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Full text of "Das Unbewusste vom Standpunkt der Physiologie und descendenztheo : eine kritische Beleuchtung des naturphilosophischen Theils der Philosophie des Unbewussten aus naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten"

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Das  Unbewiisste 


vom  Standpunkt 


der 


Physiologie  und  Descendenztheorie. 


Eine    kritische    Beleuchtung 
des  naturphilosophischen  Theils 

der  Philosophie  des  Unbewiissten 

aus  naturwissenschaftlichen  Gesichtspunkten. 


Berlin. 
Carl    D  u  n  c  k  e  r '  s   T  e  r  1  a  g: . 

(C.   Heymons.) 
1872. 


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Vorwort. 


Ochon  seit  Neujahr  1870  lag  uns  der  Gedanke  nahe, 
die  naturwissenschaftlich  werthvTjllen  und  folgenschweren 
Gedankenkeime,  welche  in  der  „Philosophie  des  Un- 
bewussten"  enthalten  sind,  hervorzuheben,  ihre  Unverträg- 
lichkeit mit  anderen  in  diesem  Werke  maassgebenden  me- 
taphysischen Elementen  darzuthun,  und  ihre  Bedeutung 
durch  detaillirtere  Ausführung  in  helleres  Licht  zu  rücken» 
Es  war  diese  Aufgabe  entweder  in  rein  kritischer,  oder  ia 
rein  positiver  Gestalt  lösbar;  das  Schwanken  zwischen 
beiden  r)ehancllui]gs weisen,  die  in  dem  Xachstchenden  einen 
vielleicht  nicht  ganz  zweckmässigen  Compromiss  geschlossea 
haben,  so  wie  die  Hoffnung,  die  so  nahe  liegende  Aufgabe 
von  berufeneren  Händen  ausgeführt  zu  sehen,  Hess  un& 
mit  der  zusammenhängenden  Niederschrift  der  Gedanken 
zogern,  bis  der  stets  wachsende  P^rfolg  und  Einfluss  der 
„Philosophie  des  Unbewussten",  das  Ausbleiben  einer  sach- 
gemässen  Kritik  von  naturwissenschaftlichem  Standpunkt, 
endlich  statt  deren  das  Erscheinen  einiger  Gegenscliriften^ 
welche  den  Standpunkt  der  Naturwissenschaften,    den   sie 


zu  vertreten  behaupteten,  auf  das  Aergste  compromittirten^ 
es  immer  wünschenswertlier  erscheinen  Hessen,  mit  den 
inzwischen  weiter  ausgearbeiteten  Gedanken  hervorzutreten. 
Wenn  dieselben  trotzdem  noch  immer  den  Eindruck  des 
Aphoristischen,  vielleicht  sogar  Unreifen  machen,  so  möge 
diess  in  der  Neuheit  des  Gegenstandes  und  der  Unmög- 
lichkeit, denselben  schon  jetzt  erschöpfend  zu  behandeln, 
-seine  Entschuldigung  finden. 


Der  Verfasser. 


L 

Descendenztheorie  und  natürliche 
Zuchtwahl. 


Die  .Lehre,  dass  alle  Formen  der  organischen  Schöpfung  auf 
der  Erde  in  einem  genealogischen  Verwaudschaftsverhaltnisse 
stehen  und  auf  gemeinsame  Abstammung  zurückgeführt  werden 
müssen,  diese  Lehre ,  welche  schon  früher  von  Geoffroy  St.  Hi- 
laire,  Lamarck,  Göthe,  Oken  und  anderen  ausgesprochen  war,., 
hat  erst  durch  Darwin's  Lehre  von  der  natürlichen  Zuchtwahl 
eine  so  handgreifliche  Form  gewonnen,  dass  sie  in  der  Natur- 
wissenschaft gegenwärtig  als  fast  allgemein  acceptirt  gelten  kann, 
und  in  den  Gebieten  der  Zoologie,  Botanik,  Paläontologie,  ver- 
gleichenden Anatomie  und  Biologie  eine  vollständige  Revolution 
hervorgerufen  hat.  Nur  einige  äitcre  Naturforscher,  welche  sich 
unfähig  fühlten,  noch  einmal  ganz  umzulernen,  verhalten  sich 
jetzt  noch  ablehnend  gegen  die  Descendenztheorie  oder  Abstam- 
mungslehre, und  diese  auf  dem  Aussterbeetat  stehenden  Gegner 
vermögen  natürlich  nicht,  den  unaufhaltsamen  Siegeslauf  der 
neuen  Wahrheit  zu  hemmen.  Wenn  die  deutsche  Naturphilo- 
soi)hie  schon  lange  vor  Darwin  diese  Lehre  zu  der  ihrigen  ge- 
macht hatte,  wenn  ein  Oken  sogar  den  lebendigen  Urschleim 
(heut  Protoplasma  genannt)  und  die  einzelligen  Infusorien  als 
erste  und  zweite  Stufe  der  organischen  Reihe  aufstellte  und  die 
Anwendung  seines  Princips  auf  den  Menschen  („der  Mensch  ist 
entwickelt,  nicht  erschaffen^')  nicht  scheute,  wenn  Scho- 
penhauer sich  ausdrücklich  zu  der  Lamarck'schen  Abstammungs- 


6 

lehre  bekannte,  wenn  ferner  diese  Lehre  nichts  weiter  ist  als  die 
Anwendung   des  Priueips    der   Eutwickelung    auf    das    orga- 
nische Leben  auf  der  Erde,   also   auch  eine   nothwendige,   wenn 
auch   unausgesprochene    Ergänzung   der  Hegel'schen  Philosophie 
bildet,  deren  Kern  ja  das  Entwickelungsprincip  ist,  —  dann  ist 
es  wohl   kein  Wunder,    wenn   die  jüngste    deutsche  Philosophie, 
welche  sich  selbst  als   die   höhere  Einheit   von  Hegel   und  Scho- 
penhauer ankündigt,    auch  die  Descendenztheorie  ausdrücklich  in 
ihr  System  aufnimmt,  und  dieselbe  auf  ihre  Weise   näher   zu  be- 
gründen sucht.     Sie    erfüllt    damit    einerseits   nur  eine  Aufgabe, 
welche    ihr    durch    den    Entwickelungsgang    der   neuesten  Philo- 
sophie selbst  unmittelbar  vorgezeichnet  und  nahe  gelegt  war,  und 
sie  thut  damit  andrerseits    gegenüber    dem    heutigen  Standpunkt 
der  Wissenschaft   überhaupt   nur   ihre  Schuldigkeit;    denn    wenn 
die   Philosophie    im    Allgemeinen    die    Pflicht    hat,    anerkannten 
Wahrheiten  der  empirischen  Wissenschaften  gegenüber  keine  Ver- 
stösse zu  begehen,    so    ist    insbesondere   heutzutage   jedes  philo- 
sophische System  als  ein  todtgeborenes  Kind,    als   ein  kläglicher 
Anachronismus  zu  betrachten,    welches  so  blind  ist,    die  Desceu- 
denztheojie    negircnd   von   sich    ausschliessen    zu  wollen.     Es  ist 
aber  auch  die  Descendenztheorie    in   ihren  Consequenzen    eine  in 
alle  Gebiete  so  tief  eingreifende  Lehre,    dass  die  moderne  Philo- 
sophie  ebensowohl   neue   Befruchtung   als    auch    neue   Aufgaben 
durch  dieselbe  erhält:  Probleme,  deren  Bearbeitung  schon  ausser- 
halb der  Naturwissenschaft  liegt,    und  doch  für  die  menschlichen 
Interessen  von  höchster  Bedeutung  ist.     Insofern  nun  der  Natur- 
forscher zugleich  Mensch  ist,  und  als  gebildeter  Mensch  an  diesen 
Interessen  Theil  nimmt,    erwächst    auch  ihm   das  Recht  und  die 
Pflicht  der  Prüfung,  ob  und  wie  die  Philosophie   den  Consequen- 
zen der  Abstammungslehre  bereits  Rechnung  getragen  habe.    Bei 
dieser  Untersuchung  werden  wir   uns   wesentlich    an    die  „Philo- 
sophie des  Unbewussten"    als   an  das    einzige  philosophische  Sy- 
stem, welches  zu  der  Descendenztheorie  eine  klare  und  entschie- 
dene positive  Stellung  genommen  hat,  zu  halten  haben;  wir  wer- 
den  ihren  Standpunkt   und    dessen  Detailaustührung   einer  kriti- 
schen Betrachtung  unterwerfen,  welche,  als  gestützt  auf  ein  vom 
ijystem  selbst  adoptirtes  Princip,    der  Anforderung  einer  „imma- 


iienten  Kritik"  entsprechen  dürfte,  und  werden  überall  da,  wo 
die  Ph.  d.  Unb.  vor  dem  Richterstuhl  dieser  Kritik  nicht  besteht, 
uns  zu  bemühen  haben,  in  Gestalt  naturphilosophischer  oder 
psychologischer  Studien  positive  Anhaltspunkte  zu  Tage  zu  för- 
dern, welche  geeignet  sind,  die  Erkenntniss  über  den  als  un- 
zureichend erkannten  Standpunkt  hinauszuführen. 

Die  Wahrheit  der  biologischen  Descendeuztheorie  muss  hier- 
bei natürlich  als  erwiesen  vorausgesetzt  werden,  da  ein  Nachweis 
derselben  zu  viel  Raum  beanspruchen  würde,  und  in  zahlreichen 
Schriften  geliefert  ist,  von  denen  wir  hier  nur  die  drei  wichtig- 
sten Quellenschriften  hervorheben  wollen:  Darwin's  „Entstehung 
der  Arten'^  deutsch  von  Bronn  (4.  Aufl.  Stuttgart,  Schweizerbart 
1870);  Wallace's  „Beiträge  zur  Theorie  der  natürlichen  Zucht- 
wahl" deutsch  von  Meyer  (Erlangen,  Besold  1870),  und  als  syste- 
matischeste endlich  Häckel's  „Natürliche  Schöpfungsgeschichte" 
(2.  Aufl.  Berlin,  Reimer  1870).   ' 

Zur  Beseitigung  eines  häufig  vorkommenden  Missverständ- 
nisses  muss  ich  hier  mit  besonderem  Nachdruck  darauf  aufmerk- 
sam machen,  dass  die  biologische  Descendeuztheorie  vor  der  Dar- 
win'schcn  Lehre  bestand,  und  ihre  Wahrheit  unabhängig  ist 
von  der  Tragweite  und  Zulänglichkeit  der  letzteren.  Dieses 
Yerhältniss  wird  von  den  meisten  Gegnern  Darwin's  verkannt; 
indem  dieselben  Gründe  für  die  Unzulänglichkeit  der  natürlichen 
Auslese  im  Kampf  um's  Dasein  vorbringen,  glauben  sie  in  der 
Eegel  ebensoviel  Gründe  gegen  die  Stichhaltigkeit  der  Descen- 
deuztheorie vorgebracht  zu  haben.  Beides  hat  aber  direkt  gar 
nichts  mit  einander  zu  thun;  es  wäre  ja  möglich,  dass  Darwin's 
Theorie  der  natürlichen  Zuchtwahl  absolut  falsch  und  unbrauch- 
bar und  dennoch  die  Abstammungslehre  richtig  wäre,  dass  nur 
die  causale  Vermittlung  der  Abstammung  einer  Art  von  der  an- 
dern eine  andere  als  die  von  Darwin  behauptete  wäre.  Ebenso 
wäre  es  möglich,  dass  zwar  theilweise  die  von  Darwin  entdeckten 
Yerniittlungsursachen  des  Uebergangs  statt  hätten,  zum  andern 
Theii  aber  Uebergangserscheinungen  vorlägen,  welche  bis  jetzt 
nicht  durch  diese  Annahmen  erklärt  werden  könnten,  und  daher 
entweder  eine  ergänzende  Hülfshypothese  zu  der  Darwinschen 
verlangten,   oder  gar  ein  coordinirtes  Erkläruugsprincip  erforder- 


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ten,  das  bis  heute  ebensowenig  entdeckt  wäre,  wie  das  Dar- 
win'sehe  es  vor  20  Jahren  war.  Eine  solche  theilweise  Unkennt- 
niss  in  den  wirkenden  Ursachen  des  Ueberganges  aus  einer  Form 
in  die  andere  kann  die  allgemeine  Wahrheit  der  Descendenz- 
theorie  ebensowenig  beeinträchtigen,  wie  das  Fehlen  gewisser 
ZwischenfoiTuen ,  oder  die  in  manchen  Fällen  noch  bestehende 
Unsicherheit,  von  welcher  bestimmten  Form  eine  gegebene  andere 
abstamme.  Wenn  selbst  früher,  wo  noch  jede  Kenntniss  über 
die  den  Uebergang  vermittelnden  Ursachen  fehlte,  die  Abstam- 
mungslehre den  bedeutendsten  Köpfen  aus  allgemeinen  natur- 
philosophischen und  apriorischen  Gründen  gesichert  erschien,  so- 
kann  jetzt,  wo  durch  Darwin  und  Wallace  die  unzweifelhaft 
wichtigste,  wenn  nicht  allein  hinreichende  Ursache  des  Ueber- 
gangs  als  überall  wirksam  und  als  für  zahlreiche  Fälle  that- 
sächlich  ausreichend  klar  und  schlagend  nachgewiesen  ist,  um  so- 
weniger  mehr  ein  Zweifel  an  der  Wahrheit  der  Descendenztheorie 
bestehen. 

Auch  in  dieser  Trennung  sind  wir  mit  der  Philosophie  des 
Uubewussten  im  Einklang;  während  dieselbe  die  Descendenz- 
theorie den  Traditionen  der  deutschen  Naturphilosophie  gemäss 
bedingungslos  acceptirt,  und  dem  Darwin'schen  Erklärungspriucip 
ein  hohes  Verdienst  und  eine  vielseitige  Verwendbarkeit  willig 
einräumt,  polemisirt  sie  ebenso  entschieden  gegen  die  Ueber- 
schätzung  der  Tragweite  des  Darwin'schen  Princips  (Ph.  d.  Unb, 
S.  578)*)  und  gegen  den  Glauben,  mit  demselben  alles  leisten  zu 
können;  namentlich  wendet  sie  sich  gegen  die  Erklärung  der 
organischen  Schönheit  allein  durch  natürliche  Zuchtwahl  (S.  255 — 
259),  hebt  das  Hand  in  Hand  Gehen  zweckmässiger  Verän- 
derungen bei  demselben  Individuum  und  bei  beiden  Geschlechtern 
derselben  Art  hervor  (8.  577),  reproducirt  die  von  Wallace  auf- 
gestellten Schwierigkeiten  hinsichtlich  der  Entstehung  gewisser 
Abweichungen  beim  Menschen  (578),  zeigt  auf  das  Problem  hin,, 
wie  sich  typische  Höhenbildungen  zu  einer  neuen  Ordnung  ent- 


*)  Wo  nicht  eine  andere  Auflage  besonderi  angegeben  ibt,  beziehen  sich 
die  citirten  Seitenzahlen  der  Ph.  d.  Unb.  stets  auf  die  gleichlautende  8te  und 
4te  Auflage. 


wickeln  können  (585—588),  und  wiederholt  die  EimvUrfe  Nä- 
geli's*),  dass  die  natürliche  Zuchtwahl  im  Kampf  um's  Dasein 
nur  physiologische,  nicht  morphologische  Veränderungen  hervor- 
rufen und  daher  auch  nur  solche  erklären  könne  (589 — 591).  Wir 
möchten  zu  diesem  noch  eine  Schwierigkeit  hinzufügen,  welche 
unseres  Erachtens  sehr  schwer  zu  wiegen  scheint. 

Darwin  und  Wallace  nehmen  an,  dass  eine  zufällige  indivi- 
duelle Abweichung  sich  erhält,  insofern  sie  für  die  Lebensbedin- 
gungen des  Wesens  sich  nützlich  erweist,  und  dass  Varietäten 
oder  Specien,  welche  von  andern  wesentlich  abweichen  in  einer 
Weise,  die  für  ihre  Lebensweise  einen  besonderen  Nutzen  ge- 
währt, als  entstanden  zu  denken  sind  durch  eine  Summation  mi- 
nimaler zufälliger  Individualabweichungen.  Diese  Erklärung  setzt 
ausgesprochener  Maassen  oder  stillschweigend  voraus,  dass  in  der 
That  jede  dieser  minimalen  Individualabweichungen  sich  unter 
den  Lebensbedingungen  der  damals  bestehenden  Art  für  das  ab- 
weichende   Individuum    als    nützlich    erwies;    wo    diese    Voraus- 


*)  Dass  die  Ph.  d.  Unb.  hiermit  den  Nagel  auf  deu  Kopf  getroffen,  zeigt 
folgende  Steüe  in  Danvin's  neuestem  Werk,  welche  uns  erst  mehrere  Monate 
nach  der  Niederschrift  dieses  Abschnitts  zu  Gesichte  kam:  „Man  kann  daher 
den  direkten  und  indirekten  Resultaten  natürlicher  Zuchtwahl  eine  sehr  be- 
trächtliche, wenn  schon  unbestimmte  Ausdehnung  geben;  doch  gebe  ich  jetzt, 
nachdem  ich  die  Abhandlung  von  Xägeli  über  die  Pflanzen  und  die  Bemer- 
kungen verschiedener  Schriftsteller,  besonders  die  neuerdings  von  Professor 
Broca  in  Bezug  auf  die  Thiere  geäusserten,  gelesen  habe,  zu,  dass  ich  in  den 
früheren  Ausgaben  meiner  ..Entstehung  der  Arten"  wahrscheinlich  der  Wir- 
kung der  natürlichen  Zuchtwahl  oder  des  Ueberlebens  des  Passendsten  zu 
viel  zugeschrieben  habe.  Ich  habe  die  fünfte  Auflage  der  „Entstehung'" 
dahin  geändert,  dass  ich  meine  Bemerkungen  nur  auf  die  adaptiven  Ver- 
änderungen des  Körperbaues  beschränkte.  Ich  hatte  früher  die  Existenz  vieler 
Structurverhältnisse  nicht  hinreichend  betrachtet,  welche,  so  weit  wir  es  be- 
urtheilen  können,  weder  wohlthätig  noch  schädlich  zu  sein  scheinen,  und  ich 
glaube,  dies  ist  eines  der  grössten  Versehen,  welches  ich  bis  jetzt  in 
meinem  Werke  entdekt  habe"  („Die  Abstammung  des  Menschen*',  deutsch  von 
Carus,  2.  Auflage,  Bd.  I,  S.  132).  Wenn  Danvin  es  als  wahrscheinlich  ein- 
räumt, dass  er  „den  Einfluss  der  natürlichen  Zuchtwahl  übertrieben  habe"' 
(ebd.  S.  133),  so  giebt  er  eben  damit  zu,  dass  die  Anhänger  der  Descendenz- 
theorit',  auch  wenn  sie  die  Theorie  der  natürlichen  Zuchtwalü  nicht  gerade 
verwerfen  (S.  132),  doch  dieselbe  als  zur  Erklärung  nicht  allein  hinreichend 
ansehen  müssen,  befindet  sich  also  principiell  nunmehr  mit  der  Auffassung 
der  Ph,  d.  Unb.  und  der  unsrigen  in  Uebereinstimmung. 


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Setzung  nicht  zutreffend  wäre,  würde  der  ganze  Erklärungsmodus 
hinfällig,  gleichviel  ob  nach  Summation  einer  grösseren  Anzahl 
gleichgerichteter  Abweichungen  sich  eine  summarische  Abweichung 
ergeben  mag,  welche  nützlich  ist  oder  nicht;  —  nur  wenn  jeder 
einzelne  der  Summanden  das  betreffende  Individuum  concurrenz- 
föhiger  macht  im  Kampf  um's  Dasein,  nur  dann  wird  diese  Ab- 
weichung sich  vor  dem  sofortigen  Wiederausgleich  mit  entgegen- 
gesetzten zufälligen  Abweichungen  und  vor  dem  Wiederuntergang 
in  die  Stammform  bewahren  und  die  Grundlage  für  weitergehende 
Abweichungen  nach  derselben  Richtung  in  den  folgenden  Genera- 
tionen bilden  können.  Diese  Voraussetzung  trifft  nun  allerdings 
in  vielen  Fällen  zu,  in  vielen  andern  aber  auch  nicht,  und  Dar- 
^™  und  Wallace  haben  es  unterlassen,  jeden  einzelnen  Fall  auf 
das  Zutreffen  dieser  Voraussetzung  zu  prüfen. 

Wenn  eine  Schmarotzer-Milbe  (Myobia),  die  darauf  angewiesen 
ist,  auf  thierischen  Haaren  herumzuspazieren ,  ihr  vorderes  Fuss- 
paar  zu  einem  Klammerorgan  umgebildet  hat,  so  ist  kein  Zweifel, 
dass  jede  noch  so  geringe  individuelle  Abweichung  nach  dieser 
Richtung  das  betreffende  Individuum  besser  befähigt,  mit  den 
Vorderfüssen  ein  Haar  zu  umfassen,  und  an  demselben  sicher  auf 
und  abzuwandern.  Ganz  anders  liegt  die  Sache  hingegen  bei 
den  von  Wallace  mit  Vorliebe  behandelten  Beispielen  von  natür- 
lichen Masken,  bei  welchen  ein  Thier  das  Aussehn  einer  ihm 
ganz  fernstehenden,  durch  irgend  welche  Eigenthümlichkeiten 
besser  geschützten  Gattung  täuschend  nachahmt,  und  dadurch  der- 
selben Sicherheit  gegen  seine  Feinde  theilhaftig  wird  wie  die 
nachgeahmte  Gattung,  ohne  dass  es  dabei  wirklich  deren  Schutz- 
mittel gewinnt.  So  ahmen  z.  B.  gewisse  weisse  Schmetterlinge 
aus  der  Familie  der  Pieriden  (Leptalis)  diejenigen  x\rten  der  Hc- 
liconidcn,  in  deren  Bezirk  sie  leben,  so  täuschend  nach,  dass  man 
sie  äusserlich  fast  nur  durch  die  Structur  der  Füsse  unterschei- 
den kann.  Die  copirten  Heliconiden  besitzen  einen  unangeneh- 
men Geruch  und  Geschmack,  welcher  sie  vor  den  Verfolgungen 
der  Vögel  schützt,  und  da  nur  etwa  1  Leptalis  auf  1000  Heli- 
coniden vorkommt,  so  reicht  dieser  Schutz  für  die  ersteren  voll- 
kommen mit  aus.  Nun  stehen  sich  aber  beide  Gattungen  min- 
destens so  fern   wie  etwa  Fleischfresser  und  Wiederkäuer  unter 


11 

den  Vierfüssern  (Wallace  „Beiträge  zur  Theorie  der  nat.  Zucht- 
wahl" S.  93),  man  kann  sich  daher  leicht  denken,  eine  wie 
grosse  Zahl  von  Zwischenstufen  für  den  Uebergang  nöthig  war, 
wenn  diese  nur  durch  Addition  zufälliger  Individualabweichungen 
erfolgen  sollte.  Flügel ,  Fühler  und  Abdomen  haben  sich  ver- 
längert, die  Farben  der  nachgeahmten  Arten  vom  Gelb  und  Orange 
bis  Braun  und  Schwarz  werden  bis  auf  die  Giade  der  Durch- 
sichtigkeit und  die  Zeichnung  der  kleinsten  Flecke  und  Streifen 
treulich  copirt,  und  selbst  die  Gewohnheiten  sind  derart  modifi- 
cirt,  dass  die  Leptaliden  dieselben  Orte  wie  ihre  Vorbilder  be- 
suchen und  sogar  dieselbe  Flugart  angenommen  haben  (ebd. 
.S.  94 — 95).  Es  ist  klar,  dass  die  Aehnlichkeit  nützlich  ist,  aber 
eben  so  klar,  dass  sie  erst  dann  einen  gewissen  Schutz  gewähren 
kann,  wenn  sie  gross  genug  wird,  um  die  scharfen  Augen 
der  Vögel  zu  täuschen.  Es  würde  also  bei  der  grossen  Diffe- 
renz der  äusseren  Erscheinung  eine  Zwischenstufe,  welche  immer- 
hin dem  Aussehn  der  Heliconiden  schon  näher  steht  als  dem  der 
LeptaHden,  doch  noch  hinreichend  deutliche  Abweichungen  von 
den  Heliconiden  zeigen,  um  von  den  Vögeln  deutlich  erkannt  zu 
werden,  also  den  Inhabern  wenig  oder  gar  nichts  nützen,  und 
jedenfalls  würden  solche  Zwischenstufen,  welche  den  gewöhn- 
lichen weissen  Pieriden  noch  näher  stehen  als  dem  Aussehn  der 
Heliconiden,  in  keiner  Weise  irgend  welchen  Schutz  gemessen, 
also  auch  ihre  Inhaber  nicht  concurrenzfähiger  im  Verhältniss  zur 
Stammform  machen.  Hier  ist  also  die  obige  Voraussetzung  nicht 
erfüllt;  das  Priucip  ist  auf  die  ersten  Stufen  zufälliger  Abwei- 
chungen, ja  selbst  auf  in  der  Mitte  zwischen  beiden  Formen 
-stehende  Zwischenstufen  nicht  anwendbar,  und  kann  deshalb  die 
vorliegende  Erscheinung  nicht  erklären.  Nur  da  wo  die  Stanmi- 
form ,  von  welcher  die  Umwandhing  zur  natürlichen  Maske  aus- 
geht, der  nachgeahmten  Species  ohnehin  schon  so  ähnlich  sieht, 
dass  eine  Verwechslung  von  Seiten  der  Feinde  möglich  ist,  nur 
^a  ist  die  natürliche  Zuchtwahl  im  Stande,  die  Aehnlichkeit  zu 
TervoUkomnmen  und  immer  täuschender  zu  machen.  Da  diess 
aber  nur  bei  einem  Theil  der  bis  jetzt  bekannten  Beispiele  von 
Mimicry  zutrifft,  so  müssen  in  den  übrigen  Fällen  noch  andre  bis 
jetzt  unbekannte  Ursachen  tbätig  gewesen  sein. 


12 

Nach  diesen  Ausstellungen  gegen  die  Tragweite  der  nattir- 
liehen  Zuchtwahl  können  wir  nicht  umhin,  auch  noch  einen  Blick, 
auf  die  Gründe  zu  werfen,  w^elche  einerseits  für  die  hohe  Be- 
deutung der  natürlichen  Zuchtwahl  innerhalb  eines  weiten  Gel- 
tungsgebiets und  andrerseits  für  die  unzweifelhafte  Wahrheit  der 
Descendenztheorie  sprechen. —  Was  zunächst  die  natürliche  Zucht- 
wahl betrifft,  so  ist  folgende  einlache  und  nur  auf  allgemein  be- 
kannte Thatsachen  fussende  Erwägung  geeignet,  uns  einen  Ein- 
blick in  ihr  Wirkungsgebiet  zu  verschaffen.  Jede  Species  hat 
die  Tendenz,  sich  in  geometrischer  Progression  zu  vermehren;, 
da  aber  die  Individuenzahl  jeder  Species  im  Ganzen  durch  lange^ 
Zeiträume  hindurch  stationär  bleibt,  und  nur  ein  kleiner  Theil 
der  meisten  Arten  jährlich  stirbt,  so  muss  allemal  von  dem  Nach- 
wuchs so  viel  zu  Grunde  gehen,  als  er  keine  Stellen  in  dem 
gegebenen  Haushalt  des  Lebens  für  sich  vacant  findet.  Nun 
gleicht  jedes  Wesen  im  Grossen  und  Ganzen  seinen  Vorfahren^, 
deren  Beschaffenheit  es  erbt;  aber  es  gleicht  ihnen  nur  bis  auf 
ein  gewisses  Maass  individueller  Abweichung,  welche  ent- 
weder eine  für  seine  Lebensbedingungen  und  Concurrenzfähig- 
keit  gleichgültige  sein  kann  (dann  erlischt  sie  durch  Kreuzung)^„ 
oder  eine  ungünstige,  dann  wirft  sie  ihren  Inhaber  mit  Sicherheit 
unter  die  grosse  Masse  des  zu  Grunde  gehenden  Nachwuchses^ 
oder  aber  eine  günstige,  dann  erhöht  sie  seine  Chancen  im  Kampf 
der  allgemeinen  Concurrenz  um's  Dasein,  zu  den  Wenigen  zu  ge- 
hören, welche  sich  zu  behaupten  und  ihre  Beschaffenheit  auf 
Nachkommen  zu  vererben  im  Stande  sind.  Es  können  sich  also 
von  allen  individuellen  Abweichungen  vom  Stammestypus  immer 
nur  die  im  Kampf  um's  Dasein  günstig  wirkenden  und  die  Art 
ihrer  Lebensbedingungen  vollkommener  anpassenden  erhalten  und- 
vererben,  diese  ader  kiinnen  sich  durch  neue  individuelle  Abwei- 
chungen nach  derselben  Richtung  in  der  nächsten  Generation 
auch  addiren,  und  diese  hereditäre  Sumniation  der  die  Art 
concurrenzfähiger  machenden  individuellen  Abweichungen  heisst 
eben  „natürliche  Zuchtwahl".  Eine  Species  kann  nur  bestehen 
und  gedeihen,  wenn  sie  sich  im  Anpassungsglei  chgewich  t 
zu  den  sie  umgebenden  Lebensbedingungen  befindet,  und  die  ge- 
rühmte Vollkommenheit  der  Organismen  beruht  eben  darin,   dass' 


15 

die  allermeisten  sich  in  diesem  Zustande  des  Anpassungsgleich- 
gewichts unserm  Blicke  präsentiren.  Wenn  die  Lebensbedingungen 
sich  ändern,  so  kommt  es  darauf  an,  ob  die  Species  solche  indi- 
viduelle Abweichungen  aus  sich  hervorbringt,  dass  aus  denselben 
durch  Ueberleben  des  Passendsten  und  Vererbung  seiner  Be- 
schaffenheit auf  die  Nachkommen  sich  eine  Abänderung  der  Art 
entwickelt,  welche  mit  der  Abänderung  der  Lebensumstände  glei- 
chen Schritt  hält.  Ist  obige  Bedingung  nicht  erfüllt,  oder  ist  die 
Aenderung  der  Verhältnisse  zu  gross  oder  zu  plötzlich,  so  nimmt 
die  Art  an  Zahl  ab,  verkümmert  und  stirbt  aus;  auch  solche  im 
Yerfall  und  im  Aussterben  begriffene  Arten  sind  uns  in  der 
Gegenwart  vielfach  bekannt.  Da  nun  die  physischen  Verhältnisse 
auf  jedem  Theil  der  Erdoberfläche,  wie  uns  die  Geologie  lehrt, 
in  einem  beständigen  Wechsel  befindlich  waren  und  immer  sein 
werden,  so  begreift  es  sich,  ein  wie  grosses  Feld  der  Wirksam- 
keit der  natürlichen  Sichtung  des  überreichen  sich  zum  Leben 
drängenden  Nachwuchses  in  allen  Arten  und  der  durch  Ver- 
erbung hieraus  entspringenden  natürlichen  Zuchtwahl  zu  allen 
Zeiten  off'en  stand,  und  es  stellt  sich  nunmehr  als  eine  Haupt- 
aufgabe der  Geologie  und  Biologie  heraus,  durch  wechselseitigen 
Vergleich  der  physischen  Lebensbedingungen  einer  gewissen  Ge- 
gend zu  einer  gewissen  Zeit  und  der  Beschaffenheit  der  daselbst 
:florirenden  Thier-  und  Pflanzenspecien  eine  Art  öcologischer  Statik 
des  Katurlebens,  d.  h.  eine  Kenntniss  aller  Arten  von  Anpassungs- 
gleichgewichten kennen  zu  lernen,  eine  Kenntniss,  welche  gestatten 
würde,  von  der  Beschaffenheit  einer  Species  genaue  Schlüsse  aut 
seine  Lebensbedingungen  oder  von  einer  Veränderung  einer  Spe- 
cies auf  die  entsprechende  Veränderung  der  Lebensbedingungen 
zu  machen,  und  ebenso  umgekehrt.  Wenn  man  nun  aber  die 
Einflüsse  der  geologischen  Veränderungen  der  physischen  Ver- 
hältnisse der  Erdoberfläche  genetisch  nachconstruirt  hat,  so  muss 
man  hierin  auch  die  hauptsächlichsten  Ursachen  für  die  Verän- 
derung der  die  Erdoberfläche  bewohnenden  Organisation  begriffen 
haben.     Diess  führt  uns  zu  der  Descendenztheorie  hinüber. 

Schon  seit  dem  Entstehen  der  vergleichenden  Anatomie  war 
es  das  eifrigste  Bestreben  der  Zoologen  und  Botaniker,  die  gegen- 
wärtig   lebenden  Organisationsformen    nach   ihrer  Verwandtschaft 


14 

in  ein  natürliches  System  zu  ordnen,  welches  ungesucht' 
mehr  und  mehr  die  Gestalt  eines,  wenn  auch  vielfach  lückenför- 
migen,  Stammbaums  annahm.  Andrerseits  erkannte  man  schon 
früh,  dass  die  Entwickelungsgeschichte  des  Individuums  (Embryo- 
logie und  Metamorphologie)  eine  bedeutende  Analogie  mit  diesem 
Stammbaum  zeige ,  dass  sie  aber  denselben  doch  immer  nur  un- 
vollkommen in  der  Weise  recapitulire,  dass  sie  nicht  dem  Ganzen y. 
sondern  nur  einer  einzelneu  Linie  desselben  entspreche.  Die 
paläontologischen  Forschungen  fügten  diesen  beiden  Reihen  eine- 
dritte hinzu,  indem  sie  mehr  und  mehr  ermittelten,  welche  Thier- 
arten  einer  jeden  geologischen  Periode  den  Thierarten,  Gattungen 
und  Ordnungen  der  Gegenwart  systematisch  entsprächen.  Als 
Ganzes  genommen  zeigte  nun  der  paläontologische  Stamm- 
baum die  vollkommenste  Uebereinstimmung  mit  dem  systema- 
tischen der  vergleichenden  Anatomie,  nur  dass  er  die  Lücken 
des  letzteren  in  soweit  ergänzte,  als  die  Vertreter  vergangener 
geologischer  Perioden  sich  nicht  bis  in  die  gegenwärtige  Flora 
und  Fauna  hinein  conservirt  haben;  im  Einzelnen  betrachtet,. 
d.  h.  eine  paläontologische  Vorfahrenreihe  einer  bestimmten 
Thierart  der  Gegenw^art  aus  dem  Ganzen  herausgelöst,  zeigt  er 
wiederum  die  vollständigste  Uebereinstimmung  mit  dem  Ent- 
wickelungsprocess  des  Individuums  vom  befruchteten  Ei  bis 
zur  endgültigen  Form.  Diese  Uebereinstimmungen  sind  nur  so 
zu  deuten,  dass  der  systematische  Stammbaum  nur  die  historische 
Projection  des  paläontologischen  Stammbaums  auf  die  Gegen- 
wart ist,  und  dass  die  embryologische  Entwickelungsreihe  nur  die 
abbrevirte  individuelle  Recapitulation  der  paläontologischen 
Entwickelungsgeschichte  der  Species  ist,  zu  welcher  Entwicke- 
lungsreihe natürlich  nur  ihre  direkten  Vorfahren,  also  nur  eine 
einzige  Linie  des  gesummten  paläontologischen  Stammbaums, 
gehören.  Xur  indem  der  paläontologische  Stammbaum 
als  wirkliche  genealogischeDescendenz  gefasst  wird,  lösen 
sich  alle  diese  Piäthsel,  und  wächst  die  Auffassung  der  gcsammten 
Biologie  zu  einer  grossartigen  Einheit  zusammen.  Unter- 
stützt wird  diese  Auffassung  noch  wesentlich  durch  die  Fort- 
schritte der  Lehre  von  der  geographischen  und  topographischen 
Verbreitung  der  Specien,  und  die  Aendcrung  dieser  Verbreitungs- 


15 

bezirke  in  den  früheren  geologischen  Perioden,  ein  Wissenschafts- 
zweig, der  ganz  unverkennbar  für  jede  Art  auf  eine  Urheimath 
oder  ein  Ausbreitungscentrum  zurückführt.  Zur  weiteren 
Empfehlung  dient  ihr  die  Lehre  von  den  rudimentären  Or- 
ganen, welche  durch  Nichtgebrauch  verkümmert  und  entartet 
sind,  aber  trotz  ihrer  nunmehrigen  Unzweckmässigkeit  immer  fort- 
bestehen, —  eine  Erscheinung,  die  durch  Verweisung  auf  den 
allgemeinen  Schöpfungsplan  (Ph.  d.  Unb.  S.  170)  in  Anbetracht 
der  behaupteten  Allweisheit  und  Allmacht  des  Unbewussten  kei- 
neswegs befriedigend  erklärt  wird,  während  die  Vererbung  diese 
Constanz  der  morphologischen  Grundtypen  sofort  genügend  be- 
gründet. Endlich  bestätigt  sich  die  Descendenztheorie  um  m 
mehr,  je  tiefer  man  in  den  Zusammenhang  des  Naturlebens,  in 
die  Wechselbeziehungen  der  Organismen,  ihrer  Einrichtungen  und 
Lebensgewohnheiten,  insbesondere  in  die  Erscheinungen  des  Com- 
mensalismus  und  Parasitismus  eindringt.  Alle  diese  Betrachtungen 
im  Zusammenhang  müssen  die  Wahrheit  der  Descendenztheorie 
zur  vollkommenen  Evidenz  bringen.  Die  Ph.  d.  ünb.  fügt  diesen 
inductiven  Bew^eisen  einen  deductiven  hinzu,  mit  dem  wir  den 
nächsten  Abschnitt  beginnen  wollen. 


IL 

Die  Teleologie  vom  Standpunkte  der 
Descendenztheorie. 

Wenn  schon  die  eigenthümliche  Begründung,  welche  die  Ph. 
d.  Unb.  für  die   Descendenztheorie  beibringt,   der  Form  nach  de- 
ductiv  ist,   so  entspricht  sie   doch   ihrem  Inhalt  nach  dem  Geiste 
der  Naturwissenschaft  vollständig,   da  sie,   wie  im  Grunde  alle 
naturwissenschaftliche  Hypothesenbildung,  auf  der  fortschrei- 
tenden Elimination  des  Wunderbegriffs  beruht.     Der 
roheste  Wunderglaube   wäre  nämlich   die  Annahme  unmittelbarer 
Erschaffung  aller   Specien   in  erwachsenen  Exemplaren;    ein  ge- 
ringeres Wunder  wäre  schon  die  Erschaffung  derselben  in  Gestalt 
befruchteter  Eier,  welche  etwa  geeigneten  Pflegeeitern  anvertraut 
wurden;  eine  weitere  Reduction   erlitte  das  Wunder,   wenn  diese 
Eier  an   ihrer  natürlichen  Stelle,   dem   Eierstock  der  nächstver- 
wandten 8pecies,  entständen  und  der  übernatürliche  Eingriif  sich 
auf  Herstellung  derjenigen  Abweichungen  beschränkte,  welche  die 
Entwickeliing  zu  der  neuen  Species  prädisponiren;  endlich  werden 
diese  Eingriffe  auf  ein  Minimum  zurückgeführt  durch  die  Annahme, 
dass  die  Uebergänge  in  einer  Addition  von  zufälligen  individuellen 
Abweichungen  bestehen,  zu  deren  Fixirung  in  den  meisten  Fällen 
die  natürliche  Zuchtwahl  ausreicht.     Nach  derselben  Methode  der 
Elimination  des  Wunders  hätte  nun  aber  weiter  geschlossen  werden 
müssen,  dass  in  allen   den  Fällen,   wo   die   natürliche  Zuchtwahl 
nicht  ausreicht,  andere  noch  unbekannte   wirkende  Ursachen  vor- 
handen sein    müssen,   mechanische   Zusammenhänge,   die   uns  bis 
jetzt  verschlossen  geblieben  sind.      So   schliesst  aber   die  Ph.   d. 
Unb.  nicht,  sondern  sie  statuirt  überall  da  direkte   übernatürliche 


17 

I^ingriffe  eines  intelligenten  metaphysiseben  Willens  in  den  natur- 
^esetz massigen  Verlauf  der  organischen   Processe^  wo    „die   ent- 
standenen  Abweichungen,    welche   zum  Plane   des   Unbewussten 
^•ehören,  aber  den  Organismen   keine   gesteigerte  Co  neu  r- 
renzfähigkeit   im   Kampfe    ums   Dasein  verleihen ,    vor   dem 
Wiederverlöscheu     durch  Kreuzung    bewahrt"    werden    sollen 
(S.   593),   und   ebenso   statuirt   sie  dort  übernatürliche   Eingriffe, 
^0  nicht  zufällig  entstehende  und  doch  im  Schöpfungsplan  liegende 
Abweichungen  hervorgerufen  werden  sollen,  (ebenda),  obwohl 
sich  doch  gar  nicht  sagen  lässt,  dass  irgend  welche  minimale  In- 
dividualabweichungen  nicht  zufällig  entstehen  könnten,    sondern 
eigentlich  auch  hier  nur  das   Fixiren   solcher  Abweichungen   ge- 
meint ist,  die  erst  nach  längerer  Addition  in  bestimmter  Richtung 
^eine  Bedeutung   erlangen   (z.   B.   Uebergang  in  neue   Ordnungen 
und  neue  morphologische  Typen).     Jedenfalls  verlässt  die  Ph.  d. 
U.    bei    dieser  Hypothese    übernatürlicher  Eingriffe    die    natur- 
wissenschaftliche Anschauungsweise  und  Methode,  und  zieht  meta- 
physische Aushülfen  heran,    um  thatsächlich   vorhandene,  Lücken 
der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss  auszufüllen.     Diess  kann 
4ie  Naturwissenschaft  nicht  acceptiren;  so  wenig  sie  sich  darum 
^u  bekümmern  hat,  ob  die  Naturgesetze  und  die  Causalität  letzten 
Endes   sich  selbst  wieder   in  Finalität    und  logische   Kategorien 
.auflösen,  so  sehr  muss   sie    doch  darauf  halten,   dass   ibr   Gebiet 
xein  von  solchen  Beimengungen   bleibt   und   dass   die   Lücken  in 
der  Erkenntniss  der  causalen  Zusammenhänge  der  objectiven  Er- 
scheinungswelt offen  als  solche  anerkannt  und  der  künftigen  Aus- 
füllung durch  rein  causale  und  mechanische  Zusammenhänge  offen 
gehalten  werden,  hinter  welchen  dann  immerhin  die  Metaphysik 
ihren  ungestörten  Tummelplatz  behalten  mag.     \yenn  auf  S.  790 
die  Causalität  als  „logische  Nothwendigkeit"   bestimmt  wird,  die 
durch  einen  Willen  reahsirt  wird,  und  wenn  diese  logische  Noth- 
wendigkeit  als  die  gemeinsame  Wurzel  von  Causalität  und  Fina- 
lität bezeichnet  wird,  so  darf  diess  keinenfalls  so  gedeutet  werden, 
als  ob  der  metaphysisch-teleologische  Eingriff  in  einen  naturgesetz- 
lichen Process  mit  der  in  dieser  wirkenden  Causalität  auf  gleicher 
Stufe  stände.    Die  naturgesetzliche   Causalität  wirkt   immer   auf 
dieselbe  Weise,  unbekümmert  darum,  ob  im  besonderen  Falle 


18 

ihr     Wirken    empfindenden     und    lebenden     AVesen    nützlich 
oder  verderblich  wird,  ob  sie  die  Naturzwecke  des  Welten- 
planes unmittelbar  fördert  oder  hemmt ;  der  teleologische  Ein- 
griff hingegen   arbeitet    immer    und    ausnahmslos    direkt 
auf  den    Zweck  des    Naturprocesses   hin.     Die    naturgesetzliche 
Causalität    richtet    sieh  allein   nach  den     gegebenen   Umständen 
und  reagirt  auf   diese  mit    blinder  Noth wendigkeit;  der 
teleologische  Eingriff  richtet  sich  zwar  auch  nach  den  gegebenen 
Umständen  und  erfolgt  ebenso  gleichmässig  wie  die  causale  Wir- 
kung, sobald  die  Umstände  identisch   wiederkehren,   aber  diese 
Gleichmässigkeit  ist  bedingt  durch  das  Sichgleichbleiben  des  End- 
zweckes,   und  die    momentane   teleologische   Berücksichtigung 
dieses  Endzweckes  ist  das  neu  hinzutretende  Moment,  welches 
eben    eine    Modification    der    vorliegenden    Umstände    durch 
einen  metaphysischen  Willen  in  dem  Sinne  herbeiführen  soll,  dass 
nunmehr   die   Wirkung   der  Naturgesetze    eine  dem   Naturzweck 
unmittelbar  dienende  wird,  die  ohne  diesen  Eingriff  eine  dem 
Naturzweck  wenigstens  in  diesem  Falle  zuwiderlaufende  ge- 
worden  wäre   (Pb.  d.  U.    S.    142—143,    176-178).      Wenn    die 
naturgesetzliche  Causalität  zugleicli  eine  möglichst  zweckmässige 
sein  soll,  so  liegt  doch  diese  Zweckmässigkeit  nicht  im  einzelnen 
Fall,  sondern  nur   in  dem   vielfach  von   Rückschlägen  und  Hem- 
mungen durchkreuzten  Gesammtgange,   und   das  Gesetz  wird  im 
einzelnen  Fall  nur  inne  gehalten,  weil  die  Coustanz  der  Wirkungs- 
weise   teleologisch    gefordert    ist    (S.    560   Anm.)  und   von   allen 
möglichen    Gesetzen    dieses    das     durchschnittlich     zweck- 
mässigste  oder  das  relativ  zweckmässigste  in   Bezug    auf  das 
Gesamm t resultat  ist;    der  teleologische    Eingriff   hingegen 
wird  als  die  hinzutretende  Correktur  gedacht,  welche  den  durch 
constante  Gesetze  teleologisch  nicht  zu  leistenden  Rest  auf 
ihre  unmittelbare    Action    übernimmt.     Dieser   Unterschied    darf 
nicht  tibersehen  werden ;  er  ist  deutlich  genug  ausgesprochen,  und 
ist  gross  genug,  um  die  Naturwissenschaft   zu   einem  energischen 
Protest  gegen  den  etwaigen  Versuch  zu  veranlassen,  durch  meta- 
physisch-teleologische  Auslegung   der  CausaHtät  zugleich  den  un- 
mittelbaren  teleologischen   Eingriff  mit  einschmuggeln  zu  wollen. 
Lässt  man  sich  den  letzteren  einmal  gefallen,  so  ist  das  Wunder 


19 

seinem  Begriff  nach  (als  metaphysischer  Eingriff  in  den  gesetz- 
massigen  Gang  der  physischen  Causalität)  acceptirt,  und  es  ist 
dann  nur  noch  eine  Differenz  dem  Grade  nach,  welche  das 
theologische  Wunder  (insofern  es  nicht  naturwidrig  gefasst  wird) 
von  diesem  metaphysischen  unterscheidet;  —  ob  der  unbewusste 
Wille  Atome  verschiebt  und  dadurch  Ströme  im  Organismus  er- 
zeugt, welche  den  Wachsthumsprocess  in  eine  neue  Richtung 
drängen,  oder  ob  Gott  in  der  Transsubstantiation  die  üratome  so 
umlagert,  dass  die  chemischen  Elemente  sich  in  andre  verwan- 
deln, das  ist  kein  Unterschied  mehr  im  Wesen  der  Sache,  son- 
dern nur  noch  in  der  Intensität  und  Ausdehnung  des  Eingriffs. 
Fragen  wir  nun,  was  die  Ursache  eines  solchen  Abfalls  von 
der  naturmssenschaftlichen  Anschauungsweise  bei  der  Behand- 
lung einer  naturwissenschaftlichen  Frage  gewesen  sein  mag,  so 
zeigt  sich  die  Neigung  dazu  einerseits  durch  die  Antecedentien 
der  deutschen  Philosophie  vorgezeichnet,  und  muss  andrerseits 
auf  den  Abschnitt  A  der  Ph,  d.  Unb.  verwiesen  werden,  welcher 
das  Resultat  gegeben  hatte,  dass  jeder  Moment  desLe- 
bensprocesses  eine  Summe  zahlloser  teleologischer 
Eingriffe  erfordert.  Die  deutsche  Philosophie  war  von  jeher 
gewohnt ,  der  Idee  einen  maassgebenden  Eiufluss  auf  die  Le- 
bensprocesse  der  Organismen  zuzuschreiben,  welche  als  Träger 
der  Realisationen  der  Idee  gelten  sollten;  den  Kant-Fichte'schen 
subjektiven  Idealismus  ganz  bei  Seite  gelassen ,  findet  sich  auch 
bei  Schelling,  Schopenhauer  und  Hegel  nirgends  eine  genügende 
Würdigung  der  Materie  als  einer  selbstständigen,  jedes  metaphy- 
sischen Eingriffs  in  ihre  Gesetze  und  Rechte  spottenden  Macht; 
überall  werden  vielmehr  die  organischen  Wesen  als  unmittelbare 
individuelle  Realisationen  der  Idee  behandelt.  Hiergegen  er- 
scheint das  Verfahren  der  Ph.  d.  U.  in  der  That  als  ein  him- 
melweiter Fortschritt,  welches  der  unbewussten  Idee  als  organi- 
sirendem  Princip  die  Materie  als  selbstständige  coordinirte  Macht 
gegenüberstellt,  deren  Gesetze  jene  nicht  überspringen  kann,  son- 
dern mit  denen  sie  rechnen  und  die  sie  zu  ihren  Zwecken  klu^ 
benutzen  muss  (S.  605),  —  wenngleich  in  Jetztei_Reihe  die  Materie 
mit  ihren  unverbrüchlichen  Gesetzen  auch  hier  nur  als  Objek- 
tivation  der  Idee  auf  niederer  Stufe   erscheint.    Diese   metaphy- 


20 

^sche  Voreingenommenheit  wirkte  zusammen  mit  den  Resultaten 
des  Abschnitts  A.  Dieser  Abschnitt  aber  behandelt  alle  vorkom- 
menden Probleme  ohne  jede  Rücksicht  auf  die  Descen- 
denztheorie,  >Yährend  dieselben  derart  sind,  dass  sie  einzig 
und  allein  von  dem  Staudpunkt  der  Descendenztheorie  aus 
richtig  gestellt  und  annähernd  gelöst  werden  können. 
Werthvoll  ist  hingegen  der  dort  zur  Evidenz  gebrachte  Satz, 
dass  Instinct,  Reflexbewegungen,  Naturheilkraft,  sclbstständige 
Functionen  niederer  Nervencentra  und  organisches  Bilden  ein 
immittelbar  zusammengehöriges  Ganze  darstellen  (S.  164—165), 
eine  Reihe,  in  der  jedes  Glied  mit  jedem  andern  durch  flüssige 
üebcrgänge  verbunden  ist,  so  wie  ihre  höchsten  Glieder  in  ebenso 
flüssiger  Weise  in  die  Erscheinungen  des  bewussten  Geisteslebens 
hinüberleiten.  Es  kann  hiernach  nur  ein  und  dasselbe  Er- 
klärungsprincip  sein,  welches  in  allen  diesen  Erscheinungs- 
gebieten maassgebend  ist.  Anstatt  aber  mit  demjenigen  Gliede 
der  Reihe,  welches  durch  die  Descendenztheorie  am  besten  er- 
klärt wird ,  zu  beginnen  und  von  diesem ,  der  Zweckmässigkeit 
der  organischen  Bildungen,  hinaufzusteigen  zu  den  andern,  be- 
ginnt die  Phil.  d.  Unb.  gerade  umgekehrt  mit  dem  schwierigsten, 
dem  Instinct,  und  thut  dort  der  Möglichkeit  einer  Erklärung  durch 
die  Descendenztheorie,  wde  sie  Darwin  in  seinem  Capitel  Instinct 
bietet,  nicht  einmal  Erwähnung.  Diess  ist  nur  so  zu  erklären, 
dass  diese  Abschnitte  vor  jeder  Bekanntschaft  mit  Darwin's  Ori- 
ginalwerk und  auch  vor  genauerer  Bekanntschaft  mit  der  Be- 
deutung und  Tragweite  der  Descendenztheorie  überhaupt  verfasst 
öind,  während  die  Cap.  IX  und  X  des  Abschn.  C. ,  namentlich 
der  Schluss  des  Cap.  X  bereits  eine  Kenntniss  der  eminenten 
Bedeutung  der  Descendenztheorie  erkennen  lassen.  Durch  diesen 
Unterschied  zwischen  den  Abschnitten  A  und  C  fällt  das  Buch 
in  naturwissenschaftlicher  Hinsicht  gleichsam  in  zwei  Stücke  aus- 
einander, die  nicht  zusammenpassen  wollen,  —  eine  Thatsache, 
die  meines  Wissens  keiner  der  zahlreichen  Rccensenten  des  Wer- 
kes auch  nur  von  Ferne  geahnt  hat.  Ist  aber  die  Descendenz- 
theorie eine  Wahrheit,  (wie  die  Ph.  d.  U.  zugiebt),  und  ist  sie 
im  Stande,  für  die  Erscheinungsreihen  des  ersten  Abschnitts, 
wenn  auch  nur  theilweise,  wirkliche  Erklärungen  zu  liefern  (was 


21 

211  UDtersuchen  die  Ph.  d.  U.  im  Abschnitt  A  versäumt  hat,  wäh- 
rend sie  es  im  Abschn.  C.  Cap.  IX  in  vielen  Punkten  zugiebt), 
so  wird  dadurch  die  ausschüessliche  Geltung  und  das  angenotm- 
mene  Wahrscheinlichkeitsmaass  des  im  Abschn.  A  angewandten 
Erklärungsprincips  ebenso  wie  die  mit  Hülfe  desselben  erzielten 
Resultate  in  Frage  gestellt,  also  auch  die  Behauptung  von  den 
beständigen  teleologischen  Eingriffen  des  organisirenden  Unbc- 
wussten  an  den  Lebensprocess  nicht  ohne  Weiteres  als  Aushülfe 
für  die  Lücken  herangezogen  werden  dürfen,  welche  die  natür- 
liche Zuchtwahl  in  dem  Verständniss  der  Descendenztheorie  lässt. 

Die  weitere  Ausführung  des  hier  nur  andeutungsweise  zur 
vorläufigen  Orieutirung  Vorangeschickten  kann  erst  später  folgen  ; 
dagegen  wollen  wir  in  diesem  Capitel  noch  auf  zAvei  Stellen  ein- 
gehen ,  in  welchen  die  teleologischen  Eingriffe  aus  allgemeinen 
Gesichtspunkten  besprochen  werden.  Die  erste  derselben  ist  der 
Aufsatz  „üeber  die  Lebenskraft'^  in  den  „Gesammelten  philoso- 
phischen Abhandlungen  zur  Phil.  d.  Unb/'  (Berlin,  Carl  Dunckcr 
1872),  die  andere  das  zweite  Einieitungscapitel  der  Ph.  d.  U. : 
„Wie  kommen  wir  zur  Annahme  von  Zwecken  in  der  Natur?" 

Der  Aufsatz  „Ueber  die  Lebenskraft'^  präcisirt  nach  einem 
historischen  Kückblick  die  moderne  Fassung  der  Frage  in  fol- 
gender Alternative:  „auf  der  einen  Seite  ein  zweckmässig 
wirkendes  immaterielles  Princip,  welches  die  fragliche  Anordnung- 
der  L'mstände"  (unter  welchen  aus  den  unorganischen  Molecular- 
kräften  sich  die  organischen  Processe  entfalten)  „herbeiführt  und 
dauernd  aufrecht  erhält,  auf  der  andern  Seite  ein  einmaliger 
Zufall  der  Urzeugung,  und  zwar  solcher  überaus  merkwürdiger 
Zufall,  dass  die  aus  ihm  resultirenden  combinirten  Functionen  die 
Aufhebung  dieser  fraglichen  Umstandsanordnung  dauernd  aus- 
schliessen.  Ist  der  Zufall  der  Urzeugung  nicht  bloss  einmal, 
sondern  (ifters  eingetreten,  so  ist  es  um  so  merkwürdiger,  dass 
er  stets  in  einer  Weise  eintrat,  welche  die  Dauer  seiner  Pro- 
dukte in  sich  schloss.  So  bedenklich  diese  Zufallstheorie  auch 
schon  deshalb  sein  muss,  weil  bei  den  zahllosen  denkbaren 
Umstandscombinationen  eine  ausserordentlich  geringe  apriorische 
W^ahrscheinlichkeit  für  das  Eintreten  der  geforderten  vorhanden 
war,  so  ist  dieselbe  doch  nur  dann  überhaupt  haltbar,    wenn  die 


22 

Thier-  und  Pflanzenphysiologie  im  Stande  ist,  nachzuweisen,  dass 
wenn  einmal  durch  jenen  Urzeugungszufall  organisches  Leben 
in  irgend  einer  der  uns  bekannten  Gestalten  geschaffen  war,  die 
so  gegebenen  Umstandscombinationen  wirklich  ausreichten, 
um  mit  alleiniger  Hülfe  der  unorganischen  materiellen  Kräfte  sich 
selbst  und  dadurch  den  vitalen  Functionen  ihren  Fortbestand  zu 
sichern"  (Ges.  phil.  Abhandl.  S.  109—110). 

Die  Begründung  zerfällt,  wie  wir  sehen,  in  zwei  Theile,  der 
erste  gegen  die  Urzeugung  lebensfähiger  Formen ,  der  zweite 
gegen  deren  Erhaltung  und  Fortbildung  gerichtet.  Der 
zweite  Theil  giebt  also  nur  eine  Wiederholung  unserer  so  eben 
besprochenen  Alternative:  ob  die  natürliche  Zuchtwahl,  insofern 
sie  nicht  ausreicht,  durch  ähnliche  mechanische  Vermittlungen,  die 
uns  noch  unbekannt  sind,  oder  durch  metaphysisch  teleologische 
Eingriffe  so  weit  vervollständigt  wird,  um  die  fortschreitende  Ent- 
wickelung  der  Organisation  zu  Stande  zu  bringen;  hierin  finden 
wir  mithin  keinen  neuen  Gesichtspunkt.  Dagegen  ist  dieser 
allerdings  in  dem  ersten  auf  die  apriorische  Wahrscheinlichkeit 
gestützten  Argument  enthalten,  —  nur  ist  er  entschieden  unrich- 
tig angewendet. 

Die  Phil.  d.  Unb.  sagt  S.  558:  „Es  ist  wahrscheinlich,  dass 
vor  der  Entstehung  der  ersten  Organismen  schon  organische  Ver- 
bindungen niederer  Stufe  vorhanden  gewesen  seien,"  welche 
sich  (S.  556:)  „unter  dem  Einflüsse  einer  feuchten  und  sehr 
kohlensäurereichen  Atmosphäre,  so  wie  der  höheren  Wärme,  des 
Lichtes  und  starker  electrischer  Einflüsse  gebildet  hatten."  Eignet 
man  sich  diese  Voraussetzungen  an,  und  fügt  die  Betrachtung 
hinzu,  dass  wenn  solche  der  Urzeugung  günstige  Bedingungen 
in  früheren  geologischen  Perioden  einmal,  wie  doch  noth wendig, 
stattfanden,  sie  wohl  auch  durch  anselniliche  geologische  Zeit- 
räume hindurch  bestanden,  so  ist  in  der  That  die  Folgerung  nicht 
zu  umgehen,  dass  im  Lauf  der  Zeit  und  im  Wechsel  der  Um- 
.stände  diese  organischen  Stoffe  in  zahllose  Combination  en 
zu  einander  traten.  Unter  diesen  wahllosen  Anordnungsweisen, 
Gruppirungen  und  Verbindungen  musste  der  bei  weitem  grösste 
Theil  auf  der  Stufe  unorganischer  Form  stehen  bleiben,  weil  er 
nicht    die  zu  einer   solchen    nothwendige   chemische   Zusammen- 


23 

Setzung  und  physikalischen  Eigenschaften  erlangte;  ein  sehr  \4el 
kleinerer  Theil,  der  aus  diesen  Combinationen  organischer  Materie 
hervorgegangenen  Resultate  mochte  vielleicht  vorübergehend  sich 
der  organischen  Form  nähern,  oder  auch  wirklich  in  dieselbe 
eintreten,  dabei  aber  nicht  die  zur  längeren  Behauptung  derselben 
erforderliche  Beschaffenheit  besitzen;  ein  dritter  noch  kleinerer 
Theil  vermochte  etwa  für  sich  selbst  diese  Form  im  Wechsel 
des  Stoffs  so  lange  zu  behaupten,  als  etwa  noch  jetzt  die  unge- 
fähre Lebensdauer  der  primitivsten  Protisteuarten  beträgt ,  ent- 
behrte aber  derjenigen  Eigenschaften,  welche  durch  Theilung  und 
Fortpflanzung  die  Species  auch  nach  dem  natürlichen  Absterben 
des  Individuums  erhalten ;  ein  vierter  Theil  mochte  sowohl  die 
zur  Selbsterhaltung  als  zur  Gattungserhaltung  nothwendigen 
Eigenschaften  besitzen,  entbehrte  aber  jener  eigeuthümlichen 
„Tendenz,  abzuändern'^  (Phil.  d.  Unb.  S.  591),  oder  doch  jener 
Tendenz,  in  der  bestimmten  Richtuung  abzuänderu,  welche  allein 
zur  Entwickelung  in  höhere  Formen  führen  konnte;  ein  fünfter 
Theil  endlich  besass  auch  diese  Eigenschait  zu  den  übrigen. 
Pie  Nachkommen  der  vierten  und  fünften  Classe  unserer  Unter- 
scheidung sind  es,  welche  noch  heute  Meer  und  Erde  bevölkern; 
von  welcher  Art  von  Moneren  die  Fortentwickelung  zu  Infusorien  aus- 
gegangen ist,  ob  von  einer  der  jetzt  noch  lebenden,  oder  von  einer 
untergegangenen  Art,  davon  wissen  wir  noch  nichts;  das  aber  schon 
können  wir  als  sicher  annehmen,  dass  die  Mehrzahl  der  Protisten, 
die  wir  heute  noch  kennen,  zu  jener  eutwickelungsunfähigen 
vierten  Classe  gehört.  Die  ephemeren  Schöpfungen  unserer  zweiten 
und  dritten  Classe  konnten  natürlich  nur  so  lange  ihren  Bestand 
als  Arten  gesichert  sehen,  als  die  günstigen  Bedingungen  ihrer 
stets  erneuten  Urzeugung  fortdauerten;  die  erste  Classe  aber 
würde  vom  teleologischen  Standpunkt  aus  als  die  der  gänzlich 
niisslungeuen   Schöpfungsversuche   zu   bezeichnen   sein. 

Nehmen  wir  nun  als  durch  die  Thatsache  vorhandener  Orga- 
nismen erwiesen  an,  dass  die  Möglichkeit  der  Entstehung  des 
Wirklichen  in  den  Bedingungen  früherer  Schöpfungsperioden  zu 
irgend  einer  Zeit  gegeben  war  (Ph.  d.  U.  S.  555 — 550),  so  folgt  aus 
unserer  Annahme  über  die  zahllosen  Combinationen  der  voraus- 
gesetzten organischen  Materie  die  apriorische  Wahrscheinlichkeit 


24 

und   zwar  als   eine   der   1.  oder  der  Gewissheit  sehr  nahe  kom- 
inende,  dass  unter  den  zahllosen  Combinationen  mit  der  Zeit  auch 
solche  vorkommen  mussten,  welche  der  in  den  Bedingungen  enthal- 
tenen Möglichkeit  der  Urzeugung  entsprachen,  und  somit  dieselbe 
verwirklichten.     Die  von  uns  unterschiedenen  Classen  fordern   in 
aufsteigender  Eeihe  ein   mehr  oder  minder  günstiges  Zusammen- 
treffen mannichfacher  Umstände,  und  gerade  diesem  entsprechend 
haben  wir  die  Häufigkeit  der  einschlägigen  Fälle  von  Urzeugung 
in   der  Gesammtzahl   der  Anläufe   zu  einer  solchen  überhaupt  zu 
denken.      Die   von   dem   Aufsatz  „Ueber   die  Lebenskraft"  ange- 
zogene Wahrscheinlichkeitsrechnung  kehrt  sich  mithin,   weit  ent- 
fernt, die  Theorie  metaphysischer  Eingriffe  zu  unterstützen,  ganz 
und   gar  gegen  dieselben,    und  war  das  Verkennen  dieser  Sach- 
lage nur  dadurch   möglich,   weil  die  zahllose   Menge  der  mög- 
lichen Combinationen   organischer  Materie   im  Laufe  der  Zeit  un- 
beachtet  gelassen' war,   von   welchen  nur   einige  wenige  auf  die 
lebensfähigen,  noch  wendiger  auf  die  reproduktionsfähigen,   und 
ganz   wenige,   vielleicht  nur  eine,   auf  die    entwickelungsfähigen 
Formen  kommen.    Nicht  nur,  dass  der  Aufsatz:  „Ueber  die  Lebens- 
kraft" die  lebensunfähigen  und  fortpflanzungsunfähigen  Combina- 
tionsresultate  vollständig  ignorirt,  soconfundirter  ausserdem  noch  die 
beiden  letzten  Classen,  die  reproduktionsfähigen  und  entwickelungs- 
fähigen  miteinander,   w^ährend   doch  auf  der  untersten  Stufe  des- 
Protistenreichs   gewiss   ganz    ebenso    und  noch  viel  mehr  als  auf 
allen  Stufen   des  Thier-    und  Pflanzenreichs   auf  eine   entwicke- 
lungsfähige  Art   eine   grosse   Zahl    entwickelungsunfähiger   Arten 
kommen   mussten,   da  jede  Höherbildung    über  das  Niveau  einer 
breitverzweigten  Stufe  hinaus  immer  nur  an  einem  oder  höchstens 
zwei  Punkten  derselben  ihren  Ursprung  nimmt,  welche  besonders' 
zur  Abänderung  in  höhere  Formen  hinneigen. 

Wir  gehen  nach  Erledigung  dieses  Punktes  zu  dem  schoix 
erwähnten  zweiten  Einleitungskapitel  der  Phil.  d.  Unb.  über. 
Dieses  Capitel  ist  mehrfach  in  dem  Sinne  missverstanden 
worden,  als  sollte  es  allein  und  für  sich  die  Existenz  von  Natur- 
zwecken beweisen,  während  doch  deutlich  genug  ausgesprochen 
ist,  dass  es  sich  hier  nicht  um  materiale  Erkenntniss,  sondern 
„nur   um    die  Feststellung    der    formalen  Seite    des   zwecker- 


25 

kennenden  Denkprocesses  handelt"  (S.  41),  um  Aufklärung  der 
Principien,  ,,nacli  welchen  sich  der  logische  Process  über  diesen 
Gegenstand  mehr  oder  minder  unbewusst  in  jedem  vollzieht,  der 
hierüber  richtig  nachdenkt''  (8.  48).  Nur  die  Anwendbarkeit 
dieses  logischen  Schemas  auf  „Beispiele  in  Masse"  soll  den  Gegner 
von  der  Wahrheit  der  Teleologie  überzeugen  können,  nicht  etwa 
die  wenigen  in  diesem  Capitel  „nur  zur  Erläuterung  und  Veran- 
schaulichung der  abstracten  Darlegung"  beigefügten  Beispiele. 
Wir  können  daher  ruhig  zugeben,  dass  die  Art  und  Weise,  in 
welcher  sich  mehr  oder  minder  unbewusst  in  jedem  Anhänger 
der  Teleologie  die  Ueberzeugung  von  der  Existenz  wirkender 
Katurzwecke  herausbildet,  hier  richtig  belauscht  und  wieder- 
gegeben sei,  und  werden  damit  doch  noch  nicht  im  Geringsten 
eine  objektive  Gültigkeit  der  so  entstandenen  Ueberzeugung  ein- 
geräumt haben.  Ob  dieser  Process  zu  positiv  begründeten  Re- 
sultaten führt  oder  nicht,  hängt  ganz  davon  ab,  ob  die  abstracten 
Voraussetzungen,  welche  zum  Eechnungsansatz  der  Wahrschein- 
lichkeitsrechnung benutzt  werden,  in  dem  jedesmal  gegebenen 
concreten  Falle  zutreffen.  Nun  ist  aber  das  Hauptmittel  zur 
Erlangung  einer  grösseren  Wahrscheinlichkeit  die  Voraussetzung, 
dass  zur  Erziclung  einer  gewissen  zweckmässigen  Wirkung 
(z.  B.  des  menschlichen  Sehens)  eine  grössere  Anzahl  von  einander 
unabhängiger  Bedingungen  (S.  41)  zusammenwirken  müssen ,  von 
denen  keine  fehlen  darf  (z.  B.  hier  die  vielen  Einrichtungen  des 
menschlichen  Auges  —  S.  43).  Die  Unabhängigkeit  der  Be- 
dingungen von  einander  ist  unbedingtes  Erforderniss,  ohne  welches 
die  Rechnung  falsch  wird  (S.  41  Anm.).  Gerade  hier  springt  es 
recht  deutlich  in  die  Augen,  dass  dieses  Capitel  vor  dem  Be- 
kanntwerden mit  der  vollen  Bedeutung  der  Descendeuztheorie 
geschrieben  sein  muss;  denn  die  Descendeuztheorie  zeigt  eben, 
dass  die  verschiedenen  demselben  Zwecke  dienenden  Einrich- 
tungen desselben  Organs  oder  desselben  Organismus  immer  Hand 
in  Hand  mit  einander  sich  entwickeln,  aus  gemeinsamen  In- 
diiferenzpunkten  heraus  sich  differenziren  und  in  ihrer  allmäh- 
lichen Vervollkommnung  durch  die  gleichen  Ursachen  bestimmt 
worden,  also  nichts  weniger  als  unabhängig  von  einander  genannt 
werden  können.   —     Bleiben  wir,  um  auch  unsererseits  eine  Er- 


2Q 

läuterung  zu  geben,  bei  dem  Beispiel  des  nienschlicben  Auges, 
so  dürfen  wir  dasselbe  nicbt  als  etwas  fertiges  anseben,  und  seine 
wirkenden  Ursacben  mit  der  Betraebtung  der  embryologiseben 
Entwickelungsmomente  als  abgeseblossen  betracbten,  wie  jenes 
Capitel  es  tbut,  sondern  wir  müssen  die  Lebre  der  Descendenz- 
tbeorie  beranzieben,  dass  die  wirkenden  Ursacben  für  die  Be- 
scbaifeubeit  des  Menscbenauges  in  der  ganzen  Entwickelungs- 
reibe  seiner  directen  Yorfabren,  bis  zur  Urzelle  und  protoplas- 
matiseber  Monere  binab,  zu  sueben  seien.  Man  muss  sieb  bierbei 
stets  vergegenwärtigen,  dass  in  der  Entwickelung  des  organiseben 
Lebens  jede  Function  trüber  da  ist,  als  das  ibr  specifiscb 
dienende  Organ  entwickelt  wird,  eine  Tbatsacbe,  w^elcbe  wesentlicb 
dazu  beiträgt,  viele  Kätbsel  aul  mecbaniscbem  Wege  zu  lösen, 
welcbe  obne  dieselbe  nur  auf  teleologiscbem  Wege  lösbar  scbeinen. 
Das  Protoplasma  selbst  ist  gleicbsam  jenes  Urwunder,  w^elcbes  alle 
Functionen  der  Sinneswabrnebmuug,  Bewegungsläbigkeit ,  Tbei- 
lungs-  oder  Fortpflanzungsvermögen,  Assimilationskraft  u.  s.  w. 
in  sieb  vereinigt ;  denn  die  Versucbe  an  den  einfacbsten  Moneren 
(Protoplasmaklümpcben  obne  naebweislicbe  Zellmembran)  zeigen, 
dass  es  für  alle  Arten  von  Reizen  (Electricität ,  Liebt,  Wärme, 
Lufterscbütterung,  Berübrung  u.  s.  w.)  empfindlicb  ist,  und  auf 
dieselben  mit  Contraction,  Formveränderuug  (welcbe  Locomotion 
oder  Tbeilung  im  Gefolge  baben  kann),  cbemiscber  Action 
(Verdauung)  und  Wacbstbum  reagirt,  wäbrend  das  Wacbstbum 
über  eine  gewisse  Grösse  binaus  nacb  pbysikaliscben  Gesetzen  das 
Zerfallen  des  Protoplasmatropfens  in  zwei  kleinere  (wie  bei 
einem  mebr  und  mebr  vergrösserten  Quecksilbertropfen)  nacb  sieb 
ziebt.  Das  Protoplasma  ist  mitbin  der  Ur-Indiff  erenz  punkt 
aller  organiseben  Lebenstbätigkeit,  von  welcbem  aus  sieb  die  ver- 
scbiedenen  Organe  und  Systeme  erst  a  1 1  m  ä  b  1  i  c  b  d  i  f  f e  r  e  n  - 
ziren,  indem  gewisse  T belle  des  Protoplasma  eine  für  je  eine 
oder  mebrere  bestimmte  Alten  von  Functionen  vorzugsweise 
geeignete  Bescbaffenbeit  annebmen.  Die  so  im  Organismus 
eingetretene  Arbeitstbeilung  wird  nun  durcb  Vererbung 
auf  die  Nacbkommen  übertragen  und  im  Laufe  der  zabllosen 
Gescblecbterfolgen  verscbiedenster  Specien  und  Ordnungen  immer 
mebr  vervollkommnet,  d.  b.  immer  stärker  diiferenzirt.    So  z.  B. 


27 

bestellt  die  erste  DifFerenziruDg  behufs  grösserer  Liehtempfindlich- 
keit  in  Aggregaten  von  Pigmentzellen,  welche,  ohne  einen  Seh- 
nerven zu  besitzen,  auf  einer  Sarcodemasse  aufliegen,  und  nach 
Jourdain  als  Sehorgane  dienen.  Der  nächste  Fortschritt  ist,  dass 
eine  Art  Sehnerv  sich  bildet,  dessen  Ende  von  einer  durchschei- 
nenden Haut  geschützt  und  von  den  Pigmentzellen  umlagert  wird. 
Von  dieser  Art  ist  selbst  noch  das  Auge  des  Amphioxus,  des 
Urvaters  des  Wirbelthierreichs ,  der  als  solcher  auch  zu  den 
directen  Vorfahren  des  Menschen  gehört;  das  Organ  liegt  hier 
in  einer  faltenartigen  mit  Pigmentzellen  ausgekleideten  Hautein- 
stülpung, in  welcher  der  Nerv  von  durchscheinender  Haut,  ohne 
irgend  welchen  anderen  Apparat  bedeckt  ist.  Wenn  sich  diese 
Vertiefung  (wie  schon  bei  manchen  Seesternen)  mit  gallertartiger, 
durchsichtiger,  aussen  gewölbter  Masse  ausfüllt,  so  wird  dadurch 
zunächst  eine  Concentration,  also  eine  Verstärkung  der  Intensität 
der  Lichtwirkung  erzielt;  man  sieht  ferner,  dass  durch  Her- 
stellung eines  entsprechenden  Zwischenraums  zwischen  Nerven- 
ende und  linsenförmiger  Gallertmasse  das  P^ntwerfen  eines  Bildes 
auf  dem  ersteren  durch  die  letztere  ermöglicht  wird.  (Auch  beim 
Menschen  entwickelt  sich  die  Linse  ursprünglich  nur  aus  einer 
Anhäufung  von  Epidermiszellen  in  einer  sackförmigen  Hautfalte, 
während  der  Glaskörper  sich  aus  dem  embryonalen  subcutanen 
Gewebe  bildet).  In  den  beiden  Classen  der  Fische  und  Rep- 
tilien ist  nun,  wie  Owen  bemerkt,  die  Reihe  von  Abstufungen 
der  dioptrischen  Bildungen  sehr  gross,  und  auf  einem  Wege,  den 
zu  verfolgen  hier  zu  weit  führen  würde,  gelangt  das  Auge  erst 
ganz  allmählich  zu  demjenigen  Grade  der  VervoUkommung,  welchen 
wir  am  menschlichen  Organismus  bewundern.  Wie  weit  entfernt 
aber  auch  diese  von  einer  makellosen  Vollkommenheit  ist,  wie 
sehr  sie  den  Charakter  zufälliger  Anpassung  und  bedenklicher 
€ompromisse  an  sich  trägt,  und  wie  viel  die  unbewussten  Schlüsse 
des  Verstandes  bei  der  Entwickelung  der  Wahrnehmung  aus  dem 
gegebenen  Empfindungsmaterial  vertuschen,  corrigiren,  ersetzen 
und  hinzu  erfinden  müssen,  um  uns  den  Schein  eines  voll- 
kommenen Organs  vorzugaukeln,  hat  u.  A.  Helmholtz  in  der 
ersten  Abhandlung  des  H.  Bandes  seiner  „Populären  wissenschaft- 
lichen Vorträge"  auseinandersetzt. 


28 

Die   Nichtberiicksiclitigung    aller    dieser  allein   in  das  Ver- 
ständniss   der   Sache   einfahrenden   Umstände    lässt    die   Anwen- 
dung des  logischen  Schemas  auf  das  vorliegende  Beispiel  ^Is  un- 
statthaft erscheinen.     Dieses  Beispiel  ist  aber  ebenso  typisch  für 
die  in  den  Organismen  angestaunte  Zweckmässigkeit,   wie  jenes 
logische   Schema    typisch   ist  tür   die  psychologische  Entstehung: 
des   Glaubens   an  die  Zweckmässigkeit  als   in   der  Natur  wirk- 
sames Princip,  wie  solche  in  den  Köpfen  derer  vor  sich  geht,  die 
ohne  Kenntniss  der  Descendenztheorie  über  solche  Probleme  nach- 
denken.    Es   behält  demnach  dieses  Capitel  nur  insofern   einen 
W  erth,  als  es  uns  dasVerständniss  eines  systematischen 
Irrt h ums  und  seiner  bis  zum  siegreichen  Durchbruch  der  Des- 
cendenztheorie  dauernden  Geltung  erschliesst.     Dagegen  wird  e& 
kaum   möglich  sein,   Beispiele    aus  dem  Bereich  der  organischen 
Xatur  zu  finden,  welche  nicht  durch  die  Anwendung  der  Descen- 
denztheorie    auf    ihre  Erklärung    in    ein    solches    Licht    gerückt 
wurden,   dass    die  Anwendung  jenes  logischen  Schemas  auf  die- 
selben als  ausgeschlossen  erscheint.     Denn  die  Descendenztheorie 
lehrt   uns,   dass   eine   Unabhängigkeit   der   bei   einer  orga- 
nischen   Erscheinung    cooperirenden   Bedingungen    nicht   existirt, 
dass  vielmehr  ihr  mehr  und  mehr  Auseinandertreten  aus  gemein- 
samem  Indifferenzpunkt  heraus  Wirkung   derselben   Ursachen 
war,    und   die  Theorie  der  natürlichen  Zuchtwahl  lehrt  uns  eine 
von    diesen  Ursachen,   und  wohl   unzweifelhaft  die  wichtigste  als 
eine    solche    kennen,    welche    durch    rein    mechanische    Compen- 
sationsphänomene  zweckmässige  Resultate  hervorbringt.     Die  Des- 
cendenztheorie  stellt   das   teleologische   Princip   nur    in    Frage^ 
indem   es   ihm   den  Boden   für   einen   positiven   Beweis    entzieht ; 
die  Lehre   von    der  natürlichen  Zuchtwahl  aber  beseitigt  das- 
selbe  ganz   direkt,    so   weit  als  sie   selbst  mit  ihrer   Erklärung 
reicht.     Denn  die  natürliche  Auslese   im  Kampf  ums  Dasein,  das 
Zugrundegehen   des  minder  Zweckmässigen   und   das  Ueberleben 
und  Sichweitervererben  des  Passendsten  und  Zweckmässigsten  ist 
ein   Vorgang  von  mechanischer  Causalität,  in   dessen  gleich- 
massige    Gesetzlichkeit  nirgends    ein    teleologisch 
bestimmendes  metaphysisches  Princip  eingreift,  und 
doch  geht  aus  ihm  ein  Resultat  hervor,  das  wesentlich  der  Zweck- 


29 

inässigkeit  entspricht,  d.  li.  diejenige  Besebaffeubeit  besitzt, 
welche  den  Organismen  unter  den  gegebenen  Umständen  die 
höchste  Lebensfähigkeit  verleilit.  Die  natürliche  Zuchtwahl  löst 
das  scheinbar  unlösliche  Problem,  die  Zweckmässigkeit  als 
Hesultat  zu  erklären,  ohne  sie  dabei  als  Princip  zu  Hülfe 
zu  nehmen. 

Man  konnte  bisher  zu  der  Zweckmässigkeit   der  organischen 
Einrichtungen  in  der  Katur  eine  zweifache  Stellung  nehmen :  ent- 
weder man  erkannte   die    empirisch  gegebene  Thatsache  dieser 
Zweckmässigkeit    an,    oder   man  leugnete  sie  der  Erfahrung   zu- 
wider.     Merkwürdigerweise    hat    die   Philosophie    meistenstheils 
dieser  empiiischen  Thatsache  Rechnung  getragen,  während  gerade 
der    naturw^issenschaftiiche   Materialismus,    der    sich   verpflichtet 
erklärte,    einer  speculativen    Philosophie    gegenüber    die    Fahne 
der      Empirie      hochzuhalten,     sich     durch     Ableugnung     aller 
Naturzweckmässigkeit    bis     auf    die    allerneueste    Zeit   mit    der 
Erfahrung  in  Widerspruch  setzte.     Er   beging  aber   diesen    Ver- 
stoss   gegen    sein    methodologisches    Princip    deshalb,    weil    er 
fühlte,   dass   er  sich  nach   Anerkennung   der  Naturzweckmässig- 
keit     (vor     dem    Bekanntwerden     der     Darwin'schen     Begrün- 
dung  der  Descendenztheorie)   consequenter  Weise    nicht   der  An- 
erkennung eines   teleologischen  Princips   neben  dem   der  mecha- 
nischen Causalität  entziehen  konnte;  ehe  er  aber  auf  diese  Weise 
sein    materiales    Princip    preisgab,    beging    er    lieber    jenen 
Widerspruch  gegen  sein  formales  Princip,  und  ging  mit  krampf- 
haft geschlossenen   Augen  gegen    die   überall  sich  aufdrängende 
Thatsache   der  Zweckmässigkeit   durch  die  Welt.     Dieser  natur- 
wissenschaftliche Materialismus,  der  zum  letzten  Mal  als  Reaction 
gegen  den  Hegelianismus  in   den  40ger  und  50ger  Jahren  eine 
gewisse  Blüthe  erlebte,  erlitt  einen  totalen  Umschwung  durch  die 
Darwin'sche    Modificaction    der   Descendenztheorie,    welche    ihm 
plötzhch  die  Augen   darüber  aufschloss,   dass   gerade  die  Aner- 
kennung   und   Verfolgung    dieser   Zweckmässigkeit    eines    der 
wichtigsten    Förde rungs mittel    für    seine    Aufgabe    des 
Verständnisses  der  causalen  Naturzusammenhänge  werde.     Vor 
Darwin  hatte  derjenige,   welcher  die  Naturzweckmässigkeit  aner- 
kannte, nur  die  Wahl,  entweder  ein  teleologisches  metaphysisches 


30 

Princip  als  in  der  Natur  wirksam  zu  supponiren,  oder  sich  dem 
ftir  den  Naturforscher  völlig  unbrauchbaren  und  auch  philosophisch 
längst  überwundenen  subjektiven  Idealismus  (Kant,  Fichte,  Schopen- 
hauer) in  die  Arme  zu  werfen,  welcher  alle  Erfahrung,  also  auch 
die  empirisch  wahrgenommene  Naturzweckmässigkeit ,  in  vom 
Subjekt  producirte  Erscheinungen  ohne  eine  über  das  Gebiet  des 
Subjektiven  hinübergreifende  Eealität  verwandelt.  Jetzt  zum 
ersten  Mal  war  die  Möglichkeit  gegeben,  die  Zweckmässigkeit 
der  Natur  anzuerkennen,  aber  sie  nur  als  ein  durch  genau 
aufzeigbare  mechanische  Compensationspr ocesse  ent- 
standenes Resultat  anzuerkennen. 

Aus  diesem  Gesichtspunkt  betrachtet,  erhält  die  Leistung  Dar- 
win's  zugleich  die  Bedeutung  einer  eminenten  philosophi- 
schen That,  deren  Tragweite  für  die  Umwandlung  der  philo- 
sophischen Systeme  sich  jedenfalls  in  eine  im  Einzelnen  bis  jetzt 
unabsehbare  Perspektive  ausdehnt.  —  Ein  sehr  gutes  Beispiel  zu 
den  Compensations Wirkungen  oder  Anpassungs-  und  Ausgleichs- 
phänomenen, welche  dem  des  Entstehungsprocesses  Unkundigen 
als  zweckmässig  erscheinen  müssen,  giebt  Wallace  (Beiträge  S. 
315  ff)  in  der  Besprechung  eines  Stromsystems,  welches  dazu 
dient,  das  durch  Verdunstung  vom  Meere  aufgestiegene  und  als 
Regen  auf  das  Festland  niedergefallene  Wasser  wieder  zum  Meere 
zurückzuführen,  und  so  den  Kreislauf  des  Wassers  zu  schliessen; 
ein  solches  Flussbett  in  seinen  Verzweigungen  sieht  ganz  aus, 
als  ob  es  für  den  Fluss  gemacht  wäre,  während  es  doch  durch 
denselben  gemacht  ist.  „Setzen  wir  voraus,  dass  Jemand,  der 
von  moderner  Geologie  absolut  Nichts  weiss,  sorgfältig  ein  grosses 
Flusssystem  studirt.  Er  findet  in  seinem  niedriger  gelegenen 
Theile  einen  tiefen  breiten  Kanal,  der  bis  an  den  Rand  gelullt 
ist,  dessen  Wasser  langsam  durch  eine  flache  Gegend  dahinfliesst 
und  eine  Menge  von  Sedimenten  in  die  See  trägt.  Höher  hinauf 
verästelt  er  sich  in  eine  Anzahl  kleiner  Kanäle,  welche  abwech- 
selnd durch  flache  Thäler  und  hohe  Uferbänke  fliessen;  manch- 
mal findet  er  ein  tiefes  Felsenbett  mit  senkrechten  Mauern,  welche 
das  Wasser  durch  eine  Hügelkette  leiten;  wo  der  Strom  eng  ist, 
findet  er  ihn  tief,    wo  er  weit  ist,  seicht.     Weiter  hinauf  kommt 


31 

er  in  eine  Berggegend  mit  hunderten  von  kleinen  Strömen  und 
Flüssclieu,  ein  jeder  mit  seinen  Seitenbächen  und  Rinnen,  ^^^Iche 
das  Wasser  aus  jeder  Quadratmeile  Oberfläche  sammeln,  und  ein 
jeder  Kanal  der  Menge  des  Wassers,  welches  er  zu  leiten  hat, 
angepasst  Er  findet,  dass  das  Bett  ^ines  jeden  Zweiges  und 
Stromes  und  Baches  steiler  und  steiler  wird,  je  mehr  er  sich  den 
Quellen  nähert,  und  auf  diese  Weise  in  den  Stand  gesetzt  ist, 
das  Wasser  nach  heftigem  Regen  fortzuschaffen,  und  die  Steine, 
die  Kiesel  und  den  Sand  zu  entfernen,  welche  sonst  seinen  Lauf 
hemmen  würden.  In  jedem  Theile  dieses  Systemes  würde  er 
genaue  Anpassung  von  Mitteln  an  einen  Zweck  finden.  Er  würde 
sagen,  dass  dieses  Kanalsystem  planmässig  angelegt  worden  sein 
müsse,  da  es  seinem  Zwecke  so  wirksam  entspricht.  Nur  ein 
Geist  konnte  so  genau  die  Abschüssigkeit  der  Kanäle,  ihre  Capa- 
cität  und  die  Schnelligkeit  ihres  Laufes  der  Natur  des  Bodens 
und  der  Menge  des  Regenfalles  angepasst  haben.  Dann  weiter 
würde  er  specielle  Anpassung  an  die  Bedürfnisse  des  Menschen 
sehen,  wenn  breite  ruhige  schiffbare  Flüsse  durch  fruchtbare 
Ebenen  fliessen,  welche  eine  grosse  Bevölkerung  enthalten,  wäh- 
rend die  Felsenströme  und  Bergwasser  auf  jene  unfruchtbaren 
Gegenden  begrenzt  sind,  welche  nur  für  eine  kleine  Bevölke- 
rungsmenge von  Schäfern  und  Hirten  passen.  Er  würde  mit  Un- 
gläubigkeit  auf  den  Geologen  hören,  welcher  ihn  versicherte,  dass 
Anpassung  und  Ausgleichung,  welche  er  so  bewunderte,  ein  un- 
vermeidhches  Resultat  der  Thätigkeit  allgemeiner  Gesetze  wären. 
Dass  Regen  und  Flüsse  durch  unterirdische  Kräfte  unterstützt, 
das  Land  mcdellirt,  die  Hügel  und  Thäler  gebildet,  die  Fluss- 
betten ausgehöhlt  und  die  Ebenen  nivellirt  hätten;  —  und  nur 
nach  vieler  geduldiger  Beobachtung  und  eingehendem  Studium, 
nachdem  er  die  unbedeutenden  Veränderungen  überwacht  haben 
würde,  welche  Jahr  für  Jahr  entstehen,  und  nachdem  er  sie  mit 
tausend  und  zehntausend  multiplicirt,  nachdem  er  die  verschie- 
denen Gegenden  der  Erde  besucht  und  die  Veränderungen,  welche 
überall  Platz  greifen,  und  die  unverkennbaren  Zeichen  grösserer 
Veränderungen  in  vergangenen  Zeiten  beobachtet  hatte  —  würde 
er  es  verstehen,  dass  die  Oberfläche  der  Erde,   wie  schön    und 


32 

harnionisch  sie  auch  aussieht,  in  jeder  Einzelheit  von  der  Thätig- 
keit  von  Kräften  abhängt,  welche  sich  erwiesener  Maassen  selbst 
ausgleichen." 

,^Uud  mehr  noch,  wenn  er  seine  Untersuchungen  genügend 
ausgedehnt  hätte,  so  würde  er  finden,  dass  jeder  üble  Etfect, 
w^elchen  er  für  das  Resultat  der  Nichtausgleichung  würde  halten 
müssen,  hier  oder  da  vorkommt,  nur  dass  er  nicht  immer  übel 
ist.  Wenn  er  auf  ein  fruchtbares  Thal  sieht,  so  würde  er  viel- 
leicht sagen:  „„Wenn  der  Kanal  dieses  Flusses  nicht  wohl  ad- 
justirt  wäre,  wenn  er  einige  wenige  Meilen  einen  verkehrten  Weg 
ginge,  so  würde  das  Wasser  nicht  ablaufen  können  und  all  diese 
üppigen  Thäler,  die  voll  von  menschlichen  Wesen  sind,  würde 
das  Wasser  verwüsten.""  Wohl,  es  giebt  Hunderte  solcher  Fälle. 
Jeder  See  ist  ein  Thal,  „vom  Wasser  verwüstet",  und  in  einigen 
Fällen  (wie  beim  todten  Meer)  ist  es  ein  positives  Uebel,  ein  Fleck 
in  der  Harmonie  und  Anpassung  der  Oberfläche  der  Erde.  Und 
wieder  könnte  er  sagen:  „„Wenn  hier  kein  Kegen  fällt  und  die 
Wolken  über  uns  fort  in  eine  andere  Gegend  ziehen,  so  würde 
dieses  grüne  und  hoch  cultivirte  Land  eine  Wüste  werden" ". 
Und  es  giebt  solche  Wüsten,  über  einen  grossen  Theil  der  Erde 
hin,  welche  fruchtbarer  Regen  in  schöne  Wohnplätze  für  den 
Menschen  verwandeln  würde.  Oder  er  könnte  einen  grossen 
schiffbaren  Fluss  beobachten,  und  reflectiren,  wie  leicht  Felsen 
oder  ein  steileres  Bett  an  seiner  Stelle  ihn  für  den  Menschen 
nutzlos  machen  würde ;  —  und  ein  wenig  Forschung  würde  ihm 
zeigen,  dass  Hundorte  von  Flüssen  in  jedem  Theile  der  Erde 
existiren,  welche  auf  diese  Weise  für  die  Schiffahrt  nutzlos  ge- 
worden sind." 

„Genau  dasselbe  findet  in  der  organischen  Natur  statt,  wir 
sehen  einen  wHinderbaren  Fall  von  Ausgleichung,  eine  ungewöhn- 
liche Entwickelung  eines  Organes,  aber  wir  übergehen  jene 
Hunderte  von  Fällen,  in  denen  diese  Ausgleichung  und 
Entwickelung  nicht  vor  sich  ging.  Ohne  Zw^eifel  greift, 
wenn  eine  Ausgleichung  nicht  statt  hat,  eine  andere  Platz, 
weil  kein  Organismus  zu  existiren  fortfahren  kann,  der  nicht  seiner 
Umgebung  angepasst   ist;    und   stetige   Abänderungen   mit  unbe- 


3B 

greuzter  Kraft  der  Vervielfältigung  geben  in  den  meisten  Fällen 
die  Mittel  zur  Selbstausgleichung." 

Wenn  man  erst  auf  diese  Compensationsphänomene  achtet,  so 
kann  man  sie  allerwärts  beobachten,   und   sie   sind  sogar  in  ein- 
facheren Fällen  der  mathematischen  Behandlung  nicht  unzugäng- 
lich.    Denken  wir  uns  z.  B.  auf  einem  gemeinsamen,  die  Erschüt- 
terungen fortpflanzenden  Fundament   eine    grosse   Anzahl   Uhren 
von  ganz  verschiedener  Pendellänge  im  Gange,  so  wird  jede  der 
Uhren  jede  andere  in   ihrem  Pendelgange   beeinflussen,   theils  in 
beschleunigendem,  theils  in  verlangsamendem  Sinne,  je  nachdem 
die  Herstellung  möglichster   Coincidenz   des   Ganges  auf  die  eine 
oder  auf  die  andere  Weise  leichter   erreichbar  ist.     Durch  diese 
Einflüsse  werden  zunächst  die  zufälligen  'Verschiedenheiten  in  der 
zeitlichen  Lage  der  Anfangspunkte  der  Undulationen  beseitigt  und 
in  der  Weise  conform  gemacht,  dass  von  Zeit  zu  Zeit  eine  Periode 
wiederkehren  muss,  wo  alle  Pendel  gleichzeitig  einen  Ausschlag 
macheu.     Zweitens   aber   bewirken    diese    Einflüsse    dauernde 
Anpassungen  in  der  Undulationsgeschwindigkeit  der  verschiedenen 
Pendel  in  dem  Sinne,  dass  die  genannte  Periode  möglichst  ver- 
kürzt wird,    also  der  gemeinsame   Ausschlag  aller  und  eine  da- 
zwischenfallende    möglichst    häufige  Coincidenz    möglichst    vieler 
Pendel  möglichst  oft  wiederkehrt.     So  entsteht  das  Compensations- 
phänomen   einer  rhythmisch   gegliederten   Periode,    deren   eigen- 
thümliche  Architektonik  sich  auch  empirisch  dem  Ohr  vernehmlich 
macht,  so  dass  man   fast  an   eine  verborgene  Absicht  in  der  Re- 
gulirung  glauben  könnte,  wenn  nicht  die  mathematische  Behand- 
lung dieses  mechanischen  Problems   die   strenge   Nothwendigkeit 
des  Resultates  ausser  Frage  stellte.     Etwas  ähnliches  wie  bei  den 
Uhren  in  diesem  Beispiel  findet  in  der  kosmischen  Mechanik  in 
der    gegenseitigen    Beeinflussung    der    um    die    Sonne    laufenden 
Planeten   statt,   welche  in   Folge   der   elliptischen  Beschaffenheit 
ihrer  Bahnen  ebenfalls   wirkliche   Oscillationen    beschreiben;   nur 
ist  das  Resultat  hier  ein  umgekehrtes,  d.  h.  es  wird  jede  Bildung 
einer  Coincidenzperiode  auf  die  Dauer  unmöglich,  weil,  wenn  solche 
stattfände ,    die  Störungen    bei   jeder    Wiederkehr    beträchtlicher 
würden  und  die  Selbstständigkeit   der  betreffenden   Planeten  ver- 
nichten würden.     Bedenkt  man  nun,  dass  das  Planetensystem  durch 


34 

allmähliche  Zusammenziehung  der  Sonne  unter  Ablösung  von 
Eingnebeln  entstanden  ist,  so  erhellt  sofort,  dass  bei  diesem  über- 
aus langen  Process  nur  solche  Planeten  als  selbstständige 
Residua  resultiren  konnten,  welche  vor  einer  solche» 
Aufhebung  ihrer  Selbstständigkeit  durch  wiederkehrende  Periodi- 
cität  der  Störungen  sicher  sind,  d.  h.  deren  Bahnen  in  irrationalem 
Verhältniss  zu  einander  stehen.  Betrachtet  man  diese  Thatsache 
und  die  Garantie  des  Bestehens,  welche  sie  dem  Planetensystem 
gewährt,  losgelöst  von  dem  Entstehungsprocess  desselben,  aus 
welchem  sie  als  Compensationsphänomen  resultirte,  so  kann  man 
kaum  mnhin,  eine  unergründliche  Weisheit  in  dieser  Anordnung  zu 
bewundern. 

Ist  es  schon  in  der  unorganischen  Natur  oft  schwierig  genug, 
die  Compeusationswirkungen  im  Naturhaushalt  und  das  universale 
Anpassungsgleichgewicht,  welches  derselbe  repräsentirt ,  zu  ver- 
stehen, so  ist  es  kein  Wunder,  dass  wir  mit  unserm  Verständnis» 
der  analogen  Erscheinungen  auf  dem  unendlich  viel  complicirteren 
Gebiete  der  organischen  Natur  noch  bei  den  ersten  schüchternen 
Versuchen  des  Eindringens  stehen.  So  weit  aber  sind  wir  durch 
Darwin  in  der  That  schon  geführt  worden,  dass  die  Richtung, 
in  welcher  einzig  und  allein  weitere  Aufschlüsse  zu  erwarten  sind^ 
keinem  naturwissenschaftlich  veranlagten  Kopfe  mehr  zweifelhaft 
ijein  kann. 


KL 

Die  Entwickelung  vom  Staiiclpimkte  der 
Desceiidenztheorie. 


Schopenhauer  sucht  einmal  zu  beweisen,  dass  diese  Welt  die 
schlechteste  von  allen  möglichen  (d.  h.  existenzfähigen)  sei  („Welt 
als  Wille  und  Vorst.'^  3.  Aufl.  Bd.  II.  S.  667).     Er  sagt  daselbst;- 
„Nun  ist  diese  Welt  so  eingerichtet,  wie  sie  sein  musste,  um  mit 
genauer  Koth  bestehen  zu  können:  wäre  sie  noch  ein  klein  wenig 
schlechter,  so  könnte  sie  schon  nicht  mehr  bestehen.     Folglich  ist 
eine  schlechtere,  da  sie  nicht  bestehen  kimnte,  gar  nicht  möglich^ 
sie  selbst   also   unter   den   möglichen   die  schlechteste."     Die  Ph, 
d.  U.   nennt   dies   (S.   638)  „ein   offenbares   Sophisma,"   und   wir 
können  ihr   nur  darin   beistimmen.     Das  „Bestehen"  nämlich   ist 
hier  zunächst  doppelsinnig  genommen;   denn   wenn   „diese  Welt'' 
nicht  mehr  bestehen  kann,  so  hört  sie  darum  nicht  anf  als  Welt 
zu  bestehen,  sondern   nur  als  diese  zu  bestehen,  d.  h.  sie  wird 
insoweit   eine   andre,   dass   ein   neues   Anpassungsgleichgewicht 
eintritt,  welches  in  seiner  Art  weder  schlechter  noch  besser,  sondern' 
ebenso  gut  ist  als  das  frühere.     Dass  es  nun  aber   in  der  Natur 
dieser  Welt  liegt,  in  jedem  Moment  eine   andere  zu  werden,  und 
dass  der  Begriff  „dieser  Welt"  die  gesammte  Reihenfolge   der  in 
ilir  naturgemäss   zur   Entfaltung   kommenden   Zustände    und  Ver- 
änderungen in   sich    befasst,   ist   dabei   übersehen,   sonst   könnten 
nicht  auf  8.  668  die  untergegangenen  Faunen  und  Floren  früherer 
geologischer  Perioden   als   Welten   bezeichnet  werden,  „die  noch* 
etwas  schlechter  waren,  als  die  schlechteste  unter  den  möglichen/^ 


o 


6 


"W^'eiin  wirklich  frühere  Welten  schlechter  waren,  als  die  jetzige^ 
so  kann  diese  letztere  nicht  die  schlechteste  aller  möglichen  sein; 
andrerseits  da  auch  die  gegenwärtige  nicht  so  bleiben  kann,  wie 
sie  ist,  sondern  ebenso  dem  Untergang  verfallen  ist  wie  die  paläo- 
zoischen Faunen,  musste  auch  sie  schlechter  sein  als  die  schlech- 
teste aller  möglichen,  so  dass  das  Argument  jedenfalls  zu  viel 
beweisen  würde.  Wenn  die  dem  jetzigen  Weltzustande  eventuell 
bevorstehende  Veränderung  zum  Schlechteren  führte,  so  wäre  da- 
mit eben  der  Gegenbeweis  gegen  die  Thesis  geführt;  wenn  sie 
zu  einem  Zustand  führen  würde,  der  in  seiner  Art  gleich  gut  ist, 
so  wäre  Veränderung  oder  das  Stationärbleiben  indifferent  für 
die  Beurtheilung  des  Werthes  der  gegenwärtigen  Welt;  wäre 
endlich  die  Veränderung  ein  Uebergang  zum  Besseren,  so  müsste 
ihr  Werth  als  Durchgangsstufe  mit  in  Rechnung  gestellt  werden. 
Auf  alle  Fälle  ist  Schopenhauer's  Argumentationsweise  sophistisch 
und  haltlos.  Aber  wohlgemerkt  gilt  dies  von  ihr  nur  in  Bezug 
auf  die  Welt  als  Ganzes,  nicht  aber  von  ihrer  Anwendung  auf 
das  Einzelne  namentlich  in  Verbindung  mit  dem  schon  von  Schopen- 
hauer daselbst  angedeuteten  allgemeinen  Kampf  um's  Dasein  und 
dem  unglaublich  grossen  Ueberschuss  der  Keime  (S.  668).  So 
verstanden  und  zugleich  auf  die  Existenzfrage  in  einem  ganz  be- 
stimmten Zeitpunkt  und  unter  ganz  bestimmten  Verhältnissen 
bezogen,  ist  es  allerdings  richtig,  dass  das  Anpassungsgleichge- 
wicht für  jede  Species  eben  nicht  mehr  als  das  Minimum 
der  Existenzfähigkeit  bedeutet,  dessen  es  bedarf,  um  nicht 
zu  verkümmern  und  auszusterben;  aber  es  ist  diese  Bemerkung 
trotzdem  auch  so  noch  einseitig  und  dadurch  irreleitend, 
denn  es  ist  die  Kehrseite  der  Medaille  vergessen,  dass  jedes  An- 
passungsgleichgewicht etwas  in  seiner  Art  Vollkommenes 
ist,  welches  jeder  Species  alles  zuweist,  dessen  sie  zum  Leben 
in  den  ihr  gegebenen  Verhältnissen  bedarf,  —  dass  ein  Mehr  in 
dieser  Richtung  das  Bestehen  dieser  augenblicklich  vorhandenen 
Welt  ganz  ebenso  stören  würde  wie  ein  Weniger,  da  jedes 
Plus  irgend  einer  Species  an  Lebensfähigkeit  ein  Ue  her  greifen 
derselben  über  ihr  bisheriges  Gebiet  und  die  Zurückdrängung 
oder  Vernichtung  anderer  Arten  von  Lebewesen  und  damit  zu- 
gleich eine  Umwandlung   des   bestehenden   Weltzustandes  in 


37 

einen  andern  znr  Folge  haben  würde.  Weil  jede  im  Anpassiings- 
gleicbgewicht  befindliche  Art  für  ihre  gegebenen  Lebensbedicgungen 
yollkomraen  ausgerüstet  ist,  darum  würde  ihr  jedes  Plus  werthlos 
und  nutzlos  sein  für  diese  Lebensverhältnisse,  und  würde  sie 
sofort  zum  Uebergreifen  über  ihre  Sphäre  anspornen  und  zum 
Hinaustragen  der  Coneurrenz  um's  Dasein  in  andere  Lebensver- 
hältnisse zwingen,  die  ihr  bisher  verschlossen  waren  und  längst 
von  anderen  Arten  occupirt  sind;  deshalb  können  wir  aber  auch 
mit  demselben  Kecht,  wie  wir  oben  die  Gaben  und  Einrichtungen 
einer  Species  als  das  Miniraum  ihrer  Existenzfähigkeit  bezeichne- 
ten, sie  nun  auch  als  das  Maximum  bezeichnen,  beiUeberschreitung 
dessen  die  Art  nothgedrungen  die  ihr  in  diesem  Weltzustande 
oder  in  dem  vorliegenden  Anpassungsgleichgewicht  des  Gesammt- 
naturhaushalts  gezogenen  Grenzen  der  Lebensverhältnisse  über- 
schreitet und  diese  Welt  zu  einer  anderen  macht. 

In  Wirklichkeit  nun  ändert  sich,  wie  schon  bemerkt,  der 
Weltzustand  beständig,  und  keine  solche  Aenderung  ist  denkbar, 
bei  welcher  nicht,  was  auf  der  einen  Seite  eine  oder  mehrere  Species 
gewinnen,  auf  der  andern  Seite  eine  oder  mehrere  Species  ein- 
büssen.  Dieser  Satz  gilt  für  die  organische  Xatur  auf  Erden 
wenigstens  für  die  unseren  Blicken  überschaubare  Zeit  eines  unge- 
lähren  Sicbgleichbleibens  der  Bewohnbarkeit  der  Erde;  er  dürfte 
wohl,  obgleich  sich  dies  vorläufig  nicht  inductiv  erweisen  lässt, 
auch  für  die  Welt  als  für  ein  Ganzes  gelten,  in  welchem  die  ge- 
sammte  unorganische  Natur  und  die  Organisationen  sämmtlicher 
hierzu  geeigneter  Weltkörper  in  Eins  gefasst  sind.  Allerdings 
gilt  dieser  Satz  nicht  genau,  sobald  wir  die  Geschichte  der 
Erde  von  dem  ersten  Moment  an,  wo  Organisation  möglich  wurde, 
bis  zu  dem  Augenblick,  wo  keine  mehr  m()glich  sein  wird,  im 
Zusammenhange  betrachten.  Denken  wir  uns  die  Zeit  dieses 
Abkühhmgsprocesses  von  dem  Unbewohnbarkeitspunkt  vor  Hitze 
bis  zum  Unbewohnbarkeitspunkt  vor  starrer  Kälte  behufs  graphi- 
scher Versinnbildlichung  aui  die  Abscissenaxe  aufgetragen,  auf 
dieser  alsdann  in  gleichen  Zeitabständen  Ordiuaten  errichtet, 
deren  Höhe  nach  der  Günstigkeit  des  betreffenden  Zeitpunktes 
für  das  Bewohntwerden  durch  organische  Wesen  bemessen  ist, 
und  die  oberen  Endpunkte  aller  Ordinaten  durch  eine  Curve  vcr- 


38 

bunden,  so  repräsentirt  diese  Curve  den  quantitativen  Verlauf  der 
Bewohnbarkeit  der  Erde  während  der  Dauer  derselben ;  sie  muss 
einen  aufsteigenden  und  einen  absteigenden  Ast  zeigen,  die  durch 
ein  ziemlich  breites  Stück  in  der  Nähe  des  Maximums  verbunden 
sind.  Diese  Curve  repräsentirt  natürlich  nur  die  Aeuderung  des 
durchschnittlichen  Be wohnbarkeitsmaases  der  Erdoberfläche, 
während  die  Bewohnbarkeit  ihrer  verschiedenen  Stellen  jeder- 
zeit sehr  verschieden  ist,  und  theils  aus  kosmischen,  theils  aus 
tellurischen  Ursachen  an  jedem  Punkte  fortwährend  sehr  bedeu- 
tenden Schwankungen  unterworfen  ist.  In  jeder  dieser  Schwan- 
kungen erfüllt  sich  das  Gesetz,  dass,  was  eine  Art  verliert,  die 
imdre  gewinnt,  aber  nur  mit  der  näheren  Bestimmung,  dass  ein 
Wachsen  oder  Abnehmen  der  durchschnittlichen  Bewohnbarkeit 
der  Erde  zugleich  auch  dem  Gedeihen  und  der  Organisation  im 
Ganzen  oder  im  Durchschnitt  zu  Gute  kommt,  beziehungsweise 
zum  Nachtheil  gereicht.  Verzeichnen  wir  in  der  graphischen  Dar- 
stellung eine  zweite  Curve,  welche  die  Veränderung  der  durch- 
schnittlichen Höhe  der  Organisation  auf  Erden  repräsentirt,  so 
muss  diese  Curve  der  ersteren  ähnlich  sein,  der  Zeit  nach  aber 
etwas  später  liegen,  da  eine  Veränderung  der  Verhältnisse  der  Er- 
doberfläche eine  gewisse  Zeit  braucht,  um  ihren  Einfluss  in  Her- 
stellung eines  neuen  Anpassungsglcichgewichts  auszuwirken; 
namentlich  wird  die  Verschiebung  der  zweiten  Curve  gegen  die 
erste  i  n  d  e  r  Nähe  des  Maximums  ziemlich  beträchtlich 
sein,  weil  dort  die  grösste  Widerstandskraft  der  einmal  entstan- 
denen Organisation  gegen  Veränderungen  der  Umgebung  vorliegt. 
Die  Veränderungen,  welche  jede  locale  Schwankung  in  der 
Organisation  der  betreffenden  Localität  erzeugt,  produciren  die 
verschiedenartigsten  Formen  neuer  Anpassungsversuche,  und  im 
aufsteigenden  Ast  der  Curve  werden  solche  neue  Formen  bei  dem 
allgemeinen  Günstigerwerden  der  Bewohnbarkeitsverhältnisse 
meist  Gelegenheit  finden,  sich  geographisch  über  ihren  Entstehungs- 
bezirk hinaus  auszubreiten,  und  wie  viele  von  ihnen  auch  unter- 
liegen und  bald  wieder  zu  Grunde  gehen,  gerade  die  kräftigsten 
und  lebensiähigsten  der  neuen  Formen  werden  ganze  Erdtheilc 
für  sich  erobern.  Dies  ist  die  Entstehungsgeschichte  aller  gegen- 
wärtig weitverbreiteten  Arten,    die  stets  auf   einen   engen  Bezirk 


39 

als    auf   ihr   Ausbreitungscentruin    und    ihre    Entstehungsbeimath 
hinweisen.    Die  immer  erneute  Wiederholung  dieses  localen  Höher- 
bildungsprocesses    mit   nachfolgender    geographischer  Ausbreitung 
und  siegreicher  Verdrängung  anderwärts  bereits  angesiedelter  min- 
der concurrenzfähiger  Arten  ist  es,  wodurch  die  allmähliche  Ge- 
sammthöherbildung  der  Organisation  sich  vollzogen  hat  und  noch 
beständig   vollzieht,  namentlich  in   dem  Höherbildungsprocess  der 
^Menschheit  in  sich  durch  immer  von  Neuem    wiederholte  Ausrot- 
tung der  niederen  Racen  durch  die  von  ihrem  localen  Entstehungs- 
bezirk   sich   ausbreitenden    höheren  Racen  und  Stämme,  —  ein 
Process,  den  die  Ph.  d.  U.  ganz  richtig   (ohne  teleologische  Ein- 
griffe)  zeichnet  (S.  341 — 343  und   569).     Wenn   die    periodische 
Aenderung  der  Verhältnisse  an  einer  bestimmten  Stelle  mit   häu- 
tiger Wiederkehr  schon    früher  stattgehabter  Zustände   im  Allge- 
meinen einen  Kreislauf  von  Formen   erzeugen   muss  (z.  B.  perio- 
dische Wiederkehr  von  Eiszeiten),  so  wird  doch  dieser  Kreislauf 
niemals  ein  vollständig  und  genau  in   sich  zurückkehrender  sein, 
sondern  einer  Spirale   gleichen,    welche    eine    aufsteigende 
Richtung  zeigt,  so  lange  die  Gesammtverhältnisse   der  Erde  noch 
im  Güustigerwerden   begriffen   sind,    im    umgekehrten  Fall   aber 
absteigende  Richtung    besitzen   muss.     Dass   das   Maxiraum   gün- 
stiger Bedingungen  iür  die  Bewohnbarkeit    der  Erde    schon  jetzt 
erreicht  sei,  ist  nicht  wahrscheinlich;    wenn  wir  bedenken,    dass 
von   den  Menscheuracen   die   höchsten  Ciilturracen    stets   aus   ge- 
mässigten Klimaten  hervorgegangen  sind,   und   dass   der   Grund- 
stock des  irdischen  Festlandes    noch   ein   melir   tropisches  Klima 
besitzt,    so   dürfen   wir   von  einer    weiteren  Abkühlung  der  Erde 
erwarten,    dass    noch   grössere  Landstriche    als    bisher  einladend 
für    die    menschlichen   Culturracen    werden    dürften.      Jedenfalls, 
mag  nun  die  Be wohnbar keits kurve   ihr  Maximum   schon  er- 
reicht haben  oder  nicht,   liegt  doch   das  Maximum  der  Organi- 
s  a  t  i  0  n s  kurve    noch   vor    uns    in    der  Zukunft.     Wir  befinden 
uns  mit  anderen  Worten   noch  im   aufsteigenden  Ast  der  die  Or- 
ganisationshöhe   bezeichnenden   Curve;    nicht   nur   zeigt  uns   ein 
Blick  nach   rückwärts   ein   beständiges  Höherbilden    von    der  Ur- 
zelle  bis  zur  jetzigen  Organisation,  sondern  auch  der  Blick  nach 
vorwärts  eröffnet  uns  noch  eine  weite  Perspektive  auf  die  Höher- 


40 

bildung  derjenigen  Species,  welche  den  Gipfel  der  irdischen  Or- 
ganisation repräsentirt  und  ihre  allen  anderen  Formen  überlegene 
Lebensfähigkeit  und  Coucurrenzkraft  dadurch  bewiesen  hat,  dass 
sie  entscheidender  als  irgend  eine  andere  in  das   frühere  Anpas- 
sungsgleichgewicht eingegriffen,  ja  man  kann  sagen,  in  demselben 
eine    förmliche   Revolution    hervorgerufen   hat   (durch  Ausrodung 
der  Wälder   und   Cultivirung    des   Bodens    mit    ihren   Nahrungs- 
pflanzen, durch  Vertilgung  der  grossen  Raubthiere  und  Ersetzung 
der  übrigen  grösseren  Thiere  durch  ihr  Zuchtvieh  u.  s.  w.  u.  s.  w.). 
So  sehen  wir  uns,  mögen  wir  den  Blick  nach  rückwärts  oder 
vorwärts  wenden,  innerhalb  einer  aufsteigendenEntwicke- 
lungs reihe  stehen,  deren  Voraussetzung  die  kosmische  Ent- 
wickelung  unsres  Planetensystems    und   die   geologische  Ent-. 
Wickelung  des  sich  allmählich  abkühlenden  Erdkörpers  ist,  deren 
Blüthe  aber  die  anthropologische  Entwickelung  ist,  die  Ent- 
Wickel ungsgeschichte  der  Menschheit,  welche  man  in  ihrem  durch 
Documente  aufgeschlossenen  Theil  Geschichte  kurzweg  nennt.. 
Die  Ph.  d.  U.  hat  diese  universelle  Bedeutung  der  Entwickelung"^ 
auf  S.  714 — 716  nachdrücklich  hervorgehoben,  und  die  zweite  der 
schon    oben    erwähnten   „Gesammelten    philosophischen  Abhand- 
lungen zur  Ph.  d.  U."  beschäftigt  sich  mit  dem  Nachweis,   dass 
das  bleibende  Grundprincip  der  HegeFschen  Philosophie,  an  wel- 
chem ihre  einzelnen  Theile  und  Behauptungen   gemessen  werden 
müssten  und   von  welchem  eine  Umbildung    derselben   ausgehen 
müsse,  eben  der  Begriff  der  Entwickelung  sei.     Schon  oben  hatten 
wir  erwähnt,  dass  gerade   die  Descendenztheorie   die  Forderung 
der  Entwickelung  besser  als  irgend  eine  andre  Anschauungsweise 
des  organischen  Lebens  auf  Erden   realisire.     Wenn   es   die  Auf- 
gabe der  Philosophie  ist,    die  Stellung  des  Einzelnen   in   seinem 
Volke,  des  Volkes  in  der  Menschheit,  der  Menschheit  in  der  Ge- 
schichte der  Erde  und  ihres  organischen  Lebens  und  so   endlich 
die  Stellung   des  Individuums   im   Weltganzen    zum    klaren  Ver- 
ständniss  zu  bringen,   wenn   alle  diese  Beziehungen  sich   so  er- 
gänzen und  bedingen,  dass  das  Verständniss   des  Ferneren   ohne 
das  des  Näheren  unmöglich  ist,  so  wird  man  anzuerkennen  haben^ 
dass  jede  Philosophie  zur  Lösung  ihrer  Aufgabe  unfähig  ist,  welche 
das  Wesen  der  Entwickelung  in  der  Geschichte  der  Mensch- 


41 

heit  und  der  Organisation  auf  der  Erde  verkennt.  Hegel  bat  das 
grosse  Verdienst,  die  Menschheitsgeschichte  klarer  als  irgend  einer 
seiner  Vorgänger  als  Entwicklung  erkannt  zu  haben;  aber  er 
leugnete  die  Entwickelung  in  der  Natur,  indem  er  ibr  die  Ge- 
schieh te  absprach.  Die  Ph.  d.  U.  verbessert  diesen  Fehler,  indem 
sie  auf  Grund  der  von  ihr  acceptirten  Descendenztheorie  die 
Menscbheitsentwickelung  nur  als  Glied  —  wenn  auch  als  höch- 
stes Glied  —  in  der  Entwickelungsgeschichte  der  Organisation 
auf  der  Erde  auffasst.  Dieser  Standpunkt  steht  auf  der  andern 
Seite  unvergleichlich  viel  höher  als  der  geschichtslose  Process  bei 
Schopenhauer,  der  wegen  der  Unrealität  der  Zeit  überhaupt  nur 
den  subjektiven  Schein  einer  i3ewegung  giebt. 

Dass     der     Begriff    der     Entwickelung     an     dem     des 
Zweckes  hängt,  ist  richtig,  weil  das  Niedere  und  Höhere,  zwi- 
schen welchen  sich  das  Aufsteigen  bewegen   soll,  nur  durch  die 
Zweckmässigkeit  als  solche  bestimmt  werden  können.     Wir  haben 
aber  oben  gesehen,  wie  anders  der  Begriff  des  Zweckes  von  der 
Descendenztheorie  gefasst  wird,  als  von  einer  teleologischen  Meta- 
physik, und  hieraus  ergeben  sich  wiederum   verschiedene  Conse- 
quenzen.  —  „Fehlt  der  objektive  Zweck,  so  ist  der  Naturprocess 
nur  gleichgültige  Veränderung,  zweckloser  Uebergang  vom  Einen 
zum  Andern;  giebt  es  objektiv  nur  Gleichberechtigtes  und  Gleich- 
gültiges, das  erst  vom  subjektiv-menschlichen  Standpunkt 
aus  als  Höheres  und  Niederes  erscheint,  so  giebt  es  auch  keine 
objektive  Entwickelung"  (Ges.   phil.  Abhandl.  S.  27).     Von   dem, 
was    bloss    vom    subjektiv   menschlichen   Standpunkt    als  Natur- 
zweckmässigkeit  erscheint,   ist  selbstverständlich  durchaus   abzu- 
sehen ;  nur  das  objektiv  Zweckmässige  kann  objektive  Entwicke- 
lung ermöglichen.     Aber  die  Descendenztheorie  erkennt  ja  in  der 
That   die  Zweckmässigkeit    der   Organismen    als    eine   objektive 
Thatsache  an,  nur  dass  sie  dieselbe  als   unbeabsichtigtes   mecha- 
nisches Ptesultat  betrachtet.     Fragt  man:    wofür  sind   die  Orga- 
nismen zweckmässig,  so  ist  die  Antwort:   für  das  Dasein,   für 
die  Existenz,  und  da  ihr  Dasein  ein  lebendiges  ist,   für   das  Le- 
ben.    Dieser  Zweck  ist  aber   kein  metaphysisch-teleologisch  ge- 
setzter,   sondern  er  ist  nur  die  vorgefundene  Voraussetzung,  auf 
welcher  die  Concurrenz,  der  Kampf  um's  Dasein   mit  unwillkür- 


42 

lieber  Naturnothwendigkeit   entbrennen    miisste.     Das  Dasein   ist 
das  Fundament  für  das  entstandene  Anpassungsgleicbgewicbt;  das 
^yas  da  ist,  kann  nicbts  anderem  angepasst  sein  als  dem  Dasein. 
Nur  weil  das  Dasein  der  letzte  Grund    der  Concurrenz    des  ein- 
zelnen Daseienden  ist,  stellt  es  sieb  bintennacb  aueb   wieder  als 
der  Zweck   dar,    welcbem    die    Anpassungspbänomene    des    aus 
dieser   Concurrenz   als   Sieger  Resultirenden   dienen.     In   diesem 
Sinne  bat  also  die  tbatsäcblicbe  Zweckmässigkeit,  welcbe  von  der 
Descendenztbeorie  zugestanden  wird,   nur  eine   relative  Bedeu- 
tung, nämlicb  relativ  oder  rückbezüglicb  auf  das  Dasein,  aus  der 
Concurrenz  um  welcbes  sie  mecbaniscb  bervorgegangen.     Die  te- 
leologiscbe   Metapbysik    bingegen,    welcbe    nocb    nicbt    aus    der 
Descendenztbeorie  gelernt  bat,  dass  und  wie  es  Zweckmässigkeit 
als  Resultat  geben  kann  obne  Zweck  als  wirkendes  Princip,  und 
welcbe   desbalb    bei  jeder    vorliegenden  Zweckmässigkeit    sofort 
einen  principiellen  idealen  Zweck  als  zu  Grunde   liegend  voraus- 
setzt, muss  nun  notbgedrungen   nacb    dem   Zweck    des   Zweckes 
fragen,  also  immer  von  einem  Zweck   auf  den  andern  weiter  ge- 
fiibrt  werden,  und  kann  sieb  nur  bei  einem  absoluten  Zweck  be- 
rubigen,  nicbt  wie  die  Descendenztbeorie  bei  dem  relativen  Rück- 
gang   bis    auf  den  Grund,  welcber    die  Entstebung    des    zw^eck- 
mässigen  Resultats  zur  Folge  batte,  indem  er  sie  sieb  (dem  Dasein) 
anpasste.  —  Messen  wir  beide  Auffassungen  an  der  Wirklicbkeit, 
so  zeigt  sieb  die  erstere  als  durcbaus    mit   dem  Gegebenen  über- 
einstimmend, wäbiend  die   letztere   wesentUcbe  Bedenken    wacb- 
ruft.     Da  nämUcb  unter  gegebenen  Daseins-Bedingungen   selir  oft 
die  mögliebste  Einfacbbeit  der  Organisation,  welcbe  die  geringste 
Gefalir  läuft,   am  zweckmässigsten  ist,    so   zeigt  sieb  nicbt  selten 
die  zweckmässige  Anpassung  an    die  Lebensbedingungen   in  der 
Rückbildung  einer  bereits   mit   reicber  Specialisiruug  der  Or- 
gane versebenen  Art  in  eine  unvollkommnere  Gestalt  (z.  B.  bei  ge- 
wissen Scbmarotzerkrebsen,    wo    nur    nocb    das  Embryo  die  Ab- 
kunft der  Art   verrätb).     Dieser  Rückbildungs-   oder  Verkümme- 
rungsprocess  gewisser  Zweige    des    grossen  Stammbaums    ist  das 
gerade  Gegentbeil    dessen ,    was   der  Menscb ,    der   sieb  als 
Ziel  der  Entwickelungsreibe  ansiebt,  unter  Entwiekelung  verstebt, 
nämlicb  fortscbreitende  Ditferenzirung  und  Specialisirung  der  Or- 


43 

^ane  behufs  vervollkommneter  Arbeitstheilung  im  Organismus.  In 
AVabrlieit  aber  zeigt  sich,  dass  diese  nur  für  die  Mehrzahl  der 
Fälle  das  Höhere  ist,  wo  sie  der  Coneurrenz  um's  Dasein  besser 
xlient,  dass  unter  Umständen  aber  die  einfachere  Organisation 
dem  Zweck  des  Daseins  besser  dient.  Wie  solche  Rllckbil- 
dungsprocesse  aus  der  Entwickelungs reihe,  die  zum  Menschen 
führt,  herausfallen,  ebenso  streng  genommen  auch  schon 
alle  Seitenzweige  des  Stammbaums,  welche  weder  zu  der  di- 
rekten Vorfahrenlinie  des  Menschen  gehören,  noch  auch  (wie  z.  B. 
die  Pflanzenwelt),  zur  Herstellung  des  für  den  Menschen  erforder- 
lichen Zustandes  der  Erdoberfläche  mit  ihrem  Naturhaushalt  un- 
erlässlich  nothwendig  sind.  Es  erscheint  vom  Standpunkt  der 
natürlichen  Descendenztheorie  nicht  zweifelhaft,  dass  die  Knochen- 
fische eine  höhere  Entwickelungsstufe  der  Knorpelfische  reprä- 
sentiren,  weil  sie  ihre  überlegene  Concurrenzfähigkeit  im  Kampf 
um's  Dasein  thatsächlich  durch  das  Wachsthum  ihrer  relativen 
Anzahl  mit  jeder  geologischen  Periode  documentirt  haben.  Vom 
Standpunkt  der  teleologischen  Metaphysik  aber  ist  nicht  ersicht- 
lich, warum  es  nicht  bei  den  Knorpelfischen  sein  Bewenden  hatte, 
da  doch  nur  aus  diesen  die  Amphibien  hervorgingen,  und  die 
Knochenfische  ganz  ausserhalb  der  zum  Menschen  führenden  Ent- 
wickeluugsreihe  liegen. 

Nicht  geringer  als  solche   thatsächlichen  Bedenken   sind   die 
-Schwierigkeiten,  in  welche  die  teleologische  Metaphysik  sich  da- 
durch verwickelt,   dass  sie  bei  jedem  Zweck    nach    dem  Zweck 
des  Zweckes  zu  fragen   genöthigt  ist,    und    soniit   die  Entwicke- 
lung  nur  als  eine  dem   absoluten  Zweck  dienende    und   erst    bei 
-diesem  ihr  Ende  findende   anzusehn    vermag,    ohne    doch    diesen 
Endzweck  in  befriedigender  Weise    positiv  bestimmen  zu  können. 
Während  Hegel  sich  gegen  die    hierin    liegenden  Schwierigkeiten 
durch    nicht    zu    Ende  Denken    und    dialektische    Unklarheit    zu 
schützen    wusste   (vergl.  Gesch.  ph.  Abhandl."    S.  50 — 55),    zieht 
die  Ph.  d.  Unb.  mit  Schärfe   die  letzten  Consequenzen  des  teleo- 
logischen Princips.     Da  nur  ein,  jeder  Freiheit   von   den   instink- 
tiven Hlusionen   entbehrendes  Denken    das  Dasein    als    absoluten 
Selbstzweck  fassen   kann,    da    im   Gegentheil  die  Ph.  d.  U.  das 
JJasein  als  solches  als  etwas  von  Grund  aus  Unvernünftiges  und 


44 

zwar  nicht  nur  als  etwas  Zweckloses,  sondern  als  etwas  Zweck- 
widriges (Antilogisches),  weil  sich  selbst  zur  Qual  Gereichendes^ 
darstellt,  so  kann  ihr  als  der  letzte  Zweck,  dem  das  So  und  nicht 
anders  Sein  des  Daseienden  dient,  nur  die  Negation  des  Da- 
seins als  solchen  gelten;  oder  mit  anderen  Worten  das  Endziel 
der  absolut  gefassten  Entwickelung  kann  nur  die  Aufhebung  des 
Processes  in  der  Universalwillensrerneinung  sein,  mit  welcher 
die  Welt  erlöschen  müsste.  Es  ist  der  Ph.  d.  U.  nicht  gelungen, 
es  wahrscheinUch  zu  machen,  dass  die  Summe  der  Bedingungen, 
von  welchen  die  Möglichkeit  einer  solchen  Universalwillensver- 
neinung abhängen  soll,  innerhalb  der  Menschheit  auf  Erden  ein- 
treten werde,  während  andererseits  die  von  ihr  gezogenen  meta- 
physischen Consequenzen  zugleich  mit  den  metaphysischen  Vor- 
aussetzungen der  durch  die  Descendenztheorie  wohl  unheilbar 
geschädigten  Teleologie  hinfällig  werden.  Wir  werden  daher  für 
unsere  weiteren  Betrachtungen  davon  absehen  dürfen  ,  dass  der 
zu  erwartende  weitere  Gang  der  kosmischen  und  geologischen 
Processe  durch  eine  von  der  Menschheit  in  Scene  gesetzte  Welt- 
vernichtung vorzeitig  abgeschnitten  werde;  wir  werden  vielmehr 
betrachten,  wie  sich  der  Begriff  der  Entwickelung  zu  diesem  wei- 
teren Gange  stellen  muss. 

So  gewiss  die  Erde  einst  ein  integrirender  Theil  der  über 
das  ganze  Planetensystem  als  Nebelfleck  ausgedehnten  Sonne 
war,  so  gewiss  sie  später  als  glühender  Tropfen  mit  gasiger 
Hülle  die  Sonne  umkreiste,  so  gewiss  wird  sie  einst  vollständig 
erstarren,  wie  der  Mond  (wenigstens  auf  der  uns  zugekehrten 
Seite)  es  schon  jetzt  ist.  Auf  wie  viele  Millionen  Jahre  auch  die 
Wärme  der  Sonne,  welche  sich  vorläufig  durch  fortschreitende 
Contraction  derselben  beständig  ersetzt,  noch  vorhalten  möge,  — 
unfehlbar  wird  in  einer  Zeit,  welche  in  der  Oekonomie  der  kos- 
mischen Processe  als  kurze  Spanne  zu  bezeichnen  ist,  auch  die 
Sonne  so  weit  zusammengezogen  und  abgekühlt  sein,  dass  ihre 
Strahlen  auf  den  erstarrten  Planeten  kein  neues  Leben  mehr  zu 
entzünden  vermögen.  Dieser  Verlauf  der  Dinge,  der  mit  der- 
selben Sicherheit  wie  das  Eintreten  von  Mond-  und  Sonnen- 
finsternissen (nur  bis  jetzt  noch  nicht  mit  bestimmten  Zeitangaben) 
vorhergesa^t    werden    kann,    lehrt    uns,    dass  auch  die  Monde, 


45 

Planeten,  Sonnen  und  Planetensysteme  als  kosmische  Individuen 
dem  Gesetz  der  Vergänglicbkeit  aller  Individualexistenz  unter- 
worfen sind,  dass  auch  sie  zwischen  Entstehen  und  Vergehen 
Jugend  und  Alter  durchmachen,  dass  auch  in  ihrem  Individual- 
leben  dem  Aufsteigen  ein  Niedergang,  der  Entwickeluug  zum 
Gipfel  ein  Verfall  entspricht.  In  Bezug  auf  die  Geschichte  der 
irdischen  Organisation  haben  wir  nur  an  die  vorhin  besprochenen 
Curven  zu  erinnern,  welche  die  Veränderung  der  Bewohnbarkeit 
und  die  Veränderung  der  Organisationshöhe  graphisch  repräsen- 
tiren.  Es  ist  wahr,  dass  wir  nicht  bestimmen  können,  wie  weit 
wir  gegenwärtig  noch  von  dem  Gipfelpunkte  der  Entwickeluug 
der  Menschheit  entfernt  sind,  —  es  ist  wahr,  dass  die  bis  jetzt 
unabsehbare  Perspektive  des  naturnothwendigeu  Auf  st  eigens 
es  allein  sein  kann,  welche  unser  praktisches  Verhalten 
zum  Process  bestimmt,  —  aber  es  ist  ebenso  wahr,  dass 
theoretisch  genommen  diese  Entwickeluug  keine  absolute 
sondern  eine  relative,  ausschliesslich  von  der  mehr  oder 
minder  langen  Dauer  und  der  mehr  oder  minder  hohen  Steige- 
rung der  Günstigkeit  der  Bedingungen  abhängt, 
welche  die  Erde  ihren  Bewohnern  darbietet,  dass  diese  Entwicke- 
luug weder  eine  bis  zu  gegebenem  Endziel  aufsteigende  gerade 
Linie,  noch  eine  sich  einem  Ideal  unendlich  annnähernde  Asym- 
ptote ist,  sondern  nur  den  aufsteigenden  Ast  einer  Welle  re- 
präsentirt,  welcher  unentrinnbar  in  den  absteigenden  Ast  des 
zum  Untergange  führenden  Verfalls  hinüberleitet.  Allen  relativ 
noch  so  berechtigten  Hoffnungen  blühender  Menschheitsentwicke- 
lung und  winkender  Weltverbesserung  gegenüber  hält  uns  das 
Aussterben  der  grönländischen  Eskimo's,  welche  familienweise 
erfroren  in  ihren  Schneehütten  gefunden  worden,  gleichsam  als 
ein  beständiges  memenio  mori  für  die  Menschheit  das  dereinstige 
Lebensbild  der  letzten  Menschen  in  dem  alsdann  wärmsten  Lande 
der  Erde  vor. 

Wir  wissen  nicht,  wie  viele  Planeten  unseres  oder  anderer 
Planetensysteme  sich  unter  solchen  Bedingungen  befinden,  dass 
sie  eine  Organisation  entwickeln,  aber  das  wissen  wir,  dass  alle 
diejenigen,  welche  jemals  im  Laufe  ihres  Lebens  in  solche  Be- 
dingungen gelangen,   auch   eine   ebensolche  Curve   ihrer  Organi- 


46 

sationsgeschichte  mit  aufsteigendem  und  absteigendem  Ast  zeigen- 
müssen,  gleichviel  ob  das  Maximum  dieser  Curve  hoch  oder 
niedrig  liegt.  Nehmen  wir  an,  dass  die  Planeten  unseres  Systems, 
wie  es  neuerdings  wahrscheinlicher  geworden  ist,  alle  oder  grossen- 
theils  zu  einer  gewissen  Zeit  ihres  Lebens  eine  gewisse  Organi- 
sation tragen,  so  würde  sich  aus  der  Zusammenstellung  dieser 
einzelnen  Curven  auf  gemeinsamer  die  Zeit  darstellender  Abscissen- 
axe  ein  Gesammtbild  vom  organischen  Leben  un- 
seres Planetensystems  ergeben,  und  auch  hier  müsste  sich' 
irgendwo  ein  absolutes  Maximum  herausstellen,  wenn  auch  ausser- 
dem noch  mehrere  untergeordnete  Maxima  gezählt  werden  dürften. 
—  Unsere  Kenntniss  reicht  noch  nicht  so  weit,  um  zu  sagen, 
was  aus  erstarrten  Sonnen  und  Planetensystemen  wird,  und  ob' 
und  auf  welche  Weise  sie  von  Neuem  in  den  Process  der  kos- 
mischen Veränderung  hereingezogen  werden.  Im  Allgemeinen 
kann  man  aber  sagen,  dass  die  Helmholtzsche  Annahme  von  der  all- 
gemeinen Welterstarrung  nicht  mehr  dem  gegenwärtigen  Stand  der 
Wissenschaft  entspricht,  dass  vielmehr  alles  mehr  und  mehr  auf  die 
Vermuthung  eines  kosmischen  Kreislaufs  der  Veränderung  hin- 
drängt, in  welchem  die  Umwandlung  der  Spannkraft  in  lebendige 
Kraft  (durch  Verdichtung  der  Nebelmassen,  Erzeugung  und  Aus- 
strahlung von  Wärme)  schliesslich  auf  irgend  eine  Weise  wieder 
in  Spannkraft  zurückkehrt  (und  sei  es  selbst  mit  Hülfe  einer  die 
Unendlichkeit  beseitigenden,  in  sich  geschlossenen  vierten  Dimen- 
sion des  Raumes).  Wenn  schon  in  dem  gegenwärtigen  Augen- 
blick die  ungeheuere  Zahl  von  Fixsternen  in  unserer  Weltlinse, 
bei  denen  wohl  meistens  dunkle  Planeten  vorausgesetzt  werden 
dürfen,  und  die  Zahl  von  fernen,  mehr  oder  minder  in  Stern- 
haufen verdichteten  Nebelflecken,  welche  ebensoviel  andere  Welt- 
liusen  repräsentiren,  die  Möglichkeit  einer  zahllosen  Wiederholung 
solcher  Bedingungen  bietet,  von  denen  die  Entwickelung  plane- 
tarischer Organisation  abhängt,  so  wird  bei  Berücksichtigung  der 
mit  der  Zeit  von  allen  kosmischen  Individualitäten  durchlaufenen 
verschiedenen  Abkühlungsphasen  die  Wahrscheinlichkeit  noch  sehr 
viel  grösser,  dass  die  Organisation  auf  Erden  nur  einer  unter 
zahllosen  ähnlichen  Fällen  ist,  bei  denen  die  Bedin- 
gungen   ebensowohl    günstiger    als    ungünstiger,   also    die 


47 

Organisationsstufe  der  hochstehenden  Organismen  ebenso  leicht 
eine  höhere,  als  eine  niedrigere  wie  die  des  Menschen 
sein  kann.  Gerade  die  ungeheueren  Perspektiven  der  modernen 
Astronomie  sind  so  recht  geeignet,  die  Erde  nicht  bloss  ihrer 
Quantität  nach  als  ein  Atom  in  der  unermesslichen  Aus- 
dehnung der  kosmischen  Massen  erscheinen  zu  lassen,  sondern 
auch  im  Hinblick  auf  die  spectralanaly tisch  erwiesene  durch- 
schnittliche Gleichartigkeit  aller  kosmischen  Materie  an  den  Ge- 
danken zu  gewöhnen,  dass  sie  selbst  qualitativ  mit  der  von 
ihr  getragenen  Organisation  nur  ein  Exemplar  einer  zahl- 
reichen Species  repräsentirt.  Der  falsche  geocentrische 
Standpunkt  der  christlichen  Weltanschauung  ist  es  wesentlich, 
der  durch  seine  Eintrichterung  von  Jugend  auf  diese  Einsicht  er- 
schwert ;  wir  mlissen  anerkennen ,  dass  der  Buddhismus  in  seinen 
zahllosen  Welten  einer  viel  gesunderen  und  erhabeneren  Anschauung 
huldigte,  ebenso  wie  seine  Ansicht  über  die  periodische  natur- 
gesetzliche Auflösung  und  Wiederentstehung  dieser  Welten  von 
dem  neuereu  wissenschaftlichen  Standpunkt  mehr  und  mehr  be- 
stätigt wird;  was  ihm  fehlte,  war  nur  die  Einsicht,  dass  diese 
Welten  nicht  neben  der  Erdscheibe  jenseits  des  Oceans,  sondern 
am  Sternenhimmel  zu  suchen  seien. 

Die  Phil.  d.  Unb.  neigt  in  ihrem  Anschluss  an  die  moderne 
Naturwissenschaft  ursprünghch  keineswegs  zu  einer  geocentrischen 
Anschauungsweise,  aber  sie  sieht  sich  am  Schlüsse  unwill- 
kürlich und  fast  mit  Widerstreben  dadurch  auf  die  Engherzigkeit 
dieses  Standpunktes  zurückgeworfen,  dass  sie  durch  ihre  teleolo- 
gische Metaphysik  zur  Aufstellung  eines  absoluten  Zwecks  ge- 
zwungen wird,  der  draussen  in  der  mechanischen  Aeusserlichkeit 
des  Kosmos,  wie  auch  das  blödeste  Auge  sieht,  schlechterdings 
nicht  zu  finden  ist,  und  deshalb  dort  gesucht  werden  muss,  wo 
die  längste  Entwickelungsreihe  nach  rückwärts  sich  mit  der 
grössten  Entwickelungsperspektive  nach  vorwärts  verbindet:  in 
der  Menschheit,  —  die  zugleich  das  einzige  uns  bekannte  Bei- 
spiel der  Willensentscheidung  nach  bewusster  abstrakter  Reflexion 
darbietet.  Nur  am  Menschen  kann  eine  Philosophie,  welche  die  Ne- 
gation zum  absoluten  Zweck  erhebt,  ihre  Hebel  einsetzen  wollen, 
denn  nur  in  ihm  kann  sie  ein  Wesen  finden,  das  fähig  ist,  auf  sei- 


48 

nem  Bewusstsein  titanenhaft  sich  gegen  den  unbewussten  Weltwillen 
aufzulehnen;  darum  wird  die  Ph.  d.  U.  nothwendig  anthropocen- 
trisch,  und  hierdurch  wenigstens  in  qualitativem  Sinne  wiederum 
geocentrisch.  Reducirt  man  die  Bedeutung  der  Menschheit  und 
der  Erde  auf  ihr  wahres  kosmisches  Maass  als  eines  atomistischen 
Individuums  unter  zahllosen  ähnlichen^  von  einer  nach  kosmischem 
Maassstabe  gemessen  verschwindend  kurzen  Gesammtlebensdauer, 
so  reducirt  sich  auch  die  in  der  Ph.  d.  U.  als  absolut  dar- 
gestellte Entwickelung  der  aufsteigenden  Hälfte  dieser  Lebens- 
dauer zu  einer  relativen,  welche  im  kosmischen  Process  nicht 
mehr  Bedeutung  hat,  als  etwa  die  aufsteigende  Hälfte 
dieser  bestimmten  Meeres  welle  in  dem  unaufhörlichen  Wellen- 
spiel des  Oceans.  Nächst  der  Erkenntniss  ihrer  thierischen 
Abstammung  kann  nichts  so  heilsam  sein  für  den  hohlen  Dünkel 
der  Menschheit  von  ihrer  exceptionellen  Würde  als  diese  Erkennt- 
niss von  der  wahren  Bedeutung  ihrer  Stellung  im  grossen  Welt- 
ganzen und  von  der  Relativität  der  Entwickelung,  welche  ihre 
Geschichte  in  der  Gesammtheit  des  kosmischen  Processes  reprä- 
sentirt. 

Wenn  wir  im  vorigen  Abschnitt  sahen,  dass  die  Descendenz- 
theorie  die  empirisch  als  Thatsache  gegebene  Zweckmässigkeit 
der  Organismen  anerkennt  und  als  Resultat  mechanischer  Compen- 
sationsw  irkungen  erklärt,  ohne  des  Zweckes  als  wirksamen  idealen 
Princips  zu  bedürfen,  so  zeigte  sich  in  diesem  Abschnitt,  dass 
die  so  constatirte  Zweckmässigkeit  keine  von  einem  absoluten 
Endzweck  oder  Selbstzweck  abgeleitete  absolute  Bedeutung 
habe ,  sondern  nur  relativ  oder  rückbezüglich  auf  den  einmal 
vorgefundenen  Boden  des  Daseins  verstanden  werden  dürfe,  wie 
sie  nur  aus  diesem  durch  die  naturnothwendig  entsprungene  Con- 
currenz  hervorgegangen  sei.  Diese  relative  Bedeutung  sahen  wir 
weiter  vom  Begriff  des  Zweckes  auf  den  der  Entwickelung  sich 
übertragen,  w^elche  nur  relativ  in  Bezug  auf  den  Lebenslauf  des 
kosmischen  Individuums  eine  solche  ist,  indem  sie  die  aufsteigende 
Hälfte  dieses  Individuallebens  repräsentirt. 


lY. 
Gehirn  und  Intellekt. 


Einer  der  Hauptgründe,  welche  die  Popularität  Schopen- 
liauer's  bedingten,  war  seine  unzweideutige  Annäherung  an  die 
naturwissenschaftliche  Denkweise  hinsichtlich  des  menschlichen 
Intellekts,  dessen  Functionen  er  als  Hirnfunctionen  anerkannte. 
Kant  und  Fichte,  denen  die  Materie  nur  ein  vom  Subjekt  ge- 
setzter und  mit  der  Vorstellung  des  Subjekts  auch  wieder  ver- 
schwindender Schein  war,  standen  natürlich  einer  solchen  Auf- 
fassung fern,  —  ebenso  fern  wie  ihre  Anschauung  der  Natur- 
wissenschaft; Schelling  und  Hegel  hingegen  bekümmerten  sich 
nur  zu  wenig  um  Naturwissenschaft,  um  sich  mit  derselben  aus- 
einanderzusetzen, während  sie  schon  wesentUch  mit  ihr  auf  dem- 
selben Staudpunkt  in  Bezug  auf  diese  Fragen  stehn;  denn  in 
beider  Naturphilosophie  entspringt  der  Geist  aus  der  Entwicke- 
lung  bewusstloser  Naturkräfte,  sei  es,  dass  dieselben  als  sich  ob- 
jektivirende  und  aus  jeder  Objektivation  in  höherer  Subjektivi- 
tätsstufe sich  in  sich  zurücknehmende  Potenzen  (Schelling),  sei 
es,  dass  sie  als  die  im  dialektischen  Process  begriffenen  auseinan- 
dergefallenen Momente  der  Idee  in  ihrem  Anderssein  (Hegel)  an- 
gesehen werden.  Schelling  macht  dem  Empirismus  das  ausdrück- 
liche Zugeständniss,  dass  alles  B  e  w  u  s  s  t  s  e  i  n  einer  Vorstellung 
durch  Affection  eines  Organismus  bedingt  sei  (vgl.  Ph.  d.  U. 
S.  399),  und  der  Grundgedanke  der  Hegerschen  Philosophie  be- 
steht darin,  dass  der  Geist  als  solcher,  d.  h.  als  Bewusstsein  und 
Selbstbewusstsein,  erst  durch  die  Biickkehr  der  Idee  aus  ihrem 


50 

Anderssein  in  der  Natur  zu  sich  selber  entstehe,  ein  Process  der 
nach  unserer  Kenntniss  sich  nur  im  thierischen,  beziehungsweise 
menschhchen  Hirn  erfüllt.  Schelling  wie  Hegel  reserviren  sich 
aber  die  vernünftige  Vorstellung  oder  Idee  abgesehen  von  der 
Form  des  Bewusstseins ,  die  sie  im  menschlichen  Geiste  hat,  als 
metaphysisches  Princip.  Auch  Scbopenhauer  verzichtet  nicht  auf 
die  platonische  Ideenwelt,  welche  auch  ihm  unzweifelhaft  ein  Jen- 
seits und  Prius  der  durch  Gehirnfunction  erzeugten  bewussten 
Yoi-stellung  ist  („Ges.  phil.  Abhandl."  S.  61 — 65);  aber  ebenso- 
wenig wie  Schelling  und  Hegel  die  naturwissenschaftliche  Auf- 
fassung mit  ihren  metaphysischen  Principien  in  deutliche  Ueber- 
eiustimmung  zu  bringen  unternommen  *  haben ,  ebensowenig  hat 
Schopenhauer  die  Discrepanz  seiner  platonischen  Ideenwelt  mit 
den  Produkten  des  Gehirnintellekts  zu  beseitigen  vermocht.  Diese 
metaphysisch-transcendente  Ideenwelt  vor  und  jenseits  der  Ent- 
stehung der  bewussten  Hirnvorstellung  beruht  nun  aber,  insofern 
sie  die  Typen  der  Organismen  als  Urbilder  der  Verwirklichung 
und  den  Plan  des  ganzen  Weltprocesses  als  einen  zu  bestimmtem 
Ziele  führenden  in  sich  enthalten  und  deren  Realisation  durch 
metaphysische  Eingriffe  leiten  soll,  ganz  und  gar  auf  der  teleo- 
logischen Metaphysik.  Wird  diese  letztere  durch  die  Descendenz- 
theoiie  ihrer  bisherigen  Stützen  beraubt  und  durch  die  Theorie 
der  natürlichen  Zuchtwahl  in  der  Hauptsache  positiv  ersetzt,  so 
fällt  auch  die  platonische  Ideenwelt  der  transcendenten  Urbilder 
als  eine  überlebte,  überflüssig  gewordene  und  durch  anderweitige 
Anschauungsweisen  ersetzte  Hypothese  in  sich  zusammen.  Wo 
die  Typen  der  Organisationsformen  mechanisch  aus  Compen- 
sationswirkungen  resultiren,  bedarf  es  keiner  urbildlichen  Idee 
mehr,  um  ihre  Entstehung  mit  Hülfe  beständiger  metaphysisch- 
teleologischer  Eingriife  in  den  Naturprocess  zu  erklären.  Diese 
„Idee"  war  nur  die  Form,  in  welcher  der  als  Pnncip  supponirte 
Zweck  existirend  gedacht  wurde;  fällt  der  Zweck  als  Princip 
fort,  so  fällt  selbstverständlich  auch  die  hypothetische  Form  seiner 
Existenz  hinweg.  Da  nach  der  Descendenztheorie  alle  Firmen 
der  Organisation  allein  aus  den  physikaUschen  und  chemischen 
Gcj^etzen  der  Materie  heraus  entstanden  gedacht  werden,  so  bleibt 
freilich  in  dieser  gesetzmässig  wirkenden  Beschaffenheit  der  Ma- 


51 

terie  ein  Kaum  für  die  Hypothese  idealer  Anticipationen  de 
künftigen  übrig  (Pli.  d.  U.  S.  484—487),  aber  diese  würdet 
dann  jedenfalls  gesetzmässig  durch  die  jeweiligen  Verhältnisse  be- 
stimmte, nicht  teleologisch  sich  selbst  bestimmende  sein  und 
würden  nicht  über  den  Wirkungsmodus  der  Atome  hinausgehen, 
so  dass  also  alle  zusammengesetzten  Resultate  aus  ihnen 
mechanisch  hervorgehen  würden,  ohne  von  ihnen  als  solche  be- 
absichtigt zu  sein. 

Um  Missverständnissen  vorzubeugen,  bemerken  wir  hier  von 
vornherein,  dass  die  theoretische  Frage  nach  der  metaphysischen 
Bedeutung  der  Idee  vollkommen  unabhängig  ist  und  getrennt 
gehalten  werden  muss  von  der  praktischen  Frage  nach  der  ethi- 
schen, ästhetischen  und  erkenntnisstheoretischen  Bedeutung  des 
Ideals.  Die  letztere  ist  über  allen  Zweifel  erhaben  und  unab- 
hängig von  jedem  metaphysischen  Standpunkt;  die  erstere  ist 
problematisch  wie  alle  Metaphysik  und  ist  der  Ausfall  der  schwan- 
kenden Entscheidung  ohne  Einfluss  auf  das  Leben  der  Mensch- 
heit und  sein  Streben  nach  den  Idealen.  Von  der  Annahme  der 
Idee  leitet  sich  der  theoretische  Idealismus  her,  ein  der 
mannichfaltigsten  Formen  der  Ausbildung,  der  verschiedensten 
Modificationen  und  Nuancen  fähiger  Standpunkt;  von  der  thätigen 
Hingabe  an  das  von  dem  Menschengeist  sich  vorgesteckte  Ideal 
leitet  sich  der  praktische  Idealismus  ab,  der  wahre  Welt- 
eroberer, dessen  Palladium  von  keinem  Volke  ungestraft  verlassen 
werden  darf,  wenn  es  nicht  trotz  allen  civilisatorischen  Raffine- 
ments zu  thierischer  Stufe  zurücksinken  und  idealere  Völker  über 
sich  hinwegschreiten  sehen  will.  Der  theoretische  Idealismus  ge- 
hört dem  Streit  der  Gelehrten  und  dem  Gezänk  der  Schulen  an^ 
der  praktische  Idealismus  ist  der  wahre  tiefinnerste  Hebel  alles 
Cultiirfortschritts,  die  Legitimation  der  günstiger  veranlagten  Racen 
und  Stämme  für  ihren  historischen  Beruf,  der  sofort  erlischt,  so^ 
bald  sie  dieser  ihrer  Fahne  untreu  werden.  Wenn  wir  also  den 
theoretischen  Idealismus  in  seiner  bisherigen  teleologischen  Ge- 
stalt als  einen  durch  die  Descendenztheorie  überwundenen  Stand- 
punkt betrachten  müssen,  so  legen  wir  doch  entschiedene  Ver- 
wahrung ein  gegen  etwaige  unberechtigte  Consequenzen  in  Bezug^ 

auf  unsere  Stellung  zum   praktischen  Idealismus. 

4* 


52 

Nach  dieser  Abschweifung  wollen  wir  dazu  übergehen ,  zu 
betrachten,  wie  die  Ph.  d.  U.  das  Verhältniss  der  Hirnfunction 
zum  menschlichen  Intellekt  auffasst. 

Das  Cap.  II  des  Abschn.  C  beschäftigt  sich  mit  dem  Nach- 
weis, dass  Gehirn  und  Ganglien  Bedingung  des  thierischen  Be- 
wusstseins  seien;  es  behauptet,  dass  alle  bewusste  Geistes- 
thätigkeit  ein  materielles  Substrat  bedürfe,  an  welchem  sie 
entstehe,  und  nur  die  unbewusste  sich  frei  von  einem  solchen 
vollziehe  (S.  388,  vgl.  402 — 3).  Die  letztere  vollzieht  sich  nie- 
mals in  den  Formen  der  Sinnlichkeit  (374 — 375),  wo  wir  also 
solchen  begegnen,  wissen  wir,  dass  sie  aus  der  Mitwirkung  der 
unmittelbar  oder  mittelbar  durch  die  Sinne  erregten  Hirnfunction 
herrührt.  Das  Unbewusste  hat  ferner  kein  Gedächtniss  (379 
unten);  es  kann  keine  Erfahrungen  in  sich  aufnehmen,  noch 
durch  diese  klüger  werden,  als  es  ist  (709);  es  kann  sich  durch 
üebung  und  Gewohnheit  nicht  vervollkommnen  (S.  609  Z.  6 — 8). 
Wo  wir  also  einem  Aufbewahren  empfangener  Eindrücke  be- 
gegnen,  wissen  wir,  dass  dasselbe  nur  vom  Gehirn  herrühren 
kann  (379).  Die  sogenannten  schlummernden  Gedächtnissvor- 
stellungen sind  also  gar  keine  Vorstellungen,  weder  bewusste  noch 
unbewusste,  sondern  nur  latente  Dispositionen  des  Gehirns  zur 
leichteren  Entstehung  gewisser  Formen  von  Molecularschwin- 
gungen ,  denen  dann  gewisse  Vorstellungen  im  Bewusstsein  ent- 
sprechen (S.  268  Anm. ,  S.  28).  „Wie  eine  Saite  auf  alle  Luft- 
schwingungen, die  sie  treffen,  wenn  sie  von  denselben  überhaupt 
zum  Tönen  gebracht  wird,  immer  mit  demselben  Tone  resonirt, 
und  zwar  mit  dem  Ton  a  oder  c,  je  nachdem  sie  auf  a  oder  c 
gestimmt  ist,  so  entsteht  auch  im  Gehirn  leichter  die  eine  oder 
die  andere  Vorstellung,  je  nachdem  die  Vertheilung  und  Span- 
nung der  Hirnmolecule  so  beschaffen  ist,  dass  sie  leichter  mit  der 
einen  oder  mit  der  andern  Art  von  Schwingungen  auf  einen  ent- 
sprechenden Reiz  antwortet;  und  wie  die  Saite  nicht  bloss  auf 
Schwingungen,  die  ihren  Eigenschwingungen  homolog  sind,  son- 
dern auch  auf  solche,  die  entweder  nur  wenig  von  denselben  ab- 
weichen, oder  aber  in  einem  einfachen  rationalen  Verhältniss  zu 
denselben  stehen,  resonirt'^  (wenn  auch  mit  geringerer  Stärke), 
„so  werden  auch  die  Schwingungen   der  prädisponirten  Molecule 


53 

einer  Hirnzelle  nicht  bloss  durch  Eine  Art  zugeleiteter  Schwin- 
gungen wachgerufen,  sondern  auch  durch  wenig  abweichende 
oder  in  einem  einfachen  Verhältniss  zu  der  Prädisposition  stehende 
Reize  (dieser  Zusammenhang  ist  in  den  Gesetzen  der  Ideen- 
association  erkennbar).  Was  bei  der  Saite  das  Stimmen  ist,  das 
ist  ftir  das  Gehirn  die  bleibende  Veränderung,  welche  eine  leb- 
hafte Vorstellung  nach  ihrem  Verschwinden  in  Vertheilung  und 
Spannung  der  Molecule  hinterlässt"  (S.  28).  Es  ist  unmöglich, 
dass  irgend  ein  Schwingungsprocess  in  den  Moleculen  eines  so 
nachgiebigen  Körpers,  wie  das  Gehirn  ist,  vor  sich  gehen  sollte, 
ohne  eine  bleibende  Veränderung  in  demselben  zu  hinterlassen, 
und  zwar  eine  Veränderung  in  dem  Sinne,  dass  künftig  eine 
Wiederkehr  gleicher  Schwingungen  an  derselben  Stelle  weniger 
Widerstand  findet,  als  ein  Auftreten  abweichender  Schwingungen. 
Wie  sehr  alle  stehenden  Wellen  danach  streben,  eine  veränderte 
Vertheilung  der  Materie  hervorzurufen  (und  zwar  Verdichtung  in 
den  Knoten,  Verdünnung  in  den  Schwingungsmaximis),  zeigen 
schon  die  Chladni'schen  Klangfiguren,  und  zeigen  in  anderer  Weise 
die  chemischen  Wirkungen  der  Licht-  oder  Wärmeschwingungen,, 
welche  doch  auch  nur  auf  Umänderung  der  molecularen  Lage- 
rungsverhältnisse beruhen  (man  denke  insbesondere  an  die  Farben- 
photographie,  die  von  Zenker  ganz  richtig  erklärt  worden  ist).- 
Denkt  man  sich  nun  eine  solche  Aenderung  der  Dichtigkeitsver- 
hältnisse herbeigeführt,  welche  einer  Verdichtung  an  den  Schwin- 
gungsknoten entspricht,  so  wird  nunmehr  eine  solche  Anordnung 
dahin  wirken,  von  aussen  eintretende  Schwingungen  in  solche 
umzuwandeln,  welche  der  bereits  bestehenden  Vertheilung  ent- 
sprechen. In  dieser  Weise  wirken  z.  B.  die  Endglieder  der  Stäb- 
chen und  Zapfen  in  der  Retina,  welche  alle  eintretenden  Licht- 
schwingungen in  eine  oder  mehrere  von  drei  bestimmten  Wellen- 
arten umsetzen  (roth,  grün,  violett),  und  diese  weiter  zum 
Bewusstseinsorgan  leiten.  Denken  wir  uns  also  im  Grosshirn 
ähnliche  Prädispositionen  zu  bestimmten  Schwingungsformen  theils 
durch  Ererbung  von  den  Vorfahren  übernommen,  theils  durch  die 
selbst  empfangenen  Eindrücke  erworben,  so  werden  auch  diese 
eine  ähnliche  Auswahl  von  der  durch  die  Sinnesnerven  oder  aus- 
anderen    Hirntheilen    zugeleiteten   Schwingungen  (Reize)    treffen. 


54 

und  um  so  leichter  auf  einen  Reiz  reagiren,  je  verwandter  er  der 
eigentliiimlichen  Sehwingungsform  ist,  d.  h.  je  leichter  er  in  die- 
selbe umgewandelt  werden  kann.  Je  ferner  diese  Verwandtschaft 
ist,  desto  schwächer  wird  die  Reaction  sein,  und  wird  bald  so 
schwach  werden,  dass  sie  unterhalb  der  Bewusstseinsschwelle 
bleibt,  wofern  nicht  der  Reiz  durch  Intensität  die  Unzuläng- 
lichkeit seiner  qualitativen  Verwandtschaft  ersetzt.  Bei  einem 
gewissen  Maass  qualitativer  Abweichung  reicht  dann  aber  keine 
praktisch  mögliche  Intensität  aus,  um  die  Reaction  über  die 
Schwelle  zu  heben.  Wenn  die  ererbten  Prädispositionen  mehr 
Anlagen  und  Fähigkeiten  betreffen,  so  ist  das  Gedächtniss  recht 
eigentlich  unter  das  Gebiet  der  erworbenen  Hirndispositionen  zu 
setzen,  es  ist  die  Summe  aller  Eindrücke,  die  von  früher  ge- 
habten lebhaften  oder  wiederholten  Vorstellungen  hinterlassen 
sind.  Da  nun  jede  gegenwärtige  Vorstellung  mit  ihren  actuellen 
Hirnschwingungen  zugleich  auf  alle  vorhandenen  Prädispositionen 
als  erregender  Reiz  wirkt,  so  wird  es  wesentlich  von  dem  Grade 
der  Verwandtschaft  abhängen,  welche  der  vorhandenen  Prädispo- 
sitionen am  kräftigsten  auf  die  bestehende  Vorstellung  reagirt; 
diese  wird  alsdann,  wenn  die  bestehende  Vorstellung  sich  soweit 
abschwächt,  um  in  dem  beschränkten  Raum  bewusster  Aufmerk- 
samkeit einer  neuen  Platz  zu  machen,  sich  mit  ihrem  Inhalt  in  das 
Bewusstsein  als  Nachfolgerin  jener  Vorstellung  eindrängen  und 
hierbei  die  Concurrenz  aller  übi-igen  (ebenfalls,  aber  nicht  in 
gleichem  Maasse  verwandten)  Prädispositionen  siegreich  bestehen. 
Diese  so  in's  Bewusstsein  getretene  neue  Vorstellung  schwächt  sich 
aber  nach  dem  Gesetz  der  Ermüdung  bald  ebenfalls  ab  und  zieht 
nun  ihrerseits  wiederum  die  ihr  verwandteste  der  vorhandenen 
Prädispositionen  als  Nachfolgerin  herbei.  Man  erkennt  hierin 
leicht  den  Piocess  der  durch  kein  bestimmtes  Interesse  geleiteten 
Ideenassociation.  Dass  die  Gesetze  derselben  auf  dem  mecha- 
nischen Zusammenhang  der  molecularen  Schwingungsprocesse  im 
Hirn  mit  den  daselbst  vorhandenen  Prädispositionen  beruhen, 
wird  auch  von  der  Ph.  d.  U.  S.  253  anerkannt.  Dagegen  wird 
ebendort  der  Einfluss  der  Stimmung  und  des  Interesses  auf  die 
Ideenassociation  als  etwas  ganz  heterogenes  dargestellt.  Dies 
scheint  uns  nicht  richtig. 


OD 

Von  den  Stimmungen  ist  es  iiinlänglicli  bekannt,  wie  sehr 
gerade  sie  auf  constitutioneller  Grundlage  und  auf  vorübergeben- 
den Zuständen  des  Organismus  beruhen.  Die  wechselnden  Ver- 
hältnisse des  Blutumlaufs  und  der  mehr  oder  minder  sauerstoif- 
reichen  Beschaffenheit  des  das  Hirn  umspülenden  Blutes,  die 
verschiedenen  Phasen  des  Verdauungsprocesses  und  des  Ge- 
schlechtslebens und  die  von  beiden  abhängigen  Zustände  des  sym- 
pathischen Nervensystems  nebst  vielen  anderen  somatischen  Bedin- 
gungen, die  uns  "vdelleicht  noch  unbekannt  sind,  sind  ebenso  viele 
Einflüsse,  welche  theils  die  Erregbarkeit,  Impressionabilität  und 
Reagibilität  des  Gehirns  im  Allgemeinen  steigern  oder  depri- 
miren,  theils  in  besonderen  Parthien  desselben  eigenthümliche 
3Iodilicationen  hervorrufen  (vgl.  „Philosophische  Monatshefte'' 
Bd.  IV,  Hft.  5,  S.  389,  Z.  5 — 3  von  unten,  wo  der  Verfasser  zu- 
gesteht, dass  die  Stimmung  augenscheinlich  durch  vorübergehende 
Beschaffenheit  des  Hirns  verursacht  wird,  wie  das  Temperament 
durch  dauernde).  Wie  die  Erregung  gewisser  Hirnparthien  ge- 
wisse Nerven  in  Mitleidenschaft  zieht,  welche  dann  ihrerseits 
wieder  körperliche  Processe  hervorrufen  (z.  B.  Rührung  das  Wei- 
nen, Angst  das  Herzklopfen  u.  s.  w.),  so  ist  rückwärts  durch 
körperliche  Zustände,  die  durch  Nerven  zum  Gehirn  geleitet 
werden,  eine  ungleichmässige  Erregung  gewisser  Gehirnparthien 
bedingt,  und  eine  solche  hat  dann  zur  noth wendigen  Folge,  dass 
die  in  denselben  vorhandenen  Prädispositionen  schon  bei  gerin- 
gerer Intensität  der  Reize  als  sonst  Reactionen  liefern,  die  ober- 
halb der  Schwelle  liegen,  und  dass  sie  mithin  in  der  Concurrenz 
der  verschiedenen  Prädispositionen  (schlummernden  Gedächtniss- 
vorstellungen) um  das  Hineingeiangen  in's  Bewusstsein  einen  Vor- 
rang erlangen.  So  werden  z.  ß.  bei  geschlechtlichem  Erregungs- 
zustande alle  Vorstellungen,  welche  dem  Bewusstsein  vorschweben, 
durch  die  Ideenassociation  solche  Nachfolger  herbeizuziehen  be- 
müht scheinen,  welche  mit  dem  Geschlechtsleben  in  näherer  Be- 
ziehung stehen;  bei  allgemeiner  Erregung  des  Gehirns  durch 
massigen  Weingenuss  ergiebt  sich  ein  Zustand  von  Heiterkeit, 
•der  dem  Auffinden  von  Scherzworten  und  Witzen  günstig  ist, 
(Ph.  d.  U.  S.  255)  und  der  Zustand  der  geistigen  Trunkenheit, 
der  Begeisterung,  des  Enthusiasmus  oder  wie  man  ihn  im  Gegen- 


56 

gatz  zum  Zustand  der  Nücbternheit  nennen  will,  ist  aus  ähnlichen' 
Gründen  der  Entstehung  von  künstlerischen,  namentlich  poetischen 
Conceptionen  günstig  (247—248).  —  Wenn  wir  somit  sehen,  dass 
der  unwillkürliche  Einfluss  der  Stimmung  auf  die  Ideenassociation 
wesentlich  auf  somatischen  Ursachen  vorühergehender  Hirnzu- 
ßtände  beruht,  so  werden  wir  bei  dem  flüssigen  Uebergange  von 
hier  zu  den  bewussten  Interessen  kaum  etwas  anderes  erwarten 
dürfen,  als  dass  auch  der  maassgebende  Einfluss  bewusster  Ab- 
sicht körperlich  vermittelt  gedacht  werden  muss,  welche  eine 
Gedankenreihe  zu  einem  vorgesetzten  Ziele  geflissentlich  hinleitet. 
Dieses  Ziel  muss,  wenn  auch  nicht  in  seiner  völligen  Bestimmt- 
heit, doch  wenigstens  den  Umrissen  nach  dem  Bewusstsein  vor- 
schweben,  oder  in  bestimmter  bekannter  Richtung  gesucht  werden* 
kurz  es  müssen  Anhaltpunkte  gegeben  sein,  auf  welche  sich 
erfahrungsmässig  bei  solchem  Suchen  eine  gespannte  Aufmerk- 
samkeit richtet.  Diese  Aufmerksamkeit  greift  gleichsam  über 
diese  Anhaltpunkte  hinaus  in's  Blinde,  wie  eine  augenlose  Raupe 
in  Rankenwindungen  einen  neuen  Stützpunkt  sucht.  Aber  eben 
der  Umstand,  dass  diese  gespannte  Aufmerksamkeit  nach  ganz, 
bestimmter,  aber  der  Zeit  nach  versuchsweise  wechselnder  Rich- 
tung hinausgesandt  wird,  wie  ein  Eclaireur  zur  Recognoscirung- 
des  Gedächtnissterraius,  eben  dieser  Umstand  macht  es  erklärlich, 
dass  von  den  ruhenden  Hirnprädispositionen  nunmehr  die  in  der 
Richtung  dieser  Aufmerksamkeit  gelegenen  leichter  erregt  werden 
als  alle  anderen;  denn  die  Aufmerksamkeit  ist  ein  in  den  Sinnes- 
nerven centrifugaler,  hier  aber  innerhalb  des  Centralorgans  ver- 
bleibender und  nur  noch  in  Bezug  auf  die  Stelle  der  actuellen 
erregenden  Vorstellung  als  centrifugal  zu  bezeichnender  Inner- 
vationsstrom,  welcher  die  Wirkung  hat,  die  von  ihm  be- 
troffenen Parthien  für  jede  Art  von  Reizen  erregbarer  za 
machen,  als  sie  im  ruhenden  normalen  Zustande  sind  (vgl.  Ph. 
d.  U.  S.  116,  155—156,  419-421,  auch  246—247).  Wäre  die^ 
Richtung  der  Aufmerksamkeit  eine  vollkommen  dem  Ziele  ent- 
sprechende, so  würde  auch  beim  ersten  Versuch  die  entsprechende 
Vorstellung  aus  ihrer  Prädisposition  ausgelöst  werden;  sind  aber 
die  Anhaltspunkte  zu  unbestimmt  und  tastet  in  Folge  dessen  die 
Aufmerksamkeit  erst  nach  einigen   falschen  Richtungen,    so    tau- 


57 

chen  auch  zunächst  einige  als  unbrauchbar  zu  verwerfende  Vor- 
stelhingen  auf;  sind  endlich  die  Anhaltspunkte  ganz  ungenügend, 
so  dass  sie  nicht  einmal  die  ungefähre  Richtung  vorschreiben^ 
oder  hat  die  Aufmerksamkeit  sich  einmal  in  eine  irrthümliche 
Richtung  verrannt,  so  ist  alles  Herumtasten  derselben  erfolglos.  — ' 
Diese  Betrachtung  erscheint  geeignet,  die  Argumente  der  Ph.  d, 
U.  auf  S.  253  und  254  wesentlich  zu  modificiren,  die  Erforder- 
lichkeit der  dort  behaupteten  metaphysisch-teleologischen  Eingriffe 
behufs  der  Erklärung  der  Probleme  der  Ideenassociation  min- 
destens in  Frage  zu  stellen  und  vorläufig  den  Glauben  an  die 
Möglichkeit  einer  zureichenden  Erklärung  derselben  aus  mecha- 
nischen Ursachen  festhalten  zu  lassen. 

Die  Ph.  d.  U.  huldigt  in  Bezug  auf  die  Entstehung  der  be- 
wussten  Empfindung  ebenso  entschieden  einer  Theorie  der  De- 
centraHsation  wie  in  Bezug  auf  die  Lebensfunctionen  des  Organis- 
mus; wenn  sie  in  letzterer  Hinsicht  nur  die  von  den  Coryphäen 
der  Naturwissenschaft  (Virchow  u.  A.  m.)  eingeschlagene  Bahn 
verfolgt,  so  wird  die  Physiologie  andererseits  nicht  umhin  können^ 
ihre  Uebertragung  von  der  Aeusserlichkeit  der  Lebensfunctionen 
auf  die  Innerlichkeit  bewusster  Empfindung  zu  acceptircu,  wie 
die  Analogie  der  constituirenden  Theile  eines  höheren  Organismus 
mit  niederen  individuellen  Organismen  einerseits  und  die  ununter- 
brochene Stetigkeit  der  absteigenden  Thier-,  Pflanzen-  und  Pro- 
tisten-Reihe  andrerseits  es  gebieterisch  fordert  und  die  graduell 
abnehmende  morphologische  und  chemische  Verwandtschaft  def 
Gehirnzellen  mit  den  Ganglienzellen  der  niederen  Nervencentral- 
Organe  und  den  lebenden  Zellen  des  Körpers  überhaupt  es  ohne- 
hin schon  wahrscheinlich  macht  (vgl.  Ph.  d.  U.  S.  456 — 461 ;  auch 
52—56  und  58  ff.).  Wir  werden  daher  die  Annahme  zu  der 
unsrigen  machen  dürfen,  dass  Empfindung  (welche  als  solche 
allemal  schon  Bewusstsein  in  sich  schliesst)  nicht  bloss  dem 
grossen  Gehirn  des  Menschen  zukommt,  sondern  auch  allen  seinen 
untergeordneten  Nervencentralorganen  (Kleinhirn ,  verlängerten 
Mark,  Rückenmark  und  sämmtlichen  Ganglien)  ja  sogar  jeder  ein- 
zelnen protoplasmahaltigen  Zelle  im  Körper,  ebensogut  wie  wir 
dieselbe  nicht  nur  den  höheren,  sondern  auch  den  niederen  Thieren^ 
ja  selbst  den  Protisten  und  ebenso  den  protoplasmahaltigen  Zelle» 


58 

in  niederen  und  höheren  Pflanzen  zuerkennen.    Selbstverständlich 
ist  der  Inhalt    dieses  Empfindens    auf  den   verschiedenen  Stufen 
sehr  verschieden  an  Reichthum  und  Feinheit  (Ph.  d.  U.  424—426), 
und    dadurch    scheinbar    auch    dem    Grade    des  Bewusstseins 
nach.     Alles  Empfinden    entspringt   aus   Schwingungen,    aus  Be- 
wegungen von  Moleculen,    welche    denselben   von   aussen  (durch 
Reize)  aufgenöthigt  werden ;  die  Zeitlichkeit  dieser  Schwingungen 
setzt  die  bestimmte  zeitliche  Form  der  Empfindung  (308 — 309),  und 
die  Geschwindigkeit,  Intensität,  Gestalt  und  sonstige  eigenthümliche 
Beschaffenheit  bestimmt  die  Qualität  der  Empfindung,  welche  unter 
der  Voraussetzung  gleicher  Schwingungsarten   von   der  Stelle  im 
Gehirn  gänzlich  unabhängig  ist  (299—301  und  302).    Nur  insofern 
verschiedene   Hirnstellen  mit  verschiedenen  Prädispositionen  be- 
haftet   sind     und   deshalb    auf   gleiche  Reize    mit   verschiedenen 
Schwingungs arten  antworten,  sind  sie  von  Einfluss  auf  die  Em- 
pfindung.    Ist  jede    protoplasmatische    Zelle    empfindungsbegabt, 
und  nur  von  der  Verschiedenheit  der  Molecularschwingungen ,  zu 
denen  sie  geneigt  und  fähig  ist,  die  Verschiedenheit  ihrer  Empfin- 
dungen abhängig,    und   gilt    dieser  Satz    wie    für  alle    lebenden 
Zellen  so  insbesondere  auch  für  alle  Gehirnzellen,   so  muss    das 
Gehirnbewusstsein    als    S  u  m  m  a  t  i  o  n  s  p  h  ä  n  o  m  e  n    sämmtlicher 
Gehirnzellen   aufgefasst  werden,    wie    die  Ph.  d.  U.    unter  Ver- 
werfung   aller    physiologisch    ganz    unhaltbarer   Hypothesen    von 
Centralzellen  *)   und  Centralpunkten  auch  wirklich  thut   (S.  299), 
indem  sie  ganz  richtig  die  thatsächlich  in  demselben  vorhandene 
Einheit  auf  die  ebenfalls  in  demselben  vorhandene  Güte  der  Lei- 
tung nach  allen  Richtungen  zurückführt  (S.  429— 430).     Denn  die 
Leitung  ist   es,   durch   welche   die    in   einer  Zelle   statthabenden 
Empfindungsschwingungen  mit  den  in  einer  andern  Zelle  des  Ge- 
hirns statthabenden  communiciren,    sich    mittheilen  und    dadurch 
für   den  Standpunkt    der  Innerlichkeit   oder  Empfindung   in    die 
höhere    Einheit    des    nebeneinanderstehenden    Inhalts    eines    ge- 
meinsamen   Bewusstseins    verschmelzen.      Diese    Verschmelzung 
findet  zunächst  in  höchst  auffallender  Weise  zwischen  den  Empfin- 
dungen und  Vorstellungen  der  beiden  durch  eine  ziemlich  schmale 


♦)  Vgl.  Fechner'8  „Psychophysik",  Bd.  II,  S.  392-421. 


59 

Brücke  verbuiuleuen  GrosshirDliemisphären ,  ebenso  aber  auch 
:zwisclien  verschiedenen  Theilen  des  Gesammthirns  (z.  B.  zwi- 
schen dem  Grosshirn  und  den  Vierhügeln  als  Centralorgan  der 
Gesichtswahrnehmung)  statt.  Während  also  zwischen  den  Em- 
pfindungen entfernterer  Centralorgane  desselben  Organismus  nur 
eine  so  dürftige  Verbindung  besteht,  dass  nur  dumpfe  Mitthei- 
lungen von  einem  Bewusstsein  zum  andern  gelangen  und  von 
einer  höheren  Bewusstseinseinheit  aller  in  einem  Organismus 
enthaltenen  Bewusstseine  eigentlich  nicht  gesprochen  werden  kann, 
so  ist  doch  das  Hirnbewusstsein,  welches  das  bei  weitem  höchste 
im  Organismus  ist  und  darum  gewöhnlich  schlechtweg  als  Ver- 
treter seines  Bewusstseins  überhaupt  angesehen  wird,  selbst  wie- 
der eine  höhere  Einheit  vieler  in  ihm  umiasster  Bewusstseine, 
nur  dass  in  ihm  die  Einheit  so  sehr  dotninirt,  dass  sie  bei  allen 
über  der  Schwelle  des  Gesammtbewusstseins  hegenden  deren  Be- 
sonderheit in  sich  aufhebt. 

Dasjenige  Bewusstsein,  mit  welchem  erst  meine  Erfahrung 
beginnt,  ist  dasjenige,  welches  auch  die  Vorstellung  meines  Ich 
umfasst  und  welches  die  Möglichkeit  besitzt,  seinen  Inhalt  mit 
/allen  Sinneswahrnehmungen  und  all  seinem  Gedächtnissinhalt  zu 
vergleichen.  Auf  dieses  Bewusstsein,  auf  dieses  die  gesammte 
Masse  des  grossen  Gehirns  umspannende  Summationsphänomen 
bezieht  sich  jede  Angabe,  dass  eine  Empfindung  oder  Wahrneh- 
mung in  mein  Bewusstsein  eintritt,  auf  dieses  allein  also  auch 
die  erfahrungsmässige  Angabe,  dass  ein  gegebener  Reiz  unterhalb 
der  Schwelle  liege  (vgl.  Ph.  d.  U.  S.  29 — 31).  Keineswegs  aber  können 
wir  behaupten,  dass  Empfindungen  unterhalb  der  Schwelle  dieses 
Gesammthirubewusstseins  auch  unterhalb  der  Schwelle  ihres 
Zellen  bewusstseins  liegen;  sondern  wie  sehr  wahrscheinlich  ein 
.Sinnesnerv  an  jeder  Stelle  eine  gewisse  Empfindung  von  den  ihn 
durchlaufenden  Schwingungen  hat,  ohne  dass  doch  diese  Empfin- 
dung als  solche  weiter  geleitet  würde  und  zum  Hirn  bewusstsein 
gelangte,  ganz  ebenso  kann  und  muss  auch  jede  Zelle  im  Hirn 
ihre  Privatempfindungen  haben,  welche  unterhalb  der  Schwelle 
des  Gesammthirubewusstseins  liegen.  So  erst  erhalten  die  nega- 
tiven ys  Fechner's  eine  i)ositive  Bedeutung  und  verschiedene 
JTälle  (z.  B.  Beeinflussung   der  Klangfarbe   durch  Obertöne,    die 


60 

unterhalb  der  Schwelle  liegen,  —  Beeinflussung  des  Charakters; 
der  Grefühle  durch  Vorstellungs-  oder  Empfindungsschwingungen^ 
die  unterhalb  der  Schwelle  liegen  —  vgl.  Ph.  d.  U.  S.  229-231) 
machen  es  direkt  wahrscheinlich,  dass  sie  als  Empfindungen 
exißtiren,  also  als  Zellenempfindnngen,  da  sie  eingestandener 
Maassen  nicht  Gesammthirnempfindungen  sein  sollen.  So  erlangt 
der  Begriff  der  Schwelle  eine  ganz  andere  Bedeutung,  er  wird 
nämlich  auf  eine  Relation  zu  einem  Summationsphänomen  von 
bestimmtem  Umfang  reducirt.  Während  er  sonst  wohl  teleologisch 
begreif  lieh  (ebd.  S,  30),  in  causaler  Hinsicht  aber  völlig  räthselhaft 
war,  wird  er  nun  erklärlich  als  Function  des  inneren  Lei- 
tungswider Standes  desjenigen  Complexes  von  organischer 
Materie,  welchen  das  Summationsphänomen  umfasst,  auf  das  er 
sich  bezieht.  Denn  allein  auf  der  Leitung  im  Hirn  beruht,  wie 
wir  sahen,  das  Summationsphänomen  des  Hirnbewusstseins ;  da 
nun  jede  Leitung  Widerstände  bietet,  so  kann  sie  als  Leitung 
erst  wirksam  werden,  wenn  die  Oscillationen  eine  solche  Inten- 
sität gewinnen,  dass  diese  Widerstände  überwunden  werden,  und 
erst  in  diesem  Falle  kommt  das  Gesammtbewusstsein  zu  Stande^ 
welches  ich  mein  Bewusstsein  nenne,  und  auf  welches  sich  die 
gewöhnlich  so  genannte  Bewusstseinssch welle  bezieht.*) 

Kun  können  wir  aber  ohne  Zweifel  die  soeben  in  Bezug 
auf  Hirn,  Grosshirnhemisphären  und  Hirnzelle  angestellte  Betrach- 
tung in  analoger  Weise  wiederholen,  wenn  wir  auf  den  lebendigen 
(protoplasmatischen)  Gesammtinhalt  einer  solchen  Zelle  und  seine 
einzelnen  organischen  Partikelchen  (oder  auf  die  Molecule  des 
betreff'enden   Proteinstoffs)  reflectiren.     So  wenig  das  Gehirn  als- 

*)  Durch  diese  Auffassung  löst  sich  unter  anderm  auch  der  scheinbare 
Widerspruch  zwischen  der  Behauptung  der  Phil.  d.  Unb  ,  dass  alle  Empfindung 
60  ipso  bewusste  Empfindung  sein  müsse,  und  dass  doch  die  Empfindungen, 
aus  welchen  unbewusst  die  Anschauungen  des  Auges  construirt  werden,  jen- 
seits des  liewusstseins  liegen  (vgl.  auch  „Das  Ding  an  sich  und  seine  ße- 
Bchaff'enheit",  Berlin,  C.  Üunker,  1871,  S.  G7);  die  Lösung  liegt  darin,  dasa 
das  Bewusstsein,  welches  ich  mein  Bewusstsein  nenne,  nur  die  fertige  An- 
schauung kennen  lernt,  und  die  Empfindungen,  welche  dieser  Anschauung 
zu  Grunde  liegen,  nur  in  einem  niedern  Bewusstsein  bestehen,  welches  mein 
Bewusstsein  nur  durch  künstliche  Hülfsmittel  der  Steigerung  behufs  Erleichte- 
rung der  Communication  und  selbst  da  noch  blos  unvollständig  in  sich  herein- 
zuziehen Tennag. 


61 

Cranzes  zur  EmpfiuduDg  kommen  kann,  es  sei  denn  durch  Sum- 
mation  der  Empfindungen  seiner  organischen  Elemente,  ebenso- 
wenig kann  der  protoplasmatische  Zellinhalt  als  Ganzes  zur  Em- 
pfindung kommen,  es  sei  denn  durch  Summation  der  Empfindungen 
seiner  organischen  Elemente.  Dass  wir  die  Zelle  klein  nennen, 
ist  ein  ganz  zufälliges  und  subjectives  Urtheil;  dem  Molecule 
gegenüber  ist  sie  von  so  ungeheurer  Grösse,  dass  es  auf  den 
Unterschied  der  Grösse  des  Gehirns  und  der  Zelle  danach  kaum 
noch  anzukommen  scheint.  Dennoch  kommt  es  auf  die  absolute 
Grösse  der  Zelle  an;  denn  dieselbe  ist  eine  solche,  dass  die  Lei- 
tungswiderstände innerhalb  derselben  zu  klein  werden,  um  be- 
sonderer Leitungsvorrichtungen  zu  bedürfen;  das  Protoplasma 
selbst  reicht  zur  Leitung  auf  die  Entfernungen  innerhalb  der  Zelle 
und  damit  zur  Herstellung  des  Gesammtzellenbewusstseins  als  eines 
Summationsphäuomens  aus  den  Separatempfindungen  der  orga- 
nischen Molecule  aus.  Freilich  wird  auch  hier  noch  ein  gewisser 
innerer  Leitungswiderstand  vorhanden  bleiben,  der  von  Reizen 
unterhalb  einer  gewissen  Grösse  nicht  überwunden  wird;  wir 
werden  also  auch  hier  eine  Zellenbewusstseinsschwelle  statuiren 
müssen,  obwohl  dieselbe  sich  nicht  leicht  empirisch  dürfte  nach- 
weisen lassen. 

Zum  dritten  Male  werden  wir  dieselbe  Betrachtung  wieder- 
holen müssen,  wenn  wir  von  dem  höchst  zusammengesetzten 
organischen  Molecule  des  protoplasmatischen  Zelleninhalts  auf 
dessen  chemische  Elementarmolecule  und  auf  die  gleicbmässigen 
üratome  zurückgehen.  Wir  sehen  von  dem  hier  erreichten 
Standpunkte,  dass  die  von  der  Ph.  d.  Unb.  betonte  Rela- 
tivität des  Individualitätsbegriffes  (Abschn.  C.  Cap.  VL 
S.  495  ff.)  nicht  nur  für  äusserliche  organische  Individuen,  sondern 
auch  für  Bewusstseinsindividuen  eine  in  noch  viel  strengerem 
Sinne  zu  nehmende  Wahrheit  ist,  als  es  nach  den  dort  gegebenen 
Ausführungen  scheinen  konnte. 

Kachdem  wir  die  Sehwelle  als  Function  des  inneren  Leitungs- 
widerstandes des  entsprechenden  Complexes  verstehen  gelernt 
haben,  müssen  wir  schliessen,  dass  bei  den  einfachen  Uratomen 
jeder  Grund  zur  Annahme  einer  Empfindungsschwelle  wegfällt, 
da  sie  eben  einfach  sind,   also  von  einem  inneren  Leitungswider- 


62 

stand   keine  Rede   sein  kann.    Hierdurch  würde  sich  das  Haupt- 
bedenken  der  Ph.  d.  Unb.  gegen  die  Annahme  einer  Empfindung 
der  Atome  (S.    490)   erledigen    und    dieser  fast  unvermeidlichen. 
Hypothese  eigentlich  nichts  mehr  im  Wege  stehen.     Unvermeidlich 
scheint  uns  diese  Hypothese  deshalb,  weil,  wenn  die  Empfindung 
nicht    eine    allgemeine   U reigenschaft    der  constituirenden 
Elemente    der  Materie    wäre,    schlechterdings    nicht    einzusehen 
wäre,  wie  durch  formelle  Potenzirung  und  Integration  derselben 
das   uns   bekannte  Empfindungsleben  der  Organismen  sollte   ent- 
stehen  können.     Dass  die  Materie,   bis  in  ihre  letzten  Principien 
verfolgt,    aus    dem   Gebiete    der  Physik   hinaus   und  durch   den 
dunklen   KraftbegriiF  in  das   der   Metaphysik  hinüberführt,   ist 
einmal  nicht  zu  leugnen;    so    bleibt  denn  auch  nichts  übrig,  als 
an  jener  Stelle  die   gemeinsame   metaphysische  Wurzel 
der  in    ihren  höheren  Steigerungen   als   stets  sich   wechselseitig 
bedingenden   und  doch   scheinbar  so  heterogen  und   unvermittelt 
neben  einanderstehenden  Sphären  der  Innerlichkeit  (Empfindung^ 
Bewusstsein)  und  AeusserKchkeit  (räumlichen  Wirkens  und  Daseins) 
zu   suchen  und  vorauszusetzen.     Es  ist  unmöglich,  dass  aus  rein 
äusserlichen  Elementen,  die  jeder  Innerlichkeit  entbehren,  plötzlich 
bei  einer   gewissen  Art   der  Zusammensetzung   eine  Innerlichkeit 
hervorbrechen  sollte,  die  sich  immer  reicher  und  reicher  entfaltet ; 
so   gewiss  vielmehr  die  Naturwissenschaft  überzeugt  ist,    dass  in 
der   Sphäre    der  Aeusserlichkeit    die   höheren   (organischen)  Er- 
scheinungen doch    nur    Combinationsresultate    oder    Summations- 
phänomene  der  elementaren  Atomkräfte  sind,  ebenso  gewiss  kann 
sie ,   wenn  sie  sich  einmal  ernstlich  mit  dieser  andern  Frage  be- 
schäftigt,  sich   der  Ueberzeugung  nicht  verschKessen ,  dass  auch 
die  Empfindungen  höherer  Bewusstseinsstufen   nur  Combinations- 
resultate oder  Summationsphänomene  der  Elementarempfindungen 
der  Atome   sein   können,    wenngleich   letztere  als  solche   immer 
unterhalb  der  Schwelle  der  höheren  Gruppenbewusstseine  bleiben. 
In    dem   Verkennen    dieser  Doppelseitigkeit    der  objektiven  Er- 
scheinung, deren  innere  und  äussere  Seite  sich  wie  die  Concavität 
und  Convexität  einer  und  derselben  Kreislinie  gegenseitig  bedingen 
und   doch   wie   diese  nur  jede  von  je  einem  Standpunkte  aufge- 
fasst  werden  können,   —  in  dem  Verkennen  dieser  Doppelseitig- 


63 

keit,  welche  alles  Dasein  von  seinen  niedrigsten  bis  zu  seinen 
liöcbsten  Erscheinungsformen  durchzieht,  liegt  der  Grundfehler 
alles  Materialismus  und  alles  subjektiven  Idealismus.  So  un- 
möglich der  Versuch  des  letzteren  ist,  die  äusserlichen  Erschei- 
nungen des  räumlichen  Daseins  aus  Functionen  der  Innerlichkeit 
und  deren  Combinationen  zu  construiren,  ebenso  unmöglich  ist 
das  Bestreben  des  ersteren,  aus  irgend  welchen  Combinationen 
äusserlicher  räumlicher  Kraftfuuctionen  eine  innerliche  Empfindung 
aufzubauen,  —  ein  Bestreben,  an  dem  selbst  der  talentvolle  Herbert 
Spencer  gescheitert  ist.*)  Es  leuchtet  nunmehr  auch  ein,  weshalb 
unser  Standpunkt  ebensowenig  als  Materialismus,  wie  als  sub- 
jectiver  Idealismus  bezeichnet  werden  kann;  denn  wenn  wir  in 
den  Atomen,  aus  welchen  die  Materie  besteht,  die  einheitüche 
metaphysische  Wurzel  der  äusserlichen  und  innerlichen 
Erscheinung  des  Weltweseus  oder  der  Weltsubstanz  (nämlich 
der  Welt  als  räumlich  gesetzten  Daseins  und  der  Welt  als  Vor- 
stellung) zu  suchen  haben,  so  haben  wir  eben  damit  anerkannt^ 
dass  Innerlichkeit  (Empfindung,  Vorstellung,  Bewusstsein)  keines- 
wegs als  blosse  Folge  der  in  der  Sphäre  der  materiellen  Aeusser- 
lichkeit  vorgehenden  Functionen  angesehen  werden  kann  (eben- 
sowenig wie  umgekehrt),  sondern  dass  sie  als  ebenso  ursprüi^lich 
wie  diese  gesetzt  werden  muss,  und  als  eine  der  Aeusserlichkeit 
schon  in  den  primitivsten  Elementen  des  Daseins  gleichberechtigte 
und  coordiuirte  Erscheinungssphäre  aus  der  gemeinsamen  meta- 
physischen Wurzel  der  Welt  resultiren  muss.  Unser  Standpunkt 
kann  aber  auch  schon  deshalb  nimmermehr  Materialismus  heissen, 
weil  uns  die  Materie  selbst  gar  kein  an  und  für  sich  subsistirendes 
Prineip,  d.  h.  keine  Substanz  im  strengen  Sinne  sein  kann,  son- 
dern uns  selbst  nur  als  ein  Combinationsresultat  oder 
Summationsphänomen  immaterieller  Atomkräfte  gilt, 
weil  das,  was  wir  Materie  als  äusserlich  gesetzte  räumliche 
Existenz  nennen,  seinerseits  ebenso  sehr  nur  ein  Phänomen  einer 
metaphysischen  Wesenheit  ist  wie  die  Empfindung,  bloss  mit  dem 


*)  Vgl.  A.  P.  Barnard's  Rede  über  die  neueren  Fortschritte  der  Wissen- 
schaften, deutsch  von  Klöden,  Berlin  1869,  S.  42  bis  52,  und  TyudaH's  Aeusse- 
rungen  im  Anhang. 


64 

Unterschied,  dass  erstere  Phänomen  in  der  Sphäre  der  Aeusser- 
lichkeit  oder  Objektivität,  letztere  Phänomen  in  der  Sphäre  der 
Innerlichkeit  oder  Subjektivität  ist. 

Wenn  wir  sagten,  dass  die  Empfindung  als  ursprüngliche 
Eigenschaft  der  die  Materie  constituirenden  individualisirten 
Elemente  (Atome)  angesehen  werden  müsse,  welche  nicht  durch 
die  anderen  Eigenschaften  derselben  in  secundärer  Weise  verursacht 
sei,  sondern  als  coordinirte  Sphäre  zu  betrachten  sei,  so  schliesst 
dies  doch,  wie  schon  erwähnt,  die  Wechselwirkung  zwischen 
dem  bestimmten  jeweiligen  Inhalt  beider  Sphären  nicht  aus.  Die 
Bestimmtheit  des  Inhalts  der  Empfindung  durch  die  Vorgänge  in 
der  Aeusserlichkeit  ist  jedenfalls  über  allen  Zweifel  erhaben ;  der 
umgekehrte  Eiufluss  der  Empfindung  auf  die  äusseren  Vorgänge 
ist  mindestens  als  höchst  wahrscheinlich  anzusehen,  aber  nicht 
etwa  so,  als  ob  die  Gesetze  des  äusseren  Geschehens  dadurch 
Ausnahmen  und  Eingriffe  erlitten,  sondern  so,  dass  diese  Einflüsse 
sich  innerhalb  des  Rahmens  der  naturgesetzhchen  Noth wendigkeit 
halten,  indem  sie  mitbestimmend  auf  das  unter  gleichen  Umständen 
regelmässig  wiederkehrende  Verhalten  der  Atome  wirken,  aus  wel- 
chem wir  erst  das  Gesetz  abstrahiren.  Gerade  dass  wir  bei  unsern 
Abstractionen  der  Gesetze  des  äusseren  Geschehens  bis  jetzt  nicht 
im  Stande  sind,  das  Moment  der  Innerlichkeit  mit  in  die  Formeln 
einzuführen,  gerade  dieser  Umstand  giebt  den  meisten  Natur- 
gesetzen noch  eine  unserm  Verständniss  so  fremdartige  Physio- 
gnomie, weil  zwar  die  äussern  Umstände  und  das  äussere  Resultat 
richtig  aufgezeichnet  sind,  aber  die  innerliche  Vermittelung  fehlt, 
wxlche  erst  gleichsam  die  lebendige  Seele  des  im  Gesetz  ausge- 
drückten realen  Zusammenhanges  bildet.  Es  ist  dies  ganz  das- 
selbe Verhältniss  wie  im  umgekehrten  Falle  in  einer  subjekti- 
vistischen  Psychologie,  welche  von  den  Einflüssen  der  durch  die 
realen  Vorgänge  des  äusserlichen  Daseins  erregten  Hirnschwin- 
gungen völlig  Abstand  nimmt  und  sich  darauf  beschränkt,  aus 
den  empirisch  beobachteten  Zusammenhängen  zwischen  Vor- 
stellungs-  oder  Empfindungs- Elementen  Gesetze  zu  abstrahiren. 
Diese  Gesetze  können  vollständig  richtig  aufgestellt  werden 
(z.  B.  über  die  Idecnassociation)  und  doch  fehlt  jede  Einsicht, 
wie  so  gerade  diese  Zusammenhänge  zu  Stande  kommen,  bis  die 


65 

Eücksichtnahme  auf  die  Wechselwirkung  mit  der  Sphäre  der 
Aeusserlichkeit  (wie  wir  oben  sahen)  Licht  iu  die  Sache  bringt 
(vgl.  auch  als  anderes  Beispiel  die  Erörterung  über  immanente 
und  transcendente  Causalität  im  „Ding  an  sich",  insbesondere 
S.  77). 

Wenn  Spinoza  bemerkt,  dass  ein  fallender  Stein,  w^enn  er 
Bewusstsein  hätte,  frei  zu  handeln  glauben  würde,  so  können  wir 
hinzufügen,  dass  er  Lust  oder  Behagen  an  dieser  freien  unbe- 
hinderten ßethätigung  seiner  Willensnatur  empfinden  würde,  dass 
er  aber  Unlust  empfinden  würde,  w^enn  die  seiner  Tendenz  ge- 
mässe  Fallbewegung  (etwa  durch  Aufschlagen  auf  den  Erdboden) 
gehemmt  und  verhindert  würde,  —  denn  der  in  ihm  lebendige 
Wille  würde  im  ersteren  Falle  im  Zustande  der  Befriedigung^ 
im  letzteren  Falle  im  Zustande  der  Kichtbefriedigung  befindlich 
sein.  Wenn  nun  auch  die  Atomempfindung  zu  tiefstehend  für 
ausgiebige  Vergleichungen  und  deutliches  Bewusstsein  der  Lust 
gedacht  werden  müsste,  so  würde  sie  doch  jedenfalls  von  jeder 
Störung  der  naturgemässen  Intentionen  unangenehm  afficirt 
werden  und  ohne  Zweifel  auch  von  dem  Contrast  einer  nach 
längerer  Hemmung  wieder  freiw  erdenden  Bethätigung  angenehm 
berührt  werden.  Hiermit  w^ären  auch  für  das  Empfindungsleben 
ausgedehnterer  mateiieller  Complexe  die  bestimmenden  Elemente 
gegeben,  welche  sich  auf  den  verschiedenen  Stufen  organischen 
Aul'baues  auch  innerhalb  desselben  Organismus  wiederholen  (Ph. 
d.  Unb.  225 — 226  und  Lotze  „Medicinische  Psychologie'^  2.  Buch^ 
2.  Cap.).  Ob  ein  Molecule  sich  in  Ruhe  oder  Bewegung  befindet^ 
ist  an  und  für  sich  —  schon  wegen  der  Relativität  der  Bewegung 
—  gleichgültig;  eine  Aenderung  des  Zustandes  der  Bewegung 
wird  daher  in  demselben  Sinne,  wie  eine  Aenderung  des  Zustandes 
der  Ruhe  als  Störung  durch  äusseren  Eingriff  aufzufassen  sein^ 
vorausgesetzt  natürlich,  dass  diese  Aenderung  wirklich  von  aussen 
durch  mechanische  Uebertragung  lebendiger  Kraft  und  nicht  durch 
eine  aus  der  Action  der  eigenen  Kräfte  herrührende  Beschleu- 
nigung hervorgerufen  wird.  Der  Bewegungszustand,  in  welchem 
sich  ein  Molecule  befindet,  ist  gleichsam  der  indifferente  Nullpunkt 
seines  Empfindens,  der  gewohnheitsmässige  Zustand,  dessen 
Contrast   mit   einem  früher  einmal  vorangegangenen  anderen  Zu- 


66 

siand,  mochte  derselbe  mm  eine  angenehme  oder  unangenehme 
Empfindung  repräsentiren ,  längst  verklungen  ist.  Deshalb  macht 
es  nach  Beseitigung  dieses  Contrastes  auch  keinen  Unterschied 
mehr  für  die  Empfindung  des  Atoms,  ob  die  innehabende  Be- 
wegung durch  eine  frühere  Bethätigung  der  eigenen  Kraft 
(nicht  durch  gegenwärtige,  denn  diese  würde  Beschleunigung, 
mithin  Veränderung  des  Bewegungszustandes  bringen)  oder  durch 
eine  frühere  Uebertragung  lebendiger  Kraft  von  aussen  herrührt, 
und  wird  mithin  auch  die  Störung  des  Bewegungszustandes,  als 
des  nunmehr  natürlichen,  in  gleicher  Weise  empfunden  werden, 
welches  auch  sein  Ursprung  sei.  Wenn  nun,  wie  wir  sehen,  die 
Störung  des  Bewegungszustandes,  der  aus  Bethätigung  der  eigenen 
Kraft  herstammt,  unangenehm  empfunden  wird,  so  müssen  wir 
schliessen,  dass  ganz  ebenso  auch  jede  Störung  eines  aus  fremder 
lebendiger  Kraft  herstammenden  Bewegungszustandes  unangenehm 
empfunden  wird,  ausgenommen,  wenn  die  Störung  dahin  wirkt, 
die  gebundene  Action  der  eigenen  Kraft  frei  zu  machen.  Ferner 
wird  es  in  gleicher  Weise  empfunden  werden,  ob  die  als  Störung 
von  aussen  eingreifende  Geschwindigkeitsänderung  im  positiven 
oder  negativen  Sinne,  als  Beschleunigung  oder  Verlangsamung  wirkt. 
Nun  werden  aber  alle  Schwingungen  von  Hirnmoleculen  in 
erster  Reihe  durch  ausserhalb  ihrer  selbst  liegende,  von  anderen 
Hirn-  oder  Nerven-Moleculen  an  sie  herantretende  Bewegungsreize 
erregt;  wenn  auch  die  Art  und  Weise  oder  Form  ihrer  Schwin- 
gungen zum  Theil  durch  die  Prädispositionen  ihrer  Lage  undVer- 
theilung  bedingt  ist,  so  ist  doch  das  Entstehen  der  Schwingung 
immer  Folge  eines  herantretenden  Reizes,  d.  h.  übertragener  leben- 
diger Kraft  von  anderen  schwingenden  Nerventheilen  ,  die  sie 
letzten  Endes  beim  Wahrnehmungsprocess  durch  die  lebendige 
Kraft  der  Licht-,  Schall-  und  anderen  Schwingungen  erhalten 
haben.  Dies  wäre  wenigstens  beim  rein  passiven  Percipiren  die 
einzige  Kraftquelle,  angenommen,  dass  ein  solches  passives  Per- 
cipiren ohne  actives  Appercipiren  oder  Einordnen  in  bekannte 
Vorstellungsreihen  in  aller  Strenge  vorkäme.  Das  Appercipiren, 
das  sich  mehr  oder  minder  dem  Percipiren  immer  beimengt,  ist 
aber  schon  ein  Beginn  der  activen  Verarbeitung  von  empfangenen 
Vorstellungen   und  erfordert  als  solches  eine  Aufwendung  der  im 


67 

Creliiru  aufgespeicherten  chemischen  Kraft  (welche  aus  den  Nah- 
rungsmitteln herstammt).  Diese  active  Krafthethätigung  ist  nur 
das  Allgemeinere  dessen,  was  wir  bereits  als  Aufmerksamkeit 
kennen  lernten  und  was  bei  allem  Wahrnehmen,  Appercipiren, 
Lenken  einer  Gedankenreihe  zu  bestimmtem  Ziele,  kurz  bei  jeder 
geistigen  Arbeit  und  namentlich  bei  produktiver  Arbeit  eine  so 
dominirende  Rolle  spielt.  Auch  diese  eigenthümliche  Activität 
des  Gehirns  aus  dem  aufgespeicherten  Kraftvorrath  bedarf  zu 
ihrem  Eintreten  eines  von  aussen  herantretenden  Reizes,  aber  die 
lebendige  Kraft,  welche  er  auslöst,  ist  viel  grösser  als  die,  welche 
er  mitbringt  (etwa  wie  die  lebendige  Kraft  der  Luft  in  den 
Pfeifen  einer  gespielten  Orgel,  die  vom  Balgentreter  herrührt, 
weit  grösser  ist  als  die  lebendige  Kraft  der  die  Tasten  bewegenden 
Finger  des  Orgelspielers,  welche  doch  für  die  Pfeifen  als  aus- 
lösender Reiz  wirkt).  Nur  die  Aufmerksamkeit  und  geistige 
Activität  ermüdet  das  Gehirn,  nicht  die  passive  Aufnahme,  weil 
nur  in  ersterem  Falle  die  eigene  Kraft  verzehrt  wird.  Das  ohne 
jede  Aufmerksamkeit  den  Sinneseindrücken  träumerisch  hinge- 
gebene Gehirn  ermüdet  ebenso  wenig,  wie  es  von  den  Bildern 
des  wirklichen  Traumes  ermüdet.  Wohl  aber  können  dabei  noch 
die  Sinnesorgane,  die  Sinnesnerven  und  die  Centralorgane  der 
Sinnesperception  ermüden,  weil  in  ihnen  unwillkürlich  und  reflec- 
torisch  durch  die  eintretenden  Reize  immer  eine  gewisse  Reaction 
erregt  wird,  welche  als  eine  ermüdende  active  Aufmerksamkeit 
(aber  nicht  als  Gehirnaufmerksamkeit,  sondern  als  untergeordnete 
Nerveuaufmerksamkeit)  zu  bezeichnen  ist,  —  eine  Activität,  deren 
Kraftverbrauch  bis  zu  eingetretenem  Ersatz  wie  überall  eine  Ab- 
stumpfung gegen  den  Reiz  zur  Folge  hat.  Auch  beim  Gehirn 
selbst  ist  die  Aufmerksamkeit  auf  die  meisten  Reize  von  gewisser 
Grösse  zum  Theil  unwillkürlicher  Reflex,  zum  andern  Theil  aber 
Resultat  eines  Ueberlegungsprocesses,  der  die  betreffenden  Reize 
mit  den  Interessen  des  Individuums  confrontirt  und  danach 
erst  sich  zur  Aufmerksamkeit  in  höherem  oder  geringerem  Grade 
entschliesst ;  bei  gewissen  Stimmungen  kann  aber  der  unwill- 
kürliche Reflex  auf  lange  Reihen  gewisser  Reizklassen  sehr  gering 
werden,  und  dann  darf  er  praktisch  vernachlässigt  werden,  weil 
die    beständige   Alimentation   des  Gehirns   (wie  im  Traum)  mehr 


68 

als  gentigt,  um  den  dabei  stattfindenden  Kraftverbrauch  zu  er- 
setzen. Umgekehrt  scheint  bei  gespanntem,  aufmerksamem  Suchen 
nach  einer  Vorstellung  (siehe  oben  S.  56)  der  die  vorhandenen  ver- 
wandten Dispositionen  erregende  centrifugale  Innervationsstrom 
das  allein  Bestimmende  zu  sein,  und  doch  ist  nicht  zu  vergessen, 
dass  die  actuell  im  Bewusstsein  vorhandene  Vorstellung  für  die 
neu  entstehende  als  äusserer  Reiz  w^irkt,  welcher  ein  gewisses 
Maass  von  lebendiger  Kraft  überträgt,  ganz  wie  die  Schallwellen 
lebendige  Kraft  auf  die  Cortischen  Organe  übertragen.  Wir  sehen 
also,  dass  streng  genommen  die  lebendige  Kraft  des  Reizes  und 
die  aus  der  aufgespeicherten  Nervenkraft  herrührende  reflectorisch 
(sei  es  unwillkürlich  oder  durch  bewussten  Reflectionsprocess) 
ausgelöste  lebendige  Kraft  als  Quellen  der  lebendigen  Kraft  einer 
Vorstellung  immer  Hand  in  Hand  gehen,  dass  aber  bald  der  eine 
Factor,  bald  der  andere  verschwindend  klein  werden  kann,  je 
nachdem  die  Produktivität  oder  die  Receptivität  dominirend  her- 
vortritt. 

Wenn  es  sich  um  die  Frage  der  Entstehung  desBe- 
wusstseins  oder  der  Empfindung  handelt,  so  liegt  es  auf  der 
Hand,  dass  wir  es  mit  jenem  extremen  Falle  zu  thun  haben,  wo 
die  Receptivität  dominirt;  denn  erst  nachdem  wir  von 
den  primitiven  Ursprüngen  der  Empfindung  einen  langen  Weg 
aufsteigender  Entwickelung  zurückgelegt  haben,  kommen  wir  in 
Regionen,  wo  von  einer  geistigen  Verarbeitung  der  Empfindungen 
die  Rede  sein  kann.  Dies  gilt  ebenso  von  den  untersten  Stufen 
der  Empfindung  im  menschlichen  Organismus,  wie  von  denen  in 
der  aufsteigenden  Reihe  des  Protisten-  und  Thierreichs  als  Ganzen. 
Wir  werden  also  bei  den  Anfängen  der  Empfindung  die  reflec- 
torische  Entfaltung  eigener  Kraft  vernachlässigen  dürfen  und  uns 
an  den  erregenden  Reiz  als  die  wesentliche  Quelle  der  leben- 
digen Kraft  der  Empfindungsschwingungen  halten  dürfen.  Diese 
vom  Reiz  übertragene  lebendige  Kratt  ist  nun  aber  für  jedes 
davon  betroffene  Molecule  ein  störender  Eingriff  in  seinen  be- 
stehenden Zustand,  von  dem  es  sich  nach  den  obigen  Erörterungen 
unangenehm  afficirt  fühlen  muss.  Es  findet  sich  in  eine  Bewe- 
gung versetzt,  zu  welcher  in  seinem  Willen,  d.  h.  in  seiner  ihm 
eigenthümlichen  Kraft  sammt  den  Gesetzen,  nach  denen  sie  sich 


69 

äussert,  keine  VeranlassuDg  gegeben  war;  diese  Bewegung  em- 
pfindet es  als  eine  seinem  Naturwillen  nicht  gemässe,  aufgezwun- 
gene, widerwärtige.  Hier  wenn  irgendwo  ist  der  Ursprung  der 
actuellen  Empfindung  und  damit  zugleich  der  Ursprung  des  Be- 
wusstseins  zu  suchen,  das  nur  durch  den  Contrast  des  eigenen 
Willens  mit  dem  eigenen  Thun  entstehen  kann,  während  die 
behagliche  Empfindung  der  dem  eigenen  Willen  gemässen  Bethä- 
tigung  erst  durch  den  Contrast  mit  der  bereits  vorhandenen  ent- 
gegengesetzten Empfindung  entstehen  kann.  Wir  glauben  uns  — 
bis  auf  die  Herleitung  und  Ausdrucksweise  —  hier  in  völliger  Ueber- 
einstimmung  mit  der  Ph.  d.  U.  zu  befinden  (S.  404 — 406  und 
409—410). 

Wenn  wir  oben  die  Empfindung  als  allgemeine  ursprüngliche 
Eigenschaft  der  constituirenden  Elemente  der  Materie  in  Anspruch 
nahmen,  so  war  doch  damit  natürlich  nicht  die  actuelle  Empfin- 
dung gemeint,  welche  erst  durch  den  äussern  Reiz  hervorgerufen 
wird,  sondern  das  latente  Vermögen,  auf  einen  solchen  Eingriff 
durch  äussern  Reiz  mit  der  Empfindung  zu  antworten.  Diese 
metaphysische  Wurzel  des  Atoms,  welche  zugleich  seine  Kraft, 
äusserlich  nach  bestimmten  Gesetzen  zu  wirken,  und  seine  Fähigkeit, 
aul  eine  Aenderung  seiner  äusseren  ßewegungszustände  mit  Empfin- 
dung zu  reagiren,  umfasst  und  welche  natürlich  jenseits  alles  Be- 
wusstseins  liegt,  kann  man  als  das  Unbewusste  des  Atoms  be- 
zeichnen, welches  die  primitivsten  Urformen  von  Wille  und  Vor- 
stellung in  seinem  Schoosse  trägt.  Dieses  Unbewusste  ist  der 
metaphysische  Hintergrund,  auf  welchem  durch  die  Aenderung 
der  äusseren  Vorgänge  das  Wunderbild  der  bewussten  Empfin- 
dung entworfen  wird,  gleichsam  die  Wand  für  die  Zauberlaterne, 
deren  Bild  ohne  solche  nicht  zur  Erscheinung  käme,  der  unver- 
änderlich bleibende  Hintergrund,  auf  welchem  die  wandelnden 
Erscheinungen  der  Empfindungs-  und  Vorstellungswelt  sich  ab- 
spielen (vgl.  „Philosophische  Monatshefte^',  herausgegeben  von 
I.  Bergmann  Bd.  IV,  Hft.  1  S.  47).  Leider  hat  die  Ph.  d.  U. 
diese  Betrachtung  nicht  für  das  einzelne  Atom  durchgeführt,  son- 
dern gleich  mit  dem  Hirnbewusstsein  begonnen;  dadurch  ist  sie 
in  eine  unberechtigte  Gegenüberstellung  von  unbewusstem  Geist 
und  Materie  hineingerathen,  gleich  als  ob  der  unbewusste  Geist 


70 

als  ein  abgetrenntes  Wesen  den  Atomen  der  Materie  etwa  so 
gegenüberstände,  wie  diese  sich  untereinander  (z.  ß.  S.  403 
Z.  17—19;  S.  404  Z.  9—7  von  unten).  Eine  Betrachtung  der 
Empfindung  zunächst  am  Atom  würde  hingegen  haben  erkennen 
lassen,  dass  das  Unbewusste,  welches  empfindet,  nicht  etwas  dem 
Atom  fremd  Gegenüberstehendes,  von  ihm  Getrenntes,  sondern 
eben  dieses  selbst  ist;  das  eben  dargelegte  Anerkenntniss ,  dass 
Einheit  des  Bewusstseins  in  einer  Gruppe  von  mit  Einzelbewusst- 
sein  begabten  Elementen  nur  durch  Leitung  bedingt  ist  (S. 
426—430),  und  dass  das  so  entstandene  einheitliche  Bewusstsein 
in  der  That  ein  Summationsphänomen  ist,  also  z.  B.  das 
Hirnbewusstsein  ein  Summationsphänomen  aus  Zellenbewusstseinen 
ist  (S.  299  Z.  11 — 12),  würde  dann  in  Verbindung  mit  dem  Ver- 
ständniss  des  Vorganges  am  Atom  verhindert  haben,  den  unbe- 
wussten  metaphysischen  Hintergrund,  auf  welchem  das  einheit- 
liche Bewusstsein  entworfen  wird,  noch  in  etwas  anderem  zu  suchen 
als  dem  Unbewussten  der  Atome  des  materiellen  Complexes,  in 
welchem  das  einheitliche  Bewusstsein  stattfindet. 

Was  jedoch  die  scheinbare  Differenz  zwischen  unserer  Dar- 
stellung und  der  Ph.  d.  U.  wiederum  vermindert,  ist  der  Monis- 
mus der  letzteren,  d.  h.  ihre  Behauptung,  dass  das  Unbewusste 
in  Allem  substantiell  identisch  und  Eines  und  nur  in  phänome- 
naler Hinsicht  (sowohl  in  der  äusserlich  realen  Existenz,  als  in 
der  innerlichen  Abgeschlossenheit  des  Bewusstseins)  eine  Vielheit 
des  Daseins  nachgewiesen  werden  könne.  In  der  That  hat  die 
Naturwissenschaft  als  solche  nicht  nur  kein  Interesse,  sich  diesem 
Monismus  zu  widersetzen,  da  er  ja  die  reale  Vielheit  der  phy- 
sischen Erscheinung  unangetastet  lässt,  sondern  sie  darf  sogar 
anerkennen,  dass  der  Hintergrund  dieser  metaphysischen  Hypo- 
these in  vieler  Hinsicht  für  das  Verständniss  der  Naturgesetze 
vortheilhaft  ist.  Wenn  die  Naturwissenschaft  nur  erst  über  das 
Vorurtheil  eines  substantiellen  Stoffs  in  den  Atomen  neben  und 
ausser  den  Atomkräften  hinweggekommen  ist  (S.  475  ff.),  und  die 
potentielle  Kraft  (gewöhnlich  von  den  Physikern  Spannkraft  ge- 
nannt) als  etwas  Unräumliches  erkannt  hat  (487 — 489),  so  wird 
ihr  auch  der  Schein,  in  den  Atomen  getrennte  Substanzen  zu  be- 
sitzen, verschwinden,  und  sie  wird  sich  vom   rein  physikalischen 


71 

Standpunkt   nunmehr    ganz    gleichgültig    gegen    die    Frage    ver- 
halten, ob  die  Atome  substantiell  oder  nur  functionell  verschieden 
seien,   ob  sie  selbständig  jedes    für    sich   subsistiiende  Monaden, 
oder  ob  sie  nur  verschiedene  Functionen   einer  identischen  abso- 
luten Kraftsubstanz  (eines  Weltwillens)   seien.     Sobald   man  sich 
dessen  bewusst  ist,    dass   man    mit   dem  Begriff  der  potentiellen 
Kraft  (nicht  zu    verwechseln    mit    der    lebendigen  Kraft,    welche 
nur  mechanisches  Moment  der  Bewegung  ist)   bereits    das  Gebiet 
der  Physik  überschritten  und    das  der  Metaphysik   betreten  hat, 
so  wird  mau  sich  auch  nicht  zu  sträuben  brauchen,  weiteren  meta- 
physischen Erwägungen  und  Hypothesen  Raum  zu  geben  und  in  der 
metaphysischen  Wurzel  eines  jeden  physikalischen  Atoms  nur  eine 
einzelne  Verzweigung  der  grossen  metaphysischen  Wurzel  der  Welt 
anzuerkennen  (490 — 491).     Ich  will  hier  nur  auf  eine  Erwägung 
der  Ph.  d.  U.  aufmerksam  machen,  nach  welcher  bei    getrennten 
Substanzen  jede  reale  Beziehung,   also   auch   jeder  causale  Ein- 
fluss  auf  einander  unverständlich  wäre,  wenn  nicht  ein  metaphy- 
sisches  Band   denselben  vermittelt,    welches    den  Atomen   nicht, 
wie  diese  sich  untereinander,  getrennt  gegenübersteht  (denn  dann 
wäre   auch  wieder  der  influxus  zwischen  Band   und  Atomen   un- 
verständlich) ,   sondern  dieselben  als    höhere  Einheit  in  sich  ent- 
hält ('526—527).     Aber  auch  wem  diese  metaphysische  Erwägung 
nicht  stichhaltig  erscheint,   dürfte  doch  sich    zu  einer  Art  Monis- 
mus getrieben  sehen,  wenn  er  von  den  äusseren  Beziehungen  der 
Atome  untereinander  zu  ihren  innerlichen  Beziehungen,   d.  h.  zu 
dem  Summationsphäuomen    eines    einheitlichen  Bewusstseins    mit 
seiner  Betrachtung  übergeht.     Wenn  mein  Vorstellungsleben  ausser 
Stande  ist,   auf   die  Bewusstseinssphäre    eines   andern   Menschen 
einen  Einfluss  zu  üben,   es  sei  denn  durch  Vermittelung  der  bei- 
den zugängUchen  Sphären  des  äusserlichen  Geschehens,  so  findet 
zweifelsohne  dasselbe  Verhältniss  auch  bei  Atomen  statt:  die  Em- 
pfindung   eines  Atoms    kann    auf  die  Empfindung    eines    andern 
Atoms  influiren  nur  durch  die  Sphäre  des  äusserlichen  Geschehens, 
durch  Veränderung  des  fremden  Bewegungszustandes   durch   den 
eigenen.     Dies    drückt  sich   auch    darin    aus,    dass    die  Leitung, 
d.  h.  die  Möglichkeit  der  Uebertragung  des  Bewegungszustandes, 
Bedingung  für  die  Concrescenz  der  getrennten  Empfindungen   zu 


72 

einem  einheitlichen  Bewusstsein  ist,  weil  ohne  dieselbe  jede  Beein- 
flussung unmöglich  wäre.  Aber  wenn  sie  auch  Bedingung  ist, 
so  kann  sie  doch  nicht  vollständige  oder  zureichende  Ursache 
sein;  denn  wenn  gleich  die  Empfindung  eines  Atoms  durch  das 
andere  alterirt  werden  kann,  so  muss  man  doch  erwarten,  dass 
die  alterirte  Empfindung  von  der  Empfindung  des  alterirenden 
Atoms  nach  wie  vor  atomistisch  gesondert  bleibt.  Wie  auf  Grund 
blosser  Leitung  eine  Verschmelzung  mehrerer  Bewusstseine  zu 
einem  oder  der  Aufbau  eines  höheren  Bewusstseins  aus  den  nie- 
deren sollte  zu  Stande  kommen  können,  wird  nicht  ersichtlich, 
so  lange  wir  nicht  die  Hypothese  einer  metaphysischen  unbe- 
wussten  Einheit  der  empfindenden  Atome  hinzufügen.  Dann  na- 
türlich hat  das  Summationsphänomen  des  einheitlichen  Bewusst- 
seins keine  Schwierigkeit  mehr,  weil  der  metaphysische  Hinter- 
grund, auf  welchem  die  bewusste  Empfindung  entworfen  wird, 
nicht  mehr  ein  atomistisch-zersplitterter ,  sondern  ein  einheitlicher 
ist,  —  nämlich  das  Eine  Unbewoisste,  welches  sich  nur  functionell 
(als  viele  Atom-Kräfte  und  Atomempfindungen)  in  die  Vielheit  be- 
geben hatte.  —  Fügen  wir  hinzu,  dass  auch  wir  z.  B.  im  Hirn- 
bewusstsein  das  Eine  und  absolute  Unbewusste  nur  insofern 
als  Hintergrund  voraussetzen,  als  es  in  denAtomen  dieses  Ge- 
hirns functionirt,  und  dass  andererseits  auch  die  Ph.  d.  ü.  das 
Eine  und  absolute  Unbewusste  nur  insofern  als  Individualgeist 
individualisirt  denkt,  als  es  auf  diesen  Organismus  hin 
functionirt,  so  scheint  der  vorhin  urgirte  Unterschied  fast  gänzlich 
wieder  zu  verschwinden.  Dennoch  ist  er  vorhanden  und  lässt 
sich  dahin  präcisiren,  dass  wir  keine  Functionen  des  Unbewussten 
kennen,  welche  auf  diesen  Organismus  Bezug  hätten,  als  die- 
jenigen, welche  in  den  Atomen  desselben  sich  offenbaren,  wohin- 
gegen die  Ph.  d.  U.  die  beständigen  metaphysisch-teleologischen 
Eingriffe  in  den  Lebensprocess  des  Organismus  sowohl  auf  phy- 
sischem wie  auf  psychischem  Gebiete  behauptet  und  deshalb 
einen  viel  weiteren  Begriff  hat  als  wir  von  „dem  Unbewussten, 
insofern  es  in  Bezug  auf  diesen  Organismus  functionirt".  Aller- 
dings haben  auch  wir  durch  das  Zugeständniss,  dass  h()here  Be- 
wusstseinseinheiten  durch  blosse  Atomempfindungen  ohne  das 
metaphysische    Band    des    Einen     absoluten    Unbewussten    nicht 


73 

möglich  seien,  schon  implicite  zugegeben,  dass  dieses  doch  noch 
ausser  seinen  Functionen  in  den  Atomen  als  solchen  bei  dem 
Zustandekommen  des  einheitlichen  Bewusstseins  betheiligt  sei; 
aber  diese  Betheiligung  ist  eine  rein  passive,  jede  active  Be- 
thätigung  ausschliessende  und  ganz  besonders  alle  Eingriffe  in 
den  naturgesetzlichen  Gang  der  Ereignisse  ausschliessende;  es 
ist  eben  nur  die  einheitliche  Wand,  die  still  hält,  und  nur  da- 
durch zum  Zustandekommen  der  von  ihr  aufgegangenen  Bilder 
mitwirkt,  dass  sie  da  ist,  und  zwar  als  Eine  und  ganze  da  ist. 
Es  hängt  mit  der  erörterten  Differenz  eine  andere  Schwie- 
rigkeit eng  zusammen,  in  welche  die  Ph.  d.  U.  durch  ihre  teleo- 
logischen Velleitäten  sich  verwickelt.  Wir  sahen  schon  oben, 
dass  die  Art  und  Weise  einer  entstehenden  Empfindung  unab- 
hängig ist  von  dem  Ort,  wo  sie  entsteht,  nur  abhängig  von  der 
Porm  und  Modalität  der  sie  hervorrufenden  Schwingungen,  dass 
also  genau  gleiche  Schwingungen  nicht  nur  an  jeder  Stelle  des- 
selben Gehirns,  sondern  auch  in  verschiedenen  Gehirnen  genau 
gleiche  Empfindungen  hervorrufen  müssen.  Dies  ist  nur  möglich, 
-wenn  die  Reaction  des  Unbewussten  (Empfindungsvermögens)  auf 
die  Schwingungen  mit  der  entsprechenden  Empfindung  eine  durch 
ausnahmslose  Naturgesetze  bestimmte  ist,  welche  jede  Willkür 
und  Freiheit  ebenso  wie  jede  Zufälligkeit  unbedingt  ausschliesst. 
Nur  wenn  die  Reaction  der  Innerlichkeit  auf  den  äusserlichen 
Vorgang  eine  durch  äusserlichen  Zwang  aufgenöthigte  ist, 
tritt  jener  Contrast  zwischen  dem  nicht  selbstgesetzten  und 
doch  vorgefundenen  Empfindungs-  oder  Vorstellungsinhalt  und 
zwischen  dem  naturgemässen  eigenen  Willensinhalt  ein,  welcher 
durch  die  unlusterweckende  Opposition  seiner  Elemente  zugleich 
der  Entstehungsmoment  des  Bewusstseins  sein  soll.  Die  Ph. 
d.  U.  erkennt  dies  ausdrücklich  an  und  spricht  es  so  aus:  „Der 
Gegensatz  zwischen  Wille"  (eigenem  Naturwillen)  „und  Vor- 
stellung^' (hervorgerufener  Empfindung)  wird  noch  dadurch  erhöht, 
dass  die  Vorstellung  nicht  unmittelbar  durch  die  materielle 
Bewegung  gegeben  ist,  sondern  erst  durch  die  gesetzmässige 
Reaction  des  Unbewussten  auf  diese  Einwirkung;  es  tritt  also 
noch  hinzu,  dass  das  Unbewusste  mit  einer  Thätigkeit  ant- 
worten   muss,    welche    ihm    gleichsam   aufgenöthigt   wird. 


74 

Auf  diese  Weise  entstehen  zunächst  die  einfachen  Qualitäteis 
der  Sinneseindrücke,  wie  Ton,  Farbe,  Geschmack  u.  s.  w. ,  aus 
deren  Beziehungen  zu  einander  sich  dann  die  ganze  Wahr- 
nehmung aufbaut,  aus  welcher  wieder  durch  Reproduktion  der 
Gehiruschwingungen  die  Erinnerungen,  und  durch  theilweises 
Fallenlassen  des  Inhalts  der  letzteren  die  abstracten  Begriffe 
entstehen"  (S.  406).  Wenn  es  unzweifelhaft  richtig  ist,  dass  die 
Empfindung  nicht  als  unmittelbare  und  ausschliessliche  Folge 
der  äussern  Bewegung,  sondern  nur  als  Reaction  des  Unbewussten 
(Empfindungsvermögens)  auf  diese  Bewegung  zu  verstehen  ist, 
wenn  es  ferner  richtig  ist,  dass  die  so  als  Reaction  aus  dem  Un- 
bewussten selbst  hervorquillende  Empfindung  nur  dann  die  Ent- 
stehung des  Bewusstseins  begreiflich  macht,  wenn  sie  als  auf- 
genöthigte,  naturnothwendige,  nicht  aus  der  eigenen  Willensnatur 
hervorgehende  gefasst  wird,  so  darf  auch  nimmermehr  diese 
Reaction  als  eine  vom  Unbewussten  teleologisch  zum  Zweck 
der  Entstehung  des  Bewusstseins  gesetzte  und  bestimmte  gedacht 
werden,  wie  die  Ph.  d.  U.  es  thut;  denn  dann  läge  nur  eine 
Taschenspielerei  vor,  dass  das  Unbewusste  über  eine  Reaction  als 
nicht  von  ihm  gewollte  oder  beabsichtigte  stutzt,  die 
es  doch  mit  der  andern  Hand  sich  selbst  mit  wohlberechneter 
Absicht  unter  den  Zauberbecher  geschoben  hat,  aus  dem  sie 
nun  zum  Vorschein  kommt.  Solche  Selbstbegaukelung  des  Un- 
bewussten ist  ganz  unmöglich ;  entweder  ist  die  teleologische  Meta- 
physik richtig,  und  die  Bewusstseinsentstehung  der  hauptsächliche 
Mittelpunkt  des  Unbewussten,  dann  ist  die  obige  Theorie  der  Be- 
wusstseinsentstehung falsch;  oder  aber  diese  Theorie  ist,  wie  wir 
glauben  richtig,  dann  kann  die  Bewusstseinsentstehung  nimmer- 
mehr der  Zweck,  sondern  nur  die  unbeabsichtigte  Folge 
des  Vorganges  gewesen  sein,  aus  dem  sie  resultirt.  Da  wir  ohne- 
hin schon  unsern  Standpunkt  gegenüber  der  Teleologie  klar- 
gestellt haben,  so  kann  natürlich  dieses  Dilemma  uns  nur  in  un- 
serer Auffassung  bestärken. 


y. 

Charakter  und  Wille. 


„Wenn  dem  Materialismus  einmal  das  bewusste  Vorstellen 
und  Denken  eingeräumt  ist,  so  hat  er  volles  Recht,  auch  das  be- 
wusste Fühlen  und  damit  das  bewusste  Begehren  und  Wollen 
in  Anspruch  zu  nehmen,  da  die  physiologischen  Erscheinungen 
für  alle  bewussten  Geistesthätigkeiten  das  Gleiche  aussagen.  Es 
ist  völlig  inconsequent  von  Schopenhauer,  den  Gedächtnissschatz 
des  Geistes  sammt  den  intellectuellen  Anlagen,  Talenten  und  Fer- 
tigkeiten des  Individuums  auf  die  Constitution  des  Hirns  zurück- 
zuführen und  den  Charakter  des  Individuums,  der  sich  eben  so 
leicht,  wo  nicht  noch  leichter,  dieser  Erklärung  unterwirft,  von 
derselben  auszuschliessen  und  zu  einer  individuellen  metaphysischen 
Essenz  zu  hypostasiren,  welche  seinem  monistischen  Grundprincip 
in's  Gesicht  schlägt.^^  (Phil.  d.  Uub.  S.  3'S7  — 388.)  „Der  Cha- 
rakter ist  der  Reactionsmodus  (des  Individuums)  auf  jede  be- 
sondere Classe  von  Motiven,  oder  was  dasselbe  sagt,  die  Zu- 
sammenfassung der  Erregungsfähigkeiten  jeder  besonderen  Classe 
von  Begehrungen"  (234).  Die  verschiedenen  Seiten  oder  Grund- 
richtungen des  Charakters,  welche  als  innere  Triebfedern  des 
Handelns  den  verschiedenen  Motivklassen  als  äusseren  entsprechen, 
sind  die  Triebe  (61  u.  233).  „Der  Trieb  hat  also  als  solcher 
nothwendig  einen  bestimmten  concreten  Inhalt,  welcher  durch  die 
physischen  Prädispositionen  der  allgemeinen  Kürperconstitution 
und  der  raolecularen  Constitution  des  Centralnervensystems  bedingt 
ist"    (61).     Diese  theils  ererbten,   theils  im  Laufe  des  Individual- 


76 

lebens  erworbenen  molecularen  Hirnprädispositionen  sind  es  also, 
welche  nicht  nur  das  Gedächtniss  und  die  intellectuellen  Anlagen, 
sondern  auch  den  Charakter  bestimmen  (28),  indem  sie  in  beiden 
Fällen  sich  als  das  Substrat  bekunden,  durch  welches  die  Macht 
der  Gewohnheit  sich  bethätigt  (608).  Die  Temperamente  werden 
in  ganz  analoger  Weise  durch  eine  dauernde,  wie  die  Stimmungen 
durch  eine  vorübergehende  Gesammtdisposition  des  Gehirns  be- 
dingt (Phil.  Monatshefte  Bd.  IV.  Hft.  5.  S.  389).  Die  Thatsache 
der  Vererbung  von  Charaktereigenschaften  wie  von  intellektuellen 
Anlagen  wäre,  da  der  Befruchtungsakt  ein  rein  materieller  (physi- 
^  kalisch-chemischer)  Vorgang  zwischen  sperma  und  ovum  ist, 
schlechterdings  unbegreiflich,  wenn  nicht  alle  die  so  vererbten 
Charaktereigenschaften  wie  intellektuellen  Anlagen  ausschliesslich 
von  der  Constitution  des  Organismus  abhängig  wären,  dessen 
Beschaffenheit  allerdings  durch  die  Beschaffenheit  der  Zeugungs- 
stoffe bedingt  zu  denken  ist  (ebenda  S.  388).  Indem  der  Mensch 
durch  Ererbung  der  constitutionellen  Anlage  und  der  charaktero- 
logischen  Hirnprädispositionen  als  Resultat  einer  zahllose  Gene- 
rationen umspannenden  charakterologischen  Entwickelungsreihe 
dasteht,  ist  es  kein  Wunder,  dass  das  Resultat  so  undenklich 
langer  Processe  nicht  ohne  Weiteres  umgestossen  oder  corrigirt 
werden  kann  durch  die  Einwirkungen,  welche  während  eines 
Menschenlebens  auf  dieses  Gehirn  influiren,  und  dass  die  Mo- 
di ficabilität  des  Charakters  in  einer  Generation  in  ziemlich 
enge  Grenzen  eingeschlossen  ist,  welche  dennoch  Spielraum  genug 
gewähren,  um  diese  Modificabilität  zu  einem  praktisch  und  ethisch 
höchst  bedeutsamen  Moment  zu  machen  (ebenda  S.  383,  391). 
Denn  als  Endglied  einer  langen  Ahnenreihe,  in  der  alle  möglichen 
Charaktere  vorgekommen  sind,  enthält  auch  jeder  Mensch  in  sich 
die  Anlagen  zu  allen  Trieben  ohne  jede  Ausnahme,  und  nur 
in  den  verschiedenen  eine  quantitativ  oder  graduell  verschiedene 
Prädisposition  (ebd.  390).  Je  nach  den  Motiven,  welche  am 
häufigsten  an  den  Menschen  herantreten,  wird  die  Gewohnheit 
durch  quantitative  Steigerung  gewisser  häufig  erregter  Triebe  und 
Depression  anderer  durch  Verkümmerung  und  Nichtgebrauch  eine 
Aenderung  des  Stärkeverhältnisses  der  Triebe  oder  Charakter- 
anlagen untereinander  hervorbringen   und  dadurch  den  Charakter 


77 

als  Ganzes  modificiren  (ebd.  390-391;  Ph.  d.  Unb.  608,  610  bis 
611).     Wenngleich  die  Thatsaebe,    dass  der  Charakter   in  Him- 
dispositionen  besteht,  jede  Aenderung  des  Charakters  durch  einen 
einmaligen ,    noch    so    energischen    Willenseutschluss    unmöglich 
macht,    weil   eben    die  Hirnconstitution    nicht  so   leicht  und  am 
wenigsten    durch   plötzlichen  Willenseutschluss    zu  ändern  ist,  so 
bietet  sich   doch   durch    die  Gewohnheit  einer  bestimmten  Hand- 
lungsweise  die   Möglichkeit,    mit  der  Zeit   den   Charakter    nach 
bewussten   Grundsätzen   zu   modificiren  (Ph.   des  Unb.  358),  und 
die  Möglichkeit,  gewissen  Motivklassen  aus  dem  Wege  zu  gehen 
und   andere  Motivklassen   häufig   und   mit  Lebhaftigkeit   sich  zu 
vergegenwärtigen  und  auf  sich  wirken  zu  lassen,  giebt  wiederum 
die  Mittel  an   die  Hand,    um    seine  Haudhingen  annähernd  nach 
Principien  zu  regeln  (356 — 358).     Diese  Auffassung  bietet  mithin 
eine   auf  thatsächlichen  Grundlagen  erwachsende  Handhabe    der 
sittlichen  Selbstzucht  und   der  Erziehung  Anderer,   was  sich  von 
keiner  auf  dem  Freiheitsbegriff  beruhenden  Ethik  behaupten  lässt. 
Das    Motiv    ist    allemal   Vorstellung,    besteht    also   in   Hirn- 
schwiugungen,  der  Inhalt  des  resultirenden  Willens  besteht  eben- 
falls  in    einer  Vorstellung    (Phil.    Monatshefte    Bd.    IV,    Hft.  5, 
S.  396—401),  also  in  Hirnschwingungen,  und  die  blosse  Vorstellung 
(welche   nicht  Willensinhalt  ist)  unterscheidet   sich   von    der  ge- 
wollten Vorstellung    oder  der  Vorstellung   als  Willensinhalt  doch 
auch  nur  dadurch,  dass  erstere  nur   innerhalb  des  Grosshirns 
(als   Erreger    anderer   Vorstellungen    als    Reiz    fuugirt,   während 
letztere  ihre  erregende  Kraft  auch  auf  die   centralen  Endigungen 
der  motorischen  Nerven  ausdehnt  und   so  Handlungen  hervorruft. 
Niemand,  der  einmal  einräumt,  dass  Vorstellungen  in  Hirnschwin- 
gungen bestehen,    kann    bestreiten,    dass   jede  Vorstelluug    eben 
deshalb  auch  eine  gewisse  lebendige  Kraft   repräsentirt,    und   es 
erscheint  deshalb  nicht  als  ein  qualitativer ,   sondern  nur   als  ein 
gradueller  Unterschied,    ob  diese  lebendige  Kraft  ausreicht,    um 
centrale  Eudigungen  motorischer  Nerven  zu  erregen,   oder  ob  sie 
zur  Ueberwindung  der  dazwischen  liegenden  Leitungswiderstände 
zu  schwach  ist  und  nur  andere  latente  Hirndispositionen   zu   er- 
regen vermag.     Dass  die  Grenze  eine  durchaus  flüssige  ist,  zeigen 
die  durch  blosse  Vorstellungen  unwillkürlich  hervorgerufenen  Be- 


78 

wegiingen  (Cap.  A  VII  Nr.  2,  S.  159—163),  bei  denen  dann  die 
Ph.  d.  U.  einen  unbewussten  Willen  voraussetzt,  den  wir  eben 
als  die  lebendige  Kraft  der  Vorstellungsschwingungen  bezeichnen, 
wofür  auch  das  zu  sprechen  scheint,  dass  die  Stärke  der  un- 
willkürlich erregten  Beweguugstendeuzen  proportional  der  Leb- 
haftigkeit der  Vorstellungen,  d.  h.  der  lebendigen  Kraft  ihrer 
Schwingungen  ist.  Ausser  dem  graduellen  Unterschied  zwischen 
der  blossen  und  der  gewollten  Vorstellung  kann  jedoch  sehr  wohl 
noch  bei  letzterer  direkt  ein  (der  Aufmerksamkeit  verwandter) 
centrifugaler  Inuervationsstrom  hinzutreten,  welcher  die  Ueber- 
tragUDg  der  lebendigen  Kraft  der  Vorstellungsschwingen  nach 
bestimmten  Richtungen  oder  in  bestimmte  Bahnen  (nach  den 
centralen  Endigungen  gewisser  motorischer  Nerven)  hinlenkt, 
durch  Erregung  der  auf  der  Leitungsbahn  gelegenen  Nervenpar- 
thien  den  Leitungswiderstand  in  dieser  Richtung  vermindert  und 
die  lebendige  Kraft  der  geleiteten  Schwingungen  wohl  gar  noch 
positiv  verstärkt.  Ein  solcher  positiver  Inuervationsstrom  würde 
überall  da  vorauszusetzen  sein,  wo  eine  Vorstellung  nicht  unwill- 
kürlich die  motorischen  Nervenenden  erregt,  sondern  wo  die  be- 
wusste  Absicht  des  Handelns  vorliegt;  die  positive  Verstärkung 
der  Energie  der  erregenden  Schwingungen  würde  namentlich  da 
zu  erwarten  sein,  wo  es  sich  nicht  nur  um  einen  motorischen 
Inuervationsstrom  überhaupt  handelt,  sondern  um  einen  sehr 
energischen,  der  die  Muskeln  zu  kräftigster  Contraction  anregt. 
Wir  haben  oben  der  Einfachheit  wegen  einen  Punkt  über- 
sprungen, den  wir  jetzt  nachholen  wollen.  Eine  als  Motiv  wir- 
kende Vorstellung  erregt  nämlich  nicht  nur  Eine  latente  Hirn- 
disposition, sondern  immer  mehrere  zugleich,  aber  in  verschie- 
denem Grade,  gerade  wie  Avir  dies  schon  im  vorigen  Abschnitt 
sahen.  Wenn  dort  unter  den  blossen  Vorstellungen  ein  Kampf 
um  das  Vordrängen  in  das  Bewusstsein,  in  die  eng  begrenzte 
Sphäre  der  gleichzeitigen  Aufmerksamkeit  entstand,  so  entsteht 
hier  unter  den  auf's  Handeln  gerichteten  Vorstellungen  oder  den 
aus  der  Erregung  der  Triebe  entspringenden  Begehrungen  ein 
analoger  Kampf,  in  welchem  einestheils  partielle  oder  totale  In- 
terferenzen der  Schwingungen  stattfinden  können,  theils  auch 
Hereinziehen  neu  angesprochener  Dispositionen  oder  Umbildungen 


79 

und  Zusammensetzungen  sich  ergeben  können,  die  durch  ihr  End- 
resultat uns  häufig  sehr  überraschen  (235),  da  sie  grossentheils 
jenseits  des  ßewusstseins  sich  vollziehen  (234,  236)  und  uns  die 
Gesetze  dieser  Voi'^änge  noch  nichts  weniger  als  bekannt  sind. 
Abstrahirt  man  von  den  wirklichen  mechanischen  Vorgängen  bei  dem 
Zusammenstoss  verschiedener  Schwingungen,  die  aus  verschiedenen 
gleichzeitig  und  in  ungleicher  Stärke  erregten  Dispositionen  hervor- 
gehen, und  fasst  man  nur  die  empirischen  Gesetze  in's  Auge,  welche 
die  empirische  Psychologie  aus  der  innern  Selbstbeobachtung  über 
den  Kampfund  die  Zusammensetzung  der  Begehrungen  ableitet,  so 
kann  man  diese  Processe  graphisch  versinnbildlichen  durch  die  me- 
chanischen Gesetze  aus  der  Statik  des  Atoms,  indem  man  die  Be- 
gehrungen als  Kräfte,  die  auf  einen  Punkt  wirken,  aufzeichnet, 
und  den  Willen  als  die  aus  ihnen  hervorgehende  Kraftresultante 
construirt  (vgl.  Phil  Monatshefte  Bd.  IV,  Hft.  5,  S.  406—408). 
Aber  auch  abgesehen  von  dieser  graphischen  Darstellung  ist  es 
streng  richtig,  dass  das  wirkliche  Wollen  jeden  Moments  die  Re- 
sultante aller  in  diesem  Moment  erregten  Begehrungen  ist  (Ph. 
d.  U.  234,  357),  und  dass  mithin,  da  strenggenommen  niemals 
nur  eine  einzige  Disposition  allein,  sondern  höchstens  eine 
einzige  vorwiegend  durch  ein  Motiv  erregt  werden  kann,  alles 
wirkliche  AVoUen  im  Menschenhirn  Summationsphänomenin 
ganz  demselben  Sinne  wie  alles  bewusste  Vorstellen  ist.  Im  einen  wie 
im  andern  Falle  bleiben  die  constituirenden  Elemente  unterhalb  der 
Bewusstseinsschwelle,  und  wenn  die  wichtigeren  der  erregten  Begeh- 
rungen hiervon  eine  Ausnahme  zu  machen  scheinen,  so  ist  es  doch  nur 
scheinbar,  denn  einzeln  bewusst  werden  diese  streitenden  Interessen 
doch  eben  nur  in  präliminarischen  Reflectionen  über  die  wahre 
Bedeutung  der  Motive  und  der  Folgen  dieser  oder  jener  Hand- 
lungsweise (236),  welche  noch  weit  von  dem  Moment  des  noth- 
wendigen  Entschlusses  abstehen  und  deshalb  nur  in  Velle'itäten 
und  Vorsätzen  arbeiten,  die  nicht  selten  von  dem  wirklich  ein- 
tretenden Wollen  zum  Erstannen  des  Intellekts  völlig  über  den 
Haufen  geworfen  werden  (235).  Aber  auch  wenn  sie  sich  als 
richtig  erweisen,  so  ist  doch  das  wirkliche  Wollen,  das  mit  der 
Inauguration  der  That  zusammenfällt  (769  ff.),  in  dem  Moment 
seiner  Realität  Summationsphänomen  aus    unbewussten  Com- 


80 

ponenten,  mögen  dieselben  immerhin  zu  früheren  Zeiten  öfters^ 
das  Bewusstsein  einzeln  durchlaufen  haben.  Die  unbewussten,, 
d.  h.  hier  nur  unterhalb  der  Schwelle  des  Gesammthirnbewusst- 
Seins  gelegenen  Componenten  sind  aber  die  Reactionen  der  ein- 
zelnen charakterologischen  Hirnprädispositionen  auf  die  Hirn- 
Schwingungen  der  Vorstellung  des  Motivs,  d.  h.  sie  sind  wiederum 
Summationsphänomene,  deren  Leistungsvermögen  der  lebendigen 
Kraft  der  schwingenden  Hirnmolecule  entstammt  und  sich  au& 
dieser  ganz  ebenso  zusammensetzt,  wie  die  Zellenempfindung  aus- 
den  Empfindungen  der  Zellenmolecule.  Ueberspringen  wir  dem- 
nach die  Zwischenglieder,  so  ist  der  Hirnwille  ganz  ebenso  ein 
Summmationsphänomen  der  vielen  Atomwillen  des  Gehirns,  wie 
die  Hirnempfindung  ein  Summationsphänomen  der  Atomempfin- 
duugen  des  Hirns  ist.  So  unmöglich,  wie  eine  Entstehung  der 
Empfindung  in  irgendwelchem  Atomcomplexe  ohne  Empfindungs- 
vermögen der  Einzelatome  wäre,  ebenso  unmöglich  wäre  auch 
die  Entstehung  eines  Willens  in  einem  Atomcomplex,  ohne  dass- 
schon  die  Einzelatome  den  Willen  hätten,  aus  dem  der  Gesammt- 
Wille  sich  aufbaut.  Wenn  das  Atom  zuerst  ein  Metaphysisches 
und  dann  ein  Physisches  ist,  so  kann  man  es  sich  auch  wohl 
gefallen  lassen,  seine  Kraft,  die  ebensowohl  zugleich  etwas  Inner- 
liches als  etwas  Aeusserliches  ist,  in  erster  Reihe  als  Wille  zu 
bestimmen  (S.  486),  nachdem  einmal  erkannt  ist,  dass  das,  was 
als  Hirnwille  herauskommt,  doch  schon  im  Atom  drin  gesteckt 
haben  muss.  Aber  freilich  werden  wir  uns  nicht  damit  begnügen 
dürfen,  den  Willen  eines  Menschen  nur  in  dem  den  Atomen 
seines  Gehirns  abstract  gemeinsamen  Formalprincip  der  Bewegung 
und  Veränderung  zu  suchen,  welches  hinter  den  concreten  Hirn- 
dispositionen gleichsam  auf  Bethätigung  lauert  (61),  sondern  wir 
werden  über  die  Bedeutung  dieser  Jbloss  formalen  Ab str actio n 
hinaus  zu  einem  concreten  Collectivum  gehen  müssen,  wel- 
ches die  unbewussten  Willen  der  einzelnen  Atome  nicht  bloss 
unter  sich,  sondern  in  sich  begreift  (S.  4).  Wie  wir  die  Mög- 
lichkeit der  Empfindung  als  Summationsphänomen  nur  unter 
dieser  Voraussetzung  einer  metaphysischen  substantiellen  Einheit 
die  Atome  begreifen  konnten,  ganz  ebenso  auch  den  Willen. 
Dann  aber  werden  wir  auch  ebenso  wie  vorher  bei  der  Empfindung,. 


81 

der  Nothwendigkeit  enthoben  sein,  einen  andern  Willen  im  i\ 
dividuum  anzuerkennen  als  den,  welcher  in  den  Atomen  desselben 
als  Atomwille  naturgesetzmässig  sich  auswirkt,  und  werden  alle 
Theorien  von  metaphysisch  teleologischen  Willenseingriffen  des 
Unbewussten  in  den  Process  des  physischen  und  psychischen  In- 
dividuallebens  entschieden  verwerfen,  wie  wir  es  auf  intellek- 
tuellem Gebiete  bereits  gethan  haben.  Es  giebt  keinen  Indivi- 
dualwillen  als  die  Willen  der  Atome  des  Individuums  und  die 
aus  diesen  naturgesetzmässig  resultirenden  Summationsphäno- 
mene;  es  giebt  keine  Thätigkeit  des  absoluten  Unbewussten  in 
Bezug  auf  dieses  Individuum,  als  welche  sich  in  den  naturgesetz- 
mässigen  Atomtunctionen  erschöpft. 

Die  Ph.  d.  U.  supponirt  nun  aber  ausser  den  auf  die  natur- 
gesetzmässigen  Actionen  der  Atome  gerichteten  Functionen  des 
absoluten  Unbewussten  in  Bezug  auf  jedes  Individuum  noch  ein 
ganzes  Strahlenbündel  von  Functionen,  welche  in  metaphysisch- 
teleologischen  Eingriffen  in  den  physischen  und  psychischen 
Lebensprocess  des  Individuums  bestehen,  und  sucht  in  diesen  erst 
den  eigentlichen  und  wahren  Individualwilien.  Wenn  die  meta- 
physisch-teleologischen  Eingriffe  ohnehin  gestrichen  werden,  so 
fällt  jeder  metaphysische  Yorwand  für  eine  solche  Behauptung 
fort,  welche  empirische  und  inductive  Anhaltpunkte  überhaupt 
nicht  besitzt.  Wenn  Schopenhauer  den  Individualwilien  als  ein- 
fachen metapliysischen  Wesenskern  jeder  individuellen  Existenz 
hypostasirte,  so  that  er  es  in  dem  guten  Glauben,  im  Besitz  einer 
von  allen  sonstigen  Vorstellungsarten  principiell  verschiedenen  Er- 
kenntnissweise zu  sein,  mit  welcher  er  sich  durch  unmittelbare 
innere  Selbstwahrnehmung  von  der  metaphysischen  Willenssub- 
ötanz  in  jedem  Augenblick  überzeugen  k('>nne.  Im  „Ding  an 
sich"  (S.  28 — 53j  sind  die  Trugschlüsse,  durch  welche  er  zu 
diesem  Glauben  kam,  und  die  Selbstwidersprüche,  in  welche  er 
sich  nothwendig  durch  denselben  verwickeln  musste,  deutlich  dar- 
gelegt und  die  Ph.  d.  U.  beweist  (S.  410 — 417;  a  priori  und  a 
posteriori  den  Satz,  dass  das  Wollen  an  und  für  sich  immer 
unbewusst  sein  müsse,  und  der  Schein  einer  Bewusstheit  des 
Wollens  nur  durch  die  Gewöhnung  an  eine  Selbsttäuschung  ent- 
Btehe,   indem  der  Mensch   des  Wolleuü    auf  dreitaehe  Weise  un- 


82 

inittelbar  inne  zu  werden  glaubt:  „1)  ans  seiner  Ursache,  dem 
Motiv,  2)  aus  seinen  begleitenden  und  nachfolgenden  Gefühlen, 
und  3)  aus  seiner  Wirkung,  der  That,  und  dabei  4)  noch  den 
Inhalt  oder  Gegenstand  des  Willens  als  Vorstellung  wirklich  im 
Bewusstsein  hat"  (414).  Wir  möchten  noch  hinzufügen,  dass 
unter  den  begleitenden  Gefühlen  auch  solche  sind,  welche  von 
dem  oben  besprochenen  verstärkenden  centrifugalen  Innervations- 
strom  herrühren  und,  wie  erwähnt,  sich  besonders  bei  bewusster 
Concentration  der  Energie  auf  die  vorgesetzte  Handlung  einstellen 
werden  (vgl.  415  oben);  ganz  dem  analog  ruft  bekanntlich  auch 
der  als  Species  in  diesem  Genus  enthaltene  centrifugale  Inner- 
vationsstrom  der  Aufmerksamkeit  eigenthümliche  Empfindungen 
hervor,  welche  es  möglich  machen,  dass  man  sagen  kann,  die 
Aufmerksamkeit  selbst  könne  Gegenstand  der  Wahrnehmung  und 
folglich  des  Bewusstseins  sein  (419).  —  Ist  nun  aber  einmal  die 
undurchdringliche  Unbewusstheit  des  Wollens  an  und  für  sich 
eingestanden,  so  hört  jede  Möglichkeit  auf,  über  die  Natur  des- 
selben dem  dogmatischen  Schein  des  Instinctes  gemäss  unmittel- 
bare Behauptungen  aufzustellen,  und  man  sieht  sich  gänzlich  auf 
das  reducirt,  was  die  Wissenschaft  durch  indirekte  Schlüsse  als 
das  Wahrscheinliche  inductiv  zu  reconstruiren  sich  genöthigt 
sieht  (417).  Wenn  nun  diese  wissenschaftliche  Reconstruction 
eine  wesentlich  andere  Physiognomie  gewinnt,  so  hat  der  instinc- 
tive  Glaube  hiergegen  so  wenig  mehr  ein  Recht  zum  Einspruch, 
als  z.  B.  in  der  von  der  Naturwissenschaft  an  Stelle  des  instinc- 
tiven  sinnlichen  Scheins  reconstruirten  räumlichen  Aussenwelt; 
wie  die  Körper  dieser  Aussenwelt  in  der  subjektiven  Erscheinung 
sich  als  solide  und  compact  darstellen,  während  sie  räumliche 
Zusammenordnungen  punctueller  Atomkräfte  sind,  gerade  so  er- 
scheinen die  Individualwillen  der  instinctiven  Selbstauffassung 
einfach,  solide  und  compact,  während  sie  complicirte  Summations- 
phänomene  von  zahllosen  Atomwillen  sind.  Dennoch  scheint  es 
ein  Rest  von  diesem  dogmatischen  Schein  des  unmittelbaren  In- 
stinctglaubens  gewesen  zu  sein,  was  die  Ph.  d.  U.  verhindert 
hat,  die  einfachen  Consequenzen  aus  dem  Satze  zu  ziehen,  dass 
das  jedesmalige  Wollen  die  Resultante  aller  gleichzeitig  erregten 
Begehrungen  sei  (234,  357)  and  dass  diese  Begehrungen  die  durch 


83 

das  Motiv  zur  Actualität  erregten  molecularen  Hirndispositionen 
(Triebe)  seien  (61,  28,  608 — 9).  Ja  auch  noch  andere  Stellen  der 
Ph.  d.  ü.  weisen  auf  unser  Resultat  als  auf  ihre  unausweichliche 
Consequenz  hin,  so  z.  B.  die  ganz  richtige  Erklärung,  dass  das 
Wollen  selbst  die  That  sei  (769),  insofern  die  That  definirt  werde 
nicht  als  das  äussere  Sichtbarwerden  der  Handlung,  sondern  als 
diejenigen  Bewegungsprocesse  der  centralen  Hirnmolecule,  welche 
den  organischen  Ursprungsherd  der  Handlung  bilden  (vorausgesetzt 
dass  die  Ausführung  auf  dem  Leitungswege  nicht  durch  inter- 
ferirende  Schwingungen  gekreuzt  wird  —  770).  Ist  das  Wollen  mit 
der  That  in  diesem  Sinne  identisch,  so  ist  eben  auch  die  That  — 
d.  h.  die  centralen  Hirnschwingungen,  welche  bei  ungestörtem 
Verlauf  die  Handlung  hervorrufen —  mit  dem  Wollen  identisch,  und 
wir  dürfen  sie  mithin  als  Definition  des  Hirnwillens  (als  Summa- 
tionsphänomens)  ansehen.  So  meint  es  aber  die  Ph.  d.  ü.  nicht, 
sondern  die  betrachtet  den  psychischen  Willensakt  als  ein  zu  den 
Atom  willen  des  Hirns  und  ihrer  Combination  Hinzukommen- 
des, als  einen  metaphysischen  Eingriff  in  den  naturgesetzmässigen 
Process  zwischen  Reiz  und  Reaction,  wie  wir  ihn  oben  besprochen 
haben.  Gleichwohl  erkennt  sie  an,  dass  jede  Leistung  des  Organis- 
mus, gleichviel  ob  sie  in  Muskelcontractionen  oder  geistiger  Arbeit 
besteht  (393),  aus  einem  äquivalenten  Verbrauch  aufgespeicherter 
chemischer  Kraft  herrührt,  welche  durch  den  StofPumsatz  aus  den 
chemischen  Kräften  der  zugeführten  Nahrung  wieder  ersetzt  wer- 
den muss  (153j;  sie  erkennt  ferner  an,  dass  sowohl  das  Muskel- 
system als  das  ganze  Nervensystem,  insbesondere  aber  auch  die 
Centralorgane  des  letzteren,  als  Kraftmaschinen  zu  betrachten  sind,, 
dass,  wenn  der  ganze  Organismus  mit  einer  Dampfmaschine  zu 
vergleichen  ist,  die  Oscillationen  der  centralen  Nervenmolecule 
die  Bewegungen  der  Ventile  und  Stellhebel  repräsentiren 
würden,  welche  den  Gang  der  Maschine  und  die  Art  ihrer 
Leistungen  regeln,  —  nur  dass  der  Organismus  selber  zugleich 
Heizer  und  Maschinist  (ja  auch  Reparateur  und  Maschinenbau- 
meister)  ist  und  folglich  keines  Hebelstellers  ausser  ihm  bedarf  (153). 
Ein  solcher  dem  Organismus  fremder  Hebelsteller  wäre  aber 
gerade  das  Unbewusste  in  seinem  metaphysischen  Eingriffen,  welche 

den  Uebergang  aufgespeicherter  chemischer  Kraft  in  mechanische 

6* 


84 

Muskelkraft  in  ganz  bestimmter  Weise  und  Kichtung  veranlassen 
sollen.     Wenn  das  Unbewusste  eine  und  sei  es  auch  relativ  noch 
55.0   kleine    Kraft  zu   der  im   Organismus   aufgespeicherten    Kraft 
durch  metaphysisch  bewirkte,  physisch  nicht  verursachte  Drehungen 
von  Gehirnmoleculen   hinzufügen   könnte  (151  —  152),   so  wäre 
damit   das  Gesetz   der   Erhaltung   der   Kraft   für  die   organische 
Welt  ausser  Geltung  gesetzt,   deun  die  Summe  der  (inneren  und 
äusseren)  Kraftausgaben  des  Organismus  müsste  gegen  die  Summe 
seiner   Krafteinuahme  einen   Ueberschuss  aufweisen,   welche   der 
Kraftsumme   der    metaphysischen   Eingriffe   gleichkommt.     Wäre 
auch  dieser  Ueberschuss  relativ  zum  Ganzen  noch  so  unbedeutend, 
so  dürfte  er  doch  nicht  verschwindend  klein  sein,  wenn  man  noch 
ferner  an  eine  reale  und  entscheidende  Beeinflussung  der  Vorgänge 
im  Gehirn  durch   unmittelbares  Eingreifen  eines  metaphysischen 
Princips  glauben  soll.     In  der  That  können  diese  Eingriffe,  wenn 
sie  das  entscheidende  Moment  für  die  Handlung  des  Organismus 
bilden  sollen ,   keineswegs  etwa  blosse  Differentiale  sein,  sondern 
müssen  ebenso  wie  bei  den  Beis])ielen  der  Dampfmaschinen  u.  s.  w 
als  Grössen  derselben  mathematischen  Ordnung  gedacht 
werden   und  in  ihrer  Summe  fürs  Leben  eines  Individuums  eine 
ganz   ansehnliche  Grösse,   in  ihrer  Summe  für   das  gleichzeitige 
Leben   der  Erde  aber  schon  ein  ganz  kolossales  Quantum  reprä- 
sentiren,   welches  also   unbedingt   das  Gesetz   der  Erhaltung  der 
Kraft  aufheben  würde.     Freilich  können   wir  bis  jetzt  die  Rich- 
tigkeit des  Gesetzes  der  Erhaltung  der  Kraft  für  die  organischen 
Wiesen  keineswegs  mit  solcher  Genauigkeit  nachweisen,  dass  nicht 
in    den    wahrscheinlichen   Fehlern   für    solche  Hypothesen  Platz 
bliebe;   aber  gerade   die   metaphysische  Evidenz   dieses  Gesetzes 
leuchtet  für  jeden  an  naturwissenschaftliche  Denkweise  Gewöhnten 
so  sehr  a  priori  ein,   dass   die    exacte  Erbringung  des  Beweises 
für  ein  einzelnes  Gebiet  der  Sicherheit  der  Geltung  des  Gesetzes 
kaum  ein  Erhebliches  hinzuzufügen  vermöchte.     Der  Verf.  erkennt 
dies  auch  selber  an,  indem   er  für  die  Motivation  auf  physischem 
Gebiet  ein  Analogon  des  Gesetzes  der  Erhaltung  der  Kraft  her- 
zustellen   versucht    (Phil.   Monatshefte  Bd.   IV.   Hft.   5.    S.  403); 
wenn  aber  einmal  die  Motivation  als  Process  zwischen  erregender 
bewusster  Vorstellung:  und  hewusstem  Willensinhalt  (ebenda  S,  39G 


85 

unteu),    imd   diese  beiden  als  durch  HirDschwingungen  bestimmt, 
also    der  ganze  Process   wesentlich    als  ein   Process    von  Hirn- 
schwingungen anerkannt  ist,   so  läuft  ein  solches  Gesetz  der  Er- 
haltung der  Kraft  für  die  Motivation  auf  immateriell-psychischem 
Gebiet  ganz  in  derselben  Weise  als  fünftes  Rad  am  Wagen  neben- 
her,  wie  etwa  der  intelligible  Charakter  neben   dem   durch  die 
Körper-   und   Hirnconstitution  bestimmten    empirischen   Charakter 
(ebenda  S.   382—393),   und  die  Bedingtheit   des  Resultats  jedes 
einzelnen   Motivationsaktes   sowohl    durch   den   materiellen  Hirn- 
process,  als  auch  durch   den  immateriellen  Motivationsprocess  er- 
gäbe  eine   ebenso   unvereinbare  Concurrenz   wie   die   Bedingtheit 
jeder  einzelnen  Handlung  sowohl  durch  die  immanente  Causalität 
des  empirischen  Charakters,    als    auch  durch  die  transcendente 
Causalität  des  intelligiblen  Charakters  (vgl.  „Ding  an  sich''  S.  5  ff.). 
Das  mit  Recht  Angestrebte  —  die  Anwendung  des  Gesetzes  der 
Erhaltung    der  Kraft    auf  den  Motivationsprocess  —   wird  aber 
thatsächlich  erreicht  durch  Beseitigung  aller  metaphysischen  Ein- 
griffe des   ünbewussten    und  das  Anerkenntniss,  dass   der  Moti- 
vationsprocess in  dem  Process  der  Hirnschwingungen  ohne  jeden 
metaphysischen    Rest  erschöpft  ist    und  dass  in  den  Leistungen 
und  Handlungen   des  Organismus   keine  Kraft  zu  Tage  tritt,   als 
welche   entweder    durch    die   erregenden   Reize    oder   durch    die 
Nahrungsmittel  in  denselben  eiugeiiihrt  ist,  wobei  erstere  als  Aus- 
lösuiigsmittel  der  durch  den  Assimilationsprocess  aufgespeicherten 
chemischen  Spannkraft  dienen. 

Von  welcher  Seite  wir  auch  die  metaphysischen  Eingriffe  in 
die  Lebensprocesse  der  Organismen  betrachten  mögen,  überall  er- 
weisen sie  sich  als  unstichhaltig.  Wenn  die  Ph.  d.  Lnb.  den 
Charakter  ebenso  wie  das  Gedächtniss  als  die  Summe  der  im 
Hirn  vorhandenen  latenten  Dispositionen  zu  gewissen  Schwin- 
gungsarten anerkennt,  so  werden  wir  nicht  umhin  können,  äusser- 
lich  angesehen  im  Wollen  ganz  ebenso  wie  im  Vorstellen  die 
actuellen  Schwingungen  zu  erkennen,  welche  nach  mechanischen 
Gesetzen  durch  adäquate  Reize  aus  diesen  Dispositionen  ausge- 
löst sind ,  und  werden  ebensowenig  bezweifeln  dürfen ,  dass  das 
Wollen  innerlich  genommen  ebenso  wie  das  bewusste  Empfinden 
oder  Vorstellen   ein  Summationsphänomen   aus   gleichartigen   Ele- 


86 

nieutartinictioneu   (letzten  Endes   der  Atome)   darstellt.     So  allein 
werden  wir  die  brauchbaren  Anläufe  der  Ph.  d.  Unb.  richtig*   zu 
Ende  gedacht  und  eine  einfache  und  naturgemässe  Grundlage  für 
unsere   weiteren  Betrachtungen  gewonnen  haben.     Wenn  mit  der 
Causalität  im  Sinne  einer  ausnahmslosen   naturgesetzlichen  Noth- 
wendigkcit  mit  Ausschluss  aller   metaphvsisch-teleologischen  Ein- 
griffe Ernst  gemacht   werden  soll,    so   bleibt  liir  rein  psychische 
Functionen  eines  Uubewussten  jenseits   der  aus  den  Atomen  sich 
entwickelnden  Processe  kein  Platz;  wenn  wir  aber  einmal  Wille 
und    Vorstellung    als   Summationsphänomene    aus  entsprechenden 
Elementarfuuctionen  der  Atome  anerkennen,  so  verschwindet  liir 
die  Erklärung  jedes  Bedürfniss,  ausser  der  gemeinsamen  meta- 
physischen Wurzel  dieser  constituirenden  Elemente  des  Organismus 
noch   andere  metaphysische  Factoren   herbeizuziehen.     Wenn   die 
Phil.  d.  Unb.  anerkennt,  dass  nur  in  der  Besonderheit  des  Orga- 
nismus die  Besonderheit  auch  der  geistigen  Individualität  begründet 
liegen  kann   und  jeder  eigenthümliche  Zug  in   einem  Indindual- 
geiste   durch   eine  entsprechende   Eigenthümlichkeit  seines  Orga- 
nismus  bedingt   sein   muss,  so   müssen  wir  nunmehr  noch  einen 
Schritt  weiter  gehen  und  sagen,  dass  der  Organismus  selbst  das 
Individuum  ist.     Denn  wenn   die  Phil.  d.  Unb.  aus  dem  grossen 
Urquell    des    Einen    absoluten  Unbewussten    noch    ein   Strahlen- 
bündel von   Functionen   ausser  den   blossen   Atomfimctionen    auf 
den  Organismus  gerichtet  dachte  und  mit  zu  dem  geistigen  Indi- 
viduum rechnete,  so  müssen  wir  jetzt  annehmen,  dass  die  meta- 
physische oder  innerliche  Seite   der  constituirenden  Elemente  des 
Organismus  hinreicht,  um  die  geistige  Individualität  in  demselben 
Sinne  zu  constatiren,  wie  die  äussere  Seite  derselben  die  leibliche 
constituirt. 

Eine  hieraus  folgende  Consequenz,  die  sehr  fruchtbar  werden 
könnte,  will  ich  hier  zum  Schluss  nur  andeuten.  Bekanntlich 
ruht  alles  organische  Leben  auf  der  Erhaltung  und  Steigerung 
der  Form  in  und  durch  den  Wechsel  des  Stolfs,  und  die  Iden- 
tität der  Individualität  wird  nicht  durch  die  Identität  der  Sub- 
stanz, sondern  durch  die  Continuität  des  Processes  bedingt.  Er- 
haltung der  Form  durch  Erhaltung  des  Stofis  ist  Mumitication, 
alles  Leben    beruht   auf   dem   Stoffwechsel,    auf  der  Mauserung. 


87 

Die  Erkenntiiiss  dieaes  wichtigen  Satzes  ist  noch  ziemlieh  juDg,  so 
jung,  dasä  man  sich  nicht  wundern  darf,  dass  noch  Niemand  gewagt 
hat,  die  so  nahe  liegende  Uebertraguug  auf  das  geistige  Gebiet 
zu  machen.  Leben  ist  Leben,  und  die  allgemeinsten  Gesetze  des 
Lebens  als  solchen  können  auf  dem  Gebiete  der  Innerlichkeit 
nicht  entgegengesetzt  lauten  wie  auf  dem  Gebiete  der  Aeusser- 
lichkeit.  Diese  Annahme  macheu  aber  diejenigen,  welche  von 
der  Seele  des  Individuums  als  von  einer  die  ganze  Lebenszeit 
hindurch  identischen  Substanz  sprechen.  Die  Phil.  d.  L^nb. 
macht  sich  dieses  Fehlers  zwar  nicht  in  gleicher  Weise  schuldig, 
indem  sie  die  Seele  nur  als  einen  Complex  immer  neu  aus  dem 
gemeinsamen  metaphysischen  Urquell  ausstrahlender  Functionen 
auffast,  aber  dennoch  fehlt  auch  hier  die  durchgreifende  Analogie 
zwischen  innerlicher  und  äusserlicher  Sphäre,  da  doch  die  Be- 
schaffenheit des  ^ich  beständig  mausernden  Gehirns  nur  Gelegen- 
heitsursache für  die  metaphysischen  Eingriffe  des  Unbewussten, 
nicht  die  substantielle  Basis  der  geistigen  Summationsphänomene 
selbst  vorstellt.     Aber  das  erkennt  wenigstens  die  Ph.  d.  Unb.  an, 


dass  die  Identität  des  S^elh^tbfW"^'^^'^^^"'^  ^^"''  "^on  df  r  Af;;gliplnVpit 
der  Erinnerung,  also  von  der  formellen  Existenz  der  Hirndispo- 
sitionen,  abhäno^t,  und  dass  die  wesentliche  Identität  des  Charakters 


ZU  verschiedenen  Zeiten,  analog  wie  die  wesentliche  Identität  der 
Phvsiosniomie,  unabhängic:  ist  von  der  Mauserun^^  der  Theile  des 
Organismus,  auf  denen  Charakter,  resp.  Physiognomie,  beruht. 
AVie  das  Leben  jeder  Species  und  insbesondere  der  Menschheit 
nur  möglich  ist  durch  ihre  beständige  Mauserung,  d.  h.  durch 
beständiges  Aussstossen  von  Individuen  und  Ersatz  durch  frische, 
jugendliche ,  weil  ohne  dies  das  Menschheitsbewusstseiu  ver- 
knöchern, verzweifeln  und  absterben  müsste  (vgl.  „Ges.  phil. 
Abhdl.'^  S.  79),  so  ist  auch  das  geistige  Leben  des  Individuums 
nur  dadurch  möglich,  dass  bei  jedem  Vorstellungsakt  ein  Stoff- 
wechsel in  den  thätigen  Hirnparthieen  stattfindet,  ein  Ausstossen 
abstrapezirter  Molecule  und  ein  Eintreten  frischer  durch  das  Blut 
zugeführter  an  Stelle  derselben.  Jedes  neu  eintretende  Molecule 
ist  nicht  nur  äusserlich ,  sondern  auch  innerlich  genommen  dem  , 
austretenden  gleichwerthig  und  mithin  geeignet,  dieselben  Func- ! 
tionen   auch   ebensogut  zu  vollziehen,   und   bringt  ausserdem  diel 


88 


Frische  mit,  die  jenes  während  des  Gebrauches  eingebUsst  hatte. 
Indem  aber  bei  diesem  Stoffwechsel  die  bestehende  Form  (wie 
bei  allem  organischen  ßildenj  gewahrt  bleibt,  dauern  auch  die 
auf  molecularen  Lagerungsverhältnissen  beruhenden  Hirnprädis- 
positionen fort,  d.  h.  Ggadäßhtmss  und  Charakter  bleiben  von  der 
^^eistigen  Mauserun^'^  unangetastet.  Die  Frische  und  Elasticität 
des  geistigen  Lebens  ist  aber  allein  durch  die  geistige  Mauserung 
möglich;  ohne  dieselbe  träte  geistige  Mumification  ein,  in  der 
alles  Leben  erstürbe. 


VI. 

Die  Vererbung 
insbesondere  des  Charakters. 


Der  Begriff  der  Vererbung  bietet  eines  der  schwierigsten 
Probleme  für  die  NaturwisseDSchaft.  Wir  werden  den  gegenwär- 
tigen Stand  der  Frage  am  richtigsten  bezeichnen,  wenn  wir  sagen, 
dass  die  Vererbung  auf  allen  Gebieten  des  organischen  Lebens 
Thatsache  ist,  dass  diese  Thatsache  aber  bis  jetzt  jeder  natur- 
wissenschaftlichen Erklärung  spottet  und  dass  die  teleologisch- 
metaphysische  Erklärung  hier  am  allerwenigsten  im  Stande  ist, 
den  Mangel  an  Verständniss  des  naturgesetzlichen  Zusammenhangs 
zu  ersetzen. 

Wenn  in  einer  Baumart  mit  aufrechtstehenden  Zweigen  sich 
ein  Exemplar  vorfindet,  welches  aus  unbekannten  Ui Sachen 
hängende  Zweige  bekommen  hat ,  so  haben  zugleich  alle  diese 
Zweige  die  Eigenschaft,  wenn  sie  als  Stockreiser  neue  Bäume 
aus  sich  erzeugen,  diese  Eigenthümlichkeit  ihres  mütterlichen 
Organismus,  an  der  sie  selbst  theilnahmen,  fortzupflanzen.  Das- 
selbe gilt  von  den  durch  einen  rothen  Farbstoff  in  den  Blättern 
ausgezeichneten  „Blutbäumen''.  Bei  geschlechtlicher  Fortpflanzung 
solcher  Spielarten  gelingt  es  dagegen  nicht,  sie  zu  conserviren; 
die  Abweichung  von  der  durch  lange  Generationen  inveterirten  Con- 
stitution ist  zu  bedeutend,  um  sich  bei  der  Vererbung  durch  einen 
so  kleinen  Theil  des  mütterlichen  Organismus,  wie  der  Same  ist, 
gegen  die  Tendenz  des  Rückschlags  durchzusetzen.  Man  ersieht 
hieraus,  um  wie  viel  leichter  die  ungeschlechtliche  Vererbung  als 


90 

die  geschlechtliche  ist;  und  braucht  sich  nun  nicht  mehr  zu  wun- 
dern,   dass    die  Entstehung    der    geschlechtlichen  Vererbung  des 
Artcharakters  erst  möghch  wurde  auf  der  Basis  einer  lange  fort- 
gesetzten ungeschlechtlichen  Fortpflanzung  im  Protistenreich,  durch 
welche  gleichsam  schon  eine  durch  die  Dauer  befestigte  constitu- 
tionelle  Vererbungsfähigkeit   als  Grundlage    der  geschlechthchen 
Vererbung  geschaffen  worden  war.     Je  grösser  der  die  Vererbung 
vermittelnde  materielle  Complex  im  Verhältniss  zum  mütterlichen 
Organismus  ist,  desto  leichter  müssen  die  eigenthümlichen  Dispo- 
sitionen der  künftigen  Bildung   in   demselben  Platz    finden,    und 
daher  sehen  wir  auch  im  Durchschnitt    dieses  Grössenverhältniss 
beim  Herabsteigen  in  der  Stufenreihe  der  Organisation  wachsen, 
bis   der   junge  Süsswasserpolyp    sich   endlich    als    fertiger  Dirai- 
nutivorganismus  vom  Mutterthier  loslöst  (wie  der  Gärtner  es  mit 
dem  Zweig  der  Blutbuche   künstlich  thut),    oder    gar  die   proto- 
plasmatische Monere  sich    einfach    in    zwei    gleiche   Organismen 
halbirt,  sobald  sie  durch  Ernährung  so  weit  gewachsen  ist,  dass 
sie  als  einfacher  Tropfen  für  die  natürliche  physikalische  Tropfen- 
grösse   des  protoplasmatischen  Proteinstoffs    zu    gross    geworden. 
Ohne  Frage  musste  die  Möglichkeit  der  Vererbung  überhaupt 
in  der  physikalisch-chemischen  Beschaffenheit  der  Materie  gegeben 
sein,  sonst  hätte  sie  nicht,  wie  die  Erfahrung  es  lehrt,  zur  Wirk- 
lichkeit werden  können;    wenn  aber  diese  Möglichkeit  vorhan- 
den Avar,  so  kam  es  nur  darauf  an,  dass  unter  den  vielen  ürzeu- 
gungsprodukten  sich  auch  eines   oder  wenige    befanden,    welche 
durch  Zufall  eine  solche  Beschaff'enheit  erlangt   hatten,    dass    sie 
zur  Selbsttheilung  bei  Ueberschreitung  einer  gewissen  Grösse  hin- 
neigten.    Setzen  wir  diese  Voraussetzung  als  erfüllt,   so   mussten 
alle  anderen  Urzeugungsprodukte  nach  Ablauf  ihrer  (nothwendiger- 
weise  beschränkten)  individuellen  Lebensdauer  ohne  Hinterlassung 
von  Spuren  ihres  Daseins  zu  Grunde  gehen,  während  einzig  und 
allein  jene    zur    Selbsttheilung    tendirenden    fortbestanden,    weil 
nämlich  diese  Beschaffenheit  ihrer  Constitution  beiden  Hälften 
nach  dem  ersten  Selbsttheilungsakte  verblieben  war  und  diese 
nothwendig   zur   abermaligen  Selbsttheilung   nach    hinreicbendera 
Wachsthum  und  zur  abermaligen  Uebertragung  ihrer  Tendenz  auf 
ihreThcilungsprodukte  führen  musste  (vgl.  oben  Abschn.H,  S.  22-23). 


91 

Wenn  wir  oben  (Absclin.  II,  S.  26  —  27)  sahen,  dass  alle 
Fortentwickelung  der  niederen  Formen  darin  besteht,  dass 
die  verschiedenen  Lebensfunctionen ,  welche  ursprüngHch  alle 
gleichmässig  von  ein  und  demselben  Protoplasmatröpfchen  be- 
sorgt werden,  allmählich  an  verschiedene  T heile  des  für  die  ver- 
schiedenen Verrichtungen  sich  differenzirenden  und  specialireuden 
Protoplasmas  vertheilt  werden,  so  findet  diese  Arbeitstheilung 
auch  auf  die  Function  der  Fortpflanzung  Anwendung.  Im  Kampf 
um's  Dasein  mussten  nothwendig  diejenigen  Arten  Moneren  den 
Vorsprung  gewinnen,  welche  für  das  Geschäft  der  Fortpflanzung 
sich  passender  constituirt  erwiesen;  ihre  Nachkommen  wurden 
zunächst  relativ  häufiger  und  verdrängten  endlich  die  minder 
günstig  zur  Vermehrung  veranlagten  vollständig.  So  haben  wir 
uns  zu  denken,  dass  aus  der  einfachen  Selbsttheilung  heraus  sich 
durch  den  blossen  Einfluss  der  natürlichen  Zuchtwahl  zunächst 
die  feineren  Formen  der  ungeschlechtlichen  und  aus  dieser  end- 
lich durch  den  Durchgangspunkt  der  Sporenkoppelung  hindurch 
die  geschlechtliche  Fortpflanzung  entwickelt  habe,  welche,  bei- 
läufig bemerkt,  bei  den  Infusorien  schon  in  hoher  Vollkommenheit 
angetroffen  wird.  Wenn  auf  diese  Weise  vermittelst  der  natür- 
lichen Zuchtwahl  erklärlich  wird,  wie  die  ersten  Anfänge  der 
Vererbung  oder  Uebertragung  der  constitutionellen  Veranlagung 
Hand  in  Hand  mit  den  ersten  Anfängen  der  Fortpflanzung  oder 
Vermehrung  entstehen  mussten,  und  wie  sich  aus  diesen  Anfängen 
eine  stufenweise  Höherbildung  derselben,  aus  dem  Weniger  ein  Mehr 
allmählich  herausbilden  musste,  so  bleibt  dock  bei  alledem  das  Ver- 
stäudniss  für  das  Detail  des  Mechanismus  der  Vererbung  auf  höheren 
Stufen  des  Fortpflanzungsprocesses  —  namentlich  jeder  Einblick  in 
die  Art  und  Weise  der  Niederlegung  der  gesanmiteii  constitutionellen 
Eigcnthümlichkeiten  in  die  winzigen  Zellen  der  Zeugungsstoftc  und 
in  die  Art  und  Weise  der  Wiederentfaltung  dieser  Prädispositionen 
iur  Wirklichkeit  im  neuen  Individuum  —  vorläufig  durchaus  ver- 
schlossen. Nur  soviel  muss  uns  als  feststehend  gelten:  erstens 
dass  alle  geistigen  und  körperlichen  Eigenthümlichkeiten  wirklich 
in  den  Zeuguugsstoft'en  und  in  der  unendlichen  Feinheit  ihrer 
eiweissartigen  Materie  molecular  prädisponirt  sind  (Ph.  d.  Unb. 
^.  511  und  54G),  und  zweitens,  dass  die  Niederlegmig  der  mole- 


92 

cularen  Prädispositionen  zu  allen  diesen  elterlichen  Eigenthtimlich- 
keiten  in  den  Nachkommen  nicht  das  Resultat  metaphysisch-telec- 
logischer  Eingriffe,  sondern  das  Endresultat  einer  langen  genea- 
logischen Vererbungsreihe  ist,  welche  durch  natürliche  Zuchtwahl 
in  den  elterlichen  Organismen  die  Fähigkeit  und  Tendenz  zur 
Bildung  so  beschaffener  Zeuguugsstoffe  als  befestigte  constitutionelle 
Prädisposition  entwickelt  hat.  Wenn  auch  die  Ph.  d.  Unb.  Recht 
hat,  dass  die  Vererbung  und  die  in  den  Organismen  liegende 
Fähigkeit  zu  derselben  eine  qualilas  occulia  bleibt  (256),  so  kanu 
doch  auch  sie  nicht  umhin,  die  Thatsache  ihres  Bestehens  und 
die  immense  Ausdehnung  ihrer  Wirksamkeit  anzuerkennen,  und 
ist  am  w^enigsten  im  Stande,  durch  die  Hinzufiigung  ihrer  teleo- 
logischen Eingriffe  die  Sache  verständlicher  zu  machen.  Sie  ge- 
steht (S.  568)  zu,  dass  jeder  Keim  in  seiner  materiellen  Consti- 
tution die  Prädisposition  trägt,  sich  leichter  nach  der  durch  die 
elterlichen  Organismen  vorgezeichneten  Richtung  als  nach  irgend 
einer  andern  zu  entwickeln;  z.B.  „die  Gruppirung  der  Molecule  in 
diesem  AVeizenkeim  ist  eine  solche,  dass  leichter  eine  Weizenpflanze 
als  eine  andere  Pflanze  daraus  entstehen  kann,  leichter  die  Varietät 
der  Mutterpflanze  als  eine  andere,  und  leichter  ein  Individuum^ 
welches  der  Mutterpflanze  (oder  durch  Rückschlag  einer  früheren 
Generation)  ähnelt  als  ein  anderes"  (Ges.  phil.  Abhandl.  S  36).  Sind 
die  äusseren  Umstände  für  das  Leben  des  Keimes  und  der  aus  ihm 
entstehenden  Pflanze  die  normalen,  so  werden  diese  Prädispo- 
sitionen zu  ungestörter  Entwickelung  gelangen ;  treten  aber  abnorme 
Umstände  ein,  so  werden  sich  Abweichungen  von  der  normale» 
Entwickelungsrichtung  ergeben.  In  beiden  Fällen  hat  das  Unbe- 
wusste  als  Oberaufseher  des  Wachsthums  oder  als  „organisirende» 
Principe  (Ph.  d.  Unb.  560  Anm.)  eigentlich  gar  nichts  bei  der 
Sache  zu  thun;  es  läuft  jedenfalls  so  lange  als  fünftes  Rad  am 
Wagen  nebenher,  als  es  bei  der  Sinecure  dieser  allgemeinen 
„psychischen  Leitung"  keinen  besonderen  Grund  findet,  es  sich 
nicht  bequem  zu  machen,  d.  h.  „der  dispositionell  vorge- 
zeichneten Entwickelungsrichtung,  als  der  im  Allgemeinen  seinen 
vorgesetzten  Zwecken  entsprechenden  und  die  geringsten  Reali- 
sationswiderstände bietenden  Richtung"  zu  folgen  (S.  568). 
Wenn  das  „organisirende  Princip"  für   gewöhnlich  sich  selbst  zu 


dieser  passiven  Rolle   verurtheilt,   eiu   blosses   ,,Placet"   zu  dem 
ohnehin  schon  Geschehenden  zu  erthcilen,  und  wenn  man  ausser- 
dem  allen   Grund   hat^    der   Behauptung  positiver   teleologischer 
Eingriffe  in  den  Proeess  in  Ausnahmefällen  zu  misstrauen,  so  liegt 
der  Gedanke  nahe,  dass  diese  ganze  Hypothese  unbegründet  sein 
dürfte  und    dass  dieselbe   ihr  Entstehen   nur   verdankt   einerseits 
der  mangelhaften  Ausnutzung  der   Consequenzen  der  Dcscendenz- 
theorie  und  Theorie  der  natürlichen  Zuchtwahl    und   andererseits 
den  thatsächlichen  Lücken  unserer  Erkenntniss,  welche  aber  einer 
Ausfüllung    durch    fortschreitende    Erkenutuiss     des    natürlichen 
€ausalzusammenhangs   offen  gehalten  werden  müssen.     Je  weiter 
diese  Kenntniss  fortschreitet,   desto   mehr   zeigt   sieh  alle  Zweck- 
mässigkeit   durch    das   Functioniren    von    IMechanismen    bedingt, 
welche  die  Ph.  d.  Unb.  ja  auch  so  willig  anerkennt,  welche  aber 
Glicht,  wie  sie  meint,   durch  teleologisch -metaphysische   Eingrifie 
des  ünbewussten,  sondern  durch  mechanische  Compensationsprocesse 
(vgl.  oben  Abschn.  II.)  entstanden  sind.     Zu  diesen  Mechanismen 
gehört  nun  auch  einerseits  der  Keim  mit  allen  seinen  molecularen 
Prädispositionen  der  künftigen  Entwickelung  und  andererseits  die 
Prädisposition    der    elterlichen    Organismen    zur    Bildung    eines 
solchen  Keimes  —  zwei  ganz   verschiedene  Dinge,   welche  als 
Wirkung  und  Ursache  wohl  auseinanderzuhalten   sind,   und  beide 
doch  nur  Zwischenglieder  in  dem  Proeess  der  Vererbung  zwischen 
der  constitutionellen  Beschaffenheit  der  Eltern  und  der  des  Kindes 
bilden. 

Wenn  schon  die  molecularen  Vorgänge  bei  der  Vererb  ung 
hinsichtlich  ihrer  Beschaffenheit  im  Einzelnen  und  der  Art  und 
Weise  ihrer  mechanischen  Gesetzmässigkeit  bis  jetzt  für  uns  in 
Dunkel  gehüllt  sind,  so  sind  wir  noch  weit  mehr  im  Unklaren 
über  die  besonderen  Eigenthümlichkeiten,  welche  der  Proeess  der 
Vererbung  bei  näherer  Betrachtung  zeigt,  wie  z.  B.  die  Unter- 
schiede der  actuellen  und  latenten,  der  monomorphen  und  poly- 
morphen Vererbung  oder  auch  die  eigenthümliche  Erscheinung, 
dass  besondere  Charaktere,  welche  an  dem  elterlichen  Organismus 
nur  an  gewissen  Stellen  oder  nur  zu  gewissen  Zeiten  oder 
Phasen  des  Lebens  oder  der  Entwickelungsdauer  vorhanden  sind, 
auch  bei  dem  erzeugten  Organismus  nur  au  denselben  Stellen, 


94 

beziehungsweise  in  denselben  Zeitabschnitten  der  Lebensent- 
wickelung hervorzutreten  pflegen.  Die  Haut  und  Haare  bieten 
nach  ihrer  allgemeinen  Beschaff'enheit  wie  nach  besonderen 
localen  Merkmalen  eines  der  sichtbarsten  Beispiele  der  Vererbung. 
Auswüchse,  Flecke  und  Pigmentablagerungen  an  gewissen  Stellen 
der  Haut  vererben  sich  oft  so  regelmässig,  dass  sie  als  Familien- 
erkennungszeichen gelten  können.  Organische  Leiden  z.  B. 
Krankheiten  der  Leber,  der  Nieren,  des  Gehirns,  der  Athmungs- 
Organe,  der  Verdauungs Werkzeuge  vererben  sich  auf  dieselben 
Theile  in  den  Nachkommen  und  halten  auch  gewisse  Grenzen 
in  Betreff  der  Lebensperiode  inne,  wo  sie  aus  ihrer  Latenz  her- 
vortreten; z.  B.  Krebs  nicht  vor  dem  SOsten  Lebensjahre,  Wahn- 
sinn und  Schwindsucht  nicht  vor  dem  ITten  oder  I8ten.  Das 
Kind  entwickelt  seine  geschlechtliche  Activität  in  demselben 
Lebensalter  wie  seine  Eltern,  es  bringt  die  echten  Zähne  in  ent- 
sprechendem Alter  hervor,  ja  es  zeigt  sogar  ererbte  Zahnkrank- 
heiten in  demselben  Alter,  wie  seine  Eltern  sie  gehabt  haben. 
Die  Reifezeit  gewisser  Obstvarietäten  wird  von  den  Nachkömm- 
lingen selbst  in  abweichendem  Klima  inne  zu  halten  gesucht,  und 
erst  allmählich  tritt  die  nothwendige  Accommodation  ein. 

Im  Keim  sind  noch  alle  Dispositionen  zu  der  Eigenthümlich- 
keit  der  elterlichen  Organismen  latent;  erst  im  Laufe  der  Lebens- 
entwickelung treten  dieselben  zu  verschiedenen  Zeiten  hervor.  Nun 
ist  es  aber  nicht  durchaus  nothwendig,  dass  sie  im  Laufe 
eines  Individuallebens  hervortreten;  unter  Umständen  sind  die 
Dispositionen  so  beschaffen,  dass  sie  erst  gewisser  äusserer  Ein- 
flüsse oder  Gelegenheitsursachen  bedürfen,  um  actuell  zu  werden. 
Derart  sind  z.  B.  viele  ererbte  Krankheitsanlagen  (Blutarmuth, 
chronische  Nervenleiden,  Tuberculose,  Wahnsinn,  Krebs  u.  s.  w.), 
welche  nicht  gerade  in  so  excessivem  Maasse  vorhanden  sind^ 
dass  sie  unter  allen  Umständen  zum  Ausbruch  gelangen  müssen. 
Kommt  nun  ein  mit  solcher  Anlage  Behafteter  in  Lebensumstände 
oder  in  zufällige  Ereignisse,  welche  dem  Ausbruch  der  Krank- 
heit günstig  sind,  so  wird  irrthümlicher  Weise  häufig  die  Ge- 
legenheitsursache des  Ausbruchs  als  alleinige  und  zureichende 
Ursache  angesehen  (z.  B.  Druck  für  Krebs,  Gemtithserschütte- 
rungen  für  Wahnsinn,    Erkältung  für  Lungentuberculose,  mangel- 


95 

hafte  Erüährung  tlir  Bliitarrauth  u.  s.  w.)  und  die  ererbte  Dispo- 
sition, welche  doch  die  eigentliche  Ursache  aller  dieser  Krank- 
heiten bildet,  dabei  ausser  Acht  gelassen.  Bleibt  hingegen  der 
Betreffende  während  der  Dauer  seines  Lebens  vom  Ausbruch 
seiner  ererbten  Kran kheits- Anlage  verschont,  so  kann  er  sie  trotz- 
dem auf  seine  Nachkommen  weiter  vererben,  und  dies  ist  die 
latente  Vererbung.  Man  kann  sich  diess  auch  so  klarmachen: 
wenn  ein  Mann  Disposition  zum  Krebs  ererbt  hat  und  zeugt  mit 
25  Jahren  ein  Kind,  so  kann  es  für  die  BeschaiFenheit  dieses 
Kindes  nicht  mehr  darauf  ankommen,  ob  er  mit  26  Jahren  von 
einem  Dachziegel  erschlagen  wird,  oder  ob  er  mit  30  Jahren  vom 
Krebs  befallen  wird,  oder  ob  seine  Anlage  bis  zu  seinem  ander- 
weitigen Tode  im  GOsten  Lebensjahre  latent  bleibt;  jedenfalls  ist 
das  Kind  zu  einer  Zeit  gezeugt,  wo  seine  Disposition  zum  Krebs 
noch  latent  war,  und  dennoch  erbt  es  dieselbe  von  ihm.  Da  ist 
es  denn  nur  noch  ein  Schritt  weiter  zur  latenten  Vererbung  sol- 
cher Eigenschaften,  die  ihrer  Natur  nach  in  dem  Vererbenden 
niemals  aus  der  Latenz  heraustreten  können,  wie  wenn  z.  B. 
eine  Frau  die  schöne  Bassstimme  und  den  starken  rothen  Bart 
ihres  Vaters  auf  ihren  Sohn  vererbt  (Ph.  d.  Unb.  S.  140).  Ein 
eclatantes  Beispiel  der  latenten  Vererbung  ist  der  Generations- 
wechsel der  niederen  Thiere,  wo  die  1.  Generation  mit  der  3., 
5.  u.  s.  w.,  und  die  2.  mit  der  4,  6.  u.  s.  w.  übereinstimmt; 
manchmal,  z.  B.  bei  dem  Seetönnchen  (Doliohim)  ^  ist  sogar  die 
L  Generation  gleich  der  4.,  7.  u.  s.  w.,  die  2.  gleich  der  5., 
8.  u.  s.  w. ,  und  die  3.  gleich  der  6.,  9.  u.  s.  w.  Man  sieht 
hieraus,  dass  die  Vererbung  auch  mehr  als  eine  Generation 
hindurch  latent  bleiben  und  dann  doch  wieder  zum  Vorschein 
kommen  kann ,  wie  man  es  auch  bei  Aehnlichkeiten  in  einer 
Galerie  von  Familienbildern  wohl  zu  beobachten  Gelegenheit  hat. 
Bei  Varietäten  nennt  man  ein  solches  Auftreten  latent  gewordener 
Charaktere  Rückschlag  oder  Atavismus,  eine  den  Thierztichtern 
wohlbekannte  Erscheinung.  —  Wenn  bei  der  geschlechtlichen  Fort- 
pflanzung ohnehin  schon  die  Eigenthümlichkeiten  beider  Eltern 
concurriren,  um  sich  in  dem  Erzeugten  zur  Geltung  zu  bringen 
(wie  dies  besonders  deutlich  bei  Bastardzeugungen  hervortritt), 
so  wird  die  Complication  durch  den  Rückschlag  noch  grösser,  da 


96 

nun  ausser  den  Charakteren  der  beiden  Eltern  noch  die  in  ihnen 
latent  vorhandenen  Charaktere  der  4  Grosseltern,  8  ürgrosseltern 
u.  s.  w.  zur  Geltung  zu  gelangen  bestrebt  sind.  Je  nachdem 
nun  bei  der  Concurrenz  entgegengesetzter  Eigenthüralichkeiten 
die  eine  die  andere  gänzlich  zurückdrängt,  oder  beide  sich  aut- 
heben, oder  aber  einen  Compromiss  in  einer  neuen  Eigenthiimlich- 
keit  schliessen,  kann  aus  dieser  Complication  die  allergrösste 
Mannigfaltigkeit  entspringen,  und  man  mag  danach  ermessen,  wie 
gross  die  Schwierigkeit  im  concreten  Falle  sein  muss,  analytisch 
zu  bestimmen,  in  welcher  Weise  alle  Eigenthümlichkeiten  eines 
Kindes  aus  Vererbung  entsprungen  sind ;  zugleich  geht  aber  auch 
daraus  hervor,  wie  wenig  diese  Schwierigkeit  der  Analyse  im 
concreten  Falle  als  Instanz  gegen  die  Thatsache  der  Vererbung 
überhaupt  geltend  gemacht  werden  darf. 

Bisher  sind  wir  immer  noch  von  der  stillschweigenden  Vor- 
aussetzung ausgegangen,  dass  eine  Species  auch  einen  in  sich 
monomorphen  oder  eingestaltigen  Typus  repräsentiren  müsse. 
Diese  Voraussetzung  wird  aber  durch  die  Thatsache  des  Polymor- 
phismus oder  der  Vielgestaltigkeit  widerlegt,  welche  viele  Specien 
in  auffallendem  Grade  zeigen.  Man  kann  sich  eine  polymorphe 
Species  etwa  wie  eine  dem  Generationswechsel  unterworfene 
Species  vorstellen,  wo  aber  die  verschiedenen  Typen  der  Genera- 
tionen nicht  nach  sondern  neben  einander  bestehen,  und  jeder 
dieser  Typen  nicht  nur  den  andern,  sondern  auch  seinesgleichen, 
beides  untermischt,  hervorbringt.  Wir  finden  aber  den  Poly- 
morphismus nicht  nur,  wie  den  Generationswechsel,  bei  niederen 
Seethieren  (z.  B.  Seefedern),  sondern  auch  bei  höherstehenden 
Thieren,  (vgl.  Wallace  „Beiträge  zur  Th.  d.  nat.  Zuchtwahl", 
deutsch  von  Meyer  S.  165 — 179)  insbesondere  solcher  Arten,  bei 
denen  ein  Theil  natürliche  Masken  (Mimicry)  trägt,  oder  bei  wel- 
chen ein  Genossenschaftsleben  mit  weitgefiihrter  Arbeitstheilung 
besteht  (Bienen,  Ameisen);  streng  genomuien  ist  alle  Zwei- 
ge s  c  h  1  e  c  h  1 1  i  c  h  k  e  i  t  an  und  für  sich  schon  Polymorphis- 
mus, auch  wenn  sie  nicht  mit  sonstigen  correlativen  Modilica- 
tionen  verknüpft  wäre.  Diese  finden  sich  aber  überall  vor 
und  gehen  bei  manchen  Specien,  wo  die  Lebensverhältnisse  der 
Geschlechter  sehr  verschieden  sind,  bis  zu  Abweichungen,  welche 


97 

im  Männchen  und  Weibchen  nimmermehr  dieselbe  Thierart  ver- 
muthen  lassen.  Aller  Polymorphismus  ist  nun  als  ein  System 
correlativer  Modificationen  zu  betrachten,  und  die  Ver- 
erbung innerhalb  polymorpher  Specien  zeigt  die  Tendenz,  neu 
hinzutretende  (z.  B.  durch  Anpassung  erworbene)  Abweichungen 
in  einem  der  Typen  eher  auf  die  Nachkommen  mit  denselben 
als  auf  die  mit  dem  entgegengesetzten  Typus  zu  übertragen; 
oder  genauer  ausgedrückt:  solche  zu  einem  Typus  neu  hinzu- 
tretende Abweichungen  werden  bei  der  Vererbung  auf  dessen 
vielgestaltige  Nachkommen  nur  bei  den  Individuen  mit  demselben 
Typus  hervortreten,  bei  denen  mit  anderm  Typus  aber 
latent  bleiben  und  erst  bei  deren  Nachkommen,  welche  den 
entsprechenden  Typus  zeigen,  wieder  hervortreten.  Wir  erinnern 
an  das  obige  Beispiel  von  der  Bassstimme  und  dem  rothen  Barte. 
In  dieser  Weise  können  die  ersten  Ursprünge  eines  durch  all- 
mähliche Trennung  der  Lebensverhältnisse  sich  bildenden  Poly- 
morphismus nach  und  nach  durch  fortschreitende  Anpassung  der 
Einzeltypen  sich  steigern,  z.  B.  eine  abweichende  Färbung  zwi- 
schen den  Gefiedern  der  beiden  Geschlechter  einer  Vogelart  sich 
entwickeln,  wenn  nur  das  eine  Geschlecht  brütet  und  hierzu 
besseren  Schutz  durch  Aehnlicbkeit  mit  dem  Nest  und  dessen 
Umgebung  braucht  als  sein  flüchtig  umhereileuder  Gatte  (vgl. 
Wallace  a.  a.  0.  S.  130—134).  Welche  individuelle  Abwei- 
chungen inCorrelation  zu  demjenigen  System  von  Modifi- 
cationen stehen,  das  die  Eigenthümlichkeit  des  polymorphen 
Typus  ausmacht,  ist  natürlich  a  priori  nicht  zu  bestimmen,  und 
es  ist  daher  auch  nicht  vorher  zu  bestimmen,  welche  individuelle 
Abweichungen  z.  B.  beim  Menschen  sich  auf  beide  Geschlechter 
vererben  und  welche  sich  nur  auf  die  männlichen  oder  nur 
auf  die  weiblichen  Nachkommen  vererben.  Nicht  selten  tritt 
jedoch  eine  Vererbung  nur  in  männlicher  oder  nur  in  weiblicher 
Linie  ein,  wo  man  es  nicht  erwarten  sollte,  z.  B.  bei  gewissen 
physiognoraischen  Eigenthümlichkeiten,  oder  bei  gewissen  Krank- 
heiten; so  z.  B.  vererbte  Edward  Lambert  (geb.  1717)  seine  zoll- 
dicke krustenartige  Epidermis  mit  schuppenartigen  und  stachel- 
förmigen Fortsätzen  nur  auf  seine  Söhne  und  Enkel,  aber  nicht 
auf    die    Enkelinnen.      Uebermässige    Fettentwickelung    an    be- 


98 

stimmten  Körperstellen  vererbt  sich  häufig  nur  in  weiblicher  Li- 
nie; Hautmale  bald  in  männlicher,  bald  in  weiblicher,  bald  in 
gemischter  Linie.  (Vgl.  zu  der  ganzen  Lehre  von  der  Vererbung- 
Hackers  nat.  Schöpfungsgesch.  2.  Aufl.  S.  158—163,  178—197). 
Wo  sich  alles  an  der  Constitution  des  Organismus  vererbt, 
ist  von  der  Constitution  des  Gehirns  mit  seinen  molecularen 
Dispositionen  keine  Ausnahme  zu  erwarten.  Der  ererbte  Cha- 
rakter, welcher,  wie  wir  wissen,  in  einer  Summe  bestimmter  Hirn- 
dispositionen besteht,  gehört  mit  zum  Typus  der  menschlichen 
Constitution,  modificirt  durch  den  Typus  der  Race,  des  Volkes, 
des  Stammes,  der  Familie,  des  Geschlechts;  der  Grundstock  des 
Charakters  ist  also  Resultat  einer  durch  mehr  oder  minder  lange 
Generationenfolge  constituirten  und  befestigten  Vererbung,  und 
die  concurrirenden  individuellen  Eigenthümlichkeiten  der  2  Eltern, 
4  Grosseltern  und  8  Urgrosseltern ,  und  die  zufälligen  Umstände 
der  Zeugung,  des  embryonalen  Lebens,  sowie  die  EinflüsBe  wäh- 
rend der  Kindheit  und  Jugend  u.  s.  w.  sind  nur  Nebenumstände, 
welche  an  den  durch  befestigte  Vererbung  überkommenen  Grund- 
stock des  Charakters  Modificationen  hinzufügen.  Je  öfter  eine 
Eigenthümlichkeit  schon  in  der  Generationenfolge  vererbt  worden 
ist,  desto  grösser  ist  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  sie  auch  auf 
die  nächste  Generation  sich  vererben  wird;  dieses  Gesetz  der 
constituirten  oder  befestigten  Vererbung  ist  der  Grund,  dass 
einerseits  der  Charakter  sich  strenger  und  sicherer  als  die  in- 
tellectuellen  Anlagen  von  mehr  individueller  Natur  vererbt  und 
dass  andererseits  die  durch  die  neu  erworbenen  individuellen 
EigenthümUchkeiten  der  Eltern  und  durch  die  zufälligen  Um- 
stände der  Zeugung  und  Kindheit  hervorgerufenen  Modificationen 
doch  immer  nur  von  secundärer  Bedeutung  gegenüber  demjenigen 
Theil  des  Charakters  erscheinen,  welcher  auch  bei  den  Eltern 
schon  ererbte  Anlage  war.  In  ßürgerfamilien  ist  das  Material 
für  den  Nachweis  fortgesetzter  Charaktervererbung  nur  schwerer 
zu  beschaffen,  sonst  würde  dieselbe  sich  auch  dort  herausstellen; 
in  Adelsgeschlechtern,  wo  die  Familientradition  auf  lange  Ge- 
schlechterfolgen sorgfältig  bewahrt  wird,  findet  sich  aber  auch 
ebenso  häufig  und  noch  häufiger  Vererbung  von  Charaktereigen- 
schaften bestätigt,  als  die  schon  angeführte  Vererbung  von  körper- 


99 

liehen  Aehnlichkeiten  oder  Absonderlichkeiten.  In  Ftirsten- 
geschlechtern  bietet  auch  die  Geschichte  Material,  um  eine  solche 
Vererbung  deutlich  genug  zu  erkennen ;  man  denke  an  die  Julier, 
Claudier,  Borghia's,  Bourbonen,  Habsburger  u.  s.  w.  Wenn  der 
gute  Charakter  mehr  aus  einem  harmonischen  Gleichgewicht  der 
Triebe  untereinander  und  mit  dem  Intellekt,  der  böse  hingegen 
aus  der  Monstrosität  einseitiger  Triebe  hervorgeht,  so  liegt  es 
auf  der  Hand,  dass  böse  Charaktere  weit  mehr  Chancen  zur  Ver- 
erbung darbieten,  und  so  findet  man  auch  weit  häufiger  in  einer 
längeren  Geschlechterfolge  gleiche  Laster  (Blutdurst,  Grausamkeit, 
Wollust,  Leichtsinn,  Ehrgeiz,  Hochmuth,  tyrannische  Herrschsucht 
U.S.W.)  als  gleiche  Tugenden.  —  Die  Laster  aus  Monstrosität  einseiti- 
ger Triebe  grenzen  unmittelbar  an  die  erblichen  Geistesstörungen. 
Keine  Art  von  Krankheiten  ist  in  so  grauenerregender  Weise 
fast  ausschliesslich  in  erbUcher  Disposition  begründet  wie  die 
Geisteskrankbeiten,  und  zwar  von  jenen  leichteren  Störungen 
an,  welche  einerseits  als  Schrullen  und  Wunderlichkeiten,  andrer- 
seits als  krankhafter  Hang  zu  gewissen  Lastern  zu  bezeichnen 
sind,  durch  die  ausgesprocheneren  Formen  der  fixen  Ideen,  der 
Schwermuth,  der  Narrheit  und  des  Wahnsinns  hindurch  bis  end- 
lich zu  den  Extremen  der  Tobsucht  und  des  Blödsinns.  Wenn 
es  noch  irgend  einer  Bestätigung  dafür  bedürfte,  dass  die  be- 
kannte Thatsache  der  Vererbung  der  Charaktereigenschaften  rein 
auf  Vererbung  von  constitutionellen  organischen  Eigenthümlich- 
keiten  und  speciell  von  Gehirnprädispositionen  beruht,  so  muss 
dieser  flüssige  Uebergang  von  Geisteskrankheiten  in  Charakter- 
anlagen, oder  von  excessiven  und  monströsen  Hirndispositionen 
in  bloss  quantitativ  und  graduell  innerhalb  der  normalen  Grenzen 
hervorragende,  den  letzten  Zweifel  beseitigen.  Da  auch  das  ge- 
sunde Geistesleben  aus  Factoren  besteht,  deren  quantitatives  Ver- 
hältniss  sehr  bedeutenden  Schwankungen  unterworfen  ist,  so  ist 
eine  Grenze,  wo  das  quantitative  Verhältniss  zu  einem  abnormen 
oder  krankhaften  wird,  schlechterdings  nicht  zu  ziehen,  und  des- 
halb sind  auch  für  den  Psychologen  nicht  diejenigen  Irren  die 
interessantesten,  welche  hinter  Gitter  und  Riegel  unschädlich  ge- 
macht werden  mussten,  sondern  diejenigen,  welche  sich  frei  in 
der  Gesellschaft  bewegen,  weil  in  ihnen  die  Uebergangszustände 


100 

zwischen  gesundem  und  krankem  Geistesleben  rückwärts  ein  Licht 
auf  die  Grundlagen  der  normalen  psychischen  Prooesse  zu  werfen 
geeignet  sind. 

Wenn  wir  anerkennen  mussten,  dass  die  befestigten  Eigen- 
thümlicbkeiten  oder  Charaktere  in  der  Concurrenz  um  die  Vor- 
vererbung vor  den  neu  hinzu  erworbenen  einen  entschiedenen 
Vorsprung  haben,  so  ist  doch  die  Bedeutung  der  letzteren  keines- 
wegs zu  unterschätzen,  denn  auf  ihr  beruht  die  Modificabilität  und 
Entwickelungstahigkeit  des  constitutionellen  Typus  der  Species,  die 
Veränderlichkeit  des  Artcharakters,  —  eine  Thatsache,  welche 
ohne  Vererbung  individuell  erworbener  Abweichung  vom  bisherigen 
Typus  schlechterdings  unmöglich  wäre.  Aus  der  Ehe  eines  durch 
Zufall  mit  sechs  Fingern  geborenen  Mannes  und  einer  fünf- 
fingrigen  Frau  in  Spanien  hatten  säramtliche  Kinder  sechs  Finger 
bis  auf  das  Jüngste,  welches  der  Vater  deshalb  nicht  als  das 
seinige  anerkennen  wollte.  In  einer  andren  spanischen  FamiHe 
vererbte  sich  die  Sechszahl  der  Finger  auf  40  Individuen.  Durch 
blosse  Inzucht  sechsfingriger  Individuen  Hesse  sich  eine  sechs- 
iingrige  Menschenrace  erzielen,  bei  der  dies  Merkmal  bald  befestigt 
sein  würde;  durch  Kreuzung  gehen  aber  solche  individuelle  Ab- 
weichungen immer  wieder  in  der  füntfingrigen  Race  unter  (Häckel 
a.  a.  O.S.  159).  In  Massachusetts  züchtete  i.  J.  1791  Seth  Wirght 
aus  einem  zufälHg  mit  auffallend  langem  Leib  und  ganz  kurzen 
krummen  Beinen  geborenen  Lamme  eine  entsprechende  Schafrace 
(Otterschafe),  welche  ihm  den  Vortheil  bot,  die  Hecken  nicht 
überspringen  zu  können.  Aehnlich  wurde  in  Paraguay  von  einem 
im  Jahre  1770  geborenen  hörnerlosen  Stiere  eine  höruerlose  Rind- 
viehrace  gezüchtet  (Häckel  S.  193).  „Niemand  wird  bezweifeln,, 
dass  die  in  gewissen  Familien  erblichen  Krankheitsanlagen,  wenn 
man  im  Stammbaum  rückwärts  geht,  auf  einen  Vorfahren  hin- 
führen müssen,  der  sie  nicht  mehr  ererbt,  sondern  erworben 
hat.  Dass  sich  amputirte  Arme  und  Beine  und  dergleichen  Ver- 
stümmelungen in  der  Regel  nicht  vererben,  beweist  gegen  unsere 
Behauptung  gar  nichts,  denn  es  sind  zu  grobe  und  handgreifliche 
Eingriffe  in  die  typische  Idee  der  Gattung,  als  dass  man  ihre 
Realisation  im  Kinde  erwarten  könnte;  und  doch  giebt  es  selbst 
hier  merkwürdige  Ausnahmen.     Nach  Häckel  zeugte  ein  Zucht- 


101 


stier^  dem  durch  Zufall  der  Schwanz  an  der  Wurzel  abgeklemmt 
ivurde,  lauter  schwanzlose  Kälber,  und  hat  man  durch  cons^quentes 
Schwanzabschueiden  während  mehrerer  Generationen  eine  schwanz- 
lose Hunderace  erzielt.  Meerschweinchen,  welche  durch  künst- 
liche Verletzung  des  Rückenmarks  epileptisch  gemacht  worden 
waren,  vererbten  die  Krankheit  auf  ihre  Nachkommen.  Im  All- 
gemeinen vererben  sich  erworbene  Eigenschaften  um  so  leichter, 
je  weniger  sie  den  Arttypus  stören,  in  je  minutiöseren  orga- 
nischen Veränderungen  sie  bestehen.  Letzteres  ist  aber  bei  allen 
Dispositionen  des  Gehirnes  zu  gewissen  Schwingungszuständen 
der  Fall.  Es  ist  eine  bekannte  Erfahrung,  dass  die  Jungen  von 
gezähmten  Thieren  zahmer  werden,  als  die  jung  eingefangenen 
von  wilden,  dass  von  Hausthieren  wieder  diejenigen  Jungen  am 
zahmsten,  folgsamsten,  gelehrigsten  u.  s.  w.  zu  werden  versprechen, 
die  von  den  zahmsten,  folgsamsten,  gelehrigsten  Eltern  stammen.*) 
Jede  Dressur  eines  Thieres  nach  einer  bestimmten  Richtung  bietet 
um  so  mehr  Aussicht  auf  Erfolg,  je  weiter  die  Dressur  der  Eltern 
in  derselben  Richtung  gediehen  war.  Junge  undressirte  Jagd- 
hunde von  ausgezeichneten  Eltern  machen  bei  der  Jagd  von  selbst 
Alles  ziemlich  richtig,  während  bei  Hunden,  die  von  Eltern 
stammen,  welche  nie  zur  Jagd  gebraucht  wurden,  die  Jagddressur 
eine  furchtbare  Arbeit  ist.  Söhne  aus  Reiterfamilien  bringen  Sitz 
und  Balance  schon  zum  ersten  Versuch  mit"  (Ph.  d.  U.  S.  61 1 — 612). 
Nach  dem  Angeführten  unterliegt  es  keinem  Zweifel,  dass 
Charaktereigenschaften  sehr  wohl  vererbt  werden  können,  auch 
^venn  sie  nicht  ererbt,  sondern  nur  individuell  erworben 
waren.  „Wenn  wir  die  Laster  aus  gewissen  inveterirten  Ano- 
malien auf  dem  Boden  der  Constitution  erwachsen  sehen"  (z.  B. 
Trunksucht,  geschlechtliche  Verirrungen,  Blutdurst  u.  s.  w\),  „wenn 
wir  unzweifelhaft  die  Vererbung  von  Lastern  constatiren  können, 
so  liegt   auf  der  Hand,   dass  die  Vererbung  der  vom  Vater  er- 


*)  Zu  Aristoteles  Zeiten  musste  unser  Hofgeflügel  noch  unter  Netzen  und 
Körben  gehalten  werden,  wie  heute  bei  uns  die  Fasanen,  und  doch  ging  jenem 
Zustand  eine  schon  vier  Jahrtausende  lange  Domestication  voran,  während 
es  nun  nach  abermals  2000  Jahren  gelungen  ist,  die  flüchtigen  Naturinstinkte 
voUkommen  zu  bezähmen. 


102 


■worbenen   Constitution  im  Sohne  die  Ursache  des  Lasters  ist**^ 
(Phil.   Monatshefte   Bd.   IV.  Hft.  5.   S.  389—390).    Dasselbe  gilt 
aber  auch  für  feinere  Nuancen  des  Charakters,  die  in  den  Eltern 
habituell  actualisirt  sind;   es  gilt  sogar  für  die  unscheinbarsten 
Aeusserlichkeiten  in  Haltung,  Bewegungen,  Benehmen  (Ph.  d.  Unb, 
S.  613)  und  habituelle  Modificationen  in  der  Art  und  Weise  der 
Ideenassociation,  —  Dinge  bei  denen  sich  freilich  oft  schwer  der 
Einfluss   der  Vererbung  von  dem  Einfluss   des  Beispiels  trennen 
lässt.     Dass   die    aristokratische   Tournure  wesentlich    auf  einer 
angeborenen  Grundlage  beruht,  ist  bekannt;  es  kommt  dies  nicht 
selten   in  Bastarden   zur   Erscheinung,  die,  ohne   von   ihrer  Ab- 
stammung  zu  wissen,   in   keineswegs  aristokratischer  Umgebung 
erwachsen   sind.     In   ähnlicher  Weise   ist  es  Katzen  angeboren^ 
ihre  Excremente,   wenn  irgend   möglich,    zu  verscharren;  jedes 
höhere  Thier   hat    eine  mehr  oder   minder  aristokratische   oder 
plebejische  Tournure  mit  auf  die  Welt  gebracht,  welche  es  von 
seinen  Vorfahren  durch  Vererbung   überkommen  hat   und  welche 
ihm   sein  äusserliclies   Verhalten   in  allen  Lebenslagen,   die   ihm 
naturgemäss  vorkommen,   bis   auf  die   kleinste  Geste  und  Bewe- 
gung vorzeichnet.    Aber  auch  im  eigentlich  geistigen  Sinne  haben 
die  Thiere   einen  Charakter,   der  z.  B.    bei  Hunden  und  Pferden 
sich  zum   entschiedenen  Individualcharakter  ausprägt,    während 
bei  tieferstehenden  Thierarten  die  Abweichungen  des  Individual- 
charakters  vom  typischen  Artcharakter  so  gering  sind,  dass  man 
sagen  kann:  beide  fallen  zusammen,   —  ein  Umstand,  durch  den 
die  Vererbung  nur   um  so  mehr  zu  einer  befestigten  wird.     Nur 
der  Charakter  der  ersten  protoplasmatischen  Monere,  die  aus  Ur- 
zeugung entstanden,  war  eine  tabula  rasa;  strenggenommen  war 
selbst   hier  schon  die  zutällige  Zusammensetzung  der  Stoffe  ent- 
scheidend.    Von  da  an  aber  hat  die  Entwickelung  der  geistigen 
Artcharaktere    mit    der    Entwickelung    der    organischen    Typen. 
gleichen  Schritt  gehalten;  beide  sind  durch  das  gleiche  Princip 
gefördert:     durch     die  Vererbung    der    hinzuerworbenen   Eigen- 
thümlichkeiten ,     durch     welche     eine     beständige    Erweiterung 
und    Bereicherung    des   Charakters    mit    der   aufsteigenden   Ent- 
wickelungsreihe  entstehen  musste.    So  empfing  der  erste  Mensch 
schon  einen  reich  angelegten  Charakter,  welcher  sich  dann  in  der 


103 

anthropologischen  Höherentwickelung  der  Menschheit  immer  viel- 
seitiger differenzirte  und  immer  reicher  entfaltete.  Wie  auf  äusser- 
lich  organischem,  so  auch  auf  innerlich  psychischem  Gebiet  ist  es 
immer  erst  die  Vererbung  der  individuell  erworbenen  Eigenschaften^ 
welche  die  Entstehung  von  Typen  und  Charakteren  mit  befestigter 
Vererbung  möglich  macht. 

Wenn  wir  oben  (S.  77)  gesehen  haben,  dass  die  Beeinflussung 
des  Handelns  durch  willkürlich  vorgehaltene  oder  ferngehaltene 
Motive  die  Möglichkeit  bietet,  durch  Erziehung  au  Anderen  und 
durch  sittliche  Selbstzucht  an  sich  selbst,  vermittelst  der  Gewöh- 
nung an  gewisse  sittliche  Handlungsweisen  und  Entwöhnung  von 
unsittlichen,  nennenswerthe  charakterologische  Modiiicationen  her- 
vorzurufen, so  musste  doch  damals  der  Gedanke  deprimirend 
wirken,  dass  diese  Moditicationen  dem  ererbten  Grundstock  des 
Charakters  gegenüber  immerhin  von  secundärer  Natur  blieben. 
Jetzt  aber  eröffnet  uns  die  Desceudenztheorie  durch  die  Verer- 
bung solcher  individuell  erworbenen  Moditicationen  des  Charakters 
die  tröstliche  Perspective  auf  die  Möglichkeit  einer  progressiven 
Veredelung  des  menschlichen  Charakters  durch  Sum- 
mation  der  durch  Erziehung  und  Selbstzucht  erzielten  indi- 
viduellen Abweichungen,  ein  Gedanke,  der  wohl  geeignet  scheint^ 
an  einer  Reform  der  bisher  theoretisch  so  traurig  bestellten  und 
praktisch  so  unwirksamen  und  werthlosen  Wissenschaft  der  Ethik 
mitzuwirken. 


VII. 

Die  A'ererbuug  von  Anlagen  und  Fertig- 
keiten, 


Wir  haben  im  letzten  Abschnitt  gesehen,  wie  gross  der  Unter- 
schied zwischen  der  constituirten  Vererbung  und  der  Vererbung 
neuerworbener  Eigenschaften  hinsichtlich  der  Wahrscheinlichkeit, 
Festigkeit  und  Dauerhaftigkeit  der  Uebertragung  ist.  Es  ver- 
halten sich  z.  B.  im  Charakter  die  durch  constituirte  Vererbung 
angeborenen  Eigenschaften  zu  den  in  der  Kindheit  und  Jugend 
durch  Erziehung,  Verhältnisse  und  Schicksale  hinzuerworbenen 
gleichsam  wie  zwei  verschiedene  Schichten,  von  denen  die  ober- 
flächliche unter  gewöhnlichen  Umständen  die  wichtigere  scheinen 
kann,  weil  sie  die  tiefer  liegende  verhüllt  und  die  Reize  früher 
als  diese  und  leichter  als  diese  in  Empfang  nimmt;  erst  wenn 
grosse  Motive  an  den  Menschen  herantreten,  welche  nicht  bloss 
seine  oberflächlichen  Gewohnheiten  und  Interessen  berühren,  son- 
dern sein  Innerstes  ergreifen  und  durchwühlen,  erst  dann  wird 
diese  Hülle  durchbrochen  und  der  angeborene  Charakter  macht 
sich  in  seinem  dominirenden  Rechte  geltend.  Dieses  Verhältniss 
kann  natürlich  nur  da  sich  der  Beachtung  aufdrängen,  wo  die 
Einflüsse  des  Lebens  dahin  gewirkt  haben,  den  Charakter  nach 
einer  andern  Richtung  hin  zu  entwickeln,  als  die  angeborenen 
Anlagen  von  selbst  eingeschlagen  hätten;  wenn  aber  auch  ein 
mehr  oder  minder  entschiedener  Gegensatz  zwischen  dem  an- 
geborenen und  erworbenen  Theil  des  Charakters  zu  den  Selten- 
heiten gehören  wird,  so  wird  man  doch  bei  den  meisten  Menschea 


105 

auf  gewisse  specielle  Richtungen  stossen,  wo  ein  solcher  Gegen- 
satz sich  entwickelt  hat  und  gerade  das  Hervorbrechen  des  Ur- 
sprünglichen,  Angeborenen  bei  wichtigen  Veranlassungen  ist  es, 
was  uns  in  anscheinend  bekannten  Charakteren  plötzlich  als  ein 
Widerspruch  gegen  die  für  gewöhnlich  documentirte  und  deshalb 
für  charakteristisch  angenommene  Verhaltungsweise  überrascht. 
Die  angeborenen  Dispositionen  sind  tief  eingegraben,  aber  nicht 
scharf  und  sauber,  ausser  w^enn  sie  durch  Uebung  und  Gewohn- 
heit nachgemeisselt  sind;  die  neu  hinzuerworbenen  Dispositionen 
und  Modificationen  besitzen  hingegen  wohl  die  Schärfe  und 
Dinstinction  des  Schnitts,  welche  sie  auf  verwandte  schwache 
Reize  leicht  ansprechen  lässt,  aber  nicht  die  nachhaltige  Tiefe 
des  Eindrucks,  welche  sie  eine  Concurrenz  mit  den  angeborenen 
Dispositionen  aushalten  Hesse,  wenn  letztere  einmal  erregt  sind. 
Auf  schwache  Reize  resoniren  die  angeborenen  aber  nicht  geübten 
Dispositionen  deshalb  nicht,  weil  sie  zu  verwittert,  zu  undeutlich 
sind,  um  das  bei  schwachen  Reizen  nothwendige  Maass  qualita- 
tiver Uebereinstimmung  zu  besitzen;  je  stärker  aber  der  Reiz 
wird,  um  so  grössere  Differenzen  zwischen  sich  selbst  und  der 
Disposition  überwindet  er  im  Hervorrufen  der  Resonanz.  So  rufen 
denn  grossartige  Motive  auch  latente  Dispositionen,  die  man 
längst  erstorben  glaubte,  zu  neuem  Leben  wach,  wie  etwa  die 
grelle  Beleuchtung  schnell  auf  einander  folgender  nächtlicher 
Blitze  die  alte  verwitterte  Rieseninschrift  einer  Felswand  plastisch 
hervortreten  lässt,  auf  der  der  Forscher  bei  Tageslicht  und  in 
nächster  Nähe  betrachtend  bis  dahin  nur  die  darüber  gekritzelten 
Bemerkungen  moderner  Touristen  erkannt  hatte. 

Wie  die  angeborene  Sphäre  des  Charakters  zur  erworbe- 
nen, so  ungefähr  verhält  sich  die  erworbene  Charaktersphäre 
zum  Gedächtniss.  Dies  scheint  paradox,  und  doch  ist  es  kein 
heterogenes  Gebiet,  auf  das  wir  hinübergehen,  sondern  nur  ein  gra- 
duell verschiedenes  (vgl.  oben  S.  77 — 78).  Das  Motiv  ist,  wie  wir 
wissen,  Vorstellung,  und  der  Inhalt  des  Willensaktes,  welcher  als 
JEleaction  auf  das  Motiv  folgt,  ist  ebenfalls  Vorstellung ;  ganz  ebenso 
ist  beim  Process  der  Ideenassociation  der  hervorrufende  Reiz  Vor- 
.steliung  und  der  Inhalt  der  Reaction  Vorstellung;  im  einen  wie 
im  andern  Falle  haben  wir  es  mit  molecularen  Hirnschwingungen 


106 

zu  thun,  welche  vorhandene  Dispositionen  zu  neuen  Schwingungen 
erregen,  von  welchem  Process  sowohl  Anfangs-  wie  Endglied  als? 
Vorstellung  in's  Bewusstsein  treten.  Der  Unterschied  liegt  wesentlich 
nur  in  dem  Maass  der  Willensbetheiligung,  oder  anders  ausge- 
drückt:  theils  in  der  absoluten  Intensität  der  erregten  Schwin- 
gungen, theils  in  der  relativen  Intensität,  mit  welcher  sie  auf  die 
Centralorgane  der  Bewegung  influiren  und  hierdurch  zur  Hand- 
lung intendiren.  Die  Ueberlegenheit  der  Intensität  der  tieferen: 
Sphäre  tritt  selbstverständlich  nur  dann  hervor,  wenn  sie  durch 
einen  entsprechenden  Reiz  wirklich  erregt  worden  ist ;  dann  aber 
verhält  sich  die  Intensität  der  angeborenen  zur  erworbenen  Cha- 
raktersphäre  ganz  ebenso  wie  die  Intensität  der  letzteren  zu  der 
Sphäre  der  Gedächtnissdispositionen.  Denn  man  würde  sehr 
irren,  wenn  man  glaubte,  dass  die  Gedächtnissvorstellungen  jeder 
Willensbetheiligung  entbehrten.  Wir  sahen  schon  oben,  dass  jede 
noch  so  abstracte  Vorstellung  mindestens  die  Tendenz  zu  den  ihr 
entsprechenden  Bewegungen  der  Sprachorgane  mit  sich  führt;  iß 
einer  andern  Weise  sich  handelnd  zu  äussern,  dazu  fehlt  es  ihr 
nicht  sowohl  an  Intensität,  als  an  Gelegenheit,  d.  h.  es  ist  ihrer 
Natur  nach  nicht  abzusehen,  welche  Art  von  Handlung  eine  blosse 
gleichgültige  Gedächtnissvorstellung  unmittelbar  herbeiführen  sollte, 
Sie  befindet  sich  dabei  in  einer  ähnlichen  Lage  wie  eine  charak- 
terologische  Disposition,  welche  beim  Mangel  einer  gegenwärtigen 
Gelegenheit  zum  Handeln  sich  auf  die  Vorstellung  der  künftig 
bevorstehenden  Gelegenheit  hin  als  Vorsatz  und  Verlangen  äußert, 
Dur  dass  in  diesem  Falle  die  Möglichkeit  des  Ueberganges  in 
wirkliche  Handlung  von  einer  erfüllbaren  Bedingung  abhängt,  bei 
der  blossen  Gedächtnissvorstellung  aber  selbst  das  nicht.  Ana- 
tomisch muss  sich  dieser  Unterschied  in  einer  verschiedenen  Lage 
der  Partien  aussprechen,  in  welchen  die  Gedächtnissdispositionen 
und  in  welchen  die  charakterologischen  Dispositionen  niederge- 
legt sind ;  die  letzteren  müssen  den  Centralorganen  der  Bewegung 
näher  liegen,  oder  doch  durch  bessere  Leitung  mit  ihnen  ver- 
bunden  sein;  in  demselben  Maasse  aber  müssen  sie  derjenigen 
Hirnschicht  ferner  liegen,  in  welcher  das  hellste  und  klarste  Be- 
wusstsein erzeugt  wird.  Wenn  aber  unser  Ausdruck,  dass  die 
iSphäre    der    erworbenen   Charaktereigenschaften   gleichsam    eine 


107 

Hülle  um  den  Kern  der  angeborenen  bilde,  zunächst  nur  bildlich 
zu  nehmen  war,  so  dürfte  die  Behauptung,  dass  die  Sphäre  des 
Gedächtnisses  am  meisten  peripherisch  (von  den  Centralorganen 
der  Bewegung  aus  gerechnet)  zu  suchen  sei,  einigen  Anspruch 
auf  reale  Bedeutung  haben,  um  so  mehr  als  auch  pathologische 
Erfahrungen  (Substanzverlust  des  Gehirns,  Aphasie  durch  Schlag- 
fluss  u.  s.  w.)  auf  einen  Sitz  des  Gedächtnisses  in  den  unter  der 
Stirn  gelegenen  Theilen  des  Grosshirns  hinweisen. 

Wenn  nun  auch  die  relative  Intensität,  mit  welcher  die  Ge- 
dächtnissvorstellungen  auf  die  Centralorgane   der  Bewegung  in- 
fluiren,  gering  genannt  werden  muss,  so  braucht  deshalb  ihre  ab- 
solute   Energie    im    Verhältniss    zu   erregten  charakterologischen 
Dispositionen    keineswegs    unbedeutend    zu   sein.      Dies    beweist 
schon    die  Lebhaftigkeit   und   Klarheit   des   Bewusstseins,   durch 
welche  sie  jenen  entschieden  überlegen  sind.     Die  Leitungswider- 
stände in  der  Richtung  auf  die  Centralorgane  der  Bewegung  ver- 
hindern sie  nur,  ihre  Intensität  nach  dieser  Richtung  hin  zur  Gel^ 
tung  zu  bringen,  während  sie  dadurch  Gelegenheit  erhalten,  die- 
selbe innerhalb  der  Sphäre  des  Gedächtnisses  selbst  fruchtbar  zu 
verwerthen,    indem   sie   dieselbe  im  Process  der  Ideenassociation 
fortwährend  auf  neue  Vorstellungen  tibertragen.     Erst  durch  dieses 
in  sich  Abgescblossensein  der  Sphäre  des  Gedächtnisses  wird  die 
Beweglichkeit  und  Lebendigkeit  des  Vorstellungsprocesses  möglich, 
welche  im  bedeutungsvollen  Gegensatz  steht  zu  der  Schwerfällig- 
keit und  Stabilität  des  Begehrungs-  und  Gefühlslebens  (Phil.  d. 
Unb.  S.  374).     Während  die  Dauerhaftigkeit  der  Gefühle,  Bestre- 
bungen  und  Interessen   allein   das  Leben   vor  Zerfahrenheit  und 
unstäter  Zersplitterung  schützen  kann,  ist  die  schnelle  Beweglich- 
keit des   Vorstellungslebens    die  nothwendige  Voraussetzung  für 
jede  intellectuelle  Leistung,  sei  es  auf  dem  theoretischen  Gebiete 
der  Erfindungen  und  Entdeckungen,  sei   es  auf  dem  praktischen 
Gebiet  der  Auswahl  der  richtigen  Mittel  für  die  vom  Gefühlsleben 
gesteckten  Ziele.     So  kann  man  die  dynamische  Leistung  der  Vor- 
stellungssphäre auf  die  charakterologische  Sphäre  des  Begehrungs- 
und  Gefühlslebens   auch   dahin    definiren,   dass   sie  in  der  ange- 
messenen Verarbeitung    der  Motive  der  letzteren   besteht, 
während  sie  zugleich   bei   dieser  ihrer  anscheinend  rein  intellek- 


108 

tuellen  Arbeit  doch  wieder  unter  dem  bestimmenden  Einfluss  der 
mehr  centralen  Sphäre  der  charakterologischen  Dispositionen  steht, 
wie  dies  Schopenhauer  (W.  a.  W.  u.  V.  Bd.  IL)  in  dem  Capitel: 
„Der  Primat  des  Willens  im  Selbstbewusstsein"  näher  ausgeführt 
bat.  Einen  directen  Einfluss  auf  das  Handeln  gewinnt  die  Vor- 
stellungssphäre erst  dann,  wenn  die  Vorstellung  einer  willkürlich 
auszuführenden  Bewegung  oder  Handlung  mit  einem  activen 
centrifugalen  Innervationsstrom  (vgl.  oben  S.  78)  verbunden 
auftritt,  was  wiederum  nur  möglich  ist,  wenn  entweder  diese  be- 
wusste  Absicht  mit  dem  unbewussten  Resultat  der  Motivation 
übereinstimmt,  oder  aber  wenn  die  betreffende  Handlung  eine  für 
den  Charakter  und  die  Lebensinteressen  völlig  gleichgültige  ist. 
Wenn  wir  nach  dieser  Auseinandersetzung  an  unserm  obigen 
Ausspruch  festhalten  dürfen,  dass  die  Gedächtnisssphäre  sich  zur 
Sphäre  der  erworbenen  Charakterdispositionen  ungefähr  so  ver- 
hält, wie  diese  zu  der  Sphäre  der  ererbten  Charakterdispositionen, 
so  werden  wir  uns  nicht  wundern  dürfen,  dass,  da  doch  schon 
die  Vererbung  erworbener  Charaktereigenschaften  so  viel  schwie- 
riger und  unsicherer  ist  als  die  der  angeborenen,  durch  constituirte 
Vererbung  befestigter  Charakteranlagen,  dass  nunmehr  die  Sphäre 
der  Gedächtnissdispositionen,  welche  hinsichtlich  der  Tiefe  ihrer 
Eindrücke  sich  als  noch  weit  oberflächlicher  erweist,  für  ge- 
wöhnlich gar  nicht  mehr  zur  Vererbung  gelangt,  oder  wenn 
man  so  sagen  darf,  bereits  unterhalb  der  Schwelle  der  Vererbung 
liegt.  Sind  doch  die  Eindrücke  oft  so  schwach,  dass  sie  in  dem- 
selben Individuum  nicht  mehr  zur  Reproduction  gelangen  können, 
d.  h.  radical  vergessen  bleiben,  —  wie  sollten  sie  da  eine 
über  das  Individuum  auf  seine  Nachkommen  hinübergreifende 
Wirksamkeit  äussern  können?  Aber  selbst  solche  Gedächtniss- 
vorstellungen, welche  durch  häufige  Reproduction  fester  ein- 
geprägt werden,  wie  z.  B.  der  Vocabelschatz  der  Muttersprache, 
zeigen  keine  Spuren  von  Vererbung;  man  hat  wenigstens  noch 
nirgends  constatirt,  dass  ein  von  Deutschen  geborenes  Kind  in 
seiner  Kindbeit  die  deutsche  Sprache  leichter  erlernte  als  irgend 
eine  andere  mit  der  deutschen  auf  gleicher  Stufe  der  formalen 
Entwickelung  stehende  Sprache.  Für  dieses  unterhalb  der  Ver- 
erbungsschwelle gelegene  Gebiet  von  Hirndispositionen,   insoweit 


109 


es   für  das    menschliche   Culturleben  Bedingung    ist,    muss   dann 
eben  die  Erziehung  namentlich    in    frühester  Kindheit    vicarirend 
eintreten,  um  gleichsam  die  organisch  begonnene  Modellirung  des 
Gehirns    im   Embryo    durch    systematisch    regulirte  Vorstcllungs- 
zufuhr  und  Uebung    zum  Abschluss    zu  bringen.     Dass  derartige 
Gedächtnissdispositionen,  wie  Vocabeln,  zn  oberflächUch  zur  Ver- 
erbung sind,  kommt  offenbar  daher,   dass  die  Gedächtnissvorstel- 
lungen   dieser  Art   mehr    oder    minder    conventionelle    Be- 
griff sz  eichen  sind,   die  nichts  Typisches    an  sich  haben   und 
deren    conventionell    so    oder    so    bestimmte   Qualität   (ob  „pere" 
oder  „Vater'')  iitr  die  intellektuelle  Bedeutung  ebenso  gleichgültig 
ist  wie  für  das  Interesse  und  Gefühlsleben.     Ganz  anders,  wo  es 
sich  nicht  bloss    um  gleichgültige  Zeichen    oder    um  Erfahrungs- 
wissen,   sondern  entweder  um    eine    typische  Form  der  Vor- 
stellungs  weise,  oder  um  einen  Vorstellungsinhalt  handelt,  dessen 
Qualität  zugleich  das  Begehrun gs-  und  Gefühlsleben  afficirt,  also 
in  das  Gebiet  charakterologischer  Prädispositionen  hinüber- 
greift.    Beides  haben  wir  gesondert  zu  betrachten,    wie  innig  es 
auch  in  sich  wiederum  zusammenhängen  mag.     Nur  die   letztere 
Seite  betrachten  wir  in    diesem  Abschnitt,  während    die    erstere, 
die  typischen  Formen  des  Denkens  und  Anschauens,  dem  folgenden 
Abschnitt  vorbehalten  bleibt. 

Wir  sahen  schon  oben,  dass  die  Hirnprädispositionen  des  Ge- 
dächtnisses nicht  sowohl  specifisch  als  graduell  von   den  charak- 
terologischen    Hirnprädispositionen    verschieden    sind,    dass    der 
Uebergang    zwischen  beiden    ein    durchaus    flüssiger,    durch   die 
mannigfachsten  Verbindungsglieder  vermittelter  ist,  und  dass  die 
blosse    interesselos    gleichgültige  Gedächtnissvorstellung  nur  das 
eine  Endglied  dieser  Reihe  ist,    deren  anderes  Ende  die  an- 
geborene, aber  durch  erworbene  Modificationen  entgegengesetzter 
Art  latent  gewordene  Charakteranlagc  ist.    Jede  charaktero- 
logische  Prädisposition   ist    ein   vorausbestimmter  Reactionsmodus 
des  Begehrens    auf  eine   gewisse   Art    von    Motiven,    und   jeder 
Reactionsmodus  wird  nur  dadurch  zu  einem  eigenthümlichen,  das» 
das  bei  einem  gegebenen  Motiv   resultirende  Wollen  einen  eigen- 
thümlichen   (von    dem    anderer  Individuen    abweichenden)  Vor- 
stellungsinhalt  besitzt.     Ist   also   der  Charakter  angeboren 


110 

(d.  h.  ererbt),   so  ist   auch  der  eigenthtimliche  Vorstellimgsinhalt 
angeboren,  dessen  Gewolltwerden  bei  gegebenem  Motiv  die  Eigen- 
thümlichkeit    des    angeborenen    Reactionsmodus    ausmacht.     Ein 
Vorstellungsinhalt    kann    aber    nur    angeboren    sein    als    ererbte 
schlummernde  Gedächtnissvorstellung,  d.  h.  „als  moleculare  Hirn- 
disposition   zu    gewissen    Schwingungsarten"  (Ph.  d.  U.  S.  613). 
Wir  können  hinzufügen,  dass  gar  nichts  als  dieser  Vorstellungs- 
inhalt   qualitative  Unterschiede    des  Begehrens    oder  WoUens 
bewirken  kann,  da  ja  die  leere  Form  des  Wollens,  abgesehen  von 
diesem  Vorstellungsinhalt,  überhaupt  nur  quantitative  Unter- 
schiede der  Intensität  zulässt  (ebenda  S.  105),    und    ohnehin  als 
Wollen  gar  nicht  zum  Bewusstsein  gelangt  (vgl.  oben  Abschn.  V). 
Die  Ph.  d.U.  fährt  fort:  „In  dieser  Art  ist  z.B.  das  Verhalten 
des   undressirten  jungen  Jagdhundes  (seine  Aufmerksamkeit  auf 
Wild,    sein    Stutzen,    seine  Neigung    zum  Apportiren  geworfener 
Gegenstände)  durch  ein  von  seinen  Vorfahren  ererbtes  Gedächtniss 
zu  erklären,  so  aber,  dass  die  aus  den  ererbten  Hirndispositionen 
auf   geeignete   Veranlassung   auftauchenden    (Erinnerungs-)    Vor- 
stellungen nicht  als  Erinnerungen  bewusst  werden,    sondern  nur 
als  Inhalt  der  durch  jene  Veranlassungen  (Motive)  hervorgerufenen 
Willensakte  auftreten*'  (S.  613).     Hiermit  ist  zugleich  das  psycho- 
logische Kriterion  für  den  Unterschied  individuell  erworbener  und 
ererbter  Gedächtnissdispositionen   ausgesprochen:   bei   der  Repro- 
duction  der  ersteren  taucht  das  Bewusstsein,  die  Vorstellung  schon 
trüber  gehabt  zu  haben,  mit  auf;  und  das  Fehlen  dieses  Bewusst- 
seins  lässt  bei  den  letzteren  den  Charakter  der  Erinnerung  nicht 
zur  Geltung  kommen.    Der  junge  Jagdhund    wird    von  der  Ge- 
sichtswahrnehmung des  Wildes  oder  des  geworfenen  Steins  zwar 
ebenso  afficirt  wie  etwa  ein  junger  Wachtelhund;  aber  er  reagirt 
mit  anderen  Vorstellungen  auf  diese  Wahrnehmungen,  wenngleich 
seine  Vorstellungsreactionen  nicht  als   blosse  Vorstellungen,    son- 
dern als  Vorstellungsinhalt   von  Willensakten  hervortreten.    (Bei- 
läufig sei  hier  bemerkt,  dass  Darwin    das   anderartige  Verhalten 
junger  Hunde,    die  von  gut    dressirten  Jagdhunden    abstammen, 
bestätigt).     Wenn  blindtaubstumme  Mädchen  mit  dem  Eintritt  der 
Pubertät  die  volle  Schamhaftigkeit    ihres  Geschlechts   gegen    die 
Berührung  männhcher  Personen  entwickeln  (Ph.  d.  U.  S.  186—187), 


111 

«0  treten  Vorstellungsmassen  aus  zuvor  latenten  Dispositionen  her- 
:aus,  welche  bei  dem  Mangel  entsprechender  Belehrung  und  Er- 
ziehung nur  als  Gedächtnissdispositionen  zu  bezeichnen  sind,  die 
von  der  constituirten  Vererbung  ähnlicher  Vorstellungsmassen  in 
weiblicher  Linie  herröhren  und,  wie  alle  Vererbungen,  sich  zu 
derselben  Zeit  zur  Actualität  entfalten,  wie  dies  in  den  Vorfahren 
der  Fall  war.  Von  der  Putzsucht  dieser  unglücklichen  Geschöpfe 
lässt  sich  nur  dieselbe  Erklärung  geben.  Diese  Beispiele  eröffnen 
aber  zugleich  eine  weite  Perspektive  auf  den  grundlegenden  Ein- 
:fluss  ererbter  Vorstellungsmassen  in  solchen  Fällen,  wo  der  Ein- 
fluss  von  Erziehung,  Gewohnheit  und  Uebung  verstärkend  oder 
modificirend  hinzutritt. 

Wenn  ein  aus  einer  Reiterfamilie  stammender  Jüngling  nicht 
selten  Sitz  und  Balance  zu  seinem  ersten  Reitversuch  in  einer 
anderen  Anfängern  überlegenen  Weise  mitbringt,  so  zeigt  sich 
auch  hier  eine  Summe  ererbter  Vorstellungen  und  Kenntnisse 
über  die  den  jeweiligen  Störungen  der  Balance  entgegenzustellen- 
den Muskelbewegungen,  nur  dass  diese  Vorstellungen  hier  noch 
weniger  als  bei  dem  Apportiren  des  jungen  Jagdhundes  als  solche 
zum  Bewusstsein  kommen,  sondern  in  den  Ausführungsimpulsen 
zu  den  entsprechenden  combinirten  Muskelbewegungen  involvirt 
bleiben.  Diese  Vorstellungsmassen  treten  im  gegebenen  Beispiel 
um  so  weniger  in's  Bewusstsein,  als  die  entsprechenden  mole- 
cularen  Dispositionen  grossentheils  im  Kleinhirn  und  verlängerten 
Mark  zu  suchen  sind.  Die  ererbte  Disposition  aller  Thiere  zu 
den  ihrem  Leben  nöthigen  Bewegungen  des  Gehens,  Schwimmens, 
Fliegens  u.  s.  w.  entspricht  ganz  und  gar  dieser  Reiterdispo- 
sition; sie  tritt  um  so  deutlicher  hervor,  in  je  fertigerem  Zustande 
das  Thier  in's  Leben  eintritt,  und  entzieht  sich  der  Beobachtung 
in  um  so  höherem  Grade,  je  länger  die  Dauer  der  jugendlichen 
Unreife  ist,  die  bekanntlich  beim  Menschen  und  demnächst  bei 
den  antropoiden  Aff'en  am  grössten  ist.  Beim  Menschen  scheint 
das  Kind  gar  nichts  mitzubringen,  sondern  alles  erst  zu  lernen; 
in  der  That  aber  bringt  es  alles  oder  doch  unendlich  viel  mehr 
als  das  fix  und  fertig  aus  dem  Ei  kriechende  Thier  mit,  aber  es 
bringt  alles  in  unreifem  Zustande  mit,  weil  des  zu  Entwickelnden 
bei  ihm  so  viel  ist,  dass  es  in  den  9  Monaten  des  Embrvolebens 


112 

Hur  erst  im  Keime  vorgebildet  sein  kann.  So  geht  nun  da» 
Reiten  der  Dispositionen  bei  fortschi-eitender  Ausbildung  des 
Säuglinggehirns  mit  dem  Lernen,  d.  h.  mit  dem  Nachmeisseln 
dieser  Dispositionen  durch  Uebung  Hand  in  Hand  und  erzielt 
dadurch  ein  weit  reicheres  und  saubereres  Endresultat,  als  die 
blosse  Vererbung  bei  den  Thieren  vermag  (vgl,  Ph.  d.  Unb. 
S.  314).  Aber  selbst  das  menschliche  Kind  würde  mit  dem 
wundervollen  Mechanismus  seiner  Gliedmaassen  und  seiner  Sinnes- 
werkzeuge gar  nichts  anzufangen  wissen,  wenn  es  nicht  die 
Hirnprädispositionen  zum  Gebrauch  derselben  als  ererbten 
Besitz  mitbrächte;  der  Unterschied  ist  nur,  dass  es  wegen 
der  noch  breiartigen  Beschaffenheit  seines  Gehirns,  das  sich  erst 
allmählich  consolidirt,  lange  Zeit  braucht,  um  von  seinem  Eigen- 
thum  vollen  Besitz  zu  ergreifen,  während  das  Thier  von  Anfang 
an  in  seiner  beschränkteren  Domäne  wie  zu  Hause  ist.  Bei  dem 
ßeichthum  der  menschlichen  Erbschaft  aber  heisst  es: 

„Was  Du  ererbt  von  Deinen  Vätern  hast. 

Erwirb  es,  um  es  zu  besitzen". 
Das  Lernen  des  Kindes  ist  dieser  Erwerbungs-  oder  Aneig- 
nungsprocess  des  Ererbten.  Während  das  Thier  niemals  zu  der 
abstracten  Vorstellung  gelangt,  diese  oder  jene  Bewegung  vollziehen 
zu  wollen,  sondern  immer  nur  Bewegungen  auf  entsprechende 
praktische  Motive  oder  aus  unmittelbarem  Bewegungstrieb  vor- 
nimmt, gelangt  der  Mensch  dazu,  die  Ausführungsimpulse  zu  den 
Bewegungen  der  wichtigeren,  quergestreiften  Muskeln  unter  Um- 
ständen auch  von  den  unmittelbaren  praktischen  Motiven  ab- 
lösen zu  können  und  mit  der  abstracten  Vorstellung  der  Aus- 
führung einer  solchen  Bewegung  zu  associiren.  Diese  Ablösung 
findet  nicht  plötzlich  statt,  sondern  allmählich.  Schritt  vor  Schritt, 
durch  Selbstbeobachtung  und  Belauschung  der  nur  mit  schwachen 
begleitenden  Empfindungen  in's  Bewusstsein  fallenden  Impulse. 
Wie  die  Uebung  und  Vererbung  im  Thierreich  die  Verbin- 
dung zwischen  der  Wahrnehmung  oder  Vorstellung  des  prak- 
tischen Motivs  mit  der  Ausführungsbewegung  dem  Hirn  einge- 
graben, Dispositionen  gegründet  und  Leitungsbahnen  für  den 
Willensirapuls  geschafften  hatte,  so  schaffet  Uebung  und  Vererbung 
in   der  Menschheit   (und    schon   in   den   intelligentesten  Thieren) 


113 

ähnliche  Associationen  zwischen  gewissen  abstracten  Vorstellungen 
und  den  entsprechenden  Ausführungsbewegungeu,  —  vorausgesetzt, 
dass  die  Vorstellungen  intensiv  genug  sind  und  dass  die  unmittel- 
bare Ausführung   der  Bewegung  in  imperativer  Form   in  ihnen 
enthalten  ist.     Insoweit   diese  Associationen   ererbt  oder  fest  ein- 
geübt sind,   geschehen  sie    mit  einer  ziemlichen  Sicherheit;  doch 
können  sie   niemals  dasjenige  Maass   nahezu  unfehlbarer  Sicher- 
heit erlangen,  was  die  durch  befestigte  Ererbung  constituirten  in- 
stinctiven  Bewegungsreactionen  auf  bestimmte  für  das  Leben  des 
betreffenden  Wesens  wichtige  Motive  besitzen ;  denn  das  eine  Glied 
der  Association,  die  abstracte  Vorstellung,   entzieht  sich  der  Ver- 
erbung, und  deshalb  muss  das  Band  in  jedem  Individuum  gleich- 
sam neu  geknüpft  werden.     Wir  können  hiernach  der  Ph.  d.  Unb. 
nicht  zugeben,   dass  die  Möglichkeit  des  Fehlgreifens  die  Hypo- 
these eines   mechanischen  Zusammenhangs   zwischen   Vorstellung 
und  Ausführungsimpuls  discreditire  (S.  66j ;  diese  Möglichkeit  be- 
weist eben   nur,    dass   dieser  Zusammenhang   nicht   dennaassen 
durch   lauge  Vererbung  befestigt  ist,  um  praktisch  unfehlbar  ge- 
worden zu  sein,  sondern  dass  diese  mechanische  Leitung  sich  noch 
wie   die   mangelhaft    isolirte   Leitung  einer  elektrischen    Batterie 
verhält,  welche  gelegentlich  einen  Funken  seitwärts  überspringen 
lässt.     Je    dauernder    eine  bestimmte   Association  zwischen  Vor- 
stellung und  Ausführung  geübt  wird,  um  so  besser  wird  die  Leitungs- 
bahn eingegraben  und  um  so  seltener  die  Fälle  des  Fehlgreifens. 
Hieraus    folgt,     dass    die    praktische    Unfehlbarkeit    der    in- 
stinctiven    und    retlectorischen    Bewegungen  durch  die  befestigte 
Vererbung    des   Leitungsmechanisraus   zwischen   Motiv   und  Aus- 
führung hinreichend  erklärt  ist,  ohne  dass  man  für  diesen  Zweck 
eine   metaphysische    Unfehlbarkeit    des    Unbewussten    zu    Hülfe 
zu  nehmen  brauchte;  es  folgt  ferner  daraus,  dass  eine  Vervoll- 
kommnung   der   Association    durch    Gewohnheit   und    Uebung 
wirklich   stattfindet,   und    dass   mithin  dieser  ganze  Associations- 
process   nur  auf  materiellem  Gebiete  zu  erklären  gesucht  werden 
kann,  da  das  Unbewusste  weder  in  seinem  Wesen,  noch  in  seinen 
Functionen  einer  Vervollkommnung  durch  Gewohnheit  und  Uebung 
fähig   ist  (vgl.   oben    S.  52).      Die  Phil.    d.   Unb.   muss    sich    in 


114 

einem  solchen  Falle,  wo  üebung  einen  Process  ermöglicht,  der 
anfänglich  mit  vergeblichen  Anstrengungen  versucht  wurde,  zu 
der  Behauptung  Zuflucht  nehmen,  dass  der  metaphysisch-teleolo- 
gische  Eingriff  des  Unbewussten  in  dem  nicht  zu  dieser  Art  von 
Functionen  prädisponirten  Organ  zu  grossen  Widerstand  finde,  um 
sich  geltend  machen  zu  können,  und  dass  die  vom  Organ  durch 
Uebung  oder  Vererbung  erlangte  Prädisposition  dem  Unbewussten 
den  Eingriff  erleichtere  (vgl.  Ph.  d.  Unb.  S.  284,  Z.  8—11). 
Wenn  aber  das  Vorhandensein  der  molecularen  Prädisposition 
doch  einmal  als  Bedingung  zugegeben  ist,  und  zugleich  als  die 
Bedingung,  auf  deren  Vervollkommnung  die  Vervollkommnung  der 
Association  zwischen  Vorstellung  und  Ausführung  beruht,  dann 
gleicht  der  darüber  schwebende  metaphysische  Eingriff  doch 
stark  einem  fünften'  Rad  am  Wagen,  das  zur  Erklärung  nichts 
mehr  beiträgt.  Was  das  Wahre  an  dem  Cap.  A  II  der  Ph.  d. 
Unb.  ist,  das  ist  der  Nachweis  des  schon  oben  zugestandenen 
Satzes,  dass  ohne  vorgefundene  angeborene  Prädispositionen  behufs 
Association  gewisser  Vorstellungen  (Motive)  mit  gewissen  Bewe- 
gungen der  ganze  Apparat  von  Muskeln,  motorischen  Nerven  und 
Centralorganen  der  Bewegung  für  den  Besitzer  werthlos  und  un- 
brauchbar sein  würde,  weil  er  nichts  mit  ihm  anzufangen  wüsste. 
Die  Summe  der  angeborenen  Prädispositionen  dieser  Art  ist  eben 
das,  was  die  Ph.  d.  Unb.  die  unbewusste  Kenntniss  der  Lage  der 
centralen  Endigungen  der  motorischen  Nerven  nennt;  sie  sind 
Prädispositionen  zu  gewissen  Reactionen,  welche  den  Bewegungs- 
impuls auf  gewisse  centrale  Nervenendigungen  richten,  und  ihre 
Reactionen  bestehen  in  molecularen  Schwingungen,  welche  denen 
der  Vorstellungen  zwar  analog,  aber  doch  noch  so  weit  von  ihnen 
(schon  durch  die  Lage  im  Gehirn)  verschieden  sind,  dass  sie 
nicht  als  Vorstellungen  bewusst  werden. 

DiePh.  d.  U.  sperrt  sich  letzten  Endes  nur  deshalb  dagegen,  diese 
Erklärung  zu  acceptiren,  weil  sie  durch  dieselbe  das  Problem  nicht 
gelöst,  sondern  nur  nach  rückwärts  verschoben  erachtet,  da 
dieselbe  die  Frage  nach  der  Entstehung  der  Prädisposition  in 
den  Vorfahren  offen  lasse  (S.  66—67).  Nun  ist  aber  aus  der 
Beobachtung  am  Menschen   bekannt,  dass   mit  Hülfe   des  mehr 


115 

oder  weniger  blinden,  auf  gut  Glück  herumtappenden  Probirens 
die  ersten  Versuche  zur  Association  einer  gewissen  Bewegung 
mit  der  Vorstellung  dieser  Bewegung  vorgenommen  werden,  und 
dass  der  centrifugale  Innervationsstrom*)  dabei  mitunter  gar  keine, 
mitunter  nur  sehr  dürftige  Anhaltpunkte  hat.  Im  erstereu  Falle 
sind  nicht  selten  alle  Versuche  erfolglos  (z.  B.  die  Versuche  zur 
Bewegung  der  menschlichen  Ohrenmuskeln,  zu  deren  Ausführung 
wir  die  Prädisposition  nur  in  sehr  abgeschwächter  und  ver- 
kümmerter Gestalt  überkommen  haben).  Ist  aber  ein  solcher 
Versuch  erst  ein  Mal  gelungen,  so  bleibt  ein  Eindruck  von  der 
dem  Innervationsstrom  ertheilten  Richtung  haften,  welcher  für 
den  zweiten  Versuch  schon  einen  Anhaltpunkt  gewährt.  Auf 
diese  Weise  ist  ein  Zuwachs  solcher  Prädispositionen  und  eine 
feinere  Durcharbeitung  und  Vervollkommnung  der  ererbten  in  der 
That  ohne  alle  metaphysisch-teleologischen  Eingriffe  des  Unbe- 
wussten  erklärlich,  und  da  wir  vom  Menschen  rückwärts  durch 
seine  ganze  Ahnenreihe  bis  herab  zur  Urmonere  nirgends  einen 
Punkt  finden,  wo  mehr  als  dies  verlangt  würde,  so  werden  wir 
auch  in  der  Entstehungsgeschichte  dieses  Prädispositionencomplexes 
von  den  ersten  mechanischen  Contractionen  des  Protoplasmas  auf 
die  verschiedenen  Reize  bis  herauf  zu  den  complicirtesten  Bewe- 
gungsfertigkeiten der  höheren  Tliiere  und  Menschen  nichts  finden, 
was  die  mechanische  Erklärungs weise  als  principiell  unzulänglich 
erscheinen  Hesse,  wenngleich  wir  gern  zugeben,  dass  wir  damit 
noch  weit  entfernt  sind  von  der  eigentlichen  Erklärung  eines 
einzelnen  concreten  Vorgangs. 

Nachdem  wir  uns  über  das  Princip  verständigt  haben,  welches 
bei  der  Erklärung  der  sogenannten  körperlichen  Fertigkeiten  zu 
Grunde  zu  legen  ist,  können  wir  um  so  weniger  zweifeln,  dass 
es  sich  bei  der  Erklärung  der  rein  geistigen  Fertigkeiten  um 
dasselbe  Princip  handeln  kann;  denn  hier  können  die  Gehirndis- 
positionen viel  unmittelbarer  wirken,  weil  die  Schwierigkeit  der 
einzugrabenden  Leitungsbahnen  von  den  vorstellenden  Grosshirn- 
partien zu   den  Centralorgauen   der  Bewegung   hinwegfällt.     Die 


*)  Vergleiche  oben  S.  78  u.  56—57. 

8" 


116 

geistigen  Fertigkeiten  können  sich  nur  auf  die  Verarbeitung  von 
Vorstellungsmassen  einer  gewissen  Qualität  (mathematische,  musi- 
kalische u.  s.  w.  Talente)  oder  auf  Verarbeitung  aller  oder  doch 
der  meisten  aufstossenden  Vorstellungen  in  gewissem  Sinne  und 
in  gewisser  Richtung  (philosophische,  poetische  u.  s.  w.  Talente) 
beziehen,  wobei  nicht  ausgeschlossen  ist,  dass  die  fruchtbringende 
Ausübung  verschiedener  dieser  Anlagen  eine  gewisse  Combination 
von  rein  geistigen  und  geistig-körperlichen  Fertigkeiten  erfordert 
(z.  B.  ausübend- musikalische,  mimische,  bildnerische  Talente). 
In  diesem  Gebiet  kann  kein  Zweifel  obwalten,  dass  die  Ph.  d. 
ünb.  mit  unserer  Auffassung  übereinstimmt,  auch  wenn  sie  es 
nicht  ausdrücklich  ausspräche  (3.  Aufl.  S.  612  Z.  12 — 5  von  unten; 
1.  Aufl.  S.  517);  schon  das  klare  und  entschiedene  Auftreten  der 
Schopenhauer'schen  Philosophie  Hess  in  dieser  Frage  kaum  einen 
Rückfall  befürchten.  Um  so  wunderbarer  aber  ist  es,  dass  die 
Ph.  d.  Unb.  bei  dem  engen  und  flüssigen  Zusammenhang  der 
reingeistigen,  gemischten  und  körperlichen  Fertigkeiten  für  die 
letzteren,  die  doch  ihrer  Natur  nach  dem  materiellen  Mechanismus 
Aveit  näher  liegen,  ein  abweichendes  metaphysisches  Erklärungs- 
princip  aufstellt,  und  ist  diese  Inconsequenz  (wie  schon  oben 
S.  20 — 21  bemerkt)  nur  dadurch  erklärlich,  dass  das  Cap.  A  II 
einige  Jahre  früher  als  Cap.  C  X  verfasst  ist.  Auf  S.  613  der 
3.  Aufl.  wird  geradezu  eingeräumt,  dass  „auch  bei  Menschen  sich 
ein  grosser  Theil  der  äusserlichen  Manieren  und  Eigen thümlich- 
keiten  der  Haltung,  der  Bewegung  und  des  Benehmens  aus  er- 
erbten llirnprädispositionen  der  mit  denselben  Eigenthümlichkeiten 
behafteten  Vorfahren  zusammensetzt",  d.  h.  also  doch,  dass  auch 
körperliche  Gewohnheiten  und  Fertigkeiten  aus  ererbten  llirn- 
prädispositionen erklärt  werden  können. 

Dass  gewisse  geistige  Talente  durch  mehrere  Generationen 
in  einer  Familie  erblich  sind,  beweisen  zahlreiche  Beispiele  (Maler, 
Mathematiker,  Astronomen,  Schauspieler,  Feldherren  u.  s.  w.)  (Ph. 
d,  Unb.  S.  013).  Die  Familie  Bach  producirte  nicht  weniger 
als  22  hervorragende  musikalische  Talente.  Der  Kampf  um's 
Dasein  unter  Völkern  und  Individuen  wirkt  auf  beständige  Stei- 
gerung   der    durchschnittlichen    intellektuellen    Fähigkeiten    im 


117 

Menschengeschlecht  hin^  während  der  Charakter  sich  wohl  reicher 
und  reicher  differenzirt,  aber  nicht  in  dem  Maasse  von  Wichtig- 
keit für  den  Kampf  um's  Dasein  ist  w^ie  der  Intellekt  (613 — 614), 
Dazu  kommt  noch,  dass  mit  der  Zeit  immer  neue  Gebiete  des 
Geistes  erschlossen  und  damit  neue  Fertigkeiten  und  Anlagen 
zur  Handhabung  und  Bearbeitung  der  einschlagenden  Vorstellungs- 
massen entwickelt  w^erden,  während  zugleich  andererseits  trotz 
der  auch  auf  geistigem  Gebiete  beständig  wachsenden  Arbeits- 
theilung  doch  die  Durchschnittsmasse  des  jedem  einzelnen  Indi- 
viduum einer  Culturnation  zugeführten  geistigen  Bildungsmaterials 
ebensowohl  im  beständigen  Wachsen  ist,  wie  die  auf  die  Erziehung 
eines  Individuums  durchschnittlich  verwendete  Arbeit. 

Die  Ph.  d.  Unb.  sagt  S.  340—341  hierüber  Folgendes:  „Wie 
jeder  Körpertheil  durch  den  Gebrauch  und  die  Uebung  gestärkt  und 
zu  neuen  ähnlichen  Leistungen  geschickter  gemacht  wird,  so 
auch  das  grosse  Gehirn ;  wie  bei  jedem  Kürpertheil  ist  aber 
auch  beim  grossen  Gehirn  die  von  den  Eltern  erworbene 
Kräftigung  und  materielle  Vervollkommnung  durch  Vererbung 
auf  das  Kind  übertragbar.  Diese  Vererbung  ist  nicht  in  jedem 
einzelnen  Falle  direkt  nachweisbar,  aber  als  Durchschnitt  von 
einer  Generation  auf  die  folgende  genommen  ist  sie  Thatsache 
und  ebenso  ist  es  Thatsache,  dass  es  eine  latente  Vererbung  giebt, 
welche  erst  in  der  zweiten  oder  dritten  Generation  ihre  Früchte 
oiföiibart  fz.  B.  wenn  Jemand  von  seinem  Grossvater  mütterlicher- 
seits starken  rothen  Bartwuchs  und  schöne  Bassstimme  geerbt 
hat).  Da  jede  Generation  ihren  bewussten  Intellect  weiter  aus- 
bildet, also  auch  dessen  materielles  Organ  weiter  vervollkommnet, 
so  Summiren  sich  im  Laufe  der  Generationen  diese  für  Eine  Gene- 
ration immerhin  unmerklich  kleinen  Zuwachse  zu  deutlich  sicht- 
bar werdenden  Grössen.  Es  ist  keine  blosse  Redensart,  dass  die 
Kinder  jetzt  klüger  geboren  werden  und  dass  sie,  minder  kindlich 
als  sonst,  schon  in  der  Kindheit  Neigung  zeigen,  vorzeitig  altklug  zu 
werden.  Wie  Junge  dressirter  Thiere  zu  der  gleichen  Dressur 
geeigneter  sind,  als  wild  eingefangene  Junge,  so  sind  auch  die 
Kinder  einer  menschlichen  Generation  um  so  geschickter  zur  Er- 
lernung bestimmter  Könnens-  und  Wissensgebiete,  je  weiter  jene 


118 

es  darin  bereits  gebracht  hatte.  Ich  bezweifle  z.  B.,  dass  ein 
Helenenkuabe  jemals  ein  tüchtiger  produktiver  Musiker  im  mo- 
dernen Sinne  geworden  wäre^  weil  sein  Gehirn  derjenigen  ererbten 
Prädispositionen  für  das  weite  Gebiet  der  musikalischen  Harmonie 
entbehrte,  welche  erst  die  moderne  westeuropäische  Menschheit 
sich  durch  eine  historische  Entwickelungsreihe  von  mehr  als  fünf- 
zehn Generationen  erworben  hat.  Ein  Archimedes  oder  Euklid 
möchte  trotz  seines  relativen  mathematischen  Genies  sich  recht 
unbeholfen  als  Schüler  eines  Unterrichts  in  der  höheren  Mathe- 
mathik  erwiesen  haben. 

„So  erzeugt  jeder  geistige  Fortschritt  eine  Steigerung  der 
Leistungsfähigkeit  des  materiellen  Organs  des  Intellekts,  und  diese 
wird  durch  Vererbung  (im  Durchschnitt)  dauernder  Besitz  der 
Menschheit,  —  eine  erklommene  Stufe,  welche  das  Weiteraufsteigen 
zur  nächsten  erleichtert,  d.  h.  die  Fortschritte  des  geistigen  Be- 
sitzes der  Menschheit  gehen  Hand  in  Hand  mit  der  anthropo- 
logischen Entwickelung  der  Race,  und  stehen  in  Wechselwirkung 
mit  derselben;  jeder  Fortschritt  der  einen  Seite  kommt  der  an- 
dern Seite  zu  Gute;  es  muss  also  auch  eine  anthropologische 
Veredelung  der  Race,  die  aus  anderen  Ursachen  als  aus  geisti- 
gen Fortschritten  entspringt,  die  intellektuelle  Entwickelung 
lördern.  Von  letzterer  Art  ist  z.  B.  die  Veredelung  der  Race 
durch  geschlechtliche  Auswahl  (Cap.  B.  II),  welche  unauf- 
hörlich ihre  unbeachteten  aber  mächtigen  Wirkungen  übt,  oder 
die  Concurrenz  der  Racen  und  Nationen  im  Kampf  um's  Dasein, 
welcher  unter  den  Menschen  sich  nach  ebenso  unerbittlichen  Natur- 
gesetzen vollzieht  wie  unter  Thieren  und  Pflanzen." 

Wir  sehen  also,  dass  die  Vererbung  ebensowohl  auf  intellek- 
tuellem wie  auf  charakterologischem  Gebiete  wirksam  ist,  und 
Äwar  auf  ersterem  noch  weit  wirksamer,  theils  desshalb,  weil, 
wie  schon  bemerkt,  die  charakterologischen  Diff'erenzirungen  sich 
leichter  durch  Kreuzung  wieder  ausgleichen,  die  intellektuellen 
aber  im  Kampf  der  Individuen  und  Völker  um's  Dasein  sich 
potenziren,  theils  deshalb,  weil  der  jeweilige  intellektuelle  Ge- 
sammtbesitz  der  Menschheit  im  Gedächtniss  der  Lebenden  und  in 
<ler  Literatur  eine  substantielle  Existenz  hat,  welche  an  die  nach- 
kommenden Generationen  durch  Unterricht  übertragbar  ist,  während 


119 

hingegen  in  charakterologischer  Beziehung  nur  ein  dürftiges 
Analogon  im  System  der  Ethik  vorhanden  ist,  und  hierbei  nicht 
die  Aufnahme  dieses  Vorhandenen  in's  Gedächtniss,  sondern 
nur  die  Eiuprägung  der  praktischen  Principien  in  den  Charakter 
(durch  Erziehung  oder  Selbstzucht),  welche  unendlich  viel  schwie- 
riger ist,  zur  Sprache  kommen  kann.  Soviel  wirksamer,  wie  der 
intellektuelle  Unterricht  als  die  charakterologische  Erziehung  ist, 
soviel  wirksamer  ist  die  Unterstützung  des  Menschheitsfortschritts, 
welche  der  intellektuellen  Entwickelung  als  die,  welche  der 
charakterologischen  Entwickelung  über  die  Leistungen  der  blossen 
Vererbung  hinaus  durch  Uebertragung  auf  Lebende  erwächst. 


VIII. 

Die  Abkürzung  der  Ideenassociation  und 
die  Vererbung  der  Denkformen. 

Wir  hatten  oben  (S.  115 — 116)  darauf  hingedeutet,  dass  die 
sogenannten  Talente  oder  geistigen  Anlagen  wesentlich  in  der 
Fertigkeit  der  Handhabung  und  Bearbeitung  gewisser  Vorstel- 
lungsmassen, oder  der  Bearbeitung  beliebiger  Vorstellungen  in 
einer  bestimmten  Richtung  bestehen  und  dass  diese  Fertigkeiten 
aus  ererbten  oder  durch  Uebung  erworbenen  Gehirnprädispositionen 
erklärt  werden  müssen.  Wenn  nun  bei  aller  geistigen  Arbeit, 
gleichviel  ob  sie  in  der  Auswahl  geeigneter  Mittel  zu  praktischen 
Zwecken,  oder  in  künstlerischer  Conception,  oder  in  wissenschaft- 
lichem Erfinden  und  Entdecken  besteht,  die  Pointe  des  Gelingens 
immer  darin  liegt,  dass  einem  „die  rechte  Vorstellung  im  rechten 
Moment  einfällt"  (Ph.  d.  U.  S.  255,  269  if.),  so  wird  das  eigent- 
lich Produktive  in  der  Geistesarbeit  ausschliesslich  in  der 
activen  Ideenassociation  (vgl.  oben  S.  56—57)  zu  suchen  sein, 
keineswegs  etwa  in  formal-logischen  Processen,  wie  dem  Schluss- 
verfahren, bei  dem  nichts  herauskommt,  als  was  man  vorher  hinein- 
gesteckt hatte  (Ph.  d.  U.  276—277).  Selbst  wo  es  sich  nur  um 
Herstellung  einer  gewissen  Ordnung  gegebener  Vorstellungsmassen 
handelt,  wird  doch  das  maassgebende  Princip,  nach  welchem  das 
Ordnen  vorgenommen  wird,  Sache  eines  glücklichen  Griffes,  also 
Resultat  einer  produktiven  Ideenassociation  sein.  Alle  formellen 
Forschungsmethoden  der  deductiven  und  inductiven  Logik  dienen 
doch  nur  dazu,  das  durch  kühne  und  glückliche  Ideenassociation 


121 

Concipirte  objektiv  sicherzustellen,  resp.  als  Irrthum  zu  erweisen ; 
der  physikalische  Experimentator  wie  der  produktive  Mathema- 
tiker leisten  beide  doch  eigentlich  nur  dann  Bedeutendes,  wenn 
sie  der  Hauptsache  nach  schon  vorher  wissen,  was  bei  ihrer 
Arbeit  herauskommen  muss;  andernfalls  bleiben  sie  ewig  fleissige 
Stümper.  Die  Ideenassociation  ist  die  allgemeingültige,  emg- 
unersetzliche  Urform,  in  welcher  jeder  Vorstellungsprocess  ver- 
läuft, und  alle  Regeln  der  Methodik  des  Denkens  sind  doch  nichts 
als  Abstractionen  von  gewissen  bequemer  systematisirbaren  Unter- 
arten dieser  Urform.  Diese  Urform  hat  in  der  Psychologie  der 
meisten  Philosophen  noch  keineswegs  ihre  verdiente  Beachtung 
gefunden. 

Einer  der  wichtigsten  Vorgänge  im  gesamraten  Gebiete   der 
Psychologie,  die  bisher  kaum  geahnt  ist,    ist    nun   die  Abkür- 
zung der  Ideenassociation,  deren  Pt e s u  1 1 a t  Lazarus  „Ver- 
dichtung des  Denkens^'  genannt   hat  (Ph.  d.  U.  262).     Wenn  ich 
zu  irgend  einem  mir  gesteckten  Ziel,  von  der  Vorstellung  A  aus- 
gehend,  die  Vorstelhmgen  B  und  C  passiren  muss,    um   zur  ge- 
suchten Vorstellung  D  zu  gelangen,  dann  braucht  sich  die  Lösung 
dieser  Aufgabe  mit    denselben  Mitteln    nur   einigemal    in    meiner 
Praxis  zu  wiederholen,  so  werden  die  ZAvischenglieder  B  und  0 
sich  von   selbst  elidiren.     Das   erste  Mal    muss    ich   den    centri- 
fugalen  Innervationsstrom    der  Aufmerksamkeit    bei  jedem   der 
Glieder    aussenden,    um    zum    nächsten   zu   gelangen,    bei  jeder 
"Wiederholung  des  Processes  sind  aber  die  Prädispositionen  besser 
eingegraben  und  sprechen  auf  den  Reiz  der  hervorrufenden  Vor- 
stellung leichter  an;  dadurch  vermindert  sich  sowohl  die  erforder- 
liche active  Energie  der  Aufmerksamkeit,   als  auch  die  zwi- 
schen A  und  D  verfliessende  Zeit.    Nach  öfteren  Wiederholungen 
bedarf  es  gar  keines    activen  Suchens   mehr    und  rückt  D  an  A 
der  Zeit  nach  so  nahe  heran,  dass  das  Bewusstsein  nicht  mehr 
die   nöthige  Zeit  erhält,    um  auf  B  und  C    als    solchen  zu 
verweilen;    ohnehin  besitzen   B  und  C   kein   Interesse,  wohl 
aber  D,    welches    eben    das    gesuchte  Ziel    ist.      Sind   in   dieser 
Weise  B  und  C  erst  einmal  unter    die  Bewusstseinsschwelle   ge- 
sunken,  so  sinken  sie  schnell  immer  weiter,    so   dass    man   nun 
sagen  kann,  D  sei  mit  A  unmittelbar  associirt.    Die  Ver- 


122 

biudung  von  A  mit  D  durch  B  und  C  hindurch,  war  viel- 
leicht eine  wohlbegründete,  logisch  vermittelte,  während  die  un- 
mittelbare Verbindung  von  A  mit  D  eben  wegen  der  fehlenden 
logischen  Verbindungsform  als  eine  logisch  unbegründete,  zufällige 
oder  willkürliche  erscheint,  so  lange  man  nicht  diese  genetischen 
Verbindungsglieder  restituirt.  —  Nun  kann  dieser  Process  der  Ab- 
kürzung aber  noch  weiter  gehen.  Man  denke  sich,  dass  eine 
neue  Reihe  activer  Ideenassociationen  die  Vorstellungen  A,  D,  G 
und  K  durchläuft  (wobei  die  Association  von  D  und  G  und  von 
G  und  K  selbst  schon  eine  abgekürzte  sein  kann)  und  dass  diese 
Reihe  auf  bestimmte  Veranlassung  hin  ebenfalls  häufiger  wieder- 
kehrt, so  wird  sich  durch  denselben  Elisionsprocess  zuletzt  A  mit 
K  unmittelbar  associiren.  Wenn  bei  dem  ersten  Abkürzungsver- 
fahren zwischen  A  und  D  die  logisch  vermittelnden  Zwischen- 
glieder noch  durch  leichtes  Besinnen  zu  restituiren  waren,  so 
kann  bei  einem  weiter  fortgeführten  Abkürzungsverfahren  diese 
Restitution  der  Zwischenglieder  zuletzt  sehr  schwierig,  ja  bei 
einer  vererbten  Tendenz  oder  Prädisposition  zu  solchen  ab- 
gekürzten Associationen  zuletzt  ganz  unmöglich  werden. 

Nun  beruht  aber  alle  Fertigkeit  und  Anlage  zur  Gedankenver- 
arbeitung in  einer  bestimmten  Richtung  aufsolchenerworbenen 
oder  ererbten  Prädispositionen  zu  abgekürzter  Ideen- 
association.  Wo  die  Fertigkeit  eine  durch  Uebung  indivi- 
duell erworbene  ist,  wird  man  sich  in  der  Regel  des  Unterschie- 
des mit  einer  früheren  Zeit,  wo  man  sie  noch  nicht  besass,  be- 
wusst  sein,  indem  man  sich  dessen  erinnert,  wie  man  früher  viele 
Schritte  der  Ideenassociation  zu  demselben  Ziele  brauchte,  wo 
man  jetzt  mit  einem  ausreicht.  Am  frappantesten  ist  aber  die 
Erscheinung  der  abgekürzten  Ideenassociation  oder  des  Ueber- 
springens  mehrerer  logischer  Zwischenglieder  in  solchen  Fällen, 
wo  man  sich  der  Zeit  vor  erlangter  Uebung  nicht  mehr  be- 
wusst  ist,  und  wo  dann  in  der  Regel  schon  ererbte  Dispo- 
sitionen zu  Grunde  lagen,  welche  der  Uebung  nur  das  Nach- 
m eissein  überliessen  und  dadurch  die  Periode  der  Unbeholfen- 
heit sehr  abkürzten.  In  solchen  Fällen,  wenn  man  nicht  ihren 
flüssigen  Uebergang  zu  denen,  wo  der  Abkürzungsprocess  zu  Tage 
liegt,  beachtet,  scheint  es  dann  in  der  That,  als  läge  eine  höhere 


123 

metaphysische  Eiugebung  vor.  Die  Ph.  d.  U.  bemerkt  ganz 
richtig,  dass  auch  in  dem  discursiven  Denken,  wo  alle  logischen 
Zwischeustationen  in  bewussten  Haltepunkten,  also  in  Hirn- 
schwingungen, vollständig  ausgeführt  worden,  doch  der  Ueber- 
gang  von  einer  Vorstellung  zur  andern  ein  unbewusster  Process 
ist,  und  somit  die  neue  Vorstellung  intuitiv  eintritt  —  dass  man 
aber  im  Unterschiede  von  diesem  in  kurzen  Schritten  sich  be- 
wegenden Denken  ein  intuitives  im  engeren  Sinne  erst 
dann  anerkennt,  wenn  eine  discursive  Vermittelung  durch  actuell 
vorhandene,  in  möglichste  Nähe  an  einander  gerückte  logische 
Zwischenglieder  nicht  mehr  ersichtlich  ist  (S.  282 — 283).  Man 
braucht  zu  diesem  Anerkenntniss  der  Gleichartigkeit  des 
Vorstellungsprocesses  in  beiden  Fällen  nur  noch  das  in  der  Ph. 
d.  U.  fehlende  Verständniss  über  die  allmählich  wachsende  Ab- 
kürzung des  Processes  der  Ideenassociation  hinzuzufügen,  um 
ein  Erklärungsprincip  für  das  sogenannte  intuitive  Denken  zu 
gewinnen,  welches,  wenn  es  auch  nicht  mit  einem  Schlage  alle 
Käthsel  der  Conceptionen  des  Genies  löst,  doch  einen  Fingerzeig 
giebt,  auf  welchem  Wege  von  dem  Verständniss  der  gewöhnlich 
vorkommenden  abgekürzten  Denkprocesse  zu  den  selteneren  pro- 
duktivsten Formen  derselben  aufzusteigen  sei.  Es  lag  dies  der 
Ph.  d.  U.  um  so  näher,  als  sie  selbst  wenigstens  andeutungsweise 
die  analoge  Erscheinung  der  abgekürzten  Vererbung  be- 
rührt (S.  570  Anm.),  nämlich  die  Thatsache,  dass  in  der  em- 
bryonalen Entwickelung  der  niederen  Thiere  je  zwei  Stufen 
mehr  Zwischenglieder  zeigen,  als  dieselben  Stufen  in  der 
embryonalen  Entwickelung  eines  zu  derselben  direkten  Descen- 
<lenzlinie  gehörigen  höheren  Thieres  zeigen,  dass  mit  anderen 
Worten  bei  höheren  Thieren  die  durch  lang  andauernde  Ver- 
erbung fester  und  fester  constituirte  Entwickelungsfähigkeit  des 
Ei's  eine  Elision  von  Uebergangsstufen  gestattet,  welche  bei 
der  Entwickelung  der  niederen  Thiere  noch  unerlässlich  sind. 

Wenn  wir  eine  fremde  Sprache  lernen,  so  lernen  wir  sie 
mit  Hülfe  von  Kegeln.  Aber  um  eine  Sprache  zu  können, 
muss  durch  den  Abkürzungsprocess  der  Ideenassociation  die  Regel 
bereits  wieder  elimiuirt  sein,  muss  der  concrete  Fall  unmittelbar 
diejenige  Vorstellung    hervorrufen,    welche   der  Anwendung   der 


124 

Regel  auf  diesen  Fall  entspricht.  Wer  eine  Sprache  auf  diese 
Weise  kann,  der  vergisst  mit  der  Zeit  die  früher  erlernten  Re-- 
gelu  vollständig,  weil  die  Gedächtnisseindrücke  derselben  nicht 
mehr  im  Bewusstsein  reproducirt  werden;  er  kann  alsdann  über 
den  logischen  Grund  seiner  abgekürzten  Ideen- Association  nicht 
mehr  Auskunft  geben,  wenn  dieselbe  ungerechtfertigter  Weise 
einmal  angefochten  wird,  —  er  besitzt  wohl  diese  logische  Be- 
gründung implicite  oder  immanenter  Weise  in  seinem  concreten 
Vorstellen,  aber  weil  sie  ihm  eben  unbewusst  geworden  ist^ 
80  kann  er  sich  nur  noch  auf  sein  Sprach -Gefühl  berufen, 
Kinder  lernen  ihre  Muttersprache  allerdings  .  ohne  Regeln ,  aber 
sie  machen  auch  dafür  den  genetischen  EntwickelungsprocesSy 
den  ihre  Sprache  in  Jahrtausenden  zurückgelegt  hat,  in  ab- 
gekürzter Weise  in  einigen  Monaten  durch,  d.  h.  sie  fangen  mit 
der  Wurzelsprache  an,  gehen  dann  zur  agglutinirenden 
Wortsprache  über  und  gelangen  erst  ganz  allmählig  zum  Verstand- 
niss  der  Flexionen  und  Syntax.  Bei  alledem  aber  wären  sie  doch 
ausser  Stande,  die  Sprache  auf  diese  Weise  und  noch  dazu  im 
Laufe  weniger  Jahre,  ja  fast  nur  Monate,  vollständig  zu  erlerneUj 
wenn  sie  nicht  die  molecularen  Hirnprädispositionen  zu  den 
typischen  Formen  des  Sprachbaues  und  zu  den  typischen  Ver- 
knüpfungsweisen der  Vorstellungen  in  unseren  flectirenden  Sprachen 
schon  als  ererbten  Besitz  mitbrächten.  Dass  die  Kinder 
von  Wilden,  deren  Sprachsystem  auf  niedrigerer  Stufe  der  for- 
malen Entwickelung  steht,  unsere  modernen  europäischen  Sprachen 
(mit  Ausnahme  des  Englischen,  das  kaum  noch  Flexionssprache 
zu  nennen  ist)  schwerer  lernen  als  ihre  Muttersprache  und  schwe- 
rer als  unsere  Kinder,  ist  durch  mehrfache  Beispiele  wahrschein- 
lich gemacht;  wir  glauben,  dasselbe  auch  von  chinesischen  Kin- 
dern voraussetzen  zu  dürfen. 

Alle  Sprache  beruht  auf  dem  Begriff  des  Zeichens;  in  ihm 
kommt  Geberdensprache,  Lautsprache  und  Schriftsprache  zu- 
sammen. Das  Zeichen  ist  eine  besondere  Art  der  Association 
einer  Vorstellung  mit  einer  andern,  so  dass  die  erstere  keinen 
andern  Zweck  und  keine  andere  Aufgabe  hat,  als  die  zweite 
hervorzurufen.  Eine  solche  Verknüpfung  ist  selbst  schon  etwas 
so  Eigenthümliches,    dass  sie  als    typische  Form  der  Association 


125 

betrachtet  werden  miiss.  Dass  die  Prädisposition  zu  derselben 
angeboren,  d.  b.  ererbt  ist,  erbellt  wieder  am  besten  aus  der 
Beobacbtung  an  Blindtaubstummeu.  Man  muss  sieb  nur  einmal 
recht  deutlich  in  die  Lage  eines  solchen  unglücklichen  Geschöpfes 
versetzen,  um  die  Schwierigkeit,  sie  zur  Zeichensprache  zu  führen, 
nach  ihrem  ganzen  Umfang  zu  ermessen.  Man  gebe  ihnen  z.  B. 
in  die  eine  Hand  ein  Ei  und  führe  die  Finger  der  andern  Hand 
über  ein  Zeichen,  etwa  über  die  eingravirten  Schriftzeichen;  so 
oft  man  diese  Procedur  auch  wiederholen  mag,  ^vird  man  doch 
nie  dadurch  den  Begriff  des  Zeichens  und  des  Bezeichneten  in 
dem  Intellekt  des  Schülers  hervorrufen,  wenn  die  Prädisposition 
des  Gehirns  für  diese  Verknüpiung  (wie  etwa  bei  einem  geistig 
tiefstehenden  Thiere)  fehlt. 

Wie  bei  der  Erlernung  einer  fremden  Sprache  die  gramma- 
tische Regel  aus  der  Ideenassociation  elidirt  werden  muss,  so 
beim  Erlernen  der  Mathematik  die  mathematische  Regel. 
Welche  Qual  verursacht  den  Kindern  nicht  schon  das  Rechnen 
mit  Brüchen,  und  welche  Menge  von  Regeln  erlernen  sie  zu  diesem 
Zweck,  die  alle  bestimmt  sind,  vergessen  zu  werden,  wenn  diese 
Hantirungeu  zur  Fertigkeit  geworden  sind!  Und  so  geht  es 
weiter  durch  alle  Stufen  der  Mathematik.  Niemand  kann  erfolg- 
reich eine  höhere  Stufe  beschreiten,  er  habe  denn  zuvor  die  Ver- 
fahrungsweisen  der  vorhergehenden  Stufen  in's  Gefühl  aufge- 
nommen, d.  h.  die  abstracten  Regeln  aus  der  Association  des 
gegebenen  besonderen  Falles  mit  der  regelrecht  entsprechenden 
Operation  elidirt.  In  der  Mathematik  enthält  aber  selbst  schon 
die  A  u  f s  t  e  1 1  u  n  g  der  Regel  eine  Abkürzung  der  Ideenassociation, 
nämlich  die  Elision  der  logischen  Begründung  der  Regel 
in  ihrer  Allgemein giltigkeit,  welche  wohl  beim  tyrannischen 
Usus  der  Sprache,  niemals  aber  beim  mathematischen  Denken 
fehlen  darf,  und  welche  dennoch  —  allerdings  nicht  ohne  das 
Bewusstsein,  sie  jederzeit  reproduciren  zu  können  —  zu  den 
Acten  des  Unbewussten  gelegt  wird,  indem  die  Regel  dem  Ge- 
dächtniss  eingeprägt  wird.  Die  mathematischen  Begriff'e  selbst 
(z.  B.  schon  die  im  dekadischen  Zahlensystem  geschriebene  Zahl, 
die  negative  Grösse,  das  Produkt,  der  Bruch,  die  Potenz,  die  Wurzel, 
der  Logarithmus,  die  imaginäre  Grösse,  das  unendlich  Grosse  und 


126 

Kleine,  die  Kreisfunetionen ,  das  Differential  und  Integral,  die 
elliptischen  undAberschen  Functionen,  die  stets  wiederkehrenden 
Constanten,  wie  g,  tt,  e  u.  s.  w.)  sind  sämmtlich  doch  nur  Zeichen 
ftir  das  Resultat  eines  genetischen  Gedankenprocesses ,  den  es 
keinem  Mathematiker  einfällt  beim  Arbeiten  sich  beständig  zu 
wiederholen,  obwohl  das  Zeichen  ohne  Wiederholung  dieses  Pro- 
cesses  leer  ist.  Nun  sind  aber  für  jeden  dieser  Begriffe  ge- 
wisse Formen  der  Association  mit  anderen  mathematischen 
Begriffszeichen,  welche  die  Beziehung  der  ersteren  zu  den  letz- 
teren und  die  durch  solche  Beziehung  zu  bestimmten  Zwecken 
geforderten  praktischen  Verfahrungsweisen  in  sich  enthalten, 
ein-  für  allemal  aus  dem  Entstehungsprocess  der  Begriffe  logisch 
abgeleitet  und  dem  Gedächtniss  als  abgekürzte  Associationen  ein- 
geprägt. Diese  im  Gedächtniss  mit  dem  begleitenden  Bewusstsein 
logischer  Begründung  niedergelegten  nothwendigen  Beziehungen 
zu  anderen  Begriffszeichen  sind  nun  der  eigentliche  und 
bleibende  Inhalt  jedes  mathematischen  Begriffs- 
zeichens, jedoch  noch  mit  der  einschränkenden  Bestimmung, 
dass  in  jedem  concreten  Falle  nur  soviel  davon  zum  Bewusst- 
sein kommt,  als  durch  die  jeweiligen  Verbindungen  mit  anderen 
Begriffszeichen  praktisch  erfordert  wird.  Bedenkt  man,  dass 
der  Entstehungsprocess  eines  höheren  mathematischen  Begriffs- 
zeichens zunächst  auf  niedere,  und  die  Genesis  dieser  wieder  auf 
niedere  führt  u.  s.  f.,  ehe  man  bei  der  anschaulichen  Grösse 
als  unteren  Grenze  ankommt,  so  mag  man  ermessen,  welche 
Masse  von  verdichtetem  oder  comprimirtem  Denken  in 
einem  einzigen  höheren  mathematischen  Begriffs- 
zeichen steckt  und  welches  Maass  von  Abkürzung  der  Ideen- 
association  die  höheren  Operationen  der  Mathematik  voraussetzen 
(Ph.  d.  Unb.  S.  262).  Es  kann  hiernach  auch  nicht  Wunder 
nehmen,  wenn  diese  höheren  mathematischen  Operationen  nur  in 
verhältnissmässig  wenigen  Gehirnen  eine  Prädisposition  vorfinden, 
welche  sie  ohne  allzu  grosse  Anstrengungen  des  Denkens  ermög- 
licht; Thatsache  ist,  dass  bei  der  gewöhnlichen  Weise  des  Unter- 
richts nur  etwa  V3  von  der  männlichen  Jugend  der  gebildeten 
Gesellschaftsschichten  die  oberen  Gebiete  der  niederen  Analysis 
mit    ihrem    Verständniss    durchdringt,    während  es  von    diesem 


127 

wieder  höchstens  10  Procent  gelingt,  in  der  höheren  Mathematik 
heimisch  zu  werden.  Je  entschiedener  die  reinen  Spiritualisten 
die  Vernunft  als  die  göttliche  Prärogative  der  Menschheit  be- 
haupten, um  so  williger  müssen  sie  zugeben,  dass  die  Anwendung 
dieser  Vernunft  auf  die  Gegenstände  der  höheren  Mathematik 
nur  an  einer  mangelnden  Gehirnprädisposition  scheitern  kann, 
dass  also  auch  der  Vorzug  einer  specifisch-mathematischen  Be- 
fähigung nur  in  dem  angeborenen  Besitz  solcher  prädispositioneller 
Gehirnanlagen  begründet  sein  könne  und  nicht  etwa  in  individuell 
bevorzugenden  Inspirationen  eines  metaphysischen  Unbewussten 
zu  suchen  sei.  Dass  übrigens  diese  angeborene  Anlage  zur 
Mathematik  als  durch  Vererbung  entstanden  zu  denken  sei,  spricht 
die  Ph.  d.  Unb.  S.  341  deutlich  genug  aus  (vgl.  oben  S.  117 
bis  118),  sowie  sie  S.  613  auf  die  Erblichkeit  des  mathematischen 
Talents  in  gewissen  Familien  hinweist.  Energie  des  denkenden 
Studiums  und  Uebung  kann  auch  hier  den  Mangel  ererbter  An- 
lage zum  Theil  ersetzen  und  die  Vererbung  der  so  erworbenen 
Prädispositionen  ist  es,  welche  die  Anlage  der  Nachkommen  con- 
stituirt,  welche  alsdann  in  diesen  abermals  gesteigert  werden 
kann. 

Was  wir  bei  den  mathematischen  Begriffen  in  so  hohem 
Grade  nachgewiesen  haben,  gilt  in  geringerem  Grade  von  allen 
abstracten  Begriffen,  und  in  um  so  beträchtlicherem  Maasse,  je 
abstracter  dieselben  sind.  Wenn  wir  oben  (S.  123)  den 
Unterschied  zwischen  discursivem  und  intuitivem  Denken  als 
einen  relativen  erkannten,  so  gilt  dasselbe  von  den  Resultaten 
dieses  Denkens,  der  discursiven  und  intuitiven  Vorstellung,  oder 
dem  Begriff  und  der  Anschauung.  Was  an  dem  abstractesten 
Begriff  positiv  ist,  ist  Anschauung  („Ding  an  sich"  S.  105)  und 
andrerseits  sind  die  Anschauungen,  von  denen  die  Abstraction 
der  Begriffe  ausgeht,  selbst  schon  Resultate  einer  ererbten  und 
erworbenen  abgekürzten  Ideenassociation ,  in  denen  die  logische 
Arbeit  der  elidirten  Zwischenglieder  und  Vorstufen  unbewusst 
geworden  ist.  „Die  Anschauung  im  engeren  Sinne  ist  nur  ein 
Begriff  von  niedrigerer  Abstractions-  (und  Corabinations-)  Stufe; 
der  Begriff  ist  nur  eine  Anschauung  von  höherer  Abstractions- 
(und  Combinations-)  Stufe"  („Ding  an  sich"  S.  107).     Der  Begriff 


128 

hat  seinen  ihn  von  der  Anschauung  unterscheidenden  Charakter 
in  dem  begleitenden  Bewusst sein  der  Negativität  in  Bezug 
auf  dasjenige,  wovon  abstrahirt  ist;  je  wichtiger  aber  in 
einem  Begriffe  das  combinirende  oder  synth  etische  Ele- 
ment im  Verhältniss  zum  negirenden  oder  abstrahirenden  ist  und 
je  mehr  sein  Gedächtnisseindruck  zur  typischen  Form  des 
Vorstellens  wird,  die  sich  durch  Vererbung  befestigt,  desto  mehr 
schwindet  für  das  Bewusstsein  sein  Unterschied  von  der  An- 
schauung; sobald  die  Abkürzung  der  Ideenassociation  so  weit 
gediehen  ist,  dass  die  Vorstufen  der  Genesis  des  Begriffs  unbe- 
wusst  geworden  sind,  ist  der  Begriff  für  das  Bewusstsein  zur 
Anschaung  selbst  geworden,  gleichviel  wie  lang  und  be- 
schwerlich der  Weg  seiner  Genesis  vor  vollendeter  Abkürzung  der 
Ideenassociation  war.  Für  den  echten  Mathematiker  sind  Diffe- 
rential und  Integral  ganz  ebenso  entschiedene  Anschauungen,  w^ie 
etwa  für  den  niederen  mathemathischen  Verstand  das  „Produkt" 
zur  Anschauung  geworden  ist,  nachdem  die  Genesis  des  Begriffs 
aus  der  Summe  von  n  gleichen  Summanden  unbewusst  geworden 
ist.  Was  Schopenhauer  für  die  Geometrie  richtig  herausgefunden 
hat,  gilt  ganz  ebenso  auch  für  die  Algebra,  wenngleich  die  Prä- 
dispositionen für  das  eine  Gebiet  vorhanden  sein  können,  ohne 
die  für  das  andere,  und  umgekehrt;  auf  alle  Fälle  aber  darf  man 
sich  nicht  auf  die  angeborenen  Prädispositiouen  blind  verlassen, 
ohne  dieselben  im  discursiveu  Durchdenken  der  Sache  zu  con- 
troliren  und  nachzumeisseln  (Ph.  d.  ünb.  279 — 282). 

Wenn  wir  uns  ein  wenig  besinnen,  was  wir  bei  dem  gedank- 
lichen Operiren  mit  einem  Begriff  oder  einer  abstracten  all- 
gemeinen Vorstellung  (z.  B.  Hund,  Haus,  Liebe)  eigentlich  im  Be- 
wusstsein haben,  so  ist  das  etwas  höchst  Wunderliches.  Zunächst 
haftet  der  Inhalt  an  der  Vorstellung  des  Wortes  als  Begriffs- 
zeicheus;  Taubstumme  und  Thiere  bilden  zwar  auch  Begriffe 
ohne  Worte,  aber  sie  gewinnen  niemals  die  Leichtigkeit  der  Hand- 
habung derselben  wie  der  sprechende  Mensch  und  bleiben  in 
Folge  dessen  auch  auf  ziemlich  niedrigen  Stufen  des  Abstractions- 
processes  stehen ,  ohne  die  höheren  zu  erreichen.  Au  die  Wort- 
vorstellung knüpft  sich  nun  beim  Operiren  mit  dem  Begriff  noch 
ein  gewisser  schattenhafter,  nebuloser,  flüchtig  vorüberhuschender 


129 

Vorstellungsinhalt,  der  schwer  festzuhalten  und  zu  definiren  ist. 
Beim  Sprechenhören  oder  zusammenhängenden  Lesen,  Ja  selbst 
beim  schnellen  Selbstdenken  wird  das  Wort  im  Bewusstsein  so 
schnell  von  den  nachfolgenden  Worten  verdrängt,  dass  dieser 
Inhalt  neben  dem  Wort  als  solchen  gar  keine  Zeit  hat,  zur  Gel- 
tung zu  kommen,  es  sei  denn,  dass  das  Wort  eine  dominirende 
Bedeutung  im  Satze  in  der  Weise  einnimmt,  dass  die  ihm  zu- 
kommende Vorstellung  als  Orgel}3unkt  die  folgenden  Vorstelluugea 
begleitet  und  in  der  Gesammtanschauung  von  dem  Inhalt  des 
Satzes  den  Kern  des  Vorstelluugsbildes  abgiebt.  Insoweit  dies 
nicht  der  Fall  ist,  wird  gerade  wie  bei  einem  mathematischen 
Begriffszeichen  von  allen  Hirnprädispositionen,  welche  mit  diesem 
Zeichen  asöociirt  sind,  nur  derjenige  Thcil  actualisirt  werden^ 
welcher  durch  die  anderen  Worte,  mit  denen  das  fragliche  im 
Satze  in  Beziehung  gesetzt  ist,  wachgerufen  werden.  Dieser  wach- 
gerufene Theil  fügt  dann  dem  Kern  des  Vorstellungsbildes  im 
Satze  eine  neue  Bestimmtheit  hinzu.  Es  verliert  durch  diese 
Beschränkung  des  ins  Bewusstsein  tretenden  Inhalts  Jeder  Begriff 
durch  Verbindung  mit  anderen  an  Abstractheit,  und 
nur  diesem  Umstand  ist  es  zuzuschreiben ,  dass  die  Sprache  als 
Mittel  einer  Kunst,  der  Poesie,  verwendbar  ist,  welche  doch  nur 
in  concreter  Anschaulichkeit  ihre  Aufgabe  erfüllen  kann.  Die 
Beziehungen  der  W^orte  untereinander  in  einer  wissenschaftlichen 
Untersuchung,  z.  ß.  einem  Paragraphen  der  Hegel'schen  Logik^ 
sind  natürlich  ganz  andere  als  in  einer  poetischen  Schilderung^ 
und  demgemäss  wird  bei  denselben  Worten,  selbst  wenn  sie  mit 
denselben  oder  ähnlichen  verbunden  sind,  doch  ein  ganz  anderer 
Theil  des  mit  ihnen  associirten  Vorstellungsinhalts  ins  Bewusstsein 
gerufen  werden.  Wer  nur  in  der  einen  Art  von  Beziehungen 
zu  operiren  geübt  und  gewohnt  ist,  für  den  bleibt  der  wahre 
Sinn  der  andern  Art  leicht  ganz  unverständlich,  obwohl  er  die 
Worte  und  Satzconstructionen  ganz  gut   zu  kennen  glaubt. 

Sehen  wir  nun  von  der  Verbindung  eines  Worts  mit  anderen 
im  Satze  ab  und  fragen  nach  der  Vorstellung,  die  man  mit  dem 
Worte  verknüpit,  wenn  man  es  allein  für  sich  hinstellt,  so  ist  es- 
klar,  dass  dieselbe  ganz  abhängig  sein  wird  von  den  Beziehungen^ 

unter  welchen  man  dem  Worte   am    häutigsten    zu   begegnen   ge- 

9 


^130 

wohnt  ist.  Von  entscheidendem  Einfluss  bleiben  dabei  die  Ge- 
dankenproeessc,  durch  welche  der  Begriff  in  der  Kindheit  zuerst 
gebildet  wurde,  und  die  concrcten  Gegenstände,  von  denen  er 
zufällig  zuerst  abstrahirt  wurde.  Das  kleine  Mädchen,  das  zuerst 
<ien  Wachtelhund  ihrer  Grossniutter  „Hund"  nennt,  wird  ihr  Leben 
lang  eine  andere  Vorstellung  mit  dem  AVorte  „Hund"  verbinden, 
als  der  Knabe,  dessen  Kindheit  von  einem  Neufundländer  behütet 
ist;  das  Dortkind  wird  das  Abstractum  „Haus"  stets  anders 
Te])roduciren;  als  der  dem  städtischen  Palast  Entsprossene.  Will 
man  ein  Abstractum  deutlich  und  vollständig  vorstellen, 
«0  bleibt  nichts  übrig,  als  den  vollständigen  genetischen  Ab- 
stractionsjn'ocess  desselben  zu  reproduciren ;  da  man  dies  aber  fast 
niemals,  ausser  in  entscheidenden  Begriffsuntersnchungen,  thut, 
so  folgt  daraus  eben,  dass  man  sich  in  allen  anderen  Fällen  mit 
einer  abgekürzten  Ideenassociation  zwischen  dem  sprachlichen 
Begriffszeichen  einerseits  und  derjenigen  beschränkten  Seite  von 
dem  Resultat  des  genetischen  Abstractionsprocesses  begnügt, 
welche  für  die  Beziehungen  des  Worts  in  dem  vorliegenden  Fall 
von  Bedeutung  ist.  Je  niedriger  die  Abstractionsstufe  des  Be- 
griffs, um  so  kleiner  ist  die  bei  diesem  Abkürzungsprocess  elidirte 
Vorstellungsmasse ;  je  höher  die  Abstractionsstufe,  um  so 
grösser  ist  der  Ausfall  an  Gliedel'u,  um  so  höher  der  Grad  der 
Abkürzung,  um  so  schwerer  zu  erfüllen  auch  die  Voraussetzung 
aller  Verständigung  durch  die  Sprache,  dass  verschiedene  Personen 
mit  denselben  Wortverbindungen  denselben  Sinn  verbinden ,  da 
sich  nicht  nur  der  genetische  Abstractionsprocess ,  sondern  auch 
der  Abkürzungsprocess  bei  jedem  Individuum  etwas  anders  ge- 
staltet. 

Wo  der  Spielraum  individueller  Abweichung  so  beträchtlich 
ist,  kann  die  Aussicht  auf  Vererbung  von  vornherein  nicht  gross 
sein  und  so  sehen  wir  denn  auch  nicht,  dass  die  Auffassungen 
sehr  abstracter  Begriffe  von  Seiten  der  Eltern  anders  als  durch 
die  Erziehung  einen  Einfluss  auf  die  des  Kindes  haben.  Eine 
Tölligc  Ausnahmestellung  nehmen  aber  diejenigen  abstracten  Be- 
griffe ein,  welche  typische  Formen  der  Vorstellungsweisen 
bezeichnen;  so  gross  auch  die  individuellen  Verschiedenheiten  in 
der  bewussten  Auffassung  des  Inhalts  dieser  Begriffe  sind, 


131 

so  identisch  bei  allen  Menschen  gleicher  Spracbstul'e  erweisen 
sich  die  ererbten  Prädis Positionen  zur  formell  so  und  so  be- 
stimmten Yorstellungsweise  und  Verknüpfungs\veise  der  Vorstel- 
lungen. Zum  Theil  sind  diese  typischen  Denktormen  das  durch 
die  Gewalt  der  Tbatsachen  octroyirte  subjective  Nachbild  von 
den  Formen  des  Daseins  und  Geschehens  („Ding  an  sich"  S.8G  -  89), 
zum  Theil  sind  es  formale  Beziehungen,  in  welche  das  Denken 
die  gegebenen  Objecte  theils  untereinander,  theils  zu  sich  selbst 
und  seinem  Erkennen  setzen  musste,  um  sich  in  denselben  soweit 
Orientiren  zu  können,  dass  das  praktische  Handeln  möghch  wurde. 
Von  der  ersten  Art  sind  die  Kategorien  der  Substantialität  und 
Inhärenz,  der  Causalität  und  Nothwendigkeit,  der  Einheit  und 
Vielheit  (Zahl),  der  Gleichheit  und  Ungleichheit;  letztere  stehen 
schon  auf  dem  Uebergange  zu  den  Beziehungsbegritfcn  der  All- 
heit, der  Negation  und  Limitation,  der  Möglichkeit,  rnmöglich- 
keit  und  Zufälligkeit  („Ding  an  sich^'  ^S.  >>V).  Hiermit  sind  die 
typischen  Denkformen  oder  Kategorien  keineswegs  erschöpft;  jeder 
Versuch  einer  vollständigen  Auszählung  derselben  ist  von  vorn- 
herein als  verfehlt  anzusehen  deshalb,  weil  diese  allgemeinsten 
Denkformen  stetig  und  flüssig  in  formale  Prädispositionen  der 
Vorstellungsweise  und  Yerknüpfungsweise  der  Vorstellungen  von 
minderer  Allgemeinheit  übergehen  und  sich  ein  specifischer  Unter- 
schied zwischen  ihnen  und  z.  B.  den  Prädispositionen  für  mathe- 
matisches Denken  oder  musikalische  Composition  gar  nicht  au- 
geben lässt.  Zum  Theil,  aber  doch  auch  nur  zum  kleineren  Theil, 
fallen  die  Kategorien  der  Logik  mit  den  Elementen  der  Gram- 
matik, die  allgemeinsten  typischen  Denkformen  mit  den  allge- 
meinsten typischen  Sprach  formen  zusammen,  oder  haben  wenig- 
stens in  diesen  ihr  äusseres  Analogon,  wie  das  Denken  überhaupt 
an  der  Sprache  ein  seinen  Leibesformen  accurat  angepasstes  Ge- 
wand besitzt.  Der  typischen  Spracbformen  sind  aber  andererseits 
wieder  mehr  als  der  bisher  statuirten  typischen  Denkformen  (vgl. 
Ph.  d.  Unb.  S.  262 — 263),  so  dass  also  auch  nach  dieser  Seite 
die  Prädispositionen  von  formaler  typischer  Bedeutung  einen  all- 
mählichen Uebergang  zu  concreteren  Dispositionen  bilden.  Gleich- 
wohl ist  die  Verwandtschaft  der  typischen  Sprachformen  mit  den 
typischen  Denkformen   ebenso   geeignet,   wie  die  Verwandtschaft 


132 

der  speciellen  formalen  Denkanlagen  auf  einseitigen  Gebieten  mit 
den  allgemeinen  Kategorien,  um  dafür  zu  sprechen,  dass  auch 
die  letzteren  in  molecularen  Hirnprä  dispositionen 
ihren  Grund  haben,  welche  von  den  Vorfahren  ererbt  und 
von  diesen  durch  allmählichen  durch  viele  Jahrtausende  ver- 
theilten  Zuwachs  Hand  in  Hand  mit  der  Entwickelung  der  Sprache 
und  dessen,  was  wir  jetzt  unter  menschlicher  Intelligenz  verstehen^ 
erworben  worden  sind  (Ph.  d.  Unb. S.  614).  Das  Princip  dieser 
Fortbildung  kann  nichts  anderes  gewesen  sein,  als  das  BedtirfnisSy 
die  Welt  der  umgebenden  Objecte  mit  dem  Verständniss  zu  durch- 
dringen und  den  in  ihr  sich  darbietenden  Verhältnissen  ebenso- 
wchl  wie  den  Beziehungen  zwischen  ihr  und  den  eigenen  prak- 
tischen Lebensinteressen  bestens  Rechnung  zu  tragen. 

Von  den  vielen  möglichen  Arten  der  Vorstellungsver- 
knüpfung wurde  auf  jeder  Stufe  der  Entwickelung  diejenigen  beibe- 
halten, welche  sich  für  die  praktischen  Cousequenzen  des  Denkens  als 
nützlich  bewährten ;  diese  wurden  wiederholt  und  prägten 
sich  dadurch  ein,  während  etwaige  andere  versuchte  Verknüpfungs- 
formen wegen  ihrer  minder  guten  Anpassung  an  die  Zwecke  des 
Lebens  keine  oder  schwächere  Aufforderungen  zur  Wiederholung  in 
sich  enthielten  und  sich  deshalb  verloren.  Die  in  diesem  ideelen 
Kampf  um's  Dasein  siegreichen  Vorsteiiungsformen  konnten  aber 
eben  nur  d  a  d  u  r  c  h  die  praktisch  sich  als  n  ti  t  z  1  i  c  h  bewährenden 
sein,  weil  sie  den  tliatsächlichen  Verhältnissen  der  Aussenwelt 
besser  entsprachen,  weil  sie  ein  adäquateres  subjek- 
tives Abbild  derselben  gaben  als  andere;  denn  nur  unter 
dieser  Voraussetzung  waren  sie  im  Stande,  die  richtigeren 
Consequenzen  tür  praktische  Handlungen  zu  ergeben, 
welche  auf  ihnen  fussten.  In  diesem  Sinne  besitzen  ja  sogar 
schon  die  Thiere  die  Kategorien,  sie  beurtheilen  die  kommenden 
Ereignisse  nach  dem  Princip  der  Causalität  und  richtigen  ihre 
Handlungen  darnach  ein;  sie  besitzen  die  Kategorie  der  Zahl 
(wenn  auch  nur  in  ihren  niederen  Stulenj  und  unterscheiden  auf 
das  allerschärfste  nach  der  Kategorie  der  Gleichheit  und  Ungleich- 
heit; sie  denken  nach  dem  Satz  der  Identität  und  des  Wider- 
spruchs, weil  eine  andere  Form  der  Vorstellungsverkuüptüng 
falsche  Voraussetzungen  in   ihnen  hervorrufen   würde,    die  ihren 


133 

Interessen  schädlich  werden  mtissten.  So  ist  z.  B.  die  Krähe 
überzeugt,  dass  die  Zahl  7  der  in  die  Schiesshütte  gegangenen 
Jäger  sich  selbst  identisch  bleibt  und  noch  nach  einer  Stunde  sich 
identisch  ist;  dächte  sie  anders  und  käme,  wenn  erst  6  davon 
die  Hütte  verlassen  haben ,  an  den  Lockvogel  heran ,  so  würde 
sie  den  Schaden  davon  haben.  —  Die  so  von  den  thierischen  Vor- 
fahren ererbten  Denkformen  und  Denkgesetze  brauchte  der  Mensch 
nur  strenger  und  sicherer  auszuprägen,  feiner  durchzubilden  und 
mit  neuen  zu  bereichern ;  aber  trotz  der  Sprache ,  welche  die 
Reflexion  auf  dieselben  und  das  BewusstAverden  derselben  als 
solcher  ermöglicht ,  dauert  es  doch  noch  sehr  lange ,  ehe  der 
Mensch  auf  inductivem  Wege  sich  den  Besitz  dieser  typischen 
Denkformen  und  Denkgesetze,  deren  er  sich  beständig  bedient, 
zum  Bewusstsein  bringt;  zeigt  doch  ein  Homer,  Pindar  und 
Aeschylos  noch  keine  Ahnung  davon  und  war  es  nach  dem  Vor- 
gang platonischer  Andeutungen  dem  Aristoteles  vorbehalten,  den 
Grundstein  zu  dem  menschlichen  Bewusstsein  über  die  synthe- 
tischen Formen  seiner  Deukoperationen  zu  legen.  Und  während 
die  praktische  Anwendung  dieser  dem  Gehirn  durch  Ver- 
erbung imprägnirten  Prädispositionen  zu  gewissen  Formen  der 
VorstellungsverknüpiÜDg  bei  allen  Menschen  seit  Jahrtausen- 
den dieselbe  ist,  streiten  sich  noch  heute,  Jahrtausende  nach 
Aristoteles,  die  Philosophen  über  die  Natur  und  das  Wesen  dieser 
synthetischen  Formen,  d,  h.  ist  noch  heute  die  bewusste  Er- 
kenn tniss  dieses  uubewussten  Eigenthums  nicht  zum  Abschluss 
gelangt  und  ein  Tummelplatz  der  widersprechendsten 
Ansichten.  Hieraus  geht  aber  auch  rückwärts  hervor,  dass 
die  Anwendung  der  angeborenen  Formen  von  der  An- 
sicht des  Bewusstseins  über  dieselben  gänzlich  unabhängig 
ist,  ebenso  unabhängig  beim  Civilisirten  wie  beim  Wilden,  beim 
Menschen  wie  beim  Thier.  Diese  Thatsache  sollte  doch  die- 
jenigen Theologen  und  starren  Spiritualisten  etwas  stutzig  machen, 
welche  wähnen,  dass  die  Kategorien  und  Denkgesetze,  welche 
den  Kanon  des  Logischen  bilden,  eine  Gabe  seien,  welche  einen 
specifischen  Unterschied  des  Menschen  vom  Thiere 
begründeten,  oder  dass  der  göttliche  Funke  der  Vernunft  es  sei, 
der  den  Menschen  in  eine  völlig  heterogene  Geistessphäre  erhebe, 


134 

als  das  „veriuinftlosc"  Thier.  Nicht  in  der  Sphäre  des  Bewusst- 
sein  liegt  die  Vernunft,  sondern  in  der  der  unbewussten,  ange- 
borenen, lornialcn  Prüdisposition ;  unbewusste  Vernunft  hat 
aber  das  Tliior  gerade  so  gut  wie  der  Mensch,  nur  auf  einer 
graduell  verschiedenen  Stufe  der  Entwickelung  je  nach  der  Stufe 
der  Intelligenz  des  Tliieres,  das  man  aus  der  Reihe  heraus- 
greift. 

Es  ist  allerdings  die  stärkste  Zumuthung,  die  man  dem  Philo- 
sophen stellen  kann,  dass  er  die  typischen  Denkformen  und  Denk- 
gesetze auf  psychologischem  Gebiet  als  Resultate  eines  allmäh- 
lichen Anpassungsprocesses  zwischen  den  Gehirneindrticken  der 
Vorstellungsvcrknüpfungen  der  Thiere  und  den  gegebenen  Ver- 
hältnissen der  Aussenwelt  betrachten  solle,  und  dennoch  dürfte 
bei  näherer  Betrachtung  selbst  für  den  Metaphysiker  das  Paradoxe 
dieser  Behauptung  verschwinden.  Zunächst  ist  zu  beachten,  dass 
die  Genesis  der  logischen  Prädispositionen  auf  psycho- 
logischem Gebiet  nicht  das  Mindeste  aussagt  oder  gar  ent- 
scheidet über  das  onto logische  Wesen  der  logischen  Formen 
und  Gesetze  auf  metaphysischem  Gebiet,  also  auch  ihrer 
metaphysischen  Bedeutung  keinen  Eintrag  thun  kann.  Jede 
Philosophie,  die  die  Beschränktheit  des  subjectiven  Idealismus 
überwunden  und  die  Bedeutung  der  logischen  Formen  und  Ge- 
setze für  die  Welt  der  Dinge  an  sich  für  das  reale  Dasein  und 
Geschehen  zugegeben  hat,  muss  anerkennen,  dass  die  logischen 
Formen  und  Gesetze  in  dem  thierischen  und  menschlichen  Intellekt 
letzten  Endes  nur  deshalb  Gültigkeit  haben  können,  weil  dieser 
Intellekt  selbst  eine  reale  Existenz  hat,  weil  er  zur  Welt  des 
realen  Daseins  gehört  und  mit  unter  deren  Formen  und  Gesetzen 
steht.  Ist  es  aber  einmal  zugestanden,  dass  die  subjective  Logik 
nur  ein  Ausfluss  der  objectiven  Logik  sein  kann,  so  bleibt  nur 
noch  die  Frage  zu  entscheiden,  ob  die  Begründung  der  psycho- 
logischen logischen  Formen  und  Gesetze  in  den  ontolo- 
gischen  eine  unmittelbare  oder  mittelbare  sei.  Wenn 
man  früher,  gestützt  auf  eine  teleologische  Metaphysik,  der 
scheinbar  einfacheren  Annahme  einer  unmittelbaren  Begründung 
den  Vorzug  gab,  so  muss  gegenwärtig  die  Analogie  der  gesammten 
übrigen  Schöpfungsgebiete  hiervon  abmahnen,  welche  durchgehend» 


135 

eine  sehr  allmähliche  Vermittelung  durch  langwierige  Eutwicke- 
lungsprocesse  zeigen,  wo  man  früher  an  unmittelbare  Coustituirung 
aus  der  Hand  der  schöpferischen  Natur  oder  Gottes  geglaubt  hatte. 
Ist  der  ganze  Mensch  und  si)eciell  das  Organ  seines  Geistes  das 
Resultat  einer  solchen  langwierigen  Kntwickelung,  so  lässt  die 
Analogie  erwarten,  dass  auch  die  logischen  Formen  seiner  Vor- 
stellungen und  seiner  Vorstellungsverkntipfungen  nur  das  Resultat 
eines  Entwickelungsprocesses  in  meiner  Almenreihe  seien. 

Diese  Vermuthung  findet  ihre  Bestätigung  darin,  dass 
wir  die  verschiedenen  Entwickelungsstufen  der  psychologi- 
schen Logik  in  den  uns  erhaltenen  Resten  der  menschlichen 
Ahnenreihe  handgreiflich  vor  uns  haben;  wir  brauchen  nur  z.B. 
den  Vorstellungsprocess  eines  Wurms,  eines  niederen  Fisches, 
einer  Amphibie,  eines  niederen  und  eines  höheren  Säugethicres^ 
eines  Buschmanns,  eines  Kosaken  und  eines  gebildeten  Europäers 
zu  vergleichen.  Eine  weitere  Bestärkung  erhält  unsere  Annahme 
in  der  nahen  Verwandtschaft  der  Denkformen  mit  den  An- 
schauungsformen, welche  wir  sogleich  näher  betrachten  werden 
und  für  welche  dieselbe  Annahme  kaum  zu  umgehen  ist.  Zu 
einer  an  Gewissheit  grenzenden  Wahrscheinlichkeit  wird  sie 
endlich  erhoben  durch  den  Verzicht  auf  teleologische  Eingriffe 
in  die  organischen  Molecularprocesse  des  Gehirns,  durch  welche 
also  auch  eine  unmittelbare  logische  Bestimmung  der  Verknüpfungs- 
weise zweier  Vorstellungen  ausgeschlossen  bleibt,  insofern  dieselbe 
nicht  nach  den  mechanischen  Gesetzen  der  Gehirnschwingungen 
sich  schon  von  selbst  aus  den  vorhandenen  Prädispositionen  und 
den  auf  diese  einwirkenden  Bewegungsreizen  ergiebt.  Da  wir 
die  bewusste  Vorstellung  überhaupt  als  Sunnnationsphänomen  aus 
den  Empfind ungs-  oder  Vorstellungsfunctionen  der  Atome  be- 
trachten und  einen  andern  Geist  als  die  Innerlichkeit  der  Atome 
des  Gehirns  selbst  als  im  Menschen  wirksam  anzuerkennen  keinen 
Grund  gefunden  haben,  so  kann  auch  das  objectiv  reale  Dasein, 
in  welchem  die  subjectiv-logischen  Formen  ihre  Begründung  haben 
sollen,  in  nichts  anderm  als  im  Gehirn  gesucht  werden,  und  kann 
die  gesetzmässige  Bestimmtheit  der  synthetischen  Formen  des 
Vorstellungsprocesses  im  Sinne  der  objectiv  gültigen  logischen 
Formen  und  Gesetze  durch  keine  andere  Eigenschaft  dieses  realen 


136 

Daseins  bedingt  sein,  als  durch  die  ererbten  Prädispositionen  des 
Gehirns,  in  welchen  allein  die  Vorstellungsverkntipfiing  prä- 
determinirt  sein  kann.  —  Die  ausnahmslose  Sicherheit,  mit  welcher 
2.  B.  die  Prädispositionen  der  logischen  Grundgesetze  der  Identität 
und  des  Widerspruchs  psychologisch  functioniren,  würde  hiernach 
herrühren  von  der  unendlich  langen  Generationenreihe  des  Thier- 
reichs,  durch  welche  die  Vererbung  dieser  Verknüpfungsform  zu 
einer  überaus  befestigten  geworden  ist.  Während  bei  allen  anderen 
als  den  rein  logischen  Formen  in  der  Ahnenreihe  des  Menschen 
ein  öfter  wiederholter  AVechsel  stattfindet,  bleiben  diese  immer 
und  immer  dieselben  und  werden  niemals  durch  die  Nöthigung 
zu  einer  Vorstelluugsverknüpfung  gestört,  welche  diese  Dispo- 
sition abschwächen  könnte,  wie  dies  bei  allen  typischen  Formen 
<ler  Tnstinctvorstellungen  mehr  oder  minder  häufig  der  Fall  ist. 
Schon  die  Ideenassociation,  welche  ohne  jede  ererbte  Anlage  bloss 
durch  Gewöhnung  während  eines  Menschenlebens  erworben  ist, 
kann  eine  Gewalt  bekommen ,  der  gegenüber  alles  abstracte 
Besserwissen  ohnmächtig  wird  (z.  B.  die  Association  der  Vor- 
stellung der  Unreinheit  mit  der  Vorstellung  eines  Porcellangetässes 
von  der  Gestalt  eines  Nachtgeschirrs;  oder  die  Association  der 
Vorstellung  der  Todsünde  mit  der  Vorstellung  der  Tödtung  einer 
Kuh,  wie  sie  im  Kopfe  aller  gläubigen  Brahrainen  besteht);  wie 
darf  man  sich  da  solchen  Thatsachen  gegenüber  noch  wundern, 
wenn  eine  durch  Millionen  Jahre  ohne  jede  Stcirung  befestigte 
Vererbung,  welche  in  der  Erfahrung  und  Gewöhnung  des  indivi- 
duellen Lebens  nichts  als  Bestätigung  und  Bestärkung  findet,  das 
Kesultat  einer  so  unerschütterlich  befestigten  Prädisposition  zu 
Stande  bringt,  dass  es  gegen  das  Functioniren  derselben  keine 
Appellation  mehr  im  Bewusstsein  des  Individuums  giebt! 

Indem  die  besprochenen  Prädispositionen  die  Vorstellungs- 
weise und  Verkntipfungsweise  von  Vorstellungen  nach  bestimmten 
typischen  Normen  prädeterminiren,  ohne  selbst  dabei  in's  Bewusst- 
sein zu  treten,  sind  sie  das  Prius  des  allein  in's  Bewusstsein 
tretenden  Resultats.  Nim  ist  aber  nur  dasjenige,  was  im  Be- 
wusstsein vorgefunden  wird,  für  das  Individuum  empirisch 
gegeben,  was  aber  jenseits  des  Bewusstseins  in  dem  vorbewussten 
EntstehuDgsprocess  des  Empirischen  liegt,  ist  nicht  mehr  empirisch 


137 

y.u  neniiCD,  sondern  steht,  insofern  es  von  der  begrifflichen  Unter- 
suchung als  wirklich  vorhanden  constatirt  ist,  in  einem  begriff- 
lichen Gegensatz  zu  dem  Empirischen.  Als  Prius  des  Empirischen 
heisst  es  in  der  Philosophie  seit  Kant  „das  Apriorische" 
<vgl.  „Ding  an  sich"  S.  67).  Schon  Plato  hatte  erkannt,  dass  der 
menschliche  Intellekt  nichts  weniger  als  eine  leere  Tafel,  eine 
iabula  rasa  sei  (wie  Locke  behauptet),  sondern,  dass  alles  Lernen 
ein  dem  Auftauchen  von  Erinnerungen  ganz  analoger  Process  sei. 
Sein  Irrthum  bestand  nur  darin,  dass  er  die  Prädispositionen  zu 
dieser  Erinnerung  in  einem  früheren  Leben  der  mit  sich  iden- 
tischen Individualseelensubstanz,  anstatt  in  der  Vererbung  von 
den  Vorfahren  des  Individuums  her  begründet  wähnte  fPh.  d. 
ünb.  S.  ßl3).  Dass  die  Denkformen  nicht  individuell  erworben, 
sondern  angeboren  seien,  wurde  mit  Recht  von  Descartes  so 
scharf  prononcirt,  aber  Locke  hatte  ebenso  sehr  Recht,  zu  be- 
streiten, dass  es  angeborene  Ideen  oder  Vorstellungen  gäbe,  da 
in  der  That  die  Prädispositionen  zu  gCAvissen  Denkformen  ebenso 
wenig  und  noch  weniger  Ideen  oder  Vorstellungen  heissen  können, 
als  die  individuell  erworbenen  Prädispositionen  des  Gedächtnisses 
(Phil.  d.  Unb.  S.  613,  27-28,  253,  268),  —  denn  diese  geben 
doch  beim  Functioniren  eine  wirkliche  Vorstellung,  jene  aber 
nur  constituirende  formale  Elemente  einer  Vorstellung  oder  den 
Associatiousmodus  zwischen  mehreren.  Indem  Kant  den  Aus- 
druck ,,a  priori^'-  als  den  Gegensatz  zu  „empirisch"  bestimmte, 
traf  er  den  Nagel  auf  den  Kopf  und  gab  dem  Dilemma  eine  neue 
Fassung:  der  nachkantische  Empirismus  konnte  nur  noch  mit 
offenbarem  Unrecht  bestreiten,  dass  unsere  Denkformen  a  priori 
seien.  Kant  bestimmt  in  seiner  Polemik  gegen  Eberhard's  Kritik 
(Kant's  Werke  ed.  Rosenkranz  Bd.  I.  S.  445—446)  die  apriori- 
schen Formen  (es  ist  hier  zufällig  von  den  sinnlichen  Anschauungs- 
formen die  Rede)  als  keineswegs  in  Gestalt  fertiger  Ideen 
oder  Bilder  angeborene,  sondern  als  innewohnende  passive  Be- 
schaffenheiten (Receptivitäten)  des  Gemüths,  auf  gewisses  Afficirt- 
werden  hin  Vorstellungen  von  einer  gewissen  Vorstellungsform 
'ZU  bekonmien;  nicht  sie  selbst,  sondern  der  erste  formale  Grund 
ihrer  Möglichkeit  sei  uns  angeboren  (vgl.  „Ding  an  sich"  S.  110). 
Es  ist  klar,  dass  diese  Erklärung  ganz  mit  dem  tibereinstimmt, 


338 

was  wir  Prädispositionen  neuneD,  nur  dass  Kant  die  Entscheidung 
offen  lässt,  ob  diese  Prädispositionen  als  in  der  Substanz  des 
materiellen  Organs  der  Deukfnnctionen  niedergelegt  oder  als  in 
der  metaphysischen  Natur  einer  spiritualistischen  Seelensubstanz 
begrtindet  zu  betrachten  seien.  Im  Stillen  scheint  Kant  selbst  in 
Betreff  der  sinnlichen  Anschauungsfoimen  mehr  zu  der  ersteren, 
in  Betreff  der  logischen  Denklbrraen  mehr  zu  der  letzteren  An- 
nahme sich  hingeneigt  zu  haben  (vgl.  „Ding  an  sich"  S.  82—  83)^ 
aber  Kant's  Bedenken  wegen  der  allgemeingültigen  Bedeutung 
der  logischen  Formen,  die  durch  Fichte's  Deduction  und  Hegel's 
Dialektik  zum  System  ausgesponnen  wurde,  sind  für  uns  durch 
die  vorangeschickten  Betrachtungen  über  die  psychologische  Ge- 
nesis der  logischen  Denkformen  beseitigt.  Der  erste  nachkantische 
Philosoph,  der  die  von  Kant  gelassene  Zweideutigkeit  im  modernen 
physiologischen  Sinne  erledigte,  war  Schopenhauer,  welcher  die 
intellektuellen  Functionen  überhaupt  und  ohne  Ausnahme  für 
Functionen  des  Gehirns  erklärte  und  wir  haben  gesehen,  dass 
jede  aridere  metaphysische  Seelensubstanz  ausser  der  inneren 
Seite  der  das  Gehirn  constituirenden  Atome  eine  durch  kein  Er- 
klärungsbedürfniss  legitimirtc  Hypothese  ist.  Wir  müssen  also 
Schopenhauer's  Annahme,  dass  die  apriorischen  Formen  Functionen 
des  Gehirns  seien,  unbedingt  billigen  und  können  den  „angeborenen 
formalen  Grund"  des  so  und  nicht  anders  Functionirens  nur  in  der 
zu  einer  solchen  Functionsweise  prädisponirten  molecularen  Be- 
schaffenheit des  Gehirns  suchen. 

Haben  die  nachkantischen  Philosophen  den  Empirikern 
gegenüber  darin  Recht,  dass  alles  Vorstellen  im  Individuum  a 
priori  entspringe,  so  hat  doch  die  empiristische  Anschauungs- 
weise den  Philosophen  gegenüber  insoweit  Recht  behalten,  als 
sich  herausgestellt  hat,  dass  für  die  Stufenreihe  der  Orga- 
nismen als  Ganzes  genommen  das  Empirische  das  Prius 
des  Apriorischen  ist,  indem  die  Hirnprädispositionen,  aus 
welchen  die  apriorischen  Functionen  entspringen,  selbst  wieder 
nur  das  Endresultat  eines  langen  Anpassungsprocesses  sind,  in 
welchem  Fortschritte  durch  empirisches  Tasten  und  Befestigung 
der  nützlichen  Versuche  durch  natürliche  Zuchtwahl  Hand  in 
Hand  gehen.     Diese    neu    errungene  Auffassungsweise   ist    aber 


139 

bis  jetzt  von  verschiedenen  Seiten  erst  angedeutet,  noch  nirgends 
durchgeführt  worden ;  unsere  bisherigen  Ausführungen  in  Verbindung 
mit  denen  des  folgenden  Abschnitts  werden  hinreichen,  dieselbe 
als  mit  demjenigen  ^laasse  von  Wahrscheinlichkeit  bewiesen  er- 
achten zu  lassen,  dessen  solche  Fragen  in  der  Gegenwart  über- 
haupt fähig  sind.  Zugleich  erhellt  aus  unseren  Untersuchungen, 
dass  einzig  und  allein  die  von  der  biologischen  Descendenztheorie 
neu  in  die  Wissenschaft  eingeführten  Perspectiven  im  Stande 
waren,  den  principiellen  Gegensatz  von  philosophischen  Aprioristen 
und  naturwissenschaftlichen  Empiristen  in  einer  höheren  Einheit  zu 
versöhnen,  welche  die  relative  Wahrheit  beider  Standpunkte  in  sich 
vereint  und  die  unwahre  Einseitigkeit  beider  den  Blicken  der  Gegen- 
wart enthüllt.  Die  Ph.  d.  Unb.  acceptirt ,  indem  sie  sich  die  De- 
scendenztheorie einverleibt,  auch  dasErklärungsprincip,  welches  die 
letztere  für  die  bisher  als  metaphysisches  Wunder  angestaunte  That- 
Sache  des  „a  priori'^  darbietet  (vgl.  S.  613),  wie  dies  aus  dem  Zu- 
sammenhang unserer  bisherigen  Erörterungen  hinreichend  hervor- 
geht ;  indem  sie  aber  andrerseits  von  der  Hypothese  der  beständigen 
metaphysisch -teleologischen  Eingriffe  in  den  naturgesetzlichen 
Verlauf  der  organischen  und  insbesondere  der  Gehirn-Processe 
nicht  loskommen  kann ,  c  o  n  f  u  n  d  i  r  t  sie  das  richtige  Er- 
klärungsprincip  des  „a  pr/o/i*^  zugleich  auch  mit  jenem  uner- 
weislichen speculati ven,  welches  bisher,  so  lange  es  das 
einzige  existirende  war,  eine  gewisse  Beachtung  verdiente, 
aber  gerade  durch  das  allen  Anforderungen  glänzend  entsprechende 
der  Descendenztheorie  als  endgültig  beseitigt  zu  betrachten  ist, 
so  dass  von  einem  Nebeneinanderfortbestehen  beider  mit  vicari- 
rendem  Füreinandereintreten  (im  Sinne  d.  Ph.  d.  Unb.)  keinen- 
falls  mehr  die  Rede  sein  kann. 


IX. 

Die  Entstehung 
der  Anschanungsform  der  Räumlichkeit. 


Wir  werden  die  Genesis  der  Anschauungsform  der  Räum- 
lichkeit in  der  Weise  zu  ergründen  suchen,  dass  wir  die  im 
genetischen  Process  der  Wirklichkeit  zuletzt  hinzugefügten  Ent- 
wickelungsstufen  zuerst  abhandeln,  also  den  Weg  der  Natur  rück- 
wärts durchmessen.  Wir  werden  dem  entsprechend  zunächst  das 
flächenhafte  Gesichtsfeld  in  zwei  Dimensionen,  wie  es  der  operirte 
Blindgeborene  schon  bei  den  ersten  Sehversuchen  mitbringt,  als 
gegeben  voraussetzen,  und  die  Entstehung  der  Anschauung  der 
dritten   oder  Tiefen-Dimension  auf  dieser  Grundlage  untersuchen. 

Tritt  ein  leuchtender  Punkt  in  das  vorausgesetzte  flächen- 
hafte Sehfeld,  so  stellen  beide  Augenaxen  sich  reflectorisch  so 
€in,  dass  die  Stellen  des  deutlichsten  Sehens  (die  gelben  Flecke) 
beider  Netzhäute  das  Bild  des  leuchtenden  Punktes  aufnehmen. 
Treten  mehrere  leuchtende  Punkte  hinzu,  so  wechselt  die  Augen- 
stellung mit  den  fixirten  Punkten  nach  dem  Gesetz  der  Ermüdung. 
Bei  dieser  successiven  Fixation  sind  nun  zwei  Fälle  möglich: 
entweder  die  realen  leuchtenden  Punkte  liegen  in  einer  zur  Seh- 
axe  senkrechten  Fläche,  dann  fallen  ihre  Bilder  auf  den  Netz- 
häuten beider  Augen  auf  correspondirende  Stellen*);  oder  aber 
die  realen  leuchtenden  Punkte  liegen  in  verschiedener  Entfernung 


*)  Die  Abweichungen   sind    wenigstens   so   gering,   dass  sie   praktisch  zu 
vernachlässigen  sind. 


141 

vom  Auge,  dann  ändert  sich  bei  der  Fixirung  jedes  Punktes  die 
Convergenz  der  Sehaxen  und  dadurch  das  Lagenverhältniss  der 
Bildpunkte  auf  den  Netzhäuten  in  der  Weise,  dass  nicht  mehr 
correspondirende  Stellen  von  ihnen  getroffen  werden.  Die  Ab- 
weichung von  der  Correspondenz  wird  um  so  grösser,  je  grösser 
der  Unterschied  in  den  Entfernungen  der  realen  Lichtpunkte  vom 
Auge  ist.  Wenn  der  Blick  von  einem  Lichtpunkt  zu  einem  gleich 
weit  entfernten  übergeht,  so  haben  die  Augen  nur  die  Muskel- 
empfindung des  zurückgelegten  Weges;  wenn  er  aber  zu  einem 
Lichtpunkt  von  verschiedener  Entfernung  übergeht,  so  haben  die 
Augen  ausser  dieser  Muskelerupfindung  des  zurückgelegten  Weges 
noch  zweitens  die  der  veränderten  Convergenz  und  drittens  die 
der  veränderten  Correspondenz  der  Lage  der  übrigen  im  Sehfeld 
befindlichen  Punkte  (Wundt,  Beiträge  zur  Theorie  der  Sinnes- 
wahrnehmung, Leipzig  1862,  S.  291  —  293).  Der  Intellekt  sucht 
diese  Thatsachen  mit  dem  Verständniss  zu  durchdringen;  der 
Tastsinn  kommt  ihm  hierbei  auf  kurze  Entfernungen  zu  Hülfe; 
auf  grössere  Entfernungen  wird  er  durch  die  Veränderungen  im 
Sinne  perspectivischer  Verschiebung  unterstützt,  welche  in  seinen 
Wahrnehmungen  vorgehen,  wenn  er  seinen  Körper  von  der  Stelle 
bewegt.  Dazu  kommt  nocli  die  Veränderung  der  scheinbaren 
Grösse  eines  Gegenstandes,  der  durch  seine  Bewegung  aul  den 
Beobachter  zu  oder  von  demselben  hinweg  ihn  nöthigt,  bei  der 
Fixation  die  Convergenz  der  Sehaxen  stetig  zu  vergrössern  resp. 
zu  verringern,  und  viele  andere  ähnliche  Erscheinungen,  die  sich 
dem  Intellekt  als  zu  lösende  Probleme  aufdrängen.  Jede  falsche 
Deutung  dieser  Veränderungen  in  den  Wahrnehmungen  hat  den 
Misserfolg  des  auf  sie  gebauten  Handelns  zur  Folge,  jede  richtige 
Deutung  wird  durch  das  Gelingen  der  auf  solche  Voraussetzungen 
hin  vorgenommenen  Handlungen  belohnt;  hierdurch  wird  jede 
falsche  Deutung  eine  Warnung  vor  Wiederholung  derselben,  jede 
richtige  eine  Ermunterung  zum  Festhalten  der  eingeschlageneu 
Richtung  des  Denkens  und  zum  Weiterschreiten  auf  derselben. 
So  zwingt  die  Nothwendigkeit  des  Handelns  von  selbst  zu  einer 
allmählich  fortschreitenden  richtigen  Deutung,  d.  h.  zu  einer 
solchen  die  der  wirklichen  Beschaffenheit  der  Dinge  ent- 
sprechend ist.  —  Bei  diesen  Vorstellungsverknüpfungen   haben 


142 

nun  jedesmal  nur  das  Anfangsglied  (die  gegebenen  Organempfin- 
dungen) und  das  Endglied  (das  jeweilige  Kesultat  des  Verstän- 
digungsbemüliens)  ein  Interesse,  die  gleichgültigen  Verbindungs- 
glieder aber  werden  durch  Abkürzung  der  Ideenassociation  elidirt. 
In  demselben  Maasse  als  das  Verständniss  fortschreitet,  schreitet 
auch  der  Process  dieser  Abkürzung  der  Ideenassociation  fort, 
und  bei  demjenigen  Maass  von  eingeübtem  Verständniss,  welches 
ein  erwachsener  Mensch  von  seinen  Gesichts  Wahrnehmungen 
besitzt,  hat  diese  Abkürzung  einen  solchen  Grad  erreicht,  dass 
für  denjenigen,  welcher  den  angegebenen  Entstehungsprocess  nicht 
beachtet,  die  schlagfertige  Festigkeit  der  Association  zwischen 
Vorstellungen,  welche  sich  so  fern  zu  liegen  scheinen,  in  der  That 
höchst  überraschend  ist.  Wir  haben  eine  ziemlich  ebenso  genaue 
Schätzung  von  relativen  Entfernungsverschiedenheiten  in  der 
Tiefendimension  wie  in  der  Breitendimension  und  für  unser  Be- 
wusstsein  ist  die  Tiefe  der  räumlichen  Wahrnehmung  von  nicht 
minder  anschaulicher  Natur  als  die  Höhe  und  Breite.  Es 
wäre  ein  so  absolut  sicheres  Function! ren  der  Association  zwischen 
den  complicirten  Orgauempfindungeu  und  den  complicirten  Raum- 
vorstellungen,  welche  wir  an  dieselben  knüpfen,  es  wäre  eine 
solche  Unmittelbarkeit  der  Anschauung  der  dritten  Dimension, 
eine  so  vollständige  Elision  der  vermittelnden  Verbindungsglieder 
zwischen  diesen  Endgliedern  einer  höchst  complicirten  Ideen- 
association für  die  Uebungszeit  eines  Menschenlebens  entschieden  un- 
möglich, wenn  nicht  eine  durch  befestigte  Vererbung  überkommene 
Gehirnprädisposition  zu  dieser  Art  von  abgekürzter  Vorstellungs- 
verknüpfung uns  angeboren  wäre,  welche  nur  durch  die  Uebung 
der  Kindheit  aufgefrischt  und  nachgemeisselt  zu  werden  braucht. 
Auch  hier  ist  es  wesentlich  der  unreife  Zustand  des  Kinder- 
gehirns bei  der  Geburt,  der  diese  Sachlage  den  Blicken  des 
Physiologen  und  Psychologen  verhüllt,  so  lauge  dieselben 
ihre  Beobachtung  nicht  auf  das  Thierreich  ausdehnen;  in  letz- 
terem aber  zeigt  sich  die  erforderliche  Zeit  der  Uebung  um  so 
kürzer,  je  reifer  das  Gehirn  des  Thieres  bei  der  Geburt  resj). 
bei  der  Oeffnung  der  Augen  ist.  —  Das  Thierreich  als  Ganzes 
muss  aber  die  dritte  Dimension  und  die  Prädisposition  zu  der- 
selben auf  ganz  demselben  Wege,  nur  langsamer,  erworben  haben, 


143 

wie  wir  es  oben  von  der  Uebung  des  Individuums  gezeigt  haben. 
Wenn  der  Mensch  ohne  Augen  ein  ganz  hlilf loses  Geschöpf  ist, 
so  hatte  das  Thierreich  den  Vortheil,  die  Augen  zunächst  nur 
als  nebensächliche  littlfsorgane  zu  entwickeln  und  dieselben  erst 
jilhnählich  so  zu  vervollkommnen,  dass  sie  zu  einem  wichtigen 
und  zuletzt  unentbehrlichen  Hitlfsmittel  im  Kampf  um's  Dasein 
wurden;  hier  konnte  und  musste  nun  natürlich  der  allmähliche 
Fortschritt  des  Verständnisses  der  Sinneswahrnehmungen 
Hand  in  Hand  gehen  mit  dem  allmählichen  Fortschritt  der  Ent- 
wickelung  des  Sinnesorgans:  und  jeder  solche  gemeinsame  Fort- 
schritt vervollkommnete  zugleich  die  an  die  Nachkommen  ver- 
erbte Prädisposition  zu  dem  richtigen  Yerständniss.  So  steht 
endlich  unsere  menschliche  Anschauung  als  das  letzte  Glied  einer 
durch  lange  Vererbung  gesteigerten  Fertigkeit  da,  welche  als 
wesentliches  Moment  in  sich  die  dritte  räumliche  Dimension  als 
typische  P^orm  der  Anschauung  enthält.  Nur  so  wird  die 
Illusion  erklärlich,  in  der  wir  uns  betinden,  wenn  wir  die 
Tiefendimension  der  Gegenstände  unmittelbar  und  anschau- 
lich wahrzunehmen  glauben,  während  wir  doch  wissen,  dass 
dies  nur  eine  hinzu gethane  Vorstellung  ist,  welche  mit 
gewissen  Complicationen  von  Organcmpfiudungen  des  Auges 
(Muskelempfindungen  und  Correspondenzverschiebungen)  vermöge 
einer  ererbten  und  individuell  nachgeübten  Gehirnprädisposition 
in  unwillkürlicher  und  nolhwendiger  Weise  verknüpft  wird.  Die 
Abkürzung  der  Ideenassociation  geht  hier  so  weit,  dass  sogar  das 
Anfangsglied,  die  Organempfindungen,  als  interesselos  niit  elidirt 
wird  und  in's  Unbewusstsein  versinkt,  und  dass  auf  den  zum 
Gehirn  geleiteten  Reiz  sofort  und  unmittelbar  jene  assoeiirte  Vor- 
stellung eintritt,  weil  sie  allein  von  praktischem  Interesse  ist. 
Wir  finden  hier  eine  eclatante  Bestätigung  des  oben 
(S.  128)  praeliminarisch  aufgestellten  Satzes,  dass  selbst  begriff- 
liche Vorstellungsgebilde  (wie  die  Tiefendimension  bei  ihrer 
ersten  Construction  ohne  Zweifel  eines  ist)  sich  um  so  mehr  der 
Anschauung  nähern,  je  mehr  sie  zu  vererbten  typischen 
Vorstellungsformen  werden,  und  dass  sie  zur  w i  r  k  1  i  c  h  e  n  A  n  - 
schauung  werden,  sobald  die  Vorstufen  ihrer  Genesis  voll- 
ständig unbewusst    geworden    sind.      Da    die  Gesichtsanschauung 


144 

der  Prototyp  aller  Anschauung  ist,  von  dem  dieselbe  sogar  ihren. 
Namen  durch  Generalisatiou    entlehnt  hat,    so    dürfen    wir  wohf 
auch  die  hier  evident  gewordene  Genesis  der  Anschauung 
als  solchen  generalisiren    und  sagen,  dass   alle  Anschauung,  die 
wir     besitzen,    auf    dieselbe    Weise     entstanden     zu    denken 
sei,    nämlich    durch  Unbewusstwerden    der    Zwischen- 
glieder in  dem  Ideenassociationsprocess,  durch  welchen  sie  sich 
aus    den    elementaren    Empfindungen    mit    Hülfe    b e g r i f f - 
lieber    constructiver  Deutungsversuche   derselben    allmählig- 
entwickelt    hat.      Die    elementare   Empfindung  (welche  Kant  die 
Materie    der    Anschauung  nennt)    unterscheidet    sich     von   der 
Anschauung  durch    den  Mangel  des  begrifflich-synthetischen  An- 
theils;  der  discursive  Begriff  unterscheidet  sich  von  ihr  durch  den. 
Mangel  au  intuitiver  Unmittelbarkeit;    der   Begriff  schliesst  das 
Bewusstsein   der  Möglichkeit,   seine  Genesis  durch  alle  Vermitte- 
lungsstufen   hindurch  jeden  xA.ugenbUck  reproduciren   zu   können^ 
als  nothwendiges   Moment,  als  integrirenden   Bestandtheil  seines^ 
Wesens  in  sich  ein  und  weiss  sich  somit  als  vermittelt,  —  der  An- 
schauung ist  dieses  Bewusstsein  abhanden  gekommen  und  der  so 
erzeugte    Schein    der    Unmittelbarkeit   kann    selbst    durch    die 
bessere   discursive  begriffliche  Einsicht  in   die  Genesis  derselben 
nicht   mehr   alterirt  werden,   weil    er  organisch  begründet  ist; 
die  Anschauung  ist  sonach  die  höhe  reEinheit  von  Empfin- 
dung und  Begriff,   in  welcher  beide  Bestandtheile  unbewusst 
geworden  sind  durch  den  Abkürzungsprocess  der  Ideenassociation; 
die  Anschauung  ist  die   allein   übrig  gebliebene  Frucht 
des  Baumes,   dessen  Wurzel   die  Empfindung,  dessen  Stamm^ 
Aeste   und   Blätter  die   begriffliche  Construction  war.     Auch 
die    Philosophie   hatte    bereits    das  synthetische   Element  in  der 
Anschauung   anerkannt   und   hatte  verstanden,    dass   sowohl   die 
elementare   Grundlage   als   auch   der   begriffliche  Aufbau  nur  als 
unbewusste  Voraussetzungen  in   der  als   solchen  unmittelbar  dem 
Bewusstsein   gegebenen  Anschauung   entbalten  sei  (vgl.  „Ding  an 
sich"   8.   66—68,   71-72,   82—83,  89—91;    Ph.  d.  Unb.  S.  275^ 
303— o04j;    sie   hatte  nur  die  Genesis   der  Anschauung  nicht  als 
Abkürzungsprocess  der  Ideenassociation  begriffen  und  deshalb  war 
ihr  das  synthetisch- Constructive,  welches  unbewusöterweise  in  dem 


145 

aber  den  ursprünglichen  Empfindungsstoff  hinaus  in  der  Anschauung 
enthaltenen  Plus  an  A^'orstellungselementen  implieite  drinsteckt, 
ein  unverstandener  metaphysich-teleologischer  Eingriff  geblieben, 
anstatt  darin  das  Functioniren  der  Gehirnprädispositionen  zu  er- 
kennen, welche  den  formalen  Niederschlag  des  genetischen  Ent- 
wickelungsprocesses  der  Anschauung  in  der  Ahnenreihe  des  Indi- 
viduums repräsentiren.  Dass  solche  beständig  in  typischer  Form 
wiederholte  Functionen  einen  Eindruck  im  Gehirn  hinterlassen 
müssen,  welcher  als  Prädisposition  für  wiedervorkommende  Fälle 
sich  geltend  macht,  nimmt  ja  die  Pb.  d.  Fnb.  sell)st  an;  dass 
solche  Prädispositionen  sich  vererben  und  diiroh  langandauernde 
Vererbung  sich  immer  mehr  befestigen,  gesteht  sie  ebenfalls  zu 
(S.  614 — 615;;  dann  haben  wir  aber  auch  in  dieser  ererbten 
Prädisposition  eine  thatsächliche  Erklärung  des  synthetisch-con- 
structiven  Elements ''^  in  der  Anschauung,  welche  den  meta- 
physisch-teleologischen  Eingriff  überflüssig  macht,  und  dies  be- 
streitet die  Ph.  d.  Unb.  wunderbarer  Weise  sogar  lui-  die  dritte 
Dimension  (S.  312),  von  der  wir  bisher  allein  gesprochen  haben. 
Der  tiefere  Grund  dieser  anscheinenden  ineonsoquenz  liegt  in 
dem  Mangel  des  Verständnisses  der  Abkürzuug  der  Ideenassociation ; 
(lieser  Mangel  verhindert  den  Einblick  in  die  wahre  Genesis  der 
Anschauung  und  lässt  deshalb  mindestens  bei  P^ntstehung  der 
Hirnprädisposition  an  metaphysiseh-teleologische  Eingriffe  glauben, 
weil  das  Resultat  ein  teleologisch  werthvoUes  ist.  Wir  wissen 
aber,  dass  Zweckmässigkeit  als  Resultat  sehr  wohl  möglich  ist 
ohne  Zweckmässigkeit  als  Princip  (vgl.  oben  S.  28—30),  und  haben 
diesen  Satz  bei  der  Entstehung  der  Fertigkeiten  der  Central- 
organe  im  Gebrauch  der  willkürlichen  Muskeln  (vgl.  oben  S. 
112—115)  an  einem  concreten,  bereits  in's  psychiscbe  Gebiet  hin- 
überführenden Beispiel  genau  geprüft  und  bestätigt  gefunden,  wo 
-ähnliche  liedenkeii  wie  hier  obwalteten.  So  wenig  die  Ph.  d. 
Unb.   auf  den  ihr   nahe   genug  liegenden  Gedanken  verlällt,  die 


*)  Dieses  syuthetisch-constructive  Element  in  der  Anschauung  ist,  da  es 
nur  unbcwusst  und  implieite  in  dem  Resultate  drinsteckt,  au  und  für  sick 
genommen  eben  als  Prius  des  allein  in's  Bewusstsein  fallenden  RcsultaLs 
id.  i.  der  Anschauung  selbst)  zu  bezeichnen,  und  fallt  deshalb  mit  dem  zu- 
sammen, was  die  Philosophie  das  Apriorische  nennt  (vgl.  oben  136 — 139). 

10 


146 

Entstehung  zweckmässiger    äusserer    Einrichtungen   als   Resultat 
von  Anpassungs-  und  Coinpensationsprocessen  ohne  metaphysisch- 
teleologische  Eingriffe   anzusehen,   so   wenig  kommt   sie  auf  den 
Gedanken   zweckniJ5ssige   Gehirnmechanismen    als   Resultate    von 
psychischen  Anpassnngs-  und  Compensationsprocessen  ohne  meta- 
physisch-teleologische    Eingriffe    anzusehen.      Wo    sie   eine   prä- 
disponirte  Association   von   Vorstellungen   vorfindet,    welche   den, 
logisciien  Zuschauer  auffordert,    eine  Verknüpfung  durch  logische 
Zwischengheder  zu  ergänzen,  da  nimmt  sie  sofort  und  ohne  Wei- 
teres an,  dass  diese  Zwischenglieder  in  unbewusst  metaphysischer 
Actualität    als   gegenwärtig    wirksame   bei   dem  Vorgang 
der   Association   betheiiigt  seien,    anstatt    daran  zu  denken,  dass 
diese  prädisponirte  Association  das  Resultat  eines  Abkürzungs- 
processes  sein  müsse,  in  welchem  die  —  früher  einmal  allerdings 
actuell   vorhandenen  —  Zwischenglieder   als  überflüssiger  Ballast 
elidirt  worden  sind  und   bloss    der  äusserliche,    mechanische, 
prädispositionelle  Zusammenhang  zwischen  Anfangs-  und  Endglied 
übrig  geblieben   ist  (vgl.    oben  121 — 123).     Wo  die  Resultate 
des  Vorstellungsprocesses   logisch  sind,  da  setzt  die  Ph.  d.  Unb. 
sofort  ein  a  c  t  i  v  e  s ,  logisch  bestimmendes  metaph}  sisches  P  r  i  n  c  i  p 
als    Grund  dieser  Erscheinung,    während  doch  gerade  die  in  der 
subjectiven    Vorstellungsassociation    sich    entfaltende   Logik    zu- 
nächst eine   passive,   durch   die  praktisch  gebotene  Anpassung 
an  die  thatsächlich  gegebenen  Verhältnisse  äusserlich  erzwungene 
ist   und  erst  später  im  Kopfe   des  gebildeten  Menschen   eine  sich 
activ  bethätigende  werden   kann,  wenn  die  Prädispositionen  zur 
logischen  Verknüpfung    der   Vorstellungen   durch   befestigte    Ver- 
erbung bereits  so  fest  eingewurzelt  sind,  dass  sie  zu  einer 
selbstständigen    Macht    im    Denken   geworden    sind.     Nicht 
deshalb   haben  im  Kampf  der  Associationsformen  im  Denken  die 
logisciien    Associationsformen   den  Sieg   davon  getragen,  weil  sie 
logisch,  sondern  weil  sie  praktisch  sind,  weil  sie  allein  den 
thatsächlichen    Verhältnissen    entsprechen,   —   und    dass  sie 
hintennach   sich  als  logisch  herausstellen,  ist  ganz  ausschliesslich 
dadurch    bedingt,   dass  die   thatsächlichen   Verhältnisse,  aus   der 
Anpassung  an  welche  sie  entstanden   sind,   ebenfalls  logisch  sind 
(vgl.  oben  S.  rd'2  ff.). 


147 

Aus  dem  praktisclien  Bedürfniss   allein   ist   auch  jene 
Deutung    der   Gesichtswalirnehmung-en    erwachsen    und   befestigt^ 
welche  die  dritte  Dimension  zu  den  zwei  Dimensionen  der  Fläche 
hinzutügt;   die  Nothwendigkeit,   sich   der  Aussen  weit  behufs  der 
Erhaltung  des  Daseins   anzupassen,   drängte  jedes  Wesen  dahin, 
mit  fortschreitender  Vervollkommnung  des  Auges  auch  die  Deutung- 
der  Gesichtswahrnehmungen  in  dem  Sinne  fortzubilden,  dass  die 
räumliche  Ordnung  der  realen  xVussendinge    so    suppouirt   wurde, 
wie  sie  wirklich  sein  musste,    um   die  Sinnesorgane   so   afficiren 
zu  können.      Auch    hier    war    der  Fortschritt    im  Tliierreich   ein 
tastendes  Probiren,  von  welchem  nur  jene  Associationsarten  bei- 
behalten wurden,  welche  durch  den  Erfolg  bestätigt  und  belohnt 
wurden     (^vgl.     oben     S.     141)  ,      keineswegs     aber     ein     activ 
logisches    Moment,    ausser    in   soweit    schon  vorhandene  Prädis- 
positionen   zur  logischen  Vorstellungsassociation    sich    an   diesem 
tastenden    Probiren    nützlich    betheihgten.      Hätte    in    derselbea 
Weise,    wie    die    Sinnesaffectionen    durch    die    Aussenwelt    ihre 
Deutung  im  Sinne  einer  dritten  Dimension  erheischten,  ein  prak- 
tisches   Bedürfniss    sich    herausgestellt,    gewisse    problematische 
Moditicationen    der     Gesichts  Wahrnehmungen     im     Sinne     einer 
vierten  Dimension  des  Raumes  zu  deuten,  und  hätten  die  hier- 
aus gezogenen  Cousequenzen  und  die  auf  dieselbe  gebauten  Hand- 
lungen und  Experimente  dieselbe  eclatante  Bestätigung  gefunden, 
wie  es  bei  den  auf  die  dritte  Dimension   gebauten    der  Fall   ist, 
so  würde  ohne  Zweifel  mit  den  fraglichen  Xodificationen  der  Ge- 
sichtswahrnehmungen sich  die  Vorstellung  einer  vierten  Dimension 
in  derselben  Weise  associirt  haben,  wie  mit  den  oben  (S.  140 — 141) 
angegebenen    Moditicationen    die    Vorstellung    einer    dritten    Di- 
mension;   wenn  ferner  dieses  Bedürfniss    einer  vierten  Dimension 
sich  in  einer  entsprechend  frühen  Stufe  unserer  Ahnreihe  heraus- 
gestellt   hätte,    so    würde    diese  Ideenassociation    nicht   nur  eine 
ebenso  starke  Abkürzung  erlitten  haben,  sondern  auch  die  Prädis- 
position zu  derselben  ebenso  sehr  durch  Vererbung  befestigt  sein, 
wie  es  jetzt  die  der  dritten  ist,  und  wir  würden  alsdann  die  vierte 
Dimension    ebenso    unmittelbar   in    der   Anschauung    zu    besitzen 
glauben,    wie  jetzt    die    dritte.      Rückwärts   können    wir    darauf 
üchliessen,  dass  die  Ordnung  der  realen  Dinge,  in  soweit 

10* 


148_ 

hie  fiir  das  Afficiren  unserer  Siiuiesorgaue  von  Einfluss  ist,  sich 
tliatsächlicfi  in  drei  Dimensionen  erschöpft,  weil  noch  nirgends 
in  unserer  jetzt  sehr  genau  und  sorgfältig  durchforschten  Sinnes- 
"wahrnehnumgen  sich  Modificationen  gefunden  hahen,  welche  nicht 
durch  die  Annahme  von  drei  Dimensionen  ausreichend  erklärt 
würden.  Im  reinen  Begriff  hindert  uns  nichts,  eine  vierte 
Dimension  des  Raumes  zu  denken  (wie  durch  Gauss,  Riemann 
und  Helmholtz  zur  Genüge  dargcthan);  in  der  Anschauung 
iiher  können  wir  einfach  deshalb  nicht  über  die  drei  Dimensionen 
hinaus,  weil  die  Anschauung  nach  unserer  obigen  Definition 
(S.  14-3 — 144  u.  128)  überhaupt  nur  die  Function  einer  aus  stark 
abgekürzter  Ideenassociation  erwachsenen  Prädisposition  ist,  und 
die  Voraussetzungen  zur  Genesis  einer  solchen  in  Bezug  anf  eine 
vierte  Dimension  fehlen. 

Ganz  anders  als  bei  einer  problematischen  vierten  Dimension 
stellt  sich  die  Sache,  wenn  wir  zu  der  Betrachtung  der  ersten 
und  z  w e i  t  e  n  D  i  m  e  a  s  i  0 n  d  e  s  R  a  u  m  e  s  übergehen,  denn  hier 
ist  ebenso  wie  bei  der  dritten  Dimension  einerseits  die  Anschauung 
als  Resultat  einer  unbewusst  synthetischen  Function  und  anderer- 
seits die    vor    und  jenseits    der  Raumanschauung   gelegenen   un- 
räumlichen   elementaren  Orgaaempfiiidungen    (intensiv  und  quali- 
tativ   durch    Localzeichen    verschiedene    Netzliauteindrücke    und 
Muskelbewegungsempfinduogen)  gegeben;  die  Anschauung  ist  das 
Endglied,    die  Organempfindung   das  Anfangsglied  eines  Vorstel- 
lungsassociationsverlaufs ,    welcher    ursprünglich   nur    in   der  den 
praktischen    Bedürfnissen    angepassten    Deutung    der    gegebenen 
Empfindungen  bestanden  habeji  kann,  welcher  aber,    ebenso  wie 
der  bei  der  dritten  Dimension,  einer  so  starken  Abkürzung  unter- 
legen hat,  dass  nicVit  nur  die  Zwischenglieder,  sondern  auch  das 
Anfaugsglied    de}-  Organemptiudungen    als    solches    aus    dem  Be- 
wusstseiu  entschwunden  ist.    Auch  hier  muss  nothwendig  die  oft 
wiederholte  Function  eine  (durch  Vererbung   gesteigerte   und  be- 
festigte) Prädispositiou  zu  dieser  synthetischen  Function  im  Hirn 
zurückgelassen    haben   (vgl.   oben   S.   145).      In    Bezug    auf  An- 
t5chaulichkeit  stehen  die  erste  und   zweite  Dimension  keines- 
wegs höher  als  die  dritte,  sondern  dieser  gair/ gleich  (S.  142),  und 
die  Vorstellungsvcrkntipfungen,  durch  welche  das  Individuum  seine 


149  _ 

Gesichtswahrnehmimgen  in  Bezug    auf  die  dritte  Dimension  ver- 
stehen lernt,    sind  auf  das  Innigste    verwebt    mit   jenen,    durch 
welche  es  das  feinere  Verständniss  und  die   sicherere  Uebung  in 
der    Beurtheihmg    der    tiiiehenhaften    Dimensionen    erlangt    (vgl. 
Wundt,  Beitr.  zur  Theorie  der  Sinneswahrn.  S.  289).     Gleichwohl 
besteht  zwischen  der  llirnprädisposition  zur  Flächenwahrnehmung 
und  der  zur  Tiefenwahniebmung  ein  Unterschied,  welcher  beweist, 
dass    die    erstere   viel    stärker    durch  Vererbung  befestigt 
ist,  also  viel  weiter  in  der  Ahneureihe  des  Menschen  hinaufreicht 
als  die  letztere;    es  functionirt    nämlicii    die  erstere  in  ihrer  ein- 
fachsten Gestalt  ohne  alle  Uebung,    wie   die  Operationen  von 
Blindgeborenen     beweisen,    während     die    letztere     erst     durch 
individuelles    Experimentiren    geweckt    und     durch    individuelle 
Uebung     nachgeraeisselt     werden     muss.       Dieser      Unterschied 
ist    für    die    teleologisch-metaphysischen  Eingriffe    der   Ph.  d.  l'. 
ein  unerklärliches  Problem,  während  er  sich  vom  Standpunkt  der 
Descendenztbeorie   ganz   leicht    durch    das    höhere  Alter    erklärt. 
Wie    viel    Millionen  Jahre    mögen    unsere   Ahnen   als  Infusorien,. 
Würmer  und  Knorpelfische    in   bloss    zwei   Dimensionen   gesehen 
haben,  ehe  sie  das  Verständniss  der  dritten  auch  für  den  Gesichts- 
sinn erlangten,    die  sie  für  den  Tastsinn    und  Muskelbewegungs- 
sinn schon  viel  früher  besassen.     Auch    die  richtige  Deutung  der 
Gesichtsemplindungen    in    Rücksicht    auf  Flächenausbreitung    ist 
ein  teleologisches  Resultat,   aber  auch   dieses  werden   wir  analog 
dem   Vorgang  bei    der    dritten  Dimension    nicht    als   aus    einem 
teleologischen  Princip    durch   metaphysische  Eingriffe   entstanden 
denken,  sondern  als  aus  einem  allmählich  Hand  in  Hand  mit  der 
Vervollkomunning  des  Organs  von  dem  leicht  empfindlichen  Proto- 
plasma der  Monere  bis   zum  Menschenaugenpaar  fortschreitenden 
Anpassung  an  das  gegebene  Empfindungsmaterial  unter  dem  Druck 
der    praktischen   Bedürfnisse    des   Lebens    und    der    allgemeinen 
Concurrenz  um  die  Erlangung  der  Bedingungen  desselben.     Weil 
wir    die   Prädisposition    zur   Flächenanschauung    so    fertig   über- 
kommen,  dass  wir    sie   für   ihre  Fundamentalfunction    gar    nicht 
mehr  zu  üben  brauchen,  deshalb  stehen  wir  so  viel  rathloser  vor 
der  Aufgabe,  die  elidirten  Glieder  des  ursprünglichen  Association^- 
processes  zwischen  Empfindung  und  Anschauung  wissenschaftlich 


150   _ 

zu  restitiürcn;  bei  der  dritten  Dimension  ist  die  Sache  so  sehr 
viel  leichter,  weil  die  hier  erforderliche  individuelle  Uebung  den 
Abkiirzungsprocess  der  Associationskette  wenigstens  in  seinen 
hauptsächlichsten  Stadien  individuell  wiederholt  und  man  sich 
hierbei  unter  abnorm  günstigen  Umständen  selbst  belauschen 
kann,  sei  es,  dass  diese  Umstände  pathologisch  gegeben ,  sei  es, 
dass  sie  durch  sinnvoll  erdachte  (meist  stereoskopische)  Experi- 
mente herbeigeführt  sind.  Die  Zeiten,  in  welchen  die  Abkürzung 
<ier  Associationskette  für  die  Genesis  der  Flächenanschauung  vor 
sich  ging,  liegen  Millionen  Jahre  hinter  uns,  uud  selbst  wenn  sie 
sich  heute  noch  wiederholen,  so  wäre  es  doch  höchstens  in  nie- 
deren Thieren,  in  deren  Seele  uns  kein  Einblick  vergönnt  ist 
Gleichviel  nun,  ob  die  Schwierigkeiten  dieses  Problems  für  uns 
überhaupt  lösbar  sind  oder  nicht,  so  steht  doch  so  viel  fest,  dass 
wir  in  unserm  menschlichen  Intellekt  die  Ursache  der  Flächen- 
anschauung ebenso  wie  die  der  Tiefenanschauung  lediglich  in 
einer  angeborenen  Prädisposition  des  Gehirns  zu  suchen  haben, 
wne  Schopenhauer  dies  ganz  richtig  auticipirt  hat  (Ph.  d.  U. 
S.  305—306),  ohne  jedoch  die  Art  der  Genesis  dieser  Prädis- 
position als  Ererbung  eines  in  früheren  Stufen  unserer  Ahnenreihe 
erworbenen  und  gesteigerten  Besitzes  zu  vernmthen.  Keinenfalls 
werden  wir  fernerhin  mit  der  Ph.  d.  U.  (S.  306)  die  Unmög- 
lichkeit behaupten  dürfen,  dass  die  Umwandlung  der  quali- 
tativ verschiedenen  Empfindungen  in  ein  extensiv  räumliches  Pild 
ohne  Beihülle  metaphysischer  Inspiration  geschehen  könne,  nach- 
dem wir  unsererseits  die  Möglichkeit  erkannt  haben,  dass 
auch  hier  das  Teleologische  Resultat  sein  könne,  ohnePrincip 
zu  sein,  und  dass  auch  hier  ein  allmählich  entstandenes  und  all- 
mählich vervollkommnetes,  aus  der  Concurrenz  vielleicht  zahl- 
reicher verfehlter  Versuche  siegreich  hervorgegangenes  End- 
Resultat  eines  langen  Entwickelungsprocesses  vorliegt.  Wir 
wollen  in  dem  Folgenden  versuchen,  den  Schwierigkeiten  des 
Problems  durch  einige  ihrer  Natur  nach  ziemlich  subtile  Betrach- 
tungen näher  zu  tr6ten. 

Man  liest  noch  oft  in  den  neuesten  Schriften  gebildeter 
Naturforscher  eine  verwunderte  Hindeutung  darauf,  was  das  wohl 
flir   eine   wunderliche    Gesichtsanschauung  der  Welt   sein  müsse, 


151 

^elclie  den  lusekten  als  Empfind up.gsmosaik  durch  ihre 
PacettenaD^eu  zugeführt  wird.  Eiue  solche  Bemerkung;  beweist 
i:ur,  wie  gross  häufig  noch  bei  Physiologen  die  Unklarheit  über 
die  psychologischen  Probleme  der  Wahrnehmung  ist.  Denn  da  die 
GesichtsempliiiduDgen  ebenso  wie  alle  anderen  Sinneswahrneh- 
inungen  durch  isoiirte  Nerveuprimitivfasern  vom  Sinnesorgan  zum 
iJewusstseiu  geleitet  werden  müssen,  so  wird  durch  diese  üeber- 
tragung  überall  und  in  jedem  Sinne  nothwcndig  ein  Mosaik 
von  Empfindungen  ergeben,  gleichviel  ob  der  Reiz  auf  der  ersten 
:Schicht  von  Xervensubstanz,  welcher  er  im  Organ  begegnet,  als 
^ontinuirliche  Extension  oder  als  mofiaikartige  Summe  von  Reizen 
zur  Geltung  kommt.  Ersteres  Arrangement  würde  denniach  gar 
keinen  Werth  für  die  Wahrnehmungen  haben  und  ist  deshalb 
^ueh  in  keinem  Auge  höherer  Thiere  benutzt  Im  menschlichen 
Auge  wirken  die  Stäbchen  und  Zapfen  der  Retina  ganz  ebenso 
wie  die  Facetten  im  Insectenauge ;  auch  bei  uns  sind  die  End- 
glieder der  den  Reiz  recipireuden  Nerven  so  arrangirt,  dass  sie 
die  Gesammtmasse  der  auf  sie  eindringenden  Lichtwellen  in 
discrete  Gruppen  gesondert,  d.  h.  mosaikartig  abgetheilt,  recipireu. 
Der  ganze  Unterschied  zwischen  unserm  Auge  und  dem  der  In- 
sekten ist  der,  dass  unsere  den  Reiz  recipirende  Schicht  concav 
gebildet  ist,  die  des  Insectenauges  hingegen  convex,  und  dass 
diese  besseren  Schutz  gewährende  Gestaltung  bei  uns  dadurch 
ermöglicht  ist,  dass  wir  nicht  wie  die  Insecten  die  von  den 
Dingen  ausgehenden  Lichtstrahlen  unmittelbar,  sondern  durch 
eine  Linse  gebrochen  recipiren.  Gesetzt  den  Fall,  die  Summe 
der  Lichtstrahlen  besässe  wirkliche  Continuität,  was  nach  der 
atomistischen  Annahme  unserer  Physik  l)ekanntlich  nicht  der  Fall 
ist,  so  würde  doch  die  Ueberführung  dieser  objektiv -realen 
Continuität  der  Extension  in  die  subjectiv-ideale  unter  allen  Um- 
ständen eine  Zerlegung  in  discrete  Theile  noth  wendig  machen, 
da  die  Zusammendrängung  einer  wirklich  unendlichen  Anzahl 
von  discreten  Nervenelementen  in  den  begrenzten  Raum  des 
Organs  schlechterdings  unmöglich  ist.  Sonach  muss  alle  sub- 
jectiv-ideale Extension  mit  Nothwendigkeit  eine  Reconstruction 
aus  einer  endlichen  Zahl  discretcr  Empfindungselementen,  d.  h. 
.«in  Mosaik  sein,   und]  dieser   allgemeingültige  Satz   findet  sich 


152 

empirisch    am   Menschenauge   ebenso  bestätigt,  als  am  Facetten- 
äuge    der    Insekten.      Die   Thatsachen,    dass   wir   dieses  Mosaik 
discreter  Empfindungen  als  extendirtes  Continuum   anschauen^ 
lässt  nach  Analogie  schliessen,  dass  die  Insekten  das  Empfindungs- 
mosaik ihrer  Facettenaugen   ganz  ebenso  nur  und  ausschliesslich 
als  continuirliches  Bild  anschauen.     Die  Stetigkeit,  die  wir  in 
unsere  Flächenanschauung  hineinlegen,  ist  taktisch  eine  Illusion 
in  Bezug  auf  das  gegebene  Empfindungsmaterial,   dem    wir  die- 
selbe   aulhelten;    die  Frage    ist    nur,    ob   diese  Illusion   der  An- 
schauung, welche   teleologisch   unseren  praktischen  Bedürfnissen 
entspricht,    eine    active    oder    passive    Illusion,    ob    sie    eine 
künstlich   zu  dem  Zweck  des  Sehens  erzeugte,   weise  berechnete 
Selbsttäuschung,  oder  ob  sie  eine  unwillkürlich  durch  die  Unvoll- 
kommenheit  der  Perception  und  Distinction   sich   ergebende  Er- 
scheinung ist,  die  nur  deshalb  niemals  eine  Berichtigung  ertahren 
hat,   weil  sie  zuiällig  gerade  so  am  besten  geeignet  ist,  uns  das 
Verständniss  der  Aussen  weit  zu  vermitteln.     Die  erstere  Annahme 
wird  stillschweigend  von  der  Ph.  d.  Unb.  vorausgesetzt,  und  sie 
ist  es  eigentlich,  welche  die  Schwierigkeit  der  Erklärung  erzeugt ; 
wäre  aber  die  zweite  Annahme  die  richtige,   so  würde  mit  dieser 
Erkenntniss  eine  Hauptschwierigkeit  des  Problems  der  Entstehung 
der  Raumanschauung  hinwegfallen. 

Wir  glauben  nun  in  der  That  die  zweite  Annahme  für  die 
natürlichere  und  wahrscheinlichere  halten  zu  müssen.  Wir  wissen, 
dass  wir  pathologische  Lücken  des  Gesichtsfeldes  ebensowenig 
bemerken,  wie  die  normalen  Lücken  der  blinden  Flecke.  Nach 
der  gewöhnlichen  Annahme  w^erden  diese  Lücken  mit  der  Farbe 
und  Helligkeit  der  Umgebung  activ  ergänzt;  wir  halten  hin- 
gegen die  Annahme  für  ausi eichend,  dass  das  Unterscheidungs- 
vermögen der  Perception  von  Natur  zu  stumpf  sei,  um  diese 
Lücken  in  der  Continuität  des  Gesichtsfeldes  ohne  specielle  Rich- 
tung der  Aufmerksamkeit  zum  Bewusstsein  zu  bringen  und  dass 
diese  Stumpfheit  dadurch  zur  bleibenden  Unfähigkeit  ge- 
worden sei,  weil  sich  niemals  das  praktische  Bedürfniss  einer 
Beachtung  dieser  Lücken  der  Continuität  geltend  gemacht  hat. 
Ist  einmal  begriffen,  dass  die  Continuität  doch  nur  eine  wie  immer 
entstandene    Illusion  sei,    so   handelt  es  sich  bei  den  blinden 


153 

Stellen  nur  darum,  dass  die  Unterbrechungen  weder  an  sich  so 
gross  und  auffallend  seien,  um  die  Yorhandene  Illusion  zu  stören, 
noch  auch,  dass  durch  praktische  Interessen  die  Aufmerksamkeit 
auf  diese  Lücken  gelenkt  werde.  Wird  die  einmal  bestehende 
Illusion  der  Continuität  durch  keine  der  beiden  Ursachen  alterirt, 
so  besteht  sie  fort,  auch  ohne  jede  active  Ergänzung  der  Empfin- 
dungslücken. 

Es    ist   von  Helmholtz   darauf  aufmerksam  gemacht  worden, 
wie  vielerlei  Unvollkommenheiten  unser  Gesichtsorgan  besitze,  von 
denen  allen  wir  nichts  merken,  und  wie  viele  subjektive  Störungen 
der  richtigen   Wahrnehmungen   aus   denselben   hervorgehen,    die 
uns   gar   nicht   zum  Bewusstsein  kommen.     Die  Ursache  hiervon 
liegt  allemal  darin,  dass  wir  nur  für  solche  Combinationen  Hirn-' 
prädispositionen     besitzen,     welche    uns    zum    Verständniss    der 
Aussenwelt  nützlich   sind,   dass  wir  nur   diejenigen  Anlagen  der 
Perception  üben  und  die  Aufmerksamkeit  nur  für  solche  Vorgänge 
im  Organ  schärfen,  welche  geeignet  sind,  uns  über  die  Vorgänge 
der   uns   allein   wichtigen  Aussenwelt  zu  unterrichten,   und  dass 
wir  in  Bezug   auf  solche  Modiiicationen   der   OrganempfindungeD, 
welche   für   diesen   praktischen   Zweck   werthlos  sind,  niemals 
dazu  gelangen,   die  ursprüngliche  Stumpilieit  und  Unvollkommen- 
heit   unserer  liirnperception   in   Bezug  auf  die  vom  Organ  zuge- 
führten Reize  durch   Aufmerksamkeit   zu    verschärfen  und  durch 
Uebung  zu   vervollkommnen  und  die   so   erworbenen  Prädisposi- 
tionen dann  weiter  zu  vererben.     Wir  befinden  uns  hinsichtlich  der 
Perception    der  für  das  Verständniss  der  Aussenwelt  wxrthlosen 
Zustände  der  Organempfindung  heute  noch  ungefähr  auf  derselben 
Stufe,  wie  ein  Individuum  hinsichtlich  der  werthvoUen  und  wich- 
tigen Organempfindungen  einnehmen   würde,   welches   gar   keine 
Gehirnprädispositionen  für  die  Wahrnehmungsprocesse  ererbt  hätte, 
die   Aussenwelt  zu    verstehen,   um  in  derselben  leben  zu  können. 
Stellt  man  sich  den  unter  dieser  Voraussetzung  selbstverständlichen 
Grad  von  Stumpfheit  der  Perception  vor,  so  wird  man  sich  nicht 
wundern,   dass  in  uns  die  w^erthlosen  Organempfind iingen  ebenso 
spurlos  dem  Bewusstsein  verloren  gehen,   wie    in   einem   solchen 
Individuum  überhaupt  alle  dem  Bewusstsein  verloren  gehen  wür- 
den.    (Auch  ein  Thier  nimmt  nur  einen  sehr  geringen  Theil  der 


154 

ihm  zuHiessenden  Wahrnebmuugeü  iu  sein  Bewusstsein  auf,  weil 
seine  Interessen  so  beschränkt  sind.)  Nachdem  wir  diese  Unter- 
schiede in  Feinheit  und  Stumpfheit  der  Perception  für  Empfin- 
dungen desselben  Organs  constatirt  haben,  verschwindet  jedes 
Bedürfniss,  eine  active  Ergänzung  des  Gesichtsfeldes  zu  Hülfe 
zu  nehmen,  um  die  Thatsache  zu  erklären,  dass  die  bestehende 
Illusion  der  Continuität  des  Gesichtsfeldes  durch  die  blinden 
Stellen  nicht  beeinträchtigt  wird. 

Erwägen  wir  nun  aber,  wie  gross  der  Durchmesser  der 
Lücke  bei  dem  blinden  Fleck  ist  im  Verhältniss  zu  der  Kleinheit 
der  Lücke  zwischen  den  Mittelpunkten  der  zwei  benachbarten 
Nervenprimitivfasern  entsprechenden  Empfindungsstellen  des  Ge- 
sichtsfeldes, so  leuchtet  ein,  dass  diese  letzteren  Differenzen  noch 
für  ein  sehr  viel  schärferes  Perceptions-  und  Distinctionsvermögen, 
als  das  unserige  nach  obigem  Beispiel  ist,  unpercipirbar  bleiben 
müssen,  so  lange  nicht  die  allerdringensten  Aufforderungen  von 
Seiten  des  praktischen  Bedürfnisses  die  Aufmerksamkeit  nach 
dieser  Richtung  schärfen.  Da  solche  nicht  vorliegen,  so  dürfen 
wir  unsere  obige  Annahme  als  berechtigt  ansehen,  dass  nämlich 
unsere  Perception  viel  zu  stumpf  und  unvollkommen  ist,  um  die 
mosaikartig  in  einer  Fläche  nach  ihren  Localzeichen  geordneten 
Empfindungen,  welche  durch  sämmtliche  Primitivfasern  eines  Seh- 
nerven heiTorgerufen  werden,  von  einer  wirklich  continuirlichei\ 
Fläche  zu  unterscheiden;  da  sie  zu  stumpf  ist,  um  die  Lücken 
zwischen  den  discreten  qualitativ  bestimmten  Empfindungen  als 
solche  aufzufassen,  so  muss  die  Perception  als  continuirlich  exten- 
jsive  in's  Bewusstsein  treten.  Schon  durch  die  recht  ansehnliche 
Zahl  der  isolirten  Nervenelemente  (namentlich  an  der  Stelle  des 
deutlichsten  Sehens)  ist  dafür  gesorgt,  dass  der  überwältigende 
Reichthum  der  gleichzeitig  auf  die  Perception  des  Gehirns  ein- 
strömenden Summe  von  Empfindungen  dieses  nicht  dazu  kommen 
lasse,  das  Manko  in  der  Stetigkeit  nach  beiden  Dimensionen  sich 
zum  Bewusstsein  zu  bringen. 

Nachdem  wir  die  anscheinende  Continuität  der  Kaum- 
anschauung als  eine  passive,  aus  der  Un Vollkommenheit  unserer 
Auffassung  herrührende  Illusion  erkannt  haben,  die  zu  ihrer 
Erklärung  keines  activen  Zuthuns    der  Seele  bedarf,   haben   wir 


155 

weiter  zu  betrachten^  wie  die  Entstehung  eines  zweidimensionalen 
E  m  p  f i  n  d  u  n  g  s  m  0  s  a  i  k  s  möglich  sei. 

Wir  haben  hierbei  zunächst  daran  zu  erinnern,  dass  der  Be- 
griff der  Dimension  weiter  ist  als  der  der  räumlichen  Dimension, 
Im  mathematischen  Sinne  versteht  man  unter  einer  Dimension 
die  eindeutige  Bestimmungsfälligkeit  durch  eine  Variable,  so 
dass  also  die  Anzahl  der  zur  eindeutigen  Bestimmung  erforder- 
lichen Variabein  der  Anzahl  der  Dimensionen  gleich  ist.  Auch 
der  einfache  Ton  ist  eine  Empfindung  von  zwei  Dimensionen, 
denn  er  braucht  zu  seiner  Bestimmung  zwei  Variable:  Tonstärke 
und  Tonhöhe.  Zwischen  dieser  zweidimensionalen  Empfindung 
lind  den  zweidimensionalen  Empfindungen  der  Localzeichen  der 
Xetzhauteindriicke  besteht  nun  aber  ein  wesentlicher,  bisher  nicht 
in  seiner  fundamentalen  Bedeutung  beachteter  Unterschied:  von 
Tönen  sind  stets  nur  einer  oder  einige  wenige  zugleich  im  Be- 
wusstsein,  von  den  Localzeichen  der  Netzhaut  sind  zu  jeder  Zeit 
alle  zugleich  im  Bewusstsein.  Die  Töne  liegen  so  weit  von 
einander  ab,  dass  sie  als  discrete  Empfindungen  mit  Lücken 
zwischen  sich  percipirt  werden ;  die  Empfindungen  der  Netzhaut 
aber  liegen  so  nahe  an  einander,  dass  ihre  Lücken  sich  der  Per- 
ception  entziehen  und  die  Blusion  der  Continuität  entsteht.  Bei 
Tönen  hat  der  Intellekt  ein  Interesse  daran,  selbst  nahe  an- 
einander gelegene  Empfindungen  als  discrete  auseinander 
zu  halten;  bei  den  Netzhautempfindungen  hat  er  im  Gegentheil 
Vortheil  von  der  Illusion  der  Continuität.  Bei  nahe- 
liegenden Tönen  geben  die  heftig  sich  bemerkbar  machenden 
^chwebungen  ein  Hülfsmittel,  die  Discretion  festzuhalten;  bei  den 
Netzhautempfindungen  fehlt  etwas  Aehnliches.  Gesetzt  den  Fall, 
es  gäbe  keine  Schwebungen  und  keine  Combinationstöne,  gesetzt 
fenier,  es  gäbe  die  M()glichkeit,  zwei  einfache  Töne  von  gleicher 
Hrihe  aber  verschiedener  Stärke  auseinander  zu  halten  (was  nicht 
angeht),  gesetzt  endlich,  jede  Pfeife  einer  Orgel  gäbe  statt  eines 
zusammengesetzten  Klanges  einen  einfachen  Ton,  so  würde  man 
sich  das  Analogon  der  beständigen  im  Wachen  nie  aufhörenden 
Empfindung  des  Gesichtsfeldes  (ganz  abgesehen  von  seinem  con- 
cretcn  Inhalt)  dadurch  für  den  Gehörssinn  vergegenwärtigen 
können,   dass  man  anf  einigen    tausend    gleichen  Orgeln   gleich- 


156 

zeitig  die  sämmtlicben  Pfeifen  einer  jeden  dauernd  ertönen  lässt, 
aber  so,  dass  jeder  Ton  auf  jeder  Orgel  in  einer  andern  Intensität 
erklingt.  Dies  Beispiel  hinkt  insofern,  als  die  in  zwei  Dimen- 
sionen geordneten  Localzeichen  zusammengenommen  nur  eine 
intensiv  schwache  Nervenerregung  geben,  w^ährend  die  Aus- 
führung des  Analogons  auch  bei  dem  Zutreffen  aller  unmöglichen 
Voraussetzungen  doch  noch  eine  so  gewaltige  Nervenerschütterung 
bewirken  würde,  dass  sie  nicht  lange  auszuhalten  wäre.  Ferner 
ist  in  den  2  Dimensionen  der  Tonempfindung  schon  jener  con- 
crete  Inhalt  mit  aufgenommen,  der  bei  der  Gesichtsempfindung 
erst  in  der  Erfüllung  der  verschiedenen  Stellen  des  Gesichtsfeldes 
mit  Licht  von  verschiedener  Intensität  und  Schwingungs- 
geschwindigkeit (Farbe)  hinzukommt.  Diese  2  Dimensionen 
der  Lichtstärke  und  Farbe  bleiben  für  das  Auge  ebenso  discret 
wie  Tonstärke  und  Tonhöhe  für  das  Ohr,  weil  einerseits  auch 
bei  ihnen  das  praktische  Interesse  an  die  discrete  Sonderling 
und  nicht  an  die  continuirliche  Verschmelzung  geknüpft  ist,  und 
weil  andererseits  auch  sie  nur  in  grossen  Intervallen  und  spo- 
radisch vorzukommen  pflegen  (die  anscheinende  Continuität  des 
Spectrums  ist  eine  einflusslose  und  praktisch  werthlose  Aus- 
nahme). Diejenigen  Empfindungen  der  Netzhaut  hingegen,  welche 
unabhängig  von  der  Qualität  des  äusseren  Reizes  als  in  zwei 
Dimensionen  gegebene  Localzeichenempiindungen  uns  in  dem  nie 
verschwindenden  Gesichtsfeld  beständig  vor  Augen  stehen  (sowohl 
in  den  belichteten  wie  in  den  schwarzen  Stellen  desselben),  diese 
haben  neben  dem  Vorzug  ihrer  ununterbrochenen  Einwir- 
kung auf  den  Intellekt  zugleich  den  Vorzug,  in  einer  unverändert 
bleibenden  Summe  gegeben  zu  sein,  welche  alle  möglichen 
Werthe  der  beiden  in  ihnen  enthaltenen  Variabein  innerhalb  ge- 
wisser Grenzen  (nämlich  von  Null  bis  auf  das  Maass  der  der 
Kandempfindungen  der  Retina  zukommenden  Lokalzeichen)  in 
solcher  Vollständigkeit  erschöpft,  dass  die  Lücken  zwischen 
den  einzelnen  Stufen  nicht  zur  Perception  gelangen.  Die  Folge 
hiervon  ist,  dass,  wenn  man  eine  beliebige  Empfindung  heraus- 
greift, dieselbe  unter  allen  Umständen  in  jeder  der  beiden 
Dimensionen  zwei  unmittelbare  Nachbarempfindungen 
hat,  welche  gleichzeitig  mit  ihr  actuell  sind  und  deren  Abstand 


157 

Tou  ihr  (im  Sinne  des  Maasses  der  quantitativen  Veränderung 
<les  Localzeichens ,  also  noch  nicht  im  rilnmlichen  Sinne  zu  ver- 
stehen) nicht  so  gross  ist,  um  als  Lücke  percipirt  werden  zu 
können.  Diese  Vollständigkeit  des  Empfindungs- 
complexes,  welche  in  der  überall  bestehenden  vierfachen 
Nachbarschaft  für  jede  Einzelcinpfinduiig-  gewährleistet  ist,  und 
welche  auch  bei  dem  Nullpunkt  —  oder  dem  Punkt  des  mittleren 
Abstandes  (wie  oben  zu  verstehen)  von  den  Empfindungen  mit 
maximalcu  Localzeichen  (Randempfindungen)  —  nicht  unterbrochen 
wird,  verleiht  diesem  Empfindungscomplex  eine  Geschlossen- 
h  e  i  t;  welche  ausser  bei  dem  Tastempfindungscomplex  bei  keinem 
.andern  Sinne  auch  nur  in  annähernder  Aehnlichkeit  wieder 
vorkommt. 

Erwägen  wir  nun,  dass  die  oben  (S.  152 — 154)  aufgestellten  Be- 
traclitungen  über  die  nothwendige  Entstehung  der  Illusion  derCon- 
tinuität  eine  ganz  allgemeine  Geltung  haben,  welche  oben  nur  der 
Deutlichkeit  wegen  auf  ein  räumliches  Mosaik  bezogen  wurde, 
aber  von  der  Räumlichkeit  oder  extensiven  Beschaffenheit  des 
zweidimensionalen  Empfindungscomplexcs  ganz  unabhängig  ist, 
so  sieht  man  sofort,  dass  unser  in  sich  geschlossener  zweidimen- 
sionaler Empfindungscomplex  zugleich  als  ein  lückenlos  conti - 
n  u  i  r  1  i  c  h  e  r  erscheinen  muss.  Erinnern  wir  uns  endlich  daran,  dass 
in  diesem  Complex  doch  schon  die  constructive  x\rbeit  der  Ord- 
nung der  Localzeichen  nach  zwei  Dimensionen  vorausgesetzt  ist, 
dass  also  das  so  erlangte  Resultat  etwas  ganz  anderes  ist,  als  die 
noch  rohe  Summe  der  gegebenen  Elementarempfindungen,  dass 
mit  einem  Wort  auf  der  jetzt  erklommenen  Stufe  schon  eine  A  n  - 
schauung  vorliegt,  in  welcher  elementare  Empfindung  und  con- 
structive Vorstellungsarbeit  durch  einen  Abkürzungsprocess  der 
Association  unbewusst  geworden  sind,  so  haben  wir  eine  solche 
Combination  erlangt,  dass  wir  sehr  wohl  sagen  können:  >nr  haben 
die  extensive  Flächenanschauung  in  ihrer  Genesis  begriffen. 
Denn  was  sollt«  für  ein  Merkmal  zu  derselben  fehlen,  wenn  wir 
hinstellen :  einen  in  sich  geschlossenen ,  anscheinend  lückenlos- 
continuirlichen,  zweidimensionalen  Empfindungscomplex  von  be- 
stimmter Maximalgrenze,  welcher  als  Anschauung  d.  h.  als  fertiges 
Resultat  vor's  Bewusstsein   tritt.     Letzten  Endes   lässt  sich  keine 


158 

Anschauung  so  beschreiben,  dass  einer  sie  verstehen  kann,  der 
nicht  selbst  diese  Anschauung  schon  besitzt ;  aber  dieses  Specifische 
der  Anschauung,  was  wir  als  in  der  Genesis  derselben  begründet 
erkannt  haben,  ist  eben  schon  in  diesen  Empfindungscomplex 
durch  die  nähere  Bestimmung  mit  hineingelegt  worden,  dass  der- 
selbe als  fertige  Anschauung  vor's  ßewusstsein  tritt.  In  gewissem 
Sinne  ist  hiermit  die  räumliche  Flächenanschauung  als  solche  für 
eine  Illusion  erklärt;  wer  sich  aber  erinnert,  dass  wir  auch 
die  Tiefenanschauung  und  ebenso  die  Continuität  der  Extensionen 
für  Illusionen  erklären  mussten,  ja  sogar,  dass  wir  in  gewissem 
Sinne  jede  iVnschauung  für  eine  Illusion  in  Bezug  auf  ihren 
wirklichen  Empfindungsstoft'  erklären  mussten,  der  kann  für  die 
Flächenanschauung  nichts  anderes  mehr  erwartet  haben.  Was 
M^ir  Flächenanschauung  nennen,  das  ist  eben  jene  genetisch 
mit  Nothwendigkeit  so  und  nicht  anders  erwachsene  Form  der 
Illusion,  die  wir  durch  nothwendige  Association  mit  diesem  zwei- 
dimensionalen geschlossenen  Empfindungscomplex  der  Netzliaut- 
localzeichen  verknüpfen.  Diese  Illusion  ist  uns  nützlich,  weit 
sie  in  Verbindung  mit  der  dritten  Dimension  nach  Umständen 
gut  genug  der  in  sich  geschlosseneu  dreidimensionalen  Ordnung 
der  realen  Dinge  entspricht,  welche  letztere  mindestens  hin- 
sichtlich der  realen  Bewegung  eine  wirklich  c  o  n  t  i  n  u  i  r  1  i  c  h  e 
ist.  Die  letzten  Endes  aus  der  ünvollkommenheit  unserer  Auf- 
fassung entspringende  Illusion  ist  es  also  allein ,  welche  uns  die 
auf  keine  andere  Weise  für  uns  zu  erlangende  Möglichkeit  ver- 
schafft, unser  subjektives  Abbild  der  Ordnung  der  wirklichen 
Dinge  einer  wichtigen  Eigenschaft  derselben  conform  zu  machen. 
Das  Einzige,  was  bei  der  vorangehenden  Erörterung  noch 
zweifelhaft  gebheben  ist,  ist  der  Vorgang  des  Ordnensder 
rohen  Empfindungsmasse  nach  den  (quantitativen  Verliältnisscn 
ihrer  Localzeichen  in  den  zwei  Dimensionen.  Zunächst  ist  das 
Missverständniss  auszuschliessen ,  als  wäre  dieses  Ordnen  als  ein 
räumliches  Umstellen  zu  verstehen;  davon  kann  vor  Fertigstelluug 
der  Raumanschauung  natürlich  nicht  die  Rede  sein;  ein  solches 
Missverständniss  würde  das  andere  voraussetzen,  dass  die  discrcten 
Empfindungselemente  vor  ihrer  Ordnung  nach  den  Dimensionen 
einen    gewissen   Platz    im  Bewusstsein    hätter,    welchen    es   zu 


159 

ändern  gälte.  Dies  ist  nattirlicli  ganz  verkehrt;  das  Zugleich- 
sein der  elementaren  Empfindungen  im  Bewusstsein  kann  nur  ein 
durchaus  raumloses  sein,  und  der  Begriff  de«  Ordnens  ist  nicht 
als  das  Schaffen  eines  noch  nicht  Vorhandenen  zu  verstehen, 
sondern  nur  als  das  Entdecken  des  bereits  durch  die  Organ- 
einrichtung Gegebenen  mit  Hülfe  eines  idealen  Durchlaufens  der 
Empfindungen  in  der  durch  die  gesetzmässige  Aenderung  ihrer 
Localzeichen  bedingten  Reihenfolge,  als  ein  geistiger  Orienti- 
rungsprocess  des  Bewusstseins  in  der  gegebenen  Empfin- 
dungsmasse, als  dessen  bleibendes  Resultat  durch  Abkürzung  der 
Ideenassociation  die  Neigung  zurückbleibt,  beim  künftigen  Durch- 
laufen dieser  ^Massen  mit  der  Aufmerksamkeit  von  jeder  Empfin- 
dung immer  nur  auf  ihren  unmittelbaren  Nachbarn  und  von 
diesem  wieder  nur  auf  den  nach  demselben  Aenderungsgesetz  sich 
anreihenden  Nachbarn  überzugehen,  oder  mit  anderen  Worten 
beim  Durchlaufen  der  Empfindungsmasse  mit  der  Aufmerksamkeit 
keine  Sprünge  zu  machen  und  Richtung  zu  halten  (nach 
demselben  Aenderungsgesetz  der  Localzeichen  fortzuschreiten). 
Hat  sich  diese  Prädisposition  hinlänglich  befestigt,  so  ist  dasjenige 
erreicht,  was  wir  unter  dem  Namen  des  Ordnens  der  Empfin- 
dungen als  erste  Voraussetzung  der  Entstehung  der  Raura- 
anschauung  fordern  mussten,  und  alsdann  geht  der  Abkürzungs- 
process  der  Ideenassociation  in  der  eben  ausgeführten  Weise 
weiter,  so  dass  die  Aufmerksamkeit  sich  mit  dieser  hergestellten 
oder  richtiger  entdeckten  Ordnung  der  Empfindungen  gar  nicht 
mehr  beschäftigt,  sondern  sich  der  Totalität  dieses  nun  ordnungs- 
mässig  beherrschten  Empfindungscomplexes  zuwendet. 

Wer  in  diesem  Orientirungsprocess  des  Bewusstseins  am 
Leitfaden  der  schrittweisen  Aenderung  der  Localzeichen  etwa 
eine  Leistung  sehen  wollte,  welche  die  intellektuelle  Fähigkeit 
der  niederen  Thiere,  in  denen  dieser  Process  sich  vollzieht,  über- 
stiege, der  ist  daran  zu  erinnern,  dass  solches  nur  wahr  sein 
würde  von  einem  Intellekt,  der  ohne  ererbte  Prädisposition  einem 
solchen  Reichthum  gegenübergestellt  würde,  wie  ihn  etwa  das 
Auge  des  Säugethieres  oder  auch  schon  das  der  Fliege  bietet, 
dass  aber  obige  Behauptung  sofort  hinfällig  wird,  wenn  man  be- 
denkt,  dass   das  Organ  und  die  prädispositionelle  Fertigkeit  zur 


160 

Benützung  der  von  ihm  gelieferten  Empfindungen  Hand  in  Hand 
gehen  und  sich  gemeinschaftlich  ganz  allmählich  Schritt  vor 
»Schritt  vervollkommnen,  so  dass  also  auch  jedes  Wesen  die  der 
Oomplication  seines  Sinnes-Organs  entsprechenden 
Prädispositionen  des  Centralorgans  unfehlbar  mit  auf  die  Welt 
bringt  und  seinerseits  nur  die  Aufgabe  vorfindet,  bei  der  Concurrenz 
um  möglichst  vortheilhafte  Ausnutzung  (und  zu  dem  Zweck  um 
möglichst  genaues  Verständniss  der  Aussenwelt)  die  ererbten  Prä- 
dispositionen durch  Probiren  und  Uebung  um  einen  mini- 
malen Zusatz  zu  steigern  und  zu  vervollkommnen  —  und 
diese  Aufgabe  geht  wahrlich  nicht  über  seine  Kräfte.  Die  ver- 
gleichende Anatomie  lehrt  uns  ferner,  dass  die  einfachsten  Formen 
von  Augen  bei  niederen  Thieren  zunächst  durchaus  nur  der  Unter- 
scheidung von  hell  und  dunkel  dienen  können,  und  dass  schon 
eine  gewisse  Vervollkommnungsstufe  des  Organs  dazu  gehört,  um 
Lichteindrücke,  welche  von  rechts  oder  links,  von  oben  oder 
unten  her  das  Organ  treffen,  als  qualitativ  verschieden  auffassen 
zu  können  und  so  die  erste  primitive  Grundlage  zu  einer  Aus- 
bildung von  Localzeichen  zu  gewinnen.  In  solchem  Organ  wird 
der  gerade  von  vorn  kommende  Eindruck  als  der  häutigste  und 
deshalb  normale  und  die  von  rechts,  links,  oben  oder  unten 
kommenden  als  specifische  qualitative  Modificationen  der 
normalen  Helligkeitsempfindung  percipirt  werden.  Sie  werden 
mit  einem  positiven  oder  negativen  Localzeichen  der  einen  oder 
der  andern  Dimension  behaftet  auftreten.  Die  Reaction  des 
Thieres  auf  jede  dieser  Modificationen  wird  sich  verschieden  ent- 
wickeln, weil  mit  dem  Leuchtenden  für  jedes  Thier  verschiedene 
praktische  Interessen  verknüpft  sind,  und  es  wird  sich  für  jede 
Empfindung  eine  prädispositionelle  Association  mit  gewissen  Be- 
weguugsreactionen  herausbilden,  auch  ohne  dass  das  Thier  zu 
einer  extensiven  Raumanschauung  gelangt.  Öo  sehen  wir,  dass 
der  Gesichtssiim  der  niederen  Thiere  schon  lange  vorher 
von  erheblichen  Nutzen  werden  kann,  ehe  seine  Elemeutar- 
empfindungen  so  discret  gesondert  und  so  zahlreich  neben- 
einandergestellt sind,  um  eine  R  a  u  m  a  n  s  c  h  a  u  u  n  g  zu  erzeugen. 
Auf  dem  Fundament  jener  Associationen  von  modificirtcn  Gesichts- 
empfindungen   mit    bestimmten    reflectorischen    Handlungsweisen 


161 

kann  sich  aber  das  Organ  durch  natürliche  Zuchtwahl  weiter 
entwickeln  und  immer  mehr  und  immer  feiner  unterschiedene 
Elementarempfindungen  liefern.  Dann  wird  irgend  einmal  ein 
gewisser  Punkt  eintreten,  wo  die  immer  noch  massige  Zahl  modi- 
ficirter  Elementarempfindungen  als  geschlossener  continuirlicher 
Empfindungscomplex  sich  darstellt  und  dadurch  die  Illusion  der 
räumlichen  Flächenanschauung  erzeugte;  denn  soviel  geringer  al» 
die  Zahl  der  discreten  Empfindungselemente  des  Gesichtsfeldes^ 
und  soviel  grösser  als  die  Lücken  zwischen  je  zwei  benachbarten 
Empfindungen  (resp.  der  quantitative  Sprung  zwischen  ihren 
Localzeichen)  bei  einem  solchen  niederen  Thiere  ist,  um  min- 
destens eben  soviel  stumpfer  ist  auch  das  Perceptionsvermögen 
des  Centralorgans  seines  Intellekts  als  beim  Menschen,  so  dass 
auch  hier  der  Illusion  der  Continuität  kein  Hinderniss  im  Wege 
steht. 

So  verschwinden  die  Schwierigkeiten  des  Problems  mehr  und 
mehr,  je  eingehender  man  dieselben  aus  dem  Gesichtspunkt  der 
Descendenztheorie  und  der  prädispositionellen  Vererbung  zer- 
gliedert. Wenngleich  im  Einzelnen  noch  immer  vieles  dunkel 
bleiben  wird,  so  glauben  wir  doch  den  Weg  angedeutet  zu  haben, 
auf  welchem  weitere  Forschungen  mehr  und  mehr  Licht  über 
diese  Fragen  verbreiten  werden. 

Es  sei  gestattet,  am  Schluss  dieses  Capitels  eine  kurze  Be- 
merkung über  die  apriorische  Denkform  der  Causalität  hinzuzu- 
fügen, welche  Schopenhauer  mit  Recht  die  wichtigste  (wenn  auch 
mit  Unrecht  die  einzige)  Kategorie  nennt,  und  welche  er  eben«o 
richtig  (wie  Raum  und  Zeit)  als  Gehirnfunction  ansieht,  deren 
specifische  Qualität  natürlich  als  in  der  Beschaffenheit  de» 
functionirenden  Gehirns  prädisponirt  gedacht  werden  muss.  Wir 
haben  im  Allgemeinen  die  apriorischen  Denkformen  schon  am 
Schluss  des  Vlil.  Abschnitts  behandelt,  und  hätten  nicht  nöthig, 
hier  noch  einmal  auf  einen  speciellen  Fall  zurückzukommen, 
wenn  nicht  die  hervorragende  Bedeutung  der  Causalität  und  ihre 
nahe  Zusammengehörigkeit  mit  den  Anschauungsformen  des 
Raums  und  der  Zeit  dazu  aufforderte,  an  die  Betrachtung  der 
letzteren  beiden  noch  einen  Hinblick  auf  die  erstere  anzu- 
schliessen. 

11 


162 

Schopenhauer  begnügte  sich  damit,  die  Causalität  für  eine  Hirn- 
functiou  zu  erklären,  für  die  das  Gehirn  in  demselben  Sinne  cou- 
struirt  sei,  wie  das  Auge  für  das  Sehen;  auf  die  Genesis  dieser 
Hiruprädisposition  ging  er  ebensowenig  näber  ein  wie  Kant,  und 
erklärte  sich  mit  der  iiUgemeinen  metaphysischen  Behauptung  einer 
Objectivation  des  Willens  zum  Leben  zufriedengestellt.  Wir 
haben  aber  gesehen,  dass  der  Wille  eines  Individuums  ein 
Summationsphänomen  aus  den  Atomkräften  der  Centralorgane  des 
Nervensystems  ist  (vgl.  oben  S.  79—81),  und  dass  der  Wille  zum 
Leben  oder  Dasein  eben  auch  nur  das  Resultat  eines  An- 
passungsprocesses  an  das  als  Ausgangspunkt  desselben  gegebene 
Dasein  ist  (vgl.  oben  S.  41 — 42).  Somit  sind  also  „Wille  zum 
Leben"  und  „Hirnprädisposition  der  Causalität"  coordinirte  Wir- 
kungen einer  und  derselben  Ursache:  „des  Anpassuugsprocesses 
an's  Dasein  in  der  Concurrenz  um  dasselbe",  und  nimmermehr 
kann  die  eine  dieser  Folgen  ohne  näheres  Yerständniss  als  wir- 
kende Ursache  der  andern  behauptet  werden.  —  Aber  obwohl 
Schopenhauer  die  CausaUtät  als  Gehirnfunction  anerkennt,  so  ver- 
kennt er  doch  den  himmelweiten  Unterschied  einer  solchen  aus 
bestehenden  Prädispositionen  heraus  blind  (d.  h.  unbewusster 
Weise)  wirkenden  Function  und  des  durch  den  Abstractions- 
process  herauspräparirten  Elements,  welches  als  integrirender  Be- 
standtheil  complicirterer  Vorstellungsmassen  durch  jene  Function  in 
diese  letzteren  hineingebracht  ist,  mit  andern  Worten  er  ver- 
wechselt die  unbewusste  mechanische  Hirnfunction ,  welche  zur 
causalen  Association  von  Vorstellungen  nöthigt,  mit  dem  logisch 
herauspräparirten  Begriff  der  Causalität.  Die  Ph.  d.  U.  sagt 
(S.  312 — 313):  „Deshalb  ist  es  falsch,  den  Causalitätsbe griff 
als  Vermittler  für  eine  bewusste  Ausscheidung  des  Objectes" 
(aus  der  Summe  der  gegebenen  Empfmdungenj  „zu  setzen,  denn 
die  Objecte  sind  lange  vorher  da,  ehe  der  Cau- 
salitätsbegrilf  aufgegangen  ist;  und  wäre  diess  auch 
nicht  der  Fall,  so  müsste  auch  dann  das  Subject  gleich- 
zeitig mit  dem  Object  gewonnen  werden.  Allerdings  ist  für 
den  philosophischen  Standpunkt  die  Causalität  das  einzige 
Mittel,    um    über    den    blossen    Yorstelluugsprocess    hinaus    zum 


165 

Subjecte  und  Objecte  zu  gelangen  (vgl.  das  Ding  an  sich  Abschn. 
IV  nnd  V);  allerdings  ist  für  das  Bewusstsein  des  gebildeten 
Verstandes  das  Object  in  der  Wahrnehmung  nur  als  deren 
äussere  Ursache  enthalten;  allerdings  mag  (?)  der  unbewusste 
Process,  welcher  dem  ersten  Bewusstvverden  des  Objectes  zu 
Orunde  liegt,  diesem  bewussten  philosophischen  Processe  analog 
sein,  —  so  viel  ist  gewiss,  dass  der  Process,  als  dessen  Resultat 
das  äussere  Object  dem  Bewusstsein  fertig  entgegentritt,  ein 
durchaus  unbewusster  ist,  und  mithin,  wenn  die  Causalität  in 
ihm  eine  Rolle  spielt,  was  wir  übrigens  nie  direct  constatiren 
können,  darum  doch  keinenfalls  gesagt  werden  kann,  wie  Schopen- 
hauer thut,  dass  der  apriorisch  gegebene  Causalitäts- 
begriff  das  äussere  Object  schaffe,  weil  man  in  dieser 
Ausdrucksweise  den  Begriff  als  einen  bewussten  auffassen  müsste, 
was  er  entschieden  nicht  sein  kann,  weil  er  viel,  viel  später 
gebildet, wird,  und  zwar  zuerst  aus  Beziehungen  der  bereits 
fertigen  Objecte  untereinander."  (Vgl.  auch  „das  Ding  an 
sich"  S.  66—74). 

Halten  wir  daran  fest,  dass  der  Process,  als  dessen 
Resultat  das  äussere  Object  dem  Bewusstsein  fertig  entgegen- 
tritt, ein  Process  von  Hirnschwingungen  ist,  die  durch  die 
Molecularbeschaifeuheit  des  Gehirns  lormell  prädisponirt  sind,  so 
ist  die  in  dem  Citat  offen  gelassene  Frage,  ob  die  Causalität  in 
demselben  eine  Rolle  spielt,  sehr  leicht  zu  entscheiden.  Es  kommt 
nur  darauf  an,  was  hier  unter  Causalität  verstanden  wird.  Ver- 
stehen wir  darunter  die  causalen  Einwirkungen  der  Hirnmolecule 
aufeinander,  so  ist  ihre  Betheiligung  selbstverständlich;  verstehen 
wir  darunter  jene  gleichviel  wie  beschaffene,  nicht  selbst  Begriff' 
seiende,  sondern  erst  das  Material  zur  Bildung  des  Causalitäts- 
begriffs  erzeugende  apriorische  psychologische  Function,  so  wird 
inan  dieser  psychologischen  Function  darum  ihren  Namen  nicht 
entziehen  dürfen,  weil  wir  sie  als  Function  des  materiellen 
Denkorgans  näher  bestimmen  gelernt  haben.  Versteht  man 
aber  unter  der  unbewussten  Causalität  eine  meta})hysisch  spiri- 
tualistische  Intuition,  die  über  dem  materiellen  Denkorgan 
jftchweben  soll,  und  das  getreue  Abbild    oder  vielmehr  Vorbild 


164 

des  philosophischen  (bewussten)  Causalitätsbegriffs  darstellen 
soll,  dann  ist  die  Frage  allerdings  zu  verneinen,  denn  zu  einer 
solchen  Hypothese  liegt  nicht  nur  keine  Nöthigung  vor,  sie  wird 
vielmehr  durch  die  genügende  physiologische  Erklärung  ent- 
schieden discreditirt. 

Bei  einer  solchen  Auffassung  erhält  freilich  auch  die  Be- 
hauptung Schopenhauer's ,  dass  auch  das  niedrigste  Thier 
schon  der  Causalität  bedürfe,  um  zu  leben,  eine  modificirte 
Bedeutung.  Zunächst  gilt  dieselbe  jedenfalls  nur  mit  Einschrän- 
kung auf  diejenigen  Thiere,  deren  Verstandeskräfte  hoch  genug 
entwickelt  sind,  um  vonObjccten  der  AVahrnehmung  bei  ihnen 
reden  zu  können;  denn  nur  bei  solchen  ist  das  Problem  der  Ent- 
stehung des  Objects  der  Walirnehmung  gegeben,  zu  dessen  Lösung 
Schopenhauer  die  Causalität  fordert;  bei  ganz  tief  stehenden 
Thieren  wird  ebenso  wie  bei  Protisten  und  Pflanzen  wohl  von 
Empfindung,  aber  nicht  mehr  von  Wahrnehmung  im 
Sinne  der  Anschauung  eines  WahrnehmuDgsobjects  die  Rede  sein 
können.  Weiterhin  aber  gilt  auch  bei  den  wirklich  wahrneh- 
menden Thieren  Schopenhauer's  Behauptung  nur  in  dem  Sinne, 
dass  in  den  Nervencentralorgauen  dieser  Thiere  auch  schon 
ererbte  Prädispositionen  enthalten  sein  müssen,  welche  durch  ihr 
Functioniren  eine  gewisse  Associationsform  von  Vorstellungen  zu 
Stande  bringen,  nielit  aber  in  dem  Sinne,  als  wäre  ein  bewusster 
oder  unbewusster  Begriff  oder  Idee  der  Causalität  bei  dem  Vor- 
gang im  Spiele.  Schopenhauer  deutet  mit  Recht  darauf  hin,  dass 
die  Hirnfunction  der  Causalität  als  Verselbstständigungsact  der 
Wahrnehmungen  zu  Objecten  mit  der  Hirnfunction  der  dritten 
Dimension  des  Raumes  in  einer  nahen  Beziehung  steht;  haben 
wir  nun  vorhin  gesehen,  dass  die  dritte  Dimension  der  Raum- 
anschauung im  Tbierreich  erst  ziemlich  spät  auftreten  kann 
(jedenfalls  lange  nach  der  zweidimensionalen  Raumanschauung, 
welche  ebenfalls  noch  den  niedrigsten  Thieren  fehlen  dürfte),  so 
haben  wir  hieran  schon  einen  ungefähren  Anhalt  für  die 
Beurtheilung  der  Entstehung  der  Prädispositiou  der  Causal- 
function.  Wie  wir  oben  (S.  160)  erkannten,  dass  die  durch  verschie- 
dene Localzeichcn  gefärbten  Sinnesempfinduugen  auch  dann  schon 


165 

-durch  Association  von  bestimmten  Vorstellungen  uiurVerlialtiuigs- 
weisen  einem  Thiere  nützlich  werden  können,  wenn  es  noch 
nicht  die  räumliche  Ausbreitung  dieser  Empfindungen  zur  An- 
schauung vollzogen  hat,  ebenso  werden  wir  zugestehen  müssen^ 
dass  verschiedene  Empfindungen  überhaupt  ohne  alle 
Verselbstständigung  derselben  zu  Wahrnehmungs- 
objecten  hinreichen  können ,  um  einem  Wesen  von  ein- 
facheren Lebensverhältnissen  die  für  seine  Lebenszwecke  nöthigen 
Eeize  und  Warnungen  zu  ertheilen,  dass  also  auch  durch  natür- 
liche Zuchtwahl  solche  Wesen  prädispositionelle  Associa- 
tionen zwischen  bestimmten  Empfindungen  und  bestimmten 
Handlungsweisen  erwerben  und  vererben  können,  ohne  dass 
ihrem  Bewusstsein  eine  objective  Aussen  weit  aufgegangen 
wäre.  Wie  das  Ordnen  der  durch  Local zeichen  gefärbten  Tast- 
oder Gesichts-Empfindungen  nur  als  Erleichterung  für  eine 
übersichtliche  und  zusammenfassende  Orientirung  dient,  und 
deshalb  erst  dann  nützlich  wird,  wenn  der  Reichthum  der 
betreffenden  Empfindungen  ein  gewisses  Maass  überschreitet, 
ebenso  ist  auch  die  Construction  einer  objectiven  Aussenwelt 
nur  ein  ebensolches  Hülfs mittel  der  üebersichtlichkeit,  um  die 
stets  wachsende  Totalsumme  von  Sinnesempfindungen  unter  solche 
einheitliche  Gesichtspunkte  zu  ordnen,  welche  den  ererbten  Prädis- 
positionen der  instinctiven  Verhaltungs weise  auf  diese  Empfin- 
dungen am  besten  entsprechen;  dies  geschieht  aber  durch  Zu- 
sammenfassung der  qualitativ  verschiedensten  Empfindungen  in 
die  Anschauung  eines  selbstständigen  und  wirkenden  Objects. 
Nach  Entstehung  der  dreidimensionalen  Raumanschauung  vollzieht 
sich  dieser  Process  ganz  von  selbst  dadurch,  dass  alle  ßegriflfe 
von  Causalität,  Substantialität ,  Phänomenalität  u.  s.  w.  fehlen, 
also  das  Begriff*smaterial  zu  einer  Unterscheidung  des  eigenen 
Vorstellungsgespinstes  von  der  transcendenten  Wirklichkeit 
mangelt,  während  andererseits  die  instinctiven  Prädispositionen 
des  Handelns  ganz  so  functioniren,  als  ob  das  eigene  sub- 
jective  Wahrnehmungsbild  selbst  ein  Wirkendes,  Handelndes, 
feindlich  oder  freundlich  in  das  Leben  Eingreifendes  wäre.  Wie 
die  Raumanschauung  aus  der  Stumpfheit    der  Wahrnehmung  ent- 


166 

springt,  welche  von  den  Lücken  nichts  merkt,  so  entspringt  dei' 
naive  Realismus  aus  der  Stumpfheit  des  Denkens, 
welchem  noch  die  Fähigkeit  der  Unterscheidung  zwischen  sub- 
jectiv-phänomenal  und  transcendent-real  fehlt  (vgl.  „das  Ding 
an  sich"  S.  70 — 71),  eine  Unterscheidung,  gegen  die  sich  bekannt- 
lich heute  noch  ganze  Philosophenschulen  mit  unbegreiflicher 
Verblendung  und  Hartnäckigkeit  versperren. 


X. 

Der  Instinct 

als  ererbte  Hirn-  und  Ganglien 

Prädisposition. 


"Wie  wir  oben  (S.  29 — 30)  gesehen  haben,  dass  gerade  der 
naturwissenschaftliche  Materialismus  sich  gegen  die  empirische 
Thatsache  der  Naturzweckmässigkeit,  welche  die  Philosophie 
meibteiis  anerkannte,  eigenwillig  deshalb  verschloss,  weil  ihm  das 
Rüstzeug  seines  Wissens  kein  Erklärungsmittel  t'ür  eine  solche 
Erscheinung  bot,  ebenso  skeptisch,  negirend  oder  ignorirend  ver- 
hielt sich  derselbe  bisher  meistentheils  auch  dem  besonderen  Fall 
der  Naturzweckmässigkeit  gegenüber,  welcher  in  den  Hand- 
lungen der  Naturwesen  zu  Tage  tritt  und  welchen  wir,  insofern  der 
Zweck  der  Handlung  dem  Bewusstseiu  des  Thieres  nicht  g^egen- 
wärtig  sein  kann,  mit  dem  Worte  Instinct  bezeichnen.  Obwohl 
in  der  That  über  den  Instinct  der  Thiere  viel  gefabelt  worden 
ist,  und  auch  wohl  heute  noch  manche  auf  Treu  und  Glauben 
angenommene  Behauptungen  der  genaueren  Beobachtung  und 
Bestätigung,  beziehungsweise  Berichtigung  bedürfen,  so  ist  doch 
die  Zahl  unzweiteliiafter  Thatsachen  auf  diesem  Gebiet  so  massen- 
haft und  die  Autopsie  für  jeden  unbefangenen  Beobachter  der 
Natur  überall  so  leicht  zugänglich,  dass  wirklich  nur  systematische 
Voreingenommenheit  das  Vorhandensein  des  gebieterisch  sich  aul- 
drängenden Problems  leugnen  kann.  Freilich  fmdet  man  diese 
Voreingenommenheit  heutzutage  noch  öfters  selbst  bei  den  Natur- 


168^ 

iorscbern,  welche  die  Descendenztheorie  willig  acceptirt  haben, 
aber  durch  die  theoretischen  Antipathien  ihrer  Vergangenheit 
beeinfiusst  sind.  Zu  dieser  Classe  gehört  sogar  Wallace,  der  den 
Einfluss  der  Gewohnheit  bei  der  Entstehung  des  Instincts  mit 
Eecht  hervorhebt,  aber  von  der  Psychologie  des  Menschen  und 
der  Thiere  \del  zu  wenig  versteht,  um  die  sensualistische  Erklä- 
rungsmanier solcher  Probleme,  wie  sie  bei  seinen  Landsleuten 
besonders  beliebt  ist,  in  ihrer  armseligen  Plattheit  zu  durch- 
;schauen  und  die  Grösse  des  Fortschritts  zu  ermessen,  welcher 
durch  Darwin's  Ausbildung  der  Descendenztheorie  auch  auf 
psychologischem  Gebiete  angebahnt  worden  ist.  Der  Nachweis, 
dass  eine  Function  durch  ein  gewisses  Maas  von  Uebung  in  sich 
gefestigt  und  gestärkt  wird ,  genügt  diesem  Standpunkte  sofort, 
um  das  Vorhandensein  einer  angeborenen  Disposition  zu  leugnen, 
ohne  Rücksicht  darauf,  dass  die  Uebung  nur  den  letzten  Schliff 
und  die  volle  Sicherheit  der  Beherrschung  liefert,  und  dass  ohne 
das  Angeborensein  der  Disposition  ein  solches  Resultat  in  so 
kurzer  Zeit  und  mit  so  geringen  Mitteln  gar  nicht  erzielt  werden 
konnte.  So  erlernt  z.  B.  der  junge  Singvogel  den  Gesang  seiner 
Art  erst  durch  eine  gewisse  Uebung,  aber  der  ältere  Vogel  braucht 
nach  jedem  Rauhen  eine  ganz  ebensolche  Periode  der  Uebung, 
um  wieder  die  Herrschaft  über  die  Stimme  zu  erlangen,  ohne 
dass  er  seine  Sangesweise  vergessen  hätte,  wie  sein  einsames 
Wiedereinüben  derselben  beweist;  kann  also  unter  solchen  Um- 
ständen die  dem  jungen  Vogel  nöthige  Uebung  gegen  die  ange- 
borene Prädisposition  zu  seiner  Sangesweise  sprechen'?  Es  ist 
ferner  wahr,  dass  erst  die  Nachahmung  der  Artgenossen  dem 
Gesang  des  jungen  Vogels  die  letzte  Vollendung  giebt,  also  als 
Hilfe  lür  die  Nachmeisselung  seiner  Hirnprädisposition  dient,  aber 
ungefähr  denselben  Gesang  übt  er  sich  auch  einsam  aufwachsend 
ein,  es  müsste  denn  zufällig  ein  talentloses  und  träges  Individuum 
sein.  Ebenso  ist  es  wahr,  dass  der  Nachahmungsinstinct  im 
Stande  ist,  die  Functionsweise  der  ererbten  Gesangs-Prädisposi- 
tionen  zu  modificiren,  d.  h.  ein  Singvogel  lernt  den  Schlag  anderer 
Specien  imitiren;  dies  ist  um  so  weniger  zu  verwundern,  als  ja 
manche  Vogelarten  ihr  musikalisches  Bedtirfniss  ganz  und  gar 
durch   erborgte  Weisen   befriedigen;    je  schärfer  andrerseits  die 


169 

eigenthümlicbe  Sangesweise  einer  Species  ausgeprägt  ist,  um  so 
grösseren  Widerstand  wird  die  ererbte  Prädisposition  der  Modi- 
fication  durch  den  Nachahmungstrieb  entgegensetzen.  Bei  dem 
Sänger  der  Sänger,  der  Nachtigall,  haben  wir  noch  nichts  von 
nennenswerthen  Imitationen  gehört;  nur  die  von  Natur  schlechte- 
sten Sänger  lernen  menschliche  Melodien  nachpfeifen,  und  allen 
eigentlichen  Singvögeln  gefallt  doch  immer  ihr  eigenes  Lied  am 
besten.  Ohne  Zweifel  bestehen  auch  in  dem  Vogelsang  neben 
angeborenen  Elementen  typischer  Bildungs-  und  Verknüpfungs- 
formen  der  Töne  andere  Elemente,  welche  der  willkürlichen  Modi- 
fication  des  Gesanges  einen  gewissen  Spielraum  lassen,  ganz  wie 
wir  dies  bei  der  menschlichen  Sprache  gesehen  haben  (vgl.  oben 
(S.  123—125). 

Es  kann  nicht  unsere  Absicht  sein,  uns  hier  auf  eine  längere 
Polemik  gegen  diejenigen  einzulassen,  welche  die  Thatsache  des 
Instmcts  bestreiten,  sondern  wir  nehmen  das  Problem,  ebenso  wie 
es  die  Ph.  d.  Unb.  aufstellt,  als  gegeben  an  und  wollen  nun  sehen, 
was  die  Descendenztheorie  für  Mittel  zur  Erklärung  der  wunder- 
baren Erscheinung  an  die  Hand  giebt. 

Wir  haben  in  den  vorhergehenden  Abschnitten  die  Bedeutung 
der  Vererbung  hinlänglich  erörtert;  wir  haben  (S.  112 — 115)  ge- 
sehen, wie  der  Organismus  die  Fähigkeit  erwirbt,  gewisse  vor- 
gestellte Bewegungen  zur  Ausführung  zu  bringen  und  wie  diese 
Fähigkeit  durch  Vererbung  und  Zuwachs  sich  befestigt  und 
steigert;  wir  haben  ferner  betrachtet  (S.  111 — 112),  wie  die  kör- 
perlichen Fertigkeiten  im  weiteren  Sinne  auf  ererbten  Prädispo- 
sitionen sowohl  des  Gehirns  als  der  untergeordneten  der  Central- 
organe  des  Nervensystems  beruhen,  wie  man  bei  typischen  Denk- 
formeu  (S.  129  —  132j  und  bei  anderen  wichtigen  Vorstellungs- 
elementen mit  Recht  von  ererbten  schlummernden  Gedächtniss- 
dispositionen (S.  109— -111)  sprechen  kann^  und  wie  die  geistigen 
Fertigkeiten,  Anlagen  und  Talente,  über  deren  Augeborensein  alle 
Welt  einverstanden  ist,  ebenfalls  nur  aus  molecularen  Prädisposi- 
tionen des  Gehirns  für  gewisse  Arten  und  Formen  des  Fuuctionirens 
erklärt  werden  können  (S.  115 — 117).  Wir  sahen  weiterhin  (S.  136 
bis  139),  dass  in  der  ererbten  Hirnprädisposition  für  bestimmte 
psychische  Functionsweisen  jenes  Element  zu  suchen  ist,  welches 


170   _ 

die  Philosophie  mit  dem  Worte  a  priori  bezeichnet  und  dessen 
Bedeutung  von  der  empirischen  Psychologie  so  lange  mit  Un- 
recht verkannt  worden  war;  wir  erkannten  insbesondere  (S.  121 
bis  123),  dass  diejenigen  Vorstellungsverknüpfungen  zur  prä- 
dispositionellen Vererbung  tendiren  und  besonders  geeignet  scheinen,, 
welche  aus  einem  Abkürzungsprocess  der  Ideenassociation  resul- 
tiren  und  wir  fanden  endlich  (S.  101 — 103),  dass  der  Charakter 
im  weitesten  Sinne  sammt  allen  dem  Individuum  in  Handlungs- 
weise, Benehmen,  Manieren,  Bewegung  und  Haltung  anhaftenden 
Eigenthümlichkeiten  gleichsam  den  Grundstock  der  psychischen 
Vererbung  bildet.  —  Alle  diese  getrennt  betrachteten  Elemente 
finden  wir  nun  vereinigt  im  Instinct  wieder.  Derlnstinct  ist  zu- 
nächst „der  innerste  Kern  jedes  Wesens",  wie  sich  schon  daraus 
zeigt,  dass  er  das  Individuum  zu  den  höchsten  Opfern,  sogar 
seiner  Existenz,  bringt  (Ph.  d.  Unb.  S.  101);  beim  Menschen  aber 
nennen  wir  den  tietlnnersten  Kern  des  Wesens,  der  für  all  sein 
Thun  und  Lassen  bestimmend  ist,  den  Charakter  (ebd.  S.  236). 
„Wir  werden  später  (Cap.  B  IV)  sehen,  dass  man  die  Summe  der 
individuellen  Reactionsmoditicationen  auf  alle  möglichen  Arten 
von  Motiven  den  individuellen  Charakter  nennt  und  (Cap.  C  X  2) 
dass  dieser  Charakter  wesentlich  auf  einer  —  zum  kleineren 
Theil  individuell  durch  Gewohnheit  erworbenen,  zum  grösseren 
Theil  ererbten  -—  Hirn-  und  Körperconstitution  beruht ;  da  es  sich 
nun  auch  beim  Instinct  um  den  Reactionsmodus  auf  gewisse 
Motive  handelt,  so  wird  man  auch  hier  von  Charakter  sprechen 
können,  wenngleich  es  sich  hier  nicht  sowohl  um  den  Individual- 
als  den  Gattungscharakter  handelt,  also  im  Charakter  hinsichtUch 
des  Instincts  nicht  das  zur  Sprache  kommt,  wodurch  ein  Indivi- 
duum sich  vom  andern,  sondern  wodurch  eine  Thiergattuug  sich 
von  der  andern  unterscheidet"  (Ph.  d.  Unb.  S.  79). 

Indem  nun  der  Instinct  ein  prädisponirter  Reactionsmodus 
auf  gewisse  Arten  von  Motiven  ist,  muss  in  der  prädisponirten 
Willensfunction  zugleich  die  Vorstellung  mit  enthalten  sein,  welche 
den  Inhalt  des  Ausführungswillens  bildet  (vgl.  oben  105 — G  n. 
109 _  10);  hierdurch  stellt  sich  der  Instinct  als  ererbtes  Gedächt- 
niss  dar,  was  um  so  entschiedener  hervortritt,  je  eigenthümlicher 
der  Vorstellungsinhalt  einer  Instincthandlung  in  ideeller  Hinsicht 


171 

geformt  und  in  sich  abgeschlossen  ist  (z.  B.  die  stereometrische 
Gestalt  der  Bienenzelle,  oder  die  Form  des  Netzes  der  Kreuz- 
spinne, oder  die  künstliche  Construction  des  Cocons  und  seines 
Verschlusses  durch  manche  Raupen).  Wo  sich  der  Vorstellungs- 
inhalt einer  Instincthandlung  in  so  ausgeprägter,  unverändert 
wiederkehrender  Form  darstellt,  da  kann  man  ihn  mit  Recht  als 
eine  typische  Vorstellungsform  bezeichnen,  welche  sich  in  der 
Species  durch  Vererbung  befestigt  hat. 

Aller  Instinct  hat  die  Foim  des  a  prhri,  da  eben  der  Inhalt 
seines  Functionirens  etwas  setzt,  was  dem  Individuum  nicht  von 
aussen  empirisch  gegeben  ist,  sondern  durch  eine  ihm  selbst  un- 
verständliche unbewusste  Function  seines  Nervencentralorgans  in 
fertiger   Gestalt  vor  sein  Bewusstsein  hingestellt  wird;    nur   ist 
hier  zugleich  der  unwiderstehliche  Zwang  der  praktischen  Aus- 
führung mitgesetzt,  was  bei  dem  theoretischen  a  priori  nicht  der 
Fall  ist.    Wir  werden  später  sehen,  eine  wie  grosse  Rolle  bei  der 
Entstehung  solcher  vererbter  Gedächtnissprädispositionen  die  Ab- 
kürzung   der  Ideenassociation  spielt.      Jeder  Instinct  setzt  eine 
Fähigkeit  des  Gebrauchs  der  willkürlich  bewegbaren  Körpertheile 
voraus,   und  die  meisten  fordern  specifische  Fertigkeiten  in  com- 
piicirten  Combinationen  von  Bewegungen  (so  z.  B.  das  Schwimmen, 
Gehen ,   Klettern ,   Fliegen ,  Springen  u.  s.  w.).     Immer  verbindet 
sich    auch     mit    den    Prädispositionen    zu    solchen    körperlichen 
Fertigkeiten  ein   gewisses  Maass    specifischer  intellektueller  Be- 
fähigung für  Thätigkeitssphären;  mit  der  körperlichen  Geschick- 
lichkeit  der  Termiten,  Biber,   Vögel  im  Bauen   ist  unzweifelhaft 
eine    gewisse   geistige    Anlage    für    dieses  Gebiet    verknüpft  zu 
denken:   man  könnte  sagen,  diese  Thiere  haben  eine  Art  Bau- 
sinn.     Ebenso   kann   man   den  Singvögeln  ein  gewisses  musika- 
lisches  Talent,   den   Zugvögeln    einen   hochentwickelten  Ortssinn 
zur   Orientirung  im   Terrain  nicht   absprechen   und   doch   stehen 
diese  Befähigungen,  welche  nur  durch  ererbte  Hirnprädispositionen 
entstanden   zu    denken  sind,    im    unmittelbaren  Dienste   der   be- 
treffenden Instincte  und   sind  nur  um  derentwillen  zur  besseren 
Befriedigung  der  instinctiven  Bedürfnisse  vorhanden.     Eine  andere 
Reihe   von   Instincten,   wie  Nachahmungstrieb,   Verheimlichungs- 
trieb, Bosheit,  Mitleid,  Vergeltungstrieb,  Geschlechtstrieb  u.  s.  w., 


172 

führen  uns  unmittelbar  aus  den  Instincten ,  wie  sie  bei  den 
höchsten  Thieren  sich  darstellen,  zu  den  Charaktereigenschaften 
hinüber,  zu  welchen  dieselben  bei  den  Menschen  sich  entfaltet 
haben  (Ph.  d.  Unb.  Cap.  B  I),  und  bei  welchen  die  Bedingtheit 
durch  moleculare  Hirnprädispositionen  nicht  mehr  zweifelhaft  ist. 
Dass  die  Ph.  d.  U.  alle  wesentlichen  Punkte  unserer  Paralleli- 
sirung  einräumt,  geht  aus  denjenigen  Theilen  unserer  Unter- 
suchungen, auf  welche  vor  Kurzem  zurückgewiesen  wurde,  deut- 
lich genug  hervor,  und  können  wir  uns  deshalb  die  Wiederholung 
dieses  Nachweises  hier  ersparen.  Zum  Ueberfluss  spricht  die  Ph 
d.  Unb.  in  diesem  Cap.  selbst  S.  78  und  79  der  dritten  Auflage 
(die  Stelle  kam  erst  in  der  zweiten  Auflage  als  Zusatz  hinein) 
ihre  Uebereinstimmung  mit  unseren  Grundsätzen  deutlich  genug 
aus  und  giebt  zu,  dass  die  Instincte  durch  „morphologische  oder 
molecularphysiologische  Prädispositionen"  verursacht  sein  können, 
indem  diese  „die  unbewusste  Vermittelung  zwischen  Motiv  und 
Instincthandlung  leichter  und  bequemer  in  die  eine  Bahn  als  in 
die  andere  lenken"  (S.  78).  Mit  diesem  aus  dem  Abschnitt  C 
herübergenommenen  Zugeständniss  ist  nun  aber  ein  Keil  in  den 
Abschnitt  A  getrieben,  welcher  diesen  vollständig  aus  seinen 
Fugen  drängt;  denn  es  ist  hiermit  ein  naturwissenschaftliches 
Erklärungsprincip  für  das  Problem  des  Instincts  gegeben,  welches 
dem  Princip  des  unmittelbaren  teleologischen  Eingriffs  von  Seiten 
eines  neben  den  Atomen  des  Organismus  supponirten  metaphysi- 
schen Wesens  vermittelst  einer  unbewussten  hellsehenden  Intuition 
schnurstracks  entgegengesetzt  ist.  War  das  naturwissenschaftliche 
Erklärungsprincip  der  molecularen  Hirn-  und  Nervenprädisposition 
überhaupt  einmal  zugelassen,  so  lag  der  Ph.  d.  Unb.  auch  die 
Pflicht  ob,  zu  untersuchen,  wie  weit  mit  diesem  Princip  allein  in 
der  Erklärung  der  Erscheinungen  des  Instincts  zu  kommen  war, 
und  ob  der  als  unerklärbar  etwa  übrig  bleibende  Rest  beglaubigter 
Thatsachen  denn  auch  wirklich  hinreichte,  um  neben  diesem 
naturwissenschaftlichen  Erklärungsprincip  das  metaphysische  des 
teleologischen  Eingriffs  supponiren  zu  müssen.  Diese  Verpflichtung 
war  um  so  dringender,  je  fundamentalere  Bedeutung  diesem 
€apitel  vom  Instinct  zukommt,  je  mehr  die  Resultate  dieses 
Capitels  es  sind,  auf  deren  Schultern  in  Wahrheit  die  Hypothese 


173 

der  teleologischen  Eingriffe  vermittelst  unbewusster  Intuition  be- 
ruht. Wir  haben  schon  oben  (S.  19 — 21)  darauf  hingedeutet, 
dass  hier  der  schwache  Punkt  der  Ph.  d.  Unb.  zu  suchen  ist. 
Dass  die  zeitgenössische  Kritik,  welche  sich  mit  diesem  Werke 
in  Abhandlungen  und  Streitschriften  eingehender  als  vielleicht 
seit  langer  Zeit  mit  irgend  einem  beschäftigt  hat,  von  diesem 
klaffenden  Riss  im  Fundament  des  Gebäudes  selbst  nach  Erschei- 
nen der  zweiten  Auflage  mit  dem  erwähnten  Zusatz,  ja  sogar 
nach  Erscheinen  der  dritten  Auflage  mit  der  verhängnissvollen 
Anmerkung  auf  S.  12,  auch  nicht  das  allergeringste  gemerkt  hat, 
zeigt  von  Neuem,  wie  sehr  sie  die  Geringschätzung  verdient,  mit 
welcher  hervorragende  Männer,  wie  Schopenhauer,  sie  stets  be- 
handelt haben. 

Betrachten  wir  nun,  wie  die  Ph.  d.  U.  das  in  der  zweiten 
Auflage  mit  in  dieses  Capitel  hineingeschobene  Zugeständniss 
soweit  zu  verclausuliren  versucht,  um  den  Riss  nothdürftig  zu 
verkleistern  und  nicht  das  ganze  Buch  von  A  bis  Z  umarbeiten 
zu  müssen.  Dieser  Verclausulirungen  sind  auf  S.  79  der  3.  Auflage 
fünf  angegeben,  von  denen  aber  nur  die  erste  und  fünfte  wirklich 
die  Behauptung  einer  Einschränkung  für  das  Erklärungsprincip 
enthalten,  während  die  2.,  3.  und  4.  Bedenken  sind,  welche  sich 
nicht  gegen  die  Brauchbarkeit  des  Princips  zur  Erklärung,  son- 
dern gegen  die  Schwierigkeiten  richten,  welchen  die  Frage  nach 
der  Entstehung  der  fraglichen  Prädispositionen  in  gewissen 
Fällen  oder  in  früheren  Stadien  der  Entwickelungsgeschichte 
begegnet.  Beides  ist  jedoch  wohl  aus  einander  zu  halten;  zu- 
nächst ist  zu  untersuchen,  wie  weit  die  Sphäre  des  durch  diese 
Hypothese  zu  Erklärenden  sich  erstreckt,  und  dann  erst  in  zweiter 
Reihe  ist  nach  Aufhellung  der  Genesis  dessen  zu  streben,  was 
zunächst  als  Thatsache  behufs  der  Erklärung  der  Erscheinungen 
hypothetisch  vorausgesetzt  wurde.  Dunkelheiten,  welche  in  der 
Genesis  bleiben  dürften,  würden  bei  dem  gegenwärtigen  Stande 
unserer  Kenntniss  durchaus  keine  entscheidende  Instanz  gegen 
die  Hypothese  selbst  abgeben  können,  falls  nur  das  in  dieser 
Supponirte  wirklich  zur  Erklärung  der  Erscheinungen  in  der 
Hauptsache  hinreicht.    Und  diess  ist    in  der  That  der  Fall. 

Die  erste Clausel  hat  zu  bemerken,  „dass  alle  Abweichungen 


174 

von  den  gewöhnlichen  Grundformen  des  Instincts,  insofern  sie  nicht 
bewusster  Ueberlegung  zugeschrieben  werden  können,  in  diesem 
(molecularen  Hirn-)  Mechanismus  nicht  prädisponirt  sind" 
(S.  79).  Man  kann  diess  zugeben,  wenn  man  sich  erstens  über 
die  „Grundformen'^  des  Instincts  richtig  verständigt  und  wenn 
man  zweitens  die  Modificationen  der  bewussten  zweckmässigen 
Ueberlegung  bei  Thieren  nicht  zu  gering  anschlägt,  denn  dann 
bleibt  in  der  That  nichts  von  unerklärten  Erscheinungen  übrig. 
Wenn  die  Bienen  an  den  Wänden  und  der  Decke  nicht  sechs- 
seitige, sondern  fünfseitige  Prismen  bauen,  so  ist  das  nicht  eine 
einmalige,  unter  ganz  abnormen  Umständen  vorkommende,  son- 
dern eine  stetig  sich  wiederholende,  gesetzmässige  Modification 
des  Instincts  und  demgemäss  die  fünfseitige  Zelle  am  Rande 
ebensogut  als  typische  Grundform  der  Instincttliätigkeit  anzusehen 
wie  die  sechsseitige  im  Innern.  Jeden  Instinct  auf  eine  einzige 
Grundform  beschränken,  hiesse  der  Natur  eine  Armuth  aufzwingen, 
über  die  sie  erhaben  ist;  überall  wo  modificirte  Umstände  in 
congruenter  Form  unter  den  natürlichen  Lebensverhältnissen 
wiederkehren,  werden  auch  in  den  betreffenden  Instincten  mit 
Sicherheit  sich  typische  Modificationen  des  Verfahrens  heraus- 
bilden. Erst  so  gefasst  wird  das  Bild  einer  Claviatur  von  Prä- 
dispositionen im  Gehirn,  w^o  die  Tasten  die  Motive,  die  klingenden 
Saiten  die  Instincte  sind  (Ph.  d.  U.  S.  73 — 74),  einigermaassen 
der  Fülle  des  Lebens  entsprechend;  so  bleibt  aber  auch  nichts 
Wunderbares  dabei  und  ist  die  Forderung  vollständig  gewahrt, 
dass  die  gewöhnliche  und  die  modificirte  Handlungsweise  (inso- 
fern beide  gesetzmässig  auf  gleiche  Motive  wiederkehren)  aus 
derselben  Quelle  stammen  (S.  76  oben).  Betrachten  wir  tiefer 
stehende  Thiere,  bei  denen  ein  nennenswerthes  Maass  bewusster 
Ueberlegung  nicht  vorauszusetzen  ist,  so  werden  sich  die  Func- 
tionen des  gesammten  Lebens  in  einem  ziemlich  engen  Kreise 
typischer  Formen  bewegen,  wenden  wir  aber  unsern  Blick  auf 
klügere  und  höher  stehende  Thiere  (oder  selbst  nur  auf  die 
klugen  Arten  der  Insecten),  so  wird  der  Kreis  von  typisch  niodifi- 
cirten  Instinctbandlungen  in  immer  w^achsendem  Maasse  durch 
immer  feinere  Modificationen  und  Accommodationen  an  die  Be- 
schaffenheit der  concreten  Fälle  bereichert,    welche  aus  der  Mit- 


175 

Wirkung  der  bewussten  zweckmässig  eingreifenden  Ueberlegnng 
herrühren  (vgl.  S.  75  nnten  bis  76  oben),  und  durch  diese  oft 
schwer  zu  entwirrenden  und  vermittelst  Gewohnheit  und  Vererbung 
flüssig  in  einander  übergehenden  Combinationen  von  Instinct  und 
bewusster  Ueberlegung  erhält  erst  die  Lebenssphäre  der  höheren 
Thiere  jene  Breite  und  Mannichfaltigkeit,  die  im  Menschen  ihr 
Maximum  auf  der  Erde  erreicht.  Hiermit  fallen  aber  die  Ein- 
wendungen in  sich  zusammen,  welche  die  Ph.  d.  U.  gegen  die 
Erklärung  des  Instincts  durch  einen  molecularen  Gehirnmecha- 
nismus auf  S.  73 — 77  vorbringt,  und  mit  der  Nothwendigkeit  der 
Elimination  dieser  Hypothese  fällt  wiederum  der  Antrieb  hin- 
weg, zu  der  anderartigen  Hypothese  eines  rein  spirituellen 
Processes  ohne  materielles  Substrat  tiberzugehen,  wo  die  unbewusste 
hellsehende  Intuition  des  Zw^ecks  als  Vermittlungsglied  zwischen 
dem  Motiv  und  der  Instincthandlung  dienen  soll.  Dass  die 
„mechanische  Leitung  und  Umwandlung  der  Schwingungen  des 
vorgestellten  Motivs  in  die  Schwingungen  der  gewollten  Handlung 
im  Gehirn",  welche  Umwandlung  eben  durch  die  eingegrabene 
moleculare  Prädisposition  bestimmt  ist,  nicht  als  solche,  sondern 
nur  nach  ihrem  Resultat  in's  Bewusstsein  fällt,  ist  gar  nicht  „wunder- 
bar" (S.  77),  sondern  entspricht  vollständig  allen  gleichen  Vorgängen 
der  Motivation  im  menschlichen  Charakter;  alle  Processe  der  Art, 
auch  die  mächtigsten,  bleiben  unbewusst,  und  nur  ihre  Resultate 
drängen  sich  dann  mit  solcher  Kraft  in's  Bewusstsein,  dass  jeder 
Widerstand  der  bewussten  Vernunft  gegen  dieselben  mitunter 
vergeblich  wird.  Ist  die  typische  Vorstellungsform,  die  den  Inhalt 
der  Instincthandlung  bildet,  nicht  eingestaltig,  sondern  mehr- 
gestaltig,  d.  h.  in  verschiedenen,  an  modiiicirte  Motive  angepassten 
Modificationen  vorhanden,  so  ist  natürlich  der  moleculare  Um- 
wandlungsprocess  der  Schwingungen  nur  vermittelst  einer  Mehr- 
heit von  Hirnprädispositionen,  welche  verschiedenen  Tasten  der 
Claviatur  entsprechen,  zu  erklären  (S.  77). 

Su))ponirt  man  nun  aber  auf  diese  Weise  polymorphe  Instincte 
för  verschiedene  modificirte  Motive,  so  hat  man  keinen  Grund 
mehr,  mit  der  Ph.  d.  Unb.  in  der  fünften  (Uausel  zu  behaupten, 
„dass  der  unbewusste  Zweck  stets  stärker  bleibt,  als  dieGanglien- 
(oder  Him-)  Prädisposition"  (S.  8(V),  denn  dieser  unbewus<ste  Zweck 


176 

wird  in  der  That  nur  da  erfüllt,  wo  die  entsprechenden  Prä- 
dispositionen  bereits  vorhanden  sind,  oder  wo  die  bewusste 
üeberleg'ung  ausreicht,  für  den  von  dem  Bewusstsein  erkannten 
nächsten  Zweck  oder  Mittelzweck  zweckmässige  Modificationen 
an  den  Instinctfunctionen  anzubringen.  Unter  den  gewöhn- 
lichen Verhältnissen  des  Thierlebens  reichen  diese  beiden  Be- 
dingungen zu,  um  das  Verhalten  des  Thieres  zweckmässig  zu 
regeln,  d.  h.  den  unbewussten  Zweck  (des  Daseins  als  solchen) 
zu  erfüllen ;  thäten  sie  es  bei  einer  Species  nicht,  so  hätte  dieselbe 
ja  längst  aussterben  müssen. 

Treten  aber  ausnahmsweise  Verhältnisse  an  ein  Thier  hcran^ 
welche  sein  bewusstes  Verständniss  nicht  zu  bewältigen  vermag^ 
und  für  welches  es  keine  Prädispositionen  zu  instinctiv-richtigem 
Verhalten  besitzt,  so  erweist  sich  in  solchem  Fall  der  „unbewusste 
Zweck"  als  nicht  stark  genug,  sich  durchzusetzen,  oder  wie 
die  Ph.  d.  Unb.  es  ausdrücken  würde,  die  individuelle  Vorsehung 
des  Thieres  lässt  dasselbe  im  Stich,  die  teleologische  Eingebung 
des  Unbewussten,  welche  ja  keine  Verpflichtung  hat,  immer  zu 
erscheinen,  bleibt  aus  (S.  377  unten),  kurz  das  Thier  verhält 
sich  unzweckmässig,  und  verfehlt  den  Instinctzweck,  wofern  es 
nicht  gar  an  den  Folgen  seines  unzweckmässigen  Verhaltens  zu 
Grunde  geht.  Ein  Mechanismus,  wie  künstlich  er  sein  mag,  passt 
eben  immer  nur  für  gewisse  Umstandscombinationen,  und  versagt 
für  Fälle,  auf  die  er  nicht  construirt  ist,  den  Dienst,  oder  wirkt 
unzweckmässig,  es  sei  denn,  dass  seine  Leistung  durch  bewusste 
Ueberlegung  corrigirt  wird.  Gewiss  kann  man  dabei  nicht 
sagen,  dass  der  Instinct  irre,  aber  man  kann  ebensowenig 
sagen,  dass  er  unfehlbar  sei;  er  verrichtet  wie  jeder  Mechanis- 
mus mit  Zuverlässigkeit  eben  nur  den  mehr  oder  minder  eng 
begrenzten  Kreis  von  Aufgaben,  für  die  er  construirt  ist.  Hiernach 
ist  das  zu  corrigiren,  was  die  Ph.  d.  Unb.  über  das  Nichtirren- 
können des  Instincts  vorbringt  (vergl.  S.  87  und  377  —  379). 
Dass  ein  Mechanismus,  wenn  er  wirkt,  ohne  Schwanken,  Zögern 
und  Zweifeln  mit  mechanischer  Sicherheit  undPräcision  wirkt, 
ist  selbstverständlich;  dieser  Umstand  war  am  wenigsten  geeignet, 
für  eine  metaphysisch- spiritualistische  Hypothese  ausgebeutet  zu 
werden  (S.  87),  sobald  nur  erst  einmal  der  Begriflf  des  molecularen 


177 

Hirninechanismns  lüit  der  zu  erklärenden  Thatsaclie  confrontlrt 
worden  war;  denn  diese  besinnungslos  zupackende  Sicherheit 
\nrkt  für  solche  concrete  Fälle,  für  die  der  Mechanismus  nicht 
passt,  ebenso  vorderblich  (S.  125),  wie  in  den  Fällen  der  Zweck- 
mässigkeit nützlich.  Mit  Recht  aber  wurde  das  Merkmal  der 
Rapidität  der  Reaction  auf  das  Motiv  als  ein  solches  angesehen, 
welches  einen  specifischeii  Unterschied  zwischen  Handeln  aus 
Instinct  und  Ueberlegung  begründet  (S.  81  und  87),  oder  genauer 
zwischen  solchem  Handeln,  wo  die  Reaction  auf  das  Motiv  aus- 
schliesslich durch  das  Functioniren  instiuctiver  oder  charak- 
terologischer  Prädispositionen  verursacht  ist,  und  solchem,  wo  sich 
zwischen  die  instictiv  wirksamen  Elemente  eine  mehr  oder 
minder  lange  Erwägung  von  Motiven,  Zwecken  und  Mitteln  ein- 
schiebt, wo  also  das  discursive  Denken  eine  M e u g e  Schritte 
machen  muss,  die  bei  der  blossen  einfachen  Instinctreaction  weg- 
fallen. Immerhin  aber  wird  auch  bei  letzterer  der  mechanische 
Umw^andlungsprocess  der  Schwingungen  des  Motivs  in  die  Schwin- 
gungen des  instinctiven  Wollens  eine  gewisse,  w^enn  auch  kurze, 
d.  h.  auf  Bruchtheile  einer  Secunde  beschränkte  Zeit  erfordera; 
bei  unserer  physiologischen  Auffassung  des  Vorganges  ist  die  Zeit- 
losigkeit  oder  Momentanität  der  Reaction  unmöglich,  und  die 
Thatsachen  geben  für  eine  solche  Annahme  gar  keinen  Anhalt, 
da  sie  eben  nur  eine  gewisse  Rapidität  der  Reaction,  d.  h.  eine 
relativ  kurze  Dauer,  bei  blossen  Instincthandlungen  aussagen. 
Die  Verantwortung  für  die  Annahme  einer  zeitlosen  Momentanität 
der  unbewussten  Intuition  (S.  376)  ist  demnach  lediglich  der 
metaphysischen  Speculation  zu  überweisen  und  findet  in  der  Er- 
fahrung keine  Stütze. 

Wenn  die  Ph.  d.  Unb.  S.  79  in  der  fünften  Clausel  sagt, 
dass  auch  der  fertige  Hülfsmechanismus  nicht  etwa  zu  einer 
bestimmten  Instincthandlung  necessitirt,  sondern  nur  prä- 
disponirt,  so  ist  dies  ganz  richtig,  insofern  nämlich  eine  Con- 
en rrenz  mit  anderen  ebenfalls  erregten  Prädispositionen  des 
Gehirns  stattfindet,  mögen  dies  nun  ebenfalls  instinetive  und 
charakterologische  oder  zunächst  Gedächtnissprädispositionen  sein, 
welche  neue  Motivreihen  aus  der  Erinnerung  in's  Bewusstsein 
einführen  und  so  den  Process  aufs  Neue  compliciren.    Gleichwohl 

12 


178 

wird  die  Ph.  d.  Unb.  auf  ihrem  entschieden  deterministischen 
Standpunkt  am  wenigsten  bestreiten  wollen,  dass  das  Endresultat 
aller  durch  das  zuerst  auftretende  Motiv  angeregten  Processe  eia 
im  strengen  Sinne  necessirtes  sei,  und  nur,  wenn  man  ein 
einzelnes  Element  dieses  dynamischen  Compromisses  heraus- 
greift, kann  man  von  dieser  künstlichen  Abstraction  sagen, 
dass  sie  allein  nicht  necessitire,  sondern  nur  prädisponire.  Wäre 
ein  Fall  denkbar,  wo  durch  ein  Motiv  nicht  mehr  als  eine  ein- 
zige Prädisposition  erregt  würde,  so  würde  diese  auch  für  sich 
allein  necessitirend  wirken.  So  viel  ist  aber  klar,  dass,  wenn 
man  neben  und  hinter  diesem  mit  naturgesetzlicher  Nothwendig- 
keit  vor  sich  gehenden  dynamischen  Process  der  Motivation  im 
Gehirn  noch  ein  metaphysisches  Wesen  als  Superintendenten  an- 
gestellt denken  wollte  (Ph.  d.  Unb.  S.  80  oben),  dieses  die  ganz 
klägliche  Rolle  des  fünften  Rades  am  Wagen  spielen  würde  (vgL 
das  oben  über  den  Motivationsprocess  im  Abschn.  V.  Gesagte). 

Die  Ph.  d.  Unb.  setzt  in  dem  Capitel  „Instinct"  noch  ohne 
weiteres  voraus,  dass  ein  solcher  molecularer  Gehirnmechanismus 
dadurch  entstanden  gedacht  werden  müsse,  dass  die  Vorsehung 
oder  Natur  ein-  für  allemal  bewusst  oder  unbewusst  den  Instinct- 
zweck  im  Voraus  gedacht  und  mit  Rücksicht  auf  diesen  Zweck 
den  betreffenden  Mechanismus  dem  Individuum  eingepflanzt  habe 
(S.  73  Mitte).  Nach  dem  Abschnitt  C  der  Ph.  d.  Unb.  ist  es 
aber  selbstverständlich,  dass,  wenn  ein  solcher  Gehirnmechanismus 
individuelle  Existenz  hat,  er  ebenso  wie  die  gesammte  innere  und 
äussere  typische  Organisation  des  Thieres,  zu  welcher  er  als 
integrircnder  Bestandtheil  gehört,  ererbt  ist,  so  dass  dann  die 
weitere  Frage  nur  lauten  kann,  wie  die  Vorfahren  zu  diesem 
Besitz  gelangt  sind,  den  sie  durch  Vererbung  auf  ihre  Nachkommen 
tibertragen  haben.  —  Dass  jeder  liistinct  einen  integrirenden 
Bestandtheil  des  Gattungstypus  bildet,  erkennt  auch  die  Ph.  d. 
Unb.  mehrfach  an  (z.  B.  S.  165);  dass  die  Constanz  des  Gattungs- 
typus aus  der  befestigten  Vererbung  entspringt,  wird  sie  gewiss 
nicht  in  Abrede  steilen  wollen;  da  hegt  es  doch  nahe,  auch  die  Con- 
stanz der  Instincte  in  derselben  Species  aus  der  befestigten  Verer- 
bung zu  erklären  und  in  dem  fraglichen  Zusatz  (S.  78  unten  bis  79 
oben)  wird  in  der  That  dieser  Weg  angedeutet.    Nichtsdestoweniger 


179 

steht  am  Schluss  des  Capitels  (S.  102)  zu  lesen,  dass  die  Constanz 
der  Instincte  aus  der  Constanz  des  Zweckes  bei  gleichen  äusseren 
Verhältnissen  folge.  Hier  haben  wir,  wie  oben,  zwei  Erklä- 
rungsprincipien  für  dieselbe  Sache,  von  denen  schon  eines  allein 
ausreicht.  Da  das  physiologische  Erklärungsprincip  der  Vererbung 
ohnehin  unabweisbar  ist,  so  werden  wir  das  teleologische  um  so 
mehr  zurückweisen  dürfen,  als  das  actuelle  Vorhandensein 
einer  uubewussten  Zweckvorstellung  in  den  Instincten  noch  gar 
nicht  erwiesen  ist,  im  Gegentheil  durch  das  Erklärungsprincip  der 
ererbten  Hirnprädispositionen  selbst  zu  einer  überflüssigen  Hypo- 
these geworden  ist. 

Fragen  wir  nun  nach  der  E  n  t  s  t  e  h  u  n  g  der  Hirnprädisposition 
im  Individuum,  so  stehen  wir  in  erster  Reihe  dem  Problem  der 
Vererbung  gegenüber  und  hiergegen  richtet  sich  die  zweite  der 
erwähnten  Clausein,  indem  sie  besagt,  „dass  die  Vererbung  nur 
möglich  ist  unter  beständiger  Leitung  der  embryonalen  Ent- 
wickelung  durch  die  zweckmässige  unbewusste  Bildungsthätigkeit, 
allerdings  wieder  beeinflusst  durch  die  im  Keim  gegebenen  Prä- 
dispositionen" (S.  19).  Wir  haben  oben  im  Abschnitt  VI  die  Ver- 
erbung zu  ausführlich  behandelt,  um  hier  noch  einmal  darauf  zu- 
rückzukommen und  können  hier  nur  recapituliren,  dass  die  in 
der  Erklärung  der  Thatsachen  noch  vorhandenen  Schwierigkeiten 
und  Dunkelheiten  durch  die  Annahme  unmittelbarer  metaphysischer 
Eingriffe  nicht  gehoben  oder  aufgehellt  werden  können. 

Hiernach  bleibt  nur  die  Frage  übrig,  wie  in  den  Vorfahren 
die  zu  vererbenden  Gehirnprädispositionen  entstanden  seien,  und 
dieser  Frage,  gegen  welche  die  3te  und  4te  Clausel  sich  richtet, 
haben  wir  nunmehr  näher  zu  treten.  Die  Ursache  dieser  Ent- 
stehung ist  unzweifelhaft  in  einer  allmählichen  Steigerung  der 
vererbten  Prädispositionen  zu  suchen,  und,  wie  wir  es  an  ein- 
zelnen concreteu  Beispielen  schon  in  früheren  Abschnitten 
(S.  21  ff.,  112  ff.,  159  ff.,  164  ff.)  erläutert  haben,  bietet  die 
lange  Generationenreihe  von  der  niedrigsten  protoplasmatischen 
Monere  bis  zu  den  höchsten  Thieren  Zeit  und  Spielraum 
genug,  um  ein  solches  Wachsthum  frei  von  allen  plötzlichen 
Sprüngen  zu  denken.  Das  in  der  Urmonere  durch  die  physi- 
kalischen und  chemischen  Gesetze  gegebene  Verhalten  gegen  die 


ISO 

veracbiedenartigeü  Reiae-  bildet  den  Ausgangspunkt  für  diese  Ent- 
wickeluugsreihe ,  wie  für  jede  aüdöre.  und  die  von  der  Ph.  d. 
Unb.  mit  Reeht  so  stark  betoute  Uebereinstimmung  von  organischem 
Bilden  und  Instinct  wird  durch  diesen  gemeinsamen  Ausgangs- 
punkt und  die  gemeinsamen  Ursachen  der  Abänderung  und 
Steigerung  erklärlieh;  ebenso  wird  aber  durch  die  inductiven 
Beweise  für  diese  Uebereinstimmung  das  für  das  organische 
Bilden  anerkannte  Erklärungsprincip  der  Descendenztheorie  auf 
den  Instinct  übertragbar  und  so  dienen  die  betreffenden  Aus- 
iithruugen  der  Ph.  d.  Unb.  (S.  170—172,  435—440,  446—448) 
ganz  direkt  zur  Unterstützung  unserer  Behauptungen.  Noch 
deutlicher  als  bei  Thieren  treten  die  vermittelnden  Uebergänge 
bei  den  Pflanzen  hervor,  wo  einerseits  die  bewusste  Ueber- 
legung  gar  nicht  modificirend  eingreifen  kann  und  andererseits 
ausgebildete  Centralorgane  fehlen.  Hier  springt  der  mecha- 
nische Charakter  der  instinctiven  Prädispositionen  natürlich  viel 
greller  in  die  Augen  und  verweisen  wir  deshalb  besonders  auf 
die  zuletzt  citirten  Stellen  aus  dem  Capitel  C  IV.  der  Ph.  d.  Unb.  — 
Haben  wir  die  natürliche  Zuchtwahl  als  die  wichtigste  Ursache 
für  die  fortschreitende  physiologische  Differenzirung  der  Organismen 
erkannt,  so  wird  sie  es  eben  so  gut  für  die  fortschreitende  Ge- 
wandheit  in  der  Benutzung  der  differenzirten  Organe  sein.  Dies 
ist  um  so  einleuchtender,  als  auf  den  niederen  Stufen  des  Thier- 
reichs,  wo  bewusste  Ueberlegung  noch  nicht  weiter  als  Bestimmungs- 
grund des  Handelns  berücksichtigt  zu  werden  verdient,  jede  Aen- 
derung  des  instinctiven  Verhaltens  mit  einer  Aenderung  der  physio- 
logischen Differenzirung  der  Organe  Hand  in  Hand  geht. 
Die  letztere  wäre  für  die  Lebenszwecke  des  Thieres  in  vielen 
Fällen  werthlos,  wenn  nicht  die  rechte  instinctive  Benutzung 
hinzuträte;  die  natürliche  Zuchtwahl  würde  dann  also  auf  die 
Differenzirung  und  Vervollkommnung  der  Organe  gar  nicht  wirken 
können,  wenn  sie  nicht  vermittelst  einer  damit  Hand  in  Hand 
gehenden  Veränderung  der  Instincte  auf  sie  wirkte,  denn  erst 
durch  eine  solche  wird  der  Vortheil  ausgenutzt,  den  jene  im 
Kampf  ums  Dasein  zu  bieten  vermögen.  Da  es  sich  bei  allen 
solchen  Abänderungen  nur  um  minimale  Modificationen  handelt, 
wie   sie  durch   die  natürlichen  Differenzen  der  Individuen  inner- 


181      ^ 

halb  derselben  Art  gegeben  sind,  so  scheint  das  Zuhülferufen 
teleologischer  Eingriffe  nicht  erforderlich,  d.  h.  es  kann  die  Be- 
hanptuDg  der  Ph.  d.  Unb.  in  der  oten  €iausel ,  dass  der  Instinct 
ohne  ererbten  Hülfsmechanismus  die  Ursache  der  E  n  t  s  t  e  h  u  n^ 
des  molecularen  Hülfsmechamsmus  in  früheren  Generationen  ge- 
wesen sein  müsse,  nicht  zugegeben  werden.  Die  Ph.  d.  Unb. 
verkennt  in  dieser  Behauptung  wiederum  die  Möglichkeit  höchst 
complicirter  zweckmässiger  Resultate  ohne  teleologisches  Prin- 
cip  wie  durch  allmähliche  Addition  nützlicher  zufälliger  Ab- 
weichungen unter  dem  Einfluss  der  natürlichen  Zuchtwahl. 

In  der  That  tritt  aber  zur  Production  individueller  Differenzen 
durch  zufällige  Einflüsse  und  zur  natürlichen  Auslese  derselben 
im  Kampf  um's  Dasein  noch  ein  anderes  Princip  von  höchster 
Wichtigkeit  hinzu,  ohne  welche  die  Entstehung  des  Instincts  nicht 
zu  verstehen  wäre;  dies  ist  bei  geistig  höher  stehenden  Thieren 
(also  schon  bei  Insecten,  vielleicht  auch  noch  weiter  abwärts)  <ler 
Emfluss  der  bewussten  Ucb  er  legung  auf  zweckmässige 
Modiücationen  des  ererbten  Instincts.  Solche  durch  bewusste 
Ueberlegung  herbeigeführte  Modiiicationen  werden  alsdann,  wenn 
sie  sich  als  nützlich  erprobt  haben,  den  nachfolgenden  Genera- 
tionen theils  durch  Vererbung,  theils  durch  Beispiel  überliefert 
und  befestigen  sich  so  durch  Gewohnheit,  dass  sie  zum  integrirendeii 
Bestandtheil  des  zu  vererbenden  Instincts  werden.  Sie  addiren 
sich  durch  Generationen  hindurch  ganz  ebenso  wie  die  durch 
natürliche  Zuchtwahl  begiins^tigten  zufälligen  individuellen 
Abweichungen,  und  stellen  sich  ebenso  wie  diese  vorzugsweise 
dann  ein,  wenn  das  Anpassungsgleichgewicht  der  bisherigen 
Instincte  einer  Art  an  ihre  Umgebung  durch  irgend  welche 
Aenderungen  (Einwanderung  neuer  Thier-  oder  Pflanzenarten, 
Aenderung  des  Klimas,  Wechsel  des  Wohnorts  u.  s.  w.j  alterirt 
wird,  wo  dann  alle  geistigen  Kräfte  der  Species  in  Bewegung 
gesetzt  werden  müssen,  um  ein  neues,  möglichst  günstiges  An- 
passuugsgleichgewicht  der  Lebensgewohnheiten  an  die  neuen 
Verhältnisse  herzustellen.  Wie  bei  menschlichen  Stämmen  und 
Staaten  werden  dann  anch  bei  thierischen  Specien  gerade  solche 
Katastrophen,  welche  den  Bestand  der  Arten  bedrohen,  zu  Vehikela 
beschleunigten  Fortschritts,    indem    sie   die   im   Schlendrian    der 


182 

Oewohnheit  eingeschlummerten  Geisteskräfte    zu   energischer  Be- 
thätigung  anspornen. 

Im  concreten  Falle  mag  es    bei  tieferstehenden  Thieren,   in 
deren  Seelenvorgänge  wir  keinen  rechten  Einblick  haben,  schwer 
genug  zu  entscheiden  sein,    wie    viel  von  den  Aenderungen  der 
Instincte  dem  blossen  Ertolg  der  natürlichen  Zuchtwahl  und  wie 
Tiel  der  Addition  von  zweckmässigen  Modificationen  aus  bewusster 
Ueberlegung  zuzuschreiben  sei;  es  dürfte  dies  um  so  schwieriger 
sein,  als  in  der  That  meistens  eine  enge  Verquickung  beider  Ur- 
sachen stattgehabt  haben  mag,  und  als  die  Erprobung,  Bewährung 
und  Erhaltung  der  zweckmässigen  Modificationen   aus    bewusster 
Ueberlegung  selbst  eine  natürliche  Auslese  der  glücklichsten  Ge- 
danken aus    den    minder   glücklichen    oder    ganz   unbrauchbaren 
genannt  werden  kann.     Aber  gleichviel,   ob  im  besonderen  Falle 
die  Abänderungen  mehr  aus  der  Erhaltung  zufälliger  individueller 
Differenzen  oder  mehr  aus  rationellen  Modificationen  durch  bewusste 
Ueberlegung   herstammen,    auf  alle  Fälle    ist   es  das  zur  Ge- 
wohnheitwerden   neu     auftretender    kleiner    Abweichungen, 
was   die  alten  ererbten  Formen  der  Instincte    moditicirt   und   bei 
der  Addition  durch  Generationen  hindurch  völlig  umgestalten  oder 
höher  entwickeln  kann.     In  diesem  Sinne  kann  man  sagen,  jeder 
Instinct  sei  seiner  Entstehung  nach  in   letzter  Instanz   ererbte 
Gewohnheit,    und    das   alte  Sprüchwort:   „Gewohnheit  ist  die 
zweite  Natur"  erhält  dadurch    die   unerwartete  Ergänzung,    dass 
die  Gewohnheit  zugleich  auch   das  Prius   und   der  Ursprung  der 
ersten  Natur,    d.  h.  des  Instincts  ist.     Denn    immer   ist  es  die 
Gewohnheit,    d.    h.    die    häufige    Wiederholung     der     nämlichen 
Function,  was  die  gleichviel  wie   hervorgerufene  Handlungsweise 
den  Centralorganen  des  Nervensystems  so  fest  eingräbt,  dass  die 
so  entstandene  Prädisposition  vererbungsfähig  wird. 

Was  die  empirischen  Beläge  zu  den  vorgetragenen  Ansichten 
betrifft,  80  verweise  ich  vor  Allem  auf  Darwin's  Capitel  über  den 
Instinct  in  seiner  „Entstehung  der  Arten"  und  nebenbei  auch 
auf  das  Capitel  „Philosophie  der  Vogelnester"  in  Wallace's  „Bei- 
trägen zur  l'h.  d.  nat.  Zuchtwahl".  Letzterer  hebt  den  Einfluss 
der  bewussten  Ueberlegung  auf  die  Modificationen  des  Nestbau- 
instincts   bei  Vögeln    gut   hervor,   nur    befindet    er   sich   in   dem 


183 

Irrthunij  als  würde  die  so  erlangte  Gewohnheit  bloss  durch  Lehre 
und  Beispiel  auf  die  folgenden  Generationen  tiberliefert ;  von  einer 
gleichzeitigen  Vererbung  der  durch  diese  Gewohnheit  eingegra- 
benen Hiniprädisposition  weiss  er  nichts  und  sucht  deshalb,  wie 
oben  erwähnt,  den  angeborenen  Instinct  möglichst  zu  leugnen. 

Wir  können  hier  nicht  daran  denken,  ein  vollständiges 
empirisches  Material  herbeizuschaffen,  sondern  fügen  nur  einige 
Beispiele  zur  Erläuterung  des  im  Allgemeinen  Gesagten  bei. 

Der  Amerikanische  Kukuk  baut  ein  eigenes  Nest  und  finden 
sich  in  diesem  Junge  in  verschiedenen  Altersstadien  und  noch 
bebrtitete  Eier.  Zugleich  sind  aber  auch  sichere  Beispiele  bekannt 
dass  dieser  Vogel  ausnahmsweise,  wie  es  auch  von  manchen 
anderen  Vogelarten  constatirt  ist,  seine  Eier  in  fremde  Nester  lege. 
Dass  auch  bei  unserm  Kukuk  neuerdings  Fälle  bemerkt  sind 
wo  er  seine  Eier  selbst  bebrütet  und  die  Jungen  selbst  füttert, 
scheint  zu  beweisen,  dass  die  früheren  Vorfahren  desselben  ähnlich 
dem  amerikanischen  Kukuk  gelebt  haben.  Letzterer  legt  Eier, 
die  seiner  Grösse  angemessen  sind,  ersterer  hingegen  viel  kleinere 
Eier.  Die  Vermittelung  bildet  der  australische  Broncekukuk, 
dessen  Eier  sowohl  in  Grösse  wie  in  Farbe  bedeutende  individuelle 
Verschiedenheiten  zeigen.  Da  nun  unser  Kukuk  vorwiegend  in 
den  Nestern  kleinerer  Vögel  Gelegenheit  fand,  seine  Eier  abzu- 
legen, so  mussten  diejenigen  Individuen,  welche  die  kleinsten 
Eier  legten,  am  meisten  Nachkommenschaft  erzielen,  und  die  aus 
den  kleinsten  Eiern  entsprossenen  jungen  Kukuke  erbten  die 
Eigenschaft,  kleine  Eier  zu  legen.  Ebenso  wenn  sich  von  den 
individuellen  Abweichungen  der  Färbung  der  Eier  einige  durch 
Aehnlichkeit  mit  den  entsprechenden  Nesteiern  der  Pflegeeltern 
nützlich  erwiesen,  so  musste  die  natürliche  Zuchtwahl  die  Aehn- 
lichkeit dieser  Färbung  steigern.  Ob  wirklich  ein  und  dasselbe 
Kukukweibchen  die  Fähigkeit  besitzt,  Eier  von  ganz  verschie- 
dener Imitation  der  Färbung  zu  legen,  oder  ob  diese  Unter- 
schiede sich  nicht  vielmehr  aut  verschiedene  Individuen 
als  Familienerbeigenthümlichkeit  vertheilen ;  ob  ferner  der  Kukuk 
sein  Ei  nach  den  betreffenden  Nesteiern  bildet,  oder  ob  er  nicht 
vielmehr  sich  ein  Nest  nach  der  feststehenden,  also  ihm  be- 
kannten   Färbung    seiner   Eier    aussucht,    dies    alles  sind    Fra- 


184 

gen,  welche  zu  ihrer  Lösung  erst  noch  genaueren  Studiums  be- 
dürien. 

Ein  anderes  Beispiel  bietet  die  typische  Form  der  Bienenjselle. 
Die  Hummeln  verwenden  ihre  alten  Cocons  zur  Aufnahme  von 
Honig,  indem  sie  ihnen  zuweilen  kurze  Wachsröhren  anfügen; 
auch  fertigen  sie  einzelne  abgesonderte  und  sehr  unregelmässig  ab- 
gerundete Zellen  von  Wachs  an.  Zwischen  der  Hummel  und 
unserer  Biene,  wenngleich  der  ersteren  etwas  näher,  steht  nach 
Körperbau  und  Zellenstructur  die  mexikanische  Melipona  domesücay 
welche  einen  fast  regelmässigen  wächsernen  Zellkuchen  mit  cjlin- 
drischen  Zellen  bildet,  in  denen  die  Jungen  gepflegt  werden,  der 
aber  ausserdem  einige  grosse  annähernd  kugelförmige  Zellen  zur 
Honigaufnahme  enthält.  Letztere  sind  so  nahe  aneinander  gertickty 
dass  an  den  aneinanderstossenden  Stellen  Kugelabschnitte  fehlen, 
und  hier  eine  ebene  Wachsschicht  die  Scheidewand  bildet.  Manche 
Zellen  haben  zwei,  andere  auch  drei  solche  ebene  Berührungs- 
flächen, und  in  letzterem  Falle  gruppiren  sich  diese  drei  Flächen 
zu  einer  dreiseitigen  Pyramide,  welche  nach  Huber  off'enbar  als 
ein  rohes  Abbild  der  dreiseitigen  Basalpyramide  an  der  Zelle 
unserer  Korbbiene  zu  betrachten  ist.  Denkt  man  sich  nun  die 
Zellen  der  Melipona  regelmässig  in  mehreren  Schichten  so  grup- 
pirt,  dass  sie  sämmtlich  drei  Schnittflächen  auf  der  einen  Seite 
und  drei  Schnittflächen  auf  der  andern  Seite  hervorbringen,  in 
der  Mitte  aber  zur  Aufnahme  von  Honig  oder  Jungen  hinreichend 
verlängert  sind,  so  muss  diese  Mitte  nothwendig  die  Gestalt 
eines  sechsseitigen  Prismas  annehmen,  und  sämmtliche  Winkel 
müssen  sich  unter  den  gegebenen  Voraussetzungen  von  selbst 
ergeben,  da  sie  durch  die  Zusammenlagerung  und  gegenseitige 
Pressung  und  Abflachung  der  ursprünglich  cylindrisch  mit  zwei 
halbkugelförmigen  Enden  gedachten  Zellen  rein  stereometrisch 
bestimmt  sind.  Bedenkt  man  nun,  dass  Bienen  ihre  Arbeit  stets 
mit  rundlichem  Aushöhlen  eines  massiven  Walls  von  Wachs 
beginnen  und  erst  zu  guterletzt  die  Winkel  scharf  ausarbeiten, 
um  das  Maximum  von  innerem  Raum  zur  Honigaufnahme  zu 
gewinnen  und  das  kostbare  Material  des  Wachses  nicht  unnütz 
stark  in  abgerundeten  Ecken  stehen  zu  lassen,  bringt  man  ferner 
in  Anschlag,   dass  die  mathematische  Genauigkeit   ihres  Arbeits- 


185 

resnltats  denn  doch  auch  wohl  häutig  übertrieben  worden  ist,  so 
wird  man  es  nicht  unwahrscheinlich  finden,  dass  frühere  Vor- 
fahren unserer  Bienen  dereinst  in  älmlich  unvollkommener  Weise 
wie  heute  noch  die  Mexikanischen  gebaut  haben  mögen  und  sidi 
allmählich  zur  jetzigen  vervollkommneten  Bauart  heraufgearbeitet 
haben  mögen.  Dass  die  bewusste  Ueberlegung,  .der  in  den  Dienst 
:des  Bautalents  genommene  Scharfsinn  dieser  klugen  Thiere  dabei 
keine  kleine  Rolle  gespielt  haben  mag,  ist  aus  der  verständigen 
Art  und  Weise  zu  schliessen,  mit  welcher  sich  gegenwärtig  die 
Korbbienen  künstlich  veränderten  Verhältnissen  innerhalb  ihres 
Korbes  zu  accommodiren  wissen. 

Mit  Recht  ist  beim  Bauen  der  Bienen  und  überhaupt  im 
Leben  der  Insecteustaaten  das  wunderbare  Ineinandergreifen  der 
Instincte  der  einzelnen  Individuen  hervorgehoben  (Ph.  d.  ü. 
S.  07—99)  und  betont  worden,  dass  ein  so  einträchtiges  Zu- 
sammenwirken nicht  von  Antrieben  der  bewusstcn  Ueberlegung, 
sondern  nur  von  instinctiven  Functionen  zu  erwarten  sei.  Andrer- 
seits wird  man  sich  aber  auch  hüten  müssen,  die  Mitwirkung 
der  bewiissten  Verstandesthätigkeit  bei  der  Ausführung  solcher 
instinctiven  Functionen  zu  unterschätzen.  Wir  wissen,  dass  die 
betreffenden  höheren  Insecten  eine  ziemlieh  ausgebildete  Zeichen- 
sprache besitzen,  dass  die  Individuen  derselben  Gesellschaft  sich 
persönlich  kennen,  dass  eine  gewisse  hierarchische  Rangordnung 
unter  ihnen  besteht,  welche  in  den  Kasten  der  Araeisenstaaten 
und  in  der  Anstellung  von  Aufsehern  und  Ordnern  bei  der  Arbeit 
sichtbar  wird.  Wir  müssen  ferner  berücksichtigen,  dass  die  Stö- 
rung,-welche  bei  modernen  Menschen  das  einträchtige  Znsammen- 
wirken durch  das  prätentiöse  Hervorkehren  der  Individualitäten 
und  durch  die  eitle  Besserwisserei  der  Einzelnen  erleidet,  bei  der 
Gemeinschaft  von  Wesen,  die  ein  derartig  ausgebildetes  Gefühl 
der  Persönlichkeit  noch  gar  nicht  besitzen,  kaum  zu  erwarten 
steht,  und  wir  werden  uns  den  Unterschied  schon  an  einem  uns 
näher  liegenden  Beispiel  klar  machen  können,  wenn  wir  an  die 
instinctive  Eintracht  des  Zusanmienwirkens  bei  einem  auf  dem 
Kriegspfade  befindlichen  Trupp  Indianer  denken,  wie  sie  durch 
die  Gemeinsamkeit  des  Zwecks,  die  Gleichheit  der  gewohnten 
Mittel  in  seiner  Verfolgung  und  die  Stärke  xJes  Zugehörigkeit«- 


386 

getühls  zu  dem  socialen  Ganzen  geschaffen  wird.  Je  enger  und 
beschränkter  der  Kreis  der  zu  verrichtenden  Functionen  ist,  je 
fester  diese  und  die  bestimmte  Form  der  Arbeitstheilung  als 
schlummernde  Gedächtnissvorstellungen  und  instinctive  Triebe 
dem  Centralorgan  des  Nervensystems  imprägnii-t  sind,  je  weniger 
das  Gefühl  der  Individualität  und  das  Bestreben,  diese  als  solche 
zur  Geltung  zu  bringen,  entwickelt  ist,  desto  einfachere  Zeichen 
werden  zur  Verständigung  über  die  der  Willkür  überlassenen 
Elemente  der  Cooporation  genügen,  und  desto  grösser  wird  die 
Eintracht  des  Zusammenwirkens  und  die  Zweckmässigkeit  des 
Ineinandergreifeus  der  Functionen  der  Einzelnen  sein.  Da  alle 
diese  Bedingungen  in  den  Insectenstaaten  in  hohem  Maasse  erfüllt 
sind,  so  scheint  es  nicht  erforderlich,  ausser  den  prädispositionellen 
Instincten  und  der  Verständigung  durch  Zeichensprache  noch 
specielle  teleologische  Inspirationen  eines  metaphysischen  Un- 
bewussten  als  Regulator  der  Cooporation  zu  supponiren. 

„Jedes  Thier  wählt  gerade  diejenigen  pflanzlichen  oder 
thierischen  Stoffe  zu  seiner  Nahrung  aus,  welche  seiner  Ver- 
dauungseiurichtung  entsprechen"  (Ph.  d.  Unb.  S.  89).  Der  Gesichts- 
eindruck, häufiger  noch  der  Geruchseindruck,  erweckt  in  dem 
Thier  instinctiv  ein  Verlangen  nach  der  Speise  oder  einen  Wider- 
willen gegen  dieselbe.  Offenbar  haben  wir  es  hier  mit  ererbten 
Prädispositionen  zu  thuu,  mag  nun  die  Nahrung  des  Thieres 
auf  eine  einzige  Pflanzenart  oder  Thierart  beschränkt  sein,  oder 
zahlreiche  Classen  von  Naturprodukten  umfassen.  Ebenso  gewiss 
ist  es,  dass  diese  instinctive  Zu-  oder  Abneigung,  die  durch  den 
Gesichts-  oder  Geruchseindruck  erweckt  wird,  ein  Resultat  des- 
selben Processes  natürlicher  Zuchtwahl  ist,  aus  welchem  die 
genaue  Anpassung  der  Fress-  und  Verdauungswerkzeuge  an  die 
Art  der  Nahrung  hervorgegangen  ist.  Im  Allgemeinen  frisst 
jedes  Thier  nur  die  Art  von  Nahrung,  an  die  es  selbst  oder  seine 
Vorfahren  gewöhnt  sind,  und  verschmäht  alle  andere  (der  Bauer 
macht  es  ja  nach  dem  Sprüchwort  ebenso);  erweisen  sich  nun 
gar  gewisse  Classen  von  Nahrungsmitteln,  die  dem  vorwitzigen 
Versuch  des  Abweichens  vom  Gewohnten  nahe  liegen,  als 
schädlich,  so  wird  sich  der  Widerwille  gegen  diese  steigern,  eines- 
theils   dadurch,   dass  Individuen  nach  ihren   Üblen  Erfahrungen 


187 

weiter  leben  und  den  so  erworbenen  positiven  Widerwillen  auf 
ihre  Nachkommen  vererben,  anderntheils  aber  dadurch,  dass  die 
vorwitzigen  ihren  Abfall  von  der  ererbten  Tradition  mit  dem 
Leben  bezahlen  müssen  und  somit  nur  die  in  dieser  Hinsicht  vor- 
sichtigeren ihre  Vorsicht  und  ihre  Abneigung  vererben.  Der 
erstere  Fall  findet  statt  bei  giftigen  Kräutern  auf  der  Weide  oder 
giftigen  Früchten  im  Walde;  der  letztere  Fall  beim  Verhalten  der 
Hechte  und  anderer  Raubfische  gegen  Stichlinge  oder  der  Raub- 
vögel gegen  giftige  Schlangen;  beide  Formen  der  Variation 
wirken  zusammen  um  die  Scheu  der  verfolgten  Thiere  vor  den 
sie  verfolgenden  Raubthieren  oder  Menschen  zu  constituiren. 
Dass  solche  instinctive  Abneigung,  Scheu  oder  Furcht  in  Bezug 
auf  Nahrungsmittel  oder  Feinde  Resultat  eines  natürlichen  Pro- 
cesses  und  nicht  einer  metaphysischen  Inspiration  ist,  geht  schon 
daraus  hervor,  dass  alle  Thiere  nur  ^'or  denjenigen  giftigen  Natur- 
produkten oder  gefährlichen  Gegnern  Scheu  haben,  welche  ihre 
Species  Gelegenheit  gehabt  hat,  durch  lange  Erfahrung  als  schädlich 
und  geiährlich  kennen  zu  lernen.  Wird  eine  Familie  dann  durch 
Domestication  oder  Ortswechsel  diesen  Einflüssen  entrückt,  so  bleibt 
die  instinctive  Prädisposition  zwar  noch  längere  Zeit  in  der  Ver- 
erbung erhalten,  schwächt  sich  aber  nach  und  nach  mehr  und 
mehr  ab,  um  dafür  den  unter  den  neuen  Verhältnissen  hinzu- 
erworbenen (z.  B.  domesticirten  oder  zahmen)  Instincten  Platz  zu 
machen.  Daraus,  dass  minder  scheue,  furchtsame  oder  vorsichtige 
Individuen  gewissen  Gefahren  gegenüber  allemal  ihrem  Vorwitz 
zum  Opfer  fallen  und  dass  hierdurch  eine  natürliche  Auslese  der 
vorsichtigeren  stattfindet,  die  ihre  Scheu  vererben,  erklärt  sich 
sehr  wohl  die  Entstehung  von  instinctiver  Scheu  vor  gewissen 
verderblichen  Gefahren,  ohne  dass  die  Entstehung  der  Prädispo- 
sitionen zu  solchen  „Unterlassungen,  bei  denen  Zuwiderhandlungen 
stets  den  Tod  zur  Folge  haben",  nothwendig  ein  zweckthätiges 
Bilden  zur  Erklärung  erforderte,  wie  die  Ph.  d.  Unb.  in  der  4ten 
der  vorerwähnten  Clausein  behauptet  (S.  79). 

Noch  weniger  kann  man  dies  bei  den  auf  die  Fortpflanzung 
(beziehungsweise  bei  niederen  Thieren  auch  auf  die  Metamor- 
phose) bezüglichen  Instincten  zugeben,  welche,  wie  es  bei  niederen 
Thieren    gewöhnlich   ist,   nur   Ein   Mal    in  jedem    individuellen 


188 

Lebenslauf  zum  Functioniren  gelangen  (Fh.  d.  IJab.  S.  79); 
kann  auch  die  Gewohnheit  hier  nieht  in  dem  gebräuchlichen 
Sinne  einer  öfteren  Wiederholung  der  Function  von  Seiten  des- 
selben Individuums  wirken,  so  tritt  an  ihre  Stelle  eine  durcJh 
die  Ausnahmslosigkeit  des  Vorgangs  durch  lange  Genecationen- 
reihen  hindurch  um  so  stärker  befestigte  Vererbung,  und  gi-ade 
bei  den  Fortpflanzungsinstincten  erklärt  sich  die  modificirte  Form 
derselben  sehr  leicht  durch  natürliche  Zuchtwahl  aus  derjenigen 
Form,  welche  diese  Instincte  in  der  Stammform  der  betreffenden 
Species  besassen  (wie  wenn  z.  ß.  Specien,  in  welchen  Männchen 
und  Weibchen  sich  durchaus  unähnlich  sehen,  sich  allmählich  aus 
einer  Stammform  entwickeln,  in  welcher  dies  nicht  der  Fall  i^t^ 
durch  welclie  allmähliche  Umwandlung  aber  eben  das  Wunder- 
bare einer  instinctiven  Begattungstendenz  zwischen  ganz  unähn- 
lichen Organismen  verschwindet).  Aus  dieser  Entstehungsart  er- 
giebt  sich  aber,  dass  auch  hier  da>s  Hellsehen  des  Instincts  in 
Bezug  auf  den  Zweck,  dem  es  unbewusster  Weise  dient,  blosser 
Schein  für  den  Beobachter  ist,  während  in  der  That  die  instinc- 
tive  Handlungsweise  nur  der  Ausfiuss  einer  ererbten  Hirn-  oder 
Ganglienprädisposition  ist,  die  sich  in  den  Vorfahren  dadurch 
entwickelt  hat,  dass  sich  individuelle  Abweichungen  addirten, 
welche  sämmtlich,  sowohl  einzeln  als  zusammengenommen,  die 
Species  im  Kampf  um's  Dasein  günt^tiger  stellten,  als  sie  vorher 
stand. 

Ganz  dasselbe  gilt  in  Bezug  auf  das  Verhalten  der  Tliieiie 
zu  künftigen  Witterungsänderungen,  welche  in  die  Oekonomie 
ihres  Lebens  mächtig  eingreifen  (Ph.  d.  Unb.  S.  90—91).  Die 
Ph.  d.  Unb.  gesteht  zu,  dass  irgend  ein  Motiv  da  sein  müsse,  auf 
welches  der  Instinct  reagirt,  und  dass  in  solchen  Fällen  dieses 
Motiv  in  einer  Gefühlswahrnehmung  gegenwärtiger  atmosphärischer 
Zustände  gesucht  werden  müsse,  welche,  wenn  wir  sie  ebenso 
wahrnehmen  könnten,  uns  als  Symptom  der  bevorstehenden 
Witterungsänderung  gelten  würden.  Obwohl  nun  die  meisten 
Thiere,  welche  sich  durch  solche  Einflüsse  bestimmen  lassen,  un- 
zweifelhaft nicht  eine  solche  Folgerung  an  ihre  Gefühlswahr- 
nehmung knüpfen,  so  handeln  sie  doch  instinctiv  so,  als  ob  sie 
die  Folgen  der  wahrgenommenen  Symptome  im  Bewusstsein  hätten 


189 

und  ihre  Vorkehrungen  dagegen  träfen.  Hieraus  folgt  aber  nur, 
dass  sie  in  ihrem  Gehirn  eine  ererbte  Prädisposition  zu  solchen 
für  das  Bestehen  ihrer  Species  nützlichen,  vielleicht  gar  unent- 
behrlichen Handlungsweisen  besitzen,  welche  auf  das  eintretende 
Motiv  sofort  mit  dem  Triebe  zu  der  entsprechenden  Instinct- 
bandlung  reagirt;  es  folgt  aber  nicht  daraus,  dass  sie  den  Zweck 
des  Instincts,  den  ihr  Bewusstsein  nicht  kennt,  durch  unbew^usstes 
Hellsehen  actuell  erschauen. 

Wenn  die  Erklärung  der  Erscheinungen  des  Instincts  nach 
dem  Schelling'schen  Ausspruch  als  „wahrer  Probirstein  ächter 
Philosophie'^  zu  betrachten  ist  (Ph.  d.  Unb.  S.  102),  so  müssen 
wir  das  Resume  dieses  Abschnittes  dahin  ziehen,  dass  die  Ph.  d. 
Unb.  sich  in  diesem  Kapitel  an  diesem  Probirstein  nicht  als  acht 
erwiesen  hat,  da  sie  ein  unhaltbares  teleologisch-metaphysisches 
Erklärungsprincip  als  das  wesentUche  (in  der  ersten  Auflage  als 
das  alleinige)  hinstellt  und  das  w^ahre  naturw^issenschaftliche 
Erklärungsprincip  nur  als  untergeordnete  Hülfshypothese  aus  dem 
Abschnitt  C  in  die  späteren  Auflagen  mit  hereinzieht,  ohne  durch 
diese  Concession  mehr  zu  erreichen,  als  eine  deutlichere  Ent- 
hüllung der  Discrepanz  zwischen  den  Abschnitten  A  und  C.  Nur 
derjenige  Leser  der  Ph.  d.  Unb.,  welcher  die  fundamentale 
Bedeutung  des  Capitels  über  den  Instinct  für  die  gesammten 
Entwickelungen  des  Werkes  erkannt  hat,  wird  die  Tragweite 
einer  kritischen  Elimination  des  metaphysisch-teleologischen  Er- 
klärungsprincips  aus  der  Auflösung  dieses  Problems  und  der  Sub- 
stitution desselben  durch  ein  physiologisches  Erklärungspiincip  zu 
ermessen  vermögen. 


XL 


Die  Instincte  der  untergeordneten  Central- 
Organe  des  Nervensystems. 


Die  Ph.  d.  Unb.  plaidirt  in  dem  Cap.  A  I  mit  Recht  für 
Anerkennung  einer  relativen  Selbstständigkeit  der  untergeordneten 
Centralorgane  des  Nervensystems  unbeschadet  der  Thatsache,  dass 
in  der  aufsteigenden  Reihe  des  Thierreichs  die  Centralisation 
für  die  willkürlichen  Bewegungen  beständig  wächst  (S.  56). 
Die  Analogie  der  niederen  Thiere,  bei  welchen  die  Selbstständig- 
keit und  Unabhängigkeit  der  einzelnen  Ganglien  von  einander 
sehr  gross  ist,  macht  zum  Theil  erst  die  physiologischen  und 
pathologischen  Thatsachen  beim  Menschen  und  den  höheren 
Säugethieren  verständlich.  Wenn  ein  Insect,  dem  man  das  Hinter- 
theil  abschneidet,  nichtsdestoweniger  den  Act  des  Fressens  fort- 
setzt, „wenn  sogar  Fangheuschrecken  mit  abgeschnittenen  Köpfen 
noch  gerade  wie  unversehrte  tagelang  ihre  Weibchen  aufsuchen, 
finden  und  sich  mit  ihnen  begatten ,  so  ist  wohl  klar,  dass  der 
Wille  zum  Fressen  ein  Act  des  Schlundringes,  der  Wille  zur  Be- 
gattung aber  wenigstens  in  diesen  Fällen  ein  Act  anderer  Gang- 
lienknoten des  Rumpfes  gewesen  sei"  (S.  54).  Die  betreffenden 
Willensakte  waren  aber  zugleich  Functionen  der  beiden  wichtig- 
sten und  allgemeinsten  Instincte  und  wir  müssen  somit  folgern, 
dass  auch  die  Instincte,  d.  h.  die  molecularen  Prädispositionen 
zu  gewissen  Handlungsweisen,  in  den  gegebenen  Beispielen  ihren 
Sitz  in  verschiedenen  Centraltheilen  des  Nervensystems  hatten. 
Als  solche  Instincte  untergeordneter  Nerrencentra  sind  nun  auch 


191 

alle  die  in  dem  Cap.  A  I  angeführten  selbstständigen  Functionen 
des  Rückenmarks  und  der  Ganglien  in  höheren  Thieren  und  im 
Menschen  zu  betrachten.  AVenn  ein  ausgeschnittenes  und  ausge- 
gespritztes  Froschherz  noch  Stunden  lang  weiterschlägt,  so  ist 
die  Ursache  nirgends  anders  zu  suchen,  als  in  den  Prädispo- 
sitionen der  Herzganglien  zu  einer  rhythmischen  Functionsweise, 
welche  die  Muskeitäsern  des  Herzens  zu  Contractionen  von  dem- 
selben Rhythmus  anregt  (Ph.  d.  U.  S.  109).  Eine  solche  Gang- 
lienprädisposition ,  deren  typische  Bethätigung  so  sehr  den 
Charakter  der  Spontaneität  trägt,  als  die  instinctive  Willens- 
äusserung  eines  Thieres  es  nur  immer  vermag,  muss  ebenso  un- 
zweifelhaft 1  n  s  t  i  n  c  t  genannt  werden,  als  ihre  Function  Wille, 
da  die  unbewusste  Zweckmässigkeit  ihrer  Leistungen  nicht  in 
Frage  zu  ziehen  ist.  Zweifelsohne  wird  auch  hier  die  Perception 
irgendwelchen  Reizes,  d.  h.  eine  Empfindung  als  Motiv  für 
das  Eintreten  und  die  Fortdauer  der  Function  vorhanden  sein 
(ebd.  S.  124),  wenn  wir  den  betreffenden  Reiz  auch  noch  nicht  genauer 
angeben  können ;  ob  und  in  wiefern  aber  eine  actuelle  Vorstellung 
des  Willensinhalts  als  Summationsphänomen  der  den  Ganglien- 
willen constituirenden  Molecularwillen  zu  Stande  kommt,  das 
möchte  schwer  zu  behaupten  sein,  da  uns  alle  Anhaltspunkte  zu 
einer  solchen  Behauptung  fehlen.  Keinenfalls  kann  die  Berufung 
der  Ph.  d.  Unb.  (S.  109)  auf  „die  unbewusste  Vorstellung  bei 
Austührung  der  willkürlichen  Bewegung'^  einen  solchen  Anhalt- 
punkt gewähren,  da  wir  diese  Hypothese  der  Ph.  d.  Unb.,  wie 
sie  in  Cap.  A  II  entwickelt  ist,  schon  oben  (Abschn.  VII,  S.  112 
bis   115)   als   unbegründet  nachgewiesen   haben. 

Dasselbe  wie  von  der  Herzbewegung  gilt  natürlich  von  den 
Bewegungen  des  Magens  und  Darms  und  von  dem  Tonus  der 
Eingeweide,  Gelasse  und  Sehnen  in  Bezug  auf  das  sympathische 
Nervensystem,  sowie  von  den  Athembewegungen  in  Bezug  aut  das 
verlängerte  Mark ;  ebenso  gilt  es  in  Bezug  auf  das  kleine  Gehirn 
von  jenen  spontanen  Bewegungen  und  Handlungen,  welche  Vögel 
und  Säugethiere  mit  exstirpirtem  Grosshirn  vornehmen ,  wie  das 
Unterstecken  des  Koples  unter  den  Flügel  beim  Schlafen,  das 
Schütteln  und  Putzen  des  Gefieders  nach  dem  Erwachen,  das 
Umherlaufen  etc.  (Ph.  d.  U.  S.  58).     Das  Kleinhirn  leistet  aber  noch 


1^2 

weit  meht\  dm  e§  Vi^ei^^upt  das  Gentralorgan  def  willktirli^hetf 
Beweguugen  ist  und  diese  instinctiv  richtig  besorgt,  sobald 
ilim  eine  allgeitiein  gehaltene  telegraphische  Ordre  vom  G-rosshim 
ztigekommen  ist ,  welche  als  ein  die  Instinctfunction  auslösender 
Reiz  oder  Motiv  dient  (ebd.  S.  118 — 119).  Erstreckt  sich  die  Ordre 
auf  eine  dauernde  Thätigkeit,  so  kann  diese  auch  dann  noch 
fortgesetzt  werden,  wenn  das  Grosshirn  durch  Schlaf-  oder  Be- 
wnsstlosigkeit  depoteuzirt  ist  (z.  B.  das  Weitermarschiren  von 
Soldaten,  die  auf  dem  Marsch  eingeschlafen  sind,  das  Nacht- 
wandeln, bewusstloses  Abspielen  von  auswendig  gelernten  Ciavier- 
stücken u.  s.  w.);  hierin  offenbart  sich  ganz  deutlich  die  Selbst^ 
stäudigkeit  des  Kleinhirns  und  seine  relative  Unabhängigkeit  vom 
Grosshirn  (S.  120),  und  zugleich  bestätigt  sich  die  mechanische 
Sicherheit  und  das  rapide  Functioniren  der  mechanischen  Instinct- 
prädispositionen  im  Gegensatz  zu  den  bewussten  detaillirten  In- 
tentionen des  Grosshirns  mit  der  Schwertälligkeit  und  AengSt- 
lichkeit  seiner  discursiveu  Reflexion  (S.  117  und  119).  Wie  un- 
richtig die  Ph.  d.  Unb.  diesen  wohlbeachteten  Gegensatz  deutet, 
davon  scheint  sie  auf  S.  120  selbst  etwas  zu  ahnen,  indem  sie 
die  Aehnlichkeit  der  so  durch  allmähliches  Einüben  und  Gewöh- 
nung der  Nervencentra  zu  erlangenden  Fähigkeiten  und  Fertig- 
keiten mit  Instincthandlungen  anerkennt,  da  sie  „einem  zur  Natur 
werden"  wie  diese  und  „für  das  Hirn  unbewusst  werden"  wie 
diese ,  dennoch  aber  nicht  nur  ihre  Identität  mit  dem  Instinct  be- 
streitet, sondern  sie  als  „das  gerade  Gegen theil"  desselben 
betrachten  zu  müssen  glaubt,  weil  nämlich  hier  das  „zur  Natur- 
werden" und  „Unbewusstwerden"  auf  Uebung  und  Gewöhnung, 
also  auf  einem  Gedächtniss  der  niederen  Nervencentra,  d.  h. 
auf  von  denselben  erworbenen  Prädispositionen  beruht,  während 
der  Instinct  auf  dem  teleologischen  Eingriff  eines  metaphysichen 
Unbewussten  beruhen  soll,  das  durch  Uebung  und  Gewohnheit 
gar  nicht  berührt  werden  kann.  In  Wahrheit  besteht  ein  Unter- 
schied nicht  in  der  Ursache  der  Fertigkeit  (der  moleculareu  Prä- 
disposition), sondern  nur  in  der  Art  und  Weise,  wie  man  zu  der- 
selben gekommen  ist,  ob  man  sie  nämlich  selber  erworben  oder 
von  den  Vorfahren  ererbt  hat,  oder  ob  man  sie  theils  ererbt, 
theils  selber  weiter  ausgebildet  hat. 


193 

HieriDit  sind  wir  schon  in  das  Capitei  von  den  Reflex- 
bewegungen hinübergerathen,  und  in  der  That  lässt  sich  Instinct 
und  Reflexiunction  gar  nicht  trennen.  Denn  auch  beim  Instinct 
muss  irgend  „ein  äusseres  Motiv  zum  Handeln  immer  vorhanden 
sein,  und  die  Handlung  eriblgt  auf  dieses  Motiv  mit  Noth- 
wendigkeit,  also  reflectorisch,  wenn  auch  (unter  Umständen j 
erst  mittelbar  durch  verschiedene  Reflexionen  vermittelt"  (Fh.  d.  U. 
S.  164).  Andererseits  ist  das  Resultat  des  Capitels  über  die  Reflex- 
bewegungen, dass  diese  „die  Instincthandlungen  untergeordneter 
Nervencentra"  sind  (S.  126),  —  wobei  der  Zusatz  nicht  als  un- 
bedingte Beschränkung  zu  verstehen  ist,  wie  die  Anerkeimuug 
von  „Reflexwirkungen  des  grossen  Gehirns"  beweist  (S.  116 
und  121).  Gerade  die  letzteren  sind  sehr  lehrreich,  weil  ihre 
Beobachtung  viele  Vortheiie  vor  den  pathologischen  Experimenten 
an  Thieren  bietet  (S.  114),  und  wir  wollen  sie  deshalb  noch 
etwas  näher  in's  Auge  fassen.  —  Wenn  ein  Knabe  zum  ersten  Mal 
in  seinem  Leben  ein  Glas  von  dem  Tisch  fallen  sieht,  an  dem 
er  sitzt,  so  wird  er  sich  vielleicht  mit  Ueberlegung  dazu  ent- 
Bchliessen,  nach  demselben  zu  greifen,  aber  er  wird  mit  seinem 
Entschluss  sicher  zu  spät  kommen  (S.  117  Z.  1).  Begegnet  ihm 
aber  die  Sache  öfter,  so  wird  seine  Ideenassociation  sich  abkürzen 
und  der  Sinneseindruck  des  fallenden  Glases  endlich  unmittelbar 
die  schnelle  Handbewegung  hervorrufen;  d.  h.  die  Hebung  mrd 
in  seinem  Gehirn  eine  Prädisposition  zu  reflectorischem 
Handeln  erzeugen.  Wenn  auch  dieses  Ereigniss  nicht  allgemein 
und  wichtig  genug  ist,  um  auf  die  Vererbung  einer  so  erlangten 
Prädisposition  mit  Sicherheit  rechnen  zu  können,  so  wird  doch 
eine  ähnlich  entstandene  Prädisposition,  das  reflectorische  Erheben 
des  Armes  zum  Schutze  des  Auges  gegen  einen  dasselbe  be- 
drohenden Schlag,  unzweifelhaft  vererbt,  ebenso  wie  die  reflec- 
toriscben  Bewegungen  der  Augenlieder,  die  sich  schliessen,  wenn 
das  Auge  bedroht  ist;  letztere  Bewegung  insbesondere  kann  man 
schon  bei  Säuglingen  beobachten.  Wie  wir  von  allen  körper- 
lichen Fertigkeiten  gesehen  haben,  dass  sie  erworben,  vererbt 
und  als  ererbte  durch  Hebung  gesteigert  werden  (vgl.  Abschn.  VUj, 
do  werden  wir  es  auch  von    allen   jenen  Fertigkeiten   annehmen 

müssen,  welche,  gleichviel  ob  sie  im  Grosshirn  oder  in  niederen 

li 


194 

Nervenceiitren  ihren  Sitz  haben,  in  hervorragendem  Grade  einen 
reflectorisfheu  Charakter  an  sich  tragen  und  deshalb   im  engeren 
Sinne  als  Reflexbewegungen  bezeichnet  werden.     Zum  Theil  sind 
dieselben  für  die  Lebensökonomie  der  betreffenden  Thiere  von  der 
grössten    Wicktigkeit,     zum    Theil     tragen     sie    den    Charakter 
schlitzender  oder  abwehrender  Tliätigkeiten  an  sich;  alle  aber 
sind  in  ihrer  normalen  Gestalt  nützlich,  zweckmässig?  für  die  Be- 
sitzer,  und  lässt  »sich  deshalb  sehr  wohl  der  Einfluss  der  natürlichen 
Zuchtwahl  auf  die  Ausbildung  und  Steigerung  derselben  begreifen. 
Bei    höheren    Thieren    aber    werden    dieselben    auch    schon 
dadurch    entwickelt,    dass    das    Gehirn     auf    eine    Sinneswahr- 
nehmung   hin    sich    einen   bestimmten    Zweck    vorsetzt,    die    zu 
seiner   Erreichung    nöthigen   Bewegungen    erst   einzeln    anordnet, 
dann  combinirt  in  kleineren  und  grösseren  Gruppen  befiehlt,   bis 
endlich  die  Einübung  der  niederen  Nervencentra  so  weit  gediehen 
ist,  dass  es  nur  noch  eines  einzigen  Impulses  vom  Gehirn  bedarf, 
um  die  gesammte  Bewegung  zur  Ausfülirung  zu  bringen  (S.  119^ 
vgl.    auch    o])en    8.    112  —  113).      Es    ist    diese    Elimination    von 
Zwischengliedern    ein    analoger  Process    wie    bei   der  i\.bkürzung 
der  Ideenassociation,    nur  dass  es  sich  hier   um   mehr  als  blosse 
Vorstellungen,    um   Bewegungsimpulse   handelt.      Ist   die   Sinnes- 
wahrnehmung,  welche  als  erster  Anstoss  oder  Eeiz  zu  der  Hand- 
lung wirkt,  von  der  Art,  dass  sie  auch  in  niederen  Nervencentris 
zur  Perception    gelangt,    so    kann    die   Elimination    noch   weiter 
gehen   und  auch  die  Thätigkeit  des  Gehirns    ganz   und  gar  aus- 
scheiden; denn  wenn  z.B.  ein  bestimmter  Theil  des  Rückenmarks 
oder  Kleinhirns  so  und  so  oft  eine  bestimmte  Wahrnehmung  des 
Muskclsinns   der  Beine    percipirt    und  weiter    geleitet    hat,    und 
jedesmal    vom   Grosshirn    als    Rückantwort    die   Ordre    zu    einer 
gewissen  Bewegung    der  Beine  (etwa  zur  Wahrung  der  Balance) 
ilarauf  erhalten  hat,  so  wird  sich  eine  prädispositionelle  Association 
der  Perception  jener  Sensation    mit    der  Tendenz    zu    dieser  Be- 
wegung in  dem   betreffenden  Centraltheil   entwickeln,   und    nach 
der    nöthigen    Anzahl    von  Wiederholungen    wird    dieselbe    hin- 
reichend befestigt  sein,  um  von  selbst  ohne   eingreifenden  Impuls 
des  Grosshinis  in  dem  gewohnten  Sinne   zu  functioniren;    sobald 
das  Grossbim  dies   bemerkt,    hört  es  ^anz   von  selbst  a»i,   sieh 


195 

mit  der  Sache   noch   weiter   zu    bemühen.     Die  Zweckmässigkeit 
der    reflectorischen  Instincte    der    niederen   Nervencentra    erklärt 
sich  demnach  einestheils  als  ein  durch  natürliche  Zuchtwahl  oder 
Sonstige  mechanische  Compensationsprocesse  entstandenes   zweck- 
massiges  Resultat    ohne    teleologisches  Princip,    anderntheils    als 
ein  Ausfluss  oder  als  ein  capul  mordium  trüherer  bewusster 
Zweckthätigkeit    des  Gross hi ms.    Die   von  letzterer  an- 
gebahnten und  eingeübten  Associationen  zwischen  Eeiz  und  Reactiou 
werden  durch  gewohnheitsmässige  Eingrabung  zu  festen  erblichen 
Prädispositioneu  oder  Instincten;  je   näher  die  niederen  Nerven- 
centra dem  Grosshirn  liegen,    durch   je    bessere  Leitung  sie  mit 
demselben  verbunden  sind,  je  leichter    sie  detaillirte  Ordres  vom 
Grosshirn  empfangen  können,  desto  mehr  zweckthätige  Intelligenz 
wird    aus    dem  Grosshirn    in    sie    überstrahlen    und    in    Gestalt 
instinctiver    und    veflectorischer    Prädispositionen    sich    ablagern^ 
desto    complicirtere   und    zweckmässigere    und    desto   mehr 
Instincte  und  Reflexanlagen   werden    sie   also   enthalten  (S.  113)^ 
und  desto  bedeutender  werden  sie  auch  physiologisch  nach  Quantität 
und  Qualität   entwickelt  sein,  —  immer   vorausgesetzt  natürlich^ 
dass  wir  es  mit  Wesen   zu   thun    haben,    deren  Grosshirn  bereits 
einer  erheblichen  Entfaltung  bewusster  Zweckthätigkeit  fähig  ist. 
Diese  Betrachtungsweise  stimmt  wohl  mit  der  thatsächlichen  An- 
ordnung  der  Nervencentralorgane   in    den    höheren  Thieren   vom 
Grosshirn  bis  herunter  zum  Ende  des  Rückenmarks  und  dem  lose 
angefügten  sympathischen  Nervensystem  überein,    und  dürfte  un- 
vermuthetes  Licht  auf  die  ursächlichen  Momente  dieser  Anordnung 
werfen. 

Gerade  an  den  Reflexbewegungen  kommt  der  mechanische 
Charakter  des  Instincts,  die  auf  ein  enges,  vorherbestimmtes  Gebiet 
von  Aufgaben  beschränkte  Zweckmässigkeit  eines  Mechanismus, 
am  unmittelbarsten  und  deutlichsten  zur  Anschauung,  and  deshalb 
dienen  gerade  diese  Ausführungen  der  Ph.  d.  ü.  über  die  Reflex- 
bewegungen bei  Thieren  (Cap.  A  V)  und  insbesondere  bei  den 
Pflanzen  (S.  441 — 444)  recht  schlagend  zur  Unterstützung  unserer 
Auffassung.  Nur  die  an  dieses  Problem  schon  mitgebrachte  ver- 
kehrte Ansicht  über  den  Instinct  konnte  den  Blick  für  das  ein- 
lache Sach Verhältnis  trüben.  ^ 

IS* 


196 

Die  Pb.  d.  ü.  erkennt  unter  dem  Hinweis  auf  den  unmittel- 
baren flüssigen  Uebergang  zwischen  Hirnreflex  und  bewusster 
Seeleuthätigkeit  mit  Recht  die  Einheiten  des  allen  diesen  Er- 
scheinungen zu  Grunde  liegenden  Erklarungsprincips  an  und 
iährt  fort :  „Darum  giebt  es  nur  zwei  consequente  Betrachtungs- 
weisen dieser  Dinge;  entweder  die  Seele  ist  überall  nur 
letztes  Resultat  materieller  Vorgänge'^  (genauer:  Summations- 
phänoiuen  psychischer  oder  innerlicher  Atomfunctionen)  ,,suwohl 
im  Hirn  als  im  übrigen  Nervenleben ,  dann  müssen  aber  auch 
die  Zwecke  tiberall  geleugnet  werden,  wo  sie  nicht  durch  bewusste 
Nerventhätigkeit  gesetzt  worden"  (wir  haben  die  Berichtigung 
dieses  hier  offenbar  für  die  Entscheidung  maassgebend  gewordenen 
vordarwinschen  Vorurtheils  schon  oft  genug  in's  Auge  gefasst),  — 
^,oder  die  Seele"  (als  ein  immaterielles,  d.  h.  von  der  Materie 
geschiedenes,  exclusiv  spiritualistisches,  nicht  atoraistisch  geglie- 
dertes und  mit  den  Atomen  des  Gehirns  zusammenfallendes, 
sondern  einheitlich  über  denselben  schwebendes  Princip)  „ist 
überall  das  den  materiellen  Nervenvorgängen  zu  Grunde  liegende, 
sie  schaffende  und  regelnde  Princip"  (S.  122),  Wir  sind  der 
Ansicht,  dass  die  materiellen  Nervenvorgänge  durch  die  ihnen 
immanenten  Kräfte  und  durch  die  von  aussen  empfangenen  Im- 
pulse geschaffen  und  durch  die  den  Atomen  immanenten  Gesetze 
geregelt  werden,  dass  alle  Zweckmässigkeit  für  bestimmte  Classen 
von  Fällen  nicht  durch  unmittelbare  teleologische  Eingriffe,  sondern 
durch  Mechanismen  hervorgerufen  wird,  welche  aus  Anpassungs- 
processeu  (sei  es  durch  natürliche  Zuchtwahl,  sei  es  durch  bewusste 
Accommodation)  resultiren  und  dass  diese  Auffassung,  wie  wir 
oben  (S.  62  —  63)  gezeigt  haben ,  keineswegs  mit  dem  die 
Phänoraenalität  der  Materie  und  die  subje(;tive  Innerlichkeit  der 
metaphysischen  Atome  verkennenden  Materialismus  zu  vermengen 
ist.  Dass  die  Ph.  d.  U.  vor  der  Alternative  eines  metaphysiklosen 
Materialismus  oder  einer  teleologischen  Metapliysik  sich  für  die 
letztere  entschied,  ist  kein  Wunder;  dass  sie  aber  vor  dieser 
Alternative  zu  stehen  glaubte,  kam  nur  daher,  weil  sie  den  rich- 
tigen Mittelweg  einer  —  trotz  aller  Anerkennung  resultirender 
phänomenaler  Zweckmässigkeit  —  a  t c  1  e  o  lo g  i  s c  h  e  n  Metaphysik 
übersah ,  und  sie  übersah  densell>en  deshalb,  weil  sie,  wenigsten» 


1 


97 


in   ihrer    ersten  Hälfte,   die  Tragweite  und    die    philosophischen 
Consequenzen  der  Descendenztheorie  nicht  verstand. 

Was  nun  speciell  bei  den  Reflexbewegungen  die  Gründe  be- 
trifft, weshalb  die  Ph.  d.  Unb.  die  Erklärung  durch  eigenthüm 
liehe  Mechanismen  der  Leitungsverhältnisse  tür  unmöglich  hält, 
so  ist  es,  weil  „sich  gar  keine  Gesetze  und  Einrichtungen  mehr 
denken  lassen,  vvelche  ein  und  denselben  Strom  bald  auf  nahe^ 
bald  auf  ferne  Theile  überspringen,  bald  in  dieser,  bald  in  jener 
Keiheufolge  die  Reacticnen  auf  einander  folgen  lassen,  ja  sogar 
auf  einen  einfachen  Reiz  ein  abwechselndes  Spiel  der  Antago- 
nisten eintreten  lassen  könnten"  (S.  123).  Was  das  Spiel  der 
Antagonisten  betrifft,  so  erinnern  wir  an  die  Ganglieninstiucte  zu 
rhythmischen  Bewegungen,  wie  z.  B.  der  Herzschlag  eine  ist; 
werden  rhythmische  Bewegungen  der  Streckmuskeln  und  der 
Beugemuskeln  eines  Gliedes  so  combinirt,  dass  sie  im  Rhythmus 
ihrer  Functionen  alterniren,  so  ist  das  Spiel  der  Antagonisten 
fertig.  Auch  beim  Herzschlage  ja  bei  allen  coraplicirteren  In- 
stincten  der  niederen  Nervencentra  pflegt  ein  einfacher  Reiz  nicht 
eine  einfache  Reaction  auszulösen,  sondern  den  Impuls  zur  Aus- 
lösung einer  ganzen  geordneten  Reihe  von  Actionen  zu  geben^ 
mögen  nun  diese  so  eng  aneinandergerückt  sein,  dass  sie  dem 
oberflächlichen  Beobachter  den  Schein  einer  einzigen  Totalaction 
vorspiegeln,  oder  mögen  sie  auch  für  den  Augenschein  in  eine 
ausgedehntere  Reihe  auseinandergezogen  sein  (z.  B.  gedankenlos- 
mechanisches  Gehen  einer  ausgedehnten  Strecke  auf  einmaligen 
Befehl  des  Grosshirns).  Eine  verschiedene  Reihenfolge  der  Re- 
actionen  wird  nur  bei  Verschiedenheit  des  Reizes  eintreten,  für 
welchen  Fall  eben  diesen  reflectorischen  Instincten  ebenso  wie 
den  Instincten  des  Thierlebens  ein  ge^visser  Polymorphismus  zuzu- 
gestehen ist.  Ebenso  hängt  es  von  der  Beschaffenheit  des  Reizes 
ab,  welchen  Weg  der  Reiz  nach  Perception  durch  das  nächste 
Centralorgan  nimmt,  ob  dieses  die  Reaction  selber  besorgt, 
oder  ob  er  weiter  geleitet  wird  zu  höheren  Centren,  die  dann 
ihrerseits  die  Reaction  in  die  Hand  nehmen;  dies  alles  wird  bei 
gegebenem  Reiz  von  der  Gewöhnung  und  den  ererbten  Prädispo- 
ßitionen  fest  bestimmt,  wenngleich  Stimmung  und  andere  physio- 
logische   und    pathologische   Umstände   einen    gewissen    Einfluss 


198 

darauf  haben  und  das  Resultat  unter  Umständen  modificiren 
werden.  Ein  „unerschöpflicher  Reichthum  von  Combinationen"  in 
der  Accommodation  der  Bewegungen  an  die  Umstände  findet  im 
strengen  Wortsinn  keinenfalls  statt,  wie  die  Ph.  d.  Unb.  S.  124 
behauptet;  vielmehr  zeigt  die  Beobachtung  bei  den  tieferstehenden 
Nerveneentris  (Rückenmark  und  Ganglien)  in  der  That  der  Er- 
wartung gemäss  (S.  124)  nur  die  „stete  Wiederkehr  weniger 
und  immer  sich  gleichbleibender  Bewegungscomplicationen" 
und  erst  das  verlängerte  Mark,  besonders  aber  das  kleine  Gehirn, 
entfaltet  einen  grösseren  Reichthum  von  Reflexactionen,  wie  z.  B. 
die  Wahrung  der  Balance  zeigt.  Bedenkt  man  aber,  dass  aus 
einer  massigen  Zahl  vorhandener  Prädispositionen  sich  durch 
Reize,  welche  verschiedene  derselben  gleichzeitig  afficiren,  auf 
rein  mechanischem  Wege  schon  eine  sehr  grosse  Zahl  von 
Combinationen  reflectorischer  Wirkungen  ergeben  muss,  erwägt 
man  ferner,  dass,  wie  schon  angedeutet,  die  meisten  dieser  Prä- 
dispositionen selbst  schon  eine  Anzahl  von  Modificationen  als 
polymorphe  Reflexe  unter  sich  begreifen  werden,  berücksichtigt 
man  endlich,  eine  wie  colossale  Menge  von  intellectuelleu  und 
charakterologischen  Prädispositionen  im  Grosshirn  zusammen- 
gehäuft ist,  so  wird  man  keinen  Anstoss  mehr  daran  nehmen 
können,  dem  Kleinhirn  die  jedenfalls  unendlich  viel  ge- 
ringereZahl  molecularer Prädispositionen  zuzuerkennen,  welche 
7.ur  instinctiven  und  reflectorischen  Centralregulation  der  Bewe- 
gungen der  willkürlichen  Muskeln  erforderlich  ist. 

Können  wir  sonach  den  allgemeinen  Argumenten  der  Ph.  d, 
Unb.  gegen  die  mechanische  Erklärung  der  Reflexwirkungen 
durch  moleculare  Prädispositionen  keine  Beweiskraft  zugestehen, 
so  vermögen  wir  dies  ebensowenig  in  Bezug  auf  das  specielle 
pathologische  Beispiel  auf  S.  123-124.  Dieses  Beispiel  beweist 
allerdings,  „dass  die  motorische  Reaction  nicht  eine  Folge  der 
vorgezeichneten  Bahnen  der  Leitung  des  Reizes  ist,  sondern  daser 
der  Strom,  um  (?)  die  zweckmässigen  Reflexbewegungen  zu  Stande 
tn  bringen,  nach  Zerstörung  der  gewöhnlichen  Leitungsbahnen 
>jich  neue  Bahnen  schafft,  wenn  nur  nicht  völlige  Isola- 
tion der  Theile  bewirkt  ist^^  (S.  123).  Die  neue  Leitungsrichtung 
bestand  vor  Zerstörung  der  alten  auch,  und  wird  nach  den  all* 


199 

gemeinen  Gesetzen  der  Fonpflauzimg  dynamischer  Bevvegungs- 
ersclieinungen  auch  früher  schon  ei nen  Nebenstrom  von 
dem  Hauptstrom  des  fortgepflanzten  Reizes  abgelenkt  haben,  jedoch 
einen  Nebenstrom,  der  bei  dem  Verhältniss  seines  Leitungswider- 
standes zu  dem  des  Hauptstroms  ausser  Acht  gelassen  werden 
kann.  Wird  nun  dieses  Verhältniss  der  Leitungswiderstände 
plötzlich  dadurch  geändert,  dass  der  Leitungswiderstand,  den  der 
bisherige  Hauptstrom  findet,  unendlich  gross  wird,  d.  h.  tritt  für 
den  Hauptstrom  Isolation  ein,  so  muss  die  bisher  auf  Haupt-  und 
Nebenstrom  vert heilte  lebendige  Kraft  des  Reizes  nunmehr 
auf  die  Richtung  des  Nebenstroms  allein  wirken  und  w^ird  hier 
in  vielen  Fällen  gross  genug  sein,  um  den  vorhandenen  Leitungs- 
widerstand bequem  zu  überwinden,  welcher  vielleicht  den  Neben- 
strom in  der  bisherigen  Stärke  vollständig  absorbirte.  So  erklärt 
sich  das  Entstehen  neuer  Leitungsbalmen  auf  rein  mechanischem 
Wege  ohne  alle  teleologischen  Eingriffe.  In  der  That  befindet 
sich  aber  die  Ph.  d.  Unb.  im  Irrthum,  wenn  sie  voraussetzt,  dass 
eine  mechanische  Erklärung  der  Reflexbewegungen  den  Haupt- 
accent  auf  die  fest  vorgezeichneten  Bahnen  der  Leitung  des 
Reizes  legen  müsse,  im  Gegentheil  erscheint  der  Weg,  auf 
welchem  der  Reiz  von  der  Einmündung  der  sensiblen  Nerven 
in  das  Centralorgan  zu  den  molecularen  Prädispositionen  seiner 
Reflexfunctionen  geleitet  wird,  als  unmittelbar  gleichgültig 
und  kommt  es  nur  darauf  an,  dass  er  zu  dieser  Stelle  des 
Centralorgans  gleichviel  Avie  hingelangt  und  hier  das  Functioniren 
der  molecularen  Prädisposition  provocirt. 

Nachdem  wir  so  die  Instincte  der  niederen  Nervencentra  er- 
ledigt haben,  welche  Contraction  von  quergestreiften  oder  ein- 
fachen Muskelfasern  zur  Folge  haben,  also  zur  Erzeugung  von 
Bewegungen  oder  Tonus  dienen,  haben  wir  uns  noch  mit  der 
zweiten  Hauptklasse  von  Ganglieninstincten  zu  beschäftigen,  näm- 
lich denjenigen,  welche  der  Regulation  der  vegetativen  Functionen 
vorstehen  (Ph.  d.  Unb.  S.  56  unten ).  „Die  organischen  Functionen, 
insoweit  sie  überhaupt  von  Nerven  abhängig  sind,  werden  durch 
sympathische  Nervenfasern  geleitet,  welche  dem  bewussten 
Willen  nicht  direkt  unterworfen  sind,  sondern  von  den  Ganglien- 
knoten aus  innervirt  werden,  von  denen  sie  entspringen"  (S.  149f 


___200__ 

vgl.    S.    128    obeo).      Wie    allen  Nerven  ohne  Ausnahme  solche 
sympathische  Nervenfasern  beigemischt  sind,  so  finden  sich  auch 
überall   im  Körper  Ganglienknoten  vertheilt,  welche  den  vegeta- 
tiven Processen  vorstehen,  ja  sogar,   wir  müssen  annehmen,  dass 
diesem   Zweck    dienende    und   für   diesen    Zweck    prädisponirte 
Ganglienzellen    im    Rückenmark    und   in    den    dem  Rückenmark 
näher    liegenden    Theilen    des   Gehirns    eingelagert   sind.     Diese 
Ganglien  und  Ganglienzellen  sind  säramtlich  direkt  oder  indirekt 
durch  Leitung    mit    einander    und    mit    dem  Grosshirn   und   den 
Centralorganen   der  Sinneswahrnehmungen   verbunden.     Die  Ver- 
bindung mit  dem  Grosshirn   muss  auch  aus  dem  mittelbaren  Ein- 
fluss    bewusster    Absichten,    Vorstellungen    und   Gefühle    auf   die 
vegetativen  Functionen   (S.  158 — 162)  gefolgert   werden,   da  das 
Grossbirn   eine   direkte   Einwirkung   auf  diese  Vorgänge  keinen- 
falls  haben  kann,  sondern  nur  vermittelst  eines  Einflusses  auf 
die   betreffenden    Ganglien.      Jedenfalls    hat    man    sich  davor  zu 
hüten,  den  Einfluss  der  Ganglien   auf  die  vegetativen  Functiojien 
in  zu  ausgedehntem  Sinne   zu  fassen,    da  für  einen  grossen   und 
gewiss  den  grössten  Theil  derselben   die  rein  physikalischen  und 
chemischen  Vorgänge  in  Verbindung  mit  der  gegebenen  anatomisch- 
physiologischen Organisation  hinreichen,  um  das  Leben  im  Gange 
zu  erhalten.     Diese  Bemerkung  erhält  noch  besonderen  Nachdruck 
durch  die  Verweisung  auf  das  Leben  der  Pflanze,  wo  die  Ganglien 
und   Nerven    fehlen,    und   nur   ein  schwacher  Ersatz   durch   den 
protoplasmatischen    Inhalt    der   lebenden  Zellen   stattfindet;   hier 
tritt  die  blosse  Mechanik  der  biologischen  Processe  viel  deutlicher 
hervor,   und   hier   wird   es   auch  jedenfalls  viel  früher  als  in  der 
Thierphysiologie  gelingen,  den  causalen  Zusammenhang  der  Lebens- 
erscheinungen mit  ihren   physikalischen   und   chemischen  Grund- 
lagen genauer  zu  erforschen.     Erst  wenn  dies  auch  im  thierischen 
Leben  geschehen   sein  wird,   wird  es  nröglich  werden,  den  wirk- 
lichen Antheil  der  Ganglien  vermittelst  der  von  ihnen  ausgehenden 
sympathischen   Nervenfasern   festzustellen;   vorläufig  müssen   wir 
uns  mit  dem   Schluss   begnügen,  dass  diese  Apparate  nicht  ent- 
wickelt worden  wären ,  wenn  sie  ni(5ht  den  sie  besitzenden  Orga- 
nismen  nützlich   und   nothwendig    wären.     Zugleich  müssen  wir 
al>er  auch  jetzt  schon  im  Hinblick  auf  die  bereits  erwähnte  mittel- 


bare  Einwirkung  des  Grosshims  auf  vegetative  Functionen,  sowie 
auf  viele  andere  schnelle  Aenderungen  derselben  von  instinctivem 
oder  reflectorischem  Charakter,  anerkennen,  dass  wir  ausser  den 
physikalischen  und  chemischen  Gesetzen  zur  Erklärung  vieler 
Lebenserscheinungen  noch  eines  andern  Erklärungsprincips  be- 
dürfen,  welches  vermittelst  der  sympathischen  Nervenfasern  aus 
den  Ganglien  heraus  wirkt.  Wenngleich  manche  der  Detailangaben 
in  dem  Capitel  über  „Naturheilkraft"  (A  VI)  Berichtigung  von 
Seiten  der  exacten  Forschung  erheischen,  so  ist  doch  im  All- 
gemeinen jenes  Mehrbedürfniss  daselbst  hinreichend  dargethan. 

Dass  aber  der  Einfluss  der  Ganglien  und  der  in  denselben  für 
diese  wichtigen  Lebensfunctionen  niedergelegten  instiuctiven  oder  re- 
fiectorischen  Prädispositionen  unzureichend  sei,  um  die  Leistungen 
der  physikalischen  und  chemischen  Gesetze  an  Ort  und  Stelle  des 
Vorgangs  zur  vollen  Erklärung  zu  ergänzen,  dass  ist  dort  nirgends 
dargethan;  es  ist  im  Gegentheil  an  entscheidenden  Stellen  der  Ein- 
fluss der  Nerven  und  Ganglien  übersprungen,  um  sofort  zu 
einem  infiuxus  idealis  zu  gelangen,  so  z.  B.  S.  143  oben,  wenn 
die  die  Veränderung  der  Secrete  bestimmenden  Veränderungen 
der  Beschaffenheit  der  secernirenden  Häute  und  Organe  sofort 
als  nur  eine  einzige  endgültige  Erklärung,  nämlich  in  idealer 
Richtung,  zulassend  bezeichnet  wird,  während  doch  an  anderer 
Stelle  mit  Recht  der  Einfluss  des  sympathischen  Nervensystems 
gerade  auf  die  secernirenden  Häute  der  Secrctionsorgane  hervor- 
gehoben wird.  Ohne  Zweifel  ändern  sich  die  vegetativen  Func- 
tionen (z.  B.  die  Secrete)  je  nach  dem  P^ntwickelungsstadium  des 
Organismus  (S.  142);  hierin  ist  aber  nur  das  schon  oben  be- 
sprochene Gesetz  der  Vererbung  wiederzuerkennen,  dass  eine  be- 
stimmte (sei  es  typische,  sei  es  functionelle)  Eigenthtimlichkeit  der 
elterlichen  Organismen  bei  den  Nachkommen  in  demselben  Ent- 
wickelungsstadium  des  individuellen  Lebens  aus  der  Latenz  in 
die  Erscheinung  tritt,  in  welchem  sie  bei  den  Eltern  sich  einge- 
stellt hat.  Lebensfunctionen ,  welche  in  ihren  Veränderungen  ge- 
wissen Rythmen  (sei  es  nach  Jahreszeiten,  Mondwechsel,  Tages- 
lauf oder  unabhängig  von  diesen)  unterworfen  sind,  w^erdeu  na- 
türlich in  demselben  Sinne  stets  als  Prädispositionen  vererbt  werden, 
welche  das  Gesetz  des  rythmischen  Wechsels  ihres  Functionirens 


202 

schon  latent  in  sich  enthalten  und  werden  sogar  unter  umständen, 
wenn  ihnen  durch  pathologische  Verhältnisse  das  Functioniren  eine 
Zeitlang  unmöglich  gemacht  ist,  nach  Ablauf  dieser  Suspension 
mit  derjenigen  Modification  der  Functionen  wieder  einsetzen, 
welche  sie  entfalten  würden,  wenn  sie  auch  in  der  Zwischenzeit 
weiter  functionirt  hätten  (S.  129).  Dies  alles  erfordert  aber  noch 
keine  teleologischen  Eingriffe,  sondern  wie  die  rythmische  Herz- 
function  und  Darrafunction  durch  moleculare  Ganglienprädisposi- 
tionen  erklärbar  sind,  so  sind  es  auch  die  vegetativen ;  wenn  wir 
zum  Hohlwerden  der  Zähne  oder  zum  Auftreten  des  Wahnsinns 
in  dem  nämlichen  Lebensalter  wie  bei  dem  Vater  keine  teleo- 
logischen Eingriffe  brauchen,  so  brauchen  wir  sie  auch  nicht  für 
das  Eintreten  derjenigen  Summe  von  Modificationen  der  vegeta- 
tiven Functionen,  welche  wir  als  Pubertät  bezeichnen. 

Die  selbststäudigen  Ganglienfunctionen,  welche  vegetativen 
Zwecken  dienen,  haben  grossentheils  einen  ebenso  ausgesprochen 
reflectorischen  Charakter,  wie  die  eigentlichen  Reflex  bewegungen. 
Wenn  der  Speisebissen  durch  Berührung  der  Mundschleimhaut 
und  Zungenwarzen  eine  reichlichere  Absonderung  der  Speichel- 
drüsen hervorruft,  so  ist  dies  ein  ebenso  reflectorischer  Process, 
als  wenn  er  durch  Berührung  mit  den  Schlundwänden  Schling- 
bewegungen provocirt;  wenn  das  letztere  Folge  der  Reaction 
einer  molecularen  Prädisposition  in  einem  untergeordneten  Nerven- 
centrum  (verlängerten  Mark)  ist,  so  ist  kein  Grund  zu  bezweifeln, 
dass  dasselbe  Erklärungsprincip  auch  auf  den  ersteren  Vorgang 
Anwendung  findet.  Wenn  die  steigende  Blutwärme  reflectorisch 
gleichzeitig  verstärkte  Respirationsbewegungen  und  vermehrte  Ab- 
sonderung der  Schweissdrüsen  der  Haut  bewirkt  (S.  140 — 141), 
so  ist  die  centrale  Ursache  in  beiden  parallelen  Folgeerscheinungen 
offenl)ar  eine  analoge.  Je  wichtiger  solche  Vorgänge  für  die 
Lebensökonomie  eines  Thieres  sind,  oder  für  die  seiner  Vorfahren 
waren,  desto  grösser  ist  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  solche 
instinctive  oder  refiectorische  Ganglienprädispositionen,  von  denen 
ein  Theil  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Naturheilkraft,  ein  anderer 
Theil  unter  dem  der  Lebenskraft  oder  organischen  Bildunga- 
thätigkeit  zusammengefasst  zu  werden  pflegen,  sich  durch  natür- 
liche Zuchtwahl  entwickeln   mussten. 


203 

Dem  entsprechend  sind  die  zur  Regelung*  des  Ersatzes  ver- 
loren gegangener  Körpertheile  dienenden  Prädispositionen  um  so 
mehr  ausgebildet,  je  nothwendiger  dieser  Ersatz  in  der  Lebens- 
ökonomie des  Thieres  ist;  es  sind  aber  die  Prädispositionen  für 
Neubildung  von  Körpertheilen  um  so  nothwendiger  für  einen 
Organismus,  erstens  je  leichter  und  je  häufiger  eine  Beschädigung 
oder  ein  Verlust  derselben  in  Folge  ihrer  Structur  und  der 
gesammten  Lebensbeziehungen  zu  erwarten  steht,  und  zweitens 
je  wichtiger  der  betreffende  Körpertheil  iür  den  Organismus  in 
seinem  Kampf  um  die  Existenz  ist.  Beide  bestimmenden  Einflüsse 
zeigen  sich  in  der  empirischen  Beobachtung  bestätigt:  der  erstere 
in  der  stärkeren  Reproductionskraft  w^enig  widerstandsfähiger, 
also  weicher  oder  gebrechlicher  niederer  Thiere  (S.  131),  ins- 
besondere in  Bezug  auf  ihre  am  meisten  der  Verletzung  exponirten 
Theile  (S.  130),  der  letztere  in  der  verschiedenen  Stärke  der 
Oanglien-Prädispositionen  in  demselben  Thier,  welche  sich  in  der 
Verschiedenheit  der  auf  mehrere  gleichzeitig  verloren  gegangene 
Theile  von  ungleicher  Wichtigkeit  gerichteten  Innervationsenergie 
offenbart  fS.  129). 

Die  Ph.  d.  U.  bringt  auf  S.  127  und  130  hinlänglich  frap- 
pante Beispiele  bei,  welche  die  Wesensgleichheit  und  die  Flüssigkeit 
des  Ueberganges  zwischen  Instinct  und  Naturheilkraft  beweisen 
und  es  in  der  That  unmöglich  erscheinen  lassen,  für  beide  ein 
verschiedenes  Erklärungsprincip  zu  statuiren.  Da  wir  für  den 
Instinct  ein  anderes  als  die  Ph.  d.  U.  acceptirt  haben,  müssen 
wir  es  auch  für  die  Naturheilkraft,  und  die  Uebereinstimmung 
mit  den  durch  unser  Princip  so  wohl  erklärbaren  selbstständigen 
Bewegungsfunctionen ,  die  von  niederen  Nervencentri>>  spontan 
oder  reflectorisch  innervirt  werden,  lässt  es  keinem  Zweifel  unter- 
liegen, dass  auch  die  vegetativen  Functionen,  mag  es  sieh  nun 
inn  Secretion,  x\ssimilation,  Regeneration  oder  Zeugung  handeln, 
insoweit  sie  nicht  blosse  Resultate  der  wirksam  werdenden  che- 
mischen und  physikalischen  Gesetze  sind,  durch  Innervations- 
strörae  regulirt  werden,  die  von  ererbten  und  in  früheren  Ge- 
nerationen durch  natürliche  Zuchtwahl  oder  durch  sonstige  Com- 
pensations-  und  Accommodationsprocesse  entwickelten  Ganglien- 
prädispositioneu  ausgehen.    Das  Resultat  dieser  Ganglienfunctioneu 


204 

ist  die  restituirende  Realisation  des  Gattungstyp us,  der  vorher 
durch  äussere  Störung  alterirt  war. 

Wenn  jeder  Körperring  eines  Wasserregenwurms  die  Fähigkeit 
besitzt,  den  Typus  des  ganzen  Wurms  zu  restituiren,  so  folgt 
daraus  ohne  Zweifel,  dass  dieser  Typus  in  dem  Ganglion  jedes 
Ringes  irgendwie  enthalten  sein  muss;  nur  ist  die  Alternative 
(S.  128)  unrichtig,  dass  er  entweder  als  äussere  Realisation  oder 
als  actuelle  ideale  Vorstellung  darin  enthalten  sein  müsse,  denn 
es  ist  eine  dritte  Möglichkeit  vergessen,  welche  dessenungeachtet 
aus  der  Ph.  d.  U.  selbst  zu  entnehmen  ist.  Dieselbe  Stelle  (S.  128) 
besagt  nämlich  sehr  treffend  weiter,  dass  der  Typus,  nach  welchem 
die  Regeneration  vollzogen  wird,  in  dem  sich  regenerirenden  Thier- 
bruchstück  genau  in  derselben  Weise  oder  Form  enthalten  sein 
müsse,  wie  der  Typus  der  sechsseitigen  Bienenzelle  in  der  Biene 
vor  seiner  ersten  Bethätigung,  oder  wie  der  Typus  seines  speci- 
fischen  Nestbaues  oder  seiner  Sangesweise  im  Vogel. 

Auf  S.  78 — 79  (in  dem  mehrfach  erwähnten  Zusatz)  ist 
aber  zu  lesen,  dass  durch  Gewohnheit  eingegrabene  und  durch 
Vererbung  beiestigte  Prädispositionen  in  Hirn  und  Ganglien  be- 
sonders den  „immer  wiederkehrenden  Grundformen  (Typen)  der 
Instincte,  wie  z.  B.  der  sechsseitigen  Gestalt  der  Bienenzelle,"  zu 
Grunde  liegen. 

Als  eine  durch  Vererbung  befestigte  moleculare  Ganglien- 
prädisposition  ist  demnach  auch  die  Art  und  Weise  zu  bezeichnen, 
wie  in  dem  Ganglion  des  sich  regenerirenden  Wurmringes  der 
Typus  des  ganzen  Wurms  enthalten  ist.  Diese  Form  der  Depo- 
nirung  ist  ebenso  wenig  eine  actuelle  (gleichviel  ob  bewusste  oder 
unbewusste)  Vorstellung  wie  eine  im  Hirn  des  Menschen  schlum- 
mernde Gedächtnissvorstellung  (S.  2QS  Anm.);  sie  ist  noch  weniger 
bereits  äussere  Realisation  des  Typus,  wie  es  der  fertige  Wurm 
ist;  sondern  sie  ist  nur  ein  materieller  Keim,  welcher  unter  gün- 
stigen Umständen  aus  der  Latenz  hervortritt  und  zur  Realisation 
des  Typus  sich  entfaltet,  sie  ist  moleculare  Vorausbestimmung 
eventuell  eintretender  Functionen  in  dem  Sinne,  dass  die  Reali- 
sation dessen,  was  wir  Gattungstypus  nennen,  als  Resultat  der 
Functionen  sich  ergiebt.  Ein  solcher  Regenerationsakt  aus  einem 
Bruchstück   ist  dem  Wachsthum    des  Thieres   aus    dem  Embrya 


^205 

oder  dem  eben  befruchteten  Ei  vSehr  verwandt;  hier  wie  dort 
stehen  wir  vor  einer  materiellen  Masse,  die  die  stoftliche  Grund- 
lage für  den  weiteren  Aufbau  durch  Assimilation  fremden  Stoffs 
bietet  und  zugleich  in  sich  die  Prädispositionen  enthält,  um  diese 
Processe  zu  einem  vorausbestimmten  Ziele  zu  leiten.  Weil  aber 
diese  Prädispositionen  keine  actuellen  Vorstellungen  sind,  und 
weil  in  ihnen  unmittelbar  nur  die  Speeification  der  auszuübenden 
Funi3tionen,  mittelbar  durch  diese  das  Resultat,  aber  in  keiner 
Weise  der  Zweck  als  solcher  enthalten  ist,  deshalb  kann  hier 
von  einem  Hellsehen  (8.  170)  ebensowenig  die  Rede  sein  als 
beim  Instinct  (vgl.  oben  S.  188 — lb9). — Welchen  Ausgangspunkt 
man  auch  bei  der  Betrachtung  der  zu  erklärenden  Lebens- 
erscheinungen wählen  möge,  immer  wird  man  beim  Rückwärts- 
verfolgen der  Ursachen  (S.  176)  auf  das  eben  befruchtete  Ei 
als  letzte  innerhalb  des  betrachteten  Individuums  gelegene  Ur- 
sache geführt  (S.  178).  Wälirend  nun  die  Ph.  d.  U.  hier  auf 
S.  179  anerkennt,  dass  .,das  aus  dem  Ei  hervorbrechende  Junge 
bei  höheren  Thieren  schon  fast  alle  (Gebilde  und)  Differenzen 
des  erwachsenen  Thieres  in  sich  enthält"  sucht  sie  dasselbe  Zu- 
geständniss  dem  eben  befruchteten  Ei  vorzuenthalten,  obwohl  sie 
es  ihm  später  auf  S.  511  willig  einräumt.  Hier  aber  (S.  178 
unten)  wird  die  Thatsache,  dass  das  eben  befruchtete  Ei  unseren 
Sinneswerkzeugen  und  Beobachtungsmitteln  eine  „in  sich  durchaus 
gleichmässige  Structur  darbietet",  zu  dem  Schlüsse  benutzt,  dass 
die  in  der  Zwischenzeit  von  der  Befruchtung  bi«  zur  Geburt 
entstehenden  Differenzirungen  ein  Maximum  an  teleologisch-meta- 
physischen  Eingriffen  erkennen  lassen  (S.  178  Mitte),  dass  die 
Seele  in  dieser  Zeit  „mit  Herstellung  der  Mechanismen  beschäftigt 
sei,  welche  ihr  später  im  Leben  die  Stoff  beherrschung  zum  grüssten 
Theil  ersparen  sollen"  (S.  179).  Nimmt  man  hingegen  mit  dem 
Abschnitt  C  an ,  dass  im  eben  befruchteten  Ei  trotz  der  schein- 
baren molecularen  Homogenität  doch  alle  diejenigen  Differenzen 
vorbanden  sein  müssen,  aus  denen  sich  später  die  gesammten 
ererbten  Eigentbümlichkeiten  von  feinster  körperlicher  oder  gei- 
stiger Natur  entfalten  (S.  511),  dann  fällt  mit  der  unrichtigen 
Voraussetzung  auch  der  darauf  gebaute  Schluss  mit  seinen  Wun- 
dern.    Denn  die    im    befruchteten  Ei    gegebenen  Differenzen  sind 


206 

von    den   elterlichen  Organismen   vererbt   (vergl.   oben    den   Ab- 
schnitt VI). 

Nichts  ist  wichtiger  für  die  Erhaltung  der  Arten  im  Kampf 
um's  Dasein,  als  das  Festhalten  des  im  Entwickelungsproces» 
einmal  Errungenen,  das  Behaupten  der  mühsam  errungenen  Ent- 
wickeluugsstufen,  und  dies  kann  nur  durch  möglichst  vollkommene 
Vererbung  geschehen ;  die  Niederlegung  der  elterlichen  Eigenthtim- 
lichkeiten  in  den  Zeuguugsstoffen  muss  also  ein  Hauptpunkt 
gewesen  sein,  an  welchem  die  natürliche  Zuchtwahl  ihre  Macht 
bethätigt  hat.  Wie  sehr  die  Beschaffenheit  der  Zeugungsstoffe 
unter  dem  Einfluss  von  Stimmungen  und  Affecten  steht,  ist  bekannt; 
hierdurch  ist  aber  auch  zugleich  der  Einfluss  der  Innervation  auf 
ihre  Bildung  bewiesen.  Es  kann  mithin  keinen  Bedenken  unter- 
liegen, für  die  Regulirung  der  Ausbildung  der  Eier  und  Spermato- 
zoidcn  —  der  grössten  und  feinsten  Kunstwerke  im  ganzen  Reiche 
der  Organisation  —  in  den  Ganglien,  welche  den  vegetativen 
Geschlechtsfunctionen  vorstehen,  Prädispositionen  in  demselben 
Sinne  zu  supponiren,  wie  die  füi-  Regeneration  verloren  gegangener 
Körpertheile  oder  für  den  Zellenbau  der  Bienen  oder  das  Netz 
der  Spinne  oder  die  Schale  des  Nautilus,  Wir  wLssen  sehr  wohl^ 
dass  die  Schwierigkeiten  im  Einzelnen  hiermit  keineswegs  gehoben 
sind  und  haben  dies  schon  oben  (im  Abschn.  VI)  bei  Besprechung 
der  Vererbung  angedeutet,  aber  eben  dort  auch  betont ,  dass  das 
Hinzuiügen  teleologischer  Eingriff'e  keinenfalls  das  Dunkel  zu 
erhellen  vermag. 

Wie  das  Rückwärtsverfolgen  der  Ursachen  im  individuellen 
Organismus  allemal  auf  das  eben  befruchtete  Ei  mit  all'  seiner 
inneren  prädispositionellen  Diff'erenzirung  zurückführt  und  dieses 
über  sich  hinausweist  auf  die  Beschaffenheit  der  Eltern  als  Ur- 
sache, so  führt  das  Rückwärtsverfolgen  der  Vererbungskette  in 
der  Ahnenreihe  allemal  auf  die  niedrigsten  durch  Urzeugung 
entstandenen  Organismen  zurück,  und  hier  schliesst  sich  unsere 
Betrachtung  an  die  oben  (Abschn,  II,  S.  21—24,  vgl.  auch 
S.  26 — 27)  gegebene  Kritik  des  kleinen  Aufsatzes  „Ueber  die 
Lebenskraft"  an.  —  Neben  den  inneren,  in  den  früheren  Zuständen 
des  individuellen  Organismus  und  seiner  direkten  Ahnenreihe 
gelegenen  Ursachen   laufen  natürlich  beständig  die  äusseren  Ur 


207 

Sachen  der  Veränderiing  her,  denn  wie  ohne  Luft  und  Nahrun g-s- 
mittel,  so  wäre  ohne  Veränderungen  der  Erdoberfläche  die  bio- 
logische Entwickelung  unmöglich,  wie  dies  aus  Abschn.  III 
deutlich  hervorgeht  (vgl.  oben  S.  38  ff.). 

Die  Ph.  d.  U.  räumt  ein,  dass  wir  „überall  im  Körper  zweck- 
mässigen Mechanismen  begegnen",  und  dass  das  Leben  überhaupt 
nur     dadurch    möglich    wird,     dass    diese    zweckmässigen 
Mechanismen    den   grössten  Theil    der   Arbeit    leisten    und    den 
unmittelbaren  teleologischen  Eingriffen    nur    ein  Minimum   von 
Arbeit  übrig  lassen  (S.  177).     Dieses  Minimum  unmittelbaren  Ein- 
greifens glaubt  sie  deshalb  aufrecht  erhalten  zu  müssen,  weil  eine 
prädestinirte    (mechanische)    Zweckmässigkeit    als    alleiniges   Er- 
klärungsprincip  „in  Anbetracht  dessen  unmöglich  erscheint,    dass 
streng  genommen  jede  Gruppirung  von  Verhältnissen    im  ganzen 
Leben    nur  Einmal   vorkommt    und   doch    jede  Gruppirung  von 
Verhältnissen  eine  andere Reaction  fordert  und  gerade  diese 
geforderte   hervorruft"  (S.  180).     Diese  Behauptung    muss 
aber  entschieden  übertrieben  genannt  werden.    Man  kann  zugeben, 
dass   jede    Gruppirung    von  Verhältnissen    de  facto    eine    andere 
Reaction    hervorruft    (was    bei    der    variablen  Combination    einer 
grossen  Anzahl  von  Mechanismen  nicht  anders  sein  kann),  ebenso 
dass  vom  teleologischen  Standpunkt  jede  Gruppirung  eine  andere 
Reaction  erfordert;  aber  das  ist  nicht  zuzugeben,    dass  in  allen 
Fällen  die  factische  und  die  teleologisch  geforderte  Reaction  sich 
decken,  vielmehr    ist    dies  nur  dann    der   Fall,   wenn   die  Ver- 
hältnisscombination  eine  solche  ist,  für    welche   die  Mechanismen 
des  Organismus  vollkommen  angepasst  sind,  und  enthält  die  Reaction 
des  Organismus  in  dem  Maasse  mehr  unzweckmässige  Elemente, 
als  in  der  Gruppirung  der  Verhältnisse,    denen  er  ausgesetzt  ist, 
die  Zahl  derjenigen  Umstände  wächst,  für  welche  er  noch  keine 
passenden  Mechanismen   besitzt.     Da  jede  Species  sich    im  All- 
gemeinen   im   Anpassungsgleichgewicht   an    die  sie   umgebenden 
Lebensumstände  befindet,'  so  werden  solche  Unzweckmässigkeiten 
wesentlich    erst    dann   hervortreten,    wenn   sich    ein   Individuum 
plötzlich  in  abweichende  Lebensverhältnisse   versetzt  sieht.     Aber 
auch  unter  den   gewohnten  Verhältnissen    erstreckt  sich    die  An- 
passung doch  meistens  nur   auf  Elemente    von    irgend    welcher 


208 

Erheblichkeit  für  den  Kampf  iiin's  Dasein,  und  kleinere  Unzweck- 
mässigkeiten ,  die  nicht  Lebensfrage  Itir  das  Thier  sind,  laufen 
häufig  mit  unter,  und  werden  dann  aus  Mangel  an  einer  Ursache 
zur  Ausbildung  entsprechender  zweckmässiger  Mechanismen  mit- 
unter zahllose  Generationen  hindurch  conservirt.  Dies  kann 
man  besonders  da  beobachten,  wo  ähnliche  Arten  auf  verschie- 
denen Erdtheilen  einem  verschieden  heftigen  Kampf  ums  Dasein 
ausgesetzt  waren,  in  Folge  dessen  die  bequemer  lebende  Art  in 
ihrer  Lebensweise  offenbare  Unzweckmässigkeiten  conservirt  hat, 
welche  die  stärker  zur  Anpassung  gezwungene  Art  überwunden 
und  durch  zweckmässigere  Instincte  und  Orgauisaticm  ersetzt  hat. 
Die  Pathologie  zeigt  ferner  Beispiele  genug,  wo  die  Ueaction 
des  Körpers  auf  von  aussen  herangetretene  Krankheitserscheinungen 
durchaus  nicht  den  vom  Arzte  vertretenen  teleologischen  For- 
derungen entspricht,  sondern  convulsivische  Anstrengungen  entfaltet, 
die,  weil  sie  nach  verkehrter  Richtung  gehen,  das  üebel  nicht 
abwehren,  sondern  die  Schädigung  des  Gesanmitbefindens  ver- 
stärken, resp.  die  Auflösung  beschleunigen. 

Unter  denselben  Gesichtspunkt  unzweckmässiger  Organisation 
fallen  die  rudimentären  Organe  (Ph.  d.  U.  S.ITO),  welche  als  Ueberreste 
partieller  Kückbildungsprocesse  (vgl.  oben  S.  42)  zu  betrachten 
sind,  also  Organe  repräsentiren,  welche  früheren  Vorfahren  unter 
anderen  Lebensverhältnissen  einmal  nützlich  waren,  seitdem  aber 
nutzlos  geworden  sind.  Es  kann  vom  teleologischen  Standpunkte 
nimmermehr  gerechtfertigt  erscheinen ,  dass  die  meisten  Specien 
mehr  oder  weniger  solcher  nutzloser  Stummel  mit  sich  herum- 
schleppen, und  dass  das  metaphysische  ünbewusste  sich  mit  dem 
organischen  Bilden  derselben  und  der  Vererbung  auf  die  Nach- 
kommen bemühen  musste.  Vom  Standpunkt  der  Descendenz- 
theorie  hingegen,  wo  die  Vererbung  ein  bloss  mechanischer  Process 
ist,  und  dre  natürliche  Zuchtwahl  nur  so  weit  Modificationen 
fixiren  kann,  als  dieselben  positiv  nützlich  sind,  begreift  sich  das 
Stehenbleiben  werthloser  Reste,  deren  Beseitigung  keinen  positiven 
Vortheil  mehr  gewähren  würde,  ganz  von  selbst  (vgl.  Häckei'a 
Nat.  Schöplgsgesch."  2.  Aufl.  S.  255—260). 

Wenn  die  Ph.  d.  Unb.  (S.  170)  sich  auf  die  ideale  Einheit 
im   ganzen   SchöpfungspJan  beruft,    so  ist  dagegen  zu  erwidern. 


209 

dass  diese  Einheit,  ais  möglichste  Constaiiz,  Einfachheit  und  Gleich- 
heit der  morphologischen  Grundtypen  gefasst,  eher  auf  Armut h 
als  auf  Reichthnm  in  dem  schöpferischen  Geiste  schliessen  lässt; 
uns  wenigstens  kann  das  allweise  ünbewusste  damit  nicht  impo- 
niren,  dass  es  rudimentäre  Organe  stehen  lässt,  um  damit  die 
Einheitlichkeit  seiner  Conceptionen  zu  beweisen.  Die  wahre 
Harmonie  besteht  nicht  in  der  Gleichheit  und  der  möglichst  geringen 
Abweichung  von  der  Identität  des  Einen  Grundtypus,  sondern  in 
der  Mannigfaltigkeit  und  Verschiedenheit,  wo  grade  aus  dem  er- 
gänzenden Zueinauderpassen  des  Entgegengesetztesten  die  Leber- 
ei nstimraung  als  concreto  entspringt. 

Die  Ph.  d.  Unb.  schliesst  (8.  180)  den  Abschnitt  A  mit  dem 
Worte  Schopenhauer's:  ,,8o  steht  auch  empirisch  jedes  Wesen  als 
sein  eigenes  Werk  vor  uns."  Wir  sind  dem  gegenüber  aus 
unseren  empirisch-inductiven  Betrachtungen  zu  dem  Resultate  ge- 
langt, dass  jedes  Wesen  als  das  Werk  seiner  direkten  Ahnenreihe 
vor  uns  steht.  In  der  Verschiedenheit  dieser  Aussprüche  liegt  der 
ganze  himmelweite  Unterschied  zwischen  Schopenhauer  und  der 
modernen  Descendenztheorie,  den  manche  Anhänger  des  ersteren 
gegenwärtig  gern  verwischen  möchten.  Schopenhauer  steht  mit 
Schelling  und  Hegel  darin  auf  ganz  demselben  Standpunkte,  dass 
es  ein  metaphysisches  immaterielles  Wesen  ist,  welches  sich  in 
dem  organischen  Individuum  objectivirt,  d.  h.  seinen  idealen  Ge- 
halt realisirt.  Wenn  Schopenhauer  dieses  Wesen  „Wille^',  Schelling 
es  „Subject-Object",  Hegel  es  „Idee"  nannte,  so  sind  damit  nur 
Differenzen  betont,  die  ausserhalb  des  geineinsamen  Gegensatzes 
zur  naturwissenschaftlichen  Anschauungsweise  liegen.  Die  äusser- 
liche  Objektivation  eines  metaphysischen  Wesens,  die  jene  nur 
im  Allgemeinen  behaupteten,  suchte  die  Ph.  d.  ünb.  im  Einzelnen 
nachzuweisen  und  die  verschiedenen  Richtungen  und  Etappen  der 
Kealisationsfunctionen  zu  belauschen.  Sie  trat  zu  dem  Zweck 
im  weiteren  Verlauf  der  Untersuchung  mit  einem  Fuss  auf  den 
Staudpunkt  der  Descendenztheorie  hinüber,  in  dem  Glauben,  sich 
diese  als  Hülfsmittel  dienstbar  machen  zu  können,  bemerkte  aber 
nicht,  dabS  die  herbeigerufenen  Geister  ihr  über  den  Kopf  wuchsen 
und  ihren  eigenen  ursprünglichen  Standpunkt  unhaltbar  machten. 

Es  war  gut,  dass  sie  erschienen  ist,  so  wie  sie  ist,  dass  die  alte 

14 


210 

teleologische  Metaphysik  zum  letzten  Male  ihre  Kräfte  zusammen 
raiFte,  um  zu  zeigen,  was  sie  leisten  könne  —  und  was  nicht; 
wäre  sie  nicht  spätestens  in  der  Mitte  der  60er  Jahre  geschrieben, 
so  hätte  sie  überhaupt  nicht  mehr  geschrieben  werden  können,  da 
jetzt  die  Tragweite  der  Descendenztheorie  allen  klarer  Blickenden 
zu  offen  liegt,  um  eine  Arbeit  zu  verfassen,  wie  der  Abschnitt  A 
ist,  d.  h.  ohne  jede  Rücksicht  auf  die  Descendenztheorie. 


xn. 

Das  Unbewusste. 


Wir  haben  nunmehr  den  naturphilosophischen  Theil  der  Ph, 
d.  Unb.  kritisch  durchmustert  und  widerstehen  der  Versuchung, 
auch  auf  den  psychologischen,  historischen  oder  metaphysischen 
Theil  näher  einzugehen,  z.  B.  den  Kampf  um's  Dasein  zwischen 
den  mythologischen  oder  den  theogonischen  Ideen,  oder  den  Sprach- 
wurzeln, Wörtern  und  Sprachformen,  oder  den  Process  der  Ent- 
wickelung  der  Menschheit  durch  die  Concurrenz  der  Racen  und 
Völker,  oder  die  Ausbildung  der  nützlichen  Illusionen  durch  die 
natürliche  Zuchtwahl  hier  näher  zu  behandeln,  da  zum  Theil 
schon  Gesagtes  wiederholt  werden  müsste,  zum  andern  Theil  aber 
diese  Gebiete  für  eine  Behandlung  im  Sinne  der  Descendenz- 
theorie  noch  zu  wenig  aufgeschlossen  und  vorbereitet  sind,  als 
dass  nicht  ein  solcher  voreiliger  Versuch  dem  im  naturwissen- 
schaftlichen Gebiet  nicht  mehr  anzutastenden  Princip  mehr  Schaden 
als  Nutzen  zu  bringen  drohe. 

Wir  knüpfen  demnach  hier  wieder  an  die  erste  Hälfte  un- 
seres II.  Abschnitts  an  (vgl.  speciell  S.  17  —  21)  und  wieder- 
holen den  Protest  der  Naturwissenschaft  gegen  die  teleologischen 
Eingriffe,  deren  die  Leistungen  der  sich  selbst  überlassenen  Natur^ 
gesetze  alterirende  Wirkungen  vom  Begriff  des  Wunders  nicht 
verschieden  sind  und  dazu  dienen  sollen,  die  Lücken  unserer 
Kenntniss  des  naturgesetzmässigen  Causalzusammenhanges  vor- 
läufig zuzustopfen  und  zu  verkleistern,  damit  das  philosophische 
S3'stem    sich   als   ein  geschlossenes  Ganze,    als  ein  lückenlos  das 

Universum  umfassendes   und   durchdringendes  Verstehen   präsen- 

14* 


212 

tiren  kann.  So  ist  der  teleologiscbe  Eingriff  von  Jeher  dazu 
verurtheiit,  in  jenen  dunklen  Regionen  nein  Dasein  zu  fristen^ 
wohin  das  Licht  der  exacten  Wissenschaft  noch  nicht  gedrungen 
ist;  er  ist  das  asylum  uptoran^iop  der  pbiloso])]iischen  und  theo- 
logischen Speculation.  Durch  die  Fortschritte  der  Physik  aus 
dem  Reiche  des  Unorganischen  verbannt,  wo  er  sich  früher  es 
hatte  wohl  sein  lassen  können,  und  wo  heute  nur  noch  fanatische 
Priester  unter  dem  Gelächter  der  Gebildeten  ihn  als  Schreckbild 
des  rohen  Haufens  zu  citiren  wagen  (nanientlich  beim  Auftreten 
ungewöhnlicher  und  verderblicher  Naturerscheinungen),  sieht  der 
teleologische  Eingriff  sich  in  der  Ph.  d.  Unb.  bereits  auf  das 
Reich  des  Organischen  beschränkt:  hier,  wo  eben  erst  die  ersten 
schüchternen  Versuche  zum  Eindringen  in  das  Verständniss  des 
causalen  Zusammenhangs  der  Erscheinungen  begonnen  haben,  hat 
er  noch  ein  verhältnissmässig  gutes  Leben,  das  ihm  aber  auch 
schon  durch  jeden  neuen  Fortschritt,  jede  neue  Entdeckung  ver- 
kümmert wird  und  durch  die  Sichersteilung  der  Descendenztheorie 
vermittelst  der  Darwin'schen  Begründung  der  Theorie  der  natür- 
lichen Zuchtwahl  in  tausend  Aengste  gerathenist.  Der  teleologische 
Eingriff  verhält  sich  zur  Wissenschaft  als  ein  würdiges  Seiten- 
stück seines  Gegeufüsslers,  des  Stoffs.  Wie  dieser  als  stehen  ge- 
bliebenes für  die  Praxis  ausreichendes  und  bequemes  Vorurtheil 
früherer  unwissenschaftlicher  Anschauungsweisen  zu  betrachten 
ist  (Vgl  Ph.  d.  L'nb  S.  473—476  u.  ff.),  ebenso  auch  der  teleo- 
logische Eingriff;  beide  zusammen,  als  kritiklos  hypostasirte  Sinnen- 
lall igkeit  und  kiitiklos  hypostasirter  Wunderglaube,  erfüllen  den 
ganzen  Raum  einer  unwissenschaftlichen  Weltanschauung,  in  die 
sich  die  exacte  Wissenschaft  wie  ein  Keil  hineinschiebt  oder  wie 
ein  Lichtkegel,  vor  dem  das  Dunkel  blinden  Meinens  und  specu- 
lativen  Wunderglaubens  mehr  und  mehr  zurückweichen  muss,  je 
breiter  er  sich  entfaltet. 

Wir  haben  in  unseren  Untersuchungen  gesehen,  dass  der 
Abschnitt  A  der  Ph.  d.  Unb.  der  Annahme  des  teleologischen  Ein- 
griffs die  Stütze,  ^^ eiche  er  ihm  gewähren  soll,  nicht  gewähren 
kann  und  muss  daher,  bis  andere  und  bessere  Gründe  für  den- 
selben aufgestellt  sein  werden,  dieses  asijlw}»  üinormUiae  von  der 
Wissenschaft  ausgeschlossen  und  die  bis  jetzt  der  Erklärung  noch 


213 


übrig  bleibenden  Lücken  für  künftige  Erfüllung  durch  Erforschung- 
des  gesetzmässigen  Causalzusamnienhanges  offen  gehalten  bleiben. 
Mit  dieser  Annahme  fällt  aber  auch  der  metaphysische  Träger 
oder  das  Subject  des  teleologischen  Eingriffs,  das  teleologisch 
Eingreifende  selbst  hinweg,  d.  h.  es  fällt  das  Unbewusste, 
insofern  es  als  Subject  der  teleologischen  Eingriffe 
gedacht  wird;  es  ist  die  Annaiime  zu  streichen,  dass  ausser 
denjenigen  Functionen  des  unbewussten  Absoluten,  welche  in  den 
naturgcsetzmässigen  innerlichen  und  äusserlichen  Actionen  der 
Atome  eines  Organismus  (als  Summations])hänomen  des  Vor- 
stellens,  WollenSj  Lebens  und  Handelns)  zu  Tage  treten,  noch 
andere  Stralilenbündel  von  aut  diesen  Organismus  gerichteten 
Functionen  des  unbewussten  Absoluten  hinzukommen,  welche 
als  teleologische  Eingriffe  in  den  innerlichen  und  äusserlichen 
Lebensprocess  der  Im  Organismus  combinij'ten  Elemente  ein  qua- 
litativ «uf  ganz  neuer  und  höherer  Stute  stehendes  Plus  hinzu- 
brächten.  Wir  haben  diese  Differenz  unserex  Auffassung  von  der 
iler  Ph.  d.  Unb.  schon  oben,  in  PiCziig  auf  die  Vorstellung  im 
Abschn.  IV  (S.  61)  -7oj,  in  Bezug  auf  den  Willen  im  Abschn.  \' 
(S.  79—86)  auseinandergesetzt  und  haben  hier  nur  deshalb  noch 
einmal  auf  jene  Darlegungen  zurückzuverweisen,  weil  die  Unhalt- 
barkeit  der  teleologischen  Eingriffe,  die  oben  nur  erst  behauptete 
Voraussetzung  war,  in  den  zwischenliegenden  Abschnitten  detaillirt 
nachgewiesen  ist,  so  dass  erst  jetzt  die  oben  entwickelten  An- 
hichten  ihre  volle  Begründung  erhalten  haben.  Populär  g(spr«»chen 
könnte  mau  unserem  Resultat  etwa  folgende  Fassung  geben: 
Wenn  wir  unter  ,,Seele^'  psychische  Innerlichkeit  verstehen,  so  ist 
jedes  Atom  beseelt-,  jeder  Organismus,  also  auch  der  Mensch,  hat 
gerade  soviel  „Seele",  aber  auch  nicht  ein  Atom  mehr,  als» 
die  ihn  c  o  n  sti  tuirenden  Atome  zusammengenommen 
,,Seele''  haben;  wie  durch  die  Oombination  der  äusserlichen 
Atomkräfte  Naturkrätte  von  potenzirter  Qualität  entstehen,  so  ent- 
stehen durch  Oombination  von  Atomseelen  psychische  Summations- 
phänomene,  welche  man  in  demselben  Sinne  Seelen  von  potenzirter 
Qualität  nennen  könnte;  damit  aber  solche  Summations-  oder  Com- 
binations-Phänomene  innerlicher  oder  äusserlicher  Art  möglich  seien, 
<lürfen   die  Atome   nach  beiderlei   Hinsicht    nur  functionell,  nicht 


214 

»nbstantien  verschieden  und  getrennt  sein,  müssen  sie  atomisirtg^.. 
Functionen  der  Einen  absoluten  Substanz  sein.     Im  Gegensatz  zu 
llem  pant  he  ist  ischen  Monismus  der  Ph.  d.  U.  wird  man  diesen 
Standpunkt  als  naturalistischen  Monismus  bezeichnen  können. 
Es  entsteht  nun  die  Frage,  welche  Bedeutung  denn  für  unsern 
Standpunkt  noch  „das   Unbewusste''   habe,   da  doch  die  Ph.   d. 
Unb.  mit  diesem  Ausdruck  gerade  vorzugsweise  das  Subjekt  der 
teleologischen  Eingrifte  bezeichnet,  welches  für  uns  bedeutungslos 
geworden    ist.     Wir  dürfen   diese  Frage  nicht  mit  dem  Hinweis 
auf  den  Schluss  des  Cap.   C  VII  (S.  543)  von  der  Hand  weisen, 
wo   diesem  inadäquaten  negativen  Ausdruck  nur  ein   vorläufiger 
prophylaktischer  Werth  dem   theistischen   Standpunkt  gegenüber 
beigelegt  wird:   denn   es  handelt  sich   für  uns  eben  nicht  darum, 
K)b    dieses    negative  Prädicat    eine  wohlgewählte   substantivische 
Bezeichnung  sei,  sondern  darum,  welche  positive  Bedeutung  dem 
hinter  diesem  negativen  Prädicat  verborgenen  Subject  von  unserem 
Standpunkt  aus  noch  zukommen  könne.    Es  war  nichts  Zufälliges, 
dass  die  Ph.  d.  U.  gerade  dieses  Stichwort  wählte,  denn  dasselbe 
lag   in   der   Luft   und   war  von   allen  Seiten   vorbereitet;  es  war 
aber  zugleich  auch  eine  Forderung  des  Fortschritts  in  der  Selbst- 
besinnung  und  dem   Selbstverständniss   der  Menschheit,  und  nur 
weil   es   dies   alles   war,  konnte  es  eine  so  schnelle  und  willige 
Aufnahme  im  Publikum  linden,  dass  man  es  jetzt  schon  beinahe  die 
Spatzen  von  den  Dächern  rufen   hört.     Dieser  Fortschritt  in  dem 
„sich  auf  sich  selbst  Besinnen"  der  Menschheit  bestand  eben  darin, 
dass   überall   das  in    die  Erscheinung  Tretende  als   ein  Ausfluss 
des  im  Wesen  Vorherbestimmten,  das  im  Bewusstsein  sich  Mani- 
iestirende  als  ein  nothwendiges  Resultat   der  unbewussten,  durch 
<lie    Beschalfenheit    des    dunklen  Grundes    der  Seele   bestimmten 
Processe  nachgewiesen  wurde,  und  dass  hiermit  ebenso  dem  platt- 
rationalistischen Sensualismus,  der  die  Seele  für  eine  tabula  rasa 
-ansieht,  wie  der  schablonenhaft  ein  Bewusstseinsmoment  aus  dem 
andern    herausspinnenden   und   dabei   aller   charakteristischen  In- 
dividualität fern  bleibenden  Dialektik  das  Garaus  gemacht  wurde. 
In    diesem    Bestreben,    alles   auf  der  Obei-Üäche    des  Lebens   zu 
Tage  Kommende  aus  den  inneren  dunklen  Tiefen  abzuleiten,  liegt 
4er  bleibende  Werth  der  Neuerung,  welcher  dadurch  nicht  alterirt 


215 

wird,  wenn  die  Frincipien,  in  welchen  das  Bestimmende  des 
dunklen  Seelengrundes  gesucht  wurde,  zum  Theil  als  irrthümlieh 
sich  erweisen. 

In  der  That  eontündirt  die  Ph.  d.  ünb.  unter  diesem  den 
ganzen  dunklen  Urgrund  des  Lebens  zusammenfassenden  Aus- 
druck :  „Das  Unbewusste"  eine  Menge  der  verschiedensten  Dinge, 
welche  nothwendig  einer  sondernden  Analyse  bedürfen.  Das 
Unterlassen  einer  solchen  hat  offenbar  wesentlich  dazu  beigetragen, 
die  Incongruenz  der  Abschnitte  A  und  C  den  Augen  des  Verfassers 
selbst,  sowie  bis  jetzt  auch  denen  der  Kritik  zu  verhüllen. 

Zunächst  ist  zu  unterscheiden  das  relativ,  d.  h.  in  Bezug 
auf  das  Gesammtbewusstsein  des  Grosshirns,  Unbewusste,  und 
das  absolut,  d.  h.  in  jeder  Beziehung  genommen,  Unbewusste. 
Diese  Unterscheidung  ist  zum  Schluss  der  Capitel  A  I  und  II 
(S.  59—60  und  69)  zwar  deutlich  angegeben,  aber  im  Verlauf 
des  Werkes  nicht  überall  klar  erkennbar  festgehalten  und  scharf 
durchgeiiihrt,  so  dass  beides  häutig  in  den  gemeinsamen  Nebel 
des  Einen  Unbewussten  verschwimmt,  und  auf  diese  Weise  dem 
absolut  Unbewussten  manches  zu  Gute  zu  kommen  scheint,  was 
von  dem  relativ  Unbewussten  gesagt  sein  sollte.  Wir  können  aus 
den  Resultaten  unserer  Untersuchungen  (Abschn.  IV  S.  57 — 61) 
hinzufügen,  dass  nicht  nur  die  ßewusstseinssphären  der  niederen 
Centralorgane  des  thierischen  Nervensystems  in  diese  Kategorie 
des  relativ  Unbewussten  fallen,  sondern  dass  für  das  Gesammt- 
bewusstsein des  Grosshirns,  welches  allein  ich  mein  Bewusstsein 
nenne,  auch  die  Zellenbewusstseine  resp.  Molecularbewusstseine 
im  Grosshirn  selbst,  d.  h.  diejenigen  Functionen  und  Nerven- 
processe  unbewusst  sind,  welche  unterhalb  der  Reizschwelle  des 
Gesammthirnbewusstseins  aber  oberhalb  der  Reizschwellen  der 
entsprechenden  Zellen-  oder  Molecularbewusstseine  liegen.  In 
dieser  Region  können  sich  Functionen  von  höchster  Wichtigkeit 
für  die  Oeconomie  des  Geisteslebens  vollziehen,  die  etw^a  durch 
häufige  Wiederholung  dasjenige  an  Einfluss  auf  Prädispositionen- 
bildung ersetzen,  was  ihnen  an  Intensität  abgeht  und  kann  man 
in  diesem  Sinne  wohl  mit  Wundt  („Beiträge  zur  Theorie  der 
Sinneswahrnehmung"  S.  188)  von  (relativ)  „unbewusster 
Uebung",  oder  mit   Schopenhauer:   („Parerg^"   2.   Aufl.  S.  59) 


216 

unbewusster  Rumination"  sprechen  (vgl.  Ph.  d.  Unb. 
.  285 — 287).     In  diesen  Regionen  unterhalb  der  Schwelle  des  Ge- 
sammthirubewusstseins  kann  ferner  ein  grosser  Theil  der  unbevvu^st 
mitbestimmenden  Momente  der  Gefühle  liegen  (vgl.  oben  S.  59 — 60). 
Zugleich  aber  ist  dabei  in  Erwägung  zu  nehmen,  dass  die  eigent- 
liche intellektuelle  Sphäre   in  der  Gehirnrinde   zu  liegen  scheinty 
während  die  Sphäre  der  Molecularprocesse,   welche  innerhch  als 
Gefühle  sich   darstellen,   dem    Kleinhirn   (dem  Centralorgan   der 
Bew  egungen)  näher,  also  in  Bezug  auf  dieses  weniger  peripherisch 
liegt,   als  die  reine  Vorstellungssphäre  (vgl.   oben   S.  106 — 108). 
Wie  die  Molecularschwinguugen  einer  blossen  Vorstellung  an  sich 
sehr  intensiv  und  doch  dabei  von  sehr  geringem  Einfluss  auf  die 
Centralorgane    der   Bewegungen    und    auf  die    Bestimmung    des 
Handelns    sein    können,    so    können    umgekehrt    die   Molecular- 
schwingungen  von  tiefen  und  mächtigen  Gefühlen  an  sich  sehr  inten- 
siv sein  und  doch  lür  das  Gesammtbewusstsein  der  intellektuellen 
Sphäre  des  Grosshirns  entweder  ganz  unter  der  Schwelle  bleiben, 
rider   doch    in    schwer    fassbarer    und    vergleichbarer   Form,   in 
dunkler   nebelhafter  Gestalt  in  dasselbe  eintreten.     Da  beide  Er- 
scheinungen  von  der  Güte  der  Leitung  zwischen  beiden  Sphären 
abhängig,  also  coordinirte  Wirkungen  derselben  Ursache  sind,  so- 
ist,  wenn  selbst  nur  die  eine  derselben  (wie  eben  im  Abschn.  VII) 
constatirt   ist,   die   andere   a  priori  zu  erw^arten.       Jene  Gefühle 
mögen  in  ihren  betreffenden  Zellen  oder  Hirnpartien  zu  hinlänglich 
starkem  ßewusstsein  gelangen;    sie  communiciren  nur  nicht  voll- 
kommen    genug     mit     demjenigen    Hauptsummationsbewusstsein, 
welches,   zu  gedanklichen  Reflexionen  in  besonderem  Maasse  be- 
fähigt,  allein    im  Menschen   die  Stufe  des  Selbstbewusstseins   er- 
rungen hat. 

Nachdem  wir  so  aus  dem  allgemeinen  Begriff  des  Unbewussten 
zunächst  die  umlassende  Sphäre  des  relativ  Unbewussten  aus- 
geschieden haben,  haben  wir  in  der  übrigbleibenden  Sphäre  des 
absolut  Unbewussten  abermals  jcme_.,.slrmig£_Ji>enn^  durch- 
zuführen zwischen  dem  physiologischen  und^jneXapii^: - 
sTsc h e n^Jjibewm^sten.  Unter  dem  plnsiologischen  Unbewusstfj) 
verstehen  wir  die  moleculare  Hirn-  und  Ganglienprädisposition 
als  Ursache  der  charakteristischen  Bestinmitheit  der  physiologischen. 


2V[ 

und   psychologischen  Functionen   eines   Individuums;    unter  dem 
metaphysischen    Unbewussteu    das    in    den    Atomen    naturgesetz- 


jfissig  tiinctionirende  Wesen  der  Welt,  in  welchen  Functionen 
aber  (im  Unterschiede  von  der  hierin  zweifelhaften  Ph.  d.  U.)  die 
psychische  Innerlichkeit  mit  inbegritien  ist. 

Eine  wie  grosse  Rolle  auch  in  der  Ph.  d.  U.  dasjenige,  was 
wir  hier  das  physiologische  Unbewusste  nennen,  spielt,  ergiebt 
sich  aus  unseren  früheren  Erörterungen,  wonach  Gedächtniss  und 
Charakter  ganz  in  dieses  Gebiet  lallen  (Ph.  d.  U.  S.  27  unten  bis 
28,  387  unten  bis  388  oben,  608-610),  der  Process  der  Ideen- 
association  als  ein  den  mechanischen  Gesetzen  folgender  mole- 
cularer  Hirnprocess  aufgelasst  wird  (S.  253),  und  nicht  nur  ererbte 
Charakteranlagen  und  Fertigkeiten,  sondern  auch  ererbte  Ge- 
dächtnissdispositionen statuirt  werden  (S.  613,  S.  78  unten  bis 
Tj  oben). 

Auf  S.  600  wird  sogar  darauf  hingewiesen,  es  sei  kein 
Widerspruch,  dass  der  ( 'harakter  „im  IJnbewussten  liegt  und 
doch  seine  Bcscliaffenheit  durch  das  Hirn,  das  specißsche  Organ 
des  Bewusst Seins,  mit  bedingt  werden  soll;  denn  das  Organ 
des  Bewusstseins  sanimt  allen  seinen  niolecularen  Lagerungs- 
verhältnissen, die  als  latente  Dispositionen  zu  gewissen 
Schwingungszustäiiden  dieser  oder  jener  Art  betrachtet  werden 
müssen,  liegt  selbst  yo  sehr  jenseits  alles  Bewusstseins,  dass 
zwischen  seiner  materiellen  Function  und  der  bewussten  Vor- 
stellung erst  der  ganze  Coniplex  jener  unbewussten  psychischen 
Functionen"  (d.  h.  der  teleologischen  Eingriffe)  „sich  einschaltet, 
mit  denen  wir  uns  bisher  beschäftigt  haben".  Streichen  wir  nun 
auch  jene  von  der  Ph:  d.  U.  zwischen  die  mechanische  Reaction 
der  molecularen  Hirnprädispositionen  und  das  Summationsphänomen 
der  bewussten  Vorstellung  oder  des  Begehrens  eingeschalteten 
teleologischen  Eingrilfe,  so  bleibt  es  doch  immer  richtig,  dass 
Charakter  und  Gedächtniss,  als  specielle  Beschaöenheiten  des 
Gehirns,  jenseits  alles  Bewusstseins,  d.h.  im  Unbewussten, 
liegen. 

Wir  haben  gesehen ,  wie  sehr  der  Erklärungsbereich  des 
physiologischen  l  nbewussten  sich  erweitert  durch  consequentes 
Zu  Ende  Denken  der  von  der  Ph.  d.  U.    selbst    (S.    78—79)    zu 


218 

gebtandeneu  Möglichkeit,  dieses  Erkläningsprincip  auf  den  Instinct 
auzuwenden;  denn  die  Wesensgleichheit  des  lustincts  mit  den 
übrigen  problematischen  Processen  des  organischen  Lebens  lä^st 
die  Uebertragung  des  für  den  Instinct  adoptirten  Erklärungs- 
princips  auf  alle  übiigen  als  unausweichbare  Forderung  erscheinen. 

So  hat  uns  das  physiologische  Unbewusste  eine  Bedeutung 
gewonnen,  in  welcher  es  (in  Verbindung  mit  der  natürlichen 
Zuchtwahl  und  einer  richtigeren  Schätzung  des  Einflusses  der 
bewussten  Ueberlegung,  Uebung  und  Gewohnheit  auf  Modificationen 
des  Instincts)  dasjenige  zu  ersetzen  vermag,  was  in  der  Ph. 
d.  U.  das  metaphysische  Unbewusste  als  Subject  der  teleologischen 
Eingriffe  für  die  Erklärung  leisten  soll.  Wie  in  der  recht  ver- 
standenen Physiologie  die  ganze  Psychologie  enthalten  ist,  so 
enthält  das  physiologische  Unbewusste  alles  das  in  sich,  was 
unter  dem  Unbewussten  als  dunklem  Hintergrunde  des  psy- 
chischen Lebens  verstanden  wird,  gleichzeitig  aber  schliesst  es 
auch  die  Ursachen  der  nicht  aus  bloss  physikalischen  und  che- 
mischen Processen  an  Ort  und  Stelle  verständlichen  biologischen 
Processe  in  sich.  Das  physiologische  Unbewusste  ist  es 
also,  dessen  Studium  zunächst  noth  thut,  um  alle  Räthsel  des 
psychischen  und  organischen  Lebens  zu  lösen;  denn  in  ihm  liegt 
der  ganze  Reichthum  derselben  beschlossen. 

Gehen  wir  nun  zu  der  andern  Seite  des  absolut  Unbewussten, 
dem  m  e  t  ap  h y  s i  s  c  h  e  n  Unbewussten  über,  so  ist  dies  eben  durch 
die  Streichung  des  Subjects  der  teleologischen  Eingriffe  sehr  viel 
ärmer  als  das  metaphysische  Unbewusste  der  Ph.  d.  U.,  welches 
das  gemeinsame  Subject  der  naturgesetzmässigen  Atomfunctionen 
nur  unter  sich  begreift,  während  dieses  bei  uns  den  ganzen 
Platz  des  metaphysischen  Unbewussten  einnimmt.  Es  ist  keine 
Frage,  dass  die  einfachste  Atomfuuction  eine  Anticipation  eines  Zu- 
künftigen, erst  noch  durch  die  Action  selbst  in  die  Wirklichkeit 
zu  Setzenden  enthält  (Ph.  d.  U.  S.  484—485);  ebenso  unbedingt 
ist  zuzugeben,  dass  der  formelle  Modus  dieser  Anticipation  in 
den  einfachen,  die  Materie  erst  constituirenden,  also  selbst  im- 
materiellen Elementen  selbst  immateriell  genannt  werden 
müsse  (S.  105) ;  ob  aber  eine  solche  inhaltliche  Bestimmtheit  eines 
noch    nicht   Seienden   in    immaterieller  Form,  d.  h.   solche  meta- 


219 

physische  x\iiticipation  der  Verwirklichimg  durchaus  ideale  Be- 
stimmtheit genannt  werden  müsse,  wäre  immerhin  noch  zu  erwägen, 
sobald  man  einmal  mit  der  Annahme  präexistirender  typischer 
Gattungsideen  vor  ihrer  Realisation  in  Thier-  und  Pflanzenreich 
gebrochen  hat.  Schwächt  man  durch  Entkleidung  von  aller 
anthropopathischen  Nebenbedeutung  den  Sinn  des  Wortes  „ideal" 
so  weit  ab,  dass  er  nichts  mehr  als  die  uns  schlechterdings  un- 
bekannte fS.  375,  Z.  19 — 23)  Form  der  immateriellen  meta- 
physischen Anticipation  innerhalb  der  diesen  Inhalt  verwirk- 
lichenden Function  ist  (Phil.  Monatshefte  Bd.  IV,  Hft.  1 ,  Schluss 
der  Erwiderung  gegen  J.  Bergmannes  Kritik  der  Phil.  d.  Unb.), 
dann  kann  mau  diese  Bedeutung  des  Ausdrucks  ideal  zw^ar  nicht 
mehr  bekämpfen,  aber  das  Wort  hat  dann  auch  nichts  Significantes 
mehr  an  sich,  es  lordert  das  Verständniss  nicht  mehr,  sondern 
bringt  es  eher  durch  die  naheliegende  Versuchung  unfreiwilligen 
anthropopathischen  Rückfalls  in  Gefahr. 

So  lange  man  das  Unbewusste  als  Träger  der  teleologischen 
Eingrifte  gelten  lässt,  liegt  die  Sache  in  sofern  etwas  anders,  als 
mau  in  der  Anticipationstorm  im  Atom  nur  die  Species  eines 
grossen  Genus  metaphysischer  Anticipationen  erblickt,  welche 
ihrer  Form  nach  zwar  ebenfalls  unbekannt,  aber  ihrem  Inhalt 
nach  zum  grösseren  Theil  mit  demjenigen  identisch  sind,  was 
die  Philosophie  von  Plato  bis  Hegel  unter  Ideen  verstanden  hat. 
Nachdem  wir  aber  (vgl.  oben  S.  50 — 51)  gesehen  haben,  dass 
die  Typen  der  Organisation  sich  allmählich  durch  mechanische 
Oompensationsprocesse  herausgebildet  haben,  ohne  einem  teleo- 
logischen Princip  Raum  zur  Erklärung  zu  gestatten,  haben  w^ir 
auch  von  der  Annahme  der  Präexistenz  solcher  Typen  in  Gestalt 
unbewusster  Naturideen  oder  bewusster  göttlicher  Ideen  als  einer 
fernerhin  grundlosen  und  unberechtigten  Hypothese  Abstand  zu 
nehmen.  Die  Hypothese  einer  hellsehenden  unbewussten  Intuition 
-des  lustincts  mit  ihrer  Ausbreitung  auf  alle  Gebiete  des  psychischen 
.und  organischen  Lebens  war  für  die  Ph.  d.  U.  das  willkommene 
Zwischenglied,  oder  vielmehr  eine  lange  Stufenreihe  von  Binde- 
gUedern  zwischen  der  Intuition  des  klarsten  menschlichen  Be- 
wusstseins  und  der  anticipirenden  Function  des  Atoms;  nach 
Wegnahme  dieser  Kette  würden  die  durch  sie  verknüpft  gewesenen 


220 

Endglieder  völlig  auseinanderfallen,  wenn  nicht  auf  der  andern 
Seite  die  Restitution  der  in  der  Ph.  d.  U.  zweifelhaften  Atom- 
Empfindung  und  das  genauere  Verständniss  des  Bewusstseins 
als  eines  Summationsphünomens  von  organischem  Ueber- 
einanderbau  analog  der  Ineinanderschachtelung  der  relativen 
Individuen  eine  neue  Verbindung  herstellte. 

Leider  giebt  nur  diese  neue  Kette  nicht,  wie  die  zerstörte, 
scheinbare  Aufschlüsse  über  die  Natur  der  immateriellen  meta- 
physischen Autieipation  des  Atoms  bei  seinem  Functioniren.  Man 
weiss  von  dieser  Autieipation  nur  so  viel,  dass  sie  jenseits  und 
vor  aller  Atomemplindung,  d.  h.  Atombewusstsein,  liegt,  also  eine 
absolut  unbewusste  ist,  und  dass  sie  nach  P^intreten  und  Inhalt 
unabänderlichen  Gesetzen  folgt.  Will  man  nun  den  Ausdruck 
,,unbewusste  Autieipation''  deutsch  durch  „unbewusste  Vorstellung" 
wiedergeben,  so  ist  dagegen  natürlich  wiederum  nichts  als  die 
Gefahr  des  Rückfalls  in  anthropopatbische  Nebenbedeutungen 
geltend  zu  machen.  Die  Erkenntniss  wird  dadurch  ebenso  wenig 
positiv  gefördert,  als  wenn  man  die  Spannkraft  des  Atoms  Wille, 
den  [Jmsatz  derselben  in  lebendige  Kraft  Wollen  nennt,  da  Wille 
und  Wollen  nur  bestimmte  Erscheinungsformen  des  Zusammen 
Wirkens  von  Atomfuuctionen  sind,  oder  die  Bezeichnungen,  weiche 
wir  den  uns  aus  psychologischen  Schlüssen  indirekt  bekannten 
Summationsphänomenen  unseres  thätigen  Gehirns  ertheilen  (vgL 
oben  S.  80 — 82);  der  Werth  solcher  Bezeichnungen  liegt  ebenso 
wie  bei  dem  der  Atom-Empfindung  nur  in  dem  Wecken  und 
Wachhalten  des  Bewusstseins  aou  der  wesentlichen  Identität  alles 
Lebens  und  aller  seiner  activen  und  rcceptiven  Functionen  in  der 
gesammten  organischen  und  unorganischen  Natur. 

Wenn  wir  oben  (S.  17j  bemerkten,  dass  die  Naturwissen- 
schaft als  solche  sich  um  die  Frage  nicht  zu  kümmern  habe,  ob 
letzten  Endes  auch  die  Naturgesetze  und  die  Causalität  selbst 
sich,  wie  die  Ph.  d.  L'nb.  behauptet,  in  Finalität,  d.  h.  in  Teleo- 
logie,  auflösen,  so  haben  wir  jetzt,  wo  wir  uns  mit  dem  Unbe- 
wussten  in  den  Atomen  beschäftigen,  dieser  Frage  näher  zu 
treten.  —  Zunächst  haben  wir  daran  zu  erinnern,  dass  alle  Natur- 
kräite  als  Combinationen  der  einlachen  Atomkräfte,  alle  Natur- 
gesetze als  secundäre  Gesetze  oder  als  aus  den  einfachen  Gesetzen 


221 

der  AtoiutuuctioDeii  abgeleitete  Folgeerscheinungen  anzusehen 
sind  (vgl.  „Ges.  phil.  Abhandl."  S.  123-124);  dieses  JY>lgeu  der 
cornplicirteren  Naturge^etze_aus  den  einfachen  Gesejzen_dei-  Me- 
(^nik  des  Aton^SLjmfeuweisen  (was  natürlich  nur  auf  mathema- 
tischejgaJVege  lüügliehjst)  ist  die  let^e  und  "höchste  Aufgabe  der 
Physik,  und  die  mechanische  Wärmetbeorie,  die  mathematische 
Behandlung  der  akustischen  und  optischen  ^chwingungsprocesse, 
sowie  endlich  dat-  mathematische  Eindringen  in  (bis  Gebiet  der 
Electricität  haben  in  neuester  Zeit  glänzende  Proben  der  wissen- 
schaftlichen Leistungsfähigkeit  gegeben  und  unabsehbare  Hoff- 
nungen für  die  Zukunft  erweckt.  Es  ist,  unumwunden  gesprochen, 
das  Ziel  der  Naturwissenschaft,  alle  die  mannigfachen  Natur- 
erscheinungen als  Resultate  zu  begreifen,  die  aus  der  Mechanik 
der  Atome  hervorgegangen  sind:  alles  Beobachten,  Experimen- 
tiren und  Induciren  ist  durchaus  nur  Mittel  zu  diesem  Einen, 
letzten,  alles  bestimmenden  Zweck,  dessen  Erreichung  allein  die 
Naturwissenschaft  zur  Wissenschaft  im  höchsten  Grad  zu  erheben  und 
abzuschliessen  vermag.  Die  letzten  Functionen  der  Atome  werden 
wir  uns  ebenso  einfach  zu  denken  haben  wie  die  Atome  selbst; 
die  Combination  derselben  zu  den  complicirten  Naturerscheinungen 
muss  aber  mathematisch  durchaus  beweisbar  sein.  Nur  ist  frei- 
lich die  Mathematik  auch  nur  eine  angewandte  Logik,  angewandt 
auf  gegebene  Existenzen  in  Bezug  auf  die  Kategorie  der  Quan- 
tität; aber  wohlgemerkt  ist  unter  der  hier  in  Anwendung  kom- 
menden Logik  nur  der  Satz  vom  Widerspruch  (oder  seine  modi- 
ficirten  Ausdrucks  weisen ),  nicht  aber  d  i  e  T  e  1  e  o  l  o  g  i  e  zu  ver- 
stehen; die  Mathen»atik  deducirt  alles  so  und  so  nur  deshalb, 
weil  es  ohne  Widerspruch  nicht  anders  sein  kann,  nicht  weil  das 
Sosein  irgendwie  zweckmässig  wäre.  Soll  also  irgendwo  eine 
vorausbestimmte  Einheit  von  causaler  und  finaler  Nothwendigkeit 
stecken  fPh.  d.  ü.  S.  790),  so  muss  sie  bereits  ganz  und  ohne  Best 
in  der  Einrichtung  der  Elementarfuuctionen  der  einfachen  Uratorae 
und  in  der  Beschaffenheit  der  in  ihnen  als  Gesetz  erkennbaren 
Oonstanz  der  Wirkungsweise  gegeben  sein.  Je  einfacher  wir  ge- 
nöthigt  sind,  uns  diese  Gesetze  zu  denken,  um  so  unwahrschein- 
licher wird  eine  solche  Annahme,  um  so  entbehrlicher  und 
werthloser  für   die  Erklärung  der  Welt   wird   sie   aber  zugleich. 


222 

Das  volle  Verstäudniss  der  mechanischen  Nothwendigkeit  solcher 
Gesetze  kann  oft  lange  ausbleiben,  bis  plötzlich  ein  klarer 
Kopf  das  Ei  des  Columbus  auf  die  Spitze  stellt,  wie  es  Kant 
mit  dem  alten  Probleme  des  Parallelogramms  der  Kräfte  gelang 
(vgl.  Ph.  d.  Unb.  S.  468).  So  bleibt  man  zuletzt  nur  bei  dem 
Problem  der  Existenz,  und  zwar  einer  in  bestimmter  Essenz  gege- 
benen Existenz,  als  dem  ewig  unlösbaren  stehen,  für  das  die  teleo- 
logische Metaphysik  ebensowenig  ein  Recept  haben  kann  als 
irgend  eine  andere  (S.  796 — 797).  Solchen  Ausgangspunkt  aber 
einmal  zugegeben,  haben  wir  schon  nach  dem  jetzigen  Stande  der 
Physik  keinen  Grrund  mehr  zu  der  Annahme,  dass  die  Elementar- 
functionen  der  Atome  ausschliesslich  oder  theilweise  durch  teleo- 
logische Rücksichten  auf  den  Weltprocess  und  sein  etwaiges  Ziel 
bestimmt  worden  seien.  Jeder  Fortschritt  in  der  mathematischen 
Physik  wurd  solchen  Glauben  unwahrscheinlicher  machen. 

Wir  haben  so  eben  eingeräumt,  dass  auch  die  Mathematik 
nur  angewandte  Logik  sei,  also  die  complicirten  Naturgesetze 
und  alle  natürliche  Causalität  in  diesem  Sinne  allerdings  mit 
dem,  was  wir  unter  logischer  Nothwendigkeit  verstehen,  identisch 
seien ;  wir  haben  nur  bestritten,  dass  diese  logische  Nothwendigkeit 
die  teleologische  A  orsehung  oder  Finalität  in  sich  schliesse. 
Die  Finalität  ist,  wie  die  Ph.  d.  Unb.  (S.  782  —  783)  zuge- 
steht, ebenfalls  angewandte  Logik,  aber  in  noch  anderem  Sinne 
als  die  Mathematik,  welche  eben  nur  die  Existenz  von  Grössen 
voraussetzt.  Die  Finalität  setzt  ein  Antilogisches  voraus, 
welches  nicht  zu  negiren  widersinnig,  d.  h.  der  Natur  des 
Logischen  widersprechend  wäre,  es  setzt  aber  auch  ausser- 
dem voraus,  dass  die  Existenz  dieses  Antilogischen  als  Anti- 
logischen dem  Logischen  (oder  der  gemeinsamen  Substanz  bei- 
der) empfindlich  werde,  und  deshalb  braucht  die  Ph.  d. 
Unb.  die  vorweltliche  und  ausserweltliche  Unlustempfindung  des 
unerfüllten  oder  leeren  Wollens  (S.  785—786),  mit  welcher  kühnen 
Hypothese  die  Möglichkeit  seiner  ganzen  teleologischen  Meta- 
physik steht  und  lällt.  —  Diese  Hypothese  ist  jedoch  deshalb  nicht 
haltbar,  weil  sie  die  Unendlichkeit  des  leeren  Wollen»  gegen- 
über dem  endlichen  erfüllten  Wollen  zur  Voraussetzung  hat.  Nun 
ist  aber   ein    unendliches  Wollen  ebenso  unmöglich,  wie  jede 


223 

andere  existirende  Unendlichkeit;  die  Potentialität  kann  hier  nicht 
zur  Entschuldigung  dienen,  weil  der  Wille  sein  Wollenkönnen 
durch  zeitliches  Wollen  nicht  erschöpft,  also  ein  endlicher  Wille 
für  unendlich  lauge  Dauer  des  Wollens  ausreichen  würde.  Der 
Wille  ist  nur  deshalb  unersättlich,  weil  jede  Befriedigung  sein 
Wollenkönnen  nicht  vernichtet  und  er  nach  derselben  deshalb 
immer  weiter  will,  aber  seine  Unersättlichkeit  beweist  gar  nichts 
gegen  die  Endlichkeit  seiner  Intensität.  Eine  potentielle  Unend- 
lichkeit des  Willens  bedeutet  nur  dann  überhaupt  etwas,  wenn 
sie  das  Vermögen  bedeutet,  in  demselben  Moment  ein  unendliches 
aetuelles  Wollen  entfalten  zu  können;  dann  bedeutet  sie  aber 
etwas  Falsches,  weil  AVidersiuuiges.  Der  Wille  kann  also  eben- 
sowenig unendlich  heissen  als  das  Wollen  und  am  w^enigsten  das 
als  der  Moment  der  Initiative  erklärte  (S.  773 — 774)  leere  Wollen, 
welches  weder  endlich  noch  unendlich,  weil  einer  Quantitätsbe- 
stimmung überhaupt  so  wenig  wie  der  mathematische  Punkt 
iähig  sein  kann.  Ist  nun  der  Wille  keinenfalls  unendlich,  sondern 
endlich,  so  muss  sich  die  intensive  Grösse  der  Welt,  d.  h.  die 
Summe  der  in  derselben  zur  Erscheinung  gelangenden  Kraft,  nach 
ihm  richten;  es  wird  also  kein  Ueberschuss  eines  leeren  über 
das  erlüllte  Wollen  bleiben,  also  eine  ausserweltliche  Unseiigkeit 
unmöglich  sein.  Damit  fällt  die  Grundlage  der  beständig  sieh 
erneuernden  Finalität.  Es  bliebe  höchstens  noch  die  Möglichkeit 
einer  vor  weltlichen  Unseiigkeit  des  leeren  Wollens  im  Moment 
der  Weltinitiative,  durch  welche  die  Atomgesetze  einmal  teleo- 
logisch bestimmt  wären.  So  schwer  auch  der  Grund  einzusehen 
wäre,  weshalb  das  der  teleologischen  Grundlage  beraubte  meta- 
physische Unbewusste  den  früher  von  ihm  bestimmten  Naturge- 
setzen ,  für  die  es  doch  kein  Gedächtniss  hat ,  auch  fernerhin 
folgen  solle,  so  ergeben  sich  doch  noch  grössere  Schwierigkeiten 
von  anderen  Seiten  her,  welche  den  ganzen  Einfluss  teleologischer 
Erwägungen  auf  die  Installirung  des  Processes  zu  einer  böcbst 
unwahrscheinlichen  Hypothese  machen.  —  Finalität  braucht  niimlich 
einen  letzten  Endzweck,  ein  Ziel,  zu  welchem  der  ganze  übrige 
Proeess  als  Mittel  gesetzt  wird.  So  sehr  wir  mit  den  inductiven 
und  deducliven  Erwägungen  der  Ph.  d.  Unb.  (Cap.  C.  XII  u.  XIII; 
vgl.  „Ges.  phil.  Abhandl."  S.  50—55)  über  die  Unmöglichkeit  eine» 


224 

positiven  Endziels  des  Weltprocesses  tibereinstimmen,  sowenig 
können  wir  ihren  Glauben  an  die  Möglichkeit  eines  negativen 
Weltziels  beipflichten  (vgl.  oben  Abschn.  111),  um  so  mehr  als  sie 
die  Wahrscheinlichkeit  ihrer  Annahme  irgend  welcher  Pointe 
im  Wcltlauf,  oder  irgend  welchen  Endzwecks  (für  den  dann  na- 
tliriich  nach  Elimination  aller  positiven  nur  ein  negativer  übrig 
bliebe)  erst  aus  der  Hypothese  einer  allweisen  Vorsehung  herleitet, 
die  selbst  nur  wieder,  wie  wir  gleich  sehen  werden,  auf  das  be- 
reits beseitigte  System  der  beständigen  teleologischen  Eingriffe 
sich  stützt.  Wir  können  nicht  umhin,  den  Glauben  an  die  Mög- 
lichkeit einer  endlichen  Universalwillensverneinung  ebenso  für  eine 
Illusion  zu  erklären,  wie  die  Ph.  d.  Unb.  den  Glauben  Schopen- 
hauers an  die  Möglichkeit  einer  Individualwillensverneinung  für 
eine  Illusion  erklärt.  Beides  sind  am  Ende  nur  Gemüthspostu- 
late,  um  aus  der  Aussichtslosigkeit  des  Pessimismus  einen  erlö- 
senden Ausweg  zu  finden,  also  Illusionen  von  derselben  Classe, 
wie  die  lustincte  der  charakterologischen  Hoffnung,  der  Liebe,  der 
Ehre  u.  s.  w.,  welche  durch  natürliche  Auslese  im  Kampf  um's 
Dasein  sich  entwickelt  haben ,  indem  nur  diejenigen  Menschen 
tibiig  blieben  und  sich  fortpflanzten,  welche  das  Leben  erträglich 
fanden  und  sich  leidlich  mit  demselben  abzufinden  wussten. 
Der  geringe  Anklang,  welchen  gerade  dieser  Gedanke  einer 
schliesslichen  Universalwillensverneinung  gefunden  hat,  scheint 
darauf  hinzudeuten,  dass  es  nicht  nöthig  sein  dürfte,  den  drei 
von  der  Ph.  d.  Lnb.  aufgestellten  Stadien  der  Illusionen  ein  vierte» 
in  diesem  Sinne  hinzuzufügen. 

Aber  nehmen  wir  selbst  einen  Augenblick  an,  die  Universal- 
willensverneinung sei  als  Endziel  des  Processes  zu  fassen  und 
als  solches  erreichbar,  so  liegt  einem  all  weisen  Unbewussten 
offenbar  die  Aufgabe  ob,  dieses  Ziel  so  bald  als  möglich  und  so 
schnell  als  möglich  zu  erreichen,  um  die  Qual  des  Processes  nach 
Möglichkeit  abzukürzen. 

Das  allmächtige  Unbewusste,  sollte  man  nun  meinen^ 
könnte  sich  durch  nichts  gehindert  sehen,  im  Moment  der  Er- 
hebung des  Weltwillens  zum  Process  sofort  denjenigen  Zustand 
zu  realisiren,  in  welchem  sich  die  Welt  im  Moment  der  Universal- 
willensverneinung am  Ende  des  Processes  dereinst   betinden  sollj 


^225 

denn  es  steht  ja  der  Idee  frei,  welchen  Inhalt  sie  dem  Willen 
giebt,  und  dieser  realisirt  ihn  unbesehens.  Es  ist  bei  einem  all- 
weisen und  allmächtigen  Ünbewussten  die  Nothwendigkeit  einer 
dem  Endzustande  der  Welt  vorausgehenden  Entwickelung 
schlechterdings  nicht  einzusehen.  Aber  selbst  auch  eine  solche 
Nothwendigkeit  zugegeben,  so  soll  doch  das  Maass  der  Ent- 
wickelungsgeschwindigkeit  rein  von  der  Idee  abhängen,  und 
nichts  vermöchte  bei  der  Relativität  des  Zeitmaasses  sie  zu  hin- 
dern, den  ganzen  Entwickelungs-Process  mit  unendlicher  Ge- 
schwindigkeit abschnurren  zu  lassen,  d.  h.  ihn  in  eine  unendlich 
kleine  Zeit  zusammenzudrängen,  was  praktisch  dasselbe  Resultat 
wie  die  unmittelbare  Herstellung  des  Endzustandes  der  Welt  er- 
geben würde.  Da  diese  Cousequeuzen  sämmtlich  der  Erfahrung 
widersprechen,  müssen  die  Voraussetzungen  falsch  sein,  d.  h.  es 
kann  gar  kein  Endziel  des  Weltprocesses  geben,  nach  welchem 
dieser  von  einer  Vorsehung  hingeleitet  würde.  (Vgl.  auch  oben 
S.  73 — 75).  Kann  es  aber  kein  Endziel  geben,  so  ist  eine 
teleologische  Prädestination  des  Weltprocesses  durch  eine  diesem 
Endzweck  angepasste  Einrichtung  der  elementaren  Naturgesetze 
unmöglich.  Dann  kann  die  Causalität  wohl  noch  als  identiscli 
mit  logischer  Nothwendigkeit,  aber  nicht  mehr  als  identisch  mit 
teleologischer  Nothwendigkeit  oder  Finalität  behauptet  werden. 
Aber  auch  diese  Identität  von  Causalität  und  logischer  Noth- 
wendigkeit muss  uns  in  einem  andern  Lichte  als  der  Ph.  d.  U. 
erscheinen,  weil  das  Apriorische  und  damit  auch  das  Logische 
uns  ein  psychophysisch  oder  physiologisch  Gegebenes,  der  Ph. 
d.  U.  hingegen  ein  metaphysisch-spiritualistisch  Gesetztes  ist. 
Im  letzteren  Falle  kann  über  die  Identität  der  logischen  Notii- 
wendigkeit  im  Process  des  dinglichen  Geschehens  und  im  Process 
des  bewussten  Denkens  kaum  ein  Zweifel  bestehen;  im  ersteren 
Falle  aber,  wo  die  Prädispositionen  der  Vorstellungsverkuüpfung 
sich  durch  vererbte  Anpassung  an  die  Verknüpiungsweisen  odor 
Zusammenhänge  des  realen  Geschehens  herausgebildet  haben 
(vgl.  oben  iS.  134 — 136),  drängt  sich  unabweisbar  die  weitere 
Frage  auf,  ob  denn  nicht  am  Ende  der  Charakter  des  Logischen, 
d.  h.  des  für  alle  Fälle  des  Denkens  Zwingenden,  erst  gerade 
ein  subjectiv  zu  Staude  gekommenes  Moment  sei,  das  deujciiigea 


226 

thatsächlichcn  Ziisamineiibängen,  durch  Anpassung  an  welche  die 
subjectiv  logischen  Verkntipfungsformeu  sich  entwickelt  habeUj 
durchaus  nicht  in  derselben  Weise  zukommt.  Diese  wichtige 
Frage  (vgl.  Ph.  d.  U.  S.  791  und  108)  können  wir  hier  nicht 
weiter  verfolgen. 

Nachdem  wnr  die  x^nalyse  des  Unbewussten  in  1)  das  relativ 
(fllr  das  Gesammthirnbewusstsein)  Unbewusste,  2)  das  physio- 
logische Unbewusste  und  3)  das  metaphysische  Unbewusste  durch- 
geführt haben,  dürfte  es  angemessen  sein,  noch  einmal  recapitu- 
lirend  uns  vorzuführen,  welche  unter  den  von  der  Ph.  d.  U.  dem 
Unbewussten  schlechthin  zugeschriebenen  Eigenschaften  auf  die 
verschiedenen  Elemente  dieses  Begriffs  anwendbar  bleiben.  Wir 
schlagen  hierzu  Cap.  C,  I  auf.     Dort  ist  gesagt: 

1)  „Das  Unbewusste  erkrankt  nicht."  Dieser  Satz  ist 
ebensowenig  wie  die  Folgenden  auf  das  relativ  Unbewusste  be- 
zogen zu  nehmen,  sondern  von  vornherein  auf  das  absolut  Un- 
bewusste beschränkt  zu  denken.  Auf  unsern  Begriff  des  meta- 
physischen Unbewussten  finden  natürlich  die  Begriffe  der  Krankheit 
und  Gesundheit  gar  keine  Anwendung;  das  physiologi.sche  Un- 
bewusste kann  sehr  wohl  erkranken,  —  nur  nicht  spontan,  sondern 
in  Folge  irgend  welcher  functionellen  Störung.  Das  physiologische 
Unbewusste  ist  es  ja  gerade,  welches  die  Erblichkeit  der  Geistes- 
krankheiten zu  Stande  bringt. 

2)  „Das  Unbewusste  ermüdet  nicht."  Für  das  meta- 
physische Unbewusste  behält  der  Satz  volle  Geltung,  denn  die 
Atome  der  Himmelskörper  gravitiren  nun  schon  recht  lange  auf 
einander  zu,  ohne  irgend  welchen  Nachlass  in  ihrer  Kraftentfaltung 
zu  zeigen.  Für  das  physiologische  Unbewusste  hingegen  ist  der 
Satz  unrichtig;  gerade  hier  ist  die  Ermüdung  ganz  frappant  wahr- 
nehmbar, und  die  Erscheinungen,  welche  dagegen  zu  sprechen 
scheinen,  beruhen  stets  auf  einer  Ablösung  der  functionirenden 
Thcile,  die  ein  Ausruhen  und  einen  Kraftersatz  ohne  Unter- 
brechung der  Function  gestattet  (z.  B.  gegenseitige  Ablö.'.ung  der 
den  Herzschlag  oder  die  Athmung  bewirkenden  Ganglien  und 
Rtickenmarkspartien).  Dass  beim  bewussten  Wahrnehmen  und 
Denken  eine  Ablösung  in  dem  eiforderlichen  Maasse  nicht  zu 
Stande  kommen  kann,  mus«  darauf  beruhen,  das»  derinnervations- 


227 

»trom  der  Aufmerksamkeit  eine  so  bedeutende  Menge  von  Kraft- 
vorrath  des  Gehirns  consumirt,  dass  die  gesammte  Oeconoraie 
der  Gehirnernährung  für  den  Ersatz  desselben  bei  dauernder  An- 
spannung der  xVufmerksarakeit  nicht  ausreichen  würde.  Auf  diesen 
starken  Kraftverbrauch  deutet  auch  die  active  Spontaneität  der 
Aufmerksamkeit  im  Gegensatz  zu  dem  passiven  Charakter  der 
Gefühle  oder  dem  gleichsam  latenten  der  Leidenschaften,  welche 
nur  in  den  kürzeren  Ausbrüchen  der  Affecte  ein  grösseres  Quan- 
tum von  Kraft  consumiren. 

3)  „Alle  bewusste  Vorstellung  hat  die  Form  der  Sinn- 
lichkeit, das  unbewusste  Denken  kann  nur  von  unsinn- 
lieber  Art  sein".  —  Die  Form  der  Sinnlichkeit  ist  selbst  nur 
ein  Summationsphäuomen  aus  Atomempfindungen,  es  würde  also 
der  allgemeinere  Ausdruck  lauten:  Form  der  Empfindung. 
Letzterer  umfasst  dann  auch  das  Bewusstsein  niederer  Nervencentra 
und  untergeordneter  Sphären  im  Grosshirn  in  Betreff  ihrer  unter- 
halb der  Schwelle  des  Gesammthirnbewusstseins  liegenden  Func- 
tionen mit  in  sich,  d.  h.  aber  das  relativ  Unbewusste  hat  ebenfall» 
die  Form  der  Empfindung. 

Das  physiologische  Unbewusste  als  latente  Disposition  ist 
eben  eine  ruhende  Beschaffenheit,  die  nicht  unbewusstes  Denken 
heissen  kann;  insofern  es  aber  functionirt,  erzeugt  es  eben  allemal 
ßewusstseinsfunctionen.  Selbst  dann,  wenn  diese  Functionen  unter- 
halb der  Schwelle  des  Gesammthirnbewusstseins  liegen,  müssen 
wir  doch  annehmen,  dass  sie  in  einzelnen  Hirnpartien,  Hirnzellen^ 
Moleculen  oder  auch  nur  Atomen  irgend  welches  Bewusstsein 
erzeugen,  welches  alsdann  immer  die  Form  der  Empfindung  haben 
muss.  Insoweit  also  das  physiologische  Unbewusste  functionirt, 
schlägt  es  sofort  in  das  Gebiet  des  relativ  Unbewussten  oder 
Bewussten  über,  und  kann  dann  sein  Denken  nicht  unsinnlicher 
Art  sein;  insoweit  es  nicht  functionirt,  kann  von  einem  Denken 
bei  ihm  nicht  die  Rede  sein.  Somit  bleibt  die  Verneinung  de« 
Charakters  der  Sinnlichkeit  oder  Empfindung  nur  gültig  für  die 
anticipirenden  Functionen  des  metaphysischen  Unbewussten,  die 
aber  wieder  nu/  sehr  cum  grano  salis  als  Vorstellen  oder  Denken 
bezeichnet  werden  können, 

4)     „Das     Uubewoßite     schwankt     und    zweifelt 

i5* 


228 

nicht,  es  braucht  keine  Zeit  zur Ueberleguiig,  sondern  erfat^st 
3nomentan  das  Resultat."  ,,Das  Denken  des  Uubewussten  ist 
zeitlos"  (S.  376).  Was  die  Rapidität  der  mechanischen  Reactionen 
des  physiologischen  Unbewussten  betrifft,  so  haben  wir  schon 
oben  (S.  176 — 177)  gesehen,  dass  dieselben  nur  Avegen  des  Fehlens 
aller  Zwischenglieder  eine  relativ  kurze  Zeit  erfordern  aber 
keinenfalls  in  Null-Zeit  verlaufen  können.  Letzteres  müssen  wir 
sogar  von  den  Functionen  des  metaphysischen  Unbewussten  be- 
streiten, denn  Function  ohne  Zeit  ist  ebenso  wenig  denkbar,  wie 
etwa  Causalität  ohne  Zeit;  während  die  Ph.  d.  U.  den  letzteren 
Widerspruch  der  Kant'schen  Philosophie  beseitigt,  lässt  sie  sich 
von  dem  ersteren  kritiklos  gefangen  nehmen  (S.  376).  Wenn 
die  unbewusste  Idee  dasjenige  sein  soll,  was  die  Zeit,  oder  wenig- 
stens die  bestimmte  Zeit  (S.  777,  Z.  25 — 27)  setzt,  indem  sie  das 
„Was''  der  Welt  in  jedem  Augenblick  bestimmt,  wenn  aber  dieses 
^,Was"  ein  sich  stetig  veränderndes  ist,  so  muss  jedenfalls  auch 
die  unbewusste  Idee  eine  sich  stetig  verändernde  sein;  sie  kann 
dann  nicht  bloss  intermittirend  einsetzen,  sondern  muss 
dauernd  actuell  sein,  d.  h,  sie  muss  zeitlich,  nicht  zeitlos 
sein,  um  als  Erklärungsprincip  irgendwie  brauchbar  zu  sein  (vgl. 
8.  384,  Z.  3—4  von  unten). 

5)  „Das  Unbewusste  irrt  nicht".  Wir  haben  in  Be- 
5Ug  auf  das  physiologische  Unbew^usste  die  Unanwendbarkeit  der 
Kategorien  der  Wahrheit  und  des  Irrthums  ebenfalls  schon  oben 
(S.  176  ff.)  besprochen;  es  ist  klar,  dass  dieselben  auf  das  meta- 
physische Unbewusste  nach  Streichung  des  Hellsehens  und  der 
teleologischen  Eingriffe  noch  weniger  passen. 

6)  „Dem  Unbewussten  können  wir  kein  Gedächtnis s  zu- 
schreiben." Dies  ist  für  das  metaphysische  Unbewusste  unbedingt 
richtig,  wenn  auch  nicht  aus  den  S.  379 — 380  angegebenen  teleo- 
logischen Gründen;  dem  physiologischen  Ucbewussten  hingegen 
können  wir  nur  deshalb  kein  Gedächtniss  zuschreiben,  weil  es 
selber    auch    das  Gedächtniss  ist  (S.  379,  Z.  19—14  von  unten). 

7j„Im  Unbewussten  ist  Wille  und  Vorstellung  in  untrenn- 
barer Einheit  verbunden."  In  Bezug  auf  das  metaphysische  Un- 
bewusste bleibt  dieser  Satz  bestehen,  insoweit  man  eben  die  Aus- 
drücke  Wille    und  Vorstellung    daselbst   gelten    lässt.     Für   da» 


229 

physiologische  Ünbewusste  hat  der  Satz  deshalb  keine  GeltuDg-, 
weil  in  der  ruhenden  Hirnprädisposition  von  Wille  und  Vor 
Stellung-  überhaupt  keine  Rede  sein  kann,  während  das  Functio- 
niren  der  Prädisposition  sofort  Bewusstsein  (sei  es  gesammthirn- 
bewusstes  oder  relativ  unbewusstes)  hervorruft,  also  in  die  Eman- 
eipation  der  Vorstellung  vom  Willen  vermittelst  der  bcwussten 
Empündung  umschlägt  (vgl.  oben  S.  227,  auch  73  if.) 

Wir  iügen  mit  fortlaufenden  Nummer  einige  weitere  Eigen- 
schaften des  Unbewussten  aus  späteren  Capiteln  hier  an,  bei 
welchen  es  sich  ausschliesslich  um  das  Ünbewusste  als  Princip 
des  Monismus,  d.  b.  also  um  das  metaphysische  Unbev/usste 
handelt : 

8)  „Das  Ünbewusste  packt  das  Leben,  wo  es  dasselbe 
nur  packen  kann'^  (S.  bbO).  Wo  immer  in  einer  gewissen  Combi- 
nation  organischer  Stoffe  die  Möglich  keil  des  Lebens  gegeben 
ist,  ergreift  das  ünbewusste  als  psychisches  Princip  die  Gelegen- 
heit, um  den  Körper  zu  beleben  und  zu  beseelen  (S.  555);  ob  es 
auch  millioiicnmal  bei  dieser  Gier  der  Belebung  verunglücken 
mag,  CS  lässr  sieh  dadurch  nicht  stören  (S.  559).  Es  geht  bei 
dieser  Belebungsgier  so  blind  darauf  los,  dass  es  keineswegs  bloss 
solche  Gelegenheiten  benutzt,  welche  in  dem  direkten  Stammbaume 
des  Menschen  (als  dem  den  Endzweck  des  Processes  erfüllen, 
sollenden  Organismus)  gelegen  sind,  sondern  es  nimmt  auch  alle 
seitwärts  vom  Wege  liegenden  Gelegenheiten ,  sich  auszuleben, 
eifrig  mit,  und  verrennt  sich  dabei  häutig  in  Sackgassen  der  Ent- 
wickelung  (S.  569),  die  dem  angeblichen  Endzweck  des  Processes- 
in  keiner  Weise  dienen.  Nur  ein  kleiner  Theil  des  Thierreichs 
liegt  im  direkten  Stammbaum  des  Menschen  und  nur  ein  kleiner 
Theil  der  draussen  liegenden  Arten  des  Thierreichs  wäre  nöthig 
für  die  Oeconomie  der  Natur  in  Bezug  auf  die  Aufgaben  der 
Menschheit;  ebenso  wäre  ein  viel  weniger  reichhaltiges  Pflanzen- 
reich ausreichend,  um  die  Aufgaben  des  Pflanzenreichs  im  Natur- 
haushalt in  Bezug  auf  den  Endzweck  des  Processes  zu  erfüllen ; 
alles  übrige  sieht  aus  wie  ein  lusus  iriyeniij  wie  ein  metaphysischer 
Lebermuth  des  Unbewussten  über  seine  teleologischen  Aufgaben 
hinaus.  Da  alles  „Was*'  der  Welt  aber  rein  teleologisch 
durch   die  Idee  bestimmt  sein  soll,    so  wäre  ein  solcher  blinder 


230 

IJ^berdrang,  das  Leben  allüberall  und  in  allen  nur  möglieben 
Gestalten  zu  haschen  und  zu  packen,  selbst  dann  unerklärlich, 
wenn ,  vyie  die  Ph.  d.  Uiib.  unrichtig  annimmt,  das  Wollen  im 
unendlichen  Ueberschuss  gegen  die  Idee  vorhanden  wäre.  Obige 
Eigenschaft  des  L'nbewussten  ist  eben  aus  der  thatsächlichen  Welt 
empirisch  aufgenommen,  ohne  sich  mit  den  Principien  der  Ph.  d. 
Unb.  vereinigen  zu  lassen.  Aus  der  Descendenztheorie,  welche 
die  gesammte  Organisation  als  Resultat  eines  grossen  mechanischen 
Compensationsprocesses  im  Kampf  um's  Dasein  betrachtet,  ergiebt 
sie  sich  hingegen  ganz  ungezwungen,  denn  hier  gelangt  eben  ohne 
alle  Rücksichten  auf  teleologische  Leitung  des  Processes  alles 
zur  Existenz,  für  dessen  Existenz  die  Bedingungen  vorhanden 
isind. 

9)  Das  Unbewusste  sucht  seine  Leistungen  mit  einem  Mini- 
mum von  Kraftaufwand  zu  vollbringen  (S.  560,  568).  Dieser 
ebenso  empirisch  wie  der  vorige  der  Natur  der  Thatsachen  ent- 
nonunene  Satz  passt  ebensowenig  wie  jener  zu  den  Principien  der 
Ph.  d.  U.  War  dort  der  extensive  Ueberschuss  des  Kraftaufwandes 
über  das  Maass  des  teleologisch  Noth wendigen  hinaus  unverständlich, 
so  muss  hier  die  Knauserei  mit  der  Intensität  der  aufzuwendenden 
Kraft  anstössig  erscheinen.  Beim  schwachen  Menschen,  dessen 
Kräfte  unverhältnissmässig  gering  sind  zu  den  Aufgaben,  die  er 
sich  selber  stellt  und  der  ausserdem  bequem  und  träge  ist,  weil 
ihm  die  Anstrengung  Unlust  bereitet,  da  ist  es  sehr  begreiflich, 
dass  er  Erleichterung  der  Arbeit  sucht,  und  dass  die  Herstellung 
kraftersparender  Maschinen  und  Leistungen  selbstthätig  verrich- 
tender Mechanismen  als  zweckmässig  (nämlich  als  den  Zwecken 
und  Verhältnissen  des  Menschen  gemäss)  gerühmt  wird  (S.  154, 
620  unten);  ein  metaphysisches  Unbewusstes  hingegen  kann  gar 
keinen  Grund  haben,  sich  seine  Aufgaben  zu  erleichtern 
oder  durch  Construction  selbstthätiger  Mechanismen  theilweise  von 
sich  abzuwälzen,  denn  der  grössere  Kraftaufwand  kann  ihm  ja 
keinen  Verlust  bereiten,  also  auch  die  Ersparniss  an  Kraft  keinen 
Gewinn  bringen,  da  vielmehr  im  Gegentheil  im  Fall  eines  be- 
stehenden Ueberschusses  an  leerem  Wollen  die  ausserweltliche 
Unseligkeit  desselben  durch  Verminderung  der  im  Procoss  zur 
Bethätigung  gelangenden  Kraft  vermehrt  werden  müsste.     Selbst 


231 

•dann,  wenn  man  von  einem  unendlichen  Willen  absieht,  muss  doch 
das  Eine  Unbewusste  immer  in  dem  Sinne  allmächtig  bleiben, 
wie  das  Absolute  in  jedem  Monismus  so  heisseu  muss,  nämlich 
als  Besitzer  aller  Macht  oder  Kraft,  die  überhaupt  in  der  Welt 
existirt.  Da  nun  die  Grösse  der  AVeit  von  ihm  abhängt  und  eine 
allzu  grosse  extensive  Ausbreitung  im  Sinne  einer  teleologischen 
Metaphysik  gewiss  zwecklos  ist,  so  braucht  er  nur  der  Welt  eine 
passende  Grösse  zu  geben,  um  innerhalb  derselben  auf  alle  „Er- 
leichterungen^* vermittelst  llülfsmechanismen  verzichten  zu  können. 
Am  Ende  ist  aber  der  ganze  Process  der  kosmischen  Entwicke- 
jung nur  als  ein  solcher  Hülfsmechanismus  zur  mittelbaren  be- 
ijueraeren  Herbeiführung  des  Endzustandes  der  Welt  zu  betrachten, 
von  welchen  nicht  einzusehen  ist,  weshalb  das  allmächtige  Un- 
bewusste mit  ihm  die  Zeit  vertrödelt,  anstatt  den  Endzustand  der 
Vv'elt  (vor  der  universalen  Willensverneinung)  unmittelbar  herbei- 
zuführen.—  Ganz  anders,  wenn  wir  von  der  teleologischen  Meta- 
physik absehen.  Dann  stellt  sich  in  der  Mechanik  das  Princip 
des  minimalen  Kraftaufwandes  als  ein  mathematisch  beweisbarer 
Satz  dar  und  ergiebt  sich,  dass  im  Reiche  des  Organischen  noth- 
wendig  diejenigen  Individuen  einen  Vorsprung  in  der  Concurrenz 
iim's  Dasein  gewinnen  müssen,  welche  mit  den  besten  Mechanis- 
men zur  Ersparniss  an  ihren  höchst  beschränkten  individuellen 
Kräften  ausgerüstet  sind,  dass  also  solche  kraftersparende  Mecha- 
nismen und  Erleichterungen  durch  natürliche  Zuchtwahl  ganz  von 
selbst  sich  in  den  Organismen  herausbilden  müssen. 

10)  Das  Unbewusste  ist  allmächtig  (S.  770,  vgl.  auch  163) 
imd  allgegenwärtig  (S.  620).  Dass  wir  die  Allmacht  nicht 
als  Unendlichkeit  der  Kraft  oder  des  Willens,  sondern  nur  als 
Ineinsfassung  aller  überhaupt  existirenden  Macht  gelten  lassen 
können,  ist  schon  erwähnt.  Ebenso  aber  können  wir  die  All- 
gegenwart nicht  als  „ein  unaufhörliches  (teleologisches)  Ein- 
greifen in  jedem  Moment  und  an  jeder  Stelle'^  (8.  620)  gelten 
lassen,  sondern  nur  als  das  in  allen  Atomen  zugleich  Wirken  der 
Einen  identischen  unräumlichen  Substanz  der  Welt  (8.  491). 
lieides  ist  unmittelbar  mit  dem  monistischen  Princip  verknüpft 
und  giebt  in  unserer  Fassung  nicht  den  geringsten  Anspruch  auf 
«'ine  Apotheose  des  Unbewussten. 


232 

11)  Das   Unbewusste   ist  allwissend  (S.  620).     Die 
Allwissenheit  wird  identiticirt  mit  „absolutem  Hellsehen"  (S.  620), 
oder  mit  der  reinen  Materie  der  Vorstellung-  oder  des  Wissens  in 
tiberbewusster  Form  (S.  537 — 538).     Das  Hellsehen  wird  ein  ab- 
solutes   genannt,    weil    ihm    „alle    nur    irgend    zur    Sprache 
kommenden  Data  immer  und  momentan  zu  Gebote  stehen''  (S.  618, 
vgl.   auch    S.  380).     Diese  Behauptung  ist  aber  durch  nichts  zu 
erweisen  versucht,  auch  dann  nicht,  wenn  wir  die  Existenz  eines 
Hellsehens,  ja  sogar  eines  irrthumsunlahigen  Hellsehens  zugeben 
wollten;   es   sind    vieiraehr   negative   Instanzen  gegen  obige   Be- 
hauptung in  der  Ph.  d.  Unb.   zugestanden,  nämlich  die  Möglich- 
keit des  gänzlichen   Ausbleibens   der. hellsehenden  Eingebung 
des  Unbewussten  zum  Verderben  des  auf  sie  angewiesenen  Indi- 
viduums (S.  377).     Selbst  ohne  solche  negative  Instanzen  könnt<*. 
doch  eine  noch  so  grosse  Summe  von  positiven  Instanzen  für  die 
Existenz  eines  Hellsehens  nimmermehr  zum  Beweise  etwas  helfen, 
dass  zu  jeder  Zeit  und  an  jeder  Stelle  alle  irgend  erforder- 
lichen Data   dem  Unbewussten   intuitiv  gegenwärtig  sein  müssen. 
Es  bleibt  ein   unendlicher  Sprung  über  eine   unausfüllbare  Kluft 
hinüber,    wenn   man  vom  Hellsehen   zum  absoluten  Hellsehen, 
von  einem  gewissen  Wissen  zur  Allwissenheit  übergeht.   Wäre 
auch   alles   unantastbar,   was   die  Ph.  d.  U.    über  das  Hellsehen 
vorbringt,  so  wäre  es  doch  ein   unendlich  dürftiges  Material  für 
das  kühne  Gebäude  von  Schlüssen,  welches  es  tragen  soll.     Dieser 
Gedankensprung  wäre    sogar    psychologisch    unerklärlich,    wenu 
nicht  die  Vermuthung  nahe  läge,   dass    hier   wieder   einmal    dur 
Einfluss   theologischer  Jugendreminiscenzen    sein  Spiel   mit    dem 
Philosophen  getrieben  hat,  jener  unselige  Eintluss,  der  schon  so 
viel   der  besten  Köpfe  corrumpirt,   so   viel   Schweiss   der   Edlen 
^'ergeudet  hat.  —  Nun  ist  aber  ausserdem  selbst  das  ungenügende 
3Iaterial,    welches  zur  Stütze  dienen    soll,   unhaltbar;    denn    die 
ganze  Lehre  vom  unbewussten  Hellsehen  ist  nur  aus  einer  falschen 
Erklärung   des   Instincts   hervorgegangen,    und    ebenso    die    Be- 
hauptung von  der  Unfehlbarkeit   der  durch   dieses  Hellsehen  be- 
stimmten Eingriffe    des  Unbewussten,   wie  wir   beides  oben  aus- 
führlich erörtert   haben.     Hiernach  ist  die  Behauptung   der  All- 


233 

wissenheit  des  Unbewussten  als   eine   nach  jeder   Beziehung 
grundlose  und  unhaltbare  zu  streichen. 

12)  Das  Unbewusste  ist  allweise  (S.  620).  Die  All- 
weisheit besteht  aus  zwei  Elementen:  erstens  der  Allwissenheit 
und  zweitens  der  absoluten  Zweckmässigkeit  der  allzeitlich- 
allgegenwärtigen  teleologischen  Eingriffe  (S.  620);  die  Allwissen- 
heit liefert  die  erforderlichen  Data,  auf  welche  die  teleologische 
Thätigkeit  sich  richtet,  und  die  absolute  Vollkommenheit  der 
letzteren  macht,  dass  jedesmal  die  dem  gesammten  Zweckgertist 
der  Welt  möglichst  angemessene  Vorstellung  im  möglichst  an- 
gemessenen Moment  an  möglichst  angemessener  Stelle  als  teleo- 
logischer Eingriff  in  dem  naturgesetzlichen  Gang  des  Processes 
zu  Tage  tritt  (S.  618).  Wir  haben  über  die  teleologischen  Ein- 
grifib  dasselbe  zu  bemerken,  wie  so  eben  über  das  Hellsehen; 
selbst  wenn  sie  constatirt  wären,  würde  doch  der  Uebergang  von 
einer  solchen  Thatsache  zu  der  Behauptung  einer  absolut  voll- 
kommenen Zweckthätigkeit  des  Unbewussten  in  dem  an- 
gegebenen ^^inne  ein  unmotivirter  Sprung  bleiben.  Hellsehen  und 
teleologische  Eingriffe  zusammen  würden  nur  die  Annahme  eines 
gewissen  Maasses  von  Weisheit  des  Unbewussten  begründen 
und  rechtfertigen  können,  niemals  die  Annahme  einer  absoluten 
Weisheit  oder  All  Weisheit.  *)  Nachdem  wir  aber  Hellsehen  und 
teleologische  Eingriffe  überhaupt  als  unhaltbare  Hypothesen  er- 
kannt haben,  müssen  wir  auch  nicht  bloss  die  All  Weisheit, 
sondern  schon  die  Weisheit  des  Unbewussten  als  eine  unhalt- 
bare Behauptung  bezeichnen.  —  AVie  nur  eine  theologische  Re- 
minisceuz  die  philosophischen  Denkresultate  in  solchem  iMaasse 
fälschen  konnte,  so  muss  auch  nach  dieser  kritischen  Purification 
die  Aehnlichkeit  des  theologisch  corrumpirten  Unbewussten  mit 
dem  Gott  der  Theologie  wieder  verschwinden.  Die  Pli.  d.  U. 
ist  insoweit  dem  monistischen  Princip  treu  geblieben,  um  dem 
Prädicat    der    Güte    oder    All  gute,    welches   nur   eiaem    rein 


*)  Vergleiche  Hume,  „Untersuchungen  über  den  menschlichen  Verstand", 
Deutsch  von  J.  H.  v.  Kirchmann  (Berlin:  L.  lleimann  1869),  Abschnitt  B.  XI. 
S.  120-130. 


234 

ausserweltlicheu  Gott  zukommen  kaun,  keine  Concessioneu  zu 
machen,  womit  denn  freilich  auch  der  Gott  des  Gebets,  der  den 
menschlichen  Leiden  ein  gleichtühlendes  Herz  und  Trost  entgegen- 
bringt und  mit  dem  man  sich  auf  Du  und  Du  stellen  kann,  aus- 
geschlossen bleiben  musste  (S.  540).  War  aber  somit  das  Un- 
bewusste  kein  Gott  fiir's  menschliche  Gemtith,  so  konnte  es 
doch  wenigstens  noch  einen  Gott  für  den  menschlichen  Ver- 
stand vorstellen,  eben  wegen  des  ihm  vindicirten  Prädicats  der 
Allweisheit;  nimmt  man  ihm  auch  dieses,  so  bleibt  nur  die  mo- 
nistische Bubstanz  mit  Attributen  übrig,  welche  zwar  noch  den 
metaphysischen  Urgrund  der  Geistigkeit  und  Materialität  als 
coordinirter  Existenzsphären  in  sich  enthalten,  aber  nichts  von 
alledem  mehr  besitzen,  was  dem  Alles  seienden  Einen  den  Cha- 
rakter der  Göttlichkeit  oder  Gottheit  verleihen  könnte.  Es  ist 
dies  noch  besser  verständlich,  wenn  wir  einen  Blick  auf  die  drei 
Hauptbeweise  vom  Dasein  Gottes  werfen:  der  ontologische  führt 
höchstens  bis  zum  abstracten  Begriff  der  unbestimmten  Substanz, 
-der  kosmologische  höchstens  zum  Begriff  der  substantiellen  Welt- 
ursache oder  wirkenden  Weltsubstanz,  und  erst  der  physiko- 
theologische  oder  teleologische  Beweis  verleiht  dieser  substantiellen 
Ursache  jenen  Charakter  der  Weisheit,  ohne  den  der  Mensch  sich 
die  Gottheit,  das  verabsolutirte  Menschenideal,  nicht  zu  denken 
vermag.  Dieser  letzte  Beweis  steht  und  fällt  nun  aber  mit  der 
teleologischen  Metaphysik,  und  deshalb  steht  und  fällt  mit  der 
letzteren  auch  der  letzte  Anker  des  Gottesglaubeus. 

Die  Ph.  d.  IT.  als  der  letzte  überhaupt  mögliche  Versuch  zur 
Rettung  der  teleologischen  Metaphysik  ist  zugleich  der  letzte 
Versuch  zur  Rettung  des  Gottesglaubens,  wenn  schon  in  wissen- 
schaftlich modificirter  Gestalt.  Die  Theologie  hat  davon  natürlich 
nichts  gemerkt,  aber  sie  wird  vielleicht  nach  Jahrhunderten  die 
Ph.  d.  U.  als  letzte  Stütze  ihrer  Dogmen  citiren,  wenn  der 
Schatten  des  Autors  längst  diese  Citate  desavouiren  würde.  Ein 
Dichter  der  Zukunft  wird  dann  vielleicht  eine  Elegie  über  die 
cntgottete  Welt  singen,  wie  Schiller  sie  über  Hellas'  entgöt- 
terte  Welt  sang,  ohne  doch  mit  dieser  poetischen  Klage  über 
entschwundene    Schönheiten    einer    kindlichen    Glaubenswelt    die 


235 

Restitution  des  auf  ewig  Verioreueu  für  möglich  zu  halten  oder 
auch  nur  zu  wünschen.  Denn  die  Wissenschaft  wird  unauf- 
haltsam fortschreiten  und  der  Menschheit  inzwischen  mit  einem 
tieferen  Verständniss  der  Natur  und  ihrer  selbst  ein  werthvolleres 
Geschenk  gemacht  haben,  als  die  Träume  waren,  aus  denen  sie 
dieselbe  mit  rauher  Hand  erweckt  hat. 


»— <g>»Hg)l'  <S>— * 


Druckfehler-Bericlitigimg. 

S.  85.  Z.  14  lies  S.  51  ff.  statt  S.  5  ff. 


Inhalts  -  Verzeichniss. 


Soit« 

I.  Dcscendcnztheorie  uud  natürliche  Zuchtwahl 5 

Die  deutsche  Philosophie  und  die  Descendeuztheorie 5 

Unabhängigkeit  der  Descendeuztheorie  von   der  Theorie  der  natür- 
lichen Zuchtwahl 7 

Unzulänglichkeit  der  Theorie  der  natürlichen  Zuchtwahl     ....  9 

Hauptgründe  für  die  Descendenztheorie 12 

II.  Die  Teleologrie  vom  Standpunkte  der  Descendenztheorie    ...  16 

P'ortschreitende  Elimination  des  Wunderbegriffs 16 

Die  teleologischen  Eingriffe  der  Philosophie  des  Unbewussten      .     .  19 

Die  natürliche  Zuchtwahl  bei  der  Uraeuguug 21 

„Wie  kommen  wir  zur  Annahme  von  Zwecken  in  der  Natur V*    .     .  25 
Die   Zweckmässigkeit    als    Resultat    mechanischer   Compensations- 

processe ,     ...  29 

III.  Die  Entw  ickclung:  Tom  Standpunkte  der  Descendenztheorie  35 

Der  W'eltzustand  als  Anpassungs-Gleichgewicht       3ö 

Der  Verlauf  der  Bewohnbarkeit  der  Erde 37 

Die  „Entwickelung"  der   irdischen  Organisation  als  Folge  des  Gün- 
stigerwerdens der  Bewohnbarkeitsverhältnisse  der  Erde     .     .  39 

Die  Relativität  der  Entwickeluug 41 

Unhaltbarkeit   des   geocentrischen    und    anthropocentrischen   Stand- 
punktes    45 

IV.  Gehirn  und  Intellekt 49 

Idee  und  Idealismus 49 

Entstehung  und  Functionirung    von  Vorstellungsprädispositionen  im 

Gehirn 52 

Stinnnungen,  Interesse  und  Aufmerksamkeit  bei  der  Ideenassociation  5Ö 

Das  Bewusstsein  als  Summationsphänomen 57 

Die  Ineinanderschachtelung  der  Bewusstseine  verschiedener  Ordnung  59 

Die  Innerlichkeit  oder  »"»^ubjectivität  der  Atome 61 


238 

Seit« 

Lust  und  Unlust  in  den  Atomen 65^ 

Entstehung  der  Empfindung  im  Gehirn 66 

ünhaltbarkeit   eines   psychischen  Hintergrundes   der  Vorstelkmgen 

ausser  der  Subjectivität  der  Atome  des  Hirns 69 

Ausschluss  der  Teleologie  bei  der  Theorie  der  Bewusstseinsentstehung  73 

T.  Charakter  und  Wille 75 

Die  charakterologischen  Triebe  als  Hirnprädispositionen    ....  75 
Der  Individualwille   als  Summationsphänomen  der  Atomwillen  des 

Gehirns               78 

Ünhaltbarkeit  hinzukommender  metaphysischer  Willenseingriffe  81 

Psychische  Mauserung 86 

Tl.  Die  Tererbuug",  insbesondere  des  Charakters 89 

Mechanische  Entstehung  der  Vererbung 89 

Latente  Vererbung 93 

Polymorphismus 96 

Vererbung  geistiger  Eigenschaften 98 

Vererbung  individuell  erworbener  Eigenthtimlichkeiten 100 

Tn.  Die  Vererbung"  von  Anlassen  und  Fertigrkeiten 104 

Ererbter  und  erworbener  Charakter 104^ 

Charakter  und  GedächtniäS 105 

Ererbte  schlummernde  Gedächtnissvorstellungen  als  Inhalt  charak- 

terologischer  Prädispositionen 109 

Ererbte  körperliche  Fertigkeiten 111 

ünhaltbarkeit  einer  metaphysisch-teleologischen  Erklärung  derselben  112 

Ererbte  geistige  Fertigkeiten  und  Talente 115 

Vm,  Die  Abkürzung:  der  Ideenassoeiation  und  die  Vererbungr  der 

Denkformen 120 

Die   praktische  Bedeutung   der   Ideenassoeiation   und   der  Process 

ihrer  Abkürzung 120 

Die  abgekürzte  Ideenassoeiation  im  Sprachgefühl 123 

Dieselbe  in  der  Mathematik 125 

Dieselbe  in  den  al>stracten  Begriffen  und  Worten 127 

Die  tyi^ifichen  Denkformen  und  Denkgesetze loO 

Die  Genesis  der  subjectiven  Vernunft  durch  mechanische  Compen- 

sationsproresse 134 

Die  physiologische  Begründung  de«  A  priori 136 

IX«  Die  Entstehung:  der  Angeiiauan«:fform  der  RSiamliebkeit          •  140 

Die  Entwickelung  der  Tiefendimension 140 

Die  Anschauung  als  unbewusgte  Einheit  Yon  Empfindung  und  «yu- 

thetischer  Conitmction 14?« 


239 

Seite 

Teleologischer  Eingriff  oder  allmäbUche  Anpassung  an   das  prak- 
tische Bedüifniss? 145 

Aeltere  und  stärkere  Befestigung  der  Prädispositionen  für  die  erste 

und  zweite  Dimension 148 

Umwandlung  des  discreten  Empfindungsmosaiks  in  das  continuir- 

liche  Anschauuugsbild , 150 

Unterschied  des  Emptindungsmosaiks  des  Auges  von  anderen  zwei- 
dimensionalen Empfiudungscomplexen 155 

Die  räimiliche  Flächenanschauung  als  anschauliche  Perception  eines 
scheinbar   continuirlichen    zweidimensionalen   Empfindungs- 

complexes 157 

Daß  Ordnen  des  Emptindungscomplexes  nach  zwei  Dimensionen  158 

Gesichtsempfiudungen  bei  niederen  Thieren 159 

Die  Causalität  als  ererbte  Hirnfunction lol 

Die  Causalitätsi'unction  bei  niederen  Thieren 164 

X,  Der  Instinct  als  ererbte  Hirn-  und  Gaiiglienprädispositiou  .    .  167 

Instinct  und  Uebung 167 

Der  Instinct  als  Piosume  der  bisherigen  Resultate 169 

Der  Grundfehler  der  Philosophie  des  ünbewussten 172 

Polymorphe  Instincte 173 

Relativität  der  Zweckmässigkeit  des  Instincts 175 

Ueberflüssigkeit  teleologischer  Eingilffe 177 

Einfiuss  der  natürlichen  Zuchtwahl  auf  die  Entstehung  des  Instincts  179 
Einfiuss   der   bewussten    Ueberlegung  auf  die  Modificationen   der 

Instincte 181 

Kukuksei  und  Bienenzelle 18S 

Cooperative  Instincte 185 

Instincte  der  Nahrungswahl,  Feindesfurcht,  Fortpflanzung  und  des 

Witterungsvorgefühls 186 

XI.  Die  Instincte  der  unterg:eordueteu  Centralorg'anc  des  NerTcn- 

systems 190 

Selbstständige  Functionen  niederer  Nervencemra 190 

Die  Retiexbcwegungen    als    Functionen   von    Hirn-   und  Ganglien- 
Prädispositionen     193 

Nachweis  teleologischer  Irrthümer  in  Bezug  auf  Reflexbewegungen  196 

f^influss  der  Ganglien  auf  vegetative  Functionen 199 

Die   Naiurheilkraft   als    ererbte   Ganglien-PräcUspositionen   zu    be- 
stimmten vegetativen  Functionen 2<33 

Die  vegetativen  Funciionen  im  Embryo  bedingt  durch  ererbte  Prk- 

dispoßitionen  der  Zeugungsstoffe      .     .         205 

Unvollkommenheit  der  «weckmJUaigen  Mechauiimtn '^7 


240 

Seit« 

Xn.  Das  Unbewnsste 211 

Das  Unbewnsste  als  Subject  der  teleologischen  Eingriffe  ....  211 
Das  relativ  Unbewnsste  (Bewnsstseiu  niederer  Ordnung)    ....  215 
Das  physiologische  Unbewnsste  (Hirn-  und  Ganglien- Prädisposition)  216 
Das  metaphysische  Unbewnsste   (Subject   der  physischen  und  psy- 
chischen Atomfunctioneu) 218 

Sind  die  Naturgesetze  teleologisch  oder  blos  logisch  nothwendigV  .  220 
Kritik   der  Eigenschaften    des  Unbewussten    nach   Cap.   C.  I   der 

Philosophie  des  Unbewussten 226 

Lebensgier  und  Kraftknauserei  des  Unbewussten 229 

Allwissenheit  und  Allweisheit  des  Unbewussten 232 


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