DAS WIENER KABINETT
UND DIE ENTSTEHUNG
DES WELTKRIEGES
Mit Ermächtigung des Leiters des Deutsch-
österreichischen Staatsamtes für Äußeres auf
Grund aktenmäßiger Forschung dargesteUt von
DR RODERICH GOOSS
485227
5- 7.-49
9 1 9
VERLAG VON L. W. SEIDEL UND SOHN IN WIEN
Alle Rechte, insbesondere das der Obersetzung in fremde Sprachen,
vorbehalten
Copyright by L. W. Seidel & Sohn, Wien 1919
Deutschösterreichische Staatsdruckerei. 780619
VORWORT
Der Verfasser vorliegender Arbeit erhielt unmittelbar
nach erfolgtem Zusammenbruche der österreichisch-
ungarischen Monarchie vom Deutschösterreichischen Staats-
amt für Äußeres den Auftrag, eine Zusammenstellung der
diplomatischen Aktenstücke zur Vorgeschichte des Krieges
1914 aus den Beständen des politischen Archivs des ehe-
maligen k. u. k. Ministeriums des Äußern in Wien zu
besorgen. Bei der Durchführung dieser Aufgabe mußte er
sein Augenmerk auch auf alle jene Dokumente richten, die
zwar nicht direkt in den Rahmen seiner Arbeit fielen,
deren Heranziehung sich aber zum erschöpfenden Ver-
ständnis des ursächlichen Zusammenhanges der diplo-
matischen Aktionen als unerläßlich erwies.
In der vorstehenden Publikation werden die aus dem
erwähnten Aktenmaterial gewonnenen Forschungsergebnisse
bekanntgegeben. Zu einem richtigen Verstehen der Ereignisse
bloß auf Grund der gedruckten Urkundentexte — in
erster Linie also der bisherigen amtlichen Veröffentlichungen
der einzelnen Staaten (Buntbücher) — zu gelangen, erscheint
(schon mit Rücksicht auf ihre jeweilig zurechtgelegten Texte)
ausgeschlossen; erst das eingehende textkritische Studium
der Originaldokumente selbst eröifnet die Möglichkeit
eines klaren Erkennens. Hiebei kommt den Entwürfen
eines Dokumentes vielfach die gleiche Bedeutung wie seiner
endgültigen Fassung zu. Denn die letzten Ideen und
Absichten staatsmännischer Konzeption erhellen gelegentlich
nicht aus der Reinschrift eines Aktes, wohl aber aus seiner
111
Vorlage und den daran vorgenommenen inhaltlichen und
formalen Umänderungen. Der Schlußfassung eines Doku-
mentes (wie sie beispielsweise in den amtlichen Publika-
tionen zum Ausdrucke gelangt) ist also als Quelle geschicht-
licher Erkenntnis gegenüber dem Konzepte ein nur bedingter
Wert einzuräumen; ein zutreffendes Bild ergibt sich bloß aus
dem Studium aller Entstehungsphasen und der sämtlichen
inneren und äußeren Merkmale eines Aktes.
Die Grundlage der Darstellung bildet der Text
der Dokumente selbst — wörtlich zitiert dort, wo
jedem einzelnen Worte eine Bedeutung zukommt. Da
ein erheblicher Teil — auch entscheidender — diplomatischer
Aktionen nur mündlich durchgeführt wurde, beziehungs-
weise einen aktenmäßigen Niederschlag nicht hinterlassen
hat, bleibt der restlosen Feststellung aller Geschehnisse
von- vornherein eine Grenze gezogen. Immerhin führt eine
gewissenhafte Durchforschung sämtlicher ein-
schlägigen Stücke zu Resultaten, denen sich kein prüfen-
der Leser wird entziehen können.
Als besondere Aufgabe hat sich der Autor die Klar-
legung der diplomatischen Beziehungen des Wiener Kabinetts
zur Deutschen Regierung gesetzt. Daneben läuft die Dar-
stellung der Verhandlungen mit den übrigen Kabinetten
der europäischen Großmächte. Die Verhandlungen mit der
Türkei und den Balkanstaaten — Serbien ausgenommen —
werden nur im unerläßlich notwendigen Ausmaße berück-
sichtigt. Die Darstellung selbst umfaßt den Zeitraum von
der Ermordung des Erzherzog-Thronfolgers Franz Ferdinand
(28. Juni 1914) bis zur Kriegserklärung des Deutschen
Reiches an Rußland (1. August 1914). (Die weitere Ent-
wicklung der internationalen Konflagration entsprang dem
herrschenden Bündnissystem der europäischen Mächte.)
Unsere Arbeit bietet also eine quellenkritische
Darstellung der als unmittelbarer Kriegsanlaß zu
betrachtenden Ereignisse und der daraus ent-
springenden diplomatischen Aktionen, nicht aber
etwa eine erschöpfende Darlegung der Kriegs-
ursachen. Diese selbst erstrecken sich zeitlich auf voran-
gehende ganze Jahrzehnte und umspannen die Staatskanzleien
IV
aller an dem Weltkrieg beteiligten Mächte'. Hierüber wird
volle Klarheit erst zu gewinnen sein, wenn die diplomatischen
und militärischen Archive sämtlicher in Betracht kommen-
den Staaten ihre Bestände einer objektiven, nach wissen-
schafdichen Grundsätzen arbeitenden Geschichtsforschung
rückhaltslos zugänglich gemacht haben werden.
Wien, im September 1919.
Der Verfasser
' Vgl. hiezu die Ausführungen von Jean Debrit: et ce fut la
Guerre! (Genf 1917):
Durant 45 ans, on nous repeta: Le veritable auteur d'une guerre, ce
n'est pas celui qui la declare, mais celui qui la rend in6vitable. Ce
principe nous a toujours semble juste. Nous demandons la permission de
l'appliquer ä la grande guerre et nous demandons non pas: Qui a declare
la guerre? mais: Qui donc a rendu la guerre inevitable? Et, jusqu'ä
l'arrivee de preuves decisives venant modifier nos convictions, nous
sommes tentes de repondre aujourd'hui: Tout le monde, ä des degres,
divers peut-etre, mais d'une diversite insuffisante pour nous autoriser a
condamner Tun des accuses comme le seul auteur du crime.
INHALT
Seite
I. Von der Ermordung des Erzherzog -Thronfolgers Franz
Ferdinand (28. Juni 1914) bis zur Überreichung der öster-
reichisch-ungarischen Note an Serbien (23. Juh 1914) . . 1 — 137
A. Die Verhandlungen des Wiener Kabinetts mit der
Berliner Regierung (28. Juni bis Mitte Juli) 3 — 45
1. Die Denkschrift des Wiener Kabinetts über die
europäische Lage 3 — 30
2. Die Stellungnahme Kaiser Wilhelms und der
deutschen Regierung zur Denkschrift des Wiener
Kabinetts 30— 37
3. Das nächste Ziel des Wiener Kabinetts 37 — 45
B. Der Ministerrat für gemeinsame Angelegenheuen vom
7. und 19. Juli 45— 91
1. Die bosnisch-herzegowinischen Angelegenheiten . . 45 — 50
2. Der Ministerrat für gemeinsame Angelegenheiten
vom 7. Juli 50— 62
3. Der Sonderstandpunkt des Grafen Tisza 62 — 70
4. Die k. u. k. Regierung und die europäischen Kabinette 70— 83
Belgrad 70— 72
Berlin 73— 75
Rom 75— 79
Paris 79-^ 81
London 81— 82
St. Petersburg 82— 83
5. Der Ministerrat für gemeinsame Angelegenheiten
vom 19. Juli 84— 91
C. Die österreichisch-ungarische Note an Serbien vom
23. Juli 1914 ... 91 — 137
1. Die Genesis der Note 91 — 101
2. Die Überreichung der Note in Belgrad (23. Juli,
6 Uhr nachmittags) 102—109
3. Die österreichisch-ungarische Zirkularnote an die
Signatarmächte vom 24. Juli 1914 109—136
Berlin 110-114
Rom 114—127
Paris 128—130
London 130—134
St. Petersburg 134—136
Verständigung der übrigen k. u. k. Missionen . . 137
VII
Seile
U. Von der Überreichung der österreichisch-ungarischen Note
in Belgrad (23. Juli) bis zur Kriegserklärung Österreich-
Ungarns an Serbien (28. Juli) 139—220
A. Die Aufnahme der österreichisch-ungarischen Zirkular-
note vom 24. Juli und die Maßnahmen der europäischen
Kabinette , 141—164
Berlin 141 — 144
Rom 144—146
Paris 146—148
London 148—150
St. Petersburg • 150—164
B. Die serbische Antwortnote an Österreich-Ungarn vom
12.25. JuH 1914 und der Abbruch der diplomatischen
Beziehungen Österreich-Ungarns zu Serbien (25. Juli,
6 Uhr nachmittags) 165—168
C. Die k. u. k. Regierung und die europäischen Kabinette 168 — 216
Berlin 168—183
Rom . .-■ 183—193
Paris 193—197
London 197—205
St. Petersburg 205—216
D. Die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien
(28. Juli 1914) 216—220
III. Von der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien
(28. Juli) bis zur Kriegserklärung des Deutschen Reiches
an Rußland (1. August) 221—312
A. Das Berliner Kabinett 223—256
Beziehungen Berlin— Wien— Rom 223—227
Beziehungen Berlin — Paris 227 — 228
Beziehungen Berlin— Wien— London 228—243
Beziehungen Berlin — Wien — Petersburg 243 — 256
B. Das Wiener Kabinett 256—312
Verhandlungen mit Italien . 256 — 266
Verhandlungen mit Frankreich 266 — 270
Verhandlungen mit England 270 — 284
Verhandlungen mit Rußland 284—301
Der Ministerrat für gemeinsame Angelegenheiten vom
31. Juli 301—306
Die österreichisch-ungarische allgemeine Mobilisierung 306 — 312
vm
I
Von der Ermordung des Erzherzog-Thron-
folgers Franz Ferdinand (28. Juni 1914) bis
zur Überreichung der österreichisch-ungari-
schen Note an Serbien (23. JuH 1914)
A. Die Verhandlungen des Wiener Kabinetts mit
der Berliner Regierung (28. Juni bis Mitte Juli)
1. Die Denkschrift des Wiener Kabinetts über die
europäische Lage
Das Attentat, dem der Erzherzog- Thronfolger Franz Österreich-
Ferdinand in Sarajevo am 28. Juni 1914 zum Opfer fiel, "i°^7o°ß""^
hatte weitgehenden inner- und außenpolitischen Plänen "ein serbische
Ende bereitet. Seit der Ermordung des Königs Alexander '"■""p-'s"""^^
von Serbien und insbesondere seit den letzten beiden Balkan-
kriegen hatte sich für Österreich-Ungarn der Schwerpunkt
der orientalischen Frage mehr und mehr nach Belgrad, dem
Zentrum der großserbischen Aspirationen, verschoben. Hier
wieder waren die serbischen Staatsmänner eifrig bemüht,
eine Anlehnung an das rumänische Königreich zu suchen,
dessen — vor allem aus der Nationalitätenpolitik des König-
reiches Ungarn entspringende — Animosität gegen die
bundesgenössische Monarchie seit den Tagen des Bukarester
Friedens eine stete Verschärfung erfahren hatte. Eine Klar-
legung der Beziehungen der Monarchie zu Serbien und zu
Rumänien erschien am Ballhausplatze unaufschiebbar geboten.
Noch im Mai 1914 war durch den im k. u. k. Ministerium Das Memoire
des Äußern in Dienstesverwendung stehenden außerordent- '^"'"'°''""
o ordentlichen
liehen Gesandten und bevollmächtigten Minister Baron Flotow Gesandten
ein Memoire aufgesetzt worden, das die Rumänien und ""'"";™""
ö ' machligtea
Serbien gegenüber einzuschlagende Politik der Monarchie Ministers
zum Gegenstande hatte:
Die äußere politische Lage der Monarchie kranke an der
trotz des geheimen Bündnisses bestehenden Unklarheit ihres
Verhältnisses zu Rumänien. Es müsse die Tatsache festgestellt
werden, daß die Monarchie im Falle eines kriegerischen
Baron
Flotow
Konflikts mit Rußland gegenwärtig trotz der über jeden
Zweifel erhabenen Loyalität des Königs Carol nicht nur
nicht auf die rumänische Hilfe zählen könnte, sondern im
Gegenteil eine etwaige feindselige Aktion Rumäniens in
Rechnung ziehen müßte. König Carol habe zwar dem
k. u. k. Gesandten in Bukarest erklärt, so lange er lebe,
würde die rumänische Armee nicht gegen Österreich-Ungarn
ins Feld ziehen; der König habe aber auch offen zugegeben,
daß er gegen die gegenwärtig herrschende öffentliche Meinung
Rumäniens nicht Politik machen könne.
In Anbetracht nun der augenfälligen, durch Frankreich
energisch unterstützten Bemühungen Rußlands, ein rumänisch-
türkisches Bündnis zustande zu bringen, die Gegensätze
zwischen der Türkei und Griechenland — hauptsächlich
durch die Vermittlung Rumäniens — auszugleichen und
sohin, dank der rumänisch-griechischen Beziehungen,
Griechenland und weiters das mit ihm verbündete und mit
Rumänien gleichfalls befreundete Serbien zu einem poli-
tischen Block zu vereinigen, stehe die Monarchie vor der
drohenden Gefahr des Wiederauflebens eines unter russi-
scher Patronanz sich bildenden Balkanbundes, dessen Spitze
sich nur gegen Österreich-Ungarn wenden würde und dessen
Stoßkraft in dem Augenblicke erreicht wäre, als das auf
die Kniee niedergedrückte Bulgarien sich — notgedrungen —
dieser Gruppierung anschließen müßte. Das Entstehen eines
derartigen Balkanbundes könnte geradezu die Existenz des
Dreibundes in Frage stellen.
Es ergebe sich daher die ernste Notwendigkeit, die mög-
lichen diplomatischen Vorkehrungen in Erwägung zu ziehen,
die den auf die Bildung eines derartigen Balkanbundes
hinzielenden Bestrebungen Rußlands und Frankreichs ent-
gegengesetzt werden könnten.
Im traditionellen Geiste der äußeren Politik der Monarchie
erschiene als erste und vor allem anzustrebende Möglichkeit
eine Klärung ihres Verhältnisses zu Rumänien. Diese Klärung
würde das Wiener Kabinett in einer unzweideutigen Mani-
festation König Carols, beziehungsweise seiner Regierung
zugunsten des Dreibundes erblicken, in einer Manifestation,
die durch das öffentliche Bekenntnis der Zugehörigkeit zum
Dreibunde dem russischen Gegenspiel den Boden abgraben
würde.
Eine solche Erklärung sei indessen in Rumänien höch-
stens und nur gegen weitere politische Zugeständnisse zu
erreichen. Als ein solches Zugeständnis könnte in Betracht
kommen: eine Erweiterung des bestehenden Bündnis-
vertrages nach der Richtung, daß Österreich-Ungarn
Rumänien seine gegenwärtige Grenze Bulgarien gegenüber
garantiere.
Mit Rücksicht auf das freundschaftliche Verhältnis Ru-
mäniens zu Serbien könnte es König Carol beziehungsweise
seiner Regierung überlassen werden, sich für eine Annäherung
Serbiens an die Monarchie zu verwenden, wobei von selten
der' Monarchie (im Rahmen einer solchen, von ihr selbst
angenommenen politischen Konstellation) Serbien gegenüber
das loyalste Entgegenkommen bewiesen werden würde. .
Sollte man in Bukarest auf die von Österreich-Ungarn
als unumgänglich nötig erkannte öffentliche Klarlegung des
Verhältnisses zu Rumänien nicht eingehen, so wäre die
Monarchie gezwungen, sogleich und ohne Verzug alle Kon-
sequenzen zu ziehen, die sich für dieselbe einem gegebenen-
falls sogar feindlich auftretenden Nachbarn gegenüber als
notwendig ergeben würden '.
Gleichzeitig mit den militärischen Vorkehrungen müßten
die diplomatischen Bemühungen der Monarchie einerseits
auf das Zustandebringen einer bulgarisch-türkischen Allianz,
andrerseits auf eine bündnismäßige Heranziehung Bulgariens
an Österreich-Ungarn und an den Dreibund gerichtet sein.
Es erschiene verderblich, durch eine untätige Politik des
Abwartens die Dinge heranreifen zu lassen und allen jenen
freies Spiel zu gewähren, deren sich immer mehr und mehr
verdichtende Arbeit auf eine Zertrümmerung der Macht-
stellung der Monarchie hinweise.
Wenn in dem gegenwärtigen politischen Augenblicke, in
dem Rußland und Frankreich so intensiv an der Arbeit
seien, Rumänien der Monarchie nicht die Garantie gebe
oder geben zu können glaube, daß der Bündnisvertrag, der
1 An dieser Stelle sollten in ein im Konzept freigelassenes Spatium
die gegenständlichen militärischen Erwägungen eingefügt werden.
bilateral geschlossen wurde, auch bilateral gehalten werde,
so dränge sich der Monarchie die Pflicht auf, sich eines-
teils gegen feindliche Angriffe zu sichern, andrerseits sich
anderer Hilfen zu vergewissern.
Diese Darlegungen Baron Flotows wurden in der Folge
durch Notizen des kompetenten Referenten, des k. u. k.
außerordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Ministers
Pogatscher ergänzt. Sie pflichteten den ursprünglichen Aus-
führungen ohne jede namhafte Änderung bei.
Aus den Erwägungen der angeführten Denkschrift erhellt
die beachtenswerte Tatsache, daß sie in ihrer Argumen-
tation einer Annäherung Serbiens an die Monarchie auf
dem Wege einer Vermittlung durch König Carol die Bahn
frei ließ.
Abskhi des Jn der FoTge wurde der im k. u. k. Ministerium des
,ener a- y^yßg,.^ bestehende Vorsatz' ein Elaborat über die Fragen
binetts, ein ' o
Eiaboratüber dcr BalkanpoHtik in Berlin vorzulegen, der Verwirklichung
fra fnTn" zugcführt. Mit der Abfassung der geplanten Denkschrift
Berlin vorzu- bctrautc Graf Berchtold — ungefähr gegen Mitte Juni 1914 —
'°*" den k. u. k. Sektionsrat Baron Matscheko. Bei fallweiser
Verwertung des Flotow-Pogatscherschen Memoires sollten
die gegenständlichen Gedankengänge des Wiener Kabinetts
auf breiterer Basis auseinandergesetzt werden.
Denkschrifi, Das vor dcm 24. Juni im Konzept erliegende — und
k"v'^l 's^el!- '" ^^^ Hauptsache auch in der endgültigen Fassung bei-
tionsrat behaltene ~ Elaborat- ging von einer Beurteilung des Ge-
■ Baron Mai- samtcrgcbnisses der Balkankrise, vom Standpunkte Öster-
scheko. Erste ö 7 r-
Fassung rcich-Ungams sowie des Dreibundes betrachtet, aus:
I Vgl. den Passus eines Schreibens des Chefs des Kabinetts* des
Ministers, k. u. k. Legationsrates Grafen A. Hoyos, an den k. u. k. Bot-
schafter in Konstantinopel Markgrafen Pallavicini d. d. Wien, 26. Juni 1914:
,, Unterdessen wird ein langes Memorandum für Berlin ausgearbeitet, das
demnächst abgehen soll, und der Minister (Graf Berchtold) tut sein
Mögliches, Tschirschky die Augen zu öffnen . . . ." (C. d. M. 465,1914. »
- Da die Denkschrift von anderer Seite in der Zeitschrift „Deutsche
Politik" (1919, Heft 21, Seite 649 bis 659), ferner im Weißbuch betreffend
die Verantwortlichkeit der Urheber am Kriege (Berlin, Juni 1919), Seite 61
bis 69, veröffentlicht wurde, beschränken wir uns hier auf die Wieder-
gabe ihrer für unsere Darstellung wichtigen Ausführungen.
Den Aktivposten der Bilanz stünden nachteilige gegen-
über, die schwerer als jene ins Gewicht fielen.
Serbien, dessen Politik seit Jahren von hostilen Tendenzen
gegen Österreich-Ungarn geleitet werde und das ganz unter
russischem Einfluß stehe, habe einen Zuwachs an Gebiet
und Bevölkerung erreicht, der die eigenen Erwartungen
weit übertroffen hätte; durch die territoriale Nachbarschaft
mit Montenegro und durch das allgemeine Erstarken der
großserbischen Idee sei die Möglichkeit einer weiteren Ver-
größerung Serbiens im Wege der Union mit Montenegro
wesentlich nähergerückt. Rumänien sei durch die Ereignisse
zu einer Kooperation mit Serbien gedrängt worden, aus
welcher eine dauernde, wenn auch auf bestimmte Fragen
beschränkte rumänisch-serbische Solidarität zurückgeblieben
sei. Dies und der gleichzeitig in der öffentlichen Meinung
Rumäniens eingetretene Umschwung zu Gunsten Rußlands
ließen es zum mindesten als zweifelhaft erscheinen, ob
Rumänien im gegebenen Moment nicht statt als Freund,
als Gegner des Dreibundes auftreten werde.
Während die Balkankrise somit zu Resultaten geführt
habe, die an sich schon für den Dreibund keineswegs günstig
seien und den Keim einer speziell für Österreich-Ungarn
bedenklichen weiteren Entwicklung in sich trügen, ^ehe
man andrerseits, daß die russische und französische Diplo-
matie eine einheitliche und planmäßige Aktion eingeleitet
habe, um die errungenen Vorteile weiter auszugestalten und
einzelne noch ungünstige Momente zu modifizieren.
Ein flüchtiger Überblick über die europäische Lage lasse
klar erkennen, weshalb sich die Ententemächte — hierunter
seien vor allem Rußland und Frankreich zu verstehen,
denn England habe seit der Balkankrise eine reservierte
Haltung eingenommen — mit den zu ihren Gunsten ein-
getretenen Verschiebungen am Balkan noch keineswegs
zufrieden geben könnten.
Der Gedanke, die christlichen Balkanvölker von der
türkischen Herrschaft zu befreien, um sie dann als Waffe
gegen. Zentraleuropa zu gebrauchen, sei von altersher der
realpolitische Hintergrund des traditionellen Interesses
Rußlands für diese Völker. In neuerer Zeit habe sich
hieraus die Idee entwickelt, die Bailianstaaten zu einem
Balkanbund zu vereinigen, um auf diese Weise die mili-
tärische Superiorität des Dreibundes aus der Welt zu
schaffen. Die erste Vorbedingung für die Verwirklichung
dieses Planes, die Türkei aus den von den christlichen
Balkannationen bewohnten Gebieten zu verdrängen, damit
die Kraft dieser Staaten vermehrt und nach Westen hin
frei werde, sei durch den letzten Krieg im Großen und
Ganzen erfüllt worden.
Es erscheine durchaus verständlich, daß Rußland und
Frankreich, wie aus übereinstimmenden Meldungen und
markanten äußeren Vorgängen zu ersehen sei, seit Monaten
am Bosporus wie in allen Balkanhauptstädten eine intensive
diplomatische Tätigkeit entfalteten, um die Zweiteilung der
Balkanstaaten (die Türkei und Bulgarien einerseits, Serbien,
Montenegro, Griechenland und Rumänien andrerseits) zu
beseitigen und sie alle, oder doch die entscheidende Mehr-
zahl von ihnen, zu einem neuen Balkanbund mit der Front
gegen Westen zu vereinigen.
Über die Grundlage, auf welcher sich nach den Ab-
sichten der russischen und französischen Diplomatie der
neue Balkanbund aufbauen solle, könne kein Zweifel be-
stehen. Ein Bündnis der Balkanstaaten könne sich unter
den gegebenen Verhältnissen, da eine gemeinsame Aktion
gegen die Türkei nicht mehr in Betracht komme, nur
gegen einen Gegner, nämlich gegen Österreich-Ungarn,
richten, und andrerseits könne ein solches Bündnis nur
auf der Basis eines Programms zustande gebracht werden,
das in letzter Linie auf Kosten der territorialen Integrität
der Monarchie allen Teilnehmern durch eine stafFehveise
Verrückung der Grenzen von Ost nach West Gebiets-
erweiterungen in Aussicht stelle. Eine Einigung der
Balkanstaaten auf einer anderen Grundlage sei kaum
denkbar, auf dieser Basis aber gewiß nicht ausgeschlossen,
ja ohne wirksame Gegenaktion nicht einmal unwahr-
scheinlich.
Daß Serbien unter russischem Druck darauf eingehen
würde, für den Eintritt Bulgariens in ein gegen die Monarchie
gerichtetes, auf den Erwerb Bosniens abzielendes Bündnis
in Mazedonien einen angemessenen Preis zu bezahlen, sei
wohl nicht zu bezweifeln.
Größer seien die Schwierigkeiten in Sofia.
Mazedonien spiele in der inneren und äußeren Politik
Bulgariens eine eminente Rolle und dessen Wiedergewinn
sei geradezu eine nationale Forderung. Wenn es sich daher
einmal herausstellen sollte, daß der von Rußland proponierte
friedliche Ausgleich und das Bündnis mit Serbien der ein-
zige Weg seien, um wenigstens Teile Mazedoniens für die
bulgarische Sache zu retten, werde trotz der erlittenen
Enttäuschungen keine bulgarische Regierung es wagen
können, diese Kombination zurückzuweisen. Nur eine Aktion,
die Bulgarien den russischen Drohungen und Lockungen
gegenüber das Rückgrat stärke und das Land vor Isolierung
bewahre, könnte somit verhindern, daß Bulgarien schließlich
auf die Balkanbundpläne einginge.
Was nun Rumänien anbelange, so habe dort die russisch-
französische Aktion schon während der Balkankrise mit
voller Intensität eingesetzt; sie habe die öffentliche Meinung
durch erstaunliche Verdrehungskünste und durch geschickte
Anfachung der unter der Oberfläche stets fortglimmenden
großrumänischen Idee in eine feindselige Stimmung gegen
die Monarchie hineingetrieben und die auswärtige Politik
Rumäniens zu einer mit dem Bündnis mit der Monarchie
kaum in Einklang stehenden Kooperation und Solidarität
mit Serbien veranlaßt.
Die Unklarheit, die sich daraus bei unverändertem for-
mellen Fortbestand des Bündnisses in dem Verhältnisse
Rumäniens zu Österreich-Ungarn entwickelte, stelle an sich
schon einen höchst wichtigen Erfolg der russisch-französischen
Machenschaften dar. Damit konnte sich die Diplomatie Ruß-
lands und Frankreichs jedoch nicht begnügen, da es sich ihr
ja darum handelte, Rumänien zu einer offensiven Politik gegen
die Monarchie und zum eventuellen Anschluß an den neu zu
errichtenden Balkanbund zu bewegen. Die beiden Entente-
mächte seien deshalb auch weiter eifrigst bemüht, die
Regierung und die öffentliche Meinung Rumäniens für ihre
Ziele zu gewinnen. Obwohl hiebei zu so eindrucksvollen und
demonstrativen Mitteln, wie dem Besuche des Zaren in
9
Constantza, gegriffen wurde, habe diese Aktion, wie ja bei der
Loyalität König Carols und angesichts des bestehenden Bünd-
nisses mit dem Dreibunde nicht anders zu erwarten, ein volles
Abs(^hwenken der offiziellen rumänischen Politik zur Entente
bis jetzt nicht erreicht. Dagegen könne nach den Äußerungen
der Presse und den Demonstrationen, die sich in den letzten
Monaten in verschiedenen Orten ereigneten, nicht daran
gezweifelt werden, daß es den planmäßigen Einflüssen der
Ententemächte gelungen sei, weite Kreise der Armee, der
Intelligenz und des Volkes für eine neue Orientierung der
rumänischen Politik zu gewinnen, die sich die „Befreiung der
Brüder jenseits der Karpathen" zum Ziele zu setzen hätte. Es
müsse sich erst zeigen, ob sich die von König Carol per- ^
sönlich geleitete auswärtige Politik Rumäniens auf die Dauer
dem Einfluß dieser populären nationalen Strömungen ent-
ziehen könne.
Resümierend lasse sich feststellen, daß Rußland und
Frankreich auf der ganzen Linie und mit großen Aussichten
auf Erfolg intensiv bemüht seien, die Balkanstaaten zu einem
Bündnis zu vereinigen, das sich zunächst gegen Österreich-
Ungarn richten würde, in letzter Konsequenz aber das Mittel
darstelle, Rußland und Frankreich im Vereine mit dem Bal-
kanbunde das militärische Übergewicht über den Dreibund zu
verschaffen.
Abgesehen von dieser für die Zweibundmächte günstigen,
für Österreich-Ungarn wie für Deutschland und den Drei-
bund überhaupt nicht unbedenklichen Perspektive für die
Zukunft, hätten Rußland und Frankreich es auch verstanden,
aus der infolge der Balkankrise eingetretenen Entwicklung
schon für die Gegenwart einen wichtigen positiven Vorteil
zu ziehen. In der auswärtigen Politik Rumäniens habe sich
hauptsächlich durch russischen und französischen Einfluß
eine Schwenkung vollzogen und damit sei das Bündnis-
system an einem sehr empfindlichen Punkt geschwächt
worden, auf welchem die Sicherheit der Machtstellung der
Monarchie, gleichzeitig aber auch die Stabilität der be- .
stehenden politischen Verhältnisse in Europa beruhe.
Die Änderung des Kurses der rumänischen Politik sei
allerdings nicht so weit gegangen, daß Rumänien von der
10
bisherigen Dreibundpolitiiv ganz abgeschwenict und Ruß-
land und Frankreich gegenüber bindende Verpflichtungen
eingegangen wäre. Allein, während früher kein Grund be-
stand, an der integralen Erfüllung der aus dem geheimen
Bündnis mit dem Dreibund entspringenden Verpflichtungen
durch Rumänien zu zweifeln, hätten kompetente rumänische
Stellen in letzter Zeit mehrfach die öffentliche Erklärung
abgegeben — und eben infolge der Geheimhaltungsklausel
des Bündnisvertrages konnten die Dreibundmächte hiegegen
keine Rekriminationen erheben — , daß der leitende Gedanke
der rumänischen Politik das Prinzip der freien Hand sei.
Ebenso habe schon vor Jahresfrist König Carol mit der
Loyalität und Offenheit, die seiner vornehmen Gesinnung
entspreche, dem k. u. k. Gesandten erklärt, die rumänische
Armee werde zwar solange e r lebe, gegen Österreich-
Ungarn nicht ins Feld ziehen, allein gegen die öffentliche
Meinung des heutigen Rumänien könne er nicht Politik
machen, und es sei daher im Falle eines Angriffes Rußlands
gegen die Monarchie trotz des bestehenden Bündnisses an
eine Aktion Rumäniens an der Seite Österreich-Ungarns
nicht zu denken. Um einen Schritt weiter sei — be-
zeichnenderweise unmittelbar nach dem Zarenbesuche in
Constantza — der rumänische Minister des Äußern gegangen,
indem er in einem Interview offen zugab, daß eine An-
näherung Rumäniens an Rußland erfolgt sei, ja daß eine
Interessengemeinschaft zwischen den beiden Staaten bestehe.
Das Verhältnis Österreich-Ungarns zu Rumänien sei
somit gegenwärtig dadurch charakterisiert, daß die Monarchie '
ganz auf dem Boden des Bündnisses stehe und nach wie
vor bereit sei, Rumänien im Falle des Casus, foederis mit
ganzer Macht zu unterstützen, daß Rumänien aber sich von
den Bündnispflichten einseitig lossage und der Monarchie
lediglich eine neutrale Stellung zugestehe. Selbst die bloße
Neutralität Rumäniens sei der Monarchie nur durch eine
persönliche Zusage Königs Carols garantiert, die natürlich
nur für die Dauer seiner Regierung von Wert sei, deren
Erfüllung aber überdies davon abhänge, daß der König die
Leitung der auswärtigen Politik stets vollkommen in der
Hand behalte ~ eine Aufgabe, die in Zeiten nationaler
11
Erregung des ganzen Landes die Kraft eines dem Volke
nicht stammverwandten Monarchien leicht übersteigen könnte.
Sich mit dieser einseitig verschobenen Situation ruhig
abzufinden und abwartend der weiteren Entwicklung gegen-
überzustehen, verbiete der Monarchie nicht nur die Rück-
sicht auf ihr Prestige als Großmacht, dies sei ihr auch aus
militärisch-politischen Gründen unmöglich. Der militärische
Wert des Bündnisses mit Rumänien bestand bisher für die
Monarchie darin, daß sie im Konfliktsfalle mit Rußland
gegen dieses von der rumänischen Seite her völlig freie
Hand gehabt hätte, während ein ansehnlicher Teil der
russischen Heeresmacht durch den Angriff der flankierenden
rumänischen Armee gebunden worden wäre. Das heutige
Verhältnis Rumäniens zur Monarchie hätte jedoch, würde
jetzt zwischen ihr und Rußland ein bewaffneter Konflikt
ausbrechen, so ziemlich das Gegenteil zur Folge. Rußland
hätte nun auf keinen Fall einen Angriff Rumäniens zu
befürchten und würde gegen Rumänien kaum einen Mann
aufstellen müssen, während Österreich-Ungarn der rumäni-
schen Neutralität nicht ganz sicher sein könnte und deshalb
gezwungen wäre, ein entsprechendes Aufgebot an Truppen
gegen das jetzt an seiner Flanke befindliche Rumänien
zurückzubehalten. Die Fortdauer der ungeklärten Beziehungen
zu Rumänien wäre daher damit gleichbedeutend, daß der
Wert des rumänischen Bündnisses für die Monarchie illu-
sorisch, ja negativ bliebe, während sie ihrerseits eben durch
die Rücksicht auf das formell noch bestehende Bundesver-
hältnis zu Rumänien daran gehindert wäre, rechtzeitig politische
Aktionen, wie die Heranziehung anderer Staaten, und
militärische Maßnahmen, wie die Befestigung der sieben-
bürgischen Grenze, einzuleiten, um die nachteiligen Wir-
kungen der Neutralität und eventuellen Feindseligkeit des
Nachbarkönigreiches aufzuheben oder wenigstens abzu-
schwächen.
Die Monarchie habe di^ Schwenkung der rumänischen
Politik in Bukarest bisher nicht in nachdrücklicher Weise
zur Sprache gebracht, sondern sich von der auch vom
deutschen Kabinett vertretenen Auffassung leiten lassen,
daß es sich um Folgeerscheinungen gewisser Mißverständ-
12
nisse aus der Zeit der Krise liandle, die sich automatisch
zurückbilden würden, wenn man ihnen gegenüber Ruhe und
Geduld beobachte. Nunmehr habe sich aber ergeben, daß
von einer Taktik ruhigen Abwartens und freundschaftlicher
Vorstellungen eine Besserung nicht zu erwarten sei.
Es wäre daher eine nicht zu verantwortende Sorglosig-
keit, die wichtige Interessen der Reichsverteidigung aufs
Spiel setzen würde, wenn sich die Leitung der auswärtigen
Politik der Monarchie gegenüber den in Rumänien zutage
getretenen Erscheinungen weiterhin mehr oder weniger
passiv verhalten und nicht in der energischesten Weise auf
eine Klärung der Situation dringen würde.
Mit der Notwendigkeit, zu diesem Zwecke Maßnahmen
zu ergreifen, falle sachlich wie zeitlich zusammen die Not-
wendigkeit, eine Aktion einzuleiten, um die von den Zwei-
bundmächten planmäßig betriebene Errichtung eines Balkan-
bundes zu vereiteln. Beide Fragen hingen dadurch aufs
Innigste zusammen, daß es von der positiven oder negativen
Klarstellung des Verhältnisses zu Rumänien abhinge, von
welchem Punkte aus und in welcher Richtung den Balkan-
bundplänen entgegenzutreten sein werde. Weitere Passivität
in der rumänischen Frage würde eine wirksame Gegenaktion
hinsichtlich des Balkanbundes ausschließen und den inten-
siven Bestrebungen Rußlands und Frankreichs vollkommen
freies Spiel lassen. Die Situation sei heute so weit gediehen,
daß eine solche Gegenaktion ohne Aufschub einsetzen müsse,
solle sie sich nicht von vornherein vor vollendete Tat-
sachen gestellt sehen.
An den langjährigen Traditionen ihrer auswärtigen Politik
festhaltend, würde die Monarchie mit einer offenen Aus-
sprache mit Rumänien in erster Linie das Ziel verfolgen,
das Königreich für eine Politik des ehrlichen Anschlusses
an Österreich-Ungarn wieder zu gewinnen und verläßliche
Bürgschaften für die volle Erfüllung der Bündnispflichten von
ihm zu verlangen. Es müßte in Bukarest das Verlangen gestellt
werden, daß Rumänien auf die Geheimhaltung des Bundes-
verhältnisses zum Dreibund verzichte und daß diese Tatsache
durch eine unzweideutige Manifestation König Carols oder
der rumänischen Regierung öffentlich, bekanntgegeben werde.
13
Nur wenn die öffentliche Meinung in Rumänien auf diese
Art über die politische Zugehörigkeit des Königreiches orien-
tiert würde und diese Politik durch ihre Zustimmung ge-
wissermaßen ratifiziert hätte, wäre dem russisch-französischen
Gegenspiel Einhalt getan und könnte Österreich -Ungarn
wieder vertrauensvoll das Bundesverhältnis zu Rumänien zum
Angelpunkt seiner Balkanpolitik machen.
Bei der heutigen Situation sei es ohne weiteres klar, daß das
vom Zweibund umworbene Rumänien, wenn überhaupt, so nur
gegen gewichtige Vorteile zur Wiederaufnahme seiner offenen
Dreibundpolitik zu bewegen wäre und daß daher ein solches
öffentliches Bekenntnis zum Dreibund und damit zur öster-
reichisch-ungarischen Monarchie nur durch weitere, über den
Rahmen des gegenwärtigen Bündnisvertrages hinausgehende
politische Zugeständnisse erlangt werden könnte.
Die Monarchie wäre daher geneigt, Rumänien als Gegen-
leistung ihrerseits die Garantie des rumänischen Besitzstandes
gegenüber Bulgarien anzubieten. Sollte Rumänien auf den
Fortbestand seines gegenwärtigen freundschaftlichen Verhält-
nisses zu Serbien Gewicht legen, so könnte Österreich-
Ungarn in Bukarest auch die Versicherung abgeben, daß es
eine von Rumänien in Belgrad unternommene Aktion, welche
auf eine Änderung der Haltung Serbiens gegenüber der Mon-
archie abzielen würde, seinerseits durch eine entgegenkom-
mende Haltung Serbien gegenüber auf politischem und wirf-
schaftlichem Gebiete zu fördern bereit sei. Damit wäre aber
das Maß der Zugeständnissei an Rumänien, die für die Mon-
archie zum Zweck der Wiederherstellung eines beiderseits
wirklich vertrauenswürdigen Bundesverhältnisses in Betracht
kämen, erschöpft und es sei selbstverständlich, daß zum Bei-
spiel die innerpolitischen Verhältnisse Österreichs oder Un-
garns von den Besprechungen mit der rumänischen Regierung
unbedingt ausgeschlossen bleiben müßten.
Österreich-Ungarn würde in Bukarest zwar einen durchaus
freundschaftlichen Ton anschlagen, andrerseits aber Rumänien
nicht darüber im Unklaren lassen, daß es eine Fortdauer des
gegenwärtigen Zustandes, welcher eine einseitige Verschiebung
der aus dem Bündnis entspringenden Rechte und Pflichten
zu Gunsten Rumäniens bedeute, unter keinen Umständen
14
zulassen könne. Rumänien würde auch darüber nicht im
Unklaren gelassen werden, daß die Monarchie, falls man
sich in Bukarest zu einer öffentlichen Manifestation für
die Zugehörigkeit Rumäniens zum Dreibunde nicht ent-
schließen könnte, daraus alle Konsequenzen hinsichtlich
ihrer politischen Aktionsfreiheit ableiten müßte.
Politisch würde es sich darum handeln, ein Gegen-
gewicht gegen das in das Lager des Zweibundes über-
gegangene Rumänien zu schaffen. Dies könnte nur dadurch
geschehen, daß die Monarchie auf die seit langer Zeit ge-
stellten und mehrfach wiederholten Anerbieten Bulgariens
einginge und mit diesem in ein vertragsmäßiges Verhältnis
trete. Gleichzeitig müßte danach getrachtet werden, ein
Bündnis zwischen Bulgarien und der Türkei zustande zu
bringen.
Hand in Hand damit müßte die Monarchie unverzüglich
daranschreiten, für den Fall eines europäischen Krieges
mihtärische Vorkehrungen zum Schutze der Grenze gegen
Rumänien zu treffen '. Auch in dieser Hinsicht sei es für
die Monarchie dringend notwendig, die künftige Haltung
Rumäniens ohne Verzug unzweideutig festzustellen, da die
bisherigen militärischen Vorkehrungen für kriegerische
Eventualitäten mit der gegenwärtigen Situation nicht im
Einklang stünden und je nach dem Ergebnis der Aussprache
mit Rumänien ohne Aufschub modifiziert werden müßten,
wobei ganz besonders ins Gewicht falle, daß speziell fortifi-
katorische Grenzschutzbauten eine beträchtliche Vorberei-
tungszeit erforderten.
Die Frage der Klarstellung des Verhältnisses zu Rumä-
nien sei jedoch, wenn sie auch ihre Interessen in erster
Reihe berühre, nicht eine Angelegenheit der Monarchie
allein, vielmehr eine solche des ganzen Dreibundes und
vor allem des eng verbündeten Deutschen Reiches.
Das Gleiche gelte von den auf die Errichtung des
Balkanbundes abzielenden Plänen des Zweibundes.
' Diese militärischen Maßnahmen (vor allem die Befestigung der
siebenbürgischen Grenze) sollten — wie es an dieser Stelle im Entwürfe
hieß — in einem beigelegten Memoire des Näheren dargelegt werden.
(Vgl. Seite 5, 25 ff.)
15
Nicht nur aus Rücksichten, die aus der Tradition und
dem engen Bundesverhäitnis entsprängen, lege daher Öster-
reich-Ungarn den größten Wert darauf, bevor es an die
entscheidende Aussprache mit Rumänien herantrete, mit
dem Deutschen Reiche ein volles Einvernehmen herzustellen,
sondern auch darum, weil wichtige Interessen Deutschlands
und des Dreibundes überhaupt hier mit im Spiel seien und
weil eine erfolgreiche Wahrung dieser in letzter Konsequenz
gemeinsamen Interessen nur zu erwarten sei, wenn der
einheitlichen zielbewußten und planmäßigen Aktion Rußlands
und Frankreichs eine ebenso einheitliche Gegenaktion des
Dreibundes, insbesondere Österreich-Ungarns und des
Deutschen Reiches, entgegengesetzt werde.
Denn, wenn Rußland, von Frankreich unterstützt, die
Balkanstaaten gegen Österreich-Ungarn zu vereinigen trachte,
wenn es die bereits erreichte Trübung des Verhältnisses zu
Rumänien zu vertiefen bestrebt sei, so richte sich diese
Feindseligkeit nicht allein direkt gegen die Monarchie, die
allerdings durch tiefgehende Gegensätze von Rußland ge-
trennt sei, sondern nicht zuletzt gegen den Bundesgenossen
des Deutschen Reiches, gegen den durch seine geographische
Lage und innere Struktur exponiertesten, Angriffen am
meisten ausgesetzten Teil des zentraleuropäischen Blocks,
der Rußland den Weg zur Verwirklichung seiner welt-
politischen Pläne sperre.
Die militärische Superiorität der beiden Kaisermächte
durch Hilfstruppen vom Balkan her zu sprengen, sei das
Ziel Rußlands, aber nicht das letzte Ziel.
Wenn man die Entwicklung Rußlands in den letzten
zwei Jahrhunderten überblicke, wenn man seinen enormen
Aufschwung an Bevölkerung, Gebiet, wirtschaftlicher und
militärischer Macht übersehe und bedenke, daß dieses große
Reich noch immer durch seine Lage und durch Verträge
vom freien Meer so gut wie abgeschnitten sei, dann erkenne
man die Notwendigkeit des der russischen Politik seit jeher
eigentümlichen aggresiven Charakters.
Trotz der enormen Rüstungen und kriegerischen Vor-
bereitungen, wie dem Ausbau strategischer Bahnen gegen
16
Westen, könne man Rußland vernünftigerweise Eroberungs-
pläne gegen das Deutsche Reich nicht zumuten.
Allein Rußland habe erkannt, daß die Verwirklichung
seiner einer inneren Notwendigkeit entspringenden Absichten
in Europa und Asien, am Bosporus, in Persien, Kleinasien
und Mesopotamien in erster Linie wichtige Interessen
Deutschlands verletzen und daher auf dessen Widerstand
stoßen müßte.
Die Politik Rußlands sei durch unveränderliche Ver-
hältnisse bedingt und deshalb eine stetige und weitaus-
blickende.
Die manifesten Einkreisungstendenzen Rußlands gegen
die Monarchie, die keine Weltpolitik treibe, hätten den End-
zweck, dem Deutschen Reich den Widerstand gegen jene
Ziele Rußlands und gegen seine politische und wirtschaft-
fiche Suprematie unmöglich zu machen.
Deshalb könne die Auffassung nur als kurzsichtig
bezeichnet werden, von der ausgehend in jüngster Zeit
gegen die Politik des Deutschen Reiches in Deutschland
selbst der Vorwurf erhoben wurde, daß sie lediglich aus
Bundestreue für spezifisch österreichisch-ungarische Inter-
essen eintrete, welche dem deutschen Interessenkreis ferne
lägen.
Und aus diesen Gründen sei die Leitung der auswärtigen
Politik Österreich-Ungarns auch davon überzeugt, daß es
ein gemeinsames Interesse der Monarchie wie nicht minder
Deutschlands sei, im jetzigen Stadium der Balkankrise
rechtzeitig und energisch einer von Rußland geförderten
und angestrebten Entwicklung entgegenzutreten, die später
vielleicht nicht mehr rückgängig zu machen wäre.
In seiner ersten Fassung wurde das Konzept der Denk- zweite
Schrift vom Autor selbst mit einigen Abänderungen ver- ''"^^""^
sehen, deren — am 24. Juni fertiggestellte — Reinschrift
die zweite Textierung des Elaborates darstellt. Hinsichtlich
der die Entwicklung der europäischen Krise hauptsächlich
bestimmenden Materie — der Regelung der österreichisch-
ungarischen Beziehungen zu Serbien — behielt der Text
die in der ersten Fassung vertretene, auf dem Wege über
Rumänien zu bewirkende, freundschaftliche Beeinflussung
2 17
told
Serbiens zu einer Änderung seiner Haltung der Monarchie
gegenüber bei».
Redaktion In ihrer zweiten Fassung wurde die DenlcscJirift Graf
l"rift'^du,ch Berchtold vorgelegt/ Er unterzog das Elaborat im Ver-
Gr..f Bcroh. laufe der Tage nach dem 24. Juni einer Überprüfung
und veranlage (nach Vornahme einiger sonstigen eigen-
händigen Korrekturen) eine spezielle Neubearbeitung jenes
Teiles der Ausführungen, der die Gestaltung der Beziehun-
gen der Monarchie zu Rumänien behandelte. Der ein-
schlägige Text lautete nunmehr in der endgültigen For-
mulierung:
„Die Monarchie hat sich bisher darauf beschränkt, die
„Schwenkung der rumänischen Politik in Bukarest in freund-
„schaftlicher Weise zur Sprache zu bringen, sich im übrigen
„aber nicht veranlaßt gesehen, aus dieser immer deutlicheren
„Kursänderung Rumäniens ernste Konsequenzen zu ziehen;
„das Wiener Kabinett hat sich hiezu in erster Linie dadurch
„bestimmen lassen, daß die deutsche Regierung die Auffassung
„vertrat, es handle sich um vorübergehende Schwankungen,
„Folgeerscheinungen gewisser Mißverständnisse aus der Zeit
„der Krise, die sich automatisch zurückbilden würden, wenn
„man ihnen gegenüber Ruhe und Geduld bewahrt. Es hat
„sich aber gezeigt, daß diese Taktik ruhigen Abwartens
„und freundschaftlicher Vorstellungen nicht die gewünschte
„Wirkung hatte, daß sich der Prozeß der Entfremdung
„zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien nicht zurück-
„gebildet, sondern im Gegenteil beschleunigt hat. Daß von
„dieser Taktik auch für die Zukunft eine Wendung im
1 Die betreffenden Ausführungen lauteten jetzt (sachlich analog der
ersten Formulierung, vgl. Seite 14): .
Die Monarchie wäre geneigt, Rumänien als Gegenleistung (des öffent-
lichen Bekenntnisses zum Dreibund) ihrerseits die Garantie des rumäni-
schen Besitzstandes gegenüber Bulgarien anzubieten. Sollte Rumänien
ferner mit Rücksicht auf seine freundschaftlichen Verhältnisse zu Serbien
darauf Gewicht legen, so könnte die Monarchie in Bukarest auch die
Versicherung abgeben, daß sie eine von Rumänien in Belgrad unter-
nommene Aktion, welche auf eine Änderung der Haltung Serbiens gegen-
über der Monarchie abzielen würde, ihrerseits durch Entgegenkommen
auf politischem und wirtschaftlichem Gebiete Serbien gegenüber lu
fördern bereit sei.
18
„günstigen Sinne nicht zu erwarten ist, dafür spricht schon
„der Umstand, daß die gegenwärtige Situation der „freien
„Hand" für Rumänien durchaus vorteilhaft und nur für die
„Monarchie nachteilig ist.
„Es drängt sich nun die Frage auf, ob Österreich-Ungarn
„das' Verhältnis zu Rumänien noch durch eine offene Aus-
„einandersetzung sanieren könnte, indem es das Königreich
„vor die Wahl stellt, entweder alle Brücken zum Dreibund
„abzubrechen oder — etwa durch Bekanntmachung seiner
„Zugehörigkeit zum Dreibunde — ausreichende Bürgschaften
„dafür zu geben, daß die aus der Allianz entspringenden
„Verpflichtungen auch von seiner Seite voll und ganz erfüllt
„werden würden. Eine solche Lösung der Frage, die eine
,, dreißigjährige Tradition wieder aufleben ließe, würde sicher-
„lich den Wünschen Österreich-Ungarns am meisten ent-
„sprechen. Unter de,n gegebenen Verhältnissen ist es aber
„leider wenig wahrscheinlich, daß sich König Carol oder
„irgendeine rumänische Regierung, selbst gegen eine even-
„tuelle Erweiterung des gegenwärtigen Bündnisvertrages, dazu
„bereit finden würde, der herrschenden Volksstimmung zum
„Trotz, Rumänien öffentlich als Bundesgenossen des Drei-
„bundes hinzustellen. Ein kategorisches aut-aut seitens der
„Monarchie könnte daher zum offenen Bruch führen. Ob
„es dem deutschen Kabinett durch ernste und nachdrück-
„liche Vorstellungen, eventuell verbunden mit einem An-
„erbieten im obigen Sinne, gelingen würde, Rumänien zu
„einer Stellungnahme zu veranlassen, die als eine verläßliche
„Garantie für seine dauernde und volle Bundestreue an-
„gesehen werden könnte, läßt sich von Wien aus nicht leicht
„beurteilen, erscheint aber wohl gleichfalls als zweifelhaft.
„Unter diesen Umständen kann die Möglichkeit praktisch
„als ausgeschlossen gelten, das Bündnis mit Rumänien
„wieder so verläßlich und tragfähig zu gestalten, daß es für
,, Österreich-Ungarn das Pivot seiner Balkanpolitik bilden
„könnte. ,
„Es wäre nicht nur zwecklos, sondern bei der politischen
„und militärischen Bedeutung Rumäniens eine nicht zu ver-
„antwortende Sorglosigkeit, die wichtige Interessen der
, Reichsverteidigung aufs Spiel setzen würde, wenn sich die
19
„Monarchie gegenüber den in Rumänien zutage getretenen
„Erscheinungen weiterhin mehr oder weniger passiv ver-
„hahen und nicht ohne Aufschub die erforderlichen mili-
„tärischen Vorbereitungen und politischen Aktionen einleiten
„würde, um die Wirkungen der Neutralität und eventuellen
„Feindseligkeit Rumäniens aufzuheben oder wenigstens
„abzuschwächen.
„Der militärische Wert des Bündnisses mit Rumänien
„bestand für die Monarchie darin, daß sie im Konfliktsfalle
„mit Rußland gegen dieses von der rumänischen Seite her
„militärisch völlig freie Hand gehabt hätte, während ein
„ansehnlicher Teil der russischen Heeresmacht durch den
„Angriff der flankierenden rumänischen Armee gebunden
„worden wäre. Das heutige Verhältnis Rumäniens zur
„Monarchie hätte jedoch, würde jetzt zwischen ihr und
„Rußland ein bewaffneter Konflikt ausbrechen, so ziemlich
„das Gegenteil zur Folge. Rußland hätte nun auf keinen
„Fall einen Angriff Rumäniens zu befürchten und würde
„gegen Rumänien kaum einen Mann aufstellen müssen,
„während Österreich-Ungarn der rumänischen Neutralität
„nicht ganz sicher und deshalb gezwungen wäre, ein ent-
„sprechendes Aufgebot an Truppen gegen das jetzt an
„seiner Flanke befindliche Rumänien zurückzubehalten.
„Die bisherigen militärischen Vorkehrungen Österreich-
„Ungarns für den Fall eines Konfliktes mit Rußland basierten
„auf der Voraussetzung der Kooperation Rumäniens. Ist
„diese Voraussetzung hinfällig, ja nicht einmal eine absolute
„Sicherheit vor einer rumänischen Aggression gegeben, so
„muß die Monarchie für den Kriegsfall andere Dispositionen
„treffen und auch die Anlage von Befestigungen gegen
„Rumänien in Betracht ziehen.
„Politisch handelt es sich darum, Rumänien durch Taten
„zu beweisen, daß wir in der Lage sind, für die Balkan-
„politik Österreich-Ungarns einen anderen Stützpunkt zu
„schaffen. Sachlich und zeidich deckt sich die zu diesem
„Zweck einzuleitende Aktion mit der Notwendigkeit, gegen
„die von den Zweibundmächten betriebene Errichtung eines
„neuen Balkanbundes wirksame Maßnahmen zu ergreifen.
„Das eine wie das andere kann bei der heutigen Lage am
20
„Balkan nur dadurch erreicht werden, daß die Monarchie
„auf die schon vor einem Jahre gestelhen und seither
„mehrfach wiederholten Anerbieten Bulgariens eingeht und
„mit diesem in ein vertragsmäßiges Verhältnis tritt. Gleich-
„zeitig müßte die Politik der Monarchie danach trachten,
„ein Bündnis zwischen Bulgarien und der Türkei zustande
„zu bringen, wofür in beiden Staaten bis vor kurzem noch
„so günstige Dispositionen herrschten, daß ein Vertrags-
„instrument, wenn es auch später nicht unterzeichnet wurde,
„bereits ausgearbeitet war.
„Auch in dieser Hinsicht könnte eine Fortsetzung der
„bisherigen abwartenden Haltung, zu welcher sich die
„Monarchie durch eine viel weitergehende Rücksichtnahme
„auf das Bündnis, als sie in Bukarest an den Tag gelegt
„wurde, bestimmen ließ, von nicht wieder gutzumachendem
„schweren Nachteil sei,n. Weiteres Zuwarten und namendich
„das Unterbleiben einer Gegenaktion in Sofia würde den
„Intensiven und planmäßigen Bestrebungen Rußlands und
„Frankreichs vollkommen freies Spiel lassen. Die Haltung
„Rumäniens drängt die Monarchie geradezu mit Notwendig-
„keit dahin, Bulgarien jene Anlehnung, die es seit langem
„sucht, zu gewähren, um den sonst kaum abzuwendenden
„Erfolg der russischen Einkreisungspolitik zu vereiteln. Dies
„muß aber eben geschehen, solange der Weg nach Sofia
„und auch nach Konstantinopel noch offen steht.
„Der Vertrag mit Bulgarien, dessen nähere Bestimmungen
„noch eingehender zu prüfen sein werden, wird im allge-
„meinen natürlich so abzufassen sein, daß er die Monarchie
„nicht in Widerstreit mit ihren vertragsmäßigen Verpflich-
„tungen Rumänien gegenüber zu bringen vermag. Auch
„wäre dieser Schritt der Monarchie vor letzterem nicht
„geheim zu halten, da ja darin keine Feindseligkeit gegen
„Rumänien gelegen ist, wohl aber eine ernste Warnung,
„durch die sich die maßgebenden Faktoren in Bukarest der
„ganzen Tragweite einer dauernden einseitigen politischen
„Abhängigkeit von Rußland bewußt werden könnten.
„Bevor Österreich-Ungarn aber an die in Rede stehende
„Aktion herantritt, legt es den größten Wert darauf, mit dem
„Deutschen Reiche ein volles Einvernehmen herzustellen,
21
„und zwar nicht nur aus Rücksichten, die der Tradition und
„dem engen Bundesverhäitnis entspringen, sondern vor allem
„deshalb, weil wichtige Interessen Deutschlands und des
„Dreibundes überhaupt hier mit im Spiele sind und weil
„eine erfolgreiche Wahrung dieser in letzter Konsequenz
„gemeinsamen Interessen nur zu erwarten ist, wenn der
„einheitlichen Aktion Rußlands und Frankreichs eine ebenso
„einheitliche Gegenaktion des Dreibundes, insbesondere
„Österreich-Ungarns und des Deutschen Reiches, entgegen-
„gesetzt wird.
„Denn wenn Rußland, von Frankreich unterstützt, die
„Balkanstaaten gegen Österreich-Ungarn zu vereinigen
„trachtet, wenn.es die bereits erreichte Trübung des Ver-
„hältnisses zu Rumänien zu vertiefen bestrebt ist, so richtet
„sich diese Feindseligkeit nicht allein gegen die Monarchie
„als solche, sondern nicht zuletzt gegen den Bundesgenossen
„des Deutschen Reiches, gegen den durch seine geogra-
„phische Lage und innere Struktur exponiertesten, Angriffen
„am meisten zugänglichen Teil des zentraleuropäischen
„Blocks, der Rußland den Weg zur Verwirklichung seiner
„weltpolitischen Pläne sperrt.
„Die militärische Superiorität der beiden Kaisermächte
„durch Hilfstruppen vom Balkan her zu brechen, ist das
„Ziel des Zweibundes, aber nicht das letzte Ziel Rußlands.
„Während Frankreich die Schwächung der Monarchie
„anstrebt, weil es hiervon eine Förderung seiner Revanche-
„bestrebungen erwartet, sind die Absichten des Zarenreiches
„noch weit umfassender.
„Wenn man die Entwicklung Rußlands in den letzten
„zwei Jahrhunderten, die stetige Erweiterung seines Gebietes,
„das enorme, alle anderen europäischen Großmächte Weit
„überflügelnde Anwachsen seiner Volkszahl und die ge-
„waltigen Fortschritte seiner wirtschaftlichen Ressourcen und
„militärischen Machtmittel überblickt und bedenkt, daß
„dieses große Reich durch seine Lage und durch Verträge
jjVom freien Meer noch immer so gut wie abgeschnitten
„ist, dann begreift man die Notwendigkeit des der russischen
„Politik seit jeher immanenten aggressiven Charakters.
22
„Man kann Rußland vernünftigerweise territoriale Er-
„oberungspläne gegen das Deutsche Reich nicht zumuten ;
„trotzdem sind die außergewöhnlichen Rüstungen und
„kriegerischen Vorbereitungen, der Ausbau strategischer
„Bahnen gegen Westen etc., in Rußland sicherlich mehr noch
„gegen Deutschland als gegen Österreich-Ungarn gerichtet.
„Denn Rußland hat erkannt, daß die VerwirkHchung
„seiner einer inneren Notwendigkeit entspringenden Pläne
„in Europa und Asien in erster Linie höchst wichtige Inter-
„essen Deutschlands verletzen und daher auf dessen un-
„ausweichlichen Widerstand stoßen müßte.
„Die Politik Rußlands ist durch unveränderliche Ver-
„hältnisse bedingt und deshalb eine stetige und weitaus-
„blickende.
„Die manifesten Einkreisungstendenzen Rußlands gegen
„die Monarchie, die keine Weltpolitik treibt, haben den
„Endzweck, dem Deutschen Reiche den Widerstand gegen
„jene letzten Ziele Rußlands und gegen seine politische und
„wirtschaftliche Suprematie unmöglich zu machen."
Den Appell an die Interessengemeinschaft der Monarchie
und des Deutschen Reiches beibehaltend, schloß die Denk-
schrift < :
„Aus diesen Gründen ist die Leitung der auswärtigen
„Politik Österreich-Ungarns auch davon überzeugt, daß es
„ein gemeinsames Interesse der Monarchie wie nicht
„minder Deutschlands ist, im jetzigen Stadium der Balkan-
„krise rechtzeitig und energisch einer von Rußland plan-
„mäßig angestrebten und geförderten Entwicklung entgegen-
„zutreten, die später vielleicht nicht mehr rückgängig zu
„machen wäre."
In dem Kernpunkte ihrer Ausführungen lassen sich die
gegenüber der Darstellung der beiden Entwürfe vollzogenen
Umänderungen der Schlußredaktion dahin zusammenfassen:
Der Modalität einer Regelung der Beziehungen der
Monarchie zu Serbien auf dem Wege über Bukarest
• Der in den beiden Entwürfen Baron Matschekos vorangehende
Absatz — ablehnende Beui'teilung der ausschließlich deutsche Interessen
vertretenden politischen Auffassung gewisser Kreise in Deutschland
selbst (vgl. Seite 17) — entfiel aus naheliegenden Gründen.
23
äer Denk-
schrift
geschieht keine Erwähnung mehr, da die weitere Tragföhig-
keit des Bündnisses der Monarchie mit Rumänien selbst in
Frage gestellt erscheint. Als Ahwehrmittel der die Mon-
archie von Seite Serbiens und durch die Errichtung eines
neuen Balkanbundes bedrohenden Gefahren wird jetzt in
erster Reihe der vertragsmäßige Anschluß Bulgariens an
die eigene Kräftegruppe erachtet.
Die Denkschrift hatte kaum ihre endgültige Fassung
gefunden, als in Wien die Nachricht von der Ermordung
des Thronfolgers einlangte. Sie bot dem Wiener Kabinette
Veranlassung, die folgenden Bemerkungen anzufügen:
Postskript „Die vorliegende Denkschrift war eben fertiggestellt, als
„die furchtbaren Ereignisse von Sarajevo eintraten.
„Die ganze Tragweite der ruchlosen Mordtat läßt sich
„heute kaum überblicken. Jedenfalls ist aber, wenn es
„dessen noch bedurft hat, hierdurch der unzweifelhafte
„Beweis für die Unüberbrückbarkeit des Gegensatzes zwischen
„der Monarchie und Serbien sowie für die GePährlichkeit
„und Intensität der vor nichts zurückschreckenden groß-
„serbischen Bestrebungen erbracht worden.
„Österreich-Ungarn hat es an gutem Willen und Entgegen-
„kommen nicht fehlen lassen, um ein erträgliches Verhältnis
„zu Serbien herbeizuführen. Es hat sich aber neuerlich
„gezeigt, daß diese Bemühungen ganz vergeblich waren und
„daß die Monarchie auch in Zukunft mit der hartnäckigen,
„unversöhnlichen und aggressiven Feindschaft Serbiens zu
„rechnen haben wird.
„Um so gebieterischer tritt an die Monarchie die Not-
„wendigkeit heran, mit entschlossener Hand die Fäden zu
„zerreissen, die ihre Gegner zu einem Netze über ihrem
„Haupte verdichten wollen." '
' Die sachlich und nach den Ergebnissen der Textkritik auch formell
durchaus nicht ausgeschlossene chronologische Feststellung seitens einer
Persönlichkeit, „die über die Politik des Wiener Auswärtigen Amtes in der
Zeit vor Kriegsausbruch infolge ihrer damaligen Stellung aufs Genaueste
orientiert ist" (vgl. „Neue Freie Presse" vom 16. Jänner 1919), die
Schlußredaktion der Denkschrift sei erst nach dem 28. Juni besorgt
worden, ließe sich restlos nur durch eine positive, auf den Tag bestimmte
Angabe über die vollzogene Fertigstellung der endgültigen Fassung der
24
Als Ergänzung dieser politischen Denkschrift hatte nach Ergänzendes
der Absicht Graf Berchtoids ein Memoire zu dienen ', das, [)*7°'chef!
gleichfalls für den Monarchen und für Kaiser Wilhelm des cenerai-
bestimmt, die militärische Seite einer eventuellen Feindselig- '""'"'"
keit Rumäniens in einem europäischen Kriege beleuchten
sollte. Graf Rerchtold wandte sich zu diesem Zwecke am
1. Juli, auf ein seinerzeitiges Gespräch zurückgreifend, an
den k. u. k. Chef des Generalstabes Freiherrn Conrad
von Hötzendorf mit dem Anliegen, das gesagte Memoire je eher
zur Verfügung zu stellen, da die Erörterung dieser Fragen
mit dem deutschen Bundesgenossen dringend geboten sei
und das Memoire Kaiser Wilhelm eventuell schon bei seinem
bevorstehenden Aufenthalt in Wien unterbreitet werden solle.
Die abverlangte Ausarbeitung wurde Graf Berchtold am
2. Juli zugeschickt. Sie enthielt eine Darstellung der Wirkungen
einer Neutralität oder der Feindseligkeit Rumäniens auf die
militärische Lage der Monarchie und des Dreibundes und
schloß ihre Erwägungen mit der Feststellung: „Die öster-
„reichisch-ungarische Monarchie ist bei einem Abschwenken
„Rumäniens außerstande, den Kraftzuschuß wettzumachen,
„den Rußland durch seine neue Militärvorlage, aber auch
„durch das Hinzutreten der bisher gegen Rumänien not-
„wendigen Kräfte gewinnt.
„Die Monarchie vermöchte trotz großer Opfer für die
„Grenzbefestigung und für die Formierung von Reserve-
„formationen der Verschlechterung der Gesamtlage nicht vor-
„zubeugen. Sie müßte aber ungesäumt und rasch die Vor-
„kehrungen gegen Rumänien beginnen und voll ausführen,
„denn nur ein offener und unbedingt bindender vertrags-
„mäßiger Anschluß Rumäniens an den Dreibund könnte als
„Gewähr gegen eine eventuelle Feindseligkeit gelten. Der
Denkschrift erhärten. Bis dahin muß für die zeitliche Bestimmung die
Formulierung des ersten Satzes der Nachschrift wohl ihre Geltung
behalten: „Die vorliegende Denkschrift war eben fertiggestellt, als die
furchtbaren Ereignisse von Sarajevo eintraten" und der diesbezügliche
Passus des Handschreibens Kaiser Franz Josephs an Kaiser Wilhelm „Die
Denkschrift, die noch vor der furchtbaren Katastrophe in Sarajevo ver-
faßt wurde . . ." (Siehe Seite 26.)
» Vgl. Seite 5, Anmerkung I; Seite 15, Anmerkung 1.
25
Hand-
schreiben
Kaiser Franz
Josephs an
Kaiser
Wilhelm
(Entwurf,
2. Juli)
„geringste Zweifel in dieser Hinsicht fordert gebieterisch, die
„militärischen Vorsorgen ungesäumt zu treffen." '
Unter dem Eindructce des Sarajevoer Ereignisses gedachte
Kaiser Franz Joseph mit dem zur Teilnahme an den Trauer-
feierlichlceiten in Wien erwarteten deutschen Kaiser eine die
gesamte politische Lage umfassende Rücksprache zu pflegen.
Da Kaiser Wilhelm indessen von seiner Absicht, nach Wien
zu kommen, Abstand nahm, entschloß sich der Monarch, die
nunmehr gänzlich fertiggestellte Denkschrift (wie es ohnehin
beabsichtigt war) in Begleitung eines Handschreibens an
Kaiser Wilhelm abzusenden.
Das Handschreiben gab dem Bedauern Ausdruck, daß
Kaiser Wilhelm sich genötigt gesehen habe, seine Absicht,
zur Trauerfeier nach Wien zu kommen, aufzugeben. Der
Monarch hätte ihm sehr gerne persönlich seinen herzlichen
Dank für die wohltuende Anteilnahme an seinem schweren
Kummer ausgesprochen.
Kaiser Wilhelm habe durch sein warmes, mitfühlendes
Beileid wieder bewiesen, daß Kaiser Franz Joseph in ihm
einen treuen, verläßlichen Freund besitze und daß er in jeder
ernsten Stunde auf ihn rechnen könne.
Es wäre dem Monarchen auch sehr erwünscht gewesen,
die politische Lage mit Kaiser Wilhelm zu besprechen. Da
dies jetzt nicht möglich gewesen sei, sende der Monarch
Kaiser Wilhelm die anruhende, vom Minister des Äußern
ausgearbeitete Denkschrift, die noch vor der furchtbaren
Katastrophe in Sarajevo verfaßt wurde und die jetzt, nach
diesem tragischen Ereignis, besonders beachtenswert er-
scheine.
Das gegen den Erzherzog Franz Ferdinand verübte
Attentat sei die direkte Folge der von den russischen und
"serbischen Panslawisten betriebenen Agitation, deren ein-
ziges Ziel die Schwächung des Dreibundes und die Zer-
trümmerung des Reiches Kaiser Franz Josephs sei.
I Das Stück (Res. Gstbs. Nr. 2505) wurde mit dem Vermerke „ad acta"
hinterlegt. Eine Verwendung Berlin gegenüber fand dasselbe, soweit sich
dies aktenmäßig feststellen läßt, trotz der ursprünglich bestandenen
Absicht, nicht.
26
Nach allen bisherigen Erhebungen habe es sich in Sara-
jevo nicht um die Bluttat eines einzelnen, sondern um ein
wohlorganisiertes Komplott gehandelt, dessen Fäden nach
Belgrad reichten, und wenn es auch vermutlich unmöglich
sein werde, die Komplizität der serbischen Regierung nach-
zuweisen, so könne man wohl nicht im Zweifel darüber
sein, daß ihre auf die Vereinigung aller Südslawen unter
serbischer Flagge gerichtete Politik solche Verbrechen fördere
und daß die Andauer dieses Umstandes eine dauernde Gefahr
für das Haus und die Länder Kaiser Franz Josephs bilde.
Diese Gefahr werde noch dadurch erhöht, daß auch
Rumänien, trotz des bestehenden Bündnisses mit der
Monarchie und mit Deutschland, sich mit Serbien eng be-
freundet habe und auch im eigenen Lande eine ebenso
gehässige Agitation gegen die Monarchie und Deutschland
dulde, wie Serbien es tue.
Es werde dem Monarchen schwer, an der Treue und
den guten Absichten eines so alten Freundes, wie Carol
von Rumänien es sei, zu zweifeln; dieser selbst habe aber
dem Gesandten Kaiser Franz Josephs im Laufe der letzten
Monate zweimal erklärt, daß er angesichts der erregten und
der Monarchie und Deutschland feindlichen Stiminung
seines Volkes nicht in der Lage wäre, im Ernstfalle seinen
Bundespflichten nachzukommen.
Dabei fördere die gegenwärtige rumänische Regierung
ganz offen die Bestrebungen der Kulturliga, begünstige die
Annäherung an Serbien und strebe mit russischer Hilfe
die Gründung eines neuen Balkanbundes an, der nur gegen
das Reich Kaiser Franz Josephs gerichtet sein könnte.
Schon am Beginne der Regierungszeit Carols hätten
ähnliche politische Phantasien, wie sie jetzt von der Kultur-
liga verbreitet würden, den gesunden politischen Sinn der
rumänischen Staatsmänner getrübt, und es habe die Gefahr
bestanden, daß das Königreich eine Abenteurerpolitik
treiben würde. Damals habe der Großvater Kaiser Wilhelms
in energischer, zielbewußter Weise durch seine Regierung
eingegriffen und habe Rumänien so den Weg gewiesen, auf
welchem es zu einer Vorzugsstellung in Europa gelangt und
_zu einer verläßlichen Stütze aller Ordnung geworden sei.
27
Jetzt drohe dieselbe Gefahr dem Königreiche; Kaiser
Franz Joseph befürchte, daß Ratschläge allein nicht mehr
helfen würden und daß Rumänien nur dann dem Drei-
bunde erhalten werden könne, wenn die Monarchie und
Deutschland einerseits das Entstehen eines Balkanbundes
unter russischer Patronanz durch den Anschluß Bulgariens
an den Dreibund unmöglich machten, und andrerseits in
Bukarest klar und deutlich zu erkennen gäben, daß die
Freunde Serbiens nicht die Freunde der Monarchie und
Deutschlands sein könnten, und daß auch Rumänien nicht
mehr mit der Monarchie und Deutschland als Bundes-
genossen rechnen könne, wenn es sich nicht von Serbien
lossage und die gegen den Bestand des Reiches Franz Josephs
gerichtete Agitation in Rumänien mit aller Kraft unter-
drücke.
Die auswärtige Politik der österreichisch-ungarischen
Regierung am Balkan müsse in Hinkunft auf die Isolierung
und Verkleinerung Serbiens gerichtet sein. Die erste Etappe
auf diesem Wege könne nur in einer Stärkung der Stellung
der gegenwärtigen bulgarischen Regierung bestehen, damit
dieses Land, dessen reale Interessen mit denen der Mon-
archie und Deutschlands übereinstimmten, vor der Rückkehr
zur Russophilie bewahrt bleibe.
Wenn man in Bukarest erkenne, daß der Dreibund ent-
schlossen sei, auf Bulgarien nicht zu verzichten, jedoch bereit
wäre, Bulgarien dazu zu veranlassen, sich mit Rumänien
zu verbinden und dessen territoriale Integrität zu garan-
tieren, so werde man dort vielleicht von der gefährlichen
Richtung zurückkommen, in welche man durch die Freund-
schaft mit Serbien und die Annäherung an Rußland ge-
trieben worden sei.
Wenn dies gelinge, so werde es vielleicht auch möglich
sein, Griechenland durch einen billigen Gebietsaustausch
mit Bulgarien und mit der Türkei zu versöhnen, und es
würde sich dann unter der Patronanz des Dreibundes ein
neuer Balkanbund bilden, dessen Aufgabe darin bestehen
würde, dem Vordringen der panslawistischen Hochflut ein
Ziel zu setzen und den Ländern Kaiser Wilhelms und
Kaiser Franz Josephs den Frieden zu sichern.
28
„Dieses wird aber", schloß das Handscrireiben, „nur
„dann möglich sein, wenn Serbien, welches gegenwärtig den
„Angelpunkt der panslawistischen Politik bildet, als politischer
„Machtfaktor am Balkan nicht mehr gerechnet wird'.
„Auch Du wirst nach dem jüngsten furchtbaren Ge-
„schehnisse in Bosnien die Überzeugung haben, daß an
„eine Versöhnung des Gegensatzes, welcher Serbien von
„uns trennt, nicht mehr zu denken ist, und daß die erhal-
„tende Friedenspolitik aller europäischen Monarchen bedroht
„sein wird, solange, dieser Herd von verbrecherischer
„Agitation in Belgrad ungestraft fortlebt."
Dieser Entwurf des Handschreibens Kaiser Franz Josephs
war im Kabinett des Ministers am 2. Juli aufgesetzt worden.
Die Stilisierung des Handschreibens wurde vor dessen
Absendung (4. Juli abends) noch einigen geringfügigeren
Änderungen unterworfen -.
Von sachlichem Interesse, weil für die Mentalität ihres Bemerkun-
Autors ebenso bezeichnend als zur Charakteristik des ^^"igi^^h
Adressaten in Berlin dienend, waren die Bemerkungen des ungarische«
ungarischen Ministerpräsidenten Grafen Stephan Tisza zu p^ideLn
dem Texte des Handschreibens. Er telegraphierte am 5. Juli Grafen Tis^»
vormittags (also nach bereits erfolgter Absendung) an Graf ^"™,^"^^'''
BerchtOld '■: Kaiser und
„Allerhöchstes Handschreiben an deutschen Kaiser. KonigFran,
Josephs
„Um Berlin nicht kopfscheu zu machen, rate ich dringend,
„im vorletzten Alinea anstatt „als politischer Machtfaktor
„am Balkan ausgeschaltet wird" zu sagen „genötigt wird,
„seine aggressive Tätigkeit aufzugeben" und im letzten
„Alinea die Worte: „daß an eine Versöhnung des Gegen-
„satzes, welcher Serbien von uns trennt, nicht mehr zu
„denken ist, und" wie auch das Wort: „ungestraft" weg-
„zulassen."
1 Im Wortlaut des abgeschickten Handschreibens (Weißbuch be-
treffend die Verantwortlichkeit der Urheber am Weltkriege, Seite 59, 60)
lautet die korrespondierende Stelle: „als politischer Machtfaktor am Balkan
ausgeschaltet wird". Vgl. hiezu die gegenständlichen Ausführungen des
nachfolgend zitierten Telegramms des Grafen Tisza.
2 Vgl. Weißbuch 1. c.
•■>, Telegramm des Grafen Tisza d. d. Budapest, 5. Juli, 11 Uhr
50 Minuten a. m., ohne Nummer.
29
Wir werden nunmehr festzustellen haben, welcher Auf-
nahme die Denkschrift in Berlin begegnete und das Hand-
schreiben Kaiser Franz Josephs, dessen Änderung Graf
Tisza hinsichtlich der erwähnten Nuancen dringend anraten
zu müssen glaubte, „um Berlin nicht kopfscheu zu machen".
2. Die Stellungnahme Kaiser Wilhelms und der
deutschen Regierung zur Denkschrift des Wiener
Kabinetts
Legacionsrai Zur Überbringung des Handschreibens Kaiser Franz
übTrbringi "'' Joscphs war Lcgationsrat Alexander Graf Hoyos ausersehen
das Hand wordcn '. Der k. u. k. Botschafter in Berlin Graf Szögyeny
K^seTfrini ehielt am 4. Juli die telegraphische Verständigung, Graf
Josephs naoh Hoyos werde am Abend dieses Tages mit einem Hand-
schreiben des Monarchen an Kaiser Wilhelm nach Berlin
fahren. Dem Grafen Szögyeny habe Graf Hoyos Abschriften
dieses Handschreibens und einer beigelegten Denkschrift
zur Mitteilung an den Reichskanzler zu übermitteln. Falls
ein persönlicher Empfang des Botschafters durch Kaiser
Wilhelm ausgeschlossen sei, ersuche Graf Berchtold, unver-
züglich Vorsorge zu treffen, daß das Handschreiben Kaiser
Franz Josephs noch am 5. Juli Kaiser Wilhelm, der Zeitungs-
nachrichten zufolge schon am 6. Juli die Nordlandsreise
antrete, zugestellt werde.
Auch lege Graf Berchtold den größten Wert darauf,,
daß Graf Szögyeny seinerseits am 5. Juli vom Reichs-
kanzler empfangen werde; Graf Berchtold ersuche den
k. u. k. Botschafter Herrn von Bethmann Holhveg eventuell
auf dem Lande zu besuchen, denn er halte es für außerordent-
lich wichtig, daß der Reichskanzler noch vor der Abreise
Kaiser Wilhelms den Inhalt der überschickten Piecen mit
Graf Szögyeny und dann mit dem Kaiser besprechen könne.
Grafsz6- Der k. u."' k. Botschafter konnte den Vollzug seines
Ryany über- Auftragcs noch am 5. Juli abends melden -. Nachdem
reicht Kaiser ^-, « „ -, ...^ , , _x i f •
Wilhelm das Graf Szogyeny Kaiser Wilhelm zur Kenntnis hatte bringen
Hundsehrei-
bcn und die ' Ursprünglich war (Weisung nach Berlin d. d. Wien, 4. Juh', 5 Uhr p. m...
Denkschrift Nj-, 212) die Absendupg eines Kuriers geplant.
**■ J""' - Telegramm aus Berlin d. d. 5. Juli, 7 Uhr 35 Minuten p. m., Nr. 237.
30
lassen, daß er ein Handschreiben des Monarchen, das ihm
Graf Hoyos im Laufe des Tages überbrachte, Kaiser
Wilhelm zu überreichen habe, erhielt er eine Einladung des
deutschen Kaiserpaares für den 5. Juli mittags zu einem
Dejeuner ins Neue Palais. Der Kaiser las in Gegenwart
des k. u. k. Botschafters die beiden Schriftstücke mit größter
Aufmerksamkeit. Zuerst versicherte er, daß er eine ernste
Aktion von Seite Österreich-Ungarns gegenüber Serbien
erwartet habe, doch müsse er gestehen, daß er infolge der
Ausführungen Kaiser Franz Josephs eine ernste europäische
Komplikation im Auge behalten müsse und daß er daher
vor einer Beratung mit dem Reichskanzler keine definitive
Antwort erteilen wolle.
Als Graf Szögyeny nach dem Dejeuner nochmals den
Ernst der Situation mit großem Nachdruck betonte, ermächtigte
ihn Kaiser Wilhelm, Kaiser Franz Joseph zu melden, daß
man in Wien „auch in diesem Falle" • auf die volle Unter-
stützung Deutschlands rechnen könne. Wie gesagt, müsse
Kaiser Wilhelm vorerst die Meinung des Reichskanzlers
anhören, doch zweifle er nicht im Geringsten daran, daß
Herr von Bethmann Hollweg vollkommen seiner Ansicht
zustünmen werde. Insbesondere gelte dies betreffs einer
Aktion seitens der Monarchie gegen Serbien. Nach seiner
Anschauung müßte aber mit dieser Aktion nicht zugewartet
werden. Rußlands Haltung werde jedenfalls feindselig sein,
doch sei Kaiser Wilhelm hierauf schon seit Jahren vor-
bereitet, und sollte es sogar zu einem Kriege zwischen
Österreich-Ungarn und Rußland kommen, so könne man in
Wien davon überzeugt sein, daß Deutschland in gewohnter
Bundestreue an der Seite der Monarchie stehen werde.
Rußland sei übrigens noch keineswegs kriegsbereit und
werde es sich gewiß noch sehr überlegen, an die Waffen
zu appellieren. Doch werde es bei den anderen Mächten
' Die nicht eben präzise Fassung der Worte „auch in diesem Falle"
ist vorläufig kurz anzumerken. Wir werden in weiterer Folge für die Eigen-
art der Berichterstattung des bejahrten k. u. k. Botschafters in Berlin
illustrierende Belege erbringen, aus denen sich wichtige Rückschlüsse für
den Grad der Zuverlässigkeit seiner Meldungen schlechthin ergeben.
Vgl. Seite 173 fp, 235 ff, 248, Anmerkung 3; 253, Anmerkung 2.
31
der Tripleentente gegen die Monarchie hetzen und am Balkan
das Feuer schüren.
Kaiser Wilhelm begreife sehr gut, daß es Kaiser Franz
Joseph bei seiner bekannten Friedensliebe schwer fallen
würde, in Serbien einzumaschieren, wenn man aber in
Wien, wirklich die Notwendigkeit einer kriegerischen Aktion
gegen Serbien erkannt hätte, so würde er es bedauern,
wenn Österreich-Ungarn den jetzigen, für sich so günstigen
Moment unbenutzt ließe.
Was Rumänien betreffe, so werde Kaiser Wilhelm für
ein korrektes Verhalten König Carols und seiner Ratgeber
Sorge tragen. Das Eingehen in ein Vertragsverhältnis mit
Bulgarien „sei ihm keineswegs sympathisch"; nach wie vor
habe er nicht das geringste Vertrauen weder zu König
Ferdinand noch zu dessen früheren und jetzigen Ratgebern.
Trotzdem wolle er nicht die geringste Einwendung gegen
die Eingehung eines vertragsmäßigen Anschlusses der
Monarchie an Bulgarien erheben, doch müsse dafür Vor-
sorge getroffen werden, daß der Vertrag keine Spitze gegen
Rumänien enthalte und — wie dies auch das Memorandum
hervorhebe — Rumänien zur Kenntnis gebracht werde.
Kaiser Wilhelm beabsichtige, schloß Graf Szögyeny seine
Meldung, sich am 6. Juli früh nach Kiel zu begehen und von
dort seine Nordlandsreise anzutreten; zuvor aber werde der
Kaiser mit dem Reichskanzler in der in Rede stehenden An-
gelegenheit noch Rücksprache pflegen und habe Herrn
Bethmann Hollweg zu diesem Zwecke von Hohenfinow für
den 5. Juli abends in das Neue Palais bestellt.
UnterreJung Der Unterredung des Grafen Szögyeny mit dem deutschen
aesGrafen Kalscr folglc am 6. luli nachmittags eine lange Besprechung
Szögyeny mil ö .' o o r o
dem Reichs- dcs k. u. k. Botschafters (in Begleitung des Grafen Hoyos)
kanzierund j^jj ^^^ Rclchskanzier und dem Unterstaatssekretär Herrn
dem Unter-
staats- Zimmermann '.
""^^'.^r Zunächst stattete der Reichskanzler den vorerst mündlichen
(6. Juli)
Dank Kaiser Wilhelms für das Handschreiben des Monarchen
ab; die schriftliche Beantwortung werde in einigen Tagen er-
folgen. Des Weiteren sei der Reichskanzler von Kaiser Wilhelm
> Telegramm aus Berlin d. d. (i. Juli, 5 Uhr 10 Min. p. m., Nr. 239.
32
ermächtigt worden, dem Grafen Szögyeny die Stellungnalime
der deutschen Regierung zu dem Handschreiben und zu der
Dentcschrift zu präzisieren:
Die deutsche Regierung eri<enne die Gefahren, die für
Österreich-Ungarn und somit auch für den Dreibund aus den
Baliianbundplänen Rußlands erwüchsen; sie sehe auch ein,
daß das Wiener Kabinett bei dieser Sachlage den formellen
Anschluß Bulgariens an den Dreibund herbeiführen wolle,
doch lege sie Wert darauf, daß dies — wie es ja auch beab-
sichtigt sei — in einer Form geschehe, welche die gemein-
samen Verpflichtungen gegenüber Rumänien nicht tangiere.
Der deutsche Gesandte in Sofia sei auch schon bevollmächtigt
worden, falls er von seinem österreichisch-ungarischen Kol-
legen dazu aufgefordert werde, mit der bulgarischen Regierung
in diesem Sinne zu verhandeln. Gleichzeitig beabsichtige der
Reichskanzler, dem deutschen Gesandten in Bukarest die
Weisung zu erteilen, ganz offen mit König Carol zu reden,
ihn von den Verhandlungen in Sofia in Kenntnis zu setzen
und ihn darauf aufmerksam zu machen, daß er die Fortdauer
der gegen die Monarchie gerichteten Agitation in Rumänien
unterdrücken solle. Auch werde der Reichskanzler mitteilen
lassen, daß er nach Wien bisher stets den Rat erteilt hätte,
sich mit Serbien zu vertragen, daß er aber nach den letzten
Ereignissen einsehe, daß dies nunmehr nahezu ausgeschlossen
sei. Dieser Tatsache sollte auch Rumänien Rechnung tragen.
Das Verhältnis der Monarchie zu Serbien betreffend,
stehe die deutsche Regierung auf dem Standpunkte, daß
man in Wien beurteilen müsse, was zu geschehen hätte,
um dies Verhältnis zu klären; das Wiener Kabinett könnte
dabei — wie auch immer seine Entscheidung ausfallen möge
- mit Sicherheit darauf rechnen, daß Deutschland als
Bundesgenosse und Freund der Monarchie hinter ihr stehe.
Im weiteren Verlaufe der Konversation stellte Graf
Szögyeny fest, daß auch der Reichskanzler ebenso wie
Kaiser Wilhelm ein sofortiges Einschreiten seitens der
Monarchie gegen Serbien als radikalste und beste Lösung
der Schwierigkeiten der Monarchie am Balkan ansehe. Den
jetzigen Augenblick halte der Reichskanzler vom inter-
nationalen Standpunkte für günstiger als einen späteren;
3 33,
auch sei er ganz damit einverstanden ', daß das Wiener
Kabinett weder Italien nocii Rumänien voriier von einer
eventuellen Aktion gegen Serbien verständige-. Dagegen
sei Italien durch die deutsche und durch die österreichisch-
ungarische Regierung schon jetzt von der Absicht in
Kenntnis zu setzen, den Anschluß Bulgariens an den Drei-
bund herbeizuführen.
Vord^hand solle nach der Meinung des Reichskanzlers
und des Unterstaatssekretärs nur mit Bulgarien verhandelt
und abgeschlossen werden und es sei der Zukunft zu über-
lassen, ob sich dann die Türkei oder eventuell auch
Griechenland mit Bulgarien verbinde.
Am Schlüsse der Unterredung erkundigte sich der Kanzler
nach dem gegenwärtigen Stande der Dinge in Albanien und
warnte eindringlichst vor irgendwelchen Plänen, durch
welche das gemeinsame Verhältnis zu Italien und der Be-
stand des Dreibundes gefährdet werden könnte ^
Graf Szögyeny beendete seinen Bericht mit der Mit-
teilung, daß der deutsche Botschafter in Wien, Herr von
' Zur Phraseologie der Berichterstattung des Grafen Szögyeny ver-
gleiche hinsichtlich der Ausdrücke „selbstredend" Seite HO Anmerkung 2;
111,225,227; „selbstverständlich" Seite 141; „vollkommen einverstanden"
Seite 74, 188; „sehe vollkommen ein" Seite 75 und 236; „bedauere ganz
außerordentlich" Seite 75; „teile die Ansicht vollkommen" Seite 171;
„vollkommen recht", „vollkommen im Unrecht" Seite 246; „vollkommen
berechtigt" Seite 249; „ganz kategorisch" Seite 223; „absolut nicht"
Seite 175, 223; „auf das Bündigste" Seite 173; „auf das Ausdrücklichste"
Seite 174; „auf das Nachdrücklichste" Seite 41.
- Vgl. hierzu die divergierenden Äußerungen Herrn von Tschirschkys
Seite 39, ferner den Text der Weisung des Grafen Berchtold an Herrn von
Merey in Rom d. d. Wien, 12. Juli, Nr. 801, Seite 75, 76.
•" In der in- und ausländischen Presse (unter anderem in einer
Reutermeldung vom 15. Februar 1919) wird gelegentlich noch immer
von einem Kronrate zu Potsdam am 5. Juli gesprochen, an dem auch
verschiedene militärische und politische Funktionäre der Monarchie teil-
genommen hätten (Erzherzog Friedrich, der k. u. k. Chef des General-
stabes Freiherr von Conrad, der königlich ungarische Ministerpräsident Graf
Tisza) und dessen Entschlüsse die vorbedachte Kriegspolitik Deutsehlands
und der Monarchie dokumentierten. Diesem „Märchen von dem Pots-
damer Kronrat" hat schon das Dementi des Grafen Berchtold in der
„Neuen Freien Presse" vom 10. August 1917 ein Ende bereitet. Die von
dem Grafen Szögyeny persönlich am 5. Juli mit dem deutschen Kaiser
34
Tschirschky, von der gepflogenen Unterredung in Kenntnis
gesetzt werden würde '.
Der Reichskanzler hatte Graf Szögyeny in der Unter- Amwon-
redung am 6. Juli nachmittags von der Absicht Kaiser K^istr wn-
Wilhelms verständigt, das Handschreiben des Monarchen heims an
persönlich zu beantworten. Das aus Bornholm vom 14. Juli j^^^^"
datierte Schreiben Kaiser Wilhelms gab der aufrichtigen (Bomhoim,
Dankbarkeit Ausdruck, daß Kaiser Franz Joseph in den '■*■ ''"''*
Tagen, in denen Ereignisse von erschütternder Tragik über
ihn hereingebrochen seien und schwere Entscheidungen von
ihm forderten, seine Gedanken auf ihre Freundschaft ge-
lenkt und diese zum Ausgangspunkt seines Schreibens
gemacht habe. Kaiser Wilhelm betrachte die vom Großvater
und Vater auf ihn überkommene enge Freundschaft zu
Kaiser Franz Joseph als ein kostbares Vermächtnis und
erblicke in deren Erwiderung durch den Monarchen das
sicherste Pfand für den Schutz ihrer Länder. Bei seiner
verehrungsvollen Anhänglichkeit an die Person des Mon-
archen werde dieser ermessen können, wie schwer Kaiser
Wilhelm das Aufgeben seiner Reise nach Wien und der
ihm dadurch auferlegte Verzicht auf die öffentliche Bekun-
dung der innigen Anteilnahme an Kaiser Franz Josephs
tiefem Schmerze bekümmern mußten.
Durch den bewährten und von ihm aufrichtig geschätzten
Botschafter Kaiser Franz Josephs werde dem Monarchen
die Versicherung Kaiser Wilhelms übermittelt worden sein,
daß der Monarch auch in den Stunden des Ernstes den
deutschen Kaiser und sein Reich in vollem Einklänge mit
und am 6. Juli (in Begleitung des Grafen Hoyos) mit Herrn von Beth-
mann Hollweg und Herrn Zimmermann gepflogenen Besprechungen be-
handelten vielmehr (wie» aus den angeführten beiden Meldungen Graf
Szögyenys zu ersehen ist) die Gesamtmaterie der politischen Lage
Europas in bloß informativer Weise.
Aufzeichnungen über eine spezielle Mission des Grafen A. Hoyos
sind im politischen Archiv des ehemaligen k. u. k. Ministeriums des
Äußern nicht vorhanden. (Vgl. unsere Feststellung, Seite 30, Anmerkung 1.)
In den Seite 53, 112 und 118 erwähnten Ausführungen des Grafen
A. Hoyos haben wir demnach bloß die eigenen Anschauungen dieses
Funktionärs zu erblicken.
' Vgl. Weißbuch betr. d. V. d. U. a. Kr. Seite 70; unsere Ausführungen
Seite 69 und Anmerkung 1 daselbst.
35
ihrer altbewährten Freundschaft und Bündnispflicht treu an
der Seite Kaiser Franz Josephs und der Monarchie finden
werde. Ihm dies an dieser Stelle zu wiederholen, sei Kaiser
Wilhelm eine freudige Pflicht.
Die grauenerregende Freveltat von Sarajevo habe ein
grelles Schlaglicht auf das unheilvolle Treiben wahnwitziger
Fanatiker und die den staatlichen Bau bedrohende pan-
slawistische Hetzarbeit geworfen. „Ich muß", heißt es dann
weiter, „davon absehen, zu der zwischen Deiner Regierung
„und Serbien schwebenden Frage Stellung zu nehmen. Ich
„erachte es aber nicht nur für eine moralische Pflicht aller
„Kulturstaaten, sondern als ein Gebot für ihre Selbsterhaltung,
„der Propaganda der Tat, die sich vornehmlich das feste
„Gefüge der Monarchien als Angriffsobjekt ausersieht, mit
„allen Machtmitteln entgegenzutreten. Ich verschließe mich
„auch nicht der ernsten Gefahr, die Deinen Ländern und
„in der Folgewirkung dem Dreibund aus der von russischen
„und serbischen Panslawisten betriebenen Agitation droht,
„und erkenne die Notwendigkeit, die südlichen Grenzen
,, Deiner Staaten von diesem schweren Drucke zu befreien."
Kaiser Wilhelm sei daher bereit, das Bestreben der Wiener
Regierung, das dahin gehe, die Bildung eines neuen Balkan-
bundes unter russischer Patronanz und mit der Spitze gegen
Österreich-Ungarn zu hintertreiben und als Gegengewicht
ferner den Anschluß Bulgariens an den Dreibund herbei-
zuführen, nach Tunlichkeit zu fördern. Demgemäß habe er
trotz gewisser Bedenken, die in erster Linie durch die
geringe Zuverlässigkeit des bulgarischen Charakters bedingt
würden, seinen Gesandten in Sofia anweisen lassen, die
diesbezüglichen Schritte des österreichisch-ungarischen Ver-
treters auf dessen Wunsch zu unterstützen. Des Weiteren
habe Kaiser Wilhelm seinen Geschäftsträger in Bukarest
beauftragt, sich zu König Carol im Sinne der Anregungen
Kaiser Franz Josephs zu äußern und unter Hinweis auf die
durch die jüngsten Ereignisse neugeschaffene Lage die
Notwendigkeit eines Abrückens von Serbien und einer Unter-
bindung der gegen die Monarchie gerichteten Agitation
hervorzuheben. Er habe gleichzeitig besonders betonen lassen,
daß er den größten Wert auf die Erhaltung der bisherigen
36
vertrauensvollen Bundesbeziehungen zu Rumänien lege, die
auch bei einem eventuellen Anschluß Bulgariens an den
Dreibund keinerlei Beeinträchtigung zu erleiden brauchen
würden.
Das mit einer neuerlichen Betonung aufrichtiger Anhäng-
lichkeit und Freundschaft schließende Antwortschreiben
Kaiser Wilhelms ' wurde durch den deutschen Botschaftsrat
Prinzen Stolberg dem Grafen Berchtold am 18. Juli zugestellt,
der es dem Monarchen mittels eines Immediatvortrages
noch am selben Tage vorlegte.
3. Das nächste Ziel des Wiener Kabinetts
Seit dem 6. Juli war die österreichisch-ungarische Re-
gierung durch die Berichterstattung des Grafen Szögyeny
in Kenntnis des von Kaiser Wilhelm und dem Berliner
Kabinett der Wiener Denkschrift gegenüber eingenommenen
Standpunktes. Am Ballhausplatze konnte man nun daran-
gehen, die eigenen Absichten zu verwirklichen. Welches
nächste Ziel sich das Wiener Kabinett gesteckt hatte,
ließ der markante Schlußappell der Denkschrift an
die Gemeinschaftlichkeit der Interessen Deutsch-
lands und der Monarchie in den Konturen bereits
erkennen. Und jede weitere Aktion des Wiener
Kabinetts schuf eine immer klarere Abgrenzung
dieses Zieles: sich der deutschen Unterstützung für
alle Fälle zu versichern. Parallel damit mußten jene
Hemmnisse und Widerstände überwunden werden,
die dem Wiener Kabinett bei der Verwirklichung
seiner Absichten vorderhand seitens der maßgeben-
den Faktoren der Monarchie selbst hindernd im
Wege standen -.
Eine Unterredung, die der deutsche Botschafter von Besprechung
Tschirschky mit Graf Berchtold am 2. Juli hatte, ließ eine t'^^^IT-
' "^ ' Berchtold mit
Kongruenz der beiderseitigen Auffassungen vermissen ■■. Herrn von
Graf Berchtold hatte im Laufe dieser Besprechung auf J^Jj."''"-'
die Semliner Meldung hingewiesen, wonach 12 Mordbuben
' Vgl. Weißbuch betr. d. V. d. U. a. Kr., Seite 71, 72.
2 Vgl. die drei letzten Absätze der Anmerkung Seite 40.
" Tagesbericht vom 3. Juli, Nr. 3095.
37
unterwegs seien, mit der Absicht, ein Attentat auf Kaiser
Wilhelm zu verüben, und hatte der Meinung Ausdruck gegeben,
diese Nachricht werde doch vielleicht in Berlin die Augen
öffnen über die Gefahr, die von Belgrad aus drohe.
Herr von Tschirschky stellte letzteres nicht in Abrede
und versicherte, daß seiner Ansicht nach nur ein tatkräftiges
Vorgehen gegen Serbien zum Ziele führen könne. Deutsch-
land habe, wie Graf Berchtold wisse, mehrmals während
der Krise erklärt, daß es hinsichtlich der Balkanpolitik
stets hinter der Monarchie stehen werde, wenn es sich als
notwendig erweisen sollte.
Auf die Bemerkung des Grafen Berchtold, daß ihm dies
wohl wiederholt versichert worden sei, daß er aber in der
Praxis nicht immer die Unterstützung des Berliner Kabinetts
gefunden habe und daher nicht wisse, inwieweit er auf
dasselbe zählen könnte, erwiderte der Botschafter, daß er
— ganz privat gesprochen — die Haltung seiner Re-
gierung damit erkläre, daß in Wien viel von Ideen gesprochen
werde, daß aber niemals ein festumschriebener Aktionsplan
formuliert werde, und daß das Berliner Kabinett nur im
Falle ein solcher aufgestellt würde, voll und ganz für die
Monarchie eintreten könnte.
Einen Krieg mit Serbien zu beginnen, ohne die Sicher-
heit zu haben, nicht auch von Italien und Rumänien an-
gegriffen zu werden, scheine eine sehr bedenkliche Sache.
Graf Berchtold erwiderte dem Botschafter, die Frage,
wie weit man gehen wolle und was mit Serbien eventuell
zu geschehen hätte, müßte im gegebenen Augenblicke den
Umständen gemäß vom Wiener Kabinett entschieden
werden. Die Frage des Schicksals Serbiens im Falle des
Sieges stelle übrigens eine cura posterior dar. Was Rumänien
anbelange, so könnte sich die Monarchie auf eine Anfrage
daselbst nicht einlassen, die sie dem Verlangen unmöglicher
Kompensationen aussetzen würde. Deutschland habe damals,
als Rumänien, ohne die Monarchie zu fragen und gegen das
ihm wohlbekannte Interesse der Monarchie, gemeinschaftlich
mit Serbien über das wehrlose Bulgarien hergefallen sef,
Rumänien gedeckt und nach Wien zu verstehen gegeben,
daß man sich daselbst ruhig verhalten solle. Das Wiener
38
Kabinett verlange von Deutschland auch nichts anderes, als
daß es im gleichen Sinne auf Rumänien einwirke, wenn das
Wiener Kabinett, um die Integrität der Monarchie zu schützen,
gegen Serbien vorgehen sollte.
Auf die Bemerkung Herrn von Tschirschkys, daß er
dies vollkommen berechtigt finde und eigentlich mehr an
Italien gedacht habe, das mit Rücksicht auf das Bundes-
verhältnis doch vor der Inangriffnahme einer kriegerischen
Aktion befragt werden sollte, bemerkte Graf Berchtold, daß
Italien, wenn die Monarchie diese Frage an das römische
Kabinett stellen würde, vermutlich Valona als Kompensation
verlangen würde, was die Monarchie aber nicht konzedieren
könne.
Aus den Kreisen des Berliner Auswärtigen Amtes traf Äußerungen
während der nächsten Tage die erste gegenständliche Äußerung z'^j^^"™
ein. Als in einigen Tageszeitungen die Nachricht von einem mann
bei der Regierung in Belgrad unternommenen Schritte des *^' ■""'''
Wiener Kabinetts gebracht worden war, versicherte nämlich
Herr Zimmermann, wie Graf Szögyeny am 4. Juli meldete', dem
k. u. k. Botschafter, er fände ein energisches entschiedenes
Vorgehen der Monarchie, auf deren Seite zur Zeit die
allgemeinen Sympathien der gesamten gesitteten Welt
wären, gegen Serbien ganz begreiflich, doch würde er dies-
bezüglich große Vorsicht empfehlen und raten, an Serbien
keine demütigenden Forderungen zu stellen.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Berliner Die „Lau-
Regierung — ebenso wie es seitens der übrigen europäischen ^"^ '
Kabinette geschah- — die moralische Berechtigung Öster- Tschirschkys
reich-Ungarns zu einer energischen Wahrnehmung seiner
Interessen Serbien gegenüber anerkannte und unmittelbar
einsetzende Schritte in dieser Richtung erwartete. In diese
Gedankengänge des Berliner Kabinetts ist wohl auch die
vom Grafen Szögyeny am 8. Juli übermittelte Meldung ein-
zufügen, daß man in Berlin mit Ungeduld den Ent-
scheidungen des Wiener Kabinetts entgegensehe.
Auch sei Graf Szögyeny im Auswärtigen Amte er-
zählt worden, man habe aus einem Berichte Herrn von
" Telegramm aus Berlin d. d. 4. Juli, Nr. 236.
^ Vgl. Seite 80, 81, 82, 146, 289 und 301.
39
Tschirschkys ersehen, daß derselbe mit einer gewissen
„Lauheit" gegenüber Graf Berchtold aufgetreten sei. Man
habe ihm darauf von Berlin aus einen Verweis erteilt '.
B;richi Graf Den Intcntionen des Wiener Kabinetts auf ganzem
szögy^nys \^ege entgegenkommend mußte der Bericht des k. u. k.
vjm 12. Juli ° * °
Botschafters erscheinen, der am 12. Juli in den Mittelpunkt
1 Telegramm aus Berlin d. d. 8. Juli, Nr. 243. Nach einem Tages-
berichte vom 4. Juli 1914 (Nr. 3117) sollte übrigens Herr von Tschirschky
einem Gewährsmann, „offenbar mit der Absicht, daß seine Äußerungen
im Ministerium des Äußern wiedergegeben würden", erklärt haben,
„Deutschland würde die Monarchie durch dick und dünn unterstützen,
was immer auch dieselbe gegen Serbien beschließen sollte". „Je früher
Österreich-Ungarn losgehe, desto besser. Besser wäre gestern gewesen
als heute, besser aber heute als morgen. Selbst wenn die deutsche
Presse, die, heute ganz antiserbisch sei, wieder zum Frieden blasen
würde, sollte man sich in Wien nicht irremachen lassen, Kaiser und
Reich würden unbedingt zu Österreich-Ungarn halten, offener könne
eine Großmacht zu einer anderen nicht mehr sprechen." Inwieweit
diese indirekt übermittelten Äußerungen Herrn von Tschirschkys richtig
wiedergegeben sind, entzieht sich unserer Beurteilung. Auch im zutreffen-
den Falle spiegeln sie bloß die subjektiven Gedankengänge des
deutschen Botschafters und nicht etwa einen dienstlich an
denselben ergangenen Auftrag wieder. (Vgl. Seite 69 und Anmer-
kung 1 daselbst.)
Die Genesis und das weitere Schicksal des zitierten Tages-
berichtes bieten einen beachtenswerten Fingerzeig, an welchen ver-
fassungsrechtlich maßgebenden Stellen der Monarchie eine Beein-
flussung im Sinne der eigenen Absichten am Ballhausplatz angezeigt
erschien.
Das vom Leiter des Preßdepartements im Ministerium des Äußern
mit dem ebenerwähnten Inhalte aufgesetzte Brouillon gelangte im Dienst-
wege zur Einsicht an den ersten Mitarbeiter Graf Berchtolds, den Sektions-
chef Johann Grafen Forgäch, der es seinerseits dem Minister mit der ein-
begleitenden Notiz vorlegte: „Sollte es eventuell als Tagesbericht morgen
in den Kaisereinlauf und an Tisza gehen?" Graf Berchtold griff die
Anregung auf, indem er sich mit der Proposition betreffs des „sehr
interessanten" Stückes einverstanden erklärte.
Wir dürfen also folgern, daß zu diesem Zeitpunkte, also im
Anfangsstadium der Krise, der Monarch und der. ungarische Minister-
präsident Graf Stephan Tisza (vergl. Seite 62 ff.) als jene Faktoren galten,
die man am Ballhausplatze mit dem Hinweise auf das deutscherseits
hegehrte energische Vorgehen gegen Serbien zu beeinflussen trachtete.
(Vgl. hiezu die Ausführungen Seite 51 unten.)
40
seiner Konsiderationen die Stellungnahme Deutschlands zur
serbischen Krise stellte':
Wie Graf Berchtold aus der telegraphischen Bericht-
erstattung der letzten Tage und aus den persönlich in Berlin
gewonnenen Eindrücken des Grafen Hoyos entnommen
habe, stünden sowohl Kaiser Wilhelm als auch alle anderen
maßgebenden deutschen Kreise nicht nur fest und bundes-
treu hinter der Monarchie, sondern sie ermunterten das
Wiener Kabinett auch noch auf das Nachdrücklichste, den
jetzigen Moment nicht verstreichen zu lassen, sondern
energischest gegen Serbien vorzugehen und mit dem dor-
tigen revolutionären Verschwörernest ein für allemal aufzu-
räumen, es dabei gänzlich der Monarchie überlassend,
welche Mittel sie dazu zu wählen für richtig halte-.
Daß Kaiser Wilhelm und das ganze Deutsche Reich in
jedem Falle seine Bundespflichten der Monarchie gegen-
über in loyalster Weise erfüllen werde, daran habe der
k. u. k. Botschafter nie gezweifelt, und er habe an dieser
seiner Überzeugung während seiner langjährigen Tätigkeit
in Berlin jederzeit festgehalten. Er sei daher auch nicht im
Geringsten erstaunt, daß Deutschland auch in dem jetzigen
Momente die Monarchie sofort seiner vollkommensten
Bundestreue und Mithilfe versichert habe.
Dagegen glaube Graf Szögyeny, daß es doch einer ge-
wissen Erklärung bedürfe, daß die maßgebenden deutschen
Kreise und nicht am wenigsten Kaiser Wilhelm selbst, die
Monarchie — man möchte fast sagen — geradezu drängten,
eine eventuell sogar kriegerische Aktion gegen Serbien zu
unternehmen ■>.
Es liege auf der Hand, daß nach all den nicht genug
zu beklagenden Ereignissen die Monarchie energisch gegen
> Bericht aus Berlin d. d. 12. Juli, Nr. 60 P.
- Vgl. hiezu die Forderung Herrn von Tschirschkys hinsichtlich der
Aufstellung eines Aktionsprogramms durch das Wiener Kabinett (Seite 38),
und den Rat Herrn Zimmermanns, „an Serbien keine demütigenden
Forderungen zu stellen" (Seite 39).
■ Vgl. hiezu (Seite 36) die bezügliche Stelle in dem Antwortschreiben
Kaiser Wilhelms an Kaiser Franz Joseph d.d. Bornholm, H.Juli: „Ich muß
davon absehen, zu der zwischen Deiner Regierung und Serbien schwe-
benden Frage Stellung zu nehmen."
41
Serbien vorgehen müsse; daß die deutsche Regierung aber
gerade den gegenwärtigen Moment auch von ihrem Stand-
punkt aus poHtisch für den richtigsten halte, bedürfe einer
stärtceren Beleuchtung.
Für die Wahl des jetzigen Zeitpunktes sprächen nach der
deutschen — von dem k. u. k. Botschafter übrigens vollkom-
men geteilten — Auffassung allgemein politische Gesichts-
punkte und spezielle, durch die Mordtat in Sarajevo sich
ergebende Momente.
Deutschland sei in letzter Zeit in seiner Überzeugung be-
stärkt worden, daß Rußland zum Kriege gegen seine west-
lichen Nachbarn rüste und denselben nicht mehr als eine
zukünftige Möglichkeit betrachte, sondern direkt in seinen
politischen Zukunftskalkül eingestellt habe. Doch nur in
seinen Zukunftskalkül, daß es also den Krieg beabsichtige
und sich mit allen Kräften dazu rüste, ihn aber für jetzt nicht
vorhabe, oder besser gesagt, für den gegenwärtigen Augenblick
noch nicht genügend vorbereitet sei.
Daher sei es absolut nicht ausgemacht, daß, wenn Serbien
in einen Krieg mit der Monarchie verwickelt werde, Rußland
demselben mit bewaffneter Macht beistehen würde, und sollte
das Zarenreich sich doch dazu entschließen, so sei es zur Zeit
noch lange nicht militärisch fertig und lange nicht so stark,
wie voraussichtlich in einigen Jahren.
Weiters glaube die deutsche Regierung sichere Anzeichen
dafür zu haben, daß England sich derzeit an einem wegen
eines Balkanlandes ausbrechenden Kriege nicht beteiligen
würde, selbst dann nicht, wenn er zu einem Waffengang mit
Rußland, eventuell auch mit Frankreich führen sollte. Nicht
nur, daß sich das englisch-deutsche Verhältnis soweit ge-
bessert habe, daß Deutschland eine direkt feindliche Stellung-
nahme Englands nicht mehr fürchten zu müssen glaube, vor
allem sei England zurzeit nichts weniger als kriegslüstern
und gar nicht gewillt, für Serbien oder im letzten Grunde für
Rußland die Kastanien aus dem Feuer zu holen.
Im allgemeinen sei also nach dem Vorhergesagten die
politische Konstellation gegenwärtig für die Monarchie so
günstig wie nur irgend möglich.
42
Dazu kämen noch die durch die Bluttat selbst ausgelösten
speziell innerpolitischen Momente '. Während bisher ein
großer Teil der Bevölkerung der Monarchie nicht an die
monarchiefeindlichen separatistischen Tendenzen eines Teiles
der eigenen Serben und an die nach dieser Richtung vom
Königreiche Serbien in der Monarchie unterhaltenen Um-
triebe glauben wollte, sei man nunmehr darüber in der
Monarchie einig und verlange aus sich selbst heraus ein
energisches Auftreten Serbien gegenüber, zur endgültigen
Unterdrückung der von dort aus geschürten großserbischen
Bewegung.
In ähnlicher Weise seien aber der ganzen zivilisierten
Welt die Augen aufgegangen und jede Nation verdamme
die Bluttat von Sarajevo und begreife, daß die Monarchie
dafür Serbien zur Verantwortung ziehen müsse. Und wenn
auch die auswärtigen Freunde Serbiens aus politischen
Gründen nicht gegen das Königreich Stellung nehmen
würden, so würden sie sich voraussichtlich im gegenwärtigen
Augenblick auch nicht für dasselbe (wenigstens nicht mit
Waifengewalt) einsetzen.
Dies dürften — nach der Meinung Graf Szögyenys —
die politischen Gründe sein, deretwegen das Deutsche Reich
in so richtiger Erfassung der derzeit der Monarchie gebo-
tenen Gelegenheit unumwunden dafür eintrete, daß die •
Monarchie nunmehr ihr, auch Deutschland als unhaltbar
erscheinendes Verhältnis zu Serbien in einer Weise kläre,
die für alle Zukunft den weiteren panslawistischen Umtrieben
Serbiens einen Riegel vorschiebe.
Zu diesen politischen Gründen der deutschen Regierung
komme aber bei Kaiser Wilhelm, wie der k. u. k. Bot-
schafter von zuverlässigster, das Vertrauen des Kaisers in
hohem Maße besitzender Seite erfahren habe, auch noch das
rein persönliche Moment eines unbegrenzten Enthusiasmus
für Kaiser und König Franz Joseph über die in dessen
Handschreiben bekundete bewunderungswürdige Energie
hinzu, mit der der Monarch für die vitalen Interessen und
' Im Originaltexte: speziell politischen Momente. Wie aus den nach-
folgenden Ausführungen erhellt, soll es wohl sinngemäß heißen: speziell
innerpolitischen Momente.
43
das Prestige der ihm anvertrauten Länder einzutreten
gewillt sei.
Die Frag«. Dic Berichterstattung des Grafen Szögyeny bestätigt die
der dipio Annahme, daß im Berliner Auswärtigen Amte das Bestreben
TniÜal^ivr obwaltete, der durch das Wiener Kabinett in der Denk-
des wiiner schHft gekennzeichneten Auffassung der internationalen Lage
Berliner Rcchnung ZU tragen. Vorderhand wurde dem Wiener Kabinett
Kabinetts (jjg jj^ Anspruch genommene diplomatische Initiative ' ohne
Widerrede der Berliner Regierung eingeräumt; die diplo-
matischen Maßnahmen, die der Entwicklung der Krise die
nächsten Wege wiesen, entsprangen den einseitigen Ent-
schließungen der k. u. k. Regierung zu Wien.
Nebenher bestand die aus den Ergebnissen des Bukarester
Friedens resultierende unterschiedliche Auffassung der beiden
Kabinette in den Fragen der Balkanpolitik weiter fort. Sie
trat am augenfälligsten in der rumänischen Politik der beiden
Mächte zutage und in der ungleichen Einschätzung des
Bündniswertes Bulgariens. Auch das aktuelle Problem der
großserbischen Propaganda tangierte zunächst nur öster-
reichische und namentlich ungarische Interessen und lag
abseits des spezifisch deutschen Interessenkreises-.
In Berlin hatte man die Zusage der unveränderten
Aufrechterhaltung der Bündnisverpflichtungen auch
für die zu gewärtigende Belastung durch eine neuer-
liche europäische Krise ohne Zögern und Zaudern
gegeben. Hatte Herr von Tschirschky die Fixierung eines
bestimmten Aktionsprogramms am 2. Juli bei Graf Berchtold
angeregt, so hatte der Reichskanzler gleich bei erster Gelegen-
heit (5. Juli) die ungeminderte Aufrechterhaltung des Drei-
bundes in den Vordergrund jeder weiteren politischen
Erwägung gestellt.
Das Wiener Kabinett hinwieder schritt, nunmehr
im Besitze der generellen Zusage der deutschen
Unterstützung, an die Durchführung der ei genen
' Vgl. Seite 38 und 53, 55.
- Es war daher bezeichnend, daß der ungarische Ministerpräsident
Graf Stefan Tisza in einem Vortrag an den Monarchen vom 1. Juli die
„Eingenommenheit'' Kaiser ^X'iIhelms für Serbien hervorheben zu müssen
glaubte (vgl. Seite 63 unten).
44
politischen Konzeption — im Einzelfall, auch bei
entscheidenden Maßnahmen, ohne die mitbestim-
mende (oder gelegentlich auch nur mitberatende)
Beeinflussung von Seite der deutschen Regierung.
Das Ausmaß der Aktivität und Passivität der
beiden Kabinette wird sich aus den diplomatischen
Aktionen selbst jeweilig feststellen lassen.
B. Der Ministerrat für gemeinsame Angelegen-
heiten vom 7. und 19. Juli
1. Die bosnisch-herzegowinischen Angelegenheiten
Die Empörung der katholischen und der musli- Auffassung
manischen Bevölkerung zu Sarajevo über die verübte Mordtat ''" ^andes-
Princips und semer Gehilfen nahm am 29. Juni 1914 die Potiorek
Form schwerer Exzesse gegen die Serben als Konnationale "^" '^'"'
der Attentäter an. Nach Besprechungen, die der Landeschef von
Bosnien und der Herzegowina Feldzeugmeister Potiorek am
30. Juni vormittags mit der Regierungskonferenz, nach-
mittags mit dem Landtagspräsidium, am 1. Juli vormittags
mit den Parteiführern der Arbeitsmajorität des Landtages
(gouvernementale Serbenführer, moslimische und kroatische
Parteiführer) gepflogen hatte, kennzeichnete er als Ergebnis
aller seiner Wahrnehmungen den eigenen Standpunkt am
1. Juli in einem Bericht an den k. u. k. gemeinsamen
Finanzminister (als den obersten Verwaltungsbeamten von
Bosnien und der Herzegowina) Ritter von Biliiiski dahin:
Als erstes und wichtigstes Erfordernis für die Erhaltung
der Ruhe im Lande und für die ersprießliche Weiter-
entwicklung des Landes müsse es auch der Landeschef
hinstellen, daß die Monarchie in entschiedener und aller
Welt sichtlicher Weise dafür sorge, daß die von Belgrad
ausgehende Wühlarbeit endgültig beseitigt werde. Insolange
dies nicht erfolge, werde das bosnisch-herzegowinische Volk
die Monarchie für schwach halten, und es würden alle
sonstigen Bemühungen erfolglos bleiben. Im Orient — und
45
Bosnien und die Herzegowina gehörten in vieler Hinsicht
dazu — imponiere nur die volle Tat und nur sie gelte als
Beweis einer wirklich vorhandenen Kraft. Der Landeschef
könne dem von Dr. von Biliiiski geäußerten Verlangen nach
Beibehaltung des alten Kurses [das heißt nach Weiterarbeit
mit einer aus allen drei Konfessionen gebildeten Landtags-
majorität] (sofern dies in Zukunft überhaupt erreichbar
sei) nur dann entsprechen, wenn der im Gange befindliche
Landtag geschlossen würde.
Die baldigste Schließung des Landtages anzuregen, er-
achtete sich der Landeschef in einem besonderen Antrage
vom 3. Juli neuerlich für verpflichtet, zumal mit dieser
Frage auch wichtige Interessen der Reichsverteidigung in
Verbindung stünden,
unsiimmig- Rlttcr von Biliiiski hatte sich in einer Audienz beim
zw'isdien Monarchen am 29. Juni für ein Programm eingesetzt, das die
dem Landes- Beibehaltung der Arbeitsmajorität empfahl und die Schließung
'!,„"„""" des Landtages ablehnte. In einem mit Feldzeugmeister
gemeinsamen ö o
Finanz- Potiorek diesbezüglich eingeleiteten Depeschenwechsel gab
Dr. von Biliiiski seiner Anschauung unter anderem dahin
Ausdruck: Aus dem für das Kaiserhaus und die Monarchie
entstandenen Unglück müsse die Lehre gezogen werden,
daß nunmehr, sechs Jahre nach vollzogener Annexion,
endlich einmal mit dem Prinzipe gebrochen werden dürfe,
daß die radikalen Serben in Bosnien und der Herzegowina
unter allen Völkern der Monarchie das Recht haben sollen,
irredentistische hochverräterische Aktionen öffentlich zu voll-
ziehen '.
In einer am 3. Juli abgesendeten Depesche nahm
Dr. von Biliriski Gelegenheit, eine Art Inkrimination gegen
den Landeschef zu erheben-:
Die Untersuchung gegen die Attentäter in Sarajevo habe
in allen leitenden Kreisen der Monarchie durch die Art
ihrer Führung, insbesondere aber durch den Mangel jed-
weder Diskretion, berechtigtes Aufsehen erregt. Aber auch
die sonstigen Gebiete der Verwaltung hätten Blößen auf-
' Telegramm des gemeinsamen Finanzministers Ritter von Bilinski
d. d. Wien, 30. Juni, an den Landeschef Feldzeugmeister Potiorek.
^ Item d. d. Wien, 3. Juli.
46
gedeckt, deren Kenntnis wohl von vornherein gegen eine
Reise Erzherzog Franz Ferdinands hätte sprechen müssen.
Es sei ja dem Landeschef am besten bekannt, daß das
Zustandekommen und die Durchführung der Reise aus-
schließlich vom militärischen Gesichtspunkte zwischen dem
Erzherzog und ausschließlich dem Landeschef ins Werk
gesetzt wurde.
Dr. von Biliriski sei der Einfluß hierauf so sehr ent-
zogen worden, daß das ihm unterstehende Ministerium
sogar aus dem Verteiler des Programms ausgeschaltet worden
sei. Am wenigsten hätte Dr. von Biliiiski annehmen können,
daß dem militärischen Programm ein nicht militärischer
Besuch Sarajevos eingefügt werden sollte. Hätte Dr. von
Bilinski aus den Berichten des Landeschefs Kenntnis davon
gehabt, daß die Polizeiverwaltung ihrer Aufgabe durchaus
nicht gewachsen sei, so wäre es offenbar ihrer beider
Pflicht gewesen, die Reise unter allen Umständen zu hinter-
treiben. Schon die in Zeitungen aus Sarajevo offiziös ge-
meldete Tatsache, daß die politische Behörde über bloß
120 Polizeileute zu verfügen hatte, habe auf Dr. von Biliriski
erschreckend gewirkt. Jede diesfällige Kreditanforderung
auf Vermehrung der Wache wäre doch selbstverständlich
sofort bewilligt worden. Auch glaube Dr. von Biliriski, daß
die Gendarmerie eine ausgezeichnete Ergänzung der Wache
hätte abgeben können. Zu alledem stelle sich noch heraus,
daß unter dem Eindrucke der Katastrophe Aufruhr und
Plünderung in der Stadt ausgebrochen seien, denen gegen-
über sich die Polizeigewalt, selbst nach Zuhilfenahme der
spärlichen, in Sarajevo befindlichen Truppen ohnmächtig
erwiesen habe.
Bei dieser Kritik falle es Dr. von Biliriski durchaus
nicht ein, die Verantwortung etwa ganz auf den Landes-
chef zu überwälzen; er sei sich im Gegenteile der auf ihm
lastenden konstitutionellen Verantwortlichkeit für alle Ge-
schehnisse in der bosnisch-herzegowinischen Verwaltung voll
bewußt. Die Vorgänge der letzten Zeit würden ihn
den Entschluß fassen lassen, die Teilung der Agenden
zwischen dem Ministerium (in Wien) und der Landesregierung
(in Sarajevo) einer eingehenden Revision zu unterziehen.
47
Idcnliläl di-T-
Auffassung
des k. u. k.
Chefs des
General-
stabes und
des k. u. k.
Kriegsmini-
sters m
Anscliau-
ungen des
Landeschefs
Klaffte zwischen den Anschauungen Dr. von Biliriskis
und der Auffassung des Landeschefs ein sachhcher Gegen-
satz, so begegnete Feldzeugmeister Potiorek bei seinen
militärischen Kollegen, dem k. u. k. Kriegsminister und
dem Chef des Generalstabes, einem um so volleren Ein-
"'"'■ Verständnis. Baron Conrad pflichtete in einem Schreiben
il den „ ^
an Graf Berchtold der Überzeugnng des Feldzeugmeisters
Potiorek in weitestem Maße bei"; auch hatte das k. u. k.
Kriegsministerium am 2. Juli ein detailliertes Elaborat mit
der Bestimmung der Kenntnisnahme durch den Grafen
Berchtold verfassen und zugleich das k. u. k. Ministe-
rium des Äußern ersuchen lassen, die aufgezählten, dem
Kriegsminister unerläßlich erscheinenden Maßnahmen im
eigenen Wirkungskreise zu treffen, beziehungsweise so weit
als notwendig, bei dem Monarchen anzutragen. Die Vor-
schläge erschienen ihrem Inhalte nach in folgende Punkte
zusammengefaßt -:
1. Erweiterung der vom Landeschef in Sarajevo bereits
durch die Verhängung des Standrechtes getroffenen Ver-
fügungen durch die Erlassung der im Gesetzes- und Ver-
ordnungsblatt für Bosnien und die Herzegowina vorgesehenen
Ausnahmsverfügungen im ganzen Bereiche von Bosnien und
der Herzegowina.
2. Unbedingte Auflösung des Landtages.
3. Auflösung aller serbischen Vereine.
4. Übertragung aller polizeilichen Agenden an den
höchsten militärischen Befehlshaber in Bosnien und der
Herzegowina, das ist an den Landeschef.
5. Ausweisung aller Reichsserben aus Bosnien und der
Herzegowina.
6. Ausschließung aller serbischen Hoch- und Mittel-
schüler, die sich in letzter Zeit irgendwie an staatsfeind-
lichen Demonstrationen beteiligten, von allen Schulen der
Monarchie.
7. Strengste Überwachung der Geistlichen, Lehrer und
Studierenden serbischer Nationalität.
1 K. u. k. Chef des Generalstabes Res. Gstbs. Nr. 2381 d. d. Wien,
3. Juli.
- K. u. k. Kriegsministerium, Präs. Nr. 8618 d. d. Wien, 2. Juli.
48
8. Untersagung, die Namen der verhafteten Personen in
irgendeiner Zeitung der Monarchie zu publizieren, weil nur
hiedurch und im Wege der an solche Personen einlan-
genden Korrespondenzen alle Fäden einer ohne Zweifel
bestehenden staatsfeindlichen Bewegung aufgedeckt werden
könnten.
9. Den in Belgrad oder überhaupt in Serbien erworbenen
Schulzeugnissen österreichischer oder ungarischer Staats-
angehörigen oder bosnisch-herzegowinischer Landesange-
hörigen wäre in der Monarchie die Anerkennung zu ver-
sagen.
Graf Tisza sah sich bei Kenntnisnahme des auch ihm Standpunkt
zugestellten Elaborates des Kriegsministeriums veranlaßt ', t'sza ge-Tn-
gegen den größten Teil der angeregten Maßnahmen sowohl uberdenvor-
vom Standpunkt der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit ^^u.T"
als auch der Durchführbarkeit Bedenken zu erheben. Es Knegsmini-
wäre seiner- Ansicht nach ein arger. Fehler, das zweifellos ^"""^'^•■''''"
Versäumte durch übereilte Anwendung zum Teil weit über
das Ziel schießender Kraftrnittel nachholen zu wollen, welche
das Übel nur vergrößern, das In- und Ausland beunruhigen
und dem Prestige der Monarchie Abbruch tun würden.
Auch bei dem gemeinsamen Finanzminister begegneten Standpunkt
die Vorschläge des Kriegsministers keinem willfährigen ^.^^ gili^^i.;
Echo. Dr. von Biliiiski erachtete die vorgeschlagenen Maß- (3. juio
nahmen so weit über seine eigenen Absichten hinausgehend,
daß er sich bemüßigt sah, an den Grafen Berchtold wegen
Einberufung einer gemeinsamen Ministerkonferenz heran-
zutreten, in welcher der Inhalt der Vorschläge des Kriegs-
ministers einer eingehenden Beratung unterzogen werden
sollte -.
Schließlich erfuhren die Vorschläge des Kriegsministeriums steiiung-
im juristischen Departement des Ministeriums des Äußern ^"'rkML-
eine kritische Kommentierung ^: steinums des
Äußern
5001
' M. kir. min. ein. d. d. Budapest, 4. Juli.
M. E. II.
2 Präs. des k. u. k. Gemeinsamen Finanzministeriums, Z. 790
Pr. BH. ex 1914.
3 Notiz d. d. 6. Juli, o. Nr.
4 49
(6. Juli)
Ad 3. Die Auflösung aller in Bosnien und Herzegowina
befindlichen serbischen Vereine dürfte zu weit gehen und
nur die Auflösung jener Vereine gerechtfertigt sein, in denen
staatsfeindliche Tendenzen zutage getreten sind oder deren
maßgebende Funktionäre solchen Gesinnungen huldigen.
Ad 5. Die unterschiedslose Ausweisung aller serbischen
Staatsangehörigen aus Bosnien würde als Verletzung des
österreichisch-ungarischen Handelsvertrages mit Serbien
erscheinen.
Ad 6. Die Relegierungen der erwähnten serbischen
Studenten und Lehrer von allen Schulen der Monarchie
würde die Gemaßregelten geradezu nach Serbien treiben
und zu Märtyrern machen.
Ad 9. Dasselbe gelte sinngemäß für die generelle Ver-
weigerung der Nostrifizierung serbischer Schulzeugnisse.
Überhaupt müsste es bei allen zu unternehmenden Maß-
nahmen als Richtschnur dienen, daß sie nur die staatsfeind-
lichen Elemente — diese mit aller zulässigen Strenge —
träfen und daß durch diese Maßnahmen nicht etwa die in
Europa für die Monarchie bestehenden Sympathien ver-
scherzt würden.
2. Der Ministerrat für gemeinsame Angelegenheiten
vom 7. Juli
Aufgabe des DcHi Ministerrat für gemeinsame Angelegenheiten vom
Ministerrates ^_ j^,j j,^, ^j^ Aufgabe ZU, für dic vom k. u. k. Ministerium
des Äußern in Aussicht genommene diplomatische Aktion
gegen Serbien das Votum der in gemeinsamen Angelegen-
heiten verfassungsmäßig verantwortlichen Minister einzu-
holen. Den Gegenstand der Beratung bildeten: die bos-
nischen Angelegenheiten und die diplomatische Aktion gegen
Serbien '.
' G. M. K. P. Z. 512, d. d. 7. Juli 1914. In dem während der
Sitzung selbst vom Schriftführer Legationsrat Grafen A. Hoyos auf-
gesetzten Konzept des Protokolls besitzen wir einen über alle Phasen
der Verhandlung orientierenden Wegweiser. Von nicht geringem sach-
lichen Interesse sind die an diesem Konzept von Graf Berchtold eigen-
händig vorgenommenen Textänderungen, sei es, daß ganze Sätze oder
50
Ministerrates
Als Konferenzteilnehmer waren am 7. Juli vormittags
außer Graf Berchtold als dem Vorsitzenden erschienen:
der k. k. (österreichische) Ministerpräsident Graf Stürgkh,
der kgl. ung. Ministerpräsident Graf Tisza, der k. u. k.
Finanzminister Dr. von Biliiiski, der k. u. k. Kriegsminister
Feldzeugmeister Ritter von Krobatin, der k. u. k. Chef des
Generalstabes G. d. I. Freiherr von Conrad und der Vertreter
des k. u. k. Marinekommandanten Konteradmiral von Kailer i.
Nach Eröffnung der Sitzung- bemerkte der Vorsitzende, Verlauf des
der Ministerrat sei einberufen worden, um über die Maß-
nahmen zu beraten, welche zur Sanierung der anläßlich der
Katastrophe in Sarajevo zutage getretenen innerpolitischen
Übelstände in Bosnien und der Herzegowina angewendet
werden sollten. Es gebe seiner Ansicht nach verschiedene
interne Maßnahmen in Bosnien selbst, deren Anwendung
ihm gegenüber den krisenhaften Zuständen geboten erscheine;
vorerst sollte man sich aber klar werden, ob der Moment
nicht gekommen sei, um Serbien durch eine Kraftäußerung
für immer unschädlich zu machen. Ein solcher entschei-
dender Schlag könne nicht ohne diplomatische Vorberei-
tungen geführt werden, daher habe er mit der deutschen
Regierung Fühlung genommen. Die Besprechungen in Berlin
hätten zu einem sehr befriedigenden Resultate geführt,
indem sowohl Kaiser Wilhelm als Herr von Bethmann
Hollweg der Monarchie für den Fall einer kriegerischen
Komplikation mit Serbien die unbedingte Unterstützung
Deutschlands mit allem Nachdrucke zugesichert hätten •'.
Nun müßte die Monarchie noch immer mit Italien und
einzelne Worte fortgelassen beziehungsweise hinzugefügt, sei es, daß
(abgesehen von belanglosen stilistischen Ausfeilungen) auf ganze Text-
abschnitte sich erstreckende Umformungen vorgenommen wurden. Wir
verzeichnen die gegenständlich wichtigen Varianten zwischen dem Konzept
und der Reinschrift des Protokolls.
' Die beiden Letzteren nahmen nur an dem am Nachmittage erfolgten
Wiederzusammentritte des Ministerrates Anteil und verließen die Kon-
ferenz gleich nach Erörterung der militärischen Fragen.
- Wir verfolgen den Verlauf der Sitzung ausschließlich in seinen
Hauptphasen.
" Der Satz „indem sowohl Kaiser Wilhelm" bis „zugesichert hätten"
nachträgliche Ergänzung im Konzepte von der Hand des Grafen Berchtold.
51
Rumänien rechnen, und da sei er in Übereinstimmung mit
dem Berliner Kabinett der Ansiciit, daß es besser wäre^ zu
handeln und etwaige Kompensationsansprüche abzuwarten.
Er sei sich klar darüber, daß ein Waffengang mit Serbien
den Krieg mit Rußland zur Folge haben könnte. Rußland
treibe aber gegenwärtig eine Politik, die, auf lange Sicht
berechnet, den Zusammenschluß der Balkanstaaten, Ru-
mänien inbegriffen, zum Zwecke habe, um dieselben sodann
im geeignet scheinenden Momente gegen die Monarchie
ausspielen zu können. Er sei der Ansicht, daß sich die
Monarchie darüber Rechenschaft geben müsse, daß ihre
Situation sich einer solchen Politik gegenüber immer mehr
verschlechtern müsse, um so mehr als ein untätiges Gewähren-
lassen bei den Südslawen und Rumänen der Monarchie als
Zeichen der Schwäche ausgelegt werden und der werbenden
Kraft der beiden angrenzenden Staatswesen Vorschub
leisten würde.
Die logische Folge, die sich aus dem Gesagten ergebe,
wäre, den Gegnern zuvorzukommen und durch eine recht-
zeitige Abrechnung mit Serbien den bereits in vollem Gang
befindlichen Entwicklungsprozeß aufzuhalten, was später zu
tun nicht mehr möglich sein würde '.
Der königlich ungarische Ministerpräsident
stimmte damit überein, daß die Lage sich in den letzten
Tagen durch die in der Untersuchung festgestellten Tat-
sachen und durch die Haltung der serbischen Presse ver-
ändert habe und betonte, daß auch er die Möglichkeit einer
kriegerischen Aktion gegen Serbien für näher gerückt halte,
als er es gleich nach dem Attentat von Sarajevo geglaubt
1 Ursprünglich im Konzept:
„Er sei sich klar darüber, daß der Krieg mit Rußland infolge unseres
„Einmarsches in Serbien sehr wahrscheinlich wäre. Rußland treibe aber
„gegenwärtig mit seinen Balkanbundplänen eine Politik, die indirekt gegen
„den Bestand der Monarchie gerichtet sei. Er sei der Ansicht, daß wir
„uns darüber klar sein müssen, daß unsere Situation sich durch diese
„Politik von Tag zu Tag verschlechtern würde und daß wir schon jetzt
„die letzten Konsequenzen ziehen und einen Schlag gegen Serbien führen
„müßten, um diesen Entwicklungsprozeß aufzuhalten, weil dies später
„nicht mehr möglich sein würde." Umänderung von der Hand des Grafen
Berchtold.
52
habe. Er würde aber einem überraschenden Angriff auf
Serbien ohne vorhergehende diplomatische Ai<;tion, wie dies
beabsichtigt zu sein scheine und bedauerlicherweise auch
in Berlin durch den Grafen Hoyos besprochen wurde i,
niemals zustimmen, weil die Monarchie in diesem Falle,
seiner Ansicht nach, in den Augen Europas einen sehr
schlechten Stand hätte und auch mit großer Wahrschein-
lichkeit mit der Feindschaft des ganzen Balkans — außer
Bulgariens — rechnen müßte, ohne daß Bulgarien, das gegen-
wärtig sehr geschwächt sei, die Monarchie entsprechend
unterstützen würde.
Österreich-Ungarn müßte unbedingt Forderungen gegen
Serbien formulieren und erst ein Ultimatum stellen, wenn
Serbien sie nicht erfülle. Diese Forderungen müßten zwar
harte, aber nicht unerfüllbare sein. Wenn Serbien sie an-
nehme, würde die Monarchie einen eklatanten diploma-
tischen Erfolg aufzuweisen haben und ihr Prestige würde
am Balkan steigen. Nehme man die Forderungen der Mon-
archie aber nicht an, so würde auch er für eine kriegerische
Aktion sein, müsse aber schon jetzt betonen, daß die Mon-
archie mit einer solchen zwar die Verkleinerung, nicht aber
die vollständige Vernichtung Serbiens bezwecken dürfte,
weil einerseits diese von Rußland ohne einen Kampf auf
Leben und Tod niemals zugegeben werden könnte und weil
auch er als ungarischer Ministerpräsident es niemals zu-
geben könnte, daß die Monarchie einen Teil von Serbien
annektiere.
Es sei nicht Sache Deutschlands zu beurteilen, ob die
Monarchie jetzt gegen Serbien losschlagen sollte oder nicht.
Er persönlich sei der Ansicht, daß ein Krieg im jetzigen
Augenblicke nicht unbedingt geführt werden müsse. Gegen-
wärtig müsse man damit rechnen, daß die Agitation gegen
die Monarchie in Rumänien eine sehr starke sei, daß Öster-
reich-Ungarn angesichts der aufgeregten öffentlichen Meinung,
mit einem rumänischen Angriffe würde rechnen und auf
jeden Fall eine beträchtliche Macht in Siebenbürgen würde
halten müssen, um die Rumänen einzuschüchtern. Jetzt, wo
' Vgl. Seite 34, Anmerkung 3, letzter Absatz.
53
Deutschland erfreulicherweise die Bahn zum Anschluß Bul-
gariens an den Dreibund freigegeben habe, eröffne sich der
Monarchie ein vielversprechendes Gebiet zu einer erfolg-
reichen diplomatischen Aktion am Balkan. Graf Tisza müsse
daher darauf zurückkommen, daß er sich trotz der Krise
in Bosnien, die übrigens auch durch eine energische Ver-
waltungsreform im Innern saniert werden könnte, nicht
unbedingt für den Krieg entschließen wolle, sondern auch
einen entsprechenden diplomatischen Erfolg, der eine starke
Demütigung Serbiens mit sich brächte, für geeignet halte,
die Stellung der Monarchie zu verbessern und ihr eine
ersprießliche Balkanpolitik zu ermöglichen.
Der Vorsitzende bemerkte hiezu, die Geschichte der
letzten Jahre hätte gezeigt, daß diplomatische Erfolge gegen
Serbien zwar das Ansehen der Monarchie zeitweilig gehoben,
aber die tatsächlich bestehende Spannung in den Bezie-
hungen zu Serbien sich nur noch verstärkt hätte '. Weder
der Erfolg Österreich-Ungarns in der Annexionskrise, noch
jener bei Schaffung Albaniens, noch das spätere Nachgeben
Serbiens infolge des österreichisch-ungarischen Ultimatums
im Herbste vorigen Jahres hätte an den tatsächlichen Ver-
hältnissen etwas geändert. Eine radikale Lösung der durch
die systematisch von Belgrad aus betriebene großserbische
Propaganda aufgeworfenen Frage, deren zersetzende Wirkung
in der Monarchie bis nach Agram und Zara gespürt werde,
sei wohl nur durch ein energisches Eingreifen möglich.
Bezüglich der vom königlich ungarischen Ministerpräsi-
denten erwähnten Gefahr einer feindseligen Haltung Rumäniens
bemerkte der Vorsitzende, daß derzeit eine solche weniger zu
befürchten sei als für die Zukunft, wo sich die rumänisch-
serbische Interessengemeinschaft immer mehr herausbilden
werde. König Carol habe allerdings gelegendich Zweifel in
' Der folgende Teil bis zum Abschnitte: „Der k.k. Ministerpräsident" etc.
(Seite 55) lautete ursprünglich im Konzepte:
„Weder unser Erfolg in der Annexionskrise, noch das spätere Nach-
,^eben Serbiens in der Adriafrage oder nach unserem Ultimatum im
„Herbste vorigen Jahres hätten an den tatsächlichen Verhältnissen etwas
,jgeändert, noch die großserbische Agitation beseitigen können. Dies wäre
„nur durch einen Krieg möglich, durch welchen die großserbische Bewe-
„gung ein für allemal aufs Haupt geschlagen würde."
54
der Richtung ausgesprochen, gegebenenfalls seiner Bundes-
pflicht gegenüber der Monarchie durch aktive Hilfeleistung
nachkommen zu können. Dagegen sei es kaum anzunehmen,
daß er sich zu einer kriegerischen Operation gegen die Mon-
archie hinreißen lassen, beziehungsweise einer darauf hinaus-
gehenden Stimmung der öffentlichen Meinung nicht Wider-
stand leisten könnte. Übrigens komme auch die Furcht Ru-
mäniens vor Bulgarien in Betracht, welche ersteres in seiner
Bewegungsfreiheit selbst unter den heutigen Verhältnissen
einigermaßen behindern müßte.
Der k. k. Ministerpräsident bemerkte, es sei jetzt eine
psychologische Situation geschaffen, die seiner Ansicht nach
unbedingt zu einer kriegerischen Auseinandersetzung mit
Serbien hindränge. Er stimme mit dem königlich ungarischen
Ministerpräsidenten zwar darin überein, daß die Monarchie
und nicht die deutsche Regierung beurteilen müßte, ob ein
Krieg notwendig sei oder nicht; er müsse aber doch be-
merken, daß es auf die Entschließung der Monarchie einen
sehr großen Einfluß ausüben sollte, wenn an der' Stelle,
welche Österreich-Ungarn als treueste Stütze seiner Politik
im Dreibunde ansehen müßte, ihm rückhaltlose Bündnis-
treue zugesagt und überdies nahegelegt werde, sofort zu
handeln, nachdem man sich dort angefragt habe. Graf Tisza
sollte diesem Umstände doch Bedeutung beimessen und in
Erwägung ziehen, daß die Monarchie durch eine Politik
des Zauderns und der Schwäche Gefahr laufe, dieser rück-
haltlosen Unterstützung des Deutschen Reiches zu einem
späteren Zeitpunkte nicht mehr so sicher zu sein. Wie der
Konflikt begonnen werde solle, sei eine Detailfrage, und
wenn die ungarische Regierung der Ansicht sei, daß ein
überraschender Angriff „sans crier gare", wie Graf Tisza
sich ausgedrückt hätte, nicht gangbar sei, so müsse man
eben einen andern Weg finden.
Der gemeinsame Finanzminister führte aus, auch er
hege gleich dem Landeschef Feldzeugmeister Potiorek die
Überzeugung, daß der Entscheidungskampf mit Serbien früher
oder später unvermeidlich sei. Wenn auch der königlich unga-
rische Ministerpräsident sich jetzt mit einem diplomatischen
Erfolg zufrieden geben würde, so könne er dies vom
55
Standpunkte der bosnischen Interessen nicht tun. Das
Uhimatum, welches die Monarchie im vorigen Herbste an
Serbien richtete, habe die Stimmung in Bosnien verschlechtert
und den Haß gegen dieselbe nur gesteigert. Dort erzähle
man sich allgemein im Volke, daß König Peter kommen und
das Land befreien werde. Der Serbe sei nur der Gewalt
zugänglich, ein diplomatischer Erfolg würde in Bosnien gar
keinen Eindruck machen und wäre eher schädlich als etwas
anderes.
Nach einer Bemerkung des königlich ungarischen Minister-
präsidenten gab der k. u. k. Kriegsminister der Ansicht
Ausdruck, daß ein diplomatischer Erfolg keinen Wert habe.
Ein solcher Erfolg werde nur als Schwäche ausgelegt. Vom
militärischen Standpunkte müsse er betonen, daß es günstiger
wäre, den Krieg sogleich als zu einem späteren Zeitpunkte
zu führen, da sich das Kräfteverhältnis in der Zukunft
unverhältnismäßig zu Ungunsten der Monarchie verschieben,
werde. Die Monarchie hätte schon zwei Gelegenheiten ver-
säumt, um die serbische Frage zu lösen, und jedesmal die
Entscheidung hinausgeschoben. Wenn sie es jetzt wieder
täte und auf diese neuerliche Provokation gar nicht reagierte,
so würde dies in allen südslawischen Provinzen als Zeichen
der Schwäche aufgefaßt werden und die Monarchie würde
eine Stärkung der gegen sie gerichteten Agitation herbei-
führen.
Es entspann sich hierauf eine Diskussion über die Ziele
einer kriegerischen Aktion gegen Serbien, wobei der Stand-
punkt des königlich ungarischen Ministerpräsidenten, daß
Serbien zwar verkleinert, mit Rücksicht auf Rußland aber
nicht ganz vernichtet werden dürfe, angenommen wurde.
Der königlich ungarische Ministerpräsident be-
harrte noch immer bei der Ansicht, daß eine erfolgreiche
Balkanpolitik für die Monarchie durch den Anschluß Bul-
gariens an den Dreibund möglich wäre und verwies auf
die furchtbare Kalamität eines europäischen Krieges unter
den derzeitigen Verhältnissen. Es möge nicht übersehen
werden, daß allerhand Zukunftseventualitäten denkbar seien
— wie Ablenkung Rußlands durch asiatische Komplika-
tionen, Revanchekrieg des wiedererstarkten Bulgariens gegen
56
Serbien usw. — , welche die Stellung der Monarchie gegen-
über dem großserbischen Probleme wesentlich günstiger
gestalten könnten, als dies heute der Fall sei.
Hiezu bemerkte der Vorsitzende, daß man allerdings
verschiedene Zukunftsmöglichkeiten ausdenken könne, die
eine der Monarchie günstige Situation ergeben würden. Er
befürchte aber, daß für eine solche Entwicklung keine Zeit
vorhanden sei. Man müsse mit der Tatsache rechnen, daß
von feindlicher Seite ein Entscheidungskampf gegen die
Monarchie vorbereitet werde und daß Rumänien der russi-
schen und französischen Diplomatie Helfersdienste leiste.
Man dürfe nicht annehmen, daß die Politik mit Bulgarien
der Monarchie einen vollen Ersatz für den Verlust Ru-
mäniens bieten könne. Rumänien sei aber seiner Ansicht
nach nicht wiederzugewinnen, solange die großserbische
Agitation existiere, da diese auch die großrumänische Agi-
tation zur Folge habe und Rumänien ihr erst dann entgegen-
treten könnte, wenn es sich durch die Vernichtung Serbiens
am Balkan isoliert fühlen und einsehen würde, daß es nur
am Dreibunde eine Stütze finden könne. Auch dürfe man
nicht übersehen, daß bezüglich des Anschlusses Bulgariens
an den Dreibund noch nicht der erste Schritt geschehen sei.
Man wisse in Wien nur, daß die jetzige bulgarische Regie-
rung vor Monaten diesen Wunsch ausgesprochen habe und
damals auch im Begriffe stand, eine Allianz mit der Türkei
einzugehen. Letzteres sei bisher nicht erfolgt, die Türkei
vielmehr seither mehr unter russischen und französischen
Einfluß geraten. Die Haltung des Ministeriums Radoslawoff
gebe allerdings keinen Grund, daran zu zweifeln, daß das-
selbe auch heute noch entschlossen sei, positiven Vor-
schlägen, die von der Monarchie in der angedeuteten
Richtung in Sofia gemacht werden könnten, ein williges
Ohr zu leihen. Als sicheren Baustein in der österreichisch-
ungarischen Balkanpolitik könne man diese Orientierung
aber derzeit noch nicht einschätzen; dies um so weniger, als
die gegenwärtige bulgarische Regierung doch auf sehr
schwacher Grundlage stehe, der Anschluß an den Dreibund
von der stets bis zu einem gewissen Grade unter russischem
Einfluß stehenden öffentlichen Meinung desavouiert und das
57
Ministerium Radoslawoff über den Haufen geworfen werden
könnte. Auch sei zu bedenken, daß Deutschland die bul-
garische Aktion vorderhand nur unter der Bedingung an-
genommen habe, daß die' Abmachungen mit Bulgarien keine
Spitze gegen Rumänien haben dürften. Es werde nicht leicht
sein, diese Bedingungen ganz zu erfüllen und es könnten
daraus für die Zukunft unklare Situationen sich ergeben '.
Es wurde hierauf in längerer Debatte die Kriegsfrage
eingehend diskutiert. Am Schlüsse dieser Erörterungen
konnte konstatiert werden:
1. Daß alle Versammelten eine tunlichst rasche Ent-
scheidung des Streitfalles mit Serbien im kriegerischen oder
friedlichen Sinne wünschten;
2. daß der Ministerrat bereit wäre, sich der Ansicht
des königlich ungarischen Ministerpräsidenten anzuschließen,
wonach erst mobilisiert werden solle, nachdem konkrete
Forderungen an Serbien gerichtet und dieselben zurück-
gewiesen worden seien, sowie ein Ultimatum gestellt worden sei.
Dagegen waren alle Anwesenden mit Ausnahme des könig-
lich ungarischen Ministerpräsidenten der Ansicht, daß ein rein
diplomatischer Erfolg, wenn er auch mit einer eklatanten
Demütigung Serbiens enden würde, wertlos wäre und daß
daher solche weitgehende Forderungen an Serbien gestellt
werden müßten, die eine Ablehnung voraussehen ließen,
damit eine radikale Lösung im Wege militärischen Eingreifens
angebahnt würde -.
' Die Stelle von: ,,Auch dürfe man nicht übersehen" (Seite 57 Mitte)
bis „sich ergeben" lautete in der Fassung des Konzepts: „Auch dürfe man
„nicht vergessen, daß Deutschland die bulgarische Aktion vorderhand nur
„unter der Bedingung angenommen habe, daß die Abmachungen mit Bul-
„garien keine Spitze gegen Rumänien haben dürften. Es würde nicht
„leicht sein, diese Bedingungen ganz zu erfüllen, auf jeden Fall sei es
„aber fraglich, ob die deutsche Regierung eine Gegenüberstellung Bul-
„gariens und der Türkei gegen Serbien und Rumänien gerne sehen würde.
„Darum habe man auch in Berlin sich dahin ausgesprochen, daß eine
„Abrechnung mit Serbien die beste Lösung wäre." (Umänderung von
der Hand des Grafen Berchtold.)
- Ursprünglich im Konzepte: „und daß daher ganz unannehmbare
„Forderungen an Serbien gestellt werden müßten, damit es bestimmt
„zum Kriege komme." Umänderung von der Hand des Grafen Berchtold.
58
Graf Tisza bemerkte hierauf, er sei bestrebt, dem
Standpunivte aller anderen Anwesenden entgegenzukommen
und daher auch insofern eine Konzession zu machen, als
er zugeben wolle, daß die an Serbien zu richtenden For-
derungen sehr harte sein sollten, jedoch nicht solcher Art,
daß man die Absicht Österreich-Ungarns, unannehmbare
Forderungen zu stellen, klar erkennen könne. Sonst hätte
die Monarchie eine unmögliche rechtliche Grundlage für eine
Kriegserklärung. Der Text der Note müsse sehr genau studiert
werden und er würde jedenfalls Wert darauf legen, die Note
zur Einsicht zu erhalten, bevor sie abgesendet werde. Auch
müsse er betonen, daß er für seine Person genötigt wäre, die
Konsequenzen daraus zu ziehen, wenn sein Standpunkt nicht
berücksichtigt werde.
Hierauf wurde die Sitzung bis zum Nachmittag unter-
brochen.
Beim Wiederzusammentritte des Ministerrates waren auch
der Chef des Generalstabes und der Stellvertreter des Marine-
kommandanten anwesend.
Der Kriegsminister ergriff auf Wunsch des Vorsitzen-
den das Wort, um an den Chef des Generalstabes nach-
stehende drei Fragen zu richten:
1. Ob es möglich wäre, zuerst nur gegen Serbien zu
mobilisieren und erst nachträglich, wenn sich die Notwen-
digkeit dazu ergäbe, auch gegen Rußland;
2. ob man zur Einschüchterung Rumäniens größere
Truppenmengen in Siebenbürgen zurückhalten könnte und
3. wo man den Kampf gegen Rußland aufnehmen
würde.
Der Chef des Generalstabes gab auf diese Anfragen
geheime Aufklärungen und ersuchte, dieselben nicht in das
Protokoll aufzunehmen.
Es entspann sich auf Grund dieser Aufklärungen eine
längere Aussprache über die Kräfteverhältnisse und den wahr-
scheinlichen Verlauf eines europäischen Krieges, die wegen
ihres geheimen Charakters nicht in das Protokoll auf-
genommen wurden. Am Schlüsse der Debatte wiederholte der
königlich ungarische Ministerpräsident seinen früheren Stand-
punkt hinsichtlich der Kriegsfrage und richtete einen neuen
59
Appell an die Anwesenden, ihre Entscheidung sorgfdhig zu'
prüfen.
Hierauf wurden die Puntcte besprochen, welche als
Forderungen an Serbien in die Note aufgenommen werden
könnten. Bezüglich dieser Punkte wurde im Ministerrat
kein definitiver Beschluß gefaßt; sie wurden nur aufgestellt,
um ein Bild darüber zu erlangen, welche Forderungen
gestellt werden könnten '.
Nach einer Debatte über die bosnischen Angelegenheiten
konstatierte der Vorsitzende, daß, wenn auch noch immer
eine Divergenz zwischen den Ansichten aller Teilnehmer
und jener des Grafen Tisza bestehe, man sich näher-
gekommen sei, nachdem auch die Vorschläge des königlich
ungarischen Ministerpräsidenten aller Wahrscheinlichkeit
nach zu der von ihm und den übrigen Mitgliedern der
Konferenz für notwendig gehaltenen kriegerischen Aus-
einandersetzung mit Serbien führen würden.
Das Protokoll schloß mit der Mitteilung des Grafen
Berchtold an den Ministerrat, daß er gesonnen sei, sich
zur Vortragerstattung am 8. Juli nach Ischl zu begeben.
Im Zusammenhange mit dieser Äußerung bat Graf Tisza
den Minister des Äußern, eine von ihm selbst zu ver-
fassende Eingabe über seine Auffassung der Lage dem
Monarchen zu unterbreiten-.
Hierauf wurde die Konferenz nach Aufsetzung eines für
die Presse bestimmten Communiques vom Grafen Berchtold
aufgehoben.
Zirkulation Das Protokoll zirkulierte in den Tagen vom 8. Juli bis
desProto- 2um 14. August bei den einzelnen Konferenzteilnehmern und
kolls bei den ^ * « t • t i . j
Konferenz- gelangte crst am 16. August zur Unterzeichnung durch den
leiinehmern Monarchcn. Zur mündlichen Berichterstattung beim Monarchen
ni"nahmr meldete sich Graf Berchtold in einem Immediatvortrage
desselben ^och am 7. JuH an.
durch den
Monarchen
Das Ergebnis Der Ministerrat für gemeinsame Angelegenheiten vom
des Minister- 7_ j^^\■^ j^at als die erste Bekanntgabe der Absichten des
Wiener Kabinetts in foro interno zu gelten. Graf Berchtold
1 Vgl. Seite 93, Anmerkung 1.
- Siehe Seite 65 unten.
60
bemühre sich in diesei» Sitzung, das Einverständnis der in
den gemeinsamen Angelegeniieiten verantwortlichen Falctoren
der Monarchie für seine Intentionen zu gewinnen. Diese
Maßnahmen Hefen nach der Formulierung des Protokolls
dahin hinaus, den Gegnern der Monarchie zuvorzukommen
und durch eine rechtzeitige Abrechnung mit Serbien den
bereits in vollem Gange befindlichen Entwicklungsprozeß
(des Zusammenschlusses der Balkanstaaten, Rumänien inklu-
sive) aufzuhalten. Der durch einen Waffengang mit Serbien
bedingten Möglichkeit eines Krieges mit Rußland müsse die
stetige Verschlechterung der Lage der Monarchie durch eine
Politik des untätigen Gewährenlassens gegenüber der eigenen
südslawischen und rumänischen Bevölkerung der Monarchie
entgegengehalten werden.
Nach längerer Erörterung des Sachlage konnte kon-
statiert werden, daß von allen Anwesenden eine tunlichst
rasche Entscheidung des Streitfalles mit Serbien im kriege-
rischen oder im friedlichen Sinne gewünscht werde und
daß erst nach der Aufstellung von konkreten Forderungen
an Serbien und nach Übermittlung eines Ultimatums im
Falle ihrer Abweisung die Mobilisierung eingeleitet werden
solle. Auch in der Frage der Unzulänglichkeit eines rein
diplomatischen Erfolges begegneten sich die Meinungen
aller Konferenzteilnehmer mit Ausnahme jener des Grafen
Tisza, dem es gelang, den Ministerrat für seinen Standpunkt
der Notwendigkeit der Formulierung bestimmter Forderungen
und der Stellung eines Ultimatums erst nach deren
Ablehnung zu gewinnen. Über die Art dieser Forderungen
sprach sich das Protokoll — insbesondere in der Fassung
seines Konzeptes — eindeutig genug aus'. Bloß Graf Tisza
verharrte (wenigstens teilweise) in Opposition; auch seine
Vorschläge wurden indessen von dem Vorsitzenden dahin
charakterisiert, daß sie aller Wahrscheinlichkeit nach zu der
vom Grafen Berchtold und den übrigen Mitgliedern der
Konferenz für notwendig gehaltenen kriegerischen Aus-
einandersetzung mit Serbien führen würden.
Sofern Graf Berchtold die Bedenken Graf Tiszas be-
kämpfen zu müssen glaubte, benützte er als Argumentation
' Vgl. Anmerkung 2, Seite 58.
61
den Hinweis auf die unbedingte Lfhterstützung der Mon-
archie seitens der deutsciien Regierung. Hiebei sekundierte
dem Grafen Berchtold der k. k. Ministerpräsident Graf
Stürgkh, der die Notwendigkeit der Verwertung der gegen-
wärtig bestehenden, in einem späteren Zeitpunkt aber nicht
mehr so sicheren deutschen Hilfe besonders hervorhob.
Hier also, in diesem in Wien am 7. Juli abge-
haltenen Ministerrat für gemeinsame Angelegen-
heiten, wurde die folgenschwere Beschlußfassung
eingeleitet, die der weiteren Entwicklung des
österreichisch -ungarisch -serbischen Konfliktes
die Wege wies.
3. Der Sonderstandpunkt des Grafen Tisza
Vortrag di-s Noch am 1. JuH hatte Graf Tisza dem Monarchen seine
u^juiir"" Auffassung der politischen Lage in einem schrifdichen
Vorirage dargelegt ' und erklärt, er könne der Absicht des
Grafen Berchtold, die ihm dieser soeben persönlich eröffnet
habe, die Greueltat in Sarajevo zum Anlasse der Abrechnung
mit Serbien zu machen, nicht beipflichten. Er habe dem
Grafen Berchtold gegenüber kein Hehl daraus gemacht, daß
er dies für einen verhängnisvollen Fehler halte und die
Verantwortung keinesfalls teilen würde. Erstens hätte die
Monarchie bisher keine genügenden Anhaltspunkte, um
Serbien verantwortlich machen zu können und um trotz
etwaiger befriedigender Erklärungen der serbischen Regierung
einen Krieg mit diesem Staate zu provozieren. Die Staats-
männer der Monarchie würden den denkbar schlechtesten
Locus standi haben, würden vor der ganzen Welt als die
Friedensstörer dastehen und einen großen Krieg unter den
ungünstigsten Umständen anfachen. Zweitens halte Graf Tisza
diesen Zeitpunkt, in dem die Monarchie Rumänien so gut
wie verloren habe, und Bulgarien, der einzige Staat, auf den
sie rechnen könne, erschöpft darniederliege, überhaupt für
einen recht ungünstigen.
Bei der jetzigen Balkanlage wäre es der geringste
Kummer Graf Tiszas, einen passenden Casus belli zu finden.
' Kopie des Vortrages Graf Tiszas d. d. Budapest, 1. Juli.
fi2
Sei einmal der Zeitpunkt zum Lossciilagen getcommen, so
könne man aus den verscliiedensten Fragen einen Kriegs-
fall aufrollen. Vorher müsse jedoch eine politische Kon-
stellation geschaffen werden, die das Kräfteverhältnis weniger
ungünstig für die Monarchie gestalte.
Der definitive Anschluß Bulgariens, in einer Weise,
welche keine Spitze gegen Rumänien habe und zu einer
Verständigung sowohl mit diesem Staate wie mit Griechen-
land die Türe offen halte, werde von Tag zu Tag drin-
gender; es müßte demnach ein letzter Versuch mit Deutsch-
land gemacht werden, um den offenen Anschluß Rumäniens
an den Dreibund durchzuführen. Wolle oder könne aber
Deutschland diese Mission nicht erfüllen, so müsse es
hinnehmen, daß die Monarchie wenigstens Bulgarien dem
Dreibunde sichere.
Versäume die Monarchie dies Rumänien zuliebe noch
länger, so würde nur sie die Schuld tragen, wenn Bulgarien
— von der Monarchie verlassen — eines schönen Tages
sich dem gegen die Monarchie gebildeten Bündnisse an-
schließe und Österreich-Ungarn ausplündern helfe, um ein
Stück mazedonisches Land zu erhalten. Schließlich glaube
Graf Tisza, ein Bündnis der Monarchie mit Bulgarien biete
die einzige Möglichkeit, Rumänien zurückzugewinnen. Bei
allem Größenwahn der Rumänen sei nämlich die ent-
scheidende Triebkraft in der Psyche dieses Volkes die
Angst vor Bulgarien. Würden die Rumänen sehen, daß sie
die Monarchie vor einem Bündnisse mit Bulgarien nicht
zurückhalten konnten, so würden sie vielleicht suchen, in
den Bund aufgenommen zu werden, um auf diese Weise
vor bulgarischer Aggression geschützt zu werden.
Dies seien die Hauptgesichtspunkte, welche eine ener-
gische Aktion seines Erachtens zu einer dringenden Not-
wendigkeit machten, und da der bevorstehende Besuch
Kaiser Wilhelms möglicherweise Gelegenheit hiezu bieten
werde, so habe sich Graf Tisza für verpflichtet gehalten,
an den Monarchen mit der Bitte heranzutreten, die An-
wesenheit Kaiser Wilhelms in Wien dazu benützen zu wollen,
„um die Eingenommenheit dieses hohen Herrn für Serbien
„an der Hand der letzten empörenden Ereignisse zu bekämpfen"
63
und ihn zur tatkräftigen Unterstützung der österreichisch-
ungarischen Balkanpoiitii<: zu bewegen '.
Graf Tiszo In dem Ministerrat für gemeinsame Angelegenheiten vom
und die aus- 7^ jy]j hatten sich die Konferenzteilnehmer dem Standpunkt
tikderMon. des Grafen Tisza akkommodiert und damit eine gewisse
archie Anerkennung seiner geistigen Führerschaft an den Tag gelegt.
Der ganze Einfluß des Grafen Tisza läßt sich aber nicht
ausschließlich aus der Eigenart seiner Persönlichkeit er-
klären; erst wenn man sich vor Augen hält, daß man es
hier mit dem zielbewußten Exponenten der ungarischen
Staatspolitik zu tun hat, gewinnt man den Maßstab für eine
richtige Beurteilung seiner dominierenden Geltung auch in
der auswärtigen Politik der Monarchie. Die Interessen, die
Graf Tisza dabei vertrat, waren von den Ideen des einheit-
lichen ungarischen Nationalstaates diktiert.
Unter diesem Gesichtswinkel betrachtet, erklärt sich auch
die Divergenz der österreichisch-ungarischen und der deutschen
Balkanpolitik. Die von Budapest aus beeinflußte politische Kon-
zeption des Ballhausplatzes erforderte — eingedenk der öster-
reichisch-ungarischen Stellungnahme beim Bukarester Vertrag
das Jahres 1912 — eine Hintanhaltung jeden Machtzuwachses
Rumäniens und eine um so intensivere Bevorzugung Bulga-
riens. Eine forcierte Erstarkung Bulgariens sollte gleichzeitig
auch dem Machtbegehren Serbiens einen Riegel vorschieben.
Dem spezifisch ungarischen Staatsinteresse konnte aus offen-
liegenden Gründen eine andere Richtlinie der österreichisch-
ungarischen Balkanpolitik nicht entsprechen.
Wenn demnach Kaiser Wilhelm durch den Grafen Tisza
einer „Eingenommenheit" für die Serben geziehen wurde, so
hätte der gleiche Gedanke in anderer Fassung als Mangel einer
Animosität Rumänien gegenüber formuliert werden können.
Denn da die rumänisch-sirbische Annäherung (durch die
' Worauf sich die Bemerkung des Grafen Tisza liinsielitlich einer
Art Serbenfreundlichkeit Kaiser Wilhelms stützt, ist aus dem zur Ver-
fügung stehenden Aktenmateriale nicht zu ersehen. Jedenfalls bietet sie
eine bemerkenswerte Parallele zu dem Herrn von Tschirschky gegenüber
erhobenen Vorwurfe des Grafen Berchtold von der in praxi bei Deutsch-
land nicht immer gefundenen Unterstützung der österreichisch-ungarischen
Balkanpolitik. (Vgl. Seite 38.)
64
chauvinistischen Auswüchse einer politisch sterilen Oppo-
sition des ungarischen Reichstages mitveranlaßt) in erster
Reihe eigenstaatliche Interessen Ungarns berührte, lag für
Deutschland der Grund zu einer besonderen Gegner-
Schaft, sei es gegen Serbien, sei es gegen Rumänien, tat-
sächlich nicht vor. Nach den Erwägungen des Grafen
Tisza durfte weiters ein Balkankrieg der Monarchie, sofern
das damit verbundene Risiko einer europäischen Kon-
flagration mit allen ihren verheerenden Folgen überhaupt zu
verantworten war, folgerichtig selbst bei glücklichem Aus-
gange keinen territorialen Zuwachs erbringen, weil ein
solcher den kardinalsten Forderungen der ungarischen
Nationalitätenpolitik widersprochen hätte; von den unaus-
bleiblichen Folgen eines ungünstig ausgehenden Krieges gar
nicht zu sprechen.
Deshalb stand Graf Tisza auf einem die Politik des
Grafen Berchtold — anfänglich wenigstens. — ablehnenden
Standpunkte. Am Ballhausplatze aber versäumte man keine
Gelegenheit, diesen Widerstand zu verringern, und bediente
sich dazu als erfolgverheißenden Mittels der vorsätzlichen
Betonung des Drängens Deutschlands zu einer radikalen
Lösung der serbischen Krise'. Es war also nur konsequent
gehandelt, wenn Graf Berchtold durch den ungarischen
Exponehten im Ministerium des Äußern, Grafen Forgäch, die
Nachricht von den Besprechungen des Grafen Szögyeny
mit Kaiser Wilhelm dem Grafen Tisza in zweckdienlicher
Formulierung unverzüglich übermittelte-.
Vorläufig freilich verharrte Graf Tisza auf seinem im
Ministerrat vom 7. Juli zum Ausdrucke gebrachten Sonder-
standpunkte. Zur Erhärtung seiner Ansichten unterbreitete
er dem Monarchen am 8. Juli den im Ministerrate vom
7. 1. M. angekündigten Vortrag':
Die allerdings sehr erfreulichen Nachrichten aus Berlin, Vortrag des
verbunden mit der sehr gerechten Entrüstung über die Vor- *^'"'''^'" ^'"^
(8. Juli)
' Vgl. Anmerkung 1, Seite 58.
2 Telegramm an den Grafen Tisza d. d. Wien, 6, Juli, 1 Uhr 30 Minuten
p. m., Pr. Nr. 4529.
"■ Vortrag des Grafen Tisza d. d. Budapest, 8. Juli, Kabinettsarchiv.
(Auszugsweise wiedergegeben.)
^ 65
kommnisse in Serbien, hätten bei allen anderen Teilnehmern
der gestrigen gemeinsamen Ministerkonferenz die Absicht
reifen lassen, einen Krieg mit Serbien zu provozieren, um
mit diesem Erzfeinde der Monarchie endgültig abzurechnen.
Graf Tisza sei nicht in der Lage gewesen, diesem Plane
in vollem Umfange zuzustimmen.
Das Wiener Kabinett habe gerade jetzt den langersehnten
vollen Erfolg in Berlin auch in jener Richtung erzielt, daß
einer konsequenten, aktiven, Erfolg versprechenden Politik
am Balkan von dort aus kein Hindernis mehr im Wege
stehe; die Monarchie habe somit gerade jetzt die Mittel
in die Hände bekommen, einen maßgebenden Einfluß auf
die Entwicklung am Balkan auszuüben und eine der Mon-
archie günstigere Konstellation daselbst durchzuführen. Dies
berechtige zu der Hoffnung, daß die Monarchie, wenn ihr
der Entscheidungskampf später aufgenötigt würde, denselben
mit besseren Chancen aufnehmen könne. Auf die Frage
des Grafen Tisza, wie sich die Kräfteverhältnisse bei den
Großmächten infolge der überall vorgenommenen Rüstungen
im Laufe der nächsten Jahre verschieben würden, habe der
Chef des Generalstabes nach einigem Nachdenken ge-
antwortet: „Eher zu unseren Ungunsten." Aus dieser Ant-
wort könne wohl mit Recht gefolgert werden, daß diese
Verschiebung keine allzu wesentliche sein und durch die
günstigere Ausgestaltung der Verhältnisse am Balkan mehr
als wettgemacht werde.
Wenn Graf Tisza neben den politischen Gesichtspunkten
die Lage der Staatsfinanzen und der Volkswirtschaft in Be-
tracht ziehe, welche die Kriegführung kolossal erschweren und
die mit dem Kriege verbundenen Opfer und Leiden beinahe
unerträglich für die Gesellschaft machen würde, so könne
er nach peinlich gewissenhafter Überlegung die Verant-
wortung für die in Vorschlag gebrachte militärische Aggression
gegen Serbien nicht mittragen.
Es stehe ihm ferne, eine energielose und untätige Politik
gegenüber Serbien empfehlen zu wollen. Er plaidiere daher
keineswegs dafür, daß die Monarchie diese Provokationen
einstecken solle, und er sei bereit, die Verantwortung für
alle Konsequenzen eines durch die Zurückweisung der
66
gerechten Forderungen der Monarchie verursachten Krieges
zu tragen. Es müsse aber seines Erachtens Serbien die
Möglichiceit gegeben werden, den Krieg im Wege einer aller-
dings schweren diplomatischen Niederlage zu vermeiden;
und wenn es doch zum Kriege komme, solle vor alier
Welt Augen bewiesen werden, daß sich die Monarchie auf
dem Boden gerechter Notwehr befinde.
Es wäre also eine in gemessenem, aber nicht drohendem
Tone gehaltene Note an Serbien zu richten, in welcher die
konkreten Beschwerden der Monarchie aufzuzählen und
präzise Forderungen mit denselben zu verbinden wären.
Würde Serbien eine ungenügende Antwort geben oder die
Sache verschleppen wollen, so wäre mit einem Ultimatum
und sofort nach Ablauf desselben mit der Eröffnung der
Feindseligkeiten zu antworten.
Ein solches Vorgehen seitens der Monarchie würde die
Chancen der deutschen Aktion in Bukarest jedenfalls stark
vermehren und vielleicht auch Rußland von einer Beteiligung
am Kriege abhalten. Es sei vorauszusehen, daß England
aller Wahrscheinlichkeit nach einen Druck in diesem Sinne
auf die übrigen Ententemächte ausüben und daß auch bei
dem Zaren der Gedanke in die Wagschale fallen würde, daß
es kaum seine Aufgabe sei, anarchistische Wühlereien und
antidynasiische Mordanschläge unter seinen Schutz zu nehmen.
Um jedoch Verwicklungen mit Italien aus dem Wege zu
gehen, der Monarchie dife Sympathien Englands zu sichern
und es Rußland überhaupt zu ermöglichen, Zuschauer des
Krieges zu bleiben, müßte durch das Wiener Kabinett in
entsprechender Zeit und Form die Erklärung abgegeben
werden, daß die Monarchie Serbien nicht vernichten, noch
weniger annektieren wolle.
Das wäre die Ausgestaltung der Verhältnisse, auf die für den
Kriegsfall hinzuarbeiten wäre. Sollte Serbien nachgeben, so
müßte die Monarchie freilich auch diese Lösung bona fide
hinnehmen und ihm den Rückzug nicht verlegen. In diesem
Falle hätte sie sich mit einer starken Knickung des serbischen
Hochmutes und einer schweren diplomatischen Niederlage
dieses Staates zu begnügen und die bewußte intensive Aktion
in Bulgarien und den anderen Balkanstaaten um so energischer
Schreiben
Graf Berch-
tolds an
Graf Tisza
<S. Juli)
in die Hand zu nehmen, da der soeben erreichte diplomatische
Erfolg jedenfalls günstig auf das Ergebnis dieser Verhand-
lungen wirken würde.
Graf Tisza habe sich erlaubt, seine Anschauung dem
Monarchen eingehend vorzulegen. Er sei sich der schweren
Verantwortung bewußt, die in diesen kritischen Zeiten ein
jeder zu tragen habe, der das Vertrauen des Herrschers
besitze. Im vollen Bewußtsein, daß die Last dieser Verant-
wortung dieselbe bleibe, ob man sich für's Handeln oder
für's Unterlassen entscheide, glaube er, nach peinlicher
Erwägung aller einschlägigen Momente, den in diesen Aus-
einandersetzungen beschriebenen Mittelweg anraten zu sollen,
der einen friedlichen Erfolg nicht ausschließe und die Chancen
des Krieges — sollte er doch unvermeidlich sein — in
mancher Beziehung bessere.
Es werde seine Pflicht sein, in dem für morgen einberufenen
Ministerrate die Stellungnahme des ungarischen Kabinetts zu
veranlassen; einstweilen könne er im eigenen Namen die
Erklärung abgeben, daß er, trotz seiner Hinneigung an den
Dienst des Herrschers — oder besser gesagt gerade infolge
derselben — , die Verantwortung für die ausschließlich und
aggressiv kriegerische Lösung nicht mittragen könnte.
In der Argumentation seines Vortrages erschien dem
Grafen Tisza (soweit er diesen Gegenstand berührte) die
Berliner Balkanpolitik als eine die Interessen der Monarchie
noch immer nicht hinlänglich genug fördernde; wenigstens
kann die eingangs seiner Ausführungen gebrauchte Wendung
von den „allerdings sehr erfreulichen Nachrichten aus
Berlin" dahin verstanden werden. Graf Berchtold mußte
es sich also um so angelegener sein lassen, Graf Tisza gerade
mit dem Hinweise auf die günstigen Dispositionen des
Berliner Kabinetts zu beeinflussen; ein übriges sollte die
Vorstellung tun, daß eine schwankende Haltung der Monarchie
unerwünschte Rückwirkungen auf die Politik Deutsch-
lands selbst ausüben könnte. Die Mitteilung über eine mit
Herrn von Tschirschky am 8. Juli gepflogene Besprechung
bot dazu neuerdings die Gelegenheit ':
' Hausabschrift eines Briefes des Grafen Berchtold an den Grafen
Tisza d. d. Wien, 8. Juli 1914.
68
Herr von Tschirschky habe Graf Berchtold verständigt, ein
Telegramm aus Berlin erhalten zu haben, demzufolge Kaiser
Wilhelm ihn beauftragt hätte, in Wien mit allem Nachdruck
zu erklären, daß man in Berlin eine Aktion der Monarchie
gegen Serbien erwarte und daß es in Deutschland nicht ver-
standen würde, wenn die Monarchie die gegebene Gelegenheit
vorübergehen ließe, ohne einen Schlag zu führen •.
Auf die Bemerkung des Grafen Berchtold, daß es dem
Wiener Kabinett bei Fassung endgültiger Entschlüsse natür-
lich von großer Wichtigkeit wäre zu wissen, inwieweit das-
selbe auf die Einwirkung Deutschlands in Bukarest rechnen
könnte und was von derselben zu erhoffen wäre, habe der
Botschafter bemerkt, man halte es in Berlin für aus-
geschlossen, daß Rumänien in diesem Falle gegen die
Monarchie Stellung nehmen könnte. Übrigens habe sich
Kaiser Wilhelm auch brieflich an König Carol gewendet
und man könne sich denken, „daß dieser Brief an Deudich-
keit nichts zu wünschen übrig gelassen habe!"
Aus den weiteren Ausführungen des Botschafters habe
Graf Berchtold ersehen können, daß man in Deutschland
ein Transigieren seitens der Monarchie mit Serbien als
Schwächebekenntnis auslegen würde, was nicht ohne Rück-
wirkung auf die Stellung der Monarchie im Dreibunde und
auf die künftige Politik Deutschlands bleiben könnte.
Die vorstehenden Eröffnungen Herrn von Tschirschkys
erschienen Graf Berchtold von solcher Tragweite, daß sie
eventuell auch von Einfluß auf die Schlußfassung der vom
1 In dem Telegramme des Reichskanzlers an den deutschen Bot-
schafter in Wien d. d. Berlin, 6. Juli 1914 (Weißbuch, betr. d. V. d. U. a. K.,
Seite 70) lautet die gegenständliche Stelle: „Was endlich Serbien
anlange, so könne Seine Majestät zu den zwischen Österreich-
Ungarn und diesem Lande schwebenden Fragen naturgemäß
keine Stellung nehmen, da sie sich seiner Kompetenz ent-
zögen. Kaiser Franz Joseph könne sich aber darauf verlassen,
daß Seine Majestät im Einklang mit seinen Bündnispflichten
und seiner alten Freundschaft treu an Seite Österreich-
Ungarns stehen werde." Unser Text stellt also die durch den
Grafen Berchtold vollzogene Niederschrift der von Herrn
von Tschirschky gegebenen Interpretation des angeführten Passus
der offiziellen Weisung dar.
69
Graf Tisza
revidiert
seine
Grafen Tisza beabsichtigten Eingabe an den Monarchen sein
könnten. Er habe daher dem Grafen Tisza ungesäumt davon
Mitteilung machen wollen und bitte ihn, wenn er es für
angezeigt finde, ihm diesbezüglich nach Bad Ischl zu tele-
graphieren. Graf Berchtold verbringe den 9. Juli daselbst
und könnte sich zum Interpreten der Auffassung des Grafen
Tisza beim Monarchen machen '.
Unmittelbar bewirkten die Mitteilungen Graf Berchtolds
keine Veränderung der Auffassung des Grafen Tisza. Erst
Anschauung am 16. JuM traf eine Meldung des Grafen Szögyeny aus
Berlin ein -, Graf Tisza habe während seines letzten Auf-
enthaltes in Wien Herrn von Tschirschky aufgesucht und
ihm versichert, daß er nunmehr alle seine anfänglich aller-
dings bestandenen Bedenken aufgegeben habe und mit einer
energischen Aktion einverstanden sei. Die im ungarischen
Parlament am 15. Juli abgegebenen Erklärungen seien bereits
der neuen Anschauungsweise des ungarischen Minister-
präsidenten entsprungen.
Da am 14. Juli eine Besprechung des Grafen Berchtold
mit den beiden Ministerpräsidenten und dem königlich
ungarischen Minister am allerhöchsten Hoflager stattgefunden
hatte % war die Änderung der Stellungnahme Graf Tiszas
wohl hier erfolgt.
Offizielle
Stellung-
nahme der
serbischen
Regierung
4. Die k. u. k. Regierung und die europäischen
Kabinette
Belgrad
Eine von dem königlich serbischen Preßbureau am I.Juli
1914 veröffentlichte Erklärung der serbischen Regierung
gab dem Abscheu Serbiens über die in Sarajevo verübten
Morde und dem Willen der serbischen Regierung Ausdruck,
die Umtriebe verdächtiger Elemente mit Aufmerksamkeit zu
' Zu dem Bemühen Graf Berchtolds, die Gedankengänge des Vor-
trages Graf Tiszas zu beeinflussen oder aber selbst heim Monarchen als
Dolmetsch der Auffassung des ungarischen Ministerpräsidenten zu dienen,
vgl. Seite 40, Anmerkung 1, Absatz 2 — 4.
" Telegramm aus Berlin d. d. 16. Juli, Nr. 259.
3 Vgl. Seite 85 tf.
70
verfolgen und nichts zu unterlassen, was zur Beruhigung
der Geister beizutragen vermöchte.
Die offizielle „Samouprava" legte den eigenen Standpunkt
dahin fest: Nicht nur Serbien, sondern auch Österreich-
Ungarn werde dem Urteile der zivilisierten Welt nicht entgehen
können. Zugleich wurde der Hoffnung Ausdruck gegeben,
daß die Beziehung zwischen den beiden Nachbarstaaten nicht
weiter durch unbedachte und ungerechtfertigte Äußerungen
und journalistische Verdächtigungen gestört würden.
Auch sollte die serbische Regierung, wie der k. u. k. Angebliche
Geschäftsträger in Belgrad auf Grund einer Nachricht der zirkuiamoie
„Politika" vom 7. Juli meldete', in einer Zirkularnote an sJbischen
ihre Vertreter ihren Standpunkt des Weiteren bekannt- Regierung
gegeben haben:
Das offizielle sowie das nichtoffizielle Serbien verurteile
das Attentat in der entschiedensten Weise. Trotzdem
wünsche man österreichisch-ungarischerseits Verhältnisse zu
schaffen, die den gutnachbarlichen Beziehungen zwischen **
Serbien und der Monarchie zuwiderlaufen würden.
Die serbische Regierung lehne die Anklage ab, daß sich
auf serbischem Territorium anarchistische Elemente ver-
sammelten, und füge hinzu, dies würde in Serbien niemals
gestattet sein. Außer einem bereits vorbereiteten Gesetze
gegen die Anarchisten gedenke man auch Maßregeln zu
ergreifen, damit sich die exaltierten Elemente, die sich in
Serbien aufhielten, möglichst beruhigten.
Alle Angriffe der Wiener und der Budapester Presse weise
die serbische Regierung im Namen des offiziellen Serbien
zurück und sie füge hinzu, daß an dem Sarajevoer Attentat
die Schuld nur einen einzigen Menschen treffe, der dazu
ein Staatsangehöriger der Monarchie sei-.
Große Indignation riefen am Ballhausplatze die in der imerviews
Petersburger „Wetschernoje Wremja" vom 29. Juni repro- serbischer
duzierten Äußerungen aus serbischen diplomatischen Kreisen
hervor, die tags darauf in der ganzen Presse dem serbischen
Gesandten in Petersburg, Herrn Spalajkovic, zugeschrieben
' Bericht aus Belgrad d. d. 8. Juli, Nr. 108/P. A— B.
2 Der Attentäter Gavrilo Princip stammte aus Grahovo, Bezirk Livno,
Bosnien.
71
Diplomaten
im Auslande
wurden und ohne ein Dementi blieben. Die Ausführungen
gipfelten in der Kontclusion, die Reise des Thronfolgers sei
in Bosnien schon lange kommentiert worden und habe
feindselige Proteste hervorgerufen. Der Boden des Attentates
sei die lokale Unzufriedenheit gewesen.
Tags darauf brachte die „Nowoje Wrenija" ein anderes
Interview eines serbischen Diplomaten mit ähnlicher Tendenz'.
Als der k. u. k. Legadonsrat und interimistische
Geschäftsträger in St. Petersburg, Graf Otto Czernin, in
einer Unterredung mit Herrn Sazonow (6. Juli) die
Äußerungen des Herrn Spalajkovic zur Sprache brachte,
vermied der russische Minister jedwede Inschutznahme des
serbischen Diplomaten-.
Die Haltung Dcr Vertreter panslawistischer Interessen, der russische
■"^ . , Gesandte in Belgrad Herr von Hartwig, legte seiner zur
russischen ^ oi o
Gesandten Schau getragenen Gegnerschaft gegen die Monarchie auch
in Belgrad u^tgp (jg^n Unmittelbaren Eindruck des Sarajevoer Attentats
keine Hemmungen auf. Nach einer Meldung des k. u. k.
Geschäftsträgers in Belgrad ^ solle er beim Eintreffen der
Todesnachricht in die Worte ausgebrochen sein: „Au nom
du Ciel! Pourvu que 9a ne soit pas un Serbe." Die Gesell-
schaft, die Herr von Hartwig für den Abend des 28. Juni
zu sich geladen hatte, wurde trotz der schon am Nachmittag
bekannten Nachricht des Attentats nicht abgesagt, und zur
Zeit des Requiems für den ermordeten Thronfolger wurde
die russische Gesandtschaftsflagge, als die einzige der fremden
Vertretungen, nicht auf Halbmast gehißt.
Es war wohl — wie der k. u. k. Geschäftsträger mel-
dete* — das Unbehagen, daß nicht nur diese Verletzung des
internationalen Taktes, sondern auch seine Schmähungen des
österreichisch-ungarischen Herrscherhauses zu den Ohren
des k. u. k. Gesandten in Belgrad gekommen sein könnten,
das den russischen Gesandten veranlaßte, sich sofort nach
der Rückkehr des Freiherrn von Giesl auf die k. u. k.
Gesandtschaft zu begeben, um das Prävenire zu spielen.
' Telegramm aus St. Petersburg d. d. 3. Juli, Nr. 136.
= Telegramm aus St. Petersburg d. d. 7. Juli, Nr. 139.
•1 Bericht aus Belgrad d. d. 29. Juni, Nr. S7iP. A— B.
* Bericht aus Belgrad d. d. 13. Juli, Zahl 117P.
72
kanzler
(8. Juli) ■
Berlin
Die Zusage der bundesgenössischen Unterstützung Dank des
Deutschlands quittierte Graf Berchtold mit einer dem ^™'^" , .
T Berchtold an
k. u. k. Botschafter in Berlin am 8. Juli aufgetragenen, denReichs-
dem Reichskanzler abzustattenden Versicherung ' des
wärmsten Dankes für die vom Geiste reinster Bundestreue
getragenen Erklärungen.
Graf Berchtold erblicke in der Bereitwilligkeit, mit der
sich die deutsche Regierung seinen Ausführungen an-
geschlossen habe, einen neuen Beweis dafür, daß die Ziele
und die großen Richtlinien der Politik, weiche die beiden ver-
bündeten Mächte auf dem Balkan verfolgten, identisch seien.
Graf Szögyeny wolle Herrn von Bethmann Hollweg
noch mitteilen, daß am 7. Juli in Wien ein gemeinsamer
Ministerrat wegen der weiter zu ergreifenden Maßnahmen
stattgefunden habe und daß sich Graf Berchtold nach Ischl
begebe, um dem Monarchen Vortrag zu erstatten.
Sobald endgültige Entschließungen gefaßt seien (der
Zeitpunkt hänge auch noch von der Beendigung der Unter-
suchung in Sarajevo ab), werde Graf Berchtold dieselben
unverweilt zur Kenntnis der deutschen Regierung bringen-.
"Was die in Anregung gebrachte diplomatische Orien-
tierung des Dreibundes Bulgarien gegenüber anbelange,
glaube Graf Berchtold der Ansicht Ausdruck geben zu
sollen, es würde sich empfehlen, vorläufig noch mit den
diesbezüglichen Eröffnungen in Bukarest zuzuwarten, da,
im Falle es jetzt zu einer Aktion gegen Serbien kommen
sollte, die fragliche Mitteilung in Bukarest eine unfreund-
schaftliche Haltung Rumäniens zur Folge haben könnte.
Graf Szögyeny ließ diese Dankesbezeugung durch die
Vermittlung des von seinem Urlaube eben zurückgekehrten
Staatssekretärs dem Reichskanzler, der sich in Hohenfinow
befand, unverzüglich abstatten.
Der Staatssekretär sei, telegraphierte Graf Szögyeny
(9. Juli) ■, wie er sich überzeugen konnte, mit der gemeldeten
1 Weisung nach Berlin d. d, Wien, 8. Juli, Nr. 220.
2 Vergleiche unsere Ausführungen Seite 110 ff.
3 Telegramm aus Berlin d. d. 9. Juli, Nr. 244.
73
Stellungnahme der deutschen Regierung vollkommen ein-
verstanden und habe ihm in sehr entschiedener Weise ver-
sichert, daß auch seiner Ansicht nach die in Aussicht
gestellte Aktion gegen Serbien ohne Verzug in Angriff
genommen werden sollte.
Der deutsche Gesandte in Bukarest sei beauftragt, die
Demarche an König Carol vorerst auf die Verhandlungen
mit Bulgarien zu beschränken, die, soweit der Staats-
sekretär selbst informiert sei, bisher in konkreter Form
noch nicht begonnen hätten.
Das Wiener Als Tag für Tag Verging, ohne daß die unmittelbar
Kabinett be- gewarteten Maßnahmen der Wiener Regierung gegenüber
gründet die ö & 6 &
Verzögerung Serbien in Berlin mitgeteilt wurden, sah sich Graf Berchtold
!f'"" bemüßigt, am 15. Juli die notwendigen Aufklärungen durch
Demarche b ■> o & ö
(15. Juli) den k. u. k. Botschafter abzugeben ':
Graf Berchtold habe Herrn von Tschirschky bereits die
Gründe mitgeteilt, die die Verzögerung der bevorstehenden
Auseinandersetzung mit Serbien verursachten. Graf Berchtold
würde aber Wert darauflegen, daß der k. u. k. Bot-
schafter dem Reichskanzler, beziehungsweise Staatssekretär
in der Sache Nachstehendes streng geheim zur Kenntnis
bringe:
Wenn auch die bisherige Untersuchung in Sarajevo ge-
nügendes Material liefere-, so glaube das Wiener Kabinett
dennoch mit der sehr energisch gedachten Demarche in
Belgrad noch solange zuwarten zu müssen, bis der eben
auf der Reise nach Petersburg begriffene Präsident der
französischen Republik wieder den russischen Boden ver-
lassen haben werde. Die ins Auge gefaßte Aktion in einem
Augenblicke zu beginnen, in dem der Präsident als Gast
des Zaren in Rußland gefeiert werde, könnte begreiflicher-
weise als ein politischer Affront aufgefaßt werden, was das
Wiener Kabinett gerne vermieden sehen möchte. Andrer-
seits scheine es dem Wiener Kabinett auch unklug, den
komminatorischen Schritt in Belgrad gerade zu einer Zeit
zu machen, in der der friedliebende, zurückhaltende Kaiser
Nikolaus und der immerhin vorsichtige Herr Sazonow dem
I Weisung nach Berlin d. d. Wien, 15. Juli, Nr. 234.
- Vgl. Seite 91 fF.
74
unmittelbaren Einflüsse der beiden Hetzer Iswolslcy und
Poincare ausgesetzt wären.
Unter diesen Umständen glaube das Wiener Kabinett,
vor Ende der nächsten Woclie nicht an die Ausführungen
des mit Herrn von Tschirschtcy bereits besprochenen Planes »
gehen zu können. Aus dieser auch dem Wiener Kabinett
nicht erwünschten Verzögerung lasse sich auch die Haltung
der Wiener offiziösen Presse unschwer erklären. Man
müsse in Wien momentan einerseits ein Abflauen der
der offiziellen Politik günstigen öffentlichen Meinung der
Monarchie verhindern, andrerseits nicht durch eine die
Situation systematisch zuspitzende Sprache der österreichi-
schen und ungarischen Presse bei anderen Mächten etwa
einen Mediationsgedanken aufkommen lassen.
Der Staatssekretär, meldete Graf Szögyeny am 16. Juli-,
sehe zwar vollkommen ein, daß mit der in Aussicht
genommenen energischen Demarche in Belgrad bis zur
Abreise des Präsidenten der französischen Republik aus
Petersburg zugewartet werden müsse, bedauere aber diese
Verzögerung ganz außerordentlich. Auch befürchte Herr
von Jagow, daß die sympathische Zustimmung und das
Interesse für die Demarche auch in Deutschland durch diese
Verzögerung abflauen werde.
Rom
Über die in Aussicht genommene Demarche des Wiener Die Frage
Kabinetts wurde der k. u. k. Botschafter Herr von Merey ''"^'"•
weihung der
durch ein Privatschreiben des Sektionschefs Grafen Forgäch italienische«
unterrichtet. Eine am 12. Juli nach Rom übermittelte "'^s'"""«
Weisung ■'■ verständigte den k. u. k. Botschafter, daß die
geplante Aktion gegen Belgrad wahrscheinlich gegen Ende
des Monats stattfinden werde; die Details würden in der
laufenden Woche fixiert werden. Die deutsche Regierung,
mit welcher in vollkommenem Einvernehmen vorgegangen
< Im Konzept ursprünglich: „ausführlich besprochenen Planes" (das
Wort „ausführlich" nachträglich gestrichen).
- Telegramm aus Berlin d. d. 16. Juli, Nr. 259.
■i Weisung nach Rom d. d. Wien, 12. Juli, Nr. 801.
werde, sei der vom Grafen Berchtold geteilten Ansicht',
daß die italknisclie Regierung nicht eingeweiht und durch
das sehr ernste Auftreten der Monarchie in Belgrad vor
eine unabwendbare Situation gestellt werde. Doch werde
die maßgebende Ansicht des k. u. k. Botschafters erbeten,
ob es nicht nützlich wäre, Marquis di San Giuliano einen
Tag oder einige Stunden vorher zu verständigen, um ein
Froissement des italienischen Ministers zu vermeiden, und
damit dieser in der Lage sei, eine Einwirkung auf die
italienische Presse und Öffentlichkeit in bundestreuem Sinne
zu veranlassen.
Was den Anschluß Bulgariens an den Dreibund an-
belange, werde der k. u. k. Gesandte in Sofia während der
laufenden Woche vorsichtige Pourparlers mit dem bulgarischen
Kabinett beginnen. Sobald man in Wien zur Überzeugung
gelange, daß vertragsmäßige Abmachungen derzeit bereits
möglich seien, werde die italienische Regierung vom Wiener
Kabinett verständigt und zu der notwendigen Kooperation
aufgefordert werden.
Äußerungen Hcrr von Mcrcy äußerte seine Anschauung dahin
Bo^is'lhafiers (^4. Juli) ■, Wenn er auch für den Fall, daß die Monarchie den
<i4. Juli) kriegerischen Konflikt mit Serbien forcieren wolle, der Ansicht
sei, von aussichtslosen vorherigen Verhandlungen mit Italien
abzusehen, würde er doch, um ein allzuarges persönliches
Froissement Marquis di San Giulianos zu vermeiden, unbe-
dingt anraten, die Ermächtigung zu erhalten, diesem die
Aktion des Wiener Kabinetts etwa einen Tag vorher anzu-
kündigen. Eine Einwirkung auf die römische Presse im Sinne
der Monarchie verspreche sich der k. u. k. Botschafter von
Seite des italienischen Ministers des Äußern allerdings auch in
diesem Falle nicht, aber die Ausschaltung und Überrumpelung
des römischen Kabinetts wäre immerhin ein klein wenig
' Zu der Stilisierung des Satzes: Die deutsche Regierung sei der
vom Grafen Berchtold geteilten Ansicht, vergleiche die Meldung Graf
Szögyenys vom 6. Juli: „Auch sei er (der Reichskanzler) ganz damit
einverstanden, daß das Wiener Kabinett weder Italien noch Rumänien
vorher von einer eventuellen Aktion gegen Serbien verständige." (Seite 34
oben.) Die gegenständliche Anregung ging also von Wien und nicht von
Berlin aus.
- Telegramm aus Rom d. d. 14. Juli, Nr. 512.
76
gemildert. Bei dem bezüglichen Auftrage sei zu berück-
sichtigen, daß der Minister des Äußern sich gegenwärtig in
Fiuggi aufhalte und sich gegen Ende der nächsten Woche
nach Vallombrosa bei Florenz begeben dürfte, daß dem
k. u. k. Botschafter also die Möglichkeit der rechtzeitigen
Reise geboten sein müßte.
In Erledigung seiner Meldung erhielt der k. u. k. Bot- Weisung an
schafter am 15. Juli den Bescheid ', [der gegenwärtig in Wien gJJ^'^Jf,^^;
weilende, in Diensteseinteilung bei der k. u. k. Botschaft am ds. juid
Quirinal stehende k. u. k. außerordentliche Gesandte und
bevollmächtigte Minister] Graf Ambrözy sei zur Beschleu-
nigung seiner Rückkehr verhalten worden, um dem k. u. k.
Botschafter einige geheime, auf die Verhandlungen mit
Deutschland bezügliche, die bevorstehende Aktion betreffende
Piecen zu überbringen-. Graf Ambrözy sei über die Ab-
sichten des Wiener Kabinetts vollkommen aufgeklärt worden,
um Herrn von Merey alle notwendigen Informationen geben
zu können. Weitere Instruktionen, speziell den Text einer
der italienischen Regierung zu überreichenden Note, werde
ein voraussichtlich am 21. Juli abends in Rom eintreffender
Kurier überbringen.
Graf Berchtold erkläre sich einverstanden, daß Herr
von Merey Marquis di San Giuliano die bevorstehende
Aktion des Wiener Kabinetts einen Tag früher ankündige -^
Doch seien die Daten noch nicht endgültig fixiert; der
k. u. k. Botschafter werde rechtzeitig telegraphisch avisiert
werden, damit er seinen Besuch beim italienischen Minister
des Äußern mit demselben telegraphisch vereinbaren könne.
Die Überreichung der Note an Serbien dürfte wahrscheinlich
am 24. oder 25. JuU erfolgen.
~ I Weisung nach Rom d. d. Wien, 15. Juli, Nr. 820.
- Gemeint sein können kaum andere als die von uns bisher behan-
delten einschlägigen Aktenstücke.
2 Im Konzept folgte an dieser Stelle der nachträglich durchstrichene
Absatz: „Es dürfte sich wahrscheinlich dann darum handeln, daß Eure
„Exzellenz Marquis di San Giuliano nächsten Mittwoch, Donnerstag oder
„Freitag [22., 23. oder 24. Juli] in seinem Sommeraufenthalt aufsuchen.
„Schritt in Belgrad würde an dem darauffolgenden Tage, Überreichung
„der an die Mächte gerichteten Note am selben Tage oder am Tage nach
,,dem Schritte in Belgrad erfolf t."
77
Fesistcl-
lungcn des
k. u. k.
Botschafters
<I6. Juli)
Angebliche
Konfidenzen
des deut-
schen Bot-
schafters in
Rom
Wie Herr von Merey in einem Berichte vom 16. Juli
hervorhob ', besitze er bisher über den Charakter und den
Inhalt der bevorstehenden Demarche in Belgrad sowie
speziell darüber, ob sich das Wiener Kabinett mit der Er-
füllung gewisser legitimer Forderungen begnügen oder die
kriegerische Abrechnung mit Serbien bei diesem Anlasse
unbedingt forcieren werde, ob es sich also dem Wiener
Kabinett um einen kleinen diplomatischen oder um einen
großen militärischen und politischen Erfolg handle, nur so
geringe und vage Informationen, daß er bei Beurteilung der
ganzen Angelegenheit auf bloße Hypothesen angewiesen sei.
Einer Meldung des Grafen Szögyeny vom 16. Juli
zufolge - zeigte sich der italienische Botschafter in Berlin
während der letzten Tage über die Situation höchst be-
unruhigt, wenn er auch in den Nachrichten über den Urlaub
des k. u. k. Kriegsministers und des k. u. k. Chefs des
Generalstabes ein ihm offenbar sehr erwünscht erscheinen-
des, beruhigendes Symptom erblicke.
Den Schlüssel zur Erklärung dieses Umstandes bot nach
der Auffassung des Wiener Kabinetts der Inhalt einer tele-
graphischen Meldung Herrn von Mereys vom 18. Juli-:
Aus Äußerungen des deutschen Botschaftssekretärs
Grafen Berchem gegenüber zwei Herren der k. u. k. Bot-
schaft hatten letztere den Eindruck, als ob der seit vierzehn
Tagen gleichfalls in Fiuggi befindliche deutsche Botschafter
dem italienischen Minister des Äußern bereits Konfidenzen
über die Absichten des Wiener Kabinetts gegenüber Serbien
gemacht hätte.
Es wäre - äußerte sich Herr von Merey - nicht
das erstemal, daß man deutscherseits in heiklen Fragen
zwischen der Monarchie und Italien letzterem einen Liebes-
dienst zu erweisen trachte.
Vielleicht im Zusammenhange hiermit stehe der Umstand,
daß Marquis di San Giuliano, der gegen Ende nächster
Woche seine Kur in Fiuggi abschließen, für zwei Tage nach
Rom kommen und sich dann nach Vallombrosa begeben
< Bericht aus Rom d. d. 16. Juli, Nr. 32,P. A— O.
- Telegramm aus Berlin d. d. 16. Juli, Nr. 259.
■ Telegramm aus Rom d. d. 18. Juli, Nr. 523.
78
sollte, dem k. u. k. Botschafter soeben schreibe, er werde
seine Kur am Dienstag den 21. 1. M. unterbrechen und
Dienstag nachmittags für 24 Stunden in Rom eintreffen. Erst
um den 27. 1. M. dürfte er Fiuggi definitiv verlassen.
Der k. u. k. Botschafter müsse somit darauf gefaßt sein,
daß der Minister ihn am 21. Juli bezüglich der Spannung
zwischen der Monarchie und Serbien interpelliere, wie dies
schon der Generalsekretär de Martino zu tun versucht
habe. Vorbehahlich anderweitiger Instruktionen werde sich
der Botschafter ganz uninformiert stellen, was allerdings
recht peinlich werden könne, wenn er etwa aus den Aus-
führungen des Ministers entnehme, daß dieser bereits (etwa
von deutscher Seite) eingeweiht sei. '
Paris
Herr Poincare, dem der k. u. k. Botschafter Graf Äußerungen
Szecsen am 4. Juli den Dank der k. u. k. Regierung für p"^,,"^
das Beileid der französischen Regierung übermittelte, benützte (* jniii
diesen Anlaß, um seine wärmste Teilnahme für Kaiser und
König Franz Joseph und die Monarchie neuerlich zum
Ausdruck zu bringen.
Auf die serbenfeindlichen Demonstrationen in der Mon-
archie anspielend, erwähnte Herr Poincare, daß nach der
Ermordung des Präsidenten Carnot in ganz Frankreich
alle Italiener den ärgsten Verfolgungen seitens der Bevöl-
kerung ausgesetzt waren. Der k. u. k. Botschafter machte
darauf aufmerksam, daß die damalige Bluttat mit keinerlei
antifranzösischer Agitation in Italien im Zusammenhange
stand, während man jetzt zugeben müsse, daß in Serbien
seit Jahren mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln
gegen die Monarchie gehetzt werde.
' Zu den angeblichen Konfidenzen des deutschen Botschafters in
Rom vergleiche die Ausführungen Seite 117 ff.
Daß die italienische Regierung auch auf anderem Wege über die
Absichten der Wiener Regierung orientiert sein konnte, besitzt nach dem
Inhalte der Anmerkung 2, Seite 84, immerhin einen gewissen Grad der
Wahrscheinlichkeit. Ferner müssen wohl auch die von Graf Berchtold
dem italienischen Botschafter in Wien selbst gemachten diesbezüglichen
Eröffnungen in Betracf zogen werden. (Vgl. Anm. 1, Absatz 5, Seite 142.)
79
Zum Schlüsse sprach Herr Poincare die Überzeugung
aus, die serbische Regierung werde der Monarchie bei der
gerichtlichen Untersuchung und der Verfolgung eventueller
Mitschuldiger sicher das größte Entgegenkommen zeigen.
Es sei dies eine Pflicht, der sich kein Staat entziehen
könne '.
Verstand!- Wie den k. u. k. Botschafter in Rom, so unterrichtete
«uns des Sektionschef Graf Forgäch auch Graf Szecsen in einem
k. u. k. Bot- '^
schafters Privatschreibcn vom 8. Juli über die vom Wiener Kabinett
(8 und 10. beabsichtigten Schritte. Zur weiteren Verständigung erhielt
Juh) über " o o
die vom Graf Szecsen am 10. Juli die Mitteilung, daß mit Deutsch-
wiener Ka- j^^^^ bezüglich dcr aus dem Sarajevoer Attentat erwachsenen
bmett ge- ^
planten Maß- außcrpoHtischen Situation und aller ihrer eventuellen Kon-
nahmen sequcnzcn ein vollkommenes Einvernehmen erzielt worden
sei -.
situations- Ein Bericht des Grafen Szecsen vom 18. Juli besagte =,
meidung des ^ ß ^^j j^gj ^jj j^^ Ministerpräsident Graf Tisza die im
k, u. k. Bot- ' "^
schafters ungarlschcn Abgeordnetenhause eingebrachten Interpella-
(18- Juli) tionen über das Attentat von Sarajevo und die Beziehungen
der Monarchie zu Serbien beantwortete ">, in Paris einen
entschieden guteii Eindruck gemacht hätte.
Die Zeitungen anerkannten die sachliche Art und die
Mäßigung, mit der Graf Tisza die Vorfälle der jüngsten
Zeit besprochen habe, und zeigten auch ein gewisses Ver-
ständnis für die Erklärung, daß die Monarchie ihre Inter-
essen und ihre staatliche Würde unter allen Umständen zu
wahren wissen werde. Sogar der „Temps" habe einige
anerkennende Worte für die k. u. k. Regierung gefunden.
Natürlich seien aber die Pariser Zeitungen bestrebt, auf
den Widerspruch hinzuweisen, der zwischen den Erklärungen
des Grafen Tisza und der Sprache gewisser österreichischer
und ungarischer Zeitungen bestehe. Sie zögen daraus den
Schluß, daß man noch immer unliebsame Überraschungen der
österreichisch-ungarischen Politik befürchten müsse, und daß
1 Telegramm aus Paris d. d. 4. Juli, Nr. 100.
2 Weisung nach Paris d. d. Wien, 10. Juli, Nr. 142.
52
- Bericht aus Paris d. d. 18. Juli, Nr. p — E-
4 Vgl. Seite 70.
80
schließlich die Vorfälle von Sarajevo als Vorwand benutzt
werden würden, um Serbien zu „vergewaltigen".
Graf Szecsen sei bestrebt, in seinen Konversationen mit
Politikern und Journalisten dieser Auffassung entgegen-
zutreten. In einer Besprechung mit Herrn Pichon [damals
an der Spitze des „Petit Parisien"] habe er diesen\ aus
österreichischen und ungarischen Zeitungen die Auszüge
serbischer Blätter vorgelesen, deren maßlos provokatorische
Sprache sichtlich einen gewissen Eindruck machte. Herr
Pichon habe schließlich gesagt: „En somme, chaque fois que
„vous avec parle serieusement avec la Serbie, eile a fini par
„entendre raison; je suis convaincu que ce sera aussi le
„cas maintenant."
Leider sei, schloß Graf Szecsen seinen Bericht, Herr
Pichon momentan nicht Minister des Äußern.
London
Während eines Besuches bei Sir Edward Grey amocrk. u. k.
16. Juli streifte der k. u. k. Botschafter Graf Mensdorff, ^°'l^^'^^"^'
•^ ' bei Sir
als das Ereignis von Sarajevo besprochen wurde, das Edward
Thema der Beziehungen der Monarchie zu Serbien. Als er °';", ,.
» (16. Juli)
von dem beispiellosen Tone der serbischen Presse sprach
und die Bemerkung machte, Sir Edward Grey sei hierüber
wohl durch die Berichte aus Belgrad unterrichtet, fragte
der Staatssekretär, ob nicht ein. einziges dortiges Blatt eine
anständige Sprache geführt hätte. Der k. u. k. Botschafter
erwiderte, vielleicht ein von der serbischen Regierung
inspirierter Artikel; jedenfalls sei aber im übrigen die ge-
samte Belgrader Presse ganz zügellos und von einer
Heftigkeit, die in ihren Anklagen und Insinuationen alles
übersteige, was man noch erlebt habe.
Im weiteren Verlaufe der Unterredung wies Graf Mens-
dorff darauf hin, daß die großserbische Propaganda vor
allem darauf abziele, revolutionäre Bewegungen in Gebieten
hervorzurufen, die einen integrierenden Bestandteil der
Monarchie bildeten, was doch kein Staat — und sei er noch
so friedliebend — zugeben könne '. Sir Edward gab dies
• Bericht aus London d. d. 17. Juli, Nr. 34/P— E.
6 81
zu, ging aber in eine weitere Erörterung über diesen Gegen-
stand nicht ein.
Die englische Die HaltuHg der maßgebenden englischen Blätter der
Monarchie gegenüber war eine völlig objektive. Graf Mens-
dorfF berichtete hierüber am 16. Juli<:
Der Leitartikel der „Times" von diesem Tage erkenne
das volle Recht der Monarchie an, auf eingehender Unter-
suchung aller Verästelungen zu bestehen, die unzweifelhaft
der Verschwörung zugrunde lägen, auch daß die Monarchie
berechtigt sei, Garantien gegen Agitationen zu fordern, die
von Serbien an ihre Grenzen getragen würden.
Die provokatorische Sprache der serbischen Presse er-
fahre eine energische Verurteilung. Vorübergehend werde
aber auch auf die heftige Sprache einzelner österreichischer
Zeitungen und Zeitschriften hingewiesen.
Mr. Steed habe auch diesmal nicht ganz darauf verzichten
können, einige Belehrungen an die Adresse der Monarchie
zu richten, doch sei der diesbezügliche Artikel viel günstiger
als alles, was seit langem aus seiner Feder gekommen.
St. Petersburg
Konversation In dcr Unterredung, die Herr Sazonow mit dem k. u. k.
Ge^schäfis"^ Legationsrate Grafen Otto . Czernin in Angelegenheit des
irägersmii Intervicws des Herrn Spalajkovic am 6. Juli gepflogen hatte,
Herrn
Sazonow
hatte sich der russische Minister als warmer Freund der
(i4.jui!) Monarchie bekannt.- Am 14. Juli teilte Herr Sazonow dem
Grafen Czernin gesprächsweise mit, er gehe dieser Tage aufs
Land und werde erst am 19. Juli, am Tage vor der Ankunft
des Präsidenten der französischen Republik, zurückkehren.
Aus der gleichzeitigen Abwesenheit der stellvenretenden
Beamten des Ministers, Herrn Neratows und des Fürsten
Trubetzkoj, lasse sich nach Graf Otto Czernins Ansicht
schließen, daß man in Petersburg die äußere politische Lage
ruhig auffassen dürfte. Dem deutschen Botschafter, der Graf
' Telegramm aus London d. d. 16. Juli, Nr. 98.
■i Telegramm aus St. Petersburg d. d. 7. Juli, Nr. 139.
82
Czernin fragte, ob die ihm zu Ohren gelcommenen Gerüchte
wahr seien, wonach Graf Czernin als k. u. ic. Geschäftsträger
auftragsgemäß die russische Unterstützung zur Durchsetzung
der österreichisch-ungarischen Forderungen bei der serbi-
schen Regierung angesucht hätte, gab Graf Otto Czernin eine
kategorisch verneinende Antwort '.
Mit Herrn Sazonow, der dem deutschen Botschafter Besprechung
Grafen Pourtales gegenüber hervorgehoben hatte, daß ihn i"^'"l^'
o ö o ' Botscharters
das Beileid des k. u. k. Kabinetts anläßlich des Todes Herrn mit Herrn
von Hartwigs besonders angenehm berührt habe, hatte Graf ^^g''Zu)
Friedrich Szäpdry am 18. Juli eine Besprechung -. Der
russische Minister vermied es dabei, die Beziehungen der
Monarchie zu Serbien von sich aus zur Sprache zu bringen.
Graf Szäpdry erwähnte, wie sehr in der Monarchie alles noch
unter dem traurigen Eindrucke der jüngsten Katastrophe stehe,
auch hob er hervor, welch bedenkliches Symptom das
Eindringen terroristischer revolutionärer Methoden in das
Nebeneinanderleben der Völker bilde und welche Gefahr
dies für alle Staaten, vor allem aber auch für Rußland,
bedeute.
Der Minister stellte dies nicht in Abrede, bemerkte aber,
daß ihn die letzten Nachrichten aus Wien etwas beunruhigt
hätten und sprach seine Überzeugung aus, es werde niemals
ein Beweis für die Tolerierung solcher Machenschaften
seitens der serbischen Regierung erbracht werden können.
Graf Szäpäry erwiderte, die bisherigen Resultate der dies-
bezüglichen Untersuchung seien ihm zwar unbekannt, jede
Regierung aber müsse bis zu einem gewissen Grade ver-
antworten, was auf ihrem Territorium vorgehe. Übrigens sei
man in Wien überzeugt, daß die serbische Regierung sich
den eventuellen Forderungen gegenüber entgegenkommend
zeigen werde. Seiner unmittelbar vorhör dem Grafen Pour-
tales gegenüber geäußerten Besorgnis über die Folgen dieser
Forderungen gab Herr Sazonow dem k. u. k. Botschafter
gegenüber keinen Ausdruck.
I Telegramm aus Petersburg d.d. 14. Juli, Nr. 143.
- Telegramm aus Petersburg d. d. IS. Juli, Nr. 146.
83
5. Der Ministerrat für gemeinsame Angelegenheiten
vom 19. Juli --
Bcmer- Dcr k. u. k. Chcf des Generalstabes fühlte sich hin-
Tu^r " sichthch seiner in dem Ministerrate für gemeinsame An-
chefsdes geiegenheitcn vom 7. Juli gebotenen Darlegungen veranlaßt,
General- ^^^ ^j^ Rücksicht auf Seine dienstliche Funktion vertretenen
Stabes (bei-
läufig Standpunkt auch noch schrifdich niederzulegen':
'"■■'"''' Für ihn als Chef des Generalstabes komme nur
, die präzise Formulierung der Entscheidung in Betracht,
ob auf den Ausbruch eines Krieges gegen Serbien direkt
hingearbeitet oder ob nur mit der Möglichkeit eines Krieges
gerechnet werde.
In welcher Weise das eine oder das andere diplomatisch
behandelt werde, entziehe sich selbstverständlich seiner
Ingerenz; nur müßte er erneuert hervorheben, daß bei
dem diplomatischen Wege alles vermieden werden müsse,
was durch Hinausziehen und etwa nur sukzessives Ein-
setzen der diplomatischen Aktion den Gegnern Zeit zu
militärischen Maßnahmen geben würde, so daß die
Monarchie dadurch militärisch in die Nachhand käme —
was überhaupt von Nachteil sei, es ganz besonders aber
Serbien und Montenegro gegenüber wäre.
In diesem Sinne wäre auch alles zu vermeiden, was
die Gegner vorzeitig alarmieren und zu Gegenmaßnahmen
veranlassen könnte-; es müßte vielmehr in jeder Hin-
' K. u. k. Chef des Generalstabes, Gstb. Nr. 2508 res., ohne Datum.
- Der k. u. k. Chef des Generalstabes streifte hiemit einen heiklen
Gegenstand. Mitteilungen in gewissen Organen der österreichischen und
der deutschen Presse (9. und 10. Juli) besprachen die Angelegenheit des
fraglichen diplomatischen Schrittes in einer Weise, die direkt auf das
Konferenzzimmer des Ministerrates für gemeinsame Angelegenheiten vom
7. Juli als den Ort der Provenienz dieser Informationen hinwies. Graf
Berchtold fand sich denn auch veranlaßt, diesbezüglich an ein Mitglied
des Ministerrates selbst am 11. Juli ein Privatschreiben zu richten. (Haus-
abschrift des Schreibens d. d. Wien, 11. Juli 1914.) Auch Graf Tisza sah
sich bemüßigt, auf Abstellung gewisser — aus einer dem Generalstabe
naheliegenden Quelle herrührender, die Sachlage tendenziös entstellender,
alarmierender — Nachrichten zu dringen, deren Veröffentlichung in einem
Budapester Blatte er selbst hintangehalten habe. (Telegramm d. d. Buda-
pest, 17. Juli, 8 Uhr 50 Minuten p. m., o. Nr.)
84
sieht ein durcliaus friedliches Gepräge zur Schau getragen
werden.
Stehe aber der Entschluß zur Demarche fest, dann
müsse dieselbe im Hinblick auf die militärischen Interessen
in einem einzigen Akt mit kurz befristetem Ultimatum
geschehen, dem, wenn es abschlägig beschieden werde,
der Mobilisierungsbefehl zu folgen hätte.
In dem Ministerrat vom 7. Juli hatte Graf Berchtold Besprechung
die eigenen Absichten in großen Konturen gezeichnet und ßj^chtoids
bis auf die Meinung des Grafen Tisza die Zustimmung der mit den
üorigen Konferenzteilnehmer gefunden. Es oblag ihm ^'."'.'"
o & o Minister-
nunmehr die Aufgabe, die Formulierung der von der Präsidenten
Monarchie an Serbien zu stellenden Forderungen vorzu- ""''/p"'
ö königlich
nehmen. Hierüber war in einer Besprechung des Grafen ungarischen
Berchtold mit den beiden Ministerpräsidenten und dem '^'"'^"=''
* am aller-
königlich ungarischen Minister am allerhöchsten Hoflager höchsten
(14. Juli) eine vollkommene Übereinstimmung erzielt "°"!^"
worden.
Es werde nun, wie Graf Berchtold in einem Immediat- immediat-
vortrage an den Kaiser am 14. Juli berichtete', an die ™"™^ ''^^
Redaktion der an Serbien zu richtenden Note geschritten, Berchtoia
deren Überprüfung in einer Sonntag, den 19. Juli -, statt- *'■*■ •'"''*
findenden gemeinsamen Besprechung erfolgen werde. Nach
erzielter Übereinstimmung über die Form dieser Note werde
dieselbe Samstag, den 25. Juli, in Belgrad überreicht ^ und
der serbischen Regierung gleichzeitig eine Frist von
48 Stunden gegeben werden, innerhalb welcher sie die
Forderungen der Monarchie annehmen müsse.
Dies Datum * sei mit Rücksicht auf den Besuch des
Präsidenten der französischen Republik bei dem Zaren
gewählt, der vom 20. bis 25. Juli dauern solle, da alle
Anwesenden die Auffassung des Grafen Berchtold geteilt
hätten, daß die Absendung des Ultimatums während dieser
Zusammenkunft als Affront angesehen werden würde, und
1 Konzept des Immediatvortrages d. d. 14. Juli, C. d. M.
- Im Konzept ursprünglich: Samstag, den 18. Juli.
3 Vergleiche den Antrag Graf Berchtolds in dem Ministerrat vom
19. Juli, Seite 87, 88.
* Im Konzept ursprünglich: „Dies späte Datum" etc.
8S
daß eine persönliche Aussprache des ehrgeizigen Präsidenten
der Republiii mit dem Zaren über diellurch die Absendung
des Ultimatums geschaffene internationale Lage die Wahr-
scheinlichkeit eines kriegerischen Eingreifens Rußlands und
Frankreichs erhöhen würde '.
Graf Tisza habe seine Bedenken gegen ein kurzfristiges
Ultimatum aufgegeben, da Graf Berchtold auf die mili-
tärischen Schwierigkeiten hingewiesen habe, die sich aus
einer Verzögerung ergeben würden. Auch habe Graf Berch-
told geltend gemacht, daß selbst nach erfolgter Mobilisierung
eine friedliche Beilegung möglich wäre, falls Serbien noch
rechtzeitig einlenken würde. In diesem Falle müßte die
Monarchie allerdings von der serbischen Regierung fordern,
daß sie die Kosten ersetze, welche der Monarchie durch
die Mobilisierung erwachsen seien, und sie müßte bis zur
Erfüllung dieser Forderungen ein Faustpfand in Serbien
besetzen.
Graf Tisza habe ferner ausdrücklich betont, daß er seine
Zustimmung zu dem beabsichtigten Vorgehen nur unter
der Bedingung erteilen könne-, daß noch vor Stellung des
Ultimatums in einem gemeinsamen Ministerrate der Beschluß
gefaßt werde, daß die Monarchie — abgesehen von kleineren
Grenzregulierungen — keinen Ländererwerb aus dem
Kriege gegen Serbien anstrebe -^
' Der Abschnitt: „Dies späte Datum. . ." bis „erhöhen würde" nach-
trägfiche Einfügung im Konzept.
~ Hierauf ursprünglich im Konzept: „nur unter der Bedingung
„erteilen könne, daß vor Stellung des Ultimatums ein einheitlicher
„Beschluß gefaßt werde, dahin gehend, daß die Monarchie.... anstrebe".
Sodann geändert in: „nur unter der Bedingung erteilen könne, daß noch
,,vor Stellung des Ultimatums in einem gemeinsamen Ministerrate ein
„einheitlicher Beschlufi gefaßt und von Eurer Majestät allergnädigst zur
„Kenntnis genommen werde, daß die Monarchie .... anstrebe". Die end-
gültige Fassung siehe oben.
3 Im Konzept folgte ein nachträglich durchstriehener Absatz: „Ich
„wage es daher, Eurer Majestät treugehorsamst um die allergnädigste
„Ermächtigung zu bitten, einem solchen Beschlüsse meinerseits zustimmen
„zu dürfen, weil ich der Ansicht bin, daß eine Annexion größerer serbischer
„Gebiete an die Monarchie in Ungarn sehr großen Schwierigkeiten be-
„gegnen würde und daß die diesbezügliche Auffassung des Grafen Tisza
„von der Mehrzahl der ungarischen Politiker geteilt wird." (Vergleiche
86
Der heute (14. Juli) festgesetzte Inhalt der nach Belgrad
zu richtenden Note sei ein solcher, daß mit der Wahr-
scheinlichkeit einer kriegerischen Auseinandersetzung ge-
rechnet werden müsse '. Falls Serbien aber trotzdem
nachgeben und den Forderungen entsprechen sollte, so
würde ein solches Vorgehen des Königreiches nicht nur
eine tiefe Demütigung desselben, pari passu damit eine
Einbuße des russischen Prestiges am Balkan bedeuten,
sondern auch für die Monarchie gewiße Garantien in der
Richtung der Eindämmung der großserbischen Wühlarbeit
auf ihrem Boden involvieren.
Die Aufgabe des für den 19. Juli anberaumten Minister- Verlauf des
rates für gemeinsame Angelegenheiten bildete die Über- '"■"'-"^™'=;'
° o o vom 19. Jiih
Prüfung der an Serbien zu richtenden Note und die defi-
nitive Festsetzung ihres Textes.
Als Gegenstand der offiziellen Beratung war: „Die
bevorstehende diplomatische Aktion gegen Serbien" ange-
setzt. Die Konferenzteilnehmer waren die gleichen wie
gelegentlich der Sitzung vom 7. Juli -.
Der Vorsitzende eröffnete den Ministerrat» und bean-
tragte, daß die Note der königlich serbischen Regierung
am Donnerstag, den 23. Juli, um 5 Uhr nachmittags über-
reicht werde, so daß die 48stündige Frist am Samstag, den
25. 1. M., um 5 Uhr nachmittags ablaufe und die Mobili-
sierungsverordnung noch in der Nacht von Samstag auf
Sonntag hinausgegeben werden könne. Seiner Ansicht nach
sei es nicht wahrscheinlich, daß der Schritt des Wiener
Kabinetts noch vor der Abreise des Präsidenten der fran-
zösischen Republik von Petersburg bekannt werden werde,
aber selbst wenn dies der Fall wäre, würde er hierin
keinen großen Nachteil erblicken, nachdem das Wiener
unsere Ausführungen Seite 65 und das Votum des Grafen Tisza
Seite 89.)
' Die beiden ursprünglichen Fassungen dieses vom Grafen Berchtold
selbst umredigierten Satzes lauteten: „daß ein Krieg mit Serbien sehr
■wahrscheinlich erscheint"; sodann: „daß eine kriegerische Auseinander-
setzung höchst wahrscheinlich erscheint".
- Vgl. Seite 51 oben.
3 Wir verfolgen den Verlauf des Ministerrats ausschließlich in seinen
Hauptphasen.
87
Kabinett den Courtoisie-Rücksichten genügt hätte, indem es
das Ende des Besuches abgewartet hätte. Dagegen würde
sich Graf Berchtold aus diplomatischen Gründen ent-
schieden gegen eine weitere Verschiebung aussprechen
müssen, da man schon jetzt in Bedin nervös zu werden
beginne und Nachrichten über die Intentionen der Mon-
archie schon nach Rom durchgesici^ert seien, so daß Graf
Berchtold nicht für unerwünschte Zwischenfälle gutstehen
könnte, wenn man die Sache noch hinausschieben würde.
Mit Rücksicht auf diese Erklärung des Vorsitzenden
wurde einstimmig beschlossen, daß die Note am 23. Juli
um 5 Uhr nachmittags zu übergeben sein werde.
Der königlich ungarische Ministerpräsident behielt
sich vor, falls die Nachricht von der Überreichung des Ultima-
tums noch am Donnerstag abends aus Belgrad nach Buda-
pest gelangt sein sollte, im ungarischen Abgeordnetenhause
eine Erklärung abzugeben.
Der Chef des Generalstabes betonte, daß er auch aus
militärischen Gründen eine möglichst rasche Initiierung der
Aktion für wünschenswert halten würde.
Der k. u. k. Kriegsminister gab hierauf Aufschlüsse
über die verschiedenen Mobilisierungsmaßnahmen, welche
er vorbereitet habe. Aus seinen Äußerungen ging hervor,
daß alles Erforderliche Mittwoch, den 22. 1. M., der Sank-
tion des Monarchen unterbreitet werden solle, und daß das
Einvernehmen mit den beiden Regierungen bezüglich der
von den Verwaltungsbehörden vorzunehmenden Amtshand-
lungen bereits hergestellt worden sei.
Hierauf beschloß der Ministerrat, den Landeschef von
Bosnien und der Herzegowina durch Privatschreiben des
gemeinsamen Finanzministers von den Absichten der k. u. k.
Regierung gegenüber Serbien in Kenntnis zu setzen.
Auf Wunsch des königlich ungarischen Ministerpräsi-
denten gab der Chef des Generalstabes sodann geheime
Auskünfte über die Mobilisierung und erklärte über eine
Anfrage des Grafen Tisza, daß die im Falle einer allge-
meinen Mobilisierung in Siebenbürgen verbleibenden Siche-
rungsbesatzungen weitaus genügten, um die innere Ruhe
des Landes bei lokalem Aufruhr zu sichern.
88
Auf Verlangen des k. k. Ministerpräsidenten Grafen
Stürgkh wurde hierauf die Frage akademisch erörtert, was die
k. u. k. Regierung zu unternehmen hätte, wenn Italien eine
Expedition nach Valona entsenden sollte.
Der Vorsitzende verwies darauf, daß er eine solche
Aktion seitens Italiens nicht für wahrscheinlich halte, und
daß auch diplomatisch einer solchen entgegengearbeitet werde.
Sollte sie dennoch stattfinden, so müßte die k. u. k. Regie-
rung wahrscheinlich pro forma an derselben teilnehmen, doch
sei es noch verfrüht, dies ernstlich ins Auge zu fassen.
Hierauf ersuchte der königlich ungarische Minister-
präsident die Anwesenden, den Beschluß zu fassen, von
dem er, wie er bei der letzten Besprechung betont hätte,
die Zustimmung der königlich ungarischen Regierung zur
ganzen Aktion abhängig machen müsse. Der Ministerrat
hätte nämlich noch einstimmig auszusprechen, daß mit der
Aktion gegen Serbien keine Eroberungspläne für die Mon-
archie verknüpft seien, und daß dieselbe, bis auf aus
militärischen Gründen gebotene Grenzberichtigungen, kein
Stück von Serbien für sich annektieren wolle. Er müsse
unbedingt darauf bestehen, daß ein solcher einstimmiger
Beschluß gefaßt werde •.
Hiezu erklärte der Vorsitzende, daß er sich dem Stand-
punkte des königlich ungarischen Ministerpräsidenten nur
mit einer gewissen Reserve anschließen könne. Auch er
sei der Ansicht, daß, wie die politische Lage jetzt sei, die
Monarchie, im Falle sie in einem Kriege mit Serbien den
Sieg davontrage, von diesem Lande nichts annektieren,
sondern trachten sollte, es durch möglichst große Abtretung
von serbischen Gebieten an Bulgarien, Griechenland und
Albanien, eventuell auch an Rumänien so zu verkleinern,
daß es nicht mehr gefährlich sei. Die Situation am Balkan
könne sich ändern, es sei immerhin nicht unmöglich, daß
es Rußland gelinge, das jetzige Kabinett in Sofia zu stürzen
und dort wieder ein der Monarchie feindselig gesinntes
Regime an die Macht zu bringen; Albanien sei auch noch
kein verläßlicher Faktor, und er müsse als Leiter der
I Vgl. hiezu unsere Ausführungen Seite 65 ff.
89
auswärtigen Politik mit der Möglichkeit rechnen, daß es der
Monarchie am Ende des Krieges wegen der dann vorhan-
denen Verhältnisse nicht mehr möglich sein werde, nichts
zu annektieren, wenn die Monarchie bessere Verhältnisse an
ihrer Grenze schaffen wollte, als wie sie jetzt bestünden.
Zu diesem Gegenstande führte derköniglich ungarische
Ministerpräsident aus, er könne die Reserven des Grafen
Berchtold nicht gelten lassen und müsse mit Rücksicht auf seine
Verantwortlichkeit als ungarischer Ministerpräsident darauf
bestehen, daß sein Standpunkt einstimmig von der Konferenz
angenommen werde. Er stelle dies Verlangen nicht nur
aus Gründen der inneren Politik, sondern insbesondere
auch, weil er persönlich überzeugt sei, daß Rußland sich
ä outrance zur Wehr setzen müßte, wenn die Monarchie
auf der vollständigen Vernichtung Serbiens bestehen würde
und weil er glaube, daß eines der stärksten Atouts, um die
internationale Situation der Monarchie zu verbessern, darin
bestehen würde, daß die Monarchie möglichst bald den
Mächten erkläre, keine Gebiete annektieren zu wollen.
Der Vorsitzende erklärte hiezu, ohnedies die Absicht
zu haben, diese Erklärung in Rom abzugeben.
Hierauf verwies der k. k. Ministerpräsident Graf
Stürgkh auf den Umstand, daß, wenn auch die Besitz-
ergreifung serbischen Territoriums durch die Monarchie aus-
geschlossen bleiben solle, es doch noch möglich sein werde,
Serbien durch die Absetzung der Dynastie, eine Militärkonven-
tion und andere entsprechende Maßregeln in ein Abhängig-
keitsverhältnis zur Monarchie zu bringen. Auch dürfe der
Beschluß des Ministerrates nicht etwa notwendig erscheinende
strategische Grenzberichtigungen unmöglich machen.
Nachdem der k. u. k. Kriegsminister erklärt hatte, daß
er diesem Beschlüsse zustimmen würde, jedoch nur unter
der Bedingung, daß außer einer Grenzberichtigung auch die
dauernde Besetzung eines Brückenkopfes jenseits der Save,
etwa des Schabatzer Kreises, hiedurch nicht ausgeschlossen
werden dürfe, wurde der nachstehende Beschluß einstimmig
gefaßt:
„Der gemeinsame Ministerrat beschließt auf Antrag des
„königlich ungarischen Ministerpräsidenten, daß sofort bei
90
„Beginn des Krieges den fremden Mächten erklärt werde,
„daß die Monarcliie tceinen Eroberungskrieg fülirt und niclit
„die Einverleibung des Königreiches beabsichtigt. Natürlich
„sollen strategisch notwendige Grenzberichtigungen sowie die
„Verkleinerung Serbiens zu Gunsten anderer Staaten sowie
„eventuell notwendige vorübergehende Besetzung serbischer
„Gebietsteile durch diesen Beschluß nicht ausgeschlossen
„werden."
Der Vorsitzende konstatierte hierauf, daß in allen
Fragen vollständige Einmütigkeit erzielt worden sei, und hob
den Ministerrat auf'.
Graf Berchtold konnte jetzt, gestützt auf die Stimmen-
einhelligkeit des k. u. k. Ministerrates, an die Durchführung
der von dem engsten Stabe seiner Mitarbeiter- vorbereiteten
•diplomatischen Aktion in Belgrad herantreten.
C. Die österreichisch-ungarische Note an
Serbien vom 23. Juli 1914
1. Die Genesis der Note
Von Seite de§ k. u. k. Ministeriums des Äußern war ßerichi des
•der im Rechtsdepartement eingeteilte Sektionsrat Ritter von s^J[io„srates
"Wiesner nach Sarajevo delegiert worden, um Einsicht in vonWiesnc.
die Untersuchungsakten zu nehmen. Er berichtete am "''"''*^
ö Saraievoer
1 Das vom Schriftführer Grafen A. Hoyos verfaßte Protokoll dieses chunzs-
Ministerrates zirkulierte während der nächsten zwei Wochen bei den Kon- material
ferenzteilnehmern und gelangte am 5. August zur Unterzeichnung an den
Monarchen, elf Tage früher als das Protokoll des Ministerrates vom 7. Juli.
(Vgl. Seite 60 unten).
~ Hiezu gehörten: k. u. k. Sektionschef Johann Graf Forgäch von
■Ghymes und Gäcs (seinerzeit aus dem ungarischen Komitatsdienste in
das k. u. k. Ministerium des Äußern übernommen), außerordentlicher
Gesandter und bevollmächtigter Minister Alexander Freiherr Musulin
von Gomirje (vor seinem Eintritte in das k. u. k. Ministerium des Äußern
im Dienste bei der königlich kroatisch-slawonisch-dalmatinischen Landes-
regierung). Graf Berchtold selbst erscheint in seiner Eigenschaft als
lt. u. k. Minister des k. u. k. Hauses und des Äußern — neben den
beiden andern gemeinsamen Ministern, den Österreichern, k. u. k.
Kriegsminister FZM. von Krobatin, und k. u. k. gemeinsamer Finanz-
minister Dr. von Bilinski — als Ungar.
91
13. Juli, vor allem die außenpolitische Seite der Unter-
suchung berücksichtigend, teiegraphisch über seine an Ort
und Stelle gewonnenen Eindrücke':
Daß die großserbische Propaganda in Bosnien und der
Herzegowina von Serbien aus — abgesehen von der Presse
auch durch Vereine und sonstige Organisationen — be-
trieben werde, und daß dies unter Förderung sowie mit
Wissen und Billigung der serbischen Regierung geschehe,
sei die Überzeugung aller maßgebenden Kreise.
Das Sektionsrat von Wiesner als Basis dieser Über-
zeugungen von Zivil- und Militärbehörden vorgelegte Material
qualifiziere sich wie folgt: Das Material aus der Zeit vor
dem Attentat biete keine Anhaltspunkte für eine Förderung
der Propaganda durch die serbische Regierung. Dafür, daß
diese Bewegung von Serbien aus, unter Duldung seitens
der serbischen Regierung, von Vereinen genährt werde, sei
das Material, wenn auch dürftig, doch hinreichend.
Zur Untersuchung über das Attentat: Die Mitwissenschaft
der serbischen Regierung an der Leitung des Attentats oder
dessen Vorbereitung und die Beistellung der Waffen sei durch
nichts erwiesen oder auch nur zu vermuten. Es bestünden
vielmehr Anhaltspunkte, dies als ausgeschlossen anzusehen.
Durch Aussagen von Beschuldigten sei es kaum anfecht-
bar festgestellt-, daß das Attentat in Belgrad beschlossen und
unter Mitwirkung des serbischen Staatsbahnbeamten Ciganovic
und des Majors Tankosic vorbereitet wurde, von welchen
beiden auch die Bomben, Brownings, Munition und Zyankali
beigestellt worden seien. Die Mitwirkung des Sekretärs der
„Narodna Odbrana", Pribicevic, sei nicht festgestellt.
Der Ursprung der Bomben aus dem serbischen Armee-
magazin Kragujevac sei objektiv einwandfrei erwiesen, doch
bestünden keine Anhaltspunkte dafür, daß sie erst jetzt, ad
hoc, Magazinen entnommen worden seien, da die Bomben
auch aus Vorräten der Komitatschis vom Kriege her stammen
können.
1 Telegramm aus Sarajevo d. d. 13. Juli, 1 Uhr 10 Minuten p. m., ohne
Nummer. Vgl. den Auszug im Weißbuch b. d. V. d. U. a. Kr. Seite 33.
~ Telegramm aus Sarajevo d. d. 13. Juli, 2 Uhr p. m., ohne Nummer.
(Fortsetzung und Schluß des vorhergehenden Telegramms.)
92
Auf Grund der Aussagen der Beschuldigten sei es kaum
zweifelhaft, daß Princip, Cabrinovic und Grabez mit Bomben
und Waffen auf Veranlassung des Ciganovic von serbischen
Organen geheimnisvoll über die Grenze nach Bosnien
geschmuggelt worden seien. Diese organisierten Transporte
seien von den Grenzhauptmännern zu Schabatz und Loznica
geleitet und von Finanzwachorganen durchgeführt worden.
Wenn es auch nicht festgestellt sei, ob diese den Zweck
der Reise kannten, hätten dieselben doch eine geheimnisvolle
Mission annehmen müssen.
Die sonstigen Erhebungen nach dem Attentate gäben einen
Einblick in die Organisierung der Propaganda der „Narodna
Odbrana". Sie enthielten wertvolles verwertbares Material,
das jedoch noch nicht nachgeprüft worden sei; schleunigste
Erhebungen seien im Zuge.
Sodann äußerte sich Sektionsrat von Wiesner bezüglich
der an Serbien zu richtenden Postulate. Falls die bei seiner
Abreise bestandenen Absichten noch bestünden, könnten die
Forderungen erweitert werden:
A. Unterdrückung der Mitwirkung serbischer Regierungs-
organe am Schmuggel von Personen und Gegenständen über
die Grenze.
B.Entlassung der serbischen Grenzhauptmänner zu Schabatz
und Loznica sowie der beteiligten Finanzwachorgane.
C. Strafverfahren gegen Ciganovic und Tankosic.
Eine ihm selbst notwendig erscheinende mündliche Er-
gänzung seines Berichtes wollte Sektionsrat von Wiesner
sofort nach seiner Ankunft in Wien, am 14. Juli abends,
nachtragen.
Für die Beurteilung der österreichisch-ungarischen Be- Entstehung
gehrnote in Staats- und völkerrechtlicher Hinsicht ist die ''" ^"'^
Kenntnis ihrer Entstehung nicht ohne Belang. Bereits in
dem Ministerrate vom 7. Juli waren gewisse Punkte
in unverbindlicher Weise besprochen worden, die als
Forderungen an Serbien in die zu überreichende Note auf-
genommen werden könnten '. An der Hand der aufbewahrten
' Die punktweise Formulierung erscheint bloß im Konzept des
Ministerratsprotokolls. Die Punkte betrafen: 1. Bestrafung oder Ausstoßung
93
Entwürfe läßt sich die Entwici^lung »nd Ausgestaltung dieser
Postulate nach ihrer chronologischen Reihenfolge feststellen.
Entwürfein In dcm zeitüch ersten Entwürfe ' erklärte die k. u. k.
deuischer Regierung, von dem Hinweis auf die Unzulänglichkeit der
Erster Erklärung des serbischen Preßbureaus vom 1. Juli aus-
Enwurf gehend, sich mit .den daselbst gegebenen platonischen Ver-
sicherungen nicht zu begnügen - und darauf bestehen zu
müssen, daß die serbische Regierung ihren guten Willen, mit
der österreichisch-ungarischen Monarchie im Frieden zu
leben und ihren völkerrechtlichen Pflichten zu entsprechen,
durch geeignete Maßnahmen auf dem Gebiete der inneren
Politik Ausdruck gebe.
Als solche geeignete Maßnahmen erachte die k. u. k.
Regierung:
1. die Erlassung von Ausnahmsbestimmungen zur Be-
schränkung der Preßfreiheit,
2. die Überwachung der Tätigkeit der politischen und
kulturellen Vereine und die Auflösung jener Vereine, die wie
die „Narodna Odbrana", eine gegen den Bestand der Mon-
archie gerichtete Tätigkeit entfalteten,
3. das Verbot der Waffenausfuhr nach der Monarchie,
4. die sofortige Zensur der an den königlich serbischen
Schulen eingeführten Lehrmittel mit großserbischem Inhalte.
Daran schloß sich das Anliegen: Die k. u. k. Regierung
dürfe einer gefälligen Rückäußerung der königlich serbischen
Regierung über den Zeitpunkt entgegensehen, bis zu dem
an der großserbischen Propaganda beteiligter Offiziere aus der Armee;
2. Entschuldigung der serbischen Regierung wegen der Äußerungen dcs
Herrn Spalajkoviö; 3. Forderung einer Untersuchung über die Lieferung
der Bomben; 4. Dienstesenthebung gewisser administrativer Beamten
(Affäre Pokrajac); 5. Votierung eines neuen Preßgesetzes. Einschreiten
gegen das Blatt „Piemont"; 6. Revidierung des serbischen Vereinsgesetzes;
7. Verbot des Abonnements Österreich-Ungarn feindlicher Blätter für
Offiziersvereine und öffentliche Anstalten.
' Gemäß der Ausführungen des Immediatvortrages des Grafen Berch-
told vom 14. Juli wurde unmittelbar nach der an diesem Tage statt-
gehabten Besprechung mit den beiden Ministerpräsidenten und dem
königlich ungarischen Minister am allerhöchsten Hoflager an die Redaktion
der Note geschritten. Entwurf 1 und 2 sind, wie aus inhaltlichen Gründen
gefolgert werden kann, wohl früheren Datums.
2 Vgl. Seite 70, 71.
94
diese in der Lage sein werde, die eben angefülirten Maß-
nahmen durchzuführen '.
Während der erste Entwurf von der vom königlich zweiicr Em-
serbischen Preßbureau am I.Juli veröffentlichten Erklärung *"''^
der königlich serbischen Regierung ausging, machte der
einleitende Absatz des zweiten Entwurfes die der öster-
reichisch-ungarischen Regierung übergebene Note der ser-
bischen Regierung vom 18./31. März 1909 (Anerkennung
der durch die Annexion Bosniens und der Herzegowina
geschaifenen Rechtslage) zum Ausgangspunkte seiner Argu-
mentationen. An der ursprünglichen Fassung dieses zweiten
Entwurfes wurden durch den Fachreferenten, den außer-
ordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Minister Baron
Musulin, den eigentlichen Autor der Note, vielfache
Änderungen vorgenommen. Der Hauptinhalt lautete vor
Vornahme der Korrekturen-:
Die königlich serbische Regierung erklärt, die sogenannte
großserbische Propaganda, das ist die Gesamtheit jener
Bestrebungen zu verurteilen, welche auf die Losreißung. von
Teilen der österreichisch-ungarischen Monarchie abzielen,
und ihrerseits auf serbischem Territorium mit allen Mitteln
auf die Unterdrückung dieser Propaganda hinzuwirken.
Insbesondere verpflichtet sie sich:
1. Das Erscheinen und die Verbreitung von Preßerzeug-
nissen großserbischcr Tendenz zu verhindern.
2. Sofort mit der Auflösung des Vereines „Narodna
Odbrana" vorzugehen und die gleiche Maßregel überdies
gegenüber all jenen serbischen Vereinen zu treffen, die sich
1 Auf einem beigelegten Bogen findet sicli der folgende Blei-
stiftvermerk von der Hand des Grafen Forgäch: „Es kämen noch als
„Forderungen eventuell hinzu:
„I. Ausstoßung aus der Armee der kompromittierten Offiziere, Major
„Tankosic, Pribicevio (?).
„2. Entlassung aus dem diplomatischen Dienste jener serbischen
„Diplomaten in Petersburg und Berlin, welche unziemliche Interviews ver-
„öffentlichten über Attentat und unsere inneren Zustände.
„3. Zuziehung unserer Staatsanwälte und Untersuchungsrichter zur
„Untersuchung des Komplotts in Serbien."
- Die vollzogenen Änderungen erhellen aus dem Text des dritten
Entwurfes. (S. Seite 97 ff.)
95
mit der Förderung und Verbreitung der großserbischen
Idee befassen.
3. Aus dem gesamten Unterriciite in Serbien, sowohl
was das Lehrpersonal als auch die hiebei verwendeten
Lehrbehelfe anbelangt, alles zu eliminieren, was der groß-
serbischen Idee in irgend einer Form dient.
4. Gegen jene Organe der serbischen Zivil- und Militär-
verwaltung, welche dieser Propaganda in irgendeiner Form
Vorschub leisten, mit deren Entfernung aus dem königlich
serbischen Dienste vorzugehen.
Mit Rücksicht darauf, daß eine im Sinne der groß-
serbischen Idee erfolgte Betätigung der Herren
bereits festgestellt ist, wird die königlich serbische Regie-
rung die eben genannten Funktionäre aus ihrem Dienste
entlassen ',
Als Bleistiftnotiz des Barons Musulin erscheint die For-
mulierung der folgenden Punkte nachgetragen;
5. Die Mitwirkung der k. u. k. Regierung bei den von
der königlich serbischen Regierung zur Unterdrückung der
großserbischen Bewegung eingeleiteten Maßnahmen nach
im besonderen zu vereinbarenden Modalitäten zu akzeptieren.
6. Mit Rücksicht auf den Gang der Untersuchung . . .
und endlich:
7. Die k. u. k. Regierung binnen Monatsfrist von den
zur Durchführung der in der Note bezeichneten Forde-
rungen getroffenen Maßnahmen zu verständigen.
Als Schlußbemerkung hatte der folgende, ebenfalls nach-
träglich niedergeschriebene Passus zu gelten:
Die k. u. k. Regierung erwartet die gefällige Antwort
der königlich serbischen Regierung auf die vorliegende
Note bis längstens
Dritter Eot- Für die Datierung des nächsten Entwurfes läßt sich ein
Anhaltspunkt aus der von der Hand des Barons Musulin
niedergeschrieb'enen Kopfnotiz gewinnen: Entwurf einer
' Der zweite Absatz des Punktes 4 wurde später durchstrichen.
Inhaltsgemäß sollte er unter Punkt 6 Verwertung finden.
~ Zur Ausfüllung dieses Rahmens sollte vermutlich der (durch-
, strichene) zweite Absatz des Punktes 4 dienen.
96
wurf
Note an Serbien auf Grund der Beschlüsse des gemein-
samen Ministerrates vom 14. Juli 1914 '. Dieser dritte Ent-
wurf basierte auf den an dem zweiten Entwürfe vorge-
nommenen Änderungen und bezieht sich in seinem Schluß-
absatze bereits auf den eventuell vorzunehmenden Abbruch
der diplomatischen Beziehungen. Der Text der als tele-
graphische Weisung an den k. u. k. Gesandten in Belgrad
gedachten Note lautete nunmehr:
„Wien, am . . . Juli 1914.
„Ich ersuche Euer Hochwohlgeboren, die nachfolgende
,,Note an die königlich serbische Regierung zu richten =:
„Die Entwicklung der letzten Jahre, insbesondere aber
„die Ereignisse der jüngsten Tage, haben gezeigt, daß unter
„den Augen der serbischen Regierung von serbischem
„Boden aus eine Bewegung in die Gebiete der öster-
„reichisch-ungarischen Monarchie getragen wird, die in
„ihren Endabsichten auf eine Losreißung einzelner Teile
„der Monarchie abzielt und die sich bereits in hochver-
„räterischen, auch vor gemeinem Morde nicht zurück-
„schreckenden terroristischen Taten äußert.
„Nach den Erklärungen, welche der königlich serbische
„Gesandte in Wien namens seiner Regierung mit Note vom
„18./31. März 1909 der k. u. k. Regierung abgegeben hat",
„und die in der Anerkennung der durch die Annexion
„Bosniens nnd der Herzegowina an Österreich-Ungarn
„geschaffenen neuen Rechtslage gipfelten, war es Pflicht der
„serbischen Regierung, im Geiste der von ihr feierlich ver-
„sprochenen guten nachbarlichen Beziehungen zur Monarchie
„derartige Bestrebungen auf serbischem Boden nicht zu dulden.
' Unter dem hier genannten gemeinsamen Ministerrate kann, sofern
das Datum, 14. Juli, richtig ist, nur die Besprechung Graf Berchtolds
mit den beiden Ministerpräsidenten und dem königlich ungarischen
Minister am allerhöchsten Hoflager gemeint sein. (Vgl. Seite 85.)
= Nachträgliche Änderung von der Hand des Baron Musulin: „die
nachfolgende Note der königlich serbischen Regierung am 1. M.
zu übergeben".
3 Änderung in: „Nach den Erklärungen, die die königlich serbische
Regierung am 18.31. März 1909 in Wien abgeben ließ," von der Hand
■des Baron Musulin.
^ 97
„Da aber die serbische Regierurig in dieser Richtung
, nichts unternommen hat, im Gegenteil ihrer Verpflichtungen
,uneingedenk, die Verherrlichung und Förderung aller gegen
,die Monarchie gerichteten Tendenzen in ihrer Presse, in
,ihren Vereinen und in ihren Schulen Jahre hindurch und
,bis auf den heutigen Tag geduldet und hiedurch eine
, Mitschuld' an den Ereignissen vom 28. Juni 1. J. auf sich
, geladen hat, sieht sich die k. u. k. Regierung genötigt, um
,der Fortsetzung der von außen in die Gebiete der
,Monarchie getragenen anarchistischen Bewegung ein für
, allemal ein Ende zu bereiten und um der Verführung und
,Verhetzung ihrer Staatsangehörigen endgültig zu steuern,
,von der königlich serbischen Regierung die Abgabe der
,nachstehenden Erklärung und die Übernahme der folgenden
, Verpflichtungen zu verlangen:
„Die königlich serbische Regierung erklärt feierlichst,
,die gegen die benachbarte Monarchie gerichtete Propaganda,
,das heißt die Gesamtheit jener Bestrebungen zu verurteilen,
,welche auf die Losreißung von Teilen der österreichisch-
, ungarischen Monarchie abzielen, und gibt ihrem ent-
,schiedenen Willen Ausdruck, ihrerseits auf serbischem
,Territorium mit allen Mitteln auf die Unterdrückung dieser,
,mit terroristischen Mitteln arbeitenden Propaganda hin-
,wirken zu wollen. Zu diesem Ende verpflichtet sich die
,serbische Regierung, die nachfolgende Erklärung im
, Amtsblatte- zu veröffentlichen, eine Erklärung, die gleich-
, lautend auch durch einen Armeebefehl Seiner Majestät des
, Königs zur Kenntnis der Truppen gebracht werden wird:
,Die königlich serbische Regierung, die die gegen die
benachbarte Monarchie gerichtete Propaganda, das heißt
die Gesamtheit jener Bestrebungen, die auf die Losreißung '
von Teilen der österreichisch-ungarischen Monarchie ab-
zielen, auf das schärfste verurteilt und die beklagenswerten
' Zusatz von der Hand des Baron Musulin: „und hiedurch eine
moralische Mitschuld".
= Zusatz von der Hand des Baron Musulin: „die nachfolgende
Erklärung am an der ersten Stelle im Amtsblatte".
" Zusatz von der Hand des Baron Musulin: „die in letzter Linie auf
die Losreißung".
98
/
,Folgen einer verbrecherischen Agitation auf das tiefste
, bedauert, warnt ^ ihre Staatsangehörigen vor der weiteren
,Teilnahme an solchen Bestrebungen und macht die Bevöl-
,kerung des Königreiches darauf aufmericsam, daß sie gegen
,die eventuellen Schuldtragenden mit wirksamer und voller
,Strenge vorgehen wird.'
„Abgesehen von dieser Erklärung, verpflichtet sich die
„königlich serbische Regierung:
„1. Das Erscheinen und die Verbreitung von Preßerzeug-
„nissen, die eine gegen die territoriale Integrität der Mon-
„archie gerichtete Tendenz aufweisen, in Zukunft zu ver-
„hindern,
„2. sofort mit der Auflösung des Vereines „Narodna
„Odbrana" vorzugehen und die gleiche Maßregel überdies
„all jenen serbischen anerkanhten und geheimen Vereinen
„gegenüber zu treffen, die sich mit der Förderung und Ver-
„breitung der eben gekennzeichneten Tendenzen befassen ',
„3. aus dem gesamten Unterrichte in Serbien, sowohl
„was das Lehrpersonal als auch die hiebei verwendeten
„Lehrbehelfe anbelangt, alles zu eliminieren, was der Agita-
„tion gegen den Besitzstand der Monarchie in irgendeiner
„Form dient;
„4. gegen jene Organe der serbischen Zivil- und Mili-
„tärverwaltung, welche dieser Propaganda in irgendeiner
„Form Vorschub leisten, mit deren Entfernung aus dem
„königlich serbischen Dienste vorzugehen;
„5. die Mitwirkung von Organen der k. u. k. Regierung
„bei den von der königlich serbischen Regierung zur Unter-
„drückung der großserbisehen Bewegung- einzuleitenden
„Maßnahmen nach im besonderen zu vereinbarenden Modali-
„täten zu akzeptieren;
„6. mit Rücksicht auf den Gang der Untersuchung' ...
„ , und endlich
' Zusatz von der Hand des Baron Musulin: „überdies auch die
Bildung neuer solcher Vereine nicht zuzulassen".
- „der großserbischen Bewegung" geändert in „der gegen die Mon-
archie gerichteten Bewegung", von der Hand des Baron Musulin.
" Vgl. Punkt 6 des zweiten Entwurfes, Seite 96, und Anmerkung 1
daselbst.
99
„7. die k. u. k. Regierung von den zur Durchführung
„der im Vorstehenden bezeichneten Forderungen getroffenen
„Maßnahmen unverzüglich zu verständigen.
„Die k. u. k. Regierung erwartet die gefällige Antwort
„auf die vorliegende Note bis längstens
„Euer Hochwohlgeboren wollen gelegentlich der Über-
„gabe dieser Note mündlich hinzufügen, daß Sie beauftragt
„seien — falls Ihnen inzwischen nicht eine zustimmende
„Antwort der königlich serbischen Regierung zugekommen
„sein sollte — , nach Ablauf der in der Note vorgesehenen,
„vom Tage und von der Stunde Ihrer Mitteilung an zu
„rechnenden 48stündigen Frist Ihre Pässe zu verlangen".'
Entwürfe in
französischer
Sprache
Endgültiger
Text
Die in französischer Sprache aufgesetzten Entwürfe der
Begehrnote fußten im Großen und Ganzen auf der gemäß
der Festsetzungen der Mmisterbesprechung vom 14. Juli
erfolgten Redaktion des dritten deutschen Entwurfes der
Note.
In dem an die Adresse des k. u. k. Gesandten gerich-
teten Schlußabsatze dokumentiert die Einschaltung eines
einzigen Wortes die Verschärfung des Tenors der Note:
„Gelegentlich der Übergabe der vorstehenden Note wollen
„Euer Hochwohlgeboren mündlich hinzufügen, daß Sie
„beauftragt seien — falls Ihnen nicht inzwischen- eine vor-
„behaltlose- zustimmende Antwort der königlichen Regie-
„rung zugekommen sein sollte — , nach Ablauf der in der
„Note vorgesehenen, vom Tage und von der Stunde Ihrer
„Mitteilung an zu rechnenden 48stündigen Frist, mit dem
„Personal der k. u. k. Gesandtschaft Belgrad zu verlassen."
Das Protokoll des Ministerrates für gemeinsame Ange-
legenheiten vom 19. Juli führt eingangs an, daß, bevor der
Ministerrat sich konstituiert und der Vorsitzende die Sitzung
eröffnet hatte, eine formlose Besprechung über die Redaktion
' Geändert in „vom Tage und von der Stunde Ihrer Mitteilung an
zu rechnenden 48stündigen Frist mit dem Personal der k. u. k. Gesandt-
schaft Belgrad zu verlassen", von der Hand des Baron Musulin.
~ Das Wort „vorbehaltlose", Einschaltung von der Hand des Baron
Musulin.
100
der Note stattgefunden habe und daß deren definitiver Text
festgestellt worden sei. Im offiziellen Teile der Konferenz
wurde sodann auf Antrag des Grafen Berchtold einstimmig .
beschlossen, die Note solle am 23. Juli, um 5 Uhr nach-
mittags, in Belgrad überreicht werden. Die in Form eines
"an den k. u. k. Gesandten in Belgrad, Freiherrn von Giesl,
zu richtenden Erlasses gehaltene Note erlangte damit ihre
endgültige Fassung '. Nach dem Wortlaute der Einbegleitung
erhielt der k. u. k. Gesandte den Auftrag, die Note am
Donnerstag, den 23. Juli nachmittags, jedenfalls zwischen
4 und 5 Uhr, der königlich serbischen Regierung zu über-
reichen'-.
Ein aus Ischl am 20. Juli vormittags von dem Chef der Audienz des
Kabinettskanzlei Baron Schießl aufgesetztes Telegramm '^''^'^"
° ° Berchtold
unterrichtete den Grafen Berchtold, der Monarch inter- beim
essiere sich zu erfahren, ob die Angelegenheit der Note '«<"'"':i>en
' *= ^ (21. Juli)
am 19. d. M. zum Abschlüsse gelangt sei, und wann das
Operat in Ischl einlangen könne. ' Laut Antwort Graf
Berchtolds war die fragliche Angelegenheit zu Ende gediehen;
das bezügliche Elaborat, das am 19. Juli nicht fertiggestellt
werden konnte, werde mit dem am 20. Juli abgehenden
Kurier unterbreitet werden. Graf Berchtold selbst gedenke am
21. Juli früh in Begleitung des Grafen Hoyos in Bad Ischl
einzutreffen und noch vormittags vor dem Monarchen zu
erscheinen *.
1 Die lithographierte Vorlage trägt den von der Hand des Baron
Musulin geschriebenen Vermerk: Letzte definitive Fassung vom Sonntag,
den 19. Juli. Sie weist mehrere, von Graf Berchtold nachträglich vor-
genommene stilistische und sachliche Korrekturen auf. Diese letzteren
beziehen sich zum großen Teile auf die Behebung von Verstößen, auf
die vom Standpunkte der ungarischen Eigenstaatlichkeit hätte hingewiesen
werden können. Der französische Text der Note ist abgedruckt im öster-
reichisch-ungarischen Rotbuch Nr. 7, in deutscher Sprache in der Volks-
ausgabe des österreichisch-ungarischen Rotbuches unter der gleichen
Nummer, mit der vorsätzlichen Datierung auf den 22. Juli, statt der tat-
sächlichen und zutreffenden vom 20. Juli. (Vgl. Seite 109, Anmerkung 2.)
• Die Fixierung des Datums erscheint als nachträglicher Bleistift-
vermerk von der Hand des Baron Musulin.
■■ Telegramm aus Bad Ischl d. d. 20. Juli, 11 Uhr a. m., o. Nr.
* Telegramm an Baron Schießl d. d. Wien, 20. Juli, 1 Uhr 30 Minuten
p. m., C. d. M.
101
2. Die Überreichung der Note in Belgrad
(23. Juli, 6 Uhr nachmittags)
verhaitungs- Dic speziclIcn Weisungen, die dem k. u. k. Gesandten
füfdefk^. Freiherrn von Giesl für den Fall der Überreichung der
k. Gesandten Bcgehmote erteih wurden, gingen ihm in einem Privat-
rli'ehung der schrcibcn des Grafen Berchtold vom 20. Juli zu '.
No'E Danach stelhen die Forderungen das Minimum dar, das
die Monarchie verlangen müsse, damit ihr gegenwärtig ganz
unhaltbares Verhältnis zu Serbien' geklärt werde. Auch
müsse die Monarchie darauf bestehen, daß ihr die Ent-
scheidung der serbischen Regierung innerhalb der Frist von
48 Stunden bekanntgegeben werde; eine Verlängerung dieser
Frist könnte keinesfalls — etwa unter dem Vorwande, daß
die serbische Regierung nähere Auskünfte über die Trag-
weite und den Sinn einzelner unter diesen Forderungen zu
erhalten wünsche — zugestanden werden.
Das Wiener Kabinett könne sich bezüglich seiner For-
derungen auf keine Verhandlungen mit Serbien einlassen,
nur deren bedingungslose Annahme innerhalb der vorge-
sehenen Frist könne genügen und das Wiener Kabinett
davon abhalten, die weiteren Konsequenzen zu ziehen.
Was die Schritte, welche die k. u. k. Regierung nach
dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu unter-
nehmen gedenke, betreffe, so wolle der k. u. k. Gesandte
erklären, hierüber keine Informationen erhalten zu haben.
Aus eigener Initiative und ohne sich auf einen Auftrag zu
berufen, könne der Gesandte hinzusetzen, daß die Monarchie
in den letzten Jahren wegen der feindseligen Haltung des
Königreiches schon zweimal zu kostspieligen militärischen
Maßregeln genötigt worden sei, und daß sie sich, falls dies
neuerlich geschehen sollte, jedenfalls genötigt sehen würde,
, die serbische Regierung für alle der Monarchie hiedurch
verursachten Auslagen haftbar zu machen.
Eine Diskussion über den Inhalt der Note und die Inter-
pretation der einzelnen Forderungen wolle der k. u. k. Ge-
sandte vermeiden und Herrn Pasic, wenn dieser insistieren
1 Privatschreiben des Grafen Berchtold an Baron Giesl d. d. Wien,
20. Juli, C. d. M.
102
sollte, erklären, daß er zu einer weiteren Diskussion
nicht ermächtigt sei, vielmehr die Annahme pur et simple
verlangen müßte. Mündlich müßte der Gesandte von Herrn
Pasic auch verlangen, daß ihm die serbische Übersetzung
der im Amtsblatte zu publizierenden Deklaration sowie der
■serbische Text des Armeebefehls vorgelegt werde, damit
sich der Gesandte überzeugen könne, daß die Übersetzung
richtig sei.
Wie sich der Gesandte im Falle des Abbruches der
diplomatischen Beziehungen zu verhalten habe, darüber sei
er bereits durch frühere Weisungen genau instruiert.
Sobald die 48stündige Frist, von der Überreichung der
Note an gerechnet, verstrichen sei, ohne daß eine Annahme
eingelangt wäre, habe der Gesandte daher der serbischen
Regierung mittels einer Note mitzuteilen, daß er mit Rück-
sicht auf den Ablauf des Termins, seinen Instruktionen
gemäß Serbien mit dem Personal der Gesandtschaft verlassen
und den Schutz der österreichisch-ungarischen Konnationalen
und Interessen in Serbien auftragsgemäß der . . . [noch zu
bestimmenden fremden] Gesandtschaft übergebe, der ein
k. u. k. Kanzleisekretär in dienstlicher Eigenschaft zugeteilt
werde. Hiemit seien die diplomatischen Beziehungen Öster-
reich-Ungarns zu Serbien abgebrochen.
Der Gesandte wolle sich darauf nach genauer Durch-
führung seiner bereits früher erhaltenen Instruktionen zu-
sammen mit dem Personal der Gesandtschaft mit nächstem
Schiffe nach Semlin begeben.
Die Tatsache, daß Serbien die Forderungen des Wiener
Kabinetts nicht erfüllt habe, beziehungsweise daß die Frist
ohne Annahme der Note abgelaufen sei, wolle der k. u. k.
Gesandte mittels Chiffretelegramms noch aus Belgrad tele-
graphieren.
Eine Weisung an Freiherrn von Giesl vom 21. Juli führte
ergänzend aus: '
Da sich Zeitungsmeldungen zufolge Ministerpräsident
Pasic in Wahlangelegenheiten nach Ostserbien begeben haben
und erst Ende der Woche nach Belgrad zurückkehren solle,
1 Weisung an Baron Giesl d. d. Wien, 21. Juli, 7 Uhr p. m., Nr. 76.
103
erscheine es, falls sich diese Meldungen bestätigten, dem
Wiener Kabinette notwendig, daß der k. u. k. Gesandte in
Belgrad dem ersten Beamten des serbischen Auswärtigen
Amtes am 23. Juli früh in einem Briefe, den ein Konzepts-
beamter der k. u. k. Gesandtschaft zu überbringen hätte,
die Verständigung zugehen lasse, der k. u. k. Gesandte sei
beauftragt, der königlichen Regierung am Nachmittag eine
wichtige Mitteilung zu machen. Der k. u. k. Gesandte würde
zu diesem Zwecke zwischen 4 und 5 Uhr nachmittag im
Auswärtigen Amte vorsprechen. Seine Mitteilung werde vor-
aussichtlich die schleunige Rückkehr Herrn Pasic' notwendig
machen. Der Leiter des Auswärtigen Amtes solle, falls er
es für nützlich erachte, sich diesbezüglich sofort mit dem
Ministerpräsidenten in Verbindung setzen.
Um jedes Mißverständnis zu vermeiden, sei ausdrücklich
zu bemerken, daß dieser Brief des k. u. k. Gesandten nur
als ein Akt der Courtoisie zu betrachten sei, um die je
frühere Rückkehr und Informierung des Ministerpräsidenten
zu ermöglichen, daß aber die Übergabe der Note seitens des
k. u. k. Gesandten unter allen Umständen am Nachmittag
zwischen 4 und 5 Uhr, und zwar im Falle der Abwesenheit
des Herrn Pasic an dessen Vertreter oder an den rang-
höchsten anwesenden Beamten des Auswärtigen Amtes, zu
erfolgen habe.
Die vollzogene Übergabe der Note wolle der k. u. k.
Gesandte durch vorher vorbereitete Expreßchiffretelegramme
in duplo sowohl aus Belgrad als auch aus Semlin in drin-
gendster Weise nach Wien melden. Wegen der Publi-
kation und anderer Maßnahmen wünsche Graf Berchtold
die Nachricht noch am 23. Juli vor 7 oder 8 Uhr abends
in Wien zu erhalten.
Über ein eventuelles Gespräch bei der Übergabe wolle
der k. u. k. Gesandte getrennt ebenfalls sofort telegraphisch
berichten.
situations- Scinc eigene Auffassung der politischen Sachlage in
benchtdes Sgpj^jgj, jggjg (jg^ j^_ ^^ j^ Gcsandtc in einem Berichte vom
Gesandten 21. JuH ' nicdcr:
(21. Juli)
' Bericht aus Belgrad d. d. 21. Juli, Nr. 131/P.
104
Die Besorgnis, die nach dem Attentate iierrsclite, die
Monarchie würde scharfe Forderungen stellen, beginne sich
mit dem verzögerten Abschlüsse der Untersuchung und dem
Ausbleiben der befürchteten Demarche von Tag zu Tag
immer mehr zu verflüchtigen und werde bald wie ein
böser Traum beim glücklichen Erwachen verschwinden.
Seine Gedankengänge zusammenfassend, stellte der
k. u. k. Gesandte fest: Das Prinzip der Nichteinmischung
oder der Intervention erst nach hergestelltem Einvernehmen
zwischen allen Großmächten habe die Balkankrise ver-
schuldet, nur ein selbständiges Eingreifen der Macht, die
hier allein bedroht sei, unter dem Motto: „Wer nicht mit
mir ist, ist gegen mich", könne der Meinung des k. u. k.
Gesandten nach, den Feind, der sich drohend vor die
Monarchie gestellt habe, niederwerfen und dem Reiche
nach jahrelangen Krisen die Ruhe geben.
Halbe Mittel, ein Stellen von Forderungen, langes Parla-
mentieren und schließlich ein fauler Kompromiß wären der
härteste Schlag, der Österreich-Ungarns Ansehen in Serbien
und seine Machtstellung in Europa treffen könnte.
Hinsichtlich der von der serbischen Regierung vor- serbische
genommenen Orientierung teilte Herr von Tschirschky am ^"^''"''"■"'"«
21. Juli dem Grafen Berchtold den Inhalt einer Depesche
Herrn von Jagows mit \ derzufolge der königlich serbische
Geschäftsträger in Berlin, in Entsprechung einer wahr-
scheinlich an alle serbischen Vertreter ergangenen Zirkular-
weisung, dem Staatssekretär erklärt habe, Serbien beab-
sichtige, die besten und korrektesten Beziehungen mit der
Nachbarmonarchie zu unterhalten und sei bereit, alle For-
derungen Österreich-Ungarns nach einer strengen Unter-
suchung des Attentats von Sarajevo zu erfüllen, soweit sie
mit der Ehre und Souveränität des Königreiches vereinbar
seien. Der königlich serbische Geschäftsträger habe die
kaiserlich deutsche Regierung gleichzeitig gebeten, auf das
Wiener Kabinett versöhnlich einzuwirken.
Die Antwort Herrn von Jagows an den Vertreter
Serbiens hätte, so fügte Herr von Tschirschky bei, dahin
' Tagesbericht vom 21. Juli, Nr. 3444.
105
gelautet, daß nach Ansicht der deutschen Regierung Serbien
es an einem korrekten nachbarlichen Verhaken Österreich-
Ungarn gegenüber gerade in den letzten Jahren derart habe
fehlen lassen, daß es nur zu begreiflich sei, wenn das
Wiener Kabinett bei Bekanntgabe seiner Forderungen eine
sehr energische Sprache führen sollte.
Die s.unde Sclt dcm 21. JuH, 11 Uhr nachts, befand sich der k. u. k.
der nJis^" "^ Gesandte in Belgrad im Besitze des die Begehrnote ent-
wird ver- haltenden Erlasses '.
Die Überreichung sollte, wie bisher bestimmt worden
war, Donnerstag den 23. Juli, nachmittags zwischen 4 und
5 Uhr, stattfinden. Eine am Vormittage des 23. Juli
erlassene telegraphische Weisung - an den k. u. k. Ge-
sandten schuf in dem zeitlichen Arrangement zwischen Tür
und Angel noch eine Verschiebung. 9 Uhr 30 Minuten
ging an Freiherrn von Giesl die Weisung ab, die für
Nachmittag anberaumte Demarche keinesfalls um 4 Uhr,
sondern frühestens einige Minuten vor 5 Uhr vorzunehmen.
Falls es dem Gesandten möglich sei, wolle er die Demarche
auf 6 Uhr verschieben, in welchem Falle auch in der
Note der Ablauftermin der 48stündigen Frist auf Samstag,
den 25. Juli, 6 Uhr, zu ändern wäre.
Zur Informierung des k. u. k. Gesandten werde hinzu-
gefügt, das Wiener Kabinett wolle tunlichst verhindern,
daß die Nachricht über die erfolgte Demarche noch am
selben Abend in Petersburg eintreffe, da Präsident Poincare
noch bis 11 Uhr abends daselbst verweile.
Der k. u. k. Gesandte wolle sofort dringendst telegra-
phieren, ob er die Demarche um 5 Uhr ausführen werde
oder ob er sie auf 6 Uhr verschieben könne.
Freiherr von Giesl meldete um 2 Uhr 30 Minuten nach-
mittags, er werde alles aufbieten, um die Demarche erst
um 6 Uhr durchzuführen. ■'
t Erlaß nach Belgrad d. d. Wien, 20. Juli, Nr. 3400, Empfangs-
bestätigung Telegramm aus Belgrad d. d. 22. Juli, 1 Uhr p. m., Nr. 168.
s Weisung nach Belgrad d. d. Wien, 23. Juli, 9 Uhr 30 a. m., Nr. 80.
•' Telegramm aus Belgrad d. d. 23. Juli, 2 Uhr 30 Minuten p. m.,
Nr. 172.
106
Um einem eventuellen Schachzug des serbischen Minister- Angebliche
Präsidenten, der angeblich im Momente der Übernahme der „b^XhÜnd«
Note zu demissionieren beabsichtige, zuvorzukommen, er- serbischen
ging noch am 23. Juli, 2 Uhr nachmittags, an Freiherrn von prälidente«
Giesl die Weisung': Die Demission des Kabinetts könnte
natürlich weder die Stellung der österreichisch-ungarischen
Forderungen, noch den Lauf der 48stündigen Frist beein-
flussen, da bekanntlich ein demissioniertes Kabinett die
Geschäfte bis zur Bildung des neuen Ministeriums mit
voller Verantwortlichkeit weiterzuführen habe.
Seit dem 22. Juli war mittels Dekretes der königlich ^.^^ q^^_.
serbische Finanzminister Pacu mit der Vertretung des reichung der
Regierungschefs und des Ministers des Äußern betraut 23°'juii,
worden. In einer Besprechung mit Freiherrn von Giesl am euhrp. m.
23. Juli vormittags hatte Herr Pacu die vom k. u. k. Ge-
sandten betonte Notwendigkeit der Verständigung des
abwesenden Ministerpräsidenten Pasic mit der Motivierung
der durch ihn selbst besorgten Stellvertretung afs unnötig
abgelehnt-.
Freiherr von Giesl ließ sich vormittags durch Herrn
Pacu, nachdem derselbe eine Weile gezögert hatte, eine
Unterredung für 6 Uhr nachmittags anberaumen und wurde
mit dem Glockenschlage in Gegenwart des Generalsekretärs
Gruic (da Pacu nicht französisch sprach) empfangen.
Der k. u. k. Gesandte übergab die Note^ und fügte bei,
daß die Antwort bis Samstag, den 25. Juli, 6 Uhr abends,
befristet sei, zu welchem Zeitpunkte er, wenn keine oder
eine ungenügende Antwort eintreffe, mit dem Personal der
Gesandtschaft Belgrad verlassen würde und erklärte, daß
er gleichzeitig mit der Antwort die Übergabe des serbischen
Textes der beiden offiziellen Enunziationen wünsche, um
dieselben kontrollieren zu können.
Minister Pacu bemerkte, ohne die Note gelesen zu haben,
daß jetzt die Wahlen stattfänden und daß ein Teil der Minister
abwesend sei; er fürchte die physische Unmöglichkeit
' Weisung nach Belgrad d. d. Wien, 23. Juli, 2 Uhr p. m., Nr. 81.
2 Telegramm aus Belgrad d. d. 23. Juli, 2 Uhr p. m., Nr. 171.
3 Telegramm aus Belgrad- Semlin d. d. 23. Juli, 7 Uhr p. m., Nr. 173.
107
Nichl Ulti-
matum, son-
dern : Be-
fristete De-
marche
Verständi-
gung des
Monarchen
den vollständigen Ministerrat rechtzeitig zu der augen-
scheinlich wichtigen Entscheidung einberufen zu können.
Der Ministerrat war schon seit 5 Uhr versammelt.
Freiherr von Giesl entgegnete, daß die Rückkehr der Mi-
nister im Zeitalter der Eisenbahnen, des Telegraphen und
Telephons bei der Größe des Landes nur die Affäre einiger
Stunden sein könne und daß er bereits vormittags die even-
tuelle Verständigung des Herrn Pasic als nützlich angeregt
habe. Im übrigen sei dies eine interne Angelegenheit der
serbischen Regierung, die der k. u. k. Gesandte weiter
nicht zu beurteilen habe. Eine andere Diskussion hatte nicht
stattgefunden ".
Freiherr von Giesl hatte in seiner telegraphischen
Berichterstattung vom 23. Juli zur Bezeichnung der Note
das Schlagwort „Ultimatum" benützt. Der k. u. k. Gesandte
erhielt diesbezüglich — noch nach erfolgter Übergabe der
Note — die Direktive =, daß die von ihm gewählte Be-
nennung insofern unrichtig sei, als auf den fruchtlosen
Ablauf der Frist nur der Abbruch der diplomatischen Be-
ziehungen, nicht auch sofort der Eintritt des Kriegszustandes
folgen werde. Der Kriegszustand werde erst mit der Kriegs-
erklärung, beziehungsweise mit dem serbischen Angriff auf
die Monarchie eintreten.
Nach der im k. u. k. Ministerium des Äußern angewandten
Terminologie war der in Belgrad vollzogene Schritt der
k. u. k. Regierung als eine' „befristete Demarche" zu
bezeichnen.
Die Nachricht von der vollzogenen Durchführung der
diplomatischen Aktion in Belgrad wurde noch^ am 23. Juli,
11 Uhr 50 Minuten nachts, telegraphisch an den Chef der
Kabinettskanzlei des Monarchen übermittelt, mit der gleich-
zeitigen Verständigung, daß die 48stündige Frist am Samstag,
den 25. Juli ■■, 6 Uhr abends, ablaufe *.
' Telegramm aus Belgrad d. d. 23. Juli, 8 Uhr p. m., Nr. 175.
- Weisung nach Belgrad d. d. Wien, 23. Juli, 1 1 Uhr 20 Minuten
p. m., Nr. 83.
■' Im Konzepte irrtümlich: „Samstag, den 26."
* Telegramm an Baron Schießl, Bad Ischl, d. d. Wien, 23. Juli,
11 Uhr 50 Minuten p. m., C. d. M.
108
Die Beschlußfassung des gemeinsamen Minister-
rates vom 7. und 19. Juli hatte ihre Realisierung
gefunden. Die zu gewärtigenden Konsequenzen
— Eintritt des Krieges mit Serbien und Wahr-
scheinlichkeit einer kriegerischen Auseinander-
setzung mit Rußland - waren bereits in der
Sitzung vom 7. Juli ins Auge gefaßt worden. Zu
der Frage, welche Stellungnahme die serbische
Regierung bekunden werde, gesellte sich die gleich
wichtige: welches Echo der Schritt der k. u. k. Re-
gierung bei den europäischen Kabinetten auslösen
werde.
3. Die österreichisch-ungarische Zirkularnote an die
Signatarmächte vom 24. Juli 1914
Bei der Abfassung der an die Signatarmächte zu rieh- Aufgabe der
tenden Note war am Ballhausplatze der Grundsatz maß- ^'"■^"^^'•""^
gebend, die Zirkularnote habe den Mächten eine bereits
vollzogene Tatsache einfach zur Kenntnis zu bringen und es
keineswegs einzuräumen, die Begehrnote an Serbien selbst
zum Gegenstande von Erörterungen zu machen.
Die verschiedenen Entwürfe der Zirkularnote — in
deutscher und französischer Sprache — dürften zeitlich
parallel mit denen der Begehrnote aufgesetzt worden sein '.
Die Zirkularnote wurde den k. u. k. Botschaftern bei den
Signatarmächten am 20. Juli mittels Kuriers zugestellt. Sie
trug die Vordatierung auf den 24. Juli, den Tag, an dem ihre
Übergabe stattzufinden hatte -,
Die Instruktion, die den k. u. k. Botschaftern aus Anlaß
der Überreichung der Zirkularnote an die Signatarmächte
übermittelt wurde, wies eine für die einzelnen Kabinette ver-
schieden gehaltene Formulierung auf.
' Die Zirkularnote ist in französischer Sprache im österreichisch-
ungarischen Rotbuch unter Nr. 8, in deutscher Sprache unter derselben
Nummer in der Volksausgabe des österreichisch-ungarischen Rotbuches
abgedruckt.
- Die Datierung der Zirkularnote an die Signatarmächte ist im
österreichisch-ungarischen Rotbuche Nr. 8, wie jene der Begehrnote vor-
sätzlich auf den 22. Juli, verlegt. (Vgl. Seite 101, Anmerkung 1.)
109
Berlin
begleitende
Weisung
Kon-
statierungen
des k. u. k.
Botschafters
Für Berlin besagte der einbegleitende Text ': Wenn der
k. u. k. Botschafter den offiziellen Erlaß der deutschen Regie-
rung am Freitag, den 24. Juli vormittags, persönlich zur
Kenntnis bringen werde, wolle er nur bemerken, daß das bereits
erzielte vollständige politische Einvernehmen mit dem deut-
schen Kabinett ihn der Mühe einer weiteren vertraulichen
und mündlichen Begründung des Schrittes des Wiener
Kabinetts in Belgrad enthebe K
Die Gründe, deretwegen das Wiener Kabinett die Demarche
in Belgrad erst gestern unternehmen konnte, seien Herrn
von Tschirschky bereits seinerzeit mündlich dargelegt
worden und inzwischen auch durch Graf Szögyeny selbst
zur Kenntnis der kaiserlichen Regierung gebracht worden.
Graf Szögyeny sah sich veranlaßt, nach Erhalt des Er-
lasses, am 21. Juli, 7 Uhr 50 Minuten p. m., telegraphisch
festzustellen':
Dem Erlasse vom 20. Juli entsprechend, könnte die
beigeschlossene Note erst am 24. Juli vormittags der Berliner
Regierung zur Kenntnis gebracht werden.
Wördich fährt Graf Szögyeny in seinem Telegramm
fort: „Nach meiner ergebensten Meinung hielte ich es für
„unbedingt nötig, Inhalt dieses Erlasses der hiesigen Re-
„gierung sofort, also bevor er auch den anderen Kabinetten
„mitgeteilt wird, in vorläufig streng vertraulicher Weise zur
„Kenntnis zu bringen. In dieser Ansicht werde ich bestärkt
„durch eine in meiner heutigen Unterredung fallengelassene Be-
„merkung des Staatssekretärs, der mich fragte, ob ich schon
„eine Mitteilung aus Wien über den Inhalt der für Belgrad
1 Erlaß nach Berlin d. d. Wien, 20. Juli, Nr. 3426.
- Vergleiche hiezu die Stelle im Privatschreiben des Grafen Szögyeny
an Graf Berchtold vom 21. Juli (Seite 111 unten): Auch glaube der k. u. k.
Botschafter noch hervorheben zu sollen, der Staatssekretär habe ihm klar
zu verstehen gegeben, „daß Deutschland selbstredend unbedingt und mit
aller Kraft hinter der Monarchie stehen werde, daß es aber für die
deutsche Regierung gerade aus diesem Grunde von vitalem Interesse
sei, beizeiten darüber informiert zu werden, wohin unsere Wege führen.''
3 Telegramm aus Berlin d. d. 21. Juli, 7 Uhr 50 Minuten p. m..
Nr. 271.
110
„bestimmten Note erhalten habe. Er habe durch Herrn
„von Tschirschky erfahren, daß dieselbe bereits am 23.
,,d. M. überreicht würde, und er glaube doch erwarten zu
„können, daß man die deutsche Regierung als Bundes-
„genossin früher als die anderen Kabinette von dem Inhalte
„und den Modalitäten unseres Belgrader Schrittes benach-
„richtigen werde." '
In einem besonderen Schreiben an Graf Berchtold gab
Graf Szögyeny noch am selben Tage seiner Ansicht über
die unleidliche Situation Ausdruck, die dem Wiener Kabinett
(und dem k. u. k. Botschafter selbst) aus der erst zum ange-
gebenen Zeitpunkte vorzunehmenden Durchführung des Er-
lasses erwachsen könnte:
Mit seinem heutigen Telegramm- habe Graf Szögyeny
dem Grafen Berchtold gemeldet, daß es nach seiner An-
sicht dringend notwendig wäre, die von der Wiener Regie-
rung am 23. 1. M. an Serbien zu übergebende Note früher
als den anderen Kabinetten, und zwar ehestens, dem von
Berlin mitzuteilen.
„Da von Kaiser Wilhelm angefangen", setzt Graf Szögyeny
sein Schreiben fort, ,,alle maßgebenden hiesigen Kreise unserer
„Aktion Serbien gegenüber von dem ersten Moment an ohne
„weitere Bedenken in loyalster Weise ihre Unterstützung
„zugesagt haben, so glaube ich, daß wir eine Verstimmung
„hier vermeiden sollten, die dadurch entstehen könnte, daß
„wir durch gleichzeitige Bekanntgabe unserer Note an
„Serbien an alle Kabinette, dasjenige Deutschlands, unseres
„Bundesgenossen, auf die gleiche Linie mit den Regierungen
„der anderen Großmächte stellen würden. Ich rechne daher
„zuversichtlichst darauf, daß Euer Exzellenz mir die Er-
„mächtigung erteilen werden, die betreffende Mitteilung der
„hiesigen Regierung sofort zu machen."
„Zum Schlüsse", beendete Graf Szögyeny sein Schreiben,
„glaube ich noch hervorheben zu sollen, daß der Herr
„Staatssekretär mir klar zu verstehen gab, daß Deutschland
„selbstredend unbedingt und mit aller Kraft hinter der
„Monarchie stehen werde, daß es aber für die deutsche
' Vgl. die Ausführungen Seite 73 Mitte.
- Vgl. Seite 110, Anmerkung 3.
111
„Regierung gerade aus diesem Grunde von vitalem Interesse
„sei, beizeiten darüber informiert zu werden, wohin unsere
„Wege führen, und insbesondere, ob wir eine provisorische
„Besetzung serbischen Gebietes vor hätten oder ob wir,
„wie dies auch Graf Hoyos bei seiner letzten Unterredung
„mit dem Reichskanzler durchblicken ließ, eine Aufteilung
„Serbiens als ultima ratio beabsichtigten."
Weisung Den telegraphisch übermittelten Erwägungen Graf Szö-
G"-»f gyenys begegnete Graf Berchtold am 22. luli mit der Fest-
andenk. u.k. Stellung': „Der bewußte Erlaß hatte Deutschland gegenüber
Botschafter ^^ledigHch formalc Bedeutung: Die offizielle Übergabe
„unserer Note sollte in Berlin unter denselben Modalitäten
„erfolgen, wie bei den anderen Signatarmächten. Streng
„vertraulich haben wir Herrn von Tschirschky die er-
„wähnte Note (die bekanntlich auch jene an Serbien textuell
„anführt) schon gestern [21. Juli] mitgeteilt; sie ist durch
„den .Herrn Botschafter jedenfalls bereits nach Berlin vor-
„gelegt worden."
Das Berliner Gemäß dicscr Ko n s 13 ti er u n ge n des Wiener
Kabinett KabiRetts selbst muß an dieser Stelle die Tatsache
ohne Kennt-
nisdeswori- festgehalten werden, daß dem Berliner Kabinett
lautes der dcrWoTtlaut der österreichisch-ungarischen Begeh r-
österrei- ^ "
chisch-unga- note (a u c h in dem - tatsächlich erfolgten - Falle,
rischenNote (jgß jj g ^ Jext vom dcutschcH Botschafter nach Er-
an Serbien
halt unverzüglich nach Berlin weitergeleitet wurde)
doch erst zu einem Zeitpunkte zukommen konnte, in
dem eine Beeinflussung des Wiener Kabinetts seitens
der deutschen Regierung durch eingehende Be-
ratung und Antragstellung nicht mehr möglich war-.
' Weisung nach Berlin d. d. Wien, 22. Juli, 1 Uhr p. m., Nr. 249.
2 Vgl. Seite 142, Anmerkung 1. — Dali in eingeweihten deutschen
Kreisen auch späterhin der Eindruck vorherrschend blieb, das Berliner
Kabinett sei bei der Festsetzung der Modalität des Vorgehens der
Monarchie gegen Serbien nicht aktiv beteiligt, geschweige denn der
drängende Teil gewesen, erhellt unter anderem aus dem instruktiven
Depeschenwechsel des k. u. k. Ministers des Äußern Grafen Ottokar
Czernin mit dem k. u. k. Botschafter in Berlin Prinzen zu Hohenlohe
vom Anfang April 1918.
Graf Czernin telegraphierte am 2. April an den k. u. k. Botschafter
in Berlin:
112
Gab es also, wie wir früher feststellen konnten, niemals
einen Kronrat zu Potsdam, der den Krieg gegen
„Während meines Aufenthaltes in Bukarest hat Staatssekretär
„von Kühlmann die Vorgeschichte des Krieges zur Sprache gebracht und
„hiebei die Anschauung geäußert, daß Deutschland lediglich aus Bundes-
„treue uns gegenüber sich mit unserem Ultimatum an Serbien einver-
„standen erklärt, uns aber keineswegs zu einem energischen Vorgehen
„ermutigt habe.
„Da mir bekannt war, daß diese Auffassung sich durchaus nicht mit
„den Eindrücken decke, welche unsere damalige Leitung der auswärtigen
„Angelegenheiten von der Haltung der maßgebenden Faktoren des Deutsehen
„Reiches, speziell in dem entscheidenden Monat Juli des Jahres 1914
„gewonnen hatte, habe ich mit Herrn von Kühlmann vereinbart, daß ich
„nach meiner Rückkehr nach Wien die betreffenden Akten durchsehen
„und ihm dann weitere Mitteilungen zukommen lassen werde.
„Die beiliegenden Piecen [es waren dies 7 Kopien; soweit es sich
„konstatieren läßt, partielle Abschriften der folgenden Stücke: Tagesbericht
„Nr. 3117 (vgl. Seite 40, Anmerkung 1); Telegramm aus Berlin Nr. 237
„(vgl. Seite 30, Anmerkung 2); Telegramm aus Beriin Nr. 239 (vgl. Seite 32,
„Anmerkung 1); Telegramm aus Berlin Nr. 244 (vgl. Seite 73, Anmer-
„kung 3); Brief Graf Berchtolds an Grafen Tisza (vgl. Seite 68, An-
„merkung 1); Bericht aus Beriin Nr. 60/P (vgl. Seite 41, Anmerkung 1);
„das 7. Stück ist nicht feststellbar], welche sämtlich aus der ersten Hälfte
„des Monats Juli stammen, bestätigen nun in unzweifelhafter Weise
„die von mir Herrn von Kühlmann gegenüber vertretene Auffassung,
„daß uns nämlich Deutschland zu einem scharfen Auftreten geradezu
„gedrängt hat.
„Ich ersuche Euer Exzellenz, dem Staatssekretär unter Betonung des
„streng geheimen und rein persönlichen Charakters dieser Mit-
„teilung Einsicht in diese Schriftstücke zu geben, ihm dieselben jedoch nicht
„zu überiassen, falls dies ohne Kränkung des Herrn Staatssekretärs möglich
„ist. Euer Exzellenz wollen beifügen, daß auch Graf Wedel schon vor einiger
„Zeit auf Grund eines Auftrages des Auswärtigen Amtes dieses Thema
„hier zur Sprache gebracht hatte, und daß ihm speziell das Schreiben des
„Grafen Berchtold an den Grafen Tisza vom 8. Juli 1914 mitgeteilt
„worden ist."
Herr von Kühlmann ließ seinen Dank für die „hochinteressanten
Mitteilungen" übermitteln und wollte anläßlich des bevorstehenden
Zusammentreffens in Bukarest noch Gelegenheft nehmen, den Inhalt der
Dokumente zu besprechen. (Telegramm des k. u. k. Botschafters aus
Beriin d. d. 8. April 1918.)
Graf Czernin scheint übrigens von der Beweiskraft der ausgewählten
Aktenstücke nicht durchaus überzeugt gewesen zu sein. Wenigstens
muß, da die meisten der erwähnten Dokumente in mehrfachen Kopien
vorhanden waren und etwa die Preisgabe des Chiffregeheimnisses
^ 113
Serbien beschlossen hätte, wohl aber einen k. u. k.
Ministerrat in Wien am 7. Juli, der diese Materie
behandelte, so sehen wir uns jetzt der Tatsache
gegenübergestellt, daß die Berliner Regierung an
der Abfassung der österreichisch-ungarischen Note
an Serbien keinerlei Anteil hatte.
Rom
Ein- Herrn von Merey wurde die Zirkularnote der Wiener
weilung'*'^ Regierung am 20. Juli mit der Weisung zugesendet ', die
praktisch nicht in Frage kam, der Mangel eines sachlich bedingungs-
losen Vertrauens zur Erklärung der immerhin auffallenden Tatsache
herangezogen werden, daß Graf Czernin eigenhändig in dem Konzepte
der Weisung die Einschaltung des Passus vornahm: „ihm dieselben (die
„Abschriften dem Staatssekretär) jedoch nicht zu überlassen, falls dies
„ohne Kränkung des Herrn Staatssekretärs möglich ist".
Auch ersche'nt noch ein weiterer Umstand beachtenswert. Das
Konzept des oberwähnten Telegramms an den Priiizen Hohenlohe
d. d. 2. April 1918 war von dem in Dienstesverwendung im k. u. k. Mini-
sterium des Äußern stehenden ehemaligen k. u. k. Botschafter in Rom,
Herrn von Merey, aufgesetzt worden. Derselbe Diplomat legte seine
eigene Auffassung über die Stellungnahme des Deutschen Reiches zum
Konflikt der Monarchie mit Serbien während der kritischen Tage
im Juli 1914 selbst in folgender Zusammenfassung dar (Bericht aus
Rom d. d. 27. Juli, Z. 34 P.):
„Mein Gefühl geht sonach dahin, daß das deutsche Kabinett über
„die Situation in Petersburg und Paris hinlänglich informiert und beruhigt
„ist, um ein Eingreifen von diesen Seiten nur im alleräußersten Falle zu
„fürchten, daß es auf verschiedenen Wegen, zum Beispiel in Rom und
„Bukarest, auch unserem kriegerischen Konflikt mit Serbien entgegen-
„zuarbeiten trachtet und sich mit der Hoffnung trägt, es würden auf diese
„Art in der Zeit zwischen der Obergabe unseres Ultimatums in Belgrad
„und dem Ausbruche der Feindseligkeiten von allen Seiten, von Freund
„und Feind, genügende diplomatische und politische Barrieren aufgerichtet
„werden, um das Losschlagen zu verhindern. Gelänge dies, so würde
„schließlich Serbien in der Hauptsache nachgeben, in der Form aber eine
„gewisse Schonung seiner staatlichen Würde zugebilligt erhalten. Es wäre
„dies schließlich jener von Euer Exzellenz vorläufig so perhorreszierte
„Ausgang, welcher in der Tat für uns eine gegenüber der dermaligen
„noch weit verschlechterte Situation schaffen würde.
„Deutschland würde aber wieder in Wien einen billigen und unver-
„dienten Jubel über sein Eintreten für uns ,in schimmernder Wehr' ein-
„heimsen."
1 Erlaß nach Rom d. d. Wien, 20. Juli, Nr. 3427.
114
Übergabe, die, falls Marquis di San Giuliano noch von Rom
abwesend sein sollte, auch an seinen Stellvertreter erfolgen
könne, am Freitag, den 24. Juli, durchzuführen. Nähere
mündliche Erläuterungen des k. u. k. Botschafters dürften
sich bei diesem Anlasse kaum noch als notwendig erweisen,
da Herr von Merey den italienischen Minister des Äußern
ohnehin erst kurz vorher gesehen und ihn auf das Kom-
mende vorbereitet habe.
Bevor noch diese Weisung an den k. u. k. Botschafter instruk-
am 20. Juli mittels Kurierpost abgesendet worden war, hatte ^""/d! san
das römische Kabinett einen Schritt unternommen, der sich ciuiianos an
für die beiden Kaisermächte von folgenschwerer Bedeutung j^^en ve"'
erwies. Er entsprang der Kenntnis Marquis San Giulianos treter in
über die Absichten der Monarchie gegen Serbien und über '"'''"^''"''s
ö o und Bukarest
die bundestreue Entschlossenheit des Berliner Kabinetts, für (vor2o. jum
alle eventuellen Konsequenzen einzustehen. Marquis di San
Giuliano hatte unverzüglich nach Petersburg und Bukarest
Instruktionen erteilt, die dortigen Regierungen auf Umwegen
zu veranlassen, in Berlin und Wien drohend aufzutreten, um
die österreichisch-ungarische Aktion zu verhindern •. Selbst-
verständlich — so hieß es in einer diesbezüglich Herrn
von Merey noch am 20. Juli zugeschickten Instruktion - —
würden eventuelle Intimidierungsversuche in Wien wirkungs-
los bleiben.
Bei seiner voraussichdich am 21. Juli stattfindenden versiändi-
Zusammenkunft mit Marquis di San Giuliano habe der fg^fsehen
k. u. k. Botschafter ungefähr folgende Sprache zu führen»: Kabinetts
Über den Abschluß der Untersuchung in Sarajevo und
über die in Belgrad aus diesem Anlasse beabsichtigten
Schritte des Wiener Kabinetts seien dem k. u. k. Bot-
schafter noch keine präzisen Informationen zugekommen.
Doch sei derselbe verständigt worden, daß das bereits vor-
liegende Material sowie die seit Jahren fortgesetzten
' Wir werden die Folgewirkungen dieser Demarche in der Gestaltung
der Krise verschiedentlicli zu konstatieren haben. (Vgl. Seite 164, Anmer-
kung 3, und Seite 201, Anmerkung 1.)
2 Weisung nach Rom d. d. Wien, 20. Juli, 5 Uhr 30 Minuten p. m.,
Nr. 842.
= Weisung nach Rom d. d. Wien, 20. Juli, Nr. 843.
115
(21. Juli)
Wühlereien das Wiener Kabinett zu einer ernsten Sprache
in Belgrad zwingen würden.
Der k. u. k. Botschafter sei ermächtigt worden, dies
Marquis di San Giuiiano mitzuteilen und hinzuzufügen, das
Wiener Kabinett erachte bei seinem Schritte in Belgrad
den friedlichen Erfolg als durchaus im Bereiche der Mög-
lichkeit gelegen. Jedenfalls sei das Wiener Kabinett über-
zeugt, daß es bei Klärung des Verhältnisses der Monarchie
zu Serbien auf die bundestreue und loyale Haltung Italiens
rechnen könnte. Marquis di San Giuiiano hätte in richtiger
Beurteilung der internationalen Lage sowohl öfters Herrn
von Merey, als auch Graf Berchtold in Abbazia erklärt,
Italien brauche ein starkes Österreich-Ungarn. Die Klärung
des so mißlichen Verhältnisses der Monarchie zu Serbien
erscheine als eine absolute Notwendigkeit zur Erhaltung der
gegenwärtigen Situation der Monarchie und der derzeitigen
Widerstandskraft des Dreibundes, auf dessen Pestigkeit der
Friede und das Gleichgewicht Europas beruhe. Im gegen-
wärtigen Augenblick sei es auch im Interesse Italiens, daß
dasselbe offensichtlich die Partei der Monarchie ergreife.
Miiieiiungen Herr von Tschirschky eröffnete dem Grafen Berchtold
T^hTrs'chkvs '" cincr Besprechung am 20. Juli ', man sei in Berlin sehr
,20. Juli) besorgt wegen der Haltung Italiens angesichts der geplanten
Aktion der Monarchie gegen Serbien. Der deutsche Bot-
schafter in Rom hätte unter dem 15. Juli berichtet, daß
man in der Umgebung des Marquis di San Giuiiano infolge
pessimistisch lautender Berichte des Herzogs von Avarna
beunruhigt sei. San Giuiiano vermeide eine diesbezügliche
eingehende Konversation mit Flotow; Luzzati und andere
aus der Umgebung des Ministers ließen sich aber dahin
vernehmen, daß Österreich-Ungarn sich durch zu weit-
gehende Forderungen ins Unrecht setzen würde und nicht
auf die Unterstützung Italiens rechnen könne.
Unter dem 16. 1. M. hätte dann Herr von Flotow ge-
meldet, daß Marquis di San Giuiiano ein völkerrechtliches
Gutachten seitens Fusinatos eingeholt habe, ^demzufolge
Reklamationen an einen fremden Staat nur wegen gemeiner
1 Tagesbericlit d. d. 20. Juli, Nr. 3425.
116
Verbrechen, nicht wegen politischer Propaganda zulässig
seien. Die Ermordung des Thronfolgers sei nicht von Unter-
tanen Serbiens begangen worden, daher könne sie nicht
zum Gegenstande einer Reklamation gemacht werden.
Der italienische Minister des Äußern hätte sich auch dahin
geäußert, daß Italien unmöglich eine Politik der Unter-
drückung der nationalen Idee mitmachen könne. Zwischen
Wien und Rom hätten sich seit den Triester Erlässen des
Prinzen Hohenlohe, die in ganz Italien peinlichstes Aufsehen
hervorgerufen hätten, wiederholte Differenzen ergeben, unter
deren Einfluß sich eine Stimmung gegen die Monarchie
herausgebildet habe, gegen welche anzukämpfen vergebliche
Arbeit wäre. Marquis di San Giuliano sehe so viele schwarze
Punkte am Horizont der wechselseitigen Beziehungen, daß
er an der weiteren Arbeit zur Erhaltung des Einvernehmens
beinahe verzweifle. Auch fürchte er, Italien werde die öster-
reichischen Reklamationen nicht unterstützen können, ohne
sich in Gegensatz mit den tief eingewurzelten Prinzipien
des italienischen Volkes zu setzen.
Herr von Jagow komme angesichts dieser Meldungen
zum Schlüsse, daß eine Aktion Österreich-Ungarns nicht nur
keiner Sympathie in Italien begegnen, sondern eventuell
direkten Widerstand finden würde. Der deutsche Staats-
minister würde daher dringend raten, daß sich das Wiener
Kabinett mit Italien ins Einvernehmen setze, wobei er der
Ansicht Ausdruck gebe, daß eine Aktion Italiens gegen
Valona (welche Italien zwar nicht intendierte und auch nicht
gerne unternehmen würde, zu welcher es aber ä titre de
compensation genötigt werden könnte) geeignet wäre, Italien
zu „beschäftigen", und dessen Aufmerksamkeit von der
serbischen Aktion der Monarchie abzulenken.
Graf Berchtold machte in seiner Erwiderung vor allem
geltend, es sei sehr bedauerlich, daß Italien allem Anscheine
nach bereits Wind von dem geplanten Vorgehen der Mon-
archie gegen Serbien erhalten habe. Von Wien aus, wo
dem italienischen Botschafter keinerlei Andeutung gemacht
worden sei ', könne die italienische Regierung ihre Informa-
tion nicht gewonnen haben.
' Vgl. Seite 142, Anmerkung 1, Absatz 5.
117
Die Versicherung Herrn von Tschirschkys, das deutscher-
seits auch keine gegenständliche Mitteilung erfolgt sei, quit-
tierte Graf Berchtold mit der Bemerkung, daß Flotow
vielleicht von sich aus einiges erzählt haben könnte. Solche
Konfidenzen an Italien, von welcher Seite sie auch aus-
gegangen sein mögen, erschienen dem Grafen Berchtold
höchst bedenklich, und es stünden ihm schon jetzt Anhalts-
punkte zur Verfügung, daß es sich Italien angelegen sein
lasse, die Aktion des Wiener Kabinetts zu durchkreuzen.
Graf Berchtold könnte sich daher auch nicht entschließen,
sich jetzt- schon in einen Gedankenaustausch über die ge-
plante Aktion mit der italienischen Regierung einzulassen,
(was übrigens in dieser Weise seinerzeit in Berlin zwischen
Unterstaatssekretär Zimmermann und Graf Hoyos be-
sprochen worden sei) '. Das Wiener Kabinett beabsichtige,
einen Tag vor Mitteilung der Note an Serbien das Kabinett
von Rom diesbezüglich zu informieren, was dem Grafen
Berchtold als Courtoisieakt einem unverläßlichen Verbün-
deten gegenüber vollkommen hinlänglich erscheine.
In merito machte Graf Berchtold geltend, daß durch
einen Ministerratsbeschluß bereits festgestellt worden sei,
die Monarchie würde kein serbisches Gebiet annektieren,
wodurch italienische Kompensationsansprüche, selbst wenn
man solche aus einer willkürlichen Interpretation des
Artikels VII 3, herleiten wollte, in sich selbst zusammen-
fielen. Was speziell Valona anbelange, bestehe in der Mon-
archie eine so starke Strömung in der öffentlichen Meinung
gegen die Zulassung einer italienischen Festsetzung auf der
jenseitigen fKüste der Adria an der Straße von Otranto,
daß sich Graf Berchtold auf eine Transaktion über diesen
Punkt nicht einlassen könnte ".
Wenn kalienischerseits das Nationalitätenprinzip in den
Vordergrund gestellt werde, so sei darauf zu erwidern, daß
die Monarchie nichts anderes anstrebe, als ihren serbischen
Staatsangehörigen weitgehende Freiheiten zu geben, bezie-
hungsweise die bereits denselben konzedierten Freiheiten
' Die eingeklammerte Bemerkung nachträglicher Zusatz im Konzept.
- Vgl. den Text Seite 119, Anmerkung I.
- Vgl. Seite 309.
118
ungeschmälert zu erhalten, daß die Monarchie aber eben
hieran durch die großserbische Wühlarbeit gehindert werde,
gegen welche sie Stellung nehmen müsse. Graf Berchtold
legte Herrn von Tschirschky auch nahe, über Berlin Mar-
quis dl San Giullano auf den Widerspruch aufmerksam zu
machen, der darin gelegen sei, daß dieser einerseits versichere,
Italien brauche ein starkes Österreich-Ungarn als Schutz-
wall gegen den Slawismus, anderseits in kritischen Mo-
menten eine Politik mache, die ihn mit Rußland, der Vor-
macht des Slawismus, zusammenführe und darauf ausgehe,
der Monarchie die Möglichkeit zu benehmen, ihren gegen-
wärtigen Besitzstand zu erhalten.
Schließlich betonte Graf Berchtold, daß sich das Wiener
Kabinett durch solche Machinationen Italiens nicht ein-
schüchtern und sich vom vorgesteckten Pfade nicht ablenken
lassen dürfte, um so weniger als er aus der Bericht-
erstattung des k. u. k. Botschafters am Quirinal ersehe,
daß Italien derzeit infolge des lybischen Feldzuges noch
keineswegs aktionslustig sei und seinem Unmut gegen die
Monarchie wohl in Worten, kaum aber in Taten Luft
machen werde.
Da in Wien mit der wachsenden Wahrscheinlichkeit noUz und
gerechnet werden mußte, daß die italienische Regierung für sJhtH"hder
den Fall einer kriegerischen Komplikation zwischen der imerpretie-
Monarchie und Serbien den Artikel VII des Dreibund- AriLis"vii
Vertrages " in einem ihr genehmen Sinne zu interpretieren des Drei-
bund-
vertrages
' Der Text des Artikels lautet: „L'Autriche-Hongrie et l'Italie, n'ayant
„en vue que le maintien autant que possible du statu quo territorial en
„Orient, s'engagent ä user de Leur influence pour prevenir toute modifi-
„cation territoriale qui porterait dommage a l'une ou ä l'autre des Puis-
„sances signataires du present Traite. EUes se communiqueront ä cet
„efFet lous les renseignements de nature ä s'eclairer mutuelleinent sur
„Leurs propres dispositions ainsi que sur Celles d'autres Puissances.
„Toutefois dans le cas oü, par suite des evements, le maintien du statu
„quo dans les regions des Balcans ou des cötes et lies ottomanes dans
„l'Adriatique et dans la mer Egee deviendrait impossible et que, soit en
„consequence de l'action d'une Puissance tierce soit autrement, l'Autriche-
„Hongrie ou l'Italie se verraient dans la necessite de le modifier par une
„occupation temporaire ou permanente de Leur part, cette occupation
„n'aura lieu qu'apres un accord prealable entre les deux Puissances, base
119
versuchen und die Kompensationsfrage aufwerfen werde,
wurde dem k. u. k. Botschafter in Rom am 20. Juli eine
Notiz zugestellt, die ihm als Richtschnur dienen sollte, um
einer allenfalls von Marquis di San Giuliano gesprächsweise
vorgebrachten italienischen Interpretation des obgenannten
Artikels entgegentreten zu können.
Die Ausführungen der Notiz gipfelten in der Auf-
fassung:
Es hieße den Geist des Dreibundvertrages gründlich
verkennen, wenn man Artikel VII dahin interpretieren
wollte, daß die temporäre Besetzung von Gebieten eines
mit der Monarchie im Kriegszustande befindlichen benach-
barten Balkanstaates von einem vorherigen "auf Grund einer
Kompensation erzielten Einverständnisse mit Italien ab-
hängig wäre.
Der Wortlaut des Artikels VII ließ es indessen fraglos
erscheinen, daß man sich in Rom zur österreichisch-
ungarischen Interpretierung desselben nicht bequemen
werde. Der k. u. k. Botschafter erhielt darum am 21. Juli
die Weisung ', daß er, sofern Marquis di San Giuliano auf
seinem Standpunkte verharre, eine weitere Diskussion zu
vermeiden habe und sein Verhalten damit begründen solle,
es werde wohl keinem der beiden Teile gelingen, den
anderen zu seiner Interpretation zu bekehren. Vielmehr
schiene es in beiderseitigem Interesse gelegen, anstatt einer
juridischen Diskussion über die Auslegung eines Artikels
die Situation vom Standpunkte der großen Interessen
Österreich-Ungarns und Italiens als Freunde und Bundes-
genossen zu besprechen. Auch erscheine es dem Grafen
Berchtold nicht unbedenklich, wenn eine Aussprache über
den Artikel VII in Rom eine gereizte Stimmung hervor-
rufen und in der letzten Konsequenz sich vielleicht sogar
zu einer Gefährdung des gesamten Vertrages zuspitzen
könnte.
„sur le principe d'une compensation reciproque pour tout avantage, terri-
„toriale ou autre, que chacune d'Elles obtiendrait en sus du statu quo
„actuel et donnant satisfaction aux interets et aux pretentions bien fond^es
„des deux Parties."
1 Weisung nach Rom d. d. Wien, 21. Juli, Nr. 848.
120
Zum selben Gegenstande erhielt Graf Szögyeny die
Instruktion ', sich dem Staatssekretär gegenüber dahin aus-
zusprechen, daß eine Diskussion zwischen Italien und der
Monarchie über die Auslegung des Artikels VII im gegen-
wärtigen Augenblicke nach Ansicht des Wiener Kabinetts
lieber unterbleiben sollte.
Herr von Merey erhielt in seiner Besprechung am Unterredung
Nachmittage des 21. Juli Gelegenheit, den Standpunkt des "^revsTit'
italienischen Ministers des Äußern kennen zu lernen-. Der Marquis di
Minister zeigte sich hinsichtlich der bevorstehenden De- f,7 jun,'"""
marche des Wiener Kabinetts in Beigrad sehr präokkupiert.
Er hörte den Ausführungen Herrn von Mereys aufmerksam
zu und machte sich Notizen. Was die Klärung des Ver-
hältnisses der Monarchie zu Serbien anbelange, setzte der
Minister weitläufig auseinander, könnte die Monarchie eine
Sanierung nicht mit Demütigung und Gewalt, sondern nur
mit Konzilianz herbeiführen. Für national gemischte Staaten,
wie für die Monarchie, sei dies die einzige Politik, und bei
den Deutschen und Polen sei dies der k. u. k. Regierung
auch gelungen. Herr von Merey erklärte dies oft vorge-
brachte Raisonnement für rein theoretisch und überdies
falsch; die Wirklichkeit sehe anders aus. Auch versäumte
er es nicht, auf alles, was die Monarchie für Serbien seit
dem Berliner Vertrage getan habe, auf ihre Konzilianz
während des Balkankrieges und auf die immer heftigere
panserbische Offensive hinzuweisen.
Italien, fuhr der Minister fort, wünsche ein starkes Öster-
reich-Ungarn, aber so wie es sei, ohne territoriale Ver-
größerung. Jede solche — das müsse er mit aller Offenheit
erklären — würde von Italien, welches eine Politik der
Konzilianz und des Gleichgewichtes befolge, als seinen
Interessen abträglich betrachtet werden. Die Ausführungen
des k. u. k. Botschafters, daß das Wiener Kabinett keine
Gebietseinverleibung anstrebe, nahm der Minister mit Be-
friedigung, eine weitere Bemerkung, daß die Monarchie
keinen Überfall auf den Lovcen plane, mit schlecht ver-
hülltem Jubel auf.
' Weisung nach Berlin d. d. Wien, 22. Juli, Nr. 250.
" Telegramm aus Rom d. d. 21. Juli, Nr. 525.
121
Marquis di San Giuliano erklärte schließlich, es sei
seine entschiedene Absicht, das Wiener Kabinett zu unter-
stützen, wenn dessen Begehren an Serbien ein solches sei,
daß seine Erfüllung legitim erscheine. Andernfalls hätte er
die Stimmung seines ganzen Landes gegen sich, das nun
einmal liberal seines revolutionären Ursprunges eingedenk sei
und für irredentistische Manifestationen, wo immer, Sympa-
thien habe. Er betonte, seine Haltung werde erleichtert,
wenn die österreichisch-ungarische Demarche in Belgrad
sich, wenn nicht ausschließlich doch worwiegend, auf die
Katastrophe in Sarajevo und weniger auf sonstige Agi-
tationen stützen werde.
Herr von Merey argumentierte gegen alle diese Ein-
schränkungen, die er theoretisch als verfehlt (weil Serbien
auf das Niveau eines modernen Kulturstaates stellend),
praktisch als ungenügende Freundschaft und Solidarität
bezeichnete.
Schließlich bemerkte Marquis di San Giuliano, sein
Vertrauen auf die Mäßigung des Wiener Kabinetts gegen-
über Serbien gründe sich vor allem auf die Weisheit des
Monarchen.
Der k. u. k. Botschafter empfing aus dieser Unterredung
im Ganzen wohl den Eindruck vieler freundlichen Phrasen,
aber ebenso vieler mentalen Reservationen sowie die Über-
zeugung, der Minister glaube offenbar vorläufig nicht an
den Krieg, sondern an ein Einlenken Serbiens, wobei er
vermutlich auf ein intensives diplomatisches Einwirken der
Mächte in Wien und Belgrad rechne.
Wider- Am 22. Juli, 7 Uhr abends, erging die Weisung an Herrn
dcn"weilun- ^"^^ Mcrey s Marquis di San Giuliano im Verfolge der bereits
gen an den gemachten Mitteilungen streng vertraulich zu eröffnen, daß
k u. k. Bot- jjg Demarche des Wiener Kabinetts in Belgrad nunmehr
scnaller o
für Donnerstag, den 23. Juli nachmittags, festgesetzt sei. Die
Verständigung der Signatarmächte erfolge am Freitag, den
24. 1. M., und es werde der k. u. k. Botschafter an diesem
Tage auch in der Lage sein, der italienischen Regierung
offizielle Kenntnis von der^ österreichisch-ungarischen
' Weisung nach Rom d. d. Wien, 22. Juli, 7 Uhr p. m., Nr. 852.
122
Demarche in Belgrad zu geben. Der heutige Schritt erfolge
nur in Rom, Berlin und Bulcarest, mit spezieller Rücksicht
auf das Bundesverhältnis.
Herr von^Merey wolle diese Mitteilung womöglich Marquis
di San Giuliano persönlich (wenn dies unmöglich, seinem
Vertreter) erst nachmittags (23. Juli) machen. Das Wiener
Kabinett wolle nämlich unbedingt vermeiden, daß die Nach-
richt noch am selben Tage von Rom nach Petersburg
gelange.
Bevor noch diese Instruktion in Rom eintraf, hatte Herr
von Merey am 23. Juli, [12 Uhr 10 Minuten ,vormittags, ein
Telegramm nach Wien expedieren Jassen', 'das der augen-
blicklich unklaren Situation Ausdruck gab, in der sich der
k. u. k. Botschafter zufolge der erhaltenen gegenständlichen
Instruktionen befinde: Graf Berchtold habe den k. u.'k. Bot-
schafter in Rom mittels Telegramms vom 15. Juli ermächtigt -,
Marquis di San Giuliano die Demarche in Belgrad (und da
die Tatsache einer solchen längst [notorisch sei, könnte es
sich nur um ihren Inhalt handeln) einen Tag früh.er an-
zukündigen. Hierüber sei Herr von Merey ein telegraphisches
Aviso hinsichtlich der bezüglichen Daten in Aussicht gestellt
worden.
Im Widerspruch mit diesem bisher nicht widerrufenen
Auftrag entnehme Herr von Merey dem heute — am 22. Juli
— durch Kurier übermittelten Erlaß vom 20. Juli, daß,
obwohl die Demarche in Belgrad schon am 23. stattfinde,,
dem Minister des Äußern die betreffende Mitteilung am
24. 1. M., also nicht einen Tag früher, sondern sogar einen
Tag später zu machen sei.
Angesichts dieser Aktenlage, und da er, Herr von Merey,
in seiner am 21. Juli mit dem Minister gepflogenen Unter-
redung instruktionsgemäß erklärt habe, über den Schritt in
Belgrad noch ohne Informationen zu sein, werfe sich die
Frage auf, ob der k. u. k. Botschafter nicht doch die in
Rede stehende Mitteilung nicht erst am 24. d. M., sondern
schon am 23. machen solle.
» Telegramm aus Rom d. d. 22. Juli. Expediert 23. Juli, 12 Ultr
10 Minuten a. m., Nr. 528.
2 Vgl. Seite 77.
123
Herr von Merey glaube annehmen zu sollen, daß Graf
Berchtold — leider ohne ihn zu informieren — seine Ansicht
geändert habe und daß er selbst sich daher an den Erlaß
vom 20. Juli halten solle.
Als die Weisung des Grafen Berchtold vom 22. Juli,
7 Uhr abends ', am 23. Juli morgens in Rom anlangte, glaubte
Herr von Merey erstens konstatieren zu müssen -, daß die
ihm mit dem Telegramm vom 15. Juli zugesagte rechtzeitige
Verständigung (um seinen Besuch bei Marquis di San Giuliano
in Fiuggi telegraphisch vereinbaren zu können) nicht erfolgt,
sondern daß ihm der Auftrag erst am 23. Juli, also dem Tage,
an dem die Demarche bereits ausgeführt werden sollte, zu-
gekommen sei. Zweitens könne von einem Courtoisieakte
gegenüber Italien nicht mehr die Rede sein, da entgegen der
einschlägigen Verabredung und entgegen den dem deutschen
Botschafter am 20. Juli in Wien gemachten Eröffnungen, die
Mitteilung über die Belgrader Demarche in Rom nicht einen
Tag vor derselben, sondern erst am 23. Juli nachmittags,
also gleichzeitig mit derselben, angeordnet wurde.
Hiezu trete noch unglücklicherweise der Umstand, daß
der k. u. k. Botschafter krankheitshalber die Durchführung
der Demarche dem Grafen Ambrözy überlassen müsse, der
sich nach erfolgter telephonischer Verständigung mit Marquis
di San Giuliano heute — am 23. Juli — nachmittags per
Automobil nach Fiuggi begeben und dem Minister die
anbefohlene Mitteilung machen werde.
Äuoerunjen Bei dcm Mlßgcschlck, das die Verhandlungen zwischen
italienischen Wicn Und Rom von Anfang an begleitete, konnten die
Botschafters bundesfreundlichcn Äußerungen des italienischen Bot-
schafters in Wien, Herzogs von Avarna, die dem Grafen
Berchtold durch Herrn von Tschirschky am 21. Juli mit-
geteilt wurden -^ keine hinlängliche Garantie eines gedeih-
lichen Einvernehmens gewähren. Herr von Tschirschky
hatte Graf Berchtold zunächst neuerlich verständigt, Marquis
di San Giuliano zeige sich über den zu gegenwärtigenden
Schritt Österreich-Ungarns gegen Serbien sehr erregt. Doch
I Siehe Seite 122 unten.
- Telegramm aus Rom d. d. 23. Juli, 4 Uhr 15 Minuten p. m., Nr. 531,
^ Tagesbericht vom 21. Juli, Nr. 3443.
124
habe Herr von Tschirschky kürzlich ein Gespräch mit
dem Herzog von Avarna gehabt, der seiner Überzeugung
Ausdruck gegeben habe, die italienische Regierung werde
in dem österreichisch-ungarisch-serbischen Streitfalle ihre
Bundespflicht getreu erfüllen und — sollten in der italienischen
Öff^entlichkeit auch gegenteilige Stimmen laut werden — auf
der Seite Österreich-Ungarns stehen.
Die Absicht Graf Berchtolds, dem k. u. k. Botschafter Begründung
' in Rom eine Darstellung der Politik des Wiener Kabinetts t"/!^'"'" ^
" Politik durch
in ihrer speziellen Rückwirkung auf die Beziehungen zu Graf
Italien zu geben, zeitigte am 21. Juli die Abfassung eines 2'='"'='"°'''
Schreibens an Herrn von Merey, in dem Graf Berchtold
die eigenen Anschauungen begründete und charakterisierte':
Für die Haltung des Wiener Kabinetts seien inner- wie
außenpolitische Motive maßgebend: die zunehmende Gewiß-
heit, daß die in erschreckendem Maße betriebene Minier-
arbeit auf bosnisch-herzegowinischem Boden mit Verästelungen
nach Dalmatien, Kroatien, Slawonien und Ungarn nur durch
energisches Einschreiten in Belgrad, wo die Fäden zusammen-
liefen, aufgehalten werden könne, und daß unter rumänischer
und russischer Konnivenz eine Orientierung am Balkan im
Werdeprozesse sei, deren Endziel die Zertrümmerung der
Monarchie bilde. Dessen, daß die Verantwortung bei der
exponierten Lage der Monarchie, der Unverläßlichkeit und
Eifersucht des italienischen Verbündeten, der Hostilität der
rumänischen öffendichen Meinung und dem Gewichte der
slawophilen Ratgeber am Zarenhofe keine leichte sei, sei
sich Graf Berchtold bewußt. Die Verantwortung dafür,
nichts zu tun und weiter die Dinge gewähren zu lassen,
bis die Fluten über die Monarchie zusammenschlügen,
scheine dem Grafen Berchtold aber noch gewichtiger
— wenn auch für den Moment bequemer — als jene, der
Gefahr die Stirne zu bieten und die Konsequenzen auf sich
zu nehmen.
Bei der Redigierung der an Serbien zu richtenden Note
sei für das Wiener Kabinett der Gesichtspunkt maßgebend
' Abschrift eines Sclireibens Graf Berchtolds an Herrn von Merey,
Konzept d. d. Wien, 21. Juli, expediert 23. Juli.
125
gewesen, das gute Recht der Monarchie, an Serbien ge-
wisse Forderungen zur Sicherung der inneren Ruhe der
Monarchie zu stellen, vor aller Welt zu dokumentieren,
diese Forderungen aber derart zu formulieren, daß von
Serbien in unzweideutiger Weise gegen die monarchiefeind-
liche Propaganda pro praeterito und pro futuro Stellung
genommen und der Monarchie die Möglichkeit geboten
werde, von nun an diesbezüglich mitzusprechen. Es sei dem
Wiener Kabinett nicht darum zu tun gewesen, Serbien zu
demütigen, sondern hinsichtlich seines nachbarlichen Ver-
hältnisses zur Monarchie eine klare Situation zu schaffen
und als praktisches Resultat — entweder bei Annahme der
Forderungen einen gründlichen Säuberungsprozeß in Serbien
unter Mitwirkung der Monarchie oder bei Ablehnung des-
selben eine Auseinandersetzung mit den Waffen und in
weiterer Folge — die tunlichste Lahmlegung Serbiens zu
erzielen.
Wie sich Herr von Merey denken könne, war es nicht
ganz leicht, eine Einigung im gemeinsamen Ministerrate über
die Textierung der Note zu erzielen, zumal ein gewisser
Unterschied in der Auffassung der Situation zwischen dem
Grafen Berchtold und Grafen Stürgkh einerseits und dem
Grafen Tisza andrerseits zutage getreten sei, indem letzterer
auch in einem bloßen diplomatischen Erfolge ein Mittel zur
Befestigung der österreichisch-ungarischen Stellung am
Balkan sehe und den Bruch tunlichst vermieden haben
wolle, während Graf Berchtold auf Grund des 1909 und
1912 errungenen diplomatischen Erfolges, der der Monarchie
auf die Dauer nicht genutzt, sondern das Verhältnis zu
Serbien nur verschärft habe, einem neuen friedlichen
Triumph äußerst skeptisch gegenüberstehe. Hierüber teile
auch Graf Stürgkh vollkommen die Ansicht des Grafen
Berchtold. Durch schrittweises Entgegenkommen de part et
d'autre sei es schließlich gelungen, diesbezüglich eine Über-
einstimmung herzustellen, wie auch hinsichtlich des End-
zieles des eventuellen Waffenganges, bezüglich dessen Graf
Tisza absolut festgelegt haben wollte, daß eine Annexion
serbischen Gebietes an die Monarchie als j ausgeschlossen
erklärt werden müsse, . wozu ;.,Graf Berchtold schließlich
126
tinter der Voraussetzung seine Zustimmung gegeben habe,
daß strategisclie Grenzrelctifikationen und gewisse Garantien
für die zukünftige Haltung Serbiens (Militärkonvention
und dergleichen) zu verlangen wären, abgesehen von
Gebietsabtretungen an andere Balkanstaaten.
Dem k. u. k. Botschafter in Rom werde nun die gewiß
nicht leichte Aufgabe zufallen, die italienische Regierung an
der Seite der Monarchie zu erhalten, was, wie Graf Berch-
told der telegraphischen Berichterstattung Herrn Mereys
entnehme, vorläufig dem Anscheine nach der Fall sei. Das
Wiener Kabinett habe den Italienern gegenüber die Allianz,
das territoriale Desinteressement und den albanischen Akkord
und, was den Artikel VII anbelange, die italienische
Okkupation von Inseln im Aegäischen Meere als Atouts
in der Hand.
Eine Sonderaktion Italiens gegen Valona würde in der
Monarchie den peinlichsten Eindruck hervorrufen. Graf
Berchtold glaube, man dürfe in Rom keinen Zweifel darüber
aufkommen lassen, daß eine solche Aktion, die den albanischen
Akkord zunichte machen und die Londoner Beschlüsse
verletzen würde, die größten Komplikationen involvieren
könnte. Sollte Italien die Monarchie zu einer Kooperation
auffordern, wäre dies allerdings eine Verlegenheit für das
Wiener Kabinett und ein nicht ungefährliches Experiment;
es scheine dem Grafen Berchtold aber kaum vermeidlich,
darauf einzugehen.
Graf Berchtold wolle sich nicht länger in Erörterungen
aller der verschiedenen Möglichkeiten und Eventualitäten,
die in dieser oder in einer anderen Richtung während der
nächsten Wochen an das Wiener Kabinett herantreten
könnten, einlassen, da dieses dem Spaziergange in einem
Labyrinth gleichkäme.
„Vorderhand habe ich", schloß Graf Berchtold den
politischen Teil seiner Ausführungen, „das Gefühl, von der
„Vorsehung dazu ausersehen worden zu sein, mich den
„Ministern, die Friedenspolitik treiben wollten und Kriegs-
„politik machen mußten — von Kardinal Fleury bis Lambs-
„dorff — , anzuschließen, hoffentlich mit mehr Erfolg als
„der letzte Exponent dieser Richtung!"
127
Paris
Ein»"^- Graf Szecsen hatte auftragsgemäß der Pariser Regierung
\\'e''"^E ^^^ Zirkularnote der i^. u. k. Regierung am Freitag, den
24., vormittags, zur Kenntnis zu bringen. Die Darlegung
dieser Staatsschrift sei so beredt, hieß es im Texte der ein-
begleitenden Weisung', daß sie den Grafen Berchtold der
Aufgabe enthebe, den k. u. k. Botschafter in Paris auch
mit einer mündlichen Begründung des Vorgehens gegen-
über Serbien zu betrauen. Es werde aber jedenfalls nützlich
sein, wenn Graf Szecsen gelegentlich der Übergabe dieser
Note daran erinnern wolle, daß sich Frankreich anläßlich
der Schwierigkeiten, die in der europäischen Politik der
letzten Jahre zutage getreten wären, stets in dankenswerter
Weise im Sinne eines Ausgleiches der Gegensätze zwischen
den beiden Mächtegruppen betätigt habe.
Graf Szecsen glaubte sofort nach Erhalt des mittels
Kuriers am 22. Juli zugestellten Erlasses vom lokalen Ge-
sichtspunkte aus erwähnen zu sollen-, daß die Koinzidenz
der Wiener Demarche in Belgrad mit der Abreise des
Präsidenten aus Petersburg, die am 23. Juli abends erfolgen
sollte, in Paris wahrscheinlich vielfach kommentiert und als
Überrumpelung ausgelegt werden würde. Herr Poincare
verlasse Kronstadt am 23. Juli abends programmäßig und
solle am 25. Juli, 10 Uhr früh, in Stockholm eintreffen.
Während der Überfahrt dürfte ein telegraphischer Meinungs-
austausch ziemlich beschwerlich sein.
Gleichzeitig bat Graf Szecsen um telegraphische Antwort,
ob er bei der Übergabe der Kopie der Note eventuell eine
vertrauliche Behandlung des Textes verlangen solle oder
nicht. Einige der an Serbien, gestellten sehr scharfen For-
derungen dürften nämlich in der Pariser Presse recht ab-
fällig beurteilt werden, und es wäre vielleicht erwünscht,
daß die Pariser Zeitungen den amdichen Text nicht sofort
besäßen. Falls die Veröffentlichung in Wien beabsichtigt
sei, so wäre das Verlangen nach vertraulicher Behandlung
natürlich zwecklos. Übrigens brächten die Pariser Zeitungen
1 Erlaß nach Paris d. d. Wien, 20. Juli, Nr. 3428.
- Telegramm aus Paris d. d. 22. Juli, Nr. 114 und 115.
128
bereits Informationen über den Inlialt der an Serbien zu
überreiclienden Note.
In Wien hatte sicii der französische Botschafter Herr Unterredung
Dumaine bei Graf Berchtold am 22. Juli auf das Ange- ßerch.^id"
lesentlichste nach dem Stande des Verhähnisses Öster- mit detn
reich-Ungarns zu Serbien erkundiet '. Er icam hiebei auch ^TTT ''"
o '-' rSotscnatter
auf alle Eventualitäten zu sprechen, die sich aus einem (22. jun)
energischen Schritte der Wiener Regierung beim Belgrader
Kabinett ergeben könnten und auf die Gefahr eines Krieges
Österreich-Ungarns mit Serbien, besonders mit Rücksicht
darauf, daß dieser den Charakter eines Rassenkrieges des
serbischen Volkes gegen die Monarchie annehmen könnte.
Diese Gefahr malte Herr Dumaine in den drastischesten
Farben aus. Trotzdem schloß er seine Ausführungen damit,
daß er auf ein kürzliches Gespräch mit seinem russischen
Kollegen hinwies, wobei die in Rede stehende Frage erörtert
worden sei und er die Überzeugung gewonnen habe, daß
Rußland nicht gesonnen sei, für Serbien anläßlich der be-
vorstehenden Auseinandersetzung mit Österreich-Ungarn
stark einzutreten und ihm mehr als eine moralische Unter-
• Stützung zu gewähren. Im Falle eines Waffenganges zwischen
der Monarchie und Serbien würde Rußland, nach Ansicht
des französischen Botschafters, nicht aktiv eingreifen,
sondern vielmehr anstreben, daß der Krieg lokalisiert
bleibe.
Dem k. u. k. Botschafter in Paris beantwortete Graf Koinzidenz
Berchtold am 23. Juli die erbetenen Auskünfte dahin-, daß oJ^^J"^^^,,™ ""
eine vertrauliche Behandlung des Textes der Zirkularnote mit der
nicht verlangt zu werden brauche, da das Wiener Kabinett p"^^^^J""
den betreffenden Text am 24. Juli den Blättern selbst mit-
teilen werde.
Was die Koinzidenz der Demarche in Belgrad mit der
Abreise Herrn Poincares von Petersburg anbelange, so sei
zu bemerken, daß das Wiener Kabinett die Demarche immer
für den Moment ins Auge gefaßt habe, in dem — was
inzwischen geschehen sei — die Voruntersuchung in Sarajevo
1 Tagesbericht d. d. 22. Juli, Nr. 3487.
- Weisung nach Paris d. d. Wien, 23. Juli, Nr. 152.
9 129
abgeschlossen sein werde. Es wäre übrigens noch viel weniger
liebenswürdig gewesen, wenn das Wiener Kabinett durch
ein früheres Vorgehen die Festesfreude in Petersburg gestört
hätte, während es andrerseits auch dem Wiener Kabinett
keineswegs hätte passen können, den Schritt in Belgrad zu
machen, während Kaiser Nikolaus und die russischen Staats-
männer den Einflüssen der zwei Hetzer Poincare und Iswolsky
ausgesetzt gewesen wären.
London
Eiabegiei- Bei dcr Übergabe der Zirkularnote in London sollte
T^^ Graf Mensdorff am Freitag, den 24. Juli vormittags, dem
Staatssekretär oder dessen Stellvertreter darlegen ', daß die
englische Politik und die der Monarchie in den letzten Jahren
erfreulicherweise auch in den Fragen des nahen Orients
eine konvergierende Tendenz gezeigt hätten; das gegenseitige
Vertrauen sei wieder hergestellt und auch die englische
Öffentlichkeit zeige (nach einer jetzt ganz überwundenen
Periode der Schwankungen) wieder volles Interesse für die
Bedeutung der österreichisch-ungarischen Großmachtstellung
und für die Lebensinteressen der Monarchie. Bei der in die
Wege geleiteten Aussprache mit Serbien handle es sich nun
eben um ein solches Lebensintqresse. Die Ermordung des
Erzherzog-Thronfolgers, die in Serbien beschlossen und
geleitet wurde (ein zur Verfügung der Mächte stehendes
Dossier gebe darüber erschöpfende Auskünfte-), habe deut-
lich gezeigt, wessen man sich zu versehen habe, wenn man
Serbien nicht zwinge, alle Verbindungen abzubrechen, die
von den politischen Verschwörerzentren (wie der „Narodna
Odbrana") nach den Ländern und Gebieten der Monarchie
hinüberführten. England, in dem der serbische Königsmord
die Gemüter auf das tiefste aufgewühlt habe, werde gewiß
begreifen, daß die öffentliche Meinung der Monarchie
gebieterisch eine Sühne für die moralische Mitschuld und
das verbrecherische Geschehenlassen der Belgrader Kreise
fordere. Wie wenig diese Kreise bisher zur Kenntnis der
1 Erlaß nach London d. d. Wien, 20. Juli, Nr. 3429.
2 Vgl. hiezu Seite 134, 152, 153, 161, 167, 197 oben, 202.
130
Verwerflichkeit des Sarajevoer Attentats gelangt seien, bewiesen
die Äußerungen serbischer Diplomaten und Offiziere nach
dem Attentat, beweise jede Zeile, die in den Belgrader
Blättern geschrieben werde, und die Tatsache, daß die
serbische Regierung noch keinen Finger gerührt habe, um
auf serbischem Boden gegen die serbischen Mitschuldigen
des Verbrechens vom 28. Juni vorzugehen.
Als Graf Mensdortf (nach Erhalt des Erlasses am Nach- Anfrage des
mittag des 22. Juli) eine telephonische Aufforderung Sir jvtensdorn
Edward Greys erhielt, am 23. um 3 Uhr nachmittags bei betreffs vor-
ihm vorzusprechen, und da er es immerhin für möglich "(',„„"^6"
erachtete, daß ihm der englische Staatssekretär in An- zirkuumote
gelegenheit des bevorstehenden Schrittes in Belgrad Mit- *^^- ••"'''
teilungen machen wolle, erbat sich der k. u. k. Botschafter
von Graf Berchtold telegraphisch die Autorisierung ',
eventuell statt am 24. früh schon am 23. nachmittags dem
Staatssekretär den offiziellen Erlaß mitzuteilen, mit der Bitte,
ihn bis zum 24. vertraulich zu behandeln. Die Antwort-
depesche des Grafen Berchtold besagte, daß Graf Mensdorff
bei seiner am 23. Juli stattfindenden Unterredung mit Sir
Edward Grey die offizielle Übergabe der Zirkularnote für
den 24. Juli vormittags ankündigen und ihm gleichzeitig
streng vertraulich und mit der ausdrücklichen Bitte um
vertrauliche Behandlung den Inhalt derselben mitteilen könne =.
Am 23. Juli nachmittags unterrichtete Graf Mensdorff Unterredung
nach erhaltener Weisung den Staatssekretär auftragsgemäß BM^^^^af^rs
dahin, er werde die Zirkularnote am 24. Juli überbringen, mit sir Ed-
Unterdessen wolle er ihm streng vertraulich einiges über '^23'^, '^iT
den Inhalt derselben mitteilen. Befrisiungs-
Seinerseits äußerte Sir Edward, er habe bisher dem
k. u. k. Botschafter gegenüber von dieser Frage nicht
gesprochen, weil man die Note in Wien wohl als eine Sache
zwischen Serbien und der Monarchie betrachten dürfte und
er auch nicht wisse, inwieweit das Wiener Kabinett Beweise
von der Mitschuld Serbiens besitze. Man habe ihm aber
viel und mit lebhafter Besorgnis davon gesprochen, und
' Telegramm aus London d. d. 22. Juli, 7 Uhr 30 p. m., Nr. 106.
- Weisung nach London d. d. 23. Juli, 9 Uhr a. m., Nr. 158.
131
diese Besorgnis sei nicht auf eine Mächtegruppe beschränkt.
Seine Antwort sei gewesen, es werde davon abhängen,
inwieweit die österreichisch - ungarischen Ani^iagen gegen
Serbien ernsdich begründet seien und welche Genugtuung
die Monarchie verlange. Seien ihre Beschwerden gut fundiert
und das, was sie von Serbien fordere, für diesen Staat
ausführbar, so könne man hoffen, daß Rußland auf die
Belgrader Regierung mäßigend einwirken werde. Die Gefahr
sei das Aufflammen der slawischen Erregung in der öffent-
lichen Meinung Rußlands.
Über das, was ihm Graf Mensdorff von der bevor-
stehenden Demarche mitteilte (die wichtigsten Punkte der
Note), wollte sich Sir Edward nicht äußern, bevor er die
Note selbst in Händen hätte. Als Graf Mensdorff noch
erwähnte, er glaube, es würde auch eine Frist zur Beant-
wortung gesetzt werden, könne ihm das Nähere aber erst
morgen mitteilen, bedauerte Sir Edward die Befristung, weil
dadurch die Möglichkeit benommen würde, die erste Er-
regung zu beruhigen und auf Belgrad einzuwirken, dem
Wiener Kabinett eine befriedigende Antwort zu geben. Ein
Ultimatum könne man immer noch stellen, wenn die Antwort
nicht annehmbar sei.
Graf Mensdorff bemühte sich des Längeren, den öster-
reichisch-ungarischen Standpunkt zu vertreten. Sir Edward
anerkannte auch die Schwierigkeiten der Stellung des
Wiener Kabinetts, sprach aber nachdrücklich von dem
Ernste der Situation. Wenn vier große Staaten, Österreich-
Ungarn, Deutschland, Rußland und Frankreich, in einen
Krieg verwickelt würden, so folge ein Zustand, der einem
wirtschafdichen Bankerott Europas gleichkomme. Ein Kredit
sei nicht mehr zu erlangen, die industriellen Zentren in
Aufruhr, so daß in den meisten Ländern, gleichgültig ob
Sieger oder Besiegte, „so manche bestehende Institution
weggefegt" werden würde. Noch gab Graf Mensdorff seiner
Ansicht Ausdruck, die Monarchie müsse in vorliegendem
Falle trotz ihrer bekannten Friedensliebe Serbien gegenüber
„sehr fest" bleiben. Er rechne dabei auf Sir Edward und
dessen objektives und fairesUrteil.DerStaatssekretär erwiderte,
es sei mit einer einfachen Vorstellung in Petersburg diesmal
132
nicht zu machen. Man müsse Rußland beweisen können,
daß die österreichisch-ungarischen Beschwerden wohl-
begründet und die Forderungen für einen Staat wie Serbien
ausführbar seien. Das beste wäre wohl, wenn zwischen
Wien und Petersburg ein direkter Gedankenaustausch ge-
führt werden könne.
Graf Mensdorff fand den englischen Staatssekretär kühl
und objektiv wie immer, freundschaftlich und nicht ohne
Sympathie für die Monarchie. Über die möglichen Folgen
schien Sir Edward unzweifelhaft sehr besorgt. Insbesondere
aber befürchtete Graf Mensdorff, Sir Edward werde den
Charakter eines Ultimatums der österreichisch-ungarischen
Demarche und die kurze Frist kritisieren.
In einer dem k. u. k. Botschafter am 23. Juli vormittags Motivierung
zugeschickten "Weisung begegnen wir der folgenden Argu- 'l"'^""'^«"
* ö ö O ö ö Befristung
mentation des Wiener Kabinetts': durch das
Da unter den Ententemächten England am ehesten für KabiTe«
eine objektive Beurteilung des Schrittes zu gewinnen sein
dürfte, den das Wiener Kabinett am 23. Juli in Belgrad
unternehme, solle Graf Mensdorff bei der Besprechung, die
er am 24. Juli gelegentlich der Überreichung der Zirkular-
note im Foreign Office haben werde, unter anderem auch
darauf hinweisen, daß es Serbien in der Hand gehabt hätte,
den ernsten Schritten, die es von Seite der Monarchie er-
warten mußte, zu begegnen, wenn es seinerseits spontan
das Notwendige vorgekehrt hätte, um auf serbischem Boden
eine Untersuchung gegen die serbischen [Teilnehmer am
Attentat vom 28. Juni einzuleiten und die Verbindungen auf-
zudecken, die hinsichtlich des Attentats erwiesenermaßen
von Belgrad nach Sarajevo führten.
Die serbische Regierung habe bis heute, obwohl eine
Anzahl notorisch bekannter Indizien nach Belgrad weise,
in diesem Belange nicht nur nichts unternommen, sie habe
vielmehr die vorhandenen Spuren zu verwischen getrachtet.
Was die kurze Befristung der österreichisch-ungarischen
Forderungen anbetreffe, so sei dieselbe auf die langjährigen
I Weisung nach London d. d. Wien, 23. Juli, Nr. 159.
133
Erfahrungen serbischer Verschleppungskünste zurückzu-
führen.
Das Wiener Kabinett könne die Forderungen, deren
Erfüllung es von Serbien verlange und die eigentlich im
Verkehre zweier Staaten, die in Frieden und Freundschaft
leben sollen, nur Selbstverständliches enthielten, nicht zum
Gegenstande von Verhandlungen und Kompromissen machen
und könne es mit Rücksicht auf die volkswirtschaftlichen
Interessen der Monarchie nicht riskieren, eine politische
Methode zu akzeptieren, die es Serbien freistellen würde,
die entstandene Krise nach seinem Belieben zu verlängern.
St. Petersburg
Ein- Bei der Überreichung der Zirkularnote in Petersburg
we'lun"''^ hatte Graf Szäpdry am 24. Juli vormittags mündlich aus-
zuführen >:
Die k. u. k. Regierung wisse sich frei von jedem Gefühl
der Mißgunst und des Übelwollens Serbien gegenüber; noch
während der Krise vom Jahre 1912 habe es die k. u. k.
Regierung durch ihre wohlwollende und territorial des-
interessierte Haltung Serbien möglich gemacht, sein Gebiet
um fast das Doppelte zu vergrößern. Auch heute sehe sich
die Monarchie zu den ernsten Schritten, die sie in Belgrad
unternehme, nur aus Gründen der Selbsterhaltung und der
Selbstverteidigung genötigt.
Es sei der k. u. k. Regierung lediglich darum zu tun, das
Territorium der Monarchie vor dem Eindringen insurrek-
tioneller Miasmen aus dem benachbarten Königreiche zu
sichern und der nachsichtigen Duldung zu steuern, die die
königlich serbische Regierung bisher allen Bestrebungen ent-
gegengebracht habe, die auf serbischem Boden durch Wort
und Tat gegen die Integrität der Monarchie gerichtet waren.
Mit der von Belgrad aus geleiteten Ermordung des
Erzherzog-Thronfolgers (ein zur Verfügung der kaiserlichen
Regierung stehendes Dossier - gebe über die aufgedeckten
Zusammenhänge und die Mithilfe der „Narodna Odbrana"
' Erlaß nach St. Petersburg d. d. Wien, 20. Juli, Nr. 3430.
- Vgl. Seite 130, Anmerkung 2.
134
erschöpfende Aufschlüsse) mußte die Langmut der k. u. k.
Regierung den serbischen Umtrieben gegenüber ein Ende
erreichen.
Die Mordtat von Sarajevo müsse aber auch gleichzeitig
das Solidaritätsgefühl der großen Monarchien erwecken,
deren gemeinsames Interesse es sei, sich gegen den Königs-
mord zur Wehr zu setzen, von wo er auch komme und wen
er auch zunächst treffe.
Der auf Besuch in St. Petersburg weilende Präsident der Ansprache
französischen Republik, Herr Poincare, hatte am 21. Juli das p„7™ar6s an
diplomatische Korps, und zwar die Botschafter einzeln, in dasdipio-
Anwesenheit des französischen Ministers des Äußern, Viviani, K^"p°i^
und des französischen Botschafters, Paleologue, empfangen/, st. Peters-
Der Präsident drückte dem k. u. k. Botschafter in ^"'^
warmen Worten seine Sympathie]^anläßlich des Sarajevoer
Attentats aus und ging dann auf das politische Gebiet über,
indem er nach der Situation in Albanien fragte, worüber
sich eine längere Konversation entspann. Sodann erkundigte
sich Herr Poincare hinsichtlich des österreichisch-ungarisch-
serbischen Verhältnisses, bemerkte, daß man in Serbien beun-
ruhigt sei, und fragte, welche Auffassung man diesbezüglich
in Wien hege. Graf Szäpdry erwiderte, man betrachte dort
die Sache mit Gelassenheit, weil man überzeugt sei, daß sich
Serbien dem, was das Wiener Kabinett zu verlangen haben
würde, nicht verschließen werde. Auf die weitere Frage,
welche Forderungen man denn an Serbien richten wolle,
beschränkte sich Graf Szäpäry, darauf zu verweisen, daß die
diesbezügliche Untersuchung noch im Gange und ihm über
deren Resultat nichts bekannt sei.
Herr Poincare erging sich hierauf in einem mit großem
oratorischen Aufwand und Nachdruck gehaltenen Vor-
trag, in dem er auseinandersetzte, daß es wohl nur dann
zulässig sei, eine Regierung für etwas verantwortlich zu
machen, wenn konkrete, gegen dieselbe sprechende Beweise
vorlägen; es sei denn, daß es sich um einen bloßen Vor-
wand handeln würde, was er doch Österreich-Ungarn gegen-
über einem so kleinen Lande nicht zumute. In einem solchen
' Telegramm aus St. Petersburg d. d. 21. Juli, Nr. 148.
135
Falle aber dürfe man nicht vergessen, daß Serbien Freunde
habe und daß hiedurch eine für den Frieden gefährliche
Situation entstehen würde. Graf Szäpäry beschränkte sich
auf eine sachliche Erwiderung und hob hervor, daß jede
Regierung bis zu einem gewissen Grade für alles verant-
wortlich sei, was auf ihrem Gebiete vorgehe. Der Präsident
suchte diese These durch Konstruktionen analoger Fälle
zwischen anderen Staaten zu entkräften, so daß Graf
Szäpäry sich genötigt sah, darauf zu verweisen, daß alles
auf die Umstände ankomme, daß solche Analogien unvoll-
kommen und Generalisierungen untunlich seien. Herr
Poincare schloß die Unterredung, indem er dem Wunsche
Ausdruck gab, die Untersuchung werde nicht zu Ergebnissen
führen, die zu einer Beunruhigung Anlaß gäben.
„Das vom Standpunkt eines auf ' Besuch weilenden
„fremden Staatsoberhauptes", schloß Graf Szäpäry seinen
Bericht, „taktlose, wie eine Drohung klingende Auftreten
„des Präsidenten, welches von der reservierten, vorsichtigen
„Haltung Herrn Sazonows so auffällig absticht, bestätigt die
„Erwartung, daß Herr Poincare hier nichts weniger als
„kalmierend einwirken werde. Bezeichnend ist die Verwandt-
„schaft der juristischen Deduktionen des Präsidenten mit
„den Exkursionen Herrn Pasic' in den „Leipziger Neuesten
„Nachrichten". Herr Spalajkovic, den mir Herr Sazonow
„noch neulich als „desequilibre" bezeichnete, dürfte dabei
„die Hand im Spiele haben."
Aus der Übereinstimmung der Sprache, die Herr Sazonow
schon vor der Ankunft Herrn Poincares geführt hatte, mit
jener des Präsidenten schloß der deutsche Botschafter, daß
letzterem von Sazonow die Lektion gemacht worden sei,
um auf diese Weise größeren Eindruck hervorzurufen.
Bezeichnend sei, wie Graf Späpäry am 23. Juli meldete ',
daß Sazonow verbreite, Herr Poincare habe Graf Szäpäry
gegen Serbien sehr aufgebracht gefunden, während sich dieser
„aus naheliegenden Gründen der größten Zurückhaltung"
hätte befleißigen müssen.
' Telegramm aus St. Petersburg d. d. 23. Juli, 1 Uhr 25 Minuten
p. m., Nr. 152.
136
Verständigung der übrigen k. u. k. Missionen.
Ein am 23. Juli nacli 10 Uhr abends zu expedierendes
Zirtculartelegramm teilte allen nicht speziell benachrichtigten
k. u. k. Missionen die in Belgrad vollzogene Übergabe der
österreichisch-ung^arischen Note mit '.
Endlich trug eine noch am 23. Juli, 11 Uhr mitternachts,
aufgegebene telegraphische Weisung den k. u. k. Bot-
schaftern, den Vertretern bei den Balkanmissionen und
Graf Hadik in Stockholm auf-, in Anbetracht der um eine
Stunde verschobenen Demarche in Belgrad in dem zur Mit-
teilung an die bezüglichen Kabinette bestimmten Texte die
sinngemäße Korrektur vorzunehmen: die Frist der Beant-
wortung der österreichisch-ungarischen Begehrnote laufe
bis Samstag, den 25. Juli, nachmittags 6 Uhr.
< Zirkulartelegramm an alle Missionen (mit Ausnahme der Signatar-
botschaften, der Balkangesandtscliaften, der Botschaft [in Madrid, Rom
I Vatikan], Washington, Tokio und der Gesandtschaft in Stockholm) d. d.
Wien, 23. Juli, Prot. -Nr. 5108 bis 5129.
~ Weisung an die Signatarbotschaften, Balkanmissionen und Gesandt-
schaft Stockholm d. d. Wien, 23. Juli, Prot.-Nr. 5136 bis 5147.
137
II
Von der Überreichung der österreichisch-
ungarischen Note in Belgrad (23. Juli) bis
zur Kriegserklärung Österreich-Ungarns an
Serbien (28. Juli)
A. Die Aufnahme der österreichisch-ungarischen
Zirkularnote vom 24. JuH und die Maßnahmen
der europäischen Kabinette
Berlin
Graf Szögyeny überreichte — laut eigener Meldung — über-
die Zirkularnote des Wiener Kabinetts dem deutschen Staats- 7 'f 711"
Zirkularnoie
Sekretär am 23. Juli und gab ihm am 24. früh die Ver-
schiebung der Ablaufstunde für die Befristung der Begehr-
iVOte an Serbien bekannt ^ Herr von Jagow nahm diese Mit-
teilung mit Dank entgegen und versicherte, gemäß der
Berichterstattung Graf Szögyenys -, die deutsche Regierung
sei mit dem Inhalte dieser Note „selbstverständlich ganz ein-
verstanden" 3.
Die eigenartige Lage, in welche die deutsche Regierung Äußerungen
als erster und engster Bundesgenosse durch die so spät ^"^J""
erfolgte Mitteilung der österreichisch-ungarischen Note gegenüber
versetzt wurde, zeitigte, wie Graf Szögyeny richtig ver
mutete, sehr bald ein unleidliches Zwischenspiel. schafier
Am 25. Juli teilte Herr von Jagow dem Grafen Szögyeny
mit*, der italienische Botschafter in Berlin habe sich
1 Dem gegenständlichen Erlasse und der besonderen Weisung gemäß
(Seite 110 und 112) war die Zirkularnote erst am 24. Juli vormittags
zur Kenntnis zu bringen. Nach Th. von Bethmann Holhveg: Betrachtungen
zum Weltkriege, I, Seite 138, 139, und G. von Jagow: Ursachen und
Ausbruch des Weltkrieges, Seite 109, hat Graf Szögyeny den Text der
österreichisch-ungarischen Note an Serbien Herrn von Jagow tatsächlich
bereits am 22. Juli spät nachmittags mitgeteilt. Der k. u. k. Bot-
schafter trug damit offenbar seinen im Privatschreiben an Graf Berchtold
vom 21. Jun (vgl. Seite 111, 112) geäußerten Bedenken Rechnung.
- Telegramm aus Berlin d. d. 24. Juli, Nr. 279.
s Vgl. Seite 34, Anmerkung 1. — Im englischen Blaubuch Nr. 18 ist
(die Angaben Th. von Bethmann Hollwegs 1. c. Seite 139, 140 und G. von
Jagows 1. c. Seite HO bestätigend) die gegenteilige Feststellung ent-
halten. '
* Telegramm aus Berlin d. d. 25. Juli, Nr. 283.
141
dem italieni-
schen Bot-
darüber verwundert gezeigt, daß Graf Berchtold der
italienischen Regierung als verbündeten Macht nicht früher
Mitteilung von dem Belgrader Schritte gemacht hätte.
Herr von Jagow antwortete, daß auch Deutschland nicht
früher von Wien verständigt worden sei, was er auch für
die richtige Vorgangsweise, halte, da der jetzige Konflikt
als eine Angelegenheit zwischen Österreich-Ungarn und
Serbien zu betrachten sei.
Es mag Herrn von Jagow nicht leicht gefallen sein,
diesen Ausweg der Billigung des Vorgehens des Wiener
Kabinetts einzuschlagen, da er doch vor knappen vier
Tagen über die bloße Gleichstellung der eigenen Regierung
mit den Kabinetten der übrigen Mächte dem k. u. k. Bot-
schafter gegenüber Beschwerde geführt hatte ^
1 Vgl. Seite HO, 111. — Eine weitere Bestätigung, daß die serbische
Aktion des Wiener Kabinetts keineswegs mit der deutschen Regierung
einverständlich vorbereitet wurde, bietet übrigens eine Feststellung Graf
Berchtolds selbst. In der italienischen Presse machte, wie Graf Ambrözy
am 9. August 1914 meldete (Telegramm aus Rom, Nr. 640) die Meldung der
„Tribuna" großen Eindruck, laut welcher es aus dem deutschen Weißbuch
hervorgehe, daß das Wiener Kabinett seine Aktion gegen Serbien lange vor-
her und in allen Details mit Deutschland besprochen habe, während Italien
davon erst nach dem Beginne derselben in Kenntnis gesetzt worden sei.
Graf Berchtold sah sich veranlaßt, zu diesem Gegenstande Graf
Ambrözy telegraphisch zu erwidern (Weisung nach Rom d. d. Wien,
10. August, Nr. 990):
„Die Textierung des deutschen Weißbuches ist in der Tat geeignet,
„den Eindruck hervorzurufen, als ob unsere Aktion gegen Serbien lange
„vorher und in allen Details mit Deutschland besprochen worden wäre.
„Darin liegt ebenso eine gewisse Übertreibung, als es andrerseits
„nicht ganz den Tatsachen entspricht, daß Italien erst'nach dem Beginne
„der Aktion von derselben Kenntnis erhalten habe.
„Ich würde Wert darauf legen, daß Euer Hochgeboren sich in diesem
„Sinne bei Marquis di San Giuliano vernehmen lassen. Dem Minister
„kann der Inhalt meiner einschlägigen Eröffnungen an Herzog Avarna
„nicht unbekannt geblieben sein, dem ich wiederholt von unserer Enquete
„in Sarajevo wie von dem beabsichtigten Schritte in Belgrad zwecks
„Schaffung entsprechender Garantien für die Zukunft gesprochen habe,
,,deren genaue Formulierung jedoch erst kurz vor der Übergabe möglich
„und daher auch dem deutschen, gleichwie dem römischen Kabinett erst
„in letzter Stunde bekanntgegeben wurde.
„Der Umstand, daß wir erst nach der Ablehnung unserer Forde-
„rungen seitens Serbiens zu einer teilweisen Mobilisierung schritten, für
142
Bei Gelegenheit einer Unterredung, die der deutsche Unterredung
Botschafter Graf Pourtales mit Herrn Sazonow nach er- q^"^"^'
folgter Überreichung der österreichisch-ungarischen Note Pourtaus
gepflogen hatte <, erging sich der russische Minister, wie der *"*' •'"''*
deutsche Botschafter meldete, in maßlosen Ausfällen gegen
Österreich-Ungarn. Die rechtliche Frage müsse von der
politischen vollkommen getrennt werden, dann könne
Serbien eventuell in den bewiesenen rechtlichen Fragen
nachgeben. Die Resultate der österreichisch-ungarischen
gerichtlichen Untersuchung würden Herrn Sazonow aber
mehr als zweifelhaft erscheinen.
Die ganze Frage müsse vor die Großmächte zur Über-
prüfung gebracht werden. Serbien hätte sich nicht Öster-
reich-Ungarn, sondern allen Großmächten gegenüber im
Jahre 1909 verpflichtet, also sei die Angelegenheit eine
internationale und nicht eine zwischen Österreich-Ungarn
und Serbien allein zu regelnde. Die Monarchie wolle An-
kläger und Richter zugleich sein, was unstatthaft sei. Wenn
Österreich-Ungarn Serbien „verschlinge", sagte Sazonow
weiter, so müsse Rußland absolut eingreifen. Allen diesen
Angriffen Sazonows auf Österreich-Ungarn trat Graf Pour-
tales energisch entgegen; er erhielt, als er auch das mon-
archische Prinzip vorbrachte, vom russischen Minister des
Äußern die ablehnende Antwort, „das habe mit dem mon-
archischen Prinzip gar nichts zu tun, das sei eine politische
Frage".
Der deutschen Regierung, die die Sache Öster- Bemühender
reich-Ungarns in St. Petersburg bundesgenössisch ''^"'^chen
Regierung,
zu vertreten gesonnen war, schwebte wie bisher, auch den Konflikt
weiterhin als Ziel die Lokalisierung des Konflikts ™'schen
Osterreicli-
zwischen der Monarchie und Serbien vor=. Sie be- ungam und
rücksichtigte bei diesem Bemühen das dem Bundesgenossen serwen zu
lolvalisieren
„welche vorher keinerlei vorbereitende 'Maßnahmen getroFFen worden
„waren, beweist zur Genüge, daß wir mit der Wahrscheinlichkeit der
„Annahme unserer Forderungen gerechnet hatten und keinerlei Detail-
„vorbereitungen verfügt, geschweige denn mit Deutschland einverständlich
„vorbereitet hatten."
' Telegramm aus Berlin d. d. 25. Juli, Nr. 290.
= Vgl. Seite 144, Anmerkung 1; 147, 150, 173, 227.
143
als Großmacht zukommende Prestige und suchte gleich-
zeitig die Gefahren einer europäischen Verwicklung durch
ihre Einwirkung auf das mobilisierende Rußland zu bannen'.
Rom
(jbfr- In Rom übergab Graf Ambrözy am 24. Juli um 11 Uhr
reichung der: SOMinutcn vormittags die österreichisch-ungarische Zirkular-
Zirkularnole' ..
note in Abwesenheit des Ministers des Äußern und des
Unterstaatssekretärs dem Generalsekretär de Martino^
Dieser machte bei Beginn der Lektüre die Bemerkung,
es sei sehr geschickt, die Note mit der Zitierung der ser-
bischen Note aus dem Jahre 1909 zu beginnen. Im weiteren
Verlaufe der Lektüre sagte er, den persönlichen Charakter
dieser Bemerkung betonend, es scheine ihm, daß die
Monarchie Serbien geradezu als Großmacht behandle,
1 In der Berichterstattung des k. u. k. Gesandten in München
spiegelt sich die Haltung der Berliner Regierung in folgender Weise
wieder:
„Nach vertraulichen Meldungen, die aus Berlin hier eintrafen, erblickt
„man daselbst in der drohenden Sprache Frankreichs und Rußlands den
„Versuch, Österreich-Ungarn durch Bluff einzuschüchtern. Mitte nächster
„Woche werde man wahrscheinlich sehen, daß Rußland Reserven ein-
„berufe. Dann heiße es für Wien, wie für Berlin, die Nerven nicht zu
„verlieren, „denn jede Gegenmaßnahme würde eine Atmosphäre erzeugen,
„bei der die Lokalisierung des Konflikts unmöglich werden könnte".
„Deutschlands Bestrehen müsse sein, bei den Kabinetten, vor allem in
„London, sowie in der Presse den Standpunkt zu vertreten, daß es sich
„um eine Auseinandersetzung handle, die nur Österreich-Ungarn und
„Serbien angehe und zu der die Monarchie nach dem Vorgefallenen
„unbedingt berechtigt sei. Als mot d'ordre gehe: Volle moralische Unter-
„stützung Österreich-Ungarns, aber kein Säbelgerassel deutscherseits und
„keine Anspielung auf , Entscheidung zwischen Deutschtum und Slawentum',
„noch auch Hinweise auf die Nibelungentreue mit Spitze gegen Rußland."
(Bericht aus München d. d. 25. Juli, Nr. 69 P.)
Tags darauf (26. Juli) meldete der k. u. k. Gesandte aus München:
„Es ist bezeichnend, daß die in meiner gestrigen Relation gemeldeten
„Berliner Beschwichtigungsnachrichten heute nochmals auf das Nachdrück-
„lichste wiederholt und appuyiert wurden. Danach wären den russischen
„Annoncen über Mobilisierung großer Truppenmassen deutscherseits nur
„kühles Zuwarten, keineswegs aber Gegenrüstungen entgegenzustellen."
(Bericht aus München d. d. 26. Juli, Nr. 70 P.)
ä Telegramm aus Rom d. d. 24. Juli, Nr. 535.
144
indem sie sich durch die auf seinem Territorium betriebene
Agitation als gefährdet erachte. Über die Publikation, die
das Wiener Kabinett von Serbien verlange, bemerkte er,
dieses Petitum könne und müsse die Belgrader Regierung
annehmen. Zu Punkt 4 der Forderungen äußerte er sich,
daß dessen Annahme der serbischen Regierung schwer
fallen würde. Als er die Notiz über das Untersuchungs-
ergebnis in Sarajevo gelesen hatte* schien er sehr über-
rascht.
Am Schlüsse der Lektüre meinte Herr de Martino:
„Wir scheinen an einem Wendepunkte der Geschichte
angekommen zu sein." Der Antwort Graf Ambrözys,
der Generalsekretär müsse den rein defensiven Charakter
der österreichisch-ungarischen Aktion zugeben, stimmte
dieser mit den Worten zu: „Certainement, je n'aurais cru
„que Ton puisse constater et prouver !a culpabilite d'offi-
„ciers et de fonctionnaires serbes dans le drame de Sara-
„jevo." Schließlich versicherte Herr de Martino noch, daß
er die Abschrift der Note ehestens an Marquis di San
Giuliano leiten werde.
Als Widerhall auf die Mitteilung der österreichisch- offizielle
ungarischen Zirkularnote in Rom erfolgte in Wien die offi- ')'""f"'s
o *^ des Kompen-
zielle Anmeldung des Kompensationsrechtes Italiens '. Herzog saiions-
von Avarna erschien am 25. Juli beim Grafen Berchtold 7?'" <■
^ Italiens auf
und teilte ihm aus Anlaß des Konflikts zwischen der Mon- Grund des
archie und Serbien mit, die königlich italienische Regierung jJ^dJ.^;^"
behalte sich für den Fall, als dieser Konflikt eine kriege- bundver-
rische Wendung nehme und zu einer — wenn auch nur '"^°'
provisorischen — Besetzung serbischen Territoriums führen
sollte, vor, das ihr auf Grund des Artikels VII des Drei-
bundvertrages zustehende Kompensationsrecht in Anspruch
zu nehmen. Die italienische Regierung sei überdies auf
Grund des eben angeführten Vertragsartikels der Ansicht,
daß das Wiener Kabinett sich vor der eventuellen Besetzung
serbischen Gebietes mit ihr ins Einvernehmen setzen müßte.
Im übrigen beabsichtige die italienische Regierung, in dem
eventuell bewaffneten Konflikt zwischen Österreich-Ungarn
I Tagesbericht d. d. 25. Juli, Nr. 3539.
10 145
und Serbien eine freundsciiaf'tliche und den Bündnispflichten
entsprechende Haltung einzunehmen.
Paris
über- In Paris übermittelte Graf Szecsen am 24. Juli dem mit
reichung der
Zirkularnole
re.chung er ^^^ Vertretung des abwesenden Ministers des Äußern be
trauten Justizminister dun Zirkularerlaß, indem er ihm den-
selben vorlas und eine Abschrift desselben einhändigte'.
Herr Bienvenu Martin, der durch die Pariser Morgenblätter
vom Inhalte der Demarche in Belgrad beiläufig informiert
war, schien durch die Mitteilung des Grafen Szecsen ziem-
lich beeinflußt. Er ließ sich in keine nähere Erörterung
des Textes ein, gab aber bereitwillig zu, daß die Ereignisse
der letzten Zeit und die Haltung der serbischen Regierung
ein energisches Einschreiten seitens der Monarchie ganz
begreiflich erscheinen ließen. Der Punkt 5 schien dem
Minister besonders aufzufallen, denn er ließ sich denselben
zweimal vorlesen. Im übrigen dankte er für die Mitteilung
des k. u. k. Botschafters, die, wie er sagte, eingehend geprüft
werden würde.
Graf Szecsen nahm die Gelegenheit wahr zu betonen,
daß es sich hier um eine Frage handle, die direkt zwischen
Serbien und der Monarchie ausgetragen werden müsse, daß
es aber im allgemeinen europäischen Interesse liege, wenn
die Unruhe, die seit Jahren durch die serbischen Stänke-
reien gegen die Monarchie aufrecht erhalten werde, endlich
einem klaren Zustande Platz mache. Alle Freunde des
Friedens und der Ordnung — und zu diesen zähle er
Frankreich in erster Linie — sollten daher Serbien ernstlich
raten, seine Haltung gründlich zu ändern und den berech-
tigten österreichisch-ungarischen Forderungen Rechnung zu
tragen.
Der Minister gab zu, daß Serbien die Pflicht habe,
gegen etwaige Komplizen der Mörder von Sarajevo energisch
vorzugehen, eine Pflicht, der es sich wohl nicht entziehen
werde. Unter nachdrücklicher Betonung der Sympathie
Frankreichs für Österreich-Ungarn und der zwischen den
' Telegramm aus Paris d. d. 24. Juli, Nr. 119.
146
beiden Ländern bestehenden guten Beziehungen sprach
Herr Bienvenu die Hoffnung aus, daß die Streitfrage fried-
lich in einer den Wünschen der Monarchie entsprechenden
Weise ausgetragen werden möge. Der Minister vermied
dabei jeden Versuch, die Hahung Serbiens irgendwie zu
verteidigen und zu beschönigen.
Auf die Leitung der auswärtigen Politik — schloß Graf
Szecsen seinen Bericht — habe Herr Bienvenu natürlich
keinen Einfluß.
Zur Bekundung der Solidarität mit der Monarchie hatte Demaivhe
'ö
des deut-
der deutsche Botschafter Baron Schön den Auftrag erhalten,- , „
o ' sehen Bot-
in Paris mitzuteilen ^, nach Ansicht des Berliner Kabinetts schafters in
sei die Kontroverse der Monarchie mit Serbien eine An- ^"'^ ,
(24. Julil
gelegenheit, die nur die beiden beteiligten Staaten angehe.
Anknüpfend hieran sollte er auch zu verstehen geben, daß,
falls sich dritte Staaten einmischen wollten, Deutschland,
seinen Allianzpflichten getreu, auf der Seite der Monarchie
zu finden sein werde.
Baron Schön führte die ihm aufgetragene Demarche am
24. Juli aus=. Herr Bienvenu ließ sich dabei vernehmen, er
könne sich noch nicht definitiv äußern; soviel könne er
aber schon jetzt sagen, daß die französische Regierung
ebenfalls der Ansicht sei, die österreichisch-ungarische Kon-
troverse mit Serbien ginge nur Belgrad und Wien an, und
daß man in Paris hoffe, die Frage werde eine direkte und
friedliche Lösung finden.
Dem serbischen Gesandten sei bereits der Rat erteilt
worden, seine Regierung möge in allen Punkten, soweit
als nur möglich, nachgeben, „insofern ihre Souveränitäts-
rechte nicht tangiert würden".
Herr Berthelot, der dieser Unterredung beiwohnte,
schien zu befürchten, daß die öffentliche Meinung in Ruß-
land einen starken Druck zugunsten des Eingreifens aus-
üben würde. Könne die russische Regierung diesem Drucke
widerstehen, so halte er eine friedliche Verständigung für
möglich.
1 Telegramm aus Paris d. d. 24. Juli, Nr. 120.
- Telegramm aus Paris d. d. 24. Juli, Nr. 121.
147
Bezüglich der österreichisch-ungarischen Forderungen
meinte er, die serbische Regierung sollte eine prinzipielle
Annahme derselben sofort erklären, hinsichtlich einzelner
Punkte aber nähere Details und Aufklärungen verlangen,
zum Beispiel über die Art und Weise der Mitwirkung^
österreichisch-ungarischer Organe bei der in Serbien vor-
zunehmenden gericTitlichen Untersuchung.
London
Autviarun- Der engUschc Staatssekretär hatte sich bei der vertraur
EdwÜrdGrey, 'ichen Mitteilung, die ihm Graf Mensdorff am Nachmittag
betreffend die des 23. JuH Über die österreichisch-ungarische Note machte,
mimn/der '" cincm Sinnc geäußert, der es Graf Mensdorff naheliegend
Note erscheinen ließ, Sir Edward werde sich insbesondere an der
kurzen Befristung der Note stoßen '. Graf Mensdorff erhielt
darauf unverzüglich den Auftrag -, den englischen Minister
darüber aufzuklären, daß die in Belgrad vollzogene De-
marche nicht als formelles Ultimatum zu betrachten sei,
sondern daß es sich um eine befristete Demarche handle,
die — wenn die Frist fruchtlos ablaufe — einstweilen nur
von dem Abbruche der diplomatischen Beziehungen und
von dem Beginne notwendiger militärischer Vorbereitungen
gefolgt sein werde, da Österreich-Ungarn unbedingt ent-
schlossen sei, seine berechtigten Forderungen durchzusetzen.
Graf Mensdorff wolle gleichzeitig als seine persönliche
Meinung beifügen, daß die Monarchie allerdings Serbien,
wenn es nach Ablauf des Termins nur unter dem Drucke
der militärischen Vorkehrungen der Monarchie nachgeben
würde, zum Ersätze der ihr erwachsenen Kosten verhalten
müßte, da die Monarchie bekanndich 1908 und 1912 zwei-
mal Serbiens wegen habe mobilisieren müssen.
Cbei- Sir Edward Grey las die ihm am 24. Juli überreichte
reichung der zjrkulamote aufmerksam durch =. Bei Punkts fragte er, wie
iirkularnote *-"
(24. Juli). die Einsetzung der Organe der österreichisch-ungarischen
Eru-agunK RegieruHg in Serbien zu verstehen sei; das wäre gleich-
eines Ge- ö o 7 o
1 Vgl. Seite 132 ff.
- Weisung nach London d. d. Wien, 24. Juli, Nr. 161.
• Telegramm aus London d. d. 24. Juli, Nr. 108.
148
lands
bedeutend mit dem Aufhören der staatlichen Unabhängigkeit Jankenaus-
Serbiens. Graf Mensdorff erwiderte, die Kollaboi-ation, zum "J^f^enden
Beispiel von Polizeiorganen, tangiere keineswegs die Staats- Aiiiienen
Österreich-
Souveränität. Ungarns imd
Des "Weiteren wiederholte der Staatssekretär seine jenen ruij-
gestrigen Bedenken gegen die kurze Befristung, die die
Einwirkung anderer Mächte nahezu unmöglich mache. Er
bezeichnete die Note als das formidabelste Dokument, das
je von einem Staate an einen anderen gerichtet wurde, er
anerkannte aber, daß das über die Mitschuld an dem Ver-
brechen von Sarajevo Gesagte sowie manche der Forde-
rungen berechtigt seien.
Das Hauptbedenken zur Annahme scheine ihm Punkt 5,
sodann die kurze Befristung und der Umstand zu sein,
daß eigentlich der Text der Antwort diktiert werde.
Was ihn ernstlich beunruhige, sei die Rückwirkung auf
den europäischen Frieden. Wenn dieser nicht gefährdet
wäre, würde er bereit sein, die Angelegenheit als eine solche
zu betrachten, die nur Österreich-Ungarn und Serbien be-
rühre. Er sei aber sehr „apprehensiv", daß mehrere Groß-
mächte in einen Krieg verwickelt werden könnten. Von Ruß-
land, Deutschland und Frankreich sprechend, bemerkte Sir
Edward, die Bestimmungen des französisch-russischen Bünd-
nisses dürften ungefähr so lauten, wie die des Dreibundes.
Graf Mensdorff legte dem Staatssekretär ausführlich den
Standpunkt des Wiener Kabinetts dar. Er begreife, daß Sir
Edward zunächst nur die Frage der Rückwirkung auf den
europäischen Frieden erwäge, der Staatssekretär müsse aber
auch, um den Standpunkt des Wiener Kabinetts zu würdi-
gen, sich in die Lage der Monarchie versetzen.
Sir Edward wollte in eine nähere Diskussion über dieses
Thema nicht eingehen; er müsse die Note auch noch
genauer studieren. Jetzt handle es sich darum, zu versuchen,
was man noch tun könne, um der drohenden Gefahr zu
begegnen. Er habe zunächst den deutschen und den fran-
zösischen Botschafter zitiert. Mit den Alliierten Österreich-
Ungarns und Rußlands, die aber selbst keine direkten
Interessen in Serbien hätten, müsse er vor allem in
Gedankenaustausch treten.
14Ö
Zwischendurch wiederholte Sir Edward häufig, er sei
hinsichtlich der Erhaltung des Friedens zwischen den Groß-
mächten sehr besorgt.
Äußerungen Dcm Fürstcn Lichnowsky gegenüber, der Sir Edward
Sir Edward instruktionsgemäß den Standpunkt der deutschen Regierung
Greys gegen- ° '^ es o
über dem mitgeteilt hatte, äußerte sich der Staatssekretär, wie Graf
deutschen Mcnsdorff gleichfalls am 24. Juli ' meldete, sehr perplex und
Boischafler ° ^ t f r
(24. juiii. beunruhigt. Es sei noch nie in solch einem Tone zu einem
Erste An. Unabhängigen Staate gesprochen worden. Sir Edward kriti-
regung einer ^ " o r
Vermittlung sicrtc die Form noch mehr als den Inhalt; die kurze Frist
zu viert mache jede Einwirkung unmöglich. Wenn die deutsche
Regierung darauf einginge, möchte er gemeinschaftlich mit
ihr eine kurze Fristerstreckung vorschlagen, um noch etwas
zu versuchen.
Wenn es nur eine österreichisch-ungarisch-serbische
Frage wäre, würde, sich der Staatssekretär nicht weiter
darum kümmern. Er wisse noch nichts von Petersburg;
sollte aber die den Slawen sympathische Strömung einsetzen,
so könne er mit Ratschlägen nichts ausrichten.
Den Eindruck seiner Unterredung mit dem englischen
Staatssekretär resümierte Fürst Lichnowsky dahin, daß sich
Sir Edward mit der deutschen Regierung im Wunsche
begegne, den Konflikt zwischen der Monarchie und Serbien
zu lokalisieren.
Sollte aber ein Konflikt zwischen der Monarchie und
Rußland entstehen, so würde Sir Edward Grey an eine Ver-
mittlung ä quatre (England, Deutschland, Frankreich und
Italien) zwischen Wien und Petersburg denken.
St. Petersburg
Oberrci- Dcu erhaltenen Weisungen entsprach der k. u. k. Bot-
chung der gchaftcr Graf Szäpäry auftragsgemäß am 24. Juli -.
Zirkularnote f j ö o ^
i24. juiii Der Minister empfing Graf Szäpäry mit den Worten '•,
er wisse, was den k. u. k. Botschafter zu ihm führe, und
I Telegramm aus London d. d. 24. Juli, 8 Uhr 48 Minuten p. m.,
Nr. 109.
- Telegramm aus Petersburg d. d. 24. Juli, Nr. 156.
■ Telegramm aus Petersburg d. d. 24. Juli, Nr. 157.
150
er müsse ihm gleich eritlären, er werde zu der öster-
reichisch-ungarischen Demarche iceine Stellung nehmen. Graf
Szäpary begann mit der Verlesung seines Auftrages. Der
Minister unterbrach ihn zum ersten Male bei der Erwähnung
der Serie von Attentaten und fragte, ob denn erwiesen sei,
daß diese alle in Belgrad ihren Ursprung hätten. Graf
Szäpäry betonte, sie seien der Ausfluß der serbischen Auf-
wiegelung. Im weiteren Verlaufe der Vorlesung äußerte
Herr Sazonow, er wisse, worum es sich handle: Die Mon-
archie wolle Serbien den Krieg machen und die angegebenen
Gründe sollten der Vorwand sein. Graf Szäpäry replizierte,
die Haltung der Monarchie [in den letzten Tagen sei ein
hinreichender Beweis, daß sie Serbien gegenüber Vorwände
weder suche noch brauche. Die seitens Österreich-Ungarns
von der serbischen Regierung geforderten solennen Enun-
ziationen riefen merkwürdigerweise den Widerspruch des
Ministers nicht hervor; er versuchte nur immer wieder zu
behaupten, daß Pasic sich bereits in dem gewünschten Sinne
ausgesprochen habe, was Graf Szäpäry richtigstellte. „II
dira cela 25 fois, si vous voulez" sagte er. Bei der Erwäh-
nung der Publikationen meinte Herr Sazonow nur, ob
dies auf Gegenseitigkeit beruhen werde. Graf Szäpäry
erwiderte darauf, niemand wende sich' in der Monarchie
gegen Serbiens Integrität oder Dynastie. Am lebhaftesten
erklärte sich Herr Sazonow gegen die Auflösung der
„Narodna Odbrana", die Serbien niemals vornehmen werde.
Weiteren Widerspruch von Seite des Ministers löste die
Beteiligung von k. u. k. Funktionären an der Unter-
drückung der subversiven Bewegung aus. Serbien werde
also daheim nicht mehr der Herr sein. „Sie werden dann
„immer wieder intervenieren wollen und welches Leben
„werden Sie da Europa bereiten!" Graf Szäpäry erwiderte,
es werde, wenn Serbien guten Willen habe, ein ruhigeres
sein als bisher.
Die Beilage mit den Ergebnissen der Untersuchung
trachtete Herr Sazonow zu zerpflücken und die Richngkeit
der angeführten Resultate in Zweifel zu ziehen. Warum
habe man die Serben nicht zu Worte kommen lassen, und
■wozu die Ultimatumform? Serbien könne vielleicht die
151
Unrichtigkeit der Anklagen beweisen. Graf Szäpäry machte
gegenständliche Einwendungen.
Den an die Mitteilung der Note angefügten Kommentar
hörte der Minister ziemlich ruhig an; bei dem Passus, daß
sich die Monarchie in ihren Gefühlen mit allen zivilisierten
Nationen eins wisse, meinte er, dies sei ein Irrtum. Graf
Szdpdry wies mit allem ihm zu Gebote stehenden Nach-
druck darauf hin, wie traurig es wäre, wenn die Monarchie
in dieser Frage, bei der alles im Spiele sei, was sie Heiligstes
hätte und — was immer der Minister sagen wolle — auch
in Rußland heilig sei, in Rußland kein Verständnis fände.
Der Minister suchte die monarchische Spitze der Angelegen-
heit abzubrechen. „L'idee monarchique n'a rien ä faire avec
cela."
Das zur Verfügung der Regierung gehaltene Dossier
betreffend, meinte Herr Sazonow ', weshalb sich das Wiener
Kabinett diese Mühe gegeben habe, da es doch bereits ein
Ultimatum erlassen hätte. Dies beweise am besten, daß man
in Wien eine unparteiische Prüfung des Falles gar nicht
anstrebe. Graf Szäpäry entgegnete, daß für das Vorgehen in
dieser zwischen Österreich-Ungarn und Serbien spielenden
Angelegenheit die durch die eigene Untersuchung der
Monarchie erzielten Resultate genügten und daß das Wiener
Kabinett bereit sei, den Mächten weitere Aufschlüsse zu
geben, weil es nichts zu verstecken hätte, falls dieselben sie
interessierten.
Herr Sazonow meinte darauf, jetzt, nach dem Ultimatum,
sei er eigentlich gar nicht neugierig: „C'est que vous voulez
„la guerre et vous avez brüle vos ponts." Graf Szäpäry
erwiderte, die Monarchie sei die friedliebendste Macht auf der
Welt, was sie wolle, sei nur die Sicherung ihres Territoriums
vor der Revolution und der Dynastie vor Bomben. „On voit
„comme vous etes pacifiques puisque vous mettez le feu
ä l'Europe" meinte Herr Sazonow.
Was die Monarchie wolle, entgegnete Graf Szäpäry noch-
mals, sei, Ruhe zu haben, und seine Regierung habe dazu die
zweckdienlichen Maßnahmen gewählt.
1 Telegramm aus Petersburg d. d. 24. Juli, Nr. 159.
152
Auch den von Graf Szäpäry auftragsgemäß mündlich vor-
getragenen Kommentar hörte der Minister ruhig an, versuchte
aber hiebei wieder die Ablehnung des letzten, den Königs-
mord betreffenden Passus.
An die Ausführung des Auftrages des Grafen Szäpäry
schloß sich eine längere Diskussion an, in welcher Herr
Sazonow unter anderem die Politik des Wiener Kabinetts
dem Grafen Forgäch unterschieben wollte. Im Verlaufe der
weiteren Erörterung ließ Sazonow nochmals die Bemerkung
fallen, daß das Wiener Kabinett jedenfalls eine ernste
Situation geschaffen habe. Rußland, das Slawentum, die
Orthodoxie wurden dabei von ihm nicht genannt; er sprach
nur immer von England, Frankreich, Europa und dergleichen,
und von dem Eindruck, den der Schritt des Wiener Kabinetts
in Petersburg und anderwärts machen werde.
Trotz der relativen Ruhe des Ministers war seine Stellung-
nahme eine durchaus ablehnende und gegnerische. Nach
eineinhalbstündigem Verweilen verließ Graf Szäpäry das
Arbeitskabinett des Ministers.
Nach fünfstündigem Ministerrate empfing Herr Sazonow Besprechung
am 24. Juli abends den deutschen Botschafter, mit dem er sazonow-
eine lange, zum Teil sehr erregte, schließlich aber freund- Pounaies
schaftlich endende Unterredung hatte '.
Der Minister verfocht Graf Pourtales gegenüber die
wahrscheinlich als Resultat des Ministerrates zu betrachtende
— Ansicht, der österreichisch-ungarisch-serbische Streit
sei keine auf diese beiden Staaten beschränkte Angelegenheit,
sondern eine europäische, da der im Jahre 1909 durch eine
serbische Deklaration erfolgte Ausgleich unter den Auspizien
ganz Europas vollzogen worden sei. Herr Sazonow hob
hervor, es habe ihn insbesondere der Umstand unangenehm
berührt, daß Österreich-Ungarn die Prüfung eines Dossiers
angeboten habe, während bereits ein Ultimatum ergangen sei.
Rußland würde eine internationale Prüfung dieses Dossiers
verlangen. Graf Pourtales machte Herrn Sazonow sofort
darauf aufmerksam, daß Österreich-Ungarn eine Einmischung
I Telegramm aus Petersburg d. d. 24. Juli, Nr. 160.
153
Abgabe einer
Erklärung
hinsichtlich
des terri-
torialen Des-
inleresse-
menls
seitens der
Monarchie.
Anregung
des Grafen
Späpäry
(24. Juli)
Weisung an
den k. u. k.
Botschafter
(25. Juli)
in srein Verhältnis zu Serbien nicht akzeptieren werde und
daß auch Deutschland seinerseits eine Zumutung nicht an-
nehmen könne, die der Würde des Bundesgenossen als
Großmacht zuwiderlaufe.
Im weiteren Verlaufe des Gespräches erklärte der rus-
sische Minister, daß dasjenige, was Rußland nicht gleich-
gültig hinnehmen könne, die eventuelle Absicht Österreich-
Ungarns wäre „de devorer la Serbie". Graf Pourtales er-
widerte, er nehme eine solche Intention bei Österreich-
Ungarn nicht an, da dies dem eigensten Interesse der Mon-
archie zuwiderlaufen würde. Österreich-Ungarn sei wohl nur
daran gelegen, „d'infliger a la Serbie le chätiment justement
merite". Herr Sazonow drückte darauf seine Zweifel aus,
ob es sich Österreich-Ungarn, selbst wenn hierüber Erklä-
rungen vorliegen würden, hieran genügen lassen werde.
Die Unterredung schloß mit einem Appell Herrn Sazonows,
Deutschland möge mit Rußland an der Erhaltung des Friedens
zusammenarbeiten. Der deutsche Botschafter versicherte dem
russischen Minister, daß Deutschland gewiß nicht den Wunsch
habe, einen Krieg zu entfesseln, daß es aber selbstverständlich
die Interessen seines Bundesgenossen voll vertrete.
Diesem am 25. Juli, 2 Uhr 30 Minuten a. m., expedierten
telegraphischen Berichte fügte Graf Szäpäry die Anfrage an
Graf Berchtold bei, ob und wann er zur Verwertung des
— Italien gegenüber ohnehin unentbehrlichen — Momentes
des territorialen Desinteressements der Monarchie ermächtigt
werde.
Ohne bis jetzt Ursache für die Annahme zu haben, daß
Marquis Cariotti diesbezüglich im Zweifel sei, erscheine
Graf Szapäry eine Andeutung darüber sehr angezeigt, ob
er sich seinem italienischen Kollegen gegenüber auf den
Standpunkt der territorialen Uninteressiertheit stellen dürfe.
Auf die Anregung des Grafen Szäpäry erfloß am 25. Juli
der Bescheid Graf Berchtolds, das Moment des territorialen
Desinteressements vorläufig weder Herrn Sazonow noch
dem italienischen Botschafter gegenüber zu berühren'.
1 Weisung nach Petersburg d. d. Wien, 25. Juli, Nr. 175. Expediert
26. Juli, 7 Uhr 40 Minuten a. m.
154
Am Vormittag des 24. Juli, an dem Graf Szdpäry in Besprechung
Petersburg die Zirtcularnote überreichte, erhielt Graf " .™,';"
o ' Berchtold
Berchtold den Besuch des russischen Geschäftsträgers mit dem
Fürsten Kudascheif '. Graf Berchtold versicherte ihm, er rT'T-e^"
' Oeschaits-
habe ein spezielles Gewicht darauf gelegt, ihn sobald als irager
möglich von dem Schritte des Wiener Kabinetts in Belgrad KuTasoheff
in Kenntnis zu setzen und ihm diesbezüglich den ein- (24. juii)
genommenen Standpunkt darzulegen.
Fürst Kudascheff dankte für diese Aufmerksamkeit,
verhehlte jedoch dem Grafen Berchtold seine Beunruhigung
über das kategorische Vorgehen des Wiener Kabinetts gegen
Serbien nicht, wobei er bemerkte, daß man in St. Peters-
burg immer besorgt gewesen sei, ob nicht die Demarche
die Form einer Demütigung für Serbien haben werde, was
nicht ohne Rückwirkung auf Rußland bleiben könnte.
Graf Berchtold ließ es sich angelegen sein, den russischen
Geschäftsträger in dieser Richtung zu beruhigen. Nichts
liege dem Wiener Kabinett ferner, als Serbien demütigen
zu wollen, woran es nicht das geringste Interesse hätte.
Auch sei das Bestreben dahin gegangen, nichts in die
Note aufzunehmen, was einen solchen Eindruck erwecken
könnte. Das Ziel des Wiener Kabinetts bestehe lediglich
darin, das unhaltbare Verhältnis Serbiens zur Monarchie
zu klären, und zu diesem Zwecke die dortige Regierung
zu veranlassen, einerseits die gegen den derzeitigen Bestand
der Monarchie gerichteten Strömungen öffendich zu des-
avouieren und durch administrative Maßnahmen zu unter-
drücken, andrerseits die Möglichkeit zu bieten, der Monarchie
von der gewissenhaften Durchführung dieser Maßnahmen
Rechenschaft zu geben. Graf Berchtold führte des Längeren
aus, welche Gefahr ein weiteres Gewährenlassen der groß-
serbischen Propaganda nicht nur für die Integrität der
Monarchie, sondern auch für das Gleichgewicht und den
Frieden in Europa nach sich ziehen würde, und wie sehr
alle Dynastien, nicht zuletzt die russische, durch die Ein-
bürgerung der Auffassung bedroht erschienen, daß eine
Bewegung ungestraft bleiben könne, die sich des Mordes
1 Tagesbericht vom 24. Juli, Nr. 3578.
155
als eines nationalistischen Kampfmittels bediene. Schließlich
verwies Graf Berchtold darauf, daß die Monarchie keine
Gebietserwerbung, sondern bloß die Erhaltung des Bestehen-
den bezwecke; ein Standpunkt, der bei der russischen
Regierung ebenso Verständnis finden müsse, wie es in
Wien selbstverständlich erscheine, daß Rußland keinen
Angriff auf seine territoriale Integrität gewähren lassen
würde.
Fürst Kudascheff bemerkte darauf, er kenne den Stand-
punkt seiner Regierung nicht und wisse auch nicht, wie
sich Serbien zu den einzelnen Forderungen stellen werde.
Sein persönlicher Eindruck gehe dahin, daß das Wiener
Kabinett von der Regierung eines konstitutionellen Staates
Unmögliches verlange. Es komme ihm vor, als ob von
jemand gefordert werden würde, zuerst zum Fenster hinaus-
zuspringen und dann über die Stiege zurückzukommen.
Daß der Wortlaut der Regierungserklärung und des Armee-
befehles von dem Wiener Kabinett vorgeschrieben werde,
erscheine ihm als eine starke Demütigung Serbiens. Weiter
sei ihm der Punkt aufgefallen, wonach die Monarchie die
Mitwirkung ihrer Organe bei der Unterdrückung der gegen
die Monarchie gerichteten Propaganda verlange; dies sei
wohl nicht mit dem Völkerrecht in Einklang zu bringen.
Rußland habe allerdings auch Abmachungen mit Frankreich
und Deutschland wegen Etablierung russischer Sicherheits-
organe in diesen Staaten. Dies bilde aber ein „Privileg" und
kein „Recht". Nicht minder sei es völkerrechtswidrig, die
Bestrafung der Schuldigen auf serbischem Boden zu
begehren, man könnte höchstens die Auslieferung ver-
langen. (Was Fürst Kudascheff damit meinte, erschien
Graf Berchtold nicht recht klar; doch ließ sich der
russische Geschäftsträger auf die Einwendung, daß sich
dieses Petit nicht im Widerspruche mit dem Völkerrecht
befinde, nicht näher ein.) Auch die kurze Befristung flöße
dem russischen Geschäftsträger große Besorgnis ein. Was
werde geschehen, wenn dieselbe verlaufe, ohne daß eine
zufriedenstellende Antwort von Serbien gegeben werde?
Auf die Erwiderung des Grafen Berchtold, daß dann der
österreichisch-ungarische Gesandte und das Gesandtschafts-
156
personal abzureisen hätten, reflektierte Fürst Kudasclietf
mit dem Bemerken: „Alors c'est la guerre."
Zum Schlüsse der Unterredung betonte der Geschäftsträger,
daß er nicht ermangeln werde, seiner Regierung die Aus-
künfte zur Kenntnis zu bringen, die ihm Graf Berchtold
über den Schritt des Wiener Kabinetts gegeben habe,
namentlich auch in der Richtung, daß von Seite der Monarchie
keine Demütigung Serbiens beabsichtigt sei.
Die kurze Befristung der österreichisch-ungarischen Note Russischer
hatte auch anderwärts, insbesondere aber bei Sir Edward |,°"5i,tHch
Grey Bedenken hervorgerufen. Herr Sazonow hatte seine einer Frist-
diesbezüglichen Befürchtungen sowohl dem Grafen Szäpäry fürstrhiTn^
als dem deutschen Botschafter gegenüber betont. In 120. juii»
Wien vollzog der russische Geschäftsträger am 25. Juli
positive Schritte zur Erwirkung einer Fristverlängerung für
Serbien.
Zu diesem Zwecke richtete Fürst Kudascheff an den in '
Bad Ischl weilenden (oder eventuell noch auf der Hinreise
begriffenen) Grafen Berchtold am 25. Juli vormittags ein
dringliches Telegramm '.
Auch sprach der russische Geschäftsträger bei dem ersten
Sektionschef Baron Macchio vor-, dem er den Wunsch seiner
Regierung ausdrückte, die in der Note an Serbien ange-
gebene Frist möge verlängert werden. Dieses Ersuchen werde
damit begründet, daß die Mächte von dem Schritte des
Wiener Kabinetts vollständig überrascht worden seien, und
daß die russische Regierung es als eine natürliche Rück-
sicht des Wiener gegen die anderen Kabinette betrachten
würde, wenn den letzteren Gelegenheit gegeben würde,
die Grundlage der Mitteilung des Wiener Kabinetts an die
Mächte zu prüfen und das in Aussicht gestellte Dossier zu
studieren.
1 Telegramm an Graf Berchtold in Ischl d. d. Wien, 25. Juh,
11 Uhr 5 Minuten a. m., Telegraphenamt 49, Nr. 2089; Telegramm an
Graf Berchtold, Schnellzug 109, Linz, d. d. Wien, 25. Juli, 10 Uhr
50 Minuten a. m., Telegraphenamt' 49, Nr. 2085.
2 Telegramm an Graf Berchtold in Ischl d. d. Wien, 25. Juli, 1 Uhr
45 Minuten p. m., Prot. Nr. 5241.
157
Baron Macchio antwortete dem Geschäftsträger, er werde
seine Ausführungen sofort zur Kenntnis des Grafen Berchtoid
bringen; er könne ihm aber schon jetzt sagen, es bestehe
keine Aussicht, daß von Seite des Wiener Kabinetts eine
Verlängerung der angegebenen Frist gewährt würde. Was
die Gründe anbelange, die die russische Regierung zur
Erhärtung des von ihf vorgebrachten Wunsches angeführt
habe, so beruhten dieselben anscheinend auf einer irrtüm-
lichen Voraussetzung, da die Note an die Mächte keines-
wegs den Zweck verfolgt hätte, dieselben einzuladen, ihre
gegenständliche Auffassung bekanntzugeben, sondern nur den
Charakter einer Information habe, die das Wiener Kabinett
als eine Pflicht internationaler Höflichkeit angesehen hätte.
Im übrigen betrachte das Wiener Kabinett die Aktion als
eine nur Österreich-Ungarn und 'Serbien berührende Ange-
legenheit, zu der die Monarchie sehr gegen ihren Wunsch
und trotz ihrer seit Jahren bekundeten Langmut und Geduld
durch die Entwicklung der Verhältnisse zur Verteidigung
ihrer vitalsten Interessen gezwungen worden sei.
Baron Macchio versprach dem russischen Geschäfts-
träger, ihm eine möglichst baldige Antwort mitzuteilen, und
bat daher um eine telegraphische Benachrichtigung, ob Graf
Berchtoid die erteilte Erwiderung billige.
Depeschen- DicsB von Baron Macchio am 25. Juli, 1 Uhr 45 Minuten
Wechsel Graf nachmittags, ausgestellte Depesche kreuzte sich mit einer
Baron" sus Lambach um 2 Uhr nachmittags expedierten, für Baron
Macchio in Macchlo bestimmten Weisung '. Graf Berchtoid ersuchte
de?FriTt" darin Baron Macchio, dem russischen Geschäftsträger in
erstreckung seinem Namen zu antworten, er könne eine Verlängerung
der Frist nicht zugeben. Baron Macchio wolle hinzufügen,
daß Serbien auch nach dem Abbruche der diplomatischen
Beziehungen durch uneingeschränkte Annahme der Forde-
rungen des Wiener Kabinetts eine friedliche Lösung herbei-
führen könne, doch würde das Wiener Kabinett in diesem
Falle genötigt sein, den Rückersatz aller der Monarchie durch
militärische Maßnahmen verursachten Kosten und Schäden
von Serbien zu verlangen.
1 Telegramm des Ministers des Äußern an Baron Macchio d. d.
Lambach, 25. Juli, 2 Uhr p. m., ohne Nummer.
158
Der deutsche Botschafter sei von Vorstehendem zu ver-
ständigen '.
Noch am selben Tage, nachmittags 6 Uhr 40 Minuten,
setzte Graf Berchtold in Bad Ischl ein weiteres Telegramm
an Baron Macchio auf, das die entschiedene Erwiderung des
ersten Sektionschefs dem russischen Staatsträger gegenüber
vollkommen billigte und Baron Macchio ersuchte, Fürst
Kudascheff dies mitzuteilen s. Auch wurde Graf Szäpäry
am 25. Juli, 9 Uhr abends, von der erfolgten Ablehnung des
russischen Vorschlages zur eigenen Orientierung unter-
richtet"'.
Für das Wiener Kabinett begann sich der Schwerpunkt Instruktion
der Krise von Belgrad mehr und mehr nach Petersburg für den
zu verschieben. Es oblag dem Grafen Berchtold, dem k. u. k. schafter in
Botschafter in Petersburg eine Instruktion zu erteilen, die s«- Peters-
. , . , ....'<..■.■ • L • L T^.pp burg(2S.JuIi)
Sich mit der Möglichkeit eines aus aer serbischen Diffe-
renz hervorgehenden Konflikts mit Rußland befaßtet
In dem Augenblicke besagte der Text ^ — , in dem
sich das Wiener Kabinett zu einem ernsten Vorgehen gegen
Serbien entschlossen habe, sei es sich natürlich auch der
Möglichkeit eines sich aus der serbischen Differenz ent-
wickelnden Zusammenstoßes mit Rußland bewußt gewesen.
Das Wiener Kabinett konnte sich aber durch diese Eventualität
in seiner Stellungnahme gegenüber Serbien nicht beirren
lassen, weil grundlegende staatspolitische Konsiderationen
' Eine frühere Benachrichtigung des deutschen Botschafters hinsichtlich
dieses Gegenstandes ist nicht feststellbar.
• Telegramm aus Bad Ischl d. d. 25. Juli, 6 Uhr 40 Minuten p, m.
ohne Nummer. In dem Konzept dieses Telegramms war der folgende
Abschnitt nachträglich gestrichen worden:
„Ich ersuche Euere Exzellenz, wenn Sie im Sinne meines Telegrammes
„über die Möglichkeit eines späteren Nachgebens Serbiens und über die
„Kosten sprechen, dies in inoffizieller Weise zu tun, damit nicht der
,,Anschein erweckt werde, als sollten wir weitere Verhandlungen mit
„Serbien möglich machen."
= Weisung nach St. Petersburg d. d. Wien, 25. Juli, 9 Uhr p. m., Nr. 173.
■4 Erlaß nach St. Petersburg d. d. Wien, 25. Juli, Nr. 3530.
^ Das Konzept dieser Instruktion weist verschiedene Zusätze, Aus-
lassungen und Änderungen der ursprünglichen Vorlage auf. An der
Redaktion waren mit eigener Handschrift Graf Berchtold, Graf Forgäch
und Baron Musulin beteiligt.
159
die Monarchie vor die Notwendigkeit stellten, der Situation
ein Ende zu machen, daß ein russischer Freibrief Serbien
die dauernde, ungestrafte und unstrafbare Bedrohung der
Monarchie ermögliche.
Für den Fall, als Rußland den Moment für die große
Abrechnung mit dpn europäischen Zentralmächten bereits
für gekommen erachten sollte und daher von vorneherein
zum Kriege entschlossen wäre, erscheine die nachstehende
Instruierung des k. u. k. Botschafters in Petersburg aller-
dings überflüssig.
Es wäre aber immerhin möglich, daß Rußland die ge-
gebene Gelegenheit als eine Verlegenheit empfinde, daß es
nicht so angriffslustig und kriegsbereit sei, wie die „Nowoje
Wremja" und die „Birschewija Wjedomosti" es glauben
machen wollen und wie es Herr Poincare und Herr
Iswolsky vielleicht wünschen mögen.
Es wäre denkbar, daß Rußland, nach der eventuellen
Ablehnung der österreichisch-ungarischen Forderungen durch
Serbien und angesichts der sich für das Wiener Kabinett
ergebenden Notwendigkeit eines bewaffneten Vorgehens, mit
sich selbst zu, Rate ginge und daß es sogar gewillt sein
könnte, sich von dem aufbrausenden slawischen Solidaritäts-
gefühl nicht mitreißen zu lassen. Dieser Situation seien die
nachfolgenden Darlegungen angepaßt, die der k. u. k. Bot-
schafter im gegebenen Falle und in der ihm geeignet er-
scheinenden Weise und nach der von ihm zu ermessenden
Opportunität bei Herrn Sazonow und dem Ministerpräsi-
denten verwerten wolle:
Graf Berchtold setze im allgemeinen voraus, daß der
k. u. k. Botschafter unter den gegenwärtigen Verhältnissen
ein enges Einvernehmen mit seinem deutschen Kollegen
hergestellt habe, der seitens seiner Regierung gewiß beauf-
tragt worden sein dürfte, der russischen Regierung keinen
Zweifel darüber zu lassen, daß Österreich-Ungarn im Falle
eines Konflikts mit Rußland nicht allein stehen würde.
Den Schritt des Wiener Kabinetts in Belgrad dem russi-
schen Minister des Äußern zu erklären und in überzeu-
gender Weise verständlich zu machen, werde dem k. u. k.
Botschafter wohl kaum gelingen.
160
Es gebe aber ein Moment, das seinen Eindruck auf den
russischen Minister des Äußern nicht verfehlen könne, und
das sei die Betonung 'des Umstandes, daß die österreichisch-
ungarische Monarchie dem von ihr seit Jahrzehnten fest-
gehaltenen Grundsatze entsprechend, auch in der gegen-
wärtigen Krise und bei der bewaffneten Austragung des Gegen-
satzes zu Serbien keinerlei eigennützige Motive verfolge.
Die Monarchie sei territorial gesättigt und trage nach
serbischem Besitz kein Verlangen. Wenn der Kampf mit
Serbien der Monarchie aufgezwungen werde, so werde dies
für sie kein Kampf um territorialen Gewinn, sondern ledig-
lich ein Mittel der Selbstverteidigung und Selbsterhaltung sein.
Der Inhalt des Zirkularerlasses, der an sich schon beredt
genug sei, werde in das rechte Licht gerückt durch das
Dossier über die serbische Propaganda ' gegen die Monarchie
und die Zusammenhänge, die zwischen dieser Propaganda
und dem Attentat vom 28. Juni bestünden.
Auf dies Dossier, das dem k. u. k. Botschafter mit
einem speziellen Erlasse zukomme (um Mißverständnissen
vorzubeugen, werde bemerkt, daß das Dossier den Mächten
nur für den Fall einer Ablehnung der Forderungen an
Serbien übermittelt werden solle), wolle der k. u. k. Bot-
schafter die Aufmerksamkeit des Herrn russischen Ministers
ganz speziell lenken und dartun, es sei eine in der
Geschichte singulare Erscheinung, daß eine Großmacht die
aufrührerischen Umtriebe eines angrenzenden kleinen Staates
durch so lange Zeit mit so beispielloser Langmut geduldet
hätte, wie Österreich-Ungarn jene Serbiens.
Die Hauptursache, warum die Monarchie so lange gleich-
mütig geblieben wäre, sei darin zu suchen, daß sie Serbien
nicht während jener Periode seiner staatlichen Entwicklung
zur Rechenschaft ziehen wollte, in der es dem alten
türkischen Erbfeinde gegenüberstand.
Die Monarchie wollte keine Politik gegen das Aufstreben
der christlichen Balkanstaaten machen und habe es daher —
trotzdem ihr der geringe Wert serbischer Versprechungen
bekannt war — nach der Annexionskrise vom Jahre 1908
' Vgl. Anmerkung 3, Seite 167.
11 161
zugelassen, daß sich Serbien beinahe um das Doppelte
vergrößere.
Heute lägen die Dinge anders: Serbien habe seine
Aspirationen der Türkei gegenüber durchgesetzt und die
Monarchie könne gegen Serbien vorgehen, ohne sich dem
Vorwurf auszusetzen, daß sie die freie Entwicklung des
serbischen Staates behindern wolle.
Andrerseits habe die subversive Bewegung, die in
Serbien gegen die Monarchie genährt werde, inzwischen
so exzessive Formen angenommen, daß das monarchische
und dynastische Interesse durch die serbische Wühlarbeit
bedroht erscheine.
Das Wiener Kabinett müsse annehmen, daß das konser-
vative kaisertreue Rußland ein energisches Vorgehen von
Seite der Monarchie gegen diese Bedrohung aller staatlichen
Ordnung begreiflich und sogar notwendig finden werde.
Daß das Wiener Kabinett bei seinem Vorgehen nicht von
dem Wunsche einer Zurückdrängung des orthodoxen
Slawentums geleitet sei, sei schon früher angedeutet
worden.
Der k. u. k. Botschafter könne dies Moment dem
russischen Minister des Äußern gegenüber auch mit dem
Hinweise darauf entsprechend illustrieren, daß sich die
Monarchie derzeit nur in einem Gegensatze zu Serbien
befinde, während ihre Beziehungen zu Montenegro normal
und freundnachbarlich geblieben seien.
Das Wiener Kabinett habe sich in der Tat — was die nach
Österreich-Ungarn getragene großserbische Agitation anbe-
lange — über Montenegro nicht zu beklagen und auch das
Dossier, das der k. u. k. Botschafter Herrn Sazonow zu
übergeben habe, enthalte kein Material gegen das genannte
Königreich. Wenn der k. u. k. Botschafter in seinem Ge-
spräche mit Herrn Sazonow an diesem Punkte angelangt
sei, werde der Moment gekommen sein, an die Aufstellung
der Beweggründe und Absichten des Wiener Kabinetts den
Hinweis zu knüpfen, daß es zwar — wie der k. u. k. Bot-
schafter bereits in der Lage gewesen sei, darzulegen ' —
I Graf Szäpäry harte inzwischen die Weisung erhalten, die Frage des
territorialen Desinteressements nicht zu streifen. (Siehe Seite 154 unten.)
162
keinen territorialen Gewinn anstrebe und auch die Sou-
veränität des Königreiches nicht anzutasten gedächte, daß es
aber andrerseits zur Durchsetzung seiner Forderung bis
zum Äußersten gehen und auch vor der Möglichkeit euro-
päischer Verwicklungen nicht zurückschrecken würde.
Daß das Wiener Kabinett bisher, soviel an ihm lag,
bestrebt war, den Frieden zu erhalten, den man auch in
Wien als das kostbarste Gut der Völker betrachte, zeige
der Verlauf der letzten vierzig Jahre und die geschichdiche
Tatsache, daß sich der Monarch den Namen eines Hüters
des Friedens erworben hätte.
Das Wiener Kabinett würde eine Störung des euro-
päischen Friedens schon deshalb auf das Lebhafteste be-
dauern, weil es stets der Ansicht gewesen sei, daß die
Aufteilung des türkischen Erbes und das Erstarken der
Balkanstaaten zur staatlichen und politischen Selbständig-
keit auch alle Möglichkeit eines Gegensatzes zwischen der
Monarchie und Rußland beseitiget hätte; und weil das Wiener
Kabinett immer bereit war, die wohlverstandenen großen
politischen Interessen Rußlands bei der eigenen politischen
Orientierung zu berücksichtigen, und weil es endlich immer
gehofft hätte, daß die gleichen konservativen monarchischen
und dynastischen Interessen der drei Kaiserreiche nicht für
alle Zukunft ohne heilsame Rückwirkung auf ihre politischen
Beziehungen bleiben würden.
Eine weitere Duldung der serbischen Umtriebe hätte die
staatliche Existenz der Monarchie untergraben, ihren Bestand
als Großmacht, daher auch das europäische Gleichgewicht
in Frage gestellt. Das Wiener Kabinett aber sei überzeugt,
daß es Rußlands eigenstes, von seinen friedlichen Staatsleitern
wohlverstandenes Interesse sei, daß das gegenwärtige euro-
päische, für den Weltfrieden so nützlicheGleichgewicht erhalten
bleibe. Die Aktion gegen Serbien, in welcher Form immer sie
erfolge, sei eine durchaus konservative und ihr Zweck dte
notwendige Erhaltung der europäischen Stellung derMonarchie.
Eine spezielle Weisung trug Graf Szäpäry am 25. Juli Weisung hm-
noch auf', sich über den Punkt der Beteiligung von k. u. k. p''''1',"\''h"
' o o Punkteso der
1 Weisung nach St. Petersburg d. d. Wien, 25. Juli, 1 Uhr p. m., ^'^sehrnoie
Nr. 172.
163
Funktionären bei der Unterdrückung der subversiven Be-
wegung in Serbien (Punkt 5 der Note), der den besonderen
Widerspruch Herrn Sazonows hervorgerufen hatte, dahin
zu äußern, daß dessen Einschaltung lediglich praktischen
Rücksichten entspringe und keineswegs der Absicht, die
Souveränität Serbiens zu tangieren. Das Wiener Kabinett
denke bei Punkt 5, „collaboration", an die Errichtung eines
geheimen „bureau de sürete" in Belgrad, das nach Art der
analogen russischen Einrichtungen in Paris und Berlin
funktionieren und mit der serbischen Polizei und Verwal-
tungsbehörde kooperieren würde.
Anzeichen Ein im amtlichen Organ der russischen Regierung am
^'""y^""', 24. lull veröffentlichtes Communique besagte, die kaiser-
scharfungder ^ t o ^
Situation liehe Regierung verfolge, lebhaft besorgt durch die über-
raschenden Ereignisse und durch das an Serbien gerichtete
Ultimatum Österreich-Ungarns, mit Aufmerksamkeit die
Entwicklung des österreichisch-ungarisch-serbischen Kon-
flikts, in dem Rußland nicht indifferent bleiben könne '.
Tags darauf erschien die Haltung der Petersburger Presse
geändert; auch räumte die bisher beobachtete vollkommene
Gleichgültigkeit der öffentlichen Meinung einer bemerk-
baren Erregung den Platz. Noch vermochte Graf Szdpäry
nicht zu entscheiden, ob dies alles als Begleitmusik zu den
russischen Demarchen geplant war, die bestimmt waren, die
Entschließung des Wiener Kabinetts zu verzögern, oder ob
ein noch ernsterer Hintergrund vorhanden sei -.
Gerüchte Sclt dem 25. Juli wurden in Petersburg sowohl in
"" ^ diplomatischen wie in russischen Kreisen mit großer
militärische *^
Maßnahmen Bestimmtheit Nachrichten über militärische Maßnahmen
Rußlands Rußlands kolportiert. So wollte der dänische Gesandte aus
ganz verläßlicher Quelle wissen, daß noch am 24. Juli
abends die Mobilisierungsordre für die Grenzbezirke gegen
Österreich-Ungarji und Deutschland erflossen sei •".
I Vgl. Rotbuch, Nr. 15.
- Telegramm aus St. Petersburg d. d. 25. Juli, Nr. 182.
•■• Telegramm aus St. Petersburg d. d. 25. Juli, Nr. 161.
In Wien glaubte man (Tagesbericht vom 11. Februar 1915, Nr. 965)
annehmen zu können, „daß nach der Überreichung des Ultimatums in
„Belgrad der italienische Botschafter das Petersburger Kabinett autoritativ
164
B. Die serbische Antwortnote an Österreich-
Ungarn vom 12. 25. Juli 1914 und der Abbruch
der diplomatischen Beziehungen Österreich-
Ungarns zu Serbien (25. Juli, 6 Uhr nachmittags)
Am 24. Juli, morgens 5 Uhr, war Herr Pasic nach Belgrad Ministerui
zurückgekehrt; seit 10 Uhr vormittags tagte ein Ministerrat, I24 j'^,"
der aber bis zum Abend noch keine Beschlüsse gefaßt
haben sollte ".
Aus Diplomatenkreisen hatte Freiherr von Giesl gehört,
daß die Verlegung der Regierung nach Nisch geplant sei.
Das Regierungsorgan brachte eine kurze Meldung über die
am 23. Juli erfolgte Übergabe der Note, welche schwerste
Bedingungen enthalte, und bezeichnete die Situation als
äußerst ernst und kritisch. Alle übrigen Blätter, von denen
einige wegen allzu heftiger Ausfälle gegen die Monarchie
konfisziert wurden, gaben der übereinstimmenden Ansicht
Ausdruck, daß sich Serbien nur einer Forderung fügen
könne, die die Selbständigkeit nicht tangiere.
In Beamtenkreisen wurde am 24. Juli das Gerücht
lanciert, daß die Regierung bereits gestern abends aus
Petersburg ein Telegramm erhalten habe, wonach Serbien
unbedingt auf Rußland zählen könne. Demgegenüber
konnte Freiherr von Giesl konstatieren, daß die serbische
Regierung vom Inhalte der österreichisch-ungarischen Note
augenscheinlich vollkommen überrascht wurde. Nach über-
einstimmenden Informationen hatte denn auch der Ministerrat
unter Vorsitz des Kronprinzen bis abends keine bindenden
Beschlüsse gefaßt.
„von der unerschütterlichen vereinbarten Entschlossenheit der deutschen
„und österreichisch-ungarischen Regierungen verständigen konnte und daß
„dies dazu beigetragen haben mag, daß in Rußland die allgemeine Mobili-
„sierung ohne Zaudern sofort angeordnet wurde." (Vergleiche die angeblichen
Konfidenzen des deutschen Botschafters in Rom (Seite 79, Anmerkung 1)
und die Demarchen Marquis di San Giulianos (Seite 115).
' Telegramm aus Belgrad d. d. 24. Juli, 6 Uhr 40 Minuten p. m.
Nr. 180.
165
Es wurde erklärt, daß die Antwort auf keinen Fall noch
am 24. Juli erteilt würde, da noch nicht sämtliche Minister
anwesend seien '.
Weisungen Am Ballhausplatz setzte man voraus, daß Freiherr von
Gesandten Gicsl auf Grund der ihm zuteil gewordenen Instruktionen
(24. Juli) bereits alle Vorkehrungen getroffen habe, um nach eventuell
fruchtlosem Ablauf der 48stündigen Frist Belgrad mit dem
Personal der Gesandtschaft sofort verlassen zu können -.
Das Ergebnis der 48stündigen Frist, das nur die vorbehalt-
lose Annahme der österreichisch-ungarischen Forderungen
oder die Ablehnung derselben sein könne (jede bedingte
oder mit Reserve begleitete Annahme habe der k. u. k.
Gesandte als Ablehnung aufzufassen), sollte sofort in
wenigen Worten von Semlin aus in claris an die Kabinetts-
und an die Militärkanzlei des Monarchen nach Ischl und
sowohl in claris von Semlin, wie in Ziffern von Belgrad aus an
das Ministerium des Äußern und an Graf Tisza nach Buda-
pest telegraphiert werden.
Fortdauer Am 25. JuH, I Uhr nachmittags, depeschierte der k. u. k.
des Minister- Gesandtc-^:
rates in
Belgrad Qgj. Ministerrat sei am 24. Juli abends und 25. Juli
abends, morgcns abermals zusammengetreten. Die Antwort auf die
-"^•J"" f'"*" österreichisch-ungarische Note solle nach mehrfachen Ver-
sionen noch vor dem Ablaufe der Frist übergeben werden.
Freiherr von Giesl höre, daß ein Hofzug zusammengestellt
werde; das Geld der Nationalbank und der Eisenbahn sowie
die Akten des Ministeriums des Äußern würden in das
innere des Landes gebracht. Ein Teil der Diplomaten sei
der Auffassung, der Regierung folgen zu müssen; speziell
auf der russischen Gesandtschaft werde eifrig gepackt.
• Die Garnison habe in Feldausrüstung die Stadt ver-
lassen. Die Munitionsdepots der Festung würden evakuiert.
Am Bahnhof herrsche starker militärischer Verkehr. Die
Sanitätskolonnen hätten Belgrad in der Richtung nach Süden
verlassen. Freiherr von Giesl gedenke im Falle des Abbruches
' Telegramm aus Belgr.-id d. d. 24. Juli, Nr. 181.
"• Weisung nach Belgrad d. d. Wien, 24. Juli, Nr. 85.
= Telegramm aus Belgrad-Semlin d. d. 25. Juli, 1 Uhr p. m., Nr. 182.
166
der Beziehungen Belgrad mit dem Zuge 6 Uhr 30 Minuten
zu verlassen.
Am 25. Juli, 7 Uhr 45 Minuten abends, wurde vom Abbruch
Legationssekretär Franz Graf Kinsky in Wien die nach- ^l^^i^^^rn
folgende Telephondepesche zur Weiterleitung an den in Beziehungen
Bad Ischl weilenden Grafen Berchtold aufgenommen: östl?re"ch-
„Gesandter Baron Giesl telephoniert aus Semiin nach ungam und
Budapest: Zwei Minuten vor 6 Uhr abends wurde. Antwort- ^'"''"^"
note überreicht; da sie in mehreren Punkten unbefriedigend,
hat Baron Giesl die Beziehungen abgebrochen und ist
abgereist.
Um 3 Uhr nachmittags wurde in Serbien die allgemeine
Mobilisierung angeordnet.
Regierung und diplomatisches Korps sind nach Kragu-
jevac abgereist."
Die instruktionsgemäß aus Semiin in claris aufgegebene
Depesche des Freiherrn von Giesl lautete': „Ich habe
„infolge ungenügender Antwort der königlich serbischen
„Regierung auf unsere am 23. 1. M. gestellten Forderungen
„die diplomatischen Beziehungen mit Serbien für abgebrochen
„erklärt und mit dem Personal der Gesandtschaft Belgrad
„verlassen."
Die telegraphische Verständigung vom Abbruche der zirkulär-
diplomatischen Beziehungen zu Serbien an alle k. u. k. änXTT k
Missionen erfolgte noch am Abend des 25. Juli -. Missionen
Ebenfalls noch am 25. Juli wurde an die k. u. k. Das Dossier
Funktionäre das in der Zirkularnote an die Signatarmächte Kabiülit""
angekündigte Dossier, das die großserbische Propaganda
und ihre Zusammenhänge mit dem Sarajevoer Attentate
zum Gegenstand hatte =, abgeschickt*, um dem Eindruck der
serbischen Antwortnote im Auslande zu begegnen.
1 Telegramm aus Semiin d. d. 25. Juli, 8 Uhr p. m., ohne Nummer.
- Zirkulartelegramm an die k. u. k. Missionen d. d. Wien, 25. Juli,
Prot. Nr. 5240.
3 Das weitläufige Dokument ist abgedruckt im österreichisch-ungari-
schen Rotbuch Nr. 19. Über die Verwertung des Dossiers vergleiche die
Ausführungen Seite 130, 134, 152, 153, 161, 197 oben, 202, 209, 210
und 285.
* Protokoll Nr. 3540 bis 3560 und 3569, 3570, d. d. 25. Juli.
167
Dieserbischc Die vom k. u. k. Gesandten als unzulänglich erachtete
Antwortnote der serbischen Regierung ' kam den öster-
reichisch-ungarischen Forderungen in weitem Umfange ent-
gegen. Die Argumentation der Note brachte gewisse Vor-
behalte zum Ausdrucke, insbesondere hinsichtlich des
Punktes 4: Endassung der durch die gerichdiche Unter-
suchung kompromittierten Offiziere und Beamten aus dem
Militär- und Zivildienste; Punkt 5: Mitwirkung von k. u. k.
Organen bei der strafprozeßlichen Untersuchung auf dem
Gebiete des Königreiches Serbien; Punkt 7: Bekanntgabe
der Schuldbeweise gegen Ciganovic; Punkt 9: Beweise und
Überführungsmittel hinsichtlich der Interviews serbischer
Diplomaten; und schloß ihre Ausführungen mit der Bereit-
willigkeitserklärung, eine friedliche Lösung anzunehmen, sei
es durch Übertragung der Entscheidung dieser Frage an
das internationale Gericht im Haag, sei es durch Über-
stellung der Entscheidung an die Großmächte, welche an
der Ausarbeitung der von der serbischen Regierung am
18./31. März 1909 abgegebenen Erklärung mitgewirkt hatten.
Das Dokument selbst wurde von Graf Berchtold als „sehr
geschickt verfaßt" bezeichnet-.
C. Die k. u. k. Regierung und die europäischen
Kabinette
Berlin
Bekanntgabe Die offiziellc Vcrständigung von dem Abbruche der diplo-
ches^dlTBe- matischcn Beziehungen zwischen Wien und Belgrad wurde
Ziehungen zu dcm k. u. k. Botschafter in Berlin am 26. Juli nachmittags
Serbien . • i ^ .
, . . zugeschickt-:
durch das &
Wiener Nachdem Serbien die von der Monarchie aufgestellten
Forderungen abgelehnt habe, habe die Monarchie die Be-
ziehungen zu diesem Lande abgebrochen.
' Vgl. den Originaltext in französischer Sprache im österreichisch-
ungarischen Rotbuche Nr. 25, in deutscher Sprache unter derselben
Nummer in der Volksausgabe des Rotbuches.
2 Vgl. Seite 217 unten.
■: Weisung nach Berlin d. d. Wien, 26. Juli, Nr. 270.
168
Kabinett
i
Die königlich serbische Regierung habe die Erfüllung der
Forderungen, welche die Monarchie zur dauernden Sicherung
ihrer durch Serbien bedrohten vitalsten Interessen stellen
mußte, abgelehnt und damit bekundet, daß sie nicht willens
sei, ihre subversiven, auf die stete Beunruhigung einiger
Grenzländer der Monarchie und ihre schließliche Lostren-
nung aus dem Gefüge der Monarchie gerichteten Bestrebungen
aufzugeben.
Zu seinem Bedauern und sehr gegen seinen Willen sei
daher das Wiener Kabinett in die Notwendigkeit versetzt
worden, Serbien durch die schärfsten Mittel zu einer grund-
sätzlichen Änderung seiner bisherigen feindseligen Haltung
zu zwingen. Der kaiserlich deutschen Regierung sei es wohl
bekannt, daß der Monarchie hiebei aggressive Tendenzen fern-
lägen, und daß es ein Akt der Selbstverteidigung sei, wenn
sich das Wiener Kabinett nach jahrelanger Duldung endlich
entschließe, den großserbischen Wühlereien auch mit dem
Schwerte entgegenzutreten.
Es gereiche dem Wiener Kabinett zur aufrichtigen Ge-
nugtuung, bei der deutschen Regierung und dem ganzen
deutschen Volke volles Verständnis dafür zu finden, daß das
nach den Ergebnissen der Untersuchung in Belgrad vor-
bereitete und von dortigen Sendlingen ausgeführte Attentat
von Sarajevo die gegen Serbien bisher bewiesene Langmut
der Monarchie erschöpfen mußte, und daß die Monarchie
jetzt mit allen Mitteln bestrebt sein müsse, sich Garantien
gegen die Fortdauer der gegenwärtigen unleidlichen Ver-
hältnisse an ihrer südöstlichen Grenze zu verschaffen. Das
Wiener Kabinett hoffe zuversichtlich, daß die bevorstehende
Auseinandersetzung mit Serbien zu keinen weiteren Kompli-
kationen Anlaß geben werde; sollte dies aber dennoch der
Fall sein, so stelle das Wiener Kabinett mit Dankbarkeit fest,
daß Deutschland in oft erprobter Treue seiner Bundes-
pflichten eingedenk sein und die Monarchie in dem auf-
gezwungenen Kampfe gegen einen anderen Gegner unter-
stützen werde.
Der Umstand, daß es das Wiener Kabinett unterließ. Die deutsche
die serbische Antwortnote der Berliner Regierung ^rw'ttavom
unaufgefordert mitzuteilen, bildet ein auffallendes wiener
169
Kabineiiden Gcgcnstück ZU der Tatsache, daß das Berliner
serbischen K- 3 D 1 H c 1 1 cpst gleichzeitig mit den übrigen Machten
Antwortnoie vom WoFtlautc d c p ö s t c Tf c i c h i s c h - u H ga T i s c h e n Be-
(27J"i') gehrnote in Kenntnis gesetzt wurde. Wie damals (21.Juh)
der k. u. k. Botschafter in Berlin die unverzügliche Mitteilung
der Begehrnote urgierte, so erhielt jetzt Herr von Tschirschky
den telegraphischen Auftrag (27. Juli), Graf Berchtold zu
ersuchen, den Wortlaut der serbischen Antwortnote ehestens
mitzuteilen '. Es wäre dies, wie Herr von Jagow dem Grafen
Szögyeny sagte, aus dem Grunde erwünscht, um England
gegenüber der Unrichtigkeit der erhobenen Behauptung ent-
gegenzutreten, daß die serbische Antwort in den Haupt-
punkten den Wünschen des Wiener Kabinetts entspreche.
Bisher hatte bloß der serbische Geschäftsträger den an-
geblichen Inhalt der Antwort des Herrn Pasic am 27. Juli
mittags Herrn Jagow mitgeteilt -.
' Telegramm aus Berlin d. d. 27. Juli, 5 Uhr 50 Minuten p. m.,
Nr. 303.
- Kaiser Wilhelm erhielt den Text der serbischen Antwortnote erst
am 28. Juli morgens zur Einsicht. Er charakterisierte ihren Inhalt mit
der eigenhändigen Bemerkung:
„Eine brillante Leistung für eine Frist von 48 Stunden. Das ist mehr,
als man erwarten konnte. Ein großer moralischer Erfolg für Wien. Damit
fällt jeder Kriegsgrund fort und Giesl hätte ruhig in Belgrad bleiben
sollen. Daraufhin hätte ich niemals Mobilmachung befohlen."
An den Reichskanzler erfloß gleichzeitig der Bescheid des Kaisers:
„Neues Palais, 28. Juli 1914, 10 Uhr vormittags.
Eure Exzellenz! Nach Durchlesung der serbischen Antwort, die ich
heute morgen enthielt, bin ich überzeugt, daß im Großen und Ganzen die
Wünsche der Donaumonarchie erfüllt sind. Die paar Reserven, welche
Serbien zu einzelnen Punkten macht, können meines Erachtens durch
Verhandlungen wohl geklärt werden. Aber die Kapitulation liegt darin
urbi et orbi verkündet und durch sie entfällt jeder Grund zum Kriege.
Dennoch ist dem Stück Papier wie seinem Inhalt nur beschränkter Wert
beizumessen, solange er nicht in die Tat umgesetzt wird. Die Serben sind
Orientalen, daher verlogen, falsch und Meister im Verschleppen. Damit
diese schönen Versprechungen Wahrheit und Tatsache werden, muß eine
douce violence geübt werden. Das würde dergestalt zu machen sein, daß
Österreich ein Faustpfand (Belgrad) für die Erzwingung und Durchführung
der Versprechungen besetzte und solange behielte, bis tatsächlich die
Petita durchgeführt sind. Das ist auch notwendig, um der zum drittenmal
umsonst mobilisierten österreichischen Armee eine äußere Satisfaktion
170
In Berlin setzte man — wie Graf Szögyeny meldete — Die Frage
allgemein als sicher voraus ', daß auf die eventuell abweisende ^1%"^'."^
Antwort Serbiens sofort die Kriegserklärung der Monarchie, ■väreigenden
verbunden mit kriegerischen Operationen, erfolgen werden. J^^jf^„„g
Man sehe in jeder Verzögerung des Beginnes der kriegerischen Österreich-
Operationen eine große Gefahr betreffs der Einmischung ^„"l^^bL
anderer Mächte. Man rate dringend, sofort vorzugehen und die
Welt vor ein Fait accompli zu stellen. Graf Szögyeny teile
diese Ansicht des Auswärtigen Amtes vollkommen.
Der hiezu erst am 27. Juli nachts nach Berlin abgeschickte
Bescheid Graf Berchtolds führte aus^, die Kriegserklärung
d'honneur zu geben, den Schein eines Erfolges dem Ausland gegenüber
und das Bewußtsein, wenigstens auf fremdem Boden gestanden zu haben,
ihr zu ermöglichen. Ohne dies dürfte bei Unterbleiben eines Feldzuges
eine sehr üble Stimmung gegen die Dynastie aufkommen, die höchst
bedenklich wäre. Falls Eure Exzellenz diese meine Auffassung teilen, so
würde ich vorschlagen, Österreich zu sagen, der Rückzug Serbiens sei
erzwungen und man gratuliere dazu. Natürlich sei damit ein Kriegs-
zustand nicht mehr vorhanden, wohl aber eine Garantie nötig, daß die
Versprechungen ausgeführt würden. Das würde durch die vorübergehende
Besetzung eines Teiles von Serbien wohl erreichbar sein, ähnlich wie wir
im Jahre 1871 in Frankreich Truppen stehen Heßen, bis die Milliarden
bezahlt waren. Auf dieser Basis bin ich bereit, den Frieden mit Öster-
reich zu vermitteln. Dagegen lautende Vorschläge oder Proteste von
anderer Seite würde ich unbedingt abweisen, umsomehr, als alle mehr
oder weniger offen an mich appellieren, den Frieden erhalten zu helfen.
Das werde ich tun nach meiner Manier so schonend für das öster-
reichische Nationalgefühl und für die Waffenehre seiner Armee als
möglich. Denn an letztere ist schon bereits seitens des obersten Kriegs-
herrn appelliert worden und sie ist dabei, dem Appell zu folgen. Also
muß sie unbedingt eine Satisfaction d'honneur haben. Das ist eine Vor-
bedingung für meine Vermittlung, daher wollen Eure Exzellenz mir in
dem skizzierten Sinne einen Vorschlag unterbreiten, der nach Wien mit-
geteilt werden soll. Ich habe im obigen Sinne an den Chef des General-
stabes durch Plessen schreiben lassen, der ganz meine Ansicht teilt.
Gez.: Wilhelm I. R."
(Veröffentlicht in den Tagesblättern nach der Wiedergabe in der
Zeitschrift „Deutsche Politik".)
1 Telegramm aus Berlin d. d. 25. Juli, 2 Uhr 15 Minuten p. m.,
Nr. 285. Vgl. Weißbuch betreffend d. V. d. U. a. Kr., Seite 33.
- Daß eine analoge Überzeugung auch anderwärts vorherrschte, er-
hellt aus den Feststellungen Seite 192 unten, 211 Mitte, 213, 215.
3 Weisung nach Berlin d. d. Wien, 27. Juli, Nr. 274. Expediert
27. Juli, 11 Uhr 10 Minuten p. m.
171
erfolge in den nächsten Tagen. Der Beginn der Kriegs-
operationen müsse jedoch bis zur Beendigung des Auf-
marsches verzögert werden, um dann mit voller Kraft
den entscheidenden Schlag führen zu können. Hiezu werde
noch eine gewisse Zeit erforderlich sein, da das Wiener
Kabinett, durch die Erfahrungen der letzten Jahre gewitzigt,
mit den militärischen Maßnahmen in größerem Stile nicht
beginnen wollte, bevor es feststand, daß es tatsächlich zum
Kriege kommen werde.
Den zutreffenden Grund gab wohl präziser eine Mit-
teilung Herrn von Jagows an Graf Szögyeny vom 27. Juli
nachmittags an': Herr von Tschirschky habe telegraphiert,
General Conrad von Hötzendorf hätte ihm vertraulich mit-
geteilt, daß, um mit entsprechendem militärischen Nach-
druck gegen Serbien vorgehen zu können, die österreichisch-
ungarische Mobilisierung erst am 12. August perfekt werden
könnte.
Der Staatssekretär habe gleichzeitig bedauert, daß der
Termin des Beginnes des militärischen Eingreifens der
Monarchie so lange hinausgeschoben werden müsse.
Das Berliner In ciner Unterredung mit Fürst Lichnowsky hatte Sir
Kabinett und g^j^^j-d Grcv am 24. luli die Anregung einer Vermitt-
die engli* ' rx
sehen ver- lung ZU vlcrt (England, Frankreich, Italien und Deutsch-
mittiungs- \2,^^ gegeben und sich bemüht, die Zusicherung der
anregungen ' o o
(24., 26. juiii Unterstützung seitens Deutschlands zu erlangen-.
Überdies hatte Sir Edward Grey am 25. Juli an Fürst
Lichnowsky in einem Privatschreiben das Ersuchen gestellt,
das Berliner Kabinett wolle sich in Wien für eine wohl-
wollende Berücksichtigung der serbischen Antwortnote ein-
setzen.
Dies Anliegen Sir Edward Greys war seitens der Berliner
Regierung an das Wiener Kabinett weitergeleitet worden».
Von Sir Edward Grey war sodann am 26. Juli nach
Paris, Berlin und Rom dem Anliegen Ausdruck gegeben
' Telegramm aus Berlin d. d. 27. Juli, 5 Uhr 50 Minuten p. m.,
Nr. 305.
2 Vgl. Seite 149 unten, 150.
■" Vgl. die Ausführungen Seite 198.
172
•
worden I, durch die Abhaltung einer Botschaftericon-
ferenz (England, Deutschland, Frankreich und Italien) den
nötigen Zeitvorsprung zu gewinnen, um die zwischen
Österreich-Ungarn und Serbien obschwebende Angelegenheit
bei Enthaltung jeglicher militärischen Operationen seitens
Serbiens, Österreich-Ungarns und Rußlands zur Regelung
zu bringen.
Dieser Vorschlag Sir Edward Greys war seitens der
deutschen Regierung mit der Begründung abgelehnt worden,
es erscheine Deutschland nicht angängig, den Bundes-
genossen wegen seiner Auseinandersetzungen mit Serbien
gleichsam vor einen europäischen Schiedsgerichtshof zu
ziehen -. Die deutsche Vermittlungstätigkeit habe zuvörderst
die Behebung der Gefahr eines österreichisch-russischen
Konflikts zum Ziele.
An dieser Stelle wird eine vom k. u. k. Botschafter in Die eng
Berlin am 27. Juli um 9 Uhr 15 Minuten p. m. nach ^'^'^'"'
Wien übermittelte Depesche eingehend zu berücksichtigen miniungs-
sein\ deren Inhalt — ohne kritische Überprüfung vorschlage
angebliche
seiner Angaben — danach angetan erscheint, em ver- steiiung-
zeichnetes Bild der Stellungnahme der deutschen Regierung ""'""=
Herrn von
gegenüber den englischen Vermittlungsvorschlägen zu geben, j^gows
Das Dokument lautet in wörtlicher Wiedergabe:
„Staatssekretär erklärte mir in streng vertraulicher Form
„sehr entschieden, daß in der nächsten Zeit eventuell Ver- -
„mittlungsvorschläge Englands durch die deutsche Regierung
„zur Kenntnis Eurer Exzellenz gebracht würden.
„Die deutsche Regierung versichere auf das Bündigste,
„daß sie sich in keiner Weise mit den Vorschlägen
„identifiziere, sogar entschieden gegen deren Berück-
„sichtigung sei und dieselben, nur um der englischen Bitte
„Rechnung zu tragen, weitergebe.
„Sie gehe dabei von dem Gesichtspunkte aus, daß es
„von der größten Bedeutung sei, daß England im jetzigen
« Blaubuch Nr. 36.
= Vgl. Blaubuch Nr. 43; ferner Seite 196 unten.
3 Telegramm aus Berlin d. d. 27. Juli, 9 Uhr 15 Minuten p. m.,
Nr. 307. Eingetroffen am 28. Juli, 9 Uhr a. m. Vgl. Weißbuch betreffend
d. V. d. U. a. Kr., Seite 33.
173
„Momente nicht gemeinsame Sache mit Rußland und Frank-
„reich mache. Daher müsse alles vermieden werden, daß
„der bisher gut funktionierende Draht zwischen Deutsch-
„land und England abgebrochen werde. Würde nun Deutsch-
„land Sir Edward Grey glatt erklären, daß es seine
„Wünsche an Österreich-Ungarn, von denen England glaubt,
„daß sie durph Vermittlung Deutschlands eher Berück-
„sichtigung bei uns finden, nicht weitergeben will, so würde
„eben dieser vorerwähnte, unbedingt zu vermeidende Zustand
„eintreten.
„Die deutsche Regierung würde übrigens bei jedem
„einzelnen derartigen Verlangen Englands in Wien dem-
„selben auf das Ausdrücklichste erklären, daß sie ' in keiner
„Weise derartige Interventionsverlangen Österreich-Ungarn
„gegenüber unterstütze und nur um Wunsch Englands zu
„entsprechen, dieselben weitergebe.
„So sei bereits gestern die englische Regierung durch
„den deutschen Botschafter in London und direkt durch
„ihren hiesigen Vertreter an ihn, Staatssekretär, heran-
„getreten, um ihn zu veranlassen, den Wunsch Englands
„betreffs unserseitiger Milderung der Note an Serbien zu
„unterstützen. Er, Jagow, habe darauf geantwortet, er wolle
„wohl Sir Edward Greys Wunsch erfüllen, Englands Be-
„gehren an Euer Exzellenz weiterzuleiten, er selbst könne
„dasselbe aber nicht unterstützen, da der serbische Konflikt
„eine Prestigefrage der österreichisch-ungarischen Monarchie
„sei, an der auch Deutschland partizipiere.
„Er, Staatssekretär, habe daher die Note Sir Edward
„Greys an Herrn von Tschirschky weitergegeben, ohne
„ihm aber Auftrag zu erteilen, dieselbe Euer Exzellenz
„vorzulegen; darauf hätte er dann dem englischen Kabinett
„Mitteilung machen können, daß er den englischen Wunsch
„nicht direkt ablehne, sondern sogar nach Wien weiter-
„gegeben habe.
„Zum Schlüsse wiederholte mir Staatssekretär seine
„Stellungnahme und bat mich, um jedwedem Mißverständ-
„nisse vorzubeugen. Euer Exzellenz zu versichern, daß er
' In der Vorlage: daß es ..
174
„auch in diesem eben angefülirten Fall, dadurch, daß er
„als Vermittler aufgetreten sei, absolut nicht für eine
„Berücksichtigung des englischen Wunsches sei."
Zunächst erscheint die Feststellung notwendig, daß der
eigentliche Gegenstand, das ist der materielle Inhalt
des englischen Vorschlages vom 26. Juli, in unver-
ständlicher Weise wiedergegeben ist.
Das Telegramm Graf Szögyenys formuliert nämlich den
Vorschlag Sir Edward Greys dahin, daß Deutschland
den Wunsch Englands hinsichtlich einer von Öster-
reich-Ungarn vorzunehmenden Milderung der Note
an Serbien unterstützen möge'. Was wollte dieser am
27. Juli aufgesetzte Satz besagen, da doch die Note bereits am
23. Juli, 6 Uhr abends, in Belgrad überreicht und am 25. der
Abbruch der diplomatischen Beziehungen vollzogen worden
war? Entgegen den Ausführungen des k. u. k. Botschafters
müssen wir konstatieren, daß es sich an dieser Stelle sinn-
gemäß nur um den Konferenzvorschlag Sir Edward
Greys (vom 26. Juli) handeln kann, der von Deutschland mit
der obenerwähnten Begründung allerdings Sir Edward Grey
gegenüber direkt abgelehnt worden war-.
Eine .weitere unrichtige Angabe sachlichen Belanges in
der vorliegenden Berichterstattung Graf Szögyenys wird
durch das Zeugnis der Tatsachen selbst widerlegt und auf-
geklärt.
Nach den Ausführungen des Telegramms habe Herr
von Jagow dem Grafen Szögyeny erklärt, es würden in der
nächsten Zeit eventuell Vermitdungsvorschläge Englands
durch die deutsche Regierung zur Kenntnis des Grafen
Berchtold gebracht werden;
„Die deutsche Regierung würde übrigens bei jedem ein-
„zelnen derartigen Verlangen Englands in Wien demselben
' Vgl. Seite 174 Mitte. — Diese Formulierung kann als weiterer Beleg
(siehe Seite 31, Anmerkung 1) für die mit fortschreitender Krise sich
steigernde Ungenauigkeit der Berichterstattung des bejahrten k. u. k.
Botschafters in Berlin dienen. Ist nun freilich der Mangel an positiver
Zuverlässigkeit in der Berichterstattung des Grafen Szögyeny einmal fest-
gestellt, so werden auch die bisher auf Grund ausschließlich seiner
Meldungen gezogenen Schlüsse einer Revision zu unterziehen sein.
■i Vgl. Blaubuch Nr. 43.
175
„auf das Ausdrücklichste erklären, daß sie in keiner Weise
„derartige Interventionsverlangen Österreich-Ungarn gegen-
„über unterstütze und nur, um dem Wunsche Englands zu
„entsprechen, dieselben weitergebe."
Welches Maß von Zuverläßlichkeit kommt diesem Teil
der Meldung Graf Szögyenys angesichts der Tatsache
zu, daß die deutsche Regierung einen weiteren Vor-
schlag Sir Edwards, und zwar hinsichtlich der
Annahme der serbischen Antwortnote oder ihrer
Geltendlassung als Grundlage für Besprechungen,
in Wien am 28. Juli tatsächlich zur Erwägung vor-
legen ließ und gleichzeitig erklärte, die Rolle des
Vermittlers nicht abweisen zu können?
Noiiz der Hcrr von Tschirschky überreichte nämlich an diesem
BMlchir ^^§^ ^^^ Grafen Berchtold die folgende Notiz der deutschen
in Wien Botschaft in Wien:
(28. jui,) „Der kaiserliche Botschafter in London meldet:
,Soeben ließ mich Sir E. Grey zu sich kommen und
,bat, Eurer Exzellenz von Nachstehendem Kenntnis zu
,geben:
,Der serbische Geschäftsträger habe ihm soeben den
,Wortlaut der serbischen Antwort auf die österreichische
,Note übermittelt. Es gehe aus derselben hervor, daß Serbien
,in einem Umfange den österreichischen Forderungen
,entgegengekommen sei, wie er es niemals für möglich
,gehalten habe; bis auf einen Punkt, der Teilnahme öster-
,reichischer Beamten an den gerichtlichen Untersuchungen,
,habe SerbieA tatsächlich in alles eingewilligt, was von ihm
,verlangt worden ist. Es sei klar, daß diese Nachgiebigkeit
,Serbiens lediglich auf einen Druck von Petersburg zurück-
,zuführen sei.
,Werde sich Österreich nicht mit dieser Antwort be-
jgnügen, beziehungsweise werde diese Antwort vom Wiener
, Kabinett nicht als Grundlage für friedliche Unterhand-
,lungen betrachtet oder gehe Österreicji gar zur Besetzung
,von Belgrad vor, welches vollkommen wehrlos daliege,
,so sei es vollkommen klar, daß Österreich nur nach einem
,Vorwand suche, um Serbien zu erdrücken. In Serbien
,solle aber alsdann Rußland und der russische Einfluß auf
176
,dem Balkan getroffen werden. Daß Rußland dem nicht
,gleichgültig zusehen könne und es als eine direkte Heraus-
,forderung auffassen müsse, sei klar. Daraus würde der
jfürchterlichste Krieg entstehen, den Europa jemals gesehen
,habe, und niemand wisse, wohin ein solcher Krieg führen
, könne.
, Deutschland hätte sich, so meinte der Minister, wieder-
,holt und so noch gestern mit der Bitte an ihn gewandt, in
, Petersburg in mäßigendem Sinne Vorstellungen zu erheben.
, Diesen Bitten habe er stets gern entsprochen und sich
,während der letzten Krise Vorwürfe aus Rußland zugezogen,
,daß er sich zu sehr auf die deutsche und zu wenig auf die
, russische Seite stelle. Nun wende er sich mit der Bitte an
,die deutsche Regierung, ihren Einfluß beiin Wiener Kabinett
, dahin geltend zu machen, daß man die Antwort aus Belgrad
,entweder als genügend betrachte oder aber als Grundlage
,für Besprechungen. Er sei überzeugt, daß es in der Hand
,der kaiserlichen Regierung liege, die Sache durch ent-
, sprechende Vorstellungen zu erledigen, und er betrachte es
,als eine gute Vorbedeutung für die Zukunft, wenn es uns
,beiden abermalig gelänge, durch unseren beiderseitigen
, Einfluß auf unsere Verbündeten den Frieden Europas gesichert
,zu haben. Ich fand Sir Edward Grey zum ersten Male ver-
,stimmt. Er sprach mit großem Ernst und schien von der
jdeutschen Regierung auf das Bestimmteste zu erwarten,
,daß es ihrem Einfluß gelingen möge, die Frage beizulegen.
,Er wird noch heute ein Statement im House of Commons
, machen, worin er seinen Standpunkt zum Ausdruck bringt.
,Ich bin auf jeden Fall der Überzeugung, daß, falls es jetzt
,doch noch zum Kriege käme, wir mit den englischen Sym-
,pathien und der britischen Unterstützung nicht mehr zu
, rechnen hätten, da man in dem Vorgehen Österreichs alle
,Zeichen üblen Willens erblicken würde.'
Fortfahrend sagt die Notiz:
„Nachdem wir bereits einen englischen Konferenzvorschlag
„abgelehnt haben, ist es uns unmöglich, auch diese englische
„Anregung a limine abzuweisen. Durch eine Ablehnung jeder
„Vermittlungsaktion würden wir für die Konflagration vor
„der ganzen Welt verantwortlich gemacht und als die eigent-
12 177
„liehen Treiber zum Kriege hingestellt werden. Das würde
„auch unsere eigene Stellung im Lande unmöglich machen,
„wo wir als die zum Kriege Gezwungenen dastehen müssen.
„Unsere Situation ist um so schwieriger, als Serbien scheinbar
„sehr weit nachgegeben hat. Wir können daher die Rolle
„des Vermittlers nicht abweisen und müssen den englischen
„Vorschlag dem Wiener Kabinett zur Erwägung unterbreiten,
„zumal London und Paris fortgesetzt auf Petersburg ein-
„wirken.
„Erbitte Graf Berchtolds Ansicht über die englische
„Anregung, ebenso wie über Wunsch Herrn Sazonows, mit
„Wien direkt zu verhandeln.
„gezeichnet: Bethmann Hollweg.
„Wien, den 28. Juli 1914." '
Die Überreichung dieser — inhaltlich wortgemäß
angeführten — Notiz der deutschen Botschaft in
Wien widerlegt also ihrerseits die Richtigkeit der
in der fraglichen Depesche des Grafen Szögyeny vom
27. Juli enthaltenen diesbezüglichen Ausführung-.
Weisungen Mlttcls einer am 28. Juli, 11 Uhr 50 Minuten p. m.,
t^[dl an'den exp^dlerten Weisung •"• beauftragte Graf Berchtold den k. u. k.
k. u. k. Bot- Botschafter in Berlin, Herrn von Jagow in seinem Namen
^t^^^'" für die Mitteilung der Gründe, die das deutsche Kabinett
(28. Juli) o '
bestimmten, die englischen Vermitdungsvorschläge an das
Wiener Kabinett weiterzuleiten, bestens zu danken und bei-
zufügen, daß Graf Berchtold die Motive für diese Haltung
des deutschen Kabinetts vollauf würdige.
Mittlerweile habe auch Herr von Tschirschky die eng-
lische Anregung zur Kenntnis gebracht; Graf Berchtold
werde den deutschen Botschafter am 29. Juli von den
1 Die seitens des Wiener Kabinetts am 29. Juli besorgte Erledigung
dieser Notiz, siehe Seite 229 ff.
~ Damit erscheinen auch die im Weißbuch betreffend d. V. d. U.
a. Kr., Seite 39, mitgeteilten, auf Grund der Auskünfte des Reichskanzlers
von Bethmann Hollweg und des Staatssekretärs von Jagow erbrachten,
Angaben bestätigt.
•" Weisung nach Berlin d. d. Wien, 28. Juli, Nr. 284. Expediert
28. Juli, 11 Uhr 50 Minuten p. m.
178
Gründen unterrichten ', die ihm die Annahme derselben
untunlich erscheinen lassen -.
Um 1 1 Uhr nachts war überdies der Bescheid Graf
Berchtolds an den k. u. k. Botschafter in Berlin ergangen ',
der englische Konferenzvorschlag, insoweit er den Konflikt
der Monarchie mit Serbien im Auge habe, sei angesichts
des bereits eingetretenen Kriegszustandes durch die Er-
eignisse überholt. •
Noch waren diese beiden Depeschen Graf Berchtolds Meldung des
nach Berlin nicht abgeschickt, als vom k. u. k. Botschafter ll^'^f^f^^
am 28. Juli, 7 Uhr 40 Minuten p. m., die Nachricht über- über die Ab-
mittelt wurde *, daß der englische Vermittlungsvorschlag, e'^fli^Xn''"
laut welchem Deutschland, Italien, England und Frankreich Vorschlages
zu einer Konferenz in London zusammen treten sollten, um *='"" ^°''
' Schalter-
die Mittel zur Beilegung der jetzigen Schwierigkeiten zu konferenz
finden, deutscherseits mit der Begründung abgelehnt worden B^diner"
Regierung
1 Vgl. Seite 229 ff. (2S- Juü»
- Im Konzept ursprünglich: „Mittlerweile hat mir Herr von
„Tschirschky die englische Anregung im Wege einer schriftlichen Notiz
„zur Kenntnis gebracht und ich habe Veranlassung genommen, den Herrn
„kaiserlich deutschen Botschafter auf demselben Wege von den Gründen
„zu unterrichten, die uns die Annahme derselben untunlich erscheinen
„lassen."
Sodann geändert in:
„Mittlerweile hat mir Herr von Tschirschky die englische Anregung
„zur Kenntnis gebracht und ich "werde den Herrn kaiserlich deutschen
„Botschafter morgen von den Gründen unterrichten, die uns die Annahme
„derselben untunlich erscheinen lassen."
Wir werden auf den Umstand der Auslassung der Worte „im Wege
einer schriftlichen Notiz" und auf die Textesänderung hinsichtlich
der Modalität der Beantwortung in der Folge noch hinzuweisen haben.
(Vgl. unsere Ausführungen Seite 229 ff. und 231 und Anmerkung 3 daselbst.)
Auch muß weiters vermerkt werden, daß das Wiener Kabinett (soweit
sich dies aus dem gegenständlichen Aktenmaterial feststellen läßt) den
k. u. k. Botschafter in Berlin von der durch Graf Berchtold selbst
bereits (28. Juli) vollzogenen Ablehnung des englischen Ver-
mittlungsvorschlages Sir M. Bunsen gegenüber (vgl. Seite 203 ff.)
nicht verständigte.
3 Weisung nach Berlin d. d. 28. Juli, Nr. 283. Expediert 28. Juli,
11 Uhr p. m.
* Telegramm aus Berlin d. d. 28. Juli, 7 Uhr 40 Minuten p. m.,
Nr. 314.
179
Militär-
attaches)
sei, daß eine Konferenz nicht das geeignete Mittel wäre, um
einen Erfolg zu erzielen '.
nie Wie der deutsche Militärattache aus Petersburg am
russischen 26. JuH meldete -, habe das Gardekorps Ordre erhalten,
Rüstungen ^ j r )
(Meldung des oach Krasnojc Selo zurückzukehren, desgleichen sollten
deutschen g||g Regimenter in ihre Garnisonen wieder einrücken; die
Manöver sollten abgebrochen werden.
Bei dem deutschen* Generalstab war die — allerdings
nicht als sicher zu betrachtende — Nachricht eingelaufen,
daß vier Jahrgänge russischer Reserve einberufen worden
seien. Sollte dies wirklich zutreffen, so käme es nach Ansicht
des Großen Generalstabes einer allgemeinen Mobilisierung
Rußlands gleich.
Weiters war in Berlin die — übrigens auch nicht als
feststehend geltende — Nachricht eingelangt, daß die
Militärbezirke Moskau, Warschau, Kiew und Odessa
mobilisiert wurden.
Dem Grafen Szögyeny wurde am 27. Juli im Aus-
wärtigen Amte die Eröffnung gemacht ', daß sich nach
neuesten Nachrichten die Meldung der Einberufung von
vier Jahrgängen der Reserve und die Mobilisierung der
russischen Militärbezirke nicht zu bewahrheiten scheine.
Herr Sazonow habe dem deutschen Botschafter erklärt,
er könne ihm „garantieren, daß russischerseits keine Mobili-
„sierung vorgenommen worden sei."
Weiters habe sich der russische Minister des Äußern
Graf Pourtales gegenüber geäußert, „daß Rußland nur dann
' Da die Ablehnung des englischen Vorschlages einer Botschafter-
konferenz deutscherseits bereits am 27. Juli erfolgt war (Blaubuch Nr. 43),
(vgl. Seite 173), erfolgte die Berichterstattung Graf Szögyenys vom
28. Juli, 7 Uhr 40 Minuten p. m., etwas verspätet.
Zur Tatsache, daß das Wiener Kabinett dieses Telegramm Graf
Szögyenys — und nicht die vom Grafen Berchtold direkt vorgenom-
mene Ablehnung des englischen Vermittlungsvorschlages gegenüber Sir
M. Bunsen (vgl. Seite 203) — den k. u. k. Missionen am 29. Juli mitteilte,
vgl. unsere Ausführungen Seite 229 ff.
= Telegramm aus Berlin d. d. 26. Juli, 8 Uhr 38 Minuten p. m.,
Nr. 297.
= Telegramm aus Berlin d. d. 27. Juli, 4 Uhr 20 Minuten p. m.,
Nr. 301.
180
„mobilisieren würde, wenn Österreich-Ungarn eine feind-
„liche Haltung gegen Rußland einnehmen werde. Rußland
„wünsche den Frieden und hoffe, daß Deutschland es darin
„unterstützen werde".
Der deutsche Militärattache in Petersburg habe auch
gemeldet, der russische Kriegsminister habe ihm sein
Ehrenwort gegeben, daß weder ein Mann noch ein Pferd
mobilisiert seien, doch seien natürlicherweise gewisse militä-
rische Vorsorgen getroffen worden; Vorsorgen, die, wie der
deutsche Militärattache seiner Meldung als von sich aus
hinzugefügt habe, allerdings ziemlich weitgehend seien.
In Erwiderung des vorstehenden Telegramms Graf Weisung an
Szögyenys führte Graf Berchtold am 28. Juli aus': Vom Bo"scha"Jer
k. u. k. Militärattache in Petersburg lägen analoge Mel- in Berlin
düngen über russische Rüstungen vor. *^^' •*"'''
Der k. u. k. Botschafter wolle sich sofort zum Reichs-
kanzler oder Staatssekretär begeben und ihm folgendes im
Namen des Grafen Berchtold mitteilen:
Nach übereinstimmenden Nachrichten aus Petersburg,
Kiew, Warschau, Moskau und Odessa treffe Rußland
umfangreiche militärische Vorbereitungen. Herr Sazonow
habe zwar ebenso wie der russische Kriegsminister unter
Ehrenwort versichert, daß eine Mobilisierung bisher nicht
angeordnet wurde, der letztere habe jedoch dem deutschen
Militärattache mitgeteilt, daß die gegen Österreich-Ungarn
gelegenen Militärbezirke Kiew, Odessa, Moskau und Kasan
mobilisiert werden würden, wenn österreichisch-ungarische
Truppen die serbischen Grenzen überschritten.
Unter diesen Umständen halte es der k. u. k. Chef des
Generalstabes für unbedingt nötig, darüber ohne Verzug
Klarheit zu gewinnen, ob die Monarchie mit starken Kräften
gegen Serbien marschieren könne oder ob sie ihre Haupt-
macht gegen Rußland zu verwenden haben werde. Von der
Entscheidung dieser Frage hänge die ganze Anlage des
Feldzuges gegen Serbien ab. Falls Rußland die erwähnten
I Weisung nach Berlin d. d. Wien, 28. Juli, Nr. 282. Expediert 28. Juli,
11 Uhr p. ni.
181
Militärbezirke tatsächlich mobilisiere, wäre es schon mit
Rücksicht auf die große Bedeutung des Zeitgewinnes für
Rußland unerläßlich, daß sowohl Österreich-Ungarn als,
nach der ganzen Situation, auch Deutschland sofortige
weitestgehende Gegenmaßregeln ergriffen.
Die Ansicht des Barons Conrad scheine dem Grafen
Berchtold höchst beachtenswert, und er würde das
Berliner Kabinett dringend ersuchen, der Erwägung näherzu-
treten, ob nicht Rußland in freundschaftlicher Weise darauf
aufmerksam gemacht werden sollte, daß die Mobilisierung
der genannten Bezirke einer Bedrohung Österreich-Ungarns
gleichkäme und daher, falls sie tatsächlich erfolge, sowohl
von der Monarchie als vom verbündeten Deutschen Reiche
mit den weitestgehenden militärischen Gegenmaßregeln
beantwortet werden müßte.
Um Rußland ein eventuelles Einlenken zu erleichtern,
scheine es dem Wiener Kabinett angezeigt, daß ein solcher
Schritt vorerst von Deutschland allein unternommen werden
sollte, doch wäre das Wiener Kabinett natürlich bereit, den
Schritt auch zu zweien zu machen.
Eine deutliche Sprache scheine dem Grafen Berchtold in
diesem Augenblicke das wirksamste Mittel, um Rußland die
ganze Tragweite eines drohenden Verhaltens zum Bewußt-
sein zu bringen.
Auch wäre zu überlegen, oh nicht die günstigen Dis-
positionen, die nach den dem Berliner Kabinett zu-
gekommenen Nachrichten in Bukarest bestünden, zu benützen
wären, um auch von Rumänien her einen Druck auf Ruß-
land auszuüben. Zu diesem Zwecke scheine es dem Grafen
Berchtold wünschenswert, daß der k. u. k. und der deutsche
Gesandte in Bukarest unverzüglich angewiesen würden, an
König Carol mit dem Ersuchen heranzutreten, sei es durch
eine solenne Demarche in St. Petersburg (eventuell auch
ein geheimes Telegramm König Carols an Kaiser Nikolaus)
oder durch die öffentliche Bekanntgabe des Bündnisses,
offen zu erklären, daß Rumänien im Falle einer europäischen
Konflagration an der Seite des Dreibundes gegen Rußland
kämpfen würde.
182
Diese Klarstellung müßte, um ihrem Zweck zu ent-
sprechen, bis spätestens 1. August erfolgen '.
Graf Szögyeny wolle schließlich bemerken, Graf Berch-
told nehme an, daß die maßgebenden deutschen Faktoren
angesichts des die beiden Reiche bedrohenden Verhaltens
Rußlands seinen Vorschlägen zustimmen würden.
Rom
Dem römischen Kabinett wurde die Abweisung der offizkiie
serbischen Antwortnote mit folgender Motivierung offiziell '^'"=''""s
ö ö des Ab-
mitgeteilt-: Der königlich italienischen Regierung sei es bruches der
wohl bekannt, daß dem Wiener Kabinett aggressive Ten- ^"''"""f"
' öö Osterreich-
denzen ferne lägen, und daß es ein Akt der Selbstverteidigung Ungarns zu
sei, wenn es sich nach jahrelanger Duldung endlich dazu %''"^"|;,
entschließe, den großserbischen Wühlereien eventuell mit
dem Schwerte entgegenzutreten. Man werde dem Wiener
Kabinett in Rom das Zeugnis nicht versagen können, daß
es trotz der schwersten Provokationen Serbien gegenüber
seit einer Reihe von Jahren die größte Langmut habe walten
lassen, obwohl ihm die immer kühner auftretende groß-
serbische Propaganda die schwersten Besorgnisse einflößen
mußte. Nachdem nunmehr aber das nach den Ergebnissen
3er Untersuchung in Belgrad vorbereitete und von den
dortigen Sendungen ausgeführte Attentat in Sarajevo deutlich
beweise, daß man in Serbien zur vermeintlichen Förderung
seiner Ziele auch vor den gewalttätigsten Mitteln nicht
zurückschrecke, sei das Wiener Kabinett zur Erkenntnis
gelangt, es sei höchste Zeit, sich mit allem Nachdrucke
Garantien gegen den Fortbestand der gegenwärtigen unleid-
lichen Verhältnisse an der südöstlichen Grenze der Monarchie
zu verschaffen.
Da nun die friedlichen Mittel, um Serbien zu einer
Änderung seiner Haltung zu bewegen, erschöpft seien, sei
die Entscheidung durch die Waffen voraussichtlich.
' Der Satz: „Diese Klarstellung müßte, um ihren Zwecken zu ent-
sprechen, bis spätestens 1. August erfolgen", erscheint im Konzept
als nachträglicher Zusatz von der Hand Graf Berchtolds.
2 Weisung nach Rom d. d. Wien, 26. Juli, Nr. 884.
183
Als Italien vor kurzer Zeit genötigt war, zur Befestigung
seiner Stellung im Mittclmeer und zur Wahrung seiner
wirtschaftlichen Interessen Krieg zu führen, habe die
Monarchie in bundesfreundlicher Gesinnung die Erfolge seiner
Waffen mit Freuden begrüßt und die sich hieraus ergebende
Erweiterung der italienischen Machtsphäre bereitwilligst
anerkannt.
Dem freundschaftlichen Charakter des Bundesverhält-
nisses entsprechend, habe nunmehr Herzog von Avarna die
offizielle Erklärung abgegeben, daß Italien im Falle des Ein-
tretens eines kriegerischen Konflikts zwischen der Monarchie
und Serbien seiner Bundespflichten eingedenk sein werde.
Hievon nehme das Wiener Kabinett mit dankbarer Genug-
tuung Kenntnis.
Rekrimiaa- Dcm k. u. k. Botschaftcr in Rom stattete der Sekretär
lioncn der ^^^ Minlstcrs dcs Äußern, Biancheri, am 26. luli einen
Italienischen ' j ^
Regierung Krankcttbesuch ab.
(26. Juli)
In einer längeren unverbindlichen Konversation über
den Konflikt der Monarchie mit Serbien' hob der italienische
Funktionär, der hiebei offenbar die Auffassung seines Chefs
zum Ausdrucke brachte, den für jeden Staat inakzeptablen
Ton der Note und den Umstand hervor, daß letztere den
Kabinetten nicht früher mitgeteilt worden sei, so daß die-
selben jeden Engagements frei seien; daß ihnen die Note
nachträglich aber dann doch mitgeteilt worden sei, was
ihnen Gelegenheit zur Einmischung gebe und mit der These
unvereinbar sei, es handle sich um eine ausschließlich die
Monarchie und Serbien angehende Angelegenheit. Wozu
dann die Mitteilung an die Signatarmächte? Auch von Italien,
das man früher weder gefragt noch verständigt habe, könne
man nicht verlangen, daß es eventuell im weiteren Verlaufe
des Konflikts für die Monarchie vom Leder ziehe. Käme
es zu zeitweisen oder definitiven Okkupationen von öster-
reichisch-ungarischer Seite, so stehe das Anrecht Italiens
auf Kompensationen außer Zweifel.
' Telegramm aus Rom d. d. 26. Juli, Nr. 541. Expediert 27. Juli,
2 Uhr a. m.
184
Herr von Merey trat allen diesen Thesen nachdrück-
lichst entgegen, wobei er aber, wie er in seiner Meldung
feststellte, die zwar nicht überraschende, aber höchst be-
dauerliche Konstatierung machte, daß sich Herr Biancheri
sowohl hinsichtlich der Kritik der Redaktion der öster-
reichisch-ungarischen Note, wie bezüglich der Unterlassung
ihrer früheren Mitteilung, wie vollends betreffs der Kompen-
sationen theoretisch auf die Übereinstimmung zwischen Rom
und Berlin berief.
Herr von Merey war überzeugt, Italien werde an das
Wiener Kabinett mit allerlei dasselbe irgendwie bindenden
Anträgen hinsichtlich einer Mediation oder Kompensation
herantreten. Seines Erachtens sollte sich die Monarchie
absolut ablehnend verhalten, ja keinerlei Engagements ein-
gehen und die römische Presse und Regierung sich gebär-
den lassen. Je entschlossener und unerschütterlicher man
in Wien sei, desto mehr werde dies in Italien nützen.
Der deutsche Botschafter in Wien hatte am 26. Juli un,erredung
bei Graf Berchtold vorgesprochen ' und ihm auftrags- Herrn von
gemäß den Inhalt eines Telegramms des deutschen Bot- J^G^Tf
schafters in Rom mitgeteilt, worin der Letztere über eine ßerchtoid
Unterredung mit Marchese di San Giuliano betreffs der Deuts"hiand
österreichisch-ungarisch-serbischen Krise referierte. "kUrt sich
Darnach solle der italienische Minister des Äußern in sehr "älien^iLhen
gereiztem Tone den österreichisch-ungarischen Schritt in interpreta-
Belgrad besprochen und betont haben, derselbe stelle sich Artikels vii
als ein aggressiver Akt dar, für dessen Konsequenzen die solidarisch
italienische Regierung nicht herangezogen werden könne.
Der Dreibundvertrag sei rein defensiver Natur, der Vorstoß
der Monarchie gegen Serbien aber offensiv; wenn Rußland
dadurch in den Kampf hineingezogen werden sollte, wäre
für Italien der Casus foederis nicht gegeben und es würde
sich passiv verhalten.
Baron Flotow bemühte sich im Laufe der mehrstündigen
Unterredung, den Minister von seinem Standpunkt abzu-
bringen, ihm die österreichisch-ungarische Aktion als einen
Akt der Notwehr und Selbsterhaltung darzustellen und den
1 Tagesbericht d. d. 26. Juli, Nr. 3577.
185
defensiven Charakter einer eventuellen militärischen Stellung-
nahme Deutschlands und Österreich-Ungarns gegen ein
Eingreifen Rußlands hervorzuheben, wodurch Italien nach
dem Bündnisvertrage verpflichtet werde, an der Seite
Österreich-Ungarns und Deutschlands zu kämpfen.
Marchese di San Giuliano, der seine Anschauungsweise
mit großer Zähigkeit vertrat und auf die außerordent-
lichen Schwierigkeiten verwies, die ihm seitens der öffent-
lichen Meinung seines Landes angesichts dieses Konflikts
bereitet würden, bei welchem die Sympathien nicht auf
österreichisch-ungarischer, sondern auf gegnerischer Seite
stünden, habe schließlich geltend gemacht, daß die Mon-
archie nach Artikel VII des Dreibundvertrages auch im
Falle vorübergehender Besetzung eines Gebietes am Balkan
Italien gegenüber kompensationspflichtig sei, daß also Italien
die Erfüllung der Stipulationen dieses Abkommens ver-
langen müßte.
Herr von Tschirschky betonte hiebei, daß sich die
deutsche Regierung in letzterer Beziehung mit der italie-
nischen Regierung solidarisch erkläre, da nach dem Wortlaute
des Allianzvertrages, so ungelegen dies im gegenwärtigen Falle
erscheinen möge, für jede auch vorübergehende Okkupation
von Gebieten „dans les regions des Balcans" -- sei es von
Österreich-Ungarn, sei es von Italien — vom anderen
Kontrahenten Kompensationsansprüche auf Grund vorher-
gehenden Übereinkommens gefordert werden könnten.
Auf die Entgegnung Graf Berchtolds, daß das Wiener
Kabinett diesbezüglich anderer Auffassung sei, da dem Geiste
des Dreibundvertrages und speziell des Artikels VII zufolge
die fragliche Kompensationsbestimmung sich bloß auf türki-
sches Gebiet beziehen könne, replizierte Herr von Tschirschky
mit der Bemerkung, daß die Abfassung des Artikels VII
„unglücklicherweise" eine solche sei, den Anspruch der
italienischen Regierung vollkommen zu rechtfertigen, und daß
daher die deutsche Regierung in dieser Frage sich auf Seite
der italienischen Regierung stellen müsse, somit zwei Stimmen
gegen eine in die Wagschale fallen würden.
Graf Berchtold verhehlte dem Botschafter sein Befrem-
den über die starre Haltung des römischen Kabinetts in
186
dieser Frage nicht. Während des lybischen Feldzuges hätten
die italienischen Truppen eine Reihe von ottomanischen
Inseln im Ägäischen Meere besetzt, was für die Monarchie
einen Kompensationsanspruch begründet habe. Graf Berch-
told hätte damals zugegeben, daß man Rhodus, Karpathos
und Stampalia, welche am Ausgange des Ägäischen Meeres
in das Mittelmeer gelegen seien, noch ausschalten könne,
die übrigen aber unbedingt als in das Gebiet des Ägäischen
Meeres fallend rechnen müsse, für welche der Monarchie
ein Kompensationsanspruch zustehe. Graf Berchtold hätte
letzteren damals nicht geltend gemacht, müßte aber nun,
falls Italien eine so weitgehende und intransigente Inter-
pretation für sich in Anspruch nehmen sollte, die Gegen-
rechnung der Monarchie präsentieren. Im übrigen sei er der
Ansicht, daß die Frage jetzt, da die. Monarchie ja nicht die
Absicht hätte, weder temporär noch definitiv serbische Ge-
biete zu besetzen — (vorübergehende Kriegsoperationen
könnten doch nicht als temporäre Besetzung klassifiziert
werden) — nicht auf die Tagesordnung zu stellen wäre.
Der italienische Botschafter, Herzog von Avarna, der Unterredung
ebenfalls am 26. Juli bei Graf Berchtold erschienen war', ß^chwid"
teilte aus Anlaß des Konflikts zwischen der Monarchie mit dem
und Serbien mit, daß sich die italienische Regierung für B^„','"hlte7
den Fall, als dieser Konflikt eine kriegerische Wendung (26. jun)
nehmen und zu einer — wenn auch nur provisorischen — <'"''^"
reklamiert
Besetzung serbischen Territoriums führen sollte, vor- seinKom-
behalte, das ihr auf Grund des Artikels VII des Dreibund- p'^n^"'!»"^-
recht für den
Vertrages zustehende Kompensationsrecht in Anspruch zu paii einer
nehmen. Die italienische Regierung sei überdies auf Grund ««""'""^h
nur provi-
des eben angeführten Vertragsartikels der Ansicht, daß sich sorischen
die Monarchie vor der eventuellen Besetzung serbischen ^""^""g
serbischen
Gebietes mit ihr ins Einvernehmen setzen müßte. Terri-
Im übrigen beabsichtige die italienische Regierung in
dem eventuell bewaffneten Konflikt zwischen Österreich-
Ungarn und Serbien eine freundschaftliche und den Bündnis-
pflichten entsprechende Haltung einzunehmen.
• Weisung nach Rom d. d. 26. Juli, Nr. 887. Expediert 26. Juli,
1 1 Uhr 45 Minuten p. m.
187
Weisung an
den k. u. k.
Botschuflcr
in Rom
(26. Juli)
Ratschläge
Herrn von
Jagows an
das Wiener
Kabinett
<27. Juli)
Ausführung
der Weisung
vom 26. Juli
(2S. Juli)
Dem k. u. k. Botschafter in Rom ließ Graf Berchtold
die Information über die Mitteilung des Herzogs von Avarna
noch in der Nacht des 26. Juli zukommen, wobei er
bemerkte, er habe noch keine Gelegenheit gefunden, Herzog
von Avarna den eigenen Standpunkt gegenüber dessen
Erklärungen darzulegen.
Da es heute noch ungewiß sei, ob und in welchem
Ausmaße sich die Monarchie zu einer provisorischen
Besetzung serbischen Gebietes veranlaßt sehen werde,
scheine Graf Berchtold eine Diskussion über diesen
Gegenstand verfrüht und er werde bestrebt sein, eine solche
vorläufig noch hinauszuschieben.
Herr von Jagow erklärte sich (27. Juli) mit der ihm
durch Graf Szögyeny mitgeteilten Stellungnahme Graf Berch-
tolds dem italienischen Standpunkte gegenüber vollkommen
einverstanden' und fand es ganz angezeigt, daß derselbe
vorerst in keine Auseinandersetzung über die Interpretation
des Artikels VII eingegangen sei. Trotz alledem sei Herr
von Jagow der Meinung, daß Graf Berchtold schon jetzt,
ohne Berufung auf den Artikel VII, in ausdrücklicher Weise
der italienischen Regierung erklären solle, daß er, falls eine
als nicht nur vorübergehend anzusehende Okkupation
serbischen Gebietes gegen den Willen des Wiener Kabinetts
doch als unvermeidliche Verfügung erachtet würde, mit
einer Kompensation (ohne irgendwelche Angabe über ihren
Umfang) an Italien einverstanden sein werde.
Durch eine derartige Erklärung, meinten Herr von
Jagow und Herr Zirrunermann, würde Italien, das fort-
während in Berlin in diesem Sinne Vorstellungen erhebe,
beruhigt werden.
Den mit der Instruktion vom 26. Juli erhaltenen Auftrag -
ließ Herr von Merey, der noch bettlägerig war, durch Graf
Ambrözy ausführen 3. Zugleich wies er Graf Ambrözy an,
um den Auftrag, angesichts der nicht unbedenklichen
Haltung der italienischen Regierung in der Kompensations-
frage, nicht in einen unverdienten Dank ausklingen zu lassen.
1 Telegramm aus Berlin d. d. 27. Juli, Nr. 302.
= Siehe Seite 183, 184.
= Telegramm aus Rom d. d. 28. Juli, Nr. 546.
188
beizufügen, Graf Berchtold behalte sich vor, in eine Dis-
icussion der Kompensationsfrage in einem gefahrlosen Zeit-
punkte einzugehen. Der Minister des Äußern, bei dem sich
Graf Ambrözy seines Auftrages entledigte, bat, die Mit-
teilung einem seiner Sekretäre zu wiederholen, der sich
darüber Notizen machte. Die eigene Antwort versprach
Marquis di San Giuliano eventuell am 29. Juli zu erteilen.
Nach seiner Kenntnis der Sachlage und auf Grund seiner
Besprechung mit Herrn Biancheri, glaubte Herr von Merey
vor einer mißverständlichen oder allzu optimistischen Auf-
fassung der durch den Herzog von Avarna vollzogenen
Demarche warnen zu sollen'.
Dieselbe habe offenbar in erster Linie, um nicht zu sagen
ausschließlich, der Ankündigung der Kompensationsansprüche
gegolten und die daran geknüpfte freundschafdiche, übrigens
sehr vage und unverbindliche Phrase, sei wohl nur eine
captatio benevolentiae gewesen.
Die teilweise überschwengliche Quittierung der letzteren
bei gleichzeitiger Vermeidung der Diskussion über das
schwierige Thema erscheine Herrn von Merey bedenklich,
da sie italienischerseits entweder als eine stillschweigende
Zustimmung oder dahin interpretiert werden könnte, daß
die Monarchie mit einem militärischen Konflikt selbst nicht
rechne und daher die Kompensationsfrage als gegenstandslos
betrachte.
Charakteristischerweise sei die Nachricht über die bundes-
freundlichen Äußerungen Italiens nur von Wien aus in die
römischen Journale gelangt, während sie von der Consulta
der Presse bisher vorenthalten wurde. Das ceterum censeo
Herrn von Mereys bleibe daher, Kompensationsansprüche
rundweg in Abrede zu stellen und sich ja in keine heiklen
Verhandlungen oder Engagements einzulassen. Gegenteiligen-
falls würde die Monarchie Italien die Rolle eines Mannes
einräumen, der seinem in die Donau gestürzten Freunde
sagen würde: „Ich ziehe dich nicht heraus. Wenn du dir
„aber aus eigener Kraft heraushilfst, dann müßtest du mir
„eine Entschädigung geben."
' Telegramm aus Rom d. d. 28. Juli, Nr. 547.
189
Demarchen Wclchc Bcsorgnissc die Berliner Regierung hinsichtlich
Herrn von (jgj. östcrreichisch-ungarisch-italienischen Unstimmigkeiten in
bei Graf der Kompensatiünsfragc bereits hegte, dokumentieren die
Berchioid in j,^ 27. und 28. Juli bei Graf Berchtold unternommenen
der Kompen- ^ ^r- <
saiionsfrage Demarchen Herrn von Tschirschkys '.
(27. und Beide Male erschien der deutsche Botschafter im persön-
lichen Auftrage Kaiser Wilhelms, des Reichskanzlers sowie
des Staatsministers, um den Grafen Berchtold angesichts der
ernsten Lage und der drohenden Gefahren „um Himmels-
willen" zu bitten, sich mit Italien über die Interpretation
des Artikels VII des Dreibundvertrages ins Reine zu setzen.
Italienischerseits werde das Vorgehen der Monarchie gegen
Serbien als ein aggressiver Akt auch gegenüber Rußland
angesehen und daher der Standpunkt vertreten, Italien könne
sich bei dem defensiven Charakter des Dreibundvertrages
nicht als verpflichtet ansehen, in einem eventuell daraus
entstehenden Kampfe mit Rußland auf die Seite der Monarchie
zu treten. Weiter sei erklärt worden, und zwar sowohl durch
den italienischen Botschafter in Berlin wie durch San
Giuliano und Salandra in Rom, daß Italien nur dann eine
freundschaftliche Haltung einnehmen könnte, wenn das
Wiener Kabinett die italienische Interpretation des Artikels VII
des Dreibundvertrages akzeptieren würde.
Herr von Tschirschky, der beauftragt war, Graf Berchtold
zu erklären, die deutsche Regierung interpretiere den Artikel VII
in der gleichen Weise wie die italienische, richtete (wie die
gegenständliche Aufzeichnung des k. u. k. Ministeriums des
Äußern besagt) einen feierlichen und nachdrucksvollen
Appell an den Grafen Berchtold, diese Situation tunlichst
bald ins klare zu bringen, da die ganze militärische Aktion
Deutschlands aufs Spiel gesetzt würde, wenn Italien den
Casus foederis nicht anerkennen sollte.
Erklärungen Hcrzog von Avama, der gleichfalls am 28. Juli bei
des Herzogs Qj.gf ßcrchtold vorsprach, gab im Auftrage seiner Regierung
von Avarna i i-v r-i
(28. Juli) eine analoge Erklärung ab, wie kürzlich (25. Juli) Baron
Macchio gegenüber, dahingehend, man hätte in Rom erwartet,
1 Weisung nach Rom d. d. Wien, 28. Juli, Nr. 892, und Weisung nach
Berlin d. d. Wien, 28. Juli, Nr. 280. E.\pediert am 28. Juli, 1 Uhr p. m.
190
das Wiener Kabinett würde in einem Falle, wie der gegen-
wärtige (Demarche in Belgrad), der unter die Bestimmung
des Artiivels VII des Dreibundvertrages („dans les Balcans")
falle, zuerst das Einvernehmen mit den beiden Verbündeten
pflegen; daß ferner die italienische Regierung für den Fall,
als der drohende Konflikt eine kriegerische Wendung nehmen
und zu einer, wenn auch nur provisorischen Besetzung
serbischen Territoriums führen sollte, sich vorbehalte, das
ihr auf Grund des Artikels VII des Dreibundvertrages zu-
stehende Kompensationsrecht in Anspruch zu nehmen,
worüber vorhergehend ein Einvernehmen herzustellen wäre,
schließlich, daß die königlich italienische Regierung in dem
eventuellen Waffengange zwischen Österreich-Ungarn und
Serbien eine freundschaftliche und den Bündnispflichten
entsprechende Haltung einnehmen wolle.
Graf Berchtold erwiderte dem italienischen Botschafter,
daß der Streitfall der Monarchie mit Serbien nur diese und
Serbien angehe und daß das Wiener Kabinett übrigens an
keine territoriale Erwerbung dächte; eine Besetzung serbischen
Gebietes daher nicht in Frage käme.
Auf die Bemerkung des Herzogs von Avarna, daß es
den Mächten gegenüber von großem Vorteil wäre, wenn
das Wiener Kabinett eine bindende Erklärung hierüber
abgeben würde, entgegnete Graf Berchtold, dies sei aus
dem Grunde nicht möglich, da man derzeit nicht voraus-
sehen könne, ob die Monarchie nicht durch den Verlauf
des Krieges in die Lage gebracht würde, gegen ihren Willen
serbisches Territorium okkupiert zu halten. Bei normaler
Abwicklung sei dies allerdings nicht zu erwarten, da die
Monarchie absolut kein Interesse hätte, die Zahl ihrer
serbischen Untertanen noch zu vermehren.
Graf Berchtold ersuchte Herrn von Merey (28. Juli) ', Eereitwiiiig-
Marquis di San Giuliano von der abgegebenen Erklärung I^^L/^^
des Herzogs von Avarna und der darauf erteilten Antwort Kabinetts,
Mitteilung zu machen und hinsichtlich der aus dem Artikel VII „^^^''^^'i- au
des Dreibundvertrages abgeleiteten Kompensationsansprüche vorüber-
Nachstehendes zu bemerken: !ehenden"^"
1 Weisung nach Rom d. d. Wien, 28. Juli, Nr. 892.
191
Okkupation
serbischen
Gebietes in
Meinungs-
austausch
über die
Kompen-
sationsfrage
zu treten
Weisung an
den k. u. k.
Botschafter
in Berlin
(2S. Juli)
(Trentino)
Zweifel "der
italienischen
Presse an
einer Kriegs-
absicht
Osterreicli-
Ungarns
Wie bereits dem italienischen Botscliafter gegenüber
erlilärt wurde, lägen territoriale Erwerbungen durchaus
nicht in den Absichten des Wiener Kabinetts. Sollte es sich
aber dennoch wider Erwarten gezwungen sehen, zu einer
nicht als nur vorübergehend anzusehenden Okkupation
serbischen Gebietes zu schreiten, so sei es bereit, für diesen
Fall mit Italien in einen Meinungsaustausch über eine
Kompensation zu treten. Auf der andern Seite erwarte man
in Wien von Italien, daß das Königreich den Verbündeten
in den zur Erreichung seiner Ziele nötigen Aktionen nicht
hindern, sondern ihm vielmehr die in Aussicht gestellte
bundesfreundliche Haltung unentwegt bewahren werde.
Graf Berchtold fügte noch als geheim hinzu: er habe
sich zu diesem Entgegenkommen entschlossen, weil es sich
gegenwärtig um ein großes Spiel handle, das an sich mit
bedeutenden Schwierigkeiten verbunden, ohne festes Zu-
sammenhalten der Dreibundmächte gänzlich undurchführbar
wäre.
Diese für den k. u. k. Botschafter in Rom bestimmte
Instruktion wurde gleichzeitig Graf Szögyeny nach Berlin
mit dem Auftrage übermittelt', sich im erwähnten Sinne
Herrn von Jagow gegenüber auszusprechen und sich weiters
dahin vernehmen zu lassen, das Wiener Kabinett habe den
Eindruck, daß an manchen Stellen Italiens an Kom-
pensationen auf Kosten von Gebieten der Monarchie,
speziell der mit italienischer Bevölkerung, etwa des Tren-
tino, gedacht werde. Demgegenüber wolle Graf Szögyeny
auf das Nachdrücklichste erklären, daß die Frage einer
Loslösung irgendeines Teiles der Monarchie nicht einmal
Gegenstand einer Erörterung bilden dürfe.
Die Tatsache, daß Österreich-Ungarn nach Ablehnung
der serbischen Antwortnote nicht sofort durch operative
militärische Maßnahmen vollendete Tatsachen schuf, wurde
nicht bloß in Berlin releviert-, sondern wurde auch — -wie
Herr von Merey am 27. Juli berichtete ^ — von der ge-
samten römischen Presse mit Erstaunen registriert und in
1 Weisung nach Berlin d. d. Wien, 28. Juli, Nr. 280.
= Vgl. Seite 171 oben, 211 Mitte, 213, 215.
3 Telegramm aus Rom d. d. 27. Juli, Nr. 548.
192
dem Sinne kommentiert, daß Österreich-Ungarn offenbar
doch eine friedliche Beilegung des Konflikts anstrebe.
Paris
In Paris hatte Graf Szecsen den Abbruch der diplo-
matischen Beziehungen Österreich-Ungarns zu Serbien
neben dem Hinweise auf die allgemeinen Gründe der Ab-
lehnung noch im besonderen mit folgender Erwägung zu
motivieren ':
Infolge der Unzulänglichkeit der serbischen Antwortnote Instruktion
und infolge der immer kühner auftretenden Provokationen BotsThaf.e,-
und der daraus hervorgehenden Bedrohung der Integrität anläßlich der
der Monarchie sei das Wiener Kabinett in die Notwendigkeit deTAb"^
versetzt worden, Serbien durch die schärfsten Mittel zu '"■"'^hes der
einer grundsätzlichen Änderung seiner bisherigen feind- ,i's''(,heTBe-
seligen Haltung zu zwingen. Ziehungen zu
Die französische Regierung werde begreifen, daß die
Monarchie nun endlich den Augenblick für gekommen
halten müsse, um sich mit dem größten Nachdrucke Garan-
tien zu verschaffen, die in absoluter Weise die Unter-
drückung der serbischen Aspirationen und damit die Ruhe
und Ordnung an den südöstlichen Grenzen der Monarchie
gewährleisten würden.
Da die zu diesem Zwecke aufgewendeten friedlichen
Mittel erschöpft seien, müsse eventuell die Entscheidung
durch die Waffen angerufen werden. Die österreichisch-
ungarische Regierung habe sich hiezu nicht leicht und nur
darum entschlossen, weil ihr Vorgehen, dem jede aggressive
Tendenz fernliege, nicht anders als ein unaufzuschiebender
Akt der Selbstverteidigung dargestellt werden könne und
weil sie einem europäischen Interesse zu dienen glaube,
wenn sie Serbien die Möglickeit benehme, auch fernerhin
wie seit den letzten zehn Jahren ein Element der allge-
meinen Beunruhigung zu sein.
In der Haltung Prankreichs während der Annexions-
krise, in den wertvollen, von dem Wiener Kabinett dankbar
• Weisung nach Paris d. d. Wien, 26. Juli, Nr. 163.
^^ 193
anerkannten Beweisen einer gerechten Würdigung der
politischen Bestrebungen zu jener Zeit, dürfe das Wiener
Kabinett ein Unterpfand dafür erblicicen, daß ihm die
französische Regierung auch in einem aufgezwungenen
Kampfe ihre Sympathien nicht versagen und daß sie die
auf dessen Lokalisierung gerichteten Bemühungen vor-
kommenden Falles unterstützen werde.
Äußerungen Noch bcvor Griif Szecscn diese am 26. Juli, 4 Uhr
ITheTMini- ^^ Minuten nachmittags, abgegangene telcgraphische Weisung
sterium des zugckommcn War, wurde ihm anläßlich eines Besuches im
^^r'^T'!, französischen Ministerium des Äußern am 26. Juli ver-
(26. Juli) ■J
traulich Einsicht in ein Telegramm des französischen Ver-
treters in Belgrad gewährt, das den Inhalt der serbischen
Antwortnote zusammenfaßte'.
Laut dieser Darstellung akzeptiere Serbien alle Wünsche
des Wiener Kabinetts rückhaltlos, erkläre sich bereit, das
Preßgesetz zu modifizieren und bitte nur hinsichtlich der
Teilnahme von österreichisch-ungarischen Organen an der
Untersuchung in Serbien, die es im Prinzip auch annehme,
um nähere Auskünfte.
Als Herr Berthelot sein Erstaunen darüber aussprach,
daß diese Antwort, die einer vollkommenen Kapitulation
gleichkomme, nicht akzeptiert wurde, antwortete Graf
Szecsen, er kenne den Text der serbischen Note nicht,
müsse aber vermuten, daß in derselben Reserven enthalten
seien, die deren anscheinend entgegenkommenden Charakter
modifizierten und die Antwort als unannehmbar erscheinen
ließen.
Sollte, führte Graf Szecsen in seiner Meldung aus,
Serbien die österreichisch-ungarischen Wünsche wirklich
rückhaltslos akzeptiert haben, so würde die intransigente
Haltung des Wiener Kabinetts in Paris, so fürchte er, einen
sehr ungünstigen Eindruck machen.
Die Sprache Herrn Berthelots sei sonst sehr versöhnlich
gewesen; er habe die Hoffnung ausgedrückt, das jedenfalls
sehr große Entgegenkommen Serbiens werde eine Basis
für weitere Verhandlungen bieten.
< Telegramm aus Paris d. d. 26. Juli, Nr. 125.
194
Die erwähnte Depesche aus Belgrad scheine 20 Stunden
unterwegs gewesen zu sein, ein Umstand, den Herr Berthelot
relevierte, ohne daran einen Kommentar zu knüpfen.
Bei dieser im Pariser Auswärtigen Amt vorherrschenden Mitteilung
Stimmung hatte Graf Szecsen, als er am 27. Juli auftrags- Bruches d;-
gemäß die Mitteilung des Abbruches der diplomatischen dipiomaü-
Beziehungen der Monarchie zu Serbien erstattete, keinen ^'i!I,'u"ngen zu
leichten Stand '. Herr Bienvenu Martin schien peinlich über- serwen
rascht und äußerte sich, die serbische Regierung habe in *"''
so weitgehendem Maße den österreichisch-ungarischen
Wünschen Rechnung getragen, daß die übriggebliebenen
Differenzen so unbedeutend erschienen, daß niemand ver-
stehe, warum es wegen derselben zum Bruche und zur
Anwendung schärfster Maßregeln kommen könne.
Ohne es direkt zu sagen, schien Herr Bienvenu Martin
anzunehmen, der Ausbruch der Feindseligkeiten mit Serbien
müsse einen allgemeinen Krieg zur Folge haben. Er äußerte
sich, Österreich-Ungarn würde eine furchtbare Verantwortung
auf sich laden, wenn es, nachdem Serbien so viel nach-
gegeben habe, v/egen der verbleibenden kleinen Differenzen
einen Weltkrieg hervorrufe. Graf Szecsen erwiderte, das
ganze Bestreben der Monarchie sei darauf gerichtet, ihrer-
seits den Konflikt mit Serbien zu lokalisieren; die Gefahr
weiterer Komplikationen würde nur eintreten, wenn eine
dritte Macht sich in diesen Konflikt einmischen würde. In
dieser Hinsicht könne Frankreich sehr nützlich wirken.
Der Minister versicherte, Frankreich höre nicht auf, in
Belgrad zur Nachgiebigkeit zu raten. Er gebe die Hoffnung
nicht auf, Serbien werde Mittel und Wege finden, um das
Wiener Kabinett ganz zufriedenzustellen.
Wenn Serbien die Note nachträglich ohne Vorbehalt
akzeptieren würde, müsse dies doch genügen. Ferner
fragte der französische Minister Grafen Szecsen, was unter
dem von Graf Berchtold erwähnten „schärfsten Mitteln" zu
verstehen sei, worauf der k. u. k. Botschafter entgegnete,
er könne dieselben nicht näher präzisieren. Herr Bienvenu
Martin hoffte, es werde nur ein Ultimatum sein, um Serbien
1 Telegramm aus Paris d. d. 27. Juli, Nr. 131.
195
die Möglichkeit zu geben, seine Antwort in befriedigendem
Sinne zu ergänzen.
Die weitgehende Nachgiebigkeit Serbiens, die in Paris
für unmöglich gehalten wurde, habe, meldete Graf Szecsen
des Weiteren, starken Eindruck gemacht. Angesichts der
Haltung des Wiener Kabinetts verbreite sich die Ansicht,
daß die Monarchie den Krieg um jeden Preis wolle, was
die Stimmung ungünstig beeinflusse.
Herr Poincare habe den Besuch in Kopenhagen und
Christiania abgesagt, was ihn sicher sehr verstimmen werde.
Er treffe am 29. Juli in Paris ein, Herr Iswolsky am 27.
oder 28. Juli. „Wir werden jetzt wahrscheinlich", schloß Graf
Szecsen seinen Bericht, „eine schärfere Tonart zu hören
bekommen."
Demarche BaFOH SchÖH brachte auftragsgemäß im Pariser Aus-
"•^ wärtigen Amt am 26. Juli zur Sprache, die Monarchie wolle
deutschen t r> t t^
Botschafters die territoriale Integrität Serbiens nicht antasten. Diese Mit-
(26. juiii teilung wurde (gemäß einer Meldung Graf Szecsens vom
26. Juli ') vom stellvertretenden Minister des Äußern mit
sichtlicher Freude zur Kenntnis genommen. Der deutsche
Botschafter knüpfte hieran das Ansuchen, Frankreich möge,
wie dies auch die deutsche Regierung tue, in Petersburg
einwirken, daß Rußland den Serben zur Nachgiebigkeit
rate. Der Minister versicherte, daß Frankreich lebhaft die
Beilegung des Konflikts wünsche und war erstaunt, daß
die serbische Note, die, wie er sagte, allen Wünschen der
Monarchie Rechnung trage, nicht annehmbar befunden
wurde.
Er kam auch auf die Idee Herrn Sazonows zu sprechen,
daß, nachdem die serbische Erklärung vom März 1909 den
Mächten notifiziert worden sei, diese berufen seien, die
Haltung Serbiens zu prüfen und zu diesem Zweck die
Mitteilung des betreffenden Dossiers verlangen sollten.
Baron Schön legte Herrn Bienvenu Martin die Undurch-
führbarkeit dieser Idee dar, worauf der Minister zugab, die
Monarchie könnte sich in dem vorliegenden Falle einem
europäischen Areopag nicht unterwerfen.
' Telegramm aus Paris d. d. 26. Juli, Nr. 128.
196
Am 28. Juli wurde Graf Szecsen, der in einer Meldung «eisung an
vom 26. Juli auf die Notwendigkeit der Bekanntgabe des t" ''ü 1' ^'
^ ö ö Botschafter
offiziellen Textes der serbischen Antwortnote hingewiesen as. juid
hatte ', beauftragt =, das ihm mit Postsendung übermittelte
Dossier und die an diesem Tage ebenfalls im Postwege
abgehenden kritischen Bemerkungen zu der serbischen
Anrwortnote sowohl den französischen Staatsmännern wie
der Öffentlichkeit gegenüber nach TunHchkeit zu verwerten.
Speziell wolle er auf das Moment den Nachdruck legen,
daß Senbien, nur um Europa irrezuführen, in seiner Note
sich den Anschein der Nachgiebigkeit gegeben, aber
keinerlei Garantien für die Zukunft geboten habe; nahezu
jede seiner Zusagen sei durch Vorbehalte und Reserven
wertlos gemacht. Seine wahre Gesinnung habe es durch seine
Mobilisierung gezeigt, während die Monarchie vor Ablauf
der befristeten Note keine militärischen Maßnahmen ge-
troffen hatte.
London
Graf Mensdorff hatte bei Bekanntgabe des Abbruches Weisung an
der diplomatischen Beziehungen Österreich-Ungarns zu ßmseha'frer
Serbien dieselbe Sprache zu führen wie sein österreichisch- ausAniaOder
ungarischer Kollege in Paris. "J"';';"^
'Nach der Darlegung der Motive, die das Wiener Kabinett bruches der
zu seinem ablehnenden Standpunkt gedrängt hatten, sollte Graf .'l'J'JheTBe-
Mensdorff an die Adresse Sir Edwards Greys folgende Ziehungen
spezielle Ausführungen richten ^: ^u serhien
Das hochentwickelte Gerechtigkeitsgefühl des englischen
Volkes und seiner leitenden Staatsmänner könne dem
Wiener Kabinette nicht Unrecht geben, wenn es sich dazu
entschließen müßte, mit dem Schwerte zu verteidigen, was
der Monarchie sei; wenn sich diese endlich mit einem
Lande auseinandersetze, dessen feindselige Politik die Mon-
archie seit Jahren zu den kostspieligsten Maßregeln zwinge,
die den Wohlstand derselben auf das empfindlichste beein-
trächtigten. Im Vertrauen auf die glücklicherweise wieder
i Telegramm aus Paris d. d. 26. Juli, Nr. 129.
2 Weisung nach Paris d. d. Wien, 28. Juli, Nr. 169.
3 Weisung nach London d. d. Wien, 26. Juli, Nr. 172.
197
hergestellten traditionell freundschaftlichen Beziehungen zu
England dürfe das Wiener Kabinett auf die Sympathien der
königlich großbritannischen Regierung bei einem der Mon-
archie aufgezwungenen Kampfe hoffen und darauf rechnen,
daß sie die auf dessen Lokalisierung gerichteten Bestre-
bungen Vorkommendenfalls unterstützen werde.
Durch- Instruktionsgemäß verständigte Graf Mensdorff die
Weisung " Londoner Regierung am 26. Juli von dem Abbruch der
(28. Juli. diplomatischen Beziehungen Österreich-Ungarns zu Serbien '.
Sir A. Nicolson, den der k. u. k. Botschafter in Abwesen-
heit Sir Edward Greys sprach, war sehr beunruhigt, hoffte
aber noch immer, daß irgendein Mittel gefunden werde,
um den Beginn der Feindseligkeiten zu verhindern.
Herrn von In Wien hatte Herr von Tschirschky dem Grafen
Muteuunger Bcrchtold am 26. Juli auftragsgemäß mitgeteilt -, daß laut
über das cines in London am 25. 1. M., 3 Uhr nachmittags, aufge-
si^r'EdJa"rd gebcncn Telegramms des Fürsten Lichnowsky, Sir Edward
Greys an den Grey dicscm die Skizze einer Antwortnote Serbiens über-
Ro'IchlLr sendet und in dem begleitenden Privatschreiben bemerkt
in London habc, cr hoffc, das Berliner Kabinett würde sich angesichts
''■'''''' des versöhnlichen Tenors dieser Antwort in Wien für deren
Annahme verwenden ^
Graf Berchtold halte es für angezeigt, daß Graf Mens-
dorff dem Staatssekretär gegenüber auf die Sache zurück-
komme und ihn darauf aufmerksam mache, daß fast zu
derselben Zeit, als er dies Schreiben an Fürst Lichnowsky
richtete, nämlich am 25. Juli um 3 Uhr nachmittags, Serbien
bereits die allgemeine Mobilisierung seiner Armee angeordnet
habe, was beweise, daß in Belgrad zu einer friedlichen
Austragung der Sache keine Neigung bestand. Die, wie es
scheine, schon vorher nach London telegraphierte Antwort
sei mit einem den Anforderungen des Wiener Kabinetts
nicht entsprechenden Inhalte erst um 6 Uhr nach erfolgter
Ausschreibung der Mobilisierung dem k. u. k. Ge-
sandten in Belgrad überreicht worden.
1 Telegramm aus London d. d. 2ö. Juli, Nr. 112.
- Weisung nach London d. d. Wien, 26. Juli, Nr. 170. Expediert
27. Juli, 12 Uhr 10 Minuten a. m.
" Vgl. Seite 172.
198
Am 27. Juli vormittags hatte Fürst Lichnowsky mit Äußerungen
Sir Edward Grey ein Gespräch geführt, über das Graf ^b'^r^di^HT-
Mensdorff nachmittags berichtete '. Die serbische Antwort tung öster-
nehme alles an bis auf einen Punkt, über den man sich '^"^ ' '"'
„ garns
noch verständigen könnte. Wenn Österreich-Ungarn mit 127. jum
dieser unerhörten Demütigung Serbiens nicht zufrieden sei,
so beweise es, daß dies nur ein Vorwand gewesen sei und
darauf abziele, Serbien und den russischen Einfluß zu ver-
nichten. Die Okkupation Belgrads wäre ein sehr unüber-
legter Schritt und würde die größte europäische Kon-
flagration herbeiführen. Sir Edward werde eine Erklärung
im Unterhause abgeben und proponiere Mediation und
Konferenz Englands, Deutschlands, Frankreichs und Italiens
in London.
Sir Edward sei sehr bestimmt gewesen und habe erklärt,
man bitte ihn immer, in Petersburg zu beruhigen; nun sei
der Moment gekommen, daß Deutschland in Wien kalmiere.
Der deutsche Botschafter erschien, wie Graf Mensdorff
meldete, sehr beunruhigt und überzeugt, daß wenn die
Monarchie in Serbien einmarschiere, England vollständig
in das andere Lager hinüberschwenke.
Am gleichen Tage (27. Juli) fand Graf Mensdorff Ge- umemedung
legenheit, Sir Edward persönlich den Abbruch der diplo- G^ef-Graf
matischen Beziehungen zu Serbien mitzuteilen -. Mensdorn
Daran anknüpfend erklärte der k. u. k. Botschafter aus- Der
führlich, die Aktion der Monarchie sei keine aggressive, ="g>'S':iie
sondern Selbstverteidigung und Selbsterhaltung; die Mon- lungsvor-
archie beabsichtige weder territoriale Eroberungen noch ^'^'''"s <c°"-
die Vernichtung der serbischen Unabhängigkeit. Sie wolle ^uaire)
eine gewisse Genugtuung für die Vergangenheit und
Garantien für die Zukunft.
Sir Edward äußerte sich, er sei sehr enttäuscht, daß das
Wiener Kabinett die serbische Antwort so behandle, als
wenn sie ganz ablehnend wäre, indeß sie doch die größte
• Telegramm aus London d. d. 27. Juü, 2 Uhr 12 Minuten p. m.,
Nr. 113.
- Telegramm aus London d. d. 27. Juli, 8 Uhr 5 Minuten p. m.,
Nr. 114.
199
Demütig'ung bedeute, der sich ein unabhängiger Staat jemals
unterworfen habe und eigentlich alle Punkte annehme. Graf
Mensdorff' verwies darauf, daß gerade die Auslassung des
Punktes über die Teilnahme der österreichisch-ungarischen
Organe geeignet erscheine, alle übrigen Zusicherungen
illusorisch zu machen.
Sir Edward sagte weiter, der deutsche Botschafter habe
ihn vor zwei Tagen gebeten, seinen mäßigenden Einfluß
in Petersburg geltend zu machen. Er habe geantwortet, es
wäre nicht möglich, von Rußland zu verlangen, daß es auf
Serbien einwirke, noch weiter zu gehen, als es dies in seiner
Antwort bereits getan habe.
Sir Edward hätte geglaubt, diese Antwort würde eine
Basis liefern, auf der die vier anderen Regierungen ein
befriedigendes Arrangement ausarbeiten könnten.
Das sei seine Idee beim Vorschlage einer Konferenz
gewesen.
Die Konferenz würde sich versammeln unter der Vor-
aussetzung, daß sowohl Österreich-Ungarn wie Rußland
sich jeder militärischen Operation enthalten würden während
des Versuches der anderen Mächte, einen befriedigenden
Ausweg zu finden.
Die Erklärung Sir Edwards im Unterhause am 27. Juli
habe dies Konferenzprojekt erörtert. Als Sir Edward vom
Enthalte militärischer Operationen seitens der Monarchie
gegen Serbien sprach, machte Graf Mensdorff die Bemerkung,
er fürchte, es sei vielleicht schon zu spät. Der Staats-
sekretär meinte, wenn das Wiener Kabinett entschlossen
sei, unter allen Umständen mit Serbien Krieg zu führen,
und voraussetze, daß Rußland ruhig bleiben werde, so
nehme es ein großes Risiko auf sich. Könne man in Wien
Rußland dazu bewegen, ruhig zu bleiben, sei alles gut und
er habe nichts mehr zu sagen. Wenn nicht, seien die Mög-
lichkeiten und die Gefahren unberechenbar.
Als Symptom der Beunruhigung bezeichnete es ferner
Sir Edward, daß die große Flotte, die nach den Manövern
in Portsmouth konzentriert wurde und am 28. Juli aus-
einandergehen sollte, vorläufig dort bleiben werde.
200
i
Die Bedeu-
tung dieser
„Wir hätten keine Reserven einberufen, aber nachdem
„sie versammelt sind, können wir sie in diesem Augenblicke
„nicht nach Hause schicken" '.
Der Staatssekretär war betrübt und beunruhigt, aber nicht
gereizt, wie Fürst Lichnowsky Grafen Mensdorff morgens
gesagt hatte.
Die Idee Sir Edwards einer Konferenz habe den Zweck,
wenn möglich, die KoUission zwischen den Großmächten
hintanzuhalten; Sir Edward dürfte also auf Isolierung des
Konflikts hinzielen. Falls aber Rußland mobilisiere und
Deutschland in Aktion trete, so falle die Konferenz von selbst
in die Brüche.
Sowohl dem deutschen als dem k. u. k. Botschafter Dieensiische
gegenüber hatte sich Sir Edward -am 27. Juli geäußert -, daß ^"^ "y "^"°
ihm bereits von Rußland vorgeworfen werde, daß er sich geschoben-
zu sehr auf die Seite Österreich-Ungarns stelle. öTierrelh.
Ungarns
durch
< Die Erklärung zu diesen Maßnahmen Sir Edwards bieten, wie der Deutschland.
bereits zitierte Tagesbericht vom 11. Februar 1915, Nr. 965 (Seite 164,
Anmerkung 3| feststellen zu können glaubt, die angeblichen Konfidenzen
des deutschen Botschafters in Rom an Marquis di San Giuliano (Vgl.
Seite 79, Anmerkung 1). Der erwähnte Tagesbericht sagt hierüber:
„Wie wir [das Wiener Kabinett] von sehr beachtenswerter und voll-
„kommen glaubwürdiger Seite erfahren, hat sich Sir Edward Grey einem
„seiner politischen Freunde gegenüber dahin geäußert, daß ihn unsere
„[Österreich-Ungarns] Aktion gegen Serbien keineswegs überrascht habe,
„da er durch den italienischen Botschafter auf unsere bevorstehende
„Aktion aufmerksam gemacht worden war. Marquis Imperiali habe damals,
„um die englische Regierung zu einer je energischeren Einsprache in
„Berlin und Wien zu bewegen, auch auf die Möglichkeit einer Über-
„rumpelung durch die deutsche Flotte hingewiesen. Hieraus erklärt sich —
„laut eigener Aussage des englischen Staatssekretärs — ,
„daß die englische Flotte, die Mitte Juli bei Spithead konzentriert worden
„war, bis über den ursprünglich beabsichtigten Termin zusammenbehalten
„wurde.
„Sir Edward habe sich durch die Mitteilung des italienischen Bot-
„schafters veranlaßt gesehen, die oberwähnte Maßregel, trotz der Über-
„raschung seiner Ministerkollegen, vor denen er die streng vertraulichen
„Informationen des Botschafters seinem Versprechen gemäß damals ge-
„heim halten mußte, im Ministerrate zu verlangen und durchzusetzen."
- Telegramm aus London d. d. 28. Juli, Nr. 115.
201
Graf Mensdorff glaube, Sir Edward wolle mit Deutsch-
land in friedlicher Absicht zusammenarbeiten, wenn er aber
Mißtrauen hege, daß Deutschland das Wiener Kabinett „vor-
geschoben" habe ' oder überhaupt den Krieg mit Rußland
zu provozieren wünsche, so würde Sir Edward sehr ab-
schwenken und, wie Graf Mensdorff befürchte, sich viel
entschiedener auf die russische Seite stellen.
Weisungen Dcr Inhalt der Berichterstattung des k. u. k. Botschafters
oenk. u. k. in London bestimmte Graf Berchtold zur Abfassung fol-
(28. Juli) gender Weisung (28. Juli) ■:
Da das Wiener Kabinett das größte Gewicht darauf lege,
daß Sir Edward das Vorgehen der Monarchie gegen Serbien
im allgemeinen und speziell die Ablehnung der serbischen
Antwort in unparteiischer Weise würdige, ersuche Graf
Berchtold den k. u. k. Botschafter, Gelegenheit zu nehmen,
Sir Edward das dem Grafen Mensdorff auf dem Postwege
übermittelte Dossier im Detail und unter Hervorhpbung der
besonders markanten Stellen auseinanderzusetzen. In dem-
selben Sinne wolle Graf Mensdorff die kritischen Bemer-
kungen zu der serbischen Note mit Sir Edward durch-
sprechen und ihm darlegen, daß das serbische Entgegen-
kommen nur ein scheinbares war, bestimmt, Europa zu
täuschen und daß es für die Zukunft keinerlei Garantien
geboten hätte.
Da die serbische Regierung wußte, daß das Wiener
Kabinett nur eine vorbehaltlose Annahme seiner For-
derungen befriedigen könne, sei die serbische Taktik klar zu
durchschauen: Serbien akzeptierte, um Eindruck auf die
europäische Öffentlichkeit zu machen, mit allerlei Vor-
behalten eine Anzahl der Forderungen, darauf bauend, daß
es nicht in die Lage kommen werde, seine Zusagen zu
erfüllen. Ein Hauptgewicht bei seiner Besprechung mit Sir
Edward Grey wolle Graf Mensdorff auf den Umstand legen,
daß die allgemeine Mobilisierung der serbischen Armee für
den 25. Juli, nachmittags 3 Uhr, angeordnet worden sei,
während die Beantwortung der österreichisch-ungarischen
1 Vergleiche hiezu die Ausführungen Seite 271, 276, 279 oben.
= Weisung nach London d. d. Wien, 28. Juli, Nr. 178. Expediert
28. Juli, 12 Uhr 40 Minuten p. m.
202
Note erst knapp vor Ahlauf der Frist, das heißt wenige
Minuten vor 6 Uhr, erfolgte. Die Monarchie habe vorher
keine militärischen Vorbereitungen getroffen, sei aber durch
die serbische Mobilisierung zu denselben in großem Aus-
maße gezwungen worden.
Am 28. Juli sprach der englische Botschafter Sir Maurice orezieiie
Bunsen bei Graf Berchtold vor, um auftraggemäß den Stand- Übermittlung
der eneli-
punkt Sir Edward Greys zum Konflikt der Monarchie mit sehen ver
Serbien auseinanderzusetzen': Die englische Regierung habe m-"'""?«-
mit lebhaftem Interesse den bisherigen Verlauf der Krise ver- ,„ wien.
folgt und lege Wert darauf, das Wiener Kabinett zu ver- Ablehnung
sichern, daß sie Sympathien für seinen Standpunkt hege durch crar
und seine Beschwerden gegen Serbien vollkommen ver- B^rehtow
stehe. Auch wolle sie betonen, daß sie keine warmen
Gefühle für Serbien übrig habe, vielmehr wohl wisse, was
sich letzteres in der Vergangenheit zuschulden habe kommen
lassen.
Wenn somit England keinen Grund habe, den Streitfall
der Monarchie mit Serbien an sich zum Gegenstande
besonderer Präokkupation zu machen, so könne derselbe
doch nicht der Aufmerksamkeit des Londoner Kabinetts
entgehen, weil dieser Konflikt weitere Kreise ziehe und
dadurch den europäischen Frieden in Frage stellen könne.
Nur aus diesem für England in Betracht kommenden
Grunde habe sich Sir Edward veranlaßt gesehen, eine Ein-
ladung an die Regierungen jener Staaten zu richten, die an
dem Konflikt nicht näher interessiert seien (Deutschland, Italien
und Frankreich), um gemeinschaftlich mit ihnen, im Wege
fordaufenden Gedankenaustausches, die Möglichkeiten zu
prüfen und zu erörtern, wie die Differenz möglichst rasch
ausgeglichen werden könnte. Nach dem Muster der Londoner
Konferenz während der letzten Balkankrise sollten nach der
Anschauung des englischen Staatssekretärs die Londoner
Botschafter der genannten Staaten sich zu dem angegebenen
Zwecke in fortlaufendem Kontakt mit ihm halten. Sir
Edward Grey habe bereits von den betreffenden Regierungen
I Weisung nach London d. d. Wien, 28. Juli, Nr. 179. Expediert
29. Juli, 1 Uhr a. m.
203
sehr freundschaftlich gehahene Antworten erhalten, worin
dieselben dem angeregten Gedanken zustimmten. Gegen-
wärtig wäre es der Wunsch des Staatssekretärs, wenn mög-
lich den Ausbruch der Feindseligkeiten zwischen Österreich-
Ungarn und Serbien in elfter Stunde zu verhindern, wenn
dies aber nicht tunlich wäre, doch vorzubeugen, daß es zu
einem blutigen Zusammenstoße komme, eventuell dadurch,
daß die Serben sich zurückziehen und den Kampf nicht
aufnehmen könnten. Die von Serbien nach Wien gelangte
Antwort scheine die Möglichkeit zu bieten, eine Basis für
eine Verständigung abzugeben. England sei gerne bereit,
hiebei im Sinne des Wiener Kabinetts und nach dessen
Wünschen seinen Einfluß zur Geltung zu bringen.
Graf Berchtold dankte dem Botschafter für die Sympathie-
kundgebung Sir Edward Greys und erwiderte ihm, daß er
der Auffassung des Staatssekretärs volle Würdigung zu
zollen wisse. Der Standpunkt des englischen Premiers sei
aber von dem des Grafen Berchtold naturgemäß verschieden,
da England an dem Streitfalle zwischen der Monarchie und
Serbien nicht direkt interessiert sei und der Staatssekretär
wohl kaum gründlich orientiert sein könne über die
schwerwiegende Bedeutung der zu lösenden Fragen für die
Monarchie. Wenn Sir Edward Grey von der Möglichkeit
rede, den Ausbruch der Feindseligkeiten zu verhindern, so
komme dieser Gedanke zu spät, da bereits gestern (27. Juli)
serbischerseits auf österreichisch-ungarische Grenzsoldaten
geschossen ' und heute vom Wiener Kabinett der Krieg
an Serbien erklärt worden sei. Was die Idee eines Transi-
gierens auf Grund der serbischen Antwortnote anbelange,
müsse Graf Berchtold eine solche ablehnen, das Wiener
Kabinett hätte die integrale Annahme gefordert, Serbien
habe sich durch Winkelzüge aus der Verlegenheit zu ziehen
gesucht; dem Wiener Kabinett seien diese serbischen
Methoden nur zu gut bekannt. Man dürfe nicht glauben,
daß man es mit einer Kulturnation zu tun habe, und dürfe
nicht übersehen, wie oft die Langmut des Wiener Kabinetts
getäuscht worden sei.
1 Vgl. Seite 218, 219.
204
Sir Maurice Bunsen könne dies nun durch seine eigenen
in Wien erworbenen Lokalkenntnisse gewiß richtig ein-
schätzen und werde in der Lage sein, dem Staatssekretär
hierüber ein genaues Bild zu geben. Sir Edward Grey
wolle dem europäischen Frieden dienen, was gewiß nicht
auf Widerstand beim Wiener Kabinett stoßen würde. Sir
Edward müsse jedoch bedenken, daß der europäische Friede
nicht dadurch gerettet würde, daß sich Großmächte hinter
Serbien stellten und für dessen Straffreiheit einträten.
Denn selbst wenn die Monarchie auf einen solchen Aus-
gleichsversuch eingehen wollte, würde dadurch Serbien nur
um so mehr ermutigt, auf dem bisherigen Pfade weitergehen,
was den Frieden binnen der allerkürzesten Zeit abermals
in Frage stellen würde.
Der englische Botschafter versicherte Graf Berchtold
zum Schlüsse, er verstehe den Standpunkt des Wiener
Kabinetts vollkommen, er bedauere aber andrerseits, daß
unter diesen Umständen der Wunsch der englischen Re-
gierung, einen friedlichen Ausgleich zu erzielen, für den
Augenblick keine Aussicht auf Verwirklichung habe. Er
hoffe, weiterhin mit dem Grafen Berchtold im Kontakt
bleiben zu dürfen, was ihm wegen der großen Gefahr
einer europäischen Konflagration von besonderem Wert
wäre.
Mit der Versicherung, Graf Berchtold stehe dem Bot-
schafter jederzeit zur Verfügung, schloß die Konversation.
St. Petersburg
Dem Grafen Szapäry war am 27. Juli, 12 Uhr 40 Minuten Weisung an
vormittags, die Weisung zugeschickt worden ', eine Ge- ^^" ^- "• ''■
Botschafter
legenheit herbeizuführen, um sich Herrn Sazonow gegen- ,26. juiü
über im Sinne des am 25. Juli von Wien abgegangenen
Erlasses- auszusprechen.
' Weisung nach St. Petersburg d. d. 26. Juli, Nr. 185. (Expediert
27. Juli, 12 Uhr 40 Minuten vormittags).
- Siehe Seite 159 Mitte. Die Instruktion ' selbst traf erst am 27. Juli
abends in St. Petersburg ein. (Siehe Seite 210 Mitte.)
205
Unterredung
des k. u. k.
Boischafrers
mit Herrn
Sazonow
(27. Juli).
Durch-
sprechung
des Te.\tes
der öster-
reichisch-
ungarischen
Note
Die Unterredung Graf Szdpärys mit Herrn Sazonow
fand am 27. Juli mittags statt'.
Der deutsche Botschafter hatte Graf Szäpäry bereits
vormittag mitgeteilt, er habe Herrn Sazonow heute früh
viel ruhiger und entgegenkommender gefunden und habe
diesem geraten, eine Aussprache mit Graf Szäpäry zu
suchen, denn er wisse, daß der k. u. k. Botschafter gegen-
über Rußland von den besten Dispositionen beseelt sei, und
wie sehr er es bedauere, daß die österreichisch-ungarische
Aktion gegen Serbien in Petersburg auf so wenig Ver-
ständnis stoße. Herr Sazonow empfing Graf Szäpäry im
Gegensatze zu seiner Haltung vom 24. Juli sehr liebens-
würdig. Er berief sich auf die Mitteilungen des Grafen
Pourtales und sagte, er würde den Grafen Szäpäry, wenn
dieser sich nicht selbst angesagt hätte, gebeten haben, zu
ihm zu kommen, um einmal offen mit ihm zu sprechen.
Er selbst sei am 24. Juli etwas überrascht gewesen und habe
sich nicht soweit beherrscht, als er gewünscht hä"tte, und
dann sei ihr Gespräch doch nur ein ganz offizielles ge-
wesen •.
Graf Szäpäry erwiderte, auch er hätte den Wunsch
gehabt, mit Herrn Sazonow einmal aufrichtig zu sprechen,
da er den Eindruck habe, daß man über den Charakter der
österreichisch-ungarischen Aktion in Rußland in Irrtümern
• Telegramm aus St. Petersburg d. d. 27. Juli, 2 Uhr 15 Minuten p. m.,
Nr. 165.
- Aus Kopenhagen langte am 27. Juli in Wien eine Nachricht
ein, die vielleicht den Schlüssel zur Erklärung des dem k. u. k. Bot-
schafter in Petersburg und auch Grafen Pourtales unverständlichen Ver-
haltens und Stimmungswechsels (vgl. Seite 210 unten) des anfänglich
erregten russischen Ministers abgeben könnte. Wie der k. u. k. Gesandte
Graf Sz6chenyi aus Hofkreisen erfuhr, beginne der König die Situation
zuversichtlicher zu beurteilen, seitdem er wisse, daß England die
Neutralität wahren wolle, da Dänemark nur im Falle eines aktiven
Eingreifens des Inselreiches der Gefahr ausgesetzt sei, in einen Krieg
verwickelt zu werden. Diese Aussage wurde durch vertrauliche Mit-
teilungen bestätigt, vom dänischen Gesandten in Petersburg sei der tele-
graphische Bericht eingelaufen, daß England bei der russischen Regierung
Erklärungen abgegeben habe, sich neutral verhalten zu wollen. (Tele-
gramm aus Kopenhagen d. d. 27. Juli, 11 Uhr 56 Minuten a. m.,
ohne Nummer.) (Vgl. Seite 271, Anmerkung 2.)
206
befangen sei. Man imputiere dem Wiener Kabinett, hiemit
einen Vorstoß auf den Balkan unternelimen und den
Marsch nach Salonii^i oder gar nach Konstantinopei an-
treten zu wollen. Andere wieder gingen so weit, die öster-
reichisch-ungarische Aktion nur als den Auftakt eines von
Deutschland geplanten Präventivkrieges gegen Rußland zu
bezeichnen. All dies sei teils irrig, teils geradezu unver-
nünftig. Das Ziel der österreichisch-ungarischen Aktion sei
Selbsterhaltung und Notwehr gegenüber einer feindseligen,
die österreichisch-ungarische Integrität bedrohenden Pro-
paganda des Wortes, der Schrift und der Tat. Niemandem
in Österreich-Ungarn falle es ein, russische Interessen zu
bedrohen oder gar Händel mit Rußland suchen zu wollen.
Das Ziel jedoch, das sich das Wiener Kabinett vorgesetzt
habe, sei es unbedingt entschlossen zu erreichen, und der
Weg, den es dazu gewählt hätte, scheine demselben der
zweckdienlichste. Da es sich aber um eine Aktion der Not-
wehr handle, könne Graf Szdpäry Herrn Sazonow nicht
verhehlen, daß man bei einer solchen jede wie immer
geartete Konsequenz in Betracht ziehe. Trotzdem sei sich
Graf Szäpäry darüber klar, daß, wenn es zu einem Konflikt
mit den Großmächten käme, dies die fürchterlichsten Folgen
haben müsse und dann die religiöse, moralische und soziale
Ordnung auf dem Spiele stehen würde. Graf Szäpäry 'führte
sodann in lebhaften Farben den Gedanken an die Kon-
sequenzen eines europäischen Krieges aus.
Herr Sazonow stimmte Graf Szäpäry eifrig zu und
zeigte sich über die Tendenzen seiner Ausführungen un-
gemein erfreut. Er erging sich in Versicherungen, daß in
Rußland nicht nur er, sondern das ganze Ministerium und,
was am meisten ins Gewicht falle, der Souverän von den
gleichen Gefühlen gegen Österreich-Ungarn beseelt seien.
Er könne nicht leugnen, man habe in Rußland alte Rankünen
gegen die Monarchie; er gestehe, er habe sie auch; doch
gehöre dies der Vergangenheit an und dürfe in der prakti-
schen Politik keine Rolle spielen. Und was die Slawen
anbelange, so sollte er dies dem österreichisch-ungarischen
Botschafter zwar nicht sagen, aber er habe gar kein Gefühl
für die Balkanslawen. Diese seien für Rußland sogar eine
207
schwere Last und man könnte sich in Wien itaum vorstellen,
was man von ihnen schon zu leiden gehabt habe. Das
österreichisch-ungarische Ziel, wie Graf Szäpäry es ihm
geschildert habe, sei ein vollkommen legitimes, aber er
meine, der Weg, den die Monarchie zu dessen Erreichung
verfolge, sei nicht der sicherste. Die Note, die das Wiener
Kabinett in Belgrad überreicht hätte, sei in der Form nicht
glücklich. Er habe sie seitdem studiert, und wenn Graf
Szäpäry Zeit hätte, möchte er sie nochmals mit' ihm durch-
schauen. Graf Szäpäry bemerkte, daß er zu seiner Disposition
stehe, aber weder autorisiert sei, den Notentext mit Herrn
Sazonow zu diskutieren, noch denselben zu interpretieren.
Herrn Sazanows Bemerkungen seien aber natürlich von
Interesse. Der Minister nahm sodann alle Punkte der Note
durch und fand jetzt von den zehn Punkten sieben ohne
allzu große Schwierigkeiten annehmbar. Nur die zwei
Punkte, betreffend die Mitwirkung von k. u. k. Funktionären
in Serbien, und den Punkt, betreffend die Entlassung von
durch Österreich -Ungarn ad libitum zu bezeichnenden
Offizieren und Beamten, fand er in dieser Form unannehm-
bar. Bezüglich des fünften Punktes war Graf Szäpäry bereits
in der Lage, eine authentische Interpretation zu geben';
bei den beiden anderen meinte der k. u. k. Botschafter,
daß el" deren Interpretation durch die Wiener Regierung
nicht kenne, daß aber beide notwendige Forderungen seien.
Herr Sazonow memte, man könnte zum Beispiel eine
konsularische Intervention bei Untersuchungen ins Auge
fassen, und was die Entlassung anbelange, müßte man doch
Beweise gegen die Betreffenden vorbringen. Sonst würde
König Peter sofort riskieren, umgebracht zu werden. Graf
Szäpäry erwiderte, diese Einschätzung durch den Minister
bilde die beste Begründung der österreichisch-ungarischen
Aktion gegen Serbien. Herr Sazonow meinte ferner, die
Monarchie müsse sich vor Augen halten, daß die Dynastie
Karageorgevic wohl die letzte serbische Dynastie sei, und
daß die Monarchie doch nicht einen anarchischen Hexen-
kessel an ihrer Grenze schaffen wolle? Graf Szäpäry
1 Vgl. Seite J63 unten.
208
entgegnete, Österreich-Ungarn habe gewiß an der Erhahung
der monarchischen Staatsform ein Interesse; aber auch diese
Bemerisiung des Ministers beweise, wie notwendig ein ent-
sprechendes Auftreten der Monarchie gegen Serbien sei.
Resümierend ertclärte der Minister, er finde, daß es sich
eigentlich in der Angelegenheit der Note nur um Worte
handle und daß sich vielleicht ein dem Wiener Kabinett ge-
nehmer Weg finden ließe, wie man über diese Schwierigkeiten
hinwegkommen könnte. Würde das Wiener Kabinett die
Mediation seines Alliierten, des Königs von Italien, annehmen
oder die des Königs von England? Graf Szäpäry erwiderte,
daß er hierüber nicht in der Lage sei, eine Ansicht zu
äußern, daß ihm die Dispositionen seiner Regierung unbe-
kannt, die Dinge im Rollen seien, und daß gewisse Sachen
nicht rückgängig gemacht werden könnten. Überdies hätten
die Serben schon gestern mobilisiert, und was sich seither
noch ereignet habe, sei ihm unbekannt.
Herr Sazonow äußerte am Schlüsse seiner Unterredung
nochmals in den wärmsten Worten seine Freude über die
Aufklärungen, die ihm Graf Szäpäry gegeben habe und die
ihn wesentlich beruhigt hätten. Er werde auch Kaiser
Nikolaus Meldung erstatten, den er an dessen Empfangs-
tage, am 29. Juli, sehen werde.'
Seine Gedanken über diese Besprechung resümierte
Graf Szäpäry dahin:
Der Weg, den die russische Politik in zwei Tagen von
der ersten schroffen Ablehnung des österreichisch-ungari-
schen Vorgehens und der Anregung einer Gerichtssitzung
über das österreichisch-ungarische Dossier bis zum Vor-
schlage der Europäisierung der ganzen Angelegenheit und
von da wieder bis zur Anerkennung der Legitimität der
österreichisch-ungarischen Ansprüche und zum Suchen nach
Mediatoren zurückgelegt habe, sei ein weiter. Trotzdem
dürfe nicht übersehen werden, daß neben der rückläufigen
diplomatischen Bewegung eine lebhafte militärische Aktivität
einhergehe, durch die sich Rußlands militärische und somit
auch diplomatische Situation täglich zu Ungunsten der Mon-
archie zu verschieben drohe.
209
Gesprächsweise hatte Herr von Sazonow noch erwähnt,
ob Graf Szapäry ihm Einsicht in das angei<ündigte Dossier
geben könne, und hatte auf dessen Erwiderung, er sei noch
nicht im Besitze desselben, gefragt, ob dasselbe nicht Herrn
Schebeko in Wien zugänglich gemacht werden könnte.
Der k. u. k. Am 27. Juli, abends 10 Uhr 20 Minuten, ging an den
wu-dtr^ ^- "• ^- Botschafter die ermächtigende Weisung ab, ohne
mäehiigt, die irgendein bindendes Engagement einzugehen', Herrn Sazo-
bln-effraes ""w und Marquis Carlotti gegenüber sich dahin auszu-
lerritormien sprcchcn, daß die Monarchie, solange der Krieg zwischen
«"m"'ms Österreich-Ungarn und Serbien lokalisiert bleibe,
abzugeben keinerlei territoriale Eroberungen- beabsichtige''.
127. juii) j-jgj. J.JJJ. ^^^ ^ ^ ^ Botschafter bestimmte Erlaß vom
des'Eriasses -^- J"" '^igf^ ^m 27. juli erst spät nachmittags in Peters-
vora 25. Juli bürg ein; das angekündigte Dossier war auch um diese Zeit
k"u.''k"Bot. "^^h ausständig. Graf Szäpäry gedachte sich am 28. Juli
schafter bei Herrn Sazonow im Sinne der eben erhaltenen Weisung
''JehmÜC^' auszusprechen \
optimisti- ^'^ ^^^ ^- "• ^- Botschafter am 28. Juli morgens meldete ■,
sehe Auf- habe ihm Graf Pourtales, der am 27. Juli Herrn Sazonow
Fassung der
Situation 1 Weisung nach St. Petersburg d. d. Wien, 27. Juli, Nr. 187. Expe-
diert 27. Juli, 10 Uhr 20 Minuten p. m. Die Formulierung „ohne irgendein
bindendes Engagement einzugehen" erscheint im Konzept als nach-
träglicher Zusatz von der Hand des Grafen Forgäch.
- Im Konzept ursprünglich: territorialen Gewinn; von Graf Forgach
geändert in: territoriale Eroberungen.
3 Diese Weisung verdankte — einer der wenigen feststellbaren
Fälle — ihre Entstehung einer direkten Anregung des Monarchen. Am
26. Juli hatte der Kabinettsdirektor Freiherr von Schießl an das Ministerium
des Äußern jenes Telegramm zurückgestellt, in dem Graf Szäpäry um
Andeutung darüber bat, ob er sich seinem italienischen Kollegen gegen-
über auf den Standpunkt der territorialen Uninteressiertheit stellen
dürfe. (Vgl. Seite 154 Mitte.) Freiherr von Schießl teilte gleichzeitig Graf
Berchtold mit, der Monarch lasse Graf Berchtold auf den angestrichenen
[einschlägigen] Passus dieses Berichtes des Grafen Szäpäry aufmerksam
machen. Ohne die Entscheidung des Grafen Berchtold beeinflussen zu
wollen, scheine es dem Monarchen, als ob Graf Szäpäry ermächtigt
werden könnte, in dem von ihm beantragten Sinne seinem italienischen
Kollegen gegenüber sprechen zu dürfen.
* Telegramm aus St. Petersburg d. d. 28. Juli, Nr. 172. Expediert
28. Juli, 1 Uhr 20 Minuten a. m.
' Ebendort.
210
durch Herrn
Sazonow
gesprochen hatte, mitgeteilt, der russische Minister verharre
in optimistischer Auffassung, deren Gründe weder dem
deutschen Botschafter, noch Graf Szäpäry erfindlich seien.
Auch die bei dieser Gelegenheit geführte ernste Sprache
des Grafen Pourtales sei an Herrn Sazonow ziemlich
wirkungslos abgeprallt.
Die Petersburger Presse vom 27. Juli sei voll Nachrichten,
daß die bisherige Sprache der deutschen Diplomaten, weil
sie sich als politischer Fehler herausgestellt habe, verändert
werde, daß Deutschland einer Mediation nicht ablehnend
gegenüberstehe, daß mit einem Ausgleiche zu rechnen sei usw.
Emmissäre und Politiker würden auf der k. u. k. Botschaft
die Haltung Deutschlands zu denunzieren versuchen. Da die
Annahme einer tatsächlichen Abschwenkung ausgeschlossen
sei, bleibe nur die Hypothese eines Versuches übrig, in
letzter Stunde zwischen Österreich-Ungarn und Deutschland
einen Keil zu treiben.
Nach der Anschauung Graf Szäpärys scheine das Aus-
bleiben der im Auslande gleich für die allerersten Tage nach
Ablauf des Ultimatums erwarteten militärischen Operationen
den Anlaß zu der irrigen Interpretation zu bilden, Österreich-
Ungarns Entschlossenheit sei — vielleicht infolge der Haltung
Deutschlands — nicht unabänderlich, und es sei noch
Gelegenheit zu Verhandlungen geboten.
Am 28. Juli erschien der russische Botschafter beim Unterredung
Grafen Berchtold, um ihm seine Rückkehr von seinem "^^ ''''"'"
sehen Bot-
Urlaub in Rußland mitzuteilen und um gleichzeitig einem schafiers
telegraphischen Auftrage Herrn Sazonows nachzukommen '. "'" *^'°''
° "^ '^ Berehtold
Letzterer hätte ihm mitgeteilt, daß er eine längere, sehr (zs.juii,.
freundschaftliche Aussprache mit Graf Szäpäry gehabt hätte, ^"'■'=s""g
in deren Verlaufe Graf Szäpäry mit großer Bereitwilligkeit fühnmg des
die einzelnen Punkte der serbischen Antwortnote durch- ^"'s«^"""-
menen
gesprochen hätte-. Herr Sazonow sei der Ansicht, daß Gedanken-
Serbien in weitgehendem Maße den österreichisch-ungarischen ""^'"""^hes-
° ° Durch-
Wünschen entgegengekommen sei, daß aber einige Forderungen sprechung
ihm ganz unannehmbar erschienen, was er auch Graf Szäpäry ''"
"^ serbischen
' Weisung nach St. Petersburg d. d. 28. Juli, Nr. 191. Expediert *"'*''""»"=
28. Juli, II Uhr 40 Minuten p. m.
2 Vgl. Seite 206 ff.
211
nicht verhehlt habe. Es scheine ihm unter diesen Umständen,
daß die serbische Antwortnote geeignet sei, den Ausgangs-
puniit zu einer Verständigung abzugeben, wozu die russi-
sche Regierung gerne die Hand bieten möchte. Herr
Sazonow wolle daher dem Grafen Berchtold vorschlagen,
daß der so glücklich aufgenommene Gedankenaustausch
mit Graf Szapäry eine Fortsetzung finde und daß der
k. u. k. Botschafter diesbezüglich mit Instruktionen ver-
sehen werde.
In seiner Entgegnung betonte Graf Berchtold, daß er
auf einen derartigen Vorschlag nicht eingehen könne. Eine
Verhandlung über den Wortlaut der vom Wiener Kabinett
als unbefriedigend bezeichneten Antwortnote könne in der
Monarchie niemand verstehen und niemand billigen. Es wäre
dies um so weniger möglich, als sich, wie der Botschafter
wisse, bereits eine tiefgehende allgemeine Erregung der
öffentlichen Meinung sowohl in Ungarn wie in Österreich
bemächtigt hätte, überdies seitens der Monarchie heute der
Krieg an Serbien erklärt worden sei.
Auf die mit großer Eloquenz vorgebrachten Auseinander-
setzungen des Botschafters, die hauptsächlich darin gipfelten,
daß die Monarchie die durchaus nicht abgeleugnete feind-
selige Stimmung in Serbien durch eine kriegerische Aktion
nicht niederringen, im Gegenteil nur steigern würde, gab
Graf Berchtold Herrn Schebeko einige Streiflichter hinsicht-
lich des derzeitigen Verhältnisses der Monarchie zu Serbien,
das es unvermeidlich mache, ganz gegen den eigenen Willen
und ohne jede egoistische Nebenabsicht, dem unruhigen
Nachbar mit dem nötigen Nachdrucke die ernste Absicht zu
zeigen, nicht länger eine von der Regierung geduldete, gegen
den Bestand der Monarchie gerichtete Bewegung zuzulassen.
Die Haltung Serbiens nach dem Empfang der österreichisch-
ungarischen Note sei übrigens nicht danach gewesen, eine
friedliche Beilegung zu ermöglichen, indem Serbien, noch
bevor es der Monarchie seine ungenügende Antwort über-
geben ließ, die allgemeine Mobilisierung angeordnet und schon
dadurch der Monarchie gegenüber einen feindseligen Akt
vorgenommen habe. Trotzdem hätte das Wiener Kabinett noch
drei Tage zugewartet. Am 27. Juli seien nun serbischerseits
212
gegen die Monarchie die Feindseligkeiten an der ungarischen
Grenze eröffnet worden'. Dadurch sei der Monarchie
die Möglichkeit benommen, bei ihrer Serbien gegenüber
bewiesenen Langmut weiter zu beharren. Die Herbeiführung
einer gründlichen, aber friedlichen Sanierung des Verhält-
nisses Österreich-Ungarns zu Serbien sei der Monarchie
nunmehr unmöglich gemacht worden und die Monarchie
sehe sich gezwungen, den serbischen Provokationen in der
Form entgegenzutreten, die unter den gegebenen Umständen
allein ihrer Würde entspreche.
Die durch das russische offizielle Communique vom Die russi-
24. Juli angedeutete Stellungnahme Rußlands, einem öster- ^''"'" """
»^ o o ' stungen
reichisch-ungarisch-serbischen Konflikt nicht teilnahmslos
gegenüberzustehen, erfuhr während der nächsten Tage
ihre Bestätigung dadurch, daß die Vornahme weitgehender
russischer Rüstungen immer mehr erkenntlich und bald
auch offiziell nicht mehr in Abrede gestellt wurde.
Am 26. Juli telegraphierte der k. u. k. Militärattache in Meldungen
Petersburg: Nachrichten verdichten sich dahin, daß die ^" ''• "■ '
o ' Militar-
Militärbezirke Kiew, Warschau, Odessa und Moskau Mobi- auaches
lisierungsbefehl erhielten, bei gleichzeitiger Einziehung von '-^- -•"''*
Reservisten; Bezirke Petersburg, Wilna, wahrscheinlich auch
Kasan, Befehl zur Vorbereitung der Mobilisierung, jedoch
ohne Reservisten. Im ganzen europäischen Rußland erhielten
die Truppen Befehl zur Einrückung aus den Lagern in ihre
Standorte. Diese Verfügung werde naturgemäß in den
nächsten Tagen vielfache Meldungen von Truppenbewegungen
im ganzen Reiche zur Folge haben, wobei es sehr schwer
sein werde, zu kontrollieren, ob es Einrückungs- oder
Mobilisierungstransporte seien. Die Stimmung im Lager bei
der Parade am 12. Juli (a. St.) im Gegensatze zu jener
am 11. erregt und aggressiv; doch scheine man zum Teil in
militärischen Kreisen doch an einen Bluff der Monarchie
zu glauben. Es sei schwer, ein Urteil darüber zu fällen, ob
eine Geneigtheit Rußlands bestehe, aktiv einzugreifen. Die
sehr aggressive Kriegspartei scheine an der Arbeit, die
1 Siehe Seite 21«, 219.
213
„Stimmung in der ÖPFcntlichkeit, von der dann die Regierung
mitgerissen werden soll", vorzubereiten '.
Bei der Theatervorstellung im militärischen Theater von
Krasnoje Selo am 25. Juli abends kam es zu einer spontanen
Ovation seitens der Offiziere für den Zaren. Die Offiziere
verlangten beim Erscheinen des Kaisers, ganz gegen alle
Gebräuche, das Abspielen der Hymne, worauf ein nie enden-
wollendes Hurra angestimmt wurde. Der Gehilfe des
französischen Militärattaches begründete diese Ovation mit
Bekanntwerden des Mobilisierungsbefehles „pour quelques
circonscriptions". Die Stimmung in Militärkreisen stehe
danach mit dem weniger aggressiven Ton, den die Regierung
anzuschlagen scheine, im Widerspruche -.
vorstei- Bisher hatte Graf Szdpäry Herrn Sazonow gegenüber
lungen des hinsichtlich der russischen Mobilisierungsmaßnahmen ab-
deutschen '-^
Botschafters sichtUch kcinc Erwähnung getan, um seinem deutschen
Kollegen die Vorhand zu lassen '.
In den Aussprachen, die Graf Pourtales mit Herrn
Sazonow am 28. Juli pflog, verwies derselbe neuerlich in
energischer Weise auf die Gefährlichkeit der russischen
Rüstungen, da dieselben unversehens deutsche Gegenmaß-
nahmen hervorrufen könnten. Herr Sazonow suchte die
vom Grafen Pourtales vorgebrachten Tatsachen abzuleugnen,
worauf ihn der deutsche Botschafter auf das Dringendste
ersuchte, die militärischen Faktoren scharf zu kontrollieren,
damit nicht etwa hinter seinem Rücken gehandelt
werde *.
Ebenso nachdrücklich verwahrte sich Graf Pourtales
gegen die Versuche der russischen Presse, Deutschland und
Österreich-Ungarn zu verhetzen. Dies werde nicht gelingen,
dazu bedürfe es feinerer Finger als die, welche solche plumpe
I Telegramm aus St. Petersburg d. d. 26. Juli, 4 Uhr 20 Minuten
p. m., Nr. 163.
- Telegramm aus St. Petersburg d. d. 26. Juli, 10 Uhr 50 Minuten
p. m., Nr. 167.
- Telegramm aus St. Petersburg d. d. 26. Juli, Nr. 168. E.\pediert
27. Juli, 4 Uhr 30 Minuten a. m.
4 Telegramm aus St. Petersburg d. d. 28. Juli, Nr. 175. Expediert
29. Juli, 1 Uhr 15 Minuten a. m.
214
Manöver inszenierten. Der russische Minister suchte jede
Verantwortung in Abrede zu stellen, worauf Graf Pourtales
noch darauf verwies, warum der Minister, wenn er mit diesen
Treibereien nicht einverstanden sei, es unterlasse, denselben
entgegenzutreten.
Wie dem k. u. k. Ministerium des Äußern am 27. Juli Dismssi-
aus Odessa telegraphiert wurde, war der Mobilisierungs- !.^^ru"n'"s°'"''
befehl für die Militärbezirke Odessa, Kiew und Warschau maßnahmen
bereits ergangen, wenn auch noch nicht publiziert ^^'j"",^
worden '.
Die im russischen Generalstabe am 27. Juli abends vor-
herrschende Stimmung war — wie der k. u. k. Militär-
attache meldete - — kompliziert, da einerseits nicht recht an
die Energie Österreich-Ungarns, andrerseits auch an eine
europäische Beilegung des Konflikts geglaubt werde. Nun-
mehr würden auch die vorbereitenden Mobilisierungsmaß-
nahmen im europäischen Rußland — jedoch ohne spezielle
Ausnahme gegenüber der deutschen Grenze — zugegeben.
Der k. u. k. Militärattache unterließ es nicht, auf die Bedenk-
lichkeit solcher Maßnahmen, die deutscher- und österrei-
chisch-ungarischerseits ähnliche „Vorbereitungen" provozieren
könnten, aufmerksam zu machen. Übrigens äußerten sich
mehrere russische Generalstabsoffiziere dem türkischen
Militärattache gegenüber, daß ein österreichisch-ungarischer
Bluff noch immer sehr möglich sei, da die Kriegsoperationen
ja noch immer nicht begonnen hätten.
Seit dem 26. Juli war das den europäischen
Frieden unmittelbar gefährdende Moment einge-
treten: die positiven, Offensivabsichten gegen
Österreich-Ungarn und Deutschland bekundenden
großzügigen Mobilmachungsvorbereitungen Ruß-
lands. Der Monarchie, mittelbar auch dem an der
Krise noch nicht direkt beteiligten Deutschen Reiche,
I Telegramm aus Odessa d. d. 27. Juli, 1 1 Uhr 25 Minuten p. m.,
Nr. 8544.
- Telegramm aus St. Petersburg d. d. 27. Juli, 1 1 Uhr 22 Minuten
p. m., Nr. 170.
215
Begründung
der Ableh-
nung der
serbischen
Antwortnote.
Communique
|27. Juli)
Die kriti-
schen Be-
merkungen
des k. u. k.
Ministeriums
des Äußern
zur serbi-
schen Ant-
wortnote
Partielle
Mobi •
sierung in
Österreich-
Ungarn.
2.S. Juli
abends.
wurde hiedurch die Einleitung der ersten ab-
wehrenden militärischen Schutzmaßnahmen gegen
Rußland im Interesse der Selbstverteidigung in der
Folge aufgedrängt '.
D. Die Kriegserklärung Österreich-Ungarns
an Serbien
(28. Juli 1914)
Um die öffentliche Meinung auf die bevorstehende
Kriegserklärung an Serbien vorzubereiten, brachten die
Wiener Abendblätter vom 27. Juli ein offizielles Communique,
das auch den k. u. k. Botschaftern bei den Signatarmächten
und den diplomatischen Funktionären bei den Balkanstaaten
zur Verwertung mitgeteilt wurde.
Ein Zirkularerlaß übermittelte ferner am 28. JuH sämtlichen
k. u. k. Missionen die wortgetreue Übersetzung der ser-
bischen Antwortnote sowie die kritischen Bemerkungen des
k. u. k. Ministeriums des Äußern-. Den letzteren sollten die
k. u. k. Funktionäre zur Verwertung die Gründe entnehmen,
die das Ministerium veranlaßt hätten, die Note als unbe-
friedigend zu qualifizieren.
Noch am 24. Juli hatte sich Graf Tisza an Graf Berchtold
mit dem Ersuchen gewendet s, nötigenfalls auch in seinem
Namen beim Monarchen zu betonen, daß im Falle einer
unbefriedigenden Antwort Serbiens die unverzügliche An-
ordnung der Mobilisierung unbedingt zu erfolgen hätte.
Dieser Auffassung gab Graf Tisza in einem Vortrage an den
Monarchen am 25. Juli neuerlichen Ausdrucke
1 Wie sehr ein gegen Rußland ~ schon gar in einigen wenigen
Tagen — vorzunehmender Angriffskrieg außerhalb der Konzeption der
Generalstäbe der beiden Zentralmächte lag, erhellt aus der Seite 311,
Anmerkung 1, behandelten Feststellung. (Vgl. auch Seite 306 und 307.)
i Zirkularerlaß an alle Missionen d. d. 28. Juli, Nr. 3581 bis 3612,
3612a. Die Bemerkungen abgedruckt bei Nebeneinanderstellung mit der
serbischen Antwortnote im österreichisch-ungarischen Rotbuch, Nr. 34.
3 Telegramm des Grafen Tisza d. d. Budapest, 24. Juli, 12 Uhr
50 Minuten p. m., ohne Nummer.
* Vortrag des Grafen Tisza d. d. 25. Juli, Kabinettsarchiv.
216
Der k. u. k. Chef des Generalstabes richtete in der
Nacht vom 24. zum 25. Juli (12 Uhr) an den Grafen
Berchtold die Verständigung ', er habe soeben die tele-
graphische Meldung erhalten, daß in Schabatz am 24. Juli,
4 Uhr nachmittags, die Mobilisierung proklamiert wurde.
Serbien scheine also das Ultimatum mit der Mobilisierung
zu beantworten. Dies erfordere seitens Österreich-Ungarns
sofortiges Handeln; er (der Chef des Generalstabes) erachte
es daher für notwendig, daß auch in der Monarchie die
Mobilisierung sofort — also nicht am 26., sondern schon
am 25. Juli - befohlen werde. Erster Mobilisierungstag
hätte der 28. Juli zu sein.
Am 25. Juli abends wurden hierauf die für den
Kriegsfall am Balkan vorgesehenen 8 Armeekorps
samt den dazugehörigen Landwehr- und Landsturm-
formationen, u. zw.: VIIL (Prag), IX. (Leitmeritz),
HL (Graz), XIIL (Agram), IV. (Budapest), VII. (Temes-
vär) und die beiden Korps in Bosnien und der
Herzegowina, XV. und XVI. mobilisiert.
Den Entwurf der Kriegserklärung an Serbien unter- immediat-
breitete Graf Berchtold dem Monarchen am 27. Juli mit ^«"■"■"s "^'^
Grafen
folgendem Immediatvortrage -: Berchtoia
„Ich nehme mir die ehrerbietigste Freiheit, Euer Majestät (27- Jui: )
" & ' ' Kriegs-
„in der Anlage den Entwurf eines Telegramms an das erkiarungan
„serbische Ministerium des Äußern zu unterbreiten, welches serwen
(Entwurf»
„die Kriegserklärung an Serbien enthält, und erlaube mir
„alleruntertänigst anzuregen, Euer Majestät wollen geruhen,
„mich zu ermächtigen, dieses Telegramm morgen früh ab-
„zusenden und die amtliche Verlautbarung der Kriegs-
„erklärung in Wien und Budapest gleichzeitig zu veranlassen.
„Mit Rücksicht auf die dem k. u. k. Gesandten Baron
„Giesl am 25. d. M. durch Herrn Pasic übergebene, sehr
„geschickt verfaßte Antwortnote der serbischen Regierung,
„welche inhaldich zwar ganz wertlos, der Form nach aber
„entgegenkommend ist, halte ich es für nicht ausgeschlossen,
„daß die Tripelententemächte noch einen Versuch machen
I Schreiben des k. u. k. Chefs des Generalstabes an Graf Berchtold
d. d. Wien, nachts vom 24. auf den 25. Juli, 12 Uhr.
- Konzept von der Hand des Legationsrates Grafen A. Hoyos.
217
„könnten, eine friedliche Beilegung des Konflikts zu erreichen,
„wenn nicht durch die Kriegserklärung eine klare Situation
„geschaffen wird.
„Einer Meldung des 4. Korpskommandos zufolge haben
„serbische Truppen von Donaudampfern bei Temes-Kubin
„gestern unsere Truppen beschossen und es entwickelte sich
„auf die Erwiderung des Feuers hin ein größeres Geplänkel.
„Die Feindseligkeiten sind hiemit tatsächlich eröffnet worden
„und es erscheint daher um so mehr geboten, der Armee in
„völkerrechtlicher Hinsicht jene Bewegungsfreiheit zu sichern,
„welche sie nur bei Eintritt des Kriegszustandes besitzt.
„Die Notifikation des Kriegszustandes an die neutralen
„Mächte würde, vorbehaltlich der allerhöchsten Genehmi-
„gung Eurer Majestät, gleichzeitig mit der Kriegserklärung
„an deren hiesige Vertreter abgesendet werden.
„Ich erlaube mir zu erwähnen, daß Seine k. u. k. Hoheit
„der Oberkommandant der Balkanstreitkräfte, Erzherzog
„Friedrich, sowie der Chef des Generalstabes gegen die
„Absendung der Kriegserklärung morgen Vormittag nichts
„einzuwenden hätten.
In tiefster Ehrfurcht
(gez.) Berchtold."
Der beigelegte Entwurf, der als Telegramm in claris an
das königliche Ministerium des Äußern in Belgrad, even-
tuell in Kragujevac, abgesendet werden sollte, lautete:
„Le Gouvernement Royal de Serbie n'ayant pas re-
„pondu d'une maniere satisfaisante ä la Note qui lui avait
„ete remise par le Ministre d'Autriche-Hongrie ä Beigrade
„ä la date du 23 juillet 1914, le Gouvernement Imperial
„et Royal se trouve dans la necessite de pourvoir lui-meme
„ä la sauvegarde de ses droits et interets et de recourir ä
„cet effet ä la force des armes, et cela d'autant plus que
„des troupes serbes ont dejä attaque pres de Temes-Kubin
„un detachement de l'armee Imperiale et Royale. L'Autriche-
„Hongrie se considere donc de ce moment en etat de guerre
„avec la Serbie.
„Le Ministre des Affaires Etrangeres d'Autriche-Hongrie,
Comte Berchtold."
218
Der Monarch setzte in Bad Ischl am 28. Juli seine
Entschließung zum Vortrage Graf Berchtolds mit den
Worten auf:
„Ich genehmige den beiliegenden Entwurf eines Tele-
„gramms an das serbische Ministerium des Äußern,
„welches die Kriegserklärung an Serbien enthält und erteile
„Ihnen die erbetene Ermächtigung
(gez.) Franz Joseph."
Ungeachtet dieser Genehmigung durch den Monarchen Textes
wurde der endgültige Text der Kriegserklärung nicht im jerTnegs.
präzisen Wortlaute des vorgelegten Entwurfes abgesendet, erkiärung
Graf Berchtold sah sich nämlich genötigt, den Satz „et cela
„d'autant plus que des troupes serbes ont dejä attaque pres
„de Temes-Kubin un detachement de l'armee Imperiale et
„Royale" aus dem bereits genehmigten Entwürfe zu streichen
und diese nachträgliche Änderung dem Monarchen gegen-
über mit der folgenden Argumentation in einem Immediat-
vortrage vom 29. Juli zu begründen:
„Allergnädigster Herr !
„Nachdem die Nachrichten von einem Gefechte bei
„Temes-Kubin keine Bestätigung erfahren haben, hingegen
„bloß eine Einzelmeldung über ein geringfügiges Geplänkel
„bei Gradiste vorlag, die wohl nicht geeignet erschien, zur
„Begründung eines gewichtigen Staatsaktes herangezogen zu
„werden, habe ich es in Anhoffnung der nachträglichen
„allerhöchsten Genehmigung Eurer Majestät auf mich ge-
„nommen, aus der an Serbien gerichteten Kriegserklärung
„den Satz über den Angriff serbischer Truppen bei Temes-
„Kubin zu eliminieren.
In tiefster Ehrfurcht
Berchtold."
„Wien, am 29 Juli 1914.
Die Kriegserklärung selbst war also unter Auslassung
des vom Grafen Berchtold eliminierten Satzes ' am
1 Gewissermaßen als Gegenstück der Begründung einer Kriegs-
erklärung kann auf die Einleitungsargumentation hingewiesen werden, mit
219
28. Juli vorYnittags an das königliche Ministerium des
Äußern abgegangen.
Tciegraphi- Dlc Zustellung der Kriegserklärung an die serbische
mi'iMun''"er Regierung begegnete mancherlei Schwierigkeiten. Der ge-
Kriegs- wohnliche Weg der persönlichen Überreichung an den
erkiarung Minister des Äußern des gegnerischen Staates durch einen
an die ~ o
serbische diplomatischcn Vertreter konnte nicht in Frage kommen,
Regierung j^ ^^^ ^ ^^ ^ Gesandte mit dem Personal der Mission
nach Erhalt der Antwortnote Belgrad verlassen hatte. Es
wurde daher die Kriegserklärung von Wien aus auf tele-
graphischem Wege nach Belgrad an die Adresse des Aus-
wärtigen Amtes gerichtet. Da jedoch die direkte Drahtver-
bindung von Wien nach Belgrad, wohl von serbischer Seite
selbst, außer Funktion gesetzt war, nahm die Kriegserklä-
rung den Weg über Czernowitz und Bukarest. Eine Art
Empfangsbestätigung, daß das die Kriegserklärung enthal-
tende Telegramm am 28. Juli, 1 Uhr 20 Minuten nachmit-
tags, im serbischen Ministerium des Äußern übernommen
wurde, langte aus Nisch am 1. August an die Adresse des
Grafen Berchtold ein '.
der Graf Berchtold in einem Inimediatvortrage vom 27. August dem
Monarchen gegenüber die Kriegserklärung an Belgien motivierte:
„Obwohl Österreich-Ungarn nach dem Dreibundvertrage
„verpflichtet gewesen wäre, Belgien den Krieg zu erklären,
„sobald das Deutsche Reich sich mit diesem Lande im Kriegszustande
„befand, hat die Monarchie die diplomatischen Beziehungen zu Belgien
„trotz der ihrer Vertretung bereiteten großen Schwierigkeiten nicht abge-
„brochen ".
Es ist unerfindlich, auf welchen Punkt des Dreibundvertrages diese
Argumentation Graf Berchtolds Bezug haben soll.
I Telegramm d. d. Nisch, Eingangsnummer 220, Wien, 1. August 1914.
220
III
Von der Kriegserklärung Österreich-Ungarns
an Serbien (28. Juli) bis zur Kriegserklärung
des Deutschen Reiches an Rußland (1. August)
A. Das Berliner Kabinett
Beziehungen Berlin — Wien — Rom.
Hinsiclitiich der von Herrn von Tschirschky am 27. und Der umer
28. Juli am Ballhausplatze gemachten Mitteilungen, Italien 1'^^^^'^^^^
werde ein kriegerisches Vorgehen seitens der Monarchie pflichtet der
gegen Serbien als aggressiven Akt auch gegen Rußland B°™|,?oTd"
betrachten und sich daher seiner Dreibundverpflichtung im an itaiien
Konfliktsfalle mit Rußland für entbunden erachten, scheine, fs=.e=''="'="
' ' Erklärung
wie sich Herr Zimmermann in einer Besprechung am 29. Juli bei (29. juni
Graf Szögyeny gegenüber äußerte ', ein Mißverständnis ob-
zuwalten. Dies sei allerdings im Anfang der österreichisch-
ungarischen Kontroverse mit Serbien italienischerseits einmal
gesagt, seitdem aber nicht wiederholt worden.
Auch der italienische Botschafter, dem Graf Szögyeny
rein persönlich den vorerwähnten Standpunkt der italie-
nischen Regierung als ein ihm zugekommenes Gerücht
mitteilte, habe sich geäußert, dies sei allerdings einmal von
einem italienischen Vertreter im Auslande erklärt worden,
derselbe habe aber dafür sofort von Rom einen Verweis
erhalten, und es sei dies, wie er Graf Szögyeny „ganz
kategorisch" versichere, absolut nicht die Auffassung des
italienischen Kabinetts.
Was die vom Grafen Berchtold der italienischen Regie-
rung durch Herrn von Merey abgegebene Erklärung be-
treffe, sei der Unterstaatssekretär damit einverstanden und
glaube sicher annehmen zu können, die italienische Regie-
rung werde sich damit begnügen, daß Graf Berchtold erklärt
habe, territoriale Erwerbungen lägen nicht in den Absichten
I Telegramm aus Berlin d. d. 29. Juli, Nr. 317.
22^
Die Berliner
Regierung
rät eine
„large" In-
lerpretalion
der Kora-
pensations-
frage an
(3ü. Juli)
der Monarchie, und daß das Wiener Kabinett, sollte Öster-
reich-Ungarn sich dennoch zu einer nicht als nur vorüber-
gehend aufzufassenden Okkupation serbischen Gebietes
gezwungen sehen, für diesen Fall mit Italien in einen
Meinungsaustausch über eine ihm zu gewährende Kompen-
sation treten werde.
Nachrichten, laut welchen man an manchen Stellen in
Italien als Kompensation an Gebietsteile Österreich-Ungarns
denke, seien auch in Berfin eingelangt. Daß die Loslösung
eines Gebietsteiles der Monarchie nicht einmal zur Dis-
kussion gestellt werden dürfe, sei jedoch auch die Berliner
Ansicht.
Über einen entscheidenden Stimmungswechsel der Ber-
liner Regierungskreise hinsichdich der österreichisch-unga-
risch-italienischen Beziehungen referierte Graf Szögyeny am
30. Juli I. Während er noch bis vor kurzem bezüglich der
Eventualität eines europäischen Konfliktes bei allen maß-
gebenden Berliner Kreisen die größte Ruhe konstatieren
konnte, müsse der k. u. k. Botschafter gestehen, nunmehr
das Gefühl zu haben, daß dieselben in den allerletzten Tagen
eine nicht bloß auf die größere Aktualität der Frage zurück-
zuführende Nervosität ergriffen habe.
Der Grund dieses Umschwunges der Stimmung der
Berliner Kreise liege unbedingt in der durch die tele-
graphische Berichterstattung des Grafen Szögyeny bereits
gemeldeten begründeten Angst, daß Italien seine Bündnis-
verpflichtungen dem Dreibund gegenüber in einem allge-
meinen Konflikt nicht einhalten werde, ja, daß sogar seine
allgemeine Haltung der Monarchie gegenüber eine direkt
zweifelhafte sein könnte. Sei aber, der Dreibund, so argu-
mentiere die deutsche Regierung weiter, nicht als geschlos-
senes Ganzes zu betrachten, so würden die Chancen für
Deutschland und Österreich im großen Konfliktsfalle bedeu-
tend verschlechtert werden. Es müsse also Italien unbedingt
dem Dreibund, und zwar als aktiver Faktor, erhalten bleiben.
Deshalb rate man Graf Berchtold auf das Allerdringendste,
in der Auslegung des Artikels VII des Dreibundvertrages
< Telegramm aus Berlin d. d. 30. Juli, Nr. 328.
224
möglichst „large" zu sein und Italien, was die Kompen-
sationsfrage anbetreffe, größtes Entgegenkommen zu be-
kunden und so schnell wie möglich zu erklären, daß man
sofort im Sinne großzügigsten Entgegenkommens auf Ver-
handlungen über Auslegung des Artikels VII der Kompen-
sationsverpflichtungen einzugehen bereit wäre, wobei selbst-
redend auch nach Berliner Überzeugung von dem Trentino
keine Rede sein könne.
Dieser Wunsch Deutschlands beruhe nach der fest-
stehenden Meinung des Grafen Szögyeny absolut
nicht auf einem Abflauen seiner Bündnistreue Österreich-
Ungarn gegenüber, sondern einzig und allein auf der Über-
zeugung, daß Österreich-Ungarn und Deutschland unbedingt
Italien brauchten, um in den allgemeinen Konflikt mit
Sicherheit eintreten zu können.
Die nach Berlin bekanntgegebenen Zugeständnisse seien
nach Meldungen des deutschen Botschafters in Rom von
dem italienischen Kabinett als nicht genügend betrachtet
worden. Wie der k. u. k. Militärattache dem Grafen
Szögyeny berichte, habe sich der Generalstabschef Graf
Moltke in demselben Sinne hinsichtlich der unbedingten
Notwendigkeit eines sofortigen Verständnisses mit Italien
geäußert. In Anbetracht des großen Ernstes der Lage
schließe sich der k. u. k. Botschafter vollinhaltlich der
vorberichteten Überzeugung der deutschen Regierung an.
Zu einer Richtigstellung seiner letzten Äußerungen ' sah Meidungen
sich der Unterstaatssekretär in einer Unterredung mit Graf ■*"
^ deutschen
Szögyeny am 30. Juli veranlaßt-. Herr Zimmermann las dem Botschafiers
k. u. k. Botschafter ein soeben eingelangtes Telegramm des '" ""^
° '^ ° (30. Juli)
deutschen Botschafters in Rom vor, laut welchem Marquis
di San Giuliano ihm jetzt doch erklärt habe, daß „Italien
das kriegerische Vorgehen gegen Serbien als aggressiven
Akt gegen Rußland ansehe und sich daher für den daraus
eventuell entstehenden Konflikt als von seinen im Drei-
bunde vorgesehenen Unterstützungsverpflichtungen entbunden
• Siehe Seite 223.
■^ Telegramm aus Berlin d. d. 31. Juli, 12 Uhr 35 Minuten a. m.,
Nr. 334.
•^ 225
betrachte". Auch müsse Italien unbedingt auf Kompensationen
auf Grund des Artikels VII bestehen.
Auf die energischen Einwendungen des deutschen Bot-
schafters habe der italienische Minister des Äußern
erwidert, er behaupte ja nicht, daß Italien seine Bundes-
genossen eventuell nicht unterstützen werde, er sage nur,
daß es in diesem Falle auf Grund des Dreibundvertrages
nicht verpflichtet sei, Deutschland und Österreich-Ungarn
zu unterstützen. Herr von Flotow habe sein Telegramm
mit der Bemerkung geschlossen, Österreich-Ungarn solle
unbedingt schon jetzt Kompensationen für die eventuelle
Besetzung serbischen Gebietes Italien zusichern.
Italien Von Hcrm von Jagow erhielt Graf Szögyeny am
erachtet sich j August vormittags die Mitteilung' von einem Telegramm
BündDis- des deutschen Botschafters in Rom, demzufolge Marquis di
pflichten ent- gan GiuUano ihm erklärt habe, daß sich Italien seiner
(""August) Dreibundpflichten für entbunden erachte, da Österreich-
Ungarn auf eine Kompensationsgewährung nicht ein-
gegangen sei.
Italien würde, so meinte Marquis di San Giuliano, nicht
aktiv mit Deutschland und Österreich-Ungarn gehen, aber
unbedingt neutral bleiben.
Vor- Als Graf Szögyeny dem Staatssekretär ein Telegramm
Stellungen (jgg Grafen Berchtold vom 31. Juli zwecks Erzielung eines
jagows™in- Einvernehmens in der Kompensationsfrage vorlas -, bat
sichtlich" der Herr von Jagow den k. u. k. Botschafter dringendst, Graf
it.''u'!"k^ '^ Berchtold zu melden, daß, laut übereinstimmender Meldungen
Botschafters Hcrm von Flotows aus Rom und des italienischen Bot-
u. A^l^ust) schafters in Berlin, Herr von Merey den Vorschlag des
Grafen Berchtold (vom 28. Juli) in der Kompensationsfrage^
der italienischen Regierung nicht mitgeteilt habe, daß Herr
von Jagow also die berechtigte Furcht hege, der k. u. k. Bot-
schafter werde auch diese letzte Eröffnung in der Kompen-
sationsfrage nicht machen, was von katastrophaler Wirkung
sein könnte. Herr von Merey sei gegen die Gewährung von
• Telegramm aus Berlin d. d. 1. August, 2 Uhr 50 Minuten p. m.,
Nr. 348.
= Vgl. Seite 259 ff.
s Vgl. Seite 191 unten.
226
Kompensationen und führe daher die diesbezüglichen Anträge
nicht aus.
Graf Szögyeny widersprach „selbstredend" dieser An-
schuldigung und beeilte sich, nach einem inzwischen mit
Graf Forgäch gepflogenen telephonischen Gespräche neuer-
lich den Staatssekretär aufzusuchen, um diesem die Zu-
sicherung hinsichtlich der Ausführung des Auftrages Graf
Berchtolds durch die k. u. k. Botschaft in Rom bekannt-
zugeben.
Beziehungen Berlin — Paris
Nach der Meldung des k. u. k. Botschafters ' schien Demarche
es unzweifelhaft, daß Frankreich im Einvernehmen mit ^^„,55^60
Rußland seit dem 29. Juli gewisse militärische Vorbereitungen Botschafters
treffe. Graf Szecsen erfuhr an diesem Tage vertraulich, der *^'
deutsche Botschafter solle diese Vorbereitungen bei Herrn
Viviani zur Sprache bringen und darauf hinweisen, Deutsch-
land könnte unter diesen Umständen gezwungen werden,
ähnliche Maßnahmen zu treffen, die natürlich nicht geheim
bleiben könnten und deren Bekanntwerden in der Öffent-
lichkeit große Aufregung verursachen würde. So könnten
beide Länder, trotzdem sie nur den Frieden anstrebten, zu
einer wenigstens teilweisen Mobilisierung gedrängt werden,
was gePährlich wäre. Baron Schön solle weiters erklären, daß
Deutschland lebhaft wünsche, den Konflikt zwischen der
Monarchie und Serbien lokalisiert zu sehen, und hiebei
auf die Unterstützung Frankreichs zähle.
Baron Schön hatte übrigens im Auftrage des Berliner
Kabinetts am Quai d'Orsay bereits mitgeteilt, die Monarchie
habe in Petersburg erklärt, keine Eroberungsabsichten in
Serbien zu haben. Der deutsche Botschafter habe dieses
Argument seither wiederholt verwertet. Die Nachricht war,
wenn auch nicht in offizieller Form, in die Zeituiigen ge-
drungen und es wurde in denselben auf die früheren wieder-
holten Erklärungen des Wiener Kabinetts, die Monarchie
sei territorial saturiert, hingewiesen. Ein Abgehen von diesem
Standpunkt würde, nach Graf Szecsens Ansicht^ jedenfalls
* Telegramm aus Paris d. d. 29. Juli, Nr. 136.
2 Telegramm aus Paris d. d. 30. Juli, Nr. 137.
227
Anfrage des
deutschen
Botschafters
betreffs der
Neutralität
Frankreichs
(31. Juli)
in Frankreich und auch in England den denl<har schiechtesten
Eindruclc machen.
In ein Icritisches Stadium traten die deutsch-französischen
Beziehungen, als Baron Schön am 31. Juli auftragsgemiäß
erklärte, daß wenn die angeordnete allgemeine russische
Mobilisierung nicht binnen zwölf Stunden eingestellt werde,
Deutschland gleichfalls mobilisiere. Baron Schön fragte
gleichzeitig an, ob Frankreich im Falle eines deutsch-
russischen Krieges neutral bleibe. Die diesbezügliche Ant-
wort werde binnen achtzehn Stunden erbeten, der Termin
laufe am 1., August, 1 Uhr nachmittags, ab'.
Auf diese Anfrage erhielt Baron Schön den Bescheid:
Frankreich würde in diesem Falle das tun, was seine
Interessen erheischen.
Die Formulierung dieser Antwort erklärte Herr Viviani,
nach der Meldung Graf Szecsens vom 1. August- damit,
daß ein neuer Vorschlag Sir Edwards vorliege, alle Mächte
sollten gleichzeitig die kriegerischen Vorbereitungen ein-
stellen. Rußland habe, falls andere Mächte das gleiche
täten, den Vorschlag akzeptiert. Da überdies jetzt die
österreichisch-ungarische Erklärung vorliege, die staadiche
Souveränität Serbiens nicht antasten zu wollen, scheine Herr
Viviani eine Verständigung für nicht unmöglich zu halten.
Änderung der
Auffassung
in Berlin
Beziehungen Berlin — Wien — London
Die optimistische Auffassung, zu der man sich in Berlin
hinsichdich der Haltung Englands in einem europäischen
Konflikt bisher bekannte, erfuhr durch die seit dem
29. Juli einlangenden Nachrichten eine Erschütterung. Wie
Herr Zimmermann dem k. u. k. Botschafter am 29. Juli
mitteilte, habe der französische Botschafter erklärt, daß sich
England ganz zweifellos „des le premier coup de notre
cote" (Frankreich, Rußland) stellen werde'. Der italienische
Botschafter habe Herrn von Jagow gegenüber derselben
1 Telegramm aus Paris d. d. 31. Juli, Nr. 143.
- Telegramm aus Paris d. d. 1. August, 1 Uhr 35 Minuten p. m.,
Nr. 146.
3 Telegramm aus Berlin d. d. 29. Juli, II Uhr 40 Minuten a. m.,
Nr. 324.
228
Überzeugung Ausdruck gegeben. Der Unterstaatssekretär,
der bisher von der wenigstens anfänglichen Neutralität
Englands überzeugt schien, sprach sich seit dem 29. Juli
abends in dieser Hinsicht im pessimistischen Sinne aus.
Am 29. Juli erging an die k. u. k. Signatarbotschaften DieM»-
und Balkanmissionen die telegraphische Verständigung, nach I^'|""^^/"
einer Meldung des Grafen Szögyeny aus Berlin vom 28. Juli' Kabinetts an
sei der englische Vermittlungsvorschlag, laut welchem Eng- „^Jj^^'''
land, Deutschland, Italien und Frankreich zu einer Konfe- hinsichtlich
renz in London zusammentreten sollten, um Mittel zur Bei- ^"^^ ^^^^'
legung der jetzigen Schwierigkeiten zu finden, deutscher- englischen
seits mit der Begründung abgelehnt worden, daß eine (jaTui'r^"
Konferenz nicht das geeignete Mittel wäre, um einen Erfolg
zu erzielen -.
Herrn von Tschirschky war am nämlichen Tage von Memoire des
Graf Berchtold in Beantwortung des zur Kenntnis gebrachten Ka'wnetts zur
englischen Vermittlungsvorschlages ein die ablehnende Haltung Begründung
des Wiener Kabinetts motivierendes Memoire überreicht ^l[^ ^Jj. '
worden*^; durch Herrn
„Die k. u. k. Regierung hat mit dem ergebensten Danke ^""i^irscbiiy
„von der Mitteilung* Kenntnis genommen, welche ihr der ubermitieiten
„Herr kaiserlich deutsche Botschafter am 28. 1. M. gemacht p"^pos'^,^i"„
„hat in betreff des Ersuchens des englischen Kabinetts % i29. juü)
1 Vgl. Seite 179.
2 Zirkularerlaß an die Signatarbotschaften und die Balkanmissionen
d. d. 29. Juli, Protokoll Nr. 5814 bis 5822. Es muß auffallen, daß sich
diese Mitteilung an die k. u. k. Missionen auf die deutscherseits
bereits am 27. Juli erfolgte Ablehnung des englischen Konferenzvor-
schlages berief und nicht auf die von Graf Berchtold selbst dem
englischen Botschafter in der Besprechung am 28. Juli gegenüber voll-
zogene Abweisung der Vermittlungsvorschläge. (Vgl. Seite 203 ff.)
•' Der wörtlichen Zitierung der im Konzepte dieses Memoires vor-
genommenen Änderungen kommt ein sachliches Interesse zu. Wir ver-
zeichnen daher die gegenständlichen Vermerke.
* Ursprünglich im Konzepte: „von dem Inhalte der Notiz"; sodann
von der Hand Baron Musulins: „von dem Inhalte des Aide-memoires";
zuletzt Korrektur des Grafen Berchtold: „von der Mitteilung".
■' Ursprünglich im Konzept: „die ihr der Herr kaiserlich deutsche
Botschafter am 28. 1. M. zur Verfügung gestellt hat und die das Ersuchen
des englischen Kabinetts betraf". (Umänderung von der Hand des Grafen
Berchtold.)
229
„die kaiserlich deutsche Regierung möge ihren Einfluß beim
„Wiener Kabinett dahin geltend machen, damit dieses die
„Antwort aus Belgrad entweder als genügend betrachte oder
„aber als Grundlage für Besprechungen annehme'. Zu der
„Aussprache des Herrn englischen Staatssekretärs zu Fürst
„Lichnowsky möchte die k. u. k. Regierung zunächst darauf
„aufmerksam machen, daß die serbische Antwortnote keines-
„wegs, wie dies Sir Edward Grey anzunehmen scheint,
„eine Zustimmung zu allen unseren Forderungen mit einer
„einzigen Ausnahme impliziere, daß vielmehr in den meisten
„Punkten Vorbehalte formuliert sind, welche den Wert der
„gemachten Zugeständnisse wesentlich herabdrücken. Die
„Ablehnung betreffe aber gerade jene Punkte, welche einige
„Garantie- für die faktische Erreichung des angestrebten
„Zweckes enthalten."
„Die k. u. k. Regierung kann ihre Überraschung über
„die Annahme nicht unterdrücken, als ob ihre Aktion gegen
„Serbien Rußland und den russischen Einfluß am Balkan
„trefl^en wolle, denn dies hätte zur Voraussetzung, daß die
„gegen die Monarchie gerichtete Propaganda nicht allein
„serbisch, sondern russischen Ursprunges sei. Wir sind
„bisher vielmehr von der Auffassung ausgegangen, daß das
„offizielle Rußland diesen der Monarchie feindlichen Ten-
„denzen fernstehe, und es richtet sich unsere gegenwärtige
„Aktion ausschließlich gegen Serbien, während unsere
„Gefühle für Rußland, wie wir Sir E. Grey versichern
„können, durchaus freundschaftliche sind.
„Im übrigen muß die k. u. k. Regierung darauf hin-
„weisen, daß sie zu ihrem lebhaften Bedauern nicht mehr
„in der Lage ist, zu der serbischen Antwortnote im Sinne
„der englischen Anregung Stellung zu nehmen, da im
1 An dieser Stelle folgte im Konzept ein mit den Worten eingeleiteter
Absatz: „In Beantwortung dieser Notiz beehrt sich die k. u. k. Regierung
mitzuteilen, daß sie zu ihrem lebhaften Bedauern nicht mehr in der Lage
ist, . . . ." (Fortsetzung in unserem Texte Seite 230, Zeile 2 von unten).
Der Passus von: „Zu der Aussprache" bis: „Im übrigen muß die k. u. k.
Regierung darauf hinweisen": Einschaltung auf einem besonderen Bogen.
- Im Konzepte: „jenen Punkt, welcher die wirksamste Garantie für
die faktische Erreichung des angestrebten Zweckes enthält". (Korrektur
von der Hand Graf Berchtolds.l
230
„Zeitpunkte des hier gemachten deutschen Schrittes ' der
„Kriegszustand zwischen der Monarchie und Serbien bereits
„eingetreten war und die serbische Antwortnote demnach
„durch die Ereignisse bereits überhoh ist.
„Die k. u. k. Regierung erlaubt sich bei diesem Anlasse
„darauf aufmerksam zu machen, daß die königlich serbische
„Regierung noch vor Erteilung ihrer Antwort mit der Mobili-
„sierung der serbischen Streitkräfte vorgegangen ist und daß
„sie auch nachher drei Tage verstreichen ließ, ohne die Ge-
„neigtheit kundzugeben, den Standpunkt ihrer Antwortnote
„zu verlassen % worauf unsererseits die Kriegserklärung er-
folgte.
„Wenn im übrigen das englische Kabinett seinen Einfluß
„auf die russische Regierung im Sinne der Erhaltung des
„Friedens zwischen den Großmächten und der Lokalisierung
„des uns durch die jahrelangen serbischen Umtriebe aufge-
„zwungenen Krieges geltend zu machen sich bereit findet,
„so kann dies die k. u. k. Regierung nur begrüßen."
Dies Memoire, das eine direkte Bezugnahme auf die
deutsche schriftliche Notiz — bei Benennung als einer
solchen — vorsätzlich vermied (wie es aus den diesbezüglich
konsequent vorgenommenen Änderungen im Konzept er-
hellt) 3, wurde am 29. Juli, 11 Uhr 40 Minuten nachmittags,
den k. u. k. Botschaftern in Petersburg, London, Paris
und Rom telegraphisch zugestellt*. Ein weiteres Exemplar
• Ursprünglich im Konzepte: „Im Zeitpunkte des Einlangens der
dortigen Notiz". (Korrektur von der Hand des Grafen Forgäch.)
- Im Konzepte hierauf die folgenden Worte durchstrichen: „sondern
mit der Eröffnung der Feindseligkeiten begonnen hat".
3 Die gleiche Absicht erkennen wir in dem Bestreben des Wiener
Kabinetts, in dem Konzept der Weisung an den Grafen Szögyeny vom
28. Juli (vgl. Seite 178) jede ursprüngliche Erwähnung der deutschen
schriftlichen Notiz umzuformulieren. (Vgl. Seite 179, Anmerkung 2.)
* Weisung nach St. Petersburg d. d. Wien,
29. Juli, Nr. 193.
Weisung nach London d. d. Wien, 29. Juli,
Nr. 182.
Weisung nach Paris d. d. Wien, 29. Juli,
Nr. 172.
Weisung nach Rom d. d. Wien, 29. Juli,
Nr. 900.
231
Expediert 29. Juli,
11 Uhr 40 Minuten
p. m.
ging am gleichen Tage mit Depeschenkasten an Graf
Szögyeny ab; ein Exemplar endlich wurde Herrn von
Tschirschky selbst ausgefolgt.
Derengiische Der Ausbruch dcs Krieges zwischen Österreich-Ungarn
vermiti- ^^^ Serbien, im Gefolge damit die offenkundige Aussicht-
schlag vom losigkcit direkter Besprechungen zwischen Petersburg und
29. Juli Wien, vollends die Einleitung der russischen Mobilisierung,
hatten die Gefahr einer internationalen Konflagration in
greifbare Nähe gerückt. Am 29. Juli vormittags war vom
englischen Staatssekretär dem deutschen Botschafter Fürsten
Lichnowsky neuerlich eine Formel vorgeschlagen worden,
mittels welcher die vier an der Krise nicht direkt beteiligten
Großmächte — England, Deutschland, Frankreich und Italien
— in den Stand gesetzt werden sollten, den schwergefähr-
deten Frieden zu erhalten.
In der an den englischen Botschafter in Berlin, Sir E.
Goschen, zu diesem Gegenstande gerichteten Weisung Sir
Edward Greys vom 29. Juli lautete der dem Fürsten
Lichnowsky zur Weiterleitung nach Berlin übermittelte
Vorschlag:
„I pointed out, however, that the Russian Government,
„while desirous of mediation, regarded it as a condition
„that the military Operations against Servia should be sus-
„pended, as otherwise a mediation would only drag on
„matters, and give Austria time to crush Servia. It was, of
„course, too late for all military Operations against Servia
„to be suspended. In a short time, I supposed, the Austrian
„forces would be in Beigrade, and in occupation of some
„Servian territory. But even then it might be possible to
„bring some mediation into existence, if Austria, while saying
„that she must hold the occupied territory until she had
„complete satisfaction from Servia, stated that she would not
„advance further, pending an effort of the Powers to mediate
„between her and Russia." '.
Dieser Vorschlag Sir Edward Greys war nach der
Aussage des deutschen Botschafters' unverzüglich nach
Berlin telegraphiert worden-.
1 Blaubuch Nr. 88.
2 Daselbst Schlußabsatz.
232
Im Auftrage des Reichskanzlers machte der deutsche Intervention
Botschafter in Wien Herr von Tschirschicy am 30. Juli deutschen
Graf Berchtold Mitteilung über die erwähnte Unterredung Regierung
zwischen Sir Edward Grey und Fürst Lichnowsky. Diese Jj^ j^°.^
Besprechung hatte nach dem Wortlaute der im k. u. k.
Ministerium des Äußern aufgesetzten gegenständlichen Auf-
zeichnung — Tagesbericht vom 30. Juli; Weisung an die
k. u. k. Botschafter in London, Berlin und Petersburg vom
31. Juli' — folgenden Inhalt:
„Sazonow habe die englische Regierung wissen lassen,
„daß er nach der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an
„Serbien nicht mehr in der Lage sei, mit Österreich-Ungarn
„direkt zu verhandeln und daher die Bitte ausspreche, England
„möge seine Vermittlung wieder aufnehmen. Als Voraus-
„setzung betrachte die russische Regierung die vorläufige
„Einstellung der Feindseligkeiten.
„Zu dieser russischen Eröffnung bemerkte Sir Edward
„Grey zu Fürst Lichnowsky, England denke an eine Ver-
„mittlung ä quatre und halte dieselbe für dringend geboten,
„wenn nicht ein Weltkrieg entstehen solle.
„In privater Weise hat Sir Edward Grey dem deutschen
„Botschafter zu verstehen gegeben, daß England zwar, wenn
„es sich nur um ein Eingreifen Rußlands handeln würde,
„neutral bleiben könnte, daß es aber, wenn auch Deutschland
„und Frankreich- in die Aktion trete, nicht untätig bleiben,
„sondern zu sofortigen Entschlüssen und Handlungen ge-
„zwungen wäre. Das englische Kabinett müsse mit der
„öffendichen Meinung rechnen, die wegen der österreichi-
„scherseits bewiesenen Hartnäckigkeit umzuschlagen beginne.
„Dem italienischen Botschafter, den Sir Edward Grey
„kurz nach dem Fürsten Lichnowsky empfing, sagte der
„englische Staatssekretär, er glaube Österreich-Ungarn jede
„mögliche Genugtuung verschaffen zu können. Ein demütiges
„Zurückweichen Österreich-Ungarns käme nicht in Frage,
' Weisung nach London d. d. Wien, Nr. 194; nach Berlin, Nr. 308,
nach St. Petersburg, Nr. 208, alle drei d. d. 31. Juli, expediert 1. August
3 ühr 45 Minuten a. m.
- Die Worte „Deutschland und" Zusatz im Konzept von der Hand
des Grafen Forgäch.
233
„da die Serben auf alle Fälle gezüchtigt und mit Zustimmung
„Rußlands genötigt würden, sich den österreichisch-ungari-
„schen Wünschen unterzuordnen. Österreich-Ungarn könne
„also, auch ohne einen Weltkrieg zu entfesseln, Bürgschaften
„für die Zukunft erlangen."
Befür- Herr von Tschirschky war beauftragt, an die im Vor-
rruschen" stehenden wiedergegebenen Äußerungen Sir Edward Greys
Vorschlages die nachstehenden Konsiderationen des deutschen Reichs-
demsch? kanzlers zu knüpfen':
Regierung „Wenn Österrcich-Ungam jede Vermittlung ablehne,
„würden Österreich-Ungarn und Deutschland einer Koalition
„von ganz Europa gegenüberstehen, da auch Italien und
„Rumänien nicht mit ihnen gingen.
„Österreich-Ungarns politischem Prestige, der Waffen-
„ehre seiner Armee und seinen berechtigten Ansprüchen
„Serbien gegenüber könnte durch die Besetzung Belgrads
„und anderer Punkte Genüge getan werden. Auch seine
„Stellung am Balkan — Rußland gegenüber — würde Öster-
„reich-Ungarn durch die erfolgte Demütigung Serbiens zu
„einer starken machen. Unter diesen Umständen müsse
„es das deutsche Kabinett dringendst und nach-
„drücklichst der Erwägung der k. u. k. Regierung
„anheimstellen, die Vermittlung Englands unter
„den angegebenen ehrenvollen Bedingungen anzu-
„nehmen. Es wäre für Österreich-Ungarn und
„Deutschland ungemein schwer, die Verantwortung
„für die Folgen einer ablehnenden Haltung zu
„tragen"^.
Dieser durch Herrn von Tschirschky dem Wiener
Kabinett „dringendst und nachdrücklichst" übermittelte Vor-
schlag Sir E. Greys, im Anschlüsse an die Eröffnungen
Herrn Sazonows einer Vermittlung ä quatre zuzustimmen,
erfuhr durch Graf Berchtold die folgende, mit Rücksicht
auf ihre Folgenschwere eine ausführlichere Darlegung er-
heischende Erledigung.
' Fortsetzung der eben zitierten Weisung nach Londen, Berlin und
St. Petersburg vom 31. Juli.
- Vom Autor gesperrt.
234
Mittels der vorerwähnten, am 31. Juli aufgesetzten Weisung «n
und erst am 1. August um 3 Uhr 45 Minuten vormit- Bo"sj,|,"f,er
tags expedierten telegraphischen Weisung wurde den in Berün
k. u. k. Botschaftern in London, Berlin und Petersburg von *■"■ •'"''^
der Demarche Herrn von Tschirschkys in Angelegenheit des
englischen Vermittlungsvorschlages und von den diesbezüg-
lichen Erwägungen der deutschen Regierung zur persönlichen
Information Mitteilung gemacht. Der k. u. k. Botschafter in
Berlin Graf Szögyeny erhielt hiebei den Auftrag:
„Ich ersuche Euer Exzellenz, dem Herrn Staatssekretär
„für die uns durch Herrn von Tschirschky gemachten Mit-
„teilungen verbindlichst zu danken und ihm zu erklären,
„daß wir trotz der Änderung, die in der Situation seither
„durch die Mobilisierung Rußlands eingetreten sei, in voller
„Würdigung der Bemühungen Englands um die Erhaltung des
„Weltfriedens gerne bereit seien, dem Vorschlag Sir E. Greys,
„zwischen uns und Serbien' zu vermitteln, näher-
„zutreten -.
„Die Voraussetzungen unserer Annahme seien jedoch
„natürlich, daß unsere militärische Aktion gegen das König-
„reich einstweilen ihren Fortgang nehme, und daß das
„englische Kabinett die russische Regierung vermöge, die
„gegen uns gerichtete Mobilisierung seiner Truppen zum
„Stillstand zu bringen, in welchem Falle wir selbstverständ-
„lich auch die uns durch die russische Mobilisierung auf-
„gezwungenen defensiven militärischen Gegenmaßregeln in
„Galizien sofort rückgängig machen würden."
Graf Berchtold erklärte also „in voller Würdigung der DerChiirre-
Bemühungen Englands um die Erhaltung des Weltfriedens", J"J'Q^^f^„
das Wiener Kabinett sei gerne bereit, dem Vorschlag Sir szögytny
E. Greys, zwischen der Monarchie und Serbien zu ver-
mitteln, näherzutreten. Worauf gründete er diese — mindestens
unpräzise — Formulierung des englischen Vermittlungs-
vorschlages?
In den Ausführungen Herrn von Tschirschkys war
unmißverständlich von der Absicht Englands die Rede, eine
• Im Original gesperrt.
2 Ursprünglich im Konzept „anzunehmen". Die Formulierug „näher-
zutreten" Änderung von der Hand des Grafen Forgäch.
235
Vermittlung ä quatre herbeizuführen. Den Schlüssel zu
der überraschenden Konzeption des Grafen Berchtold bietet
der — Chiffre-Irrtum in einem Telegramm des k. u. k.
Botschafters in Berlin. Graf Szögyeny hatte nämlich —
ebenfalls in Angelegenheit des Greyschen Vorschlages —
am 30. Juli, 5 Uhr 15 Minuten nachmittags, depeschiert:
„Nr. 327
„Chiffre.
„Geheim.
„Staatssekretär hat, wie er mir sagt, Herrn von Tschirschky
„beauftragt. Euer Exzellenz mitzuteilen, daß laut eines Tele-
„gramms Fürsten Lichnowsky Sir E. Grey das Ersuchen
„an die deutsche Regierung gestellt habe, Euer Exzellenz
„nahezulegen, nach eventueller Besetzung Belgrads und
„auch anderer strategischer Punkte Halt zu machen und in
„Verhandlungen mit Serbien einzutreten.
„Herr von Jagow sieht es vollkommen ein, daß nach
„unserer erfolgten Kriegserklärung und Mobilisierung unserer
„Armee wir eine militärische Genugtuung haben müssen,
„was durch die Besetzung in Serbien dann erlangt sei, so
„daß wir darauf nach seiner Ansicht in die Pourparlers
„eintreten könnten."
Dieses Telegramm traf in Wien am 30. Juli, 8 Uhr nach-
mittags, ein.
Der unterlaufene Chiffre-Fehler war von Graf Szögyeny
bemerkt und noch am selben Tage in einem um 7 Uhr
15 Minuten nachmittags nach Wien abgeschickten Tele-
gramm richtiggestellt worden, das folgendermaßen lautet:
„Nr. 330.
„Chiffre.
„Zu meinem Telegramm 327 von heute. Nach erstem
„Absatz soll es nicht heißen „in Verhandlungen mit Serbien
„einzutreten", sondern „mit den Mächten einzutreten"."
In dem ersten Telegramm des Grafen Szögyeny (vom
30. Juli, 5 Uhr 15 Minuten nachmittags) hat Graf Berchtold
das Wort „Serbien" eigenhändig durchstrichen und darüber
mit Bleistift das Wort „Mächten" gesetzt. Es ist also aus-
geschlossen, daß Graf Berchtold, der die sinngemäße
Korrektur des Textes selbst besorgte, sich von dem Irrtum
236
in der chiffrierten (ersten) Depesche des Grafen Szögyeny
nicht überzeugt hätte. Da das i^orrigierende (zweite) Tele-
gramm Graf Szögyenys bereits am 30. Juli, 10 Uhr abends,
in Wien eingelangt war, hätte dieses als Basis der am
31. Juli aufgesetzten und gar erst am 1. August - früh-
morgens expedierten Weisung nach Berlin dienen müssen'.
Als nun die deutsche Regierung im Laufe des Die deutsche
30. und 31. Juli von Seite des englischen Bot- ^'^^^^^
schafters wiederholte Male um Antwort befragt wien keine
wurde, vermochte sie, da sie physisch noch nicht ^"^"„'„^
im Besitze der von Wien erst am Morgen desihrerAn-
1. August expedierten Erledigung ihrer Befürwor- j^/^'j^'g,""^
tung des englischen Vorschlages sein konnte, bloß sehen ver-
zu konstatieren, daß ihr trotz wiederholter dring- ["„'^"'"^"^^^3
lieber Anfragen- eine gegenständliche Antwort aus vom 29. ju«
Wien nicht zugekommen sei''. In mittelbarer Folge
aber mußte in London während dieser entscheidenden
Stunden die unerschütterliche Überzeugung von der mala
fides der deutschen Regierung erstehen*.
Wie wehrlos die deutsche Regierung dem Verdachte
der ihrerseits beabsichtigten und durchgeführten Vereitlung
dieses Vermittlungsvorschlags Sir Edward Greys auch in der
Folgezeit gegenüberstand, erweist sich aus den weiteren
' Wir sind auf Grund unserer Feststellungen nunmehr in der Lage,
auf die im Weißbuch betreffend d. V. d. U. a. K., Seite 41, in den
Schlußfolgerungen offengelassene Frage, warum die Antwort des Wiener
Kabinetts auf den Vorschlag Sir Edward Greys vom 29. Juli nachmittags
„nicht sofort erfolgt ist", genauen Aufschluß zu geben und erhellen damit
diesen „einen der wesentlichsten Punkte, der noch der Auf-
klärung bedarf". (Vgl. ebendort.)
'-' Es wäre sachlich wichtig festzustellen, welche Erledigung die von
der Wiener deutschen Botschaft im Auftrage der Berliner Regierung voll-
zogenen gegenständlichen Urgenzen im einzelnen gefunden haben.
■1 Blaubuch Nr. 98, 107, 112.
* Vgl. hiezu das Telegramm des Grafen Szögyeny d. d. Berlin, 31. Juli,
12 Uhr 35 Minuten a. m. Nr. 333: „Wie mir Unterstaatssekretär heute
„abends (30. Juli) versicherte, sei die deutsche Regierung auf Grund zu-
„verlässiger Nachrichten nunmehr, im Gegensatze zu ihrer kürzlich noch
„gehabten Oberzeugung leider sicher, daß England unbedingt sofort gegen
„Deutschland und Österreich-Ungarn losgehen werde, wenn der
„kriegerische Konflikt mit Frankreich und Rußland ausbrechen würde."
237
Konsequenzen der vom Wiener Kabinett in der geschilderten
Weise durchgeführten Erledigung der englischen Ver-
mittlungsanreguDg.
Am 4. November 1916 teilte der deutsche Botschaftsrat
PrinzStolberg — laut Tagesbericht ' — dem k. u. k. Ministerium
des Äußern auftraggemäß mit, der Reichskanzler habe die
Absicht, in seiner nächsten Rede auf die letzten Äußerungen
Lord Greys zurückzukommen und im Gegensatz zu den
Anschuldigungen des englischen Ministers, daß Deutschland
durch seine Weigerung, an der Erhaltung des Friedens mit-
zuarbeiten, den Ausbruch des Weltkrieges veranlaßt habe,
den Beweis zu erbringen, daß die deutsche Regierung bis
zum letzten Augenblick ihre Bemühungen zwecks Erhaltung
des Friedens fortgesetzt habe, daß dieselben aber durch die
russische Mobilisierung gescheitert seien. Herr von Beth-
mann wolle hiebei auch seine unterm 30. Juli an Herrn
von Tschirschky erlassene Instruktion (vide h. a. Telegramm
nach London, Berlin, Petersburg d. d. 31. Juli 1914) ver-
werten und speziell den nachstehenden Passus aus derselben
wörtlich verlesen:
„Wir stehen somit, falls die österreichisch-
„ungarische Regierung jede Vermittlung ablehnt,
„vor einer Konflagration, bei der England gegen
„uns, Italien und Rumänien nach allen Anzeichen
„nicht mit uns gehen würden, so daß wir mit Öster-
„reich-Ungarn drei Großmächten gegenüberstünden.
„Deutschland würde infolge der Gegnerschaft
„Englands das Hauptgewicht des Kampfes zu-
„fallen. Das politische Prestige Österreich-Ungarns,
„die Waffenehre seiner Armee sowie seine berech-
„tigten Ansprüche gegen Serbien könnten durch
„die Besetzung Belgrads oder andrer Plätze hin-
„reichend gewahrt werden. Wir müssen daher der
„Erwägung des Wiener Kabinetts dringend und
„nachdrücklich zur Erwägung geben, die Ver-
„mittlung zu den angegebenen Bedingungen an-
„zunehmen. Die Verantwortung für die sonst ein-
' Tagesbericht d. d. 4. November 1916, Nr. 5418.
238
„zutretenden Folgen wäre für Österreich-Ungarn
„und uns eine ungemein schwere."
Zu diesem von ihm beabsichtigten Vorgange erbitte er
sich die Zustimmung des Herrn Ministers.
An vorstehende Ausführungen icnüpfte Prinz
Stolberg die Bemerkung, daß es aus den Ai^ten des
Auswärtigen Amtes hervorgehe, daß das Wiener
Kabinett den auf Grund der obenerwähnten Instruk-
tion unternommenen Schritt Herrn von Tschirschkys
unbeantwortet gelassen hätte.
In wörtlicher Fortsetzung sagt der Tagesbericht:
„Es wurde dem deutschen Botschaftsrat sofort erwidert,
„daß diese Annahme nur auf einem Irrtum beruhen könne.
„Graf Szögyeny sei sofort i beauftragt worden (h. a.
„Telegramm nach Berlin Nr. 308 d. d. 31. Juli 1914), dem
„Herrn Reichskanzler für seine Mitteilungen zu danken und
„ihn über die Auffassung zu informieren, die seine Anregung
„in Wien gefunden hätte. Auch sei der Schritt Herrn von
„Tschirschkys und die an Graf Szögyeny ergangene gegen-
„ständliche Weisung des Wiener Kabinetts in der Piece
„Nr. 51 des über die diplomatische Vorgeschichte des Krieges
„vom Wiener Kabinett herausgegebenen Rotbucnes ver-
„wertet."
Hier lautet das ebengenannte Dokument — ohne der Das ein-
deutschen Befürwortung irgendwie Erwähnung zu tun: schiägige
° ° » Siück des
Graf Berchtold an die k. u. k. Botschafter in London retchisch-
und St. Petersburg. ungarischen
Roibuches
Telegramm. Wien, 31. Juli 1914.
„Ich telegraphiere wie folgt nach Berlin :
„Herr von Tschirschky hat auftraggemäß gestern hier
„Mitteilung über eine Unterredung zwischen Sir E. Grey
„und Fürst Lichnowsky gemacht, in welcher der englische
„Staatssekretär dem deutschen Botschafter das Nachfolgende
„eröffnete:
,Sazonow habe die englische Regierung wissen lassen,
,daß er nach der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an
' Vom Autor gesperrt.
239
,Serbien nicht mehr in der Lage sei, mit Österreich-Ungarn
,direl^t zu verhandeln und daher die Bitte ausspreche,
, England möge seine Vermittlung wieder aufnehmen. Als
,Voraussetzung betrachte die russische Regierung die vor-
,läufige Einstellung der Feindseligkeiten.
,Zu dieser russischen Eröifnung bemerkte Sir E. Grey
,zu Fürst Lichnowsky, England denke an eine Vermittlung
,ä quatre und halte dieselbe für dringend geboten, wenn
,nicht ein Weltkrieg entstehen solle.'
„Ich ersuche Euer Exzellenz, dem Herrn Staatssekretär
„für die uns durch Herrn von Tschirschky gemachten Mit-
„teilungen verbindlichst zu danken und ihm zu erklären,
„daß wir trotz der Änderung, die in der Situation seither
„durch die Mobilisierung Rußlands eingetreten sei, gerne
„bereit seien, dem Vorschlag Sir E. Greys, zwischen uns
„und Serbien zu vermitteln, näherzutreten.
„Die Voraussetzungen unserer Annahme seien jedoch
„natürlich, daß unsere militärische Aktion gegen Serbien
„einstweilen ihren Fortgang nehme und daß das englische
„Kabinett die russische Regierung bewege, die gegen uns
„gerichtete russische Mobilisierung zum Stillstand zu bringen,
„in welchem Falle selbstverständlich auch wir die uns durch
„dieselbe aufgezwungenen defensiven militärischen Gegen-
„maßregeln in Galizien sofort wieder rückgängig machen
„würden" '.
Weiters wurde - setzt der erwähnte Tagesbericht fort —
dem Prinzen Stoiberg gesagt, seine Demarche würde sofort
zur Kenntnis des Ministers gebracht und die Stellungnahme
• Auch in foro interne erwuchsen dem k. u. k. Ministerium des
Äußern aus der in der geschilderten Weise vollzogenen Erledigung des
englischen Vorschlages vom 29. Juli Schwierigkeiten. Auf der für den
Druck des österreichisch-ungarischen Rotbuches vorbereiteten, die In-
struktion für den k. u. k. Botschafter in London, Berlin und Petersburg
(siehe Seite 233 ff.) enthaltenden Kopie findet sich der vom Referenten
aufgesetzte Bleistifrvermerk: „Die englische Anregung muß irgend-
wie in diesem Telegramm zum Ausdruck kommen, ebenso
Deutschlands Anempfehlung, und [soll] doch nicht uns mit
schwerer Verantwortung belasten. Erbitte Besprechung."
In welcher Weise es versucht wurde, diesen Gesichtspunkten zu
entsprechen, zeigt der oben abgedruckte Text.
240
desselben zum Wunsche des Reichskanzlers ihm noch am
morgigen Tage mitgeteilt werden.
Dem am 5. November abermals erschienenen deutschen
Botschaftsrat wurde, wie der gegenständliche Tagesbericht
feststellt', auf seine gestern gestellte Anfrage im Auftrage
des Ministers geantwortet, daß Baron Buridn gegen die
Absicht des Reichskanzlers, in seiner nächsten Rede die
unter dem 30. Juli 1914 an Herrn von Tschirschky er-
gangene Instruktion zu verwerten und speziell den von ihm
bezeichneten Passus derselben zu verlesen, unter der Vor-
aussetzung nichts einzuwenden habe, daß er auch die zwei
letzten Alineas der Piece Nr. 51 des vom Wiener Kabinett
über die diplomatische Vorgeschichte des Krieges heraus-
gegebenen Rotbuches ausdrücklich erwähne und zur Ver-
lesung bringe, da diese Piece die Antwort des Wiener
Kabinetts auf den erwähnten deutschen Schritt enthalte.
„Dies" — schließt der Wortlaut des gegenständlichen
Tagesberichtes — „würde sicherlich auch den Intentionen
„des Reichskanzlers entsprechen, da er dadurch hervorheben
„könne, daß nicht nur Deutschland, sondern auch die öster-
„reichisch-ungarische Monarchie, welche durch die serbische
„Angelegenheit und Greys Vorschlag am unmittelbarsten
„betroffen war, bereit ;gewesen sei, jede Möglichkeit zur
„Verhütung des Weltkonflikts aufzugreifen. Die russische
„Mobilisierung und Kriegsabsicht habe jedwede Verhand-
„lung verhindert"-.
Überblicken wir das Schicksal dieses in den
folgenschwersten Stunden der Weltkrise vorge-
brachten Vermittlungsvorschlages Sir E. Greys, so
kann es fortab keinem Zweifel unterliegen, daß die
deutsche Regierung denselben nach Wien unver-
züglich weitergeleitet und daselbst nachdrücklich
befürwortet hat. Ebenso unverkenntlich erscheint
die weitere Tatsache, daß der englische Vorschlag
< Tagesbericht d. d. 5. November 1916, Nr. 5419.
- Der letzte Absatz („Dies würde" bis „Verhandlung verhindert")
erscheint im Konzept als nachträglicher Zusatz von der Hand des
Crafen Forgäch.
16 241
infolge der dilatorischen und unsachlichen Behand-
lung seitens des Wiener Kabinetts keine Annahme
fand'.
BrsprechunR Fürst Lichnowsky hatte am 31. Juli Gelegenheit, Sir E.
mu^dcm'^"* Grey zu sprechen-. Der Staatssekretär insistierte wieder,
deutschen daß, wenn die allgemeine Konflagration überhaupt noch
mT"ui[|'" verhütet werden könne, etwas in Petersburg von Seite der
Monarchie geboten werden müsse, „das denjenigen, der es
nicht annehme, ins Unrecht setzen würde". Dies würde
ihm ermöglichen, in Petersburg und Paris sowie auf die
öffentliche Meinung, in der sich ja keine Animosität gegen
Deutschland geltend mache, einzuwirken.
Der vorstehende Ausspruch erscheine dem Fürsten sehr
bezeichnend und als dem Charakter des Staatsseksetärs-
entsprechend. Fürst Lichnowsky sei überzeugt, daß Sir E.
Grey auch in letzter Stunde alles benützen werde, womit
man ihm an die Hand gehen könnte.
Übrigens sollte nach dieser Meldung des Grafen Mens-
dorff Sir Edward nurmehr sehr wenig Hoffnung haben
und auch der deutsche Botschafter ganz entmutigt sein. Im
Londoner Auswärtigen Amte werde die Situation als nahezu
hoffnungslos angesehen, namentlich infolge der Reuter-
meldung über die deutsche Mobilisierung. Nur die vom
Fürsten Lichnowsky am 31. Juli morgens überbrachte
Meldung von neuerlichen direkten Besprechungen zwischen
Wien und Petersburg hätte Sir Edward wieder etwas Hoff-
nung gegeben ^
< Vergleiche die Ausführungen Graf Berchtoids in dem Ministerrat
für gemeinsame Angelegenheiten vom 31. Juli: „Seine Maiestät habe
„den Antrag genehmigt, daß wir es zwar sorgsam vermeiden,
„den englischen Antrag in meritorischer Hinsicht anzu-
„nehmen, daß wir aber in der Form unserer Antwort Entgegen-
„kommen zeigen und dem Wunsche des deutschen Reich s-
„kanzlers, die Regierung nicht vor den Kopf zu stoßen, auf
„diese Weise entgegenkommen. Er (Graf Berchlold) beab-
, .sichtige daher, auf den englischen Vorschlag in sehr ver-
„bindlicher Form zu antworten, dabei aber zu
„vermeiden, auf den meritorischen Teil einzugehen." (G. M.
K. P. Z. 514, vgl. Seite 302, 303.)
- Telegramm aus London d. d. 31. Juli, 3 Uhr 55 Minuten p. m., Nr. 125.
• Telegramm aus London d. d. 31. Juli, 4 Uhr 30 Minuten p. m., Nr. 126.
242
Wie Graf Mensdorff am 1. August telegraphierte', scliien Frage der
Sir Edward Grey dem deutschen Botschafter angedeutet zu ^lllZT'
haben, England wäre geneigt, neutral zu bleiben, daß aber
im Falle der Verletzung der Neutralität Belgiens die eng-
lische Meinung völlig auf Seite Frankreichs schwenken
würde. Der Staatssekretär habe anfragen lassen, ob Deutsch-
land eine Erklärung abgeben wolle, die Neutralität Belgiens
zu respektieren, wie dies Frankreich getan habe. Die deutsche
Antwort habe ausweichend gelautet. Sir Edward Grey rege
noch eine gegenseitige Zusicherung an, daß sich die an der
Grenze massierten deutschen und französischen Truppen
nicht angreifen sollten.
Beziehungen Berlin — Wien — Petersburg
Herr von Tschirschky brachte am 29. Juli Graf Berch- Anregungen
told eine ihm soeben zugekommene Depesche des Reichs- deutschen
kanzlers zur Verlesung-, die den Gedanken erörterte, ob es Regierung
nicht zweckmäßig wäre, wenn die k. u. k. Regierung in Ka^nltr"^"^
Petersburg ihre Erklärung wiederholen ließe, daß ihr terri- (29. juM)
toriale Erwerbungen in Serbien durchaus fernelägen und daß
ihre militärischen Maßnahmen lediglich eine vorübergehende
Besetzung Belgrads und anderer bestimmter Punkte des
serbischen Gebietes bezweckten 3, um Serbien zur völligen
Erfüllung der österreichisch-ungarischen Forderungen und
zur Schaffung von Garantien für sein künftiges Wohlver-
halten der Monarchie gegenüber zu zwingen, Garantien, auf
die Österreich-Ungarn nach den mit Serbien bisher ge-
machten Erfahrungen unbedingt Anspruch hätte. Die mili-
tärische Besetzung wäre gedacht in der Art, wie die deutsche
Okkupation in Frankreich nach dem Frankfurter Frieden
zur Sicherstellung der Kriegsentschädigung. Sobald diese
Forderung erfüllt wäre, würde die Räumung vollzogen
werden \
< Telegramm aus London d. d. 1. August, 11 Uhr 16 Minuten p. m.,
Nr. 132.
2 Tagesbericht d. d. 29. Juli, Nr. 3632.
3 Vergleiche den englischen Vermittlungsvorschlag vom 29. Juli
(Seite 232 ff.) und das Telegramm Kaiser Wilhelms an Kaiser Franz
Joseph vom 30. Juli, Seite 246, 247.
'> Vgl. Seite 170, Anmerkung 2.
243
„Der Herr Reichskanzler würde", heißt es im Tages-
bericht wörtlich weiter, „in einem solchen Vorgehen Ruß-
„land gegenüber ein zweckdienliches Mittel erblicken, um
„gegebenenfalls das Odium eines Weltkrieges, das bei der
„gegenwärtigen Stimmung vielleicht uns ' treffen könnte,
„einzig und allein auf Rußland zu schieben. Die Anregung-
„zu der eben erwähnten Demarche beim Petersburger
„Kabinett bittet der Reichskanzler durchaus nicht dahin zu
„verstehen ■, als würde er damit einen Druck auf uns aus-
„üben wollen, oder als läge ihm der Wunsch nahe, uns von
„unserer Aktion* zurückzuhalten. Es leite ihil hiebei nur das
„Bestreben, eine Besserung der Bedingungen, unter denen
„wir einen Weltkrieg führen müßten, und eine Verallge-
„meinerung der Sympathie unserem Standpunkte gegenüber
„zu erzielen. Hauptsächlich mit Rücksicht auf die öffentliche
„Meinung in England würde es von großem Werte sein,
„wenn durch unser konziliantes Vorgehen Rußland gegen-
„über es allenthalben klar würde, daß im Falle eines Über-
,,greifens unseres Krieges gegen Serbien nicht uns, sondern
„Rußland allein die Schuld trifft".
Setzte die deutsche Regierung die Verfolgung ihres haupt-
sächlichsten Zieles, den bereits ausgebrochenen Krieg der
Monarchie gegen Serbien zu lokalisieren, bei den euro-
päischen Kabinetten mit unvermindertem Bemühen fort, so
trat sie in Wien mit einem bei fortschreitender Krise
wachsenden Nachdrucke für die Wiederaufnahme des
unterbrochenen Meinungsaustausches mit St. Peters-
burg ein.
Graf Am 29. Juli abends war in Berlin ein Telegramm des
Grafen Pourtales eingelangt und von Graf Szögyeny um
Pourtales
meldet den
Mangeleines 10 Uhr 35 Minuten abends nach Wien weitergeleitet worden.
Gedanken-
austausches
Die Depesche hatte nach der Meldung Graf Szögyenys
zwischen „Ungefähr" folgenden Inhalt':
Wien und
Petersburg ' ^^^ ^^''''i t'^i ''S"! Ausdrucke „uns" („wir"), („unser") zu unter-
(29. Juli) scheiden haben, wann derselbe sinngemäß auf die Monarchie allein und
wann auf Österreich-Ungarn und Deutschland gemeinsain zu beziehen ist.
- Im Konzept ursprünglich: Empfehlung.
3 Im Konzept ursprünglich: nicht dahin auszulegen.
* D. h. der österreichisch-ungarisch-serbischen Aktion.
5 Telegramm aus Berlin d. d. 29. Juli, 10 Uhr 35 Minuten p. m., Nr. 320.
244
„Herr Sazonow habe sich Graf Pourtales gegenüber auf
„das Schärfste darüber ausgesprochen, daß die k. u. k. Re-
„gierung keinen Gedankenaustausch mit Rußland suche.
„Graf Szäpdry erkläre immer, er habe keine Instruktionen,
„und Herr Scheheko habe aus Wien gemeldet, daß bei
„seinem Besuche bei Graf Berchtold ebenfalls kein Ge-
„dankenaustausch stattgefunden habe."
Die zu diesem Gegenstand an den Grafen Szögyeny Gegen-
erlassene Weisung Graf Berchtolds besagte': wdsu'nVan
Es scheine dem Grafen Berchtold notwendig, daß Graf den k. u. k.
„ ,__^ ..1JC Botschafter
Pourtales beauftragt werde, Herrn Sazonow gegenüber darauf j^ b^^,.„
hinzuweisen, daß Graf Szäpäry mit eingehenden Instruk- oo. juio
tionen - für eine Aussprache mit dem russischen Minister
versehen sei, die sich dahin zusammenfassen ließen, daß die
Monarchie bei ihrer Aktion gegen Serbien keinerlei terri-
torialen Erwerb beabsichtige und auch die selbständige
Existenz des Königreiches ganz und gar nicht vernichten
wolle '. Das Vorgehen der Monarchie richte sich überhaupt
nicht gegen das Serbentum, sondern gegen die die Mon-
archie bedrohende, von Belgrad ausgehende subversive
Propaganda.
In Berlin, wo man jede Gelegenheit der Vermitdung Nachdrück-
zwischen Wien und St. Petersburg auch v. eiterhin bereit- s^eiLgln
willig aufgriff*, wo man aber den Widerspruch zwischen der Berliner
den gegenständlichen Meldungen Graf Pourtales' und den f^^l^^^
Mitteilungen des Wiener Kabinetts konstatieren mußte, oo. juU)
bezeichnete man nunmehr die Verweigerung jedes
Gedankenaustausches mit St. Petersburg als einen
1 Weisung nach Berlin d. d. 30. Juli, I Uhr p. m., Nr. 293.
- Vergleiche hiezu den Passus in der Meldung Graf Szäpärys vom
31. Juli, daß er „heute (30. Juli) für Herrn Sazonow keine Aufträge"
besitze. (Seite 295.)
■■ „ . . . und auch die selbständige Existenz des Königreiches ganz und
gar nicht vernichten wolle". Ursprünglich im Konzepte „und auch die
Souveränität des Königreiches nicht antasten wolle".
* Bei der Obergabe einer Notiz über den Inhalt der eben erwähnten
Weisung durch Graf Szögyeny sprach sich Herr Zimmermann über die
darin für Rußland bestimmten Erklärungen erfreut aus und sagte dem
k. u. k. Botschafter zu, Graf Pourtales hierüber Mitteilung zu machen
(Telegramm aus Berlin d. d. 31. Juli, 12 Uhr 35 Minuten a. m., Nr. 335).
245
Mitteilungen
Herrn Zim-
mermanns
über den
Depeschen-
wechsel
zwischen
Kaiser Wil-
helm und
Kaiser
Nikolaus
<39. Juli)
Depeschen-
wechsel
Kaiser
Wilhelms mit
Kaiser Franz
Joseph
(30.u.31.JuIi)
Übermittlung
der Anregung
des Zaren
durch Kaiser
Wilhelm an
Kaiser und
König Franz
Joseph
schweren Fehler und ließ das Wiener Kabinett mit
allem Nachdrucke wissen: „Wir sind zwar bereit,
unsere Bündnispflicht zu erfüllen, müssen es aber
ablehnen, uns von Wien leichtfertig und ohne
Beachtung unserer Ratschläge' in einen Weltbrand
hineinziehen zu lassen"-.
Wie Herr Zimmermann dem k. u. k. Botschafter am
29. Juli mitteilte ■■, sei an diesem. Tage an Kaiser Wilhelm
eine Depesche von Kaiser Nikolaus eingetroffen, die sich
mit einem Telegramme des deutschen Kaisers gekreuzt hatte.
Kaiser Wilhelm habe dem Zaren telegraphiert, er solle sich
doch nicht der Serben, die es jetzt nicht verdienten, an-
nehmen; Österreich-Ungarn habe vollkommen recht, jetzt
energisch gegen dieselben vorzugehen. Zum Schlüsse seiner
Depesche habe Kaiser Wilhelm an Kaiser Nikolaus einen
warmen Appell zur Erhaltung des Friedens gerichtet.
Der Zar habe hinwieder in seiner Depesche Kaiser
Wilhelm geschrieben, daß die österreichisch-ungarische Mon-
archie vollkommen im Unrechte sei, in dieser Weise über
Serbien herzufallen. „Rußland stehe hinter Serbien", er
appelliere an die Friedensliebe Kaiser Wilhelms, auf Öster-
reich-Ungarn kalmierend einzuwirken.
Ob noch Weiteres in den beiden Kaiserdepeschen gestan-
den, habe Graf Szögyeny nicht konstatieren können, da ihm der
Unterstaatssekretär über deren Inhalt nicht mehr mitgeteilt habe.
Dem Anliegen Kaiser Nikolaus', zwischen Wien und
Petersburg zu vermitteln, leistete Kaiser Wilhelm am 30. Juli,
7 Uhr 18 Minuten nachmittags, Folge, indem er an Kaiser
Franz Joseph nach Wien, Schönbrunn, die dortselbst um
8 Uhr 10 Minuten abends eingetroffene Depesche richtete:
„Die persönliche Bitte des Kaisers von Rußland, einen
„Vermittlungsversuch zur Abwendung eines Weltenbrandes
„und zur Erhaltung des Weltfriedens zu unternehmen, habe
„ich nicht ablehnen zu können geglaubt und Deiner Regie-
„rung durch meinen Botschafter gestern und heute Vor-
„schläge unterbreiten lassen. Sie gehen unter anderem dahin,
' Vgl. Seite 232 ff.
^ Vgl. Weißbuch, betr. d. V. d. U. a. Kr., Seite 38.
" Telegramm aus Berlin d. d. 29. Juli, 1 1 Uhr 40 Minuten p. m., Nr. 321.
246
„daß Österreich nach Besetzung Belgrads oder anderer
„Plätze seine Bedingungen kundgäbe.
„Ich wäre Dir zu aufrichtigstem Dank verpflichtet, wenn
„Du mir Deine Entscheidung möglichst bald zugehen lassen
„könntest.
In treuester Freundschaft
Wilhelm."
Als Erwiderung auf diese Depesche setzte Graf Berchtold Amwo«-
den Entwurf folgender Antwort auf: '="^"T
o Kaiser Franz
„Ich beeile mich, Dir für Dein freundschaftliches Tele- jjssphs
„gramm verbindlichst und wärmstens zu danken '. f uh!"p' m i
„Gleich nachdem Dein Botschafter meiner Regierung
„gestern den Vermittlungsvorschlag Sir E. Greys über-
„mittelt hatte, ist mir die offizielle Meldung meines Bot-
„schafters in St. Petersburg zugekommen, wonach der
„Kaiser von Rußland die Mobilisierung aller Militärbezirke
„an meinen Grenzen angeordnet hat -.
„Graf Szögyeny meldet mir. Du hättest Kaiser Nikolaus
„in einzig treffender Weise schon gesagt, daß die russischen
„Rüstungen einzustellen seien, weil sonst die ganze Ver-
„antwortung für einen Weltkrieg auf seine Schultern falle.
„Im Bewußtsein meiner [schweren Pflichten für die
„Zukunft meines Reiches habe ich die Mobilisierung meiner
„ganzen bewaffneten Macht angeordnet 3.
„Die im Zuge befindliche Aktion meiner Armee gegen
„Serbien kann durch die bedrohliche und herausfordernde
„Haltung Rußlands keine Störung erfahren.
' Dieser Satz wurde dem mit Maschinenschrift geschriebenen Kon-
zept von Graf Berchtold nachträglich beigefügt.
- Am'^30. Juli langte — soweit sich dies aus dem einschlägigen
Material feststellen läßt — bloß ein einziges Telegramm des Grafen
Szdpäry aus Petersburg ein und dies '^behandelte die Taktik Herrn
Sazonows. (Vgl. Seite 291.) Es ist daher anzunehmen, daß es sich um
die durch den k. u. k. Botschafter eingesandte Meldung des öster-
reichisch-ungarischen Militärattaches vom 29. Juli handelt (vgl. Seite 250),
die am 29. Juli, 10 Uhr abends, in Wien eintraf.
'■' „Habe ich die Mobilisierung meiner ganzen bewaffneten Macht
angeordnet." Ursprünglicher Wortlaut des Konzeptes: „Habe ich verfügt,
daß meine ganze bewaffnete Macht mobilgemacht und die Konzentrierung
aller nicht in Serbien verwendeten Truppen an der russischen Grenze
■durchgeführt werde."
247
Kaiser
Nikolaus
„Eine neuerliche Rettung Serbiens durch Rußlands
„Intervention müßte die ernstesten Folgen für meine Länder
„nach sich ziehen, und ich kann daher eine solche Inter-
„vention unmöglich zugeben.
„Ich bin mir der Tragweite meiner Entschlüsse bewußt
„und habe dieselben im Vertrauen auf Gottes Gerechtigkeit
„gefaßt, mit der Sicherheit, daß Deine Wehrmacht in un-
„wandelbarer ßundestreue für mein Reich und für den
„Dreibund einstehen wird." '
Meldung Auf dcm Auswärtlgcn Amte erfuhr Graf Szögyeny am
^''f . 31. Juli von Herrn von lagow -, Kaiser Wilhelm habe dem
Szogyenys "^ k> o j
über einen Zarcn „zugcsagt", daß er, dem Wunsche des letzteren ent-
neueri.chen sprcchcnd, ZU Vermitteln suchen werde. Es müsse ein
Depeschen- '^ '
Wechsel direktes Einvernehmen zwischen Österreich-Ungarn und
zwischen Rußland hergestellt werden, doch müsse Rußland seine
Kaiser " - '
Wilhelm und militärischen Rüstungen einstellen, da dies sonst von Seite
Österreich-Ungarns ebensolche zur Folge haben würde, die
dann seine — Kaiser Wilhelms ^ — Rolle als „Mediator"
unmöglich machen würden.
Darauf antwortete Kaiser Nikolaus, die Sprache Kaiser
Wilhelms differiere sehr bedeutend von der seines Bot-
schafters Graf Pourtales, er bitte diesbezüglich um Auf-
klärung und schlage vor, daß der österreichisch-ungarisch-
serbische Streitfall vor das Haager Schiedsgericht gebracht
werde*.
In der darauf erfolgten Antwort habe Kaiser Wilhelm
den Zaren nochmals darauf aufmerksam gemacht, daß die
russischen Rüstungen einzustellen seien, da sonst die ganze
Verantwortung eines Weltkrieges „auf seine — des Zaren —
Schultern falle".
' Dieses Antworttelegramm Kaiser Franz Josephs ging am 31. Juli,
I Uhr nachmittags, von Schönbrunn ab; Kaiser Wilhelm hatte eine
möglichst baldige Entscheidung erbeten.
" Telegramm aus Berlin d. d. 31. Juli, 12 Uhr 38 Minuten a. m.,
Nr. 332.
3 Im Originaltelegramme : „die dann seine — Kaiser Nikolaus' — Rolle
als Mediator unmöglich machen würden." Sinngemäß kann hier nur von
Kaiser Wilhelm die Rede sein; ein neuerliches Beispiel für die Eigenart
der Meldungen Graf Szogyenys (vgl. Seite 31, Anmerkung 1).
•> Vgl. Weißbuch betreffend d. V. d. U. a. K., Seite 39.
248
In dem in englischer Sprache abgefaßten und von Herrn
Zimmermann dem k. u. k. Botschafter vorgelesenen
Depeschenwechsel zwischen den beiden Monarchen werde
in jedem einzelnen Telegramm an die besondere persönliche .
Freundschaft und an die Erhaltung des Friedens in empha-
tischen Worten appelliert'.
Kaiser Wilhelm habe es in keinem seiner Telegramme
unterlassen, besonders hervorzuheben, daß Österreich-Ungarn
zu seinem Schritt den „Mörder"-Serben gegenüber voll-
kommen berechtigt sei.
Über den Depeschenwechsel zwischen dem Zaren und GrafSzäpsry
und dem
Zaren
dem Deutschen Kaiser berichtete der k. u. k. Botschafter in d/p^^^^\"^„.
Petersburg am 31. Juli abends-: »echsei
Kaiser Wilhelm hatte sich mit einem Telegramm an K^iter"
Kaiser Nikolaus gewendet, dessen Inhalt Graf Szäpäry zwar wuheim
nicht genaiP feststellen konnte, das aber auf die Gefahr der
russischen Mobilisierung in einem Augenblick hingewiesen
haben dürfte, in welchem Österreich-Ungarn noch geneigt
sei zu verhandeln, und in welchem die Notwendigkeit der
Einstellung der russischen Mobilisierung betont gewesen sein
dürfte.
Graf Pourtales entschloß sich am 31. Juli mittags,
wie er behauptete ohne Auftrag, um eine Audienz in
Peterhof anzusuchen, wo er die gleichen Argumente bei
Kaiser Nikolaus angeblich verwendet haben wollte. Graf
Szäpäry glaube, der "deutsche Botschafter sei einfach beauf-
tragt gewesen, das Telegramm zu überbringen. Kaiser Nikolaus
scheine Kaiser Wilhelm ungefähr geantwortet zu haben, daß
die Sistierung der verordneten Mobilisierung aus technischen
Gründen unmöglich sei, daß er aber sein Wort verpfände,
' Zu dem Depeschenwechsel der beiden Herrscher meldete der k. u. k.
Gesandte in München unterm 31. Juli (Bericht Nr. 77, P.): „Der Befehl
„zur allgemeinen Mobilmachung wird, wie mir mitgeteilt wurde, binnen
„der nächsten 24 oder 48 Stunden erwartet, da Seine Majestät der Deutsche
„Kaiser noch gewünscht haben, über das Ergebnis der in Wien eingeleiteten
„freundschaftlichen Anfrage auf Basis der Greyschen Vorschläge zunächst
„noch einen Depeschenwechsel mit dem Zaren, als ein Mittel in zwölfter
„Stunde zur Abwendung des europäischen Krieges, durchzuführen."
- Telegramm aus St. Petersburg d. d. 31. Juli, 1 1 Uhr 17 Minuten p. m.,
Nr. 189. Eingetroffen in Wien, 2. August, 9 Uhr a. m.
249
Die russische
Mobili-
sierung
Erklärungen
Herrn
Sazonows
<29. Juli)
Meldung
des k. u.
Militär-
Attaches
(29. Julii
die Armee werde nichts unternelimen, wenn Österreich-
Ungarn geneigt sei, mit RuIMand in Verhandlung zu treten.
Noch am 26. Juli hatte die deutsche Regierung in Peters-
burg erklären lassen, daß eine russische Mobilisierung die
deutsche nach sich ziehen werde. Daraufwar die ausweichende
Antwort Herrn Sazonows erfolgt, er könne dem deutschen
Botschafter garantieren, daß russischerseits keine Mobilisierung
vorgenommen worden sei; allerdings wären gewisse not-
wendigste militärische Vorsorgen getroffen. Am 29. Juli
erhielt hierauf Graf Pourtales den Auftrag, in Petersburg
wissen zu lassen, daß auch die Fortsetzung der jetzigen
militärischen Rüstungen Rußlands Deutschland zur Mobili-
sierung veranlassen könnte'.
Am nämlichen Tage erklärte Herr Sazonow dem deutschen
Botschafter, der Umstand, daß Österreich ganze acht Korps
mobilisiert habe, sei ein Beweis, daß diese Maßregel nicht
allein gegen Serbien gerichtet sei, sondern auch eine Spitze
gegen Rußland habe. Aus diesem Grunde werde noch am
29. Juli abends der russische Mobilisierungsbefehl
an die an der südwestlichen Grenze gegen Öster-
reich-Ungarn gelegenen Militärbezirke erfolgen.
Herr Sazonow setzte hinzu, daß in Rußland eine Mobili-
sierung nicht so wie in westeuropäischen Ländern bereits
den Krieg bedeute; der russische Soldat könne Monate lang
Gewehr bei Fuß an der Grenze stehen. Herr Sazonow
habe bis auf Weiteres auch nicht die Absicht, Herrn
Schebeko aus Wien abzuberufen. Graf Pourtales antwortete,
daß dann Deutschland wohl auch in den Kriegsvorbereitungs-
zustand übergehen müsse. Dies sei absolut keine Drohung
gegen Rußland, „aber Deutschland würde seine Bundes-
pflichten Österreich-Ungarn gegenüber einhalten" =.
Hinsichtlich der russischen Rüstungen meldete der k. u. k.
Militärattache unterm 29. Juli^:
„Herr Sazonow gab heute vormittags deutschem Bot-
„schafter zu, daß Mobilisierungsbefehl im Sinne, wie
' Telegramm aus Berlin d. d. 29. Juli, 6 Uhr 13 Minuten p. m., Nr. 319.
- Telegramm aus Berlin d. d. 29. Juli, 10 Uhr 35 Minuten p. m., Nr. 320.
'■'■ Telegramm aus St. Petersburg d. d. 29. Juli, 4 Uhr 26 Minuten
m., Nr. 178. Eingetroffen in Wien 29. Juli, 10 Uhr p. m.
250
„Kriegsminister für den Fall einer Überschreitung serbischer
„Grenze in Aussicht hat, ergangen sei, motiviert damit, daß
„Österreich-Ungarn acht Korps mobilisiert, was gegen
„Serbien zu viel sei; es sei noch immer kein „Grund zur
„Beunruhigung".
„Generalstab leugnet weiter Tatsache Mobilisierungs-
„befehls und spricht noch immer von Vorbereitungen gegen
„Monarchie im Umfang, wie Kriegsminister sich äußerte, was
„aber mit einlaufenden Meldungen aus allen Teilen des
„Reiches im Widerspruch scheint.
„Meiner Ansicht nach geschieht soviel, daß man, obwohl
„Reservisteneinziehung noch nicht konstatiert, dieselbe jeden
„Moment erwarten kann.
Hohenlohe."
Die Mitteilungen Herrn Sazonows an Graf Pourtales Eröffnungen
erfuhren noch am 29. Juli eine Bestätigung durch die Er- ""^ . .
' o o russischen
Öffnungen, die Herr Schebeko dem deutschen Botschafter Boischafiers
in Wien machte. Herr von Tschirschkv verständigte Graf '" ^ '.^"
o gegenüber
Berchtold am selben Tage, Herr Schebeko habe ihm Herrn von
berichtet, er habe von seiner Regierung die Verständigung ^^^'^jun)'''''
erhalten, daß die Militärbezirke von Kiew, Odessa, Moskau
und Kasan mobilisiert würden. Rußland sei in seiner Ehre
als Großmacht gekränkt und genötigt, entsprechende Maß-
nahmen zu ergreifen.
In der Weisung, die an Graf Szögyeny in Erledigung Weisung
dieser Mitteilung Herrn von Tschirschkys am 30. Juli, 1 Uhr s"ggj.7ny
morgens, expediert wurde, führte Graf Berchtold, an die <29. juii) :
Nachricht des deutschen Botschafters anknüpfend, aus': Regierung""
möge in
I Weisung nach Berlin d. d. Wien, 29. Juli, Nr. 291, nach Rom d. d. Petersburg
Wien, 29. Juli, Nr. 904, expediert 30. Juli, 1 Uhr a. m. Das Ursprung- erklären, daß
liehe Konzept dieser Weisung lautet: '^ ° ' .
'^ " Setzung der
„Herr von Tschirschky hat mir soeben mitgeteilt, der russische russisehen
„Botschafter sage ihm, er habe von seiner Regierung die Verständigung MobUisie-
„erhalten, daß die Militärbezirke von Kiew, Odessa, Moskau und Kasan rung Gegen-
„mobilisiert würden. Rußland sei in seiner Ehre als Großmacht gekränkt "" '"''^^ " '"
" Deutschland
„und genötigt, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Die russische „„^j öster-
„Mobilisierung wird von unseren galizischen Korpskommanden bestätigt reich-Ungam
„und wurde, einer Meldung des k. u. k. Militärattaches zufolge, heute auch zur Folge
„von Herrn Sazonow dem deutschen Botschafter gegenüber nicht mehr
„geleugnet.
251
„Die russische Mobilisierung wird von unseren galizi-
„schen Korpsicommanden bestätigt und wurde, einer Meldung
„des k. u. k. Militärattaches zufolge, heute auch von Herrn
„Sazonow dem deutschen Botschafter gegenüber nicht mehr
„geleugnet. Ich ersuche Eure Exzellenz, vorstehendes unver-
„züglich zur Kenntnis der deutschen Regierung zu bringen
„und hiebei zu betonen, daß, wenn die russischen Mobili-
„sierungsmaßnahmen nicht ohne Säumen eingestellt werden,
„unsere allgemeine Mobilisierung aus militärischen Gründen
„unverzüglich veranlaßt werden muß.
„Als letzten Versuch, den europäischen Krieg hintanzu-
„halten, hielte ich es für wünschenswert, daß unser und der
„deutsche Vertreter in St. Petersburg, eventuell auch in
„Paris, sogleich angewiesen werden, den dortigen Regierungen
„in freundschafdicher Weise zu erklären, daß die Fortsetzung
„der russischen Mobilisierung Gegenmaßregeln in Deutsch-
„land und Österreich-Ungarn zur Folge haue, die zu
„ernsten Konsequenzen führen müßten.
„Eure Exzellenz wollen hinzufügen, daß wir uns selbst-
„verständlich in unserer kriegerischen Aktion in Serbien
,,nicht beirren lassen werden.
„Die k. u. k. Botschafter in St. Petersburg und Paris
„erhalten unter einem die Weisung, die vorerwähnte
„Ich beabsichtige, den k. u. k. Botschafter in Petersburg unverzüglich
„zu beauftragen, die Anfrage an die russische Regierung zu richten, was
„diese Maßnahmen zu bedeuten haben, und hinzuzufügen, daß wir uns in
„unserer Aktion gegen Serbien hiedurch nicht beirren lassen werden.
„Ich ersuche Eure Exzellenz, vorstehendes unverzüglich zur Kenntnis
„der deutschen Regierung zu bringen und hiebei zu betonen, daß, falls
„die russische Mobilisierung tatsächlich erfolgt, der Rest unserer Armee
„sofort mobil gemacht wird.
„Ich erachte es für dringend notwendig, daß Deutschland in Rußland
„und Frankreich kategorisch erkläre, daß selbst die einseitige Mobilisierung
,, Rußlands gegen Österreich-Ungarn die Mobilmachung Deutschlands gegen
„Rußland auslösen müßte.
„Eine sofortige Demarche Deutschlands in Petersburg und Paris ist
„deshalb unerläßlich, weil, wenn die russischen Mobilisierungsmaßnahmen
„nicht ohne. Säumen eingestellt werden, unsere allgemeine Mobilisierung
„aus militärischen Gründen sofort veranlaßt werden muß."
Das Weitere wie in der an Graf Szögyeny abgeschickten Instruktion.
252
(30. Juli)
„Erklärung abzugeben, sobald ihr deutscher Kollege analoge
„Instruktionen erhält'.
„Wir überlassen es der deutschen Regierung, ob Italien
„von diesem Schritte zu verständigen wäre. Herr von Merey
„erhält für jeden Fall eine Abschrift dieses Telegramms
„mit der Weisung, die italienische Regierung zu informieren,
„sobald deutscher Botschafter hiezu beauftragt wird."
Diese Weisung an Graf Szögyeny fand durch eine am nie Berliner
31. Juli, 12 Uhr 38 Minuten vormittags, aufgegebene ^'^i'J^"^^^
Depesche des k. u. k. Botschafters die Beantwortung, daß wiener An-
Herr von Jagow nach Rücksprache mit dem Reichskanzler ^'„^"pfj^''|;'
den k. u. k. Botschafter ersucht habe, Graf Berchtold zu zu können,
melden, daß die deutsche Regierung zu ihrem lebhaftesten "l^f^Jl"^^^.
Bedauern der Anregung des Grafen Berchtold nicht ent- sieiiung
, . .. eines
sprechen könne. direkten E.n-
Motiviert werde die Haltung der Berliner Regierung mit vemehmens
dem Hinweise auf die vom Kaiser Wilhelm über Wunsch ö^'.'f^"^^.
Kaiser Nikolaus' übernommene Vermittlungstätigkeit und ungam und
mit der Betonung der Notwendigkeit der Herstellung eines ''"'"^"'*
direkten Einvernehmens zwischen Österreich-Ungarn und
Rußlands
1 Weisung nach St. Petersburg d. d. Wien, 29. Juli, Nr. 196, nach Paris
d. d. Wien, 29. Juli, Nr. 175. Expediert 30. Juli, 12 Uhr 30 Minuten a. m.
• Telegramm aus Berlin d. d. 31. Juli, 12 Uhr 38 Minuten a. m.,
Nr. 332. Diese Antwortdepesche Graf Szögyenys wies im Wortlaute ihres
ersten Absatzes einen durchaus unklaren Inhalt auf:
„Nach Rücksprache mit dem Reichskanzler ersuchte mich Staats-
„sekretär, Eurer E.\zellenz zu melden, daß deutsche Regierung zu ihrem
„lebhaftesten Bedauern Eurer Exzellenz Anregung nicht entsprechen kann,
„da sie noch vor kurzem ihre Vertreter in Petersburg und Paris ange-
„wiesen habe, den dortigen Regierungen zu erklären, daß die Fortsetzung
„der russischen Mobilisierung Gegenmaßregeln in Deutschland und
„Österreich-Ungarn zur Folge hätte, die zu ernsten Konsequenzen führen
„müßten."
Der Inhalt der übrigen präzis formulierten Absätze erhellt aus unseren
obenstehenden und den auf Seite 248 gebrachten Ausführungen.
In dem zitierten Texte des ersten Absatzes der Antwort des Grafen
Szögyeny begegnen wir gewissen Sätzen aus der korrespondierenden
■Weisung Graf Berchtolds (vgl. Seite 252). Es liegt also eine — vielleicht
technischen Gründen — entspringende Unstimmigkeit vor.
Bestätigt wird der Mangel einer unbedingten sachlichen Klarheit in
der Darstellungsweise des k. u. k. Botschafters in Berlin übrigens auch
253
Allgemeine Dufch die am 30. Juli abends ausgegebene und am
"e?üng in ^^- J"" ^'""'^ "^'^ Maucranschiag kundgegebene allgemeine
Rußland Mobilisierungsordre für die gesamte Armee und Flotte
irendsl' Rußlands wurde jede Möglichkeit einer in Wien seitens der
durch ein im Anschlüsse an die nachstehende Episode erfolgtes Ein-
geständnis des k. u. k. Botschafters selbst:
Graf Szögyeny hatte am 27. Juli Erklärungen des russischen Kriegs-
ministers an den deutschen Militärattache in Petersburg nach Wien
telegraphisch gemeldet. (Telegramm aus Berlin d. d. 27. Juli, Nr. 301.)
Die diesbezügliche Depesche schloß mit den Worten: „Ich ersuche Eure
„Exzellenz, vom Berichte des deutschen Militärattaches auch Herrn von
„Tschirschky gegenüber keine Erwähnung zu machen."
Graf Berchtold ersuchte am 29. Juli Grafen Szögyeny hierüber mit
dem Hinweise um Aufklärung, daß die Konversationen mit dem deutschen
Botschafter, die derzeit sehr vertraulich und rege seien, durch derartige
Einschränkungen naturgemäß erschwert würden. Übrigens habe Herr von
Tschirschky aus Berlin von der Meldung des deutschen Militärattaches
in Petersburg Kenntnis erhalten und auch Graf Kageneck dem k. u. k.
Kriegsministerium hierüber Mitteilung gemacht. (Weisung nach Berlin d. d.
Wien, 29. Juli, Nr. 289.)
Graf Szögyeny erwiderte am 30. Juli: „Ich habe Eure Exzellenz
„ersucht, Herrn von Tschirschky von der Meldung kaiserlich deutschen
„Militärattaches keine Erwähnung zu tun, weil mich Unterstaatssekretär
„bei Verlesung derselben bat, von der Bemerkung des Militärattaches
„„Vorsorgen, die allerdings ziemlich weitgehend seien", Eurer Exzellenz
„keine Erwähnung zu tun, da dieselben in Wien vielleicht unnötig
,,alarmieren könnten. Ich hielt es daher für zweckmäßiger und auch dem
„zwischen mir und dem Auswärtigen Amte bestehenden, auf persönlichem
„Vertrauen basierten Einverständnis dienlicher, wenn das Auswärtige
„Amt nicht durch Herrn von Tschirschky erfährt, daß Mitteilungen, die
„mir mit der Bitte, sie nicht weiterzugeben, gemacht wurden, selbst-
„verständlich von mir doch gemeldet werden. Wobei ich zugeben muß.
„daß die Fassung des in Rede stehenden Passus meines Telegramms
„vom 27. 1. M. vielleicht nicht ausführlich genug war; um so mehr als
„mein Ersuchen um Nichtmitteilung sich nur auf die persönliche Impression
„des deutschen Militärattaches beziehen sollte." (Telegramm aus Berlin
„d. d. 30. Juli, Nr. 326.)
Sachlich verdient in der eben erwähnten Depesche Graf Szögyenys
der Umstand festgehalten zu werden, daß Herr Zimmermann den k. u. k.
Botschafter mit der Begründung ersuchte, von der bewußten Bemerkung
des deutschen Militärattaches über die russischen „Vorsorgen, die aller-
dings ziemlich weitgehend seien", dem Grafen Berchtold gegenüber keine
Erwähnung zu tun, „da dieselben in Wien vielleicht unnötig
alarmieren könnten".
254
Berliner Regierung vorzunehmenden weiteren Vermittlung
ausgeschaltet'. Der Befehl zur allgemeinen Mobilisierung
dürfte, nach Ansicht Graf Szdpdrys, dem Zaren mittels
falscher Nachrichten über die deutsche und österreichisch-
ungarische Mobilisierung abgerungen worden sein-.
In der Nacht vom 31. Juli auf den 1. August erhielt Äußerungen
der deutsche Botschafter in Petersburg den Auftrag ^ Herrn """"
Sazonow in nachdrücklichster Weise auf die Gefährlichkeit über die
der russischen Mobilisierung aufmerksam zu machen * und 'ruT'"'
° mobilisie-
ihm mitzuteilen, daß man deutscherseits einstweilen zwar rung(3i.juii
noch keine Mobilisierung, jedoch den „Schutz gegen Kriegs- ''^•"""'"^''t)
gefahr" verfügt habe. Der russische Minister, den Graf
Pourtales um Mitternacht wecken ließ, verwies darauf, daß
die Sistierung der Mobilisierung unmöglich sei, daß Kaiser
Nikolaus aber bereits so bindende Zusagen erteilt habe,
„daß zu einer Beunruhigung doch kein Anlaß sei".
Am 1. August, 12 Uhr 52 Minuten p. m., erhielt Graf Eintritt des
Pourtales den Auftrag, falls die russische Regierung hin- ^"'"s^-
ö' o o zuStandes
sichtlich der Einstellung ihrer Kriegsmaßnahmen bis 5 Uhr zwischen
nachmittags keine befriedigende Antwort erteile, zu dieser '^""Tll!''"'!
ö *= ' und Rußland
Stunde offiziell bekanntzugeben, daß sich Deutschland nach (i. August
Ablehnung seiner Forderungen mit Rußland als im Kriegs- ' """"
o ö o nachm.)
zustande befindlich betrachten
Hierüber traf in Wien am 2. August, 4 Uhr p. m., das
folgende Telegramm Graf Szögyenys ein«:
Der Staatssekretär erklärte mir soeben: Von Rußland ist
keine Antwort auf die deutsche Anfrage eingelangt.
Russische Truppen haben die deutsche Grenze bei
Schwidden (südöstlich Bialla) überschritten.
< Telegramm aus St. Petersburg d. d. 31. Juli, 11 Uhr 25 Minuten
a. m., Nr. 183. EingetrofPen am 1. August, 9 Uhr a. m.; Telegramm aus
Berlin d. d. 31. Juli, 7 Uhr p. m., Nr. 340. (Vgl. Weißbuch betr. d. V.
d. U. a. Kr. S. 50.)
- Telegramm aus St. Petersburg d. d. 31. Juli, 2 Uhr 5 Minuten
p. m., Nr. 185. Eingetroffen 1. August, 2 Uhr 30 Minuten a. m.
■■! Telegramm aus Petersburg d. d. 1. August, 2 Uhr 20 Minuten
a. m., Nr. 192.
< Vgl. W.eißbuch 1914, Anlage Nr. 24.
•• Weißbuch 1914, Anlage Nr. 26.
« Telegramm aus Berlin d. d. 2. August, 3 Uhr 6 Minuten a. m., Nr. 357.
255
Rußland hat daher Deutschland angegriffen.
Deutschland betrachtet sich daher im Kriegszustande
mit Rußland.
Deutscherseits erfolgt keine Kriegserklärung mehr'.
Russischer Botschafter hat heute vormittags Pässe zuge-
stellt erhalten und reist voraussichtlich heute abends ab."
Weisung an
den k. u. k.
Botschafter
(29. Juli);
Die Geneigt-
heit des
Wiener
Kabinetts,
in Kompen-
Sationsver-
handlungen
einzutreten,
ist geheim
zu halten
Antwort der
italienischen
Regierung
hinsichtlich
des Aner-
bietens der
k. u. k.
Regierung,
auf Kompen-
sationsver-
handlungen
einzugehen
<29. Juli)
B. Das Wiener Kabinett
Verhandlungen mit Italien
Von seiner ursprünglichen Politik des Ablehnens jeglicher
Kompensation an Italien war Graf Berchtold unter deutscher
Beeinflussung soweit abgewichen, daß er am 28. Juli nach
Rom die Geneigtheit des Wiener Kabinetts zu Kompen-
sationsverhandlungen auch für den Fall einer nur als pro-
visorisch anzusehenden Besetzung serbischen Territoriums
mitteilen ließ-. An Herrn von Merey war in dieser Ange-
legenheit am 29. Juli die nachträgliche Weisung ergangen ■%
Graf Berchtold betrachte es als selbstverständlich, bitte dies
jedoch Marquis di San Giuliano ausdrücklich zu sagen,
daß die Mitteilung betreffs der eventuellen Aufnahme von
Kompensationsverhandlungen als streng geheim zu betrachten
sei, und daß wegen der in der Monarchie herrschenden
öffentlichen Meinung derzeit von einer Verlautbarung der-
selben als äußerst bedenklich unbedingt abzusehen wäre.
Herr von Merey hatte in seinem Telegramm vom
28. Juli die Antwort der italienischen Regierung auf die
Vorschläge des Wiener Kabinetts in Aussicht gestellt*.
Diese Antwort wurde ihm am 29. Juli durch den Kabinetts-
chef des Ministers in schriftlicher Form, aber mit dem
Bemerken, sie habe als mündlich erteilt zu gelten, zugestellt.
Diese Antwort bestätige, wie der k. u. k. Botschafter
am 29. Juli nachmittags meldete-, vollständig den Eindruck,
' Eine neuerliche Bestätigung der mangelnden Exaktheit in
Berichterstattung des k. u. k. Botschafters in Berlin.
- Vgl. Seite 191.
■■ Weisung nach Rom d. d. 29. Juli, Nr. 896.
* Vgl. Seite 189.
;• Telegramm aus Rom d. d. 29. Juli, Nr. 552.
der
256
daß es der italienischen Regierung vor allem andern auf
die Kompensationsfrage ankomme, daß sie dieselbe jetzt
forcieren wolle, daß sie sich hiebei auf Deutschland berufe,
und daß sie charakteristischerweise die betreffenden Kon-
versationen in Wien und Berlin führen wolle.
Je entgegenkommender, zufriedener, dankbarer sich das
Wiener Kabinett gegenüber der Haltung Italiens zeigen
werde, desto weitgehender und insistierender würden die
römischen Prätensionen werden.
Ohne noch im Besitze der vom 29. Juli datierten Mel- Aufforderung
düng Herrn von Mereys zu sein, hatte sich Graf Berchtold B",s''"i,^f,",.'''
unter dem Eindrucke der vom k. u. k. Botschafter in zur Kompen.
Berlin und von Herrn von Tschirschky mitgeteilten Besorg- s^^nuf^u^
nisse der deutschen Regierung veranlaßt gesehen, am nehmen
30. Juli an Herrn von Merey das Ersuchen zu stellen, ''^^ ■'"'"
seine Anschauung hinsichtlich der Haltung Italiens gegen-
über der Kompensationsfrage wie auch bezüglich seiner
Bündnispflichten mitzuteilen und sich darüber zu äußern,
ob, beziehungsweise in welcher Weise er eine Lösung
dieser hochaktuellen Frage für möglich halte '.
Herr von Merey hatte inzwischen (29. Juli) den italie- Unterredung
nischen Minister des Äußern von der Erklärung des Herzogs "^"" ™"
o o Mereys mit
von Avarna, von der Antwort des Grafen Berchtold bezüg- Marquis di
lieh der Frage der territorialen Erwerbungen und von dem sa"Giuiiano
° ö (29. Juli)
Standpunkte desselben bezüglich der Kompensationsfrage
samt der daran geknüpften Erwartung-, mündlich, aber ganz
exakt in Kenntnis gesetzt.
Der Minister, der sich die Materie mit Schlagworten
notierte, sagte, er müsse, da es sich um schwerwiegende
und delikate Angelegenheiten handle, dieselben überlegen
und mit dem Ministerpräsidenten besprechen, bevor er
antworte. Hiebei bemerkte Marquis di San Giuliano neuer-
lich, diese Frage sollte (da er jetzt nach der Kur leidend
sei) in Wien verhandelt werden =.
• Weisung nach Rom d. d. 30. Juli, Nr. 908. E.xpediert 31. Juli,
2 Uhr a. m.
- Vgl. Seite 191 unten.
= Telegratnm aus Rom d. d. 30. Juli, Nr. 554.
»7 257
Krieges
(30. Juli)
.Marquis di Djc HaltUHg Itaücns im Falle eines europäischen Krieges
San G.uhano gpQptertc def italienische Minister bei einer Unterredung
II Der üie o
HaiiunK mit Herrn von Merey am 30. Juli aus eigenem Antriebe':
riaiicns ,m jj^ ^^^ Drcibund rein defensiven Charakter habe, und
ralle eines '
europäischen da das Wiener Kabinett durch sein violentes Vorgehen
gegen Serbien die europäische Konfiagration provoziert und
sich überdies mit der römischen Regierung nicht vorher
ins Einvernehmen gesetzt habe, obliege Italien keine Ver-
pflichtung, an dem Kriege teilzunehmen. Damit sei aber
nicht gesagt, daß Italien bei Eintritt dieser Eventualität sich
nicht die Frage stellen werde, ob es seinen Interessen
besser entspreche, sich militärisch an die Seite der Monarchie
zu stellen oder neutral zu bleiben. Marquis di San Giuliano
persönlich neige mehr der ersten Alternative zu und halte
dieselbe auch für die wahrscheinlichere, vorausgesetzt daß
Italiens Interessen am Balkan dabei gewahrt werden und
daß die Monarchie dort nicht Veränderungen anstrebe,
welche ihr eine Vormachtstellung — zum Schaden Italiens —
einräumen würden.
.Standpunkt Dcr Instruktion vom 30. Juli kam Herr von Merey
Herrn von niittcls clncs am 31. Juli, 1 Uhr nachmittags, aufgegebenen
Mereys hin- -j f o » o o
siehiiich der Telegrammes nach-. Unter Hinweis auf seine bisherigen, in
Kompensa- ^^^ einschlägigen Telegrammen und Berichten niederge-
tionsfrage o o o o
iM. juiii legten Ansichten führte Herr von Merey aus, daß entgegen
seinen Ratschlägen, Graf Berchtold unter dem Drucke der
deutschen Regierung dem römischen Kabinett in der Kom-
pensationsfrage bereits zu Dreivierteln entgegengekommen
sei. Eine zum großen Teil gelungene Chantage setze aber
bezüglich des Restes natürlich um so stärker ein. Tatsäch-
lich habe auch am 31. Juli Marquis di San Giuliano
bemerkt, er habe in Beantwortung der Erklärung Graf
Berchtoids nach Wien mitgeteilt, daß dieselbe vag und
ungenügend sei. Es sei daher augenblicklich eine besonders
schwierige Aufgabe für Herrn von Merey, einen Rat in
einer Situation zu erteilen, in die sich das Wiener Kabinett
gegen seine Ansicht und gegen seine wiederholte Warnung
begeben habe.
I Telegramm aus Rom d. d. 30. Juli, Nr. 560.
- Telegramm aus Rom d. d. 31. Juli, Nr. 569.
258
Nach der Überzeugung des k. u. k. Botschafters hänge
die Frage, ob Italien am Kriege teilnehme oder neutral
bleibe, nicht wirklich von der Kompensation ab, sondern
hauptsächlich von der in Rom herrschenden Beurteilung
der ganzen europäischen Situation und von militärischen
Erwägungen. Das Wiener Kabinett könnte daher riskieren,
in der Kompensationsfrage weitgehende Engagements ein-
zugehen, ohne vielleicht den Zweck, die militärische Koope-
ration Italiens, zu erreichen.
Nachdem sich ferner das Wiener Kabinett über das
Kompensationsobjekt offenbar nicht im Klaren sei oder
doch nicht im Voraus eine Kompensation fixieren könne,
insolange es selbst nicht wisse, was die Monarchie be-
komme, so könne das Wiener Kabinett nach dem Erachten
des k. u. k. Botschafters äußerstenfalls nur noch einen
Schritt weitergehen und erklären, daß die Monarchie nach
.Abschluß des lokalisierten oder allgemeinen Krieges bereit
sei, Italien im Sinne des Artikels VII des Dreibundver-
trages eine adäquate Kompensation einzuräumen, falls die
Monarchie selbst Territorien auf dem Balkan, sei es definitiv,
sei es in einer die italienische Okkupation des Dodekanes
übersteigenden Dauer okkupieren sollte und falls Italien
seine Bundespflichten exakt erfülle.
Während man sich in Rom anschickte, den in der p«P'-"'""'g
Herzog von
Kompensationsfrage eingeschlagenen Weg zielsicher weiter Avama-
zu verfolgen, glaubte Graf Berchtold in seiner Besprechung ^"'
mit dem Herzog von Avarna am 31. Juli die Angelegenheit über die
zu einer befriedigenden Lösung, das heißt zum Stillstande, ■^"■"p^^"-
^ ^ tionsrrage
gebracht zu haben. Ein am 31. Juli aufgesetztes Telegramm (si. juii).
Graf Berchtolds orientierte Herrn von Merey und Graf ''"'^'"'"''"g
einer Ver-
Szögyeny hierüber ': einbarung
Graf Berchtold habe am 31. Juli über die Kompen- '^'"■'^'"''"
* Herzog von
sationsfrage eine lange Unterredung mit dem Herzog von Avama und
Avarna gehabt, bei welcher ein vollkommenes Einvernehmen "'"'''" ™"
° ' Tschirschky
erzielt worden sei. Der deutsche und der italienische Bot-
schafter hätten darauf auf Basis dieser Unterredung eine
den Herzog von Avarna vollständig befriedigende Textierung
1 Weisung nach Rom d. d. 31. Juli, 11 Uhr 30 Minuten p. m., Nr. 914;
Weisung nach Berhn d. d. 31. Juli, 1 1 Uhr 30 Minuten p. m., Nr. 307.
259
ausgearbeitet, welche morgen (1. August) nach Rom tele-
graphiert werde '.
Graf Berchtold hoffe, daß die Frage nunmehr im Ein-
vernehmen aller Dreibundmächte gelöst erscheine. Herr
von Merey wolle Marquis di San Giuliano von Vorstehen-
dem sofort in Kenntnis setzen und hinzufügen, das Wiener
Kabinett würde nunmehr (woran Graf Berchtold übrigens
nie gezweifelt hätte) mit Bestimmtheit darauf rechnen, daß
Italien seine Bündnispflicht voll und ganz erfüllen werde.
Eine zur Absendung an die k. u. k. Botschafter in Rom
und Berlin vorbereitete, den Text der Vereinbarung in der
Kompensationsfrage enthaltende, aber nicht abgeschickte
Instruktion führte aus-:
Texidervom Der italienische Botschafter habe Graf Berchtold am
Herzog von ^j . |j auftraggemäß mitgeteilt, angesichts der Möglichkeit
Avarna und ■^ ö=> ° .. =' "
Herrn von einer territorialen Erwerbung Österreich-Ungarns am Balkan
müsse die italienische Regierung geltend macnen, daß nach
Tschirschky
aufgesetzten,
von Graf Artikel VII des Dreibundvertrages einem solchen Erwerb
Berchtold ^j^^ Akkord mit Österreich-Ungarn auf Grund wechselseitiger
akzeptierten '-' ^
nach Rom Kompcnsationcn vorhergehen müsse.
Italien wolle jedoch den Kriegsoperationen Österreich-
nichl über-
mittelten
Vereinbarung Ungams keinerlei Schwierigkeiten bereiten, unter der Reserve
m der Korn- ggjj|gp g^p ^jg^p, zitierten Artikel basierenden Ansprüche.
pensations- ^
frage Hinsichtlich der Kompensationen halte es Marquis di
131. juh) g^j^ Giuliano für dringend, daß von Seite der Monarchie
die italienische, auch von Deutschland akzeptierte Inter-
pretation des Artikels VII angenommen werde, dahingehend,
daß Italien für jede Akquisition Österreich-Ungarns am
Balkan (Serbien, Montenegro etc.) ein Kompensations-
anspruch zustehe.
Es sei für die italienische Regierung notwendig, dies-
bezüglich eine explizierte Antwort von Österreich-Ungarn
zu erhalten, weil der gegenwärtig bestehende Zweifel jede
Aktion Italiens paralysiere.
Wenn Österreich-Ungarn diese Idee nicht akzeptieren
könnte, müßte Italien eine Richtlinie verfolgen, die jedem
1 Vgl. Seite 262 unten.
2 Konzept (in der Hauptsache) von der Hand des Grafen Berchtold.
260
Gebietserwerb Österreich-Ungarns am Baltcan entgegen-
gesetzt wäre.
Hinsiclitlich der als Antwort dem italienischen Botschafter
abzugebenden Erklärung Graf Berchtolds hätten Pourparlers
zwischen ihm, dem Herzog von Avarna und Herrn von
Tschirschky stattgefunden. Graf Berchtold habe den von
den beiden Botschaftern formulierten Text akzeptiert. Der-
selbe laute:
Si cependant par la force des choses TAutriche-Hongrie
serait obligee ä faire des acquisitions territoriales dans
la Peninsule Balcanique, notamment en Serbie et au Monte-
negro, le Gouvernement I. et R. est pret ä se concerter avec
ritalie au sujet des compensations ä lui accorder, soit que
ritalie prete son concours ä l'Autriche-Hongrie dans le cas
que se presente le casus foederis vise par le traite, soit
qu'elle prete son concours sans que le casus foederis se
presente.
Cette declaration contient les Clements qui constituent
la substance meme de Tinterpretation que Vous donnez ä
l'Art. VII et que je consens ä Vous faire, bien que je ne par-
tage pas cette interpretanon meme.
Obigen NX'ortlaut habe Herzog von Avarna gebilligt.
Wie dem k. u. k. Botschafter bekannt sei, bestünden
zwischen den Verbündeten militärische Abmachungen betreffs
Beistellung italienischer Truppenkontingente an den Rhein
für den Kriegsfall mit Frankreich. Überdies habe der Chef
des Generalstabes, Baron Conrad, bei seiner letzten Be-
gegnung mit dem seither verstorbenen italienischen General-
stabschef Pollio mündlich verabredet, daß bei Eintritt des
Casus foederis italienische Truppenkontingente der Mon-
archie nach Galizien zur Verfügung gestellt würden.
Angesichts der nun kaum mehr ausweichlichen euro-
päischen Konflagration lege die österreichisch-ungarische
wie die deutsche Armeeleitung das größte Gewicht darauf,
daß Italien seinen Engagements nachkomme und baldigst
darüber Klarheit geschaffen werde, umsomehr als Rumäniens
Haltung, nach geheimen Informationen, zum Teil von
Italiens Stellungnahme bedingt sein werde.
261
Der k. u. k. Botschafter wolle Marquis di San Giuliano
von der zwischen Graf Berchtold und dem itah'eni^chen
Botschafter vereinbarten Formel Kenntnis geben und unter
Hinweis auf den Umstand, daß der Minister die Führun-;;
der Verhandlung in Wien ausdrücklich gewünscht habe, sowie
darauf, daß das Wiener Kabinett die von Herzog von Avarna
mit dem deutschen Botschafter formulierte Erklärung an-
genommen habe, bei dem Minister des Äußeren nach-
drücklich dahin wirken, daß Italien sich raschestens ent-
schließe, seinen Bundespflichten vollinhaltlich nachzukommen.
Graf Berchtold halle es nicht für ausgeschlossen, daß
Marquis di San Giuliano an dem Wortlaute des oben-
stehenden französischen Textes einiges auszusetzen haben
werde, und ermächtige den k. u. k. Botschafter für diesen
Fall zur Abgabe folgender Interpretationen:
Der Ausdruck „acquisicions territoriales" sei Graf Berch-
told vorgeschlagen worden. Er habe denselben angenommen,
sei aber bereit, denselben über Verlangen San Giulianos
durch „occupations" zu ersetzen.
Die ausdrückliche Erwähnung Serbiens und Montenegros
könnte den Anschein erwecken, als ob die Monarchie einen
Angriff gegen Montenegro beabsichtigen würde. Dies sei
nicht der Fall und es könnte nach dem Worte „Monte-
negro" eingeschoben werden „si le Montenegro prenait part
ä la luttc".
Zur Information des k. u. k. Botschafters füge Graf
Berch.old noch bei, daß das Wiener Kabinett Italien das
Recht einer Kompensation auch für den allerdings unwahr-
scheinlichen Fall einer Lokalisierung unseres Konflikts mit
Serbien zuerkenne, sofern die Monarchie zu einer nicht als
nur vorübergehend anzusehenden Okkupation serbischen
Gebietes schreiten müsse.
Mitteilung an Dem k. u. k. Botschaftcr in Rom wurde am 1. August
Brnschafier ^'" Telegramm des Grafen Berchiold mit dem Auftrage
daß das zugesicUt ', cr wolle sich sofort zu Marquis di San Giuliano
wienerKabi. j-jgge^gr, ypp j^m zu eröffnen, daß Graf Berchtold mit dem
neitdic Italic- » ' '
nische Inier. Herzog vou Avama und Herrn von Tschirschky vereinbart
pretation des
Artikels VII ' Weisung nach Rom d. d. Wien, 1. August, Nr. 916, expediert
annehtne 12 Uhr 15 Minuten p. m.
<1. August;
282
habe, die italienische Interpretation des Artikels VII des
Dreibundvertrages anzunehmen unter der Voraussetzung,
daß Italien seinen Bündnispflichten in dem gegenwärtigen
Konflikt voll nachkomme.
Die dem Herzog von Avarna gegebene Erklärung lautete ':
„Je considere qu'une divergence de vue sur l'inter-
„pretation de l'article VII forme un Clement d'incertitude
„pour nos relations du present et de l'avenir qui pourraic
„etre prejudiciable aux rapports intimes entre les deux
„Puissances. J'accepte l'interpretatiön donnee ä l'article VII
„par ritalie et l'Allemagne ä condition que l'Italie observe ,
„une attitude amicale par rapport aux Operations de guerre
„engagees actuellement par TAutriche-Hongrie et la Serbie
„et remplira ses devoirs d'allie dans le cas oü le conflit
„actuel pourrait amener une conflagration gc^nerale."
Herr von Merey wolle diese Erklärung Marquis di San
Giullano unverzüglich zur Kenntnis bringen. Zur persön-
lichen Information des k. u. k. Botschafters füge Graf
Berchtold bei, er habe diese Erklärung dem italienischen
Botschafter deshalb abgegeben, weil ihm die deutsche
Regierung in allerernstester Weise zu verstehen gab, San
Giuliano habe gestern erklärt, sich infolge der Weigerung
des Wiener Kabinetts, die italienisch-deutsche Auslegung
des Artikels VII anzunehmen, an den Vertrag nicht gebunden
zu erachten.
Noch am Abend des 1. August wurde dem Grafen xonstatie-
Szögyeny im Auswärtigen Amte der Text des von Herrn k"Tk. "
von Tschirschky aufgesetzten und dem Grafen Berchtold Botschafters
übermittelten Entwurfes der an Italien hinsichtlich der Aus- '"
legung des Artikels VII zu übergebenden Antwort vor-
gelesen-.
Wenn derselbe auch in merito, meldete Graf Szögyeny,
mit dem Inhalte der ihm von Wien aus übermittelten, nach
1 Weisung nach Rom d. d. Wien, 1. August 1
[vj^ Q^-j I Beide expediert
Weisung nach Berlin d. d. Wien. 1. August ( ' ^^^ ^^ Minuten
Nr. 313. I P- "1-
- Telegramm aus Berlin d. d. 1. August, Nr. 355. E.xpediert 2. August
1 Uhr 57 Minuten a. m.
263
italienischer
Ministerrat
11- August)
Begründung
der Haltung
Italiens
liurch den
k. u. k. Bot
schaftcr
U. August)
Rom gegebenen Antwort, soweit er es in der Schnelligkeit
habe feststellen können, übereinstimme, so sei die Tex-
tierung doch eine sehr verschiedene gewesen.
In einem am 1. August abgehaltenen Ministerrate zeigte
sich, wie Marquis di San Giulano Herrn von Merey mit-
teilte ', die Tendenz, daß Italien im Falle eines europä-
ischen Krieges neutral bleibe. Maßgebend hiefür sei die
Erwägung gewesen, daß Italien weder die Verpflichtung
noch das Interesse habe; an dem Kriege teilzunehmen. Der
Dreibund sei rein defensiv, der Krieg aber von der Monarchie
provoziert worden, ohne daß das Wiener Kabinett früher
die italienische Regierung von der Aktion verständigt hätte.
Wie könne man Italien zumuten, daß es Gut und Blut
opfere und bei seiner Küstenentwicklung die größte Gefahr
laufe? Dies alles, um ein Kriegsziel zu erreichen, das
seinem Interesse direkt zuwiderlaufe, nämlich eine Verän-
derung des Status quo am Balkan, sei es zum. materiellen,
sei es zum moralischen Vorteil Österreich-Ungarns. Nach-
dem Marquis di San Giuliano und Herr von Merey fast
eine ganze Stunde hierüber lebhaft debattiert hatten, wobei
der italienische Minister unter andern auch die „chikanöse"
Politik Österreich-Ungarns in Albanien sowie die Behandlung
der Italiener in der Monarchie erwähnt hatte, meinte er
schließlich, es sei noch immer nicht gesagt, da ein formeller
Beschluß noch nicht vorliege, daß Italien nicht doch —
eventuell vielleicht erst später — an dem Kriege teilnehme.
Dabei fiel wieder das Wort Kompensation.
Zur Motivierung der Haltung Italiens meldete der k. u. k.
Botschafter -:
Obwohl er selbst sowohl wie sein deutscher Kollege
(für Deutschland habe ja die Sache ungleich mehr praktische
Bedeutung) alles aufböten, um auf die Regierung im Sinne
der Kooperation einzuwirken, neige vorläufig die Wage
weitaus mehr nach der Neutralität.
Für diese eigentlich erst in den letzten Tagen durch-
gedrungene Tendenz sei der vollen Überzeugung des k. u. k.
' Telegramm aus Rom d. d. 1. August, 1. Uhr 50 Minuten a. m.,
Nr. 570.
= Telegramm aus Rom, 1. August, 9 Uhr 45 Minuten p. m., Nr. 575.
264
Botschafters nach in allererster Linie der Umstand ent-
scheidend gewesen, daß, entgegen der italienischen (und der
Berliner) Annahme, England nicht neutral bleibe, sondern
eingreife. Seine ausgebreiteten und schlecht geschützten
Küsten dem Bombardement englischer Schiffe auszusetzen
und die samt der österreichisch-ungarischen Flotte, der ver-
einigten französischen und englischen Mittelmeerflotte doch
inferiore italienische Marine den Kampf aufnehmen zu
lassen, erscheine in Rom als eine entsetzliche Perspektive.
Hiezu trete der infolge des lybischen Feldzuges (60.000
Mann seien noch in Lybien) ganz desorganisierte Zustand
der Armee und, wie der k. u. k. Botschafter bestimmt
erfahre, die Angst vor inneren Unruhen.
Das letzte Wort sei noch immer nicht gesprochen, aber
vorläufig laute die Losung: Neutralität.
Vielleicht könnte daran gedacht werden, daß Österreich-
Ungarn und Deutschland Italien erklärten, sie würden, falls
Italien seiiie Bundespflicht nicht bis auf den letzten Mann
loyal erfülle, sondern neutral bleibe, sich, gleichfalls von
ihren Allianzpflichten völlig lossagen und Italien als aus dem
Dreibunde ausgetreten betrachten.
Die Anordnung der allgemeinen russischen Mobilisierung Depeschen-
Wechsel
veranlaßte Kaiser Franz Joseph, am 1. August' die nach- „„isehen
stehende Depesche an König Viktor Emanuel zu richten: Kaiser und
T r^ . . , « 1 - 1 ,. • 1 König Franz
„La Russie qui s arroge le droit de s immiscer dans Joseph und
„notre conflit avec la Serbie a mobilise son armee et sa '^""■s >'''<""■
„Hotte et menace la paix de lEurope. ,,. „„j
„D'accord avec l'Allemagne je suis decide de defendre ^- Augus»
„las droits de la Triple Alliance et j'ai ordonne la mobilisation
„de toutes mes forces militaires et navales. Nous devons
„trente annees de paix et de prosperite au traite qui nous
„unit et dont je constate avec satisfaction l'interpretation
„identique par nos gouvernements.
„Je suis heureux en ce moment solennel de pouvoir
„compter sur le concours de mes AUies et de leurs
„vaillantes armees - et je forme les voeux les plus chaleureux
' Expediert 5 Uhr p. m.
-' Im Konzept folgen an dieser Stelle die nachträglich ausgestrichenen
Ausführungen: Je recommande tout particulidrement l'archiduc Frederic
265
Viviani
(30. Juli)
„pour le succes de nos armes et pour un glorieux avenir
„de nos pays."
Der italienische König beantwortete die Depesche am
2. August': „J'ai re^u le teiegramme de Votre Majeste.
„Je n'ai pas besoin d'assurer Votre Majeste que i'Italie
„qui a fait tous les efforts possibles pour assurer le maintien
„de la paix et qui fera tout ce qu'elle pourra pour contribuer
„ä la retablir aussitöt que possible gardera une attitude
„cordialement amicale envers ses allies conformement au
„traite de la Triple Alliance, ä ses sentimente sinceres et aux
„grands interets qu'elle doit sauvegarder".
Verhandlungen mit Frankreich
Unterredung Der Umschwung der öffentlichen Stimmung zu Ungunsten
des k u k. jgj. jviQnarchie, der sich seit dem 27. luli in der Pariser
Botschallers ' ^
mit, Herrn Pressc geltend zu machen anfing, spiegelte sich bis zum
30. Juli in den Unterredungen des k. u. k. Botschafters
mit den französischen Staatsmännern nicht wieder.
An diesem Tage hatte Graf Szecsen mit Herrn Viviani
eine lange, friedlich und versöhnlich geführte Unter-
redung -. Der französische Staatsmann hörte die Ausfüh-
rungen des k. u. k. Botschafters über die Haltung Serbiens,
über die Ursachen, die das Wiener Kabinett bestimmten,
die Antwort des Herrn Pasic nicht zu akzeptieren, sehr
aufmerksam an. Seine Hauptthese war, man wisse jetzt
nicht, was die Monarchie wolle, und so sei jeder Vermitt-
lung der Weg gesperrt. Graf Szecsen erwiderte, die Mon-
archie habe Serbien ihre Forderungen sehr deutlich mit-
geteilt; nachdem sie nicht erfüllt wurden, sei der Kriegs-
zustand eingetreten.
Als persönliche Ansicht fügte Graf Szecsen bei, daß,
wenn Serbien geneigt wäre, nachzugeben, es leicHt Mittel
qui se trouve ä la tete de mes troupes ä la bienveillance de Votre
Majeste et je regrette que le precipitation des evenements ne lui aie pas
permis d'aller presenter ses hommages a Votre Majeste et de se faire
aupres d'Elle Tinterpr^te de mes voeux les plus chalereux.
1 Hausabschrift des Telegramms des Königs von Italien an Kaiser
und König Franz Joseph d. d. Rom, 2. August.
- Telegramm aus Paris d. d. 30. Juli, Nr. 139.
266
finden könnte, um in Wien anzufragen, weiche Bedingungen
die Monarcliie jetzt steile. „Was gescliielit aber mii Ruß-
land?", fragte Herr Viviani. Graf Szecsen antwortete, die
Monarchie hätte von Rußland nichts verlangt und wünschte
nur, daß es sich nicht einmische. Der Minister meinte,
man müsse trachten, eine Lösung zu finden, die Rußland
eine Demütigung erspare und kam auf den englischen Vor-
schlag der Beratung der vier Botschafter zurück, worauf
Graf Szecsen erklärte, derselbe sei bisher nicht sehr klar.
Die Pariser Zeitungsnachrichten über eine französische
Mobilisierung dementierte der Minister auf das Ent-
schiedenste. Graf Szecsen wies auf das diesbezügliche, von
Rußland gegebene Beispiel hin, dessen mögliche Folgen
der Minister als sehr gefährlich bezeichnete. Noch erwähnte
Graf Szecsen, es sei sehr nützlich, wenn Rußland die
Mobilisierung nicht fortsetze und wenn es diesbezüglich
eine beruhigende Erklärung abgeben würde. Herr Viviani
bemerkte hiezu, zuerst müsse Rußland darüber beruhigt
werden, daß die Monarchie Serbien nicht vernichten wolle.
In Paris war übrigens vielfach die Ansicht verbreitet, die Angebliche
Monarchie strebe die Wiedereroberung des Sandschaks an '.
Absichten
der
Dies würde, sage man, für Rußland den Krieg bedeuten. MonNrchie,
Graf Szecsen werde von Regieruneskreisen und anderen t^" , . ,
Politikern vielfach gedrängt, irgendwelche beruhigende wiedcrzu-
Aufklärungen über die österreichisch-ungarischen Absichten ^j^'jul'i^
abzugeben, die den russischen Alarmnachrichten gegenüber
verwertet werden könnten. Die Hauptbesorgnis in Paris
heiße: Sandschak, Annexion gewisser serbischer Distrikte,
Antasten der staatlichen Unabhängigkeit, Protektorat , über
Serbien. Viele Leute in Paris, auch in Regierungskreisen,
wünschten den Frieden und möchten Argumente haben,
die sie den russischen und den französischen Hetzereien
entgegenstellen könnten.
Auf Grund dieser Meldungen ermächtigte Graf Berchtold insiruk-
am 3L Juli den k. u. k. Botschafter, sich den französischen ''""l" ."'
*-' ' Graf Szecsen
Staatsmännern gegenüber in folgendem Sinne zu äußern-: oi. juiü
' Telegramm aus Paris d. d. 30. Juli, Nr. 141.
- Weisimg nach Paris d. d. 31. Juli, 7 Uhr p. m. Nr. 181.
267
Durchfüh-
rung des
Auftrages
(31. Julil
Situations-
bericht des
l(. u. k. Bot-
schafters
(30. Juli)
Was die von Herrn Viviani ausgesprochene Befürchtung
betreffe, die Monarchie wolle Serbien vernichten, so wolle
Graf Szecsen Herrn Viviani unverzüglich darauf aufmerksam
machen, daß das Wiener Kabinett in Petersburg bereits
offiziell mitgeteilt hätte, bei seiner Aktion gegen Serbien
auf keine territoriale Erwerbung auszugehen und die staat-
liche Souveränität des Königreiches nicht antasten zu wollen.
Ebenso sei der Ansicht mit Nachdruck entgegenzutreten,
als ob die Monarchie eine Wiederbesetzung des Sandschaks
beabsichtige. Es sei aber natürlich, daß alle auf das Des-
interessemeat Österreich-Ungarns gegebenen Erklärungen
nur für den Fall gelten würden, daß der Krieg zwischen
der Monarchie und Serbien lokalisiert bleibe.
Den erhaltenen Auftrag führte Graf Szecsen noch am
Abend des 31. Juli aus. Da der Ministerpräsident nicht
erreichbar war, teilte er den Inhalt seiner Instruktion Herrn
Berthelot mit. Derselbe nahm die Äußerungen des k. u. k.
Botschafters zur Kenntnis und brachte seine persönliche
Ansicht zum Ausdruck, daß die serbische Frage angesichts
der heute unternommenen deutschen Demarche' ganz in
den Hintergrund trete-.
Aus einem Situationsbericht Graf Szecsens vom 30. Juli
ergajb sich das folgende Bild über die Stimmung und
Haltung Frankreichs':
Die Stimmung in Frankreich der Monarchie gegenüber
habe sich in den letzten Tagen entschieden verschlechtert.
Die Ablehnung der serbischen Antwort, die man zu
Anfang nicht recht begreiflich fand und die man nun, da
die Gründe dafür in den Zeitungen dargelegt wurden,
nicht verstehen wolle, die österreichisch-ungarische Kriegs-
erklärung an Serbien, die russische Mobilisation hätten die
Gefahr einer allgemeinen Konflagration viel nähergerückt,
und da es sich nicht leugnen lasse, „que c'est nous qui
avons declenche le mouvement", so werde natürlich die
Vgl. Seite 228.
Telegramm aus Paris d. d. 31. Juli, Nr. 144.
56
Bericht aus Paris d. d. 30. Juli, Z. -- — B.
268
Monarchie für alle Gefahren und deren schon jetzt zutage
tretende finanzielle Folgen verantwortlich gemacht.
Die Rückkehr der Herren Poincare und Iswolsky habe
die Zeitungskampagne gegen die Monarchie auch gefördert.
Man habe in Frankreich trotz chauvinistischen National-
stolzes, trotz berechtigten patriotischen Selbstgefühls mit
vollem Recht Angst vor dem Kriege und dessen unabseh-
baren Folgen. „Mais la peur est une mauvaise conseillere."
Der allgemeine Eindruck sei, daß Serbien sich in seiner
Antwortnote so tief gedemütigt habe, wie dies selten ein
Staat getan. Man glaube, daß die zwischen den österreichisch-
ungarischen Forderungen und der serbischen Antwort be-
stehenden Differenzen, für die man übrigens kein besonderes
Verständnis zeige, durch Verhandlungen leicht geregelt
hätten werden können. Man hätte, glaube Graf Szecsen,
nichts dagegen gehabt, wenn Serbien die österreichisch-
ungarische Note tale quäle angenommen hätte. Aber man
könne nicht begreifen, daß wegen gewisser redaktioneller
Fragen ein Weltbrand entstehen solle.
Graf Szecsen sei vielfach befragt worden, was nun
geschehen solle, was die Monarchie jetzt verlange. Er habe
stets darauf geantwortet: Die Monarchie hätte Forderungen
an Serbien gestellt, die es nicht erfüllt habe, dies habe
schließlich zum Kriegszustande geführt. Es sei nun an
Serbien, wenn es ein Ende dieses Kriegszustandes herbei-
führen wolle, anzufragen, welches jetzt die Forderungen der
Monarchie seien. Je länger die kriegerischen Operationen
dauerten, je größere Opfer sie erforderten, desto schwerer
dürften die Bedingungen Österreich-Ungarns werden.
Frankreich hatte am 1. August die allgemeine Mobili- Die franzosi-
sierung angeordnet. Herr Margerie, der dies Grafen Szecsen ^!''"' '^°'"'''
mitteilte ', erklärte gleichzeitig, die französische Regierung
habe dem Vorschlage Sir Edwards betreffs gleichzeitiger
Einstellung der militärischen Maßnahmen zugestimmt. Die
französische Mobilisierung sei rein defensiv und sei nur
eine Antwort auf die deutschen Maßnahmen. Sobald Deutsch-
1 Telegramm aus Paris d. d. I. August, 10 Uhr 50 Minuten p. m.,
Nr. 148.
269
land den Greyschen Vorschlag annehme und die militäri-
schen Maßnahmen einstelle, werde Frankreich ein gleiches
tun. Von der Mobilisierung bis zu der Kriegserklärung sei
übrigens ein langer Weg, speziell in Frankreich, wo die
Zustimmung des Parlaments nötig sei, das bisher nicht ein-
berufen wurde. Zwischen Deutschland und Frankreich
bestünden gar keine Streitfragen und man könne sich in
Paris die deutsche Haltung und die Sprache des Botschaf-
ters nur mit dem Wunsche Deutschlands, den Krieg herbei-
zuführen, erklären.
Graf Szecsen trat dieser Anschauung entgegen. Herr
Margerie erwähnte mit Befriedigung die Besprechung Graf
Szäpärys mit Herrn Sazonow in Petersburg und betonte
nachdrücklichst den französischen Wunsch, eine Detente
herbeizuführen.
BespieehuiiK In cincr Konversation, die Graf Szecsen am 1. August
P"*^ mi: Herrn Iswolskv pflog ', setzte der k. u. k. Botschafter
Szecsens • ^ o ^
mii Herrn dcn russlschcn Diplomaten in Kenntnis von der Mitteilung,
iswoisky jjg gj, ^^ ^^^ j^lj hifisichdich des territorialen Desinteresse-
(1. AugUST) ^'
ments der Monarchie Herrn Viviani gemacht hatte. Der rus-
sische Botschafter zeigte lebhaftes Interesse und behauptete,
von einer Mitteilung seitens der Monarchie in Petersburg, daß
sie die staatliche Souveränität des Königreiches nicht an-
lasten wolle, bisher nichts gehört zu haben. Herr Iswoisky
erwähnte die Pourparlers in Petersburg, welche eine Ver-
ständigung nicht unmöglich erscheinen ließen. Das deutsche
Ultimavum, sagte er, habe die Siiuation äußerst kritisch
gestaltet. Herr Iswoisky, der die russische Mobilisierung,
außer jener von dreizehn Korps an der österreichisch-ungari-
schen Grenze, noch immer leugne, schloß seine Ausführungen
mit dem Bemerken, er wisse, Herr Sazonow sei noch immer
zu einer Konversation bereit.
Verhandlungen mit England
Die hishcriRc Wescntüch entscheidend für die Wendung, welche die
Hallung des gy^ ^jg^ österreichisch-ungarisch-scrbischen Konflikt er-
Londoner ...,,-. , j. ii < r~
Kabinet.s wachsenc europaische Krise nahm, war die Haltung hng-
I Telegramm aus Paris d. d. 1. August, Nr. 145.
270
lands. In Wien und Berlin glaubte man bisher Grund zur
Annahme zu haben, das Londoner Kabinen werde sich
letzten Endes im Sinne der Neutralität aussprechen. Auf dem
Wege über Kopenhagen war man in Wien am 30. Juli zur
Kenntnis gelangt, daß England in Petersburg vor drei Tagen
seine Neutralität hatte mitteilen lassen und konnte sich nun-
mehr auch die bis dahin unerklärlich erscheinende entgegen-
kommende Art Herrn Sazonows zurechtlegen '. Der unver- .
mittelt zutage getretene Umschwung in der Haltung des
russischen Ministers schien auf die inzwischen erfolgte
Zurückziehung der Neutralitätserklärung Englands zurück-
zuführen zu sein -.
Wo lag das psychologische Moment, das Sir Edward Die Frage
Grey veranlaßte, den anfänglich eingenommenen Standpunkt g^s^hobTn-
der Neutralität aufzugeben? Es scheint letztlich in der vor- «erdens" de.-
herrschend gewordenen Überzeugung des englischen Staats- ^J'^,""" '^
Sekretärs begründet gewesen zu sein, daß die Monarchie bei Deutschland
ihrer Aktion gegen Serbien durch Deutschland „geschoben"
werde. Wiederholtemale hatte der k. u. k. Botschafter Graf
Mensdorff hingewiesen, er glaube, Sir Edward wolle mit
Deutschland friedlich zusammen arbeiten. Sollte der englische
Staatssekretär aber das unbehebbare Mißtrauen hegen, daß
Deutschland die Monarchie vorgeschoben habe oder über-
haupt einen Krieg mit Rußland zu provozieren wünsche, so
würde Sir Edward abschwenken und sich viel entschiedener
auf Rußlands Seite stellen ■'.
Zu der vom k. u. k. Botschafter befürchteten Auffassung
scheint Sir Edward - spätestens seit dem 30. Juli — tatsächlich
gelangt zu sein. Die Überzeugung Sir Edwards resultierte aus
' Vgl. Seite 206 ff.
- Zu diesem Gegenstande meldete der k. u. k. Gesandte Graf
Szechenyi aus Kopenhagen am 30. Juli, der deutsche Gesandte habe
aus dänischen Hoflvreisen die Nachricht erhalten, daß England allerdings
vor drei Tagen in Petersburg eine Neutralitätserklärung abgegeben habe,
daß es jedoch 48 Stunden später — walirscheinüch über Pression aus
Paris — nachgegeben und seinen Standpunkt mit der Motivierung geändert
hätte, daß es inzwischen zu einer anderen Auffassung seiner Bündnis-
pflichten gelangt sei. (Telegramm aus Kopenhagen d. d. 30. Juli, 6 Uhr
16 Minuten p. m., Nr. 9.) (Vgl. Seite 206 Anmerkung 2; Seite 229 oben.)
■■■ Siehe Seite 201, 202, 276, 279 oben.
271
dem Schicksale seiner Vermittlungsvorschläge in Berlin und
Wien, wobei sich die Eindrücke des Staatssekretärs offenbar
dahin verdichteten, das Berliner Kabinett sei der
Spiritus rector der auf eine europäische Kon-
flagration zusteuernden Politik der beiden Zentral-
mächte. Daß Sir Edward zu einer solchen Anteilsbemessung
der Initiative und politischen Führung zwischen dem Wiener
und dem Berliner Kabinett gelangen konnte und geradezu
gelangen mußte, war, da der englische Staatsmann die
Geschehnisse bloß nach ihrer Erscheinungsform, nicht aber
nach ihren letzten Zusammenhängen zu beurteilen vermochte,
durchaus begreiflich.
Weisung an Um sclncn in nachdrücklicher Weise geäußerten Er-
ßlischafte^ wägungen und Bedenken Rechnung zu tragen, wurde Graf
(29. Juli) Mensdorff am 29. Juli beauftragt ', mit allen zur Verfügung
„Österreich- stchendcn Argumenten den Staatssekretär darüber aufzu-
"u?^"*''' l^lären, daß das Wiener Kabinett bei seiner Aktion gegen
niemanden Serbien durch niemanden geschoben werde, sich viel-
geschoben" ^gj^p lediglich von dem vitalen Interesse der Monarchie
beraten lasse, das es ihr zur Pflicht mache, der groß-
serbischen Wühlarbeit in ihren Grenzländern in energischer
Weise ein Ziel zu setzen.
Es sei ebenso der Monarchie wie Deutschlands auf-
richtigster Wunsch, daß das gute Verhältnis zwischen den
europäischen Großmächten nicht gestört werde und der
Weltfriede erhalten bleiben möge.
Die durch die jahrelangen Provokationen seitens Serbien
erzeugte Mißstimmung gegen dieses Land habe sich aber
unter dem Eindrucke der furchtbaren Bluttat in Sarajevo
zu einer derartigen Empörung gesteigert, daß besonders die
kaisertreue eigene südslawische Bevölkerung es nicht mehr
verstanden hätte, wenn das Wiener Kabinett das bisherige
Geschehenlassen noch weiter fortgesetzt hätte.
Bcspre.iiung Bci clncr Besprechung Graf Mensdorffs mit Sir Edward
Graf Mens- Qpgy gp-, £9. luH- erklärte dieser, die Situation sei viel
dorff— Sir ' ■'
Edward Grey
(29. Juli) ' Weisung nach London d. d. 29. Juli, Nr. 184. Expediert 30. Juli,
2 Uhr 20 Minuten a. m.
- Telegramm aus London d. d. 29. Juli, 4 Uhr 32 Minuten p. m.,
Nr. 119.
272
ernster geworden, und er sei heute sehr besorgt. Von
BerHn melde man die russische Mobilisierung, von Wien
die seitens der k. u. k. Regierung erfolgte Ablehnung, mit
Rußland direkt zu verhandeln; somit rücke die Gefahr einer
großen europäischen Komplikation immer näher.
Sir Edward sagte wiederholt, die Monarchie würde
voraussichtlich die Unterstützung und Sympathie aller
Mächte haben, wenn sie sich damit begnügen würde, daß
Serbien alle ihre Forderungen akzeptiere und daß der
Monarchie nebstdem noch eine Garantie der Mächte für
die Einhaltung der Versprechungen gegeben werde.
Graf Mensdorff wies darauf hin, daß es dazu nach der
Kriegserklärung und dem Beginne der Feindseligkeiten wohl
zu spät sein dürfte. „Dann ist es vielleicht auch zur Ver-
hütung des allgemeinen Krieges zu spät", rief Sir Edward aus.
Graf Mensdortf kam immer wieder darauf zurück, daß
man die Frage des österreichisch-ungarisch-serbischen Kon-
fliktes von der Frage des allgemeinen Krieges trennen und
darauf einwirken müsse, daß Rußland nicht denselben durch
seine Intervention herbeiführe.
Hierauf bemerkte Sir Edward: „Wenn die Mächte
nur in Rußland raten sollten, daß es passiv bleibe, so ist
es gleichbedeutend, Ihnen freie Hand zu geben, was Ruß-
land nicht annehmen wird. Irgend etwas müßten Sie uns
zum mindesten geben, das wir in Petersburg verwerten
können."
Sir Edward wolle die Pro und Kontra des öster-
reichisch-ungarischen Standpunktes nicht diskutieren. Was
ihn beschäftige, seien Fakten und das Wichtigste: Wie kann
ein europäischer Krieg noch verhindert werden? Auch ohne
territoriale Erwerbungen könnte die Monarchie Serbien in
das Verhältnis eines Vasallen bringen und dadurch Rußland
vollständig vom Balkan eliminieren.
Graf Mensdorff erwiderte, nach den ehemaligen Ab-
machungen der Monarchie mit Rußland, von denen Sir
Edward am 27. Juli gesprochen habe, wäre ja Serbien in
die Einflußsphäre der Monarchie gerückt. Es wäre absurd
zu glauben, daß der russische Einfluß am Balkan aus-
geschaltet würde, wenn Belgrad aufhöre, das Pivot der
18 273
russischen Balkanpolitik zu sein. Vielmehr sei es die
Monarchie, die sich jetzt in legitimer Verteidigung befinde;
der Versuch, alle ihre kleinen Nachbarstaaten zu ihren
Feinden zu machen, und die ganze Agitation gegen die
Monarchie bedrohe ihre Großmachtstellung und daher das
Gleichgewicht der Mächte in Europa, für das Sir Edward
immer eintrete.
Der Staatssekretär war sehr pessimistisch: „Heute
spreche Petersburg noch mit Berlin; wie wird es morgen
sein?" Er erwähnte auch, er sei in steter Fühlung mit dem
Reichskanzler, der auch ein Mittel suche, um zwischen
Wien und Petersburg zu vermitteln.
Der Privatsekretär Sir Edwards, Tyrrell, den Graf
Mensdorff später sprach, bestätigte, der Staatssekretär sei
sehr beunruhigt und suche fort nach einem Ausweg, um die
Konflagration zu verhindern.
Seinen Eindruck betreffs der Haltung des Londoner
Kabinetts faßte Graf Mensdorff dahin zusammen: wenn
irgend möglich, jeder europäischen Komplikation ferne zu
bleiben; russische Interessen ließen England kühl, wenn es
sich aber um ein vitales Interesse Frankreichs oder gar um
seine Machtstellung handle, so sei keine englische Regierung
in der Lage, eine Beteiligung Englands an der Seite Frank-
reichs zu verhindern.
Resume des In ErgänzuHg Seiner telegraphischen Berichterstattung
o "\''', bot Graf Mensdorff am 29. Juli eine zusammenfassende
Botschaners ^
über seine Darstellung seiner mit Sir Edward in der Zeit vom 22. bis
Bcsprechun- 29. juü gepflogenen Unterredungen':
gen mit Sir »^ ö r' ö ö
Edward Grey ^^^1 Mlttwoch, den 22. Juli, abends habe der k. u. k. Bot-
(22 bis 29.
Juli, schafter durch Kurier die Zirkulardepesche an die Mächte
erhalten, die er Freitag, den 24. Juli, mitzuteilen beauftragt war.
Am selben Abend habe Sir Edward Graf Mensdorff
aufgefordert, ihn am nächsten Tag zu besuchen.
Daraufhin erbat und erhieh der k. u. k. Botschafter die
Ermächtigung, dem Staatssekretär schon Donnerstag, den
23. Juli, zu sagen, daß er ihm am nächsten Vormittag die
' Bericht aus London d. d. 29. Juli, Z. 36 P. A.-D.
274
Note überbringen würde, deren wesentlichen Inhalt er ihm
streng vertraulich skizzieren durfte.
Diese Ermächtigung sei für Graf Mensdorff von größtem
Werte gewesen, denn er hatte die Erwartung, die, wie er
konstatieren konnte, vollständig begründet war, daß Sir
Edward am vorigen Donnerstag (23. Juli) durch Graf
Mensdorff einen Appell oder dringende Ratschläge an die
k. u. k. Regierung richten wollte, damit dieselbe ihre De-
marche in Belgrad in einer konzilianten Form mache, um
es der serbischen Regierung zu ermöglichen, darauf einzu-
gehen.
Graf Mensdorff habe eine Wiederholung des Vorganges
vom Oktober 1908 befürchtet, als Sir E. Grey den ver-
storbenen Grafen Aehrenthal in letzter Stunde ersuchte, „to
reconsider his decision".
Dadurch, daß Graf Mensdorff Sir Edward habe sagen
können, die österreichisch-ungarische Demarche in Belgrad
sei zur Stunde, als das Gespräch geführt wurde, wahr-
scheinlich bereits erfolgt, sei für ihn jede Veranlassung,
bezüglich derselben noch Ratschläge zu erteilen, entfallen.
Sehr beunruhigt war Sir Edward, als Graf Mensdorff
sagte, daß das Wiener Kabinett eine Frist zur Beantwortung
der Note stellen würde.
Als Graf Mensdorff dann Freitag vormittags (24. Juli)
die Zirkulardepesche übergab, war es wieder die kurze
Frist zur Beantwortung, die die Hauptbesorgnis Sir Edwards
hervorrief. Es wäre unmöglich für die anderen Mächte, in
dieser kurzen Spanne Zeit in Belgrad ihren Einfluß geltend
zu machen.
Er bezeichnete die Note an Serbien als „the most formi-
dable document ever addressed by one State to another" und
eine Annahme derselben kaum vereinbar mit der Existenz
eines unabhängigen Staates, nachdem das Wiener Kabinett
ihm ja den Text der Antwort sogar diktiere.
Die Hauptsorge des Staatssekretärs sei aber die Rück-
wirkung auf den europäischen Frieden gewesen. In allen
seinen Konversationen habe Sir Edward betont, daß er, so-
lange als es nur eine Frage zwischen der Monarchie und
Serbien sei, keine Veranlassung habe, sich einzumischen.
275
Ihn beschäftige nur die Möglichkeit des Eingreifens
Rußlands, was zu unabsehbaren Folgen führen könnte,
die für ganz Europa verhängnisvoll werden müßten. Er
sprach zunächst stets von der Eventualität eines Kampfes
zwischen vier Großmächten, Österreich-Ungarn, Rußland,
Deutschland und Frankreich (auch Fürst Lichnowsky
gegenüber tat er das), und nannte weder England noch
Italien.
Ein derartiger Krieg würde mit dem Bankerott Europas
enden, die Industrien in allen Ländern lahmlegen. Es würde
kein Kredit mehr existieren, die Industriearbeiter, ohne
Broterwerb, würden losbrechen und so manche bestehende
Institution (das heißt das monarchische Prinzip) würde ein-
fach weggefegt werden.
Fürst Lichnowsky, der überhaupt schlechte Nerven habe,
sei durch die bestimmte Sprache Sir Edwards sehr im-
pressioniert gewesen, die der englische Staatssekretär führte,
als er hörte, das Wiener Kabinett hätte die serbische Ant-
wort als unbefriedigend zurückgewiesen, nachdem er die-
selbe als die weitestgehende Demütigung ansah, der sich
jemals ein unabhängiger Staat unterworfen habe.
Fürst Lichnowsky habe stets die Besorgnis, England
werde sich vollständig und demonstrativ auf die Seite seiner
Ententefreunde stellen, wenn man den Eindruck habe, daß
die Monarchie nur einen Vorwand gesucht habe, um Serbien
zu vernichten.
Wenn gar das Mißtrauen in London Platz greife, daß
Deutschland die Monarchie vorschiebe ' und einen Krieg
mit Rußland provozieren wolle, so würde England unbe-
dingt diese befürchtete Schwenkung vollziehen. (In diesem
Punkte könne Graf Mensdorff seinem deutschen Kollegen
nur beipflichten, denn wenn man einmal in London glaube,
Deutschland treibe zum Kriege, könne die Stimmung sehr
gefährlich werden. Bezeichnend sei der Appell an Kaiser
Wilhelm, der in zahlreichen Artikeln Londoner Blätter zu
finden sei, er möge seinen ganzen Einfluß im Interesse des
Friedens geltend machen.)
1 Siehe Seite 201, 202, 271, 279 oben.
276
Am Sonntag, den 26. Juli, war Sir E. Grey nicht an-
wesend und Graf MensdorfF sah nur Sir A. Nicolson ganz
kurz, um Ihm offiziell den Abbruch der diplomatischen
Beziehungen Österreich-Ungarns mit Serbien mitzuteilen.
Montag, den 27. Juli, habe Sir Edward den k. u. k. Bot-
schafter nachmittags im Parlamentsgebäude empfangen, kurz
nachdem er seine Erklärung im Unterhause abgegeben hatte.
Er kam immer darauf zurück, daß Serbien ja beinahe
alle österreichisch-ungarischen Forderungen angenommen
habe, jedenfalls viel mehr, als man der serbischen Regierung
zumuten konnte.
Graf Mensdorff versuchte, an der Hand der einzelnen
Punkte nachzuweisen, daß gerade die Reserven und Aus-
lassungen In der Antwort geeignet seien, die Durchführung
aller österreichisch-ungarischen Forderungen illusorisch zu
machen, und betonte, daß nach allen traurigen Erfahrungen
der letzten Jahre eine endgültige Regelung des Verhältnisses
der Monarchie zu Serbien für dieselbe eine vitale Frage
sei. Die Monarchie könnte nicht zugeben, daß in einem
kleinen Nachbarstaate der baldige Zusammenbruch der
Monarchie auf der Tribüne, in der Presse, in der Armee
und in der Schule als Dogma verkündet werde und, als ob
die Monarchie in einem schlechteren Zustande als die
Türkei wäre, die Territorien bezeichnet würden, die den
habgierigen, von Größenwahn erfaßten kleinen Anrainern
zufallen sollten.
Keine Großmacht könne sich das bieten lassen. Die
Monarchie verteidige ihre Lebensinieressen, für Rußland
sei es höchstens eine Prestigefrage.
Sir E. Grey erwiderte, das Prestige spiele am Balkan
eine große Rolle, und wenn die österreichisch-ungarische
Politik dahin abziele, den russischen Einfluß ganz vom
Balkan auszuschalten, so könne man nicht von der rus-
sischen Regierung verlangen, daß sie das akzeptiere.
Er sprach noch von den früheren Abmachungen (Mürz-
steg), wodurch gerade eine billige Teilung des Einflusses
der Monarchie und Rußlands herbeigeführt werden sollte.
Graf Mensdorff verwies darauf, daß bei diesen Ab-
machungen und namentlich noch weiter zurück, Serbien
277
stets als in die Einflußsphäre der Monarchie gehörend an-
gesehen wurde. Jetzt habe, im Gegensatze dazu, Rußland
gerade Belgrad zum Hauptzentrum seines Einflusses machen
wollen.
Sir Edward Grey brachte ferner wiederholt — unzweifel-
haft von Petersburg suggeriert — das Argument vor, daß
die Monarchie ohne direkten Territorialerwerb einen Zustand
schaffen wolle, der Serbien jeder staatlichen Unabhängigkeit
beraube und es in ein Vasallenverhältnis zur Monarchie
bringe.
Resümierend bemerkte Graf Mensdorff, Sir Edward
sehe heute sehr schwarz, weil die direkten Besprechungen
zwischen Wien und Petersburg abgehrochen scheinen.
Er sei in steter Verbindung mit Berlin und gebe sich
die größte Mühe, im Verein mit dem deutschen Reichs-
kanzler ein Mittel zu finden, um den Bruch zwischen der
Monarchie und Rußland zu verhindern.
Vom englischen egoistischen Standpunkt betrachtet,
handle es sich für die englische Regierung darum, daß
Frankreich nicht hineingezogen werde. Wie Graf Mensdorff
wiederholt telegraphisch gemeldet habe, dürfte England
wegen eines russischen Interesses nicht aus seiner Neutralität
heraustreten. Sobald aber Frankreich in Aktion trete, ändere
sich die Lage bedeutend. Keine englische Regierung könne
sich dem entziehen, Frankreich beizustehen, wenn es in
einem vitalen Interesse bedroht sei. Die absolut unge-
schwächte Erhaltung der Großmachtstellung Frankreichs sei
ein unverrückbares Grundprinzip der englischen Politik
aller Parteien. Das müsse man stets und unentwegt vor
Augen halten, wenn man die Haltung Englands in großen
europäischen Fragen in Betracht ziehe.
Besprechung Bei cincr Besprechung mit Sir Edward am 30. Juli '
ir war s ^^achtc Graf Mensdorff neuerlich auf den unbefriedigenden
mit dem o
k. u. k. Charakter der serbischen Note aufmerksam und erklärte
3o"T"°i)" '^''' gi^ößtem Nachdrucke, die Monarchie hege ebenso wie
Deutschland den aufrichtigen Wunsch, die guten Beziehungen
unter den Großmächten nicht gestört zu sehen. Auch
1 Telegramm aus London d. d. 30. Juli, 10 Uhr p. m., Nr. 121.
278
betonte Graf MensdorfF, das Wiener Kabinett werde durcii
niemand gesclioben ', was Sir Edward aucli anerkannte.
Trotzdem war seine Beurteilung der Lage eine sehr pessi-
mistisclie und er meinte, wir steuerten einem allgemeinen
Kriege entgegen. Die Versicherungen des Grafen Mensdorff,
daß die Monarchie gezwungen sei, sich mit Serbien aus-
einanderzusetzen, daß sie aber keinen Streit mit irgend-
einer Großmacht habe, beantwortete der Staatssekretär stets
damit, daß es dann unbegreiflich sei, warum man es in
Wien absolut abgelehnt habe, die glücklich 'begonnene Kon-
versation zwischen Herrn Sazonow und Graf Szäpdry fort-
zusetzen, die wie ein Hoffnungsstrahl auf ganz Europa
gewirkt hätte. Jetzt mobilisiere Rußland, morgen vielleicht
Deutschland und Frankreich. Auch die Konversation zwi-
schen Berlin und Petersburg scheine nicht einen günstigen
Verlauf zu nehmen.
Auf die Bemerkung Graf Mensdorffs, er rechne auf Sir
Edward, um in Petersburg zu beruhigen, erwiderte der
Staatssekretär, es würden ihm zwei entgegengesetzte Stand-
punkte angeraten: sich unbedingt auf die Seite Rußlands
und Frankreichs zu stellen, wodurch der Krieg verhindert
werden könnte (Graf Mensdorff warf ein, das würde wohl
höchstens das Gegenteil herbeiführen), oder zu erklären,
daß England unter keiner Bedingung an einem Kriege
Frankreichs und Rußlands teilnehmen würde. Letzteres, ver-
sicherte er, würde den Krieg auch nicht verhindern.
Sir Edward sei stets mit Berlin in Verbindung und
bemühe sich noch weiter im Interesse des Friedens. Um in
Petersburg etwas zu erwirken, müsse er aber irgend etwas
haben; wenn er mit leeren Händen käme und nur verlange,
Rußland solle bei Seite stehen, bis die Monarchie mit Serbien
abgerechnet habe, werde er nichts durchsetzen können. ,
Graf Mensdorff verwies wieder ausführlich darauf, daß
für die Monarchie die Austragung ihrer Differenzen mit
Serbien eine Existenzfrage sei, für alle andern höchstens
eine Prestigefrage. Sir Edward meinte, er müsse mit Fakten
rechnen, und wenn das Wiener Kabinett glaubte, Rußland
1 Siehe Seite 201, 202, 271, 276.
279
würde die Vernichtung Serbiens ruhig hinnehmen, so sei
dies ein Irrtum. England icümmere nicht der Kampf der
Monarchie mit Serbien, nur dessen Rüci^wirtcung auf das
Verhähnis zwischen den Großmächten. Das Wiener Kabinett
aber habe die Konversation mit Petersburg abgebrochen
und brächte auch den anderen Mächten nichts, was sie in
Petersburg verwerten könnten.
Auf diesen letzten Punkt antwortete Graf Mensdorff, es
sei jetzt, da der Krieg begonnen habe, für die Monarchie
schwer, irgend etwas zu sagen. Was könnte denn das
Wiener Kabinett Sir Edward zur Vermittlung an die Hand
geben? Der Staatssekretär erwiderte, er wolle lieber keine
Anregung machen, nachdem eine solche in der Monarchie wie
eine unberufene Einmischung angesehen werden könnte.
Graf Mensdorff versicherte, alles von Sir Edward Kommende
würde in Wien stets mit Rücksicht und freundschaftlicher
Sympathie aufgenommen werden, drang aber nicht weiter,
da er eine Anregung jetzt für vielleicht nicht erwünscht
hielt. Im Laufe der Konversation konnte Graf Mensdorff
indessen konstatieren, es erscheine nach Ansicht Sir Edwards
irgendeine Erklärung seitens der Monarchie, daß sie nach
Besetzung der Hauptstadt und eines Teiles des Landes ^s
Pfand innehalten würde, falls Serbien die Forderungen
befriedige (etwa mit Garantie der Mächte, daß Serbien
seine Versprechungen einhalte), als einziges Mittel, den
großen Konflikt zu verhüten. Sir Edward verwahrte sich
aber ausdrücklich dagegen, irgendeine Suggestion zu
machen. Sowohl Sir Edward wie sein Privatsekretär be-
urteilten die Lage sehr ernst. Auch letzterer beklagte haupt-
sächlich den Abbruch der direkten Konversation mit Sazo-
now. Auch meinte Tyrrell, Deutschland habe nicht sehr
-glücklich seine Besprechung mit Petersburg begonnen.
Sazonow sei entschlossen, unter keiner Bedingung die Rolle
Iswolskys im Jahre 1909 zu spielen. Kaiser Nikolaus solle
diesmal auch sehr aufgebracht sein. Auch bemerkte Tyrrell,
wenn Frankreich in Aktion trete, werde die Stellung der
britischen Regierung eine sehr schwierige sein.
Der Eindruck Graf Mensdorffs ging dahin, daß man sich
in London eifrigst bemühe, den Frieden zu erhalten, und
280
jedem Versuch, der dahin ausgehe, vollste Unterstützung
angedeihen lassen werde. Auch sei man bestrebt, der
Monarchie sehr weitgehende Satisfaktion und Garantien für
die Zukunft gegenüber' Serbien zu verschaffen, wenn, wozu
es vielleicht jetzt zu spät sei, das Wiener Kabinett irgendeine
Erklärung bezüglich der künftigen Existenz Serbiens als
unabhängiger Staat geben könnte, die für Rußland irgend-
wie akzeptabel wäre.
Die von dem k. u. k. Botschafter im letzten Absätze Weisung an
seiner Meldung gegebene Anregung wurde vom Grafen ß^tschaflir
Berchtold insofern aufgegriffen, als Graf Mensdorff am betreffs der
1. August, 7 Uhr morgens, eine am 31. Juli aufgesetzte I;','','^^""^''^
Weisung zugestellt wurde ', der zufolge der k. u. k. Bot- Desimer-
schafter nochmals aufmerksam machen sollte, das Wiener "j^^ju,"!^
Kabinett habe Rußland und allen Mächten offiziell erklärt,
daß die Monarchie Serbiens Existenz als unabhängiger
Staat nicht anzutasten gedenke und daß ihre Aktion auf
keinen territorialen Gewinn abziele. Trotzdem habe Rußland
die die Monarchie bedrohende Mobilisierung schon seit
mehreren Tagen angeordnet.
Fürst Lichnowsky hatte sich in einer Unterredung mit Besorgnisse
Graf Mensdorff am 30. luli sehr beunruhigt und aufgeregt ""„
*^ tj ö o Stellungen
gezeigt. Der deutsche Botschafter sehe, meldete Graf Mens- des Fürsten
dorff am 30. Juli \ die letzte Hoffnung, den Weltkrieg zu l^o""/^''^'
verhüten darin, daß die k. u. k. Regierung die Suggestion
annehme, auf dem Wege über Berlin mit St. Petersburg zu
verhandeln. Österreich-Ungarn sollte sich mit der bisherigen
Besetzung serbischen Gebietes als Pfand begnügen und
seine Bedingungen stellen, über welche mit Rußland ver-
handelt werden könnte. Am besten sei es, neue Bedingungen
zu formulieren und nicht auf das Ultimatum zurückzu-
kommen, was nur zu irritierenden Rekriminationen Anlaß
geben würde. Diesmal hätte man sich in Berlin ebenso wie
in Wien verrechnet, in der Annahme, Rußland werde nicht
eingreifen. Es sei nur mehr ein letzter Hoffnungsstrahl,
Europa vor der Katastrophe eines allgemeinen Krieges zu
< Weisung nach London d. d. Wien, 31. Juli, Nr. 195. Expediert
1. August, 7 Uhr a. m.
- Telegramm aus London d. d. 30. Juli, Nr. 122.
281
bewahren. Sir Edward habe ihm in freundschaftlichster
Weise, aber ganz klar zu verstehen gegeben, daß, wenn
Frankreich in den Krieg gezogen würde, die englische Flotte
sogleich eingreife.
Der Pessimismus des Fürsten Lichnowsky wurde übrigens
auch von dem russischen Botschafter in London, Graf
Benckendorff, geteilt, der seine letzte Hoffnung auf das Ver-
meiden des allgemeinen Krieges in die Wiederaufnahme
einer direkten Konversation zwischen Wien und St. Peters-
burg setzte '.
Demarche Graf Mcnsdorff führte am 1. August vormittags die ihm
jesk.u.k. 21 juij übermittelten beiden Aufträge aus-. Der erste
Botschatiers '^ "
<i. August) betraf die Bekanntgabe der neuerlichen Erklärung des Wiener
Kabinetts hinsichtlich des territorialen Desinteressements in
Serbien'; der zweite ging dahin, Sir Edward über
die bezüglich der Aussprache Graf Berchtolds mit Herrn
Schebeko russischerseits obwaltenden Mißverständnisse auf-
zuklären *. Der Staatssekretär bemerkte hiezu, er setze seine
Bemühungen unentwegt fort und verwerte alles, was man
ihm an die Hand gebe.
Das an den k. u. k. Botschafter in Berlin, in London
und in Petersburg am 1. August morgens, 3 Uhr 45 Minuten,
expedierte Telegramm, das Graf Mensdorff über die Erledigung
des deutscherseits in Wien vorgebrachten englischen Ver-
mitdungsvorschlages (vom 29. Juli) orientieren sollte '■, traf
in London am 1. August nachmittags ein. Graf Mensdorff
beeilte sich, dasselbe, da Fürst Lichnowsky noch ohne
Instruktion war, mit dessen Wissen sofort Sir Edward Grey
informativ und vertraulich vorzutragen. Der Staatssekretär
versprach, ohne die erhaltene Nachricht als Mitteilung der
k. u. k. Regierung durch Graf Mensdorff zu bezeichnen,
den Inhalt als von zuverlässiger Seite kommend zu verwerten.
Er wiederholte auch jetzt, daß er auch in letzter Stunde
bereit sei, alles aufzubieten, um den Frieden zu erhalten.
' Telegramm aus London d. d. 31. Juli, Nr. 123.
- Telegramm aus London d. d. 1. August, Nr. 131.
3 Vgl. Seite 267 unten.
4 Vgl. Seite 211 If, 292 ff.
■^ Vgl. Seite 233 ff.
282
Die inzwischen in Wien bekannt gewordene Geste Eng- Auftrag »n
lands, alctiv in den Weitkrieg einzugreifen, veranlaßte Graf Bo"s^hafier
Berclitold, dem k. u. k. Botscliafter in einer am 1. August, England die
11 Ulir nactits, übermittelten Weisung anheimzustellen, in Neu^r'amär
seiner nächsten Konversation mit Sir Edward Grey oder vorzuhalten
anderen englischen Politikern die folgenden Argumente zu "' *"^"^"
verwerten '.
Durch ein Jahrhundert sei die englische Politik von dem
Gegensatze zu Rußland beherrscht gewesen. Erst nach dem
Burenkrieg und den ostasiatischen Niederlagen Rußlands
habe England den Kurs geändert und sich die diplomatische
Eindämmung des deutschen Einflusses zum Ziel gesetzt.
Seither habe sich Rußland jedoch nicht nur ganz erholt,
sondern es nehme gegenwärtig militärisch wie wirtschaftlich
eine fast präponderierende Stellung ein. Entspreche es unter
solchen Umständen den englischen Interessen, sich aktiv an
einer Aktion zu beteiligen, deren eventueller Erfolg nur
darin bestehen könne, die Macht Rußlands enorm zu steigern
und die Aufrollung der Meerengen- und der kleinasiatischen
Fragen näherzurücken? Wäre es vom Standpunkt Eng-
lands nicht gefährlich, eine Entwicklung zu fördern, die in
letzter Konsequenz zu einer Bedrohung der englischen
Stellung in Indien führen müsse?
Durch eine abwartende und neutrale Haltung im Falle
des europäischen Konflikts würde England vollkommen
freie Hand behalten, zu dessen Ergebnis seinen Interessen
entsprechend Stellung zu nehmen, ohne durch frühere
Parteinahme gebunden zu sein. Hiedurch würde Eng-
land sich auch die Möglichkeit offen halten, bei den
späteren Friedensverhandlungen im Interesse des euro-
päischen Gleichgewichtes die vermittelnde Rolle fortzusetzen,
in der es sich während der Balkankrise so große Ver-
dienste erworben habe.
Bis zum 31. Juli bestanden laut Meldung des k. u. k. Militärische
Botschafters die militärischen Maßnahmen in England in J^"""^'"""-"
^ in hnpiand
der Kriegsausrüstung der Befestigungen, im Vorkaufsrecht
auf die Walliser Kohlenreservoire, in der Annahme eines
' Weisung nach London d. d. Wien, 1. August, 11 Ulir p. m., Nr. 199.
283
in England
Anregungen
des russi-
schen Bot-
schafters
in seiner
Besprechung
mit Graf
Berchiold
(28. Juli)
Besprechung
des ic. u. k.
Botschafters
mit Herrn
Sazonow
(29. Juli).
Graf Szäpäry
ohne
Weisung
hinsichtlich
der von
Herrn
Sazonow
angeregten
Mediation
Bereitschaftszustandes regulärer und auch eines Teiles der
Territorialarmee, ohne eine ausgesprochene Mobilisierung'.
Verhandlungen mit Rußland
Im Verlaufe seines mit dem Grafen Berchtold am
28. Juli geführten Gespräches- hatte Herr Schebeko
bemerkt, es wäre nicht unmöglich, daß eine zwischen den
Kabinetten von Wien und Petersburg eingeleitete Konver-
sation über die serbische Frage auch zu einer Besprechung
jener Angelegenheiten führen könne, welche die Beziehungen
zwischen Rußland und Österreich-Ungarn direkt beträfen,
was diesen Beziehungen zum Vorteil gereichen könnte.
In seiner Erwiderung an den russischen Botschafter
hatte Graf Berchtold zwar eine weitere Konversation über
den Streit der Monarchie mit Serbien als untunlich
bezeichnet, die weitere Anregung Herrn Schebekos bezüg-
lich einer Besprechung der beide Kabinette direkt berühren-
den Fragen jedoch nicht abgelehnt, da er es für nützlich
hielt, die Frage noch offen zu lassen und auf diese Weise
dem Wiener Kabinett die Möglichkeit zu wahren, die Kon-
versation hierüber fortzusetzen, wenn sich hiezu eine
Gelegenheit ergäbe.
Die ihm mit dem Erlasse d. d. 25. Juli am 27. d. M.
abends zugekommenen Aufträge führte Graf Szäpäry in
einer Besprechung mit Herrn Sazonow am 29. Juli durchs
Da Graf Szäpäry schon am 27. Juli aus eigenen Stücken
die meisten in der zitierten Weisung enthaltenen Konsi-
derationen vorgebracht hatte, wiederholte er dieselben
präziser, mit dem Hinweis, daß er nunmehr im selben
Sinne und auf Grund von Instruktionen sprechen könne.
Der Minister schien entäuscht, da er erwartet hatte, Graf
Szäpäry werde zu der von ihm am 27. Juli angeregten
Mediation Stellung nehmend Er fragte, ob Graf Szäpäry
auf seine diesbezügliche Meldung Antwort erhalten hätte,
1 Telegramm aus London d. d. 31. Juli, Nr. 124.
^ Tagesbericht d. d. 29. Juli, Nr. 3631. — Vgl. Seite 211.
■> Telegramm aus St. Petersburg d. d. 29. Juli, 10 Uhr a. m., Nr. 173.
* Vgl. Seite 206 ff.
284
was dieser verneinte. Sazonow meinte, dies bedeute nicht
allzu viel Gutes und konstatierte, daß die Situation jeden-
falls ernst sei. Die serbische Antwort sei so konziliant
gewesen, daß er erstaunt sei, daß man dieselbe als
ungenügend angesehen habe. Graf Szapäry kritisierte die
Note des Herrn Pasic und hob hervor, daß besonders der
am meisten im Vordergrund stehende Punkt der Mit-
wirkung bei der Untersuchung über das Attentat unglaub-
licherweise glatt abgelehnt worden sei. Wenn sich die
serbische Regierung wenigstens auch hier auf eine Bitte
um Interpretierung beschränkt hätte! Herr Sazonow erklärte
hierauf, die Monarchie sei also nur wegen des einen Punktes
mit Serbien uneinig. Graf Szäpdry korrigierte, die serbische
Regierung sei auch bei vielen anderen Punkten nur der
Form nach entgegengekommen, daß aber die Ablehnung
dieses Punktes wohl den schlechtesten Eindruck hervor-
rufen müsse. Sodann bat Herr Sazonow nochmals dringend
um die Übermitdung des Dossiers, welches den Mächten
versprochen worden sei und noch nicht vorliege. Man wolle
dasselbe doch sehen, bevor der Krieg mit Serbien begonnen
habe. Wenn der Kriegsausbruch einmal erfolgt sei, sei es
zu spät, Dossiers zu prüfen. Dies alles besprach der
Minister trotz sichtlicher Enttäuschung in ziemlich ruhiger
und freundschaftlicher "\yeise, so daß der k. u. k. Bot-
schafter den Eindruck hatte, Herr Sazonow setze noch
Hoffnung darauf, im Dossier etwas zu finden, was ihm das
Abrücken von Serbien ermöglichen könnte.
Die Erklärung des territorialen Desinteressements, dessen
Ankündigung Herrn Sazonow wohl ohnehin erwartet hatte,
machte ihm nicht viel Eindruck. Daß das Wiener Kabinett
die Souveränität Serbiens zu schonen gedenke, wollte er
unter Hinweis auf die Natur der österreichisch-ungarischen
Forderungen nicht recht gelten lassen. Daß die Monarchie
nicht eine gegen Rußland gerichtete Balkanpolitik machen
wolle, führte zu einer längeren akademischen und historischen
Erörterung über die Reformära, Sandschakbahn usw. Die
ganze Unterredung spielte sich in vollkommen freundschaft-
licher Form ab. Graf Szäpäry verabschiedete sich sodann, da
der Minister zum Zaren nach Peterhof beschieden war.
285
Graf Szäpäry
bitter um
Instruk-
tionen
zwecks Rück-
.lußerung
auf die
Mediations-
anregung
Herrn
Sazonows
(29. Juli)
Weisung
an Graf
Szäpäry
Nach Graf Szäpdrys Ansicht klammere sich der Minister
bei der vorhandenen Unlust, mit der Monarchie in Konflikt
zu geraten, an Strohhalme, in der Hoffnung, doch noch
der gegenwärtigen Situation zu entkommen. Der k. u. k.
Botschafter müsse speziell konstatieren, daß Herr Sazonow
im Gegensatze zu früheren Spannungsperioden diesmal nie
von öffentlicher Meinung, Slawentum, Orthodoxie gesprochen
habe und stets politisch sachlich diskutiere, indem er
besonders das Interesse Rußlands an dem Unterbleiben
einer Infeodierung Serbiens hervorhebe. Die seither erfolgte
Kriegserklärung an Serbien werde nunmehr bald die wahren
Absichten Rußlands in Erscheinung treten lassen.
Die öffentliche Meinung sei bis jetzt merkwürdig ruhig
gewesen, so daß eine Berufung auf dieselbe einstweilen
schwer gewesen wäre; die Kriegserklärung Österreich-
Ungarns an Serbien dürfte allerdings eine starke Reper-
kussion hervorbringen.
In diplomatischen Kreisen sei die Stimmung im allge-
meinen sehr pessimistisch. Der die englischen und die
Petersburger Verhältnisse sehr genau kennende japanische
Botschafter halte ein Eingreifen Rußlands für unver-
meidlich.
Um eine Kränkung Herrn Sazonows, der irgendeine
Rückäußerung auf seine Mediationsanregung erwarte, zu
vermeiden und um dem Anscheine zu entgehen, als ob die
österreichisch-ungarische Kriegserklärung sozusagen die
Antwort auf seinen Vorschlag gewesen sei, richtete Graf
Szäpäry am 29. Juli vormittags die unvorgreifliche Anfrage
an Graf Berchtold ', ob er dem russischen Minister sagen
könne, die Erklärung des Kriegszustandes sei schon „be-
schlossen gewesen, als Graf Szäpdrys Telegramm in Wien
eingetroffen sei, beziehungsweise als Herr Schebeko die
analoge Anregung machte. Sollte Herrn Schebeko irgend-
welche Antwort auf die russischen Vorschläge zuteiT ge-
worden sein, so erbitte Graf Szäpäry hierüber Mitteilung.
Dieses am 29. Juli um halb vier Uhr nachmittags in
Wien einlangende Telegramm des k. u. k. Botschafters
I Telegramm aus St. Petersburg d. d. 29. Juli, 11 Uhr 27 Minuten
a. m., Nr. 176.
286
beantwortete Graf Berchtold mit einer am 29. Juli, 1 1 Uhr <3o. juii):
45 Minuten nachmittags, expedierten Depesche '. ceLndc" ^'
Der k. u. k. Botschafter könne jedenfalls der Wahrheit ''""" ^''="-
tuell auf eine
entsprechend Herrn Sazonow gegenüber darauf hinweisen, umerbind-
daß, als die Meldung Graf Szäpärys über die Mediations- ''""''^ ""■
' " ^ ' gemein
anregung Herrn Sazonows eintraf-, „die Erklärung des gei,aitene
Kriegszustandes bereits endgültig beschlossen gewesen E'^önerunR
sei" K
Eine zweite hinsichtlich der Vermittlungsanregung Herrn
Sazonows an Graf Szäpdry ergangene Weisung führte
aus *:
Aus dem Telegramm des Grafen Szäpäry vom 29. Juli
ersehe Graf Berchtold, daß Herr Sazonow die Antwort
Graf Berchtolds betreffs der Proposition des russischen
Ministers zur Fortführung der mit dem Grafen Szäpäry
eingeleiteten Konversation möglicherweise mißverstanden
habe.
Graf Berchtold sei selbstverständlich nach wie vor
bereit, die einzelnen Punkte der durch die Ereignisse
übrigens bereits überholten, an Serbien gerichteten Note
Österreich-Ungarns durch den Grafen Szäpäry Herrn
Sazonow zu erläutern. Auch würde Graf Berchtold beson-
deren Wert darauf legen, bei dieser Gelegenheit der ihm
durch Herrn Schebeko verdolmetschten Anregung des
russischen Ministers des Äußern entsprechend, auch die
die Beziehungen der Monarchie zu Rußland direkt be-
rührenden Fragen einer freundschaftlichen und vertrauens-
vollen Ausspräche zu unterziehen, wovon eine Behebung
der in diesem Belange bedauerlicherweise bestehenden
Unklarheiten und die Sicherstellung der so wünschenswerten
friedlichen Entwicklung der nachbarlichen Verhältnisse zu
erhoffen wäre.
' Weisung nach St. Petersburg d. d. 29. Juli, 1 1 Uhr 45 Minuten
p. m., Nr. 194.
2 27. Juli, 4 Uhr 30 Minuten p. m. (Telegramm aus St. Petersburg
d. d. 27. Juli, Nr. 165). (Vgl. Seite 206.)
'■'• Die Worte „beschlossen gewesen" stehen im Konzepte auf Rasur.
* Weisung nach St. Petersburg d. d. 30. Juli, 1 Uhr 20 Minuten
p. m., Nr. 198.
287
Zweite Be-
sprechung
des k. u. k.
Botschaflers
mit Herrn
Sazonow
(29. Juli)
Grat' Szäpdry wolle Herrn Sazonow von sich aus
fragen, welche Belange der Minister dieser Konversation
zugrunde legen würde, eventuell auch auf eine unverbind-
liche, allgemein gehaltene Erörterung, die natürlich jeden
Gegensatz zu russischen Interessen a limine ausschalten
müßte, eingehen und die Bereitwilligkeit aussprechen, dem
Grafen Berchtold hierüber Meldung zu erstatten.
Da der deutsche Botschafter dem Grafen Szdpäry mit-
geteilt hatte, Herr Sazonow zeige sich über das Refus des
Grafen Berchtold, den Gedankenaustausch mit Rußland
fortzusetzen und über die angeblich weit über das not-
wendige Maß hinausgehende und daher gegen Rußland
gerichtete Mobilisierung Österreich-Ungarns sehr aufgeregt,
suchte Graf Szdpäry Herrn Sazonow am 29. Juli neuerlich
auf, um einige vorhandene Mißverständnisse aufzuklären
und hiebei näheren Einblick in die russischen Pläne zu
gewinnen*.
Herr Sazonow begann damit zu konstatieren, daß Öster-
reich-Ungarn kategorisch einen weiteren Gedankenaustausch
ablehne. Graf Szdpdry stellte richtig, daß Graf Berchtold
es zwar abgelehnt hätte, nach allem was vorgefallen, über
die Notentexte und den österreichisch-ungarisch-serbischen
Konflikt überhaupt zu diskutieren, daß Graf Szdpdry aber
feststellen müsse, er sei in der Lage gewesen, eine viel
breitere Basis des Gedankenaustausches dadurch anzuregen,
daß er erklärte, das Wiener Kabinett wünschte keine
russischen Interessen zu verletzen, hätte nicht die Absicht,
serbisches Territorium an sich zu bringen und gedächte
auch nicht, die Souveränität Serbiens anzutasten. Graf
Szdpdry sei überzeugt, daß Graf Berchtold über öster-
reisch-ungarische und russische Interessen immer bereit
sein würde, mit Petersburg Fühlung zu nehmen.
Herr Sazonow meinte, in territorialer Hinsicht habe er
sich überzeugen lassen, aber was die Souveränität anbelange,
müsse er den Standpunkt festhalten, die Aufzwingung der
österreichisch-ungarischen Bedingungen sei ein Vasallentum.
I Telegramm aus St. Petersburg d. d. 29. Juli, 1 1 Uhr p. m., Nr. 180.
EingetrofFen am 30. Juli, 1 1 Uhr a. m.
288
Dieses aber verstoße gegen das Gleichgewicht am Balkan,
und letzteres sei das in Frage kommende russische Interesse.
Darauf kam Herr Sazonow wieder auf die Diskussion über
die Note, auf die Aktion Sir E. Greys zurück und wollte
Graf Szapary neuerlich nahelegen, daß man das legitime
Interesse der Monarchie zwar anerkenne und voll befriedigen
wolle, daß dies aber in eine für Serbien annehmbare Form
gekleidet werden sollte. Denn man streite sich da wirklich
nur um Worte herum. Graf Szdpäry meinte, das in Frage
stehende Interesse sei kein russisches, sondern ein serbisches
und versuchte, als Herr Sazonow geltend machte, russische
Interessen seien in diesem Falle eben serbische, dem
circulus vitiosus durch den Übergang auf ein anderes Thema
^in Ende zu machen.
Der k. u. k. Botschafter erwähnte weiter, er habe gehört,
man sei in Rußland beunruhigt, daß die Monarchie für die
Aktion gegen Serbien acht Korps mobilisiert habe. Herr
Sazonow bestätigte, daß nicht er, der hievon gar nichts gewußt
habe, sondern Kaiser Nikolaus, auf eine Information des
Generalstabschefs, diese Bedenken geäußert habe. Graf
Szäpäry suchte dem Minister darzulegen, daß auch ein
militärisches Kind sich leicht überzeugen könne, daß die
südlichen Korps der Monarchie keine Bedrohung Rußlands
bedeuten könnten. Auch machte Graf Szäpäry Herrn
Sazonow auf die Erfahrung Österreich-Ungarns im bosni-
schen Feldzuge aufmerksam. Bei diesem Anlasse erwähnte
er auch die ungewisse Haltung Montenegros, bezüglich
welcher Herr Sazonow einwarf, Herr von Giers habe tele-
graphiert, der König habe seiner Abneigung gegen Serbien
und seiner austrophilen Gesinnung laut Ausdruck gegeben.
Graf Szäpäry erwiderte, daß die Monarchie bei allem Ver-
trauen in König Nikolaus hierin noch keine militärische
Garantie erblicken könnte, und bedeutete dem Minister,
daß es gut wäre, wenn sein kaiserlicher Herr über die
wahre Situation informiert würde, um so mehr, als es
dringend geboten sei, wenn man den Frieden wolle, dem
militärischen Lizitieren, das sich jetzt auf Grund falscher
Nachrichten einzustellen drohe, ein rasches Ende zu bereiten.
Herr Sazonow meinte (wie der k. u. k. Botschafter in seiner
»9 289
Meldung bemerkte: sehr charakteristischerweise), er könne
dies dem Genralstabschef mitteilen, denn dieser sehe
den Zaren alle Tage. Der Minister hingegen gehe in einer
Zeit wie in der gegenwärtigen zum normalen Dienstag-
empfang und erfahre erst durch den Zaren, was die Militärs
demselben zutrügen.
Herr Sazonow teilte ferner mit, es werde heute ein
Ukas unterzeichnet, der eine Mobilisierung in ziemlich
weitem Umfange anordne. Er könne dem Grafen Szdpäry
aber auf das Alleroffiziellste versichern, daß diese Truppen
nicht dazu bestimmt seien, über die Monarchie herzufallen;
sie würden nur Gewehr bei Fuß bereit stehen für den Fall,
als Rußlands Balkaninteressen gefährdet würden. Eine note
ex'plicative werde dies feststellen, denn es handle sich nur
um eine Vorsichtsmaßregel, die Kaiser Nikolaus gerecht-
fertigt gefunden habe, da die Monarchie, die ohnedies den
Vorteil rascherer Mobilisierung habe, nunmehr auch den
so großen Vorsprung hätte. Graf Szdpäry machte Herrn
Sazonow in ernsten Worten auf den Eindruck aufmerksam,
den eine solche Maßnahme in der Monarchie erwecken
werde. Er könne nur bezweifeln, daß die note explicative
diesen Eindruck zu mildern geeignet sein werde, worauf der
Minister sich nochmals in Versicherungen über die Harm-
losigkeit dieser Verfügung erging.
Während der Minister mit Graf Szdpäry solcherart
in vertraulichem Gedankenaustausch stand, erhielt Herr
Sazonow durch das Telephon die Nachricht, Österreich-
Ungarn hätte Belgrad beschossen. Herr Sazonow war auf
Grund dieser Mitteilung wie ausgewechselt und meinte,
indem er seine bisherigen Argumente wieder aufnahm,
er sehe jetzt, wie Kaiser Nikolaus recht gehabt habe. „Sie
wollen nur Zeit mit Verhandlungen gewinnen, aber Sie
gehen vorwärts und beschießen eine ungeschützte Stadt!"
„Was wollen Sie eigentlich noch erobern, wenn Sie die
Hauptstadt im Besitz haben?" Das Argument, daß ein
solches Vorgehen gegen Serbien das Gegenteil einer
Bewegung gegen Rußland bilde, störte den Minister wenig,
„Was sollen wir noch konversieren, wenn Sie so vor-
gehen", sagte er. Als Graf Szdpäry Herrn Sazonow
290
Taktik Herrn
Sazonows
verließ, befand sich dieser in äußerst aufgeregter Stimmung,
und auch Graf Pourtales, der den russischen Minister
nachher neuerlich aufsuchte, mußte wenigstens für diesen
Tag (29. Juli) auf eine ruhige Konversation verzichten.
Die sich häufenden Indizien diplomatischer und mili- Ansichten
tärischer Natur ermöglichten es, wie Graf Szäpdry in Fort- g^s^hafiers
Setzung seines Berichtes meldete ', nunmehr eine Vermutung über die
über die von Herrn Sazonow beabsichtigte Taktik auszu-
sprechen. Der Minister scheue den Krieg ebenso wie sein (m. juin
kaiserlicher Herr und suche, ohne aus dem serbischen Feld-
zug Österreich-Ungarns die sofortige Konsequenz zu ziehen,
der Monarchie die Früchte desselben, wenn möglich ohne
Krieg, streitig zu machen, sollte es aber zum Kriege kommen,
in denselben besser als jetzt gerüstet einzutreten. Durch
eine von friedlichen Erklärungen begleitete, scheinbar nur
gegen Österreich-Ungarn gerichtete, zugleich Rumänien eine
Rückendeckung bietende Mobilisierung solle Deutschland
tunlichst ausgeschaltet, auf Österreich-Ungarn in der serbi-
schen Kampagne möglichst ein Druck ausgeübt und, sobald
die Operationen zu einem Erfolge geführt hätten, die Rettung
Serbiens durch Rußland vorgenommen werden. Sollten die
übrigen Balkanstaaten sich rühren und aus dem Vorgehen
der Monarchie Profit ziehen wollen, so würde Rumänien
zum Schutze des Bukarester Friedens vorgeschoben. Wollte
Österreich-Ungarn hiegegen Stellung nehmen, könnte es
zum europäischen Kriege mit Rumänien auf russischer Seite
kommen. Wollte aber Österreich-Ungarn und Deutschland
aus der russischen Mobilisierung schon jetzt die Konse-
quenzen ableiten und einen militärischen Vorsprung Rußlands
nicht aufkommen lassen, stünde das friedliche Rußland als
angegriffen da und hätte mehr Aussicht, auf diese Weise
Frankreich und vielleicht sogar England mitzureißen, und
die günstige moralische und militärische Situation der
Monarchie würde geschädigt. Rußland umgehe die Klemme,
die sich aus der Berechtigung des österreichisch-ungarischen
Vorgehens gegen Serbien ergebe, und wäre doch in der
Lage — vielleicht sogar ohne Krieg zu führen — seine
1 Telegramm aus St. Petersburg d. d. 30. Juli, 1 Uhr a. m., Nr. 181.
291
ßalkaninteressen zu wahren. Unter Anführung solcher
Konsiderationcn dürfte Kaiser Nikolaus für die ihm gewiß
wenig sympathische Mobilisierung gewonnen worden sein.
Daß die militärischen Kreise eifrig am Werk sein dürften,
diesen komplizierten politischen Kalkül, wenn nur irgend
möglich, auf eine einfachere Form zu reduzieren und durch
Stimmungmachen und Einwirkung auf den Kaiser im Wege
falscher Nachrichten, sobald eine gewisse Kriegsbereitschaft
erreicht sei, die Ereignisse nach Tunlichkeit zu überstürzen,
sei allerdings keineswegs ausgeschlossen.
Besprechung Dic Mitteilungen, die Graf Szäpäry auf die eigenen Wahr-
Bcrchi'Jid" nshmungen und auf seine Verständigungen durch Graf
mit dem Pourtalcs basicrt hatte, bewirkten, daß Graf Berchtöld am
russischen 3^^ j^jj i^^^^^ Schebcko ZU slch bitten ließ ', um ihm aus-
Botscnarter ^ '
(30. Juli), einanderzusetzen, daß allem Anscheine nach ein Mißver-
uZl ^"t ständnis über die Konversation am 28. Juli vorliegen müsse,
lungnahme indem Graf Berchtöld gemeldet worden sei, Herr Sazonow
schwtrde- ^^' ^°" ^^^ glatten Ablehnung seiner Proposition bezüglich
führung dcr Aussprachc mit Graf Szäpäry peinlich berührt, wie
Herrn
Sazonows
nicht minder davon, daß kein Gedankenaustausch zwischen
i.betreffsder Graf Berchtold und Herrn Schebeko stattgefunden habe.
Ablehnung ^^^ ^^^ ^^^^^^^ p^^^^ anbclangc, habe Graf Berchtold
semer Propo- ^ '
aiiion hin- dcm Grafen Szäpäry bereits telegraphisch freigestellt, auch
sichtlich weiterhin etwa seitens Herrn Sazonows gewünschte Er-
einer Aus- o
spräche mit läutcrungcn der Note — welche übrigens durch den Krlegs-
dem k. u. k. ays^^pm^i^ übcrholt erscheine — zu geben. Es könne sich
Botschafter 0
in Peters- dics allerdings nur im Rahmen nachträglicher Aufklärungen
^"^' , bewegen, da es niemals in der Absicht des Wienes Kabinetts
Z. es hatte ö '
kein Gedan- gelegen habe, von den Punkten der Note etwas abhandeln
kenaustausch j^ ^ j^ j^^ ^^ f Bcrchtold dcn Grafen Szäpäry
zwischen ,. t^ J
Graf ermächtigt, die speziellen Beziehungen Österreich-Ungarns
Berciitoid ^^ Rußland mit Herrn Sazonow freundschaftlich zu be-
und Herrn
Schebeko sprechen. (Wie Graf Berchtold bei dieser Gelegenheit habe
stattgefunden fggt^tgUgr, ^önncn, stammte die Anregung hiezu nicht von
Herrn Sazonow, sondern war eine gesprächsweise fallen-
gelassene Idee Herrn Schebekos-.)
1 Weisung nach St. Petersburg d. d. 30. Juli, Nr. 202. Expediert 31. Juli,
1 Uhr 40 Minuten a. m.
2 Vgl. Seite 287.
292
Daß Herr Sazonow sich darüber beklagen konnte, es
hätte kein Gedankenaustausch zwischen Herrn Schebeko
und Graf Berchtold stattgefunden ', müsse auf einem
Irrtum beruhen, da sie beide — Schebeko und Graf Berch-
told — am 28. Juli nahezu dreiviertel Stunden lang die
aktuellen Fragen durchgesprochen hätten-, was Herr Schebeko
dem Grafen Berchtold mit dem Bemerken bestätigte, er
habe Herrn Sazonow in ausführlicher Weise über diese
Unterredung referiert.
Herr Schebeko habe dann ausgeführt, warum man in
Petersburg das Vorgehen der Monarchie gegen Serbien mit
solcher Besorgnis betrachte. Österreich-Ungarn sei eine
Großmacht, die gegen den kleinen serbischen Staat vor-
gehe, ohne daß man in Petersburg etwas darüber wisse,
was das Wiener Kabinett mit demselben vorhätte, ob die
Monarchie dessen Souveränität tangieren, ihn ganz nieder-
werfen oder gar zertreten wollte. Durch historische und
andere Bande mit Rußland verbunden, könne letzterem
das weitere Schicksal Serbiens nicht gleichgültig sein. Man
habe es sich in Petersburg angelegen sein lassen, mit allem
Nachdrucke auf Belgrad einzuwirken, daß es alle For-
derungen der Monarchie erfülle, allerdings zu einer Zeit,
wo man nicht wissen konnte, was für Forderungen die
Monarchie nachmals gestellt habe. Aber selbst bezüglich
dieser Forderungen würde man alles einsetzen, um wenig-
stens das Mögliche durchzubringen.
Graf Berchtold erinnerte den Botschafter daran, daß das
Wiener Kabinett wiederholt betont hätte, die Monarchie
wolle keine Eroberungspolitik in Serbien treiben, auch
dessen Souveränität nicht antasten, sondern bloß einen Zu-
stand herstellen, der ihr Sicherheit biete gegen Beunruhi-
gung seitens Serbiens. Hieran knüpfte Graf Berchtold eine
längere Erörterung des unleidlichen Verhältnisses der
Monarchie zu Serbien, auch gab er Herrn Schebeko deut-
lich zu verstehen, in welch' hohem Maße die russische
Diplomatie an diesen Zuständen schuld sei, was Herr
' Vgl. Seite 286.
» Vgl. Seite 211 ff.
293
Der k. u. k.
Botschafter
glaubt ohne
neuerlichen
ausdrück-
lichen Auf-
trag die am
30. Juli auf-
getragene
Demarche
< eventuelles
Eingehen auf
eine unver-
bindliche
allgemein
gehaltene
Erörterung)
unterlassen
zu sollen
Schebeko durchaus nicht ableugnete, nur nahm er seinen
Minister in Schutz und stellte ihn als Antagonisten einer
solchen Politik hin.
Im weiteren Verlaufe der Unterredung erwähnte Graf
Berchtold die nunmehr zu seiner Kenntnis gelangte russi-
sche Mobilisierung. Nachdem sich dieselbe auf die Militär-
bezirke Odessa, Kiew, Moskau und Kasan beschränke, trage
sie einen hostilen Charakter gegen die Monarchie. Was der
Grund hievon sei, wisse er nicht, da ja gar kein Streitfall
zwischen der Monarchie und Rußland existiere. Öster-
reich-Ungarn habe ausschließlich gegen Serbien mobilisiert,
gegen Rußland nichts, was schon allein aus dem Umstände
zu ersehen sei, daß das erste, zehnte und elfte Korps nicht
mobilisiert worden seien '. Bei dem Umstände jedoch, daß
Rußland offensichtlich gegen die Monarchie mobilisiere,
müßte auch die Monarchie ihre Mobilisierung erweitern,
wobei Graf Berchtold jedoch ausdrücklich erwähnen wolle,
daß diese Maßnahme selbstverständlich keinen feindseligen
Charakter gegen Rußland trage und lediglich als die not-
wendige Gegenmaßnahme gegen die russische Mobilisierung
zu betrachten sei.
Graf Berchtold bat schließlich Herrn Schebeko, dies
nach Petersburg zu melden, was der russische Botschafter
ihm auch zusagte.
Sobald Graf Szäpäry in den Besitz der an ihn am
30. Juli, 1 Uhr 20 Minuten nachmittags, expedierten Weisung
gelangt war-, telegraphierte er am 31. Juli, 2 Uhr 45 Mi-
nuten nachmittags ■■, daß er, wie Graf Berchtold seiner
Berichterstattung vom 29. Juli habe entnehmen können,
ohne einen diesbezüglichen Auftrag abzuwarten, die Kon-
versation mit Herrn Sazonow nahezu auf der ihm nunmehr
aufgetragenen Grundlage wieder aufgenommen habe, ur.d
daß dieselbe, ohne daß sich die beiderseitigen Standpunkte
wesentlich genähert hätten, auf die inzwischen eingetroffene
I D. h. die galizischen Korps. (Vgl. Seite 307.1
- Vgl. Seite 287 ff.
•■ Telegramm aus St. Petersburg d. d. 31. Juli, 2 Uhr 45 Minuten
p. m., Nr. 186.
294
Nachricht von der Beschießung Belgrads, die Herr Sazonow
wohl als Beweis des tatsächlichen Ausbruches der Feind-
seligkeiten betrachtete, vom Minister in brüsker >X'''eise ab-
gebrochen worden sei.
Mit Rücksicht darauf, daß sich inzwischen aus der von
dem deutschen Botschafter mit dem russischen Minister des
Äußern geführten Konversation ergeben habe, daß Rußland
sich selbst mit einer formellen Erklärung, Österreich-Ungarn
werde weder das serbische Territorium schmälern, noch
die serbische Souveränität antasten, noch russische Balkan-
oder sonstige Interessen verletzen, nicht zufrieden geben
würde und daß seither russischerseits die allgemeine Mobili-
sierung angeordnet worden sei, glaube der k. u. k. Bot-
schafter ohne einen neuerlichen ausdrücklichen Auftrag des
Grafen Berchtold die anbefohlene Demarche unterlassen zu
sollen.
Ein am 31. Juli, 2 Uhr 55 Minuten nachmittags auf- suuaiions-
gegebenes — vom k. u. k. Botschafter offenbar noch am k"u\' b".
30. Juli verfaßtes — Telegramm des k. u. k. Botschafters schafters
besagte ', daß sich Graf Szdpäry, da er heute für Herrn
Sazonow keine Aufträge besaß und seine gestrige Konver-
sation mit Herrn Sazonow ein durchaus negatives Resultat
hatte, nicht veranlaßt gesehen habe, das Auswärtige Amt
aufzusuchen.
Die Situation sei übrigens heute noch unklarer als
bisher. Dem italienischen Botschafter habe Fürst Trubetzkoj
erklärt, die Situation sei eine durchaus veränderte, da die
Monarchie Belgrad, „eine offene Stadt", an dem Tage be-
schossen hätte, an dem das Wiener Kabinett die Anwendung
der ein solches Vorgehen angeblich verbietenden Haager
Bestimmungen in Aussicht gestellt hätte. Dieses Argument
scheine ein vorbedachtes, weil Herr Sazonow Graf Szäpäry
gegenüber in dem Momente, als er die Nachricht von der
Beschießung Belgrads telephonisch erhielt, eine analoge
Bemerkung gemacht habe.
' Telegramm aus St. Petersburg d. d. 31. Juli, 2 Uhr 55 Minuten
p. m., Nr. 182.
295
Der deutsche Botschafter, der den russischen Minister
heute vor dem Kronrate gesehen und ihm neuerlich
ins Gewissen geredet hatte, habe Herrn Sazonow nach
dessen Rückkehr vom Kronrate aus Peterhof nochmals
gesprochen, ohne daß die Konversation neue Momente auf-
gewiesen hätte. Der hieraus zu ziehende Schluß scheine
der zu sein, daß man auch in der heutigen Beratung in
Peterhof zu keiner klaren Stellungnahme gel^ommen sei.
Auffallend sei es, daß, während man bisher täglich
stundenlang vor der k. u. k. Botschaft das Gejohle demon-
strierenden Pöbels (wie es verlaute, durch Herrn Maklakow -
bezahlte Hooligans) hören konnte, heute um die Botschaft
fast vollkommene Stille herrsche. Der mit dem Auswärtigen
Amte in engsten Beziehungen stehende Journalist Bogacki,
Korrespondent des „Russkoje Slowo", habe sich abends per-
sönlich auf der Botschaft eingefunden und sich sehr auf-
geregt erkundigt, ob die in der Stadt umlaufenden Gerüchte
von einem österreichisch-ungarischerseits wegen der russi-
schen Mobilisierung ergangenen Ultimatum richtig seien;
dies wäre doch bedauerlich, da es ein irreparabler Schritt
sei. Auch die Zeitung „Rjetsch" habe sich auffallend
erkundigt, ob Nachrichten aus Wien eingetroffen seien.
Die Stimmung in der ruhigen Bürgerschaft, besonders
in industriellen und finanziellen Kreisen, weise seit dem
31. Juli eine Reaktion auf, da die Furcht vor den ökono-
mischen Folgen eines Krieges um sich greife.
Im Ministerrate sollten sich Herr Sazonow und der sehr
maßgebende Herr Kriwoschein gegen den Krieg einsetzen,
auch der Handelsminister Timaschow solle unter dem Ein-
drucke der Mißstimmung der wirtschaftlichen Kreise stehen.
An der Spitze der Kriegspartei gehe neben den Militärs der
Minister des Innern Maklakow einher, der auch die, übrigens
unglaublich matten, Demonstrationen durch Verteilung von
ein bis drei Rubeln organisieren solle. Merkwürdigerweise
solle auch Ministerpräsident Goremykin für die Opportunität
eines Krieges im Ministerrate eingetreten sein.
Eine Klärung der Situation, die allerdings auch sehr
unvermittelt eintreten könne, müsse bis auf Weiteres noch
abgewartet werden.
296
Sollte der Zustand der Unentschlossenheit andauern,
werde Graf Szäpäry versuchen, auf den Ministerpräsidenten
durch Vorweisung der Wiener Publikation über die
serbische Note einzuwirken.
Von der zur Aufklärung der russischen Mobilisierung
in Aussicht gestellten note explicative verlaute bisher in
Petersburg nichts.
Im Laufe des 31. Juli erhielt Graf Szdpdry die an ihn Entschluß
am 30. Juli, 1 Uhr 20 Minuten nachmittags, und die am ß^schafters
31. Juli morgens, 1 Uhr 40 Minuten, expedierten beiden die am
Weisungen'. Er entschloß sich, dieselben ohne Rücksicht^'.',/"''"'"''''
o ' mittags er-
auf die seit deren Abgang verfügte allgemeine Mobilisierung haucnen
in Rußland und den Abbruch des vertraulichen Gedanken- aJ^Tifg"
austausches dennoch auszuführen, weil er einerseits die achtet der
Behauptung Kaiser Wilhelms, die Monarchie sei noch immer ^obm'"
bereit zu könversieren, nicht desavouieren wollte und weil sierung
es ihm andrerseits schon zur Feststellung der eigenen tak- rühren"
tischen Stellung, als angegriffen zu erscheinen, opportun (si- Juid
dünkte, noch einen äußersten Beweis guten Willens ge-
geben zu haben, um Rußland tunlichst ins Unrecht zu setzen.
Graf Szäpäry fragte demnach bei Herrn Sazonow an -, Letzte bc-
der ihn unverzüglich empfing'. Graf Szäpäry legte dem ^erk^"u^k
Minister dar, daß er chiffrierte Instruktionen erhalten hätte, Botschafters
daß er aber vorausschicken müsse, die augenblickliche, "J^oJ^"
durch die russische allgemeine Mobilisierung geschaffene (3i. jum
1 Telegramm aus St. Petersburg d. d. 31. Juli, 11 Uhr 17 Minuten
p. m., Nr. 189. Eingetroffen 2. August, 9 Uhr a. m.
' Telegramm aus St. Petersburg d. d. 1. August, 10 Uhr 45 Minuten
a. m., Nr. 190. Eingetroffen 1 Uhr p. m. Fortsetzung des Telegrammes
Nr. 189.
" Im österreichisch-ungarischen Rotbuch Nr. 56 ist diese Besprechung
(bei gleichzeitiger Änderung der einleitenden Worte des Telegrammes) auf
den 1. August verlegt. Das zitierte Telegramm stellt die am Schlüsse des
(am 31. Juli, 11 Uhr 17 Minuten p. m., expedierten) Telegrammes Nr. 189
angekündigte Fortsetzung der Berichterstattung dar. Da nun Graf Szäpäry
bereits in der Depesche Nr. 189 die vollzogene Durchführung der
an diesem Tage (31. Juli) erhaltenen Weisungen meldet (vgl. den
Passus: . . . weil es ihm opportun erschien, „noch einen äußersten
Beweis guten Willens gegeben zu haben"), so ist das Telegramm Nr. 190
bloß als die detaillierte Wiedergabe eben der Besprechung mit
Herrn Sazonow am 31. Juli zu betrachten.
297
Lage in Wien sei ihm gänziicli unbekannt, so daß er von
dieser bei Verdolmeischung seiner noch vorher abgegangenen
Weisung vollkommen absehen müsse. Der Minister unter-
brach ihn lebhaft mit den Worten, die Mobilisierung habe
nichts zu bedeuten, und Kaiser Nikolaus habe Kaiser
Wilhelm sein Wort verpfändet, die Armee werde sich
solange nicht rühren, solange eine auf eine Verständigung
gerichtete Konversation mit Wien im Zuge sei. Übrigens
hätte die Monarchie zuerst mobilisiert, eine Behauptung,
der Graf Szäpäry lebhaft widersprach, so daß der Minister
sagte: „Lassen wir die Chronologie." Man solle nicht
fürchten, daß die Gewehre von selber losgehen würden;
denn was die russische Armee betreffe, sei diese so diszi-
pliniert, daß der Kaiser sie durch ein Wort noch von der
Grenze zurückziehen könne. Graf Szäpäry fuhr fort und
sagte, daß die beiden letzten Weisungen des Grafen Berchtold
das Mißverständnis behandelten, als ob Österreich-Ungarn
weitere Verhandlungen mit Rußland abgelehnt hätte. Dies
sei, wie Graf Szäpäry Herrn Sazonow schon ohne Auftrag
mitgeteilt hätte, ein Irrtum. Graf Berchtold sei nicht nur
gerne bereit, mit Rußland auf breitester Basis zu verhandeln,
sondern auch speziell geneigt, den Notentext einer Be-
sprechung zu unierziehen, sofern es sich um dessen Inter-
pretation handle.
Graf Szäpäry sei sich allerdings bewußt, daß Rußland
auf dem Standpunkt stehe, die Form der Note sollte ge-
mildert werden, während Graf Berchtold der Ansicht sei,
der Sinn derselben könne erläutert werden. Dies ergebe
eine Diskrepanz, die nicht übersehen werden dürfe, obwohl
es dem Grafen Szäpäry im Wesen auf dasselbe heraus-
zukommen scheine.
Herr Sazonow meinte, dies sei eine gute Nachricht, denn
er hoffe noch immer, daß auf diese Weise die Angelegen-
heit auf jenes Terrain gelenkt werden könne, welches ihm
von Anfang an vorgeschwebt habe. Graf Szäpäry betonte,
wie sehr die Instruktionen des Grafen Berchtold einen
weiteren Beweis guten Willens böten, wenn freilich der
k. u. k. Botschafter Herrn Sazonow auch nochmals in
Erinnerung rufen müsse, daß ihm die durch die seitherige
298
allgemeine Mobilisierung geschaffene Situation unbekannt
sei. Graf Szäpäry könne ' nur hoffen, daß der Gang der
Ereignisse die Monarchie nicht schon zu weit geführt habe;
jedenfalls hätte er es für seine Pflicht gehalten, im gegen-
wärtigen hochernsten Augenblicke den guten Willen der
k. u. k. Regierung nochmals zu dokumentieren. Herr Sazonow
erwiderte, er nehme von diesem Beweise guten Willens mit
Befriedigung Kenntnis; auch möchte er Graf Szäpäry auf-
merksam machen, daß ihm Unterhandlungen in St. Peters-
burg aus naheliegenden Gründen weniger Erfolg versprechend
erschienen, als solche auf dem neutralen Londoner Terrain.
Graf Szäpäry erwiderte, Graf Berchtold gehe, wie Graf
Szäpäry selbst schon dargelegt hätte, vom Gesichtspunkte einer
direkten Fühlungnahme mit St. Petersburg aus, so daß der
Botschafter nicht in der Lage sei, zu Sazonows Anregung
bezüglich Londons Stellung zu nehmen; doch werde er nach
Wien hierüber Meldung erstatten.
Herr Sazonow schien (laut dieser Meldung Graf Szäpärys)
durch die eben empfangenen Eröffnungen wesentlich er-
leichtert und maß denselben offensichtlich eine übertriebene
Bedeutung bei, so daß Graf Szäpäry immer wieder auf
die geänderte Situation, auf die Diskrepanz der beider-
seitigen Ausgangspunkte u. dgl. verweisen mußte. Außer-
dem wurden bei der Konversation zwei Hauptpunkte voll-
kommen umgangen: von Seite des Grafen Szäpäry der
ihm aus den Telegrammen des Grafen Berchtold hervor-
zugehen scheinende rein rückblickende und theoretische
Charakter einer Konversation über den Notentext, von
Seite Herrn Sazonows die Frage, was während der etwaigen
Verhandlungen bezüglich der militärischen Operationen
geschehen solle?
Im Hinblick auf den Vorbehalt, den Graf Szäpäry
bezüglich der russischen allgemeinen Mobilisierung machte,
sei — nach Graf Szäpärys Ansicht — Graf Berchtold voll-
kommen in der Lage, die gemachten Eröffnungen als gegen-
standslos zu erklären. Andrerseits scheine es dem Grafen
Szäpäry vom Standpunkte der Rollenverteilung , überaus
wichtig, noch einen Schritt gemacht zu haben, der wohl als
das Äußerste an Entgegenkommen bezeichnet werden könne.
299
Sollte Graf Berchtold jedoch diplomatische Verhandlungen
auch heute noch für tunlich odep opportun halten, so wäre
hietür eine Unterlage geboten. Aus diesen Gründen hoffe
Graf Szäpäry, daß sein Vorgehen die Billigung des Grafen
Berchtold finden werde.
Leizic Der russische Botschafter suchte Graf Berchtold am
Besprechung j y^yg^gj j^, freundschaftUchcr Weise auf, um sich, wie er
Graf Berch- o ■ 7 J
toids mii sagte, nach etwaigen Neuigkeiten zu erkundigen '. Er hoffe
schXko "^'^^ immer, daß es gelingen werde, den'bestehenden Streit-
(1. August), fall durch direkte Verhandlungen zu beheben. Bei der gegen-
.E.geniiich bärtigen Lage der Dinge wäre es wohl besser, sich hiezu
handle es ö ö & '
sichzwischen auf neutrales Terrain zu begeben, wofür London besonders
ostcrre.ch- „ggjg^gj wäre. Es sei überaus bedauerlich, daß man in
Ungarn und o o
Rußland um Deutschland anscheinend den Krieg forcieren wolle-. Rußland
MmveT-"^^ hätte ja in Berlin bereits die bündigsten Versicherungen
siändnis" abgegeben, daß seine militärischen Maßnahmen keinen feind-
lichen Charakter gegen die Monarchie oder Deutschland
trügen. Allerdings müßte man in Petersburg nach wie vor
darauf bestehen, daß die Monarchie den Konflikt mit Serbien
nicht löse, ohne Rußland zu konsultieren, dessen Interesse
bei dieser Frage im Spiele sei.
Graf Berchtold ging auf diese Darlegung Herrn Schebekos
nicht weiter ein, begann jedoch ein freundschaftliches, nicht
offizielles Gespräch, in dessen Verlauf er den russischen
Botschafter auf die vielfachen Torheiten der russischen
Balkanpolitik aufmerksam machte. Es gäbe eine weit breitere
Grundlage zu einer Auseinandersetzung zwischen der Mon-
archie und Rußland, wenn man sich nur einmal in Peters-
burg dazu entschließen könnte, nicht immer und ausschließ-
lich das Schicksal der Balkanstaaten zum Angelpunkte des
Verhaltens gegen die Monarchie zu machen. Herr Schebeko
antwortete gleichfalls sehr freundschaftlich, erörterte in
akademischer Weise die mannigfachen Verpflichtungen Ruß-
lands als orthodoxer und slawischer Staat, verwies auf
gewisse sentimentale Veranlagungen des russischen Volkes
' Tagesbericht d. d. 1. August, Nr. 3737.
- Ursprünglich im Konzept: „in Deutschland anscheinend den Kopf
verloren habe". „Den Krieg forcieren wolle", Umänderung von der Hand
des Grafen Berchtold.
300
und verließ Graf Berchtold mit der Bemerivung, eigentlicli
handle es sich zwischen der Monarchie und Rußland um
ein großes Mißverständnis.
Unmittelbar darauf erhieh Graf Berchtold den Besuch
Herrn Dumaines, der ebenso friedliche Töne anschlug wie
sein russischer Kollege, mit wehmütigem Bedauern auf das
kriegerische Vorgehen Kaiser Wilhelms verwies und seiner
Überzeugung Ausdruck gab, es müsse eine Formel gefunden
werden, die den gerechten Ansprüchen der Monarchie
Rechnung trage ', Rußlands Interesse an Serbien befriedige
und den Weg zum Frieden eröffne.
Der Ministerrat für gemeinsame Angelegenheiten
vom 31. Juli
Die Wichtigkeit der zu behandelnden Materien veranlaßte
Graf Berchtold, für den 31. Juli einen Ministerrat für gemein-
same Angelegenheiten einzuberufen-. Als Konferenzteilnehmer
erschienen die Minister und Funktionäre, die auch dem
Ministerräte vom 7. und 19. Juli beigewohnt hatten, mit
Ausnahme des k. u. k. Chefs des Generalstabes. Anwesend
war diesmal auch der königlich ungarische Minister am
allerhöchsten Hoflager Freiherr von Buriän; als Schrift-
führer fungierte wieder Legationsrat Graf A. Hoyos. Den
Gegenstand der Tagesordnung bildete die Beratung über den
englischen Vermittlungsvorschlag und über an Italien zu
gewährende Kompensationen.
Der Vorsitzende, Graf Berchtold, eröffnete die Sitzung
und verlas den den englischen Vermittlungsvorschlag ent-
haltenden Tagesbericht vom 30. Juli-.
Hieran anknüpfend erklärte Graf Berchtold, er habe dem
deutschen Botschafter, als dieser ihm den englischen Vorschlag
vorlegte, sogleich erklärt, daß eine Einstellung der Feind-
seligkeiten gegen Serbien unmöglich sei. Über den Ver-
mittlungsvorschlag könne er nicht allein entscheiden, sondern
' „die unseren gerechten Ansprüchen Rechnung frage". Zusatz im
Konzept von der Hand des Grafen Berchtold.
2 G. M. K. P. Z. 514 d. d. 31. Juli 1914.
•■> Vgl. Seite 233 ff.
301
er müsse hierüber die Befehle des Monarchen einholen und
die Angelegenheit im Ministerrate besprechen.
Er habe dann über den Inhalt der Demarche des deutschen
Botschafters dem Monarchen Vortrag erstattet, der sofort
erklärt habe, daß die Einstellung der Feindseligkeiten gegen
Serbien unmöglich sei. Der Monarch habe hingegen den
Antrag genehmigt, daß das Wiener Kabinett es zwar sorgsam
vermeide, den englischen Antrag in meritorischer Hinsicht
anzunehmen, daß es aber in der Form seiner Antwort
Entgegenkommen zeige und dem Wunsche des deutschen
Reichskanzlers, die Regierung' nicht vor den Kopf zu
stoßen, auf diese Weise entgegenkomme.
Die Antwort an die deutsche Regierung sei noch nicht
ausgearbeitet, er könne aber jetzt schon sagen, daß bei
ihrer Textierung auf drei Grundprinzipien Bedacht zu nehmen
sein werde, nämlich:
1. Die kriegerischen Operationen gegen Serbien müssen
fortgesetzt werden;
2. Das Wiener Kabinett könnte über den englischen
Vorschlag nicht unterhandeln, solange die russische Mobili-
sierung nicht eingestellt werde, und
3. die Bedingungen Österreich-Ungarns müßten integral
angenommen werden und es könnte sich die Monarchie in
keine Verhandlungen über dieselben einlassen -;
Erfahrungsgemäß würden die Mächte in solchen Fällen
immer Abstriche bei Weitergabe seitens einer Macht auf-
gestellter Bedingungen zu machen versuchen; es sei sehr
wahrscheinlich, daß man dies auch jetzt versuchen würde,
wo bei der jetzigen Zusammensetzung Frankreich, England
und auch Italien den russischen Standpunkt vertreten
würden und die Monarchie an dem gegenwärtigen deutschen
Vertreter in London eine sehr zweifelhafte Stütze hätte.
Von dem Fürsten Lichnowsky sei alles andere zu erwarten,
' Im Konzept ursprünglich: „daß wir aber in der Form unserer Ant-
wort Entgegenkommen zeigen und die englische Regierung nicht vor den
Kopf stoßen dürften".
- Vergleiche die Textierung der Antwort an die deutsche Regierung.
Seite 235.
302
als daß er die Interessen Österreich-Ungarns warm ver-
treten würde. Wenn die Aktion jetzt nur mit einem Prestige-
gewinne endete, so wäre sie nach der Ansicht des Vor-
sitzenden ganz umsonst unternommen worden. Die Mon-
archie hätte von einer einfachen Besetzung Belgrads gar
nichts, selbst wenn Rußland hiezu seine Einwilligung geben
würde. Alles dies wäre Flitterwerk, Rußland würde als
Retter Serbiens und namentlich der serbischen Armee auf-
treten. Letztere würde intakt bfeiben und die Monarchie
hätte in zwei bis drei Jahren wieder einen Angriff Serbiens
unter viel ungünstigeren Bedingungen zu gewärtigen. Graf
Berchtold beabsichtige daher, auf den englischen Vorschlag
in sehr verbindlicher Form zu antworten, dabei aber die
vorerwähnten Bedingungen zu stellen und zu vermeiden,
auf den meritorischen Teil einzugehen.
Der gemeinsame Finanzminister Ritter von Biliriski
wies darauf hin, daß durch die Mobilisierung der Mon-
archie eine ganz neue Situation geschaffen worden sei.
Vorschläge, die in einem früheren Zeitpunkte akzeptabel
gewesen wären, seien jetzt nicht mehr annehmbar.
Der königlich ungarische Ministerpräsident er-
klärte, er schließe sich den Ausführungen des Vorsitzenden
vollkommen an und sei auch der Ansicht, daß es verhängnis-
voll wäre, auf das Meritum des englischen Vorschlages
einzugehen. Die Kriegsoperationen gegen Serbien müßten
jedenfalls ihren Fortgang nehmen. Er frage sich aber, ob
es notwendig sei, schon jetzt die neuen Forderungen der
Monarchie an Serbien den Mächten überhaupt bekannt-
zugeben, und er würde vorschlagen, die englische Anregung
dahin zu beantworten, daß die Monarchie prinzipiell bereit
wäre, derselben näherzutreten, jedoch nur unter der Be-
dingung, daß die Operationen gegen Serbien fortgesetzt
werden und die russische Mobilisierung eingestellt werde.
Der k. k. Ministerpräsident führte aus, der Gedanke
einer Konferenz sei ihm so odios, daß er selbst ein schein-
bares Eingehen auf denselben vermeiden möchte. Er halte
daher den Vorschlag des Grafen Tisza für den richtigen.
Die Monarchie müßte den Krieg mit Serbien fortsetzen
303
und sich bereit ericlären, mit den Mächten weiter zu ver-
handeln, sobald Rußland seine Mobilmachung einstelle.
Herr von Biliriski fand die Anregung des Grafen Tisza
außerordentlich geschickt; die Monarchie würde durch das
Stellen der erwähnten zwei Bedingungen Zeit gewinnen.
Auch er könnte sich mit der Idee einer Konferenz nicht
befreunden. Der Verlauf der Londoner Konferenz stünde in
so entsetzlicher Erinnerung, daß sich die ganze Öffentlichkeit
gegen die Wiederholung* eines solchen Schauspieles auf-
lehnen würde. Auch er sei der Ansicht, man solle den
englischen Vorschlag nicht schroff ablehnen.
Nachdem noch Freiherr von Burian sich in zustim-
mendem Sinne geäußert hatte, wurde der Vorschlag des
Grafen Tisza einstimmig angenommen und festgestellt, daß
prinzipielle Geneigtheit bestehe, auf den englischen Vor-
schlag unter den zwei vom Grafen Tisza aufgestellten Bedin-
gungen einzugehen.
Der Vorsitzende hob hierauf hervor, wie wichtig es
sei, Italien beim Dreibund zu erhalten. Nun hätte sich aber
Italien auf den Standpunkt gestellt, der Konflikt sei von der
Monarchie provoziert worden und ihr Vorgehen gegen
Serbien habe eine aggressive Spitze gegen Rußland. Aus
allen Äußerungen des Marquis di San Giuliano gehe klar
hervor, daß die ganze italienische Haltung von dem Ver-
langen nach einer Kompensation getragen sei. Italien stütze
dieses sein Verlangen auf den Wortlaut des Artikels VII des
Dreibundvertrages. Die Auffassung des Wiener Kabinetts
sei, daß laut dieses Artikels das Recht auf eine Kompensation
nur dann bestünde, wenn die Monarchie türkisches Gebiet
auf dem Balkan dauernd oder vorübergehend besetzen würde,
da dem Geiste des Vertrages nach nur von Gebieten des
„Empire Ottoman" die Rede sein könne. Italien behaupte
dagegen, daß, nachdem an einer Stelle auch die Worte „dans
les Balcans" vorkommen, die ganze Balkanhalbinsel gemeint
sei. Wenn sich auch die italienische Auffassung durch eine
Reihe von Gründen bekämpfen ließe, so müsse er doch
darauf hinweisen, daß die deutsche Regierung sich die An-
schauung Italiens zu eigen gemacht habe. Im Laufe der
letzten Woche seien täglich Demarchen bei ihm gemacht
304
worden, um zu erreichen, daß sich die k. u. k. Regierung
der Auffassung der Kompensationsfrage seitens der zwei
anderen verbündeten Mächte anschließe.
Der k. u. k. Kriegsminister erwähnte dazu, daß ihm
der k. u. k. Militärattache in Berlin über Untferredungen be-
richtet habe, die dieser mit Kaiser Wilhelm und dem General-
stabschef Grafen Moltke gehabt habe, in welchen beide in
eindringlicher Weise hervorgehoben hätten, wie wichtig ein
aktives Eingreifen Italiens in dem bevorstehenden Konflikt
sei, und daß es daher äußerst wünschenswert wäre, wenn die
k. u. k. Regierung Italien in der Kompensationsfrage ent-
gegenkommen würde.
Der Vorsitzende erkläre darauf, man hätte ihn von Rom
aus wissen lassen, der bevorstehende Krieg widerstreite den
italienischen Interessen, da durch einen günstigen Ausgang
desselben die Machtstellung der Monarchie am Balkan ver-
mehrt würde. Unter diesen Umständen könne Italien nur
dann aktiv eingreifen, wenn seine Ansprüche anerkannt
würden. Graf Berchtold habe den k. u. k. Botschafter in
Rom bisher beauftragt, mit vagen Phrasen auf die Kompen-
sationsforderungen zu antworten und dabei immer wieder
nachdrücklich zu betonen, daß dem Wiener Kabinett der
Gedanke an territoriale Erwerbungen fernliege. Wenn die
Monarchie aber dazu gezwungen würde, eine nicht nur vor-
übergehende Okkupation vorzunehmen, so wäre noch immer
Zeit, der Kompensationsfrage näherzutreten.
Graf Berchtold sehe nun zwei Wege, die man hier ein-
schlagen könne. Entweder auf der eigenen Auslegung des
Artikels VII zu beharren, aber mit einem „beau geste"
Italien eine Kompensation zuzusprechen, oder aber die
italienische Auslegung des Artikels VII anzunehmen, wobei
ausdrücklich hervorzuheben wäre, daß Italien nur dann
Anspruch auf eine Kompensation hätte, wenn die Monarchie
zu einer dauernden Besitzergreifung eines Gebietes auf der
Balkanhalbinsel schreiten würde. Zum Schlüsse wolle er darauf
hinweisen, daß die Monarchie während des libyschen Feld-
zuges den Artikel VII in sehr rigoroser Weise ausgelegt hätte.
Freiherr von Buriän und Graf Tisza betonten, daß
man nicht nur die italienische Interpretation des Artikels VII
20 305
des Vertrages anfechten könne, sondern auch die Auffassung
der italienischen Regierung, daß der Casus foederis für ^ie
nicht gegeben sei. Daher soHte man nur unter der Bedingung
sich zu Konzessionen entschließen, daß die italienische
Kooperation im Falle eines großen Krieges tatsächlich
Platz greife.
Herr von Biliriski wies darauf hin, daß der große
Kampf, der bevorstehe, für die Monarchie ein Existenzkampf
sei. Wenn die effektive Hilfe Italiens in diesem Kampfe
wirklich von so großem Werte sei, so werde man wohl ein
Opfer bringen müssen, um dieselbe zu erkaufen.
Graf Stürgkh vertrat den Standpunkt, daß Italien keinen ,
Anspruch auf eine Kompensation erheben könne, wenn es
nach Ausbruch des großen Krieges seine Bundespflichten
nicht erfülle.
Der Ministerrat erteilte hierauf dem Vorsitzenden die
prinzipielle Ermächtigung, Italien für den Fall, als die Mon-
archie eine dauernde Besetzung serbischen Territoriums
vornehmen sollte, eine Kompensation in Aussicht zu stellen,
und wenn es die Umstände erheischen sollten und Italien
seine Bundespflicht tatsächlich erfülle, auch über die Ab-
tretung Valonas an Italien zu sprechen, in welchem Falle
Österreich-Ungarn sich den ausschlaggebenden Einfluß in
Nordalbanien sichern würde.
Hierauf erklärte der Vorsitzende die Beratung für be-
endet.
Das Protokoll dieses Ministerrates unterzeichnete der
Monarch am 21. August.
Die österreichisch-ungarische allgemeine Mobilisie-
rung
Militärische Seit der Mobilisierung der für den Krieg gegen Serbien
I^Te'Tüt bestimmten 8 Armeekorps am 25. Juli abends ' wurden
vom 25. bis bis zum 31. Juli militärische Maßnahmen (Ausnahmsgesetze
^'' •*"'' u. dgl.) zwar in beträchtlichem Umfange vorgenommen,
doch betrafen sie ausschließlich die Kriegsbereit-
schaft nach dem Südosten.
1 Vgl. Seite 216, 217. ,
306
Eine weitere Teilmobilisierung fand in keiner
Weise statt. Auch die drei nordöstlichen Korps (I.,
X. und XI.) wurden erst auf Grund des allgemeinen
Mobilisierungsbefehls „alarmiert".
Am 30. Juli nachmittags fand zwischen dem Chef des Unterredung
deutschen Generalstabes und dem k. u. k. Militärattache ''" ''""'"
sehen (jene-
eine wichtige Unterredung statt. Als Ergebnis wurde an raistabschefs
Baron Conrad durch den k. u. k. Militärattache ein Tele- ™' ''''"
k. u. k.
gramm abgesendet, das den dringenden Ratschlag der so- MUitär-
fortigen allgemeinen Mobilisierung enthielt'. """'*'*
Dieses am 30. Juli, abends 10 Uhr 20 Minuten, in Wien Allgemeine
eingetroffene Telegramm Graf Szögyenys wurde von Graf "^i'^^js^h.
Berchtold mit folgender am 31. Juli, 8 Uhr vormittags, ungariscive
expedierten Weisung an den k. u. k. Botschafter in Berlin ^.°_,JJg
erledigt: (3'- J""
„Freiherr von Conrad telegraphiert gleichzeitig, in Be- '"""s^*
„antwortung einer Anfrage, an den Chef des deutschen
„Generalstabes:
„Auf Grund Allerhöchster Entscheidung ist Entschluß:
„Krieg gegen Serbien durchführen. Rest der Armee mobili-
„sieren und in Galizien versammeln. Erster Mobilisierungs-
„tag 4. August. Mobilisierungsbefehl ergeht heute 31. Juli.
„Erbitte Bekanntgabe dortseitigen ersten Mobilisierungs-
„tages" K
Der Befehl zur allgemeinen Mobilisierung langte
von der Militärkanzlei des Monarchen am 31. Juli,
12 Uhr 23 Minuten mittags, im Kriegsministerium
und beim Chef des Generalstabes ein und wurde
sofort ausgegeben.
Zur Begründung der militärischen Maßnahmen in Gali- Motivierung
zien erhielten die Signatarbotschaften, die Balkanmissionen, '^"."'l''
o ' ' tanscnen
der Gesandte in Stockholm und der Botschafter in Tokio Maßnahmen
eine am 1. August, 7 Uhr morgens, expedierte Instruktion ^i '"^^ jj,'p"
1 Telegramm aus Berlin d. d. 30. Juli, 7 Uhr 40 Minuten p. m.,
Nr. 331.
2 Weisung nach Berlin d. d. 31. Juli, 8 Uhr a. m., Nr. 302.
3 Zirkulartelegramm d. d. 31. Juli, Prot. Nr. 5955—5965. Expediert
1. August, 7 Uhr a. m.
307
„Da die russische Regierung Mobilisierungen an unserer
„Grenze angeordnet hat, werden wir zu militärischen Maß-
„nahmen in Galizien gezwungen. Diese Maßnahmen haben
„einen rein defensiven Charakter und sind lediglich unter
„dem Drucke der russischen Vorkehrungen erfolgt, die wir
„sehr bedauern, da wir selbst keine aggressiven Absichten
„gegen Rußland haben und die Fortdauer der bisherigen
„guten nachbarlichen Beziehungen wünschen. Die der Situation
„entsprechenden Besprechungen zwischen dem Wiener und
„Petersburger Kabinett, von denen wir uns eine allseitige
„Beruhigung erhoffen, gehen inzwischen in freundschaftlicher
„Weise weiter."
immediat- Die großcn Probleme und Ereignisse dieses schicksal-
vorirag des schwcreu Tagcs faßte Graf Berchtold in einem (am Abend
Grafen
Berchiow dcs 31. JuU mundicrten) Immediatvortrage zusammen:
(31. Juli» Qpgf Berchtold nehme sich die Freiheit zu melden, daß
(Entwurf) '
der kaiserlich deutsche Botschafter ihm soeben ' im Auftrage
der deutschen Regierung mitgeteilt habe, der deutsche Kaiser
habe den Übergang der deutschen Armee und Marine in
den „drohenden Kriegszustand" am 31. Juli vormittags an-
geordnet -.
Es sei dies, wie der deutsche Botschafter hinzufügte, die
in der Monarchie als „Alarm" bezeichnete Vorbereitung zur
allgemeinen Mobilisierung, welche in zwei Tagen beginnen
werde.
Man rechne, wie der deutsche Botschafter noch bemerkte,
im deutschen Generalstabe damit, daß die österreichisch-
ungarische Armee bei Fortsetzung der Aktion gegen Serbien
auch die kriegerische Aktion gegen Rußland möglichst bald
beginnen werde.
Auch habe Herr von Tschirschky am 31. Juli morgens
auf Grund einer telephonischen Verständigung aus Berlin
mitgeteilt, der Reichskanzler beabsichtige, sofort ein Ulti-
matum an Rußland wegen Einstellung der Mobilmachung zu
richten.
' Am Abend des 31. Juli.
- Vgl. Seite 310. — Nach der Feststellung im Weißbuch betr. d. V.
d. U. a. Kr., Seite 48, erfolgte die Erklärung des Zustandes drohender
Kriegsgefahr am 31. Juli nachmittags.
308
In einer am 31. Juli vormittags stattgehabten gemein-
samen Ministerkonferenz sei der Beschluß gefaßt worden,
den englischen Vermittlungsvorschlag, der gestern von dem
deutschen Botschafter vorgelegt wurde, in sehr verbind-
licher Weise dahin zu beantworten, daß die Monarchie zwar
nicht abgeneigt sei, den englischen Vermittlungsvorschlag
in Erwägung zu ziehen; ihre kriegerische Aktion gegen
Serbien dürfe hiedurch jedoch keine Unterbrechung erfahren,
und die Monarchie müßte überdies es zur Bedingung für
ihr Eingehen auf den Vermittlungsantrag Sir E. Greys
machen, daß Rußland alle Mobilisierungsmaßnahmen sofort
einstelle und seine Reserven endasse.
Die Konferenz habe außerdem über eine Italien zu
gewährende Kompensation für den Fall beraten, daß sie zu
einer dauernden Besitzergreifung am Balkan genötigt wäre.
Es sei beschlossen worden, daß es angesichts der bedroh-
lichen Lage unbedingt notwendig sei, sich die loyale Koope-
ration Italiens zu sichern und zu diesem Ende, obwohl der
Artikel VII des Dreibundvertrages nach der eigenen Inter-
pretation auf den Kriegsfall mit Serbien nicht zur Anwendung
kommen könne, der hievon divergierenden Anschauung
Italiens — welcher sich auch Deutschland angeschlossen
habe — Rechnung zu tragen.
Hiebei sei namentlich die Eventualität der Zedierung
des albanischen Hafens von Valona in Erörterung gezogen
worden, wogegen seitens des anwesenden Admirals Kailer
unter der Voraussetzung keine schwerwiegenden Bedenken
erhoben worden seien, daß dieser Hafen nicht zu einem
Kriegshafen ausgestaltet werden dürfte.
Baron Conrad hoffe, Italien dazu zu bewegen, außer
der Erfüllung der Bundespflichten gegen Frankreich, der
Monarchie auch Truppen für Galizien zur Verfügung zu
stellen. Selbstredend könnten Kompensationen für Italien
nur dann ins Auge gefaßt werden, wenn es der Monarchie
gegenüber im Falle des lokalisierten Krieges eine freund-
schaftliche Haltung entgegenbringe, im Falle des euro-
päischen Krieges aber seinen Bundespflichten effektiv
nachkomme.
309
K«iser Wil-
helm im
Gespräche
mit dem
k. u. k. Le-
gationsrat
Grafen
Larisch
(1. August)
Depeschen-
wechsel
zwischen
den beiden
Herrschern.
Telegramm
Kaiser
Wilhelms
(31. Juli und
1. August)
Bei einem Spazierritte, den Kaiser Wilhelm am 1. August
im Tiergarten unternahm, fand er Gelegenheit, den k. u. k.
Legationsrat Grafen Larisch in ein längeres politisches
Gespräch zu ziehen '. Kaiser Wilhelm betonte zu wieder-
holten Malen, daß Österreich-Ungarn unbedingt seine Haupt-
macht mit allen verfügbaren Mitteln gegen Rußland richten
müsse, da nach den ihm zukommenden Nachrichten die
Truppenansammlungen an der russischen Grenze Riesen-
dimensionen annähmen. Weiters erwähnte der deutsche
Kaiser, daß die Tatsache der allgemeinen Mobilisierung
Rußlands ihn vollkommen überrascht hätte. Was die Haltung
Englands betreffe, so hätte König Georg selbst dem Prinzen
Heinrich bei dessen vor kurzem stattgefundenen Besuch
in England versichert, England werde bei einem Konflikt
der vier Kontinentalmächte nicht aktiv eingreifen; diese
königliche Versicherung habe jedoch Sir Edward Grey
24 Stunden später desavouiert, indem er dem deutschen
Botschafter erklärte, England könne nicht ruhig bleiben
und müsse seine „Alliierten" unbedingt unterstützen.
An Kaiser Franz Joseph war am 31. Juli nachmittags
von Kaiser Wilhelm das nachstehende Telegramm abge-
sendet worden:
„Der heute von mir angeordneten einleitenden Mobil-
„machung meines gesamten Heeres und meiner Marine -
„wird die definitive Mobilmachung in kürzester Frist folgen =.
„Ich rechne mit dem 2. August als ersten Mobilmachungstag
„und bin bereit, in Erfüllung meiner Bündnispflichten sofort
„den Krieg gegen Rußland zu beginnen. In diesem schweren
„Kampfe ist es von größter Wichtigkeit, daß Österreich seine
„Hauptkräfte gegen Rußland einsetzt und sich nicht durch
„eine gleichzeitige Offensive gegen Serbien zersplittert. Dies
„ist um so wichtiger, als ein großer Teil meines Heeres
„durch Frankreich gebunden sein wird. Serbien spielt
„in dem Riesenkampfe, in den wir Schulter an Schulter
1 Telegramm aus Berlin d. d. 1. August, 2 Uhr 50 Minuten p. m.,
Nr. 350.
- Übergang in den „drohenden Kriegszustand" am 31. Juli. (Vgl.
Seite 308.)
" Mobilmachungsbefehl 1. August 5 Uhr nachmittags.
310
„eintreten, eine ganz nebensächliche Rolle, die nur die
„allernötigsten Defensivmaßregeln erfordert. Ein Erfolg des
„Krieges und damit der Bestand unserer Monarchien kann
„nur erhofft werden, wenn wir beide den neuen mächtigen
„Gegnern mit voller Kraft entgegentreten. Ich bitte Dich
„ferner, alles zu tun, um Italien durch möglichstes Entgegen-
„kommen zur Teilnahme zu bewegen. Alles andere muß
„zurücktreten, damit der Dreibund gemeinsam in den Krieg
„eintritt.
Wilhelm."
•
Am 1. August, 5 Uhr 45 Minuten nachmittags, wurde an Antwo«-
den Grafen Szögyeny von Wien aus der Auftrag erteilt', '^°ZTZd
das folgende Antworttelegramm Kaiser Franz Josephs un- König
verzüglich an Kaiser Wilhelm gelangen zu lassen: Josephs
„Ich danke Dir, teuerer Freund, für Deine herzerfreuende ('• August)
„Mitteilung und bin in dieser ernsten Stunde mit Dir vereint '
„und bete zu Gott, daß er unseren verbündeten Armeen
„in ihrem Kampfe um die gerechte Sache den Sieg verleihe.
„Sobald mein Generalstab erfahren hat, daß Du ent-
„schlossen bist, den Krieg gegen Rußland sogleich zu be-
„ginnen und mit aller Kraft durchzuführen, stand auch hier
„der Entschluß fest, die überwiegenden Hauptkräfte gegen
„Rußland zu versammeln -. Mit Italien sind seitens meines
„Generalstabes Verhandlungen angebahnt, welche auf eine
„weitere Teilnahme italienischer Truppen am Dreibundkriege
„abzielen; eine fördernde Einflußnahme Deinerseits in dieser
„Hinsicht wäre dringend erwünscht.
' Entwurf des Telegramms d. d. 1. August, Protokoll Nr. 6073.
Expediert 1. August, 5 Uhr 45 Minuten p. m.
2 Die militärischen Ausführungen des Telegramms waren den Er- ,
wägungen entnommen, die der k. u. k. Chef des Generalstabes am
1. August eigenhändig auf einem besonderen Blatte aufgesetzt hatte. Diese
Aufzeichnungen hatten ursprünglich den folgenden — wegen der daraus
zu ziehenden Schlußfolgerungen — bemerkenswerten Wortlaut:
„Auch hier stand mit dem Momente, als Deutschland seinen Willen
„bestimmt kundgab, den großen Krieg tatsächlich sogleich zu beginnen,
„der Entschluß fest, die überwiegenden Hauptkräfte gegen Rußland zu
„versammeln, trotz der großen technischen Schwierigkeiten, welche da-
„durch entstehen, daß die Transporte nach Süden bereits im Laufen sind,
„was vor zwei Tagen noch hätte inhibiert werden können.
311
„Du kannst versichert sein, daß seitens meiner Armee
„das Äußerste geschehen wird, um den großen KampF zum
„erfolgreichen Ausgang zu führen. Mein Militärattache in
„Berlin berichtet heute über seinen gestrigen Empfang durch
„Dich. Ich bin hocherfreut und begeistert über Deine um-
„fassenden Vorkehrungen, um unsere Streitmacht durch den
„Anschluß neuer Verbündeter zu stärken '.
„Angesichts des Ernstes der Lage erhielt mein Bot-
„schafter in Rom bereits den Auftrag, der italienischen
„Regierung zu erklären, daß wir bereit sind, deren Inter-
„pretation des Artikels VII des Vertrages zu akzeptieren,*
„falls Italien seinen Bundespfiichten jetzt voll entspricht.
„Ich telegraphiere auch selbst an den König von Italien, um
„ihm zu sagen, daß wir nach dreißigjähriger Friedensarbeit
„darauf rechnen, daß die drei Verbündeten ihre Heere zu
„diesem Entscheidungskampfe vereinigen werden"-.
(Die Bemerkungen „trotz der großen technischen Schwierigkeiten
. . . ." bis: „inhibiert werden können", ebenso wie unten: „man ist . . . ."
bis: „Deutschlands dient" wurden im Ministerium des Äußern gestrichen.)
„Mit Italien sind seitens meines Generalstabes Verhandlungen an-
„gebahnt, welche auf eine weitere Teilnahme italienischer 'Truppen am
„Dreibundkrieg abzielen; eine fördernde Einflußnahme deutscherseits in
,dieser Hinsicht wäre dringend erwünscht.
„Deutschland möge versichert sein, daß hierorts militärischerseits
„das Äußerste geschehen wird, um den großen Kampf zum erfolgreichen
„Ausgang zu führen — man ist sich hier bewußt, daß die Aufnahme des
„Krieges durch die Hauptkräfte in Galizien zunächst vor allem der Rücken-
„deckung Deutschlands dient."
Aus diesen Ausführungen Baron Conrads ergibt sich die sachlich
wichtige Schlußfolgerung: Der deutsche Generalstab hat eine Beein-
flussung der Instradierung der österreichisch-ungarischen Armee nach dem
serbischen Kriegsschauplatze nicht vorgenommen; eine Maßnahme, die
für den Fall eines beabsichtigten gemeinsamen Angriffskrieges
gegen Rußland nicht hätte unterlassen werden können.
Die — im k. u. k. Ministerium des Äußern aus wohlverständlichen
Gründen gestrichene — Notiz Baron Conrads hinsichtlich der großen
technischen Schwierigkeiten, „welche dadurch entstehen, daß die
Transporte nach Süden bereits im Laufen sind, was vor zwei Tagen
noch hätte inhibiert werden können", involviert indirekt einen
Hinweis auf diese Unterlassung. (Vgl. Seite 181, 182.)
' Es handelt sich um die Bemühungen Kaiser Wilhelms zur Gewin-
nung Italiens, der Türkei, Griechenlands, Rumäniens und Bulgariens.
- Vgl. Seite 265.
«
312
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