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Full text of "Das möglichkeitsproblem der Kritik der reinen vernunft : der modernen phänomenologie und der gegenstandstheorie"

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#    KANT-STUOIEN    ERGANZUNGSHEFTE 


3    T1.53    GG072Ö32    1 


Das  Möglichkeitsproblem 


der 


Kritik  der  reinen  Vernunft, 

der  modernen  Phänomenologie 

und  der  Gegenstandstheorie. 

KA^JT-STU>ieW,  ERGr- HEFTE 

Von  li-f .  ? 

Dr.  David  Baumgardt. 


Berlin, 

Verlag  von  Reuther  &  Reichard 
1920. 


Inhalt. 


Einleitung:  Überbliclt  über  die  sachliche  und  historische  Bedeutung  des  Möglich- 
Jceitsproblems.  —  Müglichkeitsbegriffe  der  griechischen  Philosophie.  —  Scholasti- 
sche Möglichkeitsbegriffe.  —  Der  Möglichkeitsbegriff  bei  Leibniz,  Wolff  und  in 
Kants  vorkritischen  Schriften.  —  Die  moderne  Phänomenologie  und  Gegenstands- 
theorie nnd  ihre  Ablehnung  der  historischen  Möglichkeitsbegriffe      .     .     S.  5 — 13 

i.  Die  grundlegenden  Bestimmungen  der  Phänomenologie  und  Gegenstands- 
Iheorie  und  ihre  Beziehungen  zum  vorkritischen  Rationalismus.  —  Der  allgemeine 
Begriff  des  >Gegenstandes«  bei  Meinong,  Mally,  Husserl  und  Pichler.  —  Die 
»unmöglichen  Gegenstände«.  —  Das  »Vorurteil  zu  gunsten  des  Wirklichen«.  — 
Die  Zweiteilung  der  Gegenstände  und  der  Erkenntnisweisen  und  das  Prinzip  der 
Unabhängigkeit  des  Soseins  vom  Sein  in  der  Phänomenologie,  in  der  Gegenstands- 
theorie und  im  vorkritischen  Rationalismus.  —  Husserl  und  Christian  Wolff.  — 
Der  Möglichkeitsbegriff  bei  Linke  und  in  den  früheren  Schriften  Meinongs.  — 
Die  Sonderstellung  des  kritischen  Möglichkeitsbegriffes S.  14 — 22 

II.  Der  Begriff  der  x>inhäsiven  Möglichkeit«  bei  Meinong  und  sein  Verhältnis 
2ur  kritischen  Modalität.  —  Die  Methode  Meinongs  nnd  Gallingers.  —  Meinongs 
Kritik  älterer  Möglichkeitsdefinitionen.  —  Die  »Möglichkeitslinie«  und  ihre  Ge- 
setze. —  Die  Möglichkeit  als  »inhäsive  Untertatsächlichkeit«.  —  Die  Änderung 
der  Grundanschauung  in  Meinongs  letztem  Werk  gegenüber  seinen  früheren 
Schriften.  —  Meinongs  Theorie  der  »Inhäsivität«  und  ihre  Lücken.  —  Das 
Problem  der  Inhäsivität  in  Kants  synthetischen  Urteilen  a  priori.  —  Die  Über- 
windung des  »Mangels«  der  Meinongschen  Theorie  durch  den  kritischen  Möglich- 
ieitsbegrifl*;  die  inhäsiven  Naturgesetzlichkeiten  bei  Kant  und  Meinong.  —  Mei- 
jiongs  Kritik  des  Kantischen  »Systemgedankens« S.  23—37 

III.  Der  Begriff  des  »absoluten«  Bewusstseins  bei  Husserl  und  sein  Verhältnis 
zu  dem  Möglichkeitsbegriff  der  »Kritik  der  reinen  Vernunft«.  —  Der  allgemeine 
Möglichkeitsbegriff  der  Husserlschen  Eidetik  und  sein  Verhältnis  zum  syntheti- 
schen A  priori  Kants.  —  Die  Beziehungen  Meinongs  und  Husserls  zu  Kants  Lehre 
vom  »transzendentalen  Ideal«.  —  Die  Ausschaltung  der  »natürlichen«  Welt  und 
der  »transzendenten«  Wesenswissenschaften.  —  Das  Wesen  des  absoluten  Bewußt- 
.seins   als  Thema  der  Phänomenologie.   —  Die  transzendentale  Fragestellung  bei 

1* 
l 


4  Inhalt. 

Husserl  und  Kant,  die  Wesensdeskription  innerhalb  der  Kantischen  Deduktionen.  — 
Das  »letzte  konstituierende  Bewußtsein«  bei  Husserl  und  das  Verhältnis  seines 
Möglichkeitsbegrififes  zu  Kant S.  38 — 52 

IV.  Der  Begriff  der  £Widerspruchslosigkeit<  bei  Pichler  und  sein  Verhältnis 
zur  kritischen  Möglichkeit.  —  Pichlers  formale  Kritik  der  transzendentalen  Möglich- 
keit. —  Der  Irrtum  in  dier  Kantinterpretation  Pichlers.  —  Die  Möglichkeit  als 
"Widerspruchslosigkeit  gegenüber  allen  Sätzen  a  priori  und  die  Möglichkeit  der 
Existenz.  —  Die  Möglichkeit  als  Widerspruchslosigkeit  innerhalb  des  Systems  im 
Sinne  Pichlers.  —  Die  Ergebnisse  der  Möglichkeitstheorie  bei  Pichler  und  ihre 
Beziehungen  zu  Kants  Lehre  vom  »transzendentalen  Ideal«    .     .     .     .     S.  53 — 64 

Namen-  und  Sachregister S.  64. 


Einleitung: 

Oberblicl(  über  die  sachliche  und  historische  Bedeutung 
des  Möglichkeitsproblems. 

Die  Frage  nach  der  Möglichkeit  im  weitesten  Sinne  ist  ohne 
Zweifel  eine  der  wenigen  spezifisch  philosophischen  Fragen. 

Jede  SpezialWissenschaft  bezieht  sich  auf  ein  bestimmtes  Sein, 
auf  bestimmte  Objekte,  deren  Möglichkeit  in  ihrer  grundlegenden 
Bedeutung  innerhalb  der  spezialisierenden  Wissenschaften  nicht  in 
Frage  steht. 

In  der  Philosophie  allein  ist  die  Grundfrage:  die  Möglichkeit, 
die  Begreifbarkeit  des  Seienden,  das  Verhältnis  des  objektiv  Möglichen 
zum  Sein,  besonders  zum  Sein  im  Sinne  der  Existenz.  Diese  Grund- 
frage ist  in  der  Ethik  wie  in  der  Erkenntnistheorie  wie  in  den 
>metaphysischen  Anfangsgründen«  jeder  Wissenschaft  gegeben. 

>Alle  Realität  hat  etwas  Absurdes«,  zunächst  nicht  Begreifbares, 
scheinbar  Unmögliches,  so  heißt  das  Problem  in  der  Formel  Goethes. 
Oder  wie  Fichte  das  philosophische  Problem  der  Geschichte  und 
damit  das  jeder  Wissenschaft  darstellt:  >Was  . .  für  die  bloße  Möglich- 
keit einer  Geschichte  überhaupt  vorausgesetzt  werde  und  vor  allen 
Dingen  sein  müsse,  ehe  die  Geschichte  auch  nur  ihren  Anfang  finden 
könne,  —  ist  Sache  des  Philosophen,  welcher  dem  Historiker  erst  seinen 
Grund  und  Boden  sichern  muß« '). 

Das  unphilosophische  Denken  kennt  die  Welt  nur  als  eine  ge- 
gebene, hinzunehmende  Wirklichkeit.  Das  Kennzeichen 
des  Philosophischen  ist  es,  die  Welt  und  das  Leben  nicht  anders 
sehen  zu  können  als  von  Möglichkeitsfragen  jeder  Art  durchsetzt. 

Schon  von  den  Floaten  ist  daher  das  Problem  der  Möglichkeit 
gestellt.  Die  Floaten  verwarfen  die  Sinnenwelt  als  eine  nicht  denk- 
bare, als  > unmögliche  Realität«  und  konstruierten  deshalb  nach  ihren 
Möglichkeitsbegriffen  die  Welt  des  wahren  Seins.  Nur  das  begrifflich 
Identische  —  und  Begriff  und  Ding  werden  hier  nicht  unterschieden  — , 


1)  J.  G.  Fichtes  sämtliche  Werke,  1846,  Band  VII,  S.  131/132. 


6  Einleitung : 

nur  das  Merkmal -Eine,  nicht  das  Vielfache,  [s.  auch  Herbarts  Deu- 
tungen im  Anschluß  an  seinen  Begriff  des  Realen,  > Lehrbuch  zur 
Einleitung  in  die  Philosophie«  §  135  ff.],  das  Tuav  sv,  das  o[aoiov  oo5e 
^latpetov,  nur  das  in  sich  identisch-einige  Mögliche  kann  nach  Par- 
menides  auch  das  gegenständlich  Wirkliche  sein. 

Diels  übersetzt  daher  mit  Recht  ^):  >Dies  ist  nötig  zu  sagen 
und  zu  denken,  daß  nur  das  Seiende  existiert.  Denn  seine  Existenz 
ist  möglich,  die  des  Nichtseienden  dagegen  nicht«,  d.  h.  also:  nur 
weil  die  Existenz  des  Seienden  als  des  in  sich  Einfachen  die  allein 
mögliche  ist,  deshalb  besteht  sie  auch. 

Ähnlich  hatte  Anaximander  das  «Trstpov  und  ebenso  hat  die  Ato- 
mistik ihre  Welt  des  allein  Möglichen,  die  azo^a  und  das  xevov,  als 
das  allein  Wirkliche  erklärt. 

Aber  auch  die  Ideen-  und  die  Entelechienlehre  sind  in  tiefsten 
und  allgemeinsten  Zusammenhängen  von  Möglichkeitsproblemen  her 
zu  verstehen. 

Dem  Typus  des  platonischen  Denkens  ist  das  Mögliche  die  Idee. 
Auch  bei  P 1  a  1 0  ist  die  Welt  der  bloßen  Erfahrung,  die  Welt  der  doia, 
zunächst  die  nicht  mögliche  Welt;  erst  durch  die  [j-s^s^i?  am  Mög- 
lichen, durch  die  |j,e^s^i?  an  der  Wahrheit  der  Idee,  kann  der  empiri- 
schen Wirklichkeit  der  Wirklichkeitscharakter  zukommen.  Die  Form 
dieser  Teilnahme,  das  Verhältnis  des  Einen,  das  Verhältnis  des  Mög- 
lichen zu  der  Vielheit  und  der  Wertlosigkeit  des  bloß  sinnlich  Vor- 
gefundenen, bildet  das  Problem  der  platonischen  Dialoge. 

Dem  entgegen  sucht  Aristoteles  in  ganz  anderer  Bedeutung, 
die  Möglichkeit  in  der  Erfahrung  selbst  festzusetzen.  So  beginnt  er 
nicht  mit  der  eleatischen  Kritik  der  Begreifbarkeit,  sondern  mit  einer 
Voraussetzung  der  Realität  der  empirischen  Welt.  Das  höchste 
mögliche  Gute  ist  ihm  nicht  die  »Sonne<  über  aller  Erfahrung,  son- 
dern im  Gegenteil:  im  Empirischen  das  dianoetische  Gleichgewicht, 
die  jj-sooTTjc  der  Leidenschaften.  So  ist  allgemein  das  aristotelische 
Mögliche  nicht  die  Idee,  nicht  das  Sein  a  priori,  das  Objekt  der 
voYjoic,  das  ^(öpioTov,  sondern  ein  unablösbares  Moment  des  empiri- 
schen exaoTov,  das  dem  Vermögen  nach  Seiende,  Suvaiiei  ov,  das  die 
Form  Aufnehmende,  die  oXt],  das  so-und-so-sein-Könnende.  Erst  das 
Sova^iet  ov  mit  der  Form  verschmolzen,  oXy]  und  eiSo?  als  Ganzes, 
sollen  die  Möglichkeit  des  Vielen  und  die  Unbegreifbarkeit  der  En- 
telechie  begreifbar  machen. 

1)  H.  Diels:  »Die  Fragmente  der  Vorsokratiker«  I.  Band,  3.  Aufl.,  Parme- 
uides  fragm.  6. 


Sachl.  u.  histor.  Bedeutung  des  Mögl.-Problems.  t 

In  der  Stoa  endlich  sind  es  Chrysipp  wie  Kleanthes  wie  Archi- 
demus  und  Antipater,  die  sich  mit  der  Diodorschen  Möglichkeitsfrage 
befaßt  haben ;  mit  diesem  alten  Dialektikerschluß ,  nach  dem  das 
Mögliche  deshalb  dem  Wirklichen  an  Umfang  und  an  Inhalt  gleich- 
zusetzen ist,  weil  sonst  aus  einem  nur  für  das  Denken  Möglichen 
ein  niemals- Wirkliches,  das  hieße  nach  diesem  Schluß  ein  nicht-Mög- 
liches, abgeleitet  werden  könne.  Auch  diese  zunächst  nur  >eristische< 
Frage,  die  Frage,  ob  das  Feld  des  Möglichen  größer  sei  als  das  Feld 
des  Wirklichen  (Kant)  taucht  in  vielen  neueren  Philosophieen,  mit 
größeren  Problemen  verflochten,  wieder  auf,  so  bei  Hobbes:  de  cor- 
pore Cap.  X,  4,  5,  bei  Leibniz  in  mehreren  Stellen  der  Theodizee, 
bei  Christian  Wolff  (Vernünftige  Gedanken  über  Gott,  I.  Teil  §  575) 
und  besonders  bei  Kant  in  den  >Postulaten<  der  >  Kritik  der  reinen 
Vernunft«,  die  uns  noch  näher  beschäftigen  werden. 

Weiter  ist  vor  allem  der  stoische  Begriff  der  xotvai  svvoiai,  der 
Begriff  der  Tcpok-q^BK; ,  für  die  Möglichkeitsprobleme  des  späteren 
Rationalismus  von  besonderer  Bedeutung  ^).  Diese  notiones  communes, 
die  an  die  platonische  Idee  und  an  die  platonische  avapTjoti;  erinnern 
und  von  Spinoza  scharf  von  den  notiones  universales  unterschieden 
werden^),  diese  > Grundannahmen«  (assumtions  fundamentales,  ou  ce 
qu'on  prend  pour  accorde  par  avance«  ^)  finden  sich  bei  Descartes 
wieder  als  ideae  innatae,  bei  Spinoza  als  >ratiocinii  .  .  .  fundamenta<, 
bei  Leibniz  als  v^rites  necessaires  und  bei  Kant  als  Formbegriffe 
a  priori.  Von  diesen  xoivat  svvotat,  von  den  allgemeinsten  > Vor- 
begriffen <,  von  dem  in-sich-Einsichtigen,  von  dem  eigentlich-Möglichen 
her  hat  der  Rationalismus  immer  um  die  Begreifbarkeit  und  —  im 
Ethischen  —   um   die  Herrschaft   über   das  Wirkliche    gerungen.  — 

Für  die  Scholastik  hat  schon  Schelling  in  seiner  Abhandlung 
>Über  die  Quelle  der  ewigen  Wahrheiten«  *)  einiges  Material  dargestellt. 
Wir  können,  von  ihm  abweichend,  etwa  folgende  drei  Gruppen  von 
Möglichkeitsproblemen  hervorheben:  die  ontologischen  Gottesbeweise, 
die  Theorieen  über  den  Verstand  und  den  Willen  Gottes  und  die 
Versuche  zu  einer  ars  generalis. 

Besonders  das  ontologische  Argument  verdient  hier  nähere 


1)  s.  Leibniz :  Philos.  Schriften,  heransg.  von  Gerhardt,  1882,  Band  V,  S.  42 
oder  Windelband:  »Lehrbuch  der  Geschichte  der  Philosophie<  S.  169. 

2)  s.  Spinoza:  Eth.  II,  XL  schol.  I. 

3)  Leibniz:  Philos.  Schriften,  herausg.  von  Gerhardt,  Band  V,   S.  42,   Nou- 
veaux  essais  sur  Tentendement,  preface. 

4)  Schellings  sämtliche  Werke,  II.  Abteil.,  1.  Band,  1856,  S.  575  ff. 


g  Einleitung: 

Beachtung.  Gerade  in  den  ontologischen  Gottesbeweisen,  in  den  Modi- 
fikationen und  Verklausulierungen,  in  denen  sie  bis  zur  >  Kritik  der 
reinen  Vernunft«  immer  wieder  versucht  wurden,  zeigt  sich  der  er- 
regte Wille  der  Menschheit,  das  Sein  nicht  als  gegeben  hinzunehmen, 
sondern  es  aus  seiner  bloßen  Möglichkeit  als  gegründet  zu  beweisen. 
Das  >esse  in  intellectu«  bei  Anselm  zielt  eben  —  mindestens  der 
Auftassung  nach,  die  es  im  späteren  Rationalismus  erfuhr  —  nicht 
auf  ein  > psychisches  Gebilde«,  auf  eine  bloß  subjektive  Vorstellung 
von  Gott,  sondern  auf  den  Begriff  Gott,  auf  das  Wesen  Gottes. 
Die  Grundfrage  der  ontologischen  Beweise  ist  daher  immer  die:  wie 
hat  das  apriorische  Denken  die  Macht,  aus  seinen  in  sich  einsichtigen 
möglichen  Begriffen  das  Sein  zu  entwickeln,  ist  nicht  mit  dem  Gottes- 
gedanken, durch  den  Begriff  des  ens  realissimum,  die  Summe  des 
Seins  selbst  als  seiend  zu  erschließen?  Kann  nicht  der  Schritt  vom 
Möglichen  zum  Wirklichen  durch  das  Denken  selbst  geleistet,  die 
Existenz  rein  als  ein  Merkmal  des  Möglichen  bewiesen  werden? 

Während  aber  das  ontologische  Argument  für  den  obersten  Be- 
griff, für  das  ens  necessarium  als  Ganzes,  die  Verknüpfung  des  Mög- 
lichen mit  dem  Wirklichen  zu  zeigen  sucht,  ist  nun  innerhalb  vieler 
mittelalterlichen  Attributen  lehren  die  Grenze  zwischen  dem  Mög- 
lichen und  dem  Wirklichen  um  so  deutlicher  bestimmt.  Der  Verstand 
Gottes  bedeutet  nämlich  hier  das  Reich  der  ewigen  Wahrheiten,  der 
Wesenheiten  der  Dinge  (im  Gegensatz  zu  den  zufälligen  Existenzen), 
das  Reich  des  objektiv-,  des  in-sich-notwendig- Wesentlichen,  Möglichen. 
Wo  immer  aber  >  Wille  dazwischen  kommt,  ist«  wie  Schelling  formu- 
liert, >von  Wirklichem  die  Rede^)«.  Auch  Gott  kann  die  Folgerungen, 
die  nach  den  Gesetzen  der  formalen  Logik  aus  den  Wesenheiten,  aus 
den  Begriffen  der  Dinge  ableitbar  sind,  nicht  umstoßen  (s.  z.  B.  Duns 
Scotus  Oxon.  IV,  d.  10,  q.  2,  n.  5,  zitiert  bei  Baumgartner  in  Über- 
wegs > Grundriß  der  Geschichte  der  Philosophie«  II  S.  584).  Die 
Wesenheiten  enthalten  das  objektiv  durch  die  Merkmale  der  Begriffe 
Mögliche,  das  durch  den  Begriff  selbst  notwendig  Einsichtige,  und 
müssen  daher  ewig  gültige,  nicht  aufhebbare  Wahrheiten  bleiben,  weil 
die  Wesenheit  dieselbe  bleibt,  gleichgültig  ob  ein  ihr  entsprechender 
Gegenstand  wirklich  existiert  oder  nicht.  Dagegen  die  Existenz 
der  Gegenstände,  ihr  wirkliches  Vorhandensein,  ist  vom  Willen  Gottes 
abhängig  (s.  z.  B.  Thomas  von  Aquino :  Summ,  theol.  I  q.  25,  a.  5 
und  6,  zitiert  bei  Baumgartner  S.  495).     So  ist   das   empirisch  Exi- 


1)  ScheUing,  W.  W.  II,  1  S.  579. 


Sachl.  u,  histor.  Bedeutung  des  Mögl.-Problems.  9 

stierende  in  diesen  Theorieen  von  dem  objektiv  Möglichen  vollständig 
geschieden:  der  Wille  Gottes  ist  unfähig,  den  Bestand  des  objektiv 
Möglichen  zu  ändern,  und  der  Verstand  Gottes  ist  unfähig,  aus  dem 
objektiv  Möglichen  das  objektiv  Wirkliche  hervorzubringen. 

Die  Methode  aber,  die  auch  ohne  die  Rückbeziehung  auf  den 
unendlichen  Verstand  Gottes  den  Inbegriff  des  Möglichen  feststellen 
will,  ist  wohl  am  charakteristischsten  durch  die  Versuche  einer  ars 
generalis  angestrebt  worden.  Und  diese  Versuche  sind  allerdings 
durch  ihre  historisch  späteren  Formen  wichtiger  geworden  als  in 
ihrer  mittelalterlichen  Gestalt  bei  Raymundus  Lullus.  Die  Haupt- 
bestrebungen dieser  scientia  generalis  gehen,  wie  Baumgartner  schon 
für  Lullus  ausführt,  darauf  hin,  alle  > durch  sich  evidenten«  Grund- 
begriffe derart  für  eine  Kombinatorik  aufzustellen,  daß  durch  die 
Verbindung  und  durch  die  Beziehung  dieser  Grundbegriffe  das  ganze 
Feld  des  objektiv  Möglichen  dargestellt  werden  kann. 

Fast  alle  diese  Tendenzen,  Möglichkeitsfragen  der  antiken  wie 
der  scholastischen  wie  der  neueren  Philosophie,  erscheinen  nun  ver- 
einigt in  dem  System  Leibniz'.  Die  ganze  Leibnizsche  Philosophie 
kann  dargestellt  werden  als  ein  Aufbau  auf  dem  Grundriß  verschie- 
dener Möglichkeitstheorien. 

So  wird  Gott  hier  zunächst  mit  Hilfe  des  ontologischen  Argu- 
mentes durch  seine  Möglichkeit  selbst  als  wirklich  bewiesen^).  Damit 
aber,  mit  dieser  höchsten  Zentralmonade,  ist  auch  die  übrige  nou- 
menale  Monadenwelt  mitgesetzt:  durch  den  Verstand  und  den  Willen 
Gottes,  der  notwendig,  —  wieder  rein  aus  seiner  Möglichkeit,  aus 
seinem  Wesen,  —  die  beste   aller  möglichen  Welten  schaffen  muß^). 

Nun  gibt  es  abgesehen  von  der  Monade,  abgesehen  von  dem 
Noumenon,  das  allein  im  strengen  Sinn  möglich  und  daher  allein 
wirklich  ist,  auch  eine  Realität  im  abgeminderten  Sinne,  die  räumlich- 
zeitliche Welt,  die  absolut  genommen  vielleicht  nur  den  Wert  eines 
Traumes  hat  ^).   Aber  auch  diese  phänomenale  Erscheinungswelt  kann 


1)  Leibniz:  Philos.  Schriften,  herausgeg.  von  Gerhardt,  z.  B.  Band  IV, 
S.  358/359,  ad  artic.  (14). 

2)  s.  z.  B.  »Opuscules  et  fragments  inedits  de  Leibniz«,  herausgeg.  von  Cou- 
turat,  1903,  S.  534  (4):  »Est  ergo  caixsa,  cur  Existentia  praevaleat  non-Exi- 
stentiae,  seu  Ens  necessarium  est  Existentificans«,  oder  Leibniz,  her- 
ausg.  Ton  Gerhardt,  Bd.  VII,  S.  194/195 ;  »Nisi  in  ipsa  Essentiae  natura  esset 
quaedam  ad  existendum  inclinatio,  nihil  existeret«.  >.  .  .  Existentia  .  .  .  essentiae 
exigentia«  und  zahlreiche  Stellen  der  Theodizee,  z.  B.  I  §  8. 

3)  Leibniz,  herausgeg.  von  Gerhardt,  Bd.  VII,  S.  320/321. 


10  Einleitung: 

nur  insofern  als  >  phänomenal-real  <  gelten,  als  sie  dem  ewig-objektiv 
Möglichen,  den  »ewigen  Wahrheiten <,  den  xoivai  svvotat,  den  Sach- 
verhalten der  Logik  und  der  Mathematik  >  entspricht <,  >an  ihnen 
teilnimmt«  ').  Ja  selbst  die  »materialen«,  die  > verworren«  gegebenen 
Momente  in  den  empirisch-phänomenalen  Begriffen,  selbst  diese  Mo- 
mente (die  der  Erkenntnis  a  priori,  die  der  reinen  Möglichkeits- 
einsicht am  meisten  widerstreben)  sollen  in  eine  Vielheit  a  priori 
beurteilbarer  Grundmerkmale  aufgelöst  werden,  alle  >konfuse<  Er- 
kenntnis ist  zurückzuführen  in  eine  wesentliche,  d.  h.  in  ein  rein 
Mögliches^). 

So  ist  bei  Leibniz  jede  Stufe  und  jedes  Moment  der 
Realität  erst  durch  die  Beziehung  zum  Möglichen  als 
real  bestimmt. 

Wie  sehr  aber  diese  allgemeinsten  Möglichkeitsprobleme  für  das 
gesamte  Jahrhundert  Leibniz'  im  Vordergrund  blieben,  zeigt  sich  wohl 
am  reinsten  in  Christian  Wolf f 's  Definitionen,  z.  B.  Log.  Disc.  praeL 
§  29:  >Philosophia  est  scientia  possibilium  ...  ad  eam  (definitionem) 
.  .  per  omne  tempus  direxi  omnes  meas  de  philosophia  cogitationes« 
oder  in  den  fast  berüchtigten  Radikalisierungen :  >Existentiam  definio 
per  complementum  possibilitatis«  (Ontologia  §  174). 

Ja  wie  sehr  selbst  der  vorkritische  Kant  unter  dem  Einfluß 
dieser  ontologischen  Möglichkeitsbegriffe  stand,  ist  noch  durch  die 
>nova  dilucidatio<  und  den  > einzig  möglichen  Beweisgrund«  genügend 
nachweisbar.  Zwar  das  ens  necessarium,  >in  quo  existentia  ...  est 
.  .  .  identica  cum  possibilitate«  ^),  dieser  Hauptbegriff  der  >nova  dilu- 
cidatioK,  ist  in  dem  > einzig  möglichen  Beweisgrund«  zuerst  widerlegt. 
Die  Existenz  wird  dort  ausdrücklich  nicht  als  Prädikat  der  Dinge 
anerkannt*),  und  der  Schluß  von  dem  Möglichen  als  Grund  auf  das 
Dasein  als  Folge  wird  hier  abgelehnt^).  Aber  auch  der  von  Kant 
(noch  1763)  vertretene  Beweis  (von  der  bloßen  Möglichkeit  der  Dinge 
als  Folge  auf  das  Dasein  Gottes  als  Grund)  hat  natürlich  ebenso  wie 
die  anderen  ontologischen  Schlüsse  auf  die  alte  Identitätsverknüpfung 
zwischen  dem  Möglichen  und  dem  Wirklichen  hinauslaufen  müssen.  — 
So  stark  stand  also  der  vorkritische  Kant  im  Bann  des  ontologischen 


1)  Leibniz,  herausgeg.  von  Gerhardt,  Bd.  II,  S.  282/283. 

2)  Ebenda  Bd.  IV,  S.  450. 

3)  Kants  Werke,    Akademieausgabe   Bd.  I,    S.  396:   principiorum    primorum 
cognitionis  methaphysicae  nova  dilucidatio,  propositio  VII,  schol. 

4)  Ebenda  Bd.  II,  S.  72  oder  S.  156. 

5)  Ebenda  Bd.  II,  S.  156. 


Sachl.  u.  histor.  Bedeutung  des  Mögl.-Problems.  11 

Argumentes,  daß  er  die  volle  Äquivocation  seiner  Möglichkeitsbegriflfe 
nicht  bemerkte.  Entweder  nämlich  bedeutet  das  Mögliche  des  >  Be- 
weisgrundes«, wie  es  der  eigentlichen  Tendenz  des  Beweises  ent- 
sprechen müßte,  bloße  objektiv  > durch  sich  evidente <  Begriffe,  dann 
ist  es  ebenso  unmöglich,  aus  ihnen  als  aus  einer  Folge  das  Dasein 
Gottes  als  Grund  zu  erschließen,  wie  es  für  die  alten  Ontologien 
unmöglich  sein  mußte,  das  Dasein  Gottes  als  Folge  dieses  begrifflich 
Möglichen  zu  beweisen.  Oder  aber  das  Mögliche  des  > Beweisgrundes« 
wäre  ein  Mögliches,  das  als  Existierendes  auch  möglich  ist; 
aus  einem  solchen  Existierenden  aber  die  Existenz  zu  erschließen, 
wäre  überflüssig. 

Erst  die  »Kritik  der  reinen  Vernunft«  hat,  wie  ich  glaube,  alle 
historisch  gegebenen  Möglichkeitsprobleme  durch  eine  >kopernikani- 
sche«  Umwandlung  innerlich  umgedeutet  und  vertieft.  Wie  diese 
Bedeutung  der  Möglichkeit  jederzeit  im  Kritizismus  hervorgehoben 
wurde,  so  in  Kants  Vorlesungen  über  Metaphysik^),  wenn  es  dort 
heißt:  die  Modalität  (die  Begriffe  der  Möglichkeit,  Wirklichkeit  und 
Notwendigkeit)  ist  >ganz  etwas  Besonderes« ;  oder  in  der  »Kritik 
der  reinen  Vernunft«  selbst,  wenn  dort  mehrmals  ausgeführt  wird 
(so  B  266  und  287),  daß  nur  durch  die  Kategorien  der  Modalität 
das  Verhältnis  eines  Objektes  zum  ganzen  Erkenntnisvermögen  aus- 
gedrückt ist.  Auch  Riehl  hat  daher  in  der  Einleitung  zu  seinem 
> Kritizismus«  den  allgemeinen  Begriff  der  Möglichkeit  hervorgehoben, 
und  im  übrigen  Neukantianismus,  bei  Stadler,  heißt  es  sogar:  >Die 
modalen  Definitionen  sind  der  kompendiöse  Kanon  jeder  Erkenntnis- 
theorie« ^). All  dem  gegenüber   hat   es  nun  den  Anschein, 

als  ob  in  weitverzweigten  modernen  Forschungen,  in  der  Phäno- 
menologie Husserls  und  in  der  Gegenstandstheorie  Meinongs,  —  min- 
destens der  Meinung  der  Forscher  nach  —  ein  vollständiger  Bruch 
mit  allen  historischen  Möglichkeitsphilosophien  vollzogen  sei. 

So  weist  H US serl  öfters  ältere  philosophische  Lehren  »als  böses 
Erbe  der  Vergangenheit«  zurück,  und  besonders  in  seinem  Aufsatz 
im  »Logos«  ^)  läßt  er  keinen  Zweifel  darüber,  daß  erst  mit  der  Hus- 


1)  »J.  Kants  Vorlesungen  über  die  Metaphysik«,  (herausgeg.  von  Pölitz), 
Erfurt  1821,  S.  29. 

2)  A.  Stadler:  »Die  Grundsätze  der  reinen  Erkenntnistheorie  in  der 
Kantischen  Philosophie«  S.  131. 

3)  Edmund  Husserl  im  »Logos«  1911:  »Philosophie  als  strenge  Wissen- 
schaft«, s.  etwa  S.  291  die  ischroife  Betonung  der  Unwissenschaftlichkeit  aller 
bisherigen  Philosophien. 


12  Einleitung: 

serischen  Phänomenologie  Philosophie  als  strenge  Wissenschaft  be- 
ginnen kann.  Oder  ein  besonders  deutlicher  Zusammenhang  aus  dem 
letzten  Hauptwerk  Husserls^):  >  Statt  sich  mit  den  absonderlichen 
Vexierfragen  abzumühen,  wie  Erkenntnis  einer  äußeren  Natur  über- 
haupt möglich  sei,  wie  all  die  Schwierigkeiten  zu  lösen  wären,  die 
schon  die  Alten  in  dieser  Möglichkeit  fanden«, ...  ist  es  >mindestens  bei 
der  gegenwärtigen  Zeitlage  . . .  richtig,  die  Grenzen  der  dogmatischen 
Forschung  gegenüber  kritizistischen  Fragestellungen  abzuschließen«. 
. .  .  >Wir  schalten«  die  Hemmungen  der  kritizistischen  Fragestellungen 
>  dadurch  aus,  daß  wir  uns  nur  das  allgemeinste  Prinzip  aller  Me- 
thode, das  des  ursprünglichen  Rechtes  aller  Gegebenheiten  klar 
machen  und  es  lebendig  im  Sinne  halten,  während  wir  die  inhalt- 
lichen und  vielgestaltigen  Probleme  der  Möglichkeit  der  verschiedenen 
Erkenntnisarten  und  Erkenntniskorrelationen  ignorieren«.  >Nur  auf 
dem  Boden  der  eidetischen  Phänomenologie«  >kann  .  .  .  jede  prinzi- 
pielle Möglichkeitsfrage  .  .  .  entschieden  werden«. 

Aus  einer  ganz  ähnlichen  Einschätzung  seiner  Gegenstandstheorie 
hat  auch  M  e  i  n  o  n  g  über  die  Möglichkeitsprobleme  des  ontologischen 
Argumentes  folgendermaßen  geurteilt:  > Gesunder  erkenntnistheoreti- 
scher oder  eigentlich  erkenntnispraktischer  Takt  .  .  .  hat  das  Argu- 
ment jederzeit  abgelehnt:  daß  wir  aber  auch  heute  noch  so  wenig 
geschickt  sind,  den  Irrtum,  den  wir  fühlen,  aufzudecken,  das  könnte 
für  sich  allein  schon  klar  machen,  wie  wenig  es  bisher  gelungen  ist, 
Fragen  dieser  Art  mit  wirklich  adäquaten  Mitteln  beizukommen,  — 
anders  ausgedrückt:  wie  wichtige  Aufgaben  eben  die  Gegenstands- 
theorie zu  lösen  hat«  ^). 

Endlich  hat  speziell  der  Kantische  Möglichkeitsbegriff  durch 
H.  Pichle r  eine  besonders  scharfsinnige  und  die  bisher  wohl  ausführ- 
lichste Kritik  erfahren^).  Und  diese  Untersuchung  Pichlers  ist  in 
wesentlichem  Anschluß  an  die  Gegenstandstheorie  geführt  worden. 

Es  erhebt  sich  deshalb  die  entscheidende  Frage,  um  deretwillen 
wir  bis  jetzt  so  weit  historisch  zurückgriffen :  haben  die  Phänome- 
nologie und  die  Gegenstandstheorie  wirklich,  wie  sie  behaupten,  eine 
neue  Philosophie  geschaffen?  Gerade  die  wichtigen  Kantischen  >Postu- 


1)  E.  Husserl :  »Ideen  zu  einer  reinen  Phänomenologie  und  phänomeno- 
logischen Philosophie«  1913,  S.  46  his  48  und  S.  119.  (Im  Original  teilweise  ge- 
sperrt gedruckt.) 

2)  A.  Meinong;  Ȇber  die  Stellung  der  Gegenstandstheorie  im  System  der 
Wissenschaften«   1907,  S.  18. 

3)  H.  Pichler:  »Möglichkeit  und  Widerspruchslosigkeit«  1912. 


Sachl.  u.  histor,  Bedeutung  des  Mögl.-Problems.  13 

late<,  die  Kantischen  Modalitätsbegriffe,  fordern  meiner  Meinung  nach 
eine  nähere  Interpretation,  als  sie  bisher  sehr  kursorisch  und  daher 
mißdeutig  gegeben  worden  ist.  Ist  nun  der  Standpunkt  dieser  Kanti- 
schen Modalitätsbegriffe  durch  die  moderne  Forschung  überholt? 

Es  ist  in  letzter  Zeit  öfters  als  »eine  bedeutsame  und  zugleich 
dringende  Aufgabe«  gefordert  worden  ^),  den  Kritizismus  mit  der 
Phänomenologie  und  mit  der  Gegenstandstheorie,  die  auch  Linke 
der  Phänomenologie  nahe  rückt  ^),  in  Beziehung  zu  stellen.  Der  Zweck 
der  vorliegenden  Untersuchung  soll  es  deshalb  sein,  gerade  mit  Hilfe 
des  grundlegenden  Möglichkeitsbegriflfs  die  Kantischen  und  die  mo- 
dernen Theorien  auf  eine  möglichst  gemeinsame  Basis  zu  bringen 
und  damit  —  wenigstens  in  ihren  philosophischen  Grundeinstellungen  — 
zu  vergleichen. 


1)  s.  P.  F.  Linke  in   Kantstudien   Band  XXI,   S.  177   oder   G.  von  Lukäcs, 
Kantstudien  Band  XXII,  S.  359. 

2)  s.  P.F.Linke:  »Das  Recht  der  Phänomenologie«,  Kantstudien  Band  XXI, 
S.  164. 


i.  Die  grundlegenden  Bestimmungen  der  Phänomenologie  und 
Gegenstandstheorie  und   ihre  Beziehungen  zum  vorkritischen 

Rationalismus. 

Wollen  wir  nun  für  unsere  Untersuchungen  einen  ersten  Über- 
blick- und  Ausgangspunkt  gewinnen,  so  wird  uns  hierbei  unsere  kurze 
historische  Einleitung  brauchbare  Dienste  leisten  können. 

Sowohl  HusserP)  wie  Meinong  wie  Pichler  benutzen  nämlich  zu 
ihren  grundlegenden  Darstellungen  eine  Definition  des  Gegenstandes 
und  damit  auch  einen  allgemeinen  Möglichkeitsbegriff,  die  sich  be- 
sonders gut  mit  Hilfe  ihrer  historischen  Zusammenhänge  verdeutlichen 
lassen. 

»Alles  was  etwas  ist,  heißt  ein  Gegenstand  .  .  .  Insbesondere 
ist  es  auch  nicht  eine  Bestimmung  des  Gegenstandes,  daß  er  ist, 
also  existiert  oder  besteht.  Jeder  Gegenstand  ist  etwas,  aber  nicht 
jedes  Etwas  ist«.  So  heißt  es  in  einem  von  Meinong  herausgege- 
benen Aufsatz  E.  Mal ly 's 2). 

Und  ganz  analog  definiert  Husserl  in  den  >Logischen  Unter- 
suchungen« und  in  seinem  neuesten  Werk  jeden  Gegenstand  als  ein 
>irgend  etwas«  ^),  gleichgültig  ob  real  oder  nicht  real,  und  er  fügt 
hinzu,  daß  er  diesen  >allgemeinen  Gegenstandsbegrifi'  .  .  .  nicht  er- 
funden, sondern  nur  ...  restituiert  und  zugleich«  als  »prinzipiell 
unentbehrlich«  (und  als  >die  allgemeine  wissenschaftliche  Rede  be- 
stimmend«) nachgewiesen  habe. 

Unter  diesem  obersten  Gegenstandsbegriff  werden  auch  —  be- 
sonders  charakteristisch   —    die   sogenannten    »unmöglichen   Gegen- 


1)  s.  hierzu  nur  den  I.  Abschnitt  der  »Ideen  zu  einer  reinen  Phänomeno- 
logie«: über  »Wesen  und  Wesenserkenntnis«. 

2)  »Untersuchungen  zur  Gegenstandstheorie  und  Psychologie«  1901,  heraus- 
geg.  von  A.  Meinong,  III.  Aufsatz:  »Untersuchungen  zur  Gegenstandstheorie  des 
Messens«  von  Ernst  Mally,  S.  126. 

3)  Husserl:  Ideen  zu  einer  reinen  Phänomenologie  S.  40,  vgl.  »Logische 
Untersuchungen«  Band  I,  2.  Aufl.,  S.  229,  Band  11,  2.  Aufl.,  S.  140. 


Phänomenolog.-Gegenstandstheorie  u,  vorkrit.  Rationalismus.  15 

stände<,  das  > runde  Vierecke,  die  >unaiisgedehnte  Materie«  u.  dergl.  als 
in  bestimmtem,  weiterem  Sinne  möglich  angesehen.  Es  gibt  nämlich, 
wie  Husserl  nachweist,  innerhalb  des  Gegenständlichen  auch  »Einigung 
durch  Widerstreite*),  nämlich  in  dem  Sinne,  daß  einander  wider- 
sprechende Merkmale  doch  in  ihrem  Zusammenhange  und  in  dem  des 
sie  trennenden  Widerstreites  als  Ganzes  wieder  vereinbar  sind.  Sind 
die  Teile  pq  in  Beziehung  auf  die  Einheit  G  einander  widersprechend, 
so  können  sie  doch  zusammen  mit  dem  Moment  ihres  Widerstreits 
zu  einer  neuen  Einheit  verbunden  werden.  Erst  wenn  das  in  Be- 
ziehung auf  die  Einheit  G  Unverträgliche  als  verträglich  bezeichnet 
wird,  erst  dann  besteht  eine  Unmöglichkeit.  Wie  dies  auch  von 
Pichler  formuliert  wird:  »Es  muß  die  Identifikation  des  Vierecks  mit 
dem  runden  Ding  hinzutreten,  damit  etwas  Unmögliches  gedacht 
wird«  ^).  Ohne  diese  Identifikation  ist  für  Pichler  wie  für  Husserl 
das  runde  Viereck  ein  zwar  real  unmöglicher,  aber  doch  im  allge- 
meineren Sinne  ein  möglicher  Gegenstand,  nämlich  möglich  als  ein 
Etwas  überhaupt. 

Und  genau  in  derselben  Bedeutung  werden  auch  von  Meinong 
die  unmöglichen  Gegenstände  als  ein  Untersuchungsgebiet  für  die 
Gegenstandstheorie  in  Anspruch  genommen,  während  sie  bisher  gegen- 
über allen  anderen  Wissenschaftsdisziplinen  »heimatlos*  gewesen 
seien  ^). 

Gerade  durch  dies  Berücksichtigen  bisher  vernachlässigter  Gegen- 
stände, durch  das  Einbeziehen  jedes  »Etwas«,  durch  die  Umgehung 
aller  Möglichkeitsrestriktion,  will  die  moderne  Forschung  jene  Weite 
und  jene  Vorurteilslosigkeit  erreichen,   auf  die  sie  so  oft  Wert  legt. 

Was  nun  die  wirklichen  realen  Gegenstände  der  »Welt«  anlangt, 
so  braucht  allerdings  deren  Bearbeitung  nicht  erst  desideriert  zu 
werden :  die  Wissenschaft  hat  bisher  wie  Meinong  es  nennt,  immer 
ein  »Vorurteil  zu  gunsten  des  Wirklichen«  *)  gehabt.  Oder  wie 
Husserl  häufig  ausführt^):    die   natürliche  Einstellung  der  Wissen- 


1)  s.  Husserl:  »Logische  Untersuchungen«  Band  II,  1.  Aufl.,  S.  574 ff.,  das 
Kapitel  über  Verträglichkeit  und  Unverträglichkeit,  und  »Logische  Untersuchungen« 
Band  II,  2.  Aufl.,  S.  55. 

2)  H.  Pichler:  »Möglichkeit  und  Widerspruchslosigkeit«  S.  10. 

3)  A.  Meinong:  Über  die  Stellung  der  Gegenstandstheorie  S.  14  ^is  20. 

4)  Meinong:  Untersuchungen  zur  Gegenstandstheorie  S.  3  ff.  und  ȟber  die 
Stellung  der  Gegenstandstheorie  im  System  der  Wissenschaften«  S.  29. 

5)  Husserl:  »Logische  Untersuchungen«  Bd.  I  und  besonders  »Ideen  zu 
einer  reinen  Phänomenologie«  S.  34  ff. 


16  Phänomenolog.-Gegenstandstheorie  u.  vorkrit.  Rationalismus, 

Schäften  war  stets  so  vorwiegend  auf  die  Gegenstände  der  Wirklich- 
keit gerichtet,  daß  etwa  der  konsequente  Empirismus  und  der  Psy- 
chologismus behaupten  konnten,  mit  dem  Gebiet  des  Existierenden 
(einschließlich  der  realen  psychischen  Gebilde)  sei  überhaupt  das 
Gebiet  der  Gegenstände  erschöpft. 

Dem  entgegen  besteht  nun  für  Husserl  und  für  Meinong  wie 
für  alle  ihre  Anhänger  jene  durchgehende  Zweiteilung,  die  uns  be- 
reits in  unserer  Einleitung  auf  die  Grundprobleme  des  Rationalismus 
geführt  hatte:  auf  der  einen  Seite  steht  das  Wirkliche,  das  Singu- 
lare, das  Daseiende,  das  bestimmte  Stellen  des  Raumes  und  vor 
allem  der  Zeit  einnimmt,  das  Zufällige,  die  verite  de  fait,  alles,  was 
als  physisch  oder  psychisch  in  der  j-natürlichen  Welt«  real  vorhanden 
ist,  alles  Faktische.  Auf  der  anderen  Seite  steht  in  vollem  Wesens- 
gegensatz hierzu  das  Nichtexistierende,  sondern  Essentiale, 
das  Nichtindividuelle,  sondern  allgemein- Wesentliche, 
das  >Daseins  freie«,  >Soseiende<,  das  Ei  dos  (Wesen),  der 
Begriff,  der  nach  Schopenhauer  allein  >frei<  ist,  >von  der  Gewalt 
der  Zeit«,  das  im  eigentlichen  und  im  engeren  Sinne  »Mögliche«  ^), 
das,  was  nur  >Wesensverhalte«  bedeutet  im  Gegensatz  zum 
Wirklichkeitsdatum,  die  verit6  de  raison.  Das  Eidos,  die 
>Idee«,  das  Wesen,  das  Mögliche  bedeutet  hier,  wie  überall  im  Ra- 
tionalismus, einen  > eigenen  Einsichtstypus«  ^),  und  es  bedeutet  zu- 
gleich den  >Sinn  der  Zufälligkeit,  die  da  Tatsächlichkeit«  heißt  ^). 

Genau  wie  im  älteren  Rationalismus  ist  daher  in  unseren  «le- 
dernen Theorien  mit  dem  Unterschiede  zwischen  den  Gegen- 
ständen der  alte  Gegensatz  der  Erkenntnisweisen  mit- 
gegeben: auf  der  Seite  des  Wirklichen  steht  das  Wissen 
a  posteriori,  das  empirische  Erfahren,  die  »Einsicht .  .  . 
in  das  nackte  ,,daß"<^),  die  nur  »erfahrende  Anschauung«^), 
auf  der  anderen  Seite  steht  die  Erkenntnis  a  priori,  die  »Ein- 
sicht in  das  „warum"« '^),   die  «Wesensschauung  (Ideation)« ''). 

Endlich  ist  hier  überall  ein  drittes  Moment  vorhanden,  das  sich 
ebenfalls  aus  der  Zweiteilung  des  Gegenstandsgebietes  ergeben  muß: 


1)  s.  hierzu  Husserl:  Ideen  S.  17. 

2)  Vgl.  ebenda  S.  298. 

3)  Ebenda  S.  9. 

4)  Meinong :  Über  die  Stellung  der  Gegenstandstheorie  S.  32. 

5)  Husserl :  Ideen  S.  10. 

6)  Meinong:  Über  die  Stellung  der  Gegenstandstheorie  S.  32. 

7)  Husserl:  Ideen  S.  10. 


Phänomenolog.-Gegenstandstheorie  u.  vorkrit.  Rationalismus.  17 

die  Unabhängigkeit  derWesenserkenntnis  von  derTat- 
sachenerfahrung^),  die  Unabhängigkeit  desSoseins  vom 
Sein^),  der  Essenz  von  der  Existenz'^),  des  Möglichen 
vom  Wirklichen.  Das  A  priori  kann  nicht  durch  das  A  posteriori 
gegeben  werden,  da  es  sonst  nur  ein  A  posteriori  wäre.  Eine  Wissen- 
schaft, die  nur  vom  Sosein,  nicht  vom  Dasein  handelt,  muß  > natur- 
gemäß auch  eine  erfahrungsfreie,  eine  apriorische  Wissenschaft <  sein. 
(Meinong:  Über  die  Stellung  der  Gegenstandstheorie  S.  33). 

Mit  allen  den  bisher  angeführten  Parallelen  glaube  ich  nur  in 
Übereinstimmung  zu  stehen  mit  H.  Gomperz^)  und  E.  Cassirer^), 
die  bereits  früher  für  die  Gegenstandstheorie  eine  innere  Be- 
ziehung zu  den  Lehren  Christian  Wolff's  und  Lambert's  an- 
genommen haben.  Aber  ganz  Entsprechendes  läßt  sich 
auch  für  den  ersten  Abschnitt  der  Husser Ischen  >Ideen<, 
für  den  Plan  einer  allgemeinen  Eidetik  (Wesenswissen- 
schaft) nachweisen. 

Schon  Wolff  hat  fast  mit  den  gleichen  Worten  wie  Husserl 
den  Begriff  des  Wesens  zu  erläutern  gesucht,  wenn  er  sagt  *^):  >Nem- 
lich  dasjenige,  wodurch  ein  jedes  Ding  in  seiner  Art  determiniret 
wird,  ist  es,  darinnen  der  Grund  von  dem  übrigen  zu  finden.  Und 
da  die  Sache  dadurch  ihre  Möglichkeit  hat,  so  bestehet  darinnen  ihr 
Wiesen,  und  derjenige  verstehet  das  Wesen  eines  Dinges,  welcher 
erkennet,  wie  eine  Sache  in  ihrer  Art  determiniret  wird.  Ja,  wenn 
er  von  dem  übrigen,  was  er  in  ihr  findet,  Raison  geben  will,  so  muß 
er  sie  in  demjenigen  suchen,  wodurch  sie  in  ihrer  Art  determiniret 
wirdi. 

Während  Husserl  entwickelt^):   >Ein  individueller  Gegenstand 


1)  Husserl :  Ideen  S.  18. 

2)  Meinong :  Untersuchnngen  zur  Gegenstandstheorie  S.  8.  Das  Prinzip  dieser 
Unabhängigkeit  ist  gewiß  nicht,  wie  Meinong  meint  (»Untersuchungen  zur  Gegen- 
standstheorie« S.  8)  von  Mally  zuerst  ausgesprochen,  es  ist  nur  als  eine  alte 
rationalistische  Grundlehre  von  Mally  in  moderner  gegenstandstheoretischer  Ter- 
minologie dargestellt  worden,  s.  E.  Mally  in  Meinongs  Untersuchungen  S.  126/127. 

3)  s.  z.  B.  Leibniz:    Theodizee  I  §  7,  II  §  186  oder  Wolff:   Ontologia  §  134. 

4)  H.  Gomperz:  Weltanschauungslehre  II,  1  S.  36/37  (1908). 

5)  E.  Cassirer:  Das  Erkenntnisproblem  in  der  Philosophie  und  Wissenschaft 
der  neueren  Zeit,  2.  Aufl.,  1911,  II  S.  540. 

6)  Christian  Wolff:  »Der  vernünftigen  Gedanken  von  Gott,  der  Welt  und 
der  Seele  des  Menschen,  auch  allen  Dingen  überhaupt,  anderer  Teil«  1733,  §  16, 
S.  38/39. 

7)  Husserl :  Ideen  S.  9. 

Kantstudien.    Ergänzungsheft  51.  2 


18  Phänomenolog.-Gegenstandstlieorie  u.  vorkrit.  Rationalismus. 

ist  nicht  bloß  überhaupt  ein  individueller,  ein  Diesdal,  ein  einmaliger, 
er  hat  als  in  sich  selbst  so  und  so  beschaffener  seine  Eigenart, 
seinen  Bestand  an  we  sentlichen  Prädikabilien,  die  ihm  zukommen 
müssen  (als  > Seiendem,  wie  er  in  sich  selbst  ist«),  damit  ihm  andere 
sekundäre,  relative  Bestimmungen  zukommen  können«.  —  >So  hat 
z.  B.  jeder  Ton  an  und  für  sich  ein  Wesen  und  zu  oberst  das  all- 
gemeine Wesen  Ton  überhaupt  ...  —  rein  verstanden  als  das  aus 
dem  individuellen  Ton  .  .  .  herauszuschauende  Moment«. 

In  ganz  korrespondierender  Art  verteidigte  auch  Wolff  das 
Eigenrecht  der  Wesensschauung  und  ihren  Unterschied  von  der  er- 
fahrenden Anschauung  mit  den  Worten:  > Diejenigen,  welche  vor- 
geben, als  wenn  man  das  Wesen  eines  Dinges  nicht  erkennen  könte, 
verlangen  ein  Bild  in  der  Einbildungs-Krafft,  dadurch  sie  es  vorstellen 
können,  und  verlangen  also  zu  sehen,  was  nicht  vor  die  Augen  ge- 
höret. Denn  alle  allgemeine  Begriffe,  die  man  in  der  Metaphysick 
erkläret,  lassen  sich  nicht  durch  die  Sinnen,  sondern  bloß  durch  den 
Verstand  begreiffen.  Es  geschiehet  aber  daher,  daß,  wenn  man  sich 
das  Wesen  .  .  .  unter  einem  Bilde  vorstellen  will,  alles  finster  wird, 
wie  es  einem  zu  gehen  pfleget,  wo  man  nichts  siehet.  Und  dennoch 
sollte  man  sagen,  wir  können  das  Wesen  nicht  sehen  .  .  .  nicht  aber, 
daß  es  sich  nicht  mit  dem  Verstand  begreifen  lasse,  was  das  Wesen 
sey.  Es  gehet  in  mehreren  Fällen  so  her,  daß  man  die  Farben  hören 
und  den  Schall  sehen  will,  und  aus  dem  Unvermögen,  das  man  bey 
sich  findet  .  .  .  schleußt,    es  sey  unmöglich,   solches  zu  erkennen«  ^), 

Was  hier  bei  Wolff  das  Erkennen  durch  die  Sinne  ist,  ist  eben 
beiHusserl  die  > erfahrende  Anschauung«;  die  Verstandeserkenntnis 
der  Wesen  entspricht  dagegen  im  allgemeinen  der  Wesensschau 
Husserls;  und  wenn  Husserl  ausführlich  gegen  die  >  Ideenblind- 
heit« ^)  gegen  das  > Wegdeuten«  ^)  der  Wesenserfassung  ankämpft, 
so  hat  dies  Wolff  in  den  zitierten  Worten  zweifellos  nicht  weniger 
getan. 

Endlich  ist  auch  bei  Wolff  wie  bei  Husserl  die  Unabhängig- 
keit der  eidetischen  Wissenschaft  von  aller  Tatsachenerfahrung  in 
ähnlicher  Weise  ausgesprochen. 

Bei  Husserl  heißt  es^):  >Aus  Tatsachen  folgen  immer  nur 
Tatsachen«.    Durch   den  >Sinn   eidetischer  Wissenschaft«  ist^>prin- 

1)  Ch.  Wolff:  Der  vernünftigen  Gedanken  von  Gott  anderer  Teil,  1733,  §  16, 
S,  39/40. 

2)  Ideen  S.  41. 

3)  Ideen  S.  18. 


Phänomenolog.-Gegenstaadstheorie  u.  vorkrit.  Rationalismus.  19 

zipiell  jede  Einbeziehung  von  Erkenntnisergebnissen  empirischer  Wis- 
senschaften« ausgeschlossen. 

Bei  Wolff  heißt  es^):  >Weil  die  Deutlichkeit  der  Erkäntniß 
für  den  Verstand  (d.  h.  die  Wesenserkenntnis),  die  Undeutlichkeit 
aber  für  die  Sinnen  und  die  Einbildungs-Krafft  (d.  h.  die  Erfahrung) 
gehöret:  so  ist  der  (reine)  Verstand  abgesondert  von  den  Sinnen 
und  der  EinbildungsKrafft«.  Oder*):  >Experientia  ratio  non  est,  sed 
eidem  contradistinguitur<  —  >  Ratio  pura  est,  si  .  .  .  non  admittimus 
nisi  definitiones  ac  propositiones  a  priori  cognitas«  ^). 

Auch  in  dem  vorkritischen  Rationalismus  war  demnach  das  reine 
Sosein  (der  Gegenstand  der  Wesenserkenntnis)  von  dem  Sein  unab- 
hängig; nur  in  einem  Falle,  in  dem  Fall  des  Gottesbegriffs,  wurde 
umgekehrt  das  Sein  Gottes  durch  sein  Sosein  erschlossen.  Dieses 
ontologische  Argument  ist  begreiflicherweise  von  der  modernen  For- 
schung aufgegeben  worden.  Im  übrigen  aber  bestehen  zweifellos, 
wie  wir  gesehen  haben,  innere  Beziehungen  zwischen  den  Grund- 
vorstellungen des  älteren  Rationalismus  und  der  modernen  Eidetik 
wie  der  Gegenstandstheorie.  Nur  der  Begriff  der  unmöglichen  Gegen- 
stände und  ähnliche  Bereicherungen  des  MögHchkeitsfeldes  sind  zu- 
nächst für  die  Moderne  unterscheidender  charakteristisch. 

Jedoch  gerade  dieser  ungegliedert  große  Umfang  des  Möglichen 
kann  uns  zugleich  auf  charakteristische  Schwierigkeiten  verweisen, 
wie  sie  jeden  vorkritischen  Rationalismus  treffen  müssen. 

P.  F.  Linke  definiert  in  seinem  Aufsatz:  >Das  Recht  der  Phä- 
nomenologie <  das  Mögliche  als  >das  sinnvolle  Ideelle,  d.  h.  das  Kon- 
kret-Ideelle und  in  ihm  fundierte«^).  Dies  ist  im  wesentlichen,  wie 
sich  gleich  näher  bestätigen  wird,  dieselbe  allgemein-weite  Bedeutung, 
in  der  auch  wir  bisher  das  Mögliche  belassen  haben.  Von  diesem 
Möglichkeitsbegriff  behauptet  Linke,  der  ganze  >  Bereich  des  Mög- 
lichen ...  ist  der  Phänomenologie  unterworfen«. 

In  der  näheren  Ausführung  entwickelt  Linke ^): 

>Festzustellen,  ob  das  hier  vorliegende  Kristall  Oktaeder  ist 
■oder  was  sonst  —  das  ist  die  empirische  Aufgabe«. 

> Festzustellen,    welche  Eigenschaften    das  Oktaeder    als   Idee 


1)  Christian  Wolff:  Vernünftige  Gedanken  von  Gott  (I.  Teil)  1733,  §  282  und 
.283;  Tgl.  auch  §371,  372. 

2)  Christian  Wolff:  Psychologia  empirica,  1738,  §  490. 

3)  Ebenda  §  495. 

4)  Kantstudien  Bd.  XXI,  S.  208. 

5)  Kantstudien  Bd.  XXI,  S.  206  bis  208. 

2* 


20  Phänomenolog.-Gegenstandstheorie  u.  vorkrit.  Rationalismus. 

genommen  hat  —  das  ist  die  von  dieser  empirischen  vorausgesetzte 
außerempirische  Aufgabe,  die  eine  phänomenologische 
Aufgabe  wäre,  wenn  die  Eigenart  der  räumlichen  Beziehungen  diese 
nicht  einer  besonderen  vorwiegend  mit  begrifflichen  Symbolen 
operierenden  Methode  —  der  mathematischen  Methode —  unter- 
worfen hätte,  mit  deren  Hilfe  diese  Aufgabe  in  einer  bedeutend  ein- 
facheren, freilich  in  den  letzten  Grundlagen  dennoch  auf  Phänomeno- 
logie zurückführenden  Weise  gelöst  werden  kann.< 

»Festzustellen,  ob  das  hier  vorliegende  Kristall  gelb  ist  oder 
nicht  —  das  ist  die  empirische  Frage«. 

> Festzustellen,  welche  Eigenschaften  das  Gelb  als  Idee  genommen 
hat,  wie  etwa,  daß  es  an  einen  Helligkeitsgrad  einerseits,  an  Aus- 
dehnung andererseits  gebunden  ist  —  das  ist  wiederum  die  ent- 
sprechende Aufgabe  der  Phänomenologie«. 

> Festzustellen,  ob  auf  die  da  oder  dort  vorliegenden  individuellen 
Tatsachen  und  Vorgänge  Ideen  wie  etwa  »Berührung«,  »Ordnung«, 
»Verbindung«,  »Trennung«,  »Reihenfolge«,  »Freiheit«,  »Ursache«  usw. 
angewandt  werden  dürfen  —  das  ist  die  empirische  Aufgabe«. 

»Festzustellen,  was  mit  diesen  Ideen  gemeint  ist:  ob  sie  zu- 
nächst überhaupt  einen  Sinn  haben  (d.  h.  ob  ihren  »Begriffen«  ein 
echter  ideeller  Gegenstand  zukommt,  oder  ob  sie  leere  Begriffe 
sind)  und  sodann,  welches  dieser  Sinn  ist  —  das  ist  die  phänomeno- 
logische Aufgabe«. 

An  diesen  Ausführungen  überrascht  zuerst  die  Buntheit  der 
»Gegenstände«,  die  hier  das  Objekt,  das  »Mögliche«  der  Phänomeno- 
logie, bilden  sollen.  Neben  Begriffen,  wie  »Verbindung«,  »Ursache«, 
auch  »Ding«,  die  vorher  mit  Recht  »Merkmale  kategorialer  Art«  ^) 
genannt  waren,  steht  »das  Gelb  als  Idee«  und  stehen  endlich  sogar 
die  mathematischen  Begriffe,  mit  Beziehung  auf  welche  gesagt  wird,, 
daß  wenigstens  ihre  »Grundlagenforschung  .  .  .  einen  Zweig  der  Phä- 
nomenologie« bilden  soll  ^). 

Besonders  deutlich  aber  ist  auch  hier  die  Übereinstimmung  mit 
Grundauffassungen  Meinen gs.  AuchMeinong  zählt  zu  den  bisher 
»heimatlosen  Gegenständen«,  die  künftig  von  der  Gegenstandstheorie- 
bearbeitet  werden  sollen: 

1)  die  gesamte  Mathematik  als  spezielle  Gegenstandstheorie  ^), 


1)  Ebenda  S.  206. 

2)  Kantstudien  Bd.  XXI,  S.  207. 

3)  Meinong:  Untersuchungen  zur  Gegenstandstheorie  S.  80. 


Phänomenolog.-Gegenstandstheorie  u.  vorkrit.  Rationalismus.  21 

2)  die  > Empfindungsgegenstände«,  Empfindungsinhalte  wie  >Gelb 
als  Idee  genommen  <,  die  Theorien  vom  >Farbenraume<,  >Tonraume<  ^), 

3)  die  schon  erwähnten  > unmöglichen  Gegenstände <  ^)  (die  zwar 
nicht  bei  Linke,  aber  bei  Husserl  mitgenannt  waren)  ^), 

4)  sogenannte  >ideale  Gegenstände«,  wie  >Gleichheit< ,  >Ver- 
schiedenheit«,  > Zusammenhang <  *),  ebenso  wie  > Eigenschaften  der  so- 
genannten 5- Objektive«,  wie  > Notwendigkeit«,  > Zufälligkeit«,  auch 
>Möglichkeit«  selbst^),  also  ebenfalls  wie  bei  Linke  Begriffe  >kate- 
gorialer  Art«. 

Endlich  hat  auch  Husserl  aus  denselben  Tendenzen  die  for- 
malen Wesensregionen  (also  >kategoriale  Begriffe«)  mit  den  materialen 
Wesensregionen  (also  Wesen  von  Farben  u.  dgl.)  [wenn  auch  mit 
> einiger  Vorsicht«  s.  >Ideen«  S.  21,  besonders  deutlich  aber  S.  32J 
in  >eine  Reihe  gestellt«. 


Gegenüber  dieser  Disparatheit  der  möglichen  Begriffe,  die  in  der 
Phänomenologie  und  in  der  Gegenstandstheorie  als  Gegenstände  der 
Forschung  vereinigt  werden,  zeigt  nun  der  Kantische  Möglichkeits- 
begriff ein  völlig  anderes  Bild. 

Die  >Postulate  des  empirischen  Denkens  überhaupt«,  die  grund- 
legenden Definitionen  der  kritischen  Modalität  lauten  in  der  >  Kritik 
der  reinen  Vernunft«  (B  265): 

>1)  Was  mit  den  formalen  Bedingungen  der  Erfahrung  (der  An- 
schauung und  den  Begriffen  nach)  übereinkommt,  ist  möglich. 

2)  Was  mit  den  materialen  Bedingungen  der  Erfahrung  (der 
Empfindung)  zusammenhängt,  ist  wirklich. 

3)  Dessen  Zusammenhang  mit  dem  Wirklichen  nach  allgemeinen 
Bedingungen  der  Erfahrung   bestimmt  ist,   ist  (existiert)  notwendig.« 

Der  naturalistische  Empirismus  hat  das  Wirkliche  mit  dem  Mög- 
lichen gleichgestellt.  (Seine  These  ist:  Es  gibt  lediglich  Wirkliches, 
nur  die  subjektive  Vermutung,  die  Ungewißheit,  läßt  Wirkliches  als 
möglich  ansehen,  während  es  in  Wahrheit  entweder  bestehend  oder 
nichtbestehend  ist.) 

Der  unkritische  Rationalismus  und,  wie  wir  sahen,  auch  die 
Phänomenologie  und  die  Gegenstandtstheorie  haben  —  in  ihren  Grund- 


1)  Meinong:  Über  die  Stellung  der  Gegenstandstheorie  S.  8—14. 

2)  Ebenda  S.  14—20. 

3)  Husserl:  Log.  Untersuchungen  II.  Band,  1.  Aufl.,  S.  574. 

4)  Meinong:  Untersuchungen  zur  Gegenstandstheorie  S.  5. 

5)  Meinong:  Über  die  Stellung  der  Gegenstandstheorie  S.  25  bis  26. 


22  Phänomenolog.-Gegenstandstheorie  u.  vorkrit.  Rationalismus. 

legungen  —  alle  »daseinsfreien  Gegenstände<  als  das  spezifisch  Mög- 
liche dem  Existierenden  (als  dem  Wirklichen)  entgegengesetzt.  Die 
Methode  dieser  Forschungen  ist  zunächst  nur  eine  reine  Wesens- 
deskription  alles  möglichen  >Soseienden<  (im  Gegensatz  zum  Da- 
seienden). 

>Die  Methode  Kants <  aber  > besteht  in  der  durchgeführten  Tren- 
nung der  Form  vom  Inhalte  des  Erkennens« '). 

Was  ist  nun  das  innere  Ziel  dieser  Kantischen  Methode,  welchen 
inneren  Sinn  hat  der  Kantische  Möglichkeitsbegriff,  die  Bestimmung 
des  Möglichen  durch  die  Formmomente  der  Erfahrung? 

Verfolgen  wir  deshalb  die  modernen  Theorien  bis  in  ihre  weiteren 
Konsequenzen,  und  versuchen  wir,  uns  gerade  an  diesen  Konsequenzen 
die  innere  Bedeutung  des  Kantischen  Möglichkeitsbegriffes  zu  ver- 
deutlichen. 


1)  Riehl:  »Der  philosophische  Kritizismus«  Bd.  I,  2.  Aufl  ,  1908,  S.  583. 


II.  Der  Begriff  der  „inhäsiven  Möglichkeit''  bei  Meinong 
und  sein  Verhältnis  zur  kritischen  Modalität. 

In  seinem  letzten  umfangreichen  Werke:  >Über  Möglichkeit  und 
Wahrscheinlichkeit <  ^)  hat  Meinong  das  ausgeführt,  was  er  schon 
in  früheren  Schriften  gefordert  hatte:  »der  Gegenstand  Möglichkeit< 
(s.  z.  B.  S.  63,  S.  244)  soll  hier  unter  anderen  daseinsfreien  d.  h. 
möglichen  Begriffen  mit  den  Mitteln  der  gegenstandstheoretischen 
Methode  untersucht  werden. 

Die  Methode  der  Gegenstandstheorie  ist  ebenso  wie  die  der 
Husserlschen  Phänomenologie  oder  die  der  > Bedeutungsanalyse« 
A.  Gallingers^)  eine  reine  »Beschreibung«^). 

Versuchen  wir  es  deshalb,  in  dem  Werke  Meinen gs  von  den 
zahlreichen  (oft  mehr  verwirrenden  als  klärenden)  Auseinandersetzungen 
über  Sprachgewohnheiten  abzusehen  (der  »Sprachgebrauch«  wird 
hierbei  selbst  als  »schwankend«  angegeben,  s.  z.  B.  S.  174),  so 
bleibt  das  Ziel  offenbar  dies:  es  soll  das  Wesen  Möglichkeit  in  einer 
reinen  direkten  Wesensschau  seiner  Eigenart  nach  erschaut  und 
charakterisiert  werden,  und  zwar  in  einer  »Beschreibung«,  die  nur 
durch  die  »Beschaffenheit  des  Gegenstandes«  »vorbestimmt«,  nicht 
zum  Zweck  irgendeiner  Theorie  »nachbestimmt«  ist*).  Es  gilt  — 
was  Ga  Hing  er  als  die  Methode  seiner  Bedeutungsanalyse  definiert 
hat  — ,  rein  »die  in  einer  Aussage  mit  dem  Begriffe  gemeinte  und 
durch  ihn  ausgedrückte  Gegenständlichkeit  aufzusuchen,  genau  zu 
umgrenzen   und   damit  zu   erschauen«^).    Mit  diesem  Verfahren  der 


1)  Meinong :  »Über  Möglichkeit  und  Wahrscheinlichkeit,  Beiträge  zur  Gegen- 
standstheorie und  Erkenntnistheorie«  1915. 

2)  A.  Gallinger:  »Das  Problem  der  objektiven  Möglichkeit«  1912. 

3)  Meinong:  »Über  Möglichkeit  und  Wahrscheinlichkeit«  z.  B.  S.  58. 

4)  Ebenda  S.  50  bis  53  und  S.  712. 

5)  Gallinger:  »Das  Problem  der  objektiven  Möglichkeit«  S.  13. 


24  >Inhäsive  Mögllclikeit«  bei  Meinong  und  Kant. 

Bedeutungsaiialyse  hat  Meinong  seine  eigene  gegenstandstheore- 
tische Methode  identifiziert  ^). 

Endlich  ist  Meinong  mit  Gallinger  wie  mit  Husserl  wie 
mit  Pichler  —  wie  übrigens  mit  Kant  —  einig  in  der  Ablehnung 
des  Psychologismus. 

Auch  die  Möglichkeit  will  Meinong  nicht  psychologistisch  als 
ein  > Intrasubjektives«  ^),  sondern  als  ein  objektiv  berechtigtes  > Ver- 
mutungsfreies« ^)  ansehen.  Ebenso  wie  Gallinger  überzeugend 
gegen  Sigwart  polemisiert  hat,  nach  dem  die  Möglichkeit  nur  eine 
»subjektive  Unentschiedenheit«  ausdrückt;  durch  diese  Sigwartsche 
Auffassung  wäre  nämlich  jede  objektive,  logische  Bedeutung 
der  Möglichkeit  aufgehoben,  und  es  wäre  sinnlos,  einen  Urteilsinhalt 
sachlich  auf  seine  Möglichkeit  zu  prüfen,  da  nur  das  individuell  ur- 
teilende Subjekt  über  seinen  Zustand  der  Ungewißheit  entscheiden 
kann,  während  der  Gegenstand  der  Logik  das  objektiv  Gemeinte  ist. 
Und  ohne  Zweifel  ist  unter  der  Möglichkeit  eines  Sachverhaltes  oder 
unter  der  Möglichkeit  eines  Gegenstandes  die  objektive  Bedeutung 
des  Gemeinten  zu  verstehen. 

Innerhalb  seiner  reinen  Beschreibung  prüft  nun  Meinong  der 
Reihe  nach  einige  ältere  Möglichkeitsdefinitionen,  um  sie  aus  ver- 
schiedenen Gründen  zu  verwerfen. 

Die  bis  auf  Aristoteles  zurückgehende  Erklärung,  Möglichkeit 
bedeute  so  viel  wie  > Können«  oder  > Fähigkeit«,  > Disposition«,  scheint 
ihm  bereits  mit  Recht  (u.  a.  von  den  Herbartianern  in  ihrer  Polemik 
gegen  die  >Seelenvermögen«)  als  tautologisch  widerlegt:  Möglichkeit 
heißt  eben  dasselbe  wie  Sosein-Können  ^). 

Für  weit  wichtiger  hält  Meinong  als  Festlegung  der  Möglich- 
keit die  > Negation  des  Nicht-könnens«,  die  Negation  der  Unmöglich- 
keit, die  Möglichkeit  als  Widerspruchslosigkeit.  Diese  Definition  ist 
als  logische  Möglichkeit  dem  Rationalismus  seit  langem  vertraut,  sie 
gehört  >zum  unentbehrlichen  Rüstzeug  apriorischen  Denkens«,  und 
sie  enthält,  wenn  die  Unmöglichkeit  als  Notwendigkeit  des  Nichtseins 
definiert  wird,  keinen  Zirkel.  Aber  Meinong  lehnt  diese  Definition 
ab,  da  sie  wegen  ihres  negativen  Charakters  die  Steigerungsfähigkeit 
des  Möglichen  nicht  mit  einbegreifen  kann;  vor  allem  aber  da  die 
Natur  einer   reinen  > Gegenstandsbeschreibung«,   da  die  > Pflicht  der 


1)  Meinong :  Über  Möglichkeit  und  Wahrscheinlichkeit  S.  47, 

2)  Ebenda  S.  3  ff.,  S.  711. 

3)  Ebenda  S.  53  bis  55. 


>Inliäsive  Möglichkeit«  bei  Meinong  und  Kant.  25 

Achtung  vor  den  Tatsachen  des  gegenständlichen  Gebietes«  durch  die 
Einführung  des  logischen  Möglichkeitsbegriffes  verletzt  würde.  Der 
Gegenstand  Möglichkeit  ist  nämlich  >von  Natur  etwas  Positives«, 
direkt  zu  Erfassendes,  während  die  logische  Widerspruchslosigkeit 
nur  indirekt  erfaßbar  ist  und  sogar  >zwei  Negationen  enthält«  ^). 
Ebensowenig  soll  das  Mögliche  als  das  Vorstellbare  definiert  werden. 
Denn  die  > menschliche  Erfassungsfähigkeit  hat  sowohl  >konstante 
wie  variable«  Schranken,  die  nicht  Schranken  der  Möglichkeit  sind. 
Obwohl  nämlich  z.  B.  die  »geometrischen  Präzisionsgegenstände«  nicht 
> anschaulich  vorgestellt«  werden  können,  so  ist  ihre  Möglichkeit  nicht 
bezweifelbar,  ja  sie  gelten  sogar  für  den  gesamten  philosophischen 
Rationalismus  mit  Recht  als  die  klassischen  Typen  daseinsfreier  d.  h. 
möglicher  Gegenstände  -). 

Als  besonders  auffallend  aber  muß  es  bemerkt  werden,  daß 
auch  die  Definition:  >Möglichkeit  ist  Bestand«  abgelehnt  wird''). 
Bestand  ist  nämlich  nach  Meinong  und  nach  E.  Mally  diejenige 
nicht  weiter  definierbare  Seinsart  der  daseinsfreien  idealen  Gegen- 
stände, die  der  Existenz  als  Seinsart  realer  Gegenstände  gegenüber- 
steht*). Nun  war  nach  den  früheren  Schriften  der  Gegenstandstheorie 
der  daseinsfreie  ideale  Gegenstand  (nach  Husserl  das  Wesen)  sehr 
wohl  als  der  im  eigentlichen  Sinne  mögliche  anzusehen,  —  abgesehen 
davon,  daß  das  Möglichsein  eines  idealen  Gegenstandes  als  die  Fähig- 
keit zu  bestehen  definiert  wurde  ^).  Außerdem  wird  noch  in  der 
Schrift  >Über  Möglichkeit  und  Wahrscheinlichkeit«  erwähnt,  daß  für 
die  typisch  möglichen  Gegenstände,  die  geometrischen  Präzisions- 
gebilde, die  »Möglichkeit«  identisch  ist  mit  dem  »Bestand«  *').  Trotz- 
dem versucht  Meinong,  hier  einen  neuen  Möglichkeitsbegriff  zu 
entwickeln.  Denn  er  glaubt,  auch  die  Möglichkeit  definiert  als  Be- 
stand würde  die  steigerungsfähige  Möglichkeit  nicht  mitumfassen 
können.  Außerdem  aber  müsse  besonders  der  Einsicht,  daß  die 
»Möglichkeit  weniger  sei  als  die  Wirklichkeit«,  mehr  Rechnung  ge- 
tragen werden,  als  dies  durch  die  Definition:  Möglichkeit  gleich  Be- 
stand, geschehen  kann'). 


1)  Meinong:  »Über  Möglichkeit  und  Wahrscheinlichkeit«  S.  56  bis  60. 

2)  Ebenda  S.  71  bis  77  besonders  S.  74. 

3)  Ebenda  S.  61  bis  71. 

4)  Untersuchungen  zur  Gegenstandstheorie  herausgeg.  von  Meinong  S.  5,  129. 

5)  Ebenda  S.  129/30. 

6)  Meinong:  Über  Möglichkeit  u.  Wahrscheinlichkeit  S.  64. 

7)  Ebenda  S.  63  und  66. 


26  >Inhäsive  Möglichkeit«  bei  Meinong  und  Kant. 

Aus  diesen  Gründen  gewinnt  M e i n o n  g  die  vorläufige  Definition: 
Möglichkeit  ist  > herabgesetzte  Wirklichkeit«.  Die  Wirklichkeit  aber 
ist  das  > Maximum  der  Möglichkeit«,  >und  denkt  man  sich  die  Ge- 
samtheit der  Möglichkeitsgrade  auf  einer  geraden  Linie  abgebildet, 
so  muß  in  einer  solchen  Abbildung  die  Wirklichkeit  an  das  eine  Ende 
dieser  Linie  zu  stehen  kommen,  indes  diese  am  anderen  Ende,  gleich 
jeder  Größenlinie,  durch  die  Null  begrenzt  sein  muß«  ^). 

Nur  ein  nächstes  Bedenken  ist  hier  noch  zu  beseitigen:  die 
Möglichkeit  ist  nämlich  nach  Meinong  nicht  eine  Eigenschaft  von 
Objekten,  sondern  von  Objektiven.  Ein  Objektiv  aber  ist  >jenes 
eigentümliche  Gegenstandsartige«,  das  >den  Urteilen  und  Annahmen 
in  ähnlicher  Weise  gegenübersteht  wie  der  eigentliche  Gegenstand 
den  Vorstellungen« ''').  Da  nun  die  Möglichkeit  zunächst  Sache 
der  Objektive  ist,  Wirklichkeit  aber  nur  die  der  Objekte,  so 
folgert  Meinong  daraus:  es  muß  noch  innerhalb  der  bisherigen 
Möglichkeitsdefinition  der  Terminus  »Wirklichkeit«  durch  einen  zu- 
treffenderen ersetzt  werden.  (»Über  Möglichkeit  und  Wahrschein- 
lichkeit« S.  90/91).  [Wir  brauchen  allerdings  diese  Schwierigkeit 
wegen  des  Terminus  Wirklichkeit  nicht  zu  gewichtig  zu  nehmen,  da 
z.  B.  auf  S.  167  und  S.  716  oder  S.  87/88  zugegeben  wird,  daß  auch 
Objekte  »Träger«  von  Möglichkeiten  sein  können.]  Meinong 
findet  nun  statt  der  Wirklichkeit  als  den  gesuchten  einwurfsfreieren 
Ausdruck  den  lediglich  für  Objektive  geeigneten  Begriff  der  »Tat- 
sächlichkeit«. 

Die  Möglichkeitslinie,  die  Meinong  aufstellen  will, 
läuft  darnach  von  der  Untatsächlichkeit  über  alle  Grade 
der  Möglichkeit  bis  zur  Tatsächlichkeit. 

Von  dieser  Möglichkeitslinie  lassen  sich  aber  nach  dem  Vorher- 
gehenden folgende  zwei  Gesetze  erläutern:  Erstens:  das  sogenannte 
»Komplementengesetz«,  »das  Gesetz  der  Koinzidenz  komplementärer 
Möglichkeiten«,  welches  aussagt:  jedem  Möglichkeitsgrad  eines  Ob- 
jektives entspricht  notwendig  ein  mit  ihm  koinzidierender  seiner  Höhe 
nach  bestimmter  Möglichkeitsgrad  des  Gegenteiles.  Kommt  dem 
Objektiv,  »daß  AB  ist«,  ein  hoher  Möglichkeitsgrad  zu,  so  seinem 
Gegenteil,  »daß  A  nicht  B  ist«,  notwendig  eine  niedrige  Möglichkeit; 
genauer:   ist  ein  Objektiv  ^/s  möglich,   so  sein   Gegenteil  Vs,   ist  es 


1)  Meinong :  Über  Möglichkeit  u.  Wahrscheinlichkeit  S.  90. 

2)  Meinong:  Untersuchungen  zur   Gegenstandstheorie  S.  6   und   Ȇber  An- 
nahmen«, 1902  Kap.  VII. 


>Inhäsive  Möglichkeit«   bei  Meinong  und  Kant.  27 

%  möglich,   so  das  Gegenteil  V4.     D.  h.    die  Größen   der  koinzidie- 
renden  gegenteiligen  Möglichkeiten  ergänzen  sich  gegenseitig  zu  1. 

In  graphischer  Darstellung  hat  Meinong  die  Beziehungen  dieser 
>Gegenraöglichkeiten<  zueinander  folgendermaßen  illustriert: 

T  M  UT 


UT  M  T 


Von  diesen  beiden  Parallelen  soll  die  eine  >  sozusagen  eine  un- 
abhängige Möglichkeitslinie <  darstellen,  >die  andere  insofern  eine 
abhängige,  als  sie  die  zu  den  Gegenteilen  der  in  der  ersten  Linie 
enthaltenen  Möglichkeiten  gehörigen  Möglichkeiten  zusammenfaßt«. 
Die  obere  Linie  ist  durch  Pluszeichen,  die  untere  durch  Minuszeichen 
kenntlich  gemacht.  T  bedeutet  Tatsächlichkeit,  UT  Untatsächlichkeit, 
M  Möglichkeit.  Das  Verhältnis  der  unteren  zur  oberen  Linie  ist 
dadurch  bestimmt,  daß  vertikal  unter  jedem  Punkte  der  oberen  Linie 
derjenige  Punkt  angenommen  wird,  der  in  der  unteren  Linie  jener 
Möglichkeit  des  Gegenteils  zugeordnet  ist,  die  mit  der  dem  Punkte 
der  oberen  Linie  zugeordneten  Möglichkeit  im  Sinne  des  >  Komple- 
mentsgesetzes« koinzidiert  ^). 

Zweitens  läßt  sich  noch  in  bezug  auf  die  Möglichkeitslinie  das 
sogenannte  »Gesetz  des  Potius<  feststellen,  welches  besagt,  daß  die 
größere  Möglichkeit  (von  etwa  Va)  stets  die  kleinere  (von  etwa  V») 
mitenthält  wie  das  Ganze  den  Teil.  Also  > impliziert  auch  die  Tat- 
sächlichkeit die  Möglichkeit«.  Alles  >was  tatsächlich  ...  —  man  sagt 
gewöhnlich  wirklich  —  ist,  ...  ist  auch  möglich«  ^). 

An  der  bis  dahin  erprobten  Bestimmung :  »Möglichkeit  ist  herab- 
gesetzte Tatsächlichkeit«,  hat  Meinong  nur  noch  eine  nähere 
Differenzierung  vorgenommen.  Es  gibt  nämlich,  wie  er  ausführt,  zwei 
Arten  von  Tatsächlichkeit.  >Daß  jetzt,  wie  ich  sehe,  die  Sonne  scheint, 
daß  Julius  Cäsar,  wie  ich  in  der  Schule  gelernt  habe,  gelebt  hat  und 
ermordet  worden  ist,  ...  das  und  vieles  andere  sind  Objektive,  deren 
Tatsächlichkeit  unter  den  gegebenen  Voraussetzungen  mit  ihrer  Be- 
schaffenheit kaum  in  innigere  Beziehung  gebracht  werden  kann«  ^). 
Es  sind  lediglich  als  tatsächlich  erfaßbare  Tatsachen.  Demgegenüber 
aber  gibt  es  »eigentlich  notwendige  und  quasi-notwendige  Objektive« 


1)  s.  Meinong :  Über  MöglicLkeit  und  Wahrscheinlichkeit  S.  93—97. 

2)  Ebenda  S.  97  und  99. 

3)  Ebenda  S.  142. 


28  >Inhäsive  Möglichkeit  <   bei  Meinong  und  Kant 

(d.  h.  rein  a  priori-  und  naturgesetzlich-notwendige),  die  >zwar  um 
nichts  tatsächlicher  sind  als  die  eben  angeführten  <  rein  tatsächlichen 
Objektive;  >aber  die  Tatsächlichkeit  gehört  gleichsam  zu  ihnen«, 
>sie  ist  in  besonderer  "Weise  an  ihre  Beschaffenheit  geknüjjftc,  sie 
>tritt  nicht  nur  von  außen  an  sie  heran<,  sie  >hängt  ihnen  an<,  >so 
daß  es  einen  guten  Sinn  hat,  hier  von  i  n  h  ä  s  i  v  e  r  Tatsächlichkeit  zu 
reden  < '). 

Dieses  Moment  der  Inhäsivität  gehört  nun  zum  Begriffe  der 
Möglichkeit  ^>  Ja  —  wir  müssen  hier  einschalten  —  die  Inhäsivität 
Ist  in  "Wahrheit  nur  das  Moment  des  Afjriori  Coder  auch  der  Mei- 
nongschen  Quasinotwendigkeit;,  sie  weist  nur  auf  die  >Einsicht 
in  das  ,,warum"<,  welche  Einsicht,  welches  Apriori  eben  schon 
bei  der  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie  für  alle  gegenstands- 
theoretischen Objekte  vorausgesetzt  war. 

Das  Resultat  der  Meinongschen  Ausführungen  —  das  Er- 
gebnis des  Kapitels  über  >das  Wesen  der  Möglichkeit<  — 
lautet  darum:  Möglichkeit  ist  inhäsive,  herabgesetzte 
Tatsächlichkeit,  ist    >inhäsive  Untertatsächlichkeit<  ^;. 


Prüfen  wir  nun  den  Sinn  dieser  Meinongschen  Analysen,  so 
ist  vor  allem  klar,  daß  mit  der  Bestimmung  der  Möglichkeit  als 
herabgesetzter  Tatsächlichkeit  ein  Grundzug  der  gegenstandstheoreti- 
schen Ausgangsfeststellungen  stark  umgewandelt  ist.  Denn  die  ent- 
scheidende und  tiefe  Grundeinsicht,  daß  zwischen  Wesen  und  Tat- 
sache, zwischen  rein  Möghchem  und  nur  Seiendem,  kein  Übergang, 
sondern  zunächst  ein  voller  Wesensunterschied  besteht, 
diese  Grundeinsicht  des  Rationalismus  scheint  hier  verschoben. 

Die  >  bloße  I  Möglichkeit  soll  hier  ein  niedrigerer  Grad  von 
>Seinshö'he<  sein,  der  höchste  Grad  der  Seinshöhe  aber,  die  Tatsäch- 
lichkeit, soll  auch  das  Dasein  in  sich  begreifen*;.  Dagegen  hatte 
auch  Meinong  früher  erkannt,  daß  z.B.  die  Seinsart  der  mathe- 
matischen Objekte  eine  Form  von  Möglichkeit  darstellt,  die  jedes  Sein 
als  Existenz  oder  als  bloße  Tatsache  ausschließt^;. 

Auch  in  seiner  höchsten  Steigening  würde  das  spezifisch-einsichtig- 
>Mögliche<    einer  geometrischen  Figur   keine  Tatsache,   keine  Wirk- 


1)  Meinong:  Über  Möglichkeit  und  Wahrscheinlichkeit  S.  142/143. 

2)  Ebenda  S.  143/144. 

3;  Ebenda  S.  147  und  151. 

4)  Ebenda  S.  20C. 

b)  Ebenda  S.  04  und  >Uber  die  Stellung  der  GegenstandÄtheorie«  S.  31,  32. 


>Inhä8ive  Möglichkeit«   bei  Meinong  und  Kant.  29 

lichkeit,  darstellen.  Geometrische  Präzisionsfiguren  können  niemals 
sinnlich-anschaulich  als  Tatsachen  gegeben  sein^).  Und  umgekehrt 
kann  auch  aus  dem  Wirklichkeitscharakter  eines  Objektes  niemals 
durch  > Herabsetzung«  der  Seinshöhe  der  spezifisch  andersartige 
Charakter  der  > Daseinsfreiheit«,  der  Charakter  der  einsichtigen  Mög- 
lichkeit, abgeleitet  werden. 

Was  einem  Objekt  den  Charakter  des  mathematisch-Möglichen, 
des  Begreifbaren,  gibt,  stammt  aus  einer  völlig  anderen  Quelle  als 
das  Moment  der  Existenz  oder  des  Tatsächlichen.  Daher  war  es 
eben,  wie  wir  in  der  historischen  Einleitung  sahen,  das  Ziel  des 
Rationalismus,  die  Beziehungen  zwischen  dem  nur  Möglichen  und 
dem  nur  Tatsächlichen  trotz  der  Einsicht  in  ihre  Wesensverschieden- 
heit  zu  klären. 

Wenn  Meinong  dennoch  die  Tatsächlichkeit  (also  auch  das 
Dasein)  und  die  Möglichkeit  als  verschiedene  Grade  der  Seinshöhe 
ineinander  übergehen  läßt,  so  kann  er  damit  otfenbar  dem 
Möglichen,  insofern  es  ein  A  priori  ausdrückt,  dem  Möglichen  als 
Wesensgehalt,  nicht  gerecht  werden,  ja  die  gegenstandstheoretische 
Grundüberzeugung,  die  Wesensunterscheidung  zwischen  dem  A  priori 
und  dem  A  posteriori,  ist  damit  verdunkelt. 

In  dem  zweiten  Kapitel  seines  Werkes  über  >die  Träger  der 
Möglichkeit«  betrachtet  Meinong  im  wesentlichen  nur  die  unbe- 
stimmten Gegenstände  als  Träger  von  Möglichkeiten,  während  alle 
vollständig  bestimmten  Objekte  oder  Objektive  entweder  tatsächliches 
Sein  oder  tatsächliches  Nichtsein  haben  ^). 

Dieser  > natürliche  Vorzug«,  die  > beherrschende  Stellung  der 
Tatsächlichkeit«  wird  von  Meinong  so  oft  betont^),  daß  er 
damit  das  Moment  des  »in  sich  Einsichtigen«,  der  Inhäsivität,  das 
inhäsiv  Mögliche  »innerhalb«  des  Tatsächlichen  fast  als 
nebensächlich  erscheinen  läßt*). 

Insofern  jedoch  Meinong  erkenntnistheoretisch  denkt,  insofern 
die  Gegenstandstheorie  ihrer  Grundlegung  nach  das  A  priori  von  der 
Einsicht  in  das  nackte  »daß«  unterscheiden  muß,  insofern  muß  zwei- 
fellos gerade  die  Beziehung  zwischen  dem  a  priori  Möglichen  und 
dem  Tatsächlichen   als   ein  Haup  tproblem   anerkannt  werden. 


1)  Meinong :  Über  Möglichkeit  und  Wahrscheinlichkeit  S.  74. 

2)  Ebenda  S.  218,  219,  226. 

3)  Ebenda  z.  B.  S.  148/149. 

4)  Ebenda  S.  150. 


30  >Inhäsive  Möglichkeit«  bei  Meinong  und  Kant 

Es  kann  zwischen  der  Möglichkeit  und  der  Tatsäch- 
lichkeit nicht  ein  einfaches  >Verwandtschaftsverhält- 
nis<  bestehen,  wie  Meinong  S.  119  behauptet.  Die  Be- 
ziehungen zwischen  dem  a  priori  Möglichen  und  dem 
>nur<-TatsäcKlichen,  die  Probleme  dieser  Beziehungen, 
die  allen  Einzelwissenschaften  voraufgehen,  müssen 
tiefer  gesucht  werden. 

Kann  nun  die  Meinong  sehe  Beschreibung  der  Inhäsivität  der 
Lösung  dieser  Probleme  näher  führen? 

Welche  Bedeutung  hat  die  Inhäsivität  für  das  Wesen  der  Mög- 
lichkeit? 

Eine  inhäsive  Möglichkeit  liegt  nach  Meinong  überall  da  vor, 
wo  auf  eine  rein  a  priorische  Notwendigkeit  oder  auf  eine  quasi- 
notwendige, d.  h.  auf  empirische  Gesetzmäßigkeit  innerhalb  des  Mög- 
lichen Bezug  genommen  wird '). 

Durch  die  Notwendigkeit  wird  > sozusagen  der  paradigmatische 
Fall  für  alle  Inhäsivität  dargestellt  <  -). 

Meinong  glaubt  allerdings  an  anderen  Stellen^),  daß  es  auch 
eine  inhäsive  >Unnotwendigkeit<  gibt,  und  er  führt  hierfür  als  Beispiel 
an,  daß  auf  Grund  ausreichender  Erfahrung  an  einem  dem  Beob- 
achter nahestehenden  Menschen  der  Beobachter  es  als  sicher,  wenn 
auch  nicht  als  notwendig  wissen  kann,  daß  der  Beobachtete  auf  die 
Lage  X  durch  den  Entschluß  y  reagieren  wird.  Diesem  Beispiele 
entgegen  ist  natürlich  zu  bemerken,  wie  schon  Meinong  angedeutet 
hat,  daß  es  sich  auch  bei  diesem  Sicherwissen  nur  um  Notwendiges, 
> empirisch-Gesetzmäßiges«,  handeln  kann. 

Es  bleiben  also  als  die  Kennzeichen  des  Inhäsiven  nur  das 
rein-a  priori-Notwendige  und  das  Quasinotwendige,  das  >auf  das 
Walten  von  Naturgesetzen  zurückgeht«  ^). 

Da  nun  nach  der  Definition  Meinen gs  jede  Möglichkeit 
inhäsiv  ist^),  so  muß  also  das  erwähnte  Moment  des  Notwen- 
digen im  Möglichen  stets  vorhanden  sein,  wie  dies  etwa  an 
dem  Begriff  der  Unmöglichkeit  besonders  deutlich  ist:  das  Unmög- 
liche > erscheint  sprachgebräuchlich«  als  ein  notwendig  nicht-Mög- 
liches.    Wie   aber  ist  jenes   stets   vorhandene   Moment 


1)  Meinong:  Über  Möglichkeit  und  Wahrscheinlichkeit  S.  142,  115,  116. 

2)  Ebenda  S.  234. 

3)  Ebenda  S.  142,  145. 

4)  Ebenda  S.  714. 

5)  Ebenda  S.  143/144. 


>Inhäsive  Möglichkeit«   bei  Meinong  und  Kant.  31 

des  Not  wendigen  im  Möglichen  näher  zu  charakteri- 
sieren? 

Hier  zeigt  sich  gerade  die  entscheidende  und  die 
—  ob  gewollt  oder  ungewollt  —  schwerste  Schranke 
aller  gegenstandstheoretischen  Methode. 

Obwohl  nämlich  die  Gegenstandstheorie  daran  fest- 
hält, daß  das  Notwendige  etwas  >Unsubjektives«  ist^), 
nicht  das,  >was  man  zu  glauben  genötigt  ist,  indes  man 
sein  Gegenteil  nicht  zu  glauben  vermag«-),  so  muß  Mei- 
nong  dauernd  zugeben,  daß  die  Notwendigkeit  >zurZeit 
nur  durch  Hinweis  auf  ein  Erlebnismoraent,  das  Ver- 
stehen, charakterisierbar«  bleibt^). 

In  Hinsicht  auf  die  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie  hatte 
R.  Amseder^)  bemerkt:  > Jeder  Gegenstand  steht  zu  einer  Menge 
anderer  in  Relationen;  dadurch  daß  eine  dieser  Relationen  das  Er- 
faßtsein seitens  eines  Subjektes  ist,  wird  er  zum  Erfaßten,  aber  nicht 
erst  zum  Gegenstand«.  >Die  erwähnte  Relation  ist  .  .  .  nicht  nur  nicht 
im  Gedanken  des  Gegenstandes  enthalten,  sie  gehört  auch  gar  nicht 
zum  Wesen  desselben«.  >Der  Gegenstand  als  solcher  muß  also  un- 
abhängig von  dieser  Relation  bestimmbar  sein«. 

In  bezug  auf  die  Notwendigkeit  aber  muß  Meinong  stets  zu- 
gestehen, daß  > gegen  eine  Charakteristik  der  Gegenstände  durch  die 
ihrem  Erfassen  dienenden  Erlebnisse  nichts  einzuwenden«  ^)  ist.  >Und 
die  Notwendigkeit  ist  sicher  nicht  der  einzige  Fall,  wo  die  Bearbei- 
tung letzter  gegenstandstheoretischer  Tatsachen  auf  eine  derartige 
Charakteristik  hindrängt«  ^). 

Ja,  noch  weitergehe^nd  muß  Meinong  geradezu  ein- 
räumen: >Warum  der  Gedanke  der  Inhäsivität  sich  ge- 
rade an  die  eine  Betrachtungsweise,  die  zum  Möglich- 
keitsbegriff geführt  hat,  gleichsam  mit  besonderer 
Vorliebe  angeschlossen  zu  haben  scheint,  dafür  fehlt 
mir  zur  Zeit  ein  befriedigender  Aufschluß«^). 


1)  Meinong,  Über  Möglichkeit  und  Wahrscheinlichkeit  S.  716. 

2)  Ebenda  S.  233. 

3)  Ebenda  S.  716,  auch  S.  237,  141. 

4)  Untersuchungen  zur  üegenstandstheorie,  herausgeg.  von  Meinong,  II.  Auf- 
satz :   »Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie«  von  R.  Amseder  S.  54. 

5)  Meinong:  »Über  Möglichkeit  und  Wahrscheinlichkeit«  S.  237. 

6)  Ebenda  S.  237  auch  244. 

7)  Ebenda  S.  150  (im  Original  nicht  gesperrt  gedruckt). 


32  >Iiihäsive  Möglichkeit«   bei  Meinong  und  Kant. 

Dieser  Aufschluß  ist  aber  bereits  von  der  >Kritik 
der  reinen  Vernunft«  erstrebt  und  gegeben  worden. 

>Der  Mangel  der  gegenstandstheoretischen  Betrachtungsweise«  ^) 
zeigt  sich  darin,  daß  sie  gerade  vor  den  sachlich  wichtigsten  Proble- 
men, vor  den  Fragen  nach  der  Inhäsivität,  vor  dem  notwendig  Mög- 
lichen in  seiner  Beziehung  zum  Tatsächlichen,  vor  den  Fragen  nach 
der  Möglichkeit  der  Naturgesetze,  versagen  mußte. 

Die  Gegenstandstheorie  sowohl  wie  die  Phänomenologie  (s.  Linke) 
betrachteten,  wie  wir  bereits  erwähnt  haben,  die  verschieden- 
artigsten Begriffe  als  gleichberechtigte  Gebiete  des  Möglichen 
nebeneinander:  die  Objekte  der  Mathematik  und  die 
Begriffe  >katego rialer  Art<  neben  den  >in  Idee  ge- 
setzten«'^) Empfindungsdaten,  den  Farben,  Tönen,  d.h. 
neben  den  nur  untertatsächlichen,  unvollständig  bestimmten  empiri- 
schen Begriffen.  Kant  aber  erkannte,  daß  vor  allem  anderen  Mög- 
lichen die  Gegenstände  der  Mathematik  (die  Bestimmungen 
des  reinen  Baumes  und  der  reinen  Zeit)  und  die  Begriffe  >kate- 
gorialer  Art«  ausgezeichnet  sind,  daß  sie  allein  das  rein 
a  priori-,  das  notwendig-Mögliche  enthalten,  das  aus  keiner 
Wirklichkeit  >in  Idee  gesetzt«  werden  kann. 

Dieses  oberste  Mögliche,  das  rein  a  priori-Notwendige,  ist 
nach  Kant  mit  dem  bloß  Tatsächlichen  dadurch  notwendig 
verbunden,  daß  es  die  notwendige  Form  aller  Erkenntnis 
ist,  während  der  bloße  Empfindungsinhalt,  das  Wirkliche,  das  Tat- 
sächliche, die  Materie  der  Erfahrung  bildet.  So  ist  also  das 
Problem  der  inhäsiven,  der  notwendigen  Tatsächlichkeit  oder  der 
inhäsiven  Untertatsächlichkeit  gerade  durch  die  Kantischen  Analysen 
tiefer  aufgerollt  worden. 

Die  inhäsive  Untertatsächlichkeit  enthält  dasselbe 
Problem  wie  die  synthetischen  Urteile  a  priori. 

Es  handelt  sich  bei  Kant  wie  bei  Meinong  um  dieselbe  Frage: 
was  bedeutet  >synthetisch«  (d.  h.  auf  Anschauung,  auf  Tat- 
sachen bezogen)  —  »und  doch  a  priori«^),  untertatsächlich 
—  und  doch  inhäsiv? 

Aber  gerade  diese   grundlegende  erkenntnistheoretische 


1)  s.  Meinong :  Über  Möglichkeit  und  Wahrscheinlichkeit  S.  237. 

2)  s.  Husserl:  Ideen  zu  einer  reinen  Phänomenologie  S.  10. 

3)  Kant:    Brief  an   Reinhold  vom   19.  Mai  1789   in   »Kants  Briefwechsel«, 
Akademieausgabe  Band  II,  ö.  41. 


>Inliäsive  Möglichkeit«  bei  Meinong  und  Kant,  33 

Frage  hat  Meinong  bereits  an  dem  Punkte  fallen  gelassen,  an  dem 
Kant  sie  aufgenommen  hat. 

Die  geometrischen  Präzisionsgebilde  z.B.  sind  nach  Meinong 
unvollständig  bestimmte  Gegenstände  (sie  müssen  als  nicht  existie- 
rend nach  Farbe,  nach  materieller  Beschaffenheit  und  sonstigen  Merk- 
malen unbestimmt  sein);  es  kommt  ihnen  daher  als  unvollständig 
bestimmten,  aber  > durch  sich  evidenten«  Gegenständen  die  inhäsive 
Untertatsächlichkeit  zu  ^),  d.  h.  sie  sind  zunächst  nur  notwendig-mög- 
lich und  sollen  trotzdem  für  die  Wirklichkeit  Geltung  haben.  Mei- 
nong aber  kann  über  dieses  Problem  der  Anwendbarkeit  der  Geo- 
metrie keinen  > Aufschluß«  geben. 

Kant  dagegen  hat  diese  > Möglichkeit  der  Mathematik«  als  ein 
Hauptproblem  zu  beantworten  gesucht.  Durch  die  fünf  Argumente 
der  > transzendentalen  Aesthetik«  wird  gezeigt,  daß  der  Raum  (wie 
entsprechend  die  Zeit)  nicht  von  der  Materie  der  Erscheinungen,  von 
dem  bloß  Tatsächlichen,  abstrahiert  sein  kann,  sondern  daß  er  als 
eine  notwendige  Form  der  Anschauung  allen  räumlichen  Erscheinungen 
zugrunde  liegen  muß,  daß  daher  seine  Bestimmungen,  die  Bestim- 
mungen der  Geometrie,  allem  Räumlichen  als  notwendig-möglich  zu- 
kommen müssen.  >Die  Sinnlichkeit,  deren  Form  die  Geometrie  zum 
Grunde  legt,  ist  das,  worauf  die  Möglichkeit  äußerer  Erscheinungen 
beruht;  diese  also  können  niemals  etwas  anderes  enthalten,  als  was 
die  Geometrie  ihnen  vorschreibt«  ^).  Nur  so  konnte  also  die  not- 
wendige Möglichkeit  der  > geometrischen  Gegenstände«  und  zugleich 
ihre  Geltung  für  alles  tatsächlich  Räumliche  dargetan  werden. 

Und  analog  sind  auch  in  der  transzendentalen  Analytik  die  kate- 
gorialen  Grundbegriife  als  notwendig-mögliche  Formen  des  Tatsäch- 
lichen aufgezeigt  und  ihre  Gültigkeit  für  das  Erfahrene  aus  der  not- 
wendigen Einheit  der  Erfahrung  erklärt  worden.  Die  Kategorien 
sind  nämlich  Einheitsbegriffe.  >Der  reine  Verstand  ist  .  .  .  in  den 
Kategorien  das  Gesetz  der  synthetischen  Einheit  aller  Erscheinungen«^), 
die  Kategorie  der  Substantialität  bedeutet  die  Einheit  von  Eigen- 
schaften und  Ding,  die  Kategorie  der  Kausalität  die  Einheit  von 
Ursache  und  Wirkung.  Die  ursprüngliche  Einheit  aber,  die  >in  der 
Kategorie   enthalten   ist«  ^),   ist   die  transzendentale  Einheit  der  Ap- 


1)  Meinong :  Über  Möglichkeit  und  Wahrscheinlichkeit  §  29. 

2)  Kants  Werke,  Akademieausgahe  Bd.  IV,  S,  287. 

3)  Kant:  »Kritik  der  reinen  Vernunft«  A.  S.  128. 

4)  Ebenda  B.  S.  162. 

Kantstudien,    Ergänzungsheft  51.  3 


34  >Inliäsive  Möglichkeit«  bei  Meinong  und  Kant. 

perzeption.  Diese  ursprüngliche  Einheit  der  Apperzeption  ist  >das: 
Ich  denke,  das  >alle  meine  Vorstellungen«  >muß  .  . .  begleiten  können«. 
»Denn  die  mannigfaltigen  Vorstellungen,  die  in  einer  gewissen  An- 
schauung gegeben  werden,  würden  nicht  insgesamt  meine  Vorstel- 
lungen sein,  wenn  sie  nicht  insgesamt  zu  einem  Selbstbewußtsein 
gehörten«  ^).  > Sonst  würde  ich  ein  so  vielfarbiges,  verschiedenes  Selbst 
haben,  als  ich  Vorstellungen  habe«  ^).  Damit  also,  daß  die  transzen- 
dentale Einheit  der  Apperzeption,  das  >Ich  denke«,  die  notwendige 
Form  aller  Tatsachenerkenntnis  bildet,  damit  ist  auch  die  Kategorie, 
die  begrifflich  nur  dieses  transzendentale  Einheitsmoment  enthält, 
als  notwendige  Form  der  Erkenntnis  des  Tatsächlichen  aufgezeigt. 
Wenn  ich  z.  B.  >das  Gefrieren  des  Wassers  wahrnehme,  so  appre- 
hendiere  ich  zwei  Zustände  (der  Flüssigkeit  und  Festigkeit)  als  solche, 
die  in  einer  Relation  der  Zeit  gegeneinander  stehen.  Aber  in  der 
Zeit,  die  ich  der  Erscheinung  als  innere  Anschauung  zum  Grunde 
lege,  stelle  ich  mir  notwendig  synthetische  Einheit  des  Mannig- 
faltigen vor,  ohne  die  jene  Relation  nicht  in  einer  Anschauung  be- 
stimmt (in  Ansehung  der  Zeitfolge)  gegeben  werden  könnte. 
Nun  ist  aber  diese  synthetische  Einheit  als  Bedingung  a  priori,  unter 
der  ich  das  Mannigfaltige  einer  Anschauung  überhaupt  ver- 
binde, wenn  ich  von  der  beständigen  Form  meiner  inneren  An- 
schauung, der  Zeit,  abstrahiere,  die  Kategorie  der  Ursache,  durch 
welche  ich,  wenn  ich  sie  auf  meine  Sinnlichkeit  anwende,  alles, 
was  geschieht,  in  der  Zeit  überhaupt  seiner  Relation 
nach  bestimme.  Also  steht  die  Apprehension  in  einer  solchen 
Begebenheit,  mithin  diese  selbst  der  möglichen  Wahrnehmung  nach 
unter  dem  Begriffe  des  Verhältnisses  der  Wirkungen  und 
Ursachen;  und  so  in  allen  anderen  Fällen«^). 

Soviele  Fragen  nun  auch  durch  die  > Kritik  der  reinen  Vernunft« 
offen  geblieben  sind,  so  sehr  das  Verhältnis  zwischen  Kategorien  und 
Einheit  der  Apperzeption,  so  sehr  das  kategoriale  Moment  selbst  und 
alle  Kantischen  Kategorien  neuer  und  schärferer  Bestimmungen  be- 
dürfen^), so  wenig  überhaupt  in  dieser  Arbeit  Kantorthodoxie 
vertreten  werden  soll,  so  wenig  scheint  mir  doch  der  Grund- 
gedanke  in  Kants   transzendentalen  Deduktionen  durch  gegenstands- 


1)  Kaut:  »Kritik  der  reinen  Vernunft«  S.  132. 

2)  Ebenda  S.  134. 

3)  Ebenda  B.  S.  162/168. 

4)  Vgl.  hierzu  Riehl:    »Der  philosophisclie  Kritizismus«    Band  I,   2.  Aufl., 
S.  492,  516  und  überhaupt  den  gesaraten  Neukantianismus. 


>Inhäsive  Möglichkeit«  bei  Meinong  und  Kant.  35 

theoretische  Untersuchungen  entbehrlich  gemacht  zu  sein,  ja  die 
Gegenstandstheorie  mußte  geradezu  —  mit  ihrer  Frage  nach  der 
Inhäsivität  —  auf  den  Kantischen  Gedanken  hinleiten'). 

So  kann  auch  das  mathematische  Naturgesetz  und  seine  Inhäsi- 
vität erst  in  der  Transzendentalphilosophie  seine  tiefere  >  Gegen- 
standsbeschreibung« und  Begründung  landen.  Da  nämlich  (nach  der 
transzendentalen  Ästhetik)  der  Raum  und  die  Zeit  (als  notwendige 
Formen  des  Erfahrbaren)  und  durch  Raum  und  Zeit  die  Mathematik 
den  realen  Erscheinungen  gültige  Gesetze  vorschreibt,  ebenso  wie 
nach  der  Analytik  die  Kategorie  der  Kausalität,  so  muß  auch  jede 
mathematische  Folge,  die  durch  die  mathematischen  Bestimmtheiten 
bedingt  ist,  als  Wirkung  notwendig  gesetzt  sein.  Wenn  also  die 
Geschwindigkeit  des  fallenden  Steins  am  Ende  der  ersten  Sekunde 
g  beträgt,  so  muß  notwendig  bei  Fortdauer  derselben  gleichmäßig 
beschleunigenden  Kraft,   der  Schwere,   der  durchmessene  Raum  nach 

t  Sekunden  ^— —  betragen ,   d.  h.   da  Mathematik  und  Kausalität   von 

den  Erscheinungen  gelten  müssen,  so  muß  auch  die  mathematisch 
errechenbare  Folge  einer  mathematisch  bestimmbaren  Ursache  not- 
wendig als  Wirkung  tatsächlich  sein. 

In  diesem  Sinne  ist  nach  Kant  die  notwendige  Möglichkeit 
und  zugleich  die  objektive  Gültigkeit  der  mathematischen  Natur- 
gesetze, z.  B.  die  Gültigkeit  des  von  Meinong  öfter  erwähnten 
Fallgesetzes,  aufzeigbar.  Auch  bei  Meinong  spielten  nun,  wie  wir 
gesehen  haben,  die  Naturgesetze  und  ihre  > quasinotwendige  Möglich- 
keit« eine  wichtige  Rolle.  Gerade  sie  drängten  ja  für  die  Definition 
der  Möglichkeit  zu  der  Einführung  des  Begriffes  der  Inhäsivität^). 
Die  Naturgesetze  müssen  nach  Meinong  typisch  »unvollständig  be- 
stimmte Gegenstände«  sein;  denn  sie  enthalten  nur  die  wesentlichen, 
nicht  alle  Bestimmungen  eines  objektiv  gültigen  Sachverhaltes.  Sie 
sind  also  > nurmöglich«  und   >in  sich  einsichtig«,   wenn  auch  objektiv 

1)  Vgl.  hierzu  den  Aufsatz  N.  Hartmann 's :  »Die  Frage  der  Beweisbarkeit 
des  Kausalgesetzes  mit  Beziehung  auf  A.  Meinong,  Zum  Erweise  des  allgemeinen 
Kausalgesetzes,  in  Sitzungsberichte  der  Wiener  Akademie  der  Wissenschaften 
Bd.  189/4«,  1919,  Kantstudien  Bd.  XXIV,  Heft  3.  Die  hier  von  Hartmann  aus- 
führlich besprochene  1918  erschienene  kleine  Schrift  Meinong's  konnte  leider  für 
die  vorliegende  seit  längerem  abgeschlossene  Arbeit  nicht  berücksichtigt  werden. 
Auch  Hartmann  kommt  —  in  ganz  anderen  als  den  hier  durchgeführten  Zusammen- 
hängen —  zu  dem  Resultat,  daß  diese  neuste  Schrift  Meinong's  durch  transzen- 
■dentalphilosophische  Gedanken  zu  ergänzen  sei. 

2)  Meinong  :  »Über  Möglichkeit  u.  Wahrscheinlichkeit«  z.  B.  S.  143,  237,  238. 

3* 


36  > Invasive  Möglichkeit«  bei  Meinong  und  Kant. 

gültig.  Ihre  Möglichkeit  war  daher  als  >inhäsiveUntertatsächlich- 
keit«  charakterisiert. 

Wie  aber  die  Untertatsächlichkeit  mit  der  Inhä- 
sivität  zusammen  bestehen  kann,  warum  der  Gedanke  der 
Inhäsivität  sich  j gleichsam  mit  besonderer  Vorliebe«  an  den  Möglich- 
keitsbegriff >angeschlossen«  hat,  auf  diese  Frage  konnte  die  Gegen- 
standstheorie nach  ihrem  eigenen  Zugeständnis^)  —  trotz  anderer 
Verdienste  —  keine  Antwort  geben. 

Kant  aber  hat  dieses  Grundproblem  dadurch  bewältigt,  daß  er 
mit  allem  sonstigen  Rationalismus  brach,  daß  er  in  seinem  > Postulat« 
aus  dem  weiten  Bereich  des  rationalistisch-Möglichen  nur  die  reinen 
Formen  der  Erkenntnis  als  das  oberste  > Ermöglichende«  in  den  Vor- 
dergrund stellte.  Diese  Formen  aber,  die  reinen  Anschauungen  und 
Begriffe  (und  durch  sie  das  mathematische  Naturgesetz)  sind  in  der 
> Kritik  der  reinen  Vernunft«  deduziert  worden  als  notwendig-möglich 
und  zugleich  als  für  das  Tatsächliche  mit  Recht  geltend. 

Die  Einheitsformen  der  Erfahrung  (und  ihr  ^höchster  Punkt« : 
die  transzendentale  Einheit  der  Apperzeption)  bedeuten  demnach  den 
systembildenden  Faktor  innerhalb  der  Kantischen  Erkenntnistheorie. 
Meinong  hatte  das  Moment  der  Inhäsivität  in  seinem  Möglich- 
keitsbegriff nicht  erklären  können.  Er  hatte  deshalb  zur  Erklärung 
zu  einem  subjektiven,  nicht  gegenständlich  begründeten  Moment 
greifen  müssen,  >dem  Erlebnis  des  Verstehens«,  >der  Evidenz«. 

In  einer  Verteidigung  seiner  Evidenzlehre  hat  sich  deshalb 
Meinong  auch  mit  Kant  auseinandersetzen  wollen,  wenigstens  in- 
sofern moderne  Theorien  des  > Systemgedankens«  sich  auf  Kant  zu- 
rückbeziehen ^).  Und  Meinong  versucht  hier,  >kurz«  zu  zeigen, 
inwiefern  seine  Evidenzlehre  (in  ihrer  Bedeutung  für  das  Problem 
der  Erkenntnis)  durch  den  objektiveren  Gedanken  der  > Zugehörigkeit 
zu  einem  System«  nicht  ersetzt  werden  könne.  Sind  nämlich,  wie 
Meinong  ausführt,  a  und  ß  zwei  Objektive,  zwei  Sachverhalte,  und 
ist  r  die  Relation,  die  diese  Objektive  >zu  einem  System  gleichsam 
zu  vereinigen  vermag«  ^),  so  sei  damit  doch  die  Relation  r  nicht  an 
solche  Objektive  gebunden ;  es  könnten  nach  Meinong  statt  a  und 
ß  auch  Objekte  wie  a  und  h  gesetzt  werden,  die  kein  System  >  aus- 
zumachen imstande  wären«  *). 

1)  Meinong:  »Über  Möglichkeit  und  Wahrscheinliclikeit«  S.  150,  237. 

2)  Ebenda  S.  464. 

3)  Ebenda  S.  465. 

4)  Ebenda  S.  466. 


>Inhäsive  Möglichkeit <   bei  Meinong  und   Kant.  37 

Durch  diese  Einwände  jedoch  können  die  Kantischen  > systemati- 
sierenden Relationen«  nicht  getroffen  werden^).  Die  transzendentale 
Einheit  der  Apperzeption  ist  nämlich  nicht  eine  »Relation«  in  dem 
Sinne,  daß  sie  gegebene  Inhalte  erst  nachträglich  zu  einem  System 
vereinigt,  sondern,  wie  in  der  >Kritik«  gezeigt  wurde :  alle  Erkennt- 
nisinhalte müssen  ihr  unterstehen,  da  sie  nur,  unter  der  Ein- 
heit der  Apperzeption  stehend,  Inhalte  sein  können. 
Und  Enti^prechendes  gilt  von  den  übrigen  Kantischen  Einheitsformen 
des  Tatsächlichen.  Alles  tatsächlich  Räumliche  ist  notwendig  den 
Gesetzen  des  einen  geometrischen  Raumes  unterstellt,  alles  zeitliche 
Geschehen  ist  notwendig  kausal;  und  insofern  das  Tatsäch- 
liche die  mathematischen  und  die  kategorialen  Not- 
wendigkeitsbestimmungen enthalten  muß,  insofern 
ist  eben  inhäsive  Tatsächlich keit  begründet.  Die 
Inhäsivität,  die  Notwendigkeit,  die  damit  durch  den 
Kantischen  >Systemgedanken«  für  das  Tats  ächliche 
>ermöglicht<  wird,  ist  in  der  Tat  objektiv  begründet 
im  Gegensatz  zu  der  von  Meinong  gelehrten  mehr 
oder  minder  subjektivistischen  Evidenz. 

Gerade  Kant  hat  die  ältesten  Gegensätze  zwischen 
bloßem  Subjektivismus  und  bloßem  Objektivismus  am 
tiefsten  überbrückt,  indem  er  seine  Stellung  jenseits 
des  bloßen  Objektes  und  Subjektes  eingenommen  hat:  im 
Begriff  der  subjektiv-objektiv  bestimmten  Erfahrung. 

Kant  hat  gezeigt,  wie  die  Begriffe,  die  die  Möglichkeit  im  ober- 
sten Sinne  bestimmen,  zwar  im  Verhältnis  zum  bloßen  Erkenntnis- 
inhalt > subjektiv«  sind,  dennoch  die  objektiv-gültigen  Formen  alles 
Erfahrbaren  bilden  müssen.  Und  durch  diese  Analyse  hat  eben  die 
> Kritik  der  reinen  Vernunft«  diejenigen  Hauptfragen  aufgeklärt, 
denen  die  Gegenstandstheorie  —  schon  durch  ihre  Grundeinstellung  — 
nicht  gerecht  werden  konnte. 

Diese  grundlegende  Bedeutung  der  Kantischen  (ermöglichenden) 
Erfahrungsformen  tritt,  wie  ich  glaube,  auch  beiHusserl  besonders 
hervor,  wie  überhaupt  in  Husserl's  letztem  Werk  die  Annäherung 
an  Kant  sehr  deutlich  ist,  wenngleich  wir  hier  dem  Namen  nach 
keine  gesonderte  Darstellung  der  transzendentalen  Möglichkeit  vor- 
finden werden. 


1)   s.  zu  dieser  Frage  des   Systemgedankens :    M.  Frischeisen-Köhler,   über 
Meinong,  Kantstudien  Band  XXII,  S.  471/72. 


III.    Der  Begriff  des  „absoluten"  Bewusstseins  bei  Husserl 
und  sein  Verhältnis  zum  Möglichkeitsbegriff  der  „Kritik  der 

reinen  Vernunft". 

Auch  Husserl  ging,  wie  wir  gesehen  haben,  von  ähnUchen 
Voraussetzungen  aus  wie  die  Gegenstandstheorie  (s.  die  Ideen  zu 
einer  reinen  Phänomenologie,  den  ersten  Abschnitt  über  >  Wesen  und 
Wesenserkenntnis  <).  Auch  für  die  Phänomenologie  (besonders  im 
Sinne  Linkes)  ist  der  Bereich  des  Möglichen  zunächst  so  weit  aus- 
gedehnt, daß  er  alles  > Wesen«  umfaßt;  nur  das  Wirkliche,  die  Gegen- 
stände der  verfahrenden  Anschauung«,  die  Gegenstände  der  Natur- 
und  Geistesgeschichte,  die  Objekte  der  Tatsachenwissenschaften  sind 
ausgeschlossen. 

Diese  verschiedenartigen  Wissenschaften  vom  Möglichen,  vom 
Wesen,  die  verschiedenen  eidetischen  Disziplinen  im  Sinne  Husserls 
wie  im  Sinne  Linkes,  entsprechen  völlig  den  allgemeinen  und  spe- 
ziellen Gegenstandstheorien  Meinongs.  Alle  obersten  Wesensall- 
gemeinheiten von  Arten  umgrenzen  Regionen  von  Individuen');  und 
der  Inbegriff  der  > synthetischen  Wahrheiten«,  die  in  diesen  regionalen 
Wesen  gegründet  sind,  soll  den  Inhalt  von  eidetischen  regionalen 
Ontologien  ausmachen^). 

Aber  die  erkenntnistheoretische  Grundfrage,  die  hier  vorliegt, 
die  Frage,  die  auch  M  e  i  n  o  n  g  schon  zu  dem  Problem  der  inhäsiven 
Untertatsächlichkeit  geführt  hat,  die  Beziehungen  zwischen  dem 
Eidetischen  und  dem  Wirklichen  und  die  Probleme  dieser  Beziehungen, 
sind  in  den  Anfängen  bei  Husserl  wie  bei  Meinong  kaum  näher 
beachtet  worden. 

Wir  erfahren  nur,  daß  die  Beziehungen  zwischen  Eidos  und  in- 
dividuell-Daseiendem  sehr  eng  sein  sollen:  es  liegt  >in  der  Eigenart 
der  Wesensanschauung,  daß  ein  Hauptstück  individueller  Anschauung, 


1)  s.  Husserl:  Ideen  zu  einer  reinen  Phänomenologie  S.O. 

2)  Ebenda  S.  31. 


»Absolutes  Bewußtsein«   bei  Husserl  und  kritische  Modalität.        39 

nämlich  ein  .  .  Sichtigsein  von  Individuellem  ihr  zugrunde  liegt,  obschon 
freilich  keine  Erfassung  desselben  und  keinerlei  Setzung  als  Wirk- 
lichkeit«^); infolge  davon  ist  »keine  Wesensanschauung  möglich  ohne 
die  freie  Möglichkeit  der  Blickwendung  auf  ein  entsprechendes  In- 
dividuelle und  der  Bildung  eines  exemplarischen  Bewußtseins  —  wie 
auch  umgekehrt  keine  individuelle  Anschauung  möglich  ist  ohne  die 
freie  Möglichkeit  des  Vollzugs  einer  Ideation  und  in  ihr  der  Blick- 
richtung auf  die  entsprechenden,  sich  im  individuell  Sichtigen  exem- 
plifizierenden Wesen«  ^).  — 

> Wesensallgemeinheiten«  können  daher  einfach  >auf  ein  als  da- 
seiend gesetztes  Individuelles«  »übertragen«  ^)  werden.  2- Jede  An- 
wendung von  geometrischen  Wahrheiten  auf  Fälle  der  (als  wirklich 
gesetzten)  Natur  gehört  hierher«  -)• 

Tiefer  wird  hier  —  entsprechend  wie  bei  M  e  i  n  o  n-g  —  das 
Problem  der  »Möglichkeit  der  Mathematik«  nicht  angesehen^).  Es 
heißt  nur:  »was  im  Eidos  statthat«,  »fungiert«  »für  das  Faktum  als 
absolut  unübersteigliche  Norm«  ^). 

Ja  außerdem  wird  ausdrücklich  ausgeführt:  Jede  »erfahrende 
oder  individuelle  Anschauung  kann  in  Wesensschauung 
(Ideation)  umgewandelt  werden«^).  »Welcher  Art  immer  die  in- 
dividuelle Anschauung  ist,  ...  sie  kann  die  Wendung  in  Wesens- 
schauung nehmen«  •''). 

Wenn  Husserl  trotzdem  schon  in  diesem  ersten  Abschnitt  seiner 
»Ideen«  von  »Anklängen«  an  die  Kantische  Vernunftkritik  spricht 
(S.  31),  so  ist  diese  »innere  Verwandtschaft«  hier  sehr  gering  zu 
nennen;  denn  nach  Kant  ist,  wie  wir  gesehen  haben,  das  Möglich- 
keitsmoment eines  Gegenstandes  nicht  durch  sein  gesamtes  »mate- 
riales«  »Wesen«  bestimmt,  sondern  nur  durch  seine  rein  apriori- 
schen und  doch  synthetischen  (auf  die  Erkenntnismaterie  bezogenen) 
Formen.  Nur  diese  synthetischen  Formen  hat  Kant  als  das 
Ermöglichende  deduziert,  während  die  synthetische  Erkenntnis 
a  priori  bei  Husserl  ausdrücklich  materiale  Erkenntniselemente 
miteinbegreifen  soll. 

Husserl  kennt  darnach  nur  rein  »analytische  formale  Katego- 
rien« ^),   oder   er   setzt  z.  B.   die  Kausalität   als  synthetisch   a  priori 


1)  s.  Husserl:  Ideen  S.  12. 

2)  Ebenda  S.  15. 

3)  s.  hierzu  Meinong:  Ȇber  die  Stellung  der  Gegenstandstheorie  im  System 
der  Wissenschaften«  S.  33. 

4)  Husserl:  Ideen  S.  301.  5)  Ebenda  S.  10.  6)  Ebenda  §  10. 


40         »Absolutes  Bewußtsein«  bei  Husserl  und  kritische  Modalität. 

und  als  nicht  formal  in  eine  Linie  mit  den  5> regionalen  Grund- 
begriffen«, insofern  diese  als  Wesen  > Materie  der  Erkenntnis«  ent- 
halten ^). 

Inwiefern  dagegen  die  obersten  Begriffe  a  priori  rein  formal 
und  doch  synthetisch  sein  müssen,  inwiefern  alle  analytische 
Einheit  und  alles  materiale  Wesen  >nur  vermöge  einer  vorausge- 
dachten möglichen  synthe  tisch  en«  Einheitsform  gedacht  werden 
kann^),  die  Einsicht  in  dieses  Problem  der  Einheit  der  Apper- 
zeption ist  hier  nicht  vorhanden. 

Sehen  wir  deshalb  zu,  wie  Husserl  doch  innerhalb  seiner  Ana- 
lysen den  Kantischen  Problemstellungen  näher  gekommen 
ist,  wie  auch  ihm  sich  das  Reich  des  grundlegenden  Möglichen  nach 
den  formalen  Erfahrungsbedingungen  hin  verengt  hat. 

In  diesem  weiteren  Verfolg  der  Husserl  sehen  >  Ideen«  treffen 
wir  zuerst  auf  eine  Wendung,  die  nicht  zufällig  mit  einer  bestimmten 
Seite  des  Kantischen  Systems  in  Berührungen  steht,  und  die  sich 
ebenso  bei  Meinong  wie  bei  P ichler  wiederfindet:  es  ist  dies  die 
Lehre  von  der  unehdlichen  Bestimmbarkeit  der  existierenden  Objekte. 

Auch  nach  Meinong  waren  die  Gegenstände,  die  nicht  voll- 
ständig bestimmbar  sind,  »nur  möglich«.  Für  alle  wirklichen  Gegen- 
stände jedoch  hatte  Meinong  die  vollständige  Bestimmbarkeit  ge- 
fordert mit  Hilfe  des  Inbegriffs  aller  möglichen,  d.  h.  der  Gesamtheit 
der  »unvollständigen«  Begriffe.  Während  es  für  einen  nur  mög- 
lichen Begriff  unentschieden  bleiben  darf,  ob  ihm  ein  bestimmtes 
Merkmal  zukommt,  oder  ob  ihm  das  kontradiktorische  Gegenteil  dieses 
Merkmals  zukommen  muß,  so  müssen  alle  existierenden  Gegen- 
stände (nach  dem  Satz  des  ausgeschlossenen  Dritten)  in  Hinsicht 
jedes  möglichen  Merkmals  (oder  seines  kontradiktorischen  Gegenteils) 
bestimmt  sein.  Der  Begriff  der  Kugel  als  solcher,  die  mögliche 
Kugel,  ist  in  bezug  auf  die  schwarze  oder  die  nicht-schwarze  Farbe 
nicht  bestimmbar.  Jede  wirkliche  Kugel  dagegen  muß  entweder 
schwarz  oder  nicht-schwarz  sein ^).  Und  so  muß  jedes  wirk- 
liche Ding  betrachtet  werden  >im  Verhältnis  auf  die 
gesamte  Möglichkeit   als   den  Inbegriff  aller  Prädi- 


1)  s.  Husserl:  Ideen  §  16  und  »Logische  Untersuchungen«  II.  Band,  2.  Aufl., 
3.  Unt.  §  11  und  12. 

2)  Kritik  der  reinen  Vernunft  B  S.  134. 

3)  s.  hierzu  Meinong:   »Über  Möglichkeit  und  Wahrscheinlichkeit«  §§24,  25, 
29,  30. 


p 


> Absolutes  Bewußtsein«   bei  Husserl  und  kritische  Modalität.         41 


kate  der  Dinge  überhaupt«^).  Aber  diese  >Gesarat- 
heit  der  dem  Dinge  eignenden  Bestimmungen...  kann 
...nur  unendlich  groß  sein«^),  und  sie  kann  daher 
durch  unseren  »endlichen  Intellekt«^)  nicht  erfaßt 
werden. 

Genau  dies  entspricht  aber  der  Kantischen  Lehre  von  dem  >Ideal 
der  reinen  Vernunft«. 

Gerade  durch  diese  Lehre  der  Dialektik  hatte  ja 
Kant  versucht,  das  universalistische  System  des  vor- 
kritischen Möglichen  als  ein  aufgegebenes  mit  dem  ge- 
gebenen Möglichkeitssystem  der  Postulate  in  Verbin- 
dung zu  setzen. 

Und  damit  wird  es  auch  verständlich,  wieso  sowohl  Meinong 
wie  nachweisbar  Hu  sserP  und  Pich  1er,  indem  sie  vom  vor  kanti- 
schen Kationalismus  ausgehen,  an  diese  Lehre  vom 
>Ideal<  am  nächsten  anknüpfen  konnten.  Denn  in  der 
Lehre  vom  >Ideal<  ist  eben  der  spezifisch  kritische,  der 
tiefer  liegende  Möglichkeitsbegriff,  die  Bezogenheit  des 
Möglichen  auf  die  Formen  der  Erfahrung,  zurückgestellt  zu- 
gunsten des  allgemeineren,  des  vorkritischen  Mög- 
lichen, des  Möglichen  der  scientia  generalis,  das  auch  die  mate- 
rialen  Momente  aller  Möglichkeit  einbegreifen  will,  das  aber  darum 
auch  die  Erforschung  dieses  Inbegriffs  alles  Möglichen  nur  als  ein 
Ziel,  nur  als  ein  aufgegebenes  >Ideal  der  reinen  Vernunft«  erkennen 
lassen  muß. 

Auch  Husserl  hat  nun  diese  Lehre  von  der  unendlichen  Be- 
stimmbarkeit des  Wirklichen  ausdrücklich  als  >Idee  im  Kantischen 
Sinn«  vertreten"*). 

Er  hat  es  mehrfach  und  besonders  betont:  kein  > transzendenter 
Gegenstand«,  keine  »Realität«,  >die  der  Titel  Natur  oder  Welt  um- 
spannt«, kann  in  einem  »abgeschlossenen  Bewußtsein  in  vollständiger 
Bestimmtheit  und  in  ebenso  vollständiger  Anschaulichkeit  gegeben 
sein«  .  .  .  »Aber  als  Idee  (im  Kantischen  Sinn)  ist  gleichwohl 
die  vollkommene  Gegebenheit  vorgezeichnet«*). 

Ja  Husserl  hat  besonders  die  unendliche  Bestimmbarkeit  des 
existierenden  Dinges  nach   verschiedenen  »Richtungen«    hin  ausführ- 


1)  Kant:  »Kritik  der  reinen  Vernunft«  B  S.  600. 

2)  Meinong:  »Über  Möglichkeit  und  Wahrscheinlichkeit«  S.  168. 

3)  Ebenda  S.  223. 

4)  Husserl:  Idee  S.  297. 


42         > Absolutes  BewußtseiiK   bei  Husserl  und  kritische  Modalität. 

lieber  dargestellt;  sowohl  als  res  temporalis  Avie  als  res  extensa  und 
als  res  materialis  gehören  nach  ihm  zu  jedem  Ding  > ideale  Möglich- 
keiten der  Grenzenlosigkeit  im  Fortgänge^)  einstimmiger  Anschau- 
ungen« ^). 

So  ist  das  Ding  hinsichtlich  seiner  Dauer  >prinzipiell  .  .  .  endlos 
extendierbar«  ^);  in  räumlicher  Hinsicht  ist  es  nmendlich  mannig- 
faltiger Formverwandlungen«  ^)  und  unendlich  mannigfaltiger  Lage- 
veränderung fähig;  und  als  res  materialis  endlich  ist  es  >der  Mög- 
lichkeit nach«  >die  Einheit  .  .  .  von  unendlich  vielgestaltigen  Kau- 
salitäten« ^).  2>So  sind  alle  Komponenten  der  Dingidee  selbst  Ideen, 
eine  jede  impliziert  das  „und  so  weiter"  unendlicher  Mög- 
lichkeiten«^). Und  nur  im  ^Prozeß  des  Durchlaufens,  im  Bewußtsein 
der  Grenzenlosigkeit  des  Fortganges  der  einstimmigen  Anschauungen« 
können  wir  >die  Idee  Ding«  ^)  erfassen. 

Aus  diesen  Lehren  hat  nun  Husserl  mit  Recht  auf  den  bloßen 
Erscheinungscharakter  der  Erfahrungsdinge  geschlossen,  genau  wie 
Kant  aus  der  entsprechenden  Lehre  vom  ^transzendentalen  Ideal« 
wie  überhaupt  aus  der  Dialektik  der  reinen  Vernunft  den  gleichen 
Schluß  gezogen  hatte. 

Indem  aber  Husserl  so  den  Erscheinungscharakter  alles  Er- 
fahrungswirklichen unterstrich,  hat  sich  auch  eine  wichtige  Wandlung 
in  seinem  Möglichkeitsbegriff  vorbereitet. 

Während  nämlich  Husserl  bisher  mit  Linke  jedes  > Wesen«,, 
jedes  Eidos,  als  ein  reines  Mögliches  angesehen  hatte,  so  soll  es  nun 
für  die  Phänomenologie,  für  die  Lehre  von  dem  grundlegenden  Mög- 
lichen, >von  fundamentaler  Bedeutung«  sein  > einzusehen,  daß  nicht 
etwa  alle  Wesen  diesem  Umkreise«  (dem  Stoffgebiete  der  Phäno- 
menologie) > angehören,  daß  vielmehr  genau  wie  für  individuelle 
Gegenständlichkeiten  der  Unterschied  zwischen  immanenten  und 
tranzendenten  statthat,  so  auch  für  die  entsprechenden  Wesen«  ^)» 

Alle  Erlebnisse,  > sofern  sie  Bewußtsein  von  etwas  sind«,  nennt 
Husserl  > auf  dieses  Etwas  intentional  bezogen«'). 

Immanent   bezogen   aber   sind   diejenigen   intentionalen  Er- 


1)  Vgl.  Kants  Kritik  der  reinen  Vernunft  (A  25). 

2)  Husserl:  Ideen  S.  311. 

3)  Ebenda  S.  312. 

4)  Ebenda  S.  318. 

5)  Ebenda  S.  312,  s.  hierzu  auch  die  Ausführungen  S.  74,  78. 

6)  Husserl:  Ideen  S.  114. 

7)  Ebenda  S.  64. 


>  Absolutes  Bewußtsein  <   bei  Husserl  und  kritische  Modalität.         43 

lebnisse,  >zu  deren  Wesen  es  gehört,  daß  ihre  intentionalen  Gegen- 
stände, wenn  sie  überhaupt  existieren,  zu  demselben  Erlebnisstrom 
gehören  wie  sie  selbst«  ^).  >Das  Bewußtsein  und  sein  Objekt  bilden« 
hier  >eine  individuelle  rein  durch  Erlebnisse  hergestellte  Einheit«  ^). 

>Transzendent  gerichtet«  sind  dagegen  diejenigen  >inten- 
tionalen  Erlebnisse,  für  die  das  nicht  statthat«^).  Ein  Transzen- 
dentes sind  demnach  alle  Dinge  und  ebenso  alle  Erlebnisse  als 
>psychische  Zustände«,  insofern  sie  zu  betrachten  sind  als  > reale  Vor- 
kommnisse« ^innerhalb  der  natürlichen  Welt«  ^).  D.  h.  transzen- 
dent sind  alle  physischen  und  psychischen  >Realitäten  über- 
haupt«^). 

Immanent  gegeben  ist  nur  das  erst  später  zu  erläuternde 
absolute,  transzendental  gereinigte  Bewußtsein. 

Alles  transzendente  Sein  ist  demnach  ein  Reales,  d.  h.,  wie  wir 
gesehen  hatten,  ein  stets  erst  unendlich  zu  Bestimmendes,  ein  ideal 
Erscheinendes,  ein  Sein,  das  nur  den  > sekundären,  relativen  Sinn 
eines  Seins  für  ein  Bewußtsein  hat«  ^).  Aus  diesem  Grunde  kann 
nach  Husserl  die  gesamte  Transzendenz  kein  rein  unabhängiges 
Wesen  besitzen,  sie  »entbehrt  wesensmäßig  .  .  .  der  Selbständigkeit«  ^), 
da  ja  das  transzendente  Wesen  die  s-phänomenale  Realität«  und  damit 
die  Beziehung  auf  ein  Bewußtsein  voraussetzt.  Soll  also  für  die 
Phänomenologie  das  grundlegende  Mögliche,  das  Gebiet  der  > ab- 
soluten Wesen«  (nicht  wie  bei  Linke  das  aller  Wesen)  aufgesucht 
werden,  soll  die  Phänomenologie«  mit  Rücksicht  auf  die  philosophi- 
schen Funktionen«,  die  sie  >zu  übernehmen  berufen  ist,  ...  die  ab- 
solute Independenz«^)  besitzen,  die  Husserl  für  sie  intendiert, 
so  muß  alle  Lehre  von  den  transzendenten  Wesen  aus- 
geschaltet werden. 

Nur  das  immanente  Bewußtsein  bedeutet  im  Gegensatz  zu  allen 
> phänomenalen  Realitäten«  und  im  Gegensatz  zu  dem  > transzendenten 
Wesen«  dieser  Realitäten  ein  völlig  anders-  und  eigenartiges  Sein. 
»Zwischen  Bewußtsein  und  Realität«,  d.h.  ^zwischen  Immanenz  und 
Transzendenz«    besteht   die    »kardinalste  .  .  .  Unterschiedenheit   der 


1)  Husserl:  Ideen  S.  68  (im  Original  gesperrt  gedruckt). 

2)  Ebenda  S.  68. 

3)  Ebenda  S.  103,  105. 

4)  Ebenda  S.  68. 

5)  Ebenda  S.  93. 

6)  Ebenda  S.  93/94. 

7)  Ebenda  S.  115. 


44         > Absolutes  Bewußtsein«   bei  Husserl  und  kritische  Modalität, 

Seins  weisen  ... ,  die  es  überhaupt  gibt<  ^),  es  >  gähnt«  hier  »ein 
wahrer  Abgrund  des  Sinnes«^). 

In  der  natürlichen  Einstellung  ist  die  transzendente  Erscheinungs- 
welt ständig  als  eine  »vorhandene«^)  anzusehen,  sie  ist  ständig  >für 
mein  Aktbewußtsein  Hintergrund«  ^),  auch  wenn  ich  mir  gelegentlich 
innerhalb  der  natürlichen  Einstellung  >die  arithmetische  Welt  und 
ähnliche  andere  Welten  .  .  zueigne«^),  d.  h.  weim  ich  mich  innerhalb 
der  natürlichen  Einstellung  mit  —  nicht-immanenten  —  »Wesen« 
beschäftige.  Die  natürlichen  Einstellungen  bilden  stets  —  mindestens 
inaktuell  —  die  festesten,  weil  nie  beirrten  Gewohnheiten  auch  im 
wissenschaftlichen  Denken^). 

Aber  die  bisher  »unbekannte,  ja  die  kaum  geahnte«  ^)  phänome- 
nologische Region  kann  nach  Husserl  nur  durch  die  völlige  Aus- 
schaltung der  natürlichen  Welt,  der  Welt  der  Transzendenzen, 
gewonnen  werden.  Alles,  was  die  Welt  »in  ontischer  Hinsicht  um- 
spannt«, soll  »nicht  negiert«  und  »nicht  bezweifelt«  werden, 
jedes  Urteil  über  die  »bewußtseinsmäßige  Wirklichkeit« ,  soll  nur 
»außer  Aktion  gesetzt«,  »eingeklammert«  sein").  Ich  übe  die  >phäno- 
menologische  eTro/Yj«,  »die  transzendentalen  Reduktionen«,  (S.  56  u.  60) 
heißt  nur:  alle  auf  die  »natürliche  Welt  bezüglichen  Wis- 
senschaften, so  fest  sie  mir  stehen,  ...  so  wenig  ich  daran  denke, 
das  mindeste  gegen  sie  einzuwenden,  schalte  ich  aus,  ich  mache 
von  ihren  Geltungen  absolut  keinen  Gebrauch«^). 

Nach  dieser  Aufhebung  der  natürlichen  Einstellung,  nachdem 
so  die  gesamte  natürliche  Welt  und  alle  damit  ver- 
knüpften »transzendent  eidetischen  Regionen«  ein- 
geklammert sind,  ergibt  sich  gerade  als  das  »phäno- 
menologische Residuum«  »das  Feld  der  Phänomeno- 
logie«: das  Feld  der  »reinen«  »immanent  gegebenen«, 
»der  absoluten«,  »transzendentalen  Bewußtseinserleb- 
nisse«"). 

Diese  immanent  gegebenen  Bewußtseinserlebnisse  haben  »in  sich 
selbst  ein  Eigenwesen«  ^),   sie  stellen  sich  nicht  dar  als  ein  Erschei- 

1)  Husserl:  Ideen  S.  77. 

2)  Ebenda  S.  93. 

3)  Ebenda  S.  51. 

4)  Ebenda  S.  58. 

5)  Ebenda  S.  59. 

6)  Ebenda  S.  56/57. 

7)  Ebenda  S.  59,  95  und  öfter. 

8)  Ebenda  S.  59. 


> Absolutes  Bewußtsein«  bei  Husserl  und  kritische  Modalität.         45 

nendes,  als  ein  erst  zu  Bestimmendes  wie  das  Transzendente,  das 
Keale,  sondern  sie  sollen  nach  Husserl  absolut  gegeben  sein^). 
Alle  diese  Gedanken  werden  als  >Höhepunkt«  der  Betrachtung 2)  in 
großer  Ausführlichkeit  entwickelt. 

>Jede  immanente  Wahrnehmung  verbürgt  notwendig  die  Existenz 
ihres  Gegenstandes«  ^).  >Nur  für  Ich  und  Erlebnisstrom  in  Beziehung 
auf  sich  selbst  besteht  diese  ausgezeichnete  Sachlage,  nur  hier  gibt 
es  eben  so  etwas  wie  immanente  Wahrnehmung,  und  muß  es  das 
geben«  ^).  > Richtet  sich  das  reflektierende  Erfassen  auf  mein  Erlebnis, 
so  habe  ich  ein  absolutes  Selbst  erfaßt,  dessen  Dasein  prinzipiell 
nicht  negierbar  ist,  d.  h.  die  Einsicht,  daß  es  nicht  sei,  ist  prinzipiell 
unmöglich;  es  wäre  ein  Widersinn,  es  für  möglich  zu  halten,  daß 
ein  so  gegebenes  Erlebnis  in  Wahrheit  nicht  sei«  ^).  >Das  Vor- 
schwebende mag  ein  bloßes  Fiktum  sein,  das  Vorschweben  selbst, 
das  fingierende  Bewußtsein  ist  nicht  selbst  fingiertes,  und  zu  seinem 
Wesen  gehört,  wie  zu  jedem  Erlebnis,  die  Möglichkeit  wahrnehmender 
und  das  absolute  Dasein  erfassender  Reflexion«^).  »Mein  Einfühlen 
und  mein  Bewußtsein  überhaupt  ist  originär  und  absolut  gegeben, 
nicht  nur  nach  Essenz,  sondern  nach  Existenz«^).  >Das  Sein  des 
Bewußtseins  .  .  .  würde  .  .  .  durch  eine  Vernichtung  der  Dingwelt 
zwar  notwendig  modifiziert,  aber  in  seiner  eigenen  Existenz  nicht 
berührt«^).  Das  Bewußtsein  in  Reinheit  ist  >ein  für  sich  geschlossener 
.  .  .  Zusammenhang  absoluten  Seins,  in  den  nichts  hineindringen 
und  aus  dem  nichts  entschlüpfen  kann« '").  5 Das  immanente  Sein  ist 
.  .  .  zweifellos  in  dem  Sinne  absolutes  Sein,  daß  es  prinzipiell  nulla 
re  indiget  ad  existendum«  ^).  Jeder  Erlebnisstrom  > trägt  die  Bürg- 
schaft seines  absoluten  Daseins  als  prinzipielle  Möglichkeit  in  sich 
selbst«  '^). 

In  der  psychologischen  Einstellung  geht  >der  natürlich 
eingestellte  Blick  auf  die  Erlebnisse  ...  als  Erlebniszuständlichkeit 
des  Menschen  bezw.  Tieres«.  Die  phänomenologische  Ein- 
stellung wendet  sich,  >  reflektierend  und  die  transzendenten 
Setzungen   ausschaltend,    dem  absoluten ,    reinen   Bewußtsein   zu  .  .  . 


1)  Husserl:  Ideen  S.  81. 

2)  Ebenda  S.  87. 

3)  Ebenda  S.  85/86. 

4)  Ebenda  S.  91. 

5)  Ebenda  S.  93. 

6)  Ebenda  S.  92  (im  Original  gesperrt  gedruckt). 

7)  Ebenda  S.  85. 


46         > Absolutes  Bewußtsein«   bei  Husserl  und  kritische  Modalität. 

Das  reine  Erlebnis  liegt  in  gewissem  Sinne  im  psychologisch  Apper- 
zipierten,  in  dem  Erlebnis  als  menschlichem  Zustand;  mit  seinem 
eigenen  Wesen  nimmt  es  die  Form  der  Zuständlichkeit  und  damit 
die  intentionale  Beziehung  auf  Menschen-Ich  und  Menschen-Leiblich- 
keit an«  ^). 

Das  absolute  Erlebnis  steht  daher  dem  empirischen  >als 
Voraussetzung  seines  Sinnes«  gegenüber«^).  Aber  Psychi- 
sches überhaupt  im  Sinne  der  Psychologie  >als  im  absoluten  Sinne 
seiend«  anzusetzen,  ist  natüdich  »Widersinn«  ^),  wie  es  »Widersinn 
ist«,  dem  absoluten  Bewußtsein  >Ptealität  zuzumuten«^),  d.  h.  Realität 
im  Sinne  der  »transzendenten«  Erscheinungswelt. 

Das  absolute  Bewußtsein  ist  darnach  in  der  Tat  nicht  als  eine 
»absolute  Realität«  anzusehen  —  eine  absolute  Realität  gilt  überhaupt 
»so  viel  wie  ein  rundes  Viereck«  — ^),  sondern  das  absolute  Bewußtsein 
ist  nur  »in  intuitivem,  völlig  zweifellosem  Verfahren«  aufweisbar  als 
die  notwendige  ^sinngebend  e«^)  Voraussetzung  zu  dem 
Faktum  aller  Realitätserfahrung.  Das  immanente  transzendentale 
Bewußtsein  enthält,  kantisch  gesprochen,  die  (im  Verhältnis  zu  den 
Kantischen  Bedingungen  allerdings  zunächst  erweiterte)  Bedingung 
der  Möglichkeit  der  Erfahrung.  Denn  in  diesem  absoluten  Be- 
wußtsein kann  sich  erst  alle  Erfahrungsrealität  »kon- 
stituieren«^), >sich  in  ihm  bergen«*'),  »in  ihm  sich  bekunden«  ^). 

Die  Realität  kann  nur  »Korrelat  des  absoluten  Bewußtseins«') 
sein.  Das  transzendentale  Bewußtsein  dagegen  ist  »die  Urkategorie 
des  Seins  überhaupt,  ...  in  der  alle  anderen  Seinsregionen  wurzeln, 
auf  die  sie  ihrem  Wesen  nach  bezogen,  von  der  sie  daher  wesens- 
mäßig alle  abhängig  sind«^),  an  die  sie  alle  »gebunden«'^)  bleiben. 

Die  Phänomenologie  aber  ist  nach  alledem  die  Lehre  von  dem 
Wesen  des  absoluten,  des  durch  die  transzendentale  Reduktion  gewon- 
nenen Bewußtseins. 


In  dieser  Phänomenologie  sind  nun  nach  Husserl  »alle  eideti- 
schen  (also  unbedingt  allgemein  gültigen)  Erkenntnisse  beschlossen, 
mit  denen  sich  die  auf  beliebig  vorzugebende  Erkenntnisse  und  Wissen- 


1)  Husserl:  Ideen  S.  104/105. 

2)  Ebenda  S.  106.  3)  Ebenda  S.  108. 
4)  Ebenda  S.  106.  5)  Ebenda  S.  117. 
6)  Ebenda  S.  94.  7)  Ebenda  S.  143. 
8)  Ebenda  S.  141.  9)  Ebenda  S.  102. 


»Absolutes  Bewußtsein«   bei  Husserl  und  kritische  Modalität.         47 

Schäften  bezogenen  Radikalprobleme  der  Möglichkeit  be- 
antwo  rt  en<  ^). 

>Jede  prinzipielle  Mögli  chkeits  frage«  soll  >nur 
auf  dem  Boden  der  eidetischen  Phänomenologie  ent- 
schieden werdenc  ^). 

Prüfen  wir  es  deshalb  —  wenigstens  den  allgemeinen  Zusammen- 
hängen nach  — ,  wie  Husserl  die  > prinzipiellen«  philosophischen 
Möglichkeitsfragen  beantwortet. 

Schon  F.  Kuntze  hat  für  die  > Logischen  Untersuchungen < 
Husserls  mit  Recht  darauf  hingewiesen,  daß  nach  ihnen  die  Phä- 
nomenologie als  eine  Art  erweiterter  > metaphysischer  Deduktion«  im 
Sinne  der  >Kritik  der  reinen  Vernunft«  anzusehen  sei^). 

Aus  ähnlichen  Überzeugungen  hat  Natorp  in  seinem  Aufsatz 
über  »Husserls«  »Ideen  zu  einer  reinen  Phänomenologie«*)  die 
Verwandtschaft  der  Phänomenologie  mit  Natorps  eigener  kritischer 
»Allgemeiner  Psychologie«  hervorzuheben  gesucht. 

Ich  glaube,  entsprechend  können  sich  auch  uns  schon  aus  der 
bisherigen  Darstellung  der  »Ideen«  einige  Hauptpunkte  abheben,  die 
eine  Vergleichung  zwischen  Phänomenologie  und  Kritizismus  erleichtern. 

So  ist  meiner  Meinung  nach  vor  allem  klar,  daß  die  ganze  Ten- 
denz der  phänomenologischen  Fragestellung,  aus  der  heraus  Husserl 
den  Fragenkreis  des  immanent  gegebenen,  des  transzendentalen  Be- 
wußtseins abhob,  der  transzendentalen  Einstellung  Kants  sehr  nahe- 
steht. 

Alle  Ausschaltungen  der  transzendenten  Wesenswissenschaften 
wie  die  Einklammerung  aller  Tatsachenwissenschaft  bei  Husserl 
entspricht  völlig  der  Kantischen  Ausschaltung  des  bloßen  Rationalismus 
und  der  des  bloßen  Empirismus.  Sowohl  die  Methoden  der  vorkriti- 
schen eidetischen  Ontologien  (die  das  gegenständlich  Wirkliche  als 
schon  konstituiert  voraussetzten  und  erst  dann  Theorien  seines  Wesens 
entwarfen)  wie  die  Methoden  der  Tatsachenwissenschaften  (die  sich 
auch  nur  auf  den  bereits  konstituierten  Gegenstand  als  wirklichen 
beziehen)  und  besonders  die  Methoden  der  empirischen  Psychologie 
(die  zu  den  Wirklichkeitswissenschaften  gehört)  werden  bei  Kant 
wie  bei  Husserl  abgelehnt.    Im  Mittelpunkt  der  Analyse  bleibt  in 


1)  Husserl:  Ideen  S.  118  (bei  Husserl  nicht  gesperrt). 

2)  Ebenda  S,  119  (bei  Husserl  nicht  gesperrt). 

3)  F.  Kuntze:  »Die  kritische  Lehre  von  der  Objektivität«,  1906,  S.  193  ff. 

4)  Logos  Band  VH,  Heft  3,  S.  224  ff. 


48         >Absolutes  Bewußtsein«   bei  Husserl  und  kritische  Modalität. 

beiden  Fällen   nur   der  Inbegriff  der  Momente  und  der  Verhältnisse, 
durch  die  das  erfahrbare  wirkliche  Objekt  konstituiert  ist. 

Auch  Kant  hat  wie  Husserl  davor  gewarnt,  dieses  Problem  von 
dem  Wesen  der  Erfahrungskonstitution  mit  dem  -^psychologischen 
SpezialproMem  von  der  Entstehung  der  Erfahrung  zu  verwechseln, 
und  nach  Kant  wie  nach  Husserl  muß  die  transzendentale  Betrach- 
tung, die  beide  Denker  fordern,  aller  Psychologie  vorangehen. 

Was  die  transzendentale  Betrachtung  >  generell  festgestellt  hat, 
muß  der  Psychologe  als  Bedingung  der  Möglichkeit  all  seiner  weiteren 
Methodik  anerkennen«  ^). 

>Um  alles  Bisherige  in  einen  Begriff  zusammenzufassen,  ist  zu- 
vörderst nötig,  die  Leser  zu  erinnern,  daß  hier  nicht  von  dem  Ent- 
stehen der  Erfahrung  die  Rede  sei,  sondern  von  dem,  was  in  ihr 
liegt.  Das  erstere  gehört  zur  empirischen  Psychologie  und  würde 
selbst  auch  da  ohne  das  zweite,  welches  zur  Kritik  der  Erkenntnis 
und  besonders  des  Verstandes  gehört,  niemals  gehörig  entwickelt 
werden  können«  ^). 

Dieser  Satz  der  »Prolegomena«  gilt  in  seiner  prägnanten  Zu- 
sammenfassung in  gleicher  Weise  für  die  Phänomenologie  wie  für  den 
Kritizismus. 

Ja  wie  die  Phänomenologie  zielt  auch  die  Transzendentalphilo- 
sophie in  entscheidenden  Begründungszusammenhängen  auf  eine  reine 
Wesensdeskription  des  in  dem  transzendentalen  Bewußtsein,  des  in 
dem  »Wesen«  Erfahrung  > Angetroffenen«  (s.  Kr.  B  S.  41),  und  Kant 
wie  Husserl  verwerfen  in  diesem  Sinne  in  gleicher  Weise  alles  De- 
duzieren aus  > vorgefaßten  metaphysischen  Meinungen«.  Es  ist  deshalb 
kein  Zufall,  daß  für  den  zentralsten  Punkt  der  > Kritik  der  reinen 
Vernunft«  innerhalb  der  Deduktion  der  reinen  Verstandesbegriffe,  für 
das  oberste  Prinzip  alles  Verstandesgebrauches«,  nach  mehrfacher 
Betonung^)  nur  ein  rein  >  analytischer«,  d.h.  also  ein  rein  deskrip- 
tiver Satz  als  beweisend  anerkannt  wird.  Dieser  oberste  Grundsatz, 
>der  höchste  Punkt,  an  dem  man  ...  die  ganze  Logik  und  nach 
ihr  die  Transzendentalphilosophie  heften  muß«''),  heißt:  »Die  syn- 
thetische Einheit  des  Bewußtseins  ist  .  .  .  eine  objektive  Bedingung 
aller  Erkenntnis  .  .  .,  unter  der  jede  Anschauung  stehen  muß,  um 
für  mich  Objekt  zu  werden,   weil  auf  andere  Art   und   ohne  diese 


1)  Husserl:  Ideen  S.  159. 

2)  Kant:  Prolegomena  §21a  (Akademieausgabe  Bd.  IV,  S.  304). 

3)  Kritik  der  reinen  Vernunft  B  S.  135  und  138. 

4)  Ebenda  B  S.  134/135. 


>  Absolutes  Bewußtsein  <   bei  Husserl  und  kritische  Modalität,        49 

Synthesis,  das  Mannigfaltige  sich  nicht  in  einem  Bewußtsein  ver- 
einigen würde« '). 

Obwohl  nun  auch  Husserl  zugesteht,  daß  bereits  Inder  >trans- 
zendentalen  Deduktion«  Kants  Ansätze  zu  einer  phänomenologischen 
■Wesensbeschreibung  vorhanden  sind^),  so  ist  es  doch  einleuchtend,  daß 
durch  Husserl  (auch  abgesehen  von  der  allgemeinen  Eidetik)  zu- 
nächst ein  viel  weiteres  Gebiet  der  transzendentalen  und  der  phäno- 
menologischen Fragestellung  unterworfen  werden  soll.  Die  Behauptung 
Linkes  trifft  zu:  >Das  nicht-empirisch  Gegebene  der  Phänomenologie 
scheint  ...  ein  bedeutend  weiterer  Begriff  zu  sein  als  das  a  priori 
der  reinen  Anschauung  und  das  Kantische  a  priori  überhaupt«  ^). 

Es  ist  ein  Verdienst  Husserls,  daß  er  nicht  nur  für  das  Form- 
A  priori  Kants,  sondern  für  alle  Charaktere  der  Erkenntnis  (die  Form- 
und Stoff- ^),  die  noetischen  wie  die  sogenannten  noematischen  Momente) 
eine  neue  ausführlichere  und  stärker  differenzierende  Beschreibung 
angebahnt  oder  mindestens  dem  Programm  nach  gefordert  hat. 

>Was  irgend  an  reduzierten  Erlebnissen  in  reiner  Intuition  eide- 
tisch  zu  fassen  ist,  ob  als  reelles  Bestandstück  oder  intentionales 
Korrelat,  das  ist  ihr  (der  Phänomenologie)  eigen,  und  das  ist  für  sie 
eine  große  Quelle  von  absoluten  Erkenntnissen«^). 

Aber  freilich  dieses  >rhapsodistische«  Erfassen,  die  weitgehende 
Beschreibung  alles  irgendwie  mit  dem  > absoluten  Erlebnis«  Ver- 
knüpften hat  auch  dazu  geführt,  daß  viele  der  von  Husserl  be- 
gonnenen Untersuchungen,  —  wie  er  selbst  oft  zugeben  muß,  — ■ 
ebensosehr  in  eine  eidetische  Psychologie  gehören  könnten  wie 
in  die  Phänomenologie^).  (Um  so  weniger  berechtigt  erscheint  des- 
halb der  gegen  Kant  erhobene  Vorwurf  des  Psychologisierens)  *'). 

Suchen  wir  aber  nun  nach  dem  grundlegenden  Möglichkeitsbegriff 
des  > absoluten  Bewußtseins«,  so  ergibt  sich  auch  für  die  Phänome- 
nologie eine  Verengung  der  transzendentalen  Fragestellung,  die  all- 
gemeinen eidetisch-psychologischen  Untersuchungen  müssen  zurück- 
treten, und  die  Beziehungen  zu  Kant  werden  um  so  deutlicher. 

Auch  nach  Husserl   ist   (wie  nach  Kant)    >die  materielle  Welt 

1)  Kritik  der  reinen  Vernunft  B  S.  138. 

2)  P.  F.  Linke:  »Das  Recht  der  Phänomenologie«.  Kautstudien  Bd.  XXI, 
S.  177  (im  Original  gesperrt  gedruckt). 

3)  s.  Husserls  Plan  einer  reinen  »Hyletik« ;  Ideen  S.  178. 

4)  Husserl:  Ideen  S.  139. 

5)  Ebenda  S.  159,  vgl.  dazu  auch  S.  143,  144,  146. 

6)  Ebenda  S.  119. 

Kanlsfudien.    Ergänzungsheft  51.  4 


50         »Absolutes  Bewußtsein«   bei  Husserl  und  kritische  Modalität. 

nicht  ein  beliebiges  Stück,  sondern  die  Fundamentalschicht  der  natür- 
lichen Welt,  .  .  .  auf  die  alles  andere  reale  Sein  wesentlich  bezogen 
ist«  ^).  Das  jRätsek  besteht  nur  darin:  >in  wiefern  soll  zunächst 
die  materielle  Welt  ein  prinzipiell  andersartiges ,  aus  der 
Eigenwesenheit  der  Erlebnisse  Ausgeschlossenes  sein  ?  Und  wenn 
sie  das  ist,  wenn  sie  gegenüber  allem  Bewußtsein  .  .  .  das  >Fremde«, 
das  > Anderssein«  ist,  wie  kann  sich  Bewußtsein  mit  ihr  verflech- 
ten?«^). Die  Lösung  dieses  Rätsels  ergibt  sich  zunächst  dadurch, 
daß  alle  > realen  und  idealen  Wirklichkeiten«,  also  auch  die  wirklichen 
Dinge,  trotz  ihrer  Einklammerung  durch  die  Phänomenologie  >doch 
wieder  in  die  phänomenologische  Sphäre«  > gehören«  und  dort  > ver- 
treten« sind  >  durch  die  ihnen  entsprechenden  Gesamtmannigfaltig- 
keiten von  Sinnen  und  Sätzen«  ^).  Also  auch  die  erwähnten  > Rätsel «- 
Fragen  sollen  durch  die  Phänomenologie,  durch  eine  reine 
Beschreibung  des  absoluten,  des  >  transzendentalen  «'Bewußtseins,  auf- 
geklärt werden. 

Auch  für  diese  wie  für  alle  transzendentalen  Untersuchungen  spielt 
nun  nach  Kant  wie  nach  Husserl  >die  merkwürdige  Doppelheit  und  die 
Einheit«  von  Erkenntnisstoff  und  Erkenntnisform  (»von  sensueller 
oXy]  und  intentionaler  [j.op(pYj«)  die  »beherrschende  Rolle«  ^). 

»Was  die  Stoffe  zu  intentionalen  Erlebnissen  formt  und  das 
Spezifische  der  Intentionalität  hereinbringt,  ist  eben  ...noetisches 
Moment  oder  kürzer  gefaßt  Noese«^). 

Der  ganze  »Strom  des  phänomenologischen  Seins«  hat 
nun   eine   solche    »stoffliche  und  eine  noetische  Schicht«^). 

Aber  auch  bei  Husserl  wie  bei  Kant  liegen  gegenüber  den  stoff- 
lichen Momenten  die  »unvergleichlich  wichtigeren  und  reicheren 
Analysen  .  .  auf  selten  des  Noetischen«^). 

In  der  »Wahrnehmung  des  weißen  Papieres«  ist  das  »Empfin- 
dungsdatum Weiß«  als  »stoffliches  Moment«  nicht  selbst 
»Bewußtsein  von  etwas«''),  erst  noetische  Momente  können 
das  Stoffliche  »beseelen« ''),  »formen«,  »das  Spezifische  der  In- 
tentionalität hereinbringen« ,  so  daß  das  bloße  stoffliche  Moment 
»Weiß«  der  »Träger  einer  Intentionalität«,  »darstellender  Inhalt  für 
das  erscheinende  Weiß  des  Papieres«,  werden  kann^).  (Und  »durch« 
die  noetischen  Formen  >auf  Grund«  der  stofflichen  Erlebnisse  ist 
dann  das  »Noema«    konstituiert,    d.  h.    der  Sinn    der   intentionalen 

1)  Husserl:  Ideen  S.  70.  2)  Ebenda  S.  142  und  279. 

3)  Ebenda  S.  172.  4)  Ebenda  S.  174.  5)  Ebenda  S.  175  und  178. 

6)  Ebenda  S.  65.  7)  Ebenda  S.  203.  8)  Ebenda  S.  65. 


>  Absolutes  Bewußtsein  <   bei  Husserl  und  kritische  Modalität.         51 

Setzung,  z.  B.  gegenüber  dem  wirklichen  Baum  das,  was,  etwa  in  der 
Wahrnehmung,  immanent,  als  Baum  intentional  gesetzt  ist^). 

Allerdings  es  ist  hier  festzuhalten :  alle  bisher  erwähnten  Noesen, 
die  Erkenntnisformen  Husserls,  sind  nur  gewonnen  aus  Analysen, 
die  >an  den  Einzelerlebnissen  haften«,  und  sie  sind  daher  noch  nicht 
identisch  mit  den  grundlegenden  Erkenntnisformen  Kants,  die  Formen 
der  Gesamtheit  von  Erfabrungsinhalten  bedeuten,  > notwendige  Er- 
lebnisse mit  Erlebnissen  verbindende  Formen«. 

Aber  die  ganze  > absolute«  Sphäre  der  > isolierten«  noetischen 
Formen  (und  der  stofflichen  Momente  wie  der  immanent  gegebenen 
Noemen)  bestimmt  auch  nach  Husserl  nicht  das  >letzte<  Absolute, 
sie  bestimmt  nicht  das  Mögliche,  das  die  >tiefstlieg enden«  Er- 
fahrungsbedingungen alles  Wirklichen  bedeutet.  Suchen  wir  diese 
tiefstliegenden  ^Möglichkeiten«,  die  auch  nach  Husserl  allen 
>Wirklichkeiten  vorhergehen  müssen«^),  so  müssen  wir 
ausdrücklich  nach  Husserl  erkennen : 

Auch  das  bisherige  »transzendentale  Absolute« 
Husserls  j>das  wir  uns  durch  die  Reduktionen  heraus- 
präpariert haben,  ist  in  Wahrheit  nicht  das  Letzte, 
es  ist  etwas,  das  sich  selbst  in  einem  gewissen  tief- 
liegenden und  völlig  eigenartigen  Sinn  konstituiert 
und  seine  Urquelle  in  einem  letzten  und  wahrhaft 
Absoluten  hat«  ^). 

Innerhalb  der  >  dunklen  Tiefen  <^)  dieses  >  letzten  .  .  .  konsti- 
tuierenden Bewußtseins«  hat  Husserl  vor  allem  die  >Urs)nthese 
des  ursprünglichen  Zeitbewußtseins«  ^)  hervorgehoben  und  das  »reine 
Ich«  —  in  seiner  »eigenartigen  .  .  Transzendenz  in  der  Immanenz«  — 
offenbar  hierher  gezählt  ^). 

Nur  eine  Darstellung  dieses  obersten  Möglichen  hat  der  Be- 
gründer der  modernen  Phänomenologie  erst  für  spätere  Veröffent- 
lichungen, für  das  zweite  Buch  seiner  »Ideen«,  in  Aussicht  gestellt''). 

Allein  dies  scheint  schon  aus  allem  Bisherigen  und  besonders  aus 
den  letzten  Vordeutungen  klar:  Kant  hatte  nach  der  Lehre  des 
»Schematismus«  und  in  den  3>Postulaten«  gezeigt:  die  formalen  Er- 
fahrungsbedingungen und  ihre  höchsten  Punkte,  das  reine  Ich  und 
die  reine  Zeit,  bedeuten  das  oberste  Möglichkeitsmoment,  das  Moment, 

1)  Husserl:  Ideen  S.  204  und  S.  182/183.  Vgl.  überhaupt  zu  den  Lehren  vom 
-Noema  Kants  Lehren  vom  Wahrnehmungs-  und  Erfahrungsurteil. 

2)  Husserl:  Ideen  S.  159.         3)  Ebenda  S.  163  (im  Original  nicht  gesperrt). 
4)  Ebenda  S.  171  und  246.  5)  Ebenda  S.  110  und  165. 

6)  Ebenda  S.  165  und  HO,  162  und  246. 


52         »Absolutes  Bewußtsein«   bei  Husserl  und  kritische  Modalität. 

das  als  notwendige  Formbedingung  der  Erfahrung  die  Möglichkeit 
aller  erfahrbaren  Wirklichkeit  begründet;  die  Einheit  der  Apper- 
zeption und  die  allgemeine  Form  der  Zeit  sind  das  ermöglichende 
Moment  für  die  Wesenskonstitution  des  v?irklichen  Gegenstandes. 
Über  diese  erkenntnistheoretische  Grundanschauung  ist  auch  Husserl 
bisher  nicht  hinausgewachsen,  sondern  er  hat  sich  gerade  für  seine 
tiefstliegenden  Untersuchungen  am  entschiedensten  zu  ihr  bekannt. 

Gerade  die  >Ideen<  Husserls  zeigen  es  deutlich,  welche  ko- 
pernikanische  Leistung  der  Kritizismus  in  seinem  Möglichkeitsbegriff 
vollzogen  hat,  und  daß  diese  Leistung  bis  heute  nicht  überholt  ist. 

Das  grundlegende  Mögliche  ist  nicht,  wie  in  vorkritischen  Onto- 
logien,  ein  bereits  konstituiertes,  > transzendent  gegebenes  Wesen«, 
es  ist  nicht  der  einfach  >ideierte<,  als  Wesen  gesetzte  Wirklichkeits- 
stoff der  Erkenntnis;  sondern  das  oberste  Mögliche  ist  in  der  Phä- 
nomenologie wie  im  Kritizismus  in  gleicher  Weise  bestimmt  als  die 
grundlegende  Form,  als  die  für  die  Erfahrbarkeit  des  Wirklichen 
wesentlich  notwendige  >Ursy nthese<  ^). 

Als  eine  erweiterte  metaphysische  Deduktion,  als  allseitig  aus- 
gedehnte, als  voll  differenzierende  Beschreibung  aller  »konsti- 
tuierenden« Erkenntniselemente  hat  die  Phänomenologie  ihre  wichtige 
Bedeutung. 

Was  aber  die  großen  erkenntnistheoretischen  Grundmeinungen  an- 
langt, so  gibt  es  —  meiner  bisher  belegten  Meinung  nach  —  keine  »phä- 
nomenologische Philosophie«  als  Neuentdeckung,  sondern  hier  ist  die 
Phänomenologie  Husserls —  eine  Teildisziplin  kritischer  Philosophie. 

Insofern  jedoch  die  Phänomenologie  für  Linke  und  für  andere 
Forscher  (wie  manchen  Äuße]ungen  nach  auch  für  Husserl)  identisch 
ist  mit  einer  allgemeinen  Eidetik,  insofern  enthält  diese  Phänomeno- 
logie sehr  verschiedenartige  und  —  dem  Erkenntnisrang  nach  — 
nicht  miteinander  vereinbare  Wissenschaften  in  sich^). 


1)  Husserl:  Ideen  S.  246. 

2)  Die  nur  bedingte  Geltung  dieser  nicht  transzendental  gerichteten  Phä- 
nomenologie, ihr  Mangel  an  »Erfahrungsfreiheit«,  ihre  Unfähigkeit  Stclbst  zur 
»zweiten«  Philosophie  ist  besonders  instruktiv  durch  R.  Kynast:  »Das  Problem 
der  Phänomenologie«,  1917  dargestellt  worden.  Vgl.  überhaupt  diese  scharfsin- 
nige und  sehr  umsichtige  Schrift,  die,  wie  ich  —  ebenfalls  nach  Abschluß  meiner 
Arbeit  —  zu  erkennen  glaube,  im  Resultat  (obgleich  nicht  in  den  Wegen  der 
Begründung)  den  Ausführungen  dieses  Kapitels  nahe  steht.  —  Die  ästhetische 
und  ethische  Probleme  behandelnden  Schriften  der  phänomenologischen  Schule: 
sind  in  der  vorliegenden  Arbeit  ausgeschaltet. 


IV.    Der  Begriff  der  „Widerspruchslosigkeif'  bei  Pichler  und 
sein  Verhältnis  zur  kritischen  Möglichkeit. 

Verfolgen  wir  nun  zu  einer  neuen  Bestätigung  unserer  Kant- 
auffassung die  direkte  Kritik,  die  Pichler  an  dem  Möglichkeits- 
begriff Kants  geübt  hat. 

Pichler  hat  die  Kantischen  Postulate  zuerst  rein  formal  an- 
gegriffen und  hat  dann  versucht,  an  Stelle  der  kritischen  Möglich- 
keit den  vorkritischen  Begriff  der  Widerspruchslosigkeit  zur  Grund- 
lage einer  Möglichkeitstheorie  zu  gebrauchen. 

Wir  können  hierbei  gerade  die  ontologischen  Grundfragen  der 
Möglichkeit  und  ihre  Lösung  bei  Kant  in  neuer  Beleuchtung  ver- 
deutlichen. 

Der  Begriff  der  transzendentalen  Möglichkeit  —  so  lautet  Pich- 
ler's  Hauptargument  —  ist  zwar  inhaltsbestimmter  als  der  bekannte 
>logische  Möglichkeitsbegriff<  des  Rationalismus,  er  ist  inhaltsbestimmter 
als  der  Begriff  der  > Widerspruchslosigkeit«.  Denn  Kant  hat  dem 
Merkmal  der  Widerspruchslosigkeit  noch  ein  Merkmal  beigefügt :  die 
Übereinstimmung  mit  den  Bedingungen  der  Erfahrung.  Aber  da 
beide  Begriffe,  der  kritische  wie  der  vorkritische,  Raum  lassen  für 
grundlose  Fiktionen,  so  wäre  damit  der  > klassische«  Vorzug  des  Kanti- 
schen Begriffes  sehr  in  Frage  gestellt^). 

Dieses  Argument  scheint  zunächst  durchaus  zuzutreffen.  Denn 
es  ist  auch  von  Kant  scheinbar  zugegeben,  daß  das  >  Postulat«  vor 
a  posteriori  leeren,  vor  > empirisch  gegenstandslosen«  Begriffen  nicht 
schützt.  Ebenso  wie  ein  logisch  möglicher,  so  kann  auch  ein 
a  priori  real  möglicher  Gegenstand  gedacht  werden,  dem  a  posteriori 
kein  Objekt  der  Wirklichkeit  entspricht.  Auch  bei  Kant  scheint  wie 
bei  Meinen g  >real  gültig«  und  >wirklich«  nicht  identisch  zu  sein. 
>Der  goldene  Berg«  Humes  ist,  a  priori  gedacht,  real  möglich,  aber 
a  posteriori  nicht  existierend.     Ob  ein  Begriff  a  posteriori  mög- 


1)  H.  Pichler :  Möglichkeit  und  Widerspruchslosigkeit  S.  2  ff. 


54       >'Widerspruclislosigkeit<   bei  Pichler  und  kritische  Möglichkeit. 

lieh  ist,  kann  nach  Kant  nur  die  Erfahrung  entscheiden.  Die  gegen- 
sfändhche  Möglichkeit  dieser  Begriffe  kann  nur  >aus  der  Wirklichkeit 
in  der  Erfahrung  abgenommen  werden«.  Wollte  man  >sich  aber  gar 
neue  Begriffe  von  Substanzen,  von  Kräften,  von  Wechselwirkungen 
aus  dem  Stoffe,  den  uns  die  Wahrnehmung  darbietet,  machen  . .,  ohne 
von  der  Erfahrung  selbst  das  Beispiel  ihrer  Verknüpfung  zu  ent- 
lehnen, so  würde  man  in  lauter  Hirngespinste  geraten,  deren  Mög- 
lichkeit ganz  und  gar  kein  Kennzeichen  für  sich  hat,  weil  man  bei 
ihnen  nicht  Erfahrung  zur  Lehrerin  annimmt,  noch  diese  Begriffe  von 
ihr  entlehnt.  Dergleichen  gedichtete  Begriffe  können  den  Charakter 
ihrer  Möglichkeit  nicht  so,  wie  die  Kategorien,  a  priori,  als  Be- 
dingung, von  denen  alle  Erfahrung  abhängt,  sondern  nur  a  posteriori, 
als  solche,  die  durch  die  Erfahrung  selbst  gegeben  werden,  bekommen, 
und  ihre  Möglichkeit  muß  daher  entweder  a  posteriori  und  empirisch, 
oder  sie  kann  gar  nicht  erkannt  werden <  (Kr.  B.  S.  269). 

Hieraus  schließt  Pichler  —  anscheinend  mit  Recht:  Auch  die 
reale  Möglichkeit  kann  als  Begriff  a  priori  nicht  jeden  empirisch 
leeren  Begriff  als  leer  erkennen  lassen.  Auch  die  Übereinstimmung 
mit  den  Bedingungen  der  Erfahrung  wäre  nur  eine  > conditio  sine 
qua  non«  des  Möglichen,  aber  der  mögliche  Gegenstand  wäre  damit 
ebenso  wenig  zulänglich  bestimmt,  wie  durch  die  logische  Wider- 
spruchslosigkeit.  Die  logische  Möglichkeit  schützte  ebenso  gut  oder 
ebenso  wenig  vor  den  leeren  Begriffen.  Kant  hatte  gewarnt,  von 
der  Möglichkeit  der  Begriffe  (logische)  auf  die  der  Dinge  (reale)  zu 
schließen  (Kr.  B.  S.  624).  Aber  Pichler  behauptet,  der  Begriff  der 
realen  Möglichkeit  beruht  selbst  auf  dem  Begriff  einer  Erfahrung, 
von  dem  erst  gezeigt  werden  muß,  ob  er  einen  Gegenstand  hat  oder 
bloß  logische  Möglichkeit  besitzt. 

Pichler  weist  hin  auf  die  Metageometrien  und  die  Meinong'sche 
Gegenstandstheorie  und  ähnliche  Wissenschaften,  die  sich  sämtlich 
nur  mit  dem  Logisch-Möglichen  beschäftigen.  Und  doch  habe  diesen 
Wissenschaften  die  > Disqualifizierung«  ihrer  Gegenstände  durch  Kant 
nicht  geschadet.  Es  ist  daher  für  die  Erkenntnistheorie  von  der 
größten  Bedeutung,  diese  grundlegende  Frage  allgemein  zu  unter- 
suchen, ob  die  reale  Möglichkeit  durch  die  vorkantische,  logische 
ersetzt  werden  kann.    Und  Pichler  greift  dabei  aufLeibniz  zurück. 


Bevor  jedoch  diese  Analysen  Pichlers  weiter  untersucht  werden 
sollen,  ist  zunächst  die  wichtige  Frage  nachzutragen:  kann  überhaupt 
die    von   Pichler    erwähnte  Kantinterpretation,    auf    der    seine 


>Widerspriichslosigkeit<   bei  Pichler  und  kritische  Möglichkeit.       55 

Kritik  Kants  aufgebaut  ist,  als  richtig  angenommen  werden?  Und  vor 
allem :  deckt  sich  diese  Interpretation  der  Kantischen  Möglichkeit  mit 
allen  Behauptungen,  die  in  den  >Postulaten<  selbst  durchgeführt  sind ? 
Diese  Frage  ist,  wie  ich  glaube,  entschieden  zu  verneinen.  Denn  die 
Darstellung  Pichlers  und  überhaupt  die  meist  übliche  Darstellung 
des  Kantischen  Möglichkeitsbegriffes  widerstreitet  offenbar  der  Be- 
hauptung Kants,  daß  das  Feld  des  Wirklichen  ausdrücklich  ebenso 
groß  ist,  wie  das  des  transzendental  Möglichen  (s.  Kr.  B.  S.  284). 

Bei  Pichler  liegt  die  Voraussetzung  zu  Grunde,  die  Begriffe 
der  realen  Modalität  seien  ebenso  wie  die  der  logischen  ein  Kri- 
terium, ein  Prinzip  der  Einteilung  der  Gegenstände.  Die 
Gegenstände  müßten  darnach  konsequent  in  drei  Gruppen  zu  gliedern 
sein,  in  solche,  die  dem  Kriterium  der  Möglichkeit  oder  der  Wirklich- 
keit oder  der  Notwendigkeit  genügten.  Unter  dieser  Voraussetzung 
aber  wäre  notwendig  der  Umfang  des  Möglichen  größer  als  der  des 
Wirklichen. 

Denn  da  das  W^irkliche  und  das  Notwendige  einer  größeren  An- 
zahl von  Bedingungen  genügen  müssen,  so  ist  notwendig  nach  einer 
formallogischen  Regel  das  Mögliche  als  das  merkmalärmere  an  Um- 
fang größer. 

Aberdiese  Interpretation  widerspricht  nicht  nur 
dem  Kantischen  Satze  über  das  Feld  des  Möglichen^ 
sondern  sie  widerspricht  auch  den  Grundgedanken 
der  transzendentalen  Logik.  Dies  soll  deshalb  noch  näher 
erläutert  werden. 

Wäre  nämlich  der  reale  Möglichkeitsbegrift'  entsprechend  dem 
logischen  nur  eine  »negative  Bedingung«  der  Gegenständlichkeit,  so 
wäre  notwendig  der  mögliche  Gegenstand  als  bereits  gegeben  voraus- 
gesetzt, und  die  Modalität  wäre  nur  eine  > vergleichende  Regel«.  Es 
würde  ausgegangen  von  dem  möglichen  Gegenstande,  der  im 
Denken  gegeben  ist,  und  über  dessen  Möglichkeit  reflexiv  durch  ein 
Kriterium  entschieden  wird.  Dagegen  sind  ja  gerade  in  den  Postu- 
laten  mit  den  formalen  Bedingungen  der  Erfahrung  konstituierende 
Elemente  des  Gegenstandes  selbst  bezeichnet.  Die  Möglichkeit 
kann  also  nicht  als  ein  Kriterium,  sondern  sie  muß  notwendig  als 
ein  >Bestandteil< ,  als  ein  konstituierender  Faktor  des  Gegen- 
standes, des  existierenden  Gegenstandes,  angesehen  werden.  Und 
Stadler  ist  darnach  im  Recht  mit  der  Bemerkung,  die  Möglichkeit 
sei  bei  Kant  eine  »partielle  Modalität«,  da  sie  eine  >Kompo- 
nente«  des  Erfahrungsgegenstandes  bezeichnet. 


56       >Widerspruchslosigkeit<  bei  Pichler  und  kritische  Möglichkeit. 

Das  Mögliche  ist  bei  Kant  ein  >Ermöglichendes<,  und  der 
Ausgangspunkt  Kants  ist  nicht  der  mögliche,  sondern  der  wirk- 
liche oder  sogar  der  als  notwendig  bestimmte  Gegenstand  der 
Erfahrung.  Es  gibt  für  die  Kantische  Erkenntnistheorie  nur  eine 
Möglichkeit  des  Erfahrungsgegenstandes,  es  ist  derselbe 
Gegenstand,  der  als  möglich  und  wirklich  zugleich  angesehen  werden 
muß,  nämlich:  er  ist  möglich  in  Beziehung  auf  seine  Form 
und  wirklich  in  Beziehung  auf  die  Materie.  Und  die  Po- 
lemik gegen  Pichler  ist  darnach  nach  zwei  Seiten  zu  richten:  1.  der 
Möglichkeitsbegriff  bei  Kant  ist  nicht  wie  der  logische  ein  Kriterium 
alles  gegenständlich  Gegebenen,  er  abstrahiert  nicht  von  allem  Inhalt 
(s.  Kr.  B.  S.  190),  sondern  er  geht  transzendental  auf  den  Inhalt  der 
Erkenntnis,  er  ist  ein  Moment  des  Gegenstandes  selbst.  Und  2.  der 
Kantische  Möglichkeitsbegriff  bezieht  sich  nicht  auf  irgendwie  im 
Denken  erzeugte  oder  gegebene  oder  fingierte  Begriffe,  sondern  er 
ist  nur  auf  den  wirklichen  Gegenstand  der  Erfahrung  gerichtet. 

Das  Mögliche  ist  nach  Kant  nur  ein  Moment  am  wirk- 
lichen Gegenstand,  ebenso  wie  das  Wirkliche  ein  notwendiges 
Moment  am  möglichen  ist.  Das  Mögliche  setzt  ebenso  gut  die 
Wirklichkeit,  die  Beziehung  auf  die  Empfindung  voraus,  wie  die 
Wirklichkeit  die  Möglichkeit.  Aber  eine  Möglichkeit  außerhalb 
des  Wirklichen  ist  nach  diesem  Begriff  der  Erkenntnis  notwendig 
unmöglich.  Kant  sagt  nämlich  ausdrücklich  Kr.  B.  S.  284:  >Zwar 
hat  es  den  Anschein,  als  könne  man  auch  geradezu  die  Zahl  des 
Möglichen  über  die  des  Wirklichen  dadurch  hinaussetzen,  weil  zu 
jener  noch  etwas  hinzukommen  muß,  um  diese  auszumachen.  Allein 
dieses  Hinzukommen  zum  Möglichen  kenne  ich  nicht.  Denn  was  über 
dasselbe  noch  zugesetzt  werden  sollte,  wäre  unmöglich.  Es  kann 
nur  zu  meinem  Verstände  etwas  über  die  Zusammenstimmung  mit 
den  formalen  Bedingungen  der  Erfahrung,  nämlich  die  Verknüpfung 
mit  irgend  einer  Wahrnehmung,  hinzukommen;  was  aber  mit  dieser 
nach  empirischen  Gesetzen  verknüpft  ist,  ist  wirklich,  ob  es  gleich 
unmittelbar  nicht  wahrgenommen  wird«. 

Von  hier  aus  lassen  sich,  wie  ich  glaube,  alle  Einwände  Pich- 
lers  lösen.  Das  Wirkliche  ist  nach  Kant  nicht  identisch  mit  dem 
Wahrgenommenen,  sondern  auch  das  mit  der  Wahrnehmung  (nach 
den  Analogien  der  Erfahrung)  Verknüpfte  ist  wirklich.  Aber  mit 
diesem  Umfang  des  Wirklichen  und  mit  dieser  Beziehung  auf 
das  Wirkliche  ist  auch  der  Umfang  des  Möglichen  erschöpft. 
Das  Feld   des  Möglichen    ist   nicht   größer   als    das    des  Wirklichen. 


>Widerspriiclislosigkeit<   bei  Pichler  und  kritische  Möglichkeit.         57 

Pichler  dagegen  geht  aus  von  den  bloß  möglichen  Dingen  des 
Denkens,  und  deshalb  werden  von  ihm  auch  die  rein  fingierten  Be- 
griffe berücksichtigt  oder  solche,  die  nur  den  formalen  Bedingungen  der 
Erfahrung  entsprechen,  wie  etwa  der  oft  zitierte  Begriff  des  Kentauren. 
Nach  Kant  dagegen  sind  diese  Begriffe  ausdrücklich  unzulässig.  Denn 
nur  auf  Grund  der  Wirklichkeit  gebildete  Begriffe,  nur  wirkliche  Gegen- 
stände der  Erfahrung  sind  hier  möglich.  Und  nur  so,  indem  Kant  statt 
von  dem  möglichen  Dinge  von  der  Analyse  des  wirklichen  ausgeht, 
nur  so  kann  durch  ihn  die  vorkritische  wie  die  moderne  nicht-trans- 
zendentale Logik  aufgehoben  werden.  Denn  von  dem  möglichen 
Gegenstande  aus  ist  der  Begriff  des  Daseins  nicht  zu 
beweisen.  Das  Sein  ist  kein  Prädikat  der  möglichen  Dinge.  Um- 
gekehrt aber  kann  gerade  an  dem  wirklichen  Dinge 
seine  Möglichkeit  als  die  Bedingung  seiner  Erfahrbar- 
keit  bewiesen  werden.  So  zeigt  sich  auch  hier  die  Energie  der 
Kopernikanischen  Tat  Kants,  daß  auch  sein  Möglichkeitsbegriff  die 
totale  Umkehrung  des  vorkritischen,  ontologischen  bedeutet. 

Das  Resultat  dieser  Betrachtung  läßt  sich  demnach  in  den  Satz 
fassen:  Der  Grundirrtum  Pichlers  besteht  darin,  daß  nach  ihm  der 
Kantische  Möglichkeitsbegriff  nur  >der  Spezialfall  eines  Begriffes«  ist, 
>der  bloß  logische  Möglichkeit  besitzt«  (S.  4).  Während  wohl  in  dem 
Bisherigen  genügend  gezeigt  wurde,  daß  die  Kantische  Möglichkeit 
notwendig  als  ein  Moment  des  wirklichen  Gegenstandes  gedacht 
werden  muß,  und  daß  damit  zugleich,  —  mit  diesem  neuen  Gegen- 
stands- und  Möglichkeitsbegriff,  —  die  leeren  Fiktionsbegriffe,  die 
Pichler  anführt,  notwendig  ausgeschlossen  sind. 


Prüfen  wir  nun  dieses  Resultat  in  bezug  auf  die  weitere  Theorie 
Pichlers,  so  ergibt  sich  damit  eine  volle  Bestätigung  der  Kanti- 
schen Gedanken.  Pichler  war,  wie  erwähnt,  davon  ausgegangen, 
die  Systemverengung,  die  bewußte  Restriktion,  die  mit  dem  Rückgang 
auf  das  Wirkliche  bei  Kant  ausgesprochen  ist,  zu  bekämpfen.  Er 
hatte  deshalb  die  transzendentalen  a  priorischen  Momente  des  gegen- 
ständlich Möglichen  nicht  anerkannt,  sondern  er  versuchte,  den  Satz 
des  Widerspruchs  als  einziges  und  ausreichendes  Grundgesetz,  des 
Möglichen  durchzuführen. 

Es  ist  deshalb  besonders  instruktiv  zu  verfolgen,  mit  welchen 
positiven  Argumenten  er  diese  Kantische  Restriktion  zu  umgehen 
sucht.  Pichler  beginnt  hier,  wie  dies  begreiflich  ist,  mit  einer 
analytischen   Untersuchung    der    Sätze    a   priori.      Denn    ein    Urteil 


58       >"Wiclerspruchslosigkeit<   bei  Pichler  und  kritische  Möglichkeit. 

a  priori  ist  eben  ein  solches,  dessen  Wahrheit  bloß  aus  der  Bedeu- 
tung der  verwendeten  Begriffe  rein  nach  dem  Satze  des  Widerspruchs 
entwickelt  werden  kann.  Ein  Begriff  aber  wird  als  gegeben  be- 
trachtet durch  seine  Definition  oder  durch  die  den  Begriff  erfüllende 
Anschauung.  Und  durch  diese  letzteren  Begriffe  sollen  auch  synthe- 
tische Urteile  a  priori  möglich  sein.  Man  sieht,  dies  ist  nicht  die 
Terminologie  Kants.  Aber  Kants  Theorie  ist  ohne  Zweifel  tiefer. 
Denn  bei  Kant  allein  ist  das  synthetische  A  priori  ein  reines 
A  priori,  es  kann  nur  reine,  nicht  empirische  Anschauung  ent- 
halten. Pichler  dagegen,  der  von  dem  bloß  Möglichen  ausgehen 
will,  mußte  dennoch  in  dies  Mögliche,  in  seine  a  priorischen  Begriffe, 
die  Materie  der  Erkenntnis,  die  nur  empirisch  gewonnen 
sein  kann,  mit  einbeziehen.  Jedoch  dies  soll  nur  eine  Nebenbemer- 
kung sein. 

Über  die  Urteile  a  priori  kommt  nun  Pichler  zu  folgendem 
Resultat:  Die  Möglichkeit  eines  Gegenstandes  ist  zu  definieren  als 
die  Widerspruchslosigkeit  gegenüber  allen  Sätzen,  die  a  priori  von 
seinem  Begriffe  gültig  sind.  Denn  gerade  über  die  Möglichkeit  der 
a  posteriorischen  Begriffe  kann  durch  ihre  Apriorisierung  entschieden 
werden.  Mit  dieser  Apriorisierung  wird  allerdings  der  aposteriorische 
Begriff  streng  genommen  verändert.  Denn  wird  ein  aposteriorisches 
A  a  priori  gedacht,  wie  es  die  Tendenz  dieser  Logik  ist,  so  ist  dieses 
A  vieldeutig  gegenüber  seinem  ursprünglichen  A  posteriori,  es 
bedeutet  dann  ein  A-seiendes  überhaupt,  das  >gattungs- 
mäßige<  A  (s.  S.  27).  Oder:  das  apriorische  A  enthält  eine  adä- 
quate Anschauung,  dann  ist  es  ebenfalls  mit  dem  aposteriorischen  A 
nicht  gleichsinnig.  In  beiden  Fällen  aber  wäre  alles  das,  was  dem 
so  gedachten  apriorischen  A  nicht  widerspricht,  seinen  Merkmalen 
nach  als  A  möglich.  Ist  nun  der  Gegenstand  in  der  adäquaten  An- 
schauung a  priori  nicht  denkbar,  so  wären  allerdings  mit  dieser 
Widerspruchslosigkeit  gegenüber  dem  nicht  adäquaten  A  priori  nicht 
alle  unzutreffenden  Merkmale  des  A  posteriori  ausgeschlossen  (denn 
a  priori  gedacht,  wird  eben  dieser  Gegenstand  vieldeutig),  sondern 
nur  die  > echten  Gegensätze«  des  aposteriorischen  A  wären  a  priori 
unmöglich  (S.  22).  Aber  nach  Pichler  kann  auch  nur  dies  der 
Sinn  des  Möglichkeitsbegriffes  sein,  daß  duixh  ihn  für  einen  Gegen- 
stand die  »echten  Gegensätze«  seiner  apriorischen  wie  seiner  aposte- 
riorischen Beurteilung  ausgeschlossen  werden;  daß  also  > Wider- 
spruchslosigkeit gegenüber  allen  wahren  Sätzen  koindiziert  mit  der 
Widerspruchslosigkeit  gegenüber  allen  Sätzen  a  priori«  (S.  27). 


>Widerspruclislosigkeit<    bei  Pichler  und  kntische  Möglichkeit.       59 

Aber  hier  wird  nun  das  Kantische  Problem  von  neuem  bemerkbar. 
In  einem  Falle  nämlich  —  so  betont  auch  Pichler  —  ist  die  er- 
wähnte Koinzidenz  nicht  vorhanden:  dies  ist  der  Fall  bei  den 
Existenzialur teilen.  Über  die  E x i s t e n z  eines  Gegenstandes 
kann  a  priori,  ihrer  Möglichkeit  nach,  nicht  entschieden  werden. 
>Auch  ein  a  priori  eindeutiger  Subjektsbegriff  würde  es  offen  lassen, 
ob  sein  Gegenstand  existiert  oder  nicht«  (S.  28).  Hier  wären  folglich 
die  echten  Gegensätze  aposteriorischer  Urteile  a  priori  möglich.  Es 
kann  a  posteriori  wahr  sein,  daß  kein  A,  das  B  ist,  existiert. 
Und  doch  müßte,  wenn  B  nicht  als  Merkmal  dem  A  widerstreitet, 
die  Existenz  dieses  A  a  priori  als  möglich  gedacht  werden. 
Also  ein  Existenzialsatz  kann  a  posteriori  wahr  und  doch  kann 
a  priori  sein  > echter  Gegensatz«  gültig  sein.  (Die  Mehrdeutigkeit 
des  Subjektsbegriffs  auf  Grund  der  a  priorischen  Beurteilung  »macht 
in  diesem  Falle  nichts  aus«,  S.  28.)  Daraus  folgt:  die  Widerspruchs- 
losigkeit  gegenüber  allen  wahren  Sätzen  fällt  hier  nicht  zusammen 
mit  der  Widerspruchslosigkeit  gegenüber  den  Sätzen  a  priori,  sondern 
dies  gilt  nur  in  bezug  auf  das  ideale  Sein  oder  das  >Sosein<  eines 
Objektes.  Dagegen  die  Existenz  eines  Gegenstandes  kann  nicht 
aus  dem  Wesen,  sie  kann  nicht  a  priori,  nicht  aus  der  Möglichkeit 
beurteilt  werden.  Und  dies  entspricht  einem  Grundsatz  der  Meinong'- 
schen  Gegenstandstheorie:  das  Dasein  eines  Objektes  kann  aus  dem 
Sosein  nicht  abgeleitet  werden,  die  Existenz  ist  gegenüber  dem  Sosein 
zufällig.  Nur  aus  dem  Nichtsosein  kann  unter  Umständen  auf  das  »ideale 
Nichtsein«   und  dadurch  auf  die  Nichtexistenz  geschlossen  werden^). 

Damit  aber  sind  die  Kantischen  >PostuIate«  und  ihre  Stellung 
zum  ontologischen  Problem  indirekt  von  Pichler  bestätigt.  Auch 
Pichler  zeigt  nur  auf  einem  zum  Teil  neuen  Wege,  daß  aus  der 
Möglichkeit  die  Existenz  nicht  ableitbar  ist,  sondern  daß  in  allen 
Fragen  nach  der  objektiven  Realität  der  wirkliche  Gegenstand, 
der  Gegenstand  der  Erfahrung,  eidetisch  gefaßt,  der  Ausgangs- 
punkt sein  muß.  Dagegen  »fangen  wir  nicht  von  Erfahrung  an,  oder 
gehen  wir  nicht  nach  Gesetzen  des  empirischen  Zusammenhanges  der 
Erscheinungen  fort,  so  machen  wir  uns  vergeblich  Staat,  das  Dasein 
irgend  eines  Dinges  erraten  oder  erforschen  zu  wollen«  (Kr.  B.  S.  274). 

Von  hier  aus  erklärt  sich  auch  das  Pichler 'sehe  Paradoxon, 
daß  >die  Geltung  des  logischen  Möglichkeitsbegriffes  .  .  nicht  durch 
das  Bestehen  von  synthetischen  Urteilen  a  priori,  sondern  durch  das 
Bestehen  von  Urteilen  a  posteriori  in  Frage  gestellt  wird«  (S.  15). 

1)  Meinong:  Über  die  Stellung  der  Gegenstandstheorie  S.  32. 


60       >AViderspruchslosigkeit<   bei  Pichler  und  kritische  Möglichkeit, 

Auch  bei  Kant  gibt  es  nämlich  nur  synthetische  Urteile 
a  priori  in  bezug  auf  aposteriorische  Gegenstände.  Und 
die  Synthesis  a  priori  kann  ihrer  Gültigkeit  nach  nur  bewiesen  werden 
als  die  Form  der  Erfahrung  des  a  posteriori  Gegebenen. 
Auch  nach  Kant  ist  der  logische  Möglichkeitsbegriff  nicht  widerlegt 
durch  synthetische  Urteile  überhaupt  (etwa  wie  Pichler  sie  denkt), 
sondern  nur  durch  die  apriorischen  synthetischen  Bedingungen  des 
Erfahrungsgegenstandes,  des  Gegenstandes  a  posteriori. 

Kant  ist  darnach  auch  in  diesem  Punkte  von  Pichler  nicht 
widerlegt,  sondern  mißverstanden  worden. 

Trotzdem  ist  Pichler  auch  bei  dieser  Schwierigkeit  in  betreff 
des  Existenzialurteils  nicht  stehen  geblieben,  sondern  hat  seine  Theorie 
auch  von  hier  aus  auf  eine  interessante  Art  weiter  entwickelt.  Er 
erklärt  nämlich:  Obwohl  die  Möglichkeit  der  Existenz  nicht  a  priori 
aus  der  Widerspruchslosigkeit  erkannt  werden  kann,  obwohl  der 
Möglichkeit  der  Existenz  kein  ideales  apriorisches  Sein  der  Existenz 
entspricht,  so  ist  damit  doch  die  alleinige  und  die  umfassende 
Geltung  des  logischen  Möglichkeitsbegriffs  nicht  aufgehoben.  Die 
Möglichkeit  bedeutet  nämlich  immer  die  Möglichkeit  der  Existenz. 
Die  spezifische  Frage  nach  dem  Dasein  wäre  daher  sinnlos  als  die 
Frage  nach  der  Möglichkeit  der  Existenz  der  Existenz  eines  Inhaltes, 
während  nur  die  Möglichkeit  der  Existenz  des  Inhaltes  mit  Sinn 
untersucht  werden  kann.  Diese  Möglichkeit  wäre  aber,  wie  durch- 
zuführen ist,  durch  die  logische  Möglichkeit  entscheidbar.  Und 
hiermit  wäre  zunächst  ein  voller  Gegensatz  zu  Kant  erreicht.  Bei 
Kant  wurde  die  Existenz,  da  sie  aus  der  Möglichkeit  nicht  ableitbar 
war,  zum  Grundbegriff;  hier  dagegen  wird  die  spezielle  Frage  nach 
dem  Dasein,  als  durch  die  Möglichkeit  nicht  entscheidbar,  abgelehnt 
und  nur  die  logische  Möglichkeit  zum  Grundbegriffe  gemacht. 

Diese  Bedeutung  der  logischen  Möglichkeit  wird  besonders  für 
die  rein  deduktiven,  für  die  Wissenschaften  mit  Systemcharakter 
nachgewiesen.  Sind  nämlich  für  Begriffe  ausschließlich  gegenständ- 
liche Definitionen  zugrunde  gelegt,  so  folgt  daraus  nicht,  daß  jede 
Verknüpfung  der  definierten  Begriffe  objektiv  möglich  ist;  denn  die 
Kombination  kann  leere  Fiktionen  ergeben.  Ein  System  dagegen  ist 
nach  Pichler  >ein  deduktiver  Zusammenhang  von  Sätzen,  die  derart 
aus  den  das  System  definierenden  Axiomen  folgen,  daß  jede  Frage, 
die  nur  mit  Begriffen  des  Systems  operiert,  beantwortbar  ist<  (S.  37). 
In  einem  solchen  System  wäre  die  objektive  Möglich- 
keit eindeutig  an  der  Widerspruchslosigkeit  erkennbar. 


>Widerspruchslosigkeit<   bei  Pichler  und  kritische  Möglichkeit.       61 

—  vorausgesetzt,  daß  die  Axioindefinitioneii  gegenständ- 
lich sind.  Denn  wäre  dies  System  gegeben,  so  müßte  es  nicht  nur 
entscheidbar  sein,  ob  ein  B  seiendes  A  widerspruchsfrei  ist,  sondern 
auch  ob  ein  Non-B  seiendes  A  einen  Widerspruch  enthält.  (Denn 
alle  Fragen  über  A  und  B  müssen  hier  >  beantwortbar <  sein.)  Ist 
aber  A-B  widerspruchslos  und  A-Non  B  widerspruchsvoll,  so  ist  A-B 
logisch  nicht  bloß  möglich,  sondern  logisch  notwendig  und  daher, 
wenn  die  Grunddefinitionen  gegenständlich  sind,  notwendig  —  objektiv 
möglich.  Innerhalb  dieses  Systems  kann  demnach  die  objektive  Mög- 
lichkeit durch  die  innere  Widerspruchslosigkeit  definiert  werden. 

Dagegen  die  Schwierigkeit  wäre  die:  die  grundlegenden  Defi- 
nitionen des  Systems  selbst  können  nicht  nach  derselben  Methode  auf 
die  Möglichkeit  hin  beurteilt  werden,  oder  sie  können  es  nur  dann, 
wenn  sie  ein  besonderer  Fall  eines  allgemeineren  Systems  sind.  So 
ist  nach  Pichler  die  innere  Widerspruchslosigkeit  der  euklidischen 
oder  bestimmter  nichteuklidischer  Axiome  unter  Voraussetzung  der 
Widerspruchslosigkeit  der  Arithmetik  beweisbar  (S.  40).  Dagegen  die 
Axiomdefinitionen  der  Arithmetik  selbst  wären  auf  diese  Art  nicht 
als  widerspruchslos  und  als  gegenständlich  nachzuweisen. 

Aber  hiermit  ist  eben  das  zurückgedrängte  Kanti- 
sche Problem  nochmals  gegeben.  Selbst  nachdem  nämlich 
die  Frage  nach  der  Existenz  bis  auf  die  Axiomdefinitionen  zurück- 
gestellt ist,  ist  sie  auch  hier  nur  dadurch  zu  beantworten,  daß 
die  Gegenständlichkeit  angenommen  und  vorausgesetzt  wird.  Wenn 
Pichler  trotzdem  die  objektive  Gültigkeit  von  Axiomdefinitionen  nach 
der  Art  Leibniz'  zu  begründen  versuchte,  so  sind  damit  offenbar 
die  entsprechenden  Kantischen  Lehren  infolge  von  Mißdeutungen 
übergangen.  Dies  zeigt  sich  z.  B.  bei  der  Interpretation  der  kausalen 
Definition. 

Durch  die  kausalen,  genetischen  Definitionen  wird  nach  Leibniz 
die  Gegenständlichkeit  der  Begriffe  der  Mathematik  begründet;  denn 
durch  sie  werden  die  ^Bedingungen  der  Erzeugung  einer  Sache 
gegeben«.  (So  ist  der  Kreis  gegenständlich  möglich,  da  er  definiert 
werden  kann  als  die  Linie,  die  entsteht  durch  die  Bewegung  des 
Endpunktes  einer  Strecke  um  ihren  andern  als  ruhend  gedachten 
Endpunkt.)  Diese  Theorie  der  Gegenständlichkeit  mathematischer 
Begriffe  steht  im  Zusammenhang  mit  der  Lehre  Kants  von  der  Kon- 
struktion in  der  reinen  Anschauung.  Aber  Pichler  ist  entschieden 
im  Unrecht,  wenn  er  behauptet,  diese  Kantische  Lehre  von  der 
^Konstruktion  der  Begriffe«  sei  überflüssig.     >Denn  der  bloße  Beweis,, 


62        >"Wider.spruc]islosigkeit<   bei   Pichler  und  kritische  Möglichkeit. 

daß  diese  oder  jene  Figur  auf  Grund  der  mathematischen  Axiome 
logisch  möglich  sei,  müsse  ausreichend  sein«  (S.  43).  Dagegen  ist 
historisch  zu  bemerken,  daß  bei  Kant  durch  die  Konstruktion  deut- 
licher als  bei  Leibniz  die  Erzeugung  aus  bloßen  Denkbegriffen  aus- 
geschlossen wird,  und  daß  damit  die  viel  umfassendere  Kantische 
Deduktion  der  Gegenständlichkeit  der  Mathematik  nicht  entbehrlich 
gemacht  werden  kann.  Bei  Leibniz  können  gerade  die  Grundbegriffe, 
aus  denen  andere  nach  der  kausalen  Definition  erzeugt  werden,  nicht 
mehr  begrifflich  als  gegenständlich  bewiesen  werden. 

Endlich  erwähnt  Pichler  die  sogenannten  apriorischen  Seins- 
urteile Leibniz'  als  einen  letzten  Weg,  die  grundlegenden  Axiome 
eines  Systems  als  Realdefinitionen  zu  gewinnen.  Das  Sein  eines 
Gegenstandes  ist  nämlich  nach  dieser  Lehre  > überall  dort  begründet, 
wo  seine  Gattung  eine  universitas  ordinata  ist,  derart,  daß  der  Gegen- 
stand in  dieser  universitas  ordinata  seinen  gesetzmäßig  bestimmten 
Ort  hat«  (S.  55).  Es  ist  nun  sicher:  durch  diese  apriorischen  >Bil- 
dungsgesetze«  der  Gattungen,  etwa  die  »Bildungsgesetze«  der  Kegel- 
schnitte, ist  die  objektive  Möglichkeit  eines  Begriffes  besser  gewähr- 
leistet als  die  Möglichkeit  a  posteriori  erkannter  Begriffe  des  >Pflanzen- 
und  Tierreiches«.  Aber  Pichler  selbst  erklärt:  auch  die  Gegen- 
ständlichkeit der  so  apriori  bestimmten  Begriffe  ist  nicht  >  voll- 
gewichtig«. Denn  auch  diese  >Bildungsgesetze<  und  alle  Axiomdefi- 
nitionen können  letztgültig  nur  durch  den  Rückgang  auf  die  Anschauung 
gewonnen  werden.  Jede  Anschauung  aber  und  jeder  anschauliche 
> dunkle«  Begriff  wird  nach  dieser  Theorie  durch  die  Definition,  durch 
jede  begriffliche  Bearbeitung,  »modifiziert«.  Die  Anschauung, 
das  eigentliche  »Kriterium  der  Gegenständlich- 
keit« ist  nicht  rein  in  ein  begriffliches  A  priori  zu 
»übersetzen«. 

Dies  ist  daher  das  Hauptergebnis  P ichlers:  Die  völlige  Aprio- 
sierung  der  gegenständlichen  Begriffe,  die  völlige  »Emanzipation« 
von  dem  Aposteriori  ist  noch  in  keiner  Wissenschaft  erreicht,  und 
sie  kann  auch  nicht  gegeben  sein.  Aber  sie  ist  notwendig  das 
Ideal  jeder  Wissenschaft.  Und  mit  diesem  Ideal  wäre 
auch  das  Ideal  des  logischen  Möglichkeitsbegriffes 
erreicht.  Denn  insofern  alle  Axiomdefinitionen  —  auch  der  mate- 
rialen  Wissenschaften  —  als  a  priori  und  gegenständlich  angenommen 
werden  könnten,  insofern  wäre  auch  innerhalb  jedes  Systems  die  ob- 
jektive Möglichkeit  eines  Begriffes  an  dem  inneren  Widerspruch  seines 
Gegensatzes  zu  erkennen. 


>Widerspruclislosigkeit<   bei  Pichler  und  kritische  Möglichkeit.       63 

Aber  damit  ist  Pichler  wieder  trotz  aller  Polemik  zu  Kanti- 
schen Gedanken  zurückgekehrt.  Und  er  scheint  dies  auch  in  seinem 
Schlußsatz  zuzugeben,  obwohl  seine  Stellung  hierdurch  nicht  klar 
bezeichnet  wird.  Die  Ergebnisse  Pichle rs  stehen  nämlich,  wie  ich 
glaube,  in  engster  Beziehung  zu  Kants  Lehre  von  dem  »transzen- 
dentalen Ideal«  in  ähnlichem  Sinne,  in  dem  auch  bei  Meinong  und 
Husserl  der  Bezug  auf  dieses  Idealsystem  vorhanden  war. 

Nach  der  transzendentalen  Dialektik  Kants  war  nämlich  die  Idee 
des  Ens  realissimum,  der  Gottesbegriff,  der  apriorische  Inbegriff  aller 
Grundprädikate  der  Gegenstände.  >Ein  jedes  Ding«,  so  heißt  es, 
>steht  .  .  seiner  Möglichkeit  nach  .  .  unter  dem  Grundsatze  der  durch- 
gängigen Bestimmung,  nach  welchem  ihm  von  allen  möglichen 
Prädikaten  der  Dinge,  sofern  sie  mit  ihren  Gegenteilen  verglichen 
werden,  eins  zukommen  muß«  (d.h.  jede  Frage  des  Systems  muß  hier 
als  beantwortbar  gedacht  werden).  > Dieses  beruht  nicht  bloß  auf  dem 
Satze  des  Widerspruchs;  denn  es  betrachtet  außer  dem  Verhältnis 
zweier  einander  widerstreitenden  Prädikate  jedes  Ding  noch  im  Verhält- 
nis auf  die  gesamte  Möglichkeit  als  den  Inbegriff  aller  Prädikate 
der  Dinge  überhaupt,  und  indem  es  solche  als  Bedingung  a  priori 
voraussetzt,  so  stellt  es  ein  jedes  Ding  so  vor,  wie  es  von  dem 
Anteil,  den  es  an  jener  gesamten  Möglichkeit  hat,  seine  eigene 
Möglichkeit  ableite«  (Kr.  B.  S.  599). 

Durch  das  transzendentale  Ideal  werden  also  > Prädikate  nicht 
bloß  logisch  untereinander  verglichen«,  sondern  hier  soll  das  Ding 
selbst  nach  der  Totalität  seiner  gegenständlichen  Merkmale  bestimmt 
werden,  d.  h.  es  handelt  sich  auch  bei  Kant  um  ein  System  im  Sinne 
Pichlers.  Es  sollen  auch  nach  der  transzendentalen  Dialektik  alle 
Fragen  nach  der  Gegenständlichkeit  von  Inhalten  auf  Grund  von 
gegenstä,ndlich  gültigen  Grundbegriffen  bestimmt  werden ;  d.  h.  das 
transzendentale  Ideal  entspricht  dem  apriorischen  Inbegriff  der  gegen- 
ständlichen Axiomdefinitionen  Pichlers.  Daraus  würde  aber  folgen: 
Würde  diese  gesamte  Möglichkeit,  würde  das  »transzendentale  Pro- 
totyp«, würden  alle  Grundbegriffe  der  Gegenstände  a  priori  als  ge- 
geben vorausgesetzt,  so  wäre  auch  nach  Kant  die  Möglichkeit  jedes 
abgeleiteten  Dinges  nach  dem  bloßen  Satze  des  Widerspruchs  ent- 
scheidbar. 


Somit  ist  auch  Pichler 's  Theorie  der  logischen  Widerspruchs- 
losigkeit  in  keiner  Hinsicht  über  die  Kantische  Deutung  der  Möglich- 
keitsprobleme hinausgegangen. 


64 


Namen-  und  Sachregister. 


Auch  P ichler  hat  das  ontologische  Problem  der  Möglichkeit 
nur  in  der  Form  des  >  transzendentalen  Ideals  <,  also  nur  im  Sinne 
der  Kantischen  >  Dialektik  <,  auflösen  können. 

Aber  der  tiefer  liegenden,  der  inneren  Problematik,  die  in  den 
kritischen  Postulaten  Gestalt  gewann,  (den  Fragen,  zu  denen  auch 
Russe rl  undMeinong  hinführten),  kann  kein  >nur  logischer  Mög- 
lichkeitsbegriff« (so  wenig  wie  ein  rein  empirisch  bedingter)  Genüge 
leisten. 


Namen-  und  Sachregister. 


Amseder  31 

Aristoteles  6 

ars  (scientia)  generalis  9, 41 

Atomistik  6 

Axiomdefinitionen  60  f. 

Bedeutungsanalyse  23,  24 
Bestimmbarkeit,  unendliche 
des  Existierenden  40  f. 

Cassirer  17 

Daseinsfreiheit,  daseinsfrei 

16,  29 
Descartes  7 
Diels  6 

Diodorus  Kronos  7 
oo^a  6 
Duns  Scotus  8 

Eidos,  eidetisch  16,  88f.,  42, 
Eidetik  17,  52  [46  f. 

Eleaten  5 

ens  necessarium  8,  auch  63 
t-Royi],  phänomenologische 

44 
Essenz,  essential  16,  17 
euklidische,    nicht   euklidi- 
sche Axiome  61 

Fichte  5 
Frischeisen-Köhler  37 

Gallinger  23,  24 
Gegenstand  14 
heimatlose  Gegenstände 

15,  20 
unmögliche  Gegenstände 
14  f. 
Gesetz  der  Koinzidenz  kom- 
plementärer Möglichkei- 
ten 26 


Gesetz  des  Potius  27 
Gomperz.  H.  17 

Hartmann,  N.  35 
Hobbes  7 
Herbart  6 

Ideal  der  reinen  Vernunft 
40  f. 

Ideation  16,  39 

Ideenblindheit  18 

Immanenz,  immanent  be- 
zogen 42  ff. 

Independenz  der  Phänome- 
nologie 43 

Inhäsivität  28  ff. 

Kategorie,  Merkmale  kate- 
gorialerArt20,  32,  33,39 
xoivat  evvoiai  7,   10 
Kuntze  47 
Kynast  52 

Lambert  17 
Leibniz  9  f.,  54,  61  f. 
Linke  13,  19,  32,  52 
Lukacs  13 

Mally  14,  17 
Metageometrien  54 
Modalität  llflf. 
Möglichkeitslinie  26  f. 

Natorp  47 
Noema  50 
Noese,  noetisch  50  f. 

Objektiv  21,  26 
Ontologie  10,  47 
ontologisches  Argument  7, 
9,  10  f.,  12,  53 


Parmenides  6 

Plato  6,  7 

Pölitz  11 

Psychologie  45,  46,  49 

Psychologismus  24,  49 

Quasinotwendigkeit      27  f., 
[30,  35 
Realität,  real  41  f.,  53 
Reduktion,  phänomenologi- 
sche 44 
Riehl  11,  22,  34 

Schelling  7,  8 

Seinsurteile  a  priori  62 

öigwart  24 

Sosein  16,  17 

Spinoza  7 

Stadler  11,  55 

Stoa  7 

System  36,  37,  60  f.,  62  f. 

Thomas  v.  Aquino  8 
Transzendenz,  transzendent 
gerichtet  43  f. 

Unabhängigkeit  des  Soseins 

vom  Sein  17  f. 
Untatsächlichkeit  26,  27 
Ursynthese  51,  52 

Verite  de  fait  16 
verite  de  raison  16 
Vorurteil   zu   gunsten  des 
Wirklichen  15 

Wesen  16,  17  f. 
Wesensschauung  16  f.,  39 
Widerspruchslosigkeit  24  f., 

53  f. 
Wolff,  Chr.  10,  17