis endlich im Menschen das Grosshirnich die Zügel der
ihm untergeordneten Individuen in seiner Hand vereinigt. Jene ab-
normen Geisteszustände repräsentieren die Revolution, wo durch eine
Elrschütterung des körperlichen Aufbaus der angestammte Herrscher
abgesetzt ist und neue Elemente sich zur Geltung emporringen, deren
Egoismus im normalen Zustande dem allgemeinen Wohle dienstbar
gemacht war.
Es lässt sich voraussehen, dass unter solchen Umständen auch
das sieghafte abnorme Ich, wo es sich auf den Thron gesetzt hat,
seine Herrschaft nicht lange wird behaupten können. Die fort-
schreitende Decentralisation des körperlichen Organismus führt not-
wendig auch zur völligen Anarchie im Gebiete des Seelenlebens.
An die SteUe einer Beziehung des Bewusstseinsinhalts auf ein Ich
tritt immer mehr ein zusammenhangsloses Durcheinander von Vor-
stellungen, Gefühlen und Empfindungen, die nirgends mehr um einen
festen Mittelpunkt kreisen. Gedächtnisvorstellungen, die gelegentlich
emportauchen, hören auf, als solche erkannt zu werden, der Faden
der Erinnerung fällt in diskrete Bestandteile auseinander; endlich er-
lischt auch das Interesse: der Kranke will nichts mehr, er weiss von
Das Ich und die Materie. 259
sich nichts mehr, sein Ich ist überhaupt nicht mehr, er ist dem Zu-
stande des völligen Blödsinns verfallen. —
Und dieses armselige, gebrechliche Ich, das oft nicht einmal die
Existenz des eigenen Körpers überdauert und überall nur die Be-
schaffenheit des letzteren widerspiegelt, dies Ich sollte metaphysischer
Art, es sollte der Ausdruck einer geistigen Substanz sein, die in ihm
sich unmittelbar in ihrem eigensten Wesen findet? Wer das behauptet,
den braucht man nur auf die Teilbarkeit des Ich, auf die Möglichkeit
verschiedener Iche in einem und demselben körperlichen Organismus
zu verweisen, und der Glaube an das metaphysische Ich enthüllt sich
als das, was er ist, als eine unhaltbare Fiktion, die ganz anderswo
als auf dem Boden der Erfahrung erwachsen ist. Denn ein Geist,
der in zwei, ja, wie man sogar beobachtet haben will, in drei oder
vier verschiedenen Ichen sich äussern kann, die mit einander ab-
wechseln oder neben einander bestehen, ein solcher Geist kann nicht
selbst seinem Wesen nach Ich sein und folglich kann das
Ich auch nicht wesenhaft sein. Es kann in das Wesen der
Dinge nicht tiefer reichen als der Körper, oder mit andern Worten:
es kann nur empirisches Ich sein und, wofern es nicht bloss ein
Produkt des materiellen Organismus darstellt, mit seinen Wurzeln
höchstens den Rand des Metaphysischen berühren. Gegenüber der-
artigen Hypostasierungen des Bewusstseins , wie sie in der Annahme
der metaphysischen Natur des Ich enthalten liegen, hat der Materia-
lismus immer gewonnen Spiel: ist der Geist nichts Anderes als das
Bewusstsein, dann ist er in der That nur eine Funktion des Gehirns,
denn das Bewusstsein vom Gehirn und überhaupt von der materiellen
Unterlage emanzipieren wollen, kann nur, wer die offenkundigsten
Thatsachen djer Erfahrung missachtet.
III. Das metaphysische Ich.
1. Das loh und die Materie.
Eine Frage ist uns schon längst bei unsern Untersuchungen auf-
gestossen , . deren Beantwortung nicht ferner aufgeschoben werden
kann. Wir haben das Bewusstsein aus der Nichtbefriedigung des
Willens abgeleitet, die letztere aber darauf zurückgeführt, dass dem
WiUen ein ihm fremder Inhalt durch Schwingung der Materie von
aussen aufgedrängt wird. Wir haben mithin das Bewusstsein aus
dem Konflikte zwischen dem geistartigen Willen und der Materie,
dem Psychischen und Physischen erklärt: wie ist eine solche Wirkung
beider auf einander möglich?
Seit Descartes hat die Frage nach der Wechselwirkung des
17*
260 I>&8 Sein des Ich.
Geistigen und Materiellen im Mittelpunkte der modernen Philosophie
gestanden. Die antike und mittelalterliche Philosophie machten sich
hierüber noch keine Gedanken, weil ihr naiver Naturalismus den
Unterschied zwischen beiden noch nicht hervortreten liess. Descartes
erkannte die Bedeutung des Problems zuerst und gründete darauf
den Dualismus seiner Weltanschauung. Nach ihm besteht das reale
Sein aus zwei wesensverschiedenen Elementen, die sich fremd und be-
ziehungslos gegenüberstehen, die individualistisch zerstückelte Geister-
welt auf der einen und die ebenso vielheitlich gegliederte Körperwelt
auf der andern Seite. Und zwar ist ein doppeltes Hindernis vor-
handen, um jede Gemeinschaft der beiden verschiedenen Welten aus-
zuschliessen. Das eine ist der Unterschied ihrer Attribute, indem
den Geistern nur das Denken, den Körpern nur die Ausdehnung zu-
kommt. Das andere ist die substantielle Natur der realen Elemente.
Was im Räume ausgedehnt und dessen einzige Funktion die Be-
wegung, als Erscheinung rein passiver Faktoren, ist, findet keinen
Berührungspunkt an einem Sein, das in sich ist, und dessen mannig-
faltige Erscheinungsformen sich als Aeusserungen einer rein centralen
Spontaneität darstellen. Aber die Geister können auch nicht einmal
auf die Geister, die Körper nicht auf die Körper wirken, wenn beide
substantiellen Wesens sind. Denn das Wesen der Substanz besteht
in der Beziehungslosigkeit und Unabhängigkeit von andern Existenzen.
Beide Hindemisse aber entspringen aus dem Cogito ergo sum; das
erste, weil zwischen der denkenden Ichsubstanz und der ausgedehnten
körperlichen Substanz eine Aehnlichkeit und ein Zusammenhang nicht
vorhanden ist, das zweite, weil der Glaube an seine Realität das Ich
zum substantiellen Träger seiner Funktionen stempelt. Die seiner Zeit
viel verhandelte Frage, ob die Materie denken könne, konnte daher
auch nur aufgeworfen werden, wo man über die Gründe im Unklaren
war, woraus Descartes die strenge Unterscheidung zwischen Geist
und Körper abgeleitet hatte. Ihre Bejahung ist, weit entfernt, eine
Vermittlung des kartesianischen Dualismus zu sein, nur ein unbe-
sonnener Rückfall in den ursprünglichen Naturalismus, der unverein-
bare Bestandteile zusammenkoppelt.
Es versteht sich, dass unter diesen Umständen das Problem der
Wechselwirkung zwischen Geist und Körper nicht gelöst ist, wenn
man nur eines der angegebenen Hindernisse beseitigt und entweder
mit Berkeley die Materie zur Vorstellung der vielen Geister macht,
d. h. sie zum blossen ideellen Sein verflüchtigt, oder aber sie mit
Leibniz als die unterste Stufe der einen organisch gegliederten
Monadenwelt betrachtet. Eine Lösung ist dies deshalb nicht, weil
Das Ich and die Materie. 261
Berkeleys Geister und Leibnizens Monaden, als Substanzen, doch
unter einander unverbunden bleiben. Daher muss denn auch bei
beiden das Wunder eines deus ex machina herangezogen werden, um
dort als occasionalistische Einwirkung von Fall zu Fall, hier dagegen
als prästabilierte Harmonie die Stelle der gegenseitigen Einwirkung
oder des influxus physicus zu vertreten.
Gelöst werden kann das Problem nur, wenn man auf die Vor-
aussetzung zurückgeht, woraus die erwähnten Schwierigkeiten des-
selben entsprungen sind. Dann zeigt sich, dass der Abgrund zwischen
den beiden verschiedenen Welten keineswegs unüberbrückbar ist und
dass es im Grunde nur darauf ankommt, die Natur des Materiellen
richtig zu bestimmen.
Der Kern unserer bisherigen Untersuchung war, dass das Cogito
ergo sum auf der Verwechselung eines Ideellen mit einem Realen
beruht und dass wir auch uns selbst nur als Erscheinungen, aber
nicht nach dem, was wir an sich sind, erkennen. Danach besteht
keine Veranlassung, dem äusseren Objekte der Körperwelt eine Rea-
lität beizulegen, die wir dem innern Objekte unseres eigenen Ich
und seinen Funktionen nicht zugestehen können. Es giebt keine un-
mittelbare Anschauung eines realen Seins. Folglich ist auch die
Materie, so wie sie angeschaut wird, kein reales, sondern bloss
ein ideelles Sein, Erscheinung und Vorstellung in unserem Bewusst-
sein. Ob sie aber ausserdem noch etwas ist und was sie ist, das
lässt sich nur erschliessen, aber niemals durch die blosse An-
schauung unmittelbar erkennen.
Bezeichnet man die Materie, sofern sie Objekt unserer Anschau-
ung ist, als Stoff, so hat mithin der Stoff bloss eine ideelle Existenz,
genau wie unsere Vorstellungen, Gefühle und Willensakte, als Gegen-
stände der psychologischen Selbstwahrnehmung, nur die ideellen, sub-
jektiven Repräsentanten und Erscheinungsformen des seelischen Rea-
len sind. Dies seelische Reale erschloss sich uns als unbewusster
Wille, dessen inhaltliche Bestimmung eine unbewusste Vorstellung
ist. Zugegeben nun, dass auf das unräumlich Psychische nur wiederum
ein Psychisches wirken, dass insbesondere, wie die psychologische
Erfahrung lehrt, der Wille nur durch einen Willen überwunden
werden kann, so haben wir schon deshalb keine Veranlassung, den
realen Grund oder das transcendente Korrelat des Stoffes für etwas
Anderes als einen Willen zu halten, weil die Prinzipien ohne zwin-
genden Grund nicht vermehrt werden dürfen. Haben wir das Reale
vermittelst der Selbstwahrnehmung, wo es uns am nächsten zugänglich
ist, als Willen erschlossen, so dürfen wir wenigstens solange an der
262 Das Sein des Ich.
Willensnatur des Stoffs nicht zweifeln, als das Gegenteil nicht bewiesen
ist. Dies könnte aber wiederum nur dadurch geschehen, dass die
subjektive Erscheinung des Stoffes und der Körperwelt im Willen
nicht ihre ausreichende Erklärung fönde. Die Frage ist demnach, ob
die Natur der stofflichen Welt durch das Prinzip des unbewussten
Willens und seiner idealen Bestimmtheit begriffen werden kann.
Dass dies in der That möglich ist, hat E. v. Hartmann in
einem der wichtigsten Kapitel seiner „Philosophie des Unbewussten''
gezeigt^ und habe ich selbst an anderer Stelle im Anschluss an die
kantische Dynamik nachgewiesen^.
Die beiden wesentlichsten Eigenschaften des Stoffes, wodurch
sich derselbe von den psychischen Gebilden unterscheidet, die kon-
tinuierliche Raumerfiillung (Ausdehnung) und die Undurchdringlichkeit
(Solidität), sind bloss die subjektiven Erscheinungen einer Vielheit
von konstanten individuell oder atomistisch gesonderten Kräften (En-
telechien [Aristoteles] oder Monaden [Leibniz]), teils anziehender
und teils abstossender Art. Kraft aber ist dasjenige, von aussen
gesehen, was von innen betrachtet, sich als Wüle darstellt. Wenn
die Vorstellung das allein Inhalt gebende Moment des Willens ist
und dieser nur realisiert, was jene ihm darbietet, so muss es für ihn
selbst gleichgültig sein, ob er im Gehirn eines Philosophen neue
Gedankenzusammenhänge vermittelt, oder ob er, als Atom- oder Mo-
nadenwille, die einfacheren Gebilde von räumlichen Beziehungen rea-
lisiert. Die Vorstellung andererseits kann ebenso gut Vorstellung
solcher einfachen räumlichen Beziehungen sein, wie sie solche Mo-
mente in sich enthalten kann, die ganz in das Gebiet des rein Idealen
fallen. Sie kann folglich ebenso gut den Grund dazu in sich ent-
halten, dass der Wille, als einfacher Monadenwille, sich bloss in der
Sphäre des Räumlichen bethätigt, wie es Sache ihres Inhalts ist, ob
die Monaden sich als dienende Glieder zum Organismus zusammen-
fügen, um Substrat eines neuen höheren Geisteslebens zu sein.
Fasst man die Gesamtheit der einfachen Monaden oder den rea-
len Grund des Stoffes im Unterschiede von diesem selbst unter den
Begriff der Materie zusammen, so besteht mithin zwischen ihr und
dem realen Grunde unserer psychischen Erscheinungswelt insofern
gar kein Unterschied, als beide metaphysische (reale) Einheiten von
unbewusstem Willen und unbewusster Vorstellung sind. Wohl aber
unterscheiden sie sich durch den Inhalt der Vorstellung, die den
^ V. Hartmann: a. a. 0. H, S. 96—123.
' Kants Naturphilosophie als Grundlage seines Systems, S. 369 — 383.
Das loh und die Materie. 26$
unbewussten Willen bestimmt. Denn während diese Vorstellung hier
die ganze Mannigfaltigkeit des seelischen und körperlichen Organismus
zum Momente hat, enthält sie dort bloss die einfachen Bestimmungen
der Monade und ihrer Beziehungen zum Räume in sich. Der Unter-
schied zwischen dem Physischen und Psychischen ist folglich kein
realer, sondern er ist nur ein idealer (begrifflicher) Unterschied,
bedingt durch den grösseren oder geringeren Reichtum von Momenten,
deren konkrete Totalität die unbewusste Vorstellung ausmacht. Darum
hatte Leibniz Recht, an Stelle des kartesianischen Gegensatzes von
Geist und Körper nur einen graduellen Unterschied zu setzen und
die Materie nur als die niedrige Daseinsstufe desselben anzusehen,
was auf höherer Stufe als (bewusster) Geist erscheint. Allein ebenso
hatte auch Berkeley Recht, dem Stoffe bloss ein ideelles Sein in
unserem Bewusstsein zuzusprechen. Geist und Materie können auf
einander wirken, weil beide der Realität nach identisch sind. Der
Stoff dagegen kann auf den Geist nicht wirken, nicht weil er von
ihm verschieden ist, sondern weil er überhaupt nur ein vom Geist
Gewirktes und ohne alles eigene reale Dasein ist.
Um es noch einmal hervorzuheben, so behaupten wir also nicht,
wie der subjektive Idealismus, dass es ausserhalb des Bewusstseins
keine Materie giebt, sondern nur, dass es ausserhalb desselben einen
Stoff nicht giebt. Wir behaupten, dass der Stoff nur die bewusst-
seinsimmanente oder subjektiv ideelle Erscheinung desjenigen ist, was
als bewusstseinstranscendent Reales oder als Ding an sich die Materie
ist. Diese Materie aber ist dem Wesen nach dasselbe, was unsere
eigene Psyche ist, nämlich Einheit von unbewusstem Willen und un-
bewusster Vorstellung. Es ist demnach eine falsche Gegenüberstellung,
wenn man, wie üblich, das reale Sein in den Gegensatz des Stoff-
lichen und Geistigen oder des Materiellen und Seelischen zerspaltet.
Dass man dies so lange verkannt und in unlogischer Vermischung
des Ideellen und Realen den Stoff mit dem Geiste auf eine und die-
selbe Stufe gestellt hat, daran trägt nur die Verwechselung des
Geistes mit dem Ich die Schuld. Denn diese Verwechselung hat das
ideelle Sein auf den Thron des realen Seins gesetzt, sie hat den
Gegensatz des Ich und des Stoffes, der in Wahrheit nur ein solcher
innerhalb des Ideellen ist, zum Gegensatze im Realen selbst gestempelt
und damit jenen Riss durch die gesamte Wirklichkeit verschuldet,
mit dessen Heilung sich die Philosophie so lange abgemüht hat.
Der Gegensatz von Geist (Ich) und Stoff gehört einer Epoche
des philosophischen Denkens an, die in erkenntnistheoretischer Be-
ziehung dem naiven Realismus huldigt. Je mehr die erkenntnistheo-
264 Das Sein des loh.
retische Einsicht wachsen und man das Objekt der inneren Wahr-
nehmung ebenso vorurteilslos wie dasjenige der äusseren betrachten
wird, desto mehr wird sich das Irrtümliche der gewöhnlichen An-
nahme offenbaren, als ob das eigene Bewusstsein ein unmittelbar ge-
genwärtiges Reales sei, desto bestimmter wird die fernere Ent-
Wickelung dahin gehen, auch unsere psychischen Funktionen als
blosse Erscheinungen und Ideellitäten anzusehen. Will man aber
dann nicht beim Ideellen stehen bleiben und entweder auf jegliche
Erkenntnis des realen Seins verzichten oder aber der Absurdität des
Illusionismus verfallen, dann muss sich der alte Gegensatz von Stoff
und Geist ganz von selbst in den neuen Gegensatz des Ideellen und
Realen verwandeln, der, wie wir dies oben gesehen haben, identisch
mit dem Gegensatze des Bewussten und des Unbewussten ist, und
die Philosophie, wie weit sie auch heute noch hiervon entfernt sein
mag, muss Philosophie des Unbewussten werden, wofern sie Philo-
sophie des Realen sein will.
Auf dem Standpunkte der Philosophie des Bewussten fällt das
Unbewusste mit dem Stoff zusammen, weil der Geist hier seinem
Wesen nach Bewusstsein ist. Nach der Philosophie des Unbewussten
setzt jedes Element der Materie eo ipso Bewusstsein, sobald es mit
einem anderen zusammentrifft. Nun besteht das Wesen der mate-
riellen Monaden darin, bloss räumliche Beziehungen zu realisieren.
Der Raum -aber wird durch die Stellung einer jeden zu den übrigen
bestimmt. Folglich müssen sie, da sie sich auf einander beziehen, auch
sämtlich unter einander kollidieren und ist die Materie, als die Summe
aller Monaden, ihrer Beschaffenheit nach eine bewusste Materie.
Durchschaut man also den Irrtum des Cogito ergo sum und erkennt
man, dass auch unsere bewussten seelischen Funktionen nur das sub-
jektive Spiegelbild eines unbewussten Grundes sind, dann lautet das
Problem nicht mehr: wie ist eine Wechselwirkung zwischen Geist
und Körper möglich? sondern es lautet: wie muss das Reale, d. h.
jener unbewusste Grund des Geistes und der Materie, beschaffen sein,
um Grund des Ideellen, des Bewusstseins, sein zu können?
So erhellt, wie unberechtigt es ist, der Philosophie des Unbe-
wussten vorzuhalten, dass sie mit ihrer Ableitung des Bewussten aus
dem Unbewussten das Höhere aus dem Niederen zu begreifen suche.
Dieser Einwand ist den Prinzipien der Philosophie des Bewussten
und ihrer falschen Identifizierung des Unbewussten mit dem Stoff
entnommen. Er ist jedoch ganz wirkungslos gegenüber einer Philo-
sophie, für welche auch das Unbewusste ein Geistiges, nur
eben nicht ein bewusstes oder ichliches Geistiges ist. Be-
Das Ich und die Materie. 265
denkt man, wie bisher die ganze Sprache sich untet der Anschauungs-
weise und nach den Bedürfnissen der Philosophie des Bewussten ge-
bildet hat, wie es ihr infolgedessen sogar an einem passenden Worte
für den Gegensatz des Bewusstseins mangelt, sodass man zur Be-
zeichnung dieses Gegensatzes den negativen Begriff des Unbewussten
hat wählen müssen, dann wird es freilich verständlich, wenn unwill-
kürlich bei den Meisten mit diesem Begriff derjenige des Stoffes ver-
schmilzt. Um so nachdrücklicher muss daher auf das Missverständnis
hingewiesen werden, als ob sich das sogenannte Unbewusste dem
Hange nach zum Bewussten, wie der Stoff, verhielte. Denn dasjenige,
was die Philosophie des Unbewussten meint, ist ebenso der reale
Grund des Bewusstseins, wie der (bewussten) Materie und des Stoffs,
als der subjektiv-ideellen Erscheinung der Materie.
Fassen wir das Bisherige zusammen, so besteht also das reale
Sein in einer Vielheit individuell bestimmter Willensfunktionen von
verschiedenen Stufen der Individualität, auf deren untersten die ein-
fachen (bloss räumlich bestinmiten) Monaden der Materie, auf deren
obersten die Geistmonaden stehen. Die materiellen Monaden konfli-
gieren unter einander und wirken auf die Geistmonaden. Die Geist-
monaden ihrerseits wirken auf die materiellen Monaden zurück und
konfligieren durch Vermittelung der letzteren unter einander. Der
ganze Prozess des realen Seins beruht auf den Konflikten der Mo-
naden. Diese hängen aber wiederum davon ab, dass die Monaden
sich wechselseitig auf einander beziehen. So hat Lotze Becht, das
reale Sein ein „in Beziehung Stehen ** zu nennen. Dächte man sich
ein Reales, das zu keinem andern in Beziehung stände, so würde ein
solches auch nicht sein, denn sein oder wirklich sein heisst wirkend
sein; ein Wirken aber ist immer nur als Beziehung zwischen zwei
Realen denkbar. Im Wirken also bethätigt sich die reale Natur des
Seins. Das Ganze aber dieser sich auf einander beziehenden imd
folglich auch auf einander wirkenden Realen ist dasjenige, was man
als die Wirklichkeit bezeichnet.
Alle Wirklichkeit ist sonach eine lebendige Wirklichkeit, und
es giebt gar kein reales Sein, das als solches nicht ein aktives,
funktionelles, lebendiges wäre. Das Passive ist gar keine wahre
Wirklichkeit, denn der Stoff hat, wie gesagt, nur ein Sein in unserem
Bewusstsein oder ist nur als Bewusst-Sein ; und zwar beruht seine
Starrheit und Leblosigkeit darauf, dass er bloss die nach aussen
projizierte und angeschaute passive Empfindung ist. In der sinnlichen
Anschauung des Stoffes hat die logische Idee in uns über den un-
logischen Willen den Sieg davon getragen, der als solcher das Prinzip
266 Das Sein des Ich.
des Lebens ist. Aber darum eben ist der Stoff ein Passives und
Inaktives, weil der Wille in ihm durch die logische Thätigkeit der
Idee zur Ruhe gebracht, objektiviert und gleichsam getötet ist.
•
2. Das BubBtsAtielle WeBen des loh«
Wir sagten oben, eine Wechselwirkung der Realen sei nicht
möglich, solange man diese als Substanzen auffasst, und wir machten
für eine solche Auffassung das Cogito ergo sum verantwortlich. Wie
nun? sollen wir dabei stehen bleiben, die Realen als blosse Funktionen
anzusehen, und hat die Frage keinen Sinn, welchem Subjekt die un-
bewussten Willensakte angehören?
Die Philosophie eines Fichte, Schelling und Hegel beschränkte
sich darauf, das Reale als blossen Prozess aufzufassen, und hielt einen
substantiellen Träger der metaphysischen Funktion nicht für nötig,
und auch nach Schopenhauer ist der Wille nur als wollender der
Grund der Welt, aber er ist nicht der Wille eines wollenden Sub-
jektes. Diese Ansicht hat neuerdings auch wiederum der moderne
Heraklitismus , wie ihn Wundt in seinem ^System der Philosophie"
vertritt, sich angeeignet, und Paulsen hat sie in engstem Anschluss
an Wundt als die notwendige Konsequenz der voluntaristischen
Philosophie verteidigt. Nach der Meinung dieser Philosophen soll
sich mit dem Substanzbegriffe ein vernünftiger Sinn nur auf physi-
kalischem Gebiet verbinden lassen, seine Anwendung auf psychische
Vorgänge dagegen nur eine falsche üebertragung vom physikalischen
Atomismus sein. Das kommt aber einer gänzlichen Verwerfung des
Substanzbegriffes gleich, weil der physikalische Stoff auch nach
Wundt und Paulsen die subjektiv-ideelle Erscheinung eines psychi-
schen Realen sein soll.
Paulsen insbesondere findet gamicht genug an dem „hölzernen
Seelenatom der gemeinen Meinung'* auszusetzen. Er vermag nicht
einzusehen, wie unsere psychischen Funktionen an einem derartigen
„Wirklichkeitsklötzchen**, einem unveränderlichen, starren, absolut be-
harrlichen „Realitätspünktchen** haften sollten, um allen Kräften und
Vorgängen als Anhalt zu dienen. Vielmehr muss nach ihm die Seele
als die im Bewusstsein auf nicht weiter angebbare Weise zur
Einheit zusammengefasste Vielheit innerer Erlebnisse begriffen werden.
„Das Dasein der Seele besteht in ihrem Leben, in der Einheit auf
einander bezogener psychischer Vorgänge; nehmen wir diese weg, so
bleibt kein Rückstand. Bewusstseinsvorgänge sind das an und
für sich Wirkliche, sie bedürfen nicht eines Andern, eines Seelen-
substantiale, das ihnen erst zur Wirklichkeit helfen oder sie in der
Das substantielle Wesen des Ich. 267
Wirklichkeit halten und tragen müsste; so etwas giebt's über-
haupt nicht^"
Man sieht, warum diese Philosophen den Substanzbegriff aus der
Metaphysik hinausweisen möchten. Sie halten ihn für unberechtigt,
weil uns im Selbstbewusstsein nur wechselnde Zustände und Vorgänge
gegeben sind, das Selbstbewusstsein aber nach ihrer Meinung der-
jenige Punkt ist, an welchem wir das Beale als solches unmittelbar
erkennen. Wir können diesen Grund nicht gelten lassen, weil wir
der inneren Wahrnehmung diese Fähigkeit der intellektuellen An-
schauung nicht zugestehen können. Was jenen schon als die Seele
selbst erscheint, die Bewusstseinsvorgänge in ihren mannigfaltigen
Verknüpfungen, sind nach unserer Ansicht bloss erst die Erschei-
nungen der Seele. Sie verwechseln also das reale mit dem ideellen
Sein und glauben den substantiellen Träger der Bewusstseinsvorgänge
entbehren zu können, weil diese ihnen schon selbst für Bealitäten
gelten. Das ist aber nur das alte Cogito ergo sum in seiner An-
wendung auf die besonderen Bestimmungen des Selbstbewusstseins,
woraus Andere mit dem gleichen Recht geschlossen haben, dass die
psychischen Funktionen an einem substantiellen Träger, einem „Seelen-
substantiale"^ haften müssten.
Das unmittelbare Bewusstsein erweist sich sonach hier, wie
überall, ganz unfähig, über die Natur des Realen etwas auszumachen.
Ob es eine Substanz hinter den wechselnden Zuständen unseres
Selbstbewusstseins giebt, das lässt sich durch den einfachen Hinweis
auf den Inhalt unseres Selbstbewusstseins nicht beweisen. Das
Denken jedoch oder die Reflexion, die hier allein Ausschlag gebend
ist, verlangt, wie sehr dies auch am grünen Tisch bestritten werden
möge, dass unsere Gedanken, Gefühle und Willensakte einem sub-
stantiellen Träger, einem denkenden, fühlenden und wollenden Subjekt
angehören. Wir sind nun einmal geistig so organisiert, dass wir uns
Funktionen, Vorgänge und Zustände als „frei in der Wirklichkeit
schwebend** nicht vorzustellen vermögen. Wie wir auf die Wissen-
schaft verzichten müssten, wenn das Gesetz der Kausalität, das uns
nötigt, alle Erscheinungen unter dem Zusammenhange von Ursache
und Wirkung aufzufassen, bloss subjektive Geltung hätte, so müssten
wir an aller Wahrheit irre werden, falls Zustände irgendwie in sich
selbst Bestand haben, Funktionen ohne funktionierendes Subjekt
existieren könnten. Und zwar ist dies nicht ein bloss scheinbar
logischer Zwang infolge der sprachlichen Gewöhnung, sondern um-
^ Paulsen: Einleitung in die Philosophie, S. 868. Vgl. S. 183 ff., 362 ff.
268 Das Sein des loh.
gekehrt ist auch das sprachliche Subjekt nur auf Grund des logischen
Zwanges selbst entstanden.
Auch Paulsen muss einräumen, dass dem gesunden Menschen-
verstände der Verzicht auf ein solches haltendes und tragendes Etwas
als eine harte, ja, als eine ganz unerfüllbare Forderung erscheinen
müsse. Er giebt mithin den logischen Zwang, der dem Substanz-
begriff anhaftet, zu. Nun sind aber die Kategorien, als die all-
gemeinsten Denkformen und Verhältnisse, unter denen wir alle Gegen-
stände betrachten müssen, nur dann keine Täuschungen und Blend-
werke unseres Verstandes, wenn das reale Sein auch wirklich in
ihnen beschlossen ist. Es ist reine Willkür, den übrigen Kategorien
die reale Bedeutung zuzusprechen, das Verhältnis der Substanz und
ihrer Accidenzen dagegen bloss auf das ideelle Sein zu beschränken.
Entweder giebt es ein vom ideellen verschiedenes reales Sein; dann
muss auch die Kategorie der Substanz für dieses gelten. Oder aber
das reale ist selbst das ideelle Sein; dann beruhen nicht bloss alle
Kategorien überhaupt nur auf Täuschung, sofern sie sich sämtlich
auf ein vom ideellen verschiedenes Sein zu beziehen scheinen, sondern
es hat dann auch gar keinen vernünftigen Sinn, der Substanz bloss
eine ideelle Geltung zuzuschreiben. Vollends irreleitend aber ist es,
auf das Ganze des Seelenlebens, wenn man darunter nur die be-
griffliche Einheit der allein realen seelischen Funktionen versteht,
die alte Bezeichnung der Substanz anzuwenden. Denn damit be-
ruhigt man allenfalls den gesunden Menschenverstand, solange er der
wahren Meinung nicht weiter nachforscht, allein man erschwert die
klare Einsicht in das Problem und verschleiert nur den Punkt, wo-
rauf es dabei eigentlich ankommt.
Es ist also falsch, die Substanz darum zu leugnen, weil die
Selbstwahrnehmung uns nirgends einen substantiellen Träger zeigt.
Wohl aber ist es richtig, die individuelle Substanz zu leugnen,
weil die Reflexion uns das reale Sein als eine Vielheit auf einander
wirkender Einheiten erkennen lässt, Substanzen aber, wie gesagt,
nicht auf einander wirken können. Jene Einheiten sind funktioneller
Art, aber nicht darum, weil Funktionen und ihre Zustände den ein-
zigen unmittelbaren Inhalt unseres Selbstbewusstseins bilden, sondern
darum weil die gedankliche Zergliederung unserer psychischen Gebilde
uns zunächst nur auf Funktionen hinführt. Funktionen aber können
nicht sein, ohne von einer substantiellen Unterlage getragen zu sein.
Wenn es nun also nicht angeht, jede einzelne Funktion an eine be-
sondere Substanz zu knüpfen, so bleibt folglich nur übrig, alle
Funktionen zusammen an eine und die nämliche Substanz zu
Das substantielle Wesen des Ich. 269
knüpfen. Diese Substanz ist eben deshalb die absolute Substanz,
worin die sämtlichen Funktionen und Funktionengruppen, wie Radien
in einen Mittelpunkt, zusammenlaufen.
Nur als Accidenz einer absoluten Substanz ist die Aktualität
der reale Grund derjenigen Erscheinungen, deren Gesamtheit eben
die Wirklichkeit ausmacht. Jeder Versuch, die Aktualität von ihrem
substantiellen Grunde loszulösen, hebt den inneren Zusammenhang
der Realen auf und macht es unerklärlich, wie die thatsächliche Ein-
heit des Daseins und Geschehens aus einer blossen Summe von selb-
ständigen Funktionen sollte hervorgehen können. Denn daran ist ja
kein Zweifel, dass eine Vielheit von an und für sich bestehenden
Funktionen sich garnicht anders verhalten kann, wie eine Vielheit
von Substanzen, dass Funktionen, die durch kein inneres Band zu-
sammengehalten werden, sich auch nicht auf einander beziehen und
sich wechselseitig zu höheren realen Einheiten verbinden können.
Ja, solche Funktionen, die selbständig sind, sind im Grunde garnichts
Anderes als Substanzen, nur dass ihre Substanzialität mit ihrer Ak-
tualität sich deckt, ihr Wesen rein in ihrem Wirken aufgeht. Jede
Unterordnung der individuellen Funktionen unter einen Zweck, der
über die Sphäre der einzelnen Funktion hinausgeht, setzt einen Träger
jenes Zwecks voraus, zu dem sich die Funktionen als Mittel ver-
halten. Die Unterordnung aller aber unter den absoluten Zweck ist
nur unter der Voraussetzung eines absoluten Trägers dieses Zweckes
denkbar. Darum sehen sich auch Wundt und Pauls en, obschon
sie eine objektive Teleologie nicht anerkennen, durch die Thatsache
der universellen Wechselwirkung doch genötigt, ihre individuellen
Willensentitäten an eine letzte gemeinschaftliche Einheit anzuknüpfen,
ja, Paulsen trägt sogar kein Bedenken, sie als die „absolute Sub-
stanz ** zu bestimmen, ohne freilich darunter etwas Anderes als den
absoluten Willen im Sinne Schopenhauers zu verstehen. Dabei
bleibt jedoch die Schwierigkeit ungelöst, dass Funktionen, auch ab-
solut gedacht, des substantiellen Trägers nicht entbehren können und
dass nicht einzusehen ist, wie der eine absolute Wille sich in eine
Vielheit individueller Willensfunktionen besondern und gleichzeitig
als deren inneres vereinigendes Band sollte fortbestehen können.
Auch der Voluntarismus oder die thelistische Metaphysik eines
Wundt und Paulsen muss anerkennen, dass der blosse Wille nur
Unterschiede der intensiven Quantität, nicht aber der Qualität zeigen
kann. Der Wille rein als solcher kann verschieden stark oder schwach
sein, aber diese Unterschiede des Stärkegrades sind nur als zeitlich
verschiedene Momente eines und desselben Willens denkbar, bewirken
S70 I>aa Sein des Ich.
jedoch für sich allein noch keine Besonderung des Willens in zwei
gleichzeitig von einander verschiedene Willensakte. Die qualitative
Verschiedenheit der Einzelwillen und damit die individualistische Be-
schaffenheit der Realität kann ihren Grund nur in den verschiedenen
Vorstellungen haben, die den jeweiligen Inhalt der Willensfunktionen
bilden. Nun kann aber der Voluntarismus, um konsequent zu sein,
die Vorstellung nur erst aus der Wechselwirkung der individuellen
Willensfunktionen resultieren lassen. Er begeht mithin den Zirkel,
dasjenige als Wirkung aufzufassen, was notwendig schon in der Ur-
sache enthalten sein muss, damit überhaupt irgend eine Wirkung zu-
stande kommt, und dies nur, weil ihn sein irrtümlicher Glaube an
die Unmittelbarkeit der Selbstwahmehmung verbietet, die ursächliche
und die bewirkte Vorstellung als unbewusste und bewusste Vor-
stellung von einander zu unterscheiden.
Wir, die wir die Aktualität als Einheit von unbewusstem Willen
und unbewusster Vorstellung begriffen haben, sind dadurch auch vor
jener Identifizierung von Substanz und Aktus geschützt. Denn den
Willen an und für sich mag man sich immerhin ohne eine von ihm
selbst verschiedene Substanz vorstellen: Wille und Vorstellung zu-
sammen, als einander bedingende und ei^änzende Faktoren, kann
man sich nicht ohne einen Träger vorstellen, der hinter ihnen sub-
sistiert und zu dem sie beide in dem nämlichen Verhältnis stehen.
Denn weder haftet die Idee am Willen, noch haftet der Wille an
der Idee, sondern beide können nur als Momente an einem und
demselben Dritten haften, dessen Aeusserungsweise oder At-
tribute sie bilden. Giebt es überhaupt eine Substanz, so kann
sie folglich nur von der AktuaUtät und damit von der Realität ver-
schieden sein. Sind aber beide verschieden, dann müssen sie sich
zu einander verhalten, wie das Wesen sich zu seiner Erscheinung
verhält.
Der Voluntarismus hat ganz recht, zu betonen, dass die Realität
nicht in der SubstantiaUtät, sondern nur in der Aktualität zu finden
ist. Denn mag nun die Substanz eine individuelle oder mag sie eine
absolute sein: wenn sie real ist, so haben ihre Accidenzen nur ein
ideelles Sein, und die Welt, als Erscheinung ihrer Aktualität; ist
eine bloss subjektive und unwirkliche Erscheinung. Allein das Näm-
liche ist der Fall, wenn die Aktualität, wie der Voluntarismus an-
nimmt, eine unmittelbar erkannte und bewusste sein soll. Denn da-
mit wird sie selbst zum ideellen Sein, und es ist eine rein vergeb-
liche Mühe , ihr eine andere Realität als unseren Vorstellungen zuzu-
sprechen. Keiner hat die Identität von Realität und Aktus so stark
Das Bubstantielle Wesen des Ich. 271
betont, wie Leibniz, der sich dadurch gerade ein Hauptverdienst
um die Philosophie erworben, dass er die Monaden als reine Thätig-
keiten oder Funktionen bestimmt hat. Allein wohin es führt, wenn
man die Aktualität als unmittelbar bewusste auffasst, dafür liefert zu-
gleich auch die leibnizsche Monadologie mit ihrer subjektivistischen
Verflüchtigung der Realitöt das deutlichste Beispiel.
Derselbe falsche Glaube an das Gogito ergo sum, der den Vo-
luntarismus veranlasst, die Aktualität als bewusste anzusehen, ist
auch der Grund, weshalb er sich berechtigt glaubt, die Substantialität
mit der Aktualität zu identifizieren. Damit verwickelt man sich aber
nur in dasselbe Dilemma, wie wenn man sie mit der Realität identi-
fiziert. Je nachdem nämlich ob der Nachdruck auf die Aktualität
oder auf die Substantialität gelegt und der eine von beiden Begriffen
festgehalten wird, verschwindet entweder die Substantialität in der
Aktualität, oder umgekehrt die Aktualität geht in der Substantialität
unter. Im ersten Falle wird die Welt auf ihre eigenen Füsse ge-
stellt, und ihr substantieller Grund wird zum blossen Begriff im end-
lichen Bewusstsein. Im zweiten Falle wird alle Eealität auf das
substantielle Wesen übertragen, und die Welt verblasst zum blossen
Traum im absoluten Bewusstsein. Entweder ist die Welt real, dann
ist die Substanz eben deshalb bloss ideell. Oder aber die Substanz
ist real; dann kann die Welt bloss eine ideelle Existenz besitzen.
Hier ergiebt sich mithin als die notwendige Konsequenz der Akos-
mismus; dort ergiebt sich mit der gleichen Konsequenz der Natu-
ralismus. Der Akosmismus ist Monismus, sofern er die Vielheit
des Endlichen als Erscheinung des Einen absoluten Wesens auffasst;
allein er ist ein abstrakter Monismus, weil er von der Realität des
Endlichen abstrahiert und seine Erscheinung nur als ideelle (subjek-
tive) auffasst. Der Naturalismus ist Pluralismus, weil er die Welt
in eine Vielheit selbständiger Realen zersplittert; allein er ist ein
abstrakter Pluralismus, weil er ebenso von ihrer gemeinschaftlichen
substantiellen Einheit abstrahiert. Der abstrakte Monismus ist Pan-
theismus in dem Sinne, dass der absolute Grund der Welt zugleich
ihr Wesen und folglich Alles in Allem ist. Der abstrakte Pluralis-
mus ist Atheismus in dem Sinne, dass die Welt ihm Alles und
dass die Vielheit der endlichen Realitäten als solche unmittelbar das
Absolute ist.
Diese Thatsachen bestätigen sich am deutlichsten am Spinozismus.
Auch Spinoza erklärt die Substanz für identisch mit ihrem Aktus
und gelangt infolge hiervon dahin, die Welt als einen unwirklichen
Schein am Absoluten aufzufassen. Denn wenn die Substanz eine
S72 Das Sein des Ich.
ewige und absolute ist, so kann auch ihr Aktus, falls er mit ihr
identisch ist, nur ein ewiger und absoluter sein. Eine solche aber
ist die empirische Erscheinungswelt nicht und folglich kann diese
nur eine blosse Scheinwelt sein, der Aktus mithin nur ein ideelles
Sein besitzen. Auf der andern Seite führt jedoch gerade seine Iden-
tität mit der realen Substanz dahin, auch den Aktus als einen realen
aufzufassen, und dann geht die ursprüngliche Realität der Substanz
in der Vielheit der endlichen Erscheinungen unter. So kommt es,
dass die Einen aus dem System des Spinoza mit dem gleichen
Rechte den Naturalismus, die Andern den Akosmismus herauszulesen
pflegen, und dass man seinen Urheber ebensowohl als Atheisten, wie
als Pantheisten zu bezeichnen pflegt. So kommt es auch, dass sich
bei dem Einfluss, den der Spinozismus auf die neuere Spekulation
gewonnen hat, mit dem Begriffe des Pantheismus derjenige des Atheis-
mus unmittelbar verschmolzen und dass man, weil beide sich beim
Spinoza vereinigt finden, das Widerspruchsvolle dieser Verschmel-
zung nicht bemerkt hat.
Nun sind aber schon bei Spinoza beide Gegensätze nur aus
einer verschiedenartigen Ausdeutung der Identität von Substantialität
und Aktualität hervorgegangen, imd ihre Nebeneinanderstellung und
Ineinanderschiebung in Einem System lässt dieses in zwei unverein-
bare Hälften auseinanderfallen. Es geht folglich nicht an, auch in
der Folgezeit zu konservieren, was schon bei Spinoza ein Wider-
spruch ist, und den Pantheismus dadurch in Verruf zu bringen, dass
man ihn einfach mit dem Atheismus für identisch ausgiebt. Es geht
auch nicht an, dem Monismus vorzuwerfen, dass er über der Be-
tonung der absoluten Substanz die Rechte ihrer Accidenzen miss-
achte und dass es überhaupt in seinem Wesen liege, die Realität der
endlichen Erscheinungswelt zu leugnen. Der Monismus des Spinoza
mit seiner Weltverleugnung ist ein ebenso abstrakter Standpunkt,
wie sein naturalistischer Pluralismus mit seiner Weltvergötterung.
Der wahre Monismus ist konkreter Monismus, als Synthese von
abstraktem Monismus und Pluralismus, und dieser besteht in der
Anerkennung, dass es ebensowenig eine reale Vielheit ohne substan-
tielle Einheit giebt, wie eine solche Einheit, die sich nicht in die
Vielheit und Besonderheit einer realen Erscheinungswelt entfaltete.
Man pflegt dem Pantheismus das Schwankende in seinem Cha-
rakter vorzuwerfen und hat behauptet, es gäbe überhaupt keinen
wirklich konsequenten Pantheismus. Daran ist soviel richtig, dass
ein solcher Pantheismus das Ziel der ganzen bisherigen Metaphysik
gewesen ist und dass es sich für sie im letzten Grunde überall nur
Das sabstantielle Wesen des Ich. 273
darum gehandelt hat, jenen Standpunkt des konkreten Monismus zu
gewinnen^. Wenn ihr dies nicht gelungen ist, wenn alle ihre Be-
mühungen, die Vielheit der Erscheinungswelt mit der Einheit des
substantiellen Wesens in Uebereinstimmung zu bringen, an der Dia-
lektik der Begriffe Realität resp. Aktualität und Substantialität ge-
scheitert sind, indem jeder dieser Begriffe in den andern umschlägt,
so hat das nur darin seinen Grund, weil die ganze Metaphysik bisher
stillschweigend oder ausgesprochen das Cogito ergo sum zu ihrem
Ausgangspunkt gehabt hat. Denn damit ist die Identität von Sub-
stantialität, Aktualität und Realität unmittelbar gegeben und wird es
nur mehr zu einer Sache des persönlichen Beliebens, ob man diese
oder jene konservieren will. Darum bewegte sich bisher der ganze
Entv^ckelungsprozess der Metaphysik durch die Gegensätze des Pan-
theismus und Individualismus hindurch, weil keiner bei dem andern
zu seinem Recht gekommen war. Die Pantheisten, die alle Aktualität
in der Substantialität verschwinden Hessen und die alleinige Realität
der absoluten Substanz behaupteten, beriefen sich mit dem gleichen
Rechte auf das Cogito ergo sum, wie die Individualisten, die alle
Substantialität in die Aktualität versenkten und folglich die indivi-
duellen Thätigkeiten als ebenso viele Realen bestimmten. Ein Gleich-
gewichtszustand der beiden Gegensätze erscheint jedoch sofort als
möglich, sowie man nur das Irrtümliche ihrer beiderseitigen Voraus-
setzung aufdeckt.
Früher sagten wir, die kantische Vemunftkritik verdanke ihren
Reichtum an Gesichtspunkten und erhellenden Gedankenblitzen, wo-
durch sie fast jedem späteren System einen Anknüpfungspunkt ge-
währt, aber auch ihre Widersprüche und Wunderlichkeiten der zwie-
fachen Weise, wie sie das Cogito ergo sum verwendet. Jetzt können
wir das Gleiche auch von Spinoza sagen, dessen widerspruchsvolle
Verkoppelung von Pluralismus und Monismus ihn ebenso als den
Vorläufer der leibniz sehen Monadologie und des französischen Materia-
lismus, wie des Pantheismus eines Fichte, Schelling und Hegel
erscheinen lässt. Weil beide mit genialer Unbefangenheit die ent-
gegengesetzten Möglichkeiten herausgesetzt haben, die im Cogito
ergo sum verborgen schlummern, darum konnten sie neben einander
entwickeln, was ihre Nachfolger und Anhänger, die den Widerspruch
bemerkten, nur einzeln zur Darstellung bringen konnten, darum
konnte aber auch die nachkantische Philosophie wieder an Spinoza
anknüpfen, ohne deshalb den Boden des transcendentalen Idealismus
' Vgl. mein Werk: Die deutsche Spekulation seit Kant u. s. w. I. Einleitung.
Drews. 2g
274 Das Sein des Ich.
zu verlassen. Wer sonach an jener Voraussetzung festhält, der mag
wohl nach ihrem bisherigen Entwickelungsgange 9 wo ein System
immer das andere ablöst und überbietet, das Ziel der Metaphysik
überhaupt für unerreichbar halten. Einer vorsichtigeren Betrachtungs-
weise müssen gerade ihre bestfindigen Misserfolge als Beweis dafür
dienen, dass die Metaphysik sich bisher nicht auf dem richtigen
Wege befanden hat und sie muss sich daher vor allem die Frage
vorlegen, ob nicht vielleicht der gemeinschaftliche Ausgangspunkt
der bisherigen metaphysischen Systeme schon selbst den Keim des
Widerspruches in sich trfigt.
Besfissen wir ein unmittelbares Bewusstsein der Eealität, dann
müsste allerdings die Aktualität mit der Substantialität zusammen-
fallen, weil die Annahme einer Substanz hinter ihrem Aktus alsdann
keine Berechtigung mehr hätte. Nun ist aber, wie gesagt, die be-
wusste Aktualität überhaupt keine Eealität. Damit fällt die Mög-
lichkeit hinweg, ihr Zusammenfallen mit der Substantialität auf Grund
der unmittelbaren Thatsache des Bewusstseins zu behaupten. Die
Eealität ist Aktualität; aber sie ist dies nur als unbewusste Ak-
tualität. Die Aktualität ist Erscheinung der absoluten Substanz;
diese selbst jedoch steht hinter der Erscheinung. Die Eealität
ist mithin nur in der Erscheinung oder ist nur als Erscheinung,
aber nicht als subjektive Erscheinung von blosser Bewusstseinsrealität,
sondern als objektive, bewusstseinstranscendente Erscheinung.
Man wendet gegen diese Behauptung ein, dass sie der psycholo-
gischen Erfahrung widerspreche. Zur Wirklichkeit, sagt man, gehört
auch mein Ich. Wäre nun dies Ich ein Brüchstück oder eine Teil-
grösse eines absoluten Ganzen, wie es nach jener Auffassung der
Fall sein soU, eines Ganzen, das ebenso auch in allen übrigen
realen Existenzen zur Erscheinung kommt, so müsste ich doch davon
ein Bewusstsein haben. Nun erkenne ich aber mich selbst als ein
„ ganzheitliches** Prinzip, das keines Anderen zu seiner Existenz be-
darf, weil es in sich selbst die notwendigen Bedingungen seiner
Thätigkeit und Fortentwickelung findet. Sonach meint man, sei auch
kein Grund vorhanden, mich selbst als blosses Fragment in ein höheres
Ganzes eingereiht zu denken^. Dieser Einwand behauptet also mit
andern Worten, das Ich sei eine ^substantiale Monas**. Das ist aber
nur aus dem Cogito ergo sum gefolgert, über das wir nun kein Wort
mehr zu verlieren brauchen. Gewiss, erschöpfte mein Bewusstsein
* Th. Weber: Metaphysik (1888—91), S. 80 f. E. Melzer: Der Beweis
für das Dasein Gottes und seine Persönlichkeit mit Bücksicht auf die herkömm-
lichen Gottesbeweise (1895), S. 7 f.
Das substantielle Wesen des Ich. 275
das Sein, so müsste ich mich auch als Bruchteil des Absoluten
wissen, falls mein Sein mit dem absoluten Sein identisch wäre. Nun
wird aber das reale Sein als solches überhaupt nicht erfahren $ folglich
kann auch die metaphysische Einheit des IcL mit dem absoluten Sein
durch den Hinweis auf den Mangel der Erfahrung nicht bestritten
werden.
Wir erkannten oben die Schranken als unberechtigt, die das
Cogito ergo sum zwischen den endlichen Existenzen aufgerichtet hat,
und setzten an die Stelle des Dualismus Ton Geist und Körper die
monistische Auffassung eines Stufenreiches von Monaden. Jetzt zeigt
sich, dass auch der Dualismus von Endlichem und Absolutem aus
derselben falschen Voraussetzung entspringt. Damit ist aber der
Dualismus in jeder Hinsicht überwunden und der Monismus in seine
unumschränkte Herrschaft eingesetzt, indem die endlichen Individuen
nur als Teile, Glieder und Funktionen desselben allumfassenden Or-
ganismus erkannt sind.
Die Realität ist nur in der Erscheinung; die Substanz jedoch
steht hinter der Erscheinung. Weit entfernt also, dass wir die Sub-
stanz unmittelbar erkennen, wie Descartes und im Anschluss an
ihn Spinoza angenommen haben, vermöchten wir sie selbst dann
nicht zu erkennen, wenn wir eine unmittelbare Erkenntnis des realen
Seins besässen. Darum dachten sich die Gnostiker und der Neu-
platonismus die höchste Gottheit in einem Zustande weltentrückter
Erhabenheit, als jenen mystischen „Bythos" oder „Abgrund", jenes
„uranfangliche Schweigen'', das sie in Begriffen nicht auszudrücken
wagten, weil es jenseits alles Seins und Denkens liegen sollte. Das-
selbe meint auch die Kabbalah, wenn sie die alleine Gottheit, den
Ensoph, als den Verborgenen der Verborgenen, als reine Nacht und
Finsternis oder als das Nichts bezeichnet, weil alle seine Bestimmungen
bloss die Erscheinung der Substanz betreffen. Die absolute Substanz
ist das Nichts aller Bestimmtheit, das „unwesentliche Wesen**, der
„einfache Grund", die „stille Wüste", die „unbewegliche Ruhe" oder
die „Gottheit" Meister Eckharts. Sie ist das Nämliche, was Jakob
Boehme die „Stille ohne Wesen", eine „unfassliche Weite ohne
Stätte", den „Ungrund", sofern er weder selbst begründet ist, noch
begründet, genannt hat. Nur durch den übersinnlichen Akt der
Auslöschung aller geistigen Funktionen soll es nach allen diesen
Lehren möglich sein, sich Gott zu nähern. Wenn sie freilich jenen
Akt als einen bloss vorübergehenden verstanden und meinten, die
„Flucht des einzig Einen zum einzig Einen" sei gleichsam nur eine
Episode innerhalb des irdischen individuellen Lebens, dann war das
18*
276 Das Sein des Ich.
auch nur wieder eine Spur jenes alten Glaubens an die Möglichkeit der
unmittelbaren Erkenntnis des Realen. Aber Becht hatten sie darin,
die letzte centrale Tiefe des Seins, den substantiellen Kern aller realen
Existenzen über Denken und Sein hinauszurücken und ihn gänzlich
aller Erkenntnis durch Begriffe zu entziehen. Denn unsere Begriffe
beziehen sich auf das Sein und sind von diesem abgezogen; die
Substanz jedoch liegt jenseits alles Seins und ist die Voraussetzung
des Seins und des Begreifens. Es ist daher ein uneigentlicher Aus-
druck, wozu uns nur der Mangel an einem passenden Begriffe zwingt,
wenn man der Substanz ein Sein beilegt. Die Substanz „isf nicht,
sondern sie „wesef" nur, d. h. sie ist das Wesen der Erscheinungen,
worin wir allein die Realität zu suchen haben. Nur ihre Accidenzen
„sind"^; sie selbst aber ist das „unvordenkliche ** Sein, was Schelling
das „Uebersein*^ genannt hat.
Ist so die absolute Substanz erwiesen, so müssen wir auch die
einzelnen realen Existenzen in eine nähere Beziehung zu einander
rücken, als bisher geschehen konnte. Bisher betrachteten wir jede
einzelne Realität als Einheit von Wille und Idee und stellten es so
dar, als ob die Attribute der individuellen Existenzen selbständige
und gegen einander abgeschlossene Wesenheiten seien. Indem nun
aber mit der Annahme der absoluten Substanz die Monaden ihre
Selbständigkeit und Substantialität verlieren, indem sie zu unselb-
ständigen Momenten oder Accidenzen (Modi) an der einen ihnen allen
gemeinschaftlichen Substanz herabsinken und nach rückwärts sich
gleichsam alle in demselben Punkte schneiden, so fliessen auch die
vielen individuell gedachten Attribute zu absoluten Attributen der
absoluten Substanz zusammen. Es giebt also nicht viele Willen und
viele Ideen, die beschränkt wären auf die Sphären vieler Individuen,
sondern es giebt nur Einen Willen und nur Eine Idee, zu denen sich
die vielen Individualideen und Individualwillensfunktionen verhalten,
wie sich innerhalb des höheren Individuums der Wille resp. die (un-
bewusste) Vorstellung dieses Individuums zu den ihnen immanenten
und untergeordneten Willen resp. Vorstellimgen der konstituierenden
Elementarindividuen verhält. Mit andern Worten: der Individualwille
und die Individualidee sind dies nicht als Attribute individueller
Wesen, sondern sie sind es als Attribute des absoluten Wesens, das
in ihnen sich bloss in individueller Weise eingeschränkt hat. Darum
sind die vielen Individuen ihrem Inhalte und ihrer Existenz nach auf
einander bezogen imd bilden sie in ihrer Gesamtheit ein einheitliches
System oder einen Makroorganismus, in dessen Vielheit von
Gliedern und Funktionen wir überall nur das eine identische Wesen
Das substantielle Wesen des Ich. 277
zu erkennen haben. Wie im individuellen Organismus oder Mikro-
organismus die niederen Funktionen nur die Momente sind, die eben
diesen Organismus konstituieren, so machen aucb im Makroorganismus
oder im absoluten Organismus die verschiedenen realen Wesen die
Momente aus, worauf sich das Ganze jenes Organismus gründet. Be-
zeichnet man den einheitlich zusammengefassten Stufenbau von kon-
stituierenden Funktionen des Mikroorganismus als Seele, so bestellt
mithin kein Grund, diesen Namen auf die Gesamtheit von Funktionen
beim Makroorganismus nicht anzuwenden. Der Makroorganismus ist
die absolute Seele, die Weltseele im Sinne von Plotin und
Giordano Bruno. Indem sie, als das Subjekt aller Thätigkeit, sich
in allen verschiedenen Funktionen auswirkt, so ist die absolute Sub-
stanz zugleich das absolute Subjekt und als solches das absolute
Individuum, das sich in allen seinen einzelnen Gliedern und Er-
scheinungen gleichzeitig sowohl als Wille, wie als Idee bethätigt.
So haben wir also im Centrum das Uebersein, in den Radien,
die von diesem nach den verschiedenen Richtungen ausstrahlen, das
reale Sein, oder wie man es in seiner Beziehung auf die einzelnen
realen Existenzen auch zu nennen pflegt, das Dasein, in der Peri-
pherie, wo die sämtlichen Radien, gleichsam geknickt und umgebogen,
wieder zusammentreffen, das ideelle oder das Bewusst-Sein. Dem
Uebersein entspricht das substantielle Wesen, dem Dasein und Be-
wusstsein die Erscheinung desselben, und zwar entspricht dem
ersteren die objektive oder unmittelbar gesetzte, dem letzteren die
subjektive oder mittelbar gesetzte Erscheinung. Das Wesen ist
die Einheit der Substanz und ihrer Attribute, des absoluten
Willens und der absoluten Idee. Die Erscheinung ist die Einheit
der Substanz und ihrer Accidenzen, worin die beiden Attribute
sich entfaltet haben. Die subjektive Erscheinung, als die Gesamtheit
des Ideellen, hat unmittelbar nur Teil am Attribute der Idee. Die
objektive Erscheinung, als die Gesamtheit des Realen, hat Teil an
beiden Attributen. Realität ist die unbewusste Einheit des Willens
und der Idee. Ideellität ist die aus dieser Einheit herausgesetzte
und in die Form des Bewusstseins gekleidete Idee. Die subjektive
Erscheinung wird unmittelbar erkannt; die objektive Erscheinung wird
nur mittelbar durch das Medium der subjektiven Erscheinung erkannt;
die Substanz aber wird weder mittelbar, noch unmittelbar erkannt,
sondern überall nur vorausgesetzt als der Träger ihrer Attribute.
Die bewusste (endliche) Erkenntnis ist die im Konflikte der indivi-
duellen Willensfunktionen erzeugte und dadurch in den Gegensatz
von Subjekt und Objekt gespaltene unbewusste Erkenntnis. Die un-
S78 1^8 Sein des Ich.
bewusste Erkenntnis ist die jeweilige aktuelle Einheit der idealen
Bestimmungen jener Willensfunktionen, wie sie vor- und abgesehen
von ihren wechselseitigen Konflikten ist, und daher eine gegensatz-
lose, absolute Erkenntnis. Die bewusste Erkenntnis hat ausser sich
den Gegensatz des realen Seins. Die unbewusste Erkenntnis hat
ausser sich den Gegensatz des absoluten Willens. Das Wiesen aber
hat gamichts ausser sich, sondern nur den Gegensatz der Attribute
in sich. Darum ist es, wie Nicolaus v. Cusa sagt, die coincidentia
oppositorum, woraus sich alle realen Gegensätze durch den logischen
Gegensatz der Attribute entwickeln.
Weil der Gegensatz der Attribute ein logischer, oder vielmehr,
da das Logische ja selbst das eine Glied des Gegensatzes bildet, ein
metalogischer und insofern bloss ein ideeller, nicht aber ein realer
ist, so ist die Besorgnis unbegründet, dass die Annahme einer Zwei-
heit von Attributen die Einheit der Substanz gefiihrden und dieselbe
in zwei entgegengesetzte Hälften auseinandersprengen könnte. Wer
glaubt, die Attribute als solche in unmittelbarer (intellektueller) An-
schauung erfassen zu können, der muss natürlich in jedem einzelnen
schon ein Reales sehen und folglich ihre Vereinigung in der absoluten
Substanz für einen phantastischen Gnostizismus halten, der das Gegen-
teil alles wirklichen Monismus ist. Es ist daher nur selbstverständ-
lich, dass die Anhänger Hegels und Schopenhauers für die hier
vertretene Ansicht kein Verständnis zeigen, denn dasjenige, was Wille
und Idee nur vereint leisten können, die Erklärung der gesamten
Wirklichkeit, das leistet nach ihrer Meinung schon eines der beiden
Attribute für sich allein, und zwar weil unser Selbstbewusstsein uns
unmittelbar seine absolute Realität bestätigt. Die Hegelianer ver-
mögen nicht einzusehen, dass die Idee zwar den ganzen Inhalt des
Seins, aber nicht seine Realität erklären kann. Die Schopenhauerianer
wollen nicht zugeben, dass der Wille nur die blosse Form des realen
Seins, aber nicht seinen Inhalt erzeugen kann. Sie sind aber nur
deshalb ausser Stande, in der gegnerischen Ansicht die Ergänzung
ihres eigenen Standpunktes zu erkennen, weil beide ihrer Voraus-
setzung gemäss bestrebt sein müssen, das richtige Sowohl-als-auch
durch ein einseitiges und abstraktes Entweder-oder zu verdrängen.
Gewiss ist es, jene Voraussetzung angenommen, bloss eine Sache des
Charakters, ob man den Willen oder die Idee für das Weltprinzip
ansieht — Hegel und Schopenhauer in ihrer charakterologischen
Verschiedenheit sind selbst nur der sprechende Beweis hierfür —
denn die intellektuelle Anschauung lässt beide Möglichkeiten offen.
Erklärt man jedoch das Reale für das Jenseits des Bewusstseins und
Die absolute Persönlichkeit. 279
hält man demgemäss eine Erkenntnis des Realen nur vermittelst der
Reflexion für möglich, dann ist es keine Sache des subjektiven Cha-
rakters mehr, sondern die Frage, auf welche Seite man sich stellen
solle, kann alsdann nur aus reinen Yerstandesgründen entschieden
werden, und diese sprechen deutlich genug für eine gleichmässige
Vereinigung der beiden Seiten. Wenn der absolute Geist im heg ei-
schen Panlogismus bei dem Mangel eines Realprinzips unfähig ist,
die EüUe seiner idealen Gebilde ins reale Sein hinüberzuführen, wenn
der absolute Wille im scho penhau ersehen Panthelismus bei dem
Mangel eines Idealprinzips ebenso unfähig ist, seine Realisierungskraft
in abgesonderten Gebilden zu bethätigen, so können nur WiUe und
Idee zusammen die Vielheit der realen Erscheinungswelt erzeugen.
Dann ist aber nicht schon die Idee als solche der absolute Geist,
wie Hegel meinte, sondern erst die Idee in ihrer Einheit mit dem
Willen d. h. die absolute Substanz, als Träger ihrer Attribute,
die identisch mit dem absoluten Wesen ist. Der Standpunkt, den
wir dann erhalten, ist folglich nicht ein einseitiger abstrakt -monisti-
scher Panlogismus, er ist auch kein ebenso einseitiger abstrakt -mo-
nistischer Panthelismus, sondern er ist, als die Vereinigung dieser
beiden Einseitigkeiten, ein konkreter Monismus, den wir im Unter-
schied von jenen, als Panpneumatismus bezeichnen können.
8. Die absolute Fersönliohkeit.
Hier erhebt sich nun die Frage, ob der absolute Geist als per-
sönlich oder als unpersönlich aufzufassen sei.
Der Begriff der Persönlichkeit gehört, wie derjenige des Be-
wusstseins, erst dem modernen Geiste an. Bei dem naiv natura-
listischen Grundzug seines Wesens erscheint es dem Griechen selbst-
verständlich, dass der Geist nur in unauflöslicher Einheit mit seiner
Naturgrundlage ist. Zwar unterscheidet er beide begrifflich von
einander, zwar erkennt er auch den Geist als das Höhere der Natur
an, aber dieser Unterschied hat sich hier noch nicht zu einem Gegen-
satz entwickelt, und daher hat der Grieche, wennschon er die Natur
oder die stofflich -materielle Gestaltung als blossen Träger oder
Substrat des Geistes betrachtet, kein Bewusstsein von der wesent-
lichen Verschiedenheit dieser beiden Elemente. Der Geist erhebt
sich über die Natur, aber nur um aus der Unnatur herauszukommen
und dafür um so sicherer seine angestrebte Einheit mit der ersteren
zu gewinnen.
Die hellenische Sittlichkeit spiegelt dies Verhältnis nicht minder
deutlich wieder als die hellenische Religion. Jene wird nur in Ueber-
280 I>a8 Sein des Ich.
einstiinmang mit der Natur gefunden und ist nicht abhängig von der
Religion, sondern, wie diese, auf demselben Boden der natürlichen
Betrachtungsart erwachsen« Darum schimmert auch bei den Göttern
der Hellenen, so liebenswürdig und abgeklärt sie in ihrer Idealität
erscheinen mögen, doch überall das Chaos und die ungebändigte Natur-
kraft hindurch, woraus sie durch Vermenschlichung hervorgegangen.
Dieses sinnenfrohe Geschlecht konnte freilich nicht besser geehrt
werden als durch freudige Hingabe an die Güter dieser Erde, durch
festliches Schaugepränge und jene ideale Versöhnung von Sinnlichkeit
und Geistigkeit, deren Ausdruck wir in der antiken Kunst bewundem.
Allein es ist klar, dass auf diesem Boden eine tiefere Betrachtung
des geistigen Grundes keine Wurzeln schlagen konnte. Wie in seiner
Kunst der geistige Gehalt zwar die sinnliche Erscheinung adelt, in-
dem er mit ihr zur Einheit verschmilzt, aber dafür auch die Sinnlichkeit
den Geist daran hindert, seine höchste und innerlichste form der Indivi-
dualität hervorzukehren, so erhebt sich der Grieche zwar zur ab-
strakten Würdigung des Geistes, aber die sinnliche Erscheinungsform,
worin er sich ihr darstellt, nimmt ihn zu sehr in Anspruch, um die
Tiefe des Geistes selber auszuschöpfen. So hat die antike Welt zwar
ein Bewusstsein vom Geiste, aber sie hat kein Bewusstsein vom Be-
wusstsein des Geistes, ihr fehlt der eigentümliche Begriff der Per-
sönlichkeit und darum kann sie ihn auch in ethischer Beziehung sich
nicht als Ideal vorsetzen.
Es ist daher ein verkehrter Schluss, als ob mit der Personifizierung
von rohen Naturkräften, wie sie allen Religionen eigen ist, unmittelbar
schon ein Bewusstsein der Persönlichkeit gegeben sei. Gewiss ent-
hält dieser instinktive Hang des Menschen, seine natürliche Umgebung
sich dadurch näher zu bringen und verständlich zu machen, dass er
ihr menschliche, persönliche ZiXge leiht, schon etwas wie eine Ahnung
des lebendigen geistigen Wesens der Naturerscheinung. In dieser
Hinsicht ist selbst die roheste Anschauung natürlicher Dinge unter
dem Bilde von menschlichen Persönlichkeiten ein Schritt auf dem
Wege zur Erkenntnis des Geistes. Denn jene Anschauung macht das
Objekt selbst zum Subjekt und lässt die natürliche Erscheinung als
solche in den Hintergrund treten, indem sie den Geist aii ihre Stelle
einsetzt. Allein der Begriff der Persönlichkeit im eigentlichen Sinne,
wo er, wie wir dies früher gesehen haben, die innerlichste Konzen-
tration des Geistes selbst bedeutet, kann solange nicht gewonnen
werden, als der Geist noch als wirkliche, reale Person in der Aeusser-
iichkeit seiner natürlichen Erscheinung angeschaut wird. Das lateinische
Wort persona bedeutet daher auch nicht Person im eigentlichen Sinne
Die absolute Fersönliclikeit. 281
dieses Wortes, sondern es ist nur der Ausdruck fiir das Antlitz oder
die Maske, wie sie ein antiker Schauspieler zu tragen pflegte, und
dient sonach weiterhin auch zur Bezeichnung des Charakters oder der
Rolle eines solchen.
In dieser Bedeutung nun ist das Wort persona als Uebersetzung
deö griechischen oicöotaatc in die christliche Trinitätsformel überge-
gangen. Es weist auch hier lediglich auf die Rollen hin, welche der
an sich unbekannten und unpersönlichen Gottheit in der Oekonomie
des christlichen Heilsdramas zugedacht sind. Darum konnte die mittel-
alterliche Scholastik das Dogma der Trinität zum Gegenstande ihrer
Spekulationen machen, ohne an diesem Begriffe selbst Anstoss zu
nehmen. Es war kein Widerspruch, dass eine an sich unpersönliche
Wesenheit sich in drei Terscbiedenen Weisen, als Vater, Sohn und
heiliger Geist, bethätigen sollte. Wenn die kirchliche Philosophie, die
doch so ängstlich auf die spekulative Ausbildung des GottesbegrifPes
im orthodoxen Sinne bedachf war, an der Unpersönlichkeit des ab-
soluten Grundes festhielt, so ist das nur ein Beweis, dass der Begriff
der Persönlichkeit noch keineswegs in seiner tiefsten Bedeutung er-
kannt war. Denn sonst hätte man Bedenken tragen müssen^ der
Gottheit^ als der lebendigen Geistigkeit, dieses wichtigste Prädikat
des Geistes vorzuenthalten.
Persönlichkeit ist ohne Individualität nicht denkbar. Aber gerade
dieser Begriff der Individualität fehlte dem Mittelalter. Die christ-
liche Philosophie hat wenigstens in ihrer Blütezeit ihren Zusammen-
hang mit dem Piatonismus nie verleugnet. Sie hat in der Gestalt
des sogenannten Realismus die Allgemeinbegriffe selbst für reale
Wesenheiten, das Abstrakte für das eigentliche Wesen der konkreten
Erscheinungen erklärt und die letzteren nur für getrübte Abbilder
von logischen Allgemeinheit^'n angesehen. Als Duns Scotus das Recht
der Individualität und die Freiheit des menschlichen Willens gegen-
über dem absoluten Willen Gottes vertrat und der Nominalismus das
Interesse auf die konkreten Dinge lenkte, war der Höhepunkt der
Scholastik bereits überschritten, und eine neue Zeit wandte sich überall
gegen die abstrakte Ideenwelt des Mittelalters.
Diese Zeit hat dasjenige zuerst in die Wirklichkeit eingeführt,
was die scholastische Philosophie in ihrem Ausgang als Begriff ver-
kündigt hatte, die lebensvolle, konkrete, individuelle Form des Geistes.
Man hat nicht mit Unrecht darauf hingewiesen, dass das Mittelalter
an seinen hervorragenden Gestalten eigentlich keine individuellen Per-
sönlichkeiten besessen habe^). Wie die mittelalterliche Kunst einen
') Schnaase: Kunstgeschichte Bd. VIII«
282 Das Sein des Ich.
typischen, konTentionellen und abstrakten Charakter zeigt, so er-
scheinen auch die Menschen dieser Zeit mehr als Vertreter ihres Ge-
schlechts, ihres Standes, Berufes u. s. w., als dass sie besondere
persönliche und individuelle Züge offenbarten. Auf künstlerischem
Gebiete hat bekanntlich erst die Erfindung der Oelmalerei die Augen
für die Erkenntnis der konkreten Erscheinungsform geöffnet und die
Pforten für das psychologische Verständnis aufgeschlossen. Gleich-
zeitig aber sehen wir in Italien jene stolzen, ihres eigentümlichen
Wertes sich bewussten Charaktere erstehen, welche die Idee der In-
dividuaUtfit bis zum Extrem entwickeln. Während die altersschwache
Scholastik sich vergeblich abmüht, ihre abstrakte Gedankenwelt mit
der Wirklichkeit in Einklang zu bringen, beginnen sich bereits die
Keime einer neuen Wissenschaft zu regen, welche das reale Leben an
die Stelle der blossen Gedanken, die Natur an die Stelle einer selbst
ersonnenen Welt des Geistes einsetzt. Und schliesslich vollendet die
Reformation, was Wissenschaft Kunst und Leben begonnen : sie stellt
das Individuum auch in religiöser Hinsicht auf seine eigenen Füsse
und setzt einer verstiegenen Schwärmerei für transcendente Gegen-
stände das Diesseits als Schauplatz seiner Thätigkeit, einer äusserlichen
Werkheiligkeit die strenge Forderung der Einkehr in das eigene Selbst
entgegen. Damit sind aber die notwendigen Bedingungen zur Ver-
tiefung des Persönlichkeitsbegriffs gegeben, wie sie der ganzen voran-
gegangenen Zeit unerreichbar war.
Der christlichen Philosophie hatte die Bezeichnung persona nur
dazu gedient, den Gegensatz der als geistig vorgestellten Gottheit zu
allem Natürlichen und Materiellen auszudrücken. Denn der Be-
griff des Geistes war in jener Zeit noch viel zu sehr mit der anschau-
lichen Vorstellung einer stofflichen Beschaffenheit verknüpft, als dass
er für sich allein schon genügt hätte, jenen Gegensatz hervorzuheben.
Das Christentum sah in der Natur nur eine minderwertige Existenz,
deren Berührung die lautere Erhabenheit der Gottheit nur verun-
reinigt haben würde. Es hatte daher das grösste Interesse daran,
die innergöttlichen Modifikationen oder die realen Unterschiede in
der Gottheit auch äusserlich durch die blosse Bezeichnung als solche
hervorzuheben, die ausser und über allem natürlichen Dasein ständen,
und hierzu schien das Wort persona um so mehr geeignet, als das-
selbe ursprünglich überhaupt nicht eine reale (natürliche) Wesenheit,
sondern nur die willkürlich angenommene Maske oder Erscheinungs-
weise eines geistigen Subjekts bedeutet hatte. Wie fem ihm aber
der Gedanke lag, jene innergöttlichen Modifikationen als wirkliche
Persönlichkeiten im heutigen Sinne des Wortes aufzufassen, das zeigen
Die absolute Persönliclikeit. 283
deutlich die sogenannten spekulativen Konstruktionen der Trinität,
wie solche sich bei fast allen hervorragenden Grössen der mittel-
alterlichen Scholastik finden. Denn überall handelt es sich hier bloss
um das Aufzeigen von Unterschieden (Hypostasen) in der Gottheit,
die erst in ihrer Gesamtheit das konkrete, lebendige Absolute bilden,
aber nirgends ist auch nur der kleinste Versuch gemacht, ein eigent-
liches Bewusstsein dieser Unterschiede oder gar des substantiellen gött-
lichen Wesens nachzuweisen.
Dies änderte sich, als Des carte s dem bisherigen Naturalismus,
d. h. der Identifizierung und Yermengung des Natürlichen und Geistigen
oder des Stofflichen und Intellektuellen, seinen extremen Dualismus
von Geist und Körper gegenüberstellte und das Wesen des letzteren
in die Ausdehnung, dasjenige des ersteren dagegen in das Bewusst-
sein setzte. Von nun an galt es als selbstverständlich, dass alles
geistige Sein auf den Mittelpunkt eines Ich bezogen sei und dass es
sich nur durch diese Beziehungen von allem bloss stofflichen und
natürlichen Dasein unterscheide. Von nun an wurde daher das Wort
Person, wie es vorher zur Bezeichnung der absoluten Geistigkeit
Gottes gedient hatte, auch für die relative, mit der Körperlichkeit
behaftete individuelle und menschliche Geistigkeit üblich, und die Per-
sönlichkeit, die das göttliche Ideal besessen hatte, wurde nun zugleich
menschliches Ideal, indem sie als Ziel des sittlichen Handelns betrachtet
wurde. Denn die Sittlichkeit bestand ja eben in der Freiheit des
Geistes von der Knechtschaft der Natur, die Grade der Sittlichkeit
waren sonach nichts Anderes als Grade der Loslösung und Erhebung
des individuellen Geistes über seine natürliche Gebundenheit. Be-
stand nun das Wesen des Geistes, wie Descartes behauptet hatte,
und wie es diese ganze Zeit als selbstverständlich annahm, in der
substantiellen Natur des Bewusstseins, dann war mithin die Entwicke-
lung des Geistes zur Persönlichkeit ein Aufsteigen desselben zu immer
höheren Graden des Bewusstseins und zugleich ein immer innigeres
sich Beziehen des Geistes auf sich selbst, und die Begriffe des sub-
stantiellen Selbstbewusstseins , der Erkenntnis und der Sittlichkeit
flössen sonach im gemeinschaftlichen Begriffe der Persönlichkeit zu-
sammen.
Es mag unerörtert bleiben, wie viel zur Vertiefung dieser Idee
die erkenntnistheoretischen und psychologischen Untersuchungen jener
Zeit, vor allem aber die rousseauschen Gedanken beigetragen haben,
die das Recht der persönlichen Individualität und seine Freiheit mit
einer Entschiedenheit, wie nie zuvor, betonten und damit den Glauben
an den unendlichen Wert der Persönlichkeit für alle Folgezeit begründet
284 I)m Sein dei Ich.
haben. Soviel ist sicher, dass nach solcher Zuspitzung jener Idee
zur Bedeutung eines Ideals auch der höchste, absolute Geist, zu dem
sich die übrigen Geister nur wie Abbilder zu ihrem idealen Urbild
yerhielten, als Persönlichkeit in diesem tieferen Sinne begriffen werden
musste. Die endlichen, beschränkten, menschlichen Geister konnten
hiemach bloss relative oder endliche Persönlichkeiten, nur der ab-
solute göttliche Geist konnte Persönlichkeit im eigentlichen eminenten
Sinne, d. h. absolute Persönlichkeit, heissen. Dass diese Behauptung
einer absoluten Persönlichkeit nur rückwärts dasjenige Prädikat wieder-
um der Gottheit beilegte, woher es ursprünglich selbst genommen
war, ist augenscheinlich. Die Uebertragung des vertieften Persönlich-
keitsbegriffs auf Gott hat ein entschieden wertvolles Gegengewicht
gegenüber dem abstrakten Deismus des vorigen Jahrhunderts abge-
geben, sie hat die von allen konkreten Bestimmungen entleerte Gottes-
vorstellung der Aufklärungsperiode vor dem gänzlichen Verblassen
bewahrt. Nur darf über dieser Thatsache nicht übersehen werden,
dass gerade sie zugleich als ein Ferment zur Auflösung aller der-
jenigen Bestimmungen gedient hat, worin bisher die Eigentümlichkeit
der christlichen Gottesvorstellung bestanden hatte.
Solange man die drei Personen in der Gottheit nur als drei
verschiedene Erscheinungsweisen des absoluten Grundes, als inner-
göttliche Modifikationen der unpersönlichen Substanz verstanden hatte,
war dagegen aus logischen Gründen nichts einzuwenden gewesen.
Als jedoch mit der Vertiefung des Persönlichkeitsbegriffes und seiner
Verschmelzung mit dem Begriff des substantiellen Selbstbewusstseins
der ganze Gott, also auch die göttliche Substanz die Bestimmung
der Persönlichkeit annahm, da entstand der Widerspruch, dass Eine
Persönlichkeit zugleich drei Persönlichkeiten, Eine Substanz zugleich
drei Substanzen sei. Es ist kein Widerspruch, dass ein an sich un-
bewusstes Wesen sich in drei verschiedenen Selbstbewusstseinen zur
Erscheinung bringt; aber es ist mit den Gesetzen der Logik nicht
vereinbar, dass Ein selbstbewusstes Wesen zugleich als drei Selbst-
bewusstseine erscheint. Es lässt sich denken, dass drei persönliche
Erscheinungsweisen, und zwar jede in einer besonderen Weise Ein
Wesen spiegeln und eben durch diese Spiegelung selbst identisch sind;
aber es ist ein offenbarer Hohn auf das Denken, dass drei verschiedene
Personen mit abgeschlossener Bewusstseinssphäre und besonderer In-
dividualität nicht bloss mit einander unmittelbar, sondern auch mit
einer Persönlichkeit identisch sein sollen, die den Inhalt aller drei
in sich vereinigt. Es ist logisch unanfechtbar, dass Eine Substanz sich
in drei verschiedenen Hypostasen (Erscheinungsweisen) auswirkt; aber
Die absolute Persönlichkeit. 285
es ist unmöglich, dass Eine Substanz sich in drei von ihr selbst Ter-
schiedenen Substanzen auswirkt. Dahin führte aber notwendig der
Individualismus jener Zeit, die auf Grund des Cogito ergo sum die
substantielle Natur des Selbstbewusstseins behauptete. Darum musste
sich naturgemäss aus diesem Zwiespalt ein Kampf um den bisherigen
Gottesbegriff entwickeln, wie er gegen Ende des vorigen Jahrhunderts
im ficht eschen Atheismusstreit zum Ausbruch gekonmien ist, sich
durch die ganze Philosophie unseres Jahrhunderts hindurchzieht und
auch heute hinter andere Fragen nur zurückgedrängt ist, aber trotz-
dem unter der Asche weiterglimmt und auf seine endgültige Ent-
scheidung wartet. —
Man muss sich die hier skizzierte Entwicklung des Persön-
lichkeitsbegriffes gegenwärtig halten, um die obige Frage nach der
Persönlichkeit des absoluten Geistes ohne Vorurteil beantworten zu
können. Wenn etwas, so beweist nämlich jene Entwickelung, dass
der Begriff der Persönlichkeit im modernen Sinne keineswegs immer
für ein notwendiges Prädikat der Gottheit gehalten ist und
dass es sehr lange gedauert hat, ehe selbst der christliche Gottes-
begriff ihn unter seine Bestimmungen aufgenommen hat. Es besteht
daher gar kein Grund, sich gegen diejenigen zu ereifern, die jene
Bestimmung mit dem Begriffe der Gottheit für unvereinbar halten.
Wer die Dinge unbefangen betrachtet, wird finden, dass bisher die
Auffassung der Gottheit als Persönlichkeit überall nur dazu gedient
hat, der ersteren den Charakter einer blossen Naturkraft abzustreifen
und sie aus der naiven Einheit mit der sinnlichen Materialität heraus
zu immer höherer und reinerer Gestalt emporzuläutem.
Seiner instinktiven Personifizierung der äusseren Erscheinungen
verdankt der Mensch die Ueberwindung seines ursprünglichen Natur-
zustandes, das Bewusstsein seines eigenen Wertes gegenüber der Natur
und die Freiheit von den Fesseln der unmittelbaren sinnlichen Natur-
erscheinung. Denn der Widerspruch zwischen dieser und ihrem vor-
ausgesetzten geistigen Wesen erweckte in ihm zuerst den Gedanken
einer unsinnlichen Wirklichkeit, wie sie dem Geiste zukommt, und lehrte
ihn, das geistige Sein vom natürlichen unterscheiden. Daher geht
die Entwickelung der Religionen mit der Ausbildung des Persönlichkeits-
begriffes ihrer Götter Hand in Hand und nehmen sie eine um so höhere
Stufe ein, je weiter die Vergeistigung der ursprünglichen Natur-
potenzen in der Richtung des persönlichen Ideales fortgeschritten. Es
wäre jedoch ganz verkehrt, hieraus zu schliessen, dass die Persönlich-
keit als solche einen absoluten Wert besitze. Denn überall handelt
es sich hier wesentlich nur um die Hervorkehrung des Geistes gegen-
386 ^M Sein des Ich.
über der Natur; die Persönliclikeit vertritt nur deshalb die Stelle
des Geistes, weil sie überall die einzige Form ist, unter welcher der
Mensch imstande ist, das Geistige sich vorzustellen.
Die Auffassung der Gottheit als Persönlichkeit in ihrem ur-
sprünglichen naiven Sinne gestattet es, sie als den Träger und Hüter
der sittlichen Gebote anzusehen, erleichtert dem Menschen die Be-
folgung dieser Gebote und schützt ihn vor dem Bückfall in den
Naturalismus, indem sie ihm als Ersatz für die sinnliche Anschaulich-
keit der Natur das Yorstellungsbild eines mit ihm selbst verwandten
Wesens liefert. Dem naturalistischen Pantheismus der hellenischen
Philosophie gegenüber hatten sonach die christlichen Apologeten und
Kirchenväter ganz Recht, die persönliche Natur der göttlichen Hypo-
stasen zu betonen, auch wenn ihnen bei diesem Begriff naiver Weise
der Gedanke einer Art menschlicher Erscheinung vorgeschwebt haben
sollte. Denn sie besassen eben noch kein anderes Mittel, um den
spiritualistischen Gegensatz zur sinnlich-stofflichen Natur auszudrücken.
Darum war es auch begreiflich, wenn die naturalistischen Gedanken-
gänge bei Spinoza einen Jacobi alsbald das Gegengewicht in der
Idee des persönlichen Gottes finden liessen und wenn die Identitäts-
philosophie in unserem Jahrhundert, sofern man ihr irrtümlicher
Weise naturalistische Tendenzen unterlegte, die Reaktion einer theis-
tischen Philosophie gegen sich hervorrief. In allen diesen Eällen
handelt es sich wesentlich um die Geistigkeit des Absoluten, deren
Reinheit man durch jene philosophischen Richtungen für geföhrdet
ansah. Allein eine andere als diese bloss erzieherische und
prophylaktische Bedeutung hat der Begriff der Persönlich-
keit nirgends und zu keiner Zeit gehabt, sondern immer haben
tiefere Denker, die dem jeweiligen Geisteszustände ihrer Zeit voraus-
geeilt und durch ihren Begriff des Geistes vor dem Rückfall in den
Naturalismus gesichert waren, die göttliche Persönlichkeit für eine un-
eigentliche und unzulängliche Bezeichnung gehalten; ich erinnere nur
an Schleiermacher, der trotz seiner Stellung als christlicher Theo-
loge sich ausdrücklich gegen jenen Begriff erklärt hat. Von dem
Augenblicke an daher, wo ein Begriff vom Geiste ge-
wonnen ist, der jede Vermischung mit naturalistischem
Gehalte ausschliesst, der imstande ist, die natürliche Wirk-
lichkeit zu erklären, ohne selbst mit ihr zusammenzufallen,
von dem Augenblicke an hat die Idee der Persönlichkeit
ihre Rolle in der Geschichte des Geistes ausgespielt, und
mag sie aus anderen Rücksichten sich noch eine Zeit lang
halten, so sind es doch jedenfalls keine philosophischen
Die absolute Persönlichkeit. 287
Gründe, welche die fernere Konservierung jener Idee be-
dingen. —
Soviel geht ja nämlich aus dem Vorangegangenen klar hervor,
dass auch die hohe Bedeutung, zu welcher es die Persönlichkeit in
der neueren Philosophie gebracht hat, nur eine Folge des kartesia-
nischen Grunddogmas ist. Wenn man den Geist seinem Wesen nach
für einen ichlichen hält, so versteht es sich, dass der absolute Geist
ein Ich in absolutem Sinne sein muss. Wenn man das Bewusstsein
von seinem natürlichen Grunde lospräpariert und ihm selbst eine reale
Existenz beilegt, so ist es die einfachste Folgerung, das absolute
Reale als absolutes Bewusstsein aufzufassen. Alle Beweise, die man
sonst für die Persönlichkeit des Absoluten anführt, sind bedeutungs-
los gegenüber diesem einen Hauptbeweise, ja, es sind im Grunde nur
scheinbar neue Beweise, die sich alle auf jenen zurückführen lassen,
Oder ist es etwa ein „Beweis", wenn man sagt, das Absolute müsse
deshalb als Persönlichkeit betrachtet werden, weil diese den höchsten
Vorzug des endlichen Geistes ausmacht? Aber es ist ja gar nicht
einmal wahr, dass Persönlichkeit und Selbstbewusstsein in jedem Falle
als Vorzüge angesehen werden müssen. Zwar für die endlichen Geister
sind sie dies zweifellos; denn nur die Unterscheidung des eigenen
Selbst von der Umgebung, die Fähigkeit, in souveräner Hoheit sich
über die Dinge zu erheben, sie von der Warte einer zweckvollen Idea-
lität zu überschauen und stets seiner eigenen Funktionen Herr zu
sein, ermöglichen es den endlichen Geistern, sich im Kampfe gegen
die Aussenwelt, zu behaupten und die letztere ihren Zwecken dienst-
bar zu machen. Für den absoluten Geist dagegen giebt es keine
Aussenwelt im Gegensatz wozu er seine Zwecke durchzusetzen hätte,
und daher ist für ihn jenes Prädikat bedeutungslos, wie sehr auch
der Wert und die Bedeutung der endlichen Geister sich gerade auf
ihre Persönlichkeit gründen möge.
Mehr Gewicht scheint das Bedenken zu haben, das Absolute
müsste seine Einheit an die Vielheit der endlichen Existenzen verlieren,
es müsste aufhören, ihr gemeinschaftliches Wesen zu sein, wenn es
nicht die Vielheit der hinausgesetzten Bestimmungen beständig wieder
in die Einheit seines Bewusstseins zurücknähme. Dies Bedenken ist
jedoch schon deshalb unbegründet, weil die Vielheit der realen Exi-
stenzen ja gar nicht zur Substanz des Absoluten, sondern bloss zu
seiner Erscheinung gehört. Nur wenn das räumliche Sichausbreiten
des Inhalts der göttlichen Idee ein räumliches oder stoffliches Sich-
ausbreiten der Substanz wäre, nur dann könnte dabei die Einheit des
Absoluten in die Brüche gehen. In diesem Falle würde jedoch die
288 I>A8 Sein des Ich.
Funktion des Absoluten, welche die Realität setzt, im Sinne eines
stofflichen Emanatismus aufge£ASst, d. h. der Einwand wäre berechtigt
auf dem Boden eines naturalistischen Pantheismus, aber er ist es nicht,
wenn man, wie es hier geschehen, die absolute Aktualität als eine
psychische betrachtet. Wohl aber begreift man, wie so viele Denker
Ton der Annahme des Cogito ergo sum aus zu ihm gelangen konnten.
Denn wenn man das Wesen des Geistes ins Bewusstsein setzt, dann
erscheint einem natürlich das Unbewusste als das Stoffliche und Ma-
terielle, und der Gedanke ist nicht abzuweisen, dass es damit der
Zerstreuung in die Unendlichkeit preisgegeben wäre.
Keiner Behauptung pflegt indess ein grösseres Gewicht beigelegt
zu werden als der, dass die absolut teleologische Bethätigung des ab-
soluten Wesens ein absolutes Bewusstsein voraussetze, weil Zwecke
nur in einem Bewusstsein möglich seien. Davon ist nun aber, wie
wir wissen, das gerade Gegenteil die Wahrheit. Schon bei der Ab-
leitung der sinnlichen Empfindungen aus Elementarempfindungen und
Gefühlen fanden wir, dass der Integrationsprozess der Quantitätsein-
heiten zu Unterschieden der Qualität unter dem Einflüsse eines syn-
thetischen Faktors vor sich geht, den wir nach seiner einen Seite
hin als logische Intellektualfunktion bestimmten, und dessen Be-
thätigung sich nach teleologischen Gesichtspunkten richtet. Das gleiche
Resultat ergab sich auch bei der Zusammensetzung unserer Empfin-
dungen zu Anschauungen, bei der Umbildung der Anschauungen zu
Vorstellungen u. s. w., insbesondere aber stellte sich uns der Inhalt
unseres G-rosshimbewusstseins als Integral der es konstituierenden
Elementarbewusstseine dar, für dessen jeweilige Besonderheit wir den
Grund in teleologischen Beziehungen suchen mussten. Nun ist aber
diese ganze Teleologie eine unbewusste oder vorbewusste, weil sie
nicht bloss dem letzten und einfachsten Elemente unseres Bewusst-
seins, der einfachen Elementarempfindung, vorangeht, sondern Inhalt
eines Willens ist, aus dessen Konflikt mit anderen ihm entgegenge-
setzten Willensakten das Bewusstsein erst als Resultat hervorgeht.
Es ist daher ein blosser Schein, das Ergebnis einer oberfläch-
lichen Psychologie, dass überhaupt irgend ein teleologischer Prozess
als solcher sich in unserem Bewusstsein abspielt. Unser Bewusstsein
erfasst bloss die bedeutsameren Momente, die Mittel und die Zwecke,
es beleuchtet gleichsam nur die Knotenpunkte des Netzes, worin sich
die teleologischen Beziehungsfaden kreuzen. . Warum sich aber die letz-
teren gerade an dieser Stelle kreuzen und wie sie von Punkt zu Punkt
hinüberschiessen, das bleibt ewig hinter dem Vorhang des Bewusst-
seins verborgen. Weit entfernt also, dass das Unbewusste ausser
Die absolute Persönlichkeit. 289
Stande wäre, die auseinander liegenden Kräfte im Weltall zu ordnen
und die Vielheit der Sonderideen in den Individuen einer höheren
Gesamtidee dienstbar zu machen, ist gerade die Synthesis des Ein-
zelnen zum Allgemeinen eine unbewusste, und folglich, wenn die
absolute Idee die Gesamtheit aller Individualideen nach ihrer Möglich-
keit und Wirklichkeit umspannt, so ist auch die teleologische Ver-
knüpfung dieser Individualideen eine unbewusste absolute Synthesis.
Wenn man freilich den Geist und die Vernunft mit dem Be-
wusstsein gleichsetzt, dann erscheint einem natürlich das Unbewusste
als das Ungeistige und Unvernünftige, und man hat es leicht, zu sagen,
dass ein solches nicht in teleologischer Weise funktionieren könne.
Aber dieser Begriff vom Unbewussten entspringt aus einer Voraus-
setzung, die wir gerade auf das Aeusserste bekämpfen. Die Gegner
sagen, sie verständen nicht, wie man eine unbewusste Teleologie im
Ernst behaupten könne. Sie verstehen es aber, nur deshalb nicht,
weil sie sich daran gewöhnt haben, das Bewusstsein selbst für das
reale Subjekt der psychischen Funktionen anzusehen. Begriffen sie
nur erst, dass das Bewusstsein gar kein Beales, sondern nur die reine
Form des Ideellen ist, zerschnitten sie mit anderen Worten das Band,
das ihr Denken mit dem Kartesianismus verknüpft, sie würden sicher-
lich Bedenken tragen, die absolute Persönlichkeit immer wieder durch
das Pochen auf die Teleologie beweisen zu wollen. —
Bei der hohen Bedeutung, welche dem Problem nun einmal zu-
kommt, dürfen hier auch die Versuche nicht unerwähnt bleiben, die
absolute Persönlichkeit in spekulativer Art aus der Dialektik ihrer kon-
stituierenden Momente zu erweisen. Auch die christliche Philosophie
des Mittelalters hatte, wie gesagt, sich mit spekulativen Konstruk-
tionen der Trinität abgegeben, aber nicht, um ein göttliches Bewusst-
sein nachzuweisen, sondern vielmehr um den Gottesbegriff der Philo-
sophie mit demjenigen des kirchlichen Dogmas in Uebereinstimmung
zu bringen. Mit der Auffassung des Selbstbewusstseins als eines realen
Wesens war nun auch in der Neuzeit der Gedanke nahe gelegt, die
Bestimmungen des absoluten Selbstbewusstseins aus denjenigen des
endlichen abzuleiten und die Dreiheit von Momenten, die sich hier
ergab, mit der Lehre von der Trinität in Beziehung zu setzen. In
diesem Sinne hatte bereits Augustin, der auch zuerst die reale Be-
deutung des Selbstbewusstseins vor Descartes hervorgehoben hatte,
das Verhältnis des Subjekts (memoria) zum Objekt (notitia rei) und
die Identität derselben (amor), worin das Ich besteht, zur Erklärung des
Verhältnisses von Vater, Sohn und heiliger Geist verwendet. An
diesen geistreichen Einfall nun des Augustin hat Lessing in seiner
DrewB. IQ
290 Das Sein des Ich«
n Erziehung des Menschengeschlechts** wiederum erinnert und dadurch
zugleich mit den verwandten Philosophemen eines Jakob Boehme
den Anstoss zu jenen spekulativen Konstruktionen der Trinität ge-
geben, die in der Philosophie im zweiten Drittel unseres Jahrhunderts
eine so hervorragende Rolle gespielt haben.
Man sucht hierbei das Moment der Konkretheit und Lebendig-
keit in den Gottesbegriff hineinzutragen und zugleich den oben er-
wähnten Widerspruch in der Trinität zu überwinden, indem man die
Eine allumfassende Persönlichkeit der Gottheit aus den ihr immanenten
Personen des Vaters, Sohns und Geistes oder umgekehrt hervorgehen
lässt. Dabei wird mithin vorausgesetzt, dass dieses Resultat, wo
nicht zeitlich, so doch logisch später sei als die bedingenden Faktoren.
Nun ist aber, die Realität des Ich selbst zugegeben, das Objekt nicht
später als das Subjekt, ihre Identität nicht später als das Subjekt
oder Objekt und folglich auch das Ich, als die Einheit beider, nicht
später als irgend eines seiner konstituierenden Momente. Ich bin
zwar, wenn ich das Ich zergliedere, aus logischen Gründen genötigt,
das Subjekt vor dem Objekt und dieses wiederum vor dem Gedanken
ihrer Identität zu denken; allein seit wann ist es erlaubt, diese
Notwendigkeit des Denkens für den adäquaten Ausdruck des Wirk-
lichen selbst zu halten? Das ist nur die Methode einer Philosophie,
die, wie der Panlogismus, in prinzipieller Verwechselung des Logi-
schen mit dem Realen die ideellen Wesenheiten der Begriffe zu selb-
ständigen Realitäten hypostasiert und die diskursive Fortbewegung
unseres subjektiven Denkens als einen realen Prozess betrachtet.
Wenn die spekulativen Theisten in unserem Jahrhundert mit solcher
Konstruktion eines „theogonischen" Prozesses, wodurch sich das ab-
solute Sein zur absoluten Persönlichkeit verwirklicht, den Hegelianis-
mus glaubten überwinden zu können, so haben sie nicht bemerkt,
dass sie damit nur in den Gottesbegriff dieselbe erwähnte Verwechse-
lung hineingetragen haben, weswegen sie das he gel sehe System als
Naturalismus glaubten bekämpfen zu müssen. Der Unterschied ist
nur, dass die Selbstbewegung der Begriffe Hegels, sofern sich diese
auf die Wirklichkeit beziehen, als zeitliche zu denken, dass hier mit-
hin von einem wirklichen Prozess die Rede ist, wohingegen der
von jenen angenommene theogonische Prozess im Absoluten kein
zeitlicher, sondern bloss ein logischer und folglich kein wirklicher
Prozess, sondern nur ein ewiges Ineinandersein und Ineinanderscheinen
der trinitarischen Momente darstellt. Ist aber dies der Fall, dann
bleibt nicht bloss die Hoffnung unerfüllt, auf solche Weise dem toten
und abstrakten Gottesbegriffe des Deismus gegenüber einen konkreten,
Die absolute PersÖDÜcbkeit. 291
lebendigen Gott zu gewinnen, sondern es bleibt auch der Widerspruch
ungehoben, dass drei verschiedene Persönlichkeiten zugleich eine und
dieselbe übergreifende Person sein sollen.
Man kann, wie gesagt, auf zweifache Art versuchen, das Ver-
hältnis der drei persönlichen Momente zur absoluten Persönlichkeit
der ganzen Gottheit zu bestimmen: entweder man geht von den drei
Personen aus und zeigt, wie sie zusammen die übergreifende Persön-
lichkeit bedingen, oder aber man setzt die übergreifende Persönlich-
keit voraus und zeigt, wie sie aus den drei Personen, als ihren kon-
stituierenden Momenten, hervorgeht. Im ersten Falle fasst man, wie
Günther, den Sohn als den verwirklichten Selbstgedanken des
Vaters, den heiligen Geist als das gemeinschaftliche Resultat des
beiderseitigen Gedankens ihrer Identität und lässt aus den Bewusst-
seinen des Vaters, Sohns und Geistes das Wissen der ganzen Gott-
heit um sich selbst entstehen. Im zweiten Falle identifiziert man
entweder, wie Schelling, das Attribut des Willens mit dem Vater,
dasjenige der Idee mit dem Sohne, die gemeinschaftliche Substanz
beider mit dem heiligen Geiste, oder man setzt, wie Baader und der
jüngere Fichte, die drei Personen in drei verschiedene Zustände
(Konkretionsstufen) sowohl der Idee, wie auch des Willens, oder man
verteilt, wie Chr. H. Weisse die Personen des Vaters und des Sohnes
auf verschiedene Zustände der Idee und bringt den heiligen Geist
mit dem W^illen zusammen u. s. w. Dabei lassen sich dann in beiden
Fällen mehr oder weniger geistreiche Beziehungen herausfinden, die
den Schein verstärken, als habe man sein Ziel erreicht und zugleich
eine Uebereinstimmung mit dem Dogma nachgewiesen. Aber das ist
eben nur ein trügerischer Schein und das Ganze bloss eine dialekti-
sche Spielerei, wobei man sich nur wundern muss, wie ernsthafte
Denker sich mit ihr befassen konnten.
Im ersten Falle nämlich, wenn man von den drei Personen aus-
geht, gelangt man am Ende zu einer vierten Person, aber nicht zu
einer übergreifenden Persönlichkeit, wozu sich die drei als Momente
verhalten, und zwar weil die Reflexion der drei Personen zusammen
kein anderes Resultat haben kann als die Reflexion der beiden ersten
Personen für sich allein, nämlich die nochmalige Setzung eines mit
ihnen selbst identischen Wesens. Im zweiten Falle dagegen, wenn
man von der einheitlichen übergreifenden Persönlichkeit ausgeht, ge-
langt man allenfalls zu drei von ihr umschlossenen Momenten, aber
nicht zu drei Personen, weil die blossen Attribute der absoluten
Substanz an und für sich selbst nicht persönlich sein können. Hier
gelangt man folglich zu einer Auffassung der Trinität, nach welcher
19*
292 Das Sein des loh.
die drei Momente in der Gottheit nur als unpersönliche Bethätigungs-
weisen oder als Modalitäten erscheinen, d. h. zum Modalismus. Dort
dagegen zu einer solchen, wo die drei Personen als selbständige, von
keiner höheren Einheit umschlossene Existenzen sich darstellen, d. h.
zum Tritheismus. Modalismus und Tritheismus sind aber gerade die-
jenigen Auffassungen der Trinität, welche die Kirche mit gutem
Grunde verwirft, und daher sind alle trinitarischen Theisten in Hin-
sicht auf das Dogma heterodox, wie viele Mühe sie sich auch geben
mögen, es gerade der Theologie recht zu machen.
Ich habe an anderer Stelle versucht, das künstlich verschlungene
Gewebe von Trugschlüssen, Erschleichungen und vagen Analogien
aufzudröseln, woraus alle sogenannten Konstruktionen der Trinität
bestehen, und welches von zahlreichen Denkern in unserem Jahr-
hundert für Philosophie ausgegeben worden ist^ Das Ergebnis war,
dass es ebenso unmöglich ist, das christliche Dogma der Trinität aus
den einzelnen Momenten der absoluten Persönlichkeit zu entwickeln,
wie umgekehrt die absolute Persönlichkeit aus der spekulativen
Deutung jenes Dogmas abzuleiten. Bei den spekulativen Theisten
pflegen beide Bemühungen meist zusammen aufzutreten, sodass offc
schwer zu sagen ist, worauf eigentlich ihre Beweisführung abzielt,
beiden liegt aber die gleiche Voraussetzung zu Grunde, nämlich die
stillschweigend behauptete Annahme des absoluten Selbstbewusstseins.
Nur weil ihm dies Selbstbewusstsein ohnehin feststeht, kann der
trinitarische Theismus auf der einen Seite die inneren Momente des-
selben zu Personen aufbauschen und kann er auf der andern Seite
aus dem Ichgedanken der drei Personen die Einheit der absoluten
Persönlichkeit beweisen wollen. Steht aber das Selbstbewusstsein so
wie so ausser Frage, dann ist es ein sinnloses Unterfangen, es
hinterher aus dem Zusammenwirken der Personen erst entstehen zu
lassen, dann enthüllt sich diese ganze Konstruktion als ein reines
Taschenspielerkunststück, wobei man nur dasjenige triumphierend aus
dem Hut hervorholt, was man vorher schon selbst in ihn hinein-
gelegt hat. —
Läge nicht das Cogito ergo sum allen Beweisen einer göttlichen
Persönlichkeit zu Grunde und würde die Realität des absoluten
Selbstbewusstseins nicht stillschweigend schon vorausgesetzt, so würde
es ganz unmöglich sein, auf spekulativem Wege ein solches abzuleiten.
Alles Bewusstsein entspringt, wie früher dargelegt wurde, aus
dem Konflikt entgegengesetzter Paktoren, es ist das Resultat, womit
* Vgl. mein Werk: Dio deutsche Spekulation seit Kant u. s. w., Bd. I,
S. 285—631.
Die absolute Persönlichkeit. 293
der an sich unbewusste Wille die Störung durch einen anderen seine
Absicht kreuzenden Willen beantwortet. Das Selbstbewusstsein aber
ist nur eine besondere Art des Bewusstseins , eine Stufe der Ent-
wickelung desselben, indem das Bewusstsein, das sich wesentlich nur
auf das Objekt richtet, das eigene Subjekt zum Objekt macht. Alles
Selbstbewusstsein entzündet sich mithin nur am Weltbewusstsein ;
alles Ich ist nur im Gegensatz zum Nichtich. Nun giebt es aber
keinen Gegensatz ausserhalb des absoluten Geistes, weil dieser, als
der Alles umfassende, alle Gegensätze nur als Momente in sich hat.
Daraus folgt, dass der absolute Geist kein Bewusstsein, geschweige
denn ein Selbstbewusstsein haben kann und dass es seine Absolutheit
negieren heisst, wenn man trotzdem ihm ein solches glaubt zu-
schreiben zu müssen.
Soviel wird auch von den Theisten selbst eingeräumt, dass diese
sich alle Mühe geben, einen Gegensatz zur Ermöglichung des abso-
luten Selbstbewusstseins aufzufinden: Dass hierzu der Gegensatz der
Attribute nicht ausreicht, folgt schon daraus, weil dieser Gegensatz
ja gar kein realer, sondern bloss ein logischer, genauer: metalogischer
oder ideeller ist. Die Idee giebt sich dem Willen hin und wird von
ihm in die Vielheit ihrer Momente zersplittert, ohne dass es dabei
zu einem andern Konflikte käme als dem endlichen zwischen gewollter
Idee und ideeerfülltem Wollen. Nicht Idee und Wille also konfli-
gieren mit einander, sondern immer bloss entgegengesetzte Willens-
akte, insofern den Inhalt des Willens die Idee, die Kraft der Idee
dagegen der Wille ausmacht. Wo hingegen, wie im Absoluten, nur
auf der einen Seite Wille, auf der andern sein gerades Gegenteil ist,
da kann man auch nicht von einem Konflikt, sondern höchstens von
einem gegensätzlichen Verhältnis der beiden Seinsfaktoren reden, aber
dies auch nur aus dem Gesichtspunkte des endlichen Bewusstseins,
während dagegen im absoluten Geiste Wille und Idee nur in un-
trennbarer Einheit sind.
Nicht näher kommt man dem Ziele des göttlichen Selbstbewusst-
seins, wenn man den Gegensatz zur absoluten Thätigkeit in der Beali-
tät der endlichen Existenzen annimmt. Denn die Welt, als „Gegen-
wurf" des göttlichen Centrums, ist entweder die Erscheinung dieser
Centralität im monistischen Sinne: dann ist sie durch und durch nur
von Gott gewollt und weit entfernt, einen Gegensatz gegen die ab-
solute Thätigkeit zu bilden. Oder aber sie ist das von Gott gleich-
sam hinausgesetzte und von ihm abgelöste Produkt seiner Schöpfer-
thätigkeit im kreatinistischen oder dualistischen Sinne: dann mögen
an ihr immerhin die Strahlen der absoluten Thätigkeit ins Centrum
294 ^^ Sein des leb.
reflektiert werden und mag sich Gott dadurch selbst, wie in einem
Spiegel, erkennen, dies Selbstbewusstsein Gottes ist doch jedenfalls
kein absolutes und folglich auch kein göttliches Selbstbewusstsein.
Soll die Annahme eines absoluten Selbstbewusstseins mehr sein
als bloss eine Eonzession der Philosophie an den zufälligen religiösen
Glauben, so muss sie auch zur Erklärung der Wirklichkeit etwas
beitragen können. Nun ist aber das göttliche Selbstbewusstsein in
beiden erwähnten Tällen später als die Welt, diese letztere muss
also schon da sein, bevor es sich entzündet.' Dann brauchte also
Gott kein Bewusstsein, um die Welt zu schaffen, und es ist
damit zugegeben, dass die absolute Teleologie recht wohl auch eine
unbewusste sein kann. Darum hilft es auch nichts, zwischen die
beiden Pole des Absoluten und des Endlichen eine sogenannte „Natur
in Gott" zu schieben, wenn man darunter etwa mit J. H. Fichte
das explizierte System der ewigen Ideen, als Reich realer Möglich-
keiten und ideales Urbild der endlichen Erscheinungswelt, versteht.
Denn immer ist die Explikation als solche eine unbewusste, und das
absolute Selbstbewusstsein ein nachträgliches Resultat des göttlichen
Schöpfungsaktes, zu dessen Erklärung es doch hätte dienen sollen.
Aus diesen Schwierigkeiten giebt es nur Einen Ausweg: man
muss leugnen, dass zur Entstehung des Bewusstseins ein realer
Gegensatz notwendig sei. So hat Lotze gemeint, das Ich sei aller-
dings nur denkbar in Beziehung auf ein Nichtich, aber es sei vor-
her und ausser einer jeden solchen Beziehung erlebbar, und er hat
darin die Möglichkeit gesehen, dass es später in eben jener Form
auch denkbar werde. Nicht der Anstoss nämlich, den ein Wesen
von einem andern Wesen ausser ihm empfängt, ist nach Lotze Be-
dingung und Grund der Persönlichkeit, sondern dieser soll im „Für-
sichsein", d. h. in jenem unmittelbaren Selbstgefühle liegen, das, als
Grund seiner Realität, dem Denken sowohl, wie dem Selbstbewusst-
sein eines individuellen Wesens vorhergeht. Wie sehr es daher auch
bei dem emilichen, beschränkten Wesen zutreffen mag, dass es den
Anreiz zur Entfaltung seiner inneren Eigentümlichkeiten von aussen
her empfangen muss : das absolute Wesen bedarf einer solchen äusseren
Bedingung zur Erweckung seiner potentiellen Persönlichkeit nicht,
vielmehr besteht sein Wesen gerade darin, aus sich selbst den ganzen
Reichtum seiner inneren Momente zu entfalten. Weit entfernt, dass
Absolutheit und Persönlichkeit sich widersprächen, ist somit nach
Lotze vollkommene Persönlichkeit gerade erst im Absoluten möglich^.
* Lot|se: Mikrokosmus III, S. 571 ff.
Die absolnte Persönlichkeit. 295
Hier zeigt es sich deutlich, dass alle Beweise für die absolute Per-
sönlichkeit letzten Endes nur im Glauben an die Realität des Ich-
bewusstseins wurzeln. Denn das Fürsichsein, als Grund und Prinzip
der Realität — was ist es Anderes als die Annahme der Unmittel-
barkeit des Selbstbewusstseins , die alte Verwechselung des ideellen
mit einem realen Sein, des Gefühls, als des letzten subjektiven Ele-
mentes, worauf wir bei der Zergliederung des Bewusstseinsinhalts
stossen, mit dem realen Substrat unserer psychischen Funktionen? —
üeberblickt man die zahlreichen Versuche, den Widersinn der
absoluten Persönlichkeit auf logischem Wege abzuleiten, die unge-
heuren Anstrengungen, den Aufwand von Tiefsinn und Geist, den
selbst hervorragende Denker an dies Problem verschwendet haben,
so kann man sich eines gewissen bitteren Gefühles nicht erwehren.
Man kann sich desselben erst« recht nicht erwehren, wenn man be-
denkt, dass die Philosophie an sich gar kein Interesse daran hat,
Persönlichkeit und Bewusstsein des absoluten Geistes zu deduzieren,
dass vielmehr die Theologie und vermeintlich religiöse Gründe ihr
jenes Problem gewaltsam aufgedrängt und sie damit in eine schiefe
Stellung gebracht haben, worin sie den Vertretern der exakten
Wissenschaften in einem mehr als bedenklichen Lichte erscheinen
musste. In der That hat ihre scholastische Rücksichtnahme auf theo-
logische Lehrmeinungen der Philosophie in unserem Jahrhundert
mehr geschadet als alle ihre Bemühungen um die Theologie die letz-
tere je gefördert haben. Sie hat ihr durch das Sinken ihres Ansehens
im allgemeinen Zeitbewusstsein eine Wunde geschlagen, von deren
verhängnisvoller Wirkung unser ganzes wissenschaftliches und öffent-
liches Leben sich auch heute noch nicht wieder vollkommen erholt
hat. Wenn es dagegen einen Trost giebt, so ist es der, dass auch
die spekulativen Bemühungen um die Persönlichkeit Gottes nur im
Cogito ergo sum, als der Grundvoraussetzung des modernen wissen-
schaftlichen Denkens, wurzeln und dass erst diese kühnste Folgerung
aus jener Voraussetzung entwickelt werden musste, bevor sich der
Geist in seiner Reinheit als unbewusster und überbewusster fassen
konnte.
Die absolute Persönlichkeit ist kein philosophisches,
sondern durchaus nur ein theologisches und religiöses
Problem. Die Philosophie aber hat sich noch immer kompromittiert,
wenn sie die Kastanien für die Theologie hat aus dem Feuer holen
wollen. Sie wird gut thun, sich fernerhin um diese einfach nicht zu
kümmern, sondern auszusprechen, was sie selbst als Wahrheit ge-
funden hat, auch wenn es allen bisherigen Anschauungen wider-
296 Bas Sein des Ich.
sprechen sollte. Nur wenn die Theisten, nachdem der Kampf um die
moderne Gottesanschauung scheinbar ausgetobt hat und zeitweilig
wenigstens das Interesse an ihm erloschen ist, sich gebärden, als ob
die absolute Persönlichkeit siegreich aus ihm hervorgegangen, als ob
sie „bewiesen" und die Einwände ihrer Gegner nicht ernst zu nehmen
seien, nur dann muss die Philosophie gegen eine solche angemasste
Sicherheit entschieden Protest erheben; dann wird es ihr aber auch
jedes Mal ein Leichtes sein, die Unstichhaltigkeit der theistischen
Beweise aufzudecken. Man kann die absolute Persönlichkeit als
Postulat aufstellen, ohne welche einem wenigstens für seine Person
in ethischer und religiöser Hinsicht der Boden schwinde, man kann
sie auf Grund subjektiver Erfahrungen behaupten, ja, man kann sich
dieselbe sogar „offenbaren" lassen — nur beweisen, mit objektiven
Gründen darthun, sie auf logischem Wege ableiten kann man nicht,
und darin allein besteht» das philosophische Verfahren. Mag Gott da-
her für die Theologie immerhin persönlich sein: für die Philosophie
ist er unpersönlich, wenigstens für so lange, bis das Gegenteil mit
schlagenden Gründen dargethan ist.
Seitdem der Begriff der göttlichen Persönlichkeit durch die mo-
derne Philosophie ins Wanken gebracht ist, greift in Kreisen liberaler
Theologen die Gewohnheit um sich, jenen Begriff durch denjenigen
der Lebendigkeit zu ersetzen. Man geniert sich, Gott persönlich
zu nennen, aber man glaubt, etwas Rechtes zu sagen, wenn man von
einem „lebendigen Gott" spricht. Allein wennschon man sich dafür
auf Schleiermacher berufen kann, so kommt man damit doch nur
vom Regen in die Traufe. Oder was will man eigentlich mit jenem
Begriffe sagen? Lebendigkeit heisst Regsamkeit aus eigener Kraft,
Bethätigung und Beweglichkeit von innen heraus im ünterscMede
von einer äusserlich übertragenen und aufgenommenen, d. h. mecha-
nischen, Bewegung. Lebendig kann also Gott höchstens genannt wer-
den im Gegensatze zur toten Stofflichkeit des Materialismus oder zur
starren Substanz des abstrakten Monismus, der kein zeitliches Geschehen
kennt, sondern nur ein ewiges Verhältnis idealer Momente. In Wahr-
heit ist alles reale Sein lebendig und alle tote Starrheit bloss ein
falscher Schein, denn auch das unorganische Atom beruht auf einer
Aeusserung des Willens und ist nach der dynamischen Auffassung der
Materie reine Aktualität. Die Hervorkehrung der Lebendigkeit des
absoluten Wesens ist sonach bloss eine triviale Tautologie, die gamicht
einmal einen Vorzug des Absoluten vor dem Relativen ausdrückt.
Lebendig ist auch das Tier und die gemeinste Pflanze; es heisst also,
Gott auf das Niveau der Tierheit und Pflanzlichkeit herunterschrauben,
Die absolute FersÖDlichkeit. 297
wenn man weiter nichts von ihm auszusagen weiss als seine Lebendig-
keit. Der Begriff der Persönlichkeit hat, wie gezeigt wurde, das
religiöse Bewusstsein erzogen, die Gottheit als eine naturfreie, rein
geistige Wesenheit zu denken. Der Begriff der Lebendigkeit führt
den ursprünglichen Naturalismus zurück : er soll den Begriff der Per-
sönlichkeit nach oben hin überwinden, aber er zieht die Auffassung
Gottes wieder in den Zoomorphismus früherer Religionsstufen herab,
über den schon der roheste Anthropomorphismus hinausgelangt ist.
Kann man sich Gott nicht mehr persönlich denken, so bleibt nur
übrig, den Begriff des unpersönlichen und unbewussten Geistes an-
zuerkennen. Ist man hierzu nicht imstande, so ist es eine reine
Gedankenlosigkeit, die Persönlichkeit gegen die Lebendigkeit der
Gottheit einzutauschen.
Persönlichkeit und Bewusstsein sind Eigenschaften nicht des ab-
soluten Geistes selbst, sondern nur seiner Modifikationen, die abhängig
sind von der Wirksamkeit seiner beiden Attribute. Stellen wir uns,
wie wir oben gethan haben, das Absolute mit Einschluss seiner Modi
bildlich vor als einen Kreis, so hat es also zwar Bewusstsein, aber
nicht als Centrum, sondern als Peripherie, nicht als Absolutes, son-
dern als Endliches, nicht ein unmittelbares, einheitliches absolutes
Bewusstsein, sondern ein vielheitlich zersplittertes, gleichsam mosaik-
artiges, vermitteltes Bewusstsein, das unmittelbar nur ein Bewusst-
sein der individuellen Existenzen ist. Am wenigsten aber ist das
Absolute selbst Bewusstsein, weil Bewusstsein, als die blosse Form
des Ideellen, überhaupt nicht ist, nicht selbständig, kein reales Wesen
ist. Es giebt mithin kein absolutes Ich, sondern alles Ich
ist als solches bloss ein endliches und individuelles. Es
giebt wohl einen absoluten Geist, aber dieser ist ein unpersönlicher,
nichtichlicher Geist.
Damit ist nun die Bestimmung gewonnen, die allein erst eine
strenge Unterscheidung zwischen Pantheismus und Theismus ermög-
licht. Gewöhnlich wird der Begriff des Pantheismus als gleichbedeu-
tend mit Monismus gebraucht, d. h. man versteht darunter diejenige
Auffassung des Verhältnisses zwischen Gott und Welt, wonach sich
beide als Wesen und Erscheinung von einander unterscheiden, Gott die
tragende und einigende Substanz der endlichen Modifikationen, die Welt
dagegen die Entfaltung und Ausgestaltung der göttlichen Potenzen
darstellt. Nun sind aber selbst bei den theistischen Systemen die
üebergänge von offenbarem Dualismus, d. h. von der reinen Trans-
cendenz des göttlichen Wesens, durch teilweise Immanenz zur vollen
Immanenz so fliessend, dass sich hieraus keine scharfe Grenze zwischen
298 Das Sein des Ich.
Pantheismus und Theismus ziehen lässt. Der Semipantheismus, Be-
wusstseins- oder Persönlichkeitspantheismus steht in Rücksicht auf
das Verhältnis zwischen Gott und Welt entschieden auf dem Boden
des Monismus und ist doch weit entfernt, für Pantheismus gelten zu
wollen. Der Grund liegt darin, weil er das Bewusstsein und damit
in der Regel auch die Persönlichkeit des Absoluten festhlQt, und da-
rum kann nur in diesen Bestimmungen das wahre Unterscheidungs-
merkmal des Pantheismus gefunden werden. Pantheismus ist demnach
nur vorhanden, wo das Absolute, das immanente Wesen der endlichen
Erscheinungswelt, als unbewusst und unpersönlich aufgefasst wird,
Theismus nur, wo dasselbe die Prädikate der Bewusstheit und Per-
sönlichkeit besitzt; Monismus aber kann sowohl Pantheismus, wie
Theismus sein, wenngleich ein wirklicher, konsequenter Monismus
seiner Natur nach notwendig Pantheismus sein muss.
Solange nämlich das Absolute als bewusst gedacht wird, solange
sind sein Bewusstsein und mein Bewusstsein zwei verschiedene
Bewusstseine, ist das endliche Ich, wie tief es auch immer im Wesen
der Dinge wurzeln möge, ein anderes als das absolute Ich, solange
besteht folglich keine wahre Einheit zwischen Gott und mir und so-
nach auch nicht zwischen ihm und den übrigen endlichen Existenzen.
Aller Theismus, wie monistisch er sich gebärden möge, ist und bleibt
daher immer nur ein Dualismus, und darin allein liegt die Berechti-
gung, Monismus und Pantheismus als Wechselbegriffe zu gebrauchen.
Wir müssen also nunmehr entschieden dagegen protestieren, dass
man den Pantheismus ohne Weiteres als Atheismus verdächtigt, bloss
weil derselbe nicht Theismus ist. Dies Verfahren, wie es besonders
von theologischer Seite gegen den Pantheismus angewandt zu werden
pflegt, ist ebenso thöricht, wie unredlich, denn es setzt voraus, dass
nur der Gott, wie ihn der Theismus auffasst, diesen Namen wirklich
verdiene und sucht dem Nicht-Theismus des Pantheismus den übel
beleumundeten Sinn des Atheismus unterzuschieben. Nun leugnet
aber der Pantheismus garnicht die göttliche Natur des Absoluten,
sondern einzig und allein die Wahrheit der theistischen Auffassung
desselben. Ob man ein Recht hat, das Absolute „Gotf* zu
nennen, hängt davon ab, ob es geeignet ist, als Objekt
eines religiösen Verhältnisses dienen zu können. Diese
Frage aber gehört unmittelbar garnicht in die Metaphysik,
sondern in die Religionsphilosophie, und keinesfalls kann sie
dadurch entschieden werden, dass man das unpersönliche Absolute der
philosophischen Reflexion bei Seite schiebt, um an seine Stelle ein-
fach den persönlichen Gott der „geoffenbarten" Religion zu setzen.
Die Dauer des Ich. 299
Wenn es war ist, wie der Pantheismus behauptet, dass sein unper-
sönliches Absolutes sich ebenso gut und besser zur Anknüpfung eines
religiösen Verhältnisses eignet, als jeder nur denkbare theistische
Gottesbegriff, und wenn ein bewusstes Absolutes ein eingeschränktes
und somit überhaupt kein Absolutes ist, dann kehrt sich das Ver-
hältnis gerade um : der Theismus nämlich erscheint alsdann als Atheis-
mus; der eigentliche wahre Theismus aber ist der Pantheis-
mus, weil er allein ein wirklich Absolutes G-ott nennt.
4. Die Dauer des Ich.
Mit der Frage nach der Persönlichkeit des Absoluten in engem
Zusammenhange steht die Frage, ob dem Ich eine absolute Bedeutung
nicht wenigstens in dem Sinne zukommt, dass es die Existenz des
empirischen Organismus überdauert.
Nun ist es das wesentliche Resultat unserer ganzen Untersuchung,
dass das Ich eine bloss empirische Existenz besitzt. Das Ich ist die
innerlichste Konzentration, das letzte und höchste Produkt, worin sich
die Zusammenfassung und Integration der uns immanenten Bewusst-
seinsinhalte nach der subjektiven Seite hin vollendet; es setzt, da
diese Inhalte den verschiedenen Stufen von Individuen angehören, die
unsem Organismus konstituieren, die Einheit dieses Organismus vor-
aus: folglich muss auch das Ich aufhören, zu existieren, wenn, wie im
Tode, jene Einheit sich in ihre letzten Elemente auflöst. Unser Ich
haftet, wie wir wissen, am Gehirn, und zwar immer an demjenigen
Teile des Grehirns, der sich gerade als der höchste in Thätigkeit be-
findet. Es entwickelt sich mit der organischen Ausgestaltung des
Gehirns, verändert sich mit den Wandlungen seiner materiellen Ele-
mente und hört, wenn ihr Zusammenhang sich derartig lockert, dass
die wechselseitigen Beziehungen der Elemente unterbrochen werden,
schon während dieses körperlichen Lebens auf, zu existieren — wie
sollte es da eine Existenz noch über das Dasein des ihm zugehörigen
Körpers hinaus besitzen können?
Unser Ich ist als solches also jedenfalls nicht unsterb-
lich. Es gleicht nur dem leuchtenden Pünktchen, worin sich die
Strahlen der Sonne durch ein Brennglas sammeln, oder besser, es gleicht
dem Bilde der Kerze im Brennpunkt des Hohlspiegels, das mit der
Zertrümmerung des Spiegels zugleich verschwindet.
Eine ganz andere Frage aber ist es, ob dem metaphysischen Sub-
strate unseres Ich, der Seele, unsterbliche Dauer zukommt.
Gewöhnlich pflegt man beide Fragen als eine einzige anzusehen
und, wenn man die Unsterblichkeit der Seele behauptet, darunter zu-
300 Das Sein des Ich.
gleich auch diejenige des Ich zu meinen, ja, eigentlich ist es über-
haupt nur diese letztere allein, worauf es bei allen Beweisen für die
Unsterblichkeit ankommt. Der Grund liegt auch hier nur wieder in
der bekannten Gleichsetzung der Seele mit dem Ich, infolge wovon
man sich berechtigt glaubt, beide Worte als Wechselbegriffe zu ge-
brauchen. Plato weiss überhaupt noch von keinem Unterschiede
zwischen beiden. Er hat den Begriff des Bewusstseins noch nicht
und meint darum schon genug gethan zu haben, wenn er lediglich
das Beharren des seelischen Substrates nachweist. Umgekehrt gehen
alle Neueren vom Bewusstsein aus und suchen die Seelenunsterblichkeit
aus dem Gleichbleiben des Ich im Wechsel seiner Modi abzuleiten.
Man setzt überall die Realität des Ich voraus, folgert aus ihr die
ichliche substantielle Natur des Realen und hat es dann leicht, die
Unsterblichkeit der Seele auf Grund ihrer substantiellen Beschaffenheit
auszusprechen. So erklärt sich, warum es Sc belli ng so leicht wurde,
trotz seines Monismus für die Unsterblichkeit der Seele einzutreten,
und wie selbst ein Schopenhauer im Alter eine entschiedene Hin-
neigung zu dieser Lehre haben konnte. Die Wurzel ihres beiderseitigen
Monismus war eben nur die intellektuelle Anschauung, das Cogito ergo
sum, worauf sich auch die Annahme der Unsterblichkeit berufen konnte.
Es bedurfte nur eines persönlichen und zufälligen Anstosses, um bald
diese, bald jene Lehre daraus abzuleiten.
Wir vermögen einer Voraussetzung keinen Wert beizumessen,
die zwei einander widersprechende Folgerungen offen lässt, und sind
daher auch nicht in der Lage, die unmögliche Verquickung von sub-
stantiellem Individualismus und Monismus mitzumachen, wie diese sich
bei Schelling und Schopenhauer findet. Da für uns das Ich kein
Reales ist, so können wir es auch nicht mit der Seele identifizieren
und die Unsterblichkeit der letzteren behaupten, weil das ichliche
Reale als solches substantieller Art sein müsse. Wohl ist auch für
uns die Seele im letzten Grunde Substanz, aber diese Substanz ist
keine individuelle, der Seele besonders zukommende Substanz, sondern
es ist die alleine absolute Substanz, woran alle Existenzen in der
gleichen Weise als Modi, Funktionen und Erscheinungen haften. Die
Seele ist ein reales Wesen. Darum ist sie das metaphysische Er-
klärungsprinzip aller derjenigen Erscheinungen, die den Gegenstand
der Psychologie ausmachen. Alle Realität aber ist, wie wir wissen,
nur in der Aktualität. Behaupten, dass die Seele zugleich Substanz
sein müsse, bloss deshalb weil sie ein Reales ist, das heisst folglich
die Substantialität mit der Aktualität verwechseln, eine Verwechse-
lung, die doch nur aus der Voraussetzung entspringt, dass unsere
Die Dauer des Ich. 301
psychischen Funktionen, als wahrgenommene, unmittelbare Realitäten
seien. —
Sollen Wir nun sagen, was die reale Seele ihrem Wesen nach
ist, so brauchen wir nur früher Gesagtes zusammenzufassen.
Die Seele ist nicht der Leib, wie der Materialismus in richtiger
Erkenntnis, aber falscher Deutung der Abhängigkeit unseres bewusst-
geistigen Seins vom materiellen Organismus annimmt. Denn der Stoff
ist, wie gezeigt wurde, selbst garnichts Reales, sondern nur die sinnen-
fällige Erscheinung eines geistigen Seins. Die Seele ist aber auch
nicht das Bewusstsein, wie der Spiritualismus meint. Denn das Be-
wusstsein ist gleichfalls kein reales Sein, sondern nur die abstrakte
leere Form des Ideellen und als solche nur die Erscheinung eines
unbewusst geistigen Seins. Die Seele ist endlich drittens nicht ein
Inhalt des Bewusstseins , also etwa die Gesamtheit des bewussten
Seelenlebens, wie der Voluntarismus eines Wundt und Paulsen be-
hauptet. Denn diese ist wieder kein Reales, sondern nur der ideelle
Widerschein von unbewussten Funktionen eines substantiellen Seins.
Vielmehr ist die Seele das lebendige System von unbewussten
(mit unbewusstem Vorstellungsinhalt erfüllten und dadurch
individualisierten) Willensakten der absoluten Substanz,
deren äussere Erscheinung unser Leib, und deren innere
Erscheinung die Gesamtheit unserer bewussten psychi-
schen Funktionen bildet. Unser Leib und unsere bewusste
Psyche stehen also nicht in irgendwelchem Abhängigkeitsverhältnisse
zu einander, wie Spiritualismus und Materialismus gleichmässig be-
haupten, sondern beide sind nur die parallelen Erscheinungsweisen,
worin sich nach aussen, wie nach innen die einheitliche Funktion
eines unbewussten absoluten Grundes gabelt.
Damit fallen die thörichten Theorien fort, die einen besonderen
„Sitz" der Seele im Leibe behaupten, und die nur entstehen konnten,
wo Seele und Bewusstsein für identisch galten. Nicht irgend ein be-
sonderer Teil des Leibes, sondern der ganze Leib ist der Sitz der
Seele; denn die einzelnen Glieder und Bestandteile des körperlichen
Organismus stellen nur das äussere Gegenstück der inneren Gliederung
der Seele dar, und nur so viel kann zugegeben werden, dass unser
Nervensystem und besonders das Gehirn hierbei eine um so höhere
Bedeutung haben, je mehr sie als Träger und Vermittler der höchsten
Leistungen unserer Seele betrachtet werden müssen.
Entsprechend nun ihrem körperlichen Organismus bildet die Seele
ein einheitliches System konstanter Willensakte (Monaden) von ver-
schiedenen Stufen der Individualität, so zwar, dass auf der untersten
302 ^^ Sein des Ich.
Stufe die absolut konstanten Atomwillen, als Unterlage aller weiteren
Verbindungen, stehen, jede höhere Stufe aber mit relativer Konstanz
sich gegen die übrigen Glieder des Systems behauptet. Die höhere
Stufe schliesst die niederen als Momente ein und ist ihre übergreifende
und beherrschende Einheit. Indem sie aber über jene genau so hin-
ausragt, wie die chemische Verbindung mehr ist als die blosse Summe
ihrer Elemente, so wächst auch die relative Beschaffenheit ihrer Dauer
mit der Stufe ihrer Individualität, d. h. die Eonstanz eines Indivi-
duums ist im Allgemeinen um so mehr geföhrdet, je grösser die Zahl
der von ihm umspannten Individuen niederer Ordnung und je wich-
tiger deren Verrichtung für sein eigenes Bestehen ist. Es ist, wie
bei einem sozialen und politischen Organismus. Je geringer die Zahl
seiner Mitglieder ist und je weniger Beziehungen dieselben mit der
übrigen Welt verknüpfen, desto leichter ist es, sie zur Einheit zu-
sammenzuhalten und sich innerhalb eines grössern Ganzen zu be-
haupten; desto geringer ist aber zugleich auch die Bedeutung, die
einer solchen Verbindung innerhalb des Ganzen zukommt. Je grösser
dagegen ein Staat, je einflussreicher seine ihm unterstehenden Organe,
je ausgebildeter das Selbstbewusstsein und je höher die Intelligenz
seiner Bürger ist, eine desto bedeutsamere Stellung nimmt er nach
aussen ein, desto höhere Leistungen vermag er im Interesse der Ge-
samtkultur hei*vorzubringen ; allein desto mehr ist er zugleich auch
der Gefahr ausgesetzt, dass durch die Weite seines Umfangs, die
Kompliziertheit seiner Verwaltung, die Schwierigkeit, allen Forde-
rungen von innen und von aussen her gerecht zu werden, der Zu-
sammenhang seiner Glieder sich lockert, Revolutionen heraufbeschworen
werden und er selbst durch unglückliche Unternehmungen nach aussen
vollkommen aus den Fugen geht.
Unsere Seele ist ein solcher Staat mit unzähligen Provinzen,
Statthaltern, Ministern u. s. w. und einem Könige an der Spitze, ein
Staat von so komplizierter Beschaffenheit, dass wir uns keinen auch
nur annähernd erschöpfenden Begriff davon machen können. Ist es
zu verwundem, wenn die konstituierenden Elemente unserer Seele,
die normaler Weise zur Beförderung der höheren Zwecke in einander
arbeiten, sich öfter gegen die Herrschaft der übergeordneten Indivi-
duen empören, wenn die Seele häufiger als irgend ein anderes organi-
sches Gebilde Revolutionen im Innern zu bestehen hat und leichter dem
Ansturm fremder Einflüsse unterliegt, gegen die sie genötigt ist, sich
in beständigem Kampfe zu behaupten? Alle inneren Beziehungen
zwischen den verschiedenen Elementen unserer Seele hängen ja, wie
wir wissen, von der äusseren Einheit unseres körperlichen Organismus
Die Dauer des Ich. 303
ab, oder stehen doch jedenfalls mit ihr im innigsten Zusammenhange.
Wenn sonach das, was das einigende und beherrschende Seelenwesen
der höheren Individualitätsstufe ausmacht, nicht ist ohne die äusser-
liche Einheit der materiellen Elemente der betreffenden Stufe, wenn
es nur in Funktion tritt, indem es die psychische Innenseite ihrer
Elemente zu seinen eigenen inneren Momenten herabsetzt, auf diesen,
gleichsam als den Stufen, zu seinem Herrscherthron emporsteigt und
sich nur durch ihre Vermittelimg behauptet, dann stürzt folglich der
ganze organische Stufenbau der seelischen Funktionen zusammen, so-
bald ihm jene materielle Unterlage entzogen wird. Wie der Staat
aufhört, zu existieren, wenn der äussere Zusammenhang seiner Organe
unterbrochen ist, wie nach der Zerlegung des Wassers in seine Ele-
mente, nur Wasserstoff und Sauerstoff vorhanden, aber keine Spur
des Wassers mehr zu finden ist, so ist auch die individuelle Seele
als solche vernichtet, wenn der körperliche Organismus sich, wie im
Tode, in seine chemischen Bestandteile aufgelöst hat. Was dann übrig
bleibt, sind nur die einzelnen Elementarfunktionen, letzten Endes die
Konstanten des Weltprozesses, die Atomfünktionen oder Monaden der
Materie, die als Unterlage neuer seelischer Prozesse dienen können.
Die wesentliche, organisierende Funktion jedoch, durch deren teleo-
logisch bestimmte Synthesis die höheren seelischen Gebilde erst zu-
stande kamen, diese hat selbst keine Individualität und sinkt
daher in den Mutterschooss der absoluten Substanz zurück, genau so
wie die Welle im Ozean, deren individuelle Beschaffenheit ganz und
gar nur von dem äusseren Zusammenhange ihrer Wassermoleküle ab-
hängt. —
Gresetzt, die Seele dauerte auch nach der Vernichtung des empi-
rischen Organismus noch als individuelle fort, so müsste sie in diesem
Falle auch eine irgendwie geartete Materialität besitzen. Denn Sein
heisst, wie wir sahen, wirkend-sein, eine Wirkung aber ist ohne ma-
terielle Vermittelung nicht möglich. Darin stimmen denn auch
alle Individualisten überein, dass sie der Seele, auch abgelöst vom
Körper, eine eigentümliche Materialität zuschreiben, die natürlich von
einer weit höher gearteten Beschaffenheit als unsere empirische Ma-
terie sein muss. Kein Geringerer als Aristoteles hat dies schon
angedeutet, indem er die Stofflichkeit der Seele, vermöge welcher sie
befähigt sein soll, auf den empirischen Leib zu wirken, als verwandt
mit dem ätherischen Leibe der Gestirne bestimmt hat, und die nach-
folgende Spekulation, insbesondere der Neuplatonismus und die Kab-
balah, sowie die mittelalterlichen Mystiker und Naturphilosophen des
16. Jahrhunderts haben die Theorie des sogenannten „pneumatischen*^
304 ^^ Sein des Ich.
Leibes (Paulus) oder des „Aether- oder Astralleibes" (Paracelsus)
weiter ausgebildet. In der Neuzeit hat dann besonders der Okkultis-
mus diese Ansicht wiederum hervorgezogen. Trotz Hegels entschie-
dener Abweisung fand dieselbe zunächst in der schellingschen Natur-
philosophie einen günstigen Boden. J. H. Fichte trat in seiner
„Anthropologie" und „Psychologie** für die Lehre vom „inneren
Leib" ein, und heute sind der „Metaorganismus" Hellenbachs
und du Preis „Astralleib" so geläufige Begriffe für alle, die den
Spiritismus kennen, dass die Philosophie sie nicht mehr ignorieren
kann.
Soviel wird man den Individualisten wohl zugeben können: wenn
die Seele einen eigenen Leib besitzt, so muss sie sich auch ein eigenes
„transcendentales" (übersinnliches) Bewusstsein heranbilden und sich
selbst in diesem als Ich erfassen können. Die Seele wäre alsdann
das „transcendentale Subjekt", das in seiner Einheit von transcenden-
talem Bewusstsein und transcendental-materiellem Organismus das or-
ganisierende und belebende Prinzip des empirischen Subjektes bildet.
Allein jeder Versuch, diese Annahme weiter auszudenken, verwickelt
uns in unlösbare Schwierigkeiten und Widersprüche.
Diese Schwierigkeiten beginnen schon gleich bei der Frage, wie
die Seele es anfängt, den empirischen Leib zu „organisieren". Zwar
darüber braucht man sich weiter keine Gedanken zu machen, wie
überhaupt' die Seele auf den Stoff des Leibes wirken kann, da sie
ja selbst ein zusammengesetztes und materielles, genauer stoffliches
Gebilde sein soll. Wohl aber muss man fragen, wie sie auf die
empirischen Atome, Moleküle, Zellen u. s. w. eine solche Wirkung
üben kann, dass diese sich zu dem kunstvollen Bau des empirischen
Organismus ordnen.
Die naheliegendste Annahme scheint zu sein, sich dieses Gebilde
durch eine Anziehung, beruhend auf der Wahlverwandschaft der ma-
teriellen Teile, entstanden zu denken, indem sich der sinnliche, em-
pirische Leib, gleichsam wie ein Gewand, um den festen Kern des
transcendentalen Organismus herumlegt. In der That scheint etwas
Aehnliches dem Paracelsus vorgeschwebt zu haben, wenn er den
Astralleib den „Magneten des Mikrokosmus" nennt, und ist dies auch
Hellenbachs und J. H. Fichtes Ansicht, von denen jener den
empirischen Leib den „Zellenfrack" des Metaorganismus , dieser
ihn das „Nachbild" der inneren Leiblichkeit nennt, „welche ihn in
die wechselnde Stoffwelt hineinwirft, gleichwie etwa die magnetische
Kraft aus den Teilen des Eisenfeilstaubes sich einen scheinbar dichten
Körper bereitet, der aber nach allen Seiten zerstäubt, wenn die bin-
Die Dauer des Ich. 305
dende Gewalt ihm entzogen ist^." Offenbar ist nun aber dies ein
rein mechanischer Vorgang, wobei von einem wirklichen „Organi-
sieren", einer teleologischen Beziehung zwischen der Seele und dem
empirischen Leibe nicht die Rede sein kann. Sollte wirklich etwas
Derartiges stattfinden, so müsste die Seele aus ihrer eigenen inneren
Geistigkeit heraus und also durch Vermittelung des Metaorganismus
den empirischen Leib erbauen können. In diesem Falle jedoch kehrt
das eben glücklich beseitigte Problem der Wechselwirkung zwischen
Leib und Seele von neuem, nur innerhalb des Seelischen zurück, und
die Frage kann nicht umgangen werden, wie das geistige Wesen der
Seele auf den stofflichen Metaorganismus wirken kann.
Nun soll aber die Seele zugleich auch Produzent und Träger
des empirischen Bewusstseins sein. Wie kann sie ein solches Be-
wus^itsein produzieren? Ihr eigenes transcendentales Bewusstsein ist
hierzu ebenso wenig im. stände, wie wir vermittelst unseres Bewusst-
seins ein anderes Bewusstsein setzen können, denn jenes ist an den
transcendentalen Leib gebunden und vermag nur zu erkennen, aber
nicht zu schaffen. Ihr Astralleib aber ist hierzu erst recht nicht
imstande, denn dass die Materie für sich allein auch nur den Schatten
eines Geistes produzieren könne, ist die Ansicht des Materialismus,
gegen den sich gerade der transcendentale Individualismus am ent-
schiedensten richtet. Vermöchte sie aber auch wirklich das Unmög-
liche, so bliebe doch immer das empirische Bewusstsein, als Bewusst-
sein des empirischen Organismus, ein von ihr verschiedenes Be-
wusstsein: empirisches Bewusstsein und empirischer Leib auf der
einen und transcendentales Bewusstsein und transcendentaler Leib
auf der andern Seite ständen sich folglich als zwei getrennte
Welten gegenüber, und nie und nimmer könnte es bei einem solchen
doppelten Dualismus zu einer wirklichen Einheit zwischen dem trans-
cendentalen und dem empirischen Subjekt, der Seele und ihrem Leibe,
kommen.
Diese Einheit scheint nun dadurch gewonnen zu werden, dass
man bei der Seele die Unterscheidung zwischen ihrer geistigen (inner-
lichen) und ihrer materiellen (äusserlichen) Seite aufhebt und die un-
mittelbare Identität von transcendentalem Bewusstsein und Astral-
leib behauptet. Alsdann erscheint die Seele wirklich als die einfache
Innerlichkeit des empirischen Leibes, sofern sie ja nämlich Bewusst-
sein ist. Gleichzeitig erscheint sie aber doch als mit dem Leib iden-
tisch, sofern sie, wie dieser, ein stoffliches Wesen ist. Die unmittel-
* J. H. Fichte: Anthropologie. 2. Aufl. (1860), S. 273.
DrewB. 20
306 Das Sein des Ich.
bare Identität der seelischen Bestandteile auf der Seite des Trans-
cendentalen erweitert sich also damit zur mittelbaren Identität von
Seele und Leib überhaupt, von Transcendentalem und Empirischem,
und der ursprüngliche qualitative Unterschied zwischen beiden geht
unmerklich in einen bloss graduellen über.
Thatsächlich bestätigt sich dies auch bei allen transcendentalen
Individualisten. Man achte nur z. B. auf den Doppelsinn, den diese
mit dem Worte „transcendental'* verbinden. Bedeutet ihnen das-
selbe einerseits bloss das (empirische, psychologische) Jenseits der
Empfindungsschwelle, das latente Bewusstsein oder relativ ünbewusste,
d. h. das Bewusstsein der niederen Gehirn- und Nerventeile, sofern
es dem unmittelbaren (wachen) Bewusstsein des Grosshirns als solchem
unbewusst ist, so benutzen sie es andererseits dazu, um das (meta-
physische) Jenseits des empirischen Subjektes auszudrücken. Keiner
pflegt von dieser geheimen Vertauschung der beiden verschieden-
artigen Begriffe einen weitergehenden Gebrauch zu machen als du
Prel, der gegenwärtige Hauptvertreter des transcendentalen Indivi-
dualismus. Aus der empirischen Thatsache eines besonderen Traum-
bewusstseins und somnambulen Bewusstseins , das transcendental in
Beziehung auf das wache und normale Bewusstsein ist, und dessen
Existenz kein Mensch bezweifelt, wird ihm unter der Hand ein Be-
wusstsein, das transcendental auch abgelöst von einer jeden derartigen
Beziehung ist, ein übersinnliches, metaphysisches Bewusstsein, dessen
Existenz nicht bloss höchst zweifelhaft, sondern aus metaphysischen
Gründen, wie wir sahen, unannehmbar ist. Aus dem empirischen Be-
wusstsein, dessen bloss zuständliche Beschaffenheit und Unrealität
auch für du Prel keinen Zweifel leidet, und worauf, wie wir wissen,
erst das Ich beruht, wird ihm plötzlich ein Beleuchtungsmittel der
realen Gegenstände, das nach innen ebenso sehr hinter dem Ich
zurückbleibt, wie es ihm nach aussen nicht gelingt, die Welt der
vom Ich verschiedenen Realitäten zu erschöpfen. Du Prel versteht
mithin unter dem Ich ein der Welt korrespondierendes Reales,
woran er einen empirischen und einen transcendentalen Teil in der
Weise unterscheidet, dass jener das transcendentale Ich bedeutet, so-
weit es vom Selbstbewusstsein erleuchtet ist, während dieser die
„wurzelhafte Verlängerung des empirischen Ich", d. h. den noch un-
erleuchteten Teil des Ich darstellt, dessen Beschaffenheit wir nur un-
klar im trüben Dämmerlichte des Somnambulismus und Spiritismus
erkennen. Damit ist aber garnichts Anderes behauptet, als dass das
eigentliche reale Ich das transcendentale Ich sein müsse, zu welchem
sich unser empirisches Ich nur als ideelles Abbild verhält. . Es ist
Die Dauer des Ich. 307
mithin der Schwerpunkt des Ich ins transcendentale (metaphysische)
Gebiet verlegt, obwohl sich uns dies transcendentale Ich doch nur
in der empirischen Form des somnambulen und mediumistischen Be-
wusstseins darstellt.
Das Unstatthafte und Taschenspielerische dieser Begriffsver-
tajoschung lie^t auf der Hand. Es ist doch ein grosser Unterschied,
ob ich Seele und Leib für identisch ansehe, weil beide ihrer Natur
nach materiell sind, o^r ob ich diese Identität als eine unmittelbare
des transcendentalen Bewusstseins und des Astralleibes verstehe. Nur
im letztern Falle ist das Ich ein reales, weil der Astralleib ein Reales
ist. Diese Identität des transcendentalen Ich mit dem Astralleib aber
kann garnichts für die Realität des empirischen Ich beweisen, das
einem ganz andern Organismus angehört. Mag immerhin der Astral-
leib, als materieller, mit dem empirischen Leib identisch sein: das
Bewusstsein dieses Leibes, das empirische Ich ist ein anderes
als das transcendentale Ich, aus anderen Bedingungen hervor-
gegangen und durch andere Einflüsse und Erfahrungen inhaltlich be-
stimmt. Daher kann es keinen grösseren Irrtum geben, als dass es
durch seinen Zusammenhang mit dem transcendentalen Ich die Schick-
sale und Bestimmungen des letzteren teilen könne. Mag immerhin
das transcendentale Ich real und demnach auch unsterblich sein, so-
fern es an einem konstanten metaphysischen Organismus, dem Astral-
leib, haftet: das empirische Ich hat doch davon nichts, weil der em-
pirische Organismus, worauf es im Verlaufe des empirischen Lebens
erst erwachsen ist, im Tode sich nachweisbar in seine materiellen
Elemente auflöst. Dasjenige Ich, an dessen Fortdauer mir allein
gelegen sein kann, ist immer nur das empirische Ich; wenn dieses
nicht unsterblich ist, dann ist mir das fernere Schicksal des trans-
cendentalen Ich so gleichgültig, wie dasjenige der Atome meines
Organismus.
Nun baut sich aber dieser ganze Beweis des transcendentalen
Individualismus auf einer unhaltbaren Voraussetzung auf, nämlich
darauf, dass das transcendentale Ich mit dem Astralleib unmittelbar
identisch sein soll. Das ist jedoch ein so naiver Naturalismus,
als ob die transcendentalen Individualisten von der ganzen Entwicke-
lung der philosophischen Gedanken keine Ahnung hätten, denn diese
strebt eben darauf hin, den Unterschied des Seelischen und Mate-
riellen festzustellen. Von Seiten eines Paracelsus und der italieni-
schen Naturphilosophen (Cardanus, Telesius, Giordano Bruno
u. s. w.) finden wir es begreiflich, wenn sie beides für identisch halten,
denn sie stehen erst am Anfang der modernen philosophischen Ent-
20*
308 Du Sein des Ich.
Wickelung, und es ist gerade der Fortschritt der Heroen dieser Phi-
losophie, dass sie immer entschiedener mit jener Identität gebrochen
und immer klarer die Gegensätze auseinander gehalten haben. Wenn
aber heute die transcendentalen Individualisten beide wieder durch-
einander wirren, dann stehen sie in wissenschaftlicher Hinsicht noch
unter dem von ihnen bekämpften Materialismus. Denn dieser ist
doch wenigstens konsequent in seiner Einseitigkeit, die ganze
körperliche und geistige Wirklichkeit aus blossen stofflichen Atomen
konstruieren zu wollen; jene dagegen stehen mit ihrer konfusen
Vermischung des Geistigen und Natürlichen auf einer Stufe des
Denkens, wie sie höchstens dem Eindheitsalter der Philosophie er-
laubt ist.
Es ist in der That ganz ungehörig, wie die Hauptfuhrer dieser
Richtung den guten Klang, den das Wort „Monismus" in der Wissen-
schaft besitzt, auch für sich ausnützen und von einem „monistischen
Aufgehobensein" der Kraft und des Stoffes innerhalb der Seele, von
einer „monistischen Seelenlehre" sprechen (du Prel). Dies Verfahren
hat in unserer Zeit nur noch Ein Seitenstück in der naiven Art und
Weise, wie Haeckel für seinen Pluralismus geistbegabter Stoffsub-
stanzen die Bezeichnung des Monismus in Anspruch nimmt. Wäre
das erlaubt, dann hätte sich mit ganz dem gleichen Rechte sogar
auch Descartes einen Monisten nennen können, nachdem er Geist
und Körper vermittelst der sogenannten Lebensgeister glaubte ver-
einigt zu haben. Die nachfolgende Spekulation hat jedoch dafür ge-
sorgt, dass eine solche bloss äusserliche Verkoppelung der beiden
Gegensätze nicht für eine Lösung des Problems gehalten ist, und sie
hat erst Spinoza einen Monisten genannt, weil er diese Gegensätze
aus einem und demselben Grunde abgeleitet hat.
In Wahrheit beruht die ganze Metaphysik des transcendentalen
Individualismus nur auf einer missverstandenen Identitätsphilosophie.
Statt ihre Verbindung in einem Dritten zu suchen, das als solches
hinter und über beiden steht, behauptet sie einfach die Einheit von
Leib und Seele, die, weil sie transcendent ist, unserer unmittelbaren
Erkenntnis entzogen ist, und beruft sich dann hinterher auf die
Phänomene des Somnambulismus und Spiritismus, denen zu Liebe jene
ganze Theorie doch nur erfunden worden. Ein solcher Naturalismus
aber führt notwendig zum Materialismus, weil der Stoff, einmal als
Realität gesetzt, zur eigentlichen Substanz der Seele wird und das
Psychische an ihr zu seiner blossen zuMligen Funktion herabsinkt.
Darum ist auch der sogenannte transcendentale Individualismus im
Grunde nur ein verkappter, metaphysischer Materialismus, und
Die Freiheit und Verantwortliclikeit des Ich. 309
es ist eine reine Naivität, den Materialismus durch den Spiritismus
bekämpfen zu wollen^. —
Fassen wir das Gesagte noch einmal zusammen, so ist also das
Ich als solches nicht unsterblich, denn es ist nur eine Form des
ideellen Seins und beruht auf bloss empirischen Bedingungen. Das
metaphysische („transcendentale") Subjekt, der Träger oder reale
Grund des Ich und unseres Leibes dagegen ist unsterblich, sofern
er das absolute Subjekt selber ist. Allein die Funktion dieses Sub-
jektes, wodurch es das Ich setzt, die Seele, ist, sofern sie eine indi-
viduelle ist, an die Konstanz des empirischen Organismus gebunden
und büsst daher mit dem Zerfall des Organismus ihre individuelle,
persönliche Bestimmtheit ein. Der Glaube an die Unsterblichkeit ist
also insofern zwar „bene fundatum", als unserer empirischen Er-
scheinung thatsächlich etwas Unsterbliches zu Grunde liegt. Dass
aber dies Unsterbliche ein Individuelles sein soll, diese Annahme ent-
springt theoretisch nur aus der Verwechselulng des Ich mit einem
Eealen, der empirischen Form des Bewusstseins mit ihrem unbe-
wussten metaphysischen Grunde und wird praktisch nur beständig
genährt und gehalten von den Wünschen, die im natürlichen Selbst-
erhaltungstriebe unserer Psyche wurzeln. Darum sträuben sich die
Menschen im allgemeinen noch heftiger gegen die Leugnung ihrer
persönlichen Unsterblichkeit als gegen die Widerlegung der Persön-
lichkeit Gottes. Denn in diesem Falle ist das Interesse doch nur
mittelbar, in jenem dagegen ist es unmittelbar mit den tiefsten Be-
strebungen und Wünschen des eigenen Selbst verwachsen.
5. Die Freiheit und Verantwortlichkeit des Ich.
Wer die persönliche Unsterblichkeit und die Persönlichkeit Gottes
leugnet, muss darauf gefasst sein, von den Anhängern jener Lehren,
die heute in Europa wenigstens noch die Mehrzahl bilden, zugleich
auch für einen Gegner der Moral angesehen zu werden. Dieser Vor-
wurf hat für uns eine um so stärkere Bedeutung, weil unsere ganze
Weltanschauung auf dem Nachweis der unrealen Natur des Ich be-
ruht, denn damit scheint in der That der Grund hinweg geräumt,
worauf allein von irgendwelcher Moral die Rede sein kann.
Wenn Ich nicht als reales Wesen existiere, mein Ich vielmehr
nur die subjektive Vorstellung ist, worin sich die auf ein bestimmtes
Individuum gerichteten Aktionen des Absoluten spiegeln, so ist es ja
offenbar nur ein trügerischer Schein, dass irgend eine Handlung von
^ Vgl. mein Werk: Die deutsche Spekulation seit Kant u. s. w. II,
S. 409—478.
310 Das Sein des Ich.
mir ausgeht. Ich bin dann nur das passive Werkzeug oder Medium,
vermittelst dessen und durch welches hindurch das absolute Subjekt
handelt. Folglich habe ich auch keine Freiheit meines Handelns und
bin für mein Thun so wenig verantwortlich, wie wenn ich von einem
fremden Geist besessen wäre.
Es ist der alte Einwand gegen den Pantheismus, dass er die
Menschen zu blossen Marionetten erniedrige, die Freiheit und Ver-
antwortlichkeit zerstöre und damit an die Stelle des ethischen Ver-
haltens das subjektive Belieben einer zuchtlosen Libertinage setze.
Wäre dieser Einwand berechtigt, so enthielte er allerdings das Todes-
urteil des Pantheismus. Denn das ist die selbstverständliche Voraus-
setzung alles Denkens und Handelns, dass der tiefste Sinn der Welt
ein praktischer ist und das Wahre und Gute im letzten Grunde
zusammenstimmen. Den Glauben hieran können wir uns nicht rauben
lassen, weil er eins mit dem Glauben an die Herrschaft des Vernünf-
tigen selbst zu sein scheint. Eine Weltanschauung, die in ihren
Konsequenzen ein zweckloses Spiel der individuellen Willkür ent-
fesselt, die ausser Stande ist, das Chaos ungezügelter Willensäusse-
rungen der Forderung eines sinnvollen Kosmos zu unterwerfen, eine
solche Weltanschauung ist daher vor dem Forum der Vernunft ge-
richtet und trägt den Stempel der Verkehrtheit an der Stirn, auch
wenn sie in rein theoretischer Hinsicht ein noch so bestechendes
Aussehen haben sollte. Es ist somit gewissermassen die Rechnungs-
probe auf unsem ganzen Ansatz, dass derselbe den unveräusserlichen
Forderungen des ethischen Bewusstseins nicht widerspricht. Wir
halten gleichsam Musterung über die bisher gesammelten Streitkräfte
und können erst dann auf einen künftigen Sieg unserer Ideen hoffen,
wenn diese auch in ethischer Beziehung die nötige Kraft besitzen,
um den Angriffen der Gegner Stand zu halten.
Wird Freiheit im Sinne des vulgären Theismus als Unabhängig-
keit des Willens von der gesetzmässigen Bestimmung durch Charakter-
anlagen und Motive, als „liberum arbitrium indifferentiae" verstanden
und davon die Sittlichkeit abhängig gemacht, so müssen wir aller-
dings die ethische Unzulänglichkeit unserer metaphysischen Prinzipien
eingestehen. Wer die Wirklichkeit als Wirken der Realen auf ein-
ander, die Realität als die Aktualität des Willens auffasst, der muss
auch die inhaltliche Bestimmtheit des Willens als logische Bestimmtheit
anerkennen. Daraus folgt, dass überall, wo überhaupt gewollt wird,
eine Vorstellung den Willen motiviert, und zwar eine solche, die sich
in gesetzmässigem, logischem Zusammenhange mit der Gesamtheit aller
übrigen Vorstellungen befindet. Wer in diesem Sinne dem psycho-
Die Freiheit und Verantwortlichkeit des Ich. 311
logischen Determinismus huldigt, für den ist die Möglichkeit einer
„grundlosen" Willensentscheidung schlechthin ausgeschlossen, denn
jede mögliche Entscheidung beruht für ihn auf der Beschaffenheit
des Charakters und der jeweiligen Stimmung einerseits, der Art und
Stärke der Motive andrerseits nnd ist durch diese Faktoren notwendig
bestimmt. Ein solcher ist ebenso wenig imstande, eine grundlose
Willensentscheidung in einem einzelnen besonderen Falle zuzugeben,
wie der Naturforscher einräumen kann, dass der kausale Verlauf der
Naturvorgänge unter gewissen Umständen durch göttliche Eingriffe
von aussen unterbrochen werden könne. Denn das liberum arbitrium
ist auf psychologischem Gebiete dasselbe, was auf dem Gebiete der
Naturwissenschaft das Wunder ist.
Die Anerkennung des liberum arbitrium ist der Tod der Psycho-
logie. Denn diese kann nur dann eine Wissenschaft sein, wenn die
inneren Aktionen unseres Willens genau so bestimmten Gesetzen unter-
worfen sind, denen sie sich nicht entziehen können, wie die äusseren
Naturvorgänge. Jene Anerkennung ist aber auch zugleich der Tod
der Ethik. Denn wenn sich unser Wille von den normalen Be-
dingungen seines gesetzmässigen Verhaltens zeitweilig emanzipieren,
ja, sich gegen dieselben entscheiden kann, so hilft uns alle sittliche Er-
ziehung nichts und können wir bei der strengsten Selbstzucht nie-
mals sicher sein, dass wir uns nicht doch irgend einmal gegen alle
unsere Vorsätze und Prinzipien entscheiden. Wenn alle Gesetzmässig-
keit, so zu sagen, bloss zufällig ist und jederzeit grundlos durchbrochen
werden kann, dann hat es auch keinen Sinn, Jemanden zur Verant-
wortung zu ziehen, denn Niemand kann verpflichtet sein, Vorschriften
inne zu halten , deren behauptete Unbedingtheit nur auf einen täu-
schenden Schein hinausläuft. Dies alles ist so selbstverständlich, dass
man fragen muss, wie Jemand auf den Gedanken des liberum arbitrium
nicht bloss verfallen, sondern ihn obendrein auch noch mit Gründen
verteidigen kann.
Frei im Sinne der Unabhängigkeit von Gründen kann jedenfalls
nur sein, was seiner Natur nach grundlos ist. Das wäre aber das
Ich nur, wenn es ein substantielles Wesen und in dieser Hinsicht
selbst ein Absolutes wäre. So erklärt sich, wie das Problem der
Willensfreiheit in der von Descartes beeinflussten neueren Philo-
sophie eine so grosse Eolle hat spielen können, und wie immer wieder
der aussichtslose Versuch auftauchen kann, das liberium arbitrium
unter irgend einer Form in die Weltanschauung einzuschmuggeln. Ein
solcher Versuch liegt ja nämlich überall dort nahe, wo das Gespenst
des Cogito ergo sum im Innern eines philosophischen Gebäudes um-
312 ^M Sein des Ich.
geht, und er kann sich um so dreister an das Tageslicht hervorwagen,
je offener das kartesianische Grunddogma als Fundament der be-
treffenden Weltanschauung anerkannt wird. Darum pflegt denn auch
der sicherste Beweis für die Willensfreiheit in der Aussage der inneren
Erfahrung gefunden zu werden, als ob uns der Inhalt der Selbst-
wahrnehmung als solcher zugleich ein Bürge für seine Wahrheit sein
könne.
Nun sagt uns aber das stärkste Gefühl, innerlich frei zu sein, nur,
dass wir uns einer solchen Freiheit bewusst sind, oder dass wir sie
in ideeller Form besitzen, aber es schliesst doch den Zweifel hin-
sichtlich ihrer realen Existenz nicht aus. Wir besitzen auch von
unserem Willen nur eine indirekte Erkenntnis yermittelst der Vor-
stellung desselben, weil er selbst durchaus ein Jenseits des Bewusst-
seins ist. Darum besitzen wir auch keinen unmittelbaren Einblick in
den Motivationsprozess. Bleibt es folglich schon mehr oder minder
ungewiss, welche Vorstellungen unsern Willen in einem bestimmten
Falle motivieren, so können wir erst recht nicht seine gänzliche
Unabhängigkeit vom Zwange der Motive behaupten. Auf der anderen
Seite erklärt sich mein Bewusstsein der Freiheit aus dem unmittel-
baren Zusammenhange von Wille und Bewusstsein. Jede Willens-
aktion setzt, wie wir früher gesehen haben, notwendig ein Bewusst-
sein im Konflikt mit ihres Gleichen. Mein Ich aber ist, so zu sagen,
nur die Resultante aller Bewusstseine, die mein Wille auf diese Weise
produziert hat. Wie sollte ich da nicht zu dem instinktiven Glauben
kommen, mein Ich, das ich immer nur zugleich mit meinem Willen
im Bewusstsein habe, sei mit ihm identisch und folglich die uner-
kannte (weil unbewusste) Gesetzmässigkeit meines Willens eine un-
mittelbare Freiheit meines Ich?^ —
Wenn nun also der psychologische Determinismus die einzige
Bedingung darstellt, unter welcher ein sittliches Verhalten möglich ist,
so liegt in seiner Betonung jenes Determinismus kein Grund, den
Pantheismus der ethischen Unzulänglichkeit zu zeihen. Aber, sagt
man , nicht darin liegt der Mangel dieser Weltanschauung , dass sie
ein gesetzmässiges Bestimmtsein des Willens behauptet, sondern darin,
dass nach ihm der ganze Prozess der psychischen Funktionen, soweit
er ein realer ist, in einem andern Wesen als in mir verläuft. Mein
Ich reicht nur soweit, wie mein Bewusstsein; alle Willensentschei-
dungen aber vollziehen sich unbewusst — mit welchem Recht also
können sie mir zugeschrieben werden?
^ Vgl. V. Hart mann: Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins S. 454—458.
Die Freiheit und Verantwortlicbkeit des loh. 313
Dieser Einwand trifft zu, wenn der Pantheismus im Sinne des
abstrakten Monismus, d. h. wenn das Individuum nur als ein zu-
fälliger Schein am allein realen Absoluten aufgefasst wird. Denn
alsdann sind alle Funktionen durchweg nur Funktionen des Absoluten,
oder vielmehr es giebt im Grunde nur eine einzige Funktion, und das
ist die Traumfunktion des Absoluten. Da ist es denn allerdings gleich-
gültig, ob ich mich in moralischer Hinsicht so oder anders benehme,
weil alle Beziehungen der Individuen unter einander, ebenso wie die
Individuen selbst, nur das ideelle Sein von bloss geträumten Vor-
gängen besitzen. Jener Einwand trifft ebenfalls zu, wenn der Pan-
theismus im Sinne des Persönlichkeitspantheismus verstanden wird.
Denn wenn das Absolute ein persönliches Sein (Bewusstsein), auch ab-
gesehen von der menschlichen Persönlichkeit besitzt, so ist es eben
damit gegen die letztere abgeschlossen, und der Mensch hat ganz
recht, die realen Funktionen eines solchen Absoluten, sofern sie zu
Bestimmungen seines eigenen Handelns werden, einem andern, ihm
fremden Wesen zuzuschreiben. Dann nämlich befindet er sich in jenem
marionettenhaften Zustande der dämonischen Besessenheit, der ihn
auch vor dem irdischen Strafrichter von der Verantwortlichkeit für
seine Handlungen entlastet, und in welchem eine Moral nicht auf-
kommen kann, weil alle seine Handlungen von aussen beeinflusst
werden. Nun sind aber beide, der abstrakte Monismus sowohl, wie
der Persönlichkeitpantheismus, unechte Formen des Monismus, deren
Folgerungen wir schon deshalb nicht auf uns beziehen können, weil
beide auf dem Boden des Cogito ergo sum erwachsen sind.
Das Individium muss real sein, um überhaupt handeln zu können,
und seine Handlungen müssen ganz und gar nur ihm selbst zuge-
hören, damit es für seine Handlungen verantwortlich sein kann. Diese
beiden Bedingungen treffen nur im konkreten Monismus zu. Hier
sind die Funktionen des Absoluten nur insofern real, als sie unmittel-
bar zugleich Funktionen des Individuums sind, d. h. das Absolute
handelt nur in den endlichen Individuen, und ebenso ist auch das
Individuum nur ein reales Wesen, sofern es eine einheitliche und in
sich zusammenhängende Gruppe von eingeschränkten Funktionen des
Absoluten ist. Diejenigen unbewussten Funktionen des absoluten
Geistes, worauf das Handeln des Individuums beruht, sind inte-
grierende und wesentliche Bestandteile des individuellen Geistes;
mein Ich aber ist nur der zusammenfassende Ausdruck für diesen ein-
heitlichen Komplex von unbewussten, realen und individuellen Funk-
tionen und kann sich daher der Verantwortlichkeit für seine Hand-
lungen nicht entziehen, weil es selbst ja gar kein reales Wesen, son-
314 Das Sein des loh.
dern lediglich den ideellen Brennpunkt darstellt, worin sich gewisser-
massen jene sämtlichen Funktionen schneiden. Wenn ich sage: „Ich
habe dies gethan**, so meine ich damit, genau genommen, jene indivi-
duelle Eealität, die als solche hinter meinem Bewusstsein steht, und
deren Handlungen sich jenseits des Bewusstseins vollziehen. Aber das
ist doch etwas ganz Anderes, als wenn ich sage: „Peter oder Hans
hat dies gethan.** Denn hier steht das reale Subjekt der Thätigkeit
nicht bloss jenseits meines Bevnisstseins , sondern ebenso auch jen-
seits derjenigen realen Funktionen, worauf sich mein Bewusstsein
gründet. „Meine*" individuelle Realität ist das reale Sein, das mein
Ich mir fürs Bewusstsein repräsentiert, und daher sind alle sogenannten
Funktionen meines Ich in Wahrheit nur Funktionen jenes unbewussten
absoluten Wesens. Wollte man daraus schliessen, dass die Handlungen
dieses Wesens mir eigentlich nicht zugerechnet werden dürfen, so
würde man vergessen, dass ja das Ich als solches überhaupt nicht
handeln und folglich von einer besonderen Zurechnung bei ihm auch
nicht die Rede sein kann, so würde man mit anderen Worten die
abstrakte leere Form des Bewusstseins doch wieder zu einer selb-
ständigen Realität hypostatieren und in zwei verschiedene reale Wesen
auseinanderreissen, was nur in ungeteilter Einheit das reale seelisch-
körperliche Individuum ausmacht.
Worauf beruht nun die Verantwortlichkeit, und wie ist auf dem
Boden des konkreten Monismus ein sittliches Verhalten möglich?
Der innerste Kern eines jeden Wesens ist der Wille. Er ist das
Prinzip, womit das Wesen in die umgebende Wirklichkeit eingreift,
wodurch es sich im Kampfe gegen diese Wirklichkeit behauptet, und
worauf zugleich für seine Umgebung die Erkenntnis seiner indivi-
duellen Eigentümlichkeit beruht. Insofern ist der Wille das Prinzip
der Individualität, unbeschadet des Umstandes, dass, metaphysisch ge-
nommen, aller konkrete Inhalt und alle Besonderheit des Willens durch
die Idee bestimmt wird. Denn der Wille ist es, wodurch die Idee
erst Realität erhält und mithin das reale Individuum in die Erschei-
nungswelt hinaustritt. Da nun aller Wille ein Streben nach Be-
friedigung ist, die, wenn sie als solche zum Bewusstsein kommt,
Lust genannt wird, so ist das Handeln eines jeden Individuums un-
mittelbar nur auf Befriedigung des eigenen Willens, auf Lust, oder
sofern dieselbe als eine dauernde aufgefasst wird, auf Glückseligkeit
gerichtet. Der natürliche Mensch also ist selbstverständlich egoistisch.
Natürlich aber ist der Mensch, solange er über seine Bestimmung im
Weltganzen noch nicht weiter reflektiert hat und die Dinge nur vom
Standpunkte seines eigenen Willens aus betrachtet. Darum kann auf
Die Freiheit und Verantwortlicbkeit des Ich. 315
dieser Stufe des praktischen Verhaltens von Sittlichkeit noch nicht
gesprochen werden. Denn diese setzt die Ueberwindung des Egois-
mus voraus und verlangt die Beförderung von Zwecken, die jenseits
der Sphäre des individuellen Wesens liegen. Zu einer solchen aber
hat das Individuum um so weniger Veranlassung, je fester in ihm der
Glaube an die Unmittelbarkeit und Selbständigkeit des eigenen Ego
wurzelt; denn solange muss es ihm nicht bloss natürlich, sondern
auch vernünftig scheinen, überall nur das Interesse des individuellen
Willens zu verfolgen.
Der Individualismus, wie er aus dem Cogito ergo sum hervor-
geht, mag er nun ein monadologischer Pluralismus oder transcenden-
taler Individualismus sein, kommt daher auch über den pseudomora-
lischen Standpunkt eines mehr oder minder verhüllten Egoismus nicht
hinaus. Das Individuum, auf sich selbst gestellt, wird damit zum
Mittelpunkt der Welt und muss naturgemäss seine Umgebung bloss
auf sich beziehen und alles nur aus dem Gesichtspunkte seines eigenen
Nutzens betrachten. Wenn unter diesen Umständen überhaupt ein
friedliches Zusammenleben der Individuen möglich ist und nicht viel-
mehr der Krieg Aller gegen Alle herrscht, so kann doch diese Ueber-
einstimmung nur eine zufallige sein und höchstens in dem stillschwei-
genden Bewusstsein wurzeln, dass es für meine eigene Glückseligkeit
vorteilhafter ist, mit meiner Umgebung Frieden zu halten, als rück-
sichtslos das eigene subjektive Interesse durchzusetzen. Wer die
Souveränität des Individuums behauptet, vermag daher am Ende den
Schein der Sittlichkeit aus dieser Voraussetzung abzuleiten; allein
eine haltbare Begründung der Ethik wird dadurch so wenig erreicht,
wie es möglich ist, auf diesem Boden den mannigfachen Erscheinungen
des sittlichen Lebens gerecht zu werden.
Will der Individualismus die Ethik nicht unmmittelbar auf den
subjektiven Vorteil gründen, so bleibt ihm nichts Anderes übrig als
die willenlose Unterwerfung unter die Autorität als das wahre Prin-
zip des sittlichen Verhaltens hinzustellen. Dies thut der Katholizis-
mus, und er ist darin ganz konsequent, sofern er die substantielle
Natur des Individuums behauptet. Der Protestantismus dagegen
möchte sich auch hier, wie so oft, zwischen zwei Stühle setzen, die
substantielle Natur der Individuen nicht missen und trotzdem die
Autorität verwerfen. Und doch ist klar, dass auf dem Boden des
Individualismus nur die letztere eine Uebereinstimmung der verschie-
denen Individuen unter einander, ja, selbst eine Unterordnung der-
selben unter einen höheren, überindividuellen Zweck verbürgen kann.
Allein so wird ebenfalls keine Moralität erreicht, sondern nur eine
316 Das Sein des Ich.
blosse äusserliche Legalität erzwungen, deren sittlicher Wert doch
höchstens nur ein propädeutischer sein kann. Denn so wichtig auch
im Leben eines Individuums seine äussere Erziehung ist, so wertvoll
es für dasselbe ist, dass sein Eigenwille unter dem Zwange der autori-
tativen Gebote und Strafandrohungen gebrochen, seine egoistischen
Triebe in eine bestimmte Richtung gelenkt und durch Gewöhnung an
den überindividuellen Zweck gefesselt werden, so gewiss kann man
doch von einem sittlich reifen Individuum nur sprechen, wo der
Mensch jene Zwecke nicht verfolgt, weil sie geboten, von Anderen
ihm aufgezwungen sind, sondern weil er sie als den Ausdruck seines
eigenen Wesens ansieht, weil ihr Inhalt mit den Forderungen seines
eigenen Bewusstseins übereinstimmt und daher seine Rechtfertigung
erhält. Die echte Sittlichkeit ist mithin autonom; denn nur die
Autonomie in sittlicher Beziehung ist imstande, dasjenige Spiel der
Triebe und Begehrungen zu entfesseln, durch welches der sittliche
Entschluss hindurchgegangen sein muss, um als bleibendes Moment
dem Subjekt einverleibt zu werden. Nur die Autonomie befreit den
Menschen zugleich von der unwürdigen Rücksichtnahme auf Lohn und
Strafe und damit aus der Knechtschaft des Egoismus, dessen üeber-
windung, wie gesagt, die notwendige Voraussetzung des sittlichen
Verhaltens bildet. Eine solche Autonomie aber wäre auf individua-
listischem Boden die Aufhebung aller Sittlichkeit. Denn es ist nicht
einzusehen, wie selbständige und von einander unabhängige Subjekte,
falls jedes nur der Stimme seines eigenen Bewusstseins folgt, trotz-
dem zu einer objektiven üebereinstimmung gelangen sollten. Wäre
daher der Individualismus das letzte Wort der Metaphysik, so gäbe
es keine echte Sittlichkeit, oder wäre eine solche doch theoretisch
nicht zu begründen und müsste man sich mit dem kümmerlichen
Surrogate der heteronomen Pseudomoral begnügen.
Nun ist aber, wie wir wissen, das Individuum zwar real, aber
diese seine Realität ist keine Substantialität. Der Kern des Indivi-
duums ist der Wille, aber dieser ist ebenso gut zugleich auch Wille
eines absoluten Wesens. Das Individuum ist Erscheinung, aber das
Wesen dieser Erscheinung ist in allen Individuen identisch. Daraus
folgt, dass es ein falsches und einseitiges Verhalten ist, wenn das
Individuum sich auf seine eigenen Füsse stellen und den subjek-
tiven, besonderen Willen zur Richtschnur aller Wirklichkeit erheben
will. Denn damit versucht es, sich von jenem Boden loszureissen,
worin es thatsächlich mit allen Fasern seines Daseins wurzelt, und
bläht es sich selbst zu einer Bedeutung auf, die der objektive Zu-
sammenhang der Dinge nicht rechtfertigt.
Die Freiheit und Verantwortlichkeit des Ich. 317
Es ist, wie wenn im psychischen Organismus von Willensfunk-
tionen ein einzelner Wille sich in abnormer Weise auf Kosten aller
übrigen hervordrängt. Dieser Wille mag an sich noch so berechtigt
sein: er vernichtet doch die natürliche Harmonie der Funktionen,
reisst das Individuum in ungestümem Drange fort und verwickelt es in
jene schmerzlichen Kollisionen und Konflikte mit der Aussenwelt, in
denen es entweder früher oder später zur Vernunft gebracht oder von
stärkeren, gleichberechtigten Strebungen überwunden wird. Der Mensch,
der sich frei von aller moralischer Verpflichtung dünkt, der die zufälli-
gen Wünsche seines Ich aller Welt zum Trotz glaubt durchsetzen zu
können, vergisst, dass die andern Individuen genau so viel Realität
besitzen, wie er selbst, und folglich auch für ihre eigenen Begeh-
rungen das gleiche Recht beanspruchen können. In der Gesamtheit
aller realen Wesen stellt er selbst nur einen verschwindenden Faktor
dar; diese Gesamtheit aber i^ keine blosse Summe von Willensfunk-
tionen, sondern die Erscheinung eines absoluten Wesens, zu welchem
sich die einzelnen Individuen wie die verschiedenen psychischen Funk-
tionen zu unserer Seele verhalten. Sähe der Mensch dies ein, so
würde er die Thorheit erkennen, die darin liegt, den Teil zum Ganzen,
die Funktion zur Substanz, die Erscheinung zum Wesen, sich selbst
zum Gesetzgeber einer Wirklichkeit zu machen, deren Gesetzmässig-
keit gleichmässig von allen Einzelnen getragen wird und daher auch
über alle individuelle Willkür übergreift.
Diese Gesetzmässigkeit ist es, die unter dem Namen der sitt-
lichen Welt Ordnung die allgemeine Richtschnur des praktischen
Verhaltens ausmacht. Als objektive sittliche Weltordnung tritt sie
dem Menschen in der Form von äusseren Institutionen, als Staat,
Kirche, Gesellschaft u. s. w., entgegen und bildet einen festen Damm
gegen alle Uebergriffe seines Egoismus. Als subjektive sittliche
Weltordnung äussert sie sich in allen moralischen Instinkten und
Prinzipien, die der Mensch teils als Erbteil seiner Vorfahren schon
mit auf die Welt bringt, teils im Verlaufe seines Lebens selbst hin-
zugewinnt, und veranlasst ihn, am Zustande der objektiven sittlichen
Weltordnung mitzuwirken und dieselbe immer vollkommener auszu-
gestalten ^ Wäre die sittliche Weltordnung nur ein empirisches Pro-
dukt, im Zusammenleben der Menschen durch blosse Reflexion ent-
standen, so würde sie keine allgemeine Verbindlichkeit besitzen und
die Unterordnung des Einzelnen unter ihr Gesetz nur ein Akt be-
rechnender Klugheit ohne alle moralische Bedeutung sein. Beruhte
* Vgl. V. Hartmann, Die Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins
726 ff.
318 Das Sein des loh.
sie auf dem Gebote eines transcendenten Gottes, der sie den Indivi-
duen von aussen auferlegt , so würde ihr Handeln im Sinne jener
Weltordnung entweder nur ein bloss zufölliges Zusammentreffen mit
dem göttlichen Willen oder aber die Aufhebung der sittlichen Frei-
heit sein, die wir oben unter dem Namen der AntoBomiA als die
notwendige Bedingung aller echten Sittlichkeit erkannten« Soll die
sittliche Weltordnung allgemeine Verbindlichkeit besitzen, zugleich
jedoch ein Ausfluss der individuellen Freiheit sein, soll sie wirklich
sittliche Weltordnung sein, dann muss sie zugleich ein Produkt des
individuellen Willens, zugleich aber auch des Willens Gottes sein.
Das ist sie aber nur im konkreten Monismus, wo göttlicher und
menschlicher Wille zusammenfallen, und darum ist allein auf diesem
Standpunkt eine haltbare Begründung des sittlichen Handelns möglich.
Der Theismus, der Gott und Mensch als zwei verschiedene Wesen,
und der transcendentale Individualismus, der das empirische Ich als
Wirkung oder Erscheinung eines transcendentalen Ich auffasst, suchen
beide die Sittlichkeit durch den Hinweis auf eine jenseitige Vergel-
tung zu befördern. Dass dies jedenfalls das schlechteste Mittel ist,
um den Egoismus zu überwinden, indem man dabei ja gerade an
diesen letzteren apelliert, das sollte sich für ein vorurteilsloses Denken
eigentlich von selbst verstehen. Die Annahme der persönlichen
Unsterblichkeit ist so wenig eine Bedingung der Sittlich-
keit, dass sie vielmehr alle Sittlichkeit in ihrem Grunde
aufhebt. Denn wie sehr auch die jenseitige Belohnung nicht als
Zweck der Sittlichkeit, sondern nur als ihr beiläufiger Erfolg hin-
gestellt werden mag, der dem sittlichen Menschen am Ende gleichsam
von selbst zufällt: solange zwischen empirischer Sittlichkeit und trans-
cendenter Vergeltung ein kausaler Zusammenhang besteht, solange ist es
ein reiner Widersinn, von Jemandem zu verlangen, dass er dasjenige
nicht auch zum Motive seiner Handlungen machen soll, was doch
schliesslich als Gewinn für ihn dabei herauskommt. Man muss den
Menschen einfach nicht kennen, um das Gegenteil überhaupt für mög-
lich zu halten, und hat dann jedenfalls kein Recht, über die sündhafte
Natur der Kinder Adams zu klagen.
Der transcendentale Individualismus sucht dem Vorwurf einer der-
artigen eudämonistischen Begründung der Ethik, d. h. des Egoismus,
dadurch zu entgehen, dass er das transcendentale Ich, dem die Hand-
lungen des empirischen Ich zu Gute kommen, als ein von diesem
letzteren verschiedenes Ich betrachtet. Allein damit zerschneidet er,
ohne es zu wollen, den Faden, der die psychische Funktion des em-
pirischen Ich mit der metaphysischen Bewusstseinswelt verbindet.
Die Freiheit und Verantwortlichkeit des Ich. 319
Denn entweder ist wirklich das empirische Ich vom transcendentalen
Ich verschieden: dann besteht für das erstere keine Verbindlichkeit,
die Interessen eines Wesens wahrzunehmen, das ebenso endlich und
ebenso relativer Art ist, wie es selbst. Oder aber die beiden Iche
sind dem Wesen nach identisch: dann kann für das empirische Ich
die Veranlassung zum sittlichen Verhalten nur darin liegen, dass alles,
was dabei an Vorteil für das transcendentale Ich herauskommt, zu-
gleich auch ihm selbst irgendwie zu Gute kommt, d. h. aber das
Prinzip der Sittlichkeit ist wieder nur der Egoismus.
Existierte der transcendentale Individualismus nur als Spiritismus,
so würde jedes Wort über diesen Standpunkt verloren sein, denn dem
Spiritismus ist bekanntlich mit Vernunftgründen überhaupt nicht bei-
zukommen ^. Nun erfreut sich aber derselbe gerade in unserer Zeit
unter dem Namen der „Theosophie" als schwärmerischer Mystizismus
und europäisch zugestutzter Buddhismus eines so grossen Ansehens,
besonders auch in den Kreisen philosophisch ungeschulter Laien und
entfaltet er in zahlreichen Broschüren, Zeitschriften, Vorträgen u. s. w.
eine so emsige Propaganda, dass die Philosophie sich einer Prüfung
seiner Prinzipien nicht wohl entziehen kann; beansprucht er doch auch
allein einen haltbaren Ersatz für die durchlöcherte Moral des Theismus
zu besitzen. Nun vermag aber dieser Standpunkt nur dadurch den
Schein einer Begründung seiner ethischen Prinzipien vorzuspiegeln,
dass er beide Seiten der erwähnten Alternative zugleich festhält und
je nach Bedürfnis entweder die eine oder die andere ausspielt. Fragt
man ihn nämlich nach dem Motiv des sittlichen Verhaltens, so beruft
er sich auf die Identität des empirischen und des transcendentalen
Ich. Macht man ihn aber darauf aufmerksam, dass dies eine egoistische
Begründung der Ethik sei, die niemals echte Sittlichkeit erzeugen
könne, so behauptet er die Verschiedenheit der beiden Iche, ohne zu
bedenken, dass die Schicksale des transcendentalen Ich mich garnicht
motivieren können, weil die höhere Berechtigung desselben meinem
unmittelbaren empirischen Ich gegenüber nicht einzusehen ist. Wenn
es hierfür eine Entschuldigung giebt, so kann sie nur in der prinzi-
piellen Unklarheit gefunden werden, die für diesen ganzen Standpunkt
typisch ist, und deren letzten Grund wir auch nur wieder im Cogito
ergo sum zu suchen haben. Die transcendentalen Individualisten
unterscheiden ganz richtig mit Kant das empirische Ich von seinem
transcendentalen Grunde. Aber, wie bei Kant, gründet sich auch ihre
^ Vgl. mein Werk: „Die deutsche Spekulation seit Kant" u. s. w. IT,
S. 430 Anm.
320 I>a8 Sein des loh.
Ansicht auf die Realität des Ich, und daher identifizieren sie das Icli
mit jenem transcendentalen Grunde und wird ihnen der letztere zu
einem „transcendentalen Ich*".
Auf dem Standpunkte des konkreten Monismus ist der Zweck
des praktischen Verhaltens kein individueller, einzelner, sondern ein
allgemeiner, über die Sphäre der Individuen übergreifender, und zwar
weil das Wesen, welches diesen Zweck gesetzt hat, ein überindivi-
duelles, absolutes ist. Trotzdem sind die Individuen die alleinigen rea-
len Träger der absoluten Teleologie, und zwar sind sie als solche ohne
Selbständigkeit, blosse Mittel und dienende Glieder zur Verwirklichung
des absoluten Zweckes. Folglich können sie vernünftiger Weise sich
ihm gamicht entziehen, weil alle individuellen Funktionen zugleich
göttliche Funktionen sind, mithin jeder Versuch, den Ejreis der ab-
soluten Zwecksetzung durch willkürliche und individuell gesetzte
Zwecke zu durchbrechen, doch indirekt dem absoluten Zweck zu
Gute kommt und schliesslich nur in den alten Kreis zurückfuhrt. Wer
trotzdem in thörichter Ueberhebung aus diesem Zusammenhang her-
auszutreten sucht, der sägt nur den Ast ab, worauf er sitzt, und darf
sich nicht wundem, wenn er mit zerschmetterten Gliedern herabstürzt.
Wer indessen jenen Zusammenhang sich einmal klar gemacht hat, wie
sollte der es nicht vorziehen, sich lieber willig in den Dienst der
sittlichen Weltordnung zu stellen und diejenigen Zwecke sich mit
Bewusstsein anzueignen, die er unbewusster Weise doch erfüllen muss?
Die wahre Bestimmung des individuellen Wesens ist ja nicht auf den
subjektiven, individuellen, sondern eben auf den absoluten Zweck ge-
richtet, indem das Individuum identisch mit dem absoluten Wesen
ist. Wie daher der Einzelne seinen Zweck nur erfüllt, sofern er den
Zweck des Absoluten erfüllt, so erfüllen alle Individuen zusammen
ihre wahre Bestimmung nur, sofern sie unter Verzichtleistung auf
alles selbstsüchtige Interesse gemeinsam den Ausbau der sittlichen
Weltordnung vollenden. Wollte darin Jemand noch eine Spur von
Egoismus finden, so würde er nur beweisen, dass er den eigentlichen
Sinn des konkreten Monismus nicht begriffen hat. Gewiss bricht das
gefUhlsmässige Bewusstsein, dass alle realen Wesen mit mir selbst
identisch sind, meinen Eingriffen und Uebergriffen in fremde Willens-
sphären gleichsam die Spitze ab, weil ich in allen nur mich selbst
erblicke. Allein das ist für mich doch nur der Anstoss, der mich
daran erinnert, dass wir alle gleich unselbständige Glieder und
Momente am absoluten Organismus sind und dass es folglich thöricht
ist, sich durch gegenseitige Störung und Schädigung in der Mitarbeit
am überindividuellen Zweck zu hindern. Keinesfalls aber handle ich
Die Freiheit und Verantwortliclikeit des Ich. 321
sittlich bloss deshalb, um mich selbst nicht in der Schädigung des
Andern zu treffen, denn was mir aus ihnen entgegenblickt, ist ja
nicht mein Ich, sondern es ist nur das Wesen, das sich auch in
meinem Bewusstsein spiegelt.
Wer nun so die Täuschung des Ich durchschaut und sich selbst
als Funktion des Absoluten erkannt hat, für den ergiebt sich die
Sittlichkeit als selbstverständliche Konsequenz, und zwar eine Sittlich-
keit, die nicht „das Ihre sucht'*, wie diejenige des Theismus und
transcendentalen Individualismus, sondern ohne Nebenabsichten und
ohne auf den Sirenengesang des entthronten Ich zu hören, ihr Fahr-
zeug im Strome des göttlichen Willens dahinsteuert. In diesem
Strome fühlt der Mensch sich wahrhaft frei, weil die Lockungen der
Endlichkeit keine Gewalt über ihn besitzen und sein Wille auch te-
leologisch, nicht mehr bloss ontologisch mit dem absoluten Willen
zusammenfällt, oder weil er seinen eigenen Willen mit Bewusstsein
als identisch mit dem freien Willen Gottes begreift. In diesem
Strome aber fühlt er sich auch zugleich verantwortlich für sein
Thun, weil jede Unachtsamkeit und jede falsche Bewegung dem
Fahrzeug seiner Sittlichkeit mit Strandung auf den überall verbor-
genen Klippen droht. Gewiss ist ein bestimmtes Mass von Freiheit
die notwendige Voraussetzung der Verantwortlichkeit. Diese Freiheit
ist jedoch nicht mit dem unlogischen Zufall des liberum arbitrium
identisch, sondern sie beruht eben in jener Fähigkeit des Menschen,
den objektiven absoluten Zweck mit Bewusstsein zum subjektiven
individuellen Zweck zu machen. Nur weil der Mensch es mit Recht
als seine Pflicht erachtet, an diesem einmal erkannten höchsten Ziel
des Willens mit allen Kräften festzuhalten und es gegen jeden An-
griff des immer wieder herandrängenden Egoismus zu verteidigen
nur darum fühlt er sich verantwortlich. Verteidigen aber und ver-
folgen kann er jenes Ziel nur, indem er beständig die Zügel der
Herrschaft über alle seine Triebe in der Hand behält. Insofern ist
die Persönlichkeit der höchste Ausdruck für die Freiheit und ver-
steht man, wie die tiefste Bedeutung dieses Wortes eine ethische und
religiöse sein kann.
Diese Selbstbefreiung von der trügerischen Illusion des Ich, dieses
opferwillige Sicheinstellen in den Dienst der sittlichen Weltord-
nung, dies ist es, was die Schrift als das „Bad der Wiedergeburt"
bezeichnet. Der Mensch zieht den „alten Adam** aus und beginnt
auf erhöhter Stufe ein neues gottinniges Leben. Mit ihr hat er auf-
gehört, ein bloss „ natürlicher ** Mensch zu sein, und ist er selbst zum
„Gottmenschen" geworden, zum „Knechte Gottes", der mit seinem
Drews. 21
322 Das Sein des Ich.
Dienstverhältnis gegenüber der göttlichen Idee zugleich auch die
Leiden dieses Dienstes übernommen, auf dessen Schultern die Ver-
antwortlichkeit für den Bestand des Ganzen lastet, und von dem auch
die Erlösung des letzteren mit abhängt. Wohl ist er auch jetzt noch
nicht allen Versuchungen enthoben, und der Gegensatz des absoluten
und individuellen Willens spiegelt sich in seinem Bewusstsein als
Kampf der sittlichen und egoistischen Triebe wieder. Allein der be-
ständig neu zu weckende Gedanke, mit Gott in unlöslicher Einheit
zu stehen, giebt ihm immer wieder frischen Mut und Kraft, den
Kampf mit den entgegenstehenden Mächten aufzunehmen, und lässt
ein Nachlassen jener Kraft, wodurch er dem erwählten Ziele ferner
gerückt wird, in einem ganz anderen, bedeutungsvolleren Licht er-
scheinen, als es jeder bloss endliche Standpunkt zu thun vermag.
Wenn man das Ich für ein reales, substantielles Wesen ausgiebt,
wie ist es da nicht widersinnig, zu verlangen, dass der Mensch auf
sein Ich verzichten und etwas Anderes als das Seinige erstreben
solle? Wenn man die empirische Bedeutung des Individuums für
den Weltprozess zu einer metaphysischen Bedeutung seines Ich auf-
bauscht und dem letzteren ein unsterbliches Leben in Aussicht stellt,
wie lässt sich vom Menschen alsdann verlangen, dass er eben diese
Unsterblichkeit nicht als Lohn seiner Handlungen beständig vor
Augen haben solle? Wenn man dem Ich einen absoluten Wert zu-
schreibt und das Gentrum alles Seins und Denkens als absolute Per-
sönlichkeit auffasst, wie kann man bei dieser Zweiheit von Mensch und
Gott dem Ersteren die Vereinigung mit Gott als ideales Ziel vorsetzen?
Welche Kurzsichtigkeit daher, einer Zeit, die den Egoismus zum
Weltprinzip erklärt und aus der „Umwertung aller Werte** den
„Uebermenschen** als erstrebenswertes Ideal hervorgehen lässt, den
Theismus als Bettung anzupreisen! Wenn es gegen derartige Zeit-
krankheiten, wie den modernen Nietzschekultus und verwandte Ab-
normitäten, ein Heilmittel giebt, so kann es nur im Pantheismus ge-
funden werden, und zwar in jener Form des Pantheismus, die wir
oben als konkreten Monismus bezeichnet haben.
Die Annahme der Realität des Ich begründet einen unlösbaren
Widerspruch zwisclien der metaphysischen Beschaffenheit des Indivi-
duums und den unerlässlichen Bedingungen seines sittlichen Ver-
haltens. Darum ist es auch für die Ethik eine Lebensfrage, dass die
Realität des Ich als Illusion enthüllt wird und giebt es nur dann
eine mit den Anforderungen des sittlichen Bewusstseins überein-
stimmende Metaphysik, wenn Sein und Bewusstsein an keinem Punkte
zusanmienfallen.
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