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Full text of "Das Leben Jesu"

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* 


I, I 





GERMAN LIBRARY. 


ce TIIK 


UNIVERSITY OF CALIFORNIA. | 


Keremed. — FE ArAA_ 85 6 


Accessions No, 7 / —* Self Vo. 
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Das 


Leben Sefu, 


kritiſch bearbeitet 


son 


Dr. David Friedrich Strauß, 





Vierte Auflage. 


N ——— — 
Tübingen, 
Berlagvon € % Dfiander, 
2940©. 


. 


Kin 








Inhalt des zweiten Bandes, 


(Zweiter Abfehnitt.) 


9. 


95. 
96. 


-....., 


97. 
98, 
99. 
100. 
101. 


. 103, 
104, 


veoswosee 


— 


§. 105. 


$. 106. 


wa 


92. 
93. 
94, 


102. 


107. 
108. 


Neuntes Kapitel. Die Wunder Jefu 


Sefus als Wunderthäter . . 

Die Dämoniſchen, allgemein betraciet 

Jeſu Dämonenaustreibungen einzeln betrachtet 

Heilungen von Ausſätzigen 

Blindenheilungen 

Heilungen von Paralptifchen. © Jeſus Krantpeiten 
als Sündenftrafen betrachtet habe . 

Unwillkürliche Heilungen. 020% 

Heilungen in die Ferne 

Sabbatheilungen 

Todtenerweckungen 

Seeanekdoten. .... 

Die wunderbare Speiſung. .. 

Jeſus verwandelt Waſſer in Wein.. 

Jeſus verwünſcht einen unfruchtbaren Feigenbaum 


Zehntes Kapitel. Jeſu Verklärung und 


112 


162 


206 


lebte Reife nah Jeruſalem. . 238-284 


Die Verklärung Jeſu als wunderbarer äußerer Bor: 
gan. 02a 


Die natürliche Kuffaffung der Erzäpfung in serie, 


denen Formen . . . 
Die Verklärungsgeſchichte als Mythus 
Abweichende Nachrichten über die jene | Reife ze 
nah Ierufalem . . . 


IV 


6. 109. 


$. 110, 


Inhalt. 


Ekite 
Abweichungen der Evangelien in Hinfiht auf den 
Ausgangspunft des Einzugs Zefu in Serufalem 266 
Näherer Hergang bei dem Einzug. Zwed und hiflo: 
riſche Realität deſſelbee. 2273 


Dritter Abſchnitt. Die Geſchichte des Leidens, Todes, 


6. 114. 


§. 115. 


6. 116. 


und der Auferſtehung Jeſu.. 286-662 


Erſtes Kapitel. Verhältniß Jeſu zu der 
Idee eines leidenden und ſterbenden 
Meſſias; feine Reden von Tod, Aufer 
ſteh uug und Viederfunft . . 287 —356 


Ob Jeſus fein Leiden und feinen Tod in beflimmten 
Zügen vorbergefagt habe? . . . . 287 
Jeſu Todesverfündigung im Alfgemeinen; ihr Ver— 
hältniß zu den füdiſchen Meffiasbegriffen; Aus⸗ 
ſprüche Jeſu über den Zweck und die Wirkungen 


feines Todes . 295 
Beſtimmte Ausſprüche Jeſu über feine fünftige Auf. 
erfiefung - 308 
Bildliche Reden, in welchen Jeſus ſeine Auferſthung 
vorherverkündigt haben ſoll 312 
Die Reden Jeſu von ſeiner Paruſie. Aaritit der 
verſchiedenen Auslegungen. 324 


Urſprung der Reden über die Parufle . . 0. 34 


Zweites Kapitel. Anfhläge der Feinde 
Sefu; Verrath veg Judas; letztes Mahl 
mitden JZüngern. . . . . 357 —426 


Entwidlung des Verhältniſſes Jeſu zu feinen Feinden 357 
Sefus und fein Verräther . . 363 
Verſchiedene Anfichten über den Sharatier des Judas 

und die Motive ſeines Verraths .. 9378 


Beſtellung des Paſchamahls. . 380 
Abweichende Angaben über die Zeit des testen Ei 


les Sefu . . . . . . . 386 


oe @ 


. 122. 


. 123. 
” 124. 


. 125. 
. 126. 


127. 


128. 
129. 
130. 
. 131, 


132. 


133. 
134. 
135. 
136. 
137. 
138. 


139. 


. 140. 


.141, 
. 142. 


Inhalt. v 


Seite 
Differenzen in Betreff der Vorgänge beim letzten 

Mahle Jeſu . 400 
Verkündigung des Verraihs und der Berläugnung 410 
Die Einfepung des Abennmahld  : 421 


Drittes Kapitel. Gang nach dem Delberg, 
Gefangennehbmung, Berhör, Berur: 
theilung und Kreuzgigung Jefu . 427-535 


Sefu Eeelentampf im Garttenn. 62427 
Berhältnig des vierten Evangeliums zu ben Bors 
gängen in Gethfemane. Die johanneifchen Ab- 
fihiedsreden und die Scene bei Anmeldung der 
Hellenen . . . . . . . . 438 
Gefangennehmung Iefu . . . 455 
Zefu Berhör vor dem Hohenprieſtee. 462 
Die Berläugnung des Petrus - . 471 


Der Tod des Berräthers - . 0. . . 480 
Jeſus vor Pilatus und Herodes . . .. 493 
Die Kreuzigung .. 508 


Biertes Kapitel, Tod und Auferflefung 
Jefu ..56-641 


Die Naturerſcheinungen bei'm Tode Jeſu .. 334 
Der Lanzenſtich in die Seite Jeſun. . . . 545 
Begräbniß Jeſu ... 584 
Die Wache am Grabe Sefu . . . . . 561 


Erſte Kunde der Aufertiefung . - . 570 
Galiläiſche und judäiſche, paulinifche und apolryphi. 
ſche Erſcheinungen des Auferſtandenen  - 588 
Die Qualität des Leibs und Wandels Jeſu nach der 
Auferſtehung 608 
Die Debatte über die Realität des Toves und der 
Auferſtehung Jeſu . . . . 623 


Fünftes Kapitel. Die Himmelfahrt 642 —662 


Die Testen Anordnungen und Berheißungen Sefu . 642 
Die fogenannte Himmelfahrt als übernatürfipes und 
als natürliches Ereignif . 0. . 650 


vI 


$. 143, 


Inhalt. 


Das Ungenügende der Nachrichten über Jeſu Him⸗ 
melfahrt. Deren mythiſche Auffafſung . 68 


Schlußabhandlung. Die dogmatiſche Bedeu⸗ 
tung des Lebens Sen . . . 663-719 


. Nothwendiger Uebergang ver Kritif in das Dogma 663° 


Die Chriftologie des ortboporen SYflemd . . 665 
Beftreitung der kirchlichen Lehre von Chrifto . . 677 
Die ChHriftologie des Nationalismus. . oo. 683° 


Eine eklektiſche Chriſtologie. Schleiermacer . 686 
Die ChHriftologie, ſymboliſch gewendet. Kant. 
de Wette . . . . . . . 696 
Die fperulative Chriſtologie. . . . . 704 
 tebtes Dilemma . 707 
Berhältniß der Fritifh - ecuatien eobote zur 
Kirchen. 713 






” \ 
ERSTIT . NY 


4 £r Forst 7 





Neuntes Kapitel. 


Die Wunder Iefn. 


$. 91. 


Jeſus als Wunderthaͤter. 


Daß das jüdiſche Volk zu Jeſu Zeit vom Meſſias Wun⸗ 
derthaten erwartete, iſt theils an ſich ſchon natürlich, da ihm 
der Meſſias ein zweiter Moſes und der größte Prophet war, 
von Mofes und den Propheten aber bie heilige Nationalfage 
Wunder aller Art erzählte; theils läßt es fich aus fpäteren 
jüdiſchen Schriften wahrfcheinlih machen; ) theild wird es 
aus den Evangelien felbft gewiß. Als Jeſus einmal einen 
dämonifhen Blindftummen Cohne natürliche Mittel) geheilt 
hatte, wurde dad Volk dadurch auf die Vermuthung geführt: 
unu 8rog &sıw 6 vios Aavid (Matth. 12, 23.); zum Beweife, 
daß man eine wunderbare Heilfraft als Attribut des Meifias 
betrachtete. Johannes der Täufer wurde durd das Gerücht 
von den Zoyors Jeſu zu der Trage an ihn_veranlaßt, ob er 
der Eoyoneros fei? worauf fi) Jeſus, zum Belege, daß er es 
fei, nur wieder auf feine Wunderthaten berief (Matth. 11, 
2 ff. parall.). Auf dem Laubhüttenfefte, das Jeſus in Jeru⸗ 
falem feierte, wurden Biele vom Volke an ihn glaubig, indem. 
fie dachten, ou 6 Xgıcog ray &Adn, unzı nAeioye onusia TErov 


nomoe, o» &rog Enoinoer (oh. 7, 31.); 


3) ©. die im ıten Band, Einleitung 6. 14. Anm. 11. u. 12, ange: 
führten Stellen, wozu noch genommen werben Tann 4 Esdr. 13, 50. 
(Fabric. Cod. pseudepigr. V. T. 2, &. 286) und Sohar Exod. 
fol. 3, col. 12. (bei Schöttgen, horac, 2, ©. 541, and) in Bers 
tholdt’s Christol. $. 33, not. 1.). 


il. Rand ı 


2 Zweiter Abſchnitt. 


Doch nicht bloß, daß er überhaupt Wunder thun follte, 
fondern auch die verfehiedenen Arten von Wundern, welche 
der Meflias verrichten würde, waren in der Volkserwartung 
vorherbeftimmt. Auch dieß Durch altteftamentliche Vorbilder 
und Ausfprühe. Durch Mofes war dem Volke auf überna- 
türliche Art Speife und Trank gewährt worden (2 Mof. 16, 
17.): ein Gleiches erwartete man, wie die Rabbinen ausprüd:. 
lich fagen, vom Meffias; auf Elifa’8 Bitten waren den Einen 
die Augen auf übernatürliche Weile verfchloffen, den Andern 
ebenfo geöffnet worden (2. Kön. 6.): auch der Meffias follte 
die Augen der Blinden aufthun; felbft Todte hatte der genannte 
Prophet und fein Lehrer wiederbelebt (1 Kin. 17. 2 Kön. 4.): 
jo Fonnte auch dem Mefliad die Macht über den Tod nicht 
fehlen). Unter den Weiffagungen war befonders Jeſ. 35, 5 f. 
(vgl. 42, 7.) auf diefe Seite der Mefjtasvorftellung von Ein- 
fluß. Hier war von der meffianifchen Zeit gefagt (LXX.): 
tote Avoydmooraı 6ydaAuol TugAor, xal DTE AOAar Anscorzeı 
zore aleitnı og EARMog 6 ywAos, zoamn dt Ecas YADTTK Moyı- 
Aror, was, bei Jeſaias zwar in bildlichem Zufammenhange, 
doch bald eigentlich verftanden wurde, wie daraus erhellt, daß 
Jeſus den Boten des Johannes gegenüber Matth. 11, 5.) 
mit offenbarer Beziehung auf dieſe Prophetenftelle feine Wuns 
derthaten befchreibt. 

Diefe Erwartung trat auch Jeſu, fofern. er zunächft für 
einen Propheten, weiterhin für den Meſſias, fich gab und ge- 
halten wurde, ald Forderung entgegen, wenn er nach mehreren 
bereits betrachteten Stellen (Matth. 12, 38. 16, 1. parall.) 
von feinen pharifälfchen Gegnern um ein omueior angegangen 
wurde; wenn nach ber gewaltfamen Vertreibung der Verfäufer 
und Wechsler aus dem Tempel die Juden ein legitimirendes 
onueiov von ihm verlangten (Joh. 2,.18.), und das Volk in 
der Synagoge von Kapernaum, als er Glauben an fich als 
den von Gott gefandten forderte, zur Bedingung dieſes Glaubens 
machte, daß er ihm ein omueio» zeigen follte (oh. 6, 30.). 


2) ©. die a. a. O. des 1. Bandes angeführten rabbini chen Stellen. 


Reuntes Kapitel. $. 91. 3 


. Den neuteftamentfichen Nachrichten zufolge hat Jeſus diefer 
Anforderung, welche feine Zeitgenofien an den Meſſtas machten, 
mehr ald genuggetban. Richt nur beſteht ein beträchtlicher 
Theil der evangelifchen Erzählungen aus Beichreibungen feiner 
Wunderthaten; nicht nur riefen nach feinem Tode feine An- 
hänger vor Allem auch die von ihm verrichteten dvruuas, or- 
ueie und zeoaca ſich und den Juden in dad Gedächtniß zu- 
rück (U. G. 2, 22. vgl. Luc. 24, 19.): fondern das Volk 
felbft war ſchon zu feinen Lebzeiten nach dieſer Seite fo durch 
ihn befriedigt, daß viele deswegen an ihn glaubten (Joh. 2, 
23. vgl. 6, 2.); daß man ihn dem Täufer, der fein omueior 
gethan hatte, entgegenftellte (Joh. 10, 41.), und felbft vom 
fünftigen Meffias nicht glaubte, daß er ihn in diefer Hinficht 
werde überbieten fünnen (Joh. 7, 31.). Daß es Jeſus an 
Wundern hätte fehlen laffen, feheinen jene Zeichenforberungen 
um fo weniger zu beweifen, da mehrere derfelben unmittelbar 
nach bedeutenden Wunderacten gemacht wurden: fo Matth. 12, 
38. nach der Heilung eined Dämonifchen, Joh. 6, 30. nach 
der Speifung der Fünftaufende. Freilich ift eben diefe Stellung 
ſchwierig, denn wie die Juden Die zwei genannten nicht als rechte 
omueie gelten gelaffen haben follten, ift nicht wohl zu begreifen, 
da namentlich die Dämonenaustreibungen fehr hoch gehalten 
wurden (Rue. 10, 17.); ed müßte denn das in jenen beiden 
Stellen geforderte Zeichen aus Luc. 11, 16. (vgl. Matth. 16,1. 
Mare. 8, 11.) als omusiov E& soavs näher beftimmt, und da⸗ 
bei an das fpeeififch-mefftanifche onueior 25 vis TE ardowne Er 
tr. soo (Matth. 24, 30.) gedacht werden. Will man aber 
lieber die. Verbindung jener Zeichenforderungen mit vorherge- 
gangenen Wunderacten auflöfen, fo kann Jeſus ganz wohl zahl: 
reiche Wunder gethan, und dennoch einige feindfelige Pharifäer, 
welche zufällig noch bei feinem derſelben Augenzeugen gewefen 
waren, nun auch felbft eines zu fehen verlangt haben. 

Auch daß Jeſus die MWunderfucht tadelt (Joh. 4, 48.), 
und auf jene Zeichenforderungen jedesmal ablehnend antwortet, 
beweift an ſich gar nicht, daß er nicht in andern Fällen frei- 
willig Wunder gethban haben fönnte, wo ihm ſolche beſſer an⸗ 

18 


4 Zweiter Abſchnitt. 


gelegt ſchienen. Wenn er in Bezug auf die Forderung der 
Phariſaͤer Marc. 8, 12. erklaͤrt, es werde 15 yereı ravın gar 
keines, oder Matth. 12, 39 f., 16, 4. Luc. 11, 20 f., es 
werde ihr fein Zeichen außer dem omusior 'Ior& zä neognze 
gegeben werden: fo. Tann er ja unter Diefer yarex, welche er 
bei Matthäus und Lufas ald rovmor al noryadis näher be 
ftimmt, auch nur den ihm feindlichen pharifäifchen Theil feiner 
Zeitgenoffen verflanden, und verfichern gewollt haben, daß die- 
fem, fei es gar fein, oder nur das Zeichen des Jonas, d. h., 
wie er es bei Matthäus deutet, das Wunder feiner Auferfte- 
hung, oder, wie neuere Erflärer meinen, das Bebeutfame feiner 
Perfon und Predigt, zu Theil werben ſolle. Allein nimmt 
man dad 8’ dodnoerer avrz in dem Sinn, daß feine Feinde 
nicht felbft ein Zeichen von ihm zu fehen befommen follen: fo 
müßte es theils fonderbar zugegangen fein, wenn unter ben 
vielen in der größten Deffentlichkeit von Jeſu verrichteten Wuns 
dern bei feinem follten Pharifäer zugegen geweſen fein, was 
überdieg Matth. 12, 24 f. parall., wo fie offenbar als gegen- 
wärtig bei der Heilung des Blindftummen vorausgeſetzt werden, 
deutlich widerfprochen ift; theils, wenn hier von felbitgefehe- 
nen Zeichen die Rebe fein fol, fo befamen ja die Auferftehung 
Jeſu und den Auferftandenen feine Feinde gleichfalls nicht zu 
fehen: fo daß mithin jener Ausfpruch nicht wohl nur den Sinn 
haben kann, feine Feinde follten vom Selbftfehen feiner Wunder 
ausgefchluffen werden. Möchte man daher bei dem dodnoere: 
ed; an ein Gefchehen zum Beften der bezeichneten Subjecte 
denfen: fo find die übrigen. Wunder mit der Sendung und 
insbefondere mit der Auferftehung Jeſu in gleichem Sinn zu 
ihrem Beften gefchehen oder nicht, nämlid dem Erfolge nad) 
nicht, wohl aber dem Zwecke nach. Es bleibt alfo nichts übrig, 
ald die yerıx von den Zeitgenofien Jeſu überhaupt, und ebenjo 
das didocdeı von möglicher Wahrnehmung überhaupt, mittel- 
barer wie unmittelbarer, zu verftehen: fo daß Jeſus hier alle 
Wunberthätigfeit überhaupt abgelehnt hätte, 

Sp übel dieß mit den zahlreichen Wundererzählungen in 
den Evangelien fich zu vertragen fcheint, fo vollfommen ftimmt 


⸗ 
N 





Neuntes Kapitel. $. m. 5 


es damit zufammen, daß in der Berfündigung und den Briefen 
der Apoftel, ein paar allgemeine Erwähnungen abgerechnet (Ap. 
G. 2, 22. 10, 38 f.), die Wunder Jeſu wie verfchollen find, 
und Alles auf feine Auferfiehung gebaut wird, von welcher 
man wohl fagen darf, daß fie weder fo unerwartet noch fo 
epochemachend hätte fein können, wenn Jeſus vorher fchon 
mehr als Einen Todten erwedt, und die übernatürlichften Wun- 
ber aller Art verrichtet gehabt hätte So daß alfo fchr die 
Frage ift, ob wir der evangelifchen Wundererzählungen wegen 
jenen Ausfpruch Jeſu umdeuten oder feine Aechtheit bezweifeln 
dürfen, und nicht vielmehr von jenem Ausſpruch und dem 
Schweigen der apoftolifchen Schriften aus gegen die zahlreichen 
Wundergefhichten ver Evangelien mißtrauifch werden müffen. 

Doch dieß kann fich erft durch genauere Erwägung diefer 
‚Erzählungen entfcheiven, von welchen wir, aus einem Grunde, 
der unten von felbft. erhellen wird, zuerft die Dämonenaustrei- 
bungen vornehmen wollen. 


$. 92. 


Die Dämonifhen, allgemein betrachtet. 


Während im vierten Evangelium die Ausdrüde dauuonor 
rer und duuonloperog nur im Munde der Juden aß Ber 
fhuldigung gegen Iefum, parallel mit uairsoduı, vorfoms 
men (8, 48 f. 10, 20 f. vgl. Marc. 3, 22. 30. Matth. 11, 
18.) : find in den drei erſten Dämonifche, man fann fagen die 
gewöhnlichften Gegenftände der heifenden Thätigfeit Jeſu. Gleich 
wo fie Die Anfänge feiner Wirffamfeit in Galiläa befchreiben, 
ftellen die Synoptifer unter den Kranken, welche Jeſus geheilt 
habe, die Sauuonlousses!) oben an (Matth. 4, 24. Mare. 1, 
34), und diefe fpielen durchweg in ihren fummarifchen Berichten 
von der Wirkſamkeit Jeſu in gewiſſen Gegenden eine Hauptrolle 
1) Daß die ihnen bei Matthäus zugefellten geiyvıalousro: nur eine bee 

Tondere Art von Dämonifhen find, deren Krankheit ſich nämlich nach 
dem Mondwechſel zu richten ſchien, zeigt Matth. 17, 18 ff. wo aus. 
einem weiyrınlouevos EN Iasuorıov ausgetrieben wird. 





7 


6 Zweiter Abfchnitt. 


(Matth. 8, 16 f. Marc. 1, 39. 3, 11 f. Luc. 6, 18.). Auch 
feinen Süngern theilt Jeſus vor allem Andern die Vollmacht 
mit, Dämonen auszutreiben (Matth. 10, 1. 8. Marc. 3, 15. 
6, 7. Luc. 9, 1.), was ihnen zu ihrer befondern Freude wirklich 
nach Wunfch gelang (Luc. 10, 17. 20. Marc. 6, 13.). 

Außer diefen fummarifchen Angaben aber werden und auch 
die Heilungen mehrerer Dämonifchen im Einzelnen erzählt, fo 
daß wir und eine ziemlich genaue Vorftellung von dem eigen- 
thümlichen Zuftande Diefer Leute machen Fönnen. Gleich bei 
demjenigen, defien Heilung in der Synagoge zu Kapernaum 
die Evangeliften als die erfte Diefer Art fegen (Mare. 1. 23 ff. 
Luc. 4, 33 ff.), finden wir einedtheils eine Alterirung des Selbft- 
bewußtfeins, vermöge deren der Beleffene in der Perſon des 
Dämon redet, was fich auch bei andern Dämonifchen, wie bei 
den Gadarenifchen (Matth. 8, 29 f. parall.), wiederholt; an⸗ 
berntheils Krämpfe und Convulfionen mit wilden Gefchrei. 
Diefes Frampfhafte Weſen findet fich bei jenem Dämonifchen, 
der zugleich als Mondfüchtiger bezeichnet iſt (Matth. 17, 14. ff. 
parall.), deutlich als Fallſucht ausgebildet; denn das plößliche 
Kieverftürzen, oft an gefährlichen Orten, das Brüllen, Zähne: 
Enirfchen und Schäumen, find befannte Symptome-der Epilepfte?). 
Die andere Seite, die Störung des Selbitbewußtfeins, erfcheint 
befonder8 bei den Gadareniſchen Beſeſſenen, neben dem, daß 
gleichfalls der Dämon, oder vielmehr eine Mehrheit von 
ſolchen, als Subject aus ihnen ſpricht, zum menſchenſcheuen 
Wahnſinn mit Anfällen einer gegen ſich und Andre wüthenden 
Tobfucht geſteigert.) Doch nicht bloß Wahnſinnige und Epi⸗ 
leptiſche, ſondern auch Stumme (Matth. 9, 32. Luc. 11, 14. 
Matth. 12, 22. iſt der damonLoneros xupos zugleich noch 
zugAög), und an gichtifcher Verkrümmung des Körpers Leidende 
(Luc. 13, 11. ff.), werben mehr oder ‚minder beftimmt als 
Dämonifche bezeichnet. 





—— 


2) Vergl. die Stellen alter Aerzte bei Winer, bibl. Realwoͤrterb. 1. 
©. 191. | 


5) Rabbinifche u. a. Stetien f. bei Winer, a. a. O. ©. 192. 


Neuntes Kapitel. $. 92. 7 


Die in den Evangelien voransgefegte, auch von deren 
Berfaflern getheilte, Borftellung von dieſen Leidenden :ift die, 
daß ein böfer, unreiner Geift (daruonor, nreüun axadapror) 
oder mehrere, fich ihrer bemädhtigt haben (daher ihr Zuſtand 
durch dumonor year, damoviceodas bezeichnet wird) welche 
nun aus ihnen reden (jo Matth. 8, 31. 0 dainores nupexaisr 
eurir Asyorres), und ihre Gliedmaßen nach Belieben in Bewer 
gung fegen (jo Marc. 9, 20. vo nreüun sonupufer avzor), 
bis fie bei der Heilung, mit Gewalt ausgetrteben, den Denfchen 
verlaflen (erßaAdeır, essorsodaı). Rach der evangelifchen Dar⸗ 
ſtellung hatte auch Jeſus diefe Anficht von der Sache. Zwar, 
wenn er zum Behuf der Heilung von Befeflenen den in ihnen 
befindlichen Dämon anredet (wie Marc. 9, 25. Matth. 8, 32. 
Luc. 4, 35.): fo könnte man dieß allerdings mit Paulus 
ale Eingehen in die fire Idee dieſer mehr oder minder ver- 
rüdten Berfonen anfehen, wozu der pfnchifche Arzt, um wirfen 
zu koͤnnen, fich bequemen muß, fo ſehr er von dem Ungrunde 
fener Vorſtellung überzeugt fein mag. Allein wenn mın Jeſus 
auch in Privatunterhaltungen mit feinen Züngern diefen nicht 
allein niemals etwas zur Untergrabung jener Vorftelung fagt, 
- fondern vielmehr wiederholt aus der Vorausſetzung Eines daͤ⸗ 
monifchen Grundes jener Zuftände heraus fpricht (jo, außer 
dem Auftrag: Samos Eenßerrere Matth. 10, 8. noch Luc. 
10, 18. ff. und befonders Matth. 17, 21. parall.: zöro zo 
yEyos, 8C. deıuorior, Er Ennopeverai x. T. A.); wenn er in einer 
rein theoretifchen Ausführung, vielleicht ebenfalls im engeren 
Kreife feiner Jünger, eine‘ ganz den damaligen Bolfsvorftellun- 
gen fich anfchließende Beichreibung vom Ausgehen der Daͤmo⸗ 
nen, ihrem Umirren in der Wüſte und ihrer verftärften Rück⸗ 
fehr gibt (Matth. 12, 43. ff.): fo fann man nur ein Zuredht- 
machen der Borftellungen Jeſu nach den unftigen darin fehen, 
wenn ſonſt unbefangene Forfeher, wie Winer, ) Jefum die 
Meinung des Volks von der Urſache dieſer Krankheiten nicht 


a) Exeg. Handb. i, b, ©. 475; vgl. Haſe, 8. 3. €. 60. 
5) A. a. O. S. 191. 


— 


8 Zweiter Abſchnitt. 


theilen, ſondern ſich ihr nur anbequemen laſſen. Um von jedem 
Gedanken an bloße Accommodation abzukommen, darf man ſich 
nur die zuletzt bemerkte Stelle genauer anſehen. Zwar hat 
man das Beweiſende derſelben dadurch zu umgehen geſucht, 
dag man fie bildlich nahm, oder gar als eine Parabel bezeich⸗ 
nete. ©) Dabei, wenn wir Ausbeutungen, wie diejenige, welche 
nah Calmet noch Olshauſen gibt, ) bei Seite Iaflen, 
fommt das Wefentliche der Erklärung des vorgeblichen Bildes - 
immer darauf hinaus, daß oberflächliche Belehrung zu der 
Sache Jeſu einen nur um fo ſchlimmern Rüdfall nach ſich 
ziehe.) Allein ich möchte willen, was uns denn überhaupt 
berechtigt, von ber eigentlichen Auffafiung diefer Rede abzu- 
weichen? In den Sägen felbft liegt Feine Andeutung, ebenſo⸗ 
wenig in der anderweitigen Darftellungsweife Jeſu, welcher 
fonft nirgends fittliche Verhältnifie in das Bild dämonifcher 
Zuftände hüllt, fondern wo er fonft noch, wie hier, von &äee- 


‚yeodeı der böfen Geifter fpricht, 3. B. Matth. 17, 21., dieß 


eigentlich will verftanden willen. Aber in dem Zufammenhang 
der Erzählung? Lufas (11, 24, ff.) ftellt den in Frage ftehen- 
den Ausfpruch Hinter die Vertheidigung Jeſu gegen die phari- 
fäifche Befchuldigung, die Dämonen dur Beelzebul auszu⸗ 


“treiben, ohne Zweifel irrig, wie wir gefehen haben, aber doch 


wohl zum Beweiſe, daß er fie eigentlich, von wirklichen Dä- 
monen, verftanden hat. Aud Matthäus flelt den Ausſpruch 
in die Nähe jener Befchuldigung und Apologie, doch ſchiebt er 
die Zeichenforderung nebft Jeſu Gegenäußerungen dazwiſchen, 


"und läßt Jeſum am Schluffe die Nukanwendung machen: 


Eros ca nal ci yersk zevın zj normog. Dadurch gibt er 
freilich der Rede eine bildliche Beziehung auf den fitilich -reli= 
giöfen Zuftand feiner Zeitgenofien, aber ohne Zweifel nur fo, 
daß er die vorangefchidte Beichreibung des vertriebenen und 


6) Gray, Komm. z. Matth. 1, ©. 615. 

7) 8. Comm. 1, &. 424. Es fei vom jüdifhen Volle die Rebe, das 
vor dem Eril durch den Teufel in Form ber Abgötterei, nad) dem⸗ 
felben durch den fchlimmeren des Phariſaͤismus befeflen geweſen. 

8, So Fritzſche, in Matth. p. 447. 


Reuntes Kapitel. $. 92. 9 


wiederkehrenden Dämons eigentlich von Beleflenen gemeint hat, 
hierauf aber diefen Hergang auch wieder ald Bild des morali- 
{chen Zuftandes feiner Zeitgenofien wendet. Jedenfalls gibt 
Lukas, der dieſen Beifag nicht hat, die Rede Jeſu, wie Paus 
lus fic) ausprüdt, als eine Warnung vor bämonifcher Recidive. 
Daß nun die meiften jegigen Theologen, ohne beftimmten Vor⸗ 


. hub von Seiten des Matthäus, und in beftimmtem Wider⸗ 


fpruch gegen Lukas, den Ausfpruch bloß bildlich faſſen wollen, 
dieß fiheint nur in der Scheue feinen Grund zu haben, Jeſu 
eine fo ausgeführte Damonologie zuzufchreiben, wie fie in den 
eigentlich gefaßten Worten liegt. Einer folchen aber entgeht 
man auch abgefehen von diefer Stelle dennoch nid. Matth. 
12, 25 f. 29. fpricht Jeſus von einem Neich und Haushalt 
des Teufels in einer Weife, welche über das bloß Figürliche 
augenfcheinlich hinausgeht; befonders aber ift die ſchon anges 


führte Stelle, Luc. 10, 18—20., von der Art, daß fie felbft 


x 


einem: Baulus, der fonft den geheiligten Perſonen der chriſt⸗ 
lichen Lrgefchichte fo gerne die Einfichten unferes Zeitalters 
teiht, das Geftändniß abnöthigt, das Satansreich fei Jeſu 
durchaus nicht bloß Symbol des Böfen gewefen, nnd er habe na- 
mentlich wirfliche Dämonen-Befigungen angenommen. Denn er 
fagt ganz richtig, da hier Jefus nicht zu den Kranken, nicht zum 
Volke, fondern zu folchen fpreche, welche felbft von dergleichen 
Krankheiten nach feiner Anleitung befreiten, fo fei e8 nicht als bloße 
Anbequemung erflärbar, wenn er ihr z& damona vroracceras 
nuiv beftätigend wieder aufnehme, und ihre Befähigung zur Heilung 
der Dämonifchen als eine Gewalt über die Surums zö &xd08 be: 
fehreibe.?) Ebenſo treffend hat derſelbe Theologe an andern Orten 


‘dem Anftoße, welchen folche, deren Bildung mit dem Glauben an 


Dämonenbefigungen fich nicht verträgt, an dem Ergebniffe neh- 
men könnten, daß Jeſus jenen Glauben gehabt habe, durch die 
Demerfung vorgebeugt, daß felbft der ausgezeichnetfte Geift eine 
unrichtige Zeitvorftellung beibehalten konne, fofern fie nicht 
gerade im Bereiche feines befonderen Nachdenfens liege. !9) 


9) Ereg. Handb. 2, ©. 566. 
10) A. a. O. ı, b, ©. 483. 2, ©. 96. 


10 _ Zweiter Abſchnitt. 


Erläuternd für Die neuteftamentlichen Borftellungen von 
den Dämonifchen find Die Anfichten, welche wir bei andern 
mehr oder minder. gleichzeitigen Schriftftelern über dieſe Mar 
terie finden. Die allgemeinen Begriffe von Einflüflen böfer 
Geifter-auf den Menfchen, welche Melancholie, Wahnftnn, Epi- 
Iepfte zur Folge haben, waren zwar fchon frühe bei Griechen !!) 
wie bei Hebräern 1?) verbreitet: aber die beftimmtere Borftel- 
lung, daß die boͤſen Geifter in den Leib des Menfchen fahren 
und von demfelben Befig nehmen, hat fi) nachweislich doc 
erft ziemlich fpät, in Folge allgemeinerer Berbreitung der orien- 
talifchen, namentlich perfifchen, Prreumatologie unter Hebräern 
und Griechen ausgebildet 3). Daher denn bei. Joſephus die 
Rede von daiuanıa Tois Lac eisdvonera , !*) Eynadelouere, !?) 
und diefelben Vorftellungen auch bei Lucian !Y) und Phile- 
ftratug. 1) | 

Ueber die Natur und Herkunft diefer Geifter finden wir 
in den Evangelien nichts ausdrüdlich bemerkt, als daß fie 
zum Haushalte des Satan gehören (Matth. 12, 26 ff. parall.); 
weßwegen denn, was einer von ihnen thut, auch geradezu dem 
Satan zugefhrieben wird (Luc. 13, 16.). Durch Fofephus, 9) 


— — 





11) Daher wurde dasuovar, zaxodaı uorav = uelayyolav, yalreosta , 
gebraubt , und Hippokrates mußte bie Ableitung der Epilepfie von 
dämonifchem Einfluffe bejtreiten, f. bei Wetftein, ©. 282 ff. 

12) Man vergleiche die m NNN zii) NN welche den Saul me: 


lanholiih machte, 1. Sam. 16, 14. Shr Einfluß auf Saul wird 
durch Inny3> fie überfiel ihn, ausgedrückt. 


15) ©. Creuzer, Symbolil, 3, ©. 69; Baur, Apollonius von Zyana 
und Chriftus, S. 144. 

1) Bell. jud. 7, 6, 3 

%) Antiq. 6, 11,2. von dem Zuftand Sauls. 

16) Philopsend, 16, 

17) Vita Apollon. 4, 20, 25., vgl. Baur, a. a. O. ©. 38 f. 42. 
Indeffen ſpricht auch fchon Ariftoteles, de mirab. 166. ed. Bekk., 
von dulusri Tırı yerourvor zarozous. _ 

18) A. a. D. des bell. j.: 7a yap xzaisusva daıuorıa — morygwr Azur 
ardownwv nveuuara, Tui Lwoıw sisdvouera zaı zreirorra Ta; Bondelas 
un Tuygavovra;. 


Reuntes Kapitel. $. 9. 11 


Zuftin den Märtyrer 9 und Philoftratus, 2%) mit welchen 
auch rabbinifche Schriften übereinftimmen, 1) erfahren wir nun 
aber, daß dieſe Dämonien von Haufe aus eigentlich abgelchies 
dene Seelen böfer Menſchen feien, und neuere Theologen haben 
feinen Anftand genommen, diefe Anficht von ihrer Herkunft 
auch dem N. T. unterzulegen. ?) Näher beftimmen jedoch 
Juſtin und die Rabbinen vorzugsweife die Seelen der Riefen, 
der. Abkömmlinge jener Engel, welche fich mit den Töchtern der 
Menfchen vermifchten, und die Rabbinen ferner noch die Seelen 
der in der Sündfluth Imgefommenen und der Thetlhaber am ba- 
bylonifchen Thurmbau als Plagegeifter für die Ueberlebenden, ?°) 
womit auch die Klementinen zufammenftimmen, nach welchen 
gleichfalls jene zu Dämonen gewordenen Rieſenſeelen fich als 
die ftärferen an menfchliche Seelen zu hängen, und in Menfchen- 
feiber zu fahren fuchen. ) Da nun in der erfleren weiter 


19) Apoll. 1, 18. 

20 X. a. O. 3, 38. 

21) ©. Eifenmenger, entdecktes Subenthum, 2, ©. 427. 

=) Yaulus, ereg. Dandb. 2, ©. 395 L. J. 1, u, ©. 217. Er be 

" ruft ſich biefür namentlih auf Matth. 14, 2., wo Herodes auf das 
Gerücht von Sefu Wunderthaten hin fagt: ä7og £gır [warvns o Ba- 
MTızng, auros yyEoIy uno Tuv rexoov' worin Paulus die rahbinifche 
Anfiht vom 129% findet, vermöge deſſen (im Unterfchiede vom L 464 
oder der eigentlichen Seelenwanderung, d. h. der Verſetzung abgeſchie⸗ 
dener Seelen in eben ſich bildende Kinderleiber) zu der Seele eines Le⸗ 
benden die eines Verſtorbenen als verſtaͤrkender Zuſaz ſich geſellt (ſ. 
Eiſenmenger, 2, S. 85. ff.). Allein, daß in dem 7y:09% nicht 
diefe, fondern die Vorftellung einer wirklichen Auferftehung des Zäufers 
liege, hat u. U. Fritzſche z. d. St. gezeigt, und wenn auch jene, 
fo wäre doch hier von einem ganz andern Verhältniffe die Rede, als 
von dem der dämonifchen Befisung. Hier wäre es nämlich ein’ guter 
Geift, der in einen Propheten zur Verftärfung feiner Kraft überge: 
gangen wäre, wie nach fpäterer jüdifher Vorſtellung Seths Seele zu 
der des Mofes, und wieder Mofes ‚und Aarons Seelen zu der bes 
Samuel fich gefellt haben (Eifenmenger a. a. O.); woraus aber 
die Möglichkeit eines Uebergangs böfer Scelen in Lebende noch keines⸗ 
wegs folgen würde. 


23) Justin. Apol. 2, 5. Eifenmenger, a. a. O. S. 428 ff. 
22) Homil. 8, 18 f. 9, 9 f. 


- 


12 " Zweiter Abſchnitt. > 


lautenden Stelle Zuftin den Heiden aus ihren eigenen Bor: 
ftelungen heraus die Lnfterblichfeit beweiſen will, fo ift Die 
Anficht von den Dämonen ald Seelen Berftorbener überhaupt, 
welche er dort äußert, zumal fein Schüler Tatian fi) ausdrück⸗ 
lich gegen diefe Borftellung erklärt, 25) ſchwerlich als feine eigene 
zu betrachten; Joſephus aber entfeheidet für die im N. T. zum 
Grunde liegende Anficht deßwegen nichts, weil fich feiner grie- 
chifchen Bildung wegen fehr fragt, ob er jene Lehre in der 
urfprünglich jüdiſchen, oder in gräcifirter Geftalt wiedergibt. 
Darf man nun annehmen, daß die Dämönenlehre zu den Her 
bräern von Berfien hergefommen fei: fo waren die Dew’s der 
Zendreligion befanntlidy vor der Menfchenwelt entflandene, von 
Haufe aus böfe Geiſter, an welchen der Hebraismus für fi 
nur den. legteren, dem Dualismus angehörigen Zug, nicht 
aber den erfteren, zu verwifchen veranlaßt fein Fonnte. So 
wurden die Dämonen in der hebräifchen Anficht die gefallenen 
Engel von 1 Mof. 6, die Seelen ihrer Kinder, der Riefen, 
und der großen Verbrecher vor und unmittelbar nach der Suͤnd⸗ 
fluth überhaupt, weldye die Bolfsvorftelung allmählig in das 
Uebermenſchliche hinaufgefteigert hatte; ' über den Kreis dieſer 
Seelen jedoch , die man ſich ald den Hofftaat des Satans den» 

fen mochte, lag in den BVorftellungen der Hebräer fein Grund 
herabzufteigen. Ein folcher lag nur in dem Zufammentreffen der 
griechifcherömifchen Bildung mit der hebräifchen: jene hatte kei⸗ 

nen Satan, alfo auch feinen eigenthümlichen,, ihm dienenden 
Geiſterſtaat, wohl aber hatte fie ihre Manen, Lemuren u. dgl., 
fämmtlich abgefchiedene Menfchengeifter , welche Die Lebenden bes 
unruhigten: Product nun der Ausgfeichung jener jübifchen Vor⸗ 
ftellungen mit diefen griechifch-römifchen fcheint Die Darftelungs- 
weife des Joſephus und Juftin, wie auch der fpäteren Rab- 
binen, zu fein: daß aber auch ſchon im N. T. eine folche zu fins 
‘ven fei, folgt hieraus nicht. Sondern, wenn wir bier biefe 
gräcifirte Vorftellungsweife nicht pofitiv angezeigt finden, wie 
fie es denn nirgends ift, vielmehr an einigen Orten die Dämo- 


— — — — — 





25) Orat. contra Graecos, 16. 


Neuntes Kapitel. $. 92. , 43: 


nen mit dem Catan als fein zugehöriger Haushalt in Verbin⸗ 
‚dung gefept find: fo müſſen wir, bei der fonftigen (foweit feine 
Umbildung in chriftlichem Sinne eintrat) unvermifcht jüdifchen 
Denfweife der funoptifchen Evangelien, vielmehr jene rein und 
urjprünglich jüdiſche Vorftelung als Die ihrige vorausfegen. 
Die ältere Theologie nun hat bekanntlich, in Betracht ber 
Auctorität Jefu und der Evangeliften, Die Anficht von einem wirf: 
lichen Beſeſſenſein jener Menfchen durch Dämonen zu der ihrigen 
gemacht. Die neuere Theologie Dagegen, befonders feit Se mler ,26) 
in Betracht der auffallenden Aehnlichkeit, welche zwiſchen Dem Zu: 
ſtande der neuteftamentlichen Dämonifchen und mancher natürlich 
Kranken unferer Zeit ftattfindet, hat angefangen, auch das Uebel 
von jenen aus natürlichen Urfachen abzuleiten, und die im N. T. 
vorausgejegte übernatürlihe Urfache auf Rechnung der Vorftellun: 
gen jener Zeit zu fehreiben. Daß, wo in jegiger Zeit Epilepfie, 
Wahnfinn und felbft eine, dem Zuftande der neuteftamentlichen Be- 
ſeſſenen ähnliche Alteration des Selbftbemußtfeins vorfommen, doch 
nicht leicht mehr an dämonifchen Einfluß gedacht wird, hat feinen 
Grund theils darin, daß der fortgefchrittenen Natur= und Seelen- 
funde jegt mehr Mittel und Anfnüpfungspunfte zur natürlichen Gr: 
klaͤrung jener Zuftände zu Gebote ftehen, theils darin, daß man 
die Widerfprüche, welche in der Vorftellung des Befeffenfeins liegen, 
wenigftens bunfel zu erfennen angefangen hat. Denn abgefehen 
‚ von den’oben auseinandergefegten Schwierigfeiten, welche die An⸗ 
nahme der Eriftenz von Teufel und Dämonen überhaupt drüden, 
ſo mag man fih das Verhältniß zwifchen dem Selbftbewußtfein 
und ben leiblihen Organen denken wie man will, immer ift doch 
jhlechterdings nicht vorzuftellen, wie das Band zwifchen beiden fo 
Iofe jein follte, daß ein fremdes Selbſtbewußtſein fich einfchieben, 
und, mit Verdrängung des zum Organismus gehörigen, diefen in 
Beſitz nehmen fünnte. So ergibt fich für jeden, welcher die Er- 
ſcheinungen der Gegenwart mit aufgeflärten, und doch die Erzaͤh⸗ 


26) ©. deſſen Commentatio de daemoniacis quorum in N. T. fit mentio, 
und Umſtaͤndliche Unterſuchung der daͤmoniſchen Leute, — Schon zu 
Origenes Zeit gaben uͤbrigens die Aerzte von dem Zuſtand der angebs 
lich Befeffenen natürtiche Erklärungen, ſ. Orig. in Matth. 17, 15, 








14 Zweiter Abſchnitt. 


lungen des N. T. noch mit orthodoren Augen betrachtet, der Wi- 
derſpruch, Daß Daffelbe, was jebt aus natürlichen Urfachen kommt, 
zu Jeſu Zeiten übernatürlid) müßte verurfacht gewefen fein. 
Diefen undenfbaren Unterfchieb Der Zeiten wegzubringen, und 
doch dem R. T. nichts zu vergeben, Täugnet Dlshaufen, wel: 
hen wir für dieſen Punkt füglich als Repräfentanten ver myſti⸗ 
ſchen Theologie und Philoſophie jetziger Zeit betrachten fönnen, 
Beides, fowohl daß jet ale vergleichen Zuftände natürlich, als 
daß damals alle übernatürlich verurfacht gemweien fein. Was 
unfere Zeit betrifft, fo fragt er, wenn die Apoftel in unfere Irren⸗ 
haͤuſer träten, wie fie manchen der Kranfen in denfelben nennen 
würden??”) Allerdings, antworten wir, würden fie viele ber- 
jelben Befefiene nennen, vermöge ihrer Zeit⸗ und Bolfsvorftellung 
nämlich, und nicht vermöge apoftolifcher Erleuchtung; fo daß alfo 
ber herumführende Mann vom Sache fie mit Recht eines Beſſern 
zu belehren fuchen wuͤrde, und Daraus gegen bie Natürlichkeit jener 
Zuftände in unferer Zeit lediglich nichts folgen kann. Bon der 
Zeit Jefu behauptet der genannte Theologe, auch von den Juden 
ſeien dieſelben Krankheitsformen, je nach der verſchiedenen Eniſte⸗ 
hungsart, das einemal für Dämonifch gehalten worden, das andre⸗ 
mal nicht, fo daß 5. B. einer, der durch organiſche Verlegung ” 
des Gehirns wahnfinnig, oder der Zunge ftumm geworben war, 
nicht für daͤmoniſch gegolten haben würde, fondern nur ein folcher, 
befien Zuftand mehr oder minder auch pſychiſch veranlaßt gemwefen . 
ſei. Beifpiele einer folchen, im Zeitalter Jeſu gemachten Unter⸗ 
jheidung bleibt und Olshauſen, wie fich von felbft verfteht, 
ſchuldig. Wo hätten auch Die damaligen Juden die Kenntniß der 
verborgenen natürlichen Urfachen folcher. Zuftände hergenommen, 
wo bie Kriterien, einen durch Mißbildung des Gehirns entftande- 
nen Wahnfinn oder Bloͤdſinn von pſychologiſch verurfachtem zu 
unterfcheiden? Waren fie nicht ganz und gar auf die äußere Er- 
ſcheinung, und zwar in ihren gröberen Umriffen, angewiefen ? 
Diefe aber ift bei einem Epileptifchen mit feinem.plöglichen unvor⸗ 
hergefehenen Niederſtürzen und feinen Goupulftonen , bei einem 


— 


=) B. Comm. 1, ©. 296. Anm. 


Reuntes Kapitel. $. 92. 15 


MWahnjinnigen mit feinem Jrrereden, namentlidy wenn er, durch 
Rückwirkung der Vollövorftellungen auf feinen Zuftand, in der 
Poerſon eined Dritten fpricht, von der Art, daß fie auf eine fremde 
den Menfchen beherrfchende Macht hinweist, und daß folglich, ſo⸗ 
bald einmal der Glaube an daͤmoniſche Beſitzungen im Volle ges 
geben ift, alle dergleichen Zuftände auf folche zurüdigeführt werden 
werden, wie wir dieß im N. T. finden: wogegen bei Stummheit 
und gichtifcher Berfrümmung over Lähmung die Herrfchaft einer 
fremden Macht ſchon weniger entfchieden indicirt ift, und dieſe 
Leiden alfo bald gleichfalls einem befitenden Dämon zugefehrieben 
werben fönnen, bald auch nicht; wie wir jenes bei den fchon er; 
wähnten Stummen Matt}. 9, 32.12, 22. und bei der verfrümmten 
Tran Luc. 13, 11, diefes bei dem xop0g voyAadlos Marı.7, 32 ff. 
und bei den mancherlei Paralytiſchen, deren in den Evangelien ges 
dacht wirb, finden; wobei übrigens die Entfcheidung für Die eine 
ober andre Anficht gewiß nicht von Erforfchung der Entſtehungs⸗ 
weife, ſondern lediglich von der äußern Erfcheinung ausgegangen 
ift. Haben demnach) die Juden, und mit ihnen die Evangeliften, 
die beiden Hauptarten der hiehergehörigen Zuftände auf dämoni- 
fchen Einfluß zurüdgeführt, fo bleibt für den, der ſich durch ihre 
Anficht gebunden glaubt, ohne fich Doch der Bildung unferer Zeit 
entziehen zu wollen, Die grelle Lingleichheit, Diefelben Krankheiten 
in der einen Zeit ſämmtlich als natürliche, in der andern fämmtlich 
als übernatürliche denfen zu müjjen. 

Die fehlimmfte Schwierigkeit aber erwächſt für den Olshau— 
fen ’fchen Bermittlungsverfuch zwifchen der jünifch = neuteftament- 
lichen Dämonologie und der Bildung unferer Zeit daraus, daß 
diefes letztere Element in ihm der Annahme perfönlicher Dämonen 
wiverftrebt. Daffelbe, der Bildung des gedachten Theologen 
durch die Naturphilofophie angehörige Streben, das im N, T. als 
ein Heer discreter Individuen Gedachte emanatiftifch in das Con⸗ 
tinuum einer Subftanz aufzulöfen, welche zwar einzelne Kräfte 
aus fich hervortreten, dieſe jedoch nicht zu felbftftändigen Indivi⸗ 
duen fich firiren, fondern als Accidenzien wieder in Die Einheit der 
Subſtanz zurüdfehren läßt, — diefes Streben fahen wir ſchon in 
Olshauſen's Angelologie Hindurchleuchten, und entfchiedener 





16 | Zweiter Abfchnitt. 


tritt es nun in der Dämonologie hervor. Dämonifche Perfönlich- 
feiten find zu widrig, bei den angeblich Beſeſſenen namentlich das, 
wie es Olshauſen felbft ausdrückt, 23) Steden zweier Subjecte 
in einem Individuum zu undenkbar, als dag man ſich eine folche 
Borftellung zumuthen fönnte. Daher wird überall nur in ſchwe⸗ 
bender Allgemeinheit von einem Reiche des Boͤſen und der Finſter⸗ 
niß geredet, und zwar ein perſoͤnlicher Fürſt deſſelben vorausgeſetzt, 
aber unter den Dämonen nur Die einzelnen Ausflüffe und Wir: 
kungen verftanden, in welchen das böfe Princip fich manifeftirt. 
Daher, und hieran ift Olshaufen’s Anficht von den Dämonen 
am beftimmteften zu ergreifen , ift e8 ihm zu viel, daß Jeſus den 
Dämon im Gadarener um feinen Ramen gefragt haben fol: fo be: 
ſtimmt kann doc) Chriftus die von dem Ausleger bezweifelte Perſoön⸗ 
lichkeit jener Ausflüſſe des finſtern Reiches nicht vorausgeſetzt haben; 
weswegen denn das zi co orouz; (Mark. 5, 9.) als Stage nach 
dem Namen nicht des Dämon, fondern des Menfchen aufgefaßt 
wird, ?°) gegen allen Zufammenhang offenbar, da Die Antwort: 
Asyeov, keineswegs ald Mißverftand, fondern ald Die rechte, von 
Jeſus gewollte Antwort erfcheint. . 

Sind nun aber die Dämonen, na Olshauſen's Anficht, 
unperfönliche- Kräfte, fo ift es die Gefegmäßigfeit des Reichs der 
Finfternig in in feinem Verhältniß zum Lichtreiche, was fie leitet 
und zu ihren verfchiedenen Functionen bewegt. Don diefer Seite 
‚ müßte alfo, je ſchlimmer der Menfch wird, defto enger der Zufam- 
hang zwifchen ihm und dem Reiche des Böfen fich knüpfen, und 
der engfte denkhare Zufammenhang, das Eingehen der finftern 
Macht in die Perfönlichfeit des Menfchen, d. h. die Befeffenheit, 
müßte immer bei den Schlechteften eintreten. Dieß finden wir 
aber gefchichtlich gar nicht fo; die Dämonifchen erfcheinen in den 
Evangelien nur fo weit, ald Sünder, wie alle Kranfe Vergebung 
der Sünde nöthig haben, und die größten Sünder, wie ein Judas, 
bleiben von der Befeffenheit verfehont. Die gewöhnliche Vorſtel⸗ 
lung, mit ihren perfönlichen Dämonen, entgeht Diefem Widerſpruch. 
Zwar hält auch fie, wie wir dieß 3. B. in den Klementinen finden, . 


ar) ©, 295 f. 
29) ©. 302, nad) bem Vorgang von Paulus, exeg. Handb. 1, b, © .474. 





Neuntes Kapitel. F. 92, 17 


% 
baran feft, daß nur Durch die Sünde der Menfch dem Dämon 
den Zugang zu fich eröffne; 3%) doch bleibt hier immer noch ein 
Spielraum für die individuelle Willfür des Dämon, welcher 
aus nicht zu berechnenden fubjectiven Gründen oft den Schlech⸗ 
teren vorübergehen, auf den weniger Schlechten aber Jagd ma⸗ 
chen kann. 31) Werden hingegen, wie von Olshauſen, bie 
Dämonen nur als die Actionen der Macht des Boͤſen in ihrem 
durch Geſetze geregelten Verhältniß zur Macht des Guten be 
irachtet, fo ift jede Willkür und Zufälligfeit ausgefchloffen, 
und deßwegen hat die Abweifung der Confequenz, daß nad) fei- 
ner Theorie eigentlich immer die Schlimmften befeffen fein foll- 
ten, DIshaufen fihtbare Mühe verurfacht. Bon dem fchein- 
baren Kampfe zweier Mächte in den Dämonifchen ausgehend, 
ergreift er zunächft den Ausweg, daß nicht bei denjenigen, welche 
fich ganz dem Böfen ergeben, und fomit eine innere Einheit 
ihres Wefens behalten, fondern nur bei denen, in welchen noch 
ein inneres Widerftreben gegen die Sünde vorhanden fen, der 
Zuftand des Beſeſſenſeins eintrete. 39) So aber, zum rein mor 
ralifchen Phänomen gemacht, müßte diefer Zuftand weit häufiger 
vorfommen, es müßte jeder heftige innere Kampf in diefer Form ' 
fich äußern, und namentlich Diejenigen, weldye fich fpäter dem 
Böfen ganz ergeben, ihren Durchgang durch eine Periode. des 
Kampfes, alfo des Befeffenfeins, nehmen. Daher fügt auch 
Dlshaufen noch ein phyſiſches Moment hinzu, daß nämlich 
das Böfe im Menfchen vorwiegend feinen leiblichen Drganis- 
mus, insbefondere das Nervenfnftem, gefehwächt haben müſſe, 
wenn er für den dämonifchen Zuftand empfänglich fein folle. 
Allein wer fieht nicht, zumal folche Zerrüttungen des Nerven- 
fuftems auch ohne fittliche Berfehuldung eintreten Fönnen, daß 
auf diefe Weife der Zuftand, welchen man der dämonifchen 
Macht als eigenthümlicher Urfache vindiciren wollte, zum großen 





50) Homil. 8, 19. 

31) Wie fih Asmodi die Eara und ihre Männer zum Plagen und Um⸗ 
bringen auserfieht, nicht weil jene ober diefe befonders ſchlecht waren, 
fondern weil Sara’s Schönheit‘ ion anzog, Tob. 6, 12. 15. 

32) ©. 294, F 


U. Band. 22 


18 Zweiter Abfchnitt. 


Theil auf natürliche Gründe zurüdgeführt, und fomit dem eige- 
nen Zwede widerfprochen wird? Daher wendet fih Otshau« 
fen von diefer Seite auch bald wieder weg, und verweilt bei der 
Vergleichung des Suuuonloueros mit Dem zormooe , ftatt daß er 
“ihn mit dem Epileptifchen und Wahnfinnigen zufammenftellen 
follte, aus deren Bergleichung allein auf den Befeflenen ein Licht 
zurüdgeworfen werden kann. Durch diefes Herüberfpielen Der 
Sache vom phyfiologifch-pfychologifchen Gebiete auf das moras 
Iifchereligiöfe ift der Ercurs über die Dämonifchen zu einem 
der unbrauchbarften geworden, Die im DIshaufen’fchen Buche 
zu finden find. 33) 

Laffen wir alfo Die unerfreulichen Verfuche, die neutefta- 
mentlichen Vorftelungen von den Dämonifchen zu modernifiren, 
oder unfre jehigen Begriffe zu jubaifiren, faflen wir vielmehr 
auch in diefem Punkte das N. T. auf, wie es fich gibt, ohne 
jedoch durch die Zeit- und BVolfsvorftellungen in demfelben uns 
für weitere Forfehungen die Hände binden zu laffen. 3%) 

Den bisher ermittelten Borftellungen vom Weſen der Dis 
monifchen gemäß geftaltete ſich auch das Heilverfahren mit fol- 
hen Perſonen, namentlicy bei den Juden. Da die Krankheits⸗ 
urfache nicht, wie bei natürlichen Uebeln, als ein unperfönlicher 
Gegenftand oder Zuftand, wie ein ungefunder Saft, eine franf- 
bafte Spannung oder Schwäche, fondern als ein ſelbſtbewußtes 
Weſen angefehen wurde: fo fuchte man auf diefelbe auch nicht 
bloß mechanifch , chemifch und dgl., fondern logifch, durch das 
Wort, zu wirfen. Man fprach dem Dämon zu, fich zu ent- 
fernen, und um diefem Zufpruch Nachdruck zu geben, knüpfte 
man ihn an die Namen von Weſen, welchen man Macht über 
das Reich ver Dämonen zufchrieb. Daher ald Hauptmittel ge- 
gen dämonifche Beftgungen die Beſchwörung, °°) fei es bei dem 


35) Er füllt &. 280 —298. 

3) Beiträge zu einer wiſſenſchaftlichen Auffaſſung der fraglichen Zuſtaͤnde 
habe ich in mehreren Auffägen,, die jest meinen Charakteriſtiken und 
Kritiken einverleibt find, zu geben geſucht. Vol. Wirth, Theorie des 
Somnambulismus. S. 311 ff. 

35) S. die Anm. 16. angeführte Lucianiſche Stelle. 

» 


| 


Neuntes Kapitel. $. 93. 19 


Namen, Gotted, oder der Engel, oder eines andern übermüch- 


tigen Wefens, wie des Meſſias (U. ©. 19, 13.), in gewiflen 


ormeln, die man von Salomo herzuleiten. pflegte. 3%) Uebrigens 
wurden hiemit auch gewiffe Wurzeln, 37) Steine, 3) Räucherun- 
gen und Amulete 3°) in Verbindung geſetzt, ebenfalls, wie man 
glaubte, aus Salomonifcher Ueberlieferung. Da nun die Urſache 
von dergleichen Uebeln nicht felten. wirklich eine pſychiſche war, 
oder Doch im Nervenfufteme lag, auf welches fich von geiftiger 
Seite unberechenbar einwirken läßt, fo täufchte jenes piycholoe 


‚gifche Verfahren nicht durchaus, fondern es Fonnte oft wirklich 


durch die im Kranfen erregte Meinung, daß vor einer Zauber: 
formel der ihn beiigende Dämon fich nicht Länger halten könne, 
eine Hebung des Uebels bewirkt werden; wie denn Jeſus felbft 
zugibt, daß auch jüdiſchen Beichwörern dergleichen Kuren bis- 
weilen gelingen (Matih. 12, 27.). Bon Jeſus aber Iefen wir, 
daß er ohne anderweitige Mittel und ohne Befchwörung bei eis 
ner andern Macht durch fein bloßes Wort die Dämonen aus- 
getrieben habe, und es find die herporftechendften Heilungen die⸗ 
fer Art, von welchen ung die Evangelien berichten, nunmehr in 
Erwägung zu ziehen. 


$. 93. 


Jeſu Daͤmonenaustreibungen, einzeln betrachtet. 


Unter den einzelnen Erzählungen, welche und in den drei 
erften Evangelien von den Kuren Jefu an Dämonifchen gegeben 
werden, ragen befonders drei hervor: Die Heilung eines Dämo- 
nifchen in der Synagoge zu Kapernaum, die der von einer 
Menge Dämonen befeflenen Gadarener, und endlich Die des 
Mondfüchtigen, welchen die Jünger nicht im Stande geweſen 
waren, zu heilen. 

Wie nad) Jehannes die Wafferserwanbfung, jo ift nad 
%) Joseph. Antig: 8, 2, 5. 

7) Joseph. a. a. ©. 


38) Gittin, f. 67. 2. 


39) Justin. Mart. dial. c. Tryph/ 85. 
e.2.% 


20 u Zweiter Abfchnitt. 


Markus (1, 23 ff.) und Lukas (4, 33 ff.) die Heilung eines Bes 
feffenen in der Synagoge von Kapernaum das erfte Wunder, 
das fie von Jeſu feit feiner Rüdfehr von der Taufe nach Gas 
lilaͤg zu erzählen willen. Jeſus hatte mit gewaltigem Eindrucke 
gelehrt: als auf einmal ein anweſender Beſeſſener in der Rolle 
des ihn beſitzenden Daͤmons aufſchrie, er wolle mit ihm nichts 
zu ſchaffen haben, er kenne ihn als den Meſſtas, welcher gekom⸗ 
men fei, fie, die Dämonen, zu verderben; worauf Jefus dem 
Dämon zu ſchweigen und auszufahren gebot, was unter Ge- 
fchrei und Zudungen von Seiten des Kranken und zum großen 
Erſtaunen der Menge über folche Gewalt Jeſu geſchah. 

Hier könnte man fich allerdings mit rationaliftifhen Aus⸗ 
fegern die Sache fo vorftellen: wenn ber Kranke, der während 
eines lichten Augenblids in die Synagoge getreten war, von Der 
gewaltigen Rede Jeſu einen Eindrud befommen, und dabei einen 
der Anmwefenden von ihm als dem Meſſias hatte fprechen hören, 
fo konnte in ihm leicht die Vorftellung fich bilden, der ihn be- 
figende unreine Geift könne mit dem heiligen Meſſias nicht zus 
fammenbeftehen, wodurd er in Paroxysmus gerathen, und feine 
Furcht vor Jeſu in der Rolle des Dämon ‚ausfprechen mochte. 
Sah aber Jeſus einmal den Menfchen fo geftimmt: was war 
ihm näher gelegt, als die Meinung befielben von feiner Ger 
walt über den Dämon zu benüßen, und dieſem dad Ausfahren 
zu gebieten, was dann nach den Gefegen der Seelenheilfunde, 
da der Irre von feiner firen Idee aus ergriffen wurde, gar wohl 
günftigen Erfolg haben konnte: weßwegen Paulus diefen Fall 
für die Veranlafjung hält, durch welche Jeſus zuerft auf den. 
Gedanken geführt worden fen, feine mefjianifche Geltung zu 
Heilung von dergleichen Kranken zu benügen. !) 

Doch erhebt fich gegen dieſe natürliche Vorftellung von der 
Sache auch manche Schwierigkeit. Daß Jeſus der Meflias fei, 
foll ihr zufolge der Kranfe durch die Leute in der Synagoge er 
fahren haben. Davon ſchweigt der Tert nicht bloß, fondern er 
wiberfpricht einer ſolchen Annahme aufs Beftimmtefte. Sein 


1) Ereg. Handb. PY db. ©. 422.; k. 9. 1, a, ©. 218. 





Reuntes Kapitel. $ 93. 21 


Wiſſen um Jeſu Meſſianität hebt der aus dem Menſchen res 
dende Dämon durch das oidx ve zig ei x. x. A. deutlich als 
ein ihm nicht von Menfchen zufällig mitgetheiltes, fondern als 
ein ihm vermöge feiner bämonifchen Natur weientlich zufom- 
mendes heraus. Ferner, wenn Jeſus ihm ein gundnu! zus 
ruft, fo bezieht fich dieß eben auf das, was der Dämon zuvor 
von feiner Mefltanität ausgefagt hatte, wie ja auch fonft von 
Sefu erzählt wird, -baß er 8x Tqıe Andeir a dmmona, Or 
nöeioar euro» (Marc. 1, 34. Zur. 4, 41.), oder va un Ye- 
veo69 error romonow (Marc. 3, 12.); glaubte alfo Jeſus 
durch das dem Dämon aufgelegte Schweigen dad Befanntiwer- 
den feiner Meflianität verhindern zu können, fo muß er der 
Meinung gewefen fein, daß nicht der Beſeſſene durch das Volt 
in der Synagoge etwas von derſelben gehört habe, vielmehr 
umgefehrt dieſes es von dem Befeflenen erfahren Fönnte, wie 
. denn auch in der Zeit des erften Auftritts Jeſu, in welche 
die Evangeliften den Vorfall verlegen, noch Niemand an feine 
Meflianität gedacht hat. 

Fragt es ſich demnach, wie, ohne Mittheilung von außen, 
der Dämonifche Jeſum ald Meffias durchfcehaut haben könne ? 
fo beruft fih Olshaufen auf die unnatürlich gefteigerte Ners 
venthätigfeit, welche in bämonifchen Perſonen wie in ſomnam⸗ 
bülen ein verftärftes Ahnungsvermögen, eine Art von Hellfehen 
hervorbringe, vermöge deſſen ein folcher Menfch gar wohl bie 
Bedeutung Jeſu für das ganze Geifterreich habe erfennen koͤn⸗ 
nen. ?) Die evangelifche Darftellung freilich fchreibt jene Kunde 
nicht einem Vermoͤgen des Kranken, fondern des in ihm woh⸗ 
nenden Dämons zu, wie dieß auch allein den damaligen jüdi⸗ 
fhen Borftellungen angemeflen if. Der Meffias follte erfchei- 
nen, um das dämoniſche Reich zu ftürzen (amoAsoaı nuäs, vgl. 
1 30h. 3, 8. Luc. 10, 18 f.), den Teufel fammt feinen Engeln 
in den Beuerpfuhl zu werfen (Matth. 25, 41. Offenb. 20, 10.): 3) 
und daß nun die Dämonen denjenigen, der ein folches Gericht 


2) 8. Comm. 1, 296. 
2) vgl. Bertholdt, Christol. Jud. 65. 36. a1. 


22 Zweiter Abfchnitt. 


über fie zu uͤben beftimmt war, als folchen erkennen würden, 
ergab fich von ſelbſt.) Indeſſen ließe fich dieß als Einmifchung 
der Anficht des Referenten, unbefchabet ber übrigen Erzählung, 
in Abzug bringen: wenn nur ein fo weit gehenbes Ahnungs- 
vermögen dergleichen Kranfen mit Sicherheit zugefchrieben wers 
ben Fönnte._ Da ed nun aber höchft unmwahrfcheinlich ift, daß 
ein auch noch fo aufgeregter Nervenfranker Jeſum zu einer 
Zeit, wo ihn fonft noch Niemand, und vielleicht er fich felbft 
noch nicht, für den Meifias hielt, als folchen erfannt haben 
folte, und da andrerfeits diefes Erkanntwerden des Meſſias 
von den Dämonen fo ganz mit den volfsthümlichen Vorftellun- 
gen zufammentrifft: fo müflen wir wohl vermuthen, daß in 
diefem Punfte Die evangelifche Tradition nicht rein nach der 
hiftorifchen Wahrheit fich gebildet habe, fondern durch jene Vor⸗ 
ftelungen mitbeftimmt worden fe.) Hiezu war um fo mehr 
Beranlafjung, je rühmlicher für Jefum eine folche Anerkennung 
von Seiten der Dämonen war. Wie ihm, da die Ermwachfenen 
ihn verfannten, aus dem Munde der Kinder Lob zubereitet 
war (Matth. 21, 16.); wie er, falls die Menfchen ſchwiegen, 
überzeugt war, daß die Steine fihreien würden (Luc. 19, 40.): 
fo mußte e8 angemefjen feheinen, den, welchen fein Volf, das 
zu retten er gefommen war, nicht anerfennen wollte, von den 
- Dämonen anerfannt werden zu lafien, deren Zeugniß, weil fie 
nur Verderben von ihm zu gewarten hatten, unpartheiifch, und 
wegen ihrer höheren geiftigen Natur zuverläffig war. 

Haben wir in der zuletzt betrachteten Heilungsgefchichte 


8) Sach Pesikta-in Jalkut -Schimoni 2, f. 56, 3. (f. Bertholdt, 
p. 185.) erkennt auf ähnliche Weile der Satan den unter bem Throne 
Gottes präeriftirenden Meffiad mit Schredien als denjenigen, qui me, 
fagt er, et omnes gentiles in infernum praecipitaturus est. 

>) Fritzsche, in Marc. p. 35: In multis evangeliorum locis ho- 
mines legas a pravis daemonibus agitatos, quum primum con- 
spexerint Jesum, eum Messiam esse, a nemine unquam de hac 
re commonitos, statim intelligere. In qua re hac nostri scripto- 
res ducti sunt sententia, consentaneum esse, Satanae satellites 
facile cognovisse Messiam, quippe insignia de se supplicia ali- 


quando syumturum. 
Ü 











Neuntes Kapitel. $. 93. 23 


eines Dämonifchen eine von der einfachften Gattung gehabt : 
fo begegnet uns in der Erzählung von der Heilung der befefs 
fenen Gadarener (Matth. 8, 28 ff. Marc. 5, 1 ff. Luc. 8, 26 ff.) 
eine höchft zufammengefeßte, indem wir hier, neben mehreren 
Abweichungen der Evangeliften, ftatt Eines Dämons viele, 
und ftatt des einfachen Ausfahrens derfelben ein Fahren in eine 
Schweineheerde haben. 

Nach einer ftürmifchen Leberfahrt über den galildifchen 
See an das öftliche Ufer begegnet Jeſu nad) Markus und Lufas 
ein Dämonifcher, welcher fich in den Grabmälern jener Gegend 
aufhielt,) und mit furchtbarer Wildheit gegen fich felbft ’) und 
Andere zu wüthen pflegte; na Matthäus waren es ihrer zwei. 
Es .ift erftaunlich, wie lange fich bier die Harmoniftif mit 
elenden Ausflüchten, wie, Daß Markus und Lukas nur Einen 
nennen, weil diefer durch Wildheit ſich befonders ausgezeichnet, 
oder Matthäus zwei, weil er den dem Wahnftnnigen zur Auf: 
ſicht beigegebenen Begleiter mitgezählt habe, und vergl.) ber 
holfen hat, bis man eine wirkliche Differenz zwifchen beiden 
Relationen : zugeben mochte. Hiebei hat man, in Erwägung 
defien, daß dergleichen Nafende ungefellig zu fein pflegen, der 
Angabe der beiden mitilern Evangeliften den Vorzug gegeben, 
und die Verdoppelung des Einen Dämonifchen bei dem erften 
daraus erflärt, daß die Mehrheit der dwiuoves, von welchen in 
der Erzählung Die Rede war, dem Referenten zu einer Mehr: 


— — — — — 


6) Ein Lieblingsaufenthalt der Raſenden, ſ. Lightfoot und Schoͤttgen 
z. d. St., und der unreinen Geiſter, ſ. die rabbiniſchen Stellen bei 
Wetſtein. 

?) Die Behauptung, daß das zuruxinzer Zavrov Aldo, welches Mar⸗ 
tus dem Beſeſſenen zufchreibt, in lichten Augenbliden ale Buße für 
feine Verfchuldung von ihm gefchehen fei, gehört zu den Unrichtig- 
keiten, zu welchen Olshaufen durch feinen falihen, moralifchereligiö- 
fen Standpunkt in Betrachtung biefer Erfcheinungen verführt wird, da 
doch bekannt genug ift, wie gerade in den Parorysmen folder Kanten 
die felbftzerflörende Wuth eintritt. 

8) ©. die Sammlung von dergleichen Erklärungen bei Fritzſche, in 
Matth. p. 327. 


24 weites Kapitel. 


heit von dasuonlouero geworden ſei.) Allein fo entfchieden 
ift die Unmöglichkeit, daß zwei Rafende in der Wirkfichfeit fich 
zufammengefellen, oder vielleicht auch nur in der urfprünglichen 
Cage zufammengefelt wurden, denn doch nicht, daß hierauf 
allein fchon ein Vorzug des Berichts bei Marfus und Lufas 
vor dem bei Matthäus fich begründen ließe. Wenigftend wenn 
man fragt, welche der beiden Darftellungen der Sache leichter 
aus der andern, ald der urfprünglichen, in der Ueberlieferung 
fich habe bilden Eönnen? fo wird man die Möglichkeit auf beis 
den Seiten gleich groß finden. Denn wenn auf die oben ans 
gezeigte Weife Die mehreren Dämonen zu der Vorftelung auch 
von mehreren Dämonifchen Anlaß geben Fonnten, fo läßt fich 
ebenfo umgefehrt jagen: in der dem Factum näheren Darftel- 
lung des Matthäus, wo von Beſeſſenen fowohl ald von Daͤ⸗ 
monen in der Mehrzahl die Rede war, trat das fpecififch Au- 
Berordentliche, welches diefer Sal in der Erzählung ver beiden 
andern hat, noch nicht hervor, daß nämlich auf Ein Indivi⸗ 


duum mehrere Dämonen famen, und indem man, um Diefes 


Verhältniß hervorzuheben, fich beim Wiedererzählen fo aus⸗ 
prüden mußte, daß in einem Menfchen mehrere Dämonen fich 
befunden haben, fo fonnte dieß leicht Veranlaflung werden, daß 
nach und nach dem Plural der Dämonen gegenüber der Bes 
feflene in den Singular gefest, wurde. Im MUebrigen ift in 
diefem erften Eingang die Erzählung des Matthäus kurz und 
allgemein, die der beiden andern ausführlich malend, woraus 
“man gleichfalls nicht ermangelt hat, auf Die größere Urfprüng- 
fichfeit der letzteren zu fehließen. 1%. Gewiß aber kann ebenfo- 
wohl die Ausführung, in welche ſich Lufas und Markus thei- 
Ien, daß der Befeffene fein Kleid an fich geduldet, alle Feſſeln 
zerriffen, und fich felbft mit Steinen gefchlagen habe, eine will 
fürlihe Ausmalung der einfachen Bezeichnung zadenoi Alay 
fein, welche Matthäus nebft der Folge, daß Niemand jenen 


"9% So Schulz, über das Abendmahl, ©. 3095 Paulus, z. b. Gt.; 


Haſe, L. J. F. 75. 
10) Schulz, a. a. O. 











Neuntes Kapitel. $. 93. 235 


Meg habe gehen können, gibt, als biefe eine ungenaue Zuſam⸗ 
menfaſſung von jener. 

Die Eröffnung der Scene zwifchen dem oder den Dämo- 
nifchen und Jeſus gefchieht hier wie oben durch einen angft- 
vollen Zuruf des Dämonifchen in der Perfon des ihn beftgen- 
den Dämons, daß er mit Jeſus, dem Meflias, von welchem 
er nur Qualen zu erwarten hätte, nichts zu fchaffen haben 
wolle. Die zur Erklärung der Erfcheinung, daß der Dämo- 
nifche Jeſum fogleich als Meffias erkennt, gemachten Poftulate, 
daß Jeſus damals wohl auch fhon’auf dem perätfchen Ufer 
als Meſſias genannt worden fei,!) oder daß dem Menfchen 
(welchem feiner Wildheit wegen Niemand nahe fommen fonnte!) 
einige von den mit Jeſu über den See Gefommenen gefagt has 
ben, dort fei der Meſſias an’d Land geftiegen, ) find gleicher- 
weife grunblos, als offenbar iſt, wie auch hier diefelbe jüdiſch⸗ 
hriftliche Vorausſetzung über das Verhältniß der Dämonen 
zum Meffias, wie oben, diefen Zug der Erzählung hervor- 
gebracht hat.13) Indeß tritt hier noch eine Differenz der Be 
richte ein. Nach Matthäus nämlidy rufen die Befeflenen, wie 
fie Jeſu anfichtig werden: ri uw xel 00 —; 1Ades — Baoe- 
sioc zuüc; nach Lukas fällt der Dämonifche Jeſu zu Füßen, 
und bittet ihn, un ne ßeoarions" nad Markus endlich Täuft 
er von ferne herbei, um Jefum fußfällig bei Gott zu beſchwoͤ⸗ 
ren, daß er ihn nicht quälen möchte. Wir haben alfo wieder 
einen Klimar: bei Matthäus ein fehredenvolles Abwehren des 
unerwünfcht fommenden Jeſus: bei Lukas eine bittende Annä« 
herung an den gegenwärtigen: bei Markus fogar ein eiliges 
Auffuchen des noch entfernten. Die Erflärer, von Markus 
ausgehend, müffen felbft zugeben, - daß das Herzulaufen eines 
Dämonifchen zu Sefu, den er Doch fürchtet, etwas Widerſpre⸗ 
chendes fei, weswegen fie ſich durch die Annahme helfen, ver 
Menſch, als er fich gegen Jeſum hin in Bewegung febte, fei 


1) Schleiermader, über den Lukas; ©. 127. 
12) Paulus, e. J. 1, &, ©. 232. 
13) S. Fritzſche, in Matth. &. 329. 


26 | Zweiter Abſchnitt. 


in einem lichten Augenblick geweſen, in welchem er vom Dä- 
mon befreit zu werben wünfchte, und erft durch die Erhigung 
des Laufens, '%) oder durch die Anrede Jeſu, !5) fei er in den 
Paroxysmus gerathen, in welchem er in der Rolle des Daͤmons 
um Unterlafjung der Austreibung bat. Allein in den zufam- 
. menhängenden Worten bei Marfus: idor — Edoaus — xel 
rRooservsn0e — nal noanbeg — eine‘ tft Feine Spur von einem 
Wechſel feines Zuftandes zu finden, und es bleibt fo das Un⸗ 
wahrfcheinliche feiner Darftellung, denn ber wirklich Befefiene 
hätte fich, wenn er den gefürchteten Meſſias von ferne erfannte, 
eher fo fchnell wie möglich davon gemacht, als fich ihm gend- 
hert, und wenn auch dieß, fo fonnte er, der ſich durch einen 
Gott feindfeligen. Dämon befefien glaubte, Jeſum doch gewiß 
nicht bei Gott befehwören, wie Markus den Dämonifchen thun 
läßt. 16). Kann demnach feine Darftellung hier die urfprüng- 
liche nicht fein, fo ift die des Lufas ihr zu verwandt, und 
. eigentlich nur um bie Züge des Herzulaufens und Beſchwörens 
einfacher, als daß wir fie für die dem Factum nächſte anfehen 
fönnten. Sondern die am reinften gehaltene ift. ohne Zweifel 
die des Matthäus, deren fehredenvolle Frage: 7Ades @de 700 
xaıgs Baoavioaı juäg; einem Dämon, der als Feind des Meſ⸗ 
ſiasreichs vom Meſſias Feine Schonung zu erwarten hatte, weit 
natürlicher fteht, als die Bitte um Schonung bei Marfus und 
Lufas, wenn gleich Philoftratus in einer Erzählung, bie 
man als Nachbildung diefer evangelifchen anfehen Tönnte, ſich 
an die leßtere Form gehalten hat. 9 

Während man nach dem Bisherigen glauben mußte, bie 
Dämonen haben hier wie in der erften Erzählung, ohne daß 
etwas von Seiten Jefu vorangegangen war, ihn auf bie be 
fohriebene Weife angefprochen: fo holen nun die zwei mittleren 


14) Natürliche Gefchichte, 2, 174. 

15) Paulus, ereg. Handb. 1, b. ©. 473; Olshauſen, ©. 302. 

16) Dieß finden auch Paulus ©. 474. und Olshauſen ©. 303. auf: 
fallend. 

17) Es ift dieß die Erzählung von ber Entlarvung einer Empuſa durd) 
Apollonius von Tyana, vit. Ap. 4, 355 bei Baur ©. 145, 





Neuntes Kapitel. 6. 93. . 27 


Evangeliften nad, Jeſus habe nämlich dem unfaubern Geiſte 
geboten gehabt, den Menfchen zu verlaffen. Es fragt fi), wann 
Sefus dieß gethan haben fol? Das Nächfte wäre: che der 
Menfch ihn anredete; aber mit diefer Anrede ift bei Lufas das 
moogereoe, und mit Diefem weiter rüdwärts dad araxpadas 
fo eng verbunden, daß man den Befehl Iefu-vor den Schrei 
und Fußfall als deren Urfache fegen müßte. Nun aber ift als 
Urfache davon vielmehr der bloße Anblid Jeſu angegeben, fü 
daß man bei Lufas nicht: fieht, wo jenes Gebut Jeſu feine 
Stelle finden fol. Noch fchlimmer ift es bei Markus, wo der 
Zuruf Jeſu durch eine ähnliche Verfettung der Säße fogar vor 
das &dorue zurüdgefchoben wird, fo daß Jeſus fonderbarer> 
weife fchon aus der Berne dem Dämon das &8eAde zugerufen 
haben müßte. Wenn auf diefe Weife bei den beiden mittleren 
Evangeliften entweder Die vorangefchidte zufammenhängende Dar- 
ftellung oder der darauffolgende Zufag unrichtig fein muß: fo 
fragt fi) nur, was von beiden eher den Schein des Unhiſto⸗ 
rifcehen wider fi habe? Und bier hat felbft Schleiermacher 
eingeräumt, wenn in ber. urfprünglichen Erzählung von einem 
vorausgegangenen Gebote Jefu die Rede gewelen wäre, fo würde 
dieſes gewiß in feiner rechten Stelfe vor der Bitte der Dämo- 
nen, ‚und mit Anführung der eigenen Worte Jeſu gegeben wors 
den fein, wogegen feine jegige Stellung ald Nachtrag, und 
ebenfo feine abgefürzte Faſſung in der oratio obliqua (bei Lukas; 
erft Marfus wandelt fie nach feiner Weife in oratio recta 
um) fehr ftarf die Vermuthung begründe, daß e8 auch nur ein 
erflärender Nachtrag des Referenten aus eigener Eonjectur fei. '%) 
Und zwar ift e8 ein höchft ftörender, indem er der ganzen Scene 
nachträglich eine andere Geftalt gibt, als fie von vorne herein 
zeigte. Zuerft nämlich war fie auf ein zuvorkommendes Er⸗ 


18) A. a. O. S. 128. Wenn er nun aber dieſe unrichtige Ergaͤnzung von 
Seiten des Lukas daraus erklaͤrt, daß ſein Berichterſtatter vermuthlich 
beim Schiff beſchaͤftigt und etwas zuruͤckgeblieben, dem Anfang der 
Scene mit dem Daͤmoniſchen nicht angewohnt habe, ſo iſt dieß ein gar 
zu neugieriger Scharfſinn neben der veralteten Annahme eines moͤglichſt 
unmittelbaren Verhaͤltniſſes der evangeliſchen Berichte zu den Thatſachen. 


28 Zweiter Abfchnitt. 


fennen und Bitten des Dämonifchen angelegt: nun aber fält 
der Erzähler aus feiner Rolle, und in der Meinung, der Bitte 
des Daͤmons um Schonung müſſe ein harter Befehl Jeſu vors 
angegangen fein, bemerkt er nachholend, daß Jeſus vielmehr 
mit jeinem Gebote zuporgefommen. 

An die Nachholung dieſes Gebots fehließt fich nun bei 
Marfus und Lukas die Frage Jeſu an den Dämon an: zi 
co orona; worauf fi) eine Mehrheit von Dämonen zu ers 
fennen gibt, und als ihren Namen Asyenr bezeichnet, — eine 
Zwifchenhandlung, von welcher Matthäus nichts hat. Wie 
wäre es nun, wenn, wie ber vorige Zufag eine nachträgliche 
Erklärung des vorhergehenden, fo diefe Frage und Antwort 
eine vorausgefchidte Einleitung des Folgenden wäre, und ebenfo 
nur aus ben eigenen Mitteln der Sage oder der Referenten ? 
Der fofort von den Dämonen ausgeiprochene Wunfch nämlich, 
in die Schweineheerde zu fahren, ſetzt bei Matthäus noch gar nicht 
nothiwendig eine Mehrheit von Dämonen in jedem der beiden 
Beſeſſenen voraus, da wir nicht wiffen Fönnen, ob der Hebräer 
nicht auch zwei Dämonen in ein Befisungsverhältniß zu einer 


ganzen Heerde zu fegen im Stande war: wohl aber fonnte 


ein fpäterer Erzähler meinen, die Zahl der böfen Geifter mit 
der Zahl der Schweine ausgleichen zu müffen. Was nun bei 
Thieren eine Heerde, das ift bei Menfchen und höheren Wefen 
ein Heer oder eine Heeresabtheilung, und da lag, wenn eine 
größere Abtheilung bezeichnet werden follte, nichts näher, als 
die römifche Legion, welche Matth. 26, 53. auf die Engel, wie 
hier auf die Dämonen, angewendet ifl. — Daß e8 nun aber, 
auch abgefehen von diefer näheren Beftimmung, mehrere Däs 
monen gewefen fein follen, welche hier in Einem Individuum 
ihre Wohnung aufgefchlagen hatten, ift als undenkbar zu be 
zeichnen. Denn wenn man zwar fo viel etwa noch fich vor: 
ftellig machen kann, wie Ein Dämon, mit Unterdrüdung des 
menfchlichen Bewußtfeins, fich eines menfchlichen Organismus 


bemächtigen Tönne: fo geht einem doch alle Vorftellung aus, 


fobald man gar viele einen Menfchen beſitzende Dämonifche Per: 
fönlichfeiten fich denfen fol. Denn da diefes Beſitzen nichts 





NReuntes Kapitel. 5 93. 29 


Anderes ift, als, fib zum Subject des Bewußtſeins in einem 
Individuum machen, das Bemwußtfein aber in der Wirflichkeit 
nur Eine Spike, Einen Mittelpunkt, haben Tann: fo ift jeden, 
falls das ſchlechterdings nicht zu denfen, daß zu gleicher Zeit 
mehrere Dämonen von einem Menfchen follten Beſitz nehmen 
fönnen, und es Fönnte die mehrfache Beſitzung immer nur als 
fucceffiver Wechfel des Beſeſſenſeins durch verſchiedene Dämonen 
vorhanden fein, und nicht wie hier ein ganzes Heer berfelben 
zugleich im Menfchen wohnen und zugleich ihn verlaffen. 
Darin nun ftimmen weiterhin alle Erzählungen überein, 
daß die Dämonen (um nicht, wie Markus fagt, außer Landes, 
oder nach Lukas in den Abgrund verwiefen zu werden) Jeſum 
um die Erlaubniß gebeten haben, in die benachbarte Schweine- 
heerve zu fahren, daß ihnen dieß von Jeſu geftattet worden, 
und fofort dur ihre Einwirkung fämmtliche Schweine (Mars 
fus, man darf nicht fragen, aus weldyen Mitteln, beftimmt 
ihre Zahl auf 2000) in den See geftürzt und erfoffen feien. 
Bleibt man bier auf dem Standpunkt der Berichte, welche 
durchaus wirkliche Dämonen vorausfegen, ftehen, fo fragt es 
ſich: wie können Dämonen, — eingeräumt auch, daß fie von 
Menſchen Befig nehmen können, — wie fönnen fie aber, als 
in jedem alle vernünftige Geifter, den Wunfch haben und 
erreichen, in thierifche Bildungen einzugehen? Jede Religion 
und Philofophie, welche die Seelenwanderung verwirft, muß 
aus demſelben Grunde auch die Möglichkeit eines folchen Ue⸗ 
berganges läugnen, und Olshauſen ftellt vollfommen richtig 
die gadarenifchen Säue im N. T. mit Bileams Efel im alten 
als ein ähnliches aoxardadov nei neosnouue zufammen. 19) Diefem 
ift er aber durch die Bemerfung, daß hier nicht an ein Ein- 
gehen der einzelnen Dämonen in die einzelnen Schweine, fon- 
bern an ein bloße Einwirfen fämmtlicher böfen Geifter auf 
Die Thiermaſſe zu denken fei, mehr ausgewichen, als daß er 
darüber hinweggefommen wäre. Denn das sigeAdeiv eig zug 
yoioas, wie es dem ebeAdeir ex roõ ardownze gegenüberfteht, 


) ©. 305. Anm. 


30 Zweiter Abfchnitt. 


kann doch unmöglich etwas Anderes bedeuten, ald daß die Dä- 
monen in daflelbe Berhältniß, in welchem fie bisher zu den 
bejeflenen Menfchen geftanden, nunmehr zu den Schweinen ges 
treten feien; auch konnte fie vor der Verbannung außer Lands 
oder in den Abgrund nicht ein bloßes Einwirfen, fondern nur 
ein wirfliches Einwohnen in den Leibern der Thiere bewahren: 
fo daß jened oiardaror ftehen bleibt. Unmöglich alſo kann 
jene Bitte von wirklichen Dämonen, fondern nur etwa von 
jüdischen Wahnfinnigert vorgebracht worden fein, nach den Vor⸗ 
ftellungen ihres Volkes. Ohne leibliche Hülle zu fein, macht 
diefen zufolge den böfen Geiftern Qual, weil fie ohne Leib ihre 
finnlichen Lüfte nicht ‚befriedigen können; 20) waren fie daher 
aus den Menfchen ausgetrieben, fo mußten fie in Thierleiber 
zu fahren wünfchen, und was taugte für ein nreüpe uxudaereor 
befier, ald ein Löor axaxdxeror, wie. dad Schwein war ? 2) 
So weit fönnten alſo die Evangeliften in diefem Punfte das 
Factiſche richtig wiedergeben, indem fie nur ihrer Borftelung 
gemäß den Dämonen zufchrieben, was vielmehr die Kranken 
aus ihrem Wahne heraus fprachen. Nun aber, wenn es weis 
ter heißt, die Dämonen feien in die Schweine gefahren, berich- 
ten da die Evangeliften nicht eine offenbare Unmoͤglichkeit? 
Paulus meint, auch hier, wie fonft immer, identificiren die 
Evangeliften die befefienen Menfchen mit den fie befigenden 
Dämonen, und fchreiben alſo das eiceAdeir eis zug yoipas 
den legteren zu, während doch in der Wirklichfeit nur die er- 
ſteren ihrer firen dee gemäß auf die Schweine Iosgerannt 
fein. 2) Hier ließe fih zwar des Matthäus anildor- eig Tas 
goigss, für fich genommen, etwa noch von einem Losrennen 
auf die Heerde verftehen; aber nicht nur muß Baulus felbft 


20) Clem. hom, 9, 10. 

21) Fritzſche, in Matth. p. 332. Nah Eifenmenger 2, 447 ff. 
balten fih, der juͤdiſchen Worftellung gemäß, die Dämonen überhaupt 
gern an unreinen Orten auf, und in Jalkut Rubeni f. 10, 2. (bei 
Wetſt ein) findet fich die Notiz: Anima idololatrarum, quae ve- 
nit a spiritu immundo, vocatur porcus, 

2) A. a. D. ©. 474. 485. Ebenfo Winer, b. Realw, 1, S. 192. 














* 


Neuntes Kapitel. $. 93. 31 


einräumen, daß das eiseAdörres der beiden andern Synoptifer 
ein wirkliches Hineingehen in die Schweine bezeichne, fondern 
es hat auch Matthäus, wie die beiden andern, vor dem anjAdor 
ein edeAdorres oi Öriuoves (SC. Ex 1er ardponor), wodurch 
alfo die in die Schweine fahrenden Dämonen von den Mens 
ſchen, aus welchen fie vorher wichen, deutlich genug unter- 
fhieden find.) So erzählen alfo unfre Berichterftatter hier 
nicht bloß wirklich Vorgefalleneg, gefärbt Durch die Vorſtellungs⸗ 
weife ihrer Zeit, ſondern bier haben fie einen Zug, der gar 
nicht auf dieſe Weife vorgefallen fein ann. 

Neuen Anftoß macht die Wirfung, welche die Dämonen 
in den Schweinen hervorgebracht haben follen. Kaum in dies 
felben gefahren nämlich jollen fie die ganze Heerde angetrieben 
haben, fich in den See zu flürzen, wobei man mit Recht fragt, 
was denn die Dämonen nun durch das Fahren in die Thiere 
gewonnen haben, wenn fie Diefe alsbald vernichteten, ‚und fich 
fomit der jo ſehr erbetenen leiblichen Interimswohnung felbft 
wieder beraubten? ?%) Die Vermuthung, die Abſicht der Dä- 
monen bei Vernichtung der Schweine fei gewefen, die Gemüther 
der Eigenthümer durch diefen Verluft gegen Jeſum einzunehmen, 
was auch erfolgt fei, ?°) ift zu weit hergeholt; die andere, daß 
der mit Gefchrei auf die Heerde losftürzende Dämonifche fammt 
den im Schreden davonlaufenden Hirten die Schweine fcheu 
gemacht und in's Wafler gejagt habe, ?%) würde, wenn fie auch 
nicht nad) dem Obigen dem Text zumider wäre, doch nicht 
hinreichen, um das Ertrinfen einer Heerde von 2000 Stüden 
nad) Marfus, oder überhaupt nur einer großen Heerde, nach 
Matthäus, zu erflären. Die Ausflucht, daß wohl nur ein 


Theil der Heerbe erfoffen ſei,?) hat in der evangelifchen Er: 


zaͤhlung nicht’ den mindeften Halt. — Vermehrt wird für dieſen 


25) Fritzſche, in Matth. ©. 330. 

2) Paulus, a. a. O. ©. 475 f. 

5) Olshauſen, ©. 307. 

>) Paulus, ©. 474. 

7) Paulus, ©. 485; Winer, a. a. O. 


32 Zweiter Abfchnitt. 


Punkt die Schwierigkeit durch Die nahe liegende Reflerion auf 
den nicht geringen Schaden, welchen das Ertrinfen der Heerde 
den Eigenthümern brachte, und deſſen mittelbarer Urheber Jeſus 
gewefen wäre. Die Orthodoren, wenn fie Jeſum in irgend 
einer Wendung dadurch rechtfertigen wollen, daß dur Zus 
laffung ded llebergangd der Dämonen in die Schweine Die 
Heilung des Befefienen möglich gemacht worben fei, und daß 
doch gewiß Thiere getödtet werden Dürfen, damit die Menfchen 
lebendig werben, 2°) bedenken nicht, daß fie hiedurch auf die 
für ihren Standpunft inconfequentefte Weife die abfolute Macht 
Sefu über das dämonifche Neich befchränfen. Die Auskunft 
aber, Jeſus habe, fofern die Schweine Juden gehörten, dieſe 
für ihre gewinnfüchtige Uebertretung des Geſetzes ftrafen wols 
fen, ?°) überhaupt habe er aus göttlicher Vollmacht gehandelt, 
welche oft zu höheren Zweden Einzelnes zerftöre, und. durch 
Blig, Hagel und Ueberſchwemmung vieler Menfchen Habe vers 
nichten laſſe, 9) worüber Gott der Ilngerechtigfeit anzuflagen, 
albern wäre, 3) — dieß ift wieder -Die auf orthodorem Stand- 
punkt unerlaubtefte Vermiſchung des Standes der Erniedrigung 
Ehrifti mit dem feiner Erhöhung, ein jchwärmerifches Hinaus- 
gehen über das bejonnene paulinifche yeroueror Uno vouor (Gal. 
4, 4.) und Eavror enerwoe (Phil. 2, 7.), welches uns Jeſum 
‚völlig entfrembet, indem es ihn auch in Bezug auf die füttliche 
Beurtheilung feiner Handlungen über dad Maaß des Menfchr 
lichen hinaushebt. Es blieb daher nur noch übrig, das vom 
Stanbpunfte der natürlichen Erklärung vorausgefegte Hinein- 
rennen der Dämonifchen unter die Schweine, und deren dar 
durch herbeigeführten Intergang als etwas Jeſu felbft Uner⸗ 
wartetes, für das er alfo auch nicht verantwortlich fei, darzu⸗ 
ftellen: 32) im offenften Widerfpruch gegen die evangelifche Dar- 


8) Olshauſen, a.a.D. 

29), Derf. ebenbaf. 

%) Ullmann, über die Unfündlichkeit Jeſu, in feinen Studien, 1, }, 
©. 51 f. 

31) Olshauſen, a. a. O. 

2) Paulus. 





Neuntes Kapitel, 6. 93. 33 


ſtellung, welche Jeſum die Erfolge, fofern er fie auch nicht 
geradezu bewirkt, doch auf's Beftimmtefte vorherfehen läßt. 39) 
Es fcheint daher auf Jeſu die Beichuldigung eines Eingriffe 
in fremdes Eigenthum liegen zu bleiben, wie denn Gegner des 
Chriſtenthums diefe Erzählung fich längft gehörig zu Nutze ger 
macht haben ;3%) wenigftens wäre Pythagoras in ähnlichem 
Galle weit billiger verfahren, da er die Fifche, deren Los⸗ 
laffung er von den Fifchern, die fie gefangen hatten, auswirkte, 
ihnen baar bezahlt haben ſoll. 39) 

Bei diefem Gewebe von Schwierigfeiten , welche namenits 
ih der Punkt mit den Schweinen in die vorliegende Erzählung 
bringt, ift es fein Wunder, daß man in Bezug auf dieſe Anek⸗ 
dote früher als bei den meiften andern aus dem öffentlichen 
Leben Iefu angefangen hat, die durchgängige hiftorifche Rea⸗ 
fität der Erzählung zu bezweifeln, und insbefondere den Unter⸗ 
gang der Schweine mit ber durch Jeſum bewirften Austreibung 
. der Dämonen außer Beziehung zu fegen. So fand Krug in 
der Stellung beider Erfolge ein in der Tradition entftandenes 
ügeoov noozegor. Die Schweine feien fehon vor der Landung 
Jeſu durch den Sturm, der während feiner Ueberfahrt wüthete, 
in dem See geftürzt worden, und als Jeſus nachher den Dä- 
monifchen heilen wollte, habe entweder er felbft, oder einer aus. 
feinem Gefolge, den Menfchen berevet, feine Dämonen feien 
bereit8 in jene Echweine gefahren, und haben fie in den See 
geftürzt; was dann als wirklich fo erfolgt aufgenommen und 
weiter gefagt worden fi.) K. Ch. L. Schmidt läßt, als 
Jeſus an's Lanp ftieg, die Hirten ihm entgegen gehen, indeſſen 
von ben fich felbft überlaffenen Echweinen mehrere in das Waſſer 
fürzen, und da nun um eben diefe Zeit Jeſus dem Dämpn 


3), &. ullmann. 

3), 3,8. Woolfton, Dise. 1, ©. 32 ff. | 

85) Jamblich. vita Pythag. no. 36. ed, Kiessling. 

36) In der Abhandlung über genetifhe ober formelle Erflärungsart ber 
Wunder, in Henke's Mufeum 1, 3, ©. 410 ff. Zu loben ift hier 
auch das Bewußsfein davon, daß bie Darftellung bei Matthäus die 
einfachere, die der beiden andern Evangeliften die ausgeſchmuͤcktere ift. 

u. Band. 3 


84 Aweiter Abſchnitt. 


auszuſahren geboten habe, fo haben die Umſtehenden Beides 
in Gaufalwfammenhang gefept.?) Ohne weitere Bemerkung 
erfennt man in Diefen Erflärungsverfucken, an der großen 
Rolle, welche in denfelben das zufällige Zufammentreffen ver: 
ſchiedener Umſtaͤnde fpielt, die ungefchidte Vermiſchung der 
wuihifchen Erklärung mit der natürlichen, wie fie den erften. 
Unternehmungen auf dem mythifchen Standpunft. eigen gewefen 
ft. Statt alfo eine wunberlofe Grundlage zu erdeufen, für 
welche wir nirgends eine Bürgfchaft haben, und welche Die 
Entftehung der wunderhaft ausgefhmüdten Erzählung in ben 
Evangelien nicht einmal erklärt: muüflen wir vielmehr fragen, 
od in der Zeit der muthmaßlichen Bildung der evangelifchen. 
Erzählungen fi wicht Borftellungen finden, aus welchen ſich 
der Zug.mit den Schweinen in der vorliegenden Geſchichte ers 
klären liege? 

Cine biehergehörige Zeitmeinung hatten wir fihon, näm⸗ 
lich die, daß Dämonen nicht ohne Leib fein wollen, und daß 
fie gerne an unreinen Orten feien, wefwegen ihnen die Leiber 
von Schweinen am beiten taugen mußten: indeß erflärt ſich 
hieraus der Zug noch wicht, daß fie die Schweine in das 
Waſſer geftärzt haben follen. Doc, auch hiefür fehlt es nicht 
an erflärenden Norizen. Joſephus berichtet von einem jübifchen 
Beſchwörer, der durch Salomoniſche Formeln und Mittel die 
Dämonen austrieb, daß er, um die Anwefenden von der Nealität 
feiner Austreibungen gu überführen, in die Nähe des Beſeſſenen 
ein Waſſergefäß geftellt habe, welches der ausfahrende Dämon 
umwerfen, und dadurch ben Zufehauern augenſcheinlich zeigen 
mußte, Daß er aus dem Menfiben heraus fei. 9) Auf Aähns 
liche Weife wird von Wpollenius von Tyana zählt, dag ar 
einem Dämon, der einen Süngling beſeſſen hatte, befohlen habe, 


37) (Greg. Beiträge, 2, 109 ff. 

3) Antiq. 8, 2, 5: PAslouevo; dt nelum xaı hasasijom Toig aparuyyd- 
yaoıy 6 Klediapos, ürı rautyv Era dafur, Erde wıxgov Zungooltev 
yroı Nnoripov nÄfers üburos W% Nodssınreov, za Tih Barmorler Nous“ 
tarrev fkortı TÜ avIuunn TaöT dvarpkıpaı, Xu Rupabyeis Enıyrovaı 
roĩs Oyadıy, ori xatallloıne dr dvdgantov. 


Neuntes Kapitel. $. 93. on, 


2 
we m 
wor 


fi mit einem fichtbaren Zeichen zu entfernen, worauf derſebe⸗ _ 


fich erbot, ein in der Nähe befindliches Standbild umzuwerfen, 
welches dann zum großen Erftaunen aller Anwefenden wirklich 
in dem Augenblide umfiel, ald der Dämon ben Jüngling ver: 
ließ. 9) Galt hienach das, in Bewegung Segen eines nahen 
Gegenftandes ohne Förperliche Berührung als die ficherfte Probe 
der Realität einer Dämonenaustreibung: fo durfte diefe Probe 
auch Jeſu nicht fehlen, und zwar, wenn jener Gegenftand bei 
einem Eleazar nur umoor von dem Befchiwörer und dem Kranken 
entfernt, mithin der Gedanfe an eine Täufcehung nicht ganz 
ausgefchloffen war, fo räumt in Bezug auf Iefum Matthäus, 
hierin augmalender alg die beiden andern, durch die Bemers 
fung, daß die Schweineheerde uanger gemeidet habe, auch den 
legten Reſt einer folchen Möglichkeit hinweg. Daß der Gegen» 
ftand, an welchem Jeſus dieſe Probe ablegte, ſchon in der 
urfprünglichen Erzählung eine Schweineheerde war, dieß, wie 
e8 zunächft aus der jüdischen Vorftelung von unreinen Geiftern 
und Thieren hervorgegangen war, fo gab es nun ferner er- 
wünſchte Oelegenheit, einer andern Tendenz der Eage genug 
zu thun. Jeſus ſollte nämlich nicht bloß gewöhnliche Befeffene, 
wie den der erften von und betrachteten Gefchichte, geheilt 
haben, fordern die fehwierigften Kuren dieſer Art follten ihm 
gelungen fein. - Den gegenwärtigen Fall als einen von äußerfter 
Schwierigkeit darzuftellen, darauf ift von vorne herein bie 
ganze Erzählung mit ihrer grellen Echilderung von dem furcht- 
baren Zuftande des Gadareners angelegt. Zu dem Compll⸗ 
eirten eines folchen Falles gehörte nun aber befonders, daß die 
Befigung feine einfache, fondern, wie bei Maria Magdalena, 
ap Te Öinore Enra ebeAmkider (Luc. 8, 2.), oder bei ber 
dämonifchen Reridive, wo der aufgetriebene Dämen mit fieben 
ärgeren wiederfemmt (Matth. 12, 45.), eine mehrfache war ; 


weßwegen denn hier, gemäß der muthmaßlichen Zahl einer. 


Heerde, felbft diefe Zahlen, namentlich von Marfus, noch weit 
überboten find. Die Einwirfung der aus den Menfchen ver- 





— 


39) Philostr. v. Ap, 4, 20; bei Baur a. a. O. ©. 39. 
! 3* 


28 Zmeiter Abſchnitt. 


triebenen Dämonen aber, wie fie an einem Waffergefäß ober 
Standbilde durch nichts augenfcheinlicher fich zeigen Fonnte, ale 
dadurch, Daß daflelbe gegen fein natürliches, durch das Geſetz 
der Echwere beftimmtes Verhalten umftel: fo fonnte fie an 
Thieren durch nichts ficherer fich bethätigen, als wenn dieſe, 
ihrem natürlichen Lebenstriebe zuwider, fich zu erfäufen veran- 
laßt wurden. Nur diefe Entftehung unferer Erzählung aus dem _ 
Zufammentreffen verfchiedener Zeitvorftelungen und Sntereffen 
erflärt auch den oben bemerften Wiperfpruch, daß die Dämonen 
zuerft die Schweine als Aufenthalt fich erbitten, und unmittelbar 
darauf diefen Aufenthalt felbft zerftören. Jene Bitte nämlich 
ift, wie gefagt, aus der Vorftellung von der Scheue der Dä- 
monen vor Körperlofigfeit erwachfen, diefe Zerftörung aber aus 
der hiermit gar nicht zufammenhängenden von einer Austrei- 
bungsprobe; was Wunder, wenn aus fo heterogenen Vorftel- 
lungen zwei wiberfprechenbe Züge in der Erzählung bervor- 
gingen ? 

Die dritte und- lebte ausführlich erzählte Daͤmonenaustrei⸗ 
bung hat das Eigenthümliche, daß zuerft die Jünger vergeblich 
die Heilung verfuchten, hierauf aber Jeſus diefelbe mit Leichtig- 
feit vollbringt. Saͤmmtliche Synoptifer nämlich (Matth. 17, 
14 ff.; Marc. 9, 14 ff.; Luc. 9, 37 ff.) berichten einitimmig, 
wie Jeſus mit feinen drei Bertrauteften vom BVerflärungsberge 
herabgefommen fei, habe er feine übrigen Jünger in der Ber: 
legenheit gefunden, daß fie einen befeflenen Knaben, welchen 
fein Vater zu ihnen gebracht hatte, nicht im Stande gewefen 
feien, zu heilen. 

Auch in dieſer Erzählung findet eine Abftufung ftatt von 
ber größten infachheit bei Matthäus bis zur größten Aus- 
führlichkeit der Schilderung bei Marfus, was denn auch hier 
‘wieder die Folge gehabt hat, daß man den Bericht des Mat: 
thäus als den der Thatfache am fernften ftehenden den Rela- 
tionen der beiden andern nachfegen zu müffen glaubte. 9) Im 
Eingange läßt Matthäus Jefum, vom Berge herabgeftiegen, 


”, Schulz ©. 319. 














Neunted Kapitel. $. 93. 87 


zu dem öyAos ftoßen, hierauf den Bater des Knaben zu ihm 
treten und ihn fußfälig um Heilung deffelben bitten; nad) 
Lufas fommt ihm der oyAos entgegen; nach Marfus endlich 
ſieht Jeſus um die Jünger viel Volks und Schriftgelehrte, 
die mit ihnen ftreiten, das Volk, wie es feiner anfichtig wird, 
läuft hinzu und begrüßt ihn, er aber fragt, was fie freiten, 
worauf der Vater des Knaben das Wort nimmt. Hier haben 
wir in Bezug auf das Benehmen des Volks wieder einen 
Klimar: aus dem zufälligen Zufammentreffen mit demfelben 
bei Matthäus. war fchon bei Lufad ein Entgegenfommen des 
Volks geworden, und diefes fteigert nın Marfus zu einem Her⸗ 
beilaufen, um Jeſum zu begrüßen, wozu er noch das abens 
teuerliche edeHaußr7dn fügt. Was in aller Welt hatte das Bolt, 
wenn Jeſus mit einigen Jüngern daherfam, fo fehr zu erftaunen ? 
Dieß bleibt durch alle andern Erflärungsgründe, die man auf- 
gefucht hat, fp unerflärt, daß ich den Gedanken des Euthy⸗ 
mius nicht fo abfurd finden fann, wie Fritz ſche ihn dafür auss 
gibt, es fei an dem eben vom VBerflärungsberg herabgeftiegenen 
Sefus noch etwas von dem himmlifchen Glanze, der ihn dort 
umleuchtet hatte, fichtbar geweien, wie bei Mofes, als er vom 
Sinai herunterfam (2 Mof. 34, 29 f.). Daß unter diefem 
Bolfögedränge zufällig auch Schriftgelehrte fi) befunden haben, 
welche den Süngern wegen der mißlungenen Heilung zufeßten 
und fie in einen Streit verwidelten, ift zwar an und für fich 
wohl denfbar, aber im Zufammenhang mit jenen llebertreis 
bungen hinſichtlich des Verhaltens der Menge muß auch diefer 
Zug verdächtig werden, zumal die beiden andern Berichterftatter 
ihn nicht haben; fo daß, wenn fich zeigen läßt, auf welche 
Weiſe der Referent dazu kommen fonnte, ihn aus eigener Com⸗ 
"bination hinzuzufügen, wir ihn mit höchfter Wahricheinlichkeit 
fallen laffen dürfen. In Bezug auf die Fähigfeit Jefu, Wunder 
zu thun, hieß e8 bei Marfus früher einmal (8, 11.) bei Ge⸗ 
legenheit der Forderung. eines himmlifchen Zeichens von den 
Vharifäern: Toberro ovlmeiv av, und fo ließ er denn bier, 
wo die Jünger ſich unfähig zum Wunderthun zeigten, die 
großentheild zur pharifäifchen Serte gehörigen yoaunareis als 





38 Zweiter Abſchnitt. 


ovlytisteg weis urdrteiz auftreten. — Auch in der folgen⸗ 
den Schilderung der Hmftände des Knaben findet dieſelbe Ab⸗ 
ſtufung in Bezug Auf die Ausführlichfeit flatt, nur dag Mat- . 
thaäus das veiynalereı eigen hat, welches man ibm nie hätte 
zum Vorwurf machen follen, ?') da die Herleitung periopifcher 
Krankheiten vom Monde im Zeitalter Jeſu' nichts Ungewöhn- 
liches war. *) Dem Markus ift die Bezeichnung des den 
Knaben befitenden zreüu« ald aAadov (B. 17.) und xogor 
(B. 25.) eigenthümlich; es konnte nämlich das Ausftoßen un- 
artieulirter Raute während des epileptifchen Anfalles als Stumm- 
heit, und das für jede Anrede unzugängliche Verhalten des 
Kranken als Taubheit des Dämons angefehen werden. 
| Wie der Vater Jeſum von dem Gegenftande des Streites 
und der Infähigfeit feiner Jünger, den Knaben zu heilen, 
unterrichtet hat, bricht Zefus in die Worte aus: yerem arısog 
xal Ötespauusn vn. 7. %. Vergleicht man bei Matthäus den 
Schluß der Erzählung, wo Jeſus den SJüngern auf Die Frage, 
warum fie den Kranfen nicht haben heilen können, zur Antwort 
gibt: dx TRr ameiay dur, und hieran die Schilderung der 
bergeverfetennen Macht fchließt, welche ein auch nur fenffern- 
großer Glaube habe (B. 19 ff.): fo kann man nicht zweifelhaft 
fein, daß nicht auch jene unwillige Anrede ſich auf die Jünger 
beziehe, in deren Unfähigfeit, den Dämon auszutreiben, Jeſus 
einen Beweis ihred noch immer mangelhaften Glaubens fand. *%) 
Diefe fchließliche ErHlärung Des Unvermägens der Jünger aus 
ihrer amesia läßt Yubas weg, und Marfus thut ihm nicht nur 
diefed nach, fondern fliht auch V. 21— 24 eine ihm eigen- 
thuͤmliche Zwifchenfcene zwifchen SJefus und dem Vater ein, ir 
weicher er zuerft Einiges über die Kranfbeitsumftände, theils 
aus Marhäus, theils aus eigenen Mitteln, nachholt, hierauf 
aber den Vater zur zies aufgefyrdert werden, und: fofort mi 


m) Wie Schulz a. a. O. zu thun fcheint. 

“) ©. die von Paulus, ereg. Handbuch 1, b, &. 569, und von Winer 
" 1, & 191 f. angeführten Stellen. 
So Fritz ſche z. d. St, 








Neuntes Kapitel. 8. 93. 39 


Thraͤnen die Schwaͤche feines Gfaubens und ben Wunſch einer 
Stärkung deſſelben ausſprechen läßt. Dieſes zuſammengenom⸗ 
men mit der Notiz von den ſtreitenden Schriftgelehrten, wird 
man nicht irre gehen, wenn man bei Markus und wohl auch Bei 
Lulas die Anrede: & yarız Amos, auf das Bublicum im 
tinterfihiede son den Jüngern, nach Markus namentlich auch 
auf den Bater des Knaben, bezieht, deſſen Unglaube hier ats 
der Heilung hinderlih, mie anderwärts (Matth. 9, 2.) der 
Glaube der Angehörigen als derſelben förderlich, dargeftelkt 
wird. Da aber beide Evangeliften diefen Sinn dadurch her; 
vorbringen, daß fie die Erklärung der Unwirkſamkeit der Jünger 
aus ihrer amıcia fammt dem Ausſpruch über Die bergevers 
feßende Macht des Glaubens Bier weglaffen: fo fragt ſich, ob 
die andern Verbindungen, in welche fie biefe Reben ftellen, 
paffender ald die bei Matthaͤus find? Bei Lukas nun ficht 
der Ausfpruch: wenn ihr Giauben Habt, wie ein Senfforn 
u. f. ſ. (denn das da zur anıciar dur haben beide gar nicht), 
nur mit der geringen Variation, daß flatt des Berges ein 
Daum genannt ift, 17, 5. 6. außer aller Verbindung weiter 
mit dem Borhergehenden moch Folgenden als ein verfprengtes 
Redeſtück Heinfter Größe, mit der ohne Fweifel nach Art von 
2ue. 11,1. und 13, 23 gemachten Einleitung, daß die Jünger 
Jeſum bitten: moosdes Nu nic Markus gibt Die Sentenz 
vom Berge verfebenden Glauben: ald Nutzanwendung zu ber 
Geſchichte vom verfluchten Peigendaume, wo fie au Mats . 
thäus wieder hat. ber dazu paßt, wie wir bald feben wers 
den, der Ausipru gar nicyt, ſondern, wenn wir niebt ganz 
darauf verzichten wollen, etwas von dem Anlaß zu wiſſen, Bei 
welchem er gethan worden ift, fo mrüffen wir die Verbindung 
bei Matthäus als die urfprüngkiche annehmen; denn zu einer 
den Juͤngern mißlungenen Kr paßt er vortrefflih. — Außer 
dem Zwifchenfpiele mit dem Bater hat Markus die Scene au 
Dadurch noch effectvoller zu machen geſucht, daß er während 
jener Zwiſchenhandlung einen Bolfszuleuf entfiehen, nadı Aus⸗ 
treibung des Dämons ben Knaben ce vengor, fo daß Miele 
fagten, ou arsdurer, hinfinfen, und von Jeftr, wie er jonft 


- 


40 Zweiter Abfchnitt. 


bei Todten that (Matth. 9, 25.), durch ein xgareiv zig yapos | 
aufgerichtet und ind Leben zurüdgerufen werben läßt. 
Mährend nad vollendeter Kur Lufas durch eine Furze 
Hinweifung auf das Erftaunen des Volkes fchließt, laſſen die 
beiden erften Synoptifer die Jünger, als fie mit Jeſu allein 
find, die Frage an ihn richten, warum fie nicht im. Stande 
gewefen feien, den Dämon auszutreiben? was er nun bei 
Matthäus zunächſt auf die erwähnte Weife aus ihrem Uns 
glauben, bei Marfus aber daraus erklärt, daß räro To yEros 
er 8öeri Övraras EbeAdeir, ei um 89 NVogevyn nal vngeir, Was 
auch Matthäus nach den .Reden über Unglauben und Glau⸗ 
bensmacht noch hinzufügt. Dieß feheint nun bei Matthäus 
eine üble Zufammenfegung zu geben; denn wenn zu der Hei⸗ 
lung Faſten und Beten erforderlich war: fo hätten die Jünger, 
falls fie nicht vorher gefaftet hatten, auch mit dem fefteften 
. Glauben den Dämon nicht auszutreiben vermocht. *) Ob nun 
die Auskunft. genüge, die beiden von Jeſu nambaft gemachten 
Gründe der Unwirffamfeit der Jünger dadurch zu vereinigen, 
daß man Faften und Beten eben als Stärfungsmittel des 
Glaubens betrachtet, *°) oder ob mit Schleiermader eine 
Zufammenftelung von nicht zufammengehörigen Ausfprüchen 
anzunehmen fei, bleibe hier dahingeftellt. Daß übrigens eine 
jolche geiftige und leibliche Diät des Erorciften auf den Ber 
feflenen von Wirkung fein follte, hat man befremdlich gefunden, 
und indem man eine folcye mit Borphyrius *°) eher dem Kran- 
fen angemeſſen dachte, hat man Die moosevyy nei vnzei« ald eine 
dem Befeflenen, um die Kur radical zu machen, gegebene Vor⸗ 
fehrift angefehen. ?) Allein in offenbarem Widerfpruch gegen 
die Erzählung. Denn wenn Faften und Beten von Seiten des 
Kranken zum Gelingen der Kur erforderlich geweſen wäre: fo 
hätten wir eine allmählige Heilung und Feine plöglicdhe, was 





44) Schleiermacher, S. 150. 
5, Koͤſter, Immanuel, S. 1975 Fritzſche z. d. St. 

a46) De abstinent. 2, p. 204 und 417 f. ©. Winer, 1, S. 191. 
) Paulus, exeget. Handb. 2, ©. 471 f. 


Neuntes Kapitel, $. 93. 41 


doch alle Kuren find, die in den Evangelien von Jefu erzählt 
werden, und wie namentlich dieſe Durch das xai adsganeudn 
6 nais ano tig wong Exeivns bei Matthäus, fowie durch das 
zwifchen eneriunoe x. 1. A. und anedaxe x. z. A. hineingeftellte 
ixcaro bei Lukas deutlich genug bezeichnet ift. Freilich will 
Paulus jenen Ausdrud des Matthäus gerade zu feinem Bor: 
"theil wenden, indem er ihn fo verfteht, von jener Zeit an fei 
nun der Knabe durch Anwendung der vorgefchriebenen Diät alls 
mählig vollends gefund geworden. Allein man darf nur Die 
felbe Formel, wo fie fonft in den Evangelien ald Schlußformel 
von Heilungsgefchichten vorfommt, betrachten, um ſich von der 
Unmöglichfeit jener Deutung zu überzeugen. Wenn z. B. die 
Gefchichte von ver Heilung Der Olutflüffigen mit der Be: 
merfung fchließt (Matth. 9, 22.): zul Erod7.%7 your ano tie 
Soag Exeivng, jo wird man dieß Doch nicht überfegen wollen: 
. et exinde mulier paulatim servabatur, ſondern es fann nur 
heißen: servata est (et servatam se praebuit) ab illo tem- 
poris momento. Ein Anderes, worauf fi Baulus beruft, 
um zu beweifen, daß Jeſus hier ein fortzufegendes Heilverfahs 
ren eingeleitet habe, ift das anedwxer aurov za narol avra 
bei Lukas, was nach ihm ziemlich überfläflig wäre, wenn es 
nicht ein 1lebergeben zu befonderer Fürforge bezeichnen follte. 
Allein anodidsom heißt nicht zunächft übergeben, fondern zu- 
rüdgeben, und fo liegt in dem Sage nur der Sinn: puerum, 
quem sanandam acceperat, sanatum reddidit, oder, daß 
er den einer fremden Gewalt, des Dämons, verfallenen Sohn 
den Eltern al8 den ihrigen zurüdgegeben habe. Endlich, wie 
wilführfich ift e8, wenn Paulus das enzogeveru (Matth. 
B. 21.) in der engeren Bedeutung eines völligen Weggehens 
vom vorläufigen Ausfahren, was fchon auf das Wort Jeſu 
(DB. 18.) gefchehen fei, unterfcheivet. Go daß uns aud 
hier feine Kur berichtet ift, welche Tage und Wochen 


gedauert hätte, fondern, wie fonft immer, eine in @inem . 


Wunderact vollendete; weßwegen denn auch Die mooseuyy und 
mseia nicht als Vorſchrift für den Patienten gefaßt werden 
fönnen. 





43 Zweiter Abſchniet. 


Zu dieſer ganzen Geſchichte muß eine analoge Erzaͤhlung 
aus 2 Kön. 4, 29 ff. verglichen werden. Hier will ber 
Prophet Elifa einen geftorbenen Knaben dadurch wieder zum 
Reben bringen, daß er feinen Knecht Gehaft mit feinem Stabe 
fendet, welchen dieſer dem Zodten auf das Angeficht legen 
fol; aber das Vornehmen ded Knechts bleibt ohne Erfolg, 
und Elifa muß felbft fommen, um den Knaben in's Leben zu 
rufen. Das gleiche Verhaͤltniß, wie in dieſer U. T. lichen 
Gefchichte zwifchen dem Propheten und feinem Diener, fehen 
wir in der N. T. lichen Erzählung zwifchen dem Meſſias und 
feinen Juͤngern, daß dieſe ohne ihn nichts thun koͤnnen, daß 
aber er, was ihnen zu ſchwer ift, mit Sicherheit vollbringt. 
Eben damit aber fehen wir auch die Tendenz beider .Erzähs 
lungen: fie ift, durch Hinmweifung auf den Abftand zwifchen 
ihm und felbft feinen vertrauteften Schülern den Meifter zu 
heben; oder, wenn wir die vorliegende evangelifche Erzählung 
mit der von ben gadarenifchen Befeffenen zufammenhalten,, fo 
fönnen wir fagen: wie jener früher ermogene Yal an fi 
ſelbſt als einer von höchfter Echwierigfeit gefchilvert wurde, 
fo diefer durch das Verhaͤltniß, in welches die demfelben ge⸗ 
wachfene Kraft Jeſu zu der, wenn auch fonft noch fo großen, 
doch hier nicht ausreichenden Kraft feiner Jünger geftellt 
wird. | 

Bon den übrigen, Fürzer erzählten Dämonenaustreibungen 
ift die Heilung eines bämonifch Stummen und eines ebenfo 
Blinpftummen oben bei Gelegenheit des daran fich Fnüpfenden 
Vorwurfs eines höllifchen Bünpnifles, fo wie Die der zuſam⸗ 
mengebüdten Frau in der allgemeinen Betrachtung über die 
Dämonifchen bereitd genügend zur Eprache gefommen; die ber 
befeffienen Tochter des, Fananäifchen Weibes aber (Matth. 15, 
22 ff. Marc. 7, 25 ff.) hat nur das Eigenthümliche,. daß fie 
von Jeſu durch ein Wort aus der Entfernung bewirft wird, 
wovon fpäter. 

Wenn nun den evangelifchen Berichten zufolge in alfen 
diefen Faͤllen die Austreibung des Daͤmons Jeſu gelungen ift: 
ſo bemerkt Paulus, daß dieſe Art von Heilungen, unerachtet 





’ 


Reunteß Karitel. 5. 93. 43 


fie für Ras Anſehen Jeſu bei der Menge das Meiſte gewirkt 
habe, doch an fich Die leichteſte geweſen fei, un» auch de 
Wette will für die Heilung der Dämoniſchen, aber auch nur 
für fie, eine pſychologiſche Erklärung gelten laſſen; 8) Bemers 
fungen, welchen wir nicht werden umhin können, beizutreten, 
Denn fehen wir als die wirffiche Grundlage des Zuftandes 
der Dämonifchen eine Art-von Verrückung mit krampfhafter 
Stimmung des Nervenſyſtems an, fo wiflen wir, daß auf 
pfuchifche und Nervenkrankheiten am eheſten auch pſychiſch ein⸗ 
zumirfen iſt, eine @inwirfung, zu welcher bei dem überwies 
genden Anfehen Jeſu als Propheten und fpäter felbft als des 
Meſſias alle Beningungen vorhanden waren. Run aber findet 
unter folchen Zuftänden eine bedeutende Abftufung ftatt, je 
nachdem ſich die pſychiſche Perrückung mehr oder weniger auch 
ſchon körperlich firirt hat und Die Verftimmung dee Merven- 
fuftems mehr oder minder babituell geworden und in Die 
übrigen Syſteme übergegangen if. Es ſtellt ſich alfo ber 
Kanon: je mehr das Uebel bloß in einer Verſtimmung bes 
Gemüthes lag, auf welches Jeſus unmittelbar durch fein Wort 
geiftig wirken konnte, oder in einer leichteren des Nervenfnftems, 
auf welches er durch Vermittelung des Gemüthes gewaltigen 
Eindruck zu machen im Stande war: deſto cher war es mög» 
lich, daß Jeſus As (Matth. 8, 16.) und raeareina (Luc, 
13, 13.) dergleichen Zuftänden ein Ende machen konnte; je 
mehr aber umgefehrt das Uebel fih auch ſchon als Fürperliche 
Krankheit feftgefegt hatte, deſto ſchwerer ift auzunchmen, daß 
Jeſus im Stande geweſen fei, auf rein pſychologiſche Weiſe 
und augenblidiich Hülfe zu ſchaffen. Ein zweiter Kanon er 
gibt fih Daraus, Daß, um bedeutend geiftig einwirken zu 
fönnen, das ganze Anfehen Jeſu ale Propheten mitwirken. 
mußte; weßwegen er in Zeiten und Gegenden, we er längft 
in dieſem Rufe fand, leichter auf jene Weiſe wirfen konnte, 
als wo nicht. 


38) Paulus, exeg. Handb. 1, b, S. 438. L. J. 1, a, ©. 223; de 
Wette, bibl. Dogm. $. 222, Anm. c. 


44 | | Zweiter Abſchnitt. 


An diefe beiden Maßftäbe die evangelifchen Erzählungen 
gehalten, fteht der erften, von dem Vorgang in der Synagoge 
zu Kapernaum, fobald man nur davon abgeht, fie ald durchaus 
hiftorifch zu betrachten, nicht mehr allzuviel entgegen. Denn 
ob fie gleich fo lautet, als hätte der Dämon Jefum aus fich 
felbft erfannt, fo kann doch theild der in jenen Gegenden be- 
reitö ſich ausbreitende Ruf Jefu, theild feine gewaltige Rede in 
der Synagoge, auf den Dämonifchen den -Eindrud, wenn auch 
nicht, daß Jeſus der Meſſias fei, wie die Evangeliften fagen, 
doch, daß er ein Prophet fein müfle, gemacht, und fo feinem 
Worte Nachdruck gegeben haben. Was aber den Zuftand des 
Kranfen betrifft, jo wird und nur von ber firen Idee deflelben, 
befefien zu fein, und von Frampfhaften Anfällen gemeldet, welche 
möglicherweife von der leichteren Art gewefen fein Fönnten, der 
fi) auf pfochologifhem Wege beifommen ließ. Schwieriger 
in beiden Hinfichten ift die Heilung der Gadarener. Denn 
einmal war Jeſus am jenfeitigen Ufer nicht fo befannt, und 
dann wird uns der Zuftand derfelben als ein fo heftiger und 
- eingewurzelter Wahnfinn gefchildert, daß hier ſchwerlich ein 
Wort Jeſu genügen Ffonnte, um dem fchredlichen Zuftand ein 
Ende zu machen. Hier reicht fomit die natürliche Erflärung 
von Paulus nicht hin, fondern, wenn überhaupt noch etwas 
von der Erzählung ftehen ‚bleiben fol, fv müßte man annehmen, 
- daß, wie andere Theile derfelben, fo namentlich die Schilderung 
von dem Zuftande des Kranfen, fagenhaft übertrieben fei. Eben- 
dieß wäre in Bezug auf die Heilung des mondfüchtigen Kna⸗ 
ben anzunchmen, da eine von Kindheit an (Marc. B. 21.) 
- dauernde, fo heftige und in beftimmten Perioden fich wieder: 
holende Epifepfie etwas zu fehr im Körper Cingewurzeltes ift, 
ald daß die Möglichkeit einer fo fehnellen reinpischologifchen 
Hülfe glaublich fein Fönnte, Daß aber felbft Stummheit und 
vieljährige Verfrümmung, welche doch nicht mit Paulus als 
bloße närrifche Einbildung, man dürfe nicht reden oder fich 
aufrichten, ?°) genommen werden fann, auf ein Wort gewichen 


®») Exeg. Handb. 3. d. St. 








Neuntes Kapitel. $. 93, 45 


fei, wird man ohne vorgefaßte dogmatiſche Meinungen ſich nicht 
überreden fönnen. Am wenigften endlich läßt fich denken, daß 
auch ohne das Impoſante feiner Gegenwart der Wunderthäter 
aus der Ferne habe wirfen Fönnen, wie dieß Jeſus auf die 
Tochter des Fananäifchen Weibes gethan haben fol. 

So fehr fich alfo der Natur der Eache nad annehmen 
ließe, daß Jeſus manche Perfonen, welche an vermeintlich bä- 
monifcher Verrüdung oder Nervenftörung litten, auf pfychifche 
Meife, durch die Uebermacht feines Anfehens und Wortes, ge⸗ 
heilt habe: ſo augenſcheinlich iſt es doch (wenn man nicht mit 
Venturinid®) und Kaiſers vermuthen will, Kranke dieſer 
Art haben ſich nicht ſelten geheilt geglaubt, wenn nur durch 
Jeſu Einwirkung die Kriſis gebrochen war, und die Referenten 

haben ſie dafür ausgegeben, weil ſie nichts Weiteres von ihnen 
erfuhren, und alſo von der wahrſcheinlich wiedergekehrten Krank— 
heit nichts wußten), daß die Sage auch in dieſem Felde nicht 
gefeiert, ſondern die leichteren Fälle, welche allein auf jene 


Weife furirt werben konnten, mit ben fehwerflen und compli- 
eirteften vertaufcht hat, auf welche eine pfochologifche Heilart 


gar Feine Anwendung finden Fonnte 59) Ob fich hiemit die 
obige Verweigerung jeded Zeichens von Eeiten Jeſu vereinigen 
laſſe, oder ob, um diefe begreiflich zu finden, auch folche pfucho- 
logiſch erflärbare Heilungen, welche aber Doch nur als Wunder 
erſcheinen konnten, Jeſu abgefprochen werden müflen ? fol hier 
nur als Frage aufgeftellt werden. 

Werfen wir fchließlich noch einen Blid auf das johan- 
neiſche Evangelium, welches von Dämonifchen und deren Hei- 
lung durch Jeſum nichts hat, fo ift Dieß dem Apoftel Johannes, 
dem vorausſetzlichen Verfaffer, nicht felten als ein Zeichen ge- 


60) Natürlihe Geſchichte u. ſ. f. 2, S. 429. 

31) Bibl. Theologie, 1, ©. 196. 

52) Zu den vorübergehenden Verftimmungen, auf weiche Jeſus pfychologifch 
eingewirkt haben kann, läßt fich vielleicht auch der Fieberanfall ber 
Schwiegermutter Petri zählen, welchen Jeſus nad; Matth. 8, 11 ff. 
paran. gehoben hat. 











46 Iweitee Abſchaitt. 


läuterter Anfichten zum Vortheil angerechnet worden. 59) Allein, 
wenn der genannte Apoftel an wirkliche Teufelöbefigungen nicht 
glaubte, fo hatte er als Verfaſſer des vierten Evangeliums, 
“der gewöhnlichen Anficht von feinem Verhältniffe zu den Eyn- 
optifern zufolge, die beitimmtefte Veranlaffung, fie zu berichti- 
gen, und der Verbreitung einer nach feiner Anfisht falfıhen 
Meinung durch eine Darftellung diefer Heilungen vom richtigen 
Gefichtepunfte aus vorzubeugen. Doch wie funnte der Apoftel 
Johannes zur Verwerfung der Anficht, daß jene Krankheiten 
ihren Grund in dämonifchen Beilgungen haben, fommen? Sie 
war nach Sofephus jüdfche Volksanſicht in jener Zeit, von 
der ein paläftinifcher Jude, der, wie Johannes, erjt in fpäteren 
Jahren in das Ausland wanderte, nicht mehr im Stande war, 
ſich loszumachen; fie war, der Natur der Sache und den ſyn⸗ 
optifisen Berichten zufolge, Wuficht Jeſu felbit, feines ange: 
beteten Meifters, von welcher der Lieblingsjünger gewiß feinen 
Finger breit abzuweichen geneigt war. Theilte aber Johannes 
mit feinen Volfegenoflen und Jeſu felbit die Annahme wirklicher 
Dämonenbeſitzungen, und bildete die Heilung folcher Perſonen 
eiren Haupttheil, ja vielleicht die eigentliche Grundlage der an⸗ 
geblichen Wundershätigfeit Jeſu: wie fommt ee, daß er deflen- 
ungeachtet in feinem &vangelium ihrer keine Erwähnung thut? 
Daß er jte übergangen habe, weil die übrigen Evangeliften genug 
dergleichen &efchichten aufgenommen hatten, follte man doch 
endlich aufhören zu fagen, da er ja mehr als Eine von ihnen 
ſchon berichtete Wundergeſchichte wiederholt hat; und fagt man, 
diefe babe er wiederholt, weil fie der Berichtigung bedurften, 
fo haben wir bei Erwägung der Ipnoptifchen Relationen von 
den Heilungen der Dämoniſchen gefehen, daß bei manchen der⸗ 
felben eine Zurüdjührung auf die einfache gefchichtliche Grund» 
lage gar fehr am Orte gewefen wäre. So bliebe noch, daß 
Johannes aus Arbequemung an die griehifhe Cultur ber 


53) So mehr oder minder von Eichhorn, in der allg. Bibliothek, 4, ©. 
4355 Herder, von Gottes Sopn u. ſ. f., S. 205 Wegfcheider, 
Ein. in das Evang. Joh. ©. 313.5 de Wette, bibl, Dogm. $. 269. 








Neuntes Kapitel. $. 94. 47 


- Kleinaftaten, unter welchen er gefchrieben haben fol, die ihnen 
unglaublichen oder anftößigen Dämonengefrhichten aus feinem 
Evangelium weggelaflen hätte. Aber konnte und durfte wohl, 
muß man auch hier .fragen, ein Apoftel aus bloßer Accommos 
dation an die feinen Ohren feiner Zuhörer einen fo wefentlichen 
Zug des Wirfens Jeſu zurüdbehalten? Gewiß vielmehr deus 
tet auch dieſes Stillſchweigen bei Vorausfegung der Aechtheit 
ber drei erſten Evangelien auf einen Verſaſſer hin, welcher die 
Wirkſamkeit Jeſu nicht aus eigerer Anfchauung kannte; bei 
unfrer Anficht aber wenigftens auf einen folchen, dem nicht die 
urfprüngliche, paläftinifche, fordern nur eine durch helleniſchen 
Einfluß modificirte Tradition zu Gebote ftard, in welcher das 
her die der höheren griechifchen Bildurg weniger entfprechenben 
Dämsnenaustreibungen entweder ganz verfchwunden, oder doch 
fo zurüdgetreien waren, daß ſie vom Verſaſſer des Evangeliums 
uͤbergangen werden konnten. 


6. 94. 
Heilungen von Ausſaͤtzigen. 


Unter den Kranken, welche Jeſus heilte, ſpielen, gemäß 
dem leicht Hautkrankheiten erzeugei.den Klima von Raläjtina, 
bie Ausfägigen eine Hauptrolle. Wo Jeſus der fynoptifchen 
Erzählung zufolge Die Abgeſandien des Täuſers auf die factifchen 
Beweiſe feiner Meflianität hinweist (Math. 11, 5.), jührt er 
unter diefen auch Das Aempoi nudapıicoru auf; wo er feine 
Jünger bei der erften Ausfendung zu allerhand Wunderthaten 
bevollmächtigt, ftellt er die Reinigung der Ausfägigen cben an 
(Matth. 10, 8.), u.:d zwei Fälle von folchen Heilungen werben 
uns im Einzelnen berichtet. 

Der eine Fall ift allen Synoptikern gemeinfchaftlich, wie⸗ 
wohl fie ihn in verſchiedenen Zuſammenhang ſtellen. Matthäus 
nämlich läßt Jeſu beim Herabgehen von dem Berge, auf mwel- 
chen er die Bergrede gehalten (8, 1. ff.), Die übrigen in un— 
beftimmter Stellung am Anfang feiner galilä.frhen Wirkfamfeit 
(Marre. 1, 40 ff. Luc. 5, 12 ff.), einen Ausſaͤtzigen begegnen, 


| 48 Zweiter Abfchnitt. 


per ihn fußfällig um Heilung anfleht, und dieſe auch durch 
eine Berührung Jeſu erhält, welcher ihn fofort anmeist, fich 
dem Geſetze (3 Mof. 14, 2 ff.) gemäß dem Priefter zur Rein- 
erflärung zu ftellen. Der Zuftand des Menfchen wird von 
Matthäus und Marfus einfach durch Asmoos, von Lufas ftär- 
fer durch mAnons Aempas bezeichnet. Nah Baulus freilid 
war eben diefes Vollfein von Ausfag ein Symptom der Heil⸗ 
barfeit, indem das Ausfchlagen und Abblättern des Ausſatzes 
auf der ganzen Haut die Reinigungsfrifis bezeichne, und dem⸗ 
gemäß ftellt fich jener Ausleger den Hergang folgendermaßen 
vor. Der Ausfägige geht Jeſum als den Meffiad um ein 
Gutachten über feinen Zuftand, und nady Befund um eine 
Reinerflärung, an (ei Heleıs, Övraoai ne nadapice), welche 
ihm den Gang zum Priefter entweder erfparen, oder doch eine 
tröſtliche Hoffnung auf denfelben mitgeben follte. Jefus, indem 
er fich zu einer Unterſuchung bereit erflärt (H&Ao), ſtreckt die 
Hand aus, um ihn zu befühlen, ohne daß doch der vielleicht 
noch anftedende Kranfe ihm zu nahe fäme, und nach genauer 
Unterfuchung fpricht er als Ergebniß derfelben die Meberzeugung 
aus, daß die Krankheit nicht mehr auftedend fei (kadapicdntu), 
worauf ſich denn wirklich bald und leicht (eudcwg) der Ausfat 
vollends ganz verlor. ') 

Hier ift vor Allem die Behauptung, der Ausfätige ſei 
gerade in der Neinigungsfrife gewefen, dem Texte fremd, wel 
cher bei den erften zwei Evangeliften von Ausfag fchlechtweg 
fpricht, während das mAnons Arnoas des dritten nichts Andres 
bedeuten kann, als das A. T. liche a9) vyoxp (2 Moſ. 4, 6. 

4 Moſ. 12, 10. 2. Kön. 5, 27.), was dem Zuſammenhang 
nach jedesmal den höchſten Grad des Ausſatzes bezeichnet. Daß 
das xadepilew nach hebräifchem und helleniſtiſchem Sprachge⸗ 
brauch auch bloß reinerklären bedeuten könne, iſt zwar nicht in 
Abrede zu ſtellen, nur müßte es dieſe Bedeutung in dem ganzen 
Abſchnitte beibehalten. Daß nun aber, nachdem von Jeſu er⸗ 
zählt war, er habe das xasagiodnn geſprochen, Matthäus 


4) Ereg. Sande, 1, b, &, 698 ff. 








Reuntes Kapitel. $. 94. 49 


noch ein zul eiudeEnc Enadeaeiodn x. r. A. in dem Sinne, daß 
alfo der Kranfe wirklich von Jeſu reinerflärt worden fei, bins 
zugefügt haben follte, ift der albernen Tautologie wegen fo 
undenfbar, daß bier, aber dann auch im ganzen Abfchnitt, 
das nudaeileodu: von wirklichem Gereinigtwerden zu nehmen 
if. An das Aempoi nadagilorens (Matth. 11, 5.) und Aemuas 
radagilere (Matth. 10, 8.), wo doch das letztere Wort weder 
bloße Reinerflärung, noch auch etwas Anderes als in ber vors 
liegenden Erzählung bezeichnen fann, genügt es zu erinnern. 
Woran aber die natürliche Deutung der Anekdote am entfchie- 
denften fcheitert, das ift die Zerreißung des Hin, nadarpiodrnn. 
Mer wird fich überreden fönnen, daß diefe in allen drei Be- 
richten unmitfelbar verbundenen Worte durch eine ziemliche 
Pauſe getrennt geweſen, daß das Hrw bei oder eigentlich vor 
dem Befühlen, das xudapiodru aber nach demfelben gefprochen 
worden fei, da Doch fämmtliche Evangeliften beide Worte ohne 
Unterfchied während der Berührung geſprochen fein laſſen? 
Gewiß würde, wenn der angegebene Sinn ‚der urfprüngliche 
wäre, wenigftens Einer der Evangeliften, ſtatt des nweazo 
avıa 6 Inoũs Asywor Ben, xadrpiodnnu, fagen: 6 I. anexpi- 
varo' HEAD, nal ayausvog avrd eine nadapiodnn. Iſt aber 
das nudroiodnn in Einem Zuge mit Han gefprochen, fo daß 
Jeſus lediglich in Folge feines Willens, ohne dazwifchen ein» 
getretene Ulnterfuchung, das xadapilesdmı eintreten ließ: fo 
fann dieß unmöglich eine Reinerflärung, wozu es einer vors 
gängigen Unterfuchung bedurfte, fondern muß ein wirfliches 
Reinmachen geweſen fein. In diefem Zufammenhang ift dann 
au das anreodm nicht von unterfuchender Berührung zu 
verftehen, fondern, wie fonft immer in folchen Erzählungen, 
von heilender. | 

Für feine natürlihe Erklärung dieſes Vorgangs beruft 
fih Paulus auf den Kanon, daß überall in einer Erzählung 
das -Gewöhnliche und Ordentliche vorausgefegt werden müfle, 
wo nicht das Gegentheil ausdrücklich angegeben fel;) ein 


2) A. a. D. ©. 705 u. ſonſt. 
IL Rand. 4 


*9 Zweiter Abſchnitt. 


Kanon, welcher an der, der ganzen rationaliſtiſchen Auslegung 
eigenthuͤnlichen Zweideutigkeit leidet, was für uns, und was 
für die auszulegenden Schriftfteller gewöhnlich und ordentlich 
ift, nicht zu unterfcheiden. Allerdings, wenn ich einen Gibbon 
vor mir habe, fo darf ich in feinen Erzählungen, fofern er 
nicht ausdrücklich das Gegentheil anmerft, nur natürliche Urs 
fadyen und Vorgänge vorausfegen, weil von der Bildung eines 
folhen Schriftftelers aus das Uebernatürliche höchſtens ale 
feltenfte Ausnahme denkbar ift: ſchon anders verhält fich dieß 
bei einem He rodot, in deſſen Borftellungsweife das Eingreifen 
höherer Mächte keineswegs ungewöhnlich und außer der Ord⸗ 
nung ift, und vollends in einer auf jüdiſchem Boden gewach⸗ 
fenen Anefnotenreihe, deren Zwed ift, ein Individuum als höch- 
fen Propheten, ald mit Gott innigft verbundenen Menſchen 
barzuftellen, verſteht ſich Das Uebernatürliche fo fehr von felbft, 
daß jener rationaliftifche Kanon fih dahin umfehrt:. wo in 
folchen Erzählungen auf Erfolge Gewicht gelegt ift, welche, 
als natürliche betrachtet, Feine Wichtigkeit haben würden, ba 
müßten übernatürliche Urfachen ausprüdlich ausgeſchloſſen fein, 
wenn nicht, daß folche im Spiele gewefen, als Anficht des Er- 
zaͤhlers vorausgefegt werden follte. In. der vorliegenden Ges 
ſchichte ift überdieß das Außerordentliche des Hergangs dadurch 
hinlänglish angedeutet, daß es heißt, auf Jefu Wort habe ben 
Kranken ver Ausfay alsbald verlaffen. Sreilich weiß Paulus, 
wie fchgn bemerkt, dieſe Angabe auf eine allmählige natürliche 
Genefung zu deuten, da eudene, wodurch die Evangeliften Die 
Zeit derfelben beftimmen, je nach dem verſchiedenen Zufammen- 
hange has einmal fogleich bebeute, das andremal nur bald und 
ungehindert. Dis eingeräumt, fol nun das bei Markus in 
unmittelbarem Zufammenhang folgende eudEws EdsßaAer auror 
(8- 43.) fagen wollen, bald umd ungehindert habe Jeſus den 
Geheilten Hinausgetrieben? Oder fol in zwei aufeinander fols 
geben Verſen das Wort in verfchiedenem Sinne genommen 
werden‘? | 
Iſt fomit nach der Abficht der evangelifchen Referenten 
von einem augenblidlichen Verſchwinden des AYusfages auf dad 











Neuntes Kapitel. $. 9. 8 


Wort und die Berührung Jeſu hin die Rebe: fo tft, fich dieß 
denkbar zu machen, freilich noch eine ganz andere Aufgabe, ats 
die, das augenblidliche Zurechtbringen eines mit firer Idee Ber 
hafteten, oder einen bleibend ftärfenden Einprud auf einen Ner⸗ 
venfranfen fich vorzuftellen. Daß eine, in Folge tiefer Ver⸗ 
berbniß der Säfte durch den hartnädigften und bösartigften 
aller Ausfchläge zerfreffene Haut durch ein Wort und eine Ber 
rührung augenbliflih rein und gefund geworden fein follte, 
dieß iſt, weil e8 etwas einer langen Reihe von Bermittlungen 
Bedürftiges ald unmittelbar eingetreten darftellt, fo undenkbar, ®) 
daß ed jeden, der außerhalb gewiſſer VBorurtheile fteht (was 
der Kritifer immer foll), unwillfürli an das Fabelreich erins 
nern muß. Und im fabelhaften Gebiete morgenlänbifcher, näher 
‚ jüdifcher, Sage finden wir wirklich das plögliche, fowohl Ents 
ftehen- als Verſchwindenmachen des Ausfages zuerft. Als Je⸗ 
hova den Mofes zum Behuf feiner Sendung nad) Aegypten 
mit der Fähigkeit, allerlei „Zeichen zu thun, ausrüftete, hieß er 
ihn unter Anderem auch feine Hand in. den Bufen fledlen, und 
als er fie herauszog, war fie von Ausſatz bevedt: er mußte 
fie noch einmal bineinfteden, und beim abermaligen Heraus- 
ziehen war fie wieder rein’ (2 Mof. 4, 6.7.). Später, wegen 
eines Empörungsverfuch8 gegen Mofes, wurde feine Schwefter 
Mirjam plöglich mit Ausſatz gefchlagen, aber auf die Fürbitte 
des Mofes bald wieder geheilt (4 Mof. 12, 10. ff.). Beſon⸗ 
ders aber fyielt unter den Wunberthaten des Propheten Elifa 
die Heilung eines Ausfägigen, deren auch Jeſus (Luc. 4, 27.) 
gebenft, eine bedeutende Rolle. Der fyrifche Feldherr Naeman, 

welcher am Ausfage litt, wandte ſich an den israelitifchen ‘Bro- 
pheten um Hülfe; dieſer ließ ihm die Weifung ‚geben, er folle 
ſich fiebenmal im Jordan wafchen, worauf auch wirklich der 
Ausſatz wich, welchen aber der Prophet fpäter veranlaft war 
auf feinen betrügerifchen Diener Gehafi überzutragen (2 Kön. 
5... Ich wüßte nicht, was wir außer dieſen A.T.lichen 
Vorgängen noch weiter bebürfen follten, um die Entftehung 


3) But. Haſe, 8. 3. $. 86. 
4% 


52 Zweiter Abfchnitt. 


der evangelifchen Anekdote erflärbar zu finden. Was der erfte 
Goel in Jehova's Auftrag vermochte, Das, wie gefagt, mußte 
auch der zweite zu thun im Stande fein, und ohnehin hinter 
einem Propheten durfte der Propheten größter nicht zurüdblei- 
ben. Waren hienady ohne Zweifel ſchon in dem jüdifchen Mef- 
fiasbilde dergleichen Heilungen mitbegriffen, fo waren noch be 
ftimmter die Chriften, welche ven Mefftas in Jeſu wirflich er- 
fhienen glaubten, veranlaßt, feine Gefchichte durch folche aus 
der mofaifchen und prophetifchen Sage genommene Züge zu 
verherrlichen, nur daß fie dem milden Geifte des neuen Bundes 
(Luc. 9, 55 f.) gemäß die ftrafende Eeite jener alten Wunder 
wegließen. 

Etwas mehr Schein hat die cationalififche Berufung auf 
ben Mangel einer ausdrüdlichen Angabe, daß eine wunderbare 
Reinigung vom Ausfage gemeint fei, bei der Erzählung von 
den zehn Ausfägigen, welche dem Lukas eigenthümlich ift (17, 
12 ff.). Hier nämlich verlangen weber die Kranken ausdrück⸗ 
lich die Heilung, fondern fie rufen nur: eAd7oov Tuäs, noch 
thut Jeſus ein hierauf fich beziehendes Machtwort, fondern er 
weist fie nur an, fich den Prieftern zu zeigen, wad man benn 
rationaliftifcherfeits nicht fäumt, dahin zu erflären, daß Jeſus, 
nach genommener Kenntniß von ihrem Zuftande, fie ermuntert 
habe, fich der priefterlichen Bifitation zu unterwerfen; dieß 
habe wirflich ihre Reinfprechung zur Folge gehabt, und der 
Samariter fei umgefehrt, um Jeſu für feinen ermuthigenden 
Rath zu danken.) Allein fo angelegentlich), wie es hier be- 
fehrieben wird, durch ein zimzew eni nyooonov, dankt man 
nicht für einen bloßen Rath, noch weniger konnte Jeſus ver: 
langen, daß um des Erfolges dieſes Rathes willen alle Zehne 
hätten umfehren follen, und zwar um Gott die Ehre zu geben 
— fol! man nun fagen dafür, daß er Jefum befähigt habe, 
ihnen einen fo guten Rath zu ertheilen? Nein, foudern hier 
wird eine reellere Leiſtung vorauegefegt, und Diefe gibt Die 
- Erzählung wirklich an, wenn fie ſowohl die Umkehr des Sa⸗ 


— —— 


8) Paulus, 8. J., 1, b, S. 68. 








Reuntes Kapitel. $. 94. 53 


mariters durch Idor or iadn- begründet, als auch Jeſum den 
Grund, warum er von Allen Dank erwartet hätte, Durch oͤxl 
oi ötna sxadapiodnoar; ausfprechen läßt, was Beides Doch nur 
höchft gezwungen fo erflärt werden Tann, daß, weil fie gefehen, 
wie Jeſus mit feiner Reinerflärung Recht gehabt, der eine wirk- 
lich umgefehrt fei, ihm zu danken, die übrigen aber hätten um⸗ 
fehren ſollen. ntfcheidend aber gegen die natürliche Erklärung 
ift der Satz: 87 1 Umayeır avrss Enadapiodnoar. Wollte hier 
nach jener Deutung ber Referent bloß fagen: wie die Kranken, 
beim Priefter angefommen, ſich ihm zeigten, wurden fie für 
rein erklärt: fo mußte er wenigftens fegen: mogevdsrzes exe- 
drpiodnoar: wogegen nun die abfichtsvolle Wahl des &# za 
dnayeır unmwiderfprechlich zeigt, daß von einem Reinwerden wäh- 
rend des Hingehend Die Rede if. Auch hier alfo haben wir 
eine wunderbare. Ausfagheilung, welche eben denſelben Schwie- 
rigfeiten unterliegt, aber auch ebenfo in ihrer Entftehung er⸗ 
flärbar fcheint, wie Die vorige Anekdote. 

Doch es Fommt bei diefer Erzählung noch etwas Eigen⸗ 
thuͤmliches in Betracht, das ſie von der vorigen unterſcheidet. 
Es iſt hier Feine ſimple Heilung, ja die Heilung iſt nicht ein« 
mal eigentlich die Hauptfache; Diefe liegt vielmehr in dem ver- 
ſchiedenen Betragen der Geheilten, und Die Frage Jeſu: sy of 
. öena enadapiodnger; x. e. 4. (B. 17 f.) bildet Die Spite des 
Ganzen, welches hiemit ganz moralifch fchließt und zum Behuf 
der Belehrung erzählt zu fein feheint. 5) Namentlich daß der 
als Mufter der Dankbarkeit Erfcheinende gerade ein Samariter 
ift, muß bei demjenigen Evangeliften auffallen, welchem auch 
die Lchrrede vom barmherzigen Samariter eigenthümlich ift. 
Wie nämlich in Qiefer zwei Juden, ein: Prieſter und ein Levit, 
ſich unbarmberzig beweifen, ein Samariter dagegen mufterhaft 
barmberzig: fo fteht hier neun undankbaren Juden ein Samas 
riter ald der einzig Danfbare gegenüber. Wie daher, fofern 
doch Die plögliche Heilung diefer Kranfen nicht hiftorifch fein 
fann, wenn wir auch hier, wie bort, eine von Jeſu vorgetras 


5) Schleiermacher, über ben Lukas, ©. 215. 


54 Zweiter Abſchnitt. 


gene Parabel vor uns hätten, welche die Dankbarkeit, wie jene 
die Barmherzigfeit, am Beifpiele eines Samariters darſtellen 
follte, nur aber gefchichtlich verftanden worden wäre? Dieß 
wäre dann fo, wie man fihon behauptet hat, daß es mit der 
Berfuhungsgeichichte ſich verhalte. Doch eben in Bezug auf 
diefe haben wir gefehen, daß und warum Jeſus nie fich felhfl 
unmittelbar in einer Gleichnißrede auftreten laſſen Fonnte, und 
dieß müßte er hier gethan haben, wenn er von zehn Ausfägigen 
erzählt hätte, die er einmal geheilt habe. Wollen wir daher 
den Gedanken, hier etwas urfprünglich Paraboliſches zu haben, 
nicht fallen Taflen, fo hätten wir uns die Sache fo zu denken, 
daß aus der Sage von Heilungen, welche Sefus auch an Aus- 
fäßigen vollbracht habe, einerfeits, und andrerfeits aus Para⸗ 
bein, in welchen Jeſus, wie in der vom barmberzigen Sama- 
riter, Individuen Diefes angefeindeten Volkes ale Mufter ver« 
fihiedener Tugenden aufftellte, die urchriftliche Sage diefe Er- 
zählung zufammengewoben habe, welche ebendaher halb Wun⸗ 
dererzaͤhlung, halb Parabel iſt. 


6. 95. 
Blindenheilungen. 


Eine der erſten Stellen unter den von Jeſu geheilten Kran⸗ 
fen nehmen, gleichfalls nach der Natur des Landes ), die Blin⸗ 
den ein, von deren Heilung wiederum nicht bloß in den allge 
meinen Schilderungen, welche die Evangeliften (Matth. 15, 
30 f. Luc. 7, 21.) oder Jeſus ſelbſt (Matth. 11, 5.) von 
feiner meflianifchen Tchättgfeit geben, die Rebe ift, fondern auch 
einige einzelne Fäaͤlle ausführlich berichtet werben. Und zwar 
mehrere als von den Heilungen der zulegt befchriebenen Art, 

ohne Zweifel, weil die Blindheit, als ein Leiden des feinften 
und complieisteften Organs, mehrere abweichende Behandlungs« 
weiſen zuließ. ine dieſer Bäindenheilungen iſt ſämmtlichen 
Synoptikern gemeinſam; die andern find (ſofern wir den daͤ⸗ 


1,8. Winer, Realm. d. A. Blinde. 











Neuntes Kavttel. F. 9. 


moniſchen Blindſtummen des Matthäus hier nicht wieder zählen) 
je eine dem erſten, zweiten und vierten Evangeliſten eigenthuͤmlich. 
Gemeinſam iſt den drei ſynoptiſchen Evangelien die Er⸗ 
zaͤhlung, daß Jeſus auf ſeiner letzten Reiſe nach Jeruſalem bei 
Jericho eine Blindenheilung verrichtet habe (Matth. 20, 29. 
parall.): aber bedeutende . Differenzen finden ftatt fowohl in 
Beflimmung des Objectd der Hellung, indem Matthäus zwei 
Blinde hat, die beiden andern nur Einen, als aud in Bezug . 
auf_das Local derfelben, indem Lukas fie bei'm Cinzug, Mate 
thäus und Markus beim Auszug aus Jericho vor ſich ‚gehen 
laſſen; auch wiſſen von der Berührung, wittelft welcher nach 
dem erften Evangeliſten Jeſus die Blinden heilt, die beiden ans 
dern Berichterftatter nichts. Bon bdiefen Differenzen mag ſich 
die legte durch die Bemerkung, daß Markus und Lufas Die 
Berührung, bie fie verfchweigen, Darum nidyt laͤugnen, etwa 
töfen laſſen: ſchwieriger ift die erfte, welche Die Zahl ver Ge⸗ 
heilten betrifft. Hier bat man bald mit Zugrundlegung des 
Matthäus gefagt, ed möge ſich einer von beiben Blinden be 
fonders ausgezeichnet haben, weßwegen im die erfle Yleberliefe- 
rung er. allein gefommen ſei; Matihaͤus aber als Augenzenge 
habe ergänzend den zweiten Blinden. hinzugefügt: Go wider 
fprechen weder Lufas und Markus dem Matthäus, denn fle 
läugnen nirgends, daß nicht noch mehrere als nur Der von 
ihnen hervorgehobene Blinde geheilt worden feim; noch Mat⸗ 
thäus den beiden andern, benn wo Zwei feiern, da ſei auch 
Eine.) Mllein wenn der einfache Erzaͤhler von Ginem In⸗ 
dividuum fpricht Cund fogar, wie Markus, deſſen Namen nennt), 
an welchen etwas Außerorbeitliches gefchehen ſei: fo hat er 
offenbar ver Angabe, es fei an zwei Individuen vorgegangen, 
ſtillſchweigend wiverfprochen, mas ausdrücklich zu thun er Feine 
Beranlaffung hatte. Wenn: man ſich aber auf bie andere Seite 
wendet, und, die Einzahl des Markus und Lufas zum Grunde 
legend, von Matthäus, der hier wohl nicht Augenzeuge gewer 
fen fei, vermuthet, fein Referent babe vielleicht‘ den Führer des 


2) Örag, Gommi . Metthı 2, ©. 338. 


36 Zweiter Abſchnitt. 


Blinden für einen zweiten Blinden angeſehen: 9) fo ift damit 
fchon ein wahrer Wiberfpruch zugegeben, nur unnöthigerweife 
eine höchft unmahrfcheinliche Weranlaffung deſſelben erdacht. 
Daß die dritte Differenz, des exzogevousrwor ano\und er 1 
öyyilew eis “Tegıyo, unlösbar fei, Tann, wen die Worte nicht 
überzeugen, aus den gewaltfamen Ausgleichungsverfuchen lernen, 
welche von Grotius bis Paulus darüber aufgeftellt wor⸗ 
den find. - 

Beſſer haben daher die älteren Harmoniften?) gethan, welchen 
deßwegen auch neuere Kritifer beigefallen find, °) wenn fie mit 
Rüdficht auf die zuleßt befprochene Differenz hier zweierlei Be: 
gebenheiten unterfchieden, und annahmen, Jeſus habe zuerft bei'm 
Einzug in Sericho (nach Lufas), dann wieder bei'm Auszug 
(nah Matthäus und Markus) einen Blinden geheilt. Mit 
der andern Abweichung, rüdfichtliy der Zahl, glauben Diefe 
Harmoniften durch die Vorausfegung fertig zu werden, Mat: 
thaͤus habe Die beiden Blinden, den vor und den hinter Jericho 
geheilten, zufammengezählt, und die Heilung von Beiden hinter 
Sericho verfegt. Allein, wenn man der Angabe des Matthäus 
rüdfichtlich der Localität der Heilung fo viel Gewicht beilegt, 
um ihr und ber des Markus zufolge zwei Heilungen, die eine 
vor, die andere hinter der Stadt. anzunehmen : fo weiß ich nicht, 
warum feine abweichende Zahlangabe nicht ebenfoviel Geltung 
haben fol, und Storr fcheint mir confequenter zu verfahren, 
wenn er, auf beide Differenzen gleiches Gewicht legend, annimmt, 
. daß Jeſus zuerft bei'm Einzug nach Sericho Einen Blinden 
(Lufas), dann bei'm Auszug von da zwei Blinde (Matthäus) 
geheilt habe.) Kommt nun aber hiebei Matthäus zu feinem 
vollen Rechte, fo ift dieß hingegen dem Markus verweigert. 
Denn wenn diefer, wie bier gefhieht, um feiner Ortsangabe 
willen mit Matthäus zufammengeftellt ift, fo gefchieht hiedurch 


8) Yaulus, ereg. Handb. 3, a, ©. 44. 

Schulz, Anmerkungen zu Michaelis, 2, ©. 1085. 

5) Sieffert, a. a. D. S. 104. 

6) ueber den Zwed ber eo. Geſchichte unb ber ‚Dr. Joh. &. 345. 


Neuntes Kapitel. 8. 96. 57 


feiner Zahlangabe Gewalt, welche für fich vielmehr eine Zu- 
fammenftelung mit Lukas erheifchen würde: fo Daß, wenn man 
feine feiner Angaben- beeinträchtigen will, was man bei diefer 
Berfahtungsart nicht darf, er von beiden gleicherweife getrennt 
werden muß. So hätten wir drei verfchiedene Blindenheilungen 
bei Jericho: 1) die Heilung Eines Blinden bei'm Einzug, 2) 
die eines weiteren bei’'m Auszug, und 3) die Heilung zweier 
Blinden beim Auszug, alfo zufammen vier Blinde. Den zweis 
ten und dritten Fall nun auseinanderzuhalten, ift freilich ſchwie⸗ 
tig. Denn wenn doch Jeſus zu zwei verfehiedenen Thoren zu 
gleicher Zeit nicht ausgezogen fein kann, fo will fich ebenfowes 
nig das vorftellen laflen, daß er, bloß auf der Durchreife bes 
griffen, nach dem erften Auszug wieder in Die Stadt zurüdger 
ehrt, und fpäter noch einmal ausgezogen fein ſollte. Ueber⸗ 
haupt aber, drei fo ganz ähnliche Vorfälle hier zufammentreffen 
zu lafien, will faum angehen. Schon die Häufung von Blin- 
benheilungen muß- befremden. Beſonders aber wird das Be⸗ 
nehmen der Begleiter Jeſu unbegreiflich, welche, hatten fie einmal 
bei'm Einzug gefehen, daß das ammuar 16 upio, va uwryoy 
nicht in Jeſu Sinne fei, indem er ihn ja zu fich rief, Die 
doch nicht bei dem Auszuge, und zwar zweimal, wiederholt 
haben werden. Storr’n freilich ftört diefe Wiederholung nicht 
in der Annahme von wenigftend zwei Vorfällen diefer Art, denn 
Niemand wiffe ja, ob diejenigen, welche hinter Jericho Stille 
geboten, nicht ganz andre gewefen feien, als die vor der Stadt 
das Gleiche gethan hatten; wenn aber auch, fo wäre eine folche 
Wiederholung eines von Jeſu factifch mißbiligten Benehmens 
zwar unfchidlich gewefen, aber darum nicht unmöglich, da auch 
die Jünger, welche der erften Speifung angewohnt hatten, doch 
vor der zweiten wieder gefragt haben, wo Brot für fo PViele 
herzunehmen fei? — allein das heißt aus der Wirflichfeit einer 
Unmöglichfeit auf die der andern argumentirt, wie wir bald 
genug bei Betrachtung des doppelten Speifungswunders fehen 
werden. Doch nicht allein das Benehmen der Begleiter, ſon⸗ 
dern überhaupt faft alle Züge der Begebenheit müßten fich auf 
die unbegreiflichftie Weife wiederholt haben. Einmal wie das 


58 Zweiter Abfchnitt. 


andere der Ruf der Blinden: &Adnoor Huäs, oder ue, vl daviöt 


hierauf (nachdem ihnen von der Umgebung Stillſchweigen auf: 
erlegt worden). ver Befehl Jeſu, fie zu ihm zu bringen; feine 
Frage, was fle von ihm wollen? ihre Antwort: ſehend werben; 
feine Gewährung ihres Wunſches, worauf fie ihm banfbar 
nachfolgen. Daß ſich dieß Alles dreimal, oder auch nur zwei⸗ 
mal fo wiederholt haben follte, ift eine der Unmöglichkeit gleich: 
£ommende Unmwahrfcheinlichkeit, und es müßte entweder nad 
der von Sieffert in foldhen Fällen angewandten Hypotheſe 
eine fagenhafte Affimilation verfchiedener Facta, oder eine tras 


ditionelle Variation einer einzigen Begebenheit angenommen - 


werben. ragt man fih, um bier zu entfcheiden: was Fonnte, 
einmal eine Bermittelung durch die Sage vorausgefeßt, leichter 
gefchehen, das Eine, daß diefelbe Gefchichte bald von Einem, 


bald von Mehreren, bald vom Einzug, bald vom Auszug er- 


zählt wurde? fo braucht man das Andre gar nicht erft dazu⸗ 
zubenfen, da jenes Erftere fo ohne Vergleichung wahrfcheintich 
ift, daß man feinen Augenblid anftehen kann, «8 als wirklich 
vorauszufegen. Reducirt man aber fo die fcheinbar mehreren 
Facta auf wenigere, fo bleibe man nur nicht mit Sieffert 
bei der Reduction auf zwei ftehen, da hiebei nicht allein bie 
Schwierigkeiten hinfichtlicy Der Wiederholung deſſelben Hergange 
bleiben, fonderm auch die Confequenz verlangt, wenn man bie 
eine Abweichung (in der Zah) als unweſentlich aufgibt, auch 
von der andern Cim Local) zu abitrahiren. Stellt ſich nun, 
- wenn bier nur Eine Begebenheit erzählt werden fol, die weis 
tere Trage, welche der verfchiedenen Erzählungen wohl die ur- 
ferüngliche fei? fo wird die Ortsangabe zu feiner Entſcheidung 
helfen, da genau ebenfogut vor als hinter Jericho ein Blinder 
zu Sefu ftoßen konnte. Eher wird man in Bezug auf die 
Zahl Grund haben, fich zu entfcheiden, und zwar zu Gunften 
des Lukas und Marfus für bloß Einen Blinden. Keineswegs 
zwar aus dem von Schleiermacher angegebenen Grunde, 
weil Markus, der durch die Angabe, wie der Blinde geheißen, 
eine genauere Bekanntfchaft mit den Verhaͤltniſſen beurfunde, 





Reuntes Kapitet. $. 95. 59 


auch nur Einen habe, 7); da dem fo oft auf eigne Hand ins 
dividualiſtrenden Markuo am wenigflen bei den ihm eigenthüms 
lichen Namen zu trauen fein birfte; fondern wegen eines andern 
Umſtandes. | 
| Es fcheint nämlich die Verdoppelung des Blinden bei 
Matthäus durch die Erinnerung an die demſelben Evangeliften 
eigenthümliche Erzählung von eimer früheren Heilung zweier 
Blinden (9, 27 ff.) veranlaßt zu fein. Hier, gleichfalls im 
Weggehen, nämlich von dem Orte, wo er Die Tochter bes 
&oyov wiedererwedt hatte, folgen Jeſu zwei Blinde nach, (hie 
«bei Jericho fiten) und rufen ähnlich wie dort den Davidsſohn 
um Erbarmen an, der fie fofort auch hier, wie dort nad 
Marthäus, durch Handauflegang heilt. Daneben finden fi 
freilich nicht geringe Abweichungen: yon einem Stillegebote der 
Begleiter Jeſu fleht hier nichts, und während. bei Jericho Jefus 
die Blinden fogleich zu fich ruft, kommen fie in dem früheren 
Falle erft zu ihm, als er: wieder zu Haufe ift; ferner, während 
er dort fie fragt, was fie von ihm wollen? fragt er bier 
gleich, ob fie das Bertrauen haben, Daß er fte heiten könne? 
endlich das Verbot, "Niemand etwas zu fagen, ift dem frühe, 
ren Falle eigenthümlih. Bei dieſem Verhaͤltniß beider Erzähs 
(ungen könnte wohl eine Afſtmilation in der Art flattgefunden 
haben, daß dem Matthäus die zwei Blinden und bie Berüh- 
rung Jeſu aus der erſten Anekdote in Die zweite, bie Form 
des Ruf der Kranfen aber aus der zweiten in bie erſte Yinein- 
gefommen wäre. | 
Wie beide Geſchichten angelegt_find, ſcheint für eine na⸗ 
tuͤrliche Erklärung ſich wenig darzubieren. Dennoch haben bie 
rationaliſtiſchen Ausleger eine ſolche zu veranftalten gewußt. 
Daß Jeſus in dem früheren Falle die Blinden fragt, ob fie 
Bertrauen zu ihm. haben, erflärt man dahin, Jeſus habe fich 
überzeugen wollen, ob fie ihm wohl bei der Operation feſthalten und 
fetno weiteren Borfchriften pünktlich befolgen würden; 9 erft zu 


%.a.0. ©. 237. 
®) Paulug, 2.3.1, Ge iR 


60 Zweiter Abſchnitt. 


Hauſe hierauf, um ungeſtoͤrt zu ſein, habe er ihr Uebel unter⸗ 


ſucht, und als er in demſelben ein heilbares (nach Ventu⸗ 


% 


rini?) durd den feinen Staub jener Gegenden bewirktes) 
Uebel erfannte, die Leidenden verfichert, daß ihnen nach dem 
Maaß ihres Zutrauens gefchehen folle. Hierauf fagt Baulus 
nur kurz, Jeſus habe das Hinderniß ihres Sehens entfernt; 
aber auh er muß fich etwas Aehnliches mit Venturini 
denfen, welcher Jeſum die Augen der Blinden mit einem fchars 
fen, von ihm vorher zubereiteten Waffer beftreichen, und fie fo 
von dem entzündeten Staube reinigen läßt, worauf in Kurzem 
ihr Geficht zurüdgefehrt fei. Allein auch dieſe natürliche Er- 
Härung hat nicht die mindefle Wurzel im Texte; denn weber 
fann in der von den Kranfen geforderten zisıs etwas Anderes, 


als, wie immer in ähnlichen Fällen, das "Vertrauen auf Jeſu 


Wundermacdht, gefunden werden, noch in dem miwero eine 
hirurgifche Operation, fondern lediglich jene Berühren, wel- 
ches bei fo vielen evangelifhen Heilungswundern, fei es als 
Zeichen oder als Leiter der heilenden Kraft Jeſu, erfcheint; 
von weiteren Borfchriften zur völligen Herftellung ift ohnehin 
nichts zu bemerken. Nicht anders verhält es fich mit der Hei⸗ 
lung der Blinden bei Sericho, wo überdieß die zwei mittleren 
Evangeliften nicht einmal einer Berührung gedenfen. 

Sollen aber auf dieſe Weife nach dem Sinne der Referenten 
auf das bloße Wort oder die Berührung Jeſu hin Blinde augenblid- 
lich jehend geworben fein : fo werben wohl ähnliche Bedenklichkeiten 
hier eintreten, wie in dem vorigen Falle mit den Ausfägigen. 
Denn ein Augenübel, e8 mag noch fo leicht fein, wie es nicht 
ohne mannichfache Vermittlung entftanden ift, fo wird es noch 
weniger unmittelbar auf ein Wort oder eine Berührung bin 
weichen wollen, fondern es erfordert fehr complicirte, theils 
hirurgifche, theils medicinifche Behandlung, und fo vornehm- 
lich die Blindheit, wenn fie überhaupt heilbarer Art if. Wie 
follten wir uns auch Die plögliche heilende Einwirfung eines 
Wortes und einer Hand auf ein erblindetes Auge vorftellen ? 





— ——— — 


Ratuͤrliche Geſchichte des Propheten von Naz. 2, S. 216. 


—* 


‘ 


- Neuntes Kapitel. $. 95. 61 


rein wunderbar und magifch? das hieße das Denfen über die 
Sache aufgeben; oder magnetifch? allein es ift ohne Beifpiel, 
daß auf dergleichen Llebel der Magnetismus von Einfluß ge 
wefen; oder endlich pſychiſch? aber Die Blindheit ift etwas vom 
_ Seelenleben fo Unabhängiges, felbftftändig Körperliche, daß 
an eine, namentlich plögliche, Hebung derfelben von geiftiger 
Seite her nicht zu denken if. Wir müffen folglich befennen, 
daß eine gefchichtliche Auffaffung diefer Erzählungen ung mehr 
- al8 nur fehwer fällt, und es fommt nun darauf an, ob wir 
die Entftehung unhiſtoriſcher Sagen dieſer Art wahrſcheinlich 
machen koͤnnen. 

Die Stelle iſt bereits angeführt, wo nach dem erſten und 
dritten Evangelium Jeſus den Geſandten des Täufers gegen⸗ 
über, welche ihn zu fragen hatten, ob er der eoroueros ſei, 
fich auf feine Thaten beruft, und vor allen Andern hervor- 
hebt, daß zugAoi wvasiezeoı, zum deutlichen Beweis, daß 
namentlich auch folhe, an Blinden verrichtete Wunder vom 
Meſſias erwartet wurden, wie ja jene Worte aus Jeſ. 35, 5 
‚einer meflianifch gedeuteten Weiffagung, genommen find, und 
auch in einer oben angeführten rabbinifchen Stelle unter den 
Mundern, welche Jehova in der meflianifchen Zeit ausführen 
werde, das hervorgeheben ift, Daß cr oculos caecorum ape- 
riet, id quod per Elisam fecit. !% Eine eigentliche Blind» 
heit nun bat Elifa nicht geheilt, fondern nur einmal feinem 
Diener die Augen für eine Wahrnehmung aus der überfinns 
lichen Welt eröffnet, und dann eine in Folge feines Gebets 
. über feine Feinde verhängte Verblendung wieder aufhören laſſen 
(2 Kön. 17— 20). Diefe Thaten des Elifa nun faßte man, 
ohne Zweifel in Rückſicht auf die jefaianifche Stelle, geradezu 
als Eröffiung erblindeter Augen, wie wir aus jener rabbini- 
ſchen Stelle fehen, und fo wurden vom Meſſias auch Blinden- 
beilungen erwartet. 1) Nahm nun die urchriftliche Gemeinde, 


4 


10) S. Band 1, ©. 93, Anm. 
11) Auch fonft finden wir, daß in jener Zeit Männern, die für Lieblinge 
der Gottheit galten, das Vermögen wunderbarer Heilung namentlich 


62 | Zweiter Abſchnitt. 


wie fie aus den Juden hervorgegangen war, Jeſam für Das 
meffianifche Subject, fo mußte fie die Tendenz haben, ihm au 
alle meflianifchen PBrädicate, und fo auch Das in Rede Kebenke, 
zusufchreiben. 


Die dem Marfus eigenthämliche Erzählung von einer Blin- 
benheilung bei Bethſaida (8, 22 ff.) ift, neben der gleichfalls 
nur bei ihm zu findenden von der Heilung eines ſchwerredenden 
Tauben (7, 32 ff.), welche wir deßwegen hier mitberüdfichtigen, 
die Lieblingserzählung aller rationaliftifchen Ausleger. Wären 
und doch, rufen fie aus, auch fonft bei den evangelifehen Hei⸗ 
‚ingögefchichten wie hier bie erflärenden Nebenumftände auf 
behalten, fo würde, daß Jefus nicht durch bloße Machtfprüche 
heilte, hiſtoriſch zu erweilen, und für tiefer Forſchende ſogar 
die natürlichen Mittel feiner Heilungen zu entdecken fein! 2) 
So ift, vorzüglich aus Veranlafjung diefer Erzählungen , wel 
hen fich dann aber audy einzelne Züge aus andern Theilen 
des zweiten Evangeliums anfchließen, Marfus in neuefter Zeit 
auch von ſolchen, die fonft diefer Auslegungsweife nicht eben 


aud der Blindheit zugefchrieben zu werden pflegte. So erzählen 
und Tacitus, Hist. 4, 81., und Sueton, Vespas. 7, in Alerandrien 
Habe fi an ben kuͤrzlich Imperator gewsrdenen Vespaſian ein Blin⸗ 
ber, angeblich nad) einer Weiſung des Gottes Gerapis, mit der Bitte 
gewenbet, ihn durch Benegung feiner Augen mit feinem Speichel zu 
beilen, was VBespafian mit dem Erfolge _gethban habe, daß der Blinde 
augenblicklich das Gefiht wieder erhielt. Da Tacitus die Nichtigkeit 
diefer Srzählung ganz befonders verbärgt, fo dürfte Paulus wohl 


nicht Unrecht Haben, wenn er die Sache als Beranftaltung ſchmeich⸗ 


leriſcher Prieſter anfieht, welche duch fubornirte Scheintrante den 
Kaiſer in den Ruf des Wunderthäterse, und dadurch ihren Gott, 
defien Rath den Vorgang veranlaßt hatte, bei ihm in Gunft fegen 
wollten. Ereg. Handbuch, 2, ©. 56 fe Jedenfalls aber fehen 
wir hieraus, mas mm in jener Beit auch außerhalb Palaͤſtina's 
von einem Manne erwartete, welcher, wie Zacitus ſich hier über 
- Bespafian ausdruͤckt, einen favor e coelis unb eine inclinatio nu- 
minum genoß. 


12) So ungefähr Paulus, exeg. Handbuch 2, ©. 312. 391. 


Reuntes Kapitel. $. 95. 68 


geneigt find, als Patron der natürlichen Erklärung dargeſtellt 
worden. !?) 

Was nun unjre beiden Heilungen betrifft, fo ift den ra- 
tionaliftifchen Auslegern fehon Das eine gute Borbebeutung, 
daß Jeſus beide Kranfe vom Volfe weg befonders nimmt, aus 
feinem andern Grunde, wie fie glauben, als um ihren Zuſtand 
ärztlich zu unterfuchen, und zu jehen, ob fich heifen laffe oder 
nicht. Eine folche Ilnterfuchung finden die bezeichneten Erflärer 
vom Evangeliften felbft angezeigt, wenn nach ihm Jeſus dem 
Tauben die Finger in die Ohren ftedte, wobei er die Taubheit 
ald eine heilbare, vielleicht nur durch verhärtete Feuchtigkeit 
im Ohr entftandene, gefunden, und hierauf, gleichfalls mit 
den Fingern, das Hinderniß des Gehörs entfernt habe. Wie 
das ißaAs tag ÖaxtvAsg eis za are, jo wird au das Zupazo 
zus yAwoons von einer chirurgifchen Operation verflanden, 
durch welche Jeſus das Zungenband bis auf den erforderlichen 
Punkt gelöst, und dem erftarrten Organ feine Gelenfigfeit wieder 
gegeben habe, und ebenfo wird das amıdeis rag yeipag aid 
bei dem Blinden dahin erklärt, Jeſus habe vielleicht durch ein 
Drüden der Augen die verdidte Linfe herausgebracht. Eine 
weitere Hülfe findet dieſe Erflärungsweife darin, daß Jeſus 
beivemale, an der Zunge des Schwerredenden und an den 
Augen des Blinden, Speichel anwandte. Schon für fich hat 
der Speichel, befonders nach älteren Aerzten, 1) eine für bie 
Augen heilfame Kraft; da er indeß fo ſchnell in feinem Falle 
wirft, um eine Blindheit und einen Fehler der Sprachorgane 
mit Einemmale entfernen zu fönnen, fo wird für beide Fälle 
vermuthet, Zefus habe den Speichel nur gebraucht, um ein 
Arzneimittel, wahrfcheinlich ein ägendes Pulver, anzufeuchten, 
wobei ſowohl der Blinde nur das Ausfpuden gehört, von den 
eingemifchten Medicamenten aber nichts gefehen, ald auch ber 


15) De Wette, Beitrag zur Charakteriſtik des Evangeliften Markus, in 
Ullmann’8& und Umbreit’s Etudien 1, 4, 789 f. Bol.’ Köfter, 
Immanuel, ©. 72. Dagegen vgl. de Wette, ereg. Hanbb. 1, 2, 
S. 148 f. “ 

%#) Plin. H. N. 28, 7 u. a. St. bei Wetftein. 


64 Zweiter Abſchnitt. 


Taube nach dem Geifte der Zeit Die natürlichen Mittel wenig 
beachtet, oder die Eage fie nicht weiter aufbewahrt habe. Wird 
hierauf in der Erzählung vom Tauben die Heilung nur einfach 
angegeben, fo zeichnet fich die vom Blinden noch dadurch aus, 
daß fie die Wiederherſtellung feines Gefichts umſtändlich als 
eine fucceflive befchreibt. Nachdem Jeſus die Augen des Kranfen 
auf die befchriebene Weife behandelt hatte, fragte er benfelben, 
ei u BAener; gar nicht, bemerkt Paulus, wie ein Wunder- 
thäter, der des Erfolges ficher ift, fondern recht wie. ein Arzt, 
der nach gemachter Operation den Patienten probiren läßt, ob 
ihm geholfen ſei. Der Kranke erwiebert, er fehe, aber erft 
undeutlich, fo daß ihm die Menfchen wie Bäume erfcheinen. 
Hier kann nun der rationaliftifche Erflärer fiegreich, wie es 
feheint, den orthodoren fragen: wenn Jeſu die göttliche Kraft 
zu Bewirfung von Heilungen zu Gebote fand, warum heilte 
er den Blinden nicht ſogleich volftändig? Wenn ihm Das 
Uebel einen Widerftand entgegenfeßte, den er nicht fehon bei’m 
erften Verfuche zu überwinden vermochte, wird daraus nicht 
Har, daß feine Kraft eine endliche, gewöhnlich menfchliche ge: 
weſen iſt? Hierauf legte Jefus noch einmal Hand an die Augen 
des Kranken, um der erften Operation nachzuhelfen, und nun 
erft war die Kur vollendet. 1°) 

Die Freude der rationaliftifchen Ausleger an dieſen Erzaͤh⸗ 
lungen des Markus iſt Durch Die trodene Bemerkung zu ftören, 
daß aud hier die Umftände, welche die natürliche Erklärung 
möglich machen follen, nicht vom Evangeliften felbft angegeben, 
fondern von den Auslegern untergefchuben find. Denn bei beiden 
Heilungen gibt Markus nur den Speichel her, das wirkſame 
Pulver aber ftreuen Paulus und VBenturini darein, wie 
auch nur fie es find, die aus dem Legen der Finger in die 
Ohren zuerft ein Sondiren, dann ein Operiren, und aus dem 
emuderu Tag yeiyag emi Tös Ögdeiusc ſprachwidrig ftatt 
eines Handauflegens ein chirurgiſches Handanlegen machen. 


5) Yaulus, a. a.-D. ©. 312 f. 392 ff.z natärlihe Geſchichte, 3, 
©. 31 ff. 216 f.; Köfter, Immanuel, S. 188 ff. 


Reuntes Kapitel. & 95. 65 


Auch das Beifeitenehmen der Kranfen bezieht fich dem Zuſam⸗ 
menhang zufolge (7, 36. 8, 26.) auf die Abficht Jeſu, den 
wunderbaren Erfolg geheim zu halten, nicht auf das Verlangen, 
in Anwendung natürlicher Mittel ungeftört zu fein: fo daß 
der rationaliftifchen Erflärung alle Stügen finfen und die ors 
thodore fih ihr aufs Neue gegenüberftellen kann. Diefe 
"nimmt die Berührung und den Speichel entweder ald Herabs 
laffung zu den Kranfen, welchen dadurch nahe gelegt werden 
folte, weſſen Macht fie ihre Heilung zu verbanfen hätten; 
oder. ald ein leitendes Medium der geiftigen Kraft Ehrifti, an 
deffen Gebrauch er jedoch nicht gebunden geweſen fei: '%) das 
Eucceflive der Heilung fucht man dann theild fo zu menden, 
daß Jeſus durch die halbe Heilung zuvor den Glauben des 
Blinden habe befeben wollen, und erft als dieſer gewachfen 
war, ben nunmehr Würdigen ganz wieberhergeftellt habe; ) 
“ oder vermuthet man, dem Blinden, bei feinem tiefgewurzelten 
Leiden, wäre eine plögliche Heilung vielleicht ſchaͤdlich ge⸗ 
wefen. '8) 

Allein durch diefe Verſuche, namentlich die letzte Eigenheit 
der evangeliſchen Erzählung zu deuten, begeben fich die fupra- 
naturaliftifchen Theologen, welche fie vorbringen, felbft auf 
Einen Boden mit den Rationaliften, indem fie nicht minder 
in den Tert hineintragen, was in demfelben nicht von ferne 
angedeutet iſt. Denn wo ift in dem’ Heilverfahren Jeſu mit 
dem Kranken irgend eine Spur, daß. er zuerft nur darauf 
ausgegangen fei, feinen. Glauben zu prüfen und zu ftärfen? 
in welchem Falle ftatt des nur feinen äußern Zuftand betrefe 
fenden erırgwra avıov el rı Bleneı ; vielmehr wie Matth. 9, 28 
ein useveig ori diwauaı TETo oujocı; ſtehen müßte. Vollends 
aber die Vermuthung, eine plögliche Kur möchte. fchädlich ges 


16) ones Heß, Gefhichte Jeſu, 1, ©. 390 f.z biefes Olshaufen, 
b. Comm. 1, ©. 510. 
17) Bei Kuindt, in Marc. p. 110. 
18) Olshauſen, S. 500. , | | 
IL Band. - . 5 


66 3gweiter Abſchnite. 


weſen ſein! Der heilende Act eines Wunderthaͤters iſt doch (nament⸗ 
Lich nach Olshauſen's Anſicht) nicht als der bloß negative der 
MWegräumung eines Uebels, fondern zugleich als der pofitive einer 
Mittheilung neuen Lebens und frifcher Kraft an das leidende 
Drgan zu betrachten, bei welcher von Echädlichfeit ihres plöß- 
lichen Eintritts nicht die Rede fein fann. Da fomit fein Grund 
füh ausfindig machen läßt, aus welchem Jeſus abjtchtlich dem 
augenblidlichen Wirken feiner Wunderkraft Einhalt gethan hätte, 
fo müßte fie nur ohne feinen Willen von außen durch die 
Macht des eingewurzelten Uebels gehemmt worden fein; . was 
aber der ganzen evangelifchen Vorſtellung von der felbft dem 
Tod überlegenen Wundermacht Jeſu entgegen tft, folglich nicht 
Meinung unfred Evangeliften fein fann. Sondern die Abficht 
des Marfus, wenn wir feine ganze fehriftftellerifche Eigen- 
thümlichfeit erwägen, kann auch hier auf nichts Andres als - 
auf Veranſchaulichung gehen. Alles PBlögliche aber ift ſchwer, 
fi) zur Anfchauung zu bringen: wer eine geſchwinde Bewer 
gung einem Andern deutlich machen will, der macht fie ihm 
zuerſt langfam vor, und ein fehneller Erfelg wird nur dann 
recht vorftellbar, wenn ihn der Erzähler durch alle feine Mo⸗ 
mente biı.burchführt; weßwegen denn ein Meferent, dem es 
darum zu thun iR, in feiner Erzählung der Vorftellungsfraft 
‚feiner Leſer moͤglichſt zu Hülfe gu fommen, auch die Neigung 
zeigen wird, wo wmöhlich überall das Unmittelbare zu vermit- 
teln und an dem plöglichen Erfolge doch das Suceceſſive ſeines 
Eintritts hervorzußehren. ') So glaubte hier Marfus oder 
fein Gewaͤhrsmann viel für die Anfchauliöhkeit zu thun, wenn 
„er zwifchen die Blindheit Des Mannes und die völlige Her- 
ftellung feiner Sehkraft die hakbfertige Heilung oder das Sehen 
der Menſchen wie Bäume einfhob, und daB eigne Gefühl 
wird Jedem fagen, daß dieſer Zwed vollfommen erreicht ift.. 
Darin aber liegt, wie auch Andre bemerft haben, ?) fo wenig 





19) Wal. de Wette, Kritik der molaiſchen Geſchichte, ©. 36 f. 
2) Fritzſche, Comm. in Marc. p. XLII. 


Neuntes Kapitel. $. 986. 67 


eine Hinneigung des Markus zu natürlicher Auffaffung ſolcher 
Wunder, daß er ja vielmehr nicht felten die Wunder zu vers 
. größern bemüht ift, wie wir theild bei'm Gadarener gefchen 
haben, theild noch öfters werben bemerken fönnen. Auf ähns 
liche Weife wird dann auch dad zu beurtheilen fein, daß 
Markus namentlich in diefen ihm eigenen Erzählungen (aber 
auch fonft, wie 6, 13., wo er bemerft, daß Die Jünger bie 
Kranfen mit Del gefalbt haben) die Anwendung äußerer Mittel 
und Manipulationen bei den Heilungswundern hervorhebt. 
Daß diefe Mittel, wie befonders der Speichel, in der dama⸗ 
ligen Volksanficht nicht als natürlich wirkende Urſachen ver 
Heilung galten, davon kann ſchon die Oben angeführte Erzäh- 
lung von Bespaftan überzeugen, fowie Stellen jüdiſcher und 
römifcher Autoren, nach welchen das Ausfpuden ale magifches 
Mittel, vornehmlich gegen Augenübel, galt.) Ev daß Ols⸗ 
haufen ganz die damalige Borftelung gibt, wenn er Berühr 
rung, Epeichel u. dgl. für die Conductoren der dem Wunder⸗ 
mann inmwohnenden höheren Kraft erflärt. Nur freilich diefe 
Anficht auch. zu der unfrigen machen Fönnten wir bloß dann, 
wenn wir mit Olshauſen von einer Barallele der Wunder- 
fraft Jeſu mit der animalifc) » magnetifchen ausgingen, eime 
Vergleichung, welche zur Erklärung der Wunder Jeſu, ins⸗ 
befondere des vorliegenden, unzureichend und darum überflüflig 
ft. Wir fchreiben daher jene Mittel Iediglich auf Rechnung 
des Ervangeliften. Auf diefe fommt dann ohne Zweifel auch 
das Befondernehmen der Kranfen, die übertreibende Befrhreis 
* bung der VBerwunderung des Volks (Urzeprsegıivowg Ebenirooovto 
“ artovreg, 7, 37.), und das firenge Verbot, Niemand von den 
Heilungen etwas zu jagen. Diefes Geheimhalten gab der Sache 
ein myſteriöſes Anfehen, welches auch nad andern Stellen 
dem Marfus gefallen zu haben ſcheint. Zu Dem Myſteriöſen 
gehört bei der Heilung des Tauben auch dad avaßkkıyag eis 
T0v 20vov Estvake (7, 34.). Denn wozu hier feufzen? über 





21) S. d. St. bei Wetftein und Lightfogt u Ioh- 9, 6 
5% 


68 Zweiter Abſchnitt. 


das Elend des Menfchengefchlechts , 2°) das Jeſu aus viel traus 
rigeren Fällen längft befannt ſein mußte? oder wollen wir 
durch die Erklärung, daß jener Ausdrud nichts weiter, als - 
ftille8 Beten oder lautes Eprechen bedeute, ??) der Echwierigs 
feit ausweichen? Wer den Marfus fennt, wird vielmehr den 
übertreibe:.den Erzähler darin erfennen, daß er Jeſu eine tiefe 
Gemüthsbewegung bei einem Anlaß zufchreibt, der eine jolche 
gar nicht hervorbringen fonnte, aber von derfelben begleitet fich 
nur um fo geheimnißvoller ausnahm. Ganz vorzüglich aber 
fheint mir etwas Myſteriöſes darin zu liegen, daß Markus 
das gebietende Wort, mit welchem Jeſus die Ohren des 
Tauben aufthut, in feiner urfprünglichen fyrifchen Form: 
eggadu wiedergibt, wie bei der Ermwedung der Tochter des 
Sairus nur unfer Evangelift (5, 41.) das zudıda au bat. 
Man fagt wohl, dieß feien nichts weniger ald Zauberformeln ' 
gewefen; *) allein daß Markus dieſe Machtworte fo gerne 
in der feinen Lefern, denen er fie ja erflären muß, fremden 
Urfprache wiedergibt, beweist doch, daß er eben dieſer ‚ihrer 
urfprünglichen Form eine beſondere Bedeutung beigelegt haben 
muß, welche dem Zufammenhang zufolge nur eine magifche 
Scheint gewefen fein zu fönnen. Diefe Neigung zum Myſte⸗ 
riöfen können wir rüdwärts blide:d nun auch in der An- 
wendung jener äußeren Mittel finden, welche zum Erfolg in 
feinem Berhältniß ftehen; denn eben darin befteht ja das My⸗ 
fterium, daß mit einer inadäquaten, endlichen Form ein uns 
endlicher Inhalt, mit einem ſcheinbar unwirffamen Mittel die 
fräftigfte Wirkung fich verbindet. 

Haben wir nun oben die einfache Erzählung fämmtlicher 
Eynoptifer von der Blindenheilung bei Jericho nicht für hifto- 
rifch halten können, fo find wir dieß bei der geheimnifvollen 
Schilderung des Einen Markus von der wHeilung eines Blinden 


22) So nach Euthymius Fritzſſche, in Marc. p. 304. 
5) Erſteres Kuindt, es Scott. 
2) Seh, Geld, Zefu, 1, ©. 391. Anm. 1. 


Neuntes Kapitel. $. 985. 69 


bei Bethfaida noch weniger im Stande, fondern wir müffen fie 
als ein Product der Sage mit mehr oder weniger Zuthaten des 
evangelifchen Referenten -anfehen, und ebenfo die von ihm mit 
gleicher Eigenthümlichfeit erzählte Heilung des xwgpog woyılakog. 
Denn auch bei dieſer letzteren Gefchichte fehlen uns neben den 
fhon ausgeführten negativen Gründen gegen ihre hiftorifche 
Glaubwürdigfeit Die pofitiven Veranlaffungen ihrer mythifchen 
Entftehung nicht, da bie Weiffagung auf die ‚meffianifche Zeit: 
Tore ra UP ũV xuoorrag — Toan dE Esaı yAucoa uo- 
yılalwv (Jef. 35, 5. 6.) vorhanden war, und nach Matth. 
11, 5. eigentlich verftanden wurde. 

Ev günftig der natürlichen Erklärung auf den erften An- 
blick Die eben betrachteten Erzählungen des Markus zu fein 
fhienen: fo ungünftig und vernichtend, ſollte man glauben, 
müfle die johanneifche Erzählung, Kap. 9, auf fie fallen, wo 
nicht von einem Blinden fchlechtweg, deſſen zufällig eingetretenes 
Uebel Teichter wieder zu heben fein mochte, fondern von einem 
Blindgebornen die Rede if. Doch wie die Ausleger dieſer 
Richtung feharffichtig find, und den Muth nicht bald verlieren, 
fo wiffen fie auch bier manches ihnen Günftige zu entdeden. 
Bor Allem den Zuftand des SKranfen finden fie, ſo beftimmt 
auch das TupAov &x yeverig zu lauten fcheint, Doch nur ungenau 
bezeichnet. Die Zeitbeftimmung zwar, welche darin liegt, ent- 
hält fihb Baulus, wiewohl ungern und eigentlich nur halb, 
umzuftoßen: um fo mehr muß er dann aber an der Qualitäts» 
beftimmung des Zuftandes zu rütteln fuchen. * TugAog müffe 
nicht gerade totale Blindheit bezeichnen, und wenn Jeſus den 
Kranken anweife, zum Siloateich zu gehen, nicht fich führen 
zu laſſen, fo müffe derfelbe noch einigen Schein des Augenlichts 
gehabt haben, mittelft deffen er felbft den Weg dahin finden 
fonnte. Noch mehr Hülfe fehen die rationaliftifchen Ausleger 
in dem Heilverfahren Sefu. Gfeich Anfangs (V. 4.) fage er, 
er müffe wirfen &wg nutoa Esiv, in der Nacht laſſe fich nichts 
mehr anfangen: Beweis genug, daß er den Blinden nicht mit 
einem bloßen Machtwort zu heilen im Sinne gehabt habe, was 


— 


70 Zweiter Abſchnitt. 


er auch bei Nacht hätte ausſprechen können, daß er vielmehr 
eine Fünftliche Operation habe vornehmen wollen, zu welcher er 
freilich das Tageslicht bedurfte. Der runAos ferner, welchen 
Sefus mittelft feines Speichels macht, und dem Blinden auf 
die Augen ftreicht, ift ja der natürlichen Auslegung noch gün- 
ftiger ald das bloße urvoog heim vorigen Fall, weßwegen denn 
aus demfelben die ragen und Vermuthungen wie Pilze in 
üppiger Fülle auffhießen. Woher wußte Johannes, fragt man, 
daß Jeſus nichts weiter ald Epeichel und Staub zu der Augen- 
falbe nahm? war er felbft dabei, oder hatte er es bloß aus der 
Erzählung des geheilten Blinden? Diefer fonnte aber bei dem 
ſchwachen Echimmer, den er nur hatte, nicht genau fehen, was 
Jeſus vornahm; er konnte vielleicht, wenn Jeſus, während er 
aus andern Ingredienzien eine Salbe mifchte, zufällig auch aus⸗ 
fpudte, auf den Wahn verfallen, aus dem Ausgefpudten fei 
die Salbe entftanden. Noch mehr: hat Sefus, während oder 
ehe er etwas auf die Augen ftrich, nicht auch etwas aus den- 
felben iweggenommen, weggeftrichen, oder fonft etwas daran 
verändert, was der Blinde felbft und die Umftehenden leicht für 
Nebenſache anfehen konnten? Endlich das dem Blinden gebo- 
tene Wafchen im Teiche dauerte vielleicht mehrere Tage, war 
eine längere Babefur, und das 749e BAerrwv fagt nicht, daß er 
nach dem erften Bade, fondern daß er zu feiner Zeit, nad) 
Vollendung der Kur, fehend wiederfam ?°). 

Allein, um von vorne anzufangen, fo wird hier dem zuege 
und »vE eine Bedeutung gegeben, welche felbft einem Ven⸗ 
turini zu feicht gewefen ift ?%), und namentlich dem Zuſam⸗ 
menhange mit V. 2. zuwiderläuft, welcher durchaus eine Be⸗ 
ziehung der Worte auf den baldigen Hingang Jeſu erheiſcht ?). 
Was aber von etwaigen mediciniſchen Ingredienzien des — 
vermuthet wird, iſt um ſo bodenloſer, als hier nicht wie bei 


*) Paulus, Comm. 4, ©. 472. 
3) Ratürtiche Geſch. 3, S. 215. 
2) S. Tholud und Luͤcke z. d. St. 





Reunkes Kapitel. 6. 95. 71 


dem vorigen Falle geſagt werden kam, es werde nur das 
angegeben, was der Blinde durch das Gehör oder einen 
leichten Lichtſchimmer wahrnehmen Fonnte, da ja dießmal Jeſus 
den Kranfen nicht allein, fondern in Gegenwart feiner Jünger 
vornahm. Ueber die weitere Vermuthung vorangegangener 
chirurgifcher Operationen, durch, welche die im Terte allein 
angegebene Beftreihung und Waſchung zur Nebenfache wird, 
ift nichts zu fagen, als daß man an diefem Beifpiele ficht, 
wie zügellos die einmal eingelaffene natürliche Erklärung fi 
alsbald gebärdet und die Flarften Worte des Tertes durch Die 
Gebilde ihrer eigenen Combination verdrängt. Wenn ferner 
daraus, daß Jeſus den Blinden zum Teiche gehen hieß, ger 
folgert wird, er müffe noch einen Echein des Lichts gehabt 
haben, fo ift dagegen zu bemerfen, daß Jeſus demfelben nur 
angab, wohin er fich begeben (unayeıv) folle; wie er dieß 
näher angreifen wollte, ob allein gehen oder‘ einen Führer 
nehmen, das überließ er ihm felber. Endlich wenn das eng« 
verbundene aruzAIEv 8v xal Evlıyoro var NAFE Bldreow (B. 7, 
vgl. B. 11.) zu einer mehrwöchigen Badekur auseinander 
gezogen wird, fo ift dieß gerade, wie wenn man das ven, 
vidi, viei, überfegen wollte: nach meiner Anfunft recognoss 
eirte ich mehrere Tage, lieferte hierauf in gehörigen Zwifchen- 
zeiten unterfchiedliche Echlachten und blieb endlich Sieger. 

Es läßt ung alſo aud hier die natürliche Erklärung 
im Etiche, und wir behalten einen von Jeſu wunderbar ges 
heilten Blindgebornen. Daß unfre obigen Zweifel gegen bie 
Realität der Blindenheilungen bier, wo es ſich von angeborener 
Blindheit handelt, in verftärktem Maaße wiederfehren, ift 
natürlich. Und zwar kommen hier noch einige befondere fris 
tifche Gründe hinzu. Keiner der. drei erften Evangeliften weiß 
etwas von Diefer Heilung. Nun aber, went doch in ber 
©eftaltung der apoftolifchen Tradition und in der Auswahl, 
welche fie unter den von Jefu zu erzählenden Wundern traf, 
irgend ein Verſtand geweſen fein fell, fo muß ſtch dieſe nach 
ben zwei Gefichtöpunften gerichtet haben: erftfich, Die größeren 








72 - Sweiter Abſchnitt. 


Wunder vor den ſcheinbar minder bedeutenden auszuwaͤh⸗ 
ln, und zweitend Diejenigen, an welche fich erbauliche 
Erörterungen fnüpften, vor denen, bei welchen dieß nicht 
der Fall war. In der erfteren Rüdfiht war nun offen- 
bar die Heilung eined von Geburt an Blinden, als die 
ungleich fchwierigere, vor der eines Blinden fehlechthin 
auszuwählen, und man begreift nicht, wenn Doch Jeſus 
wirklich einen DBlindgebornen fehend gemacht hat, warum 
davon nichts in Die evangelifehe Tradition und alfo in die 
fonoptifchen Evangelien gefommen ift. Freilich konnte mit 
dDiefer NRüdficht auf die Größe des Wunders die andere auf 
die Erbaulichkeit der daran fich Fnüpfenden Reden nicht felten 
collidiren, fo daß ein minder auffallendes, aber durch die 
Geipräche, die e8 veranlaßte, fruchtbareres Wunder einem auf- 
fallenderen, aber bei welchem das Lebtere weniger zutraf, vor: 
gezogen werden mochte. Allein die Heilung des Blindgebornen 
bei Johannes ift von fo merkwürdigen Gefprächen, zuerft 
Jeſu mit den Jüngern, dann des Geheilten mit der Obrigfeit, 
endlich Jeſu mit dem Geheilten,, begleitet, wie von dergleichen . 
bei den ſynoptiſchen Blindenheilungen feine Spur ift, Ge 
fpräche, von welchen, wenn auch nicht der ganze dialogifche 
Verlauf, fo doch gnomifche Perlen, wie B. 4. 5. 39., fich 
auch für die Darjtellung der drei erften Evangeliften trefflich 
eigneten. Diefe hätten alfo nicht umhin gekonnt, ftatt ber 
fowohl weniger merfwürdigen, als auch minder erbauli- 
chen Blindenheilungen, welche fie haben, die Heilung bes 
Blindgeborenen aufzunehmen, wenn diefelbe in der evan- 
gelifchen Weberlieferung, aus welcher fie fehöpften, befinblich 
gewefen wäre. Der allgemeinen evangelifchen Verfündigung 
fonnte fie möglicherweife unbefannt bleiben, wenn fie an einem 
Orte und unter Umftänden vorgefallen war, die ihre Aus- 
breitung nicht begünftigten, alfo wenn fie in einem Winfel 
des Landes ohne weitere Zeugen verrichtet worden war. Aber 
Jeſus vollbringt fie ja vielmehr zu Serufalem, im SKreife feiner 
Jünger, mit größtem Auffehen in der Stadt und zum hoͤch⸗ 


Reuntes Kapitel. $. 95. 73 


ſten Anftoge bei der Obrigfeit: da mußte die Sache befannt 
werden, wenn fie anders gefchehen war, und da wir fie in 
der gewöhnlichen Evangelientradition nicht als befannt an⸗ 
treffen, fo entfteht der Verdacht, fie möchte vielleicht gar nicht 
gefchehen fein. 

Aber der Gewährsmann ift doch der Apoftel Johannes. 
Wenn die nur nicht, außer dem unglaublichen, alfo ſchwer⸗ 
lich von einem Augenzeugen herrührenden Inhalte des Be⸗ 
richtö, auch noch aus einem andern Grund unwahrfcheinlich 
würde. Der’ Referent erflärt nämlich den Namen des Teiches 
Zurweu durch das griechifche arzesaAusvos (V. 7.): eine falfche 
Erflärung; denn ein Abgefchidter heißt mod, wogegen not 
der wahrfcheinlichften Erflärung zufolge einen Waflerguß be- 
deutet. 23) Der Evangelift wählte aber jene Deutung, wei 
er zwifchen dem Namen des Teich und der Sendung des 
Blinden zu bdemfelben eine beveutungsvolle Beziehung fuchte, 
und ſich alfo vorgeftelt zu haben ſcheint, der Teich habe 
durch eine befondere Fügung den Namen des Gefendeten be- 
fommen, weil dereinft vom Meſſias zur Offenbarung feiner 
Herrlichfeit ein Binder zu demfelben gefendet werben follte. 2°) 
Nun konnte allerdings ein Apoftel eine grammatifch unrich— 
tige Erklärung geben, fofern er nur nicht als infpirirt vor- 
ausgefegt wird, und auch ein geborener Baläftinenfer Fonnte 
fih in Etymologien hebräifcher Worte irren, wie das A. T. 
ſelber zeigt: doch aber ſieht eine Spielerei diefer Art eher wie 
das Machwerf eines entfernter Stehenden, ale eines Augen⸗ 
zeugen aus. Der Augenzeuge hatte an dem angefchauten 
Wunder und den vernommenen Reden genug Bedeutungsvolles: 
erft bei dem entfernter Stehenden konnte die Mifrologie eins 
treten, daß er auch aus den Fleinften Nebenzügen eine Bebeu- 
tung herauszuprefien ſuchte Tholud und Lüde flogen ſich 


2) ©. Paulus und Lüde z. d. St. 
2) So Euthymius und Paulus z. d. St. 


ya Zweiter Abſchnitt. 


ftarf an einer folhen, wie der Letztere fich ausdrückt, an 
Unfinn ftreifenden Allegorie, welche fie eben deßwegen fich 
nicht für johanneifeh aufreden laffen wollten, ſondern als eine 
Gloſſe betrachten. Da jedoch alfe fritifchen Auctoritäten, bis 
auf Eine, minder bedeutende, Diefelbe bieten, fo ift eine folche 
Behauptung die Daare Willfür, und man hat nur die Wahl, 
ob man mit Dlshaufen auch an dieſem Zug als einem 
apoftolifchen fich erbauen, 820) oder mit den Probabilien denfels 
ben mit unter die Merkmale von dem nicht apoftolifchen Ur⸗ 
fprung des vierten Evangeliums zählen will. 3) 
Was nun aber den Verfaſſer des vierten Evangeliums, 
‚ oder die Meberlieferung, aus welcher er fchöpfte, veranlafjen 
fuonnte, unzufrieden mit den Dlindenheilungen , von welchen 
die Synoptifer berichten, Die vorliegende Erzählung auszubil- 
den, liegt ſchon in dem bisher Ausgeführten. Es ift bereits 
von Andern die Bemerfung gemacht, wie das vierte Evange- 
lium zwar menigere, aber um fo ftärfere Wunder von Jeſu 
erzähle. 9 So, wenn die übrigen Evangeliften fimple Pa⸗ 
ralytifche haben, welche, Jeſus heilt, hat das vierte Evangelium 
Einen, der 38 Jahre lang gelähmt war; wenn Sefus in jenen 
eben Berftorbene wieberbelebt, ruft er in diefem einen ſchon 
vier Tage in der Gruft Gelegenen, bei welchem bereits der 
Eintritt der Verwefung zu vermuthen war, in das Leben zu- 
rück; ebenfo bier ftatt einfacher Blindenheilungen die Heilung 
eines Blindgeborenen, — eine Steigerung der Wunder, wie 
fie der .apologetifch » dogmatifchen Tendenz dieſes Evangeliums 
ganz angemeffen if. Auf welchem Wege hiebei der Berfaffer 
des Evangeliums oder die particuläre Tradition, welcher er 
folgte, zu den einzelnen Zügen der Erzählung kommen fonnte, 
ergibt fich leicht. Das uzvew war bei magifchen Augenfuren 


2) B. Comm. 2, ©. 250, wo er jebodh das amesaluevog auf ben 
von Gott ausgehenden Geiftesftrom bezieht. 

3) 8. 93, 

32) Köfter, Immanuel, S. 795 Bretfohneiber, Probab. ©. 122. 


Reuntes Kapitel. $. 96. 753 


gewöhnlich; der 727205 lag ald Eurrogat einer Augenfalbe nahe 
und fommt auch fonft bei zauberhaften Proceduren vor; *8) 


der Befehl, ſich im Siloateich zu wafchen, Fann der Verord⸗ 


nung Elfa’s, daß der ausſätzige Naeman fich fiebenmal im 
Jordan baden folle, nachgebildet fein. Die Verhandlungen, 
welche fi) an die Heilung knüpfen, gehen theild aus der, 
auch von Storr bemerflich gemachten, -Tendenz des johans 
neifchen Evangeliums hervor, fowohl die Heilung als bie 
angeborne Blindheit des Menfchen mögfichft urkundlich zu 
machen und zu verbürgen, daher das wiederholte Verhör des 
Geheilten felbft und fogar feiner Eltern; theils drehen fie fich 
um die fombolifche Bedeutung der Ausbrüde: TupAös und 
Pleriww, nutoe und voE, wie fie zwar auch den Synoptifern 
nicht fremd ift, noch fpeeififcher jeboch in den johanneifchen 
Bilderfreis gehört. 


$. 8. 


Beilung von Paralytifhen. Ob Zefus Krankheiten als Suͤndenſtrafen 
betrachtet habe. 


Ein wichtiger Zug in der johanneifchen Hetlungsgefchichte 
des Blindgeborenen ift übergangen worden, weil er erft in 
Verbindung mit einem entfprechenden in der fonoptifchen Ers 
zähfung von der Heilung eines Paralytifchen (Matth. 9, 1 ff. 
Mare. 2, 1 f. Luc. 5, 17 ff), Die wir bemnächft zu be 
trachten haben, richtig gewürdigt werden kann. Hier nämlich 
erflärt Jefus dem Kranfen zuerft: ayzwwrei 001 ei aueorlaı 8, 
und hierauf, ald Beweis, daß er zu folcher Sündenvergebung 


Bollmacht habe, heilt er ihn, wobei die Beziehung auf die 


jüdifche Anficht nicht verfannt werden fann, daß Das Uebel 
und namentlich die Krankheit des Einzelnen Strafe feiner 
Sünden fei; eine Anficht, welche, in: ihren Grundzügen im 
A. T. angelegt (3 Mof. 26, 14. ff. 5 Mof. 28, 15 ff. 2 Ehron. 


3), Wetſtein z. d. St. 


76 Zweiter Abfchnitt. 


21, 15. 18 f.), von den fpäteren Juden aufs Beftimmtefte 
ausgefprochen wurde. !) Hätten wir nun bloß jene fonoptifche 
Erzählung, fo müßten wir glauben, Jeſus habe die Anficht 
feiner Zeit- und Bolfsgenofien über diefen Punkt getheilt, 
indem er ja feine Befugniß, Eünden (ald Grund der Kranf- 
heit) zu vergeben, durch eine Probe feiner Fähigfeit, Krank: 
heiten (die Folgen der Eünde) zu heilen, beweist. Allein, 
fagt man, es finden fi) andre Etellen, wo Jeſus diefer 
jüdifchen Meinung geradezu widerfpricht, und daraus folgt, 
daß, was er dort zum Paralytifchen fprach, bloße Accommo- 
dation an die Vorftellungen des Kranfen zur Förderung feiner 
, Heilung war. °) 

"Die Hauptftele, welche man hiefür anzuführen pflegt, 
ift eben die Einleitung der zulegt betrachteten Gefchichte vom 
Blindgeborenen (Joh. 9, 1 — 3). Hier nämlich legen die 
Jünger, wie fie den Mann am Wege ftehen fehen, den fie als 
von Geburt an Blinden fennen, Jeſu die Frage vor, vb feine 
Blindheit Folge feiner eigenen oder der Sünden feiner Eltern 
fi? Der Fall war für die jüdifche Vergeltungstheorie befon- 
ders ſchwierig. Von Lebeln, welche einem Menfchen erft im 
Verlaufe feines Lebens zugeftoßen find, wird der auf eine 
gewiſſe Eeite fich einmal neigende Beobachter leicht irgend 
welche eigene Verſchuldungen diefes Menfchen als Urfache aus- 
findig machen oder doch vorausfegen. Von angeborenen Alebeh 
dagen gab zwar die althebräiſche Anſicht (2 Moſ. 29, 

5 Moſ. 5, 9. 2 Sam. 3. 29.) die Erklaͤrung an Die PH 
daß durch dieſelben die Sünden der Vorfahren an den Nach⸗ 
kommen heimgeſucht werden; allein, wie für das menſchliche 


Recht das moſaiſche Geſetz ſelbſt verordnete, daß Jeder nur 


für eigene Vergehungen ſolle geſtraft werden können (5 Moſ. 


1) Nedarim f..41, 1. (bei Schoͤttgen, 1, ©, 93.): Dixit R. Chija 
‚fl. Abba: nullus aegrotus a morbo suo sanatur, donec ipsi 
omnia pecrata remissa sint. 


2) Hafe, 2%. 3. $. 73. Fritzſche, in Matth. ©, 335. 


Neuntes Kapitel. 8. 96. 77 


24, 16. 2 Kön. 14, 6.), und auch in Bezug auf Die götts 
liche Etrafgerechtigfeit die Propheten ein Gleiches ahnten 
(3er. 31, 30. Ezech. 18, 19 f.): fo ergab fich für angeborene 
Vebel dem rabbinifchen Echarfiinn der Ausweg, folche Mens 
fhen mögen wohl fihon im Mlutterleibe gefündigt haben, 9) 
und dieſe Meinurg war es ohre Zweifel auch, welche Die 
Jünger bei ihrer Frage DB. 2 vorausfesten. Wenn ihnen nun 
Jeſus zur Antwort gibt, weder um einer eigeren, noch um 
einer Sünde feiner Eltern willen fei jener Menfch blind zur 
Welt gefommen, fordern, um durch die Heilung, welche er 
als Miefliad an ihm vollziehen follte, die Wundermacht Gottes 
zur Arfchauung zu bringen: jo wird dieß insgemein fo ver: 


ftaıden, als hätte damit Jeſus jene ganze Meinung, daß 


Kraufheit und fonftiges Uebel wefentlih Eündenftrafe fei, ver: 
worfen. Allein auedrüdlich fpricht hier. Sefus nur von dem 
- alle, der ihm eben vorlag, Daß Diefes bejtimmte Uebel hier 
nicht in der VBerfchuldung Ded Individuums, fondern in höbes 
ren göttlichen Abjichten feiren Grund habe; einen allgemeir.eren 
Einn und die VBerwerfurg der ganzen jüdiſchen Anficht in 
jenem Ausfpruche zu finden, könnte man nur durch andre, 
beitimmter dahin lautende Ausſprüche ein Recht befommen. 
Da nun aber dem Obigen zufolge in den fonoptifihen Evan- 
gelien eine Erzählurg fich findet, welche, einfach aufgefaßt, 
vielmehr ein Einftimmen Jefu in Die herrfchende Meinung ents 
hält, fo würde fich fragen, was leichter angehe, jenen fynop- 
tifchen Auefpruch Jeſu als Accommodation, oder den johan⸗ 
neifichen nur mit Bezug auf den vorliegeiden Sal zu faſſen? 
eine Frage, welche Jeder zu Gunften des legten Gliedes ents 


8) Sanhedr. f. 91, 2. und Bereschith Rabba f. 38, 1. (bei Lights 
foot, ©. 1050): Antoninus interregavit Rabbi (Judam): 
a quonam tempore ineipit malus affertus pracvalere in homine? 
an a tempore formalionis .ejus (in utero), an a tempore pro- 
cessionis ejus (ex utero)? Dixit ei Rabbi: a tempore forma- 
tiouis ejus. 








78 | Iweiter Abſchritt. 


entſcheiden wird, der einerſeits die Schwierigkeiten der Accom⸗ 
modationshypotheſe in ihrer Anwendung auf die evangeliſchen 
Ausfprüche Jeſu kennt, und andrerſeits ſich klar macht, daß im 
der betreffenden Stelle des vierten Evangeliums eine allgemei⸗ 
nere Beziehung des Ausſpruchs gar nicht angedeutet iſt. 
Freilich darf nach richtigen Interpretationsgrundſätzen ein 
Evangeliſt nicht unmittelbar aus einem andern erlaͤutert wer⸗ 
den, ſondern es bliebe in unſrem Falle wohl möglich, daß, 
während die Synoptiker Jeſu jene Zeitanſicht zuſchreiben, der 
höher gebildete Verfaſſer des vierten Evangeliums ihn dieſelbe 
verwerfen ließe: allein daß auch er jene Abweiſung der Zeit⸗ 
anſicht von Seiten Jeſu nur auf den einzelnen Fall bezog, 
beweist er durch Die Art, wie er ein andermal Jeſum reden 
läßt. Wenn Diefer nämlid zu dem achtunddreißigjährigeu 
Kranken Joh. 5. nad feiner Wiederherfielung warnend fagt: 
umxerı duagreve, iva ya) geig@w Ti ou yerımaı ( V. 14.), fo if 
dieß fo gut, ald wenn er einem zu Heilenden zuruft: agyewrıal 
co ci auapricı 08, beidemale nämlich wird Kranfheit als 
Sündenftrafe bier aufgehoben, dort angedroht. Doc au 
hier wiffen die Erflärer, denen es unwillkommen ift, von 
Jeſu eine Anficht, welche fie verwerfen, anerkannt zu fin 
den, dem natürlichen Einne auszuweichen. Jeſus foll das 
befondre Uebel dieſes Menſchen als eine natürliche Kolge 
gewifler Ausfchweifungen erfannt und ihn vor Wiederholung 
berfelben gewarnt haben, weil dieß eine gefährlichere Recidive 
herbeiführen könnte. 9 | Allein der Denkweiſe des Zeitalters 
Sefu liegt die Einficht in den natürlichen Zufammenhang ges 
wiſſer Ausfchipeifungen mit gewiffen Krankheiten ala deren 
Folgen weit ferner ald die Anficht von einem pofttiven Zufam- 
menhang der Sünde überhaupt mit der Krankheit als deren 
Strafe; e8 müßte alfo, wenn wir dennoch den Worten Jeſu 
„ ben ..erfteren Sinn follten unterlegen dürfen, diefer fehr beftimmt 


%) Paulus, Somm. 4, S. 264. Tüde, 2, ©. 22. 





Reuntes Kapitel. 6. 96. 19 


in der Stelle angezeigt fein. Nun aber ift in der ganzen Er 
zählung von einer beftimmten Ausfchweifung des Menfchen 
nicht Die Rede, daß von Jefu ihm zugerufene grxerı auuorwwve 
bezeichnet nar Eündigen überhaupt, und eine llnterredung 
Jeſu mit dem Kranfen, im welcher er denfelben über den Zus 
fammenhang feines Leidens mit einer beftimmten Eünde belchrt 
hätte, zu fuppliren, °) ift die willfürlichfte Fiction. Welche 
Auslegung, wenn.man, um einem Ddogmatifch unangenehmen 
Ergebniß auszumweichen, die eine Etelle (Soh. 9) zu einer 
Allgemeinheit erweitert, welche nicht in ihr liegt, Die andere 
(Matth. 9.) durch die Accommodationshypothefe eludirt, Der 
dritten (Joh. 5.) einen modernen Begriff gewaltfam aujdrängt: 
ftatt daß, wenn man nur die erfte Stelle nicht mehr fagen 
läßt, als fie fagt, die beiden andern in ihrem zunächft lie 
gerden Sinne nicht im Mindelten .angetaftet zu werden 
brauchen ! | 

Docd man bringt noch eine weitere, und zwar fonoptifche 
Stelle berbei, um Jeſu die Erhabeiheit über die bezeichnete 
Bolfemeinung. zu pindieiren. Wie ihm nämlich einmal” von 
Galilaͤern erzählt wurde, welche Pilatus bei'm Opfern hatte 
niederhauen laſſen, und von andern, welche durch den Einfturz 
eined Thurmes verunglüdt waren (Luc. 13, 1 ff), wobei die 
Erzähler, wie man glauben muß, zu erfennen gaben, daß fie 
jene Uinglüdsfälle für göttliche Strafen der befondern Verwor⸗ 
fenheit jerer Leute anfehen, erwiederte Jeſus, fie möchten ja 
nicht glauben, jene Merfchen feien befonders fchlecht gewefen ; 
fie ſelbſt ſeien um nichts befier, und fähen daher, falls fie fich 
nicht befehrten, einem gleichen Untergang entgegen. Es ift in 
der That nicht klar, wie man in Ddiefer Aeußerung Jeſu eine 
Berwerfung jener Volfsanficht finden kann. Wollte Jeſus 
gegen dieſe Sprechen, fo. mußte er entweder fagen: ihr feid 
ebenjo große Sünder, wenn ihr auch nicht auf die gleiche 


P) Wie Tholuck z. d. St. 








| 80 Zweiter Abſchnitt. 


Weiſe leiblich zu Grunde gehet; oder: glaubet ihr, daß jene 
Menſchen ihrer Sünde wegen zu Grunde gegangen ſeien? 
nein! dieß ſieht man an euch, die ihr unerachtet eurer Schlech⸗ 
tigkeit doch nicht ebenſo zu Grunde gehet. So dagegen, wie 
der Ausfpruch Jeſu bei Lukas lautet, kann der Sinn deſſelben 
nur dieſer ſein: daß jene Menſchen ſchon jetzt ein ſolcher Un⸗ 
fall betroffen hat, beweist nichts für ihre beſondre Schlechtig⸗ 
feit, ſo wenig das, daß ihr bisher von dergleichen verfchont 
geblieben feid, für eure größere Würbdigfeit beweist; vielmehr 
werden früher oder fpäter über euch fommende ähnliche Strafs” 
‚gerichte eure gleiche Echlechtigfeit beurfunden — wodurch alfo 
das Gefeh des Zufammenhangs zwifchen Eünde und Unglüd 
jedes Einzelnen beftätigt, nicht umgeftoßen würde. Diefe vul- 
gärshebräifche Anficht von Krankheit und Uebel fleht nun 
allerdings im Widerfpruche mit jener efoterifchen, eflenifch = 
ebionitifchen, die wir im Eingang der Bergrede, im Gleichniß 
vom reichen Mann und fonjt gefunden haben, nach welcher. 
vielmehr die Gerechten in dieſem Aeon die Leidenden, Armen, 
Kraufen find: allein beide Anfichten liegen einmal in den 
Aeußerungen Jeſu für eine unbefangene Eregefe zu Tage, und 
der Widerfpruch, welchen wir zwifchen beiden finden, berechtigt 
und weder, die eine Klajje von Ausſprüchen gewalfam zu 
deuten, noch auch, fie Jeſu abzufprechen, da wir nicht berech- 
nen fünnen, wie er den Widerftreit zweier ihm von verfchieder 
nen Eeiten der damaligen jüdiſchen Bildung her gebotenen 
Weltanfchauungen für fi) gelöst haben mag. 

Was nun die obenerwähnte Heilung betrifft, fo laſſen die 
Synoptiker Jeſum' den Boten des Täuferd gegenüber fich na- 
mentlih auch darauf berufen, daß durch feine Wundermacht 
xwAol regınarsow (Matth. 11, 5.), und ein andermal wundert 
fih das Volk, wie e8 neben andern Geheilten auch xwAss rıe- 
ginarövrog und xullag vyızls erblidt (Matth. 15, 31.). An 
ber Stelle der xwAoi werden anderwärts zrageivrıxoi aufgeführt 
(Matth. 4, 24.), und namentlich find in den betaillirten Hei⸗ 
lungegefchichten, welche wir über dieſe Art von Kranken haben, 








Reuntes Kapitel. $. 06. 81 


(wie Matth. 9, 1. ff: parall. 8, 5. parall.), nicht xedol, fon» 
‚dern rrageAvroi genannt. Der. Kranfe Joh, 5, 5. gehörte 
‚wohl zu den zwäols, von welden V. 3. die Rede: geweſen war; 
ebendafelbft find Erooi aufgeführt, und ſo finden wir Matth. 
12, 9. ff. parat. die Heilung eined Menfchen , ver eine gelp 
&roe hatte. Da jedoch Die drei zulegt angeführten Heilungen 
von @lieverfranfen : unter andern Rubriken uns wieserkehren 
werden : fo bleibt bier nur die Heilung des Paralytifchen Mattb. 
9,1 ff. parall. zu beleuchten übrig. i 
Da die Definitionen, welche die alten "Aerzte. von der rı«- 
e&lvcıg geben, zwar alle auf. Lähmung, aber unentfchieven, ob 
totale oder partiale, gehen, ©) und überdieß von. den Evange- 
liften fein ftrenges Feſthalten an der mediciniſchen Kunftfprache 
zu erwarten tft, fo müflen wir, was fie unter Paralstifchen 
verfteben, ans ihren eignen Beſchreibungen von dergleichen 
Kranfen entnehmen. Im unfrer: Stelle nun erfahren wir von 
dem rragehuzıxog, daß er auf einer «Adv getragen werben mußte, 
und daß, ihn zum Wufftehen und Tragen feines Bettes zu be- 
fähigen, für ein nie gefehrnes rrapado&ov gakt, woraus wir alfo 
auf eine Lähmung ‚wenigftend der Füße fchließen müflen. Wäh- 
rend von Schmerzen und einem higigen Charakter der Krank⸗ 
heit in unfrem Falle nicht die Rede ift, wird ein folcher in der 
Gefchichte Matih. 8, 6. unverfennbar voraudgefeßt, wenn ber 
Eenturio von feinem Knechte fagt : Peßkrreı-nragekvrıxog, dewasg 
Baowıkousvog, ‘fo daß wir alfo unter ber — in den 
Evangelien bald eine ſchmerzlos laͤhmende, bald eine ſchmerzhaft 
gichtiſche Gliederkrankheit zu verſtehen hätten. 7) 
In Schilderung der Scene, wie der Paralytiſche Matth. 
9, 1 ff. parall. zu Jeſu gebracht wird, findet zwiſchen den drei 
Berichten eine merfliche Abftufung ftatt. Matthäus fagt einfach, 


6) Man fehe fie bei Wetftein, R. 2. I, ©. 284, und in Wahre 
° Clavis u. db. A. nad. , 
7) Bgl. Winer, Realw. d. A. und Brigfche, in Matth. p. 194. 


I. Band. ö 


3% Zweiter Abſchnite. 


wie Sefms von einem Ausflug an das jenfeitige Ufer nach 
Kapernaumzurdgefehrt fei, habe man ihm einen Paralytiſchen, 
auf einem Rager hingeftredt, gebracht. Lukas befchreibt genau, 
wie Jeſus, von einer großen Menge, namentli von Phari- 
fäern und Schriftgelehrten, umgeben, in einem Haufe lehrte und 
heilte, and wie die Träger des Paralytiſchen, weil fie vor der 
Volksmenge nicht durch die Thüre zu Jeſu gelangen fonnten, 
den Krauken durch das Dach zu ihm niederließen. Bedenkt 
man die Etruetur morgenländifcher Häufer, auf deren plattes 
Dach aus dem eberen Stockwerk eine Oeffnung führte, 8) und 
nimmt man den rabbinifchen Eprachgebrauch hinzu, in welchem der 
via per portam (IMMD 77) die via per teetum (paa 7ID 
als nicht minder ordentlicher Weg, namentlich um in das vrıeopov 
zu gelangen, gegenübergeftellt wird :9) fo kann man unter dem 
xadıever dia Tow zepauem ſchwerlich etwas Anderes verftehen, 
als daß Die Träger, welche entweder mittelft einer unmittelbar 
‚von der Etraße dahin führenden Treppe, oder vom Dache des 
Nachbarhaufes aus auf das platte Dach des Haufes, in wel 
chem Jeſus ſich befand, gelangt waren, den Kranken fammt 
feinem Bette durch die im Dachboden bereitd befindliche Oeff- 
nung, wie es foheint an Striden, zu Jeſu binabgelaffen haben. 
Markus, der in 'der Verlegung der Erene nach Kaperraum 
mit Matthäus, in’ Echilderung des großen Gedränges und der 
"dadurch veranlaßten VBefteigung des Daches mit Lukas zufam- 
menftimmt, geht, außerdem, "daß er die Zahl der Träger auf 
viere feftfegt, darin noch weiter als Lukas, daß er diefelben, 
ohne Nüdficht auf die ſchon vorher vorhandene Thüre, das 
Dach abdecken und durch eine erft aufgegrabene Oeffnung den 
Kranken hinunterbefördern läßt. 

ragen wir auch hier, in welcher Richtung, ob aufwärts 
oder abwärts, der Klimar wohl eher entftanden fein möge, fo 
hat die auf der Epige veflelben ftehende Erzählung des Markus 








2) Winer, a. a. O. ud A. Dach. 
eigbtfobt, p. 601. 





Neuntes Kapitel. $. 96. u 83 


fo viel Schwieriges, daß fie wohl faum für bie der Wahrkeit 
nächfte wird angefehen werden fönnen. Denn nicht allein von 
Gegnern ift gefragt worden, wie denn dad Dach habe aufge 
graben werben fönnen, ohne die Darunter Befinblichen zu beichä- 
digen? ie) fondern auh Dishaufen räumt ein, daß die Zer⸗ 
ftörung der oberen, mit Ziegeln bededten, Flaͤche etwas Aben- 
teuerliches habe. !) Diefem auszumeichen nehmen manche Et⸗ 
färer an, Jeſus habe entweder im inneren Hofe, 8) oder vor 
dem Haufe 3) unter freiem Himmel gelehrt, und die Träger 
haben nur von. der Bruftwehr des Daches ein Stüd heraus» 
gebrochen, um den Kranfen bequemer hinunterläffen zu fönnen. 
Auein fowohl die Bezeichnung: ua vv xepaumm, bei Lulas, 
als die Ausdrüde des Markus machen dieſe Auffaflung unmög- 
lich, indem hier weder seyn; Bruftwehr des Dachs, noch anoseya&w 
das Durchbrechen von diefer, Sooriro aber doch nur das Auf: 
graben eines Loches bedeuten kann. Bleibt hiemit das Auf- 
brechen des oberen Dachbodens, fo wird dieß auch noch deß⸗ 
wegen unwahrfiheinlich, weil e8 vollig überflüfftg war, fofern 
in jedem Dache fich eine Thüre befand. Daher. bat man ſich 
‚durch die Annahme zu. helfen gefucht, daß die Träger zwar die 
im Dache fchon ‚vorher befindliche Thüre benügt, dieſe aber, 
weil fie für die Lagerftatt des Kranfen zu eng gewefen, durch 
Wegbrechen der umgebenden Ziegellagen erweitert haben; ) 
allein auch biebei bleibt das Gefährliche, und die Worte lauten 
von einer eigend gemachten, nicht bloß erweiterten Oeffnung 
im Dache. 

So gefährli und überflüffig aber ein ſolches Beginnen 
in der Wirklichkeit war, fo leicht laͤßt fich erklären, wie Mar- 
kus, in weiterer Ausmalung des Berichtes von Lukas begriffen, 


— · — 





10) Woolſton, Disc. 4. 
44) 1, S. 310 f. 
12) Köfter,- Immanuel, S. 166. Anm. 66. 
15) So fcheint ed Paulus zu meinen, 2. 3. 1, a, ©. 238. Anders 
ereg. Handb. 1, b, ©. 506. 
2) So Lightfoot, Knindl, Olshauſen 2 d. St. 
6* 


84 .  Beoeiten Abſchnitt. 


auf diefen Zug verfallen: konnte. Lukas hatte gefagt, man 
habe. den Kranken hinabgelaffen, fo daß er Eunmpooder vä Iros 
‚herunterfam, ‚Wie. fonnten die Leute gerade dieſe Stelle treffen, 
fragte ſich Markus, wenn Jefus nicht zufällig unter der Thüre 
des Daches ftand, als dadurch, daß fie da8 Dach in der Ge- 
gend, ‚unter ‚welcher fie Jeſum befindlich wußten, aufbrachen, 
(arestyagev v9 seyrw One 19)? 18) ein Zug, den Markus um 
fo lieber aufnahm, weil er den feine Mühe fcheuenden Eifer, 
‚welchen, dad Zutrauen zu Jeſu den Leuten einflößte, in das 
ſtaͤrkſte Licht zu feben geeignet war. Aber eben aus dem letz⸗ 
‚teren Intereſſe Scheint auch ſchon Die Abweichung des Lufas 
von Matthäus. hervorgegangen zu fein. Bei Matthäus näm- 
lich, der die. Träger den Paralytifchen auf dem gewöhnlichen 
Wege zu Jeſu bringen läßt, indem er ohne Zweifel dad müh- 
felige Serbeifchleppen des Kranfen auf feinem Lager für ſich 
fchon als Probe ihres Glaubens anfah, tritt es doch minder 
beftimmt herpor, worin Jeſus ihre uisıg gefehen haben fol. 
Wurde nun die. Gefchichte urfprünglich fo, wie fie im erften 
‚Evangelium ‚lautet, vorgetragen, fo Eonnte leicht der Reiz ent⸗ 
ftehen, ein mehr hervortretendes Zeichen ihres Zutrauens für 
die, Träger ausfindig zu. machen, welches, fofern man die Scene 
zugleich in großem VBolfägedränge vor fich gehen ließ, am an- 
‚gemejleuften in, dem ungewöhnlichen Wege gefunden zu werben 
ſcheinen Eonnte, welchen die Leute einfhlugen, um ihren Kran- 
fen zu Sefu zu bringen. 

Doch auch die Darftellung des Matthäus fönnen wir nicht 
für treyen Bericht von einem Factum halten. Man hat zwar 
den Erfolg dadurch ald einen natürlichen darzuftellen gefucht, 
daß ‚man den Zuftand des Kranker nur für Nerveifchwäche 
erflärte, bei welcher das Schlimmite Die Einbitdung des Kran- 
fen, fein Uebel müffe als Eündenftrafe fortdauern, geweſen fei ;'6) 
man hat fih auf analoge Säle ſchneller phyſiſcher Heilung von 


5) S. Fritzſche, in Mare. S. 52. u 
) Paulus, ereg. Handb. I, b, S. 498. 501. 


Reuntes Kapitel... $. 97. 88 


Lähmungen. berufen,.") und eine länger fortgefegte Nachkur 
angenommen; 18) ınllein das Erſte und ‚Legte ift reine Willfür ; 
wenn aber qn den angeblichen Analogien auch etwas Wahres 
fein follte, fo iſt es doch immerhin ohne Vergleichung leichter 
möglich geweſen, daß Heilungsgeſchichten von ywAoig und ra- 
owhvrwoig: den mefltanifchen Erwartungen gemäß ſich in der 
Sage bilden, als daß fie wirflich erfolgen konnten. In der 
ſchon angeführten Stelle des Jeſaias naͤmlich, 35, 6, war von 
der meffianifchen Zeit auch verheißen :- Tore alelraı eig EAoupos 
0 xwAög, und in demfelben Zufammenhang, V. 3., war den 
yovora nageahskyuzva ein iogvoers zugerufen,: was, wie bie 
übrigen damit zufammenhängenden Züge, fpäter' eigentlich vers 
ftanden und als Wunverleiftung vom Meſſias erwartet worden 
fein muß, da ſich, ; wie ſchon erwähnt, Jeſus, zum Beweiſe, 
daß er der ioxbu ſei, au Darauf, daß shot? RER; 
sau Ä Ei 


4 — 
| 
N J 
4 | 7 
'. — a ni 4 4 


unwillkürliche Heilungen. ——0o ü⸗— 


Etlichemale in ihren allgemeinen Angaben über die heilende 
Thätigfeit Jeſu bemerken die Synoptiler, daß Kranke allen Art 
Sefum nur zu berühren, oder am Saume feined Kleides zu: 
-faffen gefucht haben, um geheilt zu werben, was dann auf die 
-Berährung hin auch wirklich erfolgt ſei (Matth. 14, 36. Marc. 
3, 10. 6, 56. Luc. 6, 19). Hier mirfte alfo Jeſus nicht, 
wie wir es bis jegt immer gefunden haben, mit beflimmter 
Richtung auf einzelne Kranke, fondern, ohne daß er. von jedem 
befondere Notiz nehmen fonnte, anf ganze Maſſen; fein Ber 
mögen zu geler erfcheint — nicht, wie ſonſt, an ſeinen Willen, 


17) — Gnamon, 1, S. 245. ed. 2. Paulus, e. 502, nimmt auch 
hier wieder ein offenbares Naͤhrchen aus Livius % 36, als natürlich 

erklaͤrbare Geſchichte. 

18) Yaulus, a: a. O. ©, 801. 


88 BZeiter Abſchnitt. 


un'.sdiros YegamenIrpen bei. Lukas, auf feine eigene Rechnung 
kommt: ſo ſcheint dieſer Zug bei. Lukas gleichfalls nur eine 
ſelbſterſchloſſene Ergänzung Des eumghnsae dudsxe.Er7 zu ſein, 
welches Matthäus. ohne Zufat wiedergibt. War. die Frau fo 
lange krank, dachte man, fo wird fie. in dieſer Zeit viel mit. 
Aerzten zu thun gehaht:haben, und weil zugleich im Contraſt 
gegen die Aerzte, welche nichts. ausgerichtet: hatten, die -Wuns. 
dermacht · Jeſu, welche augenblicklich Hülfe fehaffte, in um fo 
glänzenderem ‚Lichte erfehien.: fo. bildeten fidh in der Sage ober 
bei den ‚Referenten jene Zuſätze. Wie nun,. wenn ed mit den: 
übrigen Differenzen fich ebenſo verhielte? Daß die Frau auch: 
nach . Matthäus Jeſum nur von. hinten berührte, drückte das 
Beitreben und .die Hoffnung aus, verborgen .zu blaben; daß 
Jeſus fich ſogleich nach ihr. umfah, darin lag, daß er ihre Be⸗ 
rührung gefühlt. haben ‚mußte. Jene Hoffnung der Frau wurde; 
erflärlicher und ‚viefes Gefühl Jeſu um fa wundervoller, je 
mehr. Menfchen Jeſum umgabeu und..drängten :. Daher : wurde 
aus. dem . Geleite der draus bei Matthäus yon den beiden 
andern ‚ein om 3Aßsodaı durch Bie:oydoı gemacht. Da zugleich 
in dem auch von Matthäus erwähnten Umjchawen Zefa: nach: 
der Berührung. die Vorausſetzung gefunden werden: fonnte, daß 
er diefe auf eigenthämliche ‚Weife empfunden habe, ſo bilbete 
fich weiterhin die Scene. aus, wie Jeſus, abgleich von allen. 
Seiten gedrängt, doch. jene einzelne. Berührung an.der Kraft, 
die ſie ihm entlodte.,. .herausfühlt, und fo wurde das einfache 
Eruizgapeis zei ide avrıy des Matthäus: zu einem fragenben 
und die Thäterin aus der Menge herausſuchenden Sichum⸗ 
wenden, . welches das Geſtändniß der. Frau zur Folge. hutie, 
umgebilvet. Endlich, weil ald das Eigenthümliche dieſer Heiz. 
Iungögefchichte, auch nach ihrer Geftalt im erften Evangelium, 
bei Bergleichung von 14,.36., das erfchien,. daß .die Berührung 
des Kleides Jeſu für. fich ſchon heilend geweſen: . fv: beftrebet. 
man ſich bei'm Weitererzählen der Gefchichte immer mehr, un- 
mittelbar. nad) der Berührung den Erfolg eintreten, und Jeſum 
auch nach demſelben noch längere Zeit über. Die Thaͤterin in 





Reuntes Kapitel: $. 97. 89. 


Ungewißheit: fein zu laffen (Letzteres im Widerſpruche mit der 
fonftigen- Borausfepung eines höheren Wiſſens Jeſu); ſo daß 
ſich von allen, Seiten die Erzählung des erſten Evangeliums 
als die fruͤhere und einfachere, die der beiden andern als ſpaͤ⸗ 
tere und: ausgeſchmücktere Formation der Sage zu erkennen gibt. 

Was .nun: den gemeinfchaftlichen Inhalt der Erzählungen 
. betrifft,: fo:ift in neuerer Zeit: beiden, orthodnren wie rationalis 
ftifehen, Theologen das Unwilffürliche: des heilenden -Einwirfeng 
Jeſu ein Anſtoß geweſen. Gar zu ſehr — hierin flimmen 
Baulus und Olshauſen 'zufammen?) — werde hiedurch 
die Wirkſamkeit Jeſu in das Gebiet. des Phyſiſchen herabgezo⸗ 
gen; Jeſus erſcheine da wie ein Magnetiſeur, welcher bei der 
heilenden Berührung nervenfchwacher Perſonen einen Abgang’ 
an.Kraft: verfbürt; wie eine geladene elektriſche Batterie; Die’ 
bei’m. Betaften-fich entladet Eine ſolche Borftelung von Chriſto, 
meint Olshaufen, verbiete das chriſtliche Bewußtſein, welches. 
ſich vielmehr genöthigt finde, die in Jeſu wohnende Kraftfülle 
als durchaus» beherricht durch ‚feinen Willen, und diefen geleitet 
durch das Bewußtſein ‚von. dem’ fittlichen :Zuftanbe' der. zu hei⸗ 
lenden Perſonen fh zu denken. Deßwegen wird nun 'vorauss: 
geſetzt, Jeſus ‚habe die Frau auch wungelehen wohl erfannt, und 
mit Rüdficht auf. ihre Faͤhegkeit, durch: dieſe leibliche Hülfe auch 
. geiftig. gewonnen: zu. :werden, ſeine .beilende Kraft wohlbedacht 
in fies ausftrömen laſſen, fich aber, um ihre falſche Scham zu 
brechen und fie zum. offenen: Bekenntniß zu treiben, geftellt, als 
ob er nicht wüßte, wer: ihn berührt habe. Allein das chriftliche 
Bemußtfein,. d. bi in dergleichen Faͤllen nichts Anderes, als Die 
fortgefchrittene :religiöfe Bildung. unfrer Zeit, ‚welche die alter- 
thimlichen Vorftelungen- der Bibel nicht zu den ihrigen machen 
will, bat zu ſchweigen, wo es eben nicht auf dDogmatifche An⸗ 
eignung, fonbern. rein. auf. eregetifche Ermittlung ber “biblifchen 

Borfellungen anfowunt. :: Wie von der Einmiſchung dieſes 


3) Ereg: Handb. 1, d, ©. 324 f.; bibl. Comm. 1, ©. 324 f.5 vol. 
 Khfter, Immanuel, S. 201 ff. RE en 





ar | Zweiter Abſchnitt. 


angeblich chriſtlichen Bewußtſeins Die meiften Berirrungem ber‘ 
Eregefe herrühren, fo hat es auch hier den genannten Ausleger 
von dem offenbaren Sinn der Berichte abgeführt. Denn nicht 
nur lautet in den beiden ausführlicheren Erzählungen die Frage 
Jeſu: tig 0 ariuusvog ua; in der Art, wie er fie bei Lukas 
wiederholt und bei Marfus durch ein ſuchendes Umherblicken 
befräjtigt, durchaus als eine ernftlich gemeinte, wie ja übers 
haupt die Bemühung diefer beiden Evangeliften - dahin geht, 
das Wunderbare an der Heilfraft Jeſu dadurch in ein befons 
ders helles Licht zu feßen, daß durch bloße glaubige Berührung 
feines Gewandes, ohne Daß er die berührende Perſon erft zu 
fennen, oder ein Wort zu ihr zu fprechen brauchte, Heilung 
von ihm zu erlangen gewefen fei: fondern auch uriprünglich 
ſchon in der fürzeren Darftellung des Matthäus liegt in dem 
stoogeAdige OmIer iiyero und Errizgageis nei Iduv auııy 
deutlich dieß, Daß Jefus, erft nachdem fie ihn berührt hatte, die: 
Frau kennen gelernt habe. Läßt fi) fomit eine der Heilung 
vorausgegangene Kenntniß der Frau und ein fpecieller Wille,. 
ihr zu helfen, bei Jeſu nicht nachweifen, fo bliebe für denjenigen, 
weicher feine unmwillfürliche Yeußerung der Helfraft Jeſu ans 
nehmen will, nur übrig, einen beftändigen allgemeinen Wien, 
zu heilen, in ihm vorauszufegen, mit welchem dann nur der 


Glaube im. Kranfen zufammentreffen durfte, um die wirflide . 


.Heilung hervorzubringen. Allein daß, unerachtet eine fpecielle. 
MWillensrichtung auf die Heilung diefer Frau in Jeſu nicht. 
‚porhanden war, fie durch ihren bloßen Glauben, aud ohne . 
Berührung feines Kleides, gefund geworben wäre,. ift gewiß 
nicht die Vorftellung der Evangeliften, fondern es tritt hier an 
die Stelle des individuellen Willensactes von. Seiten Jefu die 
Berührung non Eeiten ded Kranken; dieſe ift ed, welche ftatt 
des erfteren die in Jeſu ruhende Kraft zur Aeußerung bringt: 
fo daß mithin das Meaterialiftifche der Vorftellung auf dieſem 
Wege nicht zu vermeiden ift. 

Einen Schritt weiter muß. bie rationaliftifche Auslegung 
gehen, welcher nicht bloß, wie dem modernen Supranaturalismus, 





Reunten Kapitel. 5. 97. or 


ein unbewußtes, fondern überhaupt das Ausgehen heilender 
Kräfte won Jeſu unglaublich ift, melde aber duch die Evans 
geliften. gefchishtlich wahr erzählen laffen will. Nach ihr wurde 
Jeſus zu der Frage, wer ihn berührt habe, Lediglich dadurch 
veranlaßt, daß er ſich im Borwärtögehen aufgehalten fühlte; 
daß Die Empfindung. einen duvanıs s5eAdäge. die Veranlaſſung 
geweſen fei, iſt bloßer Schluß zweier Referenten, vor welchen 
der eina, Markus, e& auch, bloß ab eigene Bemerkung gibt, 
und nur Lukas es her Frage Jeſu einwerleibt; die Genefung 
der Frau. wurde durch ihr eraltintes, Zutrauen bewirkt, vermöge 
‚deffen fie. bei der Berührung des Saumed- Jefu in allen Ner: 
ven zuſammenſchauderte, wodurch vielleicht eine plößliche- Zu⸗ 
fammenziehung der. erweiterten Blutgefäße herbeigeführt, murde; 
üprigens: konnte fie im, Ayıgenblide- nur. meinen,, nicht gewiß 
wiſſen, geheift zu. fein, und erſt nach und nach, vielleicht in 
Folge des Gebrauchs: von: Mitteln,, die ihr. Jeſus anrieth, wird 
Daß. Uebel fich, völlig. verloren Haben, 9 _ Allein. wer, wird: firh- 
die ſchüchterne Berührung einen franfen, Frau, deren Ablicht. 
pam, verborgen, zu. bleiben, und: been, CHande auch dur Das. 
leifefte: Anſtreifen Hetlung: zu: enfangen gewiß, war, als ein An⸗ 
faſſen vorfteffen,. raelches den: nach Marfus und Lufas vom 
Bot umdrängten Jeſus im Gehen. aufhielt? was für ein mächs- 
tige&- Vertrauen: ferner auf Die: Macht: des Vertrauend gehört 
zu der Annahme, daß es ‚ohne Hinzutriti einer realen. Kraft 
von Seiten Jefu, einen zwölfjährigen. Blntfluß geheilt habe? 
endlich aber, wenn die Evangeliften einen felbftgemarhten Schluß 
(daß: eine Kraft: von ihm ausgegangen) Jeſu in den Mund 
gelegt, und eine ‚nur ſucceſſtv eingetretene Wirderherftellung 
als eine momentane befchrieben. haben ſollen: fo fälltı mit: dem. 
Aufgeben diefer. Züge die. Bürgfchaff: für bie hiftorifche Realität 
der. ganzen, Erzählung, aber ebendamit auch Die. Veranlaffung 
hinweg, fi wit ber natürlichen: Erlarung vergebuche Mühe⸗ 
zu machen. 


Pauua, ereg. Darst, I, b. 8,54 f. 330; 8% 9. 1,249. 244 [25 
Benturini, 2,.©. zo; Koͤſter, a. a. O. 





9%: ." Bweiter. Abſchnitt. 


An der That auch, betrachten wir nur. die vorliegende 
Erzählung etwas näher, und vergleichen fre mit verwandten. 
Anefvoten, fo Fünnen wir über ihren eigentlichen Charafter 
nicht im Zweifel bleiben. Wie hier und an einigen andern 
Etellen von Jeſu erzählt wird, daß durch bloße Berührung 
feines Kleides Kranfe genejen feien: fo berichtet die Apoftelges 
fhichte, daß die aadeoın und ayuxivIın des Paulus, wenn 
man fie auflegte (19, 11 f.), und von Petrus felbft Der 
Schatten, wenn er auf einen fiel (5, 15.) Kranke aller Art 
gefund gemacht habe, und apofryphifche Evangelien laſſen durch 
die Windeln und das Wafchwafler des Kindes Jeſu eine 
Mafle von Kuren verrichtet werden.) Bon diefen Ichteren 
Gefchichten weiß Jedermann, daß er fich mit denfelben auf’ 
dem Gebiete der Eage und Legende befindet; aber wodurch 
follen fich von diefen Kuren durch die Windeln Jeſu die Hei⸗ 
lungen durch die Echweißtücher Pauli unterfcheiden, als etwa 
‚dadurch, Daß jene von einem Kinde, diefe von einem Erwach⸗ 
fenen ausgehen ?_ Gewiß, fände die letztere Nachricht nicht in 
einem fanonifchen Buche, fo würde fie Jedermann für fabel- 
haft halten: und doch fol Die Glaubwürdigkeit der Erzählungen 
nicht. auß dem vorausgefegten Urfprung des Buchs, das fie 
enthält, fondern die Anficht von dem Buche muß aus der Bes 
fehaffenheit feiner einzelnen Erzählungen: erfchloflen werben. 
Zwifchen diefen Heilungen durch die Echweißtächer aber und 
denen durch die Berührung des Saumd am Kleide findet 
wieder fein wefentlicher Unterfchied flatt. Beidemale cine Be: 
rührung von Gegenftänden, welche nur in aͤußerem Zufam- 
menhang mit dem Wunderthäter ftehen; nur daß diefer Zuſam⸗ 
menhang bei den abgelegten Schweißtüchern ein unterbrochener, 
bei dem Gewande noch ein fortpauernder iſt; beidemale aber find 
Erfolge, welche doch auch ‘der orthodore Standpunft nur. aus’ 
dem geiftigen Weſen jener Männer ableiten, und als Acte 


5) S. das Evangelium infantiae ‚arabicum bei Sabrielus ı und 
Thilo. . ‚ste? 














Neuntes Kapitel. $. 97. | 93 


ihres. mit dem göttlichen einigen Willens betrachten wird, zu 
phyſiſchen Wirkungen und Ausflüffen gemacht. Steigt biemit 
die Sache vom religiöfen und theolegifchen Standpunkt auf 
den natürlichen und phyfifalifchen herunter, weil ein Menfch 
-mit einer folchen feinem Körper inwohrenden und ihn als 
_ Atmofphäre umfließenden Heilfraft zu den Wegenftänden ber 
Naturfunde, nicht mehr der Religion, gehören würde: fo fin- 
det fich die Naturwiflenfchaft außer Stande, eine folche Heil: 
fraft durch fichere Analogien oder Hare Begriffe feftzuftellen, 
und e8 fallen alfo jene Heilungen, vom objectiven Gebiet auf 
das fubjective vertrieben, der Pfychologie zur Begutachtung 
anheim. Diefe wird nun allerdings, wenn fie die Macht der 
Einbildung und des Glaubens in Rechnung nimmt, für mög- 
-fich erachten, daß ohre eine wirfliche Heilfraft in dem ver“ 
meintlichen Wunderthäter, einzig Durch das überfchwängliche 
Zutrauen des Kranfen zu demfelben, förperliche Leiden, welche 
mit dem Nervenſyſtem in engerem Zuſammenhange ftehen, ges 
heilt werden Finnen: wenn nun, aber die Pſychologie geſchicht⸗ 
liche Belege biefür aujfucht, fo wird die Kritif, welche fie 
hiebei zu Hülfe zu rehmen hat, bald finden, daß eine weit 
größere Zahl von dergleichen Kuren durch den Glauben Ande- 
rer erdichtet, als durch den angeblich dabei Betheiligter verrich- 
tet worden if. So wäre e8 zwar keineswegs an fich unmög- 
lich, daß durch den ftarfen Glauben an eine felbft den Kleidern 
und Tüchern Jefu und der Apoftel inwohnende Heilfraft manche 
Kranfe bei Berührung derfelben wirklich Beſſerung verfpürt 
hätten: aber mindeftend eberfogut läßt füch deifen, daß man 
erft fpäter, al8 nach dem Tode jener Männer ihr Anfehen in 
der Gemeinde immer höber ſtieg, dergleichen fich glaubig erzählt 
habe, und es kommt auf die Befchaffenheit der Berichte hier- 
über an,. für welche von beiden Annahmen man fich zu ent: 
fcheiden hat. An den allgemeinen Angaben nun in den Evan- 
gelien und der W. G., welche ganze Maffen auf jene Weife 
kurirt werden laffen, ift chen dieſe Häufung jedenfalld traditio- 
nell; die detalllirte Gefchichte aber, welche wir bisher unterſucht 


DA . „Zweiter Abſchniet. 


haben, ‚hat darin, dag fie die Frau ‚ganze zwölf Inhre lang 
“an einer fehr hartnädfigen und am wenigften bloß pſychifch 
zu heilenden ‚Krankheit leiden, und dic Heilung, ſtatt dur 
die Einbildung der Kranken, durch eine Jeſu fühlbar entftrömte 
Kraft vor fich gehen läßt, fo viel Mythiſches, ‚daß wir eine 
biftorifche Grundlage gar nicht mehr herausfinden Tonnen, ‚und 
das Ganze ald Gage betrachten müſſen. 

Was diefem Zweige der evangelifchen Wunderfage im 
Unterſchiede von andern ſein Daſein gegeben hat, iſt nicht 
ſchwer zu ſehen. Der ſinnliche Glaube des Volks, unfähig, 
das Göttliche mit dem Gedanken zu ergreifen, ſtrebt, es immer 
mehr in das maierielle Sein herabzuziehen. ‘Daher mußte 
nach der fpäteren Meinung der Heilige Mann ald Knochen⸗ 
reliquie Wunder thun, Chriſti Leib in der veriwandelten Hoftie 
gegenwärtig fein, und eben daher auch nach einer ſchon frübe 
aufgebildeten Vorftellung die Heilfraft der neuteftamentlichen 
Männer an ihrem Leib :und deſſen Bedeckungen haften. Se 
. weniger man Jeſu Worte faßte, deito mehr hielt mum auf das 
Faflen feines Mantels, ‚und je mehr man fish von der freien 
Geifteöfraft des Apofteld Paulus entfernte, deſto getrofter ließ 
man feine Heilfraft im Echweißtuche nad Hauſe tragen. 


$. 98. 
Deilungen in bie Ferne. 


Von jenen unwillkürlichen Heilungen ſind nun ſolche, 
welche aus der Entfernung bewirkt werden, eigentlich das ge- 
rade Gegentheil. Gefchehen jene durch bloße förperliche Berüh- 
rung, ohne befondern Willensact: fo erfolgen diefe durch den 
bloßen Willensact ohne leiblihe Berührung oder auch nur 
räumliche Nähe. Zugleih aber muß man fagen: mar bie. 
‚ Heilfraft Jeſu fo materiell, daß fie bei der bloßen leiblichen 
Berührung unwillfürlich fich -entud, fo kann fie nicht fo 
geiftig gewefen fein, daß der bloße Wille fie auch über bedeu⸗ 





Neintes Kapitel. 6. 98. 5 


ter de Entfernungen hinübergetragen ‚hätte; war fie aber fo 
geiftig, um auch ohne, leiblide Gegenwart zu wirfen, fo fann 
fie nicht fo materiell gewefen fein, um ohne Willen fich zu 
entladen. Da wir num jene reirphyfitche Wirfungeweife Jeſu 
bezweifelt haben: fo bliebe uns für dieſe geiftige freier Raum, 
urd die Entfeheidurg über diefelbe wird alfo rein von der Un⸗ 
terfuchung der Berichte und der Eache felber abhängen. 

Als Proben einer folchen in die Ferne wirkenden SHeilfraft 
Sefu berichten uns Matıhäus und Lukas die Heilung des 
franfen Knechts eined Hauptmannd zu Kapernaum, Johannes 
die des Franfen Sohnes eines PuoeAıxog ebendafelbft (Matth. 8, 
5 ff. Luc. 7, 1 ff. Sch 4,46 ff); ferner Matthäus (15, 
22 ff.) und Markus (7, 25 ff.) tie Heilung der Tochter dee - 
fanandifchen Weibes, wovon, da die legtere in der fummarifchen 
Relation nichts Eigenthümliches hat, nur die erfteren beiden 
hier zu unterfuchen ſind. Die gewöhnliche Anficht nämlich 
über Die bezeichneten Erzählungen ift die, daß zwar Matthäus 
und Lukas dafielbe, Schannes aber ein von diefem verſchiedenes 
Factum melde, da fein Bericht von dem der beiden andern in 
folgenden Zügen abweiche: 1) der Ort, von wo aus Jefus heile, 
fei bei den Eynoptifern der Aufentkaltsort des Kranfen, Ka⸗ 
pernaum, nach Sohannes ein davon verfihiederer, nämlich 
Kana; 2) die Zeit, in welche die Eynoptifer die Begebeibeit 
fegen, r.ämlich beide unmittelbar hinter die Heimfehr Jeſu nad 
der Bergrebe, fei von der im vierten Evangelium angegebenen, 
ebenfo unmittelbar nach der Rüdfehr Jeſu vom erften Bafcha 
und feiner Wirffamfeit in Eamaria, verfihieden; 3) der 
Kranke fei nach jenen der Sklave, nach diefem der Eohn des 
Bittftellers; die wichtigften Abweichungen aber finden 4) in 
Hirficht des Bittftellers felber ftatt, indem er im eriten und 
dritten Evangelium eine Militärperfon (ein Exurorrupyos), im 
vierten ein Hojbeamter (Baordıxos), nach jenen (laut B. 10 ff. 
bei Matth,) ein Heide, nach dieſem ohne Zweifel ald Jude zu 
denken fei; hauptfächlich aber werde er nach den Eynoptifern 
von Jeſu als Mufter des innigften, demüthigften Glaubens 





96 Zweiter Abſchnitt. 


belobt, weil er ja Jeſum in der Zuverſicht, daß er auch aus 
der Ferne heilen könne, verhinderte, in ſein Haus zu gehen: 
nach Johannes dagegen werde er umgekehrt, weil er, die Ge⸗ 
genwart Jeſu in feinem Haufe zum Behuf der Heilung für 
nöthig hielt, wagen feines ſchwachen, der oruei« und J 
bedürftigen Glaubens getadelt) 

Dieſe Abweichungen find allerdings bedeutend genug, um 
von einem gewiſſen Geſichtspunkt aus um ihretwillen auf der 
Verſchiedenheit Des dem ſynoptiſchen und des dem johanneifehen 
Berichte zum Grunde liegenden Factiſchen zu beharren: nur ' 
follte man, wenn man: es von dieſer Eeite fo genau nimmt, 
fih über die Abweichungen, welche auch zwifchen den beiden 
ſynoptiſchen Berichten ftattfinden , . nicht verblenden. Echon in 
Bezeichnung der Perfon des Leidenden ftimmen fie nicht ganz 
zufammen:: Lukas heißt ihn einen dslog vruuog des Haupt: 
manns, bei Matthäus nennt diefer ihn 0 als us, was eben- 
fowohl einen Sohn ale cinen Diener: bedeuten fann, und 
Dadurch, daß der Hauptmann B.9,. wo er von feinem Knechte 
fpricht, den. Ausdruck: dadog gebraucht, während der Geheilte 
V. 13 noch einmal ald 0 maig. ayrö bezeichnet wird, eher im 
erfteren. Sinne erflärt zu fein feheint. In Betreff feines Lei⸗ 
dens wird. der Menſch von Matthäus als ein rragakvzızog 
dewög Baoaıkouerog gefchildert, von welcher Kraufheitsform 
Lufas nicht allein fihweigt, fordern, indem cr zu dem urbe- 
ſtimmten: xaxwg Exwv noch, „ueide veleır@v ſetzt, Manchen 
eine andere Kranfheit vorauszufegen feheint, da die Paralyfe 
fonft nicht als ſchnell tödtende Krankheit vorkomme.?) ALS 
die bedeutendſte Differenz aber. geht durch die ganze Erzählung 
diefe hindurch, daß Allee, was nad Matthäus der. Centurio 
unmittelbar felbft thut, bei Lufas durch ‚Gefandtichaften ver- 
mittelt it, indem er hier sueri ſchon ‚ nicht wie bei Matthäus 


1) ©. die Ausführungen von Paulus, Lüde, Thou und Ole⸗ 
haufen z. d. St. 
2) Schleiermader, über ben Lukas, ©. 92. 





Neuntes Kapitel. $. 9. 97 


perfönlich, fondern durch die nnesofvrepus van Ysdaluw Jefum 
um die Heilung erfucht, dann aber von dem Betreten feines 
Haufes ihn wiederum nicht felbft zurüdhält, fondern durch 
einige Freunde abmahnen läßt. Zur Ausgleichung diefer Difs 
ferenz pflegt man fich auf die Regel: quod quis per alium 
facit_ete. zu berufen. 9) Soll damit, wie ed auf dem Stands 
punfte der fo urtheilenden Erflärer nicht anders denkbar ift, 
geſagt fein, Matthäus habe wohl gewußt, daß zwiſchen dem 
Hauptmann und Jeſu Miles dur Mittelöperfonen verhandelt 
worden fei, dennoch aber habe er der Kürze wegen mittelft 
jener Redefigur ihn felbft mit Jeſu fprechen laflen: fo hat 
E torr vollfommen Recht mit der Gegenbemerfung, daß wohl 
fchwerlich irgend ein Gejchichtichreiber jene Metonymie fo bes 
barrlich durch eine ganze Erzählung hindurchführen würde, 
und zwar in einem Balle, wo einerfeitd die Rebefigur ſich 
keineswegs fo von felbft verrathe, wie 3. B. wenn einem Feld⸗ 
berrn zugefchrieben wird, was feine Solbaten thun, und wo 
andrerfeitS gerade auf den Umftand, ob die Perfon felbft oder 
durch Andere gehandelt habe, zur vollen Erfennbarkeit ihres 
Charakters etwas anfomme. ) Mit Löblicher Confequenz hat 
daher Storr, wie er der bedeutenden Differenzen wegen bie 
Erzählung des vierten Evangeliums auf ein anderes Factum 
beziehen zu müflen glaubte, als die des erften und britten, 
ebenfo um ber Abweichungen willen, weldye er zwiſchen den 
Berichten der legteren beiden fand, auch diefe für Erzählungen 
zweier verfchiedenen Begebenheiten erklaͤrt. Wundert man fidh, 
daß zu drei verfchiedenen Malen ein fo ganz ähnlicher Hei- 
. ungöfall an dem gleichen Orte vorgefommen fein foll (denn 
auch nad Johannes lag und genas der Kranke in Kapers 
naum): fo verwundert fih Storr feinerfeits, wie man im 
Mindeften unmwahrfcheinlich finden Eönne, daß in Kapernaum 


3) Auguftin, de consens. evang. 1, 20; Paulus, ereg. Handb. 1, 
b. S. 7095 Köfter, Immanuel, S. 63. 
%), ueber den Zwed u. f. f. S. 351. 


U. Band. 7 


98 Bwelter Abſchuitt. 


zu verfchiedenen Zeiten zwei Hauptleute einen kranken Knecht, und 
wieder ein andermal ein Hojbeamter einen franfen Sohn gehabt; 
daß der zweite Hauptmann (des Lufas) von der Gefchichte des 
erften gehört, ſich auf ähnliche Art an Jefum gewendet, und fein 
Beifpiel ebenfo dur Demuth zu übertreffen gefucht habe, wie 
der erfte Hauptmann (Matth.), dem die frühere Gefchichte des 
Hofmanns (Joh.) bekannt gewefen fei, das ſchwache Vertrauen 
diefes legteren habe übertreffen wollen, und daß endlich Jeſus 
alle drei Patienten auf dieſelbe Weife aus der Ferne geheilt 
habe. Allein der Borfal, daß ein vornehmer Beamter von 
Kapernaum Jeſum um die Heilung eines Angehörigen bat, 
und Jeſus aus der Entfernung fo auf dieſen einwirfte, daß 
um dieſelbe Zeit, da Jeſus das heilende Wort fprach, der 
Kranfe zu Haufe genas, ift fo einzig in feiner Art, daß eine 
dreimalige Wiederholung deſſelben unmöglich angenommen wers 
den fann, und auch ſchon eine bloß zweimalige E chwierigfeiten 
hat; weßwegen der Verſuch gemacht werden muß, ob nicht Die 
drei Berichte auf Eine Grundlage zurüdgeführt werden können. 
Hier it nun die am allgemeinften für verfchiedenartig ges 
haltene Erzählung des vierten Evangelifſten nicht allein in den 
ſchon angegebenen Grundzügen der foncptifchen verwandt, ſon⸗ 
dern in manchen bemerfenswertben Einzelheiten ftimmt einer 
oder der andere der beiden fynoptifchen Referenten genauer -mit 
Sohannes zufammen als mit dem andern Eynoptifer. So, 
während in dem Zuge, daß er den Kranken als suis bezeich⸗ 
net, Matthäus mindeftens ebenfowohl mit dem johanneifchen 
viog übereinftimmend gefunden werden fann, als mit dem 
dalog des Lukas, trefin Matthäus und Johannes darin ent- 
hieden zufammen, daß nach beiden der Eapernaitifche Beamte 
fi) unmittelbar an Jeſum felber wendet, und nicht, wie bei 
Lukas, durch Vermittler. Dagegen ftimmt der johanneifche Bericht 
mitdem des Lukas gegen den Matthäus in der Befchreibung des Zu⸗ 
ftandes überein, in welchem der Leidende fich befunden haben fol: 
beide wiflen nichts von ber sragulucıg, von welcher Matthäus 
fpricht, fondern bezeichnen den Kranken als dem Tode nahe, 


Reuntes Kapitel. 6. 98. 99 


Lufas durch Aueide relevrw, Johannes durch ——R O7IO- 
Irrorsw, wozu der letztere V. 52. nachträglich bemerkt, daß 
die Kranfheit von einem zrugerog begleitet gewefen. In Dars 
ftelung der Art, wie Jefus die Heilung des Kranfen vollzog, 
und wie deffen Genefung erfolgte, fteht Johannes wieder auf 
. Eeiten ded Matthäus gegen den Lufas. Während nämlich 
diefer eine ausdrüdliche Verficherung Jeſu, daß der Knecht 
geheilt fei, gar nicht hat, Taffen jene beiden ihn fehr übereins 
ſtimmend zu dem Beamten fagen, der eine: üncye, xal ug 
enisevoog yerndirw 001, der andere: rrogevs, 0 viog 08 [n» 
und auch der. Schluß des Matthäus: xl daIı7 0 eig aura 
& zn wog &xeln, ftimmt wenigftens der Form nady mehr zu 
der johanneifchen Angabe, bei gehaltener Nachfrage habe der 
Bater gefunden, daß & &eivn ı7 wipe, in welcher Jeſus jenes 
Wort gefprochen, fein Sohn gefund geworben fei, als zu der 
des Lufas, daß die zurüdgefcehrten Boten den Franfen Knecht 
gefund angetroffen haben. In einem andern PBunfte dieſes 
Schluffes wendet fih nun aber die Zuftimmung des Johannes 
von Matthäus wieder zu Lukas zurüd. Bei beiden nämlich ift 
von einer Art von Gefandtfchaft die Rede, welche zulegt noch 
aus dem Haufe des Beamten tritt: bei Lufas eine Anzahl von 
Freunden des Hauptmanns, welche Jeſum abhalten follen, ſich 
felbft zu. bemühen; bei Johannes Knechte, welche jubelnd ihrem . 
Herrn entgegenziehen und ihm die Kunde von der Genefung 
feines Sohnes bringen. Gewiß, wo drei Erzählungen fo durch⸗ 
einander verfchlungen find, wie dieſe, darf man nicht bloß 
zwei derfelben für identifch erklären und eine als verfchiedene 
ftehen laffen, fondern man muß die drei Berichte entweder alle 
auseinander halten oder alle zufammenwerfen, wie Leßteres 
nach älteren Vorgängern Semler gethan, ) und Tholud 
wenigftend für möglich erflärt hat, ed zu thun. Nur fuchen 
folche Ausleger dann die Abweichungen der drei Berichte fo 


4) ©. bei Lüde, 1, ©. 552%. 
ya 


100 Zweiter Abſchnitt. 


zu erklaͤren, daß keiner der Evangeliſten etwas Falſches geſagt 
haben ſoll. Den Stand des Bittſtellers betreffend ſucht man 
den Baoulıxos des Johannes zum Militärbeamten zu machen, 
wovon dann das äxazovzepyog der beiden andern nur nähere 
Beflimmung wäre; was aber den Hauptpunft, das Benchmen 
des Bittftellers , betrifft, fo könnten, meint man, die verfchiedes 
nen Brzähler verfchiedene Seiten der Sache in der Art hervors 
gehoben haben, daß Johannes nur das Frühere wiedergäbe, 
wie fich Jeſus über die anfängliche Schwäche des Glaubens 
in dem Bittenden beflagte, die Synoptifer nur das Spätere, 
wie er feinen ſchnell gewachfenen Glauben belobte. Wie man 
auf noch leichtere Weile die Hauptdifferenz zwifchen den beiden 
fonoptifchen Berichten, in Hinficht der mittelbaren oder unmit- 
telbaren Bittftelung, ausgleichen zu können meinte, ift bereits 
angegeben worden. Dieſes Beftreben, die Widerfprüche ber 
drei Relationen auf gütlihem Wege auszugleichen, ift. ein 
falfches. Es bleibt Dabei: die Synoptifer haben ſich den Bitt- 
fteller als einen Centurio gedacht, der vierte Evangelift als 
einen Hofbeamten; jene als glaubensftarf, diefer als der Stär- 
fung noch bebürftig; Johannes und Matthäus ftellten ſich 
vor, er habe fi) unmittelbar, Lukas, er habe ſich aus Be 
feheidenheit nur mittelbar an Jeſum gewendet. ©) 

Mer ftelt nun die Sache auf die rechte, und wer auf 
irrige Weife dar? Nehmen wir zuerft bie beiden Synoptifer 
für fi, fo ift nur Eine Stimme der Erflärer, daß Lukas die 
genauere Darftellung gebe. Schon das will man unmwahrs 
ſcheinlich finden, daß der Kranfe nach Matthäus ein Paralys 
tifcher geweſen fein follte, da bei dem Ungefaͤhrlichen dieſes 
Leidens der befcheidene Hauptmann ſchwerlich Jeſum gleich bei’m 
Eintritt in die Stadt in Beichlag genommen haben würde: 7) 


%) Sriefce, in Matth. p. 810: diserepat autem Lucas ita a 
Matthaei narratione, ut centurionem non ipsum venisse ad 
Jesum, sed per legatos cum eo egisse tradat; quibus dissi- 
dentibus pacem obtrudere, boni nego interpretis esse. 


) Schleiermader, a. a. D. ©, o2 f. 


Reuntes Kapitel, $. 98, | 101 


al8 ob ein fehr fchmerzhaftes 1lebel, wie das von Matthäus 
befchriebene, nicht möglichft fehnelle Abhülfe wünfchenswerth 
machte, und als ob es ein unbefcheidener Anfpruch geweſen 
‘ wäre, Jeſum noch vor feiner Nachhaufekunft um ein heilendes 
Wort zu erfuchen. Bielmehr das umgekehrte Verhältniß zwis 
fhen Matthäus, und Lufas wird durch die Bemerkung wahrs 
fheinlich, daß das Wunder und alfo auch das Lichel des wuns 
derbar Geheilten in der 1leberlieferung fich nie verkleinert, ſon⸗ 
dern ſtets vergrößert, daher eher der arggeplagte Paralytifche 
zum uellov teievrgw gefteigert, als biefer zu einem bloß Leis 
denden herabgefegt werden mochte. Hauptfäcdhlich aber die dop⸗ 
pelte Geſandtſchaft bei Lufas ift nah Schleiermacher etwas, 
das nicht leicht erdacht wird. Wie, wenn fich diefer Zug viel- 
mehr ſehr deutlich als einen erdachten zu erkennen gäbe? Waͤh⸗ 
rend bei Matthäus der Hauptmann Jefum auf fein Erbieten, 
mit ihm gehen zu wollen, durch die Einwendung zuruͤckzuhal⸗ 
ten ſucht: xupıe, 8x eiul ixowos, iva us uno ν seyrm eiskl- 
Ins, läßt er bei Lufas durch die abgefandten Sreunde noch bins 
‚sufegen : dio 8d2 ‚zuavıov nklooa rrpog ae &AFel, womit deut: ' 
lich genug der Schluß angegeben if, auf welchem dieſe Ges 
fandtfchaft beruht. Erklaͤrte fich der Mann für unwürdig, daß 
Jeſus zu ihm komme, dachte man, fo hat er wohl auch fi 
ſelbſt nicht für würdig gehalten, zu Jeſu zu fommen ; eine Steis 
gerung feiner Demuth, durch welche fich auch hier der Bericht 
bes Lufas als der ferundäre zu erkennen gibt. Den erften Ans 
ftoß zu dieſer Gefandtichaft feheint übrigens das andere Inte 
teffe gegeben zu haben, die Bereitwilligfeit Jefu, in des Heiden 
Haus zu gehen, durch eine vorgängige Empfehlung beflelben 
zu motiviren. Das ift ja das Erſte, was bie nrgeoßvregor 
Tov Tedolın, nachdem fie Jeſu den Kranlheitsfall berichtet, 
hinzuſetzen, Or ablog ᷓ Tiapkkeı TÄToO ayarıg yap To 
&9v05 nur x. Tv. A, ähnlich, wid gleichfalls bei Lukas, in der 
A. ©. 10, 22., die Boten des Cornelius dem Petrus, um 
ihn zu einem Gang in beffen Haus zu vermögen, auseinan⸗ 
derſetzen, daß er ein ip dlxwuog zal poßausvos vν Feor, 





102% Zweiter Abſchnitt. 


URpTUGBNEVOS TE vo Ola TE EIvas ww Isdalow fe. Daß 
die doppelte Gefandtfchaft nicht urfprünglich fein kann, erhellt 
am deutlichiten Daraus, daß durch diefelbe die Erzählung des 
Lukas alle Haltung verliert. Bei Matthäus hängt Alles wohl 
zufammen : der Hauptmann zeigt Jeſu zuerft nur den Zuftand 
des Kranken an, und überläßt entweder ihm felber, was er 
nun thun wolle, oder es kommt ihm, ehe er feine Bitte ftellt, 
Sefus mit feinem Anerbieten, fich in fein Haus zu begeben, 
zuvor, was nun der Hauptmann auf die befannte Weife ab- 
lehnt. Welches Benehmen dagegen, wenn nach Lutas ber 
Genturio Jeſu zuerft durch die jüdischen Aelteften fagen läßt, 
er möchte -fommen (EAIw) und feinen Knecht heilen, hierauf 
aber, wie Jeſus wirklich kommen will, gereut es ihn wieder, 
- ihn dazu veranlaßt zu haben, und er begehrt nur ein wunder: 
thätiges Wort von ihm. Daß die erfte Bitte nur von den 
Aelteften, nicht von dem Centurio ausgegangen fen, ) diefe Aus: 
funft läuft den ausdrüdlichen Worten des Evangeliften entge- 
gen, welcher durch die Wendung : arezeuhe — ıgeoßurigas — 
gowrov avrov die Bitte ald vom Hauptmann felber auegegangen 
darftellt; daß aber Ddiefer mit dem &AIwv nur gemeint haben 
follte, Jeſus möchte fi in Die Nähe feines Haufe begeben, 
und nun wie er gefehen, daß Jeſus fogar in fein Haus treten 
wolle, dieß abgelchnt habe, wäre Doch wohl zu ungereimt, als 
daß man es dem fonft verftändigen Manne zutrauen Eünnte, 
von welchem aber ebendeßhalb noch weniger eine fo wetterwen- 
difche Umftimmung zu erwarten ift, wie fie im Terte des Lufas 
liegt. Der ganze Uebelſtand wäre vermieden worden, wenn 
Lufas der erften Gefandtfchaft, wie Matthäus dem Genturio 
felbft, zuerft nur Die Directe oder indirecte Bitte um Heilung 
überhaupt, und dann, nachdem Jeſus fich erboten, in das Haus 
des Kranken fich zu begeben, noch derſelben erften Gefandtfchaft 
das befcheidene Ablehnen dieſes Anerbietens in den Mund ge: 
legt hätte. Allein er glaubte, den Entſchluß Iefu, in das Haus 





— 


°) Kuindl, in Matth. ©, 221 f. 











Neunteg Kapitel, $. 98. 18 


zu gehen, durch eine ebendahin zielende Bitte motisiren zu 
müſſen, und indem ihm nun die Tradition noch ein Berbitten 
diefer perfönlichen Bemühung Jeſu an die Hand gab: fo fah 
er fich außer Stands, Bitten und Verbitten denfelben Berfonen 
zu leihen, und mußte Daher eine zweite Geſandtſchaft veranftals 
ten; woburd aber der Widerfpruch nur fcheinbar vermieden 
ift, indem ja beide Gefandtfchuften von dem Einen Centurio 
abgefchict find. Vielleicht erinnerte ihn auch der Hauptmann, 
welcher Jeſum nicht in fein Haus bemühen will, an den Bos 
ten, der dem Jairus wehrte, den Lehrer in fein Haus zu bes 
mühen, nachdem gleichfalls eine Aufforderung, in das Haus 
zu fommen, vorangegangen war, und er legte nun, wie zu 
Jairus, nach ihm und Markus, der Bote fügt: Aj axulle or 
diduoxrulov (Luc, 8, 49.), fo auch hier der zweiten Gefandts 
ſchaft ein xuore 107 oxiAde in den Mund; obwohl zu einer 
ſolchen Gontresordre nur bei Jairus, in deſſen Haufe fidh feit 
der eriten Aufforderung durch, den Tod der Tochter Die Lage 
der Dinge verändert hatte, ein Grund vorlag, feine&wege aber 
bei dem Centurio, deſſen Knecht noch immer im gleichen Zu⸗ 
ſtande ſich befand. 

Da von der Identification aller drei Geſchichten die neue⸗ 
ren Erklärer ſich hauptſächlich durch die Furcht abgehalten 
finden, Johannes möchte dabei in das Licht eines ſolchen ges 
ftellt werden, der die Scene nicht genau genug aufgefaft, und 
wohl gar das Hauptmoment überfehen habe: %) fo wiürben fie 
alfo, wenn fie eine Bereinigung dennoch wagen wollten, dem 
vierten Evangelium fo viel möglich die urfprünglichite Dars 
ftelung der Eache vindiciren ; eine Borausfepung, dic wir fos 
fort aus der Befihaffenheit der Berichte heraus zu prüfen haben. 
Das nun, daß dem vierten Evangeliften der Bittende eim Ae- 
orkızog ift, nicht, wie den übrigen, ein &xaserzugyog, ijt ein 
indifferenter Zug, aus welchem ſich für feinen Thel etwas 
ſchließen läßt, und ebenſo fann es mit der Abweichung in 


2) Spotud, 4. d. Wok. Dafe, 5. 08. Kam. 2. 


104 Zwelter Abfchnitt. 


Betreff des Verhältniffes des Kranken zum Bittfleller fich zu ver: 
halten fcheinen. Indeflen, wenn man in Bezug auf den lebte- 
ren Punkt fich fragt: welche der drei Bezeichnungsmweifen eignet 
fih am eheften dazu, die beiden andern aus fich haben entfte- 
hen zu lafien? fo wird man wohl fehmwerlich annehmen Eönnen, 
daß aus dem johanneifchen vios in abfteigender Linie zuerft 
unbeftimmt ein rais, dann ein daAos geworden fei, und aud) 
die umgefehrte auffteigende Richtung ift hier minder wahrfchein- 
lich, ald das Mittlere, daß aus dem zweideutigen reis (= YJ)), 
welches wir im erften Evangelium finden, in zwei Richtungen 
das einemal ein Knecht, wie bei Lukas, das andremal ein Sohn, 
‚wie bei Johannes, gemacht worben fein mag. Daß die Be: 
zeichnung des Zuftandes, in welchem fich der Leidende befand, 
bei Johannes wie bei Lufas fich zu der bei Matthäus als 
Steigerung , mithin als die fpätere verhalte, ift bereits oben 
bemerft. Der Unterfehiev in der Ortsangabe würde auf dem 
jesigen Standpunkte ber vergleichenden Evangelienfritif ohne 
Zweifel fo beurtheilt werden, daß in der Tradition, aus wel- 
cher die Synoptifer fchöpften, der Ort, von welchem aus Ses 
fus das Wunder verrichtete, mit dem, in welchem der Kranke 
lag, zufammengefloffen, das minder befannte Kana von dem 
berühmten Kapernaum verfehlungen worden fei,. Johannes aber, 
als Augenzeuge, das Genauere aufbewahrt habe. Allein fo 
erfcheint das Berhältnig nur, wenn man den vierten Evange- 
liften als Augenzeugen ſchon vorausfest: fucht man, wie man 
fol, -rein aus der Befchaffenheit der Berichte heraus zu ent⸗ 
fcheiden, fo ftellt fi) ein ganz anderes Ergebniß heraus. Es 
wird hier eine Heilung aus der Berne berichtet, in weldyer das 
Wunder um fo größer erfcheint, je weiter die Diftanz zwifchen 
dem Heilenden und Geheilten if. Wird nun die mündliche 
Ueberlieferung,, wenn ſich die Erzählung in diefer fortpflangt, 
eine Neigung haben, jene Entfernung, und damit das Wunder, 
zu verkleinern, fo daß wir in der Darftellung des Johannes, 


der Jeſum die Heilung von einem Orte aus verrichten läßt, 


von welchem der Hofbeamte erft am andern Tage bei dem 





Neuntes Kapitel. $. 08. :105 


Geheilten anfommt, die urfprüngliche, in der der Synoptifer da» 
gegen, welche Jeſum mit dem Franfen Knecht in derfelben Stadt 
fich befinden laffen, die traditionell umgebilvete Erzählung hätten ? 
- Nur das Umgekehrte kann der Sage gemäß gefunden werden, 
. und auch hierin alfo zeigt fich der johanneifche Bericht ale 
ein abgeleiteter. Befonders gemacht zeigt ſich noch die Pünfts 
lichkeit , mit welcher im vierten Evangelium die Stunde der 
Genefung des Kranfen ausgemittelt wird. Aus dem einfachen, 
auch fonft am Schluffe von Heilungsgefchichten vorfommenden 
ioI7 & ın wog &xelrm des Matthäus ift eine Nachfrage des 
Baters nach der @pa &v 7 xomporepov Zaye, eine Antwort 
der Knechte: Ors xIEs, wg Eßdounp, ayıznev aurov 0 TIVgE- 
os, und endlich das Refultat, daß & &xelm in wor, & T- 
einev avıp © I. 0 viog os Ln, diefer wirflich gefund geworden 
fei, gemacht: eine aͤngſtliche Genauigfeit, eine Qudälerei mit 
der Rechnung, welche weit mehr das Streben des Referenten, 
das Wunder zu conftatiren, ald den urfprünglichen Hergang 
der Sache zu zeigen fcheint. Darin, baß er den Paoılıxog 
perfönlich mit Jeſu verhandeln läßt, hat der Verfaſſer des vier: 
ten Evangeliums mehr als der des dritten die urfprüngliche 
Einfachheit der Erzählung bewahrt, wiewohl er, wie bemerft, 
in den entgegenfommenden Knechten einen Anklang an die zweite 
Botfchaft des Lufas hat. In dem Hauptdifferenzpunft aber, 
der den Charakter des Bittſtellers betrifft, Fönnte man mit Ans 
wendung unfers eigenen Maßftabes dem Johannes den Vorzug 
vor Den beiden andern Referenten zuerfennen- wollen. Denn 
wenn diejenige Erzählung die mehr fagenhafte ift, welche ein 
Beitreben nach Vergrößerung oder Verfchönerung zu erfennen 
gibt: fo Fönnte man fagen, es zeige fich der Bittende, ber nad) 
Johannes ziemlich ſchwach im Glauben geweſen fei, bei den 
Spynoptifern zu einem Glaubensmufter verfchönert. Allein nicht 
auf Berfchönerung überhaupt, fondern nur in Beziehung auf 
ihren Hauptzwed, welcher bei den Evangelien die Verherrlichung . 
Jeſu ift, geht die Sage oder ein dichtender Referent aus, und 
hienach wird man in doppelter Hinficht die Verfehönerung auf 


106 Zweites Abfchnitt. 


Seiten des vierten Evangeliums finden. Einmal, wie es über- 
haupt darauf aufgeht, Die Leberlegenheit Jeſu durch den Con⸗ 
traft mit der Schwäche derer, die mit ihm zu thun haben, hers 
vorzuheben, Fonnte auch hier fein Intereſſe fein, den Bitt- 
fteller cher fchwach- als ftarfgläubig darzuitellen; wobei ikm 
jedoch die Erwiederung, welche «8 Jeſu in den Mund legt: 
&üv 0) oryelz zul Teoara börte, 8 10) suseiorze, doch wohl 
zu hart gerathen iſt, weßwegen fie denn auch die meilten Er: 
flärer in Berlegenheit feßt. Zweitens aber konnte es unſchick— 
lich erfcheinen, daß Jeſus von feinem anfänglichen VBorfage, in 
das Haus dis Kranken zu gehen, fich nachher wieder abbringen 
ließ, und fo fremdem Einfluffe zu folgen fchien; man fonnte 
8 für angemejjener halten, die Heilung aus‘ der Yerne als 
feinen urfprünglichen Vorfag, und nicht erjt Durch einen Ans 
dern ihm eingeredet, darzuſtellen. Sollte nun aber, wie dieß 
die Ucberlieferung an die Hand gab, der Bittjteller doch eine 
Einrede gethan haben, fo mußte diefe Die entgegengeſetzte Nich- 
tung als bei den Eynoptifern befommen, nämlich, Jeſum zu 
einem Gange in das Haus des Kranfen bejtimmen zu wollen. - 

- Fragt 08 ſich nun um Die Möglichkeit und den näheren 
Hergang des vorliegenden Ereignijies, fo glaubt die natürliche 
Eiflärung am leichtejten mit der Erzählung des vierten Evans 
geliumg zurechtzufommen. Hier, wird bemerkt, fage Jeſus nichts 
davon, daß er die Heilung des Kranfen bewirfen wolle, fon- 
dern er verfichere den Vater nur, daß das Leben feines Sohnes 
außer Gefahr fei (0 riog 08 CH), und auch der Vater, wie er 
finde, daß das Beſſerwerden feines Sohnes mit der Zeit, um 
welche er mit Jeſus gefprochen , zufammenfalle, ſchließe keines⸗ 
wege, daß Jeſus die Heilung aus der Ferne bewirft habe. Ev 
fei dieſe Gefchichte nur die Probe davon, DaB Jeſus, vermöge 
gründlicher Kenntniffe in der Semiotik, im Stande gewelen 
fei, auf gegebene Befchreiburg der Umſtände eines Krarfen hin 
eine richtige PBrognofe über den Verlauf feiner Krankheit zu 
ftellen; daß jene Beichreibung bier nicht mitgetbeilt fei, daraus 
folge nicht, daß, fie Jeſus ſich nicht. habe geben laſſen; ein 











Neuntes Kapitel. $. 98. 197° 


orustov aber werde diefe Probe (B. 54.) genannt, als Zeichen 
einer von Johannes zuvor noch nicht angedeuteten Fertigkeit 
Jeſu, die Genefung eines beforglich Kranken vorauszufagen. '9) 
Allein, abgefehen von diefer Migdeutung des Wortes or uelov 
und jener Einfohwärzung eines im Terte nicht angedeuteten 
Geſprächs, erfchiene bei dieſer Anficht von der Eache der Cha⸗ 
rafter und felbjt der Verftand Iefu im zweideutigften Lichte. 
Denn, wenn wir fihon denjenigen Arzt für unvorfichtig halten 
würden, welcher auf felbitgenommenen Augenfchein hin bei einem 
Zieberfranfen, den man fo eben noch für fterbend hielt, die Ge— 
nefung verbürgte, und dadurch feinen Credit auf das Epicl 
fegte: um wie viel vermeffener hätte Jeſus gehandelt, wenn er 
auf die bloße Befchreibung eines Laien hin die Gefahrlofigfeit 
Des Umftandes verfichert hätte? in folches Benehmen können 
wir und an ihm Deßwegen nicht denfen, weil es der Analogie 
feineg fonftigen Verfahrens, und dem Eindrud, welchen fein 
Gharafter bei den Zeitgenojjen zurüdließ, geradezu widerfprechen 
würde. Hat alfo Jefus die Genefung des Fieberkranken auch 
nur vorausgefagt, ohne fie zu bewirken, fo muß er doch auf 
zuverläſſigere Weife als durch. narürliches Räfonnement von 
derfelben verfichert gewefen fein, er muß fie auf übernatürliche Art 
gewußt haben. Diefe Wendung hat einer der. neueften Erklärer 
des Johannes der Sache zu geben verfucht. Er ftellt die Frage, 
‚ob wir hier ein Wunder des Wifjens oder des Wirkens haben ? 
und. da nun von einer unmittelbaren Wirkung des Wortes 
Jeſu nirgends die Rede fei, fonjt aber im vierten Evangelium 
gerade das höhere Willen Jeſu befonders hervorgehoben werde, 
fo erflärt er, fih dahin, Jeſus habe vermöge feiner höheren 
Natur nur gewußt, daß in jenem Augenblide die Krank: eit 
ſich zum Leben entjchied. 1") Allein die öftere Hervorhebung 
bes höheren Wiſſens Jeſu in, unferem Evangelium beweist 





— — — 


10) Pauhus, Comm. 4, &. 253 fi Venturini, 2, ©. 140 fi. Tl. 
Haſe, $. * 
1) Lüde, 1, ©. 550 f. 











108. Zweiter Abſchnitt. 


hieher nichts, da es ebenſo oft auf ſein hoͤheres Wirken aufmerk⸗ 
ſam macht. Berner, wenn von übernatürlichem Wiſſen Jeſu 
die Rede iſt, wird dieß ſonſt deutlich angegeben (wie 1, 49. 
2, 25. 6, 64.), und.fo würde Johannes, wenn eine uͤberna⸗ 
türliche Kunde von der ohnehin erfolgten Geneſung des Knaben 
gemeint wäre, Jefum wohl auch hier auf ähnliche Weife, wie 
- dort zu Nathanael, zu dem Vater fprechen laffen, daß er feinen 
Eohn bereits in erträglicherem Zuftande auf feinem Bette er⸗ 
blide. Nicht nur aber ift von höherem Wiffen nichts ange: 
deutet, fondern eine wunderbare Wirffamfeit deutlich genug zu 
verftehen gegeben. Wenn nämlich von einem uEAAwv aroIvnoneıv 
die plögliche Genefung gemeldet ift, fo will man zunächft die 
Urfache wiffen, welche diefe unerwartete Wendung herbeigeführt 
habe, und wenn nun ein Bericht, der auch fonft auf das Wort 
feines Helden hin Wunder erfolgen läßt, cine Berficherung 
deffelben, daß der Kranke lebe, mittheilt, fo kann nur das falfche 
Beftreben,, - das Wunderbare zu vermindern, der Anerfenntniß 
im Wege ftehen, daß der Erzähler in diefem Worte die Urſache 
‘ jener Veränderung angeben wolle. 

Bei der fonoptifchen Erzählung ift mit der Annahme einer 
bloßen Prognofe nicht abzufommen, da hier der Vater (Matth. 
V. 8.) eine heilende Einwirfung verlangt, und Jeſus ihm (V. 
13.) eben diefe feine Bitte gewährt. Dadurch ſchien fich bei 
der Entfernung Jeſu von dem Kranfen, welche alle phufifche 
wie pfochifche Einwirkung unmöglicy machte, der natürlichen 
Erflärung jeder Weg zu verfchließen: wenn nicht Ein Zug der 
Erzählung unerwartere Hülfe geboten hätte. Die Vergleichung 
nämlich, welche der Centurio zwifchen fich und Jeſu anftellt, 
daß, wie er nur ein Wort fprechen dürfe, um durch feine 
Soldaten und Diener dieß und jenes ausgerichtet zu fehen, fo 
auch Jeſum es nur ein Wort fofte, feinem Snechte zur Ges 
fundheit zu verhelfen, konnte man möglicherweife fo preffen, daß, 
wie auf Seiten des Hauptmanns, fo auch auf Seiten Jeſu an 
menfchliche Mittelöperfonen gevacht wurde. Demnach fol nun 
der Hauptmann Jeſu haben vorftellen wollen, er dürfe nur zu 





% 


Neuntes Kapitel. $. 08. 109 


einem feiner Jünger ein Wort fprechen, fo werde dieſer mit 
ihm gehen und feinen Knecht gefund machen, was fofort auch 
wirftich gefchehen fein fol. 1) Allein, da dieß der erfte Kal 
wäre, daß Jeſus durch feine Jünger heilen ließ, und der ein- _ 
jige, daß er fie unmittelbar zu einer beflimmten Heilung abs 
ſchickte: wie fonnte diefer eigenthümliche Umftand fogar in der 
fonft fo ausführlichen Erzählung des Lufas ftilfchweigend vor; 
ausgefegt werden? warum, da diefer Referent in Ausfpinnung 
der übrigen Rede der Abgefandten nicht fparfam ift, geist er 
mit den paar Worten, welche Alles aufgeklärt haben würden, 
wenn er nämlich zu dem ein Aoyp, &rl ww uadızWv oa oder 
dergleichen etwas .gefegt hätte? Vollends aber am Schluffe 
der Erzählung, wo der Erfolg gemeldet wird, kommt dieſe 
Deutung nicht bloß durch das Stillfehweigen der Referenten, 
fondern durch einen pofitiven Zug bei Lukas in die übelfte 
Verlegenheit. Lufas fchließt nämlich mit der Notiz, daß die 
Sreunde des Hauptmanns bei ihrer Rüdfehr in deſſen Haus 
den Knecht bereits gefund gefunden haben. Soll ihn nun 
Jeſus dadurch wiederhergeftellt haben, daß er den Abgefandten 
einen vder mehrere feiner Jünger mitgab, fo Fonnte es mit 
dem Kranken erft von da an, ald die Abgefandten mit den 
Jüngern im Haufe anfamen, allmählig beffer werden, nicht 
aber konnten fie ihn bei ihrer Anfunft ſchon hergeftellt finden. 
Paulus freilich feßt voraus, die Abgefandten haben fich bei 
den Reben Jeſu noch etwas verweilt, und fo feien die Jünger 
vor ihnen angefommen: aber wie fich jene fo unnöthig haben 
verweilen mögen, und wie der Evangelift neben der Abfendung 
der Jünger nun auch noch das Zurüdbleiben der Abgefandten 
habe verfchweigen Eönnen, enthält er fich zu erflären. Mag 
man nun ftatt deſſen ald dasjenige, was den Soldaten bes 
Hauptmanns auf Seiten Jefu entfpricht, Krankheitspämonen, '3) 


12) Yaulus, ereg. Handb. 1, b, ©. 710 f.; natürliche Geſchichte, 2, 
©. 285 ff: ’ 
15) So fchon Clem. homil. 9, 213 jest Fritz ſche, in Matth. 313. 


110 Zweiter Abſchnitt. 


oder dienftbare Engel, 1%) oder bloß das Wort und bie Heil: 
fräfte Jeſu!s) denfen: jedenfalls bleibt uns eine wunderbare 
Wirkſamkeit in die Ferne. 

Diefe Art des Wirfens Jeſu nun hat nach dem Zuge: 
ſtaͤndniß ſelbſt folcher Ausleger, welche fonft das Wunderbare 
nicht feheuen, darin etwas befonders Echwieriges, daß durch 
den Mangel der perfünlichen Gegenwart Jeſu und ihres wohl: 
thätigen Eindruds auf den Kranfen und jede Möglichfeit ges 
nommen ift, die Heilung durch ein Analogon des Natürlichen 
ung denkbar zu machen. 9) Nah DOlshaufen zwar hat 
auch dieſe Fernwirkung ihre Analogien, nämlich im thierifchen 
Magnetismus. I) Ich will dieß nicht geradezu beftreiten, 
fordern nur auf die Echranfen aufmerkffam machen, innerhalb 
deren fich meines Willens dieſe Erfcheinung im Gebiete des 
Magnetismus immer hält. In die Ferne Hin wirfen kann 
nach den bisherigen Erfahrungen nur theils der Magnetifeur 
oder ein anderes im magnetifchen Rapport mit ihm ſtehendes 
Individuum auf die fomnambüle Perſon, wo alſo der Fern- 
wirkung immer eine unmittelbare Berührung vorausgegangen 
fein muß, was in dem Verhältniß Jeſu zu dem Sranfen 
unfrer Erzählung nicht gegeben ift; theils findet fich ein folches 
MWirfungsvermögen bei den Somnambülen felbft oder andern 
in zerrüttetem Nervenzuftande befindlichen Menfchen, was wie- 
derum auf Jeſum Feine Anwendung findet. Geht alfo ein fol: 
ches Heilen entfernter Perſonen, wie es in unfern Erzählungen 
Jeſu zugefihrieben wird, über jenes Aeußerfte natürlicher Wirk: 
fanfeit, wie wir es im Magnetismus und den verwandten 
Grfcheinungen finden, noch weit hinaus: fo wird uns durch 
jene Erzählungen, fofern fie hiftorifche Geltung anfprechen, 
Jeſus zu einem übernatürlichen Wefen, und ehe wir ein ſolches 


m) Wetſtein, N. T. 1, p. 349; vgl. Dlshaufen, 1, ©. 269. 
1) Köfter, Immanuel, ©. 195. Anm. 

16) ?üde, 1, ©. 550. 

17) Bibl. Comm. 1, ©. 268. 





Neuntes Kapitel. $. 98. 111 
und als wirflich denken, verlohnt es fich auf unferem Fritifchen 
Standpunkte, zuvor noch zu unterfuchen, cb die betrachtete 
Erzählung nicht auch ohne hiftorifchen Grund dennoch babe 
enifteken können? zumal ſich, daß fie fagenhafte Ingredienzien 
enthalte, ſchon an den verfchiedenen Formationen zeigt, welche 
fie in den drei evangelifchen Berichten erhalten bat. Urd bier 
erhellt es nun von felbft, Daß das wunderbare Heilen Jeſu 
durch Berührung des Kranfen, wie wir e8 3. B. bei dem 
Ausfägigen Matth. 8, 3. und den Blinden Matih. 9, 29. an- 
treffen, vermöge eines nahe liegenden Klimar zunächit zum 
Heilen Gegenwärtiger mittelft des bloßen Wortes, wie bei den 
Dämonifchen, den Ausfägigen Luc. 17, 14. und andern Kran- 
fen, dann aber zur Herftellung felbjt Abwefender durch ein 
Wort fich fteigern konnte, wie denn ſchon im A. T. ein Ana⸗ 
logon hievon beſonders herausgeheben it. Wie nämlich nach 
2 Kön. 5, 9 ff. der fyrifche Feldherr Naeman vor die Woh⸗ 
nung des Propheten Elıfa kam, um fi) vom Ausfage heilen 
zu laffen, ging dieſer nicht felbft zu ihm heraus, fondern ſandte 
ibm einen Boten urd ließ ihn zu fiebenwaliger Wafchung im 
Jordan anweifen. Darüber wurde der Eyrer fo ungehalten, 
daß er, ohre die Anweilung des Propheten zu berüdfichtigen, 
wieder beimzieben wollte. Er habe erwartet, erflärt er, ber 
Prepbet werde zu ihm bertreten und unter Anrufung Gottes 
mit der Hard.über die auefätige Stelle fahren; Daß nun aber 
der Propbet, ohne felbit etwas an ihm vorzunehmen, ihn an 
den Jordan verweist, Das macht ihn muthlos und ärgerlich, 
weil, wenn es auf Waſſer anfüme, er folche zu Haufe beſſer 
als hier hätte haben fünnen. Man fieht aus dieſer U. T. lichen 
Darjtellung: das Ordentliche, was man von einem Propbeten 
erwartete, war, daß er anweſend mit förperlicher Berührung 
heilen könne; daß er e8 auch entfernt und ohne Berührung 
vermöge, wurde nicht vorausgeſetzt. Daß Elifa dennoch auf 
die letztere Weife Die Kur des auefägigen Feldherrn vollbringt, 
"enn das Wafchen war c8 auch hier fo wenig als Joh. 9, 
was den Kranken gejund machte, ſoudern die Wundermacht 


113 Zweiter Abfchnitt. 


des Propheten, welche ihre Wirffamfeit an diefe äußere 
Handlung zu fnüpfen für gut fand), dadurch bewies er ſich 
als einen befonders ausgezeichneten Propheten: — und nun 
der Mefliad, durfte der auch in dieſem GStüde hinter dem 
Propheten zurüdbleiben? So zeigt fi) unfre neuteflament- 
liche Erzählung als nothwendiges Gegenbild jener alttefta-. 
mentlichen.. Wie dort der Kranfe an die Möglichfeit feiner 
MWiederherftellung nicht glauben will, wenn ber Prophet nicht 
‘aus feinem Haufe heraus zu ihm trete: fo zweifelt bier nach 
ber einen Redaction der für den Kranken Bittende ebenfo an - 
der Möglichfeit der Heilung, wenn nicht Jefus in fein Haus 
- trete, nach der andern im Gegentheil ift er von der Wirkfam- 
feit der Heilkraft Jeſu auch ohne das überzeugt, und nad) 
beiden gelingt bier Jeſu wie dort dem Propheten auch dieſer 
beſonders ſchwierige Wunderact. 


$. 99. 
Sabbatheilungen. 


Großen Anftoß erregte den evangelifchen Nachrichten zu— 
folge Jeſus dadurch, daß er nicht felten feine Heilungsmwunder 
am Sabbat verrichtete, wovon ein Beifpiel den drei Synop⸗ 
tifern gemeinfchaftlich ift, zwei dem Lufas eigenthümlich, und 
zwei dem Johannes. 

In jener -den drei erften vangeliften gemeinfchaftlichen 
Erzählung find zwei Fälle vermeinter Sabbatsentheiligung ver: 
bunden, das Aehrenraufen der Jünger (Matth. 12, 1. parall.) 
und die durch Jeſum vollbrachte Heilung des Menfchen mit 
der verdorrten Hand (DB. 9 ff. parall.). Nach der auf dem 
Felde vorgefallenen Verhandlung über das Achrenraufen fahren 
die beiden erften Evangeliften fo fort, wie wenn- Jeſus unmits 
telbar. von diefer Scene weg in die Synagoge deffelben nicht 
näher bezeichneten Orts fich verfügt, und hier aus Anlaß der 
Heilung des Menfchen mit der verborrten Hand abermals 





⸗ 


Reumtes Kavitel. . oo. 113 


einen Streit über bie Heiligung des Sabbats gehabt hätte, 


Offenbar aber waren dieſe beiden Gefchichten. urfprünglich nur 
der Welmlichkeit des Inhalts wegen sufammengeftelt, weßwegen 
bier Lukas zu loben. iſt, daß er durch Die Worte: &v äreop 
goßßarp ven chronologiſchen Zufammenhang zwiſchen beiden 
ausdrücklich zerſchnitten hat. ) Die weitere Unterſuchung, 
weſſen Erzählung hier die urſprünglichere ſei, koͤnnen wir 
durch die Bemerkung erledigen, daß, wenn die von Matthäus 


den Phariſäern in den Mund gelegte Frage, ob es erlaubt ſei, 


am Sabbat zu heilen, als ein Stück von gemachten Dialogi⸗ 
firen bezeichnet wird, ) deſſen ebenfogut diefelbe Frage beſchul⸗ 
digt werden kann, welche die zwei mittleren Evangeliften Jeſu 
feihen, und noch dazu ihre belobte 3) Schilderung, wie Jeſus 
den Kranken in die Mitte treten heißt, und fpäter ftrafende 
Blide ringsumher wirft, einer gemachten. Anfchaufichfeit. 
Das Uebel des Kranken war nach den übereinftimmenden 
Nachrichten eine zeig Ero« -oder eörgauuevn. . So unbeftimmt 
dieſe Bezeichnung ift, fo macht es fich doch. die natürliche Er- 
Härung aflzuleicht, wenn fie mit Paulus nur. eine durch 
Hitze angegriffene, ) oder gar nach Benturini’s Ausdrud. 
eine verftauchte Hand 9) darunter. verfteht. Sondern wenn 
wir, um Die Bedeutung der N. T. lichen Bezeichnungsweife -zu 
beftimmen , billig .auf das A. T. zurüdgehen, fo finden wir. 
1. Kön.. 13, 4. eine Hand, welche. im Ausſtrecken e&rewdn 
(OMAN, als unfähig gefhildert, an den Leib zurüdgezogen 


zu werden, fo daß alfo an Lähmung und Starrheit der Hand, , 
und, bei Vergleichung des von einem Epileptifchen gebrauchten 
Srguiveodeı Marc. 9, 18., zugleich an ein Saftloswerden und. 
Echminden zu benfen iſt. ) Dafür nun aber, daß Jeſus 


) Scletermacher, über den eukas, S. 80 f. 
2) Schnedenburger, über den Urfprung u. ſ. f. ©. 50. 
d) Schleiermader, a. a. O. | 
%) Exeg. Handb. 2, ©. 48 ff. \ 
5) Natürliche Gefhichte, 2, €. 421. 
6) Winer, bibl, Realw. 1, ©. 796 
u. Tand. j & 











114 " Zweiter Wohhniet. 


dieſes und andre Uebel mit natürlichen Mitten behandelt habe, 
wird aus der worliegenten Erzaͤhlung ein fehr ſcheinbares Ars 
gument abgeleitet. Mur ein folches Heilen, fagt mau, war am 
Sabbat verboten, welches mit irgend einer Veſchaͤftigung ver- 
bunden war: alte müflen Die Nharikder, wenn fie, wie es 
hier heißt, von Jeſu eine Uebertretung der Sabbatgeſetge dureh 
Heilen erwarteten, gewußt haben, daß er nicht Durch Das bloße 
Wert, fondern durch Medieamerte und chirurgifche Operatio⸗ 
nen zu heilen pflegte. )_ Da indefien, wie Paulus felbft 
anderswo anführt, am Eabbat das Heilen aucb nur durch 
eine font erfaubte Beſchwörung verboten war, 8) da ferner 
zwiſchen den Schulen Hillel’8 und Schammai's ein Streit eb⸗ 
waltete, ch auch nur das Tröften ber Kranken am Sabbat 
erlaubt fei, ) und da überdieß nach Paulus eigener Bemer⸗ 
fung die älteren Rabbinen im Runkte des Sabbats firenger 
waren, als Diejenigen, von welchen bie uns vorliegenden 
Schriften über dieſen Gegenftand herftammen: !% fo konnten 
die Heilungen Jeſu, auch ohne daß natürliche Mittel dabei 
in’s Epiel famen, von chicanirenden Pharifäern unter die Has 
tegorie von Sabbateverlegungen gezogen werden. Dem Haupts 
einwande gegen die rationaliftifche Erflärung, der aus dem 
Schweigen der Evangeliften von natürlichen Mitteln herges 
nommen Wird, glaubt Baulus für unfern Kal durch bie 
Wendung zu begegnen, daß damals in der Synagoge wirflich 
feine zur Anwendung gekommen feien, fondern Jefus habe fich 
Die Hand vorzeigen lajfen, um zu fehen, wie die bisher von 
ihm -angeordr.eten Mittel Calfo werden dergleichen doch fingirt) 
geholfen hätten, und da habe er ſie bereits völlig geheilt ges 
funden ; denn daß fie bereits wiederhergeftellt gewefen fei, nicht 
daß jie nun plöglich gejund geworden, bedeute das wroxa- 





?) Paulus, a. a. O. ©. 49. 54. Köfter, Immanuel, S. 185 f. 
8) A. a. O. S. 83, aus tract. Sihubbat. 

9) Schahbat, f. 12, bei Sqortgen, 1, p. 123. 

10) A. d zuletzt a. O. 











Reuntes Kapitel. $. 09. 118 


tesa ſammtlicher Referenten. Allerdings ſcheint dieß wer’ 
Zufammenhang zu verlangen, fofern das Ausftreifen der Hand 
‚ohne varangegangene Heilung fv wenig möglich geweſen wäre, 
ale 1 Kön. 13, 4. das Anziehen: aber die Heilung war bes 
wirft Durch das Wort Jeſu, welches bie Evangelien mitthels 
len, nicht durch natürliche Mittel, welche nur von den Ers 
Härern erformen find. !) 

Gleich fehr entfcheidend für De Nothwendigkeit, hier eine 
Wunderheilung anzunehmen, wie für die Möglichkeit, pie 
Entftehung der Aneldote zu erklären, ift die nähere Berglet- 
ung der bereits. erwähnten A. T. lichen Erzählung 1 Kön. 1%, 
ı fi. Als ein Prophet aus Juda dem am Götzenaltar räus 
chernden Jerobeam mit dem Untergang des Altar und des 
Goͤtzendienſtes drohte, und der König mit aufgefiredter Han» 
den Unglückspropheten zu greifen befahl, da vertrodnete plöplich 
feine Hand, fo daß er fe nicht mehr zurüdziehen Tonnte, und 
der Altar zerfil. Wie aber auf Erfuchen des Könige ber 
Prophet Jehova um Wiederherftelung der Hand. bat, Fonnte 
fie jener wieder an fich ziehen, und fie wurbe, wie fie worber 
gewefen war. 1) Auch Paulus vergleicht hier dieſe Erfiä« 
rung, aber nur um auch auf fie feine natürliche Erflärungss 
weife durch. die Bemerkung anzuwenden, Jerobeams Zorn habe 
leicht eine vorübergehende krampfhafte Erftarrung der Musfeln 
u. f. w. in der gerade mit SHeftigfeit ausgeſtreckten Hand 
hervorbringen fünnen. Wem fällt e8 aber nicht vielmehr ir 
die Augen, daß wir bier eine Eage zur Berherelichung des 


3) $rigfde, in Matth. p. 427; in Marc. ©. 79. 


d2) 1 Kön, 13, 4. LXX: xar idu Matt. 32, 19: xar iök ürr 
&gyardıy 7 yag aure, --. . Hewnros nr rw yeiga Eywn Enge 
(Marc. gang). 
6: x Enesorpe Tv zeige 13: Tore Rryeı tus dr dguineip. 
Ta Paodeug TIEO5 auror, ai Ixreıvoy Tuy zeipa 00 , xaı #se- 
Eyevero xaduis TO TIgOTeNoV. \ Tave xaı amoxaresadn Yyus 
| ws 7 Aldı. 


8% 


116: ‚Zwveiter Abſchnitt. 


monotheiſtiſchen Prophetenthums und zur Brandmarkung des 
israelitiſchen Goͤtzendienſtes in der Perſon ſeines Urhebers 
Jerobeani vor und haben? Der Mann Gottes weiſſagt den 
Goͤtzenaltar fchnellen wunderbaren Ruin; der abgöttifche König 
ftredit freventlich die Hand gegen den Gottesmann aus; bie 
Hand erftarrt, der Goͤtzenaltar zerfällt in Staub, und nur 
auf die Fürbitte des Propheten wird ber König wiederherges 
ftelt: wer mag hier über wunderbaren oder natürlichen . 
Hergang rechten, wo man eine offenbare Mythe vor ſich 
hat? Und wer fann ferner in unfrer evangelifchen Erzählung 
eine Nachbildung jener A.T. lichen verfennen, wobei nur dem 
Geiſte des Chriſtenthums gemäß die Vertrodnung der Hand 
nicht al8 Strafiwunder eintritt, fondern als natürliche Kranfs 
heit dargeftellt, und Jeſu nur die Heilung zugefichrieben wird, 
ebendeßwegen auch nicht wie dort die Ausftredung der Hand 
zur verbrecherifhen Urſache und zum ponalen Habitus der 
Krankheit, das Anziehen bderfelben aber zum Zeichen der Ges 
neſung gemacht ift, fondern die Hand, welche bis dahin krank⸗ 
haft angezogen war, nach vollbrachter Heilung wieder aufger 
ftresft werben. fann. Daß auch fonft um jene Zeit im Drient 
den Lieblingen der Götter dad Vermögen zu dergleichen Heis 
lungen zugefchrieben wurde, fehen wir aus einer fchon früher 
angeführten Erzählung , in welcher dem Vespaſian neben einer 
Blindenheilung auch die Wiederherftelung einer Franken Hand 
gugefchrieben wird. 3) | 

. Richt felbftftändig übrigens und als Zweck für fich tritt 
‚in diefer Gefchichte das Heilungswunder auf, fondern bie 


‚ Hauptfache ift, daß es am Sabbat gefchieht, und die Epige 


der Anekdote liegt in den Worten, durch welche Jeſus feine 
heilende Thätigkeit am Sabbat gegen die Phariſaͤer rechtfertigt, 
bei Lukas und Markus nümlich durch die Frage, was am 
Sabbat eher angehe,. Gutes zu thun oder Böfes, ein Leben 





a Zu 


13) Tacit. Hist. 4, 81. 








Neunteb Kapiel. 5. 99. 117 


zu erhalten, ober zu verderben? bei Matthäus, neben einem 
Stüf von diefer Rede, dur das Dietum von der fabbats 
lichen Rettung des in die Grube gefallenen Schanfs. Lukas, 
welcher diefe Gnome hier nicht hat, legt fie mit der Abwei⸗ 
hung, daß flatt des srooßerov ein övog n ßös, und flatt 
ber Grube der Brunnen fteht, bei Gelegenheit der Heilung 
eines vögwruxos Jeſu in den Mund (14, 5.); eine Erzähs 
lung, an welcher überhaupt die Achnlichfeit mit der bisher 
erwogenen auffällt. Jeſus fpeist bei einem Pharifäeroberften, 
wo man, wie dort in der Synagoge nach den zwei mittleren 
Evangeliſten, auf ihn lauert (hier: Jocy raepernpsusvor, 
dort: zsaperngev); es ift ein MWaflerfüchtiger da, wie dort . 
ein Menfch mit verdorrter Hand; wie dort nad Matthäus 
die Pharifäer Jeſum fragen: ei &esı vols oaßßacı Jepa- 
seven; nad. Marfus und Lufas Jeſus fie fragt, ob es 
‘erlaubt fei, am Sabbat ein Leben zu retten u. f. f.: ſo legt 
er ihnen hier die Frage vor: ed &esı zo oaßßarp Yepa- 
greveiv; worauf, wie dort, die Gefragten ſchweigen (dort 
Markus: os de zowrov, hier Lukas: oi dA Koauxaom); ends 
lich ale Epilog der Heilung, wie dort bei Matthäus als 
Brolog, das Dictum von dem in den Brunnen gefallenen 
Thiere. Eine natürliche Erklärung, wie fie auch von diefem 
Heilungswunder gegeben worden ift, 1% erfcheint hier ganz 
befonderd als verlorene Mühe, wo wir gar feine befondere 
Gefhichte vor uns haben, die auf eigenem. hiftorifchen Fun⸗ 
damente ruhte, fondern eine bloße Variation über das Thema 
der Sabbatheilungen und bie Gnome von dem verungfüdten 
Hausthier, welche bem einen (Matthäus) in Verbindung‘ mit 
der Wiederherftellung einer- bürren Hand, dem andern (Lukas) 
mit der Heilung eines Waflerfüchtigen, einem dritten ‘in noch 
anderer Verbindung zukommen Fonnte; benn auch noch einer 


dritten Heilungögefihichte ift ein ähnlicher Ausfpruch beigeelt 





13) Haulus, erg. Handb. 2, S. 31 f. 








+18 Zweiter Abfehnitt. 


Lukas nämlich erzählt 13, 10 fi. die von Jeſu am Eabbar 
vollzogene Heilung einer dämoniſch zufammengebüdten Frau, 
wo auf die Beichwerde des Synagogenvorſtehers Jeſus die 
Frage zurüdgibt, ob denn nicht Jeder am Eabbat feinen 
Ochſen oder Efel von der Krippe Iöfe und zur Tränfe führe? 
sine Frage, in welcher die Variation der obigen nicht zu ver- 
fennen if. So ganz identifch erſcheint dieſe Gefchichte mit ber 
‚zulegt erwähnten, daB Schleiermader daraus, daß bei 
‚ber zweiten nicht auf die vorhergehende zurüidgewiefen, und fo 
die Wiederholung durch das Eingeſtändniß entſchuldigt iſt, 
ſchließt, es fünne Luc. 13, 10. 14, 5. nicht von demſelben 
werfaſſer hintereinander gefchrieben fein. 13) 


Haben wir hienach gleich nicht drei verfchiepene Borfäle 
bier, fondern nur drei verfchiedene Rahmen, in welche bie 
Sage das unvergeßliche, wahrhaft volfsthümfiche Dirtum von 
dem am Eabbat zu rettenden oder zu verforgenden Hausthier 
‚gefaßt hat: fo muß doch, feheint es, wenn wir Jeſu eine fo 
‚griginelle und angemeflene Rede nicht abfprechen wollen, irgend 
‚eine, am Sabbat vorgefallene, Heilung zum Grunde Tiegen. 
‚Nur nicht gerade eine wunderbare. Sondern wie Qufas in 
‚ber zuletzt angeführten Stelle jenen Ausfpruch mit der Heilung 
‚giner dämonifchen Frau verbindet, fo könnte er von Sefu bei 
-Belegenheit einer jener Heilungen von Dämonifrhen , . deren 
‚natürliche Möglichfeit wir unter gewiſſen Einfchränfungen zu- 
‚gegeben haben, gethan worden fein; oder kann Jeſus auch, 
‚wenn er bei Kranfheitsfällen unter, feiner Geſellſchaft in An- 
‚werdung ber üblichen Mediramente auf den Cabbat feine 
Rüdficht nahm, jene Apellation an den praftifchen Menichen- 
vexſtand zu feiner Rechtfertigung nöthig gehabt haben; ober 

dlich, wenn an der Annahme rationaliftifcher Erflärer etwas 
ahres iſt, daß Jeſus in orientglifcher, namentlich eſſeniſcher, 
Freie neben der Seelenheilung auch mit leiblicher ſich befaßt 


18) A. a. O. ©. 196. 











Neunteb Kapitel 8. 99. 349 


habe, fo kann er hiebei, wenn er ber Aufforbenung Yazy auch 
am Sabbat nicht widerftand, zu einer folchen Apolpgie neram 
laßt gewefen fein; nur daß wir dann immer nicht mit jenen 
Auslegern in. ben einzelnen übernatürlichen Heilungen, welche 
die Evangelien melden, die zum Grunde liegenden natürlichen 
auffuchen dürften, fondern wir müßten eingeftehen, daß ung 
biefe ganz verloren, und jene an ihre Stelle getreten ſeien. 16) 
Uebrigens müflen es nicht einmal Heilungen überhaupt gewefen 
fein, an welche fich jener Ausſpruch Jeſu knüpfte, fonpern 
jeder al8 Lebensrettung oder Lebenserhbaltung zu betrachtende 
and mit äußerer Gefchäftigfeit verbundene Dienft, den er oder 
feine, Jünger leifteten, konnte ihm der pharifäifchen Partei 
gegenüber Anlaß zu einer fotchen Vertheidigung werden. 

Bon den zwei Eabbatheilungen des vierten Evangeliums 
iſt die eine fehon mit den Dlindenheilungen betrachtet worben; 
die andere (5, 1 ff.), welche u:ter den Heilungen der Para— 
Ivtifchen vorgenommen werden Fonnte, ließ fid, weil doc der 
Kra.fe nicht mit jenem Auedrude bezeichnet ift, hieher vers 
fparen. In den Hallen des Teichs Bethesda in Serpfalem 
faud Jeſus einen ſchon 38 Jahre, wie aus dem Folgenden 
erhellt, an Yälmurg krauken Vieifchen, welchen er mit ging 
Werte zum Aufftchen und Heimtragen feines Bettes befähigt, 
dadurch jedoch, weil e8 Sabbat war, die Beindfshaft bey 
jüdiſchen Hierarchen auf fich ladet. Auf eigene Weife glaubten 
feit Woolſton!“) Manche mit diefer Geſchich:e durch die 
Annahme fertig zu werden, daß Jeſus hier nicht einen wirklich 
Leidenden geheilt, ſondern nur einen verſtellten Kranken 


16) Treffend Winer, bibl. Realw. 1, & 796: Man ſollte ſich dog 
befteiden, [von den Heilungen Jeſu] nicht in den einzelnen 
Fällen eine narürlihe GErkiärung geben zu wollen, unb immer 
bedenfen , daß die Verbannung des WBunderbaren aus der Wirkſamkeit 
eu, fo tange die Evangelien gefhihtiid betrogtet 
werden, niemals gelingen kann. 

17) Disc. 3, 


128 Zweiter Abſchnitt. 


entlarvt habe. ie) Der einzige Grund, der mit einigem Echein 
hiefür angeführt werden kann, ift, daß der Gefundgemachte 
Sefum feinen Feinden als denjenigen angebe, der ihm am Eabbat 
fein Bette zu tragen befohlen habe (B. 15. vgl. 11 ff.), was 
fih nur dann erflären laffe, wenn Sefus ihm etwas Unwill⸗ 
kommenes erwiefen hatte. . Allein jene Anzeige Fonnte er auch 
entweber in guter Meinung machen, wie der Blindgeborene 
(Joh. 9, 11. 25.), ober wenigftend in ber unſchuldigen, den 
Vorwurf der Sabbatsverletzung von ſich auf einen Staͤrkeren 
abzuwälzen. 9) Das der Menſch wirklich krank, und zwar 
an einem langwierigen Uebel franf gewefen fei, gibt wenigftend 
der Evangeliſt als ſeine Anſicht, wenn er ihn als Towxovre 
xul 0x En Eywv &v cn aodereig bezeichnet (B. 5), wovon 
Paulus feine früher vorgetragene gewaltfame Erklärung, 
nach welcher er die 38 Jahre auf das Lebensalter, nicht auf 
die Kranfheitszeit des Mannes bezog, neuerlich felbft nicht mehr 
vertreten mag. ?) Unerklärlich bleibt bei jener Anficht von 
dem. Vorfall auch, was Jeſus bei einer fpäteren Begegnung 
zu dem Geheilten fprach (B. 14): ide vyung yEyovag' wumer 
Suagrare, Wa 1m ysioov ti 00. yarrrao. Paulus felbft fieht 
fich durch diefe Worte genöthigt, ein wirkliches, nur unbedeu: 
tendes, Unmohlfein bei dem Menfchen vorauszufegen, d. h. 
das Unzureichende feiner Grundanficht von dem Vorfall felbft 
einzugeftehen, fo daß wir alfo hier ein Wunder, und zwar 
feines der geringften,, behalten. 
Was nun die hiftorifche Slaubwürdigfeit der Erzählung 
betrifft, fo fann man es allerdings auffallend finden, daß 
einer fo großartigen Wohlthätigfeitsanftalt, wie Johannes 
Bethesda befchreibt, weder Zofephus noch die Rabbinen 
Erwähnung thun, zumal, wenn bie Vollsmeinung an den 


a8) Paulus, Comm. 4, ©. 263 ff. & J. 1, a, S. 2 
19) ©. Lüde und Tholud z. d. St. | 
20) Bol. mit Gomm. 4, ©. 290. das 8. I. 1, a, ©. 298. 








Neunted Kapitel. $. 00. 121 


Teich eine wunderbare Hellung fnüpfte: 2) doch führt dieß 
noch ‚feine Entfcheivung herbei. Daß in der Befchreibung des 
Teiches ein fabelhafter Volfsglaube liegt, und vom Referenten 
neceptirt zu werben feheint. (wenn auch V. 4 unaͤcht ift, fo 
liegt etwas Aehnliches doch ſchon in der #bmoıs rũ vdarog 
V. 3. und dem rapaeyIn V. 7.), beweist gegen die Wahrheit 
der Erzählung nichts, da auch ein Augenzeuge und Jünger 
Jeſu den betreffenden Volfsglauben getheilt haben Fannı. Daß 
nun aber ein feit 38 Jahren in der Art gelähmter Menfch, 
daß er zum Gehen unfähig auf einem Bette Tiegen mußte, 
durch ein Wort völlig wiederhergeftellt worden fein fol, dieß 
denfbar zu machen, reicht weder die Annahme pſychologiſcher 
‚Einwirkung (der Menfch Famıte ja Jeſum nicht einmal, V. 13), 
noch irgend welche phyſiſche Analogie (wie Magnetismus 
‚u. dergl.) auch nur von ferne hin, fondern, wenn dieß wirf 
lich erfolgt ift, fo müffen wir den, durch welchen es erfolgte, 
über alle Gränzen des Menfchlichen und Natürlichen Hinauss 
heben. Dagegen hätte man das, daß Jeſus aus der Menge 
von Kranfen, welche in den Hallen von Bethesda ſich befans 
den, nur dieſen einzigen zur Heilung auserfor, niemals 
bedenklich finden follen, 2) da die Heilung deffen, der am 
längften frank lag, zur Verherrlichung der meffianifchen Wun⸗ 
berfraft nicht nur befonders geeignet, fondern auch hinreichend 
war. Dennoch knüpft ſich andrerſeits eben an dieſen Zug die 
Vermuthung eines mythiſchen Charakters dieſer Erzählung. 
Auf einem großen Schauplage der Krankheit, wo alle mögliche 
Leidende ausgeſtellt ſind, tritt der große Wunderarzt Jeſus auf, 
und wählt ſich denjenigen, der am hartnäckigſten leidet, heraus, 
um durch Wiederherſtellung deſſelben die glänzendſte Probe 
ſeiner Heilkraft abzulegen. Wie wir es bereits als die Weiſe 
des vierten Evangeliums kennen, ſtatt der extenſiv groͤßeren 





21) Bretſchneider, Probab. ©. 69. 
2) Wie Haſe, 8 3. $. 92. 


3232 u Zweiter Abſchnitt. 


Maſſe fonoptifcher Wunbergefchichten wenige, aber deſto inten- 
fivere zu geben: fo hat es auch hier durch die Erzählung pon 
ber. Heilung eined 38 Jahre lang Gelähmten alle ſynoptiſchen 
Berichte von Heilungen gliederfranfer Perforen, von welchen 
die am längften leidende bei Lufas 13, 11. nur als eine yuyı 
sıreiua &y80@ 0dereiag En dexa xal Orıw bezeichnet war, 
bei Weitem überboten. Ohne Zweifel war dem Gvangeliften 
eine, obwohl, wie wir dieß auch fonft ſchon bei ihm fanden, 
ziemlich unbeftimmte, Kunde von dergleichen Heilungen Jeſu, 
namentlich der des Paralytifchen Math. 9, 2 ff. parall., 
zugekommen, da der heilende Zuruf und der Erfolg der Hei⸗ 
lung bier bei Johannes faft wörtlich ebenfo, wie Dort nament- 
lich bei Marfus angegeben ift. 7) Auch davon, daß in der 
ſynoptiſchen Erzählung jene Heilung zugleich als ein Act der 
Cündenvergebung erfcheint, ift in der vorliegenben johanneifchen 
Gefchichte noch eine Epur, indem Jeſus, wie er dort den 
Krauken vor der Heilung mit einem upeantai oo ai «uug- 
ale beruhigt, fo hier nach der Heilung ihn durch das urxerı 
‚Guuorare x. T. 4. verwarnt. Die fo ausgeſchmuͤckte He.lungs- ' 
gefchichte aber wurde zugleich zur Eabbatbeilurg gemacht, weil 
das darin vorfommerde Geheiß, das Bette hinwegzuiragen, 
als der geeignetfte Anlaß zum Vorwurf der Sabbatentheiligung 
erfcheinen mochte. 


=) 
Marc. 2, 9: Sch. 5, 8: 
(rl Fzır euroneregov, sineiy Kyrıpm., apov rov xtaßßerov oe, 
-- --) Fyrus, any an Tov  xal NeUMure, 
xonßßarcv zaı neunareız 
10: — Fysıpe, auov Tor xzenß- 
farovr on xaı ünbye &8is 70V 


oixur am, 
J “, ° ⸗ ⁊* J ⸗ 2 « % 
12: xaı nyradın Fuden;, za 9: xaı udn syFYETO UyuS 
“ % un x 2 
Ava; Tor xunßfaror Eirlder 6 ardemoz. xaı yes rov wa 


tvayrlov navrwy. farov aurä xaı Negenareı. 














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Todtenerweckungen. 


Drei Todtenerweckungen wiſſen die Evangeliſten von Jeſu 
zu erzählen, davon eine den drei Synoptikern gemeinſchaftlich, 
eine dem Lukas, und eine dem Johannes eigenthümlich iſt. 

Die gemeinſame iſt diejenige, welche von Jeſu an einem 
Mädchen verrichtet worden, und in allen drei Berichten mit 
der Erzählung von der blutflüſſigen Frau verbunden iſt (Matth. 
9, 18 f. 23 - 26. Marc. 5, 22 ff. Luc. 8, 41 ff.). In der 
näheren Bezeichnung des Mädchens und ihres Vaters weichen 
die Eynoptifer ab, indem Matthäus den Vater, ohne eiren 
Namen zu nennen, unbeftimmt ald @pyem zig, die beiden andern 
aber ald Synagogenvorfteher Namens Fusıpng einführen, und 
ebendielelben auch die Tochter als zwötfiährig, Lukas noch 
‚außerdem als das einzige Kind ihres Vaters, beftimmen, wovon 
Matthäus nichts weiß. Bedeutender ift Die weitere Differenz, 
daß nach Matthäus der Vater das Mädchen Jeſu gleich Anfangs 
al8 geftsrben. anfündigt, und ihre Wiederbelebung verlangt; 
während er nach den beiden andern fie noch lebend, obwohl in 
den legten Zügen verließ, um Jeſum zur Verhütung ihres 
wirflichen Todes herbeizuholen,. und erft, wie Jeſus mit ihm 
auf dem Wege war, Leute aus feinem Haufe mit der Nachricht 
fommen, daß dag Mädchen indeß geftorben, und nun jede weis 
tere Bemühung Jeſu vergeblich fei. Auch die Umftänbe bei 
der Wiederbelebung werden verfchieden befchrichen, indem Mat⸗ 
fhäus namentlich davon nichts weiß, daß Jeſus nach den beiden 
andern Referenten nur ben engften Ausfchuß feiner Jünger, 
den Petrus und die Zebedaiden, ald Zeugen mitgenommen 
haben fol. Diege Abweichungen hat z. B. Etorr fo bedeu⸗ 
tend gefimden, daß er zwei verſchiedene Fälle annahm, in welchen 
unter ähnlichen Umſtänden die Tochter das einemal eines welt⸗ 
then aozwv (Matthäus), das anderemal eines Synagogarchen 


194 Zweiter Abſchnitt. 


Sairus (Markus und Lufas), vom Tode erweckt worden ſei.) 
Daß nun aber, was Storr noch dazu annimmt, und was 
auf diefem Standpunkt angenommen werden muß, Jeſus nicht. 
bloß zweimal ein Mädchen vom Tode erwedt, fondern auch 
beidemale unmittelbar vorher eine Frau vom Blutfluffe geheilt 
haben ſoll, ift ein Zufammentreffen, welches fich durch die vage 
Bemerkung Storr's, es Fönnen fich zu verfchiedenen Zeiten 
gar wohl fehr ähnliche Dinge zutragen, um nichts wahrfcheins 
licher wird. Muß man fomit einräumen, daß die Evangeliften 
nur Eine Begebenheit erzählen, fo follte man doch des weich: 
lichen Beftrebens fich entfchlagen, eine völlige Uebereinſtimmung 
ihrer Erzählungen herauszubringen. Denn weder fann das 
Gorı Ereisvrnoe bei Matthäus, wie Kuindl will, ?) est morti 
proxima heißen, noch läßt fich das 2oxazwg Eyesı und andIrmoxe 
bei Marfus und Lukas von bereits erfolgtem Tode verftehen, 
zumal bei beiden die Todesnachricht dem Vater fpäter als etwas 
Neues hinterbracht wird. 9) 

Haat daher die neuere Kritif mit Recht hier eine Abwei⸗ 
bung der Berichte zugegeben: fo findet fie die genauere Dars 
ftellung des Hergangs einftimmig auf. Seiten der mittleren 
Evangeliften; ſei es, daß man mit Schonung des Matthäus 
in feiner Darftellung eine Abfürzung findet, wie fie auch von 
einem Augenzeugen veranftaltet fein könnte,) oder daß man 
diefe mindere Genauigfeit al8 Zeichen eines nichtapoftolifchen 
Urfprungs des erften Evangeliums anfieht.) Daß nun Markus 


2) Ueber den Zweck des Evang. und der Briefe Joh. ©. 351 ff. 

2) Comm. in Matih. p. 263. Welche Argumentation: verba [NB. 
Matthaei]: ügrı Ereieiryaev, non possunf latine reddi: jam 
mortua est: nam, auctore [NB.] Luca, patri adhuc cum Christo 
coltoquenti nuntiabat servus, filiam jam exspirasse, ergo [auctore 
Matthaeo?] nondum mortua erat, cum pater ad Jesum accederet. 

3) Vergi. uͤver diefe falſchen Ausgleihungsverfuhe Schleiermader, 
über den Lukas, S. 932. und Fritzſche, in Matth, p. 347 f. 

2) Dishaufen, 3. d. St. 

‚5 Schleiermacher, a. a. O. ©. 131, MM; Saul, über das Abendm. 
S.316 f. 











Keuntes Kapitel. $. 100. 125 


und Lukas den von Matthäus verfchwiegenen Namen des Bitte 


ſtellers angeben, und auch. feinen Etand genauer als jener bes 
ftimmen, Tann, ebenfowohl zu Ungunften, als, wie gewöhnlich, 
zu Gunſten jener beiden ausgelegt werben; da die namentliche 
Bezeichnung der Verfonen, wie ſchon früher bemerft, nicht 


. felten Zuthat der fpäteren Eage iſt, wie die blutflüfiige Frau, 
erft in der Tradition eines Joh. Malala Veronifa,d) das 


funanäifche Weib erft in den Klementinen Zufta heißt,”) und 
die beiden Mitgefreuzigten Jeſu erft im Evangelium Nicodemi 
Geftas und Demad.?) Das wovoyerrs des Lukas ohnehin 


dient nur, die Scene rührender zu machen, und das drwv dwdexe. 


fönnte er und nach ihm Marfus aus der Gefchichte der Blut⸗ 
flüfiigen heraufgenommen haben. Die Abweichung, daß nad 


Matthäus das Mädchen ſchon Anfangs als geftorben, nad 


ben beiden andern erft als fterbend angefündigt wird, müßte 
man fehr oberflächlich angefehen haben, wenn man dieſelbe nach 
unferem eigenen Sanon zu Ingunften des Matthäus unter 
dem Borwand gebrauchen zu fünnen glaubte, daß bei ihm das 
Wunder vergrößert ſei. Denn auch bei den beiden andern 
wird hernach der Tod des Mädchens gemeldet, und daß er 
nach Matthäus einige -Augerblide früher eingetreten fein müßte, 
fann feine Vergrößerung des Wunders heißen. Umgekehrt 
muß man fagen, daß bei den beiden andern die Wundermacht 
Jeſu, zwar nicht objectiv, wohl aber fubjertiv größer, weil 
gefteigert durch den Contraft und das Unerwartete, erfcheine. 
Dort, wo Jeſus gleich Anfangs um eine Todtenerwedung 
gebeten wird, leiftet er nicht mehr, al8 von ihm verlangt war: 


bier Dagegen, wo er, nur um eine Sranfenheilung erfucht, eine 


Todtenerweckung vollbringt, thut er mehr als Die Betheiligten 
bitten und verftehen; dort, wo das Vermögen, Todte zu ers 
wecken, vom DBater bei Jeſu vorausgefegt wird, ift das 





96, Fabricius, Cod. apoer. N. T. 2. ©. 449 ff. 
-2) Homil. 2, 19. u 


2) Gap. 10 


n 








138 Zuwilter Abſchnttt. 


Ungemeine eines ſolchen Vermögens noch nicht ſo hervorgehoben, 
als hier, wo der Vater zunaͤchſt nur das Vermögen, die Kranke 
zu heilen, vorausfest, und ald der Tod eingetreten ift, von 
jeder weiteren Hoffnung abgemahnt wird. In der Art, wie 
die Ankunft und das Verfahren Jeſu im Leichenhaufe befchrie- 
ben wird, ift Matthäus bei feiner Kürze wenigftens Hlarer ale 
bie andern mit ihren weitläuftigen Berichten. Denn daß Jeſus, 
im Haufe angelangt, die bereits zur Leiche verfammelten Pfeifer 
fammt der Übrigen Menge aus dem Grunde weggewiefen habe, 
weil es hier Feine Leiche geben werbe, ift vollfommen verkänds 
lich; warum er aber nach Marfus und Lufas außerdem auch 
feine Sänger bis auf jene drei von dem vorzunehmenden Schaus 
fpiel ausgefchloffen haben fol, davon ift ein Grund ſchwer eins 
zufehen. Daß eine größere Anzahl von Zufchauern phyſiſch 
oder pfychologifch ein Hindernis der Wiederbelebung gewefen 
wäre, kann man nur unter Borausfegung eines natürlichen 
Hergangs fagen: war ed ein Wunder, fo koͤnnte man ben 
Grund jener Ausfchliegung nur in der mindern Fähigkeit der 
Ausgefchloffenen fuchen, welcher aber eben durch die Anſchau⸗ 
ung eines folshen Wunders hätte aufgeholfen werden follen. 
Vielmehr fiheint es nach Allen, als hätten Die zwei fpäteren 
Eynoptifer, welche auch im Gegenfag gegen ‚Die Schlußformel 
des Matthäus, daß das Gerücht von dieſem Ereigniß fich im 
ganzen Rande verbreitet habe, ben Zeugen deſſelben von Jefu 
das ftrengfte Stillſchweigen auflegen laffen, den Vorgang als 
ein Myfterium betrachtet, zu welchem außer den näshften Ans 
gehörigen nur der engfte Ausfchuß der Jünger gezogen worben 
ſei. Vollends auf das von Schulz heraufgehebene, Daß, 
während Matthäus Jeſum das Mädchen nur einfach bei ber 
Hand nehmen läßt, Markus und Lufas uns die Worte, welche 
er dazu gefprochen, der erftere fogar in der Urſprache, zu übers 
liefern willen, kann entweder fein Gewicht gelegt werden, oder 
nur in entgegengefegtem Sinne. Denn daß Jelus, wenn er 
bei Auferwedung eines Mädchens etwas fprach, fi) ungefähr 
der Worte: 7; ruulg Eyeiga, bedient haben werde, dieß kannte 


Reuntes Kapitel. 6. 100. 127 


wohl auch der vom Factum entferntefte Erzähler auf eigene 
Hand ſich vorflellen; und bei Markus gar das raiıda xärs 
als Zeichen einer beionders urfprünglichen Quelle, aus welcher 
der Evangelift gefchöpft habe, anfehen, heißt das Näherliegende 
vergeilen, daß er es cbenfo leicht aus dem Griechifchen feine® 
Gewähremanns übertragen haben fann, um, wie bei jenem 
egyudu, das geheimnißvolle Lebenswort in feiner urfprüngs 
lichen fremden Sprache, alfo nur um fo myfteriöfer Hingenb, 
wicberzugeben. Gerne werden wir uns demnach deſſen befchei- 
den, mit Schleier macher'ſchem Echarffinn auszumachen, ob 
der urfprüngliche Gewähremann der Erzählung des Lufas einer 
von den drei zugelaffenen Jüngern gemefen, und eb derſelbe, 
der fie urfprünglich berichtete, fie auch niedergefchrieben habe? 9 

In Bezug nun auf den vorauszufegenden wirflichen Her⸗ 
gang der Sache tritt die natürliche Erflärung bier ganz befons 
ders zuverfichtlich auf, indem fie Jeſu eigene Verficherung für 
firb zu haben glaubt, daß das Mädchen nicht wirklich tobt fei, 
fondern nur in einem fchlafähnlichen Zuftande der Ohnmacht 
ſich befinde; und nicht bloß entfchieden rationaliftifche Ausleger, 
wie Baulus, oder halbrationaliftifche, wie Schleiermacher, 
fordern auch entfehieden fupranaturaliftifche Theologen, wie 
Dishaufen, glauben um der bezeichneten Erklärung Jeſu 
willen bier an feine Todtenerwedung denken zu dürfen. ?9) 
Der zuletzt genannte Erflärer legt befonders auf den Gegenfag 
in der Rede Jeſu Gewicht, und meint, weil zu dem dx arretuwve 
noch das wlu nudeuder gefept fei, fo Fönre der erftere Aus⸗ 
druck nicht bloß fo gefaßt werden: fie ift nicht tobt, indem ich 
den Vorſatz hate, fie zu erwecken; — wunderlich, da doch Diefer 


9) A. a. O. S. 19. 

20) Paulus, exeg. Dantb. 1, b, ©. 826. 21. f.; Scteiermader, 
a. a. O. S. 132.; Dlshaufen, 1, ©. 377. Selbſt Neander 
fpricht ſich nicht vouig entſchieden gegen dieſe Deutung der Worte Jeſu 
aus; den Zuſtand des Maͤdchens ſelbſt aber betreffend, findet er die 
Amanme eines Echeintodes wahrſcheinlich. ©. J. Mor. ©. 343. vgt. 
338 f. oo 


148 | Zweiter Abſchnitt. 


Zuſatz gerade anzeigt, daß ſie nur. inſofern nicht. geftorben: ſei, 
als Jeſus ſie zu erwecken vermöge. Man beruft ſich ferner 
auf die Erklaͤrung Jeſu über den Lazarus, Joh. 11, 14., welche 
mit ihrem: Ausagos an&dave, der gerade Gegenſatz zu unſerem 
Ex untdave TO x00000v fei. Aber vorher, hatte Zefus doch 
auch von Lazarus gefagt: «ven 7 aaHErem 8x Esı no0g Ia- 
vor (B. 4.), und: Ausagog 0 YlAos Tu xexoiunren ( V. 
11.); alfo ganz dieſelbe Läugnung des Todes und Behauptung 
eines bloßen Schlafes, wie hier, und doch bei einem wirklich. 
Geftorbenen. Gewiß hat demnach Fritzſche Recht, wenn er. 
den Einn der Worte Jeſu in unferer Stelle fo angibt: puellaın, 
ne pro mortua habetote, sed dormire existimatote, quippe. 
in vitam mox redituram. Ohnehin, wenn Matthäus ſpäter 
(11, 5.) Sefum fugen läßt: vexpoi eyeigorcer, fo fcheint er, 
ber fonft feine Todtenerwedung erzählt, eben an dieſe gedacht 
haben zu mülfen. '!) 

Doch auch abgefehen von der falſchen Deutung ber Worte 
Jeſu hat diefe Erklärung noch manche andere Schwierigkeiten. 
Zwar, daß fowohl an. fich bei manchen Krankheiten Zuftände 
eintreten fönnen, welche dem Tode täufchend ähnlich fehen, als 
auch insbefondere bei dem ſchlechten Zuftand der Heilfunde 
unter den damaligen Juden eine Shnmarht leicht für -wirflichen 
Zod genommen werden konnte, iſt nicht in Abrede zu ftellen. 
Kun aber woher follte Jefus gewußt haben, daß gerade bei 
diefem Mädchen ein bloßer Echeintod ſtattfand? Erzählte ihm 
auch der Bater den Gang. der Krankheit noch fo genau; ja 
war er mit den Umſtänden des Mädchens vielleicht vorher. 
fhon befannt, wie. die narürliche Erklärung vorausfegt : immer. 
fragt fich doch, wie er hierauf fo viel bauen fonnte, um, ohne 
das Kind noch gefehen zu haben, im Widerfpruche gegen die 

Verficherung der Augenzeugen, es, nach der rationaliftifchen 


’ 





A) Bol. de Wette, æeg. Handb., 1,1, ©. 95.5 Beiße, die ev. 
Geſchichte, 4, ©. 503. 











Reanteh Kapitel, $. 100, 129 


Deutung feiner Worte, beftimmt für nicht geftorben zu erflären 9 
Dieß wäre Vermefienheit geweſen und Unklugheit dazu, wenn 
nicht anders Jeſus auf Üübernatürlichem Wege von dem wahren 
Thatbeftande fichere Kenntniß hatte; 12) womit aber der Stand» 
punft der natürlichen Erklärung verlaffen wäre. Nach Jeſu 
Anfunft bei der angeblich Scheintodten fehiebt nun Paulus 
jwifchen &xparr;oe Ting yeıpos aurrs und 7yEoI7 TO xopaTıor, 
was, bei Matthäus fchon enge genug verbunden, die beiben 
. andern Evangeliften durch zuvIEws und rapexerua noch näher 
zuſammenrücken, eine längere Zeit ber ärztlichen Behandlung 
ein, und Benturini weiß die angewandten Mittel fogar im 
Einzelnen namhaft zu machen. 2) Mit Recht hält gegen ſolche 
Wilfürlichfeiten Olshauſen daran feft, daß nach der Anlicht 
ber Erzähler der belebende Ruf Jeſu, und wir fönnen hinzus 
jegen, die Berührung feiner mit göttlidher Macht gerüfteten 
Hand, das Medium der Erwedung des Mädchens gewefen fei. 

Bei der dem Lukas eigenthümlichen Erwedungsgefchichte 
(7, 11 ff.) fehlt der natürlichen Erklärung die Handhabe, bie 
in der zulegt betrachteten der Ausfpruch Jeſu bot, in welchem 
er ben wirklich erfolgten Tod des Mädchens zu läugnen ſchien. 
Dennoch faſſen die rationaliftifchen Ausleger Muth, und fnüs 
pfen ihre Hoffnungen hauptfächlich daran, daß Jeſus V. 14. 
den im Sarge liegenden Jüngling anrebet: anreden aber, fagen 
fie, Fönne man doch nicht einen Todten, fondern nur einen 
folchen, den man des Hörens fähig erfannt habe oder vermuthe.'*) 
Allein diefer Kanon würde auch beweifen, daß Die Todten alle, 
weiche am Ende der Tage Chriftus auferweden wird, nur 
Scheintodte feien, da fie fonft nicht, wie es doch ausdruͤcklich 
heißt (Joh. 5, 28. vgl. 1 Theſſ. 4, 16.), feine Stimme hören 
fönnten: er würde alfo zu viel beweifen. Allerdings muß, 
wer angerebet wird, als hörend und in gewiflem Sinne lebend 


= 


12) Vgl. Neander, &. 3. ©. 342. 

13) Natürliche Geſchichte, 2, S. 212, 

2) Paulus, ereg. Handb., 1, b, S, 716.. Anm. und 719 f. 
U. Band. v 


130 Zweiter Abſchnitt. 


vorausgeſetzt werden; aber hier nur iafofern, ald die Stimme 
bes Todtenerweckers auch in erfisrbene Ohren bringen Tann. 
Naͤchſtdem werten wir zwar die Möglichkeit, daß bei der jü- 
difchen Unſitte, Die Todten ſchon einige Stunden narh deren 
Berfcheiden zu begraben, leicht ein bloß Scheintodter zu Grabe 
getragen merden konnte, zugeben müflen: 9) alles Weitere aber, 
wodurch man zu zeigen fucht, daß dieſe Möglichkeit hier Wirk: 
lichfeit gewefen, ift ein Gewebe von Erpichtungen. Um zu 
erflären,. wie Jeſus, auch ohne den Borfag, bier ein Wunder 
- zu thun, ſich wit dem Leichenzuge einlaflen, wie er auf Die 
Bermushung, der zu Begrabende möchte vielleicht nicht wirklich 
tobt fein, kommen fonnte, wird zuerſt fingirt, die beiden Züge, 
der Leichenzug und der Zug der Begleiter Jeſu, fein gerabe 
unter dom Stadtthor zufammengetroffen, und da fie einander 
den Weg fpeirten, eine Weile aufgehalten worden: geradezu 
gegen den Text, der erſt, ald Jeſus den Earg anfafte, Die 
Träger ftillekehen läßt. Durch die Erzählung der näheren 
Ihnftände des Todesfalles, Die er ſich während des Stiliftande 
babe geben lafien, gerührt, fei num Jeſus zu der Mutter ger 
treten, und habe, ohne Bezug auf eine zu vollbringende Tod⸗ 
tenerwedung, rein nur als. tröftenden. Zufprach, die Worte: 
wo xAnis, zu ihr geſprochen. 9) Allein was wäre Doch Das 
für ein keerer, anmaßender Tröfter, welcher einer Mutter, die 
ihren einzigen Sohn begraͤbt, nur geradezu das Weinen ver 
bieten wollte, ohne weder reale Hülfe durch Wiederbelebung des 
Geftorbenen, noch. ideale durch außgefuchte Troftgründe ihr zu 
bieten? Das Leptere thut nun Jeſus nicht: folk er alfo nicht 
ganz. unzart aufgetreten fein, fo muß er das Erſtere im Einne 
gehabt haben, und. dazu macht er auch alle Anftalt, indem er 
abfichtlich den. Sarg anhält und die Träger zum. Stehen bringt. 

Bor dem erweckenden Rufe Jeſu schiebt nun die natürliche 


— 





15) sr a. a. O. S. 723. Vgl be Wette, exeg. Vandb., 1, 2, 
47. 


160) So auch Hafe, %. 3., 6. 87. 





Erllaͤrung den Umftand ein, daß Jeſus an dem Zuͤngling rgued - 
ein Rebensgeichen bemerkt, und auf biefes hin entweder unmittel⸗ 
bar, oder nach vorgängiger Auwendung von Mebicamenten, 17) 
jene Worte geſprochen babe, welche ihn vollends erweden halfen. 
Allein abgefehen davon, daß jene Zwifchenmomente in den Tert 
nur eingefcehoben find, und das ftarfe: vennioxs, sol Adyay 
&yepIrtı, eher dem Machtbefehl eines Wunderthäters als dem 
Belebungsnerfuch eined Arztes Ähnlich ſieht: wie konnte Jeſus, 
wenn er fih bewußt war, den Züngling als Lebenden fchon 
angetroffen, nicht felbft erft ibn vom Tode zurüdgerufen zu 
haben, wit gutem Gewiſſen die Lobpreifungen hinnehmen, welche 
dem Bericht zufolge die zufchauende Menge diefer That wegen 
ihm als großem Propheten zollte? Nah Paulus war er 
felber ungewiß, wie er den Erfolg anzufehen habe; aber eben 
wenn er nicht überzeugt war, den Erfolg fich felber zufchreiben 
zu bürfen, fo erwuchs ihm die Pflicht, alles Lob in Bezug 
auf benfelben abzulehnen, und er kommt, wenn er bieß nicht 
that, in ein zmeideutiges Licht, in welchem er nach ber übrigen 
eoangeliichen Gefdyichte, fofern fie unbefangen aufgefaßt wird, 
keineswegs fteht. Auch hier alfe müfjen wir anerfennen, daß 
Der Evangeliſt und eine wunderbare Todtenerwedung erzählen 
wi, und daß nach ihm auch Sefus feine That als ein Wunder 
angeſehen haben muß: 18) 

Je weniger bei der dritten Todtenerweclungsgeſchichte, 
welche dem johanneifchen Evangelium (Kap. 11.) eigenthümlich 
ift, weil wir an Lazarus feinen eben Geflorbenen, oder auf 
dem Weg zum Grabe Befindlichen, fondern einen ſchon mehrere 
Tage Begrabenen vor uns haben, an eine natürliche Erklärung- 
gedacht werden zu Tönnen fcheint: deſto Fünftlieher und aus» 
führlicher hat fie fich gerade in Bezug auf diefe Erzählung 
ausgebildet. And zwar ift hier neben ber fireng und confecuent 
rationaliſtiſchen Auslegungsweife, welche den evangeliſchen 


— — 





11) Venturini, 2, ©. 293. 
18) Bel. Schleiermacher, a. a. O. ©. 103 f. 
9% 


183 Auwelter Abſchnitt. 


Bericht durchaüs als geſchichtlich feſthaltend, alle Theile deſſelben 
natuͤrlich zu deuten ſich anheiſchig macht, auch noch jene andere 
aufgetreten, welche einzelne Züge des Berichts als ſolche aus⸗ 
ſcheidet, Die erft nach dem Erfolg hinzugeſetzt ſeien, womit alſo 
fhon ein Schritt in die mythifche Erklärung hinüber gemacht 
worden if. | 
Auf die nämlichen Prämiflen wie bei der vorigen Erzähs 
lung geftügt, daß fowohl an fich als wegen der jüdifchen Sitten 
ein Begrabener wohl nach viertägigem Aufenthalt in einer Sels 
fengruft wieder zum Leben habe kommen können — eine Mög: 
lichkeit, die wir als folche auch hier nicht beftreiten, — beginnt 
die natürliche Erftärung !?) mit der Vorausfegung, die wir 
vielleicht fehon nicht mehr ebenfo paffiren lafien follten, daß 
bei dem Boten, den ihm die Echweftern mit der Krankheits⸗ 
nachricht fandten, Jeſus ſich genau nach den Ilmftänden der 
Krankheit erfundigt haben werde: und nun fol Die Antwort, 
welche er dem Boten gab (B. 4): avın 7 aodEveın wu Ess 
ro0S Iavarov x. T. A, ebenfo nur als Schluß aus den von 
dem Boten eingezogenen Nachrichten feine Weberzeugung aus» 
drüden, daß die Krankheit nicht tödtlich fei. Mit einer folchen 
Anficht von dem Zuftande des Freundes würde allerdings das 
aufs Befte zufammenftimmen, daß Jeſus nach erhaltener Bote _ 
fhaft noch zwei Tage in Peräa blieb (B. 6.); indem er nad 
jener Vorausfegung feine Anwefenheit in Bethanien für nicht 
ſo dringend nothwendig erachten konnte. Nun aber, wie fommt 
es, daß er nach Abflug dieſer zwei Tage nicht nur entfchloflen 
ift, dahin zu reifen (®. 8.), fondern auch von dem Zuftande 
des Lazarus eine.ganz andre Anficht, ja die beftimmte Kunde 
- von feinem Tode hat, welchen er den Jüngern zuerft verblümt 
(B. 11.), dann offen (V. 14.) anfündigt? Hier erhält die 
bezeichnete Erklaͤrungsart einen bedeutenden Rifi, den fie durch 
die Fiction eines zweiten Boten, 2%) welcher nach PVerfluß ber 


1) Yaulus, Comm. 4, ©. 535 ff. 2. 3. 1, b, ©. 55. ff 
”) Im 8. 3. 2, b, (Tertäberfegung) ©. 46. fcheinen gar nad ber im 


Reuntes Kapitel, $ 100, 133 


zwei Tage Jeſu bie Nachricht von des Lazarus indeß erfolgten 
Ableben gebracht habe, nur um fo auffallender macht. Denn 
-von einem zweiten Boten kann wenigftens der Berfafler des 
Evangeliums nichts gewußt haben, fonft müßte er feiner Ers 
wähnung thun, da die Verfehweigung deſſelben der ganzen Er⸗ 
zählung einen andern Schein gibt, den nämlich, daß Jefus auf 
wunderbare Weife von Dem Tode des Lazarus Kenntnif ges 
habt habe. Daß fofort Jeſus, als er entfchloffen war, nad) 
Bethanien zu reifen, zu den Jüngern fagte, er wolle den ein« 
gefehlummerten Lazarus aufweden (zexolraı — eEumisu — 
B. 11.), wird auf diefem Standpunkte fo erklärt, Jeſus müffe 
aus den Nachrichten des Boten, der den Tod des Lazarus 
meldete, irgendwie abgenommen haben, daß derfelbe nur in einem 
foporöfen Zuftande ſich befinde. Allein hier fo wenig als oben 
fönnen wir Jeſu die unfluge Bermeffenheit zutrauen, che er 
noch den angeblich Werftorbenen gefehen hatte, die beſtimmte 
DBerficherung zu geben, daß er noch lebe. 2) Auch das hat 
auf dieſem Standpunfte feine Schwierigfeit, daß Jeſus zu feinen 
Süngern (B. 15.) fagt, er freue ſich um ihretwillen, vor und 
bei des Lazarus Tode nicht zugegen gemefen zu fein, a su- 
.sevorte Die Paulus'ſche Erklärung. diefer Worte, als ob 
Jeſus gefürchtet hätte, der in feiner Gegenwart erfolgte Tod 
hätte fie im Glauben an ihn wanfend machen Fönnen, hat nicht 
allein das von Gabler Bemerkte gegen fih, daß zuısevw nicht 
geradezu nur dad Negative: den Glauben nicht verlieren, bes 
deuten kann, was vielmehr durch eine Phrafis, wie: va 0° 
&xhelrın 7 "nisıs vuwv, (. Luc. 22, 32.) ausgevrüdt fein 
müßte;.??) fondern es ift auch nirgenb&her eine folche Vorftellung 


Evangelium erwähnten Sendung noch drei weitere vorausgeſetzt zu 
werden. 

21) Vgl. C. Ch. Flatt, etwas zur Vertheidigung des Wunders der Wie⸗ 
derbelebung des Lazarus, in Suͤskind's Magazin, 14tes Stuͤck, ©. 
93. ff. | 

2) Gabler’3 Journal für auberleſene theol. Literatur, 3, 2, 8. 261. 
. Anmerf. 


134 Zweiter Abfchnitt. 


ber Hänger von Jeſu als dem Meſſias nachzuweiſen, mit welcher 
das Sterben eines Menſchen, oder näher eines Freundes, in feiner 
Gegenwart unverträglich geweſen wäre. 
Bon Yefu Ankunft in Bethanien an wirb Die evangelifche 
‚Erzählung der natürlichen Erklärung etwas günftiger. Zwar 
die Anrede der Martha an ihn (B. 21 f.): wäre er zugegen 
gewefen, fo würde ihr Bruder nicht geftorben fein: Al zus 
ir olde, örı, boce & alınon tov Jeov, dwssı 001 6 Jeög, 
fcheint unverfennbar Die Hoffnung auszufprechen, daß Jefus 
auch den fehon Geftorbenen in das Leben zurüdzurufen vers 
möge; allein daß fie auf die folgende Juficherung Jeſu: we- 
eroszaı 6 adelpos cos, Heinmüthig erwiedert: ja, am jüngften 
Tage (B. 24.), thut allerdings einer Erklärung Vorſchub, 
welche nun rückwärts audy der obigen Aeußerung der Martha 
EB. 22.) den unbeflimmten. Sinn unterlegt, felbft jetzt noch, 
unerachtet er ihren Bruder nicht bei'm Leben erhalten habe, 
glaube fie an Jefum als an denjenigen, welchem Gott Alles, 
mas er bitte, gewähre, d. h. ald den Liebling der Gottheit, 
den Meffins. Allein nicht ıgevo fagte Martha dort, fondern 
oda, und die Wenbung: ich weiß, daß das und das gefchieht, 
wenn bu nur wilft, ift eine gewöhnltche indirecte Form ber 
"Bitte, und hier um fo unverfennbarer, da der Gegenftanb ber 
Bitte aud dem vorausgefchidten Gegenfate dahin Far wird, 
Martha fagen will: den Ton des Bruders zwar haft du 
nicht verhindert; aber auch jept iſt es noch nicht zu fpät, 
fondern auf beine Bitte wird ihn Gott dir und und wieber 
fihenfen. Ein Wechfel der Stimmung, wie er dann in 
Martha angenommen werden muß, deren kaum geäußerte 


- , Hoffnung in der Erwieberung DB. 24. bereits wieder erlofchen 


iR, Tann bei einem Weibe, welches hier und fonft als von 
jehr beweglicher Ratur fich zeigt, nicht zu fehr befremden, und 
wird in unferem Falle durch Die Form der vorangegangenen 
Zuficherung Iefu (V. 23.) hinlänglich .erflärt. Auf ihre 
inbireete Ditte nämlich hatte Martha eine beftimmte gewährende 
Zufage erwartet; da nun Jeſus nur ganz allgemein und. mit 





Reuntes Kapitel, 5.100. 133 


einem Ausdruck antworiet, weldyen man auf bie Auferſtehung 
am Ende der Dinge zu beziehen gewohnt war (wrasıderan) 
fo gibt fie Halb empfindlich halb kleinmuͤthig jene Erwiede⸗ 
rung. 9) Eben jene fo allgemein lautende Aeußerung Jeſu 
aber, fo wie die noch unbeftimmteren, B. 235 f.: Zyw eim 
; wesemg x. T. 1, glaubt man nun rationafiftifcherfeits dahin 
deuten zu können, Jeſus ſelbſt ſei von der Erwartung eines 
außerorbentlichen Erfolgs noch entfernt geweſen, deßwegen tröfte 
er die Martha bloß mit der allgemeinen Hoffnung, daß er, 
der Meſſias, den an ihn Glaubigen die einftige Auferftehung 
und ein feliged Leben vwerfchaffen werde. Da’ jedoch Jeſus 
oben (B. 11.) zu feinen Jüngern zuverfichtlich” von einem 
Aufwecken des Lazarus gefprochen hatte, fo müßte er indeflen 
umgeftimmt worben fein, wozu Fein Anlaß zu finden if. Auch 
beruft fich Jeſus V. 40, wo er im Begriff, zur Erweckung 
des Lazarus zu fhreiten, zu Martha fagt: Se slrsov vor, Öth 
&oy ruzevong, öpet cv dosev v Hei; offenbar auf V. 28, 
in welchem er alfo fehon Die vorzunehmende Wieberbeleburig 
vorhergefagt haben will. Daß er diefe nicht beftimmter bezeich- 
net, und das kaum gegebene Verfprechen in Bezug auf den 
adeApos B. 25 f. wieder in allgemeine Verheißungen für ben 
srezevov überhaupt verhüllt , gefchieht abfichtlich, um den 
Glauben der Martha zu prüfen, und ihren @efichtefreis zu 
erweitern. 2°) 

Wie nun Maria mit Begleitung herausfommt, und durch 
ihr Weinen auch Jeſus bis zu Thränen erfehüttert wird, das 
ift ein Bunft, auf welchen fi) Die natürliche Erklärung 
mit befonderer Zuverficht beruft und fragt, ob Jeſus, wenn 
ihm die Wiederbelebung des Freundes jept fhon gewiß geweſen 
wäre, nicht vielmehr- mit der innigften Freude ſich feiner Gruft 
genähert haben würde, aus der er ihn im nächiten Augenblick 





25) Flatt, a. a. O. S. 102 f.; de Wette za d St.; Neander, 
©. 351 f. 
a) Flatt, a. a. D.; Lade, Tholuck und de Wette z. d. St: 


1360 Zweiter Abfenitt. 


lebend wieder hervorrufen zu koͤnnen fich bewußt war? Hiebei 
wird dann das &reßouawaro (DB. 33.) und eußoruwusvog 
(B.38.) von gewaltfamem Zurüddrängen des Schmerzens über 
den Tod des Freundes verftanden, der fich hierauf in dem 
&doxgvoev Luft gemacht habe. Allein fowohl nach der Etymo⸗ 
logie, nach welcher ed fremere in aliquem oder in-se heißt, 
als nach der Analogie des N. T. lichen Sprachgebrauche , wo 
es Matth. 9, 30. Marc. 1,43. 14, 5. immer nur im Sinne 
von ‚inerepare aliquem vorkommt, bezeichnet Zußorcosee 
eine Bewegung ded Zornd, nicht des Schmerzens, und zwar 
müßte es hier, wo ed nicht mit dem Dativ einer andern 
Verfon, fondern mit zY rwevuerı und &v Euvro- verbunden 
ift, von einem ſtillen, verhaltenen Unwillen verftanden werben. 
Sn diefem Sinne würde es V. 38, wo es zum zweitenmale 
vorfommt, ganz wohl paflen; denn in ber vorangegangenen 

Aeußerung der Juden: 8x ndiwaro Sros, 6 wwolkag räs . 

Opdaluss TE Tupls, noujocı va xal Bros un) anodam; 
liegt jedenfalls ein oxwdaliLeoder, indem Jeſu frühere That 
fie an feinem jebigen Benehmen, und dieſes hinwiederum ar 
jener, irre machte. Wo aber das erftemal von einem eußogr- 
uaoFcı die Rede ift, V. 33, ſcheint zwar das allgemeine 
Meinen Jeſum eher zu einer wehmüthigen als unwilligen 
Bewegung haben veranlaflen zu können: doch war auch bier 
eine ftarfe Mißbilligung der fich zeigenden oAıyorsısia möglich. 
Das hierauf Jeſus felbft in Thränen ausbrach, beweist nur, 
daß fein Unwille über die, yoraa arrısogs um ihn her ſich in 
Wehmuth auflöste, nicht aber, daß Wehmuth von Anfang 
an feine Empfindung war. Endlich, daß die Juden (V. 36.) 
in Bezug auf die Thränen Jeſu untereinander fagten: ide, 
WS, epilzı avsov, dieß feheint eher gegen ald für Diejenigen. 
zu fprechen, welche die Gemüthsbewegung Jeſu als Schmerz 
über den Tod des Freundes und Mitgefühl mit deſſen 
Schweftern betrachten, da, wie der Charakter der johanneifchen 
Darftellung überhaupt eher einen Gegenſatz zwifchen dem 
wirflihen Sinne des Benehmens Jefu und der Art, wie 








Neuntes Kapitel, 6 100. | 137 


die Zufchauer e8 auffaßten, erwarten laͤßt, fo inebeſondere 
ol Isdaiov in biefem Evangelium fonft immer diejenigen find, 
welche Jeſu Worte und Thaten theils mißverftehen, theils 
mißdenten. Man beruft fich freilich noch auf den fonft fo 
milden Charakter Jeſu, welchem die Härte nicht angemeflen 
fei, mit.welcher er bier der Maria und den Uebrigen ihr fo 
natürliches Weinen übelgenommen haben müßte: ?5) allein 
dem johanneifchen Ehriftus ift eine ſolche Denkweiſe keineswegs 
fremd. Derjenige, welcher dem PAaaıkıxog, der ihm mit ver 
unverfänglihen Bitte, zur Heilung feines Sohnes in fein 
Haus zu kommen, entgegentrat, den Berweis gab: av 1m] 
orusia xol Tegare irre, 8 aj uısevorte (A, 48.); der die 
Sünger, welche fih an der harten Rede des G6ten Kapitels 
geftogen hatten, fo fihneidend mit einem zäro vYuas oxavde- 
Aber; und m xel vueis Illere Unayew; anließ (6, 61. 07.); 
‘der feine eigene Mutter , als fie bei der Hochzeit zu Kana ihm 
den Weinmangel flagte, durch das harte: zi zuol xai 0ol, 
yuvar; abwies (2, 4.); der alfo jedesmal dann am unwilligften 
wurde, wenn Menfchen, fein höheres Thun und Denken nicht 
begreifend, ſich Heinmüthig oder zubringlich zeigten: der 'war . 
hier ganz befonders zu ähnlichem Unwillen veranlaßt. Iſt bei 
diefer Erklärung der Stelle von einem Echmerz Jeſu über den 
Tod des Lazarus gar nicht die Rebe, fo fällt auch die Hülfe weg, 
weiche die natürliche Erflärung des ganzen Hergangs in dieſem 
Zuge zu finden glaubt; indeß auch bei der anderen Deutung läßt 
ſich die augenblidfiche Rührung durch das Mitgefühl mit den 
Weinenden gar wohl mit der Vorausficht der Wiederbelebung 
vereinigen. 29) Und wie hätten fich auch die Worte der Juden 
V. 37. nad) der Behauptung natürlicher Erklärer geeignet, 
die Hoffnung, daß Gott auch jest vielleicht etwas Auszeich⸗ 
nendes für ihn thun werde, in Jeſu zuerft anzuregen? Richt 


35) tüde, 2, ©. 388. 
%) Flatt, a. aD. ©. 104 f.; Luͤcke, a a. O. 


138 “ Zweiter Abſchnitt. 
die Heffnung, daß er den Zobten wiedererwecken Körme, ſon⸗ 


dern nur die Vermuthung, daß er vielleicht den Kranken am 


Leben zu erhalten im Stande geweſen wäre, ſprachen ja die 
Juden aus; ed hatte alfo ſchon früher Martha durch vie 
Aeußerung, daß auch jest noch der Bater ihm gewähren 
werde, was er bitte, mehr gefagt: fo daß, wenn dergleichen 
Hoffnungen .erft von außen in Jeſu angeregt wurden, biefelben 
fehon früher angeregt fein mußten, und namentlich vor jenem 
Weinen Jefu, auf welches man fich dafür, daß fie noch nicht 
angeregt geweſen, zu berufen pflegt. 

Daß die Aenßerung der Martha, als Jeſus den. Stein 
som Grabe zu nehmen befiehlt: Kupıe, ron oLsı (B. 39.), 
für die wirklich ſchon eingetretene Verweſung und alfo gegen 
die Mögtichfeit einer natürlichen Wiederbelebung nichts beweife, 
da fie auch bloßer Schluß aus dem zerapralog fein kann, iſt 


auch von fupranaturaliftifchen Auslegern eingeräumt worden. ?7) 
" Hierauf aber die Worte, mit welchen Jeſus, die Einrede der 


Martha ablehnend, auf der Deffnung des sorusiov beſteht 
(B. 40.): daß fie, wenn fie nur glaube, zrv dosev rä Heä 
fehen werde; wie konnte er dieſe ausfprechen, wenn er fich 
feiner Macht, den Lazarus zu erweden, nicht auf's Beſtimm⸗ 
tefte bewußt war? Nach Baulus fagte jener Ausfpruch nur 
allgemein, Daß der Vertrauensvolle auf irgend eine Weife eine 


. herrliche Aeußerung der Gottheit erlebe. Allein welche herr⸗ 


liche Aeußerung der Gottheit war‘ denn bier, bei Eröffnung 


ber Gruft eines feit vier Tagen Begrabenen, zu erleben, wenn 


nicht die, daß er auferwedt werden follte® und im Gegenſatze 


vollends gegen die Verficherung der Martha, daß den Bruder 


bereitö die Verweſung ergriffen haben müffe, was Fönnen jene 
Worte für einen Sinn haben, als, hier fei der Mann, ber 
Berwefung zu wehren? Um aber ganz ficher zu erfahren, 
was die dofe za He in unferer Stelle fagen will, darf man 


27) Flatt, ©. 106; Olshauſen, 2, &. 269. 





Reuntes ‚Kapitel. 6. 100, 1839 


nur auf 3. 4. zurüdichen, wo Jeſus gefagt hatte, die Krank⸗ 
heit des Lazarus fei nicht zunos Savarov, fondern uno is 
doing“ rũ Ied, x. T. Hier erhellt doch wohl aus dem 
Gegenfag: nicht zum Tode, .unabweisbar, daß die dofe rä 
ed die Verherrlichung Gottes durch das Leben, alfo, fofern 
er jept bereits tobt war, durch Die Wiederbelebung des Lazarus 
bedeutet; eine Hoffnung, weldye Jeſus gerade im entſcheidendſten 
Augenblide nicht anzuregen wagen fonnte, ohne eine höhere 
Gewißheit zu haben, daß .fie in Erfüllung gehen werde. 9) 
Daß er fofort nach. Eröffnung der Gruft, noch che er dem 
Todten das devgo etw! zugerufen, bereits dem Bater für die 
Erhörung feiner Bitte dankt, dieß wird vom Standpunkte der 
natürlichen Erklärung als der Flarfte Beweis dafür angeführt, 
daß er den Lazarus nicht durch jenes Wort erft in das Leben 
gerufen, fondern beim Hineinblid in die Gruft ihn bereits 
wicberbelebt gefunden haben müſſe. in folches Argument 
follte man von Kenmern des johanneifchen Evangeliums in der 
That nicht erwarten. Wie gewöhnlich ift es dieſem nicht, 
z. B. in dem Ausſpruche: &dofacdn 0 vios 7. &., das erſt 
noch Bevorftehende und nur erft Angelegte als bereits Ver⸗ 
wirflichtes. darzuftellen; wie paflend war ed namentfidy hier, 
die Gewißheit der Erhoͤrung dadurch hervorzuheben, daß fie 
als bereits gefchehene bezeichnet wurde ? Und welcher Fictionen 
bedarf es nun ferner, um zu erklären, theild wie Jeſus das 
in den Lazarus zurückgekehrte Leben bemerken, theils wie Diefer 
wieder zum Leben gelangt fein fonnte! Zwiſchen dem Weg⸗ 
nehmen des Steind, fagt Paulus, und Jeſu Danfgebet 
liegt der Moment des überrafchenden Erfolgs; damals muß 
Jeſus, noch um einige Schritte. entfernt, den Lazarus ale 
einen Lebenden erfannt haben. Woran? müffen wir. fragen, 
und wie fo ſchnell und ficher? und warum nur er und Nies 
mand fonft? Erkannt möge er ihn haben an Bewegungen, 


2) Blatt, ©. 97 f. 


140 weiter Abfchnitt. 


vermuthet man. Aber wie leicht Tonnte er fich hierin täufchen 
bei einem in dunkler Selfengruft liegenden Todten; wie voreilig, 
wenn er, ohne erft genauer unterfucht zu haben, fo fchnell 
und beftimmt die Ueberzeugung, daß er lebe, ausfprach! Oder, 
wenn die Bewegungen des Todtgeglaubten ftarf und unvers 
fennbar waren, wie fonnten fie den Umftehenden entgehen? 
Endlich, wie konnte Jeſus in feinem Gebete das bevorftehende 
Ereigniß als Erfennungszeichen feiner göttlihen Eendung dar- 
ftellen, wenn er ſich bewußt war, die Wiederbelebung des 
Lazarus nicht bewirkt, fondern nur entvedt zu haben? Für 
die natürliche Möglichkeit eines Wiederauflebens des fchon 
Begrabenen wird unfere Unfenntniß der näheren Umſtände 
feines vermeintlichen Todes, das fchnelle Begraben bei den 
Suden, hierauf die fühle Gruft, die ftarf Duftenden Eperereien, 
und endlich der warme Luftzug angeführt, welcher mit der 
Abwälzung des Steins belebend in die Gruft ftrömte. Alle 
dieſe Umſtände jedoch führen nicht über den niedrigften Grad 
der Möglichkeit, welcher der höchften Unmahrfcheinlichfeit gleich 
ift, hinaus; womit dann die Gewißheit, mit welcher Jefus 
den Erfolg vorausverfündigt, unvereinbar bleiben muß. 9) 
"Eben diefe beitimmten Borherfagen, als das Haupthinders 
niß einer natürlichen Erklärung dieſes Abfchnitts, find es 
daher, welche man, noch vom rationaliftifehen Standpunkt 
aus, durch die Annahme zu befeitigen fuchte, daß fie nicht 
von Jeſu felbft herrühren, fondern ex eventu vom Referenten 
hinzugefügt fein mögen. Baulus felbit fand wenigftens das 
&vurwiow vr (B. 11.) gar zu beflimmt, und wagte Daher 
die Vernuthung, daß der Erzähler nach dem Erfolge ein 
mildernded Vielleicht, das Jeſus hinzugefügt hatte, weggelaffen 
habe. 3°) Diefe Auskunft hat Gabler in erweiterte Anwens 
dung gebracht. Nicht bloß über den bezeichneten Ausfpruch- 


29) Bol. auch hierüber vorzuͤglich Flatt und Lüde. 
50) So im Sommentar, 4, ©. 5375, im. 3. ı, b, S. 57, und 2, b, 
S. 46 wird diefe Vermuthung nicht mehr angewendet. 


‘ 














Neuntet Kapitel. 5: 100. 141 


thellt er die Battlus’fihe Vermuthung, fondern ſchon V. 4. 
ift er geneigt, das uno tag dofrg 1a Ied nur auf Rechnurg 
des‘ Evangeliften zu ſchreiben; ‚benfo V. 15., bei dem yulpw 
di Tas, ba Tuzeriayte, OTI 8x 109 exkl, permuiket er eire 
Heine, von Johannes nach dem Erfolg angebrachte Verftärs 
fung; endlih auch bei den Worten der Martha, B. 22: 
ala xal viv olda ». T. 4. gibt er dem Gedanken an einen 
eigenen Zuſatz bes Berichterftatters Raum. ?') Durch dieſe 
Wendung hat die natürliche Auslegurgeweife felbit fich. als 
unfähig befannt, für fich allein mit der johanneifchen Erzäh- 
lung fertig zu werben. Denn wenn fie, um fich an derfelben 
geltend machen zu fünnen, mehrere, gerade der bezeichner.diten 
Etellen au&merzen muß, fo gefteht fie Damit chen, daß die 
Erzählung, fo wie fie vorliegt, eine natürliche Deutung nicht 
zuläßt. Zwar find die Etellen, deren Iinverträglichfeit mit 
der rationaliftifchen Erflärungsart Durch Ausfcheidung derfelben 
eingeftanden wird, fehr fparfam gewählt; allein aus der obigen 
TDarftellung erhellt, daß, wollte man alle in dieſem Abfchnitt 
vorfommende Züge, welche der natürlichen Anficht vom ganzen 
Hergang widerftreben, auf Rechnung des Evangeliſten fchreis 
ben, am Ende nur nicht gar Alles, was hier verhandelt 
wird, als fpätere Erdichtung angefehen werden müßte. Hiemit 
ift, was bei den früher betrachteten zwei Berichten von Tod⸗ 
tenerwefungen wir gethan haben, bei der legten und merf- 
würdigften Gefchichte diefer Art von den verfchiedenen auf 
einander gefolgten Erflärungsverfuchen ſelbſt vollzogen worden, 
nämlich die Cache auf die Alternative zu treiben, daß man 
von der evangelifchen Erzählung entweder den Hergang als 





3), A. a. O. © 272 fe Auch Neander zeigt fih für V. 4 eine 
’ foihen Bermuthung nit abgeneigt, ©. 349. Wie Gabler diele 
Aeußerungen nicht von Jeſu, fondern nur von Sobannes, fo glaubt: 
ſie Dieffenbad, in Berthold's krit. Iourna!, 5, ©. 7 ff. 
auch nicht von Sohannes ableiten zu Binnen, und da er das Übrige 
Evangelium für johanneifh hielt, To erklärte er jene Etellen für 

- Snterpolationen: Bu 


142 .  Bimeiter Ablchnitt. 


Abernatuͤrlichen hinnehmen, sder, wenn mm ihn als ſolchen 
unglaublich findet, ben hiſtoriſchen Charakter der Erzählung 
läugnen muß. 

Um in diefem Dilemma -für alle drei hiehergehörige Er- 
zählungen eine Entſcheidung zu finden, müſſen wir auf den 
eigenthümlichen Charakter. derjenigen Art von Wundern zurück⸗ 
gehen, welche wir hier vor uns haben. Wir find bis jegt 
durch eine Stufenleiter des Wunderbaren aufgefiegen. Zuerſt 
Heilungen von Geiftesiranfen; dann von allen Arten leiblich 
Kranker, deren Organismus aber doch noch nieht bis zum 
Entweichen des Geiſtes und Lebens zerrüttet war; nunmehr 
die Wiederbelebung folder Körper, aus welchen bad« Leben 
bereit geflohen if. Diefer Klimar des Wunderbaren ift zu- 
gleich eine Etufenreihe des Ilndenfbarn. Das nämlich haben 
wir uns zwar etwa noch vorſtellen können, wie eine geiflige 
Störung, bei welcher von den Förperlichen Organen nur das 
dem Geifte zunächſt angehörige Nervenfuften fich angegriffen 
zeigte, auch auf dem reingeiftigen Wege des bloßen Wortes, An- 
blids, Eindruds Jeſu gehoben werden mochte: je weiter aber in 
das Körperliche eingedrungen das Uebel fich zeigte, deſto undenk⸗ 
barer war uns eine Heilung biefer Art. Wo bei Geiftesfranfen 
das Gehirn bis zur wildeften Tobfucht, bei Nervenfranfen das 
Mervenfyftem bis zu periodifcher Cpilepfie zerrüttet war, dba 
konnten wir uns ſchon ſchwer voerftellen, wie durch jene gei⸗ 
flige Einwirkung bleibende Hülfe gefehafft worden fein follte; noch 
ſchwerer, wo die Krankheit außer allem unmittelbaren Zufammens 
hang mit dem Geiſtigen fich zeigte, wie bei Ausſatz, Blindheit, Laͤh⸗ 
mung u. dgl. Und doch war hier immer noch etwas vorhanden, 
woran die Wunderfraft Jeſu fich wenden konnte; ed war doch 
noch ein Bewußtſein in den Menfshen, auf welches Eindrud zu 
machen, ein Nervenleben,, weiches anzuregen war. Nun aber bei 
Todten ift dad anders. Der Geftorbene, welchem Leben und 
Bewußifein entflohen ift, Hat den legten Anfnüpfungspunft 
für die Einwirfung des Wunderthäters verloren; er nimmt 
ihn nicht mehr wahr, befommt feinen Eindrud mehr von ihm; 





Neuntes Kapitel. $. 100. 143 


da ihm ſelbſt die Faͤhigkeit, Einprüde zu bekommen, aufs 
Reue verliehen werden muß. Diefe aber zu verleihen, ober 
beieben im eigentlichen Sinn, ift eine fchöpferifche Ichätigkeit, 
welche von einem Menfchen ausgeübt zu denfen, wir unfere 
Unfähigfeit befennen müffen. 

Doch auch innerhalb unferer drei Todtenerwedungsges 
ſchichten felbft findet ein unverfennbarer Klimar flat: Mit 
Recht hat ſchon Woolfton bemerft, es fehe aus, wie wenn 
von diefen drei Erzählungen jede zu der vorangehenden an 
Wunderbarem hätte hinzufügen wollen, was dieſer noch fehlte. 3°) 
Die Jairustochter erweckt Jeſus noch auf demfelben Lager, 
auf welchem fie fo eben verfchieden war; Den nainitifehen Jünge 
ling ſchon im Earge und auf dem Wege zur Beitattung; ven 
Lazarus endlich nach viertägigem Aufenthalt in der Gruft. 
War es in jener erften Gefchichte nur durch ein Wort anges 
zeigt, daß das Mädchen den unterirvifchen Mächten verfallen 
geweien: fo wurde dieß in der zweiten Geſchichte durch den 
Zug, daß man den Jüngling bereitS vor die Stadt hinaus 
su Grabe getragen habe, auch für die Anfchauung ausgeprägt; 
am entfchiedenften aber ift der längft in der Gruft verfchloflene 
Lazarus ald ein bereits der Unterwelt Angehöriger gefchildert: 
fo daß, wenn die Wirklichkeit des Todes im eriten Falle 
bezweifelt soerben Eonnte, dieß bei'm zweiten ſchon ſchwerer, 
bei'm dritten fo viel wie unmöglich ift. 3) In diefer Abktufung 
fteijt dann aud, die Echwierigfeit, die drei Begebenheiten fich 
denkbar zu machen: wenn anders, wo die Sache ſelbſt undenk⸗ 
bar ift, zwiſchen verfehiedenen Mopificationen berfelben eine 
Steigerung der Undenkbarkeit ftattfiiden farm. Wäre nämlich 
eine Todtienerweckung überhaupt möglich, fo mäßte fie wohl 
eher möglich fein bei einem fo eben erft verfchiedenen, noch 
lebenswarmen Individuum, ald bei einem erfalteten, das ſchon 
gu Grabe getragen. wird; und wiederum bei diefem eher ale 


32) Disc.' 5. \ 
83) Bretfhneider, Probab. ©. 61. 


7 T Zweiter Abſchnitt. 


bei einem ſolchen, an welchem wegen bereits viertaͤgigen 
Aufenthalts im Grabe der Anfang der Verweſung als einge⸗ 
treten vorausgeſetzt, und daß ſich dieſe Vorausſetzung beſtätigt 
habe, wenigſtens nicht verneint wird. 

Doc auch abgeſehen von dem Wunderbaren, iſt von den 
betrachteten Gefchichten immer die folgende theils innerlich 
unmwahrfcheinlicher, theild äußerlich unverbürgter als die vor: 
hergehende. Was die innere Unmwahrfcheinlichfeit betrifft, fo 
tritt ein Moment derfelben, welches an fich zwar in allen, 
und fomit auch in der erften, Ijegt, doch bei der zweiten 
befonders hervor. ' Als Motiv, warum Jefus den Süngling 
zu Nain erwedte, wird hier das Mitleivden mit feiner Mutter 
bezeichnet (B. 13). Damit ift nah Dlshaufen eine Bezies 
hung diefer Handlung auf den Erwedten felbft nicht ausge— 
ſchloſſen. Denn der Menfch, bemerft er, kann als bewußtes 
Weſen nie blos al8 Mittel behandelt werden, wie es hier der . 
Gall wäre, wenn man die Freude der Mutter als alleinigen 
Zweck Sefu bei der Auferwedung des Jünglings betrachten 
wollte. 9) Hiedurh hat. Olshauſen auf danfenswerthe 
Meife die Schwierigfeit dieſer und jeder Todtenerwedung nicht 
‚gehoben, ſondern in's Licht geftellt. . Denn der Schluß, daß, 
was an fich, oder nach geläuterten Begriffen, nicht erlaubt 
oder ſchicklich ift, von den Evangeliften Jefu nicht zugefchrieben 
fein Eönne, ift ein durchaus unerlaubter: vielmehr müßte, Die 
Reinheit des Charakters Jeſu vorausgefegt, wenn ihm bie 
Evangelien etwas Unerlaubtes zufchreiben, auf die Unrichtig- 
feit ihrer Erzählungen gefchloffen werden. Daß nun Jefus 
bei feinen Todtenerwedungen darauf Rüdficht genommen hätte, 
ob diefelben den zu erweckenden Perſonen, vermöge des Eeelen- 
. zuftands, in, welchem fie geftorben waren, zu Gute fommen 
oder nicht, davon finden wir feine. Spur; daß, wie Ols⸗ 
haufen annimmt, bei den leiblich Erweckten auch die geiftige 


) 1, ©. 276 f. 








Neuntes Kapitel. $. 100. 145 


Erweckung habe eintreten follen und eingetreten fei, wird nirgends 
gefagt; überhaupt treten dieſe Erwedten, auch den Lazarus 
nicht ausgenommen, nach ihrer Erwedung durchaus zurüuͤck: 
weßwegen Woolfton fragen Fonnte, warum doch Jeſus gerade 
diefe unbebeutenden Perfonen dem Tode entriffen habe, und 
nicht einen Täufer Johannes, oder einen andern allgemein 
nüglihen Mann? Wollte man fagen, er habe es als den 
Willen der Vorſehung erkannt, daß dieſe Männer, einmal 
geftorben, im Tode blieben, fo hätte er, feheint ed, von allen 
einmal Geftorbenen fo denken müflen, und es wird in leßter 
Beziehung Feine andere Antwort übrig bleiben, als biefe: 
weil man von berühmten Männern urkundlich wußte, daß 
die durch ihren Tod entftandene Lüde durch Fein Wiederauf⸗ 
leben ausgefüllt worden war, fo konnte die Cage, was. fie 
von Todtenerwedungen zu erzählen Luft hatte, "nicht an folche 
Namen fnüpfen, fondern mußte unbefannte Subjecte wählen, 
bei welchen jene Eontrole wegfiel. 

Iſt dieſer Anftoß allen drei Erzählungen. gemein, und 
tritt bei Der zweiten nur eines zufälligen Ausdrucks wegen 
fichtbarer hervor: fo ift Dagegen die dritte Erzählung voll von 
ganz eigenthümlichen Schwierigkeiten, indem das ganze Beneh⸗ 
men Jeſu und zum Theil auch der übrigen Perfonen nicht 
wohl zu begreifen if. Wie Jeſus die Nachricht von der 
Krankheit des Lazarus und die darin enthaltene Bitte der 
Schweſtern, nach Bethanien zu fommen, erhält, bleibt er noch 
zwei Tage an Ort und Stelle, und ſetzt fich erft, nachdem er 
feines Todes gewiß geworden, nach Judäa in Bewegung. 
Warum dieß? Daß es nicht gefehah, weil er etwa die Krank: 
heit für ungefährlich gehalten hätte, ift oben gezeigt; da er 
vielmehr den Tod des Lazarus vorausfah. Daß es ebenfos 
wenig Gleichgültigfeit gegen diefen war, wird vom Evangeliften 
(B. 5.) ausdrüdlich bemerkt. Was "alfo fonft? Luͤcke ver- 
muthet, Jeſus fei vielleicht eben in einer befonders gefegneten 
Wirkfamfeit in Peräa begriffen gewefen, welche er um des 
Lazarus willen nicht fogleich habe abbrechen wollen, indem er 

1, Band, 10 


146 Zweiter Abfchuitt. 


für Pflicht gehalten habe, feinem höheren Beruf als Lehrer 
Sen geringeren als heilender Wunberthäter und helfender Freund 
nachzufegen. 3) Allein neben dem, daß er bier ganz wohl 
das Eine thun und das Andere nicht laſſen Fonnte: nämlich 
entweder einige Jünger zur Fortſetzung feiner Wirffamfeit in 
jener Gegend zurüdlaffen, oder den Lazarus, fei es durch 
einen Zünger, oder durch die Macht feines Willens in die 
Ferne, heilen: fo ſchweigt ja unfer Berichterftatter vollig über 
eine: folche Veranlaſſung des längeren Verweilens Jeſu; es 
darf fich alfo dieſe Anficht von demfelben nur dann erft, und 
war als bloße Vermuthung, hören Iaflen, wenn vom Evans 
geliften Fein anderer Grund von Jeſu Verweilen angebeutet 
ift. Diefer liegt aber, worauf auh Olshau ſen aufmerkfam 
macht, ganz offen in der Erflärung Jeſu V. 15., deßwegen 
fei es ihm lieb, daß er bei Lazarus Tode nicht gegenwärtig 
gewefen fei, weil für den Zwed, den Glauben ber Jünger 
zu ftärfen, die Wiederbelebung des Geftorbenen wirffamer fein 
werde, als die Heilung des nur erft Kranken hätte fein fönnen. 
Abſichtlich alfo hatte Jeſus den Lazarus erft fierben laſſen, 
um durch feine wunderbare Ermwedung ſich um fo mehr Glau⸗ 
ben zu verſchaffen. Daffelbe im Ganzen faffen Tholud und 
Dishaufen nur zu moralifh, wenn fie von einer päda= 
gogifchen Abficht Jeſu reden, den GSeelenzuftand der Betha- 
nifchen Familie und feiner Jünger zu vollenden; 9) da es 
doch nach Ausprüden, wie va do&acdn 0 vios T. 9. (B.4.), 
vielmehr meffianifh um Verbreitung und Befeſtigung des 
Glaubens an Iefum als Gottesfohn, zunächft freilich in jenem 
- engften Kreife, zu thun war. Hier ruft zwar Lüde: nim⸗ 
mermehr! fo willfürlich und eigenfinnig hat der Helfer in 
der Roth, der edelſte Menfchenfreund, nie gehandelt, 3) und 
auch de Wette macht barauf aufmerffam ‚ daß Jeſus fonft nie- 


3) Comm. 2, S. 376. Gbenfo Neander, ©. 346. 
3) Tholuck, ©. 202; Olshaufen: 2, ©. 260. 
) Ada. DD. 











Reuntes Kapitel. $. 100, 147 


mals feine Wunder abſichtlich herbeigeführt oder vergrößert 
habe. 7) Allein wenn der Erftere hieraus ſchließt, es müffe 
alfo Jeſum irgend etwas Aeußeres, ein. anderweitiged Berufs⸗ 
gefchäft, abgehalten haben: fo ift dieß im Obigen ſchon als 
dem Berichte zumiberlaufend erwiefen, und auch de Wette 
findet e8 ungenügend, ohne doch einen andern Ausweg zu 
zeigen; fo daß, wenn jene Männer mit Recht darauf beharren, 
der wirkliche Jeſus Habe fo nicht handeln fönnen, das aber 
nur mit Anrecht läugnen, daß der Verfaſſer des vierten Evans 
geliums feinen Jeſus fo handeln laſſe, nichts Anderes übrig 
bleibt, als aus diefer Incongruenz des johanneifchen Ehriftus 
und des denkbar wirfliben mit den Brobabilien 39) - anf 


den unhiſtoriſchen Charakter der johanneifthen Erzählung zu 


ſchließen. 


Auch das angebliche Benehmen ber Sünger V. 12 f. muß 
_ befremben. Wenn ihnen Jefus doch, fofern jedenfalls ihre 
drei Koryphäen dabei gegenwärtig gewefen waren, fchon ben 
Tod der Yairustochter ald einen bloßen Schlaf dargeftellt hatte, 
wie konnten fie dann, wenn er nun von Lazarus fagte: xexol- 
ja und &vrwioo avıov, an einen natürlichen Schlaf den⸗ 
fen? Aus einem gefunden Schlafe wert man doch wohl einen 
Batienten nicht: und fo mußte den Jüngern alsbald einfallen, 
daß hier vielmehr in dem Sinne, wie bei jenem Mädchen, 
von einer xolumoıg die Rebe fei. Daß ftatt deſſen die Jünger 
das tiefer Gemeinte fo oberflächlich verftehen, das ift ja ganz 
nur die Lieblingsmanier des vierten Evangeliften, die wir 


fhon an einer Reihe von Beifpielen kennen gelernt haben. 


War ihm in der Leberlieferung der Sprachgebrauch Jeſu, der 
Tod nur .ald einen Schlaf zu bezeichnen, irgendivie befannt: 
geworden: fo ergab fich alsbald in feiner, zu dergleichen Antis 


3) Andachtsbuch, 1, S. 292 f. Exeg. Handb., 1, 3, ©. 134. 
=, ©.59 f. 7% 
109 * 


thefen geneigten Phantafie für dieſe Bilderrede ein entfprechendes 
Mißverftändniß. ?% 

Was die Juden V. 37. fagen, ift, die Wahrheit ver 
fonoptifchen Todtenerwedungen vorausgeſetzt, ſchwer begreiflich. 
Die Juden berufen fi auf die Heilung des Blindgeborenen 
(Joh. 9.), und machen den Schluß, daß derjenige, welcher 
diefem zum Geficht verholfen, wohl auch im Stande gewwefen 
fein müßte, den Tod des Lazarus zu verhindern. Wie vers 
fallen fie auf biefed heterogene und unzureichende Beifpiel, 
wenn ihnen doch in den beiden Todtenerwedungen gleichartigere 
vorlagen, und folche, weldye felbft noch für den Fall des 
bereitS erfolgten Todes Hoffnung zu geben geeignet waren? 
Borangegangen waren aber jene galiläifchen Todtenerweckungen 
diefer judäifchen in jedem Fall, weil Jeſus nach diefer Zeit 
nicht mehr nach Galiläa kam; auch konnten jene Vorgänge in 
der Hauptftabt nicht unbefannt geblieben fein, ?) zumal es ja 
von beiden ausprüdlich heißt, das Gerücht von denfelben habe 
ſich eis OA uıv yip &xevip, & öAn ın Isdaig zul &v naon 
zn Tregigwop verbreitet. Den wirklichen Juden alfo hätten 
diefe Fälle näher gelegen: da ver vierte Evangelift fie auf 
etwas weniger Naheliegendes fich berufen läßt, jo wird wahr- 
ſcheinlich, daß er von jenen Borgängen nicht gewußt hat; 
denn daß die Berufung nur ihm, nicht den Juden felber 
angehört, zeigt fi) ſchon darin, daß er fie gerade auf dies 
jenige Heilung ſich begichen läßt, welche er nächftzuvor erzählt 
hatte. 


0) Bol. de Wette, ereg. Bandb,, 1, 3, S. 135. 

) Wie Neander behauptet, L. 3. Chr., &. 354. Beine Einwen⸗ 

“ dung, baß ber vierte Cvangelift jebenfalls von Todtenerweckungen 
Jeſu gewußt haben müffe, wenn bie in Frage ſtehende Grzählung 
eine unhiftorifhe Weberbietung berfelben fein folle, — erledigt ſich 
durch die Bemerkung, baß, um eine folche zu veranflalten, ſchon die 
Allgemeine Kunde, Zefus habe auch Todte erweckt, hinreichend, und 
keineswegs bie Bekarintfhaft mit einzelnen Detailerzählungen erfor: 
derlih war, auf welche er hier zuruͤckweiſen konnte. 











Reuntes Kapitel, $. 100. 149 


Ein ftarfer Anftoß Tiegt auch in dem Gebete, welches 
B. 41 f. Jeſu in den Mund gelegt wird. Nachdem er dem 
Pater für die Erhörung gedankt, fegt er hinzu, er für fi 
wife wohl, daß der Vater ihn jederzeit erhöre, und nur um 
des Volfes willen, um ihm Glauben an feine göttliche Sen⸗ 
dung beizubringen, fpreche er dieſen befonderen Dank aus. 
Zuerft alfo gibt er feiner Rede eine Beziehung auf Gott, hin, 
terher aber feßt er diefe Beziehung zu einer nur um des 
Bolfs willen gemachten herunter. Und dieß nicht nur fo, wie 
Lüde will, daß Jeſus für fich zwar bloß ſtill gebetet haben 
würde, um des Volks willen aber fein Gebet laut fpreche 
(denn für das bloß file Beten Tiegt in der Gewißheit ber 
Erhörung fein Grund); fondern in dem Sinne, daß er für 
fich dem Bater nicht für einen einzelnen Erfolg, wie gleichfam 
überrafcht, zu danfen brauche, da er der Gewährung im Voraus 
verfichert fei, alfo Wunfch und Dank zufammenfallen, übers 
haupt fein Verhaͤltniß zum Vater nicht in einzelnen Acten ber 
‚Bitte, der Erhörung und des Danfes fich bewege, fondern ein 
beftändiger und ftetiger Austaufch diefer gegenfeitiger Functionen 
fei, aus welchem an und für fich Fein einzelner Dankact in 
diefer Weife fich ausfondern würde. Wenn nun allerdings im 
Bezug auf die Berürfniffe des Volks und aus Sympathie mit 
demfelben in Jeſu ein folcher einzelner Act hervorgetreten fein 
tönnte: fo müßte Doch, wenn in diefer Stellung Wahrheit 
gewefen fein fol, Jeſus ganz im Mitgefühl aufgegangen fein, - 
den Standpunkt des Volks zu dem feinigen gemacht, und fo 
in jenem Augenblide doch auch aus eigenem Trieb und für 
fich felber gebetet haben. ?9 Hier aber hat er faum zu beten 
angefangen , ſo fteigt ihm ſchon die Reflerion auf, daß er dieß 
nicht in eigenem Bedürfniffe thue; er betet alfo nicht aus 
Iebendigem Gefühl, fondern aus Falter Accommodation : und 


22) Dieß auch gegen de Wette, der zwar jene Wendung im Munde 
Jeſu für unpaffend erkennt , ſie aber doch in ſeiner Seele wirklich 
liegen laͤßt. | 


150 Zweiter Abfchnitt. 

dieß muß man anftößig, ja widrig finden. In Teinem Falle 
darf, wer auf diefe Weiſe nur zur Erbauung Anderer betet, 
es diefen fagen, e8 gefchehe nicht ven feinem, fondern nur von 
ihrem Standpunft aus; weil ein lautes Gebet auf die Hörer 
nur dann Eindrud machen fann, wenn fie vorausfegen, daß 
der Sprechende mit ganzer Seele dabei fei. Wie mochte alfo 
Jeſus fein angefangenes Gebet durch diefen Zuſatz unwirkfam 
machen? Drängte e8 ihn, vor Gott ein Bekenntniß des 
wahren Beftands der Sache abzulegen, jo konnte er dieß im 
Stillen thun; daß er es laut ausfprach, und in Folge deflen 
auch wir es hier lefen, dieß könnte nur auf die fpätere Ehris 
ftenheit, auf die Leſer des Cvangeliums, berechnet geweſen 
fein. Während nämlich zur Erwedung des Glaubens in der 
umftehenden. Menge erflärtermaßen das Danfgebet nöthig war: 
konnte der fortgefehrittene Glaube, wie ihn das vierte Evans 
gelium vorausfept, fich an demfelben ftoßen, weil e8 aus einem 
zu untergeordneten, und namentlich zu wenig ftetigen‘ Berhälts 
niß des Sohnes zum Bater hervorgegangen feheinen konnte; 
es mußte folglich jenes Gebet, das für Die gegenwärtigen 
Hörer nöthig war, für die fpäteren Leſer wieder annullirt, 
oder auf den Werth einer bloßen Anbequemung reftringirt 
werden. Diefe Rüdficht aber Tann unmöglich ſchon Jeſus, 
fondern nur ein fpäter lebender Chriſt gehabt haben. Dieß 
hat {chen früher ein Kritifer gefühlt, und daher den 42. Vers 
als undäcdhten Zufag von fpäterer Hand aus dem Terte werfen 
wollen. 7) Da jedoch diefes Urtheil von allen Außeren 
Bründen verlafien it, fo müßte man, wenn jene Worte doch 
nicht von Jeſu fein fönnen, annehmen, wozu Lüde früher 
nicht ganz ungeneigt war, “) der Evangelift habe Jeſu jene 
Worte nur gelichen, um die in V. 41. vorangegangenen zu 
erläutern. Ganz gewiß haben wir hier Worte, bie. Jeſu vom 


%) Dieffenbad, über einige wahrfceinliche Interpolationen im Evan» 
gelium Johannis, in Bertholdt's krit. Journal, 5. ©. 8 f. 
“), Komm. z. Joh., ite Aufl., 2, ©. 310. 








Reuntes Kapitel, $. 100. 151 


Evangelifien nur geliehen find: aber, wenn einmal dieſe, wer 
fieht uns dann auch hier dafür, daß es nur mit diefen fich 
fo verhäft? In einem Evangelium, in weldyem wir fchon fo 
viele Reden als bloß geliehene erfannt haben, im Zufammens 
bang einer Erzählung, welche an allen Enden hiftorifche Uns 
denkbarkeiten hat, ift die Schwierigkeit eines einzelnen Verſes 
nicht ein. Zeichen, daß er nicht zum Uebrigen, fondern in 
Verbindung mit dem Uebrigen davon, daß das Ganze nicht 
in die Klaffe hiftorifcher Compoſitionen gehört. *5) | 

Was für's Andere die Abftufung zwifchen den drei Er« 
zählungen in Rüdficht auf die äußere Beglaubigung betrifft, 
fo bat fhon Woolſton richtig beobachtet, wie auffallend es 
fei, Daß nur die Erwedung der Jairustochter, in welcher das 
Wunderbare am wenigften hervortrete, bei drei Evangeliften 
vorfomme; die beiden andern aber je nur bei Einem: *%) und 
zwar, indem es bei der Erwedung des Lazarus noch weit we⸗ 
niger begreiflich ift, wie fie bei den übrigen fehlen Tann, ale 
bei der Erwedung des nainitifhen Juͤnglings, fo ift auch hier 
ein vollftändiger Klimar vorhanden. 

Daß die zulegt genannte Begebenheit nur allein vom Vers 
fafler des Lufasevangeliums erzählt ift; daß insbeſondere Mate 
thäus und Markus fie nicht neben ‘oder flatt der Erzählung 
son dem erwedten Mädchen haben: macht in mehr als Einer 


Hinficht Schwierigkeit. 7) Schon überhaupt als Todtenerwer 


dung, ſollte man glauben, da deren nad) unfern Berichten nur. 
wenige vorgefommen waren, und dieſe von ausgezeichneter Bes 
weisfraft find, ed müßte die Evangeliften nicht verdroſſen haben, 
. neben der einen auch noch Die zweite aufzunehmen; da es ja 
Matthäus für der Mühe werth gehalten hat, z. B. von Blin⸗ 
denheilungen drei Proben zu berichten, welche Doch weit weniger 
Gewicht hatten, wo er alfo weit eher mit Einer hätte abfommen, 





35) So auch der Verfaſſer der Probabilien ©. 61. 
6) Disc. 5. 
2) Vgl, Schleiermacher, über den Lukas, ©. 103 ff. 


152 Zweiter Abſchnitt. 


und ſtatt der übrigen noch eine ober die andere Todtenerweckung 
aufnehmen koͤnnen. Geſetzt aber auch, die zwei erften Evans 
geliften wollten aus einem nicht mehr zu ermittelnden Grunde 
nicht weiter als Eine Todtenerwedungsgefchichte geben: fo 
follten fie, muß man meinen, weit eher die vom Jüngling zu 
Rain, fofern fie von derfelben wußten, ausgewählt haben, als 
die von der Jairustochter ; weil jene, wie oben angeführt, eine 
entichiebenere und auffallendere Todtenerwedung war. Geben 
fie defien ungeachtet nur die legtere, fo kann von der andern 
wenigftens Matthäus nichts gewußt haben; dem Markus freis 
lich Tag fie wahrfcheinlich im Lufas vor, aber er war ſchon 
3, 7. oder 20. von Lufas 6, 12. (17.) zu Matthäus 12, 15. 
übergefprungen, und fehrt erfi 4, 35. (21 ff.) zu: Lukas 8, 22. 
(16 ff.) zurüd, 2%) wo er dann die Erwedung des Jünglings 
(Luc. 7, 11 ff.) bereits hinter fi) hat. Die nunmehr entftes 
hende zweite Frage: wie kann bie Wiederbelebung des Juͤng⸗ 
lings, wenn fie wirflich vorgegangen war, dem Verfaſſer des 
erften Evangeliums unbefannt geblieben fein? hat, auch abges 

fehen von dem vorausfeglich apoftolifchen Urfprung dieſes Evans 
geliums, Doch nicht geringere Schwierigfeiten als bie vorige. 
Waren doch außer dem Volke auch ueInrel ixavol dabei; der 
Drt Nain kann, wie Sofephus feine Lage im Berhältnig zum - 
Thabor beftimmt, nicht fern von dem gewöhnlichen. galiläifchen 
Schauplage der Thätigfeit Jeſu geweſen fein; 9) endlich vers 
breitete fich ja das Gerücht von dem Ereigniß, wie natürlich, 
weit umher (B. 17.). Schleiermader meint, die nicht⸗ 
apoftolifchen Verfaffer der erften Aufzeichnungen: aus dem Leben 
Sefu haben weniger gewagt, die vielbefchäftigten Apoftel um 
Notizen anzugehen, fondern mehr die Freunde Jeſu zweiter 
Ordnung aufgefucht, und hiebei haben fie fich natürlich am 
meiften an Diejenigen Orte gewendet, wo fie Die reichfte Erndte 


— 





*) Saunier, über die Quellen bes Markus, ©. 66 ff. 
29) Vol. Winer, bibl. Realm. d. A. 











Reuntes Kapitel, 5. 100. 153 


hoffen Tonnten: nach Kapernaum und Serufalem; was fid,, 
wie die in Rede ftehende Todtenerweckung, an andern Orten 
zugetragen, das habe nicht fo leicht Gemeingut werden Tönnen. 
Allen diefe Borftellung der Sache ift theils zu Tubjectiv, indem 
fie bie erfte Berbreitung der Kunde von Jeſu vornehmften 
Thaten, wie fpäter die Nachlefe eines Papias, durch Nachfrage 
einzelner Liebhaber und Anefvotenfammler gehen läßt; theils, 
was damit zufammenhängt, e8 liegt von dergleichen Gefchichten 
bie irrige Anficht zu Grunde, ald wären fie an den Pläben, 
wo fie vorgegangen, wie träge Klumpen zu Boden gefallen, 
defielben Orts als todte Schäte verwahrt, und nur denen, die 
fih an Drt und Stelle bemühten, vorgezeigt worden: ftatt 
daß diefelben vielmehr von dem Drte, wo fie fich begeben oder 
gebildet haben, lebendig auffliegen, allenthalben umbherfchweifen, 
und nicht felten das Band, das fie mit dem Ort ihrer Entfles 
hung verknüpft, ganz zerreißen, wie wir an unzähligen wahren 
und erdichteten Gefchichten täglich fehen, welche als an den 
verſchiedenſten Orten vorgefallen dargeftellt werden. Hat fich 
einmal eine ſolche Erzählung gebildet, fo ift fie die Subftanz, 
die angebliche Loralität das Accidens: Feineswegs, wie Schleis 
ermacher es wenbet, der Ort die Subftanz, an welche die 
Erzählung als Accidens gebunden wäre. Läßt es fich demnach 
nicht wohl denfen, wie eine Begebenheit diefer Art, wenn fie 
wirklich vorgefallen war, außer der allgemeinen Ueberlieferung 
bleiben, und daher dem Verfaſſer des erften Evangeliums uns 
befannt fein fonnte: fo ergibt fich aus der Thatfache, daß er 
nichts von derfelben weiß, ein Verdacht gegen ihr wirkliches 
Borgefallenfein. | 
Doch mit ungleich fehwererem Gewichte fällt dieſer Zwei⸗ 
felögrund auf die Erzählung des vierten Evangeliums von der 
Auferweckung des Lazarus. Wußten die Verfaffer oder Samm- 
Ier der drei erften Evangelien von diefer: fo Fonnten fie aus 
mehr ald Einem Grunde nicht umhin, fie in ihre Schriften 
aufzunehmen. Denn erftlich ift fie unter fämmtlichen von Jeſu 
vollbrachten Todtenerweckungen, ja unter feinen fämmtlichen 





154 Zweiter Abſchaitt. 


Wundern überhaupt, wenn nicht das wunberbarfte, fo Doch 
dasjenige, in welchem dad Wunderbare am augenfcheinlichften 
und ergreifendften hervortritt, und welches daher, wenn es 
gelingt, einen von feiner hiftorifchen Realität zu überzeugen, 

eine vorzüglich ftarfe Beweisfraft hat; 3%) weßwegen die Evans 
geliften, fie mochten ſchon eine oder zwei andere Todtenerwe⸗ 
ckungen erzählt haben, Doch nicht überflüffig finden konnten, 
auch dieſe noch hinzuzufügen. Zweitens aber griff fie, laut 
der johanneifchen Darftellung, entfcheidend in die Entwidelung 
des Schickſals Jeſu ein, indem nach 11, 47 ff. der vermehrte 
Zulauf zu Iefu und das große Auffehen, welches die Wieder⸗ 
belebung des Lazarus herbeigeführt hatte, das Synedrium zu 
jener Berathſchlagung veranlaßte, bei welcher der blutige Rath 
des Kaiphas gegeben wurde und Eingang fand. Diefe dops 
pelte, dogmatifche fowohl als pragmatifche Wichtigkeit des Er⸗ 
eigniffes mußte die Synoptifer nöthigen, es zu erzählen, wenn 
fie davon wußten. Indeß die Theologen haben allerlei Gründe 
ausfindig gemacht, warum jene Evangeliften, auch wenn ihnen 
die Sache befannt war, doch nichts von derfelben ſollen haben 
erzählen mögen. Die Einen waren der Meinung, zur Zeit der 
Abfaffung der drei erften Evangelien fei die Gefchichte noch in 
aller Munde, mithin ihre Aufzeichnung überflüffig gewefen; *) 
Andre vermutheten umgekehrt, man habe das weitere Bekannt⸗ 
. werben derſelben verhüten wollen, um dem noch lebenden La⸗ 
zarus, welcher nach Joh. 12, 10. wegen bes an ihm gefche- 
henen Wunder von den jüdiſchen Hierarchen verfolgt wurde, 
oder feiner Familie Feine Gefahr zu bereiten, was in ber fpäs 
“teren Zeit, ald Johannes fein Evangelium ſchrieb, nicht mehr 
zu befürchten gewefen fei.°9) Zwar heben ſich nun dieſe beiden 
Gründe aufs Schönfte gegenfeitig auf, und find auch jeber 


— — — 


0) Man erinnere ſich der bekannten Aeußerung von Spinoza. 

61) Whitby, Annot. z. d. St. 

52) So Grotius, Herderz auch Olshauſen bekennt fi vermuthungs 
weiſe zu dieſer Amicht, 2, ©. 256 f. Anmerk. 








[ 


Reuntes Kapitel. $. 100. 135 


für fich kaum einer ernſthaften Widerlegung werth : doch follen, 
weil ähnliche Ausflüchte auch fonft noch öfter als man glauben 
möchte, angewendet werden, einige Gegenbemerfungen nicht 
gefpart fein. Die Behauptung, als in ihrem Kreife allgemein 
befannt fei die Wiederbelebung des Lazarus von den Synops . 
tifern wicht aufgezeichnet worden, beweist zu viel; indem auf 
diefe MWeife gerade die Hauptpunfte im Leben Jeſu, feine Taufe 
im Jordan, fein Tod und feine Auferftehung, hätten unbefchrieben 
bleiben müflen. Es dient aber eine foldye Schrift, die, wie 
unfere Evangelien, in einer religiöfen Gemeinde entfteht, keines⸗ 
wegs bloß dazu, Unbekanntes befannt zu machen, fondern auch 
das bereits Befannte feftzubalten. Gegen die andere Erklärung 
ift fchon von Andern bemerkt worden, das Bekanntwerden diefer 
Geſchichte unter Richtpaläftinenfern, für welche Markus und 
Lufas fchrieben, habe dem Lazarus nichts fchaden koͤnnen; aber 
auch der Verfaſſer des erften Evangeliums, falls er in und 
für Paläftina gefehrieben, würde wohl fchwerlich aus Rüdficht 
auf Lazarus, welcher, ohne Zweifel Ehrift geworden, follte er 
auch im unwahrfcheinlichen Sale zur Zeit der Abfaſſung Des 
erften Evangeliunts noch gelebt haben, jo wenig als feine Fa⸗ 
milie fi weigern durfte, um des Namens Chrifti willen zu 
leiden, eine Thatfache verſchwiegen haben, in welcher fich deſſen 
Herrlichkeit fo beſonders geoffenbart hatte. Die gefährlichfte 
Zeit für Lazarus war nad) Joh. 12, 10. die gleich nad feiner 
Wiederbelebung, und ſchwerlich fonnte eine fo fpit kommende 
Erzählung diefe Gefahr erhöhen - oder erneuern; überhaupt 
mußte in der Gegend von Bethanien und Serufalem, von wos- 
her dem Lazarus die Gefahr drohte, der Vorgang fo befannt 
fein und im Andenken bleiben, Daß durch Aufzeichnung befielben 
nichts zu verderben war. 59) 


— 


1 
53) ©. biefe Argumente gerfireut bei Paulus und Luͤcke z. d. Abſchn. 
. bei Öabler in der angef. Abhandl. ©. 238 ff. und Haſe, 8. 93. 
$. 119. — Einen neuen Grund, warum namentlicd, Matthäus von ber 
Auferwedung des Lazarus fchweige, Hat Heydenreich (über bie Un: 


156 Zweiter Abfchnitt. 


Bleibt es alfo, daß die Synoptiker von der Auferwedung 
des Lazarus, von welcher fie nichts erzählen, auch nichts ges 
wußt haben können: fo entiteht auch hier die zweite Brage, wie 
dieß Nichtwiffen möglich war? Die myfteriöfe Antwort Hafe’s, 
der Grund diefer Auslaffung fei in den gemeinfamen Verhält⸗ 
niffen verborgen, unter welchen die Synoptifer überhaupt von 
allen früheren Borfällen in Judaͤa ſchweigen, läßt wenigftens 
dem NAusdrude nach ungewiß, ob damit zu Ungunſten des 
vierten Evangeliums oder der übrigen entfchieven fein fol. 
Diefe Zweibeutigfeit der Hafe’frhen Antwort hat die neuefte 
Kritit des Matthäusevangeliums in ihrer Weife aufgehoben, 
indem fie jene gemeinfamen Berhältniffe dahin beftimmte, daß 
durch die Unbekanntſchaft mit einer Gefchichte, die einem Apoftel 
habe befannt fein müflen, die Synuptifer fich fämmtlich als 
Nichtapoftel beurkunden.“) Allein durch diefe Verzichtleiftung 
auf den apoftolifchen Urfprung des erften Evangeliums wird 
fein und der andern Nichtwiffen um den Vorgang mit La⸗ 
zarus noch feineswegs erflärlich. Denn bei der Merkwür⸗ 
Digfeit des Ereigniffes, da es ferner im Mittelpunfte des jüdi⸗ 
fhen Landes vorgefallen war, großes Aufſehen erregt Hatte, 
und die Apoftel als Augenzeugen zugegen gewefen waren, tft 
gar nicht einzufehen, wie es nicht in Die allgemeine Lleberliefes 
rung, und aus ihr in die fonoptifchen Evangelien hätte kom⸗ 
men folen. Man berief fich darauf, daß diefen Evangelien 
galiläifche Sagen, d. h. mündliche Erzählungen und fchriftliche 
Auffäge der galiläifchen Sreunde und Begleiter‘ Jefu, zum 
Grunde liegen; diefe feien bei der Auferwedung des Lazarus 





zuläffigleit der mythifchen Auffaffung, 2tes Städ, S. 42.) ausgedadht. 
Der Evangelift habe fie übergangen, weil fie mit einer Zartheit und 
Lebendigkeit des Gefühls dargeftellt und behandelt fein wolle, zu welcher 

er ſich nidt fähig gefühlt habe. Daher babe der befcheidene Mann 
fih lieber gar nicht an die Gefchichte wagen wollen, als fie in feiner 
Erzählung an rührender Kraft und Erhabenheit verlieren laſſen. — 
Welche eitie Befcheidenheit bieß gewefen wäre! 

>) Schnedenburger, über den Urfpr. S. 10. 








& 


Reuntes Kapitel. $. 100, 137. 


nicht zugegen geweien, und haben fie alfo nicht in ihre Denk; 
würbigfeiten aufgenommen; die Berfafler der erften Evangelien 
aber, indem fie fich fireng an diefe galiläifchen Nachrichten 
hielten, haben die Begebenheit gleichfalls übergangen. 5) Allein 
fo fcharf läßt fich Die Scheidemand zwiſchen Galiläifchem und 
Judaͤiſchem nicht ziehen, daß der Ruf eines Ereigniffes wie Die 
Auferwedung des Lazarus nicht auch nad, Galiläa hätte hins 
übertönen müflen; war es auch nicht in einer Feſtzeit vorges 
fallen, wo (wie Joh. 4, 45.) viele Galilaͤer Augenzeugen fein 
fonnten, fo waren doch die Sünger, größerntheils Galiläer, 
Dabei (V. 16.), und mußten, fobald fie nach Jeſu Auferftehung 
wieder nach Galiläa kamen, die Gefchichte überall auch in dies 
fer Provinz ausbreiten; oder vielmehr mußten fchon vorher, an 
dem legten von Jeſu befuchten Pafchafefte, die feftbefuchenden 
©nliläer die ftadtfundige Begebenheit erfahren haben. Daher 
findet auch Lüde diefe Gabler’fche Erklärung ungenügend; 
wenn er aber feinerfeits das Räthfel durch die Bemerkung loͤſen 
will, Daß die urfprüngliche evangelifche Leberlieferung, welcher 
die Synoptifer gefolgt feien, die Leidensgefchichte wenig prag- 
matifch, alſo auch ohne Rüdficht auf dieſe Begebenheit, als 
das geheime Motiv des Mordbefehls gegen Jeſum, dargeftellt 
habe, und erft der in bie innere Gefchichte des Synedriums 
eingeweihte Johannes im Stande geweſen fei, Diefe Ergänzung 
zu geben: 5°) fo Fönnte zwar hiemit der eine rund entfräftet 
zu fein feheinen, der die Synoptifer nöthigen mußte, jene Be⸗ 
gebenheit aufzunehmen, der nämlich, welcher von ihrer pragma- 
tifchen Wichtigfeit hergenommen iſt; wenn aber hinzugefegt 
wird, als Wunder an fich und ohne jene näheren Umſtände 
betrachtet, habe fie fich Teicht unter den übrigen Wundererzäh- 
lungen verlieren fönnen, von welchen wir in den drei erften 
Evangelien eine zum Theil zufällige Auswahl haben : fo erfcheint 


55) Gabler, a. a. D. ©. 240 f. Aehnlich Neander, ©, 357. 
56) Somm. 3. Ioh. 2, &. 402. 


158 Zweiter Abſchnitt. 

die funoptifche Wunberauswahl eben nur dann als eine zufäl- 
fige, wenn. man, was hier erft bewieſen werben fol, fehon vor⸗ 
ausfegt, daß, die johanneifchen Wunder hiftorifch feien, und 
ift fie nicht bis zum Berftandlofen zufällig, fo kann fie ein 
folches Wunder nicht verloren haben. 57 - 

Diefe und ähnliche Erwägungen find es wohl gewefen, 
welche einen der neueften Sprecher in der Streitfache des erften 
Evangeliums zu einer Rüge der Einfeitigfeit veranlaßten, mit 
welcher man die obige Stage immer nur zum Nachtheil ber 
Synoptifer und namentlich des Matthäus beantivortet habe, 
ohne daran zu denfen, daß ebenfo nahe eine dem vierten Evans 
gelium gefährliche Antwort Tiege, ) und auch uns fhreden 


57) Vgl. de Wette, ereg. Hanbb., 1, 3, ©. 139. Darf ich mich auch 
auf eine erft zu brudende Schrift beziehen, fo werben wir in den 
Schleiermader’fhen Vorlefungen über das Leben Iefu zur Erklaͤ⸗ 
rung bes fraglichen Stillſchweigens darauf verwiefen werben, baß bie 
fonoptifhen Evangelien überhaupt das Verhältniß Sefu zur Bethaniſchen 

- Familie ignoriren, weil vielleicht bie Apoftel eine vertraute perföntiche 
Berbindung diefer Art nicht in bie allgemeine Tradition haben überge: 
hen laffen wollen, aus welder jene Eoangeliften fchöpften: mit dem 
Berhältniffe Zefu zu diefer Kamilie überhaupt fei nun auch dieſes eins 
zelne auf fie fich beziehendbe Factum unbelannt geblieben. Allein was 
follte die Apoftel zu einem ſolchen Zurüdhalten bewogen haben ? follen 
wir denn an geheime, oder mit VBenturini an zarte Verbindungen 
benten? follte bei Iefu nicht aud ein folches Privatverhältniß des Er⸗ 
baulichen viel gehabt haben? Wirktich enthalten ja die Proben, welche 
und Johannes und Lukas von dem Verhaͤltniſſe Zefu zu der bezeichneten 
Familie geben, deſſen viel, und aus der Erzählung des Legteren von 
dem Beſuch Jeſu bei Martha und Maria fehen wir zugleich, daß auch 
die apoftolifhe Verkündigung keineswegs abgeneigt war, etwas von jenem 
Verhaͤltniſſe fehen zu laffen, fofern es allgemeines Intereffe gewähren 
Eonnte. In biefer Hinfiht ragte nun aber die Auferwedtung des Razas 
rus als eminentes Wunder ohne Vergleihung weiter als jener Beſuch 
mit feinem Evo; &sı zosie über das Privatverhältniß Jeſu zur Bethanis 
ſchen Bamilie hinaus: das vorausgefegte Streben, biefes geheim zu 
halten, konnte der Verbreitung von jener nicht in ben Weg treten. 

58) Kern, über ben Urfprung bes Evang. Matth. Tuͤbing. Zeitfchrift, 
1834, 2, ©. 110, 








Neuntes Kopitel: $. 100. 159 


Lüdes Bannftrahlen, welcher auch in der neuen Ausgabe 
demjenigen, der aus dem Schweigen der Synoptifer auf Er 
dichtung dieſer Erzählung und Unaͤchtheit des johanneifchen 
Evangeliums ſchließt, eine Akriſie fonder Gleichen und gänz- 
lichen Mangel an Einficht in das Verhaͤltniß unfrer Evange- 
lien zu einander (wie es nämlich die geiftliche Sicherheit der 
Theologen, auch durch die zum Theil treffenden Winfe der 
Brobabilien nicht aufgerüttelt, noch immer feithält) vorwirft, 
nicht fo fehr, um uns von der beftimmten Erflärung zurädzus 
halten, daß wir die Ermwedungsgefchichte des Lazarus für Die 
wie innerlich unwahrfcheinlichfie, fo Außerlich am wenigften 
beglaubigte anfehen, und auch diefen Abfchnitt in Verbindung 
mit den bisher beleuchteten als Kennzeichen der Unaͤchtheit des 
vierten Evangeliums betrachten. " 

Sind auf diefe Weife alle drei evangeliiche Todtener⸗ 
wedungsgefchichten durch negative Gründe mehr oder weniger 
zweifelhaft gemacht: fo fehlt jest nur noch der pofitive Nach- 
weis, daß leicht auch ohne hiftorifchen Grund Die Sage, Jeſus 
habe Todte erwedt, fich bilden Ffonnte. Vom Meffias wurde 
bei feiner Ankunft nach rabbinifchen ?) wie nach N. T.lichen 
Stellen 4. B. Joh. 5, 28 f. 6, 40, 44. 1. Kor. 15. 1. Theft. 
4, 16.) die Auferwedung der Todten erwartet. Nun war 
aber die napsola des Meſſias Jeſus in der Anficht der erften 
Gemeinde durch feinen Tod in zwei Stüde gebrochen: in feine 
erfte vorbereitende Anmwefenheit, welche mit feiner menfchlichen 
Geburt begann und mit der Auferftiefung und Himmelfahrt 
fchloß, und in die zweite, noch zu erwartende Ankunft, in den 
Wolfen des Himmels, um den aiwv uEllav wirklich zu eröff- 
nen. Da es der erften PBarufie Jefu an der von einem Mefs 
ſtas erwarteten Herrlichkeit gefehlt hatte, fo wurden die groß» 
artigen Bethätigungen mefflanifcher Macht, wie namentlich die 
allgemeine Tobtenerwedlung, in die zweite, noch bevorftehende, 


59) Bertholdt, Christol. Jud. 6: 35. 





160 Zweiter Abſchnitt. 


Paruſie verlegt. Doch mußte, zum Unterpfande für das zu 
Erwartende, auch ſchon durch die erfte Anwefenheit die Herr, 
lichfeit der zweiten in einzelnen Proben hindurchgeſchimmert, 
Jeſus feinen Beruf, einft alle Todte zu erweden, ſchon bei 
feiner erften Anfunft durch Ermwedung einiger Todten beurkun⸗ 
det haben; er mußte, um feine Meffianität gefragt, unter den 
Kriterien derfelben auch das vexgol Eyeipovraı (Matth. 11, 5.) 
haben aufführen und feinen Apofteln diefelbe Vollmacht ertheilen 
fönnen (Matth. 10, 8. vgl. A. ©. 9, 40. 20, 10.), naments 
lich aber ald genaues Vorfpiel davon, daß einfl uavres ol & 
ol wrnusloıs ax80ovraı TiS Yuvag wird zul Exrsopevoovros 
(Zob. 5, 28 f.), einem reooapag nutoas Yon Eyovrı & 1 
wrusip pwvi ueyaaı das devgo E5w zugerufen haben (ob. 
11, 17. 43.). Für die Entftehung detaillirter Erzählungen 
von einzelnen Todtenerwedungen lagen überdieg im A. T. die 
geeignetften Vorbilder. Die Propheten Elias (1. Kön. 17, 
17 f.) und Elifa (2. Kön. 4, 18 ff.) hatten Todte erwedt, 
und darauf berufen fich jüdifche Schriften al8 auf ein Vorbild 
der meffianifchen Zeit. 6%) Object ihrer Todtenerwedungen war 
bei beiden ein Kind, nur ein Sinabe, wie in der den Synopti- 
fern gemeinfamen Erzählung ein Mädchen; beide erwedten es, 
wie Jeſus die Zairustochter, noch auf dem Bette; beide fo, 
daß fie ſich allein in die Todtenfammer begaben, wie Jeſus 
dort Alle außer wenigen PVertrauten hinauswies; nur braucht, 
wie billig, der Meſſias die mühfamen Manipulationen nicht 
vorzunehmen, durch welche die Propheten zu ihrem Zwecke zu 
gelangen juchen. Elia im Befondern erwedte den Sohn einer 
Wittwe, wie Jeſus zu Nain that; er begegnete der Sarepta- 
nifchen Wittwe (aber vor dem. Tod ihres Sohnes) am Thor, 
wie Jeſus mit der Nainitifchen (nach ihres Sohnes Tod) unter 
dem Stadtthor zufammentraf; endlich wird mit denfelben Worten 
beidemale gemeldet, wie der Wunderthäter den Sohn der Mutter 


*) ©. die Band 1, S. 14. angeführte Stelle aus Tanchuma. 





Reuntes Kapitel. 6. 100, 161 


zurüdgegeben habe.) Selbit ein bereits in's Grab Gelegter, 
wie Lazarus, wurde durch Elifa erweckt (2 Kön. 13, 21.), nur 
daß damals der Prophet längft todt war, und die Berührung 
feiner Gebeine den zufällig darauf geworfenen Leichnam belebte; 
zwifchen den zuvor angeführten A. T.lichen Todtenerwedungen 
-aber und der des Lazarus befteht darin eine Aehnlichfeit, daß 
Jeſus, während er bei den beiden andern geradezu gebietend 
auftritt, bei dieſer zu Gott betet, wie Elifa und namentlich 
Elia gethan hatte. Während nun Paulus auch auf biefe 
A. Tlihen Erzählungen feine an den evangelifchen volljogene 
natürliche Erklärung ausdehnt: haben weiterfehende Theolo- 
gen längft bemerft, daß die N.T.lichen Todtenerweckungen michte 
Anderes als Mythen feien, entftanden aus der Neigung der 
älteften Chriftengemeinde, ihren Meſſias dem Vorbilde der Pro- 
pheten und dem mefitanifchen Ideale gemäß zu machen. 6%) 


61) 1, Kön. 17, 23. LXX: xaı Böwxev adro TA une ara. Luc. 7, 16: 
xar Edixev aurov TH unrol aure. 

62) So der Verf. der Abhandlung über die verfchiedenen NRüdfichten, in 
‚welchen der Biograph Jeſu arbeiten Eann, in Bertholdt’s Erit. Journ. 
5, ©. 237 f.; Kaifer, bibl. Theol. 1, S. 202. — Eine bei Erwe: 
dung des Jünglings zu Kain auffallend ähnliche Todtenerwedung weiß 
Philoftratus von feinem Apollonius zu erzählen: „Wie ed nach Lukas 
ein Yüngling, der einzige Sohn einer Wittwe, war, ber fchon vor bie 
Stadt Hinausgetragen wurde: fo ift es bei Philoftratus ein erwachſenes, 
fhon dem Bräutigam verlobtes Mädchen, deſſen Bahre Apollonius be⸗ 
gegnet. „ Der Befeht, die Bahre niederzufegen,, die bloße Ferührung 
und wenige ausgeſprochene Worte reichen bier wie bort hin, ben Todten 
wieder zum Leben zu bringen.” (Baur, Apollonius v. Zyana und 
Ehriftus, S. 145.). Ich möchte wiffen, ob vielleicht Yaulus ober wer 
fonft Luft hätte, auch diefe Erzählung natürlich zu erklären; wenn man 
fie aber, wie man wohl nicht umhin Tann, ald Nachbildung der evans 
geliſchen faflen muß: fo gehört fchon eine vorgefaßte Meinung von dem 

- Charakter der R.Z.lichen Bücher bazu, um ber Sonfequenz auszumweichen, 
daß ebenfo die in ihmen ſich findenden Todtenerweckungen nur minder 
abfichtiich entftandene Nachbildungen' jener A. T. lichen feien, welche ſelbſt 
aus dem Glauben des Alterthums an die den Tod bezwingende Kraft 


U. Band. . 1 1 





162 | Zweiter Abfchnitt. 


6. 101. 
Seeanekboten. 


Wie überhaupt, wenigftens nach der Darftellung der 
brei erften Evangeliften, die Umgegend des galiläifchen See's 
Hauptfchauplag der Thätigfeit Jeſu war: fo fteht auch eine 
ziemliche Anzahl feiner Wunder mit dem See in unmittelbaren 
Beziehung. Eines von diefer Gattung, der dem Petrus 
befcheerte wunderbare Fiſchzug, hat ſich uns bereits zur Be 
irachtung dargeboten; übrig find nun noch die wunderbare 
Stillung des Sturmd, der, während Jeſus fchlief, auf dem 
See entftanden war, bei den drei Synoptifern; das Wandeln 
Jeſu auf dem See, gleichfalls während eines. Sturms, bei, 
Matthäus, Markus und Johannes; die Zufammenfaffung der 
meiften diefer Momente, welche der Anhang des vierten Evan- 
geliums in die Zeit nach der Auferftehung verlegt; endlich der 
von Petrus zu erangelnde Stater bei Matthäus. 

Die zuerft genannte Erzählung (Matth. 8, 23 ff. parall.) 
will uns ihrer eigenen Schlußformel zufolge Jeſum als den- 
jenigen darftellen, welchem .0& Gvsyıoı zul 7 IaAa0Oa UNaXBECW. 
Es wird alfo, wenn wir den bisherigen Wunderflimar ver: 
folgen, bier nicht bloß vorausgefegt, daß Jeſus auf den 
menfchlichen Geift und Tebendigen Leib pfychologifch -magnetifch, 
oder auf den vom Geift verlaffenen menfchlihen Organismus 
neu belebend, auch nicht bloß, wie in der früher erwogenen 
Fifchzugsgefhichte, Daß er auf die vernunftlofe aber lebendige 
Natur: fondern, daß er felbft auf die lebloſe unmittelbar  be- 
fiimmend habe einwirken fönnen. Die Möglichkeit einer An⸗ 
fnüpfung an das natürliche Geſchehen reißt hier entfchieven 
ab: bier fpäteftens hören die Wunder in dem jest beliebten 


— 





gottgeliebter Maͤnner (Hercules, Aesculap), und naͤher aus den 
juͤdiſchen Begriffen von einem Propheten abzuleiten ſind. 














Nemtes Kapitel. $. 101. 163 
weiteren Sinne auf, und. fangen die im engften Sinne ober 
die Mirafel an. Bietet ſich demnach zunächſt die reinfupra- 
naturaliftifche Anfiht, fo hat Dishaufen richtig gefühlt, 
daß eine folche Gewalt über Die Außere Natur mit der Be⸗ 
flimmung Jeſu für die Menfchheit und ihre Erlöfung an fich 
nicht zufammenhänge; wodurch er auf den Verſuch geführt 
wurde, das Naturereigniß, welchem Jeſus bier Einhalt thut, 
in eine Beziehung zur Sünde, und damit zum Berufe Jeſu, 
zu fegen. Die Stürme find ihm die Krämpfe und Zudungen 
der Natur, und als folche Folgen der Sünde, welche in ihrer 
furchtbaren Wirffamfeit auch die phyſiſche Seite des Dafeins 
zerrüttet hat. D Allein nur eine Naturbeobachtung, welche 
über dem Einzelnen das Allgemeine vergißt, kann Stürme, 
Gewitter u, dgl. Erfeheinungen, die im Zufammenhang des 
Ganzen ihre nothwendige Stelle und wohlthätige Wirkung: 
‘ haben, als Uebel und Abnormitäten betrachten, und eine Welt⸗ 
anficht, welche im Ernfte der Meinung ift, vor und ohne den 
Sündenfall würde e8 feine Stürme und Gewitter, wie andrer⸗ 
feitö Feine Giftpflanzen und reißende Thiere, gegeben haben, 
ftreift — man weiß nicht, -fol man fagen, an das Schwär⸗ 
merifche oder an das Kindiſche. Wozu aber, wenn fich bie 
Sache auf diefe Weife nicht faffen läßt, bei Jefu eine folche 
Macht über die Natur? Als Mittel, ihm Glauben zu er- 
mweden, war fie unzureichend und überflüfjig; denn einzelne 
Gläubige fand Zefus auch ohne dieſe Art von Machtbeweifen, 
und allgemeinen Anhang verfchafften ihm auch dieſe nicht. 
Als Bild der urfpränglichen Herrfchaft des Menfchen über die 
äußere Natur, zu Beren Wiedererlangung er beftimmt ift, kann 
fie ebenfowenig betrachtet werben; denn der Werth dieſer Herr- 
.febaft befteht. eben darin, daß fie. eine vermittelte, Durch das 
fortgefeßte Nachdenken und die vereinigte Anflrengung vun 
Sahrhunderten der Natur abgerungene, nicht aber eine unmit= 


. 1% Bibl. Comm. 1, ©. 287. | 
" 11 * 











164 _ Zweiter Abſchnitt. 


telbare, magiſche iſt, welche nur ein Wort koſtet. So iſt in 
Bezug auf denjenigen Theil der Natur, von welchem hier die 
Rede iſt, der Kompaß, das Dampfſchiff, eine ungleich wahrere 
Berwirklichung der Herrfchaft des Menſchen über Diefelbe, als 
die Beichwichtigung des Meeres durch ein bloßes Wort gewefen 
wäre. Die Sache bat aber noch eine andere Seite, indem 
die Herrfchaft des Menfchen über die Natur nicht bloß eine 
in fie eingreifende, praftifche, fondern auch eine immanente 
oder theoretifche ift, vermöge welcher der Menſch, auch wo er 
äußerlih ver Macht des Elementes unterliegt, doch innerlich 
nicht von berfelben beftegt wird, fondern in der Leberzeugung, 
daß die Naturgewalt nur dad Natürliche an ihm zu zerftören 
vermöge, ſich in der Selbftgewißheit des Geiftes über den 
möglichen Untergang feiner Natürlichfeit emporhebt. Diefe 
geiftige Macht, fagt man, bewies‘ Jefus, indem er mitten im 
Sturme ruhig fehlief, und, von den zagenden Jüngern aufge⸗ 
wedt, ihnen Muth einſprach. Da jedoch, wenn Muth bewiefen 
werden full, wirkliche Gefahr vorhanden fein muß; für Jeſum 
aber, fufern er fich als die unmittelbare Macht über bie. 
Natur wußte, eine folche gar nicht vorhanden war: fo hätte 
er auch von dieſer theoretifchen Macht Feine wahre Probe hier 
abgelegt. Ä 

In beider Hinfichten hat die natürliche Erklärung in der 
evangelifhen Erzählung nur das Denkbare und Wiünfchens- 
werthe Jeſu zugefchrieben finden wollen, nämlich einerfeits ver- 
ftändige Beobachtung des Gangs der Witterung, andererfeits 
hohen Muth bei wirklicher Gefahr des Unterganges. Das 
erueruugv Toig av&uoıs fol nur in einem Sprechen über den 
Sturm, in einigen Ausrufungen -über feine SHeftigfeit, das 
Stillegebieten in der auf Beobachtung gewiffer Zeichen gegrün- 
deten Vorausfage beftanden haben, daß der Sturm fih nun 
wohl bald legen werde, und der Zufpruch an die Jünger fol, 
. wie jener befannte von Cäfar, nur aus dem Vertrauen her⸗ 
vorgegangen fein, daß ein Mann, auf welchen in der Welt: 
gefehichte gerechnet fei, nicht fo. leicht Durch Zufälle aus feiner 


Reuntes Kapitel. $. 101. 165 
Bahn herausgeworfen werde. Daß hierauf die im Schiffe 
Befindlichen die Stillung des Sturms als Wirfung der Worte 
Sefu angefehen haben, beweife nichts; da ja Jeſus ihre Deu- 
tung nirgends billige. ) Doch auch mißbilligt hat er fie nicht, 
unerachtet er den Einprud wohl bemerfen mußte, welchen von 
der bezeichneten Anficht aus der Erfolg auf die Leute gemacht 
hatte; 3) er müßte alfo abfichtlih, wie Venturini wirklich 
annimmt, ihre hohe Meinung von feiner Wundermacht nicht 
haben ftören wollen, um fie defto fefter an fich zu knüpfen. 
Noch ganz abgefehen hievon aber, wie follte die natürlichen 
Vorzeichen von dem Ende des Sturmes Jeſus, der nie einen 
Beruf auf dem See gehabt hatte, beſſer verftanden haben, als 
ein Petrus, Jakobus, Johannes, welche von Jugend an auf 
demfelben einheimifch waren ? *) 
Es bleibt alfo dabei: fo, wie die Evangeliften uns den 
Vorgang erzählen, müflen wir in demfelben ein Wunder 
- erfennen; dieſes nun aber vom eregetifchen Ergebniß zur wirf- 
lichen Thatfache zu erheben, fällt nach dem vben Ausgeführten 
äußerft ſchwer; woraus gegen den hiftcrifhen Charafter ver 
Erzaͤhlung ein Verdacht erwächst. Näher jedoch läßt ſich, den 
Matthäus zum Grunde gelegt, gegen die Erzählung bis zur 
Mitte von B. 26 nichts einwenden; fondern Jeſus Fönnte bei 
feinen öfteren Bahrten auf dem galiläifchen Eee wirflich einmal 
‚ geichlafen haben, als ein Sturm ausbrach; die Jünger fönnten 
ihn mit Schreden erweckt, er aber ruhig und gefaßt das: 
zi deuol se, odyoraızor; zu ihnen gefprochen haben. Was 
dann weiter folgt, das Enuıruug rn Ialaoan, welches Markus 
wieder mit feiner befannten Vorliebe für ſolche Machtworte 


2) So Paulus, ereg. Hanbbuch, 1, b, ©. 468 ff.; Venturini, 2, 
S. 165 ff.; Kaifer, bibl. Theol. 1, ©. 197. Auh Hafe, 8.74, 
findet diefe Anfiht möglich. 

3) Neander, 8. 3. Chr., ©. 363, der fi übrigens bier nur ſchwach 

der natürliden Erklaͤrung erwehrt. 

2) Haſe, a. a. O. » 











166 Zweiter Abſchnitt. 


mit den angeblich eigenen Ausdrüden Jeſu nach griechifcher 
lleberfegung (owrea, rrepluwoo!) wiedergibt, der Erfolg und 
der Eindrud, FTönnte in der Wiedererzaͤhlung hinzugefügt 
worden fein. Daß ein ſolches zruruuw cn Ialeoon Jeſu 
angedichtet werben Fonnte, dazu lag, außer der Anficht von 
feiner Berfon, die Beranlaffung überdieß im A. T. Hier 
wird in poetifchen Darftellungen des Durchgangs der Israeliten 
durch das rothe Meer Jehova als derjenige bezeichnet, welcher 
eneriumoe Th Eovdog Ialaoon (Pf. 106, 9. LXX. vgl. 
Nahum 1, 4), daß fie zurüdmeichen ſollte. Da nun das 
Werkzeug diefer Zurüdweifung des rothen Meers Mofes ger 
weien war (2 Mof. 14, 16. 21.), fo lag es nahe, feinem 
großen Nachfolger, dem Meſſias, eine ähnliche Function zu⸗ 
zufchreiben , „wie denn wirflich nach rabbinifchen Etellen in 
der meflianifchen Zeit ein ähnliches Austrodnen des. Meerce, - 
von Gott — ohne Zweifel, durch den Meſſias — bewirkt, 
erwartet wurde, wie einft Mofes eines herbeigeführt hatte. 9) 
Daß Jefu. hier ftatt des Austrodnens nur ein Etillen des 
Meers zugefchrieben wird, erklärt fi), wenn man den Sturm 
und die dabei von Jeſu bewieſene Faſſung hiftorifch nimmt, 
eben aus dem Anfnüpfen des Mythifchen an dieſe gefchichtliche 
Grundlage, wo ein Austrodnen des Sees, da fie ja zu 
Schiffe waren, nicht an der Stelle gewefen wäre. 

Immerhin indeß ift es ohne ficheres Beifpiel, daß auf 
den Stamm eines wirklichen Vorfalls ein mythifcher Zufag in 
der Art gepfropft worden wäre, daß jener völlig unverändert 
blieb. Und Ein Zug ift ſchon in jenem bisher als biftorifch 
vorausgefegten Stüde, welcher, näher angefehen, ebenfowohl 
in der Sage gedichtet, als wirklich fo vorgefallen fein fann. 
Das nämlich Jeſus vor dem Ausbruche des Sturmes eins 
fchlief, und auch, als er ausbrach, nicht fogleich ermwachte, 
das war nicht feine That, fondern Zufall; %) eben biefer 


>) ©. Band 1, $. 14. Anm. 8. 
v) Neamder. verfchiebt die Sache, wenn er Jeſum -,,mitten unter dem 








Reuntes Kapitel. $. 101. - 167 


Zufall aber ift e8, welcher der ganzen Scene erft ihre volle 
Bedeutung gibt; denn der im Sturme fehlafende Jeſus ift 
durch den Gontraft, welcher darin liegt, ein nicht minder finn- 
volles Bild, als der nach fo vielen Stürmen im Schlaf an 
ver heimifchen Inſel landende Odyſſeus. Daß nun Sefus 
wirflich bei'm Ausbruch eines Sturmes gefchlafen, kann zwar 
von Ilngefähr. in Einem Falle unter zehn gefchehen fein: auch 
-in den neun Fällen aber, wo es nicht gefihehen war, fondern 
Jeſus nur überhaupt im Sturme gefaßt und muthig fich zeigte, 
würde, glaube ich, die Sage ihren Vortheil fo weit verftanden 
haben, daß fie den Gontraft der Seelenruhe Jeſu mit dem 
Toben der Elemente, wie er fich für ven Gedanfen in den Worten 
Jeſu ausprüdte, fo für die Anfchauung in das Bild des im 
Schiffe (oder wie Marfus malt, ) auf einem Kiffen im 
Hintertheil des Schiffs) ſchlafenden Jeſus zufammenfaßte. 
Wenn fo, was in Einem Falle vielleicht fich wirklich ereignet 
hat, in neun Faͤllen von der Eage gebildet werden mußte: 
fo muß man fich doch wohl vernünftigerweife auf die unläug- 
bare Möglichkeit gefaßt machen, daß wir hier einen biefer 
neun, ftatt jenes Einen Falles, vor uns hätten. 8) Bliebe 
auf dieſe Weife als hiftorifche Grundlage nichts mehr übrig, 
als daß Jefus im Gegenfate zu tobenden Meereswellen den 
Glaubensmuth feiner Jünger in Anfpruch genommen, fo fann 
er dieß zwar möglicherweife einmal mitten in einem See- 
fturme gethban haben; doch aber, fo gut er bildlich fagen 
fonnte: wenn ihr Glauben habt nur eines GSenfforns groß, 





Zoben der Stürme und Wellen in einen Schlaf verfallen laͤßt, welder 
von feiner durch Eeine ſchreckende Naturgewalt zu flörenden Seelen⸗ 
ruhe zeugte“ (S. 362). Lukas fagt aucdrüdlid (VB. 23): rleorrwy 
de aurıv ayunveowe. Kar xareßn Aalkıap x. T. A., und aud) nad) der 
Darftellung der übrigen ift das Ginfchlafen Iefu dem Ausbruche des 
Sturms vorangehend zu denken, fonft würden die zaghaften Jünger 
ihn nicht geweckt , fondern gar nicht haben einfchlafen Laffen. 

7) Bgl. Saunier, über die Quellen des Markus, ©. 82. 

8) Dieß gegen Tholuck' s Beſchuldigung, Glaubwürtigkeit, ©. 110. 


168 . Zweiter Abſchnitt. 


fo feid ihr im Stande, zu dieſem Berge zu fprechen: Babe 
Dich weg und wirf Dich in’d Meer (Matth. 21, 21.), oder 
zu dieſem Baume: entwurzle Dich und pflanze Dich in ben 
Meeresgrund (Luc. 17, 6.), und. beides mit Erfolg  (xai 
onisotvy @w vv, Luc): fo konnte er, nicht bloß auf der 
See, fondern in jeder Lage, fish des Bildes bedienen, daß 
demjenigen, der Glauben habe, Wind und Wellen auf das 
Wort gehorfam feien (örı xwi Tois aveuoıg Enitaocsı zul 
19 vddrı, xel vroxsscı adıy, Luc.). Bringen wir nun 
noch in Rechnung, was auch Dlshaufen bemerft und 
Schnedenburger belegt hat, ?) daß ber Kampf des ots 
tesreichs mit der Welt in der erften chriftlichen Zeit gerne mit 
einer Fahrt durch einen fürmifchen Ocean verglichen wurbe: 
fo fieht man, wie leicht die Eage dazu fommen fonnte, aus 
der Narallele mit Mofes, aus Aeußerungen Jeſu, und aus 
der Borftellung von ihm als demjenigen, welcher das Schiff: 
lein des Gottesreichs durch die empörten Wogen des x00uog 
ficher hindurchfteuert, eine folche Erzählung. zufammenzufepen. 
Oder, abgefehben hievon, die Sache nur allgemein vom Bes 
griff eines Wunderthäters aus ‚betrachtet, findet man z. B. 
auch einem Pythagoras ähnliche Macht über Sturm und Un⸗ 
wetter zugefchrieben. 19) | 
Berwidelter als dieſe erfte ift Die andere Seeanekdote, 
welche dem Lufas fehlt, dagegen aber neben Matth. 14, 22 ff. 
und Marc. 6, 45 ff. fi) auch bei Sohannes, 6, 16 ff. findet, 
wo ber Sturm die in der Nacht allein fchiffenden Jünger über: 
fällt, und fofort Jeſus, über den See daherwandelnd, zu 
ihrer Rettung erfcheint. Während auch bier mit Jeju Eintritt 


9) Weber den Urfprung u. f. f. ©. 68 f. 

10) Rad) Jamblich. vita Pyth. 135, ed. Kiessling, wurden von 
. Pythagoras erzählt aveuwv Pralwv yalaluy Te zyUuews Tapeurixe \ 
xarsurnosıs xal zuuarıoy norauiwv te xaı Yalacolwv unevdınauot TrVOs 
svuooy Tav Eraigwv dıiaßaow. Wgl. Porphyr. v. P. 29. berfelben 

Ausgabe. 








Neuntes Kapitel. $. to. 169 


in das Schiff wunderbarer Weife der Sturm ſich legt, bilder 
doch ten eigentlichen Knoten der Erzählung dieß, daß in bers 
felben ver Leib Jeſu von einem Gefebe, welches ſonſt aus- 
nahmslos alle menfchlichen Xeiber in feinen Banden hält, von 
dem Gefeß der Schwere, fo fehr ausgenommen erfcheint, daß 
er im Waſſer nicht nur nicht unter, fondern felbft nicht ein- 
finft, vielmehr über die Wellen wie über feften Boben ſich 
emporhält. Da müßte man fich den Leib Jeſu in irgend einer 
Art als einen ätherifchen Echeinförper denken, wie die Dofeten 
thaten; eine Vorſtellung, welche, wie von den Kirchenvätern 
als eine irrcligiöfe, fo von urb als eine abenteuerliche zurück⸗ 
gewieſen werden muß. Zwar fagt DOlshaufen, an einer 
-Töheren Leiblichfeit, gefchwängert mit Kräften einer höheren 
Welt, dürfe eine folche Erſcheinung nicht befremden : 11) doch 
das find Worte, mit welchen fich Fein beftimmter Gedanke ver- 
bindet. Wenn man die ten Leib verflärende und vollendende 
Thätigkeit des Geiſtes Jeſu, ftatt fie als eine folche zu faffen, 
welche feinen Leib den pfychifchen Gefegen der Luft und Sinn⸗ 
lichfeit immer vollftändiger entnahm, vielmehr fo verfteht, daß 
derfelbe durch fie den phyſiſchen Geſetzen der Schwere enthoben 
worden fei: fo ift dieß ein Materialismus, von welchem, wie 
oben, ſchwer zu entfcheiden ift, ob man ihn mehr phantaftifcy 
nennen fol oder Findifh. Ein Jeſus, der im Waffer nicht 
einfänfe, wäre ein Gefpenft, und die Jünger in unferer Er- 
zählung hätten ihn nicht mit Unrecht dafür gehalten. Auch 
baran müflen wir uns erinnern, daß bei feiner Taufe im 
Jordan Jeſus dieſe Eigenfchaft nicht zeigte, fondern ordentlich 
wie ein anderer Menfch untertauchte. Hatte er nun auch 
damals fchon die Fähigkeit, fich über der Wafferfläche zu 
halten, und wollte fie nur nicht gebrauchen? und war ed alfo 
ein Aet feines Willens, fich ſchwer oder leicht zu machen? 
oder aber, wie Olshaufen vielleicht fagen würde, war er 


11) A. a. O. 8. 491. 


170  Bmweiter Abfchnitt. 


zur Zeit feiner Taufe im Proceß der Läuteruug feines Körpers 
noch nicht ſo weit gekommen, daß ihn das Waſſer frei ge- 
tragen hätte, fondern fo weit brachte er es erft fpäter? — 
Tragen, welche Olshauſen mit Recht abfürd nennt,- fofern 
fie einen Bi in den Abgrund von Ungereimtheiten eröffnen, 
in welche man fich bei der fupranaturaliftifchen und insbefon- 
dere bei feiner Deutung dieſer Erzählung verwidelt. 

Sie zu vermeiden, hat Die natürliche Erflärung mancherlei 
Wendungen genommen. Am Fühnften hat Baulus geradezu 
behauptet, e8 ftehe gar nicht im Terte, daß Jeſus auf dem 
Meere gegangen; das Wunder in dieſer Stelle fei lediglich ein 
philologifches , indem das rregıerew Ent vg Ialavorg nur, 
wie 2, Mof. 14, 2. dad sparomedevew Emi ng Ialaoang . 
ein Lagern, fo ein Wandeln über dem Meere, d. h. am erha- 
benen Ufer deffelben, bebeute. 1%) Der Bedeutung der einzelnen 
Worte nach ift diefe Erflärung möglich: ihre wirkliche Anwend⸗ 
barkeit aber muß fich erft aus dem Zufammenhang. ergeben. 
Diefer nun läßt die Jünger 25 — 30 Stadien weit gefahren fein 
(Joh.), oder mitten im See ſich befinden (Matth. u. Mark); 
und nun heißt e8, Jeſus fei auf fie zus, und zwar fo nahe, 
daß er mit ihnen fprechen fonnte, an das Echiff herangefommen, 
regierow Erd ig Ialavorg — : wie konnte er dieß, wenn 
er am Ufer blieb? Dieſer Inſtanz auszumeichen, vermuthet. 
Paulus, die Jünger feien in der ftürmifchen Nacht wohl 
nur am Ufer hingefahren; was dem & ueop ing Jaluoarg, 
wenn es auch allerdings nicht mathematifch genau, fondern 
nach populärer Reveweife zu nehmen ift, zu entfchieden wider: 
fpricht, um in weitere Rüdficht kommen zu können. Todtlich 
aber verlegt fich diefe Auffaffungsweife an der Stelle, wo Matthäus 
auch von Petrus fagt, daß er waraßes ano T& lol Tregıe- 
nrnnoty Erst vo Vdare (B. 29.); was, da unmittelbar darauf 
von zererowrlieoda die Rede ift, doch wohl Fein Wandeln 





— — 


22) Paulus, Memorabilien, 6. Stuͤck, No. V.; exeg. Handb. 2, ©. 238 ff. 








Neuntes Kapitel. $. 101. 171 


am Ufer fein fann: und wenn diefes nicht, dann auch nicht 
das wefentlich ebenfo bezeichnete Wandeln Jefu. 9) 

Aber, wenn Petrus bei feinem reoınareiv eni ta vdare 
zu finfen anfing: könnte da nicht bei ihm ſowohl als bei 
Jeſus an ein Schwimmen auf dem See oder an ein Waten 
durch feine Untiefen zu denken fein? Beide Anfichten find 
wirflich aufgeftellt worden. 7) Allein das Waten müßte durch 
mwepınereiv dc Thg Ialaoors ausgebrüdt, um das Echwimmen 
zu bezeichnen aber doch irgend einmal in den parallelen Stellen 
der uneigentliche Ausdruck mit dem eigentlichen vertaufcht fein; 
abgefehen davon, daß 25 — 30 Etadien im Sturme zu fehrwimmen, 
oder bis gegen die Mitte des gewiß nicht fo weit hinein feichten 
Eees zu waten, beides gleich unmöglich fein mußte, ferner 
ein Echwimmender nicht leicht für ein Gefpenft gehalten werben 
fonnte, und endlich die Bitte des Petrus um befondere Erlaubniß, 
88 Yefu nachzuthun, und daß er wegen Mangeld an Glauben 
es nicht vermochte, auf etwas Lebernatürliches hinweist. 18) 

Das Räfonnement, worauf auch hier die natürliche Aus- 
fegungsweife beruht, Hat bei diefer Gelegenheit Paulus in 
einer Weife ausgefprochen, an welcher der zum Grunde liegende 
Irrthum befonders glüdlich in die Augen fällt. Die Frage, 
fagt er, bleibe in folchen Fällen immer die, ob die Möglichfeit 
eined nicht ganz genauen Ausbruds von Geiten der Schrift⸗ 
fteller,, oder eine Abweichung vom Naturlauf das Wahrfchein- 
lichere fei? Man fieht, wie falfch das Dilemma geftellt if; 
da e8 vielmehr nur. heißen follte, ob es wahrfcheinlicher fet, 
daß der Verfaffer fi) ungenau (vielmehr widerfinnig) ausge: 
drüdt, oder daß er eine. Abweichung vom Naturlauf habe er- 
zählen wollen; denn nur von dem, was er geben will, ift 


15) Gegen bie hoͤchſt gewaltſame Auskunft, welche hier Paulus getroffen, 
f. Storr, Opuse. acad. 3, p. 288. 

, 1) Iene von Bolten, Bericht ded Matthäus z. d. et. dieſe in Henke's 
neuem Magazin, 6, 2, S. 327 ff. 

15) Vgl. Paulus und Fritzſche, z. d. St. 


172 | Zweiter Abfchnitt. 


zunächft die Rede: was wirflich zum Grunde gelegen, das ift, 
felbft nach dem. immerwährenden Paulus ’fchen Reven von 
Unñterſcheidung des Urtheils vom Factum, eine ganz andere 
Frage. Daraus, daß unferer Einficht zufolge eine Abweichung 
vom Raturlaufe nicht vorgekommen fein kann, folgt keineswegs, 
daß ein Erzähler aus der chriftlichen Urzeit eine folche nicht 
annehmen und berichten konnte: !% um alfo das Wunderbare 
aus dem Wege zu räumen, dürfen wir es nicht aus dem 
Bericht hinaus erflären, fondern das müſſen wir verfuchen, 
ob nicht der Bericht felbft ganz oder zum Theil aus dem Kreife 
des Gefchichtlichen auszufchließen iſt. Und in dieſer Hinficht 
bat nun zusörderft jede unferer drei Relationen eigenthümliche 
Züge, die in hiftorifcher Hinficht verdächtig find. 

Am auffallendften fticht ein folcher Zug bei Marfus hervor, 
wenn er ®. 48. von Jeſu ſagt, er ſei auf dem Meer gegen 
die Jünger vabergefommen, xal 3j9ele rapsldsty airds, nur 
ihr angftvolles Rufen habe ihn vermocht, von ihnen Notiz zu 
nehmen. Mit Recht deutet Fritzſche dieſe Stelle fo, daß 
Marfus dadurd anzeigen wolle, Jeſus habe im Sinne gehabt, 
durch göttliche Kraft unterftüßt, "über den ganzen Eee, wie 
über feften Boden, hinüberzugehen. Aber mit eben fo vielem 
Rechte fragt Paulus: Fätte etwas zweckloſer, abenteuerlicher 
fein fönnen, als ein fo feltfames Wunder zu thun, ohne daß 
es gefehen werden folte? Nur daß man deßwegen nicht mit 
diefem Ausleger den Worten des Markus den natürlichen Sinn 
geben darf, als hätte Jefus die in der Nähe des Ufers Schiffenden 
zu Lande vorübergehen wollen, zumal die wunderhafte Deutung 
der Stelle dem Geifte unferes Echriftftellers vollfommen ange: 
meſſen iſt. Nicht zufrieden mit der Darftellung feines Gewüähre- 
mannd, daß Jefus mit befonderer Rückſicht auf die Jünger 
bießmal einen fo außerordentlichen Weg gemacht habe, ‘gibt 
er durch jenen Zufaß der Sache die Wendung , als wäre Zefu ein 
ſolches Gehen auf dem Waſſer fo natürlich und gewöhnlich geweſen, 


160) ©. die treffliche Stelle bei Fritzſche, Comm, in Matt. p. 505. 











Neuntes Kapitel. $. 101. 173 


daß er auch ohne Rüdjicht auf die Jünger, wo ihm ein Wafler 
im Wege lag, feine Straße über baffelbe fo unbedenklich, wie 
über feftes Land, nahm. Daß nun ein folches Gehen bei 
Sefu habituell gewefen, dieß würde am entfchiebenften eine 
Dlshaufen’fche Leibesverflärung, mithin das Undenkbare, 
vorausfeßen; wodurch fich dieſer Zug als einer der ftärfften 
von jenen zu erfennen gibt, durch welche daß zweite Evangelium 
fih hin und wieder der apofryphifchen Uebertreibung nähert. 7) 

Auf andere Weife findet fi) bei Matthäus das Wunder: 
bare des Vorgangs, nicht ſowohl gefteigert, als vervielfältigt, 
indem .er außer Jeſu auch den Petrus einen, wiewohl nicht 
‚ganz gut abgelaufenen, Verſuch im Gehen auf dem Meere 
machen läßt. Diefen Zug macht außer dem Stillfchweigen ver - 
beiden Eorreferenten auch feine eigene Natur verbädhtig. Auf 
das Wort Jeſu hin und dur feinen anfänglichen Glauben 
vermag Petrus wirflich eine Zeit lang auf dem Wafler zu 
gehen, und erft als Furcht und Kleingläubigfeit ihn ergreift, 
fängt er unterzufinfen an. Was follen wir nun hievon denfen? 
Vermochte Jeſus mittelft eines verflärten Leibes auf dem Waffer 
zu gehen: wie fonnte er dem Petrus, der eines folchen Körpers 
ſich nicht erfreute, zufprechen, ein Gleiches zu thun? oder wenn 
er durch ein bloßes Wort den Leib des Petrus vom Geſetz ver 
Schwere dispenfiren fonnte, ift er dann noch ein Menſch? und 
wenn ein Gott, wird dieſer auf den Einfall eines Menfchen 
hin fo fpielend Naturgefege cefiiren laffen? oder endlich, foll der 
Glaube die Kraft haben, augenblidlich den Körper des Gläubigen 
leichter zu machen? Der Glaube hat freilich eine ſolche Kraft, 
nämlich in der faum erwähnten bildlichen Rede Jeſu, nach welcher 
der Gläubige Berge und Bäume in’s Meer zu verfegen — und 
warum nicht auch felbft auf dem Meere zu wandeln ? — im Stande 


17) Des Markus Neigung zum Uebertreiben zeigt fi aud in der Schluß: 
formel, V. 51, (vgl. 7, 37): xda Alay Ex mepsoh Ev Eavrois Eisayro 
xor Eabualor, worin man doch nicht mit Paulus (2, ©. 266.) eine 
Mißbilligung des unverhältnigmäßigen Erftaunens wird finden wollen. 


174 “Zweiter Abfchnitt. 


At. Und daß nun, fobald der Gilaube weiche, auch das Gelingen 
aufhöre, dieß konnte in feinem der zwei erfteren Bilder fo gefchidt 
dargeftellt werden, wie in dem lebten durch die Wendung : fo 
lange einer Glauben habe, vermöge er ungefährdet auf dem 
wogenden Meere einherzufchreiten; fobald er aber Zweifeln Raum 
gebe, finfe er unter, wenn nicht. Chriftus helfend ihm die Hand 
reiche. Das alfo werden die Grundgedanken der von Matthaus 
eingefehobenen Erzählung fein, daß Petrus auf die Feftigfeit 
feines Glaubens zu viel vertraut habe, Durch Das plögliche Schwach⸗ 
werden deflelben in große Gefahr gekommen, aber durch Jeſus 
“ gerettet worden fei; ein Gedanke, welcher ſich Luc. 223, 31 f. 
wirklich ausgeſprochen findet, wenn Jeſus zu Simon ſagt: 
0 Garwöüg ESya00rT0 Unäs 18 oniũoos WS Tv ol &yW de 
&der.Irv rıepi 08, va ga) Enleirin 7 niisıs 08. Dieß fagt Jefus. 
dem Petrus mit Bezug auf feine bevorftehende Verläugnung : diefe 
war der Fall, wo fein Glaube, kraft deſſen er fich fo eben noch 
erboten hatte, mit Jeſu xal sis pulaıp xai eig Iavaroy rropev- 
eodaı, wanfend wurde, wenn nicht der Derr durch feine Fürs 
bitte ihm neue Stärke verfchafft hätte. Nehmen wir dazu Die 
ſchon erwähnte Reigung der erften chriftlichen Zeit, die ven 
Ehriften anfechtende Welt unter dem Bilde eines wilden Meeres 
darzuftellen : fo werben wir nicht umhin fönnen, mit einem der 
neueften Kritifer in dem fich muthig zum Gehen auf dem Meer 
anſchickenden, bald jedoch Fleinmüthig unterfinfenden , aber von. 
Jeſu emporgehaltenen Petrus eine in der Sage gebildete allegorifch- 
mythifche Darftellung jener Glaubensprobe zu finden, welche der 
fo ftark fi) Dünfende Jünger fo ſchwach beftanden, und nur durch. 
‚höheren Beiftand glüdlich überftanden hat. '°) 

Doch auch dem Berichte Des vierten Evangeliums fehlt es 
nicht an einigen eigenthümlichen Zügen, die einen unhiftori- 
fehen Charakter verrathen. Bon jeher hat e8 den Harmoniften 


— —— — — — — 


18) Schneckenburger, über den Urſprung u. ſ. f. ©. 68 f.; vergl. 
Weiße, die evang. Geſchichte, 1, ©. 521. 





Reuntes Kapitel. $. 101. 175 


Kreuz gemacht, daß nach Matthäus und Markus das Schiff 
erft ungefähr in der Mitte des See's fid befand, als Jeſus 
demfelben begegnete: nach Johannes aber bald vollends das 
jenfeitige Ufer erreicht gehabt haben fol; daß nach jenen Je⸗ 
ſus wirklich noch in das Schiff flieg, und darauf der Sturm 
fich Iegte: nach Johannes dagegen die Jünger ihn zwar in 
dad Schiff nehmen wollten, die wirflihe Aufnahme aber durch 
das fogleih erfolgte Anlanden überflüffig gemacht wurde, 
Zwar fand man auch hier Ausgleichungen in Menge: das zu 
Anßeiv gefegte 77IeAov follte bald abundiren, bald, wie wenn 
ed EIEAovres EAaßov hieße, die freudige Aufnahme bezeichnen, 
bald nur den erften Eindrud befchreiben, welchen das Erfen- 
nen Sefu auf die Jünger gemacht habe, wobei die fpäter wirf: 
lich erfolgte Aufnahme in das Schiff verfchwiegen fei. 1) Doc) 
zu einer folchen Deutung liegt der einzige Anlaß in der unbe: 
fugten Bergleichung der Synoptiker: in der Erzählung des 
Johannes für fich liegt nicht nur Fein Grund dafür, jondern ein 
entſchie dener dagegen. Denn der ‚hinzugefügte Sap: views ro 
8A0l0v EyEvero EN TNS rs eis 79 vanıyov, wenn er auch nicht 
durch. de, fondern durch xai angefnüpft ift, kann doch nur ad- 
verfatio in dem Sinn genommen werben, daß e8 zur wirfli- 
chen Aufnahme Jeſu in das Schiff, unerachtet der Bereitwillig- 
feit der. Jünger,. doch nicht gekommen fei, weil fie fich bereits 
am Ufer befunden haben. In Betracht dieſer Differenz hat 
Chryſoſtomus zwei verfehiedene Gänge Jeſu auf dem Meer 
angenommen, und wenn er fagt, bei dem zweiten Sale, den 
Sohannes erzähle, ſei Jeſus nicht in das Schiff gefttegen, va To 
Jarua uelLov Epyaonrer: 2%) ſo werben wir diefe Abficht auf 
den Evangeliften übertragend fagen, wenn Markus das Wun- 
ber dadurch vergrößert habe, daß er Jeſu Die Abficht unterlegte, 
an den Jüngern vorbei über den ganzen See hinüberzumandeln : 

fo gehe Johannes noch weiter, indem er ihn diefe Abficht wirf: 





19) ©. bei Luͤcke und Tholud. 


20) Homil. in Joann. 43, 


176 Aweiter Abſchnitt. 


lich ausfuͤhren, und ohne Aufnahme in das Eciß bis an das 
jenfeitige Ufer gelangen laſſe.?) — Doch nicht zur zu ver: 
größern, fonvdern auch fefter zu begründen und zu beurfunden 
hat der vierte Evangelift das vorliegende Wunder gefucht. Nach 
den Synoptifern find die einzigen Zeugen deſſelben die Jünger, 
welche Zefum auf dem Meere vaherfchreiten fahen: Johannes 
fügt zu dieſen wenigen unmittelbaren Gewährsmännern eine 
Mafle von mittelbaren hinzu, nämlich das Volk, das bei 
der Speifung verfammelt geiwefen war. Dieſes nämlich, wie es 
am andern Morgen Jefum nicht mehr an Ort und Etelle 
findet, berechnet nady ihm: 1) zu Schiff koͤnne Jeſus nicht über 
den See gekommen fein; denn a) das Fahrzeug der Jünger 
habe er nicht mitbeftiegen (V. 22.), b) ein anderes Fahrzeug 
fei nicht da geweſen (ebendaf.); daß er aber 2) auch nicht zu 
Land hinübergefommen fei, ift darin enthalten, daß das Volk, 
als es fofort über den See fährt, ihn bereit am jenfeitigen 
Ufer findet (B. 25.), wohin er zu Lande in der kurzen Zwi⸗ 
fihenzeit jehmwerlich gelangen konnte. So bleibt in der Darftel- 
lung des vierten Evangeliums, indem alle natürlichen Wege 
des Hinüberfommens Jeju abgefehnitten werden, nur ein über- 
natürlicher übrig, und dieſe Folgerung ift von der Menge in 
der verwunderten Frage wirklich gezogen, welche fie an Jeſum, 
als fie ihn am jenfeitigen Ufer findet, macht: wore wde yeyo- 
vos; Da diefe ganze Controle des wunderbaren Uebergangs 
Jeſu an der fehnellen Leberfahrt ver Menge hängt: fo beeilt fich 
der Evangelift, zum Behufe von diefer &Ale ıAnıapıa herbeizu- 
fchaffen (B. 23.). Nun ift die überfahrende Menge (3. 22. 
26 fi.) als diejenige bezeichnet, welche Jeſus wunderbar gefpeist 
hatte, und dieſe belief fich (nach V. 10.) auf 5000 Menfchen. 





21) In dem Einwande be Wette’ 8, zu ber Annahme einer Vergrößerung - 
des Wunders bei Johannes ftimme der Zufag nicht, daß fie fogleich am 
Lande gewefen (ereg. Handb., I, 3, &. 79.), kann ich nur einen Miß⸗ 
verftand erkennen; die Behauptung aber, bei Johannes fei die Art, wie 
Sefus fi über den See hin begibt, nit als ein Wunder bargeftelit 
(8. 78.), bleibt mir völlig unverſtaͤndlich. 








Reuntes Kapitel. $. 101. 177 


Wenn von diefen auch nur "s, ja nur "Yo binüberfuhr, fo 
beburfte e8 hiezu, nach der richtigen Bemerfung der Brobabilien, 
einer ganzen Flotte von Schiffen, namentlich wenn man an 
Fiſchernachen denkt; nimmt man aber Frachtfchiffe an, fo werden 
diefe nicht gerabe alle die Richtung nach Kapernaum gehabt, 
oder dem Begehren des Volks zulieb ihre urfprüngliche Rich: 
tung abgeändert haben. Es fcheint alfo diefe ganze Volfsiiber- 
fahrt nur gemacht zu fein??), theils um das Mandeln Jeſu 
- auf dem Meer durch eine Controle zu beftätigen, theils, wie wir 
fpäter noch jehen werden, um Jeſum, welcher der Ueberlieferung 
zufolge unmittelbar nach der Epeifung an das andere Ufer des 
Sees ſich begeben hatte, noch mit dem Volk über die Speifung 
reden laſſen zu fönnen. 

Nah Hinwegnahme diefer, den einzelnen Erzählungen 
eigenthümlichen Auswüchfe des Wunverhaften bleibt immer noch 
der Stamm bed Wunders, daß nämlich Iefus eine bedeutende 
Strede weit auf dem Meer gewandelt habe, mit aller oben 
auseinandergefegten Inwahrfcheinlichkeit eines folchen Ereig⸗ 
niffes zurüd. Doch hat uns die Auflöfung jener Nebenzüge, 
indem wir die Anläffe ihrer unbiftorifchen Entftehung entdedten, 
die Auffindung folcher Anläfie auch für die Haupterzählung ers 
feichtert, und damit die Auflöfung auch diefer felbft möglich ges 
macht. Daß die Gewalt Gottes und des mit ihm einigen menſch⸗ 
lichen Geiftes über die Natur von den Hebräern und erften Chris 
ften gerne unter dem Bilde einer Uebermacht über die toben 
ben Meereswellen vorgeftellt wurde, haben wir aus dem vorigen 
Beifpiel gefehen. In der Erzählung des Exodus ſtellt fich diefe 
Uebermacht fo dar, daß das Meer durch einen Wink aus feiner 
Stelle verjagt, und fo dem Volke Gottes ein trodener Weg 
durch feinen Grund geöffnet wurde; .in der zuvor betrachteten 
R.T.lihen Erzählung fo, daß das Meer an feiner Stelle blieb, 
und nur fo weit zur Ruhe gewiefen wurde, daß Jeſus und 
feine Zünger zu Schiffe gefahrlos über daſſelbe hinübergelangen 


2) Bretfhneider, Probabil. ©. 81. 
1. Band. 12 


178 Ä Zweiter Abſchnitt. 


— 


konnten: in ber jegt vorliegenden Anekdote wird aus ber zweiten der 


Zug beibehalten, daß das Meer an feiner Stelle bleibt, zugleich 
jedoch aus der erften der herbeigeholt, daß zu Fuß, nicht zu 
Schiffe, hinübergewandelt wird, doch, mit Rüdficht auf den an- 


dern Zug, nicht durch feinen Grund, fondern über feine Ober: 


flähe. Daß ſich auf ſolche Weife die Anſchauung der Leber: 
macht des Wunderthäters über Waflerwogen fortbildete, dazu 
laͤßt fich theils im A. T., theils in den Meinungen des Zeital« 
ters Jeſu, noch nähere Veranlafiung entdeden. Unter den Wun⸗ 
bern bes Elifa wird neben dem, daß er mittelft feines Mantels 
den Jordan geiheilt, und fo trodenen Fußes habe hindurchgehen 
. können (2. Kön. 2, 14.), audy das erzählt, daß er ein in’s Waf- 
ſer gefallenes Eifen ſchwimmend gemacht Habe (2. Kön. 6, 6,): 
eine Uebermacht über das Geſetz der Schwere,-welche der Wun⸗ 
derthäter wohl auch am eigenen Leibe geltend machen, und fo, 
wie e8 Hiob 9, 8, LXX. von. Jehova heißt, ald regınarwv 
es E17 Edapas Enid Jahagang fich darftellen Fonnte. Bon Wuns 
derthätern, die auf dem Wafler gehen konnten, wußte man fich 


um die Zeit Jeſu Vieles zu erzählen. Abgefehen von eigenthüm⸗ 


lich griechifchen Vorftellungen, 2°) fo. fehrieb die orientalifch-grie- 
chiſche Sage dem Hyperboreer Abaris einen Pfeil zu, auf wek 
ehem er über Flüffe, Meere und Abgründe ſchwebend ſetzte; ?*) der 
gemeine Bolfsglaube lieh manchen Thaumaturgen die Fähigkeit, 
auf dem Wafler zu gehen: 29) und es erfcheint fo die Möglich- 
keit, daß fich aus allen diefen Elementen und Beranlaffungen 
eine gleiche Sage auch über Jeſum bilden Tonnte, ungleich 
größer, ald bie eines wirklichen Vorgangs diefer Art, — womit 
unfere Rechnung gefchloffen .ift. 

Mit den bisher betrachteten Seeanekdoten hat die Joh. 21. 
erzählte yav&pwors Zefu Ertl vg Ialasarg vis Tıßeouadog fo 
auffallende Aehnlichfeit, daß wir, obwohl das vierte Evangelium 


3) ©. die Stellen bei Wetftein, p. 417 f. 
2%) Jamblich. vita Pythagorae 136; vgl. Porphyr. 29. 
25) Lucian. Fhilopseudes, 13, 


Neuntes Kapitel. S. 101. 179 | 


den Borfal in die Tage der Auferftehung Sefu verlegt, doch 
nicht umhin können, wie wir fie ſchon früher ihrem einen Theile 
nach mit der Erzählung vom Fifchzug Petri in Verbindung brach⸗ 
ten, fo nun ihren andern Beftandtheil mit dem Wandeln Jeſu 
und Petri auf dem Meer in Parallele zu fegen. Beidemale wird 
in dem noch naͤchtlichen Dunkel des Frühmorgens Jeſus von den 
im Schiffe befindlichen Jüngern erblidt; nur daß er bei dem 
fpäteren Falle nicht wie in dem früheren auf dem Meere geht, 
fondern am Ufer fteht, und die Jünger nicht dur Sturm, ſon⸗ 
dern nur durch die Sruchtlofigkeit ihrer Fifcherarbeit in Verle⸗ 
genheit geſetzt ſind. Beidemale fuͤrchten ſie ihn: dort, weil ſie 
ihn für ein Geſpenſt halten, hier wagt es keiner, zu fragen, wer 
er ſei, eidores, örı 6 Kugiög &sw. Im Beſondern aber findet 
die dem erften Evangelium eigenthümliche Erene mit Petrus in 
der genannten Stelle des vierten ihr Seitenftüd. Wie Petrus 
dort, ald der über den See einherfchreitende Jeſus ſich zu ers 
fennen gibt, ihn um die Erlaubniß bittet, zu ihm über das 
Waſſer hingehen zu dürfen: fo wirft er ſich hier, fobald ver am 
Ufer ftehende Jeſus erfannt ift, in das Waſſer, um auf dem 
fürzeften Wege ſchwimmend zu ihm zu gelangen. Da auf viefe 
Weiſe, was in jener früheren Erzählung ein wunderbares Wans 
dein auf dem Meere war, in ber vorliegenden in Bezug auf 
Jeſum ein mwunderlofes Stehen am Ufer, in Bezug auf den 
Petrus aber ein natürliches Schwimmen ift, fomit die Tegtere 
Geſchichte faft wie eine rationaliftifche Paraphraſe der erfteren 
lautet: fo hat e8 nicht an Solchen gefehlt, welche wenigftene 
von der petrinifchen Anekdote im erften Evangelium behaupteten, 
daß fie eine traditionelle Umbildung des Zugs Joh. 21, 7. in's 
Wunderhafte fei. 2%) Diefe Vermuthung auch auf das Meer: 
wandeln Jeſu auszubehnen, wird die jegige Kritif dadurch abge- 
halten, daß diefen Zug das als apoftolifch voratisgefegte vierte 
Evangelium jelbft in der früheren Erzählung (6, 16 ff.) hat; 
wogegen wir auf unferem Standpunft es gar wohl möglich 
finden werden, daß bie betreffende Gefchichte entweder dem 


2) Schnedenburger, über den Urfpr. ©. 68. 129 


⸗ 


180 Zweiter Abſchnitt. 


Verfaſſer des Evangeliums in der einen, dem Vafaſſer des Anhangs 
aber in der andern Geſtalt, oder daß fie demſelben vierten Evan⸗ 
geliften in zwiefacher Borm zu Ohren gefommen, und von ihm 
an verfehiedenen Orten feiner Erzählung einverleibt worden fei. 
Indeſſen, wenn beide Gefchichten verglithen werden follen, fo 
dürfen wir nicht ſchon zum Voraus die eine, Joh. 21., als die 
urfprüngliche, die andere, Matth. 14. parall., als die abgeleitete 
.fegen ; fondern muͤſſen erft fragen, welche von beiden fich eher 
zum Einen oder Andern eigne? Allerdings nun, wenn wir dem 
Kanon folgen, daß die wunderhaftere die fpätere fei, fo erfcheint 
die von Joh. 21. in Bezug auf die Art, wie Jefus in die Nähe 
der Jünger, und Petrus zu ihm gelangt, als die urfprüngliche. 
Aber aufs Engfte hängt mit jenem Kanon der andere zufammen, 
daß die einfachere Erzählung die frühere, die zufammengefegtere 
die fpätere ift, wie das Conglomerat fpäter als die einfache 
Steinbildung: und nach dieſem Kanon wäre umgefehrt die Er- 
zählung Joh. 21. die abgeleitete, da in ihr Die bezeichneten 
Züge noch mit dem wunderbaren Sifchzuge verflochten find, 
"während fie in der früheren Erzählung für. fich ein Ganzes aus- 
machen. Allerdings zwar kann auch ein größeres Ganze in 
kleinere Stüde zerfplittern: doch folchen Bruchftüden ſehen die 
getrennten Erzählungen vom Fiſchzug und vom Wandeln auf 
dem Meere keineswegs ähnlich, welche vielmehr jede als wohl: 
geſchloſſenes Ganze fich verhalten. Aus diefer Verflechtung mit 
dem Wunder des Fifchzugs, wozu noch fommt, daß der ganze 
"Vorgang um den auferftandenen Jeſus, der an fich ſchon ein 
Wunder ift, fich dreht, wird nun auch erflärlich, wie, gegen bie 
fonftige Regel, die oft bezeichneten Züge in der fpäteren Dar- 
ftelung ihr Wunderhaftes verlieren konnten, indem fie nämlich 
durdy die Verbindung mit anderweitigem Wunderbaren zu bloßen 
Nebenzügen, zur natürlichen Staffage, heruntergefegt wurden. 
Iſt aber auf diefe Weife die Erzählung Joh. 21. eine durchaus 
abgeleitete, fo ift fie in, Bezug auf ihren gefrhichtlichen Werth 
bereit8 mit denjenigen Enzhlungen beurtheilt, welche ihre Grund⸗ 
lage bilden. 











Reuntes Kapitel. $. 101. 181 


Sehen wir, ehe wir weiter gehen, auf bie bisher durch: 
laufene Reihe von Seeanekdoten zurüd: fo finden wir, daß 
zwar bie eine Außerfte der andern durchaus unähnlich iſt, in- 
dem in der einen bloß von Fifchen, in der andern bloß vom 
Sturm gehandelt wird; doch aber, je nachdem man fie auf: 
ftelt, hängt jede mit der folgenden durch einen gemeinfamen 
Zug zufammen. Die Erzählung von der Berufung der Men- 
ſchenfiſcher (Matth. 4, 18 ff. parall.) eröffnet die Reihe; mit 
diefer hat die vom Fifchzug des Petrus (Luc. 5, 1 ff.) die 
Gnome von den Menfchenfifchern gemein, aber die Tchatfache 
des Fiſchzugs iſt ihr eigenthümlich; diefe Tegtere Fehrt Joh. 21. 
ivieder, wo noch das morgenliche Stehen Jeſu am Ufer und 
das Hinüberfhwimmen des Petrus dazufommt; dieß Stehen 
und Schwimmen erfcheint Matth. 14, 22 ff. parall. als Ge; 
hen auf dem Meer, und zugleich ift ein Sturm und deſſen 
Aufhören mit dem Eintritt Jefu in das Schiff hinzugefügt; 
Matth. 8, 23 ff. parall. endlich fteht die Stilung des Sturms 
durch Sefum für fih allein. 

Entfernter von den bisher betrachteten Erzählungen fteht 
die Geſchichte Matth. 17, 24 ff. Zwar findet ſich auch hier, 
wie bei einigen von jenen, eine Anweifung Jeſu an den Pe— 
trus zum Fifchfang, welcher, wie zwar nicht ausbrüdfich gefagt 
ift, doch vorausgefegt werden muß, der Erfolg entfpricht: 
aber theils fol nur Ein Fifch, und zwar mit dem Angel, 
gefangen werden; theils ift die Hauptfache die, daß in feinem 
Maule ein Geldſtück gefunden werden fol, um damit die Tem- 
pelfteuer für Jeſus und Petrus, welche von dem legteren ge⸗ 
fordert war, zu bezahlen. Diefe Erzählung, wie fie zunächft 
fich gibt, hat eigenthümliche Schwierigfeiten, welhe Paulus 
gut auseinanderfegt, und auch Ols hauſen nicht in Abrede 
zieht. Wenn nämlih Frisfche mit Recht bemerkt, zwei wun⸗ 
derbare Etüde feien in dieſer Gefchichte: das eine, daß der 
Fiſch einen Stater im Maule gehabt, das andere, daß Jeſus 
dieß vorhergewußt haben folle; fo erfcheint theils jenes und 
damit auch dieſes als adenteuerlich, theils das ganze Wunder 


L 


182 | Zweiter Abſquin · 


als unnöthig. Zwar, daß Fifche Metalle und andere Koftbars 
feiten im Leibe gehabt haben, wird auch fonft erzählt, ?) und 
ift nicht unglaublih: daß aber ein Fiſch ein Geldſtück im 
Maule haben und darin behalten follte, während er zugleich 
nad dem Angel ſchnappt, das fand au Dr. Schnappins 
ger ?®) unbegreiflih. Der Anlaß für Jeſum aber, ein foldyes 
Wunder zu thun, Eonnte weder Geldmangel fein: denn wenn 
auch damals gerade Fein Borrath in der gemeinfamen Kaffe 
war, fo befand ſich doch Jeſus in dem befreundeten Kapers 
naum, wo er auf natürlihem Wege zu dem nöthigen Gelde 
gelangen fonnte, man müßte denn mit Olshaufen das 
Entlehnen durch Zufammenwerfen mit dem Betteln gegen das 
von Jeſu zu beobachtende decorum divinum finden; noch 
fonnte Iefus nach fo vielen Proben feiner Wunderfraft au 
dieſes Wunder noch für nöthig erachten, um den Petrus im 
Glauben an feine Meflianität zu beftärfen. 

Deßwegen iſt ed nicht zu verwundern, wenn rationaliftiſche 
Ausleger geſucht haben, eines Wunders, das auch Ols ha u⸗ 
ſen das ſchwierigſte in der ganzen evangeliſchen Geſchichte 
nennt, um jeden Preis ſich zu entledigen: es kommt nur auf 
die Art an, wie fie dieß angegriffen haben. Der Nero der 
natürlichen Erklärung des Factums Tiegt darin, daß man in 
der Anweifung Jeſu das evozoss nicht vom unmittelbaren 
Finden eined Staters im Fifche, fondern von einem mittelbaren 
Erwerben dieſes Geldbetrags durch Verfauf des Erangelten 
verfteht. ?) Daß das angezeigte Wort auch diefe Bedeutung 
haben Fann, ift zuzugeben; nur muß, daß es dieſe und nicht 
feine gewöhnliche Bedeutung habe,, im einzelnen alle aus dem 
Zufammenhang erhellen. Wenn es alfo in unferem al hieße: 
nimm den erften beften Fifch, trage ihn auf den Markt, xomsl 
evgngeig sarzen, fo wäre jene Erklärung an der Stelle; da 


27) Die Beifpiele f. bei Wetftein z. d. St. 
=) Die h. Schrift des n. Bundes 1, ©. 314. 2te Aufl. 
2) Paulus, ereg. Handb., 2, 503 ff. Vgl. Hafe, &. J. ©. 118. 











Reuntes Kapitel. 5. 101. 183 


ſtatt deſſen dem zunyoeıs vielmehr ein dvoliag To sone avıa 
vorhergeht, da alfo nicht ein Ort zum Verkaufen, fondern nur 
ein Ort am Fiſch angegeben ift, bei deſſen Eröffnung der Stater 
erlangt werden follte, fo fann nur an ein unmittelbares Fin⸗ 
den des Geldſtücks in dieſem Theile des Fiſches gedacht wer; 
den.) Wozu wäre auch dad Deffnen des Fifchmaules aus⸗ 
drüdlich bemerkt, wenn nicht eben in demfelben das Begehrte 
gefunden werben follte? Paulus fieht darin nur die Ans 
weifung, den Fiſch ungefäumt vom Angel zu Löfen, um ihn 
lebendig zu erhalten und defto eher verfäuflich zu machen. Zu 
dem Befehl, das Maul des Fiſches zu öffnen, könnte allerdings, 
wenn fonft nichts dabei flünde, die Herausnahme des Angels 
als Zweck und Erfolg hinzugedacht werden: da aber zopyoeus 
sorge dabeiſteht, fo ift unverkennbar dieſes als nächfter Zwed 
des Maulöffnens bezeichnet. Das Gefühl, daß, fo lange von 
einem Aufthun des Maules am Fifch in der Stelle die Rede 
it, auch der Stater als in demfelben zu findender vorausges 
fegt werde, bewog die ratlonaliftifchen Erflärer, das soux wo 
möglich auf ein anderes Subject als den Fiſch zu beziehen: 
und da war nur der Fifcher, Petrus, übrig. Da nun aber 
Das sone durch das dabeiſtehende aurs an den Fijch gebunden 
fhien, fo hat Dr. Baulus, den Vorfchlag eines Freundes, 
flatt — aus, eupmweis — geradezu @Ievproeg zu lefen, 
mildernd ober überbietend, das ftehen gelafiene au von som 
getrennt, adverbialifch genommen, und überfebt: du darfft Dann 
nur deinen Mund aufthun, um ben Fifch feilzubieten, fo wirft 
bu auf der Stelle (avra) einen Stater für denfelben ausbezahlt 
befommen. Wie Fonnte aber, mußte man noch fragen, in dem 
fifchreichen Kapernaum ein einziger Fiſch fo theuer bezahlt 
werben ? weßwegen denn Baulus das zov aaßavın ugurov 
ix$ov 0g0v collectiv faßte: nimm allemal den Fifh, der dir 
zuerft aufftößt, und mache fo fort, bis du eines Staters werth 
erangelt haft. — 


9) Vgl. Storr, im Flatt'ſchen Magazin, 2, ©. 68 ff. 


184 | Zweiter Abſchnitt. 


Werden wir durch die Reihe von Gewaltthätigfeiten, welche 
zur natürlichen Erklärung dieſer Erzählung nöthig find, wieder 
zu derjenigen zurüdgewiefen, welche hier ein Wunder findet; 
und erfheint und doch nad dem früher Bemerften dieſes 
Wunder als abenteuerlicy und unnöthig, mithin als unglaub- 
lich: fo bleibt nichts übrig, als auch bier ein fagenhaftes 
Element vorauszufegen. Dieß hat man fo verfucht, daß man 
eine wirkliche aber natürliche Thatfache als zum Grunde liegend 
annahm: daß nämlich Jeſus einmal den Petrus angemwiefen 
habe, fo lange zu fifchen, bis die Tempelſteuer erangelt wäre; 
woraus dann die Sage entftanden fei, der Fiſch habe die 
Steuermünze im Maule gehabt.?) Beſſer denken wir ung 
wohl als Veranlaſſung diefer Anekdote das vielbenützte Thema 
von einem Fiſchfang des Petrus auf der einen, und die befann- 
ten Erzählungen von Koftbarfeiten, die im Leibe von Fifchen 
gefunden worden, auf der andern Seite. Betrus war, wie 
wir aus Matth. 4, Luc. 5, Joh. 21. wiffen, in der evange- 
liſchen Sage der Fifcher, welchem Jefus in verſchiedenen For- 
“men, zunächſt fombolifch, dann eigentlich, den reichen Yang bes 
fcheert hatte. Das Werthvolle des Fangs tritt nun hier als 
Geldmünze heraus, welche, wie dergleichen Dinge fonft im 
Bauche von Fiſchen, fo durch eine Steigerung des Wunders 
gleich im Maule des Fifches ‚gefunden werden follte. Daß es 
gerade der zur Tempelfteuer erforderliche Stater ift, koͤnnte 
durch eine wirkliche Aeußerung Jeſu über fein Verhaͤltniß zu 
diefer Abgabe, welche zufällig mit jener Anefoote in Verbindung 
fam, veranlaßt fein; oder könnte umgekehrt der in der Sage 
vom Fiſchfang zufällig ‚vorhandene Stater an bie Tempelab⸗ 
gabe, welche für zwei Perſonen eben fo viel betrug, und den 
darauf bezüglichen Ausfpruch Jeſu erinnert haben. 

In diefen mährchenhaften Ausläufer endigen die Sees 
anekdoten. 


— — — 


31) Kaiſer, bibl. Theol. 1, S. 200. Vgl. Haſe, a. a. O. 


— — 











Reuntes Kapitel. 6. 102. 185 


« 


$. 102. Ne. 


* | 


Die wunderbare Speiſung. j — ⸗ 


Wie in den zulegt betrachteten Geſchichten Jeſus beſtim⸗ 


mend und befänftigend auf die vernunftlofe und felbft auf vie 


lebloſe Natur einwirkte: fo wirft er in‘ denjenigen Erzählun- 
gen, zu deren Betrachtung wir jegt fortfehreiten, fogar ver 
mehrend. nicht allein auf Naturgegenftände, fondern felbft auf 
fünftlich verarbeitete Raturproducte. 

Daß Jeſus zubereitete, Nahrungsmittel auf wunderbare 
Weife vermehrt, mit wenigen Broten und Fifchen eine große 
Menfchenmenge gefpeist habe, erzählen uns mit feltener Ein- 
ftimmigfeit fämmtliche Evangeliften (Matth. 14, 13 ff. Marc. 
6, 30 ff. Luc. 9, 10 ff. Joh. 6, 1 ff.). Und glauben wir 
den beiden erften von ihnen, fo hat Jeſus dieß nicht bloß 
‚Einmal gethan; fondern Matth. 15, 32 ff. Marc. 8, 1 ff. 
wird eine zweite Speifung erzählt, bei der es im Wefentlichen 
ebenfo wie bei der erften zuging. Sie fällt der Zeit nad 


etwas fpäter; der Ort ift etwas anders bezeichnet, und bie - 


Dauer des Aufenthalts der Menge bei Jeſu abweichenn ans 
gegeben; auch ift, was mehr befagen will, das Größenvers 
hältniß zwifchen dem Speifevorrath und der Menfchenmenge 
ein verfchiedenes, indem das erftemal mit 5 Broten und 2 
Sifchen 5000, das zweitemal mit 7 Broten und wenigen $i- 
ſchen 4000 Mann gefättigt werden, und bort zwölf, bier 7 
Körbe mit DBroden übrig bleiben. Demungeachtet ift nicht 
nur bie Subftanz ber Geſchichte auf beiden Seiten ganz bie: 
felbe: Sättigung einer Volksmenge mit unverhältnißmäßig 
wenigen Nahrungsmitteln; fondern auch die Ausmalung der 
Scene ift in den Grundzügen ganz entſprechend: beivemale 
das Local eine einfame Gegend in der Nähe des galiläifchen 
See's; beidemale die Veranlaſſung des Wunders ein zu langes 
Verweilen des Volks bei Jeſu; beidemale bezeugt Jeſus Luft, 
Die Menge aus eigenen Mitteln zu fpeifen, was die Jünger 


186 Zweiter Abſchnitt. 


als eine unmögliche Sache betrachten; beidemale befteht der 
disponible Speiſevorrath m Broten und Fifchen; beivemale 
läßt Jeſus die Leute ſich lagern und theilt ihnen nach ge⸗ 
forochenem Dantgebet durch Vermittlung feiner Jünger aus; 
beidemale werben fie vollfommen fatt, und es kann noch eine 
unverhältnißmäßig große Menge übrig gebliebener Broden in: 
Körbe gefammelt werden; endlich einmal wie das andere febt 
Jeſus nach vollbrachter Speifung über den See. 

Bei diefer Wiederholung deſſelben Vorfalls macht naments 
lich die Frage Schwierigkeit, ob es wohl denkbar ſei, daß 
die Jünger, nachdem fie felbft mitangefehen hatten, wie Je⸗ 
fus mit wenigen Nahrungsmitteln eine große Menge zu fpeifen 
vermochte, dennoch bei einem zweiten ähnlichen Falle jenen 
erften ſpurlos vergeffen gehabt, und gefragt haben follten:: 
nodEv ulv Ev Eomidg ügros Toostoı, WsE Xopraoaı OxAo 
roostov; Wenn man fich für eine folche Vergeßlichkeit ver 
Sünger darauf beruft, daß fie auf ähnliche unbegreifliche 
MWeife die Erklärungen Jeſu über fein bevorftehendes Leiden 
und Sterben vergefien gehabt haben, als daſſelbe eintrat, !) 
fo if es ebenſo noch eine obſchwebende Frage, ob nad fo 
deutlichen .Vorausfagen Jeſu fein Tod den Jüngern fo uners 
wartet hätte fein fönnen. Denkt man fi) aber zwiſchen beide 
Speifungen eine längere Zeit und eine Anzahl ähnlicher Säle 
hinein, wo aber Jeſus nicht für gut gefunden habe, auf wun- 
derbare Weife zu helfen, 2) fo find dieß theils reine Erdichtungen, 


4) Olshauſen, 1, ©, 512. Die ebendaf. in der Anmerkung geltend 
gemachte Inſtanz, daß laut bed Agras ax Eiußouevr Matth. 16, 7. die 
Zünger auch nach der zweiten Speiſung noch fich nicht gemerkt hatten, 
wie man in der Nähe bes Menfchenfohnd Feine Speife für den Leib 
mitzunehmen braude, beweist deßwegen nichts, weil die Umftände hier 
ganz andere waren. Daß aus der wunderbaren Sättigung des zufällig 
in der Wüfte verfpäteten Volls die Jünger nicht den bequemen Schluß 
zogen, welchen der bibl. Somm. daraus zieht, kann ihnen nur zur Ehre 
gereichen. 

2) Derf. ebend. 


\ 


Neuntes Kapitel. $. 102. 187 


theils- bliebe auch fo unbegreiflich, wie die gar zu fprechenbe 
Aehnlichkeit der Umftände vor der zweiten Speifung mit 
denen vor der erften auch nicht Einen ber Jünger an biefe‘ 
follte erinnert haben. Mit Recht behauptet daher Paulus, 
hätte Jeſus ſchon einmal die Menge durch ein Wunder ge 
fpeist gehabt, fo würden bei'm zweitenmale die Jünger auf 
feine Erklärung, er möge das Bolf nicht nüchtern entlaflen, 
ihn getroft zur Wiederkolung des vorigen Wunders aufgefor⸗ 
dert haben. 

Jedenfalls daher, wenn Jeſus zu zwei verſchiedenen Malen 
eine Volksmenge mit unverhältnißmäßig " geringem Vorrathe 
gefättigt hat, müßte man mit einigen Kritifern annehmen, 
daß aus der Erzählung von der einen Begebenheit viele Züge 
in die von der andern übergegangen, und fo beide, urfprünglich 
ſich unähnlicher, in der mündlichen Leberlieferung immer mehr 
ausgeglichen worden feien, wobei alfo namentlich bie zwei⸗ 
felnde Frage der Jünger nur, das erfte, nicht aber auch das zwei- 
temal vorgefommen fein könnte.) Für eine folche Affimilation 
fann e8 zu fprechen frheinen, wenn man bemerft, wie ber vierte 
Evangelift, der namentlih in den Zahlangaben auf Seiten 
der erften Speifung. des Matthäus und Marfus tft, doch von 
deren zweiter Speifungsgefrhichte die Züge hat, daß eine An- 
rede Jeſu, nicht der Jünger, Die Scene eröffnet, und daß das 
Volk zu Jeſu auf einen Berg kommt. Allein wenn man hies 
bei die Grundzüge: Wüfte, Speifung des Volks, Auffammeln 
der Broden, auf beiden Seiten ftehen läßt, fo ift auch ohne 
jene Srage der Jünger immer noch unmahrfcheinliih genug, 
daß eine folche Scene’ fih auf fo ganz ähnliche Weife wieder— 
holt haben follte; läßt man hingegen auch jene allgemeinen 
Züge bei der einen Gefchichte fallen, fo ift nicht weiter einzus 
fehen, wie man die Treue der evangelifchen Erzählung in 
Bezug auf das Wie der zweiten Speiſung auf allen Punkten 


— — 





%) Gratz, Comm. z. Matth. 2, ©. 90. f.z Sieffert, über ben Urs 
fprung, ©. 97. 


188 | - Zweiter Abfchnitt. - 


in Anfpruch nehmen, und doch an der Angabe, daß eine 
folche vorgefallen, fefthalten Fann, zumal nur Matthäus und 
der ihm folgende Markus von derfelben wiflen. 

Daher haben neuere Kritifer, mit mehr ) oder weniger 9) 
Entfchiedenheit, die Anficht ausgefprochen, es fei hier ein und ' 
daffelbe Factum dur Mißverftand des erften Evangeliften, 
welchem ber. zweite folgte, verdoppelt worden. Bon der wunder: 
baren Speifung- feien verfehiedene Erzählungen im Umlauf ge- 
weſen, welche namentlich in den Zahlangaben von einander ab- 
wichen: und nun habe der Verfaſſer des erften Evangeliums, 
welchem jede Wundergefchichte weiter ein willfommener Fund, 
und der deßhalb zu Fritifcher Reduction zweier verfchieden lau⸗ 
tenden Erzählungen der Art wenig geeignet war, beide in feine 
Sammlung aufgenommen. Dann erklärt fi vollfommen, wie 
bei der zweiten Speifung die Jünger noch einmal fo ungläubig 
fich äußern können: weil nämlich auch die zweite Gefchichte da, 
wo der Verfafler des erften Evangeliums fie hernahm, die ein- 
zige und erfte gewefen war; und der. Evangelift verwifchte dieſen 
Zug nicht, weil er überhaupt die beiden Erzählungen ganz | 
wie er fie hörte oder las, feiner Schrift einverleibt —7— 
ſcheint, was ſich unter anderem auch in der Conſtanz zeigt, mit 
welcher er und der ihm nachſchreibende Markus nicht nur in der 
Darſtellung der Begebenheiten ſelbſt, ſondern auch in der ſpäte⸗ 
ren Erwähnung derſelben Matth. 16, 9 f. Mark. 8, 19 f., bei 
der erften Speifung die Körbe durch xopewor, bei der zweiten 
durch orzveldsg bezeichnen. 6) Freilich wird mit Recht behauptet, 
daß der Apoftel Matthäus unmöglich einerlei für zweierlei habe 
aufgreifen - und eine gar nicht vorgefallene neue Geſchichte 


S 


2) Thieß, keit. Gommentar, I, ©. 168 ff; Schulz, über bas Abend» 
mahl, ©. 311. Bergl. $risfche, in Matth. p. 523. 
5) Schleiermader, über den Lukas, ©. 145.5 Sieffert, a. a. O. 
©. 95 ffs Hafe, $. 97. Ganz unentfchieden ſchwankt Neander, 
. 8%. I. Ehr., S. 372 ff. Anm, ” 
s) Bol. Saunier, a. a. O. S. 105. 


Neuntes Kapitel. $. 102. 189 


erzählen können: ) aber bie Wirklichkeit einer doppelten Speifung 
folgt nur dann hieraus, wenn man den apoftolifchen Urfprung 
des erften Evangeliums fchon vorausfegt, der doch erft zu be⸗ 
weifen if. Wenn ferner Paulus einwirft, die Verdoppelung 
jener Gefchichte- wäre ohne allen Bortheil für Die Sache des 
Evangeliften gewefen, und Ols hauſen dieß näher dahin ent- 
wiffelt, daß die Sage die zweite Speifungsgefchichte nicht fo ein- 
fach und nüchtern, wie die erfte, gelafen haben würde: fo kann 
diefes begehrliche Neben, es fei etwas Feine Erdichtung, weil es 
als folche noch ausgeſchmückter fein müßte, eigentlich geradezu ab- 
gewiefen werben, weil es, jedes beftimmten Maßftabes entbeh- 
rend, unter allen Umftänden wiederfehren, und am Ende das 
Maͤhrchen felbft nicht mährchenhaft genug finden wird; insbefon- 
dere aber hier iſt es bewegen völlig leer, weil es die Erzäh- 
fung von der erſten Epeifung als eine hiftorifch genaue voraus- 
ſetzt: haben wir in dieſer fehon ein fagenhaftes Erzeugniß, fo 
braucht fich die Variation davon, die zweite Speifungsgefchichte, 
nicht noch durch befondere traditionelle Züge auszuzeichnen. Doch 
nicht bloß nicht in's Wunderbarere ift die Erzählung von der 
zweiten Speiſung gegenüber von der erſten ausgeſchmückt; fon- 
dern, indem fie, die Menge der Nahrungsmittel vermehrend, . 
die Zahl der Gefättigten vermindert, verringert fle das Wunder: 
und in diefem Antiflimar findet man die ficherfte Bürgfchaft 
für die Wirklichfeit der zweiten Speifung; indem, wer zu ber 
erften noch eine meitere hinzudichten wollte, diefelbe wohl auch 
überboten, und ftatt der 5000 Menfchen nicht 4000, fondern 
10,000 gefegt haben würde). Auch diefe Argumentation be- 
ruht auf der unbegründeten Vorausſetzung, daß gerade die erfte 
Speifung bie hiftorifche fei; wobei Olshaufen felbft den Ge- 
danfen ‚hat, daß einer wohl auch die zweite für die hiftorifche 
Grundlage, und die erfte für die fagenhafte Zuthat anfehen 
könnte, und dann verhielte ſich Die erdichtete zur wahren, wie 


7) Yautus, ereg. Handb., 2, ©. 315; Dlshaufen, a. a. O. 
8) Olshauſen, ©. 513, 


190 | Zweiter Abſchnitt. 


gefordert würde, ald Steigerung. Wenn er nun aber hiegegen 
bemerft, wie unwahrfcheinlich es fei, daß der unlautere Referent 
das ächte Factum als das geringere nachbringe, und das falfche 
voranftelle, vielmehr wolle ein folcher die Wahrheit überbieten, _ 
und ſtelle deßhalb immer das "Erdichtete als das Glaͤnzendere 
hinten an: fo zeigt er damit aufs Neue, daß er fich auf die 
mythifche Anficht von den biblifchen Erzählungen nicht einmal 
fo weit verfteht, :al8 zu ihrer Beurtheilung nöthig if. Denn 
von einem unlauteren Referenten, welcher abfichtlih die wahre 
Speifungsgefchichte hätte überbieten wollen, fpricht hier Nie- 
mand, und am wenigften erflärt irgend wer den Matthäus für 
einen folchen; ſondern, mit vollfommenfter Reblichfeit, ift die 
Meinung, hatte der eine von 5009, der andere von 4000 Ge⸗ 
fättigten gefchrieben, ebenfo reblich fehrieb ver erfte Evangelift 
Beides nach, und eben weil er völlig arg- und abfichtslos zu 
Werke ging, fam es ihm auch nicht darauf an, welche von bei- 
den Gefchichten voran= oder nachftehe, Die bedeutendere oder Die 
von minderem Belange; fondern er ließ fich hierin durch zufällige 
Umftände, wie daß er die eine mit Begebenheiten zufammenge- 
ftellt fand, die ihm die früheren, die andere mit folchen, die ihm 
die fpäteren fehienen, beftimmen. Ganz diefelbe Verdoppelung 
findet fich auch fihon im Pentateuch in Bezug auf die Gefchich- 
ten von der Speiſung mit Wachteln und der Tränfung aus dem 
Helfen, von welchen die erftere fowohl 2 Mof. 16. als 4. Mof. 11., 
die Teßtere aber 2. Moſ. 17. und wieder 4. Mof. 20., beidemale 
mit veränderten Zeit-, Orts⸗ und fonftigen Umftänden, erzählt 
iſt. Hiemit haben wir indeß bloß das negative Ergebniß, daß 
der doppelten Erzählung der erften Evangelien nicht zwei verfchie- 
dene Begebenheiten fönnen zum Grunde gelegen haben : welche, 
und ob überhaupt eine von beiden gefchichtlich begründet fei, muß 
Gegenftand einer eigenen Unterfuchung werben. 





— — 


9) ©. bir Nachweiſung bei de Wette, Kritik der mof Sch. S. 220 ff. 
314 ff. 


Zweiter Abfchnitt. K. 102. - 191 


: Wenn, um. dem magifchen Scheine auszuweichen, welchen 
das vorliegende Wunder vor andern hat, Ols hauſen das⸗ 
ſelbe mit dem Gemüthszuftande der betheiligten Perſonen in 
Beziehung fegt, und die wunderbare Speifung durch den geift- 
fichen Hunger der Menge vermittelt wiflen will: fo iſt dieß 
nur ein zweideutiged Reden, das bei dem erften Berfuche, den 
Sinn defjelben feftzuftellen, in Nichts zerfällt. Denn bei Hei- 
ungen 3. B. befteht nach der hier vorausgefegten Anficht jene 
Bermittlung darin, daß das Gemüth des Kranfen fich der 
Einwirkung Jeſu glaubig öffnet, fo daß bei fehlendem Glauben 
auch der Wunderfraft Jefu der erforderliche Anknuͤpfungspunkt 
im Menfchen fehlt: hier alfo ift die Vermittlung eine reale. 
Sollte nun in gegenwärtigem Yale diefelbe Art von Vermikt⸗ 
lung ftattgehabt, und alſo bei denjenigen von der Menge, 
welche etwa unglaubig waren, bie fättigende Einwirkung Jeſu 
feinen Eingang gefunden haben: fo müßte hier die Sättigung 
wie dort die Heilung als etwas von Jeſu geradezu und ohne 
vorangegangene Bermehrung der äußerlich vorhandenen Nahs 
rungsmittel in dem Leibe der Hungrigen Gewirktes angefehen 
werben. Allein eine folhe Borftelung von der Sache wird, 
wie Paulus mit Recht erinnert, und auch Olshauſen 
andeutet, durch die Bemerkung der Evangeliften abgefchnitten, 
daß unter die Menge wirflih Speifen vertheilt worben feien, 
daß von diefen jeder, fo viel er wollte, genofien habe, und 
daß am Ende noch mehr, als urjprünglich ‚vorräthig gemefen, 
übrig geblieben fei. Die hierin liegende äußerlich und objectiv 
vorgegangene Vermehrung der Nahrungsmittel Tann nun doch 
nicht durch den Glauben des Volks auf reale Weife vermittelt 
gedacht werden, fo daß jener Glaube zum Gelingen der Brot- 
vermehrung mitwirfen mußte; die Vermittlung kann vielmehr 
‚nur eine teleologifche gewefenfein, d. h. daß um eines gewiſſen 

Semüthszuftands der Menge willen Jeſus die Speifung vor- 
nahm. ine folche Vermittlung aber gibt mir nicht die min- 
defte Hülfe, mir den fraglichen Vorgang denfbarer zu. machen; 
denn nicht, warum es fo, fondern. wie es zugegangen fei, 


N 


192 Zweiter Abſchnitt. . 


ift die Frage. So beruht mithin Alles, was Dishaufen 
hier gethan zu haben glaubt, um das Wunder denkbarer zu - 
machen, auf der Zweiveutigfeit des Auspruds: Vermittlung, 
und. e8 bleibt die Undenkbarkeit einer unmittelbaren Einwirkung 
des Willens Jeſu auf die vernunftlofe Natur diefer Geſchichte 
mit den zuletzt erwogenen gemein. 

Doch eigenthümlich vor den andern iſt ihr die Shwierig⸗ 
keit, daß hier nicht bloß wie bisher von einer den Naturge- 
genftänden ertheilten Richtung oder Modification, fondern von 
einer Vermehrung berfelben, und zwar in's Ungeheure, die 
Rede if. Zwar ift uns nichts alltäglicher, als Wachsthum 
und Vermehrung der Naturgegenftände, wie fiez. B. vom Ea- 
menforn in den Parabeln vom Säemann und vom Eenftorn 
dargeftellt if. Allein diefe geſchieht erftlich nicht ohne Zutritt 
anderer Naturdinge, wie Erde, Wafler, Luft, fo dag auch 
hier, nach dem bekannten Eag der Naturlehre, nicht eigentlich 
die Subftanz vermehrt, fonbern nur die Accidenzien verwan⸗ 
delt werden; zweitens gefchieht diefer Proceß fo, daß er feine 
verfchiedenen Stadien in entfprechenden Zeitdiſtanzen zurüdlegt. 
Hier dagegen, bei der Vermehrung der Nahrungsmittel durch 
Sefus, findet weder das Eine noch das Andere ſtatt: das 
Brot in der Hand Jeſu hängt nicht mehr, wie der Halm, 
auf welchem die Frucht wuchs, mit dem mütterlichen Boden 
zufammen, noch gefchieht feine Vermehrung allmählig , ſondern 
plötzlich. 

Das aber eben ſoll das Wunderbare an der Sache ſein, 
und namentlich nach der letzteren Seite hin das gegenwärtige 
Wunder ein befchleunigter Naturproceß genannt ‚werden können. 
Was von der Ausfaat bis zur Ernte in drei Bierteljahren 
gefchieht, fol da in Minuten unter der Austheilung der Speife 
geichehen fein; denn einer Befchleunigung feien die Naturent- 
widlungen fähig, und einer wie großen, das fei nicht zu 
bejtimmen. ') Ein befchleunigter Naturproceß wäre e8 gewefen, 


10) So, nad) Pfenninger, Ols hauſen, 3.d.&t. Bol. Hafe, $.97. 


’ Neuntes Kapitel. $. 102. 193 


wenn in Jefu Hand je ein Korn hundertfältige Brucht getragen 
und zur Reife gebracht, und er die vermehrten Körmer aus 
immer vollen Händen dem Bolfe hingefchüttet hätte, um fie 
von dieſem zerreiben, kneten und baden, ober in ber Müfte, 
wo fie waren, roh aus den Hülfen genießen zu laffen; wenn 
er einen lebendigen Fifch genommen, und die Eier in deſſen 
Leibe plöglich hervorgerufen, befruchtet, und zu ausgewachfenen 
Fifchen gemacht hätte, welche dann die Jünger oder das Volk 
hätten fieven oder braten mögen. So hingegen nimmt er nicht 
Korn in die Hand, fondern Brot, und auch die Fifche müffen, 
fo wie fie in Stüden ausgetheilt werden, irgendwie zubereitet, 
vieleicht, wie Luc. 24, 42. vgl. Joh. 21, 9., gebraten, ober 
eingefalzen gewefen fein. Hier ift alfo auf beiden Eeiten 
fein reines, lebendiges Naturproduct mehr, fonvern ein todtes 
und durch Kunft modificiries: um ein folches in einen Natur- 
proceß jener Art zu verfegen, bätte Jeſus vor Allem durch 
feine Wunderfraft aus dem Brot wieder Körner, aus den 
Dratfifchen wieder rohe und lebende machen, dann gefchwind 
die befchriebene Vermehrung vornehmen, endlich fämmtliches 
Permehrte vom Naturzuftand in den Tünftlichen zurüdverfeßen 
müften. So wäre mithin dieſes Wunder zufammengefegt 
1) aus einer Wiederbelebung, welche alle fonft in den Evan⸗ 
gelien erzählte an Miraculofität überträfe;. 2) aus einem höchft 
befchleunigten Naturproceß, und 3) aus einem unfichtbar vor⸗ 
genommenen und ebenfalls höchft befchleunigten Kunftproceß, 
indem alle die langen Broceduren des Müllers und Bäcders 
auf der einen, und des Kochs auf der andern Eeite durch 
Jeſu Wort in einem Augenblid müßten vor fich gegangen 
fein. Wie mag alfo Olshaufen fich felbft und den glaus 
bigen Leſer durch den annehmlich Flingenden Ausdrud; befchleu- 
nigter Naturproceß, täuſchen, wenn doch dieſer Die Sache, 
von der die Rede ift, nur zum dritten Theil bezeichnet? 11) 


11) Diefe jämmerliche Bemerkung von mir bat nah Olshaufen wohl 
in etwas Schlimmerem als in bloßer intellectueller unfaͤhigkeit ihren 


11. Band. 13 


194 Zweiter Ablſchnitt. W 


Wie ſollen wir uns nun aber ein ſolches Wunder zur 
Anſchauung bringen, und in welchen Moment des Hergangs 
es verſetzen? In Betreff des Letzteren find nach der Anzahl 
der in unferer Erzählung handelnden Gruppen drei Anfichten 
möglich: indem entweder in den Händen Sefu, oder in denen 
der austheilenden Jünger, oder endlich erft in denen des’ 
empfangenden Volkes, die Vermehrung vor fi) gegangen fein 
fann. Die legtere Borftelung ift theils bis zum Abenteuer: 
lichen Fleinlich, wenn man fi) Jeſum und die Apoftel denfen 
will, mit Behutfamfeit," daß es doch ja ausreichen möge, 
Krümchen vertheilend, die in den Händen der Empfänger zu 
Stüden anfchwellen; theils wäre es auch nicht einmal gut 
möglich gewefen, für eine Mafle von 5000 Manı aus 5 
Broten, welche nach hebräifcher Sitte, und da fie ja ein 
Knabe trug, nicht fehr groß können gewefen fein, und vollends 
aus zwei Fifchen, für jeden ein, wenn auch noch fo kleines 
Stüdchen herauszubringen. Unter den zwei übrigen Borftel- 
lungsweifen finde ich es mit Olshauſen am angemeflenften, 
daß unter den frhöpferifhen Händen Jeſu fich die Nahrungs: 
mittel vermehrt, und er neue und immer neue Stüde den 
vertheifenden Juͤngern geboten habe. Zur Anfchauung fann 
man fich dann den Vorgang auf die doppelte Art zu bringen 
fuchen, daß man entweder fich vorftellt, fo oft ein Brotfuchen 
und ein Fifch zu Ende war, fei aus den Händen Jeſu ein 
neuer gefommen; oder man. denft fich, die einzelnen Brot: 
kuchen und Fiſche feien gewachfen, fo daß, wie ein Stück 
abgebrochen wurde, es ſich fo lange. wieder ergänzte, bis 
berechnetermaßen die Reihe an den folgenden kommen Tonnte. 
Die erftere Borftellung fcheint dem Terte fremd zu fein, 
welcher, wenn er von Brocken &x zwv wevre apzwv fpricht 


Grund, nämlid in meinem vollendeten Unglauben an einen lebendigen 
Gott; fonft Hätte mir wohl das Bedenken nicht fo groß ſcheinen können, 
wie durch die göttliche Saufalität menſchliche Thaͤtigkeiten erfegt werden 
Einnen (&. 479 ber 3ten Aufl.). 


⸗ Neuntes Kapitel. $. 109. 195 


(Job. 6, 13.), fhwerlich eine Vermehrung dieſer Anzahl vor 
ausfegt: und fo bleibt nur Die zweite, Durch. deren poetifche 


Ausmalung Lavater der orthodoren Anficht einen fchlechten ” 


Dienft erwiefen hat. 1) Denn diefes Wunder gehört zu den» 
jenigen, welche nur fo lange einigermaßen glaublich erfcheinen 


fönnen, als man fie im Halbbunfel einer unbeftimmten Vor⸗ 
ftellung zu halten weiß: !%) fobald man biefelben an's Licht 


ziehen und in allen Theilen genau anſchauen will, Löfen fie 
ſich in Nebelgebilde auf. Brote, die in den Händen des 
Austheilenden wie angefeuchtete Schwämme aufquellen, Brat⸗ 


fifche, welchen, wie dem lebendigen Krebs die abgeriffenen- 


Scheeren allmählig, fo die abgebrochenen Theile plöglich wieder 

wachſen, gehören offenbar nicht in das Reich der Wirklichkeit, 

fondern in ein ganz anderes. | | 
Mie großen Dank verdient daher auch hier die rationa» 


3 


fiftifche Auslegung, wenn es wahr ift, daß fie uns von der 


Zumuthung , ein fo unerhörtes Wunder anzunehmen, auf bie 
leichtefte Weiſe zu befreien weiß. Hören wir Dr. Baulus, '% 
fo wollen die Evangeliften gar fein Wunder erzählen, und 
das Wunder ift erft von den Erflärern in ihren Bericht hineins 
getragen worden. Was fie erzählen, ift nach ihm nur fo 
viel, daß Jeſus feinen geringen Borrath an Lebensmitteln habe 
austheilen laſſen, und daß in Folge deflen die ganze Menge 
genug zu eflen befommen habe. Hier fei jedenfalls das Mits 
telglied ausgelafien, weldyes näher angebe, wie es möglich 
gewefen, daß, unerachtet Jeſus nur fo wenige Lebensmittel 
zu bieten hatte, dennoch. die große Volksmaſſe habe gefättigt 
werden fönnen. Ein fehr natürliches Mittelglied aber ergebe 
ſich aus der Hiftorifchen Combination der Umſtände. Da nad 
BVergleichung von Joh. 6, 4. die Menge wahrfcheinlich zum 


— — — 





12) Jeſus Meſſias, 2. Bd. Nr. 14. 18 und 20. 
13) Weßwegen Neander (S. 377) über das Wunder mit einigen ganz 
‚im Allgemeinen fi Haltenden Bemerkungen hinmweggeht. 
13) Greg. Dandb. 2,,&. 205 ff. | 
13 * 


196 Zweiter Abſchnitt. | u 


größeren Theil aus einer Feftfaravane beſtanden habe, fo könne 
fie nicht ohne alle Speifevorräthe gewefen, und nur einigen 
"Hermeren vielleicht der Vorrath bereitS ausgegangen gewefen 
fein. Um nun die beſſer DVerfehenen zur Mittheilung an die, 
denen ed fehlte, zu veranlaſſen, habe Sefus ein Mahl veran- 
ſtaltet, und fei mit eigenem Beifpiele in der Mittheifung 
deſſen, was er und feine Jünger von ihrem geringen Borrath 
entbehren fonnten, vorangegangen; dieſer Borgang habe Nachs 
ahmung gefunden, und fo fet, indem Jeſu Brotaustheilung 
eine allgemeine Mittheilung veranlaßte, der ganze. Volkshaufe 
fatt geworden. Allerdings mülfe man diejed natürliche Mit: 
telglied in den Tert erft hineindenken; da jedoch das Ueber⸗ 
natürliche, welches man gewöhnlich annehme, die wunderbare 
Brotvermehrung , ebenfowenig ausprüdlich angegeben fei, fon- 
dern beide gleicherweife hinzugedacht werden müffen : fo fönne 
man nicht anders, ald für das Natürliche fich entfcheiden. — 
Doch das hier behauptete gleiche Verhältniß der beiden Mits 
telglieder zum Texte findet in der That nicht flat. Son⸗ 
dern, während zum Behufe der natürlichen Erklärung ein neues 
austheilendes Subject (die befler Verfehenen unter der Menge), 
und ein neues ausgetheilted Object (deren Vorraͤthe), fammt 
der Handlung des Austheilens von biefen, hinzugedacht werden 
muß: begnügt fich die fupranaturaliftifche Erklärung mit dem 
vorhandenen Eubject (Sefu und feinen Süngern), Object 
‘(deren kleinem Borrath) und deſſen Austheilung, und läßt nur 
die Art hinzudenken, wie diefer Vorrat) zur Sättigung der 
Menge zulänglich gemacht wurde, indem er ſich nämlich unter 
Jeſu (oder feiner Jünger) Händen wunderbar vermehrte: Wie 
fann man bier noch behaupten, dem Texte liege feines von 
beiden Mittelglievern näher al8 das andere? Daß bie wuns 
derbare Vermehrung der Brote und Fiſche verſchwiegen ıft, 
erklärt fi) Daraus, daß diefer Vorgang felbft ſich nicht für die 
Anfchauung fefthalten laſſen will, daher befier nur nach dem 
Erfolg bezeichnet wird: wie aber will man erflären, daß von 
der durch Jeſum bervorgerufenen Mittheiljinnfeit der übrigen 


Reuntes Kapitel. $. 102. 197 


mit Vorrath Verfehenen nichts gefagt iſt? Zwifchen pas ddume 
zols uadızsais, ol de uadrral vois Oxloıs (Matth. 14, 19.) 
und xal &payov nrarres xal .Exopraodnoev (B. 20.) jene Mits 
theilung der Andern bineinzudenfen, ift reine Wilfür: wo⸗ 
gegen durch das zul rag dvo Iydvas Eutpiwe nacı (Mare. 
6, 41.) unverkennbar angezeigt ift, daß nur die zwei Fiſche 
— und alfo auch nur die 5 Brote — das Object der Theis 
lung für Alle waren. 15) Ganz befonders fommt aber dieſe 
natürliche Erklärung mit den Körben in Berlegenheit, welche, 
nachdem Alle fatt geworden, Jeſus noch mit den übrig ge 
bliebenen Broden füllen ließ. Wenn bier der vierte Evangelift 
fagt: ovmyayov dv, xal Eykuucav dwdexe xoplvas xAcouarwv 
& uw ruevre apıww row edlen, & Eneplooevoe Toig 
Beßowxooew (6, 13.): fo feheint doch hiedurch deutlich genug 
gefagt zu fein, daß eben von jenen. 5 Broten, nachdem 5000 
Mann fich von denfelben gefättigt, noch 12 Körbe voll Broden; 
alfo mehr als der urfprüngliche Vorrath betragen. hatte, übrig 
geblieben feien. Hier bat daher der natürliche Erflärer Die 
abenteuerlichften Wendungen nöthig, um dem Wunder aus 
zumweichen. Zwar, wenn bie Synoptifer nur fehlechtweg fagen, 
man habe die lleberrefte des Mahls gefammelt, und mit den- 
felben 12 Körbe gefüllt, fo fönnte man vom Etandpunfte der 
natürlichen Erklärung etwa denken, Jeſus habe aus Achtung 
für die Gottesgabe auch das, was die Verfammlung von den 
eigenen Vorräthen liegen ließ, durch feine Jünger auffammeln 
laſſen. Allein, wie das, daß das Volk das übrig Gebliebene 
liegen ließ und nicht zu fich ſteckte, anzudeuten fcheint, daß es 
die gereichten Nahrungsmittel als fremdes Eigenthum behan- 
delte: fo feheint Jeſus, indem er es ohne Weitered durdy feine 
Jünger einfammeln läßt, es als fein Eigenthum zu betrachten: 
Daher nimmt denn Baulus das ga x. z. 4. der Eynoptifer 
nieht von einem auf das Eſſen erft erfolgten Auffammeln 


35) Olshauſen 3. d. St. 


198 Zweiter Abſchnitt. 


veffen, was nach Sättigung der Menge übrig blieb, ſondern 
von dem Ueberfluß ihres. geringen Borraths, welchen die 
Sünger, nachdem ſie das für Jeſum und fie felbft Erforder 
tiche zurüdgethban, vor dem gemeinfamen Mahle und um ein 
folches zu veranlafien, herumgetragen haben. Wie kann aber, 
wenn nad &yayor xal Exopraosdnoov unmittelbar xel 7007 
folgt, damit auf die Zeit vor dem Eſſen zurüdgefprungen fein? 
müßte es nicht nothwendig wenigftens 700 ya heißen? Fer⸗ 
‚ner, wie fann, nachdem eben gefagt war, das Bolt habe 
fich fatt gegeflen, zo rreguooeven , vollends wenn, wie bei 
Lukas, avsoig dabei fleht, etwas Anderes als das vom Volk 
Vebergelaffene bedeuten? Endlich, wie ift es möglich, daß 
von 5 Broten und 2 Fifchen, nachdem Jeſus und feine Jünger 
* ihren Bedarf genommen,“ over felbft ohne dieß, natürlicher 
. weife 12 Körbe zur Austheilung an das Volf gefüllt werden 
Tonnten? Doch noch feltfamer geht e8 bei Erklärung det 
johanneifchen Stelle zu. Wegen der Anmeifung Iefu, das 
Vebriggebliebene zu fammeln, va um) ru anolrver, ſcheint 
der folgenden Angabe, daß fie von dem Weberfchuß der 5 
Brote 12 Körbe gefüllt haben, die Beziehung auf Die Zeit 
nah dem Mahle nicht entzogen werben zu koͤnnen; wobei 
dann ohne wunderbare Brotvermehrung nicht abzufommen 
wäre. Lieber reißt daher Baulus von Dem owmyayov &v 
das in Einem fortlaufende xal Eyeuoov Öwdexe xogivag x. T. k. 
ab, und läßt nun bier die Rebe, noch härter al8 bei den 
Eynoptifern, ohne alle Andeutung auf Einmal in das Plus- 
quamperfectum und in bie Zeit vor dem Mahle zurück⸗ 
fpringen. 

Auch bier demnach Iöst die natürlich® ‚Erklärung ihre 
Aufgabe nicht: dem Terte bleibt fein Wunder, und wenn wir 
Gründe haben, diefes unglaublich zu finden, fo müfjen wir 
unterfuchen, ob vie Erzählung des Textes wirklich Glauben 
verdiene? Für ihre ausgezeichnete Glaubwürdigkeit führt man 
gewöhnlich die Lebereinftimmung fämmtlicyer vier Evangeliften 
in berfelben an: aber dieſe Mebereinftimmung ift fo vollftändig 








Neuntes Kapitel. 5. 102. 199 


nicht. Zwar die Differenzen‘, welche zwiſchen Matthäus und 
Lufas, und wieder zwifchen dieſen beiden und dem auch hier 
ausmalenden Markus ftattfinden, ferner zwifchen fämmtlichen 
Synoptifern und Johannes darin, daß jene den Vorgang 
ſchlechtweg an einen zomognEpnuog, diefer ihn auf ein öpog 
verfegt, und daß den Spnoptifern zufolge bie Handlung durch 
eine Anrede der Jünger, nad Johannes durch eine Frage 
Sefu eröffnet ift (zwei Züge, worin, wie bereits bemerkt, die 
johanneifche Erzählung fi) dem Berichte des Matthäus und 
Markus von der zweiten. Speifung nähert), endlich noch die 
Abweichung, daß die Reden, welche die drei erſten Evanges 
liften unbeftimmt zois uadrreis in den Mund legen, der 
vierte in feiner indivibualifirenden Weife namentlich dem Phi⸗ 
(ippus und Andreas leiht, wie derfelbe auch als Träger ver 
Brote und Fifche beftimmt ein uasdapıov angibt, — dieſe 
Abweichungen können wir ald minder wefentlich übergehen, um 
nur an Eine uns zu halten, welche tiefer eingreift. Während 
nämlich nach den fonoptifchen Berichten Jeſus die Volksmenge 
zuerft lange belehrt und ihre Kranken geheilt hatte, und erft 
durch den einbrechenden Abend und die bemerkte Verſpaͤtung 
veranlaßt wurde, fie noch zu fpeifen: ift bei Johannes, ſo⸗ 
bald er nur die Augen aufhebt und das Volk heranziehen 
fieht, Jeſu erfter Gedanfe der, welchen er in der Frage an 
den Philippus ausfpricht: woher Brot nehmen, um diefe zu 
fpeifen? ober, da er dieß nur nreupatwr fragte, wohlwiſſend, 
ti yuelke nowiv, der Vorſatz, hier eine wunderbare Spei⸗ 
fung zu veranftalten. Wie Eonnte denn aber Jeſu bei'm 
erften Herannahen des Volks fogleich Die Aufgabe entftehen, 
ihm zu efien zu geben? Deßhalb kam es ja gar nicht zu ihm, 
fondern um feiner Lehre und Heilkraft willen. Er mußte fich 
alfo ganz aus eigenem Antrieb jene Aufgabe ftellen, um 
feine Wundermacht in einer recht ausgezeichneten Probe zu 
beweifen. ‚Aber that er auch je fonft ein Wunder fo 'ohne 
Noth und felbft ohne Beranlaffung, ganz eigenwillig, nur 
um ein Wunder zu verrichten? Sch weiß es nicht ſtark genug 


200 _ Zweites Abſchnitt. 
auszufprechen, wie unmöglich "hier das Eſſen Jeſu erfter 
Gedanke fein, wie unmöglich er dem Volke fein Speifutigs- 
wunder in dieſer Weife aufbringen konnte. Hier geht alfo 
die fonoptifche Darftelung, in welcher das Wunder doch einen 
Anlaß bat, der des vierten Evangeliften bedeutend vor, wels 
cher, zum Wunder eilend, die nöthige Motivirung deffelben 
überfpringt, und Jefum die Gelegenheit zu demfelben machen, 
nicht abwarten läßt. Eo konnte ein Augenzeuge nicht erzäh- 
Ien, 19) und wenn fomit der Bericht desjenigen Evangeliums, 
welchem man jett die größte Auctorität einräumt, ald unger 
fchichtlich bei Seite geftellt werden muß: fo find bei den übrigen 
die oben beregten Echwierigfeiten der Thatfache hinreichende 
‘ Gründe, ihre gefchichtliche Zuverläffigfeit zu bezweifeln, befons 
ders wenn fich neben dieſen negativen- auch pofitive Gründe 
auffinden laſſen, welche eine unhiftorifche Entftehung unferer 
Erzählung denkbar machen. 

Solche Veranlafjungen finden fich wirflich ſowohl innerhalb: 
der evangelifchen Berichte felbft, als außerhalb ihrer in der 
AT lichen Gefchichte und dem jüdifchen Volfsglauden. In 
erfterer Beziehung iſt es bemerfenswerth, daß fowohl bei den 
Eynoptifern als bei Johannes an die durch Jeſum vollgogene 
Epeifung mit eigentlichem Brote mehr oder minder unmittelbar 
Reden Jefu von Brot und Brotmaffe in uneigentlichem Einne 
angehängt find, nämlich hier die Ausfprüche vom wahren Himmels⸗ 
und Lebensbrot, das Jeſus gebe (Joh. 6, 27 ff.), dort die vom 
falfchen Eauerteig der Pharifäer und Eadducäer, nämlich ihrer 
falfchen Lehre und Heuchelei (Matth. 16, 5 ff. Mare.8, 14 ff. 
vgl. Luc. 12, 4.7), und beiderfeitd wird dieſe bildliche Rede 


16) Gegen Neanber’s XAusgleikungsverfuch vergl. de Wette, ereg. 
Handb., 1, 3, S. 77. 

17) Diefem Fingerzeig ift neueftens Weiße nadıgegangen, und hat den 
Schluͤſſel zu der Speiſungsgeſchichte in der Frage Jeſu gefunden, welche 
er auf das Mißverftändniß feinee Warnung vor dem Sauerteige der 
Pharifäer und Sadducaͤer an bie Zünger richtet, ob fie ſich denn nicht 





Neuntes Kapitel. — 102. 201 


Jeſu irrig von aigentlichem Brote verſtanden. Hienach laͤge die 
Vermuthung nicht allzufern, wie in den angeführten Stellen das 
Volk und die Jünger, fo habe auch die erfte chriftliche Ueber⸗ 
lieferung das von Jeſu uneigentlich Gemeinte eigentlich gefaßt, 
und wenn er ſich etwa “in bildlicher Rede bisweilen als den⸗ 
jenigen dargeftellt hatte, welcher dem verirrten und hungernden 
Volk das wahre Xebensbrot, die befte Zufoft, zu reichen vermöge, 
womit er vielleicht den Eauerteig der Pharifäer in Gegenſatz 
ſtellte: fo habe dieß in der Eage, ihrer realiftifchen Richtung 
gemäß, die Wendung genommen, al8 ob Jeſus wirklich einmal 
in der Wüfte hungernde Volksmaſſen wunderbar gefpeist hätte. 
Wenn das vierte Evangeliuim die Reden vom Himmelsbrot als 
veranlagt burch die Speifung hinftellt, fo koͤnnte das Verhaͤltniß 
leicht umgekehrt dieß gewefen fein, daß die Entftehung dieſer 
Gefchichte durch jene Rede veranlaßt war, zumal auch der Ein- 
gang der johanneifchen Erzählung mit feinem: rodev ayopaoo- 
Ey 00T8S, va gaywow 8tor; fich gleich bei'm erften Anblick 
des Bolfs in Jeſu Munde eher venfen läßt, wenn er damit 
auf eine Speifung durch das Wort Gottes (vgl. Joh. 4, 32 ff.), 
auf eine Stillung des geiftigen Hungers (Matth. 5, 6) anfpielte, 
um das höhere Verſtaͤndniß feiner Jünger zu üben (neugasom), 


erinnern, wie viel Körbe fie von ben fünf und wieder von den ficben 
Broten haben auffammeln können? Wenn er dann binzufege: Aus & 
voeite, örı # negi born einov Uuiv x. Tr. A. (Matth. 16, 11): fo zeige 
die Parallele, in welche Zefus bier die Speifungsgefhichte mit ber 
Rebe vom Sauerteig fege, daß auch jene nur parabolifch zu verftehen 
gewefen fei (&. 5ıı ff.). Allein die Form der Frage Jeſu: mroons 
xoplvas (omuplda;) Elaßere;, ſetzt eine wirkliche Begebenheit voraus; von 
einer Parabel, in welcher Jeſus und die Jünger eine Hauptrolle gefpielt 
hätten, Tann man ſich nach dem im erften Bande, bei Gelegenheit ber 

Verſuchungsgeſchichte Bemerkten, keine Worftellung machen; die Schluß⸗ 
weife Zefu aber geht bem Texte zufolge nicht von dem bloß bildlichen 
Sinne ber früheren Erzählung auf die gleiche Bebeutung der fpäteren 
Rede , fondern von dern früheren Beweife, wie überflüffig die Sorge 
für leibliches Brot in Jeſu Nähe fei, auf bie Ungereimtheit, feine 
jegige Rede von ſolchem zu verftchen. 


2023 | Zweiter Abſchnitt. 


ald wenn er wirklich an leibliche EAttigung gedacht, und feine 





Zünger nur in der Hinficht auf die Probe geftelt haben fol, - 


ob fie fich dabei auf feine Wunderkraft verlaffen würden. 
Weniger Iadet zu einer folchen Anficht die Erzählung der Synop- 
tifer ein: durch die bildlichen Reden vom Eauerteig für fich 
fonnte die Entftehung der Speifungsgefchichte nicht veranlaßt 
werben, und da fomit das johanneifche Evangelium tn Bezug 
auf jenen Schein eigentlich allein fteht, fo ift es dem GCharafter 
defielben doch angemeflener, zu vermuthen, daß es die traditionell 
überfommene Wundererzählung zu bildlichen Reden im aleran- 
drinifchen Gefchmade verwendet, als daß e8 uns die urfprüng- 
lichen Reden aufbewahrt habe, aus welchen die Sage jene 
»Wundergeſchichte gefponnen hätte. 

Sind nun vollends die außerhalb des N. T. liegenden 
möglichen Beranlaffungen zur Entftehung der Speifungsge- 
fchichte fehr ftarf: fo werden wir den aufgenommenen Berfuch, 
biefelbe aus N,T.lichen Etoffen zu conftruiren, wieder fallen 
laffen müffen. Und hier erinnert ung gleich der vierte Evangelift 
durch die dem Volke in den Mund gelegte Erwähnung des Manna, 
jenes Himmelsbrots, welches Mofes in der Wüfte den Vorfahren 
zu effen gegeben habe (V. 31.), an einen der berühmteften 
Züge der israelitifchen Urgefchichte (2. Mof. 16.), welcher fd) 
ganz dazu eignete, daß- in der meffianifchen Zeit ein Nachbild 
deflelben erwartet wurde, wie wir denn wirflich aus rabbinifchen 
Schriften wiffen, daß unter denjenigen Zügen, welche vom 
‚erften Goel auf den zweiten übertragen wurden, das Verleihen 
von Himmelsbrot eine Hauptftelle einnahm. '%) Und wenn das 
mojaifche Manna ſich dazu hergibt, als Borbild des von Jeſu 
auf wunderbare Weife vermehrten Brotes angefehen zu werden: 
fo fönnten die Fifche, welche Jeſus ebenfo wunderbar vermehrte, 
daran erinnern, wie auch durch Mofes nicht nur in dem Manna 
ein Brotfurrogat, fondern auch in den Wachteln eine Fleiſch⸗ 
jpeife dem Volke zu Theil geworden war (2. Mof. 16, 8. 12. 13. 








18) ©. den 1. Bant, $. 14. 


Neuntes Kapitel. 5. 102. 203 


4, Mof. 11, 4 — Ende). Vergleicht man dieſe mofaifchen 
Erzählungen mit unferer evangelifchen, fo findet fich auch in 
den einzelnen Zügen eine auffallende Aehnlichfeit. Das Local 
ift beidemale die Wüfte; die Veranlaffung des Wunders hier 
wie dort die Beforgniß, Das Volk möchte in der Wüfte Mangel 
leiden, oder gar durch Hunger zu Grunde gehen: in der A. T. lichen 
Gefchichte die vorlaute, mit Murren verbundene des Volks, 
in der N.T.lichen die Furzfichtige der Jünger und die menfchen» 
freundliche Jeſu. Geht hierauf mit der Anweifung des legteren 
an die Jünger, fie follen dem Volke zu effen geben, in welcher 
ſchon fein Vorhaben einer wunderbaren Speifung liegt, Die 
Zufage parallel, welche Iehova dem Mofes gab, das Volf mit 
Manna (2. Mof. 16, 4.) und mit Machteln (2. Mof. 16, 19. 
4. Moſ. 11, 18— 20.) zu fpeifen: fo ift ganz befonders ſprechend 
die Aehnlichkeit des Zuges der evangelifchen Erzählung , daß 
die Zünger es als Unmöglichkeit anfehen, für eine fo große 
Volksmaſſe in der Wüfte Nahrungsmittel herbeizufchaffen, mit 
dem, was der A.T.liche Bericht den Mofes gegen die Verheißung 
Jehova's, das Volk mit Fleifch zu fättigen, zweifelnd einmwenden. 
läßt (4. Mof. 11, 21). Wie nämlich die Jünger, fo findet 
auch Mofes vie Menge des Volks zu groß, als daß er für 
möglich halten könnte, e8 hinreichend mit Nahrungsmitteln zu 
verforgen; wie jene fragen, woher in ver Wüſte fo viele Brote 
nehmen? fo fragt Mofes ironifch, ob fie denn Schafe und Rinder 
(was fie nicht hatten) fehlachten folen? und wie die Jünger 
einwenden, daß nicht einmal durch die erfchöpfennfte Ausgabe 
von ihrer Seite dem Bedürfniß gründlich abgeholfen werden _ 
könnte : fo hatte Mofes in einer andern Wendung erflärt, um 
das Volk fo, wie Jehova verhieß, fättigen zu können, müßte 
das Unmoͤgliche gefchehen (vie Fifhe aus dem Meer herbei- 
fommen); Einwendungen, auf welche dort Jehova, wie hier 
Jeſus, nicht achtet, fondern das Volk zur Ompfangnabme der 
wunderbaren Speife fich rüften heißt. 

So analog übrigens der Hergang der außerordentlichen 
Speiſung auf beiden Seiten iſt, ſo findet ſich doch der weſentliche 


204 3Zweiter Abfchnitt. 


Unterfchied, daß im A. T. beivemale, bei dem Manna wie bei 
den Wachteln, von wunderbarer Beifchaffung zuvor nicht vor: 
handener Speife, im neuen aber von wunderbarer Vermehrung - 
eines ſchon vorhandenen, aber unzureichenden Vorraths die Rede 
ift, fo daß die Kluft zwifchen der mofaifchen Erzählung und der 
evangelifchen zu groß wäre, um dieſe unmittelbar aus jener ab- 
leiten zu können. Gehen wir uns hier nach einem Mittelglied 
um, fo trifft es fich ganz fachgemäß, daß zwifchen Mofes und 
den Meflias auch in diefem Stüde die Propheten eintreten. 
Bon Elias ift es befannt, wie durch ihn und um feinetwillen ver 
geringe Borrath an Mehl und Del, den er bei der Wittwe zu 
Zarpath fand, wunderbar vermehrt, oder-näher während ver 
ganzen Dauer einer Hungersnoth 'zureichend erhalten wurde 
(1. Kön. 17, 8S— 16.) Noch weiter, und mehr zur Aehnlichkeit 
mit der evangelifchen Erzählung entwidelt- findet fich diefe Wun- 
dergefchichte bei Elifa (2. Kön.4, 42 ff.). Diefer will, wie 
Jeſus in der Wüfte mit 5 Broten und 2 Fifchen 5000, fo während 
einer Hungersnoth mit 20 Broten (welche, wie die von Jefu 
vertheilten bei Sohannes, als Gerftenbrote bezeichnet werben). 
nebft etwas zerriebenem Getreide 69% „ LXX: neiudes) 
100 Menfchen fpeifen; ein Mißverhältniß zwifchen Vorrath 
und Mannfchaft, welches fein Diener, wie dort Jefu Jünger, 
in der Frage ausbrüdt, was denn für 100 Mann dieß Wenige 
ſolle? Elifa wie Jeſus läßt ſich dadurch nicht irren, fondern 
befiehlt dem Diener, das Vorhandene dem Volfe zu eflen zu geben, 
und wie in der evangelifchen Erzählung das Sammeln der übrig» 
gebliebenen Broden, fo wird auch in der A.T.lichen am Schluffe 
das befonders hervorgehoben, daß, unerachtet von dem Vorrath 
fo Viele gegefien hatten, doch noch Meberfchuß ſich herausgeftellt 
habe. 9) Die einzige Differenz ift hier eigentlich noch Die geringere 


1) 2. Kön. 4, 43. LXX: | Joh. 6, 9: 
“Ti dw raro bvunov Exarov vdonv; alla Taura Ti Peıy Eis TOOnTas, 
Ebendaſ. V. 44: xai Zpayor, Matth. 14, 20: xat Iyayor nav- 
xoı xarlımov ara To due | res xal Eyopraodywav, zai ngav To 


Kuvoin. - . nemooevox töv xÄaouareır x. T. Ä. 


Reuntes Kapitel. $. ‚102. 205 


Zahl der Brote und die größere des gefättigten Volks auf Selten 
der evangelifchen Erzählung; allein wer weiß nicht, daß über, 
haupt die Sage nicht leicht nachbildet, ohne zugleich zu über- 
bieten, und wer fieht nicht, daß es insbeſondere der Etellung 
des Meſſias völlig angemeffen war, feine Wunverfraft zu der 
eines Eliſa, was das Beduͤrfniß natürlicher Mittel betrifft, in 
das Verhältniß von 5 zu 20, was aber die übernatürliche Leis 
fung, in das von 5000 zu 100 zu ſetzen? Paulus freilich, 
um die Folgerung abzufchneiden, daß, wie die beiden A. T. lichen, 
fo auch die ihnen fo auffallend ähnliche evangelifche Erzählung 
mythiſch zu faflen fei, dehnt auch auf jene den Verſuch einer 
natürlichen Erklärung aus, den er an diefer durchgeführt, und 
läßt den Delfrug der Wittwe durch Beiträge der Prophetenfchüler 
voll erhalten werden, die 20 Brote aber für 100 Mann vermöge 
einer lobenswerthen Mäßigfeit derfelben zureichen; ?9) eine Er: 
Härung, welche in dem Maaße noch weniger verführerifch if, 
als die entfprechende der N.T.lichen Erzählung, in welchem bei 
jener vermöge ihrer größeren Zeitentfernung weniger fritifche 
(und vermöge ihres nur mittelbaren Verhältniffes zum Chriften- 
thum auch weniger dogmatifche) Beweggründe vorhanden find, 
an ihrer hiftorifchen Richtigkeit feftzuhalten. 

Diefe mythiſche Deduction der Speifungsgefhichte voll 
ftändig zu machen, fehlt nichts mehr, als die Nachweifung , daß 
auch die fpäteren Juden noch von befonders heiligen Männern 
glaubten, es werde durch ihren Einfluß geringer Epeifevorrath 
zureichend gemacht, — und auch mit folchen Notizen hat uns 
“der uneigennügige Sammlerfleiß- von Dr. Paulus beſchenkt, 
wie namentlich, daß zur Zeit eines beſonders heiligen Mannes 
bie wenigen Schaubrote zur Sättigung der Priefter bis zum 
Ueberfluß zugereicht haben. *) Conſequenterweiſe follte ver 


— — — 


20) Exeg. Handb. 2, ©. 237 f. 


21) Joma f. 39, 1: Tempore Simeonis justi benedictio erat super 
duos panes pentecostales et super decem panen 7g09e08us, ut 


206 Zweiter Abſchnitt. 


genannte Ausleger auch diefe Erzählung natürlich, etwa gleichfalls 
durch die Mäßigfeit jener Briefter - zu erklären fuchen: doch bie 
Geſchichte fteht ja nicht im Kanon, daher kann er fie unbedenklich 
für ein Mährchen halten, und räumt ihrer auffallenden Aehnlich- 
feit mit der evangelifhen nur fo viel ein, daß vermöge des 
durch jene rabbinifche Notiz documentirten Glaubens der Juden 
an dergleichen Speifevermehrungen auch die N.T.liche Erzählung 
von judaifirenden Chriften frühzeitig in gleichem (wunderhaftem) 
Sinne habe aufgefaßt werben können. Allein laut unferer 
Unterfuchung ift der evangelifche Bericht in diefem Sinne ſchon 
"abgefaßt, und lag diefer Sinn im Geifte der jüdiſchen Volks⸗ 
ſage, ſo iſt die evangeliſche Erzählung ohne Zweifel ein Erzeug⸗ 
niß derſelben. 2%) 


$. 103. 
Jeſus verwandelt Waſſer in Wein. 


An die Speiſungsgeſchichte laͤßt ſich die Erzählung des 
vierten Evangeliums (2, 1 ff.) anreihen, daß Jeſus bei einer 
Hochzeit -zu Kana in Galiläa Wafler in Wein. verwandelt 
babe. Nah Olshauſen follen beide Wunder unter dieſelbe 
Kategorie zufammenfallen, indem beidemale ein Subftrat vor- 
handen fei, deſſen Subftanz modifieirt werde. D Allein hiebei 
ift der logische Unterfchied überfehen, daß in der Epeifungs- 
gefchichte die Modification des Subftrats eine bloß quantitative, 
eine Vermehrung des bereitd in diefer Eigenfchaft Vorhande⸗ 
nen, ift (Brot wird nur mehr Brot, aber bleibt Brot): wo- 
gegen bei der Hochzeit zu Kana das GSubftrat qualitativ mo- 
dificirt, aus etwas nicht bloß mehr dergleichen, fondern ein 
Anderes (aus Wafler Wein) wird, fomit eine eigentliche 


singuli sacerdotes, qui pro rata parte acciperent quantitatem 
olivae, ad satietatem comederent, imo ut adhuc reliquiae super- 
essent. 

22) Bgl, de Wette, ereg. Handb., 1, 1, e. 133 f. 

1) Bibl. Comm, 2, ©. 74. 





S 


Reuntes Kapitel. $. 103. 207 


Transjubftantiation vor fich geht. Zwar gibt e8 qualitative 
Veränderungen, weldye naturgemäß erfolgen, und deren ploͤtz⸗ 
liche Hervorbringung von Ceiten Sefu noch leichter denkbar 
wäre, als eine ebenfo fchnelle Vermehrung des Quantums, 
wie 3. B. wenn er plöplih Moft zu Wein, oder Wein zu 
Effig gemacht haben würde, denn dieß wäre nur ein befchleu- 
“ nigtes Hindurchführen deſſelben vegetabilifchen Subftrats, des 
Traubenfaftes, durch verfchiedene ihm natürliche Zuftänplich- 
feiten; wogegen ed fchon wunderbarer wäre, wenn Jeſus dem 
Saft einer andern PBflanzenfrucht, 3. B. des Apfels, die Dua- 
lität des Traubenfaftes ertheilt hätte, ob er gleich hiebei doch 
immer noch innerhalb der Graͤnzen deſſelben Naturreichs ftehen 
geblieben wäre. Hier nun aber, wo Wafler in Wein ver- 
wandelt wird, ift von einem Naturreich in das andere, vom 
Elementarifchen in das Begetabilifche, übergefprungen; ein 
Wunder, welches fo weit über dem Speifungswunder fteht, 
ald wenn Jeſus dem Rath des Verfuchers Gehör gegeben, 
und aus Steinen Brot gemacht hätte. 2) | 

Auch auf diefe, wie auf die vorige Wundererzählung 
wendet Olshauſen, nah Auguftin, 3) die Kategorie eines 
befehleunigten Naturprocefles an, fo daß hier nichts Andres 
geichehen fein fol, als in accelerirter Weife daffelbe, was in 
langfamer Entwidlung ſich jährlih am Weinftode darftelle. 
Diele Betrachtungsweife wäre in dem Fall gegründet, wenn 
das Subftrat, auf welches Jeſus einwirkte, dafjelbe geweſen 
wäre, aus welchem naturgemäß der Wein hervorzugehen pflegt: 
hätte er eine Weinrebe zur Hand genommen, und diefe plößlich 


2) Neander meint, für dieſes Wunder laſſe fi noch leichter als für 
das Speifungswunder eine Analogie finden — in den Mineralquellen 
nämlich, deren Waſſer durch Naturkräfte fo „potenzirt” werde, daß es 
Wirkungen hervorbringe, welche die Wirkung des gewöhnlichen Waffers 
weit üherfteigen, und zum Theil der des Weines ähnlich, fein (5. 369 )! 

3) In Joann. tract. 8: Ipse vinum fecit in nuptiis,.qui omni anno 
hoc facit in vitibus. 


- 


208 Zweiter Abfchnitt. 


zum Blüheg und Tragen reifer Trauben gebracht, fo ließe fich 
dieß ein befchleunigter Naturproceß nennen. Auch fo übrigens 
hätten wir noch keinen Wein, und brachte Jeſus aus der zur 
Hand genommenen Rebe fogleich auch dieſen hervor, fo mußte er 
noch ein unfichtbared Eurrogat des Kelterns, alfo einen befchleu« 
nigten Kunftproceß, hinzufügen, fo daß auch fo ſchon die Kategorie 
des befchleunigten Naturprocefied unzureichend würde. Doc 
wir haben ja feine Rebe als Subſtrat diefer Weinproduction, 
fondern Waſſer, und hiebei koͤnnte von einem befchleunigten Nas 
turproceß nur dann mit Zug gefprochen werden, wenn jemals 
aus Wafler, fei es auch noch fo allmählig, Wein entftünde. 
Hier wird nun der Sache die Wendung gegeben, daß allerdings 
aus Wafler, aus der durch Regen u. dgl. in die Erde gebrachten 
Feuchtigkeit, die Rebe ihren Eaft ziehe, den fie fofort zur Pro- 
duction der Traube und des in ihr enthaltenen Weines verwende, 
fo daß folglich allerdings jährlich vermöge eines natürlichen Bros 
cefies aus Wafler Wein entftehe. ) Allein abgefehen davon, 
daß das Waſſer nur Eine der elementarifchen Potenzen ift, welche 
die Rebe zu ihrer Fruchtbarkeit nöthig hat, und daß zu demfelben 
noch Erde, Luft und Licht hinzukommen müfjen: fo koͤnnte doch 
weder von einer, noch von allen biefen elementarifchen Potenzen - 
zufammen gefagt werben, daß fie die Traube oder den Wein 
hervorbringen, daß alfo Jeſus, wenn er aus Wafler Wein 
hervorbrachte, daffelbe, nur fehneller, gethan habe, was ſich in 
allmähligem Proceſſe jährlich wiederhole; fondern auch hier wieder 
find weſentlich verfchiedene Togifche Kategorien verwechfelt. Wir 


. mögen nämlich das Verhältniß des Products zum Producirenden, 


von welchem es fich hier handelt, unter die Kategorie von Kraft 
und Aeußerung, oder von Urfache und Wirkung ftellen: niemals 
‚wird gejagt werden Tönnen, daß das Wafler die Kraft oder die 


— — 





2) So, von DIshaufen gebilligt, Auguftin a. a. O.: sicut enim, 
quod miserunt ministri in Iydrias, in vinum conversun est 
opere Domini, sie et quod nubes fundunt, in vinum convertitur 

- ejusdem opere Domini. 








\ 


Reuntes Kapitel. $. 103. 209 


Urſache fei, welche Trauben und Wein hervorbringe, fondern 
die Kraft, welche deren Entftehung verurfacht, ift immer nur 
die vegetabilifche Individualität des Weinftods, zu welcher fi 
das Waſſer nebft den übrigen elementarifchen Agenzien nur wie 
die Spllicitation zur Kraft, wie die Veranlaffung zur Urſache, 
verhält. D. 5. ohne Einwirkung von Waſſer, Luft u. f. f. 
fann allerdings die Traube nicht entftehen, fo wenig als ohne 
die Rebe; aber der Unterfchied ift, daß in der Rebe die Traube 
an fich over dem Keime nach bereitö vorhanden ift, welchem 
Waſſer u: f. f. nur zur Entwidlung verhelfen: in dieſen eles 
mentarifchen Wefen dagegen ift die Traube weder actu 
noch potentia vorhanden, fie Fönnen dieſelbe auf Feine Weife 
aus fich, fondern nur aus einem Andern, der Rebe, entwideln. 
Aus Waſſer Wein machen heißt alfo nicht, eine Urſache 
fihneller, als auf natürlihem Wege erfolgen würde, zur 
Wirffamfeit bringen, fondern ohne Urfache, aus der bloßen. 
Veranlaffung, die Wirfung entftehen Taffen; ober, beftimmter 
auf Das Organifche bezogen, ein organifches Product ohne den 
producirenden Organismus aus dem bloßen unorganifchen Mas 
terial, oder vielmehr nur aus Einem Beftandtheil dieſes Mates 
rials, hervorrufen: ungefähr wie wenn Einer aus Erde, ohne 
Dazwifchenfunft der Getreidepflanze, Brot, aus Brot, ohne 
es vorher durch einen thierifchen Körper affimiliren zu laſſen, 
Fleiſch, aus Wein auf eben diefelbe Weife Blut gemacht haben 
ſollte. Wil man fich daher nicht bloß auf das Tinbegreifliche 
eines Allmachtswortes Jeſu berufen, fondern mit Olshauſen 
den Proceß, der in dem fraglichen Wunder enthalten fein 
müßte, nach Art eines Naturprocefles fich näher bringen: fo 
muß man nur nicht, um die Sache fiheinbarer zn machen, 
einen Theil der dazu gehörigen Momente verfehweigen, fondern 
alle hervorftellen, welche dann folgende geweſen fein müßten: 
1) zu dem elementarifchen agens des Waflers müßte Jeſus bie 
Kraft der übrigen oben genannten Elemente gefügt, dann aber 
2) was die Hauptfache ift, die organifche Individualität der 
Rebe ebenfo unfichtbar herbeigefchafft haben; 3) hätte er nun 
U. Band, U 14 


- 


210 Zweiter Abfchnitt. 


den natürlichen Proceß dieſer Gegenftände mit einander, das 
Blühen und Bruchitragen der Rebe fammt dem Reifen ber 
Traube, bis zum Augenblidlichen beſchleunigt; 4) hierauf den 
Kunftproceß des Preflens u. f. f. unfichtbar und plöglich ger 
ſchehen Iaflen, und endlich 5) den weiteren Naturproceß der 
Gährung wieder bis zum Augenblidfichen befchleunigen müſſen. 
Auch hier demnach ift Die Bezeichnung des wunderbaren Vor⸗ 
gangs als befchleunigten Naturproceffes nur von zwei Mo- 
menten unter fünfen hergenommen, während deren drei unter 
dieſen Gefichtspunft fich gar nicht bringen laflen, von welchen 
doch Die beiden erftlen, namentlich das zweite, von einem 
Belange find, ver felbft den bei der Speifungsgefchichte von 
biefer Borftellungsweife vernachläffigten Momenten nicht zufam: 
jo daß alfo von einem befchleunigten Naturproceß hier fo wenig 
wie dort die Rebe fein kann.5) Da aber allerdings dieſe 
Kategorie die einzige oder Außerfte ift, unter welcher wir 
dergleichen Vorgänge unferem VBorftellen und Begreifen näher 
bringen können: fo ift mit der Unanwenpbarfeit jener Kategorie 
auch die Undenkbarkeit des Vorgangs dargethan. . 

Doch nicht allein in Bezug auf die Möglichkeit, ſondern 
auch auf die Zwedmäßigfeit und Schidlichfeit ift das vorlier 
gende Wunder in Anfpruch genommen worden. Zwar der in 
älteren —) und neueren ) Zeiten gemachte Vorwurf, daß «8 
Jeſu unwürdig fer, fich nicht allein in Gefellfchaft von Trun⸗ 
kenen betreten zu laffen, fondern ihrer Trunfenheit durch feine 
Wunderkraft noch Vorſchub zu thun, ift als übertrieben abzus 
weifen, indem, wie die Erflärer mit Recht bemerken, aus dem 
örov ueFvcIwor (DB. 10.), welches ber apxızgixdwos in Bezug 


5) Auch Lücke, 1, S. 405, findet die Analogie mit dem bezeichneten 
Naturproceß mangelhaft und ‚undeutlich, und weiß fi "hierüber nur 
daburch einigermaßen zu beruhigen, daß ein aͤhnlicher uebelſtand auch 
bei dem Speiſungswunder ſtattfinde. 

6) Bei Chryfoſtomus, homil. in Joann. 21. 

7) Woolſton, Disc, 4. 














Neuntes Kapitel. $. 103. 211 


auf den gewoͤhnlichen Hergang bei dergleichen Mahlen bemerkt, 
für den damaligen Fall nichts mit Sicherheit gefolgert werden 
kann. So viel jedoch bleibt immer, was nicht allein Pau⸗ 
[us und die Probabilien ) bemerklich machen, ſondern auch 
Lücke und Olshauſen als eine bei'm erften Anblick fich 
aufdringende Bedenklichkeit zugeftehen, daß nämlich Jeſus durch 
dieſes Wunder nicht, wie er fonft pflegte, irgend einer Noth, 
- einem wirflichen Bedürfniß, abhalf, fondern nur einen weiteren 
Reiz der Luft herbeifchaffte; nicht fowohl hülfreich, als viel 
mehr gefällig fich erwies; mehr nur, fo zu fagen, ein Luxus⸗ 
wunder, als ein wirklich wohlthätiges, verrichtete. Sagt man 
bier, es ſei ein binreichender Zweck des Wunders gewefen, 
den Glauben der Jünger zu befeftigen, I) was nah 2. 11. 
auch wirffich die Folge war: fo muß man fich erinnern, daß 
bei den übrigen Wundern Jefu in der Regel nicht allein das 
Formale derfelben, d. h. daß fie außerordentliche Erfolge waren, 
etwas Wünfchenswerthes, nämlich den Glauben der Anwefens 
den, zur Folge hatte, fondern auch ihrem Materialen, d. 5. 
daß fie in Heilungen, Speifungen u. dgl. beftanden, eine 
wohlthätige Abficht zum Grunde lag. Bei dem gegenwärtigen 
Wunder fehlt diefe Seite, und Baulus hat fo Unrecht. nicht, 
wenn er auf den Widerfpruch aufmerffam macht, welcher darin 
liege, daß Jeſus zwar dem DVerfucher gegenüber jede Auffor⸗ 
derung zu folchen Wundern, die, ohne materiell wohlthätig, und 
durch ein dringendes Bebürfniß gefordert zu fein, nur formell 
etwa Glauben und Bewunderung wirfen Fönnten,, abgewielen, 
und nun doch ein folches Wunder gethan haben follte. 10) 
Man war daher fupranaturaliftifcherfeits auf die Wendung 
angeiwiefen, nicht Glauben überhaupt, welcher eben fo gut ober 
noch beffer durch eine auch materiell wohlthätige Wunderhand⸗ 
lung zu bewirfen war, fondern eine ganz ſpecielle, eben nur 


‚9 p. a2. 

9 Tholuck, z. db. ©t. 
40) Comm. 4, ©. 151 f. ” 
14 # 


212 Zweiter Abſchnitt. 


durch dieſes Wunder zu bewirkende Ueberzeugung habe Jeſus 
durch daſſelbe hervorbringen wollen. ' Und bier lag nun nichts 
näher, als durch den Gegenfag von Wafler und Wein, um 
welchen ſich das Wunder dreht, an den Gegenfag zwiſchen dem 
Bentibuw &v über (Matth. 3, 11.), der zugleich ein olvov 1m 
civov. war (Luc. 1, 15. Matth. 11, 18.), und demjenigen, 
welcher, wie er mit dem heiligen Geift und mit Feuer taufte, 
fo auch die feurige, geiftreiche Frucht des Weinſtocks ſich nicht 
verfagte, und daher oivorsosng gefcholten ward (Matth. 11, 19.), 
erinnert zu werden, um fo mehr, da das vierte Evangelium, 
welches die Erzählung von der Hochzeit zu Kana enthält, in 
feinen erften Abfchnitten befonders die Tendenz zeigt, vom 
Täufer zu Jeſu herüberzuführen. Daher haben denn Herder!) 
und nach ihm einige Andere 12) angenommen, Jeſus habe durch 
jenes Bornehmen feinen Süngern, von welchen mehrere vorher 
Echüler des Täirferd gewefen waren, das Verhältniß feines 
‚Geiftes und Amtes zu dem des Johannes verfinnlichen, und 
den Anftoß, welchen fie etwa an feiner liberaleren Lebensweiſe 
nehmen mochten, durch das Wunder niederſchlagen wollen. 
Allein hier tritt nun dasjenige ein, was gleichfalls felbft 
Freunde diefer Auslegung als auffallend hervorheben '%), daß 
Jeſus das finnbildliche Wunder nicht benügt, um durch erläus 
ternde Reden feine Jünger über fein VBerhältnig zum Täufer 
aufzuflären. Wie nöthig eine folche Auslegung war, wenn 
das Wunder nicht feinen fpeciellen Zwed verfehlen follte, 
erhellt fogleich daraus, daß ver Referent nach V. 11. bafielbe 
gar nicht in diefem Sinn, als Veranſchaulichung einer beſon⸗ 
bern Marime Jeſu, fondern ganz. allgemein, als gpavegwous 





. 


— 


u) Won Gottes Sohn u. f. f. nach Johannes Evangelium, S. 131 f. 


2) &. Ch. Flatt, über die Verwandlung bes Waſſers in Wein, in 
Süskind’s Magazin, 14. Stuͤck, ©. 86 f.; Olshauſen, a. a. O. 
S. 75 f.; vgl. Neander, &. 3. Chr., ©. 372. 


15) Dlshaufen, a. a. ©. 





4 


Neuntes Kapitel. 6.103. 218 


feiner dose, verftanden hat.) War alfo doch jene fpecielle 
Berftändigung Jeſu Zweck bei dem vorliegenden Wunder, fo 
hat ihn der Verfaſſer des vierten Evangeliums, d. h. nad 
der Borausfegung jener Erflärer fein empfänglichfter Schüler, 


. mißverftanden, und Jeſus, diefem Mißverftändniß vorzubeugen, 


auf unzweckmaͤßige Weife verfäumt; oder, wenn man biefes 
Beides nicht annehmen will, fo bleibt e8 dabei, daß Jeſus 
den allgemeinen Zweck, feine Wunderfraft zu zeigen, gegen 
feine fonftige Weife durch eine Handlung zu erreichen gefucht 
hätte, an deren Stelle er eine nüglichere fheint Haben feßen 
zu können. 


Auch das unverhältnigmäßige Quantum Weins, welches 
Sefus den Gäften gewährt, muß in Erftaunen fegen. Sechs 
Krüge, jeder 2 bis 3 ueronves faflend, gäben, wenn der dem 
hebräifchen Bath entfprechende attifche uerorung, zu 1". römis 
ſchen amphoris oder 21 Würtembergifchen Maaßen, verftan- 
den ift, 252 — 378 Maaß. 5) Welches Quantum für eine 
Geſellſchaft, Die bereits ziemlich getrunfen hattel Welche uns 
geheuren Krüge! ruft au Dr. Baulus aus, und wendet 
nun Alles an, um die Maaßangabe des Terted zu verkleinern. 
Auf_die fprachwidrigfte Weife gibt er dem wa ftatt feiner 
bistributiven eine zufammenfafjende Bedeutung, fo daß bie 6 
Hydrien nicht jede, fondern zufammen 2 bis 3 Metreten ent- 
halten haben follen, und auch DOlshaufen getröftet ſich nach 
Semler deſſen, daß ja nirgends bemerkt fei, das Waſſer 
aller Krüge fei in Wein verwandelt worden. Allein das find 
Ausflüchte: wen die Herbeifchaffung eines fo verfcehwenderifch 
und gefährlich großen Quantums von Seiten Jefu unglaublich 


——— — —— 


18) Auch Lücke findet jene ſymboliſche Deutung zu weit hergeholt, und 
zu wenig im Zone der Erzählung begrünbet, ©. 406. Vgl. deWette, 
exeg. Handb., 1, 3, S. 37. 

35) Wurm, de ponderum, mensurarum ete. rationibus ap. Rom. et 
Graec, p. 123. 126. Rgl. Tüde, z. d. ©t. 


214 Zweiter Abſchnitt. 


if, der muß Daraus auf einen unhiſtoriſchen Charakter der 
Erzählung ſchließen. 

Eigenthuͤmliche Schwierigkeit macht bei dieſer Erzählung 
auch das Verhaͤltniß, in welches ſie Jeſum zu ſeiner Mutter 
und dieſe zu ihm ſetzt. Nach des Evangeliſten ausdruͤcklicher 
Angabe war dieſes Wunder die agyn zwv anuelow Zefu: und 
doch zählt feine Mutter fo beftimmt darauf, er werde hier 
ein Wunder thun, daß fie ihm den eingetretenen Weinmangel 
nur Anzeigen zu bürfen glaubt, um ihn zu übernatürlicher 
Abhülfe zu bewegen, und felbft als fie eine abweifende Ant- 
wort erhält, verliert fie Diefe Hoffnung fo wenig, daß fie den 
Dienern Anweifung gibt, der Winfe ihres Sohnes gemärtig 
zu fein (V. 3. 5). Wie follen wir diefe Erwartung eines _ 
Wunders bei Jefu Mutter erflären? follen wir die johanneifche 
Angabe, die Waflerverwandlung fei das erfte Zeichen Jeſu 
gewefen, nur auf die Zeit feines öffentlichen Lebens beziehen, 
für feine Jugend aber die apofryphifchen Wunder der Kinpheits- 
evangelien vorausfegen ? oder wenn dieß ſchon Chryfoftomus 
mit Recht zu unfritifch gefunden hat, 10) follen wir lieber 
vermuthen, Maria habe, vermöge ihrer durch die Zeichen bei 
Sefu Geburt bewirften Weberzeugung, daß er der Meſſias fei, 
auch Wunder von ihm erwartet, und, wie vielleicht ſchon bei 
einigen früheren, fo nun auch bei diefem Anlaß, wo die Bers 
fegenheit groß war, eine Probe jener Kraft von ihm ver- 
langt? I) Wenn nur jene frühe Ueberzeugung der Angehörigen 
Sefu von feiner Meffianität in etwas wahrfcheinlicher, und 
namentlich Die außerordentlichen Ereigniffe der Kindheit, durch 
* welche fie hervorgebracht worden fein fol, mehr beglaubigt 
wären! wozu noch fommt, daß, auch den Glauben der Maria 
an die Wunderfraft ihres Sohnes vorausgefeßt, immer nicht 
: erhellt, wie fie unerachtet feiner abweifenden Antwort doch noch 


Car 2 2 — 
w 


6) Homil. in Joan... &: 0... 20. 
an Tholuch zv. Si: 02.5: BEE: Bus 


— 22 — non 











Neuntes Kapitel 6. 103; 215 


zuverfichtlich erwarten konnte, er werbe gerabe bei Diefer Gelegenheit 
fein erftes Wunder thun, und beflimmt zu wiflen glauben, er werbe 
es gerade fo thun, daß er die Diener dazu gebrauchen würde. ) 
Dieß beftimmte Wiſſen der Maria felbft um die Modalität des 
zu verrichtenden Wunders fcheint auf eine vorangegangene Er⸗ 
Öffnung Sefu gegen fie zu deuten, und fo ſetzt Olshauſen 
voraus, Jeſus habe feiner Mutter über das Wunder, das er 
vorhatte, einen Winf gegeben gehabt. Wann aber follte dieſe 
Eröffnung gefchehen fein? ſchon wie fie zu der Hochzeit gingen? 
da müßte alfo Jeſus vorausgefehen haben, daß e8 an Wein 
gebrechen würde; in welchem Falle dann aber Maria nicht 
wie von einer unerwarteten Verlegenheit ihn von dem olvov &x 

&ys0. in Kenntniß fegen konnte. Oder erft nach Diefer Anzeige, 
“ alfo in Verbindung mit den Worten: zi Euol xal ol yıma; 
x T. 4? aber hiemit läßt fich eine fo entgegengefegte Eröff- 
nung gar nicht in Verbindung denken; man müßte fich denn 
die abmeifenden Worte laut, die zufagenden aber Ieife, bloß 
für Maria, gefprochen vorftellen, was eine Komödie verans 
ftalten bieße. Begreift man fomit auf feine Weife, wie Maria 
ein Wunder, und gerade ein folches, erwarten Eonnte: fo ließe 
fich der erfteren Schwierigfeit zwar durch die Annahme fchein- 
bar ausweichen, dab Maria nicht in Erwartung eines Wun⸗ 
ders, fondern nur fo, wie. fie fich in allen ſchwierigen Fällen 
bei ihrem Sohne Rathe erholte, fih auch in diefem an ihn 
gewendet habe; 19 aber feine Erwiederung zeigt, daß er in den 
Worten feiner Mutter die Aufforderung zu einem Wunder - 
gefunden hatte, und die Anweifung, welche Maria den Diener 
gibt, bleibt ohnehin bei dieſer Annahme unerflärt. 


18) Dieß gilt aud) gegen Neander, ber auf den Glauben ber Maria an 
Jeſu Meffianität ſich mehr infofern beruft, als berfelbe durch bie 
feierlihe Inauguration bei der Taufe hervorgerufen fein mußte 
(S. 370). on 

9) Heß, Gefchichte Jeſu, 1, ©. 135. Vol. auch Calvin, 2 
d. St. 


216 | weiter Abſchnitt. 


Die Erwiederung Jeſu auf die Anmahnung feiner Mutter 
(DB. 4.) ift ebenfo oft auf übertriebene Weife getavelt, 2%) als 
auf ungenügende gerecht ir worden. Man mag immerhin 
fügen, das hebräifche IND) dem das Ti Euol xal Col 


entfpreche, fomme 3. B. 2 Sam. 16, 10. auch als gelinver 
Tadel vor, 2h oder fich darauf berufen, daß mit dem Amts- 
antritte Jeſu fein Verhältnis zur Mutter, was feine Wirf- 
ſamkeit betrifft, fich gelöst habe: ?2) gewiß durfte doch Jeſus 
auf die Gelegenheiten, feine Wundermacht in Anwendung zu 
bringen, mit Befcheidenheit aufmerffam gemacht werden, und 
fo wenig derjenige, welcher ihm einen Krankheitsfall mit hin- 
zugefügter Bitte um Hülfe anzeigte, eine Schmähung verdiente, 
fo wenig und noch weniger Maria, wenn fie einen eingetretenen 
Mangel mit bloß hinzugedachter Bitte um Abhülfe zu feiner 
Kenntniß brachte. in Anderes wäre es gewefen, wenn Jefus 
den Fall nicht geeignet, oder gar unwürdig gefunden hätte, 
ein Wunder an denfelben zu knüpfen: dann hätte er die auffor- 
dernde Anzeige als Reizung zu falfcher Wunverthätigfeit (wie 
in der Verfuchungsgefchichte) Hart abweifen mögen; fo hingegen, 
da er bald darauf Durch die That zeigte, daß er den Anlaß 
allerdings eines Wunders werth finde, ift fehlechterdings nicht 
einzufehen, wie er der Mutter ihre Anzeige, die ihm nur viel- 
leicht einige Augenblide zu frühe fam, verbdenfen konnte. 23) 
Den zahlreichen Schwierigkeiten ber fupranaturaliftifchen 
Auffaffung hat man auch bier durch natürliche Deutung der 
Gefchichte zu entfliehen verſucht. Bon der Sitte ausgehend, 
daß bei jüdiſchen Hochzeiten Gefchenfe an Wein oder Del ges 
wöhnlich waren, und davon, daß Iefus, der fünf neugeworbene 
Schüler ald ungeladene Gäfte mitbrachte, einen Mangel an 


— — — — — 


20) 3. B. von Woolſton a. a O. 

21) Fhatt, a. aD. ©. 90.; Tholuck, z. d. St. 
2) Olshauſen, z. d. St. | 

2) Val. auch die Probabilien, ©. a1 f. 











Neuntes Kapitel. $. 103. 217 


Wein vorausfehen konnte, nimmt man-an, des Scherzed wegen 
habe Sefus fein Gefchent auf unerwartete und geheimnißvolle 
Weife anbringen wollen. Die dose, welche er durch biefe 
‚Handlung offenbarte, ift hienach nur feine Humanität, welche 
gehörigen Ortes auch einen Spaß zu machen nicht verfehmähte; 
die zeisıs, die er fich Dadurch bei feinen Jüngern zumege brachte, 
ift das freudige Anfchließen an einen Mann, weldyer nichts 
von dem drüdenden Ernfte zeigte, den man fich vom Meſſias 
prognofticirte. Die Mutter wußte um den Vorſatz des Sohnes 
und mahnt ihn, wie es ihr Zeit ſchien, denſelben zur Aus- 
führung zu bringen; er aber erinnert fie fcherzend , ihm nicht 
durch Borfchnelligfeit den Spaß zu verderben. Daß er Wafler 
einfchöpfen ließ, feheint zu der ſcherzhaften Täufchung gehört 
zu haben, welche er beabfichtigte; daß, ald auf Einmal Wein 
ftatt Waſſers in den Krügen fich fand, dieß für eine wunders 
bare Verwandlung gehalten wurde, ift leicht begreiflich in einer 
fpäten Nachtſtunde, wo man fehon ziemlich getrunfen hatte; 
daß endlich Jeſus die Hochzeitleute über den wahren That: 
beftand nicht aufflärte, war die natürliche Confequenz, die 
hervorgebrachte fcherzhafte Täufchung nicht felbft zerftören zu 
wollen. 7) Wie übrigens die Sache zugegangen, durch welche 
Beranftaltung Jeſus den Wein an die Stelle des Waflers 
gebracht, dieß, meint Baulus, laſſe fih nicht mehr ausma- 
den; genug, wenn wir wiffen,. daß Alles. natürlich vor fich 
gegangen fei. Da aber nach der Annahme dieſes Auslegers 
der Evangelift fich der Natürlichfeit des Erfolge im Allgemeinen 
bewußt war, warum hat er ung feinen Winf darüber gegeben? _ 
Wollte er auch den Leſern die Ueberraſchung bereiten, welche 
Jeſus den Zufchauern- bereitet hatte: fo mußte er fie Doch 
hinterher auflöfen, um die Täufchung nicht bleibend zu machen. 
Namentlich durfte er nicht den irreführenben Ausbrud gebrau- 
hen, daß Jeſus durch Dielen Act zw dosav avra G. 11.), 


2) Yaulus, Comm. 4, S. 150 ff. e. J. 1, A, ©, 169 ff.; Natuͤr⸗ 
liche Geſchichte, 2, S. 61 ff. 


218 Zweiter Abſchnitt. 


was in der Sprache feines Evangeliums nur deſſen höhere 
Würde beveuten kann, geoffenbart habe; er durfte den Borfall 
fein onuslov nennen, was ein Uebernatürliches in fich fchließt; 
er durfte endlich nicht durch den Ausdruck: To vn olvov 
yeyernuevv (DB. 9.), noch weniger unten (4,'46.) durch Die 
Bezeichnung Kana’d mit Orre Enrolnoev vöwg olvov, den Schein 
erregen, als flimmte er der wunderhaften Auffaffung des Bors 
gangs bei. 7) Diefe Schwierigfeiten fuchte der Verfaſſer der 
natürlichen Gefchichte durch die Einräumung zu umgehen, daß 
ber Berichterftatter felbft, Johannes, die Sache für ein Wunder 
angefehen habe und als folches erzähle, Indeß, abgefehen von 

der unwürdigen Art, wie er diefen Irrthum des Evangeliften 
erflärt, 2) wäre e8 von Jeſu nicht wohl denfbar, daß er auch 
feine Schüler in der Täufchung der übrigen Gäfte erhalten, 
und nicht wenigftens ihnen eine Aufklärung über den wirklichen 
Hergang der Sache gegeben haben follte.e Man müßte daher 
annehmen, der Referent dieſes Worfalls im vierten Evangelium 
fei feiner von Jeſu Schülern gewefen; was jedoch über bie 
Ephäre dieſer Erflärungsweife hinausgeht. Doc, aud zuge 
geben, daß der Erzähler felbft, wer er immer fein möge, in 
der Täufchung derer, welche in dem Vorgang ein Wunder 
fahen, befangen geweſen fei, wobei alfo feine Darftellungs- 
weife und die von ihm gebrauchten Ausprüde begreiflich würden; 
fo ift Jeſu Verfahren und Handlungsweife deſto unbegreiflicher, 
wenn fein wirkliches Wunder im Spiele war. Warum richtete 
er die Darbringung des Geſchenks mit raffinirtem Fleiße fo ein, 
daß es als wunderbare Befcheerung erfcheinen mußte? warum 





fieß er namentlich die Gefäße, in welche er fofort den Wein zu 


bringen im Sinne hatte, vorher mit Wafler voll machen, deſſen 
nothiwendige Wiederentfernung am unbemerften Vornehmen der 
Sache nur hinderlich fein fonnte? wenn man nicht mit Wool⸗ 
flon annehmen will, er habe dem Waffer nur durch zugegoffene 


25) Bgl. hierüber Flatt, a. a. O. ©. 77 ff. und Lüde, 3. d. Abſchn. 
26) Er gibt bem weduoxeoda: X, 10 eine Beziehung auch auf den Johannes. 


‚ Reuntes Kapitel. $. 103. 219 


Liqueure einen Weingeſchmack ertheilt. Das Gefühl diefer dop⸗ 
pelten Schwierigfeit, theild das Hineinbringen des Weins in 
‚die bereitd mit Waffer gefüllten Krüge denkbar zu machen, 
theil8 Jeſum von dem Verdachte freizufprechen, als hätte- er 
den Schein einer wunderbaren _ Verwandlung des Waffers 
erregen wollen, mag es gewefen fein, was den DVerfaffer ver 
natürlichen Gefchichte bewog, den Zufammenhang zwifchen dem 
eingefüllten Waſſer und dem fpäter zum Vorfchein gefommenen 
Mein ganz zu zerreißen durch die Annahme, das Waſſer habe 
Jeſus holen laſſen, weil es auch daran fehlte, und er den 
wohlihätigen Gebrauch des Wafchens vor. und nach der Tafel 
empfehlen wollte, den Wein aber” habe er hernach aus einer 
anftoßenden Kammer, wohin er ihn geftellt hatte, herbeibringen 
lafien — eine Auffafiung, bei welcher freilich entweder Die 
Trunfenheit ſämmtlicher Gäfte und namentlich des Referenten 
al8 ziemlich bedeutend angenommen werben müßte, wenn fie 
ben aus. der Kammer gebrachten Wein für einen aus ben 
- Wafferfrügen .gefchöpften angefehen haben follen, over die täus 
ſchende Veranftaltung Jeſu als fehr fein angelegt, was mit 
feiner fonftigen Geradheit fich nicht verträgt. 

Sn Diefer Klemme zwifchen der fupranaturaliftifchen und 
ber natürlichen Erklärung, von welchen auch hier Die eine fo 
wenig als die andre-genügen kann, müßten wir nun mit einem 
der neueften Audleger des vierten Evangeliums warten, „bis 
es Gott gefällt, durch weitere Entwidelungen des befonnenen 
chriſtlichen Denkens die Löfung dieſer Räthfel zu allgemeiner 
Befriedigung herbeizuführen ; 2) wenn uns nicht ein Ausweg 
ſchon dadurch angezeigt wäre, daß wir die betreffende Gefchichte 
nur bei dem Einen Johannes finden. War fie, einzig in ihrer 
Art wie fie ift, zugleich das erfte Zeichen Jeſu, fo mußte fie, 
wenn auch damals noch nicht alle Zwölfe mit Jefu waren, 
doc) diefen allen befannt werden, und wenn auch unter ben 
übrigen Evangeliften fein Apoftel ift, doch in die allgemeine 


2) 2üde, ©, 407. 


220 Zweiter Abſchnitt. 


Tradition und von da in die fonoptifchen Aufzeichnungen über- 
gehen: fo, da fie nur Johannes hat, fiheint die Annahme, 
daß fie in einem den Synoptifern unbefannten Eagengebiet 
erft entſtanden, leichter als die andere, daß fie aus dem ihrigen 
fo frühzeitig verfehwunden fei; es kommt nur darauf an, ob 
wir im Stande find, nachzuweifen, wie auch ohne hiftorifchen 
Grund eine ſolche Sage fich geftalten konnte. Kaifer ver- 
weist hiefür auf den abenteuerlichen Geift des verwanbelnden - 
Orients: aber diefe Inftanz ift fo unbeftimmt, daß Kaifer 
allerdings noch die DVorausfegung eines wirflich vorgefallenen 
humanen Echerzes Jeſu nöthig hat, ?%) womit er in der unglüd: 
lichen Mitte zwifchen mythiſcher und natürlicher Erklärung 
ftehen bleibt, aus weldyer man nicht eher herausfommt, als 
bis man beftimmtere, näher liegende mythiſche Anhalts- und 
Entftehungspunfte für eine Erzählung herbeizufchaffen im Stande 
iſt. Im gegenwärtigen Sale nun braucht man weder bei’m 
Drient überhaupt, noch bei Verwandlungen im Allgemeinen 
ftehen zu bleiben, da fich beftimmt Waflerverwandlungen im 
‘engeren Kreife der hebräifchen Urgefchichte finden. Neben einigen 
Erzählungen, daß Mofes den Israeliten in der Wüfte aus 
dürrem Felfen Waſſer verfchafft habe (2. Mof. 17, 1 ff. 4. Mof. 
20, 1 ff.); eine Wafferbefeheerung, welche, nachdem fie in 
modifieirter Weife fich in der Gefchichte Simfon’s wiederholt 
hatte Richt. 15, 18 f.), auch in die mefftanifchen Erwartun- 
gen übergetragen wurde; 9 ift die erfte dem Mofes zugefchries 
bene Wafferverwandlung jene Umwandlung alles Waflers in 
Aegypten in Blut, welche unter den fogenannten zehn Plagen 
aufgeführt wird (2. Mof. 7, 17 ff.). Neben diefer mutatio 
in deterius findet fich aber in der Gefchichte des Mofes auch 
eine am Waſſer vollzogene mutatio in melius, indem er 


28) Bibl. Theol. 1, ©. 200. 


29) In der, Band 1, $. 14 angeführten Stelle aus Midrasch Koheleth 
beißt e8 unter Anderem: Go&l primus — ascendere fecit 'puteum: 
sic quoque Goël postremus ascendere faciet aquas etc. 





Neuntes Kapitel. $. 103. 221 


bitteres Waſſer nach Jehova's Anweifung füß machte (2. Mof. 
14, 23 ff.) 80), wie fpäter auch Elifa ein ungefundes Waffer 
gut und unſchädlich gemacht haben fol (2 Kön. 2, 19 ff.).ꝰi) 
Wie, laut der angeführten rabbinifchen EteHe, die Wafler- 
befeheerung,, fo feheint unfrer johanneifchen Erzählung zufolge 
auch die Waflerverwandlung von Mofes und den Propheten 
auf den Meffiad übergetragen worden zu fein, mit denjenigen 
Mopificationen jedoch, welche in der Natur der Sache lagen. 
Konnte nämlich auf der einen Geite eine Veränderung des 
Waſſers in's Schlimmere, wie jene mofaifche Verwandlung 
deffelben in Blut, konnte ein folches Etrafwunder dem milden 
Geifte des ald Meſſias erfannten Jefus nicht wohl angemeffen 
gefunden werden: fo konnte andererfeits eine ſolche Veraͤnde⸗ 
rung ind Befjere, welche, wie die Vertreibung der Bitterfeit 
oder Schädlichfeit, innerhalb der species des Waflers ftehen 
blieb, und nicht, wie jene Verwandlung in Blut, die Subftanz 
des Waflers felbft änderte, für den Meffias ungenügend er- 
fheinen: beides zufammengenommen aber, eine Veränderung 
des Waſſers in’ Beflere, welche zugleich eine fpecififche Vers 
Anderung feiner Subftanz wäre, mußte beinahe von felbft eine 
Verwandlung in Wein geben. Diefe ift nun von Johannes 
fo erzählt, wie-ed zwar nicht der Wirflichfeit, um fo mehr 
aber dem Geiſte feines Evangeliums angemefjen gefunden wer⸗ 
den muß. Denn fo undenkbar, gefehichtlich betrachtet, Die 
Härte Jeſu gegen feine Mutter erfcheint: fo ganz im Geifte 
des vierten Evangeliums ift es, feine Grhabenheit als des 
‚göttlichen Aoyog durch ein folches Benehmen gegen Bittende 
(wie Joh. A, 48.), und felbft gegen feine Mutter, auf die 
Epige zu ftellen. 39 Cbenfo im Geifte diefes Evangeliften ift 


20) Eine natürlihe Deutung dieſes Wunders gibt merkwürdigerweife ſchon 
Joſephus, Antig. 3, 1, 2. 

3) Man erinnere fi auch der Verwandlung von Waffer in Del, welde 
Eufebius, H. E. 6, 9. von einem Geifttigen Bifhof erzählt. 

82) Vgl. die Prodabilien, a. a. O. 


222 | Zweiter Abſchnitt. 


-e8 auch, den feſten Glauben, welchen Maria unerachtet der 
abweifenden Antwort Jeſu behielt, dadurch herauszuheben, daß 
er fie in einer hiſtoriſch unmöglichen Ahnung felbft von der 
Art und Weife, wie Jefus das Wunder verrichten würde, die 
oben befprochene Anmeifung den Dienern geben läßt. 8) 


$. 104. 
Zefus verwuͤnſcht einen unfrudhtbaren Beigenbaum. 


Die Anekdote von dem Feigenbaum, welchen Jeſus, weil 
er, hungrig, feine Srüchte auf ihm fand, durch fein Wort verr 
dorren machte, ift den zwei erſten Evangelien eigenthümlich 
(Matth. 21, 18 ff. Mare. 11, 12 ff), wird aber von ihnen 
mit Abweichungen erzählt, welche auf die Anficht von der Sache 
von Einfluß find. Und zwar fehlen Die eine Diefer Abweichungen 
des Markus von Matthäus der natürlichen Erklärung fo günftig 
zu fein, daß man namentlich auch mit Rüdficht auf fie dem Evan- 
geliften neuerlich eine Tendenz zu natürlicher Anficht von den 
Wundern Sefu zugefchrieben, und um Diefer einen, günftigen, Ab- 
weichung willen ihn auch bei der andern, ziemlich unbequemen, . 


3), De Wette findet die beigebrachten A.Z.lichen Analogien zu ferne lies 
gend; „näher der Sache, und nicht ferne dem griechifchen Boden, auf 
welchem das Evang. Soh. entftanden ift, läge nah ihm, was Wet: 
ftein anführt von Wafferverwandlung in Wein durch Bachus. Am 
analogften wäre e8, dieſe Weinſpende ald Gegenbild der Brotſpende, 
und beide als dem Brote und Weine im Abendmahl entſprechend anzu: 
fehen. Aber der mythiſchen Anfiht fteht entgegen 1) die noch nicht 
über den Haufen gemworfene Aechtheit unferes Evangeliums; 2) bag 
weniger fagenhafte als fubjective Gepräge der Erzählung; das darauf 
rubende Dunkel, der Mangel einer das Ganze beherrfchenden Idee, 
bei einem Reichthum von darin lirgenden, Jeſu würdigen, praftifhen 
Ideen.“ Hiemit fcheint eine natürliche Erklaͤrung aus Selbfttäufchung 
des Johannes angedeutet; welche bie oben bemerkten Schwierigkeiten 
gegen ſich hätte, 











Reuntes Kapitel. $. 104. 223 


bie fi in vorliegender Erzählung findet, in Schuß genom» 
men hat. 

Bliebe es nämlich bei der Art, wie der erfte Evangelift 
den Erfolg der Verwuͤnſchung Jeſu angibt: xad EinpwIn na- 
oayojua ouxij (B. 19.), fo würde es wohl ſchwer halten, 
hier mit einer natürlichen Erklärung anzufommen, da auch die 
gewaltfame Baulus’fche Deutung, nach welcher das raoe- 
xonue nur weiteres menfchliches Zuthun, nicht aber eine län- 
gere Zeitfrift ausfchließen fol, doch nur auf unbefugtem Her« 
übertragen des Markus in den Matthäus beruht. Bei Markus 
nämlich verwünfcht Jefus den Baum am Morgen nad feinem 
Einzug in Serufalem, und.erft am folgenden Morgen bemerfen 
die Jünger im Worübergehen, daß der Baum verdorrt ift. 
Durch dieſe Zwifchenzeit, welche Marfus zwifchen der Rebe 
Jeſu und dem Verdorren des Baumes offen läßt, drängt fich 
nun die natürliche Erklärung der ganzen Gefchichte ein, darauf 
fußend, daß in diefer Frift der Baum wohl auch durch natürs 
liche Urfachen habe verborren fönnen. Demgemäß fol Jeſus an 
dem Baume neben dem Mangel an Früchten auch fonft noch 
eine Beichaffenheit bemerft haben, aus welcher er ein baldiges 
Abfterben defielben prognofticirte, und dieſes Prognoftifon fol 
er ihm in den Worten: von dir wird wohl Niemand mehr 
Früchte zu effen befommen, geftellt haben. Als die Hibe des 
Tages die Vorausfage Jeſu unvermuthet fchnell verwirflichte, 
und die Jünger dieß am andern Morgen bemerkten: da erft 
fegten fie dieſen Erfolg mit den Worten Jefu vom vorigen 
Morgen in Verbindung, und begannen diefe als Verwünfchung 
aufzufaſſen: eine Deutung, welche übrigens Jeſus nicht beftä- 
tigt, fondern den Jüngern zu Gemüthe führt, mit nur einigem 
Selbftvertrauen werben fie nicht bloß ſolche fehon phyſiologiſch 
bemerkbare Erfolge vorausfagen, fondern noch viel Schwereres 
wiffen und bewirken fönnen.!) Allein gefegt auch, die Angabe 
des Markus wäre Die richtige, fo bleibt Doch auch fo die natürliche 


1) Paulus, ereg. Handb. 3, a, ©. 157 ff. 


224 Zweiter Abſchnitt. 


Erklaͤrung unmoͤglich. Denn die Worte Jeſu bei Markus 
(B. 14.): Amxèéri &x 08 eis Tov aliva umdels xaprıov Yayoı, 
müßten, wenn fie bloß eine Vermuthung was wohl geſchehen 
werde, enthalten follten, nothwendig ein &v bei ſich haben, und 
in dem ummerı Er 08 xaprıos yeyııcar des Matthäus ift ohne 
hin der Befehl nicht zu verfennen, obgleich Paulus auch hier 
mit einem bloßen „mag werden‘ abfommen möchte. Auch daß ' 
Jeſus den Baum felbft anrevet, fo wie das feierliche eis zov 
viva, welches er hinzufügt, fpricht gegen eine bloße Voraus⸗ 
fage und für die Verwünſchung; Paulus fühlt dieß wohl, i 
und deutet daher mit unerlaubter Gewaltfamfeit das Asyeı aven 
zu einem Sagen in Bezichung auf den Baum um, während 
er das eis ov aiwve durch Die Ueberſetzung: in die Kolgezeit 
hin, abſchwächt. Doch gefegt auch, die Evangeliften hätten aus 
ihrer irrigen Anficht von dem Vorgang heraus die Worte Jeſu 
über den Yeigenbaum in etwas verändert, und Jeſus alfo wirf- 
lich dem Baum nur ein Prognoftifon geftellt:- fo hat er Doch, 
als das Vorausgefagte eingetreten war, den Erfolg feiner über- 
natürlichen Einwirfung zugefchrieben. Denn wenn er daß, 
was er in Bezug auf den Feigenbaum geleiftet, al8 ein zuouelv 
bezeichnet (B. 21. bei Matth.), fo kann ſchon dieß nur gezwun⸗ 
gen auf eine bloße Borausfage bezogen werden; namentlich 
aber, wenn er es dem Bergeverfegen gegenüberftellt, fo muß, 
wie Diefes nach jeder möglichen Deutung doch immer ein Be 
wirfen ift, ebenfo auch jenes als eine Einwirkung auf den Baum 
gefaßt werden; jedenfall mußte Jefus dem xarroaow des Pe⸗ 
trus (DB. 21. Marc.) entweder widerfprechen, oder war fein 
Stillſchweigen Darüber Zuftimmung. Schreibt demnach Jeſus 
das Verdorren ded Baums hinterher feiner Einwirfung zu: fo 
hat er entweder auch fehon durch feine Anrede an denfelben 
eine Einwirkung beabfichtigt, oder gr hat den zufälligen Erfolg 
zur Täuſchung feiner Jünger ehrgeizig mißbraucht; ein Di- 
lemma, in welchem uns die Worte Jeſu, wie fie von den 
Evangeliften wiedergegeben ſind, entſchieden auf die erſtere Seite 
hinweiſen. 











Neuntes Kapitel. 8, 104. 295 


Unerbittfich alfo werden wir von dieſem natürlichen Er- 
klaͤrungsverſuch auf die fupranaturaliftifche Auffaffung zurüds 
gedrängt, fo fehwierig dieſe auch gerade bei vorliegender Ges 
ſchichte iſt. Was fich gegen die phnfifche Möglichkeit einer 
folchen Einwirkung fagen ließe, übergehen wir; nicht zwar, als 
ob wir mit Hafe uns anheiſchig machen Tönnten, fie aus ver 
natürlichen Magie zu begreifen, 2) fondern weil eine andere 
Schwierigkeit die Unterfuchung fehon vorher abfchließt, und gar 
nicht bis zur Erwägung der phnfifchen Möglichkeit kommen 
läßt, Diefer entſcheidende Anftoß betrifft die moralifche Moͤg⸗ 
lichfeit einer folchen Handlung von Seiten Jeſu. Was er hier 
vollzieht, ift ein Strafmunder. Ein folches findet fich fonft in 
den kanoniſchen Berichten über das Leben Jeſu nicht: nur bie 
apokryphiſchen Evangelien find, wie oben bemerft wurde, voll 
davon. In einem der Fanonifchen Evangelien findet fich viels 
mehr eine gleichfalls ſchon öfters angeführte Stelle, Luc. 9, 
55 f., weldye es als Bewußtfein Jeſu ausfpricht, daß eine Bes 
nügung der Wunderfraft, um Strafe zu üben und Rache zu 
nehmen, dem Geifte feines Berufs widerfpreche, und daſſelbe 
Bewußtſein fpricht der Evangelift über ihn aus, wenn er das 
jefaianifche: xalauov ovwvrsrguuuevv 8 nareakıı x T: M auf 
ihn anwendet (Matth. 12, 20.). Diefem Grundfas und feinem - 
fonftigen Verfahren gemäß hätte Jeſus vielmehr einen bürren 
Baum neubeleben, als einen grünen verdorren machen müffen, 
und um feine dDießmalige Handlungsweife zu begreifen, müßten 
wir Gründe nachzumwelfen im Stande fein, welche er gehabt 
haben Könnte, von dem dort ausgefprochenen Grundſatze, welcher 
feine Zeichen der Unächtheit gegen fich hat, in dieſem Ball ab» 
zugehen. Die Gelegenheit, bei welcher er jenen Grundſatz aufs 
ftellte, war die aus Anlaß der Weigerung eines famarifchen 
Dorfs, Jeſum und feine Jünger gaftlich aufzunehmen, an ihn 
gerichtete Frage der Zebedaiden, ob fie nicht nach der Weife 


2) 2. 3. $. 128, 
IL Rand, 15 


1 Zweiter Köfhuitt. 


des Elias Berner auf das Dorf herabtegnen laffen follen? wor; 
auf fie Jeſus an Pie Eigenthumlich leit des Geiſtes mahnt, dem 
ſie angehoͤren, mit welcher ein ſo verderbendes Thun ſich nicht 
vertrage. In unſerem Falle hatte es Jeſus nicht wie dort mit 
Menſchen, die ſich unrecht gegen ihn betragen hatten, ſondern 
mit einem Baume zu thun, den er nicht in ber erwuͤnſchten 
Berfaffung traf. Statt daß nun hierin ein beſonderer Grund 
läge, von jener Regel abzugeben, ift vielmehr der Hauptgrund, 
welcher in jenem erften Falle möglicherweife zur Verhängung 
eines Strafwunders hätte bewegen können, bei diefem zweiten 
nieht vorhanden. Der wmoralifche Zweck der Strafe naͤmlich, 
den Geftraften zur Einfiht und Anerfenntniß feines Fehlers 
zu bringen und dadurch zu beffern, fällt einem Baume gegen: 
über völlig weg, und felbft von Strafe als Vergeltung Tann 
bei einem unfreien Raturgegenftande nicht die Rede fein. ®) 
Eich gegen einen Ieblofen Gegenftand, den man eben nicht im 
erwünfchten Zuftande findet, zu ereifern, wird mit Recht als 
Mangel an Bildung ausgelegt; in folcher Entrüftung bis zur 
Zerflörung des Gegenftandes fortzugehen, wird felbft für roh 
und unwürbig angefehen, und Woolfton hat fo Urrecht 
Richt, wenn er behauptet, an jedem Andern als an Jefu wuͤrde 
eine ſolche Handlung fireng getäbelt werden.) Zwar bei 
wirklich objectiv und Habituel fehlerhafter Befchaffenheit eines 
Raturgegenftandes kann e8 wohl etwa gefchehen, daß ber 
Menſch ihn aus dem Wege räumt, um einen beffern an feine 
Stelle zu ſezen; wozu übrigens immer nur der Eigenthümer 
die gehörige Afforderung und Befugnis hat (vgl. Luc. 13, 
7). Daß aber diefer Baum, weil er eben damals Teine 
Früchte bot, auch im folgenden Jahre Feine getragen haben 
würbe, verftand ſich Feineswegs von felbft, und auch in der 


h) 


3) Augustin. de verbis Domini in ev. sec. Joann. sermo 44: Quid 


arbor fecerat, fructum non afferendo? quae culpa arboris infoe- 
cunditas ? 


%) Disc. 4 


Neuntes Kapitel, 6. 104, 297 


@rzählung wird das Begentheil angedeutet, wenn Jeſus feine 
Berwünfchung fo ausprüdt, daß auf dem Baume nie ‚mehr 
Früchte wachfen follen, was alfo ohne biefen Fluch vorausſetz⸗ 
lich doch noch gefchehen fein würbe. Ä 

War fo die üble Befchaffenheit des Baums Feine habitnelle, 
ſondern nur eine vorübergehende, fo war fie, wem wir dem 
Marfus weiter folgen, nicht einmal eine objective, fordern rein 
ſubjectiv nur in dem zufälligen Verhältniß des Baums zu dem 
augenblicklichen Wunſch und Bebürfniß Jeſu gegründet. Denn 
nad einem Zuſatze, welcher Die zweite Eigenthümlichfeit. des 
Markus in diefer Erzählung bildet, war eben damals nicht 
Feigenzeit (V. 13), es war. alfo fein Sehler, vielmehr ganz 
in der Ordnung, daß auch diefer Baum damals Teine hatte, 
und Jeſus, an-den es ſchon Wunder nehmen muß, daß er fo zur 
Unzeit Feigen auf dem Baume erwartete, hätte wentgftens, als 
er feine fand, fi auf das Ungegründete feiner Erwartung 
befinnen, und eine fo ganz unbilfige Handlung, wie die Vers 
wünfehung war, unterlaffen follen. Schon Kirchenväter Rießen 
ſich an diefem Zufabe des Marfus, und fanden unter Borauss 
fegung deffelben das Verfahren Jeſu ganz befonders räthfelhaft; ®) 
Woolſton aber fpottet nicht mit Unrecht, wenn ein Stentifcher 
Bauer im Frühjahr Obſt in feinem Garten fuchte, und Die . 
Bäume umbiebe, welche feines haben, fo würde er von Jeder⸗ 
mann ausgeladht werden. Die Ausleger haben durch eine 
Bunte Reihe von Conjecturen und Deutungen der Schwierigkeit : 
dieſes Zufages zu entgehen gefucht. Von der einen Seite hat 
man den Wunfch, daß doch die ſchwierigen Worte Fieber gar 
nicht Daftehen möchten, gerabesu in die Hypotheſe verwandelt, 


5) Orig. Comm. in Matth. Tom. 16, 29: 'O. St Magzos dvapgdyus ve 
xard Tor Toner, dree jupatrov Tı og nos TO Amor —— TE0L00E, 
ori — u yao nv waugös ouxwy: — Einoı rat ar re ei uno vaugös any 
mv, mög — GT. dg Wormer Tı ev Ku zur Tg Örxalos einev aus 
unxlrı ei; Tov alava er undeis xaęròoy gayn; vgl. Auguftin a. a. O. 

15° 


3368 Zweiter Abſchnitt. 


fie mögen wohl fpätere Gloſſe ſein.) Andrerſeits, da, wenn 
ein Zuſatz der Art daſtehen ſollte, eher die umgekehrte Angabe 

zu wuͤnſchen war, daß damals Feigenzeit geweſen, um naͤmlich 
Jeſu Erwartung, und ſeinen Unwillen, als er ſie getäuſcht ſah, 
‚begreifen zu koͤnnen: fo hat man auf verſchiedene Weiſe die 
Negation aus dem Satze zu ‚entfernen geſucht, theils ganz 
gewaltſam, indem man ſtatt 8 8 lad, nad) 7 interpungirte, 
hinter ovxam ein zweites 7» fupplirte, und überfete: ubi enim 
tum versabatur (Jesus), tempus ficuum erat; ?”) theils ab- 
geſchmackt, durch Verwandlung des Sages in einen Öragefag : 
nonne enim etc.;®) theild dadurch, daß Das xuupos auxuv 
von ber Zeit der Feigenernte genommen, und fo in dem Zufaß 
die Angabe, die Feigen feien noch nicht weggelefen, d. h. noch 
auf den Bäumen gewefen, gefunden wurde, ) wofür man fidh 
auf das xuupos zww xaprıov Matth. 21, 34. berief. Allein 
wie unter Diefem Ausbrude, der eigentlich nur das antecedens 
der Ernte, das Vorhandenſein der Früchte auf Aeckern oder 
Bäumen, bezeichnet, wenn er in einem affirmativen Sage fteht, 
Das ronsequens, die mögliche Fruchteinfammlung, nur in ber 
Art verftanden fein kann, daß das antecedens, das Dafein 
der Früchte auf dem Felde, miteingefchloffen bleibt, folglich &s« 
xaıp0S xapreov nur fo viel bedeuten kann: die (reifen) Früchte 
fiehen auf den Aedern, und find demnach zur Einfammlung 
bereit: cbenfo wird, wenn jener Ausdrud in einem negativen 
Sage fteht, zuerft das antecedens, das Befindlichfein ber 
Früchte auf dem Ader, Baum u. dgl., und erft mittelft deſſen 
Das consequens, die Einfammlung der Früchte, aufgehoben; 
dæ Esı xaıpös auxwv heißt alfo: die Beigen find nicht auf den 
Bäumen gegenwärtig, und fomit auch nicht zum Einfammeln 


6%) Toupii emendd. in Suidam, 1, p. 330. f. 
N) Heinfius u. A. bei Fritzſche, b, St. 
8) Maji Obs. ſ. bei demf. 
9» Dahme, in Henke'sen. DRagajin, 2. 8b. 2. Heft, ©. 252. Auch 
Kuindl, in Marc. p. 180 f. 


Neuntes Kapitel. $. 104. 229 


bereit, Teinesiwegs aber umgefehrt: fie find noch nicht "einge 
fammelt, und ftehen alfo noch auf ven Bäumen. Aber nicht 
nur diefe unerhörte Redefigur, daß, während den Worten nach 
das antecedens aufgehoben wird, dem Sinne nach nur das 
. consequens aufgehoben, das antecedens aber gefegt fein fol, 
fondern noch eine andere, die man bald Synchyſis, bald Hy- 
‚perbaton nennt, muß bei diefer Erflärung angenommen werden. 
Denn ale Angabe, daß damals die Feigen noch auf den Bäu- 
men gewefen, gibt der in Rede ftehende Zufag nicht den Grund, - 
warum Sefus auf jenem Baume feine fand, fondern, warum 
er welche erwartete: er ſollte alſo nicht hinter Sddv super x 
t. A, fondern nach 7AIev, el &ga evoroeı x. T. 4 ftehen; eine 
Berfegung, welche aber nur beweist, daß diefe ganze Erklärung 
gegen den Tert Täuft. Ueberzeugt einerfeits, daß der Zufak 
des Markus das Obwalten günftiger Umftände für das Vor: 
handenfein von Feigen auf jenem Baume verneine, aber andrer: 
feits doch bemüht, Jeſu Erwartung zu rechifertigen, fuchten 
andere Erflärer jener Verneinung ftatt des allgemeinen Sinns, 
dag es überhaupt nicht an der Jahrszeit geweſen fei, wovon 
Jeſus nothwendig hätte Notiz haben müffen, den particulären 
zu geben, daß nur befonpre Umſtaͤnde, welche Jeſu nicht noth⸗ 
wendig befannt fein mußten, der $ruchtbarfeit des Feigenbaums 
entgegengeftanden haben. in ganz fpecielles Hinderniß wäre 
es gewefen, wenn etwa ber Boden, in welchem der Baum 
wurzelte, ein unfruchtbarer geweſen wäre, und wirklich foll 
nach Einigen xaupog otxwv einen für Feigen günftigen Boden 
bezeichnen ; 10) Andere, mit mehr Achtung von der Wortbedeu⸗ 
tung von xaupog, bleiben zwar bei der Erflärung von günftis 
ger. Zeit, nur daß fie die Angabe des Markus nicht univerfell 
von einer fiehend und altjährlich der Feigen ermangelnden Jah⸗ 
reözeit, fondern nur von einem einzelnen, zufällig den Feigen 
ungünftigen Yahrgange verftehen. 1) Allein xaupog ift zunaͤchſt 


10) ©. bei Kuinoͤl z. d. Et. 


“) — exeg. Handb., 3, a, ©. 115; Dlshaufen, b. Comm. 
‚©. 782 f. 


200 Zweiter Abſchnitt. 


bie rechte Zeit im Gegenfage zur Unzeit, nicht eine günftige 
gegenüber einer ungänfligen; nım aber Tann, wenn einer, auch 
in einem unfruchibaren Sahrgange, zu ber Zeit, in welcher 
font die Früchte zu reifen pflegen, ſolche fucht, doch nicht 
gefagt werden, daß e& zur Unzeit fei, vielmehr könnte ein Miß⸗ 
jahr gerabe Dadurch bezeichnet werden, daß, öre nAgev 0 xaupog 
Toy xapreuv, man nirgends welche gefunden habe. Sevenfalls, 
wenn der ganze Jahrgang die Zeigen, eine in PBaläftina fo 
häufige Srucht, nicht begünftigte, mußte Jeſus dieß faft ebenfos 
gut wiffen, als wenn bie unrechte Jahrszeit war: fo daß das 
Raͤthſel bleibt, wie Jeſus über eine Befchaffenheit des Baums, 
‚welche in Folge ihm befannter Umftände nicht anders fein 
fonnte, fo ungehalten fein mochte. 

Allein erinnern wir und Doch nur, wer es ift, dem wir 
jenen Zufag verdanfen. Es ift Markus, welcher in feinem 
erläuternden, veranfchaulichenden Beftreben fo Manches aus 
feinem Eignen zufegt, und dabei, wie längft anerfannt ift, 
und auch wir auf unfrem Wege ſchon zur Genüge gefunden 
haben, nicht immer auf die überlegtefte Weife zu Werfe geht. 
So bier nimmt er gleich das erfte Auffallende, was ihm 
. begegnet, daß der Baum Feine Früchte hat, und ift eilig mit 
ber Erklärung bei der Hand, es werde die Zeit nicht geweſen 
fein; merft aber nicht, daß er, indem er phyfifalifch die Leer⸗ 
heit des Baums erflärt, dadurch Das Verfahren Jeſu moraliih - 
unerflärlich macht. Auch die oben erwähnte Abweichung von 
Matıhäus in Vetreff der Zeit, innerhalb welcher der Baum 
verborrte, ift, weit entfernt, eine größere Urfunblichkeit des 
Markus in diefer Erzählung, 1%) oder eine Neigung zu natür« 
licher Erklärung des Wunderbaren zu beweifen, wieder nur 
aus demſelben veranfchaulichenden Beftreben, wie ber zuletzt 
betrachtete Zuſatz, hervorgegangen. Das Bild eines auf cia 





12) Wie Sieffert meint, über den Urſprung u. ſ. f. S. 113 ff. 
Vgl. dagegen meine Mecenf. in ben Charakteriſtiken und Kritiken 
©. 372. 


Ramted Bapll. 5.10. 1 


Wort hin ploͤßlich verdorrenden Baus fällt der Einbildunge⸗ 
kraft ſchwer zu vollziehen: wogegen es nicht übel dramatiſch 
genannt werden Tann, den Proceß des Verdorrens hinter hie 
Scene zu verlegen, und erft von deſſen Reſultate die ſpaͤter 
Vorübergehenden Anficht nehmen zu Iaflen. — Wit feiner 
Behauptung übrigens; es fei damals, etliche Tage vor Dftern, 
‚feine Zeit für Zeigen gewefen, hätte, auf die Elimatifchen Pers 
hältnifie Palaͤſtina's gefehen, Markus infofern recht, als in fo 
früher Jahreszeit die frifch getriebenen Feigen jened Jahrgangs 
noch nicht reif waren, indem die Frühfeige oder. Boccore Doch 
erft um die Mitte oder gegen Ende Juni's, die eigentliche 
Beige, die Kermus, aber gar erft im Auguſtmonat reif wird, 
Dagegen konnte um die OÖfterzeit noch vom vorigen Herbft 
und über den Winter her die dritte Frucht des Feigenbaums, 
die fpäte Kermus, bie und da auf einem Baum angetroffen 
werben: 13) wie denn nach Sofephus ein Theil von Paläfting 
(das Uferland des galiläifhen See's, freilich fruchtbare, als 
die Gegend um Serufalem, wo die fraglihe Gefchichte vor⸗ 
ging) cüxov dexa oliv adıwlsintwg yogryel. 1%) 

Doch wenn wir auch auf dieſe Weife die allerdings er« 
fhwerende Notiz des Markus, daß der Mangel des Baums 
fein wirklicher gewefen, fondern nur Jeſu vermöge einer irrigen 
Erwartung fo erfchienen fei, auf die Seite gebracht haben: fo 
bleibt uns Doch auch nach Matthäus noch das Mißverhältniß, 
baß Jeſus wegen eines vieleicht bloß vorübergehenden Mangels 
einen Naturgegenftand zu Grund gerichtet hätte. Weil ihn 
hiezu weder oͤkonomiſche Rüdfichten, da er nicht Eigenthuͤmer 
des Baumes war, noch auch moraliſche Abſichten — auf einen 
‚bewußtlofen Naturgegenſtand — bewogen haben fönnen, ſo 
hat man den Ausweg ergriffen, al8 das eigentliche DObjet, 


12) ©, Paulus, a. a. O. ©. 168 f.; Winer, b. Realw. d A. Bel 
genbaum. 
1%) Bell. jud. 3, 10, 8. 


232 | gweiter Abſchutt. 


auf welches Jeſus hier wirken wollte, die Jünger zu ſubſti⸗ 
iuiten, den Baum aber und was Jeſus an ihm that, als 
bloßes Mittel feiner Abficht auf jene zu betrachten. Dieß iſt 
die fombolifche Auffaffung, durch welche ſchon die Kirchenväter, 
und nun auch die meiften orthodoren Theologen unter den 
Neueren, die Handlungsweiſe Iefu von dem Vorwurfe des 
Unpaffenden zu befreien gemeint haben. Nicht Erboßung über 
den Baum, der feinem Hunger feine Stillung bot, war hier 
nad die Stimmung Sefu bei diefem Acte, fein.Zwed nicht. 
fehlechtweg die Vertilgung des unfruchtbaren Gemwächfes : fon- 
dern mit. Befonnenheit bat er die ‚Gelegenheit eines früchteleer 
befundenen Baumes dazu benützt, den Jüngern durch eine 
ſymboliſche Handlung anſchaulicher und unvergeßlicher als durch 
Worte die Wahrheit zu machen, die nun entweder ſpeciell fo 
gefaßt werden kann, daß das jünifche Volk, welches beharrlich 
feine Gott und dem Meſſias gefälligen Früchte bringe, zu 
Grunde gehen werde, oder allgemeiner fo, daß überhaupt 
Jeder, der von guten Werfen fo entblößt fei, wie dieſer Baum 
von Früchten, einem ähnlichen Strafgericht entgegenzufehen 
habe. 5) Mit Recht indeß fordern andere Ausleger, wenn 
Jeſus mit der Handlung dieß bezwecktte, fo hätte er ſich irgend⸗ 
wie daruͤber erklaͤren müſſen; 16) denn war bei feinen Gleich⸗ 
nißreden eine Auslegung nöthig, fo war ſie bei einer Handlung 
um fo unentbehrlicher, je mehr dieſe ohne eine derartige Hins 
weifung auf einen außer ihr liegenden Zwed als Zwed für 
fich felbft gefaßt werden mußte. Zwar liege fich auch hier, 
wie fonft, annehmen, Sefus babe wohl zur Verftändigung 
feiner Jünger über das von ihm Vollzogene noch etwas ges 
fprochen, was jedoch die Referenten, mit dem Wunderfartum 


15) Ullmann, über die Unſuͤndlichkeit Jeſu, in feinen Stubien, 1, 8.50; 
Gieffert, 0.0.08. ©. 115 ff.; Olshaufen, 1, ©. 783 f. 
Neander, e. J. Chr., ©. 378. 

1) Yaulus, 0 a. O. S. 170; Hafe, 8.3. 5.128; auch Sief⸗ 
fert,a. a. O. 





Neuntes Kapitel. $. 104, 233 


zufrieden, weggelaffen haben. Allein follte Jeſus eine Deus 
tung feiner Handlung im angegebenen fymbolifchen Sinne 
gegeben haben, fo hätten die Evangeliften dieſe Rede nicht 
bloß verſchwiegen, fondern eine falfche an deren Stelle gefeht; 
denn fie laſſen Jeſum nach feinem Vornehmen mit dem Baume 
nicht fchweigen, fondern aus Anlaß einer verwunderungsvollen 
Srage feiner Jünger, wie es mit dem Baume zugegangen, 
eine Erläuterung geben, welche aber nicht jene fumbolifche, 
ſondern von ihr verfehieden, ja ihr entgegengefegt if. Denn 
wenn: Jeſus ihnen fagt, fie follen fich über das Verdorren des 
Teigenbaums auf fein Wort hin nicht wundern, mit nur 
wenigem Glauben werben fie nuch Größeres zu thun im Stande 
fein: fo legt er das Hauptgewicht auf fein Thun in der Sache, 
nicht auf den Zuftand und das Leiden des Baumes als Sym⸗ 
bole; er hätte alfo, wenn doch auf das Lebtere fein Abfehen ging, 
zweckwidrig zu, feinen Jüngern gefprochen; oder- vielmehr, wenn 
er fo fprach, Tann jenes feine Abficht nicht gewefen fein. 
Ebendamit fällt auch Sieffert's, ohnehin auf nichts fich 
ftügende Hypothefe, daß Jeſus zwar nicht nach, wohl aber 
vor jenem Arte, auf dem Weg zum Feigenbaum hin, über 
den Zuftand und die Zukunft des israelitifchen Volfs mit. feinen 
ZJüngern Gefpräche geführt habe, zu welchem die fombolifche 
Berwünfhung des Baums nur als von felbft verftändlicher 
Schlußſtein gefügt worden fei: Denn alles durch jene Einlei- 
tung etwa angebahnte Verſtändniß des fraglichen Actes hätte, 
zumal bei der Neigung der Zeit zum Miraculöfen, durch jenes 
Nachwort, welches nur die wunderbare Eeite des Factums 
berüdfichtigte, wieder zu Nichte gemacht werden müflen. Mit 
Recht hat daher Ullmann den hinzugefügten Worten Jeſu fo 
weit nachgegeben, daß er der von ihm zuläflig gefundenen 
ſymboliſchen Auffaffung die andere noch vorzieht, welche auch 
fonft ſchon vorgetragen war, 1) Jeſus habe durch die Wunder- 
handlung den Geinigen .einen neuen Beweis feiner Macht: 





17) Heydenreich, in den theol. Rachrichten, 1814, Mai, ©. 121 ff. 


2834 2 Zweiter Kbhfchuitt. 


vollfommenheit geben wollen, um dadurch ihr Vertrauen auf ihn 
für die bevorftehenden Gefahren zu flärfen. Oder vielmehr, da 
eine fperielle Beziehung auf das bevorftehende Leiden nirgends 
hervorgehoben, und in den Worten Jeſu nichts ‚enthalten ift, 
was er nicht auch ſchon früher gefagt hätte (Matth. 17, 20. 
Luc. 17, 6.): jo muß man mit Fritz ſche als die Auficht ver 
Evangeliften ganz allgemein dieſe ausfprechen, Jeſus habe feinen 
Unwillen über die Infruchtbarfeit des Feigenbaums als Gele 
genheit zur Berrichtung eined Wunders benügt, deſſen Zmed 
nur der allgemeine aller feiner Wunder war, fich als Meſſias 
zu beurfunden. '%) Ganz in dem von Fritzſche gezeichneten 9 
Beifte der Erzähler fpricht daher Euthymius, wenn er alles 
Brübeln über den befondern Zwed der Handlung verbietet, und 
nur im Allgemeinen auf das Wunder in ihr zu fehen er, 
mahnt. 2) Keineswegs aber folgt hieraus, daß auch wir 
und des Nachdenkens hierüber enthalten, und ohne Weiteres 
das Wunder glaubig hinnehmen müßten; vielmehr können wir 
“und der Bemerfung nicht erwehren, daß das befondere Wunder, 
welches wir. hier haben, weder aus dem allgemeinen Zwede 
des Wunderthuns überhaupt, noch aus irgend einem befondern 
Zweck und Grund als wirklich von Jeſu verrichtet ſich erflären 
läßt, vielmehr in jeder Hinficht feiner Theorie wie fonftigen 
Praxis widerfirebt, und deßwegen mit größerer Beftimmitheit 
als irgend ein andres, auch abgefehen von der Frage über bie 


18) Comm. in Matth. p. 637. 

19) Comm. in Marc. p. 481: Male — vv. dd. in eo haeserunt, 
quod Jesus sine ratione innocentem ficum aridam reddidisse vi- 
deretur, mirisque argutiis usi sunt, ut aliquod hujus rei consi- 
Hum fuisse ostenderent. Nimirum apostoli, evangelistae et omneg 
primi temporis Christiani, qua erant ingeniorum simplicitate, 
quid quantumque Jesus portentose fecisse diceretur, curarunt 

‘ tanftummodo, non quod Jesu in edendo miraculo consilium — 
fuerit, subtiliter et argute quaesiverunt. 

20) Mn dugıßoloyi ‚ Jart Terıneiggras TO yurov, dvabzuov $v- did vor 
doa To Saüua, ao) Japuale Tov Iayuaraßyor, 


Neuntes Kapitel. $. 104. 235 


phyſiſche Möglichkeit, für ein folches erklärt werben muß, wel 
ches Jeſus nicht wirklich verrichtet haben kann. 

Indem uns nun aber noch der pofitive Nachweis derje⸗ 
nigen Beranlaffung obliegt, Durch welche, auch ohne gefchichte 
lichen Grund, eine folche Erzählung entftehen konnte: fo finden 
wir in unferer gewöhnlichen Quelle, dem A. T., zwar wohl 
manche bilpliche Reden und Erzählungen von Bäumen und von 
Beigenbäumen insbefondere, aber Feine, welche zu unferer 
Erzählung eine fo ſpecifiſche Verwandtſchaft hätte, bag wir 
fagen könnten, diefe fei jener nachgebildet. Statt deffen aber 
bürfen wir im N. I. nicht weit blättern, fo finden wir fchon, 
zuerft in des Täufers (Matth. 3, 10.), dann in Jeſu eigenem 
Munde (7, 19.) die Gnome von dem Baume, der, weil er 
feine gute Srucht trägt, abgehauen und -in’s euer geworfen 
wird, und weiterhin (Luc. 13, 6 ff.) findet fich diefes Thema 
zu ber fingirten Gefchichte eines Herrn ausgeführt, welcher 
auf einem Feigenbaum in feinem Weinberge drei Jahre lang 
vergeblich Früchte fucht, und deßwegen benfelben umbauen 
laffen will, wenn nicht durch Die Fürbitte des Gärtners ihm 
‚noch eine einjährige Friſt ausgewirft würde. Schon Kirchen« 
väter haben in der Verwuͤnſchung des Feigenbaums nur eine 
thatfächliche Ausführung der Parabel vom Keigenbaum gefun« 
ben; 2) freilich in dem Sinne der vorhin angeführten Erfläs 
rung, daß Jeſus felbft den damaligen Zuftand und das bevor» 
ftehende Schiefal des jüdiſchen Volks, wie früher durch eine 
bildliche Rede, fo damals durch eine ſymboliſche Handlung 
habe darftellen wollen; was, wie wir gefehen haben, undenfbar 
ift. Dennoch werden wir uns der Vermuthung nicht erwehren 
fönnen, daß wir hier ein und daſſelbe Thema in drei verfchies 
denen Geftalten vor uns haben: zuerft in concentrirtefter 
Form, als Gnome, dann zur Parabel erweitert, und endlich 
- zur Gefchichte realifirt; wobei wir nur nicht annehmen, daß 
-2) Ambrosius, Comm. in Luc. 4 d. St. Achnlich ject Neander, 

R, 0. Q. ” j 


236 Zweiter Abſchnitt. 


Jeſus, was er zweimal durch Worte, zuletzt auch noch durch 
eine Handlung dargeſtellt, ſondern, daß die Tradition, was 
ſie als Gnome und paraboliſche Geſchichte vorfand, auch 
vollends zur wirklichen Begebenheit gemacht habe. Daß in 
dieſer wirklichen Geſchichte das Ende des Baums ein etwas 
andres iſt, als was ihm in der Gnome und Gleichnißrede 
angedroht wird, naͤmlich Verdorren ſtatt des Umgehauenwer⸗ 
dens, darf nicht zum Anſtoß gereichen. Denn war die Parabel 
einmal zur wirklichen Geſchichte, mit dem Subject Jeſus, 
geworden, war alſo ihr ganzer didaktiſcher und ſymboliſcher 
Gehalt in der äußeren Handlung aufgegangen: ſo mußte dieſe, 
foltte fie noch Gewicht und Intereffe haben, ale MWunderhands 
lung fich beftimmen, alfo die Durch Art und Hauen natürlich 
vermittelte Vertilgung des Baums in ein unmittelbare Ver⸗ 
dorren auf das Wort Jeſu fich verwandeln. Zwar feheint 
gegen Diefe Anficht von ber Erzählung, nach welcher ihr 
innerfter Kern duch fein andrer als ein fombolifcher bliebe, fich 
ebendaffelbe, was gegen die oben erwogene, einmwenden zu laffen: 
daß nämlich die daran fich knüpſende Rede Jeſu einer folchen 
Auffaffung widerſtrebe. Allein bei unferer Anficht von den 
Berichten find wir befugt, zu jagen, daß mit der Umwandlung 
der Parabel zur Gefchichte in der Ueberlieferung auch der ur⸗ 
fprüngliche Sinn von jener verloren ging, und, indem das 
Wunderbare ald der Nerv der Sache betrachtet zu werben 
anfing , irrigerweife jene, die Wundermacht und Glaubensfraft 
betreffende Rede damit verfnüpft wurde. Sogar bie befondere 
Beranlaffung, warum gerade bie Rede vom Bergeverfepen an 
die Erzählung vom Yeigenbaum angefnüpft tft, läßt fi) mit 
Wahrſcheinlichkeit nachweiſen. Die Glaubenskraft, welche hier 
durch ein von Erfolg begleitetes Sprechen zu einem Berge: 
aodırı xal BlrInmı eis 09 Ialacoov, dargeſtellt it, findet 
fich anderswo (Luc. 17, 6.) verfinnbilblicht durch ein ebenjo 
wirffames Sprechen zu einer Art von Feigenbaum (Gvxauwvos) : 
SoLwdrmı zei gurevdmı &v in.Ialacon. So erinnerte der 
verwünfchte Beigenbaum, fobald fein Verdorren ald Wirkung 


Neuntes Kapitel, $. 104. 237 


der Wunderkraft Jeſu gefaßt wurde, an den durch die wun⸗ 
derbare Kraft des Glaubens zu verpflanzenden Baum oder 
Berg, und ſo wurde dieſes Dictum jenem Factum angehaͤngt. 
Hier alſo gebührt dem dritten Evangelium der Preis, welches 
uns die Parabel von der unfruchtbaren aux) und die Gnome 
von der durch den Glauben zu verpflanzenden ovxauwog ges 
trennt und rein, jede in ihrer urfprünglichen Form und 
Bedeutung, erhalten hat, während die beiden andern Synoptifer 
die Parabel zur Gefchichte umgebildet, die Gnome aber (in 
etwas anderer Form) zu einer falfchen Deutung jener angebs 
lichen Gefchichte verwendet haben. 2%) 


22) Bol. biemit die im Wefentlichen übereinftimmenden Auffaffungen ber 
Erzählung bei de Wette, exeg. Handb. 1, 1, ©. 176 fe 1,2, 
©. 174 f. und bei Weiße, bie evang. Geſch. 1, S. 576 f. 


Zehntes Kapitel. 


Jeſn Verklärung und letzte Reiſe nach 
Jerufalem. 


$. 105. 


Die Verklaͤrung Jeſu ald wunderbarer aͤußerer Vorgang. 


. Mit den bisher unterfuchten Wundererzählungen konnte 
die Gefchichte von ver Verklärung Jeſu auf dem Berge nicht 
mehr verbunden werden: nicht bloß weil fie fein von Jeſu vers 
richtele8 Wunder wie jene, vielmehr ein an ihm vorgegangenes 
‚betrifft; fondern auch weil fie als ein für fich flehender Moment 
im Leben Jeſu hervortritt, welcher der Gleichartigfeit wegen 
nur etwa mit der Taufe und. Auferftehung zufammengeftellt 
werden fönnte; wie denn Herder mit Recht dieſe drei Bes 
gebenheiten als die drei lichten Punkte himmfifcher Beurkundung 
im Leben Jeſu bezeichnet hat. !) 

Sp, wie fich die fonoptifche Erzählung (Matth. 17, 1 ff. 
Marc. 9, 2 ff. Luc. 9, 28 ff.) — denn im vierten Evangelium 
fehlt die Gefchichte — dem erften Anblide darbietet, haben wir 
hier einen wirklichen äußeren und zwar wunderbaren Vorgang: 
als Jeſus 6 — 8 Tage nach feiner erften Leidensverfündigung 
mit feinen drei vertrauteften Jüngern einen hohen Berg beftieg, 


1) Vom Erlöfer der Menfchen nach unfern drei erften Evangelien, ©. 114. 


Zehntes Kapktel, $. 105. 2390 


waren Diefe Zeugen, wie mit einem Male fein Angeficht und ſelbſt 
feine Kleider in überirdifchem Glanze fich verflärten, wie zwei 
ehrwürdige Geftalten aus dem Geifterreiche, Mofes und Elias, 
erſchienen, ſich mit ihm zu unterreden, und wie endlich aus 
einer lichten Wolfe eine himmlifche Stimme Jeſum für Gottes 
Sohn, dem fie Gehör zu ſchenken hätten, erflärte. 

Diefe wenigen Züge der Gefchichte regen eine Menge 
Fragen an, um deren Sammlung ſich ®abler ein befonderes 
Vervienft erworben hat. Bei jedem der drei Momente des 
Vorgangs: dem Glanze, der Todtenerfcheinung, und der Stimme, 
läßt ſich ſowohl nach der Möglichkeit, als nach dem zureichenden 
Zwede fragen. Woher fol vorerft der außerordentliche Glanz 
an Jeſum gekommen ein? Berenft man, daß von einem 
ueronopp3odeı Jeſu die Rede ift, fo fiheint nicht an ein 
bloßes Beſchienenwerden von außen her, ſondern an eine von 
innen kommende Verklaͤrung gedacht werden zu müſſen, fo zu 
fagen an ein vorübergehendes Durchleuchten der göttlichen dofe 
durch die menfchliche Hülle; wie auch Olshauſen diefe Bes 
gebenheit als einen Hauptmoment in dem Läuterungs » und 
Berklärungsprocefie faßt, in welchem er die Leiblichfeit Jeſu 
während feines ganzen Lebens bis zur Himmelfahrt begriffen 
denft. 3) Allein, ohne das fchon oben Gefagte hier weiter auss 
zuführen, daß Jeſus entweder Fein wahrer Menfch war, ober 
Die mit ihm während feines Xebens vorgegangene Läuterung 
eine andere gewefen fein muß, als welche in einem Licht und 
Leichtwerden des Körpers beftand: fo ift in feinem Falle zu 
begreifen, wie an einem folchen Berflärungsproceß außer feinem 
Leibe auch feine Kleider theilnehmen konnten. Möchte man 
dieſes letzteren Punktes wegen lieber an eine Beleuchtung von 

außen denfen, fo wäre dieß dann Feine Metamorphofe, von 


2) In einer Abhandlung über bie Werklärungsgefdihte, in feinem neueften 
theolog. Journal, 1. Bd. 5. Stüd, S. 517 ff. Pol. Bauer, hebr. 
Mythol. 2, 8. 233 ff. 
% Bibl. Comm. 1, ©. 534 f. 


240 Zweiter Abſchnitt. 


welcher doch die Evangeliſten ſprechen: ſo daß alſo dieſe Scene 
zu keiner in ſich zuſammenſtimmenden Anſchauung gebracht 
werden kann, wofern man nicht etwa mit Olshauſen beides 
verbunden, Sefum fowohl ftrahlend als beftrahlt, fich denken - 
wit. Aber war diefer Glanz auch möglich : immer bleibt doch 
die Frage, wozu er denn gedient haben fol? Sagt man, was 
am nächften liegt: um Jeſum zu verherrlihen: fo war ber 
geiftigen Verherrlichung gegenüber, welche Jeſus Durch Rede 
und That fich felber gab, dieſe phufifehe durch glänzende Bes 
feuchtung eine fehr unmefentliche, und faft Findifch zu nennen; - 
fol fie aber dennoch zur Erhaltung des allzuſchwachen Glau⸗ 
bens nöthig gewefen fein, fo müßte fie vor der Menge, oder 
doch vor dem weiteren Kreife der Jünger, nicht aber vor dem 
engften Ausfchuffe der Fräftigften_vorgenonimen, minbeftensd den 
wenigen Augenzeugen nicht die Mittheilung gerade für die am 
meiften Fritifche Zeit, bis zur Auferftehung‘, unterfagt worden 
fein. — Mit verftärkter Kraft Tehren dieſe beiden Fragen bei 
dem zweiten Moment in unferer Gefchichte, bei der Erfcheinung 
der beiden Verftorbenen, wieder. Können abgefchiedene Seelen 
den Lebenden erfcheinen? und wenn, wie es fcheint, die beiden 
Gottesmänner mit ihrem vormaligen, nur verflärten, Leibe fich 
zeigten, woher nahmen fie dieſen — nach biblifcher Vorftelung — 
vor der allgemeinen Auferftehung? Zwar bei Elias, der ohne 
Ablegung des Körpers gen Himmel fuhr, macht dieß weniger 
Schwierigkeit: allein Mofes war doch geftorben, und fein 
Leichnam begraben worden. Vollends aber zu welchem Zwede 
follten die beiden großen Todten erfchienen fein? Die evange⸗ 
lifche Darttelung, indem fie die beiden Geftalten als ovAle- 
Aövres co I. darftellt, ſcheint den Zwed der Erfcheinung in 
Sefum zu fegen; näher, wenn. Lukas Recht hat, bezog fich Dies 
felbe auf das Jeſu bevorftehende Leiden und Sterben. Aber 
angekündigt können fie ihm dieß nicht erft haben, da der eins 
flimmigen Angabe der: Synoptifer zufolge ſchon eine Woche 
vorher er felbft e8 vorausgefagt hatte (Matth. 16, 21 parall.). 
Daher vermuthet man, dur) Mofes und Elias fei Jeſus nur 


Zehnted Kapitel. $. 105. 241 


von den näheren Umftänden und Berhältnifien feines Todes 
genauer unterrichtet worden: % allein einerfeits ift e8 der Stels 
. lung, welche die Evangelien Jeſu zu den alten Propheten geben, 
nicht angemefjen, daß er von ihnen Belehrung bedurft haben 
ſoll: andrerſeits hatte Jeſus ſchon früher fein Leiden mit fo ge⸗ 
nauen Zügen vorhergefagt, daß die fperielleren Eroͤffnungen aus 
ber Geiſterwelt nur etwa das regadidondar Toig &Iveoı und 
&untveoder, wovon er erſt fpäter-fagt (Matth. 20, 19. Mare. 
10, 34.), betroffen haben Fönnten. Oder follte die an Jeſum 
zu machende Mittheilung nicht fowohl in einer Belehrung, ale 
in einer Stärkung für fein bevorftehendes Leiden beftehen: fü ift 
um diefe Zeit noch feine Spur eines Gemüthszuftands bei Jeſu 
zu finden, welcher einen Beiftand diefer Art zu erheifchen fchei- 
nen fonnte; für Das fpätere Leiden aber hätte dieſe fo frühe 
Stärfung doch nicht hingereicht, wie wir daraus fehen, daß in 
Gethfemane eine weitere nöthig war. Werden wir fo, wiewohl 
bereitS gegen die Anlage des Tertes, zu dem Verſuche veran- 
laßt, ob fich der Erfcheinung nicht vieleicht eine Beziehung auf 
die Jünger geben laſſe: fo reicht der Zwed der Glaubensftärkung 
überhaupt zur Begründung einer fo befondern DVeranftaltung 
theils als zu allgemein nicht aus; theils müßte Jefus in ber 
Parabel vom reichen Manne den leitenden Grundfag der götts 
lichen Fügungen in diefer Beziehung falfch gebeutet haben, 
wenn er ihn dahin ausfprach, daß, wer den Schriften des Mofes 
und der Propheten — und wie viel mehr, wer dem gegenwärtigen 
Chriftus — fein Gehör ſchenke, auch durch einen wiederkehrenden 
Todten nicht zum Glauben gebracht werden würde, weßwegen 
denn eine ſolche Erfcheinung, wenigftens zu jenem Zwede, von 
Gott nicht verfügt werde. ‘Der fperiellere Zweck, Die Jünger 
von der Uebereinſtimmung der Lehre und Schidfale Jeſu mit 
Mofes und den Propheten zu überzeugen, war zum Theil ſchon 
erreicht; zum Theil aber wurde er es erft nach dem Tod und 
der Auferftehung Jeſu und der Ausgießung des Geiftes, ohne 


Olshauſena. a. O. S. 837. 
II. Band. 16 


242 Ä Zweiter Abſchnitt. 


dag die Verklärung in dieſer Hinficht irgend. Epoche gemacht 
hätte. — Endli die Stimme aus der lichten Wolfe (ohne 
3meifel der Schechinah) ift, gleich der beider Taufe, eine - 
Gottesftimme: aber wie anthropomorphiftifc muß die Vorſtel⸗ 
lung von Gott fein, welche ein wirkliches hörbares Sprechen 
Gottes für möglich hält; oder wenn bier nur von einer Mit- 
theilung Gottes an das geiftige Ohr die Rebe fein fol, 5) fo 
iſt damit die Sache in das Bifionäre hinübergefpielt, und in 
eine ganz andere Betrachtungsweife übergefprungen. 


6. 106. 
Die natürliche Auffaflung der Erzäplung in verfchiebenen Formen. 


Den ausgeführten Schwierigfeiten derjenigen Anficht, welche 
die Verklärung Jeſu ald wunderbare und zwar äußere Bege⸗ 
benheit betrachtet, hat man dadurch zu entgehen gefucht, Daß 
man den ganzen Vorgang in das Innere der dabei betheiligten 
Merfonen verlegte. Hiebei braucht das Wunderbare nicht ſo⸗ 
gleich aufgegeben zu werden: nur feheint e8 als ein im menfchs 
lichen Innern gewirftes Wunder einfacher und denfbarer zu 
fein. Man nimmt daher an, daß durch göttliche Einwirkung 
das geiftige Wefen der drei Apoftel, und wohl auch Iefu felbft, 
bis zur Efftafe gefteigert worden fei, in welcher fie entweder 
wirklich mit der höheren Welt in Berührung traten, oder deren 
Geftalten aufs Lebendigfte felbft produciren Eonnten, d. h. man 
denkt fich den Vorgang als Viſion.!) Allein die erfte Stüße 
diefer Auffaffung, daß ja Matthäus felbft durch den Ausdruck: 
öoare (B. 9.), die Sache als einen bloß fubjectiven,. vifiond- 
ren Vorgang bezeichne, weicht alsbald, wenn man fich erinnert, 


— 





5) Olshauſen, 1, ©. 539. vgl. ©. 178. 
1) &o Tertull. adv. Marcion. 4, 235 Herder, a. a. O. 8. 115 f., 
welchen auch Gras, Gomm. z. Matth. 2, S. 163 f. 169 beiftimmt. 














Behntes Kapitel. 5. 106. . 243 


daß weder in der Wortbebeutung von öpeue das Merkmal 
des bloß Innerlichen liegt, noch auch der N. T. liche Sprachge⸗ 
brauch den Ausdrud nur für innere, fondern, wie A.G.7,31., 
ebenfo auch für äußere Anfchauungen verwendet.?) Die Sache 
felbft betreffend aber ift es unwahrfcheinlic), und wenigftens in 
der Schrift beiſpiellos, daß Mehrere, wie hier Drei over Viere, 
an demfelben, fehr ausführlichen, Geſichte Theil gehabt Hätten ;?) 
wozu noch fommt, daß die ganze fchwierige Frage nach ber 
Zwedmäßigfeit einer folchen wunderbaren Beranftaltung auch 
bei dieſer Auffaſſung der Sache wiederkehrt. 

Dieſen Anſtoß zu vermeiden, haben daher Andere den Vor⸗ 
gang zwar im Innern der betheiligten Perſonen belaſſen, aber 
als Product einer natürlichen Thätigkeit der Seele: das Ganze 
mithin für einen Traum erklärt. ) Während oder nach einem 
von Jeſu oder ihnen felbft gefprocdhenen Gebete, in welchem des 
Mofes und Eliad gedacht, und ihre Ankunft als mefitanifcher 
Vorläufer gewäünfcht worden war, fchliefen diefer Auffaffung 
zufolge die drei Jünger ein, und träumten, indem wohl auch 
die von Jeſu genannten Namen jener Beiden in ihre fchlaf- 
trunfenen Ohren hineintönten, als ob Mofes und Elias gegen- 
wärtig wären, und Jeſus ſich mit ihnen unterhielte; was ihnen 
auch bei'm erften, trüben Erwachen noch einen Augenblid vors 
fehwebte. — Wie die vorige Erklärung auf das "ögare des 
Matthäus, fo ſtützt ſich dieſe darauf, daß Lukas die Jünger 
als Ppœomuérot vv, und erſt gegen das Ende der Scene 
wieder als dueyoryogroavves, bezeichnet (B. 32.). Auf die 
Handhabe, welche der dritte Evangelift hiemit der natürlichen 
Erklärung bietet, wird nun ein bedeutender Vorzug feiner Er: 
zählung vor der der beiden erften begründet, indem die neueren 


2) Bgl. Fritzſche, in Matth, p. 552; Olshauſen, 1, ©. 533, 

3) Dishaufen, a. aD. 

%) Rau, symbola ad illustrandam Evv. de metamorphosi J. Chr. 
narrationem ; Gabler, a. a. O. S. 539 ff.; Kuindi, Comm. 2 
Matth. p. 459 ff.; Neander k. 3. Chr. ©. 474 f. 

16 * 





S 


244 “ Zweiter Abſchnitt. 


Kritifer erflären, daß, durch diefe und andere Züge, welche bie 
Begebenheit dem Natürliden näher bringen, die Darftellung 
bei Lukas fich als die urfprüngliche, Die des Matthäus Dagegen 
durch Weglaffung derſelben fich als die abgeleitete erweiſe, da 
bei der wunderfüchtigen Richtung jener Zeit wohl Niemand 
. foihe, das Wunder mindernde Züge, wie das Echlafen der 
Jünger, binzugedichtet haben würde. 5) Diefe Schlußweife 
würden wir zu der unfrigen machen müffen, wenn wirklich der 
bezeichnete Zug nur im Sinne der natürlichen Erklärung auf- 
gefaßt werben könnte. Hier dürfen wir uns aber nur erinnern, 
wie bei einer andern Scene, in welcher das nad Lufas bei 
der Berflärung Jeſu angekündigte Leiden in Erfüllung zu 
gehen anfing, und bei welcher nach demfelben Evangeliften Jeſu 
gleichfalls eine himmliſche Erjcheinung zu Theil wurde, in 
Gethfemane nämlich, Die Jünger ebenfo, und zwar nach fämmt- 
fichen Synoptifern, ald xadevdorzes erfcheinen (Matth. 26, 40 
parall.). Konnte hier fehon die bloß äußere, formelle Aehn- 
lichfeit beider Scenen einen Referenten zur Uebertragung des 
Zugs vom Schlaf in die Verklärungsgefchichte veranlaflen: fo 
fonnte ihm noch mehr der Sinn und Inhalt diefes Zuge auch 
bier an feinem Orte fiheinen. Durch das Schlafen der Jünger 
nämlich, eben während mit ihrem Meifter das Wichtigſte vor- 
geht, wird ihr unenblicher Abftand von ihm, ihre Unfähigkeit, 
feine Höhe zu erreichen, und feine Weberlegenheit bezeichnet ; 
der Prophet, der Empfänger einer Offenbarung, ift unter den 
gewöhnlichen Menjchen wie ein Wachender unter Schlafenden: 
weßwegen es fich ganz von felbft ergab, wie bei dem- tiefften 
Leiden, fo auch hier bei der höchften Verherrlichung Jeſu Die 
Jünger als fehlaftrunfene darzuftellen. Iſt fomit diefer Zug 
fo weit entfernt, der natürlichen Erklärung Vorſchub zu thun, 
daß er vielmehr das an Jefu vorgegangene Wunder durch einen 


5) Schulz, über das Abendm., S. 319; Schleiermacher, über den 
eukas, ©. 148 f.; vgl. auch Koͤſter, Immanuel, ©. 60 f. 





Zehntes Kapitel. $. 106. 245 


Gontraft heben will: fo find wir auch nicht mehr befugt, den 
Bericht des Lufas als den urfprünglichen anzufehen, und auf 
feine Angabe eine Erklärung des Vorfalls zu bauen; fondern 
umgefehrt werden wir an jenem Zufag, in Verbindung mit 
dem ſchon erwähnten V. 31., feine Darftellung als abgeleitete 
und ausgefehmüdte erfennen, ©) und uns mehr an die der beiden 
erften Evangeliften halten müffen. 

Fällt auf diefe Weife die Hauptſtütze derjenigen Auffafliung, 
welche hier .nur einen natürlichen Traum der Apoftel fieht: fo 
hat diefe außerdem noch eine Menge innerer Schwierigfeiten. 
Sie feht nur die drei Jünger als träumend voraus, und läßt 
Jeſum wachen, alfo nicht in der Illuſion begriffen fein. Die 
ganze evangelifche Darftellung lautet aber fo, als ob Jeſus fo 
gut wie die Jünger die Erfeheinung gehabt hätte; namentlich 
fonnte er, wenn das Ganze nur ein Traum der Jünger war, 
ihnen nicht hernach fagen: under eirurre To Ogaue, wodurch 
er fie ja eben in der Meinung beftärft hätte, daß es etwas 
Befonderes und Wunderbare gewefen fei. Hatte aber auch 
Jeſus feinen Theil an dem Traume, fo bleibt es doch Immer. 
noch unerhört, daß drei Perſonen natürlicherweife zu gleicher 
Zeit einen und denfelben Traum haben follten. Dieß haben 
die Freunde dieſer Erflärung eingefehen, und daher fol nun 
eigentlich nur. der feurige Petrus, der ja auch allein fpreche, 
fo geträumt, die Referenten aber vermöge einer Synekdoche allen 
brei Jüngern zugefchrieben haben, was nur Einem von ihnen 
begegnet war. Allein daraus, daß Petrus auch hier wie fonft 
den Sprecher macht, folgt nicht, daß auch nur er allein jenes 
Geficht gehabt habe, wovon das Gegentheil aus den klaren 
Worten der Evangeliften durch. feine Redefigur entfernt werben 
fann. Doch die in Rede ftehende Erklärung der Sache befennt 


6) Diefe Einfiht Hat Bauer, a. a. D. ©. 2375 Fritzſche, p. 556; 
be Wette, ereg. Handb., 1, 2, ©. 56 f.; Weiße, Idie evang. 
Seh. 1, ©. 5365 und zum Theil auch Paulus, ereg. Hanbd., 2, 
©. 4417 f. 


246 Zweiter Abſchnitt. 


ihre Unzulänglichkeit noch deutlicher. Nicht nur, wie ſchon 
bemerkt, das laute Ausfpreshen der Namen bes Mofes und 
Elias von Eeiten Jefu muß in den Traum der Jünger unters 
ftügend hineinfpielen; fondern. auch ein Gewitter wird zu Hülfe 
genommen, welches in benfelben durch feine Blitze das Bild 
von überirdifchem Glanz, und durch feine Donnerfchläge das 
von Gefpräcen und Himmelsftimmen bineingebracht, und fie 
auch nach ihrem Erwachen noch einige Zeit in der Täufchung 
erhalten haben fol. Doch daß die Jünger nach Lukas eben 
bei ihrem Erwachen (dıayoryooroavrss) die zwei Männer bei 
Sefu ftehen fahen, ficht nicht wie eine bloße aus dem Traum 
in das Wachen herübergenommene Täufchung aus; weßwegen 
denn Kuinöl die weitere Annahme herbeizieht, daß, während 
die Jünger fchliefen, wirklich zwei unbefannte Männer zu Jeſu 
gefommen feien, welche die Erwachenden fofort mit ihren Träu- 
men in Verbindung gebracht, und für Mofes und Elias ger 
halten haben. Durch dieſe Wendung der Anficht find nun alle 
diejenigen Momente, welche die auf einen Traum zurücdgehende 
Auffaffung als innerlich vorſchwebende betrachten follte, wieder 
nach außen getreten, indem die Vorftellung eines Lichtglanzes 
durch die Blitze, die Meinung, Stimmen zu hören, durch den 
Donner, endlich die Vorftellung von zwei bei Jeſu anmwefenden 
Perfonen durch die wirkliche Gegenwart zweier Unbelannten 
hervorgebracht worden fein fol. Das Alles konnten die Jüns 
ger eigentlich nur im Wachen wahrnehmen, und fällt fomit Die 
Vorausſetzung eines Traums als eine überflüffige hinweg. 
Befler daher, fofern fie darin, daß ihrer Drei an Einem 
Traume theilgenommen haben müßten, eine eigenthümliche 
Schwierigkeit hat, den Baden, welcher nach diefer Erflärungsart 
den Vorgang noch an das Innere fnüpft, ganz abgeriffen, und 
Alles wieder in Die Außenwelt verlegt: fo daß wir, wie zuerft 
einen übernatürlichen, fo nun einen natürlichen äußeren Hers 
gang vor ung haben. Den-Jüngern bot fich etwas Objectives 
dar: fo erflärt fih, wie es mehrere zugleich wahrnehmen 
fonnten; fie täufchten fich wachend über das Wahrgenommene: 





Zehntes Kapitel. $. 106. 247 


natürlich, weil fie alle in demfelben Vorſtellungskreis, in der: 
felben Stimmung und Lage fich befanden. Diefer Anficht 
zufolge ift das Wefentliche der Scene auf dem Berge eine 
geheime Zufammenfunft, welche Jeſus beabfichtigte, und zu 
diefem Behufe die drei zuverläfligften feiner Jünger mit fich 
nahm. Wer die zwei Männer waren, mit welchen Sefus 
zufammenfam, wagt Paulus nicht zu beftimmen; Kuinöl 
vermuthet heimliche Anhänger von der Art des Nikodemus; 
nad) Benturini waren es Eſſener, Jefu geheime Verbündete. 
Ehe dieſe noch eintrafen, betete Jeſus, und die Jünger, nicht 
zur Theilnahme gezogen, fihliefen ein; denn den von Lukas 
an die Hand gegebenen Schlaf, wiewohl traumlos, behält 
diefe Erklärung gerne bei, um bei eben erſt Ermwachten Die 
Täufhung wahrfcheinlicher zu machen. An fremden Etimmen, 
die fie bei Jefu hörten, wachen fie auf, ſehen Sefum, der 
wahrfcheinlich auf einem höheren Runfte des Berges, als wu 
fie fich gelagert hatten, ftand, in einem ungewöhnlichen Glanze, 
der von den erften Morgenftrablen, welche, vielleicht durch 
nahe Schneelagen zurüdgeworfen, auf Jeſum fielen, herrührte, 
von ihnen aber in der erften Ueberraſchung für übernatürliche 
Verflirung gehalten wurde; fie erbliden die beiden Männer, 
welche aus unbefannten Gründen der fchlaftrunfene Petrus, 
und nach ihm die Lichrigen, für Mofes und Elias halten ; 
ihre Beltürzung fteigt, als fie die beiden Unbefannten in einem 
lichten Morgennebel, der fih, wie fie weggehen wollten, 
herabfenfte, verfshwinden fehen, und aus dem Nebelgewölt 
einen berfelben die Worte: Bros Esw m z. A rufen hören, 
welche fie unter diefen Umſtänden für eine Himmelöftimme halten 
mußten. I _ Diefe Erklärung, welcher auch Schleiermacher 
fich geneigt zeigt, I glaubt, wie die vorige, befonders in 
Lufas eine Stüße zu finden, weil bei diefem die Behauptung, 


7) Paulus, ereg. Handb., 2, 136 |, &. 3. 1, b, ©. 7 ff.z Ratke- 
lihe Geſchichte, 3, S. 256 ff. 
8) A. a. D. 


248 Zweiter Abſchuitt. 


die beiden Maͤnner ſeien Moſes und Elias geweſen, weit 
weniger zuverſichtlich als bei Matthäus und Markus ausge⸗ 
ſprochen werde, und mehr nur als Einfall des ſchlaftrunkenen 
Petrus erſcheine. Dieß bezieht ſich darauf, daß, während die 
beiden erſten Evangeliſten geradezu ſagen: wpIToev avroig 
Mwors zal Hiies, Lukas, wie e8 fcheint, behutfamer,; von 
does dvo fpricht, olzıreg 7oav Mworg xal ’HAlas, wobei 
dann die erftere Bezeichnung den objectiven Thatbeftand, die 
zweite deſſen fubjertive Deutung enthalten fol. Allein biefer 
Deutung pflichtet ber Referent, wenn er doch olzweg rom, 
und nicht Edogev ever, fagt, offenbar bei; weßwegen er alfo 
zuerſt nur von zwei Männern fpricht, und erft nachher ihre 
" Namen nennt, davon Fann die Abficht nicht gewefen fein, dem 
Leſer eine beliebige andere Deutung offen zu laffen, fondern 
nur die, das Geheimnißvolle der außerordentlichen Scene durch 
die anfängliche Unbeftimmtheit des Ausdrucks nachzubilden, 
Hat fomit diefe Erklärung ebenfowenig als die bisher betrach- 
teten in einer der evangelifchen Erzählungen eine Stüße: fo 
hat fie zugleich nicht mindere Schwierigfeiten als jene in ſich 
felbft. Die Morgenbeleuchtung auf ihren vaterländifchen Bergen 
mußten die Jünger fo weit fennen, um fie von himmlifcher _ 
Glorie amterfeheiden zu können; wie fie auf die Meinung 
famen, daß die beiden Unbekannten Mofes und Elias feien, 
ift zwar bei feiner der bisher vorgelegten Anfichten leicht, am 
fihwerften aber bei viefer, zu erflären; wie Jeſus, dem ja 
Petrus durch feinen Antrag, die zu erbauenden oxrvag betref- 
fend, die Täufchung der Jünger zu erfennen gab, ihnen Die 
nicht benahm, ift unbegreiflich; weßwegen Paulus fih 3 

der Annahme flüchtet, Jeſus habe die Anrede des * 
überhört; ; die ganze Anficht von geheimen Verbündeten Jeſu 
ift eine mit Recht verfehollene, und endlich hätte derjenige dieſer 
Verbündeten, welcher aus der Wolfe heraus jene Worte zu 
ben Züngern fprach , fich eine unwürdige Myftification erlaubt. 














Zehntes Kapitel. $. 107. - Lid 


$. 107. J — ⸗ 


Die Verklaͤrungsgeſchichte als Mythus. 


Wie immer alſo, ſo finden wir uns auch hier, nachdem 
wir den Kreis der natürlichen Erklaͤrungen durchlaufen haben, 
zu der übernatürlichen zurüdgeführt; aber ebenfo entfchieven 
von dieſer abgeftoßen, müffen wir, da eine natürliche Ausles 
gung der Text verbietet, Die tertgemäße fupranaturale aber 
hiftorifch feftzuhalten aus rationalen Gründen unmöglich fällt, 
uns dazu wenden, die Ausfagen des Tertes Fritifch zu unters 
fuchen. Diefe folfen zwar bei vorliegender Erzählung befonders 
zuverläflig fein, da das Factum von drei Evangeliften, welche 
namentlich auch in der genauen Zeitbefiimmung auffallend zu- 
fammentreffen, erzählt, und überdieg vom Apoftel Petrus 
(2 Betr. 1, 17.) bezeugt werde. D_ Jene übereinftimmende 
Zeitangabe (fofern die zu.e.oa Oxrw des Lukas, je nachdem 
man zählt, mit den vueowug EE ver andern daſſelbe fagen) ift 
allerdings auffallend; fie läßt fich aber, fammt dem, daß nach 
allen drei Berichterftattern auf die Verkündigungsſcene die 
Heilung des dämonifchen Knaben folgt, den die Jünger nicht 
hatten heilen fönnen, fchon durch den Ilrfprung der fonopfifchen 
Evangelien aus ftehend gewordener evangelifcher Verfündigung 
erflären, 'von welcher e8 nicht höher Wunder nehmen darf, 
daß fie manche Anekdoten ohne objectiven Grund auf beftimmte 
Weiſe zufammen gruppirt, als daß fie oft Ausprüde, in wel- 
chen fie hätte varliren Fönnen, durch alle drei Rebartionen 
hindurch feftgehalten hat.) Die Beurfundung der Gefchichte 
durch die drei Synoptifer aber wird wenigftens für die gewoͤhn⸗ 
liche Anficht von dem Verhältniß der vier Evangelien durch 
das Echweigen des johanneifchen fehr geſchwächt, indem nicht 





1) Paulus, ereg. Handb., ©. 4465 Gras, 2, ©. 165 f. 
2) Bol. de Wette, Einleitung in das N. T. $. 79. 





250 Zweiter Abfchnitt. 


einzufehen ift, warum diefer Evangelift eine fo wichtige Bege- 
benheit, welche zugleich feinem Syfteme fo angemeffen, und 
eigentlich die anfchauliche Verwirklichung feines Ausſpruchs 
im Prolog (B. 14): xal eIeaoausda 179 Hofer aurs, dosw 
WS UvoyEväg TTaga TraTEog, war, nicht aufgenommen haben foll. 
Der abgenugte Grund, er habe die Begebenheit als durch 
feine Vorgänger befannt vorausfegen können, ift neben feiner 
allgemeinen Ilnrichtigfeit hier noch befonders deßwegen uns 
brauchbar, weil von den Synoptifern dießmal feiner Augen- 
zeuge gewefen war, alfo an ihren Erzählungen durch einen, 
der, wie Johannes, die Ecene miterlebt hatte, noch Manches 
zu berichtigen und zu erläutern fein mußte. Man hat fi 
daher nach einem andern Grunde für diefe und ähnliche Aus: 
laffungen im vierten Evangelium umgefehen, und einen folshen 
in der antignoftifchen,, näher antidofetifchen, Tendenz zu finden 
geglaubt, welche man aus den johanneifchen Briefen auch 
auf das Evangelium übertrug. In der Berflärungsgefchichte, 
‚wird bienach behauptet, habe der Jeſum umleuchtende Glanz, 
bie Verwandlung feines Ausfehens in das Ueberirdiſche, der 
Meinung Vorſchub Teiften können, als fei feine menfchliche 
Geftalt nur eine Scheinhülle geweſen, durch welche zu Zeiten! 
feine wahre, übermenfchliche Natur hindurchgeleuchtet habe; 
fein Verkehr mit alten Prophetengeiftern habe auf die Ber: 
muthung führen fönnen, er möge vielleicht felbft nur eine 
ſolche wiedergefommene Eeele eines A. T. lichen Frommen fein: 
— und um folchen irrigen Meinungen, welche unter gnoftifiren- 
den Ehriften ſich frühzeitig zu bilden anfingen, feine Nahrung 
zu geben, habe Sohannes diefe und ähnliche Gefchichten lieber 
unterdrüdt. 3) Allein abgefehen davon, daß es der apoftolifchen 
naegönoie nicht entfpricht,, möglichen Mißbrauchs bei Einzelnen 
wegen Hauptihatfachen der evangelifehen Gefchichte zu unters 
drücken: fo müßte Johannes hiebei doch mit einiger Confequenz 


3) So Schnedenburger, Beiträge, ©. 62 ff. 














Zehntes Kapitel. $. 107. 351 


verfahren ſein, und alle Erzählungen ‚ welche eine dofetifche 
‚Mißdeutung in gleichem Maaße mit der gegenwärtigen her⸗ 
vorrufen fonnten, aus dem Kreife feiner Darftelungen auss 
gefchloffen haben. Nun erinnert fich aber fogleich Jeder an die 
Befchichte vom Wandeln Jeſu auf dem See, welche mindeftens 
ebenfofehr wie die VBerflärungsgefchichte die Meinung von 
einem bloßen Echeinförper Jeſu hervorruft, und doch auch von 
Sohannes aufgenommen if. Die Wirhtigfeit freilich eines 
Vorfalls Fonnte hier noch einen Unterſchied begründen: fo daß 
von zwei Erzählungen mit gleich ftarf dofetifchem Schein Jo⸗ 
hannes dennoch größerer Wichtigfeit wegen die eine aufnahm, 
die minder wichtige aber wegließ. Hier nun aber wird doch 
wohl Niemand behaupten wollen, der Gang Jeſu auf dem 
Eee ftehe an Wichtigfeit der Berflärungsgefchichte voran oder 
auch nur glei; Johannes mußte, wenn es ihm um Vermei⸗ 
dung des doketiſch Scheinenden zu thun war, in jeder Hinficht 
vor Allem jene erfte Gefchichte unterdrüden: da er es nicht 
gethan hat, fo Fann er auch jenes Princip nicht gehabt haben, 
welches daher nie als Grund der abfichtlichen Auslaffung einer 
Gefchichte im vierten Evangelium gebraucht werben darf; 
fondern es bleibt, was namentlich dieſe Begebenheit betrifft, 
dabei, daß fein Verfaffer nichts oder Doch nichts Genaues von 
derfelben gewußt haben fann.% Freilich Tann dieſes Ergebniß 
nur denen eine Inſtanz gegen den hiftorifchen Charafter der 
Berflärungsgefchichte fein, welche das vierte Evangelium ald 
Werk eined Apofteld vorausfegen; fo daß alfo wir aus dieſem 

Stillſchweigen nicht gegen die Wahrheit der Erzählung argu- 
mentiren Fönnen: aber uns beweist auch umgefehrt Die Ueber⸗ 
einffimmung der Eynoptifer nichts: für diefelbe, indem wir 
ſchon mehr als Eine Erzählung, in welcher drei, ja alle vier 


3) Neander, weil ihm bie objective Realität ber Verklaͤrungsgeſchichte 
zweifelhaft ift, findet dießmal auch das Seinſchweigen des vierten 
Evangeliums bedenklich (S. 475 f.), 


ns 





252 Zweiter Abfchnitt. 


Evangelien. zufammenftimmen, für unhiſtoriſch haben erklären 
müffen. — Was endlich das angebliche Zeugniß des Petrus 
betrifft, fo ift wegen der mehr als zweifelhaften Acchtheit des 
zweiten Brief Petri die allerdings auf unfere Berflärungs: 
gefchichte bezügliche Stelle als Beweis für die hiftorifche Wahr- 
heit berfelben jest auch von orthodoxen Theologen aufgegeben 
worden. 9) 

Dagegen haben wir außer den oben angezeigten Echwwierig- 
feiten, welche in dem wunderhaften Inhalte der Erzählung 
liegen, noch einen weiteren Grund gegen die hiftorifche Geltung 
der Berflärungsgefchichte: die Unterredung nämlich, welche den 
beiden erften Cvangeliften zufolge die Jünger unmittelbar nach 
her mit Sefu geführt haben follen. Wenn nämlich im Herab- 
fleigen vom Verklaͤrungsberge die Jünger Jeſum fragen: zi 3v 
oi yoauuareis Atysow, Orı Hiiov dei eIyElr ned; (Matth. 
V. 10.) fo Flingt dieß ganz, wie wenn etwas vorangegangen 
wäre, woraus fie hätten abnehmen müflen, Elias werde nicht 
erfcheinen, und gar nicht, wie wenn fie eben von einer Ers 
fiheinung deffelben herfämen; da fie in diefem Falle nicht, uns 
befriedigt fragen, fondern ‚zufriedengeftellt fagen mußten: eixoriug 
»oi yoruuareig Aeyaoıy % 7.49). Daher wird denn bie 
Frage der Jünger von den Erflärern fo gedeutet, ald ob fie 
nicht eine Elias-Erſcheinung überhaupt, fonvdern an der eben 
gehabten nur ein gewifles Merkmal vermißt hätten: das nämlich, 
daß nach der Anficht der Echriftgelehrten Elias bei feinem Auf- 
tritt wirffam und reformatorifch in das Peben der Nation ein- 
greifen follte; wogegen er bei der eben gehabten Ericheinung 
ohne weitere Wirkfamfeit fugleich wieder verfehwunden war. 7) 


5) Olshauſen, S. 533. Ann. | 

6) S. Rau, im angef. Programm, bei Gabler, \ neueftes theolog. 
Journal, 1, 3, ©. 506.5 be Wette z. d. St. des Matth. 

7) Fritzſche, in Matth. p. 5535 Olshaufen, 1, ©. 541. Noch 
weniger genuͤgende Auskünfte bei Gabler, a. a. DO. und bei Mat⸗ 
t haͤi, Religionsgl. der Apoftel, 2, ©. 596. 


Zehntes Kapitel. $. 107. 253 


Diefe Erflärung wäre zuläflig, wenn das amoxerasmosı narre 
in der Frage der Jünger ftünde; ftatt deſſen aber fteht es bei 
beiven Referenten (Matth. B. 11. Marc. B. 12.) nur in ber 
Antwort Zefu: fo daß die Jünger auf äußerft verfehrte Weife - 
das, was fie eigentlich vermißten, das amoxadızavar, ver- 
ſchwiegen, und nur das £pyeodaı genannt haben müßten, was 
fie nach der gehabten Erfcheinung nicht vermiſſen Fonnten. 
Wie aber die Frage der Jünger Feine gehabte Elias - Erfchei- 
nung ‚. vielmehr das Gefühl des Mangeld einer folchen voraus: 
feßt: fo auch die Antwort, welche ihnen Sefus gibt. Denn 
wenn er erwiedert: wohl haben die Schriftgelehrten Recht, wenn 
fie fagen, Elias müfje vor dem Meſſias fommen; dieß ift aber 
“fein Grund gegen meine Meffianität, da mir, bereits ein Elias 
in der Perſon des Täufers vorangegangen ift, — wenn er ' 
fomit feine Zünger gegen den aus der Erwartung der yoauuereis 
zu ziehenden Zweifel. durch Verweifung auf ten ihm voran 
gegangenen uneigentlichen Elias zu verwahren fucht: fo kann 
eine Erſcheinung des eigentlichen Elias unmöglich vorausge- 
gangen fein; fonft müßte Jeſus zu allererft auf diefe Erſchei⸗ 
nung, und nur etiva weiterhin auch auf den Täufer, hingewiefen 
haben. 8) Die unmittelbare Verbindung dieſes Geſprächs mit 
jener Erfcheinung kann alfo nicht hiftorifch fein, fondern nur 
der Aehnlichfeit zulieb gemacht, weil in beiden von Elias bie 
Rede if. ?) Doch nicht einmal mittelbar und durch Zwifchen- 
begebenheiten getrennt kann einer folchen Rede eine Erfcheinung 
bes Eliad vorangegangen fein:. da, wenn auch noch fo lange 
nachher, ſowohl Jeſus als die drei Augenzeugen unter feinen 
Süngern fich berfelben erinnern mußten, und nie fo fprechen 
konnten, als ob eine folche gar nicht ftattgefunden hätte. Selbft 

aber auch nach einer folchen Unterredung kann eine Erſchei⸗ 
nung des wirflihen Elias der orthoboren Vorſtellung von 
Jeſu gemäß nicht wohl ftattgefunden haben. Denn zu deutlich 


8) Dieß gefteht au Paulus zu, 2, ©. 442. 
» Shleiermadher, über den Lulas, S. 149. 





— 


254 ' Zweiter Abſchnitt. 


fpricht er hier feine Anficht aus, daß ber eigentlihe Elias gar 
nicht zu erwarten, fondern der Täufer Johannes der verheißene 
Elias gewefen fei: wäre alſo dennoch fpäter eine Erfcheinung 
des wirflichen Eliad noch eingetreten, jo hätte ſich Jeſus geirrt; 
was ‘gerade Diejenigen, welchen an -ber biftorifchen Realität 
der Berflärungsgefchichte am meiften, gelegen ift, am wenigften 
annehmen können. Schließen ſich fomit jene Erfcheinung und 
diefe Unterredung geradesu aus: fo fragt ſich, welches von 
beiden Stüden eher aufgegeben werden fann? Und Hier ift 
der Inhalt der Unterredung durch Matth. 11, 14. vgl. Luc. 
1, 17., fo beftätigt, die Verflärungsgefchichte aber durch alle 
Arten von Schwierigkeiten fo unwahrfcheinlich gemacht, daß 
die Entfeheidung nicht zweifelhaft fein fan. Es ſcheinen dem⸗ 
nach, wie oben ſchon einige Male, fo auch bier zwei von 
ganz verfehiedenen Vorausſetzungen autgehende und wohl auch 
in verſchiedenen Zeiten entftandene Erzählungsftüde auf ziemlich 
ungeſchickte Weile zufammengefegt worden zu fein: das bie 
Unterredung enthaltende Stüd nämlich geht von der, wahr⸗ 
fcheinlich früheren, Anfiht aus, die Weiffagung in Betreff 
des Elias fei eben nur in Johannes in Erfüllung gegangen ; 
wogegen das Stüf von der Berflärung , ohne Zweifel jpäteren 
Urfprungs , fich damit nicht begmägt, daß in der mefitanifchen 
Zeit Jeſu Eliad uneigentlihh im Täufer aufgetreten fei: er 
mußte auch perfönlich und eigentlich, wenn auch nur in vors 
übergehender Erfcheinung ‚vor wenigen Zeugen — weil eine 
öffentliche und tiefer eingreifende befanntermaßen nicht ftattges 
funden hatte, 1% — fich gezeigt haben. 

Um nun zu begreifen, wie eine folche Erzählung auf 
fagenhaftem Wege entftehen konnte, ift der zuerft zu ermwägende 
Zug, an befien Betrachtung fich die aller übrigen am Ieichteften 
anreiht, der fonnenartige Glanz des Angefichts und das helle 
Leuchten der Kleider Jeſu. Das Echöne und Majeftätifche ift 


0) Dieß gegen Weiße's Einwurf, ©. 539. 





Zehntes Kapitel. $. 107. ‘255 


dem Orlentalen, und insbefondere dem Hebräer, ein Leuchtendes; 
der Dichter des hohen Liedes vergleicht feine Geliebte mit ver 
Morgenröthe, dem Monde, der Sonne (6, 9.); die von Gottes 
Segen unterſtuͤtzten Srommen werden der Sonne in ihrer Macht 
verglichen (Richt. 5, 31.), und namentlich das Fünftige Loos 
der Geredhten wird dem Glanze der Sonne und der Geftirne 
zur Seite gefeßt (Dan. 12, 3. Matth. 13, 43.). 1) Daber 
erfcheint nicht allein Gott im Lichtglanz, und Engel mit gläns 
zendem Angeficht und leuchtenden Gewändern (Pf. 50, 2. 3 
Dan. 7, 9 f. 10, 5. 6. Luc. 14, 4. Offenb. 1, 13 ff.), fondern- 
auch die Frommen des hebräifchen Alterthums, wie Adam vor 
dem Fall, und unter den folgenden namentlih Moſes und 
Sofua, werden mit einem folchen Lichtglange vorgeftellt; !2) 
wie denn die fpätere jüdifche Sage auch ausgezeichneten Rabs 
binen in erhöhten Augenbliden überirdifchen Glanz verlieh. 13) 
Am berühmteften ift das leuchtende Antlit des Mofes geworben, 
von welchem 2. Mof. 34, 29 ff. die Rede ift, und von ihm 
wurde, wie in andern Etüden, fo auch in diefem ein Schluß 
a minori ad majus auf den Meſſias gemacht, was ſchon der 
Apoftel Paulus 2. Kor. 3, 7 ff. andeutet, wiewohl er dem 
Mofes als dem durxovos TE ygauneros nicht Jeſum, fondern, 
gemäß der BVeranlafjung feines Schreibens, die Apoftel und 
chriftlichen Lehrer als duemovag TE miweigerog gegenüberftellt, 
und die den Glanz des Mofes überbietende do&a dieſer Iepteren 


1) Vgl. Jalkut Simeoni P. 2, f. 10, 3. (bei Wetftein, p. 435): 
Facies justorum futuro tempore similes erunt soli et lunae, coelo 
et stellis, fulguri ete. 


i2) Bereschith Rabba 20, 29 (bei Wetftein): Vestes lucis vestes 
Adami primi. Pococke, ex Nachmanide (ebendaf.): Fulgida 
facta fuit facies Mosis instar solis, Josuae instar lunae; quod 
idem affırmarunt veteres de Adamo. 


135) In Pirke Elieser, 2, findet fi) nah Wetflein die Angabe, inter 
docendum radios ex facie ipsius, ut olim e Mosis facie, pro» 
diisse, adeo ut non dignosceret quis, utrum dies esset an mox, 


200 B3oueiter Ablqhaitt. 


erſt als Gegenſtand der Anis im zukünftigen Leben erwartet. 
Eigentlich aber war doch am Meſſias felbft ein Glanz zu 
erwarten, welcher dem des Mofes entipräche, ja ihn überftrahlte: 
und eine jünifche Schrift, die von unferer VBerklärungsgeichichte 
feine Notiz nimmt, argumentirt ganz im Geifte. der Juden der 
erften chriftlichen Zeit, wenn fie geltend macht, Jeſus fönne 
nicht der Meſſias gewefen fein, da ja fein Angeficht nicht den 
Glanz des Angefichts Mofis, gefchweige einen höheren, gehabt 
habe. ) Solche Einwürfe, wie fie ohne Zweifel ſchon die 
erften Ehriften theils von Juden hören, theils fich felber machen 
‚mußten, fonnten nicht anders, ald in der älteften Gemeinde 
eine Tendenz erzeugen, jenen Zug aus dem Leben ded Mofes 
im Leben Jeſu nachzubilden, ja in Einer Hinficht zu übers 
bieten, und ſtatt eines leuchtenden Angefichts, das fich mit 
einem Tuche verdeden ließ, ihm einen auch über die Gewänder 
fich ergießenden Strahlenglanz , wenn auch nur vorübergehend, 
zuzufchreiben. 

Daß die Verflärung des Angefichts von Mofes zum Vor⸗ 
bilde für Jeſu Verklärung gedient habe, beweist aber überdieß 
eine Reihe einzelner Züge. Moſes befam feinen Glanz auf 
dem Berge Sinai: auch von Jeſu Verklärung ift ein Berg 
der Schauplatz; Mofes hatte bei: einer früheren Befteigung des 
Bergs, welche mit der fpäteren, nach der fein Angeficht gläns 
zend wurde, leicht zufammenfließen fonnte, außer den 70 Ael- 
teften befonders noch drei Vertraute, Aaron, Nabab und Abihu, 


1%) Nizzachon vetus, p. 40, ad Exod. 34, 33. (bei Wetftein): Ecce 
Moses magister noster felicis memoriae, qui homo merus erat, 
quia Deus de facie ad faciem cum eo locutus est, vultum tam 
lucentem retulit, ut Judaei vererentur accedere: quanto igitur 
magis de ipsa divinitate hoc tenere oportet, atque Jesu faciem 
ab uno orbis cardine ad alterum fulgorem diffundere convenie- 
bat? At non praeditus fuit ullo splendore, sed reliquis morta- 
libus fuit simillimus. ‚Quapropter constat, non esse in eum 
credendum. 





Zehntes Kapitel. $. 107. 257 - 


zur Theilnahme an der Anfchauung Jehova's mit fich auf den 
Berg genommen (2. Mof. 24, 1. 9—11.): fo nimmt nun auch 
Jeſus feine drei vertrauteften Jünger mit fich, um, fo viel ihre 
Kräfte es vermöchten, Zeugen des erhabenen Schaufpiels zu 
fein, und ihre nächfte Abficht war, nach Luc. V. 28., 7rg0GeV- 
Soodar: gerade wie Jehova den Mofes mit den Dreien und 
den Helteften auf den Berg kommen’ heißt, um von ferne an 
zubeten. Wie hernach, als Mofes mit Sofua den Sinai bes 
flieg, die dos Kupis als 'vep&in den Berg bevedte (V. 15 f. 
LXX.); wie Jehova aus der Wolfe heraus dem Mofes rief, 
bis dieſer endlich in die Wolfe zu ihm hineinging (B. 16—18.): 
fo haben wir auch in unferer Erzählung eine veyein pwros, 
welche Jeſum und die himmlifchen Erfcheinungen befchattet, 
eine pwrn &x ng vegehrs, und bei Lufas ein eiseAdeiv der 
Drei in die Wolfe. Was die Stimme aus der Wolfe zu 
den Jüngern fpricht, ift im erften Theile die meflianifche De- 
claration, welche, aus Pf. 2, 7. und ef. 42, 1. zufammen- 
gelegt, fehon bei Zefu Taufe vom Himmel erfcholl; im zweiten 
Theil ift fie aus den Worten genommen, mit welchen: Mofes 
in der früher angeführten Stelle de8 Deuteronomium (18, 15.) 
nach der gewöhnlichen Deutung dem Volk den Fünftigen Mefr 
fias anfündigt, und es zur Folgfamfeit gegen denfelben ers 
mahnt. 15) 


Durch die Verklärung auf dem Berge war Jefus feinem‘ 
Borbilde, Mofes, an die Seite geftellt, und da e8 in den. 





15) Aus diefer Vergleihung mit der Bergbefteigung des Mofes läßt fich 
"vielleicht auch die Beitbeflimmung der yon: E5 ableiten, durch welche 
die zwei erften Evangeliiten das gegenwärtige Ereigniß von dem zulegt 
erzählten trennen. Denn auch die eigentliche Gefchichte von den Bes 
gegniffen des Mofes auf dem Berge beginnt mit der gleichen Zeitbe⸗ 
flimmung, indem es heißt, nachdem 6 Tage lang die Wolle den Berg 
bedeckt hatte, fei Mofes zu Jehova berufen worden (B. 16.), eine 
Beitbeflimmung, welche, obgleid der Ausgangspunkt ein ganz anderer 


war, für die Eröffnung der Jeſum betreffenden Verklärungsfcene bei⸗ 


behalten werden mochte. 
1, Band. 17 


258 Zweiter Abſchnitt. 


Erwartungen der Juden lag, daß nach Jeſ. 52, 6 ff. die meſſia⸗ 
nifche Zeit nicht nur Einen, fondern mehrere Vorläufer haben, !s) 
und unter Andern namentlich auch ber alte Gefeßgeber zur 
Zeit des Meſſias erfiheinen follte: 'D fo war für deſſen Er- 
feheinung fein Moment geeigneter, als der, in welchem der 
Meſſias auf diefelde Weife, wie einft er, auf einem Berge 
verherrlicht wurde. Zu ihm gefellte fi) dann von felbft der⸗ 
jenige, welcher nad Mal. 3, 23 am beftimmteften als meſſia⸗ 
nifcher Vorläufer, und zwar nach den NRabbinen zugleich mit 
Mofes, erwartet wurde. Erfchienen beive Männer dem Meſſias, 
fo ergab fich von felbft, daß fie ſich mit ihm unterrebet haben 
werden, und fragte ſich's um einen Inhalt diefer Unterredung, 
fo lag vom legten Abfehnitt her nichts näher, als das bevor, 
ſtehende Leiden und Sterben Sefu, welches ohnehin als das 
eigentliche mefjianifche Geheimniß des N. T. ſich am cheften 


zu einer folchen Unterhaltung mit Wefen einer andern Welt . 


eignete; weßiwegen man fich wundern muß, wie Olshauſen 
behaupten Tann, auf diefen Inhalt des Gefprächs Hätte Die 
Mythe nicht kommen Tünnen. So hätten wir alfo hier einen 
Mythus, !®) deſſen Tendenz die gedoppelte ift: erftens, Die 
Verklärung des Mofes an Jeſu in erhöhter Weiſe zu wieder: 


16) &, Bertholdt, Christologia Judaeorum, $. 15. ©. 60 ff. 

17) Debarim Rabba 3. (Wetftein): Dixit Deus S. B. Mosi: per 
vitam tuam, quemadmodum vitam tuam posuisti pro Israelitis 
in hoc mundo, ita tempore futuro, quando Eliam prophetam ad 
ipsos mittam, vos duo eodem tempore venietis. gl. Tanchuma 
f. 42, 1, bei Schöttgen, 1, ©. 149. 

. 45) Fuͤr einen Mythus erklärt diefe Erzählung de Wette, Kritik der 
mof. Geſch. S. 250. vgl. ereg. Banbb., 1, 1, ©. 146 f.5 Bertholbt, 
Christologia Jud. $. 15. not. 17.5 Grebner, Einleitung in das 
N. T. 1, ©. 24153 Schulz, über das Abendmahl, S. 319, gibt wes 
nigftens ein Mehr und Winder des Mythiſchen in den verfchiebenen 
evangelifchen Relationen ber Verkiärungsgefhichte zu, und Fritzſche, 
in Matth, p. 448 f. und 456, führt bie mythifche Anficht von der⸗ 
felben nicht ohne Zeichen von Beiftimmung auf. Vgl. auch Kuinsl, 
in Matth. p. 459, und Gratz, 2, S. 161 ff. 


/ 


‚ 





Zehntes Kapitel. & 107. 259 


holen, und zweitens, Jeſum als den Meſſias mit feinen beiden 
Borläufern zufammenzubringen, durch dieſe Erſcheinung des 
Gefeßgebers und des Propheten, des Gründers und bes Refors 
mators der Theokratie, Jeſum als den Vollender des Gottes⸗ 
reiche, als die Erfüllung des Gefeges und der Propheten dar⸗ 
zuftellen, und feine meſſianiſche Würde noch überbieß durch 
eine Himmelöftimme befräftigen zu laſſen. !9) Ä | 

An dieſem Beifpiele Täßt- fich fchließlich befonders augen: 
fcheinlich zeigen, wie die natürliche Erklärung, indem fie die 
hiftorifche Gewißheit der Erzählungen fefthalten will, die ideale 
Wahrheit derfelben verliert, gegen Die Form den Inhalt auf: 
gibt: wogegen bie mythifche durch Aufopferung des gefchichte 
lichen Leibes folder Erzählungen doch die Idee derfelben, welche 
ihr Geift und ihre Seele ift, erhält und rettet. War nämlich 
der natürlichen Erklärung zufolge der Lichtglanz um Jeſum 
ein zufälliges optiſches Phänomen, und die beiden Erſchienenen 
entweder Traumbilder oder unbekannte Menſchen: wo bleibt 
da die Bedeutung der Begebenheit? wo ein Grund, eine ſolche 
ideenloſe, gehaltleere, auf gemeiner Täuſchung und Aberglauben 
beruhende Anekdote im Andenken der Gemeinde feſtzuhalten? 
Dagegen, wenn ich nach der mythiſchen Auffaſſung in dem 


19) Auch Plato im Sympoſion (p. 223. B. ff. Steph.) verherrlicht feinen 
Sokrates dadurch, daß er auf natürlihem und fomifhem Grund eine 
aͤhnliche Gruppe veranftaltet, wie die Evangeliften hier auf tragifchern 

‚und übernatürlihem. Nach einem Zrinkgelage überwacht Sokrates bie 
Sreunde, welche ſchlafend um ihn liegen: wie hier die Zünger um ben 
Verrn; mit Sofrates wachen nur noch zwei großartige Geſtalten, der 
tragiſche Dichter und ber komiſche, die beiden Elemente des früheren’ 
griechiſchen Lebens, welche Sokrates in ſich vereinigte: wie mit Zefu 
ber Gefeggeber und der Prophet ſich unterreden, die beiden Säulch des 
A. T.lichen Lebens, welche Iefus in höherer Weife in fi zufammens. 
ſchloß; wie bei Plato endlich auch Agathon und Ariftsphanes eihfchlafen, 
und Sokrates allein das Feld behält: fo verfhwinden im Evangelium 
Moſes und Elias znlegt, und die Zünger fehen nur noch Iefum allein, 
17 * 


260 Zweiter Abfchnitt. 


evangelifchen Berichte zwar Feine wirfliche Begebenheit finden 
fann, fo behalte ich doch einen Sinn und Inhalt der Erzäh- 
lung, weiß, was die erfte Chriftengemeinbe fich bei derſelben 
gedacht, und warum die Berfafler der Evangelien ihr eine fo 
wirhtige Stelle in ihren Denffchriften eingeräumt haben. ?9%, 


6. 108.: 
Abweichende Nachrichten über bie legte Reife Jeſu nach Zerufalem. 


Bald nach ‚der Verklärung auf dem Berge laſſen bie 
Evangeliften Jeſum die verhängnißvolle Reife antreten, welche 
ihn feinem Leiden entgegenführte. Ueber den Ort, von wel- 
chen er bei diefer Reife ausging, und den Weg, welchen er 
nahm, weichen die evangelifchen Nachrichten von einander ab. 
Stimmen über den Ausgangspunft die Synoptifer zufammen, 
indem fie fämmtlih Jeſum von Galiläa aufbrechen laſſen 
(Matth. 19, 1. Mare. 10, 1. Luc. 9, 51; in welcher 


2) Weiße, durch die von mir in bem Mythus gefundene Bedeutung un» 
befriedigt, und eine gefhichtlihe Grundlage der Erzählung übrig zu 
behalten bemüht, faßt diefelbe als eine von ben drei Augenzeugen felbft. 
auögegangene orientalifch = bildlihe Darftellung des Kichtes, das ihnen 
eben damals über bie Beftimmung Jeſu, und namentlih über fein 
Berpältniß zur A. T.lichen Theokratie und zur meflianifhen Weiffagung, 
aufgegangen. Der hohe Berg, auf welchem bie Ecene fich ereignet 
haben foll, bedeutet dann ſymboliſch die Höhe der Erkenntniß, melde 
den Jüngern zu Theil wurde; die Metamorphofe ber Geftalt Zefu und 
der Glanz feines Gewandes iſt ein Sinnbild für ihre Intuition der 
geiftig verklärten Mefliasidee ; bie Wolke, die fich über die Erfcheinung 
legt, bezeichnet bas Unbeftimmte und Nebeihafte, in welches fich bie 
neue Erkenntniß, welche feftzuhalten fie noch nicht vermögend waren, 
für die Jünger verlor; ber Vorfchlag des Petrus, Huͤtten zu bauen, 
ift ber Verſuch diefes Apoftels , die hohe Anſchauung alsbald dogmatiſch 
zu firiren. Weiße befürchtet (S. 543.), man möchte dieſe feine 
Auffoffung der Verklaͤrungsgeſchichte auch für eine mythiſche anfprechen: 
ich denke nichts; fie gibt ſich allzu deutlich als eine allegorifche zu ers 
tennen. 








Zehntes Kapitel. $. 108. 261 


letzteren Stelle zwar Galilaͤa nicht ausdrüdlich genannt ift, aber 
aus dem Vorhergehenden, wo nur von Galiläa und galilätfchen 
Ortſchaften die Rede war, fo wie aus der im Bolgenden 
erwähnten Reife durch Samarien fich von felbft ergibt D): fo 
fcheinen fie doch über ven Weg, welchen Iefus von da nad 
Judaͤa gewählt habe, von einander abzugehen. Zwar find die 
Angaben zweier von ihnen in diefem Punkte fo dunkel, daß fie 
der harmonifirenden Eregefe Vorſchub zu leiſten feheinen fönnten. 
Am Harften und beftimmteften fagt Markus, Jeſus habe feinen 
Meg über Peräa genommen : aber fein zoyeras eis a Opın 
17s Isdeiug din TE neo Tö Togdavs ift fehwerlich etwas Ande⸗ 
res, als Die Art, wie er fich den fohwerverftändlichen Ausdruck des 
Matthäus, dem er in dieſem Abfchnitt folgt, ‚erflären zu bürfen 
glaubte. Was dieſer mit ſeinem uerũos⸗ ano vn Talılalaz 
xl 7Adev Eis To gta tjg Isdalog negev tũ Iogdave eigent- 
lich fagen will, if in der That dunkel, Denn wenn bie 
Erklärung: er fam in den Theil von Judäa, welcher jenfeits 
des Jordans Tiegt, 9) gleicherweife gegen Geographie wie 
Grammatif verftößt, fo ift Die Deutung, zu welcher die Vers 
gleihung des Markus die meiften Ausleger geneigt macht, 
daß Iefus nach Judaͤa gefommen fei durch das Land jenfeits 
bes Zordans, ) auch nach der von Fritzſche angebrachten 
Mopdification wenigftens nicht ohne grammatifche Echwierigfeit. 
Bleibt indeß fo viel in jedem Yale, daß auch Matthäus wie 
Marfus Jeſum von Oalilia nach Judaͤa den weiteren Weg 
über Peräa nehmen Iäßt: fo fcheint dagegen Lufas ihn den 
näheren, durch Samaria, zu führen. Zwar ift fein Ausdrud, 
17, 11., daß Jefus auf feiner Reife nach Serufalem dujexero 
dia Eos Zauapelag xol Telılaies, Taum klarer, ald ber 
eben eriwogene des Motthäus. Der gewöhnlichen Wortbebeu- 
tung nach feheint er auszufagen , Jeſus habe zuerft Samarien, 


ı) Schleiermader, über den Lukas, e. 160, 
2) Kuinoͤl und Gras, z. d. St. 
3) So 3. B. Lightfoot, z. d. St. 





262 Zweiter Abfchnitt. 

dann Galiläa, quer bdurchfchnitten, um fo nach Serufalem zu 
fommen. Aber diefe Aufeinanderfolge ift verfehrt; denn ging 
er von einem galiläifehen Orte aus, fo mußte er zuerft das 
‚übrige Galiläa, und dann erft Samarien durchreifen. Man 
hat deßwegen dem duepyeadaı dia uEos x. €. A. die Bedeutung 
eines Hinziehers auf der Gränze zwifchen Galilia und Sama⸗ 
rien gegeben, 9 und nun den Lukas mit den beiden erften 
Evangeliften durch die Vorausfegung vereinigt, Sefus fei auf 

der galiläifch - famarifchen Gränze bis zum Sordan hingereist, 
‚ babe hierauf diefen überfehritten, und fei fofort durch Peräa 
nah Judäa und Jerufalem gewandert. Diefe Iegtere Voraus⸗ 
ſetzung verträgt fich aber mit Luc. 9, 51 ff. nicht; Denn wenn 
diefer Etelle zufolge Jeſus nach dem Aufbruch aus Galtläa 
alsbald einem famarifchen Dorfe zugeht , und bier übeln Eindrud 
macht, Orı TO rO0SWTEOv aurä 1iv Togevouevov eig Iegscalru: ſo 
lautet Dieß ganz, wie wenn er die Richtung von Galifäa durch 
Eamarien nad) Judäaa gehabt hätte, und wir werden am 
beften thun, in jener Angabe eine ungenaue, vielleicht durch 
dad Beltreben, die Erzählung von den zehn Ausſaͤtzigen, 
worunter ein Samariter, einzuleiten, veranlaßte?) Wortftellung, 
und jomit hier eine Abweichung der foneptifchen Evangelien 
anzuerfennen. I Erft gegen das Ende des Weges Jeſu vers 
einigen fie fich wieder, indem laut ihres übereinftimmenden 
Berichts Jeſus nach Jeruſalem von Jericho her gekommen ift 
(Matth. 20, 29 yarall.); ein Ort, welcher übrigens mehr 
dem über Peräa, als dem durch Eamarien gefommenen Oali- 

läer auf der geraden Straße lag. | 


2) Wetſtein, Olshaufen, z. d. St.; Schleiermacher, a. a. O. 
S. 164. 214. 

9 ©. de Wette, z. d. St. 

6) Fritzſche, in.-Marc, p. 415: Marcus Matthaei 19, 1. se aucto- 
ritati h. 1. adstringit, dicitque, Jesun e Galilaea (cf. 9, 33.) 
profectum esse per Peraeam. Sed auctore Luca 17, 11. in Ju- 
daeam contendit per Samuriam itinere brevissimo, 





Zehntes Kapitel, $. 108. 263 


Iſt auf diefe Weife unter den Synoptifern zwar in Ruͤck⸗ 
fiht auf den von Jeſu eingefchlagenen Weg ein Streit, aber 
doch in Bezug auf den’ erften Ausgangspunft und das letzte 
Stück des Wegs Mebereinftimmung : fo weicht der johanneifche 
Bericht in beiden Hinfichten von ihnen ab. Ihm zufolge 
nämlich ift es gar nicht Galiläa, von wo Jeſus zur letzten 
Paſchareiſe aufbricht, fondern jchon vor dem Laubhüttenfefte 
des vorigen Jahrs hatte er jene Provinz, zum lebtenmal, wie 
es fcheint, verlafien (7, 1. 10.); daß er zwifchen diefem und 
dem Feſte def Tempelweihe (10, 22.) wieder dahin gekommen 
wäre, wird wenigftens nicht gefagt; nach diefem Feſt aber 
begab er fich nad) Peräa und blieb dafelbft (10, 40.), bis ihn 
die Krankheit und der Tod des Lazarus nad) Judäa und in 
die nächfte Nähe Serufalems, nach Bethanien, rief (11,8 ff.). 
Der Nachftellungen feiner Feinde wegen’ zog er fich von hier 
bald wieder zurüd, Doch, weil er das bevorftehende Paſcha 
befuchen wollte, nur bis in das Städtchen Ephraim, unweit 
der Wüfte (11, 54.); von wo aus er dann, ohne daß eines 
Aufenthalts in Sericho gedacht würde, das auch von Ephraim 
aus, wie man deſſen Lage gewöhnlich beftimmt, nisht im Wege 
lag, nad) Serufalem zum Feſte fich begab. 

Eine fo totale Abweichung mußte die Harmoniften in un- 
gewöhnliche Gefchäftigfeit verfegen. Der Aufbruch aus Ga- 
Iiläa, deffen die Synoptifer gedenken, fol nach ihnen nicht der 
Aufbruch zum legten Paſcha, fondern zum Feſte der Tempel: 
weihe gewefen ſein: ) unerachtet er von Lufas durch das & 
zu ovuningdoder Tag nutoos rg weinnyews wurd (9, 51.) 
unverfennbar als Aufbruch zu demjenigen Sefte, auf welchem 
Leiden und Tod Jeſu warteten, bezeichnet ift, und ſaͤmmtliche 
Synoptifer die hier begonnene Reife mit jenem feftlichen Einzug 
in Serufalem endigen laſſen, welcher auch dem vierten Evan- 
gelium zufolge unmittelbar vor dem Testen Paſchafeſt erfolgt 





— — 


’) Paulus, 2, ©, 293. 554. Val. Olshauſen, 1, ©. 583. 


264 Ziveiter Abſchnitt. 


1.9) Sol hienach der Aufbruch aus Ghlilda, von welchem 
fie erzählen, der zum Enfänienfeft,. die Ankunft in Jeruſalem 
aber, welche fie melden, die zum fpäteren Pafcha geweſen fein: 
fo müßten fie das nach dieſer Vorausfegung zwifchen beiden 
Punkten Liegende, nämlich Jeſu Ankunft und. Aufenthalt in 
Serufalem zum Feft der Tempelmweihe, feine Reife von da nach 
Peräa, von Peräa nach Bethanien, und von hier nach Ephraim, 
ganz übergangen haben. Scheint hieraus zu folgen, daß jene 
Berichterſtatter von allem diefem audy nichts gewußt haben : 
fo fol vielmehr, wie geltend gemacht wird, Lukas dadurch, daß 
er bald nach der Abreife aus Galiläa Jefum auf Schriftgelehrte 
ftoßen Iaffe, die ihn auf die Probe ftellen wollen (10, 25 ff.), 
dann ihn in dem Serufalem benachbarten Bethanien zeige (10, 
38 ff.), hierauf ihn wieder rüdwärts an die Gränzfcheide von 
Samarien und Galiläa verfeße (17, 11.), und erft alddann 
ihn zum Paſcha in Ierufalem einziehen laſſe (19, 29 ff.), deut 
lih genug darauf hinweifen, daß zwifchen jener Abreife 
und diefer Ankunft Jeſus ein weiteres Mal nah Judäa und 
Serufalem, und von da wieder zurüd, gereist fei.?) Allein, 
wenn die Schriftgelehrten ohnehin nichts beweifen, fo ift au 
von Bethanien nirgends die Rede, fondern nur von einer Ein- 
fehr Jeſu bei Martha und Maria, welche der vierte Evangelift 
- in jenes Dorf verfept, woraus jedoch nicht folgt, Daß au 
der dritte fie ebendafelbft wohnhaft, und alfo Jeſum, wenn er 
bei ihnen. war, in der Nähe von Jeruſalem fich gedacht habe. 
Daraus aber, daß fo fehr lange nach der Abreife (9, 51—17, 
11.) Sefus erft auf der Gränze zwifchen Galiläaund Samarien 
erfcheint, folgt nur, daß wir hier feine geordnet fortfchreitende 
Erzählung vor und haben. Doch felbft Matthäus ſoll nach 
diefer harmonifirenden Anficht von jenen Zwifchenbegebenheiten 
gewußt, und fie für den genauer Zufehenden angedeutet haben: 


— — — — 


) Schleiermacher, a. a. O. ©. 159. 
9) Paulus, 2, &. 294 ff. 





Zehntes Kapitel. $. 108. 265 


fein uesrnoev ano rg Telıdelas nämlich fol als Anbeutung 
der Reife Jeſu auf die Enfänien eine Diegeſe abſchließen, das 
xol Mν eis va ögıe vis Tsdalas uepev TE Toodws dagegen 
mit Angabe der Ausweichung von Jerufalem nad Peräa (Joh. 
10, 40) einen neuen Abfchnitt eröffnen: wobei übrigens ehrlich 
zugeftanden wird, daß ohne die Data des Johannes Niemand 
auf eine folche Zerreißung der Worte des Matthäus Fommen 
würde, 1%) Dergleichen Künfteleien gegenüber ift für denjenigen, 
welcher die Richtigkeit des johanneifchen Berichts vorausfegt, 
fein anderer Weg übrig, als der von der neueften Kritik eins 
gefchlagene : nämlich die Autopfie des Matthäus, der die Reife 
nur ganz kurz behandelt, aufzugeben, von Lukas aber, der einen 
ausführlichen Reifebericht hat, anzunehmen, daß er oder ein von 
ihm benügter Sammler zwei verfchiedene Berichte, von weldyen 
der eine die frühere Reife Jeſu auf das Feft der Tempelmweihe, 
der andere feine legte Pafchareife betraf, zufammengefügt habe, 
ohne zu ahnen, daß zwifchen die Abreife Jeſu aus Galiläa 
und feinen Einzug in Serufalem vor dem Paſcha noch ein frü- 
herer Aufenthalt in Serufalem, ſammt andern Reiſen und Be⸗ 
gebenheiten, fiel. 15 

Auf eigene Weife Fehrt fih nun aber im Verlaufe Des 
Bericht von der oder den lebten Reifen Jeſu das Verhältniß 
zwifchen den ſynoptiſchen Evangelien und dem johanneifchen 
um. Wie nämlich zuerft auf Seiten der erfteren eine große 
Lüde fich zeigte, indem fle eine Maffe von Zwifchenbegebenhel- 
ten und Zwifchenaufenthalten übergingen, deren Johannes ge> 
denkt: fo foheint nun gegen das Ende des Reifeberichts auf 
Seiten des Icgteren eine, wenn auch kleinere, Luͤcke einzutreten, 
‘indem er nichts davon hat, daß Zefus über Jericho nach Je: 
rufalem gekommen if. Man kann zwar fagen, Johannes habe, 


10) Derfelbe, a. a. O. 295 f. 584 f. 

1) Schleiermader, a. a. ©. S. 161f,; Sieffert, über den Urfpr. 
S. 104 ff. Dem erfteren flimmt .in Beziehung auf Lukas auch Ols⸗ 
haufen bei, a. a. ©. 


266 Zweiter Abfchnitt. 


unerachtet den Synoptifern zufolge eine Blindenheilung und 
der Befuch bei Zacchäus in diefelbe fiel, doch dieſe Durchreife 
übergehen können: allein es fragt fich, ob in feiner Darftellung 
ein Durchgang durch Sericho überhaupt Raum habe? Auf 
dem Wege von Ephraim nad) Serufalem liegt Die genannte 
Stabt nicht, fondern bedeutend öftlih ab; man hilft fich daher 
durch die Borausfegung, von Ephraim aus habe Zefus allerlei 
Nebenreifen gemacht, auf einer von diefen fei er nach Jericho 
gekommen, und von hier dann nach Ierufalem gezogen. 1?) 
Jedenfalls herrſcht hienach in den evangeltfchen Nachrichten 
von der letzten Reife Jeſu eine befondere Uneinigfeit: indem er 
der vulgären, fonoptifchen Trabition zufolge aus Galiläa über 
Sericho, und zwar nach Matthäus und Markus durch Peräa, 
nad Lukas durch Samaria, gereist wäre; dem vierten Evans 
gelium zufolge aber von Ephraim her gefommen fein müßte; 
Angaben, zwifchen welchen eine Bereinigung unmöglich ift. 


$. 109, 


Abweichungen der Evangelien in Hinfiht auf den Ausgangspunkt bes 
Einzugs Jeſu in Jeruſalem. 


Selbft über den Schluß der Reife Jeſu, über die letzte 
Station vor Jerufalem, find die Evangeliften nicht ganz einig. 
Während es nach den Synoptifern das Anfehen hat, als fei 
Jeſus von Jericho aus ohne längeren Zwifchenanfenthalt an 
demfelben Tage bis nach’ Serufalem gefommen (Matth. 20, 34, 
21, 1 ff. parall.) : läßt ihn das vierte Evangelium von Ephraim 
zunächſt nur bis Bethanien gehen, hier übernachten, und erft 
am folgenden Tage feinen Einzug in die Hauptftabt halten 
(12, 1. 12 ff). Um beide Darſtellungen zu vereinigen, fagt 
man, bei der nur fummarifchen Erzählung der Synoptifer fei 





— 


2) Tholuck, Comm. z. Joh. ©. 2273 Olshauſen, 1, ©. 771 f. 








Zehntes Kapitel, $. 109. | 267 


es nicht zu verwundern, daß fie Das Uebernachten in Bethanien 
nicht ausprüdlich berühren, ohne ed deßwegen läugnen zu 
wollen; es finde fomit fein Widerſpruch zwifchen ihnen und 
Sohannes ftatt, fondern, was jene kurz zufammenfaflen, lege 
biefer in feine weiteren Momente auseinander. ) Allein wähs 
rend Matthäus Bethanien gar nicht nennt, thun die beiden ans: 
‚ bern Symoptiker dieſer Ortihaft auf eine Weife Erwähnung, 
welche der Annahme, daß Jeſus dafelbft übernachtet habe, ent» 
fehieden widerſtrebt. Wenn fie nämlich erzählen, ws Jyyiocy 
eis Bn9gyayı) xcè BrIariov, habe fi) Jeſus aus dem nächften 
Dorf einen Efel holen laffen, und fei fofort auf diefem in Die 
Stadt eingeritten : fo kann man ſich zwifchen bie fo verbundenen 
Vorgänge unmöglich eine Nacht hineindenken, fondern die Er- 
zählung lautet fo, als ob unmittelbar auf die Sendung Jeſu 
der Eigenthümer den Ejel verabfolgt, und unmittelbar nach ber. 
Anfunft des Eſels Jeſus fih zum Einzug angefchidt hätte. 
Auch läßt fh, wenn Jeſus in Bethanien über Nacht zu bleiben 
im Sinne hatte, auf feine Weife ein Zweck feiner Sendung 
nach dem Efel ausfindig machen. Denn fol das Dorf, in 
welches er ſchickte, eben Bethanien gewefen fein: fo hatte er, 
wenn erft auf den andern Morgen ein Reitthier zu beftellen 
war, nicht nöthig, die Jünger vorauszufchiden, fondern Eonnte 
füglich warten, bis er mit ihnen in Bethanien angefommen 
war; baß er aber, ehe er noch Bethanien erreicht, und fich 
umgefehen Hatte, ob nicht hier ein Efel zu finden fei, über 
dieſes mächftgelegene Dorf hinaus nach Bethphage geſchickt 
haben follte, um dort auf den andern Morgen einen Efel auf: 
zubieten, enibehrt vollends aller Wahrfcheinlichfeit: und Doch 
fagt wenigftens Matthäus entfchieden, daß der Efel in Beth⸗ 
phage geholt worden fei. Dazu kommt, daß, der Darftellung 
des Markus zufolge, als Jeſus in Jeruſalem ankam, bereits 
die owie angebrochen (11, 11.), und es ihm beßwegen nur 


— nn — — — 


1) Tholuck und Olshauſen a. d. a. OD. 


268  Bieiter Abſchuitt. 


noch möglich war, fich in Stadt und Tempel vorläufig umzu⸗ 
fehen, worauf er mit den Zwölfen ſich nach Bethanien zurüdzog. 
Kun läßt fich zwar das nicht beweifen, was ſchon behauptet 
worden ift, daß das vierte Evangelium den Einzug vielmehr 
auf den Morgen verlege; aber dad muß man fragen, warum 
denn Sefus, wenn er nur von dem nahen Bethanien kam, nicht 
bälder von da aufgebrochen ift, um in Serufalem auch noch 


etwas, das der. Rebe werth wäre, thun zu fönnen? Die fpäte 


Ankunft Jeſu in der Stadt, wie fie Markus behauptet, erklärt 
fich offenbar nur aus dem längeren Wege von Jericho her: 
fam er bloß von Bethanien, fv ging er von bier fehmerlich fo 
fpät erft weg, daß er, nachdem er die Stabt ſich nur angefehen, 
wieder nach Bethanien umkehren mußte, um am folgenden 


Tage zeitiger von da aufzubrechen, woran ihn aber auch fchon 


am vorigen nichts gehindert hatte, Freilich ift in feiner Ver⸗ 
legung der Anfunft Jeſu in Jerufalem auf den fpäten Abend 
. Markus von den beiden andern Synoptifern nicht unterftügt, 
indem dieſe Jeſum noch am Tage feiner Ankunft die Tempels 
reinigung vornehmen, und Matthäus ihn felbft noch Heilungen 


verrichten und fich gegen die Hohepriefter und Echriftgelehrten 


verantworten läßt (Matth. 21, 12. ff.): allein auch: ohne jene 
Zeitangabe entfheidet die Continuität der Momente des Hin- 
kommens gegen jene Fleden, der Sendung der Jünger, der 
Ankunft. des Efels, und des Einreitens, gegen die Möglichkeit, 


in die Erzählung der Synoptifer ein Bethanifches Narhtquartier | 


einzufchieben. | 

Bleibt ed auf diefe Weife dabei, daß die drei erften Evans 
geliften Jeſum geradezu von Jericho aus, ohne Aufenthalt in 
Bethanien, der vierte aber ihn nur von Bethanien her nach 
Jeruſalem ziehen läßt: fo müffen fie, wenn fie beiverfeits Recht 
haben follen, von zwei verfehiedenen Einzügen reden; wie dieß 
neuerlich von mehreren Kritifern vermuthet worden if.) Ihnen 


2) Paulus, ereg. Handb., 3, a, e. 92 ff. ↄ8Sff.; Schleiermader, 
über den Lulas, ©. 244 f. ’ 











Zehntes Kapitel. F. 109. 269 


zufolge 309 Jeſus zuerft (was die Synoptifer erzählen) mit der 
Feſtkarawane geradezu nach Jerufalem, und es erfolgte hiebei, 
wie er fich durch die Befteigung des Thiers bemerklich machte, 
von Eeiten der Mitreifenden unvorbereitet eine laute Huldigung, 
welche den Einzug in einen Triumphzug verwandelte. Nachdem 
er fi) am Abend nach Bethanien zurüdgezogen, ging ihm dann 
am folgenden Morgen (was Johannes berichtet) eine große 
Volksmenge entgegen, um ihn einzuholen, und als er auf dem 
Wege von Bethanien her mit derfelben zufammentraf, wieder⸗ 
holte ſich, dießmal vorbereitet von Seiten feiner Anhänger, die 
Scene des geftrigen Tags in noch größerem Mapftabe. Diefer 
Unterfcheipung eines früheren Einzugs Jeſu in Serufalem, che 
man bier von feiner Ankunft wußte, und eines fpäteren, nach⸗ 
dem man fchon erfahren hatte, daß er in Bethanien fei, ift- 
die Differenz günftig, daß nach der fynoptifchen Erzählung die 
Huldigenden nur mooayorzes und oAsdirres (Matth. V. 9.), 
nach der johanneifchen aber unwrrowres (B. 13. 18.) find. 
Fragt man nun aber: warum geben denn unfere fämmtlichen 
Berichterftatter jeder nur Einen Einzug, und finder ſich bei 
feinem berfelben von zweien eine Spur? fo befommt man in 
Bezug auf den Sohannes die Antwort, dieſer verſchweige den 
erften Einzug wahrfcheinlich deßwegen, weil er ihn nicht mit⸗ 
gemacht habe, indem er während deffelben nad) Bethanien 
möge verfchickt gewefen fein, um die Ankunft Jeſu anzumelden. 3) 
Da indeß nach unfern Grundfägen, wenn vom Berfaffer des 
vierten Evangeliums, dann auch von dem des erften voraus⸗ 
gefegt werden darf, daß er der in ber Ueberſchrift genannte 
Apoftel gewefen: fo fragt man vergebens, wohin denn nun 
bei'm zweiten Einzuge Matthäus folle verfchidt geweſen fein, 
daß er von dieſem nichts zu erzählen wußte? da fich bei dem 
wiederholten Gange von Bethanien nad) Jerufalem Fein Anlaß 
einer folchen Sendung denken läßt. Webrigens auch in Bezug 
auf den Johannes ift fie reine Erbichtung; abgefehen davon, 


3) Schleiermacher, a. a. 0. 


270 Zweiter Abſchnitt. 


daß, auch wenn die beiden Evangeliften nicht perfönlich zugegen 
waren, fie doch von einer im Kreife der Jünger fo viel befpros 
chenen Begebenheit, wie der feierliche Einzug gewiß auch in 
feiner Wiederholung war, genug erfahren mußten, um von 
demfelben Bericht erftatten zu Finnen. Hauptfächlich aber, wie 
die Erzählung der Synoptifer nicht fo lautet, als ob nad 
dem von ihnen befchriebenen Einzuge noch ein zweiter erfolgt 
wäre: fo-ift Die johanneifche von der Art, Daß vor dem Eins 
zuge, deſſen fie Meldung thut, ein anderer unmöglich gebacht 
werden fann. hr zufolge gehen nämlich ven Tag vor dem 
johanneifchen Einzug , alfo der Vorausfegung gemäß an dem- 
felben Tage mit dem fynoptifchen, viele Juden von Jeruſalem 
nach Bethanien hinaus, weil fte von Jeſu Ankunft gehört 
hatten, und nun ihn und den von ihm erwedten Lazarus fehen 
wollten (V. 9. vgl. 12). Allein wie Fonnten fie am Tage des 
fonoptifchen Einzugs hören, daß Jeſus in Bethanien fei? An 
jenem Tage ging ja Jeſus Berhanien vorbei oder Durch, und 
30g gerade nach Jerufalem, von wo er nach allen Erzählungen 
erft fo fpät Abends nach Bethanien hinausgegangen fein kann, 
dag Juden, die nun erft von Serufalem aus dahin gingen, _ 
- nicht mehr hoffen fonnten, ihn noch fehen zu Eönnen. ?) Wofür 
mochten fie aber nur fich die Mühe nehmen, Jeſum in Bethas 
nien aufzufuchen, da fie ihn doch an jenem Tag in Jerufalem 
felber hatten? Gewiß müßte es in biefem Falle nicht bloß ° 
heißen, fie feien 8 dı@ zo Ino» uovov all va xal zov 
AcLeoov wor, gefommen, fondern, Sefum haben fie zwar 
in Serufalem felbft gefehen gehabt, nun aber haben fie auch 
noch den Lazarus fehen wollen, und feien deßwegen nach Bethas 
. nien gegangen: wogegen der Evangelifi, welcher Leute von 
Serufalem aus, um Jefum zu fehen, nach Bethanien gehen 
läßt, unmöglich vorausgefegt haben Tann, daß eben an dieſem 
Tage Iefus in Ierufalem zu fehen gewefen fei. Auch das 
Weitere, wenn es bei Johannes heißt, am folgenden Tage habe 


2) Bl. Lüde, 2, ©. 432. Anm. 





Zehntes Kapitel. $. 109. 2711 


man in Jeruſalem gehoͤrt, daß Jeſus dahin komme (V. 12.), 
klingt gar nicht ſo, wie wenn Jeſus ſchon am Tage vorher 
daſelbſt geweſen waͤre, ſondern als ob man von Bethanien aus 
erfahren hätte, daß er heute vollends hereinkommen würde; fo 
wie auch der Empfang, den man ihm fofort bereitet, nur ale 
Verherrlichung feines erften Eintritts in die Hauptftadt einen 
rechten Sinn hat; bei feiner zweiten Dahinfunft aber nur etwa 
dann füglich hätte veranftaltet. werden können, wenn Jeſus 
Tags zuvor unbemerkt undungeehrt hereingefommen wäre, und 
man dieß am folgenden Tag hätte nachholen wollen: nicht- aber, 
wenn der erfte Einzug fchon fo glänzend gewefen war. And 
zwar müßten fi) beim zweiten alle Züge des erften wiederholt 
haben; was, mag man es mehr ald abfichtliche Veranftaltung 
Jeſu, oder als zufällige Fügung der Umſtände betrachten, 
immer unwahrfcheinlich bleibt. Bon Jeſu ift es nicht wohl zu 
begreifen, wie er ein Schaufpiel wiederholen mochte, Das, 
Einmal bedeutfam, in feiner Wiederholung matt und zwecklos 
war; °) Die Umftände aber müßten auf unerhörte Weife zufam- 
- mengetroffen haben, wenn beidemale diefelben Ehrenbezeugungen 
von Seiten des Volks, diefelben Aeußerungen des Neides von 
Seiten feiner Gegner eingetreten fein, auch beivemale ein an bie 
Weiffagung des Zacharias erinnerndes Reitthier zu Gebote ge: 
ftanden haben ſollte. Man könnte daher die Sieffert’fche 
Affimilationshypothefe zu Hülfe nehmen, und vorausfeßen, die 
beiden Einzige, urfprünglich ‘mehr verfchieden, feien durch 
traditionelle Vermiſchung fich fo ähnlich geworden: wenn nicht 
überhaupt die Annahme, daß den evangelifchen Erzählungen hier 
zwei verfchiedene Thatfachen zum Grunde liegen, eines andern 
Umftands wegen unmöglich würde. 

Auf den erften Anblid zwar feheint ed die Annahme von 
zwei verfehiedenen Einzügen zu unterflüßen, wenn man be- 
merft, daß Johannes feinen Einzug den Tag nach jenem 
Bethanifchen Mahle, bei welchem Sefus unter merfwürdigen 





— 


6) Haſe, L. J. $. 124. 


272 Zweiter Abſchnitt. 


Umſtänden geſalbt wurde, vor ſich gehen läßt; die beiden 
erſten Synoptiker dagegen (denn Lukas weiß von einer zu 
Bethanien und in dieſem Abſchnitte des Lebens Jeſu gehaltenen 
Mahlzeit bekanntlich nichts) ihren Einzug dieſem Mahle voran⸗ 
gehen laſſen: wodurch alſo, ganz der obigen Vorausſetzung 
gemaͤß, der ſynoptiſche Einzug als der frühere, der johan⸗ 
neiſche als der ſpätere erſchiene. Dieß wäre gut, wenn nur 
nicht Johannes feinen Einzug fo früh, die Synoptiker dagegen 


ihr Bethanifches Mahl fo fpät fegen würden, Daß jener. . 


unmöglich erft nach diefem erfolgt fein Fann. Nach Johannes 
nämlich kommt Jeſus ſechs Tage vor dem Paſcha nach Betha- 
nien, und zieht am folgenden Tag in Serufalem ein (12,1. 
12.): das Bethanifche Mahl der Synoptifer dagegen (Matth. 
26, 6 ff. parall.) Tann höchftens zwei Tage vor dem Paſcha 
gehalten worden fein (V. 2.); fo daß, wenn der fpnoptifche 
Einzug vor dem johanneifchen Mahl. und Einzuge ftattgefunden 
haben fol, dann nach allem Diefem den Synoptifern zufolge 
noch eine zweite Bethanifche Mahlzeit angenommen werben 
müßte. Allein zwifchen ven hiebei vorauszufegenden zwei Mahls 
zeiten fände nun ebenfo, wie zwifchen den beiden @inzügen, 
bis in’s Einzelfte hinein die auffallendfte Aehnlichkeit ftatt, und 
das GSichverflechten von zwei dergleichen Doppelbegebenheiten 
ift fo verdächtig, daß man hier fihwerlich die Auskunft wird 
anwenden mögen, es feien zwei Einzüge und Mahlzeiten, bie 
einander urfprünglich weit unähnlicher gefehen haben, in ber 
Tradition durch Uebertragung von Zügen aus der einen Ber 
gebenheit in die andere fich fo ähnlich geworben, wie wir fie 
jegt haben: jondern hier, wenn irgendwo, tft es leichter, fofern 
einmal die Urkundlichkeit der Berichte aufgegeben wird, ſich 
vorzuftellen, daß in der Lleberlieferung eine Begebenheit variirt, 
ald daß durch diefelbe zwei Begebenheiten affimilirt worden 
feien. ©) 


6) Vgl. de Wette, ereg. Handb., I, 1, ©. 172, 








Zehntes Kapitel. $. 110. 273 


$.. 110. 


Räherer Dergang bei dem Einzug. Zwed und hiſtoriſche Realität 
deffelben. 


Während das vierte Evangelium zuerft die Jeſu entgegen- 
ftrömende Menge ihm ihre Huldigung barbringen, und dann 
erft die kurze Angabe folgen läßt, daß Jeſus einen jungen 
&jel, deſſen er habhaft wurde, beitiegen habe: ift bei den 
Synoptifern das Erfte, was fie geben, ein ausführlicher Be⸗ 
richt, wie Jeſus zu dem Efel fam. Als er nämlich in die 
Nähe von Serufalem, gegen Bethphage und Bethanien am 
Delberg bingefommen, habe er zwei feiner Jünger in das vor 
ihnen liegende Dorf geſchickt, mit der Weifung, wenn fie 
hineinfämen, würden fie — und nun fagt Matthäus, eine 
Efelin angebunden, und ein Füllen bei ihr: die beiden ans 
dern, ein Füllen, auf welchem nod Niemand gefeffen habe, 
angebunden — finden, das (die) follen fie losbinden und 
ihm bringen, etwaige Einwendungen des Eigenthümers aber 
durch die Bemerkung, der Herr bebürfe feiner (ihrer), nieder: 
fchlagen; dieß fei fo gefihehen,, und die Jünger haben — 
auf die Thiere nach Matthäus: nach Den beiden andern auf 
das Eine Thier —, ihre Kleider unterbreitend, Jeſum gefeht. 

Das Auffallendfte in dieſen Berichten ift offenbar Die, 
Angabe des Matthäus, daß Jeſus nicht. bloß, da doch nur 
er allein reiten wollte, zwei Eſel reguirirt, fondern daß er 
auch wirklich auf beide fich gefegt haben fol. Zwar, wie 
natürlich, hat e8 nicht an Verſuchen gefehlt, das Erftere zu 
erflären, und das Letztere zu befeitigen. Das Mutterthier foll 
Jeſus mit dem Füllen, auf welchem er eigentlich reiten wollte, 
haben holen Iafien, damit das junge, noch faugende Thier 
defto eher gehen möchte, ) oder foll die an das Junge gewöhnte 


1) Paulus, 3, 5, ©. 1155 Kuindl, in Matth, p. 541. 
U. Band. 18 


274 ‚ Iweiter Abfchnitt. 


Mutter von felbft nachgelaufen fein; ) allein ein noch durch 
Eaugen an die Mutter gewöähntes Thier gab der Eigner 
fehwerlich zum Reiten her. Ein genügender Grund für Jeſum, 
zwei Thiere holen zu laffen, lag nur darin, wenn er auf 
beiden reiten wollte; was Matthäus deutlid, genug zu fagen 
fiheint, indem er auf beide Thiere (envw avraw) fowohl bie 
Kleider gebreitet werden, als Jeſum fich fegen läßt. Allein 
wie fol man dieß fich vorftelen? Als ein abmechfelndes 
Reiten auf dem einen und andern, meint Frisfche: ?) aber 
dieß war, für die kurze Strede Wegs, eine unnöthige Unbes 
quemlichfeit. Daher fuchten die Ausleger der fonberbaren 
Angabe los zu werden; die einen indem fie, fehr ſchwachen 
Auctoritäten zufolge, und gegen alle Fritifchen Grundſaͤtze, in 
den Worten vom Auflegen der Kleider flatt Znmw avzwv 
Infen : Em avrov (Tv WA), worauf fodann bei der Erwähs 
nung, daß Jeſus fich darauf gefeht habe, das Enww avruy 
auf die über das Eine Thier gebreiteten Kleider bezogen 
wird. 9 Ohne Aenderung der Lesart glaubten Andere durch 
Annahme einer Enallage numeri auszufommen , 5) was Wis 
ner dahin beftimmt hat, daß wirklich der Erzähler in unges 
nauer Ausdrudsweife von beiden Thieren fpreche, wie auch 
wir von demjenigen, der von einem der zufammengefpannten 
Pferde fpringt, fagen, er fei von den Pferden gefprungen. ©) 
Geſetzt, dieſe Auskunft reichte zu, fo begreift man nun wieder 
nicht, wofür Sefus, der hienach nur des einen fi) bedienen 
wollte, zwei Thiere beftelt haben fol. Diefe ganze Angabe 
muß um fo mehr verdächtig werden, da der erfte Evangelift 
mit derfelben allein fteht; denn das reicht doch nicht aus, um 


2) Dlöhaufen, 1, ©. 776. 

5) Comm. in Matth. p. 630. Ihm flimmt de Wette bei, exeg. 
Handb. 1, 1, ©. 173. 

% Paulus, a. a. O. ©. 143 f. 

6) Staffius, phil. sacr. p. 172. Aehnlich Kuindl und Gras, 
3. d. St. 

6) N. T. Gramm. ©. 14% 





Zehntes Kapitel. 8. 110. 273 


die übrigen auf feine Seite zu ziehen, was man gewöhnlich 
zu leſen befommt: fie nennen nur das Füllen, auf welchem 
Jeſus geritten fei, die Eſelin, als Nebenfache, laſſen fie weg, 
ohne fie auszufchließen. 

Fragt es fih nun, wie Matthäus zu feiner eigenthüm⸗ 
lichen Darftelung gekommen. ift? fo haben, wiewohl auf felt- 
fame Weife, diejenigen auf den rechten Punkt hingewiefen, 
welche vermutheten, Jeſus habe in feinem Auftrag an bie 
zwei Jünger, und Matthäus in feiner Urfchrift, der Stelle 
des Zacharias (9, 9.) zufolge für den Einen Begriff des Efele 
mehrerer Ausdrücke fi) bevient, woraus fofort der grierhifche 
Vleberfeger des erften Evangeliums mißverftänblich mehrere 
Thiere gemacht habe. ) Allerdings find die gehäuften Bezeich- 
nungen des Eſels in jener Stelle: nans=72 m) Tion 
errobvyıov al uöAov veov, LXX., der Anlaß der Verdoppe⸗ 
lung deflelben im erften Evangelium: indem nämlich das Und, 
welches im Hebräifehen erflärend gemeint war, als hinzufügend 
genommen, und ftatt „ein Efel, d. h. ein Efelsfüllen u. ſ. w.“ 
vielmehr „ein &fel fammt einem Efelsfüllen‘ in der Stelle 
gefunden wurde. 8) Allein dieſen Fehler kann nicht erft der 
griechifche Lleberfeger gemacht haben; welcher fchwerlich, wenn 
er in der ganzen Erzählung des Matthäus nur Einen Eſel 
gefunden hätte, rein aus der Prophetenftelle heraus ihn vers - 
doppelt, und fo oft fein Original von Einem Ejel fprach, den 
zweiten hinzugefügt, ober ftatt des -Gingulard den Plural 
gefest haben würde; fondern ein folcher muß den Berftoß bes 
gangen haben, deſſen einzige fehriftlich firirte Quelle die Pros 
phetenftelle war, aus welcher er mit Zugiehung der mündlichen 
Tradition feine ganze Erzählung herausfpann, d. h. der Ver⸗ 
faffer des erften Evangeliums, welcher fich freilich hiedurch, 


7) Eihhorn, allgem. Bibliothel, 5, ©. 896 f. Bol. Bolten, Be: 
richt des Matthäus, ©. 317 f. 
8) ©, Fritzſche, 3. d. St. Auch Neander, S. 550, Anm., räumt 
dieß ein. 
18 * 


276 Zweiter Abfchnitt. 


wie die neuere Kritif mit Recht behauptet, unwiederbringlich 
um den Ruhm eines Augenzeugen bringt. °) 

ft diefer Mißgriff dem erften Evangelium eigen: fo haben 
hinwieverum auch Die beiden mittleren einen Zug für ſich, 
welchen vermieden zu haben dem Derfafler des erften zum 
Bortheil gereicht. Auf das Schleppende zwar foll nur beiläufig 
aufmerffam gemacht werden, was darin liegt, daß, nachdem 
bei allen drei Synoptifern Jeſus den zwei abgeſchickten Jüngern 
genau vorherbezeichnet hatte, wie fie den Efel finden, und 
womit fie den igenthümer deſſelben zufrieven ftellen follten, 
nun Marfus und Lufas fih und dem Lefer die Mühe nicht 
fparen, ausführlich und genau das Alles als eingetroffen zu 
wiederholen (Marc. V. 4 ff. Luc. V. 32 ff.); während Mat- 
thäus (B. 6.) geſchickt durch. ein rouoavres xaIug rrpogtraser 
avrois 6 1. ſich abfindet — dieß, als bloß die Form betreffenn, 


fol bier nicht weiter geltenn gemacht werden. Das aber bes 


trifft den Inhalt der Sache, daß nah Marfus und Lufas 


Jeſus ein Thier verlangte, Ep 0 adelgs nwnore @IoWTuV 


&wIıoe, ein Zug, von welchem Matthäus nichts weiß. Man 
begreift hier nicht, wie fich Jeſus das Vorwärtsfommen durch 
die Wahl eines noch nicht zugerittenen Thiers abfichtlich er- 
fehweren mochte, welches, wenn er e8 nicht Durch göttliche 
Allmarht in Ordnung hielt (denn bei dem erften Ritt auf einem 
folhen Thiere reicht auch die größte menfchliche Geſchicklichkeit 
nicht aus), gewiß manche Etörung des feftlichen Zuges herbeis 
geführt haben wird, zumal ihm fein Vorangehen des Mutter: 
thiers zu ftatten fam, welches nur in der Vorftellung des erften 
Evangeliften mitgelaufen if. Diefer Unannehmlichfeit hat 
Jeſus gewiß nicht ohne triftigen Grund fich ausgefeht: ein 
folcher aber jcheint nahe genug zu liegen in der Anficht des 
Alterthums, welcher zufolge, nah Wetftein’s Ausprud, 


») Schulz, über das Abendmahl, &. 310 f.; Sieffert, über den 
urſpr. ©, 107 f. 





Zehntes Kapitel. $. 110. 277 


animalia, usibus humanis nondum mancipata, sacra ha- 
bebantur; fo daß alfo Jeſus für feine geheiligte Perſon und 
zu dem hohen Zwede feines meflianifchen Einzuge auch nur 
ein beiliges Thier hätte gebrauchen mögen. Näher erwogen 
jedoch wird man dieß eitel finden, und wunderlich dazu; denn 
dem Eſel fonnten die Zufchauer e8 nicht anfehen, daß er noch 
nicht geritten war, außer an der Ungebärvigfeit, mit welcher er 
den ruhigen Fortfehritt des feierlichen Zuges geftört haben 
würde. ) So wenig wir auf diefe Weife begreifen, wie 
Jeſus in dem Befteigen eines nicht zugerittenen Thiers eine 
Ehre gefucht haben fann: ſo begreiflich werden wir e8 finven, 
daß ſchon frühe die chriftliche Gemeinde es feiner Ehre ſchuldig 
zu fein glaubte, ihn nur auf einem folchen Thiere reiten, wie 
fpäter ihn nur in einem ungebrauchten Grabe Tiegen zu laſſen; 
was in ihre Denfwürdigfeiten aufzunehmen, die Verfaſſer der 
mittleren Evangelien fein Bebenfen trugen, weil ihnen freilich 
bei'm Schreiben der nichtzugerittene Efel nicht die Unbequemlich⸗ 
feit verurfachte, welche er Jeſu bei'm Reiten verurfacht haben 
müßte. 

Wenn in die bisher erwogenen beiden Schwierigkeiten die 
Synoptiker ſich theilen: ſo iſt eine andre ihnen allen gemein⸗ 
ſchaftlich, die nämlich, welche in dem Umſtande liegt, daß 
Jeſus ſo zuverſichtlich zwei Jünger nach einem Eſel ſendet, den 
ſie im nächſten Dorf in der und der Situation finden würden, 


10) Daß jener Grund fuͤr die Maaßregel Jeſu nicht genuͤge, hat auch 
Paulus gefuͤhlt; denn nur aus dem verzweifelnden Suchen nach 
einem reelleren und mehr ſpecifiſchen Grunde iſt es zu erklaͤren, daß 
er hier das einzige Mal myſtiſch wird, und an die Erklaͤrung Juſtins 
des Maͤrtyrers (die als Urolvyıor bezeichnete Eſelin bedeute did Juden, 
der noch nicht gerittene Eſel die Heiden, Dial. c. Tryph. 53.), den 
er ſonſt immer als Urheber der verkehrten kirchlichen Bibeldeutungen 
bekaͤmpft, ſich anſchließend, wahrſcheinlich zu machen ſucht, Jeſus habe 
durch Beſteigung eines noch nicht gerittenen Thiers ſich als Stifter und 
Regenten einer neuen Religionsgeſellſchaft ankuͤndigen wollen. Exeg. 
Handb. 3, a, S. 116 ff. 


278 Zweiter Abfchnitt. 


und daß der Erfolg feiner Borausfage fo genau entfpricht. Das 
Ratürlichfte könnte fcheinen, bier an eine vorangegangene Ber- 
abredung zu denken, welcher zufolge zur beftimmten Stunde am 
bezeichneten Orte ein Reitthier für -Sefum bereit gehalten worden 
fei; 1) allein wie konnte er eine folche Verabredung in Beth⸗ 
phage getroffen haben, da er eben von Sericho Fam? Daher 
findet au) Baulus dießmal etwas Anderes wahrfcheinlicher : 
daß nämlich in den an der Hauptftraße. nach Ierufalem gelege- 
nen Dörfern um die Feftzeiten viele Laftthiere zum Vermiethen 
an die Wallfahrer bereit geftanden haben werden; wogegen 
jedoch zu bemerken ift, daß Jeſus gar nicht, wie vom nächften 
beften, fondern von einem beftimmten Thiere fpriht. Man 
mwunbert fich daher, wenn man es bei Olshauſen nur ale 
vermuthlichen Einn der Neferenten bezeichnet findet, daß dem 
einziehenden Meſſias Alles durch Fügung Gottes zur Hand 
gewefen fei, wie er deſſen eben beburfte; fo wie, daß derſelbe 
Ausleger, um die Willfährigfeit der Beftger des Thieres zu 
erklären, die Vorausfegung nothiwendig findet, fie feien mit 
Sefu befreundet geweſen: da vielmehr durch diefen Zug die 
gleichfam magifche Gewalt dargeftellt werden fol, welche, fo- 
bald er nur wollte, dem bloßen Namen des Kvgros inwohnte, 
bei deſſen Nennung der Befiger des Efels den Efel, wie: 
ſpäter (Matth. 26, 18 parall.) der Inhaber des Eaals den 
Saal, unweigerlich zu feiner Dispofition ſtellte. Zu biefer 
göttlichen Fügung zu Gunften des Meſſias, und der unwider⸗ 
ftehlichen Kraft feines Namens, fommt noch das höhere Wiflen, 
durch welches Jeſu hier ein entferntes Verhältniß,- das er für 
feine Bebürfniffe benügen Eonnte, offen vor Augen lag. 

St dieß der Einn und die Abficht der Evangeliften bei 
den arfgebenen Zügen ihrer Erzählung : fo ließe fich zwar ein 
ſolches Vorherfagen eines zufälligen Umftandes ald inagnetifches 


4) Natürlihe Geſchichte, 3, ©. 566 f.; Neander, 8. 3. Chr. 
S. 550, Anm | 











Zehntes Kapitel. $ 110. 279 

Hells und Bernfehen begreifen: 2) doch Fennen wir theils bie 
Neigung der urchriftlichen Eage, folhe Proben der höheren 
Natur ihres Meflias zu geben, bereitS allzu gut (man venfe 
an die Berufung der zwei Brüderpaare ; die genauefte Analogie 
aber hat die eben angeführte, unten näler zu betrachtende Art, 
wie Jeſus das Local für feine legte Mahlzeit mit den Zwoͤlfen 
beftellen läßt); theils läßt fich zu augenfcheinlich der prophetifch s 
dogmatifche Grund nachweifen,. warum fich hier das Fernfehen 
Jeſu gerade als Wiflen um einen angebundenen Efel zeigt: 
als daß wir uns ber Vermuthung enthalten könnten, auch hier 
nur ein Gebilde jener Neigung und dieſes Pragmatismus vor 
uns zu haben. Ueber der im erften und vierten Evangelium 
eitirten Stelle aus Zacharias nämlich, welche vom Einreiten 
bes fanftmüthigen Königs nur überhaupt auf einem Efel hans 
delt, verfäumt man gewöhnlich, eine andere A.T. liche Stelle 
zu berüdfichtigen, welche näher den angebundenen Efel des 
Meſſias enthält. Es ift dieß die Stelle 1 Moſ. 49, 11., wo 
der fterbende Jakob zu Juda von jenem „bw fagt (LXX): 
deousvwv 790g &uselov Tov WA ira xal vi Elm Töv 
solo rs v8 avıd. Zuftin der Märtyrer faßt auch dieſe 
mofaifche Stelle, wie jene prophetifche, als Weiffagung auf 
den Einzug Jeſu, und behauptet daher geradezu, das Füllen, 
welches Jeſus holen ließ, fei an einen Weinſtock gehunden 
gewefen. 3) Ebenfo deuteten die Juden nicht nur überhaupt 
jenen Schilo vom Meflias, wie ſich ſchon in den Targumim 
nachmweifen läßt, "9 fondern combinirten auch beide Stellen, 
das mefjianifche Anbinden des Efeld mit dem Einreiten auf 
demfelben. 5) Daß jene Weiffagung Jakobs von feinem 
12) Weiße, ©. 573. 

13) Apol. 1, 32: To de deausdwr 1o05 Aumelov Tov nWloy aura -- D- 
Polov Örkwrıxov 7v ‚Tüv yernoouevun ra Xgasıd zul Tv Un würd 
ren InoopErwv naAog yap Tıs Ovs Eigyre Ev Tırı eisodıo wo 71005 
aurekov dedeuevo;, Öv Exelsvoev ayayeır x. T. A. 


1) S. Schottgen, horae, 2, P- 1416. 
45) Midrasch Rahbba f. 98. 


[4 


280 Zweiter Abfchnitt. 


unferer Evangeliften angeführt wird, beweist hoͤchſtens, daß fie 
beim Niederfchreiben der vorliegenden Erzählung fich derſelben 
nicht ausdrüdlich bewußt waren: daß fie aber auch demjenigen 
Kreife, in welchem die Anekdote fich zuerft bilpete, nicht vor: 
gefchwebt habe, kann es keineswegs beweifen. Für einen 
Durchgang der Erzählung durdy mehrere Hände von folchen, 
‚ welche fich der urfprünglichen Beziehung auf die Etelle der 
Genefis nicht mehr bewußt waren, fpricht allerdings auch 
dieß, daß fie der Weiffagung nicht mehr ganz aͤhnlich ift. 
Sollte eine vollfommene Lebereinftimmung ftattfinden,, fo müßte 
Jeſus, nachdem er dem Zacharias zufolge auf dem Efel in bie 
Stadt geritten war, diefen beim Abfteigen an einer Weinrebe 
angebunden haben, ftatt daß er ihn jegt im nächften Dorfe 
(nah Markus von einer Thüre am Wege) Iosbinden läßt. 
Hiedurch wurde aber zugleich dieß noch erreicht, daß mit der 
Erfüllung jener beiden Weiffagungen. noch eine Probe des 
übernatürlichen Wiffens Jeſu und der magifchen Kraft feines 
Namens verbunden werden Fonnte; wobei man insbefondere 
daran denfen fönnte, daß auch Eamuel einft feine Sehergabe 
durch die Vorausfage erprobt hatte, dem heimfehrenden Saul 
werden zwei Männer begegnen mit der Nachricht, daß die 
Efelinnen feines Vaters Kis gefunden feien (1 Sam. 10, 2.). 
— Im vierten Evangelium fehlt mit der Beziehung auf die 
mofaifche Stelle der Zug vom angebundenen Efel und deſſen 
Abholung, und es wird mit alleiniger Rüdfict auf die Stelle des 
Zacharias furz gefagt: suguiv de 0 I. wagımv, &adıwev En 
orò V. 14.). !6) 

Das Nächfte, was nun in Betracht kommt, iſt die Huldi⸗ 
gung, welche Jeſu vom Volke dargebracht wird. Nach allen 


16) Dieſes Stillſchweigens des vierten Evangeliſten wegen iſt dießmal auch 
Neander (a. a. O.) geneigt, die Moͤglichkeit einzuraͤumen, daß 
ein einfacherer Hergang in Folge der unverhaͤltnißmaͤßigen Bedeu⸗ 
tung, die man nachher hineingelegt, unhiſtoriſch umgebildet worden 
waͤre. 








Zehntes Kapitel, $. 110. 381 


Berichten außer dem des Lukas beftand diefe im Abhauen von 
Baumzweigen, welche man nach den beiden Synoptifern auf 
den Weg ftreute, nach Johannes, der näher Balmzweige angibt, 
Jeſu, wie e8 fcheint, entgegentrug; ferner nach allen außer 

Johannes im Breiten von Kleivern auf ven Weg. Dazu kam 
ein jubelnder Zuruf, von: welchem alle mit unbedeutenden Modi? 
firationen die Worte: euloyruzvos 0 Epxouevos &v Ovouerı Kvola 
haben, ferner alle außer Lukas das woawre, alle endlich bie 
Begrüßung als König oder Sohn Davids. Hier ift zwar das 
MIN EZ NZ MN? aus. Pf. 118, 26, eine gewöhnliche Ber 
grüßungsformel für Feftbefuchende gewefen, und auch das dem 
vorhergehenden Verſe deſſelben Pfalms entnommene 83 nywin 
. war ein gewöhnlicher Ruf am Raubhüttenfeft und am Paſcha; !7) 
aber das hinzugefigte zY vi Aavid und 0 Baoıdleig ra Iooamı 
zeigt, daß man jene allgemeinen Formeln hier fpeciel auf Jeſum 
als ven Meſſias anwandte, ihn in eminentem Sinne willfommen 
heißen, und feinem Unternehmen Glück wünfchen wollte. In 
Betreff ver Eubjecte, welche die Huldigung darbringen, bleibt 
Lufas im engften Kreife ftehen, er Enüpft nämlich das Breiten 
der Kleider auf den Weg (DB. 36.) an das Vorhergehende fo an, 
daß es ſcheint, als fihriebe er ed, wie das Legen der Kleider 
auf den Efel, bloß den Jüngern zu, wie er denn bie Loblieder 
ausdrüdlich nur anw To l,Fog Twv uedrrov anftimmen läßt; 
Matthäus und Marfus dagegen laſſen dieſe Huldigungen von 
den begleitenden Volksmaſſen ausgehen. Dieß vereinigt ſich 
indeffen leicht; denn wenn Lufas von dem TA7IoS Tww uadırrwv 
fpricht, fo ift Dich der weitere Kreis der Anhänger Jefu, und 
andrerſeits ift der nAsisog OxAog bei Matthäus doch nur bie 
Gefammtheit der ihm Günftigen unter der Menge. Während nun 
aber die Synoptifer innerhalb der Gränzen des mit Jefu reifenden 
Feftzuges bleiben: läßt Johannes, wie fehon oben erwähnt, vie 
ganze Feierlichfeit von folchen ausgehen, die von Jeruſalem aus 





47) Bel. Paulus z. d. Et. 


282 Zweiter Abfchaitt. 


Jeſu entgegenzogen (DB. 13.), wogegen dann die mit Jeſu kom⸗ 
mende Menge den Einholenden die von ihm vollbrachte Aufer- 
wedung des Lazarus bezeugt, um deren willen nach Johannes 
die feierliche Einholung von Serufalem aus veranftaltet war 
(B. 17 f.). Diefen Beweggrund fönnen wir, da wir die Wies 
derbelebung des Lazarus oben Fritifch bezweifelt haben, nicht 
gelten laffen; mit feinem angeblichen Grunde aber wird auch 
das Factum der Einholung felbft erfcehüttert, zumal wenn wir 
bevenfen, wie die Würde Jeſu es zu erfordern feheinen fonnte, 
daß ihn die Davidsſtadt feierlich eingeholt habe, und wie es 
auch fonft zu ven Eigenthümlichkeiten der Darftellung des vierten 
Evangeliums gehört, vor der Ankunft Jefu zu den Feſten zu 
befchreiben,, wie fehr die Erwartung des Volks auf ihn gefpannt 
war (7, 11 ff. 11, 56.). 


Der legte Zug in dem vor ung liegenden Gemälde ift ber 
Unwille der Feinde Jeſu über die ftarfe Anhänglichfeit des Volks 
an ihn, welche fich bei diefer Gelegenheit zeigte. Nach Johannes 
(V. 19.) fprachen die Pharifder zu einander:. da fehen wir, daß 
unfer bisheriges (fchonendes) Verfahren nichts müßt; alle Welt 
hängt ihm ja an (wir werben gewaltfam einfchreiten müffen). 
Nach Lukas (VB. 39 f.) wandten fich einige Pharifäer an Jeſum 
felbft mit dem Anfinnen, feinen Schülern Stillſchweigen aufzu⸗ 
legen; worauf er ihnen zur Antwort gibt, wenn diefe nicht 
rufen, würden die Steine ſchreien. Während Lufas und Johannes 
dieß noch auf dem Zuge vor fich gehen laflen, ift es bei Mat- 
thaͤus erft nachher, als Jeſus mit dem Feftzug im Tempel arges 
fommen war, und die Kinder auch hier fortfuhren, Hoſianna 
dem Sohne Davids zu rufen, daß die Hohenpriefter und Schrift: 
gelehrten Jefum auf den Unfug, wofür fie e8 hielten, aufmerffam 
machen, worauf er fie mit einer Sentenz aus Pf. 8, 3. (ex 
göuarog vrriov xl Inlalovewv xerngrioo alvov) zurückweist 
(V. 15 f.); eine Sentenz, die alſo bier, unerachtet fie im 
Originale ſich augenfcheinlich auf Jehova bezieht, auf Jeſum 
_ angewendet wird. Die von Lufas an den Einzug angefnüpfte 











Zehntes Kapitel. $. 110. 283 


Klage Jeſu über Serufalem wird unten noch in Betrachtung 
fommen. 

Unzweideutig fprechen Johannes und insbeſondere Matthäus 
durch fein röro de 0A yeynov, va nirgwIN x T. M. V. 5. 
den Gedanken aus, die Abficht zunächft Gottes, indem er dieſt 
Scene veranftaltete, dann aber auch des Meſſias Jeſus, ale 
Mitwiffers und Theilnehmers der göttlichen Rathfchlüffe, fei 
gewefen, durch dieſe Geftaltung feines Einzugs eine alte Weifr 
fagung zu erfüllen. Wenn Jeſus in der Etelle. des Zacharias 
9, 9. 8) eine Weiffagung auf fich als den Meſſias fah, fo kann 
dieß nicht Erfenntniß des höheren Princips in ihm gewefen fein; 
da, wenn die Propheterftele auch nicht auf einen biftorifchen 
Fürften, wie Uſia 1%) over Sohannes Hyrcanus, ?%) fondern 
auf ein meffianifches Individuum zu beziehen ift,, 2") dieſes wohl 
als friedlicher, aber doch als .weltlicher Zürft, und zwar im 
ruhigen Befige von Serufalem, alfo ganz anders als Jeſus, 
gedacht werden muß. Wohl aber frheint Jeſus auf natürlichem 
Wege zu jener Beziehung haben kommen zu fönnen,, fofern wenige 
ftend die Rabbinen die Etelle des Zacharias mit großer Ueber⸗ 
einftimmung auf den Meffias deuten. 2) Namentlich wiffen 


18) So wie Matthäus das Orakel anführt, ift es eine Zufammenfegung 
einer jefaianifchen Stelle mit der des Zacharias. Denn das einare ry 
Iuyargı Zur ift aus ef. 62, 11.; das Weitere aus Zach. 9, 9., wo 
die LXX. etwas abweichend bat: idu 6 Paoıdevg ou" loyeral 00: dixmo; 
xal awLıy auros noaug za Imrßeßnzeis Ent Umoluyıovr xaı Twlov veov. 

9) Hiätg, über die Abfaffungszeit der Orakel Bach. 9 — 14, in den theol. 
Studien, 1830, 1, ©. 36 ff. bezieht die vorangehenden Verſe auf die 
Kriegsthaten dieſes Königs, alfo den gegentoärtigen wohl auf feine 
friedlichen Zugenden. | 

2) Paulus, exeg. Handb. 3, a, S. 121 ff. 

21) Rofenmäüller, Schol. in V. T. 7, 4, S. 274 ff. 

22) In der, Th. 1, $. 14. citirten Garbinaiftelle aus Midrasch Coheleth 
wird gleich Anfangs das Zacharianiſche pauper et insidens asino auf 
den Goel postremus bezogen. Diefer Efel des Meffias wurde fofort 
mit dem des Abraham und Mofes für identiſch gehalten, f. Jalkut 

‚ Rubeni f. 79, 3. 4. bei Schöttgen, 1, ©. 1695 vgl. Eifen: 
menger, entdecktes Judenthum, 2, ©. 697 f. 


284 - Zweiter Abſchnitt. 


wir, Daß, weil die unfcheinbare Ankunft, welche hier vom 
Meffias vorhergefagt war, im Widerfpruche zu ftehen ſchien mit 
der glärizenden, welche Daniel vorherverfünbigt hatte, dieß 
fpäter dahin ausgeglichen zu werden pflegte, je nachdem fich 
das jüdiſche Volk würdig beweifen würde oder nicht, folle 
fein Meffias in der herrlichen oder in der geringen Geftalt erfcheis 
nen. ?) War nun auch zur Zeit Jeſu dieſe Unterſcheidung 
noch nicht ausgebildet, ſondern nur erft überhaupt eine Bezie- 
hung der Stelle Zach. 9, 9. auf den Meſſias: fo Fonnte doch 
Jeſus ſich etwa die Vorftellung machen, daß jet, bei feiner 
erften Barufie, die Weifjagung des Zacharias, einft aber bei 
feiner zweiten die des Daniel an ihm in Erfüllung gehen müffe. 
Doch wäre ‚auch das Dritte möglich, daß entweder ein zufäl- 
liges Einreiten Jeſu auf einem Eſel von den Ehriften fpäter 
auf diefe Weife gedeutet, oder daß, damit fein meffianifches 
Attribut ihm fehle, der ganze Einzug frei nach den beiven 
Weiſſagungen und der dDogmatifchen Vorausfegung eines höheren 
Wiffens in Jeſu componirt worden wäre. | 


23) Sanhedrin f. 98, ı (bei Wetftein): Dixit R. Alexander: R. Jo- 
sua f. Levi duobus inter se collatis locis tanquam contrariis 
visis objeeit: scribitur Dan. 7, 13: et ecce cum nubibus coeli 
velut filius hominis venit. Et scribitur Zach. 9, 9: pauper et 
insidens asino Verum haec duo loca ita inter se conciliari 
possunt: nempe, si justitia sua mereantur Isra@litae, Messias 
veniet cum nubibus coeli: si autem non mereantur, veniet pau- 
per et vehetur asino. 





Dritter Abſchnitt. 


Die Gefchichte des Leidens, 
Todes, uud der Auferſtehung 
Jeſn. 


— 0 Ge 


Erſtes Kapitel. 


Berhältniß Iefu zu der Idee eines leiden- 
den und flerbenden Meſſias; feine Beden 
von Tod, Auferfiehung und Wiederkunft. 





$. 111, 


Ob Jeſus fein Leiden und feinen Tod in beftimmten Zügen 
vorhergefagt habe? 


Den Evangelien zufolge hat Jeſus feinen Süngern mehr 
ald Einmal, und ſchon geraume Zeit vor dem Erfolge U), vor: 
ausgefagt, daß ihm Leiden und gewaltfamer Tod bevorftehe, 
Und zwar blieb er, wenn wir den fonoptifchen Nachrichten trauen, 
nicht bei der Borausfagung dieſes Schidfald im Allgemeinen 
ftehen, fondern beftimmte den Ort feines Leidens vorher, naͤm⸗ 
lich Serufalem; die Zeit deſſelben, daß eben auf dieſer Seftreife 
ihn fein Schidfal ereilen würde; die Subjecte, von welchen er 
zu leiden haben würde (apxıegeig, ygauuareis, &Ivm); bie 
wejentliche Form feines Leidens, Kreuzigung in Folge eines 
Richterfpruchg ; auch Nebenzüge fagte er voraus, daß es an 
Geißelhieben, Spott und Verfpeien nicht fehlen würde (Matth. 
16, 21. 17, 12. 22 f. 20, 17 ff. 26, 12. mit den Barall,, 








1) Was er ganz in der Nähe bes Erfolgs, in ben lesten Tagen feines 
Lebens, noch von einzelnen Umftänden feines Leidens vorherfagte, Tann 
erft weiter unten, in ber Geſchichte jener Tage, in Betrachtung kommen. 


288 Dritter Abſchnitt. 


Luc. 13, 33.). — Zwiſchen den Synoptikern und dem Verfaſſer 
des vierten Evangeliums findet hier ein dreifacher Unterſchied 
ſtatt. Fürs Erſte und hauptfächlich lauten bei dem Letzteren 
die VBorausfagen Jeſu nicht fo klar und deutlich, fondern find 
meiftens in dunkler Bilderrede vorgetragen, von welcher der 
Berichterftatter wohl auch felbft gefteht, daß fie den Jüngern 
erft nach dem Erfolge Har geworben fei (2, 22.). Außer einer 
- beftimmten Weußerung, daß er fein Leben freiwillig Taffen 
werde (10, 15 ff.), fpielt in dieſem Evangelium Jeſus auf 
feinen bevorftehenden Tod beſonders gerne durch ven Aus⸗ 
druck erör, vwäcder, an, welcher zwifchen Erhöhung an 
das Kreuz und zur Herrlichkeit fehwanft (3, 14. 8, 28. 
12, 32.), und vergleicht die ihm bevorftehende Erhöhung mit 
der ber ehernen Schlange in. der Wüfte (3, 14.), wie bei 
Matthäus fein Schidfal mit dem des Jonas (12, 40); dann 
fpricht er auch von einem Weggehen, wohin man ihm nicht 
folgen könne (7, 33 ff. 8, 21 f.), wie bei den Synoptifern 
von einer Hinwegnahme des Bräutigams, welche feine Freunde 
in Trauer verjegen werde (Matth. 9, 15 parall.), und von 
einem Kelche, den er trinfen müffe, und welchen mit ihm zu 


theilen feinen Jüngern fchwer fallen dürfte (Matth. 20, 22. 


parall.). Fließender, doch immerhin bemerflich, find die beiden 
andern Unterſchiede. inmal, während bei Sohannes die 


Hindeutungen auf den gewaltfamen Tod fich gleichmäßig von. 


Anfang durch das ganze Evangelium binziehen: finden ſich 
bei den Synoptifern die wiederholten beftimmten Todesver⸗ 
fündigungen erft gegen das Ende, theils unmittelbar vor, 
theil8 auf der legten Reife; in frühere Abfchnitte fällt, außer 
der dunkeln Rede vom Zeichen des Jonas, von welcher wir 
bald fehen werben, daß fie Feine Todesverkündigung ift, nur 
noch die Andeutung einer (ohne Zweifel gewaltfamen) Hin- 
wegnahme des Bräutigamd. Endlich, wenn den drei erften 
Evangeliften zufolge Jeſus jene Vorausfagungen, wieder mit 
alleiniger Ausnahme der fo eben erwähnten Andeutung, Matth. 
9, 15., nur dem vertrauten Kreiſe der Zwoͤlfe mittheilt, fpricht 





Erſtes Kapitel. 5. 111. 289 


er fie bei Johannes dem Volk und ſelbſt ſeinen Feinden gegen⸗ 
über aus. 

Bei der kritiſchen Prüfung dieſer evangeliſchen Nachrichten 
werden wir vom Speciellen zum Allgemeinen in der Art fort: 
fihreiten, daß wir zuerft fragen: ift e8 glaublich, daß Jeſus 
fo viele einzelne Züge des auf ihn wartenten Schidfals vor: 
ausgewußt habe? hierauf unterfuchen, ob überhaupt ein Vor⸗ 
auswiffen und Vorausfagen feines Leidens von Ceiten Jeſu 
wahrfcheinlich fei; wobei Dann der Unterſchied zwifchen der 
fonoptifchen und der johanneiſchen Darftelung von. felbft zur 
Sprache fommen wird. 

Wie Jeſus die einzelnen Ilmftände feines Leidens und 
Sterbens fo genau vorherwifien konnte, davon gibt e8 eire 
doppelte Erflärungsweife: eine fupranaturale und eine natür” 
liche. Die erftere feheint ihre Aufgabe durch die einfache Be: 
rufung darauf- löjen zu können, daß vor dem prophetifchen 
Geifte, welcher Jeſu in höchfter Fülle inwohnte, von Anfang 
an fein Schickſal in allen einzelnen Zügen ausgebreitet gelegen 
haben müſſe. Da indeffen Jeſus felbft bei feinen Leidensver—⸗ 
fündigungen ausdrücklich ſich auf das A. T. berief, veffen 
Weiſſagungen auf ihn in allen Stücken erfüllt werden müßten 
(Luc. 18, 31. vgl. 22, 37. 24, 25 ff. Matth. 26, 54.): 
ſo darf die orthodoxe Betrachtungsweiſe dieſe Hülfe nicht ver⸗ 
ſchmähen, ſondern muß der Sache die Wendung geben, Jeſus 
habe, lebend und webend in den Weiſſagungen des A. T., 
aus ihnen mit Hülfe des ihm inwohnenden Geiſtes jene 
Einzelheiten ſchöpfen können.“) Demnach müßte Jeſus, wäh—⸗ 
rend die Kunde von der Zeit ſeines Leidens, ſoll er dieſe 
nicht etwa aus Daniel oder einer ähnlichen Quelle berechnet 
haben, ſeinem prophetiſchen Vorgefühl überlaſſen bliebe, auf 
Jeruſalem als den Ort ſeines Leidens und Todes durch 


— — — — — 


2) Vgl. OUs hau ſe n, bibl. Comm. I, ©. 528, 
il Band. | | | 19 








290 Dritter Abſchnitt. 


Betrachtung des Echidjald früherer Propheten als Typus des 
feinigen in der Art gekommen fein, daß der Geift ihm fagte, wo 
fo viele Propheten, da müſſe nach höherer Eonfequenz auch der 
Meſſias ven Tod erleiden (Luc. 13, 33.); auf feinen Untergang 
in Folge förmlicher Verurtheilung müßte ihn etwa dieß geführt 
haben, daß Jeſ. 53, 8. von einem über den Knecht Gottes ver- 
hängten DEYN und V. 12. Davon Die Rebe ift, daß er ev zors 
wos &oyicdn (vgl. Luc. 22, 37.); feine Berurtheilung durch 
die Oberften des eigenen Bolfs hätte er vielleicht aus Bf. 118, 22. 
gefchloffen, wo oi oixodouävres, welche den Edftein verworfen 
haben, nach apoftolifcher Deutung (A. ©. 4, 11.) die füpifchen 
Obern find; feine Uebergabe an die Heiden Tonnte er darin 
finden, daß in mehreren A.T.lichen Klageliedern , die fich meffia- 
nifch, deuten ließen, die plagenden Subjeete als DYyy, d. h. 
als Heiden, erfcheinen; daß fein Tod gerade der Kreuzestod 
fein würbe, könnte er theils aus dem Typus der am Holz 
aufgehängten ehernen Schlange 4. Mof. 21,8 f. (vgl. Joh. 3, 14.), 
theil8 aus dem Durchgraben der Hände und Füße Pf. 22, 17. 
LXX. abgenommen haben; endlich den Hohn und die Miß- 
handlung aus Stellen, wie im angeführten Palm V. 7 ff.- 
ef. 50, 6. u. dgl. Soll nun der Jeſu inwohnende Geift, welcher 
ihm der orthodoren Anſicht zufolge die Beziehung diefer Weif- 
fagungen und Vorbilder auf fein endliches Schickſal erfennbar 
machte, ein Geift der Wahrheit gewefen fein: fo muß fich die 


Beziehung auf Jefum als der wahre und urfprüngliche Sinn 


jener A.T.lichen Etellen nachweifen lafjen. Um aber nur bei 
den Hauptftellen ftehen zu bleiben, fo hat jegt eine gründliche, 
grammatifch = hiftorifcehe Auslegung für Alle, die fich aus dogma⸗ 
tifchen Borausfegungen hinauszufegen im Stande find, überzeu- 
gend nachgewiefen, daß in denfelben nirgends vom Leiden Chrifti, 
fondern Jeſ. 50, 6. von den Mißhandlungen, welche der Pro- 
phet zu erbulden hatte, ®) Jeſ. 53. von den Drangfalen des 


3) Geſenius, Jeſaias, 3, 137 ff.; Hitzig, Comm. zu Sef. ©. 550. 








Erftes Kapitel. 6. 111. 291 


Prophetenſtandes, oder noch wahrfcheinlicher des israelitifchen 
Volkes, die Rede fei; ) daß Pf. 118. von der unerwarteten 
Rettung und Erhöhung des Volks oder eines Fürſten deſſelben 
gehandelt werde; ) fd wie, daß Pf. 22. ein beprängter Erulant 
fpreche; 9 daß aber gar im 17ten Berfe dieſes Pſalms von der 
Kreuzigung Ehrifti die Rebe fei (da doch, auch die unwahrfchein- 
fichfte Erflärung des AND durch perfoderunt vorausgefeßt, 
dieß in feinem Fall eigentlich, ſondern nur bifvlich zu verftehen,. 
das Bild aber nicht von einer. Kreuzigung, fondern von einer 
Jagd oder einem Kampfe mit wilden Thieren hergenommen 
wäre), ) dieß wird jegt nur noch von Solchen behauptet, mit 
welchen es fich nicht der Mühe verlohnt zu ſtreiten. Sollte dem- 
nach Zefus auf übernatürliche Weife vermöge feiner höheren Natur - 
in diefen Stellen eine Vorandeutung der einzelnen Züge feines 
Leidens gefunden haben: jo wäre, da eine folche Beziehung 
nicht der wahre Sinn jener Stellen ift, der Geift in Jeſu nicht 
der Geift ver Wahrheit, fondern ein Lügengeift gewefen: es 
wird alfo der orthodoxe Erklärer, fofern er fich nur dem Lichte 
unbefangener Auslegung des A. T. nicht verfchließt, aus eigenem 
Intereſſe zu der natürlichen Anficht hingetrieben, daß nicht höhere 
Eingebung , fondern eigene Combination Jefum auf eine. folche 
Auslegung der A. T.lichen Stellen. und auf die Vorausſicht der 
einzelnen Züge feines Fünftigen Schidfals geführt habe. 

Daß es die herrfchende Priefterpartei fein würde, ber er 
unterliegen müßte, dieß, Tann man hienach fagen,®) war leicht 
vorauszufehen, da dieſe theils vorzüglich gegen Jeſum erbittert, 
theils im Befige der erforderlichen Macht war; daß fie 


%) Gefenius, a. a. O. S. 158 ff.; Hitzig, ©. 57715 Vatke, 
bibl. Theol. 1, ©. 528 fe - 
5) de Wette, Comm. zu den Palmen, S. 514 ff., 3te Aufl. 
6) Derf. ebend., S. 224 ff. 
7) Paulus, ereg. Handb., 3, b, ©. 677 ff. und de Wette zu der 
Pſalmſtelle. 
8) S. dieſe Anſicht ausgeſuͤhrt bei Fritſche, Comm. in Marc. p. 381 f._ 
19 * 





29% Dritter Abſchnitt. 


Jeruſalem zum Echaupläge feiner Verurtheilung und Hinrichtung 
machen würde, ebenfalls, da hier der Mittelpunft ihrer Stärfe 
war; daß er, von den Oberſten feines Volls verurtheilt, den 
Römern zur Hinrichtung würde übergeben werden, folgte aus 
der damaligen Befchränfung der jüdiſchen Gerichtsbarkeit; daß 
gerade der Kreuzestod über ihn verhängt werden würde, konnte 
vermuthet werden, da diefe Todesart bei den Römern nament- 
lich gegen Aufrührer verfügt zu werben pflegte; baß endlich 
Geißelung und Verfpottung nicht "fehlen würde, ließ fich gleich- 
falls aus römifcher Sitte und der Rohheit damaligen Gerichig- 
verfahrens zum Voraus berechnen. — Doch, genauer die Sache 
erwogen, wie fonnte denn Jeſus fo gewiß wiffen, ob nicht 
Herodes, der eine gefährliche Aufmerkfamfeit auf ihn gerichtet 
hatte (Luc. 13, 31.), der Briefterpartei zuvorfommen, und zu 
denn Morde des Täuferd auch den feines bedeutenderen Nach- 
folgers fügen würde? And wenn er auch gewiß fein zu bürfen 
glaubte, daß ihm nur von Geiten der Hierarchie her wirfliche 
Gefahr drohe (Luc. 13, 33.): wer verficherte ihn denn, daß 
"nicht einer ihrer tumultuarifchen Mordverfuche (vgl. Joh. 8, 59. 
10, 31.) doch endlich gelingen, und er alfo, wie fyäter Ste- 
phanus, ohne weitere Foͤrmlichkeit, und ohne vorgängige Ab— 
lieferung an die Römer, feinen Tod auf ganz andere Weife 
als durch die römifche Strafe der Kreuzigung, finden könne? 
Endlich, wie konnte er fo zuverfichtlich behaupten, daß gerate 
ver nächfte Anfchlag, nach fo vielen mißlungenen, feinen Fein- 
den glüden, und eben die jeßt bevorftehende Seftreffe feine legte 
fein würde? — Indeſſen fann auch die natürliche Erklärung 
hier die A.T.lichen Etellen zu Hülfe nehmen, und fagen, Jeſus 
habe, fei e8 durch Anwendung einer unter feinen Volksgenoſſen 
damals üblichen Auslegungsweife, oder von eigenthlimlichen 
Anfichten geleitet, in den ſchon angeführten Echriftftellen naͤhe⸗ 
ren Auffchluß über den Hergang bei dem ihm als Meflias 
besorftehenden gewaltfamen Ende gefunden.) Allein wenn 


9 ©. Fritzſche, a. a. O. 








Erftes Kapitel. $. 111. 293 


fhon dieß ſchwer zu beweifen fein möchte, daß bereits zu Leb⸗ 
zeiten Jeſu alle diefe verfchiedenen Stellen auf den Meſſtas 
beäogen worden feien; Daß aber Jeſus felbftftändig, vor dem 
Erfolg, auf eine folche Beziehung gefommen fei, ebenfo ſchwer 
denkbar ift: fo wäre das vollends dem Wunder Ähnlich, wenn einer 
fo falſchen Deutung der Erfolg wirflich entfprochen haben follte; 
überdieß aber. reichen bie A.T.lichen Orakel und Vorbilder 
nicht einmal bin, ‚um alle einzelnen Züge in der Borherver- 
fündigung Jeſu, namentlich die genaue Zeitbeftimmung, zu er: 
klären. 

Kann ſomit Jeſus weder auf übernatürliche no auf na⸗ 
türliche Weife eine fo genaue Borfenntniß der Art und Weiſe 
feines Leidens und Todes gehabt haben: fo hat er eine folche 
überhaupt nicht gehabt, und was ihm die Evangeliften davon 
in den Mund legen, ift als vaticinium post eventum anzu: 
fehen. '9) Hiebei hat man nicht ermangelt, den fynoptifchen 
Berichten gegenüber den johamneifchen zu erheben, indem eben 
die fpeciellen Züge der VBorausfagung, welche Jeſus nicht fo 
gegeben haben kann, nur bei den Synoptifern fich finden, wäh- 
rend Johannes ihm nur unbeftimmte Andeutungen in den Mund 
lege, und von dieſen feine nach dem Erfolge gemachte Ausle- 
gung derfelben unterfcheide; zum deutlichen Beweife, daß wir 
in feinem Evangelium allein die Reden Jeſu unverfälfcht in 
ihrer urfprünglichen Geftalt befigen. ) Allein näher betrachtet 
verhält es ſich nicht fo, daß auf den Verfaſſer des vierten 
Evangeliums nur die Schuld irriger Deutung ver übrigens 
unverfälfcht erhaltenen Ausfprüche Jeſu fiele, fondern an Einer 
Stelle wenigftens hat er, zwar dunkel, aber doch unverfennbar, 
die Vorausbezeichnung feines Todes als Kreuzestodes ihm in 


10) Yaulus, erg. Bandb., 2, ©. 415 ff.; Ammon, bibl. Theol. 2, 
©. 377 f.z Kaiſer, bibl. Theol., 1, ©. 246. Auch Fritzſche, 
a. a O. und Weiſſe, 1, ©. 423, räumen dieß zum Theil ein. 

11) Bertholdt, Einleitung ind. NR. T. ©. 1305 ff.; Wegfceides, 
Einleit. in das Evang. Zohannis, S. 271 f. 


S 


294 Dritter Abfchnitt. . 

den Mund gelegt, ‚mithin die eigenen Worte Jeſu nach dem 
Erfolge verändert. Wenn nämlich Jeſus bei Johannes fonft 
pafiivifch von einem vrwdrvar des Menfchenfohns ſpricht: fo 
konnte er hiemit zwar möglich:rweife feine Erhebung zur Herr: 
lichfeit meinen, wiewohl dieß 3, 14. wegen ‚ver Vergleichung 
mit ter mofaifchen Echlarge, die befanntlich an einer Etange 
erhöht worden ift, bereits ſchwer fällt; aber wenn er nun 8, 28. 
das Erhöhen des Menfchenfohns als That feiner Feinde dar- 
ftellt (örv Übworre Tov viw r. c): fo fonnten dieſe ihn nicht 
unmittelbar zur Herrlichkeit, fondern nur zum Kreuz erheben, 
und Johannes muß alfo, wenn unfer obige Ergebniß gelten 
fol, dieſen Ausdruck felbft gebildet, oder doch die aramäifchen 
Worte Jeſu schief überfegt haben, und er fällt daher mit ven 
Synoptifern im Wefentlichen unter Eine Kategorie. Daß ır 
übrigens größtentheils das Beftimmte, was er fic) dabei dachte, 
Jeſum in dunfeln Ausbrüden vortragen ließ, dieß hat in ver 
ganzen Manier diefes Evangelijten feinen Grund, deſſen Nei- 
gung zum Räthfelhaften und Mofteriöfen hier der Forderung, 
MWeiffagungen, vie nicht verſtanden worden waren, auch unver: 
ftändlich einzurichten, auf erwünfchte Art entgegenfam. 

Jeſu auf diefe Weife eine Vorherverfündigung der einzelnen 
Züge feines Leidens, namentlich der ſchmachvollen Kreuzigung, 
aus dem Erfolge heraus in den Mund zu legen, dazu war die 
urchriftliche Sage hinlänglich veranlaßt. Je mehr der gefreus 
zigte Chriftus Tedaloıs udv oxurdaAov, "Ellroı de uwgie war 
(1 Kor. 1, 23.): defto mehr that es Noth, diefen Anftoß auf 
alle Weife Hinwegzufchaffen, und wie hiezu unter dem Nachher: 
gefchehenen befonders die Auferftehung, als gleichfam die nach- 
trägliche Aufhebung jenes ſchmachvollen Todes, diente: fo 
mußte es erwünfcht fein, jener anftößigen Kataftrophe auch ſchon 
- vorläufig den Stachel zu benehmen, was nicht beffer, ale 
durch eine folche in's Einzelne gehende Worherverfündigung, 
geichehen Konnte. Denn wie das Unbedeutendfte, prophetifch vor: 
ausverfündigt, Durch folche Aufnahme in den Zufammenhang eines 
höheren Wiſſens Bedeutung gewinnt: fo hört das Schmählichfte, 





Grftes Kapitel $. 119. 295 


fobald es ald Moment eines göttlichen Heilplans vorher. 
gefagt wird, auf, fehmählich zu fein; und wenn dann vollende 
eben derjenige, über welchen e8 verhängt ift, zugleich den pros 
phetifchen Geift befigt, es vorauszufehen und vorauszuſagen: 
fo beiveist er fich, indem er nicht bloß leidet, fondern auch das 
göttliche Wiffen um fein Leiden ift, als die ideale Macht über 
daſſelbe. Noch weiter ift bierin der vierte Evangelift gegangen, 
indem er es der Ehre Jeſu fehuldig zu fein glaubte, ihn auch 
als die reale Macht über fein Leiden, ald denjenigen, welchem 
nicht fremde Gewalt die. wuyn entreiße, fondern der fie mit 
freiem Willen hingebe, darzuftellen (10, 17 f.); eine Darftellung, 
zu welcher übrigens Matth. 26, 53., wo Jeſus die Möglichkeit 
behauptet, zu Abwendung feines Leidens den Vater um En- 
gellegionen zu bitten, bereits ein Anfag ift. 


$. 112. 


Jeſu Todesverkuͤndigung im Allgemeinen; ihr Verhaͤltniß zu den jüdifchen 
Meffiasbegriffen; Ausſpruͤche Sefu über den Zwed und die Wirkungen 
| feines Todes. 


Ziehen wir auf diefe Weife von den Aeußerungen, welche 
die Evangeliften Jeſu über fein bevorftehendes Schidfal in den 
Mund legen, alles dasjenige ab, was die nähere Beftimmtheit 
dieſer Kataftrophe betrifft: fo bleibt und Doch noch fo viel, daß 
Sefus. überhaupt vorherverfündigt habe, ihm ftehe Leiden und 
Tod bevor, und zwar infofern in den A.T.lichen Orafeln dem 
Meſſias ein folches Schidfal vorausbeftimmt fei. Da nun aber 
die angeführten A.T.lichen Hauptftellen, welche von Leiden und 
Tod handeln, nur mit Unrecht auf den Meſſias bezogen werden, 
und auch andere, wie Dan. 9, 26, Zach. 12, 10, diefe Beie- 
hung nicht haben: fo werden fid) wiederum gerade die 


1) Daniel, überfegt und erkiärt von Bertholbt, 2, ©. 5aı ff. 660 ff.; 
Rofenmäüller, Schol. in V. T. 7, 4, ©. 339 ff. , 


256 Dritter Abſchnitt. 


Orthodoren am meiften häten müfjen, dem übernatürlichen Princip 
in Jeſu eine fo falfehe Deutung der betreffenden Weiffagungen 
zuzuſchreiben. Daß ftatt deſſen Jeſus möglicherweife durch rein 
natürliche Combination das allgemeine Ergebniß herausgebracht 
haben fönnte: da er die Hierarchie feines Volkes fich zur un⸗ 
verföhnlichen Feindin gemacht, fo habe er, fofern er aus ber 
Bahn feines Berufs nicht zu weichen feft entfchloffen war, von 

ihrer Rachſucht und Uebermacht das Aeußerfte zu fürchten (Joh. 
10, 11 f); daß er aus dem Schickſal früherer Bropheten 
(Matth. 5, 12. 21, 33 ff. Luc. 13, 33 f.), und einzelnen da⸗ 
hin gedeuteten Weifjagungen, auch ſich ein ähnliches Ende 
prognoftieiren, und demgemäß den Seinigen vorausfagen fonnte, 
es ftehe ihm früher oder fpäter ein gewaltfamer Tod bevor, — 
das follte man nicht mehr mit unnöthiger Üeberfpannung des 
fupranaturaliftifhen Standpunfts läugnen, fondern der ratio- 
nalen Betrachtungsweife der Sache einränmen. ?) 

Es kann auffallen, wenn wir nach diefem Zugeftändniß 
noch die Frage machen, ob es der N. T. lichen Darftellung zus 
folge auch wahrfcheinlich fei, daß Jeſus wirklich jene Vor- 
ausfage gegeben habe? da ja eine allgemeine Vorherverkün⸗ 
digung des gewaltfamen Todes das Mindefte ift, was die 
evangelifchen Nachrichten -zu enthalten feheinen. Die Meinung 
mit dieſer Frage ift aber die, ob der Erfolg, namentlich das 
Benehmen der Jünger, in den Evangelien fo befchrieben werde, 
daß eine vorausgegangene Eröffnung Sefu über fein bevorfte- 
hendes Leiden damit vereinbar fei? Don den Jüngern nun 
bemerfen die Evangeliften -ausprüdlich, daß fie in Die Reden 
Sefu von dem ihm bevorftehenden Tode und der Auferftchung 
fi) nicht allein nicht haben finden Fünnen, in dem Sinne, 
daß fie die Sache fich nicht zurechtzulegen, mit ihren vorge: 
faßten Meffiasbegriffen nicht zu reimen wußten, wie Betrug, 
wenn er Sefu auf die erfte Todesverkündigung hin zurief: 


— — — — — * 


2) de Wette, de morte Christi expiatoria, in deſſen Opuscula theol., 
p. 150; Haſe, 8. J. $. 106. 





Erſtes Kapitel. 5. 112. 297 


Mus 001, Kupis 8 1m &gar 001 780 (Matth. 16, 22.); fon- 
dern, wenn Lufas das ol de 7yvoar To 6m des Markus 
(9, 32.) fo, weiter ausführt: xul 77 rreoaxsxaluuutvov arı 
eurev va 10) wioIowreı arro (9, 45.), oder wenn er ein 
andermal fagt: xai aurol SdEv rarww owixav, zul ıv TO Öhjue 
TETO xexguuuevov ar avrwWv, xol 8% Eylvwoxov Ta ÄEyOLLEva 
(18, 34.): fo lautet dieß fo, als hätten die Juünger gar 
nicht verftanden, movon Die Rede war. — So trifft fie 
denn auch hernach die Berurtheilung und Hinrichtung Jeſu 
völlig unvorbereitet, und vernichtet deßwegen alle Hoffnun- 
gen, die fie auf ihn als Meſſias gefegt hatten (Luc. 24, 
20 f.: &savoweav auror nusig de mAnikouev, Orı auros Esw 
0 uellow Avrgsoder Tov Iogarı). Allein, hatte Jeſus mit 
den Süngern fo ganz nedönoie (Marc. 8, 32.) von feinem . 
Tode gefprochen, fo mußten fie feine flaren Worte und aus- 
führlichen Reden nothwendig auch faflen, und hatte er ihnen 
überbieß feinen Tod als gegründet in den meffianifchen Weis- 
fagungen de8 A. T., mithin zur Beftimmung des Mefltas - 
gehörig, nachgewiefen (Luc. 18, 31. 22, 37.), fo Fonnten fie 

nach feinem wirklich erfolgten Tode den Glauben an feine 
Mefftanität nicht fo ganz verlieren. Mit Unrecht zwar hat 
ver Wolfenbüttler ragmentift in dem Benehmen Jefu, wie 
e8 die Evangeliften ſchildern, Epuren auffinden wollen, daß 
auch ihm felbft fein Tod unerwartet gefommen ſei; aber, bloß 
auf das Benehmen der Jünger gefehen, wird der Folgerung, 
welche er zieht, fohwer auszumweichen fein: daß nämlich, nach 
demfelben zu urtheilen, Jeſus den Jüngern feine vorläufige 
Mittheilung über feinen bevorftchenden Tod gemacht haben 
fönne, fondern fie ſcheinen bis auf die legte Zeit hinaus in 
dieſem Etüde die gewöhnliche Anficht gehabt, und erft nachdem 
fie der Tod Jeſu unerwartet getroffen, aus Dem Erfolge. das 
Merkmal des Leidens und Eterbens in ihren Mefiinsbegriff 
aufgenommen zu haben. 3) Allerdings müſſen wir bier dag 


’) Bom Zweck Zefu und feiner Sünger, ©. 114 ff. 153 f. 


298 . Dritter Abſchnitt. 


Dilemma ftellen; entweder find Die Angaben der Evangeliften 
von dem Nichtverftehen der Jünger und ihrer Ueberraſchung 
beim Tode Jeſu unhiftorifch übertrieben, oder find die beftimmten 
Ausfprüche Jeſu über den ihm bevorftehenvden Top ex eventu 
gemacht, und felbft das wird zweifelhaft, ob er auch mur im 
Allgemeinen feinen Tod als zu feinem meffianifchen Schidfal 
gehörig vorbergefagt habe. In beiden SHinfichten fonnte die 
Eage zu unhiftorifchen Darftellungen veranlaßt fein: zur Er- 
Dichtung einer VBorausfage feines Todes im ‚Allgemeinen durch 
diefelden Gründe, ‚welche oben ald Motive geltend gemacht 
worden find, ihm die Vorherverfündigung der einzelnen Züge 
feines Leidens in den Mund zu legen; zur Fiction eines fo 
völligen Unverftandes von Seiten der Jünger aber fonnte man 
fich theild durch die Neigung veranlaßt fehen, die Tiefe des 
von Jeſu eröffneten Myfteriums von einem leidenden Meſſias 
mittelft des Nichtverftehens der Jünger zu heben, theils dadurch, 
dag man in der evangelifchen Verfündigung die Jünger vor 
der Ausgießung des Geiftes den zu befehrenden Juden und 
Heiden verähnlichte, welche alles eher, als den Ton des Mefltas, 
begreifen konnten. 

Im biefes Dilemma einer Entfcheidung entgegenguführen, 
müffen wir zuvörderſt Die damaligen Zeitvorftelungen über 
den Meifias darauf anfehen, ob wohl das Merkmal des Lei- 
dens und Sterbens ſchon vor und unabhängig von Jeſu Tod 
in denfelben enthalten war oder nicht. War es ſchon zu Leb⸗ 
zeiten Jeſu jüdiſche Vorftellung, daß der Meſſias eines gewalts 
famen Todes fterben müfle: fo hat es alle Wahrfcheinlichkeit, 
daß auch Jeſus diefe Vorftellung in feine Ueberzeugung auf- 
genommen und feinen SJüngern mitgetheilt habe, welche dann 
um fo weniger in diefem Stüde fo unbelehrt bleiben und vom 
wirflichen Erfolge fo ganz darniedergefchlagen werben Fonnten; 
war dagegen jene Vorftellung vor Jeſu Tode nicht unter feinen 
Zandsleuten verbreitet : fo bleibt e8 zwar immer noch möglich, 
daß Sefus durch eigenes Nachdenfen auf diefelbe kommen 
fonnte, aber eben fo möglich ift dann vorerft, daß die Jünger 








Erſtes Kapitel. $. 112. 299 


erft nach dem Erfolg das Merkmal des Leidens und Todes 
in ihren Mefliasbegriff aufgenommen haben. 

Die Frage, ob die Vorftelung von einem leidenden und 
fterbenden Meſſias zu Jeſu Zeit bereits unter den Juden ver: . 
breitet gewefen fei, gehört zu den fihwierigften, und über 
welche die Theologen noch am wenigften zum Einverftändniß 
gefommen find. Und zwar liegt die Echwierigfeit der Frage 
nicht in theolegiihem Partei» nterefie, fo daß man hoffeh 
- tünnte, mit dem Aufkommen unparteiifcher Forſchung werde 
fich die Berwidlung loͤſen: da vielmehr, wie Stäudlin tref- 
fend nachgewiefen hat, fowohl das orthodore als das ratio- 
nafiftifche‘ Interefie jedes auf beide Eeiten hintreiben kann; 
weßiwegen wir denn auch auf beiden Seiten Theologen von 
beiven Parteien finden:?) fondern die Schwierigfeit der Sache 
liegt in dem Mangel an Nachrichten, und in der Unficherheit 
verjenigen, welche vorhanden find. Wenn das alte Teftament 
die Lehre von einem leidenden und fterbenden Meſſias ent: 
hielte, fo wärde hieraus allerdings mit mehr als bloßer Wahrs 
foheinlichfeit folgen, daß fie auch unter ven Juden - zu Jeſu 
Zeit vorhanden gewefen: fo hingegen, da nach den neueften 
Unterfuchungen wohl die Lchre von einer in der mefltanifchen 
Zeit vorzunehmenden Sühnung des Bolfes (Ezech. 36, 25. 
37, 23. Zach. 13, 1. Dan. 9, 24.) fich im A. T, findet, aber 
feine Epur davon, daß. diefe Sühnung durch Leiden und Tod 
des Meffias zu Etande kommen folle:°) fo ift von dieſer Eeite 


?) Ueber den Zweck und die Wirkungen bes Todes Jeſu, in der Göttin- 

giſchen Bibliothek, 1, 4, S. 252 ff. 

°) ©. das Verzeihniß bei de Wette, a. a. O. ©. 6 ff- Die bedeu⸗ 
tendften Stimmen für das Rorhandenfein der fraglichen Votſtellung 
ſchon zu Lebzeiten Jeſu haben abgegeben Stäudlin in ber angef. 
Abh. in der Goͤtt. Biblioth. 1, ©. 233 ff. und Lrengftenberg, 
EhHriftologie des A. T., ı, a, S. 270 ff. b, ©. 290 ff.; für die ent⸗ 
gegengeſetzte Anficht de Wette, in der angef, Abh., Opusc. ©. 1 ff. 

°) Vgl. de Wette, bibl. Togm. $. 201 f.; Aaumgarten:Grufius, 
bibt. Theol. $. 51. 





300 Dri:ter Abfchnitt. 


ber. feine Entfcheivung der vorgelegten Frage zu erwarten. 
Näher liegen der Zeit Jeſu Die A.T.lihen Apofryphen; aber 
da dieſe überhaupt vom Meſſias ſchweigen, fo kann auch von 
jenem fpeeiellen Zug im Bilde beflelben feine Rede fein: 7) 
fo wie auch von den beiden das fragliche Zeitalter am nächften 
berükrenden Schriftftelern, Philo und Sofephus, der letztere 
die mefftanifchen Hoffnungen feiner Nation verfchweigt, 9) ver 
erftere wohl meffianifche Zeiten und einen mefliasartigen Helden, 
aber nichts von einem Leiden deſſelben hat.) Es bleiben 
alfo nur das N. T. und die fyäteren jüdiſchen ‚Schriften als 
Quellen übrig. 

Im N. T. hat es faft durchaus das Anfehen, ald hätte 
an einen leidenden und fterbenden Meflias unter den mit Jeſu 
lebenden Juden Niemand gedacht. Wenn der Mehrzahl ber 
Juden die Lehre vom gefreuzigten Meſſias ein oxavdaAov war ; 
wenn die Jünger Jeſu in feine wiederholten deutlichen Todes⸗ 
verfündigungen fich nicht finden Fonnten: fo fieht dieß doch gar 
nicht aus, als ob die Lehre von einem leidenden Meffias 
unter den Juden jener Zeit in Umlauf gewefen wäre; vielmehr 
ftimmt mit dieſen Umftänden die Behauptung völlig überein, 
welche der vierte Evangelift dem jüdifchen OxAos in den Mund 
legt (12, 34.): fie haben aus dem vouog gelernt, orı 0 Xgr- 
S0g eve eig Tov alwvo. !) Doch eine allgemeine Geltung 
der Idee des leidenden Meſſias unter den damaligen Juden 
behaupten auch jene Theologen nicht; fondern, die Hoffnung 
auf einen weltlichen, endlos regierenden Meffias als die herr- 
ſchende einräumend, halten fie nur daran feft, worin ſelbſt der 
MWolfenbüttler Fragmentift mit ihnen übereinftimmt, ') daß 


7) ©. de Wette,a. a. O. $. 189 ff. 

8) Vgl. de Wette, a. a O. $. 193. 

9) &frörer, Philo, 1, ©. 495 ff. 

16) Eine Stelle aus dem eigentlihen rowos möchte hier ſchwer zu finden 
fein: de Wette, de morte, ©. 72 denkt an Zef. 9, 5.; Lücke, 
3 d. Et. an Pf. 110, 4. Dan. 7, 14. 2, 44. 

11) Vom Zweck Zefu und feiner Jünger, ©. 179 f. 


⸗ 











Erſtes Kapitel. $. 112. 301 


eine minder zahlreiche Bartei, nach Stäudlin namentlich die 
Eſſener, nach Hengftenberg der beffere, erleuchtetere Theil 
des Volks überhaupt, einen folchen Meſſias angenommen babe, 
welcher zunächft in Niedrigkeit erfeheinen, und erft durch Leiden 
und Tod zur Herrlichfeit eingehen würde. Hiefür beruft man 
fich beſonders auf zwei Stellen: eine aus dem dritten, und eine 
aus dem vierten Evangelium. Wie Jeſus ale unmlündiges 
Kind im Tempel zu Jeruſalem dargeftellt wird, fpricht der 
greife Simeon unter andern Weiffagungen, namentlich über 
den MWiderfpruch , welchen ihr Cohn einft finden ‘werde, zu 
Maria auch die Worte: zul 08 dE avung 179 Wugv diekevostau 
dorpele (Luc. 2 2, 35.); wodurch ihr mütterlicher Echmerz über 
den Tod ihres Sohnes bezeichnet, alfo die Anficht, daß dem 
Meflias ein gewaltfamer Tod bevorftche, als eine fchon vor 
Ehrifto vorhandene dargeftellt zu werden fcheint. Noch deut: 
licher liegt die Spee von einem leidenden Meſſias in ven 
Morten, welche das vierte Evangelium ben Täufer beim Ar- 
blid Jeſu ſprechen läßt, er ſei 0 amwog ra ed 6 age Trv 
aucoriow TE x008 (1, 29.); ein Ausfpruch, welcher, in feiner 
Beziehung auf Jeſ. 53., im Munde des Täufers gleichfalls 
dafür fprechen würde, daß die Vorftellung eines fühnenden Lei— 
ders des Meſſias ſchon vor Jeſu vorhanden geweſen ſei. Allein 
beide Stellen ſind bereits oben als unhiſtoriſch nachgewieſen, 
und es darf daraus, daß die urchriſtliche Sage geraume Zeit 
nach dem Erfolge ſich bewogen fand, Perſonen, welche ſie für 
gottbegeiſterte hielt, eine Vorkenntniß des göttlichen Rathſchluſſes 
hinſichtlich des Todes Jeſu in den Mund zu legen, keineswegs 
gefolgert werden, daß wirklich ſchon vor dem Tode Jeſu dieſe 
Einſicht vorhanden geweſen. — Schließlich wird das noch 
geltend gemacht, daß doch die Evangeliſten und Apoſtel die 
Idee eines leivenden und fterbenden Meffias im A. T. r.ach- 
weifen; woraus man fchließen zu dürfen glaubt, daß dieſe Deu- 
tung der betreffenden A. T. lichen Stellen unter den Juden nicht 
unerhört gewefen fei. Allerdings berufen fi) Petrus (A. ©. 


r 


302 Dritter Abfchnitt. 


3, 18 f. 1 Petr. 1,11) und Baulus (9. G. 26, 22 f. 
1 Kor. 15, 3.) auf Mofes und die Propheten als Verfündiger 
des Todes Jeſu, und Philippus deutet dem äthiopifchen Eu- 
nuchen die Stelle Jef. 33. auf die Leiden Ehrifti (A. G. 8, 35.): 


allein, da die genannten Männer alles dieß nach dem Erfolge - 


fprachen und fehrieben, fo haben wir Feine Sicherheit, ob fie 
nicht auch bloß aus den Erfolge heraus, und ohne fich an eine 
unter ihren jüdiſchen Zeitgenofien übliche Auslegungsmeife ans 
zufchliegen, jenen A. T. lichen Stellen eine Beziehung auf das 
Leiden des Meſſias gegeben haben. !?) 


Wenn auf diefe Weife die Annahme, daß Die in Frage 
ftehende Idee ſchon zu Jeſu Lebzeiten unter feinen Vollsgenoſſen 


_ vorhanden gewefen fei, im N. T. feinen feften Grund hat, 


fo fragt fich jeßt, ob ein ſolcher vielleicht in den fpäteren 
jüdiſchen Schriften zu finden ift. Zu den älteften ung übrigen 
Schriften diefer Klaffe gehören bie beiden chalväifchen Para⸗ 
phrafen von Onkelos und Jonathan, und von dieſen pflegt 
das Targum des legteren, der rabbinifchen Tradition zufolge 
eines Schülers von Hillel d. Aelt., 9) für die Vorſtellung 
von einem leidenden Meſſias deßwegen angeführt zu werben, _ 
weil es die Stelle Jeſ. 52, 13 — 53, 12. auf den Mefjias 
beziehe. Allein mit der Auslegung diefer Stelle im Targum 
Jonathan hat es die eigene Bewandtniß, daß daſſelbe zwar 
den Abſchnitt im Allgemeinen meſſianiſch deutet, fo oft aber 
von Leiden und Tod die Rede wird, recht abfichtlich und 
meiftens höchft gewaltfam entweder dieſe Begriffe vermeidet, 

oder auf ein anderes Eubjert, das Wolf Israel, ausbeugt: 
zum deutlichen Beweiſe, daß dem Verfafjer Xeiden und gewalt- 
famer Tod mit dem Begriff des Meſſias unvereinbar gefchienen 


12) ©. de Wette, de morte Chr., p. 73 f. 
1%) Bol. Geſenius, Jeſaias, 2. Th., S. 66, de Wette, Cinleitung 
in das U. 3. $. 59. 3te Ausg. 








Erſtes Kapitel. $. 112. 303 


habe. 12) Doch dieß foll eben der Anfang der Abirrung vom 
wahren Sinne des Orakels fein, zu welcher die fpäteren 
Juden ihr fleifchlicher Sinn und die Oppofition gegen das 
Ehriftentbum verleitet habe: die älteren Ausleger haben, fagt 
man, in ber jefatanifchen Stelle einen leidenden und fterben- 
den Meflias gefunden. Allerdings bezeugen Abenesra, Abar- 
banel und Andre, manche alte Lehrer haben Gef. 53. auf 
den Mefjias bezogen: !°) allein einige diefer Angaben laffen 
dunfel, ob nicht ebenjo bloß ftücweife, wie Jonathan, und 
bei allen bleibt zweifelhaft, ob die Erflärer, von denen fie 
iprechen, zum Alter Jonathan’s hinaufreichen , was ohnehin von 
den Theilen des Buchs Sohar, welche die bezeichnete Stelle auf 
den leidenden Meflias deuten, !%) unwahrſcheinlich if. Die- 
jenige Schrift aber, welche neben Sonathan noch. am nächften 
an die Zeit Jeſu hinanreichen möchte, das pfeudepigraphifche 
vierte Buch Efra, der wahrfcheinlichften Rechnung zufolge kurz 


1?) 


Mörtlihe Ueberf. nad Hitzig: 

52, 14: Gleichwie ſich Viele 
vor ihm entſetzten, alſo 
entſtellt, nicht menſchlich, war 
fein Anſehen, und feine Ge: 
ſtalt nicht die der Menfchenkinder 
u. f. f. 

53, 4: Allein unfre Krank⸗ 
beiten ee trug fie, und unfere 
Schmerzen lub er fih auf, 
und wir achteten ihm gefchlagen, 
getroffen von Gott und gequält. 


Auh Drigenes erzählt, e. Cels. 1, 55: 


Targum Jonathan: 
Quemadmodum per multos 


_ dies ipsum exspeclarunt Is 


raelitae, quorum contabuit in- 
ter gentes adspectus et splen- 
dor (et evanuit) e filiis ho- 
minum ctc. 

Idceirco pro delictis nostris 
ipse deprecalitur, et iniquita- 
tes nostrae propter eum con- 
ronabuntur, licet nos reputati 
simus contusi, plagis affecti et 
afflicti. 
wie ein Äeyouevog nraga 


Indatoıs oopös ſeincr chriſtlichen Deutung der jeſaianiſchen Stelle entgegen: 
gehalten habe: Taira renrgomyrevodar ws regt Eros Ta ode dat, xar jevo- 
uva $v 7 Öinomopk, zar nÄyyertos, ira nolloı noosmivro yeravran. 


1) ©. bei Schöttgen, 2, ©. 182 f.; 


Judenthum, 2, ©. 758. 
16) Bei Schöttgen, 2, ©. 181 f. 


Eifenmenger, entdecktes 


304 Dritter Abfchnitt. 
FR 

nach der Zerftörung Jeruſalems unter Titus abgefaßt, 177, 
erwähnt zwar des Todes Des Meſſias, aber nicht eines lei- 
densvollen , fondern rur eines ſolchen, wie er nad) der langen 
Dauer des meflianifchen Reichs der allgemeinen Auferftehung 
vorangehen follte. ') Die Borftelung von großen Drangfalen 
allerdings, welche gleichfam als Geburtswehen des Meſſias 
(nwan an) vgl. dog) worum Matth. 24, 8.) der meffia- 
nifchen Zeit vorangehen würden, ift ohne Zweifel fehon vor 
Chriſto verbreitet gewefen, ') und ebenſo frühe fcheint an die 
Spitze diefer, befonders das Volk Israel bevrängenden Uebel 
der owrixoısog geftellt worden zu fein, welchen der Xoısoy 
zu. befämpfen haben würde (2 Thefl. 2,3 ff.) : 20 aber, indem 
er denfelben auf übernatürliche Weife, cp werner TE Soug- 
Tog avıd, vernichten follte, fo war hierin noch fein Leiden 
für ven Meffias enthalten. Dennoch finden ſich Stellen, in 
welchen von einem Leiden des Meflias, und zwar von einem 
ftellvertretenden für das Bolf, die Rede ift; ?) allein theils 
ift dieß nur ein Leiden, Fein Eterben des Mefliad; theils trifft 
es benfelben entweder vor feiner Herabkunft in das irdifche 
Leben, in feiner Präeriftenz, 22) oder in der Berborgenheit, 
in welcher er fich von feiner Geburt bis zu feinem meflianifchen 
Auftritt hält, 9 theils ift das Alter dieſer Vorftellungen 
zweifelhaft, und fie fönnten nach einigen Epuren erft von 
der Zerftörung des jüdiſchen Etaats durch Titus fich zu 


— — 
— — 


17) De Wette, de morte Chr. expiatoria, a. a. O. ©. 50. 

18) Gay. 7, 29. 

109) Schöttgen, 2, ©. 509 ff.; Schmidt, Chriftologiihe Fragmente, 
in feinee Bibliothef, 1, ©. 24 ff.; Bertholdt, Christol. Jud. 
8. 13. 

2, Schmidt, a. a. D.;5 Bertholdt, a. a. O. $. 16, 

21) Pesikta in Abkath Rechel, bei Schmidt, ©. 48 f. 

22) Sohar, P. 2, 85, 2., bei Schmitt, S. a7 f. 

25) Gemara Sanhedrin f. 98, 1. beide Wette, de morte Chr., 
p. 95 f., und bei Hengftenberg, ©. 292 











Erftes Kapitel. $. 112. 305 


datiren, ſcheinen.?) Indeſſen fehlt e8 in jüdiſchen Schriften 
feineswegs an Stellen, in welchen geradezu behauptet wird, 
daß ein Meffias auf gewaltfame Weife umfommen werde: 
allein biefe betreffen nicht den eigentlichen Meſſias, den Abs 
kömmling David's, fondern einen andern aus der Nachfom- 
menfchaft Joſeph's und Ephraim’s, welcher dem erfteren in 
untergeorbneter Etellung beigegeben wurde. Diefer Meſſias 
ben Sofeph follte dem Meſſias ber David vorangehen, 
die zehn Stämme des ehemaligen Reich Israel mit den zwei 
Stämmen des Reiche Juda vereinigen, hierauf aber im Kriege 
gegen Gog und Magog durch das Echwert umfommen, worauf 
die Stelle Zach. 12, 10. bezogen wurde.?7) Doc von diefem 
zweiten, fterbenden Meflias fehlen vor der babylonifchen Ge- 
mara, welche im Sten und 6ten Jahrhundert nach Chrifte , 
gefammelt ift, und dem in Bezug auf fein Alter hörhft zwei⸗ 
felhaften Buche Sohar, die ſicheren Spuren. 26) 

Obſchon es hienach nicht nachweislich und ſelbſt nicht 
wahrſcheinlich iſt, daß die Vorſtellung von einem leidenden 
Meſſias zu Jeſu Zeit ſchon unter den Juden vorhanden ge- 
wejen: fo bliebe doch immer möglich, daß auch ohne ſolchen 
Vorgang Jeſus felbft durch Beobachtung der Verhältniffe, und 
Bergleichung derſelben mit A. T. lichen Erzählungen und Weif- 
fagungen, auf’ den Gedanfen gekommen wäre, daß Leiden 
und Sterben zum Amt und zur Beflimmung des Meffias 
gehöre; wobei dann aber natürlicher wäre, daß er allmählig 
erft im Laufe feiner öffentlichen Wirffamfeit diefe Ueberzeugung 
gefaßt, und fie huuptfächlich nur feinen Bertrauten mitge- 


2%) Sohar, P. 2, f. 82, 2. bei be Wette, ©. 94: Cum Israälitae 
essent in terra sancta, per cultus religiosos et sacrificia quae 
faciebant, omnes illos morbos-et poenas e mundo sustulerunt ; 
nunc vero Messias debet auferre eas ab hominibus. 

2) ©, Bertholdt, a.a. O. 8. 17% 

%) De Wette, de morte Chr., p. 112. vgl. 53 Pi 


1. Band. 20 


306 Dritter Abſchnitt. 


theilt, als daß er ſie ſchon von Anfang an gehabt, und ſie 
vor Gleichgültigen, ja Feinden, ausgeſprochen hätte: dieſes 
die Art, wie Johannes, jenes, wie die Synoptiker die Sache 
darſtellen. 
Auch in Bezug auf die Aeußerungen Jeſu über den 
Zweck und die Wirkungen feines Todes können wir, wie oben 
bei der Borherverfündigung des Todes felbft, einen mehr 
natürlichen Gefichtspunft von einem mehr fupranaturaliftifchen 
unterfeheiden. Wenn Jeſus im vierten Evangelium fich mit 
- dem. treuen Hirten vergleicht, der für feine Schafe das Leben 
laffe (10, 11. 15.): fo fann dieß den ganz natürlichen Sinn 
haben, daß er von feinem Hirten» und Lehramte nicht zu 
weichen gefonnen fei, follte auch in Führung derſelben der 


| ‚ Tod ihm drohen (moralifche Nothwendigfeit feines Todes); ?7) 


der ahnungsvolle Ausfpruch in demfelben Evangelium (12, 
24.), wenn das Waizenforn nicht in die Erde fallend erfterbe, 
bleibe es einfam, erfterbe es aber, fo bringe es viele Frucht, 
läßt eine ebenfo rationelle Erklärung von der fiegenden Kraft 
jedes Märtyrertodes für eine Idee und Weberzeugung zu (mos 
ralifche Wirkfamfeit feines Todes) 2°); endlich, was fich in 
. den johanneifchen Abfchiedsreden fo oft wiederholt, es fei den 
Jüngern gut, daß Jeſus hingehe, denn ohne feinen Hingang 
fönnte der ropexArzrog nicht zu ihnen fommen, der ihn in ihnen 
verflären, und fie in alle Wahrheit leiten werde, darin könnte 
man die ganz natürliche Leberlegung Sefu finden, daß ohne 
die Aufhebung feiner finnlichen Gegenwart die bis dahin noch 
fo finnlichen meflianifchen Vorſtellungen feiner Jünger nicht 
vergeiftigt werden würden (yſychologiſche Wirkfamfeit feines 
Todes). 2?) Mehr der fupranaturaliftifchen Betrachtungsweiſe 
gehört dasjenige an, was Jeſus bei der Stiftung des Abend- 
mahls fpricht. Denn wenn zwar das, was die mittleren 


— — — ne 


22) Haſe, & J. $. 108. 
33) Derſ. ebendaſ. 
29) Derf. ebendaſ. und $. 109. 











Erſtes Kapitel. $. 112. ' 307 


Evangeliften ihn hiebei fagen laſſen, vaß das dargereichte 
orngLwv TO alıa Tig: xawig dadrers (Marc. 14, 24), 7 
xewn baden & up cr rd (Luc. 22, 20), fei, nur 
fo viel zu bedeuten ſcheinen könnte: wie durch die bfutigen 
Dpfer am Sinai der Bund des alten Volkes mit Gott, fu 
werbe durch fein, des Meſſias, Blut in höherer Weife der 
neuen um ihn fich fammelnden Gemeinde befiegelt: fo vers 
fchmilzt hingegen in dem Berichte des Matthäus, wenn er 
(26, 28.) Jeſum binzufegen däßt, fein Blut werde vergofien 
für Viele zis ayeoı auaprıwv, die Vorftellung des Bundes⸗ 
opferd mit der von einem Sühnopfer, und auch bei den beiden 
andern ift durch den Zufak: To 7ueol roAduv oder uno vuur 
Exywvouevov, über das bloße Bundesopfer zum Sühnopfer 
hinausgegangen. Wenn ferner im erften Evangelium (20, 
28.) Jeſus fagt, er müfle dv zrv Wugiv auıa Avrow wrl 
scoAlav : fo ift dieß ohne Zweifel auf Jeſ. 53. zu beziehen, 
. wo, nach einer, dem Hebräer auch fonft geläufigen Vorſtellung 
(Def. 43,3. Prov. 21, 18.), dem Tode des Knechtes Jehova's 
eine fühnende Beziehung auf die übrige Menfchheit gegeben 
wird. 

Hienach Fönnte Jeſus durch pfnchologifche Reflerion darauf 
gekommen fein, wie zuträglich der geiftigen Entwidlung feiner 
Sünger, wie unerläßlih zur Vergeiftigung ihrer Meſſiasvor⸗ 
ftelungen, eine ſolche Kataftrophe fein werde, und nationalen 
Borftellungen gemäß mit Berüdfichtigung A. T.licher Stellen 
felbft auf die Idee einer -fühnenden Kraft feines meflianifchen 
Todes. Indeſſen Eönnte doch namentlich das, was die Syn⸗ 
optifer Jeſum von feinem Tod als Sühnopfer fagen laſſen, 
mehr dem nach Jeſu Tode ausgebildeten Syſtem anzugehören, 
und was der vierte Evangelift ihm über die Beziehung feines 
Todes zum Parallet in den Mund legt, ex eventu gefagt 
- zu fein fcheinen; fo daß auch bei dieſen Ausfprüchen Jeſu 
“ über den Zwed feines Todes eine Sonderung ded Allgemeinen 
vom Speciellen vorgenommen werden müßte. 

90 * 


— 


308 Drritter Abſchnitt. 


$. 113. 


— 


Beſtimmte Ausſpruͤche Jeſu uͤber ſeine künftige Auferftehung. 


Mit nicht minder Haren Worten als feinen Tod und mit 
einer befonders genauen Zeitbeftimmung, hat den evangelifchen 
Nachrichten zufolge Jeſus auch feine Auferftehung vorausver- 
fündigt. So oft er feinen Jüngern fagte, des Menfchen Sohn 
werde am Kreuze getöbtet werden, ſetzte er hinzu: ul m 
zolın nuloe wasnoerer, oder Eyspdnoeraı (Matth. 16, 21. 
17, 23. 20, 19. parall. vgl. 17, 9. 26, 32. parall.). 

Aber auch von diefer Vorherverfündigung heißt ed, die 
Sünger haben fie nicht gefaßt; fo wenig, daß fie fogar mit 
einander ftritten, 72 &gı TO & vergwv warmer (Marc. 9, 10.); 
und gemäß dieſem Nichtverftehen zeigen fie fofort nach dem 
Tode Jeſu feine Spur einer Erinnerung, daß ihnen ein auf 
das Sterben folgendes Auferftehen Sefu vorbergefagt war, 
feinen Bunfen von Hoffnung , daß diefe Zufage in Erfüllung 
gehen werde. Als die Freunde den vom Kreuz abgenommenen 
Leichnam in das Grab gelegt hatten, nahmen fie (Joh. 19, 40.) 


— oder behielten fi) die Frauen (Mare. 16, 1. Luc. 23, 56.) — 


die Einbalfamirung vor, was man doch nur bei einem folchen 


thut, welchen man als eine Beute der Verweſung betrachtet; 


al8 an dem Morgen, welcher nah N.Z.Ticher Rechnung den 
vorausbeftimmten Auferftehungstag eröffnete,. die Frauen zum 
Grabe gingen, dachten fie fo wenig an eine vorhergefagte 
Auferftehung, daß ihnen die vermuthliche Schwierigfeit, den 
Stein vom Grabe zu wälzen, Beforgniß machte (Marc. 16, 3.) 5 
als Maria Magdalena und fpäter Petrus das Grab Teer 
fanden, hätte ihr erfter Gedanke fein müjlen, daß nun bie 


Auferſtehung wirkfich erfolgt fei, wenn eine folche vorausgefagt 


war: flatt deſſen vermuthet jene, der Leichnam möchte geftohlen 
fein (oh. 20, 2.), Petrus aber verwundert ſich bloß, ohne 
auf eine beftimmte VBermuthung zu kommen (Luc. 24, 12.); 











Erſtes Kapitel, 11, 309 


als die Weiber den Jüngern von der gehabten Engelerfrheis 
nung fagten, und fich des Auftrags der Engel entlevigten, 
hielten die Jünger ihre Ausfage theils für Teeres Geſchwätz 
(Ano0s Luc. 24, 11.), theild wurden fie zu fihredenvollem Er; 
ſtaunen erregt (Efesrow „uas, Luc. 24, 21 ff); als Maria 
Magdalena, und hernach die Emmauntifchen Jünger, die Eilfe 
verficherten, den Auferftandenen felbft gefehen zu haben, fchenften 
fie auch diefer Ausfage feinen Glauben (Mare. 16, 11. 13.), 
wie fpäter Thomas fogar der Verfiherung feiner Mitapoftel | 
nicht (Joh. 20, 25.); endlich, als Jeſus felbft in Galiläa den 
Jüngern erſchien, gaben noch nicht alle den Zweifel auf (od 
de Edisaow, Marc. 28, 17). Dieß alles muß man wohl 
mit dem Wolfenbüttler Fragmentiſten!) unbegreiflich finden, 
wenn Sefus. feine Auferftehung fo Flar und beftimmt vorher 
gejagt hatte, 

3war, wie das Benehmen der Jünger nach Jeſu Tod 
gegen eine folche von Jeſu gegebene Borausfage fpricht, fo 
fheint das feiner Feinde dafür zu fprechen. Denn daß nad) 
Matth. 27, 62 ff. die Hohenpriefter und Phariſäer an das 
Grab Iefu fih von Pilatus eine Wache erbitten, hat nach 
ihrer eigenen Erklärung darin jeinen Grund, daß Jefus bei 
feinem Leben noch gefagt haben follte: uera reeig ruegas 
eyeiooueen. Allein dieſe Erzählung des erften Evangeliums, 
bie wir erft unten näher würdigen Fönnen, entfcheibet noch 
nichts, fondern tritt nur auf die eine Geite des Dilemma, fo 
daß wir nun fagen müſſen: wenn die Jünger nach dem Tode 
Jeſu fich wirklich fo benahmen, dann kann weder er feine Auf- 
erftehung beftimmt vorhergefagt, noch können die Juden aus 
Rüdfiht auf eine ſolche Worherverfündigung eine Wache an 
fein Grab beftellt haben; oder, wenn die beiden legteren An⸗ 

\ R | 


— 


1) S. deſſen belebte und ſchlagende Ausfuͤhrung, vom Zweck u. ſ. f. S. 
121 ff. Vgl. Briefe über den Nationalismus ©. 224. ff. und de Wette, 
ereg. Handb., 1, 1, ©. 143. 


310 | Dritter Abſchnitt. 


gaben richtig find, koͤnnen die Jünger ſich nicht fo benommen 
haben. 

Die Schärfe diefes Dilemma hat man dadurch abzuftum- 
pfen verfucht, daß man den oben angeführten Borherverfüns 
Digungen nicht den eigentlichen Einn einer Wiederkehr des 
geftörhenen Jeſu aus dem Grabe, fondern nur den uneigent- 
lichen eines neuen Aufſchwungs feiner unterbrüdten Lehre und ' 
Sache unterlegte.d Wie die A.T.lichen Propheten, wurde 
gefagt, die Wiederherftellung des israelitifchen Volks zu neuem 
Wohlergehen unter dem Bild einer Auferftehung der Todten 
darftellen (Jeſ. 26, 19. Ezech. 37); wie fie die kurze Frift, 
innerhalb welcher unter gewiffen Bedingungen diefe Wendung 
der Dinge zu erwarten wäre, durch den Ausdruck bezeichnen, 
in zwei bis drei Tagen werde Jehova das Gefchlagene auf- 
richten, und das Getödtete wiederbeleben (Hof. 6, 2.)3), eine 
Zeitangabe, welche auch Jeſus unbeftimmt für eine furze Zeit 
‚gebrauche (Luc. 13, 32): fo wolle er mit dem Ausdrud, er 
werde nach feinem Tode 77 rein rutor wagivaı, nichts An» 
deres fagen, ald, wenn auch er der Gewalt feiner Feinde 
unterliegen und getöbtet werben follte, fo werde das von ihm 
begonnene Werk doch nicht untergehen, fondern tn Furzer Zeit 
einen neuen Auffehwung nehmen. Diefe von Jefu bloß bilplich 
"gemeinten Redensarten haben die Apoftel, nachdem Jeſus leiblich 
auferftanden war, eigentlich genommen, und für Weiffagungen 
. auf feine perfönliche Wiederbelebung angefehen. Daß nun in 
den angeführten PBrophetenftellen das mm Dip und ya nur 
den angegebenen tropiſchen Sinn habe, ift richtig; aber in 
Stellen, deren ganzer Zufammenhang tropifch ift, und wo 
namentlich das dem Wiederbeleben vorangegangene Schlagen 


2) So nammtlih Herber, vom Erlöfer der Menfchen, S. 133 ff. Briefe 
über den Rat. ©, 227. Vgl. Kuindl, Comm, in Matth. p. 444 f. 

8) LXX: vyıwoa yuas era Övo yurpaz Ev TH nuse Try roirn Earazıoa- 
ueda, xaı Lrmwousde Erwnıov aura, 


Erſtes Kapitel. $. 113. Ä 311 


und Toͤdten ſelbſt nur einen figürlichen Sinn hatte. Daß 
dagegen hier, wo die ganze vorhergehende Reihe von Aus- 
drüden: das nraepadidooder, kurexplveoda, savpäodeı, arıo- 
xrelveoder u. f. f., eigentlich zu nehmen war, auf Einmal mit 
dem Eyepdnvas und wesirer eine uneigentliche Bedeutung 
eintreten follte, würbe Doch ein unerhörter Abfprung fein; deſſen 
nicht zu gebenfen, daß Etellen, wie Matth. 26, 32, wo Jeſus 
fagt: era To EyegIrwval ne nooasw vus eis vv Talılaiov, 
nur bei der eigentlichen Bedeutung des EyelosoIas einen Sinn 
haben. In diefem Zufammenhange von lauter eigentlich und 
wörtlich zu nehmenden Beftimmungen fehlt dann. auch jede 
Berechtigung und felbft Veranlaffung, die beigefügte Zeitbes 
ftimmung anders als gleichfalls eigentlich und in ihrem beftimm- 
ten Wortfinn aufzufafien. Hat alfo Sefus- wirklich die Ausdrüde, 
und in dem Zufammenhange gebraucht, wie die Evangeliften 
fie ihm in den Mund legen, fo fann er durch dieſelben nicht 
bloß uneigentlich den baldigen Sieg feiner Sache haben ver- 
fündigen wollen, fondern feine Meinung muß die gewefen fein, _ 
er felbft werde drei Tage nach feinem gewaltfamen Ton auf’s 
Neue in das Leben zurüdfehren. 9 

Da, jedoch Jeſus, dem Benehmen feiner Jünger nad 
feinem Tode zufolge, feine Auferftehung nicht mit beutlichen 
Morten vorherverfündigt haben kann: fo haben ſich andere 
Ausleger zu der Einräumung verftanden, die Evangeliften 
haben ven Reden Sefu nach dem Erfolge eine Beftimmtheit 
gegeben, welche fie in Jeſu Munde noch nicht gehabt haben; 
fie haben das, was Jeſus bildlich vom Auffchwung feiner 
Sache nad feinem Tode gefagt habe, nicht bloß eigentlich 
verftanden, fondern es diefer Auffafjung gemäß auch fo unges 
formt, daß, wie wir es jet Iefen, wir es allerdings eigentlich 
verftehen müflen. I Doch nicht alle Yetreffenden Reden Jeſu 


2) Vgl. Süskind, einige Bemerkungen Über die Frage, ob Jeſus feine 
Auferftehung beftimmt vorbergefagt habe? in Flatt's Magazin, 7, 
©. 203 ff. j 

>) Paulus, a. a. ©. 2, ©. 215 ff.; Hafe, & 3. $. 109. 


312 Dritter Abſchnitt. 


ſeien auf dieſe Weiſe veraͤndert, ſondern hie und da auch noch 
ſeine urſprünglichen Ausdrücke ſtehen geblieben. 


$. 114. 


Bildliche Reden, in welchen Jeſus feine Auferftehung vorhervertündi gt 
haben ſoll. 


Schon zu Anfang ſeiner öffentlichen Wirkſamkeit hat dem 
vierten Evangelium zufolge Jeſus die ihm feindlich geſinnten 
Juden in bildlicher Rede auf feine künftige Auferſtehung binge- 
wieſen (2, 19 ff.). Nachdem während feines erſten meſſianiſchen 
Feſtbeſuchs der Marktunfug im Tempel ihn zu jenem Schritte 
heiligen Eifers bewogen hatte, von welchem oben die Rede ge⸗ 
weſen, und wie nun die Juden ihn um ein Zeichen angingen, 
durch welches er ſich als einen Gottgeſandten legitimiren ſollte, 
der zur Vornahme ſolcher Gewaltmaßregeln Befugniß hätte, gibt 
ihnen Jeſus die Antwort: Avgare TOv vaov TörTor, zul Ev Ton 
zuegeis Eyego vo. Die Juden nahmen diefe Worte in dem 
Einne, welcher, da fie im Tempel gefprochen wurden, am näch⸗ 
ften lag, und hielten Jefu entgegen, daß er diefen Tempel, zu 
defien Bau man 46 Jahre gebraucht habe, wohl fchwerlich, 
wenn er zerftört wäre, in 3 Tagen wieder aufzurichten im Stande 
fein dürfte; aber der Evangelift belehrt ung, dieß fei nicht Die 
Meinung Jeſu gewefen, fondern diefer habe, wie übrigens den 
Süngern erft nach feiner Auferftehung klar geworden fei, von 
dem vaog TE Owuarog wird geredet, d. h. alfo durch das Ab⸗ 
brechen und Wiederaufbauen des Tempels auf feinen Tod und 
feine Auferftehung hingedeutet. Gibt man hiebei auch zu, was 
indeffen gemäßigte Ausleger läugnen, ) daß Jeſus die Juden 
mit ihrer Forderung eines gegenwärtigen Zeichens (mie er e8 auch 
Matth. 12, 39 ff. gethan haben fol) füglich auf feine einſtige 
Auferftehung, ald das größte und namentlich für feine Feinde 
befchämendfte Wunder in feiner Geſchichte, habe verweifen fönnen: 


1) 3, B. Luͤcke, 1, S. 4265 vgl. dagegen Tholud z. d. Et. 








Erſtes Kapitel. 9. 114. 913 


. fo mußte Diefe Hinweifung doch von der Art fein, daß fie möglicher: 
weife verftanden werden fonnte (wie Matth. a. d. a. Stelle 
Jeſum ganz unummwunden fich erflären läßt). So hingegen, 
wie wir hier den Ausfpruch Jeſu haben, konnte er, als ihn 
Jeſus that, unmöglich in diefem Einne begriffen werden. Denn 
wer im Tempel von der Zerftörung dieſes Tempels fpricht, 
defien Rede wird Sedermann auf eben das Tempelgebäude, in 
welchem er fich befindet, beziehen. Es müßte denn Jeſus, ale 
er das Tov vaov värov fprach, mit dem Finger auf feinen Leib 
gewiefen haben; was auch die Freunde diefer Erklärung meifteng 
porausfegen. Allein für's Erfte fagt der Evangelift von einer 
ſolchen Gebärde nichts, unerachtet e8 in feinem Intereſſe lag, 
zur Unterftügung feiner Deutung diefelbe hervorzuheben. Für's 
- Andere bat Gabler mit Recht darauf aufmerkfam gemacht, wie 
matt und ſchaal es gewefen wäre, einer Rebe, welche nach Allem; 
was in ihr Wort, alfo Rogifches, war, fich auf das Tempel- 
gebäude bezug, durch einen bloßen Zufag von Mimifchem eine 
ganz andere Beziehung zu geben. Hat fich aber Sefus dieſer 
Hülfe bedient, fo Fonnte fein Fingerzeig nicht unbemerft bleiben; 
- e8 mußten die Juden eher darüber mit ihm rechten, wie er zu 
dem Uebermuthe komme, feinen Leib vaog zu nennen; oder wenn 
auch dieß nicht, fo fonnten doch in Folge jener Action die Jünger 
“nicht bis nach der Auferftehung Sefu über den Sinn feiner Rede 
im Dunfeln bleiben. 3) 

Durch diefe Schwierigkeiten fand fich die neuere Eregefe 
gedrungen, die johanneifche Auslegung der Worte Jeſu ale 
eine ex eventu gemachte Umdeutung zu verlaffen, und zu 
verfuchen, unabhängig von der Erklärung des Evangeliften in 
den Sinn der räthfelhaften Rede einzudringen, welche er Jeſu 


2) ©. Tholud,a. a. O. 

3) Henke, Joannes apostolus nonnullorum Jesu apophthegmatum 
in evang. suo et ipse interpres. In Pott's und Ruperti’s 
Sylloge Comm. theol. 1, S. 95 Gabler, Recenfion bes Henke'⸗ 
fhen Programms im neueften theol. Sournal, 2, 1, ©. 885 Lüde 
; d. St. 


314 Dritter Abfchnitt. 


in den Mund legt.) Der Auffaflung der Juden, welche die 
Worte Jeſu auf ein wirkliches Abbrechen und Wieneraufbauen 
des Nationalheiligthums bezogen, Tann man nicht beiftimmen 
wollen, ohne Jeſu gegen feinen fonftigen Charakter eine in’s 
Ungeheure getriebene leere Großfprecherei zugufchreiben. Sieht 
man fich deßwegen nach einem irgendwie uneigentlichen Verſtande 
des Ausfpruche um, fo begegnet man in demfelben Evangelium 
zuerft ver Stelle4, 21 ff., wo Sejus der Samariterin verfündigt, 
ed komme nächftens die Zeit, wo man nicht mehr ausfchließlich 
&v TepoooAvuoıg den Vater anbeten, fondern ihn Als Geift geiftig 
verehren werde. Eine Abftellung des vermeintlich allein gültigen 
Tempelcultus zu Serufalem Fönnte das Aucıy des vaog auch in 
unferer Stelle urfprünglich bedeutet haben. Diefe Auffaffung 
wird durch eine Erzählung der Apoftelgefrhichte, 6. 14., beftätigt. 
Stephanus , welcher, wie es frheint, den in Frage ftehenden 
Ausſpruch Jeſu adoptirt. hatte, wurde von ſeinen Anllaͤgern be⸗ 
ſchuldigt, geaͤußert zu haben, orı noũs o Nobuocĩos & STOS XOTQ- 
Avoeı Tov TOIOV TäTov, xaı allaseı va2In, & ragedwne Mwö- 
075, wu demnach ald Folge des Tempelabbruchs eine Aenderung 
der mofaifchen Religionsverfaffung , ohne Zweifel eine Vergeifti- 
gung derfelben, bezeichnet wird. Dazu fommt noch eine Stelle 
in den fonoptifchen Evangelien. . Diefelben Worte beinahe, 
welche bei Johannes Jeſus felbft ausfpricht, kommen in den zwei 
erften Evangelien (Matth. 26, 60 f. Marc. 14, 57 f.) als Ans 
Hage falfcher Zeugen gegen ihn vor, und hier hat Marfus den 
Zufagß, daß er den abzubrechenden v00S als xeıpomoincos, den 
von Jeſus neu zu bauenden als aAlos, ayeıgorvolrrog bezeichnet, 
was derfelbe Gegenfag von finnlicher und geiftiger Religione- 
yerfaffung zu fein ſcheint. Demgemäß läßt ſich nun auch die 
johanneifche Stelle fo erflären: das ift das Zeichen meiner Bolls 
macht zur Tempelreinigung,, daß ich im Stande bin, an die ' 


— — — 





8) So, außer Henke im angef. Programm, Herder, von Gottes Sohn 


nach Johannes Evang., S. 135 f.; Paulus, Gomm. 4, ©. 165 f. 
k. J. 1, a, ©. 173 f.; Luͤcke und de Wette z. d. ©. 


Erſtes Kapitel. 6. 114. 315 


Stelle des mofaifchen Ceremonialdienftes in Fürzefter Frift einen 
neuen‘, geiftigen Gottesdienſt zu ſetzen; d. h. ich bin zur Refors 
mation bes Alten berechtigt, fofern ich zur Stiftung eines Neuen 
befähigt bin. Hiegegen ift das zwar eine unbedeutende Ein- 
wendung, daß bei Johannes nicht wie bei den Synoptikern 
das Subject gewerhfelt, und der neu zu erbauende voog als @AAos, 
fondern durch euros als derſelbe mit dem zerftörten bezeichnet 
werde; 5) da ja die chriftliche Religionsverfaffung im Verhältniß 
zur jüdifchen ganz ebenfo wie der auferftandene Leib Jeſu im 
Verhältniß zu dem geftorbenen fowohl als identifch gefaßt werden 
fonnte wie als verfchieden: fufern beidemale die Subftanz dies 
felbe bleiben, das vergängliche Beiwerk aber wegfallen follte. 
Gefährficher dagegen ift Die andere Einwendung, die fi) an die 
Zeitbeftimmung, & rouoiv zuzgeus, Inüpft. Daß diefe nämlich 
auch ungenau und fprüchwörtlich, in der Bedeutung einer Furzen 
Zeit überhaupt, vorfomme, wird durch Die beiden Stellen, auf 
welche man fich dafür beruft, nicht hinlänglich erwieſen; da in 
denfelben der dritte Tag durch Zuſammenſtellung mit dem wenm 
und erſten (Hof. 6, 2: Wyd wi) Da Dmm; Luc, 13, 32 
O7U8009 ze avoıov xel ın tolrn) als bloß relative und unge⸗ 
fähre Zeitbeftimmung angekündigt ift, wogegen fein Alleinftehen 
in unferer Stelle eine abfolute und genaue Zeitangabe verfpricht. 9) 
So von beiden Erklärungen in gleicher Weife angezogen - 
und abgeftoßen, 7) flüchten fich die Theologen zu einem Doppels 
finne , welcher entweder zwifchen der johanneifchen und der zuleßt 
Dargelegten ſymboliſchen, 8) oder zwifchen der johanneifchen Deus 
tung und der fünifchen die Mitte hält; ) fo daß Jeſus ents 
weder zugleich von, feinem zu töbtenden und wieder zu belebenben 


6, Storr, in Flatt’s Magazin, 4, ©. 199. 

6, Tholud und Olshauſen, z. d. &t. 

7) Weßwegen Neander zwifchen beiden unentfchieden in ber Schwebe 
bleibt, S. 395 f. 

8) So Kern, die Hauptthatſachen der evang. Geſch. Tuͤb. Zeitſchrift 
1836. 2, S. 128. 

) So Olshauſen. 





316 Dritter Abfchnitt. 


Leibe und von der dadurch hauptfächlich vermittelten Umgeftaltung 
der jüdiſchen Religion gefprochen; oder, um. die Juden abzu- 
weifen, fie zum Abbrechen ihres wirklichen Tempels, als zu 
etwas Unmöglichem,, aufgefordert, und unter biefer nie eintref- 
- fenden Bedingung fich zum Bau eines andern erboten haben 
fol, fo jedoch, daß neben diefem oftenfibeln Einne für Die 
Menge noch ein verborgener herging, der den Juͤngern erft 
nach der Auferftehung Har wurde, nach welchem vaog den Leib 
Sefu bezeichnete. Allein jene an die Juden gerichtete Aufforve- 
rung fammt dem darangehängten Erbieten wäre ein unwürdiger 
Muthwille, die darin verborgene Andeutung für die Jünger 
eine nutzloſe Spiclerei gewefen, und überhaupt ift ein Doppel⸗ 
finn der einen oder andern Art in der Rede eines verftändigen 
Menfchen unerhört. % Da man auf diefe Weife an der Er: 
Härbarfeit der johanneifchen Etelle ganz verzweifeln möchte, 
fo beruft fih der Verfaſſer der Probabilien darauf, daß Die 
Synoptifer die Zeugen, welche vor Gericht behaupteten, Jeſus 
habe jenen Ausſpruch gethan, als werdouegrugas bezeichnen; 
woraus er folgert, daß Jeſus fo etwas, wie Johannes ihn 
hier fprechen laſſe, gar nicht gefagt habe, und fich femit einer 
Erklärung der johanneifchen Etelle überhebt, indem er fie ale 
ein Figment des vierten Evangeliften betrachtet, welcher die 
Verläumdung jener Anfläger fowohl erklären, als durch eine 
myftifche Deutung der Worte Zefu habe abwenden wollen. *) 
Allein theild folgt aus der fonoptifchen Bezeichnung jener Zeugen 
als falfcher nicht, daß der Anficht jener Evangeliften zufolge 
Jeſus gar nichts von dem, weſſen fie ihn befchuldigten, gejagt 
habe, da er es ja auch nur etwas anders gefagt (Avcare nicht 
2200), oder anders gemeint haben kann (figürlich, nicht eigent- 
lich); theils ift, wenn er gar nichts der Art gefagt haben fol, 
ſchwer zu erflären, wie die falfehen Zeugen auf jene Ausfage, - 


10) Kern fagt wohl, es finde fich Aehnliches auch in anderweitigen Ge⸗ 
bieten bebeutfamer Rede; aber ein Beifpiel anzuführen enthält er fi. 
11) Probabil. p. 23 ff. 


Erſtes Kapitel. $. 11a. 317 


und namentlich auf das fonderbare & rouolv nuegaug, gefommen 
fein follen. 

Wenn hienach bei jeder Deutung des Ausſpruchs, außer 
bei der unmöglichen auf den Leib Jeſu, das & zguolv nudgaug 
einen Anftoß bildet: fo koͤnnte man zu der ſchon erwähnten 
Erzählung der Apoftelgefehichte die Zuflucht nehmen, fofern in 
‚diefer jene Zeitbeftimmung fehlt. Hier wird nämlich Stephanus 
nur befchuldigt, gefagt zu haben, Orts I. 0 NaL. 810g xarakvceı 
Tov Tonov Törov (10V üyıo), xal ahlaseı Ta &97 & rapedwxe 
Mwvors. Das Balfche an dieſer Ausfage — denn auch die 
Zeugen gegen Etephanus werben ald uagruges wevdels bezeich- 
net, Fönnte der zweite Sat fein, welcher mit eigentlichen Worten 
von einer Aenderung der mofaifchen Religionsverfaflung fpricht, 
und ftatt deſſen Stephanus und früher Jeſus wohl in der oben 
ausgeführten figürlichen Bedeutung gefagt haben: xl adv 
olxodounosı (—0w) wvıov, oder zul &AA0v (axxeıgoroirtor ) 
olxodow;oe (— 00). 

Indeſſen diefe Auskunft ift nicht einmal nöthig, fofern Die 
Schwierigkeit der Worte: &v Touolv 7ueocıs nicht unüberwind- 
lich if. Wie die Zahl 3 nicht bloß in Verbindung mit 2 oder 
4 (Sprühw. 30, 15. 18. 21. 29. Sir. 23, 21. 26, 25.), 
fondern auch für ſich allein (Sir. 25, 1. 3.) fprüchwörtlich 
gebraucht wird, fo fonnte der Ausdrud: in drei Tagen, war 
er einmal in Verbindung mit dem zweiten und erften Tage 
als ungefähre Zeitbeftimmung gebräuchlich geworben, fofort 
wohl uach für fih in demfelben Sinne verwendet werden. Ob 
der Ausdrud eine längere oder Fürzere Zeit andeuten follte, 
fam dann auf den Zufammenhang an: hier, im Gegenſatze 
gegen die Beichaffenheit eines großen und Funftvollen Gebäudes, 
zu defien wirflichem, natürlichem Aufbau, wie auch die Juden 
alsbald bemerflich machen, eine lange Reihe von Jahren erfors 
verlich war, kann jener Ausdrud nur ald Bezeichnung der 
fürzeften Zeit genommen werden. 19 — Eine Borausfage, 


12) Bol. Neander, ©. 396. Anm, ' 


318 Driutter Abſchnitt. 


oder auch nur Andeutung der Auferſtehung iſt mithin in dieſen 
Worten nicht enthalten. 

Wie hier durch das Bild vom abzubrechenden und neu 
aufzubauenden Tempel, ſo ſoll Jeſus bei einer andern Gele⸗ 
genheit durch das Vorbild des Propheten Jonas auf ſeine 
Auferſtehung im Voraus hingedeutet haben (Matth. 12, 30 ff. 
vgl. 16, 4. Luc. 11, 29 ff.). AS die Schriftgelehrten und 
Pharifäer ein onuelov von ihm zu fehen verlangten, fol Jeſus 
ihr Anfinnen durch Die Erwiederung zurückgewieſen haben, 
daß einer ſo ſchlimmen yeveo kein Zeichen gegeben werde, als 
vò onueiov 'Iow& tũ ngogme, welches in der erſten Stelle 
bei Matthaͤus Jeſus ſelbſt dahin erklaͤrt: wie Jonas drei Tage 
und drei Nächte & <7 xoıdig TE xrrag geweſen ſei, fo werde 
auch des Menfchen Sohn drei Tage und drei Nächte &v zyj 
xogdig Tas yis zubringen. An der zweiten Stelle, wo Mat- 
thäus Jeſu dieſen Ausſpruch leiht, wiederholt er Die angege- 
bene Deutung nicht; Lufas aber in der Barallelftelle erklärt 
denſelben nur fo: xaswg ag eyerero Iwrag Onuslov Toig 


Nwevivens ‚ 805 Eau xal 0 vios TE MmIguns ın yerıg 


zavın. Gegen die Möglichkeit, daß Sen die Auslegung des 
Jonaszeichens, welche ihm Matthäus, DB. 40., in den Mund 
legt, felbft gegeben habe, Täßt fich Berfchiebenes einwenden. 
Das zwar, daß Iefus von drei Tagen und drei Nächten, 
welche er im Herzen der Erde zubringen werde, bewegen 
nicht habe fprechen können, weil er nur einen Tag und zwei 
Kächte im Grabe gewefen fei, ) wird fich ſchwerlich ent- 
gegenhalten laſſen, da der N. T. liche Sprachgebrauch ents 
fehienen die @igenheit hat, den Aufenthalt Jeſu im Grabe, 
weil er den Tag vor dein Sabbat durch den Abend, und 
den nach dem Sabbat durch den Morgen noch berührte, einen 
dreitägigen zu nennen; wurde aber "einmal biefer Eine Tag 
fammt zwei Nächten für drei volle Tage genommen, fo war 


13) Paulus, ereg. Handb. 3. d. Et. 


a nn —— 


Erſtes Kapitel. $ 11a. . 319 


es nur eine Umſchreibung dieſes Bolfeins, daß zu den Tagen 
auch noch die Nächte gefegt wurden, was ſich ohnehin in ver 
Bergleichung mit den drei Sagen und Nächten des Jonas 
von felbft ergab. *) Dagegen wäre e8, wenn Jefus von dem 
onueiov Iova. die Erklärung gab, welche ihm Matthäus leiht, 
eine fo Hare Vorausfagung feiner Auferftehung gewefen, daß 
aus denfelben Gründen, welche nad) dem Obigen den eigent- 
lichen Borausverfündigungen berfelben entgegenftehen, Jeſus 
auch dieſe Erklärung nicht gegeben haben kann. Jedenfalls 
mußte fie die nach V. 49. anweſenden Jünger zu einer Frage 
an Sefum veranlaſſen, wo fich dann nicht einfchen läßt, warum 
er ihnen die Sache nicht vollends Far gemacht, alfo mit 
eigentlichen Worten feine Auferftehung vorherverfündigt haben 
follte. Kann er aber dieß nicht gethan haben, weil fonft die 
Jünger nach feinem Tode ſich nicht fo benommen haben fönn- 
ten, wie fie ſich den evangelifchen Nachrichten zufolge benah- 
men: fo Tann er auch nicht durch jene Bergleichung des ihm 
bevorftehbenden Schidfald mit dem des Jonas eine Frage der 
Jünger hervorgerufen haben, welde er, wenn fie an ihn 
geftellt wurde, auch beantworten mußte, aber dem Erfolge nach 
nicht beantwortet haben Fann. 

Aus diefen Gründen hat ſich die neuere Kritik bahin 
ausgefprochen, daß die Matthäifche Erklärung des anusiov "Iowa 
eine post eventum vom @vangeliften gemachte Deutung fei, _ 
welche er fälfchlich Iefu in den Mund lege.) Wohl hat 
hienach Jeſus die Phariſäer auf das omueiov "Iowa verwiefen, 
aber nur in dem Sinn, in welchem es Lukas ihn erflärfen 
läßt, daß, wie Jonas felbit, feine bloße Gegenwart und feine 
Bußpredigt, ohne Wunder, den Nineviten als göttliches 
Zeichen genügt habe: fo auch feine Zeitgenofien, ftatt nad) 
Wunderzeichen zu haſchen, fich an feiner Perſon und Predigt 


— 


19 Vgl. Fritzſche und Dishaufen, z. d. St. 
35) Paulus, exeg. Handb. 2, S. 97 ff. Schul z, über das Abendm, 
©. 317 f. 


320 = Dritter Abſchnitt. 


genügen laſſen ſollen. Diefe Auffaffung ift die einzige dem 
Zuſammenhang der Rede Jeſu — auch bei Matthäus — 
und näher der Parallele zwifchen dem Verhältniß der Nineviten 
zu Sonas und dem der Königin des Eüdens zu Ealomo an- 
gemeffene. Wie es die vopie SoAouwros war, durch welche 
die legtere von den Enden der Erbe fich herbeigezugen fühlte: 
fo bei Jonas auch nad) dem Ausdruck des Mattbäus Teviglic) 
fein »jovyue, auf welches hin die Nineviten Buße thaten. 
Das Futurum in dem Cage bei Lukas: szws dcaı xal 0 
viös T. a. 7 yeveg Tavın (Orusiov), von welchem man glauben 
mörbte, es Fönne nicht auf den gegenwärtigen Jeſus und feine 
Predigt, fondern müfle auf etwas Künftiges, wie feine Auf- 
erftehung, bezogen werben, geht in der That nur entweder 
auf die fünftige xgious, in welcher fich hervorftellen wird, daß, 
wie für die Nineviten Jonas, fo für die Damals lebenden 
Juden Zefus als oruelov berechnet war; oder darauf, daß, als 
Jeſus dieſe Worte fprach ‚feine Erfcheinung noch nicht vollen- 
det war, fondern manche Momente berfelben noch in ber 
Zufunft Tagen. Frühzeitig muß jedoch, wie wir aus dem erften 
Evangelium erfehen, dem Schidfale des Jonas eine typiſche 
Beziehung auf den Tod und die Auferftehung Jeſu gegeben 
‚worden fein, indem bie erfte Gemeinde für die fo anftößige 
Kataftrophe ihres Meflias mit Aengftlichkeit überall im A. > 
Vorbilder und Weiffagungen auffuchte. 

Noch einige Ausfprüche Jeſu finden fich im vierten Ean⸗ 
gelium, welche ſchon als verhüllte Weiſſagungen der Aufer⸗ 
ſtehung gefaßt worden ſind. Die Rede vom Waizenkorn zwar, 
12. 24., bezieht ſich zu augenſcheinlich nur auf das durch 
ſeinen Tod zu fördernde Werk Jeſu, als daß ſie hier weiter 
in Betracht kommen könnte. Aber in den johanneiſchen Ab⸗ 
ſchiedsreden finden ſich einige Ausſprüche, welche noch immer 
Manche von der Auferſtehung verſtehen möchten. Wenn Jeſus 
fagt: ich werde euch nicht verwaist laſſen, ich komme zu euch; 
noch kurze Zeit, fo fieht die Welt mich nicht mehr, ihr aber 
jehet mich; über ein Kleines, fo werdet ihr mich nicht mehr 








Erſtes Kapitel. $. 114. 321 


fehen, und wieder über ein Kleines, fo werdet ihr mich fehen 
u. f. f. (14, 18 ff. 16, 16 ff): fo ‚glauben Manche, dieſe 
Reden, mit dem Verhaͤltniß von —8 xl rralıy juxgov, mit 
dem ©egenfage zwiſchen Eugparilsı ;ulv (Tolg uaIrteis) zei 
. 3 To x00up, mit dem von ganz perfönlichem Wiederſehen 
lautenden Tsadım Oro und 6wweoIe, Fünnen auf nichts An- 
deres, als auf die Auferftehung bezogen werden, welche eben 
das furz auf das Nichtfehen gefolgte Sehen, und zwar ein 
perfönliches und auf die Freunde Jeſu eingefchränftes, geweſen 
fei. 19) Allein dieſes verheißene Wiederfehen befchreibt Jeſus 
hier zugleich auf eine Weife, welche ‚für die Tage der Aufer- 
ftehung nicht ganz paflen wild. Wenn das Or &yw Co (14, 
19.) feine Auferftehung bedeuten fol: fo weiß man gar nicht, 
was in dieſem Zufammenhange das xai vusis Lroeode heißen 
will; wenn Sefus fagt, bei jenem Wiederfehen werden feine 
Jünger fein Berhältniß zum Bater erkennen, und ihn nichts 
‚mehr zu fragen brauchen (14, 20. 16, 23.): fo machten fie 
ja noch am legten Tage ihres Zufammenfeins mit ihm nach 
der Auferftchung eine, und zwar im Sinne des vierten Evans 
geliums recht unverftändige, Stage an ihn (A. ©. 1, 6); 
endlich, wenn er verfpricht, daß zu demjenigen, der ihn liebe, 
er und‘ ver Bater. fommen und Wohnung bei ihm machen 
werden: fo wird vollends Har, Daß Jeſus hier nicht von einem 
leiblichen, fondern von feinem geiftigen Wiederfommen durch 
ben nogesirvos redet. 1) Hat jedoch auch diefe Erklärung 
ihre Schwierigfeiten, indem hinwiederum Das OwsodE ue und 
öryouar vuas auf jene bloß geiftige Wiederkunft nicht ganz 
paflen will: fo müflen wir die Löfung dieſes fcheinbaren Wi⸗ 
derjpruch8 auf die genauere Beleuchtung diefer Ausſprüche an 
einer fpäteren Stelle verfparen, und erinnern einflweilen nur, 


) Süslind, a. a. O. ©, 184 ff. 
17) ©. Lüde, z. d. St. 


IL Band. 21 


322 Drittee Abfchnitt. 


daß aus den johanneifchen Abſchiedsreden, deren Untermiſchung 

mit eignen Gedanken des Evangeliften jest felbft von Freunden 
des vierten Evangeliums zugeitanden iſt, am wenigften ein 
Beweis in diefer Eache genommen werden Tann. 

Nach allem diefem Fönnte der Ausweg noch übrig zu fein 
fiheinen, daß Jeſus zwar allerdings über feine: Fünftige Auf- 
erftehung fich nicht geäußert, nichts deſto weniger aber fie für 
fich vorhergewußt habe. Wußte er feine Auferftehung vorher, 
fo wußte er fie entweder auf übernatürliche Weife, vermöge 
des ihm inwohnenden prophetifchen: Geiftes, höheren Princips, 
— ' wenn man will, feiner göttlichen Natur: over er wußte 
fie auf natürliche Weife, durch verftändige menſchliche Ueber⸗ 
legung. Allein ein übernatürlidhes Vorherwiſſen jenes Ereig- 
niffes ift auch hier, wie in NRüdficht auf den Tod, wegen 
der Beziehung undenkbar, in welche Zefus daffelbe zum U. 3. 
feßt. Nicht bloß in Stellen nämlich, wie Luc. 18, 31., 
welche, als Borherfagungen, nach dem Ergebniß unfrer letzten 
Unterfuchung , uns ſchon nicht mehr als-Hiftorifch gelten Fönnen, 
ftelt Sefus feine Auferftehung, wie fein Leiden und feinen 
Tod, als ein Erfülltwerden mavrwv swv yeypauuevem dia Tum 
TOOpEOV Tip vio TE avdgwne dar, fondern auch nach dem 
Erfolg hält er den an feiner Auferftehung zweifelnden Jüngern 
vor, fie. hätten glauben follen Eri uaoıw ois Ziaircov oi 
roopijter, daß nämlich Taüra Ede nase Tov Xgısov, xal 
eioeAdelv Eis Tv dom aus (Ruc. 24, 25 f.). Laut des 
Berfolgs der Erzählung hat Jeſus fofort diefen Juͤngern (den 
Enmmauntiſchen) alle von ihm handelnden Schriftſtellen, ao&e- 
usvog &rs0 Mwoewg xal ao TVo TV TLOOPTTÄV, wogu 
weiter unten auch noch Die WaAuol gefebt werden (V. 45.), 
ausgelegt; im inzelnen jedoch wird uns Feine Stelle ange- 
geben, welche und wie fie Sefus auf feine Wiederbelebung 
gedeutet hätte, außer daß aus Matth. 12, 39 f. folgen würde, 
er habe das Schidfal des Propheten Jonas als Vorbild des 
jeinigen betrachtet, und aus der fpäteren apoftofifchen Deutung, 
als muthmaßlichem Nachhall der feinigen, gefchloffen werben 


Grftes Kapitel. $. 114. 223 


Fönnte, daß er, wie nachmald die Apoftel, hauptiächlich in 
Bf. 16,8 ff. (U. G. 2, 25 ff. 13, 35.), ef. 53. A. ©. 
8, 32 ff.), Ief. 55, 3. (U. ©. 13, 34.), und dann etwa noch 
in Hof. 6, 2. folhe Weiſſagungen gefunden habe. Allein. das 
Schidfal des Jonas hat mit dem Schidfal Jeſu nicht einmal 
recht eine äußerliche Achnlichfeit, und das ihn betreffende Buch 
trägt feinen Zwed fo fehr in ſich felber, Daß derjenige es 
gewiß nicht nach feinem wahren Sinn und der Abficht feines - 
Verfaſſers deutet, der ihm oder einem Zuge dejielben eine 
vorbildliche Beziehung auf Ereigniſſe der Zufunft unterlegt; 
Jeſ. 55, 3. ift fo augenfcheinlich. heterogen, daß man faum 
begreift, wie die Stelle nur mit der Auferftehung Jeſu hat in 
Beziehung gebracht werden fünnen; Jeſ. 53 bezieht fich ent- 
fchieven auf ein in immer neuen Glievern wiederauflebenves 
Golfeftivfubject; Hofea 6. unverfennbar bildlich auf Volk und 
Staat Israel; endlich die Hauptftelle, Pf. 16., fann nur auf 
einen Frommen gedeutet werden ,. welcher Durch Jehova's Hülfe 
einer Todesgefahr zu entrinnen hofft, und zwar nicht in der 
Art, daß er, wie Jefus, aus dem Grabe wieder hervorgehen, 
fondern gar nicht wirklich in daſſelbe verfegt werden würde, 
verfteht fich, dieß nur vor der Hand, und mit dem. Vorbe- 
halt, feiner Zeit allerdings ‚der Natur den Tribut zu entrich- 
ten, 18) was auf Jeſum wiederum. nicht paflen würde. Hätte 
alfo ein übernatürliches Princip in Jeſu, ein prophetifcher Geiſt, 
ihn in dieſen A. T.lichen Gefchichten und Stellen eine Voran- 
deutung jeiner Auferftehung finden laſſen: fo fünnte, da in 
feiner berfelben eine folche Beziehung wirklich liegt, der Geift 
in ihm nicht der Geiſt der Wahrheit, fondern er müßte ein 
Lügengeift gewefen fein, das übernatürlihe Princip in ihm 
nicht ein göttliches, fondern ein dämoniſches. Bleibt, um die— 
fer Gonfequenz zu entgehen, dem für verftändige Auslegung 
des U. T. zugänglichen Supranaturaliften nichts übrig, als 


8) ©. de Wette, Comm. über die Plalmen, ©. 178. 
oo. 21* 





324 | | Drittes Abſchnitt. 


das Vorherwiſſen Jeſu von feiner Auferebung als ein natürs 
lich -menfchliches zu betrachten, fo war die Auferftehung, als 
Wunder genommen, ein Geheimniß des göttlichen Rathfchluffes, 
in welches einzubringen dem menfchlihen Verftande vor dem 
Erfolg unmöglih war; als natürlicher Erfolg angefehen aber 
war fie der unbererhenbarfte Zufall, wenn man nicht einen von 
Sefu und feinen Derbüünbeten planmäßig berbeigeführten Schein- 
tod annehmen will. 

Alfo nach dem Erfolg erft ift fo Borausficht wie Vorauss 
fage der Auferftehung Jeſu beigelegt, und nun war es auch 
bei der bodenlofen Willkür jüdifcher Eregefe den Jüngern und 
Berfaffern der N. T. lichen Echriften ein Leichtes, im A. 7. 
Borbilder und Weiffagungen auf die Wiederbelebung ihres 
Meſſias aufzufinden. Nicht al8 ob fie dieß mit fchlauer Ab⸗ 
fichtlichfeit, und felbft von der Nichtigkeit ihrer Auslegungs⸗ 
und Schlußweife überzeugt, gethan hätten, wie der Wolfen- 
büttler Fragmentiſt und Andre feineögleichen. laͤſtern: fondern 
wie ed dem, der in die Sonne: gefehen, ergeht, daß er noch 
längere Zeit, wo er binfieht, ihr Bild erblidt: fo ſahen fie, 
durch ihre Begeifterung für den-neuen Meflias geblenvet, in 
dem einzigen Buche, das fie lafen, dem A. T., ihn überall, 
und ihre, in dem wahren Gefühl der Befriedigung tiefiter 
Bebürfniffe gegründete Leberzeugung, daß Jeſus der Meſſias 
fei, ein Gefühl und eine Ueberzeugung, die auch wir noch 
ehren, griff, fobald es fi) um reflerionsmäßige Beweiſe han⸗ 
delte, nach Stügen, welche längft gebrochen find, und felbft 
durch das eifrigfte Bemühen einer hinter der Zeit zurüdgeblie- 
benen Eregefe nicht mehr haltbar gemacht werden Eünnen. 


$. 115. 


Die Reben Jeſu von feiner Parufie. Kritik der verfchiebenen 
Auslegungen. 


Doch nicht allein, daß er drei Tage nach ſeinem Tode 
‚ wieder aufleben werde, um ſich feinen Freunden zu zeigen, 








Erſtes Kapitel. $. 115. 325 


fondern auch, daß er fpäter einmal, mitten in der Drangfalsgeit, 


welche auch die Zerftörung des Tempels in Serufalem herbeis 
führen follte, in den Wolfen des Himmels fommen werde, um 
Die gegenwärtige Weltperiode abzufchließen, und durch ein all 
gemeined Gericht die Fünftige zu beginnen, bat Zefus den 
evangelifchen Nachrichten zufolge vorausgefagt (Matth. 24. und 
235. Marc. 13. Luc. 17, 22—37. 21, 5—36.). 

AS Jeſus zum lektenmale aus dem Tempel ging CLukas 
hat dieſe Beſtimmung nicht), und feine Jünger (Lukas unbe⸗ 
ſtimmt: Einige) ihn auf den herrlichen Bau bewundernd auf- 
merffam machten, gab er ihnen die BVerficherung, daß alles, 
wie fie e8 da fähen, von Grund aus zerftört werden würde 


(Matth. 24, 1. 2. parall.). Auf die Frage der Jünger, wann 


dieß geſchehen, und was das Zeichen der ihrer Anficht nach 
damit zufammenhängenden Ankunft des Meffias fein werde (B. 
3.), warnt fie Jeſus, ſich nicht durch Leute, welche fich fälfchlich 
für den Meſſias ausgeben, und Durch die Meinung, gleich nach 
den erften Vorzeichen müſſe Die erwartete Kataftrophe-folgen, 
irreführen zu laffen; denn Kriege und Kriegögerüchte, Kämpfe 
von Bölfern und Reichen gegeneinander, Hungersnoth, Peft 


und Erdbeben da und dort, feien nur bie erften Anfänge des 


Elendes, welches der Ankunft des Meſſias vorangehen mwerbe 
(B. 4—8.). Auch fie felbft, feine Anhänger, werben zuvor 
noch Haß, Verfolgung und Mord über fich ergehen laſſen 
müflen; Zreulofigfeit, Verrath, Taͤuſchung durch falfche Pro⸗ 
pheten, 2ieblofigfeit und allgemeines Sittenverderben werde un- 
ter den Menfchen einreißen, zugleich aber müfle die Botfchaft 
vom Meffiasreich noch vorher in der ganzen Welt verfündigt 
werden; nach allem biefem erft koͤnne das Ende der jeßigen 
Weltperiode eintreten, auf welches mit Standhaftigfeit harren 
müffe, wer an dem Glüde der Fünftigen Antheil befommen 
wolle (V. 9-14.) Ein näheres Vorzeichen fchon von dieſer 
Kataftrophe fei die Erfüllung des Danielifchen Drafels (9, 27.) 
von dem an heiliger Stätte aufzuftelenden Verwüftungsgräuel 
(nach Lukas, 21, 20, die Umftellung Serufalems durch 


‘ 


326 Dritter Abſchnitt. 


Kriegsheere); wenn dieſes eintrete, dann fei es (nach Lukas, 
weil die Verödung Serufalems bevorftche, welche Luc. 19, 43 f. 
in einer Anrede Jeſu an die Stadt durch rregufaiaoıy ol EyHoot 
08 yaoaxc 001, xal repixuxiwouol 0E xul oureisol ve sravro- 
Yer, zul Edayısoi GE zul Tu Texra 08 &v 00l, Hal dx ay,08- 
ow & ol AlYov Erri Aldo näher beftimmt ift) die höchfte Zeit 
zur fehleunigften Flucht, bei welcher alle am ſchnellen Fortkom⸗ 
men Gehinderte zu bedauern, und von welcher, daß fie in Feine 
ungünftige Zeit fallen möge, angelegentlih zu wünfchen ſei; 
denn es trete dann eine beifpiellofe Drangfalszeit ein (nach Zur. 
V. 24. hauptfächlich darin beftehend, daß vom Volk Isgsrael 
viele umfommen, andere gefangen weggeführt, Serfalem aber 
eine vörherbeftimmte Periode hindurch von Heiden zertreten. 
werden werde), welche nur durch gnadenvolle Abkürzung ihrer 
Dauer von Eeiten Gottes aus Rüdficht auf die Ermählten 
erträglich werde (B. 15—22.). Ilm diefe Zeit werden falſche 

Propheten und Meffiafe durch Wunder und Zeichen zu täufchen 
ſuchen / und da ober dort den Meſſias zu zeigen verfprechen : 
da doch ein Meſſias, der irgendivo verborgen wäre und aufge 
fucht werden müßte, Fein wahrer fein könne; indem deſſen Ans 
funft wie das Leuchten des Blitzes eine plögliche, überallhin 
dringende Offenbarung fei, deren Mittelpunft Jerufalem' bilde, 
das durch feine Schuld die Strafe über fich herbeiziehe (V. 
23—28.). Unmittelbar: nach diefer Drangfalszeit werde ſich 
nun durch Verfinfterung von Eonne und Mond, durch Herab- 
fallen der Sterne und Erſchütterung aller Kräfte des Himmels, 
die Erfeheinung des Meſſias einleiten, welcher fofort zum ihres 
den der Erbenbewohner mit großer Herrlichfeit in den Wolfen 
des Himmels daherfommen, und alsbald durch Engel mit Trom- 
petenfchall feine Erwählten von allen Enden der Erde zuſam⸗ 
menrufen laffen werde (DB. 29—31.). An den vorgeitannten 
Zeichen jei die Nähe ver angegebenen Kataftrophe fo fücher, 
wie an dem Ausfchlagen des Feigenbaums die Nähe des Eoms 
mers, zu erfennen; noch das gegenwärtige Zeitalter werde, bei 
allem was jicher fei, das Alles erleben, obgleich der genauere 








Erſtes Kapitel. $. 115. 327 


Termin nur Gott allein befannt fei (B. 32—36.). Wie aber 
die Menfchen feien (das Folgende haben Markus und Lukas 
theils gar nicht, theils nicht in dieſem Zuſammenhang), fo 
werden fie auch die Anfünft des Meſſias, wie einft Die der 
Sündfluth, mit leichtfinniger Eicherheit heranrüden laſſen (V. 
37—39.): und doch werde e8 ein äußerft fritifcher Zeitpunkt 
fein, der diejenigen, welche in den nächſten Verhältniffen ges 
ftanden, ganz entgegengeſetztem 2008 überantworten werde (V. 
40. 41.). Darum fei Wachfamfeit noth (DB. 42.), wie immer, 
wenn von einem entfcheidenden Erfolge ter Zeitpunkt feines 
Eintreffens unbelannt fei; was fofort durch das Bild vom 
Hausherrn und Dieb (DB. 43. 44.), vom Knechte, dem der 
verreifende: Herr :die Auflicht über das Hausweſen anvertraut 
(B. 45—51.), ferner von den Fugen und thörichten Sungfrauen 
(25, 1—13.), endlich von den Talenten (DB. 14—30.), vers 
anfchaulidt wird. Hierauf folgt eine: Befchreibung des feier- 
lichen Gerichts, welches der Meſſias über alle Bölfer halten, 
und in welchem er nach der Rüdficht, ob einer die Pflichten 
der Menfchenliebe beobachtet oder hintangeſetzt habe, Seligkeit 
oder Verdammniß zuerfennen werde (DB. 31—46.). ) 


) Vgl. über den Inhalt und Zufammenhang diefer Reden Frisfhe, in 
Matth. p. 695 ff.; de Wette, ereg. Bandb., 1, 1, ©. 197 ff,; 
Weizel, bie urdeiftlice unſterblichkeitslehre, in den theol. Studien 
und Kritifen, 1836, €. 599 ff. — In Uebereinfliimmung mit diefen 
Auslegern füge id) noch folgende Eintheilung bes Abfchnittes bei Mat: 
thaͤus bei: 

1) Vorzeichen des 7eRos. 24, 4—14, 

a) entferntere, doyn Wdirwr. 4—8. 

b) nähere, bie eigentlichen Wehen. d—14. 

2) Das eos felbft. 24, 15--25, 46. \ 

a) Deſſen Anbruh mit der Zerftörung Serufalems und der 

großen fie begleitenden Any. 15—28. 

b) Deffen Mitte und Wendepunft: die Ankunft des Meſſias, 
nebſt der Sammlung feiner Auserwaͤhlten. 29-31. (Hierauf 
Ruͤckblicke und Grmahnungen. 24, 32—25, 30.) 

c) Abſchluß des Ten; mit dem meffianifchen Gericht. 31—46. 


3728 Dritter Abfchnitt. 


In dieſen Reden kuͤndigt alfo Jeſus bald (eudtug, 24, 
28.) nach derjenigen Drangfal, in welcher wir (namentlich nach 
der Darftelung des Lufasevangeliums) die Zerftörung Jeru⸗ 
ſalems und feines Tempels erfennen müffen , und fo, daß es 
die Generation feiner Zeitgenoſſen (7 yare« avım V. 34.) noch 
erleben werde, feine fichtbare Wiederkunft in den Wolfen und 
das Ende der gegenwärtigen Zeitperiode an. Da nun bald 
‘vor 1800 Jahren. die Zerfiörung der jüdifchen Hauptſtadt er⸗ 
folgt, und ebenfolange her die Zeitgenofienfchaft Jeſu ausge⸗ 
ftorben, feine fichtbare Wiederfunft aber und das von ihm mit 
derfelden in Verbindung gefebte Weltende noch iminer. nicht 
eingetreten ift: fo fcheint infofern die Vorherverfündigung Jeſu 
eine irrige gewefen zu fein. Schon in der älteften chriftlichen 
Zeit, da die Wiederkunft Ehrifti fich länger verzog, als man 
fich gedacht hatte, ftanben, nach 2. Betr. 3,8 f., Spoͤtter mit 
der Frage auf: nö &sw n inoyyelio zig eguolas curõ rd; ap 
* yag ob nateges Exouadroov, navra Erw dtaudver ar’ 
voxns xrivews. mn neuerer Zeit ift die nachtheilige Folgerung, 
welche aus dem bezeichneten Verhältniß gegen Sefum und die 
Apoftel ſich fcheinbar ziehen läßt, von Niemand fchneidender 
ausgefprochen worden, ald von dem Wolfenbüttler Fragmentiſten. 
Keine Verheißung in der ganzen Schrift, meint er, fei auf ber 
einen Seite beftimmter vorgetragen, auf der andern offenbarer 
falfch befunden worden, als diefe, welche doch eine der Grund- 
fäulen des gefammten Chriftenthums bilde. Und zwar fieht er 
darin nicht einen bloßen Irrthum, ſondern einen abfichtlichen 
Betrug der Apoftel (denen, und nicht Jeſu felbft, er jened Ver⸗ 
- fprechen und Die es enthaltenden Reden zufchreibt), hervorge- 
gangen aus der Nothwendigfeit, die Leute, von deren Beiträgen 
fie ihren Unterhalt ziehen wollten, durch das Verfprechen einer 
nahen Belohnung anzuloden, und kennbar an der Kahlheit, 
mit welcher fie den aus dem allgulangen Berzug der Wieder: 
Tunft Chrifti erwachfenden Zweifeln, wie Paulus im 2ten 
Theftalonicherbrief durch Berftedfpielen mit dunkeln Redens⸗ 
arten, und gar Petrus in feiner zweiten Epiftel durch das 








Erſtes Kapitel. $. 115. 329, 


Ungehente einer Berufung auf die göttliche Zeitrechnung, in 


welcher 1000 Jahre — einem Tage. feien, zu entgehen fuchen.®) 

Der tödtlihen Wunde, welche man durch ſolche Folgeruns 
gen aus dem vor uns liegenden Abfchnitte dem Chriftenthum 
beibringen wollte, mußte natürlicdy die Eregefe auf jede Weiſe 
auszubengen fuchen. Und zwar näher, indem der ganze Knoten 
darin befteht, daß Jeſus mit etwas nunmehr Tängft Vergan⸗ 
genem in unmittelbaren Zeitzufammenhang etwas noch immer 
Zufünftiges zu feßen fcheint, fo waren die drei Auswege 
möglich: entweder zu läugnen, daß Iefus zum Theil auch 
von etwas jegt ſchon Vergangenem fpreche, und ihn von lauter 
noch immer Zufünftigem reden zu laflen; oder zu läugnen, 
daß ein Theil feiner Rede etwas noch jegt Zufünftiges beireffe, 
fomit die ganze Borausfagung auf etwas bereits hinter uns 
Liegendes zu beziehen; oder endlich zwar zuzugeben, daß der 
Bortrag Jeſu theild auf Solches, was uns fihon ein Vergan⸗ 


genes, theils auf Solches, was uns noch ein Zufünftiges if, 


fich begiehe, aber nun entweder zu läugnen, daß er beides in 
unmittelbare Zeitfolge geftellt, oder zu behaupten, daß er auch 
das in der Mitte Liegende berüdfichtigt habe. 

In der urchriftlihen Erwartung der Wieverkunft Chrifti 
noch Tebend, und zugleich in geregelter Gregefe nicht fo gelibt, 
um über einige Härten einer fonft erwünfchten Erklärung nicht 
hinwegſehen zu koͤnnen, bezogen einige Kirchenväter, wie Ire⸗ 
näus und Hilarius, ?) den ganzen Abfchnitt, von feinem An⸗ 
fang Math. 24. bis zu feinem Ende Kap. 25, auf die noch 


bevorſtehende Wiederkunft EChrifti zum Gericht. Allein, indem 


diefe Auslegungsweife fogleich einräumt, von vorne herein habe 
Jeſus als Typus diefer legten Kataftrophe die Zerflörung 


2) Vom Zweck Zefu und feiner Jünger, &. 184. 201 ff. 207 ff. 

5) Zener adv. haeres. 5, 25; biefer Comm. in Matth. 3. d. St. Bl. 
über die verfchiedenen Auslegungen diefes Abfchnitts das Verzeichniß bei 
Scchott, Commentarius in eos J. Chr. sermones, qui de reditu 
ejus ad judicium — agunt, p. 73 ff 


Jerufalems gebraucht: fo gibt fie damit fich ſelbſt wieder auf: 
denn was heißt jenes Zugefländniß ‘anders, als daß ber Ans 
fang. der fraglichen Reden zunäcft den Eindruck mache, wie 
wenn von ber Zerftörung Jerufalems, alfo etwas bereits Ber- 


‚ gangenem, die Rede wäre, und daß nur eine weitere Reflerion 


und Combination demfelben eine Beziehung auf etwas nor 
in der Zufunft Liegendes geben fönne? 

Der neuere Rationalismus, welchem in feinen naturaliftis 
fhen Anfängen jede Borm der Hoffnung auf die Wiederkunft 
Ehrifti zu Nichte geworden war, und weiber, um das ihm. 
Mipfällige aus der Schrift wegzubringen, jede eregetifehe Ge⸗ 
waltthat fich erlaubte, warf fich deßwegen auf die entgegen- 
gefeßte Seite, und wagte den Verſuch, die betreffenden Reden 
Jeſu in ihrem ganzen Berlaufe nur auf die Zerftörung Jeru⸗ 
falems, und was ihr zunächft voranging und folgte, zu bezie 
ben.) Dieſer Auslegung zufolge fol Das Ende, von welchem 
die Rebe ift, nur das Aufhören der jüdiſch-heidniſchen Welt: 
geftaltung ; das von der Ankunft Chrifti in den. Wolfen Ger 
fagte nur bildliche. Bezeichnung der Verbreitung und des. Siege 
feiner Lehre; die Verſammlung der Bölfer zum Gericht und 
bie Verweiſung der einen. in bie Seligfeit, der andern in bie 
Berdammniß ein Bild für die beglüdenden Folgen fein, welche 


Die Aneignung ber Lehre und Sache Jefu,. und für die Uebel, 


welche die Gleichgültigfeit over gar Feindſchaft gegen biefelbe 
mit fich führe. Allein hiebei wird ein: Abitand der Bilder. 
von den Ideen angenommen, der ſowohl an fich unerhört, als 
im Befondern bier nicht denkbar ift, wo Jeſus, zu jüudiſch 
Gebildeten redend, wiflen mußte, daß fie, was er von Ankunft 
des Meffias in den Wolfen, vom Gericht und Ende ber ges . 
gegenwärtigen Weltperiode fügte, im eigenilichſten Berftanbe 
nehmen würden. 


% Bahrdt, Ueberfegung des N. T., 1, S. 1103, ste Ausgabe; Eder: 
mann, Handbuch der Glaubenslehre, 2, S. 579. 3, &. 427. 437. 
709 ff., und Andere bei Schott, a. a. O. 








Erſtes Kapitel. $. 115. 331 


Laßt auf dieſe Weife die Rede Jeſu ihrer ganzen Länge 
nach weder auf die Zerftörung des jüdiſchen Staato, noch auf 
die Vorgänge am Ende der Dinge ſich beziehen: fo müßte fie 
auf etwas von beidem Werfchiedenes bezogen werden, wenn 
jedesmal an einem und ebendemfelben Zug jene gedoppelte Un⸗ 
möglichkeit haften würde. So aber liegt die Sache nicht; 
fondern, während auf das ferne Ende der Welt nicht bezogen 
werden fann, was Matth. 24, 2. 3. 15 ff. von Verwuͤ⸗ 
ftung des Tempels u. f. w. gefagt wird: Tann umzgefehrt 
auf die Zerftörung Jeruſalems das nicht gehen, was 25, 31 ff. 
von dem durch des Menfchen Sohn zu haltenden Gerichte ver⸗ 
fündigt iſt. Indem hienach in der Rede Jefu von vorne herein 
die Beziehung auf die Zerſtoͤrung Serufalems, nad) hinten zu 
aber die auf das Ende ver Dinge die vorwiegende ift: fo 
wird eine Theilung möglich, in der Art, daß der erfte Theil 
der Rede auf jenen näheren, der zweite auf dieſen entfernteren 
Erfolg. bezogen werden kann. Dieß iſt der von ben meifter 
neueren &regeten eingefchlagene Mittelweg, bei welchem es fich 
mm fragt, wo der Einfchnitt zu machen iſt, welcher beibe 
Theile von einander trennt. Da «8 eine Epalte fein müßte, 
in welche vorausfeglich die ganze Zeit von der Zerftörung 
Serufalems bis zum jüngften Tag, alfo muthmaßlich ein Zeit⸗ 
raum von mehreren Jahrtauſenden, hineinfiele: fo follte fer 
muß man denfen, Fenntlich bezeichnet, und folglich leicht und 
mit Lchereinftimmung zu finden fein. Es ift fein gutes Vor⸗ 
zeichen für Die Borausfegung, daß man dieſe Mebereinftimmung 
vergeblich fucht, vielmehr an den verfchiedenften Dertern ber 
Rede Jeſu jener Abſchnitt gefunden worden iſt. 

Da auf der einen Seite ſo viel entſchieden zu ſein ſchien, 
daß wenigſtens der Schluß des 25ten Kapitels, von V. 31. 
an, mit den Reden von dem feierlichen Gerichte, welches der 
Meſſias, von den Engeln umgeben, über alle Völker halten 
werde, nicht auf die Zeit der Zerftörung Serufalems bezogen 
werden Fönne: jo glaubten manche Theologen hier Die Gränge 
abfteden, und bis 25, 30, zwar die Beziehung auf das Ende 


332 Dritter Abſchuitt. 


des jüdischen Staates fefthaften zu Fönnen, von da an aber 
zum Weltgericht am Ende der Dinge übergehen zu müffen. 5 
Auffallen muß bei biefer Erklärung ſchon dieß, die große 
Kluft, welche derfelben zufolge zwifchen 25, 30. und 31. ftatts 
finden müßte, durch ein einfaches de bezeichnet zu fehen. Dann 
aber wird hiebei nicht nur das von Sonnen» und Mondes 
finfternifjen,, Erdbeben und herabfallenden Sternen Gefagte als 
bloßes Bild für den Untergang des jübifchen Staats und 
Cultus erflärt, fondern, daß 24, 31. vom Meſſias gefagt iſt, 
er werde auf den Wolfen kommen, das foll heißen: unfichtbar ; 
mit Macht, das heiße: nur Durch feine Wirkungen bemerkbar ; 
mit vieler Herrlichfeit, d. h. mit einer folchen, bie aus jenen 
Wirfengen werde erfehloflen werden Tönnen; die alle Bölfer 
zufammentrompetenden ayyeloı aber follen die predigenden 
Apoſtel fein. Bölig mit Unrecht beruft man fich für eine 
folche bloß bilbliche Bedeutung der angeführten Züge auf die 
prophetifchen Gemälde der göttlichen Gerichtstage, Jeſ. 13, 9 ff. 
24, 18 ff. Jerem. 4, 23 f. Ezech. 32, 7 fi. Joel 3, 3 fl. 
Amos 8, 9.; ferner auf Schilderungen wie Richt. 5, 20. 
4. ©. 2, 17 ff. ) In jenen Prophetenftellen ift von wirk⸗ 
lichen Sonnen» und Mondfinfternifien, Erdbeben u. dgl. die 
Rede, welche als Prodigien die verfündigte Kataftrophe begleiten 
follten; im Liede der Debora ift ebenfo von einem wirflichen 
Antheil des Himmel! am GStreite wider Siſſera die Rebe, 
welcher Antheil in der Erzählung, 4, 15., Gott felbft, bier 
im Liebe feinen himmliſchen Heerfcharen zugefchrieben ift; Petrus 
endlich erwartet, Daß, nachdem die Ausgießung des Geiftes in 


3) So Lightfoot, 3. d.&t.; Blatt, Comm. de notione vocis Pa- 
oeie rov eparav, in Belthufen’s und A. Sammlung 2, 461 ff. ; 
Jahn, Erklaͤrung der Weiffagungen Iefu von der Zerftörung Jeru⸗ 
fatems u. f. w., in Bengel’s Arhiv.2, 1, ©. 79 ff., und Andere, 
f. bei Schott, ©. 75 f. 

65 So namentlih Zahn in der angef. Abhandlung. 

9 Kern,‘ Bauptthatfachen der evang. Gefchichte, Tuͤb. Zeitſchr. 1836, 
93, ©. 180 fi. | 








_ Erſtes Kapitel. $. 116. | 383 


Erfuͤllung gegangen, denmaͤchſt nun auch die unter den Vor⸗ 
zeichen der zuiga Kuvpla verheißenen Erſcheinungen am Himmel 
“eintreffen werben. 

Fällt hiemit der Verfuch, von hinten herein gehend bei 
25, 30. abzutheilen, durch die Unfähigfeit, das weiter vorwärts 
Liegende zu erklären, in fich felbft zufammen: fo lag es nahe, 
von vorne herein zu fehen, bis wohin die Beziehung auf die 
nächfte Zukunft nothwendig feftzuhalten ſei: und da ergab ſich 
der erfte Ruhepunft hinter 24, 28.5 denn was bis dahin von 
Krieg und andrer Noth, vom Gräuel im Tempel, von der 
Nothwendigfeit fchleuniger Flucht, um beifpiellofem Elend zu 
entgehen, gejagt ift, das kann aus der Beziehung zur Zerftd« 
rung Serufalems. ohne Die größte Gewalt nicht gerifien werben: 
was aber folgt, vom rfcheinen des Menfchenfohns in den 


- 


Wolfen u. f. f., erheifcht eben fo dringend eine Beziehung auf ' 


die legten Dinge 8) Hiebei jedoch ſcheint es zuvoͤrderſt unbes 
greiflih, wie man den ungeheuren Zeitraum, welcher auch 


‚bei diefer Erklärung zwiſchen den einen und andern Theil der. 
Rede fällt, gerade zwiſchen zwei Verſe hineinlegen kann, welche 


Matthäus durch eine Partikel der kürzeſten Zeit (evIEwS) vers 
bindet. Man bat diefem Mebelftande durch die Behauptung 
abzuhelfen gefucht, daß vIEws hier nicht die fehnelle Folge 
der einen Begebenheit auf die andere, fondern nur das uners 
wartete Eintreten eines Ereigniſſes bezeichne, und alfo bier 
nur fo viel gefagt werde: plöglich einmal (unbeftimmt, wie 
fange) nad) jenen Bebrängnifien bei der Zerftörung Jeruſalems 


werde der Meſſias fichibar erfcheinen. Abgeſehen davon jedoch, 


daß eine foldhe Deutung von evsEws, wie Olshaufen richtig 
fisht, ein bloßer Nothbehelf ift, fo ift durch diefelbe nicht ein» 
mal wirflich geholfen , indem nicht allein der parallele Marfus 
V. 24. dur fein &v Exeivaug Taig nuegeug uera ımv Halıyv 
Eneivıp bie von hier an gemeldeten Erfolge in dieſelbe Zeitreibe 


8) So Storr, Opuse. acad. 3, ©. 34 ff.; Paulus, exeg. Handb., 
3, 8 ©. 346 f. 402 f. 


aA Dritter Abfchnitt. 


mit den zuvor erzählten verlegt, ſondern auch Yurz hernach 
‚übereinftimmend in. allen Berichten (Matth. V. 34 yarall.) 
die Verſicherung fich findet, alles dieß werde noch von der 
gegenwärtigen Generation erlebt werden. Da auf diefe Weife 
der Annahme, daß von DB. 29, an Alles auf die Wiederkunft 
Ehrifti zum Weltgerisht gehe, durch den 34ten Vers Vernich⸗ 
tung drohte: jo wurde nunmehr, wie ſchon der Wolfenbüttler 
Hagt, 9) das Wort yavaı gefoltert, daß es der Worausfegung 
nicht mehr entgegen fein follte. Bald mußte es die jüpifche 
Nation, !) bald die Anhängerfchaft Sefu !!) beveuten, und 
son der einen oder andern follte Jeſus fagen, fie werde, 
unbeftimmt in der wicvielten Generation, beim Eintritt jener 
Kataftrophe noch vorhanden fein. Eo den gedachten Vers zu 
erklären, daß er eine Zeitbeflimmung gar nicht enthalte, foll 


ſelbſt nothwendig fein. in Rüdficht auf den gleichfolgenden 33ten; 


da nämlich in dieſem Jeſus den Zeitpunkt jener Kataſtrophe 
zu beflimmen für unmöglich erfläre, fo Fünne er nicht unmittel- 
bar vorher eine ſolche Beftimmung gegeben haben durch die 
Berficherung, daß feine Zeitgenoffen noch Alfes erleben würden. ' 
Indeß Diefe angeblihe Nöthigung, Das yerca fo zu deuten, 
ift Längft aus dem Wege gefchafft durch die Unterſcheidung 
zwifchen der ungefähren Bezeichnung des Zeitraums, über ben 
das fragliche Ereigniß nicht hinausfallen werde (yercc), welche 
Jeſus gibt, und der genauen Beilimmung des Zeitpunfts 
(nusga, ol wege), in welchem es eintreten werde, die er: nicht 
geben zu fönnen verfichert. 'Y Doc felbt die Möglichkeit, 
ysvea auf eine der angegebenen Arten zu deuten, verfehwindet, 
wenn man erwägt, daß in Berbindung mit einem Berbum 
der Zeit und ohne fonftige Beftimmung yeare« unmöglidy eine , 
andre als feine urfprüngliche Bedeutung : Generation, Zeits 
alter, haben kann; daß in einen Zufammenhang, welcher die 


9) A. a. O. S. 188. | 
10) Storr, a. a. D. ©. 39. 116 ff. 
1) Paulus 3. d. St. 

12) ©. Kuinoͤl, in Matth. ©, 649. 











Erſtes Kapitel. 8. 115. :335 


Aufunft des Meſſias durch Zeichen zu beſtimmen ſucht, 

Ausfpruch übel paffen würde, der, ftatt über den Eintritt 
jener Kataftrophe etwas auszufagen, vielmehr von der Dauer 
des juͤdiſchen Volks oder der chriftlichen Gemeinde handelte, 
von welcher gar nicht die Rebe war; daß auch ſchon V. 33 in 
dem vVueis örw löntTe nevre Tavra, ywuoxere x. T. 1. 
vorausgefeßt ift, die Angeredeten würden bie Annäherung des 


fraglichen Ereigniſſes noch erleben; endlich daß an einer andern 


Stelle (Matth. 16, 28. parall.) die Verſicherung, die ‚Ankunft 
des Menſchenſohns noch zu erleben, ſtatt von der yarsa euren 
geradezu von Tıoi zw ads tccoron gegeben wird, wodurch 
aufs Entjcheidenpfte dargethan ift, daß Jeſus auch an ımferer 
Stelfe unter jenem Ausdrude das Gefchlecht feiner Zeitgenoffen 
verftanden hat, welches noch nicht ausgeftorben fein follte, big 


jene Kataftrophe eintreten. würde. 19) Dieß abzuläugnen außer ' 


Stande, und doch das hier angefündigte Weltende und die 
Zeit Jeſu möglich auseinanderzurüden bemüht, wollen Andere 
in dem fraglichen Ausfpruche nur fo viel finden, daß noch im 
damaligen Zeitalter die bis daher .befchriebenen Erfolge an: 
fangen werben in Erfüllung zu gehen; deren vollftänbige 
Erfüllung darum doch noch viele Sahrhunderte zögern fönne. 19) 


3) Vgl. den Wolfenbüttler Fragmentiſten, a. a. O. S. 190 ff. Schott, 
a. a. O. ©. 127 ff. 

N) Kern, a. a. O. S. 141 f. Daß zwifden dem Zeitpunkte, in wel⸗ 
chem er ſprach, und dem Weltende Jeſus einen ungleich laͤngeren Zeit⸗ 


raum als den bis zu der Zerſtoͤrung Jeruſalems mitten inne liegend ſich 


gedacht habe, glaubt Kern auf dem kuͤrzeſten Wege aus V. 14. un: 
ſeres 24ſten Kapitels bei Matthäus bemweifen zu koͤnnen, wo Jeſus 
ſagt: xœùs iꝙ ugdyuerau rũro To &vayyelıov TuS Paoıkeia; ev 6A Tu 
olzRuEvn &ig Aaorugor nam Tois EIrem, xaL Tore ns To Telos — zu 
einer ſolchen Ausbreitung bes Chriftenthums fei doch „unmwiderfpred;lich« 
eine ungleid) längere Beit, als jene’ paar Jahrzehente, erforderlich. 


Zum Glücke widerſprechen die Apoftel -felbit, wenn fienod vor der Zerſtoͤ⸗ 


rung Serufalems das Evangelium als bereits in jenem Umfange verbreitet 
darftellen. 3. B. Kol. 1, 5: TA evayyelin, (6) Ta nacorros 2 
navi To 20a un — (23) — TE myougIerros r dan 7 zılosı 7) Uno 
tor Soarov, Vgl. Röm. 10, 13. . oo 





336 Dritter Abſchnitt. 


Allein wenn ſchon B. 8. vom Anfang ber Dranglaleyeriode 
die Rede geweſen, von V. 14. aber das durch ſie eingeleitete 
Ende der gegenwaͤrtigen Weltzeit beſchrieben worden war, und 
es heißt nun, das gegenwaͤrtige Geſchlecht werde nicht voruͤber⸗ 
gehen, Zus © nwra Teise yerııa: fo koönnen darunter 
unmoͤglich bloß jene Anfänge, fondern müflen die zulegt be- 
fprochenen Momente des Weltendes felbft verftanden fein. 

Findet fich demnach) noch B. 34 etwas, das auf ein dem 
Zeitalter Jeſu fehr nahes Creigniß zu beziehen ift: fo kann 
nicht fchon von V. 29. an die Rede Jeſu auf das entfernte 
- Ende der Welt gehen, fondern man. muß den Einfchnitt noch 
etwas weiter hinaus, etwa nah DB. 35. oder 42., ſetzen. !5) 
Allein hiebei behält man dann Ausſprüche im Rüden, welche 
der Deutung auf die Zeit von Jeruſalems Zerftörung, die man 
dem Abfchnitt bis zu den bezeichneten Verſen geben will, wider- 
fireben; man muß in den Reden von dem herrlichen Kommen 
Ehrifti auf den Wolfen und dem Berfammeln aller Völker durch 
Engel (®. 30 f.) diefelben ungeheuren Tropen finden, an wel- 
chen, wie wir oben gefehen haben, eine andere Abtheilung ges 
feheitert if. 

Hat auf diefe Weife der Ausfpruch V. 34., welcher, fammt 
der vorangehenden Bilderrede vom Feigenbaum (B. 32 f.). und 
der angehängten Bekräftigung (V. 35.), auf ein fehr nahes 
Greigniß fich beziehen muß, fowohl ohnehin vorwärts Reden, 
welche nur auf die ferne Kataftrophe gehen fünnen, ald auch 
rüdwärts bereits eben folche: ſo feheint er in dem Gonterte der 
übrigen Rede als Dafe. von eigenthümlichem Sinn mitten inne 
zu — So nimmt Schott an, nachdem Jeſus bis V. 26. 
von ber Zerftörung Serufalems gefprochen, fei er zwar B. 27. , 
auf die Ereigniffe am Ende der jegigen Weltperiode überge- 
gangen, V. 32. aber fomme er auf das die Zerftörung Jeru⸗ 
ſalems Betreffende zurüd, und fahre erfi V. 36. wieder über 


15) Jenes Suͤrkind, vermifchte Auffäge, ©. 90 K; biefes Kuinoͤl, 
in Matth. p. 653 ff. 





Erftes Kapitel. $. 115. 337 


das Weltende zu forechen fort. ') Allein das heißt in der 
Verzweiflung den Text zerhacken; denn fo unorbentlich und 
foringend fann Jeſus, noch dazu ohne in der Aneinanderrei- 
hung der Säge eine Andeutung zu geben, unmöglich gefprochen 
haben. 

Das fol er auch nicht, meint die neuere Kritif, fondern 
auf Rechnung der Referenten fol es kommen, verfchievene, 
nicht zufammengehörige Ausfprüche Jeſu nicht in der beften 
Ordnung aneinanbergefügt zu haben. Matthäus freilich, räumt” 
Schulz ein, ftelle fi dieſe Reden als in Einem Zuge ge: 
fprochen vor, und nur Willfür oder Gewalt koͤnne fie in 
diefer Hinſicht auseinanderreißen: fehwerlich aber habe Jeſus 
felbft fie in diefem Zufammenhang und mit Biefem Totalgepräge 
vorgetragen. I) Die verfchiebenen Momente feiner Zukunft, 
meint Sieffert, feine unfichtbare Paruſte zur Zerftörung 
Serufalems, und feine eigentlidye am Ende der Dinge, möge 

Jeſus zwar nicht ausbrüdlich gefondert haben, doch habe er 
fie ficher auch nicht pofitiv verbunden; fondern, was er ftill- 
fehweigend aneinanderreihte, das fei den Evangefiften ber 
Dunkelheit des Gegenftandes wegen in einander verfloffen. 1% 
Und indem bier zwifchen Matthäus und Lufas die Differenz 
wieberfehrt, daß, was Matthäus in Einem Zufammenhanged 
geiprochen fein läßt, bei Lukas an verfchiedene Stellen vertheilt 
ift, wozu noch fommt, daß er manches von Matthäus Mitges 
theilte theil8 gar nicht, theils anders gibt: fo glaubte fich 
Schleiermacher !% berechtigt, die Compofttion des Matthaͤus 


i6) S. deffen Commentarius , 5 d. Si. . 

17) Ueber das Abendmahl, ©. 315 f. 

18) ueber den Urfprung des eiften kanon. Evangel. 6. 119 fie Aehnlich 
Weiße, a. a. O. 

19) ueber den Lukas, ©. 215 ff: 265 ff. Ihm ſchließt ſich auch hier 
Neander an, ©. 562. 


1. Ban. 23 





338 Dritter Abſchnitt. 


geradezu aus Lukas zu rectifieiren, und zu behaupten, wäh» 
rend bei Lufas die zwei getrennten Reden, 17, 22 ff. und 21, 
5 ff., jede ihren guten Zufammenhang und ihre ungweifelhafte 
Beziehung haben, fei bei Matthäus (Kap. 24. und 25.) durch 
Bermengung jener beiden Vorträge und Hinzufügung ander- 
weitiger Redeftüde fowohl der Zufammenhang verdorben, als 
die Beziehung verbunfelt worden. Soll nun aber in der Rede 
Luce. 21. für fich genommen nichts fein, was über die Bezie- 
“hung auf die Einnahme Jerufalems und das damit Zufammens 
hängende hinausginge: fo findet fich doch auch hier (V. 27.) 
das Tore Öyorraı Tov viov TE WIQWmE £0404Ev0V Ev vepäln, 
und wenn dieß Schleiermader ald bloßes Bild für bie 
zu Tage kommende religiöfe Bedeutung der zunorbefchriebenen 
politifchen und Naturbegebenheiten erflärt: fo ift dieß eine 
Gewaltfamfeit, an welcher feine ganze Anfickt von dem Ber: 
hältniß der beiden Berichte fcheitert. Wenn auf diefe Weife 
in der Verfnüpfung des Endes aller Dinge mit der Zerftörung 





des Tempels zu Jerufalem Matthäus Feineswegs allein ſteht, 


fondern Lukas fie gleichfalls macht, und ohnehin Markus, ver 
in diefem Abfchnitt einen Auszug aus Matthäus gibt: fo 
mag zwar vielleicht auch in Diefer Rede Jeſu, wie in andern, 
die fie mittheilen, Manches zu verfchiedenen Zeiten Gefprochene 
zufammengeftellt fein; aber zu der Annahme hat man fein 
Recht, daß gerade das auf jene beiden nach unferer Vorſtel⸗ 
lung fo weit auseinanderliegenden Begebenheiten fich Beziehende 
das Nichtzufammengehörige fei, zumal wir aus der übereins 
ftimmenden Darftelung der übrigen N. T. lichen Schriften 
erfehen , daß die erfte Gemeinde die Wiederfunft Ehrifti fammt 
dem Ende der gegenwärtigen Weltperiode ald nahe bevorftehend 
erwartete (. 1 Kor. 10, 11. 15, 51. Phil. 4,5. 1 Theſſ. 
4,15 ff. Jac. 5,8. 1 Betr: 4, 7. 1%05. 2, 18. Offenb. 
1, 1. 3. 3,11. 22,7. 10.12.20). 

Laͤßt ſich demnach dem Anerfenntniß nicht ausweichen, daß 
Sefus in feiner Rede, wenn wir fie nicht felbftbeliebig jerreißen, 
zu Anfang von der Zeritörung Jerufalems, weiterhin und bie 








Erſtes Kapitel. $. 115, 880 
zum Schluffe von feiner Wieberfunft am Ende aller Dinge 
rede, und daß er beides in Unmittelbaren Zeitzufammenhang 
ſetze: fo bieibt, um feine Berfündigung aufrecht zu erhalten, 
nur noch die Eine Auskunft, fein Kommen, von dem er ſpricht, 
zwar einerfeiß in der Zukunft zu belafien, es aber andrerfeits 
zugleich in die Gegenwart herüberzuziehenz; es aus einem bloß 
‚fünftigen zum immerwährenden zu machen. Die ganze Welt 
gefchichte , fagt man hienach , feit der erften Erfcheinung Chriſti, 
ift ein unfichtbares Wieberfommen befielben, ein geiftiges Ge⸗ 
richt, das er über die Menfchheit hält. Davon ift die Zer- 
ftörung Jeruſalems (in unferer Stelle bis V. 28.) nur der erfte 
Act; in unmittelbarer Folge (edIEws, B. 29 ff.) ſchließt fich 
hieran die durch Die Verkündigung des Evangeliums in der 
Menfchheit bewirkte Umgeftaltung, welche in einer Reihe von 
Acten und Epochen hinabläuft bis an's Ende der Dinge, wo 
das in der Weltgefchichte nach und nach vollzogene Gericht fich 
in Einer Alles umfafjenden, abfrhließenden Offenbarung fund 
geben wird. 2%) Allein. das berühmte Dichterwort, aus dem 
Mittelpunfte des modernen Bewußtſeins heraus gefprochen, 
eignet fich fehlecht zum Schlüffel einer Rede, welche mehr als 
irgend eine andere in dem Standpunkte der alten Welt ihre 
Wurzel hat. Das Weltgericht, das Kommen Chrifti, ald etwas 
Succeſſives zu betrachten , ift der fchärffte Gegenfäg gegen bie 
Vorftellungswelfe des N. T. Schon die Ausbrüde, mit wel- 
ben e8 jene Kataftrophe bezeichnet, wie &xeivn ober &ayarn 
vutoo, zeigen, daß fie ald momentane zu benfen ift; Die aw- 
releıw TE alorog, nach deren Zeichen die Jünger (®. 3.) fra- 
gen, und welche Jeſus anderswo (Matth. 13, 39.) unter dem 
- Bilde der Ernte darftelt, kann nur der endliche Abſchluß des 
Weltverlaufs, nicht etwas fein, das fich während biefes 
Verlaufes allmählig verwirklicht; wenn Jeſus feine Paruſie 


w) Ol shaufen, bibl. Comm. 1, ©. 8655 Kern, a. d. D. S. 138 ff. 
Bol. Steubdel, Glaubenslehre, S. 479 ff. | 
22 * 


340 Dritter Abfchnitt. 


‚mit einem Blitze (24, 97), ihr Hereinbrechen mit dem des 
Diebs in der Nacht vergleicht (V. 43.): ſo will er fie dadurch 
als Ein ploͤtzlich eintretendes Ereigniß, und nicht als eine 
Reihe von ſolchen, bezeichnen. 7) Nimmt man dazu noch die 
. unerbörten Tropen, zu welchen man bei diefer Auslegung nicht 
minder, als bei der oben erwähnten Deutung des 24ten Ka- 
pitel8 auf den Untergang des Judenthums, ſich genöthigt findet : ?%) 
fo wird man auch von diefer Auskunft, wie von allen bis- 
herigen, wieder abftehen müſſen. 

Iſt hiemit der legte Verſuch gefcheitert, die große Kluft, 
welche auf unferem heutigen Standpunfte zwifchen der Zerftö- 
rung Serufalems und dem Ende aller Dinge befeftigt ift, auch 
in die vorliegenden Reden hineinzubringen: fo find. wir that« 
fächlich belehrt, daß jene Trennung eben nur unfere Vorftellung 
ift, .die wir in die Darftellung des Textes nicht hineintragen 
dürfen. Und wenn wir erwägen, daß wir die Vorftellung 
von jener Kluft nur der Erfahrung der vielen Jahrhunderte 
verdanfen, welche feit der Zerftörung Serufalems verfloften find: 
fo muß e8 uns leicht werben, uns zu denken, wie der Urheber 


21) Bol. befonderd Weizel, bie Zeit des jüngften Tages u. f. f. in den 
Studien der evang. Geiftlichkeit Würtembergs, 9, 2, ©. 140 ff. 154 ff. 

2) Rach Kern bezeichnet das yarıoeraı onueiov TE vis T. a. Ev agavın „daß 
Sichtbarwerben alles desjenigen, was epochemachend in der Entwidelung 
ber Gefchichte dee Menfchheit fo hervortritt, daß fich daraus das Wir: 
Een des in der Gefchichte der Menfchheit waltenden Chriftus fo anſchau⸗ 
lich erkennen läßt, wie wenn man bas Zeichen Ghrifti am Himmel 
fhaute,; das xal Tore xoworraı näoaı ai yudar zus yis ift zu verftehen 
von dem fehmerzlihen Ergriffenfein der Menſchen durch die mit der Ver⸗ 
breitung bed Reichs Chriſti verbundene xeios, als Ausfloßung bes Un ' 
göttlichen aus der Welt und Ertöbtung bed alten Menſchen.“ Noch 
weiter läßt fih vom allegoriftifhen Zaumel Weiße fortreißen: Chriftus 
„beilagt die Schwangeren und Säugenben, db. h. die, welche noch inners 
halb der alten Ordnung fchaffen und erzeugen wollen, er beklagt ferner 
die, deren Flucht in den Winter fällt, d. h. in eine rauhe, unwirth⸗ 
bare Zeit, die keine Krächte für den Geiſt trägt.” (Die evang. Geſchichte, 
2, ©. 592). 








Erſtes Kapitel. $. 116. 341 


diefer Reden, welcher diefe Erfahrung noch nicht Hinter ſich 
hatte, die Vorftelung hegen fonnte, daß bald nach dem Falle 
des jüdifchen Heiligthums, nach jübifcher Vorftelung des Mittels 
punfts der jegigen Welt, es auch mit dieſer felbft ein Ende 
nehmen, und der Meſſias zum Gericht erfcheinen werde. 


$. 116. 


Urfprung bee Reben über bie Parufie. 


Sn dem zulegt gefundenen Ergebniß über bie unferer Bes - 
trachtung vorliegenden Reden ift nun aber etwas enthalten, 
welches zu vermeiden alle bisher beurtheilten falfchen Erflärungs- 
verfuche gemacht worben find. Hat nämlich Jeſus fich vor: 
geftelt und ausgefprochen, daß bald nad) dem Kalle des jüdiſchen 
Heiligthums feine fichtbare Wiederfunft und das Ende der Welt 
erfolgen werde; während nun feit jener erften Kataftrophe faft 
1800 Jahre hingegangen find, ohne daß die andere eingetreten 
wäre: fo hat er in diefem Stüde geirrt; und wer nun aud 
dem eregetifchen Augenfcheine fo viel nachgibt, um in jenem 
Ergebniß über den Sinn der vorliegenden Reden mit ung übers 
einzuftimmen, der fucht doch aus dogmatifchen Rüdfichten diefer 
Tolgerung aus demfelben auszuweichen. 


Befanntli hat Hengftenberg in Bezug auf die Geſchichte 
der hebräifchen Propheten die Borftellungsweife aufgebracht, 
welche auch bei Andern Beifall gefunden, es haben fich dem 
geiftigen Schauen dieſer Männer die zufünftigen Dinge nicht 
fowohl in dem Medium der Zeit, als vielmehr des Raumes, 
gleihfam als große Tableaur, dargeboten; wobei, wie dieß 
bei Gemälden oder Fernfichten der Fall ift, das Entferntefte 
oft unmittelbar hinter dem Nächften zu ftehen gefchienen, Vorder⸗ 
und Hintergrund fich miteinander vermengt haben: und dieſe 
Theorie von einem perfpectivifchen Schauen fol nun auch auf 
Jeſum, namentlich in Betreff der vorliegenden Reben, ihre 





342 | Dritter Abſchnitt. 


Anwendung finden. ) Allein, was Paulus ſchlagend bemerkt 
hat, ) wie derjenige, welcher in einer aͤußerlich gegebenen 
Berfpective die Entfernungen nieht zu unterfrheiden weiß, fich 
in einer optifchen Täufchung befindet, d. h. irrt: ebenfp wird 
bei einer innerlichen Perfpective von Vorftellungen, wenn es 
fo etwas gibt, das Ueberſehen der Diftanzen ein Sırthum ges 
nannt werden müflen; und es zeigt fomit dieſe Theorie night, 
daß jene Männer nicht geirrt haben, ſondern erklaͤrt pielmehr 
nur, wie fie leicht irren Fonnten. 

Auch Dlshaufen hält Daher dieſe, von ihm funft adoptirte 
Betrachtungsweiſe night für zureichend, in gegenwärtigem Fall 
allen Schein des Irrthums von Jeſu zu entfernen, und ſucht 
deßwegen aus der eigenthümlichen Natur der Thatfache, von deren 
Borausfage es fich handelt, norh befondere Rephtfertigungsgründe 
abzuleiten. I_ Für's Erfte fol es zur ethifchen Bedeutfamfeit 
der Lchre von Chrifti Wiederfunft gehören, daß dieſe jeden 
Augenblid für möglich, ja wahrfcheinlich, gehalten werde. 
Allein hiedurch find bloß Aeußerungen, wie Matth. 24, 37 ff., 
gerechtfertigt, wo Jeſus zur Wachfamfeit ermahnt, weil Nie 
mand wiffen fönne, wie bald der entfcheidende Augenblid komme; 
feineswegs aber foldhe, wie 24, 34, wo er verfichert, noch 
por Ablauf eines Menfchenalters werde Alles in Erfüllung 
gehen; denn das Mögliche denkt fir), wer eine richtige Vor: 
ftelung hat, eben als möglich, das Wahrfcheinliche als wahr: 
fcheinlich, und wenn er bei der Wahrheit bleiben will, ftelt 
er e8 eben fo dar: wer hingegen das nur Mögliche oder Wahr 
Scheinliche als Wirkliches fich vorftellt, der irrt, und wer es, 
ohne es felbft fo vorzuftellen, doch um eines religisfen over 
moralifchen Zweckes willen dafür ausgibt, der hat fich gine pia 


fraus erlaubt, Weiter macht Olshauſen das fehon oben 


4) Hengftenberg, Chriftologie des A. £., 1, a, ©. 305 ff. 


2) Ereg. Handb., 3, a, ©. 403. VBgl. auch Kern, Hauptthatſachen, 


a. a. D. ©. 137. 
8) Bibl. Comm. 1, ©. 866 ff. 











Erſtes Kapitel. $.116. 343 


Erwäßnte geltend, die Anficht, daß die Zukunft Chriſti bevor⸗ 
ſtehe, habe ihre Wahrheit darin, daß wirklich die ganze Welt 
gefchichte ein Kommen Chrifti fei, ohne daß jedoch hiedurch 
fein abfchließendes Kommen am Ende der Dinge ausgefchloffen 
wäre, Allein, wenn Jeſus als nächſtbevorſtehend bewiefeners 
maßen fein eigentliches, abfchließendes Kommen darftellt, in Wahr- 
heit aber nur fein uneigentliches, fortwährendes Kommen auch 
in, der nächften Zeit ſchon eingetreten ift: fo hat er dieſe beiden 
Arten feines Kommens verwechfelt. Das Lebte, was Olshaus 
fen anführt: weil die Befchleunigung oder Verzögerung der 
Wiederfunft Chrifti von dem Benehmen der Menfchen, 
alfo von der Freiheit, abhänge, fo fei feine Weiffagung nur 
“ bedingt zu verftehen, fteht und fällt mit dem Erften; denn 
etwas Bedingtes als unbebingt darftellen, heißt eine irrige 
Vorftellung verbreiten. 

In ähnlicher Weife Hält auch Sieffert die Gründe, 
durch welche DIshaufen die Beflimmungen Jeſu über feine 
MWiederfunft dem Gebiete des Irrthums zu entnehmen fucht, für 
ungenügend; dennoch aber meint er, dem chriftlichen Bewußts 
fein fei es unmöglich, Jeſu eine getäufchte Erwartung zuzu⸗ 
fehreiben. 9 In feinem Falle würde dieß berechtigen, in der 
Rede Jeſu diejenigen Elemente, welche auf den näheren, und 
welche auf den nach unferer Einficht .entfernteren Erfolg fich 
beziehen, willfürlich von einander zu feheiden: fondern, wenn 
wir Gründe hätten, einen ſolchen Irrthum von Seiten Jeſu für 
undenkbar zu halten, fo würden wir überhaupt die Reden von 
der Barufte, in welchen: jene beiden Beftandtheile jo untrennbar 
in einander verflochten find, ihm abfprechen müſſen. Indeß, 
vom orthodoren Standpunfe betrachtet, fragte man nicht zuerft, 
was einem heutigen chriftlichen Bewußtfein beliebe, von Chriſto 
anzunehmen oder nicht, fondern, was von Chrifto gefchrieben 
ftehe, ift die Stage, worein fi) dann das Bewußtfein wird 
zu ſchicken ſuchen müffen, fo gut es geht; rational die Sache 


%) Ueber den Urfprung u. f. f. S. 119. Aehnlich Weiße, a. O. 


344 Dritter Abfdmitt. 
angefehen aber hat ein folches auf Vorausfegungen ruhenbes 
Gefühl, wie das fog. chriftliche Bewußtſein ift, in wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Verhandlungen keine Stimme, und iſt, ſo oft es 
ſich in ſolche miſchen will, durch ein einfaches: mulier taceat 
in ecclesia! zur Ordnung zu weifen, 9) 

Fragt es fi) nun, ob wir vielleicht andere Gründe haben, 
die Weiffagungen Matth. 24, 25. parall. Jeſu abzufprechen, 
fo können wir unfere Unterſuchung an die Behauptung fupra- 
naturaliftifcher Theologen anknüpfen, was Jeſus hier vorauss 
füge, habe er nicht auf dem natürlichen Wege verftändiger 
Berechnung, fondern nur auf übernatürliche Weife vorherwiffen 
fönnen. ©) Schon das Allgemeine, daß der Tempel zerftört, 
und Serufalem verwüftet werben würbe, konnte nach biefer 
Anficht nicht fo ficher vorausgewußt werben. Wer hätte ver⸗ 
muthen fönnen, fragt man, daß die Juben fo weit in ihrer 
Raferei gehen würden, daß jener Ausgang herbeigeführt werden 
mußte? wer Fonnte berechnen, daß gerade folche Kaifer folche 
Procuratoren fehiden würden, welche durch Riederträchtigfeit 
und Schwäche zur Empörung reisten? Noch auffallender ift 
dann, daß. manche einzelne Züge, Die Jeſus vorherfagte, wirk⸗ 
lich eingetroffen find. Die Kriege, Seuchen, Erobeben, Hun- 
gerönöthe, welche er prophezeihte, laſſen fich in der folgenden 
Gefchichte wirklich nachweifen ; die Verfolgungen feiner Anhänger 
find ohnehin eingetreten; die Borausfagung von falfchen Pro⸗ 
pheten, und zwar namentlich von folchen,, die Durch Verfprechen 
von Wunderzeihen das Volk in die Wuüͤſte Ioden würden 
(Matth. 24, 11. 24 ff. parall.), läßt fich mit einer auffallend 
ähnlichen Stelle aus Joſephus Schilderung der lebten Zeiten 
des jüdiſchen Staats vergleichen; 7) bie xuxdsuem UTTO SORTO- 


6) Vgl. auch meine Streitfchriften, 1, 1, Schluß. 

6, ©. z. B. Gratz, Comm. zum Matth. 2, 444 ff. 

) Antiq. 20, 8, 6 (vgl. bell. jud. 2, 13, 4.): Oi ds yore; xal ana- 
Teuves ayIgunoı Tor öydov Eneıdov aurois sis vv konplav Ineoden. Ae- 








Erſtes Kapitel. $. 116. 8345 


sıedum Iepsoairu bei Lufas, womit der xapa& zu vergleichen 
ift, welcher nach Luc. 19, 43 f. um Serufalem gezogen wer⸗ 
den follte, fann in dem Umſtande wiedergefunden werden, daß 
nach Joſephus Zeugniß Titus Zerufalem durch eine Mauer 
einfchließen ließ; 9 fo wie -endlich auch das auffallen kann, 
daß die Angaben: 3x ayesrjoeras Aldos Ersl Aid in Bezug 
auf.den Tempel, und &degpısoi oe (Luc. 19, 44.) in Bezug 
auf die Stadt, in wörtliche Erfüllung gegangen find. 9 
Wenn nun aus der Unmöglichfeit,- vergleichen in natürs 
licher. Weife vorauszufehen, auf orthodorem Stanbpunft eine 
übernatürliche Einficht Jeſu gefolgert wird: fo unterliegt bie 
Annahme einer folhen aud hier der gleichen Echwierigfeit, 
wie oben bei ben VBorherverfündigungen des Todes und der 
Auferftehung, und noch einer weiteren dazu. YFür’s Erſte 
nämlich hat nach Matthäus (24, 15.) und Markus (13, 14.) 
Jeſus das Eintreten der Kataftrophe an die Erfüllung ber 
Danielifchen Weiffagung von einem Pdelyyue zig Epruwoewg 
geknüpft, folglih Dan. 9, 27, (vgl. 11, 31. 12, 11.) auf ein 
Ereigniß bei der Zerftörung Serufalems durch die Römer bezogen. 
Denn was Baulus behauptet, Sefus habe bier nur einen 
Ausdruck von Daniel entlehnt, ohne jenen Ausfpruch des Pros 
‚pheten als Weiffagung auf etwas zu feiner Zeit noch Künftiges 
zu betrachten, das wird hier befonders durch den Zufab: 0 
avayıvworıy voeirw, undenkbar. Nun aber darf es auf dem 
jegigen Standpunkte der A.T.lichen Kritif und Eregefe ald ent⸗ 
ſchieden angefehen werden, daß die angezeigten Stellen im Da⸗ 
niel auf die Entweihung des SHeiligthums unter Antiochus 


Eeıv yap Eyacay Evapyız Tioata xal omutie, xare Tv TE Sea Nooroev 
yevoueva. Kar nollor newdevres Ts aygoovvıs Tuumglas Uneoyor ar- 
aysEvras yap auris bulk Exolacev. 

8) Bell. jud. 5, 12, 1. 2. 

9) Weitere Zufammenjtellungen ber von Joſephus u. X. gemeldeten 
Erfolge mit der Weiffagung f. bei Gredner, Einleit. in das N. T., 
1, ©. 207. 





sa6 Dritter Abſchnitt. 


Epiphanes fich beziehen, 9 alfo die Deutung derſelben, welche 
die Evangeliften hier Jefu leihen, eine falſche iſt. Ferner aber, 
was dieſer Weiffagung eigenthümlich ift, ſie ift nur nach ihrer 
Einen, Serufalem betreffenden, Seite eingetroffen; nach der 
andern aber, die fich auf die Wiederkunft Jeſu und das Welts 
ende bezog, unerfüllt geblieben. Eine folche halbwahre Weifs 
fagung nun aber kann Jeſu nicht aus feiner höheren Natur 
gekommen, fondern er müßte hierin feiner menfchlichen Geiftes- 
fraft überlafien gewefen fein. Doch eben, wie er mittelft diefer 
im Stande gewefen fein follte, einen von fo vielen Zufällig: 
feiten abhängigen Erfolg, wie die Zerftörung Jerufalems, mit 
feinen Einzelheiten vorauszufehen, ſcheint unbegreiflich, und man 
wird von bier aus auf die Vermuthung geführt, daß dieſe 
Reden in der Beftimmtheit, wie wir fie bier lefen, nicht vor 
dem Erfolge, mithin nicht von Iefu, gefprochen, fondern nach 
dem Erfolg ihm als Weiffagung in den Mund gelegt warden 
fein mögen. Eo nimmt 3. B. Kaifer an, Jeſus habe nur 
bedingt, für ven Ball, daß die Nation fich nicht durch ven 
Meſſias retten ließe, dem Tempel und der Stadt ein frhred- 
liches Schicffal durch die Römer gedroht, und dieß in prophes 
tifchen Bildern befchrieben, die unbedingte Haltung aber und 
die genaueren Beftimmungen feien feiner Rede erft post eventum 
gegeben worden, und auch Credner fchließt aus dem Umftande, 
daß Vorfälle während der Zerftörung Serufalemd Jeſu als 
Reiffagungen in den Mund gelegt werden, bie drei erften Evans 
gelien können nicht vor diefem Ereigniffe verfaßt fein. ') Nur 
freilich müßte die Weiffagung, wie wir fie in den beiden erften 
Evangelien lefen, unmittelbar nach, oder felbft während. des 
Erfolges gebildet worden fein, da hier für die nächfte Zeit 


— 





0) Bertholdt, Daniel überfest und erklaͤrt, 2, ©. 668 ff.; Pau⸗ 
lud, exeg. Handb. 3. a, ©. 340 f.; de Wette, Einleitung in das 
aR.8% 254 ff. 

) Kaifer, bibl. Theol. 1, ©. 247; ua Einl. in das N. 3 
1, ©. 206 r 








Erſtes Rapitel. 6. 116. 847 


nach dem Falle Serufalems die Erfcheinung des Meſſias vorhers 
gefagt wird, was in fpäteren Jahren nicht mehr die Erwartung 
fein konnte. Da dieſe unmittelbare Zeitverbindung der beiden 
Kataftrophen bei Lukas fich nicht fo ausdrüdlich findet, fo hat 
man von ihm angenommen, er gebe die Weiffagung in ber 
Form, wie fie ſich durch die Erfahrung umgebildet habe, daß 
nach der Zerftörung Serufalems keineswegs fofort Parufie und 


Weltende gefolgt waren. 2) 


Im Gegenſatze gegen dieſe beiden Anfichten , von einer 
übernatürlichen, und einer erft nach dem Erfolge gemachten 
MWeiffagung, furht man von einer dritter Seite her die Mög- 
lichfeit darzuthun, daß, was hier vorausgefagt wird, wirklich 
ſchon Jeſus natürlicher Weife habe wiſſen können, 7) — Wenn 
man vor Allem das befremdlich gefunden hat, daß mit einzels 
nen Zügen der Weiffagung Jeſu der Erfolg fo genau zufammens 
getroffen fein fol; fo wird eben biefes Zufammentreffen in 
Anfpruch genommen. Das Serufalem prophezeihte xurAsodes 
uno soarorsidww werde von Titus bei Jofephus gerade als 
unausführbar bezeichnet; #9) wenn das Aufwerfen eined xapc 
um die Stadt vorausgefagt werde, fo melde Joſephus, daß, 
nachdem der erfte Verfuc, eines gu durch Brandftiftung von 
Seiten der Belagerten vereitelt worden, Titus vom Aufiwerfen 
weiterer Waͤlle abgeftanden fei; 7) von falfchen Meffinfen, 
die in der Zeit von Jeſu Tod bis zur Zerftörung Serufalems 
aufgeftanden wären, melde die Gefrhichte nichts; die Völker⸗ 
bewegungen und Naturerfrheinungen in jener Periode feien bei 
Weitem nicht fo bedeutend gewefen, wie fie hier gefchildert 
werden; namentlich aber fei in dieſen Reden, nach ihrer Geftalt 


1) de Wette, Einl. in das N. 2. $. 97. 101. Greg. Handb. 1,1, 
©. 204. 1, 2, ©. 103, 

135) Paulus, Fritzſche, de Wette z. d. Abſch. 

12) B. j. 6, 12, 1:Xuxluocoſct Te yag TH sparıa vw molır, dus To uryedos 
„ur Öusywplav ax euwapt; eivan ic opalsoov Aids me Tas Enıdeoeg. 

35) Bj. 5, 11, 1 ff, 12, 1. 





ss Dritter Abſchuitt. 


bei Matthäus und Markus, Feine Zerftörung Serufalems, 
fondern nur des Tempels vorhergefagt: lauter Abweichungen der 
Weiffagung vom Erfolge, welche nicht ftattfinden würden, 
wenn entweder ein übernatürlicher Blick in die Zukunft, oder 
ein vaticinium post eventum im Epiele wäre. 

Nicht vorwärts, im Erfolge, dürfen daher nach jenen 
Theologen die Gegenbilder diefer Weiffagungen aufgefucht wers 
den: fondern rüdwärts, auf Vorbilder der Vergangenheit, fol 
der Urheber derfelben gefehen haben. Eine Maſſe ſolcher Vor⸗ 
bilder lieferte die jüdische Vorftelung von den Umſtaͤnden, welche 
der Anfunft des Meſſias vorausgehen follten. Falſche Propheten 
und Meffiafe, Krieg, Theurung und Eeuchen, Erpbeben und 
Bewegungen am Himmel, überhandnehmende Sittenlofigfeit, 
- Berfolgungen der gläubigen Jehovadiener, galten als die näch- 
ften Vorboten des Meffiasreichs, und es finden fih bei den 
Propheten fo analoge Beichreibungen der Drangfale, welche 
den Tag des Kommens Jehova's ankündigen und begleiten 
(IE. 13, 9 ff. Soel 1, 15. 2,1. 10 ff. 3,3 ff. 4, 15 f. 
Zeph. 1, 14 ff. Hagg. 2, 7. Zach. 14, 1 ff. Mal. 3, 1 ff), 
oder dem Eintritte des meffianifchen Reichs der Heiligen vors 
angehen follten (Dan. 7 — 12.), und ohnehin in fpäteren jüdi⸗ 
fhen Echriften Ausfprüche, welche mit unfern evangelifchen fo 
viel Berwandtfchaft haben, 9 daß man nicht zweifeln Tann, 
es fei hier aus einem Kreife von Zeitvorftellungen heraus 
über Die Zeit der Ankunft des Meſſias gefprochen. 

Eine andere Srage ift, ob der Grundzug in dem vorlie- 
genden Gemälde, bie Zerftörung des Tempels und die Verödung 
der Stadt vor der Anfunft des Meſſias, fi) ebenfv ald ein 
Theil der allgemeinen Borftellungen zur Zeit Jeſu nachweifen 
lafie? In jüdiſchen Schriften findet ſich die Meinung, bie 
Geburt des Meffias treffe mit der Zerftörung des Heiligthums 


16) ©. bie Stellen bei Schöttgen, 2, S. 509ff.3 Bertholdt, $. 13; 
Schmidt, Biblioth. 1, S. 24 ff. 








Erſtes Kapitel. $. 110. 349 
zufammen : 7) ‘doch biefe Vorſtellung hat fich offenbar erft nach 
dem Untergange des Tempeld gebildet, um aus dem tiefften 
Punkte des Unglüds die Quelle des Troſtes entfpringen zu 
laffen. Joſephus findet im Daniel neben dem. auf Antiochus 
Bezüglichen auch eine Weiffagung auf die Vernichtung des 
jüdifchen Staats durch die Roͤmer:8) doch, wie dieß von 
feinem der Danielifhen Geſichte die urfprüngliche Beziehung 
ift, fo Fönnte Sofephus dieſe Deutung erft nah dem @rfolge 
gemacht haben, in welchem Falle fie für die Zeiten Jeſu nichts 
beweifen würde. Indeſſen ließe fich Doch denfen, daß auch 
fchon’ zu Jefu Zeit die Juden den Weiffagungen Daniels, uns 
erachtet fie in der That weit frühere Zeitwerhältniffe betreffen, 
eine Beziehung auf noch bevorftehende Ereigniffe gegeben hätten; 
aus demfelben Grunde nämlich, aus welchem die Chriſten jegiger 
Zeit der vollen Berwirflihung von Matth. 24. 25. noch ent- 
gegenfehen. Da nämlich nach dem Untergange der aus Thon 
und Eifen gemifchten Reiche, und des Hornes, das die Gottes, 
läfterungen ausftößt und gegen die Heiligen ftreitet, alsbald 


17) S. bei Schöttgen, 2, ©. 525 f. 

18) Antiq. 10, 11, 7. Nachdem er das Kleine Horn auf Antiohus gedeu⸗ 
tet, fegt er kurz hinzu: Zcv aurov de roomov Aavınlog xci negi Tig Tor 
Popalov nyenovia; aveyompe, zaı Or Un’ aurwv Eonuwdnoera (To EIvos 
zur). Auf die Römer bezog er ohne Zweifel die vierte, eiferne Mo⸗ 
nardhie, Dan. 2, 40, wie außer bem zearyoeı eis ünar, was er ihr zu⸗ 
fchreibt, befonders daraus erhellt, daß er ihre Zerftörung durch den 
Stein für etwas noch Zukünftiges erklärt, Antiq. 10, 10, 4: Edıluoe 
de xaı megi ra AlIa Aavınlos rin Paoıdei, aA Euor ur 8x Bofe Töro 
isogeiv, a mageldövra xal Ta yeyernueva ouyygüper, 8 Ta uellorre 
öpelkorr.. Den Stein nämlich deutet Daniel 2, 44. auf das himm⸗ 
lifche Königreich, welches das eiferne zerftören, ſelbſt aber ewig bleiben 
werde, — ein meffianifcher Zug, auf welchen fid) Joſephus nicht weiter 
einlaffen will. Daß nad) richtiger Auslegung bie eifernen Schenkel bes 
Bildes das macebonifche, die aus Thon und Eifen gemifchten Fuͤße aber 
die aus dem macebonifchen entftandenen Reiche, alfo namentlih das 
forifhe, bezeichnen, darüber vgl. de Wette, Einl. in dag U. T 
§. 254. 











350 “ Dritter Abſchnitt. 

das Kommen bes Menfchenfohnes in den Wolfen und ber Eins 
tritt de eiwigen Reichs der Heiligen geweiſſagt, diefe Erfolge 
aber nach der MWeberwindung des Antiochus Teineswegs fofort 
eingetreten waren: fo war man veranlaßt, mit biefem himm⸗ 
lifchen Reiche auch die ihm unmittelbar vorangeftellten ‘Drang- 
fale durch das eiferne und gemifchte Reich, worunter man nach 
Analogie des vom Horne Vorhergefagten namentlich die Ent⸗ 
weihung des SHeiligthums verftand, erſt noch einmal von der 
. Zußunft zu erwarten. Während nun aber bei Daniel nur Ents 
weihung des Tempels und Störung des Cultus, nebſt Ctheils 
weifer)!?) Zerftörung der Etadt, geweiffagt ift: wird in ben 
‚vorliegenden Reden dem Tempel — und auch der Stadt nicht 
bloß bei Lukas, wo es entfchieden ift, fondern ohne Zweifel 
auch bei ven beiden andern, wo die Ermahnung zur eiligen 
Flucht aus der Stadt daſſelbe anzudeuten ſcheint — völlige 
Zerftörung vorhergefagt; was alfo, weil in dem Vorbilde nicht 
enthalten, nur aus dem Erfolge fcheint genommen fein zu koͤn⸗ 
nen. Allein theils Tieß fich die Befchreibung bei Daniel mit 
den Ausdrüden Day und men (9, 26 f. 12, 11.), welche 
die LXX. durch Eoruworg und dioydeiow wiedergeben, leicht 
auch von völliger Zerflörung verftehen; theils war ja ſchon 
einmal im Zufammenhange mit den Sünden des Volks Tempel 
und Stadt zerftört, und das Volk gefangen weggeführt worden: 
es konnte mithin von da an jeder begeifterte Israelite, dem 
der religiöfe und fittliche Zuftand feiner Landsleute verwerflich 
und unverbefferlich erſchien, die Wiederholung jenes früheren 
Strafgerichts erwarten und vorherverfündigen. Hienach if 
felbft dasjenige, was, laut der im vorigen $. gegebenen Dars 
ftelung, Lukas vor feinen beiden Eorreferenten an Beftimmtheit 
der einzelnen Züge voraus hat, nicht von der Art, daß ed uns 
nöthigen würde, entweder ein übernatürliches Vorherwiſſen, ‚oder 
ein vaticinium post eventum anzunehmen : fondern «3 läßt 





— 


une 


19) &, Joseph. Antiq. 12, 5. 





Erſtes Kapitel. $ 116. 351 


fich Alles aus genauerer Berüdfichtiging deſſen erflären, was 
über die erfte Zerſtörung Jeruſalems 2 Kön. W. 2 Ehron. 36, 
und Ser. 39, 52. erzählt ift. 

Nur Eine Beftimmung Fönnte Jefus, al8 Urheber diefer 
Reden, nicht aus irgend welchen Vorbildern, fondern müßte fie 
aus fich felber genommen haben : die Verficherung nämlich, dag 
die Katajtrophe, welche er befchrieb, noch während des damaligen 
Menfchenalters eintreten werde. Dieß aus einer übernatürlichen 
Erfenntniß abzuleiten, müffen wir aus dem oben erwähnten 
Grunde Bedenken tragen, weil es nämlich nur zur Hälfte ein 
getroffen ift: wogegen uns das Andere, daß wenigfteng die Eine 
Hälfte der Weiffagung fo auffallend in Erfüllung gegangen ift, 
ebenfo gegen die Annahme einer bloß natürlichen Vorherberech⸗ 
nung mißtrauifch, und geneigt machen könnte, wenigftens dieſe 
Zeitbeftimmung als eine erft nach dem Erfolg in Die Neben 
Jeſu hineingetragene zu beirachten. Indeß die Wiederkunft 
Ehrifti glaubten nad) den zu Ende des vorigen $. angeführten 
Stellen auch die Apoftel felbft noch zu erleben: und fo hat 
wohl auch Jeſus dieſelbe, nebft der nach Daniel ihr voranges 
henden Drangfal der Stadt und des Tempels, in der nächften 
Zufunft erwartet. Das Allgemeine der Erwartung nämlich, 
irgend einmal in den Wolfen des Himmeld zu erfcheinen, um 
die Todten zu erweden, Gericht zu halten, und ein ewiges Reich 
zu begründen, war Jeſu ebenfobald gegeben, als er fich für 
den Meflias hielt mit Bezug auf Daniel, wo jenes Kommen 
bem viog. TE nIgwnrs zugefehrieben ift; in Betreff der Zeit 
aber ergibt es fich als natürlich, daß er zwifchen feiner erften 
meffianifchen Ankunft in der Niedrigfeit und der zweiten in. ber 
Herrlichkeit Feine allzulange Zwifchenzeit bineingedacht haben 
wird. 

Eine Einwendung gegen die Aechtheit der fonoptifchen 
Reden über die Parufie ift noch zurüd; fie hat übrigens auf 
unfrem Standpunfte weniger Erheblichfeit, als auf dem der 
jest gewöhnlichen Evangelienfritif: diejenige nämlich, welche 
aus dem Fehlen jeder ausführlichen Schilderung der künftigen 


352 Dritter Abfchnitt. 


Barufie Zefu im johanneifchen Evangelium hergenommen wer: 
den Fann.?% - Zwar die Grundbeitandtheile der Lehre von der 
Wiederkunft Ehrifti find auch im vierten Evangelium nicht zu 
verfennen. 2) Jeſus ſchreibt ſich in demfelben das einftige Ges 
richt und die Auferwedung der Todten zu (Joh. 5, 21—30,), 
welche letztere ald Moment der Zufunft Ehrifti zwar in den 
eben erwogenen fynoptifchen Reden nicht hervortritt, aber fonft 
im N. T. nicht felten in jenem Zufammenhange vorkommt 
G. B. 1 Kor. 15, 23. 1 Theſſ. 4, 16). Wenn Jeſus im 
vierten Evangelium bisweilen läugnet, zum Gericht in die 
Welt gefommen zu fein (3, 17. 8, 15. 12, 47.), fo gilt dieß 
theil nur von feiner erften Anwefenheit, theils wird es durch 
entgegengefeßte Aeußerungen, wo er vielmehr behauptet, zum 
Gerichte gekommen zu fein (9, 39. vgl. 8, 16.), auf den 
Einn eingefchränft, daß der Zwed feiner Sendung nicht Ver: 
dammen, fondern Ketten, und fein Gericht nicht ein particula- 
riftifches oder fonftwie parteiifches, überhaupt Fein fubjectiver 
Machtſpruch feiner Perfon, fondern ein objectiver Act der Sache 
ſelbſt fei; wie dieß deutlich ausgefprochen ift in der Verficherung, 
wer fein Wort gehört habe, ohne zu glauben, ben richte nicht 
er, fondern 0 Aoyos, 09 &airoe, »pwei aurov & cn Eoyam 
nusor (12, 48.) Wenn ferner der johanneifche Jeſus von 
dem Glaubenden fagt: & xgiverar, zig xolow &x Zoyerar (3, 
18. 5, 24.): fo ift dieß von einem Gerichte mit verbammendem 
Ausgang zu verftehen; heißt es Dagegen von dem Ilngläubigen: 
767 xengıres (3, 18.) : fo fagt dieß nur fo viel, daß die Ans 
weifung des verbienten Looſes für jeden nicht erft dem Fünftigen 
Gericht am Ende der Dinge aufbehalten fei, fondern mit feiner 
innern Befchaffenheit ſchon jet jeder das ihm gebührende Schidfal 


») ©. Bafe, ®. 3. $. 130. 

21) Die hiebergehörigen Etellen finden fi zuſammengeſtellt und erläutert 
bei Schott, Commentarius etc. p. 364 ff. VBgl. Lüde, z. d. St. 
und Weizel, urchriſtl. Unfterbiichfeitstehre, in ben theol. Studien, 

1836, ©. 626 ff. 





Erſtes Kapitel. $. 116. 353 


in ſich trage. Dadurch ift ein bevorftehender fulenner Ge⸗ 
richtsact, an welchem das jest nur erft an ſich Vorhandene 
zur feierlichen Offenbarung gelangen wird, nicht außgefchloflen, 
wie denn in der zulegt angeführten Stelle die Zuerfennung der 
Berdammniß, und fonft auch die Ertheilung der Seligfeit (5, 
28 f. 6, 39 f. 54.), an den jüngfien Tag und die Auferftehung 
gefnüpft wird. Ebenſo fagt ja auch bei Lufas Jeſus in dem» 
jelben Zufammerhang, in welchem er feine Wiederfunft als eine 
noch bevorftehende äußere Kataftrophe befehreibt, 17, 20 f., das 
Reich Gottes komme nicht era Tragerronaeug dt Eodow' 
ids wide, 7 idâ &xeir Id8 yao, 7 Buoılsia TE Hei Evrog vuov. 
&sw. — Auch daß feine Wiederfunft in Kurzem bevorftehe, foll 
nach einer gemiffen.- Deutung feiner Worte der johanneifche 
Icſus geäußert haben. Die ſchon erwähnten Ausfprüche in 
den Abſchiedsreden nämlich, wo Jeſus feinen Jüngern verſpricht, 
fie nicht verwaist zurädzulaffen, fondern, hingegangen zum 
Vater, in Kurzem (16, 16.) wieder zu ihnen zu fommen (14, 
3. 18.), find nicht felten auch von der Wiederfunft Ehrifti am 
Ende der Tage verfanden worden; 22) aber wenn man von 
diefer nämlichen Wiederfunft Jeſum fagen hört, daß er bei 
derfelben nur feinen Süngern, nicht aber der Welt fich offen- 
baren werde (14, 19. vgl. 22.): fo kann man unmöglich an 
‚die Wiederfunft zum Gerichte denken, wo Sefus fi) Guten 
und Böſen ohne Unterſchied zu offenbaren gedachee. Befonders 
räthfelhaft ift noch im Anhang des vierten Evangeliums, Kap. 
21, von dem Kommen Jeſu Die Rede. Auf die Frage des 
Detrus, was ed mit dem Apoſtel Johannes werben folle, 
erwiedert hier Jefus: Erw avzor IEly uevew, Ews Eoyouer, Ti 
005 08; (B. 22.) was, wie hinzugefegt wird, die Chriften fo 
verftanden, als follte Johannes gar nicht fterben, indem fie Das 
goycoFcı auf die legte Wiederfunft Chrifti bezogen, bei welcher 





— 


22) ©. bei Tholuck, z. d St, 
IU. Band, 23 


354 Duttter Abſchnttt. 


die ſie Erlebenden, ohne den Tod zu ſchmecken, verwandelt 
werden ſollten (1 Kor. 15, 51 f.). Aber, ſetzt der Verfafſſer 
berichtigend hinzu, Jeſus habe nicht geſagt, der Jünger werde 
nicht ſterben, ſondern nur, wenn er wolle, daß er bleibe, bis 
er komme, was es den Petrus angehe? Hiedurch kann der 
Evangeliſt zweierlei berichtigen wollen. Entweder ſchien es ihm 
unrichtig, das Bleiben, bis Jeſus komme, geradezu mit nicht 
ſterben zu identificiren, d. h. alfo das Kommen, von welchem 
hier Jeſus ſprach, für das letzte, welches dem Tod ein Ende 
machen ſollte, zu nehmen, und dann müßte er ſich ein unſicht⸗ 
bares Kommen Chriſti, etwa in der Zerſtörung Jeruſalems, 
darunter gedacht haben. 7?) Oder hielt er es für irrig, was 
Sefus nur hypothetifch gefagt hatte: wenn er auch etwa das 
Angegebene wollte, jo ginge das doch den Petrus nichts an, 
kategoriſch zu faffen, als ob es Jefu wirklicher Wille gewefen 
wäre, wobei dann das Epxouas feine gewöhnliche Bedeutung 

behielte. 2%) Ä nn 
Sind hienach allerdings die Grundzüge ber Lehre von der 
Paruſie auch im ‚vierten Evangelium Jeſu in den Mund gelegt, 
fo finden wir doch nirgends etwas von der ausführlichen finn- 
lichen Schilderung des äußern Hergangs bei berfelben, und ber 
mit ihr zufammenhängenden Vorgänge, wie wir fie in ben 
fvnoptifchen Evangelien leſen. Diefes Verhältniß macht bei der 
‚gewöhnlichen Anficht von dem Urfprung der Evangelien, na- 
mentlich des vierten, nicht wenig Schwierigkeit. Wenn Iefus 
wirflid jo ausführlich und feierlich, wie ihn die Synoptifer 
davon reden laſſen, von feiner Wiederfunft gefpruchen, und die 
richtige Erkenntniß und Beobachtung der Zeichen derfelben als 
etwas fo Wichtiges behandelt hat: fo if es unbegreiflich, wie 
der Berfaffer des vierten Evangeliums das Alles übergehen 
fonnte, wenn er anders ein unmittelbarer Schüler Jeſu war. 
1} 


— — — — 


3) Vgl. Tholuck, a. a. O. 
2) CoRküre, auch Tholuck, z. d. St. Schott, p. 409. 








Erſtes Kapitel. 8. 116. 355 


Das gewöhnliche Reden, er habe bieß aus den Eynoptifern 
oder der mündlichen Verkündigung als befannt vorausgefegt, 
reicht hier um fo weniger aus, je mehr alles, was Weiffagung 
ift, namentlich einer fo erfehnten und gefürchteten Kataftrophe, 
der. Mißdeutung bloßfteht, wie wir aus der zulegt erwähnten 
Berichtigung fehen, welche der Verfaffer von Joh. 21. an der‘ 
Meinung feiner. Zeitgenoffen über die dem Johannes von Jeſu 
gegebene Verheißung anzubringen für nöthig fand. Hier alfo 
ein verftändigendes Wort zu reden, wie ziwedmäßig und ver: 
dienftlich wäre e8 gewefen, beſonders da die Darftellung bes 
erften Evangeliums, welche ſogleich auf Die Zerftörung Des 
Tempels das Ende der Dinge folgen ließ, je näher jenes Er⸗ 
eigniß Fam, und noch mehr als e8 vorüber war, immer bevenk- 
licher und anftößiger werden mußte, und wer war eher im 
Stande, eine folche Berichtigung zu geben, als der Lieblings⸗ 
jünger, zumal wenn er nach Marc. 13, 3. der einzige Evans 
gelift war, ber den Erörterungen Jeſu über dieſen Gegenftand 
angewohnt hatte? Daher ſucht man auch hier einen befondern - 
Grund feines Stilffshiveigens in der angeblichen Beftimmung 
feines Evangeliums für nichtjübifche, idealiſtrende Gnoftifer, 
für deren Standpunkt jene Schilderungen nicht gepaßt haben, 
und deßhalb weggelafien worden feien. *) Allein gerade folchen 
Lefern gegenüber wäre es eine pflichtwibrige Nachgiebigfeit, 
eine Beltärfung in ihrer tbealifirenden Richtung gewefen, wenn 
Sohannes ihnen zulieb die reale Seite an der Wiederfunft Chrifti 
hätte zurüdtreten laffen. Dem Hang diefer Leute, das äußerlich 
Geſchichtliche des Chriftenthums zu verflüchtigen, mußte der 
Apoftel dadurch entgegentreten, daß er eben biefe Eeite gebüh⸗ 
rend hervorhob; wie er in feinem Brief ihrem Dofetismus 
gegenüber auf die Leiblichfeit Jeſu Nachdruck legt, .fo mußte er. 
im Gegenſatz gegen ihren Idealismus an der Wiederfunft 


— — —j —— — 


») Dlshaufen, 1, ©. 870. 
23% 


356 | - Dritter Abſchnitt. 


Chrifti die Außeren Momente ihres Eintritts mit befonderem 
Fleiße hervorfehren. Statt defien fpricht er felbft fat wie ein 
Gnoftifer, und fucht die Wiederfunft Ehrifti von der Bedeutung 
eines äußern, zufünftigen Vorgangs immer: wieder in das 
Innere und die Gegenwart zurüdzurufen. Es ift alfo nicht 
- fo übertrieben, wie Ol&haufen meint, wenn Fleck behauptet, 
daß die fonoptifche und Die johanneifche Darftellung der Lehre 
Jeſu von feiner Wiederkunft fich ausfchließend zu einander vers 
halten; 2%) ſondern, wenn der Verfaſſer des vierten Evangeliums 
ein Apoftel ift, fo können die Reden, welche die drei erften 
Evangeliften Sefu über feine Parufie in den Mund legen, nicht 
fo von ihm gefpröchen worden fein, und umgefehrt. Doch, 
wie gefagt, dieſes Arguments fünnen wir und nicht bedienen, 
da wir die Vorausfegung eined apoftolifchen Urfprungs für 
das vierte Evangelium längft aufgegeben haben. Auf unferem 
Standpunfte fünnen wir uns nun aber das Verhaͤltniß ver 
johanneifchen Darftellung zur fonoptifchen vollfommen erklären. 
Sn Paläftina, wo fich die in den drei erften Evangelien auf- 
gezeichnete Tradition bildete, wurde bie Dafelbft verbreitete und 
von Jeſu adoptirte Lehre von einer feierlichen Ankunft des 
Meſſias in ihrer ganzen Breite in die chriftliche Verkündigung 
aufgenommen: wogegen in dem helfeniftifch-theofophifchen Kreife, 
in welchem das vierte Evangelium entftand, dieſe Idee ihr 
finnliches Gewand abftreifte, und die Wiederfunft Chrifti zu 
dem zwifchen einem realen und idealen, gegenwärtigen und 
fünftigen Borgang fehwebenden Mittelding wurde, ivie fie im 
vierten Evangelium erfiheint. 


20) $led, de regno divino, p. 183. 


ni. er 





3weites Kapitel 


Anſchläge der Seinde Jeſu; Werrath des 
Judas; lebtes Mahl mit den Iüngern. 


6. 117. 
Entwicklung des Berbältniffes Sefu zu feinen Feinden. 


Als die Feinde Sefu erfcheinen in den drei erften Evan- 
gelien am häufigften die Dapıwalcı xl ygauarsis, ) welche 
in ihm den verberblichften Gegner ihres Sagungswefens erfann- 
ten, und neben diefen beiden Die aoxıegeis und nrgsoßvrego, 
welche als Häupter des äußeren Tempelcultus und der auf 
dDiefen gegründeten Hierarchie mit demjenigen, der bei jeder 
Gelegenheit auf den inneren Gottesdienſt des Gemüths als Die 
Hauptfache. Hinwies, fich nicht befreunden konnten. Sonſt 
treten wohl auch die Saddsxelos unter den Gegnern Jefu auf 
(Matth. 16, 1. 22, 23 ff. parall. vgl. Matth. 16, 6 ff. parall.), 
deren Materialismus Manches an feinen Anftchten zuwider 
fein mußte, und die Herodifche Partei (Marc. 3, 6. Matth. 
22, 16 parall.), welche, wie dem Täufer, fo auch feinem 
Nachfolger abhold war. Das vierte Evangelium, obwohl es 
einigemale die apxıegeis und Dagıoaloı nennt, bezeichnet die 
Feinde Jeſu doch am häufigften durch den allgemeinen Ausdruck: 


— m — — 


1) ©. Winer's bibl. Realwörterb. d. AA. 


358 Dritter Abfd;nite. 


oi Isdaioı, wad vom Ipäteren, hriftlihen Standpunkt aus ges 
fprochen iſt. 

Vlebereinftimmend berichten fämmtliche vier Evangeliften, 
daß die beftimmteren Anfchläge der pharifäifch = hierarchifchen 
Bartei gegen Jeſum von einem Verſtoße defjelben gegen. Die 
den Sabbat betreffenden Satzungen ihren Anfang genommen 
haben. Als Sefus den Menfchen mit der vertrodneten Hard 
am Sabbat wiederhergeftellt hatte, heißt es bei Matthäus: 
oi de Dapıccloı ovußslıov Eiaudov xar’ aurd, Onws auıov 
orol&owow (12, 14, vgl. Marc. 3, 6. ur. 6, 11.), und 
ebenfo bemerft Johannes bei der fabbatlichen Heilung am Teich 
Bethesda: ai din TETo Ediwxov Tov I. oi Isdalor, und fährt, 
nachdem er noch einen Ausſpruch Sefu gemeldet, fort: die 
aro 3 uiallov . Eirısv evıov oi Isdeisı anoxrrewvar (5, 
16. 18). - 

Sogleich nad dieſem Ynfangspunft aber gehen die fonop- 
tifche und die johanneifche Darftelung des fraglichen Verhälts 
niffes auseinander. Bei den Spynoptifern gibt den nächiten 
Anftoß die Vernachläffigung des Wafchens vor Tifche von 
- Seiten Jefu und feiner Sünger und die fcharfen Ausfälle, 
welche er, darüber zur Rebe geftellt, gegen den Heinlichten - 
Eagungsgeift und die damit verbundene Heuchelei und Bers 
folgungsfucht der Pharifäer und Gefeßfundigen macht, wo es 
dann am Ende heißt, fie haben tiefen Groll gegen ihn gefaßt, 
und ihn auszuholen, ihm verfängliche Reden abzuloden gefucht, 
um Grund zur Anflage gegen ihn zu gewinnen (Luc. 11, 37 
bis 34. vgl. Matth. 15, 1 ff. Mare 7, 1 ff). Auf feiner 
festen Reiſe nach Serufalem ließen die Phariſäer Sefu eine 
Warnung vor Herodes zufommen (Luc. 13, 41.), die wahr: 
feheinlich nur den Zwei hatte, ihn aus der Gegend wegzu⸗ 
dringen: Den nächften Hauptanftoß nimmt die hierarcdhifche 
Partei an der auffallenden Huldigung, welche Jeſu beim Ein⸗ 
‚zug in Jerufalem vom Volke dargebracht wird, und an ber 
Tempelreinigung, zu welcher er fofort fchreitet: doch etwas 
Gewaltſames gegen ihn zu unternehmen, hielt fie fein ftarfer 








Zweites Kapitel. $. 117. 339 


Anhang unter dem Volke noch zurüd (Matth. 21, 15 f. Marc. 
11, 38. Luc. 19, 39. 47 f.), was auch der einzige Orund 
war, warum fie nach der fcharfen Zeichnung durch Pas Gleich⸗ 
nig von den Weingärtnern fich feiner Perſon nicht bemächtigte. 
(Matth. 2i, 45 f. parall.). Nach dieſen Vorgängen bedurfte 
e8 kaum mehr der antipharifäiichen Rede Matth. 23, um furz 
vor dem Paſcha die Hohenpriefter, Echriftgelehrten: und Wels - 
teften, d. h. das Synedrium, in den Balaft des Hohenpriefters 
zu einer Berathung zufammenzuführen, ve vov I. dodAy xga- . 
70001 xal anoxreivwow (Matth. 26, 3 ff. parall.). 

Auch im vierten Evangelium zwar wird der große Anhang 
Jeſu unter dem Volk einigemale als der Grund bezeichnet, 
warum ihn feine Feinde haben wollen feftnehmen lafien (7, 32. 
44. vgl. 4, 1 ff), und fein feierlicher Einzug in Jeruſalem 
erbittert fie. auch hier (12, 19.); bisweilen wird ihrer Mord» 
anfchläge ohne Angabe einer Veranlaſſung gedacht (7, 1. 19. 
25. 8, 40.): aber den Hauptanftoß geben in diefem Evans 
gelium die Ausfagen Jeſu über feine höhere Würbe. Schon 
bei jener Sabbatheilung reizte das. hauptfächlich Die Juden auf, 
daß Jeſus diefelbe durch Berufung auf die ununterbrodyene 
Thätigfeit Gottes, ald feines Vaters, rechifertigte, worin nad) 
ihrer Meinung ein blasphemifches Zoo» Eavrov nrowiv vo Jap 
lag (5, 18.); wenn er von feiner göttlichen Sendung ſprach, 
fuchten fie ihn zu greifen (7, 30. vgl. 8, 20.); wegen der Ber 
hauptung ,. vor Abraham feier, hoben fie Steine gegen ihn 
auf (8, 59.); dafjelbe thaten fie, als er aͤußerte, er und ber 
Bater jeien Eins (10, 31.), und wie er behauptete, der Vater 
fei in ihm, und er im Bater, fuchten fie ſich abermals feiner 
zu bemächtigen (10, 39). Was aber den Ausfchlag gibt nach 
der Darftelung des vierten Evangeliums, und die feindliche 
Partei zu förmlicher Beſchlußnahme gegen Sefum veranlaßt, 
ift die Auferwedung des Lazarus. Als diefe That. den Pha- 
rifäern gemeldet wurde, veranftalteten fie und die Hohenpriefter 
eine Synebriumsfigung, in welcher fie in Erwägung zogen, 
wenn Jeſus fortfahre, fo viele onueia zu thun, werde ihm 


® 


360 Dritter Abfehnitt. 


zulegt Alles anhängen, und. dann die Römer zerftörend ein⸗ 
fhreiten; worauf der Hohepriefter Kaiphas den verhängniß- 
vollen Ausfpruch that, es fei befier, daß Ein Menjch für das 
Volk fterbe, als daß das ganze Volf zu Grunde gehe. Nun 
war fein Tod befchlofien, und es wurbe Jedem zur Pflicht 
gemacht , feinen Aufenthaltsort anzuzeigen, um ſich ſeiner Perſon 
bemächtigen zu können (11, 46 ff.) 

In Bezug auf diefe Differenz bemerft die neuere Kritik, 
daß wir aus den funoptifchen Berichten die tragifche Wendung 
des Schickſals Jeſu gar nicht begreifen würden, und nur 
Sohannes einen Dlid in die flufenweife Steigerung der Span⸗ 
nung zwifchen der hierarchifchen Partei und Jeſu uns eröffne, 
furz, daß namentlich auch in diefem Stüde die Darftellung 
des vierten Evangeliumd als eine pragmatifche fich zeige, was 
die der übrigen nicht fei. ) Mllein, was bier an ftufenweifem 
Fortſchreiten die johanneifche Erzählung voraushaben fol, ift 
ſchwer einzufehen, da ja gleich die erfte beflimmtere Angabe 
über das fich bildende Mißverhältniß (5, 18.) in dem Zoov 
iavrov now zo Fe das Höchfte des Anftoßes, in dem &&n,- 
zav aurrov anoxteivaı aber das Höchfte derFeindſeligkeit enthält, fo 
daß Alles, was weiter von der Feindfchaft der Jadalor erzählt 
wird, bloße Wiederholung ift, und nur der Synedriumsbe⸗ 
ſchluß Kay. 11. als Fortfchritt zum Beftimmteren ſich darftellt, 
In diefem Sinne fehlt aber auch der fonoptifchen Darftellung 
‚ ber Portfchritt nicht, von dem unbeftimmten &vedgevew und 
Öucheieiv, ti av nomoew zp Iros (Luc. 11, 54. 6, 11), 
oder, wie es bei Matthäus (12, 14.) und Markus (3, 6.) 
beftimmter Tautet, ovußadıov Aaußavew Orwg avroy aroltow- 
ow, bis zu dem in Bezug auf Art (doAm) und Zeit (1m) &v 
cn Eogrn) nunmehr genau beftimmten Befchluffe (Matth. 26, 
4 f. parall.). — Näher wird nun aber den drei erften Evans 
geliften beſonders das zum Vorwurf gemacht, daß ſie in. der 


2) Schnedenburger, über ben uefpr., 8.9f. Tüde, 1,6. 133. 
159. 2, ©. 302. 


[4 
% 








Zweites Kapitel. $. 117. 361 


Auferweckung des Lazarus diejenige Begebenheit Ahergangen 
haben, welche für die lebte Wendung des Schickſals Jeſu ente 
ſcheidend geworden fei. 2) Müſſen dagegen wir, mit Rüdficht 
auf das obige Refultat unfrer Kritik dieſer Wundererzählung, 
vielmehr die Synoptiker loben, daß fie nicht eine Begebenheit 
sum Wenbepunfte des Schickſals Jeſu machen, welche gar 
nicht wirklich vorgefallen ift: fo beurfundet fich der vierte 
Evangeliſt auch durch Die Art, wie er den dadurch veranlaßten 
Mordbefchluß berichtet, keineswegs als einen folchen, deſſen 
Auctorität ung die Wahrheit feiner Erzählung verbürgen Fünnte. 
Das zwar, daß er, ohne Zweifel nach einer abergläubifchen 
Zeitvorftellung, % dem Hohenpriefter die Gabe der Rrophetie 
zufchreibt, und feinen Ausfpruch für eine Weiffagung auf 
den Tod Zefu hält, dieß wiürbe für fich noch Feineswegs bes 
weifen, daß er nicht ein Augenzeuge und Apoftel Eönnte 
geivefen fein. I Das aber ift mit Recht bevenflich gefunden 
worden, daß unfer Evangelijt den Kaiphas ald aoxıeoevs rũ 
&viavrd Exeiva bezeichnet (11, 39.), alfo vorauszufegen fcheint, 
diefe Würde fei, wie manche römische Magiftraturen, eine 
jährige gewefen, da fie doch urfprünglich eine Tcbenslängliche 
“war, und auch in jener Zeit der römifchen Oberherrichaft 
nicht regelmäßig jährlich, ſondern fo oft e8 der Willfür der 
Römer gefiel, abwechfelte. Auf die Auctorität des vierten 
Evangeliums hin. gegen die fonftige Sitte und unerachtet des 
Stillfehiweigens des Joſephus anzunehmen, Annas und Kaiphas 
haben vermöge einer PBrivatübereinkunft jährlich gewechfelt, © 
dazu mag ſich, wer Luft hat, entſchließen; Eravrd unbeftimmt 
für yoova zu nehmen, 7) ift wegen der doppelten Wiederholung 


5) Bgl., außer den angeführten Krititern, Hug, Cinleit. in das N. T. 
2, ©. 215. 
2) Hierüber am richtigften Luͤcke, 2, ©. 407 ff. 

?) Wie die Probabilien meinen, ©. 94. 
s) Hug, a. a. O. ©. 221. 
2) Kuinoͤl, z. d. St. 


362 Dritter Abfchnitt. 


deſſelben Ausdrucks V. 51. und 18, 13. unzulaͤſſig; daß in 
jener Zeit das Hoheprieſterthum ſo häufig wechſelte, und einige 
Hoheprieſter nicht laͤnger als ein Jahr in ihrer Stelle belaſſen 
wurden, 8) berechtigte unfern Schriftſteller nicht, den Kaiphas 
als Hohenprieſter eines Jahrs zu bezeichnen, welcher gerade 
vielmehr eine Reihe von Jahren, namentlich während der gan- 
zen Dauer von Jeſu öffentlicher Wirffamfeit, jene. Stelle 
beffeivete; daß aber endlich Sohannes fol fagen wollen, im 
Todesjahr Jeſu fei Kaiphas Hoherpriefter gewefen, ohne das 
durch frühere und fpätere Jahre auszufchließen, in welchen 
er diefes Amt gleichfalls befleivet habe, ?) geht cbenfowenig. 
Denn wenn die Zeit, in welche eine Begebenheit fällt, als 
ein gewifles Jahr bezeichnet wird, fo muß dieß darin feinen 
Grund haben, daß entweder die Begebenheit, deren Zeit bes 
ftimmt werben fol, oder das Datum, nach welchem man bier 
felbe beftimmen will, mit dem Sahreswechfel zufammenhängt. 
Entweder muß alfo der Erzähler im vierten Evangelium der 
Meinung gewefen fein, von Jeſu Tod, zu welchem fie damals 
den Anfchlag machten, fei auf. jenes ganze Jahr, aber weiter 
nicht, eine Fülle von Geiftesgaben, unter welchen auch die 
prophetiſche Gabe des damaligen Hohenpriefters, ausgefloflen : '% 
ober, wenn dieß eine gefuchte Erklärung ift, fo muß er den 
Kaiphas als Hohenpriefter eben nur jenes Jahrgangs ſich 
vorgeftellt haben. Wenn alfo Lüde fchließt, da nad) Joſe⸗ 
phus der damalige Hohepriefter diefes Amt zehn Jahre Hinter» 
“einander verwaltet habe, fo fünne Johannes mit dem aexıeoeus 
Ts Biovrd &xelva nicht gemeint haben, das hohepriefterliche 
Amt fei damals jährig gewefen: fo kehrt fich dieſer Echluß, 
da das Zutageliegen diefer Meinung in den Worten des 
Evangeliums ficherer ift, als daß deſſen Verfaffer Sohdnnes 
gewefen, in den der Probabilien um : da das vierte Evangelium 


8) Paulus, Gomm. 4, ©. 579 f. 
9) eüde, z. d. St. 
10) eightfoot, z. d. St. 











Zweites Kapitel. $. 118, 363 


bier. eine Vorſtellung von der Dauer des Hohenpriefteranteg 
zeige, die man in Paläftina nicht haben konnte, fo fönne 
der Verfafler deſſelben Fein Baläftinenfer geweſen fein. ') 

Auch von den weiteren Angaben über die Punkte, durch 
welche Jeſus der Hierarchie ſeines Volkes anftößig geworben 
fei, find nur Diejenigen glaublich, welche die Synoptifer allein 
oder mit Sohannes gemein haben: die dem letzteren eigenthüns 
lichen nicht. Bon dem Oemeinfchaftlichen war der Anftoß an 
feinem feierlihen Einzug und der ftarfen Anhänglichfeit des 
‚ Volks an ihn, die fich dabei zeigte, ebenfo natürlich, als Die 
Erbitterung über fein Reden und Thun gegen die Sabbats- 
vorfchriften, worin immer letzteres beftanden haben mag; 
dagegen ift die Art, wie dem vierten Evangelium zufolge Die 
Juden an den Aeußerungen Jeſu über fih als Sohn Gottes 
Anſtoß genommen haben follen, nach einer früheren Auseinan- 
derſetzung 1%) ebenfo undenkbar, als es in der Ordnung ift, 
daß die Polemif gegen den Pharifäismus, welche ihm die 
drei erften Evangelien leihen, die Getroffenen verdrießen mußte. 
Sy ift über Die Urfachen und Motive der Reaction, welche 
gegen Sefum fich bildete, in der johanneifchen Darftelung fein 
neuer und tieferer Auffchluß zu holen: aber was die Synop⸗ 
tifer. bieten, reicht auch vollfommen bin, jene Erjcheinung zu 
begreifen. | 


6. 118. 
Jeſus und fein Verräther. . 


Unerachtet im Rathe der Hohenpriefter und Aelteften ber 
fhloffen worden war, die Feftzeit erft vorübergehen zu lafien, 
weil eine in diefen Tagen an Jeſu verübte Gewaltthat unter. 
ver Mafle ihm günftiger Weftbefucher leicht einen Aufftand 


1) Probabil. a. a. ©. 
2) 1. Band, 6.62. 





364 Dritter Abſchnitt. 


erregen Fonnte (Matth. 26, 5. Marc. 14, 2.): fo wurde dieſe 

Nüdficht Doch durch die Leichtigfeit überwogen, mit welcher 
einer feiner Jünger ihn in ihre Hände zu liefern fich anheifchig 
marhte. Judas nämlich, ohne Zweifel von feiner Abftammurg 
aus der judäiſchen Stadt Kerioth (of. 15, 25.) Joxaouwnrs 
genannt, !) ging den Synoptifern zufolge wenige Tage vor 
dem Palchafeft zu den Vorftehern der Prieſterſchaft, und erbot 
fh, Jeſum ihnen in der Stille zu überliefern, wofür fie ibm 
Geld, nah Matthäus dreißig Eilberfedel (aoyugıe) , vers 
fprachen (Matth. 26, 14 ff. parall.). Won einer folchen vorläus 
figen Verhandlung des Judas mit den Feinden Jeſu meldet 
das vierte Evangelium nicht nur nichts, fondern feheint auch 
fonft die Eache fo darzuftellen, als hätte Judas. erft bei der 
legten Mahlzeit den Entfchluß gefaßt und fogleich ausgeführt, 
Jeſum an die Priefterfehaft zu verratben. Daffelbe eiseAselv des 
Satan in Judas nämlich, welches Lufas (22, 3.) vor feinen 
eriten Gang zu den Hohenprieftern, und ehe noch zum Paſcha⸗ 
feft Anftalt gemacht ift, fest, läßt der Verfaſſer des vierten 
Evangeliums bei diefem Mahle eintreten, ehe Judas die Ges 
fellfchaft verließ (13, 27.): zum Beweis, wie es frheint, daß 
nad) der Anficht dieſes Evangeliften Judas erft jet den ver- 
rätherifhen Gang gemacht hat. Zwar frhon vor dem Mahle, 
bemerft verfelbe (13, 2.), habe der Teufel dem Judas in’g 
Herz gegeben gehabt, Jeſum zu verrathen, und Diefes za dıe- 
Bois Beßkrxorog eig iv xoupdiov wird gemeiniglich dem eignAde 
ooravas bei Lukas gleichgefegt, und von dem Entfchluffe zum 
Berrath verftanden, in deffen Folge Audas zu den Hohenprieftern 


— — — — 


1) Genauere Auskunft über die Abſtammung des Verraͤthers weiß Ols⸗ 
hauſen zu geben, wenn er bibl. Comm. 2, S. 458. Anm. ſagt: 
„Vielleicht iſt Mof. 49, 17. [: Dan wird eine Schlange fein auf dem 
Wege, ein Ceraſt auf dem Fußſteige, der das Pferd in die Hufe. flicht, 
baß fein Reiter rüdwärts fällt] der Verrath des Judas prophetifch 
angedeutet, wornach man fchließen Tönnte, daß er aus dem Stamme 
Dan war.” 














Zweites Kapitel. $. 118. 365 


gegangen fei: allein, war er ſchon damals mit denfelben einig 
geworden, fo war ber ®erratl; bereits vollzogen , und man 
weiß dann kaum, was das eispAdev eis avıov 0 varwag 
bei'm letzten Mahle noch bedeuten fol, da das Hinausführen 
derer, welche Jeſum greifen ſollten, Fein neuer Teufelsentfchluß, 
fondern nur die Vollziehung Des bereits gefaßten war. Der 
Ausdruck bei Johannes V. 27. befommt im Unterſchiede von 
V. 2. nur dann einen ganz paſſenden Sinn, wenn man das 
Boν eis I— xegdiev von dem Aufſteigen des Gedankens, 
das eigeldeiv aber von dem Reifen defjelben zum Entfchluß 
verftcht, alfo nicht vorausfegt, Daß Judas ſchon vor dem 
Mahle ven Hohenprieftern eine Zufage gemacht habe. 9) Gtehen 
fi) aber auf dieſe Weife die Angabe der Synoptifer, daß Zus . 
das fihon einige Zeit vor der Ausführung feines Verraths mit 
den Feinden Jeſu in Unterhandlung geftanden, und die johan- 
neiſche, daß er erft unmittelbar vor der That fich mit ihnen 
in Verbindung gefeßt habe, entgegen; fo entfcheidet.fich zwar 
Lücke in der Art für den Johannes, daß er behauptet, erft 
nach dem Aufbruch vom lebten Mahl (Joh. 13, 30.) habe 
Judas den Gang zu den Hohenprieftern gemacht, welchen die 
Synoptifer (Matth. 26, 14 f. parall.) vor das Mahl ver- 
feßen: 3) aber er thut dieß nur der vorausgefeßten Auctorität 
des Sohannes zulieb; denn wenn auch, wie er bemerft, bei 
eben einbrechender Nacht Sudas mit den Brieftern noch recht 
gut unterhandeln Fonnte: fo ift doch, die Sache ohne Voraus: 
ſetzung betrachtet, Die Wahrfcheinlichfeit ohne Vergleichung mehr 
auf Seiten der Synoptiker, welche der Sache doch einige Zeit 
lafien, als des Johannes, bei welchem Alles Knall und. Fall 
geht, und Judas, allerdings wie befeflen, nach Einbruch der 





2) Daß nach ber johanneifhen Darftellung Judas erft vom Mahle weg 
zum erftenmal zu den Hohenprieftern gegangen fei, bat aud Lights 
foot anerfannt (horae, p. 465.), aber mit deßwegen das von 
Sohannes erzählte Mahl für ein früheres als das fynoptifche gehalten. 

3) Komm. 3. Joh. 2, &-484. 


366 | Dritter Abſchnitt. 


Nacht noch davotırennt, um mit den Prieftern zu unterhandeln, 
und unmittelbar darauf zur That zu fchreiten. u 
Leber die Motive, welche den Judas bewogen haben, fich 
mit den Feinden Jeſu gegen ihn zu verbinden, erfahren wir 
aus den Drei erften Evangelien nur, daß er von den Hohen- 
prieftern Geld befommen habe. Dieß würde, befonders nach 
der Erzählung bei Matthäus, wo "Judas, ehe er den Verrath 
zufagt, die Frage macht: ri Felere wor Öörau; für Habs und 
Gegwinmſucht ald Triebfeder fprechen. Beftimmteres Licht wirft 
hierauf noch die Angabe des vierten Evangeliums (12, 4 ff.), 
fhon bei dem Bethanifchen Mahle habe Judas fich über Die 
Salbung, als eine unnöthige Verſchwendung geärgert; er habe 
nämlich den Beutel geführt, fei aber an demfelben zum Dieb 
geworden; wornach alfo anzunehmen wäre, Daß die Habjucht 
des Judas, Durch das, was er der Gefellfchaftscaffe abftchlen 
fonnte, nicht mehr befriedigt, Durch die Ueberlieferung Jeſu an 
die reiche und mächtige Priefterpartei nachhaltigeren Gewinn 
zu machen gehofft habe. Man wird es dem Verfaſſer bes 
vierten Evangeliums Dank wiſſen müffen, daß er uns durch 
die Aufbewahrung diefer Notizen, welche den übrigen Evange- 
liften fehlen, die That des Judas einigermaßen begreiflich 
gemacht hat, — fobald fich feine Angaben als Hiftorifch begrün- 
det zeigen. Hier ift nun aber in Bezug darauf, daß gerade 
Judas jene Rüge ausgelprochen habe, jchen oben ausgeführt 
worden, wie unmwahrfcheinlich e8 fei, daß die Sage diefen Zug 
verloren haben ſollte: ) wie wahrfcheinlicy Dagegen eine fagen- 
hafte Entftehung deffelben ift, erhellt leicht. Das Bethanifche 
Mahl ftand in der evangelifchen Lleberlieferung dem Ausgang 
des Lebens Jeſu durch den Verrath des Judas nahe: wie leicht 
fonnte Einem der Gedanke auffteigen, jener engherzige Tadel 
edler Verſchwendung fönne nur von dem habfüchtigen Judas 
ausgegangen fein? Daß der Tadel zugleich auf Verfaufen der 





%) 1. Band $. 89. 





Zweites Kapitel. $. 11 Dass . 367 
Salbe zum Beften der Armen drang, konnte im Munde "des 
Judas nur ein Vorwand gewefen fein, hinter welchem fich fein 
Eigennug verftedte: eignen Vortheil aber konnte er von dem 
Berfauf jener Salbe nur dann erwarten, wenn er fich erlaubte, 
von dem erlösten Gelde etwas zu unterfchlagen, und dieß fonnte 
er wiederum nur, wem er Gaffenführer war. Zeigt fich fo 
auch von dem Zuge, Daß Judas Alrııng 7 xel TO yAuooo- 


 xouov elye, eine unhiftorifche Entftehung als möglich: fo ift 


nun zu unterfuchen, ob fich Gründe zu der Annahme finden, 
daß es fich wirklich fo verhalte ? 

Hier muß ein anderer Punkt hinzugenommen werden, in 
welchem die Synoptifer und Johannes differiren, nämlich das Vor- 
herwiflen Jeſu von des Judas Verrätherer. Beiden Synoptifern 
zeigt Jeſus dieſe Kunde erft am legten Mahle, alfo zu einer 
Zeit, wo die That des Judas eigentlich ſchon gefchehen war, 
und noch kurz vorher, wie es frheint, ahnte Jeſus noch fo we 
nig davon, daß einer der Zwölfe ihm verloren gehen würde, 
Daß er ihnen allen, wie fie da waren, bei der Palingenefie ein 
Sigen auf 12 Richterftühlen verhieß (Matth. 19, 28.). Nach 
Sohannes dagegen verfichert Jeſus ſchon um Die Zeit des vors 
legten Bafıha, alfo ein Jahr vor dem Erfolg, einer von den 
Zwölfen fei ein dı@ßolos, womit er, laut der Bemerfung des 
Evangeliften, den Judas, als feinen Fünftigen Verräther, meinte 
(6, 70.); denn, wie furz vorher (V. 64.) bemerft war, das 
EE aoyig 0 Iroäs, — Tis Esw 6 napadwowv avrov. Hienach 
hätte alfo Jefus von Anfang feiner Befanntfchaft mit dem Ju⸗ 
das gewußt, daß diefer ihn verrathen würde, und nicht bloß 
diefen äußern Erfolg hätte er vorhergefehen, fondern, da er ja 
wußte, was im Menfchen war (Joh. 2, 25.), fo hätte er auch 
die Triebfedern des Judas durchſchaut, daß er nämlich aus 
Habfucht und Geldgier jene That begehen würde. Und dabei 


-fol er ihn zum affeführer gemacht, d. h. ihn auf einen Poften 


geftellt haben, auf welchem fein Hang, ſich auf jede, wenn auch 
unrechte Art Gewinn zu ſchaffen, die reichfte Nahrung befoms 
men mußte? er fol ihn durch Gelegenheit zum Dieb gemacht, 


3088 Dritter Abſchnitt. 


und ſich, wie abſichtlich, an ihm einen Verraͤther groß gezogen 


haben? Schon vom ökonomiſchen Standpunkt aus betrachtet: 
wer vertraut denn einem eine Caſſe an, von dem er weiß, daß 
er fie beftiehlt? dann pädagogifch: wer ftelt den Echwachen 
auf einen Play, der gerade feine ſchwache Eeite fo beftäindig 
in Anfpruch nimmt, daß vorauszufehen ift, er müfle früher 
oder fpäter unterliegen? Nein in der That, fo hat Jeſus mit 
den ihm zunächſt anvertrauten Seelen nicht gefpielt, fo nicht 
das Gegentheil von dem ihnen erwiefen, was er ſie beten lehrte: 
10) eigeveyarg Tuas eis nreıgaouov (Matth. 6, 13.), daß er 
den Judas, von welchem er vorausmwußte, er werde aus Ge⸗ 


winnfucht fein Verräther werden, zum Gajjeführer ernannt 


haben fünnte; oder wenn er ihn dazu machte, jo fann er jenes 
Vorherwiſſen nicht gehabt haben. 


Um in dieſer Alternative zu einer Entſcheidung zu gelan⸗ 


gen, müſſen wir jenes Vorherwiſſen für ſich nehmen, und ſehen, 
ob es, abgeſehen von dem Caſſenamte des Judas, wahrſcheinlich 
ift oder nicht? Auf die Frage nach der pſychologiſchen Moͤg⸗ 
lichkeit wollen wir uns nicht einlaſſen, da es ja immer frei 
ſteht, ſich auf die göttliche Natur in Jeſu zu berufen; aber 
von der moraliſchen Möglichkeit wird es ſich fragen, ob es bei 
jener Borausficht zu rechtfertigen fei, daß Jeſus den Judas 
unter die Zwölfe gewählt, und in dieſem SKreife behalten‘ Labe? 
Da durch diefe Berufung fein Verrath als folcher erft möglich 
wurde, fo feheint Jeſus, wenn er dieſen vorherwußte, und den 
Judas doch berief, ihn abjichtlich in jene Sünde hineingezogen 
zu haben. Man wendet ein, durch den Umgang mit Sefu fei 
dem Judas ja auch die Möglichfeit gegeben worden, jenem 
Abgrund zu entgehen:°) aber Jeſus hatte ja vorausgefchen, 
daß fich dieſe Möglichfeit nicht verwirklichen würde; man fagt 
weiter, auch in andern Kreifen würde das in Judas gelegene 
Boje fich, nur. in andrer Form, entwidelt haben, was frhon 





— 


5) Diefen und bie folgenden Gründe f. bei Dishaufen, 2, ©. 458 ff. 








Zweites Kapitel. $. 118. 369 


ftarf determiniftifch Fingtz fo wie vollends die Behauptung, c8 
fei feine wahre Hülfe für den Menfchen, wenn das Boͤſe, wozu 
der Keim in ihm liegt, nicht zur Ausbildung fomme, auf Eon- 
fequenzen zu führen feheint; wie fie Röm. 3, 8. 6, 1 f. ver> 
worfen find. Und auch nur von der gemüthlichen Seite anges 
fehen, — wie fonnte Jeſus es ertragen, einen Menfchen, von 
welchem er wußte, daß er jein DBerräther werden, und alle 
Unterweifung an ihm fruchtlos bleiben würde, die ganze Zeit 
feines öffentlihen Lebens hindurch um fich zu haben? mußte 
ihm durch denfelben nicht jede Stunde traulichen Zuſammen⸗ 
feins mit den Zwölfen verfümmert werden? Gewiß triftige 
Gründe müßten es gewefen fein, um deren willen Jeſus fich 
dieſes Widrige und Harte aufgelegt hätte. Solche Gründe 
und Zwede fonnten fich entweder auf den Judas beziehen, 
und hier alfo in der Abficht beftehen, ihn zu beſſern, welche 
aber durch die beftimmte VBorausficht feines Verbrechens zum 
Voraus abgefrhnitten war; oder fie bezogen ſich auf Jeſum 
felbft und fein Werk, fo daß er die Ueberzeugung gehabt hätte, 
wenn die Erlöfung durch feinen Tod zu Stande fommen folle, 
müfle auch einer fein, der ihn verrathe.6) Allein zu jenem 
Zwede war nach chriftlicher Vorausfegung nur der Tod Jeſu 
ein unentbehrliches Mittel: ob Diefer aber mittelft eines Ver⸗ 
raths, oder wie fonft, herbeigeführt wurde, hatte für den Er- 
löfungszwed fein Moment, und daß es den Feinden Jeſu auch 
ohne den Judas früher oder fpäter hätte gelingen müflen, ihn 
in ihre Gewalt zu befommen, ift unläugbar; daß aber der 
Verräther unentbehrlich geweien, um Jeſu Tod eben am Pa⸗ 
Ihafefte, das fein typiſches Vorbild enthalte, zu Stande zu 
bringen: ) — mit: folchen Spielereien wid man uns doch 
“ beutiged® Tags nicht mehr Hinhalten wollen. . 


6) Olshauſen, a. a. O. 

7) Ein folhes Argument ließe fi) aus dem ableiten, was Olshauſen 
2, S. 387 unten und 388 oben fagt. 

1. Band. 24 








370 j Dritter Abſchnitt. 


Laßt ſich ſomit auf Feine Weiſe eine genügende Abſicht 
ausfindig machen, welche Jeſum bewegen konnte, in der Pet⸗ 
fon des Judas wiſſentlich feinen Verraͤther an ſich zu ziehen 
und um fich zu behalten: fo fcheint entfchieven, daß er ihn 
als folchen nicht im Boraus gefannt haben kann. Schleier- 
macher, um nicht durch Läugnung dieſes Vorherwifiens der 
johanneifchen Auctorität zu nahe_zu treten, zweifelt lieber daran, 
daß Jeſus Die Zwölfe rein felbftftändig ausgewählt habe, und 
indem nun diefer Kreis fich mehr durch freies Anfchließen der 
Junger ‘von felbft gebildet haben fol, fo könne Jeſus Ieichter 
darüber gerechtfertigt werden, daß er den. ſich zubrängenden 
Judas nicht zurüdwies , ald wenn er ihn aus freier Wahl zu 
Tich gezogen hätte. %) Allein die Auctorität des Johannes. wird 
hiedurch doch verlegt, da ja gerade er Jeſum zu den Zwoͤlfen 
fagen läßt: 8x vuelg ue ebeltbaode, all Ey Ebehebarnm vras 
(15, 16. vgl. 6, 70.); übrigens einen beftimmten Wahlact 
auch weggedacht, fo brauchte es Doch, damit einer beftändig 
um Sefum bleiben durfte, feiner Erlaubnig und Beftätigung, 
und ſchon dieſe konnte er menfchlicherweife einem Manne nicht 
geben, von welchem er wußte, daß er durch dieſes Verhäftniß 
zu ihm der fihwärzeften Srevelthat entgegenreife; fich aber ganz, 
wie man fagt, in den Standpunft Gottes zu verfegen, und 
um der Möglichkeit der Beflerung willen, von ber er doch vor- 
ausmwußte, daß fie nie zur Wirklichfeit werden würbe, den 
Judas in feiner Gefellfchaft zu laffen, das wäre eine göttliche 
Unmenfchlichfeit, nichts Gottmenſchliches, geweſen. So fchwer 
es bhienach hält, die Angabe des vierten Evangeliums, daß 
Sefus von Anfanglian den Judas ald feinen Verräther gekannt 
habe, als hiſtoriſch feftzuhalten: fo leicht entdeckt ſich, was 
auch ohne gefchichtlichen Grund zu einer folchen Darftellung 
beivegen Fonnte. 

Daß ‘der von einem feiner eignen Schüler an Jeſu begans 
gene Verrath ihm in den. Augen feiner Feinde zum Nachtheil 


3) Ueber ben: Lukas, ©. 88.- 





Zweites Kapitel. £ 118, 371 


gereichte, ift natürlich, wenn wir auch nicht von Eelfus wüß- . 
ten, daß er in der. Rolle eines Juden Jeſu yorwarf, Orc vp' 
ov wwouoLe uesnrcv rgsdodn, zum Beweis, daß er weniger 
als jeder Räuberhauptmann die Eeinigen an fich zu fefleln ver- 
mocht habe.) Wie nun die aus dem fchmählichen Tode Jeſu 
zu ziehende üble Folgerung dur die Behauptung, er habe 
feinen. Tod lange vorbergewußt, am beften. abgefehnitten zu 
werben fihien: ebenfo dad, was man aus dem Verrathe des 
Judas Schlimmes gegen Jeſum ableitete, durch die Angabe, 
daß er von Anfang an den Berräther durchfchaut habe, und 
dem, was ihm Diefer. bereitete, hätte entgehen können, mithin 
mit Freiheit und aus höheren Rüdfichten fich feiner Treulofigfeit 
ausgefept habe; 10) womit zugleich noch der Bortheil zu ge 
winnen war, der in jeder angeblich eingetroffenen Vorausſagung 
für den Vorausverfündigenden liegt, und welchen der vierte 
Evangelift naiv feinen Jeſus ausfprechen läßt, wenn er ihm 
nad der Bezeichnung des Berräthers bei'm letzten Mahle die 
Worte leiht: ar’ aprı Atyw vulv rıg0 za yerkodaı, Ivo, Stv 
yerıcaı, niiome, Or &y@ ei (13, 19.) — in ber That 
das befte Motto zu allen vaticiniis post eventum. Diefe 
beiven Zwede wurden deſto vollfommener erreicht, je weiter 
zurüd im Leben Sefu Diefes Vorherwiſſen gefeht wurde, woraus 
fi alfo erklärt, warum ber Verfaſſer bes vierten Evangeliums, 
nicht zufrieden damit, daß nach der gewöhnlichen Darftellung 
Jeſus bei'm legten Mahle ven Verrath des Judas vorherverr 
- fündigt haben follte, fein Wiffen um denſelben ſchon in bie 
Anfänge des Zufammenfeins Jeſu mit Judas verlegte. U 


%) Orig. e. Cels. 2, ı1 f. 

10) gl. Probabil. p. 139. 

11) Noch weiter ruͤckwaͤrts wird, nicht das Wiffen Jeſu um feinen Verräther, 
aber doc, ein bedeutſames Zufammentreffen mit demfelben, im apokry⸗ 
phiſchen Evangelium infantiae arabicum c. 35., bei Kabricius, 

oo. J4% 


372 Dritter Abſchnitt. 


Iſt hiemit ein fo frühes Willen Jeſu um die Verrätherei 
des Judas als unhiftorifch befeitigt, fo wäre Raum für bie 
Angabe gemacht, daß Judas den Beutel der Gefellichaft Jeſu 
geführt habe, was ſich nur mit jenem Vorauswiſſen nicht zu 
vertragen fchien, wogegen nun, wenn ſich Jeſus überhaupt 
in Judas irrte, er in eben diefem Irrthum ihm auch die Caſſe 
anvertraut haben koͤnnte. Allein durch die Nachweifung, daß 
die johanneifche Darftelung in Bezug auf das Wiffen Jeſu 
um feinen VBerräther eine gemachte fei, ift die Glaubwürdigkeit 
derfelben in diefer Sache fo erfchüttert, daß man auch zu jener 
andern Angabe fein rechtes Vertrauen faflen Tann. Hat ber 
Verfaſſer des vierten Evangeliums das Verhältniß zwifchen. 
Jeſu und Judas an der Jeſum betreffenden Seite ausgemalt : 
fo. wird er fchwerlich die Seite des Judas unverziert gelafien 
haben; hat er die Thatfache, daß Jeſus verrathen worden 
ift, dadurch eingeleitet, daß er Jeſum dieß Schickſal vorhers 
fehen ließ, fo mag leicht das Andere, daß er ven Judas feine 
‚ Gewinnfucht durch. untreue Führung des Beuteld voraus ſchon 
zeigen läßt, nur Einleitung dazu fein, daß Judas Jeſum vers 
rathen hat. 


Doch, müflen wir auch die johanneifchen Winfe über den 
‚Charakter und die Motive des Judas aufgeben: immerhin be 
halten wir auch in den oben dargelegten Angaben der Syn- 
bptifer die beftimmtefte Hinweifung auf Habfucht als "Grund: 
triebfeder feiner That. | 


1, p. 197 f., bei Zhilo, 1, p. 108 f. geſetzt. Hier wird ein 
bämonifcher Knabe, der im Anfall mit den Zähnen um fich biß, zu 
dem Kinde Jeſus gebracht, er beißt nad) ihm, und weil er es mit 
ben Zähnen nicht erreichen kann, verfegt er ihm einen Schlag auf bie 
rechte Seite, worauf das Sefustind weint, der Satan aber einem 
wüthenden Hunde ähnlih aus dem Knaben fährt. Hic autem puer, 
qui Jesum percussit et ex quo Satanas sub forma canis exivit, 
fust Judas Ischariotes, qui illum Judaeis prodidit. 














Zweites Kapitel. $ 119. 373 


8. 119. 


Verfchiedene Anfichten über ben Charakter des Judas und die Motive 
feines Verraths. 


Nun hat e8 aber von den älteften bis auf die neueften 
Zeiten Solche gegeben, welche mit diefer Anficht der N.T.lichen 
Schriftfteler von dem Beweggrunde des Judas und mit ihrem 
durchaus verwerfenden Urtheil über denfelben (vgl. U. ©. 1, 
16 ff.) nicht übereinftimmen zu Fönnen glaubten; und zwar 
fünnen wir fagen, daß dieſe Abweichung theild aus übertries 
benem Supranaturalismus, theild aus einem rationaliftifchen 
Hange hervorgegangen ift. 

Ein überfpannter Supranaturalismus fonnte von dem im 
N. T. felbft an die Hand gegebenen Gefichtspunft aus, Daß 
der Tod Jeſu, ii göttlichen Weltplan beſchloſſen, zum Heil 
der Menfchheit gedient habe, nun auch den Judas, durch deſſen 
Verrath der Tod Jeſu herbeigeführt worden ift, als ein tadel— 
lofes Werkzeug in der Hand der Vorſehung, als einen Mit- 
arbeiter an der Erlöfung der Menfchheit, betrachten. In dieſes 
Licht Fonnte er dadurch geftellt werden, daß man ihm ein 
Wiſſen um jenen göttlichen Rathſchluß lieh, und die Vollzie⸗ 
hung deffelben ald bewußten Zwed ſeines Verrathes ſetzte. 
Diefe Betrachtungsweife finden wir wirflich bei der gnoftifchen 
Partei der Kainiten, welche den alten Härefiologen zufolge den 
Judas für denjenigen hielten, der fich über die befehränfte jübifche 
Anficht der übrigen Zünger zur Gnofis erhoben, und diefer gemäß 
Jeſum verrathen habe, weil-er erkannte, daß durch feinen Tod 
das Reich der die Welt beherrfehenden niederen Geifter ge: 
jtürzt werden würde!). Andere in der älteren Kirche räumten 


— — — — — 


1) Iren. adv. haer. 1 35: Judam proditorem — solum prae ceteris 
vognoscentem veritatem perfecisse proditionis mysterium, per 
quem et terrena et coelestia ommia dissoluta dicunt. Epiphan. 


374 Dritter Abſchnitt. 


zwar ein, daß Judas Jeſum aus Gewinnfucht verrathen habe; 
doch fol er nicht erwartet haben, daß Jeſus getödtet werden 
würde, fondern der Meinung gewefen fein, er werde, wie ſchon 
öfters, fo auch dießmal, durch feine übernatürliche Macht feinen: 
Feinden entgehen; ) eine Anficht, welche bereitö den Uebergang 
zu den neueren Rechtfertigungen des Verraͤthers bildet. 

Wie die bezeichnete fupranaturaliftifche Erhebung des Judas 
bei den Kainiten zunächſt von ihrer Oppofition gegen das Zus 
denthum ausging, Fraft deren fie ſich zum Grundſatze gemacht 
hatten, alle von den jüdifchen Verfaſſern des alten, oder den 
jubaifirenden des neuen Teftaments getadelte Perfonen zu ehren 
und umgefehrt: fo verfpürte der Nationalismus, befonders- in 
feinem erften Unwilfen über die lange Knechtfchaft der Vernunft 
in den Feſſeln der Auctorität, einen gewiffen Reiz in fi), wie 
die von der orthodoxen Anficht feiner Meinung nad zu fehr 
vergötterten biblifchen Perfonen ihres Nimbus zu. entfleinen, fo 
die in eben diefer Anficht verdammten oder zurüdgejcgten zu 
vertheidigen und zu heben. Daher, was das U. T. betrifft, 
die Erhebung Eſau's über Jakob, Saul’ über Samuel; im 
neuen der Martha über die Maria, die Lobreden auf den 
zweifelnden Thomas, und nun fogar die Apvlogie des Berräthers . 
Judas. Den Einen war er ein Verbrecher aus beleidigter 
Ehre: die Art, wie Jeſus ihn bei der Bethanifchen Mahlzeit 
gezüchtigt, die Zurüdfegung überhaupt, die er im Vergleich mit 
_ andern Jüngern erfuhr, verwandelte feine Liebe zu dem Lehrer 


— — — — — 


38. 3: Einige Kainiten ſagen, Judas habe Jeſum als einen morıgor 
verrathen, weil er das gute Geſetz aufloͤſen wolltez d4loı de r_ aurur, 
axi, gacır, alla aya$oy autor Örra« Trapkdwxs ara Tnr Freagarıor yramır. 
Fyrwooy yao, pnouv, ol apxovres, Otı,-Ear 6 Xgızo; nagadosn sauen, xE- 
yaraı autor 7 aaderız duranıyz za Taro, yyaı yras 6 Indaz, Kuneuse zat 
nayra Fxivnaer, WsE Trapadavan autor, ayador Fuyor Touoag yuiv Eig Ot- 
Troler. za Örl nuag Fnaıreiv ar anodıdoraı aurıs Toy Inmror, or di 
aura xareaztvaadn: yiv 7 TR gavoh Gwryola rar n dıa vis TOMUr;: UNo- 
Iraew; TÜV arm anoxalvung. 


2) Theophylaet. in Matth. 27, 4. 








Zweites Kapitel. 8. 119. 375 


in Haß und Rarhgier.?) Andere haben fich mehr ber von 
Theophylaft aufbehaltenen Vermuthung angefchloflen, daß Zus 
das gehofft haben möge, Jeſus werde auch dießmal feinen Feinden 
entgehen. Dieß faßten die Einen noch fupranaturaliftifch fo, 
als hätte Judas erwartet, Jefus werde fi) durch Anwendung 
feiner Wunderkraft in Freiheit fegen;*) confequenter auf ihrem 
Standpunft muthmaßten Andere, Judas möge wohl erwartet 
haben, wenn Sefus gefangen wäre, werbe ein Volfsaufftand 
zu feinen Gunften ausbrechen und ihn befreien.) Judas wird 
hienach als ein folcher vorgeftellt, der, darin übrigens den an⸗ 
bern Füngern gleich, das Meffiasreich irdiſch und politifch fich 
dachte, und daher unzufrieden war, daß Jeſus die Gunſt des 
Volks fo lange nicht benüßte, um ſich zum mefltanifchen Herr: 
ſcher aufzuwerfen. Veranlaßt nun entweder durch Beftechungs- 
verfuche des Synedriums, oder durch das Gerücht von deſſen 
Plane, Iefum nah dem Feſt insgeheim zu verhaften, habe 
Judas diefem Anfchlag, der Jeſum verderben mußte, zuvorzu- 
fommen, und eine Verhaftung noch während des Fefts zu 
Stande zu bringen gefücht, wo er gewiß hoffen zu koͤnnen 
glaubte, Jeſum durch einen Volksaufſtand befreit, ebendamit 
aber genöthigt zu fehen, fich endlich dem Volk in die Arme zu 
werfen, und zur Gründung feiner Herrfchaft den enticheidenden 
Echritt zu thun. Da er Jeſum von der Nothwendigfeit' feiner 
©efangenncehmung, und daß er in drei Tagen fich wieder er- 
heben werde, fprechen hörte, habe er dieß als Zeichen. der Ein- 
fiimmung Jeſu in feinen Plan genommen, in diefem Wahne 
defien übrige abmahnende Reben theils überhört, theils falfch 
gedeutet, namentlich das 0 szoreis, Teoinoov Teyıov als eine 


5) Kaifer, bibl. Theol. 1, ©. 249. Aehnlich auh Klopftod, im . 
Meſſias. 

4) K. Ch..L. Schmidt, exeg. Beitraͤge, 1. Thl. 2ter Verſuch, ©. 18 
ff.; vgl. denſelben in!Schmidt's Bibliothek, 3, 1, ©. 163 ff. 

5) Paulus, ereg. Handb., 3, b, ©. 451 ff. 2. J. 1, h, ©. 143 ff.; 
Haſe, L. 3. $. 132. Vgl. Theile, zur Biographie Jeſu, $. 83. 


376 " Dritter Abfchnitt. _ 
wirfliche Ermunterung zur Ausführung feines Vorhabens auf- 
gefaßt. Die 30 Silberlinge habe er von den Prieftern genom- 
men, entiwveber um feine wahre Abficht hinter den Schein der 
Habſucht zu verbergen, und ihnen dadurd jeden Verdacht zu 
benehmen; oder habe er neben der Erhebung zu einer der erften 
Stellen im Reiche feines Meifterd, die er erwartete, auch jenen 
Heinen Bortheil noch. mitnehmen wollen. Aber Judas habe 
fich in zwei Punkten verrechnet: einmal, indem er nicht bedadhte, 
daß nach der durchſchmausten Bafchanacht das Volk nicht frühe 
zu einem Aufftand wach fein würde; zweitens, indem er nicht 
erwog, daß das Synedrium eilen würde, Jeſum in die Hände 
der Römer zu bringen, denen ein Bolfsaufftand ihn fehwerlich 
zu entreißen im Etande war. So fol nun Judas entiweder 
ein verfannter braver Mann, 9) oder ein Getäufchter fein, der 
aber fein gemeiner Charafter, vielmehr in feiner Verzweiflung 
noch ein Trümmer apoftolifcher Größe war; ) oder fol er, 
zwar durch ein fchlechtes Mittel, doch einen guten Zwed ha⸗ 
ben erreichen wollen.” — Beide Anfichten von Jeſu, Die 
übernatürliche und die natürliche, laͤßt Neander in der Art 
al8 Dilemma in Judas vorhanden fein, daß er gedacht haben 
ſoll: ift Sefus der Meflias, fo wird ihm, vermöge feiner übers 
natürlichen Kraft, die Uebergabe an feine Feinde nichts ſchaden, 
im Gegentheil zur Befchleunigung feiner Verherrlichung' dienen; 
ift er aber der Meſſias nicht, fo verdient er den Untergang. 
Hienach . wäre der Verrat) nur die Probe geweſen, auf welche 
der zmweifelnde Sünger die Meffianität des Meifters flellen 
wollte. ?) 
‚Unter dieſen Anfichten ift eigentlich nur diejenige, welche 
den Berrath des Judas aus gefränktem Ehrgeiz ableitet, im 
Stande, eine pofttive Spur für ſich anzuführen: den Verweis 


— m — — — 


6, Schmidt, a. a. O. 

7) Haſe. 

8) Paulus. 

2) Reander, 2. J. Chr., ©. 578 f. 














Zweites Kapitel. $. 119. 377 


nämlich, ven fich derfelbe von Jeſu beim Bethanifchen Mable 
zuzog. Allein gegen die Berufung auf dieſen Verweis ift 
fihon bei anderer Gelegenheit die Bemerfung der neueften 
Kritik gekehrt worden, daß die Milde vdefjelben, wie fie na⸗ 
mentlich aus der DVergleichung mit der weit fchärferen Zus 
rechtweiſung des Petrus, Matth. 16, 23, erhelle, in gar 
feinem VBerhältniß zu dem Groll ftünde, den er in Judas 
erregt haben foll; !%) daß dieſer aber fonft Zurüdfegung gegen 
feine Mitjünger erfahren habe, davon fehlt uns jede Spur. 
Alle übrigen Vermuthungen über die eigentliche Triebfever 
der That des Judas EFönnen nur negative Gründe für ſich 
anführen, d. h. Gründe, die es unwahrfcheinlid, machen follen, 
daß er überhaupt eine böfe Abficht bei feinem Anfchlage ge- 
habt habe, und daß insbefondere Habfucht feine Triebfeder 
gewefen fei; einen pofitiven Beweis aber, daß er das Wer 
Sefu habe fördern wollen, und daß namentlich ungeftüme pos 
litifche Meſſiashoffnungen ihn getrieben haben, vermögen fie 
nicht beizubringen. — Daß Judas überhaupt Feine böfe Abficht 
gegen Jeſum gehabt habe, dafür beruft man fich hauptfächlich 
darauf, daß er, nachdem ihm die Ablieferung Jeſu an die 
Römer und die Unvermeibfichfeit feines Todes zu. Ohren ges 
fommen, in Verzweiflung gerathen fei, als Beweis, daß er 
einen entgegengefesten Erfolg erwartet hatte. Allein nicht bloß 
der unglüdliche Erfolg, wie Baulus meint, fondern ebenfo 
auch der glüdliche, over das Gelingen des. Verbrechens, „zeigt 
dafielbe, welches man fich vorher unter taufend Entfchuldis 
gungsgründen verfchleierte, in feiner. ſchwarzen, eigenthümlichen 
Geſtalt.“ Das real gewordene Verbrechen wirft die Maske 
ab, die man dem nur erft idealen, im Gedanken vorhandenen, 
leihen konnte; und fo wenig die Reue manches Mörders, wenn 
er den Ermordeten vor fich liegen fieht, beweist, daß er den 
Mord nicht wirklich beabfichtigt habe: ebenfo wenig fann die 


— 


10) 1. Band, $. 88. ©. 779. Vgl. noch Haſe, a. a. O. 








378 0 Dritter Abſchnitt. 


des Judas, als er Jeſum ohne Rettung ſah, beweiſen, daß 
er nicht vorausberechnet hatte, es werde Jeſum das Leben 
koſten. | . 
Unmoͤglich aber, fagt man ferner, kann insbefondere Habs 
fucht die Triebfever des Judas gewefen fein; denn wenn es 
ihm um Gewinn zu thun war, fo fonnte ihm nicht entgehen, 
daß die fortdauernde Eaflenführung in der Gefellfehaft Jefu 
ihm mehr abwerfen- würde, als die elenden 30 Silberlinge, 
unfres Geldes 20—25 Thaler, die er befam, was bei ven 
Juden die Vergütung für einen verlegten Sklaven, ein Tag⸗ 
Iohn auf 4 Monate war. Allein eben die 30 Silberlinge 
fucht man vergeblich bei allen Berichterftattern außer Matthäus. 
Johannes ſchweigt völlig über einen dem Judas von den 
Brieftern gebotenen Lohn; Markus und Lufas fprechen unbe: 
ftimmt von aoyvpıov, das fie ihm verfprochen haben, und auch 
den Petrus läßt die Apoftelgefchichte (1, 18.) nur von einem 
uoFog reden, der dem Judas zu Theil geworden ſei. Mat 
thäus aber, der allein jene beftimmte Summe hat, läßt ung 
zugleich feinen Zweifel über den hiftorifchen Werth feiner Ans 
gabe. Er eitirt nämlich, nachdem er das Ende des Judas 
berichtet (27, 9 f.), eine Stele aus Zacharias (11, 12 f.; 
aus Irrthum ſchreibt er Seremias), in welcher ebenfalls 30 
Silberlinge ald Preis vorfommen, zu welchem einer ange: 
fchlagen worden fei. Zwar find in der Prophetenftelle die 
30 Sitberlinge Fein Kaufpreis, fondern ein Lohn; der damit 
Bezahlte iſt der Jehova's Perſon vorftellende Prophet, und 
durch die geringe Summe wird die Geringfchägung angezeigt, 
welche die Juden gegen fo viele göttliche Wohlthaten fich zu 
Schulden fommen :ließen. u) Wie leicht aber Fonnte ein 
shriftlicher Leſer durch dieſe Stelle, in welcher von einem 
Shmählich geringen Preife Cironifch 22 778) die Rede war, 
um welchen bie Israeliten einen im Orakel Redenden 





j 


11) Rofenmülter, Schol. in V. T. 7, 4, ©. 318 ff. 











Zweites Kapitel. $. 119. 379 


angefchlagen haben, an feinen Mefjias erinnert werden, der um 
ein feinem Werthe gegenüber jedenfalls geringes Geld feinen 
Feinden verfauft worden war, und er fonnte nun aus Diefer 
Stelle heraus den Breis beftimmen, ber dem Judas für die 
Veberlieferung Jeſu bezahlt worden war. 19) Hienach geben 
die zouxovre aoyvorw durchaus feinen. Punkt ab, auf den ſich 
derjenige ſtützen koͤnnte, welcher beweifen will, der geringe 
Lohn könne es nicht gemwefen fein, was den Judas zum Ber: 
räther machte; denn wie gering oder bedeutend der Lohn war, 
welchen Judas befam, wiffen wir hienach gar nicht. - Auch 
aus Matth. 27, 7 ff. A. G. 1, 18., wonach um den Ver⸗ 
rätherlohn des Judas ein ayoog oder xwoiov erfauft wurde, 
ift nicht mit Neander auf die Geringfügigfeit jener Summe 
zu fchließen, da, auch abgefehen von dem fpäter zu unterfus 
chenden hiftorifchen Werthe jener Angabe, die beiden anges 
führten Ausprüde ein größeres oder Heineres Stüd Landes 
bedeuten Fönnen, und die Beſtimmung eis rayım roig Evo, 
welche Matthäus demfelben anmweist, an feinen allzu geringen 
Umfang deffelben denken läßt. Wie derfelbe Theologe gar in 
dem Ausdrud auch der beiden mittleren Evangeliften, die jü- 
difchen Obern haben dem Judas agyvprav zu geben verfprochen, . 
die Andeutung einer geringen Summe finden will, ift vollends 
nicht einzufehen. — Weit triftiger ift die fchon oben in ans 
derem Sinne angeführte Bemerkung, daß Jeſus einen, den 
er als gewinnfüchtig bis zur Unreblichkeit Fannte, fchwerlich - 
zur Gafjeführung berufen und auf diefem Poften gelaffen haben 
würde; weßwegen Neander geradezu annimmt, der vierte Evans 
geliſt, wenn er die Bemerkung des Judas bei'm Bethanifchen 
Mahle aus feiner Hgbfucht ableite, habe diefelbe nach der 
fpätern Wendung, die es mit Judas nahm, falſch ausgelegt, 
und namentlich auch die Befchuldigung, daß Judas die 


12) Auch Neander findet biefe Entſtehung der Angabe des erſten Evan: 
geliums möglid, ©. 574. Anm. 


! 


380 , Dritter Abſchnitt. 
Geſellſchaftscaſſe beftohlen habe, aus feinem Eigenen hinzugefügt.'9 
Allein biegegen fragt fih, ob man vom Nean der' ſchen Stand» 
punfte aus dem Apoftel Johannes, als vorausfeglichem Ver⸗ 
faffer des vierten Evangeliums, eine fo grundlofe Berläums 
dung — denn dieß wäre es nach Neander's Vorausfehung — 
zur Laft legen darf; und auf. dem unfrigen wäre ed wenigs 
ftens natürlicher, anzunehmen, daß Jeſus den Judas zwar 
als gelbliebend, aber bis zulegt nicht als unredlich gefannt, 
und daher für den bezeichneten Poſten nicht ungeeignet ge- 
funden habe. — Was Neander fchließlich bemerkt: wenn’ 
Judas durch Geld bewogen werden Fonnte, Zefum zu verra- 
then, fo müffe. er den rechten Glauben an ihn längft verloren 
gehabt haben — dieß verfteht fich von felbft, und muß bei 
jeder Anficht von der Sache vorausgefegt werben; allein das 
' Erfterben des Glaubens konnte ihn zunächft nur zu dem 
areldeiv £ig Ta oniow Joh. 6, 66. bewegen: um ihn auf 
den Gedanken des Verraths zu bringen, bedutfte es eines 
weiteren, befonderen Reizes, welcher nun an fich gleich gut 
Gewinnfucht, wie jene von Neander u. A. ihm untergelegten 
Abfichten, gewefen fein fann. 

Daß Gewinnfucht als folche nächte Triebfeder ur Er: 
Härung der That des Judas genüge, will ich nicht behaupten; 
nur das halte ich feft, daß eine andere Triebfeber in den 
Evangelien weder angegeben, nod irgendwie angebeutet ift, 
jede derartige Hypotheſe alfo in der Luft fteht. 1%) 


6. 120. 
Beftellung des Paſchamahls. 


Am erften Tage der urgefäuerten Brote, an deſſen Abende 
das Pafchalamm gefchlachtet werden mußte, alfo den Tag vor 


m 





— 


IE J. Chr. ©. 573, 
2) Vgl. au Fritz ſche, in Matth. p. 759 f. 














Zweites Kapitel. $. 120. 381 


dem eigentlichen Feſte, welches aber an bemfelben Abend noch 


feinen Anfang nahm, d. 5. den 14ten Nifan, fol Jefus, nach, 
den zwei erften Evangelien auf eine von den Süngern an ihn 
gerichtete Anfrage, nad Matthäus unbeftimmt, welche und 
wie viele, nab Markus zwei Jünger, welche Lufas als ven 
Petrus und Johannes bezeichnet, zur Stadt geſchickt haben 
(vielleicht von Bethanien aus), um für die Feftmahlzeit ein 
Local zu beftellen, und die weiteren Anordnungen zu treffen 


(Matth. 26, 17 ff. parall.). Was Jeſus diefen Jüngern für 


eine Weifung gegeben, darin ftimmen bie drei Berichterftatter 
nicht ganz überein. Nach allen fehidt er fie zu einem Manne, 
bei welchem fie nur im Auftrage des didaoxalos ein Local 
zur Pafchafeier begehren dürften, um fogleich eines eingeräumt 
zu befommen: aber theild wird Diefes Local von den beiden 
andern näher ald von Matthäus bezeichnet, nämlich als ein 
großes oberes Zimmer, welches bereit mit Bolftern verfehen, 
und zum Empfang von Gäften zugerichtet ſei; theils wird 
namentlich die Art, wie fie den Eigenthümer veffelben aufs 
finden follten, von jenen anders ald von dieſem angegeben. 
Matthäus nämlich läßt Jeſum nur: fagen, fie folten hingehen 
srgös Tov deva: die übrigen aber, fie würden, in die Stadt 
getreten, einem Menfchen begegnen, welcher ein xegauuov üderog 
trage, dem follten fie in das Haus, in welches er gehe, folgen, 
und dafelbft mit dem Hausherrn unterhandeln. 

In diefer Erzählung hat man eine Menge von Anftößen 
gefunden, welche Gabler in einer eigenen Abhandlung zus 
fammengeftellt hat.) Schon das ift aufgefallen, daß Jeſus 
erft am legten Tage an die Beftelung des Mahles gedacht 
haben ſoll, ja nach den beiden erſten Evangeliſten noch durch 
die Juͤnget daran erinnert werden muß, da doch bei dem 
großen Andrang von Menſchen in der Paſchazeit (2,700,000 





1) Ueber die Anordnung des legten Paſchamahls Zefu, in feinem neueften 
theol. Zournal, 2, 5, ©. 441 ff. 


382 Dritter Abſchnitt. 


nach: Zofephus) *) die ftädtifchen Locale bulb vergeben waren, 
und bie meiften Fremden vor ber Stadt unter Zelten cams» 
piren mußten. Um fo fonderbarer ift dann, daß demunerachtet 
die Boten Jeſu das verlangte. Zimmer nicht befegt finden, 
fondern der Eigenthümer, ald hätte er Jeſu Beftelung geahnt, 
es für ihn aufgehoben, und bereits für ein Gaftmahl zuges 
richtet hatte. Und deſſen verficht. ſich Iefus fo gewiß, daß 
er den Hauseigenthümer nicht erft fragen -Iäßt, ob er bei 
ihm ein Local zur Bafchamahlzeit befommen Tönne, fondern 
ohne Weiteres, wo das für ihn geeignete Local fei? ober 
nad) Matthäus ihm nur anfagen läßt, er werde bei ihm das 
Paſcha efien; wozu noch fommt, daß nah Markus und 
Lukas Jeſus fogar dieß weiß, was für ein Zimmer und in 
welchen Theile des Haufes ihnen eingeräumt werden wiürbe. 
Befonders auffallend ift nun aber nach diefen beiden die Art, 
wie die Jünger den Weg nach dem betreffenden Haufe finden . 
follen. Lautet nämlich bei Matthäus das Unayere eis am 
sroAıw rio0g Tov deiva einfach fo, als hätte zwar Jeſus ben 
Namen deſſen, zu dem fie gehen follten, genannt, der Referent 
aber ihm nicht mehr angeben wollen oder. können: fo bezeichnet 
hei den beiden andern Berichterftattern Jeſus den Jüngern . das 
Haus, in das fie zu gehen hätten, durch einen Wafferträger, 
dem fie begegnen würden. Wie Eonnte nun Sefus in Betha- . 
nien, oder wo er fonft eben war, diefen zufälligen Umſtand 
vorherwifien, wenn anders nicht vorher verabredet worden war, 
daß um diefe Zeit ein Knecht aus jenem Haufe mit einem 
Krug Wafler fich zeigen, und auf Die Boten Jeſu warten 
folte? Auf eine vorhergegangene Verabredung frhien den ra⸗ 
tionaliſtiſchen Erklärern Alles in unfrer Erzählung hinzuweifen, 
und durch dieſe Borausfeßung zugleich alle Schwierigkeiten derfels 
ben fich zu Iöfen. Die fo fpät erft ausgefchidten Jünger konnten 
nur dann noch ein Local unbefegt finden, wenn dieß von Jeſu 


— —— — — 


2) Bell. jud. 6, 9, 3. 











Zweites Kapitel. $. 120. : 388 


vorher beftellt worden war; nur dann konnte er dem Haus⸗ 
befiger fo Fategorifch fich anfagen laffen, wenn er mit ihm 
ſchon früher Abrede genommen hatte; aus einer folchen erklärt ' 
fih auch Jeſu genaue Kenntniß von dem Locale, und endlich, 
wovon ausgegangen wurde, feine Gewißheit, daß die Jünger 
einem Waflerträger aus jenem: Haufe begegnen würden. Den 
Umfchweif diefer Bezeichnung des Haufes, der durch einfache 
Nennung ded Namend vom Eigenthümer zu vermeiden war, 
fol Jeſus gemacht haben, um den Ort, wo er die Mahlzeit 
halten wollte, nicht vor der Zeit dem VBerräther befannt wer: 
den zu laffen, der fonft vielleicht ſchon dort ihn auf flörende 
Weiſe überfallen haben würde. 3) 

Allein diefen Eindrud macht die evangelifche Erzählung 
durchaus nicht. Don einer Verabredung, vorgängigen Beſtel⸗ 
lung, hat ſie nichts; vielmehr ſcheint das EUOOV xaFWS Eiprnev 
avrois bei Markus und Lukas darauf hinweiſen zu follen, 
daß Jeſus Alles, wie es fich fpäter wirklich fand, vorauszu- 
fagen im Stande war; eine furchtfame Vorſicht ift nirgends 
angezeigt, vielmehr deutet Alles auf eine wunderfame Borauss 


fiht hin. Naͤher ift hier, wie -oben bei der Beftellung des 


Reitthieres zum Einzug in Jerufalem, das zwiefache Wunder 
sorhanden, daß einerfeits für Jeſu Bebürfniffe Alles bereit ift, 
‚and der Gewalt feines Namens Niemand zu wiverftehen ver- 
mag; andrerfeitS aber Jeſus in entfernte Berhältniffe einen 
Bli zu werfen, und das Zufälligfte vorherzufagen im Stande 
it.) Es muß befremden, daß dieſe fo unabweisbar fich 


3) So Gabler, a. a. DO aͤhnlich Paulus, exe. oᷣurt 3, b, 
©, 4815 Kern, Hauptthatſachen, Tuͤb. Zeitſchr. 1836, 3, © .3f; 
Neander, ©. 583, 

% Richtig, nur mit zu fpecieller Betiehung auf das Jeſu bevorſtehende 
Leiden, gibt Beza, zu Matth. 26, 18., als Zweck dieſer Vorherbe⸗ 
zeichnung an, ut magis ac magis intelligerent discipuli,“ nihil 
temere in urbe magistro eventurum, sed quae ad minutissimas 
usque circumsfantias penitus perspecta haberet. 


384 Dritter Abſchnitt. 


barbietende fupranaturaliftifche Auffaffung des vorliegenden Be- 
richts dießmal ſelbſt Ols hauſen zu umgehen fucht, mit Gründen, - 
durch welche die meiften Wundergefchichten umzuftoßen wären, 
und welche man fonft nur von Ratiolaliften zu hören gewohnt 
ift. Dem urparteiifchen Ausleger, fagt er, 5) gebe die Erzäh⸗ 
lung nicht das Geringfte an die Hand, das die mwunderhafte 
Auffaflung rechifertigte, — man glaubt ſich bereits in Pau⸗ 
[us Commentar verfegt; wollten die Referenten ein Wunder 
erzählen, fo hätten fie ausprüdlich bemerfen müflen, es habe 
feine Verabredung flattgefunden — ganz das ratienaliftifche 
Begehren, wenn eine Heilung ald wunderbare anerfannt wer⸗ 
den follte, fo müßte die Anwendung natürlicher Mittel aus- 
prüdlich geläugnet fein; auch ein Zweck dieſes Wunders fei 
nicht einzufehen, insbeſondere eine Glaubensftärfung der Jün⸗ 
ger fei damals nicht nöthig, und nach den früheren erhabeneren 
Wundern durch dieſes weniger bedeutende nicht zu erreichen 
gewefen — Gründe, durch welche ebenfo namentlich auch bie 
ganz ähnliche Erzählung von der Vorherbezeichnung des Eſels 
bei'm Einzug, welche doch Olshauſen als wunderbar feft 
hält, aus dem Kreife des Uebernatürlichen ausgefchloffen wers 
den würde. \ 

Eben diefer früheren Erzählung nun aber ift die gegen- 
wärtige fo auffallend verwandt , daß über die hiftorifche Realität 
der einen nicht anders als über die der andern geurtheilt wer: 
den fann. Hier wie dort hat Jeſus ein Bebürfniß, für deſſen 
fchleunige Befriedigung von Gott fo.geforgt ift, daß Jeſus bie 
° Art diefer Befriedigung auf's Genauefte vorherweiß; hier bebarf 
er einen Speifefaal, wie dort ein Reitthier ; hier wie dort fens 
det er zwei Jünger aus, um die Beftellung zu machen; bier 
gibt er ihnen einen begegnenden Waflerträger als Kennzeichen 
für da8 Haus an, wie dort der angebundene Efel das Zeichen 
war; bier wie dort weist er die Jünger an, dem Eigenthümer 
nur ihn, hier als dudauxaAos, wie dort als xuorog, zu nennen, 


5) Bibl. Comm. 2, ©. 385 f. Byl. dagegen be Wette 5. b. St. 





r 


Zweite Kapitel. $. 120. 385 


um ſogleich die unmweigerliche Gewährung feines Werlangens 
auszuwirfen; beidemale entfpricht der Erfolg feiner Vorausfage 
gendu. Auch bei diefer Erzählung, wie bei der früheren, 
feblt ver hinreichende Zweck, welchem zulieb ein: folches mehrs 
faches Wunder fönnte veranftaltet worden fein; wogegen ber 
Grund ebenfo leicht wie bei jener in die Augen fällt, vermöge 
deſſen fich in der urchriftlichen Sage die Wundererzählung 
ausgebilvet haben mag. An eine A.T.liche Erzählung insbe: 
fondere, an welche wir ſchon dort denken mußten, werden wir 
hier noch beftimmter erinnert. Zum Zeichen, daß er ihm mit 
Grund der Wahrheit die Herrfchaft über Israel verfündigt 
habe, fagt Samuel dem Saul vorher, wer ihm bei'm Weg- 
gehen von ihm begegnen werde. Nämlich zunächft zwet Männer 
mit der Nachricht, daß feines Vaters Efelinnen wiedergefunden 
-feienz; hierauf drei andere, welche Opferthiere, Brot und Wein 
tragen und ihm von dem Brote anbieten werden u. f. f. 
(1. Sam. 10, 1 ff); woraus wir fehen, durch welcherlet 
Borherfagungen die hebraiſche Sage ihre Propheten ſich be⸗ 
glaubigen ließ. 

Was ſchließlich das Verhaͤltniß der Evangelien betrifft, 
fo wird gewöhnlich die Erzählung des Matthäus tief unter 
die der zwei andern Synoptifer gefegt, und als die fpätere 
und abgeleitete betrachtet. ) Vor Allem fol der Umftand mit 
dem Wafferträger, welchen jene beiden geben, der urfprüng> 
lichen Thatfache angehören, in der Sage aber, bis fie an 
Matthäus Fam, verloren gegangen, und nun das räthfelhafte 
vmayere 75005 vov deiva an feine Stelle gefegt worden fein. 
Allein, wie wir gefunden haben, ift der dewa vielmehr unver: 
fänglich,, der Wafferträger aber im höchften Grade räthfelhaft. 7) 


6) Schulz, über das Übendmahl, ©. 321; Schleiermader, über 
den Lukas, ©. 2805 Weiße, die evang. Geſch. S. 600 f. 

7, S. Theile, über die letzte Mahlzeit Sefu, in Winer’s und En- 
gelhardt’s neuem krit. Journal, 2, S. 169. Anm., und zur Biographie 
Jeſu, F⸗ 31. 

IL. Band. 25 


386 Dritter Abſchnitt. 


Noch weniger läßt fich darin, daß Matthäus die abgefchidten 
Juͤnger nicht wie Lufas als den Petrus und Johannes bezeichs 
net, eine Spur finden, daß die Erzählung des dritten Evan⸗ 
geliums die urfpränglichere fei.. Denn wenn Schleiermacher 
fagt, diefer Zug habe wohl im Hindurchgehen durch mehtere 
Hände verloren gehen, nicht leicht aber durch eine ſpaͤtere Hand 
hinzufommen fönnen, fo ift wenigftens bie Iegtere Behauptung 
ohne Grund. So wenig wahrfcheinlich es ift, daß zu einer 
fo rein öfonomifchen Beftellung Jeſus gerade die beiden erften 
Apoftel verwendet haben follte; fo leicht laͤßt ſich denken, daß 
zuerft. unbeflimmt, wie wir bei Matthäus Iefen, eine Sendung 
der oder einiger Jünger erzählt wurde, deren Zahl hierauf, 
vielleicht aus der Erzählung von der Sendung nach dem Ejel, 
auf zwei feftgefebt, und diefe Stellen endlich, da es von einer 
Auswahl zu einem Gefchäft von fyäterhin hoher Bedeutung 
— der Bereitung des lebten Mahles Jeſu — fich handelte, 
durch die beiden erften Apoftel ausgefüllt wurden. So daß 
hier felbft Markus fi) der urfprünglihen Wahrheit wieder 
mehr genähert zu haben fcheint, indem er die von Lukas an 
die Hand gegebenen Namen ber beiden Jünger in ' feine Ers 
zählung nicht aufnahm. 


s 121. 
Abweichende Angaben über die Zeit des lebten Mahles Jeſu. 


Melvet der vierte Evangelift ‚von der bisher befprochenen 
Beſtellung ber Bafchamahlzeit nichts, fo weicht er auch in Ber 
zug auf dad Mahl ſelbſt auffallerd von ben übrigen ab. Abs 
geſehen nämlich von ver durchgehenden Differenz im Inhalte 
der Scene, von welcher erft fpäter die Rede werben Tann, 
feheint er, was die Zeit des Mahles betrifft, es mit eben ber 
Beſtimmtheit als eine vor dem Paſcha gehaltene Mahlzeit zu 
geben, wie die Synoptiker als das Paſchamahl felbft. 

Wenn diefen zufolge ver Tag, an welchem bie Jünger 











Zweites Kapitel. |. 121. . 367 


von Jeſu zur Beftelung des Mahles angewielen wurden, bes 
teils 7 rpwen voy aLvuem war, &v n Eder Iveodaı TO rooye 
(Matth. 26, 17 parall.): fo kann das darauf gefolgte Matt 
fein anderes als eben das Paſchamahl gewefen fein; wenn 
ferner die Jünger Jeſum fragen: rä FJelsıs Erormaegdv cos 
gayelv 16 naoyge Yebend.); wehn es hierauf von benfelben 
heißt: 7rolueoev ro nraoye (Matth. B. 19 parall.), und fofort 
von Jeſu: Orblag yevouärıg avkxsıro era rom dudexa (V. 20.): 
fo wäre das Mahl, zu welchem man fich bier niederließ, fchon 
überflüffig als das Paſchamahl bezeichnet, wenn auch micht 
Lufas (32, 135.) Jeſum daſſelbe mit den Worten eröffnen ließe: 
Zuihrulg EnneItnjoa TöTo TO Nauya gayelv us? vum. — 
Wenn dagegen das vierte Evangelium feine ‚Erzählung von 
bem letzten Mahle mit der Zeitbefiimmung: rse0 de wig äoprig 
Tö naoga eröffnet (13, 1.), fo ſcheint das deisıwor, deſſen es 
unmittelbar darauf (VB. 2.) gedenkt, ebenfalld noch vor das 
Bafchafeft zu fallen; zumal in der ganzen johanneiſchen Schils 
derung dieſes Abends, welche namentlich in Bezug auf die an 
das Mahl ſich knüpfenden Reden höchſt ausführlich iſt, jede 
Erwähnung und ſelbſt jede Anſpielung darauf, daß hier das 
Paſchamahl gefeiert werde, fehlt. Wenn ferner die Aufforde⸗ 
rung Jeſu an den Berräther nach dem Efien, was er thue, 
fehnell zu thun, von den Jüngern dahin mißverſtanden wird, 
Öörı Atysı air)" ayopeoov, am ypslav Eyouev eis czv Jopray 
(V. 29.): fo bezogen fich die Feſtbedürfniſſe doch Hauptfächlich 
auf das Pajchamahl, und fann folglich die fo eben vollendete 
Mahlzeit nicht wohl ſchon das Paſchamahl gewefen fein. Wenn 
es dann (18, 28.) weiter heißt, am folgenden Morgen ſeien 
die Juden nicht in das heidniſche Praͤtorium gegangen, va ur 
umw3uow, all va gaywaı zo raoya: fo ſcheint auch hienach 
die Pafchamahlzeit noch bevorgeftanden zu haben. Dazu Tommt, 
daß (19, 14.) eben dieſer folgende Tag, an welchem Jeſus 
gefreuzigt wurde, als iapaoxeun TE naoxa bezeichnet wird, 
d. h. als derjenige Tag, an befien Abend erft das Paſchalamm 
verzehrt werben follte; auch, wenn von dem zweiten Tage nach 
35 


388 .Drrtter Abſchnitt 


jener Mahlzeit, welchen Jefus im Grabe zubrachte, geſagt 
wird: 7 yadp usyaln 7 mutige Exelve ũ vaßßers (19, 31.): 
fo fcheint dieſe beſondere Feierlichfeit eben daher gerührt zu 
haben, dag auf jenen Sabbat der erfte Paſchatag fiel, alſo 
das DOfterlamm nicht ſchon am Abend der Gefangennehmung 
Jeſu gefeiert worden war, fondern erft am Abend ‚feines Des 
gräbnifies gehalten wurde. 

Diefe Abweichungen find fo bedeutend, daß manche Aus⸗ 
leger, um die Evangeliſten nicht in Widerſpruch mit einander 
kommen zu laſſen, auch hier die alte probate Auskunft ange⸗ 
wendet haben, ſie reden gar nicht von derſelben Sache, Jo⸗ 
hannes meine eine ganz andere Mahlzeit, als die Synoptiker. 
Das johanneiſche deirwov iſt hienach ein gewöhnliches Abend⸗ 
eſſen, ohne Zweifel in Bethanien; bei dieſem nahm Jeſus die 
Fußwaſchung vor, fprach vom Berräther, und fügte, nachdem 
diefer die Geſellſchaft verlaffen, noch andere Reben tröftenden 
und ermahnenden Inhalts hinzu, bis er endlich am Morgen 
des 14ten Nifan durch Die Worte: Eyeiosode, aywuev Evreüdev 
(14, 31.), die Jünger zum Aufbruch von Bethanien und zum 
Gang nach Serufalem ermahnte. Hier fallen nun die Syn⸗ 
optifer ein, indem fie ihn auf dem Wege nach Serufalem die 
zwei Jünger zur Beftellung des Mahls ausfenvden laſſen, bier- 
auf dad Pafchamahl einfügen, von welchem Sohannes fchweigt, - 
und feinerfeits erft wieder mit den nach dem Paſchamahl gehal⸗ 
tenen Reden (15, 1 ff.) eingreift. ) Gegen dieſen Verſuch, 
durch Beziehung der beiverfeitigen Erzählungen auf ganz ver⸗ 
fehiedene. Vorfälle den Widerfpruch zu vermeiden, kehrt fich 
nun aber die in mehreren Zügen unverfennbare Identität beider 
Mahlzeiten heraus, Abgeſehen nämlich von einzelnen Etüden, 
Die ſich gleicherroeife in beiden Berichten finden, will offenbar 
Sohn wie die Synoptiter das letzte Mahl ſchildern, welches 


— 


1) So Lightfoot, horae, p 453 ff.; Heß, Geſchichte Jeſu, 2, ©. 273 ff; 
auch Benturini, 3, ©. 634 ff. 


Zweites Kapitel. $. 121. 3809. 


Jeſus mit feinen Echülern gehalten hat. Darauf deutet fchon 
die Einleitung der johanneifchen Erzählung Bin; denn der Bes 
weis, der ihr zufolge hier gegeben werden fol, wie Jeſus die 
Seinigen eis r&log geliebt habe, Tieß fich am ypaflendften aus 
feinem legten gefelligen Zufammenfein mit bnefelben entnehmen. 
Ebenſo weifen die nach dem Mahle geführten Reden auf’ den 
unmittelbar bevorftehenden Abfchied hin, und an: die Mahlzeit 
und die Reden fchließt fich auch bei Johannes fogleich der Hin- 
gang nach Gethfemane und die Gefangennehmung Jeſu an. 
Sreilich follen dieſer Anficht zufolge die zulegt genannten Vor⸗ 
gänge nur an diejenigen Gefpräche ſich unmittelbar angefnüpft 
haben, welche bei dem fpäteren,. von Johannes übergangenen, 
Mahle geführt worden find (Kap. 15, 17.): allein, daß zwis 
ſchen 14,-31. und 15, 1. der Berfafler des vierten Evangeliums 
auf beiwußte Weife das ganze Pafchamahl ausgelaffen habe, 
dieß, obwohl dadurch das ˖ feltfame Eyeloscde, aywuev Evrsdter 
nicht übel erflärt zu werben fcheinen fönnte, wirb wohl Nie⸗ 
mand mehr. im Ernft behaupten wollen. Doch, dieß auch zu: 
gegeben, fo fagt ja ſchon 13, 38. Jeſus dem Petrus feine 
Berläugnung mit der Zeitbeftimmung: & m) altxıwo puren 
voraus, wie er nur bei der legten Mahlzeit fprechen Eonnte, 
und nicht, wie hier vorausgefegt wird, bei einer früheren. 2) 
Diefer Ausweg. alfo muß verlaffen, und zugeftanden wer⸗ 
ven, daß fämmtliche Evangeliften von der gleichen Mahlzeit, 
der legten, welche Jefus mit feinen Juͤngern hielt, reden wollen. 
Und hiebei fehien die Bilfigfeit, die man jedem Autor fehuldig 
ift, und in befonderem Maße den biblifchen ſchuldig zu fein 
glaubte, den Verſuch zu erfordern, ob nicht, ungeachtet fie 
Einen und denfelben Vorgang in mehreren Beziehungen äußerft 
abweichend darſtellen, dennoch beide Theile Recht haben 
könnten. Es müßte fich alfo, was die Zeit betrifft, zeigen 
laſſen, entweder daß auch die drei erften Evangeliften wie ber 


2) Eine ungenügende Auskunft gibt Lightfoot, p. 482. f. 


390 Dritter Abſchnitt. 


vierte nicht ein n Baftanafi, ober, daß auch biefer wie jene 
ein folches geben wolle. 

Ein altes Fragment ?) hat die Aufgabe auf dem erfteren 
Wege zu loͤſen verfucht, indem es läugnet, daß Matthäus das 
lebte Mahl Jeſu auf den Abend des 14ten Rifan, als bie 
eigentliche Zeit für das Pafchamahl, und fein Leiden auf ven 
135ten Nifan, als den erften Tag des Paſchafeſtes, febe; 
allein es ift nicht abzufehen, wie die ausprüdlichen Hinweiſun⸗ 
gen auf das Paſcha in den Sunoptifern befeitigt werden follen.- 

Weit allgemeiner ift daher in neueren Zeiten der Verſuch 
gemacht worden, den Johannes auf die Seite der übrigen 
herüberzuziehen.) ein 96 wg Eoprig r& naoye (18, 1.) 
‚glaubte man durch die Beobachtung befeitigen zu können, wie 
ja An diefe Worte nicht unmittelbar das deinvov, fondern nur 
pie Bemerkung fich anfchließe, daß Jeſus gewußt habe, nun 
fei feine Stunde gekommen, und daß er die Seinigen bis an's 
Ende geliebt habe; erſt im. folgenden Verſe ſei dann vom Mahle 
die Rede, auf welches alſo jene Zeitbeſtimmung ſich nicht beziehe. 
Worauf ſoll ſie ſich dann aber beziehen? auf das Wiſſen, daß 
feine Stunde gekommen ſei? dieß iſt nur eine Rebenbemerfung ; 
oder auf die bis zum Ende bewahrte Liebe? zu dieſer aber 
kann eine fo ſpecielle Zeitbeftimmung nur dann gehören, wenn 
fie als ein Außerer Liebesbeweis gemeint if, und als folcher 

bethätigte fie fi eben bei jenem Mahle, weldes alfo immer 
der Punkt bleibt, der durch jene Tagsbeſtimmung fixirt werden 
ſoll. Daher vermuthet man ferner, das oo Fig Eopris. fei 
aus Anbequemung an bie Griechen geredet, für welche Johannes 
gefchrieben habe: weil dieſe den Tag nicht wie die Juden mit 
dem Abend begannen, fo fei ihnen das am Anfang des erften 
Paſchatags -gehaltene Mahl als eine Mahlzeit am Vorabende 


5) Fragm. ex Claudii Apollinaris libro de Paschate, in Chron. Pa- 
schal. ed. du Fresne. Paris 1688, p. 6 f. praef. 

%, ©. namentlich Tholud und Dishaufen, z. b. Abfchn,; Kern, 
Hauptthatſachen, Tuͤb. Zeitfhr. 1836, 3, ©, 5 ff. 








Zweites Kapitel. $. 121. 9 


des Bafcha erfehlenen. Allein welcher verftändige Schriftſteller, 
wenn er einen möglichen. Mißverftand des Lefers vermuthet, 
fchreibt Dann lieber gleich fo, wie der Lefer ihn mißverſtehen 
wird? — ESchwieriger noch ift 18, 28, wo bie Juden am 
Morgen nad Iefu Gefangennehmung das Prätorium nicht 
betreten, um fich nicht zu verunreinigen, all iva yaywaı To 
raoya. Doc glaubte man nach Stellen, wie 5. Mof. 16, 
1. 2., wo fämmtliche in der Paſchazeit zu fchlachtenden Opfer 
dur den Ausprud MOB bezeichnet find, zo naoye hier von 
‚ den übrigen während der Paſchawoche darzubringenven 
Opfern, namentlich von der gegen Ende des erften Fefttags 
zu verzehrenden Chagiga, verftehen zu bürfen. Allein fchon 
Mosheim hatte richtig bemerkt, daraus, daß bisweilen das 
Paſchalamm einfchließlich der übrigen in der Paſchazeit zu 
bringenden Opfer durch raoya bezeichnet werde, folge Feineswegs, 
daß auch dieſe übrigen Opfer mit Ausfchluß des Paſchalamms 
fo genannt werden Fönnen.?) Dagegen fuchten nunmehr vie 
Freunde jener Anficht zu ihrer Deutung ver johanneifchen Notiz 
durch die Bemerfung zu nöthigen, daß an der Pafchamahlzeit, 
die in den Spätabend, alfo ſchon in den Anfang des folgen- 
ven Tages, fiel, das Betreten eines heibnifchen Haufes am 
Morgen, als eine nur den laufenden Tag hindurch dauernde 
Verunreinigung , nicht verhindert haben würde: wohl aber am 
Genuſſe der Chagiga, weiche am Nachmittag, alfo noch an 
demfelben Sage mit der am Morgen zugezogenen Verunreini⸗ 
gung ‚. gegeffen wurde: fo daß alfo nur diefe, nicht jene gemeint 
fein könne. Allein theils wiſſen wir nicht, ob der Eintritt in 
ein heibnifches Haus nur für den Tag verunreinigte;. theils 
waren, wenn fich dieß auch fo verhielt, die Juden Durch eine 
Verunreinigung am Morgen doch an der Selbftuornahme der 
vorbereitenden Gefchäfte, die in den Nachmittag des 14ten 
Rifan fielen, wie am Schlachten der Lämmer im Tempelvorhofe, 


5) Diss, de vera notione coenae Domini, zu Sudworth. syst. intell. 
p. 22. not. 1. 


-_ 


v 





393 Dritter Abſchnitt. 


verhindert. — Am enblich auch die Stelle 19, 1A. in ihrem 
Sinne zu deuten, nehmen vie Karmoniften repeoxevn TE rra0yg 
von dem Rüſttag auf den Sabbat in der Oſterwoche; eine 
Gewaltſamkeit, welche wenigftens in 19, 31., wo die rape- 
oxevn als Rüfttag auf ven Sabbat bezeichnet ift, Teine Hülfe 
findet, weil hieraus nur erhelft, daß der Evangelift die Bor- 
ftellung bat, der erfte Pafchatag fei. Damals auf den Sabbat 
gefallen. ©) | 

Diefe Schwierigkeiten, welche ber Beziehung bes johan« 
neifchen Berichtes auf-ein wirkliches Paſchamahl hinderlich ent⸗ 
gegenftehen,, fchienen durch die Vorausfegung vermieden zu 
werden, welche man aus 3. Mof. 23, 5. 4.Mof. 9, 3. und 
einer Stelle bei Joſephus ) ableitete, daß das Paſchalamm 
nicht am Abend vom 14ten auf den Ihten, fondern an dem 
vom 13ten auf den 14ten Nifan gegeflen, mithin zwifchen Die 
Paſchamahlzeit und ven erften Fefttag, deu 15ten Nifan, noch 
ein Werftag, der 14te,. hineingefallen fei. Mit Recht werde 
hienach der auf die Ichte Pafıhamahlzeit folgende Tag Joh. 
19, 14. rrage0xevn TE nraoya genannt, weil er wirklich Rüfte 
tag guf den Fefttag gewefen; und ebenfo mit Recht heiße ver 
folgende Sabbat 19, 31, ueyain, weil mit ihm der erſte Feſt⸗ 
tag zufammengetroffen. fei.®) Aber die größte Schipierigfeit, 
welche in Joh. 18, 28. liegt, bleibt ungelöst; das ve gaywaı 
10 7700x9 nämlich muß, da bie Paſchamahlzeit ſchon porüber 
gewefen fein fol, pon den ungefäuerten Broten verftanven 
werden, welche auch während der folgenden Zefttage noch ges 
nofjen wurden: was gegen allen Sprachgebraud if. Nimmt 
man dazu, daß die Borausfegung eines zwifchen das Bafchamahl 


6) Diefe Gegenbemerlungen f. befonders bei Züde und be Wette, 2. 
d. Abfchn.; bei Sieffert, über den Urfprung, ©. 127 ff. und 
Winer, bibl. Realwoͤrterb. 2, ©. 238 ff. 

7) Antiq. 2, 14, 16. i 

8) Krifch, vom Oſterlamm; neueftend Rau d), in den theolog. Studien 
und Krititen, 1832, 3, ©. 537 ff. 











Zweites Kapitel. $. 121. 393 


und den. erfien Feſttag einfallenden Werktages im Pentateuch 
und Sofephus feine Grundlage hat, dem fpäteren Gebrauche 
entfchieden widerfpricht, und an fich hoͤchſt unwahrſcheinlich ift: 
fo wird man nicht umhin fönnen, dieſe Ausfunft wieder auf 
sugeben. °) 

Im Gefühl der Unmsglichfeit, die Bereinigung der Syn⸗ 
optifer mit Johannes in diefer einfachen Weife zu Stande zu 
bringen, haben andere Ausleger eine Tünftlichere Auskunft er- 
griffen. Der Echein, ald ob die Evangeliften das letzte Mahl 
Jeſu auf verfehievene Tage verlegten, fol darin feine Wahr: 
heit haben, daß wirklich damals entweder die Juden oder Jeſus 
das Paſchamahl auf einen andern Tag verlegt hatten. Die 
Juden, fagen die einen, um der Unbequemlichkeit auszumweichen, 
welche darin lag, daß in jenem Jahre ver erfte Bafchatag auf 
den Freitag fiel, alfo zwei Tage hintereinander ald Eabbate 
hätten gefeiert werben müflen, haben das Paſchamahl auf 
den Freitag Abend verlegt, weßwegen fie am Tage ber Kreu- 
zigung ſich noc) vor Verunreinigung in Acht zu nehmen hatten; 
Jeſus aber, fireng am Geſetze haltend, habe es zur gehörigen 
Zeit, am Domnerftag Abend, gefeiert: fo daß fowohl bie 
Synoptiker recht haben, wenn fie das letzte Mahl Jeſu als 
ein wirkliches Bafchaeflen befchreiben, als auch Johannes, 
wenn er die Juden erſt Tags darauf dem Oſterlamm entge: 
genfehen laſſe. 1% In diefem Falle hätte alſo Marfus mit 
. feiner Angabe, daß an dem Tag, öre To naoya EIvov (B. 
12.), auch Jeſus es habe zurichten laffen, unrecht; was aber 
die Hauptfache ift, fo ging es zwar in gewiffen Fällen an, 
das Paſcha einen Monat fpäter, dann aber auch am 1äten 
vefielben, zu feiern: von einer Verlegung auf einen fpäteren 
Tag deſſelben Monats hingegen findet fi nirgends eine 


9 Pal. de Wette, theol. Studien und Krit. 1834, 4, ©. 939 ff ; 


Tholuck, Eomm. 3. Joh. ©. 245 f.; Winer, a a. O. 
10 Calpin, 3. Matth. 26, 17. 


394 Deitter Abſchnitt. 


Spir. — Leber wandte man fi) daher auf die andere Seite, 
und nahm an, Jeſus habe das Pafcha auf einen frühern 
Tag verlegt. Aus rein perfönlichem Beduͤrfniß, meinten Ei⸗ 
nige, in ver Vorausficht, Daß er um die eigentliche Zeit bes 
Paſchamahls ſchon im Grabe ruhen werde, oder doch feines 
Lebens bis dahin nicht mehr ficher fei, habe er in ähnlicher 
Weife, wie von jeher Diefenigen Juden, welche an der Feſt—⸗ 
reife gehindert waren, und wie die jetzigen Juden ale, ohne 
ein gevpfertes Lamm, mit bloßen Surrogaten beffelben, ein 
TTROXR wruovevrixov gefeiert!) Allein erftlich hätte fo Jeſus 
nicht, wie Lukas fagt, das Paſcha an dem Tag, dv n des 
YveoIcı vo naoga, auch gefeiert; dann aber hält, wer Die 
bloße Gedaͤchtnißfeier begeht, 'mit Aufgebung Mr für das Paſcha 
beftimmten Dertlichfeit (Jeruſalem) doch die Zeit veflelben 
(Abend vom 14ten auf den 15ten Rifan) unverbrüchlicy feft: 
wogegen Jeſus daſſelbe gerade umgefehrt, zwar an dem ges 
wöhnlichen Ort, aber zu ungewöhnlicher Zeit gefeiert haben 
müßte, was ohne Beifpiel if. Gegen diefen Vorwurf des 
Unerhörten und Eigenmächtigen hat man die von Jeſu angeb⸗ 
Tich vorgenommene Berlegung dadurch zu ſchuͤtzen gefucht, daß 
man ihn. mit einer ganzen Partei feiner Volksgenoſſen das 
Paſcha früher al8 die übrigen feiern Tief. Wie nämlich von 
‚der jünifchen Partei der Karder oder Scripturarier befannt iſt, 
Daß fie von den Rabbaniten oder Trabitionariern namentlich 
audy in der Beitimmung des Neumonds abweichen, indem ſie 
behaupten, die Art der lesteren, den Neumond nach dem 
‚ aftronomifchen Calcul feftzufegen, fei eine Neuerung, wogegen 
fie, der alten, gefeslichen Sitte getreu, denſelben nach der 
empirifchen Beobachtung der Phafe des Neulichts beftimmen: 
fo follen fhon zu Jeſu Zeit die Sadducaäer, von weldyen bie 
Karder abftammen follen, den Neumond und mit ihm das 
von demfelben abhängige Ofterfeft anders als die Pharifäer 
beftimmt, und Jefus, ald Gegner der Tradition und Freund 


1) Grotius, zu Matth. 26, 18. 





Zweites Kapitel. $. 121. 395 


der Schrift, ſich hierin an fie angefhloffen haben. 1) Allein 
abgefehen davon, daß der Zufammenhang der Kardäer mit ben 
alten Sadducdern eine bloße Vermuthung ift, fo iſt e8 ja 
eben der gegründete Borwurf der Karder, daß die Beſtimmung 
bed Neumonds durch den Calcul erft nach der Zerftörung des 
Tempels durch die Römer aufgefommen fei: fo daß alfo zur 
Zeit Jeſu eine ſolche Abweichung noch gar nicht flattgefunden 
haben kann; ohnehin vom Bafchafefte findet aus jener Zeit 
fih feine Spur, daß es von verfchiedenen Parteien an vers. 
fchiedenen Tagen gefeiert worden wäre!) Angenommen 
jevoch, jene Differenz in der Beftimmung des Neumonds habe 
ſchon damals vobgemaltet, fo wuͤrde die Feſtſetzung deſſelben 
nach der Phaſe, welcher Zefus gefolgt - fein full, cher ein ſpaͤ⸗ 
tered als ein früheres Paſcha zur Bolge gehabt haben; weß⸗ 
wegen denn wirklich Einige vermutheten, Jeſus möge vielmehr 
dem aftronomifchen Calcul gefolgt fein. !*) 

Außer dem, was fich auf dieſe Weiſe gegen jeben eins 
zelnen der Berfuche, die Angaben ver Evangeliften über Die 
Zeit des Testen Mahles Jeſu gütlic) zu vereinigen, fagen 
läßt, emtfiheidet gegen alle zufammen ein Umſtand, welchen 
erft die neueſte Kritif gehörig hervorgehoben hat. Es vers 
hält fich nämlich mit dieſem Widerftreite nicht fo, daß unter 
größtentheils harmonirenden Stellen nur etwa Eine Aeußerung 
von fcheinbar enigegengefegtem Sinne vorfäme, wobei man 
dann fagen könnte, der Verfaſſer habe fich hier eines unge- 
nauen Ausdrucks bedient, der aus den übrigen Stellen zu er: 
Eären fei: fondern alle Zeitbeftimmungen der Synoptifer find 
von der Art, daß nach ihnen Jeſus das Pafcha noch mitz 
gefeiert haben müßte, alle johanneifchen dagegen fo, daß er 
es nicht mitgefeiert haben kann. 16) Da fich auf dieſe Weile 





12) 3Een, Diss. philol. theol. Vol. 2, p. 416 ff. 

3) S. Paulus, exeg. Handb., 3, a, ©. 486 ff. 

) Michaelis, Anm. zu Joh. 13. 

5) Sieffert, a. a. O.; Hafe, 3.85. 1245 de Wette, exeg. 
Handb. 1, 3, ©. 149 f.5 Theile, zue Biographie Jefu, $. 31. 


306 Dritter Abſchnitt. 


zwei unter fich differirende Gefammtheiten evangelifcher Stellen 
“ gegenüberftehen, die auf zwei verichiedene Grundanfichten der 
Referenten über die Sache hinweifen: fo fann es, wie Sief- 
fert bemerft, nicht mehr als wiffenfchaftliche Auslegung, fon- 
dern nur als unmifienfchaftlihe Wilfür und Eigenfinn bes 
trachtet werben, wenn man auf Nichtanerfennung der Differenz 
zwifchen den fonoptifchen Evangelien und dem vierten beſte⸗ 
ben will. 

Sp hat fi) denn die neuere Kritik Dazu verftehen müflen, 
auf einer oder der andern Eeite einen Irrthum anzunehmen, 
und zwar war es, außer den gangbaren Vorurtheilen für 
das johanneifche Evangelium, ein beveutender Grund, welcher 
zu nöthigen fehlen, den Irrthum auf die Seite der Synoptiker 
zu verlegen. Schon jenes alte, angeblich Apollinarifche Frag⸗ 
ment wendet gegen die Meinung, daß Jeſus c7 ueyaar rusox 
zov oLvuv Enadev, ein, daß fie aovupwvos zo voup fei, 
und fo ift auch neuerlich wieder bemerft worden, der auf Das 
legte Mahl Jeſu folgende Tag werde von allen Seiten fo 
_werftäglidy behandelt, daß fich nicht denken laſſe, er fei der 
erfte Paſchatag, und folglich das Mahl am Abend vorher das 
Paſchamahl gewefen. Jeſus feire ihn nicht, indem er, was 
in der Paſchanacht verboten war, fi) aus der Stadt. entferne; 
feine Sreunde nicht, indem fie feine Beftattung noch zu befor- 
gen anfangen, und dieſelbe nur wegen Anbruchs des nächften 
Tages, des. Eabbats, unvollendet laſſen; noch weniger bie 
Mitglieder des Synebriums, indem fie nicht nur ihre Diener 
aus der Stadt zur Verhaftung Jeſu fenden, fonvdern au 
perfönlich Gerichtsfigung, Verhör, Urtbeil und Klage bei dem 
Procurator vornehmen; überhaupt zeige ſich durchaus nur Die 
Furcht, den folgenden Tag, ver am Abend nach der Kreuzigung 
anbrach, zu entheiligen, nirgends eine Sorge für den faufenden: 
lauter Zeichen, daß die ſynoptiſche Darftellung jenes Mahls 
- als eines Paſcha ein fpäterer Irrthum fei, da in der übrigen 
- Erzählung diefer Evangeliften felbft das Richtige, daß Jeſus den 
Zag vor dem Paſcha gefreuzigt worden, noch unverfennbar 








Zweites Kapitel, & 121. 307 


durchſcheine. 1%) - Diefe Bemerkungen find allerdings von 
Gewicht. Zwar die erfte fönnte man durch den Widerſtreit 
ber jünifchen Beftimmungen- über jenen PBunft vielleicht ent- 
fräften; !) der legten und ftärfften Die Thatſache entgegens 
halten, daß Verhören und Richten an Sabbaten und Feſten 
bei den Juden nicht nur erlaubt, fondern für folche Tage wegen 
des Volksandrangs ſelbſt ein größeres Gerichtslocal vorhanden 
geweſen jei, wie denn auch nach dem N. T. felbft die Juden 
an der zuspa ueyahn des Laubhüttenfefts Diener ausfchidten, 
um Sefum zu greifen (Joh. 7, 44 f.), und am Feſte ver 
Tempelmweihe ihn fteinigen wollten (30h. 10, 31.), Herodes 
aber während der „tom vov aLvuw den Petrus gefangen 
fegen ließ; aber freilich Die öffentliche Verurtheilung und Hins 
richtung deſſelben bis nach dem Paſcha verfchieben wollte 
(A. ©. 12, 2 f). Daß Iefu Hinrichtung am Bafchafeft 
habe vorgenommen werden bürfen, dafür beruft man fich theils 
darauf, daß die Erecution durch römifche Soldaten geſchehen, 
übrigens auch nach jüdiſcher Sitte üblich geweſen fet, Die 
Hinrichtung bedeutender Verbrecher auf eine Zeftzeit zu vers 
fparen, um durch diefelbe auf eine deſto größere -Menge Ems 
dru zu machen.) , Allein nur fo viel ift erweislich, daß 
während der Feftzeit, alfo bei'm Paſcha an den fünf mittleren, 
weniger feierlichen Tagen, Verbrecher verurtheilt und Hinge- 
richtet werden fonnten, nicht aber, daß dieß auch am eriten 


15, Theile, in Winer’s Erit. Journal, 2, ©. 157 ff.; Sieffert 
und Luͤcke a. a. O. 
17) Pesachin f. 65, 2, bei Lightfoot, p. 654: Paschate primo tene- 
tur quispian ad pernoctationem. Giloss.: Paschatizans tenetur 
- ‚ad pernoctandum in Hierosolyma nocte prima. Dagegen Tosa- 
photh ad tr. Pesachin 8: In. Paschate Argyptiaco dieitur: nemo 
exeat — usque ad mane. Sed sic non fuit in sequentibus ge- 
nerationibus, — quibus comedebatur id uno loco et pernoctabant 
in alio. Bgl. Schnedenburger, Beiträge ©. 9. 
18) Tract. Sanhedr, f. 89, 1. bei Schöttgen, 1, p. 224, vgl. Pau 
lus, a. & D. ©. 492. 





398 - Dritter Abſchnitt. 


und fehten Pafchatage, welche Sabbatsrang hatten, mlaͤſſig 
gewefen fei; 1?) wie benn auch nach dem Talmud Jeſus am 
noD 299, d. h. am Vorabende des Pafcha, -gefreuzigt worden 
ift. 2) Ein Anderes wäre es, wenn, wie Dr. Baur nads 
zuweifen fucht, in dem Wefen und der Bedeutung des Paſcha 
als eines Sühnfefted die Hinrichtung von Berbrechern, als 
biutige Sühne für das Volk, gelegen hätte, und die von ben 
Evangeliften angemerfte Sitte, auf das Feſt einen Gefangenen 
loszulaffen, zu der Hinrichtung eined andern nur als die 
Kehrfeite, wie die beiden Böde und Eperlinge jünifcher Sühns 
und Reinigungsopfer, ſich verhielte. ?') 

Leicht konnte freilich die urchriſtliche Ueberlieferung auch 
auf ungeſchichtlichen Wege dazukommen, Jeſu letztes Mahl 
mit dem Oſterlamm, und feinen Todestag mit dem Paſchafeſt 
zu combiniren. Da nämlich das chriftliche Abendmahl cbenfe 
von der einen Seite, durch feine Form, das Paſcha, wie 
von der andern, durch feine Bedeutung, den Tod Jeſu bes 
rührte: fo lag es nahe genug, diefe beiden Punkte zufammen- 
'zurüden, und die Hinrichtung Jeſu auf den erften Palchatag 
zu verlegen, feine letzte Mahlzeit aber, bei welcher er das 


. Abendmahl geftiftet haben follte, al8 das Paſchamahl zu bes 


trachten. Freilich, wenn der Verfaſſer des erften Evangeliums 
als Apoftel und Selbittheilnehmer an dem letzten Mahle Jeſu 
sorausgefegt wird, bleibt es ſchwer zu erflären, wie er zu 
einem folchen Irrthum kommen konnte. Wenigftens reicht es 
nicht bin, ſich mit Theile darauf zu berufen, je mehr das 
letzte mit ihrem Meifter gehaltene Mahl den Jüngern über 
alle Paſchamahle gegangen fei, deſto weniger fei ihnen auf 
die Zeit deſſelben, ob e8 am Paſchaabend felbft, oder einen 
Tag früher gehalten worden war, angefommen.?) Denmder 


19) $rigfche, in Matth. p. 763 f. vgl. 755. Lüde, 2, S. 614. 

22) Sanhedr. f. 43, 1. bei Schöttgen, 2, 8. 700. 

” Ueber die urfprüngliche Bedeutung des Paſſahfeſtes u. ſ. w. Tuͤbinger 
Zeitſchrift f. Theol. 1832, 1, S. 90 ff. | 

2) 4.0.0.6. 167 ff. 

















Zweites Kapitel $. 121. 399 


erfte Evangelift laͤßt dieß nicht etwa nur unbeflimmt, ſondern 

er fpricht ausdrüdlich von einem Paſchamahl, und fo Fonnte 

fih ein witflicher Theilnehmer veffelben, wenn er auch noch. 
fo lange Zeit nach jenem Abend fchrieb, unmöglich täufchen. 

Die Augenzeugenfchaft des erften Evangeliften alfo wird man 

bei diefer Anficht aufgeben, und ihn fammt den beiden mitts 

leren aus der Tradition frböpfen laſſen müflen. 2) Der Ans 

ftoß daran, daß fämmtliche Synoptifer, alfo alle diejenigen, 

welche uns die vulgäre Evangelientradition der erften Zeit 

aufbehalten haben, in einem folchen Irrthum übereinftimmen 
follen, ?*) läßt ſich vielleicht durch Die Bemerkung aus dem 

Wege räumen, daß fo allgemein in den judenchriftlichen Ge⸗ 

meinden, in welchen doch Die evangelifche Lleberlieferung fich 

urfprünglich gebildet hat, das jüdische Paſcha noch mitgefeiert 

wurde, fo allgemein fi aud der Verſuch darbieten mußte, 

demfelben durch die Beziehung auf den Tod und das Teste 

Mahl Jeſu eine chriftliche Bedeutung zu geben. 

Ebenfowohl aber ließe fich, die Richtigkeit der funoptifchen 
Zeitbeftimmung vorausgefept, denfen, wie Johannes irrig Das 
zufommen fonnte, den Tod Jeſu auf den Nachmittag des 
14ten Nifan, und feine legte Mahlzeit auf ven Abend vorher 
zu verlegen. Wenn namlich dieſer Evangelift in dem Um⸗ 
ftande, daß dem gefregigten Chriſtus die Beine nicht zer⸗ 
fchlagen wurden, eine Erfüllung des 05äv & owrrgußnperau arg 


(2 Mof. 12, 46.) fand: fo Fonnte ihn dieſe Beziehung des 


Todes Jeſu auf das Ofterfamm zu der Vorftellung veranlafien, 
dag um diefelbe Zeit, in welcher die Pafchalämmer gefchlachtet 
wurden, am Nachmittag des 14ten Nifan, Jeſus am Kreuze 


— — — — 


23) Sieffert, a. a. O. ©. 144 ff.; Luͤcke, ©. 628 ff.; Zheile, - 
zur Biogr. Sefu, $. 31.5 de Wette, ereg. Handb., 1, 3, S. 149 
ff.5 vgl. Neander, 8. 3. Ehr., ©. 580 ff. Anm. 

22) Frithſche, in Matth. p. 763; Kern, über den Urfprung des Evang. 
Matth. in der Tuͤb. Zeitſchr. 1834, 2, &. 98. 


400 Dritter Abſchnitt. 


gelitten und den Geiſt aufgegeben habe, 3) alfo die am Abend 
vorher gefeierte Mahlzeit noch nicht das Paſchamahl gewefen 
fei. 2°) 

Iſt auf dieſe Weife eine mögliche Veranlaffung zum Irr⸗ 
thum -auf beiden Seiten vorhanden, und findet die innere 
Schwierigkeit der ſynoptiſchen Zeitbeftimmung, die vielfache 
Verlegung des erften Paſchatags, theild in den angeführten 
Bemerkungen einigermaßen ihre Erledigung, theils in der Zus 
fammenftimmung dreier Evangeliften ein Gegengewicht: fo ift 
vor der Hand nur, der unauflösliche Widerftreit der beiverfeiti- 
gen Darftellungen anzuerkennen, eine Entſcheidung aber, welche 
bie richtige fei, noch nicht zu wagen. 


$. 122. 
Abweichungen in Betreff der Vorgänge beim legten Mahle Jeſu. 


Doch nicht allein in Bezug auf die Zeit des Iekten Mah⸗ 
le8 Jefu, fondern auch auf dasjenige, was bei demfelben vor» 
gegangen fein foll, gehen die Evangeliften von einander ab. 
Die Hauptdifferenz findet zwiſchen den fynoptifchen und dem 
vierten Evangelium ftatt: näher aber verhält es ſich fo, daß 
nur Matthäus und Markus genau zufammenftimmen, Lufas 
ſchon ziemlich abweicht, doch im Ganzen mit feinen beiven 
Borgängern immer noch einftimmiger ift, als mit feinem Nach- 
folger. 

Gemeinſam ift ſaͤmmtlichen Evangeliften, außer dem Mahle 
felbft, daß über demſelben von dem bevorftehenden Verrath 


5) Vgl. Suicer, thesaur. 4, ©. 613, 
- 2) Eine andere Anficht über die Weranlaflung des Irrthums im aten 
Evangelium geben die Probabilien, ©. 100 ff.; vgl, Weilfe, die 
evang. Geſchichte, 1, &. 446 f. Anm. 





Zweites Kapitel. $. 122. 401 


des Judas gefprochen wird, und daß während oder nach dem⸗ 
felben Jeſus dem Petrus feine Verläugnung vorherverkündigt. 
Aber abgefehen davon, daß bei Johannes die Bezeichnung des 
Verräthers eine andere und genauere, auch von einem Erfolge 
begleitet ift, von welchem die übrigen nichts wiffen; daß ferner 
bei demfelben nach dem Mahle gevehnte Abſchiedsreden ſich 
finden, welche den andern fehlen: fo ift der Hauptunterfchien 
ver, daß, während den Synoptifern zufolge Jeſus bei diefer 
legten Mahlzeit das Abendmahl eingefegt hat, er bei Johannes 
vielmehr eine Fußwaſchung mit den Jüngern vornimmt. 

Die drei Synoptifer unter ſich haben die Stiftung des 
Abendmahls fammt der Verfündigung ded Verraths und der 
Verläugnung gemein; aber Abweichung findet zwifchen ben 
beiden erften und dem dritten fehon in der Anordnung biefer 
Stüde ftatt, indem bei jenen die Verfündigung des Verraths, 
bei dieſem die Stiftung des Abendmahls voranfteht; die Vor⸗ 
herſagung der Verläugnung des Petrus aber nach Lukas, wie 
e8 fcheint, noch im Speifefaal, nach den beiven andern aber 
erft auf dem Hiriweg zum Delberge vor fich geht. Dann aber 
bringt Lukas auch einige Stüde bei, welche die beiden erften 
Evangeliften entweder gar nicht, oder nicht in dieſem Zufam- 
menhang haben: in ganz anderem Zufammenhang fteht bei ihnen 
der Rangftreit und die Verheißung des Sitzens auf Thronen; 
wogegen die Rede von den Schwertern. vergeblich bei ihnen 
gefucht wird. 

In feiner Abweichung von den beiden erften Evangeliften 
hat der dritte einige Annäherung an den vierten. Gemeinſam 
nämlich ift dem Lukas und Johannes, daß, wie diefer in ver 
Sußwafchung eine auf Kangftreit fich beziehende fymbolifche 
Handlung nebft angehängten Demuthsreden hat: fo Lukas 
wirklich einen Rangftreit und darauf bezügliche Reden melvet, 
welche nicht ganz ohne Verwandtſchaft mit den johanneifchen 
find; daß ferner auch bei ihm wie bei Johannes die Reben 
vom Derräther dad Mahl nicht eröffnen, fondern erft nad 

1. Sand. 26 


40% Dritter Abfchnitt. 


einer ſymboliſchen Handlung eintreten; endlich daß auch er die 
PVerläugnung des Petrus noch im Locale der Mahlzeit ver- 
fündigt werden läßt. 

Am meiften Schwierigfeit macht hier natürlich die Abwei- 
chung, daß bei Johannes die von den Synoptifern einftimmig 
berichtete Einfegung des Abendmahls fehlt, und an ihrer Statt 
eine ganz andere Handlung Jeſu, eine Fußwafchung, gemeldet 
wird. Freilich, wenn man fich durch den ganzen bisherigen 
Verlauf der evangelifchen Gefchichte mit der Annahme hindurch⸗ 
geholfen hat, Johannes habe den Zwed gehabt, die übrigen 
Evangelien zu ergänzen, fo fommt man auch über diefe Schwie⸗ 
rigfeit fo gut oder fo frhlecht wie über die andern alle hinweg. 
Die Einfeging des Abenpmahls, heißt es, fand Johannes bei 
ben drei erften Evangeliſten auf eine Weiſe erzählt ſchon vor, 
welche mit ſeiner eigenen Erinnerung völlig übereinſtimmte; 
weßwegen er ſich denn nicht bewogen fand, fie zu wiederholen.) 
Allein, wenn wirklich der vierte Evangelift von den ſchon in 
den drei erften Evangelien aufgezeichneten Gefchichten nur Die- 
jenigen noch einmal erzählen wollte, an deren Darftellung er 
etwas zu berichtigen oder zu ergänzen fand: warum erzählt er 
dann die Speifungsgefhichte, an der er nichts irgend Erheb⸗ 
liches zu beſſern weiß, noch einmal, die Stiftung des Abend⸗ 
mahls dagegen nicht, bei welcher ihn doch ſchon die Abwei⸗ 
chungen der Synoptiker in Anordnung der Scene und Faſſung 
der Worte Jeſu, hauptfächlic aber der Umſtand, daß ſie, nach 
ſeiner Darſtellung irrig, jene Einſetzung am Paſchaabend vor⸗ 
gehen laſſen, zur Mittheilung eines authentiſchen Berichts hätte 
veranlaffen müffen? Mit Rückſicht auf dieſe Schwierigkeit gibt 
man nun wohl die Behauptung auf, der Berfaffer des vierten 
Evangeliums habe eine Kenntniß von den drei erften, und die 
Abficht, fie zu ergänzen und zu berichtigen, gehabt: duch aber 
fol er die vulgäre mündliche Evangelientrabition gefannt und 


1) Paulus 3. b, &, 499; Olshaufen, 2, ©. 294, 





Zweites. Kapitel. J. 122. 403 


bei. feinen Refern vorausgefest, und in dieſer Rüdficht die Stif⸗ 
tung des Abendmahls, ald allgemein befannte Gefchichte, über: 
gangen haben. Allein diefer Zwed einer enangelifchen 
Schrift, nur das minder Bekannte zu erzählen, das Bekannte 
aber zu. übergehen, läßt fich eigentlich gar nicht denfen. Die 
fehriftliche Aufzeichnung geht ja aus von Mißtrauen gegen 
die mündliche Ueberlieferung ; fie will dieſe nicht bloß ergän- 
zen, fondern auch befeftigen, und daher kann fie gerade bie 
Hauptpunfte, welche, wie fie ald die meiftbefprochenen ver 
Entftellung am meiften ausgefegt find, fo die genauefte Aufs 
bewahrung mwünfchenswerth machen, am wenigften "übergehen: 
ebenfo demnach auch Johannes die Stiftung des Abendmahls 
nicht, an beffen Einfegungsworten, wenn wir bie verfchiedenen 
N.T.lichen Berichte vergleichen, frühzeitig entweder Zuſätze 
oder Weglaffungen müffen gemacht worden fein. Aber, fagt 
man weiter,. die Stiftung des Abendmahls zu erzählen, war 
für den Zwed des johanneifhen Evangeliums von Feiner 
Bedeutung.) Wie? für den allgemeinen Zwed beffelben, feine 
Lefer zu überzeugen, ru Inosg Esıw 6 Xousös, 6 viog ra Hed 
(20, 31.), foltte die Mittheilung einer Scene nicht von Be⸗ 
lang geweſen fein, in welcher er als Stifter einer xawn 
dsaden erfcheint? und für den befonderen Zweck des betref- 
fenden Abſchnitts, Jeſu bis an's Ende fich gleichgebliebene 
Liebe ind Licht zu fegen (13, 1.), follte e8 nichts ausgetragen 
haben, zu erwähnen, wie er feinen 2eib und fein Blut den 
Seinen ald Speife und Trank dargeboten, und damit feinen 
Worten Joh. 6. Wirklichkeit gegeben habe? Doch, dem Jo⸗ 
hannes foll es hier wie überall vorzugsweife nur um die 
tieferen Reden Jefu zu thun geweſen fein, und deßwegen fol 
er die Einfegung des Abendmahls übergangen, und erft mit 
den auf die Bußwafchung bezüglichen Reden feine Erzählung 


[ 
, 


2) Lücke, 2, ©. 484 f.; Reander, 2. 3, Chr. ©. 583. Anm, 
3) Dishaufen, a. a. D. 


26.” 


404 Ä Drittes Abfchnitt. . 


begonnen haben.) Allein dieſe Demuthsreden fann nur ein 
verhärtetes Vorurtheil für das vierte Evangelium für tiefer 
ausgeben, als dasjenige, was Jefus bei Einfegung des Abend- 
mahls von dem Genuſſe feines Leibes und Blutes im Brot 
und Weine fagt. . 

Die Hauptfache ift num .aber, daß uns die Karmoniften 
nachweifen, wo denn Johannes, wenn er doch felbft voraus- 
fegen fol, Jeſus habe bei diefer legten Mahlzeit das Abend- 
mahl geftiftet, dieſes überfprungen habe; daß fie uns in der 
johanneifchen Darftellung diefes Iegten Abends die Fuge zei- 
gen, in welche fi) jener Vorgang einpaflen läßt. Sehen 
wir uns in den Eommentaren um, fo feheint mehr als Eine 
Stelle fich: zu folcher Einfchiebung vortrefflich zu eignen. 
Dlshaufen meint, am Ende des I3ten Kapitels, nach der 
Berfündigung der Verläugnung des Petrus, fei die Stiftung 
des Abenpmahls hineinzudenfen: mit biefer habe fi) die Mahls 
zeit gefchloffen, und die folgenden Reden von 14, 1. an habe 
Sefus nach dem Aufbruch vom Tiſche ftehend im Saale noch 
gefprochen.) Allein bier ſcheint fih Olshaufen, um zwi: 
ſchen 13, 38. und 14, 1. einen Ruhepunft zu befommen, der 
Täufchung hinzugeben, als ob das Eyeigsode, aywuev Evreü- 
Her, bei welchem er Jeſum vom Tifche fich erheben und das 
Folgende noch ftehend fprechen läßt, fchon hier, am Ende des 
13ten Kapitels, ftünde, da e8 doch erft am Ende des 14ten 
fich findet. An unferer Stelle ift fein Raum, um eine Scene 
wie das Abendmahl einzufchalten. Jeſus hatte von feinem 
Hingang, wohin ihm die Seinigen nicht folgen könnten, ges 
fprochen, und das vermeflene Erbieten des Petrus, das Leben 
für ihn zu laſſen, durd die Vorausfage feiner Verläugnung 
zurüdgewiefen: nun, 14, 1 ff., beruhigt er bie hiedurch er- 
fehütterten Gemüther wieder, indem er fie auf den Glauben 


%) Sieffert, über den Urfpr. S. 152. 
5) 8. Comm. 2, ©. 310. 381 f. 


Zweites Kapitel. $. 122. 405 


und die ſegensreichen Wirkungen feines Hingangs verweist. — 
Durch den feften Zufammenhalt diefer Revetheile zurüdgewiefen, 
rüden andere Ausleger, wie Paulus, weiter hinauf, und 
glauben nad) dem Abgang des Berräthers, 13, 30., die fchid- 
lichfte Stelle zur Einfchiebung des Abendmahls zu finden, indem 
der Hingang des Judas, um feinen Verrath zu vollenden, 
leicht die Todesgedanken in Jeſu rege machen konnte, welche 
ber Stiftung des Abendmahls zum Grunde Tiegen.%) Allein 
nicht nur wenn man mit Lüde u. 4. das öre &&719e zu dem 
folgenden Meyeı 0 Tnods zieht, fondern auch ohne dieß hat das 
viv &doka0In 6 viog Tä IowrrE x. T. 1. (B. 31.) und was 
Jeſus weiterhin (V. 33.) von feinem baldigen Hingang fpricht, 
feine nächfte Beziehung unverfennbar auf den Weggang des 
Judas. Denn wenn das doßater im vierten Evangelium 
immer die VBerherrlihung Jeſu bebeutet, welcher ihn ein 
Leiden entgegenführt, jo war eben mit dem Gang des verlo- 
renen Jüngere zu denen, welche Leiden und Tod über Jeſum 
brachten, feine Verherrlichung und fein baldiger Hingang ents 
ſchieden. — Hängen auf diefe Weife die Verſe 31—33. uns 
trennbar mit V. 30. zufammen: fo fann man fidy bewogen 
finden, mit dem Abendmahl wieder etwas herabzurüden, und 
es dahin zu ftelen, wo dieſer Zufammenhang ein Ende zu 
haben fiheinen fann: und fo laͤßt denn Lüde die Einfegung 
deſſelben zwifchen V. 33. und 34. in der Art fallen, daß, 
nachdem Jeſus VB. 31—33. die durch das Hinausgehen des 
Verräthers zerftreuten und erjchrodenen Gemüther beruhigt 
und auf das Abenpmahl vorbereitet habe, er nun V. 34. f. 
an die Austheilung deffelben das neue Gebot der Liebe Fnüpfe. 
Allein, wie fonft fehon bemerft worben ift, ) wenn V. 36. Be- 
trus mit Beziehung auf B. 33. Jefum fragt, wo er denn hingehe, 
fo Eann unmöglich nach jenem Ausfpruch Jeſu B. 33. das Abend⸗ 
mahl eingefegt worden fein, weil fonft Petrus das vnaya durch 


6) Paulus, ereg. Handb., 3, b, ©. 497. 
7) Meyer, Comm über den Zoh. 3. d. St. 


406 Dritter Abſchnitt. 


Das o@um dıdousvov und alun Exyuvöuevov erlärt, jedenfalls aber 
fich eher zu einer Srage über die Bedeutung diefer letzteren Aus⸗ 
drüde veranlagt finden mußte. — Dieß anerfennend geht Nean- 
der um einen Bere zurüd, und fehiebt das Abendmahl zwifchen 
32. und 33. .ein;®) wobei der offenbare Zufammenhang zwi- 
fchen dem zudus dofaosı aurov des erfteren und dem Eru uucoov 
us$’ vucv eis des letzteren Verſes gewaltfam zerriffen iſt. — 
Man muß daher abermals aufwärts gehen, nur noch weiter 
als Neander und felbft Paulus gethan hat; hier aber 
bietet fih, da von V. 30. bis hinauf zu V. 18. in Einem 
Zuge vom Berräther die Rede ift, das Gefprädy über dieſen 
aber fich wiederum untrennbar an die Sußwafchung und die 
Deutung derfelben fchließt, bis zum Anfang des Kapitels feine 
Stelle dar, an welcher die Abenpmahlsftiftung eingefügt werden 
fönnte. Hier jedoch fol fie fich nach einem der neueften Kris 
tifer auf eine Weife einreihen laflen, welche den Verfaffer des 
Evangeliums yon dem Vorwurf ganz befreie, durch eine frhein- 
bar continuirlich fortfchreitende, und doch das Abendmahl über- 
foringende Darftellung den Lefer irre gemacht zu haben. Denn 
glei) von Anfang made fich Johannes gar nicht anbheifchig, 
som Mahle ſelbſt und was dabei vorgefallen, etwas zu. erzählen, 
‚fondern nur was nach dem Mahle fich begeben, wolle er berich⸗ 
ten; wie denn das delmwe yevousva nach feiner natürlichften 
Bedeutung heiße: nachdem die Mahlzeit vorüber war, das eyel- - 
‚ gerar & Tö deinve gber deutlich zeige, daß die Fußwafchung 
etwas erft nad dem Efien Vorgenommenes gewefen fei. ?) 
Allein, wenn es von Jeſu nach vollbrachter Fußwafchung heißt: 
. &varseowv ol (B. 12.), fo war folglich die Mahlzeit noch 
nicht vorüber, als er fich zur Fußwaſchung erhob, und das 
eyeigeras &x TE deisıve will fagen, daß er aus dem Mahle 
heraus, das Eflen, oder mwenigftens das vorläufige zu Zifche 


88, J. Chr., S. 587. Anm. 
») Siefferr, S. 132 ff. 


Zweites Kapitel. $. 122. 407 


Sigen unterbrechend, zu jenem Gefchäfte aufgeftanden fei._ Das 
deinva yevousva aber heißt fo wenig: nachdem ein Mahl ges 
halten war, als za I. yevoueva &v BrIwig (Matth. 26, 6.) 
fagen will: nachdem Jeſus in Bethanien gewefen war, fondern, .. 
indem uns durch jene Wendung Johannes den Verlauf der 
Mahlzeit felbft, "9% wie Matthäus durch dieſe die Dauer des 
Bethanifchen Aufenthalts Jeſu, vorführt, jo macht er jich damit 
anheifchig, uns alles, was während jener Mahlzeit Merkwürs 
diges vorfiel, zu berichten, und wenn er nun Die bei derfelben 
‚ vorgefallene Stiftung des Abendmahls nicht meldet, fo bleibt. 
dieß ein Eprung, der ihm den Vorwurf zuzieht, Tüdenhaft ers. 
zählt, und gerade das MWichtigfte übergangen zu haben. — Bon 
diefem oberften Ende des johanneifchen Berichts vom legten 
Mahle Jeſu fpringt neueftend Kern zum unterften herab, und 
denkt fi) nach den Worten 14, 31: Eyeipeode Aywısv &vrev- 
Je, die Einfegung des Abendmahls, 1) wodurch dieſelbe Die 
unwahrſcheinliche und in der That unwürdige Stellung einer. ' 
Handlung befommt, die Jeſu erft während der Anftalten zum 
Aufbruch eingefallen. 

Wie fi alfo im Allgemeinen fein Grund denfen ließ, 
warum Sohannes, wenn er einmal von dieſem lesten Abend 
fprach, die Stiftung des Abendmahls übergangen haben follte: 
fo findet fi auch im Einzelnen feine Stelle, wo fie in ben 
Derlauf feiner Darftellung eingefchoben werden fünnte, und es 
bleibt fomit nichts übrig, als die Annahme, er erzähle fie nicht, 
weil er nichts von berfelben gewußt habe. Dagegen fteifen 
fih nun aber die Theologen, felbft diejenigen, welche fich uns 
fähig befennen, die Auslafjung des Abendmahls zu erklären, - 
auf die Bemerkung: ein fo allgemein in der erften Kirche vers 
breiteter Gebrauch, wie das Abendmahl, Habe dem vierten 
Evangeliften, wer er auch immer geweſen fein möge, unmöglidy 


10) Bol. Lüde, ©. 468. 
11) Die Hauptthatſachen ber evang. Geſch. Zub. Zeitſchr. 1836, 3, ©. 12. 


408 Dritter Abſchnitt. 


unbekannt fein koͤnnen.!) Gewiß, von dem Abendmahle als 
chriſtlichem Ritus wußte er, wie fein G6tes Kapitel zeigt, und 
mußte davon willen; das aber kann ihm unbefannt gewefen 
. fein, unter welchen Umſtänden Jeſus das Abendmahl förmlich 
eingefegt haben follte. Einen fo hoch gehaltenen Gebrauch auf 
die Auctorität Jeſu felbft zurüdzuführen, lag zwar auch ihm 
nahe; nur that er dieß aus Unbekanntſchaft mit jener ſynopti⸗ 
fihen Stiftungsfrene, fo wie aus Borliebe für das Geheimniß- 
volle, vermöge welcher er Jeſu gerne Ausfprüche in den Mund 
legte, die, für den Augenblid unverftändlich, erft aus dem fpä> 
teren Erfolge Licht befommen haben follten, nicht fo, daß er 
Sefum wirklich ſchon den Ritus einfeßen, fondern nur fo, daß 
er ihn dunfle Worte von der Nothwendigfeit, fein Fleifch zu 
effen und fein Blut zu trinfen, ſprechen ließ, welche, nur 
aus dem nach feinem Tode in der Gemeinde aufgefommenen 
Abendmahld- Ritus verftändlich, als indirecte Etiftung von 
Diefem angejehen werden Eonnten. 

Daß, fo wenig als Johannes von der Einfegung des 
Abendmaͤhls, die Eynoptifer von der Fußwafchung etwas ges 
wußt haben fönnen, weil fie derfelben Feine Erwähnung thun, 
dieß kann theils wegen der minderen Wichtigfeit der Sache 
und der hier mehr fragmentarifchen Darftellung viefer Evan- 
geliften nicht fo beftimmt behauptet werden; theild hat, wie 
oben bemerkt, Lukas in dem Rangftreit B. 24 ff. etwas, das 
‚mit jener Fußwaſchung, als Anlaß derjelben, zufammenzuhän- 
gen, manden ErHärern gefchienen hat.!%) Iſt nun aber in 
Bezug auf diefen Rangftreit bereit6 oben dargelegt, wie er, in 
den Zuſammenhang der vorliegenden Scene nicht paffend, nur 
einer zufälligen Sdeenafjoriation des Erzählers feine Stelle 


12) Hafe, 8. 3. $. 133.; Kern, Hauptthatſachen, ©. 113 Theile, 
zur Biographie Jeſu, $. 31. 

3) Sieffert, ©. 1535 Paulus und Dishaufen, 3 db St. Das 
gegen vgl. de Wette, 1, 1, ©. 222, 1, 2, S. 107. 





Zweites Kapitel... $. 122. 409 


verdanfe: 1%) jo Fönnte die Fußwaſchungsſcene bei Johannes 
nur die fagenhafte Ausführung einer fynoptifchen Demuthsrede 
zu fein feinen. Wenn nämlich bei Matthäus (20, 26 ff.) 
Jeſus feine Jünger ermahnt, wer unter ihnen groß fein wolle, 
der folle der andern dıaxovog fein, gleichwie er nicht gefommen 
fei, dixondIrwver, alla dıiexovmoer, und wenn er dieß hier 
bei Lukas (22, 27.) in der Frage ausdrückt: zis yao ueilwv; 
0 ovoxeiusvos, 7 6 diaxovav; und mit der Hinweifung vers 
bindet: &yw de eiu © udop duav ws 0 dumovww: fo fünnte 
zwar fehr wohl Jeſus felbft für gut gefunden haben, dieſen 
Ausfpruch durch ein wirkliches Cuaxoveiv inmitten feiner, die 
Rolle der awaxeiuevoı fpielenden Jünger zu veranfchaulichen ; 
ebenfogut aber fünnte man, fofern die Synoptifer von einem 
folhen Vornehmen ſchweigen, die Vermuthung faflen, e8 möge, 
fei e8 die Eage, wie fie dem vierten Evangeliften zu Ohren 
fam, oder er felbft, aus jenem Dictum dieſes Factum heraus⸗ 
gefponnen haben. 5) And ohne daß ihm gerade, der Darftel- 
lung des Lukas gemäß, jener Ausfpruch Jeſu als während der 
legten Mahlzeit gethan zugefommen zu fein brauchte, ergab es 
fi) aus dem waxeisdus ind diexoveiv von felbft, daß die Ver: 
finnlichung dieſes Verhältniffes an ein Mahl geknüpft wurde, 
welche dann aus leicht denfbaren Gründen am fehidlichften 
das legte gewefen zu fein feheinen Fonnte. 

Daß hierauf nach der Darftellung bei Lukas Jeſus Die 
Sünger als foldye anredet, welche bei ihm in feinen Bedraͤng⸗ 
niffen beharrt haben, und ihnen dafür verheißt, daß fie mit 
ihm in feinem Reich zu Tiſche figen, und auf Thronen die 12 
Stämme Israels richten follen (®. 28—30.), das feheint in. 
den Zufammenhang einer Scene nicht zu paffen, in welcher 
er unmittelbar vorher einem der Zwölfe den Verrath, unmittels 


#8) 1. Band, $. 83. 
15) Zu weit hergeholt ift, was bie Probabilien ©. 70 f., über bie Ents 
ſtehung diefer Anekdote vermuthen. 





410 . Dritter Abſchnitt. 


bar nachher einem andern die Verläugnung vorhergefagt haben 
foll, und in einen Zeitpunkt, in weldem die eigentlichen TLEL- 
gaouoi erft bevorftanden. So wie nad einer früheren Ber 
trachtung ‚die Scene bei Lufas von vorne herein angelegt ift, 
dürfen wir den Grund der Einfchaltung dieſes Redeſtücks ſchwer⸗ 
lich in etwas Anderem, als in einer zufälligen Ideenaſſociation, 
ſuchen, vermöge welcher etwa der Rangftreit der Jünger den 
Referenten an den ihnen von Jeſu verheißenen Rang, und die 
Rede vom Aufwartenden und zu Tiſche Sitzenden an das ihnen 
verſprochene zu Tiſche Sitzen im meſſianiſchen Reiche erinnern 
mochte. 16) 

In Bezug auf das folgende Geſpräch, wo Jeſus ſeinen 
Juͤngern bildlich ſagt, von nun an würde es Noth thun, fie 
kauften ſich Schwerter, ſo feindlich werde man ihnen von allen 
Seiten entgegentreten, ſie aber ihn eigentlich verſtehen, und auf 
zwei in der Geſellſchaft vorraͤthige Schwerter verweiſen, möchte 
ich am liebſten Schleiermacher'n beiſtimmen, welcher der 
Meinung iſt, um das in der folgenden Erzählung vorkommende 
Hauen des Petrus mit dem Schwerte zu bevorworten, habe 
der Referent dieſes Redeſtück hiehergeſtellt. 17) | 

Die übrigen Abweichungen in Bezug auf das legte Mahl 
werden im Verlauf der folgenden Unterfuchungen zur Sprache 
fommen. 


$. 123. 
Verkündigung des Verraths und der Verläugnung. 


Wenn mit der Angabe, daß Jeſus von jeher feinen Ver⸗ 
räther gefannt und durchſchaut habe, der vierte Evangelift allein 
fteht: fo ftimmen darin alle viere zufammen, daß er. bei feinem 
legten Mahle vorhergeſagt habe, einer ſeiner Sünger werde 
ihn verrathen. 


16) Vgl. de Wette, z. d. St. 
17) Ueber den Lukas, ©, 275. 














Zweites Kapitel. 5 123. 411 


Doch findet zuerft ſchon darin eine Differenz flatt, daß, 
während den beiden erften Evangeliften zufolge die Reden vom 
Berräther ‘die Scene eröffnen, und namentlich der Stiftung bes 
Abendmahld vorangehen (Matth. 26, 21 ff. Marc. 14, 18 ff.): 
Lukas erft nach eingenommenem Mahl und geftifteter Gedaͤcht⸗ 
nißfeier (22, 21 ff.) Jeſum von dem bevorftehenden Verrathe 
fprechen läßt; bei Johannes geht das auf den Verräther fich 
Beziehende während und nach der Fußwaſchung vor (13, 10—30.). 
Die an ſich unbedeutende Frage, welcher Evangelift hier recht 
habe, ift den Theologen aus dem Grund überaus ‚wichtig, weil 
je nach der Entfcheidung derfelben fich die andere Frage zu 
beantworten fheint, ob auch der Verräther das Abendmahl noch 
‚ mitgenoffen habe? Weder mit der Idee des Abendmahls, als 
des Mahls der innigften Liebe und Vereinigung, ſchien fich 
die Theilnahme eines fo fremdartigen Glieds an demfelben zu 
vertragen, noch auch mit der Liebe und Barmherzigkeit des 
Herrn das, daß er follte einen Unwürdigen zur Erhöhung feiner 
Schuld das Abendmahl haben mitgenießen laſſen.) Diefem 
gefürchteten Umftand glaubte man dadurch zu entgehen, daß 
man, der Anordnung des Matthäus und Markus folgend, die 
Bezeichnung - des VBerräthers der Stiftung des Abendmahls 
vorangehen ließ, und da man nun aus Johannes wußte, daß, 
nachdem er fich entdeckt und bezeichnet fah, Judas aus der Ges 
fellfchaft gegangen fei: fo glaubte man annehmen zu dürfen, 
daß erft nad) diefer Entfernung des Verräthers Jeſus die Eins 
feßung des Abendmahls vorgenommen habe.) Allein diefe 
Abhülfe fommt nur Durch unerlaubte Vermiſchung des Johannes 
mit den Eynoptifern zu Stande. Denn von einer. Entfernung 
des Judas aus der Gefellichaft weiß eben nur der vierte Evan 
gelift, und er allein hat auch diefe Annahme nöthig, weil nach 
ihm Judas erft-jegt feine Unterhandlungen mit den Feinden 


I) Dishaufen, 2, ©. 380. 
2) So Lüde, Paulus, Olshauſen. 


412 Dritter Abſchnitt. 


Jeſu anknüpft, alſo, um mit ihnen einig zu werden, und Be⸗ 
deckung von ihnen zu erhalten, eine etwas längere Zeit brauchte: 
bei den Synoptikern dagegen ift feine pur, daß der Verräther 
die Gefellfchaft verlaffen hätte, es ift Alles fo erzählt, wie wenn 
er erft bei dem allgemeinen Aufbruch, ftatt direct in den Gar- 
ten, zu den Hohenprieftern gegangen wäre, von welchen er 
dann, da die Unterhandlungen ſchon vorher angefnüpft waren, 
unverzüglich die nöthige Mannfchaft zur Verhaftung Jeſu er- 
halten fonnte. Mag alfo in Anordnung der Scene Lufas oder 
Matthäus recht Haben: nach fämmtlichen Synoptifern hat Judas, 
ber ihnen zufolge ſich gar nicht vor der Zeit aus der Gefell- 
fhaft entfernte, da8 Abendmahl mitgenoffen. | 

Aber auch in der Art und Weife, wie Jeſus feinen Ber- 
räther bezeichnet haben; fol, weichen die Evangeliften nicht un- 
bedeutend von einander ab. Bei Lufas gibt Sefus nur Furz 
die Verfiherung, daß die Hand feines Verräthers mit ihm 
über Tifche fei, worauf die Jünger unter ftch fragen, wer es 
wohl fein möge, der fo etwas zu thun im Stande wäre? Bei 
Matthäus und Markus fagt er zuerft, einer der Anweſenden 
iverde ihn verrathen, und ald von den Jüngern ihn jeder ein- 
zeln fragt, ob er es fei? erwiedert er: der mit ihm in Die 
Schüſſel tauche; bis endlich nach einem über den Berräther 
ausgefprochenen Wehe dem Matthäus zufolge auch Judas jene 
Frage thut, worauf ihm Jeſus eine bejahende Antwort gibt. 
Bei Johannes deutet Jefus zuerft während und nach der Fuß⸗ 
wafchung an, daß nicht alle anmwefenden Jünger rein feien, 
daß vielmehr die Schrift erfüllt werden müffe: der mit mir 
das Brot. ißt, erhebt die Ferfe gegen mich. Dann jagt er 
geradezu, einer von ihnen werde ihn verrathen, und ald die 
Jünger forfchend einander anbliden, wen er wohl meine, läßt 
Petrus durch den zunächft an Jeſu liegenden Johannes fragen, 
wer es fei? worauf Sefus erwiebert, der, welchem er ben 
Biſſen eintauche und gebe, was er fofort dem Judas thut, 
mit beigefügter Erinnerung, die Ausführung feines Vorhabens 
zu bejchleunigen; worauf diefer die Gefellfchaft verläßt. 


Zweites Kapiiel. $. 123. 413 


Die Harmoniften find auch bier fehnelf damit fertig ges 
weſen, die verfchievenen Scenen ineinander einzufchieben und 
miteinander verträglich zu machen. Da fol Jeſus auf die 
Srage der. einzelnen Jünger, ob fie es feien, zuerft mit lauter 
Stimme erklärt haben, einer feiner Tifchgenofien werde ihn 
verrathen (Matth.); hierauf fol Johannes Teife gefragt haben, 
wer es näher fei, und Jeſus ihm ebenfo leife die Antwort 
ertheilt: der, dem er den Biſſen gebe (Joh.); dann fol auch 
Judas, gleichfalls Ieife, gefragt haben, ob er es fei, und Je⸗ 
fus ebenfo feine Frage bejaht haben (Matth.); endlich aber 
fol auf eine antreibende Mahnung Jefu der Verräther aus 
der Gefellfchaft gegangen fein (%0h.).?) Allein daß die zwi⸗ 
ſchen Jeſus und Judas gewechjelte Trage und Antwort, welche 
Matthäus mittheilt, leife gejprochen worben fei, davon bemerft 
der Evangelift nichts, auch läßt es ſich nicht wohl venfen, 
wenn man nit das Unwahrſcheinliche vorausfegen will, 
daß Judas auf der andern Seite wie Sohannes auf der 
einen neben Jeſu gelegen babe; war aber die Verhandlung 
laut, fo fonnten die Jünger nicht, wie Johannes erzählt, das 
6 nosig nolroov Tayıov auf fo wunderliche Weife mißverfte- 
hen, — und mit einer ftotternden Frage von Seiten ded Judas 
und leichthin gefprochenen Antwort Jeſu wird man fich nicht 
im Ernft beruhigen fönnen. 9 Auch das ift nicht wahrfcheins 
lich, daß Jeſus, nachdem er ſchon die Erklärung gegeben: der 
mit mir in die Schüffel taucht, wird mich verrathen, zur be 
ftimmteren Bezeichnung des Verräthers nun noch felbft ihm 
einen Biſſen eingetaucht haben follte: fondern beides ift wohl 
daſſelbe, nur verfchieden referirt. Erfennt man aber einmal 
dieß mit Paulus und Olshauſen an, fo hat man 
bereitö dem einen oder andern Bericht fo viel vergeben, daß man 
fi) auch über die Echwierigfeit, welche in der ausdrüdlichen 


% Kuinöl, in Matth. p. 707. | 
%) Wie Olshaufen, 2, ©. 402. S. dagegen Sieffert, ©. 148 f. 





414 | Dritter Abſchnitt. 


Antwort liegt, die Matthäus Jeſum dem Verraͤther geben läßt, 
nicht mit Zwang hinüberhelfen, fondern eingeftehen follte, hier 
zwei abweichende Berichte vor ſich zu haben, deren einer nicht 
darauf berechnet ift, durch den andern ergänzt zu werben. 

Iſt man mit Eieffert und Fritzſche zu diefer Einftcht 
gefommen: fo fragt fi) nur noch, welchem von beiden Berichten 
als dem urfprünglichen der Vorzug zu geben ſei? GSieffert 
hat. diefe Frage mit großer Entfchiedenheit zu Gunften des. 
Sohannes beantwortet, nicht bloß, wie er behauptet, vermöge 
des Vorurtheils für die angebliche Augenzeugenfchaft viefes 
Evangeliften, fondern auch, weil fich feine Erzählung in dieſem 
Abfchnitt durch innere Wahrheit und_ malerifche Anfchaulichkeit 
auf's Unverkennbarſte vor der des Matthäus ausgeichne, welcher 
legtern die Spuren der Autopfie auch hier durchaus fehlen. 
- Während nämlih Johannes das Genauefte über die Art zu 
fagen wife, wie Jefus den Verräther bezeichnet habe: Klinge 
die Erzählung des erften Evangeliums fo, als ob feinem Ver⸗ 
fafler nur Die allgemeine Notiz, daß Jefus feinen Berräther 
“auch perfönlich bezeichnet habe, zugekommen gewefen wäre. °) 
Wenn in diejer- Hinficht allerdings von der runden Antwort, 
die Jefus bei Matthäus (VB. 25.) dem Judas gibt, nicht ge 
‚ Täugnet werden fann, daß fie ganz darnach ausfieht, nach jener 
Notiz auf ziemlich trodene Weife gemacht zu fein, und in fofern 
ber verblümteren, alfo doch immer wahrfcheinlicheren Art, wie 
Sohannes diefe Bezeichnung wendet, nachfteht: fo iſt Dagegen 
zwifchen dem 0 Eußaıag oder zußarszousvog wer’ Eu bei den 
zwei erften &vangeliften, und dem johanneifchen ß &yw Parbag 
50 Youlov Enıdwow, das Berhältnig ein ganz anderes; hier 
naͤmlich ift offenbar die größere Beftimmtheit der Bezeichnung, 
mithin die geringere Wahrfcheinlichkeit des Berichts, auf Seiten 
des vierten Evangeliums. Bei Lukas bezeichnet Jeſus den 
Verräther nur als einen der mit ihm bei Tifche Sigenden, und 


2) A. a. O. S. 147 fi 


Zweites Kapitel. $. 123. 415 


auch von dem 6 gußarbes x T. 4 bei Matthäus und Markus 
ift Die Deutung, welche Kuinöl und Henneberg‘) von 
demfelben geben: einer von meinen Tifchgenoffen, unbeftimmt 
welcher, — fo irreleitend nicht, wie Olshauſen fie dafür 
ausgibt. Denn auch auf die Frage der einzelnen Jünger: 
bin ich's? Eonnte ja Jeſus theild immer noch eine ausweichende 
Antwort zu geben für gut finden, theils verhielt fich zu dem 
früheren: zig && vucv naegadwoe ue (B. 21.), nad Kuin⸗ 
öl's richtiger Bemerkung jene Antwort auch in diefem Sinne 
als angemeffene Steigerung, indem fie das den Verrath noch 
befonders gravirende Moment der Tifchgenoflenfchaft hervorhob. 
Wenn auch die Verfaſſer der beiden erften Evangelien den 
fraglichen Ausdruck bereits fo verftanden, als ob gerade Judas 
mit Sefu die Hand in die Schüffel getaucht, und fomit jene 
Aeußerung ihn perfönlich bezeichnet hätte: fo zeigt Doch Die 
Parallele bei Lufas, und bei Markus das dem 0 Eußersröusvog 
vorgefehte eis & zwv dwösxe, daß urfprünglich jenes nur 
Eperegefe von diefem war, wenn ed gleich vermöge des Wun⸗ 
fhes, eine recht beftimmte Vorherbezeichnung des Verräthers 
von Seiten Jeſu zu haben, frühzeitig in jenem andern Sinne 
genommen wurde. Haben wir aber fo einmal eine fagenhafte 
Steigerung der Beftimmtheit jener Bezeichnung: fo ift auch 
die Art, wie das vierte Evangelium den Berräther bezeichnet 
werden läßt, in dieſe Reihe zu ziehen, und zwar müßte fie nach 
GSieffert die urfprüngliche gewefen fein, von welcher alle 
übrigen ausgegangen wären. Nun aber ift fie, wenn wir bas 
oo einag des Matthäus zum Voraus preisgeben, die beftimm- 
tefte Bezeichnungsweife, zu welcher fi der Ausdruck: meiner 
Tiſchgenoffen einer, nur als ganz unbeftimmt verhält, und auch 
der Wink: derjenige, welcher jegt eben mit mir in die Schüffel 
taucht, war noch weniger direct, als wenn Jeſus felbft ihm 
den Biſſen eintauchte und reichte. Iſt es denn nun im Geift 


6) Comment. über bie Geſchichte bes Leidens und Todes Jeſu, 3. d. St. 


416 "Dritter Abſchnitt. 


der alten Sage, die beftimmtefte Bezeichnung, wenn Jeſus eine 
folche gegeben hatte, fallen zu laffen, und auf unbeftimmtere 
zu reduciren, alfo das Wunder des Vorherwiffens Jefu zu vers 
‚ringern? Gewiß vielmehr das Umgefehrte: fo daß Matthäus 
neben dem unbiftorifchen Beftimmten doch zugleich noch das 
urfprüngliche Unbeftimmte aufbewahrt, Johannes dagegen biefes 
ganz verloren, und nur jenes behalten hat. 

Geben wir auf Diefe Weife dasjenige, was von perfönli- 
cher Bezeichnung des Verräthers durch Jeſum erzählt wird, 
als post eventum gebildet, auf, fo bleibt uns doch die allge 
meine Borausficht und Vorherfage Jeſu noch, daß überhaupt 
einer feiner Schüler und Tifchgenofien ihn verrathen werde. 
Doch auch ſchon dieß hat Schwierigkeiten. Daß Iefus auf 
den im Kreife feiner Vertrauteften brütenden Verrat von Ans 
dern aufmerffam gemacht worden wäre, davon findet fih in - 
den Evangelien Feine Spur: nur aus der Schrift feheint er 
auch dieſes Verhängniß Herausgelefen zu haben. Wiederholt 
erklärt Jeſus, durch den ihm bevorftehenden Verrath werde die 
. Schrift erfüllt (Joh. 13, 18. 17, 12. vgl. Matth. 26, 24. 
parall.), und im vierten Evangelium (13, 18.) führt er ale 
dieſe ygagn aug Bf. 41, 10, bie Worte an: 0 TowWywv uer’ 
uũ Tv Gprov, Erunpev Er Eue Top regvov avrd. Die Pfalm- 
ftelle bezieht fich entweder auf die befannten treulofen Freunde 
Davids, Ahitophel und Mephibofeth, oder, wenn der Palm 
nicht Davidiſch ift, auf Unbekannte, die mit dem Dichter deſſelben 
in ähnlichem Verhältniß ftanden. _ Bon meffianifcher Bezie⸗ 
hung ift fo wenig eine Spur, daß felbft Tholud und Ols⸗ 
haufen den angegebenen Sinn als den urfprünglichen aners 
fennen. Nun foll aber nach dem Lesteren in dem Schidfal 
Davids ſich das des Meffias abfpiegein; nach dem Erfteren 
fogar David felbft auf göttlichen Antrieb oft Ausdrüde von fich 
gebraucht haben, welche fpecielle Hinweifungen auf Die Schidjale 


7), S. be Wette, d. Pf. 








Zweited Kapitel. $. 123. | 417 


Jeſu enthielten. Wenn aber Tholud dazuſetzt, David felbft - 
habe in der Begeifterung diefen tieferen Sinn feiner Ausfprüche 
nicht immer ganz begriffen: was ift dieß anders, ald ein Zus 
geftändnig, daß durch die Deutung auf Ehriftum folchen Etellen 
ein anderer Sinn gegeben werde, ald den der Verfafler ur- 
fprünglich in diefelben gelegt hat? Daß nun Jefus aus dieſer 
Pſalmſtelle vor dem Erfolg durch natürliche Ueberlegung follte 
heraußgelefen haben, ihm ftehe Verrath durch einen Freund ber 
vor, tft um fo undenfbarer, als fich Feine Spur findet, daß 
der Palm unter den Juden mefltanifch gedeutet worden wäre: 
daß aber das Göttliche in Jeſu ihm eine folche Deutung an 
die Hand gegeben habe, ift deßwegen unmöglich, weil es eine 
falfhe Deutung iſt. Vielmehr nach dem Erfolg erft wurde ber 
Pfalmftelle eine Beziehung auf den Verrath des Judas ge: 
geben. Das durch den gewaltfamen Tod des Meflias über: 
rajchte Gemüth feiner erften Anhänger muß man fih in 
ängftlicher Gefchäftigfeit denken, dieſes Schidfal deſſelben zu 
begreifen, was aber bei jüdiſch Gebildeten nicht hieß, es mit 
Bewußtfein und Vernunft, fondern mit der Schrift in Einklang « 
bringen. So fanden fie nicht nur feinen Tod, fondern auch, 
daß er durch die Treuloſigkeit eines feiner Freunde zu Grunde 
‚ gehen würde, und felbft das weitere Echidfal und Ende des 
Perräthers (Matıh. 27, 9 f. A. ©. 1, 20.) im A. T. vors 
bergefagt, und um für den Berrath eine A.T.liche Auctorität 
zu finden, bot fi am meiften jene Stelle aus Pf. 41, wo 
der Berfaffer über Mißhandlung durch einen feiner Vertrau⸗ 
teften Klage führt. Diefe Belege aus dem A. T. konnten 
die Schreiber der NT.lichen Gefchichte entweder als ihre und 
Anderer NReflerionen bei Meldung des Erfolgs hinzufegen, 
wie die Verfaſſer des erften Evangeliums und der Apoftel- 
geſchichte, wo fie das Ende des Judas referiren: oder, was 
noch frhlagender war, fie konnten fie Jefu felbjt ſchon vor 
dem Erfolg in den Mund Iegen, wie der Verfaſſer des 
vierten Evangeliums hier thut. Der Pſalmiſt hatte mit feinem 


- U. Band. 27 


| 418 Dritter Adbſchnitt. 


word Dax einen folchen gemeint, der überhaupt das Brot 
mit ihm zu theilen pflege: leicht aber konnte es als die Bes 
zeichnung eines folchen angefehen werden, der jeßt eben mit 
dem in der Weiffagung Gemeinten efje, und fo wurde als 
Scene der VBorherbezeichnung ein Mahl Jeſu mit feinen Jün⸗ 
gern, und wegen ber Nähe des Erfolgs am fehidlichften das 
legte, gewählt. An die Worte der Pfalmftelle übrigens band 
man fich in der. Art, wie man Jeſum den Verräther bezeichnen 
ließ, weiter nicht, fondern nahm ftatt des 0 Tewyawv wer’ £us 
zov Gprov entweder das fpnonyme wer zus Emmi tig Toaneirg, 
wie Lufas, oder, da den Syioptifern zufolge dieſes legte Mahl - 
ein Paſchamahl war, fo wählte man mit Bezug auf die dem 
Paſchamahl eigenthümliche Tunke das 0 Eußarszousvog wer’ 
zus Eis To Tovßlior, wie Marfus und Matthäus. Die, 
zuerft ganz fononym dem 0 zewyww x. z. A., ald Bezeichnung 
irgend eines feiner Tiſchgenoſſen, wurde bald, da man eine 
perfönliche Bezeichnung haben wollte, durch Mißverftand fo 
gewendet, als ob Judas zufällig zugleich mit Jeſu in bie 
«Schüffel gegriffen hätte, und endlich wurde, um die Bezeich⸗ 
nung möglichft unmittelbar zu machen, der von Judas zugleich 
mit Sefu in die Schüffel getauchte Biffen vom vierten Evan⸗ 
geliften in einen folchen verwandelt, den Jeſus dem Berräther _ 
eingetaucht und gegeben habe. 

Auch fonft ift in der johanneifchen Darftelung vieler 
Erene Manches, was gar nicht natürlich, wie. Sieffert 
will, fondern vielmehr gemacht erfcheint. Die Art, wie Petrus 
fih der Vermittlung des Schooßjüngers bevienen muß, um 
- von Jefu einen näheren Winf über den Berräther herauszu⸗ 
bringen, wie fie den Synoptifern fremd tft, fo gehört fie auch 
nur zu der unbiftorifhen Wendung, welche, wie oben aus- 
einandergefeßt, das vierte Evangelium dem Berhältnig der 
beiden Apoftel gibt. Die unter einer Handlung der Freunds 
fehaft, wie das Reichen des Biffens, verborgene Bezeichnung 
im fchlimmen Sinne ferner hat immer etwas Unwahres und 
Widriged, was man auch von zum Grunde liegenden Abfichten, 


Zweites Kapltel: $. 123. 419 


den Verräfher noch zu rühren u. dergl., erdenfen mag. : Ends 
lich auch das 0 rrouelg, Molr0ov Tayıov, man mag es zu mils 
dern fuchen, wie man will, ) ift doch immer hart, und mit 
einem gewiffen Trop dem hereinbrechenden Schickſal gegenüber 
gefprochen, und ehe ich die Worte durch irgend eine Künftelel 
als von Jeſu gefprochene rechtfertige,  ftimme ich lieber dem 
Verfaſſer ver Probabilien bei, welcher in denfelben das Beftres 
ben des vierten Evangeliften fieht, die gewöhnliche Darftellung, 
welcher zufolge Jeſus den Verrat vorauswußte und nicht 
hinverte, durch die Wendung, er. habe ven Verräther fogar 
zur Beichleunigung feines Borhakeng aufgefotbert zu über- 
bieten. °) 

Wie dem Judas den Verrath, To fol Sefus dem Petrus 
die Berläugnung vorhergefagt haben, und zwar mit ber beſon⸗ 
ders genauen Zeitbeftimmung,, daß, ebe am nächften. Fruͤhmorgen 
der Hahn (nach Markus zweimal krähe, Betrug ihn dreimal 
verläugnet haben werde (Matth. 26, 33 ff. parall.), was den 
Evangelien zufolge auf's Genauefte eingetroffen ift. Hier if 
von rationaliftifcher Eeite bemerkt worden, ‘die Erftredung der‘ 
Sehergabe auf folche Nebenzüge, wie der Hahnenfchrei, müffe 
Befremden erregen; ebenfo, daß Jeſus, flatt zu warnen, viele 
mehr den Erfolg wie unvermeidlich vorberfage, 9 was allers 
dings ganz nady der Art des tragiſchen Fatums der Griechen: 
lautet, wo der Menfch in das ihm vom Orakel Vorhergefagte, 
indem er es vermeiden will, dennoch hineingeräth. - Freilich, 
wenn dann Paulus weder das 3 Ywryosı anuspov alsrwp,' 


8 ©. Luͤcke und Tholug, ;. dv. Gt. 0 

2) P. 62: Reliqui quidem narrant evangelistae, servatorem scivinse, 
proditionis consilium, nec impedivisse; ipsum vero excitässe 
Judam ad proditionem, nemo eorum aicit, neque convenit hoc 
Jesu. 

19) Paulus, ereg. Handb. 3, b, S. 538. 8. 3. 1, 'b, G. i2. bafe,' 
&. 3. $. 137. 

l 27 * 


420 Dritter Abſchattt. 


noch das arapveiodeı, noch Bas zeis in der genauen, woͤrt⸗ 
lichen Bedeutung geſprochen wiflen will, fondern ber ganzen 
Rede nur den ungefähren und problematifchen Sinn gibt: fo 
leicht zu erfchüttern fei Die vermeinte Feftigfeit des Süngers, 
daß zwifchen jet und dem nächften Morgen ſchon Ereigniffe 
eintreten können, bie ihn veranlafien würden, .mehr ald Einmal 
an ihm irre und ihm untreu zu werden: fo ift dieß nicht bie 
rechte Art, die Schwierigfeit des evangelifchen Berichts aus 
dem Wege zu räumen; die Jeſu in den Mund gelegten Worte 
flimmen mit dem nachherigen Erfolge fo genau überein, daß 
hier an ein bloß zufälliges Zufammentreffen nicht gedacht 
werden fann. Sondern in diefem Zufammenhange von lauter 
vaticiniis post eventum werden wir auch bier annehmen 
müffen, daß, nachdem wirflich Petrus in jener Nacht Jeſum 
mehrmals verläugnet hatte, die Vorherverfündigung davon 
Jeſu in den Mund gelegt wurde, mit der üblichen Zeitbeftim- 
mung vom Hahnenfchrei, ') und mit der Reduction auf bie 
runde Zahl von drei PVerläugnungsfällen. Daß dieſe Zeit: 
‚und Zahlbeftimmung in der evangelifchen Ueberlieferung ftehend 
blieb (außer dag Markus, ohne Zweifel durch eine willführliche 
Künftelei, um dem zeig der Verläugnung gegenüber auch den 
Hahnenfchrei durch eine Zahl zu beftimmen, von einem zwei⸗ 
maligen Rufen des Hahns fpricht), dieß fcheint ſich aus der 
Anfchaulichfeit und Behaltbarfeit jener frühzeitig gewählten Aus- 
drüde, die fich ganz zu einer ftehennen Beftimmung eigneten, 
ohne allzugroße Schwierigkeit. zu erklären. 

Daß enblich Jeſus auch den übrigen Jüngern vorausſagt, 
fie werden in der bevorftchenden Nacht alle an ihm irre wer- 
den, ihn verlaffen und fich zerftreuen (Matth. 26, 31 parall. 
vgl. Joh.!16, 32.), hat wohl ebenfowenig Anſpruch, als 
wirffiche Weiffagung feftgehalten zu werben, zumal hier bie 
zwei erften Evangeliſten in dem yeyganızas yag” moragu 2 Zu 
rroysva, xl dieoxopruodjoeren Ta ngoßere Tig. rolwns 


11) Val. Lightfoot und Paulus, z. d. St. 


Zweites Kapitel. $. 124. 421 


die A.T.liche Etelle (Zach. 13, 7.) felber an die Hand geben, 
welche, zuerft von den Anhängern Jefu zur. eigenen Verſtaͤndi⸗ 
gung über ven Tod ihres Meifters und defien zunächft traurige 
Folgen aufgefucht, bald Jeſu felbft ald Vorherfagung diefer 
Erfolge in den Mund gelegt wurde. 


$. 124. 
Die Einfesung bes Abendmahle. 


Bei dem legten Mahle war ed, nach dem Berichte der 
prei erften Evangeliften, mit welchem auch der Apoftel Baulus 
(1. Kor. 11, 23 ff.) zufammenftimmt, daß Jeſus dem unge: 
fäuerten Brot und dem Weine, was nach der Sitte des Rafcha- 
feftes ) er als ‚Samilienhaupt unter feine Schüler zu vertheilen 
hatte, eine Beziehung auf feinen nahe bevorftehenden Tod ge— 
gegeben hat. Während des Eſſens nämlich fol er einen Brot: 
fuchen genommen, nach gefprochenem Danfgebet ihn gebrochen 
und feinen Süngern gereicht haben, mit der Erklärung : zöro 
&sı TO We us, wozu Paulus und Lufag noch fegen: To 
vrıEo vv dıdousvov oder Awpevov, — und eben fo hierauf, 
bei Baulus und Lukas nach dem Eflen, fol er ihnen einen 
Becher Weins mit den Worten hingegeben haben: r&ro £sı 
TO alııa us, T0 Ing nawig diadrers, oder, nad) Paulus und 
Lukas: 7 zum diadnen &v Typ alueri us, TO nueol „nmoAle, 
oder vrTEE Yuov, Enyuvouevov, wozu Matthäus noch ſetzt: eis 
apeoıw auegriov, Paulus aber, was er und Lufas auch fihon . 
vben bei’'m Brote hatten: zöro noise (Paulus bei'm Wein 
000US &v Tiivnte) eis TV Ev Wwaumnow. 

Der Streit der Confeflionen ‚über die Bedeutung diefer 
Worte, ob fte eine Verwandlung von Brot und Wein in den 
Leib und das Blut Chrifti, oder ein Vorhandenfein von Leib 


1) Vgl. über biefe vornaͤmiich Lightfoot, horae p. 474 ff., und Yan: 
lus, exeg. Handb. 3, b, S. 511 ff. 


4122 ‚ Dritter Abfchnitt. 


und Blut Chriſti mit und unter jenen Elementen, ober end⸗ 
lich dieß ausdrücken, daß Brot und Wein Chriſti Leib und 
Blut bedeuten ſollen, iſt als obſolet zu bezeichnen, und ſollte 
wenigſtens exegetiſch deßwegen nicht mehr nachgeführt werden, 
weil er auf einer unrichtigen Disjunction beruht. Nur in der 
Uebertragung in das abftractere Bewußtfein des Abendlandes 
und der neuern Zeit zerfällt dasjenige, was ber alte Orientale 
fih unter feinem 7870 &sı' dachte, in jene verfchiedenen Mög- 
lichfeiten der Bedeutung, welche wir, wenn wir ben urfprüng- 
lichen Gedanken in uns nachbilden wollen, gar nicht auf diefe 
Weiſe trennen dürfen. Erklärt man die fraglichen Worte von 
- Verwandlung : fo tft das zu viel und zu beftimmt; nimmt 
man fie von einer Exiſtenz cum et sub specie etc.: fo ift 
dieß zu Fünftlich; überfegt man aber: dieß bedeutet: fo hat 
man zu wenig und zu müchtern gedacht. Den Schreibern 
unfrer Evangelien war das Brot im Abendmahl der Leib 
Chrifti; aber hätte man fie gefragt, ob alfo das Brot verwan⸗ 
delt fei? fo würden fie e8 verneint; hätte man ihnen von einem 
Genuß des Leibes mit und unter der Geftalt des Brots ger - 
fprochen: fo würden fie dieß nicht verftanden; hätte man ge- 
fchloffen, daß mithin das Brot den Leib bloß bedeute: fo würden 
fie fich dadurch nicht’ befriedigt gefunden haben. 

Hierüber alfo verlohnt es fich nicht: weiter zu ftreiten; 
eher kann die Frage intereffiren, ob Jeſus jene eigenthümlich 
bedeutfame Brot- und Weinaustheilung nur ald einen Act 
des Abfchieds von feinen Jüngern, oder ob er diefelbe in der 
Abficht vorgenommen habe, daß fie auch nach feinem Hingang 
von feinen Anhängern zum Andenken an ihn gefeiert werden 
follte? Hätten wir bloß die Berichte der beiden erften Evans 
geliften — dieß geben hier felbft orthodore Theologen zu; ?) — 
ſo waͤre kein entſcheidender Grund zu der letzteren Annahme 


— — 





2) Suͤskind, in der Abhandlung: Hat Jeſus das Abendmahl als einen 
mnemonifchen Ritus angeordnet? in f. Magazin, 11,9.1 fl 


Zweites Kapitel. $. 124. 423 


vorhanden: allein entſcheidend ſcheint bei Paulus und Lukas 
der Zuſatz: zöro morire eis rm Ep wawrow, welcyem zu⸗ 
folge Jeſus offenbar die Abficht hatte, ein Gedaͤchtnißmahl zu 
ſtiften das nach Paulus die Chriſten feiern ſollten, axyoıs 8 

ov EI. Allein eben von dieſen Zufägen hat man neuerlich 
germufhet, fie möchten nicht urfprünglic Worte Jeſu gewefen 
fein, fondern bei der Abenpmahlsfeier in der erſten Gemeinde 
möge der austheilende Vorfteher die Gemeindeglieder aufgefors 
dert haben, dieſes Mahl auch ferner zum Andenfen Chrifti zu 
wiederholen, und aus diefem urdhriftlichen Ritual feien dann 
die Worte zu der Rede Jeſu geichlagen worden. 3) Gegen 
Diefe Bermuthung follte man nicht mit Olshauſen die Auctorität 
des Apoſtels Naulus in der Ueberfpannung ‚geltend machen, 
daß laut feiner Verſicherung: sragelaßov ano TE Kopie, er 
hier ‘aus einer unmittelbaren Offenbarung Chrifti, ja daß Chri⸗ 
ftus felbft hier aus ihm fpreche: da doch, wie felbft Süsfind 
zugegeben, und neerlid Schulz aufs Bündigfte bewiefen 
hat,?) rrageiouBwew ano wog nicht ein unmittelbares Befommen 
von einem, fondern nur ein mittelbares Ueberkommen von einem 
her, alfo durch Mleberlieferung, bedeuten fann. Hat aber Baus 
us jenen Zufag nicht von Jeſu felbft gehabt: fo glaubt zwar 
Süsfind bemeifen zu können, er müfle ihm von einem Apo- 
ſtel mitgetheilt oder mindeſtens beftätigt worden fein, und meint 
in der Weiſe feiner Echule durch eine Reihe abftracter Dis: 
junetionen fichere Mauthlinten ziehen zu fönnen, welche das 
Eindringen einer unhiftorifchen Eage in diefem Stücke verhin- 
dern follen: allein die ſtrenge Urfundlichfeit unferer Tage darf 
von einer werdenden Religionsgeſellſchaft nicht erwartet werben, 
deren an verfihiedenen Orten befindliche Theile noch feinen 
geordneten Zufammenhang und meiftens nur mündlichen Vers 
fehr hatten. Cbenfowenig aber darf man dazu, das z&ro moreire 
X. 5.4 für einen fpäteren Zufag zu. den Worten Jeſu zu halten, 


3) Paulus, ereg. Handb., 3, b, ©. 597. « 
*) ueber das Abendmahl, ©. 217 ff. 


424 Dritter Abſchnitt. 


durch -falfche Gründe, wie daß e8 gegen die Demuth Jeſu ver- 
ftoßen haben würde, fich felbft eine Gebächtnißfeier zu ftiften 9 
u. dgl., ſich bewegen laſſen, oder das Stillſchweigen der beiden 
erften Evangeliften, dem Zeugniß des Apoftels Paulus gegen, 
über, allzuhoch anfchlagen. 

Vielleicht entfcheidet fich dieſer Punkt mit der andern‘ 
Frage: wie überhaupt Jeſus dazu gefommen fei, dieſe eigen- 
thümlich bedeutfame Brot» und Weinaustheilung mit feinen 
Jüngern vorzunehmen? Wie die orthodore Anficht von der 
Perſon Jeſu aus diefer, als einer göttlichen, das Werden und 
namentlich ein allmähliges oder plößliches Entſtehen von früher 
‚nicht Dagewefenen Planen und Borfägen möglichft zu entfernen 
fucht: fo lag ihr zufolge fammt dem Vorherwiſſen um fein 
Schidfal und feinem ganzen Plane auch der Vorſatz: Das 
Abendmahl; und zwar als Gedächtnißfeier für feine Kirche, 
zu ftiften, von jeher in Jeſu, und dieſe Anficht kann fich wes 
nigftens dafür, daß Jeſus fehon ein Jahr vorher das Abendmahl 
im Sinne gehabt habe, auf die dahin zielenden Anfpielungen 
berufen, welche das vierte Evangelium im fechsten Kapitel 
Sefu in den Mund legt. 

Freilich ift Dieß eine unfichere Stütze, da nach einer frü- 
heren Ilnterfuhung jene vor der Stiftung des Abenbmahls 
fohlechterdings unverftändlichen Anfpielungen nicht von Jeſu 
felbft, fondern nur vom Evangeliften herrühren können. ©) 
Und da es ferner überhaupt die Wahrheit der menfchlichen 
Natur in Jeſu aufzuheben fchien, in ihm von jeher, oder we 
nigftend vom Anfange des reifen Alter8 an, Alles fehen fertig 
und vorgefehen fich zu denken: fo hat der Rationaliemus im 
Gegentheil behauptet, nicht früher, als eben an jenem Abend 
fei der Gedanfe jener finnbildlichen Handlung und Rede in Jeſu 
aufgeftiegen. Demnad fol nun bei'm Anblick des gebrochenen 


— 


5) Kaifer, bibl. Theol. 2, a, &. 39. Stephani, das h. Abendm. ©. 61. 
91 Bd. $. 81. 


Zweite Rapitel. 5 124- 425 


Brote und ausgegofienen Weines Jeſum eine Ahnung feines 
nahen gewaltfamen Todes angewandelt, er foll in jenem ein 
Bild feines hinzurichtenden Keibes, im dieſem feines zu vergie- 
Senden Blutes erblidt, und dieſen augenblidlihen Eindrud 
gegen feine Jünger ausgefprochen haben. ) Einen folchen tra- 
gifchen Eindruck aber Fonnte Zefus nur befommen, wenn er 
feinen gewaltfamen Tod in der Nähe ſah. Daß dieß bei jenem 
Mahle mit größter Beftimmtheit der Fall geweſen, fcheint die 
Berficherung zu beweifen, welche er nach fämmtlichen ſynopti⸗ 
ſchen Berichten feinen Jüngern gab, daß er von dem Gewächs 
des Weinftods nicht mehr trinfen werde, bis er e8 neu genier 
Ben werde im Reiche feines Vaters; wornad er aljo, da an 
ein Enthaltungsgelübbe zu denfen fein Grund ift, für die nächften 
Tage fein Ende vorquögefchen haben müßte. Sehen wir jedoch; 
. wie bei Lukas diefer Verfiherung in Bezug auf den Wein die 
Erflärung Jeſu vorangeht, das Pafıha werde er nicht mehr 
genießen bis zur Erfüllung im Gottesreiche: fo ift wohl ur- 
fprünglich auch unter dem yErızua rg aunzie nicht Wein 
‚ überhaupt, fondern fpeciell der Bafchatrunf verftanden gewefen, 
wovon man auch bei Matthäus und Markus in dem zars, 
welches fie zu yearızuerog fegen, eine Spur entdecken Tönnte. 
Don Mahlzeiten im meflianifchen Reiche fprach Jeſus, gemäß 
den Vorftellungen feiner Zeit, öfter, und fo mag er erwartet 
haben, daß in demfelben namentlich das Paſchamahl mit befon- 
derer Seierlichfeit werde begangen werben. Wenn er nun ver- 
ſichert, dieſes Mahl nicht mehr in dieſem, fondern erft in jenem 
Aeon wieder zu genießen: fo liegt darin erftens nicht, wie, - 
wenn er von Effen und Trinken überhaupt fpräche, daß ſchon 
in den nächften Tagen, fondern nur, daß vor Ablauf eines 
Jahre das Verweilen in diefer vormeffianifchen Weltorbnung 
für ihn ein Ende haben werde; zweitens auch das nicht noth⸗ 
wendig, daß diefe Veränderung durch feinen Tod werde herbeis 
geführt werden, fondern er Eönnte auch jegt noch erwartet 


“) Paulus, a. a. O. ©. 519 fe Kaiſer, a a. ©. ©. 37 ff. 


426 Dritter Abfchnitt. 


haben, noch während feines Lebens werde Das Meffiasreih _ 
feinen Anfang nehmen. 

Indeſſen Jeſu auch für diefe legte Zeit jede Ahnung feines 
Endes im Allgemeinen abzufprechen , find wir theils durch die 
frühere Unterſuchung nicht berechtigt, theil® müßten wir mit 
derfelben auch die Etiftung Des Abendmahls durch. Sefum bes 
zweifeln, was wegen des pauliniſchen Zeugniffes doch ſchwer 
angeht. Gar wohl denkbar ift es auch, Daß die immer größere 
Verwicklung feines Verhältniffes zur jüdifehen Hierarchie Jeſum 
am Ende zu der Einficht brachte, fein Tod werde unvermeidlich 
fein, und daß er in bewegter Gemüthöftimmung fogar das 
nächfte Bafchafeft als den Termin beftimmen zu Fünnen glaubte, 
welchen er nicht mehr erleben werde. Bon bier aus erfcheint 
dann Beides als gleich möglich, ſowohl daß er vermöge einer 
Eingebung des bedeutungsvollen Augenblids bei dem letzten 
Paſcha, das er mit feinen Jüngern feierte, Brot und Wein 
zu Symbolen feines zu tödtenden Leibes und zu vergießenden 
Blutes gemacht hätte, oder daß er ſchon einige Zeit zuvor auf 
den Gedanfen gefommen wäre, feinen Anhängern ein foldyes 
Gedächtnigmahl zu hinterlaffen, wobei er dann gar wohl auch 
jene von Paulus und Lukas aufbehaltenen Worte gefprochen 
haben koͤnnte. Ehe aber die Jünger dieſe Andeutung des 
Todes Jefu ſich gehörig angeeignet und in ihre Ueberzeugung 
aufgenommen hatten, überrafchte fie der wirkliche Erfolg, wels 
cher fie ebendeßwegen noch fo gut ala ganz unvorbereitet traf. 


Drittes Kapitel, 


Gang nad dem Oelberg, Sefangenneh- 
mung, Verhör, Berurtheilung und 
Kreuzigung Jeſu. 


6. 12%. 


Jeſu Seelenkampf im Garten. 


Den ſynoptiſchen Berichten zufolge ging Sefus fogleich 
nach Beendigung des Mahles und Abfingung des Hallel, wie 
er überhaupt während dieſer Feftzeit außerhalb Serufalems zu 
übernachten pflegte (Matth. 21, 17. Luc. 22, 39.,) hinaus - 
. an den Delberg, in ein xopiov (bei Joh. wjrwos), Gethfemane 
genannt (Matth. 26, 30. 36. parall.), wohin ihn Johannes, 
mit der ausdrüdlichen Erwähnung, daß es über den Bach Ki⸗ 
dron gegangen fei, erft nach einer langen Reihe von Abſchieds⸗ 
reden (Kap. 14, 17), auf welche wir fpäter au reden fommen 
werden, aufbrechen läßt. Während an die Ankunft Jeſu im 
Garten: Johannes unmittelbar die Gefangennehmung Fnüpft: 
fehieben die Synoptifer noch diejenige Scene dazwifchen, welche 
man als den Seelenfampf Sefu zu bezeichnen pflegt. 

Ihre Berichte hierüber find nicht gleichlautenn. Nach 
Matthäus und Markus nimmt Jeſus, in dem er die übrigen 
Jünger zurüdbleiben heißt, feine drei Vertrauteften, den Betrug 
und die Zebedaiden, mit fi, wird von Bangigfeit und Zagen 


428 Dritter Abfchnitt. 


“ überfallen, erflärt den Dreien, bis zum Tode betrübt zu fein, 
und reißt fich auch von ihnen, indem er fie wach zu bleiben 
ermahnt, 108, um für fich ein Gebet verrichten zu Fönnen, in 
welchem er, das Angeficht auf die Erde gebeugt, um Abwen- 
dung des Leidensfelchs fleht, übrigens Alles dem Willen feines 
Vaters anheimftelt. Wie er wieder zu den SJüngern kommt, 
findet er fie fehlafend, ermahnt fie abermals zur Wachfamfeit, 
entfernt fich dann noch einmal und wiederholt das vorige Ge⸗ 
bet, worauf er feine Jünger wieder fhlafend antrifft. Zum 
drittenmal entfernt er fih nun, um das Gebet zu wiederholen, 
und wiederfommend findet er zum brittenmal die Jünger ſchla⸗ 
fend, erwedt fie aber jest, um dem nahenden Berräther entges 
genzugehen. Bon den beiden Dreizahlen, welche in dieſer 
Erzählung der beiden erften Evangeliften eine Rolle fpielen, 
hat Lufas nichts, fondern nach ihm entfernt ſich Jeſus von 
ſämmtlichen Jüngern, nachdem er fie zur Wachfamfeit ermahnt, 
ungefähr auf eines Steinwurfs Weite, und betet Enieend, nur 
Einmal, aber faft mit denfelben Worten, wie ihn die beiden 
andern beten laffen, Fehrt dann zu den Jüngern zuräd und 
erwedt fie, weil Judas mit der Schaar fich nähert. Dafür 
hat nun aber Lufas in der einzigen Gebetsfcene, von welcher 
- er weiß, zwei, Umſtände, die den übrigen Berichterftattern fremd 
find, daß nämlich während des Gebets, unmittelbar ehe der 
heftigfte Seelenfampf eintrat, ein Engel erſchienen fet, Jeſum 
zu ftärfen, während der darauf gefolgten ‘aywri« aber Jefus 
Schweiß, wie zur Erde fallende Blurstropfen, vergoffen habe. 
Bon jeher ift an diefem Borgang in Gethfemane Anftoß 
genommen worden, weil in bemfelben Jeſus eine Echwäche 
und Todesfurcht zu zeigen fcheint, welche man ihm unangemefs 
"fen glauben könnte. Ein Celſus und Julian haben, in Rück⸗ 
ficht ohne Zweifel auf die großen Mufter eines fterbenden 
Sofrates und anderer heidnifchen Welfen, das Zagen Jeſu vor 
dem Tode gefhmäht; )) ein Banini fein eigenes Benehmen 
1) Orig. c. Cels. 2, 24: Aeyaı (6 Keloos) ri Av norvura, xaı Odugeran, 
xal rov vu Odedge Yoßov euyera nayadgausiv, Aeyur x. r. A; — Julian 


Dritteß Kapitel. $. 128. 429 


bei bevorftehender Hinrichtung Fühn über das von Jeſu ge 
ftelft, 2) und im Evangelium Nicodemi fchließt der Satan 
aus diefer Scene, daß Chriftus ein bloßer Menfch gemefen. 9 
Die Ausflucht des Apofryphums, die Betrübniß Jeſu fei nur 
Berftellung gewefen, um dem Teufel zum Kampfe mit ihm 
Muth zu machen, 9 ift nur das Eingeftändniß, daß es eine 
wirkliche Betrübniß jener Art bei Jeſu nicht zu denfen weiß. 
Daher berief man ſich auf den Unterſchied der beiden Naturen 
in Chrifto, und fehrieb die Betrübnig und die Bitte um Ab- 
nahme des rrozioıov ver menfhlichen, die Ergebung in das 
Ielnua des Vaters aber der göttlichen Natur gu. 5) Da jedoch 
dieß theils eine unzuläfige Trennung im Wefen Jeſu zu feßen, 
theild das Zagen auch nur feiner menfchlichen Natur vor ber 
vorftehenden körperlichen Leiden ihm nicht wohl anzuftehen 
fhien: fo gab man feiner Bangigfeit einen geiftigen Bezug, 
und machte fie zu einer fompathetifchen, indem e8 nun die 
Ruchloſigkeit des Judas, die Gefahr, welche feinen Juͤngern 
drohte, und dad Schidfal, welches feinem Volfe bevorftand, ‚ge- 
weien fein fol, was ihm folche Traurigkeit verurfachte. © 


) 


in einem Fragment Theodor's von Mopsveftia, bei Münter, Fragm. 
Patr. graec. Fase. 1, p. 121: alla za Towürn noosruyeral, gar. 
6 T., oia a3Aog GrIgumos, Ovupopav (psoeıv euxchw; #8 Öuvausvog, zal Un’ 
ayysia, Heos Wv, Eviayveran. 

2) Gramond. hist. Gall. ab exc. Henr. IV. L. 3, p. 211: Lucilius 
Vanini — dum in patibulum trahitur — Christo illudit in haec 
eadem verba: illi in extremis prae timore imbellis sudor: ego 
imperterritus morior. 

3) Evang. Nicod. c. 20, bei ‚while, 1,6. 702 f.: ya rag oda, örı 
arIewrrös Fzı, zar nraoa aur& Asyovrog örı neglAuno; Ezıw n yuyn ya 
I Javara. 

2) Ebendaſ. ©. 706, erwiedert Hades dem Satan: ei de Ayeu, Om zxu- 
cas aur& goßnuevs tov Icvarov, nallwv oe xaı yelay Epm zäro, Iclwr, 
iya oe agndon Ev zeug. Öuvarj. 

5) So ſchon DOrigenes, c. Cels. 2, 25. 

6) Hieron. Comm. in Matth. z. d. St.: Contristabatur non timore 


430 Dritter Nofhaitt. - 


Seine Spige erreichte diefes Streben, den Schmerz Jeſu von 
aller finnlishen Beimifhung und Beziehung auf feine eigene 
Perſon zu reinigen, in der Firchlichen Anſicht, daß Jeſus in 
das Mitgefühl der Sündenfchuld der ganzen Menfchheit ver- 
fegt gewefen fei, und Gotte8 Zorn über diefelbe ftellvertretend 
empfunden habe; ) wobei nach der Anficht von Einigen fogar 
der Teufel felbft mit Jeſu gerungen haben fol. ®) 

Doch von einem folchen Grunde der Bangigfeit Jeſu ſteht 
nichts im Texte; vielmehr, wie ſonſt (Matth. 20, 22 f. parall.), 
fo muß auch hier das ozngwv, um deſſen Abnahme Jeſus 
bittet, von feinem eigenen Leiden und Tode verftanden werben. 
Zugleich liegt jener Firchlichen Anficht eine unbiblifche Vorſtel⸗ 
lung. von der GStellvertretung zum Grunde. Jeſu Leiden ift- 
alferdings auch ſchon in der Borftellung der Eynoptifer ein 
ftellvertretendes für die Sünden Vieler; allein die Etellvertre- 
tung befteht nach ihnen nicht darin, daß Jeſus nicht unmittel- 
bar diefe Sünden und das ihretwegen der Menfchheit gebührende 
Leiden zu empfinden bekäme; ſondern für jene Sünden, und 
um ihre Strafe aufzuheben, wird ihm ein perfönliches Leiden 
aufgelegt. Wie ihn alfo am Kreuze nicht Direct die Eünden 
der Welt und der auf dieſe ſich beziehende Zorn Gottes, fons 
dern die. ihm beigebrachten Wunden, fammt feiner ganzen jams 
mervollen Lage, in welche er freilich um der Sünden ber 
Menfchheit willen verfegt war, fihmerzten: fo war es ber 


patiendi, qui ad hoc venerat, ut pateretur, sed propter: infelicis- 
simum Judam, et scandalum omnium apostolorum, et rejectionem 
populi Judaeorum, et eversionem miserae Hierusalem. 

”), &atvin, Conm. in harm. evangg. zu Matth. 26, 37: Non — 
mortem horruit simpliciter, quatenus transitus est e mundo, sed‘ 
quia formidabile Dei tribunal illi erat ante oculos, judex ipse 
incomprehensibili vindicta armatus; peceafa.vero nostra, quorum 
onus illi erat impositum, sua ingenti mole .eum premebant. Bgl. 
Calvin. Snftit. II, 16, 12; Luther Haunspoſtile, die erſte vol 
fionspredigt. 

8) Lightfoot, p. 884 f. 














Drittes Kapitel, $. 125. ‚41 


BVorftellung der: Evangeliften zufolge auch in Gethfemane nicht 
unmittelbar das Gefühl des Elends der Menfchheit, fondern 
das Vorgefühl feines eigenen, allerdings an ber Stelle ber 
Menfchheit zu übernehmenden Leidens, was ihn in jene Bangig⸗ 
keit verſetzte. 

Von der unhaltbar befundenen kirchlichen Anſicht des See⸗ 
lenkampfs Jeſu iſt man in neuerer Zeit einerſeits in rohen 
Materialismus zurückgefallen, indem man die Stimmung, welche 
man ethiſch rechtfertigen zu können verzweifelte, zu einer rein phy⸗ 
ſiſchen machte, und Jeſu in Gethſemane eine Uebelheit zuſtoßen 
ließ; ?) eine Anſicht, welche Paulus mit einer Strenge, die er 
nur fleißiger auch gegen feine eigenen Erflärungen hätte kehren 
folfen, für eine unfchidliche, tertwidrige Umdeutung erklärt, dabei 
aber dennoch die Heumann’fche Hypothefe nicht unwahrſchein⸗ 
lich findet, daß zu dem innern Schmerz eine feibliche Erkältung, 
in dem vom Kidron durchfihnittenen Thalgrund wenigftens hins 
zugefommen fei. !) Bon ver andern Seite hat man der Scene 
mit moderner Empfindfamfeit aufzuhelfen gefucht, und das Freund« 
fchaftögefühl, den Trennungsfchmerz, die Abſchiedsgedanken, als 
dasjenige betrachtet, was Jeſu Inneres fo zerriffen habe: 1) 
oder ein trübes Gemiſch von dem Allem, von felbitifchem und, 
theilnehmendem , finnlichem und geiftigem Schmerz vorausges., 
fegt. 19) Paulus deutet das a dwarov Esı, negeldtrn To 
. orngıov als rein moralifche Aengftlichkeit Jeſu, ob es wirklich 
Gottes Wille fei, daß er fich dem nächftbevorftehenden Angriff 
bingebe, ob es nicht vielmehr gottgefälfiger wäre, ‚Diefer Gefahr 
noch) auszuweichen: er macht zur bloßen Anfrage an Gott, was 
offenbar die dringendfte Bitte ift. 

Während Olshaufen fich in die Firdhliche Anficht zurück⸗ 
wirft, und den Machtfpruch tut, die Meinung, als hätte ‚das; 

%) Thief, Erit. Comm. S. 118. 2 
49) U. a. O. S. 549. 554 f. Anm. 
1) Shufter, zur Grläuterung des N. T., in Eichhorn' © Bine 

9, S. 1012 ff. 

42) Heß, Gefhichte Jeſu, 2, ©. 322 ff.: Kuinoͤl, in Matth. p. 119. 


* 7 ‘ 





432 | Drittes Abſchnite. 


äußerliche, Eörperliche Leiden den’ Kampf in Sefu hervorgerufen, 
müffe ald eine das Weſen feiner Erfcheinung vernichtende ent« 
fernt werden: haben Andere richtiger anerfannt, daß hier aller: 
dings der zum Affeete gewordene Wunfch, des bevorſtehenden 
furchtbaren Leidens überhoben zu fein, Die Schauer der finnlichen 
Ratur vor ihrer Vernichtung , fich zeigen. 3) Mit Recht iſt 
übrigens gegen den Zabel, der hieraus Jeſu erwachfen follte, 
bemerft worden, daß ja die fehleunige Ueberwindung der wider⸗ 
firebenden Sinnlichkeit jeden Schein des Sündhaften wieder ent- 
ferne 1%); daß übrigens das Beben der finnlichen Natur vor 
ihrer Vernichtung zu ihren wefentlihen Lebensäußerungen 
gehöre; '5) ja daß, je reiner die menfchliche Natur in einem fei, 
defto empfindlicher fie gegen Schmerz und Vernichtung fich 
verhalte; 1%) daß das Durchempfinden und Ueberwinden des 
Schmerzens größer fei als eine ſtoiſche oder auch fufratifche Un⸗ 
empfindlichfeit gegen benfelben. !7) 

Mit mehr Grund hat ſich die Kritif auf die eigenthümliche 
Darftellung des dritten Evangeliums geworfen. Der ftärfende 
Engel hat, wie aus dogmatifchen Gründen der alten Kirche, fo 
der neueren Auslegung aus Tritifhen Gründen, zu fchaffen ge- 
macht. Ein altes Scholion, in Betracht, Orı wrg loxvog rã 
oyyiis dx Enedtsto 6 Uno Naong Ensgavis dwanzug POßp 
xol Toöup Tugogrvvausvos nal Öobasouevos, faßt das dem 
Engel zugefchriebene Zvuoguew als, ein für ftarf Erklären, 
d. h. als Darbringung einer Dorologie; 1%) wogegen andere 
lieber, ald Jeſum einer Stärfung durch einen Engel bevürftig 
fein zu laffen, den &yyelog Evuogvar zum böfen Engel machen, 


m 


33) Ullmann, über die Unſündlichkeit Jeſu, in f. Stubin, 1, ©. 61. 
Haſert, ebend. 3, 1, ©. 66. ff. 

) Ullmann, a. a. O. 

15) Hafert, a. a. O. 

16) Luther, in der Predigt vom Leiden Chrifti im Garten. 

17) Ambrosius in Luc. Tom. 10, 56, 

) In Matthaei's N. T. p. 446, 





Dritted Kapitel $. 125. 408 


welcher. gegen Jeſum Gewalt brauchen weilte. ) Wenn nun 
auch die Orthodoren durch die Unterſcheidung des Etandes 
* der Erniedrigung und Entäußerung bei Chriſto von dem Stande 
feiner Erhöhung, oder auf ähnliche Weife, den Stachel der 
dogmatifchen Bedenklichkeit längſt abgeftumpft haben: ſo 
bat fi) an deren. Stelle nur um fo entjchiedener.ein friti- 
fches Bedenken ausgebildet. In Erwägung des Verdachts, 
welchen nach früheren Bemerkungen angebliche Angelophanien 
jederzeit gegen fi) haben, hat man auch in dem hier erfchei- 
nenden Engel bald einen Menfchen, 2%) bald ein Bild für Die 
von Jeſu wiedergemonnene Rede, ?') finden wollen. Doch der 
eigentliche Ort für den Fritifchen Angriff auf die Engelerfchei- 
nung war durch den Umſtand angezeigt, daß Lufas der einzige 
ift, von welchem wir diefelbe erfahren. *) Sind laut der ge- 
wöhnlichen Vorausfegung das erjte und vierte Evangelium apo⸗ 
ftolifchen Urfprungs: warum ſchweigt dann Matthäus, der doch 
im Garten war, von dem Eugel, warum befonderö Johannes, 
der unter den Dreien in der Nähe Sefu fich befand? Gagt 
man: weil fie, fehlaftrunfen, wie fie waren, und immerhin in 
einiger Entfernungs, noch dazu bei Nacht, ihn nicht bemerkten: 
fo fragt fich, woher Lukas die Notiz befommen haben foll? 22) 
Daß, fofern die Jünger die Erſcheinung nicht felbit beobachtet 
hatten, Jeſus ihnen noch in jener Nacht von derſelben jollte 
erzählt haben, ift wegen der gefpannten Stimmung jener Stun⸗ 
ben, und der unmittelbar nach der Zurüdfunft Jeju zu feinen 
Züngern erfolgten Annäherung bed Judas wenig wahrfcheinlich; 
ebenjo, daß er in den Tagen der Auferftehung es ihnen follte 


19) Lightfoot,a. a. O. 
20) Benturini, 3, 677. und vermuthungsweife aud) Paulus, ©. 561. 
21) Eichhorn, allg. Bibl. 1, ©. 628; Thief, z. d. St. 
22) Bol. hierüber und über das Folgende ®abler, im neueften theol. 
Sournal, 1, 2, © 109 ff. 3, S. 217 fi. 
3) Vgl. Zulian bei Theodor v. Mopsv. in Münter’ & Fragu. ‚Patı. 
1, p. 121 f. 
U. Baud, 28 


4 . Dritter Abſchnitt. 


mitgetheilt, und dieſe Kunde nun nur dem dritten Evangeliſten, 
an welchen, fie doch'bloß mittelbar gelangte, der Aufzeichnung 
werth gefchienen haben. Da auf diefe Weife Alles gegen den 
hiftorifehen Charafter der Engelerfeheinung fich vereinigt: warum 
follten wir nicht auch fie, wie alle, namentlich in der Kind⸗ 
heitögefehichte Jeſu uns vorgefommenen Erfcheinungen dieſer 
Art, mythiſch faſſen? Schon Gabler hat die Anficht vorgetra- 
:gen, daß man in der Alteften Gemeinde den jchnellen Llebergang - 
von der heftigften Gemüthsbewegung zu der ruhigften Erge- 
bung, welcher in jener Nacht an Jeſu bemerflich war, fich der 
jüdischen Denfweife gemäß durch die Dazmifchenfunft eines 
- ftärfenden Engels erklärt, und diefe Erklärung ſich in die Er- 
zählung gemifcht haben möge, und? Schleiermacher findet 
ald das Wahrfiheinlichfte, daß man diefe, von Jeſu felbft als 
ſchwer bezeichneten Augenblide zeitig durch Engelerfcheinungen 
hymniſch verherrlicht, und ver Referent im dritten Evangelium 
diefes urfprünglich bloß yoetifch Gemeinte gefchichtlidh genom- 
men habe: 2%) 

Nicht minder anftößig als die Stärkung‘ durch den Engel 
ift ſchon frühzeitig der andere dem Lufas eigenthümliche Zug, 
der blutige Schweiß, gefunden worden. Wenigſtens ſcheint 
es diefer vor Allem geweſen zu fein, welcher die Weglafjung 
der ganzen Einfchaltung bei Lufas B. 43. und 44. aus 

mehreren alten Evangelieneremplaren veranlapt bat. “Denn 
wie die Orthodoren, welche nach Cpiphanius 28) die Stelle 
ausmerzten, hauptfächlich den tiefften Grad der Bangigfeit, 
. der fih in dem Blutſchweiß ausbrüdt, gefcheut zu haben 
fheinen: fo können beſonders die doketiſch Gefinnten unter 
denen, welche die Stelle nicht lafen, 26) nur jenen Schweiß 


21) Weber den Lukas, ©. 288. „et de Wette, z. d. St., und Theitle, 
zur Biographie Jeſu, 8. 32.. Auch Neander ſcheint biefen und den 
folgenden Zug — * preisgeben zu wollen. 

22) Ancoratus, 31. 


, ©, bei Wetflein, S. 807. od 





Drittes Kapitel 8. 128. 85 


. perhorredeirt haben. Erhob man auf dieſe Weile früher aus 
dogmatifshen Ruͤckſichten gegen die Schicklichleit des Blut⸗ 


ſchweißes Jeſu Zweifel: ſo hat man dieß in neuerer Zeit 


aus phyſiologiſchen Gründen gegen die Möglichkeit deſſelben 
gethan. Zwar werden für das Vorkommen von blutigem 
Schweiß von Ariſtoteles 27) bis auf die neueren Naturforſcher 
herunter 28) Auctoritäten aufgeführt: aber man findet eine 
folhe Erfsheinung immer nur als höchſte Seltenheit und ald 
Symptom beitimmter Krankheiten erwähnt. Daher wacht 
Paulus auf das wege aufmerffam, welchem zufolge bier 
nicht geradezu von einem Blutſchweiß, fondern nur von einem 
mit. Blut vergleichbaren Schweiß die Rede fei: dieſe Berglei- 
chung aber bezieht er nur auf die dichte Tropfenbildung, und 
auch Dishaufen ftimmt ihm fo weit bei, daß Die rothe 
Barbe des Schweißes nicht nothmwendig in der. Bergleichung 
enthalten ſei. Allein im Zufammenhang einer Erzählung, 
welche ein Borfpiel des blutigen Todes Jeſu geben will, wird 
es doch immer das Natürlichte bleiben, die Vergleichung des 
Schweißes mit Blutstropfen in ihrem vollen Sinne zu nehmen. 
Ferner fehrt nun aber hier noch gewichtiger als bei der Engel⸗ 
erfcheinung die Frage zurüd, wie Lufas zu Diefer Notiz gekom— 
men it, oder, um alle Fragen, die fich hier ganz wie oben 
geftalten, zu übergehen, wie die, Jünger aus der Entfernung 
und in der Nacht das Hergbfallen blutiger Tropfen vom Leibe 
Jeſu bemerken konnten? Zwar fol nah Paulus nicht gefagt 
fein, daß der Schweiß herabgefallen ſei, fondern, indem dag 
xoraßeivovres ftatt auf idgws, vielmehr auf die nur zur Ver: 
gleichung. herbeigegogenen Jooußor aiuarog fich beziehe, fo fei 
nur gemeint, daß ein Schweiß, fo dicht und ſchwer wie. fallende 
Blutstropfen, auf Jeſu Stirne geftanden habe. Allein ob es 


27) De part. animal, 3, 15. 
3) ©. bei Michaelis, Anm. 3. d:: St. und Euindt, in Lue. p. 
681 f. | 


282 


436 TDritter Abſchnitt. 


heißt: der Schweiß fiel wie Blutstropfen auf die Erde, oder: 
er war wie auf die Erde fallende Blutstropfen, wird wohl 
ziemlich auf Eines hinauslaufen; wenigſtens wäre die Vers 
gleichung eines auf der Stirne ftehenden Schweißes mit zur 
Erde träufelndem Blute ungefchict, vollends wenn mit dem 
Fallen auch die Zurbe des Bluts aus der Vergleichung weg: 
bleiben, und von dem was Ioaußor aiuureg xurafaivorrsg 
eig crw yny eigentlich nur das wgel Jonußos einen beſtimmten 
Sinn haben jol. Nehmen wir alfo, ba wir ben Umſtand 
weder begreifen, noch und denken fönnen, woher ver Referent 
eine hifterische Kunde von demfelben haben follte, lieber auch 
diefen Zug mit Schleiermacher als einen poetifchen, welchen 
der Evangelift geichichtlich genommen, oder beſſer als einen 
mythifchen, deſſen Entftehung fich leicht aus dem Trieb erklären 
küßt, das Vorfpiel des Leidens Jeſu am Kreuze, was diefer 
Kampf im Garten war, dadurch zu vervollftändigen, daß nicht 
bloß das pſychiſche Moment jenes Leinens in der Befümmerniß, 
fpndern auch das phyfifche in dem Blutſchweiß ſollte vorgebildet 
gemwefen fein. | 

Diefer Eigenthümlichkeit des Lukas gegenüber ift feinen 
beiden Vorgängern, wie gejagt, die doppelte Dreizahl, der 
Sünger, und der Entfernungen und Gebete Jefu, eigen. Können 
wir bier an der erfteren Feinen befonderen Anftoß nehmen, fo 
hat doch Die zweite etwas Befremdendes. Man hat: zwar ein 
fo unftetes Hin- und. Hergehen, ein fo ſchnell wechfelndes Sich- 
entfernen und Wiederfommen, ganz der Stimmung angeneflen 
gefunden, in welcher Jeſus Damals war, 2°) und ebenfo in der 
Wiederholung des Gebets eine fachgemäße Steigerung, eine 
immer vollftändigere Ergebung: in den Willen des Vaters richtig 
nachgewiefen. 3%) Allein daß die beiden Neferenten die Gänge 
Jeſu zählen, von &x devreps und &x Tote fprecyen, zeigt ſchon, 


ur 





2, Paulus, a. a. D. ©. 549. 
2) Theile, in Winer’s und Engelhardt ’s krit. Zournal, 2, ©. 
3535 Neander, 8%. Chr. ©. 616 f. 








Drittes Kapitel. 6. 125. 437 


daß ihnen gerade an der Dreizahl befonders viel gelegen war; 


wenn dann Matthäus zwar dem zweiten Gebet einen von dem 
des erften etwas verfchievenen Ausdruck zu geben weiß, bei’m 
dritten aber Jeſum nur 709 ausov Aoyor voieberhelen läßt, was 
Markus ſchon beiim zweiten Male thut: fo wird vollends 
deutlich, daß fie in Verlegenheit waren, die beliebte Dreizahl 
der Gebete mit gehörigem Inhalt auszufüllen. Nah Ols hau— 
fen fol Matthäus mit feinen brei Acten dieſes Kampfs ſchon 
deßhalb gegen Lukas Recht haben, weil dieſe drei auf Jeſum 
mittelſt der Furcht gemachten Angriffe den drei Angriffen mittelſt 
der Luſt in der Verſuchungsgeſchichte gegenüber ſtehen. Dieſe 
Narallele iſt gegründet; nur führt fie auf das entgegengeſetzte 
Ergebniß von demjenigen, welches Olshauſen aus ihr ziehen 
will. Denn was ift nun wahrfcheinlicher: daß in beiden Fällen 
die dreimalige Wiederholung des Angriffs ihren objectiven Grund 
in einer verborgenen Gefegmäßigfeit des Geiſterreichs gehabt 
habe, within als wirklich Hiftorifch anzufehen fei; oder daß ihr 
bloß fubjectiver Grund in der Manier der Sage liege, und 
"demnach das Vorkommen diefer Zahl uns hier fo ficher wie 
oben bei der Verſuchungsgeſchichte auf etwas Mythiſches hin- 
weife? 2) 

Rechnen wir alſo Engel, Blutfchweiß und die gerade drei- 
malige Wiederholung der Entfernung und des Gebets Jeſu 
als mythifche Zuthaten ab: fo bliebe vorläufig als gefchichtlicher 
Kern die Thatſache, daß Jeſus an jenem Abend. im Garten 
in ein heftige8 Jagen hineingerathen fei, und Gott um Ab: 
wendung feines Leidens, mit Vorbehalt jedoch der Unterwerfung 
. unter feinen Willen, gebeten habe: wobei e8 indeß unter Vor: 
ausfegung der gewöhnlichen Anficht vom Verhältniß unferer 
Evangelien nicht wenig befremden muß, daß dem johanneifchen 
Evangelium felbft diefe Grundzüge der in. Rede ftehenden Ge⸗ 
ſchichte fehlen. 


— — — — 


3) Mol. Weiße, die evang. Geſchichte, 1, ©. 611. 


438 Dritter Abfchniet: 


$. 126. 


Verhaͤltniß des vierten Evangeliums zu den Vorgaͤngen in Gethſemane. 
Die johanneifchen Abfchiedsreden und bie Scene bei Anmeldung 
der Hellenen. 


Das Verhalten des Johannes zu den bisher erwogenen 
Erzählungen der Synoptiker hat näher die zwei Seiten, daß 
er erftlich von dem, was dieſe geben, nichts hat, und ziveitens _ 
ftatt defien etwas hat, was mit dem von den Eynoptifern 
Erzählten ſchwer vereinbar ift. 

Was die erfte, negative Eeite betrifft, fo iR, bei der 
gewöhnlichen Vorausſetzung über den Berfafler des vierten 
Evangeliums und die Nichtigkeit des fonoptifchen Berichtes, 
zu erflären, wie es fommt, daß Johannes, der Doch den bei- 
den erften Evangelien zufolge einer der drei gewefen ift, welche 
Jeſus als die näheren Zeugen feines Kampfes mit ſich nahm, 
den ganzen Vorgang mit. Etilfichweigen übergeht? Auf feine 
Erhläfrigfeit während deſſelben darf man fich nicht berufen; 
da, wenn dieſe ein Hinverniß war, fämmtliche Evangeliften, 
nicht Johannes allein, von der Eache ſchweigen müßten. Daber 
zieht man auch hier das Gemwöhnliche heran, er übergehe die 
Scene, weil er fie ſchon bei den Eynoptifern forgfältig genug 
‚ dargeftelt gefunden habe. ) Allein zwifchen den beiden erften 
Synoptifern, und dem dritten findet ja hier eine fo bedeutende Ab⸗ 
weichung ftatt, daß fie den Johannes, wenn er auf ihre Dar- 
ftelungen Rüdficht nahm, aufs Dringenpfte auffordern mußte, 
in diefem Streit ein vermittelndes Wort zu fprechen. Wenn 
aber auch nicht aus den vor ihm liegenden Arbeiten feiner 
Vorgänger: fo fol Johannes doch haben vorausfegen können, 
daß aus der evangelifchen Tradition jene Gefchichte feinen Lefern 
hinlängfich befannt fein werde. d_ Doch, da aus diefer Mebers 
lieferung die fo fehr abweichenden Darftelungen der Eynoptifer 


1) DOlshaufen, 9, ©. 429. 
2) Lücke, 2, ©. 59. 











Drittes ‚Kapitel $. 126. 439 
hervorgegangen find, fo muß in ihr felbft ſchon frühzeitig ein 
Echwanfen gewefen, und die Sache bald fo, bald anders er; 
zählt worden, folglich auch von hier aus an den Verfaſſer des 
vierten Evangeliums die Aufforderung ergangen fein, dieſe 
- fhwanfenden Erzählungen durch feine Auctorität zu berichtigen. 
Daher hat man neueftend auf etwas ganz Befonderes gerathen: . 
daß nämlich Johannes die Vorgänge in Gethfemane deßwegen 
übergehe, um nicht durch Erwähnung des ftärfenden Engels 
. der ebionitifchen Meinung Vorſchub zu thun, das Höhere in 
Chriſto fei ein Engel gewefen, der fich mit ihm bei der Taufe 
verbunden habe, und damals, vor dem Antritt des Leidens, 
wie man glauben konnte, wieder von ihm gefchieden fei. ®) 
Allein, auch abgefehen davon, daß wir dieſe Hypotheſe ſchon 
fonft al8 unzureichend gefunden haben, die Auslaffungen im 
johanneijchen Evangelium zu erflären, fo mußte Johannes, 
wenn er eine engere Beziehung Jeſu auf Engel vermeiden 
wollte, auch noch andere Etellen aus feinem Evangelium weg- 
lafien: vor allen, worauf Lücke aufmerffam mat, ) 1, 52. 
den Ausfpruch von ben über ihm auf» und abfteigenden 
Engeln; dann aber auch das, zwar nur als Vermuthung 
etlicher Umftehenden gegebene, @yyeAog wur Askulrzev 12, 29, 
Nahm er aber aus irgend einem Grunde an dem Engel im 
Garten ganz befondern Anftoß: jo konnte doch hierin nur 
ein Grund liegen, mit Matthäus und Markus die Dazwi- 
ſchenkunft des Engels, nicht aber die ganze, von der Ange 
lophanie wohl trennbare Gefchichte, megzulaffen. 

Wil fih nun ſchon das Fehlen ber Begebenheit bei 
Johannes nicht erklären laſſen: fo wächst die Echwierigfeit, 
wenn wir dasjenige erwägen, was berfelbe ftatt diefer Scene 
im arten über die Stimmung Jeſu in den legten Stunden 
vor feiner Gefangennehmung mittheilt. Nämlich an der glei- 
chen Stelle zwar, welche die Synoptiker dem Eeelenkampf 


— — — — — 


*) Schneckenburger, Beitzäge ©. 65 f. 
9 Comm. 1, ©, 177 f. 





40 Dritter Abſchnitt. 


anweifen, hat Johaunes nichts, indem er nach Jeſu Ankunft 
im Garten fogleich die Verhaftung erfolgen läßt: aber un 
mittelbar vorher, bei und nach dem legten Mahle,: hat er 
Reden, von einer Stimmung befeelt, auf welche vergleichen 
Scenen, wie fie laut der fynoptifchen Berichte im Garten vorge 
gangen fein follen, nicht wohl gefolgt fein können. In den 
Abſchiedsreden bei Johannes nämlich, Kap. 14 — 17, fpricht 
Jeſus ganz wie Einer, der das bevorftehende Leiden. innerlich 
fchon völlig überwunden hat; von einem Standpunft, welchem 
der Top in den Etrahlen der auf ihn folgenden Herrlichkeit 
verfehwimmt; mit einer göttlichen Ruhe, die in der Gewiß— 
heit ihrer Unerfchütterlichkeit heiter ift: wie fonnte ihm unmittel- 
bar darauf dieſe Ruhe in der heftigften Gemuthsbemegung, dieſe 
Heiterfeit in Todesbetrübniß untergehen, und er aus dem 
febon gewonnenen Eieg wieder zum fehiwanfenden Kampf, in 
welchem er der Stärkung durch einen Engel bedurfte, zurüd: 
finfen? Sn jenen Abfchiedsreden ift er es durchaus, welcher 
aus der Fülle feiner inneren Klarheit und Sicherheit die 
zagenden Sreunde beruhigt: und nun fol er bei den jchlaf- 
trunfenen Schülern geiftigen Beiftand gefucht haben, indem er 
fie mit ihm zu wachen bat; dort ift er der heilfamen Wir⸗ 
fungen feines bevorftehenden Todes fo gewiß, daß er ver- 
fichert, e8 fei gut, daß er hingehe, fonft fäme der rugaxirzog 
nicht zu ihnen: nun fol er hier wieder gezweifelt haben, ob 
fein Tod auch wirklich des Vaters Wille ſei; dort zeigt er 
ein Bewußtfein, welches in der Nothwendigfeit des Todes 
dadurch, daß er dieſe begreift, die Freiheit wiederfindet, fo 
daß fein Eterbenwollen mit dem göttlichen Willen, daß er 
fterben folle, eins ift: hier gehen dieſe beiden Willen jo aus- 
einander, daß fich der fubjective unter den abfoluten zwar frei- 
willig, aber doch nur fehmerzhaft, beugt. Und diefe beiden 
fo entgegengefegten Stimmungen find nicht etwa burch eine 
zwifcheneingerretene fchredende Begebenheit, fondern nur durch 
den geringen Zeitrauni getrennt, welcher während des Gange 
aus Serufalem über den Kidron nach den Delberg verlief: 


Drittes Kapitel. $. 126. 441 


ganz als wäre Jeſu in jenem Bache, wie den Seelen in der 
Lethe, alle Erinnerung an bie vorangegangenen Reden und 
Stimmungen verfunfen. 

Man beruft fih zwar auf den Wechfel der Stimmungen, 
welcher natürlich, je näher dem entfcheidennen Momente, defto 
ſchneller werde; ) auf die Thatſache, daß nicht felten im 
Reben gläubiger Perſonen eine plögliche Entziehung der höheren 
Rebensfräfte, eine Gottverlaflenheit, eintrete, ‘welche den doch 
erfolgenden Eieg erft wahrhaft groß und bewundernswerth mache.®) 
Allein diefe letztere Anſicht verräth ihren ungeiftigen Urfprung 
aus einem imaginirenden Denken (welchem die Seele etwa wie 
ein Eee erfcheinen kann, der, je nachdem die zuführenden Ka- 
näle verfchlofien, oder deren Echleufen geöffnet werben, ebbt 
oder fluthet) fogleich durch die Widerſprüche, in welche fie nach 
allen Seiten ſich verwidelt. Der Sieg Ehrifti über die Todes- 
furcht ſoll erft dadurch feine rechte Bedeutung gewinnen, daß, 
während ein Sokrates nur fiegen konnte, indem er im vollen 
Beſitz feiner geiftigen Kraftfülle blieb, Chriſtus über die ganze 
Macht ver Finfternig auch in der Berlaffenheit von Gott und 
der Fülle feines Geiſtes, durch feine bloße menfchliche Woyn, 
zu fiegen im Etande war — : ift dieß nicht der rohefte Pela- 
gianismus, der grellfte Widerfpruch gegen Kirchenlehre, wie 
gegen gefunde Philoſophie, welche gleicherweife darauf beftehen, 
daß ohne Gott der Menfch nichts Gutes thun, nur durch 
feinen Hamijch Die Pfeile des Böfewichts zurüdichlagen könne? 
Um viefem Widerfpruch gegen die Ergebniffe eines wirklichen 
Dentens zu entgehen, muß jenes »hantafirende Denfen einen 
Widerfpruch mit fich felbit hinzufügen, fofern nun in dem ftär- 
enden Engel (welcher beiläufig auch gegen allen Wortverftand 
der Stelle zu einer bloß innerlichen Erſcheinung, Die Jeſus 
hatte, umgedeutet wird) dem in der höchſten Berlaffenheit 


5) Luͤcke, 2, &. 392 ff. 
°, Dıishaufen, 2, ©. 429 f. 


442 Ä Dritter Abſchnitt. 


ringenben Jeſu ein Zufluß geiſtiger Kräfte zu Theil geworben 
fein ſoll, fo daß er alſo doch nicht,. wie vorher gerühmt wors 
den war, ohne, fondern mit Hülfe göttlicher Kräfte geſtegt 
hätte: wenn nämlich nach Lukas der Engel vor dem letzten, 
heftigften Momente des Kampfs, um Jefum für denſelben zu 
ftärfen, erfchienen- fein fol. Doc ehe man fo offenbar ſich 
jelbft widerfpricht, wiberfpricht man lieber verftedt dem Text, 
und jo verdreht nun Ols hauſen die Stellung der Momente, 
indem er ohne Weiteres annimmt, die Stärkung ſei nad 
dem dreimaligen Gebete, alfo nach bereits ‚errungenem Siege 
eingetreten, zu welchem Behuf dann das nach Erwähnung 
des Eng els ftehende xal yerouevog &v aywrig Extevegepoy 
woosnvgero mit höchfter Willkür ala Plusquamperfertum .ger 
deutet wird. 

. Doch auch abgefehen von diefer finnlichen Yusmalung des 
Grundes, welcher den ſchnellen Wechſel in Jeſu Stimmung 
herbeigeführt haben ſoll, iſt die Annahme eines ſolchen auch 
an ſich von vielen Schwierigkeiten gedrückt. Näher naͤmlich 
wäre, was hier bei Jeſu ſtattfände, nicht ein bloßer Wechſel, 
fondern ein Rüdfall der bevenflichften Art. Namentlich in dem 
fogenannten hohenpriefterlichen Gebete, Job. 17, hatte Jeſus 
feine Rechnung mit dem Vater völlig abgefchloffen; jeded Jagen 
in Bezug auf das, was ihm bevorftand, lag bier bereits ſo 
. weit hinter ihm, daß er über fein eigenes Leiden fein Wort 
verlor, und nur der Drangfale gedachte, welche feinen Freunden 
drohten; den Hauptinhalt feiner Unterhaltung mit dem Vater 
bildete bie -Herrlichfeit, in welche er fofort einzugehen, und 
bie Seligfeit, welche er den Seinigen erworben zu haben 
hoffte: fo daß fein Hingang zum Schauplag der Gefangen 
nehmung ganz den Charafter hat, dem innerlich und weſentlich 
bereits Vollzogenen nur noch die, äußere Verwirklichung als 
acccidentelle Beigabe hinzuzufügen. Wenn nun Jeſus nad) 

dieſem Abjchluffe die Rechnung mit Gott noch einmal eröffnete, 
wenn er, nachdem er fich ſchon Sieger gemeint, noch einmal 
in ängftlichen Kampf zurüdfanf: müßte er da nicht fich fragen 








Dritte Rapitel. 6. 126. 443 


laffen: warum haſt du, ftatt in eiteln Hoffnungen der Herr; 
lichkeit zu fehwelgen, Dich nicht lieber bei Zeit mit. dem ernften 
Gedanken des bevorftchenden Leidens befchäftigt, um bir durch 
folche Vorbereitung die. gefährliche Ueberraſchung durch das 
Herannahen veflelben zu erfparen? warım haft du Triumph 
gerufen, ehe du gefämpft hatteft, um dann bei Annäherung 
des Kampfs mit Beihämung um Hülfe rufen zu müflen? In 
der That, nach der in jenen Abfchiensreben, und beſonders 
im Schlußgebet, ausgefprohenen Gewißheit des bereits erruns. 
genen Siege wäre das Herabfinfen in eine Stimmung, wie 
fie die Synoptiker fchildern, ein fehr demüthigender Rüdfall 
geweien, welchen Sefus nicht vorausgefehen haben Fönnte, 
fonft würde er fi) vorher nicht fo felbftgewiß ausgefprochen 
haben; welcher demnach beweifen würde, daß er fich über 
fich ſelbſt getäufcht, daß er fich für ftärfer genommen hätte, 
‘als er fich wirklich fand, und daß er jene zu hohe Meinımg 
von fich nicht ohne einige Vermeſſenheit ausgefprochen hätte. 
Wer nun dieß dem fonftigen, ebenfo befonnenen als. befchei- 
denen Wefen Jeſu nicht angemeffen findet,. der wird fich zu 
dem Dilemma gevrungen fühlen, daß entweder die johannei- 
fchen Abfihiedsreden, wenigftend das Schlußgebet, oder aber 
die Vorgänge in Gethfemane, nicht Hiftorifch fein koͤnnen. 
Schade, daß bei der Entſcheidung hierüber die Theologen 
mehr von Dogmatifchen Borurtheilen, als von fritifchen Grün- 
den ausgegangen find. Uſteri's Behauptung wenigfteng, 
daß nur die johanneifhe Darftelung der Stimmung Jeſu 
in feinen legten Stunden die richtige, die der Synoptiker aber 
unhiftorifch fei, ) wird man nur aus der damaligen Anhäng« 
lichkeit ihres Lirhebers an die Paragraphen der Schleiers 
macher’fchen Dogmatif erflärlich finden, in welcher der Be- 
griff der Unfündlichkeit Chrifti auf eine Weife gefpannt wird, 
die felbft das Kleinfte- von Kampf ausſchließt; Denn. Daß, 


?) Conımentatio eritica, qua "Evangelium Joannis genuinum esse 
— ostenditur, p. 57 ff. 


444 Deitter Abſchnitt. 


abgeiehen von folchen Borausfegungen, die johammeifche Dar; 
ftelung ver legten Stunden Jeſu eine natürlichere und fady- 
gemäßere wäre, möchte. ſchwer nachzuweiſen fein. her fönnte 
umgefehrt Bretjchneider recht zu haben jcheinen, wenn er 
für die Synoptifer die. größere Natürlichkeit und innere. Wahr: 
heit der Schilderung in Anſpruch nimmt: wenn nur nicht 
die Art: wie ihm an den von Johannes in Pdiefen Zeitpunkt 
geftellten Reden hauptfächlid das Dogmatifihe und Metaphy- 
fifche zumider ift, an den Urfprung feiner ganzen Polemik 
gegen den Johannes aus dem Wiberwillen feiner Fritifchen 
Reflerionsphilofgphie gegen den fpeculativen Gehalt des vierten 
Evangeliums erinnerte. 

‘Ganz übrigens hat, wie auch die Probabilien bemerken, 
Johannes die Beängftigung Jeſu in Bezug auf feinen bevor⸗ 
jtehenden Tod nicht übergangen, nur daß er fie ſchon an 
einer früheren Stelle, Joh. 12, 27 ff., eingefügt hat. Bei 
aller DVerfchievenheit der Berhältniffe (da die von, Johannes 
bejchriebene Scene unmittelbar nach dem Einzug Jeſu in Je⸗ 
rufalem vorgeht, als ihn mitten unter der Menge einige zum 
Feft gefommene Hellenen, ohne Zweifel Brofelyten des There, 
zu fprechen wünfchten) und des Hergangs felbit, findet doch 
zwifchen diefem Vorfall und dem, welchen die Syhoptifer in 
den legten Abend des Lebens Jeſu und in die Einfamfeit des 
Gartens verfegen, eine auffallende Lebereinftimmung ſtatt. 
Wie Jeſus bier feinen Züngern erklärt: egiAunog zw 7 
vu) us &ws Iovars (Matth. 26, 38.): fo fagt er Dort: vor 
) Won us. verapoxzeı (Joh. 12, 27.); wie er hier hetet, 
iva, e dwarov Esı, NapEAIN ar’ ars 7 wpa (Marc. 14, 35.): 
fo bittet er Dort: ssarep, 0Wo us &x tig wgug Tavırg (Joh. 
ebdſ.); wie er aber hier ſich durch die Reftriction: aA 8 Ti 
ey. JEhv, alle ıl ov, beruhigt, (Marc. 14, 36.): fo dort 
durch die Reflerion: aid dia räro nidov eis _ wow Taucıy 


8) Probab. p. 33 ff. 











Drittes Rapkeel. 6. 126. | 445 


(Joh. ebendaf.); endlich, wie’ hier ein &y7sA0g enrayvom Jeſu 
erfcheint (Luc. 22, 43.): jo ereignet ſich auch dort etwas, das 
einige der Umſtehenden zu der Aeußerung veranlaßt: uyyehog 
wur Aslairev (Koh. B. 29.).. Durch diefe Aehnlichfeit bes 
wogen, haben neuere Theologen den Vorgang Joh. 12, 27 ff. 
mit dem in Gethfemane für identifch erklärt; wobei ed nur 
darauf anfam, auf welche von beiden Seiten der Vorwurf uns 
genauer Erzählung, und namentlich unrichtiger Stellung fallen 
ſollte. 

Der Richtung der neueren Evangelientritt gemaͤß iſt zu⸗ 
nächſt den Synoptikern aufgebürdet worden, in dieſer Sache 
ſich geirrt zu haben. Die wahre Veranlaſſung des Seelenkampfs 
Jeſu ſollte nur bei Johannes zu finden fein, in der Annäherung 
jener Hellenen nämlich, welche ihm durch Bhilippus und An- 
dreas den MWunfch zu erfennen gaben, ihn zu fehen. Diefe 
haben ihm ohne Zweifel Anträge machen wollen, Paläftina zu 
verlaffen und unter den auswärtigen Juden fortzumirfen; ein 
folcher Antrag habe einen Reiz für ihn enthalten, fich der dror 
henden Gefahr zu entziehen, und dieß ihn auf einige Augen⸗ 
blite in einen Zuftand von Zweifel und innerem Kampf gelebt, 
welcher jedoch damit geendigt habe, daß er die Hellenen nicht 
vor fich ließ.) Das heißt nun nichts Anderes, als mit einem, 
durch doppeltes, Eritifches wie dogmatiſches Vorurtheil gefchärften 
Gelichte zwifchen den Zeilen des Textes gelefen; denn von 
einem folchen Antrag, den die Hellenen beabfichtigt hätten, iſt 
bei Johannes feine Spur: da es Doch, gefebt auch, der Evan⸗ 
gelift habe von dem Plan der Hellenen durch diefe felber nichts 
gewußt, den Reden Jeſu anzumerfen fein müßte, daß ſich feine 
Gemüthöbewegung auf einen folchen Antrag bezog. Nach dem 
Zujammenhang der johanneifchen Darftellung hatte das Begehren 


9 Goldhorn, über das Schweigen des Joh. Evangeliums über den 
Seetentampf Iefu in Gechfemane, n Tafhirners Magazin f. 
hriftt. Prediger, 1, 2, S. ı fi. 


446 Duitter Abicutt. 
ber Hellenen feinen andern Grund, alb daß ſte durch den 
feierlichen Einzug und das viele Reden der Leute von Jeſu 
begierig geworben waren, den gefeierten Mann zu fehen und 
fennen zu lernen, und die Gemüthsbewegung, in welche Jeſus 
bei diefem Anlaß hineingerietö, hing mit ihrem Begehren nur 
fo zufammen, daß Jeſus dadurch veranlagt wurde, an die bal- 
dige Verbreitung feines Reichs in der Heidenwelt, und an bie 
anerläßlihe Bedingung von dieſer, an feinen Tod, zu denken. 
Se vermittelter und entfernter.aber hienach die Vorftellung feines 
bevorftehenden Todes Jeſu vor die Seele trat: deſto weniger 
äft zu begreifen, wie fie ihn fo ſtark erfchüttern fonnte, daß er 
fih gedrungen fühlte, den Bater. um Rettung aus diefer Stunde 
anzuflehen, und wenn er einmal im Borgefühl ded Todes im 
Innerſten erbebt haben fol, fo ſcheinen die Synoptifer dieſes 
Zagen an eine richtigere Stelle, in die unmittelbarfte Nähe des 
beginnenden Leidens, zu verlegen. Auch das füllt bei der jr 
hanneiſchen Darftellung weg, was die Eynoptifer zur Redt- 

. fertigung der Bangigfeit Jeſu an die Hand geben: daß in der 
Einfamfeit des Gartens und der Nacht, deren Schauer ihn 
‚überfielen, fich eine ſolche Gemüthöbewegung cher fheint be⸗ 
‚greifen, und ihre unverhohlene Aeußerung im Kreife von lauter 
Bertrauten und Würdigen fi) wohl rechtfertigen zu laflen. 
Denn nad Zohannes befiel jene Erſchütterung Jeſum am hellen 
Tage, mitten unter dem zuſtroͤmenden Volke, wo man fonft leichter 
‚die Saffung behält, oder. vor welchem. man doch, des möglichen 
Mipverftändniffes wegen, ftärfere Gemüthsbewegungen in ſich 
verſchließt. 

Weit eher wird man daher der Anſicht Theil e' s zuſtim⸗ 
men können, daß der Verfaſſer des vierten. Evangeliums die 
‚von den Synoptifern richtig eingefügte Begebenheit. an :einen 
falſchen Ort geftellt habe. Da Jeſus zur Einleitung einer 


y 


10) ©. die Recenf. von Ufterts Comment, erit., in Binees unb 
Engelhardt's n. krit. Journal, 2, ©. 359 ff. 








Deittes Kapint. $» 126. | 447 


Antwort an die Hellenen, welche den burd) den Einzug Vers 
‚berrlichten fprechen wollten, gefagt hatte: ja, die Stunde meiner 
Berherrlihung ift da, aber der Verherrlichung durch den Tod 
(12, 23 f.): fo habe dieß den Erzähler verleitet, flatt die wirk⸗ 
liche Antwort Jeſu an die Hellenen ſammt dem weiteren Ber- 
folg anzugeben, vielmehr Jeſum fich ausführlich über Die innere 
Nothwendigkeit feines Todes verbreiten zu laffen, wo er dann 
faft unbewußt auch die Schilderung des inneren Kampfs, ben 
Jeſus rüdfichtlich feiner freiwilligen Aufopferung zu beftchen 
hatte, eingeflochten habe, welchen er deßwegen fpäter, an feiner 
eigentlichen Stelle, übergehe. Eigen ift hiebei nur, daß Theile 
der Meinung ift, eine ſolche Umftellung habe dem Apoſtel Jos 
hannes felbft begegnen Eönnen. Daß fich ihm der Vorgang 
in Gethfemane, da er während beflelben fchlaftrunfen geweſen, 
nicht tief eingeprägt habe, und daß derſelbe überdem durch den 
fchnell darauf erfolgten Kreuzestod in den Hintergrund feines 
Bewußtfeins gerüdt worden fei, dadurch Fünnte man etwa 
erklärt. finden, wenn er ihn ganz übergangen, over nur fun« 
‚ marifch dargeftellt hätte, Teineswegs aber, daß er ihn an un⸗ 
rechter Stelle eingefügt bat. So viel mußte er Doch, wenn 
er unerachtet feiner damaligen Schläfrigfeit von dem Vorgang 
Rotiz ‚genommen hatte, behalten, daß jene eigenthümliche 
- Stimmung Jeſum hart vor dem Anfang feines Leidens, und 
in Nacht und Einfamteit. befallen habe: wie Eonnte er jemals 
feine Erinnerung fo weit verläugnen, daß er die Scene in 
weit früherer Zeit, am heilen Tag und unter vielem Bolfe 
"vorgehen ließ? Alm. nicht auf dieſe Weife die Aechtheit des 
jofanneifchen Evangeliums zu gefährven, bleiben Andere bubei, 
mit Berufung darauf, daß eine ſolche Stimmung im Testen 
Abjchnitte des Lebens Jeſu mehrmals habe vorkommen fönnen, 
die Identität der beiden Scenen zu Iäugnen. 7) 


u) Hafe, 2.3. $. 1345 Ede, 2, ©. 591 f. Anm. 





448 . Dritter Abſchaitt. 


Allerdings finden zwiſchen der ſynoptiſchen Darſtellung 
des Seelenfampfs Jeſu und der johanneifchen,. auch außer ber 
verfchiedenen äußeren Stellung, im Inhalt beider Vorgänge 
noch) bedeutende Abweichungen: ‚ftatt, indem namentlich die jo- 
hanneifche Erzählung Züge enthält, welche in den Berichten 
der drei erften Evangeliften über den Borfall in’ Gethjemane 
feine Analogie finden. Wenn nämlidy zwar das Flehen des 
johanneifchen Jeſus um Rettung aus biefer Stunde bei den 
- Eynoptifern vollfommen anflingt: fo fehlte es boch für bie 
bei Zohannes hinzugefügte Bitte: areg, dofaaov 98 To wog 
(12, 28.), an einer Parallele; ferner, wenn zwar in beiden 
Darftellungen von einem Engel die Rede ift, fo ift doch von 
einer Himmelsftimme, welche im vierten Evangelium die Meis 
nung, es fei ein Engel im Spiel gewefen, veranlaßt, bei ben 
Spynoptifern feine Spur. Sondern folhe Himmelsftimmen 
finden wir in diefen Evangelien nur bei der Taufe und wieder 
in der Verflärungsgefchichte, an welche leßtere auch Die Bitte 
des johanneifchen Jeſus: nrursp, do5acov 08 TO Ovoua, erin- 
nern fann. Sn der fonoptifchen Beſchreibung der Verklaͤrung 
zwar findet ſich der Ausdruck: dose und dealer nicht; da⸗ 
‚gegen läßt ber zweite Brief Petri Jeſu bei der Verklärung 
zu xal doSav zu Theil werden, und die Himmelsftimme aus 
der weyalonsgering dose erfchallen (1, 17 f.). Sp bietet fh 
denn zu den beiden bisdaher betrachteten Erzählungen noch 
eine dritte als Barallele dar, indem Die Scene Joh. 12,27 ff., 
wie einerfeitS durdy die Bekümmerniß und den Engel mit dem 
Vorgang in Gethfemane, fo andrerfeits Durch die Bitte um 
Verflärung und die gewährende Himmelsſtimme mit der Ver: 
‚Härungsgefchichte. zufammenhängt. Und nun find zwei Bälle 
möglich: entweder iſt die johanneiſche Erzählung die einfache 
Wurzel, aus welcher auf traditionellem Wege durch Scheidung 
der in ihr enthaltenen Elemente die beiden fynoptifchen Anekdoten 
von ber Berflärung und dem Geelenfampf hervorgewachfen 
find: oder find dieſe legteren die urfprünglichen Geftaltungen, . 
aus deren Auflöfung und Verſchwemmung in der Sage Die 





Drittes Kapitel. $. 126. 449 


johanneifche Erzählung als gemifchtes Product zufammengeflofien 
ift; worüber nur die Befchaffenheit der drei Anekdoten entſcheiden 
fann. Daß nun die fonoptifchen Erzählungen von der Verfläs 
rung und dem Gcelenfampf Hare Gemälde mit beftimmt ausge: 
bildeten Zügen find, fann für fich nichts beweifen, da, wie wir 
zur Genüge gefunden haben, eine aus fagenhaftem Boden er- 
wachfene Erzählung ebenfogut, als eine rein hiftorifche, jene 
Eigenſchaften befigen kann. Wäre alfo die johanneifche Darftel- 
lung jenes Auftritt8 nur minder Far und beftimmt gehalten, fo 
Fönnte fie deßwegen doch für den urfprünglichen, einfachen Bericht 
gehalten werden, ‘aus welchem fich durch die ausſchmückende 
und malende Arbeit der Ileberlieferung jene farbigeren Gebilde 
herausentwidelt hätten. Nun aber fehlt es der johanneiſchen 

Erzählung nicht bloß an Beftimmtheit, fondern an Uebereinſtim-⸗ 
mung mit den umgebenden Berhältniffen und mit fich felbft. 
Wo Jeſu Antwort auf das Gefuch der Hellenen bleibt, und wo 
diefe felber hinkommen, weiß. Niemand; die plögliche Beklem⸗ 
mung Jeſu und die Bitte um eine Ehrenerflärung von Seiten 
Gottes find nicht gehörig motivirt. in ſolches Gemifch unzu⸗ 
fammengehöriger Theile ift aber immer das Kennzeichen eines 
ferundären Products, eines zufammengefchwemmten Conglome⸗ 
rats: und fo fiheint denn der Echluß gerechtfertigt, daß in der 
jobanneifchen Erzählung. die beiden fynoptifchen Anekdoten von _ 
der Berflärung und vom Seelenfampfe zufanımengefloffen feien. 
‚ Hatte dem Berfafler des vierten Evangeliums die Cage, wie es 
fcheint, fehon ziemlich verwafchen 19) und nur in unbeitimmten 
Umriffen, von jenen beiven Vorfällen Kunde zugeführt: fo fonn- 
ten ihm leicht, wie fein Begriff von do&ussw dieſe Zweifeitigfeit 
von Leiden und Herrlichkeit hat, beide fich vermengen; was er 
in der Erzählung des Seelenfampfs von ciner Anrede Jefu 
an den Vater vernommen hatte, konnte er mit der göttlichen 


12) Gegen ben Anftoß, weldien an diefem Ausdrude Tholuc bat nehmen 
mollen (Staubwürdigkeit, &. 41.), vgl. die Aphorismen zur Apo⸗ 
logie des Dr. Strauß und jeines Werkes, ©. 69 f. 

ll. Band, 29 








450 Dritter Abſchnitt. 


Stimme aus der Verklaͤrungsgeſchichte als Antwort "darauf ver- 
binden; Diefer Stimme, deren näherer Inhalt, wie Die Synopti⸗ 
fer. ihn geben, ihm nicht berichtet war, gab er aus der allgemeinen 
Borftellung von diefer Begebenheit, als einer Jeſu zu Theil ges 
wordenen dose, den Inhalt: xai Edofaon, zul nalıw dotaow, 
und um auf diefe göttliche Erwiederung zu paflen, mußte der 
Anrede Zefu außer der Bitte um Rettung noch die um Verflä- 
rung hinzugefügt werden; der ftärfende Engel, von welchem 
der vierte Evangeliſt vielleicht auch etwas vernommen hatte, 
wurde als Anficht der Leute von dem Urſprung der Himmels- 
ſtimme mit aufgenommen; in Betreff des Zeitpunfts wurbe 
zwifchen dem der Verklärung und dem des Seelenfampfs die un- 
gefähre Mitte gehalten, wobei die Wahl der Verhältniffe aus 
Unfenntniß der urfprüuglichen übel ausfiel. 

Sehen wir von bier auf die Frage zurüd, von welcher 
wir ausgegangen find, ob wir eher die johanneifchen Abſchieds⸗ 
reden Jeſu ald durchaus hifterifch fefthalten, und Dagegen die 
fnnoptifche Darftellung der Scene in Gethfemane aufgeben ' 
wollen, oder unigefehrt: fo werden wir vermöge des Ergebnif- 
ſes unferer eben geführten Unterſuchung zu der letzteren An⸗ 
nahme geneigter fein. Die Schwierigkeit, welche ſchon darin 
liegt, daß man Faum begreift, wie Johannes diefe langen 
Reden. Jeſu genau behalten konnte, bat Baulus durd die 
PBermuthung zu löfen geglaubt, daß der Apoftel wohl ſchon 
am nächften Sabbat, während Sefus im Grabe lag, die Ge⸗ 
fpräche des vorigen Abends fich in die Erinnerung zurüdgeru: 
fen, und fie vielleicht auch niedergefchrieben habe. 73) Allein in 
jener Zeit der Niedergefchlagenheit, welche auch Johannes theilte, 
wäre er wohl nicht im Stande gewefen, diefe. Reden wiederzu—⸗ 
geben, ohne. ihr eigenthümliches Colorit der ruhigften Heiterfeit 
zu verwifchen; fondern, wie der Wolfenbüttler fagt, wenn Die 
Evangeliften in den paar Tagen nach Jeſu Tode die Erzählung 





— — 


3) e. J. 1, b, ©. 165 f. 








Dritte Kapitel. $. 126. 451 


von feinen Reden und Thaten hätfen zu Papier bringen follen, 
fo würden, da fie felber Feine Hoffnung mehr hatten, auch alle 
verheißenden Reden aus ihren Evangelien weggeblieben fein. 9) 
Daher hat auch Lücke, in Betracht der eigenthümlich johans 
neifchen Ausdrucksweiſe, welche ſich namentlich in dem Schluß- 
gebet findet, die Behauptung, daß Jeſus mit denfelben Worten 
gefprochen habe, welche ihm Johannes in den Mund legt, 
oder die Behauptung der Authentie diefer Reden im engften 
Einn, aufgegeben; aber nur um ihre Authentie im weiteren 
Einne, die Aechtheit des Gedanfeninhalts, deſto fefter zu hal⸗ 
ten. 15) Doch auch gegen biefen hat der Verfafler der Broba- 
bilien feinen Angriff gewendet, indem er namentlich in Bezug 
auf Kap. 17. fragt, ob es denkbar fei, daß Jeſus in der Er 
wartung des gewaltfamen Todes nichts Angelegeneres zu thun 
gehabt habe, als mit Gott von feiner Perfon, feinen bisherigen 
Leiftungen, und der zu erwartenden ‚Herrlichkeit fich zu unter- 
halten? und ob es deßwegen nicht vielmehr ale Wahrfchein- 
Iichfeit habe, daß diefes Gebet nur aus dem Sinne des Schrift⸗ 
ftellers gefloffen fei, welcher durch daſſelbe theils feine Lehre 
von Jeſus als dem fleifchgewordenen Aoyos beftätigen, theile 
das Anfehen der Apoftel befeftigen wollte? 16) In Diefer Aus- 
ftellung liegt das Richtige, daß das fragliche Schlußgebet nicht 
als ein unmittelbarer Erguß, fondern als Product der Reflerion, 
eher als eine Rede über Jefum, denn als eine Rede von ihm 
erfiheint. Ueberall zeigt firh in demfelben das Denfen eines 
folchen, der fchon weit vorwärts im Erfolge fteht, und deßwe⸗ 
‚gen die Geftalt Jeſu bereits in fernem, verflärendem Duft er- 
biikt; ein Zauber, welchen er dadurch vermehrt, daß er feine, 
auf der Höhe einer fortgefehrittenen Entwidlung der chriftlichen 
Gemeinde entfprungenen Gedanken von dem Gründer berfelben 
ſchon vor ihrer eigentlichen Entſtehung ausgeſprochen fein läßt. 


1) Bom Zweck Jeſu und feiner Jünger, ©. 124. 

33) 2, ©. 588 f. 

61) A. a. O. 
29 * 











452 Dritter Abfchnitt. 


Aber auch in den vorhergehenden Abfchiedsreden erfcheint Man⸗ 
ches aus dem Erfolge heraus gefprochen. Der ganze Ton der⸗ 
ſelben erflärt fich doch am natürlichften, wenn die Reden Werf 
eines folchen find, welchem der Tod Jefu bereits ein Vergan⸗ 
‚genes war, deſſen Schredlichkeit in den fegensreichen Folgen 
und der andächtigen Betrachtungsweife der Gemeinde fich ge- 
lind aufgelöst hatte. Im Einzelnen ift, abgefehen von dem 
über die MWiederfunft Gefagten, auch diejenige Wendung der 
chriftlichen Sache, welche man als Die Sendung des heiligen Gei- 
ſtes zu bezeichnen pflegt, in den Aeußerungen über den Para⸗ 
Elet und defien über die Welt zu haltendes Gericht (14, 16 ff. 
25. f, 15, 26. 16, 7 ff. 13 ff.) mit einer Beftimmtheit vor⸗ 
-ausgefagt, welche auf die Zeit nach dem Erfolge hinzumeifen 
fcheint. J | ' 
Indem aber au von dem nächftbevorftehenden Erfolge, 
dem Leiden und Tod Jeſu, das beftimmte Borauswiflen in 
diefen Abfchiedsreden Tiegt (13, 18 ff. 33. 38. 14, 30 f. 16, 
5 ff. 16, 32 f.), tritt die johanneifche Darftellung mit der ſyn⸗ 
optifchen auf Einen Boden, da auch dieſe auf der Vorausfehung 
der genaueften Vorausſicht der Stunde und des Augenblids, 
wann das Leiden eintreten werde, ruht. Nicht allein bei’m 
legten Mahle und bei'm Hinausgehen an den Delberg zeigte 
fich dieſes Vorherwiſſen nach den drei erften Evangelien, indem, 
wie im vierten, dem Petrus eine Verläugnung, ehe der Hahn 
frähen werde, vorhergefagt wird; nicht nur beruht der ganze 
Ceelenfampf im Garten auf der Vorausficht des in den näch- 
ften Augenbliden bevorftehenden‘ Leidens: fondern am Ende 
diefes Kampfes. weiß Jeſus fogar auf die Minute hin zu fagen, 
"daß jest der Verräther heranrüde (Mattb. 26, 45 f.). Zwar 
behauptet Baulus, Jeſus habe die Truppe der Häfcher von 
ferne ſchon aus der Etadt heranrüden fehen, was allerdings, 
da fie Badeln hatten, von einem Garten am Delberg aus viels 
leisht möglich war; allein ohne vorher von den Planen feiner 
Feinde unterrichtet zu fein, konnte Jeſus nicht wiflen, daß es 
auf ihn abgefehen ſei, und jedenfalls berichten es Die Evangeliften 





Drittes Kapitel. $. 126. 4583 


- als Probe des übernatürlichen Wiffens Jeſu. Vom höhe: 
ren Prineip in. ihm kann nun aber, wenn dem Obigen 
zufolge nicht das Vorherwiſſen der Kataftrophe überhaupt und 
ihrer einzelnen Momente, dann aud) nicht daB ihres Zeitpunfts, 
gegangen fein; daß ihm aber auf natürlichem Wege, durch 
geheime Freunde im Synedrium, oder wie fonft, die Kunde 
von dem vernichtenden Echlage zugefommen wäre, welchen vie 
jüdifchen Herrfcher mit Hülfe eines feiner Jünger in der näch- 
ſten Nacht gegen ihn zu führen beabfichtigten, davon haben 
wir feine Spur in unfern Berichten, und find alfo auch nicht 
befugt, dergleichen etwas vorauszufegen. Sondern fo, wie es 
uns die Referenten ald Beweis feines höheren Wiſſens ‘geben, 
‚ müffen. wir e8 entweber hinnehmen, oder, wenn wir dieß nicht 
fönnen, fo folgt vorerft nur das Negative, daß fie uns hier 
mit Unrecht eine folche Probe. erzählen, woran dann zunächft 
nicht das Poſitive gränzt, daß jenes Wiſſen wohl nur ein 
‚ natürliches gewefen, fondern das, daß die evangelifchen Erzäh- 
ler ein Intereſſe gehabt haben müffen, eine übernatürliche Kunde 
Jeſu von feinem bevorftehenden Leiden zu behaupten ; ein Inte⸗ 
refje, welches fchon oben auseinandergefeht worden ift. 

Was nun aber der Grund war, das Vorherwiſſen zu 
einem wirklichen VBorgefühl zu fteigern, und fo die Scene in 
Gethfemane auszubilden, Tiegt gleichfalls nahe. Einerfeits naͤm⸗ 
lich gibt es Feine augenfcheinlichere Probe, daß von einem Er- 
folg oder Zuftand ein Vorherwiſſen flattgefunden hat, als wenn 
es bis zur Lebendigkeit eines Borgefühls geftiegen iſt; andrers 
feitö muß das Leiden um fo furchtbarer erfcheinen, wenn es 
fhon im bloßen Vorgefühl dem dazu Beftimmten Angft bie 
zum blutigen Schweiß und die Bitte um Enthebung auspreßt. 
Ferner zeigte fi) das Leiden Jeſu in höherem Sinn als ein 
freiwilliges, wenn er, ehe es äußerlich an ihn Fam, fich inner- 
lich in daffelbe ergab; und endlich mußte es der urchriftlichen 
Andacht erwünfcht fein, den eigentlihen Kern dieſes Leidens 
den profanen Augen, welchen er am Kreuze ausgefept war, zu. 
entziehen; und als ein Myſterium in den engeren Kreis einiger 


454 | “ Dritter Abſchnitt. 


Geweihten zu verlegen. Zur Ausftattung dieſer Scene bot fich 
neben der Echilderung des Schmerzens und Gebets, welche 
fi) von felbft ergab, theild das von Jeſu felber (Matth. 20, 
22 f.) zur Bezeichnung feines Leidens gebrauchte Bild eines 
110170309, theild A.T.liche Stellen in Klagepfalmen, 42, 6. 12. 
43, 5., wo in ber LXX. die wog) zrsgilunog vorfommt, wo⸗ 
bei das Ews Iovara Jon. 4, 9. um fo näher lag, da Jeſus 
hier wirklich dem Tod entgegenging. Prühzeitig muß biefe 
“ Darftelung entftanden fein, weil fich ſchon im Hebraͤerbrief 
(5, 7.) eine Anfpielung, ohne Zweifel auf diefe Scene, findet. 
— Es war alfo zu wenig gefagt, wenn Gabler die Engels: 
erfeheinung für mythifche Einkleidung der Thatfache erflärte, 
daß Jeſus ſich im tiefften Schmerze jener Nacht, plöglich ges 
ftärft gefühlt habe: da vielmehr jener ganze Eeelenfampf, weil 
. auf unerweislichen Borausfegungen ruhend,. aufgegeben wer: 
den muß. 

Hiemit fällt das oben geftellte Dilemma weg, indem wir _ 
nicht bloß eine von beiden, fondern beide Daritellungen ber 
letzten Stunden Jeſu vor feiner Gefangennehmung als unhiftes 
rifch bezeichnen müffen, Nur fo viel bleibt von einem Inter: 
ſchied des geſchichtlichen Werths zwiſchen der fonoptifchen 
Erzählung und der johanneiſchen, daß, während jene, jo zu 
fagen, eine mythifche Bildung erfter Potenz ift, diefe die zweite 
Potenz traditioneller Geftaltung zeigt, — oder näher if jene 
ſchon eine Bildung zweiten, und fomit diefe des dritten Grades, 
Sft nämlich die den Synoptifern und dem Sohannes gemeinr 
fame Darftellung, daß Yefus fein Leiden auf Tag und Etunde 
hin vorhergemußt habe, die erfte IImgeftaltung, welche die fromme 
Sage mit der wirklichen Gefchichte Jeſu vornahm: fo ift die 
Angabe ber Synoptifer, er habe fein Leiden fogar vorherempfuns 
den, die zweite Stufe des Mythiſchen; daß er es aber, obwohl 
er ed vorbergewußt, und auch früher einmal (Joh. 12, 27 ff.) 
vorhergefehmedt, doch fehon lange zum Voraus nöllig überwun⸗ 
den, und demfelben, als e8 unmittelbar bevorftand, mit unerſchüt⸗ 
terter Ruhe in's Auge geblidt habe, — dieſe Darftellung bes 








Drittes Kapitel. $. 127. 455 


johanneifchen Evangeliums iſt die dritte und höchfte Stufe an- 
dächtiger, aber ungefchichtlicher, Verſchoͤnerung. 


6. 197. 
Sefangennehmung Zefu. 


Genau zufammentreffend mit der Erklärung Jeſu an die 
fchlafenden Jünger, daß eben jest ber Verräther nahe, fol, 
während er noch redete, Judas mit einer bewaffneten Macht her⸗ 
angerüdt fein (Matth. 26, 47. parall. vgl. Joh. 18, 3.). Diefe 
Schaar fam den Eynoptifern zufolge von den Hohenprieftern 
und Xelteften, und war nach Lukas von den soaznyois rE 
leg angeführt, alfo wahrfcheinlich eine Abtheilung Tempelſol⸗ 
daten, an welche ſich übrigens, aus der Bezeichnung als 0yAog 
und ihrer theilweifen Bewaffnung mit SvAors zu ſchließen, noch 
anderes Gefindel tumultuarifch angefchloflen zu haben fcheint: 
der Darftellung bei Johannes zufolge, welcher neben den vramee- 
Tag Tv KoxIEgEwv xal YPapıociaoy yon einer orseige und einem 
yıllagxos, ohne Erwähnung tumultuarifcher Bewaffnung, fpricht, 
fcheint es, al8 hätten fich die jünifchen Obern auch eine Abtheis 
lung römifchen Militärs zur Unterſtützung ausgebeten gehabt. ") 

Während fofort nach den drei erften Evangeliften Judas 
vortritt und Jeſum Füßt, um ihn durch dieſes verabredete Zeichen 
der anrüdenden Schaar als denjenigen fenntlich zu machen, wels 
chen fie zu greifen hätte: geht Taut des vierten Evangeliums um- 
gefehrt Jeſus ihnen, wie es fcheint, vor den Garten hinaus 
(EEEAIwv), entgegen, und bezeichnet fich felbft als denjenigen, 
welchen fie fuchen. Diefe abweichenden Darftellungen zu ver- 
einigen, haben Einige den Hergang fich fo gedacht, daß, um 
eine Verhaftung feiner Jünger zu verhüten, Jeſus gleich zuerft 
dem Haufen entgegengegagen fein, und ſich zu erfennen gegeben 


1) ©, Lüde, 3.5. St. Haſe, 8. 3.8. 135. 








456 Dritter Abſchuitt. 


babe; hierauf erft fei Judas hervorgetreten, und habe ihn 
durch den Kuß bezeichnet, Allein, hatte fich Jeſus bereits 
jelbft zu erfennen gegeben, fo Tonnte Judas den Kuß erfparen ; 
denn daß die Leute der Angabe Sefu, er fei es, den fie fuchen, 
nicht geglaubt, und noch auf die Belräftigung verfelben dur 
den Kuß des beſtochenen Jüngers gewartet haben, kann nicht 
geſagt werden, wenn nach der Angabe des vierten Evangeliums 
jenes &yo aim fo ſtarken Eindruck auf fie machte, daß fie zu 
Boden fanken. Defwegen haben Andere die Ordnung ber 
Erenen in der Art umgefehrt, daß zuerft Judas, vorantretend, 
Sefum dur den Kuß bezeichnet, dann aber, noch che der 
Haufe in den arten eindringen Eonnte, Jeſus zu ihnen hin- 
austretend ‚fich zu erfennen gegeben habe, 3) Allein, wenn ihn 
Judas bereitd durch den Kuß bezeichnet, und er den Zweck des 
Kuffes fo gut verftanden hatte, wie es fich in feiner Erwiede⸗ 
rung auf denfelben Luc. V. 48. ausfpricht: fo brauchte er fich 
nicht noch befonders zu erfennen zu geben, da er ſchon Fennt- 
lich gemacht war; es zum Schuge der Jünger zu thun, war 
ebenfo überflüffig, da er an dem verrätherifchen Kuffe merfen 
mußte, es fei darauf abgefehen, ihn aus feinem Gefolge heraus- 
sufangen; that er es bloß um feinen Muth zu zeigen, fo war 
Dieß fait etwas frhaufpielerifch: überhaupt aber kommt dadurch, 
daß Jeſus zwiſchen den Judaskuß und das gewiß unmittel- 
bar darauf erfolgte Eindringen der Schaar hinein dieſer noch 
mit Fragen und Anreden entgegengetreten fein fol, in fein 
Benehmen eine Haft und Eilfertigfeit, welche ihm unter biefen 
Umftänden fo übel anfteht, daß die Evangeliften ſchwerlich beab- 
fichtigen, ihm eine folche zuzufchreiben. Man follte demnach 
anerfennen, daß von den beiden Darftellungen feine darauf 
berechnet ift, „durch die andere ergänzt zu werden, ) indem jede 





2) Yaulus, exeg. Handb., 3, b, ©. 567. 

d) Lüde, 2, ©. 59. Hafe, a. a. O. Dlshaufen, 2. e. 438. 

9 Wie mag Lüde bie Auslaffung des Judaskuſſes im johanneifchen Evans 
gelium daraus erflären, daB er gar zu bekannt geweſen fei, und wie 





Drittes Kapitel. $. 127. 457 


die Art, wie Jefus erfannt wurde, und wie Judas dabei thätig 
war, auf andere Weife faßt. Daß Judas 0odryog roig ovAlu- 
Pac zov Inosv gewefen (A. ©. 1, 16.), darin ftimmen alle 
Evangelien zufammen. Nun aber, während nach der ſynopti⸗ 
fhen Darftelung zum Gefchäft des Judas außer der Orisbe⸗ 
zeichnung auch noch die Bezeichnung ber Perfon gehört, welche 
durch den Kuß gefchieht: läßt Johannes die Thätigfeit des Ver: 
räthers mit der Bezeichnung des Orts ihr Ende erreichen, und 
ihn nach der Ankunft an Ort und Stelle müßig bei den Uebri⸗ 
gen ftehen (eisıxeı 2 zei Isdag — uer’ arm. B.5.). Warum die 
‚johanneifche Darftelung dem Judas das Gefchäft der perfönli- 
chen Bezeichnung Jeſu nicht ertheilt, ift Teicht zu fehen: damit 
nämlich Jeſus nicht als ein Weberlieferter, fondern als ein ſich 
felbft Wcberliefernder, fomit fein Leiden in höherem Grad als frei 
übernommenes erfcheinen möchte. Man darf ſich nur erinnern, 
wie von jeher die Gegner des Chriftenthums Jefu feinen Weg- 
gang aus der Etabt in den abgelegenen Garten als fehimpfliche 
Flucht vor feinen Feinden aufrechneten, 5) um e8 begreiflich zu 
finden, daß frühzeitig unter den Chriften eine Neigung entftand, 
die Art, wie er fich bei feiner Verhaftung benahm, noch in höhe- 

tem Grabe, als dieß in der gewöhnlichen Evangelientradition 
der Fall war, im Licht einer freiwilligen Hingabe erfcheinen 
zu lafien. 

Reiht fi) nun bei den Synoptifern an den Judaskuß eine 
einfchneidende Frage Jeſu an den Verräther, fo fchließt fich bei 
Johannes an das von Jeſu gefprochene: &yw eu, die Erwähr 
nung, daß vor dieſem Machtworte die zu feiner Verhaftung 


biezu als Analogie bas anführen, daß Zohannes auch bie Verhandlung 
des Berräthers mit dem Synedrium übergehe ? ba zwar diefe Verband: 
lung als etwas hinter der Scene Vorgegangenes wohl übergangen 
werben Eonnte, keineswegs aber etwas, das, wie jener Kuß, fo ganz im 
Vordergrund und Mittelpunkt der Handlung geichehen war. 
5) &o fagt der. Jude des Gelfus bei Orig. c. Cels. 2, 9: Enady yueis 
Eleygayre; aurov naL xarayvovreg Flınuev xoAaieogaı, zoumTuueo: EV Hal 
dieddesuzwr Enoredigorara Euhw. 





458 Dritter Abſchnitt. 


gefommene Echaar zurüdgewichen und zu Boden gefallen fei, 
fo daß Jeſus feine Erflärung wiederholen, und die Leute gleich-. 
fam ermuthigen mußte, ihn zu greifen. Hierin will man neuer- 
Dings fein Wunder mehr erblicken, fondern pfychologifch fol ver 
Eindrud Jeſu auf diejenigen unter der Schaar, welche ihn frhon 
fonft öfters gefehen und gehört hatten, gewirft haben; wobei man 
ſich auf die Beifpiele aus dem Leben eines Marius, eines Coligny 
u. 9. beruft. 9 Allein weder nach der fonoptifchen Darftellung, 
laut deren es der Bezeichnung Jeſu durch den Kuß, noch audy 
nach der johanneifchen, nach welcher e8 der Erklärung Jeſu, dag 
er es fei, bedurfte, war Jefus dem Haufen genauer, am wenig: 
ften auf eine tiefere Weife, befannt; jene Beifpiele aber bewei— 
fen nur, daß bisweilen der gewaltige Eindrud eines Mannes 
moͤrderiſche Hände Einzelner oder Weniger gelähmt hat, nicht 
aber, daß ein ganzes Detachement von Gerichtödienern und Sol⸗ 
daten nicht bloß zurüdgemwichen, fondern zu Boden gefallen 
wäre, Was foll es nüßen, wenn Lücke zuerſt Einige, dann 
den ganzen Haufen, nieberftürzen läßt, wodurch e8 vollends uns 
möglich wird, fich die Sache auf ernfthafte Weife vorzuftellen ? 
Wir Fehren daher zu den Alten zumid, welche hier allgemein ein 
Wunder anerfannten. Der Ehriftus, welcher durch ein Wort 
feines Mundes die feindlihen Schaaten niederwirft, ift fein 


6) Luͤcke, 2, ©. 597 f.; Olsbaufen, 2, ©. 435.; Tholud, ©. 299. 
Die Berufung auf den Mörber Coligny's ift übrigens unftatthaft, wie 
jeder finden wird, der das von & ho lud? ungenau ritirte Buch: Serrani 
commentariorum de statu religionis et reip. in regno Galliae 
L. 10, p. 32, b, nabfchlägt. Der Mörder ließ fi durch die Stand⸗ 
haftigkeit des edeln Greifes nicht im Mindeften in der Durdführung 
feines Vorhabens aufhalten. Vgl. auh Schiller, Werke, 16. Bd. 
©. 382 f. 3845 Erfh und Gruber’s Encyelopädie, 7. Band. 
©. 452 f. Dergleichen Ungenauigkeiten im Felde der neueren Geſchichte 
tönnen übrigens nicht Wunder nehmen an einem Manne, ber anderswo 
(Staubwürdigkeit, S. 437.) den Herzog von Orleans, Louis Philipp’s 
Vater, zu einem Bruder Louis XVI. macht. Wer fo vielerlei weiß, 
wie Dr. Tholuck, wie koͤnnte der immer Altes fo genau wiflen ? 


Drittes Kapitel. $. 127. 459 


anderer, als derjenige, welcher nach 2 Theff. 2, 8. den Anti- 
chrift welwos zo nwevgeri TE coueros ara, d. h. aber 
nicht der biftorifche, fondern der Chriftus der jüdifchen und 
urchriftlichen Phantafte. Der Verfaſſer des vierten Evangeliume 
insbefondere, der fo oft bemerft hatte, wie die Feinde Jefu 
und ihre Echergen außer Stands geweſen feien, Hand an ihn 
zu legen, weil feine Stunde noch nicht gefommen gewefen ſei 
(7, 30. 32. 44 ff. 8, 20.), war veranlaßt, nun, als bie 
Etunde erfchienen war, den wirffich gemachten Verfuch zunächft 
noch einmal auf recht eclatante Weiſe mißlingen zu laflen; 
zumal dieß ganz mit dem Intereſſe zufammenftimmte, welches in 
der Befchreibung diefer ganzen Scene ihn beherrfcht, die Verhafs 
tung Jeſu rein ald Act feines freien Willens barzuftellen. Indem 
Jeſus die Soldaten durch die Macht feines Wortes niederwirft, 
gibt er ihnen eine Probe, was er vermöchte, wenn es ihm 
um Befreiung zu thun wäre, und wenn er ſich nun unmittel» 
bar darauf greifen läßt, fo erfcheint dieß ald die freimilligfte 
Hingabe. So gibt Jefus im vierten Evangelium eine factifche _ 
Probe jener Macht, welche er im erften nur mit Worten 
ausbrüdt, wenn er zu einem feiner Jünger fagt: doxeig, ori 
8 divancı &ori nrapanaktgcı Tv TIuTtge us, zul TIUQRSTTE 
uos siheisg 7) Ödudsne Asyeuvag ayyeham; (B. 53.) 
Nachdem hierauf der Verfaſſer des vierten Evangeliums 
einen früher richtiger auf bie geiftige Bewahrung feiner Schüler 
bezogenen Ausfpruch Sefu (17, 12.), daß er feinen der ihm 
von Gott Anvertrauten verloren habe, fehr unpaffend in der 
Sorgfalt erfüllt gefunden, welche Jeſus angewendet habe, daß 
feine Sünger nicht mit ihm verhaftet würden, ftimmen nun 
ſämmtliche Evangeliften darin zufammen, daß, als die Soldaten 
Hand an Jeſum zu legen anfingen, einer feiner Anhänger das 
Schwert gezugen, und des Hohenprieftere Knecht ein Ohr ab⸗ 
gehauen habe, was von Jeſu mißbilligt worden ſei. Doch 
haben Lukas und Johannes jeder einen. eigenthümlichen Zug. 
Abgefehen davon, daß beide das von den Vormännern unbe- 
ftimmt gelaffene Ohr als das rechte näher beftimmen, nennt 


460. | . , Dritter Abſchnitt. 


der Iegtere nicht bloß den verwundeten Knecht mit Namen, 
fondern bemerft auch, daß der hauende Jünger Petrus geweſen 
fi. Warum die Synoptifer den Petrus nicht nennen, hat 
man auf verfchievene Weife zu erflären verfucht. Daß fie den 
zur Zeit der Abfaffung ihrer Evangelien noch lebenden Apoftel 
nicht durch Nennung feines Namens haben compromittiren 
wollen, 7) gehört zu den mit Recht verfchollenen Fictionen einer 
falfch pragmatifirenden Eregefe; daß fie aber auch fonft die Na⸗ 
men meiftens übergeheri, 8) ift in dieſer Allgemeinheit nicht einmal 
von Matthäus wahr, welcher wohl unberühmte, gleichgültige 
Perſonen ungenannt läßt, wie einen Jairus, einen Bartimäus: 
daß aber aus einer Betrusanefvote, welche fo fehr in die Rode 
dieſes Apofteld paßte, der wirkliche Matthäus, oder auch nur 
bie vulgäre Evangelientradition, fo frühzeitig und allgemein 
den Ramen verloren haben ſollte, wird man nicht fehr glaub 
lich finden. Weit eher könnte ich mir das Umgekehrte denfbar 
madhen, daß die Anekdote urfprünglich ohne Namensangabe 
umgelaufen wäre (und warum follte nicht auch ein fonft minder 
ausgezeichneter unter ven Anhängern Jeſu — denn nad den 
Eynoptifern feheint e8 nicht einmal nothwendig einer der Zwölfe 
gewefen fein zu müflen —, defien Name ‚daher eher zu vergefien 
war, Muth und Webereilung genug gehabt haben, in jenem 
Zeitpunkt das Schwert zu ziehen”), ein fpäterer Referent aber 
eine ſolche Handlungsweife dem rafchen Charakter des Petrus 
befonder8 angemeflen gefunden, und fie deßwegen aus eigener 
Combination ihm zugefchrieben hätte. Dann brauchen wir 
uns auch nicht für. die Möglichkeit, daß Johannes den Namen 
des Knechts wiffen fonnte, auf feine Belanntfchaft im hohen⸗ 
priefterlihen Haufe zu berufen; ?) fo wenig Markus, um zur 
Kenntniß des Namens von jenem Blinden zu gelangen, einer 
befondern Befanntfchaft in Zericho bedurfte. 


Gum i—— 





7) Yaulus, ereg. Handb. 3, b, ©. 570, 
8), Derf. ebendaf. 
9, Wie Luͤcke, Tholuck und Dtsgaufen, z. d. St. 


Deittes Kapitel. $. 127. 461 


Lukas hat bei diefer Schwertfcene das Eigenthuͤmliche, 
Daß nach ihm Jeſus das Ohr des Knechts, wie es fcheint, 
durch ein Wunder, wieder geheilt hat. Während Olshauſen 
die zufriedene Anmerkung macht, dieſer Umſtand erfläre am 
beften, wie Petrus ſich unverlegt zurüdziehen konnte — das 
Erftaunen über die Heilung werde die allgemeine Aufmerffams 
feit in Anfpruch genommen haben: wollte nad) Paulus Jeſus 
das verwundete Ohr durch die Befühlung (awausvos) nur 
unterfuchen, und gab fofort an, was zum Behuf der Heilung 
zu thun fei (avero av); hätte er ihn dur ein Wunder 
‚geheilt, fo müßte doch auch ein Erftaunen der Anwefenden ge- 
meldet fein. Solche Qudlerei ift dießmal befonders unnöthig, 
da das Alleinftehen des Lufas mit dem fraglichen Zug und 
der ganze Zufammenhang der Scene und deutlich genug fagt, 
was wir von der Sache zu halten haben. Sefus, der fo vieles 
Leiden, an welchem er -unfchuldig war, durch feine Wunderfraft 
gehoben hatte, der follte ein Leiden, welches einer von feinen 
Süngern aus Anhänglichkeit an ihn, alfo mittelbar er felbft, 
verurfacht hatte, ungeheilt gelaffen haben? Dieß mußte man 
bald undenkbar finden, und fo dem Schwertftreich des Petrus 
eine Wunderheilung von Seiten Jeſu — die legte in der evan- 
gelifchen Gefchichte — fich anfchließen. 

Hieher, unmittelbar vor feine Abführung, ftelen die Eyn- 
optifer den Vorwurf, welchen Jefus den zu feiner Gefangen- 
nehmung Gefommenen machte, daß fie ihn, der ihnen durch 
fein tägliches öffentliches Auftreten im. Tempel die beite Gele: 
genheit gegeben habe, fich feiner auf die einfachfte Weife zu 
bemächtigen, — ein fchlimmes Anzeichen für die Reinheit ihrer 
Sahe — mit ſo vielen Umftänden, wie einen Räuber, bier 
außen auffuhen. _ Das vierte Evangelium läßt ihn etwas 
Achnliches fpäter zu Annas fagen, defien Erfundigung nach 
feinen Schülern und feiner Lehre er auf die Deffentlichfeit feis 
nes ganzen Wirkens, auf fein Lehren in Tempel und Syna- 
goge, verweist (18, 20 f.). Wie wenn er von Beidem ver- 
nommen hätte, fowohl daß Jeſus fo etwas dem Hohenpriefter, 


462 . Tritte Abſchnitt. 


als daß er es bei feiner Gefangennehmung gejagt habe, läßt 
Lukas die Hohenpriefter und Aelteſten felbft bei der Verhaftung 
gegenwärtig fein, und Jefum hier auf jene Weife zu ihnen 
iprechen; was gewiß nur Irrihum ift. '9) 

Nach den zwei erften Evangeliften fliehen nun alle Jünger, 
wobei Markus den ſpeciellen Zug hat, daß ein Jüngling, der 
eine Zeinwand um den bloßen Leib geworfen hatte, als man 
ihn greifen wollte, mit Zurüdlafjung der Leinwand nadt davon- 
geflohen fei. Abgeſehen von ven müßigen Bermuthungen älterer 
und felbft neuerer Erflärer, wer diefer Jüngling gewefen fein 
möge, hat man mit Unrerht aus diefer Notiz auf nahe Gleich» 
zeitigfeit des Markusevangeliums gefchloffen, weil eine folche 
feine, namenlofe Anekdote nur in der Nähe der Perſonen 
und Begebenheiten habe interefiiren können: ") da doch diefer 
Zug felbit und, in der weiteften Zeitferne, noch eine lebendige 
Anfcehauung von dem panifchen Schreden und der fehnellen 
Flucht der Anhänger Jefu gibt, und alfo dem Markus, woher 
er ihn auch befommen, und wie fpät auch gefchricben haben 
mag, willfommen fein mußte. 


6. 128. 
Jeſu Verhör vor dem Hohenpriefter. 


Bon dem Orte der Gefangennehmung laffen die Synoptifer 
Sefum zum Hohenpriefter, deffen Namen. Kaiphas, jedoch hier 
nur Matthäus nennt, Johannes aber zu Annas, dem Schwies 
gervater ded damaligen Hohenprieftere, und von dieſem erft 
zu Kaiphas, geführt ‘werden (Matth. 26, 57 ff. parall. Joh. 
18, 12 ff); was bei dem Anfehen des Annas eben fo denkbar 
it, als fi) das Gtillfehmeigen der Eynoptifer daraus erklärt, 


w, Schleiermader, über ben Lukas, ©, 200. 
1) Yaulus, ereg. Hands. 3, b, ©. 576, 


rt 





Drittes Kapitel. $. 128. 463 


daß der geweſene Hohepriefter feine Entſcheidung in diefer Cache 
herbeiführen Eonnte. Um fo auffallender ift e8 aber, daß, 
wie man dem erften Aublid nad) glauben muß, der vierte Evan⸗ 
gelift umgefehrt nur aus der Verhandlung mit Annas einiges 
Nähere mitzutheilen, das entfcheivende Verhör des wirklichen 
Hobenpriefterd Dagegen, außer daß .er fagt, Jeſus fei dahin 
abgeführt worden, ganz zu übergehen fcheint. Nichts Ing 
daher der Harmoniftif näher ald die Annahme, wie fie fich 3. B. 
fchon bei Euthymius findet, Johannes habe vermöge feines 
Ergänzungszwedes das von den Synoptikern übergangene 
Verhör vor Annas nachgeholt, das vor Kaiphas aber über: 
gangen, weil es von feinen Borgängern ausführlich genug 
befihrieben war) Diefe Anficht, daß Johannes und die 
Synoptifer von ganz verfihiedenen Kerhören reden, findet darin 
eine Beftätigung, daß der Inhalt des Verhörs auf beiden Seiten 
ein ganz verfchiedener if. Während nämlich bei dem, welches 
die Synoptifer befchreiben, nach Matthäus und Markus zuerft 
bie falfchen Zeugen gegen Jefum auftreten, hierauf der Hohes 
priefter ihn fragt, ob er fich wirflich für den Meſſias ausgebe, 
und auf die Bejahung davon ihn der Blasphemie und des 
Todes ſchuldig erflärt,. woran ſich Mißhandlungen ſchließen: 
fo wird in dem von Johannes gefchilderten Verhöre Zefus nur 
nach feinen Jüngern und nach feiner Lehre gefragt, worauf er 
fi) auf die Deffentlichfeit feines Wirkens beruft, und nachdem 
er hierüber von einem Diener mißhandelt worden war, wird 
er, ohne daß ein Urtheil gefällt wäre, weiter geſchickt. Daß 
nun aber hienach der vierte Evangelift von dem Verhör vor 
Kaiphas nichts Näheres angibt, ift um fo auffalfender, da in 
dem vor Annas, wenn e8 Diefes ift, von dem er erzählt, feiner 
eigenen Darftelung zufolge nichts entfchieden worden ift, mithin 
die Gründe und der Act der DBerurtheilung Jeſu durch das 
jüdiſche Gericht in feinem Cvangelium durchaus fehlen. Dieß 
aus dem Ergänzungszwed erklären, heißt dem. Sohannes ein 


1) Paulus, a..n.D. ©. 577. Dlshanfen, ©. 244. 


464 Dritter Abfchnitt. 


gar zu verfehrtes Verfahren zur Laft legen; da, wenn er das 
überging, was die Andern fchon hatten, ohne anzudeuten, 
daß er es nur deßwegen weglaffe, er berechnen fonnte, dadurch 
nur Verwirrung, und gegen fi) den Echein eines falfchen 
Berichts, zumwege zu bringen. Die Meinung, daß das Verhör 
vor Annas das Hauptverhör gewefen fei, und deßwegen das 


- andere übergangen werden dürfe, Tann er auch nicht wohl 


gehabt haben, ba er ja feinen Befchluß, ver in jenem gefaßt 
worden wäre, anzugeben weiß; wußte er aber endlich das 
Berhör vor Kaiphas als das Hauptverhör, und gab doch Feine 
nähere Auskunft darüber, fo ift auch dieß ein höchft fonders 
bares Verfahren. 

Bon felbft ergibt fich Daher der Verfuch, in der Darftellung 
des vierten Evangeliums Spuren davon zu entdeden, daß auch 
fein Bericht von einem Verhoͤre bei Kaiphas zu verftehen fei. 
Die auffallendfte Spur einer möglichen Jpentität -beider Vers | 
höre ift Die Identität einer nebenherfpielenden Begebenheit, in» 
dem auch Johannes, wie die Eynoptifer, während des von 
ihm befchriebenen Verhoͤrs Jeſum von Petrus verläugnet werr 
ven läßt. Berner Tann es auffallen, daß, nachdem V. 13. 
von Annas, ald dem zuevdegos TE Koiaye, die Rede gewefen, 
nun eine nähere Bezeichnung des Iegteren, als Urheberd von 
jenem verhängnißvollen Rathe, Joh. 11, 50., folgt, wenn 
doch fofort nicht ein von ihm, fondern von dem erfteren vor- 
genommened Berhör erzählt werben fol. Dann ift auch in 
der Beichreibung des Verhörs felbft durchaus vom Balafte und 
von Fragen zö apxısgews bie Rede, wie doch Johannes fonft 
nirgends den Annas, fondern nur den Kaiphas nennt. Daß 
aber nun auf diefe Weife ſchon von V. 15. an von etwas 
bei Kaiphas Borgegangenem die Rede fein follte, feheint frei- 
lich wegen B. 24. unmoͤglich, weil es hier erft heißt, Annas 
babe Jeſum zu Kaiphas gefchidt, fo daß er alſo bis dahin bei 
Annas gewejen fein müßte. Echnell befonnen feste man daher 
zuerfi den 24ten Vers dahin, wo man ihn brauchte, nämlich 
hinter V. 13., und fchob die Schuld, daß er jegt weit fpäter 


Drittes Kapitel. $. 128. 465 


gelejen wird, auf die Nachläffigfeit ver Abfchreiber.) Da 
jedoch dieſe Umſtellung, in ihrer Verlaſſenheit von kritiſchen 
Auctoritäten, als willfürliche Gewalthülfe erſcheinen müßte, fo 
hat man fofort verfucht, ob fich nicht der Notiz V. 24, ohne 
fie wirklich aus ihrem Orte zu rüden, doch eine folche Deutung 
geben ließe, daß fie dem Sinne nad hinter V. 13 zu ftehen 
füme, d. h. man nahm das anezeuev in der Bedeutung eines 
Plusquamperfects, und dachte ſich, Johannes wolle hier nach⸗ 
holen, was er bei V. 13. zu bemerfen vergejjen, daß nämlich 
Annas Jeſum alsbald zu Kaiphas geſchickt habe, folglich das 
beichriebene Verhoͤr von Diefem vorgenommen worden fei. 3) 
Da die allgemeine Möglichkeit einer folchen enallage teınporum 
zuzugeben iſt, fo fragt ſich nur, od fie zu der Eigenthümlichfeit 
des gegenwärtigen Schriftitellerd paßt, und im Zufammenhange 
angedeutet if. In legterer Hinficht Fonnte nun allerdings ber 
Evangelift, wenn vor Annas nichts Bedeutendes vorgefallen 
war, ſich durd die an die Angabe feines Verhältniſſes zu 
Kaiphas gefnüpfte nähere Bezeichnung dieſes Lebtern verführen 
laffen, fofort ohne Weiteres zu dem Berböre des Kaiphas über: 
zugehen, und dieſen Webergang etwa nachträglich, bei irgenp 
einem Nuhepunfte, wie hier nach dem Schluſſe der Berhand- 
lungen des Hohenprieſters mit Jeſu, bemerflich zu machen. Ein 
genau griechifch Schreibender freilich würde in dieſem Falle, 
wenn auch nicht das Plusguamperfectum gebraucht, doch an 
dem Aoriſt durch ein yap die erläuternde Beziehung auf das 
Borhergehende fichtbar gemacht haben. Unſer Evangeliſt hin- 
"gegen, bei welchem die Eigenheit der helleniſtiſchen Schriftjtelfer, 
dem Geiſt der hebrälfchen Sprache gemäß vie Säge nur lofe 
zu verbinden, befonders ausgeprägt fich zeigt, könnte jene 


— — — — — 


2) So z. B. Erasmus, z. d. St. 

2) So Winer, N. 3. Gramm. $. 41,5; Tholuck und Luͤcke, z. 
d. St. 

U. Bam. 3 


466 Dritter Abfchnitt. 


Nachholung vielleicht auch ohne Partikel, oder der gewoͤhnlichen 
Lesart zufolge durch &v, das nicht bloß fortfahrend, fondern auch 
wiederaufnehmend ift, 2) eingefügt haben. Würde hienach auch 
er das Verhör vor Kaiphas erzählen :: fo erhellt freilich theils ſchon 
aus der Anficht feiner Darftelung für ſich, theils aus ihrer 
oben angeftellten Vergleichung mit der fynoptifchen, daß ſeine 
Erzählung nicht vollſtändig ſein kann. 

Sind wir hiemit an den Bericht der Synoptiker gewieſen, 
ſo finden auch unter ihnen, zwiſchen den beiden erſten nämlich 
und dem dritten, mehrfache Abweichungen ſtatt. Während nach 
jenen beiden, ald man Jeſum in den hohenpriefterlihen Palaſt 
brachte, die Schriftgelehrten und Aelteſten bereits verfammelt 
waren, und nun noch in der Nacht über ihn Gericht hielten, 
wobei zuerft Zeugen auftraten, dann der Hohepriefter ihm die 
entfcheidende Frage vorlegte, auf. deren Beantwortung hin die 
Berfammlung ihn des Todes ſchuldig erflärte (auch bei Johans 
nes geht das Verhör in der Nacht vor fich, ohne daß jedoch 
von der Anweſenheit des hohen Raths die Rede wäre): wird 
nach der Darftellung im dritten Evangelium Jeſus die Nacht 
über im Balafte des Hohenpriefters nur einftweilen verwahrt 
und von der Dienerfchaft mißhandelt, bis erft mit Tagesanbruch 
das Synedrium fich verfammelt, und nun, ohne daß vorher 
Zeugen auftreten, der SHohepriefter durch jene entſcheidende 
Frage die Verurteilung befchleunigt. Daß nun die Mitglieder 
des hohen Raths fchon in der Nacht, während Judas mit der 
Wache ausgerüidt war, zur Empfangnahme Jeſu fich verfammelt 
haben, koͤnnte man unmwahrfcheinlich finden, und infofern die 
Darftelung des dritten Evangeliums vorziehen wollen, welches 
fie erft bei Tagesanbruch zufammenfummen laͤßt: wenn fich 
Lufas nur nicht dieſen Vortheil dadurch felbit wieder entzüge, 
daß er die Hohenpriefter und Aelteſten bei der Gefangennehmung 


— — — — — 


) Winer, Gramm. g. 57, 4. 
5) So Schleiermacher, über den Lukas, ©. 295. 


Drittes Kapitel. $. 128. 467 


im Garten zugegen fein läßt; ein Eifer, der fie wohl auch ges 
trieben haben würde, fich al8bald zur fchleunigen Beſchlußnahme 
zufammenzuthun. Indeß auch bei Matthäus und Marfus ift 
das feltfam, daß, nachdem fie und das ganze Verhör fammt 
der Beichlußnahme erzählt haben, fie Doch noch (27, 1. und 15, 
1.) fagen: nowiag d& yevousvrg ovußehor Elaßor, fo dab es 
feheint, die Synedriſten haben, wenn nicht gar ſich am Morgen 
wieder verfammelt, da fie fehon die ganze Nacht beifammen 
gewefen waren, doch jegt erft einen Beſchluß gegen Jeſum ger 
faßt, der auch nad ihnen bereits in der nächtlichen Verſamm⸗ 
lung gefaßt worden war;®) wenn man nicht fagen will, zu 
dem bereits gefällten Todesurtheil fei am Morgen noch ver 
Befchluß der Ablieferung an Pilatus gefommen: allein dieß 
veritand fich nach damaligem Rechtözuftande von felbft und 
bedurfte Feines befonderen Beſchluſſes. Daß Lukas und Jos 
hannes die Verhandlung mit den Yevdonaprvoes übergehen, 
ift als eine Lüde in ihrer Darftelung zu betrachten. Denn 
daß Jeſus den Ausfpruch vom Abbruch und Aufbau des Tempels 
gethban, hat bei dem Zufammentreffen von Joh. 2, 19. und 
A. ©. 6, 14. mit Matthäus und Markus alle Wahrfcheinlichkeit; 
daß man dann aber vor Gericht jene Aeußerung als Anklage: 
punft gegen ihn benüßte, ergab fich von felbf. Das Fehlen 
dDiefes wichtigen Punktes bei Lukas erflärt Schleiermacher 
aus dem Umſtande, daß der Verfafler diefes Stücks im dritten 
Evangelium zwar vom Garten herein dem Zuge, der Jefum 
geleitete, gefolgt, vom hohenpriefterlichen Palaſt aber mit den 
meiften Uebrigen ausgefchloffen worden fei, mithin das in Diefem 
Vorgefallene nur vom Hörenfagen erzähle. Allein ein fo nahes 
Berhältniß des Berichterftatters in dieſem Abfchnitte des Lufas- 
evangeliums zur Thatfache Tann, um aus dem Folgenden nichts 
zu anticipiren, auch nur um des Einen Zugs willen von der 


6) Schleiermacher, a. a. D,, vgl. Fritzſche z. d. Gt. des Matt. 
30 * 





468 Dritter Abſchnitt. 


Heilung des verwundeten Knechts nicht angenommen werden. 
Vielmehr ſcheint dem dritten Evangeliſten dieſer Ausſpruch nur 
als Klagartikel gegen Stephanus, nicht gegen Jeſus, dem vier- 
ten aber nur als Ausſpruch Jeſu, nicht auch als Klagartikel 
gegen ihn, gugefommen zu fein. Weiter ift über venfelben, da 
er ſchon früher erläutert werden mußte, hier nichts mehr zu ber 
merfen übrig. 7) 

Wie Jefus auf die Ausfage der Zeugen nichts eriwicherte, 
fragte ihn den beiden erften Evangeliften zufolge der Hoheprie- 
fter, im dritten Evangelium ohne jene Veranlaffung das Syne- 
drium, ob er wirklich der Meſſias (der Sohn Gottes) zu fein 
behaupte? was er nach jenen beiden ohne Weiteres durch cv 
elrtos und 2yı ei bejaht, und hinzufegt, daß fie von jetzt an, 
oder demnächft (ars aprı), des Menfchen Sohn zur Rechten 
der göttlichen Macht figen, und in den Wolfen des Himmels 
fommen fehen. würden; nach Lufas hingegen erflärt er zuerft, 
daß ihn feine Antwort doch nichts nüßen werde, fügt übrigens 
hinzu, von jebt an werde des Menfchen Sohn zur Rechten der 
göttlichen Macht fiten, worauf ihn alle gefpannt fragen, ob 
er demnach der Sohn Gottes ſei? was er bejaht. Hier 
fpricht alfo Jeſus die Erwartung aus, durch feinen Tod nun⸗ 
mehr zu der Herrlichkeit des meſſianiſchen Sitzens zur Rechten 
Gottes, nach Pſ. 110, 1., den er ſchon Matth. 22, 44. auf 
den Meſſias gedeutet hatte, einzugehen. Denn wenn er auch 
ſeine meſſianiſche Verherrlichung ſich Anfangs vielleicht ohne 
Vermittlung durch den Tod gedacht haben mag, weil eine 
ſolche Vermittlung in den Vorſtellungen der Zeit ihm nicht 
ſcheint an die Hand gegeben geweſen zu ſein; wenn ihm erſt 
ſpäter in Folge der Verhältniſſe eine ſolche Ahnung mit all- 
mählig fteigenver Beftimmtheit aufzugehen anfing: jebt, ge⸗ 
afngen, von ſeinen Anhängern verlaſſen, dem erbitterten Synes 
drium gegenüber, mußte e8 ihm, wenn er überhaupt noch die 


— — — — — 


) x. 1. 6. 67.; Bd. 2, $. 114. 


Drittes Kapitel. 8. 198. 469 


Ucherzeugung von feiner Mefftanität fefthalten wollte, zur 
Gewißheit werden, daß er zu feiner mefjianifchen Verberrlichung 
nur durch den Tod eingehen Fünne. Wenn den zwei erften 
Evangeliften zufolge Iefus zu dem xudruerov eu ‚def tig 
Öwvausws noch zul Eoyouevov Eni Tov vepeiiv ra som feßt, 
fo fagt er, wie fehon früher, feine baldige Parufie, und zwar 
hier beftimmt als Wiederkunft, voraus. Nah Olshauſen 
fol das an’ agrı des Matthäus nur auf zaduerov x. T. A 
bezogen werden, weil e8 zu 2ozouevov x. r. A. nicht paffen 
würde, indem fich nicht denken laffe, wie Jeſus fich damals 
ſchon als demnächſt Kommenden habe darftellen fönnen: eine 
lediglich dogmatifche Bedenflichfeit, welche auf unfrem Stand» 
punkte nicht ftattfindet, auf Feinem aber die grammatifche Aus⸗ 
legung fo weit, wie bier bei Olshauſen, verderben follte. 
Auf die gedachte Erflärung Jeſu zerreißt nach Matthäus und 
Markus der Hohepriefter feine Kleider, erklärt Sefum der 
Blasphemie für überwielen, und die Berfammlung erfennt ihn 
des Todes fihuldig; wie auch nach Lukas die Verfammelten 
bemerfen, nun brauche es fein weiteres Zeugniß mehr, da 
die verbrecherifche Ausfage von Jeſu felbft vor ihren Ohren 
gethan worden fei. | 

An die Verurtheilung fchließt fi) dann bei den beiden 
erften Evangeliften die Mißhandlung Jeſu, welche Johannes, 
ver bier Feiner Verurtheilung erwähnt, nach der Berufung 
Jeſu auf Die Deffentlichfeit feines Wirfens erfolgen läßt, 
Lufas aber ſchon vor das Verhör verlegt; mwahrjcheinlicher 
weil man nicht mehr genau wußte, wann diefe Mißhand- 
lungen vorgefallen waren, als weil fie zu verfchiedenen Zeiten 
und unter verfehiedenen Verhältniffen wiederholt worden wären. 
Die Verübung diefer Mißhandlungen wird bei Johannes und . 
Lufas ausdrüdlich dort einem vrımgerrg, hier den avdpeg ovr- 
&xovres Tov L. zugefchrieben; dagegen müffen bei Markus, 
‚wenn er im olgenden die vrırosras von ihnen unterfcheidet, 
die Tw&g Eursruovreg einige von den rrwwreg fein, welche Jefum 
eben vorher verurtheilt hatten, und auch bei Matthäus, der, 


470 | Dritter Abfchnitt. 


ohne ein neues Eubjert zu fegen, nur durch zoze ro5a@vro 
. fortfährt, find e8 offenbar die Eynedriften felbft, welche fich 
jene unwürdigen Handlungen erlauben; was Schleierma- 
cher mit Recht unwahrſcheinlich gefunden, und infofern die 
Darftellung des Lufas der des Matthäus vorgezogen hat. 9) 
Die Mißhandlung befteht bei Johannes in einem Backenſtreich 
(damıone), welchen ein Diener, wegen einer vermeintlich unbe: 
fcheidenen Rede gegen den Hohenpriefter, Jeſu gibt; bei Mat: 
thäus und Markus ift es Verfpeiung des Angefichts (everrv- 
oov &is To nooownov ers), Echläge auf den Kopf und 
Badenftreiche, wozu, auch nad Lufas, das fam, daß er 
bei verhülltem Haupte gefchlagen und höhnend aufgefordert 
wurde, feinen meſſianiſchen Seherblid durd) Angabe des Thä- 
terö zu beurfunden.) Nach Olshauſen hat der Geiſt der 
Weiſſagung ed nicht unter feiner Würde gehalten, diefe Roh- 
heiten im @inzelnen vorherzuverfündigen, und zugleich bie 
Gemüthöverfaffung zu zeichnen, welche der Heilige Gottes der 
unheiligen Menge entgegenftellte.- Richtig wird hiezu Gef. 50, 
6 f. angeführt (LXX.): zw vorov us dedwxa eis uasıyas, 
Tas dE olayovag us Eis Öerriouare, TO dE TE00WNOV us &x 
arespeide ano aloguyrg Euntvouorow x. T. A, vol. Mich. 4, 
14, und für die Art, wie Jeſus das Alles ertrug, die bes 
fannte Stelle Sef. 53, 7,'wo vom Knecht Gottes das Schwei⸗ 
gen unter den Mißhandlungen hervorgehoben wird. Allein, 
daß Jeſ. 50, 4 ff. eine Weiffagung auf den Meflias fei, ift 
ebenfo gegen ven Zufammenhang des Abfchnitts, wie bei Jeſ. 
53.9): folglich müßte das Zufammentreffen des Erfolgs mit 
diefen Stellen entweder menfchlich beabfichtigt, oder rein 


— 





8) A. a. O. 

9) Matthäus, welcher der Verhuͤllung nicht gedenkt, ſcheint ſich die Jeſu 
geſtellte Aufgabe fo zu denken, er ſolle bie ihn mißhandelnden Perſonen, 
bie er zwar ſah, aber nicht näher Eannte, bei Namen nennen. Bel, 
de Wette, z. d. Et. 

0) 9. Gefenius, 3. d. Abi. 


Dritte Kapitel. $. 120. 471 


fällig gewefen fein. So wenig nun die Diener und Soldaten 
bei. ihren Mißhandlungen die Abficht gehabt haben werden, 
Weiffagungen an Jefu in Erfüllung gehen zu lafien: fo wenig 
wird man dieſem felbft das Affectirte zufchreiben wollen, aus 
diefer Abficht gefchwiegen zu haben; aus dem bloßen Zufall 
aber ein folches, allerdings, wie Olshauſen fagt, in’s Ein, 
zelne gehendes, Zufammentreffen herzuleiten, ift immer mißlich. 
So wahrfcheinlich es alfo auch der rohen Sitte jener Zeit 
zufolge ift, daß der gefangene Jeſus mißhandelt, und unter 
Anderm auch fo mißhandelt worden ift, wie die Evangeliften 
e8 bejchreiben: fo läßt fich doch kaum verfennen, daß ihre 
Schilderungen nah Weiffagungen gemacht find, welche man, 
da Zefus einmal als Leidender und Mißhandelter gegeben 
war, auf ihn bezog; ebenfo, wie angemefjen e8 auch dem 
Charafter Jeſu ift, dieſe Mißhandlungen gebuldig ertragen, 
und unbefugte Fragen mit edlem Schweigen zurüdgemwiefen zu 
haben: fo hätten doch fchwerlich die Evangeliften dieß fo oft 
und angelegentlich hervorgehoben, ) wenn es ihnen nicht 
darum zu thun gewefen wäre, dadurch A.T.lihe Drafel als 
erfüllt zu zeigen. 


6. 129. 


Die Berläugnung bes Petrus. 


Bei der Abführung Jeſu aus dem Garten laffen die zwei 
erften Evangeliften im Augenblid zwar alle Jünger die Flucht 
ergreifen, doch folgt-auch bei ihnen, wie bei den übrigen, 


11) Matth. 26, 63. vgl. Markus 14, 61: 6 de Z. Eoume. 
Matth. 27, 12: adv anexelvaro. . 
Matth. 27, 14. vgl. Marc. 15, 5: zai ax drrengldn avrıa 00; dr 
Ev Oma, ss Javualeıy Toy Yyenova Älar. ' 
Luc. 23, 9: avros de Sdiv anrexglvaro aurü. 
Joh. 19, 9: à de T. anoxgmıv nx Blazer avrın. 


4723 Dritter Abfchnitt. 


Petrus von ferne, und weiß ſich mit dem Zuge Eingang in 
den Hof des hobenpriefterlichen Palaſts zu verſchafſen. Wäh- 
rend den Eynoptifern zufolge Petrus allein es ift, der Diefe 
Probe von Muth und Anhänglichfeit an Sefum, die ihm aber 
bald genug zur tiefften Demüthigung ausfchlagen follte, ablegt: 
gefellt ihın das vierte Evangelium den Johannes bei, und zwar 
fo, daß es diefer ift, welcher Durch feine Befanntfchaft mit 
dem Hohenpriefter dem Petrus Zutritt zu deſſen Palaſt vers 
fchafft; eine Abweichung, die mit dem ganzen eigenthümlichen 
Verhältniß, in welches diefes Evangelium den Petrus zu Jo⸗ 
hannes fest, fehon früher erwogen worten ift. 9 

Cämmtlichen Evangeliften zufolge war es in diefer auir, 
daß Petrus, eingefehlichtert durch die bevenfliche Wendung der 
Sache Zefu und die hohenpriefterliche Dienerfehaft, die ihn um- 
gab, den entitandenen und wiederholt geäußerten Verdacht, daß 
er zu den Anhängern des verhafteten Galiläers gehöre, durch 
wiederholte Verficherungen, ihn nicht zu Fennen, niederzufchlagen 
fuchte. Doch, wie bereit angedeutet, in Bezug auf den In⸗ 
haber dieſes Locals kann zwifchen dem vierten Evangelium und 
den übrigen eine Abweichung ftattzufinden fcheinen. Dem 
erften Anblid feiner Erzählung nach zu urtheilen, fällt nämlich 
bei Johannes die erfte Verläugnung (18, 17.) während des 
Verhörs vor Annas, da fie nach der Notiz, daß Jeſus zu 
Annad (DB. 13.), und vor der, daß er zu Kaiphas geführt 
worden fei (V. 24.), fteht, und nur die zwei weiteren Acte 
der Berläugnung, fofern fie auf die Erwähnung der Abführung 
zu Kaiphas erft folgen (DB. 25 —237.), und unmittelbar nach 
ihnen. die Ablieferung an den Pilatus erzählt wird (V. 28.), 
fcheinen auch nach Johannes während des Verhörs vor Kai⸗ 
phas, in deſſen Palafte, vorgegangen zu fein. Allein biefe 
Annahme einer Verſchiedenheit der Loralität für Die erfte Ver⸗ 
fäugnung und die beiden folgenden hat in ver johanneifchen 


— — — — — 


)1 Bd. 8. 74. 





Drittes Kapitel. $, 129. 475 


Darftelung ſelbſt ein Hinderniß. Nachdem die erfte, ſchon 
an der Pforte des Palaſtes, wie es feheint, von Annas, vors 
gefallene Verläugnung gemeldet ift, heißt es, die Dienerfchaft 
habe fich der Kälte wegen ein Kohlenfeuer angemacht, 7» da 
xol ust' auıov 6 Tlergog Eswg zul Heguomouerog (DB. 18.). 
Wenn nun fpäter die Erzählung von. der zweiten und britten 
Berläugnung faft mit den nämlichen Worten: 7» d& Nlyum 
Tleroog Ess xal Feguemousrog (DB. 25.) fich eröffnet: fo kann 
man nicht anders denfen, als durch jene erfte Erwähnung 
des Kohlenfeuers, und daß Petrus zu demfelben getreten, 
follfe der Umftand ‚eingeleitet werden, daß die zweite und dritte 
Berläugnung an diefem Feuer, alfo nach obiger Anficht gleich- 
falls noch im Haufe des Annas, vorgefallen fei. Zwar fpres 
chen die Eynoptifer (Marc. B. 54. Luc. B. 55.) au im 
Hofe des Kaiphas von einem Feuer, an welchem Petrus (nur 
bier figend, wie bei Johannes ftehend) fich gewärmt habe: 
doch Daraus folgt nicht, daß auch Sohannes im Hofe des 
regierenden Hohenpriefters ein ähnliches Feuer ſich gedacht habe, 
wie er der bisherigen PVorausfegung zufolge nur bei Annas 
eines folchen gedenft. Wer daher die VBermuthung des Euthy⸗ 
mius zu Fünftlich findet, daß die Wohnungen des Annas 
und Kaiphas vielleicht einen gemeinfchaftlichen Hofraum gehabt, 
und folglich Petrus nach der Abführung Jeſu vom erfteren 
zum lesteren an demfelben Feuer habe ftehen bleiben fönnen, 
der nimmt lieber an, die zweite und dritte Verläugnung ſei 
dem Johannes zufolge nicht nach, fondern eben während der 
Abführung Iefu von Annas zu Kaiphas gefehehen. d Bleibt 
fomit bei der Vorausfegung, daß Johannes ein Verhör vor 
Annas berichte, die Differenz der Evangelien in Bezug auf 
die Dertlichfeit der Verläugnung eine totale, fo haben die 
Einen zu Gunften des Sohannes ſich dahin entfchieden, Daß 


2) So Schleiermadher, über den Lukas, ©. 289. Diehaufen, 
2, ©, 445. 


474 Ä Dritter Abſchnitt. 


die verfprengten Jünger über diefe Scenen nur fragmentarifche 
Nachrichten gehabt, und der in Serufalem nicht einheimifche 
Petrus felbft nicht gewußt habe, in welchen Palaft er zu 
feinem Unglüd hineingefommen war; fondern er, und nad 
ihm die erften Evangeliften, haben gemeint, die Verläugnun- 
gen feien im Hofe des Kaiphas vorgefallen, was jedoch der 
in der Stadt und dem hohenpriefterlichen Palafte befanntere 
Johannes berichtige. I Allein auch das Unglaubliche zugeger 
ben, daß Petrus irrig gemeint haben follte, im Palaſte des 
Kaiphas geläugnet zu haben, fo hätte Doch gewiß Johannes, 
der in diefen Tagen um den Petrus war, feine Ausfage gleich 
damals berichtigt, fo daß jene irrige Meinung fich gar nicht 
hätte firiren Fönnen. Man könnte daher den umgefehrten Ber: 
fuch machen, und auf Koften des vierten Evangeliums den 
Synoptifern Recht geben wollen: wenn nicht in der Bemerfung 
des vorigen $;, wonach vieleicht Sohannes, nachdem er die Abs 
führung Sefu zu Annas bloß erwähnt hat, fihon von V. 15. 
an von: den Vorgängen im Palafte des Kaiphas  fpricht, eine 
mögliche Löfung auch dieſes Widerfpruches läge. 

In Bezug auf die einzelnen Acte der Verläugnung flimmen 
fämmtliche Evangeliften darin zufammen, daß es deren, gemäß 
der Borherfage Jeſu, drei gewefen feien; aber in der Befchreis 
bung derfelben weichen fie von einander ab. Zuerft Orte und 
Perſonen betreffend, gefchieht nach Sohannes die erfte Berläugnung 
bereit bei'm Eintritt des Petrus gegen eine rraıdloxn Fvowpog 
(2. 17.): bei den Eynoptifern erft im innern Hofraum, wo 
Petrus am Feuer faß, gegen eine zraudion (Matth. B. 69 f. 
parall.). Die zweite gefchieht nach Johannes (DB. 25.) und 
auch nach Lukas, der wenigftens Feine Veränderung des Stand- 
punkts anmerft (B. 58.) am Feuer: bei Matthäus (V. 71.) 
und Markus (B. 68 ff.) nachdem Petrus in den vorderen Hof 
(vl, rrgoavAıov) hinausgegangen war; ferner nach Johannes 


) & Paulus,a.a.D. ©. 577 f. 


\ 





RB. .. — 


Drittes Kapitel. $. 129. 475 


gegen mehrere, nad) Lukas gegen Einen Mann; nach Matthäus 
gegen eine andere, nad) Marfus gegen diefelbe Magd, vor 
welcher er das-erftemal geläugnet hatte. Die dritte Verläug- 
nung geſchah nach Matthäus und Markus, die feine Ortövers 
_ änderung gegen die zweite bemerfen, gleichfalls im vorderen 
Hof: nach Lukas und Sohannes, fofern fie gleichfalls Feines 
Localwechſels gedenken, ohne Zweifel noch im inneren, am euer; 
ferner nach Matthäus und Marfus gegen mehrere Umſtehende: 
nach Lukas gegen Einen: nach Johannes beftimmt gegen einen 
Anverwandten des im Garten verwundeten Knechts. — Was 
für's Andere die Reden betrifft, welche bei diefer Gelegenheit 
gewechfelt werben, fo find die Anreden der Leute bald an Pe⸗ 
trus felbft, bald an die Umftehenden gerichtet, um fie auf ihn 
aufmerffam zu machen, und lauten die beiden erften Male-ziems 
lich gleich dahin, daß auch er einer von den Anhängern des 
eben Verhafteten zu fein feheine; nur bei’m drittenmal, wo die 

Leute ihren Verdacht gegen Petrus motiviren wollen, gebrauchen 
fie nach den Eynoptifern als Beweisgrund feinen galilätfchen 
Dialekt, bei Sohannes beruft fich der Verwandte des Malhus 
darauf, ihn im Garten bei Sefu gefehen zu haben; wo bie 
erftere Motivirung ebenfo natürlich, als die zweite, fammt der 
Bezeichnung deffen, der fie vorbrachte, als eines Verwandten 
jenes Malchus, Tünftlich und gemacht Flingt, "um die Bezie- 
hung jenes Schwertftreiche auf Petrus recht feft. in die Er- 
zählung zu verweben.) In den Antworten des Petrus findet 
die Abweichung ftatt, daß er nach Matthäus ſchon die zweite, 
nach Marfus erft die dritte, bei ben beiden andern gar Feine 
feiner Berläugnungen durch einen Schwur befräftigt; bei Mat- 
thäus ift dann an der dritten DVerläugnung bie Steigerung 
dadurch hervorgebracht, Daß zu dem opwuew noch das xareva- 
Ieuoribew gefügt ift, was den andern gegenüber allerdings 
als übertreibende Darftelung erfcheinen Fann. 


— — — — ⸗— 


2) Vgl. Weiße, die evang. Geſchichte, 1, ©. 609. 


476 Dritter Abſchnitt. 


Diefe fo. verfchieven erzählten Verläugnungen bergeftalt 
ineinander einzufchieben, daß fein Evangelift einer unrichtigen, 
ja auch nur ungenauen Darftellung befchuldigt werden müßte, 
war nun ganz ein Gefchäft für die Harmoniften. Nicht nur 
die älteren, fupranaturaliftifchen Ausleger, wie Bengel, haben 
fih diefem Gefrhäft unterzogen, fondern auch neueftend noch 
Hat fih Paulus viele Mühe gegeben, die verfchiedenen, von 
den Evangeliften erzählten VBerläugnungsacte in ſchickliche Ord⸗ 
nung und pragmatifchen Zufammenhang zu bringen. Nach 
ihm verläugnet Betrug den Herrn 

1) vor der Pförtnerin (Ite Verläugnung bei Johannes) ; 

2) vor mehreren am Feuer Stehenden (2te bei Jvh.); 

3) vor einer Magd am Feuer (Ite bei den Synoptifern); 

4) vor einem, ber nicht näher bezeichnet wird (2te bei 
Lufas) ; 

5) bei'm Hinausgehen in den vordern Hof vor einer 
Magd (?te bei Matthäus und Marfus. Aus Diefer 
Verläugnung müßte Paulus confequenterweife zwei 
machen, da die Magd, welche die Umftchenden auf den 
Petrus aufmerffam macht, nad) Markus diefelbe mit 
No. 3,, nach Matthäus aber eine andere war); 

6) vor dem Verwandten des Malchus (dritte bei Joh.); 

7) vor einem, der ihn am galiläifchen Dialeft erfennen 
will (dritte bei Lukas), welchem fofort 

8) mehrere Andere beiftimmen, gegen welche fich Petrus 
noch ftärfer betheuert, Jeſum nicht zu Fennen (britte 
bei Matthäus und Markus). 

Indeſſen durch folche vom Refpect vor der Glaubwürdigfeit 
der Evangeliften eingegebene Auseinanvderhaltung ihrer Berichte 
fam man in Gefahr, die noch wichtigere Glaubwürdigfeit Jeſu 
anzutaften; denn diefer hatte von breimaligem Verläugnen ger 
fprocdhen: nun aber fol Petrus, je nachdem man mehr oder 
minder confequent im Auseinanderhalten ift, 6—9mal verläugnet 
haben. Die ältere Exegeſe half fich durch den Kanon: abne- 
gatio ad plures plurium interrogationes facta uno paro- 


Drittes Kapitel. $. 129. 477 


xysmo, pro una numeratur.°) Allein auch die Zuläffigfeit 
einer folchen Zählung eingeräumt, fo müßten, da jeder der vier 
Referenten zwifchen den einzelnen von ihm berichteten DBerläug- 
nungen meiftens größere oder Eleinere Zwifchenzeiten bemerflich 
macht, allemal gerade die von verfchievenen Evangeliften erzähl« 
ten, alfo eine von Matthäus berichtete mit einer von Marfus 
u. f. f., in Einem Zuge geſchehen fein: was eine durchaus 
willfürliche Borausfegung if. Daher hat man fich neuerlich 
lieber darauf berufen, wie das rois im Munde Jeſu nur eine 
runde Zahl für ein wiederholtes Verlaͤugnen geweſen fei, fo 
möge Petrus, einmal in die Berlegenheit vermeintlicher Noth⸗ 
lügen verfunfen, feine Betheuerungen eher gegen 6—7, als 
bloß gegen drei argwöhnifch Sragende wiederholt haben.*) Allein, 
wenn man auch nach Lufas (9. 59 f.) die Zeitdiſtanz vonder 
erften Verläugnung bis zur legten zu mehr als einer Stunde 
anfchlägt, fo ift doch ein folches Fragen aller Leute an allen 
Enden und Eden, und daß bei diefem fo allgemeinen Verdacht 
Petrus doch frei ausging, höchſt unwahrfcheinlich, und wenn 
die Erflärer die Stimmung des Petrus während diefer Ecene 
als eine völlige Betäubung bejchreiben, ) fo geben fie hiemit 
vielmehr die Stimmung an, in welche ver Lejer hineingeräth, 
der in ein folches Gedränge von immer jich wiederholenden 
Fragen und Antworten gleichen Inhalts, dem jinn- und end- 
Iofen Sortichlagen einer in Unordnung gefommenen Uhr ver- 
gleichbar, fich hineinverfegen fol. Mit Recht hat Olshaufen 
die Bemühung, dergleichen Differenzen wegzufchaffen, als eine 
unbelohnende von der Hand gewiejen: doch fucht er theilg felbft 
unmittelbar darauf an einigen Punkten dieſer Erzählung die 
Abweichungen auf gezwungene Weiſe auszugleichen; theils, 
wenn er darauf befteht, Daß gerade drei DVerläugnungen 


5) Bengel, im Gnomon. 
% Paulus, a. a. D. ©. 578. 
7) He, Geſchichte Iefu, 2, ©. 343. 


478 Dritter Abſchnitt. 


vorgefallen, fo hat doch wieder "Paulus das Richtigere gefehen, 
wenn er das abfichtliche Beftreben der Evangeliften bemerflich 
macht, eben eine dreifache Abläugnung herauszubringen. Was 
an jenem Abende vielleicht zu wiederholten Malen (nur nicht 
8—g9mal) vorgefommen war, das wurde auf dreimal firirt, um 
der im firengen Wortfinne verftandenen Vorherverkündigung 
Sefu die genauefte Erfüllung zu verfchaffen. 

- Den Endpunft und gleichfam die Kataſtrophe der ganzen 
Verläugnungsgeſchichte führt nach allen Berichten der Vorher⸗ 
ſagung Jeſu gemäß das Krähen des Hahns herbei. Nach 
Markus fräht derfelbe fehon nach der erften Verläugnung (8. 
68.), und dann nach der dritten zum zweitenmal: bei den übri- 
gen nur Einmal, nach dem legten Verläugnungsaet. Während 
mit diefem Datum Johannes feine Darftelung befchlicht, fügen 
Matthäus und Marfus noch hinzu, daß Petrus bei dem Hahs 
nenfchrei fich der Vorherfagung Jeſu erinnert und geweint 
habe; Lukas aber hat die eigenthümliche Ausführung, daß bei’m 
Krähen des Hahns Jefus ſich umgewendet, und den Petrus 
angefehen habe, worauf Diefer, der Vorausſage Jeſu eingedenf, 
in bitteres Weinen ausgebrochen ſei. Da nun aber nach den 
- beiden erften Evangeliften Petrus nicht in demfelben Local mit 
Sefu, fondern &w (Matth. V. 69.) oder zarw (Marc. B. 66.) 
& vn van, alfo Jeſus innen oder oben im Palafte war: fo 
muß man fragen, wie denn Jefus Die Verläugnungen des Per 
trus habe mit anhören, und hierauf ihn anfehen fünnen? Auf 
das Regtere befommt man gewöhnlich die Antwort, Jeſus ſei 
jegt eben aus dem Palaſte des Annas in den des Kaiphas 
abgeführt worden, und habe im Borübergehen den ſchwachen 
Jünger bedeutend angeblidt.*) Allein von einem folchen Abs 
führen weiß Lufas nichts; auch lautet fein spapeis 0 Kupuog 
ereßleiwe top Tlergy nicht fowohl, wie wenn Jeſus im Gehen, 


3) Yaulus und Olshauſen, zb. St.; Schleiermacher, a. 
a. O. ©. 2839, Reander, ©. 622. Anm. 


Drittes Kapitel. $. 129. 479 


als wie wenn er, abgewendet ftehend, ſich nach Petrus umge: 
fehen hätte; endlich aber ıft durch jene Vorausſetzung noch nicht 
erflärt, wie Jeſus zur Kenniniß von den Verläugnungen des 
Jüngers gekommen war, da er bei dem Getümmel diefes Abends 
doch nicht wohl, wie Paulus meint, im Zimmer den auf dem 
Hofe lautredenden Petrus hören konnte. Freilich findet ſich 
jene ausdrüdliche Interfcheivung des Drtes, wo Jeſus, von 
dem, wo Petrus war, bei Lufas nicht, ſondern nach ihm fönnte 
auch Jeſus einige Zeit im Hofe fich haben aufhalten müffen; 
allein theils ift hier die Darftelung der andern an fich wahr: 
fiheinlicher ; theild macht auch die eigene Erzählung des Lufag 
von den Verläugnungen von vorne herein nicht den Eindrud, 
als ob Jeſus in unmittelbarer Nähe gewefen wäre. Man 
hätte fich übrigens die Hupothefen zur Erklärung jenes Blides 
erfparen fönnen, wenn man auf den Urfprung diefes Zuges 
einen fritifchen Blick gerichtet hätte. Schon die Unklarheit, 
mit welcher der in der ganzen früheren Verhandlung hinter 
die Scene gerüdte Jeſus hier auf einmal einen Blick in dieſelbe 
wirft, hätte, zufammengenommen mit dem Gtillfehweigen der 
übrigen Evangeliften, ein. Fingerzeig fein follen, wie e8 mit 
diefer Notiz ftebt. Dann, wenn Hinzugefegt wird, als Jeſus 
den Petrus anblidte, habe fich Diefer des Wortes erinnert, 
welches Jeſus früher über feine bevorftehende Verläugnung zu 
ihm gefprochen hatte: fo hätte man bemerken fünnen, wie der 
Blick Jeſu nichts Anderes ift, als die zur äußern Anfchauung 
gemachte Erinnerung des Petrus an die Worte feines Meifters. 
Zeigt die hierin einfachfte johanneifche Erzählung nur objectiv 
das Kintreffen der VBerheißung Jeſu dur das Krähen des 
Hahns an; fügen die zwei erften Evangeliften hiezu auch den 
fubjeetiven Eindrud, welchen diefes Zufammentreffen auf den 
Petrus machte: fu wendet Lufas dieß wieder objectiv, und 
läßt die fehmerzhafte Erinnerung an die Worte des Meifters 
als einen durchbohrenden Blif von diefem in Das Innere Des 
Jüngers dringen. °) 


%) Bol, de Wette, z. d. St. des Lukas. 





480 Dritter Abfänitt. 


$. 130; 
Der Tod des Verräthers. 


Auf die Nachricht, daß Jeſus zum Tode verurtheilt fei, 
Täßt das erfte Evangelium (27, 3 ff) den Judas, von Reue 
ergriffen, zu den Hobenprieftern und Welteften eilen, um die 
30 Silderlinge, mit der Erflärung, daß er einen Unfchuldigen 
verrathen habe, ihnen zurüdzugeben: Als aber dieſe höhnifch 
alle Verantwortlichkeit für jene That auf ihn allein fihieben: 
geht Judas, nachdem er das Geld im Tempel hingeworfen, 
von Verzweiflung getrieben, weg, und erhängt ſich. Die 
Synedriſten hierauf kaufen um das von Judas zurüdgegebene 
Geld, welches fie ald Blutgeld nicht in den Tempelfchag legen 
zu bürfen glauben, einen Zöpfersader, zum Begräbnig für 
Fremde. Hiezu bemerkt der Evangelift zweierlei: erftlich, daß 
eben diejer Art der Erwerbung wegen das Grundflüd bis 
auf feine Zeit Blutader genannt worden fei, und zweitens, 
daß durch diefen Gang der Sache eine alte Weiffagung fich 
erfüllt habe. — Während die übrigen Evangelijten über das 
Ende des Judas frhmweigen, finden wir dagegen in der Apo- 
ftelgefhichte (1, 16 ff.) einen Bericht über daſſelbe, welcher 
von dem des Matthäus in mehreren Stüden abweicht. Bes 
trus, wo er die Ergänzung der apoftolifchen Zwölfzahl durch 
die Wahl eines neuen Mitgliedes in Antrag bringt, findet 
angemeffen, zuver an bie Art, wie die Lüde im Apoftelfreife 
entitanden war, d. h. an den Berrath und das Ende des 
Judas, zu erinnern, und fagt in legterer Beziehung, der Vers 
räther habe für den Lohn feiner Schandthat ein Grunditüd 
fich erworben, ſei aber jählings herabgeftürzt, und mitten 
entzweigeborften, fo daß alle Eingeweide herausgetreten feien; 
das Grundſtück aber habe man, weil die Cache in ganz 
Jeruſalem befannt geworben, xeAdaua, d. h. Blutland,. geheißen. 


Drittes Kapitel. $. 130, | 481 


Wozu dann der Erzähler den Petrus bemerfen läßt, daß das 
durch zwei Pfalmjtellen in Erfüllung gegangen feien. 
Zwifchen diefen beiden Berichten findet eine Doppelte Ab- 
weichung ftatt: die eine über die Todesart des Judas, die 
andere darüber, wann und von wem das Grundftüd erworben 
worden fei. Was das Eritere betrifft, fo ift es nach Mat- 
thaͤus Judas felbit, welcher aus Reue und Verzweiflung Hand 
an fich legt: wogegen in der A. ©. von feiner Reue des 
Verräthers die Nede ift, und fein Tod nicht als Selbftmord, 
fondern als zufälliger, oder näher vom Himmel zur Strafe 
verhängter Unglüdsfall erfcheintz ferner ift e8 bei Matthäus 
der Strid, durch welchen er fi den Tod gibt: nach der 
Darftellung des Petrus ift e8 ein Sturz, der durch ein gräß- 
liches Berften des Leibes feinem Leben ein Ende macht. 
Wie thätig von jeher die Harmoniften gemefen find, 
dDiefe Abweichungen auszugleichen, mag man bei Suicer d) 
und Kuindl nachlefen: hier folen nur Eurz die Hauptverfuche 
aufgeführt werden. Da die bezeichnete Abweichung ihren Haupt: 
fig in den Worter annySaro bei Matthäus, und uomns 
yerouevos bei Lukas hat: fo Tag es am nächften, zuzufehen, 
ob nicht der eine diefer Ausdrüde auf die Seite des andern 
zu ziehen wäre. Dieß hat man mit arınySaro auf verfchiedene 
Weiſe verfucht, indem dieſes Wort bald nur die Beängftigungen 
des böfen Gewiſſens,“) bald eine Krankheit in Folge derfelben,?) 
bald jeden aus Echwermuth und Verzweiflung gewählten Tod 
bebeuten follte; %) wozu dann erft Das 7uorwr;g yerousvog x. T. 1. 
der Apoftelgefchichte Das Genauere nachbringe, daß die Todes- 
art, zu welcher den Judas das böfe Gewiffen und die Ber: 
zweiflung trieb, der Sturz von fteiler Höhe herunter gewefen 


1) Thesaurus, f. v. ameyzen. 
2) Grotius. 
5) Heinfius. 
9) Perizonius. 
Il. Band, 31 


4823 Dritter Abſchnitt. 


jei. Andere haben umgefehrt das rremrs yevousvos: dem 
erırySero anzupaflen gefucht, in der Art, daß es nichts An- 
deres ausbrüden follte, als dasjenige als Zuftand, was das 
arery&oro als Handlung: wenn Ddiefes durch se suspendit; 
fo follte jenes durch suspensus überfegt werden.d) — Der 
offenbaren Gewaltfamfeit dieſer Verſuche gegenüber haben 
Andere mit Schonung der natürlichen Bedeutung ber beider- 
feitigen Ausbrüde die abweichenden Berichte durch die Annahme 
vereinigt, daß Matthäus einen früheren, die U. ©. einen 
foäteren Moment in dem Hergang bei dem Ende des Judas 
berichte. Und zwar hielten einige der älteren Erklärer beide 
Momente fo weit auseinander, daß fie in dem aruy&aro nur 
einen mißlungenen Verſuch zum Selbitmord fahen, welchen 
Judas, indem der Baumalt, an den er fich hängen wollte, 
fih bog, oder aus fonft einer Urſache, überlebte, bis fpäter 
die Strafe des Himmels dur das zuormns yerousvos ihn 
ereilte.%) Allein, da Matthäus fein arınykaro offenbar in 
der Meinung und Abficht feht, von dem Verräther das Lebte 
zu berichten: fo bat man in neuerer Zeit die beiden Mo⸗ 
mente, in deren Bericht fich das erfte Evangelium und die 
A. ©. theilen follen, näher zufammengezogen, und angenom- 
men, Judas habe fih auf einer Höhe an einem Baume auf- 
hängen wollen, da aber der Strid riß, ober der Baumaft: 
brach, fei er über fchroffe Klippen und fpige Gefträuche, die 
feinen Leib zerfleifhten, bis in’s Thal heruntergeftürgt. 7) 
Doch ſchon der Verfaffer einer Abhandlung über vie letten 


5) So bie Vulgata und Erasmus. S. gegen alle diefe Deutungen 
Kuindl, in Matth. p. 743 ff. 

6) Defumeniuß 3. A. G. 1:0 Indas dx Evankdare rja yyorn, all’ ineßl, 
xareveydeis oo Ta anonvıyıyar. Bol. Zheophylaft zu Matth. 27, und 
ein Schol. Anodnvogtu bei Matthaei. 

7) Eo, nah Caſaubonus, Paulus, 3, b, ©. 4575 Kuinoͤt, in 
Matth. 747 f.; Winer, b. Realw. d. A. Judas, und mit halber 
Veiftimmung Olshaufen, 2, 8.455 f. Selbſt Fritz ſche ift durch 
ben langen Weg bis zu dieſen letzten Kapiteln bes Matthäus fo matt 











1} 


‚Drittes Sapitel. $ 130. 483 


Schickſale des Judas in Schmidts Bibliothef) hat es 
auffallend gefunden, wie getreulich fich nach diefer Annahme 
die beiden Erzähler in die Nachricht getheilt haben müßter, 
indem nicht etwa der eine das Unbeſtimmte, der andere das 
Beftimmtere berichte, fondern beide erzählen beftinnmt, nur der 
eine den erften Theil der Begebenheit ohne den zweiten, ver 
andere den zweiten, ohne den erften zu berühren, und Haſe 
behauptet mit Recht, beide Berichterftatter haben jeder nur 
den von ihm aufgenommenen Thatbeitand gefannt, da fie 
fonft die andere Hälfte nicht hätten auslaffen fünnen. ?) 
Nachdem wir fo an der erften Differenz die Vereinigungs- 
verfuche haben feheitern fehen, fragt ſich nun, ob die andere, 
die Erwerbung des Orundftüds betreffende, fich leichter beile- 
gen läßt. Sie befteht darin, daß bei Matthäus erft nach ° 
des Judas Entleibung die Synevriften für das von ihm zur 
rüdgelafjene Geld einen Ader (und zwar von einem Töpfer 
— eine Beitimmung, die in.der U. ©. fehlt) erfaufen: wos 
gegen nach der X. ©. Judas felbft noch das Grunpftüd für 
fich erwirbt, und auf demfelben vom jähen Tode ereilt wird; 
fo daß nach diefem Bericht das Grundftid von dem darauf 
vergofienen Blute des Verräthers, nach jenem von dem am 
Kaufpreis defielben Hebenden Blute Jeſu, «ygog oder xwpiov 
eiueros genannt worden zu fein feheint. Hier ift nun die 
Ausdrucksweiſe des Matthäus fo beftimmt, daß an ihr nicht 
wohl zu Gunften der andern Nachricht gedeutelt werden fann : 
wohl aber hat das &xzroaro in der A. G. eingeladen, es 
nach Matthäus umzudeuten. Durch den Verrätherlohn, foll 
die Stelle der U. ©. fagen wollen, erwarb er einen Ader: 


gemacht, daß er fich bei diefer Ausgleichung beruhigt, und unter Ver⸗ 
ausjegung derfeiben behauptet, daß die beiden Berichte amicissime 
conipiriren. 
3) 2. Band, 2. Städ, ©. 248 f. 
78.3.8 132. Vgl. Theile, zur Biographie Jeſu, $. 33. 
| 31# 


484 Dritter Abſchnitt. 


nicht unmittelbar, fondern mittelbar, indem er durch die Zus 
rüdgabe des Geldes Beranlaffung zum A:fauf eines Grund- 
ftüds gab; nicht für fich, fondern für das Synevrium ober 
das allgemeine Befte.'% Doch fo viele Etellen man auch 
aufführen mag, in weldhen das xzaosaı in der Bebeutung: 
für einen Andern erwerben, vorfommt, fo muß doch in diefem - 
Falle nothwendig die andere Perſon, für welche einer erwirbt, 
angegeben oder angedeutet fein, und wenn bieß, wie in der 
Stelle ver A. ©., nicht der Fall ift, fo bleibt e8 bei ber. 
Bedeutung: für fich felbit erwerben.!) Die hat Paulus 
gefühlt, und daher der Sade die Wendung gegeben, von 
Judas, ‚der durch den frhauderhaften Sturz auf: eine Leimen- 
grube der Anlaß geworden fei, daß dieſes Grunpftüd ben 
Synedriften verkauft wurde, habe Petrus wohl ironifch jagen 
fönnen, er habe noch im Tode durch den Fall feines Leich- 
nams ein ſchoͤnes Beſitzthum fich angeeignet. 1!) Doch diefe 
Deutung ift theils an fich gefchraubt, theils zeigt das YyerI7- 
tw n Enavlus eur Eomuog, welches der Petrus der A. ©. 
im Folgenden aus den Pfalmen anführt, daß er fih das 
Grundftüf als wirkliches Eigenthum des Judas gedacht hat, 
welches zur Strafe durch feinen Tod verödet worden fei. 
Da fich hienach weder die eine noch die andere Differenz 
auf gütlichem Wege ausgleichen läßt, fo hat fchon Salmas 
fius eine wirflihe Abweichung der beiden Berichte zuge⸗ 
ftanden, und Hafe glaubt dieſe Erfeheinung, ohne den apo⸗ 
ftolifchen Urfprung der beiden Angaben zu gefährden, aus ver 
gewaltigen Bewegung jener Tage erklären zu können, in 
welcher nur die Thatfache des Selbſtmords von Judas be⸗ 
kannt geworden, über den näheren Hergang bdefjelben aber 
verfchiedene Gerüchte geglaubt worden fein. Allein in ver 


0%) S. Kuindl, in Matth. p. 748. 
1), S. Schmidts Bihlioth. a. a. O. S. 251 f. 
2) Yaulus, 3, b, ©. 457 f.; Fritzſche, p. 799. 





Drittes Kapitel. $. 130. 485 


A. ©. ift von einem Selbſtmorde gar nicht die Rede, und daß 
nun zwei Apoftel, wie Matthäus und Petrus, wenn das erfte 
Evangelium von jenem, die Rede in der A. ©. aber von dies 
fem herrühren ſoll, über den in ihrer nächften Nähe erfolgten 
Tod ihres ehemaligen Mitapoftels fo fehr im Dunfeln geblieben 
wären,. daß der eine ihn eines zufälligen, der andere eines 
felbftgewählten Todes fterben ließ, ift fehwer zu glauben. Daß 
daher nur einer der beiden Berichte als apoftolifch feftgehalten 
werden koͤnne, hat der Verfaffer der fchon erwähnten Abhand- 
fung in Schmidt's Bibliothef richtig eingefehen. And zwar 
ift er bei der Wahl zwifchen beiden von dem Grundfage aus- 
gegangen, daß die minder auf Verherrlichung eingerichtete Er⸗ 
zählung die glaubwürdigere fei; weßwegen er denn der Dar; 
ftellung der A. ©. , welche den verherrlichenden Zug der Reue 
des Judas und feines Befenntniffes von Jeſu Unſchuld nicht 
hat, vor der des erften Evangeliums den Vorzug gibt. Doch 
wie es immer ift bei zwei fich widerfprechenden Berichten, daß 
der eine den andern nicht nur durch fein Stehen ausfchließt, 
fondern auch durch fein Fallen miterfchüttert: fo haben wir auch 
hier, wenn diejenige Darftellung der Sache, welche das An- 
fehen des Apofteld Matthäus für fich geltend macht, aufgegeben 
ift, feine Bürgfchaft mehr für Die andere, welche fich dem 
Apoftel Petrus in den Mund legt. 

Dürfen wir fomit beide Berichte auf Einen Fuß behandeln, 
nämlich ald Sagen, von welchen erft auszumachen ift, wie 
weit ihr gefehichtlicher Kern, und wie weit das traditionell 
Aufgetragene geht, jo müffen wir, um hierüber in’s Klare zu 
fommen, die Anhaltspunkte betrachten, an welche die Erzählun- 
gen fich fnüpfen. Hier zeigt fich ein beiden gemeinfamer, neben 
zwei andern, deren einen jede für fi eigen hat. Gemein⸗ 
fehaftlich ift beiden Relationen das Datum, daß es in oder 
bei Jeruſalem ein Grundſtück gegeben habe, das uypos ober 
xwpiov alueros, in der Urfprache nach der Angabe ver A. ©. 
oxehdarc, hieß. Da in diefer Notiz zwei fonft fo ganz aus— 
einandergehende Berichte zufammentreffen, und überdieß ver 


486 Dritter Abſchnitt. 


Verfaſſer des erſten Evangeliums ſich darauf beruft, daß noch 
zu ſeiner Zeit jener Name des Ackers vorhanden geweſen ſei: 
ſo darf die Exiſtenz eines ſo benannten Grundſtücks wohl nicht 
bezweifelt werden. Daß es eine wirkliche Btziehung auf den 
Verräther Jeſu gehabt habe, iſt ſchon weniger gewiß, da unſere 
beiden Erzählungen dieſe Beziehung verſchieden angeben: Die 
eine den Judas felbft das Gut erwerben, die andere es erft 
nach feinem Top um die 30 Silberlinge gefauft werben Iäßt. 
Wir fünnen daher nur fo viel fagen, daß die urchriftliche Cage 
jenem Blutader frühzeitig eine Beziehung auf den Verräther 
gegeben haben muß. Warum aber in verfchiedener Weife, davon 
ift der Grund in dem andern Anhaltspunft unferer Erzählungen 
zu fuchen, in den A.T. lichen Stellen nämlich, welche die Bericht: 
erftatter, jeder übrigens andere, als erfüllt durch das Schidfal 
des Judas anführen. 

In der Stelle ver A. ©. wird Pf. 69, 26. und Pf. 109, 8. 
in dieſer Weife angeführt. Der Ieptere ift ein Pfalm, welchen 
die erften Chriften aus den Juden gar nicht umhin Fonnten, 
auf das Verhältniß des Judas zu Sefu zu beziehen. Denn 
nicht nur fpricht der Verfaſſer, angeblih David, ohne Zweifel 
aber ein weit fpäterer, 1?) von vorne herein von folchen, die 
falfch und giftig wider ihn reden, und ihm für feine Liebe 
Haß zurüdgeben; ſondern von B. 6. an, wo die Verwünſchun⸗ 
gen angehen, wendet er fich gegen eine einzelne Perſon, fo 
daß die jüdifehen Ausleger an Doeg, Davids Verläumder bei 
Saul, dachten, und ebenfo natürlich die Ehriften an den Judas. 
Aus diefem Pfalm ift hier derjenige Vers heraudgelefen, wel- 
cher, von der Uebertragung des Amts an einen Andern hans 
delnd, ganz auf den Fall des Judas zu paflen fihien. Der 
andre Palm redet zwar unbeftimmter von ſolchen, die den Ver⸗ 
faffer ohne Urjache hafien und verfolgen; doch ift er, ebenfalls 
angeblich Davidiſch, dem andern an Inhalt und Manier fo 
ähnlich, daß er ald Parallele zu jenem gelten, und wenn aus 


33) ©. de Wette, 3. b. Pf. 








Drittes Kapitel. $. 130. 487 


“jenem, dann auch aus diefem Verwünfchungen auf den Ver; 
räther angewendet werden Fonnten. !) Hatte nun Judas wirfs 
lich um feinen Verrätherfold ein Gut gekauft, welches hernach 
wegen feines auf demſelben erfolgten gräßlichen Endes öde 
liegen blieb: fo ergab es ſich von felbft, aus dieſem Pſalm 
gerade diejenige Stelle, welche den Feinden Berödung ihrer 
errevlıs anwünſcht, auf ihn zu beziehen. Wie es jedoch, bei 
der Abweichung des Matthäus, zweifelhaft ift, ob Judas felbft 
fich jenes Grundftüd erfauft habe und auf demfelben verunglüdt 
fei: fo war auch fehwerlidh den Juden das Etüd Land, auf 
welchem der Berräther Sefu geendet hatte, fo abfcheulich, um 
es als Blutland öde liegen zu laſſen; fondern diefe Benennung 
hatte wohl einen andern nicht mehr zu ermittelnden Urfprung 
‚gehabt, und die Ehriften haben fie in ihrem Sinne umgebeutet; 
fo daß wir nicht aus einem wirklichen Befisthum des Judas 
die Anwendung der Pfalmftelle und die Benennung jenes öden 
Platzes, fondern aus diefen beiden Momenten die Cage von 
einem Beſitze des Judas ableiten müſſen. Waren nämlich vie 
genannten beiden Pfalmen einmal auf den. Verräther Jeſu bes 
zogen, und in deren einem ihm Verödung feiner Erraviıg (LXX.) 
gewünfcht: fo mußte er vorher im Befiß einer folchen gewefen 
fein, und diefe, dachte man fich, wird er wohl um den Lohn 
feines Verraths erfauft haben. Oder vielmehr, daB man aus 
jenen Pfalmen gerade die Verödung der Enmavdıs befonders 
hervorhob, fheint in der nahe liegenden Borausfegung feinen 
Grund gehabt zu. haben, daß eben an etwas, das er fich. um 
fein Sündengeld erworben, der Fluch fich geäußert haben werde: 
der Mittelpunkt des Erwerblichen aber unter dem, was bie 
gedachten Pfalmen aufführen, ift die erzavdıs. Diefer Wendung 
der Sache fam nun auf erwünfchte Weife das in der Nähe 


—— 





1%) Auch fonft "im N. T. find Stellen dieſes Pſalms meffianifch angewen⸗ 
det: wie ®. 5. Joh. 15, 25.: V. 10. 509.2, 17., und Zoch. 19, 28f. 
wahrſcheinlich V. 22. 


488 Dritter Abſchnitt. 


Serufalems gelegene wxeAdaua entgegen, welches, je weniger 
man den wahren Urfprung feiner Benennung und des an ihm 
haftenden Abfcheus Fannte, deſto leichter fich dazu bergab, von 
der urchriſtlichen Eage für fid) verwendet, und als die enavkıs 
,oruwuern des Verräthers betrachtet zu werben. 

Statt diefer Pfalmftelen führt das erfte Evangelium als 
erfüllt durch das endlihe Benehmen des Judas eine Stelle 
angeblich aus Jeremias an, für welche fich aber nur bei Ja= 
charias 11, 12 f., etwas Entfprechended findet, wefwegen 
man jest ziemlich allgemein eine Verwechelung der Namen von 
Seiten des Evangeliften vorausfegt. 7) Wie Matthäus durch 
den Grundgedanken dieſer Stelle — einen unbillig geringen 
Preis für den im Orakel Redenden — zu einer Anwendung 
auf den Verrath des Judas, der um ein ſchnödes Geld feinen 
Meifter gleichfam verfauft hatte, fich veranlaßt finden Tonnte, 
ift ſchon oben auseinandergefegt. 1) Nun war in der Pre: 
phetenftele dem Urheber des Orakels von Sehova befollen, 
das fchlechte Geld, womit er abgelohnt worden war, in Das 
Gotteshaus, und zwar Ay "Sg zu werfen, und er bemerft, 


daß er dieß geihan habe. Der Hinwerfende ift im Orakel die- 
felbe Perfon mit dem Sprechenden, alfo mit dem des geringen 
Preiſes werth Geachteten, weil hier das Geld nicht Kaufpreis, 
jondern Lohn ift, folglich eben von dem fo niedrig Angefchla- 
genen eingenommen wird, und nur von dieſem wieder bins 
geworfen werden kann: in der Anwendung des Evangeliften 
Dagegen, wo das Geld ein Kaufpreis ift, war ein anderer 
als der fo gering Angefchlagene als derjenige zu denken, wel: 
cher dad Geld eingenommen und wieder hingeworfen habe. 
War der um fo geringen Preis Berkaufte Jeſus: fo Fonnte 
der, welcher dad Geld eingezogen hatte und wieder hinwarf, 
nur fein Verräther fein. Daher heißt e8 nun von dieſem, er 
habe die apyigia &v ro vu bingeworfen, enifprechend dem 


5) Tod) |. andere Bermuthungen bei Kuinoͤl, 3. d. Et. 
16) $. 119. 





Dritte Kapitel. $. 130. 489 


aim ma ink Tore in der Prophetenftelle, obwohl gerade 
diefe Worte‘ in der höchft entftelenden Anführung des Matthäus 
fehlen. Nun aber ftand neben dem mim) n’2; wohin das Geld 
geworfen worden war, noch der Beifap: Ayndn- Die 
LXX. überfegt: eis zo xwveurzguov, in den Schmelzofen; jetzt 
vermuthet man mit Grund, es fei gr by inden Schatz, 
zu punctiren; 17) der Verfaffer unfred Evangeliums blieb bei 
ber wörtlichen Heberfegung durch xegausvs. Was aber ber 
Zöpfer hier thun, warum ihm das Geld gegeben werben 
follte, mußte ihm zunächft ebenfo unverftändlich fein, wie ung, 
wenn wir bei der gewöhnlichen Lesart bleiben. Nun fiel ihm 
“ aber der der Blutader ein, welchem, wie wir aus der A. ©. 


ſeehen, die chriftlihe Sage eine Beziehung auf den Judas ge: 


geben hatte, und fo ergab fich die willfommene Combination, 
jener Ader fei e8 wohl gewefen, für welchen dem xeganeis 
die 30 GSilberlinge erlegt werden mußten. Da aber der Töpfer 
nicht im Tempel zu denken war, und doch laut der Pro- 
phetenftelle die Silberlinge in den Tempel geworfen worden 
waren: fo wurde das Hinwerfen in den Tempel von dem 
Abgeben an den Töpfer getrennt. Mußte jenes dem Judas 
zugefchrieben werben, hatte er alſo einmal das Geld aus 
der Hand gegeben: fo konnte nicht mehr er felbft das Grund- 
ftüd von dem Töpfer Faufen, fondern dieß mußten mit dem 
bingeworfenen Gelde Andere thun. Wer dieſe gewefen fein 
mußten, ergab fich von felbft: warf Judas das Geld hin, 
jo wird er es denen hingeworfen haben, von welchen er «8 
erhalten hatte; warf er es in den Tempel, fo fiel es befien 
Borftehern in die Hände: auf beide Weife alfo den Eynepriften. 
Der Zwed, welchen diefe bei dem Anfaufe des Grundſtücks 
gehabt haben mußten, ergab fich vielleicht aus der wirklichen 


1) Hißig, in Ullmann’s und Umbreit’s Stübien, 1830, 1, ©. 35.3 
Sefenius, im Wörterbuh; vgl. Rofenmüller’s Scholia in 
V. T. 7, 4, ©. 320 ff. 


> 


490 ‚ Dritter Abfchnitt. , 
Benügung jencs öden Platzes. Eolite endlich Judas den Lohr 
feines Verraths von fich geworfen haben, fo Fonnte dieß, 
mußte man fchließen, nur aus Reue gefchehen fein. Den 
Judas Reue zeigen zu laffen, und fo dem Verräther felbft ein 
Zeugniß für die Unfchuld Jeſu abzugewinnen, lag ohnehin 
der Vorftelung der älteften Chriftengemeinde ebenfo nahe, ober 
vielmehr noch näher, als es ihr lag, den Bilatus fich bes 
kehren, und felbft den Tiberius im römifchen Senat auf Vers 
götterung Jeſu antragen zu laſſen.!s) Wie wird fich nun aber 
die Reue des Judas ferner geäußert haben? Daß er fich zum 
Guten zurüdgewendet hätte, davon wußte man nicht nur nichts, 
fondern e8 war auch für den Verräther viel zu gut: folglich 
wird die Neue in ihm zur Verzweiflung geworben fein, und 
er das Ende des aus Davids Gefchichte befannten Berräthers 
Ahitophel genommen haben, von welchem es 2. Sam. 17, 23. 
heißt : avegn xal annıdev — xal arıyEaro, wie von Judas hier: 
WexWon0E xal —86 arınyEato. 

Eine auf ven Bapias zurüdgeführte Uebertieferung fcheint 
fi) mehr nur an die Erzählung der Apoftelgefchichte anzufchlies 
fen. Defumenius. führt aus dem genannten Traditionen- 
fammler an, Judas fei zum abfchredenden-Beifpiele der Gott⸗ 
Iofigfeit dermaßen am Leibe aufgefhwollen, daß er, wo ein 
Wagen durchfahren konnte, nicht mehr durchfam, und endlich, 
von einem Wagen gequetfcht, zerborft und alle Eingeweide- aus⸗ 
ſchüttete. 19) Die legte Angabe ift ohne Zweifel ein Mißverftand 


18) Tertull. Apologet. c. 21: Ea cmnia super Christo Pilatus, et 
ipse jam pro sua conscientia Christianus, Carsari tum Tiberio 
nunciavit. c. 5: Tiberius ergo, cujus tempore nomen Christia- 
num in seculum iutroiit, annunciatum sibi ex Syria Palaestina, 
quod illic veritatem illius divinitatis revelaverat, detulit ad Se- 
natum cum praerogativa suffragii sul. Senatus, 4uia non ipse 
probaverat, respuit, Weiteres hierüber findet man gefammelt bei 
Fabricius, Cod. Apocer. N.T. 1, p. 214 ff.; 298 ff. ; vgl. 2, p. 505. 

29) Oecumen. ad Act. 1: ràc de auyesegov igopei Ilunius, ö Tucivvu zu 


Drittes Kapitel. $. 130. 491 


der alten Cage; denn ber durchfahrende Wagen war urfprüng- 
lich in feine unmittelbare Berührung mit dem Leibe des Judas 
gebracht, fondern nur als Maß für deſſen Dide gebraucht, 
und dieß wurde fpäter irrig fo aufgefaßt, als vb cin vorüber⸗ 
fahrender Wagen den aufgefchwollenen Judas zerqueticht hätte. 
Wirflidy finden wir daher nicht allein bei Theophylaft und 
in einem alten Scholion 20) ohne beftimmte Zurüdführung auf 
den Papias, fondern auch in einer Gatene mit genauer 
Anführung feiner e&ryioeıg, die Sadye ohne jenen Zufag erzählt.") 
Das ungeheure Anfchwellen des Judas, von welchem in dieſen 
Stellen die Rede ift, follte wohl urfprünglich nur eine Erflä- 
rung für das Zerplagen und Ausfchütten der Eingeweide fein, 
und ebenfo fönnte man die Wafferfucht, in welche Theophys 
lakt ihn verfallen läßt, wiederum nur als eine Erklärung die⸗ 
ſes Anfchwellens betrachten: indeſſen, wenn man in dem, A. ©. 
1, 20. auf den Judas angewendeten Pf. 109. unter andern 
Vorwürfen auch den liest: jarp2 Dm3 (map) nim LXX: 
eisnhFev (1 xarapc) wsel V6wE Eis Ta Eyrara avrä (1. 18.): 
fo könnte doch möglichermweife die vooog vdegur auch aus diefer 
Etelle geholt fein; wie der Zug der monftröfen Befchreibung, 


anosöia uadnınz urya aoeßelag unodeıyua Ev Term To x00um Tregiemary- 
orv Isdas. Tonoſßeic yag Ent Toohrov Tv oagxa, wse un Öiraodaı dwl- 
Ieiv, anal badlug Öpxoutvmg, Uno Ti duasıy Enid), Wse Ta Fyxara 
aura ExxevwInvan. 

20) ©. oben Anm. 6. 

21) In Münter’s Fragm. Patr. 1, p. 17 ff. Die Stelle lautet übri- 
gens fehr ähnlich der des Detumenius, und überbietet fie zum Theil 
noh: raro de oayrseoov isogei Ilenlas, 6 Iwavye uadytns, Ayav Krws 
Er Ti Teragrın Ts Füyyyoeug Tüv zugaxdv Aöywv ueya Öe aoeßelas Uno- 
deyum Ev Turn Ti x00u nreguenarnoev 6 Indas mrenodeis Et ToosTov av 
oapxa, wse unde onoder auasa (adiws durpyeran, Exeivov duvaodaı dısl- 
Heiv, alla unde aurov uöror ToY oyxov Tig xeyalis; aut Ta EV yap 
Plryapa Toy Opdaluav avrs (Cod. Venet.: yaoı Toosrov Fadnon, ws 
aurcy uv xadola To ps un Plineır) unde uno lares Öwrrrenz OpIivar 
duraosaı x. r. A. Mera nolla; de Paoures zur Tiuwpla; &v idim, Yaot, 
xuglo Teleuryoavrog x. T. A. 


4923 Dritter Abſchnitt. 


welche der angeblihe Rapias von dem Zuftande des Judas 
macht, daß er nämlich wegen ungeheuren Anfchwellens der 
Augenliever das Tageslicht nicht mehr habe fehen koͤnnen, an 
V. 24. des andern Judaspfalms erinnern dürfte, wo unter 
den Verwünſchungen namentlich auch die vorfommt: axorıoIT- 


Twoov ol OpFakıoi aurwv 13 um Pltnsew, eine Verhinderung - 


am Sehen, weldye, einmal den gefchwollenen Leib des Judas 
vorausgeſetzt, als Zufchwellen der Augenliever fich geftalten 


mußte. Hat fo die an A. ©. 1. fich anfchließende Ueberliefe⸗ 


rung ihre Anficht von dem Ende des Judas hauptfächlich nach 
Ausdrüfen der bezeichneten beiden Pfalmen weitergebilvet, und 
ift in jener Stelle ver A. ©. felbft die Angabe von dem Vers 
hältniß des Judas zu dem Landgut ebendaher entnommen: fo 
Liegt die Bermuthung nicht allzufern, daß auch ſchon, was 
die A. ©. über das Ende des BVerräthers fagt, aus berfelben 
Duelle geflofien fein möge. Daß er eines frühzeitigen Todes 
geftorben, kann gefchichtlich fein: aber auch wenn nicht, fo war 
ein früher Tod ſchon Pf. 109, in demfelben Sten Verſe, wel- 
her die Verleihung der Ermioxonn an einen andern enthielt, 
in den Worten: yonIyrwow ai rutpgas avrs OAlyaı, ihm ver: 
fündigt, und faft möchte man glauben, daß auch der Tod 
durch einen jähen Tall aus Pf. 69, 23., wo es heißt: yerndıo 
7 roorıeba auriv — Eis axawdalov (wird); entftanden fei. 
Schwerlich alfo wiffen wir von Judas auch nur foviel 
gewiß, daß er auf gewaltfame Weife vor der Zeit um’s Leben 
gefommen; fondern wenn er, wie nach feinem Austritt aus der 
Geſellſchaft Jefu natürlich war, für dieſe in die Dunfelheit zurüd- 
trat, in welcher die hiftorifche Kunde von feinem weiteren Schid- 
fal erlofih: fo Fonnte die chriftliche Sage ungehindert alles das 
an ihm in Erfüllung gehen laſſen, was die Weiffagungen und 
Vorbilder des A. T. dem falfchen Freunde des Davidsfohnes 
drohten, und Fonnte felbft an eine befannte unheilige Stätte in 
der Nähe Jerufalems das Andenken feines Verbrechens fnüpfen.?2) 


22) Vgl. de Wette, ereg. Handb., 1, I, ©. 231 f. 1,4, ©. 10 f. 


Drittes Kapitel. $. 131. 493 


$. 131. 
Sefus vor Pilatus und Herodes. 


Nach fämmtlihen Evangeliften war c8 Morgens, als 
die jünifchen Obern, Jefum, nachdem fie ihn des Todes ſchul⸗ 
dig erfannt hatten, ) (feſſeln — nach Joh. 18, 12. war er 
fihon im Garten bei der Gefangennehmung gefeffelt worben; 
Lukas erwähnt des Bindens gar nicht — und) zu dem römi- 
fchen Procurator Pontius Pilatus führen liegen (Matth. 27, 
1 ff. parall. Joh. 18, 28.). Hiezu nöthigte fie nach oh. 
18, 31. der Umftand, daß dem Synebrium die Befugniß, 
Todesftrafen (ohne römifche Genehmigung) zu vollziehen, ab- 
genommen war :?) jedenfalls indeß mußte dießmal die jüpifche 





1) Nach Babyl. Sanhedrin, bei Lightfoot, p. 486, wo es heißt: 
judieia de capitalibus finiunt eodem die, sisint ad absolutionem; 
si vero sint ad damnationem, finiuntur die sequente — wäre 
bieß Verführen ungeſetzlich gewefen. 

2) Außer dem johanneifchen: nuiv #x Eesiv anoxreivan Hdrva, ſpricht für 
diefen Stand der Dinge nur noch eine dunkle und ſchwankend ausge: 
legte Zradition, Avoda Zura f. 8, 2 (Lightfoot, p. 1123 f.); Rabh 
Cahna dicit, cum aegrotaret R. Isma@l bar Jose, miserunt ad 
eum, dicentes: dic nobis, o Domine, duo aut tria, quae aliquando 
dixisti nobis nomine patris tui. Dicit iis — — quadraginta 
annis ante excidium templi migravit Synedrium et sedit in ta- 
bernis. Quid sibi vult haec traditio? Rabh Isaac, bar Abdimi 
dicit: non judicärunt judicia mulctativa. Dixit R. Nachman bar 
Isaac: ne dieat, quod non judicärunt judicia mulctativa, sed 
.quod non judicärunt judieia capitalia — womit noch die Notiz bei 
Sofephus, Antiq. 20, 9, 1., verglichen werben kann, daß es #x F£ov 
zv Avavın (dem Dohenpriefter) zweis Tis Exsiva (des Procurators) yroung 
zadioaı avvedwnor. Dagegen Tönnte zwar die ohne Zuziehung der Römer 
erfolgte Dinrichtung des Stephanus, A. ©. 7, zu fprechen fcheinen: 
allein dieß war ein tumultuarifcher Act, unternommen vielleicht im 
Vertrauen auf die Abwefenheit des Pilatus. Vgl. über diefen Punkt 
Lücke, 2, ©. 631 ff. 








494 | Dritter Abſchnitt. 


Regierung wünfchen, die Römer in die Sache zu ziehen, weil 
nur deren Macht ihr gegen einen Jooußog Ev ro Amp, den 
fie von einer Hinrichtung Jeſu während der Feſtzeit befürchtete 
(Matth. 26, 5. parall.), Sicherheit gewähren fonnte. 

Beim Prätgrium angekommen, blieben, nad der Dars 
ſtellung des vierten Evangeliums, die Juden aus Echeue vor 
Yevitifcher Verunreinigung außen, Jeſus aber wurde in das 
Innere des Gebäudes geführt, fo daß. Pilatus abwechslungs- 
weife, wenn er mit den Juden verhandeln wollte, heraus- 
fommer, wenn er aber Jeſum inquirirte, hineingehen mußte 
(18, 28 ff). Die Synoptifer ftelen im Verfolg Iefum mit 
Pilatus und den Juden in Einem -und demfelben Locale vor, 
da bei ihnen Jeſus die Anklagen der Juden unmittelbar hört, 
und vor Pilutus beantwortet. Da fie, wie Johannes, die 
- Berurtheilung unter freiem Himmel vorgehen laflen (nad 
derfelben lafien fie ja Jeſum in das Prätorium hineingeführt 
werden, (Matth. 27, 27., und Matthäus wie Johannes 19, 
13., läßt den Pilatus das Prua befteigen, V. 19., welches 
nad) Zofephus?) unter freiem Himmel fand), ohne im Ber: 
hältnig zum Verhoͤr einer Ortöveränderung zu gedenken: fo 
haben fie fich wahrfcheinlich die ganze Verhandlung, aber, ab- 
mweichend von Sohannes, auch Jeſum felbft, auf jenem Vor⸗ 
platze gedacht. 

Die erfte Frage des Pilatus an Jeſum iſt nach allen 
Evangelien: au el 0 Baoılzvg row "Iadalım, d. h. der Meſſias? 
Bei den zwei erften Evangeliften ift diefe Frage ohne Einlei- 
tung dur eine Klage der Juden (Matth. B. 11. Mare. 
V. 2); bei Johannes fragt Pilatus, aus dem Prätorium 
heraustretend, die Juden, was fie gegen Jeſum zu klagen 
haͤtten „18, 19.)% worauf fie ihm trogig erwiedern: ei un 
ETOS Tv xox0rotdg, 8% @v 001 TTapeduWnauev aurov, wodurch 
jte übrigens fich nicht verfprechen Fonnten, dem Römer die 


5) De bell. jud. 2, 9, 3. 


Drittes Kapitel. $. 131. 495 


Betätigung auf die fehnellfte Weife abzubringen, ) fondern 
nur ihn zu erbittern. Nachdem ihnen Pilatus hierauf mit 
auffallender Gelindigfeit zur Antwort gegeben: fo mögen fie 
ihn nehmen und nach ihrem Gefege richten — indem er an 
ein todeswürdiges Verbrechen nicht gedacht zu haben ſcheint —, 
und die Juden ihm ihre Incompetenz zur Vollziehung von 
Todesſtrafen entgegengehalten haben: geht der Procurator 
hinein, und legt Jeſu gleich die beftimmte Frage vor, ob 
er der König der Juden fei? weiche fomit bier gleichfalls 
nicht gehörig eingeleitet ift. Nur bei Lufas ift dieß ver Fall, 
welcher zuerft die Anflagen der Synedriften gegen Jeſum auf- 
führt, daß er das Volk aufwiegle und zur Verweigerung der 
Steuer an den Bäfar reize, indem er fi) für Xossov Buoıldu 
ausgebe (23, 2.). 

Begriffe man auf dieſe Weife aus der Relation des Lufas, 
wie Pilatus fofort die Frage an Jeſum richten fonnte, ob er. 
ver König der Juden fei? fo ift bei ihm um fo dunfler, wie 
auf die bejahende Antwort Jeſu hin Pilatus ohne Weiteres 
ven Anflägern erklären fonnte, an dem Beflagten Feine Schuld 
zu finden. Er mußte doch erft den Grund oder Ungrund der 
Anflage auf Volfsaufwiegelung unterfuchen, und auch über den 
Sinn, in welchem ſich Jefus für den PBauılevs rwv Iadaiwv 
ausgab, ſich mit ihm verſtaͤndigen, ehe er fein &d2v zvploxu 
eirıov & 79 wIgunp Tarp ausfprechen fonnte. Bei Mat- 
thäus und Markus folgt zwar auf die Beidhung Jeſu, der 
König der Juden zu fein, noch fein den Pilatus befremdendes 
Schweigen gegenüber den gehäuften Anlagen der Synevriften; 
auch wird hierauf nicht eine beitimmte Erklärung, daß an Jeſu 
feine Schuld zu finden fei, fondern bloß der Verſuch des Bro- 
curatord gemeldet, Jefum durdy die Zufammenftelung mit Ba- 
rabbas in Freiheit zu fegen: Doch auch nur, was ihn zu dieſem 
Verfuche bewog, geht aus den genannten Evangelien nicht 


%) Wie Lücke annimmt, ©. 631. 





496 Dritter Abſchnitt. 


hervor. SHinlänglich Har dagegen wird biefer Punkt im vierten 
Evangelium. Rad der Frage des Pilatus, ob er wirflich der 
Sudenkönig fei, befremdet zwar Die Gegenfrage Sefu, ob er 
dieß von fich felbft, oder auf Eingebung Anderer rede? Man 
kann einen-Bellagten, möge er immer fich unfchuldig wiffen, 
zu einer. folchen Frage nicht befugt finden,, weßwegen man denn 
auch auf allerlei Arten verfucht hat, derfelben einen erträglicheren 
Sinn zu geben; allein, um bloß eine Zurüdweifung der Ber 
ſchuldigung als einer wiberfinnigen zu fein, °) ift die Frage 
Jeſu zu beftimmt: als Erfundigung aber, ob der Procurator 
das Baoılzig vuv Isdaiww im römifchen (ap’ Eavrs) oder im 
jünifchen Sinne (@AAos cos elrcov) meine, 6) zu unbeftimmt. 
Auch faßt es Pilatus nicht fo, fondern als unbefugte Frage, 
auf welche es noch fehr milde ift, daß er zunächft zwar unge- 
duldig die zweite Gegenfrage macht, ob er denn ein Jude fei, 
um durch fich felbft von einem fo ſpecifiſch jüdischen Verbrechen 
Notiz haben zu können? hierauf aber gutwillig erklärt, bie 
Suden und deren Obere feien es ja, durch welche er ihm über- 
liefert worden, er möge alſo über das ihm von dieſen zur Laft 
gelegte Vergehen fich näher ausfprechen. Auf diefes nun aber 
gibt ihm Jeſus eine Antwort, welche, zufammengenommen mit 
dem Eindrud feiner ganzen Erfcheinung, dem PBrocurator aller: 
dings Die Ueberzeugung von feiner Unfchuld beibringen konnte. 
Er erwiedert nämlich, feine Baorlsie fei nicht &x Tö xo0us tere, 
und führt den Beweis hiefür aus dem ruhigen, pafiiven Ber- 
halten feiner Anhänger bei feiner Gefangennehmung (V. 36.). 
Auf die weitere Frage des Pilatus, da Jeſus fich Hiemit eine 
Baoıkela, wenn gleich Feine irdifche, zugefchrieben hatte, ob er 
alfo doch für einen König ſich ausgebe ? erwiebert er, allerdings 
fei er das, doch nur infofern er zum Zeugniß der Wahrheit 
geboren ſei; worauf von Seiten des Pilatus das befannte: 


6) Salpin, 2. d. St. 
6) Lucke und Tholud, z. d. St. 





\ 


Drittes Kapitel. $. 131. 497 


ri &sw alndeın; erfolg. Ob nun gleich an dieſer letzteren 
Wendung das eigenthümlich johanneifche Eolorit im Gebraudy 
des Begriffs von arte, wie weiter oben das Ungeſügige 
in der Gegenfrage Jefu, auffällt: fo begreift man doch nach 
diefer Darftellung, wie Pilatus fofort hinaustreten, und den 
Juden erklären Tonnte, Feine Schuld an ihm zu finden. Doch 
könnte leicht ein andrer Bunft gegen diefen Bericht des Johannes 
wieder bevenflich machen. Wenn ihm zufolge das Verhör Jeſu 
im Innern des Prätoriums vor fich ging, welches fein Jude 
betreten mochte: wer fol dann das Gefpräch des Procurators 
mit Jeſu gehört, und als Gewährsmann dem Berfaffer des 
vierten Evangeliums zugebracht haben? Die Auficht älterer 
Erflärer, daß Jeſus felbft nach der Auferftehung den Jüngern 
diefe Verhandlungen erzählt habe, ift als abenteuerlich aufge- 
geben; die neuere, daß vielleigt Pilatus felbft die Duelle der 
Karhrichten über das Verhoͤr geweſen fei, ift Faum minder uns 
wahrfcheinlich, und ehe ich mir, wie Lüde, damit hälfe, daß 
Jeſus am Eingange des. Prätoriums ftehen geblieben fei, und 
fomit die außen Zunächftftehenden bei einiger Aufmerkfamfeit 
und Stille (2) die Unterredung haben hören Tönnen, würde 
ich mich noch lieber auf die Umgebungen des Procurators, der 
fehwerlich mit Jeſu allein war, berufen. Leicht Fönnten wir 
indeß hier ein Gefpräch haben, das nur der eignen Gombination 
des Evangeliften feinen Urfprung verdankt, und in diefem Falle 
dürfte man fich dann nicht fo viele Mühe in Bezug auf den 
eigentlichen Sinn der Frage des Pilatus: was ift Wahrheit? 
geben, da dieß nur die beliebte dialogifche Figur des vierten 
Evangeliums wäre, bei tiefen Eröffnungen von Seiten Jeſu 
die Zuhörer Tragen entweder des Mißverftands oder des gar 
nicht Verſtehens machen zu laſſen; wie 12, 34. die Juden 
fragen: Tis ëqu rog 0 vIog rã — fo hier Pilatus: 
ti &sw alrdeun ;?) 


— — — — 


7) Vgl. Kaiſer, bibl. Theol. 1, ©. 252. . 
U. Band. 32 





498 Dritter Abſchuitt. 


Bor der. Diverfion mit Barabbas, welche mun bei ben 
übrigen folgt, hat Lukas ein eigentlümliches Zwifchenfpiel. Auf 
bie Erklärung des Bilatus nämlih, an dem Beklagten feine 
Schuld zu finden, bleiben hier die Hohenpriefter fammt ihrem 
Anhang unter der Menge dabei, Jeſus rege das Volk auf durch 
feine Wirkfamfeit ald Lehrer von Galiläa bis Jerufalem ; Pi⸗ 
latus faßt Galiläa in's Ohr, fragt, ob der Beklagte ein Gali- 
laͤer fei? und wie dieß beftäfigt wird, ergreift er es ala eine 
willfommene Gelegenheit, fich des unwillfommenen Handels zu 
entledigen, fehieft alfo dem Tetrarchen von Galiläa, dem zur 
Feftzeit in Serufalem anwefenden Herodes Antipas, Jeſum zu, 
mit der Nebenabficht vielleicht, mad wenigftens der Erfolg war, 
den. Heinen Fürften durch folchen Reſpect vor feinem Forum 
ſich zu verbinden. Herodes, heißt es, fei Darüber erfreut ge⸗ 
weſen, weil er nad) dem Bieleg, was er ſchon von Jeſu ge- 
hört hatte, längſt wünfchte, ihn zu fehen, in der Hoffnung, 
er würde vielleicht ein Wunder zum Beten geben. Der Te- 
trarch habe nun verfehievene Fragen an ihn gerichtet, auth 
die Synedriſten harte Klagen gegen ihn erhoben, Jeſus aber 
feine Antwort gegeben; worauf dann Herodes mit feinen 
Soldaten ſich zum Spotte gewendet, und endlich Jeſum in 
einem Prachtgewande zu Pilatus zurüdgefchickt habe (23, 4 
ff.). Diefe Erzählung des Lufas hat, ſowohl in ihr felbft, 
als in ihrem Verhältniß zu den übrigen Evangelien, mehreres 
Befremdliche. Gehörte wirklich Jefus als Galilder unter bie 
Gerichtsbarkeit des Herodes, wie Pilatus durch die Uebergabe 
des Beflagten an ihn ahzuerfennen fcheint: wie fam es, daß 
Jeſus, nicht nur der fündlofe des orthodoxen Syſtems, fondern 
auch der gegen die beftehenve Obrigkeit unterwürfige der Ge⸗ 
ſchichte vom Zinsgrofchen, ihm die ſchuldige Antwort verfagte? 
wie, daß ihn Herodes ohne Weiteres wieder von feinem Fo⸗ 
rum zurüdfchidte? Mit Olshaufen zu fagen, es habe ſich 
im Berhör bei Herodes ergeben, daß Jeſus nicht in Nazaret 
und Galiläa, fondern in Bethlehem, alfo in Judäa, geboren 
war, ift theild eine unerlaubte Bezugnahme auf die Geburts- 








Dritte® Kapitel. $. 131. Ä 490 


geichichte, von deren Angaben fich im ganzen feitherigen Vers 
lauf des Lufasevangeliums Feine Epur mehr gefunden hat, 
theil8 würde wohl eine fo ganz zufällige Geburt in Judaͤa, 
wie fie Lukas darftellt, während die Eltern Jeſu vor⸗ und nach⸗ 
ber, und auch Jeſus felber, in Galiläa anfäflig blieben, Jeſum 
zu feinem Judäer gemacht: haben; hauptfächlich aber muß man 
fragen, durch wen denn bie judälfche Abfunft Jeſu an den Tag 
gekommen fein fol, da e8 von Jeſu heißt, er habe Feine Ant- 
wort gegeben, den Juden aber jene Abfunft nach allem, was 
wir wiffen, unbefannt war? Eher mag man das Stillfehwei- 
gen Jeſu aus der unmürdigen, nicht den Ernft des Richters, 
fondern bloße Neugier verrathenden Art der Sragen des Herodes, 
und die Zurüdjendung an Pilatus daraus erflären, daß doch 
nicht allein die Verhaftung, fondern auch ein Theil ver Wirk⸗ 
famfeit Jeſu in das Gebiet des Pilatus gefallen war. Warum 
aber berichten die übrigen Evangeliften von diefer ganzen Zwi⸗ 
fehenfcene nichts? Namentlich wenn man den Verfaſſer des 
vierten Evangeliums als den Apoftel Johannes fich denkt, ift 
fehwer einzufehen, wie man viefe Auslaffung erflären will. “Die 
gewöhnliche Huülfe, er habe die Abführung zu Herodes aus den 
. Synoytifern und überhaupt als befannt vorausgefest, fchlägt 
hier nicht an, da ja nur der Eine Lukas die Gefdhichte meldet, 
fie alfo nüht fehr verbreitet gewejen zu fein feheint; die Vers 
muthung, fie möge ihm wohl zu unerheblich geweſen fein, ) 
verliert Dadurch ihren Boden, daß Johannes auch der Hinfühs 
rung zu Annas, welche doch ebenfo wenig entfcheidenn war, 
zu gedenken nicht verfchmäht; überhaupt ift, wie auch Schleis- 
ermacher zugeftcht, die johanneifche Erzählung diefer Bor: 
gänge fo zufammenhängend, daß fich nirgends eine Fuge zeigen 
will, um eine folche Zwifchenfeene einzufchieben. Zlüchtet fich 
daher auch Schleiermacher zulegt zu der Vermuthung, es 
möge wohl dem Johannes die Abführung Jeſu zu Herodes 


Y 
) 


8) Schieiermader, über der Lukas, ©. 2901, 
32° 


500 | Dritter Abſchnitt. 


entgangen fein, weil fie auf einer entgegengefeßten Seite, als 
wo der Zünger fland, durch eine Hinterthüre, gefchehen fei, 
dem Lufas aber eine Kunde von derfelben zugefommen, weil 
fein Gewährsmann ebenfo eine Befanntfchaft im Haufe des 
Herodes gehabt Habe, wie Johannes in dem des Annas: fo 
ift jene erftere Vermuthung eben nur eine Sinterthüre, die 
feßtere aber eine verzweifelte Fiction. Seen wir freilich den 
Verfaffer des vierten Evangeliums nicht ald Apoftel voraus: 
fo verlieren wir die Unterlage, um gegen die Erzählung des 
Lufas den Hebel anzufegen, welche jedenfalls, da ſchon Juſtin 
yon der Abführung zu Herodes weiß,” von fehr frühem Ur⸗ 
fprung ift. Immerhin inveffen bleibt theils das Stillfchweigen 
der übrigen Evangeliften in einem Abfchnitt, wo fonft über die 
Hauptftadien der Entwidlung von Jeſu Sache Uebereinftim- 
mung zu herrfchen pflegt, theils die innere Schwierigfeit der 
Erzählung fo bevenflih, daß die Vermuthung offen bleiben 
muß, die Anefvote fei aus dem Beftreben entftanden, Jeſum 
vor ale möglicherweife in Serufalem zufammenzubringende 
Richterftühle zu ftellen, von allen nicht hierarchifchen Behörden 
ihn zwar verächtlich behandelt, aber doch feine Unſchuld laut 
oper ftillfehweigend anerfannt werden, ihn felbft aber vor allen 
feine gleichmäßige Haltung und Würde behaupten zu laſſen. 
Waͤre dieß von der vorliegenden Erzählung, mit welcher ber 
dritte Evangelift allein fteht, anzunehmen : fo würde eine aͤhn⸗ 
liche Vermuthung von der Hinführung zu Annas, mit welder 
wir den- vierten Evangeliften alleinftehend gefunden haben, nur 
durch den Umftand abgewehrt werden, daß diefe Scene nicht 
näher befchrieben ift, mithin auch feine inneren Schwierigfeiten 
darbietet. j 
Nachdem er Jeſum von Herodes zurüdgefandt befommen 
hatte, berief nun dem Lufas zufolge Pilatus die Synebriften 
und das Volk wieder zu fich, und erklärte, auf das mit dem 


9 Dial, c. Tryph. 103. 











Trittes Kapitel. 6. 131. 501 


feinigen übereinftimmende Urtheil des Herodes geftügt, Jeſum 
mit einer Züchtigung loslaſſen zu wollen; wozu er die Sitte, 
am Pafchafeft einen Gefangenen frei zu laſſen, !) benützen 
fonnte. Diefer bei Lufas etwas verfürzte Umſtand tritt bei 
den übrigen, namentlid bei Matthäus, veutlicher heraus. 
Da nämlich die Befugniß, fich einen Gefangenen loszubitten, 
dem oyAog zufam: fo fuchte Pilatus, wohl wiffend, daß nur 
der Neid der Großen Jeſum verfolgte, die beffere Stimmung 
Des Volks für ihn zu benügen, und um daflelbe zur Be- 
freiung Jeſu eigentlich zu nöthigen, ftellte er ihn, den er, 
zum Theil zwar aus Spott gegen die Juden, zum Theil 
aber um fie von feiner Hinrichtung, als für fie felbft ſchimpflich, 
abzubringen, Meſſias oder Zudenfönig nannte, zur Auswahl 
mit einem deowmog Ersionuos, Barabbas, !), zufammen, wel⸗ 
chen Johannes als Ansrs, Markus und Lufas aber als einen 
folchen, der wegen Aufruhrs und Mords verhaftet war, be: 
zeichnen. Der Plan fchlug aber fehl, da das Volf, fubornirt, 
wie die zwei erften Evangeliften anmerfen, von feinen Oberen, 
mit großer Einftimmigfeit die Freigebung des Barabbas, und 
für Jeſum die Kreuzigung verlangte. 

Als ein befonderes Gewicht, das bei Pilatus noch in die 
Wagſchale Zefu fiel, und ihn bewug, den Verfuch mit Barabbas 
aufs Nachprüdlichfte geltend zu machen, wird von Matthäus 


10) Man’zweifelt, ob biefe Sitte, von welcher wir ohne dag N. T. nidıts 
wiflen würden, römifchen oder jüdilhen Urfprungs war; vgl. Fritzſche 
und Paulus z. d. St., und Baur, üher die urfprüngliche Bedeu⸗ 

tung des Paffahfeftes u. ſ. f. Tuͤb. Zeitichr. f. Theol. 1832, 1,6. 94. 

11) Einer Lesart nach hieß diefer Menfch mit feinem vollen Namen Inoſ. 
Beyaffüs, was bier nur deßwegen bemerkt wird, weil Olshauſen 
ed „merkwürd'g” gefunden hat. Indem nämlid bar Abba Eohn dis 
Vaters bedeutet, fo ruft Dishaufen aus: Alles, was an dem Ertöfer 
Weſen war, erfchien bei dem Mörder als Garicatur! und findet, den 
Vers anwendbar: Indit iu humanis divina potentia rebus. Wir 
fönnen in dieſer Olshaufen’fhen Betrachtung nur einen lusus hu- 
manae impotentiae finden. 





502 Dritter Abſchnitt. 


das angeführt, daß, wie der Procurator auf dem Richterftuhle 
-faß , feine Gemahlin '9 ihn in Folge eines ängftigenden Trau- 
mes warnen ließ, fich ja nichts gegen jenen Gerechten zu 
Schulden fommen zu laflen (27, 19). Nicht allein Paulus, 
-fondern auch Olshauſen erflärt diefen Traum als natür- 
liches Ergebniß aus demjenigen, was die Frau des Pilatus 
von Sefu und feiner am vorigen Abend erfolgten Gefangen- 
nehmung gehört haben mochte; wozu man noch die Notiz des 
‘Evang. Nicodemi als erflärende Vermuthung ziehen Tann, 
daß diefelbe eine Heooeßrg und isdelaoe gewefen fei. '9) 
indeflen, wie immer im N. %., namentlih im Matthäus- 
evangelium, Träume als höhere Schidung betrachtet werden: 
fo ift auch diefer gewiß in der Anficht des Referenten non 
sine numine gewefen, und es muß fich daher ein Grund und 
Zwed feiner Zuſchickung denken laſſen. Sollte der Traum 
wirklich den Tod Sefu hintertreiben, fo müßte man vom ortho⸗ 
doxen Standpunkt aus, auf welchem diefer Tod zur Seligfeit 
der Menfchen nothwendig war, auf die Vermuthung einiger 
Alten fommen, der Teufel möge es gewelen fein, welcher der 
Frau des Procurators jenen Traum eingab, um den Berföh- 
nungstod zu verhindern; !) follte der Tod Jeſu nicht verhin- 
bert werden, fo Fünnte der Zwed des Traumes nur auf Pilatus 
oder feine Gattin gehen. Allein dem Pilatus konnte eine fu 
fpät fommende Warnung wohl nur die Schuld vermehren, ohne 
ihn von dem bereits halb gethanen Schritt zurüdbringen zu 


12) im Evang. Nirodeni und bei Ipäteren Kircengeld idtichreibern beißt 
fie Procula, TTozin. Vgl hierüber Thilo, Cod. Apoer. N. T., 
p- 522, Paulus, ereg. Handb., 3, b, ©. 640 f. 

5) Kap. 2, ©. 520. bei Thilo. 

1%) Ignat. ad Philippens. 4: wort dr (der Teufel) 70 yuraor. Ar arei- 
0015 AUTO zataragurrmy zer navsr NWäreı Te zara 109 savoor. Bgl. 
Zbilo, p. 523. Die Juden im Evang. Nicod., ec. 2, p. 524, er⸗ 
Hären den Zraum für ein Zauberftüd von Jeſu: yors dt — Ida ora-. 
gorsune Ense 7005 71,9 yuvalzı on. 


Drittes Kapitel. 5. 131. 503 


können; daß aber jeine Gattin durch den Traum befehrt wor⸗ 
den fei, wie Manche angenommen haben, !°) ift theils nirgends- 
her befannt, theils fpricht fich in der Erzählung nicht Diefer 
Zweck aus. Sondern, wie ſchon die Figur des Pilatus in 
der ewangelifchen Erzählung fo gehalten ift, daß dem blinden 
Haffe der Volksgenoſſen Jeſu das unparteiifche Urtheil eines 
Heiden gegenüberftehen fol: fo wird nun auch feiner Gattin 
ein Zeugniß für Jeſum abgewonnen, um, wie nach Mattl. 
21, 16. aus dem Munde der view xei Inlabovewv, jo 
nunmehr aus dem Munde eines ſchwachen Weibes, ihm ein 
Lob zu bereiten, welches, zur Mehrung feines Gewichts, aus 
einem bedeutungsvollen Traume abgeleitet wird. Je mehr man, 
um diefen wahrfcheinlich zu machen, auch aus der PBrofanges 
fhichte dergleichen Träume anführt, welche einer blutigen Ka⸗ 
taftrophe beängftigend und warnend vorangefchritten find: !%) 
defto mehr wird der Verdacht angeregt, daß, wie die meiften 
von diefen, fo auch der Traum in unferer Stelle nach) dem Er⸗ 
folge gemacht fein möge, um deſſen tragifche Wirkung zu erhöhen. 

Wie nun die Juden auf wiederholtes Befragen des Pilatus 
die Loslaffung für Barabbas, für Jeſum aber die Kreuzigung, 
ftürmifch und beharrlich verlangen: laſſen die beiden mittleren 
Evangeliften ihn in ihr Begehren fofort willigen, Matthäus 
aber fchiebt noch eine Eeremonie und eine Wechfelrede dazwi- 
ſchen (27, 24 ff). Nach ihm nämlich Täßt fi Pilatus Waffer 
geben, wafcht fich damit die Hände vor dem Volk, und erklärt 
fi) für unfhuldig am Blute dieſes Gerechten. Die Hand— 
waſchung als Reinerflärung von einer Blutfchuld war fperififd) 
jüdifche Sitte, nach 5. Mof. 21, 6 |.) Man hat unwahr: 
fiheinlich gefunden, daß der Römer diefe jüdifche Gewohnheit 


— 


29 3. B. Theophylact, ſ. Thilo, p. 523. 

16) Wie Paulus und Kuinool, z. d. St., welche namentlich an den 
Traum von Cäſar's Gemap:in in der Nacht vor feiner Ermordung er⸗ 
innert, 

1) Vgl. Suta, 8, 6. 


504 " Dritter Abſchnitt. 


hier nachgeahmt habe, und deßwegen ſich darauf berufen, wie - 
jedem, der feine Unfchuld feierlich erflären will, nichts leichter, 
als eine folche Handwaſchung, einfallen Tönne. 18) Allein, 


um ohne Anhalt an einer gewohnten Sitte eine fombolifche 


Handlung gleichfam im Augenblid zu erfinden, oder auch nur 
in einen fremden Volksgebrauch fich hineinzumerfen, dazu ger 
hört, daß dem, welcher eine ſolche Handlung vornimmt, an 
demjenigen, was er durch dieſelbe bezeichnen will, ungemein 
viel gelegen fe. So ungemein viel aber fonnte doch nit for 
wohl dem Pilatus daran gelegen fein, feine Unfchuld an ber 
Hinrichtung Sefu zu bezeugen, als vielmehr den Ehriften daran, 
auf diefe Weife die Unſchuld ihres Meflias bezeugen zu laffen; 
woraus der Verdacht erwächst, daß vielleicht erft ihnen bie 
Handwafchung des Pilatus ihre Entftehung verdanken möge. 
Diefe Vermuthung beftätigt fich, wenn wir den Ausipruch er⸗ 
wägen, mit welchem Pilatus jene fymbolifche Handlung begleitet 
haben fol: a9Iwog zum ano TE eiuarog TE dixala Tate. 
Denn, „daß der Richter öffentlich und emphatifch den, welchen 
er doch der härteften Beftrafung hingab, einen dixwuog genannt 
haben follte, “ findet auh Paulus fo in fich widerfprechend, 
daß er ‚hier, gegen die fonftige Weife feiner Auslegung, ans 
nimmt, der Erzähler interpretire felbft, was Pilatus feiner 
Meinung nad bei der Handwaſchung gedacht haben müſſe. 
Zu verwundern ift, daß ihm das ebenfo Unwahrſcheinliche 
nicht auffällt, was den Juden bei diefer Gelegenheit in ven 
Mund gelegt if. Nachdem nämlich Pilatus fich für unfchuldig 
an dem Blute Jeſu erflärt, und durch das hinzugefügte: vuelg 
Oweode, die Veranwortung auf die. Juden übergewälzt hatte, 
fol nach Matthäus rag 0 Awög gerufen haben: zo alua avrä 
&p' yuög xal Ersl Ta Temwa zucv. Allein dieß ift doch augen- 
fheinlid nur vom Standpunkte der Ehriften aus gefprochen, 
die in dem Unglüd, welches bald nach Jeſu Tode in immer. 


— — — — — 


18) Fritzſche, in Matth. p. 808. 








Drittes Kapitel. $. 131. 505 


verftärften Echlägen über die jüdische Nation hereinbrach, nichts 
Andres, als die Blutfchuld von der Hinrichtung Jeſu her er- 
blickten: fo daß alfo diefe ganze dem erften Evangelium eigen- 
thümliche Epifode im höchften Grade verpächtig ift. 

Nah Matthäus und Markus ließ nun Pilatus Jeſum 
geißeln, um ihn fofort zur Kreuzigung abführen zu laſſen. 
Die Geißelung erfcheint hier ganz fo, wie nach römifcher Eitte 
das virgis caedere dem securi percutere, und bei Sclaven 
die Geißelung der Kreuzigurg, voranzugehen pflegte.) Bei 
Lufas erfcheint fie ganz anders. Während es dort heißt: zov 
dE T. goeyellwoag rrapedumev iva sargwIn: erbictet fich hier 
Pilatus wiederholt, B. 16 und 22: raudevoag avrov arolvoo, 
d. h. wie dort das Geißeln als einleitendes Accivens der Hin⸗ 
richtung erfcheint: fo hier als ableitendes Surrogat derfelben ; 
Pilatus will durch diefe Züchtigung den Haß der Feinde Jeſu 
befriedigen, und fie bewegen, von dem Verlangen feiner Hin- 
richtung abzuftehen. Während es aber bei Lufas zur wirklichen 
Geißelung nicht fommt, weil auf den wiederholten Vorfchlag 
des Pilatus die Juden in feiner Weife eingehen wollen : fo 
läßt diefer bei Johannes Jeſum wirklich geißeln, ftellt ihn fofort 
mit dem Purpurfleid und Dornenfranz dem Bolfe vor, und 
verfucht, ob nicht fein Hläglicher Anblid, mit der wiederholten 
Erklärung feiner Unſchuld verbunden, einen Eindrud auf bie 
erbitterten Gemüther machen möchte; aber auch dieß ift ver- 
gebens (19, 1 ff). Es befteht fomit zwifchen den Evangeliften 
in Betreff der Geißelung Jeſu ein Widerfpruch, welchen man 
nicht mit Paulus dadurd ausgleichen darf, daß man das 
zov I. goayelluvag nregedwxev tva gevewsn bei Matthäus 
und Marfus fo umfchreibt: Jeſus, den er fchon vorher hatte 
geißeln laffen, um ihn zu retten, hatte dieß vergeblich erduldet, 
indem er nun doch zur Kreuzigung hingegeben wurde. Son⸗ 
dern, die Differenz der Berichte anerfennend, muß. man nur 








19) Bol. befonders die von Wetftein zu Matth. 27, 26 angeführten 
E tellen. “ 


306 Dritter Abſchnitt. 


fragen, welcher von beiden die groͤßere hiſtoriſche Wahrſchein⸗ 
lichkeit für ſich habe? Wiewohl ſich nun freilich nicht: nach⸗ 
weifen läßt, daß Geißelung vor der Kreuzigung ausnahmslofe 
römifche Sitte gewefen wäre: fo ift es doch andrerfeits auch 
einzig aus harmoniftifchem Beftreben, wenn behauptet wird, 
daß nur, wenn einer befonders hart geftraft werden follte, vor 
der Kreuzigung noch die Geißelung verhängt worden fei, ?% 
und folglich Pilatus, der gegen Jeſum nicht, graufam fein 
wollte, nur in der befondern Abficht, welche Lufas und Johan 
nes melden, und welche auch bei ihren beiden Bormännern 
hinzuzudenken fei, ihn könne haben geißeln laffen. Weit wahr- 
ſcheinlicher ift es vielmehr, daß in der Wirklichfeit zwar die 
Geißelung nur fo, wie die zwei erften Evangeliften berichten,. 
als Vorſpiel zur Hinrichtung, vorgenommen worden ift, bie 
hriftliche Sage aber, wie ihr zum Zeugniß gegen bie Juden 
am Charakter des Pilatus diejenige Eeite befonders willfommen 
war, vermöge welcher er Jeſum zu retten fich auf’ verfchievene 
Weiſe beftrebt haben fol, fo nun auch die Notiz von der Geißes 
‚lung benügt habe, um an ihr einen neuen Befreiungsverfuch 
des Pilatus zu gewinnen. Diefe Benügung erfcheint im dritten 
Evangelium nur erft als eine begonnene, indem hier des Gei⸗ 
ßelnlaſſen bloße Erbietung des Pilatus ift: wogegen im vierten 
die Geißelung wirklich vollzogen, und zu einem weiteren Acte 
des Drama verwendet wird. 

An die Geißelung ſchließt ſich bei den zwei erſten Evan⸗ 
geliſten und dem vierten die Mißhandlung und Verſpottung 
Jeſu durch die Soldaten, welche ihm ein Purpurkleid umlegten, 
einen Kranz von Dorngeſträuch ihm auf das Haupt ſetzten, ?') 


— 9) Paulus, a. a. O. ©. 647. 

=!) Durd die Auseinderſezung von Paulus, ©. 649 f., gewinnt es 
alle Walrfheintickeit, daß der seyurog #5 azerikor nicht ein Kranz 
aus jpigen Dornen war, fondern von dem nächften beften Heckengeſtraͤuch 
genommen, um dur die vilissima corena, spineula (Plin. H. N. 
21, 10.) Jeſum zu verhöhnen. 








Drittes Kapitel. $. 131. | 507 


nach Matthäus ihm auch einen Rohritab in die Hand gaben, 
und in diefer Bermummung ihn theild ald Judenfönig begrüßten, 
theils. fchlugen nnd mißhandelten. *) Lukas weiß hier von 
feiner Verhöhnung durch die Soldaten, wohl aber hat er in 
feiner Erzählung von der Abführung Jeſu zu Herodes etwas 
Aehnliches, indem er hier den Herodes oWw Tolis sparevuaaıy 
errö Jeſum verfpotten, und ihn in einer 20975 Auurıpa zu 
Pilatus zurüdfenden läßt. Manche nehmen an, dieß fei das⸗ 
felde Burpurgewand, welches nachher die Soldaten des Pilatus 


Jeſu zum zweitenmal angezogen haben; aber vielmehr dreimal 


müßte, wenn wir den Johannes dazu nehmen, und zugleich 
feinen der Synoptifer des Irrthums beichuldigen wollen, mit 
Sefu diefe Vermummung vorgenommen worden fein: zuerft bei 
‚Herodes (Lukas); hierauf ehe Pilatus Jefum den Juden vor⸗ 
führte, um durd das: ide 0 wIowros, ihr Mitleid rege zu 
machen (Joh.); endlich noch einmal, nachdem er den Soldaten 


zur Kreuzigung überlafien war (Matth. und Markus). Diep' 


ift nun ebenfo unwahrfcheinlich, als es wahrfcheinlich ift, daß 
die Evangeliften eine und diefelbe Vermummung, von der fie 
gehört!, an verfchiedene Orten und Zeiten verlegt, und verfchie- 
denen Perfonen zugefchrieben haben. 


Während bei ven zwei erften Evangeliften vor der Geiße- 
lung Jeſu die Gerichtsverhandlung bereits gefchlofjen ift, bei’'m - 


dritten auf die Nichtannahme des Tradevvag aurov anoAucw 
von Eeiten der Juden Pilatus Jefum zur Kreuzigung hingibt: 
fpinnt fich im vierten Evangelium die Gerichtsfcene folgender: 
. maßen noch weiter. Als. auch die Vorftellung des gegeißelten 
und vermummten Jefus nichts fruchtet, fondern beharrlich feine 
Kreuzigung verlangt wird, ruft der Procurator entrüftet den 
Juden zu: fo mögen fie felbft ihn hinnehmen und freuzigen, 
denn er finde feine Echuld an ihm. Die Juden erwiedern, 
nach ihrem Geſetze müjle er jterben, da er fich felbjt zum viog 


nn — — — 


22) Eine aͤhnliche Vermummurg eines Menſchen, um einen Dritten zu ver: 
böhnen, führt aus Philo. in Flacum, Wetftein an, p. 535 f. 








508 Dritter Abfchnitt. 


es gemacht habe; eine Bemerkung, welche dem Pilatus aber- 
gläubifche Furcht einjagt, weßwegen er Sefum nochmals in das 
Prätorium.hineinführt, und nach feiner (ob wirflich himmli⸗ 
ſchen?) Abkunft fragt, worauf ihm aber Jeſus Feine Antwort 
gibt, und, als ihn der Procurator mit der ihm zuſtehenden 
Gewalt über fein Leben fchredfen will, ihn auf die höhere Macht, 
die ihm diefe Gewalt gegeben habe, verweist. Zwar firebte 
in Folge diefer Reden Pilatus ‚(noch angelegentlicher als bis- 
her), Jeſum zu befreien: endlich aber fanden nun die Juden 
Das rechte Mittel, ihn nach ihrem Willen zu flimmen, indem 
fie die Bemerfung hinwarfen, wenn er Jeſum Ioslaffe, ver 
fi dem Cäſar ale Ufurpator gegenüberftelle, fei er fein gilos 
78 Koioepog. So, durch eine mögliche Anfchwärzung bei Ti- 
berius eingefchüchtert, befteigt er den Kichterftuhl, und greift, 
da er feinen Willen nicht durchfegen Tann, zum Hohn gegen 
die Juden, in der Frage: ob fie denn wollen, daß er ihren 
König Freuzigen folle? worauf fie aber, die zulegt mit fo ficht- 
barem Erfolg angenommene Stellung behauptend, erklären, 
von feinem König, ald von dem Eäfar, wiffen zu wollen. 
Jetzt willigt der Brocurator darein, Jeſum zur Kreugigung 
führen zu laffen, zu welchem Behufe man ihm, wie bie zwei 
erften Evangeliften bemerfen, den Purpurmantel auszog, und 
feine eigenen Kleider wieder anlegte. 


$. 132. 
Die Kreuzigung. 


Schon über den Hingang Jeſu zum Orte der Kreuzigung 
weichen die Eynoptifer und Johannes von einander ab, indem 
dem legteren zufolge Jeſus das Kreuz felber dahin trug (19, 17.), 
während die erfteren melden, man habe e8 an feiner Etatt 
einem Simon von Eyrene aufgelegt (Matt. 27, 32 parall.). 
Die Commentatoren zwar, wie wenn es fich von felbft ver- 
ftünde, vereinigen dieſe Angaben dahin: zuerft habe Jeſus 














Drittes Kapitel. $. 132. 509 


felbft das Kreuz zu tragen verfucht, hierauf aber, als es fidh 
zeigte, daß er zu erfchöpft war, habe man ed dem Simon 
aufgeladen. ) Allein wenn Johannes fagt: xal AasaLuwv Tov 
gevoov avıs EEnidev eis — ToAyadir One aurov Esadpwonv: 
fo feßt er offenbar nicht voraus, daß auf dem Wege dahin Jeſu 
das Kreuz abgenommen worden wäre. ?) Es ſcheint aber die 
von den Synoptifern fo einftimmig gegebene Notiz von dem 
untergefehobenen Eimon um fo weniger abgewiefen werben zu 
fönnen, je weniger fi) ein Anlaß, aus dem fie erbichtet wor⸗ 
den fein fönnte, auffinden läßt. Wohl hingegen Eönnte Diefer 
individuelle Zug im Kreife der Entftehung des vierten Evan- 
geliums unbefannt geblieben fein, und ver Verfaffer deſſelben 
fich gedacht haben, daß der allgemeinen Sitte zufolge Jeſus 
felbft das Kreuz’ werde haben tragen müflen. Sämmtliche 
Synoptifer bezeichnen jenen Eimon als einen Kvorvelos, d. h. 
wahrfcheinlich einen, aus der libyfchen Stadt Eyrene, wo viele 
Juden wohnten, >) zum Feſte nad Serufalem Gekommenen. 
Nach allen wurde er auf gewaltfame Weife zum Tragen des 
Kreuzes gebracht, was aber ebenfowenig für, als gegen die 
Annahme, daß er Jeſu günftig gewefen, benüßt werden fann.?) 
Nach Lufas und Markus fam der Mann gerade ar ayos, 
und wie er am Kreuzigungszuge vorübergehen wollte, verwen, 
dete man ihn zur Unterftügung Jeſu. Markus bezeichnet ihn 
noch beftimmter ald orig Alsivdgs xal "Pays, welche in 
der erften Gemeinde befannte Männer gewefen zu fein ſcheinen 
(vgl. Röm. 16, 13. U. ©, 19, 33. (2) 1. Tim. 1, 20. (9) 
2, Tim. 4, 14. (9)).?) 


1) So Paulus, Kuindl, Tholud und Olshaufen in den Comm. ; 
Neander, 8. 3. Chr. ©. 634. 

2) Fritzſche, in Marc. 684: Significat Joannes, Jesum suam cru- 
cem portavisse, donec ad calvariae locum pervenisset, 

3) Joseph. Antiq. 14. 7, 2. 

*) Dafür benügt es z. B. Grot ius; dagegen DIishaufen, 2, ©. 481. 

>) Vgl. Paulus, Fritzſche und de Wette, 3. d. St. 


510 Tritter Abſchnitt. 


Auf dem Hinweg zum Richtplage, meldet Lukas, fei 
eine große Volksmaſſe, namentlich auch Meiber, wehllagend 
Jeſu nachgefolgt, deren Klagen er aber auf fie felbft und. 
ihre Kinder verwiefen habe, mit Hinficht anf die fchredlichen 
Zeiten, welche bald über fie hereinhrechen würden (23, 27 ff.). 
Die Züge find theild aus der Rebe über die Paruſie, Lur. 
21, 23., da, wie dort den Schwangeren und Säugenven in 
jener Zeit Wehe gerufen war, fo hier gefagt wird, es kommen 
'jutger, im welchen ai geipes, xal xoıllaı di ax Eyevınam, 
xal uasoi Oi 8x EInlacor, werden glüdlich gepriefen werben; 
theils ift aus Hoſea 10, 8. geborgt, denn das zore apkorres 
Atysıv Tois 00801 x. T. 4. ift beinahe wörtlich die aleranpris 
nifche Lleberfegung jener Stelle. 

Den Plag der Hinrichtung nennen fämmtlihe Evange⸗ 
liſten Golgatha, das chaldäifche nm9323 und erflären dieſe 
Bezeichnung durch xoavie Toros oder xgaviov (Matth. V. 33. 
yaral.). Der Iebteren Bezeichnung nach koͤnnte es fcheinen, 
der Ort fei von feiner ſchädelförmigen Figur fo genannt ge- 
wefen: wogegen die erftere Erklärung und (wohl aud bie 
Natur der Sache wahrfcheinlicher macht, daß er feiner Bes 
flimmung als Richtplag und den daſelbſt verfceharrten Gerippen 
und Schädeln der Hingerichteten feine Benennung verdankte. 
Wo diefer Plab gelegen war, ift nicht befannt, doch ohne 
Zweifel außerhalb der Stadt; auch daß er ein Hügel gewefen, 
wird nur vermuthet. 6) 

Den Hergang nach der Ankunft Jeſu auf dem Richtplatz 
erzählt Matthäus (V. 34 ff.) in etwas fonderbarer Folge. 
Zuerft erwähnt er des Jefu angebotenen Tranks; dann, daß, 
nachdem fie ihn an das Kreuz gefchlagen, die Soldaten feine 
Kleider vertheilt haben; hierauf, wie fie ſich niedergefegt, um 
ihn zu bewacen; nad dieſem die dem Kreuze gegebene 


ce. Paulus und? Fritzſche z. d. Abſchn. Winer, bibl. Realm. 
d. A. Golgatha. 





Drittes Kapitel. $. 132%. 511 


Ueberſchrift, und nun erſt wird, und zwar nicht als Nachholung, 
ſondern durch eine Partikel der Zeitfolge (roͤre), die Notiz 
angeknuͤpft, daß man mit ihm zwei Räuber gekreuzigt habe. 
Während Marfus dem Matthäus folgt, nur daß er flatt der 
Angabe der Bewachung des Kreuzes eine Zeitbeftimmung hat, 
berichtet Lukas richtiger zuerſt die Kreuzigung der beiden 
Berbrecher mit Jeſu, dann erft die Kleiderverloofung, und 
in ähnlicher Abfolge auch Johannes. Deßwegen aber bie 
Verſe bei Matthäus umzuftellen (34. 37. 38. 35. 36.), wie 
vorgefrhlagen wurde, 7) ift unerlaubt, und man muß vielmehr 
auf vem Berfaffer des erften Evangeliums die Befchuldigung 
liegen laffen, daß er über dem Beſtreben, von den Hauptvor- 
gängen bei der Kreuzigung Jeſu nur keinen zu übergehen, 
die natürliche Zeitfolge vernachläffigt habe. ®) 

Was die Art der Kreuzigung betrifft, ift jest Faum mehr 
etwas ftreitig, ald nur die ‚Frage, ob. dem Gefreuzigten außer 
den Händen auch die Füße angenagelt worden fein? Die 
Bejahung diefer Frage liegt ebenfo im Interefle der orthodoren, 
wie die Verneinung in dem der rationaliftifchen Anficht. Bon 
Zuftin dem Martyrer an?) bis auf Hengftenberg! und 
Dishaufen finden die Orthodoren in den angenagelten 
Füßen Jeſu eine Erfüllung der Weiffagung Pf. 22, 17., wo. 
die LXX. opv&av yeipag us xal muodag überfegt; allein im. 
Grundtert ift fehwerlich von Durchbohren, in keinem Fall von 
einer Kreuzigung die Rede; auch wird die Stelle im N. T. 
nirgends auf Chriftum angewendet. Den Rationaliften hinges 
gen wird es theilß leichter, den Tod Jeſu für bloßen Scheintod 
‘ zu erklären, theils nur dann möglich, zu begreifen, wie er nad) 


— 


7) Bon Waſſenbergh, in der Diss. de trajectionibus N. T. zu 
Valckenaer's scholae in 11. quosd. N. T. 2, p. 31, 

8) Bgl. Schleiermanher, über den Lukas, ©. 2955 Winer, 
RN. T. Gramm. &. 226., und Fritzſche, in Matth. p. 814. 

9) Apol. 1, 35. Dial. c. Tryph. 97. 

20) Chriſtologie des A. T. 1, a. ©. 182. ff. 


512 u Dritter Abfchnitt. 


der Auferftebung fogfeich wieder gehen fonnte, wenn an ben 
Füßen feine Verwundung ftattgefunden hatte: allein vielmehr, 
wenn e8 fich geſchichtlich ergäbe, daß wirffich auch die Füße 
Jeſu angenagelt waren, müßte gefolgert werden, daß die Wie- 
derbelebung und das baldige Wandeln nach derfelben entweder 
. auf übernatürlihe Weife, oder gar nicht gefchehen fei. Neues 
ftens ftehen ſich beſonders zwei gelehrte und gründliche Unter— 
ſuchungen diefes Punktes, von Paulus und von Bähr, jene 
gegen, diefe für die Annagelung der Füße, gegenüber. 1) Aus 
der evangelifchen Erzählung kann die erftere Anficht vor Allem 
das für fich geltend machen, daß weder jene Pfalmftele, vie 
doch unter Vorausfegung einer Sußannagelung dem Pragma⸗ 
tismus der Evangeliften fo nahe lag, irgendwo benuͤtzt, noch 
in der Auferftehungsgefchichte neben den Nägelmahlen in ben 
Händen und der Seitenwunde einer Wunde in den Füßen ge 
dacht ift (Joh. 20, 20. 25. 27.): wogegen die andere Anficht 
fih nicht ohne Grund darauf beruft, daß Luc. 24, 39. Jeſus 
Die Jünger auffordert: idere zag yeipag us xal Tag nrodag us, 
wo zwar, daß die Füße burchbohrt geweſen, nicht gefagt, aber 
auch ſchwer zu begreifen ift, wie, bloß um von der Realität 
feines Körpers überhaupt zu überzeugen, Jefus gerade die Füße 
vorgezeigt haben fol. Daß unter den Kirchenvätern auch folche, 
welche, vor Eonftantin lebend, die Kreuzigung noch aus eigener 
Anfchauung kennen fonnten, wie Juſtin und Tertullian, 
die Füße Jeſu angenagelt werden laffen, ift von Gewicht, und 
wenn man auch aus ber Bemerkung des letzteren: qui (Christus) 
solus a populo tam insigniter crucifixus est, 1%) fhließen 
fönnte, der Pfalmftelle zulieb haben diefe Väter angenommen, 
Ehriftus fei ausnahmsweife mit Durchbohrung auch der Füße 


11) Yaulus, im exeg. Handbuch 3, b, S. 669-754; Bähr, in The 
lud? liter. Anzeiger für chriftl. Theol. 1835, Ro. 1—6.. Val. auch 
Neander, 8. 3. Chr., S. 636. Anm. 

12) Adv. Marcion. 3, 19. 


⁊ 








Drittes Kapitel. $. 132. 518 


Füße gefreuzigt worden : fo wird Doch, wenn vorher die Durdh- 
bohrung der Hände und Füße die propria atrocia crucis 
genannt war, deutlich, daß jene Worte nicht eine ausgezeichnete 
Art der Kreuzigung, fondern die im A. T. nicht vorkommende, 
Jeſum vor allen Andern auszeichnende Todesart der Kreuzigung 
bedeuten. Unter den Stellen der Profanferibenten ift die wich: 
tigfte die Plautinifche, wo, allerdings als. ausnahmsweile ver- 
jchärfte Kreuzigung, offigantur bis pedes, bis brachia, vur- 
fommt. 83) Hier fragt es fih: fol das Ungewöhnliche in dem 
bis beftehen, fo daß als das auch fonft Uebliche die einfache 
Anheftung fowohl von Füßen ald Händen vorausgefegt wird; 
oder fol das bis offigere der Hände, d. h. daß beide Hände 
angenagelt wurden, das Gewöhnliche geweien, das Annageln 
beider Füße aber als außerordentliche VBerfhärfung hinzugekom⸗ 
men fein? wovon jeder dad Erftere den Worten angemeffener 
finden wird. Hienach feheint fi mir dermalen das Ueberge⸗ 
wicht der hiftorifchen Gründe auf Seiten derer zu neigen, welche 
behaupten, daß Jeſu am Kreuz beides, Hände und Süße an⸗ 
genagelt worden feien.. | 
Noch vor der Kreuzigung war es laut der beiden erften 
Evangeliften, daß Jeſu ein Getränk angeboten wurde, welches 
Matthäus (B. 34.) ald 0505 vera yolis uewyusvov, Markus 
(B. 23.) als doumpvıouzvov olvov bezeichnet, das aber beiden 
äufolge Jeſus, bei Matthäus nachdem er es vorher gefoftet, 
nicht zu fich nehmen mochte. Da man nicht begreift, zu wel- 
chem Zwede man unter ven Eiffig Galle gemifcht haben möge, 
fo erflärt man gewöhnlich die x0oAr7 des Matthäus, aus dem 
Eouugvıousvov des Markus, von bitteren vegetabilifchen Ingre- 
bienzien, wie namentlich Diyrrbe, und liest dann auch ftatt 
0505 entweder geradezu olvor, over verfteht doch jenes von fau- 
rem Wein, !%) um fo das betäubende Getränf aus Wein und 


— — — —— — 


15) Mostellaria 2, 1. 
2) S. Kuinoͤl, Paulus, z. d. © 
U. Band. 33 


514 Dritter Abſchnitt. 


fiarfen Sperereien herauszubringen, welches nach jüdifcher Sitte 
den Hinzurichtenden zur Abftumpfung des Schmerzgefühls ge- 
reicht zu werben pflegte.) Allein wenn auch der Tert diefe 
Lesart, und die Worte diefe Erflärungen zuließen, fo würde 
doch wohl Matthäus gegen die Hinausdeutung ber wirklichen 
Galle und des Eſſigs aus feiner Erzählung fehr proteftiren, 
weil ihm dadurch die Erfüllung der Worte des auch fonft mef- 
fianifch gebrauchten Unglüdspfalms 69, B. 22. (LXX.): xai 
Edwxov Eis 10 Powua us xolrp, xel eis vv Ölyov us Eno- 
zıooy ue 650g, verloren ginge. Diefem Drafel gemäß meint 
Matthäus unftreitig wirflihe Galle: mit Eifig, und aus der 
Bergleichung des Marfus darf nur die Frage genommen wer- 
den, ob es wahrfcheinlicher fei, daß der Vorgang, wie ihn 
Marfus darftellt, das Urfprüngliche gewefen, was erft Matthäus 
zu genauerer Aehnlichkeit mit der Weiffagung umgeformt, ober 
ob Matthäus urfprüngli den Zug aus der Pjalmftelle ge 
fchöpft, Markus ‚aber ihn hinterher zu größerer gefchichtlicher 
Wahrfcheinlichfeit umgebildet habe? " 
Um hierüber entfcheiden zu koͤnnen, müffen wir auch Die 
beiden andern Evangeliften mit in die Betrachtung ziehen. 
Bon einer Tränfung Jeſu mit Effig nämlich melden alle viere, 
und auch jene beiden, welche den mit Galle vermifchten Eſſig, 
oder den Myrrhenwein, als den erften Tranf, der Jeſu geboten 
wurde, haben, wiſſen fpäter noch von einer Tränfung mit 
bloßem Effig zu fagen. Nach Lukas war das 0505 rg09pEgEIV 
eine Verhöhnung, welche die Soldaten gegen Iefum, wie es 
fheint, nicht fehr lange nach der Kreuzigung, noch vor ber 
Zinfterniß, vornahmen (B. 36 f.); nach Markus reichte Kurz 
vor dem Ende, drei Stunden nach Entftehung der Finferniß, 


15) Sanhedrin, f. 43, 1, bei Wetftein, p. 635: Dixit R. Chaja, f. 
R. Ascher, dixisse R. Chasdam: exeunti, ut capite plectatur, 
dant bibendum granum turis in poculo vini, ut alienetur mens 


ejus, sec. d. Prov. 31, 6: date siceram pereunti et vinum ama- 
ris anima. 





Dritteß Kapitel. $. 132. 515 


einer der Umſtehenden auf den Ruf Jeſu: mein Gott u.f.w., _ 
ihm, gleichfalls in fpötrifcher Abſicht, mittelft eines auf ein ' 
Rohr geſteckten Schwammes Eſſig dar (2. 36.); nah Mat⸗ 
thäus bot ihm einer der Umftehenden auf eben jenen Ruf hin 
‚ und auf diefelbe Weife den Eflig, "aber in guter Abficht, wie 
man daraus fieht, daß die Spötter ihn davon abhalten wollten 
(2. 48° f.); 9) wogegen es bei Johannes auf den ausprüdlichen 
Ruf: dupo, ift, daß einige einen Schwamm in ein nahe fte- 
hendes Gefäß mit Effig tauchten, und auf einem Yſopſtengel 
zum Munde Zefu brachten (B. 29.) Man hat daher drei 
verfehiedene Verſuche, Jeſum zu tränfen, angenommen: den 
erften vor der Kreuzigung, mit dem betäubenden Tranfe (Matth. 
und Marfus); den zweiten nach der Kreuzigung, wo ihm bie 
Soldaten zum Hohne von ihrem gewöhnlichen Getränf, einer 
Mifchung aus Effig und Waffer, posea genannt,!?) boten (Lukas), 
und endlich die dritte Tränfung, welche auf den Hagenden Ruf 
Sefu erfolgte (Matth. Marf. und Joh.). 9) Allein, will man 
einmal IUngleichlautendes auseinanderhalten, fo muß man aud 
folgerecht verfahren: fol die von Lufas berichtete Tränfung 
von der ded Matthäus und Markus wegen einer Zeitdifferenz 
verfrbieden fein, fo ift die des Matthäus von der des Markus 
durch eine Differenz der Abficht verfchieden, und wiederum if 
das, was Johannes berichtet, nicht dafjelbe mit dem, was Die 
beiden erften Synoptifer, da e8 ja auf einen ganz andern Ruf 
Jeſu erfolg. So befämen wir im Ganzen fünf Tränfungen, 
und fönnten wenigftens nicht wohl begreifen, warum Jeſus, 
nachdem ihm jchon dreimal Efjig zum Munde geführt war, noch 
zum viertenmal zu trinfen verlangt hätte. Müſſen wir demnach 
auf Vereinfachung bedacht fein: fo ift aber Feineswegs nur Die 
Tränfung -bei den zwei eriten Evangeliften und dem vierten 








16) ©. Fritzſche, z. d. St. 

17) Bol. Paulus, z. d. St. 

18) So Kuinöl, in Luk. p. 710 f.; Tholud, ©. 316. 
33 * 





516 ‚Dritter Abſchnitt. 


wegen bes Zufammentreffend ver Zeit und ber Art ver Dar- 
reichung für Eine zu erklären, fondern ebenfo die des Markus 
(und mittelft dieſer die übrigen) mit der des Lufas wegen 
Bleichheit der höhnifchen Abſicht. So bleiben uns zwei Trän- 
fungen, die eine vor ber Kreuzigung, die andere nach derfelben, 
und beide haben, die erftere an der jüdifchen Sitte mit dem 
betäubenden Trank für Hinzurichtende, die andere an der 
römifchen, vermöge welcher die Soldaten zu Expeditionen, 
dergleichen auch, die Vollziehung der Hinrichtung eine war, 
ihre posca mit fich zu führen pflegten, einen hiftorifchen, an 
der Weiffagung, Pf. 69, aber einen prophetifchen Haltpunft. 
Beide Haltpunkte wirfen entgegengefeßt: der prophetifche erregt 
Berdacht, ob auch wirklich der Erzählung etwas Gefchichtliches 
zum Grunde liege; der Hiftorifche. macht es zweifelhaft, daß 
die ganze Sache-nur aus Weiflagungen follte herausgefponnen 
fein. ' 
Vleberbliden wir noch einmal die verfchievenen Berichte, 
fo find wenigſtens ihre. Abweichungen ganz von ber Art, 
wie: .fie aus verfchiedener Anwendung der Pſalmſtelle entfte- 
ben fonnten. Da in berfelben von Galleeſſen und Eſſig⸗ 
trinken die Rede war, fo frheint man zunächſt das Erftere, 
als undenkbar, bei Eeite gelaffen,. und die Erfüllung jener 
Weiffagung darin gefunden zu haben, daß, was wohl hiftos 
riſch fein Fann, wie ed von allen vier Evangeliften gemeldet 
wird, Jeſus am Kreuze mit Effig getränft worden fei. Dieß 
fonnte man entweder ald Handlung des Mitleivs, wie. Mats 
thaͤus, und Johannes, oder des Spottes, mit Markus und 
Lukas, betrachten. Da auf diefe Weife zwar das Emorısaw 
we 0505, noch nicht aber auch das Eis zw div us ed 
Drafeld wörtlich erfült war, fo hielt e8 der Verfaſſer des 
vierten Evangeliums für wahrfcheinlich, daß Jeſus auch wirk⸗ 
lich die Empfindung des Durftes geäußert, d. h. duvw geru⸗ 
fen habe; ein Ruf, den er ausprüdlich als Erfüllung der 
yoapn, worunter ohne Zweifel die genannte Pfalmftelle (vgl. 
Pf. 22, 16.) verftanden ift, bezeichnet, und zwar, indem er 


Drittes Kapitel. 5. 132%. 517 


das iva veleıwIn 7 ypaypr durch eidg 6 Inoäs, Orı navre 
707 rertlesar einleitet, fo feheint er faft fagen zu’ wollen, bie 
Erfüllung der Weiffagung fei die eigene Abficht Jeſu bei jenem 
Ausruf geweſen: allein mit folchem typologifehen Spiel wird 
fein am Kreuz im Todesfampf begriffener ſich abgeben, fondern 
nur fein in ruhiger Lage befindlicher Biograph. Indeß, aud 
hievurch war immer nur die eine Hälfte jenes meffianifchen . 
Berjes, die auf den Effig bezügliche, erfült: die von der Galle 
handelnde, welche als Inbegriff aller Bitterfeit zu einer Beier 
bung auf den leidenden Meſſias ganz beſonders geeignet fchien, 
war noch übrig. Zwar, daß x0oA7 als Bowua gegeben worden 
fei, was die Pfalmftelle firenggenommen verlangte, blieb als 
undenfbar bei Seite geftelt: wohl aber ſchien ed dem erften 
Evangeliften, oder wem er hier folgt, thunlich, die Galle als 
Ingredienz unter den Effig zu mifchen, eine Mifchung, welche 
dann freilich Jeſus, des übeln Geſchmacks wegen, nicht trinfen 
konnte. Der zweite Evangelift, mehr auf den pragmatifchen 
als auf den prophetifchen Zufammenhang bedacht, machte dann, 
mit Beziehung auf eine jünifche Eitte, und vielleicht zufammen- 
treffend mit der gefchichtlichen Wirklichkeit, aus dem Eſſig mit 
Galle bitteren Myrrhenwein, und ließ Jeſum diefen, ohne 
Zweifel aus Scheue vor Betäubung, ausfchlagen. Da aber 
diefen beiden Evangeliften neben der Erzählung von dem mit 
Galle gemifchten Eſſig auch noch die urfprüngliche, von bloßem 
Eſſig, zugekommen war: ſo wollten ſie dieſe durch jene nicht 
verdraͤngen laſſen, und ſtellten daher beide nebeneinander. Hie⸗ 
mit ſoll aber, wie ſchon bemerkt, nicht eben geläugnet werden, 
daß Jeſu vor der Kreuzigung ein ſolcher Miſchtrank, und 
nachher noch Eſſig möge gereicht worden fein, da jenes, wie 
es fcheint, gewöhnlich, und diefes bei dem Durft, welcher die 
Gekreuzigten plagt, natürlih war: nur fo viel fol gefagt fein, 
daß die Evangeliften diefen Umftand, und zwar in fo verfchie- 
denen Wendungen, nicht deßwegen erzählen, weil fie hiftorifc) 
wußten, er fei auf diefe oder jene Weife wirflich vorgekommen, 
jondern weil fie dogmatifch überzeugt waren, er müſſe jener 





sis Dritter Abfchnitt. 


Weiffagung zufolge, die fie aber verfchiebentlich anwandten, fich 
ereignet haben. 1%) | 

Während oder unmittelbar nach der Kreuzigung läßt Lukas 
Jeſum fprechen: nareg, &pes avroigs 8 yap oldaoı Ti Tr0L808 
(B. 34.); eine Fürbitte, die man bald auf die Soldaten, Die 
ihn kreuzigten, befchräntt, 9) bald auf die eigentlichen Urheber 
feines Todes, die Synedriſten und Pilatus, ausdehnt.?) So 
angemefien eine folche Bitte den fonftigen Grundfägen Jeſu 
über Feindesliebe ift (Matth. 5, 44), und fo viele innere 
Glaubwürdigfeit von Diefer Seite die Notiz des Lufas hat: 
fo ift doch, zumal er mit verfelben allein fleht, darauf auf: 
merffam zu machen, daß möglichermweife diefer Zug aus dem 
für mefftanifch gehaltenen Abfchnitte Jeſ. 53. genommen fein 
fönnte, wo es im lesten Vers, in bemfelben, aus weldyem 
auch das uera avouam EAoyloIn entlehnt ift, heißt: 239! DiyVeb) 
was zwar Die LXX. unrichtig durch di“ Tag wvoules euren 
rcagedo9n, aber bereits das Targum Jonathan durch pro 
peccatis (follte heißen peccatoribus) deprecatus est, wies 
dergibt. 
Daß mit Jefu zugleich dvo xaxdpyor, welche Matthäus 
und Markus als Ansas bezeichnen, in der Art gefreuzigt wor⸗ 
den feien, daß fein Kreuz in der Mitte fand, darin flimmen 
die Evangeliften zufammen, und Markus, wenn fein 28ter 
Vers ächt iſt, ſieht darin eine woͤrtliche Erfüllung des jeſaia⸗ 
niſchen: era wouwv EAoylogn, welches nach Lukas 22, 37. 
Jeſus ſchon am Abend vorher als eine demnächſt an ihm zu 
erfüllende Weiſſagung angeführt hatte. Von dem weiteren 
Berhalten diefer Mitgefreuzigten berichtet uns Johannes nichts; - 
die beiden erften Eynoptifer laſſen fie Schmähungen gegen 
Jeſum ausftoßen (Matth. 27, 44. Marc. 15, 32.): wogegen 


9) Bol. auch Bleek, Comm. zum Hebräerbrief, 2, S. 312. Anm.; be 
Wette, ereg. Bandb. 1, 3, ©. 198. ’ 

2) Kuinöl, in Luc. p. 710. 

21) Dlshaufen, ©. 484; Reander, ©. 637. 








Drittes Kapitel. $. 132. 519 


Lufas erzählt, nur der eine von ihnen habe fich dieſes er- 
laubt, fei aber von dem andern zurechtgewiefen worden (23, 
39 ff). Am dieſe Differenz auszugleichen, haben bie Erfläs 
rer die Vorausfegung gemacht, zuerfi mögen wohl beide Bers 
brecher Jeſum gefchmäht haben, dann aber. durch die außer: 
ordentliche Finſterniß der eine umgeftimmt worden fein; 22) 
neuere haben fich auf ein enallage numeri berufen: 22) gewiß 
aber nur diejenigen recht gejehen, welche eine wirfliche Diffe- 
renz zwifchen Lukas und feinen Wormännern zugaben. 2%) 
Dffenbar haben von dem Genaueren, was jener über das Ver⸗ 
hältniß der beiden Mitgefreuzigten zu Jeſu zu berichten weiß, 
die zwei erften Evangeliften nichts gewußt. Näher erzählt 
nämlich Lufas, als der eine der beiden Verbrecher Jeſum 
durch die Aufforderung höhnte, wenn er wirklich der Meſſias 
fei, fich und fie zu befreien, habe ihm der andere folchen 
Hohn gegen einen, mit dem er doch das gleiche Schidfal 
und zwar als Schuldiger mit dem Unſchuldigen theile, ernft- 
lich verwiefen, Jeſum aber gebeten, wenn er in feiner Baouleie 
fommen werde, feiner zu gedenken; worauf ihm Sefus das 
Berfprechen gegeben habe, noch heute werde er mit ihm 
&v 19 rragadeiog fein. An diefer Scene ift vorn herein nichts 
Anftößiges, bis zu der Anrede des zweiten Mitgefreuzigten 
an Jeſum. Denn um von einem am Kreuz Hängenden ein- 
‚fliges Kommen zur Errichtung des Meſſtasreichs zu erwar⸗ 
ten, dazu gehörte das ganze Syſtem von einem fterbenden 
Meſſias, welches die Apoftel vor der ‚Auferftehung ‘nicht be> 
griffen, und welches fomit ein Ansns vor ihnen gefaßt haben 
müßte. Dieß ift fo unmwahrfcheinlich, daß es Fein Wunber ift, 
wenn Manche in der Befehrung des Räuberd am Kreuz ein 


22) So Chryſoſtomus u. %. 

3) Beza und Grotius. 

2) Paulus, ©. 7635 Winer, R. T. Gramm. ©. 149; Fritzſche, 
in Matth. p. 817. 


320 Dritter Abfchnitt. 


Wunder haben fehen wollen, ?°) und ed wirb durch bie 
Annahme, welche die Erflärer zu Hülfe rufen, der Menich 
werde wohl fein gemeiner, fondern ein politifcher Verbrecher, 
vielleicht einer der avsucıacwv des Barabbas, gewefen fein, ?% 
nur noch undenfbarer. Denn war er ein zum Aufruhr ges 
neigter Israelit, des auf Befreiung feines Volks vom römi- - 
fchen Joche hinarbeiten wollte: fo war gewiß auch feine Idee 
vom Meffias am weiteften davon entfernt, einen politifch fo 
ganz Vernichteten, wie Jeſus damals war, als folchen anzus 
erfennen. Man ift daher zu der Frage veranlaßt, ob man 
bier wirkliche Gefchichte, und nicht vielmehr eine fagenhafte 
Bildung vor fi) habe? Zwei Uebelthäter waren mit Jeſu 
gefreuzigt, fo viel hatte ohne Zweifel die Gefchichte.Coder auch 
dieß fchon die Weiffagung Gef. 53, 12.2) an die Hand ge- 
geben. Sie hingen zunäcft als ftumme Perfonen da, wie 
wir fie im vierten Evangelium finden, in veffen Entftehungs- 
gebiet nur die einfache Nachricht, daß fie mit Jeſu gefreuzigt 
worden, gebrungen war. Sp unbenügt aber konnte fie Die 
Sage in die Länge unmöglich laſſen: fie öffnete ihnen ben 
Mund, und da fie übrigens nur von Schmähungen ber Um⸗ 
gebenven zu berichten hatte, fo Fieß fie in den allgemeinen 
Hohn gegen Jefum auch die beiden Uebelthäter, zunächft ohne 
nähere Angabe ihrer Reden, einftimmen (Matth. und Markus). 
Doch die Mitgefreuzigten ließen ſich noch beſſer benügen. Hatte 
ein Pilatus Zeugniß für Jeſum abgelegt, zeugte bald darauf 
ein römifcher Genturio, ja Die ganze wunderbar aufgeregte 
Natur für ihn: fo werden auch feine beiden Leidenägenofien, 
wiewohl Verbrecher, gegen den Eindrud feiner Größe nicht 
ganz verſchloſſen geblieben ſein, ſondern, wenn zwar der eine, 


2) ©. Thilo, Cod. apoer. 1. ©. 143. Weitere apokryphiſche Nach⸗ 
richten von ben beiden Mitgekreuzigten finden ſich im evang. infant. 
arab. c. 23, bei Thilo, p. 92 f.3 vgl. die Anm. p. 1435; im ev. 
Nicod. c. 9. 10, Thilo, p. 581 ff. e. 26, p- 766 ff. 

26) Yaulus und Kuinöl, 3. d. St. 











Drittes Kapitel. $. 132. 521 


ber urfprünglichen ‚Geftaltung der Sage gemäß, läfterte, fo 
mußte wohl der andere fich in entgegengefegtem Sinn geäußert, 
und Glauben an Jeſus als den Meffias bewieſen haben (Lukas). 
Ganz im Geift der jüdiſchen Denf- und Redeweiſe ift dann 
feine Anrede an Jeſum und deſſen Antwort; denn das Pa⸗ 
tadieg war nach damaliger BVorftellung derjenige Theil der 
Unterwelt, welcher die Seelen der Frommen in der Zwifchen- 
zeit zwifchen ihrem Tod und der Auferfichung beherbergen 
follte; um eine Stelle im Paradies und ein gnädiges Andenfen 
im fünftigen Yeon bittet der Israelite Gott, und fo hier den 
Meflias, ?) und von einem ausgezeichnet frommen Manne 
glaubte man, daß er den in feiner Sterbeftunde Anweſenden 
in das Paradies einführen Fönne. 29) 

Dem Kreuze Jeſu wurde nach römifcher Sitte?) eine 
enıyoogn (Marc. Luc), ein zirios (Joh.), angeheftet, ver 
ı7v eiriv avrd (Matth. Marc.) enthielt, welche nach fämmt- 
lichen Evangeliften durch die Worte; .o Baoıdlevs ruv Isdaiow 
bezeichnet war. Lukas und Johannes melden, daß diefe Aufs 
fehrift in drei Sprachen zu Iefen geweſen fei, und der leptere 
gibt noch die Rotiz, daß die juͤdiſchen Obern den Spott, der 
in diefer Faſſung der Ueberſchrift gegen ihre Nation lag, wohl 
gefühlt, und deßhalb den Pilatus, jedoch vergeblih, um Ab- 
änderung derjelben gebeten haben (V. 21 f.). 

Bon den Soldaten, welche Jefum gefreuzigt hatten, deren 
Zahl Johannes auf vier angibt, berichten die Evangeliſten 
einſtimmig, daß ſie die Kleider Jeſu mit Anwendung des Loo⸗ 
ſes unter ſich vertheilt haben. Nach dem römifchen Geſetze de 


27) Confessio Judaei aegroti, bei Wetſtein, p. 820: — da portio- 
nem meam in horto Edenis, et memento mei in seculo futuro, 
quod absconditum est justis. Andere Stellen ſ. bei ebendemf., p. 819. 

28) Cetuboth f. 103, bei Wetſtein, p. 819: Quo die Rabbi moritu- 
rus erat, venit vox de coelo, dixitque: qui praesens aderit mo- 
rienti Rabbi, ille intrabit in paradisum. 


2) © Wetftein, z. d. St. des Matthäus. 


522 Dritter Abſchnitt. 

bonis damnatorum 3) fielen die Kleivungsftüde ber Hin 
gerichteten als spolia den Vollftredern des Lirtheild zu, und 
infofern hat jene. Angabe der Evangeliften einen hiſtoriſchen 
Anhaltspunkt. Doch, wie die meiften Züge diefer letzten Scene 
im Leben Jeſu, Hat ſie audy einen prophetifchen. Bei Matthäus 
zwar ift die Anführung der Stelle Pf. 22, 19. ohne Zweifel 
eingefchoben; ficher Acht dagegen daſſelbe Citat bei Johannes 
(19, 24.): ba 7 yoag ninoosn 7 Atysoor (wörtlich nach ber 
LXX.) 'dısusploevro Ta iuerıa us Eavroig, xel Ent Tov iue- 
zu us EBahov »Anoo. Auch hier hat nad) der Verficherung 
der orthodoxen Ausleger der Verfaſſer des Pfalms, David, 
nach einer höheren *eitung, im Zuftande der Begeifterung 
folche bildliche Ausdrücke gewählt, welche bei Ehrifto im eigent- 
lichen Sinne zugetroffen find. 9) Vielmehr aber gab David, 
oder wer fonft der Urheber des Pfalms ift, als ein Dann 
von dichteriſchem Geifte jene Ausdrüde nur bilplich, im Sinne 
von gänzlichem Unterliegen ; aber die Hleinlichte, profaifche Aus⸗ 
legungsweife der Juden, weldye Die Evangeliften ohne ihre 
Schuld theilten, und von welcher fich die orthodoxen Theologen, 
aber durch eigene Schuld, nach 18 Jahrhunderten noch immer 
nicht frei gemacht haben, glaubte jene Worte eigentlich nehmen, 
und in dieſem Sinn ald am Meffias erfüllt nachweifen zu müflen. 
— Ob nun die Evangeliften die Kleiververloofung mehr aus 
hiftorifchen Nachrichten , die ihnen zu Gebote flanden, oder aus 
der prophetifchen Stelle, welche fie. verfchiedentlich auslegten, 
gefchöpft haben, muß aus der Vergleichung ihrer Berichte fich 
ergeben. Diefe weichen darin von einander ab, daß, während 
den Synoptifern zufolge ſämmtliche Kleider durch das Loos 
vertheilt wurden, was ſchon aus dem dısueploavro ra iuarım 
aurs, Baklovreg xAnpov bei Matthäus (V. 35.) und der ähn- 
lichen Wendung des Lukas (DB. 34.), am entichiedenften aber 


%) Angeführt bei Wetſtein, p. 536, womit übrigens die Tertberichtigung 
von Paulus, ereg. Handb., 3, b, ©. 751, zu pergleicen if. 
3), Tholuck, z. d. St. 


Drittes Kapitel. $. 132. 523 


aus dem Zuſatz des Markus: zis ci Con (B. 24.), erhellt: 
bei Sohannes die übrigen Stüde ohne 2008 vertheilt, und nur 
um das Unterkleid geloost wird (DB. 23 f.). Diefe Abweichung 
wird gewöhnlich viel zu leicht genommen, und ſtillſchweigend 
fo behandelt, als ob die Darftellung der Synoptifer zur johan⸗ 
neifchen ſich nur wie die unbeftimmtere zur beftimmteren vers 
hielte. Kuinoͤl überfegt mit Rüdficht auf den Johannes das 
Matthäifche dususpibovro BaAlovres geradezu durch: partim 
dividebant, partim in sortem conjiciebant; allein jo läßt 
ſich nicht theilen, fondern das dusuegißovco gibt an, was, das 
Bailovres xAnpov, wie fie es gethan haben; ohnehin über das 
tis ri con ſchweigt Kuinoͤl fill, weil hierin unverkennbar 
liegt, daß fie um mehrere Stüde geloost haben: während fich 
nad Johannes das 2008 nur auf Ein Kleidungsftüd bezog. 
Fragt es fich nun, welche von beiden widerfprechenden Angaben 
die richtige fei, fo lautet auf dem jehigen Standpunfte der 
vergleichenden Evangelienfritif die Antwort dahin, daß der 
Augenzeuge Johannes das Richtige gebe, den Synoptifern 
aber fei nur das linbeftimmte zu Ohren gefommen, daß bei 
der Vertheilung der Kleider Jeſu die Soldaten das 2008 in 
Anwendung gebracht haben, und dieß haben fie aus Unkenntniß 
der näheren Verhältniffe fo verftanden, als ob. über fämmtliche 
Kleivungsftüde Zefu das Loos geworfen worden wäre. 39. 
Allein, wenn ſchon der Umftand, daß gerade Johannes allein 
es ift, der die Pfalmftelle ausprüdlich anführt, eine vorzügliche 
Berüdfichtigung derfelben von feiner Seite beweist: fo ift übers 
haupt dieſe Abweichung der Evangeliften eine foldhe, welche 
einer verfchiedenen Auslegung jener Stelle auf's Genauefte 
entfpricht: Wenn der Palm von einem Bertheilen der Kleider 
und Berloofen des Gewandes redet: fo ift im Sinne des hebrät- 
fhen Parallelismus das zweite nur nähere Beflimmung des 
erften, und in richtigem Verſtändniß hievon feßen die Syn⸗ 
optifer das eine der beiden Verba in’s Participium. Wer 


”) 3.8. bei Theile, zur Biographie Iefu, $. 36. Anm. 13. 


524 Dritter Abſchnitt. 


aber entweder dieſe Eigenheit des hebrätfchen Sprachgebrauchs 
nicht berüdfichtigte, oder ein Intereſſe hatte, jeden einzelnen 
Zug der Weiffagung als beſonders erfüllten herauszuheben, der 
konnte jened näher beftimmende Und als hinzufügen faſſen, 
und fo in dem Berloofen einen von dem Vertheilen verfchiedenen 
Act finden. Dann mußte auch ‚der öneriouos (UAD)) > welcher 
urfprünglich ein. synonymum yon iuarıa (O2) war, ein 
von dieſen verfchiedenes Kleidungsftüd werden, deſſen nähere 
Beftimmung, weil fie im Wort auf feine Weife lag, dem Bes 
lieben überlaflen blieb. Der vierte Evangelift beftimmte es als 
xırov, und weil er feinen Lefern auch einen Grund ſchuldig 
zu fein glaubte, warum auf dieſes Stüd ein von der Vertheis 
lung der übrigen fo verfchievenes Verfahren angewendet worden 
fei, brachte er heraus, der Grund, warum man das Unterfleid 
lieber verloofen als zertheilen wollte, werde wohl gewefen fein, 
daß es Feine das. Zertrennen begünftigenden Nähte gehabt 
(agsepos), aus Einem Stüd gewoben (üpavrog dı’ öAs) ges 
wefen fei. 3) Da hätten wir alfo bei dem vierten Evangeliften 
ganz daſſelbe Verfahren, wie wir es in der Gefchichte des 
Einzugs auf Seiten des erften gefunden haben: beidemale die 
Berdoppelung eines urfprünglich einfachen Zugs aus falfcher 
Faſſung des 1 im hebrätfchen Parallelismus; nur ift der erfte 
Evangelift an jener Stelle darin noch weniger willkürlich, als 
hier der vierte, daß er uns wenigſtens mit der Aufſpürung 
des Grundes verſchont, warum damals für Einen Reiter zwei 
Eſel haben requirirt werden müſſen. Je mehr ſich auf dieſe 
Weiſe die Darſtellung des bezeichneten Punkts bei den Evan⸗ 
geliſten abhängig zeigt von der Art, wie jeder jene vermeintlich 
prophetiſche Pſalmſtelle verſtand: deſto weniger ſcheint eine 


33) Die Ausleger merken hiezu an, daß auch das Kleid des juͤdiſchen Hohen⸗ 
prieſters von dieſer Beſchaffenheit war. Joseph. Antiq. 3, 7, 4. — 
Dieſelbe Anſicht von obiger Differenz iſt bereits in den Probabilien auf⸗ 
geſtellt, p- so f. 








Drittes Kapitel. $. 132. 525 


ſichere Hiftorifehe Kunde an ihrer Darftellung Theil gehabt zu 
haben, und wir wiflen demnach nicht, ob bei der Vertheilung 
der Kleider Jeſu das Loos angewendet, ja ob überhaupt unter 
dem Kreuze Jeſu eine Kleiververtheilung vorgenommen worden 
ift; fo zuverfichtlich fich Juftin gerade auch für Diefen Zug 
auf die Acten des Pilatus beruft, welche er nie gefehen hatte. 3%) 

Bon dem Benehmen der bei'm Kreuze Jeſu anweſenden 
Juden meldet und Johannes nichts; Lufas läßt das Wolf zus 
ſchauend daftehen, und nur. die agyovres und die Soldaten 
Jeſum durch die Aufforderung, fih zu retten, wenn er der 
Mefiias fei, wozu von Seiten ber leßteren noch das Anbieten 
des Eſſigs kommt, verhöhnen (V. 35 ff); Matthäus und Mars 
kus haben von einem Spotte ‚ver Soldaten hier nichts, dafür 
aber laſſen fie außer den «pyızgeis, yoauuereis und rosoßv- 
Teg01 noch die rapamogevouevor Läfterungen gegen Jeſum aus⸗ 
flogen (B. 39 ff. 29 ff.). Die. Aeußerungen diefer Leute be: 
ziehen ſich theils auf frühere Reden und Thaten Jeſu, wie der 
Spott: 6 xeralvam Tov vaov xal &v Teuwiv nuepeus olxodous, 
W009 Error (Matth. Mark), auf die gleichlautende Rebe, 
die man Jeſu zufchrieb, der Vorwurf aber: alas Eowoe, 
Eavsov 8 duveraı 0wocs oder 0woasw Eavrov (bei allen dreien), 
auf feine Heilungen fich bezieht. Theils aber ift das Benehmen 
der Juden gegen den Gefreuzigten nach demfelben Pjalm ges 
zeichnet, von welchem Tertullian mit Recht fagt, daß er 
totam Christi passionem in ſich enthalte. 5) Menn wir 
naͤmlich bei Matthaͤus und Markus leſen: ob d2 TI@agaropEvVo- 
— eBheogruev (Lukas von ‚den GgxovesS : E&euverngıhov) 
aUToV, xiwärres Tas nepalas aurov xal Azyovrss: fo ift dieß 
doch gewiß nichts Anderes, als was Pf. 22, 8. (LXX.) ſteht 
avves ob Iewgärris ue Eisuvnıngioav ue, ElaArcov Ev yei- 
Aeuv, Exivnoov xepeirv, und hierauf bei Matthäus die den 
Synedriften geliehenen Worte: nErIOLd Er End 10 eo, 


3%) Apol. 1, 35, 
35) Adv. Marcion. a. a. O. 


326 Dritter Abſchnitt. 


duocoſo viv airov, sl Ielsı avröv, find ganz dieſelben wit 
den Worten des folgenden Berfes in jenem Pſalm: 7Anıoer 
eni Kupwv, 6v0a0IWw aurov 0WORTWw avrov, Orı Pelz «urn. 
Kann nun zwar jenes Spotten und Kopffchütteln der Feinde 
Jeſu, unerachtet die Zeichnung deſſelben nach einer A. T.lichen 
Etelle abgefchattet ift, dennoch gar wohl wirffich fo vor fich 


gegangen fein: fo verhält es ſich Dagegen mit dieſer ven Spöt- 


tern geliehenen Rede anders. Worte, Die, wie Die angegebenen, 
im 4. T. den Feinden des Frommen in den Mund gelegt find, 
fonnten die Synedriften nicht aboptiren, ohne damit fich felbft 
als Gottlofe hinzuftellen; wovor fie ſich wohl ‚gehütet haben 
werden. Nur die chriftliche Sage, wenn fie einmal den Pfalm 
auf das Leiden Jefu, und namentlid auf feine letzten Stunden, 
anwandte, konnte auch diefe Worte ven jüdiſchen Obern in 
den Mund legen, und barin die Erfülung einer Weiffagung 
finden. j | | | 
Daß von den Zwölfen einer bei der Kreuzigung Jeſu zu⸗ 
gegen gewefen wäre, davon melden bie zwei vorderen Evans 
geliften nichts: fie erwähnen bloß mehrerer galiläifchen Frauen, 
von welchen fie drei namhaft machen: nämlich Maria Magdalena ; 
Maria, die Mutter des Heinen Jakobus und des Joſes; 
die dritte bezeichnet Matthäus als die Mutter der Zebedaiden, 
Markus nennt fie Salome, was nach der gewöhnlichen Ans 
fiht Eine und diefelbe Perfon ift (Matth. B. 55 f. Mare. 
V. 40 f.): die Zwölfe fiheinen fih nach ihnen von ihrer 
Flucht bei Jeſu Gefangennehmung noch nicht wieder gefammelt 
gehabt zu haben. %) Bei Lukas dagegen find unter den 
notes ol yvwgoi avrd, welche er der Kreuzigung zuſehen 
läßt (DB. 49.), wohl auch die Zwölfe mitzubegreifen: das 
vierte Evangelium aber nennt von den Jüngern ausprüdlich 
denjenigen, oy zyarı@ 0 I, d. h. ven Sohannes, als anmwefend, 


⁊ 


36) Juſtin, Apol. 1, 50. und ſonſt, ſpricht gar von Abfall und Verlaͤug⸗ 
nung aller Zünger nad) der Kreuzigung Jeſu. 








Drittes Kapitd. ©. 132. 527 


und unter den Frauen, neben Maria Magdalena und der 
von Klopas benannten, flatt der Mutter der Zebebäiven vie 
eigene Mutter Jefu.. Und zwar, während nach allen übrigen 
Berichten die Bekannten Jefu ‚uorpoIev ftehen, müßten dem 
vierten Evangelium zufolge Johannes und die Mutter Jeſu 
in der nächften Nähe des Kreuzes geftanden haben, ba nach 
defien Bericht Jeſus vom Kreuze herunter den Johannes zum 
Stellvertreter in dem kindlichen Verhaͤltniß zu feiner Mutter 
beruft (V. 25 fi.) Wenn Olshaufen den Widerfpruch, 
welcher zwifchen ver ſynoptiſchen Angabe und der johanneifchen 
Borausfegung von der Stekung der Belannten Jeſu zu feinem 
Kreuze ftattfindet, dur Die Vermuthung zu heben meint, 
daß dieſelben Anfangs zwar ferne geftanden, fpäterhin aber 
einige nahe an das Kreuz herangetreten feien: fo ift hiegegen 
zu bemerfen, daß die Spnoptifer gerade am Schluffe der 
Kreuzes⸗ und Todesfrene, unmittelbar vor der Kreugabnahme, 
jener Stellung der Angehörigen Jeſu gedenken, aljo voraus⸗ 
feten, daß fie diefelbe bis zum Ende der Scene eingenommen 
haben; was wir der furdhtfamen Stimmung ber Jünger in 
jenen Tagen, und namentlich der weiblichen Schüchternheit, 
ganz angemefien finden müſſen. Könnte man zwar von ber 
mütterlichen Zärtlichkeit vieleicht den Heroismus eines .näheren 
Hinzutretens erwarten: fo macht Dagegen das völlige Schweigen 
der Synoptifer, ald der Interpreten der gewöhnlichen evan- 
gelifchen Tradition, die hiſtoriſche Realität jenes. Zuges zwei⸗ 
felhaft. Die Synoptifer Fönnen weder von der Anwefenheit 
der Mutter Jeſu bei'm Kreuz etwas gewußt haben, fonft 
würden fie vor allen anderen Frauen fie als die Haupt: 
perfon namhaft machen; noch frbeint von einem engeren Ber: 
hältniß berfelben zu Johannes etwas befannt gewefen zu fein: 
wenigftens läßt die Apoftelgefchichte (1, 12 f.) die Mutter 
Sefu mit den Zwölfen überhaupt, feinen Brüdern und den 
Frauen zufammen fein. Wie aber die Kunde von jener rüh- 
renden Gegenwart und diefem merkwürdigen Verhältniß verloren 
gehen Eonnte, begreift fich wenigftens nicht fo leicht, als wie 


& 


528 | Dritter Abſchnitt. 


fie in dem Kreife, aus welchem das vierte Evangelium her- 
vorgegangen ift, hat entftehen fünnen. Wenn wir ung diefen 
Kreis als einen folchen denken, in welchem der Apoftel 
Sohannes befondere Verehrung genoß, weßwegen ihn denn 
unfer Evangelium aus der Dreizahl der genaueren Vertrauten 
Jeſu heraushebt, und allein zum Lieblingsjünger macht: 
fo konnte zur Beflegelung dieſes Berhältnifies nichts Schlagen- 
deres gefunden werden, als die Angabe, daß Jeſus die theuerfte 
Hinterlaffenfchaft, feine Mutter (in Beziehung auf welche, wie 
auf den angeblichen Lieblingsjünger, ohnehin die Frage nahe 
lag, ob fie in diefer letzten Noth von der Seite Jefu gewichen 
feien 9), dem Sohannes gleichfam Tegtwillig übergeben, dieſen fomit 
an feine Stelle gefebt, ihn zum vicarlus Christi gemacht habe. 

ft die Anrede Jeſu an die Mutter und dei Jünger 
dem vierten Evangelium eigenthümlich: fo findet ſich umgefehrt - 
der Ausruf: 7A, ni, Aaua oußeydooi; mur in ben zwei 
erften Evangelien (Matth. B. 46. Marc. ®. 34.). Diefer 
Ausruf und der innere Zuftand, aus welchem er hervorge- 
gangen, wird, wie der Seelenfampf in. Gethſemane, von ber 
firchlichen Anfiht als ein. Theil des ftellvertretenden Leidens 
Jeſu gefaßt. Da man fi) jedoch auch hier das Auffallende nicht 
verbergen konnte, . welches Darin liegt, «wenn der bloß Törper- 
Tiche Schmerz, verbunden mit dem Außerlichen Unterliegen feiner 
Sache, Jeſum bis zum Gefühle der Gottverlaffenheit niedergevrüdt 
haben follte, während es vor und nach ihm folche gegeben hat, 
welche unter eben fo großen Leiden doch die Faſſung und. Stärfe 
des Geiftes beibehalten haben: fo hat. die Firchliche Anftcht auch 
hier zu dem natürlichen förperlichen und Seelenſchmerz ald den 
eigentlichen Grund jener Stimmung Jeſu ein Zurüdweichen 
Gottes von feinem Innern, eine Empfindung des göttlichen 
Zorns, hinzugefügt, was an der Stelle ver Menfchen, die es 
eigentlich als Strafe verdient hätten, über ihn verhängt wor: 
den fel.?) Wie aber bei ven Firchlichen Borausfegungen 


— — — 





‚ 3) S. Calvin, Comm. in harm. evv. “ Matth. 27, 46. Dlspaufen 
bb St 


Trittes Kapitel $. 132. 529 


über die Perfon Ehrifti ein Zurüdweichen Gottes von feinem 
Innern gedacht werben könne, mögen die Vertheidiger biefer 
Anficht ſelbſt zuſehen. Sol es die menfchliche Natur in ihm 
gewefen fein, die fich fo verlafien fühlte, fo wäre ihre Einheit 
mit der göttlichen unterbrochen, alfo die Grundlage ver Per⸗ 
fönlichkeit Chrifti nach jenem Syftem aufgehoben gewefen; ober 
die göttliche, fo hätte fich die zweite Perfon in der Gottheit 
von der erften losgerifien; der aus beiden Naturen beftehente 
Gottmenfch aber Tann ed ebenfowenig gewejen fein, was fich 
gottverlafien fühlte, da diefer ja eben die Einheit und Unzer⸗ 
trennlichfeit des Göttlichen und Menfchlichen if. So durch 
den Widerfpruch dieſer fupranaturaliftifchen Erklärung zu der 
natürlichen Ableitung jenes Ausrufs aus dem Gefühl des 
äußeren Leidens zurüdgeworfen, und duch von der Annahme, 
daß durch dieſes Jeſus fo tief follte gebeugt gewefen fein, ab- 
geftoßen, hat man dem Ausruf einen mildern Sinn unterzus 
legen verfudht. Da es die Anfangsworte des für dieſen legten 
Abſchnitt im Leben Jeſu claffifchen Bf. 22. find, diefer Pfalm 
aber mit Hagender Schilderung tiefften Leidens zwar beginnt, 
doch im Verlaufe zu froher Hoffnung der Rettung fi) aufs 
fihwingt, fo hat man angenommen, die Worte, welche Jeſus 
unmittelbar ausfpricht, geben nicht feine ganze Empfindung, 
fondern ‚. indem er den erften Vers ausfpreche, eitire er damit 
ven ganzen Pfalm, namentlich auch feinen freudigen Schluß, 
gleich als wollte er fagen: auch ich zwar, wie der Verfaffer 
jenes Pfalms, fcheine jegt von Gott verlaffen; aber an mir, 
wie an ihm, wird fi nur um fo mehr die Hülfe Gottes ver⸗ 
herrlichen. 3) Allein, that Jefus jenen Ausruf in Bezug auf 
die Umſtehenden, um fie der baldigen Wendung feines Schick⸗ 
fals zu verfichern, fo hätte er es auf die zweckwidrigſte Weife 


—— 





3, So Paulus, Grattz, z. d. St. Schleiermader, Glaubens: 
lehre, 2, ©. 154. Anm. 


U. Band. 34 


530 . Dritter Abſchnitt. 


‚angegriffen, wenn er gerade diejenigen Worte des Pſalms 
ausgefprochen hätte, welche vom tiefften Elend handeln, . und 
er hätte flatt des erſten Verſes eher einen der Verſe vom 10ten 
bis 12ten, oder vom 20ten bis zum Ende, anführen müflen ; 
wollte er aber durch jenen Ruf nur feiner eigenen Empfindung 
Luft machen, fo würde er nicht diefen Vers gewählt haben, 
wenn nicht eben das in dieſem, fondern das in den folgenben 
ausgefprochene Gefühl fein eigenes in dieſem Augenblide ge= 
wefen wäre. War es aber fein eigenes, und, nach Befeitigung 
übernatürlicher Erflärungsgründe, aus feiner Damaligen äußeren 
Galamität hervorgegangen : fo fonnte derjenige, welcher, wie 
die Evangelien von Jeſu berichten, das Leiden und Sterben 
laͤngſt in. feinen Meffiasbegriff aufgenommen, mithin als gött- 
liche Fuͤhrung begriffen hatte, das nunmehr mwirflich eingetsetene 
fchwerlich als eine Gettverlaffenheit beflagen ; fondern der Ge- 
danfe würde fehr nahe liegen, Jeſus habe fi in früher 
gehegten Erwartungen durch die unglüdliche Wendung feines 
Schickſals getäufcht gefunden, umd fo in Durchführung feines 
Plans von Gott verlaſſen geglaubt. 2°) Doch auf folche Ver- 
muthungen hätten wir dann erft uns einzulaflen, wenn jener 
Ausruf Jeſu biftorifch ficher begründet wäre. In diefer Hin- 
fiht würde uns zwar das Stillfchweigen des Lufas und Jos 
hannes nicht ſo ſehr anfechten, daß wir. zu Erflärungen 
defielben unfre Zuflucht nähmen, wie die: Sohannes habe 
den Ausruf verfehwiegen, um nicht der gnoftifchen Anficht 
Vorſchub zu thun, als hätte ver leidensunfähige Neon Jeſum 
damals ſchon verlaffen gehabt; 9% wohl aber macht das Vers 
hältniß der Worte Jeſu zum 22ten Pſalm diefen Zug. verbäch- 
tig. Wear nämlich der Meffias einmal als leidender aufge: 
faßt, und wurde jener Pſalm gleihfam als ein Programm 
feines Leidens benügt, wozu es keineswegs des Anlaſſes bedurfte, 


— 





”) So ber Wolfenbüttler, vom Zweck Jeſu und feiner Sünger, &. 153. 
) Schnedenburger, Beiträge, ©. 66 f. 





Deittes Kapitel. 6. 132. 531 


daß Jeſus am Kreuz eine Stelle defielben wirklich angeführt 
hatte: fo mußten die Anfangsworte des Pfalms, welche das 
Gefühl des tiefften Leidens ausfprechen, fich ganz beſonders 
‚eignen, dem gefreuzigten Meflins in ven Mund gelegt zu 
werben. In biefem Falle Fönnte dann auch Die auf jenen Auss 
ruf Jeſu fich beziehende Spottrede *!) der Umſtehenden, öre 

ev pontt sroç u. ſ. w., nur. fo entſtanden ſein, daß dem 
Wunſche, für dieſe Scene dem Pfalm'gemäß verfchiedene Spott- 
reden zu befommen, der Gleichklang des Al in dem Jeſu ger 
liehenen Ausrufe mit dem auf den Meffins bezogenen Elias 
entgegen gefommen wäre. . 

Ueber den Ießten Laut, welcher von dem fterbenden Jeſus 
vernommen wurde, Differiren die Evangeliften. Nach: den bei- 
den erften war es bloß eine pwy7 ueyalr, mit welcher er ver- 
ſchied (®. 50. 37.); nach Lufas das Gebet; rareg, eig xeipag 
os nagadrcoueı To weine ua (B. 46.3; nach Johannes 
das kurze verelesas, worauf er das Haupt neigte und verfchted 
(V. 30.). Hier laffen fich die zwei erften Evangeliften mit je 
einem oder dem andern der folgenden durch die Annahme ver 
einigen: was jene unbeftimmt als lauten Schrei bezeichnen, 
und was man nad) ihrer Darftellung für einen unarticulirten 
Schmetzenslaut halten koͤnnte, davon geben diefe näher dic 


a) Rah Olshauſen, S. 495, ift ein folder na ber Rebe mit Feiner 
Sylbe angedeutet, vielmehr fol fchon jest fi ein heimlicher Schauder 
über die Gemuͤther auögebreitet, und die Spötter „bei dem Gedanken 
gebebt haben, Elias möchte im Wetter erfheinen. Allein, wenn fofort 
untes bem Vorwande, zufehen zu wollen, ei Zoyera "Hilo; , owawv auror, 
einer, der Jeſu zu trinken geben will, bavon abgemahnt wird, fo ift 
doch hiedurch jener Vorwand deutlicd genug als ein böhnifcher bezeichnet, 
und gehört alfo dee Schauder und das Beben nur der unwiſſenſchaft⸗ 
lichen Stimmung des bibl. Gommentatord an, in welder er fid) nament⸗ 
lich der Leidensgefhichte, als einem mysterium tremendum gegenüber 
befindet, und bie ihn auch ſchon in Pilatus eine Tiefe finden ließ, 
welche die Wvangeliften diejem Römer nirgends geben. 

4 34 * 


532 | Dritter Abfchnitt. 


Worte an. Schwerer hingegen fällt die Vereinigung der zwei 
legten Evangelien miteinander. - Denn fol nun Jeſus zuerft 
feine Seele Gott befohlen, und hierauf noch: es ift vollbracht! 
gerufen haben, oder umgefehrt: fo ift beides gleichfehr gegen 
die Abſicht der Evangeliften, da des Lukas xal zadra einwv 
SEervevosv nicht mit Baulus durch: bald nachdem er Diefes 
gefprochen, verfchied er, wiedergegeben werden kann, und 
Sohannes ſchon dem Worte nach einen Testen, abfchließenden 
Ausruf geben will, welchen aber ver eine fo, der andere an⸗ 
ders dachte. Dem Lukas fcheint - die für Bas Sterben Jefu 
gewöhnliche Formel: ragsdwxe To riveöpe zu einer ausdrüd- 
lichen Uebergabe des Geiſtes an Gott von Seiten Jeſu gewor- 
den zu fein, und mit Rüdficht auf die Stelle Bf. 31, 6. 
(EXX.): (wor) Eis yelpoas 08 TTegasNWoHKM TO Tivevue 8 
— eine Stelle, die fi) wegen ber genauen Aehnlichkeit dieſes 
Pſalms mit dem 22ten leicht darbot, fich zu jenem Ruf aus- 
gebildet zu haben. ?9 MWogegen der Verfafler des vierten Evan- 
geliums mehr aus der Situation Jeſu heraus ihm einen Ansruf 
geliehen zu haben feheint, indem er ihn durch das vezelzsas 
die Vollendung feines Werfes, oder die Erfüllung jämmtlicher 
Weiffagungen (mit Ausnahme natürlich deſſen, was ſich erft 
noch in der Aufesftehung vollenden und erfüllen follte), aus⸗ 
fprechen läßt. 

Doch nicht bloß dieſe Tegten, fondern auch fehon die frä- 
heren Reben Jeſu am Kreuze laſſen fi nicht fo, wie man 
gemeiniglich glaubt, in einander fehieben. Man zählt gewöhnlich 
fieben Worte Jeſu am Kreuze: allein fo viele hat Fein einzelner _ 
Evangelift, fondern die beiden erften haben nur Eines: ‚den 
Ruf za, mau. ſ. f.; Lukas hat drei: die Bitte für die Feinde, 
die Verheißung an den Mitgefreuzigten, umb die Uebergabe 
des Geiftes in des Waters Hände; Sohannes hat gleichfalls 
drei, aber andere: die Anrede an Mutter und Jünger, das 
dupo, und das zereiesar. Hier ließen jich die Fürbitte, bie 


2) Bgl. Credner, Ginleitung ih das N. T., 1, ©. 198. 


Drittes Kapitel. &. 132. \ Du H * ar 57 


Verheißung, und die Anempfehlung der Mutter Nah In foieher * a 
Aufeinanderfolge denken: aber das days und das zAl’y 
fich bereits , indem nach beiden Ausrufungen das Gteiche, die 
Tränfung mit Eſſig durch einen aufein Rohr geftedten Schwamm, 
erfolgt fein fol. Nimmt man hiezu Die Berwidlung bes zez£- 
lesceı und des narep x. v. A: fo follte man wohl einfehen 
und zugeftehen, daß Feiner der Evangeliften bei den Worten, 
welche er Jeſu am Kreuz in den Mund legt, auf diejenigen, 
welche der andere ihm leiht, gerechnet, und von denfelben etwas 
gewußt habe; vielmehr malt diefe Scene jeder auf feine Weife, 
je nachdem er oder die ihm zu Gebot ftehende Sage nach viefer 
oder jener Weiffagung oder fonftigen Rüdficht die Vorftellung 
von derfelben ausgebildet hatte. 

Eigenthümliche Schwierigfeit macht hier noch die Stunden- 
zählung. Nach fämmtlihen Synoptifern fand anro &errg weag 
Ews @gag Ervarıs (nad unfrer Rechnung von Mittags 12 bis 
Nachmittags 3 Uhr) die Finfterniß ftatt; nach Matthäus und 
Markus war ed um bie letztere Stunde, daß Jeſus über. Gott⸗ 
verlafienheit Elagte, und bald darauf den Geift aufgab; nad 
Markus war es wga zolın (Vormittags 9 Uhr) gewefen, als 
fie Jeſum freuzigten (B. 25.). Dagegen hat nad) Johannes 
(19, 14.) um die fechdte Stunde, wo nach Markus Jeſus be- 
reits drei Stunden am Kreuze hing, Pilatus erft über ihn zu 
Gericht gefefien. Dieß ift, wenn nicht, wie zu Hiskias Zeiten, 
der Sonnenzeiger rüdwärts gegangen fein-foll, ein Widerfpruch, 
der fich weder durch gewaltfame Aenderung der Lesart, noch 
durch Berufung auf das wgel bei Johannes, oder auf die Ins 
fähigfeit der Sünger, unter fo ſchmerzvollen Eindrüden die Stunde . 
genau zu beobachten, ‚heben läßt; höchftens vielleicht dadurch, 
wenn fich beweifen ließe, daß das vierte Evangelium durchaus 
von einer andern Stundenzählung als die übrigen auögehe. 2) 





#5) So Rettig, eregetifche Analekten, in Ulimann’e und Umbreit’s 
Studien, 1830, 1, ©. 106 ff.; Tholud, Glaubwürdigkeit, ©. 307 ff. 
Vgl. über die verfchiedenen Ausgieichungsverfuhe Lüde und be Wette 
z. d. St. des Joh. % 


— en 


Biertes Kapitel. 


Tod und Auferſtehung Jeſu. 


—— 





$. 133. 


Die Naturerſcheinungen beim Tode Jeſu. 


Der Tod Jeſu war nach den evangeliſchen Berichten von 
außerordentlichen Erſcheinungen begleitet. Schon drei Stunden 
vorher ſoll eine Finſterniß ſich verbreitet, und bis zu feinem 
Verſcheiden gedauert haben (Matth. 27, 45. parall.); im Aus 
genblide "des Todes fei der Vorhang im Tempel von oben an 
bis unten aus zerriffen, die Erve habe gebebt, die Felfen ſich 
gefpalten, die Gräber fich aufgethan, und viele Leiber heiliger 
Berftorbenen feien auferftanden, in die Stadt gefommen und 
Vielen erfchienen (Matth. B, 51 ff. parall.). In diefe Nach— 
richten theilen fich übrigens die Evangeliften fehr ungleich: 
nur das erfte enthält fie alle; das zweite und britte bfoß bie 

Finſterniß und das Zerreißen des Vorhangs; das vierte aber 
weiß von allen diefen Zeichen nichte. 
| Nehmen wir fie einzeln nach der Reihe vor: fo fann zuerft 
das oxorog, welches, während Jeſus am Kreuze hing, entftan= 
den fein foll, feine gewöhnliche, durch Dazwifchenfunft des 
Mondes vermittelte Sonnenfinfterniß gewefen fein, ) da e8 ja 


— 


1) Das Evang. Nicodemi läßt ge Juden fehr unverftändig behaupten : 


Ehe; ı2la yFyove zara TO &iWwFos. C. 11, p.. 592. bei Thilo. 











Viertes Kapitel. $. 133. 535 


am Paſcha, alſo um die Zeit des Vollmonds, war. Doc indem - 
nun auch die Evangelien nicht beftimmt von einer Sckenjıs rũ 
Als fprechen, ſondern die beiden erften nur überhaupt von xoros, 
wozu das dritte zwar etwas genauer: xal Eaxoriodn © ijmog, 
fegt, was aber gleichfalld von jeder Art der Verbunfelung bes 
Eonnenlichts gefagt werden Tann: fo lag es nahe, ftatt einer 
aftronomifchen eine atmofphärifche Urfache dieſer Finfternig zu 
denken, und fie von verbunfelnden Dämpfen in der Luft, wie 
fie zumal vor Erdbeben herzugehen pflegen, abzuleiten.) Daß 
folche Verdunkelungen der Luft über ganze Länder fich ausbrei- 
ten fönnen, ift richtig; aber nicht nur ift die Angabe, daß die 
damalige Erri saoov.vder Odrw ynvy, d. b. der natürlichften 
Erflärung zufolge über den ganzen Erdkreis, fich erftredt habe, 
als Uebertreibung der Berichterftatter in Abzug zu bringen: 9) 
fondern auch die im Zujammenhang ihrer Darftellung deutliche 
Borausfegung eines übernatürlichen Urfprungs der Finfternig 
erfeheint in Ermangelung eines genügenden Zwedes eines fol- 
chen Wunders ald eine unbegründete. - Fragt man nach der 
mit dieſen Nebenzügen noch nicht von felbit fchon fallenden 
Olaubwürdigfeit des Ereignifjes: fo. beriefen fich für dieſe Die 
Kirchenväter auf Zeugnifle heidniſcher Schriftfteller, von weldyen 
namentlich Phlegon in feinen zeovwois jene Sinfterniß ange: 
merft haben follte: *) allein wenn man bie bei Eufebius wahr- 
fcheinlich aufbewahrte Stelle des Phlegon vergleicht, fo ift in 
diefer nur Die Olympiade, fchwerlich das Jahr, in feinem Falle 
die Jahrszeit und der Tag dieſer Finfterniß beftimmt. ?) Neuere 
berufen fich auf ähnliche Fälle aus der alten Gefchichte, von 
welchen’ namentlih Wetftein eine reiche Sammlung angelegt 
hat. Er bringt aus griechifchen und römifchen Schriftftellern 





2) So Paulus und Kuindl, z. d. St; Haſe, 8. 3. $. 143; 
Reander, 2. $. Chr. ©. 639 f. \ 

5) Vgl. Fritzſche und de Wette, ;. d. St. des Matth. 

2) Tertull. Apologet. c. 21; Orig. c. Cels, 2, 33. 59. 

5) Euseb. can. chron. ad. Ol. 20% ann. 4. Vgl. Paulus ©. 765 ff, 


die Notizen von den Sonnenfinfternifien bei, welche bei der 
Wegnahme des Romulus, bei'm Tode Cäfar’s°) und ähnlichen 
Ereignifien, flattgefunden; er führt Ausſprüche an, welche die 
Vorftelung enthalten, daß Sonnenfinfterniffe den Sturz von 
Reihen, den Top von Königen bedeuten; endlich weist er 
A. T.liche (Jeſ. 50, 3. Joel 3, 20. Amos 8, 9. vgl. Ser. 15, 
9.) und rabbinifche Stellen nad, in welchen theils die Berfin- 
fterung des Tageslichts als das göttliche Trauercoftüm befchrie- 
ben, ?) theil3 der Tod großer Lehrer mit dem plöglichen Untergang 
der Sonne am Mittag verglichen, ®) theild die Anficht vorge 
tragen wird, daß bei dem Tode hoher hierardhifchen Beamten, 
wenn ihnen die legte Ehre nicht erwiefen werde, die Eonne 
fih zu verfinftern pflege.) Aber ftatt Stügen der Glaubwürbig- 
feit der evangelifchen Erzählung zu fein, find diefe Parallelen 
ebenfo viele Brämiffen zu dem Schluffe, daß wir auch hier nur 
eine aus verbreiteten Vorftellungen entfprungene chriftliche Sage 
haben, welche den tragifchen Tod des Meffiad von der ‚ganzen 
Natur durch ihr folennes Trauercoftüm mitfeiern laſſen wollte. !9) 

Das zweite Prodigium ift das Zerreißen des Tempelvor⸗ 
hangs, ohne Zweifel des inneren, vor dem Allerheiligften, indem 
Das Diefen bezeichnende AFP von der LXX. durch zarentrasue 
wiedergegeben zu werben pflegt. Auch dieſes Zerreißen des 
Vorhangs glaubte man als natürliches reigniß deuten zu 


6) Serv. ad Virgil. Georg. 1, 465 ff.: Constat, occiso Caesare in 
Senatn pridie Idus Martias, solis fuisse defectum ab hora sexta 
usque ad noctem. 

7) Echa R. 3, 28. 

8) R. Bechai Cod. Hakkema: Cum insignis Rabbinus fato conee- 
deret, dixit quidam: iste dies gravis est Israeli, ut cum sol 
oceidit ipso meridie. 

*) Succa, f. 29, 1: Dixerunt doctores: quatuor de causis sol deti- 
cit: prima, ob patrem domus judicii mortuum, cui exequiae non 
fiunt ut decet etc. 

10) ©. Fritzſche, 3. d. &t. Bol. auh de Wette, exeg. Handb., 
1, 1, S. 2385 Theile, zur Biogr. Jeſu, $. 36. 





Viertes Kapitel.  $. 133. 537 


fünnen, indem man e8 ald Wirfung der Erverfchütterung ans 
ſah. Allein von Diefer ift, wie ſchon Lightfoot richtig be- 
merkt, eher begreiflich, wie fie feite Körper, dergleichen die nach⸗ 
her erwähnten rezgau find, als wie fie einen dehnbaren, frei: 
hängenden Vorhang zu zerreißen im Stande war. Daher foll 


nun nad Paulus Annahme der Vorhang im Tempel aus: . | 


gefpannt, unten und auf den Seiten befeftigt gewefen fein. 
Allein theils ift dieß bloße Vermuthung; theild, wenn das 
Erdbeben die Wände des Tempels ſo ftarf erfehütterte, daß ein, 
ob auch ausgefpannter, doch immer noch dehnbarer Vorhang 
zerriß: fo wäre von ſolcher Erfchütterung wohl eher etwas am 
Gebäude eingefallen, wie nach dem Hebräerevangelium gefche- 
ben fein fol:'15 wenn man nicht mit Kuinoöl die weitere 
Vermuthung hinzufügen will, ver Vorhang fei vor Alter mürbe, 
und daher auch durch eine Feine Erfehütterung zu zerreißen ge⸗ 
wefen. Daß in feinem Fall unfere Berichterftatter an einen 
folchen Caufalzufammenhang gedacht haben, beweist des zweiten 
und dritten Evangeliften Schweigen von dem Erbftoß, und bei 
dem erften das, Daß er deflelben erft nach dem Zerreißen des 
Vorhangs gedenkt. Müſſen wir demnach diefes Ereigniß, wenn 
es fich wirflid) zugetragen haben fol, als wunderbares feft- 
halten: fo könnte der göttliche Zweck bei deffen Hervorbrin⸗ 
gung nur biefer gemwefen fein, auf die jüdiſchen Zeitgenoflen 
einen ftarfen Eindruf von der Bedeutfamfeit des Todes Jeſu 
hervorzubringen, und den erften Verkündigern des Evange- 
liums etwas an die Hand zu geben, worauf fie fich in ihren 
Beweisführungen ftügen fönnten. Allein, wie auh Schleier- 
macher herausgehoben hat, nirgends fonft im N. %., weder 
in den apoftolifchen Briefen, noch in der A. G., noch im 


31) Hieron. nd Hedib. ep. 149, 8. (vgl f. Comm. 3. d. St.): In evan- 
gelio autem, quod hebraicis literis scriptum est, legimur, non 
velum templi scissum, sed superliminare templi mirae magnitu- 
dinis corruisse. 





558 Dritter Abſchnitt. 


Brief an die Hebraͤer, auf deſſen Wege es faſt nicht umgangen 


werden konnte, geſchieht dieſes Ereigniſſes Erwaͤhnung: ſondern 
bis auf dieſe trockene ſynoptiſche Notiz iſt jede Spur deſſelben 
verloren; was ſchwerlich der Fall fein Fönnte, wenn es wirklich 
einen Stuͤtzpunkt apoftolifcher Beweisführung gebilvet hätte. 
Es müßte alfo die göttliche Abficht bei Veranftaltung dieſes 
Wunders durchaus verfehlt worden fein; oder, da dieß un- 
denkbar ift, fo kann es nicht um dieſes Zweckes willen, d. 6. 
aber, da ſich weder ein andrer Zwed des Wunders, noch ein 
natürlicher Hergang der Sache venfen läßt, gar nicht gefchehen 
fein. — In anderer Weife- fommt freilich ein eigenthümliches 
Verhältnig Jeſu zum jüdifchen Tempelvorhang im Hebraͤerbrief 
zur Sprache. Während vor Chriſto nur die PBriefter in das 
Heilige, in das Allerheiligfte aber nur der Hohepriefter Ein- 
mal des Jahrs mit dem Sühnungsblute Zutritt gehabt habe, 
fei Chriftus als ewiger Hoherpriefter mittelft feines eigenen 
Blutes Eis TO Eowrepov TE xuraneraouaros, in das Aller: 
heiligfte des Himmels, eingegangen, womit er der rro0dpowuos 
der Chriſten geworben fei, und auch ihnen den Zugang dahin 
eröffnet, eine alwıor Auroworwv geftiftet habe (6, 19 f. 9, 
6—-12. 10, 19 f). Diefe Metaphern findet auch Paulus 
unferer Erzählung fo verwandt, daß er es möglich findet, dieſe 
zu den Fabeln zu rechnen, welche nach dem Henfe’fihen 
Programm e figurato genere dieendi abzuleiten find; 2) 
wenigftens fei die Sache, wenn auch wirklich vorgefallen, 
doch den Ehriften vorzüglich wegen jener, den Bildern des 
Hebräerbriefs verwandten ſymboliſchen Beveutfamfeit wichtig 
gewefen: daß nämlich durch Chrifti Tod der Vorhang des 
jüdifchen @ultus zerriffen, der Zutritt zu Gott ohne Prieſter 
durch roogeiveiv &v ravevuarı jedem eröffnet fei. Iſt aber, 
wie gezeigt, die gefchichtliche Mahrfcheinlichfeit des fraglichen 


42) Diejelbe Möglichkeit räumt auch Neander, doch unter Vorausfegung 
irgend einer thatfächlichen Grundlage, ein (©, 640 f.). 








Viertes Kapitel. $. 133. 339 


Ereigniffes fo ſchwach, dagegen die Anläffe, aus welchen die 
Erzählung ohne hiftorifchen Grund ſich bilden fonnte, jo be 
deutend: fo ift es folgerichtiger, mit Schleiermacher den 
Borgang als gefrhichtlichen ganz faufzugeben, in Erwägung, 
daß, ſobald man anfing, das Verdienſt Ehrifti unter den im 
Brief an die Hebräer herrſchenden Bildern darzuftellen, ja ſchon 
bei ven erften, leifeiten lebergängen zu diefer Lehrweiſe, bei 
der erften Aufnahme der Heiden, die man zum jünifchen Cultus 
nicht verpflichtete, und Die alfo auch ohne Antheil an den jüdi⸗ 
ſchen Sühnungen blieben, folche Darftellungen in die chriftlichen 
Hymnen (und die evangelifchen Erzählungen) fommen mußten. !3)' 
Ueber das folgende: 7 y7 Eoaiodr, xel ai Tieren Eoxie- 
Ir00v, kann nur im JZufammenhang mit dem Borhergehenden 
geurtheilt werden. Ein Erdbeben, welches Zelfen zerreißt, ift 
als natürliche Erfcheinung nicht unerhoͤrt: nicht felten aber 
fommt e8 auch als poetifche over mythifche Ausſchmuͤckung eines 
großen Todesfalles vor, wie Virgil bei CAjar’s Tode nicht 
allein die Sonne ſich verfinſtern, ſondern auch von ungewohn⸗ 
ter Erſchütterung die Alpen erzittern läßt. ) "Da wir nun 
die vorhergemeldeten Prodigien nur aus dieſem letzteren Ge⸗ 
ſichtspunkte haben faffen können, und da überdieß gegen Die 
hiftorifche Begründung der jest vorliegenden Züge ihr alkeiniges 
Borfommen bei Matthäus fpricht: fo werden wir auch fie nur 
fo anfehen, wie Fritzſche ſagt: Messiae obitum atrocibus 
ostentis, quibus, quantus vir quummaxime exspirässet, 
orbi terrarum indicaretur, illustrem esse oportebat. >) 


13) Ueber ben Lukas, ©. 2983. ol. de Wette, ereg. Handb., 1, 1 
©. 240. 

) Georg. 1, 463 ff. 

15) Wenn Hafe, $. 133, fehreibt: „(es) erbebte die Erde, mittrauernd 
um ihren größten Sohn”: fo fieht man, wie der Hiftoriker, indem er 
jenen Zug als geihichtlihen feftyalten will, dabei unwillkürlich zum 
Poeten wird, und menn der Verf. in der zweiten Auflage die Phrafe 
durch ein eingefegtes „gleichſam“ mitdert: fo zeigt ſich weiter, daß fein 
Hiftorifches Gewiſſen ihn barüber zu ſchlagen nachträglich nicht unter⸗ 
laſſen hat. 


510 Dritter Abſchnitt. 


Das legte, gleichfalls dem erftien Evangelium eigenthüme 
liche Wunderzeichen bei'm Tode Jeſu ift die Eröffnung der 
Gräber, das Hervorgehen vieler Todten aus denfelben, und 
deren Erfcheinung in Serufalem. Diefen Vorgang fich denkbar 
zu machen, fällt befonvers ſchwer. An fich fchon ift weder Har, 
wie es dieſen althebräifchen ayloug !%) nach diefer Auferftehung 
ergangen fein follte; ) noch auch ift über den möglichen Zweck 
einer fo außerorbentlichen Beranftaltung etwas Genügendes 
auszumitteln.1) Rein in den Auferwedten felbft fcheint ber 
Zwed nicht gelegen zu haben, da ſich fonft fein Grund denken 
ließe, warum fie alle eben im Augenblide des Todes Jeſu auf- 
erweckt wurden, und nicht jeder in dem durch den Gang feiner 
eigenen Entwidlung bedingten Zeitpunfte. War aber die lie- 
berzeugung Anderer der Zwed: fo wäre dieſer noch weniger 
erreicht worven als bei dem Wunder des zerriffenen Vorhangs, 
da auf die Erfcheinung der Heiligen nicht nur in den apofto- 
lifchen Briefen und Reden jede Berufung fehlt, fondern aud 
unter den Evangeliften Matthäus mit feiner Erwähnung ber- 
felben allein fteht. Eine? beſondere Schwierigfeit erwäkhst aus 
der feltfamen Stellung, welche zwiſchen den frheinbar zufam- 
mengehörigen Momenten ber Begebenheit die Zeitbeftimmung : 
uera Trv Eyegow ur, einnimmt. Denn wenn man diefe 
Morte zum Vorhergehenden zieht, alfo die verftorbenen Frommen 
im Augenblide des Todes Jeſu nur wieverbelebt werben, aus 
den Gräbern aber erft nad feiner Auferfiehung gehen Iäßt, 


16) Nur an ſolche, nit an sectatores Christi, wie Kuinoͤl will, ift zu 
denken. Sm Evang. Nicodemi, c. 17, find es allerdings auch Verehrer 
Zefu, welche bei diefer Gelegenheit auferftehen, naͤmlich Simeon (aus 
Luc. 2.) und feine beiden Söhne; die Mehrzahl aber bilden auch nad) 
biefem Apocryphum, wie nad) ber avapoe« Illars (Thilo, p. 810.), 
nad) Epiphanius, orat. in sepulcrum Chr. 275, Ignat. ad Magnes. 
9. u. U. (vgl. Thilo, p. 780 ff), A.T.liche Perfonen, wie Adam 
und Eva, die Patriarchen und Propheten. 

17) Vgl. die verſchiedenen Meinungen bei Zhilo, p. 183 f. 

18) VBgl. befonders Eichhorn, Einl, ind. N. T. 1, ©. 446 ff. 





Vierted Kapitel. $. 133. 541 


fo wäre dieß eine Qual für Verdammte, nicht ein Lohn für 
Heilige gewefen; verbindet man dagegen jene Zeitbeftimmung 
mit dem Folgenden, fo daß Die Auferwecten zwar gleich nach 
ihrer bei'm Tode Jeſu erfolgten Wiederbelebung auch aus den 
Gräbern hervorgegangen fein, aber erft nach feiner Auferſte⸗ 
bung follen in die Stadt haben gehen vürfen: fo fucht man 
von dem Lepteren vergeblich irgend einen Grund. Dieſe 
Schwierigfeiten zu vermeiden, ift e8 eine grobe Gewalthülfe 
gewefen, die ganze Stelle ohne Fritifche Gründe für einge- 
ſchoben zu erflären; 19) feiner tft die Art, wie die rationali- 
ftifchen Erflärer durch Befeitigung des Wunderbaren in dem 
Ereigniß auch die übrigen Echwierigfeiten wegzuräumen fuchen. 
Wie beim Zerreißen des Vorhangs wird auch hier meiftens 
an, das Erdbeben angefnüpft: durch Diefes follen mehrere 
Grabmäler, namentlich aud von Propheten, geöffnet worden 
fein, in welchen man, fei es, daß fie verfchüttet, oder verwest, 
oder von wilden Thieren geraubt worden waren, feine Leichen 
mehr gefunden habe. Als nun nah Jeſu Auferftehung die 
ihm Geneigten unter den Bewohnern Serufalems voll von 
Auferftehungsgedanfen geweſen, jo haben dieſe Gedanfen, zu=- 
fammen mit den leergefundenen Gräbern, Träume und Bi- 
fivnen in ihnen erregt, in welchen fie die in jenen Gräbern 
beigefegt gewefenen frommen Borfahren zu ſehen geglaubt 
ahben. ?) Allein die Ieergefundenen Gräber hätten auch mit 
der Kunde von Jeſu Auferftehung zufammen fehwerlich folche 
Träume bervorgebradht, wenn nicht fehon vorher unter den, 
Juden die Erwartung geherrfcht hätte, der Meſſias werde bie 
verftorbenen frommen Israeliten auferweden. War aber Diefe 


19) Stroth, von Interpolationen im Evang. Matth. In Eihhorn’s 
Repertorium, 9, ©. 159. Nicht viel befler ift die Kern’fche Aus: 
Eunft, die Stelle ats Einfchiebfel des griechifchen Ueberſetzers u betraͤch⸗ 
ten. Weber den Urſprung bes Ev. Matth. ©. 25. und 100. 

2) So Paulus und Kuindl, 3. d. Et., welder leotere dieſe Erklaͤrung 


eine mythiſche nennt. 


542 | Deitter Abſchnitt. 


Erwartung vorhanden, fo fonnte aus derſelben, eher ala Träume, 
vielmehr die Sage von einer bei'm Tode Jeſu gefchehenen Auf- 
erftehung der Heiligen hervorgehen; weßwegen Hafe mit Recht 
die Borausfegung von Träumen fallen läßt, und allein mit 
hen leer gefundenen. Gräbern auf der einen und jener jüdiſchen 
Erwartung auf der andern Seite auszureichen ſucht.?) Näher 
angeſehen indeß, wenn einmal diefe Vorftellung vorhanden war, 
fo bedurfte es Feiner wirklichen Eröffnung der Gräber, um einem 
folhen Mythus Entftehung zu geben: und fo hat Schneden- 
burger bie leer gefundenen Gräber aus feiner Rechnung weg⸗ 
gelafien. Wenn nun aber er ftatt befien von vilionären 
Erfcheinungen fpricht, welche, durch Jeſu Auferftehung ange- 
regt, feine Anhänger in Jerufalem gehabt haben: fo ift dieß 
eben fo einfeitig, wie wenn Hafe, die Träume weglafiend, 
an der Graböffnung feflhält; da, wenn einmal bad eine, 
dann auch das andere diefer engverbundenen Momente als 
gefchichtlich aufgegeben werden muß. 

Freilich ift hiegegen nicht ohne Echein bemerkt worden, 
dag zur Erklärung des Entfichens eines folchen Mythus die 
angeführte jüdiſche Erwartüng nicht ausreiche. ?9 Die Erwar⸗ 
tung war näher dieſe. Vom Apoftel Raulus (1. Thefl. 4, 16. 
vgl. 1. Kor. 15, 22 f.) und beftimmter aus der Apokalypſe 
(20, 4 f.) wiſſen wir, daß die erften Ehriften bei der Wie⸗ 
derfunft Chrifti einer Auferftehung der Frommen entgegenfahen, 
welche fofort mit Chrifto 1000 Jahre regieren follten; erft nach 
Diefer Zeit follten dann auch die übrigen auferſtehen, und von 
dieſer zweiten Auferſtehung wurde jene als 7 Magamız „7 gun, 
oder raw dixaiov (Luc. 14, 149), wofür Ju ſt in 7 ayla we- 
seoıs hat, 2) unterſchieden. Doch dieß ift ſchon die chriftias 
nifirtte Form der jüdiſchen Vorftellung; viefe bezog fich nicht 


21) 2, 3. 8. 148. 

22) neber den Urfprung, ©. 67. 

3) Yaulus, ereg. Handb., 3, b, S. 798. 
2) Dial. c. Trypb. 113. 





Biertes Kapitel. 6. 133. 543 


auf die Wiederkunft, fondern auf die erfte Ankunft des Mefs 
fiag, und erwartete bei diefer nur die Auferftehung der Israe⸗ 
fiten. ?°) In die Zeit der erften PBarufie des Meſſtas verlegt 
nun zwar auch die Rachricht bei Matthäus jene Auferwedung; 
aber warum fie diefelbe gerade an feinen Tod fnüpft, dafür 
liegt allerdings in ber jüdiſchen Erwartung an und für fidh 
fein Grund, und in der Mopdification, welche. die Anhänger 
Jeſu an diefer Erwartung anbracdhten, hätte, wie es fcheint, 
eher ein Anlaß gelegen, die Auferwedung der Frommen mit 
feiner Auferftehung zu verbinden; zumal die Anfnüpfung an 
feinen Tod mit der fonftigen urchriſtlichen Vorftellung in Wider- 
foruch zu fommen fcheint, welcher zufolge Jeſus rewroroxog 
&x Tv vergiv (Kol. 1, 18 Offenb. 1, 5.), anapyy raw xe- 
zum (1. Kor. 15, 20.) if. Doch wir willen ja nicht, 
ob diefe Vorftellung die allgemeine war, und wenn die Einen 
der meflianifchen Würde Jeſu fehuldig zu fein glaubten, ihn 
als den erften der Auferftandenen zu betrachten, fo bieten fich 
do auch Gründe dar, welche Andere bewegen Tonnten, ſchon 
bei feinem Tod einige Fromme auferftehen zu lafien. Einmal 
der äußere: da unter den Prodigien bei Jeſu Tod auch ein 
Erpbeben hervorgehoben ift, und in der Befchreibung feiner 
Heftigfeit dem rıtzone zoyiodIrcev fich Leicht das auch fonft 
bei Schilderung heftiger Erbbeben vorkommende ?%) wrpeia 
avepyIroav beigefellen Eonnte: fo war bier ein einlabenber 
Anknüpfungspunft für die Auferftehung der Frommen gegeben. 
Aber auch aus dem Innern der Borftelung vom Tode Jeſu 
heraus, wie fie fich frühzeitig in der chriftlichen Gemeinde aus- 
bildete: daß nämlich derfelbe das eigentlich erlöfende Moment 
feiner Wirkfamfeit ausmache, und namentlich durch den daran 
gefnüpften Hinabgang zum Hades (1. Betr. 3, 19 f.) die 


—— — — — 


25) ©. die Sammlung hieher gehoͤriger Stellen bei Schöttgen, 2, p. 
570 ff., und in Bertholdt's Christologia, $. 35. 
=) S. die von Wetftein gefammeiten Stellen. 


3A Dritter Abfchnitt. 


früber Berftorbenen aus vemfelben befreit worben feien, 27) 
fonnte fich ein Anlaß ergeben, gerade durdy den Tod Jefu die 
Bande des Grabes für die alten Frommen gefprengt werben 
zu lafien. Ohnehin wurde durch diefe Stellung noch entfchie- 
dener ald durch eine Verbindung mit Jeſu Wiederbelebung die 
Auferwedung der Gerechten nach jüdischer Vorftellurg in die 
erfte Barufie des Meflind gefept; eine Vorftelung, welche in 
jupaifirenden Kreifen der erften Chriftenheit gar wohl noch in 
einer folchen Erzählung nachklingen konnte: während ein Paulus 
und ebenfo der Verfafler der Apofalypfe bereits auch die wa- 
sagıg 7 nrowen in bie zweite, - erft zu erwartende Ankunft des 
Meſſias verlegten. Mit Rüdficht auf diefe Vorftellung ſcheint 
es dann, daß, wahrfcheinlih vom Verfaſſer des erflen Evan- 
geliums felbft, das nera zw Eyepow avıa ald Reftriction 
angebracht wurbe. 

Ihre Beichreibung der Vorgänge bei vem Tode Jeſu fchließen 
die Synoptiker mit einer Angabe des Eindrucks, welchen die- 
felben, zunächft auf den wachhabenden römifchen Centurio, ge- 
macht haben. Nad Lukas (B. 47T.) war diefer Eindrud durch 
z0 yerousvov, d. h., da er die Finſterniß fchon früher, zuletzt 
. aber nur das Verſcheiden Jeſu mit lautem Gebete gemeldet 
hat, durch eben dieſes Ießtere hervorgebracht; wie denn Mars 
kus, den Lufas gleichfam auslegend, den Hauptmann Paburd, 
daß Jeſus Fzw xpakas ebörvevoer, zu dem Ausruf: 0 @Iow- 
cos Btog viog 7» Iced, veranlagt werben läßt (B. 39.). Bei 
Lukas nun, der als die legten Laute Jeſu ein Gebet gibt, ift 
wohl etwa zu begreifen, wie durch dieſes erbauliche Ende der 
Hauptmann zu einer vortheilhaften Anficht von Jeſu gebracht 
werden mochte: wie hingegen aus dem Berfcheiden mit lautem 
Gefchrei auf die Würde eined Gottesſohns geſchloſſen werden 
fonnte, will auf feine Weife einleuchten. Die paflendfte Be⸗ 
ziehung aber gibt dem Ausruf des Centurio Matthäus, welcher 


27) ©. dieſe Vorfielung weiter ausgeführt im Evangel. Nicod. ce. 18 ff. 


Viertes Kapitel. $. 134. 545 


denfelben durch das Erdbeben und die übrigen Borfälle beim 
Tode Zefu veranlaßt fein läßt: wenn nur nicht die hiftorifche 
Realität diefer Rede des Hauptmanns mit der ihrer angeblichen 
Beranlaffungen ftünde und fiel. Derfelbe fpricht bei Matthäus 
und Marfus die Ueberzeugung aus, daß Jeſus in der That 
viog Hes, bei Lukas, daß er wIpWrroS dixauog geweſen. Erfteres 
wird augenfcheinlich in dem Sinne gemeldet, daß bier ein 
Heide für die Meffianität Jeſu gezeugt haben foll; in dieſem 
ſpecifiſch jüdiſchen Sinne kann aber der römifche Krieger feine 
Worte nicht wohl verftanden haben; eher mochte er in Sefu 
einen Götterfohn im heidnifchen Sinne, oder Doch einen uns 
ſchuldig Getöbteten erbliden: wenn nur nicht mit der ganzen 
ſynoptiſchen Darftellung der Vorfälle beim Tode Jeſu auch dies 
jer Schlußftein verfelben verdächtig würde — zumal bei Lukas, 
ber zu dem Eindrud auf den Hauptmann noch den auf Die 
übrige Vollsmenge fügt, und dieſe mit Zeichen der Reue und 
Zrauer in die Stadt zurüdfehren läßt; ein Zug, welcher nicht 
fowohl anzugeben frheint, was die Juden wirklich empfunden 
und gethan, ald was fie nach chriftlicher Anficht hätten thun 
und empfinden ſollen. 


6. 134. 
Der Lanzenſtich in die Seite Jeſu. 


Während die Synoptiker Jeſum von der pa Evvarr, 
d. h. Nachmittags 3 Uhr, wo er verfehien, bis zu der orla, 
d. h. wohl bis gegen 6 Uhr Abends, am Kreuze hängen 
laffen, ohne daß weiter etwas mit ihm vorginge: fchiebt ber 
vierte Evangelift eine merkwürdige Zwifchenfeene ein. Nach) 
ihm baten nämlich die Juden, um zu verhüten, daß nicht durch 
das Hüngenbleiben der Gefreuzigten der bevorftehende beſonders 
heilige Sabbat entweiht würde, den PBrocurator, es möchten 


ihnen die Beine zerfehlagen und fie fofort abgenommen werben. 
II. Band, | 35 


546 Dritter Abſchnitt. 


Die hiezu beauftragten Soldaten vollzogen dieß an ben beiden 
neben Jeſu gefreuzigten Verbrechern: wie fie aber an Jeſu bie 
Zeichen des bereits eingetretenen Todes bemerften, bielten fie 
bei ihm ein folches Vornehmen für überflüflig, und begnügten 
fih,, in feine Seite einen Speerftih zu machen, worauf Blut 
und Waſſer herausfloß (19, 31 —37.). 

Dieſe Thatſache wird gewöhnlich als Hauptbeleg für die 
MWirklichfeit des Todes Jeſu angefehen, und im Berhältniß zu 
ihr der aus den Synoptifern zu führende Beweis für unzus 
länglich gehalten. Nach derjenigen Rechnung nämlid, welche 
den längften Zeitraum gibt, der des Markus, hing Jeſus 
von der dritten Bis neunten, alfo 6 Stunden, am Kreuze, 
ehe er ftarb; wenn, wie Manden wahrfcheinlich geweſen ift, 
bei den beiden andern Synoptifern die mit der fechsten Stunde 
eingetretene Finſterniß zugleich den Anfang der Kreuzigung 
bezeichnet, fo hing nach ihnen Jeſus nur drei Stunden lebend 
am Kreuze; und wenn wir bei Johannes die jühifche Stunden» 
zählung vorausfegen, und ihm die gleiche Anficht vom Zeite 
punfte des Todes Jeſu zufchreiben, fo müßte, da er um die 
ſechste Stunde den Pilatus erſt das Urtheil fprechen läßt, 
Jeſus nach nicht viel über zwei Stunden Kreuzigung bereits 
geftorben fein. So fchnell aber töbtet die Kreuzigung fonft 
nicht: was theils aus der Natur dieſer Strafe, welche nicht 
durch ftarfe VBerwundung ein fchnelles Berbluten, fondern mehr 
nur durch Ausfpannung der Glieder ein allmähliges Eritarren 
hervorbringt , fich ergibt; theild aus den eigenen Angaben der 
Evangeliften erhellt, nach welchen Jeſus unmittelbar vor dem 
Augenblide, den fie für den legten hielten, noch Kraft zum 
lauten Rufen hatte, auch die beiden Mitgefreuzigten nach jener 
Zeit noch am Leben waren; theils endlich durch Beifpiele von 
ſolchen zu belegen if, weldye mehrere Tage lebend am Kreuze 
zugebracht haben, und erft durch Hunger und dgl. allmählig 
getöbtet worden find. D Daher haben Kirchenväter und ältere 


1) Das Diehergehörige findet ſich zufammengeftellt bei Paulus, exeg. 





Viertes Kapitel. $. 134. 547 


Theologen die Anficht aufgeftellt, Iefu Tod, der auf natürlis ' 
chem Wege noch nicht fo bald erfolgt fein würde, fei auf übers 
natürliche Weife, entweder durch ihn felber, over durch Gott, 
befchleunigt worden; 2) Aerzte und neuere Theologen haben fi) 
auf die gehäuften Törperlichen und Seelenleiden berufen, welche 
Jeſus den Abend und die Nacht vor feiner Kreuzigung zu dul⸗ 
den hatte; 3). Doch auch fie lafien größtentheild noch die Moͤg⸗ 
fichfeit offen, daß, was den Evangeliften der Eintritt des Todes 
ſchien, nur eine durch Stodung des Blutumlaufd herbeigeführte 
Ohnmacht gewefen fei, und erſt der Epeerftich in die Seite 
den Tod Jeſu entſchieden habe. 

Doch eben über diefen Stich, über den Ort, an wel 
chem, das Injtrument, durch welches, und die Art und Weife, 
wie er beigebracht worden, über feinen Zwed und feine Wir 
fung, waren von jeher die Meinungen fehr verfchieden. Das 
Snftrument bezeichnet der Evangelift als eine Aoyyr, was eben 
fo gut den leichteren Wurffpieß, als die fehwere Lanze bebeuten 
fann: fo daß wir über den Umfang der Wunde im Ungewiſſen 
bleiben. Die Art, wie die Wunde beigebracht wurde, befchreibt 
er durch vuoaeıv, dieß beveutet aber bald eine töbtliche Ver⸗ 
wundung, bald ein leichtes Riten, ja einen Stoß, der nicht 
einmgl Blut gibt; wir wiflen alfo nicht, wie tief die Wunde 
ging: wiewohl, wenn Jeſus nach der Auferftehung den Thomas 
in die Nägelmahle zwar den Singer, in, oder auch nur an 
vie Seitenwunde aber die Hand legen läßt (Joh. 20, 27.), der 
Stich eine beveutende Wunde gemacht zu haben fcheint. Doc 
Dabei fommt es vor Allem noch auf die Stelle der VBerwundung 
an. Diefe beftimmt Johannes als vie wAevpa, wo freilich, 





Handb., 3, b, ©. 781ff.; Winer, bibl. Realwörterb. 1, ©. 672 ff.; 
und Haſe, $. 144. 
2) Jenes Tertullian, biefes Srotius,f. bei Paulus, ©. 784, Anm. 
3) &o Gruner u. 2. bei Paulus, 8. 782 ff.; Dafe, a. a. D.; 
Keander, 8. 3. Chr. ©, 647. 
35 * 


548 | Dritter Abfchnitt. 


wenn der Stich .an der linfen Seite zwifchen den Rippen bie 
in das Herz drang, der Tod unausbleiblich erfolgen mußte : 
alfein jener Ausdruck kann eben fowohl die rechte Seite als die 
linfe, und an beiden jeden Ort von der Schulter bis zur Hüfte 
bedeuten. Die meiften diefer Punfte würden fich freilich von 
felbft beftimmen, wenn die Abficht des Kriegerd mit dem Län 
zenftich gewefen wäre, Jeſum, fofern er noch nicht geftorben 
wäre, zu töbten; in diefem Falle nämlich würde er ohne Zweifel 
am töbtlichften Plab und fo tief wie möglich geftochen, oder 
vielmehr Jeſu, wie den beiden Anvern, die Beine gebrochen 
haben: da et mit Jeſu anders als mit diefen verfuhr, fo wird 
wahrfcheinlich, daß er in Bezug auf ihn eine andere Abficht 
hatte, nämlich durch den Stich vorerft nur zu erforfihen, vb 
ver Tod wirflich fehon eingetreten fei, was er aus dem Herz 
porfließen von Blut und Wafler aus der Wunde ficher abneh⸗ 
men zu Tönnen glaubte. 

Aber freilich über dieſe Folge des Epeerftich8 ift man am 
alferwenigften einig. Die Kirchenväter haben, in Betracht, 
daß aus Leichen Fein Blut mehr fließe, in vem aus Jeſu Leich⸗ 
nam hervorgequollenen ia xal vdwp ein Wunder, ein Zeichen 
feiner höheren Natur, gefunden.) Neuere, von der gleichen Er- 
fahrung ausgehend, haben in dem Ausprud eine Hendiadys gefes 
hen, und denfelben von noch fluͤſſigem Blute, einem Zeichen des noch 
nicht, oder Doch eben erft erfolgten Todes, verftanden. ) Da 
jedoch das Blut für fich ſchon ein Slüffiges ift, fo kann das 
zu alua gefegte Üdwp nicht bloß den flüffigen Zuſtand von 
jenem bedeuten, fondern muß eine befondere Beimifchung bezeichnen, 


% Orig. c. Cels. 2, 36: tür ur av allow vexgWy OWuarwy TO aıua m)- 

. ur N > » IC» - . % 32 - - N 

yrıraı, za Vdwe xadapoy ax anopßei: ra de xara tor I,aiv vexgh oo- 

HaTos TO napadosor, xal reg TO vexpiv owua 1r ala za Üdup and 

2* —2 v * — 

Toy nasvowv rooyudev. Vgl. Euthymius z. d. St.: Ex vexon yap 

av ‘ 7 ’ 28 n 2 Ye 2 7 « 24 2 

Qrncj ν mupmaxıs vusn Tız, 8x #Sehevaeraı alte. ÜTeppUt; TATo TO 
no&yue, xaı Tears Öıdaoxor, Orı unse avdgwnor 0 vYuyels. 


) Schuſter, in Eichhorn's Bibl. 9, S. 1036 ff. 


Viertes Kazitel. $. 138. 549 


welche das aus der Wunde Jeſu fließende Blut enthielt. im _ 
ſich dieſe zu erflären, und zugleich die möglichft fichere Todes: 
probe zu bekommen, find Andere auf den Einfall gerathen, das 
dem Blute beigemifchte Waffer fei wohl aus dem von der Lanze 
getroffenen Herzbeutel gekommen, in welchem fi), namentlich 
bei ſolchen, die unter ftarker Beängftigung fterben, eine Quan- 
tität Flüſſigkeit ſammeln fol.) Allein außerdem, daß das 
Eindringen der Lanze in das Pericardium bloße Borausjehung 
ift, fo iſt theils, wo feine Waflerfucht ftattfindet, das Quan⸗ 
tum jener Slüffigteit fo gering, daß ihr Ausfluß nicht in bie 
Augen fiele; theils ift e8 nur ein einziger Heiner Fleck vom an 
der Bruft, wo das Pericardium fo getroffen werden fann, daß 
eine Entleerung nach außen möglich ift: in allen andern Fällen 
würde, was ausfließt, in das Innere der Brufthöhle fich er- 
gießen. ) Ohne Zweifel geht vielmehr der Evangelift von der 
bei jeder Aderläffe zu machenden Erfahrung aus, daß das 
Blut, fobald es aufgehört hat, im Lebensprocefie begriffen 
zu fein, fih in Blutfuchen, placenta, und Blutwafjer, serum, 
zu zerfegen anfängt, und will nun daraus, daß am Blute 
Jeſu fich bereits dieſe Echeidung gezeigt habe, deſſen wirflich 
erfulgten Tod beweifen.®) Ob num aber diefeg Ausfliegen von 
Blut und Waffer in beinerfbarer Sonverung eine mögliche 
Tudesprobe ift, ob Hafe und Winer Recht haben, wenn' 
fie behaupten, bei tieferen Einfchnitten in Leichen quelle bie- 
weilen das fo zerfegte Blut heraus, oder die Kirchenväter, 
wenn fie dieß für fo unerhört hielten, daß fie es bei Jeſu als 
ein Wunder anfehen zu müſſen glaubten, ift noch eine andere 
Frage. Mir hat ein ausgezeichneter Anatom den Stand der 
Sache folgendermaßen angegeben.) Für gewöhnlich pflegt 


6) Gruner, Comm. de morte J. Chr. vera, p. 47; Tholud, Comm. 
3. Joh. ©, 318. 

7) Bgl. Dafe, a. a. ©. 

5) Winer,a.a. O. 

9) Vgl die gleihe Angabe eines Anatomen bei de Wette, 3. d. St. 
und Tholuck a. a. O. 


550 Tritter Abſchnitt. 


binnen einer Stunde nach dem Tode das Blut in den Gefäßen 
zu gerinnen, und fofort bei Einfchnitten nichts mehr auszuflies 
Ben; nur ausnahmsweife, bei gewifien Todesarten, wie Ner⸗ 
venfieber , Erftidung, behält das Blut im Leichnam feine Flüfs 
figfeit. Wollte man nun den Tod am Kreuz etwa unter die 
Kategorie der Erftidung ftellen, — was jeboch wegen ber 
langen Zeit, welche die Gefreuzigten oft noch am Leben blieben, 
und bei Jeſu insbefondere, weil er ja bis zuletzt gefprochen 
haben fol, unthunlich fcheint; oder wollte man annehmen, fo bald 
fhon nach, dem Augenblide des Todes fei der Stich in die 
Eeite erfolgt, daß er das Blut noch flüffig fand, — was ben 
Berichten unangemefjen ift, welchen zufolge Jeſus ſchon Nach⸗ 
“mittags drei Uhr geftorben war, die Leichen aber erft Abends 
6 Uhr abgenommen fein mußten: fo wäre, wenn ber Stich 
ein größeres Blutgefäß traf, Blut, aber ohne Wafler, aus⸗ 
geflofien; war aber ver Tod Jeſu vor etwa einer Etunde ers 
folgt, und fein Leichnam im gewöhnlichen Zuftande: fo floß 
gar nichts aus. Alfo entweder Blut, oder nichts: Waſſer und, 
Blut in feinem alle, weil fi) serum und placenta in ben 
Gefäßen des Leichnams gar nicht fo fondert, wie im Geſchirre 
nach der Aderläffe. Schwerlich alfo hat der Urheber dieſes 
Zugs im vierten Evangelium das eine za vdwp felbft aus 
der Seite Jefu ald Zeichen des erfolgten Todes kommen fehen: 
fondern weil er bei Blutläffen ſchon jene Scheidung im erfter- 
benden Biute gefehen hatte, und ihm anlag, eine fichere Probe 
für den Tod Jefu zu bekommen, ließ er aus deflen verwundeten 
Leichnam jene gefchievenen Beftandtheile fließen. 

Daß ſich dieß mit Jeſu wirklich zugetragen habe, und 
‚fein Bericht davon, als auf Autopfie gegründet, zuverläffig 
fei, verfichert übrigens der Evangelift auf's Angelegentlichfte 
(V. 35.). Nach Einigen defiwegen, um dofetifche Gnoftifer, 
welche die wahre Leiblichkeit Jeſu läugneten, zu widerlegen : 19 


— —— — — —4 


30) Wetſtein und Olshauſen, z. d. St.z vgl. Haſe, a. a. D. 


Biertes Kapitel. $. 134. 551 


allein wozu Dann die Erwähnung des vdwnp? Nach Andern 
wegen der merfwürbigen Erfüllung zweier Weifiagungen durch 
jenes Vornehmen mit der Leiche Sefu: !) aber, wie Lüde 
felber fagt, wenn allerdings auch ſonſt Johannes felbft in 
Rebenpunften eine Erfüllung der Schrift fucht, fo legt er doch 
nirgends ein fo außerordentliche Gewicht Darauf, wie er hier 
nach diefer Auffaffung thun würde. Daher ſcheint es immer 
noch die natürlichfte Annahme zu fein, daß der Evangelift 
durch jene Verficherungen die Wahrheit des Todes Jeſu ber 
fräftigen wolle, 1%) die Hinweifung auf die Schrifterfüllung 
aber nur als weiteren, erläuternden Zufag beifüge. Der Mans 
gel einer gefchichtlichen Spur, daß fchon zur Zeit der Abfafs 
fung des johanneifchen Evangeliums der Verdacht eines Schein« 
todes Jeſu rege geweſen, beweist bei der Mangelhaftigfeit ver 
Nachrichten, die uns über jene Zeit zu Gebote ftehen, nicht, . 
daß ein fo nahe liegender Verdacht nicht wirklich in dem Kreife, 
in welchem dad genannte Evangelium entftand, zu befämpfen 
geweien ift, und daß daſſelbe nicht, wie zur Mittheilung von 
Auferftehungsproben , jo auch eine Todesprobe mitzutheilen vers 
anlaßt geweſen fein kann. 13) Iſt doch auch ſchon im Evans 
gelium des Markus ein ähnliches Beſtreben fichtbar. Wenn 
diefer von Pilatus, als Sofeph ſich, den Leichnam Jeſu ausbat, 
fagt: Edevueoev, ei non TEedrze (V. 44.): fo lautet dieß 
ganz, als wollte er dem. Pilatus cine Verwunderung leihen, 
die er von manchen feiner Zeitgenoffen über den fo gar fchnell 
erfolgten Tod Jeſu mußte äußern hören; und wenn er fofort 


11) Luͤcke, z. d. St. 

12) So Leß, Auferſtehungsgeſchichte, S. 95 f.ez Tholuck, z. d. St. 
Nach Weiße (die evang. Geſch. 1, ©. 102. 2, S. 237 ff.) wieſe 
der Evangelift auf eine von ihm mißverftandene Stelle des apoftolifchen 
Briefes bin, nämlich auf 1. Joh. 5, 6: Artus icu 6 Mdr di Ddarug 
xar aiuaro;, I. 0 Xgr dx iv TG ẽ üdar. novov, all iv run bdarı aaı To 

diuaœri. 


15) Vgl. Kaifer, bibl. Theol. 1, ©. 253. 


3523 Dritter Abfchnitt. 


deu Procurator von dem Centurio fichere Kunde einziehen läßt, 
daß Jeſus alas arıedave, fo fcheint er mit der Bedenklichkeit 
des Pilatus zugleich die feiner Zeitgenofien befchwichtigen zu 
wollen ; wobei er aber von einem Lanzenftich und deſſen Erfolge 
nichts gewußt haben kann, jonft hätte er diefe ficherfte Bürg- 
fchaft des wirflich erfolgten Todes nicht unermähnt gelaflen: 
fo daß die Darftellung bei Johannes als weitere Ausbildung 
eines jchon bei Markus fichtbaren Triebs der Sage erfcheint. 
Diefe Anficht von der johanneifchen Erzählung wird auch 
noch durch Die Anführung A. T. licher Weiffagungen beftätigt, welche 
der Referent in dieſem Vorgang erfüllt fieht. In dem Lanzen- 
ftiche fieht er die Erfüllung von Zach. 12, 10., wo das von 
Sohannes richtig und beſſer ald von der LXX. überfeßte: 
IR N is Ya am) von Jehova zu den Israeliten ge 
redet ift, in dem Sinne, daß fie an ihn, den fie ſo fchwer 
gefränft, . fih einft wieder wenden würden. 9) Sft.fchon das 
275 durchbohren, etwas, das, eigentlich gefaßt, eher gegen 
einen Menſchen ald gegen Jehova feheint unternommen wer: 
den zu fönnen, und wird dieſe Deutung durch die abweichende 
Lesart: vor, unterftüßt: fo mußte das Folgende in biefer 
Auffaffung beftärfen, da nun in der dritten Perfon fortgefahs 
ren wird: und fie werden um ihn Hagen, wie um ein eins 
ziges Kind und um einen Eritgebornen. Daher wurde dieſe 
Stelle von den Rabbinen auf den Meſſias ben Joseph ge 
deutet, welcher im Kriege vom Schwert durchbohrt werden 
follte, 5) und von Chriften Fonnte fie, wie fo manche Stellen 
in AUnglüdspfalmen, auf ihren Meſſias bezogen werben, ins 
dem das Durchbohren zunächft vielleicht entweder tropifch, 
oder von dem Durchnageln der ‘Hände (und Füße) bei der ° 
Kreuzigung verftanden wurde (vgl. Offenb. 1, 7.), bis endlich 


) Rofenmüller, Schol. in V. T. 7. 4, p. 340. 
15) ©. bei Rofenmüller, 3. d. St.; Schöttgen, 2, p. 221.5 Ber: 
tholdt, $. 17, not. 12. 


Viertes Kapitel. $. 134. 553 


einer, der eine zuverläfiigere Todesprobe, ald die SKreuzigung 
‚an fi ift, zu haben wünfchte, es als ein beſondres Durch: 
bohren mit der Lanze faßte. 

Iſt aus den zufammentreffenden Intereſſen, eine Todes⸗ 
probe, und eine buchftäbliche Erfüllung der Weiffagung zu 
geivinnen, der Zug mit dem Langenftich hervorgegangen: fo 
gehört das Uebrige nur zur Motivirung diefes Zuges. Ein 
Stich als Todesprobe war nur nöthig, wenn Jeſus frühzeitig 
vom Kreuz abgenommen werden follte, was nach jüdifchem 
Geſetze (5. Mof. 21, 22. Joſ. 8, 29. 10, 26 f. — eine Aus» 
nahme 2. Sam. 21, 6 ff.) !9) jedenfalls vor Nacht, insbeſon⸗ 
dere aber dießmal, was Johannes allein heraushebt, vor An- 
bruch des Bafchafeftes, gefchehen mußte. War Jeſus ungewöhne 
lich ſchnell geftorben, und follten doch auch die beiden mit ihm 
Gefreuzigten gleichzeitig abgenommen werden, fo mußte man 
bei diefen den Tod auf gewaltfame Weife herbeiführen. Dieß 
konnte gleichfalls durch Lanzenftiche gefchehen: allein dann wäre 
ja auch in Andere, nicht nach Zach. 12, 10. bloß in den Mefs 
fias, geftochen worden. Alfo lieber durch das Beinbrechen, das 
zwar nicht augenblidlich den Tod brachte, aber doch fein fpäte- 
res Eintreten, in Folge des durch die Zerfchmetterung herbeizu- 
führenden Brandes, gewiß machte. Freilich fommt das cruri- 
fragium bei den Römern fonft nirgends in Verbindung mit 
der Kreiszigung, fondern nur für fi), als Strafe für Sclaven, 
Kriegsgefangene u. dgl., vor’). Um fo befler paßte es aber 
in den prophetifchen Zufammenhang; hieß es denn nicht vom 
Paſſahlamm, mit welchem Jeſus auch fonft verglichen wurbe 
(1. Kor. 5, 7.): 0589 & owrolvere um avıa (2. Mof. 13, 
46.)? fo daß die beiden Weiffagungen fich ergängten, indem bie 
eine beftimmte, was an SZefu ausfchließlich gefchehen follte, 
die andere was an feinen Mitgefreuzigten, an ihm aber nicht. 


16) Vgl. Joseph. b. j. 4, 5. 2. Sanhedrin 6, 5. bei Rightfoot, p. 
499. 


17) ©. Lipsius, de ceruce, L. 2, cap. 14. 


554 Dritter Abſchnitt. 


6. 135. 
Begräbnif Jeſu. 


Während ver Leichnam Sefu nad römifcher Sitte am 
Kreuz hätte hängen bleiben müffen, bis Witterung, Vögel und 
Verwefung ihn verzehrten; D nach jübifcher aber vor Abend 
abgenommen, auf dem unehrlichen Begräbnißplage der Hinges 
richteten verfcharrt worden wäre: ) erbat ſich den evangelifchen 
Nachrichten zufolge ein angefehener Anhänger des Getöbteten 
vom Procurator feinen Leichnam, der ihm nach römifchem Ger 
ſetze2) nicht verweigert, fondern alsbald verabfolgt wurde 
(Matth. 27, 57 parall.). Diefer Mann, welchen alle Evan 
gelien Joſeph nennen, und von Arimathäa flammen laſſen, war 
nah Matthäus ein reicher Dann und Schüler Zefu, doch -dieß, _ 
wie Johannes hinzufügt, bloß heimlich, gewefen; die beiden 
mittleren Evangeliften bezeichnen ihn als ein ehrenwerthes Mits 
glied des hohen Rathes, als welches er übrigens, wie Lufas 
bemerkt, zu der Berurtheilung Jeſu feine Stimme nicht gegeben 
hatte, und laſſen ihn mefftanifchen Erwartungen zugethan fein. 
Daß wir bier eine allmählig in's Beftimmtere ausgearbeitete 
Perfonalbezeichnung haben, fällt in die Augen. Im erften 
Evangelium ift Zofeph ein Schüler Jeſu — und das muß 
wohl derjenige gewefen fein, der fich unter fo ungünftigen Um⸗ 
ftänden nicht fcheute, feines Leichnams ſich anzunehmen; daß 
er nach demfelben Evangelium ein avdownog rrAsorog geweſen 
fein fol, läßt fchon an Jeſ. 53, 9. denken, wo es heißt: 
Po2 pen) ap DT —nS m, was möglicherweife 
von einem Begräbniß bei Reichen verftanden, und fo die Quelle 


— — — 


1) Vgl. Winer, 1, ©. 802. 
2) Sanhedrin, bei Lightfoot, p. 499. 
3) Ulpian 48, 24, ı ff. 








Biertes Kapitel. $. 135. 555 
wenigftend von biefem Prädicate des Jofeph von Arimathäa 
werben Tonnte. Daß er meffianifchen Ideen ergeben war, was 
Lukas und Markus hinzufügen, folgte aus feinem Berhältniffe 
zu Jeſu von ſelbſt; daß er ein Asdeveng gewefen, was dieſelben 
Evangeliften verfichern, ift freilich eine neue Notiz: daß er aber 
als folcher nicht in die Verurtheilung Jeſu eingeftimmt haben 
fonnte, ergab fich wieder von felbft; endlich, Daß er feine Ans 
hänglichkeit an Jeſum bisher geheim gehalten, was Sohannes 
anmerft, hängt mit der eigenthümlichen Stellung zufammen, 
welche dieſer Evangelift gewiflen vornehmen Anhängern, wie 
namentlich dem im Folgenden dem Joſeph beigefellten Nikodemus, 
zu Jeſu gibt: fo daß nicht eben angenommen werden muß, 
was jeder folgende Evangelift weiter als der vorhergehende 
gibt, beruhe auf eben fo vielen hiftorifchen Notizen, die er vor 
den übrigen voraus hatte. 

Während die Spnoptifer die Beftattung Jeſu Durch Joſeph 
allein verrichten, und nur noch die Frauen zufehen laffen, führt 
Johannes als Gehülfen dabei, wie gefagt, den Nikodemus auf; 
eine Notiz, über deren Berläßlichfeit fchon oben, wo Nikodemus 
zum erftenmal vorfam, gehandelt worden iſt.) Diefer bringt 
zum Behufe der Einbalfamirung Jeſu Specereien, nämlich eine 
Mifchung von Myrrhen und Aloe, in der Quantität von uns 
gefähr 100 Pfunden, herbei. Bergeblich hat man fich bemüht, 
dem von Johannes hier gebrauchten Alzge die Bedeutung des - 
lateiniſchen libra zu entziehen, und die eines Fleineren Gewichtes 
unterzufchieben: 9) indeß mag für jene auffallend große Quans 
tität die Bemerkung Olshauſen's genügen, daß das lieber, 
maaß natürlicher Ausbrud ver Verehrung jener Männer für 
Jeſum geweien fei. Im vierten Evangelium vollziehen nun 
gleich nach der Kreuzabnahme die beiden Männer die Einbal⸗ 
famirung nach jüdifcher Sitte, indem fie den ‚Leichnam mit 


1) 1. Band, $. 80. 
>) Michaelis, Pegräbniß: und Auferfichungsgefchicte, S. 68 ff. 


5536 ' Dritter Abſchnitt. 


den Speccreien in Leintücher wideln; bei Lukas forgen Die 
Frauen nach ihrer Heimkehr vom Grabe Jeſu für Epecereien 
amd Salben, um nach dem Sabbat die Einbalfamirung vor- 
zunehmen (23, 56. 24, 1.); bei Markus Faufen fie die apw- 
uare erft nach Berfluß des Sabbats (16, 1.); bei Matthäus 
aber ift von einer Einbalfamirung des Leichnams Jeſu gar 
nicht, fondern nur von Einwidelung in reine Leinwand bie 
Rede (27, 59.). 

Hier hat man zuerft- die Differenz zwifchen Markus und 
Lufas in Bezug auf die Zeit des Einfaufs der Epecereien 
dadurch ausgleichen zu Fönnen gemeint, daß man den einen 
von beiden Referenten auf die Seite des andern herüberzog. 
Am leichteften fchien Markus nach Lufas umgedeutet werden 
zu fönnen, durch Die Annahme einer enallage temporum, 
indem fein vom Tage nach dem Sabbat gefagtes 77yopaoev, 
als Plusquamperfertum genommen, daffelbe fagen follte, wie 
des Lufas Angabe, daß, die Frauen ſchon vom Begräbnißs- 
abend ber die Epecereien in Bereitfchaft gehabt haben. ©) 
Allein gegen diefe Ausgleichung ift bereits vom Wolfenbüttler 
Fragmentiften mit fiegreichem Unwillen bemerkt worben, daß 
der zwifchen eine Zeitbeftimmung und die Angabe eines Zweds 
hineingeftelfte Aorift unmöglich etwas Anderes, ald das um 
jene Zeit zu dieſem Zwecke Gefchehene, alfo hier das zwifchen 
dıaysrousvs TE oußßerse und iva EAduccı alelıymaiv avrov 
geftellte 7yopaoav opwuera nur einen nach Verfluß des Sab- 
bats vorgenommenen Einfauf bedeuten Fönne.”) Daher hat 
Michaelis, welcher die Wiverfpruchslofigfeit der Begräbniß- 
und Auferftehungsgefchichte gegen die Angriffe des Fragmen- 
tiſten zu retten unternahm, ſich auf die andere Eeite gefchlas 
gen, und den Lukas tem Markus zu conformiren gefucht. 


6) So Grotius; Te, Auferftebungsgefchichte, S. 165. 

7) S. das fuͤnfte Fragment, in Leſſing's viertem Beitrag zur Ge⸗ 
ſchichte und Literatur, S. 467 f. Vgl. über dieſe Differenzen auch 
Leſſing's Duplik. 


Vierte Kapitel. $. 135. 357 


Wenn Lukäs fchreibt: vrrospkıvacas de Troluaoev . aouuere 
zei uuge: fo fol er damit nicht fagen wollen, daß fie uns 
mittelbar nach der Nüdfehr, alfo noch am Begräbnißabenp, 
diefe Einkäufe gemacht hätten: vielmehr durch den Zuſatz: 
xol TO Ev oaßßarov 7ovgaoov ‚ware Tv Evroinv, gebe er 
felbft zu verftehen, daß es erft nach Verfluß des Sabbats 
gefchehen fei, da zwifchen ihrer Rückkehr vom Grab und dem 
Anbruch des Sabbats mit 6 Uhr Abends Feine Zeit zum 
Einkaufen mehr übrig gewefen war.) Allein wenn Lukas 
zwifchen vrzospewwaoaı und novxaoev fein roluaoev ftellt: fo 
kann dieß ebenfowenig etwas erft nach der Sabbatruhe Vor⸗ 
gefallenes bedeuten, ald bei Marfus das auf ähnliche Art in 
die Mitte geftellte 7y0gaoev etwas, das vor dem Sabbat wäre 
gefchehen gewefen. Pan hat daher neuerlich zwar eingefehen, 
daß man jedem diefer beiden Evangeliften in Betreff des Ans 
kauſs der Sperereien feinen eignen Sinn laffen müfje: doch 
glaubte man den Schein des Irrthums auf der einen oder 
andern Eeite durch die Annahme entfernen zu Tönnen, die 
noch vor dem Sabbat bereiteten Sperereien haben nicht zuge- 
reicht, und die Frauen dem Marfus zufolge wirklich nach 
dem Sabbat noch weitere dazugefauft.) Das müßte aber doch 
ein ungeheurer Specereiverbrauch gewefen fein, wenn zuerft 
der von Nifodemus herbeigebrachte Gentner nicht gereicht, und 
deßwegen die Frauen noch Abends vor dem Sabbat weitere 
Eperereien bereit gelegt hätten, dann aber wäre auch dieß 
“als zu wenig befunden worden, und fie hätten am Morgen 
nach dem Sabbat noch etwas Weiteres dazugefauft. 

So nämlich müßte man doch confequenterweife auch den 
zweiten Widerfpruch löſen, welcher zwifchen den zwei mittleren 
Evangeliften zufammen und dem vierten ftattfindet, daß nämlich) 
nach diefem Jeſus bei feiner Grablegung mit 100 Pfund Salben 
einbalfamirt worden, nach jenen dagegen die Einbalfamirung 


8) Michaelis, a. a. O. ©. 102 ff. 
’) Kuinöl, in Luc. p. 721. 


558 Dritter Abfchnitt. 


bis nach dem Sabbat vorbehalten war. Nun waren aber ver 
Materie nach die 100 Pfund Myrrhen und Ale mehr als 
genug: was fehlte, und nach dem Sabbat nachgeholt werben 
follte, könnte nur etwa die Form gewefen fein, d. h. daß bie 
Specereien noch nicht auf die rechte Weife an dem Leichnam ans 
gebracht waren, weil hierin der Anbruch des Sabbats unterbrochen 
hatte.!%) Allein, wenn wir den Johannes hören, fo war die Bei⸗ 
fegung Jeſu am Abend feines Todes zaIug &dog esl Tolg Indelorg 
&rapıozew, d. h. rite, in aller Form, vorgenommen worben, 
indem der Leichnam uera zWv apwuarumw in 60V gebunden 
wurde (B. 40.), was eben das Ganze der jüdiſchen Einbals 
famirung war, welcher fomit nach Johannes auch in Betreff 
der Form nichts mehr fehlte; !) abgefehen davon, daß, wenn 
doch Die Weiber nad) Markus und Lukas neue Sperereien kau⸗ 
fen und in Bereitfchaft ftelen, die Einbalfamirung des Nifos 
demus auch materiell unvolffländig geweſen fein müßte. Da 
fomit an der Beftattung Jefu, wie fie Johannes erzählt, obs 
jectiv nichts gefehlt haben kann: fo foll fie doch fubjertiv für 
die Weiber eine nicht vorgenommene gewefen fein, d. h. fie 
follen nicht gewußt haben, daß Jeſus bereits durch Nifodemus 
und Joſeph einbalfamirt war.) Man erftaunt über eine 
folche Behauptung, da man doch bei den Synoptifern aus⸗ 
drüdlich liest, daß die Frauen bei der Beftattung Jeſu zugegen 
geweſen feien, und nicht bloß den Ort (nd ziderus, Markus), 
fondern auch die Art, wie er beigefegt wurde (wg &redn, Lu⸗ 
fas), mit angefehen haben. 

Die dritte diefen Punkt betreffende Abweichung, welche 
gwifchen Matthäus und den übrigen infofern ftattfindet, als 
jener überhaupt von Feiner Einbalfamirung , weder vor, noch 
nach dem Sabbat, weiß, hat man, weil fie bloß im Schweigen 


m) So Tholuck, z. d. St. 

11) ©. den Fragmentiften, a. a. O., ©. 469 ff. 

12) Michaelis, a a. O., S. 99 f.z Kuindl und Luͤcke laffen zwi- 
ſchen dieſer Auskunft und der vorigen die Wahl. 


Viertes Kapitel. $. 135. 5309 


eines Berichterftatterd befteht, bisher wenig berüdfichtigt, und. 
felbft der Wolfenbüttler gab zu, daß in der von Matthäus 
gemeldeten Einwidelung in reine Leinwand die jüdiſche Einbals 
famirung bereits mit enthalten fei. Allein dießmal möchte doch 
wohl ex silentio ein Argument fich ziehen laflen. Wenn 
man in der Erzählung von der Bethanifchen Salbung das 
Wort Jeſu liest, durch ihre That habe die Frau die Salbung 
feines Leibes zum Begräbniß vorweggenommen (Matth. 26, 12 
parall.): fo hat dieß zwar allerdings in allen Berichten feinen 
Sinn, einen ganz befonders treffenden aber doch bei Matthäus, 
nach deſſen weiterer Erzählung bei'm Begräbniß Jeſu Feine 
Salbung ftattfand, 2) und nur hieraus fcheint fich auch das 
befondere Gewicht, welches die evangelifche Tradition auf jene 
Handlung der Frau legte, genügend zu erklären. War Dem 
als Meſſias Verehrten bei feinem Begräbniß im Drang der 
ungünftigen Umftände die gebührende Ehre der Einbalfamirung 
nicht geworden: jo mußte der Blick feiner Anhänger mit bes 
fonderem Wohlgefallen auf einer Begebenheit aus dem lebten 
Abfchnitte feines Lebens ruhen, wo eine bemuthönolle Ders 
ehrerin, wie wenn fie geahnet hätte, daß dem Todten dieſe 
Ehre verfagt fein werde, fie dem Lebenden erwiefen hatte. 
Bon hier aus würde ſich dann auch die verfchiedene Darftels 
lung der legten Salbung bei den übrigen Evangeliften in das 
Licht einer ftufenweifen Entwidelung der Sage ftellen. Bei 
Markus und Lukas fteht e8 noch, wie bei Matthäus, feſt, daß 
der Leichnam Jeſu nicht wirklich einbalfamirt worden ift: fo 
war ihm aber doch, fagte man über das erfte Evangelium hins 
ausfchreitend, die Einbalfamirung zugedacht, dem Hingang der 
rauen zu feinem Grab am Morgen nad) dem Sabbat lag 
diefe Abfiht zum Grunde, deren Ausführung nur feine Aufers 
ftehung zuvorfam. Im vierten Evangelium dagegen floß jene 
bei dem Lebenden anticipirte und Diefe dem Todten zugedachte 


15) Vgl. de Wette, z. d. St. des Matth. 


560 Dritter Abſchnitt. 


Salbung in eine mit dem Todten vorgenommene zuſammen, 
neben welcher übrigens, nach der Art der Sagenbildung, die 
Beziehung auch der fruͤheren Salbung auf das Begraͤbniß Jeſu 
ſtehen blieb. 

Der Leichnam Jeſu wurde ſofort nach fämmtlichen Refe⸗ 
renten in einer Felſengruft beigeſetzt, welche mit einem großen 
Stein verſchloſſen wurde. Matthäus bezeichnet dieſes Grabmal 
als xuwov, was Lufas und Johannes genauer dahin beftimmen, 
daß noch Niemand in demſelben beigefeßt geweſen ſei. Bei⸗ 
läufig gefagt, hat man gegen diefe Neuheit des Grabes ebenjo 
Urfache mißtrauifch zu fein, wie bei der Gefrhichte des Einzugs 
Jeſu gegen den ungerittenen Efel, da hier auf ähnliche Weife 
wie dort die Verfuchung unwiderſtehlich nahe lag, auch ohne 
gefhichtlichen Grund das heilige Behältniß des Leibes Jeſu 
als ein noch durch Feine Leiche verunreinigtes vorzuftellen. Auch 
in Bezug auf diefes Grabmal indeß zeigt fich eine Abweichung 
der Evangeliften. Nach Matthäus war ed das Eigenthum des 
Sofeph, welches er felbft hatte in Felfen hauen laſſen, und auch 
die beiden andern Synoptifer, indem fie den Joſeph ohne Weir 
teres über das Grab verfügen Faffen, fcheinen von ver gleichen 
Borausfegung. auszugehen. "Nach Johannes hingegen war 
nicht das Eigenthumsrecht des Joſeph auf das Grab ver Grund, 
warum man Jefum in daſſelbe legte, fondern weil die Zeit 
drängte, legte man ihn in die frifche Gruft, welche in einem 
benachbarten Garten ſich befand. Auch hier hat die Harmoniftif 
auf beiden Seiten ihre Künfte verfuht. Matthäus follte zur 
Vebereinftimmung mit Sohannes gebracht werden durch die 
Obſervation, daß eine Handſchrift ſeines Evangeliums das zu 
—D geſetzte aid weglaffe, eine alte Ueberſetzung aber ftatt 

0 Elmroumosv — 0 7v Aeharoumusvor gelefen habe: !*) als ob 
nicht diefe Aenderungen wahrfcheinlich ſelbſt ſchon dem harmo⸗ 
niftifchen. Beftreben ihr Dafein zu verdanken hätten. Daher 


— — — nn nn 


1) Mihaelis,a a O., ©. 45 ff. 





° 


Viertes Kapitel. $. 136. 561 
hat man, auf die andere Seite fich wendend, bemerkt, die jo⸗ 
hanneifchen Worte fchliegen gar nicht aus, daß nicht Joſeph 
könnte der Eigenthümer der Gruft geweſen fein, da ja beide 
Gründe, die Nähe, und daß das Grab dem Sofeph gehörte, 
sufammengewirft haben fönnen. 5) Bielmehr aber fchließt die 
Nähe, wenn fie als Beweggrund herausgehoben wird, das 
Eigenthumsverhältniß aus: ein Haus, in welches ich bei eins 
fallendem Regen der Nähe wegen trete, ift nicht mein eigenes; 
ich müßte denn Befiger mehrerer Häufer, eines nahen und eines 
entfernteren, fein, von welchen das letztere meine eigentliche 
Wohnung wäre: und ebenfo ein Grab, in welches einer einen 
Verwandten oder Freund, der für fich fein Grabmal hat, der 
Nähe wegen legt, kann nicht fein eigenes fein, er müßte denn 
mehrere Gräber befigen, und den Todten bei befierer Muße in 
ein anderes bringen wollen; was aber in unferm Falle, da 
das nahe Grab durch feine Neuheit zur Beifegung Jeſu in 
demfelben vor allen andern fich eignete, nicht wohl benfbar ift. 
Bleibt fo auch hier der Widerſpruch, fo feheint im Innern 
beider entgegengefegten Angaben fein Grund zur Entfipeivung 
für Die eine oder andere zu liegen. !9. 


F. 136. — 
Die Wache am Grabe Jeſu. — 


Am folgenden Tag, als am Sabbat,) ſollen nun nach 
Matthäus (27, 6% ff.) die Donenprienet und Bharifäcr bei 


15) Kuinoͤl, in Matth. p. 7863 ee $. 1455 Tholuck, Comm., 
©. 320. 

16) Aus einer Verwechslung „des dem Richtplatze benachbarten zjrros, wo 
Jeſus, nach Johannes, begraben wurde, und bed Gartens Gethſemane. 
wo er gefangen worden war, fcheint die Angabe des Evang. Nicodemi 
gefioffen zu fein, Jeſus fei gekreuzigt worden va mn, Oma Fruaodı. 
C. 2. P- 680. bei Thilo. 

1) Ty ErLavgıoy , hrs ei uera vw TOQaXENjV, iſt freilich eine ſonderbare 

U. Band. 36 





562 M Dritter Abfchnitt. 

Pilatus zufammengefommen fein, und ihn, mit Rüdficht auf 
die Borausfage Jeſu, er werde nach dreien Tagen auferftehen, 
gebeten haben, eine Wache an fein Grab zu ſtellen, damit nicht 
feine Anhänger von der durch jene Borausfage erregten Er: 
wartung Gelegenheit nähmen, feinen Leichnam zu ftehlen und 
ihn fofort für auferftanden auszugeben. Pilatus gewährte ihre 
Bitte, und fo gehen ſie hin, verfiegeln den Stein, und ftellen 
die Wache vor das Grab. Als nun (dieß muß hier antieipirt 
werden) die Auferftehung Jefu erfolgte, ſetzte die mit berfelben 
verbundene Engelerfeheinung die Wächter fo in Furcht, daß fie 
viget vexpoi wurden, übrigens doch fofort in die Stabt eilten, 
und den Hohenprieftern die Anzeige von dem Vorfall machten. 
Diefe, nachdem fie fich in.einer VBerfammlung darüber berathen, 
seftachen die Soldaten, daß ſie vorgeben follten, die Jünger 
yaben bei’ Racht den Leichnam geftohlen; woher fih, wie ber 
Referent hinzufegt, dieſes Gerücht verbreitete, und bis auf feine 
jeit erhielt (28, 4. 11 ff.) 

Bei Ddiefer, dem erften Evangelium eigenthümlichen Er: 
zählung hat man allerlei Bedenken gefunden, welche der. Wol- 
fenbüttler Fragmentift und nach ıhm Baulus am fcharffin- 
nigften in's Licht geftellt haben.) Die Schwierigfeiten liegen 
zuvoͤrderſt darin, daß weder die erforderlichen Bedingungen die: 
ſes Vorgangs, noch feine nothwendigen Folgen in der übrigen 
R.T.lihen Gefchichte gegeben find. In erfterer Hinficht ift 
ed nicht zu begreifen, wie die. Synedriſten zu der Notiz fommen 
fonnten,; daß drei Tage nad feinem Tode Jefus wieder in das 
Leben zurüdfehren folle: da felbft bei feinen Jüngern von einer 


Umfchreibung des Sabbats, da es eine Verkehrung ift, einen feierlichen 
Zag als den Tag nad) dem Wortage zu bezeichnen: doch muß man bei 
biefer Deutung bleiben, fo lange man berfelben nicht auf natürlichere 
Beife, als Schnedenburger in feiner Chronologie der Leidenswodhe, 
Beiträge S. 3 ff., auszuweichen weiß. 
>). Erſterer a. a. ©. ©. 437 ff.; legterer im ereg. Handbuch 3, b, S 
837 ff. Vol. Kaiſer, bibl. Theol. 1, &. 253. 








Vierted Kapitel. $. 136. 563 


ſolchen Kunde keine Spur ſi ſich findet. Sie fügen: 0700nper 
orı &nevos 6 nAwos elnev Erı iv x T. M. Soll dieß 
heißen, ſie erinnern ſich, ihn ſelber davon reden gehoͤrt zu 
haben: fo ſpracht laut der evangeliſchen Nachrichten Jeſus feinen 
Zeinden gegenüber nie beftimmt von feiner Auferftehung; bie 
bildlichen Reden aber, welche feinen vertrauten Echülern 
unverftändlich blieben, Eonnten die an feine Denf- und Aus- 
drucksweiſe weniger gewöhnten jüpifchen Hierarchen gewiß noch 
weniger verftehen. Wollen aber die Synebriften bloß fagen, fie 
haben von Andern gehört, daß Jeſus jenes Verfprechen gegeben 
habe: fo Könnte dieſe Nachricht nur von den. Jüngern ausge⸗ 
gangen fein; aber diefe, welche weder vor noch nach dem Tode 
Sefu eine Ahnung von bevorftehender Wiederbelebung hatten, 
fonnten auch in Andern dieſe Vorftellung nicht erregen — ab: 
gefehen davon, daß wir die Jeſu gelichenen Vorherverfündis 
gungen feiner Auferfiehung fümmtlicy als unhiftorifch . haben 
von der Hand weifen müffen. Wie aber bei den Feinden Jefu 
dieſe Kenntniß: fo ift bei feinen Freunden, den Apofteln und 
übrigen Evangeliften außer Matthäus, ihr Schweigen von 
einem ihrer Sache fo günftigen Umftande nicht zu begreifen. 
- Zwar das ift zu modern, was der Wolfenbüttler den Jüngern 
anmuthet, fie hätten fich darüber, daß eine Bewachung des 
Grabes angeordnet worden, alsbald Brief und Giegel von 
Pilatus erbitten müfjen: doch fo viel bleibt, daß es auffallen 
muß, in ber apoftolifchen Verkündigung nirgends eine Beru⸗ 
fung auf eine fo fchlagende Thatfache zu finden, und aud 
in den Evangelien, außer dem erften, jede Spur davon zu 
vermiſſen. Man hat dieß Etilifehweigen daraus zu erflären 
verfucht, daß ja durch die Deftehung der Wache von Seiten 
des Synedriums die Berufung auf fie eine fruchtlofe gewor- 
den fei:3) allein um ſolcher offenbaren Lüge willen gibt man 





3) Michaelis, Begräbniß: und Auferftehungegefdicte, ©. 206; Ole 
baufen, 2, ©. 506. 
36 * 


564 ’ Dritter Abſchnitt. 


die Wahrheit nicht fogleih auf, und jedenfalls in der Ber: 
antwortung der Anhänger Jefu vor dem Synedrium mußte 
die Erwähnung jener Thatfache eine fihlagende Waffe fein. 
Halb verloren gibt man fchon, wenn ma fi nur dahin 
zurüdzieht, die Jünger haben wohl von dem wahren Her- 
.. gange nicht fogleich, fondern erft fpät, als die Wächter ans 
fingen, venfelben auszufhhwagen, Kenntniß befommen. 9) Denn 
brachten die Wächter im Augenblid auch bloß das Mährchen 
von dem Diebftahl vor, und gaben alfo "zu, daß fie beim 
Grabe aufgeftellt gewefen: fo Fonnten die Anhänger Jeſu fich 
ven wahren Thatbeftand ſchon conftruiren, und fich dreift auf 
die Wächter berufen, welche von etwas ganz Anderem, ale 
einem Leichenviebftahl, müßten Zeugen gewefen fein. Doch 
damit man nicht etwa die LUngültigfeit des Arguments aus 
der bloß negativen Thatfache des Stillſchweigens anrufe, fo 
wird von einem Theil der Anhängerfchaft Jefu, nämlich von 
den Frauen, etwas pofitiv erzählt, was fich mit der Wache 
am Grabe nicht verträgt. Nicht bloß. wollen nämlich Die 
Frauen, welche am Morgen nah dem Sabbat zum Grabe 
gingen, die Salbung vollenden, was fie nicht hoffen Tonnten 
thun zu dürfen, wenn fie wußten, daß eine Wache vor das “ 
Grab geftellt und dieſes noch. dazu verfiegelt war:®) fondern 
nah Markus befteht ihre ganze Bedenklichkeit während Des 
Hinausgehens darin, wer ihnen wohl den Stein vom Grabe 
wählen werde? zum deutlichen Beweife, daß fie von den 
MWärhtern nichts wußten, welche entweder einen auch noch 
fo leichten Stein wegzunehmen ihnen nicht geflattet, oder, 
wenn dieß, dann wohl auch den fehmwereren ihnen hülfreich 
weggewälzt, in jedem Ball alfo die Bedenklichfeit wegen ver 
Schwere des Steins überflüfjig gemacht haben würden. Daß 


) Mihaelis,a.a.D. _ 

5) Den legteren Punkt überfieht Olshaufen, wenn er a. a. D. fagt, 

die Wade babe ja nicht den Befehl gehabt, die vollftändige Beftattung 
Jeſu zu hindern. 





Viertes Kapitel. $. 136. “ 565 


aber die Aufftelung der Wache den Weibern follte unbekannt 
geblieben fein, ift bei dem Auffehen, welches alles das Ende 
Jeſu Betreffende in Serufalem machte (Luc. 24, 18.), fehr 
unwahrfcheinlich. 
Doc auch innerhalb der Erzählung ift Alles voll von 
Schwierigkeiten, indem nach dem Ausdrude von Paulus 
feine einzige der in derſelben auftretenden PBerfonen ihrem 
Charakter gemäß handelt. Schon daß Pilatus den jüdifchen 
Dbern ihr Gefuch um eine Wache, ich will nicht fagen, ohne 
Weigerung, aber fo ganz ohne Spott, gewährt haben fol, muß 
nach feinem bisherigen Benehmen gegen fie auffallen; 6) obwohl 
dieß von Matthäus in feiner fummarifhen Darftelung auch 
nur übergangen fein könnte. Befremdender ift, daß die Wächter 
zu der bei der Strenge römifcher Kriegszucht fehr gefährlichen 
Lüge, fie haben ihren Dienft durch Schlafen verfäumt, fich fo 
leicht bergaben; zumal fie bei dem gefpannten Verhältniß des 
Synedriums zum Procurator nicht wiſſen fonnten, wie viel 
ihnen die von dem erfteren zugefagte Vermittlung nügen würbe. 
Am undenkbarften aber tft das angebliche Benehmen der Syn⸗ 
edriften. Zwar die Schwierigkeit, welche darin liegt, daß fie 
. am Sabbat zu dem heidnifchen ‘Procurator gingen, fih am 
Grabe verunreinigten, und eine Wache ausrüden ließen, hat 
der Wolfenbüttler auf die Spige geftellt; aber ihr Benehmen, 
ald die vom Grab zurüdgefehrte Wache die Auferftehung Jeſu 
meldete, ift-in der That ein unmoͤgliches. Sie glauben der 
Ausfuge der Soldaten, daß Jeſus auf wundervolle Weife aus 
feinem Grabe auferftanden fei. Wie konnte dieß der hohe Rath, 
der eines guten Theil aus Sadducäern beftand, glaublich fins 
den? Nicht einmal die Pharifäer in demfelben, welche in thesi 
die Möglichkeit der Auferftehung behaupteten, konnten bei ber 


$) Olshauſen freitich iſt es aud hier noch immer fo ſchauerlich zu Muthe, 
daß er ben Pilatus bei dieier Mittheitung der Eynebriften von unbe- 
fchreiblihen Gefühlen durchſchauert werden läßt, S. 505. 


566 Dritter Abſchnitt. 


geringen Meinung, die fie von Jeſu hatten, an bie feinige zu 
- glauben geneigt fein; zumal die Ausfage im Munde der weg⸗ 
gelaufenen Wächter ganz wie eine zur Entfchuldigung eines 
Dienftfehlere erfonnene Lüge lautete. Statt daß fomit die 
wirflichen Synedriſten bei einer. folchen Ausfage der Soldaten 
erbittert gefagt haben würden: ihr lügt! ihr habt gefchlafen und 
ihn ftehlen laſſen; aber das werdet ihr theuer bezahlen müffen, 
wenn ed erft vom Procurator unterfucht werden wird — ftatt 
befien bitten fie diefelben noch ſchön: luͤgt doch, ihr habet ges 
fshlafen und ihn ftehlen laſſen; bezahlen fie überdieß theuer für 
diefe Züge, und verfprechen, fie bei'm Procurator zu entfchuls 
Digen. Man fieht, vieß ift ganz aus der chriftlichen Voraus- 
fegung von der Realität der Auferftehung Jeſu gefprochen, eine 
Boransfegung, welche aber ganz mit Unrecht auf die Mitglieder 
des Synedriums übergetragen wird. Auch darin liegt eine, 
nicht bloß vom Fragmentiſten aufgefuchte, ſondern felbft von 
orthodoren Auslegern ) anerkannte Schwierigfeit, daß das Syn⸗ 
edrium in einer orbentlichen Verſammlung und nach fürmlicher 
Berathung fich entfchlofien haben fol, die Soldaten zu beftechen, 
‚ und ihnen eine Lüge in den Mund zu geben. Daß auf Diefe 
MWeife ein Collegium von 70 Männern ein Balfum zu begehen 
amtlich befchloffen haben follte, ift, wie Olshauſen richtig 
fagt, zu fehr gegen das Decorum, das natürliche Anſtandsge⸗ 
fühl, einer folchen Verfammlung. Die Auskunft, es fei eine 
bloße Brivatverfammlung gemwefen, da ja nur von den apxıegeis 
und npeoßvrspoı, nicht auch von den yaauuareis gejagt fei, 
fie haben die Soldaten zu beftechen den Befchluß gefaßt, ®) Tiefe 
auf dad Wunderliche hinaus, daß bei dieſer Zufammenkunft 
die ygaumoweig, bei dem furz vorher in derſelben Angelegenheit 
gemachten Gange zum Procurator aber, wo die Schriftgelehrten 
durch die ihre Mehrheit bildenden Phariſäer vertreten find, die 


— — — — — 


7) Olshauſen, S, 505. 
8) Michaetis, a. a. O. S. 188 f. 








Viertes Kapitel, $. 136. 5367 


zgsoßvrepor gefehlt haben müßten: woraus aber vielmehr er: 
heilt, daß das Synedrium, weil, es jedesmal durch volftändige 
Aufzählung feiner Beftandtheile zu bezeichnen ‚ unbequem war, 
nicht felten durch Erwähnung. nur einiger oder Eines von den⸗ 
felben angezeigt wurde. Bleibt es fomit dabei, Daß nach Mat 
thäus der hohe Rath in förmlicher Sitzung die Beſtechung ber 
Wächter befchloffen haben müßte: fo konnte eine ſolche Nieder 
trächtigfeit doch wohl nur die Erbitterung der erften Chriften, 
unter denen unfre Anekdote entftanden iſt, dem Collegium als 
folchem zutrauen. 

Dieſe Schwierigfeiten der vorliegenden Erzählung des erften 
Evangeliums hat man fchon fo brüdend gefunden, daß man 
fie durch die Annahme einer Interpolation zu entfernen fuchte; ) 
was neuerlich dahin gemildert worden ift, daß die Anefoote 
zwar nicht vom Apoftel Matthäus felbft, doch auch nicht von 
einer unferem Evangelium fonft fremden Hand herrühren, fon: 
dern von dem griechifchen Ueberſetzer des hebraͤiſchen Matthäus 
eingefchoben fein follte. ') Gegen das Erftere ift der Mangel 
jeder fritifchen Begründung entfcheivend; die Berufung . der 
andern Anfiht auf den unapoftolifchen Charakter der Anefvote 
würde eine Ausfcheidung derfelben aus dem Bonterte der übri⸗ 
gen Erzählung nur dann begründen, wenn der apoftolifche 
Urfprung des Uebrigen ſchon bewielen wäre; Mangel an Zu: 
fammenhang mit dem Uebrigen aber findet fo wenig ftatt, daß 
vielmehr Baulus Recht hat mit der Bemerfung, ein Inter: 
polator (oder einfchiehbender Leberfeger) würde ſich ſchwerlich 
die Mühe gegeben Haben, fein Einfchiebfel an drei Orte (27, 
62. 66, 28, 4. 11—15.) zu‘ vertheilen, fondern er hätte «8 
an Einer, höchftens zwei Stellen zufammengedrängt. Auch 
jo leichten Kaufe läßt fih die Sache nicht abmachen, wie 


— — — — — 


9 Stroth, in Eichhorn's Repertorium, 9, S. 141. 

1) Kern, über den Urſprung des Ev. Matth. Tuͤb Zeitſchrift 1834, 
3, ©. 100 f. vgl. 123. Vergl. meine Mecenf., Jahrbuͤcher f. wiſſ. 
Kritik, Nov. 1834; jetzt in den Charakteriſtiken und Kritiken, S. 280. 


a 


508 Dritter Abſchnitt. 


Dlshaufen wil, dag nämlich die ganze Erzählung apoſtoliſch 


‚und im Vebrigen richtig. fein fol, nur darin habe der Evangelift 


geirrt, Daß er die Beſtechung im vollen Rathe beſchloſſen werden 
faffe, da die Sache wahrfcheinlih von Kaiphas allein unter 
der Hand abgemacht worben fei: als ob dieſe Rathsverſamm⸗ 
bung die einzige Schwierigkeit ver Erzählung wäre, und als 
ob, wenn in Bezug auf fie, dann nicht auch in andern Bezies 
hungen Irrthuͤmer fich eingefchlichen haben Fönnten. !') 

Mit Recht macht Baulus darauf aufmerkfam, wie Mats 
thäus felbft durch feine Notiz: xal dusprwiodn 0 Aoyos arog 
scape Isdeloıg uexoı TS orusgov, auf ein verläumberifches 
jüdifches Gerücht als die Quelle feiner Erzählung hinweife. 
Wenn riun aber Paulus der Meinung ift, die Juden felbft 
haben ausgefprengt, fie hätten eine Wache an Sefu Grab ger 
ſtellt, dieſe aber feinen Leichnam ftehlen laſſen: fo ift dieß ebenfo 
verfehrt, wie wenn Hafe vermuthet, das bezeichnete Gerücht 
fet zuerft von den Freunden Jeſu ausgegangen, und hernach 
von feinen Feinden modiflcirt worden. Denn was die erftere 
Annahme betrifft, fo hat fhon Kuinöl richtig Darauf hinge- 
wiefen, daß Matthäus bloß die Ausfage vom Leichendiehftahf, 
nicht die ganze Erzählung von Aufftellung. einer Wache, als 
jübifches Gerücht bezeichne; auch Täßt fich Fein Grund denken, 
warum die Juden follten ausgefprengt haben, e8 fei am Grabe 
Jeſu eine Wache aufgeftellt gewefen. Wenn Paulus. fagt, 
man habe dadurch die Behauptung, der Leib Jeſu fei von 


feinen Jüngern geftohlen worden, den Leichtgläubigen um fo 


glaublicher machen wollen: fo müßten das allerdings ſehr 
Leichtgläubige gewefen fein, die nicht bemerkt hätten, daß 


eben durch die aufgeftellte Wache die Entfernung des Leichnams 


Jeſu mittelft eines Diebftahls unwahrfcheinlih werde. Pau⸗ 
lus fcheint ſich die Sache etwa fo vorzuftellen: die Juden 
haben für die Behauptung eines Diebftahls gleichfam Zeugen 


1) DBafe,2. J. $. 145. 


Br“ — — — 


Viertes Kapitel. $. 136. 569 


ſtellen gewollt, und hiezu bie aufgeftellten Wächter fingirt. 
Aber daß die Wächter mit offenen Augen ruhig zugefehen hätten, 
wie die Anhänger Jeſu deſſen Leichnam wegnahmen, konnte 


"doch den Juden Niemand glauben; fahen fie aber nichts davon, 


weil fie fehliefen, fo gaben fie auch Feine Zeugen ab, indem 
fie dann nur dur einen Schluß zu dem Refultate kommen 
fonnten, der Leichnam möge geftohlen worden fein: das aber 
fonnte man ohne fie ebenfogut. Keineswegs alfo kann bie 
Wache ſchon zum jüpifchen Grundſtock der vorliegenden Sage 
gehört haben, fondern das unter den Juden verbreitete Gerücht 
beitand, wie auıh der Tert fagt, nur darin, daß die Jünger - 
den Leichnam geftohlen haben follten. Indem die Ehriften dieſe 
Berläumdung zu widerlegen wünfchten, bilvete fich unter ihnen 
die Sage von einer am Grabe Jeſu aufgeftellten Wache, und 
nun fonnten fie jener Verläumbung dreiſt durch die Frage ent- 
gegentreten: wie fann der Leichnam entwendet worben fein, da 
ihr ja eine Wache am Grab aufgeftelt, und den Stein ver: 
fiegelt hattet? Und weil, wie wir im Verlauf der Unterfuchung 
es felbft erprobt haben, einer Sage erft dann ihre Grundlofig- 
feit völlig nachgewieſen ift, wenn es gelingt, zu zeigen, wie fie 
auch ohne hiftorifchen Grund fich bilden konnte: fo verfuchte - 
man von chriftlicher Seite, neben der Aufftellung des vermeint- 
lich wahren Thatbeftandes, zugleich die Genefis der faljchen 
Sage nachzumweifen, indem man bie verbreitete jüdifche Lüge 
aus einer Anftiftung des Synedriums und feiner mit der Wache 
vorgenommenen Beftechung herleitete. Gerade das Umgekehrte 
von dem ift alfo wahr, was Hafe fagt, die Sage fei wohl 
unter den ‚Freunden Jeſu entftanden, und von feinen Feinden 
mobifieirt worden : die Freunde hatten nur dann erft Veran⸗ 
laffung, eine Wache zu erdichten, wenn bie Feinde vorher von 
einem Diebftahl gefprochen hatten. !2) 


— 


2) Bol, Theile, zur Biographie Jeſu, F. 37.; Weiße, die evana. 
Beh. 2, ©. 343 f. 





370 Dritt:r Abſchnitt. 


$. 137. 
Erfte Kunde der Auferftichung. 


Daß die erfte Kunde von dem eröffneten und leeren Grabe 
Jeſu am zweiten Morgen nach feinem Begräbnig durch Frauen- 
mund an die Jünger gekommen, darin flimmen die vier Evan- 
geliften überein: aber in allen näheren Umſtänden weichen fte 
auf eine Weife von einander ab, welche der Polemif eines 
- Wolfenbüttler Fragmentiften ven reichften Stoff geboten, und 
dagegen den Harmoniften und Apologeten vollauf zu thun ge⸗ 
geben hat, ohne daß bis‘ jcgt eine befriedigende Vermittlung 
zwifchen beiden Parteien zu Stande gefoinmen wäre. !) 

Sehen wir von der an die Abweichungen der Begräbnißs 
gefchichte fich anfchließenden Differenz in Angabe des Zwedes 
ab, welchen die Frauen bei ihrem Gang zum Grabe hatten, 
indem fie nach den beiden mittleren Evangeliften eine Ealbung 
mit dem Leichnam Jeſu vorzunehmen gedachten, nach den beiven 
andern nur einen Befuh am Grabe machen wollten, — fo 
findet zuerft in Bezug auf die Zahl der Frauen, welche viefen 
Gang machen, die mannigfachfte Abweichung ſtatt. Nach 
Lufas find es unbeftimmt viele, nämlich nicht allein Diejenigen, 
welche er 23, 55. als oweiniugvier vo L &x ung Talılaias 
bezeichnet, und von welchen er 24, 10. Maria Magdalena, 
Johanna und Maria Jakobi namhaft macht, fondern auch noch 
zwes 0 avreig (24, 1.). Bei Markus find es bloß Drei 
Frauen, nämlich zwei von denen, die auch Lukas nennt, die 
dritte aber, flatt der Johanna, Salome (16, 1.). Matthäus 
hat diefe dritte, über welche die zwei mittleren Evangeliften 
differiren, gar nicht, fondern bloß die beiden Marien, über 
‚welche fie einig find (28, 1.). Johannes endlich hat nur die 


— — — — — — 


1) Bol. Eheile,a. a O. 








Viertes Kapitel. $. 137. 571 


Eine von dieſen, die Magdalenerin (20, 1.). Die Zeit, in 
welcher die Frauen zum Grabe gehen, wird gleichfalls nicht 
ganz gleichförmig beſtimmt; denn wenn auch des Matthäus 
oWwe oaßßarıw, 7 Enupwoxson &is ulev oaßßarum Feine-Dif- 
ferenz macht, 2) fo ift doch der Zufag des Markus: avareilav- 
Tos T& nMie mit dem johanneifchen oxorlag Ers &ong und dem 
‚6g9o8 BaIEos des Lukas im Widerfpruche. — Ueber den Zu⸗ 
ftand, in welchem die Frauen zuerft das Grab erblidten, fann 
wenigftens zwifchen Matthäus und den drei übrigen eine Ab- 
weichung ftattzufinden fiheinen. Nach diefen fehen fie, wie fie 
näher fommen und nach dem Grabe hinbliden, den Stein bereits 
durch unbefannte Hand von demfelben abgewälzt: wogegen bie 
Erzählung des erften Evangeliften Manchen fo zu lauten ges 
fehienen hat, als hätten Die Weiber felbft noch die Abwälzung durch 
einen Engel mit angefehen. — Manchfaltiger werben die Ab- 
weichungen in Bezug auf dasjenige, was die Frauen weiter am 
@rabe fahen und erfuhren. Nach Lufas gehen fie in das Grab 
hinein, finden den Leib Jeſu nicht, und indem fie hierüber betroffen 
find, fliehen zwei Männer in ftrahlenden Gewändern bei ihnen, 
welche ihnen feine Auferftehung verfündigen. Bei Markus, 
der fie gleichfalls in die Gruft hineingehen läßt, fehen fie nur 
Einen Jüngling in weißem Kleide auf der rechten Seite nicht 
jtehen, fondern figen, der ihnen dieſelbe Kunde ertheilt. Bei 
Matthäus befommen fie diefe Nachricht ehe fie in das Grab 
bineingehen von dem Engel, der nad Abwälzung des Steine 
ſich auf denſelben gefegt hatte. Nach Zohannes endlich Täuft 
Maria Magdalena, fobald fie den Stein abgenommen fieht, 
ohne eine Engelerfcheinung gehabt zu haben,. in die Stadt 
zurüd. — Auch das Verhältnig, in welches die Jünger Jeſu zu 
ber erften Kunde von feiner Auferftehung gefebt werben, iſt in 
ben verfchievenen Evangelien ein verſchiedenes. Nach Markus 


— — 
— —— 


*2) Bgl. Fritz ſche, z. d. St., und Kern. Züb. Zeitſchr. 1834, 2, ©. 
102 f. 





572 Dritter Abſchnitt. 


fagen die Frauen aus Furcht Niemand etwas von der gehabten 
Engelerfcheinung; nach Johannes weiß Maria Magdalena dem 
Zohannes und. Petrus, zu welchen fie vom Grabe hinwegeilt, 
nicht8 zu fagen, als daß Jeſus daraus weggenommen fei; nach 
Lukas berichten. die Frguen den Jüngern überhaupt, nicht bloß 
zweien berfelben, die gehabte Erfeheinung; nach Matthäus aber 
fam ihnen, wie fie zu den Jüngern eilen wollten, Jeſus felbft 
noch in den Weg, und fie fonnten auch dieß fehon den Jüͤn⸗ 
gern mittheilen. Daß einer von dieſen auf die Nachricht ver 
Frauen felbft zum Grabe gegangen wäre, davon fagen Die zwei 
erften Evangelien nichts; nad Lufas ging Petrus hinaus, 
fand es leer, und fehrte verwundert wieder um, und aus Luc. 
24, 24. ift zu erfehen, daß noch andere Jünger außer ihm in 
ähnlicher Weife dahin gegangen waren; nach dem vierten 
Evangelium war Petrus von Johannes begleitet, welcher fich 
hiebei von der Auferftehung Sefu überzeugte. Diefen Gang 
machte dem Lufas zufolge Petrus, nachdem er bereits durch 
die Weiber von der Engelerfcheinung benachrichtigt war; laut 
des vierten Evangeliums aber gingen die beiden Jünger zum 
Grabe, ehe ihnen Maria Magdalena von einer folchen hatte 
fagen koͤnnen; . dann erft, als dieſe mit denfelben Beiden den 
zweiten Gang zum Grabe gemacht hatte, und die Apoftel wies 
der umgefehrt waren, fah fie nach dem vierten Evangelium, 
fih in das Grabmal büdend, zwei Engel in weißen Kleidern, 
oben und unten an der Stelle, wo Jeſus gelegen hatte, figen, 
welche fie fragten, warum fie weine? und als fie fich umwen⸗ 
dete, erblidte fie gar Jeſum felbft, wovon auch bei Markus, 
V. 9., eine abgeriffene Notiz fich findet, mit dem Beifage, daß 
fie diefe Nachricht feinen ehemaligen -Begleitern gebracht habe. 
Die meiften von diefen Enantiophonien glaubte man auch 
hier durch Auseinanderhaltung des verfehieden Lautenden zu 
löſen, indem man ftatt Einer manchfaltig bargeftellten, eine 
Manchfalfigfeit verichiedener Scenen herausbrachte; wozu dann 
noch die gewöhnlichen grammatifchen u. a. Kunftflüde der Har⸗ 
moniftif Tamen. Damit Markus dem oxorlas Evi Burg bei 





vVierites Kapitel. 5. 137. 573 


Johannes nicht wiberfpräche, entblödete man fich nicht, fein 
ereilvrog rũ Ma durch orituro sole zu überfegen; 3) eher 
ginge ed noch an, den Widerfpruch zwifchen Matthäus und den 
übrigen, wenn jener zu jagen fcheint, die Weiber haben die 
Abwälzung des Steins durch den Engel mitangefehen, dadurch 
zu heben, daß man zwar nicht mit Michaelis‘) xul ide 
als Nachholung von etwas früherem, und ansxuAoe in der 
Bedeutung eines Plusquamperfectums nimmt, was gegen Lef- 
fing, der es noch geftatten"wollte, die neuere Kritif mit Recht 
verwehrt, ) wohl aber etwa dadurch, daß man das 7AIE V. 
1. von noch nicht vollendetem Gange der Weiber .verfteht, wo 
fodann das xal Ida und was folgt, feiner eigentlichen Bedeu⸗ 
tung gemäß, etwas anzeigen fann, das erft nach dem Weggange 
der Frauen von Haufe, doch aber vor ihrer Ankunft am Grabe, 
erfolgte.) In Bezug auf die Zahl und den Gang der Frauen 
wurde zunächft geltend gemacht, daß auch nach Johannes, ob 
er gleich die Magdalena allein namhaft mache, mit diefer noch 
mehrere Frauen zum Grabe gegangen fein müffen, da er fie 
ja nach ihrer Rüdfehr von demſelben zu ben beiden Süngern 
fagen läßt: &x oldauev, na EIrxav avıov ); ein Plural, ver 
allerdings auf verfchwiegene weitere Perſonen deutet, mit 
welchen Magdalena, fei es am Grabe felbft, oder auf dem 
Rückweg, ehe fie zu den Apofteln Fam, über den Gegenftand 
verhandelt hatte. So ging alfo, fagt man, Magdalena mit 
andern Weibern, von denen die übrigen Evangeliften, diefer 
mehrere, jener wenigere, namhaft machen, zum Grabe: da 


⸗ 


5) Kuindt, in Marc. p. 194 f. 

a) Michaelis, a. a. O. ©. 112. 

5) Schneckenburger, uͤher den Urſpr. bes erſten kanon. Evang. S. 
62 f. Vgl. den Wolfenbuͤttler Fragmentiſten in Leſſing's viertem 
Beitrag, S. 472 ff. Dagegen Leſſing's Duplik, Werke, Donauoͤſch. 
Ausg. 6. Thl. ©. 394 f. 

6) de Wette, z. d. St. 

7, Michaelis, ©. 150 ff. 


874 Dritter Abſchnitt. 


fie aber zurückkommt, ohne daß fie, wie die übrigen Frauen, 
einen Engel gefehen hatte, fo wird nun angenommen, fie fei, 
fubald fie den Stein weggewälzt jah, allein zurüdgelaufen: 
was. man aus ihrer heftigen Gemüthsart, als einer ehedem 
Dämonijchen, erflärt.) Während fie zur Stadt zurüdeilte, 
hatten.num die übrigen Frauen Die Erfcheinungen, von welchen 
die Synoptifer fprechen. — Allen, wird behauptet, erfchienen 
die Engel innerhalb des Grabes; denn daß einer außen auf 
dem Stein gefeffen, fei bei Matthäus nur Plusquamperfectum : 
als die Frauen famen, habe er fich bereits in das Grab zu- 
rückgezogen gehabt, da ja nach ihrer Unterhaltung mit ihm 
die Frauen als EEsAIsccı &x TE wnueis bezeichnet werben: ?) 
wobei nur überfehen ift, daß zwifchen der erften Anrede des 
‚Engels und dem edehröoer feine Aufforderung an die Frauen 
fteht, mit ihm Cin das Grab) zu Eommen, und den Drt zu 
‚betrachten, wo Jeſus gelegen hatte. — Wenn nad) den beiben 
erften Evangeliften die Frauen nur Einen, nach dem britten 
aber zwei Engel fehen; fo behilft fich felbft Calvin mit der 
ärmlichen Auskunft der Synekdoche, fo daß zwar fämmtliche 
Evangeliften von zwei Engeln wiflen, Matthäus und Markus 
aber nur desjenigen von ihnen, der das Wort führte, Erwäh- 
nung thun follen. Andere laffen verfchievene rauen hier 
Verſchiedenes fehen: die einen, von welchen Matthäus und 
Markus ſprechen, fahen nur Einen Engel, die andern, von 
welchen Lufas erzählt, und welche früher oder auch fpäter als 
die vorgenannten Tamen, fahen zwei; 10) allein Lufas läßt bie- 
jelben beiden Marien, welche nach feinen Vormännern nur 


8) Paulus, exeg. Handb., 3, b, ©. 825. . 

I) Michaelis, ©. 117. 

20) Mihaelis, ©. 146. — Schon Celſus ſtieß fih an dieſer die 
Zahl dee Engel betreffenden Differenz, und Origenes verwies ihn 
darauf, daß die Evıngeliften verfchiedene Engel meinen: Matthäus 
und Markus den, der din Stein abgewälzt hatte, Lukas und Johannes 
diejenigen, welche als Berichterftatter für die Frauen aufgeftellt waren. 
ec. Cels. 5, 56. 








Viertes Kapitel. &.. 137. 975 


Einen Engel gefehen hatten, den Apoſteln von einer Erſchei⸗ 
nung zweier Engel erzählen. — Auch den Rückweg follen Die 
rauen in getrennten Gruppen gemacht haben, jo daß denen, 
son welchen Matthäus fpricht, Jeſus begegnen konnte, ohne 
von denen des Lukas gefehen zu werden, und die des Markus 
vor Schreden Anfangs Niemand ‚etwas fagen, Die übrigen 
aber, und auch jene ſelbſt fpäter, die Jünger in Kenntnig 
fegen konnten. 1!) — Auf die durch mehrere Frauen erhaltene 
Nachricht bin geht dem Lukas zufolge Betrus zum Grabe, fin- 
det es leer, und fehrt verwundert wieder um. Aber ſchon ge- 
raume Zeit vor den übrigen Weibern war mach dieſer Hypotheſe 
Magdalena zurüdgelaufen, und hatte den Betrus und Johannes 
mit herausgeführtt. Es müßte alfo Petrus zuerſt auf die un- 
vollftändige Kunde der Magdalena vom leeren Grabe hin mit 
Johannes hinausgegangen fein, hernach auf die Nachricht der 
Frauen von der Engelericheinung noch einmal allein: wobei 
befonders auffallend wäre, daß, während fein Begleiter..gleich 
bei'm erften Gange zum. Glauben an Jeſu Wieberbelebung 
gelangte, er felbft durch den. zweiten. Gang nicht weiter als bis. 
zur Berwunderung ed gebracht haben follte. Ueberdieß find, 
wie ber Wolfenbüttler Yragmentift fchon gut herausgehoben 
bat, bie Erzählungen des dritten Evangeliums von dem Gange 
des Petrus allein, und des vierten von dem ded Petrus ımd 
Johannes, fo auffallend felbft bis auf die Worte einander ähn- 
lich, 1%) daß die meiften Ausleger bier bloß Einen Gang, nur 
bei Lukas den Begleiter des Petrus verfihwiegen, finden, wofür 
fie fich auf Luc. 24, 24. berufen können. Iſt aber der durch 
Magtalena’8 Zurüdfunft veranlaßte Gang der beiden Apoftel 
mit dem durch die Rüdfehr der Weiber veranlaßten des Petrus 
ein und derſelbe, dann ift auch die Rüdfehr der Frauen Feine 
doppelte; find fte aber miteinander umgekehrt, fo iſt dieß ein 


— — —— —— 


11) Paulus, z. d. St. des Matth. 
12) Sch fege die vom Wolfenbüttier (a. a. O. ©. 477 f.) entworfene 
Tabelle hicher: 


- 576 Dritter Abſchnitt. 


Widerſpruch. — Nachdem nun die beiden Apoftel umgekehrt 
find, ohne einen Engel gefehen zu haben, erblidt die zurüdge- 
bliebene Maria, wie fie in das Grab hineinfieht, auf Einmal 
deren zwei. Welch wunderliches Verſteckſpielen der Engel nad 
der harmoniftifchen Zufammenfügung diefer Erzählungen! Zus 
erft zeigt fich dem einen Trupp der Weiber nur Einer; dann 
einem andern deren zwei; vor ben Jüngern bierauf verbergen 
fich beide; nach deren Abgang aber kommen beide wieder zum 
Vorſchein. Um dieß unterbrechende Verſchwinden zu entfernen, 
hat Paulus die der Mugdalena zu Theil gewordene Erſchei⸗ 
nung vor die Ankunft der beiden Jünger geftelt: aber burd 
diefe gewaltfame Umſtellung der vom Berichterftatter gewählten 
Ordnung nur ein Befenntniß der Unmöglichfeit abgelegt, die 
Erzählungen der verichiedenen Evangeliften auf dieſe Weife ins 
einander einzufchieben. — Hierauf, wie ſich Magdalena vom 
Hineinfehen in das Grab aufrichtet und umfchaut, fieht fie 
Jeſum hinter ſich ftehen. Nach Matthäus erfchien Jefus der 
Magdalena und der andern Maria, als diefe bereitö auf dem 
Rückweg in die Stadt begriffen, mithin vom Grabe entfernt 
waren. So wäre alfo Jeſus zuerſt der Maria Magdalena 
allein hart am Grabe, hierauf ihr in Gefellfehaft einer andern 
Frau auf dem Wege erfchienen. Um das Zweckloſe dieſer in 


„I) Luc. 24, 12: ‚Petrus lief zum Grabe, Zdamuer. 
Joh. 20, 4: Petrus und Johannes liefen, Zresyor. 
2) Luc. V. 12: Petrus Eudte hinein, Trapaxınyez. 
Johe V. 5: Zohannes kuckte hinein, mapazınyaz. 
3) Lue. V. 12: Petrus fahe die Tuͤcher allein liegen, Alcquti ra 
0Jovın zelusve ova. 
305.8.6.7: Petrus fahe bie Tücher Liegen, und bag Schweiß: 
' tuch nicht mit den Tuͤchern liegen: Segel Te 
odorıa zelusva, xaL TO aRdapıoy # nerd ToV 09o- 
viwv xEluevor. 
4) Luc. V. 12: Petrus ging heim, anı;Lde moos Fauror. 
Joh. V. 10: Petrus und Johannes gingen wicher heim, anijl- 


or naldır 7100; gaurag. 





Viertes Kapitel. $. 137. 577 


fo kurzer Frift wiederholten Erfcheinung Jeſu vor derſelben 
Perfon zu vermeiden, hat man die obige Behauptung benügt, 
von den Frauen, von welchen Matthäus fpreche, habe fich. 
Magdalena fchon früher getrennt gehabt: 1?) allein dann wäre 
e8, da Matthäus außer der Magdalena nur noch Die andere 
Maria hat, nur eine einzige Frau gewefen, welcher auf dem 
Rüdmege Jeſus erfchien: während doch Matthäus durchaus 
von mehreren fpricht (arupınoev avrals u. f. f.). 

Um diefem unfteten SHinundherrennen der Sünger und 
Frauen, dem phantasmagorifchen Erfcheinen, Verfchtwinden und 
MWiedererfeheinen der Engel, und der zwedlofen Häufung ver 
Erjcheinungen Jefu vor bderfelben Perfon, wie fie bei dieſer 
harmoniftifchen Methode herauskommt, zu entgehen, müffen wir 
jeden Evangeliften für fich betrachten, dann befummen wir von 
jedem ein ruhiges Bild mit einfachen würdigen Zügen: Einen 
Gang der Frauen, oder nad Johannes zwei; ine Engeler: 
feheinung; Eine Erfcheinung Jeſu nad Johannes und Mat- 
thäus, und Einen Gang Eines oder zweier Jünger nach Lufas 
und Johannes. 

Doch zu jenen materiellen Schwierigkeiten der harmonifti- 
fchen Einfchiebungsmethode gefellt fich noch die formelle Frage, 
wie es denn unter den Borausfegungen jener Anficht komme, 
daß aus der Fülle des Gefchehenen jeder Neferent ein anderes 
Stüd für fich herausgefchnitten, von den vielen Gängen und 
Erfcheinungen feiner alle, und faft feiner Diefelben wie fein 
Rachbar, fondern meiftens nur jeder Eine, und jeder wieder eine’ 
andere, zur Darftellung ausgewählt habe? Die plaufibelfte. 
Antwort auf diefe Frage hat Griesbach in einem eigenen 
Programm über diefen Gegenftand gegeben, ') indem er 


15) Kuinöl, in Matth. p. 800 f. 
13) Progr. de fontibus, unde Evangelistae suas de resurrectione 
Domini narrationes hauserint. Opusc. acad. ed. Gabler, Vol. 
2, p. 241 ff. 
11. Band. 37 


78 Tritter Abfchnitt. 


annahm, jeder Evangelijt gebe die Art und Weife wieder, wie 
ihm gerade zuerft die Auferftehung Jeſu befannt geworden wat: 
Johannes habe die erfte Nachricht durch Maria Magdalena 
erhalten, und fo erzähle er auch nur, was er von diefer erfah- 
ren habe; dem Matthäus (denn die Zünger haben, als feſt⸗ 
befuchende Fremde, ohne Zmeifel in verfchiedenen Duartieren 
ber Stadt gewohnt) fei die erfte Kunde durdy diejenigen Wei- 
ber zugefommen, welchen auf dem Rüdiweg vom Grabe Jeſus 
jelbft erfehienen war, und fo theile er denn nur das von diefen, 
Erlebte mit. Doch hier fcheitert dieſe Erflärung bereits daran, 
daß theils bei Matthäus unter den Frauen, welche auf dem 
Rüdwege die Ehriftophanie haben, auch Magdalena ift, theils 
bei Johannes Magdalena nach ihrem zweiten Gang, auf wel- 
chem ihr Jeſus erfchienen war, nicht mehr zu Johannes und 
Petrus allein, fondern zu den uedrzais überhaupt ging, und 
ihnen die gehabte Erfeheinung und den erhaltenen Auftrag mit: 
theilte: fo daß alfo Matthäus in jedem Fall auch von der 
Erfcheinung Jeſu vor Magdalena wiffen mußte. ) Wenn 
dann ferner nad) diefer Hypothefe Markus die Auferftehungs- 
gefchichte fo, wie er fle im Haufe feiner zu Serufalem lebenden 
Mutter (A. ©. 12, 12.), Lukas, wie er fie von der bei ihm 
allein genannten Johanna erfahren hatte, erzählen fol: fo muß 
man ſich über die Zähigfeit verwundern, mit welcher hienach 
jeder an der zufällig zuerfi vernommenen Erzählung hängen 
geblieben wäre, da duch gerade über die Auferftehung Jeſu der 
Austauſch der Erzählungen unter feinen Anhängern ver Iebhaf- 
tefte fein, und fo die Vorftelungen über das erfte Befannts 
werden verfelben fich ausgleichen mußten. Dieſe Schwierig 
feiten zu heben, hat Griesbach weiter angenommen, Die 
Jünger haben wohl im Sinne gehabt, die unzufammenftim- 
menden Berichte der Frauen zu vergleichen und in Ordnung 
zu bringen; als aber der wieverbelebte Jeſus felbft in ihre 


— 


15) Bol. Schnedenburger, a. a. ©. ©. 64 f. Anm. 


Viertes Kapitel. $. 137. 379 


Mitte getreten ſei, haben fie dieß unterlaffen, weil fie nun nicht 
mehr auf die Ausfagen der Weiber, fondern auf die ſelbſtge⸗ 
habten Erſcheinungen ihren Glauben gegründet haben: allein 
eben, je mehr auf diefe Weife Die Nachrichten der Weiber in 
den Hintergrund traten, deſto weniger iſt zu begreifen, wie 
fernerhin * jeder fo ſtarr an demjenigen hängen bleiben konnte, 
was ihm zufällig zuerft diefe oder jene Frau berichtet hatte. 

Sührt hienach das einfchiebende Verfahren nicht zum 
Ziele: 16) fo ift das ausmwählende zu verfuchen, und zu fchen, 
ob wir nicht etwa an Einen der vier Berichte, als vorzugs⸗ 
weiſe apoſtoliſchen, uns zu halten, und nach ihm die übrigen 
zu berichtigen haben; wobei, wie ſonſt, ſo auch hier, um der 
weſentlichen Gleichheit der äußeren Beglaubigung willen, nur 
die innere Beichaffenheit der einzelnen Relationen entfcheiven 
fann. 

Aus der Zahl derjenigen Berichte über das erfte Kunds 
werben ber Auferftehung Jeſu, welche auf den Rang autopti- 
ſcher Urkunden Anfpruch haben, iſt der des erften Evangeliums 
durch die neuere Kritif weggeräumt worden;!”) ohne daß wir 
uns über diefe Yingunft, wie in andern Fällen, als über eine 
ungerechte, beflagen Fönnten. Denn in mehrerlei Beziehungen 
zeigt fich dießmal Die Erzählung des erften Evangeliums um 
eine Stelle weiter vorwärts in der Ausbildung der Tradition, 
als die der übrigen Evangelien. Cinmal, daß die wunderbare 
Eröffnung des Grabes von den Frauen noch mitangefehen wor: 
den, wofern dieß Matthäus fagen will, dieß fonnte fich, wenn 
es wirklich der Fall geweſen war, fchwerlich fo, wie bei ven 





— 


16) Vgl. hierüber de Wette, exeg. Handb. 1, 1, ©. 245.; Ammon, 
Fortbildung des Shriftentyums zur Weltreligion, 2,1, S. 6.3 Theile, 
zur Biogr. Jeſu, 5. 37. 

7) Schulz, über das Abendmahl, S. 321 f.z Schneckenburger, 
a. a. O. S. 61 ff. 

37% 


580 Dritter Abſchnitt. 


übrigen Erangeliften, wieder verlieren, wohl aber fih nad 
und nach frei in der Ueberlieferung bilden; ferner, daß bie 
Abwälzung des Steind durch den Engel gefchehen fei, beruht 
offenbar nur auf der Gombination eines folchen, welcher vie 
Frage, wie denn wohl der große Stein vom Grabe gefommen, 
und die Wächter bei Seite gefchafft worden feien, nicht beffer 
beantworten zu fönnen glaubte, als wenn er zu Beidem den 
Engel benügte, welchen ihm. die umlaufenden Erzählungen von 
der den Frauen zu Theil gewordenen Erfcheinung boten; wozu 
er ferner das Erpbeben, als weitere Verherrlichung ver Scene, 
feßte.,_Aber auch außerdem ift in der Erzählung des Matıhäus 
noch ein Zug, der nicht weniger als hiftorifch klingen will. 
Nachdem den Frauen bereitd der Engel die Auferftehung Jeſu 
. verfündigt, und fie mit dem Auftrag an die Jünger gefendet 
hatte, daß fie nach Galiläa gehen follen, dort werde ihnen der 
Auferfiandene erfcheinen : begegnet ihnen diefer felbft, und wie- 
derholt den Auftrag an die Jünger. Dieß ift ein fonderbarer 
Veberfluß. Zum Inhalte des Auftrags, den die Engel den 
Frauen gegeben, hatte Jeſus nichts mehr hinzuzufügen; mithin 
müßte er denfelben nur noch haben befräftigen und glaubhafter 
machen wollen. Allein bei den rauen beburfte es weiterer 
Beglaubigung nicht, denn fie waren ja fchon durch die Nach⸗ 
richt des Engeld xapäs ueyalns vol, alfo gläubig; bei den 
Jüngern aber reichte auch jene Befräftigung nicht bin, denn 
fie blieben felbft auf den Bericht derjenigen, weldye Jeſum ge- 
ſehen zu haben verficherten, bis fie ihn felbft zu fehen befamen, 
unglaͤubig. Es fcheinen fich alfo hier zweierlei Relationen 
über die erfte Kunde der Auferftehung in einander verwidelt 
zu haben, von welchen die eine die Weiber durch Engel, die 
andre durch Jeſum felbft von feiner Wiederbelebung in Kennt- 
niß gefebt und an die Jünger abgefchidt werben ließ — die 
lebtere offenbar die fpätere. 

ı Der dem Berichte des Matthäus entzogene Vorrang der 
Urfprünglichkeit wird auch hier wie fonft dem johanneifchen 
zugewendet. So charakteriftiiche Züge, fagt Lüde, wie, daß 


Biertes Kapitel. $. 137. 581 


beim Gang zum Grabe der aAlog uadreng fehneller als Petrus 
gegangen, und vor fhm an Ort und Stelle gefommen fei, be: 
urfunden die Aechtheit des Evangeliums auch dem Zweifelfüch- 
tigften. Allein, die Sache hat doch auch noch eine andere 
Seite. Schon früher ift bemerkt worden, wie diefer Zug zu 
denjenigen gehöre, durch welche das vierte Evangelium auf 
eigenthümliche Weife bemüht fich zeigt, den Johannes über den 
Petrus zu ftellen. %) Dieß ift nun genauer zu erörtern, indem 
wir die ſchon erwähnte Notiz des Lufas über den Gang des 
Petrus zum Grabe Jeſu mit dem Berichte des vierten Evans 
geliums über den Gang der beiden Jünger vergleichen. Nach 
Lufas (24, 12.) läuft Petrus zum Grabe: nad) Johannes 
(20, 3 ff.) Petrus und der Lieblingsjünger zufammen, doch fo, 
daß der letztere fehneller läuft, und zuerft zum Grabe kommt. 
Im dritten Evangelium büdt ſich Petrus in das Grab hinein, 
und flieht die leeren Tücher: im vierten thut Sohannes dieß, 
und fieht daſſelbe. Nun von einem Hineingehen in die Gruft 
hat der dritte Evangelift gar nichts: der. vierte aber läßt zuerft 
den Petrus hineingehen und die Tücher genauer befichtigen, 
dann auch den Sohannes, und diefen. mit dem Erfolge, daß er 
an die Wiederbelebung Jeſu zu glauben anfängt. !) Daß hier 
von einem und demfelben Vorfalle die Rede fei, ift oben durch 
die genaue Analogie felbft des Ausdrucks wahrfcheinlich gemacht 
worden. Es fragt ſich alfo nur, weldyes wohl die urfprüng- 
liche, der Thatfache nähere Erzählung gewefen fei? Wenn die 
des Johannes: dann müßte ſich alfo deſſen Name allmählig 
aus der LWeberlieferung verloren haben, und der Gang dem 
Einen Petrus zugefehrieben worden fein; was fich bei dem 
alle Andern verdunfelnden Anfehen des Petrus gar wohl denken 


- 


18) Band 1, $. 74. 

19) Neber diefen Sinn des enizrunr. und daß ihm das ro yao ydewar 
Tv ygapyv =. r. 2. nicht widerſpricht, ſ. das Richtige bei Lüde 3. 
d. St. 


582 Tritter Abfihnitt- 


ließe. Hiebei wiirde man, diefe beiden parallelen Erzählungen 
für ſich betrachtet, fich beruhigen können: allein im Zufammen- 
bange mit der ganzen verbächtigen Stellung, welche das vierte 
Evangelium dem Johannes, gegenüber von Petrus, ertheilt, 
muß auch hier das umgekehrte Verhältniß ber beiden Berichte 
wahrfcheinlicher werden. Wie bei dem Gang in den hohen- 
priefterlihen Balaft, fo wird auch bei dem zum Grabe Jeſu 
nur allein im vierten Evangelium dem Petrus Johannes bei- 
gegeben ;- wie er dort den Petrus einführt, fo läuft er ihm hier 
voran, und wirft den erften Blid in das Grab, was wieder⸗ 
holt hervorgehoben wird. Daß fofort Petrus zuerft in das 
Grab hineingeht, ift nur der Schein eines Vorzugs, der ihm 
aus Rüdficht auf die vulgäre Borftelung von ihm eingeräumt 
wird; denn nach ihm geht ja auch Sohannes hinein, und zwar . 
mit einem Erfolge, wie Petrus fich defien nicht rühmen fonnte, 
dag er nämlich an die Auferftehung Jeſu — als der Erſte — 
gläubig wurde. Aus Diefem Beftreben, den Johannes zum 
- Erftgebornen ber Gläubigen an Jeſu Auferfiehung zu machen, 
erflärt ſich dann auch Die Abweichung, daß nach dem Berichte 
des einzigen vierten Evangeliums Magdalena, noch ehe fie einen 
Engel gefehen, zu den beiden Süngern zurüdeilt. Denn hätte 
fle fchon vorher eine Engelerfcheinung gehabt, welcher fie dann 
‚ jo wenig als die Frauen bei Matthäus mißtraut haben würde, 
jo wäre ja fie Die erſte Gläubige gewefen, und hätte vor Jo⸗ 
hannes einen Vorzug gewonnen; was nun dadurch vermieden 
it, daß fie bloß mit der Wahrnehmung des leeren Grabes und 
der hiedurch erregten Unruhe zu den beiden Jüngern fommt. 
Auch das erklärt fich unter diefer Vorausfegung, daß das vierte 
Evangelium die vom Grabe zurüdfehrende Frau nicht zu den 
Jüngern überhaupt, fondern nur zu Petrus und Johannes 
gehen läßt. Da nämlich die der urfprünglichen Erzählung 
nach an fümmtliche Jünger gebrachte Nachricht nach Lukas 
zunächft nur den Petrus zu einem Gang an das Grab ver: 
anlaßte, wie denn auch nah Markus (V. 7.) die Botfchaft 
der Frauen ganz befonders für Petrus beftimmt war : fo Fonnte 





Viertes Kapitel. $. 137. 583 


fich leicht die Vorftellung bilden, die Rachricht fei nur an diefen 
gekommen, welchem dann der vierte Evangelift feinen Zweden 
gemäß noch den Johannes beigefellen mußte. — Nun erft, nachdem 
die beiden Jünger bei'm Grabe gewefen waren, und fein Johannes 
Glauben gewonnen hatte, Fonnte der Verfafler des vierten Evan- 
geliums die Erfcheinung der Engel und Jeſu felbft einfügen, welche 
den MWeibern zu Theil geworden fein follte. Daß er ftatt dieſer 
nur die Maria Magdalena nennt — obwohl er, wie früher 
bemerkt, 20, 2. wenigftend ein nachträgliches Zufammentreffen 
verfelben mit noch andern Frauen vorausfeht, — dieß könnte 
freilich unter andern Umſtänden als das Lrfprüngliche ange: 
ſehen werden, woraus die fynoptifche Darftelung durch Verall- 
gemeinerung entftanden: wäre: ebenfogut jedoch können die übri- 
gen Frauen als minder befannt hinter Magdalena zurüdgetreten 
fein. Die Ausmalung der Scene zwifchen ihr und Sefu, mit 
dem anfänglichen Nichterfennen u. f. f., macht zwar der geift- 
reichen und gefühlvollen Manier des Verfaflers Ehre; ») indeß 
findet ſich auch hier ein ähnlicher unbiftorifcher Weberfluß, wie 
bei Matthäus. Denn hier haben die Engel der Magdalena 
nicht, wie bei den übrigen Evangeliften den Frauen, die Auf: 
erftehung Sefu zu verfündigen, und ihr einen Auffchluß zu ge: 
ben, fondern fie fragen fie nur: = xAnleıs; worauf fie ihnen 
das Verſchwinden des Leichnams Jeſu klagt, aber, ohne weitern 
Auffchluß abzuwarten, wendet fie fich fofort um, und fieht Je⸗ 
fum ftehen. Wie alfo bei Matthäus die Erfcheinung Jeſu, 
welche doch noch nicht die eigentliche und rechte fein fol, eine 
überflüffige Zugabe zu der Engelerfcheinung ift: fo bier Die 
Engelerfoheinung eine müßig prunfende Einleitung ‚zur Erfchei- 
nung Iefu. 

Sehen wir hierauf den dritten Bericht, den des Markus, 
darauf an, vb nicht er vielleicht der dem Factum nächfte fein 
möchte: fo ift er auf eine Weife in fich zerriffen und au 


— — — — — 


20) Anders urtheilt Weiße, aa O. S. 355. Anm. 


* 


584 Dritter Abſchnitt. 


ungefügigen Beftandtheilen zufammengefegt, daß an ein folches 
Berhältnig nicht zu denken if. Nachdem nämlich bereits erzählt 
war, daß am Frühmorgen des Tags nach dem Sabbat bie 
Srauen zum Grabe Jefu gekommen, und durch einen Engel 
yon feiner Auferftehung benachrichtigt worden feien, aus Furcht 
aber Niemand etwas von der gehabten Erfcheinung gefagt har 
ben (16, 1—8.): wird nun (V. 9.), als ob weder von ber 
Auferftehung, noch von der Zeit derfelben, ſchon die Rede gewefen 
wäre, fortgefahren: awasag dE npwi newen oaßßaruw Eye 
rewrov Megig ın Möydehmn. Diefer Zug paßt auch deß⸗ 
halb zu der vorangegangenen Erzählung nicht, weil diefe gar 
nicht auf eine der Magdalena befonders zugedachte Erfcheinung 
eingerichtet iſt; fondern‘, da fie mit zwei andern Frauen durch 
einen Engel von Jeſu Auferftehung benachrichtigt wird, fo 
fonnte ihr vorher Sefus noch nicht erfchienen fein; nachher 
aber, auf dem Wege zur Stadt, war fie mit den übrigen Frauen 
zufammen, wo fie dann wirklich nach Matthäus miteinander 
die Ehriftophanie hatten. Ob man deßwegen das Ende des 
Marfusevangeliums, von V. 9. an, als einen fpäteren Zuſatz 
anfehen darf, *!) ift zwar wegen des Mangels an entfcheidenden 
fritifehen Gründen, und noch mehr: wegen des abgebrodyenen 
»Schluſſes mit poßſvro yap, der fi) dann ergibt, zweifelhaft; 
in jedem all aber haben wir hier einen Bericht, welchen ver 
Berfafler aus verfchiedenartigen Elementen der umgehenden 
Eage, welche er nicht zu beherrfchen wußte, ohne Fare Anfchaus 
ung von dem Hergang der Sache und ber Aufeinanderfolge 
der Momente, eilfertig zufammengefebt hat. 

In der Erzählung des Lukas wäre zwar übrigens fein 
befonderer Anſtoß: doch aber hat fie ein verbächtiges Element, 
die Engelerſcheinung, und zwar in der Zweizahl, mit den übri- 


21) Wie Paulus, Frisfhe, Credner, Einleitung, 1, $. 49. Das 
gegen vgl. de Wette, ereg. Handb., 1, 2, &. 199 f. Cine vers 
mittelnde Anfiht bei Hug, Einl. ind. N. X. 2. $. 69. 


- 





Viertes Kapitel. & 137. | 585 


gen gemein. Was follten die Engel bei diefer Scene? Mat: 
thäus fagt und: den Stein von der Gruft wälzen; wogegen 
fchon Gelfus bemerkt hat, daß nach der orthodoxen Vorausſe⸗ 
gung der Gottesfohn hiezu Feiner ſolchen Hülfe bendthigt fein 
fonnte: 2) nur etwa fehidlich mochte er fie finden. Bei Mar: 
fus und Lufas erfcheinen die Engel mehr nur al8 diejenigen, 
welche den Weibern Nachricht und Aufträge erthellen follten: 
allein da nach Matthäus und Johannes unmittelbar darauf 
Jeſus felber erfihien, und jene Aufträge wiederholte, fo war 
die Beftelung durch Engel überflüffig. Es bleibt daher nichts 
übrig, als zu fagen: die Engel gehörten zur Verherrlichung 
der großen Scene, als himmlifche Dienerfchaft, welche dem 
Meſſias die Thür aufzuthun hatte, durch welche er ausgehen 
wollte; als Ehrenwache an der Stelle, welche der Getoͤdtete fo 
eben lebendig verlaffen hatte. Hier ift nun aber eben die Frage: 
gibt es einen folchen Prunk in dem wirklichen Haushalte Got- 
tes, oder mur in der Eindlichen Vorftellung, welche fich bie 
Vorzeit von demſelben machte? 

Man hat fich daher verfchiedentli Mühe gegeben, die 
Engel der Auferftehungsgefchichte in natürliche Erfcheinungen 
zu verwandeln. Ging man hiebei von dem Berichte des erften 
Evangeliums aus, und erwog, daß dem Engel eine idtax ws 
osooren, ald Wirkung die Abwälzung des Steins und die Bes 
täubung der Hüter zugefchrieben, auch mit feiner Erfcheinung 
eine Erderſchütterung in Berbindung gefept wird: fo lag es 
nicht mehr fern, entweder an einen Blig zu denfen, welcher 
mit erfehütterndem Schlage den das Grabmal fchließenden Stein 
auf die Seite geſchmettert, und die Hüter zu Boden geworfen 
habe; oder an ein Ervbeben, welches, begleitet von aus ber 
Erde fhlagenden Flammen, diefelben Wirkungen hervorgebracht 
habe; wobei dann das Feurige und Uebermächtige der Erfchei- 


22) Bei Orig. c. Cels. 5, 52: 0 yao rä Her neis, ws doıxev, x &duvaro 
° nie . ’ »99) 9 ' * 2 e — ⸗ 
aroisaı Tov tayor, all Edendn alla anoxırnaovros nv nrouv. 


586 | Dritter Abſchnitt. 


nung von den wachhabenden Soldaten für einen Engel _gehal- 
ten worden ſei.?) Allein theils der Umſtand, daß der Engel 
ſich auf den abgewälzten Stein gelegt, theild und noch mehr 
die Notiz, daß er mit den Weibern geredet haben fol, macht 
diefe Hypotheſe unzureichend. Man hat fie deßwegen durch 
die Annahme zu ergänzen gefucht, der hohe Gedanke, Zefus fei 
auferftanden, welcher aus Beranlaffung des Teergefundenen 
Grabes in den Frauen entftand, und allmählig der anfänglichen 
Zweifel Meifter wurde, fei von den Frauen nach orientalifcher 
Denk» und Redeweile einem Engel zugeichrieben worven. 29) 
Wie aber, daß in fämmtlichen Evangelien die Engel als ges 
Fleidet in weiße, ftrahlende Gewänder dargeftelt werben? ſoll 
auch das orientalifche Bilderrede fein? Der Orientale kann 
wohl etwa einen guten Gedanken, der ihm kommt, als einen 
bezeichnen, den ihm ein Engel zugeflüftert habe: aber nun nody 
die Kleidung und das Ausfehen dieſes Engels zu befchreiben, 
das geht über das Maaß des bloßen Bildes auch im Orient 
hinaus. Bei der Beichreibung im erften Evangelium Tönnte 
man etwa den angeblichen Blig zu Hülfe nehmen, und vers 
muthen, was den Frauen beim Anblid vefielben durch ben 
Sinn fuhr, das haben fie einem Engel zugefährieben, welchen 
fie mit Rüdficht auf jenen Blig als einen glängend gefleiveten 
ſchilderten. Allein nach den übrigen Evangeliften fahen bie 
Weiber die Abwälzung des Steins ex hypothesi durch den 
Blitz nicht mehr mit an, fondern, wie fie in das Grab gingen 
oder fihauten, erfehienen ihnen ganz ruhig die weißen Geftalten. 
Hienach muß e8 etwas im Grabe gewefen fein, was in ihnen den 
Gedanfen an weißgefleivete Engel erregte; im Grabe aber 
lagen nad Lukas und Joha ines die weißen Leintücher, in 
welche der Leichnam Jeſu gewidelt geweſen war: diefe, weldye 





3), Schufter, in Eihhorn’s allg. Biblioth. 9, ©. 1034 ff.; Kuinoͤl, 
in Matth. p. 799. 

2) Friedrich, über die Engel in der Auferſtehungsgeſchichte. In 
Eihhorn’s allg Vibi. 6, S. 700 ff. Kninöl, a. a. O. 


Biertes Kapitel F. 137. 587 


von den ruhigeren und beherzteren Männern einfach als folche 
erfannt wurden, Fonnten, ſagt man, von furchtſamen und auf- 
geregten Weibern in der bunfeln Gruft bei täufchender Morgens 
Dämmerung gar wohl für Engel gehalten werden. 7) Doch 
wie follten die Frauen, welche doch erwarten mußten, einen 
weißeingewidelten Todten in ber Gruft zu finden, durch den 
Anblid jener Tücher auf fo ganz befondere Gedanken gefommen - 
fein, und zwar gerade darauf, was ihnen damals am fernften 
lag, dieß mögen wohl Engel fein, welche die Auferftehung ihres 
hingerichteten Lehrers ihnen anfündigen wollen? — Wie fon- 
derbar aber, mußte man von anderer Seite her denfen, hier 
fo viele Fünftliche Vermuthungen aufzuftellen, was wohl bie 
Engel gewefen fein mögen, da doch unter den vier Berichten 
zwei uns ausdrüdlich fagen, was fie gewefen find: nämlich 
natürliche Menfchen, wenn ja Markus feinen Engel ald vewi- 
oxov, Lukas die feinigen ald awdoas dvo bezeichnet.) Wer 
follen nun aber dieſe Männer gewefen fein? Hier ift wieder 
Thür und Thor geöffnet für die Annahme von geheimen Ber- 
bündeten Jeſu, welche felbft den Jüngern unbekannt gewefen 
fein müßten: es werben biefelben gewefen fein, welche bei ber 
fogenannten Berflärungsgefchichte mit ihm zufammenfamen, 
vielleicht Effener, welche fich weiß zu Fleiven pflegten, und was 
vergleichen aus der Mode gefommene Vermuthungen eines 
Bahrdtiſch-Venturini'ſchen Pragmatismus mehr find. 
Oder will man lieber ein rein zufälliges Zufammentreffen po⸗ 
ftuliren; oder endlih mit Paulus die Sache in einem Dunfel 
laffen, aus welchem, ſobald man es durch beftimmte Gedanken 
aufzuhellen verfucht, doch immer wieder die Geftalten der 
geheimen Verbündeten hervortreten? Der richtige Sinn wird 
auch bier vielmehr die Geftalten der jüdiſchen Volksvorſtellung 





— — 


>) So eine Abhandlung in Eich horn's allg. Bibl. 8, ©. 629 ff., und 
in Shmidt’s Fibl. 2, ©. 545 f.; auch Bauer, hebr. Mytbol. 
2, ©, 259. 

26) Paulus, exeg. Handb. 5, b, ©. 829. 55. 60. 62. e 





388 Dritter Abfchnitt. 


erfennen, durch welche die urchriftliche Tradition die Auferfte- 
hung ihres Meſſias verherrlichen zu müffen glaubte; eine An- 
fiht, durch welche fich zugleich die Differenzen in Zahl und 
Erfcheinungsweife jener überirdifchen Wefen von felbft auf die 
funftlofefte Weife Löfen. ?7) 

Eden hiemit ift aber auch anerfannt, daß wir fo wenig 
mit dem auswählenden, als mit dem einfchichbenden Verfahren 
ausreichen, vielmehr befennen müflen, in fämmtlichen evangelis 
ſchen Darftelungen dieſer erften Kunde der Auferftehung nur 
traditionelle Berichte vor und zu haben. ?°) 


$. 138. 


Baltläifche und judaͤiſche, paulinifhe und apokryphiſche Erfcheinungen 
bes Auferflandenen. 


Wohl die bebeutendfte von allen in ver Auferftehungs- 
gefchichte vorfommenden Differenzen betrifft die Frage, welches 
der von Jeſu beabfichtigte Hauptfchauplag feiner Erfcheinungen 
nad) der Auferftehung geweſen ſei? Die beiden erften Evan- 
gelien laſſen Jeſum noch vor feinem Tode bei'm Hinausgang 
an den Delberg den Jüngern die Zufage machen: uera z0 
eyeoImvol ue rrpoakw vuag eis 17V Tehulalev (Matth. 26, 32. 


27) Fritzſche, in Mare. 5. d. Gt.: Nemo — quispiam primi tem- 
poris Christianis fam dignus videri poterat, qui de Messia in 
vitam reverso nuntium ad homines perferret, quam angelus, Dei 
minister, divinorumque consiliorum interpres et adjutor. — Dann 
über bie Differenzen in Bezug auf die Anzahl der Engel u. f. f.: Ni- 
mirum insperato Jesu Messiae in vitam reditui miracula adjecere 
alii alia, quae Evangelistae religiose, quemadmodum ab suis 
auctoribus acceperant, literis mandärunt. 


©) Kaifer, bibl. Theol. 1, ©. 254 ff. 





1 


Vierte Kapitel. $. 138. 589 


Marc. 14, 28.); dieſelbe Verfiherung gibt am Auferftehungs- 
morgen der Engel den Weibern mit dem Zufag: &xel avıov 
Oryecde (Matth. 28, 7. Marc. 16, 7.), und bei Matthäus 
ertheilt über alles diefes Jeſus in eigener Perfon den Weibern 
den Auftrag, den Jüngern zu fagen: va antlIwow eis ııw 
Tohılolov, xoxsl us Oryovras (28, 10.). Bei Matthäus wird 
fofort wirklich die Abreife der Jünger nach Galiläa, und Die 
Erfheinung, welche fie dort von Jeſu hatten (die einzige den 
Süngern zu Theil gewordene, deren Matthäus gedenft), gemel- 
det; Markus bricht, nachdem er die Beftürzung befchrieben, 
in welche die Engelerfcheinung die Frauen verfegt habe, auf 
die fchon erwähnte räthfelhafte Art ab, und hängt einige Er- 
fheinungen Jeſu an, welche, da zwifchen der erften, die, ale 
unmittelbar nach der Auferftehung erfolgt, nothwendig in Je 
rufalem zu denken ift, und den folgenden Feine Ortöveräns 
derung bemerkt, und der Zufammenhang mit der früheren Weis 
‚fung nach Galiläa aufgehoben ift, fämmtlich als Erfcheinungen 
in und um Serufalem betrachtet werden müflen. Johannes 
weiß von einer Weifung der Jünger nach Galilda nichts, und 
läßt Jeſum am Abende des Auferftehungstages und acht Tage 
fpäter ven Jüngern in Serufalem fich zeigen; Doch wird in 
dem angehängten Schlußfapitel eine Erfcheinung am galiläifchen 
" Eee befchrieben. Bei Lukas dagegen ift nicht bloß von einer 
galiläifchen Erfcheinung feine Spur, umd Jerufalem mit der 
Umgegend zum alleinigen Schauplage der Ehriftophanien, welche 
diefes Evangelium hat, gemacht; fondern ed wird auch Jeſu, 
wie er am Abend nad der Auferftehung den verfammelten 
Züngern in Serufalem erfcheint, die Weifung in den Mund 
gelegt: vuelg de xadioare &v ın nolsı (waß die A. ©. 1, 4. 
beftimmter negativ durch arso ZepoooAuuwv 10) xwolLeodes aus- 
drüdt), &ws 8 Erdvonode duvanıy EE viyeg (24, 49). Hier 
muß zweierlei gefragt werden: 1) Wie kann Jeſus die Jünger 
zu einer Reife nach Galilda angemwiefen, und ihnen doch zugleich 
geboten haben, bis Pfingften in Serufalem zu bleiben? und 
2) wie fonnte er fie darauf verweifen, in Galiläa ſich ihnen 


5300 Dritter Abfeitt. 


zeigen zu wollen, wenn er doch im Einne hatte, noch am 
nämlihen Tage ihnen in und bei Jeruſalen zu erfcheinen? 
Den erfteren Widerjpruch, weicher zunaͤchſt zwifchen Mat⸗ 
thaͤus und Lufas fattfindei, hat Riemand fchärter hingeſtellt, 
als der Wolfenbüttler Aragmentilt. Iſt es wahr, fchreibt er, 
was Lufas fagt, daß Jefus gleich am erfien Tage feiner Auf- 
erfiehung feinen Jüngern in Jerufalem erfdhienen it, und be= 
foßlen hat, da zu bleiben, und nicht von da wegzugehen bis 
Pfingften: fo it es falſch, daß er ihnen befohlen habe, in der: 
felben Zeit nach dem Außerfien Galiläa zu wandern, um ihnen 
da zu erfcheinen, und umgefehrt.') Die Harmoniften gaben 
fi) zwar die Miene, als wäre dieſer Einwurf unbedeutend, und 
bemerften nur kurz, die Anmweifung, in einer Stadt zu bleiben, 
fei fein Etabtarreft, und ſchließe alfo Spaziergänge und Rebens 
reifen nicht aus; fondern nur die Verlegung des Wohnſitzes 
von Serufalem weg und das Ausgehen in alle Welt zur Bre- 
digt des Evangeliums habe Jeſus den Jüngern bis zu jenem 
Termin verbieten wollen. Allein ein Epasiergang ift die 
Reife von Zerufalem nach Galiläa doch wohl nicht, fondern 
der weitefte Zug, ben der Jude im Inland machen fonnte; 
ebenfo wenig war es für die Apoftel eine Rebenreife, vielmehr 
eine Rüdreife in ihre Heimath; was aber Jeſus durch jene 
Weifung den Jüngern unterfagen wollte, kann weder das Aus- 
gehen in alle Welt zur Verkündigung des Evangeliums gewefen 
fein, wozu fie dor der Ausgießung des Geiftes gar feinen Trieb 
in fih verfpürten; noch die Verlegung des Wohnfipes von Je⸗ 
‚rufalem weg, wo fie nur als feftbefuchende Fremde ſich auf: 
hielten: fondern eben von berjenigen Reife muß fie Jeſus haben 
zurüdhalten wollen, weldye zu machen ihnen am nächften lag, 
d. 5. von der Rüdfehr in ihre Heimath Galilaͤa nach Verfluß 
ber Feſttage. Ueberdieß — worüber auch Michaelis gefteht, 


— — —— — — 


») Sn Leſſing's Beiträgen, a. a. O. ©. 485. 
=) Michaelis, ©. 259 f.; Kurnöl, in Luc. p. 733. 








Viertes Kapitel. $. 138, 591 


fih wundern zu müflen — wenn Lukas durch jenes Verbot 
Jeſu die Reife nah Galiläa nicht ausfchließen will, warum 
erwähnt er derfelben mit feinem Wort? und ebenfo, wenn Mat- 
thäus fi) bewußt war, daß feine Hinweifung nach Galilaͤa 
fich mit dem Befehl, in der Hauptftadt zu bleiben, vertrage, warum 
hat er diefen, fammt den jerufalemifchen Erfcheinungen über- 
gangen? gewiß ein deutlicher Beweis, daß jeder von beiden 
einer andern Grundanficht vom Schauplake der Erſcheinungen 
des auferſtandenen Jeſus gefolgt iſt. 

In dieſem Gedränge, zwei an demſelben Tage gegebene 
entgegengeſetzte Befehle zuſammenzureimen, bot die Vergleichung 
der Apoſtelgeſchichte eine erwünfchte Huͤlfe durch Unterſcheidung 
der Zeiten dar. Hier findet ſich naͤmlich der Befehl Jeſu, Je⸗ 
ruſalem nicht zu verlaſſen, in ſeine letzte Erſcheinung, 40 Tage 
nach der Auferſtehung, unmittelbar vor der Himmelfahrt, ver⸗ 
legt; am Schluſſe des Lukasevangeliums iſt es gleichfalls die 
letzte mit der Himmelfahrt ſchließende Zuſammenkunft, in welcher 
jener Befehl ertheilt wird: und wenn man nun gleich, die ge⸗ 
drängte Darſtellung des Evangeliums für ſich genommen, 
glauben. müßte, das Alles fei noch am Tage der Auferftehung 
felbft vorgegangen: fo erfehe man doch, heißt es, aus ver A. G. 
deffelben Verfaſſers, daß zwiſchen B. 43 und 44 im legten 
Kapitel feines Evangeliums die 40 Tage von der Auferftehung 
bis zur Himmelfahrt mitten inne liegen. Hiemit aber ver- 
ſchwinde auch der fcheinbare Widerfpruch jener beiden Welfun- 
‚gen: denn gar wohl könne, wer zuerft zwar zu einer Reife 
nach Galiläa angewiefen hatte, 40 Tage fpäter, nachdem diefe 
Reife gemacht, und man in die Hauptftabt zurüdgefehrt war, 
nunmehr jede weitere Entfernung von da verboten haben. ) 
Allein fo wenig der zu befahrende Widerfpruch verfchiedener 
N.2.lichen Schriftfteller ein Grund fein darf, von der natürlichen 
Deutung ihrer Ausfprüche abzugehen: fo wenig fann man hiezu 


5) Schleiermacher, über den Lukas, .©. 299 f.; Paulus, ©. 910. 


592 Dritter Abſchnitt. 


durch die Furcht berechtigt fein, es möchte fonft ein und ber- 
felbe Autor in verfchiedenen Schriften fich widerfprechen; da, 
wenn die eine etwas fpäter als die andere gefchrieben ift, ver 
Echriftfteller in der Zwifchenzeit über Manches anders berichtet 
worden fein fann, als er es bei Abfafjung der erften Schrift 
war. Daß dieß in Bezug auf den Lebensabfchnitt Jeſu nach 
der Auferftehung bei Lufas wirklich der Sal war, davon werben 
wir uns bei Gelegenheit der Himmelfahrtsgefchichte überzeugen : 
womit dann jeder Grund verfchwindet, zwifchen das Egpayer 
B. 43. und eine d&E DB. 44, gegen den Augenfchein eines un» 
mittelbaren Zufammenhangs\ beinahe 5 Wochen Zwifchenzeit 
einzufehieben; ebenfo aber auch die Möglichkeit, die entgegen- 
gefegten Befehle Jeſu bei Matthäus und Lukas durch Unter⸗ 
ſcheidung der Zeiten zu vereinigen. 

Indeß, gefept auch, dieſer Widerſpruch Tieße ſich auf irgend 
. eine Weife heben, fo würden dennoch, felbft ohne jenen aus⸗ 
prüdlichen Befehl, welchen Lukas meldet, auch die bloßen 
Thatfachen, wie fie bei ihm und feinem Vormann und Nach⸗ 
folger erzählt find, mit der Weifung, welche Jeſus bei Matthäus 
den Juͤngern ertheilt, unvereinbar bleiben. Denn haben ihn, 
fragt der Wolfenbüttler, die fämmtlichen Jünger zu zweien 
Malen in Zerufalem gefehen, gefprochen, betaftet und mit ihm 
gefpeifet: wie kann es fein, daß fie, um ihn zu fehen, bie 
weite Reife nad Galiläa haben thun müflen?‘) Die Har- 
moniften erwiedern zwar dreift, Damit, daß Jefus den Jüngern 
fagen laffe, in Galiläa werden fie ihn fehen, ſei keineswegs 
gefagt, daß fie ihn fonft. nirgends, namentlich nicht in Jeru⸗ 
falem, fehen würden. 9) Allein, könnte ihnen der Wolfenbüttler 
in feiner Weife entgegnen, fo wenig, wer zu mir fagt: geh’ 


L 


a) A. a. D. ©. 486. 

5) Griesbach, Vorlefungen über Hermeneutif des N. T., mit Anwene 
dung auf die Leidens: und Auferftchungsgefchichte Chriſti, Herausgegeben 
von Steiner, ©. 314. 


Viertes Kapitel. $. 138. 593 


nach“ Rom, dort wirft du den Pabſt fehen, meinen fann, der 
Pabſt werde zwar. zuvor noch durch meinen jegigen Aufent« 
haltsort kommen, und da von mir gefehen werben Tönnen, 

hernach aber fol ich auch nach nad) Rom gehen, um ihn 
dort wieder zu fehen: fo wenig würbe ber Engel bei Mat- 
thäus und Marfus, wenn er von ber jerufalemifchen Er⸗ 
fcheinung noch am nämlichen Tage etwas geahnt hätte, den 
Süngern gefagt haben: gehet nach Galiläa, dort wird fich 
euch Zefus zeigen; fondern: ſeid nur getroft, hierfelbft in Je⸗ 
rufalem werdet ihr ihn vor. Abend noch zu fehen befommen. 
Wozu die Verweiſung auf das Entferntere, wenn ein gleich- 
artiged Näheres dazwifchenlag? und wozu eine Beftellung ber 
Jünger nach Galiläa durch die Weiber, wenn Jefus vorher 
ſah, am nämlichen Tage noch die Jünger perfönlich zu fpre- 
hen? Mit Recht beharrt die neuere Kritif auf dem, was 
fchon Leffing geltend gemacht hat,°) daß Fein Vernünftiger 
feinen Freunden durch eine britte Perfon eine ſpaͤtere Zufam- 
menkunft zu freudigem Wiederſehen an einem entfernten Ort 
anberaumen laffe, wenn er noch an demjelben Tag und öfters 
am gegenwärtigen Orte fie zu fehen gewiß ſei.) Kann mit- 
hin der Engel und Jeſus felbft, als fie am Morgen durch 
die Frauen die Jünger nah Galiläa beſchieden, noch nichts 
davon gewußt haben, daß er am Abende deſſelben Tages bei 
und in Serufalem fich ihnen zeigen werde: jo muß er alſo 
am Morgen noch im Sinne gehabt haben, fogleicy nad) 
Galilda zu gehen, im Verlaufe des Tags aber auf andere 
Gedanken gefommen fein. Bon jenem anfänglichen Worfage 
findet fih nad Paulus®) auch bei Lukas eine Spur, in 
der Wanderung Jeſu nach dem in der Richtung gegen Galiläa 
bin gelegenen Emmaus ; ald Grund der Abänderung des Plans 


6) Duplik, Werke, 6. Bd. ©. 352. 2 
7, Schnedenburger, über den Urfpr. bes eriten Fanon, Evang., ©. 17 f. 
8) Ereg. Handb, 3, b, ©. 835. 


1. Band, 38 





594 Dritter Abſchnitt. \ 
aber vermuthet berfelbe Ausleger, welchem hierin Ols hauſen 
beiſtimmt, ) den Unglauben der Juͤnger, wie er fich Jefu 
namentlich bei @elegenheit de Ganges nach Emmaus zu ers 
fennen gegeben hatte. Wie fich sine ſolche irrige Berechnung 
von Seiten Jeſu mit der orthodoxen Anficht. von feiner Berfon 
vertrage, möge hiebei Olshauſen zufehen; aber auch rein 
menfchlich betrachtet, liegt Fein genügender &rund jener Um⸗ 
fimmung vor. Namentlich feit Jeſus von den beiden Emmaun- 
tifchen Süngern erfannt worden war, durfte er gewiß fein, 
daß das Zeugniß der Männer die Ausfage der Weiber fo 
beglaubigen würde, um die Jünger wenigftens mit glimmenden 
Funken de8 Glaubens und der Hoffnung nad) Galilda zu 
führen. Meberhaupt aber, wenn eine Umflimmung und eine 
Verſchiedenheit des Plans Jeſu vor und nach verfelben ftatt- 
fand: warum gibt Dann Fein @vangelift von einem folchen 
Wendepunkte Nachricht, fondern ſpricht Lufas fo, wie wenn 
er von dem urfprünglichen Plane; Matthäus, wie wenn er 
son einer fpäteren Abänderung veffelben nichts wüßte; Johan⸗ 
ned, als ob der Haupiſchauplatz der Erfcheinungen des Auf 
erftandenen Jeruſalem gewefen, und er nur nachträglih auch 
einmal nad Galiläa gefommen wäre; endlich Markus fo, 
daß man wohl fiebt, er hat die anfängliche Weifung nach 
Galilaͤa, welche er aus Matthäus, und die folgenden Er- 
fheinungen in Serufalem und der Umgegend, welche er aus 
Lufas, und woher fonft noch, fehöpfte, auf feine Weife zu 
vereinigen gewußt oder auch nur gefucht, ſondern fie roh und 
widerfprechend, wie er file fand, zufammengeftellt? 

Muß man demnach mit der neueften Kritif des Matthäus⸗ 
evangellumsd den Widerfpruch zwifchen diefem und den übrigen 
in Bezug auf die Dertlichfeit der Erfeheinungen Jeſu nach 
der Auferftehung anerfennen: fo fragt es ſich, ob man ber» 
ſelben auch darin beiftimmen Tann, daß fie ohne Weiteres 


. 





9, Bibl. Somm. 2, ©. 524. 





Biert:5 Kapitel. $. 138. 05 


die Darftellung des erften Evangeliums gegen die der übrigen 
aufgibt ?!% Etellen wir, abgefehen von vorausgefeptem apo⸗ 
ftolifchen Urfprung des einen oder andern Evangeliums, die 
“Frage: welche der beiden abweichenden Darftellungen eignet 
fid mehr dazu, als traditionelle Um» und Weiterbildung ber 
andern angefehen zu werden? fo fönnen wir hier, außer ber 
allgemeinen Befchaffenheit der Erzählungen, noch auf einen 
einzelnen Punft fehen, an welchem beide fich auf dyarafteri- 
ftifche Weite berühren. Dieß ift die Anrede der Engel an 
die Frauen, in welcher nach fämmtlichen Eynoptifern Galilän’s 
gedacht wird, aber auf verfehievene Weife. Bei Matıhäus 
fagt der Engel, wie ſchon erwähnt, von Jeſu: rugoayar vuäs 
eis mv Talılalav — ids einnov vuiv (28, 7.. Bei Marfus 
fagt er daſſelbe, nur daß er ftatt des letzteren Zuſatzes, 
durch welchen bei Matthäus der Engel feine eignen Worte ° 
den Frauen einprägen will, den Zufap hat: xades alıen 
vuiv, mit welchem er fie auf die frühere Vorherſage Jeſu 
über diefen Gegenſtand zurüfweist. Bergleichen wir zumächft 
diefe beiden Darftellungen: fo Fönnte leicht das befräftigende 
elrcov vum überflüfiig und nichtsfagend erfcheinen, dagegen 
die Zurücdweifung auf Jeſu frühere Vorherfagung durch einen 
paffender, und darauf fünnte man die Vermuthung begründen, 
daß hier vieleicht Markus das Richtige und Urfprüngliche, 
Matthäus aber ein nicht ohne Mißverſtändniß Abgeleitetea 
habe. 1) Ziehen wir nım aber auch den Bericht des Lufas 
in die Vergleichung herein: ſo wird auch bier, wie bei 
Markus, durch ein amadyre, ws EÜainaev vuiv Er uw & 
ın Iohıleie, Aeyew n. T. 4. auf eine frühere Borherfage Jeſu 


10) Wie Schulz, über das Abendmahl, ©. 3213 Schneckenburger, 
a. a. O. 
11) Weßwegen Michgelis, S. 118 f., auch bei Matthäus rimrr für bie 
uriprüngliche Lesart hält. Vgl. Weiße, die evang. Geſchichte, 2, 
©. 397 f. 
38 # 








596 ‚ Tritter Abſchnitt. 


- zurüdgewiefen, aber nicht auf eine nad Galiläa weifende, 
fondern auf eine in Oaliläa gegebene. Hier fragt fih: iſt 
es wahrfcheinlicher, daß. das urfprünglich zur Beftimmung 
des Locals, in welchem die Weiffagung der Auferftehung ge⸗ 
geben wurde, hinzugeſetzte Galiläa fpäter irrig als Beftim- 
mung besjenigen Locals, wo der Auferftandene erfcheinen wollte, 
umgebeutet worden ift, oder umgefehrt? Dieß muß fich dar- 
nach entfcheiden, in welcher von beiden Stellungen- die Er- 
wähnung Galiläa's inniger in den Zufammenhang paßt. Daß 
nun bei Verfündigung der Auferftehung Alles darauf ankam, 
ob und wo der Auferftandene zu fehen fei, erhellt von felbft ; 
weniger lag, ‚wenn auf eine frühere Weiffagung zurüdgewie- 
fen werben follte, daran, wo Dieje gegeben worden war. Hienach 
fönnte man ſchon von diefer Vergleichung der Stellen aus 
es wahrfcheinlicher finden, daß es urfprünglich geheißen haben 
möge, der Engel habe die Jünger nach Galiläa gewiefen, 
um bort den Auferftandenen zu fehen (Matth.); hierauf aber, 
als die Erzählungen von judäifchen Erfcheinungen Jeſu die 
‚galiläifchen verdrängt hatten, habe man das Galiläa in ber 
Engelreve dahin umgeftelt, daß es nun hieß, ſchon in Ga- 
Iiläa habe Sefus feine Auferftehung vorhergefagt (Lukas); wor- 
auf dann Marfus vermittelnd eingetreten zu fein ſcheint, in- 
dem er mit Lukas das elrcov, in eirsev verwandelt, auf Jeſum 
bezog, Galiläa aber mit Matthäus als Schauplak nicht ber 
früheren Vorherfagung, fondern der bevorſtehenden Erfcheinung 
Jeſu beibehielt. | | 
Ziehen wir hierauf die allgemeine Befchaffenheit ver beiden 
Erzählungen und die Natur der Sache in Betracht, fo ftehen 
der Annahme, daß Jeſus nach feiner Auferftehung ven Süngern 
wirklich mehreremale in und bei Serufalem erfchienen fei, die 
Kunde hievon aber aus der Leberlieferung, wie fie dem erften 
Evangelium zum Grunde lag, ſich verloren habe, Diefelben 
Echwierigfeiten. entgegen, und Die entgegengefeßte hat eben 
fo viel. für fih, wie wir dieß bei einer früheren Unterſu⸗ 
dung in Bezug auf die mehreren Seftreifen und jubäifchen 











Viertes Kapitel. $. 138. 597 


Aufenthalte Zefu gefunden. haben. !Y) Daß die jerufalemifchen 
Erfcheinungen des Auferftandenen in Galiläa, wo dieſer Vor: 
ausfegung nach die Matthäustrabition fich bildete, unabflchts 
ih, alfo durch völliges Verſchwinden der Kunde von den⸗ 
felben, in Bergeffenheit gekommen wären, läßt ſich bei ver 
Wichtigkeit gerade dieſer Erfcheinungen, welche, wie die vor 
den verfammelten Eilfen und vor Thomas, die ficherften 
Zeugniffe für die Realität der Auferftehung enthielten, und bei 
dem organifirenden Einfluß der Gemeinde in Jerufalem, nicht 
wohl denken; daß man aber in Galiläa von den jubäifchen 
Ericheinungen Jeſu zwar gewußt, der Verfaffer des erften Evar- 
geliums aber fie abfichtlich verſchwiegen haben follte, um feiner 
Provinz allein die Ehre derfelben zu erhalten, dieß ſetzt einen 
galiläifchen PBarticularismus, eine Oppofition der dortigen 
Chriften gegen die Gemeinde zu Serufalem voraus, wovon ung 
jede gefchichtliche Spur abgeht. Das andere Mögliche hingegen, 
daß vielleicht, nachdem urfprünglich bloß galiläifche Erfcheinun- 
gen des Auferftandenen befannt gewefen waren, in der Ueber: 
lieferung allmählig immer mehr jubätfche und jerufalemifche 
hinzugefügt, und durch dieſe endlich jene ganz verdrängt worden 
fein mögen, läßt fich durch mancherlei Gründe zur Wahrfchein- 
lichkeit erheben. Schon der Zeit nach war die Kunde von der 
Auferftehung Jeſu um fo fihlagender, je unmittelbarer feine 
Erfeheinungen auf Begräbnig und Wiederbelebung gefolgt 
waren: follte er aber erft in Galiläa erfchienen fein, fo fand 
eine folche unmittelbare Aufeinanderfolge nicht ftatt; ferner war 
es eine natürliche Vorſtellung, daß fich die Auferftehung Jeſu 
an Ort und Stelle feines Todes durch Erfcheinungen dDocumen- 
tirt haben müſſe; endlich aber der Vorwurf, daß Jeſus nad 
feiner angeblichen Wiederbelebung nur den Seinigen, und zwar 
in einem Winfel von Galiläa, erfchienen fei, war dadurch 
einigermaßen zurüdgewiefen, wenn man fich darauf berufen 


12) 1. Band, $. 57. 


308 Dritter Abſchnitt. 


fonnte, daß er vielmehr in der Hauptflabt, mitten unter feinen 
ergrimmten Feinden, aber freilich von dieſen weder zu fehen 
noch zu greifen, als Auferflandener gewandelt habe, Hatte 
man aber einmal mehrere Erfcheinungen Jeſu nad Judaͤa und 
Jeruſalem verlegt: fo verloren die galildifchen ihre Wichtigkeit, 
und Fonnten hinfort entweder in der untergeordneten Weife, 
wie im vierten Evangelium, nachgetragen werben, ober auch, 
wie im dritten, ganz ausfallen. Da biefem, vom Standpunkte 
möglicher Sagenbildung aus ſich ergebenden Refultate bier 
nicht wie oben in der Anterfuchung über den Schauplag der 
Wirkfamfeit des lebenden Jeſus vom Gefichtspunft der Ber: 
bäftniffe und Abſichten Sefu aus ein umgefehrtes ſich ent⸗ 
gegenfegt: fo dürfen wir im Widerfpruch gegen die jegige 
Kritif zu Gunften des erften Evangeliums entfcheiden, deſſen 
Bericht über das Erfcheinen des Auferfiandenen ohnehin als 
der einfachere und minder fihwierige fir) empfehlen wird. 1%) 

Was nun Die Erfrheinungen des auferftandenen Jefus im 
Einzelnen betrifft , fo hat deren das erfte Evangelium zwei : eine 
am Auferftehungsmorgen vor den Frauen (28, 9 f.), und eine, 
unbeflimmt wann, vor den Eilfen in Galilia (28, 16 ff. ). 
Marfus hat, in übrigens blos fummarifcher Angabe, drei: bie 
erfte, welche am Morgen der Auferftehung der Marin Magda: 
lena (16, 9. f.), eine andere, welche zwei auf's Land gehenden 
Jüngern (16, 12.), und eine dritte, welche den zu Tiſche ſitzen⸗ 
den Eilfen, ohne Zweifel in Serufalem, zu Theil geworben if 
(16, 14.). Lukas erzählt zwar nur zwei Erfeheinungen : Die vor 
den Emmauntifchen Züngern am Auferftehungstag (24, 13 ff.), 
und die legte, vor den Eilfen und andern Jüngern zu Serufalem, 
nach 24, 36 ff. am Abende veffelben Tags, nad) U. ©. 1, 4ff. 


— —— — — — — nn 


15) Daß die wahre Localitaͤt für die Erſcheinungen des Auferſtandenen vor 
den Jüngern Galilda fei, damit ſtimmt auh Weiße, 2, S. 358 ff., 
überein; nur daß er, feiner ſynoptiſchen Gruntanjicht zufolge, dem Bes 
richte des Markus vor dem des Mattbäus den Vorzug zuerkennt. 





Viertes Kapitel. $. 138. 599 


vierzig Tage fpäter ; aber wenn den Emmauntifchen Wanderern 
bei ihrem Eintritte zu den Apofteln dieſe, noch ehe Jeſus in ihre 
Mitte getreten ift, entgegenrufen: zyeg97 0 Kupios Ovrwy xal 
op Zyuamı (24, 34.): fo wird hier eine dritte Erfcheinung 
vorausgeſetzt, welche vem Petrus allein zu Theil geworben war. 
Johannes hat vier dergleichen Erfcheinungen : bie erfte, welche 
der Maria Magdalena am Grabe zu Theil wurde (20, 14ff.); 
Die zweite, welche die Jünger zu Serufalem bei verfehlofienen 
Thüren hatten (20, 19 ff.) ; die dritte, acht Tage fpäter, eben- 
falts in Serufalem, bei welcher Thomas fich überzeugte (20, 
26 ff.); die vierte, unbeftimmt wann, am gallläifehen See (21.). 
Hier ift nun aber auch eine. Nachricht des Apofteld Paulus zu 
berüdfichtigen, welcher 1 Kor. 15,5. ff., wenn man bie ihm 
felbft zu Theil gewordene Ehriftophanie abrechnet, fünf Erſchei⸗ 
nungen des Auferftandenen erzählt, ohne fie jedoch näher zu ber 
ſchreiben: zuerft eine dem Kephas gewordene; dann eine vor 
den Zwölfen ; hierauf eine vor mehr als fünfhundert Brüdern auf 
einmal; weiter eine vor Jakobus, und enblich eine vor fämmtli- 
chen Apofteln. | | 
Wie fügen wir nun biefe verfehievenen Erfcheinungen in 
einander ein? Den Anfpruch darauf, die erfte zu fein, macht 
bei Johannes, und ausprüdlicher noch bei Markus, die der Mar 
ria Magdalena zu Theil gewordene. — Die zweite müßte das 
Zufammentreffen Jeſu mit den vom Grabe zurüdfehrenden Wei⸗ 
bern, bei Matthäus, geweſen fein; da aber unter biefen Mag. 
dalena gleichfalls war, und feine Spur vorhanden ift, daß fie 
ſchon vorher ven Auferftandenen hätte gefehen gehabt: fo koͤnnen, 
wie bereits bemerkt, dieſe beiden Erfeheinungen nicht..auseinan- 
dergehalten werben, fondern wir haben über Eine und diefelbe 
einen fchwanfenden Bericht. Daß Paulus, welcher in der ange: 
führten Stelle fpricht, al8 wollte er alle Erſcheinungen des wieder⸗ 
belebten Chriftus aufzählen, von denen er wußte, die bezeichnete 
übergeht, kann man etwa daraus erflären, daß er Weiber 
nicht ald Zeugen aufführen wollte. Da die Ordnung, In wel: 
cher er feine Ehriftophanien wievergibt, der Reihe von eir« und 


600 Dritter Abjchnitt. 


erseseo und dem Schluß mit Eoxarov nad) zu urtheilen, die Zeit 
folge zu fein feheint 19: fo wäre nach ihm die Erfcheinung vor 
Kephas die erfte einem Manne zu Theil gewordene gewefen. 
Dieß würde ſich mit ver Darftellung.des Lufas gut vertragen, | 
bei welchem den Emmauntifchen Wanderern bei. ihrem Eintritte 
die Jünger zu Jeruſalem mit der Nachricht entgegenkommen, daß 
Jeſus wirklich auferftanden und dem Simon .erfchienen fei, was 
möglicherweife noch vor dem Zufammentreffen mit jenen beiden 
der Fall gewefen fein könnte. — Als die nächfte Erfcheinung 
müßte aber hierauf nach Lukas die zulegt genannte gezählt wer- 
den, welche Baulus nicht erwähnen würde, etwa weil er nur 
die Apofteln zu Theil gewordenen, und von den übrigen bloß 
folche, welche vor größeren Maffen erfolgt waren, aufzuführen 
gebachte, oder wahrfcheinlicher , weil er von berfelben nichts 
wußte. Markus 16, 12. f. meint offenbar diefelbe Erfcheinung ; 
der Widerfpruch, daß, während bei Lukas die verfammelten Juͤn⸗ 
ger den von Emmaus Kommenden mit dem gläubigen Ruf: 
myegdn 0. Kuguog x. T. A. entgegentreten, bei Markus die Jün- 
ger auch auf die Nachricht jener beiden hin noch.nicht geglaubt 
haben follen, .rührt wohl .nur von einer Uebertreibung tes 
Markus her, welcher den Contraſt der überzeugenpfteu Ers 
fheinungen Jeſu mit dem fortvauernden Unglauben der Jün- 
ger nicht .aus den Händen laflen will. — An die Emmaun- 
tifche fchließt fich bei Lukas unmittelbar die Erfcheinung Sefu 
in der Berfammlung . ver vdex« und anderer an. Digfe hält 
man. gemeiniglich für iventifch mit der ‚paulinifchen Erfcheis 
nung vor den dwdexe, und mit dem, was Johannes berich⸗ 
tet, daß am. Abend nach der Auferftehung Jeſus bei ver: 
fchloffenen Thüren zu den Jüngern, in deren Verfammlung 
übrigens Thomas fehlte, ‚eingetreten fei. Hiegegen darf mau 
zwar das irdexa des Lukas, da doch nad Johannes nur 
zehn Apoftel dabei gewefen find, ebenfo wenig preffen, ald bei 


443) S. Billroth's Commentar z. d. St. 








Viertes Kapitel. $. 138. 601 


Paulus das dwdexa, wo doch in jedem Falle Judas abge- 

rechnet werden muß; auch fiheint die bei den beiden Evanges 
liſten ganz gleiche Beſchreibung des Herbeilommens Jeſu durch 
&57 &v. uEOY av und Eon Eis TO uE0ov, und die Anführung 
des Grußes: eigrp vuiv, auf Identitaͤt beider Erfcheinungen 
hinzumeifen; indeß, wenn man bevenft, wie das Betaften des 
Leibes Jeſu, welches bei Johannes erft in die acht Tage fpä- 
tere Erſcheinung fällt, und das Efien vom Bratfifch, welches 
Johannes erft bei der noch fpäteren galtläifchen Grfcheinung 
hat, von Lufas in jene jerufalemifche am Tage der Auferftes 
hung verlegt wird: fo erhellt, daß — wie man nun fagen will 
— entweder der dritte Evangelift hier mehrere Vorgänge in 
Einen zufammengezogen, ober der vierte Einen in mehrere 
auseinander gefchlagen hat. Diefe jerufalemifche Erfcheinung 
vor den Apofteln fönnte aber, wie oben bemerkt, nad) Mat- 
thaͤus gar nicht. flattgehabt haben, da diefer Evangelift Die 
HÖösxa, um Jefum zu fehen, nad Galiläa wandern Täßt. 
Markus und Lukas im Evangelium fnüpfen an diefelbe die 
Himmelfahrt an, fchließen alfo alle fpäteren Erfcheinungen 
aus. — Der Apoftel Baulus hat ald die nächfte Erfcheinung 
die vor 500 Brüdern, welche man gewöhnlich für Diefelbe 
mit derjenigen hält, die Matthäus auf einen Berg in Oaliläa 
verlegt: 1%) allein bei. biefer find nur die Evdex& ald gegen- 
wärtig angegeben, und auch die Gefpräche, welche Jeſus mit 
ihnen führt, fcheinen, als vorwiegend amtliche Snftructionen, 
mehr für Diefen engeren Kreis zu paflen. — Demnäcft führt 
Paulus eine dem Jakobus zu Theil gewordene Erfcheinung 
auf, von der auch im Hebräerevangelium des Hieronymus 
fih eine apofryphifche Nachricht findet, nach welcher fie aber 
die erfte von allen gewefen fein müßte. '9) — Hierauf wäre 


15) Paulus, ereg. Handb. 3, b, ©. 8975 Dlshaufen, 2, ©. 541. 
1). Hieron. de viris illustr. 2: Evangelium quoque, quod appella- 
tur secuudum Hebracos, — pust resurrectionem Salvatoris refert: 
Dominus autem, postquamı dedisset sindunem servo sacerdotis 


602 | Dritter Abſchnitt. 


für jene Erſcheinung Raum, bei welcher dem vierten Evan⸗ 
gelium zufolge acht Tage nach der Auferſtehung Jeſu Thomas 
überzeugt worden fein fol; womit Paulus genau überein- 
ftimmen würde, wenn wirflich fein zois anosoloıg ac 
(B. 7), vor weldhen er feine fünfte Erfcheinung vorgehen 
läßt, von einer Plenarverfammlung ver Eilfe, im Unterſchied 
von der früheren, bei welcher Thomas gefehlt hatte, zu ver- 
ftehen wäre: was aber, weil Paulus, nad der hier befpro- 
chenen Borausfegung, auch diefe als eine Erfcheinung vor 
toig dwdere bezeichnet hatte, unmöglich angeht; fondern ver 
Apoftel verfteht fowohl unter dwdexe ald unter 05 anogoAos 
srovres die fämmtlichen, damals übrigens um Einen Mann 
unvollzaͤhligen Apoftel im Gegenfag gegen bie einzelnen Ins 
dividuen (Kephas und Jakobus), von welchen er beidemale 
unmittelbar vorher als von folchen gefprochen hatte, denen 
eine Chriftophanie zu Theil geworden. Soll aber dennoch 
die fünfte paulinifche Erfcheinung Jeſu mit der dritten johan- 
neifchen identifch fein: fo würde nur um fo deutlicher erhellen, 
daß die vierte paulinifche, vor_ den 500 Brüdern, nicht die 
galiläifche des Matthäus fein Tann. Da nämlich bei Jo⸗ 
hannes die dritte in. Serufalem ftatt fand, Die vierte aber 
in Galiläa: fo müßten alfo Jeſus und die Zwölfe nach den 
erften jerufalemifchen @rfcheinungen nach Galilaͤa gegangen, 


(wahricheintich in Bezug auf bie Wache am Grabe, welche hier aus 
einer römifhen zu einer priefterlihen gemacht wäre; f. Credner, 
Beiträge zur Einl. in das N. T. ©. 406 f.), ivit ad Jacobum 
et apparuit ei. Juraverat enim Jacobus, se non comesturum 
panem ab illa hora, qua biberat ealicem Domini, donec videret 
eum resurgentem a dormieutibus (mie undenkbar ein ſolches Ge: 
lübde bei der Hoffnungstofigkeit der Zünger, darüber vgl. Michaelis, 

‚©. 122.) Rursusque post paululum: Afferte, ait Dominus, 
wensam et panem. Statimque additur: Tulit panem et bene- 
dixit ac fregit, et dedit Jacobo justo et dixit ei: frater mi, 
eomede panem tuum , quia resurrexit filius hominis a dormi- 
entibus, 


Viertes Kapitel. $. 138. 603 


und auf dem Berge zufammengefommen fein; hierauf hätten 
fie fich wieder nach Serufalem begeben, wo Jeſus ſich dem 
Thomas zeigte; dann wieder nach Galiläa, wo die Erfcheis 
nung am See erfolgte; endlich zur Himmelfahrt wieder nach 
Serufalem. Um dieß zwediofe Hinundherwandern zu vermeis 
den, und doch jene beiden Erfcheinungen combiniren zu fünnen, 
verlegt Olshauſen die Erfcheinung vor Thomas nad Ga- 
lilaͤg: ein unerlaubter Gewaltftreih, da nicht nur zwiſchen 
diefer und der vorhergehenden, eingeftanpnermaßen jerufale- 
mifchen, Erfcheinung feiner Ortsveränderung gedacht, fondern 
der Berfammlungsort ganz auf dieſelbe Weife befchrieben 
ift, ja der Zufab: rwv Fuge xex/s10uevev, nur an die 
Hauptftadt denken läßt, weil in dem von priefterlichem Haſſe 
gegen Jeſum weniger aufgeregten Galiläa fi der Grund . 
jenes Berfchließend, der Poßos zuv Isdalww, nicht .ebenfo 
denken läßt. — Erſt da alfo, wo mit der acht Tage nad) 
der ‚Auferftehung erfolgten die frühern jubäiichen Erfcheinungen 
au Ende find, befämen wir Raum, bie galiläifchen des Mat⸗ 
thäus und Johannes einzufügen. Mit diefen hat ed nun 
aber die eigene Bewandtniß, daß jede von beiden die erfte, 
und bie des Matthäus noch außerdem zugleich die letzte zu 
fein den Anfpruch macht!) Durch feine ganze Darftelung 
nicht nur, fondern ausbrüdlich durch den Zufag: 8 Erafaro 
avroig 6 L zu dem galiläifchen Opos, auf welches. die Eilfe 
gingen, bezeichnet Matthäus dieſe Erfcheinung als’ diejenige, 
auf welche Jeſus am Auferftehungsmorgen, zuerft durch den 
Engel, dann perfönlich, verwiefen hatte; nun aber verabredet 
man nicht eine zweite Zufammenfunft in einer Gegend, indem 
man bie erfte unbeftimmt laͤßt: folglih muß, da ein un- 
vorhergefehenes früheres Zufammentreffen bei der evange⸗ 
liſchen Vorſtellung von Jeſu ſich nicht denken laͤßt, 18) jene 


17) Leffing, Duplit, ©. 449 ff. 
18) Wie auh Kern zugibt, Hauptthatfahen, Züb. Zeitſchrift, 1836, 3, 
S. 57. 


604 Dritter Abſchnitt. 


Zufammenfunft, weil die verabredete, auch die erfte galiläifche 
gewefen fein. Kann fomit die Erfcheinung am See Tiberias 
bei Johannes unmöglich vor die auf dem Berge bei Matthäus 
gefeßt werden: fo will die letztere jene ebenfowenig nach fich 
dulden, da fie einen förmlichen Abfchied Jefu von feinen Jüngern 
enthält; auch wüßte man gar nicht, wie man die johanneifche 
Erfcheinung nach der eigenen Angabe des Evangeliften als 
die dritte gaveowoıg des auferftandenen Chriftus vor feinen 
uedmtois (21, 14.) herausbringen wollte, wenn auch noch 
die des erften Evangeliums ihr vorangegangen fein follte. 
Indeß, auch wenn man jene voranftellt, bleibt die Verlegen⸗ 
heit mit diefer johanneifchen Zählung groß genug. Zwar bie 
Erfcheinungen vor den Weibern dürfen wir abrechnen, weil 
Sohannes felbft die der Magdalena zu Theil gewordene wohl 
erzählt, aber nicht zählt; nun aber, wenn wir die dem Ke⸗ 
phas gewordene ald die erfte zählen, und die Emmauntifche 
als Die zweite: fo würde zwifchen Diefe und Die vor den 
Eilfen am Abend des Auferftehungstags in Jerufalem dieſe 
galiläifche als. die dritte fallen, was eine ganz unmöglich 
fehnelle Ortöveränderung vorausfegen würde; ja, wenn jene 
Erfcheinung vor den verfammelten Eilfen viejenige ift, bei 
welcher nach Sohannes Thomas fehlte: fo fiele die dritte Er- 
feheinung bei Sohannes vor feine erfte. Wielleicht aber, wenn 
wir den Ausdruck: Epyaveewdn Tols naIrrais aurs betrachten, 
dürfen wir nur folche Erfcheinungen von Yohannes gezählt 
ung denfen, welche vor mehreren Süngern zugleich fich er: 
eigneten, jo daß alfo die Erfcheinungen vor dem einzigen 
Petrus und Jakobus abzurechnen wären. Dann wäre als 
die erfte zu zählen die den beiden &mmauntifchen Jüngern 
gewordene; als. die zweite bie vor den verfammelten Eilfen 
am Abend des Auferftehungstags: jo daß nunmehr in Die 
acht Tage zwifchen diefer und der vor Thomas die Reife 
nach Galiläa zwar etwas bequemer fiele, aber auch fo die dritte 
Erfcheinung bei Johannes wenigftens vor feine zweite. Es 
erfchienen alfo wohl dem Verfaffer des vierten Evangeliums 








Viertes Kapitel. $ 138. 605 


zwei Jünger, wie die, denen Jefus auf dem Weg nad Ems» 
maus begegnete, als eine zu geringe Zahl, um eine nur fo 
vielen zu Theil gewordene Chriftophanie als ein. gavegscdeı 
tois uedrreis zu zählen. Dann wäre alfo der Eintritt in 
die Jüngerverfammlung am Abend die erfte Erfcheinung ; hier: 
auf wären die 500 Brüder, welchen fid) Jeſus auf einmal 
zeigte, gewiß zahlreich genug, um in Anfchlag gebracht zu wer: 
den: fo daß alfo nach diefer, dann aber immer wieder vor der 
dem Thomas und den arnosoAoıs r&oı gewordenen, welche 
Sohannes als die zweite zählt, feine dritte, Die galiläifche, ein- 
gefchoben werden müßte. Bielleicht aber ift jene Erfcheinung 
Sefu vor den Fünfhunderten fpäter zu feßen, fo daß nad 
jenem Eintritt Jeſu in die Jüngerverſammlung zunächſt die 
Scene mit Thomas, nad) diefer die am galiläifchen See, und 
hierauf erft der den Yünfhunderten gewährte Anblid folgen 
würde: Dann aber müßte, wenn doch die Erfcheinung vor 
Thomas diefelbe fein fol mit der fünften.bei'm Apoftel Paulus, 
diefer die beiden legten Erfcheinungen, welche er aufzählt, um⸗ 
geftellt haben, wozu doch Fein Grund vorhanden war: vielmehr 
lag es näher, die Erfcheinung vor 500 Brüdern, ald die ges 


wichtigfte, zulegt zu ftellen. Es bliebe alfo nichts übrig, al . 


zu fagen, Johannes habe unter den uedrreis immer nur eine 
größere oder Fleinere Berfammlung von Apoſteln verftanden: 
unter den Bünfhunderten aber feien Feine Apoftel geweſen; deß⸗ 
wegen habe er auch dieſe übergangen, und fo mit Recht die 
Erfheinung am See Tiberias als die dritte gezählt: wenn 
diefe nämlich vor der auf dem galiläifchen Berge ftattgefunden 
haben Tünnte, was nach dem Obigen undenkbar if. Sind 
ſchon die bisher anbeauemungsweife verfuchten Ausfünfte zum 
Theil Tächerlich genug : fo hat diefelben neuerdings Kern noch 
überboten durch den mit großer Zuverficht vorgetragenen Einfall, 
Johannes wolle hier nicht die Erfcheinungen, fondern die Tage 
zählen, an welchen Erfcheinungen des Auferftandenen ftattge- 
funden, fo daß z8T0 767 rolrov EpyawvegwIn 0 T. Tols uadrmreig 
heißen foll: jebt war Sefus den Seinigen bereit8 an drei 


606 Dritter Abſchnitt. 


verſchiedenen Tagen erfchienen: nämlich am Auferftehungstage 
viermal; dann act Tage darauf einmal; jest, einige Tage 

fpäter, wieder. 1% Vielmehr bleibt nichts übrig, ala zu befennen, 
der vierte Evangelift zähle nur diejenigen Erfcheinungen Jeſu 
vor. feinen Jüngern, welche er felbft erzählt hatte; und davon 
wird der Grund ſchwerlich gewefen fein, bag ihm die übrigen 
aus irgend welchen Urfachen minder bedeutend fchienen, fondern, 
daß er nichts von denfelben wußte. ?) Wie denn auch wies 
derum Matthäus mit feiner Testen galiläifchen Erfcheinung 
nichts von den jerufalemifchen des Johannes gewußt haben 
kann; denn wenn fi, in ber erften von bieten beiven zehn 
Ayoftel, im ber zweiten aber felbft Thomas von ber Realität 
der Auferftehung Jeſu überzeugt hatien: fo Tonıtten nicht bei 
jener fpäteren GErfcheinung auf dem galiläifchen Berge noch 
einige von den @ilfen (denn nur diefe läßt Matthäus dorthin 
fommen) Zweifel Haben (0 dE edisesor B. 17.) Endlich 
aber, wenn Jefus hier feinen Jüngern ſchon die legten Befehle, 
lehrend und taufend in alle Welt zu gehen, und die Zufage, 
alle Tage bis zum Ende des gegenwärtigen Aeon bei ihnen 
zu ſein, was ganz Worte eines Scheidenden ſind, gegeben hatte: 
ſo kann er nicht ſpäter noch einmal, wie die Apoſtelgeſchichte 
im Eingang meldet, bei Jeruſalem ihnen die letzten Auftraͤge 
ertheilt, und Abſchied von ihnen genommen haben. Nach dem 
Schluſſe des Lukasevangeliums fällt dieſer Abſchied im Gegen⸗ 
theil viel früher, als er nach Matthäus zu denken wäre, und 
der Schluß des Markusevangeliums legt Dem noch am Tage 
der Auferftehung zu Serufalem von feinen Juͤngern Scheidenden 
zum Theil diefelben Worte in den Mund‘, welche nad) Mat⸗ 
thaͤus in Galilaͤa, und jedenfalls fpäter als am Auferfichungs- 
tage, gefprochen find. Darauf, daß tie zwei ‘Bücher des Einen 


19) Hauptthatfadhen, a. a. ©. ©. 47. 
20) Mol, de Bette, ereg. Handb. 1,3, S. 205. 2105 Weiße, d 
evang. Geld. 2, ©. 400. 





Viertes Kapitel. $. 138. 607 


Qufas in Bezug auf den Zeitraum, während defien Jeſus nach 
feiner Auferftehung noch erfchien, fo weit von einander abges 
hen, daß das Eine diefen Zeitraum als eintägig, das andere 
als vierzigtägig beftimmt, fann ef tiefer unten nähere Rüdficht 
genommen werden. 

Wenn fo bie verfchiedenen evangelifchen Berichterftatter von 
den Erfcheimungen Jeſu nach feiner Auferftehung nur in wenigen 
derfelben zufammenftimmen; wenn ‘die Ortsbezeichnung des 
einen die yon den übrigen berichteten Erfcheinungen ausfchließt ; 
die Zeitbeftimmung eines andern für die Erzählungen der übri⸗ 
gen feine Friſt läßt; Die Zählung eines dritten ohne alle Rüd- 
fiht auf die andern angelegt iſt; endlich unter mehreren von 
verfehienenen Referenten berichteten Erfcheinungen jede die legte 
fein will, und doch mit ben. übrigen nichts gemein hat; fo 
müßte man abfichtlich blind fein wollen, wenn man nicht ans 
erfennen würde, daß feiner der Berichterftatter das, was ber 
andere berichtet,. Eannte und vorausfehte; Daß jeder Die Sache 
wieder anders gehört hatte; daß fomit über die Erfcheinungen 
des auferſtandenen Jeſus frühzeitig nur ſchwankende und viels 
fach varlirte Gerüchte im Umlauf waren. 2 

Dadurch wird übrigens die Stelle aus dem erften Korin- 
iherbriefe nicht erfchüttert, welcher, unzweifelhaft ächt, etwa um 
das Zahr 59 nach Chriſto, mithin noch Feine 30 Jahre nach 
feiner Auferftehung , gefehrieben if. Diefer Nachricht müflen 
wir das glauben, daß viele zur Zeit der Abfaffung des Briefs 
noch lebende Mitglieder der erften Gemeinde, namentlich bie 
Apoftel, überzeugt waren, Erfcheinungen bed auferflandenen 
Chriſtus gehabt zu haben, Ob hiemit auch das ſchon gegeben 
ift, daß dieſen Erfeheinungen etwas objectiv Wirfliches zum 
Grunde lag, wird fpäter zur Unterfuchung fommen; über ben 


21) Vgl. Kaifer, bibl. Thebl. 1, S. 254 ff; de Wette, a. a. 9; 


Ammon, Fortbildung, 2, 1, Kap r; Weiße, die evang. Gefchichte, 


2, Tted Buch. ' 





608 Dritter Abfnitt. 


gegenwärtigen Punkt, die Abweichung der Evangeliften, na⸗ 
mentlich in Hinfiht der Dertlichfeit, ift aus der Stelle des 
Paulus feine Entfcheidung zu entnehmen, fofern er feine jener 
Grfcheinungen näher. befchrieben hat. 


6. 139. 
Die Qualität des Leibes und Wandels Jeſu nach der Auferftehung. 


Wie haben wir uns nun aber diefe Fortfegung des Lebens 
Sefu nach der Auferftehung, und namentlich die Beſchaffenheit 
feines Leibes in dieſer Periode vorzuftelen?- Zur Beantwor- 
tung dieſer Frage müflen wir die einzelnen Erzählungen von 
den Erfcheinungen des Auferftandenen noch einmal durchſehen. 

Nach Matthäus begegnet (arırwıroev) Jeſus am Aufer⸗ 
ſtehungsmorgen den“vom Grabe zurüdeilenden Weibern; fie 
erkennen ihn, umfrfen verehrungsvoll feine. Füße, worauf er 
‚zu ihnen fpridt. Bei der zweiten Zufammenfunft auf dem 
galiläifchen Berge fehen ihn die Jünger (idovres), doch zweifeln 
einige noch, und auch hier fpricht Sefus zu ihnen. - Bon der 
Art, wie er kam und ging, wird hier nichts Näheres gefagt. 

Bei: Lufas geſellt fi) Jeſus zu zwei Jüngern,: die auf 
. dem Wege von Serufalem in das benachbarte -Dorf Emmaus 
waren (£yyloos owersogevsro avrois); diefe erfennen ihn unter- 
wegs nicht, was Lukas einem burch höhere Einwirkung in ihnen 
hervorgebrachten : fubjectiven Hinderniß (od opIaluoi aurwv 
-&xgatövro, TE um Ersiyvovor avcov), und erft Markus, ber 
diefes Creigniß in wenige Worte zufammendrängt, einer ob⸗ 
jectiven Veränderung feiner Geftalt zufchreibt ( &rlpg uoegpn). 
Auf dem Weg unterhält fi Jeſus mit den beiden, begleitet 
fie nach der Ankunft im Dorf auf ihre Einladung in ihr 
Quartier, ſetzt fich mit ihnen zu Tifche, und übernimmt nad) 
feiner Gewohnheit das Brechen und Bertheilen des Brotes. 
In diefem Augenblide weicht von den Augen der Jünger ver 


% 











’ Biertes Kapitel. $. 139. 660: 


wunderbare Banu, und fie erkennen ihn: !) aber in demſelben 
Momente wird er ihnen unfichsbar (aparzog yirt o arı' ausun). 
Ebenſo plöglich, wie ex hier verfchwand, ſcheint er fich unmit⸗ 
telbar nachher in ber Verſammlung der Jünger gezeigt zu 
haben, wenn es heißt, er babe mit Einem Male in ihrer Mitte 
- gefanden (857 & utog wrar), und fie, hierüber erſchrocken, 
haben geglaubt, einen Geiſt zu ſehen. Um ihnen biefe ängſti⸗ 
gende Meinung zu Benehmen, zeigte ihnen Jeſus feine Hande 
und Füße, und forderte fle zum Betaften auf,. damit fie Durch 
Die Wahrnehmung feines oapen ud osda enthaltenden Leibes 
fich ‚überzeugen Fönnten, daß er Tein Geſpenſt ſei; auch ließ er 
ſich ein Stück Bratfiſch und etwas von einem Honigkuchen 
geben, und verzehrte es vor ihren Augen. Die dem Simon 
zu Theil gewordene Erjcheinung laͤßt Lukas durch üphn bes 
zeichnen, was auch Paulus im erſten Korintherbrieſe für alle 
dort anfgezählten Chriſtephanien gebraucht, und ſänmtliche Er⸗ 
fheinungen des. Auferſtandenen während der vierzig Tage faßt 
Lukas A. ©. 1, 3. in dem Ausdruck ontomuesos, U, G. 10, 
40. durch Zug; yarssdas, zuſammen; ähnlich wie Marfus 
die Erfcheinung vor. Magdalena durch Spa, bie vor den wars 
beenden Süngern und ner den Eilfen durch Epaxag N, Sohannes 
aber die Erfcheinung am See Tiberias durch Epevigwaer Emurov 
bezeichnet, und. fAmmtliche Chriftophanien, die er erzählt hat, 
unter den Ausdruck aynspudn fabt. Bel Markus und Lukas 
Bommt hierauf ald Schluß des irdiſchen Wandels bes Aufer⸗ 
flandenen dieß hinzu, daß er vor den Augen der Jünger weg⸗ 
genommen, und (durch eine Wolfe, nah. 9. ©. 1, 9.) zum 
Himmel emporgetragen wurde. 

Im vierten Gyangelium flieht Jeſus zuerſt, als Maria 


— — — —— — 


1) Daß es bie bei'm Brotbrechen ſich enthuͤkenden Raͤgelmale in ben Laͤn⸗ 
den geweſen feien, an welchen bier Jeſus erlamt wurde (MPaulue, 
exeg. Handbuch 3, b, S. 882: Kuindt, in Luc. p. 734.), iſt ohne 
‘ale Anbeutung im Tert. - 

il. Band, 39 








018 " Dritter Abfchnitt. 


Magdalena fih vom Grabe umwendet, hinter ihr, doch er⸗ 
fennt fie ihn auch auf eine .Anrede hin nicht, fonbern hält 
ihn für den Gärtner, bis er fie (mit dem ihr fo wohl befann- 
ten Tone) bei Namen nennt. Wie fie ihm hierauf ihre Ver⸗ 
ehrung bezeigen will, hält fie Jeſus durch die Worte um we 
era ab, und fendet fie mit Botfchaft zu den Jüngern. Die 
zweite johanneifche Erfcheinung Jefu fiel unter befonvers merk⸗ 
würdigen Umftänden vor. Die Jünger waren aus Furcht vor 
den feindlich gefinnten Juden bei verfchloffenen Thuͤren ver- 
fammelt: da Fam auf einmal Jeſus, ftellte ſich in ihre Mitte, 
begrüßte fie, und zeigte ihnen — wahrfcheinlid bloß dem Ge⸗ 
ſichte — feine Hände und feine Seite, um fi als den Ge⸗ 
freuzigten kenntlich zu machen. Als Thomas, der damals 
nicht zugegen geweſen war, durch den Bericht feiner Mitjün- 
ger von der Realität diefer Erfcheinung fich nicht überzeugen 
ließ, und zu dem Ende die Wundenmale Jeſu felbft zu fehen 
und zu betaften verlangte: gewährte ihm Jeſus bei einer acht 
Tage darauf unter denfelben Umſtänden wiederholten Erfchei- 
nung auch dieß, indem er ihn die Nägelmale in feinen Händen 
und die Stichtwunde in feiner Seite befühlen ließ. Endlich 
bei der Erfcheimung am galilätfchen See fland Jeſus in der 
Morgendämmerung, unerkannt von den im Schiffe befindlichen 
Jüngern, am Ufer, fragte fie um ein Gericht Fiſche, und 
wurde hierauf an dem reichen Fiſchzuge, den er ihnen ge- 
währte,. von Sohannes erfannt; doch fo, daß die an's Land 
geftiegenen Jünger nicht wagten, ihn zu fragen, ob er «8 
wirflich fei. Hierauf vertheilte er Brot und Fifche unter fie, 
wovon er ohne Zweifel felbft auch mitgenoß, und hatte her- 
nad) mit Johannes und Petrus eine Unterredung. u) 


2) Bon demjenigen Theile dieſer Unterredung, welcher ben Jehannes be⸗ 
teifft, iſt ſchon oben ($. 116.) die Rebe gewefen. Den Petrus anlan: 
gend bezieht fich die dreimal mieberholte Frage Jeſu: dyarıs oder guleis 
re; der gewöhnlichen Anſicht nach auf feine ebenfo oft wiederholte Ver⸗ 


laͤugnung dem öre 75 vewreoog, Eluvrurs 08aviov xaı nepENdTeS Oma 











Biertes Kapitel. 6. 190. - 611 


ESind nun bie beiden Haupworſtellungen, die man von 
dem Leben Jeſu nach ſeiner Auferſtehung haben kann, bie, 
daß man daflelbe entweder als ein natürliches, vollkommen 
menfchliches, demgemaͤß auch feinen Leib fortwährend den 
phylifchen und organifchen Gefegen unterworfen, ſich denkt; 
oder daß. man fein Leben bereits als ein höheres, übermenfch- 
liches, und feinen Leib als einen übernatürlichen, verklärten, 
ſich vorfteilt: fo find Die zufammengeftellten Berichte von der 
Art, daß zunächft jede der beiden Vorftellungsweifen ſich auf 
gewiffe Züge in denfelben berufen fann. Die menfchliche Ge⸗ 
ftalt mit ihren natürlichen Gliedmaßen, die Möglichkeit, an 
derfelben wieder erfannt zu. werben, die Fortdauer der Wun⸗ 
denmale, das menfchliche Reden, Gehen, Brotbrechen: das 
Alles ſcheint für ein völlig natürliches Leben Jeſu auch nach 
der Auferfiehung zu fprechen. Könnte man doch noch Zweifel 


— Öray Ot yredans, tærtvtis Tas yeigds on zaı dllog ae (oe zar 
olosı ônu & Heli (V. 18 f.) aber wirb vom Evangeliften felbft bie 
Deutung gegeben, Sefus habe 88 zu Petrus gefprochen, unualrwr, nol 
Javarıy dosace vor Heöv. Dieß müßte auf die Kreuzigung geben, was 
der Eirhlihen Sage zufolge (Tertull. de praeser. haer. 36. Euseb. 
H. E. 2, 25.) bie Zodesart des Petrus war, und auf welche im Sinne 
des Eoangeliften auch dag aroAsdeı wor V. 20 und 22. (b. h. folge 
mir in ber gleichen Todesart) binzumeifen ſcheint. Allein gerade der 
Hauptzug bei dieſer Deutung, das Fxreveis Tas yeipas, iſt bier fo geſtellt, 
daß bie Beziehung auf die Kreuzigung unmöglich wirb, nämlich vor bie 
Abführung, wohin man nicht will; umgelehrt das Guͤrten, was doch 
nur das Binden zum Behuf der Abführung bedeuten kann, follte vor 
dem Ausſtrecken der Hände am Kreuze ftehen. Sieht man von der 
Deutung ab, welche ber Referent, wie auch Luͤcke (3. 703.) zugefteht, 
ex eventu, den Worten Zefu gibt: fo fcheinen dieſe nichts ats den Ges 
meinplas von der Hülflofigkeit des Alters im Gegenſatze zu der Ruͤſtig⸗ 
Eeit der Zugend zu enthalten, worüber auch das vice öna & Yeleıs nit. 
binausgeht. Der Verfaller von Joh. 21. aber, bem bie Worte, fei 
ed als Ausſpruch Jeſu, oder wie fonft, bekannt waren, glaubte fie in 
ber Weife des vierten Evangeliums ats verbedite Weiffagung auf ben 
Kreuzeötob bes Petrus verwenden zu koͤnnen. 

39 % 


612 - Dritter Abſduitt. 


begen, und vermuthen, es möge wohl auch eine höhere, 
bimmlifche Leiblichkeit ein folches Ausfelen fich geben, und 
folche Bunctionen verrichten fönnen: fo werben doch alle Bes 
denflichkeiten durch die zwei weiteren Züge niebergefchlagen, 
daß Jeſus nach der Auferfiehung irdiſche Nahrung genoffen, 
und fich Kat betaften laſſen. Wenn dergleichen wohl in alten 
Mythen auch höheren Weſen zugefchrieben fein mag, wie 
das Efien den drei himmlischen Geflalten, von welchen Abra- 
ham einen Befuh erhält (1. Mof. 18, 8.), die Taftbarkeit 
dem mit Jakob ringenden Bott (1. Moſ. 32, 24 ff.): jo muß 
doch darauf beharrt werden, daß in der Wirklichkeit Beides 
‚nur bei Weſen mit materiellem, organifchem Leibe vorkommen 
ann. Daher finden denn nicht allein die rationaliftifchen, 
fondern auch srihobore Ausdleger in tiefen Zügen den unum- 
Kößlichen Beweis, daß Leib und Leben Jeſu nach der Aufers 
ftehung noch immer als natürlich menfchliche gedacht werben 
müffen.d Diefe Behauptung unterflügt man noch durch Die 
Bemerfung, daß in dem Befinden des Auferftandenen fich 
ganz derjenige Fortſchritt zeige, welcher: bei der allmähligen 
natürlichen Genefung eines fchwer Verwundeten zu erwarten 
fei. In den erfien Stunden nach der Auferftehung müſſe er 
ſich noch in der Nähe des Grabes halten; am Nachmittag 
reichen feine Kräfte zu einem Gang nad dem benachbarten 
Emmaus; erft fpäter finde er fih im Stande, die weitere 
Reife nach Galiläa zu unternehmen, Dann auch in dem Be- 
kaftenlafien finde der bemerfenswerthe Hortfchritt flatt, daß am 
Auferſtehungsmorgen zwar Jefus der Maria Magdalena ver- 
biete, ihn anzurühren, weil fein verwundeter Leib noch zu 
leidend und empfindlich war: acht Tage fpäter aber, nachdem 
feine Heilung weiter fortgefchritten war, fordere er felber den 


3) Yaulus, ereg. Handb. 3, b, ©. 836 ff. 2..3. 1, b, ©. 265 ff.; 
Ammon, a. a. O.; Hafe, 8. 3. $. 149; Michaelis, a. a. O., 
S. 251 fe Bgl. auch Neander, &. J. Chr. ©. 650. 





4 


Viertes Kapitel. $. 139. 613 


Thomas zur Berührung feiner Wunden auf. Selbſt auch 


das, daß Jeſus nach feiner Auferftehung fo felten und kurz 
mit feirien Jüngern zufammen war, zeugt nach biefen Erklä⸗ 
rern dafür, daß er feinen natürlichen menſchlichen Leib aus 
dem Grabe iwiedergebracht Hatte, indem eben. ein folcher von 
der Verwundung und Qual am Krane ber fich fo ſchwach 
fühlen mußte, um nach kurzen Momenten der Thätigfeit immer 
wieder längere Zwiſchenperioden ruhiger Zurüdgezogenheit nö⸗ 
thig zu haben. | 

Da indeß, wie wir gefehben haben, die R.T.lichen Erzäh- 
lungen ebenfo aurh Züge enthalten, weiche Die entgegengefeßte 
Vorſtellung von der Keiblichfeit Jeſu nach ber Auferftehung be- 
günftigen: fo muß die bisher dargelegte Anficht es über ſich 
nehmen, auch diefe, ihr fcheinbar feindlichen Züge fo zu deuten, 
daß fie ihr nicht mehr wiverfpreehen. Hier nun können ſchon Die 


Ausdrüde, durch welche die Erfcheinungen Jeſu eingeführt zu 


werden pflegen, namentlich &p97, wodurch auch die Erfcheinung 
im feurigen Buſch, 2 Mof. 3, 2. LXX.; drsvavouevog, wie 
die Erfcheinung des Engels, Tob. 12, 19.; Eyaon, wie die 
Engelerfheiningen Matth. 1. und 2., bezeichnet find, auf etwas 
Veberntenfihliches hinzuweiſen fcheinen. Beftimmter aber fteht 
dem matürlichen Gehen und Kommen, welches bei einigen 
Scenen vorausgefept werden fan, in andern ein plögliches 
Erfcheinen und Verſchwinden; der Annahme eines gewöhnlichen 
menfchlichen Körpers das öftere Nichterkanntwerven, ja die 
ausdrüdiiche Erwähnung einer &sege uoggpn, entgegen; haupt 
fächlich aber ſcheint der Betaftbarkeit des Leibes Jeſu die Fä- 
higfeit zu widerftreben, welche ihm Sohannes, dem erften Gin 


Sn 


drude feiner Worte zufolge, leiht: durch verfehloffene Thüren 


einzugehen. Allein, daß Maria Magdalena Jefum Anfangs 
für den xnr8gos hielt, davon glauben felbft foldhe Ausleger, 


welche fich fonft vor dem Wunderbaren feineswegs feheuen,. 
den Grund darin fuchen zu dürfen, daß Jefus von dem Gärtner, 


der wohl in der Nähe der Gruft feine Wohnung gehabt haben - 


möge, fich einen Anzug habe geben laſſen; wozu ſowohl hier 


v 


614 Dritter Abfchnitt. 


als bei dem Gange nach Emmaus die Entftellung des Arge 
fichts Jeſu durch die Qualen der Kreuzigung beigetragen ‚haben 
möge, und eben nur diefes beides fol auch durch die ärepe 
nopgn bei Marfus ausgedrüdt werden.) Denfelden. Em⸗ 
mauntifchen Süngern habe ſich Iefus fofort in der freudigen 
Beſtürzung, welche das plößliche Wiebererfennen des Todige⸗ 
glaubten verurfachte, leicht auf die natürlichfte Weife unbemerft 
entziehen können; was dann von ihnen, denen die ganze Sache 
mit Jeſu Wiederbelebung ein Wunder war, für ein überirdifches 
Verſchwinden gehalten worden ſei. Auch in dem dcr & 
usoy avıuy oder eis To u2oov liege, zumal bei FZohannes, wo 
das ordentliche 749ev und Zpyezas dabeiftche, nichts Weberna- 
türliches, fondern nur die überrafchende Ankunft eines Solchen, 
von dem man gerade gefprochen hat, ohne ihn zu erwarten, 
und für ein swerue haben ihn die Berfammelten gehalten, nicht 
weil er auf wunderbare Weife eingetreten war, fondern weil 
fie an Die wirkliche Wiederbelebung des Geftorbenen nicht 
glauben konnten.) Selbſt der Zug endlich, von welchem man 
meinen follte, er fei gegen die Anficht von dem Leben des Auf- 
erftandenen als einem natürlich menfchlichen entfcheidend, das 
2042094 Hvowv xexleiwutvov bei Johannes, ift laͤngſt fogar 
von orthodoren Theologen fo gedeutet worden, Daß es jener 
Anficht nicht mehr entgegen if. Abgefehen von Erflärungen, 
wie die Heumann’fche, die Ivpas feien nicht die des Vers 
tammlungshaufes der Jünger, fondern überhaupt die Thüren 
in Jeruſalem, und Die Angabe, daß fie verfehlofien geweſen, 
ſei eine Bezeichnung derjenigen Stunde in der Nacht, in wels 
cher man die Thüren zu ſchließen gepflegt habe, ber goßos 
ru Isdalwv aber gebe nicht den Grund des Thürfchließene, 


) Zholud, z. d. St., vgl. Paulus, ereg. Handb. 3, b, ©. 866. 
j 881. Eine ähnliche natürliche Erklärung hat neueftens Tüde don 
Hug angenommen. 
2) Paulus, a. a. O. ©. 882. 
6) Paulus a. a. O. ©. 883. 93; Lücke, 2, S. 684 fl 


Viertes Kapitel. & 139. 615 


fondern des Jufammenfeins der Jünger an, fo bezeichnet felbft 
Calvin die Meinung, daß der Leib des Auferfiandenen per 
medium ferrum et asseres hindurdhgebrungen fei, als pue- 
riles argutiae, wozu der Tert feine BVeranlaffung gebe, welcher 
nicht fage, Jeſus fei per januas clausas eingedrungen, fondern 
nur, er fei plöglich unter feine Jünger getreten, cum clausae 
essent januae. ’) Dennoch hält Calvin den Eintritt Jeſu, 
von welchem bier. Johannes fpricht, ald ein Wunder feft, wel 
ches dann näher dahin zu beftimmen wäre, Jeſus fei eingetre- 
ten, cum fores clausae fuissent, sed quae Domino ve- 
niente subito patuerunt ad nutum divinae majestatis ejus.®) 
Während neuere Orthodore nur das Unbeſtimmte retten, daß 
bei diefem Eintritt Jeſu etwas Wunderbares — unausgemadht, 
welcher Art — ftattgefunden habe: °) hat der Rationalismus 
aus bemfelben das Wunderbare vollends ganz zu- verbannen 
gewußt. Die verfchlofienen Thüren feien Jefu von Menfchen- 
händen geöffnet worden; was Johannes nur: deßwegen zu be- 
richten unterlaffe, weil es fich von felbft verftehe, ja abgefchmadt 
gewefen wäre, wenn er gefagt hätte: fie machten ihm die Thü⸗ 
ren auf, und er ging hinein. !9) 

Allein bei diefer Deutung des Epyerar rwv Ivpav xexdeı- 
ausvov find die Theologen keineswegs unbefangen gewefen. Am 
wenigften Calvin; denn wenn er fagt, die Bapiften behaupten 
ein wirkliches Durchöringen des Leibes Jeſu durch gefchloffene 
Thüren deßwegen, ut corpus Christi immensuin esse, nul- 
loque loco contineri obtineant: fo fträubt er fich mithin 
gegen jene Auslegung der johanneifchen Worte nur deßwegen 
fo, um der. ihm anftößigen Lehre von der Ubiquität des Leibes 


— — — 


) Calvin, Comm. in Joh. z. d. St. p. 363 f. ed. Tholuck. 

8, So Suicer, Thes. s. v. Yin. Vgl. Michaelis, ©. 265. 

’»), Tholud md Olshauſen, z. d. St. 

6, Griesbach, Vorleſungen über Hermeneutik, S. 3055 Paulus, 
©. 835. Vgl. Lüde, 2, ©. 683 ff. 


616 Dr'tter Abſchniet. 


Zeſu Feine Stütze zu geben. Die neueren Ausleger dagegen 
hatten das Intereſſe, dem Widerſpruch auszuweichen, welcher 
nach unſern Einſichten darin liegt, daß ein Körper zugleich 
aus’ fefter Materie beſtehen, und doch durch andre feſte Materie 
ungehindert ſollte hindurchgehen Tönwen; allein, da mir nicht 
wiſſen, ob dieß auch auf dem Standpuntte der N.T.lichen 
Schriftfieler ein Widerſpruch war, fo gibt uns die Scheue 
vor einem ſolchen fein Recht, jener Deutung, fofern fe als 
bie ertgemäße fich zeigen fullte, und zu entziehen. Hier fönnte 
mon nan allerdings das say Supae warlsoriven zunächſt 
lediglich als Bezeichnung des Angftiichen Zuſtandes faffen, in 
weichen die Juͤnger durch die Hinrichtung Jeſu verfebt waren. 
Doch, ſchon daß dieſe Notiz bei der Erſcheinung Sef vor 
Thomas wieverholt ift, erregt Bedenken; da, wenn burch dies 
felbe weiter nichts, als das Angegebene, gefagt fein jo, es ſich 
faum vertohnte, fie zu wiederholen. D) Wenn nun bei dieſem 
zweiten alle jener Grund, warım die Thüren verfchleften 
waren, weggelaflen, dagegen mit dem zuv Fupwv zerkaupdvum 
das Epyeraı unmittelbar verbunden ift: fo wird der Schein zur 
Wahrfcheinlichfeit, dab durch jene Rotiz zugleich die Art des 
Kommens Jeſu näher beſtimmt werden folle: 9) Iſt ferner mit 
der wiederholten Angabe, Jefus fei bei verſchloſſenen Thuͤren 
gekommen, wiederholt das Er eis To adoov verbunden, iva®, 
auch in Berbindung mit ÄAder, wozu es ſich als nähere Bes 
fimmung verhält, immer. ein plögliches Daſtehen Jeſu, ohne 
daß man ihn. hatte fommen fehen, ausdrückt: ſo erhellt aus 
diefen Zügen zufammen unläugbar wenigftens fo viel, daß hier 
von einem Kommen ohne die gewoͤhnlichen Bermitilungen, mit» 
bin von einem wunderbaren, die Rede if. Daß. aber diefes 
Wunder nicht in einem Dringen durch die Dielen der Thären 
beftanden habe, dafür berufen fich auch die Wunderfreunde unter 


— — — — — 


") S. Aholuck md de Werte ;. d. St. 
=) Vgl Llshaufen, 2, ©. 531. Anm. 





Viertes Kapitel. $. 130. 617 


den Auslegern ſehr nuverſichtlich darauf, pers es ja nirgends 
heiße, er ſei die vwv Fugwv xuxksrsuevum hereingekommen. 9) 
All ein Das will. der Evangelift auch gar ‚nicht beſtimmen, daß 
Jeſus, wie Michaelis fich. ausdrüdt, gerade durch die Poren 
des Holzes an der Thüre in das Zimmer gedrungen fei, for: 
dern ſeine Meinung ift nur, die Thliren feten verfchloffen ges 
weien und geblieben, und doc habe Jeſus auf Einmal in . 
Zimmer -geftanden, welchem alfo Wände, Thüren, kurz alle ma: 
teriellen Zwifchenlagen, fein Hinderniß geweſen feien, hereinzu- 
fommen. Statt ihrer unbilligen Forderung an uns alſo, ihnen 
im Texte des Johannes eine Beitimmung nachkmveifer, welche 
Diefer gar nicht geben will, müflen wir vielmehr son ihnen 
verlangen, und zu erklären, warum er das (wunderbare) Yufs 
gehen der Thüren, wenn. er ein folches vorausfegte, nicht herz 
vorgehoben. hat? In dieſer Hinſicht ift es fehr unglücklich, 
daß Calvin ſich auf A. G. 12, 6 ff. beruft, wo von Betrusd 
erzählt werde, .er fei aus dem verfchloffenen Kerfer entkommen, 
ohne daß jemand daran denfe, die Thüren freien verfchloflen 
geblieben, und er durch Bretier und Eifen hindurchgedrungen. 
Ratürlich nicht; weil hier von der eifernen Gefängnißpforte, 
weiche jur Stadt führte, ausdruͤdlich geſagt wird: 2716 'auro- 
paen nwolgdn avrols (B. 10.), eine Bemerkung, welche, weil 
fie eine fehöne Anfchauung ded Wunders gibt, gewiß aud 
unfer Evangelift nicht beivemale weggelaflen haben würde, wenn 
er an ein wunderbares Auffpringen der Thüre gedacht hätte. - 

So wenig aber in dieſer johanneifchen Erzählung das 
Hebernatürliche fish befeitigen oder vermindern läßt: fo wenig 
will die natürliche Erklärung ber. Ausbrüde genügen, mit wel: 
hen Lukas das Kommen und Gehen Jeſu bezeichnet. Denn 
wenn nach diefem Evangeliften fein Kommen ein grau & utogy 
Toy uadrciv, fein Gehen ein uyarrog yirsadar an’ uurer 
war: jo läßt Das Zufammentreffen Diefer Züge, miteingerechnet 


— — — — — 


25) So, außer Calvin, Luͤcke, a. a. D.; Ol shauſen, 530 f. 








618 Dritter Abſchnitt. 


noch den Schreden der Juͤnger und ihren Bahn, er fei ein 
Gefpenft, fchwerlih an etwas Anderes, ald an ein wunderbares 
Erfcheinen denken. Ohnehin, wenn man fi dad zwar etwa 
noch vorftellen könnte, wie Jeſus in ein von Menfchen erfülltes 
Zimmer auf natürlidhe Weife unbemerkt hineinkommen fonnte: 
ſo Täßt fi) doch das auf Feine Weife anfchaulich madyen, wie 
.. 8 ihm follte möglich geweſen fein, den zwei Emmauntifchen 
Sängern, mit welchen er, wie es fcheint, allein zu Tifche faß, 
‚ unbemerkt, und ohne daß fie ihm nachgehen konnten, fi zu 
entziehen. !9 

Daß Markus unter der Eripa mopyn eine wunderbar ver 
änderte Geftalt verftehe, hätte man niemals läugnen follen ; '5 
doch hat dieß weniger Gewicht, weil es nur des Referenten 
eigene Erflärung des Umſtandes iſt, weichen Lukas, aber ans 
ders erHlärt, an die Hand gab: daß die beiden Wanderer Je⸗ 
fum nicht erfannt haben. Dap Maria Magdalena Jeſum für 
den Gärtner hielt, war nach der Anficht des Evangelien 
ſchwerlich Folge entlehnter Gärtnerfleiver: fondern, daß fie ikm 
nicht fannte, wird man fich dem Geifte ver Erzählung gemäß 
entweder durch ein xparsiodaı der Augen Magdalena’s, oder 
aus einer Erdpa uopgpr Iefu erklären müffen; daß fie ihn aber 
für .den ©ärtner anfah, Fam dann einfach daher, daß fie den 
unbefannten Mann im Garten traf. Auch eine Entflelung 
Sefu durch die Qualen der Kreusigung, und ein allmähliges 
Heilen feiner Wunden anzunehmen, find wir durch die evan⸗ 
gelifchen Nachrichten nicht berechtigt. Das johanneifche 17 ve 
one, wenn es Abwehr einer ſchmerzlichen Berührung fein 
folkte, Münde im Widerfpruche nicht blog mit Matthäus, nad 
welchem Jeſus an demfelben. Auferftehungsmorgen durch bie 
Frauen feine Füße umfaflen ließ, fondern auch mit Lukas, 
welchem zufolge er noch am nämlichen Tage die Jünger aufs 
fordert, ihn zu betaften, und es früge fi alsdann, welche 


11) Dlshaufen, a. a. D. ©. 530. \ 
5) ®gl. Fritzſche, in Marc., p. 725. 








Viertes Kapitel. $. 139. 619 


Darftellung die richtigere wäre? Aber es Tiegt ja im Zus 
fammenhange gar nichts, was darauf hinwiefe, Daß Sefus 
fih das anveoIas eben ald etwas Schmerzhaftes verbitte; 
fondern dieß kann aus verfchiedenen Gründen gefchehen fein: 
aus welchen, ift bei. der Dunkelheit ver Stelle bis jet nicht 
zur Entfcheidung gebracht. !%) | 

Die wunderlichfte Verkehrung aber iſt es, wenn geſagt 
wird, die ſeltenen und kurzen Zuſammenkuͤnfte Jeſu mit ſeinen 
Jüngern nach der Auferſtehung beweiſen, daß er für längere 
und häufigere Anftrengungen noch zu ſchwach, alfo ein na- 
türlich, Genefender, gewefen ſei. Eben wenn er auf Dbiefe 
Weife Förperlicher Pflege bedürftig war: fo follte er nicht 
felten, fondern immer bei feinen Jüngern gewefen fein, welche 
die naͤchſten waren, von denen er eine folche Pflege zu er: 
warten hatte. Denn wo foll er nun in den langen Zwifchen- 
zeiten zwifchen feinen Erfcheinungen fich aufgehalten haben? 
in der Einfamfeit? im Sreien? in der Wüſte und auf Bergen? 
Das war fein Aufenthalt für einen Kranken, und es bleibt 
nichts übrig, als er müßte bei geheimen Verbündeten, von 
welchen jelbft feine Jünger nichts mußten, verborgen geweſen 
fein. Ein ſolches Geheimhalten feines eigentlichen Aufenthalts 
aber jelbft vor feinen Schülern, denen er nur felten, und 
mit Abficht ploͤtzlich fich einftellend und wieder entfernend, 
fich zeigte, wäre ein Spielen unter der Dede, ein falfcher 
Schein des Mebernatürlichen gewefen, welchen er ihnen vorge⸗ 
macht haͤtte, der uns Jeſum und ſeine ganze Sache in einem 
Lichte erſcheinen ließe, welches dem Gegenſtande ſelbſt, wie er 
übrigens in den Quellen vor uns liegt, fremd, nur durch die 
Blendlaterne moderner, übrigens bereits wieder verſchollener, 


260) Die verſchiedenen Erklaͤrungen ſ. bei Tholuck und Luͤcke, welcher 
legtere eine Aenderung ber Lesart noͤthig findet. Auch die Weiße'ſche 
Deutung der Worte (2, ©. 395 ff.) muß ih, obwohl mit der übrigen 
Ausführung, in deren Zufanımenhange fie vorfommt, einverftanden, als 
mißlungen betrachten. - - 





620 | Teitter Abſchnitt. 


Borftellungen auf benfelben geworfen if. Die Anſicht ver 
Evangeliſten ift feine andere, ald daß der Auferftandene nad) 
jenen £urzen Erfcheinungen unter den Eeinigen fih wie ein 
höheres Wefen in bie Unfichtbarfeit zurüdgesogen habe, und 
aus diefer wieder, wo und wann er ed zwedmäßig fand, 
hervorgetreten ſei.!) 

Endlich, wie will man fi bei der Vorausſetzung, daß 
Sefus durch die Auferfiehung in ein rein natürliches Leben 
zurüdgetehrt fei, das Ende deſſelben denken? Gonfequenter- 
weife muß man ihn, fei es längere!®) oder kürzere Zeit nad 
feiner Wiederbelebung eines natürlichen Todes fterben laſſen; 
wie auh Paulus andeutet, daß der allzu heftig afficirte 
Leib Jeſu, unerachtet er ſich von der tovähnlichen Erftarrung 
am Kreuze wieder erholt hatte, doch durch natürliches Kränfeln 
und verzehrendeß Fieber vollends aufgerieben worben fei. ) 
Daß dieß wenigftend die Anficht der Coangeliften vom Ende 
ihres Chriſtus nicht fei, ift offenbar, da ihn Die einen von 
ihnen wie einen ‚Unfterblichen von den Jüngern Abfchieb 
nehmen, bie andern ihn fichtbar in den Himmel fich erheben 
lafien. Bor der Himmelfahrt alfo fpäteftens müßte, wenn bis 
dahin Jeſus einen natürlichen menfchlichen Leib. beibehalten 
hatte, eine Veränderung mit bemfelben vorgegangen fein, 
weiche ihn zum Aufenthalt in den himmlifchen Regionen bes 
fähigte; es müßte die Schlade der groben Leiblichfeit nieder: 
gefallen, und nur etwa ver feinfte Ertract Derfelben mit 
emporgeftiegen fein. Davon aber; daß von dent zum Himmel 
ſich erhebenden Jefus irgend ein ingterieller Ueberreſt zurück⸗ 
geblieben, melden die Ebangeliften nichts, und da es bie 
zufchauenden Jünger doch bemerkt haben müßten, fo bleibt 


17) Vgl. bhiefür befonders Weiße, a. a O. S. 339 ff. 

‚ 1) Brenned&e, bibliiher Beweis, daß Jeſus nad feiner Auferſtehung 
noch 27 Jahre leibbaftig auf Erden gelebt, und zum Wohle der Menſch⸗ 
beit in der Stille fortgewirkt habe. 1819. 

19) A. a. D. 8. 793. 925. Ngi. Briefe über den Rat onalismus. ©. 210. 





Viertes Kapitel. 6. 139. 621 ' 


für Diefe Anſicht am Ende nichts, als die Auskunft jenes 
Theologen aus der Tübinger Schule, das. Refivuum von Jefu 
Reiblichfeit fei jene Wolke gewefen, die ihn bei der. Himmel: 
fahrt umhüßlte,. in weiche ſich, was materiell an ihm war, 
aufgelöst habe und gleichfam verpufft fei.2)% Da fomit die 
Evangeliften das Ende des irdifhen Wandels Jeſu nach ber 
Auferfiehung weder als einen natürlichen. Tod fich vorftellen, 
noch bei. der Himmelfahrt irgend einer mit feinem Körper 
vorgegangenen Beränberung gedenken, überbieß aus ber Zeit 
zwifchen der Auferftehung und Himmelfahrt Dinge von Jeſn 
berichten, welche von einem natürlichen: Leib undenkbar find: 
fo Eönnen fie fich fein Leben feit der Auferfiehung nicht. als 
ein natürliches, fondern nur als .ein übernatürliches, und 
feinen Leib nicht als einen organifchmateriellen, fondern nur 


“als einen verffärten vorgeſtellt haben. 


Diefer Vorftelung wiverfprechen auf dem Standpunfte 
der vangeliften auch diejenigen Züge nicht, welche Die 
Freunde der rein natürlichen Anſicht vom Reben des . Aufer- 
ftandenen für ſich geltend zu machen Yflegen. Daß Iefus aß 
und tranf, das febte in Dem bezeichneten Borftellungstfreife 
fo wenig ein wirkliches Bebärfniß bei ihm voraus, als das 
Mahl, welches Zehova mit zwei Engeln bei Abraham. ein- 
nahm: Effenfönnen ift hier Fein Beweis für Effenmülfen. ?% 


Daß er fi) betaften ließ, war der einzig mögliche Beweis 


gegen die Vermuthung, ein förperlofes Gefpenft möge ben 
Jüngern erfibienen fein; auch Götterwefen erfchienen in alter- 
thümlicher, nicht bloß griechiſcher, fondern (nach. der oben 


2) Nech etwas über bie Frage: warum haben die Apoftel Matthäus und 
Johannes nicht ebenfo wie bie zwei Evangetiſten Markus und Lukas 
die Himmelfahrt ausdruͤcklich erzählt? In Süskind's Magazin, 17, 
©. 165 ff. 

21) Joann. Damasc. de f. orth. 4, 1: ei zo) #yevaaro Aycoses perd zur 
avasaoıy, Al 8 voum guasuy # ya dneinanev oizovoulos öt Toonw, To 
alndrs TızRUuEVog Tig dvasaueug, (03 aurı Fzw 7 dapk n maghon xar avazana. 








622 Tritter Abfchnitt. 


angeführten Stelle, 1. Mof. 32, 24.) auch bebräifcher Borftellung, 
bisweilen betaftbar, im Unterfchiede von wefenlofen Schatten, 
unerachtet fle fonft an die Gefege der Materialität fo wenig 
gebunden ſich zeigten, als der betaftbare Jeſus, wenn er doch 


plöglich verfehwinden, und in verfehloffene Zimmer ohne Hin, | 


derniß eindringen konnte. ?%) 

Eine ganz andere Frage ift, ob auch auf unferem, durch 
genauere Naturfenntniß gebildeten Standpunkte jene beiderlei 
Züge fich vertragen? Und da werden wir freilich fagen müffen : 
ein Leib, der fichtbare Speife genießt, muß auch felbft ein fücht- 
barer fein; der Genuß der Speife feht einen Organismus vor: 
aus, der Organismus aber ift organifirte Materie, und bide 
hat die Eigenfchaft nicht, in belichigem Wechſel verſchwinden 
und wieder ſichtbar werden zu. können. ?) Ganz beſonders 
aber, wenn ver Leib Jeſu fich betaften ließ, und Fleifch und 
Knochen zu fühlen gab, fo zeigte er damit die Widerftands- 
fraft der Materie, und zwar wie fie ihr als fefter eigenthümlich 
ift: wenn er dagegen in verfchlofiene Häufer und Zimmer, un- 
gehindert durch dazwifchenliegende Wände und Thüren, einzus 
gehen im Stande war, fo bewies er hiedurch, daß eben biefe 
Widerſtandskraft der feften Materie ihm nicht zufam; indem 
er alfo nach den evangelifchen Berichten diefelbe Eigenfchaft 
um biefelbe Zeit gehabt und nicht gehabt haben müßte: fo 


22) Das Schwebende ber hier zum Grunde liegenden Borftellung brüdt 
Drigenes gut aus, wenn er, c. -Cels. 2, 62. von Zefu fagt: za zw 
je uera Tv Grvasacıy aura woregei Ev uedoglo Tri Tig Nayurntos Ta 
7006 TE EI OWuatog, za TA yyurıy Tote ouuarog yalvsodaı yuyıp. 

2) Daher geſteht auch Kern, daß er jenen Zug bei Lukas mit bem Les 
brigen nicht zu reimen wifle, und benfelben für etwas fpätered Tradi⸗ 
tionelles halte (Haupttbatf., a. a. O. S. 50.). Allein was hilft ihm 
dieß, da ihm immer noch aus Johannes die Betaftbarkeit bleikt, welche 
doc fo gut wie das Eflen zu den „Bedingungen bes irdiſchen Lebens, 
den Verhältniflen der materiellen Welt’ gehört, welchen ber Leib des 
Auferflandenen nah Kern’s eigner Vorausfegung „nicht mehr unters 
worfen’’ gewefen fein fol? _ 











Viertes Kapitel. $. 140, 623 


zeigt ſich die evangelifche Darftellung der Leiblichfeit Jeſu nach 


der Auferftehung als eine in ſich widerſprechende. Und zwar iſt 


diefer Widerfpruch nicht etwa von der Art, daß er fich unter die 
verfchiebenen Berichterftatter vertheilte; fondern ber. Bericht Eines 
‚ und defjelben Evangeliften fließt jene widerfprechenden Züge in 
fich. Der kurze Bericht des Matthäus zwar enthält in dem —R 
rnocy ara Tag rrodag (V. 9.) nur das Moment der Betaftbarfeit, 
ohne daß ebenfo ein entgegengefeßteß hervorgehoben wäre: bei 
Markus umgekehrt fpricht fein ev Erepg uoogy7 (B. 12.) für 


etwas Webernatürliches, ohne daß andrerfeits auch wieder das 


Gegentheil beſtimmt vorausgefegt würde: dagegen fpricht bei 
Lukas das Sichbetaftenlaften und Eſſen ebenfo beftimmt für 


organische Materialität, als das plögliche Erfcheinen und Ver⸗ 


schwinden gegen eine ſolche; ganz befonvers hart aber ftoßen 
die Glieder dieſes Widerſpruchs im vierten Evangelium zu- 
fammen, wo Jefus, unmittelbar nachdem er in Das verfchloffene 
Gemach unberührt durh Wände und Thüren eingedrungen 
‘ft, ?°) fi) von dem zweifelnden Thomas berühren läßt. 


$. 140. 
Die Debatte über die Realität des Todes und der Auferftehung Jeſu. 


Der Sag: ein Todter ift wiederbelebt worden, ift aus 
zwei fo widerfprechenden Beftanbtheilen zufammengefegt, daß 
immer, wenn man den einen feflhalten will, der andere zu 
verſchwinden droht. Iſt er wirklich wieder zum Leben gekommen, 


2°) Mit der Fähigkeit Jeſu, durch verſchloſſene Thuͤren zu dringen, fanden 
manche Kirchenvaͤter und orthobore Theologen das nicht recht vereinbar, 


dag zum Behufe der Auferftehung Jeſu vorher der Stein vom Grabe 


gewälzt worben fein folle, und behaupteten daher: resurrexit Christus 
clauso sepulcro, sive nondum ab ostio sepuleri revoluto per an- 
gelum lapide. Quenftedt, theol. didact. polem, 3, p- 542. 





624 Dritter Abſqnitt. 


fo liegt ed nahe, zu denfen, ex werde nicht ganz tobt- ge- 
weien fein; war er aber wirklich todt, fo häft es fihwer, zu 
glauben, daß er wirftich lebendig geworben fe.) 

Bei einer richtigen Anflcht über das Verhaͤltniß von Seele 
und Leib, welche dieſe beiden nicht abfiract auseinanberhält, 
fonpdern fie zugleich in ihrer Identitaͤt, Die Seele als bie In⸗ 
nerlichkeit des. Leibes, den Leib ald die Aeußerlichkeit der Serle 
begreift, weiß man fehon gar nicht, wie man ſich bie Wieder⸗ 
belebung eines Todten nur vorftellen, geſchweige denn fie vers 
fichen ſolle. Haben die Kräfte und Ihätigleiten bes Leibes 
einmal aufgehört, in denjenigen regierenden Mittelpunkt zufam- 
imenzulaufen, weichen wir die Seele nennen, beren Thätigfeit, 
oder vielmehr fie felbft, in der ununterbrechenen Niederbaltung 
aller andern im Körper möglichen Proceſſe unter der Höheren 
Einheit des organifchen Lubensprocefles, welche bei'm Menfchen 


zugleich Die Bafis des Geiſtigen iſt, beftebt: fo treten in den 


verſchiedenen Theilen des Körper jene andern, niebrigen Brin- 
eipien als herrſchend auf, deren Geichäft in feiner Fortfegung 
die Berwefung if. Haben dieſe einmal die- Herrichaft anges 
treten: fo werden fie nicht geneigt fein, fie an den vorigen 
Herrn, die Seele, zurüdzugeben; oder vielmehr ift dieß deß⸗ 
wegen unmöglich, weil, ganz abgefehen von der Frage über 
die Unſterblichkeit des menfchlichen Geiftes, mit ihrer Herrfchaft 
und Thätigfeit, welche ihre Eriftenz ift, die Seele als folche 
zu fein aufhört, mithin bei einer Wiederbelebung, ſelbſt wenn 
man fich auf ein Wunder berufen wollte, dieß geradezu in der 
Erſchaffung einer neuen Seele heſtehen můßte. 

Nur der populaͤrgewordene Dualismus in Bezug auf das 
Berhältniß von Leib und Seele begünftigt die Meinung von 
der Möglichkeit einer eigentlichen Wiederbelebung. Da wird 


die Eeele in ihrem Verhäftniß zum Körper wie der Vogel 
vorgeftellt, welcher, wenn auch eine Weile aus dem Küfig 





— 


1) Vol. Schleiermacher's Weihnachtsfeier, ©. 117 f. 











Viertes Kapitel. $. 140.- 625 


entflogen, doch wieber eingefangen, und in denfelben zurüdgebracht 
werden kann, und. an dergleichen Bilder hält ſich ein imagini- 
tended Denken, um die Vorftellung der Wiederbelebung fefts 
zuhalten. Doch felbft auf dem Standpunkte dieſes Dualismus 
verſteckt ſich die Almdenfbarfeit eines folchen Vorgangs mehr, 
als daß fie fich eigentlich verringerte. Denn fo gleichgültig 
und unlebendig, ‘wie bei einer Schachtel und deren Inhalt, 
darf man fich doch das Zufammenfein des Leibs und der Seele 
auch bei der abftrarteften Trennung nicht denken; fondern Die 
Gegenwart der Seele bringt im Körper Wirkungen hervor, 
welche hinwiederum die Möglichkeit jener Gegenwart der 
Seele in ihm bedingen. Sobald alfo vie Seele den Körper 
verlaffen hat, werben in Diefem diejenigen Thaͤtigkeiten ftilfe 
ſtehen, welche nach der dualiftifchen Vorſtellungsweiſe bie 
unmittelbarften Aeußerungen des. Einfluffes der Seele waren; 
ebendamit werben bie Organe diefer Thätigfeiten, Gehirn, 
Blut u. ſ. f., gu floden und. flarr zu werden beginnen, 
und zwar wird Diefe VBeränverung mit dem: Augenblicke des 
wirklichen Todes ihren Anfang nehmen. Könnte es alfo auch 
der entflohenen Seele einfallen, oder fie durch einen Andern 
dazu genöthigt werden, ihren vorigen Wohnfig, den Körper, 
wieder aufzufuchen : fo würde fie ihn Doch nach den erften Aus 
genblicken ſchon in feinen edelften Theilen unbewohnbar und 
für ihren Dienft untauglich finden. Wiederherftellen aber, wie 
ein krankes Glied, könnte fie Die unbraudbar gewordenen un- 
mittelbarften Organe ihrer Wirkſamkeit ‘auf Feine Weife, da fie, 
um irgend etwas im Körper zu wirfen, des Dienftes eben dieſer 
Drgane bedarf: fie müßte alfo,. ob auch wieder in den Leib 
zurüdgebannt, denfelben doch geradezu vermodern laffen, weil 
fie feinen Einfluß auf ihn auszuüben im Stande wäre; ober 
ed müßte zu dem Wunder ihrer Zurüdführung in den Körper 
das zweite einer Reflaurirung ihrer abgeftorbenen Eörperlichen 
Organe hinzufommen — ein unmittelbares Eingreifen Gottes 
in den gefeglichen Verlauf des Naturlebens, wie es geläuterten 
Anfichten von dem Berhältnig Gottes zur Welt widerfpricht. 
U. Band. 40 


626 Dritter Abſchnitt. 


Sehr beftimmt hat daher Die neuere Bildung in Bezug 
auf Jeſum Das Dilemma aufgeflellt, daß er entweder nicht 
wirklich geftorben, ober nicht wirklich auferſtanden fei. 

Der Rationalismus bat fich vorwiegend ‚der erfteren An⸗ 
nahme zugewendet. Die kurze Zeit, welche Jeſus am Sreuze 
bing, zufammengenommen mit der fonft befannten Langſamkeit 
des Kreuzestodes, Die ungewiſſe Befchaffenheit und Wirkung des 
Lanzenſtichs, ſchienen die Wirflichfeit des Todes zweifelhaft zu 
machen. Daß die Vollſtrecker der Kreuzigung, wie die Jünger 
felbft, feinem folchen Zweifel Raum gaben, würde fich außer der all⸗ 
gemeinen Schwierigkeit, tiefe Ohnmachten und ſynkoptiſche Erftar- 
rungen vom wirklichen Tode zu unterfcheiden, aus dem niedrigen 
Stande der mebirinifchen Kenntniffe in jener Zeit erflären; woge⸗ 
gen wenigftens Ein Beifpiel, daß ein vom Kreuz Abgenommener 
wieder genas, ein erfolgtes Wiederaufleben auch bei Jeſu denk⸗ 
bar zu machen ſchien. Diefes Beifpiel findet fich bei Joſephus, 
welcher berichtet, Daß von drei gekreuzigten Belannten, die er 
von Titus Iosgebeten habe, nach der Abnahme vom Kreuze 
zwei geftorben, einer aber mit Dem Leben davongekommen fei.d) 
Wie lange diefe Leute am Kreuze gehangen hatten, bemerkt Jo⸗ 
ſephus nicht; doch da er fie mit feiner Erpebition nach Thekoa 
in der Art in Verbindung bringt, daß er fie bei feiner Rüdfehr 
von da erblisft habe: fo müffen fie wohl eben während dieſer 
. Erpebition gefreugigt worben fein, und ba dieſe, vermöge ber 
geringen Entfernung des genannten Orts son Zerufalem, mög- 
licherweife in Einem Tage beanbigt fein formte, fo hatten fie 


2) Josepb, vita, 75: neupdeis de Uno Tira Kaivagog ovv Keosaliv zar 
zıliois inmteiow eig xdun Tıva Oerwav Asyousyyv, Treo xaravöyaı, & 
tonog Imırndaos Esı yapaza Iekaoda, cds dxeider Unogodpeov eidor mrollis 
oryualrıs dvegaugwuiveg, xaı Tods yraglaag avvndes er yerou:vag, 
Haynsa 7 wugw, za era dargiwv sigocelder Tirw emov. OÖ’ 
eudu; Exelevoev xadagedevrag — — Iegarıelas eruuelesarıg Tuzfiiv xab 
oi uev vo Telsuriow Segarrevousvor, 0 de Toicos ELyoev. Aus diefer 
Stelle argumentirt Yaulus, ereg. Handb. 3, b, ©. 786, und im 
Anhang, ©. 929 ff. 


Viertes Kapitel. 8. 140. 627 


wohl nicht uͤber einen Tag, vielleicht noch kürzer, am Kreuze 
gehangen. Wenn nun von drei Gekreuzigten, welche ſchwerlich 
viel länger gehangen hatten, als Jeſus, der nad Markus von 
Morgens 9 Ahr bis Abende gegen 6 Uhr am Kreuze fich 
befand, und welche, wie es foheint, noch mit den Zeichen des 
Lebens herabgenommen wurden, bei der forgfältigften Arztlichen 
Pflege nur Einer davon fam: fo if freilich kaum einzufchen, 
wie man hieraus wahrfcheinlich machen will, daß Jeſus, welcher 
bereitö mit allenezeichen des Todes vom Kreuze genommen 
worden war, ohne Anwendung ärztlicher Mittel ganz von felbft 
wieder zum Leben gefommen fei? 3) 

Diefe beiden Momente: ein Neft des bewußten Lebens, 
und forgfältige Ärztliche Behandlung, haben indeß nach einer 
gewiffen Anficht auch bei Jeſus nicht gefehlt, wenn fie gleich 
von den Evangeliften verſchwiegen werden. Hienach hat Zefus, 
weil er feinen andern Weg fah, die herrſchende Meſſiasidee 
von ihren finnlich politifehen Beimiſchungen zu reinigen, fich 
der Kreuzigung ausgeſetzt, dabei aber fich Darauf verlafien, 
durch ein frühzeitiges Neigen des Hauptes feine baldige Ab- 
nahme vom Kreuze zu bewirken, und bernach von heilfundigen 
Männern unter feinen geheimen Berbündeten wiederhergeftellt - 
zu werden, um zugleich durch den Schein einer Wiederbelebung 
das Volk zu begeiftern. D Don bdiefer Abſichtlichkeit haben 
Andere wenigftens Jeſum freigefprochen, und ibn wirklich in 
topähnlichen Schlummer verfinfen laſſen, feinen Anhängern 
aber von vorn herein den Plan zugeichrieben, den durch einen. 
Trank fcheintodt gemachten und frühe vom Kreuze abgenommenen 


°) Bretfhneider, über den angeblichen Scheintod Sefu am Kreuze, in 
uUllmann’s und Umbreit’s Studien, 1832, 3, ©. 625 ff.; Hug, 
Beiträge zur Geſchichte bes Verfahrens bei ber Todesſtrafe der Kreu- 
zigung, Zreiburger Zeitſchr. 7, &. 194 ff. 

2) Bahr dt, Ausführung des Plans und Zwecks Jeſu. Vol. dagrgen 
Paulus, ereg. Dandb. 3, b, 793 f. 
40% 





628 Dritter Abſchnitt. 


in das Leben zurüdgurufen. I Allein von allem dem beus 
ten die Quellen nichts an, und ed zu vermuthen, haben 
wir feinen Grund. Verftändige Freunde der natürlichen Er- 
Härung, welchen dergleichen Ausgeburten eines zügellofen Prag⸗ 
matifirens zuwider find, haben daher zur Erflärung von Jeſu 
Wiederbelebung, ftatt eines Reſtes von bewußten Leben in 
ihm, mit der Lebenskraft fich begnügt, welche auch nad) dem 
Schwinden des Bewußtfeins im Innerften des jugenbfräftigen 
Körpers Jeſu zurüdgeblieben, war, und ſtatt ebfichtlicher ‘Pflege 
durch Menfchenhände auf den wohlthätigen Einfluß aufmerkſam 
gemacht, welchen die um feinen Leib gelegten, zum Theil wohl 
öligen Subftangen auf Heilung feiner Wunden, und, zuſammen⸗ 
genommen mit der von dem Dufte der Epecereien gefchwäns 
gerten Luft in der Höhle, auf Wiedererwerdung des Gefühle 
und Bewußtſeins Sefu gehabt haben müſſen; ) wozu man 
wohl auch noch als entſcheidendes Moment die Erſchütterung 
und den Blisftrahl fügte, welcher am Auferftehungsmorgen das 
Grabmal Jeſu eröffnet habe.) Hiegegen haben jedoch Andere 
darauf aufmerffam gemacht, wie die Falte Luft in einer, Höhle 
am wenigften etwas Belebendes haben konnte; wie ftarfe Arome 
in einem verfchlofienen Raume vielmehr betäubend und erfticdend 
wirfen;®) die gleiche Wirkung müßte ein in die Gruft ſchla⸗ 
gender Blisftrahl gehabt haben, wenn diefer nicht bloße Er- 
dichtung rativnaliftifcher Ausleger wäre. 

Unerachtet aller diefer IInwahrfcheinlichfeiten jedoch, welche 
- die Anficht gegen fich hat, daß. Jeſus aus einem bloßen Schein 
tode durch natürliche Urfachen wieder zum Leben gekommen fei, 
bleibt fie doch infoweit möglich, daß, wenn uns die Wieder- 
belebung Jeſu ficher verbürgt wäre, wir aus der Entfchievenheit 


⸗ 








6) Xenodoxien, in der Abh.: Joſeph und Nikodemus. Bgl. dagegen Klai- 
ber’s Studien der würtemberg. Geiftlichkeit, 2, 2, ©. 84- ff. ' 

5) Paulus, ereg Handb. 3, b, ©. 785 ff. &. 3. 1, b, ©. 281 ff. 

7) Schuſter, in Eichhorn's allg. Bibl. 9, S. 1058. 

8) Winer, bibl. Realm. 1, ©. 674. 








Viertes Kapitel. $. 140. 629 


des Erfolgs die Rüden der Berichte über den Hergang ber 
Sache ergänzen, und der bisher vorgetragenen Anftcht, mit 
Abweiſung jedoch aller beftimmteren Vermuthungen, beitreten 
fönnten. DVerbürgt wäre uns die Auferftehung Jeſu, wenn fie 
von unparteiiſchen Zeugen auf beftimmte: und zufammenftim- 
mende Weife beurfundet wäre. Aber eben die Unparteilichfeit 
der angeblichen Zeugen für die -Auferfiehung Jeſu haben die 
Gegner des Chriftenthumd von Celſus bis auf den Wolfen- 
büttler Sragmentiften herab in Anfpruch genommen. Nur 
feinen Anhängern habe ſich Jeſus gezeigt: warum nicht auch 
feinen $einden, um auch fie zu überzeugen, und Durch ihr Zeugniß 
der Rachwelt jede Vermuthung einer abfichtlichen Täufchung 
von Seiten feiner Jünger zu -benehmen??) So wenig ich nun 
auch von den Erwiederungen der Apologeten auf biefen Einwand 
halten fann, von dem Origeneifchen epeldsro yaQ xol TB x0- 
TEÖIKKOWTOgS xal Tu ETITOEROWTWV 0 Xgıs0s, va ur nare- . 
xI00w aogaole!”) an, bis auf die Meinungen der Neueren, 
welche durch das Schwanken zwifchen der Behauptung, durch eine 
folche Erfcheinung wären die Feinde Jefu zum Glauben gezwun⸗ 
gen worden, und der andern, fie würden auch auf eine folche 
bin nicht geglaubt haben, fich gegenfeitig felbft widerlegen : '') 
fo fann Doch jenem Einwurfe das entgegengehalten werden, daß 
die Anhänger Jeſu durch ihre Hoffnungstlofigfeit, welche, wie 
fie aus der Zufammenftiimmung der Berichte erhellt, fo der 


— 


.?) Orig. c. Cels. 2, 63: Mera ravra Ö Kiloos, HR EUKOTOMPOVHTWG Ta 
yeyoauuEva waxokoyum, prev, örı Eyeyv, eineo Ovrug Ielay divauıy ix- 
ynvan Felev ö T, aurois Tor Enmgeaoanı za Ti zaradızaoayrı za OAux 
Tracy OpFivar. — 67:8 ya — ent rr erreupdn znv uoynv, iva la$n. 
Bol. den Wolfenbüttler, bei Leffing, S.450. 60. 92 ff. Wool⸗ 
fton, Disc. 6. Spinoza, ep. 23, ad Oldenburg. p. 558 f, ed. 
Gfrörer. 

10, 4. a. ©. 67. 
a) Bol, Mosheim, in feiner ueberſebung der Schrift des Origenes 
gegen den Celſus, z. d. angef. St.; Michaelis, Anm. zum fünften 
Fragment, ©. 407. 





630 Dritter Abſchnitt. 


Natur der Sache vollkommen angemeſſen iſt, hier zum Range 
unparteiiſcher Zeugen ſich erheben. Haͤtten ſie eine Auferſtehung 
Jeſu erwartet, und ſollten wir dieſe nun allein auf ihr Zeug⸗ 
niß hin glauben: fo wäre allerdings die Moͤglichkeit, und 
vieleicht Wahrſcheinlichkeit, wenn nicht eines abfichtlichen Bes 
truge, doch unmwillfürlicher Selbfttäufhung von ihrer Seite 
vorhanden; dieſe verfchwindet aber in dem Grade, als die 
Jünger Jeſu nach feinem Tode alle Hoffnung verloren hatten. 
Da nun, wenn auch von den Evangelien Feines unmittelbar 
son einem Sünger Sefu herrühren folte, doch aus den paulis 
nifchen Briefen und der Apoftelgefihichte gewiß if, daß die 
Apoftel ſelbſt die Ueberzeugung hatten, den Auferfiandenen ge- 
ſehen zu haben: fo fönnten wir ung an den N.T.lichen Zeugs 
niffen für die Auferftehung immerbin genügen laflen; wenn 
nur dieſe Zeugniffe theils beftimmt genug wären, theild unter: 
einander, und jedes mit fich felbft, zufammenftiimmten. Nun 
aber tft das in fich einftimmige und auch fonft gewichtigfte 
Zeugniß des Paulus fo allgemein und unbeftimmt, daß es für 
fich ung über die fubjective Thatfache, die Jünger feien von 
ver Auferftehung Jeſu überzeugt gewefen, nicht hinausführt; 
die beftimmteren Erzählungen der Evangelien dagegen, in wel- 
chen die Auferftehung Jeſu als objective Thatfache erfcheint, 
find ihrer aufgezeigten Wiverfprüche wegen nicht als Zeugnifie 
zu gebrauchen, überhaupt ift ihr Bericht über den Wandel Sefu 
nach feiner Auferjtehung fein in ſich zufammenhängender, ber 
uns eine klare hiftorifche Anfchauung der Sache gäbe, fondern 
ein fragmentarifcher, '2) der und mehr eine Reihe von Vifionen, 
als eine fortlaufende Gefchichte zur Anfchauung bringt. 
Vergleicht man mit diefem Bericht über die Wiederbelebung 


12) Haſe, 8. 3. $, 149; Diss.: librorum sacrorum de J. Chr. a 
mortuis revocato atque in coelum sublato narrationem collatis 
vulgaribus illa aetate Judaeorum de morte opinionibus inter- 
pretari conatus est C. A. Frege, p. 12 f.; weiße, die evang. 
Geſchichte, 2, ©. 362 ff. 








Viertes Kapitel. $. 140. -- 631 


Sefu den beftimmten in ſich einftinmigen über feinen Tod: fü 
muß man in dem oben geftellten Dilemma auf die andre Seite 
ſich neigen, und eher die Realität ver Auferftehung, als die 
des Todes in Anfpruch zu nehmen fich veranlaßt finden. Auf 
dDiefe Seite ift daher fihon Celſus getreten, indem er Die an⸗ 
geblichen Erfcheinungen Jeſu nach der Auferftehung entweder 
aus Selbfttäufebung feiner Anhänger, namentlich ver Weiber, 
im Traum oder Wachen, oder, was ihm noch wahrſcheinlicher 
war, and abfichtlichem Betrug ableitete, 7 und Nenere, wie 
namentlich der Wolfenbüttler Pragmentift, haben ſich an vie 
juͤdiſche Beſchuldigung bei Matthäus angeſchloſſen, daß bie 
Jünger den Leichnam Jeſu geſtohlen, und hernach die Erzaͤh⸗ 
lungen von feiner Auferſtehung und den. Erſcheinungen nach 
derfelben auf übel zuſammenſtimmende Weife erdichtet Haben. 1*y 
Diefer Verdacht ift ſchon Durch die Bemerfung des Origenes 
niedergefchlagen, daß eine felbfterfundene Lüge die Juͤnger un: 
möglich zu einer fo ftandhaften „Verkündigung der Auferftehung 
Jeſu unter den größten Gefahren hätte begeiftern können, '°) 
und mit Recht beftehen noch jegt die Apologeten darauf, daß 
der ungeheure Umfchwung von der tiefen Riedergefchlagenheit 
und gänzlichen Hoffnungsiofigfeit der Jünger bei dem Tode 
Sefu zu der Glaubensfraft und Begeifterung, mit welcher fie 
am folgenden Pfingftfeft ihn als Meſſias verfündigten, fich 
nicht erklären ließe, wenn nicht in ber Zwiſchenzeit ewas ganz 


13) Bei Orig. ec. Cels. 2, 55: 74 räro äde;, (die durchbohrten Hände 
Jeſu, und Überhaupt feine Erfcheinungen nach der Auferftehung) yon 
TrügOsSPOG, wis port, wer Ti Glos Tüw dr vis urt yorreles, ızror zard 
tıya Öudeoıv Oval, 7 noera ınv alra Adindır Söön nenhavnadvn yav- 
taoundeis, öreg dr uvolos ovußeßnzer 7, Srreo ualkov, Eahnken va; Aımaz 
15 regatela ravrn Yehyrwas, mar dw Tu Toste weioueros apogu)v &lloıs 
ayveras rrafaoyeiv. 

23) Das Ste Fragment, in Leffing’s atem Beitrag. Woolfion, 
Disc. 8. 

15) A. a. O. 56. 


632 Dritter Abſchnitt. 


außerordentlich Ermuthigendes vorgefallen wäre, und zwar näher 
etwas, das fie von der Wiederbelebung des gefreuzigten Jeſus 
überzeugte.) Daß aber dieſes Lleberzeugende gerade eine 
wirkliche Erfcheinung des Auferfiandenen, daß e8 überhaupt 
ein äußerer Vorgang gewefen fein müfle, ift damit noch Feines- 
wege bewiefen. Man könnte, wenn man auf fupranaturalem 
Boden bleiben wollte, etwa mit Spinoza eine im Innern 
der Jünger auf wunderbare Weife bewirkte Vifion annehmen, 
welche den Zweck gehabt hätte, ihnen nach ihrer Saffungsfraft 
und der Porftellungsweife ihrer Zeit anfchaulich zu machen, 
daß Jeſus durch fein tugendhaftes Leben vom geiftigen Tode 
auferftanden fei, und denen, welche feinem Beifpiel folgen, eine 
ähnliche Auferftehung verleihe. 1) Mit Einem Fuße wenigftens 
auf demfelben Boden fteht die Annahme von Weiße, daß ver 
abgefchiedene Geiſt Jeſu auf die zurüdgebliebenen Jünger wirk⸗ 
lich eingewirft habe; wobei an die Geiftererfcheinungen erinnert 
wird, deren Undenfbarfeit noch immer nicht nachgewiefen fei. '#) 


16) ULlmann, was fept die Stiftung ber chriſtlichen Kirche durch einen 
Gefreuzigten voraus? Sn f. Studien, 1832, 3, ©. 589 f.; (Nöhr) 
Briefe über den Rationalismus, ©. 28. 236. Paulus, ereg. Handb. 
3, b, &. 826 f.; Dafe, $. 146. 

1) Spinoza, a. a. D.: Apostolos omnes omnino credidisse, quod 
Christas a morte resurrexerit et ad coelum revera ascenderit — 
ego non nego. Nam ipse etiam Abrahamus credidit, quod Deus 
apud ipsum pransus fuerit — cım tamen haec et plura alia hu- 
jusmodi apparitiones seu revelationes fuerint, captui et opinio- 
nibus eorum hominum aceommodatae, quibus Deus mentem suam 
iisdem revelare voluit. Concludo itaque Christi a mortuis re- 
surrectionem revera spiritualem et solis fidelibus ad eorum captum 
revelatam fuisse, nempe quod Christus aeternitate donatus fuit, 
et a mortuis (mortuos hic.intelligo eo sensu, quo Christus dixit: 
sinite mortuos sepelire mortuos suos) surrexit, simulatque vita 
et morte singularis sauctitatis exemplum dedit, et eatenus disci- 
pulos suos a, mortuis suscitat, quatenüus ipsi hoc vitae ejus et 
mortis exemplum sequuntur. 


1) Die evang. Geſchichte, 2, &. 426 ff. 





Viertes Kapitel. $. 110. 633 


Um aus dem Zauberfreife des Uebernatürlichen herauszufommen, 
haben Andere nach natürlichen äußeren Beranlaffungen gefucht, 
weiche die Meinung erregen konnten, Jeſus fei auferftanden 
und als Auferftandener geſehen worben. Den erften Anftoß, 
vermuthete man, habe das gegeben, daß am zweiten Morgen 
nach dem Begräbniß fein Grab leer gefunden wurde, deſſen 
Zeintücher zuerft für Engel, danır für eine Erfcheinung des 
Auferftandenen jelbit gehalten worben ſeien: 19) allein, wenn 
der Leib Jeſu nicht neubelebt aus dem Grabe hervorgegangen 
it, wie fol er denn herausgefommen fein? Da müßte man 
ja wieder an Diebftahl denken: wenn man nicht aus der Ans 


‚ deutung bei Johannes, daß Jeſus der Eile wegen.in ein frem- 


‘ 


des Grab gelegt worden, die Bermuthung eherleiten will, daß 
vielleicht der Eigenthümer der Gruft den Leichnam habe ents 
fernen laſſen; was aber die Jünger nachträglich hätten erfahren 
müffen, und was in jedem Ball an der vereinzelten Angabe 
des vierten Evangeliums eine zu ſchwache Grundlage hat. 
Ungleich fruchtbarer tft Die Hinweifung auf Die paulinifche 
Stelle 1 Kor. 15, 5 ff., als den geeignetften Ausgangspunft 
in diefer Sache, und den Schlüffel zur BVerftändigung über 
alle Erfeheinungen Jeſu nach feiner Auferftehung.?%) Wenn 
nämlich Baulus dort die ihm zu Theil gewordene Ehriftophanie 
mit den Erfcheinungen Jeſu in den Tagen nad) feiner Aufers 
ftehung in Eine Reihe ftellt: jo berechtigt dieß, fofern fonft 
nichts im Wege fteht, zu dem Schluffe, daß, fo viel der Apoftel 
wußte, jene früheren Erfcheinungen von derfelben Art, wie bie 
ihm gewordene, gewefen feien. Von dieſer legteren nun aber, 
wie fie und Die Apoftelgefchichte (9, 1 ff. 22, 3 ff. 26, 12 ff.) 
erzählt, ift e8 nach den Analyfen von Eichhorn?) und 


19) Verſuch Über die Auferftehung Jeſu, in Schmidt’s Bibliothek, 2, 4, 
S. 545 ff. 

20) ©. die angeführte Abhandlung in Schmidt's Bihl,, ©. 537.; Kai 
fer, bibt. Theol. 1, ©. 258 f.5 Frege, a. a. O. p. 13. 

21) In feiner allg. Bibliothel, 6, 1, ©. 1 ff. 





634 Dritter Abſchaitt 


Ammon?’ nicht wohl mehr möglich, fie als Außere, obiective 
Erfcheinung des wirklichen Ehriftus feftzuhalten; ſelbſt Nean- 
der?) getraut fich bloß, eine innere Einwirkung Chriſti anf 
das Gemuͤth des Paulus ficher zu behaupten, die Annahme 
einer äußeren Erfcheinung aber hängt er nur fehr bittweife 
hinten an, und auch jene innere Einwirkung macht er dadurch 
felbft überflüfftg, daß. er die Momente namhaft macht, welche 
auf natürliche Weife eine ſolche Revolution in ber Geflnnung 
des Mannes hervorbringen Fonnten: die ginftigen Eimbrüde, 
welche er da und bort vom Ghriftenthum, von der Lchre, dem 
Leben und Benehmen feiner Anhänger, namentlich auch durch 
den Märtyrertod des Stephanus, befommen hatte, und welche 
fein Gemüth in eine Spannung und in einen Innern Kampf 
verfegten, den er wohl einige Zeit gewaltfem, und vielleicht 
ſelbft durch verdoppeltes Eifern gegen die neue Secte, unter 
drücken fonnte, ver fich aber zuletzt in einer entſcheidenden gei⸗ 
ftigen Kriſis entladen mußte, von welcher es uns bei einem 
Orientalen nur gar nicht wundern darf, bag fie die Geftalt 
einer Chriftophanie annahm. Haben wir hiemit an dem Apoflel 
Paulus ein Beifpiel, daß ftarfe Gindrüde son der jungen 
Chriftengemeinde ein feuriges Gemüth, das ihr längere Zeit 
entgegengeftrebt hatte, bis zur Ehriftophanie und völligen. Sin- 
nesänderung fteigern fonnten: fo wird wohl auch ber gewaltige 
Eindrud der großartigen Perfönlichkeit Jefu im Stande gewe⸗ 
fen fein, feine unmittelbaren Schüler im Kampfe mit ben 
Zweifeln an feiner Meffianität, welche fein Tod in ihnen erregt 
hatte, zu ähnlichen Gefichten zu begeiftern. Wer zur Erflärung- 
der paulinifchen Chriftophanie noch ein äußeres Naturphänomen, 
wie ar und Donnerſchlag, zu Hülfe nehmen zu müflen und 


=) Comm. exeg. de repentina Sauli — conversione. Is s. opusc. 
theol.; Fortbildung bes Chriftenth. 2, 1, Kap. 3. Vgl. auch meine 
Streitfhriften, ates Heft, S. 52 ff. 

*3) Geſchichte der Pflanzung und eeitung d der chriſtl. Kirche durch die Apo⸗ 
ftel, 1, ©, 15 ff. 











Viertes Kapitel. $. 140. 635 


zu dürfen glaubt, der mag auch die Erklärung der Erfcheinungen, 
welche früher: die unmittelbaren Schüler Sefu von dem Aufs 
erftandenen zu haben glaubten, dur Vorausſetzung ähnlicher 
Ereigniffe ſich zu erleichtern fuchen.) Nur, wie Die Eich— 
born’fche Erklärung des Vorgangs mit Paulus daran fchei- 
terte, daß fie alle und jede Züge der N.T.lichen Erzählung, 
wie die Blindheit des Paulus und deren Heilung, die Bifton 
des Ananias u. f. f., als hiftorifche fefthlelt, und dieſe begreiflich 
nur fehr gezwungen in natürliche Erfolge umbeuten Konnte: 
jo würde freilich derjenige die pſychologiſche Erklärung .der 
Erfcheinungen des auferſtandenen Sefus felbft ſich unmöglich 
machen, welcher alle evangelifchen Erzählungen von denfelben, 
namentlich von den Proben, welche Thomas durch Betaftung 
angeftellt, und ver Auferfiandene felbft durch Genuß von 
Nahrung abgelegt haben fol, als hiſtoriſch anerkennen wollte; 
worauf aber dieſe Erzählungen ihrer aufgezeigten Widerfprüche 
wegen nicht den mindeften Anfpruch haben. Die zwei erften 
Evangelien, und der Kauptgewährsmann in diefer Sache, 
der Apoftel Paulus, erzählen und von dergleichen Proben 
nichts, und es ift ganz natürlich, daß die Chriftophanien, 
welche, fo wie fie den Frauen und Apofteln wirflidy vorge: 
fchwebt hatten, mehr das vifionäre Gepräge derjenigen gehabt 
haben mögen, welche Paulus auf dem Wege nah Damaskus 
hatte, einmal in die Tradition aufgenommen, fich vermöge 
des apologetifchen Beftrebens, alle Ziveifel an ver Realität: 
derfelben abzufchneiden, immer mehr confolidirten, von flummen 
Erjoheinungen zu redenden, von geifterhaften zu effenden, von 
fichtbaren zu handgreiflichen wurden. | 

‚Hier ehrt fich jedoch ein Unterſchied heraus, welcher 
den Borgang mit Paulus zur Erklärung jener früßeren Er- 
feheinungen mit Einem Male unbrauchbar zu machen fcheint. 
Dem Apoftel Baulus nämlich war die Vorftelung, daß Jeſus 





— — 


2) So die Abhandlung in Schmidt's Bibliothek, und Kaiſer, a. a. O. 


636 Dritter Abſchnitt. 


auferftanden und mehreren Berfonen erſchienen fei, ald Glaube 
der Secte, die er verfolgte, gegeben; er hatte fie nur noch 
in feine Ueberzeugung aufzunehmen, und durd die Phantafte 
bis zur eigenen Erfahrung zu beleben: vie älteren Jünger 
hingegen hatten lediglich den Tod ihres Meſſias als Factum 
vor fih, die Anficht einer Auferftehung deſſelben konnten fie 
nirgendöher nehmen, fondern mußten diefelbe, nach unferer 
Vorftelung von der Sache, erft produciren; eine Aufgabe, 
welche über alle Bergleichung hinaus fchwieriger zu fein fcheint, 
als die, welche fich fpäter dem Apoftel Baulus ftellte. Um 
hierüber richtig urtheilen zu können, müffen wir und nod 
genauer in die Lage und Stimmung der Jünger Jeſu nach 
feinem Tode hineindenfen. Er hatte während feines mehr- 
jährigen Zufammenfeinsg mit ihnen immer. mehr und entfchies 
dener den Eindrud des Meſſias auf fie gemacht; fein Tod 
aber, den fie mit ihren Meffiasbegriffen nicht reimen konnten, 
hatte dieſen Eindruck für den Augenblick wieder vernichtet. 
Wie fi) nun, nachdem der erfte Schreden vorüber war, der 
frühere Eindrud wieder zu regen begann: entftand in ihnen 
von felbft das pſychologiſche Bedürfniß, den Wiverfpruch der 
legten Schidfale Jeſu mit ihrer früheren Anficht von ihm auf- 
zulöfen, in ihren Begriff vom Meſſtas das Merkmal des Leidens 
und Todes mitaufzunehmen. Da aber Begreifen bei den Zus 
den jener Zeit eben nur hieß, etwas aus den heiligen Schriften, 
ableiten: fo. waren fie an dieſe ‚gewiefen, ob nicht in ihnen 
vielleicht Andeutungen eines leidenden und fterbenden Meſſias 
jich fänden. Dergleichen Andeutungen mußten fich den Jüngern 
Jeſu, welche fie zu finden wünfchten, fo fremd auch die Idee 
eines folchen Meflias dem A. T. if, dennoch in allen den⸗ 
jenigen. poetifchen und prophetifchen Stellen barbieten, welche, 
wie Ief. 53, Pf. 22%, die Männer Gottes als geplagt und 
gebeugt bis zum Tode darftellten. Das ift e8 auch, - was 
Lukas ald das Hauptgefihäft des auferftandenen Jefus bei 
feinen Jufammenfünften mit den „Süngern heraushebt, daß er 
agSouevog ano Mwotwg x O0 Tavrwv TÜV TIO0PTTIÜV 





Viertes Kapitel. $. 140. 637 


Öingurpevev avrols Ev maocıg Teig yoagpeig Te megl ars, 
daß nämlich vaica &des ade Tov Xousov (24, 26 f. 44 ff). 
Hatten fie auf diefe Weife Schmach, Leiden und Tod in ihre 
Meſſiasidee aufgenommen: fo war ihnen der fchmachvoll getäb- 
tete Jeſus nicht verloren, fondern geblieben: er war durch den 
Tod nur in feine mefjianifche dose eingegangen (Luc. 24, 26.), 
in welcher. er unfichtbar mit ihnen war raoag Tag nuspag, ug 
ns ovvreislog TE aiwvog (Matth. 28, 20.). Aus diefer Herr: 
lichkeit aber, in welcher er lebte, wie fonnte er es unterlaffen, 
den Seinigen Kunde von fi) zu geben? und wie konnten fie, 
wenn ihnen ber Sinn für Die bisher verborgene Lehre ver 
Schrift vom fterbenden Meffias aufging, und. in ungewohnter 
Begeiſterung ihre zagdie »arouevn war (Luc. 24, 32.), umhin, 
dieß als Einwirfung ihres verherrlichten Ehriftus auf fie, als 
ein von ihm ausgehendes duwoiyew zov vöv (B. 45.), ja als 
ein Reden mit ihnen aufzufaffen? ?°). wie denkbar endlich ift es, 
daß diefe Empfindungen bisweilen bei einzelnen, namentlidy 
Srauen, rein fubjertiv zur wirklichen Viſion fich fteigerten; auf 
Andere dagegen, auch auf ganze Berfammlungen, irgend etwas 
Dbjertives, Sichtbares oder Hörbares, bisweilen vielleicht der 
Anblid einer unbefannten Perſon, den Eindruck einer Offen- 
barung oder Erfrheinung Jeſu machte: eine Höhe des frommen 
Enthufiasmus, welche auch fonft bei religiöfen Gefelfchaften, 
befonderd geprüdten und verfolgten, vorzufommen pflegt. Sollte 
aber der gefreuzigte Meſſias wahrhaft in die höchfte Form des 
feligen Lebens eingegangen fein: fo durfte er feinen Leib nicht 
im Grabe gelafien haben, und wenn nun gerade in folchen. 
A.T. lichen Stellen, welche eine vorbildliche Beziehung auf das 
Leiden de. Meſſias zuließen, zugleich die Hoffnung ſich aus⸗ 
geſprochen fand: bru Ex Eyreralslnas tiv Wwuyw ua ds ade, 
3ö: dwoag ov Ocww os ldeiv diopdogw (Pf. 16, 10. A. ©. 
2, 27.); wenn Gef. 53, 10. dem zur Schlachtbanf Geführten, 


35) Bol. Weiße, a. a. O. ©. 398. ff. 





638 Dritter Abſchnitt. 


Getoͤdteten Und Begrabenen nachher noch eiri langes Leben ver- 
heißen war: was lag den Jüngern näher, als ihre frühere 
jübifche Vorftelung , ört 6 Xossog uereı eis row alive (Yoh: 
12, 34.), die ihnen im Tode Jeſu untergegangen war, durch 
Vermittlung ded Gedankens einer wirflichen Wiederbelebung 
des Getödteten wiederherzuftellen, und zwar, da es mefltanifches 
Attribut war, einft die Todten leiblich zu erweden, ihn gleich- 
falls in Form der avagaoıs in das Leben zurückkehren' zu laſſen? 

Indeß, wenn Doch der Leichnam Jeſu an einem befannten 
Plage beigefeßt war, und an biefem (fofern wir weder einen 
Diebftahl, noch eine zufällige Entfernung deſſelben poftuliren 
mögen) aufgefucht und nachgewiefen werden fonnte: ift e8 ſchwer 
zu begreifen, ‚wie Die Jünger in Serufalem felbft, und nicht 
volle zwei Tage nach der Beerdigung, meinen und ausſagen 
fonnten, Jeſus fei auferftanden, ohne durch den Augenfchein 
am Grabe fich felbft zu widerlegen, und von ihren Widerfachern 
(denen fie freilich erft an Pfingſten etwas von der Auferftehung 
ihres Meffias eröffnet zu haben feheinen) widerlegt zu werden. ?% 
Hier ift ed nun, wo der mit Unrecht zurüdgefehte Bericht des 
erften Evangeliums loͤſend und befriedigend eintritt. Auch nach 
diefem Evangelium erfcheint zwar der Auferſtandene einmal 
noch in Serufalem, aber nur den Weibern, und fo fehr bloß 
auf eine folgende Zufammenfunft, und zwar auf überflüflige 
Weife, vorbereitend, daß fehon oben diefe Erfcheinung bezweifelt, 
ımd nur als eine fpätere Iimgeftaltung der Sage von der En⸗ 
gelerfcheinung, welche Matthäus neben ihr noch aufnahm, hin- 
geftelt wurde.” _ Die Eine Haupterfiheinung Jeſu nach der 
Auferfiehung fällt bei Matthäus nach Galiläa, wohin ein En⸗ 
gel und Jeſus ſelbſt am Iehten Abend feines Lebens und am 
Auferftehungsmorgen auf’8 Angelegentlichfte verweilen, und wo⸗ 
hin auch das vierte Evangelium im Nachtrag eine pareqwoıs 


6) Vgl. Friedrich, in Eihhorn’s Bibliothel, 7, ©. 223. 
7) Bel. auch Schmidts Bibl. 2, S. 548. 








— — — — — — 


Viertes Kapitel. $. 140. 639 


des Wiederbelebten verlegt. Daß fich die durch den Schreien 
über die Hinrichtung “ihres Meſſias verfprengten Jünger in 
ihre Heimath Galiläa zurüdgogen, wo fie nicht, mie in ber 
Hauptftadt Judäa's, dem Sitze der Feinde ihres gefreuzigten 
Ehriftus, nöthig hatten, deu zov poßov zuv Tadel die Thü- 
ren zu verſchließen, war natürlich; hier war der Ort, wo fie 
allmählig wieder freier aufathmen, und ihr darniedergefchlagener 
Glaube an Jeſum fich wieder in den erften Regungen erheben 
fonnte; bier aber auch, wo. fein im Grabe nachzumeifender 
Leichnam die kühnen Borausfegungen wiberlegte, konnte ſich 
allmählig die Vorftelung von der Auferftehung Sefu bilden; 
und bis diefe Weberzeugung den Muth und vie Begeifterung 
feiner Anhänger ſo weit gehoben hatte, daß fie es wagten, 
in der Hauptflabt mit derſelben aufzutreten, war es nicht 
mehr möglich, durch den Leichnam Sefu fich ſelbſt zu über⸗ 
führen, oder von Andern überführt zu werben. 

Nach der Apoftelgefchichte zwar find die Juͤnger ſchon am 
nächften Pfingfifefte, fieben Wochen nach dem Tode Jefu, mit 
der Berfündigung feiner Auferftehung in Jeruſalem hervorge- 
treten, und. auf die eigene Ueberzeugung von derfelben bereits 
am zweiten Morgen nad) feiner Grablegung, durch Erfchei- 
nungen, die fie hatten, gefommen. Allein wie lange wird 
es noch anftehen, bis die Art, wie die A. ©. den erften Her: 


vortritt der Jünger Jeſu mit Verkündigung der neuen Lehre 


gerade auf das Felt der Verkündigung des alten Gefeges 
verlegt, als eine folche erfannt wird, welche Tediglich auf 
dogmatifchem Grunde ruht, mithin Hiftorifch werthles, ung 
auf feine Weiſe bindet, jene Zeit der ftilen Worbereitung in 
Galiläa fo Furz zu fegen? Was aber das Andere betrifft — 
wenn es zwar einiger Zeit bedurfte, his fi) die Stimmung 
der Jünger zu der Höhe erhob, welche dazu gehörte, Daß 
diefer oder jener Einzelne rein aus feinem Innern heraus den 
erftandenen Chriftus fich auf vifionäre Weiſe vergegenwärtigte, 
und ganze begeifterte Verfammlungen ihn in jedem auffallenden 
Ton oder Anblid, der fich ihnen darbot, zu hören und zu 





646 Ä Dritter Abſchnitt. 


fehen glaubten: fo mußte man fi) Doch denen, daß er, 
xadorı 3x 7m dwariv xpazslodn avıov vno 8 Imare 
(A. G. 2, 24.), nur furze Zeit im Grabe zugebracht habe. Zur 
näheren Beftimmung dieſes Zeitraums, wenn man fich nicht 
damit begnügen will, daß die folenne Dreisahl von Tagen 
am nächften lag, mochte fi), mag es nun hiftorifch fein over 
nicht, daß Jeſus am Abend vor einem Sabbat begraben wor⸗ 
den, die Vorftellung bieten, daß er im Grabe nur eine Sabbat- 
ruhe gehalten habe, alfo zewi ıgwen saßßarv auferftanden 
fei, was mit der runden Zahl von drei Tagen durch die bes 
fannte Zählung vereinigt werden konnte. ?°) 

Hatte fi) auf dieſe Weife die Verftellung einer Aufer- 
ftehung Jeſu gebifvet, fo Fonnte «diefe nicht fo einfach vor fich 
gegangen fein, fondern mußte mit allem Gepränge, welches 
die jüdiſche Vorftellungsweife bot, umgeben und verherrlicht 
werden. Der Hauptzierrath, welcher zu diefem Behuf zu Gebote 
ftand, waren Engel: dieſe mußten daher. das Grab Jeſu 
eröffnet, nachdem er hervorgeftiegen war, an, der leeren Stätte 
Wache gehalten, und den Weibern, welche, weil ohne Zweifel 
MWeiber die erften Viſionen gehabt hatten, zuerft zum Grabe 
gehen mußten, von dem Borgefallenen Nachricht gegeben haben. 
Da es Galiläa war, wo ihnen fpäter Jeſus erfchien, fo wurde 
die Reife der Jünger dahin, welche nichts Anderes, als ihre 
durch Furcht befchleunigte Nüdfehr in die Heimat war, von 
der Weifung eincd Engeld abgeleitet, ja Jeſus felbft mußte 
fhon vor feinem Tode, und, wie Matthäus gar zu. eifrig 
binzufügt, auch nach der Auferftehung noch, einmal, Die Jünger 
dahin gewiefen haben. Je weiter fich aber dieſe Erzählungen 


28) Iſt etwa auch der dreitägige Aufenthalt des Jonas im Wallfiſch von 

Einfluß auf diefe Zeitbeftimmung gewefen, welcher freilich nur in Einem 
Evangelium in Beziehung mit berfelben gefegt wirb? und bie, oben,. 
$. 111. Anm. 3, angeführte Stele aus Hoſea, welche übrigens im 
N. T. nirgends benügt ft? 








Vierte Kapitel, $. 140. 641 


in der Ueberlieferung fortpflanzten, defto mehr mußte die Ver: 
fchiedenheit der Localität der Auferftehung felbft und ver 
Erfcheinungen des Auferftandenen als unbequem verfchwinden, 
und, da die Dertlichfeit des Todes und der Auferftehung feft- 
ftand, die Erfcheinungen allmählig in Ddiefelbe Localität mit 
der Auferftehung, nad) Jerufalem, verlegt werden, welches 
als der glängendere Schauplag und als Sit der erften chrift- 
lichen Gemeinde befonders dazu geeignet war. ?°) 


29) Vgl. mit diefer Uusführung bie von Weiße, im 7ten Kap, feiner 
angef. Schrift. Er trifft mit der obigen Darftellung darin zufammen, 
daß auch er den Tod Jeſu als wirktihen, und die Erzählungen von 
bem leergefundenen Grabe als fpätere Erdihtungen faßt; den Punkt 
der Abweichung bildet das ſchon Ermähnte, daß ihm bie Erfcheinungen 
des Auferfiandenen nicht bloß ſubjectiv pfychologifche, ſondern objectiv 
magifche Thatſachen find. 


J rg Sp —ñ e 


1. Band. 41 


\ Fünftes Kapitel. 


Die Himmelfahrt. 


— m — — — 


Die letzten Anordnungen und Verheißungen Jeſu. 


Bei der letzten Zuſammenkunft mit ſeinen Jüngern, welche 


nach Markus und Lukas mit der Himmelfahrt ſchloß, laſſen 


die drei erſten Evangeliſten (der vierte hat etwas Aehnliches 
ſchon bei der erſten Zuſammenkunft) Jeſum letztwillige Verord⸗ 
nungen und Verheißungen geben, welche ſich auf die Stiftung 
und Verbreitung des meſſianiſchen Reichs auf Erden bezogen. 
Was die Verordnungen betrifft, ſo ernennt bei Lukas 
(24, 47 f. A. G. 1, 8.) Jeſus ſcheidend feine Jünger zu Zeugen 
ſeiner Meſſianität, und beauftragt ſie, von Jeruſalem an bis 
an die Enden der Erde in feinem Namen uerwow xal ügpeoıv 
auegrıav zu verfündigen. Bei Markus (16, 15 f.) weist er 
fie an, in alle Welt auszugehen, und die frohe Botfchaft des 
durch ihn geftifteten Mefftasreich8 aller Creatur zu bringen; 
wer glaube und ſich taufen laſſe, werde gerettet, wer aber nicht 
glaube, (im bevorftehenden meffianifchen Gerichte) verurtheilt 
werden. Bei Matthäus (28, 19 f.) werden die Jünger eben 
falls beauftragt, nvra va &I97 zu Schülern Jeſu zu machen, 
und dabei wird die Taufe nicht bloß beiläufig, wie bei Mar- 
fus, erwähnt, fonvern als ausprüdliche Verordnung Jeſu 














Fuͤnftes Kapitel. $. 141. 643 


hervorgehoben, und noch dazu als Taufe eis 70 Wwoue 1& 
iarpog xei rũ vis xal TE ayie nveuuaros näher beftimmt. 
Was hiebei dem entgegenfteht, daß Jeſus feinen Jüngern 
den ausbrüdlichen Befehl gegeben haben full, auch an Heiden 
ſich mit der evangelifchen Verkündigung zu wenden, ift fohon 
früher bemerflich gemacht worven. ) Aber auch der zulegt 
angegebenen näheren Beftimmüng der Taufe fteht das entgegen, 
daß eine folhe Zufammenftelung von Vater, Sohn und Geift 
fonft nur in apoftolifchen Schriften ald Grußformel vorkommt 
(2. Kor. 13, 13: 7 xapıg 78 Kogis I. X. x u. 1); als 
nähere Bezeichnung der Taufe aber im ganzen N. T. einzig 
in der angeführten Stelle des erften Evangeliums anzutreffen 
ift: wogegen in den apoftolifchen Briefen und auch in der 
A. &. die Taufe nur als Banrikew eis Xpısov Inosv, oder Eis 
zo Ovoue Tö Kvpis Tnos und auf ähnliche Weife bezeichnet 
wird (Röm. 6, 3. Sal. 3, 27. A. ©. 2, 38. 8, 16, 10, 48. 
19, 5.), und erft bei Kirchenfchriftftellern, wie Juſtin,?) 
diefelbe dreifache Beziehung auf Gott, Jeſum und’ den Geift. 
fich findet. Auch lautet die Formel bei Matthäus ſchon fo 
ganz wie aus dem Firchlichen Ritual, daß ed nicht wenig Wahrs 
fcheinlichkeit hat, fie aus diefem in Jeſu Mund übergetragen 
zu denken. Deßwegen aber diefe Stelle al& Interpolation aus 
dem Terte zu werfen, >) ift man nicht berechtigt, da, wenn 
man Alles dasjenige in den Evangelien, was Jeſu nicht be- 
gegnet, von ihm nicht fo gethan und gefprochen fein fann, für 
eingefchoben erklären wollte, der Interpolationen leicht zu viele 
werben dürften. Inſofern ift mit Recht von Anderen die Aecht⸗ 
heit der Taufformel vertheidigt worden; ) aber indem ihre 


— 





1) Band 1, $. 68. 
2) Apol. I, 61. \ 
5, Wie Teller, im excura. 2. nd Burneti I. de fide et oflie. Christ. 
p. 262. “ 
a) Die Schrift von Beckhaus, über die Aechtheit der fog. Zaufformel, 
1794, fand allgemeine Zuftimmung. 
41 * 


644 - Dritter Abfchnitt. 


Gründe für die Behauptung, dieſelbe fei ſchon von Jeſu felbft 
auf diefe Weife vorgetragen worden, nicht ausreichen : vereinigen 
ſich beide Anfichten in ber dritten, daß diefe nähere Beftimmung 
der Taufe zwar dem urfprünglichen Gonterte des eriten Evan- 
geliumd angehöre, ohne jedoch fchon von Jefu fo vorgetragen 
worden zu fein.) Derfelbe hatte die Ausbreitung feines Reiches 
über die Gränzen des jüdischen Volkes hinaus während feines 
Lebens ſchon verfchiedentlich vorbergefagt, vigleicht auch die 
Einführung ber Taufe als feinen Willen zu erkennen gegeben; 
und, fei e8 nun, daß laut bes vierten Evangeliums die "Sänger ö 
ſchon zit Lebzeiten Sefu getauft hatten, oder daß fie erft nach 
feinem Tode dieſen Ritus zum Zeichen. der Aufnahme in die 
neue meſſianiſche Gefellfehaft machten: jedenfalls war e8 ganz 
in der Art der Eage, die Anweifung dazu, wie zum Ausgang 
in alle Welt, dem ſcheidenden Chriftus als letzte Willenserklä- 
rung in den Mund zu legen. 

Die Verheißungen, welche Jeſus ſcheidend den Seinigen 
gibt, befchräfifen ſich bei Matthäus, wo fie ausſchließlich an 
die Eilfe gerichtet find, einfach darauf, daß er, dem als erhöhten 
Meſſias alle Gewalt im Himmel und auf Erden übertragen 
worden, auch während des gegenwärtigen «io» imme unficht- 
bar bei ihnen. fei, bis er mit der auvreisı« deifelben in beftänbige 
fihtbare Gemeinfchaft mit ihnen treten werde: ganz der Aus- 
drud des Bewußtſeins, wie ed ſich nach Ausgleichung der 
Schwankungen, welche der Tod Jeſu erregt hatte, in der erften 
Gemeinde bildete. — Bei Markus erfcheinen die legten Verhei⸗ 
fungen Jeſu aus der Vollsmeinung genommen, wie fie zur 
Zeit der Abfaffung dieſes Evangeliums über die wunderbaren 
Gaben der Ehriften gangbar war. Bon den onueios, weldye 
den Gläubjgen überhaupt hier verheißen find, ift dad Audeiv 
yAuoocız (zeweis) im Sinne von 1. Kor. 14., nur nicht in 
dem bereits mythifchen von 2. G. 2.,°) in der erften Gemeinde 





— — · — 


5) Bgl. de Wette, exeg. Handb. 1, 1, ©. 248. 
6) Vgl. Baur, in der Tübinger Zeitfchrift für Theologie, Jahrgang 
1830, 2, ©. 75 ff. j 








Fünftes Kapitel. 8. 141. ” 645 
9 


wirklich vorgekommen; ebenſo das dasuovın Eußeilew, und 
auch daß Kranfe durch den Glauben an die Kraft der rigeorg 
xeıgwv eines Chriſten genafen, läßt ſich auf natürliche Weife 
denken: dagegen hat das Öpes aloew (vgl. Luc. 10, 19.) 
und der gefahrlofe Genuß tödtlicher Getränfe wohl immer 
nur in der abergläubifchen Volksmeinung eine Stelle gehabt, 
und am wenigften hätte Jeſus auf dergleichen Dinge, als Zei- 
chen feiner Süngerfchaft, einen Werth gelegt. — Bei Lufas ift 
der Gegenftand der legten PVerheißung Jeſu die duvamıs & 
vvag, welche er, gemäß der errayyekia TE rraroos, den Apofteln 
ſchicken, und deren Mittheilung fie in Serufalem abwarten follten 
(24, 49.), und A. ©. 1, 5 ff. beftimmt Jeſus diefe Kraftmit- 
theilung näher als eine Taufe mit dem rwveuue &yıov, welche 
nach wenigen Tagen den Jüngern zur Theil werden, und fie 
zur Verfündigung des Evangeliums befähigen werde. — Mit 
diefen Stellen des Lukas, welche die Mittheilung des heiligen 
Geiſtes in die Tage nach der Himmelfahrt fegen, fcheint Die 
Nachricht des vierten Evangeliums im Widerfpruche zu ftehen, 
daß Jeſus ſchon in den Tagen feiner Auferftehung, und zwar 
bei der erften Erfcheinung im Kreife der Eilfe, ihnen den heis 
ligen Geift mitgetheilt habe. Joh. 20, 22 f. lefen wir nämlich, 
daß Jeſus, bei verfchloffenen Thüren erfcheinend, die Jünger 
angeblafen und gefprochen habe: Außere nwevun &yıov, womit 
er die Befugniß, Sünden zu erlaffen und zu behalten, verbun 
ven habe. | 

Hätte man über die Mittheilung des weoue bloß Diefe 
Stelle, fo würde jedermann glauben, die Jünger haben es fehon 
damals von dem perfönlich gegenwärtigen Jefus, und nicht erſt 
fpäter nach feiner Erhebung zum Himmel, mitgetheilt befommen. 
Aber in harmoniftifhem SIntereffe hat fhon Theodor von 
Mopsveftia, wie jegt Tholuck,) gefchloffen, das Außere 
bei Johannes müffe in der Bedeutung von Ampeode 


_— — —— — — 
e 


’) Comm. 3. Joh., S. 332, 


/ 





616 Dritter Abfchnitt. - 


genommen werben, weil ja nach Lukas der heilige Geift den 
Süngern erft fpätr, am Pfingftfefte, mitgetheilt worden fei. 
Allein, wie wenn er einer folchen Verdrehung vorbeugen wollte, 
fügt der johanneifche Jeſus feinen Worten die finnbilpliche 
Handlung des Anhnuchens hinzu, welche auf's Unverfennbarfte 
das Anußaverv ded riwveöun ald ein gegenwärtiges darftellt. ®) 
Die Ausleger freilich wiſſen auch Diefes Anblafen zu eludiren, 
indem fie ihm den Sinn unterlegen: fo gewiß Jeſus fie jegt 
anhauche, fo gewiß folfen fie Fünftig den heiligen Geift befom- 
men.) Allein das Anblafen ift eben fo entfchieven Symbol 
einer gegenwärtigen Mittheilung, ald die Handauflegung, und 
wie alfo diejenigen, auf welche die Apoftel die Hände legten, 
auf der Stelle vom swevue erfüllt: wurden (A. ©. 8, 17. 19, 
6.): fo muß fich jener Erzählung zufolge der DVerfaffer des 
vierten Evangeliums gedacht haben, die Apoftel haben eben 
damals von Jeſu den Geift mitgetheilt befommen. Um nun 
weder gegen den Haren Sinn des Johannes läugnen zu müffen, 
daß wirflich fehon nach der Auferftehung eine Geiftesmittheilung 
ftattgefunden, noch auch mit Lufas in Widerfpruch zu kommen, 
welcher die Audgießung des Geiftes fpäter ſetzt, nehmen jebt 
die Ausleger gewöhnlich Beides an, daß fowohl damals ale 
fpäter den Apofteln avsüne verliehen, am Pfingftfefte die frü- 
here Mittheilung nur vermehrt und vollendet worden fei. '% 
Oder näher, indem ſchon Mattb, 10, 20. von dem weüue r& 
rreroog die Rede ift, welches die Apoftel bei ihrer erſten Mif- 
fionsreife unterftügen follte : fo wird angenommen, einige höhere 
Kraft haben fie ſchon vor jener Reife, bei Lebzeiten Sefu, bes 
fommen; hier, nach der Auferftehung, habe er ihnen diefe Kraft 
erhöht; Die ganze Fuͤlle des Geiftes aber fei erft am Pfingfifeft 
über fie ausgegofien worden. !) Aber was nun die Unterſchiede 


8) Luͤcke, Comm. z. Soh. 2, ©. 686; be Wette, ©. 208. 

>) Leb, Auferftehungsgelhichte, S. 2815 Kuinoͤl, z. d. Er. 

10) Luͤcke, ©. 687. 

1) 5. bei Michaelis, Begräbnig: und Auferftehungsgeikichte, S. 268; 
Olshauſen, 2, ©. 533, 


Zünftes Kapitel. $. 141. ” 647 


Diefer Stufen gewefen feien, und worin namentlich Die bieß- 
malige Vermehrung der Geifteögaben beftanden haben fole, 
ift, wie fohon Michaelis bemerkt hat, nicht abzufehen. War 
den Apofteln das erftemal die Wunderkraft (Matth. 10, 1. 8.) 
nebft der Gabe der Parrhefle vor Gericht (VB. 20.) mitgetheilt 
worden: fo könnte es nur etwa noch die richtigere Einficht in 
die Geiftigfeit feines Reiches gewefen fein, was ihnen Jeſus 
durch das Anblafen verlieh; allein diefe hatten fie ja unmittel⸗ 
bar vor der Himmelfahrt noch nicht, wo fie nach A. ©. 1, 6. 
fragten, ob mit der Geiftesmittheilung in den naͤchſten Tagen 
die MWiederherftelung des Reiches Israel verbunden fein werde? 
Nimmt man aber an, nicht neue Bermögen feier den Süngern 
bei jeder folgenden Geifteömittheilung verliehen, fondern das 
‚mit allen Vermögen ſchon in ihnen Vorhandene nur erhöht 
worden :12) fo muß e8 Doch auffallen, daß kein Evangelift neben 


einer früheren Mittheilung noch einer fpäteren Vermehrung ges 


denkt; fondern, außer einer beiläufigen Erwähnung des apolo- 
getifchen sweduer bei Lukas (12, 12.), welche, weil fie bier 
nicht, wie bei Matthäus, mit einer Ausfendung zufammenhängt, 
nur als Hinweifung auf die Zeit nach der fpäteren Ausgießung 
des Geiftes erfcheinen kann, gedenkt jeder bloß Einer folchen, 
und läßt diefe die erfte und lebte fein: zum deutlichen Beweife, 
daß jene Zufammenftellung dreier berfelben, als verfchievener 
Stufen, nur durch Das harmoniftifche Beftreben in die Urfun- 
den hineingetragen ift. 

Drei verfchiedene Anfichten alfo über die Mittheilung des 
eönude an die Jünger Jeſu finden fich im N. T., welche in 
zweifacher Hinficht einen Klimar bilden. Der Zeit nach näm- 
lich ſetzt Matthäus die Mittheilung am frühften: noch in ne 
Periode des natürlichen Lebens Jeſu; Lufas am fpäteften: 
die Zeit nach feinem völligen Abfchied von der Erbe; ——A— 
in eine mittlere Zeit: in die Tage der Auferſtehung. Die 


12) Wie Tholuck, a. a. ©. 


/ 


648 Dritter Abſchnitt. 


Fafftung des Factums diefer Mittheilung aber ift bei Matthäus 
die einfachfte, am wenigften finnfiche, indem er feinen befondern 
und dußerlich anfchaulicden Mittheilungsact hat; Johannes 
hat bereits einen folchen in der Handlung des Anblafens; bei 
Lukas in der A. G. iſt Das fanfte Anhauchen zum heftigen 
Sturme geworden, der das Haus ‚bewegt, und mit welchem fich 
noch andere wunderbare Erfcheinungen verbinden. Bon diefen 
beiden Stufenreihen fteht die eine zur gefchichtlichen Wahrfchein- 
lichkeit in umgefehrtem Verhältnig als die andere. Daß fo 
früh, wie. Matthäus berichtet, das uveriue, welches, übernatürs 
lich oder natürlich gefaßt, doch immer die begeifternde Kraft 
des chriftlich mobdificirten Meflianismus ift, den Anhängern 
Jeſu zu Theil geworden fei, wird durch feine eigene weitere 
Darftellung wiberlegt, laut welcher fie eben jene chriftliche Do- 
dification, das Moment des Leidens und Todes im Begriffe 
des Meſſias, noch lange nach jener Ausſendung Matth. 10. 
nicht begriffen hatten; und da jene Snftructionsreve auch fonft 
Beitandtheile enthält, welche erft auf fpätere Zeiten und Ber: 
hältnifje paflen: fo kann leicht auch die fragliche Verheißung 
irrig aus dem fpäteren Erfolg in jene frühe Zeit zurüdgetragen 
fein. Erft nach dem Tod und der Auferftehung Sefu läßt fich 
die Entwidlung deſſen, was das N. T. das rwweuua ayıov 
nennt, in den Süngern denken, und infofern fteht die johan- 
neifche Darftelung der Wirklichkeit näher, als die des Matthäus; 
doch, da gewiß nicht fehon zwei Tage nach dem Kreuzestode 
Jefu der im vorigen $. beſchriebene Umſchwung in der Stim⸗ 
. mung feiner Anhänger erfolgt war: fo trifft auch der Bericht 
des Johannes die Wahrheit nicht fo nahe, wie der des Lufas, 
welcher doch wenigſtens 50 Tage zur Ausbildung der neuen 
Anfichten in den Jüngern Frift gibt. — Umgekehrt ſtellen ſich 
die Erzählungen zur gefchichtlichen Wahrheit Durch den andern 
Klimar. Denn je finnlicher uns die Mittheilung einer geiftigen 
Kraft, je miraculöfer die Ausbildung einer Stimmung, welche 
aus natürlicher Quelle entfpringen konnte, je momentaner endlich 
die Entitehung einer Tüchtigfeit, welche nur almählig fi 


Füftes Kapitel. $. 141. 619 


entwidelt haben kann, dargeſtellt ift: deſto weiter liegt eine 
folche Darftelung von der Wahrheit ab; und in diefer Hinficht 
ſtünde ihr alfo Matthäus am nächften, Lukas am. entfernteften. 
Erfennen wir fomit in der Darftellung des Iegteren die am’ 
weiteſten fortgefchrittene Trapition, fo kann es Wunder nehmen, 
wie hierach die Lleberlieferung in entgegengefeßter Weife gewirkt 
haben müßte: in Bezug auf die Beilimmung der Art und 
Form jener Mittheilung von der Wahrheit entfernend, in Bes 
treff der Zeitbeftimmung aber dem Richtigen annähernd. Doch 
dieß erflärt fich, fobald man bemerkt, daß auch zu den Aende- 
rungen in der Zeitbeftimmung die Tradition nicht durch Friti- 
ſches Forſchen nach Wahrheit, welches freilich an ihr befremden 
müßte, fondern durch diefelbe Tendenz, jene Mittheilung als 
einzelnen Wunberact ‚hinzuftellen, verleitet wurde, wie zu der 
andern Abänderung. Sollte nämlich Jeſus durch einen befondern 
Act feinen Züngern das rwvevua verliehen haben: fo mußte es 
angemefjen erfcheinen, diefen Act in den Stand feiner Verherr⸗ 
lihung, d. h. alfo entweder mit Johannes in die Zeit nach 
der Auferftehung, oder noch beffer mit Lukas auch noch nach 
der Himmelfahrt, zu verfegen; wie ja das vierte Evangelium 
ausdrüdlich bemerkt, zu Jeſu Lebzeiten habe es noch Fein ruvevun 
ayıov gegeben, örı Ios sdenw &do5n0In (7, 39.). 

Diefe Faſſung der Anficht des vierten Evangeliums über 
die Mittheilung des Geiftes an die Jünger bewährt fich als 
Die richtige noch dadurch, daß fie auf eine früher unentfchieden 
gelaffene Dunkelheit in diefem Evangelium ein unerwartetes 
Licht zurüdwirft. In Betreff der Abſchiedsreden Jeſu nämlich 
fonnte der Etreit nicht gefchlichtet werden, ob das, was Jeſus 
dort von feiner Wiederfunft fagt, auf die Tage feiner Auf: 
erftehung, oder auf die Ausgießung des Geiſtes zu beziehen 
fei, weil für das Erjtere die Befchreibung jener Wiederkunft 
als eines Wiederfehens, für das Lestere die Bemerfung, daß 
fie in jener Zeit ihn nichts mehr fragen, ihn ganz verftehen 
würden, gleich entfcheidend zu fprechen ſchien: ein Zwiefpalt, 
der auf's Erwünſchteſte gefihlichtet ift, wenn nach der Anficht 








650 u Dritter Abfchnitt. 


des Erzählers die Geiftesmittheilung in die Tage der Auferfte- 
bung fiel.) Zunächſt zwar follte man freilich denken, dieſe 
Mittheilung, zumal mit derfelben bei Johannes bie förmliche 
Ernennung der Jünger zu feinen Abgefandten und die Erthei- 
fung der Bollmacht zur Vergebung und Behaltung der Sünden 
verbunden ift (vgl. Matth. 18, 18.), möge fich eher an ven 
Schluß, als für den Anfang der Erfcheinungen des Auferftan- 
denen, und in eine Plenarverfamglung der Apoftel eher, als 
in eine, wo Thomas fehlte, geeignet haben; allein deßwegen 
mit Dishaufen anzunehmen, der Evangelift hänge nur der 
Kürze wegen die Geiftesmittheilung gleich der erften Erfcheinung 
an, während fie eigentlich in eine fpätere Zuſammenkunft gehöre, 
bleibt immer eine unerlaubte Willkür; flatt deren man vielmehr 
anerfennen muß, daß der Verfafler des vierten Evangeliums 
diefe erfte Erfoheinung Jeſu als die Haupterfcheinung, Die nach 
acht Tagen nur als eine Nachholung zu Gunften des Thomas 
angefehen hat. Die Erfcheinung Kap. 21. ift ohnehin ein 
Nachtrag, der dem Verfaffer, als er das Evangelium fchrieb, 
entweder noch nicht befannt, oder doch nicht gegenwärtig war. 


$. 142. 


Die fogenannte Himmelfahrt als übernatürlies und als natürliches 
Ereigniß. 


Ueber die Himmelfahrt Jeſu haben wir im R. T. drei 
Berichte, welche in Hinficht der Ausführlichkeit und Anfchau- 
lichfeit eine Stufenreihe bilden. Markus, in feinem letzten 
Abfchnitt überhaupt fehr kurz und abgebrochen, fagt nur, nach: 
dem Jefus zum letztenmale mit feinen Jüngern gefprochen hatte, 
fei er in den Himmel aufgehoben worden (wveAnpIn) und habe 
ſich zur Nechten Gottes gefegt (16, 19.). Kaum anfchauficher 


— —— — —— — — 


13) Vgl. Weiße, die evang Geſchichte, 2, ©. 418. 


ED 





Fünftes Kapitel. $. 142. - 651 


heißt es im Lufasevangelium: Sefus habe feine Jünger &Ew 
£ug eig BrIavlov hinausgeführt, und während er hier mit 
aufgehobenen Händen ihnen den Segen ertheilte, habe er fich 
von ihnen entfernt (dıesn), und fei zum Himmel erhoben wor- 
den (avsp&oero); worauf die Jünger anbetend nievergefallen, 
und fofort mit Freuden nach Serufalem umgekehrt feien (24, 
50 ff). Im Eingang der Apoftelgefchichte führt dieß Lufas 
weiter aus. Auf dem Delberge, wo Jeſus feinen Jüngern die 
legten Befehle und Verheißungen gab, wurde er vor ihren Augen 
aufgehoben (EreroIn), und eine Wolfe nahm ihn auf, die ihn 
ihren.Bliden entzog.. Die Jünger fihauten ihm nach, wie er 
auf der Wolfe in den Himmel hinein fich entfernte: da flanden 
plöglich zwei Männer in weißen Gewändern bei ihnen, und 
brachten fie von ihrem Nachfehen durch die Verficherung ab, 
daß der ihnen entnommene Jeſus auf diefelbe Weife, wie er fo 
eben in den Himmel fich erhoben, wieder vom Himmel fommen 
werde; worauf he befriedigt nach Serufalem umkehrten (1, 
1—12.). 

Der erfte Gindrud dieſer Erzählung ift offenbar, daß ſie 
einen wunderbaren Vorgang, eine wirkliche Erhebung Jeſu in 
den Himmel, als den Wohnſitz Gottes, und eine Beſtätigung 
derſelben durch Engel berichten wolle; wie ältere und neuere 
Orthodoxe mit Recht behaupten. Es fragt fih nur, ob fie 
uns auch über die Schwierigfeiten hinüberhelfen können, welche 
es hat, einen ſolchen Vorgang fich venfbar zu machen. Die 
eine Hauptjchwierigfeit ift, wie ein taftbarer Leib, welcher noch 
oegxe al Oste hat, und materielle Nahrung genießt, für einen 
überirdifchen Aufenthalt tauge? wie er ſich auch nur dem Geſetz 
der ‚Schwere fo weit zu entziehen vermöge, um eines Auffteis 
gend durch Die Lüfte fähig zu fein? und wie Gott eine fo 
widernatürliche Fähigkeit dem Leibe Jeſu durch ein Wunder 
habe geben mögen?!) Das Einzige, was man hier etwa noch 


1) Sabter, im neueften theol. Iournal, 3, S. 417., und in der Vorrede 





652 Dritter Abſchnitt. 


fagen Tann, ift, die gröberen Theile, welche der Leib Jeſu auch 
nach der Auferftehung noch hatte, feieg vor der Himmelfahrt 
noch entfernt worden, und nur der feinfte Ertract feiner Koͤr⸗ 
perlichfeit ald Hülle der Seele mit gen Himmel gefahren. ?) 
Allein da die Jünger, welche bei der Himmelfahrt Jeſu zuges 
gen waren, nichts davon bemerften, daß von feinem Leib ein 
Reſiduum zurüdgeblieben wäre, fo führt dieß entweder auf die 
oden erwähnte Abfurbität einer Verdunſtung des Leibe Jeſu 
in Form der Wolfe, oder auf den DIshaufen’fchen Läute- 
rungsproceß, welcher auch nad der Auferftehung noch nicht, 
fondern erft im Augenblide der Himmelfahrt vollendet gewefen 
fei; ein Proceß, welcher nur wunderlich fehnell in dieſer lebten 
Zeit mit retrograden Bewegungen gewechfelt haben müßte, 
wenn doch Jeſus bei'm Eindringen in das verfchloffene Ver⸗ 
fammlungszimmer der Jünger einen immateriellen, unmittelbar 
hierauf, als Thomas ihn befühlte, einen materiellen, endlich bei 
der Himmelfahrt wieder einen immateriellen Leib gehabt haben 
follte. — Die andere Schwierigfeit liegt darin, daß nach rich: 
tiger Weltvorftelung der Sig Gottes und der Seligen, zu 
welchem Jeſus fich erhoben haben fol, keineswegs im oberen 
Luftraum, überhaupt an feinem beftimmten Orte zu fuchen ift, 
fondern dieß gehört nur zur kindlich befchränften Vorftellungss 
weife der alten Welt. Wer zu Gott und in den Bezirk der 
Seligen fommen will, der, das wiffen wir, macht einen über: 
flüfligen Ummeg, wenn er zu diefem Behuf in die höheren 
Luftfchichten fich emporfchwingen zu müfjen meint, und diefen 
wird Jeſus, je vertrauter er mit Gott und göttlichen Dingen 
war, gewiß nicht gemacht haben, noch Gott ihn denfelben haben 
machen lafien.I) Man müßte alfo nur etwa eine göttliche Ac- 
commodation an bie damalige Weltvorftellung annehmen, und 


zu Griesbach's opuse. acad. p. XCVI. gl. Kuinöl, in Marc, 
p. 222. 

2) Seiler, bei Kuindl, a. a. O. ©. 233. 

>) Val. Paulus, ereg. Handb. 3, b, S. 9215 de Wette, Religion 
und Zheologie ©, 161. 





Fünftes Kapitel. $. 142. 6533 


fagen: um bie Jünger von dem Zurüdgang Jeſu in die hoͤ⸗ 
here Welt zu überzeugen, habe Gott, obgleich diefe Welt der 
MWirflichfeit nach Feineswegs im oberen Luftraum zu fuchen 
fei, doch das Spertafel einer ſolchen Erhebung veranftaltet; ) 
was aber Bott zum täufchenden Echaufpieler machen heißt. 
Als einen Verſuch, folhen Schwierigfeiten und Unge— 
reimtheiten uns zu entheben, müſſen wir die natürliche Erklaͤ⸗ 
rung dieſer Erzählung willfommen heißen. ?) ie unterfcheivet 
in den evangelifchen Erzählungen von der Himmelfahrt das 
Angefchaute von dem durch Raifonnement Erfchloffenen. Frei⸗ 
lich, indem es in der A. ©. heißt: Bdenovrwv avıwv Ennosn: 
fo feheint hier eben die Erhebung in den Himmel als ange- 
ſchautes Factum dargeftellt zu werden. Hier fol nun aber 
earoſn nicht eine Erhebung über den Boden, fondern nur 
dieß bedeuten, daß Jeſus, um die Jünger zu fegnen, ſich hoch 
aufgerichtet habe, und ihnen dadurch erhabener erfchienen ſei. 
Sofort wird aus dem Schluffe des Lufasevangeliums das 
dıesn herübergeholt, in der Bedeutung, daß Jeſus, indem er 
fi) von feinen Jüngern ‚verabfchiedete, fich entfernter von 
ihnen geftellt habe. Hierauf fei in ähnlicher Weife, wie auf 
dem VBerflärungsberge, ein Gewölfe zwifchen Jeſum und die 
Jünger getreten, und habe ihn, in Verbindung mit den zahl: 
reichen Delbäumen des Berges, ihren Bliden entzogen; was 
fie dann auf die Verficherung zweier unbefannten Männer 
hin für eine Aufnahme Jeſu in den Himmel gehalten haben. 
Allein, wenn Lufas in der U. ©. das Erro9n unmittelbar 
mit der Angabe verbindet: xal vepkin vnelaßev avrov: 
fo .fol doch wohl jene Erhebung die Einleitung zu dem 


*) Kern, Hauptthatfachen, Züb. Zeitſchr. 1836, 3, &.58. Vgl. Steu 
del, Glaubenslehre, ©. 323, welcher die Himmelfahrt zu einem von 
Gott in den Züngern gewirkten Gefichte macht. Wogegen zu vergl. 
meine Streitfchhriften, 1, S. 152 ff. 

5) Wie fie namentlih Paulus gibt, a. a. O. ©. 910 ff... 3. 1, b, 
©. 318 ff. | 


v 


654 | Dritter Abjchnitt. 


Aufgenommenwerden dur die Wolfe fein; was fie nicht ift, 
wenn fie ein bloßes Sichaufrichten, fondern nur, wenn fie 
eine Erhebung Jeſu über den Boden war, da nur in die 
fem Falle eine Wolke fih ihm tragend und verhüllend unter- 
fchieben Eonnte, was in vrrdlaßev enthalten ifl. Ebenfo, 
wenn im Lufasevangelium das dıdsn am awıcw als etwas 
dv To evloyeiv avcov avres Vorgegangenes dargeftellt wird, 
fo wird doch Niemand, während er einem Andern den Segen 
ertheilt, von ihm weggehen: wogegen «8 fehr paſſend erfcheint, 
daß Zefus während der Ertheilung des Segens an die Jünger 
in die Höhe. gehoben wurde, und ſo noch von oben herab 
die fegnenden Hände über fie breitete. Die natürliche Erflä- 
rung des Verfchwindens in der Wolfe fällt hiemit von felbft 
hinweg; in der Vorausfegung aber, daß die zwei Weißge⸗ 
fleiveten natürliche Menſchen gewefen feien, tritt ſchließlich 
noch einmal befonders ftarf die Bahrdtifch-Venturinifche, 
von Paulus nur verbedie, Anficht hervor, daß mehrere 
Hauptepochen im Leben Sefu, befonders feit feiner Kreuzigung, 
durch geheime Verbündete bewirft gewefen feien. Und Sefus 
felbft, wie fol. es ihm denn dieſer Vorftellung gemäß nach 
jener legten Entfernung von feinen Juͤngern weiter ergangen 
fein? Wollen wir mit Bahrdt eine Effenerloge träumen, 
in welche er ſich nad) vollbrachtem Werke zurüdgezogen habe ? 
und mit Brennede dafür, daß Jeſus noch längere Zeit 
im Stillen zum Beften der Menfchheit fortgewirft habe, auf 
feine Erfcheinung zum Behuf der Bekehrung des Paulus uns 
berufen, welde doch, die Erzählung der A. ©. gefchichtlich 
genommen, mit Umftänden und Wirkungen verbunden war, 
bie fein natürlicher Menfh, wenn auch Mitglied eines ges 
heimen Ordens, hervorbringen konnte. Oder will man mit 
Paulus annehmen, bald nach diefer legten Zufammenfunft 
ſei der angegriffene Leib Jeſu den erhaltenen Berlegungen 
erlegen: fo fann dieß doch nicht wohl in den nächften Aus 
genbliden, nachdem er fo eben noch rüftig mit feinen Jüngern 
zufammen gewefen war, gefchehen fein, fo daß die zwei 


Sünftes Kapitel. 6. 143. 655 


hinzutretenden Männer Zeugen feines Berfcheidens geweſen 
wären, welche übrigend auch in diefem Yalle gar nicht der 
Wahrheit gemäß gefprochen hätten; lebte er aber noch längere 
Zeit, fo müßte er die Abficht gehabt haben, von jenem Zeit- 
punft an bis zu feinem Ende in der Verborgenheit einer 
geheimen Gefellfchaft zu bleiben, der dann wohl auch die zwei 
MWeißgefleiveten angehörten, welche den Züngern, ohne Zweifel 
mit feinem Borwiffen, feine Erhebung zum Himmel einrebeten,®) 
— eine Borftellung, von welcher fich auch hier, wie immer, 
der gefunde Sinn mit Widerwillen abwendet. 


8. 143. 


Das Ungenägende der Rachrichten über Jeſu Himmelfahrt. 
Teren mythiſche Auffaffung- 


Am wenigften unter allen N. T.lichen Wundergefhichtere 
war bei der Himmelfahrt ein folcher Aufwand unnatürlichen 
Scharfſinns nöthig,. da die hiftorifche Geltung dieſer Erzählung 
nicht allein für uns, die wir feinen wirflich Auferftandenen, 
mithin auch feinen haben, der gen Himmel gefahren fein 
fönnte, fondern an fih und auf jedem Standpunfte, ganz 
befonders ſchwach verbürgt if. Matthäus und Johannes, der 
gewöhnlichen Borftelung nach die beiden Wugenzeugen unter 
ven Evangeliften, erwähnen ihrer nicht; nur Markus und 
Lufas berichten diefelbe; während auch in den übrigen N.T.- 
lichen Schriften beftimmte Hinweifungen auf fie fehlen. Doch 
eben diefes Fehlen der Himmelfahrt im übrigen N. T. Täugnen 
die orthodoren Ausleger. Wenn Jeſus bei Matthäus (26, 64.) 
vor Gericht verfichere, von jegt an werde man des Menfchen 
Sohn zur Rechten der Kraft Gottes figen fehen: fo fei hiebei 
Doch wohl auch eine Erhebung dahin, mithin eine Himmelfahrt 
vorausgejegt; wenn er bei Johannes (3, 13.) fage, feiner fei 
in den Himmel geftiegen, außer dem vom Himmel gefommenen 


6) Briefe über den Rationalismus, &. 146. Anm, 28. 


6536 Dritter Abjdnitt. 


Menfchenfohne, und ein andermal (6, 62.) die Jünger darauf 
verweife, daß fie ihn einft dahin würden auffteigen fehen, wo 
er vorher gewefen fei; ferner, wenn er am Morgen nach ver 
Auferftehung erfläre, noch nicht zu feinem Vater aufgeftiegen 
zu fein, aber demnächft fich dahin zu erheben (20, 17.): fo 
“ Tönne es beutlichere Hinweifungen auf die Himmelfahrt nicht 
wohl geben; ebenfo, wenn die Apoftel in den Acten fo oft von 
Erhöhung Jeſu zur Rechten Gottes fprechen (2, 33. 5. 31. 
vgl. 7, 56.), und Paulus ihn ald avaßos unegavu navsum 
zov Sowwv (Eph. 4, 10.), Petrus als ropevdeig eig 8gavov 
darftelle (1. Petr. 3, 22.): fo Fünne Fein Zweifel fein, daß fie 
nicht alle von feiner Himmelfahrt gewußt haben.) Alle dieſe 
Stellen jedoch, mit Ausnahme etwa der einzigen Joh. 6, 62., 
welche von einem Jewgeiv avaßalvovra Tov viov TE avIgwre 
fpricht, enthalten nur überhaupt feine Erhebung in den Himmel, 
ohne Andeutung, daß fie ein Äußeres, fichtbares, und zwar 
von den Züngern mitangefchautes Factum gewefen. Vielmehr, 
wenn wir 1. Kor. 15, 5 ff. finden, wie Paulus die ihm zu 
zu Theil gewordene Erſcheinung Jeſu, welche lange nach der 
vorausfeglichen Himmelfahrt flattfand, mit den Ehriftophanien 
vor diefer Epoche fo ohne alle Unterbrechung oder Andeutung 
irgend eines Unterfchieds zufammenftellt: jo muß man zweifeln, 
nicht bloß, ob alle Erjcheinungen, die er außer ver feinigen 
aufzählt, vor die Himmelfahrt fallen, ?) ſondern, ob der Apoftel 
überhaupt von einer Himmelfahrt als äußerem, den irdifchen 
Wandel des Auferfiandenen bejchließenden Factum etwas gemußt 
haben koͤnne? In Bezug auf den PVerfaffer des vierten Evan- 
geliums aber zwingt uns bei feiner Bilderfprache das Jewonre 
fo wenig als das 558090 in Bezug auf die über ihm auf und 


1) Seiler, bei Kuindl, a. a. DO. ©. 221; Dlshaufen, ©. 591 f. 
Val. Griesbach, locorum N. T. ad ascensionem Christi in coe- 
lum spectantium sylloge. In s. opusc. acad. ed. Gabler, Vol. 
2, ©. 484 ff. 

2) Schnedendurger, über den Urfpr. u. ſ. f. ©. 19. 





Fünftes Kapitel. $. 143. 657 


abfteigenden Engel, 1, 52, ihm ein Wiſſen um die fichtbare 
Himmelfahrt Jeſu zuzufchreiben, von welcher er am Schluſſe 
‚feines Evangeliums nichts erzählt. 

Die Ausleger freilich haben fih alle ervenklihe Mühe 
gegeben, das Fehlen einer Erzählung von der Himmelfahrt im 
erften und vierten Evangelium auf eine, der Auctorität biefer 
Schriften, wie der gefchichtlichen Geltung jener Thatfache, un⸗ 
fchädliche Weife zu erflären. Die Himmelfahrt Jeſu zu erzählten, 
foll ven Evangeliften, welche fie verfchweigen, theils als unnoͤ⸗ 
thig, theils als unmöglich erfchienen fein. Als unnöthig ent- 
weder an und für ſich, wegen der minderen Wichtigfeit des 
Greigniffes; ?) oder mit Nüdficht auf die enangelifche Ueber⸗ 
lieferung, durch welche fie allgentein befannt war;?) Johannes 
insbefondere fol fie aus Markus und Lufas vorauäfeken; >) 
oder endlich follen fie Ddiefelbe, als nicht mehr zum irbifchen 
Leben Jeſu gehörig, in ihren Echriften, die nur der Befchreis 
bung dieſes Lebens gewidmet waren, übergangen haben. ®) 
Allein zum Leben Jeſu, und zwar namentlich zu dem räthfel- 
haften, wie er es nach der Rüdkehr aus dem Grabe geführt 
haben foll, gehörte die Himmelfahrt fo nothwendig ald Schlußs 
punkt, daß diefelbe, gleichviel, ob allgemein befannt oder nicht, 
ob wichtig oder unwichtig, fchon um des äfthetifchen Intereſſes 
willen, da8 auch der ungebildete Schriftiteller hat, feiner Er⸗ 
zählung einen Schluß zu geben, von jedem Evangelienfchreiber, 
der von derjelben wußte, am Ende feines Berichts, wenn auch 
noch fo fummarifch, erwähnt werden mußte, um den .fonderbaren 


— — — — 


3) Olshauſen, ©. 593 f. 

9) Selbſt Fritzſche, ermattet am Schluffe feines Geſchaͤfts, ſchreibt in 
Matth. p. 835: Matthaeus Jesu in coelum abitum non commemo- 
ravit, quippe nemini ignotum, 

5) Michaelis, a. a. O. ©. 352. 
6) Die Abhandlung: warum haben nicht alle Evangeliften die Himmelfahrt 
Jeſu ausdruͤcklich miterzaͤhlte in Flatt's Magazin, 8, S. 67. 
II. Band, 42 


658 ’ Tritter Abſchnitt. 


Eindrud zu vermeiden, welchen das erfte, und noch mehr das 
vierte Evangelium, als in's Unbeſtimmte auslaufende Erzähs 
lungen, machen. Daher follen nun der erfte und der vierte 
Evangelift einen Bericht über die Himmelfahrt Jeſu auch gar 
nicht für möglich gehalten haben, indem bie Augenzeugen, fo 
lange fie ihm auch nachſahen, doch nur fein Emporfchweben 
auf der Wolfe, nicht aber feinen Eingang in den Himmel 
und fein Plagnehmen zur Rechten Gottes haben mit anfehen 
fönnen. ) Allein in ber Vorſtellungsweiſe der alten Welt, 
welcher der Himmel näher war ald uns, galt ein Auffahren 
in die Wolfen ſchon für eine wirkliche Himmelfahrt, wie wir 
an den Erzählungen von Romulus und Elias fehen. 

Das hienach unläugbare Richtwiflen der genannten Evan- 
gelien um die Himmelfahrt nun aber mit der neueren Kritif 
des erften Evangeliums. tiefem als Zeichen nichtapoftolifchen 
Urfprungs zum Vorwurf zu machen,®) ift hier um fo weniger 
am Ort, da das fragliche. Ereigniß nicht bloß. durch das Still- 
fhweigen zweier Evangeliften, fondern auch durch die Nicht: 
übereinftimmung derer, die e8 berichten, verdächtig wird. Markus 
ftimmt nicht mit Lukas, ja Diefer nicht mit füch felbft überein. 
Nach dem Berichte des erfteren hat es den Anfchein, als hätte 
Jeſus unmittelbar von dem Mahle,. bei welchem er den Eilfen 
erfchten, aljo von einem Haufe in Jerufalem aus, fich in den 
Himmel erhoben; denn das avaxzıutvog — Epyavepwir xl 
wweidıse — zul einev-—. O utv uiquoq, uera co Melj- 
ve onroig, weirp7 = T. A hängt unmittelbar zufammen, 
und es läßt fich Hier nur mit Gewalt eine Ortöveränderung 
und Zwifchenzeit einfchieben.) Freilich ift eine Himmelfahrt. 
vom Zimmer aus nicht gut fich vorzuftellen, daher läßt 
fie Lufas im Freien vor fih gehen. Die Differenz in ver 


u 


: N Die zulept angeführte Abh. des Flatt' ſchen Magazine. 
s) Schnedenburger, a. aD. ©. 19 f. 
) Wie z. B. Kuindi thut, p. 208 f. 217. 








Fünftes Kapitel. $. 143. 659 


Ortsangabe, daß er im Evangelium Jefum mit den Jüngern Eos 
eis BrIosiovn hinausgehen Läßt, in den Acten aber die Scene 
auf das Öpog TO xalsusvor Ehzuwva verlegt, Tann dem Lufas 
nicht als Widerfpruch angerechnet werden, da Bethanien am 
Delberge lag; 'e) wohl aber die bebeutende Abweichung in ber 
Zeitangabe, daß in feinem Evangelium, wie bei Markus, es 
den Anfchein hat, als wäre die Himmelfahrt noch am nämlichen 
Tage mit der Auferftehung erfolgt: wogegen in ver U. ©, 
ausprüdlich bemerkt ift, daß beide Erfolge durch eine Frift von 
40 Tagen getrennt gewefen. Es ift fchon angemerkt worden, 
daß die letztere Zeitbeftimmung dem Lufas in der Zwifchenzeit 
zwifchen der Abfafjung des Evangeliums und der A. ©. zuge- 
fommen fein muß. Bon je mehreren Erfcheinungen des Auf: 
erftandenen man fich erzählte, und an je verfchiedenere Drte 
man fie verlegte: defto weniger reichte fernerhin die kurze Frift 
eines Tages für den Wandel des Auferftandenen auf der Erde 
zu; daß aber die nothiwendig gewordene längere Zeit gerade 
auf 40 Tage feftgefeßt wurde, hatte in der Rolle feinen Grund, 
welche bekanntlich diefe Zahl in der jüdifihen und bereits auch 
in der chriftlihen Sage fpielte. Wie das Volk Israel 40 
Jahre in der Wüfte, Mofes 40 Tage auf dem Sinai gewefen 
war, er und Elias 40 Tage gefaftet, und Iefus felbit vor der 
Berfuhung fo lange in der Wüfte ohne Nahrung fich aufge- 
halten hatte; wie alle dieſe geheimnißvollen Mittelzuftände und 
Durchgangsperioden durch die Zahl 40 beftimmt waren: fo 
bot fie fih ganz beſonders auch zur Beſtimmung der myſteriöſen 
Zwifchengeit zwifchen Sefu Auferftehung und Himmelfahrt dar."') 

Was die Schilderung des Vorgangs selber betrifit, 
fo fönnte man das Schweigen des Marfus und Lufas im 


10) Toch vergl. de Wette zu A. G. ı, 12. 
1,5 PBapb I, $. 56, und die dort angeflbrten Scriftfteller., Die 
Ruͤckſicht auf eine Danieliſche Rehnung bei Paulus, exeg. Danbb. 3, 
b. S. 923. jiheint mir # kuͤnſtlich. 
42 * 


660 Dritter Abfchnitt. 


Evangelium von Wolfe und Engeln lediglich der Kürze. ihrer 


Erzählungen zufchreiben wollen; doch da Lukas am Schluffe feines 


Evangeliums das Verhalten der Jünger, wie fie dem in den 
Himmel entrüdten Jeſus fußfälige Verehrung gebracht, und 
mit großer Freude fich nad) der Stadt zurüdbegeben haben, 
umftändlich genug erzählt: fo würde er ohne Zweifel die ihnen 
durch Engel zu Theil gewordene Kunde als nächften Grund 
ihrer Freude bemerklich gemacht haben, wenn er ſchon bei Ab- 
faffung feiner erften Schrift etwas von derfelben gemußt hätte; 
es fcheint fich hiernach vielmehr dieſer Zug allmählig in der 


‘ Veberlieferung ausgebildet zu haben, um auch biefem legten 


Punkte des Lebens Jeſu feine Ehre anzuthbun, und das unzu⸗ 
längliche menfchliche Zeugniß über feine Erhebung in ben 
Himmel durch zweier himmlifchen Zeugen Mund befräftigt 
werben zu laffen. 

Wie. hienach diejenigen, welche von einer Himmelfahrt 
Jeſu wußten, dieſe in Bezug auf die näheren Umftände fich 


- feineswegs auf dieſelbe Weife vorftellten: fo muß es über- 


haupt vom legten Schluffe des Lebens Jeſu zweierlei Vorftel- 
fungsweifen gegeben haben, indem die Einen dieſen Echluß 
als eine fichtbare Himmelfahrt dachten, die Andern nicht. ) 
Wenn Matthäus Jeſum vor Gericht feine Erhebung zur Rechten - 
der göttlichen Kraft vorherfagen (26, 64), und nach feiner Auf- 
erftehung ihn verfichern läßt, daß ihm nun race Eisoie &v spam 
xl Erd yis gegeben fei (28, 18.); dennoch aber von einer ficht« 


"baren Himmelfahrt nichts hat, vielmehr Jeſu die Verſicherung 


in den Mund legt: &yW ueP” vum elu naoas Tag NuEgag 
Ewg ng owvrelslog TE aiwvog (V. 20.): fo liegt hier offenbar 
die Vorftelung zum Grunde, daß Jeſus, ohne Zweifel ſchon 


12) Hierüber vgl. befondere Ammon, Ascensus J.C. in coelum histo- 
ria biblica. In s. opuse. nov. p. 43 ff. Fortbildung des Chris 
ftenth. 2, 1, &. 13 ff.;5 auch Kaiſer, bibl. Theol. 1, S. 83 ff.; 
de Wette, ereg. Handb. 1, 1, ©. 2475 Weiße, die evang. Geſch. 
2, ©. 375 ff. 





Sünftes Kapitel. $. 143. 661 


bei der Auferftehung, unfichtbar zum Bater aufgeftiegen, zugleich 
unfichtbar immer um die GSeinigen fei, und aus dieſer Vers 
- borgenheit heraus fich, fo oft er es nöthig finde, in Chriſto⸗ 
phanien offenbare; viefelbe Anjchauungsweife gibt fich beim 
Apoftel Paulus zu erfennen, wenn er 1 Kor. 15. die ihm zu 
Theil gewordene Erfcheinung des bereits in den Himmel ers 
hobenen Chriſtus mit den früheren ohne Weiteres in Eine 
Reihe ftellt; auch der Verfaſſer des vierten Evangeliums und 
die übrigen N.T.lichen Schriftfteller ſetzen nur das voraus, 
was nach dem meffianifchen: zaIe &x defuwv us, Pf. 110, 1. 
vorausgefegt werden mußte: daß Jeſus ſich zur Rechten Gottes 
erhoben habe; ohne über das Wie etwas zu beftimmen, oder 
ſich die Auffahrt dahin als eine fichtbare vorzuftelen. Doc 
mußte es der urchriftlichen Phantafie fehr nahe liegen, viefe 
Erhebung auch zum glänzenden Schaufpiele auszumalen. Ließ 
man den Meflias Jeſus an einem fo erhabenen Ziele anges 
fommen fein: fo wollte man ihm auch auf dem Wege dahin 
gleichfam nachfehen. Erwartete man feine einftige Wiederkunft 
vom Himmel nach Daniel als fichtbares Herabfommen in den 
Wolken: fo ergab es ſich von felbft, feinen Hingang zum 
Himmel als fihtbares Auffteigen auf einer Wolfe vorzuftellen, 
und wenn Lukas die beiden Weißgefleideten, welche nach ber 
Wegnahme Jefu zu den Jüngern traten, fagen läßt: azos 6 
’In085, 6 weinpIeis ap vuav eig Tov &gavov, Brws EleVoe- 
cas, 0v To0mov EIER0ROIE KUTOV TopEvOLEVov eig Tov 8gavor 
(A. ©. 1, 11.): fo darf man dieß nur umfehren, um die 
Genefis der Vorftelung von der Himmelfahrt Sefu zu haben; 
indem nämlich gefehloffen wurde : wie Jefus dereinft vom Him- 
mel wiederkommen wird, fo wird er wohl auch dahin gegangen 
fein. '3) 
| Neben diefem Hauptmomente treten die A.T.lichen Bor: 
gänge, welche die Himmelfahrt Jeſu an der Hinwegnahme 


15) So au Hafe, 8. J. 8. 150. 








663 Dritter Abfchnitt. 


Des Henoch (1. Mof. 5, 24. vgl. Sir. 44, 16. 49, 16. Hebr. 
11, 5.) und beſonders an der Himmelfahrt des Elia (2. Kon. 
2, 11. vgl. Sir. 48, 9. 1. Macc. 2, 58.) bat, fammt den 
griechifchen und römifchen Apotheofen eines Herafles und Ro⸗ 
mulus, in den Hintergrund zurüd. Ob von ven legteren die 
Verfaſſer des zweiten und dritten Evangeliums Kunde hatten, 


-fteht dahin; die Notiz von Henoch ift zu unbeflimmt; bei 


Elia aber eignete fich der Flammenwagen mit den Feuerroſſen 
für den milderen Geift Ehrifti nicht; ftatt deſſen die bergenve 
Wolfe und das die Abfchiensunterhaltung unterbrechende Ent⸗ 
rüdtwerden aus der fpäteren Darftellung der Wegnahme des 
Mofes genommen zu fein fheinen Fann, welche übrigens in 
andern Stüden wieder bedeutend abweicht. !) Auch aus der 
Geſchichte des Elia erklärt fich doch vielleicht Ein Zug in der 
Erzählung der A. &. Als nämlich Elia vor feiner Hinweg- 
nahme von feinem Diener Elifa gebeten wurde, ihm fein ravevum 
in verboppeltem Maaße zurüdzulaffen: fnüpfte der Prophet die 
Gewährung dieſes Wunſches an die Bedingung: day ööns F 
—ö 050 08, zul Esaı 001 Erwg al Ew un, 
um ya (B. 9 f. LXX.); woraus erhellen fönnte, warum 
Lufas (U. ©. 1, 9.) auf das Alenorvruw avıwv erugdn Ge 
wicht legt: weil nämlich gemäß dem Vorgange mit Elia bich 
erfordert zu werden ſchien, wenn die Echüler den Geift des 
Meifterd befommen follten. 


‘ 


— — — — — 


1%, Joseph. Autig. 4, 8. 48. heißt e8 von Mofes: Arnalours dr xar 
rov Eiealapor aurä zur Ina, zaı moogomläyrog ayrois Frı, vepng aigrl- 
drov UnsERUTR savros amariletas xata Tıvog paoeyyos, er hahe aber abfichtlich 
geichrieben, ex fei geftorben, damit man nicht feiner Trefflichkeit wegen 
behaupten möchte, er habe fich eos zo Jeiov begeben. Philo aber, de 
Vita. Mosis, Opp. ed. Mangey, Vol. 2, p. 179, läßt bloß die Seele 
des Mofes fidh in ‚ben Dimmel erheben. 


ing DIS — 





Schintabbandlung. 


— — — — — 


Die dogmatiſche Bedeutung des Sehens Jeſu. 





$. 144. 
Nothwendiger Uebergang der Kritik in dad Togma. 


Durch die Ergebniffe der bisherigen Unterfuchung ift nun, 
wie es fcheint, der größte und wichtigfte Theil von demjenigen, 
was der Chrift von feinem Jeſus glaubt, vernichtet, alle Er- 
munterungen, die er aus dieſem Glauben fchöpft, find ihm ents 
zogen, alle Tröftungen geraubt. Der unendliche Schatz von 
Mahrheit und Leben, an welchem feit achtzehn Sahrhunderten 
die Menfchheit fich großgenährt, fcheint hiemit verwüftet, Das 
Erhabenfte in den Staub geftürzt, Gott feine Gnade, dem 
Menfchen feine Würde genommen, das Band zwifchen Himmel 
und Erde gerriffen zu fein. Mit Abfcheu wendet fich von fo 
ungeheurem $revel die Srömmigfeit ab, und aus der unendlichen 
Selbitgewißheit ihres Glaubens heraus thut fie ven Machtfpruch : 
eine freche Kritik möge verfuchen, was fte wolle, dennoch bleibe 
Alles, was von Chrifte die Schrift ausfage und die Kirche 
glaube, ewig wahr, und dürfe fein Jota davon fallen gelaffen 
werden. So ergibt fih am Schluffe der Kritif von Jeſu 
Lehensgefchichte die Aufgabe, das kritiſch Vernichtete Dogmatifch 
wiederherzuſtellen. 


664 Schlußabhanblung. $. 144. 


Diefe Aufgabe feheint zunächft nur eine Forderung des 
Gläubigen an den Kritifer zu fein, jedem diefer beiden für ſich 
aber fich nicht zu ftellen: der Gläubige als folcyer, fheint es, 
bedarf Feiner Wiederherftelung des Glaubens, weil biefer in 
ihm durch feine Kritik vernichtet worden ift; der Kritifer als 
jolcher nicht, weil er dieſe Vernichtung ertragen fann.. So 
gewinnt ed das Anfehen, ald ob der Kritifer, wenn er aus 
dem Brande, den feine Kritif angerichtet, Doc das Dogma 
noch retten will, für feinen Standpunft etwas Unwahres unter- 
nähme, fofern er, was ihm felbft fein Kleinod ift, aus Ac⸗ 
commodaltion an den Glauben als folches behandelt; in Bezug 
auf ven Standpunkt des Gläubigen aber etwas Lleberflüffiges, 
indem er fi) mit der Rettung von etwas bemüht, was für 
den, welchem es angehört, gar nicht gefährdet ift. 

Dennoch verhält es fich bei näherer Betrachtung anders. 
Wenn gleich nicht entwidfelt, fo ift doch an fich in jedem Glauben, 
der noch nicht Wiffen ift, der Zweifel mitgefegt; der gläubigfte 
Ehrift Hat Doch die Kritif als verborgenen Reft des Unglaubeng, 
oder beſſer ald negativen Keim des Wiſſens, in ſich, und nur 
aus deſſen beftändiger Nieverhaltung geht ihm ber Glaube 
hervor, der alfo auch in ihm wefentlich ein wiederhergeftellter 
if. Ebenſo aber, wie der Gläubige an fich Zweifler oder Kri- 
tiker, iſt auch umgefehrt der Kritiker an fi) der Gläubige. 
Sofern er fih nämlich vom Naturaliften und Freigeift ‚unter: 
feheidet, fofern feine. Kritif im. Geifte des neunzehnten Jahr⸗ 
hundertS wurzelt, und nicht in früheren: ift er mit Achtung 
vor jeder Religion erfüllt: und namentlich des Inhalts der 
höchften Religion, der chriftlichen, als identifch mit ver höch— 
ften philofophifchen Wahrheit fi bewußt, und wird alio, 
nachdem er im Verlaufe der Kritif durchaus nur die. Seite 
des Unterfchieds feiner Leberzeugung vom chriftlichen Geſchichts⸗ 
glauben herporgefehrt hat, das Bedürfnis fühlen, nun ebenfo 
auch die Seite der Jpentität zu ihrem Rechte zu bringen. 

Zunfchft, indem unfere Kritif zwar in aller Ausführlich- 
feit vollzogen worden, aber nunmehr an dem Bewußtfein 


a 
' 








Schlußabhandlung. F. 145. 865 


voruͤbergegangen iſt, fällt fie demſelben wiever zur Einfachheit 
des unentwidelten Zweifel zufammen, gegen welchen fich das 
gläubige Bewußtfein mit einem ebenfo einfachen Veto Fehrt, 
und nach Zurüdmweifung deſſelben das Geglaubte in unver- 
fünsmerter Fülle wieder ausbreitet. Indem aber hiemit die 
Kritif nur befeitigt, nicht überwunden ift, wird dad Geglaubte 
nicht wahrhaft vermittelt, fondern bleibt in feiner Unmittels 
barkeit. Scheint fo, indem gegen diefe Inmittelbarfeit abermals 
die Kritit fich ehren muß, der eben vollendete Proceß fich 
zu wiederholen, und wir zum Anfang der Iinterfuchung zu⸗ 
rüdgemworfen zu fein: fo thut fich doch zugleich ein Unterſchied 
hervor, welcher die Sache weiter führt. Bisher war Gegen« 
ftand der Kritif der chriftliche Inhalt, wie er in den evanges 
lifchen Urkunden als Gefchichte Jeſu vorliegt: nun diefer durch 
den Zweifel in Anfpruch genommen ift, reflectirt er fich in ſich, 
fucht eine Sreiftätte im Innern der Gläubigen, wo er aber 
nicht als bloße Gefchichte, fondern als in fich reflectirte Ge⸗ 
fhichte, d. h. als Belenntnig und Dogma vorhanden iſt. Er⸗ 
wacht daher allerdings auch gegen das in feiner Unmittelbarfeit 
auftretende Dogma, wie gegen jede Unmittelbarfeit, die Kritif 
als Negativitaͤt und Streben nach PVermittlung: fo iſt diefe 
doch nicht mehr, wie bisher, Hiftorifche, ſondern Dogmatifche 
Kritif, und erft durch beide hindurchgegangen, ift ver Glaube. 
wahrhaft vermittelt, oder zum Wiffen geworben. | | 
Diefes zweite Etadium, welches der Glaube zu durchlaufen . 
hat, müßte eigentlich ebenſo, wie das erfte, Gegenftand eines 
eigenen Werkes fein: hier foll es nur in feinen Grundzügen 
verzeichnet werden, um bie hiftorifche Kritif nicht ohne Ausficht 
auf ihr letztes Ziel abzubrechen,, welches erft jenfeitd der dog⸗ 
matifchen liegt. 
6. 145, 
Die Ehriftologie des orthodoren Syſtems. 
Der dogmatifche Gehalt des Lebens Jeſu in feiner Unmit- 
telbarfeit feftgehalten, und auf dieſem Boden ausgebildet, ift 
die ortbodore Lehre von Ehrifto. | 





666 Schlußabhandlung. $. 145. 


Ihren Grundzügen nach findet fie ſich ſchon im N. T. 
Die Wurzel des Glaubens an Jefum war die Ueberzeugung 
von feiner Auferftehung. Der Getödtete, fchien e8, wenn auch 
noch fo groß einft im Leben, könne der Mefftad nicht geweſen 
fein: Die wundervolle Wiederbelebung bewies um fo ftärfer, 
daß er e8 war. Durch die Auferwedung aus dem Schattens 
reich befreit, und zugleich über die Sphäre irdifcher Menfchheit 
hinausgehoben, war er nun in die himmlifchen Regionen vers 
fest, hatte feinen meflianifchen Sie zur Rechten Gotted einges , 
nommen (9. ©. 2, 32 ff. 3, 15 ff. 5, 30 ff. und ſonſt). Run 
erfchien fein Tod als Haupttheil feiner meffianifchen Beftim- 
mung: nach Ief. 53. hatte er ihn für die Sünden des Vollks 
und der Menfchheit erlitten (A. ©. 8, 32 ff. vgl. Matth. 20, 
28. Joh. 1, 29, 36. 1. Joh. 2, 2.): fein am Kreuze vers: 
‚goflenes Blut wirkte wie dasjenige, welches am Verſöhnungs⸗ 
fefte der Hohepriefter gegen den Dedel der Bundeslade fprengte 
(Röm. 3, 25.); er war das reine Lamm, durch deſſen Blut 
die Gläubigen losgekauft find (1 Petr. 1, 18 f.); ber ewige, 
fündlofe Hohepriefter, der durch Darbringung feines eigenen 
Leibes mit Einemmale bewirkt hat, was die jüdiſchen Prieſter 
durch unendlich wiederholte Tchieropfer nicht auszurichten im 
Stande waren (Hebr. 10, 10 ff. u. f.). Aber aud von jeher 
fhon konnte der jest zur Rechten Gottes erhöhte Meſſtas Fein 
gewöhnlicher Menfch gewefen fein?! nicht bloß war er mit dem 
‚ göttlichen Geifte in höheren Maaß, als je ein Prophet, gefalbt 
(4. ©. 4, 27. 10, 38.), und hatte durch Wunder und Zeis 
chen fich als göttlichen Gefandten erwiefen (U. ©. 2, 22.): 
fondern, wie man es fi) nun vorftellen mochte, war er ents 
weder übernatürlich durch den heiligen -Geift erzeugt (Matth, 
u. Luc. 1.), oder ald Gottes Weisheit und Wort in einen 
irdifchen Leib herabgefommen (Joh. 1.). Da er-fchon vor ſei⸗ 
nem menfchlichen Auftreten im Schooße des Vaters, in goͤtt⸗ 
licher Majeftät, gemwefen war (Job. 17, 5.): fo war fein 
Herabfommen in Die Menfchenwelt und befonders feine Hin- 
gabe in den ſchmachvollen Tod eine Erniedrigung, die er aus 








Schlußabhandfung. $. 145. 667 


freiem Triebe zum Beften der Menfchen auf fih nahm (Phil. 
2,5 ff). Der Auferftandene und zum Himmel Gefahrene, 
wie er einft zur Auferweckung der Todten und zum Gerichte 
wiederfehren wird (A. ©. 1, 11. 17, 31.): fo nimmt er auch 
jest ſchon als Theilhaber an der Weltregierung (Matth. 28, 
18.) der Gemeinde fih an (Röm. 8, 34. 1. Joh. 2, 1.), und 
wie jest an der Weltregierung, fo bat er auch fchon an ver 
MWeltfchöpfung Theil genommen (oh. 1,3, 10. Kol. 1,16 f.). 
Außerdem wurden nun noch alle möglichen einzelnen Züge 
des in der Volfserwartung entworfenen Meffiasbildes mit nös 
thigen oder beliebigen Abänderungen auf Jeſum übergetragen; 
auch von der einmal angeregten Phantafie neue Erzählungen 
hinzugedichtet. 

Welche Fülle von befeligenden und erbabenen, ermuntern- 
den und tröftliden Gedanken floß der erften Gemeinde aus die⸗ 
fen Borftelungen über ihren Chriftus! Durch die Sendung 
des Sohnes Gottes in die Welt, durch feine Hingabe für bie 
Welt in den Tod, find Himmel und Erbe verfühnt (2 Kor. 
5, 18 ff. Eph. ı, 10. Kol. 1, 20.); durch diefe höchfte Aufs 
opferung ift den Menfchen die Liebe Gottes ficher verbürgt 
(Röm. 5,8 ff. 8, 31 ff. 1 Joh. 4, 9.), und die freudigfte 
Hoffnung ihnen eröffnet. Iſt der Sohn Gottes. Menfch ge 
worden: fo find die Menfchen feine Brüder, als folche gleich- 
fals Kinder Gottes, und Miterben Ehrifti an dem Schape 
göttlicher Seligfeit (Röm. 8, 16 f. 29.). Das Enechtifche Ver⸗ 
hältniß der Menfchen zu Gott, wie e8 unter dem Geſetze flatt- 
fand, bat aufgehört; an die Stelle der Furcht vor den 
Strafen, mit welchen das Gefeg drohte, tft Liebe getreten 
(Rom. 8, 15. Sal. 4, 1 f.). Vom Fluche des Geſetzes find die 
Gläubigen dadurch losgefauft, daß Chriſtus fich für fie dem⸗ 
jelben hingab, indem er eine Todesart erduldete, auf welche 
das Geſetz den Fluch gelegt hat (Bal. 3, 13.) Nun haben 
wir nicht mehr das Unmögliche zu leiten, daß wir alle For⸗ 
derungen bes Geſetzes erfüllen müßten (Gal. 3, 10 f.) — eine 
Aufgabe, welche der Erfahrung zufolge fein Menfch lösſt (Rom. 





668 Sclußabhanblung. $. 145. 


1, 18—3, 20.), feiner fündigen Natur nach Feiner löfen kann 
(Rom. 5, 12 ff.), und welche den, der fie zu loͤſen ftrebt, nur 
immer tiefer in den unfeligften Kampf mit fich felbft verwidelt 
(Rom. 7, 7 ff): fondern wer an Chriftum glaubt, der verföh- 
nenden Kraft feines Todes vertraut, der ift von Gott begna- 
digt; nicht ‚durch Werke und eigene Leiftungen, fondern 
umfonft durch die freie Gnade Gottes wird der Menfch, der fich 
ihr Hingibt, vor Gott gerecht, wodurch zugleich alle Selbſt⸗ 
erhbebung ausgefchloffen ift (Röm,. 3, 31 ff.). Indem das 
mofaifche Geſetz, dem er. mit Ehrifto geftorben ift, ven Glaͤu⸗ 
bigen nicht mehr verbinden kann (Röm. 7, 1 ff), indem 
namentlich Durch das ewige und vollgültige Opfer Chrifti der 
jüdifche Opfer- und SBriefterdienft aufgehoben ift (Hebr.), ift 
die Scheidewand gefallen, welche Juden und Heiden trennte: 
dieſe, fonft fern und fremd der Theofratie, 'gottverlaffen und 
hoffnungslos in der Welt, find zur Theilnahme an dem neuen 
Gottesbunde herbeigerufen, und ihnen freier Zutritt zum väter: 
lichen Gott verfehafft worden; fo daß nunmehr Die beiden, 
fonft feindlich getrennten Theile der Menfchheit in. Frieden mit 
einander Glieder am Leibe Chrifti, am geiftigen Bau feiner 
Gemeinde find (Eph. 2, 11 ff.). Jener rechtfertigende Glaube 
an den Tod Ehrifti aber ift weſentlich zugleich ein geiftiges 
mit ihm Sterben, nämlich ein Abfterben der Sünde, und wie 
Ehriftus aus dem Tode zu neuem unfterblichem Leben aufer- 
ftanden ift: fo foll auch der an ihn Gläubige aus dem Tod 
der Sünde zu einem neuen Leben der Gerechtigkeit und Hei⸗ 
ligkeit auferftehen, den alten Menfchen abthun, und einen 
neuen anziehen (Röm. 6, 1 ff). Dazu fteht ihm Chriftus 
ſelbſt mit feinem Geifte bei, ‚welcher diejenigen, die er befeelt, 
mit geiftigem Streben erfüllt, und immer mehr von der Knecht⸗ 
- fchaft der Sünde frei macht (Rom. 8, 1 ff). Ja nicht bloß 
geiftig jest, fondern einft auch leiblich, werben diejenigen, in 
welchen der Geiſt Chrifti wohnt, durch ihn belebt, indem Gott 
durch Chriftum am Ende diefes Weltlaufs ihre Leiber aufer- 
weden wird, ‚wie er den Leib Ehrifti auferweckt hat (Roͤm. 5, 





Schlußabhandlung. $. 145 669 


11). Ghriftus, den die Bande des Todes und der Unterwelt 
nicht halten fonnten (A. G. 2, 24.), hat beide auch für ung 
befiegt, und den Gläubigen die Furcht vor dieſen höchften 
Mächten der Endlichfeit benommen. (Röm. 8, 38 f. 1. Ker. 
15, 55 ff. Hebr. 2, 14 f.). Seine Auferweckung, wie fie 
feinem Tod erft die verföhnende Kraft verleiht (Röm. 4, 25.% 
fo ift fie zugleich die Bürgfchaft unferer eigenen Fünftigen Auf—⸗ 
erftehung,, unferes Antheild an Chrifto in einem Tünftigen 
Leben, in feinem mefitanifchen Reiche, zu deſſen Seligfeit er. bei 
feiner Wiederfunft alle die Seinigen einführen wird (1 Kor. 
15.). Inzwiſchen aber dürfen wir uns getröften, an ibm einen 
Sürfprecher bei Gott zu haben, der .aus eigener Erfahrung von 
der Schwäche und Gebrechlichkeit der Menfchennatur , die er. 
“ felbit angezogen hatte, und in der er in allen Stüden verfucht 
wurde, doch ohne Sünde, weiß, wie vieler Nachficht und Nach- 
hülfe wir bebürfen (Hebr. 2, 17 f. 4, 15 f.). 


Den Reichthum deflen, was der Glaube an Ehrifto hatte, 
in beflimmte Formeln zufammenzufafien, war feinen Anhängern 
fchon - frühe Bedürfniß. Sie priefen ihn als Xo150g 0 ano- 
Im, uchlov de xal Eysotels, 05 nal Esw Ev defik TE Ies, 
ds zal Evruyyavaı Urtg nur (MRöm. 8, 34.); oder genauer hieß 
er T. X. 6 Kvgiog, yevousvog &x orieguaros Aavid xura 0ap- 
xu, 0gwelg viog Fed Ev Övvausı xora Tweuua ayıwauyng EE 
Wasagewg vergev (Röm. 1, 3 f.), und ald das OuoAoyausvug 
ueya TG EVoeßslag uvcnoro⸗ wurden die Wahrheiten hinge⸗ 
ſtellt: Reoo —— &v Gœqoxꝭ, edinausdn € Ev TIVEULGETL, Oper 
ayyehong, Eemouydn & EIveow, Erusevgn & > ROH, welnpIn 
&v don (1. Tim. 3, 16.). 


Anfchließenn an Die Taufformel (Matth. 28, 19.), welche 
durch die Zufammenftellung von Vater, Sohn und Geift gleich» 
fam ein Fachwerk darbot, um den neuen Glauben in dafjelbe 
einzuordnen, bildete fich in der Kirche der erften Jahrhunderte 
bie fogenannte regula fidei aus, welche in verſchiedenen For⸗ 
men, bald fummarifcher, bald ausführlicher, populärer oder 


670 Schlußabhandinng. $. 145. 


fubtiler, ſich bei den verfchiedenen Vätern findet"), und nach ihrer 
populären Form endlich im fogenannten apoftolifchen Symbol 
zur Ruhe kam, welches, in der Geftalt, in welcher es auch 
von der evangelifchen Kirche aufgenommen worden tft, im 
zweiten, ausführlichften, Artikel vom Sohn folgende Glaubens- 
momente hervorhebt: et (credo) in Jesum Christum, filium 
ejus (Dei patris) unicum, Dominum nostrum; qui con- 
eeptus est de spiritu sancto, matus ex Maria virgine; 
passus sub Pontio Pilato, crucifixus, mortuus et sepul- 
tus, descendit ad inferna; tertia die resurrexit a mor- 
tuis, ascendit ad coelos, sedet ad dextram Dei patris om- 
nipotentis; inde venturus est, judicare vivos et mortuos. 

Neben diefer volfsmäßigen Form des Glaubensbekennt⸗ 
niffes in Bezug auf Chriftum ging aber zugleich die Ausbil: 
dung einer fehärferen theologifchen Faſſung deſſelben ber, vers 
anlaßt durch die Differenzen und Streitigfeiten, welche fich 
frühzeitig über einzelne Punkte deſſelben hervorthaten. Das 
Grundthema des chriftlichen Glaubens, das: 0 Aoyog Gags 
Ey&vero, oder: FE0g EpyavegwIrn Ev Vapxl, war von allen Seiten 
gefährvet, indem bald die Gottheit, bald die Menfchheit, bald 
die wahre Vereinigung beider in Anfprucy genommen wurde. 

Diejenigen zwar, welche, wie die Ebioniten, die Gottheit, 
‚oder, wie die bofetifchen Gnoftifer, die Menfchheit Ehrifti durch⸗ 
aus aufhoben, fehloffen ſich zu entfchieven von der chriftlichen 
Gemeinfchaft aus, welche ihrerfeitS den Grundſatz feithielt: daß 
2dsı T0v ueolvıp Jed Te zul wIgwnwv dia ldiag TIE0g Exoreges 
olxcioemcocç eis Yıllav xal Ou0voLw TEg auportgag Ovvayayeiv, 
xal He uEv Tapasjocı Tov wIgwroV, awIgwrog de yrwgioaı 
109 Jew”). Aber wenn etwa bloß die Vollftändigfeit der einen 
oder ber andern Natur geläugnet wurde; wenn Artus wohl 


') Iren. adv. haer. 1, 10. Tertull. de praeser. haer. 13. adv. 
„Prax. 2, de veland. virg 1. Orig. de principp. provem. 4. 


2) Iron. adv. haer. 3. 18. 7. 





Schlußabhandlung. $. 148. 671 


ein göttliche, aber gefchaffenes und dem höchften Gott unters 
geordnete Weſen in Ehrifto Menfch geworden fein ließ, wenn 
derfelbe Chrifto zwar einen menfchlichen Leib zufchrieb, in wel: 
chem aber die Stelle der Seele eben jened höhere Wefen ein- 
genommen habe, und Apollinaris außer dem Leib auch noch 
die Seele Jeſu wahrhaft menfchlich fein, und nur an die Stelle 
des dritten Princips im Menfchen, des v85, das göttliche‘ We- 
fen treten ließ: fo konnte ſolchen Anfichten frhon eher ein Schein 
des Ehriftlichen gegeben werden. Dennody wies Das Bewußt⸗ 
fein der Kirche fowohl die arianifche Vorftelung von einem in 
Jeſu Menſch gewordnen Untergott neben andern minder ‚wer 
fentlichen Gründen auch deßwegen zurüd, weil auf diefe Weife 
in Ehrifto nicht das anſchaubare Ebenbild der Gottheit erfchie- 
nen wäre9); als die arianifch - apollinariftifche von einer der 
menfchlichen Yuyn ober des menfchlichen »ög ermangelnden 
Menfchennatur Ehrifti unter Anderem aus dem Grunde, weil 
nur durch die Vereinigung mit einer ganzen und vollftändigen 
Menfchennatur diefe nach allen Theilen habe erlöst werden 
fönnen ®). 

Doch es Fonnte nicht bloß Die eine oder andere Seite im 
Weſen Chrifti zurüdgeftellt, fonvdern auch in Bezug auf ihre 
Vereinigung mit ihm, ‘und zwar wieder auf entgegengefeßte 
Weife, gefehlt werden. Die andächtige Begeifterung Vieler 
glaubte, das neugefehlungene Band zwifchen Himmel und Erde 
nicht eng genug zufammenziehen zu können, in Chriſto wollten 
fie Gottheit und Menfchheit nicht mehr unterfcheiven, und er- 
fannten in ihm, wie er al8 Eine Perfon erfchienen war, auch 
nur Eine Natur, die des fleifehgewordenen Gottesfohnes, an. 
Der Befonnenheit Anderer war eine folche Vermifchung des 
Göttlichen und Menfchlichen anftößig, es fchien ihnen frevel- 
baft, zu fagen, daß eine menfchliche Mutter Gott geboren habe: 


.——— — — — 


5) Athanas. contra Arianos orat. 2, 33. 
%) Gregor. Naz. Or. 51. p. 740. B.: ro yao anuadınrov aIsgensuror- 


« r [4 - - ⁊ LAD — 
o ds nymra rm Her, TRTO xt OWLsra, 


- 


672 Schlußabhandlung. $. 145. 


nur den Menfchen habe fie geboren, welchen ſich ver Sohn 
Gottes zum Tempel auserwählt hatte, und es feien in Ehrifto 
zwei Naturen zwar ver Verehrung nach verfnüpft, aber dem 
Weſen nad) noch immer verfchieden. Der Kirche fchien auf 
beive Weife das Myſterium der Menfchwerbung gefährdet: 
wurden beive Naturen bleibend getrennt gehalten, fo war bie 
Bereinigung des Göttlichen und Menfchlichen, der innerite Le- 
benspunft des Chriftenihums, zeritört; wurde eine Vermifchung 
angenommen, fp war feine von beiden Naturen ald folche einer 
Bereinigung mit der andern fähig,. fomit gleichfalls Feine wahre 
Einheit beider erreicht. Beide Meinungen wurden daher, vie letz⸗ 
tere in Eutyches, für die erftere nicht ebenfo mit Recht Neſt o⸗ 
rius, verdammt, und nachdem ſchon im nicänifchen Symbol die 
wahre Gottheit Chrifti feftgefeßt worden war, nunmehr im chal⸗ 
cedonenſiſchen auch ſeine wahre und vollſtaͤndige Menſchheit, und 
die Vereinigung beider Naturen in Einer unzertrennten Perſon, 
feſtgeſtellt). Und als ſich fpäter über den Willen in Chriſto 
eine ähnliche Differenz hervorftellte, wie über feine Natur: fo 
wurde auf dieſelbe Weife entfchieden, daß in Chriſto ala dem 
Gottmenfchen zwei unterfchiedene. Willen, aber nicht uneins, 


9) — Eva zel Tov, auror oyoloyeiv viov Toy zugiov Yu ’I. X. avupavos 
änavres Exdıdaoxouer, Teisıoy Tov aurov Ev Heoryti, zaı Telswr Toy 
aurov &v avdonnoryrı, Feov alydek zo Aydgwrov alydeis Tor avror 
&x yuzis doyızig xal, —— oão:o⸗ To narot xara em Yeorıra, 
ze OMOBCy TOv aurov a⸗ zarte ⁊ —— xor Navra öpowoy 
nuiv Zuweis Guaprias, ng0 alurwv ev Ex Ta Taroos yevınderta zara 
mir seörnra, En’ Eoyaruv de Tür 'juepür Tov aurov di Nuas zar din 
Tv nuersgavy owrnolev Ex Moglas Ts nagdevs tx Feoroxe zara iur 
drdgundryre, Eva za Tov aurov Xgıcsor, vior, xugioy, ovoyeriy, £X duo 
ꝙuotcov dauy rurus, drgemtun, adımperws, a —R yragılöueron da un 
T% TWv yuoewv Öuapopis avynonuevrg dia rıv Fvuoıy, awlouevns de ‚nallov 
rs ldiwrnrog Fxarepaz puoeoss, za &ig Ev Toowror ci ular Undsacıy 
auvroegsong dx eis Övo ooowne negiLlöuerov 7 Ösmpsuevor, AAN Fre zo 
rov aurov viov xaı uovoysvij, Ieov 2oyorv, xugiov ’I. X. 








Schlußabhandlung. $. 145. 07% 


fondern der menfchliche dem göttlichen fich unterorpnend, anzu- 
nehmen feien®). | 

- Den Streitigfeiten über das Sein und Wefen Chriſti 
gegenüber ging die Entwidlung der andern Seite, der Lehre 
von feinem Thun und Wirken, verhältnigmäßig ftill und fried- 
lich vor fih. Die umfaſſendſte Anfchauung davon war bie, 
daß der Sohn Gottes durch Annahme der Menſchematur diefe 
geheiligt und vergöttlicht habe); wobei namentlich die Erthei⸗ 
fung ber Unfterblichkeit hervorgehoben wurbe®) ; und in ge: 
müthlicher Weile faßte man dieß Verhältniß auch fo, Gott 
habe durch den zuvorkommenden Liebesbemweid, der in der Een: 
dung feines Sohnes liege, die Menfchen auf's Fräftigfte zur 
Segenliebe erweckt). An viefer Einen großen Wirkung des 
Erfcheinens Chriſti wurden aber auch einzelne Seiten hervor- 
gekehrt: auf feine heilfame Xehre, fein erhabenes Beifpiel aufs 
merffam gemacht!), befonder6 aber auf den gewaltfamen Tod, 
ben er erbuldet hatte, Gewicht gelegt. Der Begriff der Stells 
vertretung , der fehon im RN. %. gegeben war, wurbe weiter 
ausgeführt: der Tod Yefu bald als ein Löfegeld betrachtet, 
welches er dem Teufel fin die durch die Sünde feiner Gewalt 


6) Die. fechste Ölumenifche Synode zu Eonftantinopel ſetzte feſt: duo yunıza 
Ielnuara 84 ünsvavrla, — all Enduevov To av)ewnıyov avrk Jelnua 
— zul Unoraooousvoy ro Jelın auıs xaı navaderei Felnuarı. 

?) Athanas. de incam. 54: aurd; InpIownyoev, iva Aueis Heonomdduer. 

Greg. Nyt. Orat. cass. 35: Tore Te zereulydn neo To Ieiov, iva ro 
nuezepov vi eos To Heiov ErmmSia yeynraı Ieior. . Joaun. Damasc. de. 
f. orth. 3,205 navra arelaßer (Te adupinre nasn Ta avdawne 0 X.) 
iva navra dyınoy. Nach Gregor. Naz. or. 2, 23 f. Hilar. Pictav, 
de trin, 2, 24: humani generis causa Dei filius natus ex vir- 
Bine est — ut homo factus ex virgine naturam in se caımis 
acciperet, perque hujus admixtionis societatem sanetiflcatum im 
eo universi generis humani corpus existeret. Andere Aeußerungen 
dev Art f. bei Muͤnſcher, Dogmengeſch., herausgegeben von Coͤlln, 
1, $. 97. Anm. 10. WB 

8) ©. bei Muͤnſcher, $. 96, Anm. 5. ©. 423 f. 

9) Augustin. de catechiz. rudib. 7. 

10) ©, Münfder, $. 96. 
1. Band. . 43 


[0 


n 


674 Schlußabhandliung. $. 148. 


verfallene Menfchheit gegeben habe; bald follte Gott dadurch 
die Schuld abgetragen, und er in den Stand gefeßt worden 
fein, unbefchadet feiner Wahrhaftigfeit die der Sünde gedroh⸗ 
ten Strafen der Menfchheit zu erlaffen, weil Chriftus fie auf 
ſich genommen hatte!!). Diefe legtere Vorſtellung wurde durch 
Anfelm in feiner Schrift: Cur Deus homo, zu der bekann⸗ 
ten Satiefactionstheorie ausgebildet, durch welche zugleich die 
Lehre von dem Erlöfungsgefchäfte Chrifti mit der von feiner 
Berfon in die engfte Verbindung gefegt wurde. Der Menfch 
ift Gott vollftändigen Gehorfam ſchuldig; der Sünder aber — 
und dieß find alle Menſchen — entzieht Gott die fchuldige 
Leiftung und Ehre. Da nun Gott eine Beleivigung feiner 
Ehre vermöge feiner Gerechtigfeit nicht dulden kann: fo muß 
entweber der Menfch freiwillig Gott wiedergeben, was Gottes 
it, ja zur Genugthuung ihm noch mehr leiften, als er ihm 
entzogen hat; oder muß Gott dem Menfchen mit Gewalt neh⸗ 
men, was des Menfchen ift, d. h. die Glüdfeligfeit, zu ver 
er geſchaffen ifi, ihm zur Strafe entziehen. Jenes zu thun ift 
der Menſch nicht im Stande; denn da er alled Gute, was er 
thun kann, Gott fchuldig ift, um nicht in Sünde zu verfallen, 
fo fann er nichts Gutes übrig haben, um durch diefen Ueber⸗ 
fhuß die begangene Sünde zu decken. Daß andrerfeits Gott 
durch ewige Strafen ſich Genugthuung verfchaffe, dagegen ift 
feine unveränderliche Güte, kraft welcher er den zur Seligkeit 
beftimmten Menfchen auch wirklich zu biefer führen will. Dieß 
fann Aber vermöge der göttlichen Gerechtigkeit nicht gefchehen, 
wenn nicht Genugthuung für den Menfchen geleiftet, und nad 
Maßgabe deſſen, was Gott entzogen worden ift, ihm etwas 
gegeben wird, das größer ift, als Alles außer Gott. Dieß 
aber ift nur Gott felbft, und da andrerfeits für den Menfchen 
nur der Menfch gemugthun fann: fo muß ed ein Gottmenfch 
fein, der die Genugthuung leiftet. Diefe fann näher nicht in 


)_Daf. 6. 97. 








un - = N vn —— — — — — — — 


Schlußabhandlung. $. 146. 675 


thätigem Gehorſam, in fündloſem Leben beſtehen, weil dieß 
jedes vernünftige Weſen Gott für ſich ſelbſt ſchon ſchuldig iſt; 
aber den Tod, der Sünden Sold, auf ſich zu nehmen, iſt der 
Sündlofe nicht ſchuldig, und beſteht alfo die Genugthuung für 
die Sünde der Menfchen im Tode des Gottmenfchen,, deſſen 
Belohnung, weil er. ald Eins mit Gott nicht felbft belohnt 
werden kann, der Menfchheit zu Gute fommt. 

Diefes altfirchliche Lehriyftem über die PBerfon und Thaͤ⸗ 
tigfeit Chrifti ging auch in die Bekenntnißſchriften der luthert- 
ſchen Kirche über, und wurde von den Theologen berfelben 
noch fünftlicher ausgebildet 3). Die Berfon Ehrifti betreffend, 
wurde an der Vereinigung der göttlichen und menfchlichen Nas 
tur in Einer Berfon feftgehalten: im Acte derfelben, der uni- 
tio personalis, welche mit der Empfängnig zufammenfiel, war 
ed die göttliche Natur des Sohnes Gottes, welche die menfch- 
liche in die Einheit ihrer Perfönlichkeit aufnahm ; der Zuſtand 
des Vereinigtſeins, Die unio personalis, follte weder eine we⸗ 
fentliche, noch auch bloß eine acciventelle, auch Feine myſtiſche, 
oder moralifhe, am wenigften eine nur verbale, fondern eine 
reale und übernatürliche, ihrer Dauer nad aber eine ewige 
Bereinigung fein. Vermöge viefer Verbindung mit der gött- 
lichen kommen der menfchlichen Natur in Ehrifto gewifle eigen- 
thümliche Vorzüge zu: namentlich, was zunähft als Mangel 
erfcheint, für ſich unperfönlich zu fein, und nur in ber Bers 
einigung mit der göttlichen Natur Berfönlichfeit zu haben; fer- 
ner Sünbdlofigfeit, und die Möglichkeit, nicht zu ſterben. Doch 
außer diefen eigenthümlichen, hat die menfchliche Natur Ehrifti 
in ihrer Vereinigung mit der göttlichen auch gewiffe von dieſer 
geliehene Vorzüge. Das Verhältniß der beiden Naturen iſt 


— — 





12) Vol. Form. Coneord., Epit. und Sol. decl. VIII. p. 605 ff. und 
761 ff. ed. Haſe. Ehemniz, de duabus naturis in Christo 
libellus, und loci theol., loc. 2, de filio; Gerhard, II. th. 3, 
p. 640 ff. (ed. 1615.); Quenftedt, theol.: didact. polem. P. >. 
ce. 3. Bgl. de Wette, bibl. Dogm. $. 64 ff. 

. 43 * 


676 Schlußabhandlung. $. 145. 


nämlich nicht ein kodtes und Anußerliches, fondern eine gegen- 
ſeitige Durdpbringung, eeizwenois; nicht die Verbindung 
zweier yufammengeleimten Bretter, fondern wie yon Feuer und 
Metall im glühenden Etfen, oder wie im Menſchen von Leib 
und Seele. Diefe communio naturarum äußert fih ale 
communticatio Idiomatum, fraft welcher die menfchliche Na⸗ 
tur an den Vorzuͤgen der göttlichen, die göttliche an den die 
Erlöfung betreffenden Thätigfeiten der menfchlihen Theil nimmt. 
Diefed Verhältniß fpricht fih in den propositionibus perso- 
malibus und ädiomatieis aus; jenes Säbe, in welchen das 
&entretum der einen Natur, d. h. die eine Natur, fofern fie 
in der Berfon Ehrifti begriffen if, bon dem der andern präbi- 
citt wird, wie 1. Kor. 15,47. : der sweite Adam iſt der Sohn 
des Höochſten; dieſes Säge, in welchen theils Befkimmungen der 
einen oder andern Natur auf die ganze Berfon (genus idie- 
matieum), theild Tchätigfeiten der ganzen Perſon auf die eine 
oder andere Ratur (gemas apotelesmaticum), theil® endlich 
Attrödute der einen Natur auf vie andere übergetragen wer⸗ 
den, was aber nur von der göttlichen anf Die menſchliche, nicht 
umgefehrt, möglich ift (genus auchematicum). 
In der Bewegung feiner PBerfon mit ihren zwei Raturen 
dur die verfchiedenen Momente des Erlsſungswerkes hat 
Chriſtus nach dem an Phil. 2, 6 ff. anſchließenden Ausdruck 
der Dogmatiter einen zweifachen Zuſtand, statum exinanitio- 
nis und exaltationis, durchlaufen. Sofern feine menfchliche 
Natur in ihrer Vereinigung mit der göttlichen gleich bei der 
Empfängnis in den Mithefig göttlicher Eigenfchaften kam, aber 
von diefen während feines Erdenlebens feinen zufammenhäns 
genden Gebrauch machte, fo wird dieſes irbifche Leben Jefu 
bi8 zum Tod und Begräbniß ald ein Stand der Ernievrigung 
mit verfchiedenen Stationen betrachtet, wogegen mit ber Auf⸗ 
erftehung, ober ſchon mit der Höllenfahrt, der Stand der Er- 
höhung eintrat, welcher mit der sessio ad dextram patris 
feine Vollendung erreichte. 

Was das Merk Chriſti betrifft, fo fchreibt ihm bie. Dog- 





Schlußabhandlung. $. 146. 077 


matif unferer Kirche ein dreifaches Amt zu. Als Prophet hat 
er die höchſte Wahrheit, den göttlichen Erlöfungsrathfchluß, 
unter Bekräftigung durch Wunder, der Menfchheit geoffenbert, 
und ift für deren Verfündigung noch immer beforgt; als Ho⸗ 
herpriefter bat er theils in feinem unfträflichen Wandel das 
Gefeg an unferer Statt erfüllt (obedientia aetiva), theils in . 
feinem Leiden und Tod die Strafe getragen, Die und gebährte 
(obedientia passiva), und vertritt und nun fortwährend bei 
dem Vater; als König endlich regiert er die Welt und inabe- 
fondere die Kirche, welche er aus den Kämpfen der Erbe zur 
Herrlichkeit des Himmels, führen, und. durch Auferkehung und 
Weltgericht vollenden wird.. 


$. 146. 
Beſtreitung ber Wiechlichen Lehre von Chriſto. 


In der Lehre von ber Perſon Ehrifti gingen ſchon die 
Reformirten nicht fo weit wie die Lutheraner mit, indem fie 
deren letzte, kühnſte Folgerung aus der Bereinigung des Gött- 
lichen und Menfchlichen in ihr, die communicatio idiomatum, . 
nicht zugaben. Die Iutherifhen Dogmatifer felbit ließen die 
Eigenfchaften der menfchlichen Natur fich nicht an die göttliche, 
und von dieſer wenigftens nicht alle Eigenfchaften, wie z. B. 
nicht die Ewigfeit, an die menfchliche fich mittheilen); was 
die Reformirten zu der Einmendung veranlaßte: die Mittheis 
fung der Eigenfchaften müffe eine gegenfeitige und vollftändige 
fein, ober fei fie gar feine; übrigens werde auch fihon Durch 
die bloß einfeitige Mittheilung von Eigenfchaften einer unend- 
lichen Natur an eine endliche diefe nicht minder in ihrem We⸗ 
fen aufgehoben, als jene, wenn fie von diefer Eigenfchaften 


1) ©. die bem locus de pers. et offic. Chr. angehängte Oratio bei 
Gerhard, a. a. DO. p. 719 ff. 


678 € chlußabhandlung $. 146. 


annehmen müßte?). Wenn ſich hiegegen die lutheriſchen Dog⸗ 
matiker dadurch zu decken ſuchten, daß ſie die eine Natur die 


Eigenſchaften der andern nur fo weit mitbefigen ließen, uti 


per suam indolem potest?): fo war hiedurch die commu- 
nicatio idiomatum in der That aufgehoben, wie fie denn 
auch felbft von den orthodoren Dogmatifern nach Reinhard 
faft durchaus aufgegeben worden ift. 

Aber auch die einfache Wurzel dieſes verwidelten Idio⸗ 
mentaufches, die Vereinigung der göttlichen und menfchlichen 
Natur zu Einer PBerfon, traf der Widerſpruch. Schon die 
Socinianer läugneten fie, weil zwei Naturen, deren jede für 
ſich fehon eine Berfon ausmache, zumal wenn ihnen fo ents 
gegengefegte Eigenfchaften zukommen, wie hier die eine unſterb⸗ 
lich, die andere fterblich, die eine anfangslos, die andere ent» 
ftanden fein. fole, ſich nicht zu einer Perſon vereinigen koͤn⸗ 
nen®); und ihnen flimmen die Rationaliften bei, indem fie 
noch beſonders hervorheben, theils daß die Firchlichen Formeln, 
durch welche jene Bereinigung beftimmt werben folle, faft 
durchaus nur verneinend feien, und die Sache nicht anfchau= 
lich machen, theild daß an einem &hriftus, der mit Hülfe einer 
inwohnenden göttlichen Natur dem Böfen wiberftanden und fich 


— 


2) S. Gerhard, I. th. 1, p. 685 ff.; Marheineke, Instit. 
aymb, $. 71 f. 

2) Reinhard, Borlef. über die Dogm., ©. 354. Gemäß dem von 
den NReformirten gegen bie Zutheraner geltend gemachten Grundfaße: 
NuHa natura in se ipsam recipit contradictoria, Pland, Geld. 
des proteft. Lehrbegriffe, Bd. 6, S. 782. 

Fausti Socini de Christi natura disputatio. Opp. Bibl. Fr. 
Pol. 1, p. 7845 Catech. Racov. Q. 96 ff. PBgl. Marheinete, 
instit. symb. $. 96. Auch Spinoza, ep. 21. ad Oldenburg. Opp. 
ed. Gfrörer, p. 556, fagt: Quod quaedam ecclesiae his ad- 
dunt, quod Deus naturam humanam assumpserit, monui expresse, 
mie, quid dicant, nescire; imo, ut verum fatear, non minus 
abaurde mihi loqui videntur, quam si quis mihi diveret, quod 
eirculus naturam quadrati induerit. 


a 


et 














Schlußabhandlung. g. 116. 679 


ohne Sünde erhalten hätte, der von folcher Hülfe verlaffene 
Menfch Fein wahrhaftes Vorbild haben könnte). 

Das Wefentliche und Haltbare der rationaliftifchen Ein» 
würfe gegen diefe Lehre hat am fchärfften Schleiermacher 
zufammengeftellt, und- auch hierin, wie in vielen Stüden, bie 
negative Kritif des Firchlichen Dogma zum Abfchluß geführt‘). 
Bor Allem findet er bedenklich, daß durch den Ausdrud: goͤtt⸗ 
liche und menfchliche Natur, Göttliches und Menfchliches unter 
eine Kategorie geftellt werde, und zwar unter die Kategorie 
von Natur; was Doch wefentlich nur ein befchränftes, im Ge⸗ 
genfaß begriffenes Sein bedeute. Dann aber, ftatt daß fonft 
Eine Natur vielen Einzelmefen oder Perſonen gemeinfam- fei, 
folle hier umgefehrt Eine Berfon an zwei verfchiedenen Natu⸗ 
ren Theil haben. Sei nun Perfon eine ftetige Lebenseinheit, 
Natur aber der Inbegriff von Geſetzen, nad welchen die Le 
benszuftände fich verlaufen: fo fei nicht zu begreifen, wie zwei 
durchaus verfchiedene Syſteme von Lebenszuftänden in Einen 
Mittelpunkt zufammenlaufen fönnen. Befonders Har wird nad) 
Schleiermacher dieſe Undenkbarkeit in der Behauptung 
eines zweifachen Willens in Chrifto, welchem man folgerichtig 
‚auch einen doppelten Verftand zur Seite ftellen müßte,. wobei 
dann, wie Berftand und Wille die Perfönlichkeit ausmachen, 


5) (Röhre) Briefe über den Nationalismus, S. 378.5 Wegſcheider, 
Inst. theol. $. 1285 Bretfchneider, Handb. ber Dogm. 2. $. 
137 f.; auh Kant, Relig. innerhalb der Graͤnzen der bloßen Ver: 
nunft, 2tes Stuͤck, 2ter Abſchn. b.). 

6, Glaubenslehre, 2, $$. 96—98. — Indem ich diefe Schleiermacher'⸗ 
[he Kritik als volllommen berechtigt anerkenne, ftelle ich mich in bires 
.cten Widerfprud mit dem Urtheil von Roſenkranz, weldher (Jahrb. 
für wiſſ. Kritik, 1831. Dec. ©. .935—41.) „feinen Unwillen nicht zu: 
rüchalten Tann über die theologiſch feichte und philologiſch kleinlichte 
Manier, mit welher Schleiermacher in diefem Lehrſtuͤck das Haupt: 
dogma bes dhriftlihen Glaubens von ber Menfchwerbung Gottes zu 
untergraben fucht.” Die‘ Verwechslung, auf welder diefes Urtheil bes 
ruht, wird fich weiter unten von felhft aufdecken. , 


689 | Schlußabhandlung. $. 146. 


die Zerfpaltung Chriſti in zwei Perfonen entichieben wäre. 
Zwar follen die beiden Willen immer baffelbe wollen: allein 
theils gibt dieß nur moralifche, nicht perfönliche Einheit, theils 
iſt ed von göftlichem und menſchlichem Willen nicht einmal 
möglich, indem ein menfchlicher Wille, der wejentlich. nur Ein- 
zelnes und Eines um des Andern willen will, mit einem gött- 
lichen, deſſen Gegenftand das Ganze in feiner Entwidlung ift, 
fo wenig das Gleiche wollen kann, als ein discurfiver menfch- 
licher Berftand mit dem intuitiven göttlichen daſſelbe denken; 
woraus zugleich von felbft hervorgeht, daß eine Mittheilung 
der Eigenfchaften. zwifchen den beiden Naturen fich nicht an- 
nehmen läßt. 

Einer ähnlichen Kritik entging auch Die Lehre von ber 
Thätigfeit Ehrifti nicht. Abgefehen von dem, was in formel- 
ker Hinficht gegen die Eintheilung berjelben in die drei Aemter 
eingewendet wurde, waren es im prophetifchen bauptfächlich 
die Begriffe von Offenbarung und Wunder, die man in 
Anſpruch nahm, weil fie weder objertiv mit richtigen Vorftellun- 
‚gen von Gott und Welt in ihrem gegenfeitigen Verhaͤltniß, 
noch ſubjectiv mit den Gejegen des menfchlichen Erfenntniß- 
vermögens fich zu vertragen fchienen. Unmoͤglich Tönne der, 
vollfommene Gott eine Natur gefchaffen haben, die von Zeit 
zu Zeit einer außerordentlichen Nachhülfe des Schöpfers be= 
dürfte, noch insbefondere eine menfchliche Natur, die nicht durch 
Entfaltung ihrer mitgegebgnen Anlagen ihre Beftimmung zu 
erreichen vermöchte; unmöglich könne der Unveraͤnderliche bald 
auf diefe, bald auf jene Weife, das einemal mittelbar, Das 
anderemal unmittelbar,. auf die Welt einwirken, fondern immer 
nur auf die gleiche, nämlich an fih und auf dad Ganze un- 
mittelbar, für uns aber und auf das Einzelne mittelbar. Eine 
Unterbrechung des Naturzufammenhangs und der Entwidlung 
der Menfchheit durch unmittelbare Eingreifen Gottes anzu 
nehmen, hieße allem vernünftigen Denfen entfagen; im eingel- 
nen Ball aber fei eine Offenbarung und Wunder als folche 
nicht einmal zuverläßig zu erfennen, weil, um ficher zu fein, 








—— — X — * an, Be 3 a WG — — u — — —- 


Schlußabhandlung. $. 140. j 681 


daß gewiſſe Erfcheinungen nicht aus den Kräften der Natur 
und den Anlagen des menfchlichen Geiſtes hervorgegangen 
feien, eine vollftändige Kenntniß von diefen, und wie weit 
fie reichen, erfordert würde, deren der Menfch fich nicht rũh— 
men kann.)) 


Doch der Hauptanſtoß wurde an dem hohenprieſerlichen 
Amte Jeſu, an der Lehre von der Verſöhnung, genommen. 
Zunächſt war es die anthropopathiſche Färbung, welche dem 
Verhältniß Gottes zur Sünde der Menſchen im Anſelmiſchen 
Syſtem gegeben war, was Einwürfe hervorrufen mußte. Wie 
es dem Menfchen wohl anftehe, Beleidigungen ohne Rache zu 
verzeihen: fo, meinte Socin, koͤnne auch Gott.ohne Genug: 
thuung die Beleidigungen, welche ihm die Menfchen durch ihre 
Sünden zufügen, vergeben.3) Diefer Einwurf wurde von 
Hugo Grotius durch die Wendung befeitigt, daß nicht gleich- 
fam in Folge perfönlicher Beleidigung, fondern um die Ords 
nung der moralifchen Welt unverlegt zu erhalten, oder vermöge 
feiner justitia rectoria, Gott die Sünden nicht ohne Genug- 
thuung vergeben Tönne.”) Indeß, die Nothmwendigfeit einer 
Genugthuung auch zugegeben, fehien doch der Tod Jefu eine 
folche nicht fein zu fönnen. Während Anfelm, und no 
entfchiedener Thomas von Aquino, 10) von einer satisfactiv 
superabundans fprachen, läugnete Socin, daß Ehriftus au 
nur gleichviel Strafe getragen habe, ald die Menfchen verdient 
hätten; denn die Menfchen hätten, jeder einzelne, ven ewigen 
Tod verdient, folglich hätten ebenfoviele Stellvertreter als 


— ç er—e“nß — — — 


?) Spinoza, tract. theol. polit. c. 6. p. 133. und ep. 23. ad Ol- 
denburg. p. 558 f. Briefe über den Rat., Ater, Ster, 6ter, 12ter. 
Wegfheider, 88. 11, 12. Schleiermacher, $$. 14. 47. 

8) Praelect. theol. c. 15. 


9) In dem Werk: defensio fidei cath. de satisfactione Chr. adv. F. 


Socinum. 
1%) Summa, P. 3. Q. 48. A. 2. 





. 682 Schlußabhandlung. $. 146. 


Sünder den ewigen Tod erleiden müflen: wogegen nun ber 
einzige Chriftus bloß den zeitlichen Tod, überdieß als Eingang 
zur höchften Herrlichkeit, erbuldet habe, und zwar nicht mit 
feiner göttlichen Natur, daß man fagen könnte, dieſes Leiden 
habe unendlichen Werth, fondern mit feiner menfchlichen. Wenn 
hiegegen fehon früher vem Thomas gegenüber Duns Sco- 
tus,!!) und nun wieder zwifchen den Orthodoren und den, 
. GSoeinianern Grotius und die Arminianer den Ausweg er 

griffen, an fich zwar fei Chrifti Verdienſt endlich gewefen, wie 
das Subject deffelben, feine menfchliche Natur, und daher zur 
Genugthuung für die Sünden der Welt unzureichend, aber 
Bott habe ed aus freier Gnade für zureichend acceptirt: fo 
folgte aus der Einräumung, daß Gott mit unzulänglicher Ges 
nugthuung fih begnügen, aljo einen Theil der Schuld ohne 
Genugthuung vergeben koͤnne, nothwendig, daß er auch bie 
ganze fo zu vergeben im Stande fein müflee Doc auch abs 
gefehen von allen dieſen näheren Beſtimmungen wurde bie 
Grundvorftelung felbft, daß Jemand für Andere Sündenftrafen 
auf fich nehmen koͤnne, als eine rohe Uebertragung niedrigerer 
Verhältniffe auf höhere angegriffen. Sittliche Verſchuldungen 
feien Feine transmijfibeln Berbindlichkeiten, e8 verhalte fich mit 
ihnen nicht, wie mit Geldſchulden, wo e8 dem Gläubiger gleich. 
gültig ift, wer fie bezahlt, wenn fie nur überhaupt bezahlt 
werden; der Sündenftrafe fei es vielmehr wefentlich, eben nur 
über den verhängt zu werden, der fich ihrer fehuldig gemacht 
bat.) Kann hienach der fogenannte leidende Gehorfam Ehrifti 
fein ftellvertretender gewefen fein: fo noch weniger der thätige, 


da er diefen ald Menſch für fich felbft fchon zu leiften ſchuldig 
war. !3) 


— — — — — 


11) Comm. in Sentt. L. 3. Dist. 19. 

12) ©. außer Socin befonders Kant, Relig. innerhalb der Gränzen dre 
bloßen Vernunft, 2te8 Stüd, ıter Abfchn., c). 

16) Zöllner, der thätige Gehorfam Ehriſti unterfucht. 1768. 











Schlußabhandlung. $. 147. 683 


In Betreff des Töniglichen Amtes Chrifti trat die Hoffnung 
auf feine einftige Wiederfunft zum Gericht im Bewußtfein der 
Gemeinde in dem Maaße zurüd, ald die Anficht von einer 
gleich nady dem Tode jedes Einzelnen vollftändig eintretenden 
Bergeltung erftarfte, wodurch jener allgemeine Gerichtöact als 
überflüffig erfcheinen mußte. 1%) 


$. 147. 
Die Chriftologie des Rationalismub. 


An die Stelle des Firdlichen Dogma von Chriftus, feiner 
Berfon und feiner Wirkfamfeit, welches fie als in ſich wider⸗ 
ſprechendes, nuglofes, ja der wahren moraliſchen Religiofität 
Ichädliches verwarfen, festen nun die Rationaliften eine Lehre, 
welche, mit Vermeidung jener Widerfprüche, Jeſum doch noch 
als eine in gewiffem Sinne ‚göttliche Erfcheinung fefthalten, ja, 
recht erwogen, ihn weit erhabener hinſtellen, und dabei die 
fräftigften Antriebe zu praftifcher Srömmigfeit enthalten follte. ') 

Ein göttlicher Gefandter, ein befonderer Liebling und 
Pflegling der Gottheit, follte Jeſus bleiben, fofern er durch die 
Beranftaltung der Vorfehung mit einem ausgezeichneten Maaße 
geiftiger Vorzüge ausgerüftet, unter ein Volk und in ein Zeit 
alter verfeßt, und fein Lebensgang fo geleitet wurde, wie ed 
feiner Entwidlung zu dem, was er werden follte, am günftig- 
ften war; fofern namentlich gerade diejenige Todesart über 
ihn herbeigeführt wurde, welche die Wiederbelebung, von ber 
das Gedeihen feines ganzen Werfes abhing, möglich, und Um⸗ 
jtände, welche biefelbe wirklich machten. Glaubt hiemit, auf 


) Wegfheider, $. 199. 
4) Vgl. zum Folgenden befonders die Briefe über den Rationalismus, ©. 
372 ff; Wegſcheider, 8. 128. 133. 140. 


684 Schlußabhandlung. $. 147. 


feine natürliche Begabung und feine äußeren Schidfald gefehen, 
die rationaliftifche Vorftellung von Ehrifto Hinter der orthodoxen 
nicht wefentlich zurüdzubleiben, indem er auch ihr der erha- 
benfte Menfch ift, der je auf Erden wandelte, ein Heros, in 
defien. Schidfalen fi die Vorfehung im höchften Grade ver- 
herrlicht hat: fo glaubt fie, wenn auf die innere Entwidlung 
und freie Thätigfeit Jeſu gefehen wird, die Firchliche Lehre 
wefentlich zu überbieten. Während ber Kirchliche Chriftug ein 
unfreies Automat fei, defien Menfchheit als todtes Organ des 
Göttlichen fich verhalte, fittlih vollfommen handle, weil fte 
nicht fündigen könne, und ebenveßwegen weder fittliches Vers 
dienft haben, noch Gegenftand ver Achtung und Verehrung 
fein Eönne: habe nach rationaliftifcher Anficht die Gottheit 
in Sefum nur die natürlichen Bedingungen deſſen, was er 
werden follte, gelegt, daß er e8 aber wirklich wurde, fei das 
Refultat feiner freien Selbftthätigfeit gewefen. Seine bewuns 
dernswürdige Weisheit habe er fich durch zwedimäßige Anwen⸗ 
dung feiner Verftandesfräfte und gewifisnhafte Benügung der 
ihm zu Gebot ftehenden Hülfsmittel, feine fittlide Größe durch 
eifrige Ausbildung feiner moralifchen Anlagen, Bezähmung 
“ feiner finnlihen Neigungen und Leidenfchaften, und zarte 
Folgſamkeit gegen die Stimme feines’ Gewiffens, erworben, und 
eben nur hierauf beruhe das Erhabene feiner Berfönlichkeit, das 
Ermunternde feines Borbildes. 

Die Thätigfeit Jefu anlangend, hat er ſich um die Menfch- 
heit vor Allem dadurch verdient gemacht, daß er ihr eine 
Religionslehre mittheilte, welcher um ihrer Reinheit und Treff- 
ichfeit willen mit Recht eine gewiſſe göttliche Kraft und Würde 
zugefchrieben wird, und daß er dieſe Durch das glänzende Bei⸗ 
jpiel feines eigenen Wandels auf die wirkfamfte Weife erläu- 
terte und befräftigte. Diefes prophetifche Amt Chrifti tft bei 
Eocinianern und Rationaliften der Mittelpunkt feiner Thätig- 
feit, auf welchen fie alles Andere, namentlid) was die Kirchen- 


lehre unter dem hohenpriefterlichen Amte begreift, immer wieder 


zurüdführen. Der fogenannte thuende Gchorfam hat hier 





n x „3 Der — . Am — — ⸗ — — — ur 


Schlußabhandlung. $. 147. . | 685 


ohnehin nur als Beifpiel Werth; aber auch der Tod Sefu 
folite die Sündenvergebung nur durdy Vermittlung der Befs 
ferung bewirfen, entweder fo, daß er als Befteglung feiner 
Lehre, und Vorbild aufopfernder Pflichterfüllung, den Tugend» 
eifer belebe, oder fo, daß er als Beweis der Liebe Gottes zu 
den Menfchen, feiner Geneigtheit, dem Gebefferten zu vergeben, 
den fittlihen Muth erhebe. ?) 


Wenn Ehriftus nicht mehr gemwefen ift und gethan hat, 


als diefe rationaliftifche Lehre ihn fein und thun läßt: fo fieht 


man nicht, wie die Frömmigkeit dazu kommt, ihn zu ihrem 


beſon dern Gegenſtande zu machen, und die Dogmatif, eigene 
Säge über ihn aufzuftellen.. Wirklich haben daher confequente 
Rationaliſten zugeftanden, was die orthodoxe Dogmatif Chris 
jtologie nenne, trete im ‚rationaliftifchen Syftem gar nicht als 


ein integrirender Theil deſſelben auf, da diefes Syſtem zwar 


aus einer Religion beftehe, die Chriftus gelehrt habe, nicht 
aber aus einer, deren Object er felbft wäre. Heiße Ehrifte- 
logie Mefftaslehre: fo fei diefe nur eine Hülfslehre für die 
Juden gewefen; aber auch im ebleren Sinn, als Lehre von 
dem Leben, den Thaten und Schidfalen Jeſu als göttlichen 
Gefandten, gehöre fie nicht zum Glaubenzfyftem, da allgemeine 
religiöfe Wahrheiten mit den Borftellungen über die Perſon 
deffen, der fie zuerft ausgefprochen, ebenfowenig zufammenhän- 
gen, als man in dem Syſtem der Leibnig-Wolfifchen, 


oder Kantifchen, oder Fichte’fchen und Schelling’fehen 


Philofophie als philofophifche Säge dasjenige aufftelle, was 
man von der Werfönlichfeit ihrer Urheber zu halten habe. 
Nur zur Religionsgefchichte, nicht zur Religion könne bag 
die Perſon und Wirkſamkeit Jeſu Betreffende gehören, und 
der Religionslehre nur entweder als gefchichtliche Einleitung 
vorangeſchickkt, oder als erläuternder Nachtrag beigegeben 


— — — — — 


2) S. die verſchiedenen Anſichten bei Bretſchneider, Dogm. 2, S. 
342.; ſyſtematiſche Entwicklung, $. 107. 


[4 





. 
“, 


656 Schlußabhandlung. $. 148. 


werden.) Hienach hatte ſchon Henke in feinen Lineamenten 
die Ehriftologie als felbfiftändigen Haupttheil der Dogmatif 
aufgehoben, und fie der Anthropologie als Linterabtheilung 
beigegeben. 

Hiedurch tritt nun aber der Rationalismus in offenen 
Miderftreit mit dem chriftlichen Glauben, indem er dasjenige, 
was dieſem der Mittelpunft und Edftein ift, die Lehre von 
Ehriftus, in den Hintergrund zu rüden, ja aus der Dogmatik 
zu verbannen fucht. Ebendamit aber ift auch die Unzuläng- 
lichkeit des rationaliftifchen Syſtems entfchieden, weil es das 
nicht leiftet, was jede Glaubenslehre leiften fol: dem Glauben, 
der ihr Gegenftand ift, erftlich den adäquaten Ausdruck zu 
geben, und ihn zweitens mit der Wiffenfchaft in ein — fei 


ed pofitives, oder negatives — Berhältniß zu fegen. Hier 
nun ift über dem Beftreben, den Glauben mit der Wiftenfchaft 


in Einflang zu bringen, der Ausdruck defelben verkümmert: 
denn ein Ehriftus, nur ald ausgezeichneter Menih, macht 
zwar dem Begreifen feine Schwierigkeit, aber ift nicht derje⸗ 
nige, an welchen die Kirche glaubt. 


6. 148. 


Eine eklektiſche Chriſtologie. Schleiermader. 


Beide Lebelftände zu vermeiden, und die Lehre von Ehrifto 
ohne Beeinträchtigung des Glaubens fo zu faflen, daß die 
Wiſſenſchaft ihr nicht den Krieg zu erflären braucht‘), ift nun 
das Beftreben vesjenigen Theologen gewefen, welcher einerfeits 
die negative Kritif des Nationalismus gegen die Kirchenlehre 





— — 4 


5) Roͤhr, Briefe, S. 26, 405 ff. 
ı) Schleiermacher, über feine Glaubenslehre, an Dr. Luͤcke. 
Zweites Sendfchreiben. Studien 2, 3, ©. ası ff. 








Schlußabhandlung. $. 148. 687 


volftändig in fich aufgenommen, ja noch gefchärft, andrerfeite: 
aber doch noch das Weſentliche des pofitiv chriftlihen Gehal⸗ 
te8, der dem Nationalismus verloren gegangen war, feftzuhals 
ten verfucht bat, und daher Bielen in der lebten Zeit der 
Retter aus der Enge des Supranaturalismus und der Leere des. 


Rationalismus geworden iſt. Sene Vereinfachung des Glau⸗ 


bens dringt Schleiermacher dadurch zu Stande, daß er 
weder proteftantifch von der Schriftlehre, noch auch Fatholifch 
von den Beftimmungen der Kirche ausgeht, da er auf beide 
Weife einen beftimmt entwidelten Inhalt befommen würde, der, 
in früheren Jahrhunderten entflanden, mit der heutigen Wif- 
fenfchaft fi) nothwendig verwideln müßte: fondern er geht 
vom chriftlichen Bewußtfein, von der inneren Erfahrung aus, 
die jeder über das, was er am Ehriftenthum hat, in ſich felber 


macht, und befommt fo einen Stoff, der ald Gefühltes ein mine, 


der Beftimmtes ift, dem daher durch dialektiſche Entwidlung 
leichter eine Sorm gegeben werden Tann, weldye den Forderun⸗ 
gen der Wifjenfchaft genugthut. 

Als Glied der chriftlichen Gemeinde: — dieß ift der Aus⸗ 


gangspunft der Schleiermacher’fchen Chriftologe 3 — » 


bin ich mir ver Aufhebung meiner Sünbdhaftigfeit und der 
Mittheilung fehlechthiniger Bollfommenheit bewußt, d. h. ich 
fühle in dieſer Gemeinfchaft die Einflüffe eines fündlofen und 
vollfommenen Principe auf mich. Diefe Einflüffe fönnen von 
der chriftlichen Gemeinfchaft nicht in der Art ausgehen, daß 
die Wechfelmirfung ihrer Mitglieder fie hervorbrächte; denn in 
jedem einzelnen von biefen ift Sünde und Unvollfommenheit 
gefeßt, und das Zufammenwirfen von Ilnreinen hat nie etwas 
Meines zum Reſultate. Sondern der Einfluß eines Solchen 
muß es fein, der einestheild jene Sündlofigfeit und Vollkom⸗ 
menheit als perfünliche Eigenfchaften befaß, und anderntheils 
mit der chriftlichen Gemeinfchaft in einem Verhaͤltniß ſteht, 





— 


2) Glaubenslehre, 2, 898. 92—105. 





688 | Schlußabhandlung. $. 148. 


vermöge deſſen diefe Eigenfchaften von ihm ſich ihr mittheilen‘ 
fönnen: d. h., da vor dieſer Mittheilung die chriftliche Gemein- 
fchaft als folche nicht vorhanden gewefen fein fann, ihr Stifter 
war. Was wir in uns als Chriften bewirkt finden, daraus 
ſchließen wir, wie immer von der Wirkung auf die Urſache 
gefchlofien wird, auf die Wirffamfeit Chrifti zuräd, und aus 
feiner Wirkfamfeit auf feine Perſon, welche die Fähigkeit gehabt 
haben muß, ſolches zu bewirken. 

Näher ift nun, was wir in der chriftlichen Gemeinfchaft 
in ung finden, eine Kräftigung des Gottesbewußtſeins in 
feinem Verhaͤltniß zum finnlichen, d. 5. wir finden es uns 
“ erleichtert, die Uebermacht der Sinnlichkeit in uns zu brechen, 
alle Eindrüde, die wir empfangen, auf das religiöfe Gefühl 
zu beziehen, und hinwiederum alle Thätigfeiten aus demfelben 
"hervorgehen zu fafien. Nach dem Obigen ift dieß die Wir 
fung Ehrifti auf ung, welcher die Kräftigfeit feines Gottesbe⸗ 
wußtfeins uns mittheilt, von der Knechtſchaft der Sinnlichkeit 
und Sünde uns befreit, und hiemit der Erlöfer it. In dem 
Gefühl des gefräftigten Gottesbewußtfeind, welches der Chrift 
in der Gemeinfchaft mit feinem Erköfer hat, werden die Hem⸗ 
mungen feines natürlichen und gefelligen Lebens nicht zugleich 
al8 Hemmungen des Gottesbemußtfeind empfunden; fie unter: 
brechen nicht die Seligfeit, welche er in feinem innerften 
religiöfen Leben genießt; was man fonft Uebel und göttliche 
trafen nennt, ift es für ihn nicht, und infofern es Chriftus 
ift, der ihn durch Aufnahme in die Gemeinfchaft feiner Seligfeit 
hievon befreit, fommt diefem neben der erlöfenden auch Die ver⸗ 
föhnende Thätigfeit zu. — Hienach allein ift denn.auch bie 
firchliche Lehre von dem dreifachen Amte Ehrifti zu verfiehen. 
Prophet ift er, fofern er nicht anders, als durch das Wort, 
durh Selbftvarftellung überhaupt, die Menfchheit an ſich 
ziehen konnte, fo daß der Hauptgegenftand feiner Lehre eben 
feine Perſon war; Hoherpriefter und zugleich Opfer ift er, 
fofern er, der Sündlofe, aus deſſen Dafein fich daher auch Fein 
Uebel entwideln konnte, in die Gemeinfchaft des ſündlichen 

















Schlußabhandlung. 5. 18. 689 


Lebens der Menfchheit eintrat, und die in demfelben erzeugten 
Uebel auf fich nahm, um fofort uns in die Gemeinfchaft fei- 
nes fündlofen und feligen Lebens aufzunehmen, d. h., Sünde 
und Uebel auch in und für uns aufzuheben, und uns vor 
Gott rein barzuftellen; König endlich ift er, fofern er dieſe 
Segnungen eben in Form eined Gemeinwefens, defien Haupt 
er ift, an die Menfchheit bringt. 

Aus dieſem nun, was Chriftus wirkt, ergibt fi, was er 
gewefen iſt. Verdanken wir ihm die immer fteigende Kräfti- 
gung unferes Gottesbemußtfeins : jo muß dieß in ihm in ab- 
foluter Kräftigfeit gewefen fein, fo daß es, oder Gott in Form 
des Bemwußtfeins, das allein Wirkfame in ihm war; und dieß 
ift der Sinn des Firchlichen Ausdruds, daß Gott in Chriſto 
Menfch geworden if. Wirkt ferner Chriftus in uns die im- 
mer vollftändigere Ueberwindung der Sinnlichfeit: fo muß dieſe 
in ihm fchlechthin überwunden gewefen fein, in feinem Augen- 
bli feines Lebens Tann das finnliche Bewußtfein dem Gottes- 
bemwußtfein den Sieg ftreitig gemacht, nie ein Schwanfen und 
Kampf in ihm ftattgefunden haben, d. h. die menfchliche Natur 
in ihm war unfündlih, und zwar in dem ftrengeren Sinn, 
daß er, vermöge des wefentlichen Webergewichts der höheren 
Kräfte in ihm über die niederen, unmöglich fündigen konnte. 
Iſt er durch diefe Eigenthümlichfeit feines Weſens das Urbild, 
welchem feine Gemeinde fi) immer nur annähern, nie über 
daſſelbe hinausfommen Tann: fo muß er doch — ſonſt Fönnte 
zwifchen ihm und uns feine wahrhafte Gemeinfchaft ftattfinden 
— unter den gewöhnlichen Bedingungen des menfchlichen 
Lebens fich entwidelt haben, das Urbilvliche muß in ihm voll- 
fommen gefchichtlich geworben fein, jeder feiner gefchichtlichen 
Momente zugleich das Urbildliche in fich getragen haben; und 
dieß ift der eigentlihe Sinn der Firchlihen Formel, daß 
die göttliche und menfchliche Natur in ihm zu Einer Perfon 
vereinigt gewefen feien. 

Kur fo weit läßt ſich die Lehre von Chrifto aus der 

U. Band. 44 


690 Schlußabhandlung. $. 148. 


inneren Erfahrung des Chriften ableiten, und fo weit wiberftreitet 
fie, nah Schleiermacher, auch der Wiſſenſchaft nicht: 
was im Tirchlichen Dogma darüber hinausgeht, — und gerade 
das iſt es, was die Wiffenfchaft anfechten muß — wie na= 
mentlich die übernatürliche Erzeugung Jeſu und feine Wunder, 
auch die Thatfachen der Auferftehung und Himmelfahrt, jo wie 
die Vorherfagungen von feiner Wieverfunft zum Gerichte, fön= 
nen nicht als eigentliche Beftandtheile der Lehre von Ehrifto 
aufgeftelft werden. Denn derjenige, von deffen Einwirkung 
uns alle Kräftigung unſeres Gottesbewußtſeins kommt, Tann 
Ehriftus gemwefen fein, auch wenn er nicht leiblich auferftand 
und in den Himmel fidh erhob u. f. f.: fo daß wir Diefe That⸗ 
fachen nicht deßwegen glauben, weil fie in unferer inneren Ers 
fahrung mitgefegt wären, fondern nur weil fie in der Schrift 
ftehen; alfo nicht fowohl auf religiöfe und Dogmatifche, als 
“ vielmehr nur auf biftorifche Weiſe. 


Gewiß ift dieſe Ehriftologie eine fehr fehöne Entwicklung, 
und in ihr, wie wir fpäter fehen werden, das Möglichfte ge: 
leiftet, um die Vereinigung des Göttlihen und Menfchlichen 
in Ehrifto ald einem Individuum anfchaulih zu machen ); 
allein wenn biefelbe Beides, ſowohl den Glauben unverfürzt, 
als die Wiffenfchaft unverlegt zu erhalten meint: fo muß ge⸗ 
fagt werden, daß fie fich in Beidem täufcht 9. 


Der Widerftreit mit ber Wiſſenſchaft knüpft ſich zunächſt 
an die Formel, in Chriſtus fei das Alrbildliche zugleich 


3) Auch bier befinde ich mich im Gegenſatze gegen Roſenkranz, wel⸗ 
her a. a D. die Schleiermach er'ſche Chriſtologie eine gequaͤlte 
Entwicklung nennt. 


%) Dieß iſt auch bereits in den namhafteſten Beurtheilungen des 
Schleiermacher' ſchen Syſtems zum Bewußtſein gekommen; vgl. 
Braniß, über Schleiermacher's Glaubensiehre; H. Schmid, 
über Schl. Glaubensl. S. 263 ff.5 Baur, bie chriſti. Gnoſis, ©. 
626 ff., und die angef. Recenf. von Rofentranz. 





Schlußabhandlung. $. 148. 091 


geichichtlich gewefen. Daß dieß ein gefährlicher Punkt fei, if 
Schleiermaher’n felbit nicht entgangen. Kaum hat er 
den bezeichneten Sap aufgeftellt, fo fagt er fich auch ſchon, 
wie ſchwer es zu benfen ift, daß das Urbilpliche in einem. ge: 
fohichtlichen Einzelweſen volftändig zur Wirklichkeit gefommen 
fein follte, da wir das Urbild fonft nie in einer einzelnen Er- 
fheinung, fondern nur in einem ganzen Kreife von folchen, 
bie fich, gegenfeitig ergänzen, verwirklicht finden, Zwar fol 
nun die Urbildlichkeit Chrifti keineswegs auf die taufenderlei 
Beziehungen des menfchlichen Lebens fich erftreden, fo daß er 
auch für alles Wiffen, oder ale Kunft und Gefchidlichkeit, 
die fich in der menfclichen ‚Gefeufchaft entwidelt, urbildlich 
jein müßte, fondern nur für das Gebiet des Gottesbewußtfeing ; 
allein dieß ändert, wie Schmid mit Recht bemerkt, nichts, da 
auch das Gsttesbemußtfein in feiner Entwidlung und Erfcheis 
nung den Bedingungen der Endlichfeit und Unvollkommenheit 
unterworfen ift, und wenn auch nur in dieſem Gebiete daß 
Speal in einer einzelnen hiftorifchen Perſon als wirklich aner- 
fannt werben foll, dieß nicht gefihehen kann, ohne die Geſetze 
der Natur durch Annahme eines Wunders zu durchbrechen. 
Doch dieß fchredt Schleiermacher'n feineswegs zurück, 
ſondern eben hier, meint er, fei der einzige Ort, wo Die chrift- 
liche Glaubenslehre nem Wunder in fih Raum geben müffe, 
indem die Entftehung der Perfon Ehrifii nur als Ergebnig 
eines fchöpferifchen göttliden Actes begriffen werden Fönne, 
Zwar fol nun das Wunderbare nur auf den erſten Kintritt 
Ghrifti in Die Reihe des Dafeienden beichränft werden, und 
feine ganze meitere Entwicklung allen Bedingungen des end» 
lichen Dafeins unterworfen gewefen fein: aber dieß Zugeftänd- 
niß kann den Riß, der. durch jene Behauptung in die ganze 
wifjenfchaftliche Weltanficht gemacht iſt, nicht heilen, und am 
wenigften können vage Analogien etwas helfen, wie die: fo gut 
es noch jest möglich fei, daß Materie fich balle und im uns 
endlichen Raum zu rotiren beginne, müffe die Wiffenfchaft auch 
einräumen, e8 gebe eine Erfcheinung im Gebiete des geiftigen 
j 44° 


692% Scqhlußabhandinng. 8. 148. 


Lebens, die wir ebenſo nur als reinen Anfang einer hoͤheren 
geiſtigen Lebensentwicklung erklaͤren können . 

Zumal man durch dieſe Vergleichung an das erinnert wird, 
was Braniß beſonders geltend gemacht hat, daß es den 
Geſetzen aller Entwicklung zuwider waͤre, den Anfangspunkt 
einer Reihe als ein Groͤßtes zu denken, und alſo hier in Chriſto, 
dem Stifter des Geſammtlebens, das die Kräftigung des Got⸗ 
tesbewußtfeins zum Zwede hat, die SKräftigfeit deſſelben als 
ſchlechthinige vorzuftellen, was doch nur das unendliche Ziel 
der Entfaltung des von ihm geftifteten Gefammtlebens if. 
Zwar gibt auh Schleier macher in gewiffen Sinn eine Per⸗ 
fectibilität des Chriftenthums zu: aber nicht über das Weſen 
Ehrifti hinaus, fondern nur über feine Erfcheinung. D. h., die 
Bedingtheit und Unvollkommenheit der Berhältniffe Chrifti, der 
Sprache, in welcher er ſich ausprüdte, der Nationalität, inner- 
halb deren er ftand, habe auch fein Denken und Thun affleirt, 
- aber nur die Außenfeite; der innere Kern deſſelben fei dennoch 
wahrhaft urbildlich gewefen; und wenn nun die Chriftenheit 
in ihrer Yortentwidlung in Lehre und Leben immer mehr jene 
temporellen und nationalen Schranfen niederwerfe, in welchen 
Jeſu Thun und Reden fich bewegte: fo fei dieß Fein Hinaus- 
gehen über Ehriftum, fondern nur eine um fo vollftändigere 
Darlegung feines inneren Weſens. Allein, wie Schmid 
gründlich nachgewiefen bat, ein gefchichtliches Individuum iſt 
eben nur das, was von ihm erfcheint, fein inneres Weſen 
wird in feinen Reden und Handlungen erkannt, zu feiner 
. Eigenthümlichfeit gehört die Bedingtheit durch Zeit: und Volks⸗ 
verhäftniffe mit, und was Hinter diefer Erſcheinung ald An fich 
zurüdtiegt, ift nicht das Weſen diefes Individuums, fondern 
die allgemeine menfchliche Natur überhaupt, welche in den Ein- 
zelnen durch Individualität, Zeit und Umftände befchränft, zur 
Wirklichkeit kommt. Ueber die gefchichtliche Erſcheinung Ehrifti 
hinausgehen, heißt alfo nicht zum Wefen Chrifti fich erheben, 








», Im 2ten Senbfchreiben, 











Schlußabhandlung. $. 148. 693 


fondern zur Idee der Menfchheit überhaupt, und wenn es 
Chriſtus noch fein fol, deſſen Wefen fich darſtellt, wenn mit 
Wegwerfung des Temporellen und Nationalen das Wefent- 
liche aus feiner Lehre und feinem Leben fortgebilvet wird: fo 
fönnte es nicht ſchwer fallen, durch ähnliche Abftraction auch 
einen Sofrates al8 denjenigen  darzuftellen, über welchen in 
diefer Weife nicht hinausgegangen werden koͤnne. 

Wie aber weder überhaupt ein Individuum, noch insbefon- 
dere ein gefchichtlicher Anfangspunft zugleich urbildlich fein 
fann: fo will auch, Chriſtum beftimmt als Menfchen gefaßt, 
die urbildlihe Entwicklung und Befchaffenheit, welche ihm 
Schleiermacher zufchreibt, mit den Gefepen des menfchli- 
chen Daſeins fich nicht vertragen. Die Unfünblichfeit, als 
Unmöglichkeit des Sündigens gefaßt, wie fie in Chrifto gewefen 
fein fol, ift eine mit der menfchlichen Natur ganz unverein- 
bare Eigenfchaft, da dem Menfchen vermöge feiner von finnli« 
chen wie vernünftigen Antrieben bewegten Freiheit die Möglichfeit 
des Sündigens wefentlich ifl. Und wenn Chriftus fogar von 
allem innern Kampf, von jeder Schwanfung des geiftigen 
Lebens zwifchen Gut und Böfe, frei geweſen fein fol: fo koͤnnte 
er vollends fein Menfch wie wir gewefen fein, da die Wech- 
felwirfung,, in welcher bei'm Menfchen fowohl die innere 
Geiftesfraft überhaupt mit der auf fie einwirfenden Außenwelt, 
als insbefondere die höhere, religiösfittliche Kraft mit der finns 
lichen Geiftesthätigfeit fteht, nothwendig als Kampf zur 
Erſcheinung kommt ). 

So wenig aber auf dieſer Seite der Wiſſenſchaft, ſo wenig 
thut die in Rede ſtehende Chriſtologie auf der andern Seite 
dem Glauben genug. Um von denjenigen Punkten abzuſehen, 
wo ſie für die kirchlichen Beſtimmungen wenigſtens annehmliche 
Surrogate zu bieten weiß, über welche ſich jedoch gleichfalls 
ſtreiten ließe, ob fie völligen Erſatz gewähren ”), tritt dieß am 


6) Schmid, a. a. O. 
?) gl. Roſenkranz, a. a. O. ©. 935 ff. 





694 Schlußabhandlung. $. 18 


. fhreiendften in der Behauptung hervor, die Thatfachen der 
Auferftehung und Himmelfahrt gehören nicht wefentlich zum 
chriſtlichen Glauben. Während doch der Blaube an die Auf- 
erftehung Ehrifti der Grundftein if, ohne welchen die chriftliche 
Gemeinde fich nicht hätte aufbauen können; auch jegt noch der 
chriftfiche Feſteyclus, die Äußere Darftellung des chriftlichen 
Bewußtſeins, feine töbtlichere Verftimmelung erleiden könnte, 
als wenn aus demfelben das Dfterfeft ausgebrochen würde; 
überhaupt im Glauben der Gemeinde der geftorbene Ehriftus 
nicht fein könnte, was er ift, wenn er nicht zugleich ber Wie⸗ 
dererſtandene wäre. 

Zeigt ſich an ver Schleiermacher'ſchen Lehre von der 
Perſon und den Zuſtaͤnden Chriſti beſonders ihre Doppelte Un⸗ 
zulaͤnglichkeit, in Bezug auf Kirchenglauben und Wiſſenſchaft: 
ſo wird aus der Lehre von der Wirkſamkeit Chriſti erhellen, 
daß, um dem erſteren nur ſo weit genug zu thun, als hier 
geſchieht, ein ſolcher Widerſpruch gegen bie Grundſaͤtze der letz⸗ 
teren gar nicht nöthig, ſondern ein leichteres Verfahren mög⸗ 
lich war. Nämlich bloß auf den Rückſchluß von der innern 
Erfahrung des Chriſten, als der Wirkung, auf die Perſon 
Chriſti, als die Urſache, gegründet, ſteht die Schleier⸗ 
macher'ſche Chriſtologie auf ſchwachen Füßen, indem nicht 
bewieſen werden kann, daß jene innere Erfahrung nur dann 
ſich erklaͤren laſſe, wenn ein ſolcher Chriſtus wirklich gelebt 
hat. Schleiermacher ſelbſt hat den Ausweg bemerkt, daß 
man ja ſagen Tönnte, nur veranlaßt durch Jeſu relative Vor: 
trefflichfeit habe die Gemeinde ein Ideal abſoluter Vollkom⸗ 
menheit entworfen und auf den biftorifchen Chriftus überge- 
tragen, aus welchem fie nun fortwährend ihr Gottesbewußt⸗ 
fein ftärfe und neu belebes doch diefen Ausweg foll die 
Bemerkung abfchneiden, die ſündhafte Menfchheit habe vermöge 
des Zufammenhangs von Willen und Verſtand gar nicht das 
Dermögen, ein fledenlofes Urbild zu erzeugen. Allein, wie 
treffend bemerkt worden ift, wenn Schleiermacher für bie 
Entftehung feines wirklichen Ehriftus ein Wunder poftulirt : fo 





Schlußabhandlung. $. 148. 695 


fönnten ja wir für die Entftehung des Ideals von einem 
Chriftus in der menfchlichen Seele daſſelbe Recht in Anfpruch 
nehmen®). Indeß, ed ift gar nicht einmal wahr, daß die 
fündhafte menfchlide Natur zur Erzeugung eines fündlofen 
Urbildes unfähig if. Wird unter Diefem Ideale nur die allge 
meine Borftellung verftanden: fo ift vielmehr mit dem 
Bewußtſein der Unvollfommenheit und Sündhaftigfeit die Vor— 
ftellung des Vollkommenen und Sündloſen ebenfo nothmwendig 
gegeben, wie mit dem der Endlichfeit die des Unendlichen, in- 
dem beide Vorftellungen fich gegenfeitig bedingen, die eine 
ohne Die andere gar nicht möglich iſt. Iſt aber die concrete 
Ausführung des Bildes mit den einzelnen Zügen gemeint: fo 
fann man zugeben, daß einem fündhaften Individuum und 
Zeitalter dieſe Ausmalung nicht fledenlos gelingen kann; allein 
defien ift ein folches Zeitalter, weil es felbft nicht darüber hin- 
aus iſt, fich nicht bewußt, und wenn das Bild nur ſlizzenhaft 
ausgeführt ift, und der Beleuchtung noch viel Spielraum läßt: 
fo kann e8 leicht auch von einer fpäteren, feharffichtiger ge: 
wordenen Zeit, fo lange fie den guten Willen der günftigften 
Beleuchtung hat, noch als fledenlos betrachtet werden. 
Hiemit fehen wir, was an dem Vorwurf ift, der Schlei- 
ermacher’n fo ungehalten machte, daß fein: Ehriftus fein 
hiftorifcher , fondern ein idealer fei: er tft ungerecht, wenn auf 
die Meinung Schleiermacher'8 gefehen wird, denn er 
glaubte fteif und feſt, der Chriftus, wie er ihn conftruirte, habe 
wirffich fo gelebt; aber gerecht ift er einerfeits in Bezug auf 
den gefchichtlichen Thatbeftand, weil ein ſolcher Chriftus immer 
nur in der Idee vorhanden gemwefen ift, in welchem Einne 
freilich dem Tirchlichen Syſtem derfelbe Vorwurf noch ftärfer 
gemacht werden müßte, weil fein Chriftus nody viel weniger 
eriftirt haben kann; gerecht endlich rüdfichtlich der Conſequenz 
des Spftems, indem, um das zu bewirken, was Schleier: 
macher ihn bewirfen läßt, fein anderer Chriftus nöthig, und 


— — — * 





8) Baur, a. a. O. ©. 653. 


- 696 Schlußabhandlung. 8. 149. 


nach den Schleiermacher’fchen Grundſätzen über das 
Verhältniß Gottes zur Welt, ded Webernatürlichen zum Natürs 
lichen, auch fein andrer möglich ift, als ein ivealer — und in 
diefem Sinne trifft der Vorwurf die Schleier mach er' ſche 
Glaubenslehre ſpecifiſch ‚ da nad den Praͤmiſſen der Kirchen⸗ 
lehre allerdings ein hiftorifcher Ehriftug ſowohl möglich als 
nothwendig war. 


$. 149. 


Die Chriſtologie, ſymboliſch gewendet. Kant. de Wette. 


Iſt hiemit der Verſuch geſcheitert, das Urbildliche in 
Chriſto mit dem Geſchichtlichen zuſammenzuhalten: ſo ſcheiden 
fi dieſe beiden Elemente, das letztere fällt als natürliches 
Reſiduum zu Boden, das erftere aber fleigt als reines Subli⸗ 
mat in den Aether der Ideenwelt empor. Gefchichtlich kann 
Jeſus nichts Anderes geweſen fein, als eine zwar fehr ausge: 
"zeichnete, aber darum Doch der Befchränftheit alles Endlichen 
unterworfene Berfönlichkeit: vermöge dieſer ausgezeichneten Per: 
fönlichfeit aber regte er das religiöfe Gefühl fo mächtig an. 
daß diefes in ihm ein deal der Frömmigfeit anerkannte; wie 
denn überhaupt eine hiftorifche Thatfache oder Berfon nur da: 
durch Grundlage einer pofitiven Religion werben Tann, daß 
fie in die Sphäre des Idealen erhoben wird). 

Schon Spinoza hat diefe Unterfcheidung gemacht in 
der Behauptung, den Hiftorifchen Chriftus zu kennen, fei zur 
Seligfeit nicht nothwendig, wohl aber den idealen, die ewige 
Weisheit Gottes naͤm̃lich, welche fih in allen Dingen, im 
Befondern im menfchlichen Gemüth, und allerdings in ausge— 
zeichnetem Grad in Jeſu Chrifto geoffenbart habe, und welche 


i) So Schmid, a. a. O. ©. 267. 


. 











Echlußabhandlung. $. 149. 697 


allein den Menfchen belehre, was wahr und falſch ‚gut und 
böfe fei ?). 

Auch nah Kant darf es nicht zur Bedingung der Se⸗ 
ligfeit gemacht werden, daß man glaube, e8 habe einmal einen 
Menfchen gegeben, der durch feine Heiligkeit und fein Verdienft 
fowohl für fih als auch für alle andern genuggethan habe; 
denn davon fage uns die Vernunft nichts; wohl- aber fei es 
allgemeine Menfchenpflicht, zu dem deal der moralifchen Voll⸗ 
fommenheit, welches in der Vernunft Tiege, fich zu erheben, 
und durch deſſen Vorhaltung fich fittlich Eräftigen zu laſſen: 
nur zu dieſem moralifchen, nicht zu jenem hiftorifchen Glauben 
fei der Menfch verpflichtet). 

Auf diefes Ideal fucht nun Kant die einzelnen Züge der . 
biblifchen und Firchlichen Lehre von Ehrifto umzudeuten. Die 
Menfchheit oder das vernünftige Weltwefen überhaupt in feiner 
ganzen fittlichen Vollfommenheit ift e8 allein, was eine Welt 
zum Gegenftande des göttlichen Rathſchluſſes und zum Zweck 
der Schöpfung machen kann: dieſe Idee der gottwohlgefälligen 
Menfchheit ift in Gott non Ewigkeit her, fle geht von feinem 
Weſen aus, und ift infofern fein erfchaffenes Ding, ſondern 
fein eingeborner Sohn, das Wort, durdy welches, d. h. um 
deſſen willen, Alles gemacht ift, in welchem Gott die Welt 
geliebt hat. Sofern von diefer Idee der moralifchen Vollkom⸗ 
menheit der Menfch nicht felbft der Lirheber ift, fondern fie in 
ihm Platz genommen hat, ohne daß man begriffe, wie feine 


2) Ep. 21. ad Oldenburg. Opp. p. 556: — dico, ad salutem‘ non 
esse omnino necesse ,„ Christum secundum carnem noscere; 
sed de aeterno illo filio Dei, h. e. Dei aeterna sapientia, quae 
sese in omnibus rebus, et maxime in mente humana, et om- 
nium maxime in Christo Jesu manifestavit, longe aliter 
sentiendum. Nam nemo absque hac ad statum beatitudinis 
potest pervenire, ulpote quae sola docet, quid verum et falsum, 
bonum et malum sit. 

3) Religion innerhalb der Gränzen der bloßen Vernunft, drittes Stüd, 
ıte Abthl. VIL. 


098 Schlußabhandlung. $. 149. 


Ratur für fie habe empfänglich fein koͤnnen: fo läßt ſich fagen, 
daß jenes Urbild vom Himmel zu uns herabgefommen fei, daß 
ed die Menfchheit angenommen habe, und diefe Vereinigung 
mit uns fann als ein Stand der Erniedrigung des Sohnes 
Gottes angefehen werden. Diefes Ideal der moralifchen Boll: 
fommenheit, wie fie in einem von Bedürfniffen und Neigungen 
abhängigen Weltwefen möglich ift, Fönnen wir uns nicht an 
ders vorftellen, al8 in Form eines Menfchen, und zwar, weil 
wir und yon der Stärfe einer Kraft, und fo auch der fittlichen 
Gefinnung, feinen Begriff machen fönnen, als wenn wir fie 
mit Hinderniffen ringend, und unter den größten Anfechtungen 
dennoch überwindend uns vorftellen, eines folchen Menfchen, 
der nicht allein alle Menfchenpflicht felbft auszuüben, und durch 
Lehre und Beifpiel das Gute in größtmöglichem Umfang um 
fih her auszubreiten, fondern auch , obgleich durch die ftärkiten 
Anlockungen verfucht, dennoch alle Leiden bis zum ſchmählich— 
fien Tode um des Weltbeften willen zu übernehmen bereit 
willig wäre. 

Diefe Idee hat ihre Realität in praftifcher Beziehung 
vollſtaͤndig in fich felbft, und es bedarf feines Beifpiels in der 
Erfahrung, um diefelbe zum verbindenden Vorbild für uns zu 
machen, da fie als folches fihon in unferer Vernunft liegt. 
Auch bleibt diefes Urbild wefentlih nur in der Vernunft, weil 
ihm fein Beifpiel in der äußeren Erfahrung adäquat fein 
Tann, als welche das innere der Gefinnung nicht aufdeckt, fon’ 
dern Darauf nur mit ſchwankender Gewißheit fchließen läßt. 
Da jedoch diefem Urbilde ale Menfchen gemäß fein follten, 
und folglich e8 auch fönnen müffen: fo bleibt immer möglich, 
daß in der Erfahrung ein Menfch vorfomme, der durch Lehre, 
Lebenswandel und Leiden das Beifpiel eines gottwohlgefälligen 
Menfchen gebe; doch auch in dieſer Erfeheinung des Gott, 
menfchen wäre nicht eigentlich das, was yon ihm in die Sinne 
fällt, oder durch Erfahrung erfannt werben fann, Objeet des 
ſeligmachenden Glaubens, ſondern das in unſerer Vernunft 
liegende Urbild, welches wir jener Erſcheinung unterlegten, 





Schlußabhandlung. $. 149. 699 


weil wir fie demfelben gemäß fänden, aber freilih immer nur 
in foweit, als dieß in äußerer Erfahrung erfannt werden kann. 
Weil wir alle, obwohl natürlich erzeugte Menfchen,, uns ver: 
bunden und daher im Stande fühlen, felbft folche Beifpiele 
abzugeben: fo haben wir Feine Urfache, in jenem mufterhaften 
Menfchen einen übernatürlich erzeugten zu erbliden; ebenſo⸗ 
wenig hat er zu feiner Beglaubigung Wunder nöthig, fondern 
neben dem moralifchen Glauben an die Idee ift nur noch die 
Hiftorifhe Wahrnehmung erforderlih, daß fein Lebenswandel 
ihr gemäß fei, um ihn als Beifpiel derfelben zu beglaubigen. 

Derjenige nun, welcher fich einer folchen moralifchen Ge⸗ 
finnung bewußt ift, daß er gegründetes Vertrauen auf fich 
fegen fann, er würde unter ähnlichen Verfuchungen und Lei- 
den, wie fie an dem Urbilde der Menfchheit als PBrobierftein 
feiner moralifchen Gefinnung vorgeftellt werden, diefem unwan⸗ 
delbar anhängig und in treuer Nachfolge ähnlich bleiben, ein 
ſolcher Meufch allein tft befugt, fich für einen Gegenftand bes 
göttlichen Wohlgefallend zu halten. Um zu folcher Gefinnung 
fich zu erheben, muß der Menfch vom Böfen ausgehen, den 
alten Menfchen ausziehen, fein Fleiſch Freuzigen; eine Ilmän- 
derung, welche wefentlich mit einer Reihe von Schmerzen und 
Leiden verbunden if. Diefe hat der alte Menfch als Strafen 
verdient: fie treffen aber den neuen, indem der Wiedergeborene, 
der fie auf fich nimmt, nur noch phyſiſch, feinem empirifchen 
Charakter nah, als Sinnenwefen, der alte bleibt, moraliſch 
aber, als intelligible8 Wefen, in feiner veränderten Gefinnung, 
ein neuer Menfch geworben iſt. Sofern er nun in der Sin- 
nesänberung bie Gefinnung des Sohnes Gottes in fich auf: 
genommen hat, fo kann, was eigentlidy ein Stellvertreten des 
‚alten Menfchen für den neuen ift, als Stellvertretung des 
Sohnes Gottes, wenn man die Idee perſonificirt, vorgeftellt, 
und gejagt werben, diefer felbft trage für den Menfchen, für 
alle, die an ihn praftifch glauben, als Stellvertreter die Sünden- 
ſchuld, thue durch Leiden und Tod der höchften Gerechtigfeit 
als Erlöfer genug, und mache als Sarhverwalter, daß fie hoffen 


700 Schlußabhandlung. $. 149. 


fönnen, vor dem Richter als gerechtfertigt zu erfcheinen, indem 
das Leiden, welches der neue Menſch, indem er dem alten ab⸗ 
ftirbt, im Leben fortwährend übernehmen muß, an dem Repräs 
fentanten der Menfchheit als ein für allemal erlittener Tod 
vorgeftellt wird ). . 

Auh Kant, wie Schleiermader, deſſen Chriftologie 
überhaupt in manchen Beziehungen an die Kant ifche erinnert?), 
fommt in der Aneignung der kirchlichen Chriftologie nur bis 
zum Tode Chrifti: von feiner Auferftehung und Himmelfahrt 
aber fagt er, fie fönnen zur Religion innerhalb der Gränzen 
der bloßen Vernunft nicht benügt werben, weil fie auf Materia- 
lität aller Weltwefen führen würden. Wie er indeß auf der 
andern Seite diefe Thatfachen doch wieder als Symbole von 
Bernunftideen, als Bilder des Eingangs in den Sig der Selig⸗ 
feit, d. h. in die Gemeinfchaft mit allen Guten, gelten läßt: fo 
bat noch beftimmter Tieftrunf erflärt, ohne die Auferftehung 
würde die Gefchichte Jeſu fi in ein wibriges Ende verlieren, 
das Auge fi mit Wehmuth und Widerwillen von einer Ber 
gebenheit abwenden, in welcher das Mufter der Menfchheit als 
Opfer unheiliger Wuth fiele, und die Scene fich mit einem eben 
fo unfchuldigen, als fchmerzlichen Tod befchlöffe; es müfle der 
Ausgang dieſer Gefchichte mit der Erfüllung der Erwartung. 
gefrönt fein, . zu welcher fich die moralifche Betrachtung eines 
jeden unwiberftehlich hingezogen fühle: ‚mit dem Webergang in 
eine vergeltende Unſterblichkeit ©). 

Auf ähnliche Weiſe ſchrieb de MWette, wie jeder Ge- 
fhichte, und insbefondere der Religionsgefchichte, fo auch der 
evangelifchen, einen fombolifchen, idealen Charafter zu, vermöge 
deſſen fie Ausdruck und Abbild des menfchlichen Geiftes und 
feiner Thätigfeiten fei. Die Gefchichte von der wunderbaren 
Erzeugung Jeſu ftelle den göttlichen Urfprung der Religion dar; 


⁊) A, a. O. 2tes Stüd, iter Abichn. 3tes Stud, Ite Abthlg. 
5) Wie dieß Baur nachweist, chriſtl. Gnofis, S. 660 ff. 
6) Cenſur des chriftl. proteftantifchen Lehrbegriffs, 3, ©. 180. 





Schlußabhandlung. $. 149. 01 


die Erzählungen von feinen Wunderthaten bie felbftftändige Kraft 
des Menfchengeiftes und die erhabene Lehre des geiftigen Selbſt⸗ 
vertrauens ; feine Auferftehung ſei das Bild des Siegs der 
Wahrheit, das Borzeishen des Fünftig zu vollendenden Triumphs 
des Guten über das Böſe; feine Himmelfahrt das Symbol der 
ewigen Herrlicfeit der Religion. Die religiöfen Grundideen, 
welche Jeſus in feiner Lehre ausgefprochen, vrüden ſich ebenfo 
klar in feiner Gefchichte aus. Sie ift Ausdrud der Begeifterung, 
in dem muthvollen Wirfen Jeſu und der fiegreichen Gewalt feiner 
Erfcheinung ; der Reftgnation, in feinem Kampf mit der Bosheit 
der Menfchen, der Wehmuth feiner warnenden Neben, und vor 
Allem in feinem Tode; Ehriftus am Kreuz ift das Bild der 
Durch Aufopferung geläuterten Menfchheit: wir ſollen uns alle 
mit ihm kreuzigen, um mit ihm zu neuem Leben aufzuftehen. 
Endlich die Idee der Andacht ift der Girundton der Gefchichte 
Jeſu, indem jeder Moment feines Lebens dem Gedanfen an 
feinen himmliſchen Vater gewidmet tft.” 

Befonders Har hatte ſchon früher Horft dieſe ſymboliſche 
Anſicht von der Geſchichte Jeſu ausgeſprochen. Ob Alles, was 
von Chriſto erzählt wird, ſagt er, genau fo als Geſchichte vor⸗ 
gefallen ift, das kann uns jegt ziemlich gleichgültig fein, auch 
fönnen wir es nicht mehr ausmitteln. Ja, wenn wir ed ung 
geftehen wollen, fo ift dem gebildeten Theil der Zeitgenofjen 
dasjenige, was den altgläubigen Ehriften heilige Gefchichte war, 
nur noch Fabel: die Erzählungen von Chrifti übernatürlicher 
Geburt, von feinen Wundern, feiner Auferftehung und Him- 
melfahrt, müfjen, als den Geſetzen unſeres Erkenntnißvermögens 
widerſprechend, verworfen werden. Aber man faſſe ſie nur nicht 
mehr bloß verſtaͤndig, als Geſchichte, ſondern mit Gefühl und 
Phantaſie, als Dichtung, auf: fo wird man finden, daß nichts 
in bdiefen Erzählungen willfürlih gemacht ift, fondern Alles 
feine Anfnüpfungspunfte in dem Tiefften und Gottverwandten 


7) Religion und Theologie, 2ter Abſchnitt, Kap. 3. Bgl. bibl. Dogmatik, 
$. 255; Eirchliche, $. 64 ff. 


702 i Schlußabhandlung. 6. 149. 


des menſchlichen Gemuͤthes hat. Von dieſem Standpunkt aus 
betrachtet, laͤßt ſich an die Geſchichte Chriſti Alles anknüpfen, 
was für das religiöſe Vertrauen wichtig, für den reinen Sinn 
belebend, für das zarte Gefühl anziehend ift. Es ift jene Ge⸗ 
fchichte eine heilig fchöne Dichtung des allgemeinen Menſchen⸗ 
gefchlechte, in der fich alle Bedürfniſſe unferes religiöfen Triebs 
vereinigen, und dieß ift eben die höchſte Ehre und ber ftärffte 
Beweis für die allgemeine Gültigfeit des Chriftenthums. Die 
Geſchichte des Evangeliums ift im Grunde die Gefchichte der 
idealiſch gedachten allgemeinen Dienfchennatur, und zeigt uns 
in dem Leben des Eınzigen, was der Menfch fein fol, und 
mit ihm verbun’en durch Befolgung feiner Lehre und feines 
Beifpield wirflih werden kann. Dabei wird nicht geläugnet, 
daß dem Paulus, Johannes, Matthäus und Lufas das That- 
ſache und gemiffe Gefchichte war, was uns jegt nur noch als 
heilige Dichtung erfcheinen fann. Aber e8 war ihnen auf 
ihrem Standpunft aus eben dem innern Grunde heilige That: 
fache und Gefchichte, aus welchem es uns jet auf unferem 
Standpunft heilige Mythe und Dichtung iſt. Nur die An- 
fihten find verfchieden: die menfchliche Natur, und in ihr der 
religiöfe Trieb, bleibt immer berfelbe. Jene Männer beburften 
in ihrer Welt, zur Belebung der religiöfen und moralifchen 
Anlagen in den Menfchen ihrer Zeit, Gefchichten und That⸗ 
farben, Deren innerften Kern aber Ideen bildeten: uns find 
die Thatfachen veraltet und zweifelhaft geworden, und nur 
noch um der zum Grunde liegenden Ideen willen die Erzaͤh⸗ 
lungen davon ein Gegenftand der Verehrung. ®) 

Diefe Anficht traf zunächft von Seiten des Firchlichen 
Bewußtfeins der Vorwurf, daß fie ftatt des Reichthums götts 
licher Realität, wie fie der Glaube in der Gefchichte Chriſti 
findet, eine Sammlung leerer Ideen und Ideale unterfchiebe; 





8) Ideen über Mythologie u. f. w. in Henke's nem Magazin, 6, ©. 
4154 ff. Vgl. Henke's Mufeum, 3, ©. 455. 











u Schlußabhandlung. $. 149. 703 


ftatt ein troftreiches Sein zum gewähren, es bei'm drüdenden 
Sollen bewenden laffe. Für bie Gewißheit, daß Gott fich 
einmal wirflich mit der menfchlichen Natur vereinigt hat, bietet 
die Anmahnung fehlechten Erfag, daß der Menfch göttlichen 
Sinnes werden folle; für die Beruhigung, welche dem Gläu- 
bigen die durch Ehriftum vollbrachte Erlöfung gewährt, ift 
ihm die Beranfehaulichung der Pflicht Fein Aequivalent, fi 
felbft von der Sünde loszumachen. Aus ber verföhnten Welt, 
in welche ihn das Chriſtenthum verfegt, wird der Menfch 
durch dieſe Anficht in eine unverföhnte zurüdgeworfen, aus 
einer feligen in eine unfelige; denn wo die Berföhnung erſt 
zu vollbringen, die Seligfeit erft zu erringen iſt, da ift vor 
der Hand noch Feindſchaft und Unfeligfeit. Und zwar ift die 
Hoffnung, aus diefer je ganz herauszukommen, nach den Prin⸗ 
cipien dieſer Anficht, welche zur Idee nur eine unendliche 
Annäherung kennt, eine täufrhende; denn das nur im end- 
Iofen Brogreß zu Erreichende ift in der That ein Unerreich- 
bares, 

- Doch nicht allein der Glaube, fondern auch die Wiffen- 
ichaft in ihrer neueften Entwicklung hat diefen Standpunkt 
unzureichend befunden. Sie hat erfannt, daß, die Ideen zum 
bloßen Sollen machen, dem fein Sein entfpreche, fie aufheben 
heiße: wie das Unendliche als bleibendes Jenſeits des End- 
lichen fefthalten, e8 verendlichen; fie hat begriffen, daß das 
Unendliche im Segen und Wiederaufheben des Endlichen ſich 
jelbft erhält, die Fpee in der Gefammtheit ihrer Erfcheinungen 
ſich verwirflicht, Daß nichts werden fann, was nicht an fich 
fhon ift: alfo auch vom Menfchen fidy nicht verlangen läßt, 
fih mit Gott zu verföhnen und göttlichen Sinnes zu werben, 
wenn dieſe Berföhnung und Bereinigung nicht an fich ſchon 
vollbracht ift. 





04 Schiußabhandlung. $. 150. . 


6. 150. 
Die fpecufative Ehriftologie. 


Schon Kant hatte gefagt, das gute Princip ſei nicht 
bloß zu einer gewifien Zeit, fondern vom Urfprung des menſch⸗ 
lichen Geſchlechts an unfichtbarerweife vom Himmel in. die 
Menſchheit herabgefommen, und Schelling ftellte den Sag 
auf: die Menfchwerdung Gottes ift eine Menfchwerbung von 
Ewigkeit.) Aber während der erftere unter jenem Ausdrud 
nur die moralifche Anlage verftanden hatte, welche mit ihrem 
Seal und ihrem Sollen von jeher dem Menfchen eingepflangt 
gewefen ſei: verftand der legtere unter dem menfchgeworbenen 
Sohne Gottes das Endliche felbft, wie es im Menfchen zum 
Bewußtfein kommt, und in feinem Unterfchiede von dem Unend⸗ 
lichen, mit dem es doch Eins ift, als ein leidender und den 
Berhältniffen der Zeit unterworfener Gott erfcheint. 

In der neueften Philofophie ift dieß weiter fo ausgeführt 
worden.) Wenn Gott ald Geift ausgefprochen wird, fo Tiegt 
darin, da auch der Menfch Geift ift, bereits, daß beide an fich 
nicht verfehieden find. Näher ift in der Erfenntniß Gottes ale 
Geiftes, da der Geift wefentlich dieß ift, in der Unterfcheidung 
feiner von fich iventifch mit fich zu bleiben, im Andern feiner 
fich felbft zu haben, dieß enthalten, daß Gott nicht als ſproͤdes 
Unendliche außer und über dem Endlichen verharrt, fondern in 
daffelbe eingeht, die Enplichfeit, die Natur und den menfchlichen 
Geift, nur als feine Entäußerung ſetzt, aus der er ebenfo ewig 


1) Vorlefungen über die Methode des akademiſchen Studiums, S. 192. 

2) Hegel’s Phänomenologie des Geiftes, S. 561 ff.; deffelben Vorleſun⸗ 
gen über die Philof. der Relig. 2, S 234 f. Marbeinefe, Grund: 
lehren der chriftl. Dogmatil, ©. 174 ff. Roſenkranz, Enchyklopaͤdie 
der theol. Wiffenfhaften, S. 38 ff., 148 ff. Vgl. meine Gtreitfchriften, 
3te8 Heft, ©. 76 ff. 


— — — On 00T — — — or 


0 d 


Schlußabhandlung. $. 150. 05 


wieder in’ die Einheit mit fich felbft zurückkehrt. So. wenig 


der Menfch als bloß endlicher und an feiner Endlichkeit feit- 


baltender Geift Wahrheit hat: fo wenig hat Gott ald blog . 


unendlicher in -feiner Unendlichkeit. ſich abſchließender Geift 
Wirklichkeit; fondern wirklicher Geift ift der unendliche nur, 
wenn er zu endlichen Geiftern ſich erfchließt: wie der endliche 
Geift nur dann wahrer ift, wenn er in den unendlichen fich 
vertieft. Das wahre und wirkliche Dafein des Geiftes alfe- ift 
weder Gott für ſich, noch der Menfch für ſich, fondern der. 
&ottmenfch : weder allein feine Unendlichkeit, noch allein feine 
Endlichkeit, fondern die Bewegung des Sichhingebend und Zu: 
rüdnehmens zwifchen beiden, welche von goͤtlicher Seite Offen⸗ 
barung, von menſchlicher Religion iſt. 

Sind Gott und Menſch an ſich Eins, und if die Religion 
die menfchliche Seite diefer Einheit: fo muß, diefe in der Re— 
ligion für den Menfchen werden, in ihm zum Bewußtſein und: 
zur Wirklichkeit kommen. Freilich, fo fange der, Menſch ſich 
felbft- noch nicht als Geiſt weiß, kann er auch Gott, noch nicht 
als Menfchen wiflen: ift er noch natürlicher Geift, fo wird er. 


die Natur vergöttern; ale gefeglicher Geiſt, der feine Natürlich“ 


feit nur erft auf Außerliche Weife bemeiftert, wird er Gott als 
Gefeßgeber fich gegenüberftellen ; aber- find nur einmal im Ge— 
dränge der Weltgejchichte beide, jene Natürlichkeit . ihres Ver⸗ 
derbens, dieſe Gefeglichkeit ihres Unglüds, inne geworben :. fo 
wird fowohl jene das Bedürfniß empfinden, einen Gott. zu 
haben, der fie über fich erhebe, als dieſe einen, der ſich zu 
ihr herunterlaffe. Iſt Die Menfchheit einmal reif dazu, Die 
Wahrheit, daß Gott Menfch, der Menſch göttlichen Gefchlechtes. 

it, ald ihre Religion. zu haben: fo muß, da die Religion die 
Form ift, in welcher die Wahrheit für das gemeine, Bewußt⸗ 
fein wird, jene Wahrheit auf eine gemeinverftänbliche Weiſe, 
als ſinnliche Gewißheit, erſcheinen, d. h. es muß ein menſch⸗ 
liches Individuum auftreten, welches als der gegenwaͤrtige 
Gott gewußt wird. Sofern dieſer Gottmenſch das jenſeitige 

.1k Band. | Ä | 45s. 








106 Schlußabhandlung. $. 150. 


göttliche Weſen und das- Diefjeitige menſchliche Selbft in Eins 

zufammenfchließt, kann von ihm gefagt werden, daß er den 
- göttlichen Geift zum Vater, und eine menfchliche Mutter habe; 
fofern fein Selbſt ſich nicht in fi, fondern in die abfolute 
Subſtanz reflectirt, nichts für fih, fondern nur für Gott fein 
will, ift er der Sündlofe und Vollfommene; als Menſch von 
göttlichem Weſen ift er die Macht über die Natur und Wun- 
derthäter ; aber als Gott in menfchlicher Erfeheinung ift er son 
ver Natur abhängig, ihren Bedürfniffen und Leiden unterworfen, 
befindet ſich im Stande der Erniedrigung. Wird er der Natur 
auch den lebten Tribut bezahlen müſſen? Hebt die Thatfache, daß 
die menfchliche Natur dem Tod verfällt, nicht Die Meinung 
wieder auf, daß fie an ſich Eins‘ mit der göttlichen: fei? Nein: 
der Gottmenſch flirdt, und zeigt dadurch, daß es Gott mit 
feiner Menfehwerbung Ernft tft; daß er zu den unterften Tiefen 
der Endlichfeit herabzufteigen nicht verſchmaͤht, weil: er auch 
aus diefen ben Rückweg zu fich zu finden weiß, auch -in ber 
völfigften Entäußerung mit ſich identifch zu bleiben vermag. 
Näher, fofern der Gottmenfch als der in feine Unendlichkeit 
refleetirte Geift den Menfchen als an ihrer Enblichleit feſthal⸗ 
tenden gegenüberfteht: iſt hiemit ein ©egenfab und Kampf 
gefest, und der Tod des Gottmenſchen als gewaltfamer, durch 
der Sünder Hände, beftimmt; wodurch zu der phyſiſchen Noth 
noch die moralifche der Schmach und Befchuldigung des Bers 
brechens fommt. ‘ Findet fo Gott den Weg vom Himmel bis 
zum Grabe: fo muß für den Menfchen auch; aus dem Grabe 
der Weg zum Himmel zu finden fein ; das Sterben des Lebens⸗ 
fürften tft das Leben des Sterblichen. Schon durch fein Eins 
gehen in‘ die Welt ald Gottmenfch zeigte fich Gott mit der 
Welt. verföhnt; näher aber, indem er fterbend feine Natürlichkeit 
adftreifte, zeigte er ven Weg, wie er die Verfühnung ewig zu 
Stande bringt: nämlich durch Entäußerung zur Natürlichkeit 
und Wiederaufhebung derſelben identiſch mit fich zu bleiben. 
Infofern ‚der Tod des Gottmenſchen nur Aufhebung feiner Ent⸗ 
äußerung iſt, ift er in der That Erhöhung und Rüdfehr zu 














Schlußabhandlung. $. 151. "07 


Gott, und fo folgt auf den Tod weſentlich die Anferftehung 
und Himmelfahrt. ° 

Indem der Gottmenſch, welcher "während ſeines Lebens 
den mit ihm Lebenden ſinnlich als ein Anderer gegenüberſtand, 
durch den Tod ihren Sinnen entnommen wird, geht er in ihre 
BVorftellung und Erinnerung ein, wird fomit die in ihm ge: 


ſetzte Einheit des Göttlichen und Menfchlichen allgemeines Bes 


wußtfein, und die Gemeinde muß die Momente feines Lebens, 
welche er äußerlich durchlief, in ſich auf geiftige Weiſe wieder: 
holen. Im Natürlichen fich ſchon vorfindend, muß der Glaubige, 
wie Ehriftus, dem Natürlichen — aber nur innerlich, ‘wie er 
äußerlich — fterben, geiftig, wie Ehriftus Teiblich, fich kreuzigen 
und begraben lafien, um durch Aufhebung der Natürlichkeit 
mit fich als Geift iventifch zu fein, und an Chriſti Seligkeit 
und Herrlichkeit Antheil zu bekommen. 


8. 151. 
Letztes Dilemma. | 


Hiemit feheint auf höhere Weife, aus dem Begriffe Gottes 
und des Menfchen in ihrem gegenfeitigen Berhältnißg heraus, 
die Wahrheit der Firchlichen Vorftellung. von Chriftus beftätigt, 
und fo zum orthodoxen Standpunkte, wiewohl auf umgefehrtem 
Wege, zurüdgelenkt zu fein; wie nämlich dort aus der Richtig- 
feit der evangelifchen Gefchichte die Wahrheit der kirchlichen 
Begriffe von Chriftus deducirt wurde: fo hier qus der Wahrs 
heit der Begriffe die Richtigkeit der Hiſtorie. Das Vernünfs 
tige ift auch wirflich, die Idee nicht ein Kantifhes Sollen 
bloß, ſondern ebenfv ein Sein; als Vernunftidee nachgewieſen 
alfo muß die Idee der Einheit der göttlichen und menfchlichen 
Natur auch ein gefchichtliches Dafein haben. Die Einheit 
Gottes mit dem Menfchen, fagt daher Marheingke, y iſt 


21) Dogmatit, $. 326. 


45 * 


708 Sciußabfandlung. $. 151. 


in der Berfon Jeſu Chrifti offenbar und wirklich als ein Ge⸗ 
fchehenfein; in ihm war, nach Rofenfranz, ) die göttliche 
Macht über die Natur concentrirt, er £onnte nicht anders 
wirken, als wunderbar, und dad Wunderthun, was uns be 
fremdet, war Ihm. natürlich; feine Auferftehung, fagt Con⸗ 
radi, ) ift die nothwendige Folge der Vollendung feiner 
PVerfönlichkeit, und darf jo wenig befremden, daß es vielmehr 
befremden müßte, wenn fie nicht erfolgt wäre. 

Allein find denn durch dieſe Devuction die Widerfprüche 
gelöst, welche an der Eirchlichen - Xehre von der Perſon und 
Wirkſamkeit Chrifti fich herausgeftellt haben? Man darf nur 
mit dem Tadel, welchen gegen die Schleiermacher ſche 
Kritit der Firchlichen Chriftologie Rofenkranz. in feiner Res 
cenſion ansgefprochen ‚hat, dasjenige vergleichen, was der 
legtere in feiner Encyflopädie an die Stelle ſetzt: fo wird 
man finden, daß durch die allgemeinen Saͤtze von Einheit der 
göttlichen und menfchlichen Natur die Erfeheinung einer Perfon, 
in welcher diefe Einheit auf ausfehließende Weile individuell 
vorhanden gewefen wäre, nicht im Mindeften denfbarer wird. 
Wenn ich mir denken Tann, daß der göttliche Geiſt in feiner 
Entäußerung und Erniedrigung der menfchliche, und der 
‚menfchliche in feiner Einkehr in ſich und‘ Erhebung’ über fich 
‚der göttliche ift: fo kann ich mir deßwegen noch nicht vor⸗ 
ftellen, wie göttliche und menfrhliche Natur die verſchiedenen 
‘und doch verbundenen Beftandtheile einer gefchichtlichen Perſon 
ausgemacht haben. können; wenn ich den Geiſt der Menich- 
"heit in feiner Einheit mit dem göttlichen im Berlaufe der 
Weltgeſchichte immer volftändiger als die Macht über die | 
Natur fich bethätigen ſehe: fo ift dieß etwas ganz Ande⸗ 
res, ald einen einzelnen Menfchen für einzelne willkuͤrliche 


2) Encyklopaͤdie, ©. 160. | 
) Seibftbewußtfein und Offenbarung, S. 295 f. Bgl. Bauer, in der 
- Necenf. des E. J., Jahrbuͤcher f. wiſſ. Kritit, 1836, Mai, ©. 699 ff. 


/ 








Schlußabhandlung. $. 151. 709 


Handlungen mit ſolcher Macht ausgerüftet- zu denfen; vollends 
aus ver Wahrheit, daß die uufgehobene: Natürlichkeit das ° 
Auferſtehen des Geiſtes fei, wird ie leibliche Auferftehung 
eines Individuums niemals folgen. 


Hiemit wären wir alſo wieder auf den Kantiſchen 
Standpunkt zurückgeſunken, den wir ſelbſt ungenügend befun— 
den haben; denn wenn der Idee Feine Wirklichkeit zukommt, 
fo iſt ſie leeres Sollen und. Ideal. Aber heben wir denn, 
alle Wirklichkeit der Idee auf? Keineswegs; fondern nur 
biejeitige, "welche aus den Prämiffen nicht folgt.) Wenn 
der Idee der Einheit von göttlicher und menfchlicher Natur 
Realität zugefchrieben wird, heißt dieß joviel, daß ſie einmal 
in eittem Individuum, wie vorher und hernach nicht mehr, 
wirklich geworden fein müffe? Das ift ja gar nicht die Art, 
wie die Idee fich realifitt, in Ein Eremplar ihre ganze Fülle 
auszuſchütten, und gegen alle andern zu geizen;®) In jenem 
Einen ſich volftändig, in’ fen" übrigen aber immer nur 
unvollftändig abzudräden : fondern in einer Manchfaltigfeit 
von Eremplaren, die. fich gegenfeitig ergänzen, im Mechjel 
fich fegender "und wiederaufhebender Individuen, liebt ſie ihren 
Reichthum auszubreiten. Und das ſoll feine wahre Wirklich— 
feit der Idee fein? die Idee ver Einheit von göttlicher und 
menfchlicher Natur ware nicht vielmehr in unendlich hoͤherem 
Sinn ” eine reale; wenn ich bie ganze Menſchheit als ihre 
Verwirklichung begreife, als wenn ich einen einzelnen Men— 
ſchen als folche ausſondere? eine Menſchwerdung Gottes 
von Ewigkeit nicht eine wahrere, als eine in einem abge: 
ſchloſſenen Punlte der Zeit? | 


Das ift der Schlüff el ber. ‚ganzen chriſeledie, dab, als 
Subject der Prädicate, welche die Kirche Chriſto beilegt, ftatt 


h) Vgl. Hiezu meine Streitfchriften, 3. Heſt, S. — 126. 
s) Hiemit iſt die Exlaͤuterung im angefuͤhrten Hefte der Gtreitſchriften, 
S. 119. zu vergleichen. 


‚18 Schlußqbhandlung. „$. 151. 


eines Individuums eine Idee, aber eine reale, nicht Kant iſch 
unwirkliche gefegt wird. In einem Individuum, einem Gott: 
menſchen, gedacht, wiberfprechen fi) die ‚Eigenfchaften und 
Functionen, welche die Kirchenlehre Chrifto zufchreibt: in der 
Idee der Gattung flimmen fie zufammen. Die Menfchheit 
if. die Bereinigung der beiden Naturen, der menfchgemwordene 
Gott, der sur Endlichkeit entäußerte unendliche, und der feiner 
. Unendlichkeit ſich erinnernde endliche Geiſt; ſie iſt das Kind 
der ſichtbaren Mutter und des unſichtbaren Vaters, des Geiſtes 
und der Natur; ſie iſt der Wunderthaͤter, ſofern im Verlauf 
der Menſchengeſchichte der Geiſt ſich immer vollftändiger der 
Natur, im Menſchen wie außer demſelben, bemächtigt, dieſe 
ibm gegenüber zum machtloſen Material feiner Thaͤtigkeit her 
untergefest wird; ®) fie ift der Unfündfiche, fofern ver Gang 
ihrer Entwidlung ein tadelloſer if, Die Verunreinigung immer 
nur am Individuum flcbt, in der Gattung aber und ihrer 
Geſchichte aufgehoben iſt; fie ift der Sterbende, Auferftehende 
und gen Himmel Yahrende, ‚fofern ihr aus der Negation ihrer 
Natürlichkeit immer. böberes geiftiges Leben, aus, der Aufhebung 
ihrer Envlichfeit als perfönlichen,,. nationalen und. ‚weltlichen 
Geiftes Ihre Einigfeit mit dem. unendlichen , Beifte des Him⸗ 
meld hervorgeht, Durch, den Glauben an biefen ; Chriſtus, 
namentlich an ſeinen Tod und ſeine Auferſtehung, wird der 
Menſch vor Gott gerecht; d. h. durch die Belebung. der Idee 
„der Menſchheit im ſich, namentlich nach dem Momente, daß 
Die Negation der Natürlichfeit und Sinnlichkeit, welche ſelbſt 
ſchon Negation ae. 1 @eifee iſt, alſo die Negation der. Negar 
tion, der einzige Weg zum wahren geiftigen ‚Leben für den 
Menſchen fei, wird auch ber ‚Eingetne bes goͤttnenſchlichen 
Lebens der „Gattung theilhaftig — — 


.. 
42 ’° hlls 


— — · — 
—— 


6) Auch hiezu ift eine Erläuterung in ben Streitſchriften, 3, S. 196 f., 
nachzuſehen. 


7) ‚Hierin liegt ſchon bie Wiberlegung des Vorwurfs, welchen Schaller 





Schlußabhandlung. F. 15R . 7:1 


| Dieß allein ift der abfolute Inhalt der Chriſtologie: daß 
diefer an die Perſon und Geichichte eines Einzelnen geknüpft . 
erſcheint, gehört nur zur gefchichtlichen Form derfelben. Schleier: 
macher hat ganz Recht gehabt, wenn er ſagte, e8 ahne ihm, 
daß bei der ſpeculativen Anficht für Die gefchichtliche Perſon 
des Erlöfers nicht viel mehr als bei-der ebionitifchen, übrig 
bfeibe. Die finnliche Geſchichte des Individuums, fagt Her 
gel, ift nur der Ausgangspunkt für den Geifl. Indem ber 
Glaube von der finnlichen Weife anfängt, hat er eine zeitliche 
Gefchichte vor ſich; was er für wahr hält, ift äußere, gewöhns 
liche Begebenheit,, und die Beglaubigung ift die hiſtoriſche, 
juriftifche Weife, ein Factum durch finnliche Gewißheit und 
moralifche Zuverläßigfeit der Zeugen zu conftatiren. Indem 
nun aber der Geiſt von diefem Aeußeren Beranlaffung nimmt, 
die Idee der mit Gott einigen Menfchheit fich zum Bewußt« 
fein zu bringen, und nun in jener Geſchichte die Bewegung 
dDiefer Idee anfchaut: Hat fih der Gegenftand vollkommen 
verwandelt, ift aus einem finnlich empirifchen: zu einem geiftle 
gen und göttlichen geworden, der nicht mehr in der Gefchichte, 
fondern in der Bhilofophie feine Beglaubigung hat. Durch 
diefes Hinausgehen: über die finnliche Gefchichte zur abfoluten 
wird. jene als das Weſentliche aufgehoben, zum Untergeordne⸗ 
ten herabgefegt, über welchem die geiftige Wahrheit auf eigenem 
Boden. fteht, zum fernen Traumbilde, das nur noch in ber 
Bergangenheit, und nicht, wie die Idee, in dem fich ſchlechthin 
gegenwärtigen Geifte vorhanden ft. Schon Luthex hat:vie 


vn 2 


(dee hiſtoriſche Chriſtus und bie Philoſophie, S. 64 ff.) der oben dar⸗ 
gelegten Anficht gemacht hat, als Lehrte fie nur eine fubftangielle, nicht 
auch eine perfönliche Einheit bes Menfchen mit Gott. Die in der An: 
lage der Gattung an ſich vorhandene Einheit ift von jeher in den Ein» 
zelnen, nach dem verſchiedenen Maaße ihrer religiöfen Entwicklung, 
für fih, mithin bie -fubftangielle Einheit in verfchiehenen Geben zur 
perfönlichen Vereinigung gemorben. 

» Borlefungen über die Philofophie der Religion 2, ©&,-263 ff. Bergf, 


712 Schlußabhaublung. 8. 151, 


teiblichen Wunder gegen die geififichen‘, als die rechten hohen 
Mirakel, berabgelegt: und wir follten uns. für einige Kran 
fenheilsngen in. Galiläa auf höhere Weife intereffiren koͤnnen, 
als für Die Wunder des Gemüthslebens und der Weltgefchichte, 
für die in's Unglaubtiche fleigende Gewalt des Menſchen über 
die. Natur, für die unmiderftehliche Macht der Idee, welcher 
noch fo große Maflen des Ideenloſen keinen dauernden Wider⸗ 
ftand- entgegenzufegen vermögen? uns follten vereinzelte, ihrer 
Materie nach unbedeutende Begebniffe mehr fein, als Das uni- 
verfellſte Geſchehen, ‚einzig deßwegen, weil wir bei biefem die 
Nanirlühfeit des Hergangs, wenn nicht begreifen, doch vor= 
ausfepen, bei jenen aber. Dad Gegenthell? ‚Das wäre. dem 
befieren Bewußtſein unferer: Zeit in's Angeficht widerſprochen, 
weiches Schleiermarher richtig und abfchließend fo ausge: 
druͤckt hat: aus dem Intereſſe der. Srömmigfeit könne nie mehr 
das: Beduͤrfniß entftehen, “eine Tchatfache fo aufzufaffen, daß 
durch ihre Abhängigfeit von ‚Butt ihr Bedingtfein durch. den 
. Raterzufammenhang aufgehohen würde, da wir über die Mei« 
nung hinausfeien, als obe die göttliche. Allmacht fidy größer 
zeigte in der Unterbrehung des Naturzufammenhangs, als in 
dem geordneten Verlauf deflelben”). Ebenfo, wenn wir dag 
Menfchwerden „ Sterben und Wiederauferſtehen, das duplex 
negatio affirmat, als den ewigen Kreislauf, Den endlos ſich 
wiederholenden Pulsfchlag des göttlichen Lebens‘ wiflen, was 
kann an einem einzelnen Factum, welches. diefen Prozeß dazu 
bloß Finnlich darſtellt, noch beſonders gelegen fein? Zur Idee 
"im Factum, zur Gattung im Individuum, will unfere Zeit in 
der Chriftologie geführt fein: eine Dogmatik, welche im Locus 
von Ehrifto bei ihm als Individuum ftehen bleibt, ift feine 
Dogmatit, ſondern eine e Predigt. 


die Befantenfetung der verfähtedenen Ausfprüde Hegels über bie 
yaslon &hrifti und die evangeliſche Geſchichte i in a meihen Streitfriften, 
3. Heft, von ©. 76 an. 

N Glaubenslehre, 1, ©; 41." 





Schlußabhanblung. $: 189. 713 


Aber eben die Predigt, wie Diefe fich dann zur Dogmatik 
verhaften ſolle, und wie überhaupt ftoch eine Wirkfamfeit des 
Geiftlichen in der Gemeinde möglich fei, wenn die Dogmatik 
jene Geftalt angenommen, if die bevenfliche Örage, bie fich 
uns bier ſchließlich noch entgegenftelt. | 


8. 180. 
| Verhältniß der tritiſcheſpeculativen Theologie zur Kirche. 


Schleiermacher bat geſagt, wenn er ſich die immer 
mehr herannahende Kriſts in ver Theologie denfe, und ftelle 
fih vor, er müßte dann zwifchen einem von beiden wählen, 
entweder vie chriftliche Urgeſchichte wie jede gemeine Gefchichte 
der Kritik preiszugeben-, oder feinen Glauben. von dert Specu: 
kation zu Lehen. zu nehmen: fo würde er für fich allein zwar 
das. Letztere wählen ; betrachte er ſich aber in der Gemeinde, 
ind vorzüglich als Lehrer: derfelben:: fo ‚werde er von biefer 
Seite fort und auf die entgegengefegte hinübergezogen. Denn 
der Begriff der Idee Gottes und des Menfchen *duf welchem 
nach der fpeculativen Anficht die Wahrheit Des Kriftlichen 
Glaubens beruhe, ſei freilich ein koͤſtliches Kleinod, aber nur 
Wenige können es beſitzen, und ein ſolcher Privilegirter wolle 
er nicht ſein in der Gemeinde, daß er unter Tauſenden den 
Grund des Glaubens allein hätte. Hier koͤnne ihm nur wohl 
ſein in der voͤlligen Gleichheit, in dem Bewußtſein, daß wir 
alle auf dieſelbe Weiſe von dem Einen nehmen, und daſſelbe 
an ihm haben. Und als Wortführer und Lehrer in der Ger 
meinde Fönnte er fich doch unmöglich die Aufgabe ftellen, Alt 
und Jung ohne Unterfchied den Begriff der Idee Gottes und 
des Menfchen beizubringen: vielmehr müßte er ihren Glauben 
als einen grundlofen in Anfpruch nehmen, und fönnte ihn 
auch nur als einen foldhen ftärfen und befeftigen wollen. In⸗ 
dem fo in der gemeinfamen Angelegenheit: per Religion. eine 


714 Schlußabhandlung. $. 15%. 


unüberfteigliche Kluft befeftigt werde, bedrohe uns die fperula- 
tive ‚Theologie mit einem Gegenfage von efoterifcher und exo⸗ 
teriſcher Lehre, welcher den Aeußerungen Chräfti, es ſollen Alle 
von Gott. gelehrt fein, gar nicht gemäß fer: die Wiſſenden 
haben allein den Grund des Glaubens, die Nichtwiſſenden 
haben nur den Glauben, und erhalten ihn nur auf dem Wege 
der lleberlieferung. Laſſe hingegen die ebionitifche Anficht nur 
wenig von Chrifto übrig, fo fei dieß Wenige doch Allen gleich 
zugänglich und erreichbar, und wir bleiben dabei bewahrt vor 
jeder, immer doch in's Römifche hinüberfpielenden, Hierarchie 
ber Speculationd. Hier ift auf gebildete Weife dasjenige 
ausgelprochen, was. man jebt von Bielen, nur in ihrer Art 
ungebilvdet, zu hören befommt, daß der fpeculative und zugleich 
fritifche Theolog der Gemeinde gegenüber zum Lügner werde. 
Der wirklihe Thatbeſtand ift hiebei dieſer. Die Gemeinde 
bezieht. die Firchliche Ehriftelogie auf ein zu gewifler Zeit ge 
ſchichtlich dageweſenes Individuum: der fpeculative Theolog 
auf eine Idee, die nur in der Geſammtheit der Individuen 
zum Dafein gelangt; der Gemeinde gelten die evangeliſchen 
Erzählungen als, Geſchichte: dem kritiſchen Theologen guten 
Theild nur als Mythe. Soll er fih nun ber Gemeinde nin 
theilen, ſo ſtehen ihm vier Wege offen: 


Erſtlich der ſchon in den obigen Aeußerungen Sqleier 
macher's abgeſchnittene Verſuch, die Gemeinde geradezu auf 
ſeinen Standpunkt zu erheben, das Geſchichtliche auch für ſte 
ih Ideen aufzulsſen: — ein Berfuch, der nothwendig fehlfchle 
gen muß, weil der Gemeinde ale PBrämiffen‘ fehlen, durch 
weiche in bem Theologen feine fperulative Anficht vermittelt 
worden iſt; den ebendeßwegen nur ein fanatiſch gewordenet 
Auftlãtungstrieb machen koͤnnte. 


| Der. rveite, eigegengeet Ausweg wäre, ſd durchaus 


lı + 2 
— — — 


— 


* 
— ER v } 
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2) » Im zweiden Sendſchreiben über feine Glaubenslehre. 


Schlußabhandlung. $ 152. 715 


auf den Standpunkt ‘der ‚Gemeinde zu verfeten, und für Die 
kirchliche Mittheilung fi) aus der Sphäre des Begriffs ganz 
in die Region. der. volfsthümlichen Vorftellung - herabzulaſſen. 
Dieſer Ausweg wird gewöhnlich zu roh gefaßt und beurtheilt. 
Die Differenz zwifchen dem Theologen und der Gemeinde wird 
für. eine totale. angefehen: er müßte, meint man, ‚auf die Trage, 
ob. er an die Gefchichte Chrifti glaube, eigentlich nein fagen, 
fage aber ja, und bieß fei eine Lüge. Allerdings, wenn bei'm 
geiftlichen Bortrag und Unterricht das Intereffe ein gefchicht- 
liches wäre, verhielte es fich fo: nun aber ift das Intereſſe 
ein religiöfes, es ift wefentlich Religion, was ‚hier mitgetheilt 
wird, erfcheinend in. Form von Gefchichte, und da kann, wer 
zwar an die Gefchichte als folche nicht glaubt, doch. das Reli- 
giöfe in ihr. ebenfogut anerkennen, wie wer. auch die Gefchichte 
als folche annimmt; es ift nur ein Unterfehied der Form, von 
welchem der Inhalt, unberührt bleibt. Deßwegen iſt e8 unge- 
bildet, ‚e8 fchlechtweg Züge zu nennen, wenn ein Geiftlicher 
3. B. von der Auferfehung Chrifti predigt, indem er Diefe 
zwar als einzelnes: ‚finnliches. Factum nicht für wirklich, aber: 
doch Die, Anſchauung des geiftigen Xebensproceffes, welche darin 
liegt, für wahr. hält.; Näber ‚jedoch ift dieſe Identität des 
Inhalts nur für: benjenigen. vorhanden, welcher. Inhalt und 
Form der Religion, gu unterſcheiden weiß, d. h. für den Theo⸗ 
logen, nicht aber, für Die. Gemeinde, zu welcher er ſpricht: dieſe 
kann fich Feinen Glauben an die. dogmatifche Wahrheit z. B. der 
Auferftehung Ehrifti denfen, ohne Ueberzeugung von ihrer hiſto⸗ 
riſchen Wirklichkeit, und. fommt fie Dahiater, daß. der Geiſtliche 
die letztere nicht. annimmt, amd doch noch von Auferſtehung pre⸗ 
digt, fo muß ‚er. ihr als Lügner erſcheinen, wodurch das ganze 
Verhältniß zwiſchen ihm und der Gemeinde zerriſſen iſt. 


So für ſich zwar fein Lügner, aber der Gemeinde als fol- 
cher, erſcheinand und fich deſſen bewußt, müßte der Geiſtliche, 
wenn er demunerachtet zu der Gemeinde in.der Yorm ihres. Bes : 
wußtſeins zu. reden. fortführt, am Ende doch auch fich felbit als, 


716 Schlußabhanblung. $. 15%: 


Lügner erfeheinen, und fähe fich fomit auf den dritten, verzwei⸗ 
felten Ausweg hingetrieben, den geiftlichen Stand zu verlaffen. 
Es hälfe nichts, zu fagen, er folle nur von der Kanzel herab, 
und ftatt deffen auf das Katheder fteigen, wo er vor folchen,. die 
zum Wiffen beftimmt find, feine wiffenfchaftliche Anſicht nicht 
zurüdzuhalten brauche; denn wenn derjenige, welchen der Gang 
feiner Bildung nöthigte, die geiftliche Praris aufzugeben, nun 
viele folche heranzubilden befäme, die durch ihn zur geiſtlichen. 
Praxis unfähig würden, fo wäre dieß aus Uebel nur ärger ger 
macht. Dennoch könnte es andrerfeits nicht gut für ‘vie Kirche 
” geforgt heißen, wenn alle diejenigen, welche der Kritif'und Spe⸗ 
culation bi8 zu den oben bargelegten Ergebniſſen in ſich Raum 
verftatten, aus ihrem Lehrflande heraustreten follten. Denn da 
würde ſich bald fein Geiftlicher mehr mit ſolchen Forſchungen 
abgeben wollen, wenn er dadurch Gefahr liefe,auf Reſultate 
geführt zu werden, welche ihn noͤthigten, aus dem geiſtlichen 
Stande zu treten; die Kritik und Philoſophie würde Eigen⸗ 
thum der Nichttheologen werben, den Theologen aber bliebe 
nur der Glaube, welcher‘ dann den Angriffen: ver Tritifchen 
und fpeculativen "Laien: unmögfich -in die "Länge widerſtehen 
könnte. Doch der mögliche- Erfolg bat da, wo es Wahrheit 
gilt, fein Gewicht, und fo fol das eben: Geſagte nicht gefagt 
fein. Das. aber bleibt doch, wenn wir atıf die: Sache felbft 
fehen,, daß, wen: feine theologifchen Studien huf einen. Stand» 
punft ‘geführt haben, ‚auf welchen. er glauben muß, - Hinter Die 
Wahrheit gekommen, in das inherfte Myſterium der. Theologie 
eingedrungen zu’ fein, der ſich nicht geneigt oder verpflichtet 
fühlen kann, nun gerade die "Theologie Zu quittiren;, daß dieß 
vielmehr für einen folchen eine‘ unnatuͤrliche Zumuthung, ja 
geradezu unmöglich ſein muß. 1 nid 


Er wird: alſo "nach einem andern‘ Auswege ſuchen, und 
als ſolcher bietet ſich ein vierter, der, wie die zwei erſten eins 
ſeitig, der ‚dritte nur. eine negative Vermittlung“ war, fo 
eine poſitive Vermittlung zwiſchen den Beiden Trtremen, dem 














Schlußabhandlung. $. 157. 717 


Bewußtſein des Theologen und der Gemeinde, ift. Er wird ſich 
in feiner Mittheilung an die Gemeinde zwar in den Formen 
der populären Borftellung halten, aber fo, daß er bei jeder 
Gelegenheit den geiftigen Inhalt, der ihm die einzige Wahrs 
heit ver Sache ift, durchſcheinen läßt, und fo die, wenn gleich 
nur als unendlicher Progreß zu denfende, Auflöfung jener 
Formen auch im Bewußtſein ver Gemeinde vorbereitet. Er 
wird alfo, um bei dem gewählten Beifpiel zu bleiben, am 
Ofterfefte zwar von dem finnlichen Factum der Auferftehung 
Chrifti ausgehen, aber als die Hauptfache jenes mit Ehrifto 
Begrabenwerden und Auferftehen hervorheben, worauf fchon 
der Apoftel dringt. Diefen Gang nimmt eigentlich jeder Pre⸗ 
diger, auch der rechtgläubigfte, fo oft er aus der evangelifchen 
Perikope, über welche er predigt, eine Moral zieht: auch darin 
ift der Vlebergang von etwas äußerlich Hiftorifchem zu einem 
Inneren, Geiſtigen, vorhanden. Freilich ift der Unterſchied 
nicht zu überfehen, daß der orthodore Prediger die fogenannte 
Moral dergeftalt auf die Hiftorie feines Textes baut, daß 
diefe als gefchichtlicde Grundlage liegen bleibt: wogegen bei 
dem fpeculativen Prediger der Uebergang von ber biblifchen 
Gefchichte oder Firchlichen Lehre zu der Wahrheit, die er daraus 
ableitet, die negative Bedeutung einer Aufhebung von jener 
hat. Genau betrachtet jenoch fehlt auch im Uebergange des 
orthodoren Predigerd vom evangelifchen Texte zur Nutzanwen⸗ 
dung dieſes negative Moment nicht; ‚indem er von der Ges 
fhichte zur Lehre fortfehreitet, fagt er damit wenigftend fo viel: 
mit der Gefchichte ift es nicht gethan, ſie ift Die Wahrheit 
noch nicht, ‚fie muß von einer vergangenen. zur gegenwärtigen, 
von einem euch fremden, äußeren ‚Gefchehen zu eurer eigenften 
inneren That werden: fo daß es fich mit diefem Uebergang 
auf ähnliche Weife verhält, wie mit, den Beweiſen für das 
Dafein Gottes, wo das weltliche Dafein, von welchem ausge: 
gangen wird, auch feheinbar zum Grunde liegen bleibt, in ber 
That aber ald das wahre Sein negirt, und zum Abfoluten 
aufgchoben wird. Immerhin invefien bleibt es noch ein 


718 Schlußabhandlung. $. 152. 


merflicher Ulnterfchieb, ob ich fage: da und fofern dieß gefchehen 
ift, habt ihr das zu thun und euch deffen zu getröften, — 
oder: dieß ift zwar erzählt als einmal 'gefchehen, das Wahre 
aber ift, daß es immer fo gefchieht, und auch an und dur 
euch gefchehen fol. Wenigftens wird die Gemeinde beides 
nicht für daffelbe nehmen, und es kehrt fomit, bei allem Mehr 
oder Minder, welches das mehr oder weniger felbftthätige 
Verhältniß des Geiftlichen zirr kritiſchen Theologie, nebft der 
Berfihiedenheit in der Bildungsftufe der Gemeinde, herein- 
bringt, dennoch auch hier die Gefahr zurüd, daß fie hinter 
dieſe Differenz komme, und der Prediger ihr, und dadurch auch 
ſich ſelbſt, als Lügner erſcheine. 


Von hier aus kann dann der Geiſtliche ſich wieder ge⸗ 
trieben finden, entweder direct mit der Sprache herauszugehen, 
und das Volk zu ſeinen Begriffen erheben zu wollen ; oder, 
da dieß notwendig mißglüden muß, ſich behutfam. ganz an 
die Vorftelungsweife der Gemeinde. anzuſchmiegen; oder end» 
lich, fofern er auch hier fich leicht verräth, am Ende doch aus 
ber Geiftlichfeit zu treten. 


Hiemit ift Die Schwierigkeit eingeſtanden, welche die kri⸗ 
tifchefpeeulative Anſicht in der Theologie für das Verhältniß 
des Geiftlichen zur Gemeinde mit fich führt; die Colliſton dar- 
gelegt, in welche der Theolog geräth, wenn es ſich fragt, was 
nun für ihn, fofern er auf folche Anfichten gefommen, weiter 
zu thun fei? und gezeigt, wie unfere Zeit hierüber noch nicht 
zur fichern Entſcheidung gefommen ift. : Aber viefe Eollifion 
ift nicht durch den Fuͤrwitz eines Einzelnen gemacht, fonbern 
durch den Gang der Zeit und die Entwidlung der chriſtlichen 
Theologie nothwendig herbeigeführt ; fie fommt an das Indi— 
viduum heran, und bemächtigt fich feiner, ohne daß es fi) 
ihrer erwehren fönnte. Ober vielmehr, es kann dieß mit leidh- 
ter Mühe, wenn es fich nämlich des Studirens und Denkens 
enthält, oder, wenn dieſes nicht, doch des freien Redens und 
Schreibens. Und deren gibt es ſchon genug in unferer Zeit, 





Schlußabhandlung. $. 152. 719 


und man brauchte fich nicht zu bemühen, ihrer immer mehrere 
zu machen durch Verunglimpfung derer, welche fich im Geifte 
der fortgefehrittenen Wiffenfchaft vernehmen laſſen. Aber auch 
deren gibt es noch, welche unerachtet folcher Anfechtungen doc) 
frei befennen, was nicht mehr verborgen werden Tann — und 
die Zeit wird lehren, ob mit diefen oner mit jenen der Kirche, 
der Menjchheit, der, Wahrheit, befier gedient ift. 


Wegifer 


der erläuterten evangelijchen Abfchnitte. 


(Die römifche Ziffer bedeutet den Band, die arahilche die Seitenzahl ) 


Matthaus. 


1, 1-17 1, 136—157. 186—196 


18—25 1, 158-186. 196—208 


22 f. I, 174—180 
25 . 1 208-218 
2, 1—23 I, 226— 281 
22. 23 I, 281 ff. 293 ff. 
3,1 I, 339 f. 
2—1? 1, 349—360 
13— 17 1, 399—424 
4, 1—11 I, 425—455 
12 I, 383 f. 
13-17 I, 456. 471-479 
18—22 I, 547—553 
23 L, 457 ff. 
2 1, 703. II, 5. 80 
5—7 I, 598—614 
5, 17 1. 525 ff. 
6, 1-18 I, 522 
9—13 L 610—612. 
8, 1—4 I, 47—52 
5-13 Il, 99—112 
14. 15 IL, 45 
16 I, 5 
19. 20 1, 325 
21. 22 I, 553 


8, 18. 23—27 II, 162—168 
23—34 11, 23—36 
9, 1-8 1l, 81—85 
9-13 1, 568-574 
14—17 I, 390. 574 f. 
15 11, 288 
18. 19. 23—26 11, 123—129 
143. 159—161 _ 
20—22 11, 86—94 
27 — 31 11, 59—62 
32— 34 I, 711 ff. IL 6 
35 I, 457 
36—38 1, 617 
10, 1—4 I, 576— 594 
5.6 I, 530 ff. 535 ff. 
7-2 I, 615-619 
23 1, 493 
11,1 I, 703 
»2—6 L, 361 f. 
7—19 1, 39% f. 
20—24 L, 619 f. 
25—30 L, 620 
12, 1-8 1, 489. 523. 672 
9-13 1, 523. 672 IL, 112—117 
14 11, 358 
15—21 I, 502 


BB were ne En N 


. ai —- 


12, 22—45 
38. 39 
39. 40 
43—45 
46-50 

13, 1-53 
54-58 

14, 1: 2 
3-12 
13—21 
22—33 
34, 35 
36 F 

15, 1—20 
21—238 
29—39. 

16, 1-4 - 
5—12 
13—17 
18—20 


1—23- - 


27. 28. 


47,1—13,° 


21, 1-11 
21, 12, 13 
1. Band. 


Regifter. 


46 


721 
J, M-A6| 14-17 II, 282. 358 
1m,3| 18-2 II, 222—237 
IL, 318—3%0 | 23—27 I, 389 
-m7-9| 3-32 I, 626 f. 
L, 716-720 | 33—44 I, 634 ff. 
I, 621—626 | 45. 46 II, 358 f. 
I, 210 ff. 473-479 | 22, 1—14° I, 637—640 
I, 11| 15-46 I, 646—652 
1, 394—398 | 23, 1-36. I, 652-657 
II, 185—206 | 37 L, A71 
II, 168-178 |.24, 1-51. 25, 1—13. 3146. 
1, 486 II, 324 -351 
11, 85 | 25, 14—30 I, 634— 637 
I, 527. 655 | 26, 1. 2 1, 287 fi. 
1, 531 f. 1,42. 95| 3-5 II, 359 
II, 185—206 | 6-13 I, 733-752 
L, 711-716 | 14-16 II, 364 ff. 
II, 188, 200 f.| 17-19 _ It, 350-386 
I, 496 f. | 20-29 ° It, 386—426 
I, 497. 581 f. | 30--35- 1, 419421 
11, 287 fe. | 36-46 II, 427-455 
I, 494. 11, 335°] 47-56 | II, 455—462 
Ir, 233—260 | 57-68. II, 42471 
1, 479, 583 | 69-75 "Hu, 4711-479 
II, 36—45 | 27, 1 If, 467 
.mrT| 2 °° II, 493 
1,287 ff. 3-10 II, 480—492 
It, 1801-184 | 11-31 IL, 423807 
I, 640—645. 721 fi. | 32-50. 55. 56. II, 508-533 
| 1,626. 4. |. 50-58: ° 11, 534-345 
1, 201| 55.56. IL, 526 ff. 
1,645 f.| 57-61 IT, 554—561 
17235 6206,28, 4.1113, I1,561— 
IL, 506 7569: 
I 633 2, 1-10 I, 570-588 
1, 516 f. 549 |: 16. 17 It, 588-608 
1, 626 1; 20 I, 642. 
II, 287 ff. a 
I, 721 ff. | 
u, 55-62 | Marius. 
11, 273—284 | 1, 2-8 1, 349 ff. 385 ff. 399 ff. 
I, 726-733 | 9-11 I, 399424 


732 Regiſter. 
1, 12. 13 L, 435—455 | 9, 1 
14. 15 I, 346. 383. 456 | 2-13 
16-20 1, 47-553 | 14-239 
2128 II, 2—22 | 30-32 
29-32 I1,45| 3 
3 1,50. m,5| 2-12 
2, 1.2 1700| 47-27 
3—12 II, 83-85 || 28-31: 
5. ALI, 76 ff. 32-4, 
13—17 I, 568-574 | 3545 
18—22 I, 380. 524 f. | 4652 
23-238, 1, 490. 533. 672 | 11, 1—11 
31-3 1, 112-147 
6. 38 | 15-17 
13-19 I, 576-579 | 18. 19 
20 1, 707 |: 27-33... 
21. 31-35, I, 716-720 |12, 1-12 - 
22-3. I 7u1 ff. 1440 
4, 1-34. I, 623—625 13 1-37: 
35—4 IL, 162—168 | 14, 1. 2 
21—23, 33-43. 11, 123-129 | 10. 11. 
14%, 12—16 , 
A—A II, 86—94 17—21 
61-6 . 1, 210 fi. 479-479 | 22-25 
7-13. 1, 621626 | 26-31 
14—16- 1,11 | 32-242 
17-29, 1, 394—398 | 43—52 
45—53. 11, 168-178 |: 66-72, 
54-56 11,.85 1, 1-29 
7, 1-28 L, 527. 655 | 21-37. 8. u 
24-30: 1,568 ff. I, 42.95.| 38. 39 
8, 1-9 11, 185—206 | 16, 1-8 , 
10—13 I, 14 f. 1,3 |: 914 
14—21 II, 188. 200 ff. |: 1548 
N—% II, 62—69 || 19. 20 
27 f. J, 531. f. “ 
11,.287 ff. 


II, 288-260 
Il, 3645 
IL 287 fi. 


. 641 ff. Taf. 


If, 260 fi. 

1, 45 f. 

1, 725: 

I, 506. 633 
I, 516.1. 549 
II, 37 fi. 

1, 720-725 
11, 55—62 
I, 286-284: 


\ II, 222-2337 


1, 726-733 
II, 358 f. 
I,. 388 
1,634 fi. 
1, 646—652 
11, 324-351 
Il, 360 
I, 733-753. 
II, 364 ff. 
IE, IH 
II, 424-1826 
II, 449-421 
IL 47-455. 
IL, 
II, 162471 
II, 4U-AN 
IL, 293-507 
11, 508-5 
II, 534-565 
ul, 554 
11, 570-588 
11, 588-608 
IL. 622 $ 


1, 650-682 





Negifter. 
Lulas, 8 16-18 
1, 5—25- I, 111—135 | . 19—21 
2638 KL. 158-186. 196—208 | 22—25. 
39—56 I, 219—225 || 26-39: 
57—80. I, 111-138. |; 40-42. 
6-20 1, 237-247 |; 83-48 
21 ], 247 fl. 9. 1—0 
2—38: 40 I, 281-293. ı 79 
2A I, 325 || . 10-17 
3 I, 203—306 | 18—21: 
41 -52 3— 2 
3, l. J, 339349 : 9 
2-18 1, 349-360: 386.ff. || 28-36 
19. 20 1, 394—398 | 31-43 
21. 22 1; 399-424 || 44. 45 
23 I, 339: f.: 46 48 
2488 1, 136—157. 186-196 |: 49. 50 
4,1—13., L, 425—455 51-56 
14. 15 I, 456 |ı 57. 58 
16—30 1, 173-429 | 5962 
31—37; IL, 20—22:-| 10, 1. 17 
38. 39 II, 55 2-12. 
5, t—11: I, 558-6566 13-15 
12—14 II, 47—52 22—24 
18 26 II, 81-85 25-29: 
20 11,.75 ff. 30-37 _ 
27-32 1, 568 - 574 33—42. 
‚33—3J 1, 390, 574 f. | IL, 14. 
6,1—5 1, 489. 323: 5-8 
6—19 IH, 112-117 9-13 
11 II, 358 14-32 
122416 1, 5726 ff. 24-26: 
71-10. II, 99—112:]| 29. 30 
41—17 11, 129-131. 143+145. |. 33—3 
| 1431153. 159-161 37—52 
18—23 I, 361 ff. | 53, 54 
24—35: l, 30: f.. 12, 1 
36-50 1, 733-752 1621 
81-3 - 1, 580 22—34 
4—15 1, 625 35 48 


723 


1606 ff. 
1, 716- 720 
11, 162-168 
II, 23-36 
IL, 123—129 


143. 159-161 


II, 86—94 


1, 579. 615 ff. 
II, 11. vgl. 498 
, 2, 185—206 


1, 497. 582 
142387 f. 
IL, ‚335. 

11, 238—260 
u, 287 ff. 
l, 721 ff 

I, 641 ff. 

I, 535. 546 
I, 325 
k 553 

1, 598-596 
I, 615-618. 
1, 619 f. 

I, 620 

I, 650-652 
1, 536. 627 
], 750-752 


1, 610-612 


1, 627 

LI, 613. 

L, 712716 

‚1,6 

IH, 718—720. 
II. 318—320 
1, 607. 612. 

I, 653-656 
II, 358 

1, 707 

I, 637 

L, 612 

H, 327 


724 


12,.49—59 


Regiſter. 


1, 608. 715 
nu, 79 f. 

11, 235—237 
11, 6. 118 
L, 626 

I, 613 f. 

I, 333 

11, 358 

L, 471 

nr, 117 

1, 653 ff. 

1, 637-640 
I, 628 

I, 68 —631 
1, 631—633 
11, 236 f. 
II, 261 f. 
II, 52—54 
II, 324 ff. 
I, 628 

1L, 628 

1, 725 

I, 506. 633 
11, 2837 ff. 
II, 55—62 
L, 375 f. 

1, 634—637 
11, 266284 
1, 726-733 
L, 388 
1634 ff. 
x, 11358 f. 


11, 440—419 
1, 721 fi. IL, A009 


22, 39—46 II, 437 —455 
47 —53. II, 455—462 
54—62 NH, 21-499 
63-71 1], 4652—471 

23, 1—25 II, 493—507 
44. 45 11, 534— 545 

. 50-56 II, 554—561 

24, 1-12 .: II, 570-588 
13—49 II, 588— 608 
16. 31. 39-42 II, 608-623 
50—53 1L 650-662 

Johannes. 

1, 14 I, 184. 421 
15. 9-3 L, 367 ff. 
31: 33 I, 355—360 
32—34 1, 399-424 
37—52 1, 547 —558 

2,1 1, 425 f 
2—11 II, 206-222 
12 I, 458. 549 
413—17 I, 765-733 
18 - 22 11, 312—318 
23—25 1, 659 

3, 1—21 I, 65972 

4, 4—3 I, 458. 464 
4—42 L, 535—546 
% - 1, 498. 542 f. 

46-54 1, 95 - 112 

51 I, 480 f. 
2-16 : 77, 119— 122 
46. 48 : IL, 358 f. 
17 - 47 1, 672—676 

6, 1-13 II, 185— %06 
14. 45 5 8 
16—25 I, 162-168 
26—71 I, 676-678 








Regiſter. 
IL, 511 | 41, 55—57 
11, 367 ff. | 12, 1—8 
I, 497. 504. 582 9—19 
I, 459. 464 20—30 
T, 214. 459 31—36 
I, 709 44-50 
L, 327 | 13, 1. 2 
I, 6:9 3—20 
11, 359 10. 18. 21-38 
II, 4 20 
I, 709 23—26 
L, 303 |: 14—17 
I, 661 | 14, 18ff. 16, 16 ff. 
1, 746—749 31 
1, 679 | 15, 1—5 
IT, 288. 294 | 17,5 
II, 51 18 1—1 
1, 483 12—27 
1, 511 23—40 
IL, 359 | 19, 1-46 
Il, 76—78 17—30 
I, 69—75 31—37 
I, 680-682 35—42 
11, 288 | 20, 1—18 
1, 507 f. II, 359 19—29 
I, 459, 464 211—23 
u, 3 | 21, 1-14 
II, 131 —161 7 
II, 359—363 15—19 
I, 459. 464 20—24 





725 


11, 360 
1, 733—752 
11, 273—284 
II, 444 ff. 
11, 288 

1, 682 f. 

II, 387 fi. 
11, 386-440 
II, 440-419 
1, 686 f. 

I, 412 fi. 
II, 401 fi. 
II, 321.353 
I, 687-689 
1, 680 

I, 511 

11, 455-462 
Il, 462—479 
II, 493—497 
II, 505—508 
II, 508-533 
II, 545554 
II, 554—561 
II, 570—588 
II, 588-608 
11, 645—650 


l, 586 ff. 
N, 610 f. 


1, 528 ff. 11, 353 f. 


Druckfehler. 


— —— — 


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