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DAS THEATER BAND V
DAS WIENER BURGTHEA'fER
VON RUDOLPH LOTHAR
DAS THEATER
EINE SAMMLUNG VON MONOGRAPHIEEN
HERAUSGEGEBEN VON DR. CARL HAGEMANN
^HT BUCHSCHMUCK GEZIERT VON E. M. LILIEN
Bisher erschienen:
Bd. L Der grosse Schröder von Prf. B. Litzmann
Bd. n. Bayreuth von Prf. W. Gohher
Bd.ni.Josef Kainz vonFerd. Gregori
Bd. IV. Albert Niemann vonPrf.R.Stemfeld
Bd. VDas Burgtheater von Dr. Rud. Lothar
Bd. VI.Adalbert Matkowsky vonPhiHpp Stein
In Vorbereitung:
Wilhelmine Schröder-
Devrient von Dr. C. Hagemann
Goethe alsTheaterleiter von Philipp Stein
Ludwig Barnay von Dr. Heinr. Stümcke
Lessing als Dramaturg von Prf. B. Litzmann
Das Cabaret von Dr. Hanns H. Ewers
Die Devrients von Dr. H. H. Houben
Iffland von Dr. E. A. Regener
Laube und Dingelstedt von Dr. C. Hagemann
Das Th^atre fran9ais von A. Moeller- Brück
Die Meininger von Karl Grube
Sonnenthal von Dr. Rud. Lothar
Diese Sammlung wird fortgesetzt
Es sind fünfzig Bände vorgesehen
Jeder Band elegant kartoniert M. I.50
Jeder Band in echt Leder geb. M. 2.50
FÜR BÜCHERLIEBHABER
WURDEN DIE ERSTEN ZWANZIG
EXEMPLARE DIESES BUCHES
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DIESER IN ORIGINAL -COLLIN-
LEDER GEBUNDENEN LUXUS-
AUSGABE BETRÄGT 10 MARK.
SIE IST DURCH ALLE BUCH-
HANDLUNGEN ZU BEZIEHEN
ALLE RECHTE VORBEHALTEN
Die Geschichte des Burgtheaters ist oft
geschrieben worden. Man hat geschildert,
wie das deutsche Schauspiel zwischen dem
improvisierenden Hanswurst und der streng
zugeschnittenen französischen Tragödie, zwi-
schen der Oper und dem Ballett sich lang-
sam Ellbogenraum schaffte, bis es so wie
alle anderen dramatischen Vergnügungen
des alten Wien mit beitragen durfte, einen
hohen Adel zu ergötzen. Man hat die Reihe
der Kavaliere aufgezählt, die als offizielle
Mäzene zwischen Hof und Bühne standen,
Träger glanzvoller Namen, die das Amt des
obersten Direktors mit vielen anderen Amtern
und Würden verbanden. Und weil so ein
hoher Herr, den von heute auf morgen die
Gnade seines Souveräns oder eine Partei
seiner Adelsgenossen mit der Leitung des
Spieles betraut hatten, doch nicht alles ver-
stehen konnte, was im Theater vorgeht und
Besserung, Änderung, kurzum Bestimmung
LOTHAR
verlangt, so war meistens noch ein Beamter
da, Sekretär, Dramaturg, später auch Direktor
g-enannt, der all das Technische flink ver-
stehen und prompt exekutieren musste. Schrey-
vogel, Deinhardstein, Holbein, Laube, Halm,
Dingelstedt, Wilbrandt, Förster, Burckhard,
Schienther, so hiessen diese Mittler zwischen
oben und unten, und die Geschichte des Burg-
theaters ist schliesslich nichts anderes wie
das Hervortreten dieser Persönlichkeiten,
deren Künstlertum wichtiger ist als der
Name des Aristokraten, der für sie nach
oben hin verantworthch ist. Jede Phase
dieser Kämpfe ist beleuchtet und durch-
forscht und mit Akten belegt worden. Es
kann nicht unsere Aufgabe sein, das oft Er-
zählte noch einmal zu erzählen, und was es
Neues gäbe an Spreu und Spänchen, das
führt uns nicht weiter in dem Bestreben, ein
Bild dessen zu geben, was das Burgtheater
heute ist, was es bedeutet, welchen Raum
es einnimmt in der deutschen Geisteswelt
Das Burgtheater beansprucht unter den
deutschen Schauspielhäusern eine ganz be-
sondere Stellung. Es hat seine Tradition, es
DAS WIENER BURGTHEATER
hat seinen bestimmten Stil und ein grosser
Teil seiner Macht besteht in seiner Unab-
häng-igfkeit von Kassennöten. Der Hof, das
heisst heute der Kaiser, gibt ihm die Mittel
zu g-lanzvoller Ausstattung*, ermög-licht es ihm,
grosse Gagen zu zahlen und ein Stück auch
dann zu halten, wenn die Einnahmen an
anderen Theatern zu raschem Tode drängten
würden. Die Kassa hat heute im Burgtheater
nur mehr eine moralische Bedeutung*. Wenn
ihre Ziffern traurig* werden, so bedeutet das
dem Direktor, dass das Publikum nicht ins
Theater geht und also das neue Stück nicht
will. Er hat dann zwei Wege offen. Er kann
dem Publikum recht geben und das Stück
absetzen, er kann aber auch das Stück bei
vorsichtiger Behandlung lange Zeit, vielleicht
Jahre im Spielplan behalten und so dem
Autor einen Rückhalt schaffen, den er sonst
an keiner Bühne finden dürfte. Freilich auch
das Burgtheater hatte einmal bittere Geld-
nöte zu bestehen und die Geschichte seiner
ersten Tage ist nichts wie eine Kette von
Versuchen, dem Bankerott oder der Seques-
trierung zu entgehen. Die ersten KavaÜere,
LOTHAR
die im Hause wirtschafteten, haben gründUch
ihr Geld dabei verloren und sie griffen zu
den seltsamsten Rütteln, um sich zu retten.
Graf Kohary erbat von der Kaiserin Maria
Theresia ein Privilegium zum Verkauf von
Kaffee. Das erhielt er freilich nicht, aber unter
dem Grafen Durazzo erlaubte die Kaiserin
das Pharaospiel im Parterre. Und von dieser
Erlaubnis wurde eifrig Gebrauch gemacht.
Dieses älteste Burgtheater war, auch von den
glückspielenden Herren im Zuschaueraum ab-
gesehen, ein recht sonderbares Haus. Kaiserin
Maria Theresia war durchaus keine Freundin
des Theaters. Ihr fehlte der Sinn für die
Kunst, Sie verachtete die Schauspieler und
tadelte alle, die mit ihnen zu tun bekamen.
Wenn sie aber trotzdem sich mit dem Burg-
theater beschäftigte, oder besser gesagt, dem
Grafen Kaunitz erlaubte, sich damit zu be-
schäftigen, so tat sie dies, weil der Hof das
Theater zu Repräsentationszwecken brauchte.
Am 14. März 1741 überliess die Kaiserin dem
Herrn Selliers, dem Entrepreneur aller Lust-
barkeiten bei Hof, ein kleines, leeres Gebäude,
das an den Flügel des Burgbaues stiess und
8
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DAS WIENER BURGTHEATER
ehemals als Ballhaus gedient hatte. Das neue
Theater erhielt den Namen: „KönigHches
Theater nächst der Burg-\ Aber bis zu dem
Tage, wo Kaiser Josef es zum Nationaltheater
ernannte, vergingen mehr denn dreissig Jahre
und in dieser Zeit war es um die Pflege des
Schauspiels schlimm darin bestellt. Die Aristo-
kraten, die nacheinander das Heft in die Hand
bekamen — sie bildeten Gesellschaften unter
sich und der Theaterbetrieb wurde durch
Subskription ermöglicht — zerbrachen sich
wetteifernd den Kopf, welches Zaubermittel
angewendet werden müsse, um ein Geschäft
zu ermöghchen. Einmal liess man die im-
provisierte Wiener Komödie zu Worte kom-
men, die Herren vom grünen Hute; ein
anderes Mal warf man sie hinaus, um es mit
dem regelmässigen Schauspiel zu versuchen.
Bald wurde deutsch gespielt, bald französisch,
Oper und Ballett zogen ein und machten dem
gesprochenen Wort Rang und Raum strei-
tig, und als dann die Musik endgültig ins
Kärnthnertor-Theater übersiedelte, da suchte
man nach einem Wundertäter, mit dessen
Stücken man dem mehr als kärgUchen Schau-
LOTHAR
Spielrepertoire aufhelfen könnte. So jammer-
voll war es um dies Repertoire bestellt, dass
D'Afflisio, ein echter Abenteurer aus der
Gilde der Casanovas und Cagliostros, der,
man weiss nicht wie, plötzUch in Wien er-
schien, die Menschen bezauberte, Erfolge
hatte, Direktor des Burgtheaters wurde, um
nach kurzer Zeit spurlos zu verschwinden, in
einem Promemoria an die Kaiserin im Jahre
1770 schreiben konnte: 44 grosse Stücke
machen das ganze Repertorium des deutschen
Theaters aus. Da aber von diesen Stücken
sehr viele in Wien nicht gefallen, so wisse er
nicht, was er machen solle. Man wollte Goldoni
als Theaterdichter nach Wien berufen, man
dachte an Lessing als Helfer in der Not und
unterhandelte mit ihm. Lessing kam auch
nach Wien, aber die Unterhandlungen zer-
schlugen sich. Und mitten in all dem Trubel,
in allem Experimentieren, in dem Widerstreit
der Wünsche nach Unterhaltung stand schon
in Wien der Mann, dessen Wort und Ge-
schmack dem Burgtheater die erste Direktive
gab. Dieser Mann war Sonnenfels. Und
trotz der einigermassen chaotischen Wirt-
DAS \MENER BURGTHEATER
Schaft kann man doch auch in diesen Ur-
anfängen des Burgtheaters schon die ersten
Linien seiner Tradition erkennen.
Der Hof und der Adel hatten das Theater
ins Leben gerufen. Sie waren und bUeben
das StammpubUkum. Erst später und lang-
sam \^airde es mit bürgerlichen Elementen
durchsetzt. Das Wiener Bürgertum aber
sah im Adeligen das Muster der Lebensart,
der Sitte, des Geschmacks. Der Kaufmann,
der Fabrikant, der Beamte — das waren ja
die Elemente des Bürgertums — richtete
sich nach der adeb"gen Kundschaft, dem
adeligen Vorgesetzten. Nirgends vielleicht
in der ganzen Welt ist die Abhängigkeit in
Sitte und Geschmack zwischen den zwei
Kasten der Adehgen und Bürgerlichen so
gross gewesen wie im alten Wien. Und bis
in die neueste Zeit war es der grösste Stolz
des Wieners, für einen „Herrn von" gehalten
zu werden, in Aussehen und Gehaben dem
Vorbild zu gleichen. Was also dem Adel
in seinem Haustheater gefiel, davon war
natürlich auch der Bürgersmann entzückt.
Die französische Tragödie, diese nach der
1 1
LOTHAR
Regel zug-estutzte tragische Gartenkunst,
wurde gewiss nicht aus innerem Drange,
sondern weil es französische Hofkunst war,
achtungsvoll aufgenommen. Die Damen in
den Logen bewunderten, und die Herren,
wenn sie gerade vom Kartenspiele aufsahen,
werden wohl auch ein Wort zierlichen Lobes
gefunden haben. Aber wohler war allen
bei Goldonischen Lustigkeiten. Und von
Goldoni bis auf den heutigen Tag reisst die
Kette nicht ab, die die Wiener Amuseure
verbindet.
Das Lustspiel hat in Wien, hat im Burg-
theater seinen ganz besonderen Boden. Der
Wiener ist, wenn er auch gerne räsoniert,
schimpft und raunzt und den mit aller Welt
Unzufriedenen spielt, im Grunde ein unver-
wüstlicher Optimist. Man kann das aus
seinen Sprichwörtern erkennen, die ein felsen-
festes Vertrauen in die Zukunft des einzelnen,
in den nie ermattenden Glanz der Kaiser-
stadt dokumentieren. Der Wiener Optimis-
mus hat verschiedene Arten künstlerischer
Ausdrucksformen. Er hat für die Lebens-
freude eine ideale Sprache gefunden: den
12
DAS \MENER BURGTHEATER
Wiener Walzer. Er war es, der die lustigen
Bewohner Altwiens auf die schönen Wiesen,
auf die Berg-e und in die Wälder der Um-
gebung führte, der die Wonnen der Land-
partien erfand, mit ihrer unbändigen Lustig-
keit, mit der sprudelnden Freude an der
Natur. So zogen Schwind, Bauemfeld und
Schubert hinaus ins Grüne, um zu tanzen,
zu spielen und lustig zu sein. Und wenn
man heute an einem schönen Sonntagnach-
mittag den Wienerwald durchstreift, so hört
man Lachen, Singen und Scherzen aller
Orten, und ferne im Dunst liegt hausmütter-
lich die Stadt und wartet, bis die lustigen
Kinder mit Sang und Klang und bunten
Lichtem wieder heimwärts ziehen. Man
braucht bloss in ein kleines Vorstadtwirts-
haus zu gucken: Ein primitives Gärtchen
mit sandbestreuten Wegen, weisse Tische
unter den Kastanien- oder Akazienbäumen,
in der Ecke vielleicht eine Kegelbahn, aber
sicher irgendwo ein paar erhöhte Bretter,
auf denen Volkssänger einzeln oder paarweise
wasLustiges singen, dieSchönheit des Daseins,
des Wienertums, der Stadt glorifizieren und
13
LOTHAR
dem Leichtsinn in nie versagender Fidelitat
zujubeln. Man braucht bloss an einem
sonnigen Spätnachmittag die Ringstrasse
entlang zu wandeln und Herren und Damen
ins Gesicht zu sehen: man sieht lauter heitere
Mienen, als ob es gar keinen Ernst des
Daseins in dieser Stadt, in diesem Reiche
gäbe, das doch so viele furchtbare Stürme
mitgemacht hat, über dem so viele schwere
Wolken stehen. Und welche Freude hat der
Wiener am Gespräch, an der anmutig be-
wegten, lebhaft pulsierenden und moussieren-
den Wechselrede. Hier hat der leichte Sinn
Geist und Schlagfertigkeit, hier ist der
Tummelplatz für Witz und Ironie; aber der
Witz hat nicht böse Spitzen, sondern ist
hübsch rund und tut nicht weh und die
Ironie ist nicht schlimm gemeinter Spott,
sondern gutgemeintes Verhüllen tieferer Ge-
fühle. In keiner Stadt der Welt macht man
mehr und liebenswürdiger den Hof als in
Wien. Freilich die Galanterie des Wieners
ist nicht parfümiert wie der Frauenkult des
Franzosen, nicht stürmisch, wie die leicht
erweckte Leidenschaft des Welschen. Sie
14
DAS WIENER BURGTHEATER
ist, man möchte sagen, von einer gemüt-
lichen RitterUchkeit. Dass sie aber immer
vorhanden ist, wo Männlein und Weiblein
zusammenkommen, dass sie den liebsten Vor-
wand abgibt für die raffiniertesten wie für
die primitivsten Künste der Konversation,
dass sie gleichsam der Goldgrund ist, von
dem sich das Alltagsleben abhebt, das macht
den Reiz aus, der Wienerischem Geplauder
eigen ist. Und wie hat die Natur dazu bei-
getragen, den Wiener so zu machen, wie er
uns erscheint! Rassenkreuzung tat ihr bestes.
Deutsches Blut vermischte sich mit weichem
Slawentum, mit temperamentvollen italieni-
schen und spanischen Elementen. Französische
Lebenskunst wurde bei Hof und im Adel
geübt. Ein angenehmes Khma machte aus
dem Wiener einen halben Südländer, der
gerne auf der Strasse und im Freien lebt.
Strebt der Deutsche ins Haus hinein, so
strebt der Wiener gerne aus dem Hause
hinaus, fühlt sich wohl im bunten Treiben
der Strasse, auf freier, grüner Wiese, den
blauen Himmel über sich. In der Strasse
fand der Wiener sein erstes Theater. Auf
15
LOTHAR
den freien Plätzen schlug- der Hanswurst
seine Bude auf. Und die Volksdichter
Österreichs, das Beste, Ureigenste, was unsere
Kultur hervorg-ebracht, stammen in gerader
Linie von diesen Freiluftkomödianten ab.
Und auch in der Schauspielkunst ist diese
Tradition nicht abgerissen. Nestroy, Rai-
mund, Anzengruber einerseits, der Girardi
und die Niese andererseits: das ist echte
Volkskunst in Österreich.
Der Optimismus, die Lust am Plausch, die
Freude, von der Bühne herab die Welt be-
stätigt zu finden als einen Ort, wo man an-
genehm hebt und fröhhch heiratet und wo
nett gekleidete Menschen gute Manieren und
keine Sorgen haben, das Vergnügen der
Weltbetrachtung durch die rosigen Gläser
eines behaglichen Humors, das alles bereitete
dem Lustspiel in Wien den geeignetsten
Boden. Der Wiener verlangte und verlangt
nicht übermässig viel Handlung. Die Augen-
blickswirkung der Gesprächswendung amü-
siert ihn schon. Er fühlt sich gerne eins
mit dem gewandten und schlagfertigen Cau-
seur da oben, der die zum Leben wichtigen
i6
SCHRFA'VOGEL
nach einer Bleistiftzeichnung von Mukarowsky
DAS WIENER BURGTHEATER
Ingredienzien, ein empfängliches Herz, fröh-
liche Laune und einen offenen Kopf besitzt
Er ist glückUch, wenn nun gar im Gespräch
all das vorkommt, was er selbst im Leben
so gerne übt: etwas Kritik am Bestehenden,
et^^as Spott über die LächerUchkeiten und
Dummheiten ringsum, eine ironische Be-
trachtung der Gesellschaft, in der man sich
bewegt. Aber da die Bühne, was Gesell-
schaft betrifft, den Zuschauerraum nur fort-
setzt, so wird die Ironie zur Selbstironie und
die Kritik verUert ihre Schärfe, weil man die
Empfindung hat, dass man sie an sich selber
übt. Kein Theaterpublikum der Welt ist so
auf das Verständnis des Lustspieltones ein-
geübt, wie das Publikum des Wiener Burg-
theaters. Und die Meister des Lustspiels,
die hier ihre Erfolge und Triumphe feierten,
haben draussen im Reiche oft enttäuscht.
Das kommt daher, weil diese Poeten, unter-
stützt vom Publikum, vom Theater und seinen
Schauspielern eine nur dem richtigen Wiener
ganz verständliche Kunst übten. Ihre hebens-
würdige Plauderei, die zur Pointe strebt, ihre
in ihrer Einfachheit so angenehme Lebens-
17
LOTHAR
auffassung, die für den Wiener berechnete
Mischung von Gefühl, Ironie, Spass und Ge-
müt, versagten an des Reiches Grenze.
Bauernfeld ist der typische Meister dieses
Genres. Und wie viele Stücke dieser Gattung
stehen seit vielen, vielen Jahren ununter-
brochen im Repertoire des Burgtheaters,
indes sie draussen nicht den rechten Boden
fanden. Ich nenne als Beispiele bloss: Michael
Klapps Lustspiel „Rosenkranz und Gülden-
stern", Herzl- Wittmanns „Wilddiebe". Wie
liebevoll wurden im Burgtheater die fran-
zösischen Lustspiele gepflegt, gespielt und
aufgenommen. Sardous erste Komödien
(Der letzte Brief, Die alten Junggesellen)
leben hier heute noch. Sie werden kaum
wo anders gespielt, nicht einmal in Frank-
reich. Wilbrandts Lustspiele, Wicherts Harm-
losigkeiten fanden hier bereiten Boden und
dauerndes Leben. Das Lustspiel war im alten
Burgtheater die Freude des Stammpublikums.
Es verlor einen grossen Teil seiner Wirkung
bei der Übersiedelung ins neue Haus, weil
der Rahmen zu gross und prunkvoll war
und vielleicht auch deswegen, weil die
i8
DAS WIENER BURGTHEATER
Direktoren den Geschmack des Publikums
für das Konversationsstück nicht genügend
beachteten. Ein Theater muss mit den
Dichtern, mit denen es rechnet, in fort-
währendem Kontakte stehen. Es darf nicht
warten, bis der Zufall ihm die Stücke ins
Haus bringt Um dieses Kontaktes willen
sollte Lessing für Wien verpflichtet werden.
Dieser Kontakt z^nschen Dichter und Schau-
spielleiter machte die Stellung des „Deut-
schen Theaters" in BerHn so stark. Zwischen
dem Burgtheater und den Produzenten be-
steht heute nur ein sehr äusserliches Ver-
hältnis. Das war einmal anders. Und nie-
mand verstand besser das Burgtheater mit
den Dichtern der Zeit in lebendiger Ver-
bindung zu erhalten, als Schreyvogel, der
entschieden der beste Direktor war, den das
Burgtheater je besessen hat.
Schreyvogel war Journalist, Historiker
und Dichter, war Kritiker und Schaffender,
ehe er in der bescheidenen Stellung als
Sekretär, aber tatsächlich als General-
bevollmächtigter die Leitung des Burg-
19
LOTHAR
theaters übernahm. Er hat den Grundstock
des heutigen Repertoires gelegt. Er brachte
die Klassiker, unter ihm trat Grillparzer in
den Spielplan und er selbst lieferte in seinen
Bearbeitungen spanischer Stücke Yv^erke, die
sich im Burgtheater bis auf den heutigen
Tag erhalten haben und die charakteristisch
wurden für die Spielweise des Hauses und
für die Neigungen des Pubhkums. Calderon
und Moreto gehören mit zum Bilde des Burg-
theaters. Immer stand Österreich durch
seinen Hof und seinen Adel mit Spanien in
Verbindung. Im Dialekt, im Wienerischen,
wie es in der letzten Vorstadt gesprochen
wird, haben sich spanische Worte teils rein,
teils in seltsamer Verballhornung erhalten.
Die Etikette, die heute bei Hofe geübt wird,
ist spanischen Ursprungs. Aber das sind
doch nur Äusserlichkeiten. Wichtiger ist
für uns die innige Sympathie, die das Wiener
Pubhkum für spanische Kunst empfand. Es
entdeckte in diesen Werken, die ihm Schrey-
vogel vermittelte, Typen und Handlungen,
die ihm Liebe und Bewunderung abgewannen.
Es war entzückt von der Dialektik des Witzes
20
DAS WIENER BURGTHEATER
und des Herzens, von der pointenreichen Kon-
versation, von der Anmut des Scherzes im
Lustspiel, von der RitterHchkeit der Männer
und vom südlichen Temperament der Frauen.
Die spanische Romantik ist durch das Burg-
theater unserer Literatur eingeimpft worden
und lebt heute noch in der Wiener Kunst.
Sie unterscheidet sich von der deutschen
Romantik vor allem dadurch, dass ihr die
Schwermut fehlt, das Nebelgrau, das Ge-
spenstische der Nacht. Sie ist eben unter
einem südlichen Himmel geboren, wo die
Nacht hell und durchsternt ist und wo die
Natur in ihrem unerschöpflichen Reichtum
dem Menschen Vertrauen in die Zukunft ge-
geben hat. Es ist eine optimistische Ro-
mantik, die in Wien trotz vieler Häutungen
und Wandlungen nie den hellen Hinter-
grund verloren hat. Von Grillparzer bis auf
unsere Zeitgenossen, bis auf Hofmannsthal
und Schnitzler ist dieser Einfiuss unverkenn-
bar. Die Romantik lehrte die Wiener Poeten
das Alltagsleben zu stilisieren, im Wunder-
baren, im AussergewöhnUchen die Prosa des
Alltags zu besiegen. Sie breitete den Zauber-
21
LOTHAR
mantel aus und trug" sie ins Land der un-
begrenzten Möglichkeiten, deren Thore die
Phantasie eröffnet. Und was sie zum Aus-
flug- und zum Fabehritt veranlasste, zur Flucht
in ferne Länder und Zeiten, war zum Teile
auch die vormärzliche Zensur, die in ko-
mischer Wichtigtuerei und mit der Äng-stlich-
keit der bornierten Philisterseele alles „Ge-
fährliche" unbarmherzig strich. Gefahrhch war
vor allem die Beschäftigung mit der Gegen-
wart und ihren Fragen. An die Einrichtungen
der Gesellschaft, an Dinge des Tages und der
Kirche, an Fragen der Moral durfte nicht
gerührt werden. Andererseits sah es aber
die Regierung sehr gerne, wenn das Volk
sich mit Theaterdingen beschäftigte und die
Nase nicht in die Politik steckte. So ent-
standen in Wien die Theaterzeitungen, so
wurde im Publikum gewaltsam die Be-
schäftigung mit theatrahbus genährt und
grossgezogen, deren charakteristischeste Aus-
drucksform der Schauspielerkult ist, der im
heutigen Wien ebenso blüht wie im Vormärz.
Die spanische Romantik kümmerte sich nicht
um Moral und Staatsfragen, sondern be-
22
DAS WIENER BURGTHEATER
schäftigte sich ausschliesslich, mit Liebe, Ehre
und Pflicht. Und das sind auch die Themen,
die die Wiener Dramatiker in Ernst und
Scherz stets gepflegt haben. In langer Reihe
schrieb Heinrich Collin zu Beginn des i Q.Jahr-
hunderts seine Pflichtdramen. Und was ist
Pflicht und was ist Ehre? wurde in der
Wiener Liebesdramatik immer gefragt.
Das Lustspiel und das romantische Drama
pflegte Schreyvogel in hebevoller und eifriger
Weise. Er verstand eine Kunst, die heute
von den wenigsten Direktoren geübt und
gepflegt wird, obzwar sie gerade zu den
wichtigsten Obliegenheiten des Amtes gehört.
Er begnügte sich nicht damit ein Stück an-
zunehmen, einzustudieren und aufzuführen,
er bearbeitete es mit Takt und Geschmack,
die Bühnenwirkung im Auge und immer auf
dem Boden des Burgtheaters fussend. Wenn
wir heute die Technik der Franzosen be-
wundern, die Bühnenrichtigkeit ihrer Stücke
als Muster hinstellen, so vergessen wir, dass
diese glänzende Technik zum nicht geringen
Teüe davon herrührt, dass Dichter und Direk-
tor auf der Probe so lange ändern, streichen,
23
LOTHAR
hinzufügen, bis die gewollte Wirkung da ist.
Diese Arbeit auf der Probe im Feuer des
Spiels löst gar manches vom Papier los, ver-
lebendigt gar manche in der Theorie stecken
gebliebene Intention. Freilich muss dem
Dichter ein Berater zur Seite stehen, dessen
Geschmack und Kunsturteil Gewicht hat.
Solch ein Mann war Schreyvogel. Solch ein
Mann fehlt heute den meisten deutschen
Bühnen. Darum w^ird auf der deutschen
Bühne das Leben vom Papier überwuchert.
Um die Bühne zu beherrschen muss man mit
ihr, auf ihr arbeiten. Und der deutsche
Dramatiker ist ein Stubenhocker. Schrey-
vogels Arbeit und Mitarbeit würde man heute
Regie heissen. Jeder Direktor muss auch
gleichzeitig der beste Regisseur im eigenen
Hause sein.
Aber auch zu Schreyvogels Zeit gab es
wie heute Alltagsware, die gegeben werden
musste. Raupach war gleichsam der Philipp!
von damals, der Theatraliker par excellence.
Die Rolle von Max Dreyer und Otto Ernst
spielten damals Iffland und Kotzebue. Und
in den vierziger Jahren, nachdem Schrey-
24
HEINRICH LAUBE
nach einem Stich von Kriehubcr
DAS WIENER BURGTHEATER
vogel, der sich mit der ihm vorgesetzten
Exzellenz nicht vertragen konnte, rücksichts-
los entfernt worden war, kam auch eine
Moderne und pochte ans Thor des Burg-
theaters. Laube, Gutzkow, Hebbel verlangten
Einlass. Das junge Deutschland lärmte und
schrie. An die Stelle des Epigonendramas,
des nachschillerischen Jamben - Schauspiels
trat das brügerliche, soziale Stück, das herz-
haft ins Reich der Konflikte griff, die man
bisher ängstlich gemieden hatte. Aber hier
sei nun gleich die Frage erörtert, die zu
allen Zeiten die wichtigste Lebensfrage des
Burglheaters war. Wie hat sich das Burg-
theater zur modernen Produktion zu stellen?
Wir haben gesehen, dass die Struktur
des Publikums im Hause einen ganz be-
stimmten Charakter hat. Der Hof und der
Adel haben das Haus begründet und zu
diesem Stammpublikum der Logen trat das
Bürgertum, dessen Geschmack konservativ
geblieben ist. Eben jenes Publikum, das
seine grösste Freude hatte am fein und vor-
nehm gespielten Lustspiel, das seine Lieb-
lingsschauspieler in klassischen Rollen be-
25
LOTHAR
wundem wollte und das für seine Phantasie
in der romantischen Komödie der Spanier
willkommene Nahrung fand. Am leichtesten
befreundete es sich mit Neuem, wenn es aus
Frankreich kam, weil es in französischen
Stücken, ob sie nun von Scribe und später
von Dumas und Sardou stammten, das fand,
zu dessen Genuss es ein Jahrhundert erzogen
worden war: Charaktersilhouetten aus der
Gesellschaft, eine lebhaft bewegte Konver-
sation, eine Liebeshandlung, Konflikte der
Ehre, der Pflicht, die für die nötige Spannung
sorgten. Die Modernen aber haben sich zu
allen Zeiten mit einer Kunst, deren Wert
eine Blüte der Tradition ist, deren Voll-
kommenheit in der abgeschliffensten Form
der Überheferung besteht, deren Wirkung
an der Oberfläche bleibt und nicht in die
Tiefe geht, schlecht vertragen. Die Modernen
erschienen den Trägem der Tradition immer
wie Sansculotten. Sie waren immer Brecher
alter Tafeln, sie traten ein für Natur und
für Rechte des Lebens und sie kämpften
tapfer für die Unterdrückten. Wie die
Naturalisten des i8. Jahrhunderts dem ge-
26
DAS WTENER BURGTHEATER
knebelten Bürgerstande ihre Zunge liehen,
so traten die Naturalisten des 1 9. Jahrhunderts,
als das Bürgertum herrschte, für den vierten
Stand ein. Immer waren es die Naturalisten,
die da stürmten und drängten, die Rechte
der Jugend gegen die Alten verteidigten, die
Bühne zum Tribunal machten, um mit dem
Bestehenden ins Gericht zu gehen. Diese
Revolution in der Literatur ist die notwendige
Form, in der sie sich verjüngt. Sie kehrt
immer wieder, wenn der Stil erstarrt und
verknöchert ist, wenn die Formen, so vollendet
sie auch hergestellt werden, abgenützt und
verbraucht sind. Der Sturm und Drang
bricht allemal mit dem alten Stil und der
alten Tradition, um dann wieder geklärt und
ruhig geworden neue Stilarten zu produzieren.
Das Bedürfnis aber nach Stil, das heisst nach
dem künstlerischen Herausheben des Stoffes
aus der puren WirkUchkeit, die Interferenz
des Künstlers zwischen seinem Werk und
der Natur ist aber nichts anderes, als die
Mitarbeit der Phantasie. Immer haben die
Revolutionäre den Zaubermantel der Phantasie
zerrissen und verbrannt, just so, wie es
27
LOTHAR
politische Umstürzler mit einem Fürsten-
mantel tun. Aber die missachtete Phantasie
kehrt immer wieder zurück, fast unerkannt
steht sie einmal unter den Tätigen und
plötzlich sitzt sie wieder auf dem Throne.
Die Phantasie ist es ja, die den Stil schafft.
Und die Mutigen, die sich wieder zu ihr be-
kennen, erscheinen als neue Romantiker.
Naturahsmus und Romantik, das ist der
ewige Kreislauf der Kunst.
Damit aber die nötige Entwicklung im
Drama sich vollziehe, bedarf es der tätigen
Mitarbeit des Publikums. Diese Mitarbeit ver-
sagen die konservativen Zuschauer dem neuen
Werke. Und seine Wirkung ist also dem
Effekt einer Maschine vergleichbar, deren
Transmissionen im Leeren laufen. Nicht nur
also, dass des Dichters und des Schauspielers
Mühe vergebens war, die geringe Wirkung
verleitet vielleicht sogar zu dem falschen
Schlüsse, das Werk nach diesem negativen Er-
folge zu beurteilen. Alle Direktoren, die es im
Burgtheater mit dem jeweils Neuen probier-
ten, haben trübe Erfahrungen damit gemacht.
Nein, eine Kampfbühne ist das Burgtheater
28
DAS WIENER BURGTHEATER
nicht. Dazu fehlt ihm die Beweglichkeit des
Apparates und des Publikums. Es steht in
Wien auf dem Franzensringe nicht weit von
dem Prachtbau der neuen Museen. Und ein
Museum der dramatischen Kunst soll es sein.
Wenn ein Stück ins Repertoire des Burg*-
theaters kommt, so muss es die Gewähr mit
sich bringen, dass es im Repertoire weiter
leben wird. Im Burgtheater gespielt zu
werden, muss gleichbedeutend sein mit der
Aufnahme in den eisernen Bestand der
deutschen Bühne. Das Burgtheater ist die
letzte Phase der Kampfperioden. Hier treten
die Werke ein, die sich den Stil errungen
haben. Denn Stil ist das Zeugnis der Reife.
Darum entspricht es ganz dem Charakter
des Hauses, wenn es um Jahre vielleicht
hinter der zeitgenössischen Produktion zurück-
bleibt. Sein Schwergewicht wird immer in
der mustergültigen Darstellung der Klassiker
ruhen. Und darin ist es auch heute unüber-
troffen. Es gibt keine Bühne der Welt
und es hat nie eine Bühne gegeben, wo
Schillers „Fiesco" und ,.Tell", Lessings
„Nathan", Hebbels „Gyges", Otto Ludwigs
29
LOTHAR
„Erbförster", um nur einige Beispiele zu
nennen, in vollendeterer "Weise dargestellt
wurden.
Zu diesen Musterauff ührungen, deren Höhe
in Deutschland viel zu wenig bekannt ist,
haben drei Faktoren in ununterbrochener
Arbeit mitgewirkt: eine in der Tradition
gross gewordene, durch Auswahl aus den
in ganz Deutschland verstreuten Kräften sich
verjüngende Schauspielerschar, eine über die
reichsten Mittel verfügende Regie und ein
durch ein Jahrhundert zur Beurteilung der
Schauspielerleistung erzogenes Publikum.
Das Burgtheaterpublikum, das allzu konser-
vativ ist, um für neue Stücke die notwendige
Unabhängigkeit des Urteils mitzubringen, ist,
was Kritik des Schauspielers betrifft, unbe-
streitbar das feinfühligste und empfängHchste
in Deutschland.
Gute Klassikeraufführungen brachten
immer und bringen auch heute dem Hause
die grössten Einnahmen. Und die grössten
Ruhmestaten des Burgtheaters waren stets
auf diesem Gebiete zu suchen. Eine solche
Tat war Dingelstedts Shakespeare-Zyklus,
30
DAS WTENER BURGTHEATER
war in der letzten Saison die Wiederaufnahme
von Schillers Fiesco.
Nach Schreyvogel kam der leichtsinnige,
als Direktor gar nicht ernst zu nehmende
Deinhardstein, und nach Deinhardstein der
theatereifrige Holbein, der aber leider der
Zeit, in die seine Direktionsführung fällt, gar
nicht gewachsen war. Denn das war die
Zeit, wo Hebbel erschien und wo die Jung-
deutschen ebenso spektakelten und turbulier-
ten, wie fünfzig Jahre später die Jüngst-
deutschen. Aus dem Kreis der Revolutionäre
kam dann der Mann ans Burgtheater, auf
den in gerader Linie die heutige Schauspiel-
kunst des Hauses zurückgeht: Heinrich Laube.
In der Schauspielkunst des Burgtheaters
können wir dieselben Elemente erkennen
wie in den Stücken, die sich in der Gunst
dieses Pubhkums erhalten haben. Friedrich
Ludwig Schröder und Brockmann kamen
aus Hamburg nach Wien und brachten in
den 80 er Jahren des 18. Jahrhunderts die
realistische Spielweise der Hamburger Schule
in das Burgtheater, wo damals der franzö-
31
LOTHAR
sische I^assikerstil herrschte. Aus der Ver-
bindung" dieser beiden Elemente entwickelte
sich der eigentliche Burgftheaterstil. Er ist
realistisch in seinen Grundzügen, idealistisch
in seiner Ausdrucksweise. Seine Meister
waren gründliche Kenner, Beobachter und
Schilderer des Lebens. Sie haben sich beim
Studium ihrer Rollen niemals von der leben-
spendenden Wirklichkeit entfernt, aus ihr
schöpfen sie das Verständnis für die Gestalten
des Dichters. Ihr entnahmen sie die Elemente
für ihr eigenes Schaffen. Aber als sie dann
die im Geiste feststehende Figur ins Bühnen-
bild projizierten, stellten sie ihre eigene Persön-
hchkeit zwischen Dichtung und Wahrheit,
und diese Interferenz, die wir schon einmal
als den Stil im Kunstwerk bezeichneten, be-
deutet auch den Stil der Schauspielkunst.
Im Burgtheater hat Laube die Pflege des
Wortes zur grössten Ausbildung gebracht.
Aber Pflege des Wortes heisst hier nicht
nur die sinnvolle Aussprache und die logische
Betonung, sondern auch der Tonwert der
Rede. Als Schreyvogel ans Ruder kam,
schwelgten die Lieblinge des Publikums in
32
FRIEDRICH HALM
nach einer Lithographie von Kriehuber
DAS WIENER BURGTHEATER
pathetischer Deklamation. Er brachte Besse-
rung*, aber erst Laube brachte völlige Er-
lösung. Der letzte, durch seine PersönUch-
keit gewaltig wirkende Pathetiker war Josef
Wagner. Aber wenn das Wort im Burg-
theater auch nicht mehr die selbstherrliche
Rolle spielen darf, die alle künstlerische
Wirkung unterbindet, seine Klangschönheit
behielt es. Melodik des Wortes, Grosszügig-
keit der Geste, daran hat das Burgtheater
festgehalten bis heute. Fassen wir zusammen,
so ergeben sich als Kennzeichen des Burg-
theaterstiles: Studium der ReaHtät, das an
jedem Detail erkennbar ist. Hervortreten
einer prägnanten künstlerischen PersönUch-
keit (und nur das starke Temperament konnte
sich in Wien behaupten), dadurch bedingtes
Stilisieren der Rolle, Pflege der Klangschön-
heit und der eindrucksvollen Geste. An
allen Grossen im Burgtheater lassen sich
diese Eigenschaften nachweisen. In der
Geste und im Wort lebt heute noch Goethes
Weimarer Schule. Phantastisch-romantisch
war die Natur des Schauspielers, die dem
Wiener am meisten zusagte. So war das
33 3
LOTHAR
Temperament der grossen Sophie Schröder,
so waren Dawison, Gabillon und Mitterwurzer,
so ist Kainz. Und worin lag- die ungeheuere
Wirkung von Anschütz, Löwe und der Wolter?
Es waren schauspielerische Kräfte von grossem
Temperament, die aus dem Worte ein künst-
lerisch schönes Gebilde schufen.
Anschütz hat in Baumeister seinen be-
rufenen Nachfolger gefunden. Baumeister
ist kein sehr wandlungsfähiger Schauspieler.
Das Proteisch-Spielerische, die Häutungs-
fähigkeit des Komödianten fehlt ihm. Er
wirkt am eindringhchsten durch seine eigene
Natur. Diese Natur ist geradlinig, derb und
deutsch. Baumeister kann keinen Menschen
darstellen, der sein Wesen verstellt, nur die
Natürlichen Hegen ihm. Darum ist er un-
übertrefflich, wenn er in sich gefestete,
ruhige Kraft, voll saftigen, behaglichen
Humor darstellen kann. Darum spielt ihm
niemand die Treue nach, mit der er seinen
Kent ausstattete. Aber unter der schlichten,
etwas rauhen Aussenseite seiner Menschen
fühlt man immer das tatbereite Temperament.
Darum sind sein Götz und sein Richter von
34
DAS WIENER BURGTHEATER
Zalamea so grandiose Leistiing-en. Weil
Baumeister die Volubilität der Zunge abgeht,
bekommen seine Worte erst rechtes Gewicht.
Denn er verweilt gerne bei ihnen. Ein-
dringUche Güte spricht wunderbar aus seinem
Mund. Auch sein Gesicht ist nicht ver-
wandlungsfähig, wenngleich seine Augen
blitzen und funkeln und schelmisch blinzeln
können und der Zug um den Mund bald
von tiefster Güte, bald von unnachsichtiger
Strenge spricht. Aber gerade das Schwer-
bewegüche in ihm hat etwas Rührendes, und
so weiss er selbst aus seiner Schwäche ein
starkes Mittel zu machen, womit er unsere
Sympathie gewinnt. Aber auch Bau-
meisters Organ hat klangvolles Metall, das
imx Affekt nicht nur im Ausbruch, sondern
auch im verhaltenen Tone machtvoll wirkt.
Etwas Weichheit, ein Mollakkord Hegt in
Baumeisters PersönUchkeit. Ganz Durakkord
war ein anderer Schauspieler des Burg-
theaters, der ebenso wie Baumeister aus dem
Naturburschentum hervorkam und in seiner
kerndeutschen Art, in seinem Persönlichkeits-
wert unersetzbar gebheben ist
35 ^
LOTHAR
Als Ludwig Gabillon am 13. Februar 1896
starb, da empfanden die Wiener seinen Tod
nicht nur als künstlerischen Verlust, sondern
wie ein persönliches Leid. Denn das Ver-
hältnis des "Wieners zur dramatischen Kunst
ist immer ein persönUches. Es haftet am
Schauspieler. Hinter diesem steht der
Dichter in zweiter Reihe. Nie war in Wien
ein Dichter so populär, wie seine Mittler es
waren und sind. Nie hat in unserem gfesell-
schaftlichen Leben ein Poet die Rolle ge-
spielt, die dem gefeierten Mimen zufallt.
Kein Dichterjubiläum hallt so laut und nach-
drückUch durch unsere kleine Wiener Welt
und ihre Zeitungen, wie das Jubelfest eines
„Lieblings*'. Die Gründe dieser Erscheinungen
wurzeln teils in der Eigenart des Wieners,
der sich leicht und schnell für alle? Per-
sönliche begeistert, das ihm auf der Strasse,
Markt und Bühne entgegentritt, teils in den
schon erwähnten politischen Verhältnissen
des Vormärz, wo der Wiener förmlich auf
das Theater und die Theaterleute dressiert
wurde, um der Politik entzogen zu werden.
Den Schauspieler sieht er, den Dichter nicht
36
DAS WIENER BURGTHEATER
oder mindestens nicht so oft und gewiss
nicht so scharf beleuchtet. Und der Gegen-
wärtige hat Recht — besonders in Wien!
Auch Gabillon war keine proteische
Natur. Seine Verwandlungsfähigkeit war
nicht sehr gross, und er suchte nie, ihr
Effekte abzuringen. Er war und bUeb immer
der Gabillon. Der aber konnte Vieles
und Vielerlei, und seine Kunst war reich
und stark. Er spielte die Recken und harten
Helden, die finsteren Tyrannen, die Männer
der eisernen Faust und der eisernen Stirn,
die Schwertgesellen, die Stegreifritter und
Landsknechte der Vergangenheit und der
Gegenwart, die Leute mit scharfer Zunge
und mit scharfen Zügen, die Menschen
mit niederländischen Humoren. Hagen —
seine Meisterrolle — Kattwald, Boffesen,
Selbitz, Junker Tobias, Abdallah (Nos intimes),
Delobelle, das waren die echten, vollkommenen
Gabillonrollen. In seiner Kraft, im Mark
seines Spieles, in seinem derben, gerade zu-
schlagenden Humor lag eine Eigenart, wie
man sie selten bei modernen Menschen findet.
Wie aus einem Dürerschen Holzschnitt kam
37
LOTHAR
sie herausgferitten. Sie rasselte gerne mit
Eisen und liebte einen guten Spass. Gabillon
war ein Mann der Kraft und der Freude.
Darin lag sein Künstlertum. Er kannte den
sieghaften Wert der Daseinsfreude und wusste
mit ihr seine Gestalten zu formen. Und die
grösste Freude war ihm auf der Bühne wie
im Leben das Gefühl der eigenen Kraft.
Sie austoben zu lassen, war ihm reinster Ge-
nuas. Alle „ritterhchen" und sportlichen
Spiele liebte und pflegte er. Er vereinigte
in sich den Sporttrieb des Engländers mit
— der Indianerromantik des Lederstrumpfes.
Er war ein leidenschaftlicher Fechter, Ruderer,
Schwimmer, Jäger und Fischer. Aber über
all seinem Sport lag Scottsche Ritterburg-
stimmung. Am liebsten wäre er in Turniere
geritten und hätte Türkenköpfe abgesäbelt.
Und wie seinem Körper gab er gerne auch
seiner Phantasie Platz zu freier, ungebundener
Tätigkeit. Philister mögen solche Tätigkeit
der Phantasie immerhin Jägerlatein heissen.
Gabillon war Simson genug, solche Philister
herzhaft zu verachten. Gabillons Geschichten
waren berühmt. Sass er einmal auf dem
38
DAS WIENER BURGTHEATER
Rösslein des Erzählers, dann ging es in toller
Hatz durch dick und dünn. Da war kein
Weltteil zu entlegen, um von ihm besucht
worden zu sein. Da war kein Berg zu hoch,
kein See zu tief — er war auf der Spitze
oder auf dem Grunde gewesen. Da wurde
auf Bären, Tiger, Wölfe, vielleicht sogar auf
Riesentiere der Vorwelt Jagd gemacht; da
wurden fabelhafte Entdeckungen, Um-
segelungen, Erforschungen waghalsig unter-
nommen; da wurden literarische, geschicht-
liche, soziale Paradoxe aufgestellt, dass es
die Zuschauer schwindelte, zu ihnen aufzu-
blicken, und dass es schhesslich nur einen
gab, der das Unglaublichste, Unmöglichste
glaubte — und dieser eine war Gabillon
selbst! Wie ein Fisch im Wasser schwamm
er dann seelenvergnügt in seinem Element.
Und ganz Wien freute sich dessen.
Gabillon war oft ein recht widerwilliger
Mittler. Er, der alte Romantiker, hasste die
Moderne. In seinen Tagebüchern finden sich
nur Worte des Hasses, des Zornes und der
Verachtung für die Richtung Ibsens und
Hauptmanns. Und trotzdem er diese Stücke
39
LOTHAR
nicht mochte, spielte er meisterhaft die
Rollen, die er darin bekam. Laubesche
Disziphn steckte ihm eben in allen Knochen.
Wenn er mit Laube auch manchen Strauss
auszufechten hatte, wenn er auch persönlich
mit ihm nicht immer am besten stand, seine
Autorität, sein Feldherrng-enie anerkannte er
rückhaltlos. Und was heute dem Burg-
theaterensemble seinen rechten Zusammen-
halt gibt, ist das Laubesche Erbe, das die
Alten in sich tragen und den Jungen weiter-
geben.
An keinem kann man vielleicht besser
die Entwicklung der Burgtheaterkunst stu-
dieren, wie an Emmerich Robert Laube
gab den Kern. Er lehrte ihn die Rede.
Dingelstedt gab die äussere Form, die glanz-
volle Vornehmheit. Wilbrandt den romanti-
schen Zug. Robert war, um in der alten
Fächersprache zu reden, Liebhaber und
Charakterspieler zugleich. Er war von
weichem Gemüt und von scharfem Verstand.
So gab er den Dänenprinzen: das Liebens-
würdige wie das Geniale, die Schärfe wie
die Weichheit, das Temperamentvolle wie
40
DINGELSTEDT
nach einer Radierung
DAS WIENER BURGTHEATER
das Verträumte, die Berechnung- wie den
Überschwang holte er aus sich heraus, aus
eigenem Wesen knetend und gestaltend. Wie
Hamlet war er selbst ein Grübler und ein
Schwärmer, heftig und langsam, zögernd und
rasch. Seine Stimme hatte Klang und
Wucht und doch war sie von Schatten wie
gebunden, von Schleiern wie verhüllt. Aber
mit diesen Schatten und Schleiern wusste
er ins Geheime der Seele zu dringen, ans
Geheime unserer Seele zu rühren. In seinem
Auge lag Schwermut und Feuer, in seinem
Gange Entschlossenheit und Melancholie.
So gelangen Robert die Mischcharaktere am
besten, in denen er sein eigenes Doppel-
wesen spielen lassen konnte. Da geschah
es denn oft, dass er eine Rolle über alles
Erwarten des Dichters hinaus zu ungeahntem
Leben erweckte. Seine Natur gab den Ge-
stalten eine Plastik, die der Dichter ihnen
versagt.
Robert war gewiss der beste Coriolan
and der beste Fiesco, den die deutsche
Bühne getragen. Er gab ihnen Blut von
seinem Blute. Unter Wilbrandts Direktion
41
LOTHAR
trat Robert in seine Reifezeit. Da spielte
er den Coriolan und den König Ödipus.
Mit der gewaltigfen Leistung des Ödipus
erreichte er die Grenzen seines Könnens.
Dieses Können reicht von Hamlet zu Ödipus,
von Ödipus zu Pausanias (Meister von
Palmyra). Das diesen drei Gestalten ge-
meinsame, den geheimen Rapport ihrer
Seelen mit Üb ersinnen weit und Schicksals-
mächten brachte keiner wie er zur Geltung.
Robert war ausserordentlich klug in der
Verwendung seiner Mittel. Er war ein
Stilist der Rede, der das Pathos meisterte
wie den flüssigen Gang des Gespräches.
Ihm war jedes Wort ein Instrument und in
jedem Zug seiner Gebärde lag der Rhythmus
der bestimmten PersönUchkeit. Er wusste
manche Muskelarbeit den Nerven zu über-
tragen und das machte ihn zur Darstellung
der modernen, im Banne der Nerven stehen-
den Menschen besonders geeignet. Seine
Nervten waren wie die Saiten der Kithara.
Der leiseste Hauch brachte sie zum Klingen.
Robert gehörte zu den Schauspielern, deren
bestes Können rein instinktmässig ist. So
42
DAS WIENER BURGTHEATER
scharf er seine Rolle erfasste, das Beste,
was er in sie hineinlegte, entsprang- dem un-
bewussten Impulse, nicht der Studierarbeit.
Desweg-en überwand er immer wieder die
ihm stets drohende Manieriertheit. Die
Nuancen seines Spieles erg-aben sich jeden
Abend von selbst. Sie hing*en von seiner
Stim.mung' ab, blieben sich nie völlig' gfleich.
Ich möchte diese Schauspieler, die jeden
Abend ihre Rolle neu spielen, über jene
stellen, die in ihre Rolle wie in ein Kleid
hineinschlüpfen, in ein Kleid, das ihre Kunst
g-eschneidert hat. Bei diesen letzteren ist
die Kunst immer etwas Äusserliches, bei
den ersteren nur ist sie völlig innerlich ;
bei jenen ist die Schauspielkunst ein Werk
der Betrachtung, bei diesen ein Werk des
Erlebten; jene können lange über ihre Kunst
philosophieren, wissen genau, warum sie
eine Rolle so und nicht so darstellen, diese
sprechen selten und ungern über ihre Kunst
— denn sie wissen nichts davon zu sagen.
Und das ist das Merkmal des echten Künstlers:
sein Schaffen muss ihm immer ein Geheimnis
bleiben, ein heiliges Geheimnis!
43
LOTHAR
Aus der Tradition des Burgtheaters wuchs
Robert empor. Seine grosse EmpfängHch-
keit führte ihn der modernen Bühnenkunst
entgegen. Ibsen-Rollen, wie Oswald in den
„Gespenstern", wie der „Baumeister Solness"
waren ihm Probleme, an die er seine ganze
Kraft, seine ganze Kunst wandte. Aber erst
Kainz löste diese Probleme. Roberts Kunst
war wie ein Präludium zur Kunst Josef Kainz',
anders und doch ihr im wesentUchsten ver-
wandt. Robert war ein Johannes der Mo-
derne.
Und auch mit Mitterwurzers grosser Kunst
ist die Art des Kainz verschwistert. Beide
sind Romantiker, beiden ist der Zug ins
Phantastische eigen. Mitterwurzer war ver-
wandlungsfähiger, reicher in der Charakteristik,
man fühlte in seinen Gestalten nicht nur
Ner\^en, sondern auch Muskeln. Sein Tem-
perament war weniger von der Überlegung,
als vom Instinkt gezügelt Was wir beim
Schauspieler genial nennen, ist ja meistens
nichts anderes als die Treffsicherheit des
Instinkts. In Mitterwurzer lebte in abge-
klärtester Form der Improvisator der alten
44
DAS WIENER BURGTHEATER
Wiener Freilufttheater auf, der Stegreif -
komödiant mit der unerschöpflichen Schlag*-
fertigkeit. Nur dass seine Improvisationen
nicht dem Worte, sondern dem Ausdruck,
dem Detail galten. Er zerstückte aber nicht
nach Virtuosenart eine Rolle in Details, son-
dern er charakterisierte sie, beleuchtete sie
durch Nebensächlichkeiten, die als solche g*ar
nicht auffielen und zum Bilde des Ganzen
organisch zusammenwuchsen. Wie später
Kainz hatte auch Mitterwurzer die Liebe zum
Grotesken und er scheute sich nicht, die
Tragikomik des Daseins ins Schauspielerische
zu übersetzen. Er war im Geist der beweg-
lichste Schauspieler, den das Burgtheater je
besessen hat ; er war von einer schier un-
heimlichen Agilität des Intellekts, und doch
sah man nie die Verstandesarbeit, sondern
fühlte immer, dass hier wirklich unbewusstes,
künstlerisches Schaffen am Werke war. Aber
neben der unbewTissten Kunst Mitterwurzers
stand unaufhörlich der stets prüfende, wägende,
messende Verstand, der den Ton bestimmte,
den Klang regelte, der die ausdrucksvollsten
Masken schuf und über alle Figuren jene
45
LOTHAR
Ruhe breitete, die im Zuschauer das Gefühl
er^^eckt, dass dieser Mensch auf der Bühne
fest in seiner Erde wurzelt. Bei dieser Ruhe,
mit der Mitterwurzer seine Gestalten anlegte,
wirkten die vulkanischen Ausbrüche des
Temperaments um so gewaltiger.
Ein Romantiker der Nerven ist Josef
Kainz. Er hat den Schönheitskult der Rede
auf die höchste Stufe gebracht. Darin ist
er, freiUch in anderem Sinne als seine Vor-
gänger, Träger echter Burgtheatertradition.
Seine Rede hat Leuchtkraft, Weichheit und
Schärfe, hat Funkeln des Stahls und Schmieg-
samkeit der Seide, so dass sie oft zum selb-
ständigen Kunstwerk wird, das man geniesst,
fast losgelöst vom Sinn der Worte, der in
diesem schimmernden Gewände steckt. Nie-
mand weiss heute die Gewalt des Rhythmus
eindringUcher zu handhaben, als Kainz. Und
nicht nur seine Rede hat Rhythmus, auch
in seiner Geste wohnt dieser die Schönheit
regelnde Faktor. Realistisch im Erfassen
einer Figur, stiUsierend in ihrer Wiedergabe,
kühn und keck in gewagter perspektivischer
Auffassung eines jungen Menschenlebens,
46
DAS WIENER BURGTHEATER
das er in eine Rolle drängt, ist Kainz, der
traditionslos ins Burgtheater trat, heute doch
die absolute, edelste Verkörperung des Burg"-
theaterg*eistes. Alle Elemente, die wir da
und dort, in dem und jenem fanden, sind in
ihm vereinigt. Modern durch und durch ist
er gleichzeitig doch der typische Vertreter
einer Jahrhundert alten Schule. Und gerade
bei ihm wird es offenbar, wie klassische
Rollen heute gespielt werden müssen : im
Sinne der Dichtung und doch unserem heu-
tigen Empfinden entsprechend. Die Phasen
des Burgtheaterstiles liessen sich vielleicht
am besten am Hamlet studieren. Der letzte
pathetische Hamlet war Josef Wagner. Dann
spielte ihn Robert („rein und mächtig", wie
Laube sagt) und heute hat Kainz die rea-
Hstische Tradition wieder aufgenommen, die
seinerzeit Brockmann nach Wien brachte.
Denn gerade im Hamlet lässt sich die ideale
Verklärung realistischer Auffassung am besten
durchführen. Am öftesten aber hat den
Hamlet in Wien Adolf Sonnenthal gespielt.
Sonnenthal fusst mit seiner Kunst völlig
in der Laubeschen Schule. Er übernahm das
47
LOTHAR
Erbe, das Fichtner seinerzeit von Korn über-
liefert erhalten hatte, und er brachte es zu
einer Höhe, die kein Schauspieler auf einer
deutschen Bühne jemals erreicht hat. Korn
und nach ihm Fichtner waren im alten Wien
die Verkörperung- des liebenswürdigen und
eleganten Weltmannes. Die Kunst der
Liebenswürdigkeit, die vollendete Technik
des weltmännischen Benehmens, den Takt des
Königs, Fürsten, Edelmannes und Gentleman
hat Sonnenthal zur Meisterschaft entwickelt.
Und nicht bloss in äusserlichen Formen, auch
innerlich im Gemüte. Und wenn man Liebens-
würdigkeit, Vornehmheit und Takt als Eigen-
schaften des Herzens betrachtet, dann ergibt
sie jene Güte, die der goldige Grundton der
Sonnenthalschen Gestalten ist. Wir haben ja
gesehen, wie empfänglich das Burgtheater-
publikum für das Lustspiel war, wie es die
Ritterlichkeit der Spanier und die Grazie
ihrer Redeweise freudig aufnahm. Wir haben
auf die Zusammensetzung des Publikums hin-
gewiesen, das es Hebte, auf der Bühne die Ge-
sellschaft gespiegelt zu sehen, die im Hause
sass. All diese Momente trugen zu Sonnen-
48
ADOLF WII.BRAXDT
nach einem Gemälde von Franz v. Lenbach
DAS WIENER BURGTHEATER
thals Grösse bei. Die Kavaliere im Zuschauer-
raum sahen im Schauspieler den klassischen
Typus ihrer eigenen Art. Die Bürgerlichen
bewunderten in ihm das Vorbild. Und Jahre
hindurch hat sich die Wiener Herrenmode
nach Sonnenthal gerichtet. Aber nicht nur
wenn Sonnenthal elegante Liebhaber und
späterhin welterfahrene Raisonneure zu spielen
hatte, fand er für sie den richtigen Ton. Er
fand ihn auch in seinen jungen Jahren für
schwärmerische Helden, er fand ihn in wunder-
barer Klarheit in seinem Alter für weise und
gütige Greise. Sein Temperament war nicht
titanisch, nicht eruptiv, aber es hatte immer
herzgewinnende Wärme. Und diese Wärme
löste alles Kantige und Schroffe und Harte
und gab Sonnenthals Figuren den weichen
Silberton des Umrisses. Niemand kann heute
Weisheit und Güte und inbesonders jene
Weisheit, die aus der Güte quillt, lebendiger
darstellen, als Sonnenthal. Darum ist sein
Nathan ein Gipfelpunkt der deutschen Schau-
spielkunst überhaupt. Takt ist eigentlich
nichts anderes, als die Kunst, sofort die
Harmonie des Einzelnen mit der Umgebung
49 *
LOTHAR
herzustellen. Der wahre Takt setzt also eine
reiche Menschenkenntnis voraus und die hat
Sonnenthal in seinem Verkehr mit der Wiener
Gesellschaft, deren Liebling- er immer war,
mit klugem Auge gesammelt. Und aus dieser
Menschenkenntnis heraus schuf er seine Ge-
stalten. Sie verlassen nie den Boden der
Wirklichkeit, w^enn auch ihr Realismus von
aller Erdenschlacke befreit ist. Aber Sonnen-
thals Idealisierung geht nicht in ungemessene
Höhen, sondern bleibt immer in jener wohligen
Atmosphäre, für die das Burgtheaterpublikum
vermöge seiner Zusammensetzung das beste
Verständnis hatte. Man könnte sagen, dass
Sonnenthal zuweilen seine Figuren verbürger-
licht hat, dass er Schatten aufhellte und dort,
wo der Dichter verschleierte, an Stelle des
Ungewissen das Positive seiner Natur setzte.
Er war nie ein Freund des Grau und der
unbestimmten Farben. Er liebte das Helle,
das Leuchtende, und das war mit ein Grund,
warum er in dem das Helle liebende Wien
so starke Wurzeln fasste, wie nie ein Schau-
spieler vor ihm, und eine Stellung einnahm,
die wohl niemand nach ihm sich erobern wird.
50
DAS WIENER BURGTHEATER
Elegant und liebenswürdig ohne Sonnen-
thals tiefe Güte und das Überzeugende seines
Temperaments ist Hartmann, der aber anderer-
seits eine flotte Unbekümmertheit mitbrachte
und sieghafte Frische des Tones, die seinen
Naturburschen fröhliches Leben gab. Er ist
kein Schauspieler, der in die Tiefe geht und
gerade das Oberflächenspiel seiner Art machte
ihn für gewisse Rollen sympathisch und treff-
lich geeignet. Schimmerte bei Sonnenthal
immer der Ernst des Lebens, der Erfahrung
des Überdendingenstehens durch, so war es
bei Hartmann stets der leichte Sinn, der
über den Ernst hinwegglitt. Aber er wie
Sonnenthal ist der Nachkomme der alten
Schule Korn-Fichtner.
Und vom glühenden und raschen Loewe
über Josef Wagner geht ein direkter Weg
zu den Heldenspielern Krastel und Reimers.
Krastel führte die burgmässige Pflege des
Wohllauts der Rede vielleicht etwas zu weit.
In seinen Blütejahren stand er mit seinem
sorglosen Drauflosgängertum Hartmann nahe.
Reimers ist schwerblütiger und das Feuer
seines Blutes brennt ruhiger. Loewe soll
5.
LOTHAR
gfanz ausg*ezeichnet dreiste Ungfezogfenheit,
freche Herausforderung* g-espielt haben.
Diese Seite seines Könnens übernahm in der
Geg-enwart Max Devrient, der beste Zawitsch
(König Ottokars Glück und Ende) des alten
und des neuen Hauses. Und so wie Lieb-
haber, Charakterspieler und Helden, so gfehen
auch die Komiker mit ihrer Tradition in die
Laubezeit zurück. Nach Beckmann kam
Meixner, nach Meixner Römpler. Römpler
g-eht freilich das Bissig--Boshafte, Galligfe
Meixners ab, er ist der Humorist der Behag*-
lichkeit und Behäbig-keit. Er meistert als
Charakteristiker den warmen Burgtheaterton,
die Gemütsseite, auf die hier so gerne das
Spiel geführt wird. Es gibt in Wien immer
zweierlei Komik, die des Dicken und die des
Dünnen, hat einmal Friedrich Uhl gesagt.
Und er führte als Beispiele Scholz und Nestroy
an. Das Bild ist treffend und lässt sich fast
in jeder Phase der Wiener Theatergeschichte
erproben. Ist also Römpler im Burgtheater
der Dicke, so ist Thimig der Dünne. Beweg-
lich, sprunghaft, proteisch-grotesk, ein aus-
gezeichneter Mimiker, der die Komik sehr
52
DAS WTENER BURGTHEATER
g-eschickt in lauter Momentaufnahmen zu zer-
legen weiss, ohne deswegen die lebendige
Kontinuität der Erscheinung zu zerstören, hat
er seine norddeutsche Natur, die zur Schärfe
und zur Nüchternheit neigte, mit der warm-
blütigen, weichen Burgtheatertradition so zu
legieren verstanden, dass der Ton seiner Komik
mit ihrem hellen Timbre in diesem Haus
geboren zu sein scheint. Vor Thimig waren
auch Reusche und Schöne aus dem Norden
gekommen und hatten sich in den Charakter
des Hauses gefunden. Schöne freihch behielt
immer die trockene Komik und wirkte da-
mit Aber auch dieser Zuzug aus dem Norden
ist für das Burgtheater charakteristisch.
Schröder und Brockmann und später so viele
und die Besten darunter kamen aus dem
Norden. Wie ein Volk dann am kulturfähig-
sten wird, wenn Rassenmischung stattfindet,
so brachte die Kreuzung von Xord und Süd
dem Burgtheater seine reichste Blüte.
Dieselbe Erscheinung wie bei den Schau-
spielern kann man auch bei den Künstlerinnen
des Hauses beobachten. Die Wolter nahm
die Stelle ein, die einst die grosse Sophie
53
LOTHAR
ganz ausgezeichnet dreiste Ungezogfenheit,
freche Herausforderung* g-espielt haben.
Diese Seite seines Könnens übernahm in der
Geg-enwart Max Devrient, der beste Zawitsch
(König Ottokars Glück und Ende) des alten
und des neuen Hauses. Und so wie Lieb-
haber, Charakterspieler und Helden, so gehen
auch die Komiker mit ihrer Tradition in die
Laubezeit zurück. Nach Beckmann kam
Meixner, nach Meixner Römpler. Römpler
geht freilich das Bissig-Boshafte, Gallige
Meixners ab, er ist der Humorist der Behag-
lichkeit und Behäbigkeit. Er meistert als
Charakteristiker den warmen Burgtheaterton,
die Gemütsseite, auf die hier so gerne das
Spiel geführt wird. Es gibt in Wien immer
zweierlei Komik, die des Dicken und die des
Dünnen, hat einmal Friedrich Uhl gesagt.
Und er führte als Beispiele Scholz und Nestroy
an. Das Bild ist treffend und lässt sich fast
in jeder Phase der Wiener Theatergeschichte
erproben. Ist also Römpler im Burgtheater
der Dicke, so ist Thimig der Dünne. Beweg-
lich, sprunghaft, proteisch-grotesk, ein aus-
gezeichneter Mimiker, der die Komik sehr
52
DAS WIENER BURGTHEATER
geschickt in lauter Momentaufnahmen zu zer-
legen weiss, ohne deswegen die lebendige
Kontinuität der Erscheinung zu zerstören, hat
er seine norddeutsche Natur, die zur Schärfe
und zur Nüchternheit neigte, mit der warm-
blütigen, weichen Burgtheatertradition so zu
legieren verstanden, dass der Ton seiner Komik
mit ihrem hellen Timbre in diesem Haus
geboren zu sein scheint. Vor Thimig waren
auch Reusche und Schöne aus dem Norden
gekommen und hatten sich in den Charakter
des Hauses gefunden. Schöne freiHch behielt
immer die trockene Komik und wirkte da-
mit Aber auch dieser Zuzug aus dem Norden
ist für das Burgtheater charakteristisch.
Schröder und Brockmann und später so viele
und die Besten darunter kamen aus dem
Norden. Wie ein Volk dann am kulturfähig-
sten wird, wenn Rassenmischung stattfindet,
so brachte die Kreuzung von Nord und Süd
dem Burgtheater seine reichste Blüte.
Dieselbe Erscheinung wie bei den Schau-
spielern kann man auch bei den Künstlerinnen
des Hauses beobachten. Die Wolter nahm
die Stelle ein, die einst die grosse Sophie
53
LOTHAR
Schröder besessen, und heute wächst Frau
Bleibtreu in das Wolterfach hinein. Der
grosse Zug-, die streng-e Linie, die romantische
Atmosphäre, in der die Figuren leben, das
Metall der Rede ist allen dreien eigen, ist
allen dreien vom Geist des Hauses gelehrt
worden. Der romantische Stil, mit dem im
Burgtheater auch die Gestalten der Antike
in Farbe getaucht wurden, ermöglichen es
allen dreien auch im Lustspiel zu glänzen. Mo-
dernisierung der Antike war im Burgtheater
immer gleichbedeutend mit Romantisierung
der Antike. So spielte erst jüngst Frau
Hohenfels Goethes Iphigenie. Auch in Frau
Hohenfels ist übrigens die Auflösung nor-
discher Herbheit in wienerischer Anmut und
südlicher Grazie, das Leuchten der eigenen
Persönhchkeit durch die Rolle zum glück-
Uchsten Ausdruck gekommen. Immer gab
es im Burgtheater eine solche Verkörperung
geistvoller Anmut So waren Fräulein Peche
und Louise Neumann. Und gerade die Damen
waren es, die immer den Ton des Burgtheaters
am raschesten erfassten und sich am ehesten
ins Ensemble fügten. Fräulein Witt kam vor
54
DAS \MENER BURGTHEATER
einig'en Jahren und Frau Retty vor emig*en
Monaten ins Haus und das in hellen Farben
überquellende Temperament des Fräulein
Witt und die Zierlichkeit der Frau Retty —
Fräulein Witt hat die Laune des Empire und
Frau Retty ist ganz Rokoko — sind heute
schon so innig- mit dem Hause verwachsen,
als wären beide hier gross g-eworden.
Wenn wir im vorstehenden einig^e Re-
präsentanten des Burgtheaters — nicht alle,
ja selbst nicht alle berühmten — in kurzen
Strichen skizzierten, so taten wir dies, um an
emig-en Beispielen den Satz zu erhärten, dass
das heutig-e Ensemble, die Art wie im Burg"-
theater gespielt, gesprochen, schauspielerisch
gedacht und empfunden wird, immer noch
dem Rahmen entspricht, den Laube um die
Burgtheaterkunst zog. Und Laube selbst
hat die Tradition des Hauses nicht erst ge-
schaffen, sondern nur vertieft, ihr den rech-
ten Schallboden gegeben. Er war weit mehr
Erzieher der Schauspieler, Hüter des Wortes,
Baumeister der Rede, als Regisseur, wenn
man unter Regie nicht nur die Pflege des
Repertoires, die Erwerbung neuer Stücke,
55
LOTHAR
sondern auch die szenische Verlebendigen^
dieser Stücke versteht. Diese seine Eigen-
schaft war auch mit ein Grund, warum der
Schauspieler in Wien immer mehr Interesse
erregte, als der Dichter, warum auch mindere
Stücke sich behaupteten, wenn sie nur gute
Rollen für die Lieblinge enthielten. Laube
pflegte sehr stark das französische Schauspiel.
Unter ihm zogen Scribe,Augier,Feuillet,Dumas,
Labiche, Sardou fast übermächtig im Reper-
toire auf. Sie hatten ein Gegengewicht in
den Klassikern, in Shakespeare und Schiller,
Goethe und Kleist. Aber für Hebbel hatte
Laube leider gar kein Verständnis und er
verleugnete nicht den Geschäftsmann, wenn
er die Birch-Pfeiffer öfter spielte, als es der
Würde des Hauses entsprach.
Unter seinen Nachfolgern gab es keinen
mehr, der den Schauspielern Lehrer und
Berater hätte sein können. Nur einer hatte
zu diesem wichtigen Amte das Talent, und
das war August Förster. Aber er starb zu
früh, dem Burgtheater viel zu früh.
56
AUGUST FÖRSTER
nach einer Photographie
DAS WIENER BURGTHEATER
Die Nachfolger Laubes im Amte: Halm,
Dingelstedt, Wilbrandt und nach der kurzen
Försterepisode Burckhardt und Schienther
haben den Spielplan und insbesonders die
Regie der Stücke stark beeinflusst. Die
Spiehveise der Schauspieler liessen sie intakt.
Und da die Alten immer noch in der Voll-
kraft standen, wenn neue Kräfte in das
Ensemble traten, so erbte sich Technik und
Charakter der Spielweise von einer Gene-
ration zur anderen fort. Sehr wichtig für
diese Kontinuität der Überlieferung war es
auch, dass die Regisseure des Hauses aus
der Mitte der Schauspieler genommen wurden.
Als Kaiser Josef sich mit der Regelung
des Theatergesetzes, das die Hausordnung
der Burg werden sollte, beschäftigte, wurden
die Schauspieler, die damals die Stützen der
Gesellschaft waren, um ihre Meinung be-
fragt Sie bheben auch fernerhin in Form
eines fünfgliedrigen Ausschusses als beratende
Körperschaft dem Direktor zur Seite. Diese
AusschussmitgUeder hiessen zuerstlnspizienten
und dann Regisseure. Sie wurden zuerst auf
ein Jahr und später auf Lebensdauer ernannt.
57
LOTHAR
Sie lasen der Reihe nach den Einlauf der
Stücke und gaben ihr Votum ab. Sie
machten dann, wenn das Stück auch vom
Direktor angenommen worden war, der die
oberste Entscheidung hatte, ihre Besetzungs-
vorschläge. Und wenn auch die Besetzung
endlich feststand, übernahm einer von ihnen
die Regie. Überdies fungierte der jeweilige
Monatsregisseur — an die Stelle des wöchent-
Uchen Turnus trat bald der monatliche —
auch als Hausoffizier, hatte am Abend der
Vorstellung die Polizeigewalt hinter der Szene,
trat vor die Rampe, wenn ein Schauspieler
um Nachsicht bitten Hess oder wenn es galt,
sich bei einer Premiere für den Dichter zu
bedanken. Im Laufe von hundert Jahren
gab es zwischen Direktor und Regiekollegium
immer Reibungen und jeder Leiter wollte
mit der Institution brechen. Aber erst in
letzter Zeit verloren die Regisseure einen
grossen Teil ihrer Machtvollkommenheit. Sie
lesen nicht mehr die eingereichten Stücke
sie besetzen nicht mehr, sie haben auf die
künstlerische Leitung nicht den geringsten
Einfluss. Nur die Funktion des Hausoffiziers
58
DAS WIENER BURGTHEATER
ist ihnen gfeblieben und die Inszenierung* der
Stücke liegt in ihren Händen. Dass der
mitspielende Kollege auch gleichzeitig- Re-
gisseur ist, bedeutet gewiss keinen idealen
Zustand. Es kommt dies mit Ausnahme
des Burgtheater und der Comedie francaise
auch an keiner erstklassigen Bühne mehr
vor. Die Nachteile sind einleuchtend. Der
Schauspieler sieht sich selbst nicht spielen
und seine Leistung fällt also, wenn er gleich-
zeitig Regie führt, ausserhalb der Kritik.
Dieser Übelstand wird nur dadurch ausge-
glichen, dass der Regisseur in diesem Falle
die Aufführung genau auf den Ton der
Tradition stimmt, dessen starke Verkörperung
er selbst ist. So ist der Nachteil auch ein
Vorteil und so hat sich denn, dank den
Regisseuren, sowohl in der Comedie francaise,
wie am Burgtheater der traditionelle Stil rein
erhalten, der sofort gebrochen würde, wenn
ein Aussenstehender dem eigenen Geschmack,
der eigenen Inspiration folgend die Regie
führen würde. Es sei denn, dass dieser nicht
mehr mitspielende Regisseur seine Bühnen-
bildung im Burgtheater genossen hätte.
59
LOTHAR
Der Mann, der die moderne Regie im
Burgtheater begründete, war Dingelstedt.
Aber zwischen ihm und Laube steht noch
die kurze dreijährige Direktionszeit Friedrich
Halms, die aber in der Entwicklung des
Hauses so gut wie keine Spuren hinter-
liess. Friedrich Halm ist uns heute inter-
essant als der tv^pische Vertreter einer Dich-
tungsart, die die Tore des Burgtheaters immer
offen fand. Das Beste, Ursprünglichste, was
österreichische Kunst für die Bühne gezeitigt
hat, geht heute noch in gerader Linie auf
die Volkspoeten zurück. Die österreichische
Volksdramatik war aber nie hoftheaterfahig.
Sie behandelte gerne aktuelle Fragen, sie
frondierte, räsonnierte und übte soziale Kritik,
sie machte aus dem Dialekt ein geschmei-
diges und sicheres Werkzeug, ihr haftete in
der losen Komposition immer etwas Impro-
visatorisches an. Freilich lernte auch sie
von den Richtungen, die in Wien galten.
Spanische Phantastik, luftige Romantik findet
sich in Raimund; Nestroy lehnte sich an
französische Vorbilder an. Auch zum letzten
Grossmeister der österreichischen Kunst, zu
60
DAS WIENER BURGTHEATER
AnzengTuber, fand das Burgtheater nie ein
rechtes Verhältnis. Es hat aber auch nie,
seitdem Schreyvog"el schied, den Dichtem,
die rechtens ins Haus gehörten, den Raum
g-egeben, der ihnen gebührte. Weder Grill-
parzer noch Hebbel fanden die volle Wür-
digung. Schuld daran tragen aber nicht
nur die Direktoren, sondern die ganze Struk-
tur des Hoftheaters mit seinem erbgesessenen
Publikum, mit seinen konservativen Kunst-
anschauungen, mit seiner ängstlichen Zensur,
mit den dunklen Einflüssen von oben herab.
Seine ganze Natur verhindert das Burg-
theater Schritt zu halten mit der zeitgenös-
sischen Produktion. Das ist gewiss beklagens-
wert vom Standpunkte der Kunst, das ist
betrübsam für die Dichter, die nicht für ein
Hoftheaterpublikum , sondern fürs Volk
schreiben. Aber man bedenke, was Sonnen-
fels, dessen Geist ja das Nationaltheater aus
der Taufe hob, der Dichtkunst im Burg-
theater für eine Direktive gab. Er schrieb:
„Das Missfallen der Grossen und des Adels
ist allein imstande, die schändüchen Miss-
geburten von der Schaubühne zu ver-
6i
LOTHAR
dräng-en . . . Fordern Sie keine Geldbörsen,
keine Brillantringe für Ihre nationalen Dichter
zur Belohnung, ein einziges Wort zum Lobe
des Dichters aus dem Munde eines Kaunitz,
ein Lächeln der Grazie Lichtensteins muss
mehr Sporn, mehr Belohnung sein, als alles
Gold der Welt." Diese Kurzsichtigkeit
Sonnenfels', die im Adel den Geschmacks-
richter für das Haus sah, hat das Burg-
theater der wirkUch nationalen Kunst ent-
fremdet. Die historischen Dramen Grill-
parzers, Hebbels gewaltige Probleme waren
keine Kost für den Adel. Und wenn
Schienther daran gedacht hätte, dass diese
Worte Sonnenfels' noch heute unsichtbar,
aber noch fühlbar im Hause herrschen, so
hätte er niemals Hauptmanns „Rose Bernd"
im Burgtheater — abzusetzen gebraucht Aber
neben den Volksdichtern, neben den einsam
thronenden Grossen, wie Grülparzer und
Hebbel, gab es in Österreich auch kluge
Poeten, die die Witterung des Publikums
hatten und deren Eklektizismus nirgends an-
stiess. Sie waren gewandt und flüssig in
der Form, schrieben einen gefalligen und
DAS WTENER BURGTHEATER
melodischen Vers, erregten kein Ärgernis
mit Stoffen und Konflikten. Solch ein Poet
war Friedrich Halm. Er war ein gewandter
Schüler der Spanier, ein liebenswürdiger
Romantiker, er wusste, was in Wien gefiel
und gefallen konnte, und wenn seine Epi-
gonenkunst auch nichts Originelles brachte,
sie gefiel im Burgtheater, weil sie alle Ele-
mente vereinigte, die hier erbgesessen waren.
Halm stellte weder sich noch den Schau-
spielern, noch dem Publikum neue Aufgaben.
Aber all dies tat Baron Dingelstedt
Dingelstedt war in vielen Punkten Laubes
direkter Gegensatz. Ihm behagte die P'ran-
zosenherrschaft auf der deutschen Bühne
nicht und er gab dem Repertoire einen ganz
anderen Stützpfeiler. Und das war Shake-
speare. Der Shakespeare-Zyklus, den er zur
Aufführung brachte, war eines der denk-
würdigsten Ereignisse in der Geschichte des
Hauses. Was heute an Klassikervorstellungen
im Burgtheater geleistet wird, geht direkt
oder indirekt auf Dingelstedts Shakespeare-
pflege zurück.
Was Dingelstedt vorschwebte, war die
63
LOTHAR
Schaffung- eines Gesamtkunstwerkes. Dich-
tung- und Schauspielkunst sollten mit der
Ausg-estaltung des Bühnenbildes einen har-
monischen Akkord geben. Hatte Laube das
Wort g-epflegt und für die Szene nur das
Nötigfe g-etan, so g-ing Dingelstedt über die
strikte Befolg-ung der szenischen Anweisungen
im Texte hinaus und bemühte sich in seiner
Phantasie jenen Rahmen erstehen zu lassen,
der am besten zum Stimmungsgehalt der
Dichtung passte. Das Bildhafte herauszu-
arbeiten war ihm die liebste Beschäftigung
in der Bühnenarbeit. Er pflegte das
Malerische, liebte mit Massen zu operieren
und freute sich, wenn es auf der Bühne
recht bew^egt zuging. Vielleicht ging er so-
gar in seinem Bestreben, aus dem schein-
baren Chaos das Tableau erstehen zu lassen,
manchmal zu weit. In den Gruppierungen
bemerkte man zuweilen die Absicht. Man
kann sich keine stärkere Reaktion gegen die
bürgerliche Inszenierung Laubes denken, als
Dingelstedts Arbeit mit Farben, Massen, mit
musikalischen Wirkungen und Lichteffekten.
Und nun geschah es, dass zur selben Zeit in
64
MAX BUKCKHARD
nach einer Radierunfr
DAS WIENER BURGTHEATER
Wien ein Künstler meteorg-leich seine Bahn
beschrieb, die Menschen faszinierend, der
g-anzen Stadt Richtung- g-ebend mit seinem
Geschmack. Dieser Mann war Makart. Die
glanzvollen Bilder des Festzug-es zogen an
an Wien vorüber, auf seinen grossen Tafeln
feierte Makart dionysischen Farbenkult. Es
geschah wieder einmal, dass der Dienst der
Schönheit, der Rausch der Farbe zu aktuellen
Fragen der Gesellschaft wurde. Und auch
im Burgtheater war Makarts Einfiuss unver-
kennbar. Bis in die letzten Jahre blieb die
Regie in der Massenbewegung, in der
Gruppierung Dingelstedts Tradition getreu
und löste sich in der Dekorationsmalerei nicht
von Makart los. Erst als Heinrich Lefler Chef
des Ausstattungswesen wurde, trat hier eine
Änderung ein, und heute ist das Burgtheater
in bezug auf Ausstattung nicht nur die erste
Bühne Deutschlands, sondern wahrscheinlich
auch die erste Bühne der Welt. Der erste
Akt des armen Heinrich, des Fiesco, der
drei Reiherfedem, der Rose Bernd, um nur
einige Beispiele zu nennen, sind das künst-
lerisch Höchste, was Bühnenausstattung er-
65 5
LOTHAR
reichen kann. Es ist nicht das Prinzip
Makcirts, das die Farbe und den koloristischen
Akkord vor allem betonte, das mit starken
Kontrasten, mit tiefem Dunkel und glänzenden
Lichtem arbeitete, es ist nicht die Schule
der Meining-er, die unbekümmert um den
Stimmungsgrad der Szene sich nur an die
Stilrichtigkeit und die historische Treue des
Objektes hielt. Lefler sucht die Harmonie
zwischen der Stimmung der Dichtung und
der Stimmung der Dekoration. Und das ist
gewiss der einzig richtige AVeg der szenischen
Gesamtkunst, die Dingelstedt vorschwebte.
Und in der Regie selbst, wie sie heute von
Hartmann und Thimig gehandhabt wird, kann
man Laubesche Überlieferung in der AVort-
pflege, Dingelstedtsche Bewegung der
Massen, Burgtheatertradition in der Ideali-
sierung realistischer Elemente deutUch er-
kennen. Diese Regie stilisiert, verstärkt das
Charakteristische, lässt immer in der Natur-
kopie, auch wenn es sich um Alltägliches
handelt, die ordnende Hand des Künstlers
erkennen. Darum feiert sie ihre grössten
Triumphe im klassischen Stück, im modernen
66
DAS WIENER BURGTHEATER
Lustspiel, wo Stil gleichbedeutend ist mit
Harmonie des Daseins und darum ist sie am
schwächsten in den Gegenwartsdramen, die
sich knapp ans wirkliche Leben halten. Da
kann es sich auch einmal ereignen, dass der
Stil des Spiels die Intention des Dichters
aufhebt.
Aber diese bis ins Feinste gehende Regie,
die wie auf einem Instrument alle Töne und
Tonschattierungen herauszubringen vermag,
wäre machtlos, wenn nicht durch ein immer
sich verjüngendes Ensemble die volle Ton-
kraft des Instruments erhalten bliebe. Dieses
Ensemble zu erhalten musste also die erste
Sorge der Direktoren sein. Diese Sorge
iäUt schwerer ins Gewicht als die Err^^erbung
von Stücken. Denn, wir haben ja gesehen,
wie die Bewegungsfreiheit des Direktors in
dieser Beziehung gehemmt ist, wenn auch
jedem neuen Leiter bei seinem Amtsantritt
volle Freiheit zugestanden wird. Aber wirk-
liche Freiheit im Repertoire hat nur ein
nach oben hin unabhäng'iges Theater. Denn
es ist fast schon ein historisches Gesetz, dass
Hof und Adel sich mit dem künstlerischen
67 5*
LOTHAR
Ausdruck des modernen Empfindens niemals
vertragen. Das ist auch begreiflich. Was
jeweils modern ist, bedeutet Kritik des Be-
stehenden. Hof und Adel haben diese Kritik
immer gehasst und verachtet Aber anderer-
seits ist es auch Tatsache, dass die Kunst
über diesen Hass und diese Verachtung immer
noch lachend gesiegt hat. Nur ist es leider
dem Burgtheater nicht möglich, diesen Sieg
mitzukämpfen. Es kann sich erst der Früchte
dieses Sieges erfreuen, wenn der Zeiten
Widerstreit vorüber ist.
Gebunden und eingeengt in der Literatur-
bewegung, ist das Burgtheater völhg frei in
der Entfaltung schauspielerischer Kraft. Darin
lag von jeher sein Stolz und seine Grösse
und darin liegt seine Zukunft.
Nach Dingelstedt kam Wilbrandt. Hätte
Wilbrandt mehr Energie gehabt, w^äre er
härter und strenger gewesen, von der Kom-
mandantenart Laubes, vielleicht sässe er heute
noch am Steuer, dem Burgtheater zum Heile.
Denn er war in vielem dem Burgtheatergeist
kongenial: ein idealisierender Realist von
unerschütterlichem Optimismus, den ein Leben
68
DAS WIENER BURGTHEATER
voll Bewegung- und Farbe freute, der das
Theater liebte und eine Beg^eisterung" für
sein Amt mitbrachte, die manchem seiner
Nachfolger gründlich fehlte. Aber um ein
gniter Direktor zu sein, muss man Tyrann
sein. Im Namen der Kunst natürlich und
einzig ihr zur Liebe. Das Tyrannische ging
nun Wilbrandt völlig ab und der Kleinkram
des Amtes, die Sorgenmühle des Alltags
zerrieb ihn. Er ging, weil er sich müde
fühlte und weil er wieder frei sein und frei
atmen wollte. Wie die Shakespearewoche
unter Dingelstedt, so war die Aufführung
des „Faust" an drei Abenden der Höhe-
punkt von Wilbrandts Direktion. Für die
Romantik des zweiten Teiles ist wohl kein
Haus geeigneter, als das Wiener Burgtheater.
Wilbrandt ging und das Burgtheater über-
siedelte ins neue Haus. Es ist ein herrlicher
Prachtbau mit verschwenderischem Luxus
ausgestattet, aber in seinen Raumverhältnissen
durchaus nicht glücklich. Es ist zu gross,
der mächtige Bühnenrahmen ist zu prunk-
voll. Die berühmte Intimität des Spieles
schien im Anfang unwiderbringUch verloren,
69
LOTHAR
man glaubte den Kontakt zwischen Bühne
und PubUkum für immer entzwei g-erissen.
Nun haben sich freihch Schauspieler und
Zuschauer in das neue Haus hineing-efunden
und gewöhnt. Aber bei gewissen schlichten
und einfachen Stücken ist der Rahmen doch
zu erdrückend für den Vorgang. Freilich
die im klassischen Stück traditonelle Gross-
zügigkeit des Spieles wurde vom neuen
Hause eher gefördert, als unterbunden. Und
für die Entfaltung szenischer Pracht hat es
seine Eignung wiederholt glänzend bewiesen.
August Förster, der nach einer kurzen
Interimsherrschaft Sonnenthals der erste
Direktor des neuen Hauses war, starb nach
einem Jahre. Der Mann, der nun am ge-
eignesten gewesen wäre die Zügel der Re-
gierung zu ergreifen, war Baron Berger. Er
brachte alles mit, was gedeihliches Wirken
versprach. Intimste Kenntnis des Hauses
und der Tradition, reiche Phantasie, die gerne
zur Phantastik neigt, dichterisches Mitem-
pfinden für ein Werk und eine ganz ausser-
ordentliche Begabung zur Regie und zur
diplomatischen Kunst, ohne die nun einmal
DAS WIENER BURGTHEATER
das Burgtheater nicht zu lenken ist. Aber
Berger wurde nicht Direktor, sondern ein
homo novissimus trat auf: Max Burckhard.
Burckhard war als Direktor ein genialer
Düettant. Er lernte das schwierige Hand-
werk der Theaterführung erst in seinem Amte
und so hatte denn die ganze Epoche seiner
Leitung etwas Unruhiges, Schwankendes, Un-
stätes. Diese Unruhe, die künstlerisch von
vielen und schweren Nachteilen begleitet
war, hatte auch ihr Gutes. Sie verhinderte
die Stagnation. Das Wienerische in Burck-
hard, die Lust am Aufmischen, ein gewisser
Leichtsinn, der zum Abenteuer neigt, die
Freude am Frondieren, gaben seiner Direk-
tionsführung einen farbigen Reiz. Er hatte
viele Gegner und Feinde und er gab ihnen
manche Gelegenheit zu gerechter Anklage.
Aber dass seine Zeit dem Burgtheater auch
Nutzen brachte, dass er ein wertvolles Erbe
hinterliess, muss heute konstatiert werden.
Er brachte Mitter^vurzer, er engagierte Kainz.
Er brachte das Herzenstalent der Medelsky
zur Blüte. Er versuchte es mit dem Flacker-
talent der Sandrock. Und auch dem Re-
71
LOTHAR
pertoire gab er einen energ-ischen Ruck.
Unter ihm trat Ibsen stark in den Spielplan,
Hauptmann erschien und endlich ging wieder
einmal ein Wiener Talent — das stärkste
im jungen Wien — von hier in die Welt:
Schnitzler mit seiner „Liebelei". Die Lust
am Experiment verdarb freilich manches,
schädigte das Ensemble und verschob die
Werte und stiess gar oft die Freunde des
Hauses vor den Kopf. Aber gerade in dem
Augenblicke, als dieser Most zum Weine sich
zu klären begann und an die Stelle des
Irrlichterierens die Ruhe der Erfahrung trat,
gab es wieder einmal eine jener internen
Krisen, an denen die Hausgeschichte des
Burgtheaters so reich ist, und der allzu
radikale Direktor wurde missliebig. Er ging
und Paul Schienther kam an seine Stelle.
Paul Schienther hatte, als er kam, einen
grossen Vorzug vor Burckhard. Er kannte
das Theater von seiner jahrelangen Tätig-
keit als Kritiker her. Aber er kannte es als
Literat und nicht als Praktiker. In seinem
Wesen der gerade Gegensatz zu seinem
fahrigen, hastigen, temperamentvollen Vor-
72
PAUL SCHLENTHER
nach einer Photographie
DAS WIENER BURGTHEATER
gäng-er, war auch seine Experimentierzeit
nicht so von bunten Blitzen durchschossen.
Sie war tastend, tappend, und als erschweren-
der Umstand kam hinzu, dass Schlenther die
Struktur des Publikums, die Art des Wiener
Geschmackes zu wenig kannte. Die Schau-
spieler, die er brachte, gefielen nicht und er
hielt sie doch. Die Stücke, die der leichten
Unterhaltung dienen sollten, waren oft unter
dem Niveau des Hauses, was bei Schlenther
um so mehr Wunder nahm, da man die W^ahl
dieser Stücke mit seiner kritischen Vergangen-
heit nicht reimen konnte. Man suchte nach
bestimmten Wegen, bestimmten Zielen seiner
Leitung und fand sie nicht. Bald schien es,
als sei Berlin die Boussole, bald schien es,
als gäbe es überhaupt gar keine Orientierung.
Dann aber kamen wieder Vorstellungen von
einer abgerundeten Schönheit, wie man sie im
Hause seit Jahren nicht gesehen. Und ge-
rade so wie unter Dingelstedt die Shakespeare-
Woche, wie unter Wilbrandt der Faust, wie
unter Burckhard Ibsens Kronprätendenten,
50 war unter Schlenther Schillers Fiesco der
Höhepunkt. Auf dieser Höhe wird wohl
LOTHAR
auch der „Teil" bleiben und es hat fast den
Anschein, als sollte die Wiederaufrichtung
Schillerscher Grösse der Direktion Schlenthers
die Signatur geben.
Die ersten Jahre dieser Direktion waren
schlimm. Eine Experimentierepoche schien
von einer andern abgelöst und unter unge-
übten Händen versandete das Repertoire,
verflaute das Ensemble. Eine Zeit des Tief-
standes war gekommen, die alle, die das
Haus liebten, mit Schrecken erfüllte, aber
im Hause selbst schlummert so viel Kraft,
dass es sich immer wieder aus sich selbst
heraus neu gebärt. Es bildet nicht nur seine
Schauspieler, sondern auch seine Direktoren.
Heute ist das Ensemble wieder so volltönig,
wie es kaum jemals gewesen. Die Tradition,
verkörpert in den Alten, übt ihre erzieherische
Wirkung. Von den Neuen freiUch kommen nur
zwei künstlerisch in Frage : Heine und Gregori.
Beide kamen aus dem Norden und beide
haben den Weg zu der Kunst gefunden, die
südUchere Sonne bei uns gezeitigt. Heine
ist ein scharfer Charakteristiker, dessen harter
Strich hier schon glückliche Milderung er-
DAS WIENER BURGTHEATER
fuhr und der gerade das mitbrachte, was hier
immer beim Schauspieler erstes Erfordernis
war: Temperament. Er modernisiert die
UberÜeferungf, die er von Lewinskys Schul-
tern übernahm, dessen Sprachkunst noch
heute beweist, wie Laube die Rede modu-
liert haben wollte. Greg-ori wiederum ist
ein Schauspieler von grosser InteUigenz
und mit einer so hellen Begeisterung* für
seine Kunst, dass sie sein ganzes Spiel durch-
leuchtet Er ist kein Blender und Himmels-
stürmer. Aber w^ie er sich heute ins Reper-
toire schmiegt, zeugt dafür, wie er einmal
damit verwachsen sein wird. Aus seinen
Händen wird einmal eine kommende Gene-
ration die Überheferung erhalten. Und wenn
ich hier viele andere treffliche Schauspieler
des Burgtheaters nicht erwähne, so tue ich
dies nicht etwa aus geringerer Achtung vor
ihrem Können, sondern deshalb, weil es mir
in diesem Büchlein vor allem darum zu tun
war, in kurzen Strichen eine Geschichte der
Burgtheatertradition zu geben, wie sie von
Direktion zu Direktion, von einem Schau-
spielergeschlecht zum andern sich bildete und
75
LOTHAR
emporwuchs. Lauter Hände am Werke, die
sich die goldenen Eimer reichen.
Das Burgtheater hat noch grosse Auf-
g-aben vor sich. Es muss endUch Hebbel
geben, was Hebbel gebührt. Es darf in der
Wiedererweckung der Klassiker nicht stehen
bleiben. Diesen Hort zu hüten, dazu ist es
bestellt. Und wenn es diese Aufgabe erfüllt,
die sich vom Hintergrund seiner Geschichte
immer deutlicher abhebt, dann wird es das
sein, was in dem Namen geschrieben steht,
den ihm Kaiser Josef gab: Das deutsche
Nationaltheater.
Werke von Rudolph Lothar:
Der Wert des Lebens. Ein Mysterium. Dresden,
E. Pierson. II. Aufl. 1894.
Cäsar Borgias Ende. Drama. Ebenda. 1893.
Rausch. Trauerspiel. Ebenda. 1894.
Frauenlob. Lustspiel. Ebenda. 1895.
Ritter, Tod und Teufel. Drama. Ebenda. 1896.
Ein Konigsidyll. Lustspiel. Ebenda. 1896.
Der Wunsch. Ein Märchen. Breslau, Schottländer. 1895.
König Harlekin. Ein Maskenspiel. München, Georg
Müller. III. Aufl. 1903.
Glück in der Liebe. Lustspiel. Ebenda. 1902.
Herzdame. Drama. Ebenda. 1902.
Die Königin von CjlDem. Lustspiel. Stuttgart, Cotta. 1903.
Halbnaturen. Roman. München, Georg Müller. II. Aufl.
1903.
Der Golem. Novellen. Ebenda. II. Aufl. 1903.
Kritische Studien zur Psychologie der Literatur.
Breslau, Schottländer. 1895.
Das Wiener Burgtheater. Leipzig und Wien. E.
A. Seemann und Ges. f. graph. Industrie. 1899.
Henrik Ibsen. Ebenda. III. Aufl. 1903.
Das deutsche Drama der Gegenwart. München, Georg
Müller. 1904.
DIE DICHTUNG
EINE SAMMLUNG VON MONOGRAPHIEEN
HERAUSGEGEBEN VON PAUL REMER
BUCHSCHMUCK VON HEINRICH VOGELER
Bisher sind erschienen:
Band I. Henrik Ibsen
Band ü. Anzengruber
Band m. Victor Hugo
Band IV. Liliencron
Band V. Leo Tolstoj
Band VI. Hölderhn
Bandvn. Boccaccio
Band VIII. Cervantes
Band IX. Gottfried Keller
von Paul Ernst
von J. J. David
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von Paul Remer
von Julius Hart
von Hans Bethge
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von Stefan Zweig
von Franz Servaes
von Leo Greiner
von Wilhelm von Scholz
von Gustav Kühl
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von Hans Hoffmann
Jeder Band elegant kartoniert M. i.^O
Jeder Band in echt Leder geb. M. 2.^0
DIE DICHTUNG
EINE SAMMLUNG
VON MONOGRAPHIEEN
HERAUSGEGEBEN VON PAUL REM ER
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