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Das Unbewiisste
vom Standpunkt
der
Physiologie und Descendenztheorie.
Eine kritische Beleuchtung
des naturphilosophischen Theils
der Philosophie des Unbewiissten
aus naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten.
Berlin.
Carl D u n c k e r ' s T e r 1 a g: .
(C. Heymons.)
1872.
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*' "-T
Vorwort.
Ochon seit Neujahr 1870 lag uns der Gedanke nahe,
die naturwissenschaftlich werthvTjllen und folgenschweren
Gedankenkeime, welche in der „Philosophie des Un-
bewussten" enthalten sind, hervorzuheben, ihre Unverträg-
lichkeit mit anderen in diesem Werke maassgebenden me-
taphysischen Elementen darzuthun, und ihre Bedeutung
durch detaillirtere Ausführung in helleres Licht zu rücken»
Es war diese Aufgabe entweder in rein kritischer, oder ia
rein positiver Gestalt lösbar; das Schwanken zwischen
beiden r)ehancllui]gs weisen, die in dem Xachstchenden einen
vielleicht nicht ganz zweckmässigen Compromiss geschlossea
haben, so wie die Hoffnung, die so nahe liegende Aufgabe
von berufeneren Händen ausgeführt zu sehen, Hess un&
mit der zusammenhängenden Niederschrift der Gedanken
zogern, bis der stets wachsende P^rfolg und Einfluss der
„Philosophie des Unbewussten", das Ausbleiben einer sach-
gemässen Kritik von naturwissenschaftlichem Standpunkt,
endlich statt deren das Erscheinen einiger Gegenscliriften^
welche den Standpunkt der Naturwissenschaften, den sie
zu vertreten behaupteten, auf das Aergste compromittirten^
es immer wünschenswertlier erscheinen Hessen, mit den
inzwischen weiter ausgearbeiteten Gedanken hervorzutreten.
Wenn dieselben trotzdem noch immer den Eindruck des
Aphoristischen, vielleicht sogar Unreifen machen, so möge
diess in der Neuheit des Gegenstandes und der Unmög-
lichkeit, denselben schon jetzt erschöpfend zu behandeln,
-seine Entschuldigung finden.
Der Verfasser.
L
Descendenztheorie und natürliche
Zuchtwahl.
Die .Lehre, dass alle Formen der organischen Schöpfung auf
der Erde in einem genealogischen Verwaudschaftsverhaltnisse
stehen und auf gemeinsame Abstammung zurückgeführt werden
müssen, diese Lehre , welche schon früher von Geoffroy St. Hi-
laire, Lamarck, Göthe, Oken und anderen ausgesprochen war,.,
hat erst durch Darwin's Lehre von der natürlichen Zuchtwahl
eine so handgreifliche Form gewonnen, dass sie in der Natur-
wissenschaft gegenwärtig als fast allgemein acceptirt gelten kann,
und in den Gebieten der Zoologie, Botanik, Paläontologie, ver-
gleichenden Anatomie und Biologie eine vollständige Revolution
hervorgerufen hat. Nur einige äitcre Naturforscher, welche sich
unfähig fühlten, noch einmal ganz umzulernen, verhalten sich
jetzt noch ablehnend gegen die Descendenztheorie oder Abstam-
mungslehre, und diese auf dem Aussterbeetat stehenden Gegner
vermögen natürlich nicht, den unaufhaltsamen Siegeslauf der
neuen Wahrheit zu hemmen. Wenn die deutsche Naturphilo-
soi)hie schon lange vor Darwin diese Lehre zu der ihrigen ge-
macht hatte, wenn ein Oken sogar den lebendigen Urschleim
(heut Protoplasma genannt) und die einzelligen Infusorien als
erste und zweite Stufe der organischen Reihe aufstellte und die
Anwendung seines Princips auf den Menschen („der Mensch ist
entwickelt, nicht erschaffen^') nicht scheute, wenn Scho-
penhauer sich ausdrücklich zu der Lamarck'schen Abstammungs-
6
lehre bekannte, wenn ferner diese Lehre nichts weiter ist als die
Anwendung des Priueips der Eutwickelung auf das orga-
nische Leben auf der Erde, also auch eine nothwendige, wenn
auch unausgesprochene Ergänzung der Hegel'schen Philosophie
bildet, deren Kern ja das Entwickelungsprincip ist, — dann ist
es wohl kein Wunder, wenn die jüngste deutsche Philosophie,
welche sich selbst als die höhere Einheit von Hegel und Scho-
penhauer ankündigt, auch die Descendenztheorie ausdrücklich in
ihr System aufnimmt, und dieselbe auf ihre Weise näher zu be-
gründen sucht. Sie erfüllt damit einerseits nur eine Aufgabe,
welche ihr durch den Entwickelungsgang der neuesten Philo-
sophie selbst unmittelbar vorgezeichnet und nahe gelegt war, und
sie thut damit andrerseits gegenüber dem heutigen Standpunkt
der Wissenschaft überhaupt nur ihre Schuldigkeit; denn wenn
die Philosophie im Allgemeinen die Pflicht hat, anerkannten
Wahrheiten der empirischen Wissenschaften gegenüber keine Ver-
stösse zu begehen, so ist insbesondere heutzutage jedes philo-
sophische System als ein todtgeborenes Kind, als ein kläglicher
Anachronismus zu betrachten, welches so blind ist, die Desceu-
denztheojie negircnd von sich ausschliessen zu wollen. Es ist
aber auch die Descendenztheorie in ihren Consequenzen eine in
alle Gebiete so tief eingreifende Lehre, dass die moderne Philo-
sophie ebensowohl neue Befruchtung als auch neue Aufgaben
durch dieselbe erhält: Probleme, deren Bearbeitung schon ausser-
halb der Naturwissenschaft liegt, und doch für die menschlichen
Interessen von höchster Bedeutung ist. Insofern nun der Natur-
forscher zugleich Mensch ist, und als gebildeter Mensch an diesen
Interessen Theil nimmt, erwächst auch ihm das Recht und die
Pflicht der Prüfung, ob und wie die Philosophie den Consequen-
zen der Abstammungslehre bereits Rechnung getragen habe. Bei
dieser Untersuchung werden wir uns wesentlich an die „Philo-
sophie des Unbewussten" als an das einzige philosophische Sy-
stem, welches zu der Descendenztheorie eine klare und entschie-
dene positive Stellung genommen hat, zu halten haben; wir wer-
den ihren Standpunkt und dessen Detailaustührung einer kriti-
schen Betrachtung unterwerfen, welche, als gestützt auf ein vom
ijystem selbst adoptirtes Princip, der Anforderung einer „imma-
iienten Kritik" entsprechen dürfte, und werden überall da, wo
die Ph. d. Unb. vor dem Richterstuhl dieser Kritik nicht besteht,
uns zu bemühen haben, in Gestalt naturphilosophischer oder
psychologischer Studien positive Anhaltspunkte zu Tage zu för-
dern, welche geeignet sind, die Erkenntniss über den als un-
zureichend erkannten Standpunkt hinauszuführen.
Die Wahrheit der biologischen Descendeuztheorie muss hier-
bei natürlich als erwiesen vorausgesetzt werden, da ein Nachweis
derselben zu viel Raum beanspruchen würde, und in zahlreichen
Schriften geliefert ist, von denen wir hier nur die drei wichtig-
sten Quellenschriften hervorheben wollen: Darwin's „Entstehung
der Arten'^ deutsch von Bronn (4. Aufl. Stuttgart, Schweizerbart
1870); Wallace's „Beiträge zur Theorie der natürlichen Zucht-
wahl" deutsch von Meyer (Erlangen, Besold 1870), und als syste-
matischeste endlich Häckel's „Natürliche Schöpfungsgeschichte"
(2. Aufl. Berlin, Reimer 1870). '
Zur Beseitigung eines häufig vorkommenden Missverständ-
nisses muss ich hier mit besonderem Nachdruck darauf aufmerk-
sam machen, dass die biologische Descendeuztheorie vor der Dar-
win'schcn Lehre bestand, und ihre Wahrheit unabhängig ist
von der Tragweite und Zulänglichkeit der letzteren. Dieses
Yerhältniss wird von den meisten Gegnern Darwin's verkannt;
indem dieselben Gründe für die Unzulänglichkeit der natürlichen
Auslese im Kampf um's Dasein vorbringen, glauben sie in der
Eegel ebensoviel Gründe gegen die Stichhaltigkeit der Descen-
deuztheorie vorgebracht zu haben. Beides hat aber direkt gar
nichts mit einander zu thun; es wäre ja möglich, dass Darwin's
Theorie der natürlichen Zuchtwahl absolut falsch und unbrauch-
bar und dennoch die Abstammungslehre richtig wäre, dass nur
die causale Vermittlung der Abstammung einer Art von der an-
dern eine andere als die von Darwin behauptete wäre. Ebenso
wäre es möglich, dass zwar theilweise die von Darwin entdeckten
Yerniittlungsursachen des Uebergangs statt hätten, zum andern
Theii aber Uebergangserscheinungen vorlägen, welche bis jetzt
nicht durch diese Annahmen erklärt werden könnten, und daher
entweder eine ergänzende Hülfshypothese zu der Darwinschen
verlangten, oder gar ein coordinirtes Erkläruugsprincip erforder-
8
ten, das bis heute ebensowenig entdeckt wäre, wie das Dar-
win'sehe es vor 20 Jahren war. Eine solche theilweise Unkennt-
niss in den wirkenden Ursachen des Ueberganges aus einer Form
in die andere kann die allgemeine Wahrheit der Descendenz-
theorie ebensowenig beeinträchtigen, wie das Fehlen gewisser
ZwischenfoiTuen , oder die in manchen Fällen noch bestehende
Unsicherheit, von welcher bestimmten Form eine gegebene andere
abstamme. Wenn selbst früher, wo noch jede Kenntniss über
die den Uebergang vermittelnden Ursachen fehlte, die Abstam-
mungslehre den bedeutendsten Köpfen aus allgemeinen natur-
philosophischen und apriorischen Gründen gesichert erschien, so-
kann jetzt, wo durch Darwin und Wallace die unzweifelhaft
wichtigste, wenn nicht allein hinreichende Ursache des Ueber-
gangs als überall wirksam und als für zahlreiche Fälle that-
sächlich ausreichend klar und schlagend nachgewiesen ist, um so-
weniger mehr ein Zweifel an der Wahrheit der Descendenztheorie
bestehen.
Auch in dieser Trennung sind wir mit der Philosophie des
Uubewussten im Einklang; während dieselbe die Descendenz-
theorie den Traditionen der deutschen Naturphilosophie gemäss
bedingungslos acceptirt, und dem Darwin'schen Erklärungspriucip
ein hohes Verdienst und eine vielseitige Verwendbarkeit willig
einräumt, polemisirt sie ebenso entschieden gegen die Ueber-
schätzung der Tragweite des Darwin'schen Princips (Ph. d. Unb,
S. 578)*) und gegen den Glauben, mit demselben alles leisten zu
können; namentlich wendet sie sich gegen die Erklärung der
organischen Schönheit allein durch natürliche Zuchtwahl (S. 255 —
259), hebt das Hand in Hand Gehen zweckmässiger Verän-
derungen bei demselben Individuum und bei beiden Geschlechtern
derselben Art hervor (8. 577), reproducirt die von Wallace auf-
gestellten Schwierigkeiten hinsichtlich der Entstehung gewisser
Abweichungen beim Menschen (578), zeigt auf das Problem hin,,
wie sich typische Höhenbildungen zu einer neuen Ordnung ent-
*) Wo nicht eine andere Auflage besonderi angegeben ibt, beziehen sich
die citirten Seitenzahlen der Ph. d. Unb. stets auf die gleichlautende 8te und
4te Auflage.
wickeln können (585—588), und wiederholt die EimvUrfe Nä-
geli's*), dass die natürliche Zuchtwahl im Kampf um's Dasein
nur physiologische, nicht morphologische Veränderungen hervor-
rufen und daher auch nur solche erklären könne (589 — 591). Wir
möchten zu diesem noch eine Schwierigkeit hinzufügen, welche
unseres Erachtens sehr schwer zu wiegen scheint.
Darwin und Wallace nehmen an, dass eine zufällige indivi-
duelle Abweichung sich erhält, insofern sie für die Lebensbedin-
gungen des Wesens sich nützlich erweist, und dass Varietäten
oder Specien, welche von andern wesentlich abweichen in einer
Weise, die für ihre Lebensweise einen besonderen Nutzen ge-
währt, als entstanden zu denken sind durch eine Summation mi-
nimaler zufälliger Individualabweichungen. Diese Erklärung setzt
ausgesprochener Maassen oder stillschweigend voraus, dass in der
That jede dieser minimalen Individualabweichungen sich unter
den Lebensbedingungen der damals bestehenden Art für das ab-
weichende Individuum als nützlich erwies; wo diese Voraus-
*) Dass die Ph. d. Unb. hiermit den Nagel auf deu Kopf getroffen, zeigt
folgende Steüe in Danvin's neuestem Werk, welche uns erst mehrere Monate
nach der Niederschrift dieses Abschnitts zu Gesichte kam: „Man kann daher
den direkten und indirekten Resultaten natürlicher Zuchtwahl eine sehr be-
trächtliche, wenn schon unbestimmte Ausdehnung geben; doch gebe ich jetzt,
nachdem ich die Abhandlung von Xägeli über die Pflanzen und die Bemer-
kungen verschiedener Schriftsteller, besonders die neuerdings von Professor
Broca in Bezug auf die Thiere geäusserten, gelesen habe, zu, dass ich in den
früheren Ausgaben meiner ..Entstehung der Arten" wahrscheinlich der Wir-
kung der natürlichen Zuchtwahl oder des Ueberlebens des Passendsten zu
viel zugeschrieben habe. Ich habe die fünfte Auflage der „Entstehung'"
dahin geändert, dass ich meine Bemerkungen nur auf die adaptiven Ver-
änderungen des Körperbaues beschränkte. Ich hatte früher die Existenz vieler
Structurverhältnisse nicht hinreichend betrachtet, welche, so weit wir es be-
urtheilen können, weder wohlthätig noch schädlich zu sein scheinen, und ich
glaube, dies ist eines der grössten Versehen, welches ich bis jetzt in
meinem Werke entdekt habe" („Die Abstammung des Menschen*', deutsch von
Carus, 2. Auflage, Bd. I, S. 132). Wenn Danvin es als wahrscheinlich ein-
räumt, dass er „den Einfluss der natürlichen Zuchtwahl übertrieben habe"'
(ebd. S. 133), so giebt er eben damit zu, dass die Anhänger der Descendenz-
theorit', auch wenn sie die Theorie der natürlichen Zuchtwalü nicht gerade
verwerfen (S. 132), doch dieselbe als zur Erklärung nicht allein hinreichend
ansehen müssen, befindet sich also principiell nunmehr mit der Auffassung
der Ph, d. Unb. und der unsrigen in Uebereinstimmung.
10
Setzung nicht zutreffend wäre, würde der ganze Erklärungsmodus
hinfällig, gleichviel ob nach Summation einer grösseren Anzahl
gleichgerichteter Abweichungen sich eine summarische Abweichung
ergeben mag, welche nützlich ist oder nicht; — nur wenn jeder
einzelne der Summanden das betreffende Individuum concurrenz-
föhiger macht im Kampf um's Dasein, nur dann wird diese Ab-
weichung sich vor dem sofortigen Wiederausgleich mit entgegen-
gesetzten zufälligen Abweichungen und vor dem Wiederuntergang
in die Stammform bewahren und die Grundlage für weitergehende
Abweichungen nach derselben Richtung in den folgenden Genera-
tionen bilden können. Diese Voraussetzung trifft nun allerdings
in vielen Fällen zu, in vielen andern aber auch nicht, und Dar-
^™ und Wallace haben es unterlassen, jeden einzelnen Fall auf
das Zutreffen dieser Voraussetzung zu prüfen.
Wenn eine Schmarotzer-Milbe (Myobia), die darauf angewiesen
ist, auf thierischen Haaren herumzuspazieren , ihr vorderes Fuss-
paar zu einem Klammerorgan umgebildet hat, so ist kein Zweifel,
dass jede noch so geringe individuelle Abweichung nach dieser
Richtung das betreffende Individuum besser befähigt, mit den
Vorderfüssen ein Haar zu umfassen, und an demselben sicher auf
und abzuwandern. Ganz anders liegt die Sache hingegen bei
den von Wallace mit Vorliebe behandelten Beispielen von natür-
lichen Masken, bei welchen ein Thier das Aussehn einer ihm
ganz fernstehenden, durch irgend welche Eigenthümlichkeiten
besser geschützten Gattung täuschend nachahmt, und dadurch der-
selben Sicherheit gegen seine Feinde theilhaftig wird wie die
nachgeahmte Gattung, ohne dass es dabei wirklich deren Schutz-
mittel gewinnt. So ahmen z. B. gewisse weisse Schmetterlinge
aus der Familie der Pieriden (Leptalis) diejenigen x\rten der Hc-
liconidcn, in deren Bezirk sie leben, so täuschend nach, dass man
sie äusserlich fast nur durch die Structur der Füsse unterschei-
den kann. Die copirten Heliconiden besitzen einen unangeneh-
men Geruch und Geschmack, welcher sie vor den Verfolgungen
der Vögel schützt, und da nur etwa 1 Leptalis auf 1000 Heli-
coniden vorkommt, so reicht dieser Schutz für die ersteren voll-
kommen mit aus. Nun stehen sich aber beide Gattungen min-
destens so fern wie etwa Fleischfresser und Wiederkäuer unter
11
den Vierfüssern (Wallace „Beiträge zur Theorie der nat. Zucht-
wahl" S. 93), man kann sich daher leicht denken, eine wie
grosse Zahl von Zwischenstufen für den Uebergang nöthig war,
wenn diese nur durch Addition zufälliger Individualabweichungen
erfolgen sollte. Flügel , Fühler und Abdomen haben sich ver-
längert, die Farben der nachgeahmten Arten vom Gelb und Orange
bis Braun und Schwarz werden bis auf die Giade der Durch-
sichtigkeit und die Zeichnung der kleinsten Flecke und Streifen
treulich copirt, und selbst die Gewohnheiten sind derart modifi-
cirt, dass die Leptaliden dieselben Orte wie ihre Vorbilder be-
suchen und sogar dieselbe Flugart angenommen haben (ebd.
.S. 94 — 95). Es ist klar, dass die Aehnlichkeit nützlich ist, aber
eben so klar, dass sie erst dann einen gewissen Schutz gewähren
kann, wenn sie gross genug wird, um die scharfen Augen
der Vögel zu täuschen. Es würde also bei der grossen Diffe-
renz der äusseren Erscheinung eine Zwischenstufe, welche immer-
hin dem Aussehn der Heliconiden schon näher steht als dem der
LeptaHden, doch noch hinreichend deutliche Abweichungen von
den Heliconiden zeigen, um von den Vögeln deutlich erkannt zu
werden, also den Inhabern wenig oder gar nichts nützen, und
jedenfalls würden solche Zwischenstufen, welche den gewöhn-
lichen weissen Pieriden noch näher stehen als dem Aussehn der
Heliconiden, in keiner Weise irgend welchen Schutz gemessen,
also auch ihre Inhaber nicht concurrenzfähiger im Verhältniss zur
Stammform machen. Hier ist also die obige Voraussetzung nicht
erfüllt; das Priucip ist auf die ersten Stufen zufälliger Abwei-
chungen, ja selbst auf in der Mitte zwischen beiden Formen
-stehende Zwischenstufen nicht anwendbar, und kann deshalb die
vorliegende Erscheinung nicht erklären. Nur da wo die Stanmi-
form , von welcher die Umwandhing zur natürlichen Maske aus-
geht, der nachgeahmten Species ohnehin schon so ähnlich sieht,
dass eine Verwechslung von Seiten der Feinde möglich ist, nur
^a ist die natürliche Zuchtwahl im Stande, die Aehnlichkeit zu
TervoUkomnmen und immer täuschender zu machen. Da diess
aber nur bei einem Theil der bis jetzt bekannten Beispiele von
Mimicry zutrifft, so müssen in den übrigen Fällen noch andre bis
jetzt unbekannte Ursachen tbätig gewesen sein.
12
Nach diesen Ausstellungen gegen die Tragweite der nattir-
liehen Zuchtwahl können wir nicht umhin, auch noch einen Blick,
auf die Gründe zu werfen, w^elche einerseits für die hohe Be-
deutung der natürlichen Zuchtwahl innerhalb eines weiten Gel-
tungsgebiets und andrerseits für die unzweifelhafte Wahrheit der
Descendenztheorie sprechen. — Was zunächst die natürliche Zucht-
wahl betrifft, so ist folgende einlache und nur auf allgemein be-
kannte Thatsachen fussende Erwägung geeignet, uns einen Ein-
blick in ihr Wirkungsgebiet zu verschaffen. Jede Species hat
die Tendenz, sich in geometrischer Progression zu vermehren;,
da aber die Individuenzahl jeder Species im Ganzen durch lange^
Zeiträume hindurch stationär bleibt, und nur ein kleiner Theil
der meisten Arten jährlich stirbt, so muss allemal von dem Nach-
wuchs so viel zu Grunde gehen, als er keine Stellen in dem
gegebenen Haushalt des Lebens für sich vacant findet. Nun
gleicht jedes Wesen im Grossen und Ganzen seinen Vorfahren^,
deren Beschaffenheit es erbt; aber es gleicht ihnen nur bis auf
ein gewisses Maass individueller Abweichung, welche ent-
weder eine für seine Lebensbedingungen und Concurrenzfähig-
keit gleichgültige sein kann (dann erlischt sie durch Kreuzung)^„
oder eine ungünstige, dann wirft sie ihren Inhaber mit Sicherheit
unter die grosse Masse des zu Grunde gehenden Nachwuchses^
oder aber eine günstige, dann erhöht sie seine Chancen im Kampf
der allgemeinen Concurrenz um's Dasein, zu den Wenigen zu ge-
hören, welche sich zu behaupten und ihre Beschaffenheit auf
Nachkommen zu vererben im Stande sind. Es können sich also
von allen individuellen Abweichungen vom Stammestypus immer
nur die im Kampf um's Dasein günstig wirkenden und die Art
ihrer Lebensbedingungen vollkommener anpassenden erhalten und-
vererben, diese ader kiinnen sich durch neue individuelle Abwei-
chungen nach derselben Richtung in der nächsten Generation
auch addiren, und diese hereditäre Sumniation der die Art
concurrenzfähiger machenden individuellen Abweichungen heisst
eben „natürliche Zuchtwahl". Eine Species kann nur bestehen
und gedeihen, wenn sie sich im Anpassungsglei chgewich t
zu den sie umgebenden Lebensbedingungen befindet, und die ge-
rühmte Vollkommenheit der Organismen beruht eben darin, dass'
15
die allermeisten sich in diesem Zustande des Anpassungsgleich-
gewichts unserm Blicke präsentiren. Wenn die Lebensbedingungen
sich ändern, so kommt es darauf an, ob die Species solche indi-
viduelle Abweichungen aus sich hervorbringt, dass aus denselben
durch Ueberleben des Passendsten und Vererbung seiner Be-
schaffenheit auf die Nachkommen sich eine Abänderung der Art
entwickelt, welche mit der Abänderung der Lebensumstände glei-
chen Schritt hält. Ist obige Bedingung nicht erfüllt, oder ist die
Aenderung der Verhältnisse zu gross oder zu plötzlich, so nimmt
die Art an Zahl ab, verkümmert und stirbt aus; auch solche im
Yerfall und im Aussterben begriffene Arten sind uns in der
Gegenwart vielfach bekannt. Da nun die physischen Verhältnisse
auf jedem Theil der Erdoberfläche, wie uns die Geologie lehrt,
in einem beständigen Wechsel befindlich waren und immer sein
werden, so begreift es sich, ein wie grosses Feld der Wirksam-
keit der natürlichen Sichtung des überreichen sich zum Leben
drängenden Nachwuchses in allen Arten und der durch Ver-
erbung hieraus entspringenden natürlichen Zuchtwahl zu allen
Zeiten off'en stand, und es stellt sich nunmehr als eine Haupt-
aufgabe der Geologie und Biologie heraus, durch wechselseitigen
Vergleich der physischen Lebensbedingungen einer gewissen Ge-
gend zu einer gewissen Zeit und der Beschaffenheit der daselbst
:florirenden Thier- und Pflanzenspecien eine Art öcologischer Statik
des Katurlebens, d. h. eine Kenntniss aller Arten von Anpassungs-
gleichgewichten kennen zu lernen, eine Kenntniss, welche gestatten
würde, von der Beschaffenheit einer Species genaue Schlüsse aut
seine Lebensbedingungen oder von einer Veränderung einer Spe-
cies auf die entsprechende Veränderung der Lebensbedingungen
zu machen, und ebenso umgekehrt. Wenn man nun aber die
Einflüsse der geologischen Veränderungen der physischen Ver-
hältnisse der Erdoberfläche genetisch nachconstruirt hat, so muss
man hierin auch die hauptsächlichsten Ursachen für die Verän-
derung der die Erdoberfläche bewohnenden Organisation begriffen
haben. Diess führt uns zu der Descendenztheorie hinüber.
Schon seit dem Entstehen der vergleichenden Anatomie war
es das eifrigste Bestreben der Zoologen und Botaniker, die gegen-
wärtig lebenden Organisationsformen nach ihrer Verwandtschaft
14
in ein natürliches System zu ordnen, welches ungesucht'
mehr und mehr die Gestalt eines, wenn auch vielfach lückenför-
migen, Stammbaums annahm. Andrerseits erkannte man schon
früh, dass die Entwickelungsgeschichte des Individuums (Embryo-
logie und Metamorphologie) eine bedeutende Analogie mit diesem
Stammbaum zeige , dass sie aber denselben doch immer nur un-
vollkommen in der Weise recapitulire, dass sie nicht dem Ganzen y.
sondern nur einer einzelneu Linie desselben entspreche. Die
paläontologischen Forschungen fügten diesen beiden Reihen eine-
dritte hinzu, indem sie mehr und mehr ermittelten, welche Thier-
arten einer jeden geologischen Periode den Thierarten, Gattungen
und Ordnungen der Gegenwart systematisch entsprächen. Als
Ganzes genommen zeigte nun der paläontologische Stamm-
baum die vollkommenste Uebereinstimmung mit dem systema-
tischen der vergleichenden Anatomie, nur dass er die Lücken
des letzteren in soweit ergänzte, als die Vertreter vergangener
geologischer Perioden sich nicht bis in die gegenwärtige Flora
und Fauna hinein conservirt haben; im Einzelnen betrachtet,.
d. h. eine paläontologische Vorfahrenreihe einer bestimmten
Thierart der Gegenw^art aus dem Ganzen herausgelöst, zeigt er
wiederum die vollständigste Uebereinstimmung mit dem Ent-
wickelungsprocess des Individuums vom befruchteten Ei bis
zur endgültigen Form. Diese Uebereinstimmungen sind nur so
zu deuten, dass der systematische Stammbaum nur die historische
Projection des paläontologischen Stammbaums auf die Gegen-
wart ist, und dass die embryologische Entwickelungsreihe nur die
abbrevirte individuelle Recapitulation der paläontologischen
Entwickelungsgeschichte der Species ist, zu welcher Entwicke-
lungsreihe natürlich nur ihre direkten Vorfahren, also nur eine
einzige Linie des gesummten paläontologischen Stammbaums,
gehören. Xur indem der paläontologische Stammbaum
als wirkliche genealogischeDescendenz gefasst wird, lösen
sich alle diese Piäthsel, und wächst die Auffassung der gcsammten
Biologie zu einer grossartigen Einheit zusammen. Unter-
stützt wird diese Auffassung noch wesentlich durch die Fort-
schritte der Lehre von der geographischen und topographischen
Verbreitung der Specien, und die Aendcrung dieser Verbreitungs-
15
bezirke in den früheren geologischen Perioden, ein Wissenschafts-
zweig, der ganz unverkennbar für jede Art auf eine Urheimath
oder ein Ausbreitungscentrum zurückführt. Zur weiteren
Empfehlung dient ihr die Lehre von den rudimentären Or-
ganen, welche durch Nichtgebrauch verkümmert und entartet
sind, aber trotz ihrer nunmehrigen Unzweckmässigkeit immer fort-
bestehen, — eine Erscheinung, die durch Verweisung auf den
allgemeinen Schöpfungsplan (Ph. d. Unb. S. 170) in Anbetracht
der behaupteten Allweisheit und Allmacht des Unbewussten kei-
neswegs befriedigend erklärt wird, während die Vererbung diese
Constanz der morphologischen Grundtypen sofort genügend be-
gründet. Endlich bestätigt sich die Descendenztheorie um m
mehr, je tiefer man in den Zusammenhang des Naturlebens, in
die Wechselbeziehungen der Organismen, ihrer Einrichtungen und
Lebensgewohnheiten, insbesondere in die Erscheinungen des Com-
mensalismus und Parasitismus eindringt. Alle diese Betrachtungen
im Zusammenhang müssen die Wahrheit der Descendenztheorie
zur vollkommenen Evidenz bringen. Die Ph. d. ünb. fügt diesen
inductiven Bew^eisen einen deductiven hinzu, mit dem wir den
nächsten Abschnitt beginnen wollen.
IL
Die Teleologie vom Standpunkte der
Descendenztheorie.
Wenn schon die eigenthümliche Begründung, welche die Ph.
d. Unb. für die Descendenztheorie beibringt, der Form nach de-
ductiv ist, so entspricht sie doch ihrem Inhalt nach dem Geiste
der Naturwissenschaft vollständig, da sie, wie im Grunde alle
naturwissenschaftliche Hypothesenbildung, auf der fortschrei-
tenden Elimination des Wunderbegriffs beruht. Der
roheste Wunderglaube wäre nämlich die Annahme unmittelbarer
Erschaffung aller Specien in erwachsenen Exemplaren; ein ge-
ringeres Wunder wäre schon die Erschaffung derselben in Gestalt
befruchteter Eier, welche etwa geeigneten Pflegeeitern anvertraut
wurden; eine weitere Reduction erlitte das Wunder, wenn diese
Eier an ihrer natürlichen Stelle, dem Eierstock der nächstver-
wandten 8pecies, entständen und der übernatürliche Eingriif sich
auf Herstellung derjenigen Abweichungen beschränkte, welche die
Entwickeliing zu der neuen Species prädisponiren; endlich werden
diese Eingriffe auf ein Minimum zurückgeführt durch die Annahme,
dass die Uebergänge in einer Addition von zufälligen individuellen
Abweichungen bestehen, zu deren Fixirung in den meisten Fällen
die natürliche Zuchtwahl ausreicht. Nach derselben Methode der
Elimination des Wunders hätte nun aber weiter geschlossen werden
müssen, dass in allen den Fällen, wo die natürliche Zuchtwahl
nicht ausreicht, andere noch unbekannte wirkende Ursachen vor-
handen sein müssen, mechanische Zusammenhänge, die uns bis
jetzt verschlossen geblieben sind. So schliesst aber die Ph. d.
Unb. nicht, sondern sie statuirt überall da direkte übernatürliche
17
I^ingriffe eines intelligenten metaphysiseben Willens in den natur-
^esetz massigen Verlauf der organischen Processe^ wo „die ent-
standenen Abweichungen, welche zum Plane des Unbewussten
^•ehören, aber den Organismen keine gesteigerte Co neu r-
renzfähigkeit im Kampfe ums Dasein verleihen , vor dem
Wiederverlöscheu durch Kreuzung bewahrt" werden sollen
(S. 593), und ebenso statuirt sie dort übernatürliche Eingriffe,
^0 nicht zufällig entstehende und doch im Schöpfungsplan liegende
Abweichungen hervorgerufen werden sollen, (ebenda), obwohl
sich doch gar nicht sagen lässt, dass irgend welche minimale In-
dividualabweichungen nicht zufällig entstehen könnten, sondern
eigentlich auch hier nur das Fixiren solcher Abweichungen ge-
meint ist, die erst nach längerer Addition in bestimmter Richtung
^eine Bedeutung erlangen (z. B. Uebergang in neue Ordnungen
und neue morphologische Typen). Jedenfalls verlässt die Ph. d.
U. bei dieser Hypothese übernatürlicher Eingriffe die natur-
wissenschaftliche Anschauungsweise und Methode, und zieht meta-
physische Aushülfen heran, um thatsächlich vorhandene, Lücken
der naturwissenschaftlichen Erkenntniss auszufüllen. Diess kann
4ie Naturwissenschaft nicht acceptiren; so wenig sie sich darum
^u bekümmern hat, ob die Naturgesetze und die Causalität letzten
Endes sich selbst wieder in Finalität und logische Kategorien
.auflösen, so sehr muss sie doch darauf halten, dass ibr Gebiet
xein von solchen Beimengungen bleibt und dass die Lücken in
der Erkenntniss der causalen Zusammenhänge der objectiven Er-
scheinungswelt offen als solche anerkannt und der künftigen Aus-
füllung durch rein causale und mechanische Zusammenhänge offen
gehalten werden, hinter welchen dann immerhin die Metaphysik
ihren ungestörten Tummelplatz behalten mag. \yenn auf S. 790
die Causalität als „logische Nothwendigkeit" bestimmt wird, die
durch einen Willen reahsirt wird, und wenn diese logische Noth-
wendigkeit als die gemeinsame Wurzel von Causalität und Fina-
lität bezeichnet wird, so darf diess keinenfalls so gedeutet werden,
als ob der metaphysisch-teleologische Eingriff in einen naturgesetz-
lichen Process mit der in dieser wirkenden Causalität auf gleicher
Stufe stände. Die naturgesetzliche Causalität wirkt immer auf
dieselbe Weise, unbekümmert darum, ob im besonderen Falle
18
ihr Wirken empfindenden und lebenden AVesen nützlich
oder verderblich wird, ob sie die Naturzwecke des Welten-
planes unmittelbar fördert oder hemmt ; der teleologische Ein-
griff hingegen arbeitet immer und ausnahmslos direkt
auf den Zweck des Naturprocesses hin. Die naturgesetzliche
Causalität richtet sieh allein nach den gegebenen Umständen
und reagirt auf diese mit blinder Noth wendigkeit; der
teleologische Eingriff richtet sich zwar auch nach den gegebenen
Umständen und erfolgt ebenso gleichmässig wie die causale Wir-
kung, sobald die Umstände identisch wiederkehren, aber diese
Gleichmässigkeit ist bedingt durch das Sichgleichbleiben des End-
zweckes, und die momentane teleologische Berücksichtigung
dieses Endzweckes ist das neu hinzutretende Moment, welches
eben eine Modification der vorliegenden Umstände durch
einen metaphysischen Willen in dem Sinne herbeiführen soll, dass
nunmehr die Wirkung der Naturgesetze eine dem Naturzweck
unmittelbar dienende wird, die ohne diesen Eingriff eine dem
Naturzweck wenigstens in diesem Falle zuwiderlaufende ge-
worden wäre (Pb. d. U. S. 142—143, 176-178). Wenn die
naturgesetzliche Causalität zugleicli eine möglichst zweckmässige
sein soll, so liegt doch diese Zweckmässigkeit nicht im einzelnen
Fall, sondern nur in dem vielfach von Rückschlägen und Hem-
mungen durchkreuzten Gesammtgange, und das Gesetz wird im
einzelnen Fall nur inne gehalten, weil die Coustanz der Wirkungs-
weise teleologisch gefordert ist (S. 560 Anm.) und von allen
möglichen Gesetzen dieses das durchschnittlich zweck-
mässigste oder das relativ zweckmässigste in Bezug auf das
Gesamm t resultat ist; der teleologische Eingriff hingegen
wird als die hinzutretende Correktur gedacht, welche den durch
constante Gesetze teleologisch nicht zu leistenden Rest auf
ihre unmittelbare Action übernimmt. Dieser Unterschied darf
nicht tibersehen werden ; er ist deutlich genug ausgesprochen, und
ist gross genug, um die Naturwissenschaft zu einem energischen
Protest gegen den etwaigen Versuch zu veranlassen, durch meta-
physisch-teleologische Auslegung der CausaHtät zugleich den un-
mittelbaren teleologischen Eingriff mit einschmuggeln zu wollen.
Lässt man sich den letzteren einmal gefallen, so ist das Wunder
19
seinem Begriff nach (als metaphysischer Eingriff in den gesetz-
massigen Gang der physischen Causalität) acceptirt, und es ist
dann nur noch eine Differenz dem Grade nach, welche das
theologische Wunder (insofern es nicht naturwidrig gefasst wird)
von diesem metaphysischen unterscheidet; — ob der unbewusste
Wille Atome verschiebt und dadurch Ströme im Organismus er-
zeugt, welche den Wachsthumsprocess in eine neue Richtung
drängen, oder ob Gott in der Transsubstantiation die üratome so
umlagert, dass die chemischen Elemente sich in andre verwan-
deln, das ist kein Unterschied mehr im Wesen der Sache, son-
dern nur noch in der Intensität und Ausdehnung des Eingriffs.
Fragen wir nun, was die Ursache eines solchen Abfalls von
der naturmssenschaftlichen Anschauungsweise bei der Behand-
lung einer naturwissenschaftlichen Frage gewesen sein mag, so
zeigt sich die Neigung dazu einerseits durch die Antecedentien
der deutschen Philosophie vorgezeichnet, und muss andrerseits
auf den Abschnitt A der Ph, d. Unb. verwiesen werden, welcher
das Resultat gegeben hatte, dass jeder Moment desLe-
bensprocesses eine Summe zahlloser teleologischer
Eingriffe erfordert. Die deutsche Philosophie war von jeher
gewohnt , der Idee einen maassgebenden Eiufluss auf die Le-
bensprocesse der Organismen zuzuschreiben, welche als Träger
der Realisationen der Idee gelten sollten; den Kant-Fichte'schen
subjektiven Idealismus ganz bei Seite gelassen , findet sich auch
bei Schelling, Schopenhauer und Hegel nirgends eine genügende
Würdigung der Materie als einer selbstständigen, jedes metaphy-
sischen Eingriffs in ihre Gesetze und Rechte spottenden Macht;
überall werden vielmehr die organischen Wesen als unmittelbare
individuelle Realisationen der Idee behandelt. Hiergegen er-
scheint das Verfahren der Ph. d. U. in der That als ein him-
melweiter Fortschritt, welches der unbewussten Idee als organi-
sirendem Princip die Materie als selbstständige coordinirte Macht
gegenüberstellt, deren Gesetze jene nicht überspringen kann, son-
dern mit denen sie rechnen und die sie zu ihren Zwecken klu^
benutzen muss (S. 605), — wenngleich in Jetztei_Reihe die Materie
mit ihren unverbrüchlichen Gesetzen auch hier nur als Objek-
tivation der Idee auf niederer Stufe erscheint. Diese metaphy-
20
^sche Voreingenommenheit wirkte zusammen mit den Resultaten
des Abschnitts A. Dieser Abschnitt aber behandelt alle vorkom-
menden Probleme ohne jede Rücksicht auf die Descen-
denztheorie, >Yährend dieselben derart sind, dass sie einzig
und allein von dem Staudpunkt der Descendenztheorie aus
richtig gestellt und annähernd gelöst werden können.
Werthvoll ist hingegen der dort zur Evidenz gebrachte Satz,
dass Instinct, Reflexbewegungen, Naturheilkraft, sclbstständige
Functionen niederer Nervencentra und organisches Bilden ein
immittelbar zusammengehöriges Ganze darstellen (S. 164—165),
eine Reihe, in der jedes Glied mit jedem andern durch flüssige
üebcrgänge verbunden ist, so wie ihre höchsten Glieder in ebenso
flüssiger Weise in die Erscheinungen des bewussten Geisteslebens
hinüberleiten. Es kann hiernach nur ein und dasselbe Er-
klärungsprincip sein, welches in allen diesen Erscheinungs-
gebieten maassgebend ist. Anstatt aber mit demjenigen Gliede
der Reihe, welches durch die Descendenztheorie am besten er-
klärt wird , zu beginnen und von diesem , der Zweckmässigkeit
der organischen Bildungen, hinaufzusteigen zu den andern, be-
ginnt die Phil. d. Unb. gerade umgekehrt mit dem schwierigsten,
dem Instinct, und thut dort der Möglichkeit einer Erklärung durch
die Descendenztheorie, wde sie Darwin in seinem Capitel Instinct
bietet, nicht einmal Erwähnung. Diess ist nur so zu erklären,
dass diese Abschnitte vor jeder Bekanntschaft mit Darwin's Ori-
ginalwerk und auch vor genauerer Bekanntschaft mit der Be-
deutung und Tragweite der Descendenztheorie überhaupt verfasst
öind, während die Cap. IX und X des Abschn. C. , namentlich
der Schluss des Cap. X bereits eine Kenntniss der eminenten
Bedeutung der Descendenztheorie erkennen lassen. Durch diesen
Unterschied zwischen den Abschnitten A und C fällt das Buch
in naturwissenschaftlicher Hinsicht gleichsam in zwei Stücke aus-
einander, die nicht zusammenpassen wollen, — eine Thatsache,
die meines Wissens keiner der zahlreichen Rccensenten des Wer-
kes auch nur von Ferne geahnt hat. Ist aber die Descendenz-
theorie eine Wahrheit, (wie die Ph. d. U. zugiebt), und ist sie
im Stande, für die Erscheinungsreihen des ersten Abschnitts,
wenn auch nur theilweise, wirkliche Erklärungen zu liefern (was
21
211 UDtersuchen die Ph. d. U. im Abschnitt A versäumt hat, wäh-
rend sie es im Abschn. C. Cap. IX in vielen Punkten zugiebt),
so wird dadurch die ausschüessliche Geltung und das angenotm-
mene Wahrscheinlichkeitsmaass des im Abschn. A angewandten
Erklärungsprincips ebenso wie die mit Hülfe desselben erzielten
Resultate in Frage gestellt, also auch die Behauptung von den
beständigen teleologischen Eingriffen des organisirenden Unbc-
wussten an den Lebensprocess nicht ohne Weiteres als Aushülfe
für die Lücken herangezogen werden dürfen, welche die natür-
liche Zuchtwahl in dem Verständniss der Descendenztheorie lässt.
Die weitere Ausführung des hier nur andeutungsweise zur
vorläufigen Orieutirung Vorangeschickten kann erst später folgen ;
dagegen wollen wir in diesem Capitel noch auf zAvei Stellen ein-
gehen , in welchen die teleologischen Eingriffe aus allgemeinen
Gesichtspunkten besprochen werden. Die erste derselben ist der
Aufsatz „üeber die Lebenskraft'^ in den „Gesammelten philoso-
phischen Abhandlungen zur Phil. d. Unb/' (Berlin, Carl Dunckcr
1872), die andere das zweite Einieitungscapitel der Ph. d. U. :
„Wie kommen wir zur Annahme von Zwecken in der Natur?"
Der Aufsatz „Ueber die Lebenskraft'^ präcisirt nach einem
historischen Kückblick die moderne Fassung der Frage in fol-
gender Alternative: „auf der einen Seite ein zweckmässig
wirkendes immaterielles Princip, welches die fragliche Anordnung-
der L'mstände" (unter welchen aus den unorganischen Molecular-
kräften sich die organischen Processe entfalten) „herbeiführt und
dauernd aufrecht erhält, auf der andern Seite ein einmaliger
Zufall der Urzeugung, und zwar solcher überaus merkwürdiger
Zufall, dass die aus ihm resultirenden combinirten Functionen die
Aufhebung dieser fraglichen Umstandsanordnung dauernd aus-
schliessen. Ist der Zufall der Urzeugung nicht bloss einmal,
sondern (ifters eingetreten, so ist es um so merkwürdiger, dass
er stets in einer Weise eintrat, welche die Dauer seiner Pro-
dukte in sich schloss. So bedenklich diese Zufallstheorie auch
schon deshalb sein muss, weil bei den zahllosen denkbaren
Umstandscombinationen eine ausserordentlich geringe apriorische
W^ahrscheinlichkeit für das Eintreten der geforderten vorhanden
war, so ist dieselbe doch nur dann überhaupt haltbar, wenn die
22
Thier- und Pflanzenphysiologie im Stande ist, nachzuweisen, dass
wenn einmal durch jenen Urzeugungszufall organisches Leben
in irgend einer der uns bekannten Gestalten geschaffen war, die
so gegebenen Umstandscombinationen wirklich ausreichten,
um mit alleiniger Hülfe der unorganischen materiellen Kräfte sich
selbst und dadurch den vitalen Functionen ihren Fortbestand zu
sichern" (Ges. phil. Abhandl. S. 109—110).
Die Begründung zerfällt, wie wir sehen, in zwei Theile, der
erste gegen die Urzeugung lebensfähiger Formen , der zweite
gegen deren Erhaltung und Fortbildung gerichtet. Der
zweite Theil giebt also nur eine Wiederholung unserer so eben
besprochenen Alternative: ob die natürliche Zuchtwahl, insofern
sie nicht ausreicht, durch ähnliche mechanische Vermittlungen, die
uns noch unbekannt sind, oder durch metaphysisch teleologische
Eingriffe so weit vervollständigt wird, um die fortschreitende Ent-
wickelung der Organisation zu Stande zu bringen; hierin finden
wir mithin keinen neuen Gesichtspunkt. Dagegen ist dieser
allerdings in dem ersten auf die apriorische Wahrscheinlichkeit
gestützten Argument enthalten, — nur ist er entschieden unrich-
tig angewendet.
Die Phil. d. Unb. sagt S. 558: „Es ist wahrscheinlich, dass
vor der Entstehung der ersten Organismen schon organische Ver-
bindungen niederer Stufe vorhanden gewesen seien," welche
sich (S. 556:) „unter dem Einflüsse einer feuchten und sehr
kohlensäurereichen Atmosphäre, so wie der höheren Wärme, des
Lichtes und starker electrischer Einflüsse gebildet hatten." Eignet
man sich diese Voraussetzungen an, und fügt die Betrachtung
hinzu, dass wenn solche der Urzeugung günstige Bedingungen
in früheren geologischen Perioden einmal, wie doch noth wendig,
stattfanden, sie wohl auch durch anselniliche geologische Zeit-
räume hindurch bestanden, so ist in der That die Folgerung nicht
zu umgehen, dass im Lauf der Zeit und im Wechsel der Um-
.stände diese organischen Stoffe in zahllose Combination en
zu einander traten. Unter diesen wahllosen Anordnungsweisen,
Gruppirungen und Verbindungen musste der bei weitem grösste
Theil auf der Stufe unorganischer Form stehen bleiben, weil er
nicht die zu einer solchen nothwendige chemische Zusammen-
23
Setzung und physikalischen Eigenschaften erlangte; ein sehr \4el
kleinerer Theil, der aus diesen Combinationen organischer Materie
hervorgegangenen Resultate mochte vielleicht vorübergehend sich
der organischen Form nähern, oder auch wirklich in dieselbe
eintreten, dabei aber nicht die zur längeren Behauptung derselben
erforderliche Beschaffenheit besitzen; ein dritter noch kleinerer
Theil vermochte etwa für sich selbst diese Form im Wechsel
des Stoffs so lange zu behaupten, als etwa noch jetzt die unge-
fähre Lebensdauer der primitivsten Protisteuarten beträgt , ent-
behrte aber derjenigen Eigenschaften, welche durch Theilung und
Fortpflanzung die Species auch nach dem natürlichen Absterben
des Individuums erhalten ; ein vierter Theil mochte sowohl die
zur Selbsterhaltung als zur Gattungserhaltung nothwendigen
Eigenschaften besitzen, entbehrte aber jener eigeuthümlichen
„Tendenz, abzuändern'^ (Phil. d. Unb. S. 591), oder doch jener
Tendenz, in der bestimmten Richtuung abzuänderu, welche allein
zur Entwickelung in höhere Formen führen konnte; ein fünfter
Theil endlich besass auch diese Eigenschait zu den übrigen.
Pie Nachkommen der vierten und fünften Classe unserer Unter-
scheidung sind es, welche noch heute Meer und Erde bevölkern;
von welcher Art von Moneren die Fortentwickelung zu Infusorien aus-
gegangen ist, ob von einer der jetzt noch lebenden, oder von einer
untergegangenen Art, davon wissen wir noch nichts; das aber schon
können wir als sicher annehmen, dass die Mehrzahl der Protisten,
die wir heute noch kennen, zu jener eutwickelungsunfähigen
vierten Classe gehört. Die ephemeren Schöpfungen unserer zweiten
und dritten Classe konnten natürlich nur so lange ihren Bestand
als Arten gesichert sehen, als die günstigen Bedingungen ihrer
stets erneuten Urzeugung fortdauerten; die erste Classe aber
würde vom teleologischen Standpunkt aus als die der gänzlich
niisslungeuen Schöpfungsversuche zu bezeichnen sein.
Nehmen wir nun als durch die Thatsache vorhandener Orga-
nismen erwiesen an, dass die Möglichkeit der Entstehung des
Wirklichen in den Bedingungen früherer Schöpfungsperioden zu
irgend einer Zeit gegeben war (Ph. d. U. S. 555 — 550), so folgt aus
unserer Annahme über die zahllosen Combinationen der voraus-
gesetzten organischen Materie die apriorische Wahrscheinlichkeit
24
und zwar als eine der 1. oder der Gewissheit sehr nahe kom-
inende, dass unter den zahllosen Combinationen mit der Zeit auch
solche vorkommen mussten, welche der in den Bedingungen enthal-
tenen Möglichkeit der Urzeugung entsprachen, und somit dieselbe
verwirklichten. Die von uns unterschiedenen Classen fordern in
aufsteigender Eeihe ein mehr oder minder günstiges Zusammen-
treffen mannichfacher Umstände, und gerade diesem entsprechend
haben wir die Häufigkeit der einschlägigen Fälle von Urzeugung
in der Gesammtzahl der Anläufe zu einer solchen überhaupt zu
denken. Die von dem Aufsatz „Ueber die Lebenskraft" ange-
zogene Wahrscheinlichkeitsrechnung kehrt sich mithin, weit ent-
fernt, die Theorie metaphysischer Eingriffe zu unterstützen, ganz
und gar gegen dieselben, und war das Verkennen dieser Sach-
lage nur dadurch möglich, weil die zahllose Menge der mög-
lichen Combinationen organischer Materie im Laufe der Zeit un-
beachtet gelassen' war, von welchen nur einige wenige auf die
lebensfähigen, noch wendiger auf die reproduktionsfähigen, und
ganz wenige, vielleicht nur eine, auf die entwickelungsfähigen
Formen kommen. Nicht nur, dass der Aufsatz: „Ueber die Lebens-
kraft" die lebensunfähigen und fortpflanzungsunfähigen Combina-
tionsresultate vollständig ignorirt, soconfundirter ausserdem noch die
beiden letzten Classen, die reproduktionsfähigen und entwickelungs-
fähigen miteinander, w^ährend doch auf der untersten Stufe des-
Protistenreichs gewiss ganz ebenso und noch viel mehr als auf
allen Stufen des Thier- und Pflanzenreichs auf eine entwicke-
lungsfähige Art eine grosse Zahl entwickelungsunfähiger Arten
kommen mussten, da jede Höherbildung über das Niveau einer
breitverzweigten Stufe hinaus immer nur an einem oder höchstens
zwei Punkten derselben ihren Ursprung nimmt, welche besonders'
zur Abänderung in höhere Formen hinneigen.
Wir gehen nach Erledigung dieses Punktes zu dem schoix
erwähnten zweiten Einleitungskapitel der Phil. d. Unb. über.
Dieses Capitel ist mehrfach in dem Sinne missverstanden
worden, als sollte es allein und für sich die Existenz von Natur-
zwecken beweisen, während doch deutlich genug ausgesprochen
ist, dass es sich hier nicht um materiale Erkenntniss, sondern
„nur um die Feststellung der formalen Seite des zwecker-
25
kennenden Denkprocesses handelt" (S. 41), um Aufklärung der
Principien, ,,nacli welchen sich der logische Process über diesen
Gegenstand mehr oder minder unbewusst in jedem vollzieht, der
hierüber richtig nachdenkt'' (8. 48). Nur die Anwendbarkeit
dieses logischen Schemas auf „Beispiele in Masse" soll den Gegner
von der Wahrheit der Teleologie überzeugen können, nicht etwa
die wenigen in diesem Capitel „nur zur Erläuterung und Veran-
schaulichung der abstracten Darlegung" beigefügten Beispiele.
Wir können daher ruhig zugeben, dass die Art und Weise, in
welcher sich mehr oder minder unbewusst in jedem Anhänger
der Teleologie die Ueberzeugung von der Existenz wirkender
Katurzwecke herausbildet, hier richtig belauscht und wieder-
gegeben sei, und werden damit doch noch nicht im Geringsten
eine objektive Gültigkeit der so entstandenen Ueberzeugung ein-
geräumt haben. Ob dieser Process zu positiv begründeten Re-
sultaten führt oder nicht, hängt ganz davon ab, ob die abstracten
Voraussetzungen, welche zum Eechnungsansatz der Wahrschein-
lichkeitsrechnung benutzt werden, in dem jedesmal gegebenen
concreten Falle zutreffen. Nun ist aber das Hauptmittel zur
Erlangung einer grösseren Wahrscheinlichkeit die Voraussetzung,
dass zur Erziclung einer gewissen zweckmässigen Wirkung
(z. B. des menschlichen Sehens) eine grössere Anzahl von einander
unabhängiger Bedingungen (S. 41) zusammenwirken müssen , von
denen keine fehlen darf (z. B. hier die vielen Einrichtungen des
menschlichen Auges — S. 43). Die Unabhängigkeit der Be-
dingungen von einander ist unbedingtes Erforderniss, ohne welches
die Rechnung falsch wird (S. 41 Anm.). Gerade hier springt es
recht deutlich in die Augen, dass dieses Capitel vor dem Be-
kanntwerden mit der vollen Bedeutung der Descendeuztheorie
geschrieben sein muss; denn die Descendeuztheorie zeigt eben,
dass die verschiedenen demselben Zwecke dienenden Einrich-
tungen desselben Organs oder desselben Organismus immer Hand
in Hand mit einander sich entwickeln, aus gemeinsamen In-
diiferenzpunkten heraus sich differenziren und in ihrer allmäh-
lichen Vervollkommnung durch die gleichen Ursachen bestimmt
worden, also nichts weniger als unabhängig von einander genannt
werden können. — Bleiben wir, um auch unsererseits eine Er-
2Q
läuterung zu geben, bei dem Beispiel des nienschlicben Auges,
so dürfen wir dasselbe nicbt als etwas fertiges anseben, und seine
wirkenden Ursacben mit der Betraebtung der embryologiseben
Entwickelungsmomente als abgeseblossen betracbten, wie jenes
Capitel es tbut, sondern wir müssen die Lebre der Descendenz-
tbeorie beranzieben, dass die wirkenden Ursacben für die Be-
scbaifeubeit des Menscbenauges in der ganzen Entwickelungs-
reibe seiner directen Yorfabren, bis zur Urzelle und protoplas-
matiseber Monere binab, zu sueben seien. Man muss sieb bierbei
stets vergegenwärtigen, dass in der Entwickelung des organiseben
Lebens jede Function trüber da ist, als das ibr specifiscb
dienende Organ entwickelt wird, eine Tbatsacbe, w^elcbe wesentlicb
dazu beiträgt, viele Kätbsel aul mecbaniscbem Wege zu lösen,
welcbe obne dieselbe nur auf teleologiscbem Wege lösbar scbeinen.
Das Protoplasma selbst ist gleicbsam jenes Urwunder, w^elcbes alle
Functionen der Sinneswabrnebmuug, Bewegungsläbigkeit , Tbei-
lungs- oder Fortpflanzungsvermögen, Assimilationskraft u. s. w.
in sieb vereinigt ; denn die Versucbe an den einfacbsten Moneren
(Protoplasmaklümpcben obne naebweislicbe Zellmembran) zeigen,
dass es für alle Arten von Reizen (Electricität , Liebt, Wärme,
Lufterscbütterung, Berübrung u. s. w.) empfindlicb ist, und auf
dieselben mit Contraction, Formveränderuug (welcbe Locomotion
oder Tbeilung im Gefolge baben kann), cbemiscber Action
(Verdauung) und Wacbstbum reagirt, wäbrend das Wacbstbum
über eine gewisse Grösse binaus nacb pbysikaliscben Gesetzen das
Zerfallen des Protoplasmatropfens in zwei kleinere (wie bei
einem mebr und mebr vergrösserten Quecksilbertropfen) nacb sieb
ziebt. Das Protoplasma ist mitbin der Ur-Indiff erenz punkt
aller organiseben Lebenstbätigkeit, von welcbem aus sieb die ver-
scbiedenen Organe und Systeme erst a 1 1 m ä b 1 i c b d i f f e r e n -
ziren, indem gewisse T belle des Protoplasma eine für je eine
oder mebrere bestimmte Alten von Functionen vorzugsweise
geeignete Bescbaffenbeit annebmen. Die so im Organismus
eingetretene Arbeitstbeilung wird nun durcb Vererbung
auf die Nacbkommen übertragen und im Laufe der zabllosen
Gescblecbterfolgen verscbiedenster Specien und Ordnungen immer
mebr vervollkommnet, d. b. immer stärker diiferenzirt. So z. B.
27
bestellt die erste DifFerenziruDg behufs grösserer Liehtempfindlich-
keit in Aggregaten von Pigmentzellen, welche, ohne einen Seh-
nerven zu besitzen, auf einer Sarcodemasse aufliegen, und nach
Jourdain als Sehorgane dienen. Der nächste Fortschritt ist, dass
eine Art Sehnerv sich bildet, dessen Ende von einer durchschei-
nenden Haut geschützt und von den Pigmentzellen umlagert wird.
Von dieser Art ist selbst noch das Auge des Amphioxus, des
Urvaters des Wirbelthierreichs , der als solcher auch zu den
directen Vorfahren des Menschen gehört; das Organ liegt hier
in einer faltenartigen mit Pigmentzellen ausgekleideten Hautein-
stülpung, in welcher der Nerv von durchscheinender Haut, ohne
irgend welchen anderen Apparat bedeckt ist. Wenn sich diese
Vertiefung (wie schon bei manchen Seesternen) mit gallertartiger,
durchsichtiger, aussen gewölbter Masse ausfüllt, so wird dadurch
zunächst eine Concentration, also eine Verstärkung der Intensität
der Lichtwirkung erzielt; man sieht ferner, dass durch Her-
stellung eines entsprechenden Zwischenraums zwischen Nerven-
ende und linsenförmiger Gallertmasse das P^ntwerfen eines Bildes
auf dem ersteren durch die letztere ermöglicht wird. (Auch beim
Menschen entwickelt sich die Linse ursprünglich nur aus einer
Anhäufung von Epidermiszellen in einer sackförmigen Hautfalte,
während der Glaskörper sich aus dem embryonalen subcutanen
Gewebe bildet). In den beiden Classen der Fische und Rep-
tilien ist nun, wie Owen bemerkt, die Reihe von Abstufungen
der dioptrischen Bildungen sehr gross, und auf einem Wege, den
zu verfolgen hier zu weit führen würde, gelangt das Auge erst
ganz allmählich zu demjenigen Grade der VervoUkommung, welchen
wir am menschlichen Organismus bewundern. Wie weit entfernt
aber auch diese von einer makellosen Vollkommenheit ist, wie
sehr sie den Charakter zufälliger Anpassung und bedenklicher
€ompromisse an sich trägt, und wie viel die unbewussten Schlüsse
des Verstandes bei der Entwickelung der Wahrnehmung aus dem
gegebenen Empfindungsmaterial vertuschen, corrigiren, ersetzen
und hinzu erfinden müssen, um uns den Schein eines voll-
kommenen Organs vorzugaukeln, hat u. A. Helmholtz in der
ersten Abhandlung des H. Bandes seiner „Populären wissenschaft-
lichen Vorträge" auseinandersetzt.
28
Die Nichtberiicksiclitigung aller dieser allein in das Ver-
ständniss der Sache einfahrenden Umstände lässt die Anwen-
dung des logischen Schemas auf das vorliegende Beispiel ^Is un-
statthaft erscheinen. Dieses Beispiel ist aber ebenso typisch für
die in den Organismen angestaunte Zweckmässigkeit, wie jenes
logische Schema typisch ist tür die psychologische Entstehung:
des Glaubens an die Zweckmässigkeit als in der Natur wirk-
sames Princip, wie solche in den Köpfen derer vor sich geht, die
ohne Kenntniss der Descendenztheorie über solche Probleme nach-
denken. Es behält demnach dieses Capitel nur insofern einen
W erth, als es uns dasVerständniss eines systematischen
Irrt h ums und seiner bis zum siegreichen Durchbruch der Des-
cendenztheorie dauernden Geltung erschliesst. Dagegen wird e&
kaum möglich sein, Beispiele aus dem Bereich der organischen
Xatur zu finden, welche nicht durch die Anwendung der Descen-
denztheorie auf ihre Erklärung in ein solches Licht gerückt
wurden, dass die Anwendung jenes logischen Schemas auf die-
selben als ausgeschlossen erscheint. Denn die Descendenztheorie
lehrt uns, dass eine Unabhängigkeit der bei einer orga-
nischen Erscheinung cooperirenden Bedingungen nicht existirt,
dass vielmehr ihr mehr und mehr Auseinandertreten aus gemein-
samem Indifferenzpunkt heraus Wirkung derselben Ursachen
war, und die Theorie der natürlichen Zuchtwahl lehrt uns eine
von diesen Ursachen, und wohl unzweifelhaft die wichtigste als
eine solche kennen, welche durch rein mechanische Compen-
sationsphänomene zweckmässige Resultate hervorbringt. Die Des-
cendenztheorie stellt das teleologische Princip nur in Frage^
indem es ihm den Boden für einen positiven Beweis entzieht ;
die Lehre von der natürlichen Zuchtwahl aber beseitigt das-
selbe ganz direkt, so weit als sie selbst mit ihrer Erklärung
reicht. Denn die natürliche Auslese im Kampf ums Dasein, das
Zugrundegehen des minder Zweckmässigen und das Ueberleben
und Sichweitervererben des Passendsten und Zweckmässigsten ist
ein Vorgang von mechanischer Causalität, in dessen gleich-
massige Gesetzlichkeit nirgends ein teleologisch
bestimmendes metaphysisches Princip eingreift, und
doch geht aus ihm ein Resultat hervor, das wesentlich der Zweck-
29
inässigkeit entspricht, d. li. diejenige Besebaffeubeit besitzt,
welche den Organismen unter den gegebenen Umständen die
höchste Lebensfähigkeit verleilit. Die natürliche Zuchtwahl löst
das scheinbar unlösliche Problem, die Zweckmässigkeit als
Hesultat zu erklären, ohne sie dabei als Princip zu Hülfe
zu nehmen.
Man konnte bisher zu der Zweckmässigkeit der organischen
Einrichtungen in der Katur eine zweifache Stellung nehmen : ent-
weder man erkannte die empirisch gegebene Thatsache dieser
Zweckmässigkeit an, oder man leugnete sie der Erfahrung zu-
wider. Merkwürdigerweise hat die Philosophie meistenstheils
dieser empiiischen Thatsache Rechnung getragen, während gerade
der naturw^issenschaftiiche Materialismus, der sich verpflichtet
erklärte, einer speculativen Philosophie gegenüber die Fahne
der Empirie hochzuhalten, sich durch Ableugnung aller
Naturzweckmässigkeit bis auf die allerneueste Zeit mit der
Erfahrung in Widerspruch setzte. Er beging aber diesen Ver-
stoss gegen sein methodologisches Princip deshalb, weil er
fühlte, dass er sich nach Anerkennung der Naturzweckmässig-
keit (vor dem Bekanntwerden der Darwin'schen Begrün-
dung der Descendenztheorie) consequenter Weise nicht der An-
erkennung eines teleologischen Princips neben dem der mecha-
nischen Causalität entziehen konnte; ehe er aber auf diese Weise
sein materiales Princip preisgab, beging er lieber jenen
Widerspruch gegen sein formales Princip, und ging mit krampf-
haft geschlossenen Augen gegen die überall sich aufdrängende
Thatsache der Zweckmässigkeit durch die Welt. Dieser natur-
wissenschaftliche Materialismus, der zum letzten Mal als Reaction
gegen den Hegelianismus in den 40ger und 50ger Jahren eine
gewisse Blüthe erlebte, erlitt einen totalen Umschwung durch die
Darwin'sche Modificaction der Descendenztheorie, welche ihm
plötzhch die Augen darüber aufschloss, dass gerade die Aner-
kennung und Verfolgung dieser Zweckmässigkeit eines der
wichtigsten Förde rungs mittel für seine Aufgabe des
Verständnisses der causalen Naturzusammenhänge werde. Vor
Darwin hatte derjenige, welcher die Naturzweckmässigkeit aner-
kannte, nur die Wahl, entweder ein teleologisches metaphysisches
30
Princip als in der Natur wirksam zu supponiren, oder sich dem
ftir den Naturforscher völlig unbrauchbaren und auch philosophisch
längst überwundenen subjektiven Idealismus (Kant, Fichte, Schopen-
hauer) in die Arme zu werfen, welcher alle Erfahrung, also auch
die empirisch wahrgenommene Naturzweckmässigkeit , in vom
Subjekt producirte Erscheinungen ohne eine über das Gebiet des
Subjektiven hinübergreifende Eealität verwandelt. Jetzt zum
ersten Mal war die Möglichkeit gegeben, die Zweckmässigkeit
der Natur anzuerkennen, aber sie nur als ein durch genau
aufzeigbare mechanische Compensationspr ocesse ent-
standenes Resultat anzuerkennen.
Aus diesem Gesichtspunkt betrachtet, erhält die Leistung Dar-
win's zugleich die Bedeutung einer eminenten philosophi-
schen That, deren Tragweite für die Umwandlung der philo-
sophischen Systeme sich jedenfalls in eine im Einzelnen bis jetzt
unabsehbare Perspektive ausdehnt. — Ein sehr gutes Beispiel zu
den Compensations Wirkungen oder Anpassungs- und Ausgleichs-
phänomenen, welche dem des Entstehungsprocesses Unkundigen
als zweckmässig erscheinen müssen, giebt Wallace (Beiträge S.
315 ff) in der Besprechung eines Stromsystems, welches dazu
dient, das durch Verdunstung vom Meere aufgestiegene und als
Regen auf das Festland niedergefallene Wasser wieder zum Meere
zurückzuführen, und so den Kreislauf des Wassers zu schliessen;
ein solches Flussbett in seinen Verzweigungen sieht ganz aus,
als ob es für den Fluss gemacht wäre, während es doch durch
denselben gemacht ist. „Setzen wir voraus, dass Jemand, der
von moderner Geologie absolut Nichts weiss, sorgfältig ein grosses
Flusssystem studirt. Er findet in seinem niedriger gelegenen
Theile einen tiefen breiten Kanal, der bis an den Rand gelullt
ist, dessen Wasser langsam durch eine flache Gegend dahinfliesst
und eine Menge von Sedimenten in die See trägt. Höher hinauf
verästelt er sich in eine Anzahl kleiner Kanäle, welche abwech-
selnd durch flache Thäler und hohe Uferbänke fliessen; manch-
mal findet er ein tiefes Felsenbett mit senkrechten Mauern, welche
das Wasser durch eine Hügelkette leiten; wo der Strom eng ist,
findet er ihn tief, wo er weit ist, seicht. Weiter hinauf kommt
31
er in eine Berggegend mit hunderten von kleinen Strömen und
Flüssclieu, ein jeder mit seinen Seitenbächen und Rinnen, ^^^Iche
das Wasser aus jeder Quadratmeile Oberfläche sammeln, und ein
jeder Kanal der Menge des Wassers, welches er zu leiten hat,
angepasst Er findet, dass das Bett ^ines jeden Zweiges und
Stromes und Baches steiler und steiler wird, je mehr er sich den
Quellen nähert, und auf diese Weise in den Stand gesetzt ist,
das Wasser nach heftigem Regen fortzuschaffen, und die Steine,
die Kiesel und den Sand zu entfernen, welche sonst seinen Lauf
hemmen würden. In jedem Theile dieses Systemes würde er
genaue Anpassung von Mitteln an einen Zweck finden. Er würde
sagen, dass dieses Kanalsystem planmässig angelegt worden sein
müsse, da es seinem Zwecke so wirksam entspricht. Nur ein
Geist konnte so genau die Abschüssigkeit der Kanäle, ihre Capa-
cität und die Schnelligkeit ihres Laufes der Natur des Bodens
und der Menge des Regenfalles angepasst haben. Dann weiter
würde er specielle Anpassung an die Bedürfnisse des Menschen
sehen, wenn breite ruhige schiffbare Flüsse durch fruchtbare
Ebenen fliessen, welche eine grosse Bevölkerung enthalten, wäh-
rend die Felsenströme und Bergwasser auf jene unfruchtbaren
Gegenden begrenzt sind, welche nur für eine kleine Bevölke-
rungsmenge von Schäfern und Hirten passen. Er würde mit Un-
gläubigkeit auf den Geologen hören, welcher ihn versicherte, dass
Anpassung und Ausgleichung, welche er so bewunderte, ein un-
vermeidhches Resultat der Thätigkeit allgemeiner Gesetze wären.
Dass Regen und Flüsse durch unterirdische Kräfte unterstützt,
das Land mcdellirt, die Hügel und Thäler gebildet, die Fluss-
betten ausgehöhlt und die Ebenen nivellirt hätten; — und nur
nach vieler geduldiger Beobachtung und eingehendem Studium,
nachdem er die unbedeutenden Veränderungen überwacht haben
würde, welche Jahr für Jahr entstehen, und nachdem er sie mit
tausend und zehntausend multiplicirt, nachdem er die verschie-
denen Gegenden der Erde besucht und die Veränderungen, welche
überall Platz greifen, und die unverkennbaren Zeichen grösserer
Veränderungen in vergangenen Zeiten beobachtet hatte — würde
er es verstehen, dass die Oberfläche der Erde, wie schön und
32
harnionisch sie auch aussieht, in jeder Einzelheit von der Thätig-
keit von Kräften abhängt, welche sich erwiesener Maassen selbst
ausgleichen."
,^Uud mehr noch, wenn er seine Untersuchungen genügend
ausgedehnt hätte, so würde er finden, dass jeder üble Etfect,
w^elchen er für das Resultat der Nichtausgleichung würde halten
müssen, hier oder da vorkommt, nur dass er nicht immer übel
ist. Wenn er auf ein fruchtbares Thal sieht, so würde er viel-
leicht sagen: „„Wenn der Kanal dieses Flusses nicht wohl ad-
justirt wäre, wenn er einige wenige Meilen einen verkehrten Weg
ginge, so würde das Wasser nicht ablaufen können und all diese
üppigen Thäler, die voll von menschlichen Wesen sind, würde
das Wasser verwüsten."" Wohl, es giebt Hunderte solcher Fälle.
Jeder See ist ein Thal, „vom Wasser verwüstet", und in einigen
Fällen (wie beim todten Meer) ist es ein positives Uebel, ein Fleck
in der Harmonie und Anpassung der Oberfläche der Erde. Und
wieder könnte er sagen: „„Wenn hier kein Kegen fällt und die
Wolken über uns fort in eine andere Gegend ziehen, so würde
dieses grüne und hoch cultivirte Land eine Wüste werden" ".
Und es giebt solche Wüsten, über einen grossen Theil der Erde
hin, welche fruchtbarer Regen in schöne Wohnplätze für den
Menschen verwandeln würde. Oder er könnte einen grossen
schiffbaren Fluss beobachten, und reflectiren, wie leicht Felsen
oder ein steileres Bett an seiner Stelle ihn für den Menschen
nutzlos machen würde ; — und ein wenig Forschung würde ihm
zeigen, dass Hundorte von Flüssen in jedem Theile der Erde
existiren, welche auf diese Weise für die Schiffahrt nutzlos ge-
worden sind."
„Genau dasselbe findet in der organischen Natur statt, wir
sehen einen wHinderbaren Fall von Ausgleichung, eine ungewöhn-
liche Entwickelung eines Organes, aber wir übergehen jene
Hunderte von Fällen, in denen diese Ausgleichung und
Entwickelung nicht vor sich ging. Ohne Zw^eifel greift,
wenn eine Ausgleichung nicht statt hat, eine andere Platz,
weil kein Organismus zu existiren fortfahren kann, der nicht seiner
Umgebung angepasst ist; und stetige Abänderungen mit unbe-
3B
greuzter Kraft der Vervielfältigung geben in den meisten Fällen
die Mittel zur Selbstausgleichung."
Wenn man erst auf diese Compensationsphänomene achtet, so
kann man sie allerwärts beobachten, und sie sind sogar in ein-
facheren Fällen der mathematischen Behandlung nicht unzugäng-
lich. Denken wir uns z. B. auf einem gemeinsamen, die Erschüt-
terungen fortpflanzenden Fundament eine grosse Anzahl Uhren
von ganz verschiedener Pendellänge im Gange, so wird jede der
Uhren jede andere in ihrem Pendelgange beeinflussen, theils in
beschleunigendem, theils in verlangsamendem Sinne, je nachdem
die Herstellung möglichster Coincidenz des Ganges auf die eine
oder auf die andere Weise leichter erreichbar ist. Durch diese
Einflüsse werden zunächst die zufälligen 'Verschiedenheiten in der
zeitlichen Lage der Anfangspunkte der Undulationen beseitigt und
in der Weise conform gemacht, dass von Zeit zu Zeit eine Periode
wiederkehren muss, wo alle Pendel gleichzeitig einen Ausschlag
macheu. Zweitens aber bewirken diese Einflüsse dauernde
Anpassungen in der Undulationsgeschwindigkeit der verschiedenen
Pendel in dem Sinne, dass die genannte Periode möglichst ver-
kürzt wird, also der gemeinsame Ausschlag aller und eine da-
zwischenfallende möglichst häufige Coincidenz möglichst vieler
Pendel möglichst oft wiederkehrt. So entsteht das Compensations-
phänomen einer rhythmisch gegliederten Periode, deren eigen-
thümliche Architektonik sich auch empirisch dem Ohr vernehmlich
macht, so dass man fast an eine verborgene Absicht in der Re-
gulirung glauben könnte, wenn nicht die mathematische Behand-
lung dieses mechanischen Problems die strenge Nothwendigkeit
des Resultates ausser Frage stellte. Etwas ähnliches wie bei den
Uhren in diesem Beispiel findet in der kosmischen Mechanik in
der gegenseitigen Beeinflussung der um die Sonne laufenden
Planeten statt, welche in Folge der elliptischen Beschaffenheit
ihrer Bahnen ebenfalls wirkliche Oscillationen beschreiben; nur
ist das Resultat hier ein umgekehrtes, d. h. es wird jede Bildung
einer Coincidenzperiode auf die Dauer unmöglich, weil, wenn solche
stattfände , die Störungen bei jeder Wiederkehr beträchtlicher
würden und die Selbstständigkeit der betreffenden Planeten ver-
nichten würden. Bedenkt man nun, dass das Planetensystem durch
34
allmähliche Zusammenziehung der Sonne unter Ablösung von
Eingnebeln entstanden ist, so erhellt sofort, dass bei diesem über-
aus langen Process nur solche Planeten als selbstständige
Residua resultiren konnten, welche vor einer solche»
Aufhebung ihrer Selbstständigkeit durch wiederkehrende Periodi-
cität der Störungen sicher sind, d. h. deren Bahnen in irrationalem
Verhältniss zu einander stehen. Betrachtet man diese Thatsache
und die Garantie des Bestehens, welche sie dem Planetensystem
gewährt, losgelöst von dem Entstehungsprocess desselben, aus
welchem sie als Compensationsphänomen resultirte, so kann man
kaum mnhin, eine unergründliche Weisheit in dieser Anordnung zu
bewundern.
Ist es schon in der unorganischen Natur oft schwierig genug,
die Compeusationswirkungen im Naturhaushalt und das universale
Anpassungsgleichgewicht, welches derselbe repräsentirt , zu ver-
stehen, so ist es kein Wunder, dass wir mit unserm Verständnis»
der analogen Erscheinungen auf dem unendlich viel complicirteren
Gebiete der organischen Natur noch bei den ersten schüchternen
Versuchen des Eindringens stehen. So weit aber sind wir durch
Darwin in der That schon geführt worden, dass die Richtung,
in welcher einzig und allein weitere Aufschlüsse zu erwarten sind^
keinem naturwissenschaftlich veranlagten Kopfe mehr zweifelhaft
ijein kann.
KL
Die Entwickelung vom Staiiclpimkte der
Desceiidenztheorie.
Schopenhauer sucht einmal zu beweisen, dass diese Welt die
schlechteste von allen möglichen (d. h. existenzfähigen) sei („Welt
als Wille und Vorst.'^ 3. Aufl. Bd. II. S. 667). Er sagt daselbst;-
„Nun ist diese Welt so eingerichtet, wie sie sein musste, um mit
genauer Koth bestehen zu können: wäre sie noch ein klein wenig
schlechter, so könnte sie schon nicht mehr bestehen. Folglich ist
eine schlechtere, da sie nicht bestehen kimnte, gar nicht möglich^
sie selbst also unter den möglichen die schlechteste." Die Ph,
d. U. nennt dies (S. 638) „ein offenbares Sophisma," und wir
können ihr nur darin beistimmen. Das „Bestehen" nämlich ist
hier zunächst doppelsinnig genommen; denn wenn „diese Welt''
nicht mehr bestehen kann, so hört sie darum nicht anf als Welt
zu bestehen, sondern nur als diese zu bestehen, d. h. sie wird
insoweit eine andre, dass ein neues Anpassungsgleichgewicht
eintritt, welches in seiner Art weder schlechter noch besser, sondern'
ebenso gut ist als das frühere. Dass es nun aber in der Natur
dieser Welt liegt, in jedem Moment eine andere zu werden, und
dass der Begriff „dieser Welt" die gesammte Reihenfolge der in
ilir naturgemäss zur Entfaltung kommenden Zustände und Ver-
änderungen in sich befasst, ist dabei übersehen, sonst könnten
nicht auf 8. 668 die untergegangenen Faunen und Floren früherer
geologischer Perioden als Welten bezeichnet werden, „die noch*
etwas schlechter waren, als die schlechteste unter den möglichen/^
o
6
"W^'eiin wirklich frühere Welten schlechter waren, als die jetzige^
so kann diese letztere nicht die schlechteste aller möglichen sein;
andrerseits da auch die gegenwärtige nicht so bleiben kann, wie
sie ist, sondern ebenso dem Untergang verfallen ist wie die paläo-
zoischen Faunen, musste auch sie schlechter sein als die schlech-
teste aller möglichen, so dass das Argument jedenfalls zu viel
beweisen würde. Wenn die dem jetzigen Weltzustande eventuell
bevorstehende Veränderung zum Schlechteren führte, so wäre da-
mit eben der Gegenbeweis gegen die Thesis geführt; wenn sie
zu einem Zustand führen würde, der in seiner Art gleich gut ist,
so wäre Veränderung oder das Stationärbleiben indifferent für
die Beurtheilung des Werthes der gegenwärtigen Welt; wäre
endlich die Veränderung ein Uebergang zum Besseren, so müsste
ihr Werth als Durchgangsstufe mit in Rechnung gestellt werden.
Auf alle Fälle ist Schopenhauer's Argumentationsweise sophistisch
und haltlos. Aber wohlgemerkt gilt dies von ihr nur in Bezug
auf die Welt als Ganzes, nicht aber von ihrer Anwendung auf
das Einzelne namentlich in Verbindung mit dem schon von Schopen-
hauer daselbst angedeuteten allgemeinen Kampf um's Dasein und
dem unglaublich grossen Ueberschuss der Keime (S. 668). So
verstanden und zugleich auf die Existenzfrage in einem ganz be-
stimmten Zeitpunkt und unter ganz bestimmten Verhältnissen
bezogen, ist es allerdings richtig, dass das Anpassungsgleichge-
wicht für jede Species eben nicht mehr als das Minimum
der Existenzfähigkeit bedeutet, dessen es bedarf, um nicht
zu verkümmern und auszusterben; aber es ist diese Bemerkung
trotzdem auch so noch einseitig und dadurch irreleitend,
denn es ist die Kehrseite der Medaille vergessen, dass jedes An-
passungsgleichgewicht etwas in seiner Art Vollkommenes
ist, welches jeder Species alles zuweist, dessen sie zum Leben
in den ihr gegebenen Verhältnissen bedarf, — dass ein Mehr in
dieser Richtung das Bestehen dieser augenblicklich vorhandenen
Welt ganz ebenso stören würde wie ein Weniger, da jedes
Plus irgend einer Species an Lebensfähigkeit ein Ue her greifen
derselben über ihr bisheriges Gebiet und die Zurückdrängung
oder Vernichtung anderer Arten von Lebewesen und damit zu-
gleich eine Umwandlung des bestehenden Weltzustandes in
37
einen andern znr Folge haben würde. Weil jede im Anpassiings-
gleicbgewicht befindliche Art für ihre gegebenen Lebensbedicgungen
yollkomraen ausgerüstet ist, darum würde ihr jedes Plus werthlos
und nutzlos sein für diese Lebensverhältnisse, und würde sie
sofort zum Uebergreifen über ihre Sphäre anspornen und zum
Hinaustragen der Coneurrenz um's Dasein in andere Lebensver-
hältnisse zwingen, die ihr bisher verschlossen waren und längst
von anderen Arten occupirt sind; deshalb können wir aber auch
mit demselben Kecht, wie wir oben die Gaben und Einrichtungen
einer Species als das Miniraum ihrer Existenzfähigkeit bezeichne-
ten, sie nun auch als das Maximum bezeichnen, beiUeberschreitung
dessen die Art nothgedrungen die ihr in diesem Weltzustande
oder in dem vorliegenden Anpassungsgleichgewicht des Gesammt-
naturhaushalts gezogenen Grenzen der Lebensverhältnisse über-
schreitet und diese Welt zu einer anderen macht.
In Wirklichkeit nun ändert sich, wie schon bemerkt, der
Weltzustand beständig, und keine solche Aenderung ist denkbar,
bei welcher nicht, was auf der einen Seite eine oder mehrere Species
gewinnen, auf der andern Seite eine oder mehrere Species ein-
büssen. Dieser Satz gilt für die organische Xatur auf Erden
wenigstens für die unseren Blicken überschaubare Zeit eines unge-
lähren Sicbgleichbleibens der Bewohnbarkeit der Erde; er dürfte
wohl, obgleich sich dies vorläufig nicht inductiv erweisen lässt,
auch für die Welt als für ein Ganzes gelten, in welchem die ge-
sammte unorganische Natur und die Organisationen sämmtlicher
hierzu geeigneter Weltkörper in Eins gefasst sind. Allerdings
gilt dieser Satz nicht genau, sobald wir die Geschichte der
Erde von dem ersten Moment an, wo Organisation möglich wurde,
bis zu dem Augenblick, wo keine mehr m()glich sein wird, im
Zusammenhange betrachten. Denken wir uns die Zeit dieses
Abkühhmgsprocesses von dem Unbewohnbarkeitspunkt vor Hitze
bis zum Unbewohnbarkeitspunkt vor starrer Kälte behufs graphi-
scher Versinnbildlichung aui die Abscissenaxe aufgetragen, auf
dieser alsdann in gleichen Zeitabständen Ordiuaten errichtet,
deren Höhe nach der Günstigkeit des betreffenden Zeitpunktes
für das Bewohntwerden durch organische Wesen bemessen ist,
und die oberen Endpunkte aller Ordinaten durch eine Curve vcr-
38
bunden, so repräsentirt diese Curve den quantitativen Verlauf der
Bewohnbarkeit der Erde während der Dauer derselben ; sie muss
einen aufsteigenden und einen absteigenden Ast zeigen, die durch
ein ziemlich breites Stück in der Nähe des Maximums verbunden
sind. Diese Curve repräsentirt natürlich nur die Aeuderung des
durchschnittlichen Be wohnbarkeitsmaases der Erdoberfläche,
während die Bewohnbarkeit ihrer verschiedenen Stellen jeder-
zeit sehr verschieden ist, und theils aus kosmischen, theils aus
tellurischen Ursachen an jedem Punkte fortwährend sehr bedeu-
tenden Schwankungen unterworfen ist. In jeder dieser Schwan-
kungen erfüllt sich das Gesetz, dass, was eine Art verliert, die
imdre gewinnt, aber nur mit der näheren Bestimmung, dass ein
Wachsen oder Abnehmen der durchschnittlichen Bewohnbarkeit
der Erde zugleich auch dem Gedeihen und der Organisation im
Ganzen oder im Durchschnitt zu Gute kommt, beziehungsweise
zum Nachtheil gereicht. Verzeichnen wir in der graphischen Dar-
stellung eine zweite Curve, welche die Veränderung der durch-
schnittlichen Höhe der Organisation auf Erden repräsentirt, so
muss diese Curve der ersteren ähnlich sein, der Zeit nach aber
etwas später liegen, da eine Veränderung der Verhältnisse der Er-
doberfläche eine gewisse Zeit braucht, um ihren Einfluss in Her-
stellung eines neuen Anpassungsglcichgewichts auszuwirken;
namentlich wird die Verschiebung der zweiten Curve gegen die
erste i n d e r Nähe des Maximums ziemlich beträchtlich
sein, weil dort die grösste Widerstandskraft der einmal entstan-
denen Organisation gegen Veränderungen der Umgebung vorliegt.
Die Veränderungen, welche jede locale Schwankung in der
Organisation der betreffenden Localität erzeugt, produciren die
verschiedenartigsten Formen neuer Anpassungsversuche, und im
aufsteigenden Ast der Curve werden solche neue Formen bei dem
allgemeinen Günstigerwerden der Bewohnbarkeitsverhältnisse
meist Gelegenheit finden, sich geographisch über ihren Entstehungs-
bezirk hinaus auszubreiten, und wie viele von ihnen auch unter-
liegen und bald wieder zu Grunde gehen, gerade die kräftigsten
und lebensiähigsten der neuen Formen werden ganze Erdtheilc
für sich erobern. Dies ist die Entstehungsgeschichte aller gegen-
wärtig weitverbreiteten Arten, die stets auf einen engen Bezirk
39
als auf ihr Ausbreitungscentruin und ihre Entstehungsbeimath
hinweisen. Die immer erneute Wiederholung dieses localen Höher-
bildungsprocesses mit nachfolgender geographischer Ausbreitung
und siegreicher Verdrängung anderwärts bereits angesiedelter min-
der concurrenzfähiger Arten ist es, wodurch die allmähliche Ge-
sammthöherbildung der Organisation sich vollzogen hat und noch
beständig vollzieht, namentlich in dem Höherbildungsprocess der
^Menschheit in sich durch immer von Neuem wiederholte Ausrot-
tung der niederen Racen durch die von ihrem localen Entstehungs-
bezirk sich ausbreitenden höheren Racen und Stämme, — ein
Process, den die Ph. d. U. ganz richtig (ohne teleologische Ein-
griffe) zeichnet (S. 341 — 343 und 569). Wenn die periodische
Aenderung der Verhältnisse an einer bestimmten Stelle mit häu-
tiger Wiederkehr schon früher stattgehabter Zustände im Allge-
meinen einen Kreislauf von Formen erzeugen muss (z. B. perio-
dische Wiederkehr von Eiszeiten), so wird doch dieser Kreislauf
niemals ein vollständig und genau in sich zurückkehrender sein,
sondern einer Spirale gleichen, welche eine aufsteigende
Richtung zeigt, so lange die Gesammtverhältnisse der Erde noch
im Güustigerwerden begriffen sind, im umgekehrten Fall aber
absteigende Richtung besitzen muss. Dass das Maxiraum gün-
stiger Bedingungen iür die Bewohnbarkeit der Erde schon jetzt
erreicht sei, ist nicht wahrscheinlich; wenn wir bedenken, dass
von den Menscheuracen die höchsten Ciilturracen stets aus ge-
mässigten Klimaten hervorgegangen sind, und dass der Grund-
stock des irdischen Festlandes noch ein melir tropisches Klima
besitzt, so dürfen wir von einer weiteren Abkühlung der Erde
erwarten, dass noch grössere Landstriche als bisher einladend
für die menschlichen Culturracen werden dürften. Jedenfalls,
mag nun die Be wohnbar keits kurve ihr Maximum schon er-
reicht haben oder nicht, liegt doch das Maximum der Organi-
s a t i 0 n s kurve noch vor uns in der Zukunft. Wir befinden
uns mit anderen Worten noch im aufsteigenden Ast der die Or-
ganisationshöhe bezeichnenden Curve; nicht nur zeigt uns ein
Blick nach rückwärts ein beständiges Höherbilden von der Ur-
zelle bis zur jetzigen Organisation, sondern auch der Blick nach
vorwärts eröffnet uns noch eine weite Perspektive auf die Höher-
40
bildung derjenigen Species, welche den Gipfel der irdischen Or-
ganisation repräsentirt und ihre allen anderen Formen überlegene
Lebensfähigkeit und Coucurrenzkraft dadurch bewiesen hat, dass
sie entscheidender als irgend eine andere in das frühere Anpas-
sungsgleichgewicht eingegriffen, ja man kann sagen, in demselben
eine förmliche Revolution hervorgerufen hat (durch Ausrodung
der Wälder und Cultivirung des Bodens mit ihren Nahrungs-
pflanzen, durch Vertilgung der grossen Raubthiere und Ersetzung
der übrigen grösseren Thiere durch ihr Zuchtvieh u. s. w. u. s. w.).
So sehen wir uns, mögen wir den Blick nach rückwärts oder
vorwärts wenden, innerhalb einer aufsteigendenEntwicke-
lungs reihe stehen, deren Voraussetzung die kosmische Ent-
wickelung unsres Planetensystems und die geologische Ent-.
Wickelung des sich allmählich abkühlenden Erdkörpers ist, deren
Blüthe aber die anthropologische Entwickelung ist, die Ent-
Wickel ungsgeschichte der Menschheit, welche man in ihrem durch
Documente aufgeschlossenen Theil Geschichte kurzweg nennt..
Die Ph. d. U. hat diese universelle Bedeutung der Entwickelung"^
auf S. 714 — 716 nachdrücklich hervorgehoben, und die zweite der
schon oben erwähnten „Gesammelten philosophischen Abhand-
lungen zur Ph. d. U." beschäftigt sich mit dem Nachweis, dass
das bleibende Grundprincip der HegeFschen Philosophie, an wel-
chem ihre einzelnen Theile und Behauptungen gemessen werden
müssten und von welchem eine Umbildung derselben ausgehen
müsse, eben der Begriff der Entwickelung sei. Schon oben hatten
wir erwähnt, dass gerade die Descendenztheorie die Forderung
der Entwickelung besser als irgend eine andre Anschauungsweise
des organischen Lebens auf Erden realisire. Wenn es die Auf-
gabe der Philosophie ist, die Stellung des Einzelnen in seinem
Volke, des Volkes in der Menschheit, der Menschheit in der Ge-
schichte der Erde und ihres organischen Lebens und so endlich
die Stellung des Individuums im Weltganzen zum klaren Ver-
ständniss zu bringen, wenn alle diese Beziehungen sich so er-
gänzen und bedingen, dass das Verständniss des Ferneren ohne
das des Näheren unmöglich ist, so wird man anzuerkennen haben^
dass jede Philosophie zur Lösung ihrer Aufgabe unfähig ist, welche
das Wesen der Entwickelung in der Geschichte der Mensch-
41
heit und der Organisation auf der Erde verkennt. Hegel bat das
grosse Verdienst, die Menschheitsgeschichte klarer als irgend einer
seiner Vorgänger als Entwicklung erkannt zu haben; aber er
leugnete die Entwickelung in der Natur, indem er ibr die Ge-
schieh te absprach. Die Ph. d. U. verbessert diesen Fehler, indem
sie auf Grund der von ihr acceptirten Descendenztheorie die
Menscbheitsentwickelung nur als Glied — wenn auch als höch-
stes Glied — in der Entwickelungsgeschichte der Organisation
auf der Erde auffasst. Dieser Standpunkt steht auf der andern
Seite unvergleichlich viel höher als der geschichtslose Process bei
Schopenhauer, der wegen der Unrealität der Zeit überhaupt nur
den subjektiven Schein einer i3ewegung giebt.
Dass der Begriff der Entwickelung an dem des
Zweckes hängt, ist richtig, weil das Niedere und Höhere, zwi-
schen welchen sich das Aufsteigen bewegen soll, nur durch die
Zweckmässigkeit als solche bestimmt werden können. Wir haben
aber oben gesehen, wie anders der Begriff des Zweckes von der
Descendenztheorie gefasst wird, als von einer teleologischen Meta-
physik, und hieraus ergeben sich wiederum verschiedene Conse-
quenzen. — „Fehlt der objektive Zweck, so ist der Naturprocess
nur gleichgültige Veränderung, zweckloser Uebergang vom Einen
zum Andern; giebt es objektiv nur Gleichberechtigtes und Gleich-
gültiges, das erst vom subjektiv-menschlichen Standpunkt
aus als Höheres und Niederes erscheint, so giebt es auch keine
objektive Entwickelung" (Ges. phil. Abhandl. S. 27). Von dem,
was bloss vom subjektiv menschlichen Standpunkt als Natur-
zweckmässigkeit erscheint, ist selbstverständlich durchaus abzu-
sehen ; nur das objektiv Zweckmässige kann objektive Entwicke-
lung ermöglichen. Aber die Descendenztheorie erkennt ja in der
That die Zweckmässigkeit der Organismen als eine objektive
Thatsache an, nur dass sie dieselbe als unbeabsichtigtes mecha-
nisches Ptesultat betrachtet. Fragt man: wofür sind die Orga-
nismen zweckmässig, so ist die Antwort: für das Dasein, für
die Existenz, und da ihr Dasein ein lebendiges ist, für das Le-
ben. Dieser Zweck ist aber kein metaphysisch-teleologisch ge-
setzter, sondern er ist nur die vorgefundene Voraussetzung, auf
welcher die Concurrenz, der Kampf um's Dasein mit unwillkür-
42
lieber Naturnothwendigkeit entbrennen miisste. Das Dasein ist
das Fundament für das entstandene Anpassungsgleicbgewicbt; das
^yas da ist, kann nicbts anderem angepasst sein als dem Dasein.
Nur weil das Dasein der letzte Grund der Concurrenz des ein-
zelnen Daseienden ist, stellt es sieb bintennacb aueb wieder als
der Zweck dar, welcbem die Anpassungspbänomene des aus
dieser Concurrenz als Sieger Resultirenden dienen. In diesem
Sinne bat also die tbatsäcblicbe Zweckmässigkeit, welcbe von der
Descendenztbeorie zugestanden wird, nur eine relative Bedeu-
tung, nämlicb relativ oder rückbezüglicb auf das Dasein, aus der
Concurrenz um welcbes sie mecbaniscb bervorgegangen. Die te-
leologiscbe Metapbysik bingegen, welcbe nocb nicbt aus der
Descendenztbeorie gelernt bat, dass und wie es Zweckmässigkeit
als Resultat geben kann obne Zweck als wirkendes Princip, und
welcbe desbalb bei jeder vorliegenden Zweckmässigkeit sofort
einen principiellen idealen Zweck als zu Grunde liegend voraus-
setzt, muss nun notbgedrungen nacb dem Zweck des Zweckes
fragen, also immer von einem Zweck auf den andern weiter ge-
fiibrt werden, und kann sieb nur bei einem absoluten Zweck be-
rubigen, nicbt wie die Descendenztbeorie bei dem relativen Rück-
gang bis auf den Grund, welcber die Entstebung des zw^eck-
mässigen Resultats zur Folge batte, indem er sie sieb (dem Dasein)
anpasste. — Messen wir beide Auffassungen an der Wirklicbkeit,
so zeigt sieb die erstere als durcbaus mit dem Gegebenen über-
einstimmend, wäbiend die letztere wesentUcbe Bedenken wacb-
ruft. Da nämUcb unter gegebenen Daseins-Bedingungen selir oft
die mögliebste Einfacbbeit der Organisation, welcbe die geringste
Gefalir läuft, am zweckmässigsten ist, so zeigt sieb nicbt selten
die zweckmässige Anpassung an die Lebensbedingungen in der
Rückbildung einer bereits mit reicber Specialisiruug der Or-
gane versebenen Art in eine unvollkommnere Gestalt (z. B. bei ge-
wissen Scbmarotzerkrebsen, wo nur nocb das Embryo die Ab-
kunft der Art verrätb). Dieser Rückbildungs- oder Verkümme-
rungsprocess gewisser Zweige des grossen Stammbaums ist das
gerade Gegentbeil dessen , was der Menscb , der sieb als
Ziel der Entwickelungsreibe ansiebt, unter Entwiekelung verstebt,
nämlicb fortscbreitende Ditferenzirung und Specialisirung der Or-
43
^ane behufs vervollkommneter Arbeitstheilung im Organismus. In
AVabrlieit aber zeigt sich, dass diese nur für die Mehrzahl der
Fälle das Höhere ist, wo sie der Coneurrenz um's Dasein besser
xlient, dass unter Umständen aber die einfachere Organisation
dem Zweck des Daseins besser dient. Wie solche Rllckbil-
dungsprocesse aus der Entwickelungs reihe, die zum Menschen
führt, herausfallen, ebenso streng genommen auch schon
alle Seitenzweige des Stammbaums, welche weder zu der di-
rekten Vorfahrenlinie des Menschen gehören, noch auch (wie z. B.
die Pflanzenwelt), zur Herstellung des für den Menschen erforder-
lichen Zustandes der Erdoberfläche mit ihrem Naturhaushalt un-
erlässlich nothwendig sind. Es erscheint vom Standpunkt der
natürlichen Descendenztheorie nicht zweifelhaft, dass die Knochen-
fische eine höhere Entwickelungsstufe der Knorpelfische reprä-
sentiren, weil sie ihre überlegene Concurrenzfähigkeit im Kampf
um's Dasein thatsächlich durch das Wachsthum ihrer relativen
Anzahl mit jeder geologischen Periode documentirt haben. Vom
Standpunkt der teleologischen Metaphysik aber ist nicht ersicht-
lich, warum es nicht bei den Knorpelfischen sein Bewenden hatte,
da doch nur aus diesen die Amphibien hervorgingen, und die
Knochenfische ganz ausserhalb der zum Menschen führenden Ent-
wickeluugsreihe liegen.
Nicht geringer als solche thatsächlichen Bedenken sind die
-Schwierigkeiten, in welche die teleologische Metaphysik sich da-
durch verwickelt, dass sie bei jedem Zweck nach dem Zweck
des Zweckes zu fragen genöthigt ist, und soniit die Entwicke-
lung nur als eine dem absoluten Zweck dienende und erst bei
-diesem ihr Ende findende anzusehn vermag, ohne doch diesen
Endzweck in befriedigender Weise positiv bestimmen zu können.
Während Hegel sich gegen die hierin liegenden Schwierigkeiten
durch nicht zu Ende Denken und dialektische Unklarheit zu
schützen wusste (vergl. Gesch. ph. Abhandl." S. 50 — 55), zieht
die Ph. d. Unb. mit Schärfe die letzten Consequenzen des teleo-
logischen Princips. Da nur ein, jeder Freiheit von den instink-
tiven Hlusionen entbehrendes Denken das Dasein als absoluten
Selbstzweck fassen kann, da im Gegentheil die Ph. d. U. das
JJasein als solches als etwas von Grund aus Unvernünftiges und
44
zwar nicht nur als etwas Zweckloses, sondern als etwas Zweck-
widriges (Antilogisches), weil sich selbst zur Qual Gereichendes^
darstellt, so kann ihr als der letzte Zweck, dem das So und nicht
anders Sein des Daseienden dient, nur die Negation des Da-
seins als solchen gelten; oder mit anderen Worten das Endziel
der absolut gefassten Entwickelung kann nur die Aufhebung des
Processes in der Universalwillensrerneinung sein, mit welcher
die Welt erlöschen müsste. Es ist der Ph. d. U. nicht gelungen,
es wahrscheinUch zu machen, dass die Summe der Bedingungen,
von welchen die Möglichkeit einer solchen Universalwillensver-
neinung abhängen soll, innerhalb der Menschheit auf Erden ein-
treten werde, während andererseits die von ihr gezogenen meta-
physischen Consequenzen zugleich mit den metaphysischen Vor-
aussetzungen der durch die Descendenztheorie wohl unheilbar
geschädigten Teleologie hinfällig werden. Wir werden daher für
unsere weiteren Betrachtungen davon absehen dürfen , dass der
zu erwartende weitere Gang der kosmischen und geologischen
Processe durch eine von der Menschheit in Scene gesetzte Welt-
vernichtung vorzeitig abgeschnitten werde; wir werden vielmehr
betrachten, wie sich der Begriff der Entwickelung zu diesem wei-
teren Gange stellen muss.
So gewiss die Erde einst ein integrirender Theil der über
das ganze Planetensystem als Nebelfleck ausgedehnten Sonne
war, so gewiss sie später als glühender Tropfen mit gasiger
Hülle die Sonne umkreiste, so gewiss wird sie einst vollständig
erstarren, wie der Mond (wenigstens auf der uns zugekehrten
Seite) es schon jetzt ist. Auf wie viele Millionen Jahre auch die
Wärme der Sonne, welche sich vorläufig durch fortschreitende
Contraction derselben beständig ersetzt, noch vorhalten möge, —
unfehlbar wird in einer Zeit, welche in der Oekonomie der kos-
mischen Processe als kurze Spanne zu bezeichnen ist, auch die
Sonne so weit zusammengezogen und abgekühlt sein, dass ihre
Strahlen auf den erstarrten Planeten kein neues Leben mehr zu
entzünden vermögen. Dieser Verlauf der Dinge, der mit der-
selben Sicherheit wie das Eintreten von Mond- und Sonnen-
finsternissen (nur bis jetzt noch nicht mit bestimmten Zeitangaben)
vorhergesa^t werden kann, lehrt uns, dass auch die Monde,
45
Planeten, Sonnen und Planetensysteme als kosmische Individuen
dem Gesetz der Vergänglicbkeit aller Individualexistenz unter-
worfen sind, dass auch sie zwischen Entstehen und Vergehen
Jugend und Alter durchmachen, dass auch in ihrem Individual-
leben dem Aufsteigen ein Niedergang, der Entwickeluug zum
Gipfel ein Verfall entspricht. In Bezug auf die Geschichte der
irdischen Organisation haben wir nur an die vorhin besprochenen
Curven zu erinnern, welche die Veränderung der Bewohnbarkeit
und die Veränderung der Organisationshöhe graphisch repräsen-
tiren. Es ist wahr, dass wir nicht bestimmen können, wie weit
wir gegenwärtig noch von dem Gipfelpunkte der Entwickeluug
der Menschheit entfernt sind, — es ist wahr, dass die bis jetzt
unabsehbare Perspektive des naturnothwendigeu Auf st eigens
es allein sein kann, welche unser praktisches Verhalten
zum Process bestimmt, — aber es ist ebenso wahr, dass
theoretisch genommen diese Entwickeluug keine absolute
sondern eine relative, ausschliesslich von der mehr oder
minder langen Dauer und der mehr oder minder hohen Steige-
rung der Günstigkeit der Bedingungen abhängt,
welche die Erde ihren Bewohnern darbietet, dass diese Entwicke-
luug weder eine bis zu gegebenem Endziel aufsteigende gerade
Linie, noch eine sich einem Ideal unendlich annnähernde Asym-
ptote ist, sondern nur den aufsteigenden Ast einer Welle re-
präsentirt, welcher unentrinnbar in den absteigenden Ast des
zum Untergange führenden Verfalls hinüberleitet. Allen relativ
noch so berechtigten Hoffnungen blühender Menschheitsentwicke-
lung und winkender Weltverbesserung gegenüber hält uns das
Aussterben der grönländischen Eskimo's, welche familienweise
erfroren in ihren Schneehütten gefunden worden, gleichsam als
ein beständiges memenio mori für die Menschheit das dereinstige
Lebensbild der letzten Menschen in dem alsdann wärmsten Lande
der Erde vor.
Wir wissen nicht, wie viele Planeten unseres oder anderer
Planetensysteme sich unter solchen Bedingungen befinden, dass
sie eine Organisation entwickeln, aber das wissen wir, dass alle
diejenigen, welche jemals im Laufe ihres Lebens in solche Be-
dingungen gelangen, auch eine ebensolche Curve ihrer Organi-
46
sationsgeschichte mit aufsteigendem und absteigendem Ast zeigen-
müssen, gleichviel ob das Maximum dieser Curve hoch oder
niedrig liegt. Nehmen wir an, dass die Planeten unseres Systems,
wie es neuerdings wahrscheinlicher geworden ist, alle oder grossen-
theils zu einer gewissen Zeit ihres Lebens eine gewisse Organi-
sation tragen, so würde sich aus der Zusammenstellung dieser
einzelnen Curven auf gemeinsamer die Zeit darstellender Abscissen-
axe ein Gesammtbild vom organischen Leben un-
seres Planetensystems ergeben, und auch hier müsste sich'
irgendwo ein absolutes Maximum herausstellen, wenn auch ausser-
dem noch mehrere untergeordnete Maxima gezählt werden dürften.
— Unsere Kenntniss reicht noch nicht so weit, um zu sagen,
was aus erstarrten Sonnen und Planetensystemen wird, und ob'
und auf welche Weise sie von Neuem in den Process der kos-
mischen Veränderung hereingezogen werden. Im Allgemeinen
kann man aber sagen, dass die Helmholtzsche Annahme von der all-
gemeinen Welterstarrung nicht mehr dem gegenwärtigen Stand der
Wissenschaft entspricht, dass vielmehr alles mehr und mehr auf die
Vermuthung eines kosmischen Kreislaufs der Veränderung hin-
drängt, in welchem die Umwandlung der Spannkraft in lebendige
Kraft (durch Verdichtung der Nebelmassen, Erzeugung und Aus-
strahlung von Wärme) schliesslich auf irgend eine Weise wieder
in Spannkraft zurückkehrt (und sei es selbst mit Hülfe einer die
Unendlichkeit beseitigenden, in sich geschlossenen vierten Dimen-
sion des Raumes). Wenn schon in dem gegenwärtigen Augen-
blick die ungeheuere Zahl von Fixsternen in unserer Weltlinse,
bei denen wohl meistens dunkle Planeten vorausgesetzt werden
dürfen, und die Zahl von fernen, mehr oder minder in Stern-
haufen verdichteten Nebelflecken, welche ebensoviel andere Welt-
liusen repräsentiren, die Möglichkeit einer zahllosen Wiederholung
solcher Bedingungen bietet, von denen die Entwickelung plane-
tarischer Organisation abhängt, so wird bei Berücksichtigung der
mit der Zeit von allen kosmischen Individualitäten durchlaufenen
verschiedenen Abkühlungsphasen die Wahrscheinlichkeit noch sehr
viel grösser, dass die Organisation auf Erden nur einer unter
zahllosen ähnlichen Fällen ist, bei denen die Bedin-
gungen ebensowohl günstiger als ungünstiger, also die
47
Organisationsstufe der hochstehenden Organismen ebenso leicht
eine höhere, als eine niedrigere wie die des Menschen
sein kann. Gerade die ungeheueren Perspektiven der modernen
Astronomie sind so recht geeignet, die Erde nicht bloss ihrer
Quantität nach als ein Atom in der unermesslichen Aus-
dehnung der kosmischen Massen erscheinen zu lassen, sondern
auch im Hinblick auf die spectralanaly tisch erwiesene durch-
schnittliche Gleichartigkeit aller kosmischen Materie an den Ge-
danken zu gewöhnen, dass sie selbst qualitativ mit der von
ihr getragenen Organisation nur ein Exemplar einer zahl-
reichen Species repräsentirt. Der falsche geocentrische
Standpunkt der christlichen Weltanschauung ist es wesentlich,
der durch seine Eintrichterung von Jugend auf diese Einsicht er-
schwert ; wir mlissen anerkennen , dass der Buddhismus in seinen
zahllosen Welten einer viel gesunderen und erhabeneren Anschauung
huldigte, ebenso wie seine Ansicht über die periodische natur-
gesetzliche Auflösung und Wiederentstehung dieser Welten von
dem neuereu wissenschaftlichen Standpunkt mehr und mehr be-
stätigt wird; was ihm fehlte, war nur die Einsicht, dass diese
Welten nicht neben der Erdscheibe jenseits des Oceans, sondern
am Sternenhimmel zu suchen seien.
Die Phil. d. Unb. neigt in ihrem Anschluss an die moderne
Naturwissenschaft ursprünghch keineswegs zu einer geocentrischen
Anschauungsweise, aber sie sieht sich am Schlüsse unwill-
kürlich und fast mit Widerstreben dadurch auf die Engherzigkeit
dieses Standpunktes zurückgeworfen, dass sie durch ihre teleolo-
gische Metaphysik zur Aufstellung eines absoluten Zwecks ge-
zwungen wird, der draussen in der mechanischen Aeusserlichkeit
des Kosmos, wie auch das blödeste Auge sieht, schlechterdings
nicht zu finden ist, und deshalb dort gesucht werden muss, wo
die längste Entwickelungsreihe nach rückwärts sich mit der
grössten Entwickelungsperspektive nach vorwärts verbindet: in
der Menschheit, — die zugleich das einzige uns bekannte Bei-
spiel der Willensentscheidung nach bewusster abstrakter Reflexion
darbietet. Nur am Menschen kann eine Philosophie, welche die Ne-
gation zum absoluten Zweck erhebt, ihre Hebel einsetzen wollen,
denn nur in ihm kann sie ein Wesen finden, das fähig ist, auf sei-
48
nem Bewusstsein titanenhaft sich gegen den unbewussten Weltwillen
aufzulehnen; darum wird die Ph. d. U. nothwendig anthropocen-
trisch, und hierdurch wenigstens in qualitativem Sinne wiederum
geocentrisch. Reducirt man die Bedeutung der Menschheit und
der Erde auf ihr wahres kosmisches Maass als eines atomistischen
Individuums unter zahllosen ähnlichen^ von einer nach kosmischem
Maassstabe gemessen verschwindend kurzen Gesammtlebensdauer,
so reducirt sich auch die in der Ph. d. U. als absolut dar-
gestellte Entwickelung der aufsteigenden Hälfte dieser Lebens-
dauer zu einer relativen, welche im kosmischen Process nicht
mehr Bedeutung hat, als etwa die aufsteigende Hälfte
dieser bestimmten Meeres welle in dem unaufhörlichen Wellen-
spiel des Oceans. Nächst der Erkenntniss ihrer thierischen
Abstammung kann nichts so heilsam sein für den hohlen Dünkel
der Menschheit von ihrer exceptionellen Würde als diese Erkennt-
niss von der wahren Bedeutung ihrer Stellung im grossen Welt-
ganzen und von der Relativität der Entwickelung, welche ihre
Geschichte in der Gesammtheit des kosmischen Processes reprä-
sentirt.
Wenn wir im vorigen Abschnitt sahen, dass die Descendenz-
theorie die empirisch als Thatsache gegebene Zweckmässigkeit
der Organismen anerkennt und als Resultat mechanischer Compen-
sationsw irkungen erklärt, ohne des Zweckes als wirksamen idealen
Princips zu bedürfen, so zeigte sich in diesem Abschnitt, dass
die so constatirte Zweckmässigkeit keine von einem absoluten
Endzweck oder Selbstzweck abgeleitete absolute Bedeutung
habe , sondern nur relativ oder rückbezüglich auf den einmal
vorgefundenen Boden des Daseins verstanden werden dürfe, wie
sie nur aus diesem durch die naturnothwendig entsprungene Con-
currenz hervorgegangen sei. Diese relative Bedeutung sahen wir
weiter vom Begriff des Zweckes auf den der Entwickelung sich
übertragen, w^elche nur relativ in Bezug auf den Lebenslauf des
kosmischen Individuums eine solche ist, indem sie die aufsteigende
Hälfte dieses Individuallebens repräsentirt.
lY.
Gehirn und Intellekt.
Einer der Hauptgründe, welche die Popularität Schopen-
liauer's bedingten, war seine unzweideutige Annäherung an die
naturwissenschaftliche Denkweise hinsichtlich des menschlichen
Intellekts, dessen Functionen er als Hirnfunctionen anerkannte.
Kant und Fichte, denen die Materie nur ein vom Subjekt ge-
setzter und mit der Vorstellung des Subjekts auch wieder ver-
schwindender Schein war, standen natürlich einer solchen Auf-
fassung fern, — ebenso fern wie ihre Anschauung der Natur-
wissenschaft; Schelling und Hegel hingegen bekümmerten sich
nur zu wenig um Naturwissenschaft, um sich mit derselben aus-
einanderzusetzen, während sie schon wesentUch mit ihr auf dem-
selben Staudpunkt in Bezug auf diese Fragen stehn; denn in
beider Naturphilosophie entspringt der Geist aus der Entwicke-
lung bewusstloser Naturkräfte, sei es, dass dieselben als sich ob-
jektivirende und aus jeder Objektivation in höherer Subjektivi-
tätsstufe sich in sich zurücknehmende Potenzen (Schelling), sei
es, dass sie als die im dialektischen Process begriffenen auseinan-
dergefallenen Momente der Idee in ihrem Anderssein (Hegel) an-
gesehen werden. Schelling macht dem Empirismus das ausdrück-
liche Zugeständniss, dass alles B e w u s s t s e i n einer Vorstellung
durch Affection eines Organismus bedingt sei (vgl. Ph. d. U.
S. 399), und der Grundgedanke der Hegerschen Philosophie be-
steht darin, dass der Geist als solcher, d. h. als Bewusstsein und
Selbstbewusstsein, erst durch die Biickkehr der Idee aus ihrem
50
Anderssein in der Natur zu sich selber entstehe, ein Process der
nach unserer Kenntniss sich nur im thierischen, beziehungsweise
menschhchen Hirn erfüllt. Schelling wie Hegel reserviren sich
aber die vernünftige Vorstellung oder Idee abgesehen von der
Form des Bewusstseins , die sie im menschlichen Geiste hat, als
metaphysisches Princip. Auch Scbopenhauer verzichtet nicht auf
die platonische Ideenwelt, welche auch ihm unzweifelhaft ein Jen-
seits und Prius der durch Gehirnfunction erzeugten bewussten
Yoi-stellung ist („Ges. phil. Abhandl." S. 61 — 65); aber ebenso-
wenig wie Schelling und Hegel die naturwissenschaftliche Auf-
fassung mit ihren metaphysischen Principien in deutliche Ueber-
eiustimmung zu bringen unternommen * haben , ebensowenig hat
Schopenhauer die Discrepanz seiner platonischen Ideenwelt mit
den Produkten des Gehirnintellekts zu beseitigen vermocht. Diese
metaphysisch-transcendente Ideenwelt vor und jenseits der Ent-
stehung der bewussten Hirnvorstellung beruht nun aber, insofern
sie die Typen der Organismen als Urbilder der Verwirklichung
und den Plan des ganzen Weltprocesses als einen zu bestimmtem
Ziele führenden in sich enthalten und deren Realisation durch
metaphysische Eingriffe leiten soll, ganz und gar auf der teleo-
logischen Metaphysik. Wird diese letztere durch die Descendenz-
theoiie ihrer bisherigen Stützen beraubt und durch die Theorie
der natürlichen Zuchtwahl in der Hauptsache positiv ersetzt, so
fällt auch die platonische Ideenwelt der transcendenten Urbilder
als eine überlebte, überflüssig gewordene und durch anderweitige
Anschauungsweisen ersetzte Hypothese in sich zusammen. Wo
die Typen der Organisationsformen mechanisch aus Compen-
sationswirkungen resultiren, bedarf es keiner urbildlichen Idee
mehr, um ihre Entstehung mit Hülfe beständiger metaphysisch-
teleologischer Eingriife in den Naturprocess zu erklären. Diese
„Idee" war nur die Form, in welcher der als Pnncip supponirte
Zweck existirend gedacht wurde; fällt der Zweck als Princip
fort, so fällt selbstverständlich auch die hypothetische Form seiner
Existenz hinweg. Da nach der Descendenztheorie alle Firmen
der Organisation allein aus den physikaUschen und chemischen
Gcj^etzen der Materie heraus entstanden gedacht werden, so bleibt
freilich in dieser gesetzmässig wirkenden Beschaffenheit der Ma-
51
terie ein Kaum für die Hypothese idealer Anticipationen de
künftigen übrig (Pli. d. U. S. 484—487), aber diese würdet
dann jedenfalls gesetzmässig durch die jeweiligen Verhältnisse be-
stimmte, nicht teleologisch sich selbst bestimmende sein und
würden nicht über den Wirkungsmodus der Atome hinausgehen,
so dass also alle zusammengesetzten Resultate aus ihnen
mechanisch hervorgehen würden, ohne von ihnen als solche be-
absichtigt zu sein.
Um Missverständnissen vorzubeugen, bemerken wir hier von
vornherein, dass die theoretische Frage nach der metaphysischen
Bedeutung der Idee vollkommen unabhängig ist und getrennt
gehalten werden muss von der praktischen Frage nach der ethi-
schen, ästhetischen und erkenntnisstheoretischen Bedeutung des
Ideals. Die letztere ist über allen Zweifel erhaben und unab-
hängig von jedem metaphysischen Standpunkt; die erstere ist
problematisch wie alle Metaphysik und ist der Ausfall der schwan-
kenden Entscheidung ohne Einfluss auf das Leben der Mensch-
heit und sein Streben nach den Idealen. Von der Annahme der
Idee leitet sich der theoretische Idealismus her, ein der
mannichfaltigsten Formen der Ausbildung, der verschiedensten
Modificationen und Nuancen fähiger Standpunkt; von der thätigen
Hingabe an das von dem Menschengeist sich vorgesteckte Ideal
leitet sich der praktische Idealismus ab, der wahre Welt-
eroberer, dessen Palladium von keinem Volke ungestraft verlassen
werden darf, wenn es nicht trotz allen civilisatorischen Raffine-
ments zu thierischer Stufe zurücksinken und idealere Völker über
sich hinwegschreiten sehen will. Der theoretische Idealismus ge-
hört dem Streit der Gelehrten und dem Gezänk der Schulen an^
der praktische Idealismus ist der wahre tiefinnerste Hebel alles
Cultiirfortschritts, die Legitimation der günstiger veranlagten Racen
und Stämme für ihren historischen Beruf, der sofort erlischt, so^
bald sie dieser ihrer Fahne untreu werden. Wenn wir also den
theoretischen Idealismus in seiner bisherigen teleologischen Ge-
stalt als einen durch die Descendenztheorie überwundenen Stand-
punkt betrachten müssen, so legen wir doch entschiedene Ver-
wahrung ein gegen etwaige unberechtigte Consequenzen in Bezug^
auf unsere Stellung zum praktischen Idealismus.
4*
52
Nach dieser Abschweifung wollen wir dazu übergehen , zu
betrachten, wie die Ph. d. U. das Verhältniss der Hirnfunction
zum menschlichen Intellekt auffasst.
Das Cap. II des Abschn. C beschäftigt sich mit dem Nach-
weis, dass Gehirn und Ganglien Bedingung des thierischen Be-
wusstseins seien; es behauptet, dass alle bewusste Geistes-
thätigkeit ein materielles Substrat bedürfe, an welchem sie
entstehe, und nur die unbewusste sich frei von einem solchen
vollziehe (S. 388, vgl. 402 — 3). Die letztere vollzieht sich nie-
mals in den Formen der Sinnlichkeit (374 — 375), wo wir also
solchen begegnen, wissen wir, dass sie aus der Mitwirkung der
unmittelbar oder mittelbar durch die Sinne erregten Hirnfunction
herrührt. Das Unbewusste hat ferner kein Gedächtniss (379
unten); es kann keine Erfahrungen in sich aufnehmen, noch
durch diese klüger werden, als es ist (709); es kann sich durch
üebung und Gewohnheit nicht vervollkommnen (S. 609 Z. 6 — 8).
Wo wir also einem Aufbewahren empfangener Eindrücke be-
gegnen, wissen wir, dass dasselbe nur vom Gehirn herrühren
kann (379). Die sogenannten schlummernden Gedächtnissvor-
stellungen sind also gar keine Vorstellungen, weder bewusste noch
unbewusste, sondern nur latente Dispositionen des Gehirns zur
leichteren Entstehung gewisser Formen von Molecularschwin-
gungen , denen dann gewisse Vorstellungen im Bewusstsein ent-
sprechen (S. 268 Anm. , S. 28). „Wie eine Saite auf alle Luft-
schwingungen, die sie treffen, wenn sie von denselben überhaupt
zum Tönen gebracht wird, immer mit demselben Tone resonirt,
und zwar mit dem Ton a oder c, je nachdem sie auf a oder c
gestimmt ist, so entsteht auch im Gehirn leichter die eine oder
die andere Vorstellung, je nachdem die Vertheilung und Span-
nung der Hirnmolecule so beschaffen ist, dass sie leichter mit der
einen oder mit der andern Art von Schwingungen auf einen ent-
sprechenden Reiz antwortet; und wie die Saite nicht bloss auf
Schwingungen, die ihren Eigenschwingungen homolog sind, son-
dern auch auf solche, die entweder nur wenig von denselben ab-
weichen, oder aber in einem einfachen rationalen Verhältniss zu
denselben stehen, resonirt'^ (wenn auch mit geringerer Stärke),
„so werden auch die Schwingungen der prädisponirten Molecule
53
einer Hirnzelle nicht bloss durch Eine Art zugeleiteter Schwin-
gungen wachgerufen, sondern auch durch wenig abweichende
oder in einem einfachen Verhältniss zu der Prädisposition stehende
Reize (dieser Zusammenhang ist in den Gesetzen der Ideen-
association erkennbar). Was bei der Saite das Stimmen ist, das
ist ftir das Gehirn die bleibende Veränderung, welche eine leb-
hafte Vorstellung nach ihrem Verschwinden in Vertheilung und
Spannung der Molecule hinterlässt" (S. 28). Es ist unmöglich,
dass irgend ein Schwingungsprocess in den Moleculen eines so
nachgiebigen Körpers, wie das Gehirn ist, vor sich gehen sollte,
ohne eine bleibende Veränderung in demselben zu hinterlassen,
und zwar eine Veränderung in dem Sinne, dass künftig eine
Wiederkehr gleicher Schwingungen an derselben Stelle weniger
Widerstand findet, als ein Auftreten abweichender Schwingungen.
Wie sehr alle stehenden Wellen danach streben, eine veränderte
Vertheilung der Materie hervorzurufen (und zwar Verdichtung in
den Knoten, Verdünnung in den Schwingungsmaximis), zeigen
schon die Chladni'schen Klangfiguren, und zeigen in anderer Weise
die chemischen Wirkungen der Licht- oder Wärmeschwingungen,,
welche doch auch nur auf Umänderung der molecularen Lage-
rungsverhältnisse beruhen (man denke insbesondere an die Farben-
photographie, die von Zenker ganz richtig erklärt worden ist).-
Denkt man sich nun eine solche Aenderung der Dichtigkeitsver-
hältnisse herbeigeführt, welche einer Verdichtung an den Schwin-
gungsknoten entspricht, so wird nunmehr eine solche Anordnung
dahin wirken, von aussen eintretende Schwingungen in solche
umzuwandeln, welche der bereits bestehenden Vertheilung ent-
sprechen. In dieser Weise wirken z. B. die Endglieder der Stäb-
chen und Zapfen in der Retina, welche alle eintretenden Licht-
schwingungen in eine oder mehrere von drei bestimmten Wellen-
arten umsetzen (roth, grün, violett), und diese weiter zum
Bewusstseinsorgan leiten. Denken wir uns also im Grosshirn
ähnliche Prädispositionen zu bestimmten Schwingungsformen theils
durch Ererbung von den Vorfahren übernommen, theils durch die
selbst empfangenen Eindrücke erworben, so werden auch diese
eine ähnliche Auswahl von der durch die Sinnesnerven oder aus-
anderen Hirntheilen zugeleiteten Schwingungen (Reize) treffen.
54
und um so leichter auf einen Reiz reagiren, je verwandter er der
eigentliiimlichen Sehwingungsform ist, d. h. je leichter er in die-
selbe umgewandelt werden kann. Je ferner diese Verwandtschaft
ist, desto schwächer wird die Reaction sein, und wird bald so
schwach werden, dass sie unterhalb der Bewusstseinsschwelle
bleibt, wofern nicht der Reiz durch Intensität die Unzuläng-
lichkeit seiner qualitativen Verwandtschaft ersetzt. Bei einem
gewissen Maass qualitativer Abweichung reicht dann aber keine
praktisch mögliche Intensität aus, um die Reaction über die
Schwelle zu heben. Wenn die ererbten Prädispositionen mehr
Anlagen und Fähigkeiten betreffen, so ist das Gedächtniss recht
eigentlich unter das Gebiet der erworbenen Hirndispositionen zu
setzen, es ist die Summe aller Eindrücke, die von früher ge-
habten lebhaften oder wiederholten Vorstellungen hinterlassen
sind. Da nun jede gegenwärtige Vorstellung mit ihren actuellen
Hirnschwingungen zugleich auf alle vorhandenen Prädispositionen
als erregender Reiz wirkt, so wird es wesentlich von dem Grade
der Verwandtschaft abhängen, welche der vorhandenen Prädispo-
sitionen am kräftigsten auf die bestehende Vorstellung reagirt;
diese wird alsdann, wenn die bestehende Vorstellung sich soweit
abschwächt, um in dem beschränkten Raum bewusster Aufmerk-
samkeit einer neuen Platz zu machen, sich mit ihrem Inhalt in das
Bewusstsein als Nachfolgerin jener Vorstellung eindrängen und
hierbei die Concurrenz aller übi-igen (ebenfalls, aber nicht in
gleichem Maasse verwandten) Prädispositionen siegreich bestehen.
Diese so in's Bewusstsein getretene neue Vorstellung schwächt sich
aber nach dem Gesetz der Ermüdung bald ebenfalls ab und zieht
nun ihrerseits wiederum die ihr verwandteste der vorhandenen
Prädispositionen als Nachfolgerin herbei. Man erkennt hierin
leicht den Piocess der durch kein bestimmtes Interesse geleiteten
Ideenassociation. Dass die Gesetze derselben auf dem mecha-
nischen Zusammenhang der molecularen Schwingungsprocesse im
Hirn mit den daselbst vorhandenen Prädispositionen beruhen,
wird auch von der Ph. d. U. S. 253 anerkannt. Dagegen wird
ebendort der Einfluss der Stimmung und des Interesses auf die
Ideenassociation als etwas ganz heterogenes dargestellt. Dies
scheint uns nicht richtig.
OD
Von den Stimmungen ist es iiinlänglicli bekannt, wie sehr
gerade sie auf constitutioneller Grundlage und auf vorübergeben-
den Zuständen des Organismus beruhen. Die wechselnden Ver-
hältnisse des Blutumlaufs und der mehr oder minder sauerstoif-
reichen Beschaffenheit des das Hirn umspülenden Blutes, die
verschiedenen Phasen des Verdauungsprocesses und des Ge-
schlechtslebens und die von beiden abhängigen Zustände des sym-
pathischen Nervensystems nebst vielen anderen somatischen Bedin-
gungen, die uns "vdelleicht noch unbekannt sind, sind ebenso viele
Einflüsse, welche theils die Erregbarkeit, Impressionabilität und
Reagibilität des Gehirns im Allgemeinen steigern oder depri-
miren, theils in besonderen Parthien desselben eigenthümliche
3Iodilicationen hervorrufen (vgl. „Philosophische Monatshefte''
Bd. IV, Hft. 5, S. 389, Z. 5 — 3 von unten, wo der Verfasser zu-
gesteht, dass die Stimmung augenscheinlich durch vorübergehende
Beschaffenheit des Hirns verursacht wird, wie das Temperament
durch dauernde). Wie die Erregung gewisser Hirnparthien ge-
wisse Nerven in Mitleidenschaft zieht, welche dann ihrerseits
wieder körperliche Processe hervorrufen (z. B. Rührung das Wei-
nen, Angst das Herzklopfen u. s. w.), so ist rückwärts durch
körperliche Zustände, die durch Nerven zum Gehirn geleitet
werden, eine ungleichmässige Erregung gewisser Gehirnparthien
bedingt, und eine solche hat dann zur noth wendigen Folge, dass
die in denselben vorhandenen Prädispositionen schon bei gerin-
gerer Intensität der Reize als sonst Reactionen liefern, die ober-
halb der Schwelle liegen, und dass sie mithin in der Concurrenz
der verschiedenen Prädispositionen (schlummernden Gedächtniss-
vorstellungen) um das Hineingeiangen in's Bewusstsein einen Vor-
rang erlangen. So werden z. ß. bei geschlechtlichem Erregungs-
zustande alle Vorstellungen, welche dem Bewusstsein vorschweben,
durch die Ideenassociation solche Nachfolger herbeizuziehen be-
müht scheinen, welche mit dem Geschlechtsleben in näherer Be-
ziehung stehen; bei allgemeiner Erregung des Gehirns durch
massigen Weingenuss ergiebt sich ein Zustand von Heiterkeit,
•der dem Auffinden von Scherzworten und Witzen günstig ist,
(Ph. d. U. S. 255) und der Zustand der geistigen Trunkenheit,
der Begeisterung, des Enthusiasmus oder wie man ihn im Gegen-
56
gatz zum Zustand der Nücbternheit nennen will, ist aus ähnlichen'
Gründen der Entstehung von künstlerischen, namentlich poetischen
Conceptionen günstig (247—248). — Wenn wir somit sehen, dass
der unwillkürliche Einfluss der Stimmung auf die Ideenassociation
wesentlich auf somatischen Ursachen vorühergehender Hirnzu-
ßtände beruht, so werden wir bei dem flüssigen Uebergange von
hier zu den bewussten Interessen kaum etwas anderes erwarten
dürfen, als dass auch der maassgebende Einfluss bewusster Ab-
sicht körperlich vermittelt gedacht werden muss, welche eine
Gedankenreihe zu einem vorgesetzten Ziele geflissentlich hinleitet.
Dieses Ziel muss, wenn auch nicht in seiner völligen Bestimmt-
heit, doch wenigstens den Umrissen nach dem Bewusstsein vor-
schweben, oder in bestimmter bekannter Richtung gesucht werden*
kurz es müssen Anhaltpunkte gegeben sein, auf welche sich
erfahrungsmässig bei solchem Suchen eine gespannte Aufmerk-
samkeit richtet. Diese Aufmerksamkeit greift gleichsam über
diese Anhaltpunkte hinaus in's Blinde, wie eine augenlose Raupe
in Rankenwindungen einen neuen Stützpunkt sucht. Aber eben
der Umstand, dass diese gespannte Aufmerksamkeit nach ganz,
bestimmter, aber der Zeit nach versuchsweise wechselnder Rich-
tung hinausgesandt wird, wie ein Eclaireur zur Recognoscirung-
des Gedächtnissterraius, eben dieser Umstand macht es erklärlich,
dass von den ruhenden Hirnprädispositionen nunmehr die in der
Richtung dieser Aufmerksamkeit gelegenen leichter erregt werden
als alle anderen; denn die Aufmerksamkeit ist ein in den Sinnes-
nerven centrifugaler, hier aber innerhalb des Centralorgans ver-
bleibender und nur noch in Bezug auf die Stelle der actuellen
erregenden Vorstellung als centrifugal zu bezeichnender Inner-
vationsstrom, welcher die Wirkung hat, die von ihm be-
troffenen Parthien für jede Art von Reizen erregbarer za
machen, als sie im ruhenden normalen Zustande sind (vgl. Ph.
d. U. S. 116, 155—156, 419-421, auch 246—247). Wäre die^
Richtung der Aufmerksamkeit eine vollkommen dem Ziele ent-
sprechende, so würde auch beim ersten Versuch die entsprechende
Vorstellung aus ihrer Prädisposition ausgelöst werden; sind aber
die Anhaltspunkte zu unbestimmt und tastet in Folge dessen die
Aufmerksamkeit erst nach einigen falschen Richtungen, so tau-
57
chen auch zunächst einige als unbrauchbar zu verwerfende Vor-
stelhingen auf; sind endlich die Anhaltspunkte ganz ungenügend,
so dass sie nicht einmal die ungefähre Richtung vorschreiben^
oder hat die Aufmerksamkeit sich einmal in eine irrthümliche
Richtung verrannt, so ist alles Herumtasten derselben erfolglos. — '
Diese Betrachtung erscheint geeignet, die Argumente der Ph. d,
U. auf S. 253 und 254 wesentlich zu modificiren, die Erforder-
lichkeit der dort behaupteten metaphysisch-teleologischen Eingriffe
behufs der Erklärung der Probleme der Ideenassociation min-
destens in Frage zu stellen und vorläufig den Glauben an die
Möglichkeit einer zureichenden Erklärung derselben aus mecha-
nischen Ursachen festhalten zu lassen.
Die Ph. d. U. huldigt in Bezug auf die Entstehung der be-
wussten Empfindung ebenso entschieden einer Theorie der De-
centraHsation wie in Bezug auf die Lebensfunctionen des Organis-
mus; wenn sie in letzterer Hinsicht nur die von den Coryphäen
der Naturwissenschaft (Virchow u. A. m.) eingeschlagene Bahn
verfolgt, so wird die Physiologie andererseits nicht umhin können^
ihre Uebertragung von der Aeusserlichkeit der Lebensfunctionen
auf die Innerlichkeit bewusster Empfindung zu acceptircu, wie
die Analogie der constituirenden Theile eines höheren Organismus
mit niederen individuellen Organismen einerseits und die ununter-
brochene Stetigkeit der absteigenden Thier-, Pflanzen- und Pro-
tisten-Reihe andrerseits es gebieterisch fordert und die graduell
abnehmende morphologische und chemische Verwandtschaft def
Gehirnzellen mit den Ganglienzellen der niederen Nervencentral-
Organe und den lebenden Zellen des Körpers überhaupt es ohne-
hin schon wahrscheinlich macht (vgl. Ph. d. U. S. 456 — 461 ; auch
52—56 und 58 ff.). Wir werden daher die Annahme zu der
unsrigen machen dürfen, dass Empfindung (welche als solche
allemal schon Bewusstsein in sich schliesst) nicht bloss dem
grossen Gehirn des Menschen zukommt, sondern auch allen seinen
untergeordneten Nervencentralorganen (Kleinhirn , verlängerten
Mark, Rückenmark und sämmtlichen Ganglien) ja sogar jeder ein-
zelnen protoplasmahaltigen Zelle im Körper, ebensogut wie wir
dieselbe nicht nur den höheren, sondern auch den niederen Thieren^
ja selbst den Protisten und ebenso den protoplasmahaltigen Zelle»
58
in niederen und höheren Pflanzen zuerkennen. Selbstverständlich
ist der Inhalt dieses Empfindens auf den verschiedenen Stufen
sehr verschieden an Reichthum und Feinheit (Ph. d. U. 424—426),
und dadurch scheinbar auch dem Grade des Bewusstseins
nach. Alles Empfinden entspringt aus Schwingungen, aus Be-
wegungen von Moleculen, welche denselben von aussen (durch
Reize) aufgenöthigt werden ; die Zeitlichkeit dieser Schwingungen
setzt die bestimmte zeitliche Form der Empfindung (308 — 309), und
die Geschwindigkeit, Intensität, Gestalt und sonstige eigenthümliche
Beschaffenheit bestimmt die Qualität der Empfindung, welche unter
der Voraussetzung gleicher Schwingungsarten von der Stelle im
Gehirn gänzlich unabhängig ist (299—301 und 302). Nur insofern
verschiedene Hirnstellen mit verschiedenen Prädispositionen be-
haftet sind und deshalb auf gleiche Reize mit verschiedenen
Schwingungs arten antworten, sind sie von Einfluss auf die Em-
pfindung. Ist jede protoplasmatische Zelle empfindungsbegabt,
und nur von der Verschiedenheit der Molecularschwingungen , zu
denen sie geneigt und fähig ist, die Verschiedenheit ihrer Empfin-
dungen abhängig, und gilt dieser Satz wie für alle lebenden
Zellen so insbesondere auch für alle Gehirnzellen, so muss das
Gehirnbewusstsein als S u m m a t i o n s p h ä n o m e n sämmtlicher
Gehirnzellen aufgefasst werden, wie die Ph. d. U. unter Ver-
werfung aller physiologisch ganz unhaltbarer Hypothesen von
Centralzellen *) und Centralpunkten auch wirklich thut (S. 299),
indem sie ganz richtig die thatsächlich in demselben vorhandene
Einheit auf die ebenfalls in demselben vorhandene Güte der Lei-
tung nach allen Richtungen zurückführt (S. 429— 430). Denn die
Leitung ist es, durch welche die in einer Zelle statthabenden
Empfindungsschwingungen mit den in einer andern Zelle des Ge-
hirns statthabenden communiciren, sich mittheilen und dadurch
für den Standpunkt der Innerlichkeit oder Empfindung in die
höhere Einheit des nebeneinanderstehenden Inhalts eines ge-
meinsamen Bewusstseins verschmelzen. Diese Verschmelzung
findet zunächst in höchst auffallender Weise zwischen den Empfin-
dungen und Vorstellungen der beiden durch eine ziemlich schmale
♦) Vgl. Fechner'8 „Psychophysik", Bd. II, S. 392-421.
59
Brücke verbuiuleuen GrosshirDliemisphären , ebenso aber auch
:zwisclien verschiedenen Theilen des Gesammthirns (z. B. zwi-
schen dem Grosshirn und den Vierhügeln als Centralorgan der
Gesichtswahrnehmung) statt. Während also zwischen den Em-
pfindungen entfernterer Centralorgane desselben Organismus nur
eine so dürftige Verbindung besteht, dass nur dumpfe Mitthei-
lungen von einem Bewusstsein zum andern gelangen und von
einer höheren Bewusstseinseinheit aller in einem Organismus
enthaltenen Bewusstseine eigentlich nicht gesprochen werden kann,
so ist doch das Hirnbewusstsein, welches das bei weitem höchste
im Organismus ist und darum gewöhnlich schlechtweg als Ver-
treter seines Bewusstseins überhaupt angesehen wird, selbst wie-
der eine höhere Einheit vieler in ihm umiasster Bewusstseine,
nur dass in ihm die Einheit so sehr dotninirt, dass sie bei allen
über der Schwelle des Gesammtbewusstseins hegenden deren Be-
sonderheit in sich aufhebt.
Dasjenige Bewusstsein, mit welchem erst meine Erfahrung
beginnt, ist dasjenige, welches auch die Vorstellung meines Ich
umfasst und welches die Möglichkeit besitzt, seinen Inhalt mit
/allen Sinneswahrnehmungen und all seinem Gedächtnissinhalt zu
vergleichen. Auf dieses Bewusstsein, auf dieses die gesammte
Masse des grossen Gehirns umspannende Summationsphänomen
bezieht sich jede Angabe, dass eine Empfindung oder Wahrneh-
mung in mein Bewusstsein eintritt, auf dieses allein also auch
die erfahrungsmässige Angabe, dass ein gegebener Reiz unterhalb
der Schwelle liege (vgl. Ph. d. U. S. 29 — 31). Keineswegs aber können
wir behaupten, dass Empfindungen unterhalb der Schwelle dieses
Gesammthirubewusstseins auch unterhalb der Schwelle ihres
Zellen bewusstseins liegen; sondern wie sehr wahrscheinlich ein
.Sinnesnerv an jeder Stelle eine gewisse Empfindung von den ihn
durchlaufenden Schwingungen hat, ohne dass doch diese Empfin-
dung als solche weiter geleitet würde und zum Hirn bewusstsein
gelangte, ganz ebenso kann und muss auch jede Zelle im Hirn
ihre Privatempfindungen haben, welche unterhalb der Schwelle
des Gesammthirubewusstseins liegen. So erst erhalten die nega-
tiven ys Fechner's eine i)ositive Bedeutung und verschiedene
JTälle (z. B. Beeinflussung der Klangfarbe durch Obertöne, die
60
unterhalb der Schwelle liegen, — Beeinflussung des Charakters;
der Grefühle durch Vorstellungs- oder Empfindungsschwingungen^
die unterhalb der Schwelle liegen — vgl. Ph. d. U. S. 229-231)
machen es direkt wahrscheinlich, dass sie als Empfindungen
exißtiren, also als Zellenempfindnngen, da sie eingestandener
Maassen nicht Gesammthirnempfindungen sein sollen. So erlangt
der Begriff der Schwelle eine ganz andere Bedeutung, er wird
nämlich auf eine Relation zu einem Summationsphänomen von
bestimmtem Umfang reducirt. Während er sonst wohl teleologisch
begreif lieh (ebd. S, 30), in causaler Hinsicht aber völlig räthselhaft
war, wird er nun erklärlich als Function des inneren Lei-
tungswider Standes desjenigen Complexes von organischer
Materie, welchen das Summationsphänomen umfasst, auf das er
sich bezieht. Denn allein auf der Leitung im Hirn beruht, wie
wir sahen, das Summationsphänomen des Hirnbewusstseins ; da
nun jede Leitung Widerstände bietet, so kann sie als Leitung
erst wirksam werden, wenn die Oscillationen eine solche Inten-
sität gewinnen, dass diese Widerstände überwunden werden, und
erst in diesem Falle kommt das Gesammtbewusstsein zu Stande^
welches ich mein Bewusstsein nenne, und auf welches sich die
gewöhnlich so genannte Bewusstseinssch welle bezieht.*)
Kun können wir aber ohne Zweifel die soeben in Bezug
auf Hirn, Grosshirnhemisphären und Hirnzelle angestellte Betrach-
tung in analoger Weise wiederholen, wenn wir auf den lebendigen
(protoplasmatischen) Gesammtinhalt einer solchen Zelle und seine
einzelnen organischen Partikelchen (oder auf die Molecule des
betreff'enden Proteinstoffs) reflectiren. So wenig das Gehirn als-
*) Durch diese Auffassung löst sich unter anderm auch der scheinbare
Widerspruch zwischen der Behauptung der Phil. d. Unb , dass alle Empfindung
60 ipso bewusste Empfindung sein müsse, und dass doch die Empfindungen,
aus welchen unbewusst die Anschauungen des Auges construirt werden, jen-
seits des liewusstseins liegen (vgl. auch „Das Ding an sich und seine ße-
Bchaff'enheit", Berlin, C. Üunker, 1871, S. G7); die Lösung liegt darin, dasa
das Bewusstsein, welches ich mein Bewusstsein nenne, nur die fertige An-
schauung kennen lernt, und die Empfindungen, welche dieser Anschauung
zu Grunde liegen, nur in einem niedern Bewusstsein bestehen, welches mein
Bewusstsein nur durch künstliche Hülfsmittel der Steigerung behufs Erleichte-
rung der Communication und selbst da noch blos unvollständig in sich herein-
zuziehen Tennag.
61
Cranzes zur EmpfiuduDg kommen kann, es sei denn durch Sum-
mation der Empfindungen seiner organischen Elemente, ebenso-
wenig kann der protoplasmatische Zellinhalt als Ganzes zur Em-
pfindung kommen, es sei denn durch Summation der Empfindungen
seiner organischen Elemente. Dass wir die Zelle klein nennen,
ist ein ganz zufälliges und subjectives Urtheil; dem Molecule
gegenüber ist sie von so ungeheurer Grösse, dass es auf den
Unterschied der Grösse des Gehirns und der Zelle danach kaum
noch anzukommen scheint. Dennoch kommt es auf die absolute
Grösse der Zelle an; denn dieselbe ist eine solche, dass die Lei-
tungswiderstände innerhalb derselben zu klein werden, um be-
sonderer Leitungsvorrichtungen zu bedürfen; das Protoplasma
selbst reicht zur Leitung auf die Entfernungen innerhalb der Zelle
und damit zur Herstellung des Gesammtzellenbewusstseins als eines
Summationsphäuomens aus den Separatempfindungen der orga-
nischen Molecule aus. Freilich wird auch hier noch ein gewisser
innerer Leitungswiderstand vorhanden bleiben, der von Reizen
unterhalb einer gewissen Grösse nicht überwunden wird; wir
werden also auch hier eine Zellenbewusstseinsschwelle statuiren
müssen, obwohl dieselbe sich nicht leicht empirisch dürfte nach-
weisen lassen.
Zum dritten Male werden wir dieselbe Betrachtung wieder-
holen müssen, wenn wir von dem höchst zusammengesetzten
organischen Molecule des protoplasmatischen Zelleninhalts auf
dessen chemische Elementarmolecule und auf die gleicbmässigen
üratome zurückgehen. Wir sehen von dem hier erreichten
Standpunkte, dass die von der Ph. d. Unb. betonte Rela-
tivität des Individualitätsbegriffes (Abschn. C. Cap. VL
S. 495 ff.) nicht nur für äusserliche organische Individuen, sondern
auch für Bewusstseinsindividuen eine in noch viel strengerem
Sinne zu nehmende Wahrheit ist, als es nach den dort gegebenen
Ausführungen scheinen konnte.
Kachdem wir die Sehwelle als Function des inneren Leitungs-
widerstandes des entsprechenden Complexes verstehen gelernt
haben, müssen wir schliessen, dass bei den einfachen Uratomen
jeder Grund zur Annahme einer Empfindungsschwelle wegfällt,
da sie eben einfach sind, also von einem inneren Leitungswider-
62
stand keine Rede sein kann. Hierdurch würde sich das Haupt-
bedenken der Ph. d. Unb. gegen die Annahme einer Empfindung
der Atome (S. 490) erledigen und dieser fast unvermeidlichen.
Hypothese eigentlich nichts mehr im Wege stehen. Unvermeidlich
scheint uns diese Hypothese deshalb, weil, wenn die Empfindung
nicht eine allgemeine U reigenschaft der constituirenden
Elemente der Materie wäre, schlechterdings nicht einzusehen
wäre, wie durch formelle Potenzirung und Integration derselben
das uns bekannte Empfindungsleben der Organismen sollte ent-
stehen können. Dass die Materie, bis in ihre letzten Principien
verfolgt, aus dem Gebiete der Physik hinaus und durch den
dunklen KraftbegriiF in das der Metaphysik hinüberführt, ist
einmal nicht zu leugnen; so bleibt denn auch nichts übrig, als
an jener Stelle die gemeinsame metaphysische Wurzel
der in ihren höheren Steigerungen als stets sich wechselseitig
bedingenden und doch scheinbar so heterogen und unvermittelt
neben einanderstehenden Sphären der Innerlichkeit (Empfindung^
Bewusstsein) und AeusserKchkeit (räumlichen Wirkens und Daseins)
zu suchen und vorauszusetzen. Es ist unmöglich, dass aus rein
äusserlichen Elementen, die jeder Innerlichkeit entbehren, plötzlich
bei einer gewissen Art der Zusammensetzung eine Innerlichkeit
hervorbrechen sollte, die sich immer reicher und reicher entfaltet ;
so gewiss vielmehr die Naturwissenschaft überzeugt ist, dass in
der Sphäre der Aeusserlichkeit die höheren (organischen) Er-
scheinungen doch nur Combinationsresultate oder Summations-
phänomene der elementaren Atomkräfte sind, ebenso gewiss kann
sie , wenn sie sich einmal ernstlich mit dieser andern Frage be-
schäftigt, sich der Ueberzeugung nicht verschKessen , dass auch
die Empfindungen höherer Bewusstseinsstufen nur Combinations-
resultate oder Summationsphänomene der Elementarempfindungen
der Atome sein können, wenngleich letztere als solche immer
unterhalb der Schwelle der höheren Gruppenbewusstseine bleiben.
In dem Verkennen dieser Doppelseitigkeit der objektiven Er-
scheinung, deren innere und äussere Seite sich wie die Concavität
und Convexität einer und derselben Kreislinie gegenseitig bedingen
und doch wie diese nur jede von je einem Standpunkte aufge-
fasst werden können, — in dem Verkennen dieser Doppelseitig-
63
keit, welche alles Dasein von seinen niedrigsten bis zu seinen
liöcbsten Erscheinungsformen durchzieht, liegt der Grundfehler
alles Materialismus und alles subjektiven Idealismus. So un-
möglich der Versuch des letzteren ist, die äusserlichen Erschei-
nungen des räumlichen Daseins aus Functionen der Innerlichkeit
und deren Combinationen zu construiren, ebenso unmöglich ist
das Bestreben des ersteren, aus irgend welchen Combinationen
äusserlicher räumlicher Kraftfuuctionen eine innerliche Empfindung
aufzubauen, — ein Bestreben, an dem selbst der talentvolle Herbert
Spencer gescheitert ist.*) Es leuchtet nunmehr auch ein, weshalb
unser Standpunkt ebensowenig als Materialismus, wie als sub-
jectiver Idealismus bezeichnet werden kann; denn wenn wir in
den Atomen, aus welchen die Materie besteht, die einheitüche
metaphysische Wurzel der äusserlichen und innerlichen
Erscheinung des Weltweseus oder der Weltsubstanz (nämlich
der Welt als räumlich gesetzten Daseins und der Welt als Vor-
stellung) zu suchen haben, so haben wir eben damit anerkannt^
dass Innerlichkeit (Empfindung, Vorstellung, Bewusstsein) keines-
wegs als blosse Folge der in der Sphäre der materiellen Aeusser-
lichkeit vorgehenden Functionen angesehen werden kann (eben-
sowenig wie umgekehrt), sondern dass sie als ebenso ursprüi^lich
wie diese gesetzt werden muss, und als eine der Aeusserlichkeit
schon in den primitivsten Elementen des Daseins gleichberechtigte
und coordiuirte Erscheinungssphäre aus der gemeinsamen meta-
physischen Wurzel der Welt resultiren muss. Unser Standpunkt
kann aber auch schon deshalb nimmermehr Materialismus heissen,
weil uns die Materie selbst gar kein an und für sich subsistirendes
Prineip, d. h. keine Substanz im strengen Sinne sein kann, son-
dern uns selbst nur als ein Combinationsresultat oder
Summationsphänomen immaterieller Atomkräfte gilt,
weil das, was wir Materie als äusserlich gesetzte räumliche
Existenz nennen, seinerseits ebenso sehr nur ein Phänomen einer
metaphysischen Wesenheit ist wie die Empfindung, bloss mit dem
*) Vgl. A. P. Barnard's Rede über die neueren Fortschritte der Wissen-
schaften, deutsch von Klöden, Berlin 1869, S. 42 bis 52, und TyudaH's Aeusse-
rungen im Anhang.
64
Unterschied, dass erstere Phänomen in der Sphäre der Aeusser-
lichkeit oder Objektivität, letztere Phänomen in der Sphäre der
Innerlichkeit oder Subjektivität ist.
Wenn wir sagten, dass die Empfindung als ursprüngliche
Eigenschaft der die Materie constituirenden individualisirten
Elemente (Atome) angesehen werden müsse, welche nicht durch
die anderen Eigenschaften derselben in secundärer Weise verursacht
sei, sondern als coordinirte Sphäre zu betrachten sei, so schliesst
dies doch, wie schon erwähnt, die Wechselwirkung zwischen
dem bestimmten jeweiligen Inhalt beider Sphären nicht aus. Die
Bestimmtheit des Inhalts der Empfindung durch die Vorgänge in
der Aeusserlichkeit ist jedenfalls über allen Zweifel erhaben ; der
umgekehrte Eiufluss der Empfindung auf die äusseren Vorgänge
ist mindestens als höchst wahrscheinlich anzusehen, aber nicht
etwa so, als ob die Gesetze des äusseren Geschehens dadurch
Ausnahmen und Eingriffe erlitten, sondern so, dass diese Einflüsse
sich innerhalb des Rahmens der naturgesetzhchen Noth wendigkeit
halten, indem sie mitbestimmend auf das unter gleichen Umständen
regelmässig wiederkehrende Verhalten der Atome wirken, aus wel-
chem wir erst das Gesetz abstrahiren. Gerade dass wir bei unsern
Abstractionen der Gesetze des äusseren Geschehens bis jetzt nicht
im Stande sind, das Moment der Innerlichkeit mit in die Formeln
einzuführen, gerade dieser Umstand giebt den meisten Natur-
gesetzen noch eine unserm Verständniss so fremdartige Physio-
gnomie, weil zwar die äussern Umstände und das äussere Resultat
richtig aufgezeichnet sind, aber die innerliche Vermittelung fehlt,
wxlche erst gleichsam die lebendige Seele des im Gesetz ausge-
drückten realen Zusammenhanges bildet. Es ist dies ganz das-
selbe Verhältniss wie im umgekehrten Falle in einer subjekti-
vistischen Psychologie, welche von den Einflüssen der durch die
realen Vorgänge des äusserlichen Daseins erregten Hirnschwin-
gungen völlig Abstand nimmt und sich darauf beschränkt, aus
den empirisch beobachteten Zusammenhängen zwischen Vor-
stellungs- oder Empfindungs- Elementen Gesetze zu abstrahiren.
Diese Gesetze können vollständig richtig aufgestellt werden
(z. B. über die Idecnassociation) und doch fehlt jede Einsicht,
wie so gerade diese Zusammenhänge zu Stande kommen, bis die
65
Eücksichtnahme auf die Wechselwirkung mit der Sphäre der
Aeusserlichkeit (wie wir oben sahen) Licht iu die Sache bringt
(vgl. auch als anderes Beispiel die Erörterung über immanente
und transcendente Causalität im „Ding an sich", insbesondere
S. 77).
Wenn Spinoza bemerkt, dass ein fallender Stein, w^enn er
Bewusstsein hätte, frei zu handeln glauben würde, so können wir
hinzufügen, dass er Lust oder Behagen an dieser freien unbe-
hinderten ßethätigung seiner Willensnatur empfinden würde, dass
er aber Unlust empfinden würde, w^enn die seiner Tendenz ge-
mässe Fallbewegung (etwa durch Aufschlagen auf den Erdboden)
gehemmt und verhindert würde, — denn der in ihm lebendige
Wille würde im ersteren Falle im Zustande der Befriedigung^
im letzteren Falle im Zustande der Kichtbefriedigung befindlich
sein. Wenn nun auch die Atomempfindung zu tiefstehend für
ausgiebige Vergleichungen und deutliches Bewusstsein der Lust
gedacht werden müsste, so würde sie doch jedenfalls von jeder
Störung der naturgemässen Intentionen unangenehm afficirt
werden und ohne Zweifel auch von dem Contrast einer nach
längerer Hemmung wieder freiw erdenden Bethätigung angenehm
berührt werden. Hiermit w^ären auch für das Empfindungsleben
ausgedehnterer mateiieller Complexe die bestimmenden Elemente
gegeben, welche sich auf den verschiedenen Stufen organischen
Aul'baues auch innerhalb desselben Organismus wiederholen (Ph.
d. Unb. 225 — 226 und Lotze „Medicinische Psychologie'^ 2. Buch^
2. Cap.). Ob ein Molecule sich in Ruhe oder Bewegung befindet^
ist an und für sich — schon wegen der Relativität der Bewegung
— gleichgültig; eine Aenderung des Zustandes der Bewegung
wird daher in demselben Sinne, wie eine Aenderung des Zustandes
der Ruhe als Störung durch äusseren Eingriff aufzufassen sein^
vorausgesetzt natürlich, dass diese Aenderung wirklich von aussen
durch mechanische Uebertragung lebendiger Kraft und nicht durch
eine aus der Action der eigenen Kräfte herrührende Beschleu-
nigung hervorgerufen wird. Der Bewegungszustand, in welchem
sich ein Molecule befindet, ist gleichsam der indifferente Nullpunkt
seines Empfindens, der gewohnheitsmässige Zustand, dessen
Contrast mit einem früher einmal vorangegangenen anderen Zu-
66
siand, mochte derselbe mm eine angenehme oder unangenehme
Empfindung repräsentiren , längst verklungen ist. Deshalb macht
es nach Beseitigung dieses Contrastes auch keinen Unterschied
mehr für die Empfindung des Atoms, ob die innehabende Be-
wegung durch eine frühere Bethätigung der eigenen Kraft
(nicht durch gegenwärtige, denn diese würde Beschleunigung,
mithin Veränderung des Bewegungszustandes bringen) oder durch
eine frühere Uebertragung lebendiger Kraft von aussen herrührt,
und wird mithin auch die Störung des Bewegungszustandes, als
des nunmehr natürlichen, in gleicher Weise empfunden werden,
welches auch sein Ursprung sei. Wenn nun, wie wir sehen, die
Störung des Bewegungszustandes, der aus Bethätigung der eigenen
Kraft herstammt, unangenehm empfunden wird, so müssen wir
schliessen, dass ganz ebenso auch jede Störung eines aus fremder
lebendiger Kraft herstammenden Bewegungszustandes unangenehm
empfunden wird, ausgenommen, wenn die Störung dahin wirkt,
die gebundene Action der eigenen Kraft frei zu machen. Ferner
wird es in gleicher Weise empfunden werden, ob die als Störung
von aussen eingreifende Geschwindigkeitsänderung im positiven
oder negativen Sinne, als Beschleunigung oder Verlangsamung wirkt.
Nun werden aber alle Schwingungen von Hirnmoleculen in
erster Reihe durch ausserhalb ihrer selbst liegende, von anderen
Hirn- oder Nerven-Moleculen an sie herantretende Bewegungsreize
erregt; wenn auch die Art und Weise oder Form ihrer Schwin-
gungen zum Theil durch die Prädispositionen ihrer Lage undVer-
theilung bedingt ist, so ist doch das Entstehen der Schwingung
immer Folge eines herantretenden Reizes, d. h. übertragener leben-
diger Kraft von anderen schwingenden Nerventheilen , die sie
letzten Endes beim Wahrnehmungsprocess durch die lebendige
Kraft der Licht-, Schall- und anderen Schwingungen erhalten
haben. Dies wäre wenigstens beim rein passiven Percipiren die
einzige Kraftquelle, angenommen, dass ein solches passives Per-
cipiren ohne actives Appercipiren oder Einordnen in bekannte
Vorstellungsreihen in aller Strenge vorkäme. Das Appercipiren,
das sich mehr oder minder dem Percipiren immer beimengt, ist
aber schon ein Beginn der activen Verarbeitung von empfangenen
Vorstellungen und erfordert als solches eine Aufwendung der im
67
Creliiru aufgespeicherten chemischen Kraft (welche aus den Nah-
rungsmitteln herstammt). Diese active Krafthethätigung ist nur
das Allgemeinere dessen, was wir bereits als Aufmerksamkeit
kennen lernten und was bei allem Wahrnehmen, Appercipiren,
Lenken einer Gedankenreihe zu bestimmtem Ziele, kurz bei jeder
geistigen Arbeit und namentlich bei produktiver Arbeit eine so
dominirende Rolle spielt. Auch diese eigenthümliche Activität
des Gehirns aus dem aufgespeicherten Kraftvorrath bedarf zu
ihrem Eintreten eines von aussen herantretenden Reizes, aber die
lebendige Kraft, welche er auslöst, ist viel grösser als die, welche
er mitbringt (etwa wie die lebendige Kraft der Luft in den
Pfeifen einer gespielten Orgel, die vom Balgentreter herrührt,
weit grösser ist als die lebendige Kraft der die Tasten bewegenden
Finger des Orgelspielers, welche doch für die Pfeifen als aus-
lösender Reiz wirkt). Nur die Aufmerksamkeit und geistige
Activität ermüdet das Gehirn, nicht die passive Aufnahme, weil
nur in ersterem Falle die eigene Kraft verzehrt wird. Das ohne
jede Aufmerksamkeit den Sinneseindrücken träumerisch hinge-
gebene Gehirn ermüdet ebenso wenig, wie es von den Bildern
des wirklichen Traumes ermüdet. Wohl aber können dabei noch
die Sinnesorgane, die Sinnesnerven und die Centralorgane der
Sinnesperception ermüden, weil in ihnen unwillkürlich und reflec-
torisch durch die eintretenden Reize immer eine gewisse Reaction
erregt wird, welche als eine ermüdende active Aufmerksamkeit
(aber nicht als Gehirnaufmerksamkeit, sondern als untergeordnete
Nerveuaufmerksamkeit) zu bezeichnen ist, — eine Activität, deren
Kraftverbrauch bis zu eingetretenem Ersatz wie überall eine Ab-
stumpfung gegen den Reiz zur Folge hat. Auch beim Gehirn
selbst ist die Aufmerksamkeit auf die meisten Reize von gewisser
Grösse zum Theil unwillkürlicher Reflex, zum andern Theil aber
Resultat eines Ueberlegungsprocesses, der die betreffenden Reize
mit den Interessen des Individuums confrontirt und danach
erst sich zur Aufmerksamkeit in höherem oder geringerem Grade
entschliesst ; bei gewissen Stimmungen kann aber der unwill-
kürliche Reflex auf lange Reihen gewisser Reizklassen sehr gering
werden, und dann darf er praktisch vernachlässigt werden, weil
die beständige Alimentation des Gehirns (wie im Traum) mehr
68
als gentigt, um den dabei stattfindenden Kraftverbrauch zu er-
setzen. Umgekehrt scheint bei gespanntem, aufmerksamem Suchen
nach einer Vorstellung (siehe oben S. 56) der die vorhandenen ver-
wandten Dispositionen erregende centrifugale Innervationsstrom
das allein Bestimmende zu sein, und doch ist nicht zu vergessen,
dass die actuell im Bewusstsein vorhandene Vorstellung für die
neu entstehende als äusserer Reiz w^irkt, welcher ein gewisses
Maass von lebendiger Kraft überträgt, ganz wie die Schallwellen
lebendige Kraft auf die Cortischen Organe übertragen. Wir sehen
also, dass streng genommen die lebendige Kraft des Reizes und
die aus der aufgespeicherten Nervenkraft herrührende reflectorisch
(sei es unwillkürlich oder durch bewussten Reflectionsprocess)
ausgelöste lebendige Kraft als Quellen der lebendigen Kraft einer
Vorstellung immer Hand in Hand gehen, dass aber bald der eine
Factor, bald der andere verschwindend klein werden kann, je
nachdem die Produktivität oder die Receptivität dominirend her-
vortritt.
Wenn es sich um die Frage der Entstehung desBe-
wusstseins oder der Empfindung handelt, so liegt es auf der
Hand, dass wir es mit jenem extremen Falle zu thun haben, wo
die Receptivität dominirt; denn erst nachdem wir von
den primitiven Ursprüngen der Empfindung einen langen Weg
aufsteigender Entwickelung zurückgelegt haben, kommen wir in
Regionen, wo von einer geistigen Verarbeitung der Empfindungen
die Rede sein kann. Dies gilt ebenso von den untersten Stufen
der Empfindung im menschlichen Organismus, wie von denen in
der aufsteigenden Reihe des Protisten- und Thierreichs als Ganzen.
Wir werden also bei den Anfängen der Empfindung die reflec-
torische Entfaltung eigener Kraft vernachlässigen dürfen und uns
an den erregenden Reiz als die wesentliche Quelle der leben-
digen Kraft der Empfindungsschwingungen halten dürfen. Diese
vom Reiz übertragene lebendige Kratt ist nun aber für jedes
davon betroffene Molecule ein störender Eingriff in seinen be-
stehenden Zustand, von dem es sich nach den obigen Erörterungen
unangenehm afficirt fühlen muss. Es findet sich in eine Bewe-
gung versetzt, zu welcher in seinem Willen, d. h. in seiner ihm
eigenthümlichen Kraft sammt den Gesetzen, nach denen sie sich
69
äussert, keine VeranlassuDg gegeben war; diese Bewegung em-
pfindet es als eine seinem Naturwillen nicht gemässe, aufgezwun-
gene, widerwärtige. Hier wenn irgendwo ist der Ursprung der
actuellen Empfindung und damit zugleich der Ursprung des Be-
wusstseins zu suchen, das nur durch den Contrast des eigenen
Willens mit dem eigenen Thun entstehen kann, während die
behagliche Empfindung der dem eigenen Willen gemässen Bethä-
tigung erst durch den Contrast mit der bereits vorhandenen ent-
gegengesetzten Empfindung entstehen kann. Wir glauben uns —
bis auf die Herleitung und Ausdrucksweise — hier in völliger Ueber-
einstimmung mit der Ph. d. U. zu befinden (S. 404 — 406 und
409—410).
Wenn wir oben die Empfindung als allgemeine ursprüngliche
Eigenschaft der constituirenden Elemente der Materie in Anspruch
nahmen, so war doch damit natürlich nicht die actuelle Empfin-
dung gemeint, welche erst durch den äussern Reiz hervorgerufen
wird, sondern das latente Vermögen, auf einen solchen Eingriff
durch äussern Reiz mit der Empfindung zu antworten. Diese
metaphysische Wurzel des Atoms, welche zugleich seine Kraft,
äusserlich nach bestimmten Gesetzen zu wirken, und seine Fähigkeit,
aul eine Aenderung seiner äusseren ßewegungszustände mit Empfin-
dung zu reagiren, umfasst und welche natürlich jenseits alles Be-
wusstseins liegt, kann man als das Unbewusste des Atoms be-
zeichnen, welches die primitivsten Urformen von Wille und Vor-
stellung in seinem Schoosse trägt. Dieses Unbewusste ist der
metaphysische Hintergrund, auf welchem durch die Aenderung
der äusseren Vorgänge das Wunderbild der bewussten Empfin-
dung entworfen wird, gleichsam die Wand für die Zauberlaterne,
deren Bild ohne solche nicht zur Erscheinung käme, der unver-
änderlich bleibende Hintergrund, auf welchem die wandelnden
Erscheinungen der Empfindungs- und Vorstellungswelt sich ab-
spielen (vgl. „Philosophische Monatshefte^', herausgegeben von
I. Bergmann Bd. IV, Hft. 1 S. 47). Leider hat die Ph. d. U.
diese Betrachtung nicht für das einzelne Atom durchgeführt, son-
dern gleich mit dem Hirnbewusstsein begonnen; dadurch ist sie
in eine unberechtigte Gegenüberstellung von unbewusstem Geist
und Materie hineingerathen, gleich als ob der unbewusste Geist
70
als ein abgetrenntes Wesen den Atomen der Materie etwa so
gegenüberstände, wie diese sich untereinander (z. ß. S. 403
Z. 17—19; S. 404 Z. 9—7 von unten). Eine Betrachtung der
Empfindung zunächst am Atom würde hingegen haben erkennen
lassen, dass das Unbewusste, welches empfindet, nicht etwas dem
Atom fremd Gegenüberstehendes, von ihm Getrenntes, sondern
eben dieses selbst ist; das eben dargelegte Anerkenntniss , dass
Einheit des Bewusstseins in einer Gruppe von mit Einzelbewusst-
sein begabten Elementen nur durch Leitung bedingt ist (S.
426—430), und dass das so entstandene einheitliche Bewusstsein
in der That ein Summationsphänomen ist, also z. B. das
Hirnbewusstsein ein Summationsphänomen aus Zellenbewusstseinen
ist (S. 299 Z. 11 — 12), würde dann in Verbindung mit dem Ver-
ständniss des Vorganges am Atom verhindert haben, den unbe-
wussten metaphysischen Hintergrund, auf welchem das einheit-
liche Bewusstsein entworfen wird, noch in etwas anderem zu suchen
als dem Unbewussten der Atome des materiellen Complexes, in
welchem das einheitliche Bewusstsein stattfindet.
Was jedoch die scheinbare Differenz zwischen unserer Dar-
stellung und der Ph. d. U. wiederum vermindert, ist der Monis-
mus der letzteren, d. h. ihre Behauptung, dass das Unbewusste
in Allem substantiell identisch und Eines und nur in phänome-
naler Hinsicht (sowohl in der äusserlich realen Existenz, als in
der innerlichen Abgeschlossenheit des Bewusstseins) eine Vielheit
des Daseins nachgewiesen werden könne. In der That hat die
Naturwissenschaft als solche nicht nur kein Interesse, sich diesem
Monismus zu widersetzen, da er ja die reale Vielheit der phy-
sischen Erscheinung unangetastet lässt, sondern sie darf sogar
anerkennen, dass der Hintergrund dieser metaphysischen Hypo-
these in vieler Hinsicht für das Verständniss der Naturgesetze
vortheilhaft ist. Wenn die Naturwissenschaft nur erst über das
Vorurtheil eines substantiellen Stoffs in den Atomen neben und
ausser den Atomkräften hinweggekommen ist (S. 475 ff.), und die
potentielle Kraft (gewöhnlich von den Physikern Spannkraft ge-
nannt) als etwas Unräumliches erkannt hat (487 — 489), so wird
ihr auch der Schein, in den Atomen getrennte Substanzen zu be-
sitzen, verschwinden, und sie wird sich vom rein physikalischen
71
Standpunkt nunmehr ganz gleichgültig gegen die Frage ver-
halten, ob die Atome substantiell oder nur functionell verschieden
seien, ob sie selbständig jedes für sich subsistiiende Monaden,
oder ob sie nur verschiedene Functionen einer identischen abso-
luten Kraftsubstanz (eines Weltwillens) seien. Sobald man sich
dessen bewusst ist, dass man mit dem Begriff der potentiellen
Kraft (nicht zu verwechseln mit der lebendigen Kraft, welche
nur mechanisches Moment der Bewegung ist) bereits das Gebiet
der Physik überschritten und das der Metaphysik betreten hat,
so wird mau sich auch nicht zu sträuben brauchen, weiteren meta-
physischen Erwägungen und Hypothesen Raum zu geben und in der
metaphysischen Wurzel eines jeden physikalischen Atoms nur eine
einzelne Verzweigung der grossen metaphysischen Wurzel der Welt
anzuerkennen (490 — 491). Ich will hier nur auf eine Erwägung
der Ph. d. U. aufmerksam machen, nach welcher bei getrennten
Substanzen jede reale Beziehung, also auch jeder causale Ein-
fluss auf einander unverständlich wäre, wenn nicht ein metaphy-
sisches Band denselben vermittelt, welches den Atomen nicht,
wie diese sich untereinander, getrennt gegenübersteht (denn dann
wäre auch wieder der influxus zwischen Band und Atomen un-
verständlich) , sondern dieselben als höhere Einheit in sich ent-
hält ('526—527). Aber auch wem diese metaphysische Erwägung
nicht stichhaltig erscheint, dürfte doch sich zu einer Art Monis-
mus getrieben sehen, wenn er von den äusseren Beziehungen der
Atome untereinander zu ihren innerlichen Beziehungen, d. h. zu
dem Summationsphäuomen eines einheitlichen Bewusstseins mit
seiner Betrachtung übergeht. Wenn mein Vorstellungsleben ausser
Stande ist, auf die Bewusstseinssphäre eines andern Menschen
einen Einfluss zu üben, es sei denn durch Vermittelung der bei-
den zugängUchen Sphären des äusserlichen Geschehens, so findet
zweifelsohne dasselbe Verhältniss auch bei Atomen statt: die Em-
pfindung eines Atoms kann auf die Empfindung eines andern
Atoms influiren nur durch die Sphäre des äusserlichen Geschehens,
durch Veränderung des fremden Bewegungszustandes durch den
eigenen. Dies drückt sich auch darin aus, dass die Leitung,
d. h. die Möglichkeit der Uebertragung des Bewegungszustandes,
Bedingung für die Concrescenz der getrennten Empfindungen zu
72
einem einheitlichen Bewusstsein ist, weil ohne dieselbe jede Beein-
flussung unmöglich wäre. Aber wenn sie auch Bedingung ist,
so kann sie doch nicht vollständige oder zureichende Ursache
sein; denn wenn gleich die Empfindung eines Atoms durch das
andere alterirt werden kann, so muss man doch erwarten, dass
die alterirte Empfindung von der Empfindung des alterirenden
Atoms nach wie vor atomistisch gesondert bleibt. Wie auf Grund
blosser Leitung eine Verschmelzung mehrerer Bewusstseine zu
einem oder der Aufbau eines höheren Bewusstseins aus den nie-
deren sollte zu Stande kommen können, wird nicht ersichtlich,
so lange wir nicht die Hypothese einer metaphysischen unbe-
wussten Einheit der empfindenden Atome hinzufügen. Dann na-
türlich hat das Summationsphänomen des einheitlichen Bewusst-
seins keine Schwierigkeit mehr, weil der metaphysische Hinter-
grund, auf welchem die bewusste Empfindung entworfen wird,
nicht mehr ein atomistisch-zersplitterter , sondern ein einheitlicher
ist, — nämlich das Eine Unbewoisste, welches sich nur functionell
(als viele Atom-Kräfte und Atomempfindungen) in die Vielheit be-
geben hatte. — Fügen wir hinzu, dass auch wir z. B. im Hirn-
bewusstsein das Eine und absolute Unbewusste nur insofern
als Hintergrund voraussetzen, als es in denAtomen dieses Ge-
hirns functionirt, und dass andererseits auch die Ph. d. ü. das
Eine und absolute Unbewusste nur insofern als Individualgeist
individualisirt denkt, als es auf diesen Organismus hin
functionirt, so scheint der vorhin urgirte Unterschied fast gänzlich
wieder zu verschwinden. Dennoch ist er vorhanden und lässt
sich dahin präcisiren, dass wir keine Functionen des Unbewussten
kennen, welche auf diesen Organismus Bezug hätten, als die-
jenigen, welche in den Atomen desselben sich offenbaren, wohin-
gegen die Ph. d. U. die beständigen metaphysisch-teleologischen
Eingriffe in den Lebensprocess des Organismus sowohl auf phy-
sischem wie auf psychischem Gebiete behauptet und deshalb
einen viel weiteren Begriff hat als wir von „dem Unbewussten,
insofern es in Bezug auf diesen Organismus functionirt". Aller-
dings haben auch wir durch das Zugeständniss, dass h()here Be-
wusstseinseinheiten durch blosse Atomempfindungen ohne das
metaphysische Band des Einen absoluten Unbewussten nicht
73
möglich seien, schon implicite zugegeben, dass dieses doch noch
ausser seinen Functionen in den Atomen als solchen bei dem
Zustandekommen des einheitlichen Bewusstseins betheiligt sei;
aber diese Betheiligung ist eine rein passive, jede active Be-
thätigung ausschliessende und ganz besonders alle Eingriffe in
den naturgesetzlichen Gang der Ereignisse ausschliessende; es
ist eben nur die einheitliche Wand, die still hält, und nur da-
durch zum Zustandekommen der von ihr aufgegangenen Bilder
mitwirkt, dass sie da ist, und zwar als Eine und ganze da ist.
Es hängt mit der erörterten Differenz eine andere Schwie-
rigkeit eng zusammen, in welche die Ph. d. U. durch ihre teleo-
logischen Velleitäten sich verwickelt. Wir sahen schon oben,
dass die Art und Weise einer entstehenden Empfindung unab-
hängig ist von dem Ort, wo sie entsteht, nur abhängig von der
Porm und Modalität der sie hervorrufenden Schwingungen, dass
also genau gleiche Schwingungen nicht nur an jeder Stelle des-
selben Gehirns, sondern auch in verschiedenen Gehirnen genau
gleiche Empfindungen hervorrufen müssen. Dies ist nur möglich,
-wenn die Reaction des Unbewussten (Empfindungsvermögens) auf
die Schwingungen mit der entsprechenden Empfindung eine durch
ausnahmslose Naturgesetze bestimmte ist, welche jede Willkür
und Freiheit ebenso wie jede Zufälligkeit unbedingt ausschliesst.
Nur wenn die Reaction der Innerlichkeit auf den äusserlichen
Vorgang eine durch äusserlichen Zwang aufgenöthigte ist,
tritt jener Contrast zwischen dem nicht selbstgesetzten und
doch vorgefundenen Empfindungs- oder Vorstellungsinhalt und
zwischen dem naturgemässen eigenen Willensinhalt ein, welcher
durch die unlusterweckende Opposition seiner Elemente zugleich
der Entstehungsmoment des Bewusstseins sein soll. Die Ph.
d. U. erkennt dies ausdrücklich an und spricht es so aus: „Der
Gegensatz zwischen Wille" (eigenem Naturwillen) „und Vor-
stellung^' (hervorgerufener Empfindung) wird noch dadurch erhöht,
dass die Vorstellung nicht unmittelbar durch die materielle
Bewegung gegeben ist, sondern erst durch die gesetzmässige
Reaction des Unbewussten auf diese Einwirkung; es tritt also
noch hinzu, dass das Unbewusste mit einer Thätigkeit ant-
worten muss, welche ihm gleichsam aufgenöthigt wird.
74
Auf diese Weise entstehen zunächst die einfachen Qualitäteis
der Sinneseindrücke, wie Ton, Farbe, Geschmack u. s. w. , aus
deren Beziehungen zu einander sich dann die ganze Wahr-
nehmung aufbaut, aus welcher wieder durch Reproduktion der
Gehiruschwingungen die Erinnerungen, und durch theilweises
Fallenlassen des Inhalts der letzteren die abstracten Begriffe
entstehen" (S. 406). Wenn es unzweifelhaft richtig ist, dass die
Empfindung nicht als unmittelbare und ausschliessliche Folge
der äussern Bewegung, sondern nur als Reaction des Unbewussten
(Empfindungsvermögens) auf diese Bewegung zu verstehen ist,
wenn es ferner richtig ist, dass die so als Reaction aus dem Un-
bewussten selbst hervorquillende Empfindung nur dann die Ent-
stehung des Bewusstseins begreiflich macht, wenn sie als auf-
genöthigte, naturnothwendige, nicht aus der eigenen Willensnatur
hervorgehende gefasst wird, so darf auch nimmermehr diese
Reaction als eine vom Unbewussten teleologisch zum Zweck
der Entstehung des Bewusstseins gesetzte und bestimmte gedacht
werden, wie die Ph. d. U. es thut; denn dann läge nur eine
Taschenspielerei vor, dass das Unbewusste über eine Reaction als
nicht von ihm gewollte oder beabsichtigte stutzt, die
es doch mit der andern Hand sich selbst mit wohlberechneter
Absicht unter den Zauberbecher geschoben hat, aus dem sie
nun zum Vorschein kommt. Solche Selbstbegaukelung des Un-
bewussten ist ganz unmöglich ; entweder ist die teleologische Meta-
physik richtig, und die Bewusstseinsentstehung der hauptsächliche
Mittelpunkt des Unbewussten, dann ist die obige Theorie der Be-
wusstseinsentstehung falsch; oder aber diese Theorie ist, wie wir
glauben richtig, dann kann die Bewusstseinsentstehung nimmer-
mehr der Zweck, sondern nur die unbeabsichtigte Folge
des Vorganges gewesen sein, aus dem sie resultirt. Da wir ohne-
hin schon unsern Standpunkt gegenüber der Teleologie klar-
gestellt haben, so kann natürlich dieses Dilemma uns nur in un-
serer Auffassung bestärken.
y.
Charakter und Wille.
„Wenn dem Materialismus einmal das bewusste Vorstellen
und Denken eingeräumt ist, so hat er volles Recht, auch das be-
wusste Fühlen und damit das bewusste Begehren und Wollen
in Anspruch zu nehmen, da die physiologischen Erscheinungen
für alle bewussten Geistesthätigkeiten das Gleiche aussagen. Es
ist völlig inconsequent von Schopenhauer, den Gedächtnissschatz
des Geistes sammt den intellectuellen Anlagen, Talenten und Fer-
tigkeiten des Individuums auf die Constitution des Hirns zurück-
zuführen und den Charakter des Individuums, der sich eben so
leicht, wo nicht noch leichter, dieser Erklärung unterwirft, von
derselben auszuschliessen und zu einer individuellen metaphysischen
Essenz zu hypostasiren, welche seinem monistischen Grundprincip
in's Gesicht schlägt.^^ (Phil. d. Uub. S. 3'S7 — 388.) „Der Cha-
rakter ist der Reactionsmodus (des Individuums) auf jede be-
sondere Classe von Motiven, oder was dasselbe sagt, die Zu-
sammenfassung der Erregungsfähigkeiten jeder besonderen Classe
von Begehrungen" (234). Die verschiedenen Seiten oder Grund-
richtungen des Charakters, welche als innere Triebfedern des
Handelns den verschiedenen Motivklassen als äusseren entsprechen,
sind die Triebe (61 u. 233). „Der Trieb hat also als solcher
nothwendig einen bestimmten concreten Inhalt, welcher durch die
physischen Prädispositionen der allgemeinen Kürperconstitution
und der raolecularen Constitution des Centralnervensystems bedingt
ist" (61). Diese theils ererbten, theils im Laufe des Individual-
76
lebens erworbenen molecularen Hirnprädispositionen sind es also,
welche nicht nur das Gedächtniss und die intellectuellen Anlagen,
sondern auch den Charakter bestimmen (28), indem sie in beiden
Fällen sich als das Substrat bekunden, durch welches die Macht
der Gewohnheit sich bethätigt (608). Die Temperamente werden
in ganz analoger Weise durch eine dauernde, wie die Stimmungen
durch eine vorübergehende Gesammtdisposition des Gehirns be-
dingt (Phil. Monatshefte Bd. IV. Hft. 5. S. 389). Die Thatsache
der Vererbung von Charaktereigenschaften wie von intellektuellen
Anlagen wäre, da der Befruchtungsakt ein rein materieller (physi-
^ kalisch-chemischer) Vorgang zwischen sperma und ovum ist,
schlechterdings unbegreiflich, wenn nicht alle die so vererbten
Charaktereigenschaften wie intellektuellen Anlagen ausschliesslich
von der Constitution des Organismus abhängig wären, dessen
Beschaffenheit allerdings durch die Beschaffenheit der Zeugungs-
stoffe bedingt zu denken ist (ebenda S. 388). Indem der Mensch
durch Ererbung der constitutionellen Anlage und der charaktero-
logischen Hirnprädispositionen als Resultat einer zahllose Gene-
rationen umspannenden charakterologischen Entwickelungsreihe
dasteht, ist es kein Wunder, dass das Resultat so undenklich
langer Processe nicht ohne Weiteres umgestossen oder corrigirt
werden kann durch die Einwirkungen, welche während eines
Menschenlebens auf dieses Gehirn influiren, und dass die Mo-
di ficabilität des Charakters in einer Generation in ziemlich
enge Grenzen eingeschlossen ist, welche dennoch Spielraum genug
gewähren, um diese Modificabilität zu einem praktisch und ethisch
höchst bedeutsamen Moment zu machen (ebenda S. 383, 391).
Denn als Endglied einer langen Ahnenreihe, in der alle möglichen
Charaktere vorgekommen sind, enthält auch jeder Mensch in sich
die Anlagen zu allen Trieben ohne jede Ausnahme, und nur
in den verschiedenen eine quantitativ oder graduell verschiedene
Prädisposition (ebd. 390). Je nach den Motiven, welche am
häufigsten an den Menschen herantreten, wird die Gewohnheit
durch quantitative Steigerung gewisser häufig erregter Triebe und
Depression anderer durch Verkümmerung und Nichtgebrauch eine
Aenderung des Stärkeverhältnisses der Triebe oder Charakter-
anlagen untereinander hervorbringen und dadurch den Charakter
77
als Ganzes modificiren (ebd. 390-391; Ph. d. Unb. 608, 610 bis
611). Wenngleich die Thatsaebe, dass der Charakter in Him-
dispositionen besteht, jede Aenderung des Charakters durch einen
einmaligen , noch so energischen Willenseutschluss unmöglich
macht, weil eben die Hirnconstitution nicht so leicht und am
wenigsten durch plötzlichen Willenseutschluss zu ändern ist, so
bietet sich doch durch die Gewohnheit einer bestimmten Hand-
lungsweise die Möglichkeit, mit der Zeit den Charakter nach
bewussten Grundsätzen zu modificiren (Ph. des Unb. 358), und
die Möglichkeit, gewissen Motivklassen aus dem Wege zu gehen
und andere Motivklassen häufig und mit Lebhaftigkeit sich zu
vergegenwärtigen und auf sich wirken zu lassen, giebt wiederum
die Mittel an die Hand, um seine Haudhingen annähernd nach
Principien zu regeln (356 — 358). Diese Auffassung bietet mithin
eine auf thatsächlichen Grundlagen erwachsende Handhabe der
sittlichen Selbstzucht und der Erziehung Anderer, was sich von
keiner auf dem Freiheitsbegriff beruhenden Ethik behaupten lässt.
Das Motiv ist allemal Vorstellung, besteht also in Hirn-
schwiugungen, der Inhalt des resultirenden Willens besteht eben-
falls in einer Vorstellung (Phil. Monatshefte Bd. IV, Hft. 5,
S. 396—401), also in Hirnschwingungen, und die blosse Vorstellung
(welche nicht Willensinhalt ist) unterscheidet sich von der ge-
wollten Vorstellung oder der Vorstellung als Willensinhalt doch
auch nur dadurch, dass erstere nur innerhalb des Grosshirns
(als Erreger anderer Vorstellungen als Reiz fuugirt, während
letztere ihre erregende Kraft auch auf die centralen Endigungen
der motorischen Nerven ausdehnt und so Handlungen hervorruft.
Niemand, der einmal einräumt, dass Vorstellungen in Hirnschwin-
gungen bestehen, kann bestreiten, dass jede Vorstelluug eben
deshalb auch eine gewisse lebendige Kraft repräsentirt, und es
erscheint deshalb nicht als ein qualitativer , sondern nur als ein
gradueller Unterschied, ob diese lebendige Kraft ausreicht, um
centrale Eudigungen motorischer Nerven zu erregen, oder ob sie
zur Ueberwindung der dazwischen liegenden Leitungswiderstände
zu schwach ist und nur andere latente Hirndispositionen zu er-
regen vermag. Dass die Grenze eine durchaus flüssige ist, zeigen
die durch blosse Vorstellungen unwillkürlich hervorgerufenen Be-
78
wegiingen (Cap. A VII Nr. 2, S. 159—163), bei denen dann die
Ph. d. U. einen unbewussten Willen voraussetzt, den wir eben
als die lebendige Kraft der Vorstellungsschwingungen bezeichnen,
wofür auch das zu sprechen scheint, dass die Stärke der un-
willkürlich erregten Beweguugstendeuzen proportional der Leb-
haftigkeit der Vorstellungen, d. h. der lebendigen Kraft ihrer
Schwingungen ist. Ausser dem graduellen Unterschied zwischen
der blossen und der gewollten Vorstellung kann jedoch sehr wohl
noch bei letzterer direkt ein (der Aufmerksamkeit verwandter)
centrifugaler Inuervationsstrom hinzutreten, welcher die Ueber-
tragUDg der lebendigen Kraft der Vorstellungsschwingen nach
bestimmten Richtungen oder in bestimmte Bahnen (nach den
centralen Endigungen gewisser motorischer Nerven) hinlenkt,
durch Erregung der auf der Leitungsbahn gelegenen Nervenpar-
thien den Leitungswiderstand in dieser Richtung vermindert und
die lebendige Kraft der geleiteten Schwingungen wohl gar noch
positiv verstärkt. Ein solcher positiver Inuervationsstrom würde
überall da vorauszusetzen sein, wo eine Vorstellung nicht unwill-
kürlich die motorischen Nervenenden erregt, sondern wo die be-
wusste Absicht des Handelns vorliegt; die positive Verstärkung
der Energie der erregenden Schwingungen würde namentlich da
zu erwarten sein, wo es sich nicht nur um einen motorischen
Inuervationsstrom überhaupt handelt, sondern um einen sehr
energischen, der die Muskeln zu kräftigster Contraction anregt.
Wir haben oben der Einfachheit wegen einen Punkt über-
sprungen, den wir jetzt nachholen wollen. Eine als Motiv wir-
kende Vorstellung erregt nämlich nicht nur Eine latente Hirn-
disposition, sondern immer mehrere zugleich, aber in verschie-
denem Grade, gerade wie Avir dies schon im vorigen Abschnitt
sahen. Wenn dort unter den blossen Vorstellungen ein Kampf
um das Vordrängen in das Bewusstsein, in die eng begrenzte
Sphäre der gleichzeitigen Aufmerksamkeit entstand, so entsteht
hier unter den auf's Handeln gerichteten Vorstellungen oder den
aus der Erregung der Triebe entspringenden Begehrungen ein
analoger Kampf, in welchem einestheils partielle oder totale In-
terferenzen der Schwingungen stattfinden können, theils auch
Hereinziehen neu angesprochener Dispositionen oder Umbildungen
79
und Zusammensetzungen sich ergeben können, die durch ihr End-
resultat uns häufig sehr überraschen (235), da sie grossentheils
jenseits des ßewusstseins sich vollziehen (234, 236) und uns die
Gesetze dieser Voi'^änge noch nichts weniger als bekannt sind.
Abstrahirt man von den wirklichen mechanischen Vorgängen bei dem
Zusammenstoss verschiedener Schwingungen, die aus verschiedenen
gleichzeitig und in ungleicher Stärke erregten Dispositionen hervor-
gehen, und fasst man nur die empirischen Gesetze in's Auge, welche
die empirische Psychologie aus der innern Selbstbeobachtung über
den Kampfund die Zusammensetzung der Begehrungen ableitet, so
kann man diese Processe graphisch versinnbildlichen durch die me-
chanischen Gesetze aus der Statik des Atoms, indem man die Be-
gehrungen als Kräfte, die auf einen Punkt wirken, aufzeichnet,
und den Willen als die aus ihnen hervorgehende Kraftresultante
construirt (vgl. Phil Monatshefte Bd. IV, Hft. 5, S. 406—408).
Aber auch abgesehen von dieser graphischen Darstellung ist es
streng richtig, dass das wirkliche Wollen jeden Moments die Re-
sultante aller in diesem Moment erregten Begehrungen ist (Ph.
d. U. 234, 357), und dass mithin, da strenggenommen niemals
nur eine einzige Disposition allein, sondern höchstens eine
einzige vorwiegend durch ein Motiv erregt werden kann, alles
wirkliche AVoUen im Menschenhirn Summationsphänomenin
ganz demselben Sinne wie alles bewusste Vorstellen ist. Im einen wie
im andern Falle bleiben die constituirenden Elemente unterhalb der
Bewusstseinsschwelle, und wenn die wichtigeren der erregten Begeh-
rungen hiervon eine Ausnahme zu machen scheinen, so ist es doch nur
scheinbar, denn einzeln bewusst werden diese streitenden Interessen
doch eben nur in präliminarischen Reflectionen über die wahre
Bedeutung der Motive und der Folgen dieser oder jener Hand-
lungsweise (236), welche noch weit von dem Moment des noth-
wendigen Entschlusses abstehen und deshalb nur in Velle'itäten
und Vorsätzen arbeiten, die nicht selten von dem wirklich ein-
tretenden Wollen zum Erstannen des Intellekts völlig über den
Haufen geworfen werden (235). Aber auch wenn sie sich als
richtig erweisen, so ist doch das wirkliche Wollen, das mit der
Inauguration der That zusammenfällt (769 ff.), in dem Moment
seiner Realität Summationsphänomen aus unbewussten Com-
80
ponenten, mögen dieselben immerhin zu früheren Zeiten öfters^
das Bewusstsein einzeln durchlaufen haben. Die unbewussten,,
d. h. hier nur unterhalb der Schwelle des Gesammthirnbewusst-
Seins gelegenen Componenten sind aber die Reactionen der ein-
zelnen charakterologischen Hirnprädispositionen auf die Hirn-
Schwingungen der Vorstellung des Motivs, d. h. sie sind wiederum
Summationsphänomene, deren Leistungsvermögen der lebendigen
Kraft der schwingenden Hirnmolecule entstammt und sich au&
dieser ganz ebenso zusammensetzt, wie die Zellenempfindung aus-
den Empfindungen der Zellenmolecule. Ueberspringen wir dem-
nach die Zwischenglieder, so ist der Hirnwille ganz ebenso ein
Summmationsphänomen der vielen Atomwillen des Gehirns, wie
die Hirnempfindung ein Summationsphänomen der Atomempfin-
duugen des Hirns ist. So unmöglich, wie eine Entstehung der
Empfindung in irgendwelchem Atomcomplexe ohne Empfindungs-
vermögen der Einzelatome wäre, ebenso unmöglich wäre auch
die Entstehung eines Willens in einem Atomcomplex, ohne dass-
schon die Einzelatome den Willen hätten, aus dem der Gesammt-
Wille sich aufbaut. Wenn das Atom zuerst ein Metaphysisches
und dann ein Physisches ist, so kann man es sich auch wohl
gefallen lassen, seine Kraft, die ebensowohl zugleich etwas Inner-
liches als etwas Aeusserliches ist, in erster Reihe als Wille zu
bestimmen (S. 486), nachdem einmal erkannt ist, dass das, was
als Hirnwille herauskommt, doch schon im Atom drin gesteckt
haben muss. Aber freilich werden wir uns nicht damit begnügen
dürfen, den Willen eines Menschen nur in dem den Atomen
seines Gehirns abstract gemeinsamen Formalprincip der Bewegung
und Veränderung zu suchen, welches hinter den concreten Hirn-
dispositionen gleichsam auf Bethätigung lauert (61), sondern wir
werden über die Bedeutung dieser Jbloss formalen Ab str actio n
hinaus zu einem concreten Collectivum gehen müssen, wel-
ches die unbewussten Willen der einzelnen Atome nicht bloss
unter sich, sondern in sich begreift (S. 4). Wie wir die Mög-
lichkeit der Empfindung als Summationsphänomen nur unter
dieser Voraussetzung einer metaphysischen substantiellen Einheit
die Atome begreifen konnten, ganz ebenso auch den Willen.
Dann aber werden wir auch ebenso wie vorher bei der Empfindung,.
81
der Nothwendigkeit enthoben sein, einen andern Willen im i\
dividuum anzuerkennen als den, welcher in den Atomen desselben
als Atomwille naturgesetzmässig sich auswirkt, und werden alle
Theorien von metaphysisch teleologischen Willenseingriffen des
Unbewussten in den Process des physischen und psychischen In-
dividuallebens entschieden verwerfen, wie wir es auf intellek-
tuellem Gebiete bereits gethan haben. Es giebt keinen Indivi-
dualwillen als die Willen der Atome des Individuums und die
aus diesen naturgesetzmässig resultirenden Summationsphäno-
mene; es giebt keine Thätigkeit des absoluten Unbewussten in
Bezug auf dieses Individuum, als welche sich in den naturgesetz-
mässigen Atomtunctionen erschöpft.
Die Ph. d. U. supponirt nun aber ausser den auf die natur-
gesetzmässigen Actionen der Atome gerichteten Functionen des
absoluten Unbewussten in Bezug auf jedes Individuum noch ein
ganzes Strahlenbündel von Functionen, welche in metaphysisch-
teleologischen Eingriffen in den physischen und psychischen
Lebensprocess des Individuums bestehen, und sucht in diesen erst
den eigentlichen und wahren Individualwilien. Wenn die meta-
physisch-teleologischen Eingriffe ohnehin gestrichen werden, so
fällt jeder metaphysische Yorwand für eine solche Behauptung
fort, welche empirische und inductive Anhaltpunkte überhaupt
nicht besitzt. Wenn Schopenhauer den Individualwilien als ein-
fachen metapliysischen Wesenskern jeder individuellen Existenz
hypostasirte, so that er es in dem guten Glauben, im Besitz einer
von allen sonstigen Vorstellungsarten principiell verschiedenen Er-
kenntnissweise zu sein, mit welcher er sich durch unmittelbare
innere Selbstwahrnehmung von der metaphysischen Willenssub-
ötanz in jedem Augenblick überzeugen k('>nne. Im „Ding an
sich" (S. 28 — 53j sind die Trugschlüsse, durch welche er zu
diesem Glauben kam, und die Selbstwidersprüche, in welche er
sich nothwendig durch denselben verwickeln musste, deutlich dar-
gelegt und die Ph. d. U. beweist (S. 410 — 417; a priori und a
posteriori den Satz, dass das Wollen an und für sich immer
unbewusst sein müsse, und der Schein einer Bewusstheit des
Wollens nur durch die Gewöhnung an eine Selbsttäuschung ent-
Btehe, indem der Mensch des Wolleuü auf dreitaehe Weise un-
82
inittelbar inne zu werden glaubt: „1) ans seiner Ursache, dem
Motiv, 2) aus seinen begleitenden und nachfolgenden Gefühlen,
und 3) aus seiner Wirkung, der That, und dabei 4) noch den
Inhalt oder Gegenstand des Willens als Vorstellung wirklich im
Bewusstsein hat" (414). Wir möchten noch hinzufügen, dass
unter den begleitenden Gefühlen auch solche sind, welche von
dem oben besprochenen verstärkenden centrifugalen Innervations-
strom herrühren und, wie erwähnt, sich besonders bei bewusster
Concentration der Energie auf die vorgesetzte Handlung einstellen
werden (vgl. 415 oben); ganz dem analog ruft bekanntlich auch
der als Species in diesem Genus enthaltene centrifugale Inner-
vationsstrom der Aufmerksamkeit eigenthümliche Empfindungen
hervor, welche es möglich machen, dass man sagen kann, die
Aufmerksamkeit selbst könne Gegenstand der Wahrnehmung und
folglich des Bewusstseins sein (419). — Ist nun aber einmal die
undurchdringliche Unbewusstheit des Wollens an und für sich
eingestanden, so hört jede Möglichkeit auf, über die Natur des-
selben dem dogmatischen Schein des Instinctes gemäss unmittel-
bare Behauptungen aufzustellen, und man sieht sich gänzlich auf
das reducirt, was die Wissenschaft durch indirekte Schlüsse als
das Wahrscheinliche inductiv zu reconstruiren sich genöthigt
sieht (417). Wenn nun diese wissenschaftliche Reconstruction
eine wesentlich andere Physiognomie gewinnt, so hat der instinc-
tive Glaube hiergegen so wenig mehr ein Recht zum Einspruch,
als z. B. in der von der Naturwissenschaft an Stelle des instinc-
tiven sinnlichen Scheins reconstruirten räumlichen Aussenwelt;
wie die Körper dieser Aussenwelt in der subjektiven Erscheinung
sich als solide und compact darstellen, während sie räumliche
Zusammenordnungen punctueller Atomkräfte sind, gerade so er-
scheinen die Individualwillen der instinctiven Selbstauffassung
einfach, solide und compact, während sie complicirte Summations-
phänomene von zahllosen Atomwillen sind. Dennoch scheint es
ein Rest von diesem dogmatischen Schein des unmittelbaren In-
stinctglaubens gewesen zu sein, was die Ph. d. U. verhindert
hat, die einfachen Consequenzen aus dem Satze zu ziehen, dass
das jedesmalige Wollen die Resultante aller gleichzeitig erregten
Begehrungen sei (234, 357) and dass diese Begehrungen die durch
83
das Motiv zur Actualität erregten molecularen Hirndispositionen
(Triebe) seien (61, 28, 608 — 9). Ja auch noch andere Stellen der
Ph. d. ü. weisen auf unser Resultat als auf ihre unausweichliche
Consequenz hin, so z. B. die ganz richtige Erklärung, dass das
Wollen selbst die That sei (769), insofern die That definirt werde
nicht als das äussere Sichtbarwerden der Handlung, sondern als
diejenigen Bewegungsprocesse der centralen Hirnmolecule, welche
den organischen Ursprungsherd der Handlung bilden (vorausgesetzt
dass die Ausführung auf dem Leitungswege nicht durch inter-
ferirende Schwingungen gekreuzt wird — 770). Ist das Wollen mit
der That in diesem Sinne identisch, so ist eben auch die That —
d. h. die centralen Hirnschwingungen, welche bei ungestörtem
Verlauf die Handlung hervorrufen — mit dem Wollen identisch, und
wir dürfen sie mithin als Definition des Hirnwillens (als Summa-
tionsphänomens) ansehen. So meint es aber die Ph. d. ü. nicht,
sondern die betrachtet den psychischen Willensakt als ein zu den
Atom willen des Hirns und ihrer Combination Hinzukommen-
des, als einen metaphysischen Eingriff in den naturgesetzmässigen
Process zwischen Reiz und Reaction, wie wir ihn oben besprochen
haben. Gleichwohl erkennt sie an, dass jede Leistung des Organis-
mus, gleichviel ob sie in Muskelcontractionen oder geistiger Arbeit
besteht (393), aus einem äquivalenten Verbrauch aufgespeicherter
chemischer Kraft herrührt, welche durch den StofPumsatz aus den
chemischen Kräften der zugeführten Nahrung wieder ersetzt wer-
den muss (153j; sie erkennt ferner an, dass sowohl das Muskel-
system als das ganze Nervensystem, insbesondere aber auch die
Centralorgane des letzteren, als Kraftmaschinen zu betrachten sind,,
dass, wenn der ganze Organismus mit einer Dampfmaschine zu
vergleichen ist, die Oscillationen der centralen Nervenmolecule
die Bewegungen der Ventile und Stellhebel repräsentiren
würden, welche den Gang der Maschine und die Art ihrer
Leistungen regeln, — nur dass der Organismus selber zugleich
Heizer und Maschinist (ja auch Reparateur und Maschinenbau-
meister) ist und folglich keines Hebelstellers ausser ihm bedarf (153).
Ein solcher dem Organismus fremder Hebelsteller wäre aber
gerade das Unbewusste in seinem metaphysischen Eingriffen, welche
den Uebergang aufgespeicherter chemischer Kraft in mechanische
6*
84
Muskelkraft in ganz bestimmter Weise und Kichtung veranlassen
sollen. Wenn das Unbewusste eine und sei es auch relativ noch
55.0 kleine Kraft zu der im Organismus aufgespeicherten Kraft
durch metaphysisch bewirkte, physisch nicht verursachte Drehungen
von Gehirnmoleculen hinzufügen könnte (151 — 152), so wäre
damit das Gesetz der Erhaltung der Kraft für die organische
Welt ausser Geltung gesetzt, deun die Summe der (inneren und
äusseren) Kraftausgaben des Organismus müsste gegen die Summe
seiner Krafteinuahme einen Ueberschuss aufweisen, welche der
Kraftsumme der metaphysischen Eingriffe gleichkommt. Wäre
auch dieser Ueberschuss relativ zum Ganzen noch so unbedeutend,
so dürfte er doch nicht verschwindend klein sein, wenn man noch
ferner an eine reale und entscheidende Beeinflussung der Vorgänge
im Gehirn durch unmittelbares Eingreifen eines metaphysischen
Princips glauben soll. In der That können diese Eingriffe, wenn
sie das entscheidende Moment für die Handlung des Organismus
bilden sollen , keineswegs etwa blosse Differentiale sein, sondern
müssen ebenso wie bei den Beis])ielen der Dampfmaschinen u. s. w
als Grössen derselben mathematischen Ordnung gedacht
werden und in ihrer Summe fürs Leben eines Individuums eine
ganz ansehnliche Grösse, in ihrer Summe für das gleichzeitige
Leben der Erde aber schon ein ganz kolossales Quantum reprä-
sentiren, welches also unbedingt das Gesetz der Erhaltung der
Kraft aufheben würde. Freilich können wir bis jetzt die Rich-
tigkeit des Gesetzes der Erhaltung der Kraft für die organischen
Wiesen keineswegs mit solcher Genauigkeit nachweisen, dass nicht
in den wahrscheinlichen Fehlern für solche Hypothesen Platz
bliebe; aber gerade die metaphysische Evidenz dieses Gesetzes
leuchtet für jeden an naturwissenschaftliche Denkweise Gewöhnten
so sehr a priori ein, dass die exacte Erbringung des Beweises
für ein einzelnes Gebiet der Sicherheit der Geltung des Gesetzes
kaum ein Erhebliches hinzuzufügen vermöchte. Der Verf. erkennt
dies auch selber an, indem er für die Motivation auf physischem
Gebiet ein Analogon des Gesetzes der Erhaltung der Kraft her-
zustellen versucht (Phil. Monatshefte Bd. IV. Hft. 5. S. 403);
wenn aber einmal die Motivation als Process zwischen erregender
bewusster Vorstellung: und hewusstem Willensinhalt (ebenda S, 39G
85
unteu), imd diese beiden als durch HirDschwingungen bestimmt,
also der ganze Process wesentlich als ein Process von Hirn-
schwingungen anerkannt ist, so läuft ein solches Gesetz der Er-
haltung der Kraft für die Motivation auf immateriell-psychischem
Gebiet ganz in derselben Weise als fünftes Rad am Wagen neben-
her, wie etwa der intelligible Charakter neben dem durch die
Körper- und Hirnconstitution bestimmten empirischen Charakter
(ebenda S. 382—393), und die Bedingtheit des Resultats jedes
einzelnen Motivationsaktes sowohl durch den materiellen Hirn-
process, als auch durch den immateriellen Motivationsprocess er-
gäbe eine ebenso unvereinbare Concurrenz wie die Bedingtheit
jeder einzelnen Handlung sowohl durch die immanente Causalität
des empirischen Charakters, als auch durch die transcendente
Causalität des intelligiblen Charakters (vgl. „Ding an sich'' S. 5 ff.).
Das mit Recht Angestrebte — die Anwendung des Gesetzes der
Erhaltung der Kraft auf den Motivationsprocess — wird aber
thatsächlich erreicht durch Beseitigung aller metaphysischen Ein-
griffe des ünbewussten und das Anerkenntniss, dass der Moti-
vationsprocess in dem Process der Hirnschwingungen ohne jeden
metaphysischen Rest erschöpft ist und dass in den Leistungen
und Handlungen des Organismus keine Kraft zu Tage tritt, als
welche entweder durch die erregenden Reize oder durch die
Nahrungsmittel in denselben eiugeiiihrt ist, wobei erstere als Aus-
lösuiigsmittel der durch den Assimilationsprocess aufgespeicherten
chemischen Spannkraft dienen.
Von welcher Seite wir auch die metaphysischen Eingriffe in
die Lebensprocesse der Organismen betrachten mögen, überall er-
weisen sie sich als unstichhaltig. Wenn die Ph. d. Lnb. den
Charakter ebenso wie das Gedächtniss als die Summe der im
Hirn vorhandenen latenten Dispositionen zu gewissen Schwin-
gungsarten anerkennt, so werden wir nicht umhin können, äusser-
lich angesehen im Wollen ganz ebenso wie im Vorstellen die
actuellen Schwingungen zu erkennen, welche nach mechanischen
Gesetzen durch adäquate Reize aus diesen Dispositionen ausge-
löst sind , und werden ebensowenig bezweifeln dürfen , dass das
Wollen innerlich genommen ebenso wie das bewusste Empfinden
oder Vorstellen ein Summationsphänomen aus gleichartigen Ele-
86
nieutartinictioneu (letzten Endes der Atome) darstellt. So allein
werden wir die brauchbaren Anläufe der Ph. d. Unb. richtig* zu
Ende gedacht und eine einfache und naturgemässe Grundlage für
unsere weiteren Betrachtungen gewonnen haben. Wenn mit der
Causalität im Sinne einer ausnahmslosen naturgesetzlichen Noth-
wendigkcit mit Ausschluss aller metaphvsisch-teleologischen Ein-
griffe Ernst gemacht werden soll, so bleibt liir rein psychische
Functionen eines Uubewussten jenseits der aus den Atomen sich
entwickelnden Processe kein Platz; wenn wir aber einmal Wille
und Vorstellung als Summationsphänomene aus entsprechenden
Elementarfuuctionen der Atome anerkennen, so verschwindet liir
die Erklärung jedes Bedürfniss, ausser der gemeinsamen meta-
physischen Wurzel dieser constituirenden Elemente des Organismus
noch andere metaphysische Factoren herbeizuziehen. Wenn die
Phil. d. Unb. anerkennt, dass nur in der Besonderheit des Orga-
nismus die Besonderheit auch der geistigen Individualität begründet
liegen kann und jeder eigenthümliche Zug in einem Indindual-
geiste durch eine entsprechende Eigenthümlichkeit seines Orga-
nismus bedingt sein muss, so müssen wir nunmehr noch einen
Schritt weiter gehen und sagen, dass der Organismus selbst das
Individuum ist. Denn wenn die Phil. d. Unb. aus dem grossen
Urquell des Einen absoluten Unbewussten noch ein Strahlen-
bündel von Functionen ausser den blossen Atomfimctionen auf
den Organismus gerichtet dachte und mit zu dem geistigen Indi-
viduum rechnete, so müssen wir jetzt annehmen, dass die meta-
physische oder innerliche Seite der constituirenden Elemente des
Organismus hinreicht, um die geistige Individualität in demselben
Sinne zu constatiren, wie die äussere Seite derselben die leibliche
constituirt.
Eine hieraus folgende Consequenz, die sehr fruchtbar werden
könnte, will ich hier zum Schluss nur andeuten. Bekanntlich
ruht alles organische Leben auf der Erhaltung und Steigerung
der Form in und durch den Wechsel des Stolfs, und die Iden-
tität der Individualität wird nicht durch die Identität der Sub-
stanz, sondern durch die Continuität des Processes bedingt. Er-
haltung der Form durch Erhaltung des Stofis ist Mumitication,
alles Leben beruht auf dem Stoffwechsel, auf der Mauserung.
87
Die Erkenntiiiss dieaes wichtigen Satzes ist noch ziemlieh juDg, so
jung, dasä man sich nicht wundern darf, dass noch Niemand gewagt
hat, die so nahe liegende Uebertraguug auf das geistige Gebiet
zu machen. Leben ist Leben, und die allgemeinsten Gesetze des
Lebens als solchen können auf dem Gebiete der Innerlichkeit
nicht entgegengesetzt lauten wie auf dem Gebiete der Aeusser-
lichkeit. Diese Annahme macheu aber diejenigen, welche von
der Seele des Individuums als von einer die ganze Lebenszeit
hindurch identischen Substanz sprechen. Die Phil. d. L^nb.
macht sich dieses Fehlers zwar nicht in gleicher Weise schuldig,
indem sie die Seele nur als einen Complex immer neu aus dem
gemeinsamen metaphysischen Urquell ausstrahlender Functionen
auffast, aber dennoch fehlt auch hier die durchgreifende Analogie
zwischen innerlicher und äusserlicher Sphäre, da doch die Be-
schaffenheit des ^ich beständig mausernden Gehirns nur Gelegen-
heitsursache für die metaphysischen Eingriffe des Unbewussten,
nicht die substantielle Basis der geistigen Summationsphänomene
selbst vorstellt. Aber das erkennt wenigstens die Ph. d. Unb. an,
dass die Identität des S^elh^tbfW"^'^^'^^^"'^ ^^"'' "^on df r Af;;gliplnVpit
der Erinnerung, also von der formellen Existenz der Hirndispo-
sitionen, abhäno^t, und dass die wesentliche Identität des Charakters
ZU verschiedenen Zeiten, analog wie die wesentliche Identität der
Phvsiosniomie, unabhängic: ist von der Mauserun^^ der Theile des
Organismus, auf denen Charakter, resp. Physiognomie, beruht.
AVie das Leben jeder Species und insbesondere der Menschheit
nur möglich ist durch ihre beständige Mauserung, d. h. durch
beständiges Aussstossen von Individuen und Ersatz durch frische,
jugendliche , weil ohne dies das Menschheitsbewusstseiu ver-
knöchern, verzweifeln und absterben müsste (vgl. „Ges. phil.
Abhdl.'^ S. 79), so ist auch das geistige Leben des Individuums
nur dadurch möglich, dass bei jedem Vorstellungsakt ein Stoff-
wechsel in den thätigen Hirnparthieen stattfindet, ein Ausstossen
abstrapezirter Molecule und ein Eintreten frischer durch das Blut
zugeführter an Stelle derselben. Jedes neu eintretende Molecule
ist nicht nur äusserlich , sondern auch innerlich genommen dem ,
austretenden gleichwerthig und mithin geeignet, dieselben Func- !
tionen auch ebensogut zu vollziehen, und bringt ausserdem diel
88
Frische mit, die jenes während des Gebrauches eingebUsst hatte.
Indem aber bei diesem Stoffwechsel die bestehende Form (wie
bei allem organischen ßildenj gewahrt bleibt, dauern auch die
auf molecularen Lagerungsverhältnissen beruhenden Hirnprädis-
positionen fort, d. h. Ggadäßhtmss und Charakter bleiben von der
^^eistigen Mauserun^'^ unangetastet. Die Frische und Elasticität
des geistigen Lebens ist aber allein durch die geistige Mauserung
möglich; ohne dieselbe träte geistige Mumification ein, in der
alles Leben erstürbe.
VI.
Die Vererbung
insbesondere des Charakters.
Der Begriff der Vererbung bietet eines der schwierigsten
Probleme für die NaturwisseDSchaft. Wir werden den gegenwär-
tigen Stand der Frage am richtigsten bezeichnen, wenn wir sagen,
dass die Vererbung auf allen Gebieten des organischen Lebens
Thatsache ist, dass diese Thatsache aber bis jetzt jeder natur-
wissenschaftlichen Erklärung spottet und dass die teleologisch-
metaphysische Erklärung hier am allerwenigsten im Stande ist,
den Mangel an Verständniss des naturgesetzlichen Zusammenhangs
zu ersetzen.
Wenn in einer Baumart mit aufrechtstehenden Zweigen sich
ein Exemplar vorfindet, welches aus unbekannten Ui Sachen
hängende Zweige bekommen hat , so haben zugleich alle diese
Zweige die Eigenschaft, wenn sie als Stockreiser neue Bäume
aus sich erzeugen, diese Eigenthümlichkeit ihres mütterlichen
Organismus, an der sie selbst theilnahmen, fortzupflanzen. Das-
selbe gilt von den durch einen rothen Farbstoff in den Blättern
ausgezeichneten „Blutbäumen''. Bei geschlechtlicher Fortpflanzung
solcher Spielarten gelingt es dagegen nicht, sie zu conserviren;
die Abweichung von der durch lange Generationen inveterirten Con-
stitution ist zu bedeutend, um sich bei der Vererbung durch einen
so kleinen Theil des mütterlichen Organismus, wie der Same ist,
gegen die Tendenz des Rückschlags durchzusetzen. Man ersieht
hieraus, um wie viel leichter die ungeschlechtliche Vererbung als
90
die geschlechtliche ist; und braucht sich nun nicht mehr zu wun-
dern, dass die Entstehung der geschlechtlichen Vererbung des
Artcharakters erst möghch wurde auf der Basis einer lange fort-
gesetzten ungeschlechtlichen Fortpflanzung im Protistenreich, durch
welche gleichsam schon eine durch die Dauer befestigte constitu-
tionelle Vererbungsfähigkeit als Grundlage der geschlechthchen
Vererbung geschaffen worden war. Je grösser der die Vererbung
vermittelnde materielle Complex im Verhältniss zum mütterlichen
Organismus ist, desto leichter müssen die eigenthümlichen Dispo-
sitionen der künftigen Bildung in demselben Platz finden, und
daher sehen wir auch im Durchschnitt dieses Grössenverhältniss
beim Herabsteigen in der Stufenreihe der Organisation wachsen,
bis der junge Süsswasserpolyp sich endlich als fertiger Dirai-
nutivorganismus vom Mutterthier loslöst (wie der Gärtner es mit
dem Zweig der Blutbuche künstlich thut), oder gar die proto-
plasmatische Monere sich einfach in zwei gleiche Organismen
halbirt, sobald sie durch Ernährung so weit gewachsen ist, dass
sie als einfacher Tropfen für die natürliche physikalische Tropfen-
grösse des protoplasmatischen Proteinstoffs zu gross geworden.
Ohne Frage musste die Möglichkeit der Vererbung überhaupt
in der physikalisch-chemischen Beschaffenheit der Materie gegeben
sein, sonst hätte sie nicht, wie die Erfahrung es lehrt, zur Wirk-
lichkeit werden können; wenn aber diese Möglichkeit vorhan-
den Avar, so kam es nur darauf an, dass unter den vielen ürzeu-
gungsprodukten sich auch eines oder wenige befanden, welche
durch Zufall eine solche Beschaff'enheit erlangt hatten, dass sie
zur Selbsttheilung bei Ueberschreitung einer gewissen Grösse hin-
neigten. Setzen wir diese Voraussetzung als erfüllt, so mussten
alle anderen Urzeugungsprodukte nach Ablauf ihrer (nothwendiger-
weise beschränkten) individuellen Lebensdauer ohne Hinterlassung
von Spuren ihres Daseins zu Grunde gehen, während einzig und
allein jene zur Selbsttheilung tendirenden fortbestanden, weil
nämlich diese Beschaffenheit ihrer Constitution beiden Hälften
nach dem ersten Selbsttheilungsakte verblieben war und diese
nothwendig zur abermaligen Selbsttheilung nach hinreicbendera
Wachsthum und zur abermaligen Uebertragung ihrer Tendenz auf
ihreThcilungsprodukte führen musste (vgl. oben Abschn.H, S. 22-23).
91
Wenn wir oben (Absclin. II, S. 26 — 27) sahen, dass alle
Fortentwickelung der niederen Formen darin besteht, dass
die verschiedenen Lebensfunctionen , welche ursprüngHch alle
gleichmässig von ein und demselben Protoplasmatröpfchen be-
sorgt werden, allmählich an verschiedene T heile des für die ver-
schiedenen Verrichtungen sich differenzirenden und specialireuden
Protoplasmas vertheilt werden, so findet diese Arbeitstheilung
auch auf die Function der Fortpflanzung Anwendung. Im Kampf
um's Dasein mussten nothwendig diejenigen Arten Moneren den
Vorsprung gewinnen, welche für das Geschäft der Fortpflanzung
sich passender constituirt erwiesen; ihre Nachkommen wurden
zunächst relativ häufiger und verdrängten endlich die minder
günstig zur Vermehrung veranlagten vollständig. So haben wir
uns zu denken, dass aus der einfachen Selbsttheilung heraus sich
durch den blossen Einfluss der natürlichen Zuchtwahl zunächst
die feineren Formen der ungeschlechtlichen und aus dieser end-
lich durch den Durchgangspunkt der Sporenkoppelung hindurch
die geschlechtliche Fortpflanzung entwickelt habe, welche, bei-
läufig bemerkt, bei den Infusorien schon in hoher Vollkommenheit
angetroffen wird. Wenn auf diese Weise vermittelst der natür-
lichen Zuchtwahl erklärlich wird, wie die ersten Anfänge der
Vererbung oder Uebertragung der constitutionellen Veranlagung
Hand in Hand mit den ersten Anfängen der Fortpflanzung oder
Vermehrung entstehen mussten, und wie sich aus diesen Anfängen
eine stufenweise Höherbildung derselben, aus dem Weniger ein Mehr
allmählich herausbilden musste, so bleibt dock bei alledem das Ver-
stäudniss für das Detail des Mechanismus der Vererbung auf höheren
Stufen des Fortpflanzungsprocesses — namentlich jeder Einblick in
die Art und Weise der Niederlegung der gesanmiteii constitutionellen
Eigcnthümlichkeiten in die winzigen Zellen der Zeugungsstoftc und
in die Art und Weise der Wiederentfaltung dieser Prädispositionen
iur Wirklichkeit im neuen Individuum — vorläufig durchaus ver-
schlossen. Nur soviel muss uns als feststehend gelten: erstens
dass alle geistigen und körperlichen Eigenthümlichkeiten wirklich
in den Zeuguugsstoft'en und in der unendlichen Feinheit ihrer
eiweissartigen Materie molecular prädisponirt sind (Ph. d. Unb.
^. 511 und 54G), und zweitens, dass die Niederlegmig der mole-
92
cularen Prädispositionen zu allen diesen elterlichen Eigenthtimlich-
keiten in den Nachkommen nicht das Resultat metaphysisch-telec-
logischer Eingriffe, sondern das Endresultat einer langen genea-
logischen Vererbungsreihe ist, welche durch natürliche Zuchtwahl
in den elterlichen Organismen die Fähigkeit und Tendenz zur
Bildung so beschaffener Zeuguugsstoffe als befestigte constitutionelle
Prädisposition entwickelt hat. Wenn auch die Ph. d. Unb. Recht
hat, dass die Vererbung und die in den Organismen liegende
Fähigkeit zu derselben eine qualilas occulia bleibt (256), so kanu
doch auch sie nicht umhin, die Thatsache ihres Bestehens und
die immense Ausdehnung ihrer Wirksamkeit anzuerkennen, und
ist am w^enigsten im Stande, durch die Hinzufiigung ihrer teleo-
logischen Eingriffe die Sache verständlicher zu machen. Sie ge-
steht (S. 568) zu, dass jeder Keim in seiner materiellen Consti-
tution die Prädisposition trägt, sich leichter nach der durch die
elterlichen Organismen vorgezeichneten Richtung als nach irgend
einer andern zu entwickeln; z.B. „die Gruppirung der Molecule in
diesem AVeizenkeim ist eine solche, dass leichter eine Weizenpflanze
als eine andere Pflanze daraus entstehen kann, leichter die Varietät
der Mutterpflanze als eine andere, und leichter ein Individuum^
welches der Mutterpflanze (oder durch Rückschlag einer früheren
Generation) ähnelt als ein anderes" (Ges. phil. Abhandl. S 36). Sind
die äusseren Umstände für das Leben des Keimes und der aus ihm
entstehenden Pflanze die normalen, so werden diese Prädispo-
sitionen zu ungestörter Entwickelung gelangen ; treten aber abnorme
Umstände ein, so werden sich Abweichungen von der normale»
Entwickelungsrichtung ergeben. In beiden Fällen hat das Unbe-
wusste als Oberaufseher des Wachsthums oder als „organisirende»
Principe (Ph. d. Unb. 560 Anm.) eigentlich gar nichts bei der
Sache zu thun; es läuft jedenfalls so lange als fünftes Rad am
Wagen nebenher, als es bei der Sinecure dieser allgemeinen
„psychischen Leitung" keinen besonderen Grund findet, es sich
nicht bequem zu machen, d. h. „der dispositionell vorge-
zeichneten Entwickelungsrichtung, als der im Allgemeinen seinen
vorgesetzten Zwecken entsprechenden und die geringsten Reali-
sationswiderstände bietenden Richtung" zu folgen (S. 568).
Wenn das „organisirende Princip" für gewöhnlich sich selbst zu
dieser passiven Rolle verurtheilt, eiu blosses ,,Placet" zu dem
ohnehin schon Geschehenden zu erthcilen, und wenn man ausser-
dem allen Grund hat^ der Behauptung positiver teleologischer
Eingriffe in den Proeess in Ausnahmefällen zu misstrauen, so liegt
der Gedanke nahe, dass diese ganze Hypothese unbegründet sein
dürfte und dass dieselbe ihr Entstehen nur verdankt einerseits
der mangelhaften Ausnutzung der Consequenzen der Dcscendenz-
theorie und Theorie der natürlichen Zuchtwahl und andererseits
den thatsächlichen Lücken unserer Erkenntniss, welche aber einer
Ausfüllung durch fortschreitende Erkenutuiss des natürlichen
€ausalzusammenhangs offen gehalten werden müssen. Je weiter
diese Kenntniss fortschreitet, desto mehr zeigt sieh alle Zweck-
mässigkeit durch das Functioniren von IMechanismen bedingt,
welche die Ph. d. Unb. ja auch so willig anerkennt, welche aber
Glicht, wie sie meint, durch teleologisch -metaphysische Eingrifie
des ünbewussten, sondern durch mechanische Compensationsprocesse
(vgl. oben Abschn. II.) entstanden sind. Zu diesen Mechanismen
gehört nun auch einerseits der Keim mit allen seinen molecularen
Prädispositionen der künftigen Entwickelung und andererseits die
Prädisposition der elterlichen Organismen zur Bildung eines
solchen Keimes — zwei ganz verschiedene Dinge, welche als
Wirkung und Ursache wohl auseinanderzuhalten sind, und beide
doch nur Zwischenglieder in dem Proeess der Vererbung zwischen
der constitutionellen Beschaffenheit der Eltern und der des Kindes
bilden.
Wenn schon die molecularen Vorgänge bei der Vererb ung
hinsichtlich ihrer Beschaffenheit im Einzelnen und der Art und
Weise ihrer mechanischen Gesetzmässigkeit bis jetzt für uns in
Dunkel gehüllt sind, so sind wir noch weit mehr im Unklaren
über die besonderen Eigenthümlichkeiten, welche der Proeess der
Vererbung bei näherer Betrachtung zeigt, wie z. B. die Unter-
schiede der actuellen und latenten, der monomorphen und poly-
morphen Vererbung oder auch die eigenthümliche Erscheinung,
dass besondere Charaktere, welche an dem elterlichen Organismus
nur an gewissen Stellen oder nur zu gewissen Zeiten oder
Phasen des Lebens oder der Entwickelungsdauer vorhanden sind,
auch bei dem erzeugten Organismus nur au denselben Stellen,
94
beziehungsweise in denselben Zeitabschnitten der Lebensent-
wickelung hervorzutreten pflegen. Die Haut und Haare bieten
nach ihrer allgemeinen Beschaff'enheit wie nach besonderen
localen Merkmalen eines der sichtbarsten Beispiele der Vererbung.
Auswüchse, Flecke und Pigmentablagerungen an gewissen Stellen
der Haut vererben sich oft so regelmässig, dass sie als Familien-
erkennungszeichen gelten können. Organische Leiden z. B.
Krankheiten der Leber, der Nieren, des Gehirns, der Athmungs-
Organe, der Verdauungs Werkzeuge vererben sich auf dieselben
Theile in den Nachkommen und halten auch gewisse Grenzen
in Betreff der Lebensperiode inne, wo sie aus ihrer Latenz her-
vortreten; z. B. Krebs nicht vor dem SOsten Lebensjahre, Wahn-
sinn und Schwindsucht nicht vor dem ITten oder I8ten. Das
Kind entwickelt seine geschlechtliche Activität in demselben
Lebensalter wie seine Eltern, es bringt die echten Zähne in ent-
sprechendem Alter hervor, ja es zeigt sogar ererbte Zahnkrank-
heiten in demselben Alter, wie seine Eltern sie gehabt haben.
Die Reifezeit gewisser Obstvarietäten wird von den Nachkömm-
lingen selbst in abweichendem Klima inne zu halten gesucht, und
erst allmählich tritt die nothwendige Accommodation ein.
Im Keim sind noch alle Dispositionen zu der Eigenthümlich-
keit der elterlichen Organismen latent; erst im Laufe der Lebens-
entwickelung treten dieselben zu verschiedenen Zeiten hervor. Nun
ist es aber nicht durchaus nothwendig, dass sie im Laufe
eines Individuallebens hervortreten; unter Umständen sind die
Dispositionen so beschaffen, dass sie erst gewisser äusserer Ein-
flüsse oder Gelegenheitsursachen bedürfen, um actuell zu werden.
Derart sind z. B. viele ererbte Krankheitsanlagen (Blutarmuth,
chronische Nervenleiden, Tuberculose, Wahnsinn, Krebs u. s. w.),
welche nicht gerade in so excessivem Maasse vorhanden sind^
dass sie unter allen Umständen zum Ausbruch gelangen müssen.
Kommt nun ein mit solcher Anlage Behafteter in Lebensumstände
oder in zufällige Ereignisse, welche dem Ausbruch der Krank-
heit günstig sind, so wird irrthümlicher Weise häufig die Ge-
legenheitsursache des Ausbruchs als alleinige und zureichende
Ursache angesehen (z. B. Druck für Krebs, Gemtithserschütte-
rungen für Wahnsinn, Erkältung für Lungentuberculose, mangel-
95
hafte Erüährung tlir Bliitarrauth u. s. w.) und die ererbte Dispo-
sition, welche doch die eigentliche Ursache aller dieser Krank-
heiten bildet, dabei ausser Acht gelassen. Bleibt hingegen der
Betreffende während der Dauer seines Lebens vom Ausbruch
seiner ererbten Kran kheits- Anlage verschont, so kann er sie trotz-
dem auf seine Nachkommen weiter vererben, und dies ist die
latente Vererbung. Man kann sich diess auch so klarmachen:
wenn ein Mann Disposition zum Krebs ererbt hat und zeugt mit
25 Jahren ein Kind, so kann es für die BeschaiFenheit dieses
Kindes nicht mehr darauf ankommen, ob er mit 26 Jahren von
einem Dachziegel erschlagen wird, oder ob er mit 30 Jahren vom
Krebs befallen wird, oder ob seine Anlage bis zu seinem ander-
weitigen Tode im GOsten Lebensjahre latent bleibt; jedenfalls ist
das Kind zu einer Zeit gezeugt, wo seine Disposition zum Krebs
noch latent war, und dennoch erbt es dieselbe von ihm. Da ist
es denn nur noch ein Schritt weiter zur latenten Vererbung sol-
cher Eigenschaften, die ihrer Natur nach in dem Vererbenden
niemals aus der Latenz heraustreten können, wie wenn z. B.
eine Frau die schöne Bassstimme und den starken rothen Bart
ihres Vaters auf ihren Sohn vererbt (Ph. d. Unb. S. 140). Ein
eclatantes Beispiel der latenten Vererbung ist der Generations-
wechsel der niederen Thiere, wo die 1. Generation mit der 3.,
5. u. s. w., und die 2. mit der 4, 6. u. s. w. übereinstimmt;
manchmal, z. B. bei dem Seetönnchen (Doliohim) ^ ist sogar die
L Generation gleich der 4., 7. u. s. w., die 2. gleich der 5.,
8. u. s. w. , und die 3. gleich der 6., 9. u. s. w. Man sieht
hieraus, dass die Vererbung auch mehr als eine Generation
hindurch latent bleiben und dann doch wieder zum Vorschein
kommen kann , wie man es auch bei Aehnlichkeiten in einer
Galerie von Familienbildern wohl zu beobachten Gelegenheit hat.
Bei Varietäten nennt man ein solches Auftreten latent gewordener
Charaktere Rückschlag oder Atavismus, eine den Thierztichtern
wohlbekannte Erscheinung. — Wenn bei der geschlechtlichen Fort-
pflanzung ohnehin schon die Eigenthümlichkeiten beider Eltern
concurriren, um sich in dem Erzeugten zur Geltung zu bringen
(wie dies besonders deutlich bei Bastardzeugungen hervortritt),
so wird die Complication durch den Rückschlag noch grösser, da
96
nun ausser den Charakteren der beiden Eltern noch die in ihnen
latent vorhandenen Charaktere der 4 Grosseltern, 8 ürgrosseltern
u. s. w. zur Geltung zu gelangen bestrebt sind. Je nachdem
nun bei der Concurrenz entgegengesetzter Eigenthüralichkeiten
die eine die andere gänzlich zurückdrängt, oder beide sich aut-
heben, oder aber einen Compromiss in einer neuen Eigenthiimlich-
keit schliessen, kann aus dieser Complication die allergrösste
Mannigfaltigkeit entspringen, und man mag danach ermessen, wie
gross die Schwierigkeit im concreten Falle sein muss, analytisch
zu bestimmen, in welcher Weise alle Eigenthümlichkeiten eines
Kindes aus Vererbung entsprungen sind ; zugleich geht aber auch
daraus hervor, wie wenig diese Schwierigkeit der Analyse im
concreten Falle als Instanz gegen die Thatsache der Vererbung
überhaupt geltend gemacht werden darf.
Bisher sind wir immer noch von der stillschweigenden Vor-
aussetzung ausgegangen, dass eine Species auch einen in sich
monomorphen oder eingestaltigen Typus repräsentiren müsse.
Diese Voraussetzung wird aber durch die Thatsache des Polymor-
phismus oder der Vielgestaltigkeit widerlegt, welche viele Specien
in auffallendem Grade zeigen. Man kann sich eine polymorphe
Species etwa wie eine dem Generationswechsel unterworfene
Species vorstellen, wo aber die verschiedenen Typen der Genera-
tionen nicht nach sondern neben einander bestehen, und jeder
dieser Typen nicht nur den andern, sondern auch seinesgleichen,
beides untermischt, hervorbringt. Wir finden aber den Poly-
morphismus nicht nur, wie den Generationswechsel, bei niederen
Seethieren (z. B. Seefedern), sondern auch bei höherstehenden
Thieren, (vgl. Wallace „Beiträge zur Th. d. nat. Zuchtwahl",
deutsch von Meyer S. 165 — 179) insbesondere solcher Arten, bei
denen ein Theil natürliche Masken (Mimicry) trägt, oder bei wel-
chen ein Genossenschaftsleben mit weitgefiihrter Arbeitstheilung
besteht (Bienen, Ameisen); streng genomuien ist alle Zwei-
ge s c h 1 e c h 1 1 i c h k e i t an und für sich schon Polymorphis-
mus, auch wenn sie nicht mit sonstigen correlativen Modilica-
tionen verknüpft wäre. Diese finden sich aber überall vor
und gehen bei manchen Specien, wo die Lebensverhältnisse der
Geschlechter sehr verschieden sind, bis zu Abweichungen, welche
97
im Männchen und Weibchen nimmermehr dieselbe Thierart ver-
muthen lassen. Aller Polymorphismus ist nun als ein System
correlativer Modificationen zu betrachten, und die Ver-
erbung innerhalb polymorpher Specien zeigt die Tendenz, neu
hinzutretende (z. B. durch Anpassung erworbene) Abweichungen
in einem der Typen eher auf die Nachkommen mit denselben
als auf die mit dem entgegengesetzten Typus zu übertragen;
oder genauer ausgedrückt: solche zu einem Typus neu hinzu-
tretende Abweichungen werden bei der Vererbung auf dessen
vielgestaltige Nachkommen nur bei den Individuen mit demselben
Typus hervortreten, bei denen mit anderm Typus aber
latent bleiben und erst bei deren Nachkommen, welche den
entsprechenden Typus zeigen, wieder hervortreten. Wir erinnern
an das obige Beispiel von der Bassstimme und dem rothen Barte.
In dieser Weise können die ersten Ursprünge eines durch all-
mähliche Trennung der Lebensverhältnisse sich bildenden Poly-
morphismus nach und nach durch fortschreitende Anpassung der
Einzeltypen sich steigern, z. B. eine abweichende Färbung zwi-
schen den Gefiedern der beiden Geschlechter einer Vogelart sich
entwickeln, wenn nur das eine Geschlecht brütet und hierzu
besseren Schutz durch Aehnlicbkeit mit dem Nest und dessen
Umgebung braucht als sein flüchtig umhereileuder Gatte (vgl.
Wallace a. a. 0. S. 130—134). Welche individuelle Abwei-
chungen inCorrelation zu demjenigen System von Modifi-
cationen stehen, das die Eigenthümlichkeit des polymorphen
Typus ausmacht, ist natürlich a priori nicht zu bestimmen, und
es ist daher auch nicht vorher zu bestimmen, welche individuelle
Abweichungen z. B. beim Menschen sich auf beide Geschlechter
vererben und welche sich nur auf die männlichen oder nur
auf die weiblichen Nachkommen vererben. Nicht selten tritt
jedoch eine Vererbung nur in männlicher oder nur in weiblicher
Linie ein, wo man es nicht erwarten sollte, z. B. bei gewissen
physiognoraischen Eigenthümlichkeiten, oder bei gewissen Krank-
heiten; so z. B. vererbte Edward Lambert (geb. 1717) seine zoll-
dicke krustenartige Epidermis mit schuppenartigen und stachel-
förmigen Fortsätzen nur auf seine Söhne und Enkel, aber nicht
auf die Enkelinnen. Uebermässige Fettentwickelung an be-
98
stimmten Körperstellen vererbt sich häufig nur in weiblicher Li-
nie; Hautmale bald in männlicher, bald in weiblicher, bald in
gemischter Linie. (Vgl. zu der ganzen Lehre von der Vererbung-
Hackers nat. Schöpfungsgesch. 2. Aufl. S. 158—163, 178—197).
Wo sich alles an der Constitution des Organismus vererbt,
ist von der Constitution des Gehirns mit seinen molecularen
Dispositionen keine Ausnahme zu erwarten. Der ererbte Cha-
rakter, welcher, wie wir wissen, in einer Summe bestimmter Hirn-
dispositionen besteht, gehört mit zum Typus der menschlichen
Constitution, modificirt durch den Typus der Race, des Volkes,
des Stammes, der Familie, des Geschlechts; der Grundstock des
Charakters ist also Resultat einer durch mehr oder minder lange
Generationenfolge constituirten und befestigten Vererbung, und
die concurrirenden individuellen Eigenthümlichkeiten der 2 Eltern,
4 Grosseltern und 8 Urgrosseltern , und die zufälligen Umstände
der Zeugung, des embryonalen Lebens, sowie die EinflüsBe wäh-
rend der Kindheit und Jugend u. s. w. sind nur Nebenumstände,
welche an den durch befestigte Vererbung überkommenen Grund-
stock des Charakters Modificationen hinzufügen. Je öfter eine
Eigenthümlichkeit schon in der Generationenfolge vererbt worden
ist, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch auf
die nächste Generation sich vererben wird; dieses Gesetz der
constituirten oder befestigten Vererbung ist der Grund, dass
einerseits der Charakter sich strenger und sicherer als die in-
tellectuellen Anlagen von mehr individueller Natur vererbt und
dass andererseits die durch die neu erworbenen individuellen
EigenthümUchkeiten der Eltern und durch die zufälligen Um-
stände der Zeugung und Kindheit hervorgerufenen Modificationen
doch immer nur von secundärer Bedeutung gegenüber demjenigen
Theil des Charakters erscheinen, welcher auch bei den Eltern
schon ererbte Anlage war. In ßürgerfamilien ist das Material
für den Nachweis fortgesetzter Charaktervererbung nur schwerer
zu beschaffen, sonst würde dieselbe sich auch dort herausstellen;
in Adelsgeschlechtern, wo die Familientradition auf lange Ge-
schlechterfolgen sorgfältig bewahrt wird, findet sich aber auch
ebenso häufig und noch häufiger Vererbung von Charaktereigen-
schaften bestätigt, als die schon angeführte Vererbung von körper-
99
liehen Aehnlichkeiten oder Absonderlichkeiten. In Ftirsten-
geschlechtern bietet auch die Geschichte Material, um eine solche
Vererbung deutlich genug zu erkennen ; man denke an die Julier,
Claudier, Borghia's, Bourbonen, Habsburger u. s. w. Wenn der
gute Charakter mehr aus einem harmonischen Gleichgewicht der
Triebe untereinander und mit dem Intellekt, der böse hingegen
aus der Monstrosität einseitiger Triebe hervorgeht, so liegt es
auf der Hand, dass böse Charaktere weit mehr Chancen zur Ver-
erbung darbieten, und so findet man auch weit häufiger in einer
längeren Geschlechterfolge gleiche Laster (Blutdurst, Grausamkeit,
Wollust, Leichtsinn, Ehrgeiz, Hochmuth, tyrannische Herrschsucht
U.S.W.) als gleiche Tugenden. — Die Laster aus Monstrosität einseiti-
ger Triebe grenzen unmittelbar an die erblichen Geistesstörungen.
Keine Art von Krankheiten ist in so grauenerregender Weise
fast ausschliesslich in erbUcher Disposition begründet wie die
Geisteskrankbeiten, und zwar von jenen leichteren Störungen
an, welche einerseits als Schrullen und Wunderlichkeiten, andrer-
seits als krankhafter Hang zu gewissen Lastern zu bezeichnen
sind, durch die ausgesprocheneren Formen der fixen Ideen, der
Schwermuth, der Narrheit und des Wahnsinns hindurch bis end-
lich zu den Extremen der Tobsucht und des Blödsinns. Wenn
es noch irgend einer Bestätigung dafür bedürfte, dass die be-
kannte Thatsache der Vererbung der Charaktereigenschaften rein
auf Vererbung von constitutionellen organischen Eigenthümlich-
keiten und speciell von Gehirnprädispositionen beruht, so muss
dieser flüssige Uebergang von Geisteskrankheiten in Charakter-
anlagen, oder von excessiven und monströsen Hirndispositionen
in bloss quantitativ und graduell innerhalb der normalen Grenzen
hervorragende, den letzten Zweifel beseitigen. Da auch das ge-
sunde Geistesleben aus Factoren besteht, deren quantitatives Ver-
hältniss sehr bedeutenden Schwankungen unterworfen ist, so ist
eine Grenze, wo das quantitative Verhältniss zu einem abnormen
oder krankhaften wird, schlechterdings nicht zu ziehen, und des-
halb sind auch für den Psychologen nicht diejenigen Irren die
interessantesten, welche hinter Gitter und Riegel unschädlich ge-
macht werden mussten, sondern diejenigen, welche sich frei in
der Gesellschaft bewegen, weil in ihnen die Uebergangszustände
100
zwischen gesundem und krankem Geistesleben rückwärts ein Licht
auf die Grundlagen der normalen psychischen Prooesse zu werfen
geeignet sind.
Wenn wir anerkennen mussten, dass die befestigten Eigen-
thümlicbkeiten oder Charaktere in der Concurrenz um die Vor-
vererbung vor den neu hinzu erworbenen einen entschiedenen
Vorsprung haben, so ist doch die Bedeutung der letzteren keines-
wegs zu unterschätzen, denn auf ihr beruht die Modificabilität und
Entwickelungstahigkeit des constitutionellen Typus der Species, die
Veränderlichkeit des Artcharakters, — eine Thatsache, welche
ohne Vererbung individuell erworbener Abweichung vom bisherigen
Typus schlechterdings unmöglich wäre. Aus der Ehe eines durch
Zufall mit sechs Fingern geborenen Mannes und einer fünf-
fingrigen Frau in Spanien hatten säramtliche Kinder sechs Finger
bis auf das Jüngste, welches der Vater deshalb nicht als das
seinige anerkennen wollte. In einer andren spanischen FamiHe
vererbte sich die Sechszahl der Finger auf 40 Individuen. Durch
blosse Inzucht sechsfingriger Individuen Hesse sich eine sechs-
iingrige Menschenrace erzielen, bei der dies Merkmal bald befestigt
sein würde; durch Kreuzung gehen aber solche individuelle Ab-
weichungen immer wieder in der füntfingrigen Race unter (Häckel
a. a. O.S. 159). In Massachusetts züchtete i. J. 1791 Seth Wirght
aus einem zufälHg mit auffallend langem Leib und ganz kurzen
krummen Beinen geborenen Lamme eine entsprechende Schafrace
(Otterschafe), welche ihm den Vortheil bot, die Hecken nicht
überspringen zu können. Aehnlich wurde in Paraguay von einem
im Jahre 1770 geborenen hörnerlosen Stiere eine höruerlose Rind-
viehrace gezüchtet (Häckel S. 193). „Niemand wird bezweifeln,,
dass die in gewissen Familien erblichen Krankheitsanlagen, wenn
man im Stammbaum rückwärts geht, auf einen Vorfahren hin-
führen müssen, der sie nicht mehr ererbt, sondern erworben
hat. Dass sich amputirte Arme und Beine und dergleichen Ver-
stümmelungen in der Regel nicht vererben, beweist gegen unsere
Behauptung gar nichts, denn es sind zu grobe und handgreifliche
Eingriffe in die typische Idee der Gattung, als dass man ihre
Realisation im Kinde erwarten könnte; und doch giebt es selbst
hier merkwürdige Ausnahmen. Nach Häckel zeugte ein Zucht-
101
stier^ dem durch Zufall der Schwanz an der Wurzel abgeklemmt
ivurde, lauter schwanzlose Kälber, und hat man durch cons^quentes
Schwanzabschueiden während mehrerer Generationen eine schwanz-
lose Hunderace erzielt. Meerschweinchen, welche durch künst-
liche Verletzung des Rückenmarks epileptisch gemacht worden
waren, vererbten die Krankheit auf ihre Nachkommen. Im All-
gemeinen vererben sich erworbene Eigenschaften um so leichter,
je weniger sie den Arttypus stören, in je minutiöseren orga-
nischen Veränderungen sie bestehen. Letzteres ist aber bei allen
Dispositionen des Gehirnes zu gewissen Schwingungszuständen
der Fall. Es ist eine bekannte Erfahrung, dass die Jungen von
gezähmten Thieren zahmer werden, als die jung eingefangenen
von wilden, dass von Hausthieren wieder diejenigen Jungen am
zahmsten, folgsamsten, gelehrigsten u. s. w. zu werden versprechen,
die von den zahmsten, folgsamsten, gelehrigsten Eltern stammen.*)
Jede Dressur eines Thieres nach einer bestimmten Richtung bietet
um so mehr Aussicht auf Erfolg, je weiter die Dressur der Eltern
in derselben Richtung gediehen war. Junge undressirte Jagd-
hunde von ausgezeichneten Eltern machen bei der Jagd von selbst
Alles ziemlich richtig, während bei Hunden, die von Eltern
stammen, welche nie zur Jagd gebraucht wurden, die Jagddressur
eine furchtbare Arbeit ist. Söhne aus Reiterfamilien bringen Sitz
und Balance schon zum ersten Versuch mit" (Ph. d. U. S. 61 1 — 612).
Nach dem Angeführten unterliegt es keinem Zweifel, dass
Charaktereigenschaften sehr wohl vererbt werden können, auch
^venn sie nicht ererbt, sondern nur individuell erworben
waren. „Wenn wir die Laster aus gewissen inveterirten Ano-
malien auf dem Boden der Constitution erwachsen sehen" (z. B.
Trunksucht, geschlechtliche Verirrungen, Blutdurst u. s. w\), „wenn
wir unzweifelhaft die Vererbung von Lastern constatiren können,
so liegt auf der Hand, dass die Vererbung der vom Vater er-
*) Zu Aristoteles Zeiten musste unser Hofgeflügel noch unter Netzen und
Körben gehalten werden, wie heute bei uns die Fasanen, und doch ging jenem
Zustand eine schon vier Jahrtausende lange Domestication voran, während
es nun nach abermals 2000 Jahren gelungen ist, die flüchtigen Naturinstinkte
voUkommen zu bezähmen.
102
■worbenen Constitution im Sohne die Ursache des Lasters ist**^
(Phil. Monatshefte Bd. IV. Hft. 5. S. 389—390). Dasselbe gilt
aber auch für feinere Nuancen des Charakters, die in den Eltern
habituell actualisirt sind; es gilt sogar für die unscheinbarsten
Aeusserlichkeiten in Haltung, Bewegungen, Benehmen (Ph. d. Unb,
S. 613) und habituelle Modificationen in der Art und Weise der
Ideenassociation, — Dinge bei denen sich freilich oft schwer der
Einfluss der Vererbung von dem Einfluss des Beispiels trennen
lässt. Dass die aristokratische Tournure wesentlich auf einer
angeborenen Grundlage beruht, ist bekannt; es kommt dies nicht
selten in Bastarden zur Erscheinung, die, ohne von ihrer Ab-
stammung zu wissen, in keineswegs aristokratischer Umgebung
erwachsen sind. In ähnlicher Weise ist es Katzen angeboren^
ihre Excremente, wenn irgend möglich, zu verscharren; jedes
höhere Thier hat eine mehr oder minder aristokratische oder
plebejische Tournure mit auf die Welt gebracht, welche es von
seinen Vorfahren durch Vererbung überkommen hat und welche
ihm sein äusserliclies Verhalten in allen Lebenslagen, die ihm
naturgemäss vorkommen, bis auf die kleinste Geste und Bewe-
gung vorzeichnet. Aber auch im eigentlich geistigen Sinne haben
die Thiere einen Charakter, der z. B. bei Hunden und Pferden
sich zum entschiedenen Individualcharakter ausprägt, während
bei tieferstehenden Thierarten die Abweichungen des Individual-
charakters vom typischen Artcharakter so gering sind, dass man
sagen kann: beide fallen zusammen, — ein Umstand, durch den
die Vererbung nur um so mehr zu einer befestigten wird. Nur
der Charakter der ersten protoplasmatischen Monere, die aus Ur-
zeugung entstanden, war eine tabula rasa; strenggenommen war
selbst hier schon die zutällige Zusammensetzung der Stoffe ent-
scheidend. Von da an aber hat die Entwickelung der geistigen
Artcharaktere mit der Entwickelung der organischen Typen.
gleichen Schritt gehalten; beide sind durch das gleiche Princip
gefördert: durch die Vererbung der hinzuerworbenen Eigen-
thümlichkeiten , durch welche eine beständige Erweiterung
und Bereicherung des Charakters mit der aufsteigenden Ent-
wickelungsreihe entstehen musste. So empfing der erste Mensch
schon einen reich angelegten Charakter, welcher sich dann in der
103
anthropologischen Höherentwickelung der Menschheit immer viel-
seitiger differenzirte und immer reicher entfaltete. Wie auf äusser-
lich organischem, so auch auf innerlich psychischem Gebiet ist es
immer erst die Vererbung der individuell erworbenen Eigenschaften^
welche die Entstehung von Typen und Charakteren mit befestigter
Vererbung möglich macht.
Wenn wir oben (S. 77) gesehen haben, dass die Beeinflussung
des Handelns durch willkürlich vorgehaltene oder ferngehaltene
Motive die Möglichkeit bietet, durch Erziehung au Anderen und
durch sittliche Selbstzucht an sich selbst, vermittelst der Gewöh-
nung an gewisse sittliche Handlungsweisen und Entwöhnung von
unsittlichen, nennenswerthe charakterologische Modiiicationen her-
vorzurufen, so musste doch damals der Gedanke deprimirend
wirken, dass diese Moditicationen dem ererbten Grundstock des
Charakters gegenüber immerhin von secundärer Natur blieben.
Jetzt aber eröffnet uns die Desceudenztheorie durch die Verer-
bung solcher individuell erworbenen Moditicationen des Charakters
die tröstliche Perspective auf die Möglichkeit einer progressiven
Veredelung des menschlichen Charakters durch Sum-
mation der durch Erziehung und Selbstzucht erzielten indi-
viduellen Abweichungen, ein Gedanke, der wohl geeignet scheint^
an einer Reform der bisher theoretisch so traurig bestellten und
praktisch so unwirksamen und werthlosen Wissenschaft der Ethik
mitzuwirken.
VII.
Die A'ererbuug von Anlagen und Fertig-
keiten,
Wir haben im letzten Abschnitt gesehen, wie gross der Unter-
schied zwischen der constituirten Vererbung und der Vererbung
neuerworbener Eigenschaften hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit,
Festigkeit und Dauerhaftigkeit der Uebertragung ist. Es ver-
halten sich z. B. im Charakter die durch constituirte Vererbung
angeborenen Eigenschaften zu den in der Kindheit und Jugend
durch Erziehung, Verhältnisse und Schicksale hinzuerworbenen
gleichsam wie zwei verschiedene Schichten, von denen die ober-
flächliche unter gewöhnlichen Umständen die wichtigere scheinen
kann, weil sie die tiefer liegende verhüllt und die Reize früher
als diese und leichter als diese in Empfang nimmt; erst wenn
grosse Motive an den Menschen herantreten, welche nicht bloss
seine oberflächlichen Gewohnheiten und Interessen berühren, son-
dern sein Innerstes ergreifen und durchwühlen, erst dann wird
diese Hülle durchbrochen und der angeborene Charakter macht
sich in seinem dominirenden Rechte geltend. Dieses Verhältniss
kann natürlich nur da sich der Beachtung aufdrängen, wo die
Einflüsse des Lebens dahin gewirkt haben, den Charakter nach
einer andern Richtung hin zu entwickeln, als die angeborenen
Anlagen von selbst eingeschlagen hätten; wenn aber auch ein
mehr oder minder entschiedener Gegensatz zwischen dem an-
geborenen und erworbenen Theil des Charakters zu den Selten-
heiten gehören wird, so wird man doch bei den meisten Menschea
105
auf gewisse specielle Richtungen stossen, wo ein solcher Gegen-
satz sich entwickelt hat und gerade das Hervorbrechen des Ur-
sprünglichen, Angeborenen bei wichtigen Veranlassungen ist es,
was uns in anscheinend bekannten Charakteren plötzlich als ein
Widerspruch gegen die für gewöhnlich documentirte und deshalb
für charakteristisch angenommene Verhaltungsweise überrascht.
Die angeborenen Dispositionen sind tief eingegraben, aber nicht
scharf und sauber, ausser w^enn sie durch Uebung und Gewohn-
heit nachgemeisselt sind; die neu hinzuerworbenen Dispositionen
und Modificationen besitzen hingegen wohl die Schärfe und
Dinstinction des Schnitts, welche sie auf verwandte schwache
Reize leicht ansprechen lässt, aber nicht die nachhaltige Tiefe
des Eindrucks, welche sie eine Concurrenz mit den angeborenen
Dispositionen aushalten Hesse, wenn letztere einmal erregt sind.
Auf schwache Reize resoniren die angeborenen aber nicht geübten
Dispositionen deshalb nicht, weil sie zu verwittert, zu undeutlich
sind, um das bei schwachen Reizen nothwendige Maass qualita-
tiver Uebereinstimmung zu besitzen; je stärker aber der Reiz
wird, um so grössere Differenzen zwischen sich selbst und der
Disposition überwindet er im Hervorrufen der Resonanz. So rufen
denn grossartige Motive auch latente Dispositionen, die man
längst erstorben glaubte, zu neuem Leben wach, wie etwa die
grelle Beleuchtung schnell auf einander folgender nächtlicher
Blitze die alte verwitterte Rieseninschrift einer Felswand plastisch
hervortreten lässt, auf der der Forscher bei Tageslicht und in
nächster Nähe betrachtend bis dahin nur die darüber gekritzelten
Bemerkungen moderner Touristen erkannt hatte.
Wie die angeborene Sphäre des Charakters zur erworbe-
nen, so ungefähr verhält sich die erworbene Charaktersphäre
zum Gedächtniss. Dies scheint paradox, und doch ist es kein
heterogenes Gebiet, auf das wir hinübergehen, sondern nur ein gra-
duell verschiedenes (vgl. oben S. 77 — 78). Das Motiv ist, wie wir
wissen, Vorstellung, und der Inhalt des Willensaktes, welcher als
JEleaction auf das Motiv folgt, ist ebenfalls Vorstellung ; ganz ebenso
ist beim Process der Ideenassociation der hervorrufende Reiz Vor-
.steliung und der Inhalt der Reaction Vorstellung; im einen wie
im andern Falle haben wir es mit molecularen Hirnschwingungen
106
zu thun, welche vorhandene Dispositionen zu neuen Schwingungen
erregen, von welchem Process sowohl Anfangs- wie Endglied als?
Vorstellung in's Bewusstsein treten. Der Unterschied liegt wesentlich
nur in dem Maass der Willensbetheiligung, oder anders ausge-
drückt: theils in der absoluten Intensität der erregten Schwin-
gungen, theils in der relativen Intensität, mit welcher sie auf die
Centralorgane der Bewegung influiren und hierdurch zur Hand-
lung intendiren. Die Ueberlegenheit der Intensität der tieferen:
Sphäre tritt selbstverständlich nur dann hervor, wenn sie durch
einen entsprechenden Reiz wirklich erregt worden ist ; dann aber
verhält sich die Intensität der angeborenen zur erworbenen Cha-
raktersphäre ganz ebenso wie die Intensität der letzteren zu der
Sphäre der Gedächtnissdispositionen. Denn man würde sehr
irren, wenn man glaubte, dass die Gedächtnissvorstellungen jeder
Willensbetheiligung entbehrten. Wir sahen schon oben, dass jede
noch so abstracte Vorstellung mindestens die Tendenz zu den ihr
entsprechenden Bewegungen der Sprachorgane mit sich führt; iß
einer andern Weise sich handelnd zu äussern, dazu fehlt es ihr
nicht sowohl an Intensität, als an Gelegenheit, d. h. es ist ihrer
Natur nach nicht abzusehen, welche Art von Handlung eine blosse
gleichgültige Gedächtnissvorstellung unmittelbar herbeiführen sollte,
Sie befindet sich dabei in einer ähnlichen Lage wie eine charak-
terologische Disposition, welche beim Mangel einer gegenwärtigen
Gelegenheit zum Handeln sich auf die Vorstellung der künftig
bevorstehenden Gelegenheit hin als Vorsatz und Verlangen äußert,
Dur dass in diesem Falle die Möglichkeit des Ueberganges in
wirkliche Handlung von einer erfüllbaren Bedingung abhängt, bei
der blossen Gedächtnissvorstellung aber selbst das nicht. Ana-
tomisch muss sich dieser Unterschied in einer verschiedenen Lage
der Partien aussprechen, in welchen die Gedächtnissdispositionen
und in welchen die charakterologischen Dispositionen niederge-
legt sind ; die letzteren müssen den Centralorganen der Bewegung
näher liegen, oder doch durch bessere Leitung mit ihnen ver-
bunden sein; in demselben Maasse aber müssen sie derjenigen
Hirnschicht ferner liegen, in welcher das hellste und klarste Be-
wusstsein erzeugt wird. Wenn aber unser Ausdruck, dass die
iSphäre der erworbenen Charaktereigenschaften gleichsam eine
107
Hülle um den Kern der angeborenen bilde, zunächst nur bildlich
zu nehmen war, so dürfte die Behauptung, dass die Sphäre des
Gedächtnisses am meisten peripherisch (von den Centralorganen
der Bewegung aus gerechnet) zu suchen sei, einigen Anspruch
auf reale Bedeutung haben, um so mehr als auch pathologische
Erfahrungen (Substanzverlust des Gehirns, Aphasie durch Schlag-
fluss u. s. w.) auf einen Sitz des Gedächtnisses in den unter der
Stirn gelegenen Theilen des Grosshirns hinweisen.
Wenn nun auch die relative Intensität, mit welcher die Ge-
dächtnissvorstellungen auf die Centralorgane der Bewegung in-
fluiren, gering genannt werden muss, so braucht deshalb ihre ab-
solute Energie im Verhältniss zu erregten charakterologischen
Dispositionen keineswegs unbedeutend zu sein. Dies beweist
schon die Lebhaftigkeit und Klarheit des Bewusstseins, durch
welche sie jenen entschieden überlegen sind. Die Leitungswider-
stände in der Richtung auf die Centralorgane der Bewegung ver-
hindern sie nur, ihre Intensität nach dieser Richtung hin zur Gel^
tung zu bringen, während sie dadurch Gelegenheit erhalten, die-
selbe innerhalb der Sphäre des Gedächtnisses selbst fruchtbar zu
verwerthen, indem sie dieselbe im Process der Ideenassociation
fortwährend auf neue Vorstellungen tibertragen. Erst durch dieses
in sich Abgescblossensein der Sphäre des Gedächtnisses wird die
Beweglichkeit und Lebendigkeit des Vorstellungsprocesses möglich,
welche im bedeutungsvollen Gegensatz steht zu der Schwerfällig-
keit und Stabilität des Begehrungs- und Gefühlslebens (Phil. d.
Unb. S. 374). Während die Dauerhaftigkeit der Gefühle, Bestre-
bungen und Interessen allein das Leben vor Zerfahrenheit und
unstäter Zersplitterung schützen kann, ist die schnelle Beweglich-
keit des Vorstellungslebens die nothwendige Voraussetzung für
jede intellectuelle Leistung, sei es auf dem theoretischen Gebiete
der Erfindungen und Entdeckungen, sei es auf dem praktischen
Gebiet der Auswahl der richtigen Mittel für die vom Gefühlsleben
gesteckten Ziele. So kann man die dynamische Leistung der Vor-
stellungssphäre auf die charakterologische Sphäre des Begehrungs-
und Gefühlslebens auch dahin definiren, dass sie in der ange-
messenen Verarbeitung der Motive der letzteren besteht,
während sie zugleich bei dieser ihrer anscheinend rein intellek-
108
tuellen Arbeit doch wieder unter dem bestimmenden Einfluss der
mehr centralen Sphäre der charakterologischen Dispositionen steht,
wie dies Schopenhauer (W. a. W. u. V. Bd. IL) in dem Capitel:
„Der Primat des Willens im Selbstbewusstsein" näher ausgeführt
bat. Einen directen Einfluss auf das Handeln gewinnt die Vor-
stellungssphäre erst dann, wenn die Vorstellung einer willkürlich
auszuführenden Bewegung oder Handlung mit einem activen
centrifugalen Innervationsstrom (vgl. oben S. 78) verbunden
auftritt, was wiederum nur möglich ist, wenn entweder diese be-
wusste Absicht mit dem unbewussten Resultat der Motivation
übereinstimmt, oder aber wenn die betreffende Handlung eine für
den Charakter und die Lebensinteressen völlig gleichgültige ist.
Wenn wir nach dieser Auseinandersetzung an unserm obigen
Ausspruch festhalten dürfen, dass die Gedächtnisssphäre sich zur
Sphäre der erworbenen Charakterdispositionen ungefähr so ver-
hält, wie diese zu der Sphäre der ererbten Charakterdispositionen,
so werden wir uns nicht wundern dürfen, dass, da doch schon
die Vererbung erworbener Charaktereigenschaften so viel schwie-
riger und unsicherer ist als die der angeborenen, durch constituirte
Vererbung befestigter Charakteranlagen, dass nunmehr die Sphäre
der Gedächtnissdispositionen, welche hinsichtlich der Tiefe ihrer
Eindrücke sich als noch weit oberflächlicher erweist, für ge-
wöhnlich gar nicht mehr zur Vererbung gelangt, oder wenn
man so sagen darf, bereits unterhalb der Schwelle der Vererbung
liegt. Sind doch die Eindrücke oft so schwach, dass sie in dem-
selben Individuum nicht mehr zur Reproduction gelangen können,
d. h. radical vergessen bleiben, — wie sollten sie da eine
über das Individuum auf seine Nachkommen hinübergreifende
Wirksamkeit äussern können? Aber selbst solche Gedächtniss-
vorstellungen, welche durch häufige Reproduction fester ein-
geprägt werden, wie z. B. der Vocabelschatz der Muttersprache,
zeigen keine Spuren von Vererbung; man hat wenigstens noch
nirgends constatirt, dass ein von Deutschen geborenes Kind in
seiner Kindbeit die deutsche Sprache leichter erlernte als irgend
eine andere mit der deutschen auf gleicher Stufe der formalen
Entwickelung stehende Sprache. Für dieses unterhalb der Ver-
erbungsschwelle gelegene Gebiet von Hirndispositionen, insoweit
109
es für das menschliche Culturleben Bedingung ist, muss dann
eben die Erziehung namentlich in frühester Kindheit vicarirend
eintreten, um gleichsam die organisch begonnene Modellirung des
Gehirns im Embryo durch systematisch regulirte Vorstcllungs-
zufuhr und Uebung zum Abschluss zu bringen. Dass derartige
Gedächtnissdispositionen, wie Vocabeln, zn oberflächUch zur Ver-
erbung sind, kommt offenbar daher, dass die Gedächtnissvorstel-
lungen dieser Art mehr oder minder conventionelle Be-
griff sz eichen sind, die nichts Typisches an sich haben und
deren conventionell so oder so bestimmte Qualität (ob „pere"
oder „Vater'') iitr die intellektuelle Bedeutung ebenso gleichgültig
ist wie für das Interesse und Gefühlsleben. Ganz anders, wo es
sich nicht bloss um gleichgültige Zeichen oder um Erfahrungs-
wissen, sondern entweder um eine typische Form der Vor-
stellungs weise, oder um einen Vorstellungsinhalt handelt, dessen
Qualität zugleich das Begehrun gs- und Gefühlsleben afficirt, also
in das Gebiet charakterologischer Prädispositionen hinüber-
greift. Beides haben wir gesondert zu betrachten, wie innig es
auch in sich wiederum zusammenhängen mag. Nur die letztere
Seite betrachten wir in diesem Abschnitt, während die erstere,
die typischen Formen des Denkens und Anschauens, dem folgenden
Abschnitt vorbehalten bleibt.
Wir sahen schon oben, dass die Hirnprädispositionen des Ge-
dächtnisses nicht sowohl specifisch als graduell von den charak-
terologischen Hirnprädispositionen verschieden sind, dass der
Uebergang zwischen beiden ein durchaus flüssiger, durch die
mannigfachsten Verbindungsglieder vermittelter ist, und dass die
blosse interesselos gleichgültige Gedächtnissvorstellung nur das
eine Endglied dieser Reihe ist, deren anderes Ende die an-
geborene, aber durch erworbene Modificationen entgegengesetzter
Art latent gewordene Charakteranlagc ist. Jede charaktero-
logische Prädisposition ist ein vorausbestimmter Reactionsmodus
des Begehrens auf eine gewisse Art von Motiven, und jeder
Reactionsmodus wird nur dadurch zu einem eigenthümlichen, das»
das bei einem gegebenen Motiv resultirende Wollen einen eigen-
thümlichen (von dem anderer Individuen abweichenden) Vor-
stellungsinhalt besitzt. Ist also der Charakter angeboren
110
(d. h. ererbt), so ist auch der eigenthtimliche Vorstellimgsinhalt
angeboren, dessen Gewolltwerden bei gegebenem Motiv die Eigen-
thümlichkeit des angeborenen Reactionsmodus ausmacht. Ein
Vorstellungsinhalt kann aber nur angeboren sein als ererbte
schlummernde Gedächtnissvorstellung, d. h. „als moleculare Hirn-
disposition zu gewissen Schwingungsarten" (Ph. d. U. S. 613).
Wir können hinzufügen, dass gar nichts als dieser Vorstellungs-
inhalt qualitative Unterschiede des Begehrens oder WoUens
bewirken kann, da ja die leere Form des Wollens, abgesehen von
diesem Vorstellungsinhalt, überhaupt nur quantitative Unter-
schiede der Intensität zulässt (ebenda S. 105), und ohnehin als
Wollen gar nicht zum Bewusstsein gelangt (vgl. oben Abschn. V).
Die Ph. d.U. fährt fort: „In dieser Art ist z.B. das Verhalten
des undressirten jungen Jagdhundes (seine Aufmerksamkeit auf
Wild, sein Stutzen, seine Neigung zum Apportiren geworfener
Gegenstände) durch ein von seinen Vorfahren ererbtes Gedächtniss
zu erklären, so aber, dass die aus den ererbten Hirndispositionen
auf geeignete Veranlassung auftauchenden (Erinnerungs-) Vor-
stellungen nicht als Erinnerungen bewusst werden, sondern nur
als Inhalt der durch jene Veranlassungen (Motive) hervorgerufenen
Willensakte auftreten*' (S. 613). Hiermit ist zugleich das psycho-
logische Kriterion für den Unterschied individuell erworbener und
ererbter Gedächtnissdispositionen ausgesprochen: bei der Repro-
duction der ersteren taucht das Bewusstsein, die Vorstellung schon
trüber gehabt zu haben, mit auf; und das Fehlen dieses Bewusst-
seins lässt bei den letzteren den Charakter der Erinnerung nicht
zur Geltung kommen. Der junge Jagdhund wird von der Ge-
sichtswahrnehmung des Wildes oder des geworfenen Steins zwar
ebenso afficirt wie etwa ein junger Wachtelhund; aber er reagirt
mit anderen Vorstellungen auf diese Wahrnehmungen, wenngleich
seine Vorstellungsreactionen nicht als blosse Vorstellungen, son-
dern als Vorstellungsinhalt von Willensakten hervortreten. (Bei-
läufig sei hier bemerkt, dass Darwin das anderartige Verhalten
junger Hunde, die von gut dressirten Jagdhunden abstammen,
bestätigt). Wenn blindtaubstumme Mädchen mit dem Eintritt der
Pubertät die volle Schamhaftigkeit ihres Geschlechts gegen die
Berührung männhcher Personen entwickeln (Ph. d. U. S. 186—187),
111
«0 treten Vorstellungsmassen aus zuvor latenten Dispositionen her-
:aus, welche bei dem Mangel entsprechender Belehrung und Er-
ziehung nur als Gedächtnissdispositionen zu bezeichnen sind, die
von der constituirten Vererbung ähnlicher Vorstellungsmassen in
weiblicher Linie herröhren und, wie alle Vererbungen, sich zu
derselben Zeit zur Actualität entfalten, wie dies in den Vorfahren
der Fall war. Von der Putzsucht dieser unglücklichen Geschöpfe
lässt sich nur dieselbe Erklärung geben. Diese Beispiele eröffnen
aber zugleich eine weite Perspektive auf den grundlegenden Ein-
:fluss ererbter Vorstellungsmassen in solchen Fällen, wo der Ein-
fluss von Erziehung, Gewohnheit und Uebung verstärkend oder
modificirend hinzutritt.
Wenn ein aus einer Reiterfamilie stammender Jüngling nicht
selten Sitz und Balance zu seinem ersten Reitversuch in einer
anderen Anfängern überlegenen Weise mitbringt, so zeigt sich
auch hier eine Summe ererbter Vorstellungen und Kenntnisse
über die den jeweiligen Störungen der Balance entgegenzustellen-
den Muskelbewegungen, nur dass diese Vorstellungen hier noch
weniger als bei dem Apportiren des jungen Jagdhundes als solche
zum Bewusstsein kommen, sondern in den Ausführungsimpulsen
zu den entsprechenden combinirten Muskelbewegungen involvirt
bleiben. Diese Vorstellungsmassen treten im gegebenen Beispiel
um so weniger in's Bewusstsein, als die entsprechenden mole-
cularen Dispositionen grossentheils im Kleinhirn und verlängerten
Mark zu suchen sind. Die ererbte Disposition aller Thiere zu
den ihrem Leben nöthigen Bewegungen des Gehens, Schwimmens,
Fliegens u. s. w. entspricht ganz und gar dieser Reiterdispo-
sition; sie tritt um so deutlicher hervor, in je fertigerem Zustande
das Thier in's Leben eintritt, und entzieht sich der Beobachtung
in um so höherem Grade, je länger die Dauer der jugendlichen
Unreife ist, die bekanntlich beim Menschen und demnächst bei
den antropoiden Aff'en am grössten ist. Beim Menschen scheint
das Kind gar nichts mitzubringen, sondern alles erst zu lernen;
in der That aber bringt es alles oder doch unendlich viel mehr
als das fix und fertig aus dem Ei kriechende Thier mit, aber es
bringt alles in unreifem Zustande mit, weil des zu Entwickelnden
bei ihm so viel ist, dass es in den 9 Monaten des Embrvolebens
112
Hur erst im Keime vorgebildet sein kann. So geht nun da»
Reiten der Dispositionen bei fortschi-eitender Ausbildung des
Säuglinggehirns mit dem Lernen, d. h. mit dem Nachmeisseln
dieser Dispositionen durch Uebung Hand in Hand und erzielt
dadurch ein weit reicheres und saubereres Endresultat, als die
blosse Vererbung bei den Thieren vermag (vgl, Ph. d. Unb.
S. 314). Aber selbst das menschliche Kind würde mit dem
wundervollen Mechanismus seiner Gliedmaassen und seiner Sinnes-
werkzeuge gar nichts anzufangen wissen, wenn es nicht die
Hirnprädispositionen zum Gebrauch derselben als ererbten
Besitz mitbrächte; der Unterschied ist nur, dass es wegen
der noch breiartigen Beschaffenheit seines Gehirns, das sich erst
allmählich consolidirt, lange Zeit braucht, um von seinem Eigen-
thum vollen Besitz zu ergreifen, während das Thier von Anfang
an in seiner beschränkteren Domäne wie zu Hause ist. Bei dem
ßeichthum der menschlichen Erbschaft aber heisst es:
„Was Du ererbt von Deinen Vätern hast.
Erwirb es, um es zu besitzen".
Das Lernen des Kindes ist dieser Erwerbungs- oder Aneig-
nungsprocess des Ererbten. Während das Thier niemals zu der
abstracten Vorstellung gelangt, diese oder jene Bewegung vollziehen
zu wollen, sondern immer nur Bewegungen auf entsprechende
praktische Motive oder aus unmittelbarem Bewegungstrieb vor-
nimmt, gelangt der Mensch dazu, die Ausführungsimpulse zu den
Bewegungen der wichtigeren, quergestreiften Muskeln unter Um-
ständen auch von den unmittelbaren praktischen Motiven ab-
lösen zu können und mit der abstracten Vorstellung der Aus-
führung einer solchen Bewegung zu associiren. Diese Ablösung
findet nicht plötzlich statt, sondern allmählich. Schritt vor Schritt,
durch Selbstbeobachtung und Belauschung der nur mit schwachen
begleitenden Empfindungen in's Bewusstsein fallenden Impulse.
Wie die Uebung und Vererbung im Thierreich die Verbin-
dung zwischen der Wahrnehmung oder Vorstellung des prak-
tischen Motivs mit der Ausführungsbewegung dem Hirn einge-
graben, Dispositionen gegründet und Leitungsbahnen für den
Willensirapuls geschafften hatte, so schaffet Uebung und Vererbung
in der Menschheit (und schon in den intelligentesten Thieren)
113
ähnliche Associationen zwischen gewissen abstracten Vorstellungen
und den entsprechenden Ausführungsbewegungeu, — vorausgesetzt,
dass die Vorstellungen intensiv genug sind und dass die unmittel-
bare Ausführung der Bewegung in imperativer Form in ihnen
enthalten ist. Insoweit diese Associationen ererbt oder fest ein-
geübt sind, geschehen sie mit einer ziemlichen Sicherheit; doch
können sie niemals dasjenige Maass nahezu unfehlbarer Sicher-
heit erlangen, was die durch befestigte Ererbung constituirten in-
stinctiven Bewegungsreactionen auf bestimmte für das Leben des
betreffenden Wesens wichtige Motive besitzen ; denn das eine Glied
der Association, die abstracte Vorstellung, entzieht sich der Ver-
erbung, und deshalb muss das Band in jedem Individuum gleich-
sam neu geknüpft werden. Wir können hiernach der Ph. d. Unb.
nicht zugeben, dass die Möglichkeit des Fehlgreifens die Hypo-
these eines mechanischen Zusammenhangs zwischen Vorstellung
und Ausführungsimpuls discreditire (S. 66j ; diese Möglichkeit be-
weist eben nur, dass dieser Zusammenhang nicht dennaassen
durch lauge Vererbung befestigt ist, um praktisch unfehlbar ge-
worden zu sein, sondern dass diese mechanische Leitung sich noch
wie die mangelhaft isolirte Leitung einer elektrischen Batterie
verhält, welche gelegentlich einen Funken seitwärts überspringen
lässt. Je dauernder eine bestimmte Association zwischen Vor-
stellung und Ausführung geübt wird, um so besser wird die Leitungs-
bahn eingegraben und um so seltener die Fälle des Fehlgreifens.
Hieraus folgt, dass die praktische Unfehlbarkeit der in-
stinctiven und retlectorischen Bewegungen durch die befestigte
Vererbung des Leitungsmechanisraus zwischen Motiv und Aus-
führung hinreichend erklärt ist, ohne dass man für diesen Zweck
eine metaphysische Unfehlbarkeit des Unbewussten zu Hülfe
zu nehmen brauchte; es folgt ferner daraus, dass eine Vervoll-
kommnung der Association durch Gewohnheit und Uebung
wirklich stattfindet, und dass mithin dieser ganze Associations-
process nur auf materiellem Gebiete zu erklären gesucht werden
kann, da das Unbewusste weder in seinem Wesen, noch in seinen
Functionen einer Vervollkommnung durch Gewohnheit und Uebung
fähig ist (vgl. oben S. 52). Die Phil. d. Unb. muss sich in
114
einem solchen Falle, wo üebung einen Process ermöglicht, der
anfänglich mit vergeblichen Anstrengungen versucht wurde, zu
der Behauptung Zuflucht nehmen, dass der metaphysisch-teleolo-
gische Eingriff des Unbewussten in dem nicht zu dieser Art von
Functionen prädisponirten Organ zu grossen Widerstand finde, um
sich geltend machen zu können, und dass die vom Organ durch
Uebung oder Vererbung erlangte Prädisposition dem Unbewussten
den Eingriff erleichtere (vgl. Ph. d. Unb. S. 284, Z. 8—11).
Wenn aber das Vorhandensein der molecularen Prädisposition
doch einmal als Bedingung zugegeben ist, und zugleich als die
Bedingung, auf deren Vervollkommnung die Vervollkommnung der
Association zwischen Vorstellung und Ausführung beruht, dann
gleicht der darüber schwebende metaphysische Eingriff doch
stark einem fünften' Rad am Wagen, das zur Erklärung nichts
mehr beiträgt. Was das Wahre an dem Cap. A II der Ph. d.
Unb. ist, das ist der Nachweis des schon oben zugestandenen
Satzes, dass ohne vorgefundene angeborene Prädispositionen behufs
Association gewisser Vorstellungen (Motive) mit gewissen Bewe-
gungen der ganze Apparat von Muskeln, motorischen Nerven und
Centralorganen der Bewegung für den Besitzer werthlos und un-
brauchbar sein würde, weil er nichts mit ihm anzufangen wüsste.
Die Summe der angeborenen Prädispositionen dieser Art ist eben
das, was die Ph. d. Unb. die unbewusste Kenntniss der Lage der
centralen Endigungen der motorischen Nerven nennt; sie sind
Prädispositionen zu gewissen Reactionen, welche den Bewegungs-
impuls auf gewisse centrale Nervenendigungen richten, und ihre
Reactionen bestehen in molecularen Schwingungen, welche denen
der Vorstellungen zwar analog, aber doch noch so weit von ihnen
(schon durch die Lage im Gehirn) verschieden sind, dass sie
nicht als Vorstellungen bewusst werden.
DiePh. d. U. sperrt sich letzten Endes nur deshalb dagegen, diese
Erklärung zu acceptiren, weil sie durch dieselbe das Problem nicht
gelöst, sondern nur nach rückwärts verschoben erachtet, da
dieselbe die Frage nach der Entstehung der Prädisposition in
den Vorfahren offen lasse (S. 66—67). Nun ist aber aus der
Beobachtung am Menschen bekannt, dass mit Hülfe des mehr
115
oder weniger blinden, auf gut Glück herumtappenden Probirens
die ersten Versuche zur Association einer gewissen Bewegung
mit der Vorstellung dieser Bewegung vorgenommen werden, und
dass der centrifugale Innervationsstrom*) dabei mitunter gar keine,
mitunter nur sehr dürftige Anhaltpunkte hat. Im erstereu Falle
sind nicht selten alle Versuche erfolglos (z. B. die Versuche zur
Bewegung der menschlichen Ohrenmuskeln, zu deren Ausführung
wir die Prädisposition nur in sehr abgeschwächter und ver-
kümmerter Gestalt überkommen haben). Ist aber ein solcher
Versuch erst ein Mal gelungen, so bleibt ein Eindruck von der
dem Innervationsstrom ertheilten Richtung haften, welcher für
den zweiten Versuch schon einen Anhaltpunkt gewährt. Auf
diese Weise ist ein Zuwachs solcher Prädispositionen und eine
feinere Durcharbeitung und Vervollkommnung der ererbten in der
That ohne alle metaphysisch-teleologischen Eingriffe des Unbe-
wussten erklärlich, und da wir vom Menschen rückwärts durch
seine ganze Ahnenreihe bis herab zur Urmonere nirgends einen
Punkt finden, wo mehr als dies verlangt würde, so werden wir
auch in der Entstehungsgeschichte dieses Prädispositionencomplexes
von den ersten mechanischen Contractionen des Protoplasmas auf
die verschiedenen Reize bis herauf zu den complicirtesten Bewe-
gungsfertigkeiten der höheren Tliiere und Menschen nichts finden,
was die mechanische Erklärungs weise als principiell unzulänglich
erscheinen Hesse, wenngleich wir gern zugeben, dass wir damit
noch weit entfernt sind von der eigentlichen Erklärung eines
einzelnen concreten Vorgangs.
Nachdem wir uns über das Princip verständigt haben, welches
bei der Erklärung der sogenannten körperlichen Fertigkeiten zu
Grunde zu legen ist, können wir um so weniger zweifeln, dass
es sich bei der Erklärung der rein geistigen Fertigkeiten um
dasselbe Princip handeln kann; denn hier können die Gehirndis-
positionen viel unmittelbarer wirken, weil die Schwierigkeit der
einzugrabenden Leitungsbahnen von den vorstellenden Grosshirn-
partien zu den Centralorgauen der Bewegung hinwegfällt. Die
*) Vergleiche oben S. 78 u. 56—57.
8"
116
geistigen Fertigkeiten können sich nur auf die Verarbeitung von
Vorstellungsmassen einer gewissen Qualität (mathematische, musi-
kalische u. s. w. Talente) oder auf Verarbeitung aller oder doch
der meisten aufstossenden Vorstellungen in gewissem Sinne und
in gewisser Richtung (philosophische, poetische u. s. w. Talente)
beziehen, wobei nicht ausgeschlossen ist, dass die fruchtbringende
Ausübung verschiedener dieser Anlagen eine gewisse Combination
von rein geistigen und geistig-körperlichen Fertigkeiten erfordert
(z. B. ausübend- musikalische, mimische, bildnerische Talente).
In diesem Gebiet kann kein Zweifel obwalten, dass die Ph. d.
ünb. mit unserer Auffassung übereinstimmt, auch wenn sie es
nicht ausdrücklich ausspräche (3. Aufl. S. 612 Z. 12 — 5 von unten;
1. Aufl. S. 517); schon das klare und entschiedene Auftreten der
Schopenhauer'schen Philosophie Hess in dieser Frage kaum einen
Rückfall befürchten. Um so wunderbarer aber ist es, dass die
Ph. d. Unb. bei dem engen und flüssigen Zusammenhang der
reingeistigen, gemischten und körperlichen Fertigkeiten für die
letzteren, die doch ihrer Natur nach dem materiellen Mechanismus
Aveit näher liegen, ein abweichendes metaphysisches Erklärungs-
princip aufstellt, und ist diese Inconsequenz (wie schon oben
S. 20 — 21 bemerkt) nur dadurch erklärlich, dass das Cap. A II
einige Jahre früher als Cap. C X verfasst ist. Auf S. 613 der
3. Aufl. wird geradezu eingeräumt, dass „auch bei Menschen sich
ein grosser Theil der äusserlichen Manieren und Eigen thümlich-
keiten der Haltung, der Bewegung und des Benehmens aus er-
erbten llirnprädispositionen der mit denselben Eigenthümlichkeiten
behafteten Vorfahren zusammensetzt", d. h. also doch, dass auch
körperliche Gewohnheiten und Fertigkeiten aus ererbten llirn-
prädispositionen erklärt werden können.
Dass gewisse geistige Talente durch mehrere Generationen
in einer Familie erblich sind, beweisen zahlreiche Beispiele (Maler,
Mathematiker, Astronomen, Schauspieler, Feldherren u. s. w.) (Ph.
d, Unb. S. 013). Die Familie Bach producirte nicht weniger
als 22 hervorragende musikalische Talente. Der Kampf um's
Dasein unter Völkern und Individuen wirkt auf beständige Stei-
gerung der durchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten im
117
Menschengeschlecht hin^ während der Charakter sich wohl reicher
und reicher differenzirt, aber nicht in dem Maasse von Wichtig-
keit für den Kampf um's Dasein ist w^ie der Intellekt (613 — 614),
Dazu kommt noch, dass mit der Zeit immer neue Gebiete des
Geistes erschlossen und damit neue Fertigkeiten und Anlagen
zur Handhabung und Bearbeitung der einschlagenden Vorstellungs-
massen entwickelt w^erden, während zugleich andererseits trotz
der auch auf geistigem Gebiete beständig wachsenden Arbeits-
theilung doch die Durchschnittsmasse des jedem einzelnen Indi-
viduum einer Culturnation zugeführten geistigen Bildungsmaterials
ebensowohl im beständigen Wachsen ist, wie die auf die Erziehung
eines Individuums durchschnittlich verwendete Arbeit.
Die Ph. d. Unb. sagt S. 340—341 hierüber Folgendes: „Wie
jeder Körpertheil durch den Gebrauch und die Uebung gestärkt und
zu neuen ähnlichen Leistungen geschickter gemacht wird, so
auch das grosse Gehirn ; wie bei jedem Kürpertheil ist aber
auch beim grossen Gehirn die von den Eltern erworbene
Kräftigung und materielle Vervollkommnung durch Vererbung
auf das Kind übertragbar. Diese Vererbung ist nicht in jedem
einzelnen Falle direkt nachweisbar, aber als Durchschnitt von
einer Generation auf die folgende genommen ist sie Thatsache
und ebenso ist es Thatsache, dass es eine latente Vererbung giebt,
welche erst in der zweiten oder dritten Generation ihre Früchte
oiföiibart fz. B. wenn Jemand von seinem Grossvater mütterlicher-
seits starken rothen Bartwuchs und schöne Bassstimme geerbt
hat). Da jede Generation ihren bewussten Intellect weiter aus-
bildet, also auch dessen materielles Organ weiter vervollkommnet,
so Summiren sich im Laufe der Generationen diese für Eine Gene-
ration immerhin unmerklich kleinen Zuwachse zu deutlich sicht-
bar werdenden Grössen. Es ist keine blosse Redensart, dass die
Kinder jetzt klüger geboren werden und dass sie, minder kindlich
als sonst, schon in der Kindheit Neigung zeigen, vorzeitig altklug zu
werden. Wie Junge dressirter Thiere zu der gleichen Dressur
geeigneter sind, als wild eingefangene Junge, so sind auch die
Kinder einer menschlichen Generation um so geschickter zur Er-
lernung bestimmter Könnens- und Wissensgebiete, je weiter jene
118
es darin bereits gebracht hatte. Ich bezweifle z. B., dass ein
Helenenkuabe jemals ein tüchtiger produktiver Musiker im mo-
dernen Sinne geworden wäre^ weil sein Gehirn derjenigen ererbten
Prädispositionen für das weite Gebiet der musikalischen Harmonie
entbehrte, welche erst die moderne westeuropäische Menschheit
sich durch eine historische Entwickelungsreihe von mehr als fünf-
zehn Generationen erworben hat. Ein Archimedes oder Euklid
möchte trotz seines relativen mathematischen Genies sich recht
unbeholfen als Schüler eines Unterrichts in der höheren Mathe-
mathik erwiesen haben.
„So erzeugt jeder geistige Fortschritt eine Steigerung der
Leistungsfähigkeit des materiellen Organs des Intellekts, und diese
wird durch Vererbung (im Durchschnitt) dauernder Besitz der
Menschheit, — eine erklommene Stufe, welche das Weiteraufsteigen
zur nächsten erleichtert, d. h. die Fortschritte des geistigen Be-
sitzes der Menschheit gehen Hand in Hand mit der anthropo-
logischen Entwickelung der Race, und stehen in Wechselwirkung
mit derselben; jeder Fortschritt der einen Seite kommt der an-
dern Seite zu Gute; es muss also auch eine anthropologische
Veredelung der Race, die aus anderen Ursachen als aus geisti-
gen Fortschritten entspringt, die intellektuelle Entwickelung
lördern. Von letzterer Art ist z. B. die Veredelung der Race
durch geschlechtliche Auswahl (Cap. B. II), welche unauf-
hörlich ihre unbeachteten aber mächtigen Wirkungen übt, oder
die Concurrenz der Racen und Nationen im Kampf um's Dasein,
welcher unter den Menschen sich nach ebenso unerbittlichen Natur-
gesetzen vollzieht wie unter Thieren und Pflanzen."
Wir sehen also, dass die Vererbung ebensowohl auf intellek-
tuellem wie auf charakterologischem Gebiete wirksam ist, und
Äwar auf ersterem noch weit wirksamer, theils desshalb, weil,
wie schon bemerkt, die charakterologischen Diff'erenzirungen sich
leichter durch Kreuzung wieder ausgleichen, die intellektuellen
aber im Kampf der Individuen und Völker um's Dasein sich
potenziren, theils deshalb, weil der jeweilige intellektuelle Ge-
sammtbesitz der Menschheit im Gedächtniss der Lebenden und in
<ler Literatur eine substantielle Existenz hat, welche an die nach-
kommenden Generationen durch Unterricht übertragbar ist, während
119
hingegen in charakterologischer Beziehung nur ein dürftiges
Analogon im System der Ethik vorhanden ist, und hierbei nicht
die Aufnahme dieses Vorhandenen in's Gedächtniss, sondern
nur die Eiuprägung der praktischen Principien in den Charakter
(durch Erziehung oder Selbstzucht), welche unendlich viel schwie-
riger ist, zur Sprache kommen kann. Soviel wirksamer, wie der
intellektuelle Unterricht als die charakterologische Erziehung ist,
soviel wirksamer ist die Unterstützung des Menschheitsfortschritts,
welche der intellektuellen Entwickelung als die, welche der
charakterologischen Entwickelung über die Leistungen der blossen
Vererbung hinaus durch Uebertragung auf Lebende erwächst.
VIII.
Die Abkürzung der Ideenassociation und
die Vererbung der Denkformen.
Wir hatten oben (S. 115 — 116) darauf hingedeutet, dass die
sogenannten Talente oder geistigen Anlagen wesentlich in der
Fertigkeit der Handhabung und Bearbeitung gewisser Vorstel-
lungsmassen, oder der Bearbeitung beliebiger Vorstellungen in
einer bestimmten Richtung bestehen und dass diese Fertigkeiten
aus ererbten oder durch Uebung erworbenen Gehirnprädispositionen
erklärt werden müssen. Wenn nun bei aller geistigen Arbeit,
gleichviel ob sie in der Auswahl geeigneter Mittel zu praktischen
Zwecken, oder in künstlerischer Conception, oder in wissenschaft-
lichem Erfinden und Entdecken besteht, die Pointe des Gelingens
immer darin liegt, dass einem „die rechte Vorstellung im rechten
Moment einfällt" (Ph. d. U. S. 255, 269 if.), so wird das eigent-
lich Produktive in der Geistesarbeit ausschliesslich in der
activen Ideenassociation (vgl. oben S. 56—57) zu suchen sein,
keineswegs etwa in formal-logischen Processen, wie dem Schluss-
verfahren, bei dem nichts herauskommt, als was man vorher hinein-
gesteckt hatte (Ph. d. U. 276—277). Selbst wo es sich nur um
Herstellung einer gewissen Ordnung gegebener Vorstellungsmassen
handelt, wird doch das maassgebende Princip, nach welchem das
Ordnen vorgenommen wird, Sache eines glücklichen Griffes, also
Resultat einer produktiven Ideenassociation sein. Alle formellen
Forschungsmethoden der deductiven und inductiven Logik dienen
doch nur dazu, das durch kühne und glückliche Ideenassociation
121
Concipirte objektiv sicherzustellen, resp. als Irrthum zu erweisen ;
der physikalische Experimentator wie der produktive Mathema-
tiker leisten beide doch eigentlich nur dann Bedeutendes, wenn
sie der Hauptsache nach schon vorher wissen, was bei ihrer
Arbeit herauskommen muss; andernfalls bleiben sie ewig fleissige
Stümper. Die Ideenassociation ist die allgemeingültige, emg-
unersetzliche Urform, in welcher jeder Vorstellungsprocess ver-
läuft, und alle Regeln der Methodik des Denkens sind doch nichts
als Abstractionen von gewissen bequemer systematisirbaren Unter-
arten dieser Urform. Diese Urform hat in der Psychologie der
meisten Philosophen noch keineswegs ihre verdiente Beachtung
gefunden.
Einer der wichtigsten Vorgänge im gesamraten Gebiete der
Psychologie, die bisher kaum geahnt ist, ist nun die Abkür-
zung der Ideenassociation, deren Pt e s u 1 1 a t Lazarus „Ver-
dichtung des Denkens^' genannt hat (Ph. d. U. 262). Wenn ich
zu irgend einem mir gesteckten Ziel, von der Vorstellung A aus-
gehend, die Vorstelhmgen B und C passiren muss, um zur ge-
suchten Vorstellung D zu gelangen, dann braucht sich die Lösung
dieser Aufgabe mit denselben Mitteln nur einigemal in meiner
Praxis zu wiederholen, so werden die ZAvischenglieder B und 0
sich von selbst elidiren. Das erste Mal muss ich den centri-
fugalen Innervationsstrom der Aufmerksamkeit bei jedem der
Glieder aussenden, um zum nächsten zu gelangen, bei jeder
"Wiederholung des Processes sind aber die Prädispositionen besser
eingegraben und sprechen auf den Reiz der hervorrufenden Vor-
stellung leichter an; dadurch vermindert sich sowohl die erforder-
liche active Energie der Aufmerksamkeit, als auch die zwi-
schen A und D verfliessende Zeit. Nach öfteren Wiederholungen
bedarf es gar keines activen Suchens mehr und rückt D an A
der Zeit nach so nahe heran, dass das Bewusstsein nicht mehr
die nöthige Zeit erhält, um auf B und C als solchen zu
verweilen; ohnehin besitzen B und C kein Interesse, wohl
aber D, welches eben das gesuchte Ziel ist. Sind in dieser
Weise B und C erst einmal unter die Bewusstseinsschwelle ge-
sunken, so sinken sie schnell immer weiter, so dass man nun
sagen kann, D sei mit A unmittelbar associirt. Die Ver-
122
biudung von A mit D durch B und C hindurch, war viel-
leicht eine wohlbegründete, logisch vermittelte, während die un-
mittelbare Verbindung von A mit D eben wegen der fehlenden
logischen Verbindungsform als eine logisch unbegründete, zufällige
oder willkürliche erscheint, so lange man nicht diese genetischen
Verbindungsglieder restituirt. — Nun kann dieser Process der Ab-
kürzung aber noch weiter gehen. Man denke sich, dass eine
neue Reihe activer Ideenassociationen die Vorstellungen A, D, G
und K durchläuft (wobei die Association von D und G und von
G und K selbst schon eine abgekürzte sein kann) und dass diese
Reihe auf bestimmte Veranlassung hin ebenfalls häufiger wieder-
kehrt, so wird sich durch denselben Elisionsprocess zuletzt A mit
K unmittelbar associiren. Wenn bei dem ersten Abkürzungsver-
fahren zwischen A und D die logisch vermittelnden Zwischen-
glieder noch durch leichtes Besinnen zu restituiren waren, so
kann bei einem weiter fortgeführten Abkürzungsverfahren diese
Restitution der Zwischenglieder zuletzt sehr schwierig, ja bei
einer vererbten Tendenz oder Prädisposition zu solchen ab-
gekürzten Associationen zuletzt ganz unmöglich werden.
Nun beruht aber alle Fertigkeit und Anlage zur Gedankenver-
arbeitung in einer bestimmten Richtung aufsolchenerworbenen
oder ererbten Prädispositionen zu abgekürzter Ideen-
association. Wo die Fertigkeit eine durch Uebung indivi-
duell erworbene ist, wird man sich in der Regel des Unterschie-
des mit einer früheren Zeit, wo man sie noch nicht besass, be-
wusst sein, indem man sich dessen erinnert, wie man früher viele
Schritte der Ideenassociation zu demselben Ziele brauchte, wo
man jetzt mit einem ausreicht. Am frappantesten ist aber die
Erscheinung der abgekürzten Ideenassociation oder des Ueber-
springens mehrerer logischer Zwischenglieder in solchen Fällen,
wo man sich der Zeit vor erlangter Uebung nicht mehr be-
wusst ist, und wo dann in der Regel schon ererbte Dispo-
sitionen zu Grunde lagen, welche der Uebung nur das Nach-
m eissein überliessen und dadurch die Periode der Unbeholfen-
heit sehr abkürzten. In solchen Fällen, wenn man nicht ihren
flüssigen Uebergang zu denen, wo der Abkürzungsprocess zu Tage
liegt, beachtet, scheint es dann in der That, als läge eine höhere
123
metaphysische Eiugebung vor. Die Ph. d. U. bemerkt ganz
richtig, dass auch in dem discursiven Denken, wo alle logischen
Zwischeustationen in bewussten Haltepunkten, also in Hirn-
schwingungen, vollständig ausgeführt worden, doch der Ueber-
gang von einer Vorstellung zur andern ein unbewusster Process
ist, und somit die neue Vorstellung intuitiv eintritt — dass man
aber im Unterschiede von diesem in kurzen Schritten sich be-
wegenden Denken ein intuitives im engeren Sinne erst
dann anerkennt, wenn eine discursive Vermittelung durch actuell
vorhandene, in möglichste Nähe an einander gerückte logische
Zwischenglieder nicht mehr ersichtlich ist (S. 282 — 283). Man
braucht zu diesem Anerkenntniss der Gleichartigkeit des
Vorstellungsprocesses in beiden Fällen nur noch das in der Ph.
d. U. fehlende Verständniss über die allmählich wachsende Ab-
kürzung des Processes der Ideenassociation hinzuzufügen, um
ein Erklärungsprincip für das sogenannte intuitive Denken zu
gewinnen, welches, wenn es auch nicht mit einem Schlage alle
Käthsel der Conceptionen des Genies löst, doch einen Fingerzeig
giebt, auf welchem Wege von dem Verständniss der gewöhnlich
vorkommenden abgekürzten Denkprocesse zu den selteneren pro-
duktivsten Formen derselben aufzusteigen sei. Es lag dies der
Ph. d. U. um so näher, als sie selbst wenigstens andeutungsweise
die analoge Erscheinung der abgekürzten Vererbung be-
rührt (S. 570 Anm.), nämlich die Thatsache, dass in der em-
bryonalen Entwickelung der niederen Thiere je zwei Stufen
mehr Zwischenglieder zeigen, als dieselben Stufen in der
embryonalen Entwickelung eines zu derselben direkten Descen-
<lenzlinie gehörigen höheren Thieres zeigen, dass mit anderen
Worten bei höheren Thieren die durch lang andauernde Ver-
erbung fester und fester constituirte Entwickelungsfähigkeit des
Ei's eine Elision von Uebergangsstufen gestattet, welche bei
der Entwickelung der niederen Thiere noch unerlässlich sind.
Wenn wir eine fremde Sprache lernen, so lernen wir sie
mit Hülfe von Kegeln. Aber um eine Sprache zu können,
muss durch den Abkürzungsprocess der Ideenassociation die Regel
bereits wieder elimiuirt sein, muss der concrete Fall unmittelbar
diejenige Vorstellung hervorrufen, welche der Anwendung der
124
Regel auf diesen Fall entspricht. Wer eine Sprache auf diese
Weise kann, der vergisst mit der Zeit die früher erlernten Re--
gelu vollständig, weil die Gedächtnisseindrücke derselben nicht
mehr im Bewusstsein reproducirt werden; er kann alsdann über
den logischen Grund seiner abgekürzten Ideen- Association nicht
mehr Auskunft geben, wenn dieselbe ungerechtfertigter Weise
einmal angefochten wird, — er besitzt wohl diese logische Be-
gründung implicite oder immanenter Weise in seinem concreten
Vorstellen, aber weil sie ihm eben unbewusst geworden ist^
80 kann er sich nur noch auf sein Sprach -Gefühl berufen,
Kinder lernen ihre Muttersprache allerdings . ohne Regeln , aber
sie machen auch dafür den genetischen EntwickelungsprocesSy
den ihre Sprache in Jahrtausenden zurückgelegt hat, in ab-
gekürzter Weise in einigen Monaten durch, d. h. sie fangen mit
der Wurzelsprache an, gehen dann zur agglutinirenden
Wortsprache über und gelangen erst ganz allmählig zum Verstand-
niss der Flexionen und Syntax. Bei alledem aber wären sie doch
ausser Stande, die Sprache auf diese Weise und noch dazu im
Laufe weniger Jahre, ja fast nur Monate, vollständig zu erlerneUj
wenn sie nicht die molecularen Hirnprädispositionen zu den
typischen Formen des Sprachbaues und zu den typischen Ver-
knüpfungsweisen der Vorstellungen in unseren flectirenden Sprachen
schon als ererbten Besitz mitbrächten. Dass die Kinder
von Wilden, deren Sprachsystem auf niedrigerer Stufe der for-
malen Entwickelung steht, unsere modernen europäischen Sprachen
(mit Ausnahme des Englischen, das kaum noch Flexionssprache
zu nennen ist) schwerer lernen als ihre Muttersprache und schwe-
rer als unsere Kinder, ist durch mehrfache Beispiele wahrschein-
lich gemacht; wir glauben, dasselbe auch von chinesischen Kin-
dern voraussetzen zu dürfen.
Alle Sprache beruht auf dem Begriff des Zeichens; in ihm
kommt Geberdensprache, Lautsprache und Schriftsprache zu-
sammen. Das Zeichen ist eine besondere Art der Association
einer Vorstellung mit einer andern, so dass die erstere keinen
andern Zweck und keine andere Aufgabe hat, als die zweite
hervorzurufen. Eine solche Verknüpfung ist selbst schon etwas
so Eigenthümliches, dass sie als typische Form der Association
125
betrachtet werden miiss. Dass die Prädisposition zu derselben
angeboren, d. b. ererbt ist, erbellt wieder am besten aus der
Beobacbtung an Blindtaubstummeu. Man muss sieb nur einmal
recht deutlich in die Lage eines solchen unglücklichen Geschöpfes
versetzen, um die Schwierigkeit, sie zur Zeichensprache zu führen,
nach ihrem ganzen Umfang zu ermessen. Man gebe ihnen z. B.
in die eine Hand ein Ei und führe die Finger der andern Hand
über ein Zeichen, etwa über die eingravirten Schriftzeichen; so
oft man diese Procedur auch wiederholen mag, ^vird man doch
nie dadurch den Begriff des Zeichens und des Bezeichneten in
dem Intellekt des Schülers hervorrufen, wenn die Prädisposition
des Gehirns für diese Verknüpiung (wie etwa bei einem geistig
tiefstehenden Thiere) fehlt.
Wie bei der Erlernung einer fremden Sprache die gramma-
tische Regel aus der Ideenassociation elidirt werden muss, so
beim Erlernen der Mathematik die mathematische Regel.
Welche Qual verursacht den Kindern nicht schon das Rechnen
mit Brüchen, und welche Menge von Regeln erlernen sie zu diesem
Zweck, die alle bestimmt sind, vergessen zu werden, wenn diese
Hantirungeu zur Fertigkeit geworden sind! Und so geht es
weiter durch alle Stufen der Mathematik. Niemand kann erfolg-
reich eine höhere Stufe beschreiten, er habe denn zuvor die Ver-
fahrungsweisen der vorhergehenden Stufen in's Gefühl aufge-
nommen, d. h. die abstracten Regeln aus der Association des
gegebenen besonderen Falles mit der regelrecht entsprechenden
Operation elidirt. In der Mathematik enthält aber selbst schon
die A u f s t e 1 1 u n g der Regel eine Abkürzung der Ideenassociation,
nämlich die Elision der logischen Begründung der Regel
in ihrer Allgemein giltigkeit, welche wohl beim tyrannischen
Usus der Sprache, niemals aber beim mathematischen Denken
fehlen darf, und welche dennoch — allerdings nicht ohne das
Bewusstsein, sie jederzeit reproduciren zu können — zu den
Acten des Unbewussten gelegt wird, indem die Regel dem Ge-
dächtniss eingeprägt wird. Die mathematischen Begriff'e selbst
(z. B. schon die im dekadischen Zahlensystem geschriebene Zahl,
die negative Grösse, das Produkt, der Bruch, die Potenz, die Wurzel,
der Logarithmus, die imaginäre Grösse, das unendlich Grosse und
126
Kleine, die Kreisfunetionen , das Differential und Integral, die
elliptischen undAberschen Functionen, die stets wiederkehrenden
Constanten, wie g, tt, e u. s. w.) sind sämmtlich doch nur Zeichen
ftir das Resultat eines genetischen Gedankenprocesses , den es
keinem Mathematiker einfällt beim Arbeiten sich beständig zu
wiederholen, obwohl das Zeichen ohne Wiederholung dieses Pro-
cesses leer ist. Nun sind aber für jeden dieser Begriffe ge-
wisse Formen der Association mit anderen mathematischen
Begriffszeichen, welche die Beziehung der ersteren zu den letz-
teren und die durch solche Beziehung zu bestimmten Zwecken
geforderten praktischen Verfahrungsweisen in sich enthalten,
ein- für allemal aus dem Entstehungsprocess der Begriffe logisch
abgeleitet und dem Gedächtniss als abgekürzte Associationen ein-
geprägt. Diese im Gedächtniss mit dem begleitenden Bewusstsein
logischer Begründung niedergelegten nothwendigen Beziehungen
zu anderen Begriffszeichen sind nun der eigentliche und
bleibende Inhalt jedes mathematischen Begriffs-
zeichens, jedoch noch mit der einschränkenden Bestimmung,
dass in jedem concreten Falle nur soviel davon zum Bewusst-
sein kommt, als durch die jeweiligen Verbindungen mit anderen
Begriffszeichen praktisch erfordert wird. Bedenkt man, dass
der Entstehungsprocess eines höheren mathematischen Begriffs-
zeichens zunächst auf niedere, und die Genesis dieser wieder auf
niedere führt u. s. f., ehe man bei der anschaulichen Grösse
als unteren Grenze ankommt, so mag man ermessen, welche
Masse von verdichtetem oder comprimirtem Denken in
einem einzigen höheren mathematischen Begriffs-
zeichen steckt und welches Maass von Abkürzung der Ideen-
association die höheren Operationen der Mathematik voraussetzen
(Ph. d. Unb. S. 262). Es kann hiernach auch nicht Wunder
nehmen, wenn diese höheren mathematischen Operationen nur in
verhältnissmässig wenigen Gehirnen eine Prädisposition vorfinden,
welche sie ohne allzu grosse Anstrengungen des Denkens ermög-
licht; Thatsache ist, dass bei der gewöhnlichen Weise des Unter-
richts nur etwa V3 von der männlichen Jugend der gebildeten
Gesellschaftsschichten die oberen Gebiete der niederen Analysis
mit ihrem Verständniss durchdringt, während es von diesem
127
wieder höchstens 10 Procent gelingt, in der höheren Mathematik
heimisch zu werden. Je entschiedener die reinen Spiritualisten
die Vernunft als die göttliche Prärogative der Menschheit be-
haupten, um so williger müssen sie zugeben, dass die Anwendung
dieser Vernunft auf die Gegenstände der höheren Mathematik
nur an einer mangelnden Gehirnprädisposition scheitern kann,
dass also auch der Vorzug einer specifisch-mathematischen Be-
fähigung nur in dem angeborenen Besitz solcher prädispositioneller
Gehirnanlagen begründet sein könne und nicht etwa in individuell
bevorzugenden Inspirationen eines metaphysischen Unbewussten
zu suchen sei. Dass übrigens diese angeborene Anlage zur
Mathematik als durch Vererbung entstanden zu denken sei, spricht
die Ph. d. Unb. S. 341 deutlich genug aus (vgl. oben S. 117
bis 118), sowie sie S. 613 auf die Erblichkeit des mathematischen
Talents in gewissen Familien hinweist. Energie des denkenden
Studiums und Uebung kann auch hier den Mangel ererbter An-
lage zum Theil ersetzen und die Vererbung der so erworbenen
Prädispositionen ist es, welche die Anlage der Nachkommen con-
stituirt, welche alsdann in diesen abermals gesteigert werden
kann.
Was wir bei den mathematischen Begriffen in so hohem
Grade nachgewiesen haben, gilt in geringerem Grade von allen
abstracten Begriffen, und in um so beträchtlicherem Maasse, je
abstracter dieselben sind. Wenn wir oben (S. 123) den
Unterschied zwischen discursivem und intuitivem Denken als
einen relativen erkannten, so gilt dasselbe von den Resultaten
dieses Denkens, der discursiven und intuitiven Vorstellung, oder
dem Begriff und der Anschauung. Was an dem abstractesten
Begriff positiv ist, ist Anschauung („Ding an sich" S. 105) und
andrerseits sind die Anschauungen, von denen die Abstraction
der Begriffe ausgeht, selbst schon Resultate einer ererbten und
erworbenen abgekürzten Ideenassociation , in denen die logische
Arbeit der elidirten Zwischenglieder und Vorstufen unbewusst
geworden ist. „Die Anschauung im engeren Sinne ist nur ein
Begriff von niedrigerer Abstractions- (und Corabinations-) Stufe;
der Begriff ist nur eine Anschauung von höherer Abstractions-
(und Combinations-) Stufe" („Ding an sich" S. 107). Der Begriff
128
hat seinen ihn von der Anschauung unterscheidenden Charakter
in dem begleitenden Bewusst sein der Negativität in Bezug
auf dasjenige, wovon abstrahirt ist; je wichtiger aber in
einem Begriffe das combinirende oder synth etische Ele-
ment im Verhältniss zum negirenden oder abstrahirenden ist und
je mehr sein Gedächtnisseindruck zur typischen Form des
Vorstellens wird, die sich durch Vererbung befestigt, desto mehr
schwindet für das Bewusstsein sein Unterschied von der An-
schauung; sobald die Abkürzung der Ideenassociation so weit
gediehen ist, dass die Vorstufen der Genesis des Begriffs unbe-
wusst geworden sind, ist der Begriff für das Bewusstsein zur
Anschaung selbst geworden, gleichviel wie lang und be-
schwerlich der Weg seiner Genesis vor vollendeter Abkürzung der
Ideenassociation war. Für den echten Mathematiker sind Diffe-
rential und Integral ganz ebenso entschiedene Anschauungen, w^ie
etwa für den niederen mathemathischen Verstand das „Produkt"
zur Anschauung geworden ist, nachdem die Genesis des Begriffs
aus der Summe von n gleichen Summanden unbewusst geworden
ist. Was Schopenhauer für die Geometrie richtig herausgefunden
hat, gilt ganz ebenso auch für die Algebra, wenngleich die Prä-
dispositionen für das eine Gebiet vorhanden sein können, ohne
die für das andere, und umgekehrt; auf alle Fälle aber darf man
sich nicht auf die angeborenen Prädispositiouen blind verlassen,
ohne dieselben im discursiveu Durchdenken der Sache zu con-
troliren und nachzumeisseln (Ph. d. ünb. 279 — 282).
Wenn wir uns ein wenig besinnen, was wir bei dem gedank-
lichen Operiren mit einem Begriff oder einer abstracten all-
gemeinen Vorstellung (z. B. Hund, Haus, Liebe) eigentlich im Be-
wusstsein haben, so ist das etwas höchst Wunderliches. Zunächst
haftet der Inhalt an der Vorstellung des Wortes als Begriffs-
zeicheus; Taubstumme und Thiere bilden zwar auch Begriffe
ohne Worte, aber sie gewinnen niemals die Leichtigkeit der Hand-
habung derselben wie der sprechende Mensch und bleiben in
Folge dessen auch auf ziemlich niedrigen Stufen des Abstractions-
processes stehen , ohne die höheren zu erreichen. Au die Wort-
vorstellung knüpft sich nun beim Operiren mit dem Begriff noch
ein gewisser schattenhafter, nebuloser, flüchtig vorüberhuschender
129
Vorstellungsinhalt, der schwer festzuhalten und zu definiren ist.
Beim Sprechenhören oder zusammenhängenden Lesen, Ja selbst
beim schnellen Selbstdenken wird das Wort im Bewusstsein so
schnell von den nachfolgenden Worten verdrängt, dass dieser
Inhalt neben dem Wort als solchen gar keine Zeit hat, zur Gel-
tung zu kommen, es sei denn, dass das Wort eine dominirende
Bedeutung im Satze in der Weise einnimmt, dass die ihm zu-
kommende Vorstellung als Orgel}3unkt die folgenden Vorstelluugea
begleitet und in der Gesammtanschauung von dem Inhalt des
Satzes den Kern des Vorstelluugsbildes abgiebt. Insoweit dies
nicht der Fall ist, wird gerade wie bei einem mathematischen
Begriffszeichen von allen Hirnprädispositionen, welche mit diesem
Zeichen asöociirt sind, nur derjenige Thcil actualisirt werden^
welcher durch die anderen Worte, mit denen das fragliche im
Satze in Beziehung gesetzt ist, wachgerufen werden. Dieser wach-
gerufene Theil fügt dann dem Kern des Vorstellungsbildes im
Satze eine neue Bestimmtheit hinzu. Es verliert durch diese
Beschränkung des ins Bewusstsein tretenden Inhalts Jeder Begriff
durch Verbindung mit anderen an Abstractheit, und
nur diesem Umstand ist es zuzuschreiben , dass die Sprache als
Mittel einer Kunst, der Poesie, verwendbar ist, welche doch nur
in concreter Anschaulichkeit ihre Aufgabe erfüllen kann. Die
Beziehungen der W^orte untereinander in einer wissenschaftlichen
Untersuchung, z. ß. einem Paragraphen der Hegel'schen Logik^
sind natürlich ganz andere als in einer poetischen Schilderung^
und demgemäss wird bei denselben Worten, selbst wenn sie mit
denselben oder ähnlichen verbunden sind, doch ein ganz anderer
Theil des mit ihnen associirten Vorstellungsinhalts ins Bewusstsein
gerufen werden. Wer nur in der einen Art von Beziehungen
zu operiren geübt und gewohnt ist, für den bleibt der wahre
Sinn der andern Art leicht ganz unverständlich, obwohl er die
Worte und Satzconstructionen ganz gut zu kennen glaubt.
Sehen wir nun von der Verbindung eines Worts mit anderen
im Satze ab und fragen nach der Vorstellung, die man mit dem
Worte verknüpit, wenn man es allein für sich hinstellt, so ist es-
klar, dass dieselbe ganz abhängig sein wird von den Beziehungen^
unter welchen man dem Worte am häutigsten zu begegnen ge-
9
^130
wohnt ist. Von entscheidendem Einfluss bleiben dabei die Ge-
dankenproeessc, durch welche der Begriff in der Kindheit zuerst
gebildet wurde, und die concrcten Gegenstände, von denen er
zufällig zuerst abstrahirt wurde. Das kleine Mädchen, das zuerst
<ien Wachtelhund ihrer Grossniutter „Hund" nennt, wird ihr Leben
lang eine andere Vorstellung mit dem AVorte „Hund" verbinden,
als der Knabe, dessen Kindheit von einem Neufundländer behütet
ist; das Dortkind wird das Abstractum „Haus" stets anders
Te])roduciren; als der dem städtischen Palast Entsprossene. Will
man ein Abstractum deutlich und vollständig vorstellen,
«0 bleibt nichts übrig, als den vollständigen genetischen Ab-
stractionsjn'ocess desselben zu reproduciren ; da man dies aber fast
niemals, ausser in entscheidenden Begriffsuntersnchungen, thut,
so folgt daraus eben, dass man sich in allen anderen Fällen mit
einer abgekürzten Ideenassociation zwischen dem sprachlichen
Begriffszeichen einerseits und derjenigen beschränkten Seite von
dem Resultat des genetischen Abstractionsprocesses begnügt,
welche für die Beziehungen des Worts in dem vorliegenden Fall
von Bedeutung ist. Je niedriger die Abstractionsstufe des Be-
griffs, um so kleiner ist die bei diesem Abkürzungsprocess elidirte
Vorstellungsmasse ; je höher die Abstractionsstufe, um so
grösser ist der Ausfall an Gliedel'u, um so höher der Grad der
Abkürzung, um so schwerer zu erfüllen auch die Voraussetzung
aller Verständigung durch die Sprache, dass verschiedene Personen
mit denselben Wortverbindungen denselben Sinn verbinden , da
sich nicht nur der genetische Abstractionsprocess , sondern auch
der Abkürzungsprocess bei jedem Individuum etwas anders ge-
staltet.
Wo der Spielraum individueller Abweichung so beträchtlich
ist, kann die Aussicht auf Vererbung von vornherein nicht gross
sein und so sehen wir denn auch nicht, dass die Auffassungen
sehr abstracter Begriffe von Seiten der Eltern anders als durch
die Erziehung einen Einfluss auf die des Kindes haben. Eine
Tölligc Ausnahmestellung nehmen aber diejenigen abstracten Be-
griffe ein, welche typische Formen der Vorstellungsweisen
bezeichnen; so gross auch die individuellen Verschiedenheiten in
der bewussten Auffassung des Inhalts dieser Begriffe sind,
131
so identisch bei allen Menschen gleicher Spracbstul'e erweisen
sich die ererbten Prädis Positionen zur formell so und so be-
stimmten Yorstellungsweise und Verknüpfungs\veise der Vorstel-
lungen. Zum Theil sind diese typischen Denktormen das durch
die Gewalt der Tbatsachen octroyirte subjective Nachbild von
den Formen des Daseins und Geschehens („Ding an sich" S.8G - 89),
zum Theil sind es formale Beziehungen, in welche das Denken
die gegebenen Objecte theils untereinander, theils zu sich selbst
und seinem Erkennen setzen musste, um sich in denselben soweit
Orientiren zu können, dass das praktische Handeln möghch wurde.
Von der ersten Art sind die Kategorien der Substantialität und
Inhärenz, der Causalität und Nothwendigkeit, der Einheit und
Vielheit (Zahl), der Gleichheit und Ungleichheit; letztere stehen
schon auf dem Uebergange zu den Beziehungsbegritfcn der All-
heit, der Negation und Limitation, der Möglichkeit, rnmöglich-
keit und Zufälligkeit („Ding an sich^' ^S. >>V). Hiermit sind die
typischen Denkformen oder Kategorien keineswegs erschöpft; jeder
Versuch einer vollständigen Auszählung derselben ist von vorn-
herein als verfehlt anzusehen deshalb, weil diese allgemeinsten
Denkformen stetig und flüssig in formale Prädispositionen der
Vorstellungsweise und Yerknüpfungsweise der Vorstellungen von
minderer Allgemeinheit übergehen und sich ein specifischer Unter-
schied zwischen ihnen und z. B. den Prädispositionen für mathe-
matisches Denken oder musikalische Composition gar nicht au-
geben lässt. Zum Theil, aber doch auch nur zum kleineren Theil,
fallen die Kategorien der Logik mit den Elementen der Gram-
matik, die allgemeinsten typischen Denkformen mit den allge-
meinsten typischen Sprach formen zusammen, oder haben wenig-
stens in diesen ihr äusseres Analogon, wie das Denken überhaupt
an der Sprache ein seinen Leibesformen accurat angepasstes Ge-
wand besitzt. Der typischen Spracbformen sind aber andererseits
wieder mehr als der bisher statuirten typischen Denkformen (vgl.
Ph. d. Unb. S. 262 — 263), so dass also auch nach dieser Seite
die Prädispositionen von formaler typischer Bedeutung einen all-
mählichen Uebergang zu concreteren Dispositionen bilden. Gleich-
wohl ist die Verwandtschaft der typischen Sprachformen mit den
typischen Denkformen ebenso geeignet, wie die Verwandtschaft
132
der speciellen formalen Denkanlagen auf einseitigen Gebieten mit
den allgemeinen Kategorien, um dafür zu sprechen, dass auch
die letzteren in molecularen Hirnprä dispositionen
ihren Grund haben, welche von den Vorfahren ererbt und
von diesen durch allmählichen durch viele Jahrtausende ver-
theilten Zuwachs Hand in Hand mit der Entwickelung der Sprache
und dessen, was wir jetzt unter menschlicher Intelligenz verstehen^
erworben worden sind (Ph. d. Unb. S. 614). Das Princip dieser
Fortbildung kann nichts anderes gewesen sein, als das BedtirfnisSy
die Welt der umgebenden Objecte mit dem Verständniss zu durch-
dringen und den in ihr sich darbietenden Verhältnissen ebenso-
wchl wie den Beziehungen zwischen ihr und den eigenen prak-
tischen Lebensinteressen bestens Rechnung zu tragen.
Von den vielen möglichen Arten der Vorstellungsver-
knüpfung wurde auf jeder Stufe der Entwickelung diejenigen beibe-
halten, welche sich für die praktischen Cousequenzen des Denkens als
nützlich bewährten ; diese wurden wiederholt und prägten
sich dadurch ein, während etwaige andere versuchte Verknüpfungs-
formen wegen ihrer minder guten Anpassung an die Zwecke des
Lebens keine oder schwächere Aufforderungen zur Wiederholung in
sich enthielten und sich deshalb verloren. Die in diesem ideelen
Kampf um's Dasein siegreichen Vorsteiiungsformen konnten aber
eben nur d a d u r c h die praktisch sich als n ti t z 1 i c h bewährenden
sein, weil sie den tliatsächlichen Verhältnissen der Aussenwelt
besser entsprachen, weil sie ein adäquateres subjek-
tives Abbild derselben gaben als andere; denn nur unter
dieser Voraussetzung waren sie im Stande, die richtigeren
Consequenzen tür praktische Handlungen zu ergeben,
welche auf ihnen fussten. In diesem Sinne besitzen ja sogar
schon die Thiere die Kategorien, sie beurtheilen die kommenden
Ereignisse nach dem Princip der Causalität und richtigen ihre
Handlungen darnach ein; sie besitzen die Kategorie der Zahl
(wenn auch nur in ihren niederen Stulenj und unterscheiden auf
das allerschärfste nach der Kategorie der Gleichheit und Ungleich-
heit; sie denken nach dem Satz der Identität und des Wider-
spruchs, weil eine andere Form der Vorstellungsverkuüptüng
falsche Voraussetzungen in ihnen hervorrufen würde, die ihren
133
Interessen schädlich werden mtissten. So ist z. B. die Krähe
überzeugt, dass die Zahl 7 der in die Schiesshütte gegangenen
Jäger sich selbst identisch bleibt und noch nach einer Stunde sich
identisch ist; dächte sie anders und käme, wenn erst 6 davon
die Hütte verlassen haben , an den Lockvogel heran , so würde
sie den Schaden davon haben. — Die so von den thierischen Vor-
fahren ererbten Denkformen und Denkgesetze brauchte der Mensch
nur strenger und sicherer auszuprägen, feiner durchzubilden und
mit neuen zu bereichern ; aber trotz der Sprache , welche die
Reflexion auf dieselben und das BewusstAverden derselben als
solcher ermöglicht , dauert es doch noch sehr lange , ehe der
Mensch auf inductivem Wege sich den Besitz dieser typischen
Denkformen und Denkgesetze, deren er sich beständig bedient,
zum Bewusstsein bringt; zeigt doch ein Homer, Pindar und
Aeschylos noch keine Ahnung davon und war es nach dem Vor-
gang platonischer Andeutungen dem Aristoteles vorbehalten, den
Grundstein zu dem menschlichen Bewusstsein über die synthe-
tischen Formen seiner Deukoperationen zu legen. Und während
die praktische Anwendung dieser dem Gehirn durch Ver-
erbung imprägnirten Prädispositionen zu gewissen Formen der
VorstellungsverknüpiÜDg bei allen Menschen seit Jahrtausen-
den dieselbe ist, streiten sich noch heute, Jahrtausende nach
Aristoteles, die Philosophen über die Natur und das Wesen dieser
synthetischen Formen, d, h. ist noch heute die bewusste Er-
kenn tniss dieses uubewussten Eigenthums nicht zum Abschluss
gelangt und ein Tummelplatz der widersprechendsten
Ansichten. Hieraus geht aber auch rückwärts hervor, dass
die Anwendung der angeborenen Formen von der An-
sicht des Bewusstseins über dieselben gänzlich unabhängig
ist, ebenso unabhängig beim Civilisirten wie beim Wilden, beim
Menschen wie beim Thier. Diese Thatsache sollte doch die-
jenigen Theologen und starren Spiritualisten etwas stutzig machen,
welche wähnen, dass die Kategorien und Denkgesetze, welche
den Kanon des Logischen bilden, eine Gabe seien, welche einen
specifischen Unterschied des Menschen vom Thiere
begründeten, oder dass der göttliche Funke der Vernunft es sei,
der den Menschen in eine völlig heterogene Geistessphäre erhebe,
134
als das „veriuinftlosc" Thier. Nicht in der Sphäre des Bewusst-
sein liegt die Vernunft, sondern in der der unbewussten, ange-
borenen, lornialcn Prüdisposition ; unbewusste Vernunft hat
aber das Tliior gerade so gut wie der Mensch, nur auf einer
graduell verschiedenen Stufe der Entwickelung je nach der Stufe
der Intelligenz des Tliieres, das man aus der Reihe heraus-
greift.
Es ist allerdings die stärkste Zumuthung, die man dem Philo-
sophen stellen kann, dass er die typischen Denkformen und Denk-
gesetze auf psychologischem Gebiet als Resultate eines allmäh-
lichen Anpassungsprocesses zwischen den Gehirneindrticken der
Vorstellungsvcrknüpfungen der Thiere und den gegebenen Ver-
hältnissen der Aussenwelt betrachten solle, und dennoch dürfte
bei näherer Betrachtung selbst für den Metaphysiker das Paradoxe
dieser Behauptung verschwinden. Zunächst ist zu beachten, dass
die Genesis der logischen Prädispositionen auf psycho-
logischem Gebiet nicht das Mindeste aussagt oder gar ent-
scheidet über das onto logische Wesen der logischen Formen
und Gesetze auf metaphysischem Gebiet, also auch ihrer
metaphysischen Bedeutung keinen Eintrag thun kann. Jede
Philosophie, die die Beschränktheit des subjectiven Idealismus
überwunden und die Bedeutung der logischen Formen und Ge-
setze für die Welt der Dinge an sich für das reale Dasein und
Geschehen zugegeben hat, muss anerkennen, dass die logischen
Formen und Gesetze in dem thierischen und menschlichen Intellekt
letzten Endes nur deshalb Gültigkeit haben können, weil dieser
Intellekt selbst eine reale Existenz hat, weil er zur Welt des
realen Daseins gehört und mit unter deren Formen und Gesetzen
steht. Ist es aber einmal zugestanden, dass die subjective Logik
nur ein Ausfluss der objectiven Logik sein kann, so bleibt nur
noch die Frage zu entscheiden, ob die Begründung der psycho-
logischen logischen Formen und Gesetze in den ontolo-
gischen eine unmittelbare oder mittelbare sei. Wenn
man früher, gestützt auf eine teleologische Metaphysik, der
scheinbar einfacheren Annahme einer unmittelbaren Begründung
den Vorzug gab, so muss gegenwärtig die Analogie der gesammten
übrigen Schöpfungsgebiete hiervon abmahnen, welche durchgehend»
135
eine sehr allmähliche Vermittelung durch langwierige Eutwicke-
lungsprocesse zeigen, wo man früher an unmittelbare Coustituirung
aus der Hand der schöpferischen Natur oder Gottes geglaubt hatte.
Ist der ganze Mensch und si)eciell das Organ seines Geistes das
Resultat einer solchen langwierigen Kntwickelung, so lässt die
Analogie erwarten, dass auch die logischen Formen seiner Vor-
stellungen und seiner Vorstellungsverkntipfungen nur das Resultat
eines Entwickelungsprocesses in meiner Almenreihe seien.
Diese Vermuthung findet ihre Bestätigung darin, dass
wir die verschiedenen Entwickelungsstufen der psychologi-
schen Logik in den uns erhaltenen Resten der menschlichen
Ahnenreihe handgreiflich vor uns haben; wir brauchen nur z.B.
den Vorstellungsprocess eines Wurms, eines niederen Fisches,
einer Amphibie, eines niederen und eines höheren Säugethicres^
eines Buschmanns, eines Kosaken und eines gebildeten Europäers
zu vergleichen. Eine weitere Bestärkung erhält unsere Annahme
in der nahen Verwandtschaft der Denkformen mit den An-
schauungsformen, welche wir sogleich näher betrachten werden
und für welche dieselbe Annahme kaum zu umgehen ist. Zu
einer an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit wird sie
endlich erhoben durch den Verzicht auf teleologische Eingriffe
in die organischen Molecularprocesse des Gehirns, durch welche
also auch eine unmittelbare logische Bestimmung der Verknüpfungs-
weise zweier Vorstellungen ausgeschlossen bleibt, insofern dieselbe
nicht nach den mechanischen Gesetzen der Gehirnschwingungen
sich schon von selbst aus den vorhandenen Prädispositionen und
den auf diese einwirkenden Bewegungsreizen ergiebt. Da wir
die bewusste Vorstellung überhaupt als Sunnnationsphänomen aus
den Empfind ungs- oder Vorstellungsfunctionen der Atome be-
trachten und einen andern Geist als die Innerlichkeit der Atome
des Gehirns selbst als im Menschen wirksam anzuerkennen keinen
Grund gefunden haben, so kann auch das objectiv reale Dasein,
in welchem die subjectiv-logischen Formen ihre Begründung haben
sollen, in nichts anderm als im Gehirn gesucht werden, und kann
die gesetzmässige Bestimmtheit der synthetischen Formen des
Vorstellungsprocesses im Sinne der objectiv gültigen logischen
Formen und Gesetze durch keine andere Eigenschaft dieses realen
136
Daseins bedingt sein, als durch die ererbten Prädispositionen des
Gehirns, in welchen allein die Vorstellungsverkntipfiing prä-
determinirt sein kann. — Die ausnahmslose Sicherheit, mit welcher
2. B. die Prädispositionen der logischen Grundgesetze der Identität
und des Widerspruchs psychologisch functioniren, würde hiernach
herrühren von der unendlich langen Generationenreihe des Thier-
reichs, durch welche die Vererbung dieser Verknüpfungsform zu
einer überaus befestigten geworden ist. Während bei allen anderen
als den rein logischen Formen in der Ahnenreihe des Menschen
ein öfter wiederholter AVechsel stattfindet, bleiben diese immer
und immer dieselben und werden niemals durch die Nöthigung
zu einer Vorstelluugsverknüpfung gestört, welche diese Dispo-
sition abschwächen könnte, wie dies bei allen typischen Formen
<ler Tnstinctvorstellungen mehr oder minder häufig der Fall ist.
Schon die Ideenassociation, welche ohne jede ererbte Anlage bloss
durch Gewöhnung während eines Menschenlebens erworben ist,
kann eine Gewalt bekommen , der gegenüber alles abstracte
Besserwissen ohnmächtig wird (z. B. die Association der Vor-
stellung der Unreinheit mit der Vorstellung eines Porcellangetässes
von der Gestalt eines Nachtgeschirrs; oder die Association der
Vorstellung der Todsünde mit der Vorstellung der Tödtung einer
Kuh, wie sie im Kopfe aller gläubigen Brahrainen besteht); wie
darf man sich da solchen Thatsachen gegenüber noch wundern,
wenn eine durch Millionen Jahre ohne jede Stcirung befestigte
Vererbung, welche in der Erfahrung und Gewöhnung des indivi-
duellen Lebens nichts als Bestätigung und Bestärkung findet, das
Kesultat einer so unerschütterlich befestigten Prädisposition zu
Stande bringt, dass es gegen das Functioniren derselben keine
Appellation mehr im Bewusstsein des Individuums giebt!
Indem die besprochenen Prädispositionen die Vorstellungs-
weise und Verkntipfungsweise von Vorstellungen nach bestimmten
typischen Normen prädeterminiren, ohne selbst dabei in's Bewusst-
sein zu treten, sind sie das Prius des allein in's Bewusstsein
tretenden Resultats. Nim ist aber nur dasjenige, was im Be-
wusstsein vorgefunden wird, für das Individuum empirisch
gegeben, was aber jenseits des Bewusstseins in dem vorbewussten
EntstehuDgsprocess des Empirischen liegt, ist nicht mehr empirisch
137
y.u neniiCD, sondern steht, insofern es von der begrifflichen Unter-
suchung als wirklich vorhanden constatirt ist, in einem begriff-
lichen Gegensatz zu dem Empirischen. Als Prius des Empirischen
heisst es in der Philosophie seit Kant „das Apriorische"
<vgl. „Ding an sich" S. 67). Schon Plato hatte erkannt, dass der
menschliche Intellekt nichts weniger als eine leere Tafel, eine
iabula rasa sei (wie Locke behauptet), sondern, dass alles Lernen
ein dem Auftauchen von Erinnerungen ganz analoger Process sei.
Sein Irrthum bestand nur darin, dass er die Prädispositionen zu
dieser Erinnerung in einem früheren Leben der mit sich iden-
tischen Individualseelensubstanz, anstatt in der Vererbung von
den Vorfahren des Individuums her begründet wähnte fPh. d.
ünb. S. ßl3). Dass die Denkformen nicht individuell erworben,
sondern angeboren seien, wurde mit Recht von Descartes so
scharf prononcirt, aber Locke hatte ebenso sehr Recht, zu be-
streiten, dass es angeborene Ideen oder Vorstellungen gäbe, da
in der That die Prädispositionen zu gCAvissen Denkformen ebenso
wenig und noch weniger Ideen oder Vorstellungen heissen können,
als die individuell erworbenen Prädispositionen des Gedächtnisses
(Phil. d. Unb. S. 613, 27-28, 253, 268), — denn diese geben
doch beim Functioniren eine wirkliche Vorstellung, jene aber
nur constituirende formale Elemente einer Vorstellung oder den
Associatiousmodus zwischen mehreren. Indem Kant den Aus-
druck ,,a priori^'- als den Gegensatz zu „empirisch" bestimmte,
traf er den Nagel auf den Kopf und gab dem Dilemma eine neue
Fassung: der nachkantische Empirismus konnte nur noch mit
offenbarem Unrecht bestreiten, dass unsere Denkformen a priori
seien. Kant bestimmt in seiner Polemik gegen Eberhard's Kritik
(Kant's Werke ed. Rosenkranz Bd. I. S. 445—446) die apriori-
schen Formen (es ist hier zufällig von den sinnlichen Anschauungs-
formen die Rede) als keineswegs in Gestalt fertiger Ideen
oder Bilder angeborene, sondern als innewohnende passive Be-
schaffenheiten (Receptivitäten) des Gemüths, auf gewisses Afficirt-
werden hin Vorstellungen von einer gewissen Vorstellungsform
'ZU bekonmien; nicht sie selbst, sondern der erste formale Grund
ihrer Möglichkeit sei uns angeboren (vgl. „Ding an sich" S. 110).
Es ist klar, dass diese Erklärung ganz mit dem tibereinstimmt,
338
was wir Prädispositionen neuneD, nur dass Kant die Entscheidung
offen lässt, ob diese Prädispositionen als in der Substanz des
materiellen Organs der Deukfnnctionen niedergelegt oder als in
der metaphysischen Natur einer spiritualistischen Seelensubstanz
begrtindet zu betrachten seien. Im Stillen scheint Kant selbst in
Betreff der sinnlichen Anschauungsfoimen mehr zu der ersteren,
in Betreff der logischen Denklbrraen mehr zu der letzteren An-
nahme sich hingeneigt zu haben (vgl. „Ding an sich" S. 82— 83)^
aber Kant's Bedenken wegen der allgemeingültigen Bedeutung
der logischen Formen, die durch Fichte's Deduction und Hegel's
Dialektik zum System ausgesponnen wurde, sind für uns durch
die vorangeschickten Betrachtungen über die psychologische Ge-
nesis der logischen Denkformen beseitigt. Der erste nachkantische
Philosoph, der die von Kant gelassene Zweideutigkeit im modernen
physiologischen Sinne erledigte, war Schopenhauer, welcher die
intellektuellen Functionen überhaupt und ohne Ausnahme für
Functionen des Gehirns erklärte und wir haben gesehen, dass
jede aridere metaphysische Seelensubstanz ausser der inneren
Seite der das Gehirn constituirenden Atome eine durch kein Er-
klärungsbedürfniss legitimirtc Hypothese ist. Wir müssen also
Schopenhauer's Annahme, dass die apriorischen Formen Functionen
des Gehirns seien, unbedingt billigen und können den „angeborenen
formalen Grund" des so und nicht anders Functionirens nur in der
zu einer solchen Functionsweise prädisponirten molecularen Be-
schaffenheit des Gehirns suchen.
Haben die nachkantischen Philosophen den Empirikern
gegenüber darin Recht, dass alles Vorstellen im Individuum a
priori entspringe, so hat doch die empiristische Anschauungs-
weise den Philosophen gegenüber insoweit Recht behalten, als
sich herausgestellt hat, dass für die Stufenreihe der Orga-
nismen als Ganzes genommen das Empirische das Prius
des Apriorischen ist, indem die Hirnprädispositionen, aus
welchen die apriorischen Functionen entspringen, selbst wieder
nur das Endresultat eines langen Anpassungsprocesses sind, in
welchem Fortschritte durch empirisches Tasten und Befestigung
der nützlichen Versuche durch natürliche Zuchtwahl Hand in
Hand gehen. Diese neu errungene Auffassungsweise ist aber
139
bis jetzt von verschiedenen Seiten erst angedeutet, noch nirgends
durchgeführt worden ; unsere bisherigen Ausführungen in Verbindung
mit denen des folgenden Abschnitts werden hinreichen, dieselbe
als mit demjenigen ^laasse von Wahrscheinlichkeit bewiesen er-
achten zu lassen, dessen solche Fragen in der Gegenwart über-
haupt fähig sind. Zugleich erhellt aus unseren Untersuchungen,
dass einzig und allein die von der biologischen Descendenztheorie
neu in die Wissenschaft eingeführten Perspectiven im Stande
waren, den principiellen Gegensatz von philosophischen Aprioristen
und naturwissenschaftlichen Empiristen in einer höheren Einheit zu
versöhnen, welche die relative Wahrheit beider Standpunkte in sich
vereint und die unwahre Einseitigkeit beider den Blicken der Gegen-
wart enthüllt. Die Ph. d. Unb. acceptirt , indem sie sich die De-
scendenztheorie einverleibt, auch dasErklärungsprincip, welches die
letztere für die bisher als metaphysisches Wunder angestaunte That-
Sache des „a priori'^ darbietet (vgl. S. 613), wie dies aus dem Zu-
sammenhang unserer bisherigen Erörterungen hinreichend hervor-
geht ; indem sie aber andrerseits von der Hypothese der beständigen
metaphysisch -teleologischen Eingriffe in den naturgesetzlichen
Verlauf der organischen und insbesondere der Gehirn-Processe
nicht loskommen kann , c o n f u n d i r t sie das richtige Er-
klärungsprincip des „a pr/o/i*^ zugleich auch mit jenem uner-
weislichen speculati ven, welches bisher, so lange es das
einzige existirende war, eine gewisse Beachtung verdiente,
aber gerade durch das allen Anforderungen glänzend entsprechende
der Descendenztheorie als endgültig beseitigt zu betrachten ist,
so dass von einem Nebeneinanderfortbestehen beider mit vicari-
rendem Füreinandereintreten (im Sinne d. Ph. d. Unb.) keinen-
falls mehr die Rede sein kann.
IX.
Die Entstehung
der Anschanungsform der Räumlichkeit.
Wir werden die Genesis der Anschauungsform der Räum-
lichkeit in der Weise zu ergründen suchen, dass wir die im
genetischen Process der Wirklichkeit zuletzt hinzugefügten Ent-
wickelungsstufen zuerst abhandeln, also den Weg der Natur rück-
wärts durchmessen. Wir werden dem entsprechend zunächst das
flächenhafte Gesichtsfeld in zwei Dimensionen, wie es der operirte
Blindgeborene schon bei den ersten Sehversuchen mitbringt, als
gegeben voraussetzen, und die Entstehung der Anschauung der
dritten oder Tiefen-Dimension auf dieser Grundlage untersuchen.
Tritt ein leuchtender Punkt in das vorausgesetzte flächen-
hafte Sehfeld, so stellen beide Augenaxen sich reflectorisch so
€in, dass die Stellen des deutlichsten Sehens (die gelben Flecke)
beider Netzhäute das Bild des leuchtenden Punktes aufnehmen.
Treten mehrere leuchtende Punkte hinzu, so wechselt die Augen-
stellung mit den fixirten Punkten nach dem Gesetz der Ermüdung.
Bei dieser successiven Fixation sind nun zwei Fälle möglich:
entweder die realen leuchtenden Punkte liegen in einer zur Seh-
axe senkrechten Fläche, dann fallen ihre Bilder auf den Netz-
häuten beider Augen auf correspondirende Stellen*); oder aber
die realen leuchtenden Punkte liegen in verschiedener Entfernung
*) Die Abweichungen sind wenigstens so gering, dass sie praktisch zu
vernachlässigen sind.
141
vom Auge, dann ändert sich bei der Fixirung jedes Punktes die
Convergenz der Sehaxen und dadurch das Lagenverhältniss der
Bildpunkte auf den Netzhäuten in der Weise, dass nicht mehr
correspondirende Stellen von ihnen getroffen werden. Die Ab-
weichung von der Correspondenz wird um so grösser, je grösser
der Unterschied in den Entfernungen der realen Lichtpunkte vom
Auge ist. Wenn der Blick von einem Lichtpunkt zu einem gleich
weit entfernten übergeht, so haben die Augen nur die Muskel-
empfindung des zurückgelegten Weges; wenn er aber zu einem
Lichtpunkt von verschiedener Entfernung übergeht, so haben die
Augen ausser dieser Muskelerupfindung des zurückgelegten Weges
noch zweitens die der veränderten Convergenz und drittens die
der veränderten Correspondenz der Lage der übrigen im Sehfeld
befindlichen Punkte (Wundt, Beiträge zur Theorie der Sinnes-
wahrnehmung, Leipzig 1862, S. 291 — 293). Der Intellekt sucht
diese Thatsachen mit dem Verständniss zu durchdringen; der
Tastsinn kommt ihm hierbei auf kurze Entfernungen zu Hülfe;
auf grössere Entfernungen wird er durch die Veränderungen im
Sinne perspectivischer Verschiebung unterstützt, welche in seinen
Wahrnehmungen vorgehen, wenn er seinen Körper von der Stelle
bewegt. Dazu kommt nocli die Veränderung der scheinbaren
Grösse eines Gegenstandes, der durch seine Bewegung aul den
Beobachter zu oder von demselben hinweg ihn nöthigt, bei der
Fixation die Convergenz der Sehaxen stetig zu vergrössern resp.
zu verringern, und viele andere ähnliche Erscheinungen, die sich
dem Intellekt als zu lösende Probleme aufdrängen. Jede falsche
Deutung dieser Veränderungen in den Wahrnehmungen hat den
Misserfolg des auf sie gebauten Handelns zur Folge, jede richtige
Deutung wird durch das Gelingen der auf solche Voraussetzungen
hin vorgenommenen Handlungen belohnt; hierdurch wird jede
falsche Deutung eine Warnung vor Wiederholung derselben, jede
richtige eine Ermunterung zum Festhalten der eingeschlageneu
Richtung des Denkens und zum Weiterschreiten auf derselben.
So zwingt die Nothwendigkeit des Handelns von selbst zu einer
allmählich fortschreitenden richtigen Deutung, d. h. zu einer
solchen die der wirklichen Beschaffenheit der Dinge ent-
sprechend ist. — Bei diesen Vorstellungsverknüpfungen haben
142
nun jedesmal nur das Anfangsglied (die gegebenen Organempfin-
dungen) und das Endglied (das jeweilige Kesultat des Verstän-
digungsbemüliens) ein Interesse, die gleichgültigen Verbindungs-
glieder aber werden durch Abkürzung der Ideenassociation elidirt.
In demselben Maasse als das Verständniss fortschreitet, schreitet
auch der Process dieser Abkürzung der Ideenassociation fort,
und bei demjenigen Maass von eingeübtem Verständniss, welches
ein erwachsener Mensch von seinen Gesichts Wahrnehmungen
besitzt, hat diese Abkürzung einen solchen Grad erreicht, dass
für denjenigen, welcher den angegebenen Entstehungsprocess nicht
beachtet, die schlagfertige Festigkeit der Association zwischen
Vorstellungen, welche sich so fern zu liegen scheinen, in der That
höchst überraschend ist. Wir haben eine ziemlich ebenso genaue
Schätzung von relativen Entfernungsverschiedenheiten in der
Tiefendimension wie in der Breitendimension und für unser Be-
wusstsein ist die Tiefe der räumlichen Wahrnehmung von nicht
minder anschaulicher Natur als die Höhe und Breite. Es
wäre ein so absolut sicheres Function! ren der Association zwischen
den complicirten Orgauempfindungeu und den complicirten Raum-
vorstellungen, welche wir an dieselben knüpfen, es wäre eine
solche Unmittelbarkeit der Anschauung der dritten Dimension,
eine so vollständige Elision der vermittelnden Verbindungsglieder
zwischen diesen Endgliedern einer höchst complicirten Ideen-
association für die Uebungszeit eines Menschenlebens entschieden un-
möglich, wenn nicht eine durch befestigte Vererbung überkommene
Gehirnprädisposition zu dieser Art von abgekürzter Vorstellungs-
verknüpfung uns angeboren wäre, welche nur durch die Uebung
der Kindheit aufgefrischt und nachgemeisselt zu werden braucht.
Auch hier ist es wesentlich der unreife Zustand des Kinder-
gehirns bei der Geburt, der diese Sachlage den Blicken des
Physiologen und Psychologen verhüllt, so lauge dieselben
ihre Beobachtung nicht auf das Thierreich ausdehnen; in letz-
terem aber zeigt sich die erforderliche Zeit der Uebung um so
kürzer, je reifer das Gehirn des Thieres bei der Geburt resj).
bei der Oeffnung der Augen ist. — Das Thierreich als Ganzes
muss aber die dritte Dimension und die Prädisposition zu der-
selben auf ganz demselben Wege, nur langsamer, erworben haben,
143
wie wir es oben von der Uebung des Individuums gezeigt haben.
Wenn der Mensch ohne Augen ein ganz hlilf loses Geschöpf ist,
so hatte das Thierreich den Vortheil, die Augen zunächst nur
als nebensächliche littlfsorgane zu entwickeln und dieselben erst
jilhnählich so zu vervollkommnen, dass sie zu einem wichtigen
und zuletzt unentbehrlichen Hitlfsmittel im Kampf um's Dasein
wurden; hier konnte und musste nun natürlich der allmähliche
Fortschritt des Verständnisses der Sinneswahrnehmungen
Hand in Hand gehen mit dem allmählichen Fortschritt der Ent-
wickelung des Sinnesorgans: und jeder solche gemeinsame Fort-
schritt vervollkommnete zugleich die an die Nachkommen ver-
erbte Prädisposition zu dem richtigen Yerständniss. So steht
endlich unsere menschliche Anschauung als das letzte Glied einer
durch lange Vererbung gesteigerten Fertigkeit da, welche als
wesentliches Moment in sich die dritte räumliche Dimension als
typische P^orm der Anschauung enthält. Nur so wird die
Illusion erklärlich, in der wir uns betinden, wenn wir die
Tiefendimension der Gegenstände unmittelbar und anschau-
lich wahrzunehmen glauben, während wir doch wissen, dass
dies nur eine hinzu gethane Vorstellung ist, welche mit
gewissen Complicationen von Organcmpfiudungen des Auges
(Muskelempfindungen und Correspondenzverschiebungen) vermöge
einer ererbten und individuell nachgeübten Gehirnprädisposition
in unwillkürlicher und nolhwendiger Weise verknüpft wird. Die
Abkürzung der Ideenassociation geht hier so weit, dass sogar das
Anfangsglied, die Organempfindungen, als interesselos niit elidirt
wird und in's Unbewusstsein versinkt, und dass auf den zum
Gehirn geleiteten Reiz sofort und unmittelbar jene assoeiirte Vor-
stellung eintritt, weil sie allein von praktischem Interesse ist.
Wir finden hier eine eclatante Bestätigung des oben
(S. 128) praeliminarisch aufgestellten Satzes, dass selbst begriff-
liche Vorstellungsgebilde (wie die Tiefendimension bei ihrer
ersten Construction ohne Zweifel eines ist) sich um so mehr der
Anschauung nähern, je mehr sie zu vererbten typischen
Vorstellungsformen werden, und dass sie zur w i r k 1 i c h e n A n -
schauung werden, sobald die Vorstufen ihrer Genesis voll-
ständig unbewusst geworden sind. Da die Gesichtsanschauung
144
der Prototyp aller Anschauung ist, von dem dieselbe sogar ihren.
Namen durch Generalisatiou entlehnt hat, so dürfen wir wohf
auch die hier evident gewordene Genesis der Anschauung
als solchen generalisiren und sagen, dass alle Anschauung, die
wir besitzen, auf dieselbe Weise entstanden zu denken
sei, nämlich durch Unbewusstwerden der Zwischen-
glieder in dem Ideenassociationsprocess, durch welchen sie sich
aus den elementaren Empfindungen mit Hülfe b e g r i f f -
lieber constructiver Deutungsversuche derselben allmählig-
entwickelt hat. Die elementare Empfindung (welche Kant die
Materie der Anschauung nennt) unterscheidet sich von der
Anschauung durch den Mangel des begrifflich-synthetischen An-
theils; der discursive Begriff unterscheidet sich von ihr durch den.
Mangel au intuitiver Unmittelbarkeit; der Begriff schliesst das
Bewusstsein der Möglichkeit, seine Genesis durch alle Vermitte-
lungsstufen hindurch jeden xA.ugenbUck reproduciren zu können^
als nothwendiges Moment, als integrirenden Bestandtheil seines^
Wesens in sich ein und weiss sich somit als vermittelt, — der An-
schauung ist dieses Bewusstsein abhanden gekommen und der so
erzeugte Schein der Unmittelbarkeit kann selbst durch die
bessere discursive begriffliche Einsicht in die Genesis derselben
nicht mehr alterirt werden, weil er organisch begründet ist;
die Anschauung ist sonach die höhe reEinheit von Empfin-
dung und Begriff, in welcher beide Bestandtheile unbewusst
geworden sind durch den Abkürzungsprocess der Ideenassociation;
die Anschauung ist die allein übrig gebliebene Frucht
des Baumes, dessen Wurzel die Empfindung, dessen Stamm^
Aeste und Blätter die begriffliche Construction war. Auch
die Philosophie hatte bereits das synthetische Element in der
Anschauung anerkannt und hatte verstanden, dass sowohl die
elementare Grundlage als auch der begriffliche Aufbau nur als
unbewusste Voraussetzungen in der als solchen unmittelbar dem
Bewusstsein gegebenen Anschauung entbalten sei (vgl. „Ding an
sich" 8. 66—68, 71-72, 82—83, 89—91; Ph. d. Unb. S. 275^
303— o04j; sie hatte nur die Genesis der Anschauung nicht als
Abkürzungsprocess der Ideenassociation begriffen und deshalb war
ihr das synthetisch- Constructive, welches unbewusöterweise in dem
145
aber den ursprünglichen Empfindungsstoff hinaus in der Anschauung
enthaltenen Plus an A^'orstellungselementen implieite drinsteckt,
ein unverstandener metaphysich-teleologischer Eingriff geblieben,
anstatt darin das Functioniren der Gehirnprädispositionen zu er-
kennen, welche den formalen Niederschlag des genetischen Ent-
wickelungsprocesses der Anschauung in der Ahnenreihe des Indi-
viduums repräsentiren. Dass solche beständig in typischer Form
wiederholte Functionen einen Eindruck im Gehirn hinterlassen
müssen, welcher als Prädisposition für wiedervorkommende Fälle
sich geltend macht, nimmt ja die Pb. d. Fnb. sell)st an; dass
solche Prädispositionen sich vererben und diiroh langandauernde
Vererbung sich immer mehr befestigen, gesteht sie ebenfalls zu
(S. 614 — 615;; dann haben wir aber auch in dieser ererbten
Prädisposition eine thatsächliche Erklärung des synthetisch-con-
structiven Elements ''^ in der Anschauung, welche den meta-
physisch-teleologischen Eingriff überflüssig macht, und dies be-
streitet die Ph. d. Unb. wunderbarer Weise sogar lui- die dritte
Dimension (S. 312), von der wir bisher allein gesprochen haben.
Der tiefere Grund dieser anscheinenden ineonsoquenz liegt in
dem Mangel des Verständnisses der Abkürzuug der Ideenassociation ;
(lieser Mangel verhindert den Einblick in die wahre Genesis der
Anschauung und lässt deshalb mindestens bei P^ntstehung der
Hirnprädisposition an metaphysiseh-teleologische Eingriffe glauben,
weil das Resultat ein teleologisch werthvoUes ist. Wir wissen
aber, dass Zweckmässigkeit als Resultat sehr wohl möglich ist
ohne Zweckmässigkeit als Princip (vgl. oben S. 28—30), und haben
diesen Satz bei der Entstehung der Fertigkeiten der Central-
organe im Gebrauch der willkürlichen Muskeln (vgl. oben S.
112—115) an einem concreten, bereits in's psychiscbe Gebiet hin-
überführenden Beispiel genau geprüft und bestätigt gefunden, wo
-ähnliche liedenkeii wie hier obwalteten. So wenig die Ph. d.
Unb. auf den ihr nahe genug liegenden Gedanken verlällt, die
*) Dieses syuthetisch-constructive Element in der Anschauung ist, da es
nur unbcwusst und implieite in dem Resultate drinsteckt, au und für sick
genommen eben als Prius des allein in's Bewusstsein fallenden RcsultaLs
id. i. der Anschauung selbst) zu bezeichnen, und fallt deshalb mit dem zu-
sammen, was die Philosophie das Apriorische nennt (vgl. oben 136 — 139).
10
146
Entstehung zweckmässiger äusserer Einrichtungen als Resultat
von Anpassungs- und Coinpensationsprocessen ohne metaphysisch-
teleologische Eingriffe anzusehen, so wenig kommt sie auf den
Gedanken zweckniJ5ssige Gehirnmechanismen als Resultate von
psychischen Anpassnngs- und Compensationsprocessen ohne meta-
physisch-teleologische Eingriffe anzusehen. Wo sie eine prä-
disponirte Association von Vorstellungen vorfindet, welche den,
logisciien Zuschauer auffordert, eine Verknüpfung durch logische
Zwischengheder zu ergänzen, da nimmt sie sofort und ohne Wei-
teres an, dass diese Zwischenglieder in unbewusst metaphysischer
Actualität als gegenwärtig wirksame bei dem Vorgang
der Association betheiiigt seien, anstatt daran zu denken, dass
diese prädisponirte Association das Resultat eines Abkürzungs-
processes sein müsse, in welchem die — früher einmal allerdings
actuell vorhandenen — Zwischenglieder als überflüssiger Ballast
elidirt worden sind und bloss der äusserliche, mechanische,
prädispositionelle Zusammenhang zwischen Anfangs- und Endglied
übrig geblieben ist (vgl. oben 121 — 123). Wo die Resultate
des Vorstellungsprocesses logisch sind, da setzt die Ph. d. Unb.
sofort ein a c t i v e s , logisch bestimmendes metaph} sisches P r i n c i p
als Grund dieser Erscheinung, während doch gerade die in der
subjectiven Vorstellungsassociation sich entfaltende Logik zu-
nächst eine passive, durch die praktisch gebotene Anpassung
an die thatsächlich gegebenen Verhältnisse äusserlich erzwungene
ist und erst später im Kopfe des gebildeten Menschen eine sich
activ bethätigende werden kann, wenn die Prädispositionen zur
logischen Verknüpfung der Vorstellungen durch befestigte Ver-
erbung bereits so fest eingewurzelt sind, dass sie zu einer
selbstständigen Macht im Denken geworden sind. Nicht
deshalb haben im Kampf der Associationsformen im Denken die
logisciien Associationsformen den Sieg davon getragen, weil sie
logisch, sondern weil sie praktisch sind, weil sie allein den
thatsächlichen Verhältnissen entsprechen, — und dass sie
hintennach sich als logisch herausstellen, ist ganz ausschliesslich
dadurch bedingt, dass die thatsächlichen Verhältnisse, aus der
Anpassung an welche sie entstanden sind, ebenfalls logisch sind
(vgl. oben S. rd'2 ff.).
147
Aus dem praktisclien Bedürfniss allein ist auch jene
Deutung der Gesichtswalirnehmung-en erwachsen und befestigt^
welche die dritte Dimension zu den zwei Dimensionen der Fläche
hinzutügt; die Nothwendigkeit, sich der Aussen weit behufs der
Erhaltung des Daseins anzupassen, drängte jedes Wesen dahin,
mit fortschreitender Vervollkommnung des Auges auch die Deutung-
der Gesichtswahrnehmungen in dem Sinne fortzubilden, dass die
räumliche Ordnung der realen xVussendinge so suppouirt wurde,
wie sie wirklich sein musste, um die Sinnesorgane so afficiren
zu können. Auch hier war der Fortschritt im Tliierreich ein
tastendes Probiren, von welchem nur jene Associationsarten bei-
behalten wurden, welche durch den Erfolg bestätigt und belohnt
wurden (^vgl. oben S. 141) , keineswegs aber ein activ
logisches Moment, ausser in soweit schon vorhandene Prädis-
positionen zur logischen Vorstellungsassociation sich an diesem
tastenden Probiren nützlich betheihgten. Hätte in derselbea
Weise, wie die Sinnesaffectionen durch die Aussenwelt ihre
Deutung im Sinne einer dritten Dimension erheischten, ein prak-
tisches Bedürfniss sich herausgestellt, gewisse problematische
Moditicationen der Gesichts Wahrnehmungen im Sinne einer
vierten Dimension des Raumes zu deuten, und hätten die hier-
aus gezogenen Cousequenzen und die auf dieselbe gebauten Hand-
lungen und Experimente dieselbe eclatante Bestätigung gefunden,
wie es bei den auf die dritte Dimension gebauten der Fall ist,
so würde ohne Zweifel mit den fraglichen Xodificationen der Ge-
sichtswahrnehmungen sich die Vorstellung einer vierten Dimension
in derselben Weise associirt haben, wie mit den oben (S. 140 — 141)
angegebenen Moditicationen die Vorstellung einer dritten Di-
mension; wenn ferner dieses Bedürfniss einer vierten Dimension
sich in einer entsprechend frühen Stufe unserer Ahnreihe heraus-
gestellt hätte, so würde diese Ideenassociation nicht nur eine
ebenso starke Abkürzung erlitten haben, sondern auch die Prädis-
position zu derselben ebenso sehr durch Vererbung befestigt sein,
wie es jetzt die der dritten ist, und wir würden alsdann die vierte
Dimension ebenso unmittelbar in der Anschauung zu besitzen
glauben, wie jetzt die dritte. Rückwärts können wir darauf
üchliessen, dass die Ordnung der realen Dinge, in soweit
10*
148_
hie fiir das Afficiren unserer Siiuiesorgaue von Einfluss ist, sich
tliatsächlicfi in drei Dimensionen erschöpft, weil noch nirgends
in unserer jetzt sehr genau und sorgfältig durchforschten Sinnes-
"wahrnehnumgen sich Modificationen gefunden hahen, welche nicht
durch die Annahme von drei Dimensionen ausreichend erklärt
würden. Im reinen Begriff hindert uns nichts, eine vierte
Dimension des Raumes zu denken (wie durch Gauss, Riemann
und Helmholtz zur Genüge dargcthan); in der Anschauung
iiher können wir einfach deshalb nicht über die drei Dimensionen
hinaus, weil die Anschauung nach unserer obigen Definition
(S. 14-3 — 144 u. 128) überhaupt nur die Function einer aus stark
abgekürzter Ideenassociation erwachsenen Prädisposition ist, und
die Voraussetzungen zur Genesis einer solchen in Bezug anf eine
vierte Dimension fehlen.
Ganz anders als bei einer problematischen vierten Dimension
stellt sich die Sache, wenn wir zu der Betrachtung der ersten
und z w e i t e n D i m e a s i 0 n d e s R a u m e s übergehen, denn hier
ist ebenso wie bei der dritten Dimension einerseits die Anschauung
als Resultat einer unbewusst synthetischen Function und anderer-
seits die vor und jenseits der Raumanschauung gelegenen un-
räumlichen elementaren Orgaaempfiiidungen (intensiv und quali-
tativ durch Localzeichen verschiedene Netzliauteindrücke und
Muskelbewegungsempfinduogen) gegeben; die Anschauung ist das
Endglied, die Organempfindung das Anfangsglied eines Vorstel-
lungsassociationsverlaufs , welcher ursprünglich nur in der den
praktischen Bedürfnissen angepassten Deutung der gegebenen
Empfindungen bestanden habeji kann, welcher aber, ebenso wie
der bei der dritten Dimension, einer so starken Abkürzung unter-
legen hat, dass nicVit nur die Zwischenglieder, sondern auch das
Anfaugsglied de}- Organemptiudungen als solches aus dem Be-
wusstseiu entschwunden ist. Auch hier muss nothwendig die oft
wiederholte Function eine (durch Vererbung gesteigerte und be-
festigte) Prädispositiou zu dieser synthetischen Function im Hirn
zurückgelassen haben (vgl. oben S. 145). In Bezug auf An-
t5chaulichkeit stehen die erste und zweite Dimension keines-
wegs höher als die dritte, sondern dieser gair/ gleich (S. 142), und
die Vorstellungsvcrkntipfungen, durch welche das Individuum seine
149 _
Gesichtswahrnehmimgen in Bezug auf die dritte Dimension ver-
stehen lernt, sind auf das Innigste verwebt mit jenen, durch
welche es das feinere Verständniss und die sicherere Uebung in
der Beurtheihmg der tiiiehenhaften Dimensionen erlangt (vgl.
Wundt, Beitr. zur Theorie der Sinneswahrn. S. 289). Gleichwohl
besteht zwischen der llirnprädisposition zur Flächenwahrnehmung
und der zur Tiefenwahniebmung ein Unterschied, welcher beweist,
dass die erstere viel stärker durch Vererbung befestigt
ist, also viel weiter in der Ahneureihe des Menschen hinaufreicht
als die letztere; es functionirt nämlicii die erstere in ihrer ein-
fachsten Gestalt ohne alle Uebung, wie die Operationen von
Blindgeborenen beweisen, während die letztere erst durch
individuelles Experimentiren geweckt und durch individuelle
Uebung nachgeraeisselt werden muss. Dieser Unterschied
ist für die teleologisch-metaphysischen Eingriffe der Ph. d. l'.
ein unerklärliches Problem, während er sich vom Standpunkt der
Descendenztbeorie ganz leicht durch das höhere Alter erklärt.
Wie viel Millionen Jahre mögen unsere Ahnen als Infusorien,.
Würmer und Knorpelfische in bloss zwei Dimensionen gesehen
haben, ehe sie das Verständniss der dritten auch für den Gesichts-
sinn erlangten, die sie für den Tastsinn und Muskelbewegungs-
sinn schon viel früher besassen. Auch die richtige Deutung der
Gesichtsemplindungen in Rücksicht auf Flächenausbreitung ist
ein teleologisches Resultat, aber auch dieses werden wir analog
dem Vorgang bei der dritten Dimension nicht als aus einem
teleologischen Princip durch metaphysische Eingriffe entstanden
denken, sondern als aus einem allmählich Hand in Hand mit der
Vervollkomunning des Organs von dem leicht empfindlichen Proto-
plasma der Monere bis zum Menschenaugenpaar fortschreitenden
Anpassung an das gegebene Empfindungsmaterial unter dem Druck
der praktischen Bedürfnisse des Lebens und der allgemeinen
Concurrenz um die Erlangung der Bedingungen desselben. Weil
wir die Prädisposition zur Flächenanschauung so fertig über-
kommen, dass wir sie für ihre Fundamentalfunction gar nicht
mehr zu üben brauchen, deshalb stehen wir so viel rathloser vor
der Aufgabe, die elidirten Glieder des ursprünglichen Association^-
processes zwischen Empfindung und Anschauung wissenschaftlich
150 _
zu restitiürcn; bei der dritten Dimension ist die Sache so sehr
viel leichter, weil die hier erforderliche individuelle Uebung den
Abkiirzungsprocess der Associationskette wenigstens in seinen
hauptsächlichsten Stadien individuell wiederholt und man sich
hierbei unter abnorm günstigen Umständen selbst belauschen
kann, sei es, dass diese Umstände pathologisch gegeben , sei es,
dass sie durch sinnvoll erdachte (meist stereoskopische) Experi-
mente herbeigeführt sind. Die Zeiten, in welchen die Abkürzung
<ier Associationskette für die Genesis der Flächenanschauung vor
sich ging, liegen Millionen Jahre hinter uns, uud selbst wenn sie
sich heute noch wiederholen, so wäre es doch höchstens in nie-
deren Thieren, in deren Seele uns kein Einblick vergönnt ist
Gleichviel nun, ob die Schwierigkeiten dieses Problems für uns
überhaupt lösbar sind oder nicht, so steht doch so viel fest, dass
wir in unserm menschlichen Intellekt die Ursache der Flächen-
anschauung ebenso wie die der Tiefenanschauung lediglich in
einer angeborenen Prädisposition des Gehirns zu suchen haben,
wne Schopenhauer dies ganz richtig auticipirt hat (Ph. d. U.
S. 305—306), ohne jedoch die Art der Genesis dieser Prädis-
position als Ererbung eines in früheren Stufen unserer Ahnenreihe
erworbenen und gesteigerten Besitzes zu vernmthen. Keinenfalls
werden wir fernerhin mit der Ph. d. U. (S. 306) die Unmög-
lichkeit behaupten dürfen, dass die Umwandlung der quali-
tativ verschiedenen Empfindungen in ein extensiv räumliches Pild
ohne Beihülle metaphysischer Inspiration geschehen könne, nach-
dem wir unsererseits die Möglichkeit erkannt haben, dass
auch hier das Teleologische Resultat sein könne, ohnePrincip
zu sein, und dass auch hier ein allmählich entstandenes und all-
mählich vervollkommnetes, aus der Concurrenz vielleicht zahl-
reicher verfehlter Versuche siegreich hervorgegangenes End-
Resultat eines langen Entwickelungsprocesses vorliegt. Wir
wollen in dem Folgenden versuchen, den Schwierigkeiten des
Problems durch einige ihrer Natur nach ziemlich subtile Betrach-
tungen näher zu tr6ten.
Man liest noch oft in den neuesten Schriften gebildeter
Naturforscher eine verwunderte Hindeutung darauf, was das wohl
flir eine wunderliche Gesichtsanschauung der Welt sein müsse,
151
^elclie den lusekten als Empfind up.gsmosaik durch ihre
PacettenaD^eu zugeführt wird. Eiue solche Bemerkung; beweist
i:ur, wie gross häufig noch bei Physiologen die Unklarheit über
die psychologischen Probleme der Wahrnehmung ist. Denn da die
GesichtsempliiiduDgen ebenso wie alle anderen Sinneswahrneh-
inungen durch isoiirte Nerveuprimitivfasern vom Sinnesorgan zum
iJewusstseiu geleitet werden müssen, so wird durch diese üeber-
tragung überall und in jedem Sinne nothwcndig ein Mosaik
von Empfindungen ergeben, gleichviel ob der Reiz auf der ersten
:Schicht von Xervensubstanz, welcher er im Organ begegnet, als
^ontinuirliche Extension oder als mofiaikartige Summe von Reizen
zur Geltung kommt. Ersteres Arrangement würde denniach gar
keinen Werth für die Wahrnehmungen haben und ist deshalb
^ueh in keinem Auge höherer Thiere benutzt Im menschlichen
Auge wirken die Stäbchen und Zapfen der Retina ganz ebenso
wie die Facetten im Insectenauge ; auch bei uns sind die End-
glieder der den Reiz recipireuden Nerven so arrangirt, dass sie
die Gesammtmasse der auf sie eindringenden Lichtwellen in
discrete Gruppen gesondert, d. h. mosaikartig abgetheilt, recipireu.
Der ganze Unterschied zwischen unserm Auge und dem der In-
sekten ist der, dass unsere den Reiz recipirende Schicht concav
gebildet ist, die des Insectenauges hingegen convex, und dass
diese besseren Schutz gewährende Gestaltung bei uns dadurch
ermöglicht ist, dass wir nicht wie die Insecten die von den
Dingen ausgehenden Lichtstrahlen unmittelbar, sondern durch
eine Linse gebrochen recipiren. Gesetzt den Fall, die Summe
der Lichtstrahlen besässe wirkliche Continuität, was nach der
atomistischen Annahme unserer Physik l)ekanntlich nicht der Fall
ist, so würde doch die Ueberführung dieser objektiv -realen
Continuität der Extension in die subjectiv-ideale unter allen Um-
ständen eine Zerlegung in discrete Theile noth wendig machen,
da die Zusammendrängung einer wirklich unendlichen Anzahl
von discreten Nervenelementen in den begrenzten Raum des
Organs schlechterdings unmöglich ist. Sonach muss alle sub-
jectiv-ideale Extension mit Nothwendigkeit eine Reconstruction
aus einer endlichen Zahl discretcr Empfindungselementen, d. h.
.«in Mosaik sein, und] dieser allgemeingültige Satz findet sich
152
empirisch am Menschenauge ebenso bestätigt, als am Facetten-
äuge der Insekten. Die Thatsachen, dass wir dieses Mosaik
discreter Empfindungen als extendirtes Continuum anschauen^
lässt nach Analogie schliessen, dass die Insekten das Empfindungs-
mosaik ihrer Facettenaugen ganz ebenso nur und ausschliesslich
als continuirliches Bild anschauen. Die Stetigkeit, die wir in
unsere Flächenanschauung hineinlegen, ist taktisch eine Illusion
in Bezug auf das gegebene Empfindungsmaterial, dem wir die-
selbe aulhelten; die Frage ist nur, ob diese Illusion der An-
schauung, welche teleologisch unseren praktischen Bedürfnissen
entspricht, eine active oder passive Illusion, ob sie eine
künstlich zu dem Zweck des Sehens erzeugte, weise berechnete
Selbsttäuschung, oder ob sie eine unwillkürlich durch die Unvoll-
kommenheit der Perception und Distinction sich ergebende Er-
scheinung ist, die nur deshalb niemals eine Berichtigung ertahren
hat, weil sie zuiällig gerade so am besten geeignet ist, uns das
Verständniss der Aussen weit zu vermitteln. Die erstere Annahme
wird stillschweigend von der Ph. d. Unb. vorausgesetzt, und sie
ist es eigentlich, welche die Schwierigkeit der Erklärung erzeugt ;
wäre aber die zweite Annahme die richtige, so würde mit dieser
Erkenntniss eine Hauptschwierigkeit des Problems der Entstehung
der Raumanschauung hinwegfallen.
Wir glauben nun in der That die zweite Annahme für die
natürlichere und wahrscheinlichere halten zu müssen. Wir wissen,
dass wir pathologische Lücken des Gesichtsfeldes ebensowenig
bemerken, wie die normalen Lücken der blinden Flecke. Nach
der gewöhnlichen Annahme w^erden diese Lücken mit der Farbe
und Helligkeit der Umgebung activ ergänzt; wir halten hin-
gegen die Annahme für ausi eichend, dass das Unterscheidungs-
vermögen der Perception von Natur zu stumpf sei, um diese
Lücken in der Continuität des Gesichtsfeldes ohne specielle Rich-
tung der Aufmerksamkeit zum Bewusstsein zu bringen und dass
diese Stumpfheit dadurch zur bleibenden Unfähigkeit ge-
worden sei, weil sich niemals das praktische Bedürfniss einer
Beachtung dieser Lücken der Continuität geltend gemacht hat.
Ist einmal begriffen, dass die Continuität doch nur eine wie immer
entstandene Illusion sei, so handelt es sich bei den blinden
153
Stellen nur darum, dass die Unterbrechungen weder an sich so
gross und auffallend seien, um die Yorhandene Illusion zu stören,
noch auch, dass durch praktische Interessen die Aufmerksamkeit
auf diese Lücken gelenkt werde. Wird die einmal bestehende
Illusion der Continuität durch keine der beiden Ursachen alterirt,
so besteht sie fort, auch ohne jede active Ergänzung der Empfin-
dungslücken.
Es ist von Helmholtz darauf aufmerksam gemacht worden,
wie vielerlei Unvollkommenheiten unser Gesichtsorgan besitze, von
denen allen wir nichts merken, und wie viele subjektive Störungen
der richtigen Wahrnehmungen aus denselben hervorgehen, die
uns gar nicht zum Bewusstsein kommen. Die Ursache hiervon
liegt allemal darin, dass wir nur für solche Combinationen Hirn-'
prädispositionen besitzen, welche uns zum Verständniss der
Aussenwelt nützlich sind, dass wir nur diejenigen Anlagen der
Perception üben und die Aufmerksamkeit nur für solche Vorgänge
im Organ schärfen, welche geeignet sind, uns über die Vorgänge
der uns allein wichtigen Aussenwelt zu unterrichten, und dass
wir in Bezug auf solche Modiiicationen der OrganempfindungeD,
welche für diesen praktischen Zweck werthlos sind, niemals
dazu gelangen, die ursprüngliche Stumpilieit und Unvollkommen-
heit unserer liirnperception in Bezug auf die vom Organ zuge-
führten Reize durch Aufmerksamkeit zu verschärfen und durch
Uebung zu vervollkommnen und die so erworbenen Prädisposi-
tionen dann weiter zu vererben. Wir befinden uns hinsichtlich der
Perception der für das Verständniss der Aussenwelt wxrthlosen
Zustände der Organempfindung heute noch ungefähr auf derselben
Stufe, wie ein Individuum hinsichtlich der werthvoUen und wich-
tigen Organempfindungen einnehmen würde, welches gar keine
Gehirnprädispositionen für die Wahrnehmungsprocesse ererbt hätte,
die Aussenwelt zu verstehen, um in derselben leben zu können.
Stellt man sich den unter dieser Voraussetzung selbstverständlichen
Grad von Stumpfheit der Perception vor, so wird man sich nicht
wundern, dass in uns die w^erthlosen Organempfind iingen ebenso
spurlos dem Bewusstsein verloren gehen, wie in einem solchen
Individuum überhaupt alle dem Bewusstsein verloren gehen wür-
den. (Auch ein Thier nimmt nur einen sehr geringen Theil der
154
ihm zuHiessenden Wahrnebmuugeü iu sein Bewusstsein auf, weil
seine Interessen so beschränkt sind.) Nachdem wir diese Unter-
schiede in Feinheit und Stumpfheit der Perception für Empfin-
dungen desselben Organs constatirt haben, verschwindet jedes
Bedürfniss, eine active Ergänzung des Gesichtsfeldes zu Hülfe
zu nehmen, um die Thatsache zu erklären, dass die bestehende
Illusion der Continuität des Gesichtsfeldes durch die blinden
Stellen nicht beeinträchtigt wird.
Erwägen wir nun aber, wie gross der Durchmesser der
Lücke bei dem blinden Fleck ist im Verhältniss zu der Kleinheit
der Lücke zwischen den Mittelpunkten der zwei benachbarten
Nervenprimitivfasern entsprechenden Empfindungsstellen des Ge-
sichtsfeldes, so leuchtet ein, dass diese letzteren Differenzen noch
für ein sehr viel schärferes Perceptions- und Distinctionsvermögen,
als das unserige nach obigem Beispiel ist, unpercipirbar bleiben
müssen, so lange nicht die allerdringensten Aufforderungen von
Seiten des praktischen Bedürfnisses die Aufmerksamkeit nach
dieser Richtung schärfen. Da solche nicht vorliegen, so dürfen
wir unsere obige Annahme als berechtigt ansehen, dass nämlich
unsere Perception viel zu stumpf und unvollkommen ist, um die
mosaikartig in einer Fläche nach ihren Localzeichen geordneten
Empfindungen, welche durch sämmtliche Primitivfasern eines Seh-
nerven heiTorgerufen werden, von einer wirklich continuirlichei\
Fläche zu unterscheiden; da sie zu stumpf ist, um die Lücken
zwischen den discreten qualitativ bestimmten Empfindungen als
solche aufzufassen, so muss die Perception als continuirlich exten-
jsive in's Bewusstsein treten. Schon durch die recht ansehnliche
Zahl der isolirten Nervenelemente (namentlich an der Stelle des
deutlichsten Sehens) ist dafür gesorgt, dass der überwältigende
Reichthum der gleichzeitig auf die Perception des Gehirns ein-
strömenden Summe von Empfindungen dieses nicht dazu kommen
lasse, das Manko in der Stetigkeit nach beiden Dimensionen sich
zum Bewusstsein zu bringen.
Nachdem wir die anscheinende Continuität der Kaum-
anschauung als eine passive, aus der Un Vollkommenheit unserer
Auffassung herrührende Illusion erkannt haben, die zu ihrer
Erklärung keines activen Zuthuns der Seele bedarf, haben wir
155
weiter zu betrachten^ wie die Entstehung eines zweidimensionalen
E m p f i n d u n g s m 0 s a i k s möglich sei.
Wir haben hierbei zunächst daran zu erinnern, dass der Be-
griff der Dimension weiter ist als der der räumlichen Dimension,
Im mathematischen Sinne versteht man unter einer Dimension
die eindeutige Bestimmungsfälligkeit durch eine Variable, so
dass also die Anzahl der zur eindeutigen Bestimmung erforder-
lichen Variabein der Anzahl der Dimensionen gleich ist. Auch
der einfache Ton ist eine Empfindung von zwei Dimensionen,
denn er braucht zu seiner Bestimmung zwei Variable: Tonstärke
und Tonhöhe. Zwischen dieser zweidimensionalen Empfindung
lind den zweidimensionalen Empfindungen der Localzeichen der
Xetzhauteindriicke besteht nun aber ein wesentlicher, bisher nicht
in seiner fundamentalen Bedeutung beachteter Unterschied: von
Tönen sind stets nur einer oder einige wenige zugleich im Be-
wusstsein, von den Localzeichen der Netzhaut sind zu jeder Zeit
alle zugleich im Bewusstsein. Die Töne liegen so weit von
einander ab, dass sie als discrete Empfindungen mit Lücken
zwischen sich percipirt werden ; die Empfindungen der Netzhaut
aber liegen so nahe an einander, dass ihre Lücken sich der Per-
ception entziehen und die Blusion der Continuität entsteht. Bei
Tönen hat der Intellekt ein Interesse daran, selbst nahe an-
einander gelegene Empfindungen als discrete auseinander
zu halten; bei den Netzhautempfindungen hat er im Gegentheil
Vortheil von der Illusion der Continuität. Bei nahe-
liegenden Tönen geben die heftig sich bemerkbar machenden
^chwebungen ein Hülfsmittel, die Discretion festzuhalten; bei den
Netzhautempfindungen fehlt etwas Aehnliches. Gesetzt den Fall,
es gäbe keine Schwebungen und keine Combinationstöne, gesetzt
fenier, es gäbe die M()glichkeit, zwei einfache Töne von gleicher
Hrihe aber verschiedener Stärke auseinander zu halten (was nicht
angeht), gesetzt endlich, jede Pfeife einer Orgel gäbe statt eines
zusammengesetzten Klanges einen einfachen Ton, so würde man
sich das Analogon der beständigen im Wachen nie aufhörenden
Empfindung des Gesichtsfeldes (ganz abgesehen von seinem con-
cretcn Inhalt) dadurch für den Gehörssinn vergegenwärtigen
können, dass man anf einigen tausend gleichen Orgeln gleich-
156
zeitig die sämmtlicben Pfeifen einer jeden dauernd ertönen lässt,
aber so, dass jeder Ton auf jeder Orgel in einer andern Intensität
erklingt. Dies Beispiel hinkt insofern, als die in zwei Dimen-
sionen geordneten Localzeichen zusammengenommen nur eine
intensiv schwache Nervenerregung geben, w^ährend die Aus-
führung des Analogons auch bei dem Zutreffen aller unmöglichen
Voraussetzungen doch noch eine so gewaltige Nervenerschütterung
bewirken würde, dass sie nicht lange auszuhalten wäre. Ferner
ist in den 2 Dimensionen der Tonempfindung schon jener con-
crete Inhalt mit aufgenommen, der bei der Gesichtsempfindung
erst in der Erfüllung der verschiedenen Stellen des Gesichtsfeldes
mit Licht von verschiedener Intensität und Schwingungs-
geschwindigkeit (Farbe) hinzukommt. Diese 2 Dimensionen
der Lichtstärke und Farbe bleiben für das Auge ebenso discret
wie Tonstärke und Tonhöhe für das Ohr, weil einerseits auch
bei ihnen das praktische Interesse an die discrete Sonderling
und nicht an die continuirliche Verschmelzung geknüpft ist, und
weil andererseits auch sie nur in grossen Intervallen und spo-
radisch vorzukommen pflegen (die anscheinende Continuität des
Spectrums ist eine einflusslose und praktisch werthlose Aus-
nahme). Diejenigen Empfindungen der Netzhaut hingegen, welche
unabhängig von der Qualität des äusseren Reizes als in zwei
Dimensionen gegebene Localzeichenempiindungen uns in dem nie
verschwindenden Gesichtsfeld beständig vor Augen stehen (sowohl
in den belichteten wie in den schwarzen Stellen desselben), diese
haben neben dem Vorzug ihrer ununterbrochenen Einwir-
kung auf den Intellekt zugleich den Vorzug, in einer unverändert
bleibenden Summe gegeben zu sein, welche alle möglichen
Werthe der beiden in ihnen enthaltenen Variabein innerhalb ge-
wisser Grenzen (nämlich von Null bis auf das Maass der der
Kandempfindungen der Retina zukommenden Lokalzeichen) in
solcher Vollständigkeit erschöpft, dass die Lücken zwischen
den einzelnen Stufen nicht zur Perception gelangen. Die Folge
hiervon ist, dass, wenn man eine beliebige Empfindung heraus-
greift, dieselbe unter allen Umständen in jeder der beiden
Dimensionen zwei unmittelbare Nachbarempfindungen
hat, welche gleichzeitig mit ihr actuell sind und deren Abstand
157
Tou ihr (im Sinne des Maasses der quantitativen Veränderung
<les Localzeichens , also noch nicht im rilnmlichen Sinne zu ver-
stehen) nicht so gross ist, um als Lücke percipirt werden zu
können. Diese Vollständigkeit des Empfindungs-
complexes, welche in der überall bestehenden vierfachen
Nachbarschaft für jede Einzelcinpfinduiig- gewährleistet ist, und
welche auch bei dem Nullpunkt — oder dem Punkt des mittleren
Abstandes (wie oben zu verstehen) von den Empfindungen mit
maximalcu Localzeichen (Randempfindungen) — nicht unterbrochen
wird, verleiht diesem Empfindungscomplex eine Geschlossen-
h e i t; welche ausser bei dem Tastempfindungscomplex bei keinem
.andern Sinne auch nur in annähernder Aehnlichkeit wieder
vorkommt.
Erwägen wir nun, dass die oben (S. 152 — 154) aufgestellten Be-
traclitungen über die nothwendige Entstehung der Illusion derCon-
tinuität eine ganz allgemeine Geltung haben, welche oben nur der
Deutlichkeit wegen auf ein räumliches Mosaik bezogen wurde,
aber von der Räumlichkeit oder extensiven Beschaffenheit des
zweidimensionalen Empfindungscomplexcs ganz unabhängig ist,
so sieht man sofort, dass unser in sich geschlossener zweidimen-
sionaler Empfindungscomplex zugleich als ein lückenlos conti -
n u i r 1 i c h e r erscheinen muss. Erinnern wir uns endlich daran, dass
in diesem Complex doch schon die constructive x\rbeit der Ord-
nung der Localzeichen nach zwei Dimensionen vorausgesetzt ist,
dass also das so erlangte Resultat etwas ganz anderes ist, als die
noch rohe Summe der gegebenen Elementarempfindungen, dass
mit einem Wort auf der jetzt erklommenen Stufe schon eine A n -
schauung vorliegt, in welcher elementare Empfindung und con-
structive Vorstellungsarbeit durch einen Abkürzungsprocess der
Association unbewusst geworden sind, so haben wir eine solche
Combination erlangt, dass wir sehr wohl sagen können: >nr haben
die extensive Flächenanschauung in ihrer Genesis begriffen.
Denn was sollt« für ein Merkmal zu derselben fehlen, wenn wir
hinstellen : einen in sich geschlossenen , anscheinend lückenlos-
continuirlichen, zweidimensionalen Empfindungscomplex von be-
stimmter Maximalgrenze, welcher als Anschauung d. h. als fertiges
Resultat vor's Bewusstsein tritt. Letzten Endes lässt sich keine
158
Anschauung so beschreiben, dass einer sie verstehen kann, der
nicht selbst diese Anschauung schon besitzt ; aber dieses Specifische
der Anschauung, was wir als in der Genesis derselben begründet
erkannt haben, ist eben schon in diesen Empfindungscomplex
durch die nähere Bestimmung mit hineingelegt worden, dass der-
selbe als fertige Anschauung vor's ßewusstsein tritt. In gewissem
Sinne ist hiermit die räumliche Flächenanschauung als solche für
eine Illusion erklärt; wer sich aber erinnert, dass wir auch
die Tiefenanschauung und ebenso die Continuität der Extensionen
für Illusionen erklären mussten, ja sogar, dass wir in gewissem
Sinne jede iVnschauung für eine Illusion in Bezug auf ihren
wirklichen Empfindungsstoft' erklären mussten, der kann für die
Flächenanschauung nichts anderes mehr erwartet haben. Was
M^ir Flächenanschauung nennen, das ist eben jene genetisch
mit Nothwendigkeit so und nicht anders erwachsene Form der
Illusion, die wir durch nothwendige Association mit diesem zwei-
dimensionalen geschlossenen Empfindungscomplex der Netzliaut-
localzeichen verknüpfen. Diese Illusion ist uns nützlich, weit
sie in Verbindung mit der dritten Dimension nach Umständen
gut genug der in sich geschlosseneu dreidimensionalen Ordnung
der realen Dinge entspricht, welche letztere mindestens hin-
sichtlich der realen Bewegung eine wirklich c o n t i n u i r 1 i c h e
ist. Die letzten Endes aus der ünvollkommenheit unserer Auf-
fassung entspringende Illusion ist es also allein , welche uns die
auf keine andere Weise für uns zu erlangende Möglichkeit ver-
schafft, unser subjektives Abbild der Ordnung der wirklichen
Dinge einer wichtigen Eigenschaft derselben conform zu machen.
Das Einzige, was bei der vorangehenden Erörterung noch
zweifelhaft gebheben ist, ist der Vorgang des Ordnensder
rohen Empfindungsmasse nach den (quantitativen Verliältnisscn
ihrer Localzeichen in den zwei Dimensionen. Zunächst ist das
Missverständniss auszuschliessen , als wäre dieses Ordnen als ein
räumliches Umstellen zu verstehen; davon kann vor Fertigstelluug
der Raumanschauung natürlich nicht die Rede sein; ein solches
Missverständniss würde das andere voraussetzen, dass die discrcten
Empfindungselemente vor ihrer Ordnung nach den Dimensionen
einen gewissen Platz im Bewusstsein hätter, welchen es zu
159
ändern gälte. Dies ist nattirlicli ganz verkehrt; das Zugleich-
sein der elementaren Empfindungen im Bewusstsein kann nur ein
durchaus raumloses sein, und der Begriff de« Ordnens ist nicht
als das Schaffen eines noch nicht Vorhandenen zu verstehen,
sondern nur als das Entdecken des bereits durch die Organ-
einrichtung Gegebenen mit Hülfe eines idealen Durchlaufens der
Empfindungen in der durch die gesetzmässige Aenderung ihrer
Localzeichen bedingten Reihenfolge, als ein geistiger Orienti-
rungsprocess des Bewusstseins in der gegebenen Empfin-
dungsmasse, als dessen bleibendes Resultat durch Abkürzung der
Ideenassociation die Neigung zurückbleibt, beim künftigen Durch-
laufen dieser ^Massen mit der Aufmerksamkeit von jeder Empfin-
dung immer nur auf ihren unmittelbaren Nachbarn und von
diesem wieder nur auf den nach demselben Aenderungsgesetz sich
anreihenden Nachbarn überzugehen, oder mit anderen Worten
beim Durchlaufen der Empfindungsmasse mit der Aufmerksamkeit
keine Sprünge zu machen und Richtung zu halten (nach
demselben Aenderungsgesetz der Localzeichen fortzuschreiten).
Hat sich diese Prädisposition hinlänglich befestigt, so ist dasjenige
erreicht, was wir unter dem Namen des Ordnens der Empfin-
dungen als erste Voraussetzung der Entstehung der Raura-
anschauung fordern mussten, und alsdann geht der Abkürzungs-
process der Ideenassociation in der eben ausgeführten Weise
weiter, so dass die Aufmerksamkeit sich mit dieser hergestellten
oder richtiger entdeckten Ordnung der Empfindungen gar nicht
mehr beschäftigt, sondern sich der Totalität dieses nun ordnungs-
mässig beherrschten Empfindungscomplexes zuwendet.
Wer in diesem Orientirungsprocess des Bewusstseins am
Leitfaden der schrittweisen Aenderung der Localzeichen etwa
eine Leistung sehen wollte, welche die intellektuelle Fähigkeit
der niederen Thiere, in denen dieser Process sich vollzieht, über-
stiege, der ist daran zu erinnern, dass solches nur wahr sein
würde von einem Intellekt, der ohne ererbte Prädisposition einem
solchen Reichthum gegenübergestellt würde, wie ihn etwa das
Auge des Säugethieres oder auch schon das der Fliege bietet,
dass aber obige Behauptung sofort hinfällig wird, wenn man be-
denkt, dass das Organ und die prädispositionelle Fertigkeit zur
160
Benützung der von ihm gelieferten Empfindungen Hand in Hand
gehen und sich gemeinschaftlich ganz allmählich Schritt vor
»Schritt vervollkommnen, so dass also auch jedes Wesen die der
Oomplication seines Sinnes-Organs entsprechenden
Prädispositionen des Centralorgans unfehlbar mit auf die Welt
bringt und seinerseits nur die Aufgabe vorfindet, bei der Concurrenz
um möglichst vortheilhafte Ausnutzung (und zu dem Zweck um
möglichst genaues Verständniss der Aussenwelt) die ererbten Prä-
dispositionen durch Probiren und Uebung um einen mini-
malen Zusatz zu steigern und zu vervollkommnen — und
diese Aufgabe geht wahrlich nicht über seine Kräfte. Die ver-
gleichende Anatomie lehrt uns ferner, dass die einfachsten Formen
von Augen bei niederen Thieren zunächst durchaus nur der Unter-
scheidung von hell und dunkel dienen können, und dass schon
eine gewisse Vervollkommnungsstufe des Organs dazu gehört, um
Lichteindrücke, welche von rechts oder links, von oben oder
unten her das Organ treffen, als qualitativ verschieden auffassen
zu können und so die erste primitive Grundlage zu einer Aus-
bildung von Localzeichen zu gewinnen. In solchem Organ wird
der gerade von vorn kommende Eindruck als der häutigste und
deshalb normale und die von rechts, links, oben oder unten
kommenden als specifische qualitative Modificationen der
normalen Helligkeitsempfindung percipirt werden. Sie werden
mit einem positiven oder negativen Localzeichen der einen oder
der andern Dimension behaftet auftreten. Die Reaction des
Thieres auf jede dieser Modificationen wird sich verschieden ent-
wickeln, weil mit dem Leuchtenden für jedes Thier verschiedene
praktische Interessen verknüpft sind, und es wird sich für jede
Empfindung eine prädispositionelle Association mit gewissen Be-
weguugsreactionen herausbilden, auch ohne dass das Thier zu
einer extensiven Raumanschauung gelangt. Öo sehen wir, dass
der Gesichtssiim der niederen Thiere schon lange vorher
von erheblichen Nutzen werden kann, ehe seine Elemeutar-
empfindungen so discret gesondert und so zahlreich neben-
einandergestellt sind, um eine R a u m a n s c h a u u n g zu erzeugen.
Auf dem Fundament jener Associationen von modificirtcn Gesichts-
empfindungen mit bestimmten reflectorischen Handlungsweisen
161
kann sich aber das Organ durch natürliche Zuchtwahl weiter
entwickeln und immer mehr und immer feiner unterschiedene
Elementarempfindungen liefern. Dann wird irgend einmal ein
gewisser Punkt eintreten, wo die immer noch massige Zahl modi-
ficirter Elementarempfindungen als geschlossener continuirlicher
Empfindungscomplex sich darstellt und dadurch die Illusion der
räumlichen Flächenanschauung erzeugte; denn soviel geringer al»
die Zahl der discreten Empfindungselemente des Gesichtsfeldes^
und soviel grösser als die Lücken zwischen je zwei benachbarten
Empfindungen (resp. der quantitative Sprung zwischen ihren
Localzeichen) bei einem solchen niederen Thiere ist, um min-
destens eben soviel stumpfer ist auch das Perceptionsvermögen
des Centralorgans seines Intellekts als beim Menschen, so dass
auch hier der Illusion der Continuität kein Hinderniss im Wege
steht.
So verschwinden die Schwierigkeiten des Problems mehr und
mehr, je eingehender man dieselben aus dem Gesichtspunkt der
Descendenztheorie und der prädispositionellen Vererbung zer-
gliedert. Wenngleich im Einzelnen noch immer vieles dunkel
bleiben wird, so glauben wir doch den Weg angedeutet zu haben,
auf welchem weitere Forschungen mehr und mehr Licht über
diese Fragen verbreiten werden.
Es sei gestattet, am Schluss dieses Capitels eine kurze Be-
merkung über die apriorische Denkform der Causalität hinzuzu-
fügen, welche Schopenhauer mit Recht die wichtigste (wenn auch
mit Unrecht die einzige) Kategorie nennt, und welche er eben«o
richtig (wie Raum und Zeit) als Gehirnfunction ansieht, deren
specifische Qualität natürlich als in der Beschaffenheit de»
functionirenden Gehirns prädisponirt gedacht werden muss. Wir
haben im Allgemeinen die apriorischen Denkformen schon am
Schluss des Vlil. Abschnitts behandelt, und hätten nicht nöthig,
hier noch einmal auf einen speciellen Fall zurückzukommen,
wenn nicht die hervorragende Bedeutung der Causalität und ihre
nahe Zusammengehörigkeit mit den Anschauungsformen des
Raums und der Zeit dazu aufforderte, an die Betrachtung der
letzteren beiden noch einen Hinblick auf die erstere anzu-
schliessen.
11
162
Schopenhauer begnügte sich damit, die Causalität für eine Hirn-
functiou zu erklären, für die das Gehirn in demselben Sinne cou-
struirt sei, wie das Auge für das Sehen; auf die Genesis dieser
Hiruprädisposition ging er ebensowenig näber ein wie Kant, und
erklärte sich mit der iiUgemeinen metaphysischen Behauptung einer
Objectivation des Willens zum Leben zufriedengestellt. Wir
haben aber gesehen, dass der Wille eines Individuums ein
Summationsphänomen aus den Atomkräften der Centralorgane des
Nervensystems ist (vgl. oben S. 79—81), und dass der Wille zum
Leben oder Dasein eben auch nur das Resultat eines An-
passungsprocesses an das als Ausgangspunkt desselben gegebene
Dasein ist (vgl. oben S. 41 — 42). Somit sind also „Wille zum
Leben" und „Hirnprädisposition der Causalität" coordinirte Wir-
kungen einer und derselben Ursache: „des Anpassuugsprocesses
an's Dasein in der Concurrenz um dasselbe", und nimmermehr
kann die eine dieser Folgen ohne näheres Yerständniss als wir-
kende Ursache der andern behauptet werden. — Aber obwohl
Schopenhauer die CausaUtät als Gehirnfunction anerkennt, so ver-
kennt er doch den himmelweiten Unterschied einer solchen aus
bestehenden Prädispositionen heraus blind (d. h. unbewusster
Weise) wirkenden Function und des durch den Abstractions-
process herauspräparirten Elements, welches als integrirender Be-
standtheil complicirterer Vorstellungsmassen durch jene Function in
diese letzteren hineingebracht ist, mit andern Worten er ver-
wechselt die unbewusste mechanische Hirnfunction , welche zur
causalen Association von Vorstellungen nöthigt, mit dem logisch
herauspräparirten Begriff der Causalität. Die Ph. d. U. sagt
(S. 312 — 313): „Deshalb ist es falsch, den Causalitätsbe griff
als Vermittler für eine bewusste Ausscheidung des Objectes"
(aus der Summe der gegebenen Empfmdungenj „zu setzen, denn
die Objecte sind lange vorher da, ehe der Cau-
salitätsbegrilf aufgegangen ist; und wäre diess auch
nicht der Fall, so müsste auch dann das Subject gleich-
zeitig mit dem Object gewonnen werden. Allerdings ist für
den philosophischen Standpunkt die Causalität das einzige
Mittel, um über den blossen Yorstelluugsprocess hinaus zum
165
Subjecte und Objecte zu gelangen (vgl. das Ding an sich Abschn.
IV nnd V); allerdings ist für das Bewusstsein des gebildeten
Verstandes das Object in der Wahrnehmung nur als deren
äussere Ursache enthalten; allerdings mag (?) der unbewusste
Process, welcher dem ersten Bewusstvverden des Objectes zu
Orunde liegt, diesem bewussten philosophischen Processe analog
sein, — so viel ist gewiss, dass der Process, als dessen Resultat
das äussere Object dem Bewusstsein fertig entgegentritt, ein
durchaus unbewusster ist, und mithin, wenn die Causalität in
ihm eine Rolle spielt, was wir übrigens nie direct constatiren
können, darum doch keinenfalls gesagt werden kann, wie Schopen-
hauer thut, dass der apriorisch gegebene Causalitäts-
begriff das äussere Object schaffe, weil man in dieser
Ausdrucksweise den Begriff als einen bewussten auffassen müsste,
was er entschieden nicht sein kann, weil er viel, viel später
gebildet, wird, und zwar zuerst aus Beziehungen der bereits
fertigen Objecte untereinander." (Vgl. auch „das Ding an
sich" S. 66—74).
Halten wir daran fest, dass der Process, als dessen
Resultat das äussere Object dem Bewusstsein fertig entgegen-
tritt, ein Process von Hirnschwingungen ist, die durch die
Molecularbeschaifeuheit des Gehirns lormell prädisponirt sind, so
ist die in dem Citat offen gelassene Frage, ob die Causalität in
demselben eine Rolle spielt, sehr leicht zu entscheiden. Es kommt
nur darauf an, was hier unter Causalität verstanden wird. Ver-
stehen wir darunter die causalen Einwirkungen der Hirnmolecule
aufeinander, so ist ihre Betheiligung selbstverständlich; verstehen
wir darunter jene gleichviel wie beschaffene, nicht selbst Begriff'
seiende, sondern erst das Material zur Bildung des Causalitäts-
begriffs erzeugende apriorische psychologische Function, so wird
inan dieser psychologischen Function darum ihren Namen nicht
entziehen dürfen, weil wir sie als Function des materiellen
Denkorgans näher bestimmen gelernt haben. Versteht man
aber unter der unbewussten Causalität eine meta})hysisch spiri-
tualistische Intuition, die über dem materiellen Denkorgan
jftchweben soll, und das getreue Abbild oder vielmehr Vorbild
164
des philosophischen (bewussten) Causalitätsbegriffs darstellen
soll, dann ist die Frage allerdings zu verneinen, denn zu einer
solchen Hypothese liegt nicht nur keine Nöthigung vor, sie wird
vielmehr durch die genügende physiologische Erklärung ent-
schieden discreditirt.
Bei einer solchen Auffassung erhält freilich auch die Be-
hauptung Schopenhauer's , dass auch das niedrigste Thier
schon der Causalität bedürfe, um zu leben, eine modificirte
Bedeutung. Zunächst gilt dieselbe jedenfalls nur mit Einschrän-
kung auf diejenigen Thiere, deren Verstandeskräfte hoch genug
entwickelt sind, um vonObjccten der AVahrnehmung bei ihnen
reden zu können; denn nur bei solchen ist das Problem der Ent-
stehung des Objects der Walirnehmung gegeben, zu dessen Lösung
Schopenhauer die Causalität fordert; bei ganz tief stehenden
Thieren wird ebenso wie bei Protisten und Pflanzen wohl von
Empfindung, aber nicht mehr von Wahrnehmung im
Sinne der Anschauung eines WahrnehmuDgsobjects die Rede sein
können. Weiterhin aber gilt auch bei den wirklich wahrneh-
menden Thieren Schopenhauer's Behauptung nur in dem Sinne,
dass in den Nervencentralorgauen dieser Thiere auch schon
ererbte Prädispositionen enthalten sein müssen, welche durch ihr
Functioniren eine gewisse Associationsform von Vorstellungen zu
Stande bringen, nielit aber in dem Sinne, als wäre ein bewusster
oder unbewusster Begriff oder Idee der Causalität bei dem Vor-
gang im Spiele. Schopenhauer deutet mit Recht darauf hin, dass
die Hirnfunction der Causalität als Verselbstständigungsact der
Wahrnehmungen zu Objecten mit der Hirnfunction der dritten
Dimension des Raumes in einer nahen Beziehung steht; haben
wir nun vorhin gesehen, dass die dritte Dimension der Raum-
anschauung im Tbierreich erst ziemlich spät auftreten kann
(jedenfalls lange nach der zweidimensionalen Raumanschauung,
welche ebenfalls noch den niedrigsten Thieren fehlen dürfte), so
haben wir hieran schon einen ungefähren Anhalt für die
Beurtheilung der Entstehung der Prädispositiou der Causal-
function. Wie wir oben (S. 160) erkannten, dass die durch verschie-
dene Localzeichcn gefärbten Sinnesempfinduugen auch dann schon
165
-durch Association von bestimmten Vorstellungen uiurVerlialtiuigs-
weisen einem Thiere nützlich werden können, wenn es noch
nicht die räumliche Ausbreitung dieser Empfindungen zur An-
schauung vollzogen hat, ebenso werden wir zugestehen müssen^
dass verschiedene Empfindungen überhaupt ohne alle
Verselbstständigung derselben zu Wahrnehmungs-
objecten hinreichen können , um einem Wesen von ein-
facheren Lebensverhältnissen die für seine Lebenszwecke nöthigen
Eeize und Warnungen zu ertheilen, dass also auch durch natür-
liche Zuchtwahl solche Wesen prädispositionelle Associa-
tionen zwischen bestimmten Empfindungen und bestimmten
Handlungsweisen erwerben und vererben können, ohne dass
ihrem Bewusstsein eine objective Aussen weit aufgegangen
wäre. Wie das Ordnen der durch Local zeichen gefärbten Tast-
oder Gesichts-Empfindungen nur als Erleichterung für eine
übersichtliche und zusammenfassende Orientirung dient, und
deshalb erst dann nützlich wird, wenn der Reichthum der
betreffenden Empfindungen ein gewisses Maass überschreitet,
ebenso ist auch die Construction einer objectiven Aussenwelt
nur ein ebensolches Hülfs mittel der üebersichtlichkeit, um die
stets wachsende Totalsumme von Sinnesempfindungen unter solche
einheitliche Gesichtspunkte zu ordnen, welche den ererbten Prädis-
positionen der instinctiven Verhaltungs weise auf diese Empfin-
dungen am besten entsprechen; dies geschieht aber durch Zu-
sammenfassung der qualitativ verschiedensten Empfindungen in
die Anschauung eines selbstständigen und wirkenden Objects.
Nach Entstehung der dreidimensionalen Raumanschauung vollzieht
sich dieser Process ganz von selbst dadurch, dass alle ßegriflfe
von Causalität, Substantialität , Phänomenalität u. s. w. fehlen,
also das Begriff*smaterial zu einer Unterscheidung des eigenen
Vorstellungsgespinstes von der transcendenten Wirklichkeit
mangelt, während andererseits die instinctiven Prädispositionen
des Handelns ganz so functioniren, als ob das eigene sub-
jective Wahrnehmungsbild selbst ein Wirkendes, Handelndes,
feindlich oder freundlich in das Leben Eingreifendes wäre. Wie
die Raumanschauung aus der Stumpfheit der Wahrnehmung ent-
166
springt, welche von den Lücken nichts merkt, so entspringt dei'
naive Realismus aus der Stumpfheit des Denkens,
welchem noch die Fähigkeit der Unterscheidung zwischen sub-
jectiv-phänomenal und transcendent-real fehlt (vgl. „das Ding
an sich" S. 70 — 71), eine Unterscheidung, gegen die sich bekannt-
lich heute noch ganze Philosophenschulen mit unbegreiflicher
Verblendung und Hartnäckigkeit versperren.
X.
Der Instinct
als ererbte Hirn- und Ganglien
Prädisposition.
"Wie wir oben (S. 29 — 30) gesehen haben, dass gerade der
naturwissenschaftliche Materialismus sich gegen die empirische
Thatsache der Naturzweckmässigkeit, welche die Philosophie
meibteiis anerkannte, eigenwillig deshalb verschloss, weil ihm das
Rüstzeug seines Wissens kein Erklärungsmittel t'ür eine solche
Erscheinung bot, ebenso skeptisch, negirend oder ignorirend ver-
hielt sich derselbe bisher meistentheils auch dem besonderen Fall
der Naturzweckmässigkeit gegenüber, welcher in den Hand-
lungen der Naturwesen zu Tage tritt und welchen wir, insofern der
Zweck der Handlung dem Bewusstseiu des Thieres nicht g^egen-
wärtig sein kann, mit dem Worte Instinct bezeichnen. Obwohl
in der That über den Instinct der Thiere viel gefabelt worden
ist, und auch wohl heute noch manche auf Treu und Glauben
angenommene Behauptungen der genaueren Beobachtung und
Bestätigung, beziehungsweise Berichtigung bedürfen, so ist doch
die Zahl unzweiteliiafter Thatsachen auf diesem Gebiet so massen-
haft und die Autopsie für jeden unbefangenen Beobachter der
Natur überall so leicht zugänglich, dass wirklich nur systematische
Voreingenommenheit das Vorhandensein des gebieterisch sich aul-
drängenden Problems leugnen kann. Freilich fmdet man diese
Voreingenommenheit heutzutage noch öfters selbst bei den Natur-
168^
iorscbern, welche die Descendenztheorie willig acceptirt haben,
aber durch die theoretischen Antipathien ihrer Vergangenheit
beeinfiusst sind. Zu dieser Classe gehört sogar Wallace, der den
Einfluss der Gewohnheit bei der Entstehung des Instincts mit
Eecht hervorhebt, aber von der Psychologie des Menschen und
der Thiere \del zu wenig versteht, um die sensualistische Erklä-
rungsmanier solcher Probleme, wie sie bei seinen Landsleuten
besonders beliebt ist, in ihrer armseligen Plattheit zu durch-
;schauen und die Grösse des Fortschritts zu ermessen, welcher
durch Darwin's Ausbildung der Descendenztheorie auch auf
psychologischem Gebiete angebahnt worden ist. Der Nachweis,
dass eine Function durch ein gewisses Maas von Uebung in sich
gefestigt und gestärkt wird , genügt diesem Standpunkte sofort,
um das Vorhandensein einer angeborenen Disposition zu leugnen,
ohne Rücksicht darauf, dass die Uebung nur den letzten Schliff
und die volle Sicherheit der Beherrschung liefert, und dass ohne
das Angeborensein der Disposition ein solches Resultat in so
kurzer Zeit und mit so geringen Mitteln gar nicht erzielt werden
konnte. So erlernt z. B. der junge Singvogel den Gesang seiner
Art erst durch eine gewisse Uebung, aber der ältere Vogel braucht
nach jedem Rauhen eine ganz ebensolche Periode der Uebung,
um wieder die Herrschaft über die Stimme zu erlangen, ohne
dass er seine Sangesweise vergessen hätte, wie sein einsames
Wiedereinüben derselben beweist; kann also unter solchen Um-
ständen die dem jungen Vogel nöthige Uebung gegen die ange-
borene Prädisposition zu seiner Sangesweise sprechen'? Es ist
ferner wahr, dass erst die Nachahmung der Artgenossen dem
Gesang des jungen Vogels die letzte Vollendung giebt, also als
Hilfe lür die Nachmeisselung seiner Hirnprädisposition dient, aber
ungefähr denselben Gesang übt er sich auch einsam aufwachsend
ein, es müsste denn zufällig ein talentloses und träges Individuum
sein. Ebenso ist es wahr, dass der Nachahmungsinstinct im
Stande ist, die Functionsweise der ererbten Gesangs-Prädisposi-
tionen zu modificiren, d. h. ein Singvogel lernt den Schlag anderer
Specien imitiren; dies ist um so weniger zu verwundern, als ja
manche Vogelarten ihr musikalisches Bedtirfniss ganz und gar
durch erborgte Weisen befriedigen; je schärfer andrerseits die
169
eigenthümlicbe Sangesweise einer Species ausgeprägt ist, um so
grösseren Widerstand wird die ererbte Prädisposition der Modi-
fication durch den Nachahmungstrieb entgegensetzen. Bei dem
Sänger der Sänger, der Nachtigall, haben wir noch nichts von
nennenswerthen Imitationen gehört; nur die von Natur schlechte-
sten Sänger lernen menschliche Melodien nachpfeifen, und allen
eigentlichen Singvögeln gefallt doch immer ihr eigenes Lied am
besten. Ohne Zweifel bestehen auch in dem Vogelsang neben
angeborenen Elementen typischer Bildungs- und Verknüpfungs-
formen der Töne andere Elemente, welche der willkürlichen Modi-
fication des Gesanges einen gewissen Spielraum lassen, ganz wie
wir dies bei der menschlichen Sprache gesehen haben (vgl. oben
(S. 123—125).
Es kann nicht unsere Absicht sein, uns hier auf eine längere
Polemik gegen diejenigen einzulassen, welche die Thatsache des
Instmcts bestreiten, sondern wir nehmen das Problem, ebenso wie
es die Ph. d. Unb. aufstellt, als gegeben an und wollen nun sehen,
was die Descendenztheorie für Mittel zur Erklärung der wunder-
baren Erscheinung an die Hand giebt.
Wir haben in den vorhergehenden Abschnitten die Bedeutung
der Vererbung hinlänglich erörtert; wir haben (S. 112 — 115) ge-
sehen, wie der Organismus die Fähigkeit erwirbt, gewisse vor-
gestellte Bewegungen zur Ausführung zu bringen und wie diese
Fähigkeit durch Vererbung und Zuwachs sich befestigt und
steigert; wir haben ferner betrachtet (S. 111 — 112), wie die kör-
perlichen Fertigkeiten im weiteren Sinne auf ererbten Prädispo-
sitionen sowohl des Gehirns als der untergeordneten der Central-
organe des Nervensystems beruhen, wie man bei typischen Denk-
formeu (S. 129 — 132j und bei anderen wichtigen Vorstellungs-
elementen mit Recht von ererbten schlummernden Gedächtniss-
dispositionen (S. 109— -111) sprechen kann^ und wie die geistigen
Fertigkeiten, Anlagen und Talente, über deren Augeborensein alle
Welt einverstanden ist, ebenfalls nur aus molecularen Prädisposi-
tionen des Gehirns für gewisse Arten und Formen des Fuuctionirens
erklärt werden können (S. 115 — 117). Wir sahen weiterhin (S. 136
bis 139), dass in der ererbten Hirnprädisposition für bestimmte
psychische Functionsweisen jenes Element zu suchen ist, welches
170 _
die Philosophie mit dem Worte a priori bezeichnet und dessen
Bedeutung von der empirischen Psychologie so lange mit Un-
recht verkannt worden war; wir erkannten insbesondere (S. 121
bis 123), dass diejenigen Vorstellungsverknüpfungen zur prä-
dispositionellen Vererbung tendiren und besonders geeignet scheinen,,
welche aus einem Abkürzungsprocess der Ideenassociation resul-
tiren und wir fanden endlich (S. 101 — 103), dass der Charakter
im weitesten Sinne sammt allen dem Individuum in Handlungs-
weise, Benehmen, Manieren, Bewegung und Haltung anhaftenden
Eigenthümlichkeiten gleichsam den Grundstock der psychischen
Vererbung bildet. — Alle diese getrennt betrachteten Elemente
finden wir nun vereinigt im Instinct wieder. Derlnstinct ist zu-
nächst „der innerste Kern jedes Wesens", wie sich schon daraus
zeigt, dass er das Individuum zu den höchsten Opfern, sogar
seiner Existenz, bringt (Ph. d. Unb. S. 101); beim Menschen aber
nennen wir den tietlnnersten Kern des Wesens, der für all sein
Thun und Lassen bestimmend ist, den Charakter (ebd. S. 236).
„Wir werden später (Cap. B IV) sehen, dass man die Summe der
individuellen Reactionsmoditicationen auf alle möglichen Arten
von Motiven den individuellen Charakter nennt und (Cap. C X 2)
dass dieser Charakter wesentlich auf einer — zum kleineren
Theil individuell durch Gewohnheit erworbenen, zum grösseren
Theil ererbten -— Hirn- und Körperconstitution beruht ; da es sich
nun auch beim Instinct um den Reactionsmodus auf gewisse
Motive handelt, so wird man auch hier von Charakter sprechen
können, wenngleich es sich hier nicht sowohl um den Individual-
als den Gattungscharakter handelt, also im Charakter hinsichtUch
des Instincts nicht das zur Sprache kommt, wodurch ein Indivi-
duum sich vom andern, sondern wodurch eine Thiergattuug sich
von der andern unterscheidet" (Ph. d. Unb. S. 79).
Indem nun der Instinct ein prädisponirter Reactionsmodus
auf gewisse Arten von Motiven ist, muss in der prädisponirten
Willensfunction zugleich die Vorstellung mit enthalten sein, welche
den Inhalt des Ausführungswillens bildet (vgl. oben 105 — G n.
109 _ 10); hierdurch stellt sich der Instinct als ererbtes Gedächt-
niss dar, was um so entschiedener hervortritt, je eigenthümlicher
der Vorstellungsinhalt einer Instincthandlung in ideeller Hinsicht
171
geformt und in sich abgeschlossen ist (z. B. die stereometrische
Gestalt der Bienenzelle, oder die Form des Netzes der Kreuz-
spinne, oder die künstliche Construction des Cocons und seines
Verschlusses durch manche Raupen). Wo sich der Vorstellungs-
inhalt einer Instincthandlung in so ausgeprägter, unverändert
wiederkehrender Form darstellt, da kann man ihn mit Recht als
eine typische Vorstellungsform bezeichnen, welche sich in der
Species durch Vererbung befestigt hat.
Aller Instinct hat die Foim des a prhri, da eben der Inhalt
seines Functionirens etwas setzt, was dem Individuum nicht von
aussen empirisch gegeben ist, sondern durch eine ihm selbst un-
verständliche unbewusste Function seines Nervencentralorgans in
fertiger Gestalt vor sein Bewusstsein hingestellt wird; nur ist
hier zugleich der unwiderstehliche Zwang der praktischen Aus-
führung mitgesetzt, was bei dem theoretischen a priori nicht der
Fall ist. Wir werden später sehen, eine wie grosse Rolle bei der
Entstehung solcher vererbter Gedächtnissprädispositionen die Ab-
kürzung der Ideenassociation spielt. Jeder Instinct setzt eine
Fähigkeit des Gebrauchs der willkürlich bewegbaren Körpertheile
voraus, und die meisten fordern specifische Fertigkeiten in com-
piicirten Combinationen von Bewegungen (so z. B. das Schwimmen,
Gehen , Klettern , Fliegen , Springen u. s. w.). Immer verbindet
sich auch mit den Prädispositionen zu solchen körperlichen
Fertigkeiten ein gewisses Maass specifischer intellektueller Be-
fähigung für Thätigkeitssphären; mit der körperlichen Geschick-
lichkeit der Termiten, Biber, Vögel im Bauen ist unzweifelhaft
eine gewisse geistige Anlage für dieses Gebiet verknüpft zu
denken: man könnte sagen, diese Thiere haben eine Art Bau-
sinn. Ebenso kann man den Singvögeln ein gewisses musika-
lisches Talent, den Zugvögeln einen hochentwickelten Ortssinn
zur Orientirung im Terrain nicht absprechen und doch stehen
diese Befähigungen, welche nur durch ererbte Hirnprädispositionen
entstanden zu denken sind, im unmittelbaren Dienste der be-
treffenden Instincte und sind nur um derentwillen zur besseren
Befriedigung der instinctiven Bedürfnisse vorhanden. Eine andere
Reihe von Instincten, wie Nachahmungstrieb, Verheimlichungs-
trieb, Bosheit, Mitleid, Vergeltungstrieb, Geschlechtstrieb u. s. w.,
172
führen uns unmittelbar aus den Instincten , wie sie bei den
höchsten Thieren sich darstellen, zu den Charaktereigenschaften
hinüber, zu welchen dieselben bei den Menschen sich entfaltet
haben (Ph. d. Unb. Cap. B I), und bei welchen die Bedingtheit
durch moleculare Hirnprädispositionen nicht mehr zweifelhaft ist.
Dass die Ph. d. U. alle wesentlichen Punkte unserer Paralleli-
sirung einräumt, geht aus denjenigen Theilen unserer Unter-
suchungen, auf welche vor Kurzem zurückgewiesen wurde, deut-
lich genug hervor, und können wir uns deshalb die Wiederholung
dieses Nachweises hier ersparen. Zum Ueberfluss spricht die Ph
d. Unb. in diesem Cap. selbst S. 78 und 79 der dritten Auflage
(die Stelle kam erst in der zweiten Auflage als Zusatz hinein)
ihre Uebereinstimmung mit unseren Grundsätzen deutlich genug
aus und giebt zu, dass die Instincte durch „morphologische oder
molecularphysiologische Prädispositionen" verursacht sein können,
indem diese „die unbewusste Vermittelung zwischen Motiv und
Instincthandlung leichter und bequemer in die eine Bahn als in
die andere lenken" (S. 78). Mit diesem aus dem Abschnitt C
herübergenommenen Zugeständniss ist nun aber ein Keil in den
Abschnitt A getrieben, welcher diesen vollständig aus seinen
Fugen drängt; denn es ist hiermit ein naturwissenschaftliches
Erklärungsprincip für das Problem des Instincts gegeben, welches
dem Princip des unmittelbaren teleologischen Eingriffs von Seiten
eines neben den Atomen des Organismus supponirten metaphysi-
schen Wesens vermittelst einer unbewussten hellsehenden Intuition
schnurstracks entgegengesetzt ist. War das naturwissenschaftliche
Erklärungsprincip der molecularen Hirn- und Nervenprädisposition
überhaupt einmal zugelassen, so lag der Ph. d. Unb. auch die
Pflicht ob, zu untersuchen, wie weit mit diesem Princip allein in
der Erklärung der Erscheinungen des Instincts zu kommen war,
und ob der als unerklärbar etwa übrig bleibende Rest beglaubigter
Thatsachen denn auch wirklich hinreichte, um neben diesem
naturwissenschaftlichen Erklärungsprincip das metaphysische des
teleologischen Eingriffs supponiren zu müssen. Diese Verpflichtung
war um so dringender, je fundamentalere Bedeutung diesem
€apitel vom Instinct zukommt, je mehr die Resultate dieses
Capitels es sind, auf deren Schultern in Wahrheit die Hypothese
173
der teleologischen Eingriffe vermittelst unbewusster Intuition be-
ruht. Wir haben schon oben (S. 19 — 21) darauf hingedeutet,
dass hier der schwache Punkt der Ph. d. Unb. zu suchen ist.
Dass die zeitgenössische Kritik, welche sich mit diesem Werke
in Abhandlungen und Streitschriften eingehender als vielleicht
seit langer Zeit mit irgend einem beschäftigt hat, von diesem
klaffenden Riss im Fundament des Gebäudes selbst nach Erschei-
nen der zweiten Auflage mit dem erwähnten Zusatz, ja sogar
nach Erscheinen der dritten Auflage mit der verhängnissvollen
Anmerkung auf S. 12, auch nicht das allergeringste gemerkt hat,
zeigt von Neuem, wie sehr sie die Geringschätzung verdient, mit
welcher hervorragende Männer, wie Schopenhauer, sie stets be-
handelt haben.
Betrachten wir nun, wie die Ph. d. U. das in der zweiten
Auflage mit in dieses Capitel hineingeschobene Zugeständniss
soweit zu verclausuliren versucht, um den Riss nothdürftig zu
verkleistern und nicht das ganze Buch von A bis Z umarbeiten
zu müssen. Dieser Verclausulirungen sind auf S. 79 der 3. Auflage
fünf angegeben, von denen aber nur die erste und fünfte wirklich
die Behauptung einer Einschränkung für das Erklärungsprincip
enthalten, während die 2., 3. und 4. Bedenken sind, welche sich
nicht gegen die Brauchbarkeit des Princips zur Erklärung, son-
dern gegen die Schwierigkeiten richten, welchen die Frage nach
der Entstehung der fraglichen Prädispositionen in gewissen
Fällen oder in früheren Stadien der Entwickelungsgeschichte
begegnet. Beides ist jedoch wohl aus einander zu halten; zu-
nächst ist zu untersuchen, wie weit die Sphäre des durch diese
Hypothese zu Erklärenden sich erstreckt, und dann erst in zweiter
Reihe ist nach Aufhellung der Genesis dessen zu streben, was
zunächst als Thatsache behufs der Erklärung der Erscheinungen
hypothetisch vorausgesetzt wurde. Dunkelheiten, welche in der
Genesis bleiben dürften, würden bei dem gegenwärtigen Stande
unserer Kenntniss durchaus keine entscheidende Instanz gegen
die Hypothese selbst abgeben können, falls nur das in dieser
Supponirte wirklich zur Erklärung der Erscheinungen in der
Hauptsache hinreicht. Und diess ist in der That der Fall.
Die erste Clausel hat zu bemerken, „dass alle Abweichungen
174
von den gewöhnlichen Grundformen des Instincts, insofern sie nicht
bewusster Ueberlegung zugeschrieben werden können, in diesem
(molecularen Hirn-) Mechanismus nicht prädisponirt sind"
(S. 79). Man kann diess zugeben, wenn man sich erstens über
die „Grundformen'^ des Instincts richtig verständigt und wenn
man zweitens die Modificationen der bewussten zweckmässigen
Ueberlegung bei Thieren nicht zu gering anschlägt, denn dann
bleibt in der That nichts von unerklärten Erscheinungen übrig.
Wenn die Bienen an den Wänden und der Decke nicht sechs-
seitige, sondern fünfseitige Prismen bauen, so ist das nicht eine
einmalige, unter ganz abnormen Umständen vorkommende, son-
dern eine stetig sich wiederholende, gesetzmässige Modification
des Instincts und demgemäss die fünfseitige Zelle am Rande
ebensogut als typische Grundform der Instincttliätigkeit anzusehen
wie die sechsseitige im Innern. Jeden Instinct auf eine einzige
Grundform beschränken, hiesse der Natur eine Armuth aufzwingen,
über die sie erhaben ist; überall wo modificirte Umstände in
congruenter Form unter den natürlichen Lebensverhältnissen
wiederkehren, werden auch in den betreffenden Instincten mit
Sicherheit sich typische Modificationen des Verfahrens heraus-
bilden. Erst so gefasst wird das Bild einer Claviatur von Prä-
dispositionen im Gehirn, w^o die Tasten die Motive, die klingenden
Saiten die Instincte sind (Ph. d. U. S. 73 — 74), einigermaassen
der Fülle des Lebens entsprechend; so bleibt aber auch nichts
Wunderbares dabei und ist die Forderung vollständig gewahrt,
dass die gewöhnliche und die modificirte Handlungsweise (inso-
fern beide gesetzmässig auf gleiche Motive wiederkehren) aus
derselben Quelle stammen (S. 76 oben). Betrachten wir tiefer
stehende Thiere, bei denen ein nennenswerthes Maass bewusster
Ueberlegung nicht vorauszusetzen ist, so werden sich die Func-
tionen des gesammten Lebens in einem ziemlich engen Kreise
typischer Formen bewegen, wenden wir aber unsern Blick auf
klügere und höher stehende Thiere (oder selbst nur auf die
klugen Arten der Insecten), so wird der Kreis von typisch niodifi-
cirten Instinctbandlungen in immer w^achsendem Maasse durch
immer feinere Modificationen und Accommodationen an die Be-
schaffenheit der concreten Fälle bereichert, welche aus der Mit-
175
Wirkung der bewussten zweckmässig eingreifenden Ueberlegnng
herrühren (vgl. S. 75 nnten bis 76 oben), und durch diese oft
schwer zu entwirrenden und vermittelst Gewohnheit und Vererbung
flüssig in einander übergehenden Combinationen von Instinct und
bewusster Ueberlegung erhält erst die Lebenssphäre der höheren
Thiere jene Breite und Mannichfaltigkeit, die im Menschen ihr
Maximum auf der Erde erreicht. Hiermit fallen aber die Ein-
wendungen in sich zusammen, welche die Ph. d. U. gegen die
Erklärung des Instincts durch einen molecularen Gehirnmecha-
nismus auf S. 73 — 77 vorbringt, und mit der Nothwendigkeit der
Elimination dieser Hypothese fällt wiederum der Antrieb hin-
weg, zu der anderartigen Hypothese eines rein spirituellen
Processes ohne materielles Substrat tiberzugehen, wo die unbewusste
hellsehende Intuition des Zw^ecks als Vermittlungsglied zwischen
dem Motiv und der Instincthandlung dienen soll. Dass die
„mechanische Leitung und Umwandlung der Schwingungen des
vorgestellten Motivs in die Schwingungen der gewollten Handlung
im Gehirn", welche Umwandlung eben durch die eingegrabene
moleculare Prädisposition bestimmt ist, nicht als solche, sondern
nur nach ihrem Resultat in's Bewusstsein fällt, ist gar nicht „wunder-
bar" (S. 77), sondern entspricht vollständig allen gleichen Vorgängen
der Motivation im menschlichen Charakter; alle Processe der Art,
auch die mächtigsten, bleiben unbewusst, und nur ihre Resultate
drängen sich dann mit solcher Kraft in's Bewusstsein, dass jeder
Widerstand der bewussten Vernunft gegen dieselben mitunter
vergeblich wird. Ist die typische Vorstellungsform, die den Inhalt
der Instincthandlung bildet, nicht eingestaltig, sondern mehr-
gestaltig, d. h. in verschiedenen, an modiiicirte Motive angepassten
Modificationen vorhanden, so ist natürlich der moleculare Um-
wandlungsprocess der Schwingungen nur vermittelst einer Mehr-
heit von Hirnprädispositionen, welche verschiedenen Tasten der
Claviatur entsprechen, zu erklären (S. 77).
Su))ponirt man nun aber auf diese Weise polymorphe Instincte
för verschiedene modificirte Motive, so hat man keinen Grund
mehr, mit der Ph. d. Unb. in der fünften (Uausel zu behaupten,
„dass der unbewusste Zweck stets stärker bleibt, als dieGanglien-
(oder Him-) Prädisposition" (S. 8(V), denn dieser unbewus<ste Zweck
176
wird in der That nur da erfüllt, wo die entsprechenden Prä-
dispositionen bereits vorhanden sind, oder wo die bewusste
üeberleg'ung ausreicht, für den von dem Bewusstsein erkannten
nächsten Zweck oder Mittelzweck zweckmässige Modificationen
an den Instinctfunctionen anzubringen. Unter den gewöhn-
lichen Verhältnissen des Thierlebens reichen diese beiden Be-
dingungen zu, um das Verhalten des Thieres zweckmässig zu
regeln, d. h. den unbewussten Zweck (des Daseins als solchen)
zu erfüllen ; thäten sie es bei einer Species nicht, so hätte dieselbe
ja längst aussterben müssen.
Treten aber ausnahmsweise Verhältnisse an ein Thier hcran^
welche sein bewusstes Verständniss nicht zu bewältigen vermag^
und für welches es keine Prädispositionen zu instinctiv-richtigem
Verhalten besitzt, so erweist sich in solchem Fall der „unbewusste
Zweck" als nicht stark genug, sich durchzusetzen, oder wie
die Ph. d. Unb. es ausdrücken würde, die individuelle Vorsehung
des Thieres lässt dasselbe im Stich, die teleologische Eingebung
des Unbewussten, welche ja keine Verpflichtung hat, immer zu
erscheinen, bleibt aus (S. 377 unten), kurz das Thier verhält
sich unzweckmässig, und verfehlt den Instinctzweck, wofern es
nicht gar an den Folgen seines unzweckmässigen Verhaltens zu
Grunde geht. Ein Mechanismus, wie künstlich er sein mag, passt
eben immer nur für gewisse Umstandscombinationen, und versagt
für Fälle, auf die er nicht construirt ist, den Dienst, oder wirkt
unzweckmässig, es sei denn, dass seine Leistung durch bewusste
Ueberlegung corrigirt wird. Gewiss kann man dabei nicht
sagen, dass der Instinct irre, aber man kann ebensowenig
sagen, dass er unfehlbar sei; er verrichtet wie jeder Mechanis-
mus mit Zuverlässigkeit eben nur den mehr oder minder eng
begrenzten Kreis von Aufgaben, für die er construirt ist. Hiernach
ist das zu corrigiren, was die Ph. d. Unb. über das Nichtirren-
können des Instincts vorbringt (vergl. S. 87 und 377 — 379).
Dass ein Mechanismus, wenn er wirkt, ohne Schwanken, Zögern
und Zweifeln mit mechanischer Sicherheit undPräcision wirkt,
ist selbstverständlich; dieser Umstand war am wenigsten geeignet,
für eine metaphysisch- spiritualistische Hypothese ausgebeutet zu
werden (S. 87), sobald nur erst einmal der Begriflf des molecularen
177
Hirninechanismns lüit der zu erklärenden Thatsaclie confrontlrt
worden war; denn diese besinnungslos zupackende Sicherheit
\nrkt für solche concrete Fälle, für die der Mechanismus nicht
passt, ebenso vorderblich (S. 125), wie in den Fällen der Zweck-
mässigkeit nützlich. Mit Recht aber wurde das Merkmal der
Rapidität der Reaction auf das Motiv als ein solches angesehen,
welches einen specifischeii Unterschied zwischen Handeln aus
Instinct und Ueberlegung begründet (S. 81 und 87), oder genauer
zwischen solchem Handeln, wo die Reaction auf das Motiv aus-
schliesslich durch das Functioniren instiuctiver oder charak-
terologischer Prädispositionen verursacht ist, und solchem, wo sich
zwischen die instictiv wirksamen Elemente eine mehr oder
minder lange Erwägung von Motiven, Zwecken und Mitteln ein-
schiebt, wo also das discursive Denken eine M e u g e Schritte
machen muss, die bei der blossen einfachen Instinctreaction weg-
fallen. Immerhin aber wird auch bei letzterer der mechanische
Umw^andlungsprocess der Schwingungen des Motivs in die Schwin-
gungen des instinctiven Wollens eine gewisse, w^enn auch kurze,
d. h. auf Bruchtheile einer Secunde beschränkte Zeit erfordera;
bei unserer physiologischen Auffassung des Vorganges ist die Zeit-
losigkeit oder Momentanität der Reaction unmöglich, und die
Thatsachen geben für eine solche Annahme gar keinen Anhalt,
da sie eben nur eine gewisse Rapidität der Reaction, d. h. eine
relativ kurze Dauer, bei blossen Instincthandlungen aussagen.
Die Verantwortung für die Annahme einer zeitlosen Momentanität
der unbewussten Intuition (S. 376) ist demnach lediglich der
metaphysischen Speculation zu überweisen und findet in der Er-
fahrung keine Stütze.
Wenn die Ph. d. Unb. S. 79 in der fünften Clausel sagt,
dass auch der fertige Hülfsmechanismus nicht etwa zu einer
bestimmten Instincthandlung necessitirt, sondern nur prä-
disponirt, so ist dies ganz richtig, insofern nämlich eine Con-
en rrenz mit anderen ebenfalls erregten Prädispositionen des
Gehirns stattfindet, mögen dies nun ebenfalls instinetive und
charakterologische oder zunächst Gedächtnissprädispositionen sein,
welche neue Motivreihen aus der Erinnerung in's Bewusstsein
einführen und so den Process aufs Neue compliciren. Gleichwohl
12
178
wird die Ph. d. Unb. auf ihrem entschieden deterministischen
Standpunkt am wenigsten bestreiten wollen, dass das Endresultat
aller durch das zuerst auftretende Motiv angeregten Processe eia
im strengen Sinne necessirtes sei, und nur, wenn man ein
einzelnes Element dieses dynamischen Compromisses heraus-
greift, kann man von dieser künstlichen Abstraction sagen,
dass sie allein nicht necessitire, sondern nur prädisponire. Wäre
ein Fall denkbar, wo durch ein Motiv nicht mehr als eine ein-
zige Prädisposition erregt würde, so würde diese auch für sich
allein necessitirend wirken. So viel ist aber klar, dass, wenn
man neben und hinter diesem mit naturgesetzlicher Nothwendig-
keit vor sich gehenden dynamischen Process der Motivation im
Gehirn noch ein metaphysisches Wesen als Superintendenten an-
gestellt denken wollte (Ph. d. Unb. S. 80 oben), dieses die ganz
klägliche Rolle des fünften Rades am Wagen spielen würde (vgL
das oben über den Motivationsprocess im Abschn. V. Gesagte).
Die Ph. d. Unb. setzt in dem Capitel „Instinct" noch ohne
weiteres voraus, dass ein solcher molecularer Gehirnmechanismus
dadurch entstanden gedacht werden müsse, dass die Vorsehung
oder Natur ein- für allemal bewusst oder unbewusst den Instinct-
zweck im Voraus gedacht und mit Rücksicht auf diesen Zweck
den betreffenden Mechanismus dem Individuum eingepflanzt habe
(S. 73 Mitte). Nach dem Abschnitt C der Ph. d. Unb. ist es
aber selbstverständlich, dass, wenn ein solcher Gehirnmechanismus
individuelle Existenz hat, er ebenso wie die gesammte innere und
äussere typische Organisation des Thieres, zu welcher er als
integrircnder Bestandtheil gehört, ererbt ist, so dass dann die
weitere Frage nur lauten kann, wie die Vorfahren zu diesem
Besitz gelangt sind, den sie durch Vererbung auf ihre Nachkommen
tibertragen haben. — Dass jeder liistinct einen integrirenden
Bestandtheil des Gattungstypus bildet, erkennt auch die Ph. d.
Unb. mehrfach an (z. B. S. 165); dass die Constanz des Gattungs-
typus aus der befestigten Vererbung entspringt, wird sie gewiss
nicht in Abrede steilen wollen; da hegt es doch nahe, auch die Con-
stanz der Instincte in derselben Species aus der befestigten Verer-
bung zu erklären und in dem fraglichen Zusatz (S. 78 unten bis 79
oben) wird in der That dieser Weg angedeutet. Nichtsdestoweniger
179
steht am Schluss des Capitels (S. 102) zu lesen, dass die Constanz
der Instincte aus der Constanz des Zweckes bei gleichen äusseren
Verhältnissen folge. Hier haben wir, wie oben, zwei Erklä-
rungsprincipien für dieselbe Sache, von denen schon eines allein
ausreicht. Da das physiologische Erklärungsprincip der Vererbung
ohnehin unabweisbar ist, so werden wir das teleologische um so
mehr zurückweisen dürfen, als das actuelle Vorhandensein
einer uubewussten Zweckvorstellung in den Instincten noch gar
nicht erwiesen ist, im Gegentheil durch das Erklärungsprincip der
ererbten Hirnprädispositionen selbst zu einer überflüssigen Hypo-
these geworden ist.
Fragen wir nun nach der E n t s t e h u n g der Hirnprädisposition
im Individuum, so stehen wir in erster Reihe dem Problem der
Vererbung gegenüber und hiergegen richtet sich die zweite der
erwähnten Clausein, indem sie besagt, „dass die Vererbung nur
möglich ist unter beständiger Leitung der embryonalen Ent-
wickelung durch die zweckmässige unbewusste Bildungsthätigkeit,
allerdings wieder beeinflusst durch die im Keim gegebenen Prä-
dispositionen" (S. 19). Wir haben oben im Abschnitt VI die Ver-
erbung zu ausführlich behandelt, um hier noch einmal darauf zu-
rückzukommen und können hier nur recapituliren, dass die in
der Erklärung der Thatsachen noch vorhandenen Schwierigkeiten
und Dunkelheiten durch die Annahme unmittelbarer metaphysischer
Eingriffe nicht gehoben oder aufgehellt werden können.
Hiernach bleibt nur die Frage übrig, wie in den Vorfahren
die zu vererbenden Gehirnprädispositionen entstanden seien, und
dieser Frage, gegen welche die 3te und 4te Clausel sich richtet,
haben wir nunmehr näher zu treten. Die Ursache dieser Ent-
stehung ist unzweifelhaft in einer allmählichen Steigerung der
vererbten Prädispositionen zu suchen, und, wie wir es an ein-
zelnen concreteu Beispielen schon in früheren Abschnitten
(S. 21 ff., 112 ff., 159 ff., 164 ff.) erläutert haben, bietet die
lange Generationenreihe von der niedrigsten protoplasmatischen
Monere bis zu den höchsten Thieren Zeit und Spielraum
genug, um ein solches Wachsthum frei von allen plötzlichen
Sprüngen zu denken. Das in der Urmonere durch die physi-
kalischen und chemischen Gesetze gegebene Verhalten gegen die
ISO
veracbiedenartigeü Reiae- bildet den Ausgangspunkt für diese Ent-
wickeluugsreihe , wie für jede aüdöre. und die von der Ph. d.
Unb. mit Reeht so stark betoute Uebereinstimmung von organischem
Bilden und Instinct wird durch diesen gemeinsamen Ausgangs-
punkt und die gemeinsamen Ursachen der Abänderung und
Steigerung erklärlieh; ebenso wird aber durch die inductiven
Beweise für diese Uebereinstimmung das für das organische
Bilden anerkannte Erklärungsprincip der Descendenztheorie auf
den Instinct übertragbar und so dienen die betreffenden Aus-
iithruugen der Ph. d. Unb. (S. 170—172, 435—440, 446—448)
ganz direkt zur Unterstützung unserer Behauptungen. Noch
deutlicher als bei Thieren treten die vermittelnden Uebergänge
bei den Pflanzen hervor, wo einerseits die bewusste Ueber-
legung gar nicht modificirend eingreifen kann und andererseits
ausgebildete Centralorgane fehlen. Hier springt der mecha-
nische Charakter der instinctiven Prädispositionen natürlich viel
greller in die Augen und verweisen wir deshalb besonders auf
die zuletzt citirten Stellen aus dem Capitel C IV. der Ph. d. Unb. —
Haben wir die natürliche Zuchtwahl als die wichtigste Ursache
für die fortschreitende physiologische Differenzirung der Organismen
erkannt, so wird sie es eben so gut für die fortschreitende Ge-
wandheit in der Benutzung der differenzirten Organe sein. Dies
ist um so einleuchtender, als auf den niederen Stufen des Thier-
reichs, wo bewusste Ueberlegung noch nicht weiter als Bestimmungs-
grund des Handelns berücksichtigt zu werden verdient, jede Aen-
derung des instinctiven Verhaltens mit einer Aenderung der physio-
logischen Differenzirung der Organe Hand in Hand geht.
Die letztere wäre für die Lebenszwecke des Thieres in vielen
Fällen werthlos, wenn nicht die rechte instinctive Benutzung
hinzuträte; die natürliche Zuchtwahl würde dann also auf die
Differenzirung und Vervollkommnung der Organe gar nicht wirken
können, wenn sie nicht vermittelst einer damit Hand in Hand
gehenden Veränderung der Instincte auf sie wirkte, denn erst
durch eine solche wird der Vortheil ausgenutzt, den jene im
Kampf ums Dasein zu bieten vermögen. Da es sich bei allen
solchen Abänderungen nur um minimale Modificationen handelt,
wie sie durch die natürlichen Differenzen der Individuen inner-
181 ^
halb derselben Art gegeben sind, so scheint das Zuhülferufen
teleologischer Eingriffe nicht erforderlich, d. h. es kann die Be-
hanptuDg der Ph. d. Unb. in der oten €iausel , dass der Instinct
ohne ererbten Hülfsmechanismus die Ursache der E n t s t e h u n^
des molecularen Hülfsmechamsmus in früheren Generationen ge-
wesen sein müsse, nicht zugegeben werden. Die Ph. d. Unb.
verkennt in dieser Behauptung wiederum die Möglichkeit höchst
complicirter zweckmässiger Resultate ohne teleologisches Prin-
cip wie durch allmähliche Addition nützlicher zufälliger Ab-
weichungen unter dem Einfluss der natürlichen Zuchtwahl.
In der That tritt aber zur Production individueller Differenzen
durch zufällige Einflüsse und zur natürlichen Auslese derselben
im Kampf um's Dasein noch ein anderes Princip von höchster
Wichtigkeit hinzu, ohne welche die Entstehung des Instincts nicht
zu verstehen wäre; dies ist bei geistig höher stehenden Thieren
(also schon bei Insecten, vielleicht auch noch weiter abwärts) <ler
Emfluss der bewussten Ucb er legung auf zweckmässige
Modiücationen des ererbten Instincts. Solche durch bewusste
Ueberlegung herbeigeführte Modiiicationen werden alsdann, wenn
sie sich als nützlich erprobt haben, den nachfolgenden Genera-
tionen theils durch Vererbung, theils durch Beispiel überliefert
und befestigen sich so durch Gewohnheit, dass sie zum integrirendeii
Bestandtheil des zu vererbenden Instincts werden. Sie addiren
sich durch Generationen hindurch ganz ebenso wie die durch
natürliche Zuchtwahl begiins^tigten zufälligen individuellen
Abweichungen, und stellen sich ebenso wie diese vorzugsweise
dann ein, wenn das Anpassungsgleichgewicht der bisherigen
Instincte einer Art an ihre Umgebung durch irgend welche
Aenderungen (Einwanderung neuer Thier- oder Pflanzenarten,
Aenderung des Klimas, Wechsel des Wohnorts u. s. w.j alterirt
wird, wo dann alle geistigen Kräfte der Species in Bewegung
gesetzt werden müssen, um ein neues, möglichst günstiges An-
passuugsgleichgewicht der Lebensgewohnheiten an die neuen
Verhältnisse herzustellen. Wie bei menschlichen Stämmen und
Staaten werden dann anch bei thierischen Specien gerade solche
Katastrophen, welche den Bestand der Arten bedrohen, zu Vehikela
beschleunigten Fortschritts, indem sie die im Schlendrian der
182
Oewohnheit eingeschlummerten Geisteskräfte zu energischer Be-
thätigung anspornen.
Im concreten Falle mag es bei tieferstehenden Thieren, in
deren Seelenvorgänge wir keinen rechten Einblick haben, schwer
genug zu entscheiden sein, wie viel von den Aenderungen der
Instincte dem blossen Ertolg der natürlichen Zuchtwahl und wie
Tiel der Addition von zweckmässigen Modificationen aus bewusster
Ueberlegung zuzuschreiben sei; es dürfte dies um so schwieriger
sein, als in der That meistens eine enge Verquickung beider Ur-
sachen stattgehabt haben mag, und als die Erprobung, Bewährung
und Erhaltung der zweckmässigen Modificationen aus bewusster
Ueberlegung selbst eine natürliche Auslese der glücklichsten Ge-
danken aus den minder glücklichen oder ganz unbrauchbaren
genannt werden kann. Aber gleichviel, ob im besonderen Falle
die Abänderungen mehr aus der Erhaltung zufälliger individueller
Differenzen oder mehr aus rationellen Modificationen durch bewusste
Ueberlegung herstammen, auf alle Fälle ist es das zur Ge-
wohnheitwerden neu auftretender kleiner Abweichungen,
was die alten ererbten Formen der Instincte moditicirt und bei
der Addition durch Generationen hindurch völlig umgestalten oder
höher entwickeln kann. In diesem Sinne kann man sagen, jeder
Instinct sei seiner Entstehung nach in letzter Instanz ererbte
Gewohnheit, und das alte Sprüchwort: „Gewohnheit ist die
zweite Natur" erhält dadurch die unerwartete Ergänzung, dass
die Gewohnheit zugleich auch das Prius und der Ursprung der
ersten Natur, d. h. des Instincts ist. Denn immer ist es die
Gewohnheit, d. h. die häufige Wiederholung der nämlichen
Function, was die gleichviel wie hervorgerufene Handlungsweise
den Centralorganen des Nervensystems so fest eingräbt, dass die
so entstandene Prädisposition vererbungsfähig wird.
Was die empirischen Beläge zu den vorgetragenen Ansichten
betrifft, 80 verweise ich vor Allem auf Darwin's Capitel über den
Instinct in seiner „Entstehung der Arten" und nebenbei auch
auf das Capitel „Philosophie der Vogelnester" in Wallace's „Bei-
trägen zur l'h. d. nat. Zuchtwahl". Letzterer hebt den Einfluss
der bewussten Ueberlegung auf die Modificationen des Nestbau-
instincts bei Vögeln gut hervor, nur befindet er sich in dem
183
Irrthunij als würde die so erlangte Gewohnheit bloss durch Lehre
und Beispiel auf die folgenden Generationen tiberliefert ; von einer
gleichzeitigen Vererbung der durch diese Gewohnheit eingegra-
benen Hiniprädisposition weiss er nichts und sucht deshalb, wie
oben erwähnt, den angeborenen Instinct möglichst zu leugnen.
Wir können hier nicht daran denken, ein vollständiges
empirisches Material herbeizuschaffen, sondern fügen nur einige
Beispiele zur Erläuterung des im Allgemeinen Gesagten bei.
Der Amerikanische Kukuk baut ein eigenes Nest und finden
sich in diesem Junge in verschiedenen Altersstadien und noch
bebrtitete Eier. Zugleich sind aber auch sichere Beispiele bekannt
dass dieser Vogel ausnahmsweise, wie es auch von manchen
anderen Vogelarten constatirt ist, seine Eier in fremde Nester lege.
Dass auch bei unserm Kukuk neuerdings Fälle bemerkt sind
wo er seine Eier selbst bebrütet und die Jungen selbst füttert,
scheint zu beweisen, dass die früheren Vorfahren desselben ähnlich
dem amerikanischen Kukuk gelebt haben. Letzterer legt Eier,
die seiner Grösse angemessen sind, ersterer hingegen viel kleinere
Eier. Die Vermittelung bildet der australische Broncekukuk,
dessen Eier sowohl in Grösse wie in Farbe bedeutende individuelle
Verschiedenheiten zeigen. Da nun unser Kukuk vorwiegend in
den Nestern kleinerer Vögel Gelegenheit fand, seine Eier abzu-
legen, so mussten diejenigen Individuen, welche die kleinsten
Eier legten, am meisten Nachkommenschaft erzielen, und die aus
den kleinsten Eiern entsprossenen jungen Kukuke erbten die
Eigenschaft, kleine Eier zu legen. Ebenso wenn sich von den
individuellen Abweichungen der Färbung der Eier einige durch
Aehnlichkeit mit den entsprechenden Nesteiern der Pflegeeltern
nützlich erwiesen, so musste die natürliche Zuchtwahl die Aehn-
lichkeit dieser Färbung steigern. Ob wirklich ein und dasselbe
Kukukweibchen die Fähigkeit besitzt, Eier von ganz verschie-
dener Imitation der Färbung zu legen, oder ob diese Unter-
schiede sich nicht vielmehr aut verschiedene Individuen
als Familienerbeigenthümlichkeit vertheilen ; ob ferner der Kukuk
sein Ei nach den betreffenden Nesteiern bildet, oder ob er nicht
vielmehr sich ein Nest nach der feststehenden, also ihm be-
kannten Färbung seiner Eier aussucht, dies alles sind Fra-
184
gen, welche zu ihrer Lösung erst noch genaueren Studiums be-
dürien.
Ein anderes Beispiel bietet die typische Form der Bienenjselle.
Die Hummeln verwenden ihre alten Cocons zur Aufnahme von
Honig, indem sie ihnen zuweilen kurze Wachsröhren anfügen;
auch fertigen sie einzelne abgesonderte und sehr unregelmässig ab-
gerundete Zellen von Wachs an. Zwischen der Hummel und
unserer Biene, wenngleich der ersteren etwas näher, steht nach
Körperbau und Zellenstructur die mexikanische Melipona domesücay
welche einen fast regelmässigen wächsernen Zellkuchen mit cjlin-
drischen Zellen bildet, in denen die Jungen gepflegt werden, der
aber ausserdem einige grosse annähernd kugelförmige Zellen zur
Honigaufnahme enthält. Letztere sind so nahe aneinander gertickty
dass an den aneinanderstossenden Stellen Kugelabschnitte fehlen,
und hier eine ebene Wachsschicht die Scheidewand bildet. Manche
Zellen haben zwei, andere auch drei solche ebene Berührungs-
flächen, und in letzterem Falle gruppiren sich diese drei Flächen
zu einer dreiseitigen Pyramide, welche nach Huber off'enbar als
ein rohes Abbild der dreiseitigen Basalpyramide an der Zelle
unserer Korbbiene zu betrachten ist. Denkt man sich nun die
Zellen der Melipona regelmässig in mehreren Schichten so grup-
pirt, dass sie sämmtlich drei Schnittflächen auf der einen Seite
und drei Schnittflächen auf der andern Seite hervorbringen, in
der Mitte aber zur Aufnahme von Honig oder Jungen hinreichend
verlängert sind, so muss diese Mitte nothwendig die Gestalt
eines sechsseitigen Prismas annehmen, und sämmtliche Winkel
müssen sich unter den gegebenen Voraussetzungen von selbst
ergeben, da sie durch die Zusammenlagerung und gegenseitige
Pressung und Abflachung der ursprünglich cylindrisch mit zwei
halbkugelförmigen Enden gedachten Zellen rein stereometrisch
bestimmt sind. Bedenkt man nun, dass Bienen ihre Arbeit stets
mit rundlichem Aushöhlen eines massiven Walls von Wachs
beginnen und erst zu guterletzt die Winkel scharf ausarbeiten,
um das Maximum von innerem Raum zur Honigaufnahme zu
gewinnen und das kostbare Material des Wachses nicht unnütz
stark in abgerundeten Ecken stehen zu lassen, bringt man ferner
in Anschlag, dass die mathematische Genauigkeit ihres Arbeits-
185
resnltats denn doch auch wohl häutig übertrieben worden ist, so
wird man es nicht unwahrscheinlich finden, dass frühere Vor-
fahren unserer Bienen dereinst in älmlich unvollkommener Weise
wie heute noch die Mexikanischen gebaut haben mögen und sidi
allmählich zur jetzigen vervollkommneten Bauart heraufgearbeitet
haben mögen. Dass die bewusste Ueberlegung, .der in den Dienst
:des Bautalents genommene Scharfsinn dieser klugen Thiere dabei
keine kleine Rolle gespielt haben mag, ist aus der verständigen
Art und Weise zu schliessen, mit welcher sich gegenwärtig die
Korbbienen künstlich veränderten Verhältnissen innerhalb ihres
Korbes zu accommodiren wissen.
Mit Recht ist beim Bauen der Bienen und überhaupt im
Leben der Insecteustaaten das wunderbare Ineinandergreifen der
Instincte der einzelnen Individuen hervorgehoben (Ph. d. ü.
S. 07—99) und betont worden, dass ein so einträchtiges Zu-
sammenwirken nicht von Antrieben der bewusstcn Ueberlegung,
sondern nur von instinctiven Functionen zu erwarten sei. Andrer-
seits wird man sich aber auch hüten müssen, die Mitwirkung
der bewiissten Verstandesthätigkeit bei der Ausführung solcher
instinctiven Functionen zu unterschätzen. Wir wissen, dass die
betreffenden höheren Insecten eine ziemlieh ausgebildete Zeichen-
sprache besitzen, dass die Individuen derselben Gesellschaft sich
persönlich kennen, dass eine gewisse hierarchische Rangordnung
unter ihnen besteht, welche in den Kasten der Araeisenstaaten
und in der Anstellung von Aufsehern und Ordnern bei der Arbeit
sichtbar wird. Wir müssen ferner berücksichtigen, dass die Stö-
rung,-welche bei modernen Menschen das einträchtige Znsammen-
wirken durch das prätentiöse Hervorkehren der Individualitäten
und durch die eitle Besserwisserei der Einzelnen erleidet, bei der
Gemeinschaft von Wesen, die ein derartig ausgebildetes Gefühl
der Persönlichkeit noch gar nicht besitzen, kaum zu erwarten
steht, und wir werden uns den Unterschied schon an einem uns
näher liegenden Beispiel klar machen können, wenn wir an die
instinctive Eintracht des Zusanmienwirkens bei einem auf dem
Kriegspfade befindlichen Trupp Indianer denken, wie sie durch
die Gemeinsamkeit des Zwecks, die Gleichheit der gewohnten
Mittel in seiner Verfolgung und die Stärke xJes Zugehörigkeit«-
386
getühls zu dem socialen Ganzen geschaffen wird. Je enger und
beschränkter der Kreis der zu verrichtenden Functionen ist, je
fester diese und die bestimmte Form der Arbeitstheilung als
schlummernde Gedächtnissvorstellungen und instinctive Triebe
dem Centralorgan des Nervensystems imprägnii-t sind, je weniger
das Gefühl der Individualität und das Bestreben, diese als solche
zur Geltung zu bringen, entwickelt ist, desto einfachere Zeichen
werden zur Verständigung über die der Willkür überlassenen
Elemente der Cooporation genügen, und desto grösser wird die
Eintracht des Zusammenwirkens und die Zweckmässigkeit des
Ineinandergreifeus der Functionen der Einzelnen sein. Da alle
diese Bedingungen in den Insectenstaaten in hohem Maasse erfüllt
sind, so scheint es nicht erforderlich, ausser den prädispositionellen
Instincten und der Verständigung durch Zeichensprache noch
specielle teleologische Inspirationen eines metaphysischen Un-
bewussten als Regulator der Cooporation zu supponiren.
„Jedes Thier wählt gerade diejenigen pflanzlichen oder
thierischen Stoffe zu seiner Nahrung aus, welche seiner Ver-
dauungseiurichtung entsprechen" (Ph. d. Unb. S. 89). Der Gesichts-
eindruck, häufiger noch der Geruchseindruck, erweckt in dem
Thier instinctiv ein Verlangen nach der Speise oder einen Wider-
willen gegen dieselbe. Offenbar haben wir es hier mit ererbten
Prädispositionen zu thuu, mag nun die Nahrung des Thieres
auf eine einzige Pflanzenart oder Thierart beschränkt sein, oder
zahlreiche Classen von Naturprodukten umfassen. Ebenso gewiss
ist es, dass diese instinctive Zu- oder Abneigung, die durch den
Gesichts- oder Geruchseindruck erweckt wird, ein Resultat des-
selben Processes natürlicher Zuchtwahl ist, aus welchem die
genaue Anpassung der Fress- und Verdauungswerkzeuge an die
Art der Nahrung hervorgegangen ist. Im Allgemeinen frisst
jedes Thier nur die Art von Nahrung, an die es selbst oder seine
Vorfahren gewöhnt sind, und verschmäht alle andere (der Bauer
macht es ja nach dem Sprüchwort ebenso); erweisen sich nun
gar gewisse Classen von Nahrungsmitteln, die dem vorwitzigen
Versuch des Abweichens vom Gewohnten nahe liegen, als
schädlich, so wird sich der Widerwille gegen diese steigern, eines-
theils dadurch, dass Individuen nach ihren Üblen Erfahrungen
187
weiter leben und den so erworbenen positiven Widerwillen auf
ihre Nachkommen vererben, anderntheils aber dadurch, dass die
vorwitzigen ihren Abfall von der ererbten Tradition mit dem
Leben bezahlen müssen und somit nur die in dieser Hinsicht vor-
sichtigeren ihre Vorsicht und ihre Abneigung vererben. Der
erstere Fall findet statt bei giftigen Kräutern auf der Weide oder
giftigen Früchten im Walde; der letztere Fall beim Verhalten der
Hechte und anderer Raubfische gegen Stichlinge oder der Raub-
vögel gegen giftige Schlangen; beide Formen der Variation
wirken zusammen um die Scheu der verfolgten Thiere vor den
sie verfolgenden Raubthieren oder Menschen zu constituiren.
Dass solche instinctive Abneigung, Scheu oder Furcht in Bezug
auf Nahrungsmittel oder Feinde Resultat eines natürlichen Pro-
cesses und nicht einer metaphysischen Inspiration ist, geht schon
daraus hervor, dass alle Thiere nur ^'or denjenigen giftigen Natur-
produkten oder gefährlichen Gegnern Scheu haben, welche ihre
Species Gelegenheit gehabt hat, durch lange Erfahrung als schädlich
und geiährlich kennen zu lernen. Wird eine Familie dann durch
Domestication oder Ortswechsel diesen Einflüssen entrückt, so bleibt
die instinctive Prädisposition zwar noch längere Zeit in der Ver-
erbung erhalten, schwächt sich aber nach und nach mehr und
mehr ab, um dafür den unter den neuen Verhältnissen hinzu-
erworbenen (z. B. domesticirten oder zahmen) Instincten Platz zu
machen. Daraus, dass minder scheue, furchtsame oder vorsichtige
Individuen gewissen Gefahren gegenüber allemal ihrem Vorwitz
zum Opfer fallen und dass hierdurch eine natürliche Auslese der
vorsichtigeren stattfindet, die ihre Scheu vererben, erklärt sich
sehr wohl die Entstehung von instinctiver Scheu vor gewissen
verderblichen Gefahren, ohne dass die Entstehung der Prädispo-
sitionen zu solchen „Unterlassungen, bei denen Zuwiderhandlungen
stets den Tod zur Folge haben", nothwendig ein zweckthätiges
Bilden zur Erklärung erforderte, wie die Ph. d. Unb. in der 4ten
der vorerwähnten Clausein behauptet (S. 79).
Noch weniger kann man dies bei den auf die Fortpflanzung
(beziehungsweise bei niederen Thieren auch auf die Metamor-
phose) bezüglichen Instincten zugeben, welche, wie es bei niederen
Thieren gewöhnlich ist, nur Ein Mal in jedem individuellen
188
Lebenslauf zum Functioniren gelangen (Fh. d. IJab. S. 79);
kann auch die Gewohnheit hier nieht in dem gebräuchlichen
Sinne einer öfteren Wiederholung der Function von Seiten des-
selben Individuums wirken, so tritt an ihre Stelle eine durcJh
die Ausnahmslosigkeit des Vorgangs durch lange Genecationen-
reihen hindurch um so stärker befestigte Vererbung, und gi-ade
bei den Fortpflanzungsinstincten erklärt sich die modificirte Form
derselben sehr leicht durch natürliche Zuchtwahl aus derjenigen
Form, welche diese Instincte in der Stammform der betreffenden
Species besassen (wie wenn z. ß. Specien, in welchen Männchen
und Weibchen sich durchaus unähnlich sehen, sich allmählich aus
einer Stammform entwickeln, in welcher dies nicht der Fall i^t^
durch welclie allmähliche Umwandlung aber eben das Wunder-
bare einer instinctiven Begattungstendenz zwischen ganz unähn-
lichen Organismen verschwindet). Aus dieser Entstehungsart er-
giebt sich aber, dass auch hier da>s Hellsehen des Instincts in
Bezug auf den Zweck, dem es unbewusster Weise dient, blosser
Schein für den Beobachter ist, während in der That die instinc-
tive Handlungsweise nur der Ausfiuss einer ererbten Hirn- oder
Ganglienprädisposition ist, die sich in den Vorfahren dadurch
entwickelt hat, dass sich individuelle Abweichungen addirten,
welche sämmtlich, sowohl einzeln als zusammengenommen, die
Species im Kampf um's Dasein günt^tiger stellten, als sie vorher
stand.
Ganz dasselbe gilt in Bezug auf das Verhalten der Tliieiie
zu künftigen Witterungsänderungen, welche in die Oekonomie
ihres Lebens mächtig eingreifen (Ph. d. Unb. S. 90—91). Die
Ph. d. Unb. gesteht zu, dass irgend ein Motiv da sein müsse, auf
welches der Instinct reagirt, und dass in solchen Fällen dieses
Motiv in einer Gefühlswahrnehmung gegenwärtiger atmosphärischer
Zustände gesucht werden müsse, welche, wenn wir sie ebenso
wahrnehmen könnten, uns als Symptom der bevorstehenden
Witterungsänderung gelten würden. Obwohl nun die meisten
Thiere, welche sich durch solche Einflüsse bestimmen lassen, un-
zweifelhaft nicht eine solche Folgerung an ihre Gefühlswahr-
nehmung knüpfen, so handeln sie doch instinctiv so, als ob sie
die Folgen der wahrgenommenen Symptome im Bewusstsein hätten
189
und ihre Vorkehrungen dagegen träfen. Hieraus folgt aber nur,
dass sie in ihrem Gehirn eine ererbte Prädisposition zu solchen
für das Bestehen ihrer Species nützlichen, vielleicht gar unent-
behrlichen Handlungsweisen besitzen, welche auf das eintretende
Motiv sofort mit dem Triebe zu der entsprechenden Instinct-
bandlung reagirt; es folgt aber nicht daraus, dass sie den Zweck
des Instincts, den ihr Bewusstsein nicht kennt, durch unbew^usstes
Hellsehen actuell erschauen.
Wenn die Erklärung der Erscheinungen des Instincts nach
dem Schelling'schen Ausspruch als „wahrer Probirstein ächter
Philosophie'^ zu betrachten ist (Ph. d. Unb. S. 102), so müssen
wir das Resume dieses Abschnittes dahin ziehen, dass die Ph. d.
Unb. sich in diesem Kapitel an diesem Probirstein nicht als acht
erwiesen hat, da sie ein unhaltbares teleologisch-metaphysisches
Erklärungsprincip als das wesentUche (in der ersten Auflage als
das alleinige) hinstellt und das w^ahre naturw^issenschaftliche
Erklärungsprincip nur als untergeordnete Hülfshypothese aus dem
Abschnitt C in die späteren Auflagen mit hereinzieht, ohne durch
diese Concession mehr zu erreichen, als eine deutlichere Ent-
hüllung der Discrepanz zwischen den Abschnitten A und C. Nur
derjenige Leser der Ph. d. Unb., welcher die fundamentale
Bedeutung des Capitels über den Instinct für die gesammten
Entwickelungen des Werkes erkannt hat, wird die Tragweite
einer kritischen Elimination des metaphysisch-teleologischen Er-
klärungsprincips aus der Auflösung dieses Problems und der Sub-
stitution desselben durch ein physiologisches Erklärungspiincip zu
ermessen vermögen.
XL
Die Instincte der untergeordneten Central-
Organe des Nervensystems.
Die Ph. d. Unb. plaidirt in dem Cap. A I mit Recht für
Anerkennung einer relativen Selbstständigkeit der untergeordneten
Centralorgane des Nervensystems unbeschadet der Thatsache, dass
in der aufsteigenden Reihe des Thierreichs die Centralisation
für die willkürlichen Bewegungen beständig wächst (S. 56).
Die Analogie der niederen Thiere, bei welchen die Selbstständig-
keit und Unabhängigkeit der einzelnen Ganglien von einander
sehr gross ist, macht zum Theil erst die physiologischen und
pathologischen Thatsachen beim Menschen und den höheren
Säugethieren verständlich. Wenn ein Insect, dem man das Hinter-
theil abschneidet, nichtsdestoweniger den Act des Fressens fort-
setzt, „wenn sogar Fangheuschrecken mit abgeschnittenen Köpfen
noch gerade wie unversehrte tagelang ihre Weibchen aufsuchen,
finden und sich mit ihnen begatten , so ist wohl klar, dass der
Wille zum Fressen ein Act des Schlundringes, der Wille zur Be-
gattung aber wenigstens in diesen Fällen ein Act anderer Gang-
lienknoten des Rumpfes gewesen sei" (S. 54). Die betreffenden
Willensakte waren aber zugleich Functionen der beiden wichtig-
sten und allgemeinsten Instincte und wir müssen somit folgern,
dass auch die Instincte, d. h. die molecularen Prädispositionen
zu gewissen Handlungsweisen, in den gegebenen Beispielen ihren
Sitz in verschiedenen Centraltheilen des Nervensystems hatten.
Als solche Instincte untergeordneter Nerrencentra sind nun auch
191
alle die in dem Cap. A I angeführten selbstständigen Functionen
des Rückenmarks und der Ganglien in höheren Thieren und im
Menschen zu betrachten. AVenn ein ausgeschnittenes und ausge-
gespritztes Froschherz noch Stunden lang weiterschlägt, so ist
die Ursache nirgends anders zu suchen, als in den Prädispo-
sitionen der Herzganglien zu einer rhythmischen Functionsweise,
welche die Muskeitäsern des Herzens zu Contractionen von dem-
selben Rhythmus anregt (Ph. d. U. S. 109). Eine solche Gang-
lienprädisposition , deren typische Bethätigung so sehr den
Charakter der Spontaneität trägt, als die instinctive Willens-
äusserung eines Thieres es nur immer vermag, muss ebenso un-
zweifelhaft 1 n s t i n c t genannt werden, als ihre Function Wille,
da die unbewusste Zweckmässigkeit ihrer Leistungen nicht in
Frage zu ziehen ist. Zweifelsohne wird auch hier die Perception
irgendwelchen Reizes, d. h. eine Empfindung als Motiv für
das Eintreten und die Fortdauer der Function vorhanden sein
(ebd. S. 124), wenn wir den betreffenden Reiz auch noch nicht genauer
angeben können ; ob und in wiefern aber eine actuelle Vorstellung
des Willensinhalts als Summationsphänomen der den Ganglien-
willen constituirenden Molecularwillen zu Stande kommt, das
möchte schwer zu behaupten sein, da uns alle Anhaltspunkte zu
einer solchen Behauptung fehlen. Keinenfalls kann die Berufung
der Ph. d. Unb. (S. 109) auf „die unbewusste Vorstellung bei
Austührung der willkürlichen Bewegung'^ einen solchen Anhalt-
punkt gewähren, da wir diese Hypothese der Ph. d. Unb., wie
sie in Cap. A II entwickelt ist, schon oben (Abschn. VII, S. 112
bis 115) als unbegründet nachgewiesen haben.
Dasselbe wie von der Herzbewegung gilt natürlich von den
Bewegungen des Magens und Darms und von dem Tonus der
Eingeweide, Gelasse und Sehnen in Bezug auf das sympathische
Nervensystem, sowie von den Athembewegungen in Bezug aut das
verlängerte Mark ; ebenso gilt es in Bezug auf das kleine Gehirn
von jenen spontanen Bewegungen und Handlungen, welche Vögel
und Säugethiere mit exstirpirtem Grosshirn vornehmen , wie das
Unterstecken des Koples unter den Flügel beim Schlafen, das
Schütteln und Putzen des Gefieders nach dem Erwachen, das
Umherlaufen etc. (Ph. d. U. S. 58). Das Kleinhirn leistet aber noch
1^2
weit meht\ dm e§ Vi^ei^^upt das Gentralorgan def willktirli^hetf
Beweguugen ist und diese instinctiv richtig besorgt, sobald
ilim eine allgeitiein gehaltene telegraphische Ordre vom G-rosshim
ztigekommen ist , welche als ein die Instinctfunction auslösender
Reiz oder Motiv dient (ebd. S. 118 — 119). Erstreckt sich die Ordre
auf eine dauernde Thätigkeit, so kann diese auch dann noch
fortgesetzt werden, wenn das Grosshirn durch Schlaf- oder Be-
wnsstlosigkeit depoteuzirt ist (z. B. das Weitermarschiren von
Soldaten, die auf dem Marsch eingeschlafen sind, das Nacht-
wandeln, bewusstloses Abspielen von auswendig gelernten Ciavier-
stücken u. s. w.); hierin offenbart sich ganz deutlich die Selbst^
stäudigkeit des Kleinhirns und seine relative Unabhängigkeit vom
Grosshirn (S. 120), und zugleich bestätigt sich die mechanische
Sicherheit und das rapide Functioniren der mechanischen Instinct-
prädispositionen im Gegensatz zu den bewussten detaillirten In-
tentionen des Grosshirns mit der Schwertälligkeit und AengSt-
lichkeit seiner discursiveu Reflexion (S. 117 und 119). Wie un-
richtig die Ph. d. Unb. diesen wohlbeachteten Gegensatz deutet,
davon scheint sie auf S. 120 selbst etwas zu ahnen, indem sie
die Aehnlichkeit der so durch allmähliches Einüben und Gewöh-
nung der Nervencentra zu erlangenden Fähigkeiten und Fertig-
keiten mit Instincthandlungen anerkennt, da sie „einem zur Natur
werden" wie diese und „für das Hirn unbewusst werden" wie
diese , dennoch aber nicht nur ihre Identität mit dem Instinct be-
streitet, sondern sie als „das gerade Gegen theil" desselben
betrachten zu müssen glaubt, weil nämlich hier das „zur Natur-
werden" und „Unbewusstwerden" auf Uebung und Gewöhnung,
also auf einem Gedächtniss der niederen Nervencentra, d. h.
auf von denselben erworbenen Prädispositionen beruht, während
der Instinct auf dem teleologischen Eingriff eines metaphysichen
Unbewussten beruhen soll, das durch Uebung und Gewohnheit
gar nicht berührt werden kann. In Wahrheit besteht ein Unter-
schied nicht in der Ursache der Fertigkeit (der moleculareu Prä-
disposition), sondern nur in der Art und Weise, wie man zu der-
selben gekommen ist, ob man sie nämlich selber erworben oder
von den Vorfahren ererbt hat, oder ob man sie theils ererbt,
theils selber weiter ausgebildet hat.
193
HieriDit sind wir schon in das Capitei von den Reflex-
bewegungen hinübergerathen, und in der That lässt sich Instinct
und Reflexiunction gar nicht trennen. Denn auch beim Instinct
muss irgend „ein äusseres Motiv zum Handeln immer vorhanden
sein, und die Handlung eriblgt auf dieses Motiv mit Noth-
wendigkeit, also reflectorisch, wenn auch (unter Umständen j
erst mittelbar durch verschiedene Reflexionen vermittelt" (Fh. d. U.
S. 164). Andererseits ist das Resultat des Capitels über die Reflex-
bewegungen, dass diese „die Instincthandlungen untergeordneter
Nervencentra" sind (S. 126), — wobei der Zusatz nicht als un-
bedingte Beschränkung zu verstehen ist, wie die Anerkeimuug
von „Reflexwirkungen des grossen Gehirns" beweist (S. 116
und 121). Gerade die letzteren sind sehr lehrreich, weil ihre
Beobachtung viele Vortheiie vor den pathologischen Experimenten
an Thieren bietet (S. 114), und wir wollen sie deshalb noch
etwas näher in's Auge fassen. — Wenn ein Knabe zum ersten Mal
in seinem Leben ein Glas von dem Tisch fallen sieht, an dem
er sitzt, so wird er sich vielleicht mit Ueberlegung dazu ent-
Bchliessen, nach demselben zu greifen, aber er wird mit seinem
Entschluss sicher zu spät kommen (S. 117 Z. 1). Begegnet ihm
aber die Sache öfter, so wird seine Ideenassociation sich abkürzen
und der Sinneseindruck des fallenden Glases endlich unmittelbar
die schnelle Handbewegung hervorrufen; d. h. die Hebung mrd
in seinem Gehirn eine Prädisposition zu reflectorischem
Handeln erzeugen. Wenn auch dieses Ereigniss nicht allgemein
und wichtig genug ist, um auf die Vererbung einer so erlangten
Prädisposition mit Sicherheit rechnen zu können, so wird doch
eine ähnlich entstandene Prädisposition, das reflectorische Erheben
des Armes zum Schutze des Auges gegen einen dasselbe be-
drohenden Schlag, unzweifelhaft vererbt, ebenso wie die reflec-
toriscben Bewegungen der Augenlieder, die sich schliessen, wenn
das Auge bedroht ist; letztere Bewegung insbesondere kann man
schon bei Säuglingen beobachten. Wie wir von allen körper-
lichen Fertigkeiten gesehen haben, dass sie erworben, vererbt
und als ererbte durch Hebung gesteigert werden (vgl. Abschn. VUj,
do werden wir es auch von allen jenen Fertigkeiten annehmen
müssen, welche, gleichviel ob sie im Grosshirn oder in niederen
li
194
Nervenceiitren ihren Sitz haben, in hervorragendem Grade einen
reflectorisfheu Charakter an sich tragen und deshalb im engeren
Sinne als Reflexbewegungen bezeichnet werden. Zum Theil sind
dieselben für die Lebensökonomie der betreffenden Thiere von der
grössten Wicktigkeit, zum Theil tragen sie den Charakter
schlitzender oder abwehrender Tliätigkeiten an sich; alle aber
sind in ihrer normalen Gestalt nützlich, zweckmässig? für die Be-
sitzer, und lässt »sich deshalb sehr wohl der Einfluss der natürlichen
Zuchtwahl auf die Ausbildung und Steigerung derselben begreifen.
Bei höheren Thieren aber werden dieselben auch schon
dadurch entwickelt, dass das Gehirn auf eine Sinneswahr-
nehmung hin sich einen bestimmten Zweck vorsetzt, die zu
seiner Erreichung nöthigen Bewegungen erst einzeln anordnet,
dann combinirt in kleineren und grösseren Gruppen befiehlt, bis
endlich die Einübung der niederen Nervencentra so weit gediehen
ist, dass es nur noch eines einzigen Impulses vom Gehirn bedarf,
um die gesammte Bewegung zur Ausfülirung zu bringen (S. 119^
vgl. auch o])en 8. 112 — 113). Es ist diese Elimination von
Zwischengliedern ein analoger Process wie bei der i\.bkürzung
der Ideenassociation, nur dass es sich hier um mehr als blosse
Vorstellungen, um Bewegungsimpulse handelt. Ist die Sinnes-
wahrnehmung, welche als erster Anstoss oder Eeiz zu der Hand-
lung wirkt, von der Art, dass sie auch in niederen Nervencentris
zur Perception gelangt, so kann die Elimination noch weiter
gehen und auch die Thätigkeit des Gehirns ganz und gar aus-
scheiden; denn wenn z.B. ein bestimmter Theil des Rückenmarks
oder Kleinhirns so und so oft eine bestimmte Wahrnehmung des
Muskclsinns der Beine percipirt und weiter geleitet hat, und
jedesmal vom Grosshirn als Rückantwort die Ordre zu einer
gewissen Bewegung der Beine (etwa zur Wahrung der Balance)
ilarauf erhalten hat, so wird sich eine prädispositionelle Association
der Perception jener Sensation mit der Tendenz zu dieser Be-
wegung in dem betreffenden Centraltheil entwickeln, und nach
der nöthigen Anzahl von Wiederholungen wird dieselbe hin-
reichend befestigt sein, um von selbst ohne eingreifenden Impuls
des Grosshinis in dem gewohnten Sinne zu functioniren; sobald
das Grossbim dies bemerkt, hört es ^anz von selbst a»i, sieh
195
mit der Sache noch weiter zu bemühen. Die Zweckmässigkeit
der reflectorischen Instincte der niederen Nervencentra erklärt
sich demnach einestheils als ein durch natürliche Zuchtwahl oder
Sonstige mechanische Compensationsprocesse entstandenes zweck-
massiges Resultat ohne teleologisches Princip, anderntheils als
ein Ausfluss oder als ein capul mordium trüherer bewusster
Zweckthätigkeit des Gross hi ms. Die von letzterer an-
gebahnten und eingeübten Associationen zwischen Eeiz und Reactiou
werden durch gewohnheitsmässige Eingrabung zu festen erblichen
Prädispositioneu oder Instincten; je näher die niederen Nerven-
centra dem Grosshirn liegen, durch je bessere Leitung sie mit
demselben verbunden sind, je leichter sie detaillirte Ordres vom
Grosshirn empfangen können, desto mehr zweckthätige Intelligenz
wird aus dem Grosshirn in sie überstrahlen und in Gestalt
instinctiver und veflectorischer Prädispositionen sich ablagern^
desto complicirtere und zweckmässigere und desto mehr
Instincte und Reflexanlagen werden sie also enthalten (S. 113)^
und desto bedeutender werden sie auch physiologisch nach Quantität
und Qualität entwickelt sein, — immer vorausgesetzt natürlich^
dass wir es mit Wesen zu thun haben, deren Grosshirn bereits
einer erheblichen Entfaltung bewusster Zweckthätigkeit fähig ist.
Diese Betrachtungsweise stimmt wohl mit der thatsächlichen An-
ordnung der Nervencentralorgane in den höheren Thieren vom
Grosshirn bis herunter zum Ende des Rückenmarks und dem lose
angefügten sympathischen Nervensystem überein, und dürfte un-
vermuthetes Licht auf die ursächlichen Momente dieser Anordnung
werfen.
Gerade an den Reflexbewegungen kommt der mechanische
Charakter des Instincts, die auf ein enges, vorherbestimmtes Gebiet
von Aufgaben beschränkte Zweckmässigkeit eines Mechanismus,
am unmittelbarsten und deutlichsten zur Anschauung, and deshalb
dienen gerade diese Ausführungen der Ph. d. ü. über die Reflex-
bewegungen bei Thieren (Cap. A V) und insbesondere bei den
Pflanzen (S. 441 — 444) recht schlagend zur Unterstützung unserer
Auffassung. Nur die an dieses Problem schon mitgebrachte ver-
kehrte Ansicht über den Instinct konnte den Blick für das ein-
lache Sach Verhältnis trüben. ^
IS*
196
Die Pb. d. ü. erkennt unter dem Hinweis auf den unmittel-
baren flüssigen Uebergang zwischen Hirnreflex und bewusster
Seeleuthätigkeit mit Recht die Einheiten des allen diesen Er-
scheinungen zu Grunde liegenden Erklarungsprincips an und
iährt fort : „Darum giebt es nur zwei consequente Betrachtungs-
weisen dieser Dinge; entweder die Seele ist überall nur
letztes Resultat materieller Vorgänge'^ (genauer: Summations-
phänoiuen psychischer oder innerlicher Atomfunctionen) ,,suwohl
im Hirn als im übrigen Nervenleben , dann müssen aber auch
die Zwecke tiberall geleugnet werden, wo sie nicht durch bewusste
Nerventhätigkeit gesetzt worden" (wir haben die Berichtigung
dieses hier offenbar für die Entscheidung maassgebend gewordenen
vordarwinschen Vorurtheils schon oft genug in's Auge gefasst), —
^,oder die Seele" (als ein immaterielles, d. h. von der Materie
geschiedenes, exclusiv spiritualistisches, nicht atoraistisch geglie-
dertes und mit den Atomen des Gehirns zusammenfallendes,
sondern einheitlich über denselben schwebendes Princip) „ist
überall das den materiellen Nervenvorgängen zu Grunde liegende,
sie schaffende und regelnde Princip" (S. 122), Wir sind der
Ansicht, dass die materiellen Nervenvorgänge durch die ihnen
immanenten Kräfte und durch die von aussen empfangenen Im-
pulse geschaffen und durch die den Atomen immanenten Gesetze
geregelt werden, dass alle Zweckmässigkeit für bestimmte Classen
von Fällen nicht durch unmittelbare teleologische Eingriffe, sondern
durch Mechanismen hervorgerufen wird, welche aus Anpassungs-
processeu (sei es durch natürliche Zuchtwahl, sei es durch bewusste
Accommodation) resultiren und dass diese Auffassung, wie wir
oben (S. 62 — 63) gezeigt haben , keineswegs mit dem die
Phänoraenalität der Materie und die subje(;tive Innerlichkeit der
metaphysischen Atome verkennenden Materialismus zu vermengen
ist. Dass die Ph. d. U. vor der Alternative eines metaphysiklosen
Materialismus oder einer teleologischen Metapliysik sich für die
letztere entschied, ist kein Wunder; dass sie aber vor dieser
Alternative zu stehen glaubte, kam nur daher, weil sie den rich-
tigen Mittelweg einer — trotz aller Anerkennung resultirender
phänomenaler Zweckmässigkeit — a t c 1 e o lo g i s c h e n Metaphysik
übersah , und sie übersah densell>en deshalb, weil sie, wenigsten»
1
97
in ihrer ersten Hälfte, die Tragweite und die philosophischen
Consequenzen der Descendenztheorie nicht verstand.
Was nun speciell bei den Reflexbewegungen die Gründe be-
trifft, weshalb die Ph. d. Unb. die Erklärung durch eigenthüm
liehe Mechanismen der Leitungsverhältnisse tür unmöglich hält,
so ist es, weil „sich gar keine Gesetze und Einrichtungen mehr
denken lassen, vvelche ein und denselben Strom bald auf nahe^
bald auf ferne Theile überspringen, bald in dieser, bald in jener
Keiheufolge die Reacticnen auf einander folgen lassen, ja sogar
auf einen einfachen Reiz ein abwechselndes Spiel der Antago-
nisten eintreten lassen könnten" (S. 123). Was das Spiel der
Antagonisten betrifft, so erinnern wir an die Ganglieninstiucte zu
rhythmischen Bewegungen, wie z. B. der Herzschlag eine ist;
werden rhythmische Bewegungen der Streckmuskeln und der
Beugemuskeln eines Gliedes so combinirt, dass sie im Rhythmus
ihrer Functionen alterniren, so ist das Spiel der Antagonisten
fertig. Auch beim Herzschlage ja bei allen coraplicirteren In-
stincten der niederen Nervencentra pflegt ein einfacher Reiz nicht
eine einfache Reaction auszulösen, sondern den Impuls zur Aus-
lösung einer ganzen geordneten Reihe von Actionen zu geben^
mögen nun diese so eng aneinandergerückt sein, dass sie dem
oberflächlichen Beobachter den Schein einer einzigen Totalaction
vorspiegeln, oder mögen sie auch für den Augenschein in eine
ausgedehntere Reihe auseinandergezogen sein (z. B. gedankenlos-
mechanisches Gehen einer ausgedehnten Strecke auf einmaligen
Befehl des Grosshirns). Eine verschiedene Reihenfolge der Re-
actionen wird nur bei Verschiedenheit des Reizes eintreten, für
welchen Fall eben diesen reflectorischen Instincten ebenso wie
den Instincten des Thierlebens ein ge^visser Polymorphismus zuzu-
gestehen ist. Ebenso hängt es von der Beschaffenheit des Reizes
ab, welchen Weg der Reiz nach Perception durch das nächste
Centralorgan nimmt, ob dieses die Reaction selber besorgt,
oder ob er weiter geleitet wird zu höheren Centren, die dann
ihrerseits die Reaction in die Hand nehmen; dies alles wird bei
gegebenem Reiz von der Gewöhnung und den ererbten Prädispo-
ßitionen fest bestimmt, wenngleich Stimmung und andere physio-
logische und pathologische Umstände einen gewissen Einfluss
198
darauf haben und das Resultat unter Umständen modificiren
werden. Ein „unerschöpflicher Reichthum von Combinationen" in
der Accommodation der Bewegungen an die Umstände findet im
strengen Wortsinn keinenfalls statt, wie die Ph. d. Unb. S. 124
behauptet; vielmehr zeigt die Beobachtung bei den tieferstehenden
Nerveneentris (Rückenmark und Ganglien) in der That der Er-
wartung gemäss (S. 124) nur die „stete Wiederkehr weniger
und immer sich gleichbleibender Bewegungscomplicationen"
und erst das verlängerte Mark, besonders aber das kleine Gehirn,
entfaltet einen grösseren Reichthum von Reflexactionen, wie z. B.
die Wahrung der Balance zeigt. Bedenkt man aber, dass aus
einer massigen Zahl vorhandener Prädispositionen sich durch
Reize, welche verschiedene derselben gleichzeitig afficiren, auf
rein mechanischem Wege schon eine sehr grosse Zahl von
Combinationen reflectorischer Wirkungen ergeben muss, erwägt
man ferner, dass, wie schon angedeutet, die meisten dieser Prä-
dispositionen selbst schon eine Anzahl von Modificationen als
polymorphe Reflexe unter sich begreifen werden, berücksichtigt
man endlich, eine wie colossale Menge von intellectuelleu und
charakterologischen Prädispositionen im Grosshirn zusammen-
gehäuft ist, so wird man keinen Anstoss mehr daran nehmen
können, dem Kleinhirn die jedenfalls unendlich viel ge-
ringereZahl molecularer Prädispositionen zuzuerkennen, welche
7.ur instinctiven und reflectorischen Centralregulation der Bewe-
gungen der willkürlichen Muskeln erforderlich ist.
Können wir sonach den allgemeinen Argumenten der Ph. d,
Unb. gegen die mechanische Erklärung der Reflexwirkungen
durch moleculare Prädispositionen keine Beweiskraft zugestehen,
so vermögen wir dies ebensowenig in Bezug auf das specielle
pathologische Beispiel auf S. 123-124. Dieses Beispiel beweist
allerdings, „dass die motorische Reaction nicht eine Folge der
vorgezeichneten Bahnen der Leitung des Reizes ist, sondern daser
der Strom, um (?) die zweckmässigen Reflexbewegungen zu Stande
tn bringen, nach Zerstörung der gewöhnlichen Leitungsbahnen
>jich neue Bahnen schafft, wenn nur nicht völlige Isola-
tion der Theile bewirkt ist^^ (S. 123). Die neue Leitungsrichtung
bestand vor Zerstörung der alten auch, und wird nach den all*
199
gemeinen Gesetzen der Fonpflauzimg dynamischer Bevvegungs-
ersclieinungen auch früher schon ei nen Nebenstrom von
dem Hauptstrom des fortgepflanzten Reizes abgelenkt haben, jedoch
einen Nebenstrom, der bei dem Verhältniss seines Leitungswider-
standes zu dem des Hauptstroms ausser Acht gelassen werden
kann. Wird nun dieses Verhältniss der Leitungswiderstände
plötzlich dadurch geändert, dass der Leitungswiderstand, den der
bisherige Hauptstrom findet, unendlich gross wird, d. h. tritt für
den Hauptstrom Isolation ein, so muss die bisher auf Haupt- und
Nebenstrom vert heilte lebendige Kraft des Reizes nunmehr
auf die Richtung des Nebenstroms allein wirken und w^ird hier
in vielen Fällen gross genug sein, um den vorhandenen Leitungs-
widerstand bequem zu überwinden, welcher vielleicht den Neben-
strom in der bisherigen Stärke vollständig absorbirte. So erklärt
sich das Entstehen neuer Leitungsbalmen auf rein mechanischem
Wege ohne alle teleologischen Eingriffe. In der That befindet
sich aber die Ph. d. Unb. im Irrthum, wenn sie voraussetzt, dass
eine mechanische Erklärung der Reflexbewegungen den Haupt-
accent auf die fest vorgezeichneten Bahnen der Leitung des
Reizes legen müsse, im Gegentheil erscheint der Weg, auf
welchem der Reiz von der Einmündung der sensiblen Nerven
in das Centralorgan zu den molecularen Prädispositionen seiner
Reflexfunctionen geleitet wird, als unmittelbar gleichgültig
und kommt es nur darauf an, dass er zu dieser Stelle des
Centralorgans gleichviel Avie hingelangt und hier das Functioniren
der molecularen Prädisposition provocirt.
Nachdem wir so die Instincte der niederen Nervencentra er-
ledigt haben, welche Contraction von quergestreiften oder ein-
fachen Muskelfasern zur Folge haben, also zur Erzeugung von
Bewegungen oder Tonus dienen, haben wir uns noch mit der
zweiten Hauptklasse von Ganglieninstincten zu beschäftigen, näm-
lich denjenigen, welche der Regulation der vegetativen Functionen
vorstehen (Ph. d. Unb. S. 56 unten ). „Die organischen Functionen,
insoweit sie überhaupt von Nerven abhängig sind, werden durch
sympathische Nervenfasern geleitet, welche dem bewussten
Willen nicht direkt unterworfen sind, sondern von den Ganglien-
knoten aus innervirt werden, von denen sie entspringen" (S. 149f
___200__
vgl. S. 128 obeo). Wie allen Nerven ohne Ausnahme solche
sympathische Nervenfasern beigemischt sind, so finden sich auch
überall im Körper Ganglienknoten vertheilt, welche den vegeta-
tiven Processen vorstehen, ja sogar, wir müssen annehmen, dass
diesem Zweck dienende und für diesen Zweck prädisponirte
Ganglienzellen im Rückenmark und in den dem Rückenmark
näher liegenden Theilen des Gehirns eingelagert sind. Diese
Ganglien und Ganglienzellen sind säramtlich direkt oder indirekt
durch Leitung mit einander und mit dem Grosshirn und den
Centralorganen der Sinneswahrnehmungen verbunden. Die Ver-
bindung mit dem Grosshirn muss auch aus dem mittelbaren Ein-
fluss bewusster Absichten, Vorstellungen und Gefühle auf die
vegetativen Functionen (S. 158 — 162) gefolgert werden, da das
Grossbirn eine direkte Einwirkung auf diese Vorgänge keinen-
falls haben kann, sondern nur vermittelst eines Einflusses auf
die betreffenden Ganglien. Jedenfalls hat man sich davor zu
hüten, den Einfluss der Ganglien auf die vegetativen Functiojien
in zu ausgedehntem Sinne zu fassen, da für einen grossen und
gewiss den grössten Theil derselben die rein physikalischen und
chemischen Vorgänge in Verbindung mit der gegebenen anatomisch-
physiologischen Organisation hinreichen, um das Leben im Gange
zu erhalten. Diese Bemerkung erhält noch besonderen Nachdruck
durch die Verweisung auf das Leben der Pflanze, wo die Ganglien
und Nerven fehlen, und nur ein schwacher Ersatz durch den
protoplasmatischen Inhalt der lebenden Zellen stattfindet; hier
tritt die blosse Mechanik der biologischen Processe viel deutlicher
hervor, und hier wird es auch jedenfalls viel früher als in der
Thierphysiologie gelingen, den causalen Zusammenhang der Lebens-
erscheinungen mit ihren physikalischen und chemischen Grund-
lagen genauer zu erforschen. Erst wenn dies auch im thierischen
Leben geschehen sein wird, wird es nröglich werden, den wirk-
lichen Antheil der Ganglien vermittelst der von ihnen ausgehenden
sympathischen Nervenfasern festzustellen; vorläufig müssen wir
uns mit dem Schluss begnügen, dass diese Apparate nicht ent-
wickelt worden wären , wenn sie ni(5ht den sie besitzenden Orga-
nismen nützlich und nothwendig wären. Zugleich müssen wir
al>er auch jetzt schon im Hinblick auf die bereits erwähnte mittel-
bare Einwirkung des Grosshims auf vegetative Functionen, sowie
auf viele andere schnelle Aenderungen derselben von instinctivem
oder reflectorischem Charakter, anerkennen, dass wir ausser den
physikalischen und chemischen Gesetzen zur Erklärung vieler
Lebenserscheinungen noch eines andern Erklärungsprincips be-
dürfen, welches vermittelst der sympathischen Nervenfasern aus
den Ganglien heraus wirkt. Wenngleich manche der Detailangaben
in dem Capitel über „Naturheilkraft" (A VI) Berichtigung von
Seiten der exacten Forschung erheischen, so ist doch im All-
gemeinen jenes Mehrbedürfniss daselbst hinreichend dargethan.
Dass aber der Einfluss der Ganglien und der in denselben für
diese wichtigen Lebensfunctionen niedergelegten instiuctiven oder re-
fiectorischen Prädispositionen unzureichend sei, um die Leistungen
der physikalischen und chemischen Gesetze an Ort und Stelle des
Vorgangs zur vollen Erklärung zu ergänzen, dass ist dort nirgends
dargethan; es ist im Gegentheil an entscheidenden Stellen der Ein-
fluss der Nerven und Ganglien übersprungen, um sofort zu
einem infiuxus idealis zu gelangen, so z. B. S. 143 oben, wenn
die die Veränderung der Secrete bestimmenden Veränderungen
der Beschaffenheit der secernirenden Häute und Organe sofort
als nur eine einzige endgültige Erklärung, nämlich in idealer
Richtung, zulassend bezeichnet wird, während doch an anderer
Stelle mit Recht der Einfluss des sympathischen Nervensystems
gerade auf die secernirenden Häute der Secrctionsorgane hervor-
gehoben wird. Ohne Zweifel ändern sich die vegetativen Func-
tionen (z. B. die Secrete) je nach dem P^ntwickelungsstadium des
Organismus (S. 142); hierin ist aber nur das schon oben be-
sprochene Gesetz der Vererbung wiederzuerkennen, dass eine be-
stimmte (sei es typische, sei es functionelle) Eigenthtimlichkeit der
elterlichen Organismen bei den Nachkommen in demselben Ent-
wickelungsstadium des individuellen Lebens aus der Latenz in
die Erscheinung tritt, in welchem sie bei den Eltern sich einge-
stellt hat. Lebensfunctionen , welche in ihren Veränderungen ge-
wissen Rythmen (sei es nach Jahreszeiten, Mondwechsel, Tages-
lauf oder unabhängig von diesen) unterworfen sind, w^erdeu na-
türlich in demselben Sinne stets als Prädispositionen vererbt werden,
welche das Gesetz des rythmischen Wechsels ihres Functionirens
202
schon latent in sich enthalten und werden sogar unter umständen,
wenn ihnen durch pathologische Verhältnisse das Functioniren eine
Zeitlang unmöglich gemacht ist, nach Ablauf dieser Suspension
mit derjenigen Modification der Functionen wieder einsetzen,
welche sie entfalten würden, wenn sie auch in der Zwischenzeit
weiter functionirt hätten (S. 129). Dies alles erfordert aber noch
keine teleologischen Eingriffe, sondern wie die rythmische Herz-
function und Darrafunction durch moleculare Ganglienprädisposi-
tionen erklärbar sind, so sind es auch die vegetativen ; wenn wir
zum Hohlwerden der Zähne oder zum Auftreten des Wahnsinns
in dem nämlichen Lebensalter wie bei dem Vater keine teleo-
logischen Eingriffe brauchen, so brauchen wir sie auch nicht für
das Eintreten derjenigen Summe von Modificationen der vegeta-
tiven Functionen, welche wir als Pubertät bezeichnen.
Die selbststäudigen Ganglienfunctionen, welche vegetativen
Zwecken dienen, haben grossentheils einen ebenso ausgesprochen
reflectorischen Charakter, wie die eigentlichen Reflex bewegungen.
Wenn der Speisebissen durch Berührung der Mundschleimhaut
und Zungenwarzen eine reichlichere Absonderung der Speichel-
drüsen hervorruft, so ist dies ein ebenso reflectorischer Process,
als wenn er durch Berührung mit den Schlundwänden Schling-
bewegungen provocirt; wenn das letztere Folge der Reaction
einer molecularen Prädisposition in einem untergeordneten Nerven-
centrum (verlängerten Mark) ist, so ist kein Grund zu bezweifeln,
dass dasselbe Erklärungsprincip auch auf den ersteren Vorgang
Anwendung findet. Wenn die steigende Blutwärme reflectorisch
gleichzeitig verstärkte Respirationsbewegungen und vermehrte Ab-
sonderung der Schweissdrüsen der Haut bewirkt (S. 140 — 141),
so ist die centrale Ursache in beiden parallelen Folgeerscheinungen
offenl)ar eine analoge. Je wichtiger solche Vorgänge für die
Lebensökonomie eines Thieres sind, oder für die seiner Vorfahren
waren, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass solche
instinctive oder refiectorische Ganglienprädispositionen, von denen
ein Theil unter dem Gesichtspunkt der Naturheilkraft, ein anderer
Theil unter dem der Lebenskraft oder organischen Bildunga-
thätigkeit zusammengefasst zu werden pflegen, sich durch natür-
liche Zuchtwahl entwickeln mussten.
203
Dem entsprechend sind die zur Regelung* des Ersatzes ver-
loren gegangener Körpertheile dienenden Prädispositionen um so
mehr ausgebildet, je nothwendiger dieser Ersatz in der Lebens-
ökonomie des Thieres ist; es sind aber die Prädispositionen für
Neubildung von Körpertheilen um so nothwendiger für einen
Organismus, erstens je leichter und je häufiger eine Beschädigung
oder ein Verlust derselben in Folge ihrer Structur und der
gesammten Lebensbeziehungen zu erwarten steht, und zweitens
je wichtiger der betreffende Körpertheil iür den Organismus in
seinem Kampf um die Existenz ist. Beide bestimmenden Einflüsse
zeigen sich in der empirischen Beobachtung bestätigt: der erstere
in der stärkeren Reproductionskraft w^enig widerstandsfähiger,
also weicher oder gebrechlicher niederer Thiere (S. 131), ins-
besondere in Bezug auf ihre am meisten der Verletzung exponirten
Theile (S. 130), der letztere in der verschiedenen Stärke der
Oanglien-Prädispositionen in demselben Thier, welche sich in der
Verschiedenheit der auf mehrere gleichzeitig verloren gegangene
Theile von ungleicher Wichtigkeit gerichteten Innervationsenergie
offenbart fS. 129).
Die Ph. d. U. bringt auf S. 127 und 130 hinlänglich frap-
pante Beispiele bei, welche die Wesensgleichheit und die Flüssigkeit
des Ueberganges zwischen Instinct und Naturheilkraft beweisen
und es in der That unmöglich erscheinen lassen, für beide ein
verschiedenes Erklärungsprincip zu statuiren. Da wir für den
Instinct ein anderes als die Ph. d. U. acceptirt haben, müssen
wir es auch für die Naturheilkraft, und die Uebereinstimmung
mit den durch unser Princip so wohl erklärbaren selbstständigen
Bewegungsfunctionen , die von niederen Nervencentri>> spontan
oder reflectorisch innervirt werden, lässt es keinem Zweifel unter-
liegen, dass auch die vegetativen Functionen, mag es sieh nun
inn Secretion, x\ssimilation, Regeneration oder Zeugung handeln,
insoweit sie nicht blosse Resultate der wirksam werdenden che-
mischen und physikalischen Gesetze sind, durch Innervations-
strörae regulirt werden, die von ererbten und in früheren Ge-
nerationen durch natürliche Zuchtwahl oder durch sonstige Com-
pensations- und Accommodationsprocesse entwickelten Ganglien-
prädispositioneu ausgehen. Das Resultat dieser Ganglienfunctioneu
204
ist die restituirende Realisation des Gattungstyp us, der vorher
durch äussere Störung alterirt war.
Wenn jeder Körperring eines Wasserregenwurms die Fähigkeit
besitzt, den Typus des ganzen Wurms zu restituiren, so folgt
daraus ohne Zweifel, dass dieser Typus in dem Ganglion jedes
Ringes irgendwie enthalten sein muss; nur ist die Alternative
(S. 128) unrichtig, dass er entweder als äussere Realisation oder
als actuelle ideale Vorstellung darin enthalten sein müsse, denn
es ist eine dritte Möglichkeit vergessen, welche dessenungeachtet
aus der Ph. d. U. selbst zu entnehmen ist. Dieselbe Stelle (S. 128)
besagt nämlich sehr treffend weiter, dass der Typus, nach welchem
die Regeneration vollzogen wird, in dem sich regenerirenden Thier-
bruchstück genau in derselben Weise oder Form enthalten sein
müsse, wie der Typus der sechsseitigen Bienenzelle in der Biene
vor seiner ersten Bethätigung, oder wie der Typus seines speci-
fischen Nestbaues oder seiner Sangesweise im Vogel.
Auf S. 78 — 79 (in dem mehrfach erwähnten Zusatz) ist
aber zu lesen, dass durch Gewohnheit eingegrabene und durch
Vererbung beiestigte Prädispositionen in Hirn und Ganglien be-
sonders den „immer wiederkehrenden Grundformen (Typen) der
Instincte, wie z. B. der sechsseitigen Gestalt der Bienenzelle," zu
Grunde liegen.
Als eine durch Vererbung befestigte moleculare Ganglien-
prädisposition ist demnach auch die Art und Weise zu bezeichnen,
wie in dem Ganglion des sich regenerirenden Wurmringes der
Typus des ganzen Wurms enthalten ist. Diese Form der Depo-
nirung ist ebenso wenig eine actuelle (gleichviel ob bewusste oder
unbewusste) Vorstellung wie eine im Hirn des Menschen schlum-
mernde Gedächtnissvorstellung (S. 2QS Anm.); sie ist noch weniger
bereits äussere Realisation des Typus, wie es der fertige Wurm
ist; sondern sie ist nur ein materieller Keim, welcher unter gün-
stigen Umständen aus der Latenz hervortritt und zur Realisation
des Typus sich entfaltet, sie ist moleculare Vorausbestimmung
eventuell eintretender Functionen in dem Sinne, dass die Reali-
sation dessen, was wir Gattungstypus nennen, als Resultat der
Functionen sich ergiebt. Ein solcher Regenerationsakt aus einem
Bruchstück ist dem Wachsthum des Thieres aus dem Embrya
^205
oder dem eben befruchteten Ei vSehr verwandt; hier wie dort
stehen wir vor einer materiellen Masse, die die stoftliche Grund-
lage für den weiteren Aufbau durch Assimilation fremden Stoffs
bietet und zugleich in sich die Prädispositionen enthält, um diese
Processe zu einem vorausbestimmten Ziele zu leiten. Weil aber
diese Prädispositionen keine actuellen Vorstellungen sind, und
weil in ihnen unmittelbar nur die Speeification der auszuübenden
Funi3tionen, mittelbar durch diese das Resultat, aber in keiner
Weise der Zweck als solcher enthalten ist, deshalb kann hier
von einem Hellsehen (8. 170) ebensowenig die Rede sein als
beim Instinct (vgl. oben S. 188 — lb9). — Welchen Ausgangspunkt
man auch bei der Betrachtung der zu erklärenden Lebens-
erscheinungen wählen möge, immer wird man beim Rückwärts-
verfolgen der Ursachen (S. 176) auf das eben befruchtete Ei
als letzte innerhalb des betrachteten Individuums gelegene Ur-
sache geführt (S. 178). Wälirend nun die Ph. d. U. hier auf
S. 179 anerkennt, dass .,das aus dem Ei hervorbrechende Junge
bei höheren Thieren schon fast alle (Gebilde und) Differenzen
des erwachsenen Thieres in sich enthält" sucht sie dasselbe Zu-
geständniss dem eben befruchteten Ei vorzuenthalten, obwohl sie
es ihm später auf S. 511 willig einräumt. Hier aber (S. 178
unten) wird die Thatsache, dass das eben befruchtete Ei unseren
Sinneswerkzeugen und Beobachtungsmitteln eine „in sich durchaus
gleichmässige Structur darbietet", zu dem Schlüsse benutzt, dass
die in der Zwischenzeit von der Befruchtung bi« zur Geburt
entstehenden Differenzirungen ein Maximum an teleologisch-meta-
physischen Eingriffen erkennen lassen (S. 178 Mitte), dass die
Seele in dieser Zeit „mit Herstellung der Mechanismen beschäftigt
sei, welche ihr später im Leben die Stoff beherrschung zum grüssten
Theil ersparen sollen" (S. 179). Nimmt man hingegen mit dem
Abschnitt C an , dass im eben befruchteten Ei trotz der schein-
baren molecularen Homogenität doch alle diejenigen Differenzen
vorbanden sein müssen, aus denen sich später die gesammten
ererbten Eigentbümlichkeiten von feinster körperlicher oder gei-
stiger Natur entfalten (S. 511), dann fällt mit der unrichtigen
Voraussetzung auch der darauf gebaute Schluss mit seinen Wun-
dern. Denn die im befruchteten Ei gegebenen Differenzen sind
206
von den elterlichen Organismen vererbt (vergl. oben den Ab-
schnitt VI).
Nichts ist wichtiger für die Erhaltung der Arten im Kampf
um's Dasein, als das Festhalten des im Entwickelungsproces»
einmal Errungenen, das Behaupten der mühsam errungenen Ent-
wickeluugsstufen, und dies kann nur durch möglichst vollkommene
Vererbung geschehen ; die Niederlegung der elterlichen Eigenthtim-
lichkeiten in den Zeuguugsstoffen muss also ein Hauptpunkt
gewesen sein, an welchem die natürliche Zuchtwahl ihre Macht
bethätigt hat. Wie sehr die Beschaffenheit der Zeugungsstoffe
unter dem Einfluss von Stimmungen und Affecten steht, ist bekannt;
hierdurch ist aber auch zugleich der Einfluss der Innervation auf
ihre Bildung bewiesen. Es kann mithin keinen Bedenken unter-
liegen, für die Regulirung der Ausbildung der Eier und Spermato-
zoidcn — der grössten und feinsten Kunstwerke im ganzen Reiche
der Organisation — in den Ganglien, welche den vegetativen
Geschlechtsfunctionen vorstehen, Prädispositionen in demselben
Sinne zu supponiren, wie die füi- Regeneration verloren gegangener
Körpertheile oder für den Zellenbau der Bienen oder das Netz
der Spinne oder die Schale des Nautilus, Wir wLssen sehr wohl^
dass die Schwierigkeiten im Einzelnen hiermit keineswegs gehoben
sind und haben dies schon oben (im Abschn. VI) bei Besprechung
der Vererbung angedeutet, aber eben dort auch betont , dass das
Hinzuiügen teleologischer Eingriff'e keinenfalls das Dunkel zu
erhellen vermag.
Wie das Rückwärtsverfolgen der Ursachen im individuellen
Organismus allemal auf das eben befruchtete Ei mit all' seiner
inneren prädispositionellen Diff'erenzirung zurückführt und dieses
über sich hinausweist auf die Beschaffenheit der Eltern als Ur-
sache, so führt das Rückwärtsverfolgen der Vererbungskette in
der Ahnenreihe allemal auf die niedrigsten durch Urzeugung
entstandenen Organismen zurück, und hier schliesst sich unsere
Betrachtung an die oben (Abschn, II, S. 21—24, vgl. auch
S. 26 — 27) gegebene Kritik des kleinen Aufsatzes „Ueber die
Lebenskraft" an. — Neben den inneren, in den früheren Zuständen
des individuellen Organismus und seiner direkten Ahnenreihe
gelegenen Ursachen laufen natürlich beständig die äusseren Ur
207
Sachen der Veränderiing her, denn wie ohne Luft und Nahrun g-s-
mittel, so wäre ohne Veränderungen der Erdoberfläche die bio-
logische Entwickelung unmöglich, wie dies aus Abschn. III
deutlich hervorgeht (vgl. oben S. 38 ff.).
Die Ph. d. U. räumt ein, dass wir „überall im Körper zweck-
mässigen Mechanismen begegnen", und dass das Leben überhaupt
nur dadurch möglich wird, dass diese zweckmässigen
Mechanismen den grössten Theil der Arbeit leisten und den
unmittelbaren teleologischen Eingriffen nur ein Minimum von
Arbeit übrig lassen (S. 177). Dieses Minimum unmittelbaren Ein-
greifens glaubt sie deshalb aufrecht erhalten zu müssen, weil eine
prädestinirte (mechanische) Zweckmässigkeit als alleiniges Er-
klärungsprincip „in Anbetracht dessen unmöglich erscheint, dass
streng genommen jede Gruppirung von Verhältnissen im ganzen
Leben nur Einmal vorkommt und doch jede Gruppirung von
Verhältnissen eine andere Reaction fordert und gerade diese
geforderte hervorruft" (S. 180). Diese Behauptung muss
aber entschieden übertrieben genannt werden. Man kann zugeben,
dass jede Gruppirung von Verhältnissen de facto eine andere
Reaction hervorruft (was bei der variablen Combination einer
grossen Anzahl von Mechanismen nicht anders sein kann), ebenso
dass vom teleologischen Standpunkt jede Gruppirung eine andere
Reaction erfordert; aber das ist nicht zuzugeben, dass in allen
Fällen die factische und die teleologisch geforderte Reaction sich
decken, vielmehr ist dies nur dann der Fall, wenn die Ver-
hältnisscombination eine solche ist, für welche die Mechanismen
des Organismus vollkommen angepasst sind, und enthält die Reaction
des Organismus in dem Maasse mehr unzweckmässige Elemente,
als in der Gruppirung der Verhältnisse, denen er ausgesetzt ist,
die Zahl derjenigen Umstände wächst, für welche er noch keine
passenden Mechanismen besitzt. Da jede Species sich im All-
gemeinen im Anpassungsgleichgewicht an die sie umgebenden
Lebensumstände befindet,' so werden solche Unzweckmässigkeiten
wesentlich erst dann hervortreten, wenn sich ein Individuum
plötzlich in abweichende Lebensverhältnisse versetzt sieht. Aber
auch unter den gewohnten Verhältnissen erstreckt sich die An-
passung doch meistens nur auf Elemente von irgend welcher
208
Erheblichkeit für den Kampf iiin's Dasein, und kleinere Unzweck-
mässigkeiten , die nicht Lebensfrage Itir das Thier sind, laufen
häufig mit unter, und werden dann aus Mangel an einer Ursache
zur Ausbildung entsprechender zweckmässiger Mechanismen mit-
unter zahllose Generationen hindurch conservirt. Dies kann
man besonders da beobachten, wo ähnliche Arten auf verschie-
denen Erdtheilen einem verschieden heftigen Kampf ums Dasein
ausgesetzt waren, in Folge dessen die bequemer lebende Art in
ihrer Lebensweise offenbare Unzweckmässigkeiten conservirt hat,
welche die stärker zur Anpassung gezwungene Art überwunden
und durch zweckmässigere Instincte und Orgauisaticm ersetzt hat.
Die Pathologie zeigt ferner Beispiele genug, wo die Ueaction
des Körpers auf von aussen herangetretene Krankheitserscheinungen
durchaus nicht den vom Arzte vertretenen teleologischen For-
derungen entspricht, sondern convulsivische Anstrengungen entfaltet,
die, weil sie nach verkehrter Richtung gehen, das üebel nicht
abwehren, sondern die Schädigung des Gesanmitbefindens ver-
stärken, resp. die Auflösung beschleunigen.
Unter denselben Gesichtspunkt unzweckmässiger Organisation
fallen die rudimentären Organe (Ph. d. U. S.ITO), welche als Ueberreste
partieller Kückbildungsprocesse (vgl. oben S. 42) zu betrachten
sind, also Organe repräsentiren, welche früheren Vorfahren unter
anderen Lebensverhältnissen einmal nützlich waren, seitdem aber
nutzlos geworden sind. Es kann vom teleologischen Standpunkte
nimmermehr gerechtfertigt erscheinen , dass die meisten Specien
mehr oder weniger solcher nutzloser Stummel mit sich herum-
schleppen, und dass das metaphysische ünbewusste sich mit dem
organischen Bilden derselben und der Vererbung auf die Nach-
kommen bemühen musste. Vom Standpunkt der Descendenz-
theorie hingegen, wo die Vererbung ein bloss mechanischer Process
ist, und dre natürliche Zuchtwahl nur so weit Modificationen
fixiren kann, als dieselben positiv nützlich sind, begreift sich das
Stehenbleiben werthloser Reste, deren Beseitigung keinen positiven
Vortheil mehr gewähren würde, ganz von selbst (vgl. Häckei'a
Nat. Schöplgsgesch." 2. Aufl. S. 255—260).
Wenn die Ph. d. Unb. (S. 170) sich auf die ideale Einheit
im ganzen SchöpfungspJan beruft, so ist dagegen zu erwidern.
209
dass diese Einheit, ais möglichste Constaiiz, Einfachheit und Gleich-
heit der morphologischen Grundtypen gefasst, eher auf Armut h
als auf Reichthnm in dem schöpferischen Geiste schliessen lässt;
uns wenigstens kann das allweise ünbewusste damit nicht impo-
niren, dass es rudimentäre Organe stehen lässt, um damit die
Einheitlichkeit seiner Conceptionen zu beweisen. Die wahre
Harmonie besteht nicht in der Gleichheit und der möglichst geringen
Abweichung von der Identität des Einen Grundtypus, sondern in
der Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit, wo grade aus dem er-
gänzenden Zueinauderpassen des Entgegengesetztesten die Leber-
ei nstimraung als concreto entspringt.
Die Ph. d. Unb. schliesst (8. 180) den Abschnitt A mit dem
Worte Schopenhauer's: ,,8o steht auch empirisch jedes Wesen als
sein eigenes Werk vor uns." Wir sind dem gegenüber aus
unseren empirisch-inductiven Betrachtungen zu dem Resultate ge-
langt, dass jedes Wesen als das Werk seiner direkten Ahnenreihe
vor uns steht. In der Verschiedenheit dieser Aussprüche liegt der
ganze himmelweite Unterschied zwischen Schopenhauer und der
modernen Descendenztheorie, den manche Anhänger des ersteren
gegenwärtig gern verwischen möchten. Schopenhauer steht mit
Schelling und Hegel darin auf ganz demselben Standpunkte, dass
es ein metaphysisches immaterielles Wesen ist, welches sich in
dem organischen Individuum objectivirt, d. h. seinen idealen Ge-
halt realisirt. Wenn Schopenhauer dieses Wesen „Wille^', Schelling
es „Subject-Object", Hegel es „Idee" nannte, so sind damit nur
Differenzen betont, die ausserhalb des geineinsamen Gegensatzes
zur naturwissenschaftlichen Anschauungsweise liegen. Die äusser-
liche Objektivation eines metaphysischen Wesens, die jene nur
im Allgemeinen behaupteten, suchte die Ph. d. ünb. im Einzelnen
nachzuweisen und die verschiedenen Richtungen und Etappen der
Kealisationsfunctionen zu belauschen. Sie trat zu dem Zweck
im weiteren Verlauf der Untersuchung mit einem Fuss auf den
Staudpunkt der Descendenztheorie hinüber, in dem Glauben, sich
diese als Hülfsmittel dienstbar machen zu können, bemerkte aber
nicht, dabS die herbeigerufenen Geister ihr über den Kopf wuchsen
und ihren eigenen ursprünglichen Standpunkt unhaltbar machten.
Es war gut, dass sie erschienen ist, so wie sie ist, dass die alte
14
210
teleologische Metaphysik zum letzten Male ihre Kräfte zusammen
raiFte, um zu zeigen, was sie leisten könne — und was nicht;
wäre sie nicht spätestens in der Mitte der 60er Jahre geschrieben,
so hätte sie überhaupt nicht mehr geschrieben werden können, da
jetzt die Tragweite der Descendenztheorie allen klarer Blickenden
zu offen liegt, um eine Arbeit zu verfassen, wie der Abschnitt A
ist, d. h. ohne jede Rücksicht auf die Descendenztheorie.
xn.
Das Unbewusste.
Wir haben nunmehr den naturphilosophischen Theil der Ph,
d. Unb. kritisch durchmustert und widerstehen der Versuchung,
auch auf den psychologischen, historischen oder metaphysischen
Theil näher einzugehen, z. B. den Kampf um's Dasein zwischen
den mythologischen oder den theogonischen Ideen, oder den Sprach-
wurzeln, Wörtern und Sprachformen, oder den Process der Ent-
wickelung der Menschheit durch die Concurrenz der Racen und
Völker, oder die Ausbildung der nützlichen Illusionen durch die
natürliche Zuchtwahl hier näher zu behandeln, da zum Theil
schon Gesagtes wiederholt werden müsste, zum andern Theil aber
diese Gebiete für eine Behandlung im Sinne der Descendenz-
theorie noch zu wenig aufgeschlossen und vorbereitet sind, als
dass nicht ein solcher voreiliger Versuch dem im naturwissen-
schaftlichen Gebiet nicht mehr anzutastenden Princip mehr Schaden
als Nutzen zu bringen drohe.
Wir knüpfen demnach hier wieder an die erste Hälfte un-
seres II. Abschnitts an (vgl. speciell S. 17 — 21) und wieder-
holen den Protest der Naturwissenschaft gegen die teleologischen
Eingriffe, deren die Leistungen der sich selbst überlassenen Natur^
gesetze alterirende Wirkungen vom Begriff des Wunders nicht
verschieden sind und dazu dienen sollen, die Lücken unserer
Kenntniss des naturgesetzmässigen Causalzusammenhanges vor-
läufig zuzustopfen und zu verkleistern, damit das philosophische
S3'stem sich als ein geschlossenes Ganze, als ein lückenlos das
Universum umfassendes und durchdringendes Verstehen präsen-
14*
212
tiren kann. So ist der teleologiscbe Eingriff von Jeher dazu
verurtheiit, in jenen dunklen Regionen nein Dasein zu fristen^
wohin das Licht der exacten Wissenschaft noch nicht gedrungen
ist; er ist das asylum uptoran^iop der pbiloso])]iischen und theo-
logischen Speculation. Durch die Fortschritte der Physik aus
dem Reiche des Unorganischen verbannt, wo er sich früher es
hatte wohl sein lassen können, und wo heute nur noch fanatische
Priester unter dem Gelächter der Gebildeten ihn als Schreckbild
des rohen Haufens zu citiren wagen (nanientlich beim Auftreten
ungewöhnlicher und verderblicher Naturerscheinungen), sieht der
teleologische Eingriff sich in der Ph. d. Unb. bereits auf das
Reich des Organischen beschränkt: hier, wo eben erst die ersten
schüchternen Versuche zum Eindringen in das Verständniss des
causalen Zusammenhangs der Erscheinungen begonnen haben, hat
er noch ein verhältnissmässig gutes Leben, das ihm aber auch
schon durch jeden neuen Fortschritt, jede neue Entdeckung ver-
kümmert wird und durch die Sichersteilung der Descendenztheorie
vermittelst der Darwin'schen Begründung der Theorie der natür-
lichen Zuchtwahl in tausend Aengste gerathenist. Der teleologische
Eingriff verhält sich zur Wissenschaft als ein würdiges Seiten-
stück seines Gegeufüsslers, des Stoffs. Wie dieser als stehen ge-
bliebenes für die Praxis ausreichendes und bequemes Vorurtheil
früherer unwissenschaftlicher Anschauungsweisen zu betrachten
ist (Vgl Ph. d. L'nb S. 473—476 u. ff.), ebenso auch der teleo-
logische Eingriff; beide zusammen, als kritiklos hypostasirte Sinnen-
lall igkeit und kiitiklos hypostasirter Wunderglaube, erfüllen den
ganzen Raum einer unwissenschaftlichen Weltanschauung, in die
sich die exacte Wissenschaft wie ein Keil hineinschiebt oder wie
ein Lichtkegel, vor dem das Dunkel blinden Meinens und specu-
lativen Wunderglaubens mehr und mehr zurückweichen muss, je
breiter er sich entfaltet.
Wir haben in unseren Untersuchungen gesehen, dass der
Abschnitt A der Ph. d. Unb. der Annahme des teleologischen Ein-
griffs die Stütze, ^^ eiche er ihm gewähren soll, nicht gewähren
kann und muss daher, bis andere und bessere Gründe für den-
selben aufgestellt sein werden, dieses asijlw}» üinormUiae von der
Wissenschaft ausgeschlossen und die bis jetzt der Erklärung noch
213
übrig bleibenden Lücken für künftige Erfüllung durch Erforschung-
des gesetzmässigen Causalzusamnienhanges offen gehalten bleiben.
Mit dieser Annahme fällt aber auch der metaphysische Träger
oder das Subject des teleologischen Eingriffs, das teleologisch
Eingreifende selbst hinweg, d. h. es fällt das Unbewusste,
insofern es als Subject der teleologischen Eingriffe
gedacht wird; es ist die Annaiime zu streichen, dass ausser
denjenigen Functionen des unbewussten Absoluten, welche in den
naturgcsetzmässigen innerlichen und äusserlichen Actionen der
Atome eines Organismus (als Summations])hänomen des Vor-
stellens, WollenSj Lebens und Handelns) zu Tage treten, noch
andere Stralilenbündel von aut diesen Organismus gerichteten
Functionen des unbewussten Absoluten hinzukommen, welche
als teleologische Eingriffe in den innerlichen und äusserlichen
Lebensprocess der Im Organismus combinij'ten Elemente ein qua-
litativ «uf ganz neuer und höherer Stute stehendes Plus hinzu-
brächten. Wir haben diese Differenz unserex Auffassung von der
iler Ph. d. Unb. schon oben, in PiCziig auf die Vorstellung im
Abschn. IV (S. 61) -7oj, in Bezug auf den Willen im Abschn. \'
(S. 79—86) auseinandergesetzt und haben hier nur deshalb noch
einmal auf jene Darlegungen zurückzuverweisen, weil die Unhalt-
barkeit der teleologischen Eingriffe, die oben nur erst behauptete
Voraussetzung war, in den zwischenliegenden Abschnitten detaillirt
nachgewiesen ist, so dass erst jetzt die oben entwickelten An-
hichten ihre volle Begründung erhalten haben. Populär g(spr«»chen
könnte mau unserem Resultat etwa folgende Fassung geben:
Wenn wir unter ,,Seele^' psychische Innerlichkeit verstehen, so ist
jedes Atom beseelt-, jeder Organismus, also auch der Mensch, hat
gerade soviel „Seele", aber auch nicht ein Atom mehr, als»
die ihn c o n sti tuirenden Atome zusammengenommen
,,Seele'' haben; wie durch die Oombination der äusserlichen
Atomkräfte Naturkrätte von potenzirter Qualität entstehen, so ent-
stehen durch Oombination von Atomseelen psychische Summations-
phänomene, welche man in demselben Sinne Seelen von potenzirter
Qualität nennen könnte; damit aber solche Summations- oder Com-
binations-Phänomene innerlicher oder äusserlicher Art möglich seien,
<lürfen die Atome nach beiderlei Hinsicht nur functionell, nicht
214
»nbstantien verschieden und getrennt sein, müssen sie atomisirtg^..
Functionen der Einen absoluten Substanz sein. Im Gegensatz zu
llem pant he ist ischen Monismus der Ph. d. U. wird man diesen
Standpunkt als naturalistischen Monismus bezeichnen können.
Es entsteht nun die Frage, welche Bedeutung denn für unsern
Standpunkt noch „das Unbewusste'' habe, da doch die Ph. d.
Unb. mit diesem Ausdruck gerade vorzugsweise das Subjekt der
teleologischen Eingrifte bezeichnet, welches für uns bedeutungslos
geworden ist. Wir dürfen diese Frage nicht mit dem Hinweis
auf den Schluss des Cap. C VII (S. 543) von der Hand weisen,
wo diesem inadäquaten negativen Ausdruck nur ein vorläufiger
prophylaktischer Werth dem theistischen Standpunkt gegenüber
beigelegt wird: denn es handelt sich für uns eben nicht darum,
K)b dieses negative Prädicat eine wohlgewählte substantivische
Bezeichnung sei, sondern darum, welche positive Bedeutung dem
hinter diesem negativen Prädicat verborgenen Subject von unserem
Standpunkt aus noch zukommen könne. Es war nichts Zufälliges,
dass die Ph. d. U. gerade dieses Stichwort wählte, denn dasselbe
lag in der Luft und war von allen Seiten vorbereitet; es war
aber zugleich auch eine Forderung des Fortschritts in der Selbst-
besinnung und dem Selbstverständniss der Menschheit, und nur
weil es dies alles war, konnte es eine so schnelle und willige
Aufnahme im Publikum linden, dass man es jetzt schon beinahe die
Spatzen von den Dächern rufen hört. Dieser Fortschritt in dem
„sich auf sich selbst Besinnen" der Menschheit bestand eben darin,
dass überall das in die Erscheinung Tretende als ein Ausfluss
des im Wesen Vorherbestimmten, das im Bewusstsein sich Mani-
iestirende als ein nothwendiges Resultat der unbewussten, durch
<lie Beschalfenheit des dunklen Grundes der Seele bestimmten
Processe nachgewiesen wurde, und dass hiermit ebenso dem platt-
rationalistischen Sensualismus, der die Seele für eine tabula rasa
-ansieht, wie der schablonenhaft ein Bewusstseinsmoment aus dem
andern herausspinnenden und dabei aller charakteristischen In-
dividualität fern bleibenden Dialektik das Garaus gemacht wurde.
In diesem Bestreben, alles auf der Obei-Üäche des Lebens zu
Tage Kommende aus den inneren dunklen Tiefen abzuleiten, liegt
4er bleibende Werth der Neuerung, welcher dadurch nicht alterirt
215
wird, wenn die Frincipien, in welchen das Bestimmende des
dunklen Seelengrundes gesucht wurde, zum Theil als irrthümlieh
sich erweisen.
In der That eontündirt die Ph. d. ünb. unter diesem den
ganzen dunklen Urgrund des Lebens zusammenfassenden Aus-
druck : „Das Unbewusste" eine Menge der verschiedensten Dinge,
welche nothwendig einer sondernden Analyse bedürfen. Das
Unterlassen einer solchen hat offenbar wesentlich dazu beigetragen,
die Incongruenz der Abschnitte A und C den Augen des Verfassers
selbst, sowie bis jetzt auch denen der Kritik zu verhüllen.
Zunächst ist zu unterscheiden das relativ, d. h. in Bezug
auf das Gesammtbewusstsein des Grosshirns, Unbewusste, und
das absolut, d. h. in jeder Beziehung genommen, Unbewusste.
Diese Unterscheidung ist zum Schluss der Capitel A I und II
(S. 59—60 und 69) zwar deutlich angegeben, aber im Verlauf
des Werkes nicht überall klar erkennbar festgehalten und scharf
durchgeiiihrt, so dass beides häutig in den gemeinsamen Nebel
des Einen Unbewussten verschwimmt, und auf diese Weise dem
absolut Unbewussten manches zu Gute zu kommen scheint, was
von dem relativ Unbewussten gesagt sein sollte. Wir können aus
den Resultaten unserer Untersuchungen (Abschn. IV S. 57 — 61)
hinzufügen, dass nicht nur die ßewusstseinssphären der niederen
Centralorgane des thierischen Nervensystems in diese Kategorie
des relativ Unbewussten fallen, sondern dass für das Gesammt-
bewusstsein des Grosshirns, welches allein ich mein Bewusstsein
nenne, auch die Zellenbewusstseine resp. Molecularbewusstseine
im Grosshirn selbst, d. h. diejenigen Functionen und Nerven-
processe unbewusst sind, welche unterhalb der Reizschwelle des
Gesammthirnbewusstseins aber oberhalb der Reizschwellen der
entsprechenden Zellen- oder Molecularbewusstseine liegen. In
dieser Region können sich Functionen von höchster Wichtigkeit
für die Oeconomie des Geisteslebens vollziehen, die etw^a durch
häufige Wiederholung dasjenige an Einfluss auf Prädispositionen-
bildung ersetzen, was ihnen an Intensität abgeht und kann man
in diesem Sinne wohl mit Wundt („Beiträge zur Theorie der
Sinneswahrnehmung" S. 188) von (relativ) „unbewusster
Uebung", oder mit Schopenhauer: („Parerg^" 2. Aufl. S. 59)
216
unbewusster Rumination" sprechen (vgl. Ph. d. Unb.
. 285 — 287). In diesen Regionen unterhalb der Schwelle des Ge-
sammthirubewusstseins kann ferner ein grosser Theil der unbevvu^st
mitbestimmenden Momente der Gefühle liegen (vgl. oben S. 59 — 60).
Zugleich aber ist dabei in Erwägung zu nehmen, dass die eigent-
liche intellektuelle Sphäre in der Gehirnrinde zu liegen scheinty
während die Sphäre der Molecularprocesse, welche innerhch als
Gefühle sich darstellen, dem Kleinhirn (dem Centralorgan der
Bew egungen) näher, also in Bezug auf dieses weniger peripherisch
liegt, als die reine Vorstellungssphäre (vgl. oben S. 106 — 108).
Wie die Molecularschwinguugen einer blossen Vorstellung an sich
sehr intensiv und doch dabei von sehr geringem Einfluss auf die
Centralorgane der Bewegungen und auf die Bestimmung des
Handelns sein können, so können umgekehrt die Molecular-
schwingungen von tiefen und mächtigen Gefühlen an sich sehr inten-
siv sein und doch lür das Gesammtbewusstsein der intellektuellen
Sphäre des Grosshirns entweder ganz unter der Schwelle bleiben,
rider doch in schwer fassbarer und vergleichbarer Form, in
dunkler nebelhafter Gestalt in dasselbe eintreten. Da beide Er-
scheinungen von der Güte der Leitung zwischen beiden Sphären
abhängig, also coordinirte Wirkungen derselben Ursache sind, so-
ist, wenn selbst nur die eine derselben (wie eben im Abschn. VII)
constatirt ist, die andere a priori zu erw^arten. Jene Gefühle
mögen in ihren betreffenden Zellen oder Hirnpartien zu hinlänglich
starkem ßewusstsein gelangen; sie communiciren nur nicht voll-
kommen genug mit demjenigen Hauptsummationsbewusstsein,
welches, zu gedanklichen Reflexionen in besonderem Maasse be-
fähigt, allein im Menschen die Stufe des Selbstbewusstseins er-
rungen hat.
Nachdem wir so aus dem allgemeinen Begriff des Unbewussten
zunächst die umlassende Sphäre des relativ Unbewussten aus-
geschieden haben, haben wir in der übrigbleibenden Sphäre des
absolut Unbewussten abermals jcme_.,.slrmig£_Ji>enn^ durch-
zuführen zwischen dem physiologischen und^jneXapii^: -
sTsc h e n^Jjibewm^sten. Unter dem plnsiologischen Unbewusstfj)
verstehen wir die moleculare Hirn- und Ganglienprädisposition
als Ursache der charakteristischen Bestinmitheit der physiologischen.
2V[
und psychologischen Functionen eines Individuums; unter dem
metaphysischen Unbewussteu das in den Atomen naturgesetz-
jfissig tiinctionirende Wesen der Welt, in welchen Functionen
aber (im Unterschiede von der hierin zweifelhaften Ph. d. U.) die
psychische Innerlichkeit mit inbegritien ist.
Eine wie grosse Rolle auch in der Ph. d. U. dasjenige, was
wir hier das physiologische Unbewusste nennen, spielt, ergiebt
sich aus unseren früheren Erörterungen, wonach Gedächtniss und
Charakter ganz in dieses Gebiet lallen (Ph. d. U. S. 27 unten bis
28, 387 unten bis 388 oben, 608-610), der Process der Ideen-
association als ein den mechanischen Gesetzen folgender mole-
cularer Hirnprocess aufgelasst wird (S. 253), und nicht nur ererbte
Charakteranlagen und Fertigkeiten, sondern auch ererbte Ge-
dächtnissdispositionen statuirt werden (S. 613, S. 78 unten bis
Tj oben).
Auf S. 600 wird sogar darauf hingewiesen, es sei kein
Widerspruch, dass der ( 'harakter „im IJnbewussten liegt und
doch seine Bcscliaffenheit durch das Hirn, das specißsche Organ
des Bewusst Seins, mit bedingt werden soll; denn das Organ
des Bewusstseins sanimt allen seinen niolecularen Lagerungs-
verhältnissen, die als latente Dispositionen zu gewissen
Schwingungszustäiiden dieser oder jener Art betrachtet werden
müssen, liegt selbst yo sehr jenseits alles Bewusstseins, dass
zwischen seiner materiellen Function und der bewussten Vor-
stellung erst der ganze Coniplex jener unbewussten psychischen
Functionen" (d. h. der teleologischen Eingriffe) „sich einschaltet,
mit denen wir uns bisher beschäftigt haben". Streichen wir nun
auch jene von der Ph: d. U. zwischen die mechanische Reaction
der molecularen Hirnprädispositionen und das Summationsphänomen
der bewussten Vorstellung oder des Begehrens eingeschalteten
teleologischen Eingrilfe, so bleibt es doch immer richtig, dass
Charakter und Gedächtniss, als specielle Beschaöenheiten des
Gehirns, jenseits alles Bewusstseins, d.h. im Unbewussten,
liegen.
Wir haben gesehen , wie sehr der Erklärungsbereich des
physiologischen l nbewussten sich erweitert durch consequentes
Zu Ende Denken der von der Ph. d. U. selbst (S. 78—79) zu
218
gebtandeneu Möglichkeit, dieses Erkläningsprincip auf den Instinct
auzuwenden; denn die Wesensgleichheit des lustincts mit den
übrigen problematischen Processen des organischen Lebens lä^st
die Uebertragung des für den Instinct adoptirten Erklärungs-
princips auf alle übiigen als unausweichbare Forderung erscheinen.
So hat uns das physiologische Unbewusste eine Bedeutung
gewonnen, in welcher es (in Verbindung mit der natürlichen
Zuchtwahl und einer richtigeren Schätzung des Einflusses der
bewussten Ueberlegung, Uebung und Gewohnheit auf Modificationen
des Instincts) dasjenige zu ersetzen vermag, was in der Ph.
d. U. das metaphysische Unbewusste als Subject der teleologischen
Eingriffe für die Erklärung leisten soll. Wie in der recht ver-
standenen Physiologie die ganze Psychologie enthalten ist, so
enthält das physiologische Unbewusste alles das in sich, was
unter dem Unbewussten als dunklem Hintergrunde des psy-
chischen Lebens verstanden wird, gleichzeitig aber schliesst es
auch die Ursachen der nicht aus bloss physikalischen und che-
mischen Processen an Ort und Stelle verständlichen biologischen
Processe in sich. Das physiologische Unbewusste ist es
also, dessen Studium zunächst noth thut, um alle Räthsel des
psychischen und organischen Lebens zu lösen; denn in ihm liegt
der ganze Reichthum derselben beschlossen.
Gehen wir nun zu der andern Seite des absolut Unbewussten,
dem m e t ap h y s i s c h e n Unbewussten über, so ist dies eben durch
die Streichung des Subjects der teleologischen Eingriffe sehr viel
ärmer als das metaphysische Unbewusste der Ph. d. U., welches
das gemeinsame Subject der naturgesetzmässigen Atomfunctionen
nur unter sich begreift, während dieses bei uns den ganzen
Platz des metaphysischen Unbewussten einnimmt. Es ist keine
Frage, dass die einfachste Atomfuuction eine Anticipation eines Zu-
künftigen, erst noch durch die Action selbst in die Wirklichkeit
zu Setzenden enthält (Ph. d. U. S. 484—485); ebenso unbedingt
ist zuzugeben, dass der formelle Modus dieser Anticipation in
den einfachen, die Materie erst constituirenden, also selbst im-
materiellen Elementen selbst immateriell genannt werden
müsse (S. 105) ; ob aber eine solche inhaltliche Bestimmtheit eines
noch nicht Seienden in immaterieller Form, d. h. solche meta-
219
physische x\iiticipation der Verwirklichimg durchaus ideale Be-
stimmtheit genannt werden müsse, wäre immerhin noch zu erwägen,
sobald man einmal mit der Annahme präexistirender typischer
Gattungsideen vor ihrer Realisation in Thier- und Pflanzenreich
gebrochen hat. Schwächt man durch Entkleidung von aller
anthropopathischen Nebenbedeutung den Sinn des Wortes „ideal"
so weit ab, dass er nichts mehr als die uns schlechterdings un-
bekannte fS. 375, Z. 19 — 23) Form der immateriellen meta-
physischen Anticipation innerhalb der diesen Inhalt verwirk-
lichenden Function ist (Phil. Monatshefte Bd. IV, Hft. 1 , Schluss
der Erwiderung gegen J. Bergmannes Kritik der Phil. d. Unb.),
dann kann mau diese Bedeutung des Ausdrucks ideal zw^ar nicht
mehr bekämpfen, aber das Wort hat dann auch nichts Significantes
mehr an sich, es lordert das Verständniss nicht mehr, sondern
bringt es eher durch die naheliegende Versuchung unfreiwilligen
anthropopathischen Rückfalls in Gefahr.
So lange man das Unbewusste als Träger der teleologischen
Eingrifte gelten lässt, liegt die Sache in sofern etwas anders, als
mau in der Anticipationstorm im Atom nur die Species eines
grossen Genus metaphysischer Anticipationen erblickt, welche
ihrer Form nach zwar ebenfalls unbekannt, aber ihrem Inhalt
nach zum grösseren Theil mit demjenigen identisch sind, was
die Philosophie von Plato bis Hegel unter Ideen verstanden hat.
Nachdem wir aber (vgl. oben S. 50 — 51) gesehen haben, dass
die Typen der Organisation sich allmählich durch mechanische
Oompensationsprocesse herausgebildet haben, ohne einem teleo-
logischen Princip Raum zur Erklärung zu gestatten, haben w^ir
auch von der Annahme der Präexistenz solcher Typen in Gestalt
unbewusster Naturideen oder bewusster göttlicher Ideen als einer
fernerhin grundlosen und unberechtigten Hypothese Abstand zu
nehmen. Die Hypothese einer hellsehenden unbewussten Intuition
-des lustincts mit ihrer Ausbreitung auf alle Gebiete des psychischen
.und organischen Lebens war für die Ph. d. U. das willkommene
Zwischenglied, oder vielmehr eine lange Stufenreihe von Binde-
gUedern zwischen der Intuition des klarsten menschlichen Be-
wusstseins und der anticipirenden Function des Atoms; nach
Wegnahme dieser Kette würden die durch sie verknüpft gewesenen
220
Endglieder völlig auseinanderfallen, wenn nicht auf der andern
Seite die Restitution der in der Ph. d. U. zweifelhaften Atom-
Empfindung und das genauere Verständniss des Bewusstseins
als eines Summationsphünomens von organischem Ueber-
einanderbau analog der Ineinanderschachtelung der relativen
Individuen eine neue Verbindung herstellte.
Leider giebt nur diese neue Kette nicht, wie die zerstörte,
scheinbare Aufschlüsse über die Natur der immateriellen meta-
physischen Autieipation des Atoms bei seinem Functioniren. Man
weiss von dieser Autieipation nur so viel, dass sie jenseits und
vor aller Atomemplindung, d. h. Atombewusstsein, liegt, also eine
absolut unbewusste ist, und dass sie nach P^intreten und Inhalt
unabänderlichen Gesetzen folgt. Will man nun den Ausdruck
,,unbewusste Autieipation'' deutsch durch „unbewusste Vorstellung"
wiedergeben, so ist dagegen natürlich wiederum nichts als die
Gefahr des Rückfalls in anthropopatbische Nebenbedeutungen
geltend zu machen. Die Erkenntniss wird dadurch ebenso wenig
positiv gefördert, als wenn man die Spannkraft des Atoms Wille,
den [Jmsatz derselben in lebendige Kraft Wollen nennt, da Wille
und Wollen nur bestimmte Erscheinungsformen des Zusammen
Wirkens von Atomfuuctionen sind, oder die Bezeichnungen, weiche
wir den uns aus psychologischen Schlüssen indirekt bekannten
Summationsphänomenen unseres thätigen Gehirns ertheilen (vgL
oben S. 80 — 82); der Werth solcher Bezeichnungen liegt ebenso
wie bei dem der Atom-Empfindung nur in dem Wecken und
Wachhalten des Bewusstseins aou der wesentlichen Identität alles
Lebens und aller seiner activen und rcceptiven Functionen in der
gesammten organischen und unorganischen Natur.
Wenn wir oben (S. 17j bemerkten, dass die Naturwissen-
schaft als solche sich um die Frage nicht zu kümmern habe, ob
letzten Endes auch die Naturgesetze und die Causalität selbst
sich, wie die Ph. d. L'nb. behauptet, in Finalität, d. h. in Teleo-
logie, auflösen, so haben wir jetzt, wo wir uns mit dem Unbe-
wussten in den Atomen beschäftigen, dieser Frage näher zu
treten. — Zunächst haben wir daran zu erinnern, dass alle Natur-
kräite als Combinationen der einlachen Atomkräfte, alle Natur-
gesetze als secundäre Gesetze oder als aus den einfachen Gesetzen
221
der AtoiutuuctioDeii abgeleitete Folgeerscheinungen anzusehen
sind (vgl. „Ges. phil. Abhandl." S. 123-124); dieses JY>lgeu der
cornplicirteren Naturge^etze_aus den einfachen Gesejzen_dei- Me-
(^nik des Aton^SLjmfeuweisen (was natürlich nur auf mathema-
tischejgaJVege lüügliehjst) ist die let^e und "höchste Aufgabe der
Physik, und die mechanische Wärmetbeorie, die mathematische
Behandlung der akustischen und optischen ^chwingungsprocesse,
sowie endlich dat- mathematische Eindringen in (bis Gebiet der
Electricität haben in neuester Zeit glänzende Proben der wissen-
schaftlichen Leistungsfähigkeit gegeben und unabsehbare Hoff-
nungen für die Zukunft erweckt. Es ist, unumwunden gesprochen,
das Ziel der Naturwissenschaft, alle die mannigfachen Natur-
erscheinungen als Resultate zu begreifen, die aus der Mechanik
der Atome hervorgegangen sind: alles Beobachten, Experimen-
tiren und Induciren ist durchaus nur Mittel zu diesem Einen,
letzten, alles bestimmenden Zweck, dessen Erreichung allein die
Naturwissenschaft zur Wissenschaft im höchsten Grad zu erheben und
abzuschliessen vermag. Die letzten Functionen der Atome werden
wir uns ebenso einfach zu denken haben wie die Atome selbst;
die Combination derselben zu den complicirten Naturerscheinungen
muss aber mathematisch durchaus beweisbar sein. Nur ist frei-
lich die Mathematik auch nur eine angewandte Logik, angewandt
auf gegebene Existenzen in Bezug auf die Kategorie der Quan-
tität; aber wohlgemerkt ist unter der hier in Anwendung kom-
menden Logik nur der Satz vom Widerspruch (oder seine modi-
ficirten Ausdrucks weisen ), nicht aber d i e T e 1 e o l o g i e zu ver-
stehen; die Mathen»atik deducirt alles so und so nur deshalb,
weil es ohne Widerspruch nicht anders sein kann, nicht weil das
Sosein irgendwie zweckmässig wäre. Soll also irgendwo eine
vorausbestimmte Einheit von causaler und finaler Nothwendigkeit
stecken fPh. d. ü. S. 790), so muss sie bereits ganz und ohne Best
in der Einrichtung der Elementarfuuctionen der einfachen Uratorae
und in der Beschaffenheit der in ihnen als Gesetz erkennbaren
Oonstanz der Wirkungsweise gegeben sein. Je einfacher wir ge-
nöthigt sind, uns diese Gesetze zu denken, um so unwahrschein-
licher wird eine solche Annahme, um so entbehrlicher und
werthloser für die Erklärung der Welt wird sie aber zugleich.
222
Das volle Verstäudniss der mechanischen Nothwendigkeit solcher
Gesetze kann oft lange ausbleiben, bis plötzlich ein klarer
Kopf das Ei des Columbus auf die Spitze stellt, wie es Kant
mit dem alten Probleme des Parallelogramms der Kräfte gelang
(vgl. Ph. d. Unb. S. 468). So bleibt man zuletzt nur bei dem
Problem der Existenz, und zwar einer in bestimmter Essenz gege-
benen Existenz, als dem ewig unlösbaren stehen, für das die teleo-
logische Metaphysik ebensowenig ein Recept haben kann als
irgend eine andere (S. 796 — 797). Solchen Ausgangspunkt aber
einmal zugegeben, haben wir schon nach dem jetzigen Stande der
Physik keinen Grrund mehr zu der Annahme, dass die Elementar-
functionen der Atome ausschliesslich oder theilweise durch teleo-
logische Rücksichten auf den Weltprocess und sein etwaiges Ziel
bestimmt worden seien. Jeder Fortschritt in der mathematischen
Physik wurd solchen Glauben unwahrscheinlicher machen.
Wir haben so eben eingeräumt, dass auch die Mathematik
nur angewandte Logik sei, also die complicirten Naturgesetze
und alle natürliche Causalität in diesem Sinne allerdings mit
dem, was wir unter logischer Nothwendigkeit verstehen, identisch
seien ; wir haben nur bestritten, dass diese logische Nothwendigkeit
die teleologische A orsehung oder Finalität in sich schliesse.
Die Finalität ist, wie die Ph. d. Unb. (S. 782 — 783) zuge-
steht, ebenfalls angewandte Logik, aber in noch anderem Sinne
als die Mathematik, welche eben nur die Existenz von Grössen
voraussetzt. Die Finalität setzt ein Antilogisches voraus,
welches nicht zu negiren widersinnig, d. h. der Natur des
Logischen widersprechend wäre, es setzt aber auch ausser-
dem voraus, dass die Existenz dieses Antilogischen als Anti-
logischen dem Logischen (oder der gemeinsamen Substanz bei-
der) empfindlich werde, und deshalb braucht die Ph. d.
Unb. die vorweltliche und ausserweltliche Unlustempfindung des
unerfüllten oder leeren Wollens (S. 785—786), mit welcher kühnen
Hypothese die Möglichkeit seiner ganzen teleologischen Meta-
physik steht und lällt. — Diese Hypothese ist jedoch deshalb nicht
haltbar, weil sie die Unendlichkeit des leeren Wollen» gegen-
über dem endlichen erfüllten Wollen zur Voraussetzung hat. Nun
ist aber ein unendliches Wollen ebenso unmöglich, wie jede
223
andere existirende Unendlichkeit; die Potentialität kann hier nicht
zur Entschuldigung dienen, weil der Wille sein Wollenkönnen
durch zeitliches Wollen nicht erschöpft, also ein endlicher Wille
für unendlich lauge Dauer des Wollens ausreichen würde. Der
Wille ist nur deshalb unersättlich, weil jede Befriedigung sein
Wollenkönnen nicht vernichtet und er nach derselben deshalb
immer weiter will, aber seine Unersättlichkeit beweist gar nichts
gegen die Endlichkeit seiner Intensität. Eine potentielle Unend-
lichkeit des Willens bedeutet nur dann überhaupt etwas, wenn
sie das Vermögen bedeutet, in demselben Moment ein unendliches
aetuelles Wollen entfalten zu können; dann bedeutet sie aber
etwas Falsches, weil AVidersiuuiges. Der Wille kann also eben-
sowenig unendlich heissen als das Wollen und am w^enigsten das
als der Moment der Initiative erklärte (S. 773 — 774) leere Wollen,
welches weder endlich noch unendlich, weil einer Quantitätsbe-
stimmung überhaupt so wenig wie der mathematische Punkt
iähig sein kann. Ist nun der Wille keinenfalls unendlich, sondern
endlich, so muss sich die intensive Grösse der Welt, d. h. die
Summe der in derselben zur Erscheinung gelangenden Kraft, nach
ihm richten; es wird also kein Ueberschuss eines leeren über
das erlüllte Wollen bleiben, also eine ausserweltliche Unseiigkeit
unmöglich sein. Damit fällt die Grundlage der beständig sieh
erneuernden Finalität. Es bliebe höchstens noch die Möglichkeit
einer vor weltlichen Unseiigkeit des leeren Wollens im Moment
der Weltinitiative, durch welche die Atomgesetze einmal teleo-
logisch bestimmt wären. So schwer auch der Grund einzusehen
wäre, weshalb das der teleologischen Grundlage beraubte meta-
physische Unbewusste den früher von ihm bestimmten Naturge-
setzen , für die es doch kein Gedächtniss hat , auch fernerhin
folgen solle, so ergeben sich doch noch grössere Schwierigkeiten
von anderen Seiten her, welche den ganzen Einfluss teleologischer
Erwägungen auf die Installirung des Processes zu einer böcbst
unwahrscheinlichen Hypothese machen. — Finalität braucht niimlich
einen letzten Endzweck, ein Ziel, zu welchem der ganze übrige
Proeess als Mittel gesetzt wird. So sehr wir mit den inductiven
und deducliven Erwägungen der Ph. d. Unb. (Cap. C. XII u. XIII;
vgl. „Ges. phil. Abhandl." S. 50—55) über die Unmöglichkeit eine»
224
positiven Endziels des Weltprocesses tibereinstimmen, sowenig
können wir ihren Glauben an die Möglichkeit eines negativen
Weltziels beipflichten (vgl. oben Abschn. 111), um so mehr als sie
die Wahrscheinlichkeit ihrer Annahme irgend welcher Pointe
im Wcltlauf, oder irgend welchen Endzwecks (für den dann na-
tliriich nach Elimination aller positiven nur ein negativer übrig
bliebe) erst aus der Hypothese einer allweisen Vorsehung herleitet,
die selbst nur wieder, wie wir gleich sehen werden, auf das be-
reits beseitigte System der beständigen teleologischen Eingriffe
sich stützt. Wir können nicht umhin, den Glauben an die Mög-
lichkeit einer endlichen Universalwillensverneinung ebenso für eine
Illusion zu erklären, wie die Ph. d. Unb. den Glauben Schopen-
hauers an die Möglichkeit einer Individualwillensverneinung für
eine Illusion erklärt. Beides sind am Ende nur Gemüthspostu-
late, um aus der Aussichtslosigkeit des Pessimismus einen erlö-
senden Ausweg zu finden, also Illusionen von derselben Classe,
wie die lustincte der charakterologischen Hoffnung, der Liebe, der
Ehre u. s. w., welche durch natürliche Auslese im Kampf um's
Dasein sich entwickelt haben , indem nur diejenigen Menschen
tibiig blieben und sich fortpflanzten, welche das Leben erträglich
fanden und sich leidlich mit demselben abzufinden wussten.
Der geringe Anklang, welchen gerade dieser Gedanke einer
schliesslichen Universalwillensverneinung gefunden hat, scheint
darauf hinzudeuten, dass es nicht nöthig sein dürfte, den drei
von der Ph. d. Lnb. aufgestellten Stadien der Illusionen ein vierte»
in diesem Sinne hinzuzufügen.
Aber nehmen wir selbst einen Augenblick an, die Universal-
willensverneinung sei als Endziel des Processes zu fassen und
als solches erreichbar, so liegt einem all weisen Unbewussten
offenbar die Aufgabe ob, dieses Ziel so bald als möglich und so
schnell als möglich zu erreichen, um die Qual des Processes nach
Möglichkeit abzukürzen.
Das allmächtige Unbewusste, sollte man nun meinen^
könnte sich durch nichts gehindert sehen, im Moment der Er-
hebung des Weltwillens zum Process sofort denjenigen Zustand
zu realisiren, in welchem sich die Welt im Moment der Universal-
willensverneinung am Ende des Processes dereinst betinden sollj
^225
denn es steht ja der Idee frei, welchen Inhalt sie dem Willen
giebt, und dieser realisirt ihn unbesehens. Es ist bei einem all-
weisen und allmächtigen Ünbewussten die Nothwendigkeit einer
dem Endzustande der Welt vorausgehenden Entwickelung
schlechterdings nicht einzusehen. Aber selbst auch eine solche
Nothwendigkeit zugegeben, so soll doch das Maass der Ent-
wickelungsgeschwindigkeit rein von der Idee abhängen, und
nichts vermöchte bei der Relativität des Zeitmaasses sie zu hin-
dern, den ganzen Entwickelungs-Process mit unendlicher Ge-
schwindigkeit abschnurren zu lassen, d. h. ihn in eine unendlich
kleine Zeit zusammenzudrängen, was praktisch dasselbe Resultat
wie die unmittelbare Herstellung des Endzustandes der Welt er-
geben würde. Da diese Cousequeuzen sämmtlich der Erfahrung
widersprechen, müssen die Voraussetzungen falsch sein, d. h. es
kann gar kein Endziel des Weltprocesses geben, nach welchem
dieser von einer Vorsehung hingeleitet würde. (Vgl. auch oben
S. 73 — 75). Kann es aber kein Endziel geben, so ist eine
teleologische Prädestination des Weltprocesses durch eine diesem
Endzweck angepasste Einrichtung der elementaren Naturgesetze
unmöglich. Dann kann die Causalität wohl noch als identiscli
mit logischer Nothwendigkeit, aber nicht mehr als identisch mit
teleologischer Nothwendigkeit oder Finalität behauptet werden.
Aber auch diese Identität von Causalität und logischer Noth-
wendigkeit muss uns in einem andern Lichte als der Ph. d. U.
erscheinen, weil das Apriorische und damit auch das Logische
uns ein psychophysisch oder physiologisch Gegebenes, der Ph.
d. U. hingegen ein metaphysisch-spiritualistisch Gesetztes ist.
Im letzteren Falle kann über die Identität der logischen Notii-
wendigkeit im Process des dinglichen Geschehens und im Process
des bewussten Denkens kaum ein Zweifel bestehen; im ersteren
Falle aber, wo die Prädispositionen der Vorstellungsverkuüpfung
sich durch vererbte Anpassung an die Verknüpiungsweisen odor
Zusammenhänge des realen Geschehens herausgebildet haben
(vgl. oben iS. 134 — 136), drängt sich unabweisbar die weitere
Frage auf, ob denn nicht am Ende der Charakter des Logischen,
d. h. des für alle Fälle des Denkens Zwingenden, erst gerade
ein subjectiv zu Staude gekommenes Moment sei, das deujciiigea
226
thatsächlichcn Ziisamineiibängen, durch Anpassung an welche die
subjectiv logischen Verkntipfungsformeu sich entwickelt habeUj
durchaus nicht in derselben Weise zukommt. Diese wichtige
Frage (vgl. Ph. d. U. S. 791 und 108) können wir hier nicht
weiter verfolgen.
Nachdem wnr die x^nalyse des Unbewussten in 1) das relativ
(fllr das Gesammthirnbewusstsein) Unbewusste, 2) das physio-
logische Unbewusste und 3) das metaphysische Unbewusste durch-
geführt haben, dürfte es angemessen sein, noch einmal recapitu-
lirend uns vorzuführen, welche unter den von der Ph. d. U. dem
Unbewussten schlechthin zugeschriebenen Eigenschaften auf die
verschiedenen Elemente dieses Begriffs anwendbar bleiben. Wir
schlagen hierzu Cap. C, I auf. Dort ist gesagt:
1) „Das Unbewusste erkrankt nicht." Dieser Satz ist
ebensowenig wie die Folgenden auf das relativ Unbewusste be-
zogen zu nehmen, sondern von vornherein auf das absolut Un-
bewusste beschränkt zu denken. Auf unsern Begriff des meta-
physischen Unbewussten finden natürlich die Begriffe der Krankheit
und Gesundheit gar keine Anwendung; das physiologi.sche Un-
bewusste kann sehr wohl erkranken, — nur nicht spontan, sondern
in Folge irgend welcher functionellen Störung. Das physiologische
Unbewusste ist es ja gerade, welches die Erblichkeit der Geistes-
krankheiten zu Stande bringt.
2) „Das Unbewusste ermüdet nicht." Für das meta-
physische Unbewusste behält der Satz volle Geltung, denn die
Atome der Himmelskörper gravitiren nun schon recht lange auf
einander zu, ohne irgend welchen Nachlass in ihrer Kraftentfaltung
zu zeigen. Für das physiologische Unbewusste hingegen ist der
Satz unrichtig; gerade hier ist die Ermüdung ganz frappant wahr-
nehmbar, und die Erscheinungen, welche dagegen zu sprechen
scheinen, beruhen stets auf einer Ablösung der functionirenden
Thcile, die ein Ausruhen und einen Kraftersatz ohne Unter-
brechung der Function gestattet (z. B. gegenseitige Ablö.'.ung der
den Herzschlag oder die Athmung bewirkenden Ganglien und
Rtickenmarkspartien). Dass beim bewussten Wahrnehmen und
Denken eine Ablösung in dem eiforderlichen Maasse nicht zu
Stande kommen kann, mus« darauf beruhen, das» derinnervations-
227
»trom der Aufmerksamkeit eine so bedeutende Menge von Kraft-
vorrath des Gehirns consumirt, dass die gesammte Oeconoraie
der Gehirnernährung für den Ersatz desselben bei dauernder An-
spannung der xVufmerksarakeit nicht ausreichen würde. Auf diesen
starken Kraftverbrauch deutet auch die active Spontaneität der
Aufmerksamkeit im Gegensatz zu dem passiven Charakter der
Gefühle oder dem gleichsam latenten der Leidenschaften, welche
nur in den kürzeren Ausbrüchen der Affecte ein grösseres Quan-
tum von Kraft consumiren.
3) „Alle bewusste Vorstellung hat die Form der Sinn-
lichkeit, das unbewusste Denken kann nur von unsinn-
lieber Art sein". — Die Form der Sinnlichkeit ist selbst nur
ein Summationsphäuomen aus Atomempfindungen, es würde also
der allgemeinere Ausdruck lauten: Form der Empfindung.
Letzterer umfasst dann auch das Bewusstsein niederer Nervencentra
und untergeordneter Sphären im Grosshirn in Betreff ihrer unter-
halb der Schwelle des Gesammthirnbewusstseins liegenden Func-
tionen mit in sich, d. h. aber das relativ Unbewusste hat ebenfall»
die Form der Empfindung.
Das physiologische Unbewusste als latente Disposition ist
eben eine ruhende Beschaffenheit, die nicht unbewusstes Denken
heissen kann; insofern es aber functionirt, erzeugt es eben allemal
ßewusstseinsfunctionen. Selbst dann, wenn diese Functionen unter-
halb der Schwelle des Gesammthirnbewusstseins liegen, müssen
wir doch annehmen, dass sie in einzelnen Hirnpartien, Hirnzellen^
Moleculen oder auch nur Atomen irgend welches Bewusstsein
erzeugen, welches alsdann immer die Form der Empfindung haben
muss. Insoweit also das physiologische Unbewusste functionirt,
schlägt es sofort in das Gebiet des relativ Unbewussten oder
Bewussten über, und kann dann sein Denken nicht unsinnlicher
Art sein; insoweit es nicht functionirt, kann von einem Denken
bei ihm nicht die Rede sein. Somit bleibt die Verneinung de«
Charakters der Sinnlichkeit oder Empfindung nur gültig für die
anticipirenden Functionen des metaphysischen Unbewussten, die
aber wieder nu/ sehr cum grano salis als Vorstellen oder Denken
bezeichnet werden können,
4) „Das Uubewoßite schwankt und zweifelt
i5*
228
nicht, es braucht keine Zeit zur Ueberleguiig, sondern erfat^st
3nomentan das Resultat." ,,Das Denken des Uubewussten ist
zeitlos" (S. 376). Was die Rapidität der mechanischen Reactionen
des physiologischen Unbewussten betrifft, so haben wir schon
oben (S. 176 — 177) gesehen, dass dieselben nur Avegen des Fehlens
aller Zwischenglieder eine relativ kurze Zeit erfordern aber
keinenfalls in Null-Zeit verlaufen können. Letzteres müssen wir
sogar von den Functionen des metaphysischen Unbewussten be-
streiten, denn Function ohne Zeit ist ebenso wenig denkbar, wie
etwa Causalität ohne Zeit; während die Ph. d. U. den letzteren
Widerspruch der Kant'schen Philosophie beseitigt, lässt sie sich
von dem ersteren kritiklos gefangen nehmen (S. 376). Wenn
die unbewusste Idee dasjenige sein soll, was die Zeit, oder wenig-
stens die bestimmte Zeit (S. 777, Z. 25 — 27) setzt, indem sie das
„Was'' der Welt in jedem Augenblick bestimmt, wenn aber dieses
^,Was" ein sich stetig veränderndes ist, so muss jedenfalls auch
die unbewusste Idee eine sich stetig verändernde sein; sie kann
dann nicht bloss intermittirend einsetzen, sondern muss
dauernd actuell sein, d. h, sie muss zeitlich, nicht zeitlos
sein, um als Erklärungsprincip irgendwie brauchbar zu sein (vgl.
8. 384, Z. 3—4 von unten).
5) „Das Unbewusste irrt nicht". Wir haben in Be-
5Ug auf das physiologische Unbew^usste die Unanwendbarkeit der
Kategorien der Wahrheit und des Irrthums ebenfalls schon oben
(S. 176 ff.) besprochen; es ist klar, dass dieselben auf das meta-
physische Unbewusste nach Streichung des Hellsehens und der
teleologischen Eingriffe noch weniger passen.
6) „Dem Unbewussten können wir kein Gedächtnis s zu-
schreiben." Dies ist für das metaphysische Unbewusste unbedingt
richtig, wenn auch nicht aus den S. 379 — 380 angegebenen teleo-
logischen Gründen; dem physiologischen Ucbewussten hingegen
können wir nur deshalb kein Gedächtniss zuschreiben, weil es
selber auch das Gedächtniss ist (S. 379, Z. 19—14 von unten).
7j„Im Unbewussten ist Wille und Vorstellung in untrenn-
barer Einheit verbunden." In Bezug auf das metaphysische Un-
bewusste bleibt dieser Satz bestehen, insoweit man eben die Aus-
drücke Wille und Vorstellung daselbst gelten lässt. Für da»
229
physiologische Ünbewusste hat der Satz deshalb keine GeltuDg-,
weil in der ruhenden Hirnprädisposition von Wille und Vor
Stellung- überhaupt keine Rede sein kann, während das Functio-
niren der Prädisposition sofort Bewusstsein (sei es gesammthirn-
bewusstes oder relativ unbewusstes) hervorruft, also in die Eman-
eipation der Vorstellung vom Willen vermittelst der bcwussten
Empündung umschlägt (vgl. oben S. 227, auch 73 if.)
Wir iügen mit fortlaufenden Nummer einige weitere Eigen-
schaften des Unbewussten aus späteren Capiteln hier an, bei
welchen es sich ausschliesslich um das Ünbewusste als Princip
des Monismus, d. b. also um das metaphysische Unbev/usste
handelt :
8) „Das Ünbewusste packt das Leben, wo es dasselbe
nur packen kann'^ (S. bbO). Wo immer in einer gewissen Combi-
nation organischer Stoffe die Möglich keil des Lebens gegeben
ist, ergreift das ünbewusste als psychisches Princip die Gelegen-
heit, um den Körper zu beleben und zu beseelen (S. 555); ob es
auch millioiicnmal bei dieser Gier der Belebung verunglücken
mag, CS lässr sieh dadurch nicht stören (S. 559). Es geht bei
dieser Belebungsgier so blind darauf los, dass es keineswegs bloss
solche Gelegenheiten benutzt, welche in dem direkten Stammbaume
des Menschen (als dem den Endzweck des Processes erfüllen,
sollenden Organismus) gelegen sind, sondern es nimmt auch alle
seitwärts vom Wege liegenden Gelegenheiten , sich auszuleben,
eifrig mit, und verrennt sich dabei häutig in Sackgassen der Ent-
wickelung (S. 569), die dem angeblichen Endzweck des Processes-
in keiner Weise dienen. Nur ein kleiner Theil des Thierreichs
liegt im direkten Stammbaum des Menschen und nur ein kleiner
Theil der draussen liegenden Arten des Thierreichs wäre nöthig
für die Oeconomie der Natur in Bezug auf die Aufgaben der
Menschheit; ebenso wäre ein viel weniger reichhaltiges Pflanzen-
reich ausreichend, um die Aufgaben des Pflanzenreichs im Natur-
haushalt in Bezug auf den Endzweck des Processes zu erfüllen ;
alles übrige sieht aus wie ein lusus iriyeniij wie ein metaphysischer
Lebermuth des Unbewussten über seine teleologischen Aufgaben
hinaus. Da alles „Was*' der Welt aber rein teleologisch
durch die Idee bestimmt sein soll, so wäre ein solcher blinder
230
IJ^berdrang, das Leben allüberall und in allen nur möglieben
Gestalten zu haschen und zu packen, selbst dann unerklärlich,
wenn , vyie die Ph. d. Uiib. unrichtig annimmt, das Wollen im
unendlichen Ueberschuss gegen die Idee vorhanden wäre. Obige
Eigenschaft des L'nbewussten ist eben aus der thatsächlichen Welt
empirisch aufgenommen, ohne sich mit den Principien der Ph. d.
Unb. vereinigen zu lassen. Aus der Descendenztheorie, welche
die gesammte Organisation als Resultat eines grossen mechanischen
Compensationsprocesses im Kampf um's Dasein betrachtet, ergiebt
sie sich hingegen ganz ungezwungen, denn hier gelangt eben ohne
alle Rücksichten auf teleologische Leitung des Processes alles
zur Existenz, für dessen Existenz die Bedingungen vorhanden
isind.
9) Das Unbewusste sucht seine Leistungen mit einem Mini-
mum von Kraftaufwand zu vollbringen (S. 560, 568). Dieser
ebenso empirisch wie der vorige der Natur der Thatsachen ent-
nonunene Satz passt ebensowenig wie jener zu den Principien der
Ph. d. U. War dort der extensive Ueberschuss des Kraftaufwandes
über das Maass des teleologisch Noth wendigen hinaus unverständlich,
so muss hier die Knauserei mit der Intensität der aufzuwendenden
Kraft anstössig erscheinen. Beim schwachen Menschen, dessen
Kräfte unverhältnissmässig gering sind zu den Aufgaben, die er
sich selber stellt und der ausserdem bequem und träge ist, weil
ihm die Anstrengung Unlust bereitet, da ist es sehr begreiflich,
dass er Erleichterung der Arbeit sucht, und dass die Herstellung
kraftersparender Maschinen und Leistungen selbstthätig verrich-
tender Mechanismen als zweckmässig (nämlich als den Zwecken
und Verhältnissen des Menschen gemäss) gerühmt wird (S. 154,
620 unten); ein metaphysisches Unbewusstes hingegen kann gar
keinen Grund haben, sich seine Aufgaben zu erleichtern
oder durch Construction selbstthätiger Mechanismen theilweise von
sich abzuwälzen, denn der grössere Kraftaufwand kann ihm ja
keinen Verlust bereiten, also auch die Ersparniss an Kraft keinen
Gewinn bringen, da vielmehr im Gegentheil im Fall eines be-
stehenden Ueberschusses an leerem Wollen die ausserweltliche
Unseligkeit desselben durch Verminderung der im Procoss zur
Bethätigung gelangenden Kraft vermehrt werden müsste. Selbst
231
•dann, wenn man von einem unendlichen Willen absieht, muss doch
das Eine Unbewusste immer in dem Sinne allmächtig bleiben,
wie das Absolute in jedem Monismus so heisseu muss, nämlich
als Besitzer aller Macht oder Kraft, die überhaupt in der Welt
existirt. Da nun die Grösse der AVeit von ihm abhängt und eine
allzu grosse extensive Ausbreitung im Sinne einer teleologischen
Metaphysik gewiss zwecklos ist, so braucht er nur der Welt eine
passende Grösse zu geben, um innerhalb derselben auf alle „Er-
leichterungen^* vermittelst llülfsmechanismen verzichten zu können.
Am Ende ist aber der ganze Process der kosmischen Entwicke-
jung nur als ein solcher Hülfsmechanismus zur mittelbaren be-
ijueraeren Herbeiführung des Endzustandes der Welt zu betrachten,
von welchen nicht einzusehen ist, weshalb das allmächtige Un-
bewusste mit ihm die Zeit vertrödelt, anstatt den Endzustand der
Vv'elt (vor der universalen Willensverneinung) unmittelbar herbei-
zuführen.— Ganz anders, wenn wir von der teleologischen Meta-
physik absehen. Dann stellt sich in der Mechanik das Princip
des minimalen Kraftaufwandes als ein mathematisch beweisbarer
Satz dar und ergiebt sich, dass im Reiche des Organischen noth-
wendig diejenigen Individuen einen Vorsprung in der Concurrenz
iim's Dasein gewinnen müssen, welche mit den besten Mechanis-
men zur Ersparniss an ihren höchst beschränkten individuellen
Kräften ausgerüstet sind, dass also solche kraftersparende Mecha-
nismen und Erleichterungen durch natürliche Zuchtwahl ganz von
selbst sich in den Organismen herausbilden müssen.
10) Das Unbewusste ist allmächtig (S. 770, vgl. auch 163)
imd allgegenwärtig (S. 620). Dass wir die Allmacht nicht
als Unendlichkeit der Kraft oder des Willens, sondern nur als
Ineinsfassung aller überhaupt existirenden Macht gelten lassen
können, ist schon erwähnt. Ebenso aber können wir die All-
gegenwart nicht als „ein unaufhörliches (teleologisches) Ein-
greifen in jedem Moment und an jeder Stelle'^ (8. 620) gelten
lassen, sondern nur als das in allen Atomen zugleich Wirken der
Einen identischen unräumlichen Substanz der Welt (8. 491).
lieides ist unmittelbar mit dem monistischen Princip verknüpft
und giebt in unserer Fassung nicht den geringsten Anspruch auf
«'ine Apotheose des Unbewussten.
232
11) Das Unbewusste ist allwissend (S. 620). Die
Allwissenheit wird identiticirt mit „absolutem Hellsehen" (S. 620),
oder mit der reinen Materie der Vorstellung- oder des Wissens in
tiberbewusster Form (S. 537 — 538). Das Hellsehen wird ein ab-
solutes genannt, weil ihm „alle nur irgend zur Sprache
kommenden Data immer und momentan zu Gebote stehen'' (S. 618,
vgl. auch S. 380). Diese Behauptung ist aber durch nichts zu
erweisen versucht, auch dann nicht, wenn wir die Existenz eines
Hellsehens, ja sogar eines irrthumsunlahigen Hellsehens zugeben
wollten; es sind vieiraehr negative Instanzen gegen obige Be-
hauptung in der Ph. d. Unb. zugestanden, nämlich die Möglich-
keit des gänzlichen Ausbleibens der. hellsehenden Eingebung
des Unbewussten zum Verderben des auf sie angewiesenen Indi-
viduums (S. 377). Selbst ohne solche negative Instanzen könnt<*.
doch eine noch so grosse Summe von positiven Instanzen für die
Existenz eines Hellsehens nimmermehr zum Beweise etwas helfen,
dass zu jeder Zeit und an jeder Stelle alle irgend erforder-
lichen Data dem Unbewussten intuitiv gegenwärtig sein müssen.
Es bleibt ein unendlicher Sprung über eine unausfüllbare Kluft
hinüber, wenn man vom Hellsehen zum absoluten Hellsehen,
von einem gewissen Wissen zur Allwissenheit übergeht. Wäre
auch alles unantastbar, was die Ph. d. U. über das Hellsehen
vorbringt, so wäre es doch ein unendlich dürftiges Material für
das kühne Gebäude von Schlüssen, welches es tragen soll. Dieser
Gedankensprung wäre sogar psychologisch unerklärlich, wenu
nicht die Vermuthung nahe läge, dass hier wieder einmal dur
Einfluss theologischer Jugendreminiscenzen sein Spiel mit dem
Philosophen getrieben hat, jener unselige Eintluss, der schon so
viel der besten Köpfe corrumpirt, so viel Schweiss der Edlen
^'ergeudet hat. — Nun ist aber ausserdem selbst das ungenügende
3Iaterial, welches zur Stütze dienen soll, unhaltbar; denn die
ganze Lehre vom unbewussten Hellsehen ist nur aus einer falschen
Erklärung des Instincts hervorgegangen, und ebenso die Be-
hauptung von der Unfehlbarkeit der durch dieses Hellsehen be-
stimmten Eingriffe des Unbewussten, wie wir beides oben aus-
führlich erörtert haben. Hiernach ist die Behauptung der All-
233
wissenheit des Unbewussten als eine nach jeder Beziehung
grundlose und unhaltbare zu streichen.
12) Das Unbewusste ist allweise (S. 620). Die All-
weisheit besteht aus zwei Elementen: erstens der Allwissenheit
und zweitens der absoluten Zweckmässigkeit der allzeitlich-
allgegenwärtigen teleologischen Eingriffe (S. 620); die Allwissen-
heit liefert die erforderlichen Data, auf welche die teleologische
Thätigkeit sich richtet, und die absolute Vollkommenheit der
letzteren macht, dass jedesmal die dem gesammten Zweckgertist
der Welt möglichst angemessene Vorstellung im möglichst an-
gemessenen Moment an möglichst angemessener Stelle als teleo-
logischer Eingriff in dem naturgesetzlichen Gang des Processes
zu Tage tritt (S. 618). Wir haben über die teleologischen Ein-
grifib dasselbe zu bemerken, wie so eben über das Hellsehen;
selbst wenn sie constatirt wären, würde doch der Uebergang von
einer solchen Thatsache zu der Behauptung einer absolut voll-
kommenen Zweckthätigkeit des Unbewussten in dem an-
gegebenen ^^inne ein unmotivirter Sprung bleiben. Hellsehen und
teleologische Eingriffe zusammen würden nur die Annahme eines
gewissen Maasses von Weisheit des Unbewussten begründen
und rechtfertigen können, niemals die Annahme einer absoluten
Weisheit oder All Weisheit. *) Nachdem wir aber Hellsehen und
teleologische Eingriffe überhaupt als unhaltbare Hypothesen er-
kannt haben, müssen wir auch nicht bloss die All Weisheit,
sondern schon die Weisheit des Unbewussten als eine unhalt-
bare Behauptung bezeichnen. — AVie nur eine theologische Re-
minisceuz die philosophischen Denkresultate in solchem iMaasse
fälschen konnte, so muss auch nach dieser kritischen Purification
die Aehnlichkeit des theologisch corrumpirten Unbewussten mit
dem Gott der Theologie wieder verschwinden. Die Pli. d. U.
ist insoweit dem monistischen Princip treu geblieben, um dem
Prädicat der Güte oder All gute, welches nur eiaem rein
*) Vergleiche Hume, „Untersuchungen über den menschlichen Verstand",
Deutsch von J. H. v. Kirchmann (Berlin: L. lleimann 1869), Abschnitt B. XI.
S. 120-130.
234
ausserweltlicheu Gott zukommen kaun, keine Concessioneu zu
machen, womit denn freilich auch der Gott des Gebets, der den
menschlichen Leiden ein gleichtühlendes Herz und Trost entgegen-
bringt und mit dem man sich auf Du und Du stellen kann, aus-
geschlossen bleiben musste (S. 540). War aber somit das Un-
bewusste kein Gott fiir's menschliche Gemtith, so konnte es
doch wenigstens noch einen Gott für den menschlichen Ver-
stand vorstellen, eben wegen des ihm vindicirten Prädicats der
Allweisheit; nimmt man ihm auch dieses, so bleibt nur die mo-
nistische Bubstanz mit Attributen übrig, welche zwar noch den
metaphysischen Urgrund der Geistigkeit und Materialität als
coordinirter Existenzsphären in sich enthalten, aber nichts von
alledem mehr besitzen, was dem Alles seienden Einen den Cha-
rakter der Göttlichkeit oder Gottheit verleihen könnte. Es ist
dies noch besser verständlich, wenn wir einen Blick auf die drei
Hauptbeweise vom Dasein Gottes werfen: der ontologische führt
höchstens bis zum abstracten Begriff der unbestimmten Substanz,
-der kosmologische höchstens zum Begriff der substantiellen Welt-
ursache oder wirkenden Weltsubstanz, und erst der physiko-
theologische oder teleologische Beweis verleiht dieser substantiellen
Ursache jenen Charakter der Weisheit, ohne den der Mensch sich
die Gottheit, das verabsolutirte Menschenideal, nicht zu denken
vermag. Dieser letzte Beweis steht und fällt nun aber mit der
teleologischen Metaphysik, und deshalb steht und fällt mit der
letzteren auch der letzte Anker des Gottesglaubeus.
Die Ph. d. IT. als der letzte überhaupt mögliche Versuch zur
Rettung der teleologischen Metaphysik ist zugleich der letzte
Versuch zur Rettung des Gottesglaubens, wenn schon in wissen-
schaftlich modificirter Gestalt. Die Theologie hat davon natürlich
nichts gemerkt, aber sie wird vielleicht nach Jahrhunderten die
Ph. d. U. als letzte Stütze ihrer Dogmen citiren, wenn der
Schatten des Autors längst diese Citate desavouiren würde. Ein
Dichter der Zukunft wird dann vielleicht eine Elegie über die
cntgottete Welt singen, wie Schiller sie über Hellas' entgöt-
terte Welt sang, ohne doch mit dieser poetischen Klage über
entschwundene Schönheiten einer kindlichen Glaubenswelt die
235
Restitution des auf ewig Verioreueu für möglich zu halten oder
auch nur zu wünschen. Denn die Wissenschaft wird unauf-
haltsam fortschreiten und der Menschheit inzwischen mit einem
tieferen Verständniss der Natur und ihrer selbst ein werthvolleres
Geschenk gemacht haben, als die Träume waren, aus denen sie
dieselbe mit rauher Hand erweckt hat.
»— <g>»Hg)l' <S>— *
Druckfehler-Bericlitigimg.
S. 85. Z. 14 lies S. 51 ff. statt S. 5 ff.
Inhalts - Verzeichniss.
Soit«
I. Dcscendcnztheorie uud natürliche Zuchtwahl 5
Die deutsche Philosophie und die Descendeuztheorie 5
Unabhängigkeit der Descendeuztheorie von der Theorie der natür-
lichen Zuchtwahl 7
Unzulänglichkeit der Theorie der natürlichen Zuchtwahl .... 9
Hauptgründe für die Descendenztheorie 12
II. Die Teleologrie vom Standpunkte der Descendenztheorie ... 16
P'ortschreitende Elimination des Wunderbegriffs 16
Die teleologischen Eingriffe der Philosophie des Unbewussten . . 19
Die natürliche Zuchtwahl bei der Uraeuguug 21
„Wie kommen wir zur Annahme von Zwecken in der Natur V* . . 25
Die Zweckmässigkeit als Resultat mechanischer Compensations-
processe , ... 29
III. Die Entw ickclung: Tom Standpunkte der Descendenztheorie 35
Der W'eltzustand als Anpassungs-Gleichgewicht 3ö
Der Verlauf der Bewohnbarkeit der Erde 37
Die „Entwickelung" der irdischen Organisation als Folge des Gün-
stigerwerdens der Bewohnbarkeitsverhältnisse der Erde . . 39
Die Relativität der Entwickeluug 41
Unhaltbarkeit des geocentrischen und anthropocentrischen Stand-
punktes 45
IV. Gehirn und Intellekt 49
Idee und Idealismus 49
Entstehung und Functionirung von Vorstellungsprädispositionen im
Gehirn 52
Stinnnungen, Interesse und Aufmerksamkeit bei der Ideenassociation 5Ö
Das Bewusstsein als Summationsphänomen 57
Die Ineinanderschachtelung der Bewusstseine verschiedener Ordnung 59
Die Innerlichkeit oder »"»^ubjectivität der Atome 61
238
Seit«
Lust und Unlust in den Atomen 65^
Entstehung der Empfindung im Gehirn 66
ünhaltbarkeit eines psychischen Hintergrundes der Vorstelkmgen
ausser der Subjectivität der Atome des Hirns 69
Ausschluss der Teleologie bei der Theorie der Bewusstseinsentstehung 73
T. Charakter und Wille 75
Die charakterologischen Triebe als Hirnprädispositionen .... 75
Der Individualwille als Summationsphänomen der Atomwillen des
Gehirns 78
Ünhaltbarkeit hinzukommender metaphysischer Willenseingriffe 81
Psychische Mauserung 86
Tl. Die Tererbuug", insbesondere des Charakters 89
Mechanische Entstehung der Vererbung 89
Latente Vererbung 93
Polymorphismus 96
Vererbung geistiger Eigenschaften 98
Vererbung individuell erworbener Eigenthtimlichkeiten 100
Tn. Die Vererbung" von Anlassen und Fertigrkeiten 104
Ererbter und erworbener Charakter 104^
Charakter und GedächtniäS 105
Ererbte schlummernde Gedächtnissvorstellungen als Inhalt charak-
terologischer Prädispositionen 109
Ererbte körperliche Fertigkeiten 111
ünhaltbarkeit einer metaphysisch-teleologischen Erklärung derselben 112
Ererbte geistige Fertigkeiten und Talente 115
Vm, Die Abkürzung: der Ideenassoeiation und die Vererbungr der
Denkformen 120
Die praktische Bedeutung der Ideenassoeiation und der Process
ihrer Abkürzung 120
Die abgekürzte Ideenassoeiation im Sprachgefühl 123
Dieselbe in der Mathematik 125
Dieselbe in den al>stracten Begriffen und Worten 127
Die tyi^ifichen Denkformen und Denkgesetze loO
Die Genesis der subjectiven Vernunft durch mechanische Compen-
sationsproresse 134
Die physiologische Begründung de« A priori 136
IX« Die Entstehung: der Angeiiauan«:fform der RSiamliebkeit • 140
Die Entwickelung der Tiefendimension 140
Die Anschauung als unbewusgte Einheit Yon Empfindung und «yu-
thetischer Conitmction 14?«
239
Seite
Teleologischer Eingriff oder allmäbUche Anpassung an das prak-
tische Bedüifniss? 145
Aeltere und stärkere Befestigung der Prädispositionen für die erste
und zweite Dimension 148
Umwandlung des discreten Empfindungsmosaiks in das continuir-
liche Anschauuugsbild , 150
Unterschied des Emptindungsmosaiks des Auges von anderen zwei-
dimensionalen Empfiudungscomplexen 155
Die räimiliche Flächenanschauung als anschauliche Perception eines
scheinbar continuirlichen zweidimensionalen Empfindungs-
complexes 157
Daß Ordnen des Emptindungscomplexes nach zwei Dimensionen 158
Gesichtsempfiudungen bei niederen Thieren 159
Die Causalität als ererbte Hirnfunction lol
Die Causalitätsi'unction bei niederen Thieren 164
X, Der Instinct als ererbte Hirn- und Gaiiglienprädispositiou . . 167
Instinct und Uebung 167
Der Instinct als Piosume der bisherigen Resultate 169
Der Grundfehler der Philosophie des ünbewussten 172
Polymorphe Instincte 173
Relativität der Zweckmässigkeit des Instincts 175
Ueberflüssigkeit teleologischer Eingilffe 177
Einfiuss der natürlichen Zuchtwahl auf die Entstehung des Instincts 179
Einfiuss der bewussten Ueberlegung auf die Modificationen der
Instincte 181
Kukuksei und Bienenzelle 18S
Cooperative Instincte 185
Instincte der Nahrungswahl, Feindesfurcht, Fortpflanzung und des
Witterungsvorgefühls 186
XI. Die Instincte der unterg:eordueteu Centralorg'anc des NerTcn-
systems 190
Selbstständige Functionen niederer Nervencemra 190
Die Retiexbcwegungen als Functionen von Hirn- und Ganglien-
Prädispositionen 193
Nachweis teleologischer Irrthümer in Bezug auf Reflexbewegungen 196
f^influss der Ganglien auf vegetative Functionen 199
Die Naiurheilkraft als ererbte Ganglien-PräcUspositionen zu be-
stimmten vegetativen Functionen 2<33
Die vegetativen Funciionen im Embryo bedingt durch ererbte Prk-
dispoßitionen der Zeugungsstoffe . . 205
Unvollkommenheit der «weckmJUaigen Mechauiimtn '^7
240
Seit«
Xn. Das Unbewnsste 211
Das Unbewnsste als Subject der teleologischen Eingriffe .... 211
Das relativ Unbewnsste (Bewnsstseiu niederer Ordnung) .... 215
Das physiologische Unbewnsste (Hirn- und Ganglien- Prädisposition) 216
Das metaphysische Unbewnsste (Subject der physischen und psy-
chischen Atomfunctioneu) 218
Sind die Naturgesetze teleologisch oder blos logisch nothwendigV . 220
Kritik der Eigenschaften des Unbewussten nach Cap. C. I der
Philosophie des Unbewussten 226
Lebensgier und Kraftknauserei des Unbewussten 229
Allwissenheit und Allweisheit des Unbewussten 232
Druck r'm TJ. Sielin^ iu Nanrabnrjj.
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