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# KANT-STUOIEN ERGANZUNGSHEFTE
3 T1.53 GG072Ö32 1
Das Möglichkeitsproblem
der
Kritik der reinen Vernunft,
der modernen Phänomenologie
und der Gegenstandstheorie.
KA^JT-STU>ieW, ERGr- HEFTE
Von li-f . ?
Dr. David Baumgardt.
Berlin,
Verlag von Reuther & Reichard
1920.
Inhalt.
Einleitung: Überbliclt über die sachliche und historische Bedeutung des Möglich-
Jceitsproblems. — Müglichkeitsbegriffe der griechischen Philosophie. — Scholasti-
sche Möglichkeitsbegriffe. — Der Möglichkeitsbegriff bei Leibniz, Wolff und in
Kants vorkritischen Schriften. — Die moderne Phänomenologie und Gegenstands-
theorie nnd ihre Ablehnung der historischen Möglichkeitsbegriffe . . S. 5 — 13
i. Die grundlegenden Bestimmungen der Phänomenologie und Gegenstands-
Iheorie und ihre Beziehungen zum vorkritischen Rationalismus. — Der allgemeine
Begriff des >Gegenstandes« bei Meinong, Mally, Husserl und Pichler. — Die
»unmöglichen Gegenstände«. — Das »Vorurteil zu gunsten des Wirklichen«. —
Die Zweiteilung der Gegenstände und der Erkenntnisweisen und das Prinzip der
Unabhängigkeit des Soseins vom Sein in der Phänomenologie, in der Gegenstands-
theorie und im vorkritischen Rationalismus. — Husserl und Christian Wolff. —
Der Möglichkeitsbegriff bei Linke und in den früheren Schriften Meinongs. —
Die Sonderstellung des kritischen Möglichkeitsbegriffes S. 14 — 22
II. Der Begriff der x>inhäsiven Möglichkeit« bei Meinong und sein Verhältnis
2ur kritischen Modalität. — Die Methode Meinongs nnd Gallingers. — Meinongs
Kritik älterer Möglichkeitsdefinitionen. — Die »Möglichkeitslinie« und ihre Ge-
setze. — Die Möglichkeit als »inhäsive Untertatsächlichkeit«. — Die Änderung
der Grundanschauung in Meinongs letztem Werk gegenüber seinen früheren
Schriften. — Meinongs Theorie der »Inhäsivität« und ihre Lücken. — Das
Problem der Inhäsivität in Kants synthetischen Urteilen a priori. — Die Über-
windung des »Mangels« der Meinongschen Theorie durch den kritischen Möglich-
ieitsbegrifl*; die inhäsiven Naturgesetzlichkeiten bei Kant und Meinong. — Mei-
jiongs Kritik des Kantischen »Systemgedankens« S. 23—37
III. Der Begriff des »absoluten« Bewusstseins bei Husserl und sein Verhältnis
zu dem Möglichkeitsbegriff der »Kritik der reinen Vernunft«. — Der allgemeine
Möglichkeitsbegriff der Husserlschen Eidetik und sein Verhältnis zum syntheti-
schen A priori Kants. — Die Beziehungen Meinongs und Husserls zu Kants Lehre
vom »transzendentalen Ideal«. — Die Ausschaltung der »natürlichen« Welt und
der »transzendenten« Wesenswissenschaften. — Das Wesen des absoluten Bewußt-
.seins als Thema der Phänomenologie. — Die transzendentale Fragestellung bei
1*
l
4 Inhalt.
Husserl und Kant, die Wesensdeskription innerhalb der Kantischen Deduktionen. —
Das »letzte konstituierende Bewußtsein« bei Husserl und das Verhältnis seines
Möglichkeitsbegrififes zu Kant S. 38 — 52
IV. Der Begriff der £Widerspruchslosigkeit< bei Pichler und sein Verhältnis
zur kritischen Möglichkeit. — Pichlers formale Kritik der transzendentalen Möglich-
keit. — Der Irrtum in dier Kantinterpretation Pichlers. — Die Möglichkeit als
"Widerspruchslosigkeit gegenüber allen Sätzen a priori und die Möglichkeit der
Existenz. — Die Möglichkeit als Widerspruchslosigkeit innerhalb des Systems im
Sinne Pichlers. — Die Ergebnisse der Möglichkeitstheorie bei Pichler und ihre
Beziehungen zu Kants Lehre vom »transzendentalen Ideal« . . . . S. 53 — 64
Namen- und Sachregister S. 64.
Einleitung:
Oberblicl( über die sachliche und historische Bedeutung
des Möglichkeitsproblems.
Die Frage nach der Möglichkeit im weitesten Sinne ist ohne
Zweifel eine der wenigen spezifisch philosophischen Fragen.
Jede SpezialWissenschaft bezieht sich auf ein bestimmtes Sein,
auf bestimmte Objekte, deren Möglichkeit in ihrer grundlegenden
Bedeutung innerhalb der spezialisierenden Wissenschaften nicht in
Frage steht.
In der Philosophie allein ist die Grundfrage: die Möglichkeit,
die Begreifbarkeit des Seienden, das Verhältnis des objektiv Möglichen
zum Sein, besonders zum Sein im Sinne der Existenz. Diese Grund-
frage ist in der Ethik wie in der Erkenntnistheorie wie in den
>metaphysischen Anfangsgründen« jeder Wissenschaft gegeben.
>Alle Realität hat etwas Absurdes«, zunächst nicht Begreifbares,
scheinbar Unmögliches, so heißt das Problem in der Formel Goethes.
Oder wie Fichte das philosophische Problem der Geschichte und
damit das jeder Wissenschaft darstellt: >Was . . für die bloße Möglich-
keit einer Geschichte überhaupt vorausgesetzt werde und vor allen
Dingen sein müsse, ehe die Geschichte auch nur ihren Anfang finden
könne, — ist Sache des Philosophen, welcher dem Historiker erst seinen
Grund und Boden sichern muß« ').
Das unphilosophische Denken kennt die Welt nur als eine ge-
gebene, hinzunehmende Wirklichkeit. Das Kennzeichen
des Philosophischen ist es, die Welt und das Leben nicht anders
sehen zu können als von Möglichkeitsfragen jeder Art durchsetzt.
Schon von den Floaten ist daher das Problem der Möglichkeit
gestellt. Die Floaten verwarfen die Sinnenwelt als eine nicht denk-
bare, als > unmögliche Realität« und konstruierten deshalb nach ihren
Möglichkeitsbegriffen die Welt des wahren Seins. Nur das begrifflich
Identische — und Begriff und Ding werden hier nicht unterschieden — ,
1) J. G. Fichtes sämtliche Werke, 1846, Band VII, S. 131/132.
6 Einleitung :
nur das Merkmal -Eine, nicht das Vielfache, [s. auch Herbarts Deu-
tungen im Anschluß an seinen Begriff des Realen, > Lehrbuch zur
Einleitung in die Philosophie« § 135 ff.], das Tuav sv, das o[aoiov oo5e
^latpetov, nur das in sich identisch-einige Mögliche kann nach Par-
menides auch das gegenständlich Wirkliche sein.
Diels übersetzt daher mit Recht ^): >Dies ist nötig zu sagen
und zu denken, daß nur das Seiende existiert. Denn seine Existenz
ist möglich, die des Nichtseienden dagegen nicht«, d. h. also: nur
weil die Existenz des Seienden als des in sich Einfachen die allein
mögliche ist, deshalb besteht sie auch.
Ähnlich hatte Anaximander das «Trstpov und ebenso hat die Ato-
mistik ihre Welt des allein Möglichen, die azo^a und das xevov, als
das allein Wirkliche erklärt.
Aber auch die Ideen- und die Entelechienlehre sind in tiefsten
und allgemeinsten Zusammenhängen von Möglichkeitsproblemen her
zu verstehen.
Dem Typus des platonischen Denkens ist das Mögliche die Idee.
Auch bei P 1 a 1 0 ist die Welt der bloßen Erfahrung, die Welt der doia,
zunächst die nicht mögliche Welt; erst durch die [j-s^s^i? am Mög-
lichen, durch die |j,e^s^i? an der Wahrheit der Idee, kann der empiri-
schen Wirklichkeit der Wirklichkeitscharakter zukommen. Die Form
dieser Teilnahme, das Verhältnis des Einen, das Verhältnis des Mög-
lichen zu der Vielheit und der Wertlosigkeit des bloß sinnlich Vor-
gefundenen, bildet das Problem der platonischen Dialoge.
Dem entgegen sucht Aristoteles in ganz anderer Bedeutung,
die Möglichkeit in der Erfahrung selbst festzusetzen. So beginnt er
nicht mit der eleatischen Kritik der Begreifbarkeit, sondern mit einer
Voraussetzung der Realität der empirischen Welt. Das höchste
mögliche Gute ist ihm nicht die »Sonne< über aller Erfahrung, son-
dern im Gegenteil: im Empirischen das dianoetische Gleichgewicht,
die jj-sooTTjc der Leidenschaften. So ist allgemein das aristotelische
Mögliche nicht die Idee, nicht das Sein a priori, das Objekt der
voYjoic, das ^(öpioTov, sondern ein unablösbares Moment des empiri-
schen exaoTov, das dem Vermögen nach Seiende, Suvaiiei ov, das die
Form Aufnehmende, die oXt], das so-und-so-sein-Könnende. Erst das
Sova^iet ov mit der Form verschmolzen, oXy] und eiSo? als Ganzes,
sollen die Möglichkeit des Vielen und die Unbegreifbarkeit der En-
telechie begreifbar machen.
1) H. Diels: »Die Fragmente der Vorsokratiker« I. Band, 3. Aufl., Parme-
uides fragm. 6.
Sachl. u. histor. Bedeutung des Mögl.-Problems. t
In der Stoa endlich sind es Chrysipp wie Kleanthes wie Archi-
demus und Antipater, die sich mit der Diodorschen Möglichkeitsfrage
befaßt haben ; mit diesem alten Dialektikerschluß , nach dem das
Mögliche deshalb dem Wirklichen an Umfang und an Inhalt gleich-
zusetzen ist, weil sonst aus einem nur für das Denken Möglichen
ein niemals- Wirkliches, das hieße nach diesem Schluß ein nicht-Mög-
liches, abgeleitet werden könne. Auch diese zunächst nur >eristische<
Frage, die Frage, ob das Feld des Möglichen größer sei als das Feld
des Wirklichen (Kant) taucht in vielen neueren Philosophieen, mit
größeren Problemen verflochten, wieder auf, so bei Hobbes: de cor-
pore Cap. X, 4, 5, bei Leibniz in mehreren Stellen der Theodizee,
bei Christian Wolff (Vernünftige Gedanken über Gott, I. Teil § 575)
und besonders bei Kant in den >Postulaten< der > Kritik der reinen
Vernunft«, die uns noch näher beschäftigen werden.
Weiter ist vor allem der stoische Begriff der xotvai svvoiai, der
Begriff der Tcpok-q^BK; , für die Möglichkeitsprobleme des späteren
Rationalismus von besonderer Bedeutung ^). Diese notiones communes,
die an die platonische Idee und an die platonische avapTjoti; erinnern
und von Spinoza scharf von den notiones universales unterschieden
werden^), diese > Grundannahmen« (assumtions fundamentales, ou ce
qu'on prend pour accorde par avance« ^) finden sich bei Descartes
wieder als ideae innatae, bei Spinoza als >ratiocinii . . . fundamenta<,
bei Leibniz als v^rites necessaires und bei Kant als Formbegriffe
a priori. Von diesen xoivat svvotat, von den allgemeinsten > Vor-
begriffen <, von dem in-sich-Einsichtigen, von dem eigentlich-Möglichen
her hat der Rationalismus immer um die Begreifbarkeit und — im
Ethischen — um die Herrschaft über das Wirkliche gerungen. —
Für die Scholastik hat schon Schelling in seiner Abhandlung
>Über die Quelle der ewigen Wahrheiten« *) einiges Material dargestellt.
Wir können, von ihm abweichend, etwa folgende drei Gruppen von
Möglichkeitsproblemen hervorheben: die ontologischen Gottesbeweise,
die Theorieen über den Verstand und den Willen Gottes und die
Versuche zu einer ars generalis.
Besonders das ontologische Argument verdient hier nähere
1) s. Leibniz : Philos. Schriften, heransg. von Gerhardt, 1882, Band V, S. 42
oder Windelband: »Lehrbuch der Geschichte der Philosophie< S. 169.
2) s. Spinoza: Eth. II, XL schol. I.
3) Leibniz: Philos. Schriften, herausg. von Gerhardt, Band V, S. 42, Nou-
veaux essais sur Tentendement, preface.
4) Schellings sämtliche Werke, II. Abteil., 1. Band, 1856, S. 575 ff.
g Einleitung:
Beachtung. Gerade in den ontologischen Gottesbeweisen, in den Modi-
fikationen und Verklausulierungen, in denen sie bis zur > Kritik der
reinen Vernunft« immer wieder versucht wurden, zeigt sich der er-
regte Wille der Menschheit, das Sein nicht als gegeben hinzunehmen,
sondern es aus seiner bloßen Möglichkeit als gegründet zu beweisen.
Das >esse in intellectu« bei Anselm zielt eben — mindestens der
Auftassung nach, die es im späteren Rationalismus erfuhr — nicht
auf ein > psychisches Gebilde«, auf eine bloß subjektive Vorstellung
von Gott, sondern auf den Begriff Gott, auf das Wesen Gottes.
Die Grundfrage der ontologischen Beweise ist daher immer die: wie
hat das apriorische Denken die Macht, aus seinen in sich einsichtigen
möglichen Begriffen das Sein zu entwickeln, ist nicht mit dem Gottes-
gedanken, durch den Begriff des ens realissimum, die Summe des
Seins selbst als seiend zu erschließen? Kann nicht der Schritt vom
Möglichen zum Wirklichen durch das Denken selbst geleistet, die
Existenz rein als ein Merkmal des Möglichen bewiesen werden?
Während aber das ontologische Argument für den obersten Be-
griff, für das ens necessarium als Ganzes, die Verknüpfung des Mög-
lichen mit dem Wirklichen zu zeigen sucht, ist nun innerhalb vieler
mittelalterlichen Attributen lehren die Grenze zwischen dem Mög-
lichen und dem Wirklichen um so deutlicher bestimmt. Der Verstand
Gottes bedeutet nämlich hier das Reich der ewigen Wahrheiten, der
Wesenheiten der Dinge (im Gegensatz zu den zufälligen Existenzen),
das Reich des objektiv-, des in-sich-notwendig- Wesentlichen, Möglichen.
Wo immer aber > Wille dazwischen kommt, ist« wie Schelling formu-
liert, >von Wirklichem die Rede^)«. Auch Gott kann die Folgerungen,
die nach den Gesetzen der formalen Logik aus den Wesenheiten, aus
den Begriffen der Dinge ableitbar sind, nicht umstoßen (s. z. B. Duns
Scotus Oxon. IV, d. 10, q. 2, n. 5, zitiert bei Baumgartner in Über-
wegs > Grundriß der Geschichte der Philosophie« II S. 584). Die
Wesenheiten enthalten das objektiv durch die Merkmale der Begriffe
Mögliche, das durch den Begriff selbst notwendig Einsichtige, und
müssen daher ewig gültige, nicht aufhebbare Wahrheiten bleiben, weil
die Wesenheit dieselbe bleibt, gleichgültig ob ein ihr entsprechender
Gegenstand wirklich existiert oder nicht. Dagegen die Existenz
der Gegenstände, ihr wirkliches Vorhandensein, ist vom Willen Gottes
abhängig (s. z. B. Thomas von Aquino : Summ, theol. I q. 25, a. 5
und 6, zitiert bei Baumgartner S. 495). So ist das empirisch Exi-
1) ScheUing, W. W. II, 1 S. 579.
Sachl. u, histor. Bedeutung des Mögl.-Problems. 9
stierende in diesen Theorieen von dem objektiv Möglichen vollständig
geschieden: der Wille Gottes ist unfähig, den Bestand des objektiv
Möglichen zu ändern, und der Verstand Gottes ist unfähig, aus dem
objektiv Möglichen das objektiv Wirkliche hervorzubringen.
Die Methode aber, die auch ohne die Rückbeziehung auf den
unendlichen Verstand Gottes den Inbegriff des Möglichen feststellen
will, ist wohl am charakteristischsten durch die Versuche einer ars
generalis angestrebt worden. Und diese Versuche sind allerdings
durch ihre historisch späteren Formen wichtiger geworden als in
ihrer mittelalterlichen Gestalt bei Raymundus Lullus. Die Haupt-
bestrebungen dieser scientia generalis gehen, wie Baumgartner schon
für Lullus ausführt, darauf hin, alle > durch sich evidenten« Grund-
begriffe derart für eine Kombinatorik aufzustellen, daß durch die
Verbindung und durch die Beziehung dieser Grundbegriffe das ganze
Feld des objektiv Möglichen dargestellt werden kann.
Fast alle diese Tendenzen, Möglichkeitsfragen der antiken wie
der scholastischen wie der neueren Philosophie, erscheinen nun ver-
einigt in dem System Leibniz'. Die ganze Leibnizsche Philosophie
kann dargestellt werden als ein Aufbau auf dem Grundriß verschie-
dener Möglichkeitstheorien.
So wird Gott hier zunächst mit Hilfe des ontologischen Argu-
mentes durch seine Möglichkeit selbst als wirklich bewiesen^). Damit
aber, mit dieser höchsten Zentralmonade, ist auch die übrige nou-
menale Monadenwelt mitgesetzt: durch den Verstand und den Willen
Gottes, der notwendig, — wieder rein aus seiner Möglichkeit, aus
seinem Wesen, — die beste aller möglichen Welten schaffen muß^).
Nun gibt es abgesehen von der Monade, abgesehen von dem
Noumenon, das allein im strengen Sinn möglich und daher allein
wirklich ist, auch eine Realität im abgeminderten Sinne, die räumlich-
zeitliche Welt, die absolut genommen vielleicht nur den Wert eines
Traumes hat ^). Aber auch diese phänomenale Erscheinungswelt kann
1) Leibniz: Philos. Schriften, herausgeg. von Gerhardt, z. B. Band IV,
S. 358/359, ad artic. (14).
2) s. z. B. »Opuscules et fragments inedits de Leibniz«, herausgeg. von Cou-
turat, 1903, S. 534 (4): »Est ergo caixsa, cur Existentia praevaleat non-Exi-
stentiae, seu Ens necessarium est Existentificans«, oder Leibniz, her-
ausg. Ton Gerhardt, Bd. VII, S. 194/195 ; »Nisi in ipsa Essentiae natura esset
quaedam ad existendum inclinatio, nihil existeret«. >. . . Existentia . . . essentiae
exigentia« und zahlreiche Stellen der Theodizee, z. B. I § 8.
3) Leibniz, herausgeg. von Gerhardt, Bd. VII, S. 320/321.
10 Einleitung:
nur insofern als > phänomenal-real < gelten, als sie dem ewig-objektiv
Möglichen, den »ewigen Wahrheiten <, den xoivai svvotat, den Sach-
verhalten der Logik und der Mathematik > entspricht <, >an ihnen
teilnimmt« '). Ja selbst die »materialen«, die > verworren« gegebenen
Momente in den empirisch-phänomenalen Begriffen, selbst diese Mo-
mente (die der Erkenntnis a priori, die der reinen Möglichkeits-
einsicht am meisten widerstreben) sollen in eine Vielheit a priori
beurteilbarer Grundmerkmale aufgelöst werden, alle >konfuse< Er-
kenntnis ist zurückzuführen in eine wesentliche, d. h. in ein rein
Mögliches^).
So ist bei Leibniz jede Stufe und jedes Moment der
Realität erst durch die Beziehung zum Möglichen als
real bestimmt.
Wie sehr aber diese allgemeinsten Möglichkeitsprobleme für das
gesamte Jahrhundert Leibniz' im Vordergrund blieben, zeigt sich wohl
am reinsten in Christian Wolf f 's Definitionen, z. B. Log. Disc. praeL
§ 29: >Philosophia est scientia possibilium ... ad eam (definitionem)
. . per omne tempus direxi omnes meas de philosophia cogitationes«
oder in den fast berüchtigten Radikalisierungen : >Existentiam definio
per complementum possibilitatis« (Ontologia § 174).
Ja wie sehr selbst der vorkritische Kant unter dem Einfluß
dieser ontologischen Möglichkeitsbegriffe stand, ist noch durch die
>nova dilucidatio< und den > einzig möglichen Beweisgrund« genügend
nachweisbar. Zwar das ens necessarium, >in quo existentia ... est
. . . identica cum possibilitate« ^), dieser Hauptbegriff der >nova dilu-
cidatioK, ist in dem > einzig möglichen Beweisgrund« zuerst widerlegt.
Die Existenz wird dort ausdrücklich nicht als Prädikat der Dinge
anerkannt*), und der Schluß von dem Möglichen als Grund auf das
Dasein als Folge wird hier abgelehnt^). Aber auch der von Kant
(noch 1763) vertretene Beweis (von der bloßen Möglichkeit der Dinge
als Folge auf das Dasein Gottes als Grund) hat natürlich ebenso wie
die anderen ontologischen Schlüsse auf die alte Identitätsverknüpfung
zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen hinauslaufen müssen. —
So stark stand also der vorkritische Kant im Bann des ontologischen
1) Leibniz, herausgeg. von Gerhardt, Bd. II, S. 282/283.
2) Ebenda Bd. IV, S. 450.
3) Kants Werke, Akademieausgabe Bd. I, S. 396: principiorum primorum
cognitionis methaphysicae nova dilucidatio, propositio VII, schol.
4) Ebenda Bd. II, S. 72 oder S. 156.
5) Ebenda Bd. II, S. 156.
Sachl. u. histor. Bedeutung des Mögl.-Problems. 11
Argumentes, daß er die volle Äquivocation seiner Möglichkeitsbegriflfe
nicht bemerkte. Entweder nämlich bedeutet das Mögliche des > Be-
weisgrundes«, wie es der eigentlichen Tendenz des Beweises ent-
sprechen müßte, bloße objektiv > durch sich evidente < Begriffe, dann
ist es ebenso unmöglich, aus ihnen als aus einer Folge das Dasein
Gottes als Grund zu erschließen, wie es für die alten Ontologien
unmöglich sein mußte, das Dasein Gottes als Folge dieses begrifflich
Möglichen zu beweisen. Oder aber das Mögliche des > Beweisgrundes«
wäre ein Mögliches, das als Existierendes auch möglich ist;
aus einem solchen Existierenden aber die Existenz zu erschließen,
wäre überflüssig.
Erst die »Kritik der reinen Vernunft« hat, wie ich glaube, alle
historisch gegebenen Möglichkeitsprobleme durch eine >kopernikani-
sche« Umwandlung innerlich umgedeutet und vertieft. Wie diese
Bedeutung der Möglichkeit jederzeit im Kritizismus hervorgehoben
wurde, so in Kants Vorlesungen über Metaphysik^), wenn es dort
heißt: die Modalität (die Begriffe der Möglichkeit, Wirklichkeit und
Notwendigkeit) ist >ganz etwas Besonderes« ; oder in der »Kritik
der reinen Vernunft« selbst, wenn dort mehrmals ausgeführt wird
(so B 266 und 287), daß nur durch die Kategorien der Modalität
das Verhältnis eines Objektes zum ganzen Erkenntnisvermögen aus-
gedrückt ist. Auch Riehl hat daher in der Einleitung zu seinem
> Kritizismus« den allgemeinen Begriff der Möglichkeit hervorgehoben,
und im übrigen Neukantianismus, bei Stadler, heißt es sogar: >Die
modalen Definitionen sind der kompendiöse Kanon jeder Erkenntnis-
theorie« ^). All dem gegenüber hat es nun den Anschein,
als ob in weitverzweigten modernen Forschungen, in der Phäno-
menologie Husserls und in der Gegenstandstheorie Meinongs, — min-
destens der Meinung der Forscher nach — ein vollständiger Bruch
mit allen historischen Möglichkeitsphilosophien vollzogen sei.
So weist H US serl öfters ältere philosophische Lehren »als böses
Erbe der Vergangenheit« zurück, und besonders in seinem Aufsatz
im »Logos« ^) läßt er keinen Zweifel darüber, daß erst mit der Hus-
1) »J. Kants Vorlesungen über die Metaphysik«, (herausgeg. von Pölitz),
Erfurt 1821, S. 29.
2) A. Stadler: »Die Grundsätze der reinen Erkenntnistheorie in der
Kantischen Philosophie« S. 131.
3) Edmund Husserl im »Logos« 1911: »Philosophie als strenge Wissen-
schaft«, s. etwa S. 291 die ischroife Betonung der Unwissenschaftlichkeit aller
bisherigen Philosophien.
12 Einleitung:
serischen Phänomenologie Philosophie als strenge Wissenschaft be-
ginnen kann. Oder ein besonders deutlicher Zusammenhang aus dem
letzten Hauptwerk Husserls^): > Statt sich mit den absonderlichen
Vexierfragen abzumühen, wie Erkenntnis einer äußeren Natur über-
haupt möglich sei, wie all die Schwierigkeiten zu lösen wären, die
schon die Alten in dieser Möglichkeit fanden«, ... ist es >mindestens bei
der gegenwärtigen Zeitlage . . . richtig, die Grenzen der dogmatischen
Forschung gegenüber kritizistischen Fragestellungen abzuschließen«.
. . . >Wir schalten« die Hemmungen der kritizistischen Fragestellungen
> dadurch aus, daß wir uns nur das allgemeinste Prinzip aller Me-
thode, das des ursprünglichen Rechtes aller Gegebenheiten klar
machen und es lebendig im Sinne halten, während wir die inhalt-
lichen und vielgestaltigen Probleme der Möglichkeit der verschiedenen
Erkenntnisarten und Erkenntniskorrelationen ignorieren«. >Nur auf
dem Boden der eidetischen Phänomenologie« >kann . . . jede prinzi-
pielle Möglichkeitsfrage . . . entschieden werden«.
Aus einer ganz ähnlichen Einschätzung seiner Gegenstandstheorie
hat auch M e i n o n g über die Möglichkeitsprobleme des ontologischen
Argumentes folgendermaßen geurteilt: > Gesunder erkenntnistheoreti-
scher oder eigentlich erkenntnispraktischer Takt . . . hat das Argu-
ment jederzeit abgelehnt: daß wir aber auch heute noch so wenig
geschickt sind, den Irrtum, den wir fühlen, aufzudecken, das könnte
für sich allein schon klar machen, wie wenig es bisher gelungen ist,
Fragen dieser Art mit wirklich adäquaten Mitteln beizukommen, —
anders ausgedrückt: wie wichtige Aufgaben eben die Gegenstands-
theorie zu lösen hat« ^).
Endlich hat speziell der Kantische Möglichkeitsbegriff durch
H. Pichle r eine besonders scharfsinnige und die bisher wohl ausführ-
lichste Kritik erfahren^). Und diese Untersuchung Pichlers ist in
wesentlichem Anschluß an die Gegenstandstheorie geführt worden.
Es erhebt sich deshalb die entscheidende Frage, um deretwillen
wir bis jetzt so weit historisch zurückgriffen : haben die Phänome-
nologie und die Gegenstandstheorie wirklich, wie sie behaupten, eine
neue Philosophie geschaffen? Gerade die wichtigen Kantischen >Postu-
1) E. Husserl : »Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomeno-
logischen Philosophie« 1913, S. 46 his 48 und S. 119. (Im Original teilweise ge-
sperrt gedruckt.)
2) A. Meinong; Ȇber die Stellung der Gegenstandstheorie im System der
Wissenschaften« 1907, S. 18.
3) H. Pichler: »Möglichkeit und Widerspruchslosigkeit« 1912.
Sachl. u. histor, Bedeutung des Mögl.-Problems. 13
late<, die Kantischen Modalitätsbegriffe, fordern meiner Meinung nach
eine nähere Interpretation, als sie bisher sehr kursorisch und daher
mißdeutig gegeben worden ist. Ist nun der Standpunkt dieser Kanti-
schen Modalitätsbegriffe durch die moderne Forschung überholt?
Es ist in letzter Zeit öfters als »eine bedeutsame und zugleich
dringende Aufgabe« gefordert worden ^), den Kritizismus mit der
Phänomenologie und mit der Gegenstandstheorie, die auch Linke
der Phänomenologie nahe rückt ^), in Beziehung zu stellen. Der Zweck
der vorliegenden Untersuchung soll es deshalb sein, gerade mit Hilfe
des grundlegenden Möglichkeitsbegriflfs die Kantischen und die mo-
dernen Theorien auf eine möglichst gemeinsame Basis zu bringen
und damit — wenigstens in ihren philosophischen Grundeinstellungen —
zu vergleichen.
1) s. P. F. Linke in Kantstudien Band XXI, S. 177 oder G. von Lukäcs,
Kantstudien Band XXII, S. 359.
2) s. P.F.Linke: »Das Recht der Phänomenologie«, Kantstudien Band XXI,
S. 164.
i. Die grundlegenden Bestimmungen der Phänomenologie und
Gegenstandstheorie und ihre Beziehungen zum vorkritischen
Rationalismus.
Wollen wir nun für unsere Untersuchungen einen ersten Über-
blick- und Ausgangspunkt gewinnen, so wird uns hierbei unsere kurze
historische Einleitung brauchbare Dienste leisten können.
Sowohl HusserP) wie Meinong wie Pichler benutzen nämlich zu
ihren grundlegenden Darstellungen eine Definition des Gegenstandes
und damit auch einen allgemeinen Möglichkeitsbegriff, die sich be-
sonders gut mit Hilfe ihrer historischen Zusammenhänge verdeutlichen
lassen.
»Alles was etwas ist, heißt ein Gegenstand . . . Insbesondere
ist es auch nicht eine Bestimmung des Gegenstandes, daß er ist,
also existiert oder besteht. Jeder Gegenstand ist etwas, aber nicht
jedes Etwas ist«. So heißt es in einem von Meinong herausgege-
benen Aufsatz E. Mal ly 's 2).
Und ganz analog definiert Husserl in den >Logischen Unter-
suchungen« und in seinem neuesten Werk jeden Gegenstand als ein
>irgend etwas« ^), gleichgültig ob real oder nicht real, und er fügt
hinzu, daß er diesen >allgemeinen Gegenstandsbegrifi' . . . nicht er-
funden, sondern nur ... restituiert und zugleich« als »prinzipiell
unentbehrlich« (und als >die allgemeine wissenschaftliche Rede be-
stimmend«) nachgewiesen habe.
Unter diesem obersten Gegenstandsbegriff werden auch — be-
sonders charakteristisch — die sogenannten »unmöglichen Gegen-
1) s. hierzu nur den I. Abschnitt der »Ideen zu einer reinen Phänomeno-
logie«: über »Wesen und Wesenserkenntnis«.
2) »Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie« 1901, heraus-
geg. von A. Meinong, III. Aufsatz: »Untersuchungen zur Gegenstandstheorie des
Messens« von Ernst Mally, S. 126.
3) Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie S. 40, vgl. »Logische
Untersuchungen« Band I, 2. Aufl., S. 229, Band 11, 2. Aufl., S. 140.
Phänomenolog.-Gegenstandstheorie u, vorkrit. Rationalismus. 15
stände<, das > runde Vierecke, die >unaiisgedehnte Materie« u. dergl. als
in bestimmtem, weiterem Sinne möglich angesehen. Es gibt nämlich,
wie Husserl nachweist, innerhalb des Gegenständlichen auch »Einigung
durch Widerstreite*), nämlich in dem Sinne, daß einander wider-
sprechende Merkmale doch in ihrem Zusammenhange und in dem des
sie trennenden Widerstreites als Ganzes wieder vereinbar sind. Sind
die Teile pq in Beziehung auf die Einheit G einander widersprechend,
so können sie doch zusammen mit dem Moment ihres Widerstreits
zu einer neuen Einheit verbunden werden. Erst wenn das in Be-
ziehung auf die Einheit G Unverträgliche als verträglich bezeichnet
wird, erst dann besteht eine Unmöglichkeit. Wie dies auch von
Pichler formuliert wird: »Es muß die Identifikation des Vierecks mit
dem runden Ding hinzutreten, damit etwas Unmögliches gedacht
wird« ^). Ohne diese Identifikation ist für Pichler wie für Husserl
das runde Viereck ein zwar real unmöglicher, aber doch im allge-
meineren Sinne ein möglicher Gegenstand, nämlich möglich als ein
Etwas überhaupt.
Und genau in derselben Bedeutung werden auch von Meinong
die unmöglichen Gegenstände als ein Untersuchungsgebiet für die
Gegenstandstheorie in Anspruch genommen, während sie bisher gegen-
über allen anderen Wissenschaftsdisziplinen »heimatlos* gewesen
seien ^).
Gerade durch dies Berücksichtigen bisher vernachlässigter Gegen-
stände, durch das Einbeziehen jedes »Etwas«, durch die Umgehung
aller Möglichkeitsrestriktion, will die moderne Forschung jene Weite
und jene Vorurteilslosigkeit erreichen, auf die sie so oft Wert legt.
Was nun die wirklichen realen Gegenstände der »Welt« anlangt,
so braucht allerdings deren Bearbeitung nicht erst desideriert zu
werden : die Wissenschaft hat bisher wie Meinong es nennt, immer
ein »Vorurteil zu gunsten des Wirklichen« *) gehabt. Oder wie
Husserl häufig ausführt^): die natürliche Einstellung der Wissen-
1) s. Husserl: »Logische Untersuchungen« Band II, 1. Aufl., S. 574 ff., das
Kapitel über Verträglichkeit und Unverträglichkeit, und »Logische Untersuchungen«
Band II, 2. Aufl., S. 55.
2) H. Pichler: »Möglichkeit und Widerspruchslosigkeit« S. 10.
3) A. Meinong: Über die Stellung der Gegenstandstheorie S. 14 ^is 20.
4) Meinong: Untersuchungen zur Gegenstandstheorie S. 3 ff. und ȟber die
Stellung der Gegenstandstheorie im System der Wissenschaften« S. 29.
5) Husserl: »Logische Untersuchungen« Bd. I und besonders »Ideen zu
einer reinen Phänomenologie« S. 34 ff.
16 Phänomenolog.-Gegenstandstheorie u. vorkrit. Rationalismus,
Schäften war stets so vorwiegend auf die Gegenstände der Wirklich-
keit gerichtet, daß etwa der konsequente Empirismus und der Psy-
chologismus behaupten konnten, mit dem Gebiet des Existierenden
(einschließlich der realen psychischen Gebilde) sei überhaupt das
Gebiet der Gegenstände erschöpft.
Dem entgegen besteht nun für Husserl und für Meinong wie
für alle ihre Anhänger jene durchgehende Zweiteilung, die uns be-
reits in unserer Einleitung auf die Grundprobleme des Rationalismus
geführt hatte: auf der einen Seite steht das Wirkliche, das Singu-
lare, das Daseiende, das bestimmte Stellen des Raumes und vor
allem der Zeit einnimmt, das Zufällige, die verite de fait, alles, was
als physisch oder psychisch in der j-natürlichen Welt« real vorhanden
ist, alles Faktische. Auf der anderen Seite steht in vollem Wesens-
gegensatz hierzu das Nichtexistierende, sondern Essentiale,
das Nichtindividuelle, sondern allgemein- Wesentliche,
das >Daseins freie«, >Soseiende<, das Ei dos (Wesen), der
Begriff, der nach Schopenhauer allein >frei< ist, >von der Gewalt
der Zeit«, das im eigentlichen und im engeren Sinne »Mögliche« ^),
das, was nur >Wesensverhalte« bedeutet im Gegensatz zum
Wirklichkeitsdatum, die verit6 de raison. Das Eidos, die
>Idee«, das Wesen, das Mögliche bedeutet hier, wie überall im Ra-
tionalismus, einen > eigenen Einsichtstypus« ^), und es bedeutet zu-
gleich den >Sinn der Zufälligkeit, die da Tatsächlichkeit« heißt ^).
Genau wie im älteren Rationalismus ist daher in unseren «le-
dernen Theorien mit dem Unterschiede zwischen den Gegen-
ständen der alte Gegensatz der Erkenntnisweisen mit-
gegeben: auf der Seite des Wirklichen steht das Wissen
a posteriori, das empirische Erfahren, die »Einsicht . . .
in das nackte ,,daß"<^), die nur »erfahrende Anschauung«^),
auf der anderen Seite steht die Erkenntnis a priori, die »Ein-
sicht in das „warum"« '^), die «Wesensschauung (Ideation)« '').
Endlich ist hier überall ein drittes Moment vorhanden, das sich
ebenfalls aus der Zweiteilung des Gegenstandsgebietes ergeben muß:
1) s. hierzu Husserl: Ideen S. 17.
2) Vgl. ebenda S. 298.
3) Ebenda S. 9.
4) Meinong : Über die Stellung der Gegenstandstheorie S. 32.
5) Husserl : Ideen S. 10.
6) Meinong: Über die Stellung der Gegenstandstheorie S. 32.
7) Husserl: Ideen S. 10.
Phänomenolog.-Gegenstandstheorie u. vorkrit. Rationalismus. 17
die Unabhängigkeit derWesenserkenntnis von derTat-
sachenerfahrung^), die Unabhängigkeit desSoseins vom
Sein^), der Essenz von der Existenz'^), des Möglichen
vom Wirklichen. Das A priori kann nicht durch das A posteriori
gegeben werden, da es sonst nur ein A posteriori wäre. Eine Wissen-
schaft, die nur vom Sosein, nicht vom Dasein handelt, muß > natur-
gemäß auch eine erfahrungsfreie, eine apriorische Wissenschaft < sein.
(Meinong: Über die Stellung der Gegenstandstheorie S. 33).
Mit allen den bisher angeführten Parallelen glaube ich nur in
Übereinstimmung zu stehen mit H. Gomperz^) und E. Cassirer^),
die bereits früher für die Gegenstandstheorie eine innere Be-
ziehung zu den Lehren Christian Wolff's und Lambert's an-
genommen haben. Aber ganz Entsprechendes läßt sich
auch für den ersten Abschnitt der Husser Ischen >Ideen<,
für den Plan einer allgemeinen Eidetik (Wesenswissen-
schaft) nachweisen.
Schon Wolff hat fast mit den gleichen Worten wie Husserl
den Begriff des Wesens zu erläutern gesucht, wenn er sagt *^): >Nem-
lich dasjenige, wodurch ein jedes Ding in seiner Art determiniret
wird, ist es, darinnen der Grund von dem übrigen zu finden. Und
da die Sache dadurch ihre Möglichkeit hat, so bestehet darinnen ihr
Wiesen, und derjenige verstehet das Wesen eines Dinges, welcher
erkennet, wie eine Sache in ihrer Art determiniret wird. Ja, wenn
er von dem übrigen, was er in ihr findet, Raison geben will, so muß
er sie in demjenigen suchen, wodurch sie in ihrer Art determiniret
wirdi.
Während Husserl entwickelt^): >Ein individueller Gegenstand
1) Husserl : Ideen S. 18.
2) Meinong : Untersuchnngen zur Gegenstandstheorie S. 8. Das Prinzip dieser
Unabhängigkeit ist gewiß nicht, wie Meinong meint (»Untersuchungen zur Gegen-
standstheorie« S. 8) von Mally zuerst ausgesprochen, es ist nur als eine alte
rationalistische Grundlehre von Mally in moderner gegenstandstheoretischer Ter-
minologie dargestellt worden, s. E. Mally in Meinongs Untersuchungen S. 126/127.
3) s. z. B. Leibniz: Theodizee I § 7, II § 186 oder Wolff: Ontologia § 134.
4) H. Gomperz: Weltanschauungslehre II, 1 S. 36/37 (1908).
5) E. Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft
der neueren Zeit, 2. Aufl., 1911, II S. 540.
6) Christian Wolff: »Der vernünftigen Gedanken von Gott, der Welt und
der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, anderer Teil« 1733, § 16,
S. 38/39.
7) Husserl : Ideen S. 9.
Kantstudien. Ergänzungsheft 51. 2
18 Phänomenolog.-Gegenstandstlieorie u. vorkrit. Rationalismus.
ist nicht bloß überhaupt ein individueller, ein Diesdal, ein einmaliger,
er hat als in sich selbst so und so beschaffener seine Eigenart,
seinen Bestand an we sentlichen Prädikabilien, die ihm zukommen
müssen (als > Seiendem, wie er in sich selbst ist«), damit ihm andere
sekundäre, relative Bestimmungen zukommen können«. — >So hat
z. B. jeder Ton an und für sich ein Wesen und zu oberst das all-
gemeine Wesen Ton überhaupt ... — rein verstanden als das aus
dem individuellen Ton . . . herauszuschauende Moment«.
In ganz korrespondierender Art verteidigte auch Wolff das
Eigenrecht der Wesensschauung und ihren Unterschied von der er-
fahrenden Anschauung mit den Worten: > Diejenigen, welche vor-
geben, als wenn man das Wesen eines Dinges nicht erkennen könte,
verlangen ein Bild in der Einbildungs-Krafft, dadurch sie es vorstellen
können, und verlangen also zu sehen, was nicht vor die Augen ge-
höret. Denn alle allgemeine Begriffe, die man in der Metaphysick
erkläret, lassen sich nicht durch die Sinnen, sondern bloß durch den
Verstand begreiffen. Es geschiehet aber daher, daß, wenn man sich
das Wesen . . . unter einem Bilde vorstellen will, alles finster wird,
wie es einem zu gehen pfleget, wo man nichts siehet. Und dennoch
sollte man sagen, wir können das Wesen nicht sehen . . . nicht aber,
daß es sich nicht mit dem Verstand begreifen lasse, was das Wesen
sey. Es gehet in mehreren Fällen so her, daß man die Farben hören
und den Schall sehen will, und aus dem Unvermögen, das man bey
sich findet . . . schleußt, es sey unmöglich, solches zu erkennen« ^),
Was hier bei Wolff das Erkennen durch die Sinne ist, ist eben
beiHusserl die > erfahrende Anschauung«; die Verstandeserkenntnis
der Wesen entspricht dagegen im allgemeinen der Wesensschau
Husserls; und wenn Husserl ausführlich gegen die > Ideenblind-
heit« ^) gegen das > Wegdeuten« ^) der Wesenserfassung ankämpft,
so hat dies Wolff in den zitierten Worten zweifellos nicht weniger
getan.
Endlich ist auch bei Wolff wie bei Husserl die Unabhängig-
keit der eidetischen Wissenschaft von aller Tatsachenerfahrung in
ähnlicher Weise ausgesprochen.
Bei Husserl heißt es^): >Aus Tatsachen folgen immer nur
Tatsachen«. Durch den >Sinn eidetischer Wissenschaft« ist^>prin-
1) Ch. Wolff: Der vernünftigen Gedanken von Gott anderer Teil, 1733, § 16,
S, 39/40.
2) Ideen S. 41.
3) Ideen S. 18.
Phänomenolog.-Gegenstaadstheorie u. vorkrit. Rationalismus. 19
zipiell jede Einbeziehung von Erkenntnisergebnissen empirischer Wis-
senschaften« ausgeschlossen.
Bei Wolff heißt es^): >Weil die Deutlichkeit der Erkäntniß
für den Verstand (d. h. die Wesenserkenntnis), die Undeutlichkeit
aber für die Sinnen und die Einbildungs-Krafft (d. h. die Erfahrung)
gehöret: so ist der (reine) Verstand abgesondert von den Sinnen
und der EinbildungsKrafft«. Oder*): >Experientia ratio non est, sed
eidem contradistinguitur< — > Ratio pura est, si . . . non admittimus
nisi definitiones ac propositiones a priori cognitas« ^).
Auch in dem vorkritischen Rationalismus war demnach das reine
Sosein (der Gegenstand der Wesenserkenntnis) von dem Sein unab-
hängig; nur in einem Falle, in dem Fall des Gottesbegriffs, wurde
umgekehrt das Sein Gottes durch sein Sosein erschlossen. Dieses
ontologische Argument ist begreiflicherweise von der modernen For-
schung aufgegeben worden. Im übrigen aber bestehen zweifellos,
wie wir gesehen haben, innere Beziehungen zwischen den Grund-
vorstellungen des älteren Rationalismus und der modernen Eidetik
wie der Gegenstandstheorie. Nur der Begriff der unmöglichen Gegen-
stände und ähnliche Bereicherungen des MögHchkeitsfeldes sind zu-
nächst für die Moderne unterscheidender charakteristisch.
Jedoch gerade dieser ungegliedert große Umfang des Möglichen
kann uns zugleich auf charakteristische Schwierigkeiten verweisen,
wie sie jeden vorkritischen Rationalismus treffen müssen.
P. F. Linke definiert in seinem Aufsatz: >Das Recht der Phä-
nomenologie < das Mögliche als >das sinnvolle Ideelle, d. h. das Kon-
kret-Ideelle und in ihm fundierte«^). Dies ist im wesentlichen, wie
sich gleich näher bestätigen wird, dieselbe allgemein-weite Bedeutung,
in der auch wir bisher das Mögliche belassen haben. Von diesem
Möglichkeitsbegriff behauptet Linke, der ganze > Bereich des Mög-
lichen ... ist der Phänomenologie unterworfen«.
In der näheren Ausführung entwickelt Linke ^):
>Festzustellen, ob das hier vorliegende Kristall Oktaeder ist
■oder was sonst — das ist die empirische Aufgabe«.
> Festzustellen, welche Eigenschaften das Oktaeder als Idee
1) Christian Wolff: Vernünftige Gedanken von Gott (I. Teil) 1733, § 282 und
.283; Tgl. auch §371, 372.
2) Christian Wolff: Psychologia empirica, 1738, § 490.
3) Ebenda § 495.
4) Kantstudien Bd. XXI, S. 208.
5) Kantstudien Bd. XXI, S. 206 bis 208.
2*
20 Phänomenolog.-Gegenstandstheorie u. vorkrit. Rationalismus.
genommen hat — das ist die von dieser empirischen vorausgesetzte
außerempirische Aufgabe, die eine phänomenologische
Aufgabe wäre, wenn die Eigenart der räumlichen Beziehungen diese
nicht einer besonderen vorwiegend mit begrifflichen Symbolen
operierenden Methode — der mathematischen Methode — unter-
worfen hätte, mit deren Hilfe diese Aufgabe in einer bedeutend ein-
facheren, freilich in den letzten Grundlagen dennoch auf Phänomeno-
logie zurückführenden Weise gelöst werden kann.<
»Festzustellen, ob das hier vorliegende Kristall gelb ist oder
nicht — das ist die empirische Frage«.
> Festzustellen, welche Eigenschaften das Gelb als Idee genommen
hat, wie etwa, daß es an einen Helligkeitsgrad einerseits, an Aus-
dehnung andererseits gebunden ist — das ist wiederum die ent-
sprechende Aufgabe der Phänomenologie«.
> Festzustellen, ob auf die da oder dort vorliegenden individuellen
Tatsachen und Vorgänge Ideen wie etwa »Berührung«, »Ordnung«,
»Verbindung«, »Trennung«, »Reihenfolge«, »Freiheit«, »Ursache« usw.
angewandt werden dürfen — das ist die empirische Aufgabe«.
»Festzustellen, was mit diesen Ideen gemeint ist: ob sie zu-
nächst überhaupt einen Sinn haben (d. h. ob ihren »Begriffen« ein
echter ideeller Gegenstand zukommt, oder ob sie leere Begriffe
sind) und sodann, welches dieser Sinn ist — das ist die phänomeno-
logische Aufgabe«.
An diesen Ausführungen überrascht zuerst die Buntheit der
»Gegenstände«, die hier das Objekt, das »Mögliche« der Phänomeno-
logie, bilden sollen. Neben Begriffen, wie »Verbindung«, »Ursache«,
auch »Ding«, die vorher mit Recht »Merkmale kategorialer Art« ^)
genannt waren, steht »das Gelb als Idee« und stehen endlich sogar
die mathematischen Begriffe, mit Beziehung auf welche gesagt wird,,
daß wenigstens ihre »Grundlagenforschung . . . einen Zweig der Phä-
nomenologie« bilden soll ^).
Besonders deutlich aber ist auch hier die Übereinstimmung mit
Grundauffassungen Meinen gs. AuchMeinong zählt zu den bisher
»heimatlosen Gegenständen«, die künftig von der Gegenstandstheorie-
bearbeitet werden sollen:
1) die gesamte Mathematik als spezielle Gegenstandstheorie ^),
1) Ebenda S. 206.
2) Kantstudien Bd. XXI, S. 207.
3) Meinong: Untersuchungen zur Gegenstandstheorie S. 80.
Phänomenolog.-Gegenstandstheorie u. vorkrit. Rationalismus. 21
2) die > Empfindungsgegenstände«, Empfindungsinhalte wie >Gelb
als Idee genommen <, die Theorien vom >Farbenraume<, >Tonraume< ^),
3) die schon erwähnten > unmöglichen Gegenstände < ^) (die zwar
nicht bei Linke, aber bei Husserl mitgenannt waren) ^),
4) sogenannte >ideale Gegenstände«, wie >Gleichheit< , >Ver-
schiedenheit«, > Zusammenhang < *), ebenso wie > Eigenschaften der so-
genannten 5- Objektive«, wie > Notwendigkeit«, > Zufälligkeit«, auch
>Möglichkeit« selbst^), also ebenfalls wie bei Linke Begriffe >kate-
gorialer Art«.
Endlich hat auch Husserl aus denselben Tendenzen die for-
malen Wesensregionen (also >kategoriale Begriffe«) mit den materialen
Wesensregionen (also Wesen von Farben u. dgl.) [wenn auch mit
> einiger Vorsicht« s. >Ideen« S. 21, besonders deutlich aber S. 32J
in >eine Reihe gestellt«.
Gegenüber dieser Disparatheit der möglichen Begriffe, die in der
Phänomenologie und in der Gegenstandstheorie als Gegenstände der
Forschung vereinigt werden, zeigt nun der Kantische Möglichkeits-
begriff ein völlig anderes Bild.
Die >Postulate des empirischen Denkens überhaupt«, die grund-
legenden Definitionen der kritischen Modalität lauten in der > Kritik
der reinen Vernunft« (B 265):
>1) Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der An-
schauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich.
2) Was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der
Empfindung) zusammenhängt, ist wirklich.
3) Dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen
Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, ist (existiert) notwendig.«
Der naturalistische Empirismus hat das Wirkliche mit dem Mög-
lichen gleichgestellt. (Seine These ist: Es gibt lediglich Wirkliches,
nur die subjektive Vermutung, die Ungewißheit, läßt Wirkliches als
möglich ansehen, während es in Wahrheit entweder bestehend oder
nichtbestehend ist.)
Der unkritische Rationalismus und, wie wir sahen, auch die
Phänomenologie und die Gegenstandtstheorie haben — in ihren Grund-
1) Meinong: Über die Stellung der Gegenstandstheorie S. 8—14.
2) Ebenda S. 14—20.
3) Husserl: Log. Untersuchungen II. Band, 1. Aufl., S. 574.
4) Meinong: Untersuchungen zur Gegenstandstheorie S. 5.
5) Meinong: Über die Stellung der Gegenstandstheorie S. 25 bis 26.
22 Phänomenolog.-Gegenstandstheorie u. vorkrit. Rationalismus.
legungen — alle »daseinsfreien Gegenstände< als das spezifisch Mög-
liche dem Existierenden (als dem Wirklichen) entgegengesetzt. Die
Methode dieser Forschungen ist zunächst nur eine reine Wesens-
deskription alles möglichen >Soseienden< (im Gegensatz zum Da-
seienden).
>Die Methode Kants < aber > besteht in der durchgeführten Tren-
nung der Form vom Inhalte des Erkennens« ').
Was ist nun das innere Ziel dieser Kantischen Methode, welchen
inneren Sinn hat der Kantische Möglichkeitsbegriff, die Bestimmung
des Möglichen durch die Formmomente der Erfahrung?
Verfolgen wir deshalb die modernen Theorien bis in ihre weiteren
Konsequenzen, und versuchen wir, uns gerade an diesen Konsequenzen
die innere Bedeutung des Kantischen Möglichkeitsbegriffes zu ver-
deutlichen.
1) Riehl: »Der philosophische Kritizismus« Bd. I, 2. Aufl , 1908, S. 583.
II. Der Begriff der „inhäsiven Möglichkeit'' bei Meinong
und sein Verhältnis zur kritischen Modalität.
In seinem letzten umfangreichen Werke: >Über Möglichkeit und
Wahrscheinlichkeit < ^) hat Meinong das ausgeführt, was er schon
in früheren Schriften gefordert hatte: »der Gegenstand Möglichkeit<
(s. z. B. S. 63, S. 244) soll hier unter anderen daseinsfreien d. h.
möglichen Begriffen mit den Mitteln der gegenstandstheoretischen
Methode untersucht werden.
Die Methode der Gegenstandstheorie ist ebenso wie die der
Husserlschen Phänomenologie oder die der > Bedeutungsanalyse«
A. Gallingers^) eine reine »Beschreibung«^).
Versuchen wir es deshalb, in dem Werke Meinen gs von den
zahlreichen (oft mehr verwirrenden als klärenden) Auseinandersetzungen
über Sprachgewohnheiten abzusehen (der »Sprachgebrauch« wird
hierbei selbst als »schwankend« angegeben, s. z. B. S. 174), so
bleibt das Ziel offenbar dies: es soll das Wesen Möglichkeit in einer
reinen direkten Wesensschau seiner Eigenart nach erschaut und
charakterisiert werden, und zwar in einer »Beschreibung«, die nur
durch die »Beschaffenheit des Gegenstandes« »vorbestimmt«, nicht
zum Zweck irgendeiner Theorie »nachbestimmt« ist*). Es gilt —
was Ga Hing er als die Methode seiner Bedeutungsanalyse definiert
hat — , rein »die in einer Aussage mit dem Begriffe gemeinte und
durch ihn ausgedrückte Gegenständlichkeit aufzusuchen, genau zu
umgrenzen und damit zu erschauen«^). Mit diesem Verfahren der
1) Meinong : »Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit, Beiträge zur Gegen-
standstheorie und Erkenntnistheorie« 1915.
2) A. Gallinger: »Das Problem der objektiven Möglichkeit« 1912.
3) Meinong: »Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit« z. B. S. 58.
4) Ebenda S. 50 bis 53 und S. 712.
5) Gallinger: »Das Problem der objektiven Möglichkeit« S. 13.
24 >Inhäsive Mögllclikeit« bei Meinong und Kant.
Bedeutungsaiialyse hat Meinong seine eigene gegenstandstheore-
tische Methode identifiziert ^).
Endlich ist Meinong mit Gallinger wie mit Husserl wie
mit Pichler — wie übrigens mit Kant — einig in der Ablehnung
des Psychologismus.
Auch die Möglichkeit will Meinong nicht psychologistisch als
ein > Intrasubjektives« ^), sondern als ein objektiv berechtigtes > Ver-
mutungsfreies« ^) ansehen. Ebenso wie Gallinger überzeugend
gegen Sigwart polemisiert hat, nach dem die Möglichkeit nur eine
»subjektive Unentschiedenheit« ausdrückt; durch diese Sigwartsche
Auffassung wäre nämlich jede objektive, logische Bedeutung
der Möglichkeit aufgehoben, und es wäre sinnlos, einen Urteilsinhalt
sachlich auf seine Möglichkeit zu prüfen, da nur das individuell ur-
teilende Subjekt über seinen Zustand der Ungewißheit entscheiden
kann, während der Gegenstand der Logik das objektiv Gemeinte ist.
Und ohne Zweifel ist unter der Möglichkeit eines Sachverhaltes oder
unter der Möglichkeit eines Gegenstandes die objektive Bedeutung
des Gemeinten zu verstehen.
Innerhalb seiner reinen Beschreibung prüft nun Meinong der
Reihe nach einige ältere Möglichkeitsdefinitionen, um sie aus ver-
schiedenen Gründen zu verwerfen.
Die bis auf Aristoteles zurückgehende Erklärung, Möglichkeit
bedeute so viel wie > Können« oder > Fähigkeit«, > Disposition«, scheint
ihm bereits mit Recht (u. a. von den Herbartianern in ihrer Polemik
gegen die >Seelenvermögen«) als tautologisch widerlegt: Möglichkeit
heißt eben dasselbe wie Sosein-Können ^).
Für weit wichtiger hält Meinong als Festlegung der Möglich-
keit die > Negation des Nicht-könnens«, die Negation der Unmöglich-
keit, die Möglichkeit als Widerspruchslosigkeit. Diese Definition ist
als logische Möglichkeit dem Rationalismus seit langem vertraut, sie
gehört >zum unentbehrlichen Rüstzeug apriorischen Denkens«, und
sie enthält, wenn die Unmöglichkeit als Notwendigkeit des Nichtseins
definiert wird, keinen Zirkel. Aber Meinong lehnt diese Definition
ab, da sie wegen ihres negativen Charakters die Steigerungsfähigkeit
des Möglichen nicht mit einbegreifen kann; vor allem aber da die
Natur einer reinen > Gegenstandsbeschreibung«, da die > Pflicht der
1) Meinong : Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit S. 47,
2) Ebenda S. 3 ff., S. 711.
3) Ebenda S. 53 bis 55.
>Inliäsive Möglichkeit« bei Meinong und Kant. 25
Achtung vor den Tatsachen des gegenständlichen Gebietes« durch die
Einführung des logischen Möglichkeitsbegriffes verletzt würde. Der
Gegenstand Möglichkeit ist nämlich >von Natur etwas Positives«,
direkt zu Erfassendes, während die logische Widerspruchslosigkeit
nur indirekt erfaßbar ist und sogar >zwei Negationen enthält« ^).
Ebensowenig soll das Mögliche als das Vorstellbare definiert werden.
Denn die > menschliche Erfassungsfähigkeit hat sowohl >konstante
wie variable« Schranken, die nicht Schranken der Möglichkeit sind.
Obwohl nämlich z. B. die »geometrischen Präzisionsgegenstände« nicht
> anschaulich vorgestellt« werden können, so ist ihre Möglichkeit nicht
bezweifelbar, ja sie gelten sogar für den gesamten philosophischen
Rationalismus mit Recht als die klassischen Typen daseinsfreier d. h.
möglicher Gegenstände -).
Als besonders auffallend aber muß es bemerkt werden, daß
auch die Definition: >Möglichkeit ist Bestand« abgelehnt wird'').
Bestand ist nämlich nach Meinong und nach E. Mally diejenige
nicht weiter definierbare Seinsart der daseinsfreien idealen Gegen-
stände, die der Existenz als Seinsart realer Gegenstände gegenüber-
steht*). Nun war nach den früheren Schriften der Gegenstandstheorie
der daseinsfreie ideale Gegenstand (nach Husserl das Wesen) sehr
wohl als der im eigentlichen Sinne mögliche anzusehen, — abgesehen
davon, daß das Möglichsein eines idealen Gegenstandes als die Fähig-
keit zu bestehen definiert wurde ^). Außerdem wird noch in der
Schrift >Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit« erwähnt, daß für
die typisch möglichen Gegenstände, die geometrischen Präzisions-
gebilde, die »Möglichkeit« identisch ist mit dem »Bestand« *'). Trotz-
dem versucht Meinong, hier einen neuen Möglichkeitsbegriff zu
entwickeln. Denn er glaubt, auch die Möglichkeit definiert als Be-
stand würde die steigerungsfähige Möglichkeit nicht mitumfassen
können. Außerdem aber müsse besonders der Einsicht, daß die
»Möglichkeit weniger sei als die Wirklichkeit«, mehr Rechnung ge-
tragen werden, als dies durch die Definition: Möglichkeit gleich Be-
stand, geschehen kann').
1) Meinong: »Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit« S. 56 bis 60.
2) Ebenda S. 71 bis 77 besonders S. 74.
3) Ebenda S. 61 bis 71.
4) Untersuchungen zur Gegenstandstheorie herausgeg. von Meinong S. 5, 129.
5) Ebenda S. 129/30.
6) Meinong: Über Möglichkeit u. Wahrscheinlichkeit S. 64.
7) Ebenda S. 63 und 66.
26 >Inhäsive Möglichkeit« bei Meinong und Kant.
Aus diesen Gründen gewinnt M e i n o n g die vorläufige Definition:
Möglichkeit ist > herabgesetzte Wirklichkeit«. Die Wirklichkeit aber
ist das > Maximum der Möglichkeit«, >und denkt man sich die Ge-
samtheit der Möglichkeitsgrade auf einer geraden Linie abgebildet,
so muß in einer solchen Abbildung die Wirklichkeit an das eine Ende
dieser Linie zu stehen kommen, indes diese am anderen Ende, gleich
jeder Größenlinie, durch die Null begrenzt sein muß« ^).
Nur ein nächstes Bedenken ist hier noch zu beseitigen: die
Möglichkeit ist nämlich nach Meinong nicht eine Eigenschaft von
Objekten, sondern von Objektiven. Ein Objektiv aber ist >jenes
eigentümliche Gegenstandsartige«, das >den Urteilen und Annahmen
in ähnlicher Weise gegenübersteht wie der eigentliche Gegenstand
den Vorstellungen« '''). Da nun die Möglichkeit zunächst Sache
der Objektive ist, Wirklichkeit aber nur die der Objekte, so
folgert Meinong daraus: es muß noch innerhalb der bisherigen
Möglichkeitsdefinition der Terminus »Wirklichkeit« durch einen zu-
treffenderen ersetzt werden. (»Über Möglichkeit und Wahrschein-
lichkeit« S. 90/91). [Wir brauchen allerdings diese Schwierigkeit
wegen des Terminus Wirklichkeit nicht zu gewichtig zu nehmen, da
z. B. auf S. 167 und S. 716 oder S. 87/88 zugegeben wird, daß auch
Objekte »Träger« von Möglichkeiten sein können.] Meinong
findet nun statt der Wirklichkeit als den gesuchten einwurfsfreieren
Ausdruck den lediglich für Objektive geeigneten Begriff der »Tat-
sächlichkeit«.
Die Möglichkeitslinie, die Meinong aufstellen will,
läuft darnach von der Untatsächlichkeit über alle Grade
der Möglichkeit bis zur Tatsächlichkeit.
Von dieser Möglichkeitslinie lassen sich aber nach dem Vorher-
gehenden folgende zwei Gesetze erläutern: Erstens: das sogenannte
»Komplementengesetz«, »das Gesetz der Koinzidenz komplementärer
Möglichkeiten«, welches aussagt: jedem Möglichkeitsgrad eines Ob-
jektives entspricht notwendig ein mit ihm koinzidierender seiner Höhe
nach bestimmter Möglichkeitsgrad des Gegenteiles. Kommt dem
Objektiv, »daß AB ist«, ein hoher Möglichkeitsgrad zu, so seinem
Gegenteil, »daß A nicht B ist«, notwendig eine niedrige Möglichkeit;
genauer: ist ein Objektiv ^/s möglich, so sein Gegenteil Vs, ist es
1) Meinong : Über Möglichkeit u. Wahrscheinlichkeit S. 90.
2) Meinong: Untersuchungen zur Gegenstandstheorie S. 6 und Ȇber An-
nahmen«, 1902 Kap. VII.
>Inhäsive Möglichkeit« bei Meinong und Kant. 27
% möglich, so das Gegenteil V4. D. h. die Größen der koinzidie-
renden gegenteiligen Möglichkeiten ergänzen sich gegenseitig zu 1.
In graphischer Darstellung hat Meinong die Beziehungen dieser
>Gegenraöglichkeiten< zueinander folgendermaßen illustriert:
T M UT
UT M T
Von diesen beiden Parallelen soll die eine > sozusagen eine un-
abhängige Möglichkeitslinie < darstellen, >die andere insofern eine
abhängige, als sie die zu den Gegenteilen der in der ersten Linie
enthaltenen Möglichkeiten gehörigen Möglichkeiten zusammenfaßt«.
Die obere Linie ist durch Pluszeichen, die untere durch Minuszeichen
kenntlich gemacht. T bedeutet Tatsächlichkeit, UT Untatsächlichkeit,
M Möglichkeit. Das Verhältnis der unteren zur oberen Linie ist
dadurch bestimmt, daß vertikal unter jedem Punkte der oberen Linie
derjenige Punkt angenommen wird, der in der unteren Linie jener
Möglichkeit des Gegenteils zugeordnet ist, die mit der dem Punkte
der oberen Linie zugeordneten Möglichkeit im Sinne des > Komple-
mentsgesetzes« koinzidiert ^).
Zweitens läßt sich noch in bezug auf die Möglichkeitslinie das
sogenannte »Gesetz des Potius< feststellen, welches besagt, daß die
größere Möglichkeit (von etwa Va) stets die kleinere (von etwa V»)
mitenthält wie das Ganze den Teil. Also > impliziert auch die Tat-
sächlichkeit die Möglichkeit«. Alles >was tatsächlich ... — man sagt
gewöhnlich wirklich — ist, ... ist auch möglich« ^).
An der bis dahin erprobten Bestimmung : »Möglichkeit ist herab-
gesetzte Tatsächlichkeit«, hat Meinong nur noch eine nähere
Differenzierung vorgenommen. Es gibt nämlich, wie er ausführt, zwei
Arten von Tatsächlichkeit. >Daß jetzt, wie ich sehe, die Sonne scheint,
daß Julius Cäsar, wie ich in der Schule gelernt habe, gelebt hat und
ermordet worden ist, ... das und vieles andere sind Objektive, deren
Tatsächlichkeit unter den gegebenen Voraussetzungen mit ihrer Be-
schaffenheit kaum in innigere Beziehung gebracht werden kann« ^).
Es sind lediglich als tatsächlich erfaßbare Tatsachen. Demgegenüber
aber gibt es »eigentlich notwendige und quasi-notwendige Objektive«
1) s. Meinong : Über MöglicLkeit und Wahrscheinlichkeit S. 93—97.
2) Ebenda S. 97 und 99.
3) Ebenda S. 142.
28 >Inhäsive Möglichkeit < bei Meinong und Kant
(d. h. rein a priori- und naturgesetzlich-notwendige), die >zwar um
nichts tatsächlicher sind als die eben angeführten < rein tatsächlichen
Objektive; >aber die Tatsächlichkeit gehört gleichsam zu ihnen«,
>sie ist in besonderer "Weise an ihre Beschaffenheit geknüjjftc, sie
>tritt nicht nur von außen an sie heran<, sie >hängt ihnen an<, >so
daß es einen guten Sinn hat, hier von i n h ä s i v e r Tatsächlichkeit zu
reden < ').
Dieses Moment der Inhäsivität gehört nun zum Begriffe der
Möglichkeit ^> Ja — wir müssen hier einschalten — die Inhäsivität
Ist in "Wahrheit nur das Moment des Afjriori Coder auch der Mei-
nongschen Quasinotwendigkeit;, sie weist nur auf die >Einsicht
in das ,,warum"<, welche Einsicht, welches Apriori eben schon
bei der Grundlegung der Gegenstandstheorie für alle gegenstands-
theoretischen Objekte vorausgesetzt war.
Das Resultat der Meinongschen Ausführungen — das Er-
gebnis des Kapitels über >das Wesen der Möglichkeit< —
lautet darum: Möglichkeit ist inhäsive, herabgesetzte
Tatsächlichkeit, ist >inhäsive Untertatsächlichkeit< ^;.
Prüfen wir nun den Sinn dieser Meinongschen Analysen, so
ist vor allem klar, daß mit der Bestimmung der Möglichkeit als
herabgesetzter Tatsächlichkeit ein Grundzug der gegenstandstheoreti-
schen Ausgangsfeststellungen stark umgewandelt ist. Denn die ent-
scheidende und tiefe Grundeinsicht, daß zwischen Wesen und Tat-
sache, zwischen rein Möghchem und nur Seiendem, kein Übergang,
sondern zunächst ein voller Wesensunterschied besteht,
diese Grundeinsicht des Rationalismus scheint hier verschoben.
Die > bloße I Möglichkeit soll hier ein niedrigerer Grad von
>Seinshö'he< sein, der höchste Grad der Seinshöhe aber, die Tatsäch-
lichkeit, soll auch das Dasein in sich begreifen*;. Dagegen hatte
auch Meinong früher erkannt, daß z.B. die Seinsart der mathe-
matischen Objekte eine Form von Möglichkeit darstellt, die jedes Sein
als Existenz oder als bloße Tatsache ausschließt^;.
Auch in seiner höchsten Steigening würde das spezifisch-einsichtig-
>Mögliche< einer geometrischen Figur keine Tatsache, keine Wirk-
1) Meinong: Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit S. 142/143.
2) Ebenda S. 143/144.
3; Ebenda S. 147 und 151.
4) Ebenda S. 20C.
b) Ebenda S. 04 und >Uber die Stellung der GegenstandÄtheorie« S. 31, 32.
>Inhä8ive Möglichkeit« bei Meinong und Kant. 29
lichkeit, darstellen. Geometrische Präzisionsfiguren können niemals
sinnlich-anschaulich als Tatsachen gegeben sein^). Und umgekehrt
kann auch aus dem Wirklichkeitscharakter eines Objektes niemals
durch > Herabsetzung« der Seinshöhe der spezifisch andersartige
Charakter der > Daseinsfreiheit«, der Charakter der einsichtigen Mög-
lichkeit, abgeleitet werden.
Was einem Objekt den Charakter des mathematisch-Möglichen,
des Begreifbaren, gibt, stammt aus einer völlig anderen Quelle als
das Moment der Existenz oder des Tatsächlichen. Daher war es
eben, wie wir in der historischen Einleitung sahen, das Ziel des
Rationalismus, die Beziehungen zwischen dem nur Möglichen und
dem nur Tatsächlichen trotz der Einsicht in ihre Wesensverschieden-
heit zu klären.
Wenn Meinong dennoch die Tatsächlichkeit (also auch das
Dasein) und die Möglichkeit als verschiedene Grade der Seinshöhe
ineinander übergehen läßt, so kann er damit otfenbar dem
Möglichen, insofern es ein A priori ausdrückt, dem Möglichen als
Wesensgehalt, nicht gerecht werden, ja die gegenstandstheoretische
Grundüberzeugung, die Wesensunterscheidung zwischen dem A priori
und dem A posteriori, ist damit verdunkelt.
In dem zweiten Kapitel seines Werkes über >die Träger der
Möglichkeit« betrachtet Meinong im wesentlichen nur die unbe-
stimmten Gegenstände als Träger von Möglichkeiten, während alle
vollständig bestimmten Objekte oder Objektive entweder tatsächliches
Sein oder tatsächliches Nichtsein haben ^).
Dieser > natürliche Vorzug«, die > beherrschende Stellung der
Tatsächlichkeit« wird von Meinong so oft betont^), daß er
damit das Moment des »in sich Einsichtigen«, der Inhäsivität, das
inhäsiv Mögliche »innerhalb« des Tatsächlichen fast als
nebensächlich erscheinen läßt*).
Insofern jedoch Meinong erkenntnistheoretisch denkt, insofern
die Gegenstandstheorie ihrer Grundlegung nach das A priori von der
Einsicht in das nackte »daß« unterscheiden muß, insofern muß zwei-
fellos gerade die Beziehung zwischen dem a priori Möglichen und
dem Tatsächlichen als ein Haup tproblem anerkannt werden.
1) Meinong : Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit S. 74.
2) Ebenda S. 218, 219, 226.
3) Ebenda z. B. S. 148/149.
4) Ebenda S. 150.
30 >Inhäsive Möglichkeit« bei Meinong und Kant
Es kann zwischen der Möglichkeit und der Tatsäch-
lichkeit nicht ein einfaches >Verwandtschaftsverhält-
nis< bestehen, wie Meinong S. 119 behauptet. Die Be-
ziehungen zwischen dem a priori Möglichen und dem
>nur<-TatsäcKlichen, die Probleme dieser Beziehungen,
die allen Einzelwissenschaften voraufgehen, müssen
tiefer gesucht werden.
Kann nun die Meinong sehe Beschreibung der Inhäsivität der
Lösung dieser Probleme näher führen?
Welche Bedeutung hat die Inhäsivität für das Wesen der Mög-
lichkeit?
Eine inhäsive Möglichkeit liegt nach Meinong überall da vor,
wo auf eine rein a priorische Notwendigkeit oder auf eine quasi-
notwendige, d. h. auf empirische Gesetzmäßigkeit innerhalb des Mög-
lichen Bezug genommen wird ').
Durch die Notwendigkeit wird > sozusagen der paradigmatische
Fall für alle Inhäsivität dargestellt < -).
Meinong glaubt allerdings an anderen Stellen^), daß es auch
eine inhäsive >Unnotwendigkeit< gibt, und er führt hierfür als Beispiel
an, daß auf Grund ausreichender Erfahrung an einem dem Beob-
achter nahestehenden Menschen der Beobachter es als sicher, wenn
auch nicht als notwendig wissen kann, daß der Beobachtete auf die
Lage X durch den Entschluß y reagieren wird. Diesem Beispiele
entgegen ist natürlich zu bemerken, wie schon Meinong angedeutet
hat, daß es sich auch bei diesem Sicherwissen nur um Notwendiges,
> empirisch-Gesetzmäßiges«, handeln kann.
Es bleiben also als die Kennzeichen des Inhäsiven nur das
rein-a priori-Notwendige und das Quasinotwendige, das >auf das
Walten von Naturgesetzen zurückgeht« ^).
Da nun nach der Definition Meinen gs jede Möglichkeit
inhäsiv ist^), so muß also das erwähnte Moment des Notwen-
digen im Möglichen stets vorhanden sein, wie dies etwa an
dem Begriff der Unmöglichkeit besonders deutlich ist: das Unmög-
liche > erscheint sprachgebräuchlich« als ein notwendig nicht-Mög-
liches. Wie aber ist jenes stets vorhandene Moment
1) Meinong: Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit S. 142, 115, 116.
2) Ebenda S. 234.
3) Ebenda S. 142, 145.
4) Ebenda S. 714.
5) Ebenda S. 143/144.
>Inhäsive Möglichkeit« bei Meinong und Kant. 31
des Not wendigen im Möglichen näher zu charakteri-
sieren?
Hier zeigt sich gerade die entscheidende und die
— ob gewollt oder ungewollt — schwerste Schranke
aller gegenstandstheoretischen Methode.
Obwohl nämlich die Gegenstandstheorie daran fest-
hält, daß das Notwendige etwas >Unsubjektives« ist^),
nicht das, >was man zu glauben genötigt ist, indes man
sein Gegenteil nicht zu glauben vermag«-), so muß Mei-
nong dauernd zugeben, daß die Notwendigkeit >zurZeit
nur durch Hinweis auf ein Erlebnismoraent, das Ver-
stehen, charakterisierbar« bleibt^).
In Hinsicht auf die Grundlegung der Gegenstandstheorie hatte
R. Amseder^) bemerkt: > Jeder Gegenstand steht zu einer Menge
anderer in Relationen; dadurch daß eine dieser Relationen das Er-
faßtsein seitens eines Subjektes ist, wird er zum Erfaßten, aber nicht
erst zum Gegenstand«. >Die erwähnte Relation ist . . . nicht nur nicht
im Gedanken des Gegenstandes enthalten, sie gehört auch gar nicht
zum Wesen desselben«. >Der Gegenstand als solcher muß also un-
abhängig von dieser Relation bestimmbar sein«.
In bezug auf die Notwendigkeit aber muß Meinong stets zu-
gestehen, daß > gegen eine Charakteristik der Gegenstände durch die
ihrem Erfassen dienenden Erlebnisse nichts einzuwenden« ^) ist. >Und
die Notwendigkeit ist sicher nicht der einzige Fall, wo die Bearbei-
tung letzter gegenstandstheoretischer Tatsachen auf eine derartige
Charakteristik hindrängt« ^).
Ja, noch weitergehe^nd muß Meinong geradezu ein-
räumen: >Warum der Gedanke der Inhäsivität sich ge-
rade an die eine Betrachtungsweise, die zum Möglich-
keitsbegriff geführt hat, gleichsam mit besonderer
Vorliebe angeschlossen zu haben scheint, dafür fehlt
mir zur Zeit ein befriedigender Aufschluß«^).
1) Meinong, Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit S. 716.
2) Ebenda S. 233.
3) Ebenda S. 716, auch S. 237, 141.
4) Untersuchungen zur üegenstandstheorie, herausgeg. von Meinong, II. Auf-
satz : »Beiträge zur Grundlegung der Gegenstandstheorie« von R. Amseder S. 54.
5) Meinong: »Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit« S. 237.
6) Ebenda S. 237 auch 244.
7) Ebenda S. 150 (im Original nicht gesperrt gedruckt).
32 >Iiihäsive Möglichkeit« bei Meinong und Kant.
Dieser Aufschluß ist aber bereits von der >Kritik
der reinen Vernunft« erstrebt und gegeben worden.
>Der Mangel der gegenstandstheoretischen Betrachtungsweise« ^)
zeigt sich darin, daß sie gerade vor den sachlich wichtigsten Proble-
men, vor den Fragen nach der Inhäsivität, vor dem notwendig Mög-
lichen in seiner Beziehung zum Tatsächlichen, vor den Fragen nach
der Möglichkeit der Naturgesetze, versagen mußte.
Die Gegenstandstheorie sowohl wie die Phänomenologie (s. Linke)
betrachteten, wie wir bereits erwähnt haben, die verschieden-
artigsten Begriffe als gleichberechtigte Gebiete des Möglichen
nebeneinander: die Objekte der Mathematik und die
Begriffe >katego rialer Art< neben den >in Idee ge-
setzten«'^) Empfindungsdaten, den Farben, Tönen, d.h.
neben den nur untertatsächlichen, unvollständig bestimmten empiri-
schen Begriffen. Kant aber erkannte, daß vor allem anderen Mög-
lichen die Gegenstände der Mathematik (die Bestimmungen
des reinen Baumes und der reinen Zeit) und die Begriffe >kate-
gorialer Art« ausgezeichnet sind, daß sie allein das rein
a priori-, das notwendig-Mögliche enthalten, das aus keiner
Wirklichkeit >in Idee gesetzt« werden kann.
Dieses oberste Mögliche, das rein a priori-Notwendige, ist
nach Kant mit dem bloß Tatsächlichen dadurch notwendig
verbunden, daß es die notwendige Form aller Erkenntnis
ist, während der bloße Empfindungsinhalt, das Wirkliche, das Tat-
sächliche, die Materie der Erfahrung bildet. So ist also das
Problem der inhäsiven, der notwendigen Tatsächlichkeit oder der
inhäsiven Untertatsächlichkeit gerade durch die Kantischen Analysen
tiefer aufgerollt worden.
Die inhäsive Untertatsächlichkeit enthält dasselbe
Problem wie die synthetischen Urteile a priori.
Es handelt sich bei Kant wie bei Meinong um dieselbe Frage:
was bedeutet >synthetisch« (d. h. auf Anschauung, auf Tat-
sachen bezogen) — »und doch a priori«^), untertatsächlich
— und doch inhäsiv?
Aber gerade diese grundlegende erkenntnistheoretische
1) s. Meinong : Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit S. 237.
2) s. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie S. 10.
3) Kant: Brief an Reinhold vom 19. Mai 1789 in »Kants Briefwechsel«,
Akademieausgabe Band II, ö. 41.
>Inliäsive Möglichkeit« bei Meinong und Kant, 33
Frage hat Meinong bereits an dem Punkte fallen gelassen, an dem
Kant sie aufgenommen hat.
Die geometrischen Präzisionsgebilde z.B. sind nach Meinong
unvollständig bestimmte Gegenstände (sie müssen als nicht existie-
rend nach Farbe, nach materieller Beschaffenheit und sonstigen Merk-
malen unbestimmt sein); es kommt ihnen daher als unvollständig
bestimmten, aber > durch sich evidenten« Gegenständen die inhäsive
Untertatsächlichkeit zu ^), d. h. sie sind zunächst nur notwendig-mög-
lich und sollen trotzdem für die Wirklichkeit Geltung haben. Mei-
nong aber kann über dieses Problem der Anwendbarkeit der Geo-
metrie keinen > Aufschluß« geben.
Kant dagegen hat diese > Möglichkeit der Mathematik« als ein
Hauptproblem zu beantworten gesucht. Durch die fünf Argumente
der > transzendentalen Aesthetik« wird gezeigt, daß der Raum (wie
entsprechend die Zeit) nicht von der Materie der Erscheinungen, von
dem bloß Tatsächlichen, abstrahiert sein kann, sondern daß er als
eine notwendige Form der Anschauung allen räumlichen Erscheinungen
zugrunde liegen muß, daß daher seine Bestimmungen, die Bestim-
mungen der Geometrie, allem Räumlichen als notwendig-möglich zu-
kommen müssen. >Die Sinnlichkeit, deren Form die Geometrie zum
Grunde legt, ist das, worauf die Möglichkeit äußerer Erscheinungen
beruht; diese also können niemals etwas anderes enthalten, als was
die Geometrie ihnen vorschreibt« ^). Nur so konnte also die not-
wendige Möglichkeit der > geometrischen Gegenstände« und zugleich
ihre Geltung für alles tatsächlich Räumliche dargetan werden.
Und analog sind auch in der transzendentalen Analytik die kate-
gorialen Grundbegriife als notwendig-mögliche Formen des Tatsäch-
lichen aufgezeigt und ihre Gültigkeit für das Erfahrene aus der not-
wendigen Einheit der Erfahrung erklärt worden. Die Kategorien
sind nämlich Einheitsbegriffe. >Der reine Verstand ist . . . in den
Kategorien das Gesetz der synthetischen Einheit aller Erscheinungen«^),
die Kategorie der Substantialität bedeutet die Einheit von Eigen-
schaften und Ding, die Kategorie der Kausalität die Einheit von
Ursache und Wirkung. Die ursprüngliche Einheit aber, die >in der
Kategorie enthalten ist« ^), ist die transzendentale Einheit der Ap-
1) Meinong : Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit § 29.
2) Kants Werke, Akademieausgahe Bd. IV, S, 287.
3) Kant: »Kritik der reinen Vernunft« A. S. 128.
4) Ebenda B. S. 162.
Kantstudien, Ergänzungsheft 51. 3
34 >Inliäsive Möglichkeit« bei Meinong und Kant.
perzeption. Diese ursprüngliche Einheit der Apperzeption ist >das:
Ich denke, das >alle meine Vorstellungen« >muß . . . begleiten können«.
»Denn die mannigfaltigen Vorstellungen, die in einer gewissen An-
schauung gegeben werden, würden nicht insgesamt meine Vorstel-
lungen sein, wenn sie nicht insgesamt zu einem Selbstbewußtsein
gehörten« ^). > Sonst würde ich ein so vielfarbiges, verschiedenes Selbst
haben, als ich Vorstellungen habe« ^). Damit also, daß die transzen-
dentale Einheit der Apperzeption, das >Ich denke«, die notwendige
Form aller Tatsachenerkenntnis bildet, damit ist auch die Kategorie,
die begrifflich nur dieses transzendentale Einheitsmoment enthält,
als notwendige Form der Erkenntnis des Tatsächlichen aufgezeigt.
Wenn ich z. B. >das Gefrieren des Wassers wahrnehme, so appre-
hendiere ich zwei Zustände (der Flüssigkeit und Festigkeit) als solche,
die in einer Relation der Zeit gegeneinander stehen. Aber in der
Zeit, die ich der Erscheinung als innere Anschauung zum Grunde
lege, stelle ich mir notwendig synthetische Einheit des Mannig-
faltigen vor, ohne die jene Relation nicht in einer Anschauung be-
stimmt (in Ansehung der Zeitfolge) gegeben werden könnte.
Nun ist aber diese synthetische Einheit als Bedingung a priori, unter
der ich das Mannigfaltige einer Anschauung überhaupt ver-
binde, wenn ich von der beständigen Form meiner inneren An-
schauung, der Zeit, abstrahiere, die Kategorie der Ursache, durch
welche ich, wenn ich sie auf meine Sinnlichkeit anwende, alles,
was geschieht, in der Zeit überhaupt seiner Relation
nach bestimme. Also steht die Apprehension in einer solchen
Begebenheit, mithin diese selbst der möglichen Wahrnehmung nach
unter dem Begriffe des Verhältnisses der Wirkungen und
Ursachen; und so in allen anderen Fällen«^).
Soviele Fragen nun auch durch die > Kritik der reinen Vernunft«
offen geblieben sind, so sehr das Verhältnis zwischen Kategorien und
Einheit der Apperzeption, so sehr das kategoriale Moment selbst und
alle Kantischen Kategorien neuer und schärferer Bestimmungen be-
dürfen^), so wenig überhaupt in dieser Arbeit Kantorthodoxie
vertreten werden soll, so wenig scheint mir doch der Grund-
gedanke in Kants transzendentalen Deduktionen durch gegenstands-
1) Kaut: »Kritik der reinen Vernunft« S. 132.
2) Ebenda S. 134.
3) Ebenda B. S. 162/168.
4) Vgl. hierzu Riehl: »Der philosophisclie Kritizismus« Band I, 2. Aufl.,
S. 492, 516 und überhaupt den gesaraten Neukantianismus.
>Inhäsive Möglichkeit« bei Meinong und Kant. 35
theoretische Untersuchungen entbehrlich gemacht zu sein, ja die
Gegenstandstheorie mußte geradezu — mit ihrer Frage nach der
Inhäsivität — auf den Kantischen Gedanken hinleiten').
So kann auch das mathematische Naturgesetz und seine Inhäsi-
vität erst in der Transzendentalphilosophie seine tiefere > Gegen-
standsbeschreibung« und Begründung landen. Da nämlich (nach der
transzendentalen Ästhetik) der Raum und die Zeit (als notwendige
Formen des Erfahrbaren) und durch Raum und Zeit die Mathematik
den realen Erscheinungen gültige Gesetze vorschreibt, ebenso wie
nach der Analytik die Kategorie der Kausalität, so muß auch jede
mathematische Folge, die durch die mathematischen Bestimmtheiten
bedingt ist, als Wirkung notwendig gesetzt sein. Wenn also die
Geschwindigkeit des fallenden Steins am Ende der ersten Sekunde
g beträgt, so muß notwendig bei Fortdauer derselben gleichmäßig
beschleunigenden Kraft, der Schwere, der durchmessene Raum nach
t Sekunden ^— — betragen , d. h. da Mathematik und Kausalität von
den Erscheinungen gelten müssen, so muß auch die mathematisch
errechenbare Folge einer mathematisch bestimmbaren Ursache not-
wendig als Wirkung tatsächlich sein.
In diesem Sinne ist nach Kant die notwendige Möglichkeit
und zugleich die objektive Gültigkeit der mathematischen Natur-
gesetze, z. B. die Gültigkeit des von Meinong öfter erwähnten
Fallgesetzes, aufzeigbar. Auch bei Meinong spielten nun, wie wir
gesehen haben, die Naturgesetze und ihre > quasinotwendige Möglich-
keit« eine wichtige Rolle. Gerade sie drängten ja für die Definition
der Möglichkeit zu der Einführung des Begriffes der Inhäsivität^).
Die Naturgesetze müssen nach Meinong typisch »unvollständig be-
stimmte Gegenstände« sein; denn sie enthalten nur die wesentlichen,
nicht alle Bestimmungen eines objektiv gültigen Sachverhaltes. Sie
sind also > nurmöglich« und >in sich einsichtig«, wenn auch objektiv
1) Vgl. hierzu den Aufsatz N. Hartmann 's : »Die Frage der Beweisbarkeit
des Kausalgesetzes mit Beziehung auf A. Meinong, Zum Erweise des allgemeinen
Kausalgesetzes, in Sitzungsberichte der Wiener Akademie der Wissenschaften
Bd. 189/4«, 1919, Kantstudien Bd. XXIV, Heft 3. Die hier von Hartmann aus-
führlich besprochene 1918 erschienene kleine Schrift Meinong's konnte leider für
die vorliegende seit längerem abgeschlossene Arbeit nicht berücksichtigt werden.
Auch Hartmann kommt — in ganz anderen als den hier durchgeführten Zusammen-
hängen — zu dem Resultat, daß diese neuste Schrift Meinong's durch transzen-
■dentalphilosophische Gedanken zu ergänzen sei.
2) Meinong : »Über Möglichkeit u. Wahrscheinlichkeit« z. B. S. 143, 237, 238.
3*
36 > Invasive Möglichkeit« bei Meinong und Kant.
gültig. Ihre Möglichkeit war daher als >inhäsiveUntertatsächlich-
keit« charakterisiert.
Wie aber die Untertatsächlichkeit mit der Inhä-
sivität zusammen bestehen kann, warum der Gedanke der
Inhäsivität sich j gleichsam mit besonderer Vorliebe« an den Möglich-
keitsbegriff >angeschlossen« hat, auf diese Frage konnte die Gegen-
standstheorie nach ihrem eigenen Zugeständnis^) — trotz anderer
Verdienste — keine Antwort geben.
Kant aber hat dieses Grundproblem dadurch bewältigt, daß er
mit allem sonstigen Rationalismus brach, daß er in seinem > Postulat«
aus dem weiten Bereich des rationalistisch-Möglichen nur die reinen
Formen der Erkenntnis als das oberste > Ermöglichende« in den Vor-
dergrund stellte. Diese Formen aber, die reinen Anschauungen und
Begriffe (und durch sie das mathematische Naturgesetz) sind in der
> Kritik der reinen Vernunft« deduziert worden als notwendig-möglich
und zugleich als für das Tatsächliche mit Recht geltend.
Die Einheitsformen der Erfahrung (und ihr ^höchster Punkt« :
die transzendentale Einheit der Apperzeption) bedeuten demnach den
systembildenden Faktor innerhalb der Kantischen Erkenntnistheorie.
Meinong hatte das Moment der Inhäsivität in seinem Möglich-
keitsbegriff nicht erklären können. Er hatte deshalb zur Erklärung
zu einem subjektiven, nicht gegenständlich begründeten Moment
greifen müssen, >dem Erlebnis des Verstehens«, >der Evidenz«.
In einer Verteidigung seiner Evidenzlehre hat sich deshalb
Meinong auch mit Kant auseinandersetzen wollen, wenigstens in-
sofern moderne Theorien des > Systemgedankens« sich auf Kant zu-
rückbeziehen ^). Und Meinong versucht hier, >kurz« zu zeigen,
inwiefern seine Evidenzlehre (in ihrer Bedeutung für das Problem
der Erkenntnis) durch den objektiveren Gedanken der > Zugehörigkeit
zu einem System« nicht ersetzt werden könne. Sind nämlich, wie
Meinong ausführt, a und ß zwei Objektive, zwei Sachverhalte, und
ist r die Relation, die diese Objektive >zu einem System gleichsam
zu vereinigen vermag« ^), so sei damit doch die Relation r nicht an
solche Objektive gebunden ; es könnten nach Meinong statt a und
ß auch Objekte wie a und h gesetzt werden, die kein System > aus-
zumachen imstande wären« *).
1) Meinong: »Über Möglichkeit und Wahrscheinliclikeit« S. 150, 237.
2) Ebenda S. 464.
3) Ebenda S. 465.
4) Ebenda S. 466.
>Inhäsive Möglichkeit < bei Meinong und Kant. 37
Durch diese Einwände jedoch können die Kantischen > systemati-
sierenden Relationen« nicht getroffen werden^). Die transzendentale
Einheit der Apperzeption ist nämlich nicht eine »Relation« in dem
Sinne, daß sie gegebene Inhalte erst nachträglich zu einem System
vereinigt, sondern, wie in der >Kritik« gezeigt wurde : alle Erkennt-
nisinhalte müssen ihr unterstehen, da sie nur, unter der Ein-
heit der Apperzeption stehend, Inhalte sein können.
Und Enti^prechendes gilt von den übrigen Kantischen Einheitsformen
des Tatsächlichen. Alles tatsächlich Räumliche ist notwendig den
Gesetzen des einen geometrischen Raumes unterstellt, alles zeitliche
Geschehen ist notwendig kausal; und insofern das Tatsäch-
liche die mathematischen und die kategorialen Not-
wendigkeitsbestimmungen enthalten muß, insofern
ist eben inhäsive Tatsächlich keit begründet. Die
Inhäsivität, die Notwendigkeit, die damit durch den
Kantischen >Systemgedanken« für das Tats ächliche
>ermöglicht< wird, ist in der Tat objektiv begründet
im Gegensatz zu der von Meinong gelehrten mehr
oder minder subjektivistischen Evidenz.
Gerade Kant hat die ältesten Gegensätze zwischen
bloßem Subjektivismus und bloßem Objektivismus am
tiefsten überbrückt, indem er seine Stellung jenseits
des bloßen Objektes und Subjektes eingenommen hat: im
Begriff der subjektiv-objektiv bestimmten Erfahrung.
Kant hat gezeigt, wie die Begriffe, die die Möglichkeit im ober-
sten Sinne bestimmen, zwar im Verhältnis zum bloßen Erkenntnis-
inhalt > subjektiv« sind, dennoch die objektiv-gültigen Formen alles
Erfahrbaren bilden müssen. Und durch diese Analyse hat eben die
> Kritik der reinen Vernunft« diejenigen Hauptfragen aufgeklärt,
denen die Gegenstandstheorie — schon durch ihre Grundeinstellung —
nicht gerecht werden konnte.
Diese grundlegende Bedeutung der Kantischen (ermöglichenden)
Erfahrungsformen tritt, wie ich glaube, auch beiHusserl besonders
hervor, wie überhaupt in Husserl's letztem Werk die Annäherung
an Kant sehr deutlich ist, wenngleich wir hier dem Namen nach
keine gesonderte Darstellung der transzendentalen Möglichkeit vor-
finden werden.
1) s. zu dieser Frage des Systemgedankens : M. Frischeisen-Köhler, über
Meinong, Kantstudien Band XXII, S. 471/72.
III. Der Begriff des „absoluten" Bewusstseins bei Husserl
und sein Verhältnis zum Möglichkeitsbegriff der „Kritik der
reinen Vernunft".
Auch Husserl ging, wie wir gesehen haben, von ähnUchen
Voraussetzungen aus wie die Gegenstandstheorie (s. die Ideen zu
einer reinen Phänomenologie, den ersten Abschnitt über > Wesen und
Wesenserkenntnis <). Auch für die Phänomenologie (besonders im
Sinne Linkes) ist der Bereich des Möglichen zunächst so weit aus-
gedehnt, daß er alles > Wesen« umfaßt; nur das Wirkliche, die Gegen-
stände der verfahrenden Anschauung«, die Gegenstände der Natur-
und Geistesgeschichte, die Objekte der Tatsachenwissenschaften sind
ausgeschlossen.
Diese verschiedenartigen Wissenschaften vom Möglichen, vom
Wesen, die verschiedenen eidetischen Disziplinen im Sinne Husserls
wie im Sinne Linkes, entsprechen völlig den allgemeinen und spe-
ziellen Gegenstandstheorien Meinongs. Alle obersten Wesensall-
gemeinheiten von Arten umgrenzen Regionen von Individuen'); und
der Inbegriff der > synthetischen Wahrheiten«, die in diesen regionalen
Wesen gegründet sind, soll den Inhalt von eidetischen regionalen
Ontologien ausmachen^).
Aber die erkenntnistheoretische Grundfrage, die hier vorliegt,
die Frage, die auch M e i n o n g schon zu dem Problem der inhäsiven
Untertatsächlichkeit geführt hat, die Beziehungen zwischen dem
Eidetischen und dem Wirklichen und die Probleme dieser Beziehungen,
sind in den Anfängen bei Husserl wie bei Meinong kaum näher
beachtet worden.
Wir erfahren nur, daß die Beziehungen zwischen Eidos und in-
dividuell-Daseiendem sehr eng sein sollen: es liegt >in der Eigenart
der Wesensanschauung, daß ein Hauptstück individueller Anschauung,
1) s. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie S.O.
2) Ebenda S. 31.
»Absolutes Bewußtsein« bei Husserl und kritische Modalität. 39
nämlich ein . . Sichtigsein von Individuellem ihr zugrunde liegt, obschon
freilich keine Erfassung desselben und keinerlei Setzung als Wirk-
lichkeit«^); infolge davon ist »keine Wesensanschauung möglich ohne
die freie Möglichkeit der Blickwendung auf ein entsprechendes In-
dividuelle und der Bildung eines exemplarischen Bewußtseins — wie
auch umgekehrt keine individuelle Anschauung möglich ist ohne die
freie Möglichkeit des Vollzugs einer Ideation und in ihr der Blick-
richtung auf die entsprechenden, sich im individuell Sichtigen exem-
plifizierenden Wesen« ^). —
> Wesensallgemeinheiten« können daher einfach >auf ein als da-
seiend gesetztes Individuelles« »übertragen« ^) werden. 2- Jede An-
wendung von geometrischen Wahrheiten auf Fälle der (als wirklich
gesetzten) Natur gehört hierher« -)•
Tiefer wird hier — entsprechend wie bei M e i n o n-g — das
Problem der »Möglichkeit der Mathematik« nicht angesehen^). Es
heißt nur: »was im Eidos statthat«, »fungiert« »für das Faktum als
absolut unübersteigliche Norm« ^).
Ja außerdem wird ausdrücklich ausgeführt: Jede »erfahrende
oder individuelle Anschauung kann in Wesensschauung
(Ideation) umgewandelt werden«^). »Welcher Art immer die in-
dividuelle Anschauung ist, ... sie kann die Wendung in Wesens-
schauung nehmen« •'').
Wenn Husserl trotzdem schon in diesem ersten Abschnitt seiner
»Ideen« von »Anklängen« an die Kantische Vernunftkritik spricht
(S. 31), so ist diese »innere Verwandtschaft« hier sehr gering zu
nennen; denn nach Kant ist, wie wir gesehen haben, das Möglich-
keitsmoment eines Gegenstandes nicht durch sein gesamtes »mate-
riales« »Wesen« bestimmt, sondern nur durch seine rein apriori-
schen und doch synthetischen (auf die Erkenntnismaterie bezogenen)
Formen. Nur diese synthetischen Formen hat Kant als das
Ermöglichende deduziert, während die synthetische Erkenntnis
a priori bei Husserl ausdrücklich materiale Erkenntniselemente
miteinbegreifen soll.
Husserl kennt darnach nur rein »analytische formale Katego-
rien« ^), oder er setzt z. B. die Kausalität als synthetisch a priori
1) s. Husserl: Ideen S. 12.
2) Ebenda S. 15.
3) s. hierzu Meinong: Ȇber die Stellung der Gegenstandstheorie im System
der Wissenschaften« S. 33.
4) Husserl: Ideen S. 301. 5) Ebenda S. 10. 6) Ebenda § 10.
40 »Absolutes Bewußtsein« bei Husserl und kritische Modalität.
und als nicht formal in eine Linie mit den 5> regionalen Grund-
begriffen«, insofern diese als Wesen > Materie der Erkenntnis« ent-
halten ^).
Inwiefern dagegen die obersten Begriffe a priori rein formal
und doch synthetisch sein müssen, inwiefern alle analytische
Einheit und alles materiale Wesen >nur vermöge einer vorausge-
dachten möglichen synthe tisch en« Einheitsform gedacht werden
kann^), die Einsicht in dieses Problem der Einheit der Apper-
zeption ist hier nicht vorhanden.
Sehen wir deshalb zu, wie Husserl doch innerhalb seiner Ana-
lysen den Kantischen Problemstellungen näher gekommen
ist, wie auch ihm sich das Reich des grundlegenden Möglichen nach
den formalen Erfahrungsbedingungen hin verengt hat.
In diesem weiteren Verfolg der Husserl sehen > Ideen« treffen
wir zuerst auf eine Wendung, die nicht zufällig mit einer bestimmten
Seite des Kantischen Systems in Berührungen steht, und die sich
ebenso bei Meinong wie bei P ichler wiederfindet: es ist dies die
Lehre von der unehdlichen Bestimmbarkeit der existierenden Objekte.
Auch nach Meinong waren die Gegenstände, die nicht voll-
ständig bestimmbar sind, »nur möglich«. Für alle wirklichen Gegen-
stände jedoch hatte Meinong die vollständige Bestimmbarkeit ge-
fordert mit Hilfe des Inbegriffs aller möglichen, d. h. der Gesamtheit
der »unvollständigen« Begriffe. Während es für einen nur mög-
lichen Begriff unentschieden bleiben darf, ob ihm ein bestimmtes
Merkmal zukommt, oder ob ihm das kontradiktorische Gegenteil dieses
Merkmals zukommen muß, so müssen alle existierenden Gegen-
stände (nach dem Satz des ausgeschlossenen Dritten) in Hinsicht
jedes möglichen Merkmals (oder seines kontradiktorischen Gegenteils)
bestimmt sein. Der Begriff der Kugel als solcher, die mögliche
Kugel, ist in bezug auf die schwarze oder die nicht-schwarze Farbe
nicht bestimmbar. Jede wirkliche Kugel dagegen muß entweder
schwarz oder nicht-schwarz sein ^). Und so muß jedes wirk-
liche Ding betrachtet werden >im Verhältnis auf die
gesamte Möglichkeit als den Inbegriff aller Prädi-
1) s. Husserl: Ideen § 16 und »Logische Untersuchungen« II. Band, 2. Aufl.,
3. Unt. § 11 und 12.
2) Kritik der reinen Vernunft B S. 134.
3) s. hierzu Meinong: »Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit« §§24, 25,
29, 30.
p
> Absolutes Bewußtsein« bei Husserl und kritische Modalität. 41
kate der Dinge überhaupt«^). Aber diese >Gesarat-
heit der dem Dinge eignenden Bestimmungen... kann
...nur unendlich groß sein«^), und sie kann daher
durch unseren »endlichen Intellekt«^) nicht erfaßt
werden.
Genau dies entspricht aber der Kantischen Lehre von dem >Ideal
der reinen Vernunft«.
Gerade durch diese Lehre der Dialektik hatte ja
Kant versucht, das universalistische System des vor-
kritischen Möglichen als ein aufgegebenes mit dem ge-
gebenen Möglichkeitssystem der Postulate in Verbin-
dung zu setzen.
Und damit wird es auch verständlich, wieso sowohl Meinong
wie nachweisbar Hu sserP und Pich 1er, indem sie vom vor kanti-
schen Kationalismus ausgehen, an diese Lehre vom
>Ideal< am nächsten anknüpfen konnten. Denn in der
Lehre vom >Ideal< ist eben der spezifisch kritische, der
tiefer liegende Möglichkeitsbegriff, die Bezogenheit des
Möglichen auf die Formen der Erfahrung, zurückgestellt zu-
gunsten des allgemeineren, des vorkritischen Mög-
lichen, des Möglichen der scientia generalis, das auch die mate-
rialen Momente aller Möglichkeit einbegreifen will, das aber darum
auch die Erforschung dieses Inbegriffs alles Möglichen nur als ein
Ziel, nur als ein aufgegebenes >Ideal der reinen Vernunft« erkennen
lassen muß.
Auch Husserl hat nun diese Lehre von der unendlichen Be-
stimmbarkeit des Wirklichen ausdrücklich als >Idee im Kantischen
Sinn« vertreten"*).
Er hat es mehrfach und besonders betont: kein > transzendenter
Gegenstand«, keine »Realität«, >die der Titel Natur oder Welt um-
spannt«, kann in einem »abgeschlossenen Bewußtsein in vollständiger
Bestimmtheit und in ebenso vollständiger Anschaulichkeit gegeben
sein« . . . »Aber als Idee (im Kantischen Sinn) ist gleichwohl
die vollkommene Gegebenheit vorgezeichnet«*).
Ja Husserl hat besonders die unendliche Bestimmbarkeit des
existierenden Dinges nach verschiedenen »Richtungen« hin ausführ-
1) Kant: »Kritik der reinen Vernunft« B S. 600.
2) Meinong: »Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit« S. 168.
3) Ebenda S. 223.
4) Husserl: Idee S. 297.
42 > Absolutes BewußtseiiK bei Husserl und kritische Modalität.
lieber dargestellt; sowohl als res temporalis Avie als res extensa und
als res materialis gehören nach ihm zu jedem Ding > ideale Möglich-
keiten der Grenzenlosigkeit im Fortgänge^) einstimmiger Anschau-
ungen« ^).
So ist das Ding hinsichtlich seiner Dauer >prinzipiell . . . endlos
extendierbar« ^); in räumlicher Hinsicht ist es nmendlich mannig-
faltiger Formverwandlungen« ^) und unendlich mannigfaltiger Lage-
veränderung fähig; und als res materialis endlich ist es >der Mög-
lichkeit nach« >die Einheit . . . von unendlich vielgestaltigen Kau-
salitäten« ^). 2>So sind alle Komponenten der Dingidee selbst Ideen,
eine jede impliziert das „und so weiter" unendlicher Mög-
lichkeiten«^). Und nur im ^Prozeß des Durchlaufens, im Bewußtsein
der Grenzenlosigkeit des Fortganges der einstimmigen Anschauungen«
können wir >die Idee Ding« ^) erfassen.
Aus diesen Lehren hat nun Husserl mit Recht auf den bloßen
Erscheinungscharakter der Erfahrungsdinge geschlossen, genau wie
Kant aus der entsprechenden Lehre vom ^transzendentalen Ideal«
wie überhaupt aus der Dialektik der reinen Vernunft den gleichen
Schluß gezogen hatte.
Indem aber Husserl so den Erscheinungscharakter alles Er-
fahrungswirklichen unterstrich, hat sich auch eine wichtige Wandlung
in seinem Möglichkeitsbegriff vorbereitet.
Während nämlich Husserl bisher mit Linke jedes > Wesen«,,
jedes Eidos, als ein reines Mögliches angesehen hatte, so soll es nun
für die Phänomenologie, für die Lehre von dem grundlegenden Mög-
lichen, >von fundamentaler Bedeutung« sein > einzusehen, daß nicht
etwa alle Wesen diesem Umkreise« (dem Stoffgebiete der Phäno-
menologie) > angehören, daß vielmehr genau wie für individuelle
Gegenständlichkeiten der Unterschied zwischen immanenten und
tranzendenten statthat, so auch für die entsprechenden Wesen« ^)»
Alle Erlebnisse, > sofern sie Bewußtsein von etwas sind«, nennt
Husserl > auf dieses Etwas intentional bezogen«').
Immanent bezogen aber sind diejenigen intentionalen Er-
1) Vgl. Kants Kritik der reinen Vernunft (A 25).
2) Husserl: Ideen S. 311.
3) Ebenda S. 312.
4) Ebenda S. 318.
5) Ebenda S. 312, s. hierzu auch die Ausführungen S. 74, 78.
6) Husserl: Ideen S. 114.
7) Ebenda S. 64.
> Absolutes Bewußtsein < bei Husserl und kritische Modalität. 43
lebnisse, >zu deren Wesen es gehört, daß ihre intentionalen Gegen-
stände, wenn sie überhaupt existieren, zu demselben Erlebnisstrom
gehören wie sie selbst« ^). >Das Bewußtsein und sein Objekt bilden«
hier >eine individuelle rein durch Erlebnisse hergestellte Einheit« ^).
>Transzendent gerichtet« sind dagegen diejenigen >inten-
tionalen Erlebnisse, für die das nicht statthat«^). Ein Transzen-
dentes sind demnach alle Dinge und ebenso alle Erlebnisse als
>psychische Zustände«, insofern sie zu betrachten sind als > reale Vor-
kommnisse« ^innerhalb der natürlichen Welt« ^). D. h. transzen-
dent sind alle physischen und psychischen >Realitäten über-
haupt«^).
Immanent gegeben ist nur das erst später zu erläuternde
absolute, transzendental gereinigte Bewußtsein.
Alles transzendente Sein ist demnach ein Reales, d. h., wie wir
gesehen hatten, ein stets erst unendlich zu Bestimmendes, ein ideal
Erscheinendes, ein Sein, das nur den > sekundären, relativen Sinn
eines Seins für ein Bewußtsein hat« ^). Aus diesem Grunde kann
nach Husserl die gesamte Transzendenz kein rein unabhängiges
Wesen besitzen, sie »entbehrt wesensmäßig . . . der Selbständigkeit« ^),
da ja das transzendente Wesen die s-phänomenale Realität« und damit
die Beziehung auf ein Bewußtsein voraussetzt. Soll also für die
Phänomenologie das grundlegende Mögliche, das Gebiet der > ab-
soluten Wesen« (nicht wie bei Linke das aller Wesen) aufgesucht
werden, soll die Phänomenologie« mit Rücksicht auf die philosophi-
schen Funktionen«, die sie >zu übernehmen berufen ist, ... die ab-
solute Independenz«^) besitzen, die Husserl für sie intendiert,
so muß alle Lehre von den transzendenten Wesen aus-
geschaltet werden.
Nur das immanente Bewußtsein bedeutet im Gegensatz zu allen
> phänomenalen Realitäten« und im Gegensatz zu dem > transzendenten
Wesen« dieser Realitäten ein völlig anders- und eigenartiges Sein.
»Zwischen Bewußtsein und Realität«, d.h. ^zwischen Immanenz und
Transzendenz« besteht die »kardinalste . . . Unterschiedenheit der
1) Husserl: Ideen S. 68 (im Original gesperrt gedruckt).
2) Ebenda S. 68.
3) Ebenda S. 103, 105.
4) Ebenda S. 68.
5) Ebenda S. 93.
6) Ebenda S. 93/94.
7) Ebenda S. 115.
44 > Absolutes Bewußtsein« bei Husserl und kritische Modalität,
Seins weisen ... , die es überhaupt gibt< ^), es > gähnt« hier »ein
wahrer Abgrund des Sinnes«^).
In der natürlichen Einstellung ist die transzendente Erscheinungs-
welt ständig als eine »vorhandene«^) anzusehen, sie ist ständig >für
mein Aktbewußtsein Hintergrund« ^), auch wenn ich mir gelegentlich
innerhalb der natürlichen Einstellung >die arithmetische Welt und
ähnliche andere Welten . . zueigne«^), d. h. weim ich mich innerhalb
der natürlichen Einstellung mit — nicht-immanenten — »Wesen«
beschäftige. Die natürlichen Einstellungen bilden stets — mindestens
inaktuell — die festesten, weil nie beirrten Gewohnheiten auch im
wissenschaftlichen Denken^).
Aber die bisher »unbekannte, ja die kaum geahnte« ^) phänome-
nologische Region kann nach Husserl nur durch die völlige Aus-
schaltung der natürlichen Welt, der Welt der Transzendenzen,
gewonnen werden. Alles, was die Welt »in ontischer Hinsicht um-
spannt«, soll »nicht negiert« und »nicht bezweifelt« werden,
jedes Urteil über die »bewußtseinsmäßige Wirklichkeit« , soll nur
»außer Aktion gesetzt«, »eingeklammert« sein"). Ich übe die >phäno-
menologische eTro/Yj«, »die transzendentalen Reduktionen«, (S. 56 u. 60)
heißt nur: alle auf die »natürliche Welt bezüglichen Wis-
senschaften, so fest sie mir stehen, ... so wenig ich daran denke,
das mindeste gegen sie einzuwenden, schalte ich aus, ich mache
von ihren Geltungen absolut keinen Gebrauch«^).
Nach dieser Aufhebung der natürlichen Einstellung, nachdem
so die gesamte natürliche Welt und alle damit ver-
knüpften »transzendent eidetischen Regionen« ein-
geklammert sind, ergibt sich gerade als das »phäno-
menologische Residuum« »das Feld der Phänomeno-
logie«: das Feld der »reinen« »immanent gegebenen«,
»der absoluten«, »transzendentalen Bewußtseinserleb-
nisse«").
Diese immanent gegebenen Bewußtseinserlebnisse haben »in sich
selbst ein Eigenwesen« ^), sie stellen sich nicht dar als ein Erschei-
1) Husserl: Ideen S. 77.
2) Ebenda S. 93.
3) Ebenda S. 51.
4) Ebenda S. 58.
5) Ebenda S. 59.
6) Ebenda S. 56/57.
7) Ebenda S. 59, 95 und öfter.
8) Ebenda S. 59.
> Absolutes Bewußtsein« bei Husserl und kritische Modalität. 45
nendes, als ein erst zu Bestimmendes wie das Transzendente, das
Keale, sondern sie sollen nach Husserl absolut gegeben sein^).
Alle diese Gedanken werden als >Höhepunkt« der Betrachtung 2) in
großer Ausführlichkeit entwickelt.
>Jede immanente Wahrnehmung verbürgt notwendig die Existenz
ihres Gegenstandes« ^). >Nur für Ich und Erlebnisstrom in Beziehung
auf sich selbst besteht diese ausgezeichnete Sachlage, nur hier gibt
es eben so etwas wie immanente Wahrnehmung, und muß es das
geben« ^). > Richtet sich das reflektierende Erfassen auf mein Erlebnis,
so habe ich ein absolutes Selbst erfaßt, dessen Dasein prinzipiell
nicht negierbar ist, d. h. die Einsicht, daß es nicht sei, ist prinzipiell
unmöglich; es wäre ein Widersinn, es für möglich zu halten, daß
ein so gegebenes Erlebnis in Wahrheit nicht sei« ^). >Das Vor-
schwebende mag ein bloßes Fiktum sein, das Vorschweben selbst,
das fingierende Bewußtsein ist nicht selbst fingiertes, und zu seinem
Wesen gehört, wie zu jedem Erlebnis, die Möglichkeit wahrnehmender
und das absolute Dasein erfassender Reflexion«^). »Mein Einfühlen
und mein Bewußtsein überhaupt ist originär und absolut gegeben,
nicht nur nach Essenz, sondern nach Existenz«^). >Das Sein des
Bewußtseins . . . würde . . . durch eine Vernichtung der Dingwelt
zwar notwendig modifiziert, aber in seiner eigenen Existenz nicht
berührt«^). Das Bewußtsein in Reinheit ist >ein für sich geschlossener
. . . Zusammenhang absoluten Seins, in den nichts hineindringen
und aus dem nichts entschlüpfen kann« '"). 5 Das immanente Sein ist
. . . zweifellos in dem Sinne absolutes Sein, daß es prinzipiell nulla
re indiget ad existendum« ^). Jeder Erlebnisstrom > trägt die Bürg-
schaft seines absoluten Daseins als prinzipielle Möglichkeit in sich
selbst« '^).
In der psychologischen Einstellung geht >der natürlich
eingestellte Blick auf die Erlebnisse ... als Erlebniszuständlichkeit
des Menschen bezw. Tieres«. Die phänomenologische Ein-
stellung wendet sich, > reflektierend und die transzendenten
Setzungen ausschaltend, dem absoluten , reinen Bewußtsein zu . . .
1) Husserl: Ideen S. 81.
2) Ebenda S. 87.
3) Ebenda S. 85/86.
4) Ebenda S. 91.
5) Ebenda S. 93.
6) Ebenda S. 92 (im Original gesperrt gedruckt).
7) Ebenda S. 85.
46 > Absolutes Bewußtsein« bei Husserl und kritische Modalität.
Das reine Erlebnis liegt in gewissem Sinne im psychologisch Apper-
zipierten, in dem Erlebnis als menschlichem Zustand; mit seinem
eigenen Wesen nimmt es die Form der Zuständlichkeit und damit
die intentionale Beziehung auf Menschen-Ich und Menschen-Leiblich-
keit an« ^).
Das absolute Erlebnis steht daher dem empirischen >als
Voraussetzung seines Sinnes« gegenüber«^). Aber Psychi-
sches überhaupt im Sinne der Psychologie >als im absoluten Sinne
seiend« anzusetzen, ist natüdich »Widersinn« ^), wie es »Widersinn
ist«, dem absoluten Bewußtsein >Ptealität zuzumuten«^), d. h. Realität
im Sinne der »transzendenten« Erscheinungswelt.
Das absolute Bewußtsein ist darnach in der Tat nicht als eine
»absolute Realität« anzusehen — eine absolute Realität gilt überhaupt
»so viel wie ein rundes Viereck« — ^), sondern das absolute Bewußtsein
ist nur »in intuitivem, völlig zweifellosem Verfahren« aufweisbar als
die notwendige ^sinngebend e«^) Voraussetzung zu dem
Faktum aller Realitätserfahrung. Das immanente transzendentale
Bewußtsein enthält, kantisch gesprochen, die (im Verhältnis zu den
Kantischen Bedingungen allerdings zunächst erweiterte) Bedingung
der Möglichkeit der Erfahrung. Denn in diesem absoluten Be-
wußtsein kann sich erst alle Erfahrungsrealität »kon-
stituieren«^), >sich in ihm bergen«*'), »in ihm sich bekunden« ^).
Die Realität kann nur »Korrelat des absoluten Bewußtseins«')
sein. Das transzendentale Bewußtsein dagegen ist »die Urkategorie
des Seins überhaupt, ... in der alle anderen Seinsregionen wurzeln,
auf die sie ihrem Wesen nach bezogen, von der sie daher wesens-
mäßig alle abhängig sind«^), an die sie alle »gebunden«'^) bleiben.
Die Phänomenologie aber ist nach alledem die Lehre von dem
Wesen des absoluten, des durch die transzendentale Reduktion gewon-
nenen Bewußtseins.
In dieser Phänomenologie sind nun nach Husserl »alle eideti-
schen (also unbedingt allgemein gültigen) Erkenntnisse beschlossen,
mit denen sich die auf beliebig vorzugebende Erkenntnisse und Wissen-
1) Husserl: Ideen S. 104/105.
2) Ebenda S. 106. 3) Ebenda S. 108.
4) Ebenda S. 106. 5) Ebenda S. 117.
6) Ebenda S. 94. 7) Ebenda S. 143.
8) Ebenda S. 141. 9) Ebenda S. 102.
»Absolutes Bewußtsein« bei Husserl und kritische Modalität. 47
Schäften bezogenen Radikalprobleme der Möglichkeit be-
antwo rt en< ^).
>Jede prinzipielle Mögli chkeits frage« soll >nur
auf dem Boden der eidetischen Phänomenologie ent-
schieden werdenc ^).
Prüfen wir es deshalb — wenigstens den allgemeinen Zusammen-
hängen nach — , wie Husserl die > prinzipiellen« philosophischen
Möglichkeitsfragen beantwortet.
Schon F. Kuntze hat für die > Logischen Untersuchungen <
Husserls mit Recht darauf hingewiesen, daß nach ihnen die Phä-
nomenologie als eine Art erweiterter > metaphysischer Deduktion« im
Sinne der >Kritik der reinen Vernunft« anzusehen sei^).
Aus ähnlichen Überzeugungen hat Natorp in seinem Aufsatz
über »Husserls« »Ideen zu einer reinen Phänomenologie«*) die
Verwandtschaft der Phänomenologie mit Natorps eigener kritischer
»Allgemeiner Psychologie« hervorzuheben gesucht.
Ich glaube, entsprechend können sich auch uns schon aus der
bisherigen Darstellung der »Ideen« einige Hauptpunkte abheben, die
eine Vergleichung zwischen Phänomenologie und Kritizismus erleichtern.
So ist meiner Meinung nach vor allem klar, daß die ganze Ten-
denz der phänomenologischen Fragestellung, aus der heraus Husserl
den Fragenkreis des immanent gegebenen, des transzendentalen Be-
wußtseins abhob, der transzendentalen Einstellung Kants sehr nahe-
steht.
Alle Ausschaltungen der transzendenten Wesenswissenschaften
wie die Einklammerung aller Tatsachenwissenschaft bei Husserl
entspricht völlig der Kantischen Ausschaltung des bloßen Rationalismus
und der des bloßen Empirismus. Sowohl die Methoden der vorkriti-
schen eidetischen Ontologien (die das gegenständlich Wirkliche als
schon konstituiert voraussetzten und erst dann Theorien seines Wesens
entwarfen) wie die Methoden der Tatsachenwissenschaften (die sich
auch nur auf den bereits konstituierten Gegenstand als wirklichen
beziehen) und besonders die Methoden der empirischen Psychologie
(die zu den Wirklichkeitswissenschaften gehört) werden bei Kant
wie bei Husserl abgelehnt. Im Mittelpunkt der Analyse bleibt in
1) Husserl: Ideen S. 118 (bei Husserl nicht gesperrt).
2) Ebenda S, 119 (bei Husserl nicht gesperrt).
3) F. Kuntze: »Die kritische Lehre von der Objektivität«, 1906, S. 193 ff.
4) Logos Band VH, Heft 3, S. 224 ff.
48 >Absolutes Bewußtsein« bei Husserl und kritische Modalität.
beiden Fällen nur der Inbegriff der Momente und der Verhältnisse,
durch die das erfahrbare wirkliche Objekt konstituiert ist.
Auch Kant hat wie Husserl davor gewarnt, dieses Problem von
dem Wesen der Erfahrungskonstitution mit dem -^psychologischen
SpezialproMem von der Entstehung der Erfahrung zu verwechseln,
und nach Kant wie nach Husserl muß die transzendentale Betrach-
tung, die beide Denker fordern, aller Psychologie vorangehen.
Was die transzendentale Betrachtung > generell festgestellt hat,
muß der Psychologe als Bedingung der Möglichkeit all seiner weiteren
Methodik anerkennen« ^).
>Um alles Bisherige in einen Begriff zusammenzufassen, ist zu-
vörderst nötig, die Leser zu erinnern, daß hier nicht von dem Ent-
stehen der Erfahrung die Rede sei, sondern von dem, was in ihr
liegt. Das erstere gehört zur empirischen Psychologie und würde
selbst auch da ohne das zweite, welches zur Kritik der Erkenntnis
und besonders des Verstandes gehört, niemals gehörig entwickelt
werden können« ^).
Dieser Satz der »Prolegomena« gilt in seiner prägnanten Zu-
sammenfassung in gleicher Weise für die Phänomenologie wie für den
Kritizismus.
Ja wie die Phänomenologie zielt auch die Transzendentalphilo-
sophie in entscheidenden Begründungszusammenhängen auf eine reine
Wesensdeskription des in dem transzendentalen Bewußtsein, des in
dem »Wesen« Erfahrung > Angetroffenen« (s. Kr. B S. 41), und Kant
wie Husserl verwerfen in diesem Sinne in gleicher Weise alles De-
duzieren aus > vorgefaßten metaphysischen Meinungen«. Es ist deshalb
kein Zufall, daß für den zentralsten Punkt der > Kritik der reinen
Vernunft« innerhalb der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, für
das oberste Prinzip alles Verstandesgebrauches«, nach mehrfacher
Betonung^) nur ein rein > analytischer«, d.h. also ein rein deskrip-
tiver Satz als beweisend anerkannt wird. Dieser oberste Grundsatz,
>der höchste Punkt, an dem man ... die ganze Logik und nach
ihr die Transzendentalphilosophie heften muß«''), heißt: »Die syn-
thetische Einheit des Bewußtseins ist . . . eine objektive Bedingung
aller Erkenntnis . . ., unter der jede Anschauung stehen muß, um
für mich Objekt zu werden, weil auf andere Art und ohne diese
1) Husserl: Ideen S. 159.
2) Kant: Prolegomena §21a (Akademieausgabe Bd. IV, S. 304).
3) Kritik der reinen Vernunft B S. 135 und 138.
4) Ebenda B S. 134/135.
> Absolutes Bewußtsein < bei Husserl und kritische Modalität, 49
Synthesis, das Mannigfaltige sich nicht in einem Bewußtsein ver-
einigen würde« ').
Obwohl nun auch Husserl zugesteht, daß bereits Inder >trans-
zendentalen Deduktion« Kants Ansätze zu einer phänomenologischen
■Wesensbeschreibung vorhanden sind^), so ist es doch einleuchtend, daß
durch Husserl (auch abgesehen von der allgemeinen Eidetik) zu-
nächst ein viel weiteres Gebiet der transzendentalen und der phäno-
menologischen Fragestellung unterworfen werden soll. Die Behauptung
Linkes trifft zu: >Das nicht-empirisch Gegebene der Phänomenologie
scheint ... ein bedeutend weiterer Begriff zu sein als das a priori
der reinen Anschauung und das Kantische a priori überhaupt« ^).
Es ist ein Verdienst Husserls, daß er nicht nur für das Form-
A priori Kants, sondern für alle Charaktere der Erkenntnis (die Form-
und Stoff- ^), die noetischen wie die sogenannten noematischen Momente)
eine neue ausführlichere und stärker differenzierende Beschreibung
angebahnt oder mindestens dem Programm nach gefordert hat.
>Was irgend an reduzierten Erlebnissen in reiner Intuition eide-
tisch zu fassen ist, ob als reelles Bestandstück oder intentionales
Korrelat, das ist ihr (der Phänomenologie) eigen, und das ist für sie
eine große Quelle von absoluten Erkenntnissen«^).
Aber freilich dieses >rhapsodistische« Erfassen, die weitgehende
Beschreibung alles irgendwie mit dem > absoluten Erlebnis« Ver-
knüpften hat auch dazu geführt, daß viele der von Husserl be-
gonnenen Untersuchungen, — wie er selbst oft zugeben muß, — ■
ebensosehr in eine eidetische Psychologie gehören könnten wie
in die Phänomenologie^). (Um so weniger berechtigt erscheint des-
halb der gegen Kant erhobene Vorwurf des Psychologisierens) *').
Suchen wir aber nun nach dem grundlegenden Möglichkeitsbegriff
des > absoluten Bewußtseins«, so ergibt sich auch für die Phänome-
nologie eine Verengung der transzendentalen Fragestellung, die all-
gemeinen eidetisch-psychologischen Untersuchungen müssen zurück-
treten, und die Beziehungen zu Kant werden um so deutlicher.
Auch nach Husserl ist (wie nach Kant) >die materielle Welt
1) Kritik der reinen Vernunft B S. 138.
2) P. F. Linke: »Das Recht der Phänomenologie«. Kautstudien Bd. XXI,
S. 177 (im Original gesperrt gedruckt).
3) s. Husserls Plan einer reinen »Hyletik« ; Ideen S. 178.
4) Husserl: Ideen S. 139.
5) Ebenda S. 159, vgl. dazu auch S. 143, 144, 146.
6) Ebenda S. 119.
Kanlsfudien. Ergänzungsheft 51. 4
50 »Absolutes Bewußtsein« bei Husserl und kritische Modalität.
nicht ein beliebiges Stück, sondern die Fundamentalschicht der natür-
lichen Welt, . . . auf die alles andere reale Sein wesentlich bezogen
ist« ^). Das jRätsek besteht nur darin: >in wiefern soll zunächst
die materielle Welt ein prinzipiell andersartiges , aus der
Eigenwesenheit der Erlebnisse Ausgeschlossenes sein ? Und wenn
sie das ist, wenn sie gegenüber allem Bewußtsein . . . das >Fremde«,
das > Anderssein« ist, wie kann sich Bewußtsein mit ihr verflech-
ten?«^). Die Lösung dieses Rätsels ergibt sich zunächst dadurch,
daß alle > realen und idealen Wirklichkeiten«, also auch die wirklichen
Dinge, trotz ihrer Einklammerung durch die Phänomenologie >doch
wieder in die phänomenologische Sphäre« > gehören« und dort > ver-
treten« sind > durch die ihnen entsprechenden Gesamtmannigfaltig-
keiten von Sinnen und Sätzen« ^). Also auch die erwähnten > Rätsel «-
Fragen sollen durch die Phänomenologie, durch eine reine
Beschreibung des absoluten, des > transzendentalen «'Bewußtseins, auf-
geklärt werden.
Auch für diese wie für alle transzendentalen Untersuchungen spielt
nun nach Kant wie nach Husserl >die merkwürdige Doppelheit und die
Einheit« von Erkenntnisstoff und Erkenntnisform (»von sensueller
oXy] und intentionaler [j.op(pYj«) die »beherrschende Rolle« ^).
»Was die Stoffe zu intentionalen Erlebnissen formt und das
Spezifische der Intentionalität hereinbringt, ist eben ...noetisches
Moment oder kürzer gefaßt Noese«^).
Der ganze »Strom des phänomenologischen Seins« hat
nun eine solche »stoffliche und eine noetische Schicht«^).
Aber auch bei Husserl wie bei Kant liegen gegenüber den stoff-
lichen Momenten die »unvergleichlich wichtigeren und reicheren
Analysen . . auf selten des Noetischen«^).
In der »Wahrnehmung des weißen Papieres« ist das »Empfin-
dungsdatum Weiß« als »stoffliches Moment« nicht selbst
»Bewußtsein von etwas«''), erst noetische Momente können
das Stoffliche »beseelen« ''), »formen«, »das Spezifische der In-
tentionalität hereinbringen« , so daß das bloße stoffliche Moment
»Weiß« der »Träger einer Intentionalität«, »darstellender Inhalt für
das erscheinende Weiß des Papieres«, werden kann^). (Und »durch«
die noetischen Formen >auf Grund« der stofflichen Erlebnisse ist
dann das »Noema« konstituiert, d. h. der Sinn der intentionalen
1) Husserl: Ideen S. 70. 2) Ebenda S. 142 und 279.
3) Ebenda S. 172. 4) Ebenda S. 174. 5) Ebenda S. 175 und 178.
6) Ebenda S. 65. 7) Ebenda S. 203. 8) Ebenda S. 65.
> Absolutes Bewußtsein < bei Husserl und kritische Modalität. 51
Setzung, z. B. gegenüber dem wirklichen Baum das, was, etwa in der
Wahrnehmung, immanent, als Baum intentional gesetzt ist^).
Allerdings es ist hier festzuhalten : alle bisher erwähnten Noesen,
die Erkenntnisformen Husserls, sind nur gewonnen aus Analysen,
die >an den Einzelerlebnissen haften«, und sie sind daher noch nicht
identisch mit den grundlegenden Erkenntnisformen Kants, die Formen
der Gesamtheit von Erfabrungsinhalten bedeuten, > notwendige Er-
lebnisse mit Erlebnissen verbindende Formen«.
Aber die ganze > absolute« Sphäre der > isolierten« noetischen
Formen (und der stofflichen Momente wie der immanent gegebenen
Noemen) bestimmt auch nach Husserl nicht das >letzte< Absolute,
sie bestimmt nicht das Mögliche, das die >tiefstlieg enden« Er-
fahrungsbedingungen alles Wirklichen bedeutet. Suchen wir diese
tiefstliegenden ^Möglichkeiten«, die auch nach Husserl allen
>Wirklichkeiten vorhergehen müssen«^), so müssen wir
ausdrücklich nach Husserl erkennen :
Auch das bisherige »transzendentale Absolute«
Husserls j>das wir uns durch die Reduktionen heraus-
präpariert haben, ist in Wahrheit nicht das Letzte,
es ist etwas, das sich selbst in einem gewissen tief-
liegenden und völlig eigenartigen Sinn konstituiert
und seine Urquelle in einem letzten und wahrhaft
Absoluten hat« ^).
Innerhalb der > dunklen Tiefen <^) dieses > letzten . . . konsti-
tuierenden Bewußtseins« hat Husserl vor allem die >Urs)nthese
des ursprünglichen Zeitbewußtseins« ^) hervorgehoben und das »reine
Ich« — in seiner »eigenartigen . . Transzendenz in der Immanenz« —
offenbar hierher gezählt ^).
Nur eine Darstellung dieses obersten Möglichen hat der Be-
gründer der modernen Phänomenologie erst für spätere Veröffent-
lichungen, für das zweite Buch seiner »Ideen«, in Aussicht gestellt'').
Allein dies scheint schon aus allem Bisherigen und besonders aus
den letzten Vordeutungen klar: Kant hatte nach der Lehre des
»Schematismus« und in den 3>Postulaten« gezeigt: die formalen Er-
fahrungsbedingungen und ihre höchsten Punkte, das reine Ich und
die reine Zeit, bedeuten das oberste Möglichkeitsmoment, das Moment,
1) Husserl: Ideen S. 204 und S. 182/183. Vgl. überhaupt zu den Lehren vom
-Noema Kants Lehren vom Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteil.
2) Husserl: Ideen S. 159. 3) Ebenda S. 163 (im Original nicht gesperrt).
4) Ebenda S. 171 und 246. 5) Ebenda S. 110 und 165.
6) Ebenda S. 165 und HO, 162 und 246.
52 »Absolutes Bewußtsein« bei Husserl und kritische Modalität.
das als notwendige Formbedingung der Erfahrung die Möglichkeit
aller erfahrbaren Wirklichkeit begründet; die Einheit der Apper-
zeption und die allgemeine Form der Zeit sind das ermöglichende
Moment für die Wesenskonstitution des v?irklichen Gegenstandes.
Über diese erkenntnistheoretische Grundanschauung ist auch Husserl
bisher nicht hinausgewachsen, sondern er hat sich gerade für seine
tiefstliegenden Untersuchungen am entschiedensten zu ihr bekannt.
Gerade die >Ideen< Husserls zeigen es deutlich, welche ko-
pernikanische Leistung der Kritizismus in seinem Möglichkeitsbegriff
vollzogen hat, und daß diese Leistung bis heute nicht überholt ist.
Das grundlegende Mögliche ist nicht, wie in vorkritischen Onto-
logien, ein bereits konstituiertes, > transzendent gegebenes Wesen«,
es ist nicht der einfach >ideierte<, als Wesen gesetzte Wirklichkeits-
stoff der Erkenntnis; sondern das oberste Mögliche ist in der Phä-
nomenologie wie im Kritizismus in gleicher Weise bestimmt als die
grundlegende Form, als die für die Erfahrbarkeit des Wirklichen
wesentlich notwendige >Ursy nthese< ^).
Als eine erweiterte metaphysische Deduktion, als allseitig aus-
gedehnte, als voll differenzierende Beschreibung aller »konsti-
tuierenden« Erkenntniselemente hat die Phänomenologie ihre wichtige
Bedeutung.
Was aber die großen erkenntnistheoretischen Grundmeinungen an-
langt, so gibt es — meiner bisher belegten Meinung nach — keine »phä-
nomenologische Philosophie« als Neuentdeckung, sondern hier ist die
Phänomenologie Husserls — eine Teildisziplin kritischer Philosophie.
Insofern jedoch die Phänomenologie für Linke und für andere
Forscher (wie manchen Äuße]ungen nach auch für Husserl) identisch
ist mit einer allgemeinen Eidetik, insofern enthält diese Phänomeno-
logie sehr verschiedenartige und — dem Erkenntnisrang nach —
nicht miteinander vereinbare Wissenschaften in sich^).
1) Husserl: Ideen S. 246.
2) Die nur bedingte Geltung dieser nicht transzendental gerichteten Phä-
nomenologie, ihr Mangel an »Erfahrungsfreiheit«, ihre Unfähigkeit Stclbst zur
»zweiten« Philosophie ist besonders instruktiv durch R. Kynast: »Das Problem
der Phänomenologie«, 1917 dargestellt worden. Vgl. überhaupt diese scharfsin-
nige und sehr umsichtige Schrift, die, wie ich — ebenfalls nach Abschluß meiner
Arbeit — zu erkennen glaube, im Resultat (obgleich nicht in den Wegen der
Begründung) den Ausführungen dieses Kapitels nahe steht. — Die ästhetische
und ethische Probleme behandelnden Schriften der phänomenologischen Schule:
sind in der vorliegenden Arbeit ausgeschaltet.
IV. Der Begriff der „Widerspruchslosigkeif' bei Pichler und
sein Verhältnis zur kritischen Möglichkeit.
Verfolgen wir nun zu einer neuen Bestätigung unserer Kant-
auffassung die direkte Kritik, die Pichler an dem Möglichkeits-
begriff Kants geübt hat.
Pichler hat die Kantischen Postulate zuerst rein formal an-
gegriffen und hat dann versucht, an Stelle der kritischen Möglich-
keit den vorkritischen Begriff der Widerspruchslosigkeit zur Grund-
lage einer Möglichkeitstheorie zu gebrauchen.
Wir können hierbei gerade die ontologischen Grundfragen der
Möglichkeit und ihre Lösung bei Kant in neuer Beleuchtung ver-
deutlichen.
Der Begriff der transzendentalen Möglichkeit — so lautet Pich-
ler's Hauptargument — ist zwar inhaltsbestimmter als der bekannte
>logische Möglichkeitsbegriff< des Rationalismus, er ist inhaltsbestimmter
als der Begriff der > Widerspruchslosigkeit«. Denn Kant hat dem
Merkmal der Widerspruchslosigkeit noch ein Merkmal beigefügt : die
Übereinstimmung mit den Bedingungen der Erfahrung. Aber da
beide Begriffe, der kritische wie der vorkritische, Raum lassen für
grundlose Fiktionen, so wäre damit der > klassische« Vorzug des Kanti-
schen Begriffes sehr in Frage gestellt^).
Dieses Argument scheint zunächst durchaus zuzutreffen. Denn
es ist auch von Kant scheinbar zugegeben, daß das > Postulat« vor
a posteriori leeren, vor > empirisch gegenstandslosen« Begriffen nicht
schützt. Ebenso wie ein logisch möglicher, so kann auch ein
a priori real möglicher Gegenstand gedacht werden, dem a posteriori
kein Objekt der Wirklichkeit entspricht. Auch bei Kant scheint wie
bei Meinen g >real gültig« und >wirklich« nicht identisch zu sein.
>Der goldene Berg« Humes ist, a priori gedacht, real möglich, aber
a posteriori nicht existierend. Ob ein Begriff a posteriori mög-
1) H. Pichler : Möglichkeit und Widerspruchslosigkeit S. 2 ff.
54 >'Widerspruclislosigkeit< bei Pichler und kritische Möglichkeit.
lieh ist, kann nach Kant nur die Erfahrung entscheiden. Die gegen-
sfändhche Möglichkeit dieser Begriffe kann nur >aus der Wirklichkeit
in der Erfahrung abgenommen werden«. Wollte man >sich aber gar
neue Begriffe von Substanzen, von Kräften, von Wechselwirkungen
aus dem Stoffe, den uns die Wahrnehmung darbietet, machen . ., ohne
von der Erfahrung selbst das Beispiel ihrer Verknüpfung zu ent-
lehnen, so würde man in lauter Hirngespinste geraten, deren Mög-
lichkeit ganz und gar kein Kennzeichen für sich hat, weil man bei
ihnen nicht Erfahrung zur Lehrerin annimmt, noch diese Begriffe von
ihr entlehnt. Dergleichen gedichtete Begriffe können den Charakter
ihrer Möglichkeit nicht so, wie die Kategorien, a priori, als Be-
dingung, von denen alle Erfahrung abhängt, sondern nur a posteriori,
als solche, die durch die Erfahrung selbst gegeben werden, bekommen,
und ihre Möglichkeit muß daher entweder a posteriori und empirisch,
oder sie kann gar nicht erkannt werden < (Kr. B. S. 269).
Hieraus schließt Pichler — anscheinend mit Recht: Auch die
reale Möglichkeit kann als Begriff a priori nicht jeden empirisch
leeren Begriff als leer erkennen lassen. Auch die Übereinstimmung
mit den Bedingungen der Erfahrung wäre nur eine > conditio sine
qua non« des Möglichen, aber der mögliche Gegenstand wäre damit
ebenso wenig zulänglich bestimmt, wie durch die logische Wider-
spruchslosigkeit. Die logische Möglichkeit schützte ebenso gut oder
ebenso wenig vor den leeren Begriffen. Kant hatte gewarnt, von
der Möglichkeit der Begriffe (logische) auf die der Dinge (reale) zu
schließen (Kr. B. S. 624). Aber Pichler behauptet, der Begriff der
realen Möglichkeit beruht selbst auf dem Begriff einer Erfahrung,
von dem erst gezeigt werden muß, ob er einen Gegenstand hat oder
bloß logische Möglichkeit besitzt.
Pichler weist hin auf die Metageometrien und die Meinong'sche
Gegenstandstheorie und ähnliche Wissenschaften, die sich sämtlich
nur mit dem Logisch-Möglichen beschäftigen. Und doch habe diesen
Wissenschaften die > Disqualifizierung« ihrer Gegenstände durch Kant
nicht geschadet. Es ist daher für die Erkenntnistheorie von der
größten Bedeutung, diese grundlegende Frage allgemein zu unter-
suchen, ob die reale Möglichkeit durch die vorkantische, logische
ersetzt werden kann. Und Pichler greift dabei aufLeibniz zurück.
Bevor jedoch diese Analysen Pichlers weiter untersucht werden
sollen, ist zunächst die wichtige Frage nachzutragen: kann überhaupt
die von Pichler erwähnte Kantinterpretation, auf der seine
>Widerspriichslosigkeit< bei Pichler und kritische Möglichkeit. 55
Kritik Kants aufgebaut ist, als richtig angenommen werden? Und vor
allem : deckt sich diese Interpretation der Kantischen Möglichkeit mit
allen Behauptungen, die in den >Postulaten< selbst durchgeführt sind ?
Diese Frage ist, wie ich glaube, entschieden zu verneinen. Denn die
Darstellung Pichlers und überhaupt die meist übliche Darstellung
des Kantischen Möglichkeitsbegriffes widerstreitet offenbar der Be-
hauptung Kants, daß das Feld des Wirklichen ausdrücklich ebenso
groß ist, wie das des transzendental Möglichen (s. Kr. B. S. 284).
Bei Pichler liegt die Voraussetzung zu Grunde, die Begriffe
der realen Modalität seien ebenso wie die der logischen ein Kri-
terium, ein Prinzip der Einteilung der Gegenstände. Die
Gegenstände müßten darnach konsequent in drei Gruppen zu gliedern
sein, in solche, die dem Kriterium der Möglichkeit oder der Wirklich-
keit oder der Notwendigkeit genügten. Unter dieser Voraussetzung
aber wäre notwendig der Umfang des Möglichen größer als der des
Wirklichen.
Denn da das W^irkliche und das Notwendige einer größeren An-
zahl von Bedingungen genügen müssen, so ist notwendig nach einer
formallogischen Regel das Mögliche als das merkmalärmere an Um-
fang größer.
Aberdiese Interpretation widerspricht nicht nur
dem Kantischen Satze über das Feld des Möglichen^
sondern sie widerspricht auch den Grundgedanken
der transzendentalen Logik. Dies soll deshalb noch näher
erläutert werden.
Wäre nämlich der reale Möglichkeitsbegrift' entsprechend dem
logischen nur eine »negative Bedingung« der Gegenständlichkeit, so
wäre notwendig der mögliche Gegenstand als bereits gegeben voraus-
gesetzt, und die Modalität wäre nur eine > vergleichende Regel«. Es
würde ausgegangen von dem möglichen Gegenstande, der im
Denken gegeben ist, und über dessen Möglichkeit reflexiv durch ein
Kriterium entschieden wird. Dagegen sind ja gerade in den Postu-
laten mit den formalen Bedingungen der Erfahrung konstituierende
Elemente des Gegenstandes selbst bezeichnet. Die Möglichkeit
kann also nicht als ein Kriterium, sondern sie muß notwendig als
ein >Bestandteil< , als ein konstituierender Faktor des Gegen-
standes, des existierenden Gegenstandes, angesehen werden. Und
Stadler ist darnach im Recht mit der Bemerkung, die Möglichkeit
sei bei Kant eine »partielle Modalität«, da sie eine >Kompo-
nente« des Erfahrungsgegenstandes bezeichnet.
56 >Widerspruchslosigkeit< bei Pichler und kritische Möglichkeit.
Das Mögliche ist bei Kant ein >Ermöglichendes<, und der
Ausgangspunkt Kants ist nicht der mögliche, sondern der wirk-
liche oder sogar der als notwendig bestimmte Gegenstand der
Erfahrung. Es gibt für die Kantische Erkenntnistheorie nur eine
Möglichkeit des Erfahrungsgegenstandes, es ist derselbe
Gegenstand, der als möglich und wirklich zugleich angesehen werden
muß, nämlich: er ist möglich in Beziehung auf seine Form
und wirklich in Beziehung auf die Materie. Und die Po-
lemik gegen Pichler ist darnach nach zwei Seiten zu richten: 1. der
Möglichkeitsbegriff bei Kant ist nicht wie der logische ein Kriterium
alles gegenständlich Gegebenen, er abstrahiert nicht von allem Inhalt
(s. Kr. B. S. 190), sondern er geht transzendental auf den Inhalt der
Erkenntnis, er ist ein Moment des Gegenstandes selbst. Und 2. der
Kantische Möglichkeitsbegriff bezieht sich nicht auf irgendwie im
Denken erzeugte oder gegebene oder fingierte Begriffe, sondern er
ist nur auf den wirklichen Gegenstand der Erfahrung gerichtet.
Das Mögliche ist nach Kant nur ein Moment am wirk-
lichen Gegenstand, ebenso wie das Wirkliche ein notwendiges
Moment am möglichen ist. Das Mögliche setzt ebenso gut die
Wirklichkeit, die Beziehung auf die Empfindung voraus, wie die
Wirklichkeit die Möglichkeit. Aber eine Möglichkeit außerhalb
des Wirklichen ist nach diesem Begriff der Erkenntnis notwendig
unmöglich. Kant sagt nämlich ausdrücklich Kr. B. S. 284: >Zwar
hat es den Anschein, als könne man auch geradezu die Zahl des
Möglichen über die des Wirklichen dadurch hinaussetzen, weil zu
jener noch etwas hinzukommen muß, um diese auszumachen. Allein
dieses Hinzukommen zum Möglichen kenne ich nicht. Denn was über
dasselbe noch zugesetzt werden sollte, wäre unmöglich. Es kann
nur zu meinem Verstände etwas über die Zusammenstimmung mit
den formalen Bedingungen der Erfahrung, nämlich die Verknüpfung
mit irgend einer Wahrnehmung, hinzukommen; was aber mit dieser
nach empirischen Gesetzen verknüpft ist, ist wirklich, ob es gleich
unmittelbar nicht wahrgenommen wird«.
Von hier aus lassen sich, wie ich glaube, alle Einwände Pich-
lers lösen. Das Wirkliche ist nach Kant nicht identisch mit dem
Wahrgenommenen, sondern auch das mit der Wahrnehmung (nach
den Analogien der Erfahrung) Verknüpfte ist wirklich. Aber mit
diesem Umfang des Wirklichen und mit dieser Beziehung auf
das Wirkliche ist auch der Umfang des Möglichen erschöpft.
Das Feld des Möglichen ist nicht größer als das des Wirklichen.
>Widerspriiclislosigkeit< bei Pichler und kritische Möglichkeit. 57
Pichler dagegen geht aus von den bloß möglichen Dingen des
Denkens, und deshalb werden von ihm auch die rein fingierten Be-
griffe berücksichtigt oder solche, die nur den formalen Bedingungen der
Erfahrung entsprechen, wie etwa der oft zitierte Begriff des Kentauren.
Nach Kant dagegen sind diese Begriffe ausdrücklich unzulässig. Denn
nur auf Grund der Wirklichkeit gebildete Begriffe, nur wirkliche Gegen-
stände der Erfahrung sind hier möglich. Und nur so, indem Kant statt
von dem möglichen Dinge von der Analyse des wirklichen ausgeht,
nur so kann durch ihn die vorkritische wie die moderne nicht-trans-
zendentale Logik aufgehoben werden. Denn von dem möglichen
Gegenstande aus ist der Begriff des Daseins nicht zu
beweisen. Das Sein ist kein Prädikat der möglichen Dinge. Um-
gekehrt aber kann gerade an dem wirklichen Dinge
seine Möglichkeit als die Bedingung seiner Erfahrbar-
keit bewiesen werden. So zeigt sich auch hier die Energie der
Kopernikanischen Tat Kants, daß auch sein Möglichkeitsbegriff die
totale Umkehrung des vorkritischen, ontologischen bedeutet.
Das Resultat dieser Betrachtung läßt sich demnach in den Satz
fassen: Der Grundirrtum Pichlers besteht darin, daß nach ihm der
Kantische Möglichkeitsbegriff nur >der Spezialfall eines Begriffes« ist,
>der bloß logische Möglichkeit besitzt« (S. 4). Während wohl in dem
Bisherigen genügend gezeigt wurde, daß die Kantische Möglichkeit
notwendig als ein Moment des wirklichen Gegenstandes gedacht
werden muß, und daß damit zugleich, — mit diesem neuen Gegen-
stands- und Möglichkeitsbegriff, — die leeren Fiktionsbegriffe, die
Pichler anführt, notwendig ausgeschlossen sind.
Prüfen wir nun dieses Resultat in bezug auf die weitere Theorie
Pichlers, so ergibt sich damit eine volle Bestätigung der Kanti-
schen Gedanken. Pichler war, wie erwähnt, davon ausgegangen,
die Systemverengung, die bewußte Restriktion, die mit dem Rückgang
auf das Wirkliche bei Kant ausgesprochen ist, zu bekämpfen. Er
hatte deshalb die transzendentalen a priorischen Momente des gegen-
ständlich Möglichen nicht anerkannt, sondern er versuchte, den Satz
des Widerspruchs als einziges und ausreichendes Grundgesetz, des
Möglichen durchzuführen.
Es ist deshalb besonders instruktiv zu verfolgen, mit welchen
positiven Argumenten er diese Kantische Restriktion zu umgehen
sucht. Pichler beginnt hier, wie dies begreiflich ist, mit einer
analytischen Untersuchung der Sätze a priori. Denn ein Urteil
58 >"Wiclerspruchslosigkeit< bei Pichler und kritische Möglichkeit.
a priori ist eben ein solches, dessen Wahrheit bloß aus der Bedeu-
tung der verwendeten Begriffe rein nach dem Satze des Widerspruchs
entwickelt werden kann. Ein Begriff aber wird als gegeben be-
trachtet durch seine Definition oder durch die den Begriff erfüllende
Anschauung. Und durch diese letzteren Begriffe sollen auch synthe-
tische Urteile a priori möglich sein. Man sieht, dies ist nicht die
Terminologie Kants. Aber Kants Theorie ist ohne Zweifel tiefer.
Denn bei Kant allein ist das synthetische A priori ein reines
A priori, es kann nur reine, nicht empirische Anschauung ent-
halten. Pichler dagegen, der von dem bloß Möglichen ausgehen
will, mußte dennoch in dies Mögliche, in seine a priorischen Begriffe,
die Materie der Erkenntnis, die nur empirisch gewonnen
sein kann, mit einbeziehen. Jedoch dies soll nur eine Nebenbemer-
kung sein.
Über die Urteile a priori kommt nun Pichler zu folgendem
Resultat: Die Möglichkeit eines Gegenstandes ist zu definieren als
die Widerspruchslosigkeit gegenüber allen Sätzen, die a priori von
seinem Begriffe gültig sind. Denn gerade über die Möglichkeit der
a posteriorischen Begriffe kann durch ihre Apriorisierung entschieden
werden. Mit dieser Apriorisierung wird allerdings der aposteriorische
Begriff streng genommen verändert. Denn wird ein aposteriorisches
A a priori gedacht, wie es die Tendenz dieser Logik ist, so ist dieses
A vieldeutig gegenüber seinem ursprünglichen A posteriori, es
bedeutet dann ein A-seiendes überhaupt, das >gattungs-
mäßige< A (s. S. 27). Oder: das apriorische A enthält eine adä-
quate Anschauung, dann ist es ebenfalls mit dem aposteriorischen A
nicht gleichsinnig. In beiden Fällen aber wäre alles das, was dem
so gedachten apriorischen A nicht widerspricht, seinen Merkmalen
nach als A möglich. Ist nun der Gegenstand in der adäquaten An-
schauung a priori nicht denkbar, so wären allerdings mit dieser
Widerspruchslosigkeit gegenüber dem nicht adäquaten A priori nicht
alle unzutreffenden Merkmale des A posteriori ausgeschlossen (denn
a priori gedacht, wird eben dieser Gegenstand vieldeutig), sondern
nur die > echten Gegensätze« des aposteriorischen A wären a priori
unmöglich (S. 22). Aber nach Pichler kann auch nur dies der
Sinn des Möglichkeitsbegriffes sein, daß duixh ihn für einen Gegen-
stand die »echten Gegensätze« seiner apriorischen wie seiner aposte-
riorischen Beurteilung ausgeschlossen werden; daß also > Wider-
spruchslosigkeit gegenüber allen wahren Sätzen koindiziert mit der
Widerspruchslosigkeit gegenüber allen Sätzen a priori« (S. 27).
>Widerspruclislosigkeit< bei Pichler und kntische Möglichkeit. 59
Aber hier wird nun das Kantische Problem von neuem bemerkbar.
In einem Falle nämlich — so betont auch Pichler — ist die er-
wähnte Koinzidenz nicht vorhanden: dies ist der Fall bei den
Existenzialur teilen. Über die E x i s t e n z eines Gegenstandes
kann a priori, ihrer Möglichkeit nach, nicht entschieden werden.
>Auch ein a priori eindeutiger Subjektsbegriff würde es offen lassen,
ob sein Gegenstand existiert oder nicht« (S. 28). Hier wären folglich
die echten Gegensätze aposteriorischer Urteile a priori möglich. Es
kann a posteriori wahr sein, daß kein A, das B ist, existiert.
Und doch müßte, wenn B nicht als Merkmal dem A widerstreitet,
die Existenz dieses A a priori als möglich gedacht werden.
Also ein Existenzialsatz kann a posteriori wahr und doch kann
a priori sein > echter Gegensatz« gültig sein. (Die Mehrdeutigkeit
des Subjektsbegriffs auf Grund der a priorischen Beurteilung »macht
in diesem Falle nichts aus«, S. 28.) Daraus folgt: die Widerspruchs-
losigkeit gegenüber allen wahren Sätzen fällt hier nicht zusammen
mit der Widerspruchslosigkeit gegenüber den Sätzen a priori, sondern
dies gilt nur in bezug auf das ideale Sein oder das >Sosein< eines
Objektes. Dagegen die Existenz eines Gegenstandes kann nicht
aus dem Wesen, sie kann nicht a priori, nicht aus der Möglichkeit
beurteilt werden. Und dies entspricht einem Grundsatz der Meinong'-
schen Gegenstandstheorie: das Dasein eines Objektes kann aus dem
Sosein nicht abgeleitet werden, die Existenz ist gegenüber dem Sosein
zufällig. Nur aus dem Nichtsosein kann unter Umständen auf das »ideale
Nichtsein« und dadurch auf die Nichtexistenz geschlossen werden^).
Damit aber sind die Kantischen >PostuIate« und ihre Stellung
zum ontologischen Problem indirekt von Pichler bestätigt. Auch
Pichler zeigt nur auf einem zum Teil neuen Wege, daß aus der
Möglichkeit die Existenz nicht ableitbar ist, sondern daß in allen
Fragen nach der objektiven Realität der wirkliche Gegenstand,
der Gegenstand der Erfahrung, eidetisch gefaßt, der Ausgangs-
punkt sein muß. Dagegen »fangen wir nicht von Erfahrung an, oder
gehen wir nicht nach Gesetzen des empirischen Zusammenhanges der
Erscheinungen fort, so machen wir uns vergeblich Staat, das Dasein
irgend eines Dinges erraten oder erforschen zu wollen« (Kr. B. S. 274).
Von hier aus erklärt sich auch das Pichler 'sehe Paradoxon,
daß >die Geltung des logischen Möglichkeitsbegriffes . . nicht durch
das Bestehen von synthetischen Urteilen a priori, sondern durch das
Bestehen von Urteilen a posteriori in Frage gestellt wird« (S. 15).
1) Meinong: Über die Stellung der Gegenstandstheorie S. 32.
60 >AViderspruchslosigkeit< bei Pichler und kritische Möglichkeit,
Auch bei Kant gibt es nämlich nur synthetische Urteile
a priori in bezug auf aposteriorische Gegenstände. Und
die Synthesis a priori kann ihrer Gültigkeit nach nur bewiesen werden
als die Form der Erfahrung des a posteriori Gegebenen.
Auch nach Kant ist der logische Möglichkeitsbegriff nicht widerlegt
durch synthetische Urteile überhaupt (etwa wie Pichler sie denkt),
sondern nur durch die apriorischen synthetischen Bedingungen des
Erfahrungsgegenstandes, des Gegenstandes a posteriori.
Kant ist darnach auch in diesem Punkte von Pichler nicht
widerlegt, sondern mißverstanden worden.
Trotzdem ist Pichler auch bei dieser Schwierigkeit in betreff
des Existenzialurteils nicht stehen geblieben, sondern hat seine Theorie
auch von hier aus auf eine interessante Art weiter entwickelt. Er
erklärt nämlich: Obwohl die Möglichkeit der Existenz nicht a priori
aus der Widerspruchslosigkeit erkannt werden kann, obwohl der
Möglichkeit der Existenz kein ideales apriorisches Sein der Existenz
entspricht, so ist damit doch die alleinige und die umfassende
Geltung des logischen Möglichkeitsbegriffs nicht aufgehoben. Die
Möglichkeit bedeutet nämlich immer die Möglichkeit der Existenz.
Die spezifische Frage nach dem Dasein wäre daher sinnlos als die
Frage nach der Möglichkeit der Existenz der Existenz eines Inhaltes,
während nur die Möglichkeit der Existenz des Inhaltes mit Sinn
untersucht werden kann. Diese Möglichkeit wäre aber, wie durch-
zuführen ist, durch die logische Möglichkeit entscheidbar. Und
hiermit wäre zunächst ein voller Gegensatz zu Kant erreicht. Bei
Kant wurde die Existenz, da sie aus der Möglichkeit nicht ableitbar
war, zum Grundbegriff; hier dagegen wird die spezielle Frage nach
dem Dasein, als durch die Möglichkeit nicht entscheidbar, abgelehnt
und nur die logische Möglichkeit zum Grundbegriffe gemacht.
Diese Bedeutung der logischen Möglichkeit wird besonders für
die rein deduktiven, für die Wissenschaften mit Systemcharakter
nachgewiesen. Sind nämlich für Begriffe ausschließlich gegenständ-
liche Definitionen zugrunde gelegt, so folgt daraus nicht, daß jede
Verknüpfung der definierten Begriffe objektiv möglich ist; denn die
Kombination kann leere Fiktionen ergeben. Ein System dagegen ist
nach Pichler >ein deduktiver Zusammenhang von Sätzen, die derart
aus den das System definierenden Axiomen folgen, daß jede Frage,
die nur mit Begriffen des Systems operiert, beantwortbar ist< (S. 37).
In einem solchen System wäre die objektive Möglich-
keit eindeutig an der Widerspruchslosigkeit erkennbar.
>Widerspruchslosigkeit< bei Pichler und kritische Möglichkeit. 61
— vorausgesetzt, daß die Axioindefinitioneii gegenständ-
lich sind. Denn wäre dies System gegeben, so müßte es nicht nur
entscheidbar sein, ob ein B seiendes A widerspruchsfrei ist, sondern
auch ob ein Non-B seiendes A einen Widerspruch enthält. (Denn
alle Fragen über A und B müssen hier > beantwortbar < sein.) Ist
aber A-B widerspruchslos und A-Non B widerspruchsvoll, so ist A-B
logisch nicht bloß möglich, sondern logisch notwendig und daher,
wenn die Grunddefinitionen gegenständlich sind, notwendig — objektiv
möglich. Innerhalb dieses Systems kann demnach die objektive Mög-
lichkeit durch die innere Widerspruchslosigkeit definiert werden.
Dagegen die Schwierigkeit wäre die: die grundlegenden Defi-
nitionen des Systems selbst können nicht nach derselben Methode auf
die Möglichkeit hin beurteilt werden, oder sie können es nur dann,
wenn sie ein besonderer Fall eines allgemeineren Systems sind. So
ist nach Pichler die innere Widerspruchslosigkeit der euklidischen
oder bestimmter nichteuklidischer Axiome unter Voraussetzung der
Widerspruchslosigkeit der Arithmetik beweisbar (S. 40). Dagegen die
Axiomdefinitionen der Arithmetik selbst wären auf diese Art nicht
als widerspruchslos und als gegenständlich nachzuweisen.
Aber hiermit ist eben das zurückgedrängte Kanti-
sche Problem nochmals gegeben. Selbst nachdem nämlich
die Frage nach der Existenz bis auf die Axiomdefinitionen zurück-
gestellt ist, ist sie auch hier nur dadurch zu beantworten, daß
die Gegenständlichkeit angenommen und vorausgesetzt wird. Wenn
Pichler trotzdem die objektive Gültigkeit von Axiomdefinitionen nach
der Art Leibniz' zu begründen versuchte, so sind damit offenbar
die entsprechenden Kantischen Lehren infolge von Mißdeutungen
übergangen. Dies zeigt sich z. B. bei der Interpretation der kausalen
Definition.
Durch die kausalen, genetischen Definitionen wird nach Leibniz
die Gegenständlichkeit der Begriffe der Mathematik begründet; denn
durch sie werden die ^Bedingungen der Erzeugung einer Sache
gegeben«. (So ist der Kreis gegenständlich möglich, da er definiert
werden kann als die Linie, die entsteht durch die Bewegung des
Endpunktes einer Strecke um ihren andern als ruhend gedachten
Endpunkt.) Diese Theorie der Gegenständlichkeit mathematischer
Begriffe steht im Zusammenhang mit der Lehre Kants von der Kon-
struktion in der reinen Anschauung. Aber Pichler ist entschieden
im Unrecht, wenn er behauptet, diese Kantische Lehre von der
^Konstruktion der Begriffe« sei überflüssig. >Denn der bloße Beweis,,
62 >"Wider.spruc]islosigkeit< bei Pichler und kritische Möglichkeit.
daß diese oder jene Figur auf Grund der mathematischen Axiome
logisch möglich sei, müsse ausreichend sein« (S. 43). Dagegen ist
historisch zu bemerken, daß bei Kant durch die Konstruktion deut-
licher als bei Leibniz die Erzeugung aus bloßen Denkbegriffen aus-
geschlossen wird, und daß damit die viel umfassendere Kantische
Deduktion der Gegenständlichkeit der Mathematik nicht entbehrlich
gemacht werden kann. Bei Leibniz können gerade die Grundbegriffe,
aus denen andere nach der kausalen Definition erzeugt werden, nicht
mehr begrifflich als gegenständlich bewiesen werden.
Endlich erwähnt Pichler die sogenannten apriorischen Seins-
urteile Leibniz' als einen letzten Weg, die grundlegenden Axiome
eines Systems als Realdefinitionen zu gewinnen. Das Sein eines
Gegenstandes ist nämlich nach dieser Lehre > überall dort begründet,
wo seine Gattung eine universitas ordinata ist, derart, daß der Gegen-
stand in dieser universitas ordinata seinen gesetzmäßig bestimmten
Ort hat« (S. 55). Es ist nun sicher: durch diese apriorischen >Bil-
dungsgesetze« der Gattungen, etwa die »Bildungsgesetze« der Kegel-
schnitte, ist die objektive Möglichkeit eines Begriffes besser gewähr-
leistet als die Möglichkeit a posteriori erkannter Begriffe des >Pflanzen-
und Tierreiches«. Aber Pichler selbst erklärt: auch die Gegen-
ständlichkeit der so apriori bestimmten Begriffe ist nicht > voll-
gewichtig«. Denn auch diese >Bildungsgesetze< und alle Axiomdefi-
nitionen können letztgültig nur durch den Rückgang auf die Anschauung
gewonnen werden. Jede Anschauung aber und jeder anschauliche
> dunkle« Begriff wird nach dieser Theorie durch die Definition, durch
jede begriffliche Bearbeitung, »modifiziert«. Die Anschauung,
das eigentliche »Kriterium der Gegenständlich-
keit« ist nicht rein in ein begriffliches A priori zu
»übersetzen«.
Dies ist daher das Hauptergebnis P ichlers: Die völlige Aprio-
sierung der gegenständlichen Begriffe, die völlige »Emanzipation«
von dem Aposteriori ist noch in keiner Wissenschaft erreicht, und
sie kann auch nicht gegeben sein. Aber sie ist notwendig das
Ideal jeder Wissenschaft. Und mit diesem Ideal wäre
auch das Ideal des logischen Möglichkeitsbegriffes
erreicht. Denn insofern alle Axiomdefinitionen — auch der mate-
rialen Wissenschaften — als a priori und gegenständlich angenommen
werden könnten, insofern wäre auch innerhalb jedes Systems die ob-
jektive Möglichkeit eines Begriffes an dem inneren Widerspruch seines
Gegensatzes zu erkennen.
>Widerspruclislosigkeit< bei Pichler und kritische Möglichkeit. 63
Aber damit ist Pichler wieder trotz aller Polemik zu Kanti-
schen Gedanken zurückgekehrt. Und er scheint dies auch in seinem
Schlußsatz zuzugeben, obwohl seine Stellung hierdurch nicht klar
bezeichnet wird. Die Ergebnisse Pichle rs stehen nämlich, wie ich
glaube, in engster Beziehung zu Kants Lehre von dem »transzen-
dentalen Ideal« in ähnlichem Sinne, in dem auch bei Meinong und
Husserl der Bezug auf dieses Idealsystem vorhanden war.
Nach der transzendentalen Dialektik Kants war nämlich die Idee
des Ens realissimum, der Gottesbegriff, der apriorische Inbegriff aller
Grundprädikate der Gegenstände. >Ein jedes Ding«, so heißt es,
>steht . . seiner Möglichkeit nach . . unter dem Grundsatze der durch-
gängigen Bestimmung, nach welchem ihm von allen möglichen
Prädikaten der Dinge, sofern sie mit ihren Gegenteilen verglichen
werden, eins zukommen muß« (d.h. jede Frage des Systems muß hier
als beantwortbar gedacht werden). > Dieses beruht nicht bloß auf dem
Satze des Widerspruchs; denn es betrachtet außer dem Verhältnis
zweier einander widerstreitenden Prädikate jedes Ding noch im Verhält-
nis auf die gesamte Möglichkeit als den Inbegriff aller Prädikate
der Dinge überhaupt, und indem es solche als Bedingung a priori
voraussetzt, so stellt es ein jedes Ding so vor, wie es von dem
Anteil, den es an jener gesamten Möglichkeit hat, seine eigene
Möglichkeit ableite« (Kr. B. S. 599).
Durch das transzendentale Ideal werden also > Prädikate nicht
bloß logisch untereinander verglichen«, sondern hier soll das Ding
selbst nach der Totalität seiner gegenständlichen Merkmale bestimmt
werden, d. h. es handelt sich auch bei Kant um ein System im Sinne
Pichlers. Es sollen auch nach der transzendentalen Dialektik alle
Fragen nach der Gegenständlichkeit von Inhalten auf Grund von
gegenstä,ndlich gültigen Grundbegriffen bestimmt werden ; d. h. das
transzendentale Ideal entspricht dem apriorischen Inbegriff der gegen-
ständlichen Axiomdefinitionen Pichlers. Daraus würde aber folgen:
Würde diese gesamte Möglichkeit, würde das »transzendentale Pro-
totyp«, würden alle Grundbegriffe der Gegenstände a priori als ge-
geben vorausgesetzt, so wäre auch nach Kant die Möglichkeit jedes
abgeleiteten Dinges nach dem bloßen Satze des Widerspruchs ent-
scheidbar.
Somit ist auch Pichler 's Theorie der logischen Widerspruchs-
losigkeit in keiner Hinsicht über die Kantische Deutung der Möglich-
keitsprobleme hinausgegangen.
64
Namen- und Sachregister.
Auch P ichler hat das ontologische Problem der Möglichkeit
nur in der Form des > transzendentalen Ideals <, also nur im Sinne
der Kantischen > Dialektik <, auflösen können.
Aber der tiefer liegenden, der inneren Problematik, die in den
kritischen Postulaten Gestalt gewann, (den Fragen, zu denen auch
Russe rl undMeinong hinführten), kann kein >nur logischer Mög-
lichkeitsbegriff« (so wenig wie ein rein empirisch bedingter) Genüge
leisten.
Namen- und Sachregister.
Amseder 31
Aristoteles 6
ars (scientia) generalis 9, 41
Atomistik 6
Axiomdefinitionen 60 f.
Bedeutungsanalyse 23, 24
Bestimmbarkeit, unendliche
des Existierenden 40 f.
Cassirer 17
Daseinsfreiheit, daseinsfrei
16, 29
Descartes 7
Diels 6
Diodorus Kronos 7
oo^a 6
Duns Scotus 8
Eidos, eidetisch 16, 88f., 42,
Eidetik 17, 52 [46 f.
Eleaten 5
ens necessarium 8, auch 63
t-Royi], phänomenologische
44
Essenz, essential 16, 17
euklidische, nicht euklidi-
sche Axiome 61
Fichte 5
Frischeisen-Köhler 37
Gallinger 23, 24
Gegenstand 14
heimatlose Gegenstände
15, 20
unmögliche Gegenstände
14 f.
Gesetz der Koinzidenz kom-
plementärer Möglichkei-
ten 26
Gesetz des Potius 27
Gomperz. H. 17
Hartmann, N. 35
Hobbes 7
Herbart 6
Ideal der reinen Vernunft
40 f.
Ideation 16, 39
Ideenblindheit 18
Immanenz, immanent be-
zogen 42 ff.
Independenz der Phänome-
nologie 43
Inhäsivität 28 ff.
Kategorie, Merkmale kate-
gorialerArt20, 32, 33,39
xoivat evvoiai 7, 10
Kuntze 47
Kynast 52
Lambert 17
Leibniz 9 f., 54, 61 f.
Linke 13, 19, 32, 52
Lukacs 13
Mally 14, 17
Metageometrien 54
Modalität llflf.
Möglichkeitslinie 26 f.
Natorp 47
Noema 50
Noese, noetisch 50 f.
Objektiv 21, 26
Ontologie 10, 47
ontologisches Argument 7,
9, 10 f., 12, 53
Parmenides 6
Plato 6, 7
Pölitz 11
Psychologie 45, 46, 49
Psychologismus 24, 49
Quasinotwendigkeit 27 f.,
[30, 35
Realität, real 41 f., 53
Reduktion, phänomenologi-
sche 44
Riehl 11, 22, 34
Schelling 7, 8
Seinsurteile a priori 62
öigwart 24
Sosein 16, 17
Spinoza 7
Stadler 11, 55
Stoa 7
System 36, 37, 60 f., 62 f.
Thomas v. Aquino 8
Transzendenz, transzendent
gerichtet 43 f.
Unabhängigkeit des Soseins
vom Sein 17 f.
Untatsächlichkeit 26, 27
Ursynthese 51, 52
Verite de fait 16
verite de raison 16
Vorurteil zu gunsten des
Wirklichen 15
Wesen 16, 17 f.
Wesensschauung 16 f., 39
Widerspruchslosigkeit 24 f.,
53 f.
Wolff, Chr. 10, 17