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Full text of "Das Wiener kabinett und die entstehung des weltkrieges; mit ermächtigung des leiters des deutsch-österreichischen Staatsamtes für äusseres"

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DAS  WIENER  KABINETT 

UND  DIE  ENTSTEHUNG 

DES  WELTKRIEGES 


Mit  Ermächtigung  des  Leiters  des  Deutsch- 
österreichischen Staatsamtes  für  Äußeres  auf 
Grund  aktenmäßiger  Forschung  dargesteUt  von 

DR   RODERICH  GOOSS 


485227 

5-  7.-49 


9  1  9 


VERLAG  VON  L.  W.  SEIDEL  UND  SOHN  IN  WIEN 


Alle  Rechte,  insbesondere  das  der  Obersetzung  in  fremde  Sprachen, 

vorbehalten 

Copyright  by  L.  W.  Seidel  &  Sohn,  Wien   1919 


Deutschösterreichische  Staatsdruckerei.  780619 


VORWORT 

Der  Verfasser  vorliegender  Arbeit  erhielt  unmittelbar 
nach  erfolgtem  Zusammenbruche  der  österreichisch- 
ungarischen Monarchie  vom  Deutschösterreichischen  Staats- 
amt für  Äußeres  den  Auftrag,  eine  Zusammenstellung  der 
diplomatischen  Aktenstücke  zur  Vorgeschichte  des  Krieges 
1914  aus  den  Beständen  des  politischen  Archivs  des  ehe- 
maligen k.  u.  k.  Ministeriums  des  Äußern  in  Wien  zu 
besorgen.  Bei  der  Durchführung  dieser  Aufgabe  mußte  er 
sein  Augenmerk  auch  auf  alle  jene  Dokumente  richten,  die 
zwar  nicht  direkt  in  den  Rahmen  seiner  Arbeit  fielen, 
deren  Heranziehung  sich  aber  zum  erschöpfenden  Ver- 
ständnis des  ursächlichen  Zusammenhanges  der  diplo- 
matischen Aktionen  als  unerläßlich  erwies. 

In  der  vorstehenden  Publikation  werden  die  aus  dem 
erwähnten  Aktenmaterial  gewonnenen  Forschungsergebnisse 
bekanntgegeben.  Zu  einem  richtigen  Verstehen  der  Ereignisse 
bloß  auf  Grund  der  gedruckten  Urkundentexte  —  in 
erster  Linie  also  der  bisherigen  amtlichen  Veröffentlichungen 
der  einzelnen  Staaten  (Buntbücher)  —  zu  gelangen,  erscheint 
(schon  mit  Rücksicht  auf  ihre  jeweilig  zurechtgelegten  Texte) 
ausgeschlossen;  erst  das  eingehende  textkritische  Studium 
der  Originaldokumente  selbst  eröifnet  die  Möglichkeit 
eines  klaren  Erkennens.  Hiebei  kommt  den  Entwürfen 
eines  Dokumentes  vielfach  die  gleiche  Bedeutung  wie  seiner 
endgültigen  Fassung  zu.  Denn  die  letzten  Ideen  und 
Absichten  staatsmännischer  Konzeption  erhellen  gelegentlich 
nicht  aus  der  Reinschrift  eines  Aktes,  wohl  aber  aus  seiner 

111 


Vorlage  und  den  daran  vorgenommenen  inhaltlichen  und 
formalen  Umänderungen.  Der  Schlußfassung  eines  Doku- 
mentes (wie  sie  beispielsweise  in  den  amtlichen  Publika- 
tionen zum  Ausdrucke  gelangt)  ist  also  als  Quelle  geschicht- 
licher Erkenntnis  gegenüber  dem  Konzepte  ein  nur  bedingter 
Wert  einzuräumen;  ein  zutreffendes  Bild  ergibt  sich  bloß  aus 
dem  Studium  aller  Entstehungsphasen  und  der  sämtlichen 
inneren  und  äußeren  Merkmale  eines  Aktes. 

Die  Grundlage  der  Darstellung  bildet  der  Text 
der  Dokumente  selbst  —  wörtlich  zitiert  dort,  wo 
jedem  einzelnen  Worte  eine  Bedeutung  zukommt.  Da 
ein  erheblicher  Teil  —  auch  entscheidender  —  diplomatischer 
Aktionen  nur  mündlich  durchgeführt  wurde,  beziehungs- 
weise einen  aktenmäßigen  Niederschlag  nicht  hinterlassen 
hat,  bleibt  der  restlosen  Feststellung  aller  Geschehnisse 
von-  vornherein  eine  Grenze  gezogen.  Immerhin  führt  eine 
gewissenhafte  Durchforschung  sämtlicher  ein- 
schlägigen Stücke  zu  Resultaten,  denen  sich  kein  prüfen- 
der Leser  wird  entziehen  können. 

Als  besondere  Aufgabe  hat  sich  der  Autor  die  Klar- 
legung der  diplomatischen  Beziehungen  des  Wiener  Kabinetts 
zur  Deutschen  Regierung  gesetzt.  Daneben  läuft  die  Dar- 
stellung der  Verhandlungen  mit  den  übrigen  Kabinetten 
der  europäischen  Großmächte.  Die  Verhandlungen  mit  der 
Türkei  und  den  Balkanstaaten  —  Serbien  ausgenommen  — 
werden  nur  im  unerläßlich  notwendigen  Ausmaße  berück- 
sichtigt. Die  Darstellung  selbst  umfaßt  den  Zeitraum  von 
der  Ermordung  des  Erzherzog-Thronfolgers  Franz  Ferdinand 
(28.  Juni  1914)  bis  zur  Kriegserklärung  des  Deutschen 
Reiches  an  Rußland  (1.  August  1914).  (Die  weitere  Ent- 
wicklung der  internationalen  Konflagration  entsprang  dem 
herrschenden  Bündnissystem  der  europäischen  Mächte.) 
Unsere  Arbeit  bietet  also  eine  quellenkritische 
Darstellung  der  als  unmittelbarer  Kriegsanlaß  zu 
betrachtenden  Ereignisse  und  der  daraus  ent- 
springenden diplomatischen  Aktionen,  nicht  aber 
etwa  eine  erschöpfende  Darlegung  der  Kriegs- 
ursachen. Diese  selbst  erstrecken  sich  zeitlich  auf  voran- 
gehende ganze  Jahrzehnte  und  umspannen  die  Staatskanzleien 

IV 


aller  an  dem  Weltkrieg  beteiligten  Mächte'.  Hierüber  wird 
volle  Klarheit  erst  zu  gewinnen  sein,  wenn  die  diplomatischen 
und  militärischen  Archive  sämtlicher  in  Betracht  kommen- 
den Staaten  ihre  Bestände  einer  objektiven,  nach  wissen- 
schafdichen  Grundsätzen  arbeitenden  Geschichtsforschung 
rückhaltslos  zugänglich  gemacht  haben  werden. 

Wien,  im  September  1919. 

Der  Verfasser 


'  Vgl.  hiezu  die  Ausführungen  von  Jean  Debrit: et  ce  fut  la 

Guerre!  (Genf  1917): 

Durant  45  ans,  on  nous  repeta:  Le  veritable  auteur  d'une  guerre,  ce 
n'est  pas  celui  qui  la  declare,  mais  celui  qui  la  rend  in6vitable.  Ce 
principe  nous  a  toujours  semble  juste.  Nous  demandons  la  permission  de 
l'appliquer  ä  la  grande  guerre  et  nous  demandons  non  pas:  Qui  a  declare 
la  guerre?  mais:  Qui  donc  a  rendu  la  guerre  inevitable?  Et,  jusqu'ä 
l'arrivee  de  preuves  decisives  venant  modifier  nos  convictions,  nous 
sommes  tentes  de  repondre  aujourd'hui:  Tout  le  monde,  ä  des  degres, 
divers  peut-etre,  mais  d'une  diversite  insuffisante  pour  nous  autoriser  a 
condamner  Tun  des  accuses  comme  le  seul  auteur  du  crime. 


INHALT 

Seite 

I.  Von  der  Ermordung  des  Erzherzog -Thronfolgers  Franz 
Ferdinand  (28.  Juni  1914)  bis  zur  Überreichung  der  öster- 
reichisch-ungarischen Note  an  Serbien    (23.   Juh    1914)    .    .  1  — 137 

A.  Die    Verhandlungen    des    Wiener    Kabinetts    mit    der 
Berliner  Regierung  (28.  Juni  bis  Mitte  Juli) 3 —  45 

1.  Die    Denkschrift     des    Wiener    Kabinetts    über    die 

europäische  Lage 3 —  30 

2.  Die     Stellungnahme     Kaiser     Wilhelms      und     der 

deutschen   Regierung   zur   Denkschrift   des  Wiener 
Kabinetts 30—  37 

3.  Das  nächste  Ziel  des  Wiener  Kabinetts 37 —  45 

B.  Der  Ministerrat   für    gemeinsame   Angelegenheuen   vom 

7.  und  19.  Juli 45—  91 

1.  Die  bosnisch-herzegowinischen  Angelegenheiten    .    .    45 —  50 

2.  Der   Ministerrat    für    gemeinsame    Angelegenheiten 

vom  7.  Juli 50—  62 

3.  Der  Sonderstandpunkt  des  Grafen  Tisza 62 —  70 

4.  Die  k.  u.  k.  Regierung  und  die  europäischen  Kabinette    70—  83 

Belgrad 70—  72 

Berlin 73—  75 

Rom 75—  79 

Paris 79-^  81 

London 81—  82 

St.  Petersburg 82—  83 

5.  Der    Ministerrat    für    gemeinsame    Angelegenheiten 

vom  19.  Juli 84—  91 

C.  Die    österreichisch-ungarische    Note    an    Serbien    vom 

23.  Juli  1914 ...    91  —  137 

1.  Die  Genesis  der  Note 91  —  101 

2.  Die    Überreichung    der    Note    in    Belgrad    (23.   Juli, 

6  Uhr  nachmittags) 102—109 

3.  Die    österreichisch-ungarische    Zirkularnote    an    die 

Signatarmächte  vom  24.  Juli  1914 109—136 

Berlin 110-114 

Rom 114—127 

Paris 128—130 

London 130—134 

St.  Petersburg 134—136 

Verständigung  der  übrigen  k.  u.  k.  Missionen    .    .        137 

VII 


Seile 

U.  Von  der  Überreichung  der  österreichisch-ungarischen  Note 
in  Belgrad  (23.  Juli)  bis  zur  Kriegserklärung  Österreich- 
Ungarns  an  Serbien  (28.  Juli) 139—220 

A.  Die   Aufnahme   der   österreichisch-ungarischen   Zirkular- 

note vom  24.  Juli  und  die  Maßnahmen  der  europäischen 

Kabinette , 141—164 

Berlin 141  —  144 

Rom      144—146 

Paris 146—148 

London 148—150 

St.  Petersburg • 150—164 

B.  Die  serbische   Antwortnote    an    Österreich-Ungarn    vom 

12.25.  JuH  1914  und  der  Abbruch  der  diplomatischen 
Beziehungen  Österreich-Ungarns  zu  Serbien  (25.  Juli, 
6  Uhr  nachmittags) 165—168 

C.  Die  k.  u.  k.  Regierung  und  die   europäischen   Kabinette  168 — 216 

Berlin 168—183 

Rom      .    .-■ 183—193 

Paris 193—197 

London 197—205 

St.  Petersburg 205—216 

D.  Die    Kriegserklärung    Österreich-Ungarns     an     Serbien 

(28.  Juli   1914) 216—220 

III.  Von  der  Kriegserklärung  Österreich-Ungarns  an  Serbien 
(28.  Juli)  bis  zur  Kriegserklärung  des  Deutschen  Reiches 
an  Rußland  (1.  August) 221—312 

A.  Das  Berliner  Kabinett 223—256 

Beziehungen  Berlin— Wien— Rom 223—227 

Beziehungen  Berlin — Paris 227 — 228 

Beziehungen  Berlin— Wien— London 228—243 

Beziehungen  Berlin — Wien — Petersburg 243 — 256 

B.  Das  Wiener  Kabinett 256—312 

Verhandlungen  mit  Italien .      256 — 266 

Verhandlungen  mit  Frankreich 266 — 270 

Verhandlungen  mit  England 270 — 284 

Verhandlungen  mit  Rußland 284—301 

Der  Ministerrat   für  gemeinsame  Angelegenheiten  vom 

31.  Juli 301—306 

Die  österreichisch-ungarische   allgemeine  Mobilisierung  306 — 312 


vm 


I 


Von    der   Ermordung   des    Erzherzog-Thron- 
folgers Franz  Ferdinand   (28.  Juni   1914)  bis 
zur    Überreichung    der    österreichisch-ungari- 
schen Note  an  Serbien  (23.  JuH  1914) 


A.  Die  Verhandlungen  des  Wiener  Kabinetts  mit 
der  Berliner  Regierung  (28.  Juni  bis  Mitte  Juli) 

1.   Die   Denkschrift  des  Wiener  Kabinetts  über   die 
europäische  Lage 

Das    Attentat,    dem    der    Erzherzog- Thronfolger    Franz  Österreich- 
Ferdinand   in   Sarajevo    am   28.   Juni    1914   zum   Opfer   fiel,  "i°^7o°ß""^ 
hatte  weitgehenden  inner-  und  außenpolitischen  Plänen  "ein  serbische 
Ende  bereitet.  Seit  der  Ermordung  des  Königs  Alexander  '"■""p-'s"""^^ 
von  Serbien  und  insbesondere  seit  den  letzten  beiden  Balkan- 
kriegen hatte  sich  für  Österreich-Ungarn  der  Schwerpunkt 
der  orientalischen  Frage  mehr  und  mehr  nach  Belgrad,  dem 
Zentrum  der  großserbischen  Aspirationen,  verschoben.  Hier 
wieder   waren    die   serbischen    Staatsmänner   eifrig  bemüht, 
eine  Anlehnung  an  das  rumänische  Königreich  zu  suchen, 
dessen  —  vor  allem  aus  der  Nationalitätenpolitik  des  König- 
reiches   Ungarn    entspringende    —    Animosität    gegen    die 
bundesgenössische  Monarchie  seit  den  Tagen  des  Bukarester 
Friedens  eine  stete  Verschärfung  erfahren  hatte.  Eine  Klar- 
legung der  Beziehungen  der  Monarchie  zu  Serbien  und  zu 
Rumänien  erschien  am  Ballhausplatze  unaufschiebbar  geboten. 

Noch  im  Mai  1914  war  durch  den  im  k.  u.  k.  Ministerium  Das  Memoire 
des  Äußern  in  Dienstesverwendung  stehenden  außerordent-  '^"'"'°''"" 

o  ordentlichen 

liehen  Gesandten  und  bevollmächtigten  Minister  Baron  Flotow  Gesandten 
ein    Memoire    aufgesetzt    worden,    das    die    Rumänien    und  ""'"";™"" 

ö  '  machligtea 

Serbien    gegenüber   einzuschlagende  Politik  der  Monarchie  Ministers 
zum  Gegenstande  hatte: 

Die  äußere  politische  Lage  der  Monarchie  kranke  an  der 
trotz  des  geheimen  Bündnisses  bestehenden  Unklarheit  ihres 
Verhältnisses  zu  Rumänien.  Es  müsse  die  Tatsache  festgestellt 
werden,   daß    die   Monarchie   im   Falle   eines   kriegerischen 


Baron 
Flotow 


Konflikts  mit  Rußland  gegenwärtig  trotz  der  über  jeden 
Zweifel  erhabenen  Loyalität  des  Königs  Carol  nicht  nur 
nicht  auf  die  rumänische  Hilfe  zählen  könnte,  sondern  im 
Gegenteil  eine  etwaige  feindselige  Aktion  Rumäniens  in 
Rechnung  ziehen  müßte.  König  Carol  habe  zwar  dem 
k.  u.  k.  Gesandten  in  Bukarest  erklärt,  so  lange  er  lebe, 
würde  die  rumänische  Armee  nicht  gegen  Österreich-Ungarn 
ins  Feld  ziehen;  der  König  habe  aber  auch  offen  zugegeben, 
daß  er  gegen  die  gegenwärtig  herrschende  öffentliche  Meinung 
Rumäniens  nicht  Politik  machen  könne. 

In  Anbetracht  nun  der  augenfälligen,  durch  Frankreich 
energisch  unterstützten  Bemühungen  Rußlands,  ein  rumänisch- 
türkisches Bündnis  zustande  zu  bringen,  die  Gegensätze 
zwischen  der  Türkei  und  Griechenland  —  hauptsächlich 
durch  die  Vermittlung  Rumäniens  —  auszugleichen  und 
sohin,  dank  der  rumänisch-griechischen  Beziehungen, 
Griechenland  und  weiters  das  mit  ihm  verbündete  und  mit 
Rumänien  gleichfalls  befreundete  Serbien  zu  einem  poli- 
tischen Block  zu  vereinigen,  stehe  die  Monarchie  vor  der 
drohenden  Gefahr  des  Wiederauflebens  eines  unter  russi- 
scher Patronanz  sich  bildenden  Balkanbundes,  dessen  Spitze 
sich  nur  gegen  Österreich-Ungarn  wenden  würde  und  dessen 
Stoßkraft  in  dem  Augenblicke  erreicht  wäre,  als  das  auf 
die  Kniee  niedergedrückte  Bulgarien  sich  —  notgedrungen  — 
dieser  Gruppierung  anschließen  müßte.  Das  Entstehen  eines 
derartigen  Balkanbundes  könnte  geradezu  die  Existenz  des 
Dreibundes  in  Frage  stellen. 

Es  ergebe  sich  daher  die  ernste  Notwendigkeit,  die  mög- 
lichen diplomatischen  Vorkehrungen  in  Erwägung  zu  ziehen, 
die  den  auf  die  Bildung  eines  derartigen  Balkanbundes 
hinzielenden  Bestrebungen  Rußlands  und  Frankreichs  ent- 
gegengesetzt werden  könnten. 

Im  traditionellen  Geiste  der  äußeren  Politik  der  Monarchie 
erschiene  als  erste  und  vor  allem  anzustrebende  Möglichkeit 
eine  Klärung  ihres  Verhältnisses  zu  Rumänien.  Diese  Klärung 
würde  das  Wiener  Kabinett  in  einer  unzweideutigen  Mani- 
festation König  Carols,  beziehungsweise  seiner  Regierung 
zugunsten  des  Dreibundes  erblicken,  in  einer  Manifestation, 
die  durch  das  öffentliche  Bekenntnis  der  Zugehörigkeit  zum 


Dreibunde  dem  russischen  Gegenspiel  den  Boden  abgraben 
würde. 

Eine  solche  Erklärung  sei  indessen  in  Rumänien  höch- 
stens und  nur  gegen  weitere  politische  Zugeständnisse  zu 
erreichen.  Als  ein  solches  Zugeständnis  könnte  in  Betracht 
kommen:  eine  Erweiterung  des  bestehenden  Bündnis- 
vertrages nach  der  Richtung,  daß  Österreich-Ungarn 
Rumänien  seine  gegenwärtige  Grenze  Bulgarien  gegenüber 
garantiere. 

Mit  Rücksicht  auf  das  freundschaftliche  Verhältnis  Ru- 
mäniens zu  Serbien  könnte  es  König  Carol  beziehungsweise 
seiner  Regierung  überlassen  werden,  sich  für  eine  Annäherung 
Serbiens  an  die  Monarchie  zu  verwenden,  wobei  von  selten 
der'  Monarchie  (im  Rahmen  einer  solchen,  von  ihr  selbst 
angenommenen  politischen  Konstellation)  Serbien  gegenüber 
das  loyalste  Entgegenkommen  bewiesen  werden  würde.   . 

Sollte  man  in  Bukarest  auf  die  von  Österreich-Ungarn 
als  unumgänglich  nötig  erkannte  öffentliche  Klarlegung  des 
Verhältnisses  zu  Rumänien  nicht  eingehen,  so  wäre  die 
Monarchie  gezwungen,  sogleich  und  ohne  Verzug  alle  Kon- 
sequenzen zu  ziehen,  die  sich  für  dieselbe  einem  gegebenen- 
falls sogar  feindlich  auftretenden  Nachbarn  gegenüber  als 
notwendig  ergeben  würden  '. 

Gleichzeitig  mit  den  militärischen  Vorkehrungen  müßten 
die  diplomatischen  Bemühungen  der  Monarchie  einerseits 
auf  das  Zustandebringen  einer  bulgarisch-türkischen  Allianz, 
andrerseits  auf  eine  bündnismäßige  Heranziehung  Bulgariens 
an  Österreich-Ungarn  und  an  den  Dreibund  gerichtet  sein. 

Es  erschiene  verderblich,  durch  eine  untätige  Politik  des 
Abwartens  die  Dinge  heranreifen  zu  lassen  und  allen  jenen 
freies  Spiel  zu  gewähren,  deren  sich  immer  mehr  und  mehr 
verdichtende  Arbeit  auf  eine  Zertrümmerung  der  Macht- 
stellung der  Monarchie  hinweise. 

Wenn  in  dem  gegenwärtigen  politischen  Augenblicke,  in 
dem  Rußland  und  Frankreich  so  intensiv  an  der  Arbeit 
seien,  Rumänien  der  Monarchie  nicht  die  Garantie  gebe 
oder  geben  zu  können  glaube,  daß  der  Bündnisvertrag,  der 

1  An  dieser  Stelle  sollten  in  ein  im  Konzept  freigelassenes  Spatium 
die  gegenständlichen  militärischen  Erwägungen  eingefügt  werden. 


bilateral  geschlossen  wurde,  auch  bilateral  gehalten  werde, 
so  dränge  sich  der  Monarchie  die  Pflicht  auf,  sich  eines- 
teils gegen  feindliche  Angriffe  zu  sichern,  andrerseits  sich 
anderer  Hilfen  zu  vergewissern. 

Diese  Darlegungen  Baron  Flotows  wurden  in  der  Folge 
durch  Notizen  des  kompetenten  Referenten,  des  k.  u.  k. 
außerordentlichen  Gesandten  und  bevollmächtigten  Ministers 
Pogatscher  ergänzt.  Sie  pflichteten  den  ursprünglichen  Aus- 
führungen ohne  jede  namhafte  Änderung  bei. 

Aus  den  Erwägungen  der  angeführten  Denkschrift  erhellt 
die  beachtenswerte  Tatsache,  daß  sie  in  ihrer  Argumen- 
tation einer  Annäherung  Serbiens  an  die  Monarchie  auf 
dem  Wege  einer  Vermittlung  durch  König  Carol  die  Bahn 
frei  ließ. 
Abskhi  des  Jn  der  FoTge  wurde  der  im  k.  u.  k.  Ministerium  des 
,ener    a-    y^yßg,.^  bestehende  Vorsatz'     ein  Elaborat  über  die  Fragen 

binetts,  ein  '  o 

Eiaboratüber  dcr  BalkanpoHtik  in  Berlin  vorzulegen,  der  Verwirklichung 

fra  fnTn"     zugcführt.    Mit    der    Abfassung    der    geplanten    Denkschrift 

Berlin  vorzu-  bctrautc  Graf  Berchtold  —  ungefähr  gegen  Mitte  Juni  1914  — 

'°*"  den    k.  u.  k.  Sektionsrat  Baron  Matscheko.    Bei  fallweiser 

Verwertung   des   Flotow-Pogatscherschen  Memoires   sollten 

die  gegenständlichen  Gedankengänge    des  Wiener  Kabinetts 

auf  breiterer  Basis  auseinandergesetzt  werden. 

Denkschrifi,         Das   vor   dcm  24.  Juni  im  Konzept   erliegende   —    und 

k"v'^l  's^el!-  '"  ^^^  Hauptsache    auch    in    der   endgültigen  Fassung    bei- 

tionsrat        behaltene  ~    Elaborat-  ging  von  einer  Beurteilung  des  Ge- 

■  Baron  Mai-    samtcrgcbnisses   der  Balkankrise,   vom  Standpunkte  Öster- 

scheko.  Erste  ö  7  r- 

Fassung        rcich-Ungams  sowie  des  Dreibundes  betrachtet,  aus: 

I  Vgl.  den  Passus  eines  Schreibens  des  Chefs  des  Kabinetts*  des 
Ministers,  k.  u.  k.  Legationsrates  Grafen  A.  Hoyos,  an  den  k.  u.  k.  Bot- 
schafter in  Konstantinopel  Markgrafen  Pallavicini  d.  d.  Wien,  26.  Juni  1914: 
,, Unterdessen  wird  ein  langes  Memorandum  für  Berlin  ausgearbeitet,  das 
demnächst  abgehen  soll,  und  der  Minister  (Graf  Berchtold)  tut  sein 
Mögliches,  Tschirschky  die  Augen  zu  öffnen  .  .  .  ."  (C.  d.  M.  465,1914. » 

-  Da  die  Denkschrift  von  anderer  Seite  in  der  Zeitschrift  „Deutsche 
Politik"  (1919,  Heft  21,  Seite  649  bis  659),  ferner  im  Weißbuch  betreffend 
die  Verantwortlichkeit  der  Urheber  am  Kriege  (Berlin,  Juni  1919),  Seite  61 
bis  69,  veröffentlicht  wurde,  beschränken  wir  uns  hier  auf  die  Wieder- 
gabe ihrer  für  unsere  Darstellung  wichtigen  Ausführungen. 


Den  Aktivposten  der  Bilanz  stünden  nachteilige  gegen- 
über, die  schwerer  als  jene  ins  Gewicht  fielen. 

Serbien,  dessen  Politik  seit  Jahren  von  hostilen  Tendenzen 
gegen  Österreich-Ungarn  geleitet  werde  und  das  ganz  unter 
russischem  Einfluß  stehe,  habe  einen  Zuwachs  an  Gebiet 
und  Bevölkerung  erreicht,  der  die  eigenen  Erwartungen 
weit  übertroffen  hätte;  durch  die  territoriale  Nachbarschaft 
mit  Montenegro  und  durch  das  allgemeine  Erstarken  der 
großserbischen  Idee  sei  die  Möglichkeit  einer  weiteren  Ver- 
größerung Serbiens  im  Wege  der  Union  mit  Montenegro 
wesentlich  nähergerückt.  Rumänien  sei  durch  die  Ereignisse 
zu  einer  Kooperation  mit  Serbien  gedrängt  worden,  aus 
welcher  eine  dauernde,  wenn  auch  auf  bestimmte  Fragen 
beschränkte  rumänisch-serbische  Solidarität  zurückgeblieben 
sei.  Dies  und  der  gleichzeitig  in  der  öffentlichen  Meinung 
Rumäniens  eingetretene  Umschwung  zu  Gunsten  Rußlands 
ließen  es  zum  mindesten  als  zweifelhaft  erscheinen,  ob 
Rumänien  im  gegebenen  Moment  nicht  statt  als  Freund, 
als  Gegner  des  Dreibundes  auftreten  werde. 

Während  die  Balkankrise  somit  zu  Resultaten  geführt 
habe,  die  an  sich  schon  für  den  Dreibund  keineswegs  günstig 
seien  und  den  Keim  einer  speziell  für  Österreich-Ungarn 
bedenklichen  weiteren  Entwicklung  in  sich  trügen,  ^ehe 
man  andrerseits,  daß  die  russische  und  französische  Diplo- 
matie eine  einheitliche  und  planmäßige  Aktion  eingeleitet 
habe,  um  die  errungenen  Vorteile  weiter  auszugestalten  und 
einzelne  noch  ungünstige  Momente  zu  modifizieren. 

Ein  flüchtiger  Überblick  über  die  europäische  Lage  lasse 
klar  erkennen,  weshalb  sich  die  Ententemächte  —  hierunter 
seien  vor  allem  Rußland  und  Frankreich  zu  verstehen, 
denn  England  habe  seit  der  Balkankrise  eine  reservierte 
Haltung  eingenommen  —  mit  den  zu  ihren  Gunsten  ein- 
getretenen Verschiebungen  am  Balkan  noch  keineswegs 
zufrieden  geben  könnten. 

Der  Gedanke,  die  christlichen  Balkanvölker  von  der 
türkischen  Herrschaft  zu  befreien,  um  sie  dann  als  Waffe 
gegen.  Zentraleuropa  zu  gebrauchen,  sei  von  altersher  der 
realpolitische  Hintergrund  des  traditionellen  Interesses 
Rußlands    für    diese    Völker.     In    neuerer    Zeit    habe    sich 


hieraus  die  Idee  entwickelt,  die  Bailianstaaten  zu  einem 
Balkanbund  zu  vereinigen,  um  auf  diese  Weise  die  mili- 
tärische Superiorität  des  Dreibundes  aus  der  Welt  zu 
schaffen.  Die  erste  Vorbedingung  für  die  Verwirklichung 
dieses  Planes,  die  Türkei  aus  den  von  den  christlichen 
Balkannationen  bewohnten  Gebieten  zu  verdrängen,  damit 
die  Kraft  dieser  Staaten  vermehrt  und  nach  Westen  hin 
frei  werde,  sei  durch  den  letzten  Krieg  im  Großen  und 
Ganzen  erfüllt  worden. 

Es  erscheine  durchaus  verständlich,  daß  Rußland  und 
Frankreich,  wie  aus  übereinstimmenden  Meldungen  und 
markanten  äußeren  Vorgängen  zu  ersehen  sei,  seit  Monaten 
am  Bosporus  wie  in  allen  Balkanhauptstädten  eine  intensive 
diplomatische  Tätigkeit  entfalteten,  um  die  Zweiteilung  der 
Balkanstaaten  (die  Türkei  und  Bulgarien  einerseits,  Serbien, 
Montenegro,  Griechenland  und  Rumänien  andrerseits)  zu 
beseitigen  und  sie  alle,  oder  doch  die  entscheidende  Mehr- 
zahl von  ihnen,  zu  einem  neuen  Balkanbund  mit  der  Front 
gegen  Westen  zu  vereinigen. 

Über  die  Grundlage,  auf  welcher  sich  nach  den  Ab- 
sichten der  russischen  und  französischen  Diplomatie  der 
neue  Balkanbund  aufbauen  solle,  könne  kein  Zweifel  be- 
stehen. Ein  Bündnis  der  Balkanstaaten  könne  sich  unter 
den  gegebenen  Verhältnissen,  da  eine  gemeinsame  Aktion 
gegen  die  Türkei  nicht  mehr  in  Betracht  komme,  nur 
gegen  einen  Gegner,  nämlich  gegen  Österreich-Ungarn, 
richten,  und  andrerseits  könne  ein  solches  Bündnis  nur 
auf  der  Basis  eines  Programms  zustande  gebracht  werden, 
das  in  letzter  Linie  auf  Kosten  der  territorialen  Integrität 
der  Monarchie  allen  Teilnehmern  durch  eine  stafFehveise 
Verrückung  der  Grenzen  von  Ost  nach  West  Gebiets- 
erweiterungen in  Aussicht  stelle.  Eine  Einigung  der 
Balkanstaaten  auf  einer  anderen  Grundlage  sei  kaum 
denkbar,  auf  dieser  Basis  aber  gewiß  nicht  ausgeschlossen, 
ja  ohne  wirksame  Gegenaktion  nicht  einmal  unwahr- 
scheinlich. 

Daß  Serbien  unter  russischem  Druck  darauf  eingehen 
würde,  für  den  Eintritt  Bulgariens  in  ein  gegen  die  Monarchie 
gerichtetes,   auf   den  Erwerb  Bosniens  abzielendes  Bündnis 


in  Mazedonien  einen  angemessenen  Preis  zu  bezahlen,  sei 
wohl  nicht  zu  bezweifeln. 

Größer  seien  die  Schwierigkeiten  in  Sofia. 

Mazedonien  spiele  in  der  inneren  und  äußeren  Politik 
Bulgariens  eine  eminente  Rolle  und  dessen  Wiedergewinn 
sei  geradezu  eine  nationale  Forderung.  Wenn  es  sich  daher 
einmal  herausstellen  sollte,  daß  der  von  Rußland  proponierte 
friedliche  Ausgleich  und  das  Bündnis  mit  Serbien  der  ein- 
zige Weg  seien,  um  wenigstens  Teile  Mazedoniens  für  die 
bulgarische  Sache  zu  retten,  werde  trotz  der  erlittenen 
Enttäuschungen  keine  bulgarische  Regierung  es  wagen 
können,  diese  Kombination  zurückzuweisen.  Nur  eine  Aktion, 
die  Bulgarien  den  russischen  Drohungen  und  Lockungen 
gegenüber  das  Rückgrat  stärke  und  das  Land  vor  Isolierung 
bewahre,  könnte  somit  verhindern,  daß  Bulgarien  schließlich 
auf  die  Balkanbundpläne  einginge. 

Was  nun  Rumänien  anbelange,  so  habe  dort  die  russisch- 
französische Aktion  schon  während  der  Balkankrise  mit 
voller  Intensität  eingesetzt;  sie  habe  die  öffentliche  Meinung 
durch  erstaunliche  Verdrehungskünste  und  durch  geschickte 
Anfachung  der  unter  der  Oberfläche  stets  fortglimmenden 
großrumänischen  Idee  in  eine  feindselige  Stimmung  gegen 
die  Monarchie  hineingetrieben  und  die  auswärtige  Politik 
Rumäniens  zu  einer  mit  dem  Bündnis  mit  der  Monarchie 
kaum  in  Einklang  stehenden  Kooperation  und  Solidarität 
mit  Serbien  veranlaßt. 

Die  Unklarheit,  die  sich  daraus  bei  unverändertem  for- 
mellen Fortbestand  des  Bündnisses  in  dem  Verhältnisse 
Rumäniens  zu  Österreich-Ungarn  entwickelte,  stelle  an  sich 
schon  einen  höchst  wichtigen  Erfolg  der  russisch-französischen 
Machenschaften  dar.  Damit  konnte  sich  die  Diplomatie  Ruß- 
lands und  Frankreichs  jedoch  nicht  begnügen,  da  es  sich  ihr 
ja  darum  handelte,  Rumänien  zu  einer  offensiven  Politik  gegen 
die  Monarchie  und  zum  eventuellen  Anschluß  an  den  neu  zu 
errichtenden  Balkanbund  zu  bewegen.  Die  beiden  Entente- 
mächte seien  deshalb  auch  weiter  eifrigst  bemüht,  die 
Regierung  und  die  öffentliche  Meinung  Rumäniens  für  ihre 
Ziele  zu  gewinnen.  Obwohl  hiebei  zu  so  eindrucksvollen  und 
demonstrativen    Mitteln,    wie    dem    Besuche   des    Zaren    in 

9 


Constantza,  gegriffen  wurde,  habe  diese  Aktion,  wie  ja  bei  der 
Loyalität  König  Carols  und  angesichts  des  bestehenden  Bünd- 
nisses mit  dem  Dreibunde  nicht  anders  zu  erwarten,  ein  volles 
Abs(^hwenken  der  offiziellen  rumänischen  Politik  zur  Entente 
bis  jetzt  nicht  erreicht.  Dagegen  könne  nach  den  Äußerungen 
der  Presse  und  den  Demonstrationen,  die  sich  in  den  letzten 
Monaten  in  verschiedenen  Orten  ereigneten,  nicht  daran 
gezweifelt  werden,  daß  es  den  planmäßigen  Einflüssen  der 
Ententemächte  gelungen  sei,  weite  Kreise  der  Armee,  der 
Intelligenz  und  des  Volkes  für  eine  neue  Orientierung  der 
rumänischen  Politik  zu  gewinnen,  die  sich  die  „Befreiung  der 
Brüder  jenseits  der  Karpathen"  zum  Ziele  zu  setzen  hätte.  Es 
müsse  sich  erst  zeigen,  ob  sich  die  von  König  Carol  per-  ^ 
sönlich  geleitete  auswärtige  Politik  Rumäniens  auf  die  Dauer 
dem  Einfluß  dieser  populären  nationalen  Strömungen  ent- 
ziehen könne. 

Resümierend  lasse  sich  feststellen,  daß  Rußland  und 
Frankreich  auf  der  ganzen  Linie  und  mit  großen  Aussichten 
auf  Erfolg  intensiv  bemüht  seien,  die  Balkanstaaten  zu  einem 
Bündnis  zu  vereinigen,  das  sich  zunächst  gegen  Österreich- 
Ungarn  richten  würde,  in  letzter  Konsequenz  aber  das  Mittel 
darstelle,  Rußland  und  Frankreich  im  Vereine  mit  dem  Bal- 
kanbunde das  militärische  Übergewicht  über  den  Dreibund  zu 
verschaffen. 

Abgesehen  von  dieser  für  die  Zweibundmächte  günstigen, 
für  Österreich-Ungarn  wie  für  Deutschland  und  den  Drei- 
bund überhaupt  nicht  unbedenklichen  Perspektive  für  die 
Zukunft,  hätten  Rußland  und  Frankreich  es  auch  verstanden, 
aus  der  infolge  der  Balkankrise  eingetretenen  Entwicklung 
schon  für  die  Gegenwart  einen  wichtigen  positiven  Vorteil 
zu  ziehen.  In  der  auswärtigen  Politik  Rumäniens  habe  sich 
hauptsächlich  durch  russischen  und  französischen  Einfluß 
eine  Schwenkung  vollzogen  und  damit  sei  das  Bündnis- 
system an  einem  sehr  empfindlichen  Punkt  geschwächt 
worden,  auf  welchem  die  Sicherheit  der  Machtstellung  der 
Monarchie,  gleichzeitig  aber  auch  die  Stabilität  der  be-  . 
stehenden  politischen  Verhältnisse  in  Europa  beruhe. 

Die  Änderung  des  Kurses  der  rumänischen  Politik  sei 
allerdings  nicht  so  weit  gegangen,    daß  Rumänien  von  der 

10 


bisherigen  Dreibundpolitiiv  ganz  abgeschwenict  und  Ruß- 
land und  Frankreich  gegenüber  bindende  Verpflichtungen 
eingegangen  wäre.  Allein,  während  früher  kein  Grund  be- 
stand, an  der  integralen  Erfüllung  der  aus  dem  geheimen 
Bündnis  mit  dem  Dreibund  entspringenden  Verpflichtungen 
durch  Rumänien  zu  zweifeln,  hätten  kompetente  rumänische 
Stellen  in  letzter  Zeit  mehrfach  die  öffentliche  Erklärung 
abgegeben  —  und  eben  infolge  der  Geheimhaltungsklausel 
des  Bündnisvertrages  konnten  die  Dreibundmächte  hiegegen 
keine  Rekriminationen  erheben  — ,  daß  der  leitende  Gedanke 
der  rumänischen  Politik  das  Prinzip  der  freien  Hand  sei. 
Ebenso  habe  schon  vor  Jahresfrist  König  Carol  mit  der 
Loyalität  und  Offenheit,  die  seiner  vornehmen  Gesinnung 
entspreche,  dem  k.  u.  k.  Gesandten  erklärt,  die  rumänische 
Armee  werde  zwar  solange  e  r  lebe,  gegen  Österreich- 
Ungarn  nicht  ins  Feld  ziehen,  allein  gegen  die  öffentliche 
Meinung  des  heutigen  Rumänien  könne  er  nicht  Politik 
machen,  und  es  sei  daher  im  Falle  eines  Angriffes  Rußlands 
gegen  die  Monarchie  trotz  des  bestehenden  Bündnisses  an 
eine  Aktion  Rumäniens  an  der  Seite  Österreich-Ungarns 
nicht  zu  denken.  Um  einen  Schritt  weiter  sei  —  be- 
zeichnenderweise unmittelbar  nach  dem  Zarenbesuche  in 
Constantza  —  der  rumänische  Minister  des  Äußern  gegangen, 
indem  er  in  einem  Interview  offen  zugab,  daß  eine  An- 
näherung Rumäniens  an  Rußland  erfolgt  sei,  ja  daß  eine 
Interessengemeinschaft  zwischen  den  beiden  Staaten  bestehe. 
Das  Verhältnis  Österreich-Ungarns  zu  Rumänien  sei 
somit  gegenwärtig  dadurch  charakterisiert,  daß  die  Monarchie  ' 
ganz  auf  dem  Boden  des  Bündnisses  stehe  und  nach  wie 
vor  bereit  sei,  Rumänien  im  Falle  des  Casus,  foederis  mit 
ganzer  Macht  zu  unterstützen,  daß  Rumänien  aber  sich  von 
den  Bündnispflichten  einseitig  lossage  und  der  Monarchie 
lediglich  eine  neutrale  Stellung  zugestehe.  Selbst  die  bloße 
Neutralität  Rumäniens  sei  der  Monarchie  nur  durch  eine 
persönliche  Zusage  Königs  Carols  garantiert,  die  natürlich 
nur  für  die  Dauer  seiner  Regierung  von  Wert  sei,  deren 
Erfüllung  aber  überdies  davon  abhänge,  daß  der  König  die 
Leitung  der  auswärtigen  Politik  stets  vollkommen  in  der 
Hand    behalte  ~    eine   Aufgabe,    die    in    Zeiten    nationaler 

11 


Erregung  des  ganzen  Landes  die  Kraft  eines  dem  Volke 
nicht  stammverwandten  Monarchien  leicht  übersteigen  könnte. 

Sich  mit  dieser  einseitig  verschobenen  Situation  ruhig 
abzufinden  und  abwartend  der  weiteren  Entwicklung  gegen- 
überzustehen, verbiete  der  Monarchie  nicht  nur  die  Rück- 
sicht auf  ihr  Prestige  als  Großmacht,  dies  sei  ihr  auch  aus 
militärisch-politischen  Gründen  unmöglich.  Der  militärische 
Wert  des  Bündnisses  mit  Rumänien  bestand  bisher  für  die 
Monarchie  darin,  daß  sie  im  Konfliktsfalle  mit  Rußland 
gegen  dieses  von  der  rumänischen  Seite  her  völlig  freie 
Hand  gehabt  hätte,  während  ein  ansehnlicher  Teil  der 
russischen  Heeresmacht  durch  den  Angriff  der  flankierenden 
rumänischen  Armee  gebunden  worden  wäre.  Das  heutige 
Verhältnis  Rumäniens  zur  Monarchie  hätte  jedoch,  würde 
jetzt  zwischen  ihr  und  Rußland  ein  bewaffneter  Konflikt 
ausbrechen,  so  ziemlich  das  Gegenteil  zur  Folge.  Rußland 
hätte  nun  auf  keinen  Fall  einen  Angriff  Rumäniens  zu 
befürchten  und  würde  gegen  Rumänien  kaum  einen  Mann 
aufstellen  müssen,  während  Österreich-Ungarn  der  rumäni- 
schen Neutralität  nicht  ganz  sicher  sein  könnte  und  deshalb 
gezwungen  wäre,  ein  entsprechendes  Aufgebot  an  Truppen 
gegen  das  jetzt  an  seiner  Flanke  befindliche  Rumänien 
zurückzubehalten.  Die  Fortdauer  der  ungeklärten  Beziehungen 
zu  Rumänien  wäre  daher  damit  gleichbedeutend,  daß  der 
Wert  des  rumänischen  Bündnisses  für  die  Monarchie  illu- 
sorisch, ja  negativ  bliebe,  während  sie  ihrerseits  eben  durch 
die  Rücksicht  auf  das  formell  noch  bestehende  Bundesver- 
hältnis zu  Rumänien  daran  gehindert  wäre,  rechtzeitig  politische 
Aktionen,  wie  die  Heranziehung  anderer  Staaten,  und 
militärische  Maßnahmen,  wie  die  Befestigung  der  sieben- 
bürgischen  Grenze,  einzuleiten,  um  die  nachteiligen  Wir- 
kungen der  Neutralität  und  eventuellen  Feindseligkeit  des 
Nachbarkönigreiches  aufzuheben  oder  wenigstens  abzu- 
schwächen. 

Die  Monarchie  habe  di^  Schwenkung  der  rumänischen 
Politik  in  Bukarest  bisher  nicht  in  nachdrücklicher  Weise 
zur  Sprache  gebracht,  sondern  sich  von  der  auch  vom 
deutschen  Kabinett  vertretenen  Auffassung  leiten  lassen, 
daß  es  sich   um  Folgeerscheinungen    gewisser  Mißverständ- 

12 


nisse  aus  der  Zeit  der  Krise  liandle,  die  sich  automatisch 
zurückbilden  würden,  wenn  man  ihnen  gegenüber  Ruhe  und 
Geduld  beobachte.  Nunmehr  habe  sich  aber  ergeben,  daß 
von  einer  Taktik  ruhigen  Abwartens  und  freundschaftlicher 
Vorstellungen  eine  Besserung  nicht  zu  erwarten  sei. 

Es  wäre  daher  eine  nicht  zu  verantwortende  Sorglosig- 
keit, die  wichtige  Interessen  der  Reichsverteidigung  aufs 
Spiel  setzen  würde,  wenn  sich  die  Leitung  der  auswärtigen 
Politik  der  Monarchie  gegenüber  den  in  Rumänien  zutage 
getretenen  Erscheinungen  weiterhin  mehr  oder  weniger 
passiv  verhalten  und  nicht  in  der  energischesten  Weise  auf 
eine  Klärung  der  Situation  dringen  würde. 

Mit  der  Notwendigkeit,  zu  diesem  Zwecke  Maßnahmen 
zu  ergreifen,  falle  sachlich  wie  zeitlich  zusammen  die  Not- 
wendigkeit, eine  Aktion  einzuleiten,  um  die  von  den  Zwei- 
bundmächten planmäßig  betriebene  Errichtung  eines  Balkan- 
bundes zu  vereiteln.  Beide  Fragen  hingen  dadurch  aufs 
Innigste  zusammen,  daß  es  von  der  positiven  oder  negativen 
Klarstellung  des  Verhältnisses  zu  Rumänien  abhinge,  von 
welchem  Punkte  aus  und  in  welcher  Richtung  den  Balkan- 
bundplänen entgegenzutreten  sein  werde.  Weitere  Passivität 
in  der  rumänischen  Frage  würde  eine  wirksame  Gegenaktion 
hinsichtlich  des  Balkanbundes  ausschließen  und  den  inten- 
siven Bestrebungen  Rußlands  und  Frankreichs  vollkommen 
freies  Spiel  lassen.  Die  Situation  sei  heute  so  weit  gediehen, 
daß  eine  solche  Gegenaktion  ohne  Aufschub  einsetzen  müsse, 
solle  sie  sich  nicht  von  vornherein  vor  vollendete  Tat- 
sachen gestellt  sehen. 

An  den  langjährigen  Traditionen  ihrer  auswärtigen  Politik 
festhaltend,  würde  die  Monarchie  mit  einer  offenen  Aus- 
sprache mit  Rumänien  in  erster  Linie  das  Ziel  verfolgen, 
das  Königreich  für  eine  Politik  des  ehrlichen  Anschlusses 
an  Österreich-Ungarn  wieder  zu  gewinnen  und  verläßliche 
Bürgschaften  für  die  volle  Erfüllung  der  Bündnispflichten  von 
ihm  zu  verlangen.  Es  müßte  in  Bukarest  das  Verlangen  gestellt 
werden,  daß  Rumänien  auf  die  Geheimhaltung  des  Bundes- 
verhältnisses zum  Dreibund  verzichte  und  daß  diese  Tatsache 
durch  eine  unzweideutige  Manifestation  König  Carols  oder 
der  rumänischen  Regierung  öffentlich, bekanntgegeben  werde. 

13 


Nur  wenn  die  öffentliche  Meinung  in  Rumänien  auf  diese 
Art  über  die  politische  Zugehörigkeit  des  Königreiches  orien- 
tiert würde  und  diese  Politik  durch  ihre  Zustimmung  ge- 
wissermaßen ratifiziert  hätte,  wäre  dem  russisch-französischen 
Gegenspiel  Einhalt  getan  und  könnte  Österreich -Ungarn 
wieder  vertrauensvoll  das  Bundesverhältnis  zu  Rumänien  zum 
Angelpunkt  seiner  Balkanpolitik  machen. 

Bei  der  heutigen  Situation  sei  es  ohne  weiteres  klar,  daß  das 
vom  Zweibund  umworbene  Rumänien,  wenn  überhaupt,  so  nur 
gegen  gewichtige  Vorteile  zur  Wiederaufnahme  seiner  offenen 
Dreibundpolitik  zu  bewegen  wäre  und  daß  daher  ein  solches 
öffentliches  Bekenntnis  zum  Dreibund  und  damit  zur  öster- 
reichisch-ungarischen Monarchie  nur  durch  weitere,  über  den 
Rahmen  des  gegenwärtigen  Bündnisvertrages  hinausgehende 
politische  Zugeständnisse  erlangt  werden  könnte. 

Die  Monarchie  wäre  daher  geneigt,  Rumänien  als  Gegen- 
leistung ihrerseits  die  Garantie  des  rumänischen  Besitzstandes 
gegenüber  Bulgarien  anzubieten.  Sollte  Rumänien  auf  den 
Fortbestand  seines  gegenwärtigen  freundschaftlichen  Verhält- 
nisses zu  Serbien  Gewicht  legen,  so  könnte  Österreich- 
Ungarn  in  Bukarest  auch  die  Versicherung  abgeben,  daß  es 
eine  von  Rumänien  in  Belgrad  unternommene  Aktion,  welche 
auf  eine  Änderung  der  Haltung  Serbiens  gegenüber  der  Mon- 
archie abzielen  würde,  seinerseits  durch  eine  entgegenkom- 
mende Haltung  Serbien  gegenüber  auf  politischem  und  wirf- 
schaftlichem  Gebiete  zu  fördern  bereit  sei.  Damit  wäre  aber 
das  Maß  der  Zugeständnissei  an  Rumänien,  die  für  die  Mon- 
archie zum  Zweck  der  Wiederherstellung  eines  beiderseits 
wirklich  vertrauenswürdigen  Bundesverhältnisses  in  Betracht 
kämen,  erschöpft  und  es  sei  selbstverständlich,  daß  zum  Bei- 
spiel die  innerpolitischen  Verhältnisse  Österreichs  oder  Un- 
garns von  den  Besprechungen  mit  der  rumänischen  Regierung 
unbedingt  ausgeschlossen  bleiben  müßten. 

Österreich-Ungarn  würde  in  Bukarest  zwar  einen  durchaus 
freundschaftlichen  Ton  anschlagen,  andrerseits  aber  Rumänien 
nicht  darüber  im  Unklaren  lassen,  daß  es  eine  Fortdauer  des 
gegenwärtigen  Zustandes,  welcher  eine  einseitige  Verschiebung 
der  aus  dem  Bündnis  entspringenden  Rechte  und  Pflichten 
zu   Gunsten   Rumäniens  bedeute,   unter  keinen    Umständen 

14 


zulassen  könne.  Rumänien  würde  auch  darüber  nicht  im 
Unklaren  gelassen  werden,  daß  die  Monarchie,  falls  man 
sich  in  Bukarest  zu  einer  öffentlichen  Manifestation  für 
die  Zugehörigkeit  Rumäniens  zum  Dreibunde  nicht  ent- 
schließen könnte,  daraus  alle  Konsequenzen  hinsichtlich 
ihrer  politischen  Aktionsfreiheit  ableiten  müßte. 

Politisch  würde  es  sich  darum  handeln,  ein  Gegen- 
gewicht gegen  das  in  das  Lager  des  Zweibundes  über- 
gegangene Rumänien  zu  schaffen.  Dies  könnte  nur  dadurch 
geschehen,  daß  die  Monarchie  auf  die  seit  langer  Zeit  ge- 
stellten und  mehrfach  wiederholten  Anerbieten  Bulgariens 
einginge  und  mit  diesem  in  ein  vertragsmäßiges  Verhältnis 
trete.  Gleichzeitig  müßte  danach  getrachtet  werden,  ein 
Bündnis  zwischen  Bulgarien  und  der  Türkei  zustande  zu 
bringen. 

Hand  in  Hand  damit  müßte  die  Monarchie  unverzüglich 
daranschreiten,  für  den  Fall  eines  europäischen  Krieges 
mihtärische  Vorkehrungen  zum  Schutze  der  Grenze  gegen 
Rumänien  zu  treffen  '.  Auch  in  dieser  Hinsicht  sei  es  für 
die  Monarchie  dringend  notwendig,  die  künftige  Haltung 
Rumäniens  ohne  Verzug  unzweideutig  festzustellen,  da  die 
bisherigen  militärischen  Vorkehrungen  für  kriegerische 
Eventualitäten  mit  der  gegenwärtigen  Situation  nicht  im 
Einklang  stünden  und  je  nach  dem  Ergebnis  der  Aussprache 
mit  Rumänien  ohne  Aufschub  modifiziert  werden  müßten, 
wobei  ganz  besonders  ins  Gewicht  falle,  daß  speziell  fortifi- 
katorische  Grenzschutzbauten  eine  beträchtliche  Vorberei- 
tungszeit erforderten. 

Die  Frage  der  Klarstellung  des  Verhältnisses  zu  Rumä- 
nien sei  jedoch,  wenn  sie  auch  ihre  Interessen  in  erster 
Reihe  berühre,  nicht  eine  Angelegenheit  der  Monarchie 
allein,  vielmehr  eine  solche  des  ganzen  Dreibundes  und 
vor  allem  des  eng  verbündeten  Deutschen  Reiches. 

Das  Gleiche  gelte  von  den  auf  die  Errichtung  des 
Balkanbundes  abzielenden  Plänen  des  Zweibundes. 

'  Diese  militärischen  Maßnahmen  (vor  allem  die  Befestigung  der 
siebenbürgischen  Grenze)  sollten  —  wie  es  an  dieser  Stelle  im  Entwürfe 
hieß  —  in  einem  beigelegten  Memoire  des  Näheren  dargelegt  werden. 
(Vgl.  Seite  5,  25  ff.) 

15 


Nicht  nur  aus  Rücksichten,  die  aus  der  Tradition  und 
dem  engen  Bundesverhäitnis  entsprängen,  lege  daher  Öster- 
reich-Ungarn den  größten  Wert  darauf,  bevor  es  an  die 
entscheidende  Aussprache  mit  Rumänien  herantrete,  mit 
dem  Deutschen  Reiche  ein  volles  Einvernehmen  herzustellen, 
sondern  auch  darum,  weil  wichtige  Interessen  Deutschlands 
und  des  Dreibundes  überhaupt  hier  mit  im  Spiel  seien  und 
weil  eine  erfolgreiche  Wahrung  dieser  in  letzter  Konsequenz 
gemeinsamen  Interessen  nur  zu  erwarten  sei,  wenn  der 
einheitlichen  zielbewußten  und  planmäßigen  Aktion  Rußlands 
und  Frankreichs  eine  ebenso  einheitliche  Gegenaktion  des 
Dreibundes,  insbesondere  Österreich-Ungarns  und  des 
Deutschen  Reiches,  entgegengesetzt  werde. 

Denn,  wenn  Rußland,  von  Frankreich  unterstützt,  die 
Balkanstaaten  gegen  Österreich-Ungarn  zu  vereinigen  trachte, 
wenn  es  die  bereits  erreichte  Trübung  des  Verhältnisses  zu 
Rumänien  zu  vertiefen  bestrebt  sei,  so  richte  sich  diese 
Feindseligkeit  nicht  allein  direkt  gegen  die  Monarchie,  die 
allerdings  durch  tiefgehende  Gegensätze  von  Rußland  ge- 
trennt sei,  sondern  nicht  zuletzt  gegen  den  Bundesgenossen 
des  Deutschen  Reiches,  gegen  den  durch  seine  geographische 
Lage  und  innere  Struktur  exponiertesten,  Angriffen  am 
meisten  ausgesetzten  Teil  des  zentraleuropäischen  Blocks, 
der  Rußland  den  Weg  zur  Verwirklichung  seiner  welt- 
politischen Pläne  sperre. 

Die  militärische  Superiorität  der  beiden  Kaisermächte 
durch  Hilfstruppen  vom  Balkan  her  zu  sprengen,  sei  das 
Ziel  Rußlands,  aber  nicht  das  letzte  Ziel. 

Wenn  man  die  Entwicklung  Rußlands  in  den  letzten 
zwei  Jahrhunderten  überblicke,  wenn  man  seinen  enormen 
Aufschwung  an  Bevölkerung,  Gebiet,  wirtschaftlicher  und 
militärischer  Macht  übersehe  und  bedenke,  daß  dieses  große 
Reich  noch  immer  durch  seine  Lage  und  durch  Verträge 
vom  freien  Meer  so  gut  wie  abgeschnitten  sei,  dann  erkenne 
man  die  Notwendigkeit  des  der  russischen  Politik  seit  jeher 
eigentümlichen  aggresiven  Charakters. 

Trotz  der  enormen  Rüstungen  und  kriegerischen  Vor- 
bereitungen,  wie    dem  Ausbau   strategischer  Bahnen   gegen 

16 


Westen,  könne  man  Rußland  vernünftigerweise  Eroberungs- 
pläne gegen  das  Deutsche  Reich  nicht  zumuten. 

Allein  Rußland  habe  erkannt,  daß  die  Verwirklichung 
seiner  einer  inneren  Notwendigkeit  entspringenden  Absichten 
in  Europa  und  Asien,  am  Bosporus,  in  Persien,  Kleinasien 
und  Mesopotamien  in  erster  Linie  wichtige  Interessen 
Deutschlands  verletzen  und  daher  auf  dessen  Widerstand 
stoßen  müßte. 

Die  Politik  Rußlands  sei  durch  unveränderliche  Ver- 
hältnisse bedingt  und  deshalb  eine  stetige  und  weitaus- 
blickende. 

Die  manifesten  Einkreisungstendenzen  Rußlands  gegen 
die  Monarchie,  die  keine  Weltpolitik  treibe,  hätten  den  End- 
zweck, dem  Deutschen  Reich  den  Widerstand  gegen  jene 
Ziele  Rußlands  und  gegen  seine  politische  und  wirtschaft- 
fiche  Suprematie  unmöglich  zu  machen. 

Deshalb  könne  die  Auffassung  nur  als  kurzsichtig 
bezeichnet  werden,  von  der  ausgehend  in  jüngster  Zeit 
gegen  die  Politik  des  Deutschen  Reiches  in  Deutschland 
selbst  der  Vorwurf  erhoben  wurde,  daß  sie  lediglich  aus 
Bundestreue  für  spezifisch  österreichisch-ungarische  Inter- 
essen eintrete,  welche  dem  deutschen  Interessenkreis  ferne 
lägen. 

Und  aus  diesen  Gründen  sei  die  Leitung  der  auswärtigen 
Politik  Österreich-Ungarns  auch  davon  überzeugt,  daß  es 
ein  gemeinsames  Interesse  der  Monarchie  wie  nicht  minder 
Deutschlands  sei,  im  jetzigen  Stadium  der  Balkankrise 
rechtzeitig  und  energisch  einer  von  Rußland  geförderten 
und  angestrebten  Entwicklung  entgegenzutreten,  die  später 
vielleicht  nicht  mehr  rückgängig  zu  machen  wäre. 

In  seiner  ersten  Fassung  wurde  das  Konzept  der  Denk-  zweite 
Schrift  vom  Autor  selbst  mit  einigen  Abänderungen  ver-  ''"^^""^ 
sehen,  deren  —  am  24.  Juni  fertiggestellte  —  Reinschrift 
die  zweite  Textierung  des  Elaborates  darstellt.  Hinsichtlich 
der  die  Entwicklung  der  europäischen  Krise  hauptsächlich 
bestimmenden  Materie  —  der  Regelung  der  österreichisch- 
ungarischen Beziehungen  zu  Serbien  —  behielt  der  Text 
die  in  der  ersten  Fassung  vertretene,  auf  dem  Wege  über 
Rumänien    zu    bewirkende,    freundschaftliche   Beeinflussung 

2  17 


told 


Serbiens  zu  einer  Änderung  seiner  Haltung  der  Monarchie 
gegenüber  bei». 
Redaktion  In    ihrer  zweiten  Fassung  wurde    die   DenlcscJirift  Graf 

l"rift'^du,ch  Berchtold  vorgelegt/  Er  unterzog  das  Elaborat  im  Ver- 
Gr..f  Bcroh.  laufe  der  Tage  nach  dem  24.  Juni  einer  Überprüfung 
und  veranlage  (nach  Vornahme  einiger  sonstigen  eigen- 
händigen Korrekturen)  eine  spezielle  Neubearbeitung  jenes 
Teiles  der  Ausführungen,  der  die  Gestaltung  der  Beziehun- 
gen der  Monarchie  zu  Rumänien  behandelte.  Der  ein- 
schlägige Text  lautete  nunmehr  in  der  endgültigen  For- 
mulierung: 

„Die  Monarchie  hat  sich  bisher  darauf  beschränkt,  die 
„Schwenkung  der  rumänischen  Politik  in  Bukarest  in  freund- 
„schaftlicher  Weise  zur  Sprache  zu  bringen,  sich  im  übrigen 
„aber  nicht  veranlaßt  gesehen,  aus  dieser  immer  deutlicheren 
„Kursänderung  Rumäniens  ernste  Konsequenzen  zu  ziehen; 
„das  Wiener  Kabinett  hat  sich  hiezu  in  erster  Linie  dadurch 
„bestimmen  lassen,  daß  die  deutsche  Regierung  die  Auffassung 
„vertrat,  es  handle  sich  um  vorübergehende  Schwankungen, 
„Folgeerscheinungen  gewisser  Mißverständnisse  aus  der  Zeit 
„der  Krise,  die  sich  automatisch  zurückbilden  würden,  wenn 
„man  ihnen  gegenüber  Ruhe  und  Geduld  bewahrt.  Es  hat 
„sich  aber  gezeigt,  daß  diese  Taktik  ruhigen  Abwartens 
„und  freundschaftlicher  Vorstellungen  nicht  die  gewünschte 
„Wirkung  hatte,  daß  sich  der  Prozeß  der  Entfremdung 
„zwischen  Österreich-Ungarn  und  Rumänien  nicht  zurück- 
„gebildet,  sondern  im  Gegenteil  beschleunigt  hat.  Daß  von 
„dieser   Taktik    auch    für   die   Zukunft    eine    Wendung    im 

1  Die  betreffenden  Ausführungen  lauteten  jetzt  (sachlich  analog  der 
ersten  Formulierung,  vgl.  Seite  14):    . 

Die  Monarchie  wäre  geneigt,  Rumänien  als  Gegenleistung  (des  öffent- 
lichen Bekenntnisses  zum  Dreibund)  ihrerseits  die  Garantie  des  rumäni- 
schen Besitzstandes  gegenüber  Bulgarien  anzubieten.  Sollte  Rumänien 
ferner  mit  Rücksicht  auf  seine  freundschaftlichen  Verhältnisse  zu  Serbien 
darauf  Gewicht  legen,  so  könnte  die  Monarchie  in  Bukarest  auch  die 
Versicherung  abgeben,  daß  sie  eine  von  Rumänien  in  Belgrad  unter- 
nommene Aktion,  welche  auf  eine  Änderung  der  Haltung  Serbiens  gegen- 
über der  Monarchie  abzielen  würde,  ihrerseits  durch  Entgegenkommen 
auf  politischem  und  wirtschaftlichem  Gebiete  Serbien  gegenüber  lu 
fördern  bereit  sei. 

18 


„günstigen  Sinne  nicht  zu  erwarten  ist,  dafür  spricht  schon 
„der  Umstand,  daß  die  gegenwärtige  Situation  der  „freien 
„Hand"  für  Rumänien  durchaus  vorteilhaft  und  nur  für  die 
„Monarchie  nachteilig  ist. 

„Es  drängt  sich  nun  die  Frage  auf,  ob  Österreich-Ungarn 
„das' Verhältnis  zu  Rumänien  noch  durch  eine  offene  Aus- 
„einandersetzung  sanieren  könnte,  indem  es  das  Königreich 
„vor  die  Wahl  stellt,  entweder  alle  Brücken  zum  Dreibund 
„abzubrechen  oder  —  etwa  durch  Bekanntmachung  seiner 
„Zugehörigkeit  zum  Dreibunde  —  ausreichende  Bürgschaften 
„dafür  zu  geben,  daß  die  aus  der  Allianz  entspringenden 
„Verpflichtungen  auch  von  seiner  Seite  voll  und  ganz  erfüllt 
„werden  würden.  Eine  solche  Lösung  der  Frage,  die  eine 
,, dreißigjährige  Tradition  wieder  aufleben  ließe,  würde  sicher- 
„lich  den  Wünschen  Österreich-Ungarns  am  meisten  ent- 
„sprechen.  Unter  de,n  gegebenen  Verhältnissen  ist  es  aber 
„leider  wenig  wahrscheinlich,  daß  sich  König  Carol  oder 
„irgendeine  rumänische  Regierung,  selbst  gegen  eine  even- 
„tuelle  Erweiterung  des  gegenwärtigen  Bündnisvertrages,  dazu 
„bereit  finden  würde,  der  herrschenden  Volksstimmung  zum 
„Trotz,  Rumänien  öffentlich  als  Bundesgenossen  des  Drei- 
„bundes  hinzustellen.  Ein  kategorisches  aut-aut  seitens  der 
„Monarchie  könnte  daher  zum  offenen  Bruch  führen.  Ob 
„es  dem  deutschen  Kabinett  durch  ernste  und  nachdrück- 
„liche  Vorstellungen,  eventuell  verbunden  mit  einem  An- 
„erbieten  im  obigen  Sinne,  gelingen  würde,  Rumänien  zu 
„einer  Stellungnahme  zu  veranlassen,  die  als  eine  verläßliche 
„Garantie  für  seine  dauernde  und  volle  Bundestreue  an- 
„gesehen  werden  könnte,  läßt  sich  von  Wien  aus  nicht  leicht 
„beurteilen,  erscheint  aber  wohl    gleichfalls    als   zweifelhaft. 

„Unter  diesen  Umständen  kann  die  Möglichkeit  praktisch 
„als  ausgeschlossen  gelten,  das  Bündnis  mit  Rumänien 
„wieder  so  verläßlich  und  tragfähig  zu  gestalten,  daß  es  für 
,, Österreich-Ungarn  das  Pivot  seiner  Balkanpolitik  bilden 
„könnte.  , 

„Es  wäre  nicht  nur  zwecklos,  sondern  bei  der  politischen 
„und  militärischen  Bedeutung  Rumäniens  eine  nicht  zu  ver- 
„antwortende  Sorglosigkeit,  die  wichtige  Interessen  der 
, Reichsverteidigung  aufs  Spiel  setzen  würde,  wenn  sich  die 

19 


„Monarchie  gegenüber  den  in  Rumänien  zutage  getretenen 
„Erscheinungen  weiterhin  mehr  oder  weniger  passiv  ver- 
„hahen  und  nicht  ohne  Aufschub  die  erforderlichen  mili- 
„tärischen  Vorbereitungen  und  politischen  Aktionen  einleiten 
„würde,  um  die  Wirkungen  der  Neutralität  und  eventuellen 
„Feindseligkeit  Rumäniens  aufzuheben  oder  wenigstens 
„abzuschwächen. 

„Der  militärische  Wert  des  Bündnisses  mit  Rumänien 
„bestand  für  die  Monarchie  darin,  daß  sie  im  Konfliktsfalle 
„mit  Rußland  gegen  dieses  von  der  rumänischen  Seite  her 
„militärisch  völlig  freie  Hand  gehabt  hätte,  während  ein 
„ansehnlicher  Teil  der  russischen  Heeresmacht  durch  den 
„Angriff  der  flankierenden  rumänischen  Armee  gebunden 
„worden  wäre.  Das  heutige  Verhältnis  Rumäniens  zur 
„Monarchie  hätte  jedoch,  würde  jetzt  zwischen  ihr  und 
„Rußland  ein  bewaffneter  Konflikt  ausbrechen,  so  ziemlich 
„das  Gegenteil  zur  Folge.  Rußland  hätte  nun  auf  keinen 
„Fall  einen  Angriff  Rumäniens  zu  befürchten  und  würde 
„gegen  Rumänien  kaum  einen  Mann  aufstellen  müssen, 
„während  Österreich-Ungarn  der  rumänischen  Neutralität 
„nicht  ganz  sicher  und  deshalb  gezwungen  wäre,  ein  ent- 
„sprechendes  Aufgebot  an  Truppen  gegen  das  jetzt  an 
„seiner  Flanke  befindliche  Rumänien  zurückzubehalten. 

„Die  bisherigen  militärischen  Vorkehrungen  Österreich- 
„Ungarns  für  den  Fall  eines  Konfliktes  mit  Rußland  basierten 
„auf  der  Voraussetzung  der  Kooperation  Rumäniens.  Ist 
„diese  Voraussetzung  hinfällig,  ja  nicht  einmal  eine  absolute 
„Sicherheit  vor  einer  rumänischen  Aggression  gegeben,  so 
„muß  die  Monarchie  für  den  Kriegsfall  andere  Dispositionen 
„treffen  und  auch  die  Anlage  von  Befestigungen  gegen 
„Rumänien  in  Betracht  ziehen. 

„Politisch  handelt  es  sich  darum,  Rumänien  durch  Taten 
„zu  beweisen,  daß  wir  in  der  Lage  sind,  für  die  Balkan- 
„politik  Österreich-Ungarns  einen  anderen  Stützpunkt  zu 
„schaffen.  Sachlich  und  zeidich  deckt  sich  die  zu  diesem 
„Zweck  einzuleitende  Aktion  mit  der  Notwendigkeit,  gegen 
„die  von  den  Zweibundmächten  betriebene  Errichtung  eines 
„neuen  Balkanbundes  wirksame  Maßnahmen  zu  ergreifen. 
„Das  eine  wie  das  andere  kann  bei  der  heutigen  Lage  am 

20 


„Balkan  nur  dadurch  erreicht  werden,  daß  die  Monarchie 
„auf  die  schon  vor  einem  Jahre  gestelhen  und  seither 
„mehrfach  wiederholten  Anerbieten  Bulgariens  eingeht  und 
„mit  diesem  in  ein  vertragsmäßiges  Verhältnis  tritt.  Gleich- 
„zeitig  müßte  die  Politik  der  Monarchie  danach  trachten, 
„ein  Bündnis  zwischen  Bulgarien  und  der  Türkei  zustande 
„zu  bringen,  wofür  in  beiden  Staaten  bis  vor  kurzem  noch 
„so  günstige  Dispositionen  herrschten,  daß  ein  Vertrags- 
„instrument,  wenn  es  auch  später  nicht  unterzeichnet  wurde, 
„bereits  ausgearbeitet  war. 

„Auch  in  dieser  Hinsicht  könnte  eine  Fortsetzung  der 
„bisherigen  abwartenden  Haltung,  zu  welcher  sich  die 
„Monarchie  durch  eine  viel  weitergehende  Rücksichtnahme 
„auf  das  Bündnis,  als  sie  in  Bukarest  an  den  Tag  gelegt 
„wurde,  bestimmen  ließ,  von  nicht  wieder  gutzumachendem 
„schweren  Nachteil  sei,n.  Weiteres  Zuwarten  und  namendich 
„das  Unterbleiben  einer  Gegenaktion  in  Sofia  würde  den 
„Intensiven  und  planmäßigen  Bestrebungen  Rußlands  und 
„Frankreichs  vollkommen  freies  Spiel  lassen.  Die  Haltung 
„Rumäniens  drängt  die  Monarchie  geradezu  mit  Notwendig- 
„keit  dahin,  Bulgarien  jene  Anlehnung,  die  es  seit  langem 
„sucht,  zu  gewähren,  um  den  sonst  kaum  abzuwendenden 
„Erfolg  der  russischen  Einkreisungspolitik  zu  vereiteln.  Dies 
„muß  aber  eben  geschehen,  solange  der  Weg  nach  Sofia 
„und  auch  nach  Konstantinopel  noch  offen  steht. 

„Der  Vertrag  mit  Bulgarien,  dessen  nähere  Bestimmungen 
„noch  eingehender  zu  prüfen  sein  werden,  wird  im  allge- 
„meinen  natürlich  so  abzufassen  sein,  daß  er  die  Monarchie 
„nicht  in  Widerstreit  mit  ihren  vertragsmäßigen  Verpflich- 
„tungen  Rumänien  gegenüber  zu  bringen  vermag.  Auch 
„wäre  dieser  Schritt  der  Monarchie  vor  letzterem  nicht 
„geheim  zu  halten,  da  ja  darin  keine  Feindseligkeit  gegen 
„Rumänien  gelegen  ist,  wohl  aber  eine  ernste  Warnung, 
„durch  die  sich  die  maßgebenden  Faktoren  in  Bukarest  der 
„ganzen  Tragweite  einer  dauernden  einseitigen  politischen 
„Abhängigkeit  von  Rußland  bewußt  werden  könnten. 

„Bevor  Österreich-Ungarn  aber  an  die  in  Rede  stehende 
„Aktion  herantritt,  legt  es  den  größten  Wert  darauf,  mit  dem 
„Deutschen    Reiche   ein    volles  Einvernehmen    herzustellen, 

21 


„und  zwar  nicht  nur  aus  Rücksichten,  die  der  Tradition  und 
„dem  engen  Bundesverhäitnis  entspringen,  sondern  vor  allem 
„deshalb,  weil  wichtige  Interessen  Deutschlands  und  des 
„Dreibundes  überhaupt  hier  mit  im  Spiele  sind  und  weil 
„eine  erfolgreiche  Wahrung  dieser  in  letzter  Konsequenz 
„gemeinsamen  Interessen  nur  zu  erwarten  ist,  wenn  der 
„einheitlichen  Aktion  Rußlands  und  Frankreichs  eine  ebenso 
„einheitliche  Gegenaktion  des  Dreibundes,  insbesondere 
„Österreich-Ungarns  und  des  Deutschen  Reiches,  entgegen- 
„gesetzt  wird. 

„Denn  wenn  Rußland,  von  Frankreich  unterstützt,  die 
„Balkanstaaten  gegen  Österreich-Ungarn  zu  vereinigen 
„trachtet,  wenn.es  die  bereits  erreichte  Trübung  des  Ver- 
„hältnisses  zu  Rumänien  zu  vertiefen  bestrebt  ist,  so  richtet 
„sich  diese  Feindseligkeit  nicht  allein  gegen  die  Monarchie 
„als  solche,  sondern  nicht  zuletzt  gegen  den  Bundesgenossen 
„des  Deutschen  Reiches,  gegen  den  durch  seine  geogra- 
„phische  Lage  und  innere  Struktur  exponiertesten,  Angriffen 
„am  meisten  zugänglichen  Teil  des  zentraleuropäischen 
„Blocks,  der  Rußland  den  Weg  zur  Verwirklichung  seiner 
„weltpolitischen  Pläne  sperrt. 

„Die  militärische  Superiorität  der  beiden  Kaisermächte 
„durch  Hilfstruppen  vom  Balkan  her  zu  brechen,  ist  das 
„Ziel  des  Zweibundes,   aber  nicht  das  letzte  Ziel  Rußlands. 

„Während  Frankreich  die  Schwächung  der  Monarchie 
„anstrebt,  weil  es  hiervon  eine  Förderung  seiner  Revanche- 
„bestrebungen  erwartet,  sind  die  Absichten  des  Zarenreiches 
„noch  weit  umfassender. 

„Wenn  man  die  Entwicklung  Rußlands  in  den  letzten 
„zwei  Jahrhunderten,  die  stetige  Erweiterung  seines  Gebietes, 
„das  enorme,  alle  anderen  europäischen  Großmächte  Weit 
„überflügelnde  Anwachsen  seiner  Volkszahl  und  die  ge- 
„waltigen  Fortschritte  seiner  wirtschaftlichen  Ressourcen  und 
„militärischen  Machtmittel  überblickt  und  bedenkt,  daß 
„dieses  große  Reich  durch  seine  Lage  und  durch  Verträge 
jjVom  freien  Meer  noch  immer  so  gut  wie  abgeschnitten 
„ist,  dann  begreift  man  die  Notwendigkeit  des  der  russischen 
„Politik  seit  jeher  immanenten  aggressiven  Charakters. 

22 


„Man  kann  Rußland  vernünftigerweise  territoriale  Er- 
„oberungspläne  gegen  das  Deutsche  Reich  nicht  zumuten ; 
„trotzdem  sind  die  außergewöhnlichen  Rüstungen  und 
„kriegerischen  Vorbereitungen,  der  Ausbau  strategischer 
„Bahnen  gegen  Westen  etc.,  in  Rußland  sicherlich  mehr  noch 
„gegen  Deutschland  als  gegen  Österreich-Ungarn  gerichtet. 

„Denn  Rußland  hat  erkannt,  daß  die  VerwirkHchung 
„seiner  einer  inneren  Notwendigkeit  entspringenden  Pläne 
„in  Europa  und  Asien  in  erster  Linie  höchst  wichtige  Inter- 
„essen  Deutschlands  verletzen  und  daher  auf  dessen  un- 
„ausweichlichen  Widerstand  stoßen  müßte. 

„Die  Politik  Rußlands  ist  durch  unveränderliche  Ver- 
„hältnisse  bedingt  und  deshalb  eine  stetige  und  weitaus- 
„blickende. 

„Die  manifesten  Einkreisungstendenzen  Rußlands  gegen 
„die  Monarchie,  die  keine  Weltpolitik  treibt,  haben  den 
„Endzweck,  dem  Deutschen  Reiche  den  Widerstand  gegen 
„jene  letzten  Ziele  Rußlands  und  gegen  seine  politische  und 
„wirtschaftliche  Suprematie  unmöglich  zu  machen." 

Den  Appell  an  die  Interessengemeinschaft  der  Monarchie 
und  des  Deutschen  Reiches  beibehaltend,  schloß  die  Denk- 
schrift < : 

„Aus  diesen  Gründen  ist  die  Leitung  der  auswärtigen 
„Politik  Österreich-Ungarns  auch  davon  überzeugt,  daß  es 
„ein  gemeinsames  Interesse  der  Monarchie  wie  nicht 
„minder  Deutschlands  ist,  im  jetzigen  Stadium  der  Balkan- 
„krise  rechtzeitig  und  energisch  einer  von  Rußland  plan- 
„mäßig  angestrebten  und  geförderten  Entwicklung  entgegen- 
„zutreten,  die  später  vielleicht  nicht  mehr  rückgängig  zu 
„machen  wäre." 

In  dem  Kernpunkte  ihrer  Ausführungen  lassen  sich  die 
gegenüber  der  Darstellung  der  beiden  Entwürfe  vollzogenen 
Umänderungen  der  Schlußredaktion  dahin  zusammenfassen: 

Der  Modalität  einer  Regelung  der  Beziehungen  der 
Monarchie    zu    Serbien     auf    dem    Wege    über    Bukarest 

•  Der  in  den  beiden  Entwürfen  Baron  Matschekos  vorangehende 
Absatz  —  ablehnende  Beui'teilung  der  ausschließlich  deutsche  Interessen 
vertretenden  politischen  Auffassung  gewisser  Kreise  in  Deutschland 
selbst  (vgl.  Seite   17)  —  entfiel  aus  naheliegenden  Gründen. 

23 


äer  Denk- 
schrift 


geschieht  keine  Erwähnung  mehr,  da  die  weitere  Tragföhig- 
keit  des  Bündnisses  der  Monarchie  mit  Rumänien  selbst  in 
Frage  gestellt  erscheint.  Als  Ahwehrmittel  der  die  Mon- 
archie von  Seite  Serbiens  und  durch  die  Errichtung  eines 
neuen  Balkanbundes  bedrohenden  Gefahren  wird  jetzt  in 
erster  Reihe  der  vertragsmäßige  Anschluß  Bulgariens  an 
die  eigene  Kräftegruppe  erachtet. 

Die    Denkschrift    hatte    kaum    ihre    endgültige    Fassung 
gefunden,    als    in  Wien    die  Nachricht    von  der  Ermordung 
des  Thronfolgers  einlangte.    Sie    bot  dem  Wiener  Kabinette 
Veranlassung,  die  folgenden  Bemerkungen  anzufügen: 
Postskript  „Die  vorliegende  Denkschrift  war  eben  fertiggestellt,  als 

„die  furchtbaren  Ereignisse  von  Sarajevo  eintraten. 

„Die  ganze  Tragweite  der  ruchlosen  Mordtat  läßt  sich 
„heute  kaum  überblicken.  Jedenfalls  ist  aber,  wenn  es 
„dessen  noch  bedurft  hat,  hierdurch  der  unzweifelhafte 
„Beweis  für  die  Unüberbrückbarkeit  des  Gegensatzes  zwischen 
„der  Monarchie  und  Serbien  sowie  für  die  GePährlichkeit 
„und  Intensität  der  vor  nichts  zurückschreckenden  groß- 
„serbischen  Bestrebungen  erbracht  worden. 

„Österreich-Ungarn  hat  es  an  gutem  Willen  und  Entgegen- 
„kommen  nicht  fehlen  lassen,  um  ein  erträgliches  Verhältnis 
„zu  Serbien  herbeizuführen.  Es  hat  sich  aber  neuerlich 
„gezeigt,  daß  diese  Bemühungen  ganz  vergeblich  waren  und 
„daß  die  Monarchie  auch  in  Zukunft  mit  der  hartnäckigen, 
„unversöhnlichen  und  aggressiven  Feindschaft  Serbiens  zu 
„rechnen  haben  wird. 

„Um  so  gebieterischer  tritt  an  die  Monarchie  die  Not- 
„wendigkeit  heran,  mit  entschlossener  Hand  die  Fäden  zu 
„zerreissen,  die  ihre  Gegner  zu  einem  Netze  über  ihrem 
„Haupte  verdichten  wollen." ' 


'  Die  sachlich  und  nach  den  Ergebnissen  der  Textkritik  auch  formell 
durchaus  nicht  ausgeschlossene  chronologische  Feststellung  seitens  einer 
Persönlichkeit,  „die  über  die  Politik  des  Wiener  Auswärtigen  Amtes  in  der 
Zeit  vor  Kriegsausbruch  infolge  ihrer  damaligen  Stellung  aufs  Genaueste 
orientiert  ist"  (vgl.  „Neue  Freie  Presse"  vom  16.  Jänner  1919),  die 
Schlußredaktion  der  Denkschrift  sei  erst  nach  dem  28.  Juni  besorgt 
worden,  ließe  sich  restlos  nur  durch  eine  positive,  auf  den  Tag  bestimmte 
Angabe   über  die  vollzogene  Fertigstellung  der  endgültigen  Fassung  der 

24 


Als  Ergänzung  dieser  politischen  Denkschrift  hatte  nach  Ergänzendes 
der  Absicht  Graf  Berchtoids  ein  Memoire  zu  dienen ',   das,  [)*7°'chef! 
gleichfalls    für    den    Monarchen    und    für    Kaiser    Wilhelm  des  cenerai- 
bestimmt,  die  militärische  Seite  einer  eventuellen  Feindselig-  '""'"'" 
keit   Rumäniens  in  einem    europäischen  Kriege   beleuchten 
sollte.  Graf  Rerchtold  wandte  sich  zu  diesem  Zwecke  am 

1.  Juli,  auf  ein  seinerzeitiges  Gespräch  zurückgreifend,  an 
den  k.  u.  k.  Chef  des  Generalstabes  Freiherrn  Conrad 
von  Hötzendorf  mit  dem  Anliegen,  das  gesagte  Memoire  je  eher 
zur  Verfügung  zu  stellen,  da  die  Erörterung  dieser  Fragen 
mit  dem  deutschen  Bundesgenossen  dringend  geboten  sei 
und  das  Memoire  Kaiser  Wilhelm  eventuell  schon  bei  seinem 
bevorstehenden  Aufenthalt  in  Wien  unterbreitet  werden  solle. 

Die  abverlangte  Ausarbeitung  wurde  Graf  Berchtold  am 

2.  Juli  zugeschickt.  Sie  enthielt  eine  Darstellung  der  Wirkungen 
einer  Neutralität  oder  der  Feindseligkeit  Rumäniens  auf  die 
militärische  Lage  der  Monarchie  und  des  Dreibundes  und 
schloß  ihre  Erwägungen  mit  der  Feststellung:  „Die  öster- 
„reichisch-ungarische  Monarchie  ist  bei  einem  Abschwenken 
„Rumäniens  außerstande,  den  Kraftzuschuß  wettzumachen, 
„den  Rußland  durch  seine  neue  Militärvorlage,  aber  auch 
„durch  das  Hinzutreten  der  bisher  gegen  Rumänien  not- 
„wendigen  Kräfte  gewinnt. 

„Die  Monarchie  vermöchte  trotz  großer  Opfer  für  die 
„Grenzbefestigung  und  für  die  Formierung  von  Reserve- 
„formationen  der  Verschlechterung  der  Gesamtlage  nicht  vor- 
„zubeugen.  Sie  müßte  aber  ungesäumt  und  rasch  die  Vor- 
„kehrungen  gegen  Rumänien  beginnen  und  voll  ausführen, 
„denn  nur  ein  offener  und  unbedingt  bindender  vertrags- 
„mäßiger  Anschluß  Rumäniens  an  den  Dreibund  könnte  als 
„Gewähr  gegen   eine  eventuelle    Feindseligkeit   gelten.    Der 

Denkschrift  erhärten.  Bis  dahin  muß  für  die  zeitliche  Bestimmung  die 
Formulierung  des  ersten  Satzes  der  Nachschrift  wohl  ihre  Geltung 
behalten:  „Die  vorliegende  Denkschrift  war  eben  fertiggestellt,  als  die 
furchtbaren  Ereignisse  von  Sarajevo  eintraten"  und  der  diesbezügliche 
Passus  des  Handschreibens  Kaiser  Franz  Josephs  an  Kaiser  Wilhelm  „Die 
Denkschrift,  die  noch  vor  der  furchtbaren  Katastrophe  in  Sarajevo  ver- 
faßt wurde  .  .  ."  (Siehe  Seite  26.) 

»  Vgl.  Seite  5,  Anmerkung  I;  Seite  15,  Anmerkung  1. 

25 


Hand- 
schreiben 
Kaiser  Franz 
Josephs  an 
Kaiser 
Wilhelm 
(Entwurf, 
2.  Juli) 


„geringste  Zweifel  in  dieser  Hinsicht  fordert  gebieterisch,  die 
„militärischen  Vorsorgen  ungesäumt  zu  treffen."  ' 

Unter  dem  Eindructce  des  Sarajevoer  Ereignisses  gedachte 
Kaiser  Franz  Joseph  mit  dem  zur  Teilnahme  an  den  Trauer- 
feierlichlceiten  in  Wien  erwarteten  deutschen  Kaiser  eine  die 
gesamte  politische  Lage  umfassende  Rücksprache  zu  pflegen. 
Da  Kaiser  Wilhelm  indessen  von  seiner  Absicht,  nach  Wien 
zu  kommen,  Abstand  nahm,  entschloß  sich  der  Monarch,  die 
nunmehr  gänzlich  fertiggestellte  Denkschrift  (wie  es  ohnehin 
beabsichtigt  war)  in  Begleitung  eines  Handschreibens  an 
Kaiser  Wilhelm  abzusenden. 

Das  Handschreiben  gab  dem  Bedauern  Ausdruck,  daß 
Kaiser  Wilhelm  sich  genötigt  gesehen  habe,  seine  Absicht, 
zur  Trauerfeier  nach  Wien  zu  kommen,  aufzugeben.  Der 
Monarch  hätte  ihm  sehr  gerne  persönlich  seinen  herzlichen 
Dank  für  die  wohltuende  Anteilnahme  an  seinem  schweren 
Kummer  ausgesprochen. 

Kaiser  Wilhelm  habe  durch  sein  warmes,  mitfühlendes 
Beileid  wieder  bewiesen,  daß  Kaiser  Franz  Joseph  in  ihm 
einen  treuen,  verläßlichen  Freund  besitze  und  daß  er  in  jeder 
ernsten  Stunde  auf  ihn  rechnen  könne. 

Es  wäre  dem  Monarchen  auch  sehr  erwünscht  gewesen, 
die  politische  Lage  mit  Kaiser  Wilhelm  zu  besprechen.  Da 
dies  jetzt  nicht  möglich  gewesen  sei,  sende  der  Monarch 
Kaiser  Wilhelm  die  anruhende,  vom  Minister  des  Äußern 
ausgearbeitete  Denkschrift,  die  noch  vor  der  furchtbaren 
Katastrophe  in  Sarajevo  verfaßt  wurde  und  die  jetzt,  nach 
diesem  tragischen  Ereignis,  besonders  beachtenswert  er- 
scheine. 

Das  gegen  den  Erzherzog  Franz  Ferdinand  verübte 
Attentat  sei  die  direkte  Folge  der  von  den  russischen  und 
"serbischen  Panslawisten  betriebenen  Agitation,  deren  ein- 
ziges Ziel  die  Schwächung  des  Dreibundes  und  die  Zer- 
trümmerung   des  Reiches  Kaiser  Franz  Josephs  sei. 


I  Das  Stück  (Res.  Gstbs.  Nr.  2505)  wurde  mit  dem  Vermerke  „ad  acta" 
hinterlegt.  Eine  Verwendung  Berlin  gegenüber  fand  dasselbe,  soweit  sich 
dies  aktenmäßig  feststellen  läßt,  trotz  der  ursprünglich  bestandenen 
Absicht,  nicht. 


26 


Nach  allen  bisherigen  Erhebungen  habe  es  sich  in  Sara- 
jevo nicht  um  die  Bluttat  eines  einzelnen,  sondern  um  ein 
wohlorganisiertes  Komplott  gehandelt,  dessen  Fäden  nach 
Belgrad  reichten,  und  wenn  es  auch  vermutlich  unmöglich 
sein  werde,  die  Komplizität  der  serbischen  Regierung  nach- 
zuweisen, so  könne  man  wohl  nicht  im  Zweifel  darüber 
sein,  daß  ihre  auf  die  Vereinigung  aller  Südslawen  unter 
serbischer  Flagge  gerichtete  Politik  solche  Verbrechen  fördere 
und  daß  die  Andauer  dieses  Umstandes  eine  dauernde  Gefahr 
für  das   Haus  und  die  Länder  Kaiser  Franz  Josephs  bilde. 

Diese  Gefahr  werde  noch  dadurch  erhöht,  daß  auch 
Rumänien,  trotz  des  bestehenden  Bündnisses  mit  der 
Monarchie  und  mit  Deutschland,  sich  mit  Serbien  eng  be- 
freundet habe  und  auch  im  eigenen  Lande  eine  ebenso 
gehässige  Agitation  gegen  die  Monarchie  und  Deutschland 
dulde,  wie  Serbien  es  tue. 

Es  werde  dem  Monarchen  schwer,  an  der  Treue  und 
den  guten  Absichten  eines  so  alten  Freundes,  wie  Carol 
von  Rumänien  es  sei,  zu  zweifeln;  dieser  selbst  habe  aber 
dem  Gesandten  Kaiser  Franz  Josephs  im  Laufe  der  letzten 
Monate  zweimal  erklärt,  daß  er  angesichts  der  erregten  und 
der  Monarchie  und  Deutschland  feindlichen  Stiminung 
seines  Volkes  nicht  in  der  Lage  wäre,  im  Ernstfalle  seinen 
Bundespflichten  nachzukommen. 

Dabei  fördere  die  gegenwärtige  rumänische  Regierung 
ganz  offen  die  Bestrebungen  der  Kulturliga,  begünstige  die 
Annäherung  an  Serbien  und  strebe  mit  russischer  Hilfe 
die  Gründung  eines  neuen  Balkanbundes  an,  der  nur  gegen 
das  Reich  Kaiser  Franz  Josephs  gerichtet  sein  könnte. 

Schon  am  Beginne  der  Regierungszeit  Carols  hätten 
ähnliche  politische  Phantasien,  wie  sie  jetzt  von  der  Kultur- 
liga verbreitet  würden,  den  gesunden  politischen  Sinn  der 
rumänischen  Staatsmänner  getrübt,  und  es  habe  die  Gefahr 
bestanden,  daß  das  Königreich  eine  Abenteurerpolitik 
treiben  würde.  Damals  habe  der  Großvater  Kaiser  Wilhelms 
in  energischer,  zielbewußter  Weise  durch  seine  Regierung 
eingegriffen  und  habe  Rumänien  so  den  Weg  gewiesen,  auf 
welchem  es  zu  einer  Vorzugsstellung  in  Europa  gelangt  und 
_zu  einer  verläßlichen    Stütze    aller  Ordnung   geworden    sei. 

27 


Jetzt  drohe  dieselbe  Gefahr  dem  Königreiche;  Kaiser 
Franz  Joseph  befürchte,  daß  Ratschläge  allein  nicht  mehr 
helfen  würden  und  daß  Rumänien  nur  dann  dem  Drei- 
bunde erhalten  werden  könne,  wenn  die  Monarchie  und 
Deutschland  einerseits  das  Entstehen  eines  Balkanbundes 
unter  russischer  Patronanz  durch  den  Anschluß  Bulgariens 
an  den  Dreibund  unmöglich  machten,  und  andrerseits  in 
Bukarest  klar  und  deutlich  zu  erkennen  gäben,  daß  die 
Freunde  Serbiens  nicht  die  Freunde  der  Monarchie  und 
Deutschlands  sein  könnten,  und  daß  auch  Rumänien  nicht 
mehr  mit  der  Monarchie  und  Deutschland  als  Bundes- 
genossen rechnen  könne,  wenn  es  sich  nicht  von  Serbien 
lossage  und  die  gegen  den  Bestand  des  Reiches  Franz  Josephs 
gerichtete  Agitation  in  Rumänien  mit  aller  Kraft  unter- 
drücke. 

Die  auswärtige  Politik  der  österreichisch-ungarischen 
Regierung  am  Balkan  müsse  in  Hinkunft  auf  die  Isolierung 
und  Verkleinerung  Serbiens  gerichtet  sein.  Die  erste  Etappe 
auf  diesem  Wege  könne  nur  in  einer  Stärkung  der  Stellung 
der  gegenwärtigen  bulgarischen  Regierung  bestehen,  damit 
dieses  Land,  dessen  reale  Interessen  mit  denen  der  Mon- 
archie und  Deutschlands  übereinstimmten,  vor  der  Rückkehr 
zur  Russophilie  bewahrt  bleibe. 

Wenn  man  in  Bukarest  erkenne,  daß  der  Dreibund  ent- 
schlossen sei,  auf  Bulgarien  nicht  zu  verzichten,  jedoch  bereit 
wäre,  Bulgarien  dazu  zu  veranlassen,  sich  mit  Rumänien 
zu  verbinden  und  dessen  territoriale  Integrität  zu  garan- 
tieren, so  werde  man  dort  vielleicht  von  der  gefährlichen 
Richtung  zurückkommen,  in  welche  man  durch  die  Freund- 
schaft mit  Serbien  und  die  Annäherung  an  Rußland  ge- 
trieben worden  sei. 

Wenn  dies  gelinge,  so  werde  es  vielleicht  auch  möglich 
sein,  Griechenland  durch  einen  billigen  Gebietsaustausch 
mit  Bulgarien  und  mit  der  Türkei  zu  versöhnen,  und  es 
würde  sich  dann  unter  der  Patronanz  des  Dreibundes  ein 
neuer  Balkanbund  bilden,  dessen  Aufgabe  darin  bestehen 
würde,  dem  Vordringen  der  panslawistischen  Hochflut  ein 
Ziel  zu  setzen  und  den  Ländern  Kaiser  Wilhelms  und 
Kaiser  Franz  Josephs  den  Frieden  zu  sichern. 

28 


„Dieses  wird  aber",  schloß  das  Handscrireiben,  „nur 
„dann  möglich  sein,  wenn  Serbien,  welches  gegenwärtig  den 
„Angelpunkt  der  panslawistischen  Politik  bildet,  als  politischer 
„Machtfaktor  am  Balkan  nicht  mehr  gerechnet  wird'. 

„Auch  Du  wirst  nach  dem  jüngsten  furchtbaren  Ge- 
„schehnisse  in  Bosnien  die  Überzeugung  haben,  daß  an 
„eine  Versöhnung  des  Gegensatzes,  welcher  Serbien  von 
„uns  trennt,  nicht  mehr  zu  denken  ist,  und  daß  die  erhal- 
„tende  Friedenspolitik  aller  europäischen  Monarchen  bedroht 
„sein  wird,  solange,  dieser  Herd  von  verbrecherischer 
„Agitation  in  Belgrad  ungestraft  fortlebt." 

Dieser  Entwurf  des  Handschreibens  Kaiser  Franz  Josephs 
war  im  Kabinett  des  Ministers  am  2.  Juli  aufgesetzt  worden. 
Die  Stilisierung  des  Handschreibens  wurde  vor  dessen 
Absendung  (4.  Juli  abends)  noch  einigen  geringfügigeren 
Änderungen  unterworfen  -. 

Von  sachlichem  Interesse,   weil    für  die  Mentalität  ihres  Bemerkun- 
Autors    ebenso    bezeichnend    als     zur    Charakteristik    des  ^^"igi^^h 
Adressaten  in  Berlin  dienend,  waren  die  Bemerkungen  des  ungarische« 
ungarischen    Ministerpräsidenten    Grafen   Stephan   Tisza  zu  p^ideLn 
dem  Texte  des  Handschreibens.  Er  telegraphierte  am  5.  Juli  Grafen  Tis^» 
vormittags  (also  nach  bereits  erfolgter  Absendung)  an  Graf  ^"™,^"^^''' 

BerchtOld    '■:  Kaiser  und 

„Allerhöchstes  Handschreiben  an  deutschen  Kaiser.  KonigFran, 

Josephs 

„Um  Berlin  nicht  kopfscheu  zu  machen,  rate  ich  dringend, 
„im  vorletzten  Alinea  anstatt  „als  politischer  Machtfaktor 
„am  Balkan  ausgeschaltet  wird"  zu  sagen  „genötigt  wird, 
„seine  aggressive  Tätigkeit  aufzugeben"  und  im  letzten 
„Alinea  die  Worte:  „daß  an  eine  Versöhnung  des  Gegen- 
„satzes,  welcher  Serbien  von  uns  trennt,  nicht  mehr  zu 
„denken  ist,  und"  wie  auch  das  Wort:  „ungestraft"  weg- 
„zulassen." 

1  Im  Wortlaut  des  abgeschickten  Handschreibens  (Weißbuch  be- 
treffend die  Verantwortlichkeit  der  Urheber  am  Weltkriege,  Seite  59,  60) 
lautet  die  korrespondierende  Stelle:  „als  politischer  Machtfaktor  am  Balkan 
ausgeschaltet  wird".  Vgl.  hiezu  die  gegenständlichen  Ausführungen  des 
nachfolgend  zitierten  Telegramms  des  Grafen  Tisza. 

2  Vgl.  Weißbuch  1.  c. 

•■>,  Telegramm  des  Grafen  Tisza  d.  d.  Budapest,  5.  Juli,  11  Uhr 
50  Minuten  a.  m.,  ohne  Nummer. 

29 


Wir  werden  nunmehr  festzustellen  haben,  welcher  Auf- 
nahme die  Denkschrift  in  Berlin  begegnete  und  das  Hand- 
schreiben Kaiser  Franz  Josephs,  dessen  Änderung  Graf 
Tisza  hinsichtlich  der  erwähnten  Nuancen  dringend  anraten 
zu  müssen  glaubte,  „um  Berlin  nicht  kopfscheu  zu  machen". 

2.    Die    Stellungnahme    Kaiser    Wilhelms    und    der 
deutschen    Regierung    zur    Denkschrift    des    Wiener 

Kabinetts 

Legacionsrai         Zur    Überbringung    des    Handschreibens    Kaiser    Franz 
übTrbringi "''  Joscphs  war  Lcgationsrat  Alexander  Graf  Hoyos  ausersehen 
das  Hand      wordcn  '.  Der  k.  u.  k.  Botschafter  in  Berlin  Graf  Szögyeny 
K^seTfrini  ehielt    am    4.  Juli    die    telegraphische    Verständigung,  Graf 
Josephs  naoh  Hoyos    werde    am  Abend    dieses  Tages    mit    einem    Hand- 
schreiben   des  Monarchen    an   Kaiser  Wilhelm    nach  Berlin 
fahren.  Dem  Grafen  Szögyeny  habe  Graf  Hoyos  Abschriften 
dieses   Handschreibens    und    einer    beigelegten    Denkschrift 
zur  Mitteilung  an  den  Reichskanzler   zu    übermitteln.    Falls 
ein    persönlicher   Empfang    des   Botschafters    durch    Kaiser 
Wilhelm  ausgeschlossen  sei,  ersuche  Graf  Berchtold,  unver- 
züglich Vorsorge  zu  treffen,  daß  das  Handschreiben  Kaiser 
Franz  Josephs  noch  am  5.  Juli  Kaiser  Wilhelm,  der  Zeitungs- 
nachrichten   zufolge   schon    am   6.  Juli    die    Nordlandsreise 
antrete,  zugestellt  werde. 

Auch  lege  Graf  Berchtold  den  größten  Wert  darauf,, 
daß  Graf  Szögyeny  seinerseits  am  5.  Juli  vom  Reichs- 
kanzler empfangen  werde;  Graf  Berchtold  ersuche  den 
k.  u.  k.  Botschafter  Herrn  von  Bethmann  Holhveg  eventuell 
auf  dem  Lande  zu  besuchen,  denn  er  halte  es  für  außerordent- 
lich wichtig,  daß  der  Reichskanzler  noch  vor  der  Abreise 
Kaiser  Wilhelms  den  Inhalt  der  überschickten  Piecen  mit 
Graf  Szögyeny  und  dann  mit  dem  Kaiser  besprechen  könne. 
Grafsz6-  Der    k.    u."'  k.  Botschafter    konnte    den    Vollzug    seines 

Ryany  über-   Auftragcs    noch    am    5.   Juli    abends    melden  -.     Nachdem 

reicht  Kaiser    ^-,       «    „  -,  ...^  ,        ,  _x  i  f      • 

Wilhelm  das  Graf  Szogyeny  Kaiser  Wilhelm  zur  Kenntnis   hatte  bringen 

Hundsehrei- 

bcn  und  die  '  Ursprünglich  war  (Weisung  nach  Berlin  d.  d.  Wien,  4.  Juh',  5  Uhr  p.  m... 

Denkschrift     Nj-,  212)  die  Absendupg  eines  Kuriers  geplant. 

**■  J""'  -  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  5.  Juli,  7  Uhr  35  Minuten  p.  m.,  Nr.  237. 

30 


lassen,  daß  er  ein  Handschreiben  des  Monarchen,  das  ihm 
Graf  Hoyos  im  Laufe  des  Tages  überbrachte,  Kaiser 
Wilhelm  zu  überreichen  habe,  erhielt  er  eine  Einladung  des 
deutschen  Kaiserpaares  für  den  5.  Juli  mittags  zu  einem 
Dejeuner  ins  Neue  Palais.  Der  Kaiser  las  in  Gegenwart 
des  k.  u.  k.  Botschafters  die  beiden  Schriftstücke  mit  größter 
Aufmerksamkeit.  Zuerst  versicherte  er,  daß  er  eine  ernste 
Aktion  von  Seite  Österreich-Ungarns  gegenüber  Serbien 
erwartet  habe,  doch  müsse  er  gestehen,  daß  er  infolge  der 
Ausführungen  Kaiser  Franz  Josephs  eine  ernste  europäische 
Komplikation  im  Auge  behalten  müsse  und  daß  er  daher 
vor  einer  Beratung  mit  dem  Reichskanzler  keine  definitive 
Antwort  erteilen  wolle. 

Als  Graf  Szögyeny  nach  dem  Dejeuner  nochmals  den 
Ernst  der  Situation  mit  großem  Nachdruck  betonte,  ermächtigte 
ihn  Kaiser  Wilhelm,  Kaiser  Franz  Joseph  zu  melden,  daß 
man  in  Wien  „auch  in  diesem  Falle"  •  auf  die  volle  Unter- 
stützung Deutschlands  rechnen  könne.  Wie  gesagt,  müsse 
Kaiser  Wilhelm  vorerst  die  Meinung  des  Reichskanzlers 
anhören,  doch  zweifle  er  nicht  im  Geringsten  daran,  daß 
Herr  von  Bethmann  Hollweg  vollkommen  seiner  Ansicht 
zustünmen  werde.  Insbesondere  gelte  dies  betreffs  einer 
Aktion  seitens  der  Monarchie  gegen  Serbien.  Nach  seiner 
Anschauung  müßte  aber  mit  dieser  Aktion  nicht  zugewartet 
werden.  Rußlands  Haltung  werde  jedenfalls  feindselig  sein, 
doch  sei  Kaiser  Wilhelm  hierauf  schon  seit  Jahren  vor- 
bereitet, und  sollte  es  sogar  zu  einem  Kriege  zwischen 
Österreich-Ungarn  und  Rußland  kommen,  so  könne  man  in 
Wien  davon  überzeugt  sein,  daß  Deutschland  in  gewohnter 
Bundestreue  an  der  Seite  der  Monarchie  stehen  werde. 
Rußland  sei  übrigens  noch  keineswegs  kriegsbereit  und 
werde  es  sich  gewiß  noch  sehr  überlegen,  an  die  Waffen 
zu  appellieren.  Doch  werde    es    bei    den    anderen    Mächten 

'  Die  nicht  eben  präzise  Fassung  der  Worte  „auch  in  diesem  Falle" 
ist  vorläufig  kurz  anzumerken.  Wir  werden  in  weiterer  Folge  für  die  Eigen- 
art der  Berichterstattung  des  bejahrten  k.  u.  k.  Botschafters  in  Berlin 
illustrierende  Belege  erbringen,  aus  denen  sich  wichtige  Rückschlüsse  für 
den  Grad  der  Zuverlässigkeit  seiner  Meldungen  schlechthin  ergeben. 
Vgl.  Seite  173  fp,  235  ff,  248,  Anmerkung  3;  253,  Anmerkung  2. 

31 


der  Tripleentente  gegen  die  Monarchie  hetzen  und  am  Balkan 
das  Feuer  schüren. 

Kaiser  Wilhelm  begreife  sehr  gut,  daß  es  Kaiser  Franz 
Joseph  bei  seiner  bekannten  Friedensliebe  schwer  fallen 
würde,  in  Serbien  einzumaschieren,  wenn  man  aber  in 
Wien,  wirklich  die  Notwendigkeit  einer  kriegerischen  Aktion 
gegen  Serbien  erkannt  hätte,  so  würde  er  es  bedauern, 
wenn  Österreich-Ungarn  den  jetzigen,  für  sich  so  günstigen 
Moment  unbenutzt  ließe. 

Was  Rumänien  betreffe,  so  werde  Kaiser  Wilhelm  für 
ein  korrektes  Verhalten  König  Carols  und  seiner  Ratgeber 
Sorge  tragen.  Das  Eingehen  in  ein  Vertragsverhältnis  mit 
Bulgarien  „sei  ihm  keineswegs  sympathisch";  nach  wie  vor 
habe  er  nicht  das  geringste  Vertrauen  weder  zu  König 
Ferdinand  noch  zu  dessen  früheren  und  jetzigen  Ratgebern. 
Trotzdem  wolle  er  nicht  die  geringste  Einwendung  gegen 
die  Eingehung  eines  vertragsmäßigen  Anschlusses  der 
Monarchie  an  Bulgarien  erheben,  doch  müsse  dafür  Vor- 
sorge getroffen  werden,  daß  der  Vertrag  keine  Spitze  gegen 
Rumänien  enthalte  und  —  wie  dies  auch  das  Memorandum 
hervorhebe  —  Rumänien  zur  Kenntnis  gebracht  werde. 

Kaiser  Wilhelm  beabsichtige,  schloß  Graf  Szögyeny  seine 
Meldung,  sich  am  6.  Juli  früh  nach  Kiel  zu  begehen  und  von 
dort  seine  Nordlandsreise  anzutreten;  zuvor  aber  werde  der 
Kaiser  mit  dem  Reichskanzler  in  der  in  Rede  stehenden  An- 
gelegenheit noch  Rücksprache  pflegen  und  habe  Herrn 
Bethmann  Hollweg  zu  diesem  Zwecke  von  Hohenfinow  für 
den  5.  Juli  abends  in  das  Neue  Palais  bestellt. 
UnterreJung  Der  Unterredung  des  Grafen  Szögyeny  mit  dem  deutschen 
aesGrafen     Kalscr  folglc  am  6.  luli  nachmittags  eine  lange  Besprechung 

Szögyeny  mil  ö  .'  o  o  r  o 

dem  Reichs-  dcs  k.  u.  k.  Botschafters  (in  Begleitung  des  Grafen  Hoyos) 
kanzierund    j^jj  ^^^  Rclchskanzier  und  dem  Unterstaatssekretär  Herrn 

dem  Unter- 
staats- Zimmermann  '. 

""^^'.^r  Zunächst  stattete  der  Reichskanzler  den  vorerst  mündlichen 

(6.  Juli) 

Dank  Kaiser  Wilhelms  für  das  Handschreiben  des  Monarchen 
ab;  die  schriftliche  Beantwortung  werde  in  einigen  Tagen  er- 
folgen. Des  Weiteren  sei  der  Reichskanzler  von  Kaiser  Wilhelm 

>  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  (i.  Juli,  5  Uhr  10  Min.  p.  m.,  Nr.  239. 
32 


ermächtigt  worden,  dem  Grafen  Szögyeny  die  Stellungnalime 
der  deutschen  Regierung  zu  dem  Handschreiben  und  zu  der 
Dentcschrift  zu  präzisieren: 

Die  deutsche  Regierung  eri<enne  die  Gefahren,  die  für 
Österreich-Ungarn  und  somit  auch  für  den  Dreibund  aus  den 
Baliianbundplänen  Rußlands  erwüchsen;  sie  sehe  auch  ein, 
daß  das  Wiener  Kabinett  bei  dieser  Sachlage  den  formellen 
Anschluß  Bulgariens  an  den  Dreibund  herbeiführen  wolle, 
doch  lege  sie  Wert  darauf,  daß  dies  —  wie  es  ja  auch  beab- 
sichtigt sei  —  in  einer  Form  geschehe,  welche  die  gemein- 
samen Verpflichtungen  gegenüber  Rumänien  nicht  tangiere. 
Der  deutsche  Gesandte  in  Sofia  sei  auch  schon  bevollmächtigt 
worden,  falls  er  von  seinem  österreichisch-ungarischen  Kol- 
legen dazu  aufgefordert  werde,  mit  der  bulgarischen  Regierung 
in  diesem  Sinne  zu  verhandeln.  Gleichzeitig  beabsichtige  der 
Reichskanzler,  dem  deutschen  Gesandten  in  Bukarest  die 
Weisung  zu  erteilen,  ganz  offen  mit  König  Carol  zu  reden, 
ihn  von  den  Verhandlungen  in  Sofia  in  Kenntnis  zu  setzen 
und  ihn  darauf  aufmerksam  zu  machen,  daß  er  die  Fortdauer 
der  gegen  die  Monarchie  gerichteten  Agitation  in  Rumänien 
unterdrücken  solle.  Auch  werde  der  Reichskanzler  mitteilen 
lassen,  daß  er  nach  Wien  bisher  stets  den  Rat  erteilt  hätte, 
sich  mit  Serbien  zu  vertragen,  daß  er  aber  nach  den  letzten 
Ereignissen  einsehe,  daß  dies  nunmehr  nahezu  ausgeschlossen 
sei.  Dieser  Tatsache  sollte  auch  Rumänien  Rechnung  tragen. 

Das  Verhältnis  der  Monarchie  zu  Serbien  betreffend, 
stehe  die  deutsche  Regierung  auf  dem  Standpunkte,  daß 
man  in  Wien  beurteilen  müsse,  was  zu  geschehen  hätte, 
um  dies  Verhältnis  zu  klären;  das  Wiener  Kabinett  könnte 
dabei  —  wie  auch  immer  seine  Entscheidung  ausfallen  möge 
-  mit  Sicherheit  darauf  rechnen,  daß  Deutschland  als 
Bundesgenosse  und  Freund  der  Monarchie  hinter  ihr  stehe. 

Im  weiteren  Verlaufe  der  Konversation  stellte  Graf 
Szögyeny  fest,  daß  auch  der  Reichskanzler  ebenso  wie 
Kaiser  Wilhelm  ein  sofortiges  Einschreiten  seitens  der 
Monarchie  gegen  Serbien  als  radikalste  und  beste  Lösung 
der  Schwierigkeiten  der  Monarchie  am  Balkan  ansehe.  Den 
jetzigen  Augenblick  halte  der  Reichskanzler  vom  inter- 
nationalen   Standpunkte    für    günstiger    als    einen    späteren; 

3  33, 


auch  sei  er  ganz  damit  einverstanden  ',  daß  das  Wiener 
Kabinett  weder  Italien  nocii  Rumänien  voriier  von  einer 
eventuellen  Aktion  gegen  Serbien  verständige-.  Dagegen 
sei  Italien  durch  die  deutsche  und  durch  die  österreichisch- 
ungarische Regierung  schon  jetzt  von  der  Absicht  in 
Kenntnis  zu  setzen,  den  Anschluß  Bulgariens  an  den  Drei- 
bund herbeizuführen. 

Vord^hand  solle  nach  der  Meinung  des  Reichskanzlers 
und  des  Unterstaatssekretärs  nur  mit  Bulgarien  verhandelt 
und  abgeschlossen  werden  und  es  sei  der  Zukunft  zu  über- 
lassen, ob  sich  dann  die  Türkei  oder  eventuell  auch 
Griechenland  mit  Bulgarien  verbinde. 

Am  Schlüsse  der  Unterredung  erkundigte  sich  der  Kanzler 
nach  dem  gegenwärtigen  Stande  der  Dinge  in  Albanien  und 
warnte  eindringlichst  vor  irgendwelchen  Plänen,  durch 
welche  das  gemeinsame  Verhältnis  zu  Italien  und  der  Be- 
stand des  Dreibundes  gefährdet  werden  könnte  ^ 

Graf  Szögyeny  beendete  seinen  Bericht  mit  der  Mit- 
teilung,  daß   der   deutsche  Botschafter   in  Wien,  Herr  von 

'  Zur  Phraseologie  der  Berichterstattung  des  Grafen  Szögyeny  ver- 
gleiche hinsichtlich  der  Ausdrücke  „selbstredend"  Seite  HO  Anmerkung  2; 
111,225,227;  „selbstverständlich"  Seite  141;  „vollkommen  einverstanden" 
Seite  74,  188;  „sehe  vollkommen  ein"  Seite  75  und  236;  „bedauere  ganz 
außerordentlich"  Seite  75;  „teile  die  Ansicht  vollkommen"  Seite  171; 
„vollkommen  recht",  „vollkommen  im  Unrecht"  Seite  246;  „vollkommen 
berechtigt"  Seite  249;  „ganz  kategorisch"  Seite  223;  „absolut  nicht" 
Seite  175,  223;  „auf  das  Bündigste"  Seite  173;  „auf  das  Ausdrücklichste" 
Seite  174;  „auf  das  Nachdrücklichste"  Seite  41. 

-  Vgl.  hierzu  die  divergierenden  Äußerungen  Herrn  von  Tschirschkys 
Seite  39,  ferner  den  Text  der  Weisung  des  Grafen  Berchtold  an  Herrn  von 
Merey  in  Rom  d.  d.  Wien,  12.  Juli,  Nr.  801,  Seite  75,  76. 

•"  In  der  in-  und  ausländischen  Presse  (unter  anderem  in  einer 
Reutermeldung  vom  15.  Februar  1919)  wird  gelegentlich  noch  immer 
von  einem  Kronrate  zu  Potsdam  am  5.  Juli  gesprochen,  an  dem  auch 
verschiedene  militärische  und  politische  Funktionäre  der  Monarchie  teil- 
genommen hätten  (Erzherzog  Friedrich,  der  k.  u.  k.  Chef  des  General- 
stabes Freiherr  von  Conrad,  der  königlich  ungarische  Ministerpräsident  Graf 
Tisza)  und  dessen  Entschlüsse  die  vorbedachte  Kriegspolitik  Deutsehlands 
und  der  Monarchie  dokumentierten.  Diesem  „Märchen  von  dem  Pots- 
damer Kronrat"  hat  schon  das  Dementi  des  Grafen  Berchtold  in  der 
„Neuen  Freien  Presse"  vom  10.  August  1917  ein  Ende  bereitet.  Die  von 
dem  Grafen  Szögyeny  persönlich   am   5.  Juli  mit   dem   deutschen  Kaiser 

34 


Tschirschky,  von  der  gepflogenen  Unterredung  in  Kenntnis 
gesetzt  werden  würde  '. 

Der  Reichskanzler    hatte  Graf  Szögyeny    in    der  Unter-  Amwon- 
redung    am    6.    Juli    nachmittags    von    der    Absicht    Kaiser  K^istr  wn- 
Wilhelms    verständigt,    das  Handschreiben    des   Monarchen  heims  an 
persönlich  zu  beantworten.  Das  aus  Bornholm  vom  14.  Juli  j^^^^" 
datierte    Schreiben    Kaiser   Wilhelms    gab    der    aufrichtigen  (Bomhoim, 
Dankbarkeit  Ausdruck,    daß    Kaiser   Franz  Joseph    in    den  '■*■  ''"''* 
Tagen,  in  denen  Ereignisse  von  erschütternder  Tragik  über 
ihn  hereingebrochen  seien  und  schwere  Entscheidungen  von 
ihm  forderten,   seine  Gedanken    auf  ihre  Freundschaft   ge- 
lenkt    und    diese    zum    Ausgangspunkt    seines    Schreibens 
gemacht  habe.  Kaiser  Wilhelm  betrachte  die  vom  Großvater 
und    Vater    auf    ihn    überkommene    enge    Freundschaft    zu 
Kaiser    Franz  Joseph    als    ein    kostbares   Vermächtnis    und 
erblicke    in  deren  Erwiderung    durch    den    Monarchen    das 
sicherste  Pfand    für    den  Schutz    ihrer  Länder.    Bei    seiner 
verehrungsvollen  Anhänglichkeit  an    die   Person   des  Mon- 
archen werde  dieser  ermessen  können,    wie  schwer  Kaiser 
Wilhelm    das  Aufgeben    seiner  Reise    nach    Wien    und   der 
ihm  dadurch  auferlegte  Verzicht  auf  die  öffentliche  Bekun- 
dung   der    innigen  Anteilnahme    an    Kaiser   Franz  Josephs 
tiefem  Schmerze  bekümmern  mußten. 

Durch  den  bewährten  und  von  ihm  aufrichtig  geschätzten 
Botschafter  Kaiser  Franz  Josephs  werde  dem  Monarchen 
die  Versicherung  Kaiser  Wilhelms  übermittelt  worden  sein, 
daß  der  Monarch  auch  in  den  Stunden  des  Ernstes  den 
deutschen    Kaiser  und  sein  Reich   in  vollem  Einklänge  mit 

und  am  6.  Juli  (in  Begleitung  des  Grafen  Hoyos)  mit  Herrn  von  Beth- 
mann  Hollweg  und  Herrn  Zimmermann  gepflogenen  Besprechungen  be- 
handelten vielmehr  (wie» aus  den  angeführten  beiden  Meldungen  Graf 
Szögyenys  zu  ersehen  ist)  die  Gesamtmaterie  der  politischen  Lage 
Europas  in  bloß  informativer  Weise. 

Aufzeichnungen  über  eine  spezielle  Mission  des  Grafen  A.  Hoyos 
sind  im  politischen  Archiv  des  ehemaligen  k.  u.  k.  Ministeriums  des 
Äußern  nicht  vorhanden.  (Vgl.  unsere  Feststellung,  Seite  30,  Anmerkung  1.) 
In  den  Seite  53,  112  und  118  erwähnten  Ausführungen  des  Grafen 
A.  Hoyos  haben  wir  demnach  bloß  die  eigenen  Anschauungen  dieses 
Funktionärs   zu  erblicken. 

'  Vgl.  Weißbuch  betr.  d.  V.  d.  U.  a.  Kr.  Seite  70;  unsere  Ausführungen 
Seite  69  und  Anmerkung  1   daselbst. 

35 


ihrer  altbewährten  Freundschaft  und  Bündnispflicht  treu  an 
der  Seite  Kaiser  Franz  Josephs  und  der  Monarchie  finden 
werde.  Ihm  dies  an  dieser  Stelle  zu  wiederholen,  sei  Kaiser 
Wilhelm  eine  freudige  Pflicht. 

Die  grauenerregende  Freveltat  von  Sarajevo  habe  ein 
grelles  Schlaglicht  auf  das  unheilvolle  Treiben  wahnwitziger 
Fanatiker  und  die  den  staatlichen  Bau  bedrohende  pan- 
slawistische  Hetzarbeit  geworfen.  „Ich  muß",  heißt  es  dann 
weiter,  „davon  absehen,  zu  der  zwischen  Deiner  Regierung 
„und  Serbien  schwebenden  Frage  Stellung  zu  nehmen.  Ich 
„erachte  es  aber  nicht  nur  für  eine  moralische  Pflicht  aller 
„Kulturstaaten,  sondern  als  ein  Gebot  für  ihre  Selbsterhaltung, 
„der  Propaganda  der  Tat,  die  sich  vornehmlich  das  feste 
„Gefüge  der  Monarchien  als  Angriffsobjekt  ausersieht,  mit 
„allen  Machtmitteln  entgegenzutreten.  Ich  verschließe  mich 
„auch  nicht  der  ernsten  Gefahr,  die  Deinen  Ländern  und 
„in  der  Folgewirkung  dem  Dreibund  aus  der  von  russischen 
„und  serbischen  Panslawisten  betriebenen  Agitation  droht, 
„und  erkenne  die  Notwendigkeit,  die  südlichen  Grenzen 
,, Deiner  Staaten  von  diesem  schweren  Drucke  zu  befreien." 
Kaiser  Wilhelm  sei  daher  bereit,  das  Bestreben  der  Wiener 
Regierung,  das  dahin  gehe,  die  Bildung  eines  neuen  Balkan- 
bundes unter  russischer  Patronanz  und  mit  der  Spitze  gegen 
Österreich-Ungarn  zu  hintertreiben  und  als  Gegengewicht 
ferner  den  Anschluß  Bulgariens  an  den  Dreibund  herbei- 
zuführen, nach  Tunlichkeit  zu  fördern.  Demgemäß  habe  er 
trotz  gewisser  Bedenken,  die  in  erster  Linie  durch  die 
geringe  Zuverlässigkeit  des  bulgarischen  Charakters  bedingt 
würden,  seinen  Gesandten  in  Sofia  anweisen  lassen,  die 
diesbezüglichen  Schritte  des  österreichisch-ungarischen  Ver- 
treters auf  dessen  Wunsch  zu  unterstützen.  Des  Weiteren 
habe  Kaiser  Wilhelm  seinen  Geschäftsträger  in  Bukarest 
beauftragt,  sich  zu  König  Carol  im  Sinne  der  Anregungen 
Kaiser  Franz  Josephs  zu  äußern  und  unter  Hinweis  auf  die 
durch  die  jüngsten  Ereignisse  neugeschaffene  Lage  die 
Notwendigkeit  eines  Abrückens  von  Serbien  und  einer  Unter- 
bindung der  gegen  die  Monarchie  gerichteten  Agitation 
hervorzuheben.  Er  habe  gleichzeitig  besonders  betonen  lassen, 
daß  er  den  größten  Wert  auf  die  Erhaltung  der  bisherigen 

36 


vertrauensvollen  Bundesbeziehungen  zu  Rumänien  lege,  die 
auch  bei  einem  eventuellen  Anschluß  Bulgariens  an  den 
Dreibund  keinerlei  Beeinträchtigung  zu  erleiden  brauchen 
würden. 

Das  mit  einer  neuerlichen  Betonung  aufrichtiger  Anhäng- 
lichkeit und  Freundschaft  schließende  Antwortschreiben 
Kaiser  Wilhelms  '  wurde  durch  den  deutschen  Botschaftsrat 
Prinzen  Stolberg  dem  Grafen  Berchtold  am  18.  Juli  zugestellt, 
der  es  dem  Monarchen  mittels  eines  Immediatvortrages 
noch  am  selben  Tage  vorlegte. 

3.  Das  nächste  Ziel  des  Wiener  Kabinetts 

Seit  dem  6.  Juli  war  die  österreichisch-ungarische  Re- 
gierung durch  die  Berichterstattung  des  Grafen  Szögyeny 
in  Kenntnis  des  von  Kaiser  Wilhelm  und  dem  Berliner 
Kabinett  der  Wiener  Denkschrift  gegenüber  eingenommenen 
Standpunktes.  Am  Ballhausplatze  konnte  man  nun  daran- 
gehen, die  eigenen  Absichten  zu  verwirklichen.  Welches 
nächste  Ziel  sich  das  Wiener  Kabinett  gesteckt  hatte, 
ließ  der  markante  Schlußappell  der  Denkschrift  an 
die  Gemeinschaftlichkeit  der  Interessen  Deutsch- 
lands und  der  Monarchie  in  den  Konturen  bereits 
erkennen.  Und  jede  weitere  Aktion  des  Wiener 
Kabinetts  schuf  eine  immer  klarere  Abgrenzung 
dieses  Zieles:  sich  der  deutschen  Unterstützung  für 
alle  Fälle  zu  versichern.  Parallel  damit  mußten  jene 
Hemmnisse  und  Widerstände  überwunden  werden, 
die  dem  Wiener  Kabinett  bei  der  Verwirklichung 
seiner  Absichten  vorderhand  seitens  der  maßgeben- 
den Faktoren  der  Monarchie  selbst  hindernd  im 
Wege  standen  -. 

Eine    Unterredung,    die    der    deutsche    Botschafter    von  Besprechung 
Tschirschky  mit  Graf  Berchtold  am  2.  Juli  hatte,  ließ  eine  t'^^^IT- 

'  "^  '  Berchtold  mit 

Kongruenz  der  beiderseitigen  Auffassungen  vermissen  ■■.         Herrn  von 
Graf  Berchtold  hatte  im  Laufe    dieser  Besprechung   auf  J^Jj."''"-' 
die  Semliner  Meldung  hingewiesen,  wonach  12  Mordbuben 

'  Vgl.  Weißbuch  betr.  d.  V.  d.  U.  a.  Kr.,  Seite  71,  72. 
2  Vgl.  die  drei  letzten  Absätze  der  Anmerkung  Seite  40. 
"  Tagesbericht  vom  3.  Juli,  Nr.  3095. 

37 


unterwegs  seien,  mit  der  Absicht,  ein  Attentat  auf  Kaiser 
Wilhelm  zu  verüben,  und  hatte  der  Meinung  Ausdruck  gegeben, 
diese  Nachricht  werde  doch  vielleicht  in  Berlin  die  Augen 
öffnen  über  die  Gefahr,  die  von  Belgrad  aus  drohe. 

Herr  von  Tschirschky  stellte  letzteres  nicht  in  Abrede 
und  versicherte,  daß  seiner  Ansicht  nach  nur  ein  tatkräftiges 
Vorgehen  gegen  Serbien  zum  Ziele  führen  könne.  Deutsch- 
land habe,  wie  Graf  Berchtold  wisse,  mehrmals  während 
der  Krise  erklärt,  daß  es  hinsichtlich  der  Balkanpolitik 
stets  hinter  der  Monarchie  stehen  werde,  wenn  es  sich  als 
notwendig  erweisen  sollte. 

Auf  die  Bemerkung  des  Grafen  Berchtold,  daß  ihm  dies 
wohl  wiederholt  versichert  worden  sei,  daß  er  aber  in  der 
Praxis  nicht  immer  die  Unterstützung  des  Berliner  Kabinetts 
gefunden  habe  und  daher  nicht  wisse,  inwieweit  er  auf 
dasselbe  zählen  könnte,  erwiderte  der  Botschafter,  daß  er 
—  ganz  privat  gesprochen  —  die  Haltung  seiner  Re- 
gierung damit  erkläre,  daß  in  Wien  viel  von  Ideen  gesprochen 
werde,  daß  aber  niemals  ein  festumschriebener  Aktionsplan 
formuliert  werde,  und  daß  das  Berliner  Kabinett  nur  im 
Falle  ein  solcher  aufgestellt  würde,  voll  und  ganz  für  die 
Monarchie  eintreten  könnte. 

Einen  Krieg  mit  Serbien  zu  beginnen,  ohne  die  Sicher- 
heit zu  haben,  nicht  auch  von  Italien  und  Rumänien  an- 
gegriffen zu  werden,    scheine  eine  sehr  bedenkliche   Sache. 

Graf  Berchtold  erwiderte  dem  Botschafter,  die  Frage, 
wie  weit  man  gehen  wolle  und  was  mit  Serbien  eventuell 
zu  geschehen  hätte,  müßte  im  gegebenen  Augenblicke  den 
Umständen  gemäß  vom  Wiener  Kabinett  entschieden 
werden.  Die  Frage  des  Schicksals  Serbiens  im  Falle  des 
Sieges  stelle  übrigens  eine  cura  posterior  dar.  Was  Rumänien 
anbelange,  so  könnte  sich  die  Monarchie  auf  eine  Anfrage 
daselbst  nicht  einlassen,  die  sie  dem  Verlangen  unmöglicher 
Kompensationen  aussetzen  würde.  Deutschland  habe  damals, 
als  Rumänien,  ohne  die  Monarchie  zu  fragen  und  gegen  das 
ihm  wohlbekannte  Interesse  der  Monarchie,  gemeinschaftlich 
mit  Serbien  über  das  wehrlose  Bulgarien  hergefallen  sef, 
Rumänien  gedeckt  und  nach  Wien  zu  verstehen  gegeben, 
daß  man  sich  daselbst    ruhig   verhalten    solle.    Das  Wiener 

38 


Kabinett  verlange  von  Deutschland  auch  nichts  anderes,  als 
daß  es  im  gleichen  Sinne  auf  Rumänien  einwirke,  wenn  das 
Wiener  Kabinett,  um  die  Integrität  der  Monarchie  zu  schützen, 
gegen  Serbien  vorgehen  sollte. 

Auf  die  Bemerkung  Herrn  von  Tschirschkys,  daß  er 
dies  vollkommen  berechtigt  finde  und  eigentlich  mehr  an 
Italien  gedacht  habe,  das  mit  Rücksicht  auf  das  Bundes- 
verhältnis doch  vor  der  Inangriffnahme  einer  kriegerischen 
Aktion  befragt  werden  sollte,  bemerkte  Graf  Berchtold,  daß 
Italien,  wenn  die  Monarchie  diese  Frage  an  das  römische 
Kabinett  stellen  würde,  vermutlich  Valona  als  Kompensation 
verlangen  würde,  was  die  Monarchie  aber  nicht  konzedieren 
könne. 

Aus   den    Kreisen  des  Berliner  Auswärtigen  Amtes   traf  Äußerungen 
während  der  nächsten  Tage  die  erste  gegenständliche  Äußerung  z'^j^^"™ 
ein.  Als  in  einigen  Tageszeitungen  die  Nachricht  von  einem  mann 
bei  der  Regierung  in  Belgrad  unternommenen  Schritte  des  *^'  ■""''' 
Wiener  Kabinetts  gebracht  worden  war,  versicherte  nämlich 
Herr  Zimmermann,  wie  Graf  Szögyeny  am  4.  Juli  meldete',  dem 
k.  u.  k.  Botschafter,  er  fände  ein  energisches  entschiedenes 
Vorgehen    der    Monarchie,    auf   deren    Seite    zur    Zeit    die 
allgemeinen     Sympathien     der     gesamten     gesitteten     Welt 
wären,  gegen  Serbien  ganz  begreiflich,  doch  würde  er  dies- 
bezüglich große  Vorsicht  empfehlen  und  raten,  an   Serbien 
keine  demütigenden  Forderungen  zu  stellen. 

Es    kann   keinem    Zweifel  unterliegen,  daß  die  Berliner  Die  „Lau- 
Regierung  —  ebenso  wie  es  seitens  der  übrigen  europäischen  ^"^ ' 
Kabinette  geschah-  —   die  moralische  Berechtigung  Öster-  Tschirschkys 
reich-Ungarns  zu  einer  energischen  Wahrnehmung  seiner 
Interessen  Serbien  gegenüber  anerkannte  und  unmittelbar 
einsetzende  Schritte  in  dieser  Richtung  erwartete.    In    diese 
Gedankengänge  des  Berliner  Kabinetts  ist  wohl    auch    die 
vom  Grafen  Szögyeny  am  8.  Juli  übermittelte  Meldung  ein- 
zufügen,    daß     man     in     Berlin    mit    Ungeduld    den    Ent- 
scheidungen des  Wiener  Kabinetts  entgegensehe. 

Auch  sei  Graf  Szögyeny  im  Auswärtigen  Amte  er- 
zählt  worden,    man    habe    aus   einem    Berichte    Herrn   von 

"  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  4.  Juli,  Nr.  236. 
^  Vgl.  Seite  80,  81,  82,  146,  289  und  301. 

39 


Tschirschkys    ersehen,    daß    derselbe    mit     einer    gewissen 

„Lauheit"  gegenüber  Graf  Berchtold    aufgetreten    sei.    Man 

habe  ihm  darauf  von  Berlin  aus  einen  Verweis  erteilt  '. 

B;richi  Graf        Den     Intcntionen     des    Wiener    Kabinetts     auf    ganzem 

szögy^nys     \^ege  entgegenkommend    mußte    der  Bericht   des    k.   u.  k. 

vjm  12.  Juli  °  *    ° 

Botschafters  erscheinen,  der  am   12.  Juli  in  den  Mittelpunkt 


1  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  8.  Juli,  Nr.  243.  Nach  einem  Tages- 
berichte vom  4.  Juli  1914  (Nr.  3117)  sollte  übrigens  Herr  von  Tschirschky 
einem  Gewährsmann,  „offenbar  mit  der  Absicht,  daß  seine  Äußerungen 
im  Ministerium  des  Äußern  wiedergegeben  würden",  erklärt  haben, 
„Deutschland  würde  die  Monarchie  durch  dick  und  dünn  unterstützen, 
was  immer  auch  dieselbe  gegen  Serbien  beschließen  sollte".  „Je  früher 
Österreich-Ungarn  losgehe,  desto  besser.  Besser  wäre  gestern  gewesen 
als  heute,  besser  aber  heute  als  morgen.  Selbst  wenn  die  deutsche 
Presse,  die,  heute  ganz  antiserbisch  sei,  wieder  zum  Frieden  blasen 
würde,  sollte  man  sich  in  Wien  nicht  irremachen  lassen,  Kaiser  und 
Reich  würden  unbedingt  zu  Österreich-Ungarn  halten,  offener  könne 
eine  Großmacht  zu  einer  anderen  nicht  mehr  sprechen."  Inwieweit 
diese  indirekt  übermittelten  Äußerungen  Herrn  von  Tschirschkys  richtig 
wiedergegeben  sind,  entzieht  sich  unserer  Beurteilung.  Auch  im  zutreffen- 
den Falle  spiegeln  sie  bloß  die  subjektiven  Gedankengänge  des 
deutschen  Botschafters  und  nicht  etwa  einen  dienstlich  an 
denselben  ergangenen  Auftrag  wieder.  (Vgl.  Seite  69  und  Anmer- 
kung 1   daselbst.) 

Die  Genesis  und  das  weitere  Schicksal  des  zitierten  Tages- 
berichtes bieten  einen  beachtenswerten  Fingerzeig,  an  welchen  ver- 
fassungsrechtlich maßgebenden  Stellen  der  Monarchie  eine  Beein- 
flussung im  Sinne  der  eigenen  Absichten  am  Ballhausplatz  angezeigt 
erschien. 

Das  vom  Leiter  des  Preßdepartements  im  Ministerium  des  Äußern 
mit  dem  ebenerwähnten  Inhalte  aufgesetzte  Brouillon  gelangte  im  Dienst- 
wege zur  Einsicht  an  den  ersten  Mitarbeiter  Graf  Berchtolds,  den  Sektions- 
chef Johann  Grafen  Forgäch,  der  es  seinerseits  dem  Minister  mit  der  ein- 
begleitenden Notiz  vorlegte:  „Sollte  es  eventuell  als  Tagesbericht  morgen 
in  den  Kaisereinlauf  und  an  Tisza  gehen?"  Graf  Berchtold  griff  die 
Anregung  auf,  indem  er  sich  mit  der  Proposition  betreffs  des  „sehr 
interessanten"  Stückes  einverstanden  erklärte. 

Wir  dürfen  also  folgern,  daß  zu  diesem  Zeitpunkte,  also  im 
Anfangsstadium  der  Krise,  der  Monarch  und  der.  ungarische  Minister- 
präsident Graf  Stephan  Tisza  (vergl.  Seite  62  ff.)  als  jene  Faktoren  galten, 
die  man  am  Ballhausplatze  mit  dem  Hinweise  auf  das  deutscherseits 
hegehrte  energische  Vorgehen  gegen  Serbien  zu  beeinflussen  trachtete. 
(Vgl.  hiezu  die  Ausführungen  Seite  51  unten.) 

40 


seiner  Konsiderationen  die  Stellungnahme  Deutschlands  zur 
serbischen  Krise  stellte': 

Wie  Graf  Berchtold  aus  der  telegraphischen  Bericht- 
erstattung der  letzten  Tage  und  aus  den  persönlich  in  Berlin 
gewonnenen  Eindrücken  des  Grafen  Hoyos  entnommen 
habe,  stünden  sowohl  Kaiser  Wilhelm  als  auch  alle  anderen 
maßgebenden  deutschen  Kreise  nicht  nur  fest  und  bundes- 
treu hinter  der  Monarchie,  sondern  sie  ermunterten  das 
Wiener  Kabinett  auch  noch  auf  das  Nachdrücklichste,  den 
jetzigen  Moment  nicht  verstreichen  zu  lassen,  sondern 
energischest  gegen  Serbien  vorzugehen  und  mit  dem  dor- 
tigen revolutionären  Verschwörernest  ein  für  allemal  aufzu- 
räumen, es  dabei  gänzlich  der  Monarchie  überlassend, 
welche  Mittel  sie  dazu  zu  wählen  für  richtig  halte-. 

Daß  Kaiser  Wilhelm  und  das  ganze  Deutsche  Reich  in 
jedem  Falle  seine  Bundespflichten  der  Monarchie  gegen- 
über in  loyalster  Weise  erfüllen  werde,  daran  habe  der 
k.  u.  k.  Botschafter  nie  gezweifelt,  und  er  habe  an  dieser 
seiner  Überzeugung  während  seiner  langjährigen  Tätigkeit 
in  Berlin  jederzeit  festgehalten.  Er  sei  daher  auch  nicht  im 
Geringsten  erstaunt,  daß  Deutschland  auch  in  dem  jetzigen 
Momente  die  Monarchie  sofort  seiner  vollkommensten 
Bundestreue  und  Mithilfe  versichert  habe. 

Dagegen  glaube  Graf  Szögyeny,  daß  es  doch  einer  ge- 
wissen Erklärung  bedürfe,  daß  die  maßgebenden  deutschen 
Kreise  und  nicht  am  wenigsten  Kaiser  Wilhelm  selbst,  die 
Monarchie  —  man  möchte  fast  sagen  —  geradezu  drängten, 
eine  eventuell  sogar  kriegerische  Aktion  gegen  Serbien  zu 
unternehmen  ■>. 

Es  liege  auf  der  Hand,  daß  nach  all  den  nicht  genug 
zu  beklagenden  Ereignissen  die  Monarchie  energisch  gegen 

>  Bericht  aus  Berlin  d.  d.   12.  Juli,  Nr.  60  P. 

-  Vgl.  hiezu  die  Forderung  Herrn  von  Tschirschkys  hinsichtlich  der 
Aufstellung  eines  Aktionsprogramms  durch  das  Wiener  Kabinett  (Seite  38), 
und  den  Rat  Herrn  Zimmermanns,  „an  Serbien  keine  demütigenden 
Forderungen  zu  stellen"   (Seite  39). 

■  Vgl.  hiezu  (Seite  36)  die  bezügliche  Stelle  in  dem  Antwortschreiben 
Kaiser  Wilhelms  an  Kaiser  Franz  Joseph  d.d.  Bornholm,  H.Juli:  „Ich  muß 
davon  absehen,  zu  der  zwischen  Deiner  Regierung  und  Serbien  schwe- 
benden Frage  Stellung  zu  nehmen." 

41 


Serbien  vorgehen  müsse;  daß  die  deutsche  Regierung  aber 
gerade  den  gegenwärtigen  Moment  auch  von  ihrem  Stand- 
punkt aus  poHtisch  für  den  richtigsten  halte,  bedürfe  einer 
stärtceren  Beleuchtung. 

Für  die  Wahl  des  jetzigen  Zeitpunktes  sprächen  nach  der 
deutschen  —  von  dem  k.  u.  k.  Botschafter  übrigens  vollkom- 
men geteilten  —  Auffassung  allgemein  politische  Gesichts- 
punkte und  spezielle,  durch  die  Mordtat  in  Sarajevo  sich 
ergebende  Momente. 

Deutschland  sei  in  letzter  Zeit  in  seiner  Überzeugung  be- 
stärkt worden,  daß  Rußland  zum  Kriege  gegen  seine  west- 
lichen Nachbarn  rüste  und  denselben  nicht  mehr  als  eine 
zukünftige  Möglichkeit  betrachte,  sondern  direkt  in  seinen 
politischen  Zukunftskalkül  eingestellt  habe.  Doch  nur  in 
seinen  Zukunftskalkül,  daß  es  also  den  Krieg  beabsichtige 
und  sich  mit  allen  Kräften  dazu  rüste,  ihn  aber  für  jetzt  nicht 
vorhabe,  oder  besser  gesagt,  für  den  gegenwärtigen  Augenblick 
noch  nicht  genügend  vorbereitet  sei. 

Daher  sei  es  absolut  nicht  ausgemacht,  daß,  wenn  Serbien 
in  einen  Krieg  mit  der  Monarchie  verwickelt  werde,  Rußland 
demselben  mit  bewaffneter  Macht  beistehen  würde,  und  sollte 
das  Zarenreich  sich  doch  dazu  entschließen,  so  sei  es  zur  Zeit 
noch  lange  nicht  militärisch  fertig  und  lange  nicht  so  stark, 
wie  voraussichtlich  in  einigen  Jahren. 

Weiters  glaube  die  deutsche  Regierung  sichere  Anzeichen 
dafür  zu  haben,  daß  England  sich  derzeit  an  einem  wegen 
eines  Balkanlandes  ausbrechenden  Kriege  nicht  beteiligen 
würde,  selbst  dann  nicht,  wenn  er  zu  einem  Waffengang  mit 
Rußland,  eventuell  auch  mit  Frankreich  führen  sollte.  Nicht 
nur,  daß  sich  das  englisch-deutsche  Verhältnis  soweit  ge- 
bessert habe,  daß  Deutschland  eine  direkt  feindliche  Stellung- 
nahme Englands  nicht  mehr  fürchten  zu  müssen  glaube,  vor 
allem  sei  England  zurzeit  nichts  weniger  als  kriegslüstern 
und  gar  nicht  gewillt,  für  Serbien  oder  im  letzten  Grunde  für 
Rußland  die  Kastanien  aus  dem  Feuer  zu  holen. 

Im  allgemeinen  sei  also  nach  dem  Vorhergesagten  die 
politische  Konstellation  gegenwärtig  für  die  Monarchie  so 
günstig  wie  nur  irgend  möglich. 

42 


Dazu  kämen  noch  die  durch  die  Bluttat  selbst  ausgelösten 
speziell  innerpolitischen  Momente '.  Während  bisher  ein 
großer  Teil  der  Bevölkerung  der  Monarchie  nicht  an  die 
monarchiefeindlichen  separatistischen  Tendenzen  eines  Teiles 
der  eigenen  Serben  und  an  die  nach  dieser  Richtung  vom 
Königreiche  Serbien  in  der  Monarchie  unterhaltenen  Um- 
triebe glauben  wollte,  sei  man  nunmehr  darüber  in  der 
Monarchie  einig  und  verlange  aus  sich  selbst  heraus  ein 
energisches  Auftreten  Serbien  gegenüber,  zur  endgültigen 
Unterdrückung  der  von  dort  aus  geschürten  großserbischen 
Bewegung. 

In  ähnlicher  Weise  seien  aber  der  ganzen  zivilisierten 
Welt  die  Augen  aufgegangen  und  jede  Nation  verdamme 
die  Bluttat  von  Sarajevo  und  begreife,  daß  die  Monarchie 
dafür  Serbien  zur  Verantwortung  ziehen  müsse.  Und  wenn 
auch  die  auswärtigen  Freunde  Serbiens  aus  politischen 
Gründen  nicht  gegen  das  Königreich  Stellung  nehmen 
würden,  so  würden  sie  sich  voraussichtlich  im  gegenwärtigen 
Augenblick  auch  nicht  für  dasselbe  (wenigstens  nicht  mit 
Waifengewalt)  einsetzen. 

Dies  dürften  —  nach  der  Meinung  Graf  Szögyenys  — 
die  politischen  Gründe  sein,  deretwegen  das  Deutsche  Reich 
in  so  richtiger  Erfassung  der  derzeit  der  Monarchie  gebo- 
tenen Gelegenheit  unumwunden  dafür  eintrete,  daß  die  • 
Monarchie  nunmehr  ihr,  auch  Deutschland  als  unhaltbar 
erscheinendes  Verhältnis  zu  Serbien  in  einer  Weise  kläre, 
die  für  alle  Zukunft  den  weiteren  panslawistischen  Umtrieben 
Serbiens  einen  Riegel  vorschiebe. 

Zu  diesen  politischen  Gründen  der  deutschen  Regierung 
komme  aber  bei  Kaiser  Wilhelm,  wie  der  k.  u.  k.  Bot- 
schafter von  zuverlässigster,  das  Vertrauen  des  Kaisers  in 
hohem  Maße  besitzender  Seite  erfahren  habe,  auch  noch  das 
rein  persönliche  Moment  eines  unbegrenzten  Enthusiasmus 
für  Kaiser  und  König  Franz  Joseph  über  die  in  dessen 
Handschreiben  bekundete  bewunderungswürdige  Energie 
hinzu,    mit  der  der  Monarch  für  die  vitalen  Interessen  und 

'  Im  Originaltexte:  speziell  politischen  Momente.  Wie  aus  den  nach- 
folgenden Ausführungen  erhellt,  soll  es  wohl  sinngemäß  heißen:  speziell 
innerpolitischen  Momente. 

43 


das    Prestige     der     ihm     anvertrauten    Länder    einzutreten 
gewillt  sei. 
Die  Frag«.  Dic  Berichterstattung  des  Grafen  Szögyeny  bestätigt  die 

der  dipio      Annahme,  daß  im  Berliner  Auswärtigen  Amte  das  Bestreben 
TniÜal^ivr      obwaltete,   der   durch   das   Wiener   Kabinett   in    der   Denk- 
des  wiiner    schHft  gekennzeichneten  Auffassung  der  internationalen  Lage 
Berliner        Rcchnung  ZU  tragen.  Vorderhand  wurde  dem  Wiener  Kabinett 
Kabinetts      (jjg  jj^  Anspruch   genommene  diplomatische  Initiative '  ohne 
Widerrede  der  Berliner   Regierung   eingeräumt;   die  diplo- 
matischen Maßnahmen,   die  der  Entwicklung  der  Krise  die 
nächsten    Wege   wiesen,    entsprangen    den    einseitigen    Ent- 
schließungen der  k.  u.  k.  Regierung  zu  Wien. 

Nebenher  bestand  die  aus  den  Ergebnissen  des  Bukarester 
Friedens  resultierende  unterschiedliche  Auffassung  der  beiden 
Kabinette  in  den  Fragen  der  Balkanpolitik  weiter  fort.  Sie 
trat  am  augenfälligsten  in  der  rumänischen  Politik  der  beiden 
Mächte  zutage  und  in  der  ungleichen  Einschätzung  des 
Bündniswertes  Bulgariens.  Auch  das  aktuelle  Problem  der 
großserbischen  Propaganda  tangierte  zunächst  nur  öster- 
reichische und  namentlich  ungarische  Interessen  und  lag 
abseits  des  spezifisch  deutschen  Interessenkreises-. 

In  Berlin  hatte  man  die  Zusage  der  unveränderten 
Aufrechterhaltung  der  Bündnisverpflichtungen  auch 
für  die  zu  gewärtigende  Belastung  durch  eine  neuer- 
liche europäische  Krise  ohne  Zögern  und  Zaudern 
gegeben.  Hatte  Herr  von  Tschirschky  die  Fixierung  eines 
bestimmten  Aktionsprogramms  am  2.  Juli  bei  Graf  Berchtold 
angeregt,  so  hatte  der  Reichskanzler  gleich  bei  erster  Gelegen- 
heit (5.  Juli)  die  ungeminderte  Aufrechterhaltung  des  Drei- 
bundes in  den  Vordergrund  jeder  weiteren  politischen 
Erwägung  gestellt. 

Das  Wiener  Kabinett  hinwieder  schritt,  nunmehr 
im  Besitze  der  generellen  Zusage  der  deutschen 
Unterstützung,    an    die    Durchführung  der  ei  genen 

'  Vgl.  Seite  38  und  53,  55. 

-  Es  war  daher  bezeichnend,  daß  der  ungarische  Ministerpräsident 
Graf  Stefan  Tisza  in  einem  Vortrag  an  den  Monarchen  vom  1.  Juli  die 
„Eingenommenheit''  Kaiser  ^X'iIhelms  für  Serbien  hervorheben  zu  müssen 
glaubte  (vgl.  Seite  63  unten). 

44 


politischen  Konzeption  —  im  Einzelfall,  auch  bei 
entscheidenden  Maßnahmen,  ohne  die  mitbestim- 
mende (oder  gelegentlich  auch  nur  mitberatende) 
Beeinflussung  von  Seite  der  deutschen  Regierung. 
Das  Ausmaß  der  Aktivität  und  Passivität  der 
beiden  Kabinette  wird  sich  aus  den  diplomatischen 
Aktionen  selbst  jeweilig  feststellen  lassen. 


B.  Der  Ministerrat  für  gemeinsame  Angelegen- 
heiten vom  7.  und   19.  Juli 

1.  Die  bosnisch-herzegowinischen  Angelegenheiten 

Die     Empörung     der     katholischen     und     der     musli-  Auffassung 
manischen  Bevölkerung  zu  Sarajevo  über  die  verübte  Mordtat  ''"  ^andes- 
Princips  und  semer  Gehilfen  nahm  am  29.  Juni    1914  die  Potiorek 
Form  schwerer  Exzesse  gegen  die  Serben  als  Konnationale  "^"  '^'"' 
der  Attentäter  an.  Nach  Besprechungen,  die  der  Landeschef  von 
Bosnien  und  der  Herzegowina  Feldzeugmeister  Potiorek  am 
30.   Juni    vormittags    mit    der    Regierungskonferenz,    nach- 
mittags mit  dem  Landtagspräsidium,    am  1.  Juli    vormittags 
mit  den  Parteiführern    der   Arbeitsmajorität   des    Landtages 
(gouvernementale  Serbenführer,  moslimische  und  kroatische 
Parteiführer)  gepflogen  hatte,  kennzeichnete  er  als  Ergebnis 
aller   seiner  Wahrnehmungen    den    eigenen   Standpunkt   am 
1.  Juli    in    einem   Bericht    an   den    k.    u.    k.    gemeinsamen 
Finanzminister  (als  den    obersten    Verwaltungsbeamten    von 
Bosnien  und  der  Herzegowina)  Ritter   von    Biliiiski    dahin: 

Als  erstes  und  wichtigstes  Erfordernis  für  die  Erhaltung 
der  Ruhe  im  Lande  und  für  die  ersprießliche  Weiter- 
entwicklung des  Landes  müsse  es  auch  der  Landeschef 
hinstellen,  daß  die  Monarchie  in  entschiedener  und  aller 
Welt  sichtlicher  Weise  dafür  sorge,  daß  die  von  Belgrad 
ausgehende  Wühlarbeit  endgültig  beseitigt  werde.  Insolange 
dies  nicht  erfolge,  werde  das  bosnisch-herzegowinische  Volk 
die  Monarchie  für  schwach  halten,  und  es  würden  alle 
sonstigen  Bemühungen  erfolglos  bleiben.    Im   Orient  —  und 

45 


Bosnien  und  die  Herzegowina  gehörten  in  vieler  Hinsicht 
dazu  —  imponiere  nur  die  volle  Tat  und  nur  sie  gelte  als 
Beweis  einer  wirklich  vorhandenen  Kraft.  Der  Landeschef 
könne  dem  von  Dr.  von  Biliiiski  geäußerten  Verlangen  nach 
Beibehaltung  des  alten  Kurses  [das  heißt  nach  Weiterarbeit 
mit  einer  aus  allen  drei  Konfessionen  gebildeten  Landtags- 
majorität] (sofern  dies  in  Zukunft  überhaupt  erreichbar 
sei)  nur  dann  entsprechen,  wenn  der  im  Gange  befindliche 
Landtag  geschlossen  würde. 

Die  baldigste  Schließung  des  Landtages  anzuregen,  er- 
achtete sich  der  Landeschef  in  einem  besonderen  Antrage 
vom  3.  Juli  neuerlich  für  verpflichtet,  zumal  mit  dieser 
Frage  auch  wichtige  Interessen  der  Reichsverteidigung  in 
Verbindung  stünden, 
unsiimmig-  Rlttcr  von    Biliiiski    hatte   sich    in    einer   Audienz   beim 

zw'isdien  Monarchen  am  29.  Juni  für  ein  Programm  eingesetzt,  das  die 
dem  Landes-  Beibehaltung  der  Arbeitsmajorität  empfahl  und  die  Schließung 
'!,„"„"""  des    Landtages    ablehnte.    In    einem    mit    Feldzeugmeister 

gemeinsamen  ö  o 

Finanz-  Potiorek  diesbezüglich  eingeleiteten  Depeschenwechsel  gab 
Dr.  von  Biliiiski  seiner  Anschauung  unter  anderem  dahin 
Ausdruck:  Aus  dem  für  das  Kaiserhaus  und  die  Monarchie 
entstandenen  Unglück  müsse  die  Lehre  gezogen  werden, 
daß  nunmehr,  sechs  Jahre  nach  vollzogener  Annexion, 
endlich  einmal  mit  dem  Prinzipe  gebrochen  werden  dürfe, 
daß  die  radikalen  Serben  in  Bosnien  und  der  Herzegowina 
unter  allen  Völkern  der  Monarchie  das  Recht  haben  sollen, 
irredentistische  hochverräterische  Aktionen  öffentlich  zu  voll- 
ziehen '. 

In  einer  am  3.  Juli  abgesendeten  Depesche  nahm 
Dr.  von  Biliriski  Gelegenheit,  eine  Art  Inkrimination  gegen 
den  Landeschef  zu  erheben-: 

Die  Untersuchung  gegen  die  Attentäter  in  Sarajevo  habe 
in  allen  leitenden  Kreisen  der  Monarchie  durch  die  Art 
ihrer  Führung,  insbesondere  aber  durch  den  Mangel  jed- 
weder Diskretion,  berechtigtes  Aufsehen  erregt.  Aber  auch 
die    sonstigen  Gebiete    der  Verwaltung   hätten  Blößen    auf- 

'   Telegramm    des   gemeinsamen  Finanzministers  Ritter  von  Bilinski 
d.  d.  Wien,  30.  Juni,  an  den  Landeschef  Feldzeugmeister  Potiorek. 
^  Item  d.  d.  Wien,  3.  Juli. 

46 


gedeckt,  deren  Kenntnis  wohl  von  vornherein  gegen  eine 
Reise  Erzherzog  Franz  Ferdinands  hätte  sprechen  müssen. 
Es  sei  ja  dem  Landeschef  am  besten  bekannt,  daß  das 
Zustandekommen  und  die  Durchführung  der  Reise  aus- 
schließlich vom  militärischen  Gesichtspunkte  zwischen  dem 
Erzherzog  und  ausschließlich  dem  Landeschef  ins  Werk 
gesetzt  wurde. 

Dr.  von  Biliriski  sei  der  Einfluß  hierauf  so  sehr  ent- 
zogen worden,  daß  das  ihm  unterstehende  Ministerium 
sogar  aus  dem  Verteiler  des  Programms  ausgeschaltet  worden 
sei.  Am  wenigsten  hätte  Dr.  von  Biliiiski  annehmen  können, 
daß  dem  militärischen  Programm  ein  nicht  militärischer 
Besuch  Sarajevos  eingefügt  werden  sollte.  Hätte  Dr.  von 
Bilinski  aus  den  Berichten  des  Landeschefs  Kenntnis  davon 
gehabt,  daß  die  Polizeiverwaltung  ihrer  Aufgabe  durchaus 
nicht  gewachsen  sei,  so  wäre  es  offenbar  ihrer  beider 
Pflicht  gewesen,  die  Reise  unter  allen  Umständen  zu  hinter- 
treiben. Schon  die  in  Zeitungen  aus  Sarajevo  offiziös  ge- 
meldete Tatsache,  daß  die  politische  Behörde  über  bloß 
120  Polizeileute  zu  verfügen  hatte,  habe  auf  Dr.  von  Biliriski 
erschreckend  gewirkt.  Jede  diesfällige  Kreditanforderung 
auf  Vermehrung  der  Wache  wäre  doch  selbstverständlich 
sofort  bewilligt  worden.  Auch  glaube  Dr.  von  Biliriski,  daß 
die  Gendarmerie  eine  ausgezeichnete  Ergänzung  der  Wache 
hätte  abgeben  können.  Zu  alledem  stelle  sich  noch  heraus, 
daß  unter  dem  Eindrucke  der  Katastrophe  Aufruhr  und 
Plünderung  in  der  Stadt  ausgebrochen  seien,  denen  gegen- 
über sich  die  Polizeigewalt,  selbst  nach  Zuhilfenahme  der 
spärlichen,  in  Sarajevo  befindlichen  Truppen  ohnmächtig 
erwiesen  habe. 

Bei  dieser  Kritik  falle  es  Dr.  von  Biliriski  durchaus 
nicht  ein,  die  Verantwortung  etwa  ganz  auf  den  Landes- 
chef zu  überwälzen;  er  sei  sich  im  Gegenteile  der  auf  ihm 
lastenden  konstitutionellen  Verantwortlichkeit  für  alle  Ge- 
schehnisse in  der  bosnisch-herzegowinischen  Verwaltung  voll 
bewußt.  Die  Vorgänge  der  letzten  Zeit  würden  ihn 
den  Entschluß  fassen  lassen,  die  Teilung  der  Agenden 
zwischen  dem  Ministerium  (in  Wien)  und  der  Landesregierung 
(in  Sarajevo)  einer  eingehenden  Revision  zu  unterziehen. 

47 


Idcnliläl  di-T- 
Auffassung 
des  k.  u.  k. 
Chefs  des 
General- 
stabes und 
des  k.  u.  k. 
Kriegsmini- 
sters m 
Anscliau- 
ungen  des 
Landeschefs 


Klaffte  zwischen  den  Anschauungen  Dr.  von  Biliriskis 
und  der  Auffassung  des  Landeschefs  ein  sachhcher  Gegen- 
satz, so  begegnete  Feldzeugmeister  Potiorek  bei  seinen 
militärischen  Kollegen,  dem  k.  u.  k.  Kriegsminister  und 
dem  Chef  des  Generalstabes,  einem  um  so  volleren  Ein- 
"'"'■    Verständnis.    Baron  Conrad    pflichtete    in    einem   Schreiben 

il  den  „  ^ 

an  Graf  Berchtold  der  Überzeugnng  des  Feldzeugmeisters 
Potiorek  in  weitestem  Maße  bei";  auch  hatte  das  k.  u.  k. 
Kriegsministerium  am  2.  Juli  ein  detailliertes  Elaborat  mit 
der  Bestimmung  der  Kenntnisnahme  durch  den  Grafen 
Berchtold  verfassen  und  zugleich  das  k.  u.  k.  Ministe- 
rium des  Äußern  ersuchen  lassen,  die  aufgezählten,  dem 
Kriegsminister  unerläßlich  erscheinenden  Maßnahmen  im 
eigenen  Wirkungskreise  zu  treffen,  beziehungsweise  so  weit 
als  notwendig,  bei  dem  Monarchen  anzutragen.  Die  Vor- 
schläge erschienen  ihrem  Inhalte  nach  in  folgende  Punkte 
zusammengefaßt  -: 

1.  Erweiterung  der  vom  Landeschef  in  Sarajevo  bereits 
durch  die  Verhängung  des  Standrechtes  getroffenen  Ver- 
fügungen durch  die  Erlassung  der  im  Gesetzes-  und  Ver- 
ordnungsblatt für  Bosnien  und  die  Herzegowina  vorgesehenen 
Ausnahmsverfügungen  im  ganzen  Bereiche  von  Bosnien  und 
der  Herzegowina. 

2.  Unbedingte  Auflösung  des  Landtages. 

3.  Auflösung  aller  serbischen  Vereine. 

4.  Übertragung  aller  polizeilichen  Agenden  an  den 
höchsten  militärischen  Befehlshaber  in  Bosnien  und  der 
Herzegowina,  das  ist  an  den  Landeschef. 

5.  Ausweisung  aller  Reichsserben  aus  Bosnien  und  der 
Herzegowina. 

6.  Ausschließung  aller  serbischen  Hoch-  und  Mittel- 
schüler, die  sich  in  letzter  Zeit  irgendwie  an  staatsfeind- 
lichen Demonstrationen  beteiligten,  von  allen  Schulen  der 
Monarchie. 

7.  Strengste  Überwachung  der  Geistlichen,  Lehrer  und 
Studierenden  serbischer  Nationalität. 


1  K.  u.  k.  Chef  des  Generalstabes  Res.  Gstbs.  Nr.  2381  d.  d.  Wien, 
3.  Juli. 

-  K.  u.  k.  Kriegsministerium,  Präs.  Nr.  8618  d.  d.  Wien,  2.  Juli. 


48 


8.  Untersagung,  die  Namen  der  verhafteten  Personen  in 
irgendeiner  Zeitung  der  Monarchie  zu  publizieren,  weil  nur 
hiedurch  und  im  Wege  der  an  solche  Personen  einlan- 
genden Korrespondenzen  alle  Fäden  einer  ohne  Zweifel 
bestehenden  staatsfeindlichen  Bewegung  aufgedeckt  werden 
könnten. 

9.  Den  in  Belgrad  oder  überhaupt  in  Serbien  erworbenen 
Schulzeugnissen  österreichischer  oder  ungarischer  Staats- 
angehörigen oder  bosnisch-herzegowinischer  Landesange- 
hörigen wäre  in  der  Monarchie  die  Anerkennung  zu  ver- 
sagen. 

Graf  Tisza  sah    sich    bei  Kenntnisnahme  des  auch    ihm  Standpunkt 
zugestellten  Elaborates   des    Kriegsministeriums   veranlaßt ',  t'sza  ge-Tn- 
gegen  den  größten  Teil  der  angeregten  Maßnahmen  sowohl  uberdenvor- 
vom    Standpunkt    der   Notwendigkeit    und    Zweckmäßigkeit  ^^u.T" 
als  auch    der  Durchführbarkeit  Bedenken    zu    erheben.    Es  Knegsmini- 
wäre  seiner-  Ansicht  nach  ein    arger.  Fehler,   das   zweifellos  ^"""^'^•■''''" 
Versäumte  durch  übereilte  Anwendung  zum  Teil  weit  über 
das  Ziel  schießender  Kraftrnittel  nachholen  zu  wollen,  welche 
das  Übel  nur  vergrößern,  das  In-  und  Ausland  beunruhigen 
und  dem  Prestige  der  Monarchie  Abbruch  tun  würden. 

Auch    bei   dem    gemeinsamen  Finanzminister  begegneten  Standpunkt 
die    Vorschläge    des    Kriegsministers     keinem    willfährigen  ^.^^  gili^^i.; 
Echo.  Dr.  von  Biliiiski  erachtete  die  vorgeschlagenen  Maß-  (3.  juio 
nahmen  so  weit  über  seine  eigenen  Absichten  hinausgehend, 
daß  er  sich  bemüßigt  sah,  an  den  Grafen  Berchtold  wegen 
Einberufung    einer   gemeinsamen    Ministerkonferenz    heran- 
zutreten,  in  welcher  der  Inhalt  der  Vorschläge  des  Kriegs- 
ministers  einer    eingehenden  Beratung    unterzogen    werden 
sollte  -. 

Schließlich  erfuhren  die  Vorschläge  des  Kriegsministeriums  steiiung- 
im  juristischen  Departement  des  Ministeriums  des    Äußern  ^"'rkML- 
eine  kritische  Kommentierung  ^:  steinums  des 

Äußern 


5001 

'  M.  kir.   min.   ein. d.  d.  Budapest,  4.  Juli. 

M.  E.  II. 

2  Präs.    des    k.    u.    k.    Gemeinsamen     Finanzministeriums,     Z.    790 
Pr.  BH.  ex   1914. 

3  Notiz  d.  d.  6.  Juli,  o.  Nr. 

4  49 


(6.  Juli) 


Ad  3.  Die  Auflösung  aller  in  Bosnien  und  Herzegowina 
befindlichen  serbischen  Vereine  dürfte  zu  weit  gehen  und 
nur  die  Auflösung  jener  Vereine  gerechtfertigt  sein,  in  denen 
staatsfeindliche  Tendenzen  zutage  getreten  sind  oder  deren 
maßgebende  Funktionäre  solchen  Gesinnungen  huldigen. 

Ad  5.  Die  unterschiedslose  Ausweisung  aller  serbischen 
Staatsangehörigen  aus  Bosnien  würde  als  Verletzung  des 
österreichisch-ungarischen  Handelsvertrages  mit  Serbien 
erscheinen. 

Ad  6.  Die  Relegierungen  der  erwähnten  serbischen 
Studenten  und  Lehrer  von  allen  Schulen  der  Monarchie 
würde  die  Gemaßregelten  geradezu  nach  Serbien  treiben 
und  zu  Märtyrern  machen. 

Ad  9.  Dasselbe  gelte  sinngemäß  für  die  generelle  Ver- 
weigerung der  Nostrifizierung  serbischer  Schulzeugnisse. 

Überhaupt  müsste  es  bei  allen  zu  unternehmenden  Maß- 
nahmen als  Richtschnur  dienen,  daß  sie  nur  die  staatsfeind- 
lichen Elemente  —  diese  mit  aller  zulässigen  Strenge  — 
träfen  und  daß  durch  diese  Maßnahmen  nicht  etwa  die  in 
Europa  für  die  Monarchie  bestehenden  Sympathien  ver- 
scherzt würden. 

2.    Der  Ministerrat  für  gemeinsame  Angelegenheiten 

vom  7.  Juli 

Aufgabe  des         DcHi  Ministerrat  für  gemeinsame   Angelegenheiten  vom 
Ministerrates  ^_  j^,j  j,^,  ^j^  Aufgabe  ZU,  für  dic  vom  k.  u.  k.  Ministerium 

des  Äußern  in  Aussicht  genommene  diplomatische  Aktion 
gegen  Serbien  das  Votum  der  in  gemeinsamen  Angelegen- 
heiten verfassungsmäßig  verantwortlichen  Minister  einzu- 
holen. Den  Gegenstand  der  Beratung  bildeten:  die  bos- 
nischen Angelegenheiten  und  die  diplomatische  Aktion  gegen 
Serbien  '. 

'  G.  M.  K.  P.  Z.  512,  d.  d.  7.  Juli  1914.  In  dem  während  der 
Sitzung  selbst  vom  Schriftführer  Legationsrat  Grafen  A.  Hoyos  auf- 
gesetzten Konzept  des  Protokolls  besitzen  wir  einen  über  alle  Phasen 
der  Verhandlung  orientierenden  Wegweiser.  Von  nicht  geringem  sach- 
lichen Interesse  sind  die  an  diesem  Konzept  von  Graf  Berchtold  eigen- 
händig vorgenommenen  Textänderungen,   sei    es,    daß    ganze  Sätze    oder 

50 


Ministerrates 


Als  Konferenzteilnehmer  waren  am  7.  Juli  vormittags 
außer  Graf  Berchtold  als  dem  Vorsitzenden  erschienen: 
der  k.  k.  (österreichische)  Ministerpräsident  Graf  Stürgkh, 
der  kgl.  ung.  Ministerpräsident  Graf  Tisza,  der  k.  u.  k. 
Finanzminister  Dr.  von  Biliiiski,  der  k.  u.  k.  Kriegsminister 
Feldzeugmeister  Ritter  von  Krobatin,  der  k.  u.  k.  Chef  des 
Generalstabes  G.  d.  I.  Freiherr  von  Conrad  und  der  Vertreter 
des  k.  u.  k.  Marinekommandanten  Konteradmiral  von  Kailer  i. 

Nach  Eröffnung  der  Sitzung-  bemerkte  der  Vorsitzende,  Verlauf  des 
der  Ministerrat  sei  einberufen  worden,  um  über  die  Maß- 
nahmen zu  beraten,  welche  zur  Sanierung  der  anläßlich  der 
Katastrophe  in  Sarajevo  zutage  getretenen  innerpolitischen 
Übelstände  in  Bosnien  und  der  Herzegowina  angewendet 
werden  sollten.  Es  gebe  seiner  Ansicht  nach  verschiedene 
interne  Maßnahmen  in  Bosnien  selbst,  deren  Anwendung 
ihm  gegenüber  den  krisenhaften  Zuständen  geboten  erscheine; 
vorerst  sollte  man  sich  aber  klar  werden,  ob  der  Moment 
nicht  gekommen  sei,  um  Serbien  durch  eine  Kraftäußerung 
für  immer  unschädlich  zu  machen.  Ein  solcher  entschei- 
dender Schlag  könne  nicht  ohne  diplomatische  Vorberei- 
tungen geführt  werden,  daher  habe  er  mit  der  deutschen 
Regierung  Fühlung  genommen.  Die  Besprechungen  in  Berlin 
hätten  zu  einem  sehr  befriedigenden  Resultate  geführt, 
indem  sowohl  Kaiser  Wilhelm  als  Herr  von  Bethmann 
Hollweg  der  Monarchie  für  den  Fall  einer  kriegerischen 
Komplikation  mit  Serbien  die  unbedingte  Unterstützung 
Deutschlands  mit  allem  Nachdrucke  zugesichert  hätten  •'. 
Nun    müßte    die    Monarchie    noch    immer    mit  Italien    und 

einzelne  Worte  fortgelassen  beziehungsweise  hinzugefügt,  sei  es,  daß 
(abgesehen  von  belanglosen  stilistischen  Ausfeilungen)  auf  ganze  Text- 
abschnitte sich  erstreckende  Umformungen  vorgenommen  wurden.  Wir 
verzeichnen  die  gegenständlich  wichtigen  Varianten  zwischen  dem  Konzept 
und  der  Reinschrift  des  Protokolls. 

'  Die  beiden  Letzteren  nahmen  nur  an  dem  am  Nachmittage  erfolgten 
Wiederzusammentritte  des  Ministerrates  Anteil  und  verließen  die  Kon- 
ferenz gleich  nach  Erörterung  der  militärischen  Fragen. 

-  Wir  verfolgen  den  Verlauf  der  Sitzung  ausschließlich  in  seinen 
Hauptphasen. 

"  Der  Satz  „indem  sowohl  Kaiser  Wilhelm"  bis  „zugesichert  hätten" 
nachträgliche  Ergänzung  im  Konzepte  von  der  Hand  des  Grafen  Berchtold. 

51 


Rumänien  rechnen,  und  da  sei  er  in  Übereinstimmung  mit 
dem  Berliner  Kabinett  der  Ansiciit,  daß  es  besser  wäre^  zu 
handeln    und    etwaige  Kompensationsansprüche  abzuwarten. 

Er  sei  sich  klar  darüber,  daß  ein  Waffengang  mit  Serbien 
den  Krieg  mit  Rußland  zur  Folge  haben  könnte.  Rußland 
treibe  aber  gegenwärtig  eine  Politik,  die,  auf  lange  Sicht 
berechnet,  den  Zusammenschluß  der  Balkanstaaten,  Ru- 
mänien inbegriffen,  zum  Zwecke  habe,  um  dieselben  sodann 
im  geeignet  scheinenden  Momente  gegen  die  Monarchie 
ausspielen  zu  können.  Er  sei  der  Ansicht,  daß  sich  die 
Monarchie  darüber  Rechenschaft  geben  müsse,  daß  ihre 
Situation  sich  einer  solchen  Politik  gegenüber  immer  mehr 
verschlechtern  müsse,  um  so  mehr  als  ein  untätiges  Gewähren- 
lassen bei  den  Südslawen  und  Rumänen  der  Monarchie  als 
Zeichen  der  Schwäche  ausgelegt  werden  und  der  werbenden 
Kraft  der  beiden  angrenzenden  Staatswesen  Vorschub 
leisten  würde. 

Die  logische  Folge,  die  sich  aus  dem  Gesagten  ergebe, 
wäre,  den  Gegnern  zuvorzukommen  und  durch  eine  recht- 
zeitige Abrechnung  mit  Serbien  den  bereits  in  vollem  Gang 
befindlichen  Entwicklungsprozeß  aufzuhalten,  was  später  zu 
tun  nicht  mehr  möglich  sein  würde  '. 

Der  königlich  ungarische  Ministerpräsident 
stimmte  damit  überein,  daß  die  Lage  sich  in  den  letzten 
Tagen  durch  die  in  der  Untersuchung  festgestellten  Tat- 
sachen und  durch  die  Haltung  der  serbischen  Presse  ver- 
ändert habe  und  betonte,  daß  auch  er  die  Möglichkeit  einer 
kriegerischen  Aktion  gegen  Serbien  für  näher  gerückt  halte, 
als  er  es  gleich    nach    dem  Attentat  von  Sarajevo    geglaubt 

1  Ursprünglich  im  Konzept: 

„Er  sei  sich  klar  darüber,  daß  der  Krieg  mit  Rußland  infolge  unseres 
„Einmarsches  in  Serbien  sehr  wahrscheinlich  wäre.  Rußland  treibe  aber 
„gegenwärtig  mit  seinen  Balkanbundplänen  eine  Politik,  die  indirekt  gegen 
„den  Bestand  der  Monarchie  gerichtet  sei.  Er  sei  der  Ansicht,  daß  wir 
„uns  darüber  klar  sein  müssen,  daß  unsere  Situation  sich  durch  diese 
„Politik  von  Tag  zu  Tag  verschlechtern  würde  und  daß  wir  schon  jetzt 
„die  letzten  Konsequenzen  ziehen  und  einen  Schlag  gegen  Serbien  führen 
„müßten,  um  diesen  Entwicklungsprozeß  aufzuhalten,  weil  dies  später 
„nicht  mehr  möglich  sein  würde."  Umänderung  von  der  Hand  des  Grafen 
Berchtold. 

52 


habe.  Er  würde  aber  einem  überraschenden  Angriff  auf 
Serbien  ohne  vorhergehende  diplomatische  Ai<;tion,  wie  dies 
beabsichtigt  zu  sein  scheine  und  bedauerlicherweise  auch 
in  Berlin  durch  den  Grafen  Hoyos  besprochen  wurde  i, 
niemals  zustimmen,  weil  die  Monarchie  in  diesem  Falle, 
seiner  Ansicht  nach,  in  den  Augen  Europas  einen  sehr 
schlechten  Stand  hätte  und  auch  mit  großer  Wahrschein- 
lichkeit mit  der  Feindschaft  des  ganzen  Balkans  —  außer 
Bulgariens  —  rechnen  müßte,  ohne  daß  Bulgarien,  das  gegen- 
wärtig sehr  geschwächt  sei,  die  Monarchie  entsprechend 
unterstützen  würde. 

Österreich-Ungarn  müßte  unbedingt  Forderungen  gegen 
Serbien  formulieren  und  erst  ein  Ultimatum  stellen,  wenn 
Serbien  sie  nicht  erfülle.  Diese  Forderungen  müßten  zwar 
harte,  aber  nicht  unerfüllbare  sein.  Wenn  Serbien  sie  an- 
nehme, würde  die  Monarchie  einen  eklatanten  diploma- 
tischen Erfolg  aufzuweisen  haben  und  ihr  Prestige  würde 
am  Balkan  steigen.  Nehme  man  die  Forderungen  der  Mon- 
archie aber  nicht  an,  so  würde  auch  er  für  eine  kriegerische 
Aktion  sein,  müsse  aber  schon  jetzt  betonen,  daß  die  Mon- 
archie mit  einer  solchen  zwar  die  Verkleinerung,  nicht  aber 
die  vollständige  Vernichtung  Serbiens  bezwecken  dürfte, 
weil  einerseits  diese  von  Rußland  ohne  einen  Kampf  auf 
Leben  und  Tod  niemals  zugegeben  werden  könnte  und  weil 
auch  er  als  ungarischer  Ministerpräsident  es  niemals  zu- 
geben könnte,  daß  die  Monarchie  einen  Teil  von  Serbien 
annektiere. 

Es  sei  nicht  Sache  Deutschlands  zu  beurteilen,  ob  die 
Monarchie  jetzt  gegen  Serbien  losschlagen  sollte  oder  nicht. 
Er  persönlich  sei  der  Ansicht,  daß  ein  Krieg  im  jetzigen 
Augenblicke  nicht  unbedingt  geführt  werden  müsse.  Gegen- 
wärtig müsse  man  damit  rechnen,  daß  die  Agitation  gegen 
die  Monarchie  in  Rumänien  eine  sehr  starke  sei,  daß  Öster- 
reich-Ungarn angesichts  der  aufgeregten  öffentlichen  Meinung, 
mit  einem  rumänischen  Angriffe  würde  rechnen  und  auf 
jeden  Fall  eine  beträchtliche  Macht  in  Siebenbürgen  würde 
halten  müssen,  um  die  Rumänen  einzuschüchtern.  Jetzt,  wo 

'  Vgl.  Seite  34,  Anmerkung  3,  letzter  Absatz. 

53 


Deutschland  erfreulicherweise  die  Bahn  zum  Anschluß  Bul- 
gariens an  den  Dreibund  freigegeben  habe,  eröffne  sich  der 
Monarchie  ein  vielversprechendes  Gebiet  zu  einer  erfolg- 
reichen diplomatischen  Aktion  am  Balkan.  Graf  Tisza  müsse 
daher  darauf  zurückkommen,  daß  er  sich  trotz  der  Krise 
in  Bosnien,  die  übrigens  auch  durch  eine  energische  Ver- 
waltungsreform im  Innern  saniert  werden  könnte,  nicht 
unbedingt  für  den  Krieg  entschließen  wolle,  sondern  auch 
einen  entsprechenden  diplomatischen  Erfolg,  der  eine  starke 
Demütigung  Serbiens  mit  sich  brächte,  für  geeignet  halte, 
die  Stellung  der  Monarchie  zu  verbessern  und  ihr  eine 
ersprießliche  Balkanpolitik  zu  ermöglichen. 

Der  Vorsitzende  bemerkte  hiezu,  die  Geschichte  der 
letzten  Jahre  hätte  gezeigt,  daß  diplomatische  Erfolge  gegen 
Serbien  zwar  das  Ansehen  der  Monarchie  zeitweilig  gehoben, 
aber  die  tatsächlich  bestehende  Spannung  in  den  Bezie- 
hungen zu  Serbien  sich  nur  noch  verstärkt  hätte  '.  Weder 
der  Erfolg  Österreich-Ungarns  in  der  Annexionskrise,  noch 
jener  bei  Schaffung  Albaniens,  noch  das  spätere  Nachgeben 
Serbiens  infolge  des  österreichisch-ungarischen  Ultimatums 
im  Herbste  vorigen  Jahres  hätte  an  den  tatsächlichen  Ver- 
hältnissen etwas  geändert.  Eine  radikale  Lösung  der  durch 
die  systematisch  von  Belgrad  aus  betriebene  großserbische 
Propaganda  aufgeworfenen  Frage,  deren  zersetzende  Wirkung 
in  der  Monarchie  bis  nach  Agram  und  Zara  gespürt  werde, 
sei  wohl  nur  durch  ein  energisches  Eingreifen  möglich. 

Bezüglich  der  vom  königlich  ungarischen  Ministerpräsi- 
denten erwähnten  Gefahr  einer  feindseligen  Haltung  Rumäniens 
bemerkte  der  Vorsitzende,  daß  derzeit  eine  solche  weniger  zu 
befürchten  sei  als  für  die  Zukunft,  wo  sich  die  rumänisch- 
serbische Interessengemeinschaft  immer  mehr  herausbilden 
werde.  König  Carol  habe  allerdings  gelegendich  Zweifel  in 

'  Der  folgende  Teil  bis  zum  Abschnitte:  „Der  k.k.  Ministerpräsident"  etc. 
(Seite  55)  lautete  ursprünglich  im  Konzepte: 

„Weder  unser  Erfolg  in  der  Annexionskrise,  noch  das  spätere  Nach- 
,^eben  Serbiens  in  der  Adriafrage  oder  nach  unserem  Ultimatum  im 
„Herbste  vorigen  Jahres  hätten  an  den  tatsächlichen  Verhältnissen  etwas 
,jgeändert,  noch  die  großserbische  Agitation  beseitigen  können.  Dies  wäre 
„nur  durch  einen  Krieg  möglich,  durch  welchen  die  großserbische  Bewe- 
„gung  ein  für  allemal  aufs  Haupt  geschlagen  würde." 

54 


der  Richtung  ausgesprochen,  gegebenenfalls  seiner  Bundes- 
pflicht gegenüber  der  Monarchie  durch  aktive  Hilfeleistung 
nachkommen  zu  können.  Dagegen  sei  es  kaum  anzunehmen, 
daß  er  sich  zu  einer  kriegerischen  Operation  gegen  die  Mon- 
archie hinreißen  lassen,  beziehungsweise  einer  darauf  hinaus- 
gehenden Stimmung  der  öffentlichen  Meinung  nicht  Wider- 
stand leisten  könnte.  Übrigens  komme  auch  die  Furcht  Ru- 
mäniens vor  Bulgarien  in  Betracht,  welche  ersteres  in  seiner 
Bewegungsfreiheit  selbst  unter  den  heutigen  Verhältnissen 
einigermaßen  behindern  müßte. 

Der  k.  k.  Ministerpräsident  bemerkte,  es  sei  jetzt  eine 
psychologische  Situation  geschaffen,  die  seiner  Ansicht  nach 
unbedingt  zu  einer  kriegerischen  Auseinandersetzung  mit 
Serbien  hindränge.  Er  stimme  mit  dem  königlich  ungarischen 
Ministerpräsidenten  zwar  darin  überein,  daß  die  Monarchie 
und  nicht  die  deutsche  Regierung  beurteilen  müßte,  ob  ein 
Krieg  notwendig  sei  oder  nicht;  er  müsse  aber  doch  be- 
merken, daß  es  auf  die  Entschließung  der  Monarchie  einen 
sehr  großen  Einfluß  ausüben  sollte,  wenn  an  der'  Stelle, 
welche  Österreich-Ungarn  als  treueste  Stütze  seiner  Politik 
im  Dreibunde  ansehen  müßte,  ihm  rückhaltlose  Bündnis- 
treue zugesagt  und  überdies  nahegelegt  werde,  sofort  zu 
handeln,  nachdem  man  sich  dort  angefragt  habe.  Graf  Tisza 
sollte  diesem  Umstände  doch  Bedeutung  beimessen  und  in 
Erwägung  ziehen,  daß  die  Monarchie  durch  eine  Politik 
des  Zauderns  und  der  Schwäche  Gefahr  laufe,  dieser  rück- 
haltlosen Unterstützung  des  Deutschen  Reiches  zu  einem 
späteren  Zeitpunkte  nicht  mehr  so  sicher  zu  sein.  Wie  der 
Konflikt  begonnen  werde  solle,  sei  eine  Detailfrage,  und 
wenn  die  ungarische  Regierung  der  Ansicht  sei,  daß  ein 
überraschender  Angriff  „sans  crier  gare",  wie  Graf  Tisza 
sich  ausgedrückt  hätte,  nicht  gangbar  sei,  so  müsse  man 
eben  einen  andern  Weg  finden. 

Der  gemeinsame  Finanzminister  führte  aus,  auch  er 
hege  gleich  dem  Landeschef  Feldzeugmeister  Potiorek  die 
Überzeugung,  daß  der  Entscheidungskampf  mit  Serbien  früher 
oder  später  unvermeidlich  sei.  Wenn  auch  der  königlich  unga- 
rische Ministerpräsident  sich  jetzt  mit  einem  diplomatischen 
Erfolg    zufrieden    geben    würde,    so    könne    er    dies    vom 

55 


Standpunkte  der  bosnischen  Interessen  nicht  tun.  Das 
Uhimatum,  welches  die  Monarchie  im  vorigen  Herbste  an 
Serbien  richtete,  habe  die  Stimmung  in  Bosnien  verschlechtert 
und  den  Haß  gegen  dieselbe  nur  gesteigert.  Dort  erzähle 
man  sich  allgemein  im  Volke,  daß  König  Peter  kommen  und 
das  Land  befreien  werde.  Der  Serbe  sei  nur  der  Gewalt 
zugänglich,  ein  diplomatischer  Erfolg  würde  in  Bosnien  gar 
keinen  Eindruck  machen  und  wäre  eher  schädlich  als  etwas 
anderes. 

Nach  einer  Bemerkung  des  königlich  ungarischen  Minister- 
präsidenten gab  der  k.  u.  k.  Kriegsminister  der  Ansicht 
Ausdruck,  daß  ein  diplomatischer  Erfolg  keinen  Wert  habe. 
Ein  solcher  Erfolg  werde  nur  als  Schwäche  ausgelegt.  Vom 
militärischen  Standpunkte  müsse  er  betonen,  daß  es  günstiger 
wäre,  den  Krieg  sogleich  als  zu  einem  späteren  Zeitpunkte 
zu  führen,  da  sich  das  Kräfteverhältnis  in  der  Zukunft 
unverhältnismäßig  zu  Ungunsten  der  Monarchie  verschieben, 
werde.  Die  Monarchie  hätte  schon  zwei  Gelegenheiten  ver- 
säumt, um  die  serbische  Frage  zu  lösen,  und  jedesmal  die 
Entscheidung  hinausgeschoben.  Wenn  sie  es  jetzt  wieder 
täte  und  auf  diese  neuerliche  Provokation  gar  nicht  reagierte, 
so  würde  dies  in  allen  südslawischen  Provinzen  als  Zeichen 
der  Schwäche  aufgefaßt  werden  und  die  Monarchie  würde 
eine  Stärkung  der  gegen  sie  gerichteten  Agitation  herbei- 
führen. 

Es  entspann  sich  hierauf  eine  Diskussion  über  die  Ziele 
einer  kriegerischen  Aktion  gegen  Serbien,  wobei  der  Stand- 
punkt des  königlich  ungarischen  Ministerpräsidenten,  daß 
Serbien  zwar  verkleinert,  mit  Rücksicht  auf  Rußland  aber 
nicht   ganz   vernichtet   werden   dürfe,    angenommen   wurde. 

Der  königlich  ungarische  Ministerpräsident  be- 
harrte noch  immer  bei  der  Ansicht,  daß  eine  erfolgreiche 
Balkanpolitik  für  die  Monarchie  durch  den  Anschluß  Bul- 
gariens an  den  Dreibund  möglich  wäre  und  verwies  auf 
die  furchtbare  Kalamität  eines  europäischen  Krieges  unter 
den  derzeitigen  Verhältnissen.  Es  möge  nicht  übersehen 
werden,  daß  allerhand  Zukunftseventualitäten  denkbar  seien 
—  wie  Ablenkung  Rußlands  durch  asiatische  Komplika- 
tionen, Revanchekrieg  des  wiedererstarkten  Bulgariens  gegen 

56 


Serbien  usw.  — ,  welche  die  Stellung  der  Monarchie  gegen- 
über dem  großserbischen  Probleme  wesentlich  günstiger 
gestalten  könnten,  als  dies  heute  der  Fall  sei. 

Hiezu  bemerkte  der  Vorsitzende,  daß  man  allerdings 
verschiedene  Zukunftsmöglichkeiten  ausdenken  könne,  die 
eine  der  Monarchie  günstige  Situation  ergeben  würden.  Er 
befürchte  aber,  daß  für  eine  solche  Entwicklung  keine  Zeit 
vorhanden  sei.  Man  müsse  mit  der  Tatsache  rechnen,  daß 
von  feindlicher  Seite  ein  Entscheidungskampf  gegen  die 
Monarchie  vorbereitet  werde  und  daß  Rumänien  der  russi- 
schen und  französischen  Diplomatie  Helfersdienste  leiste. 
Man  dürfe  nicht  annehmen,  daß  die  Politik  mit  Bulgarien 
der  Monarchie  einen  vollen  Ersatz  für  den  Verlust  Ru- 
mäniens bieten  könne.  Rumänien  sei  aber  seiner  Ansicht 
nach  nicht  wiederzugewinnen,  solange  die  großserbische 
Agitation  existiere,  da  diese  auch  die  großrumänische  Agi- 
tation zur  Folge  habe  und  Rumänien  ihr  erst  dann  entgegen- 
treten könnte,  wenn  es  sich  durch  die  Vernichtung  Serbiens 
am  Balkan  isoliert  fühlen  und  einsehen  würde,  daß  es  nur 
am  Dreibunde  eine  Stütze  finden  könne.  Auch  dürfe  man 
nicht  übersehen,  daß  bezüglich  des  Anschlusses  Bulgariens 
an  den  Dreibund  noch  nicht  der  erste  Schritt  geschehen  sei. 
Man  wisse  in  Wien  nur,  daß  die  jetzige  bulgarische  Regie- 
rung vor  Monaten  diesen  Wunsch  ausgesprochen  habe  und 
damals  auch  im  Begriffe  stand,  eine  Allianz  mit  der  Türkei 
einzugehen.  Letzteres  sei  bisher  nicht  erfolgt,  die  Türkei 
vielmehr  seither  mehr  unter  russischen  und  französischen 
Einfluß  geraten.  Die  Haltung  des  Ministeriums  Radoslawoff 
gebe  allerdings  keinen  Grund,  daran  zu  zweifeln,  daß  das- 
selbe auch  heute  noch  entschlossen  sei,  positiven  Vor- 
schlägen, die  von  der  Monarchie  in  der  angedeuteten 
Richtung  in  Sofia  gemacht  werden  könnten,  ein  williges 
Ohr  zu  leihen.  Als  sicheren  Baustein  in  der  österreichisch- 
ungarischen Balkanpolitik  könne  man  diese  Orientierung 
aber  derzeit  noch  nicht  einschätzen;  dies  um  so  weniger,  als 
die  gegenwärtige  bulgarische  Regierung  doch  auf  sehr 
schwacher  Grundlage  stehe,  der  Anschluß  an  den  Dreibund 
von  der  stets  bis  zu  einem  gewissen  Grade  unter  russischem 
Einfluß  stehenden  öffentlichen  Meinung  desavouiert  und  das 

57 


Ministerium  Radoslawoff  über  den  Haufen  geworfen  werden 
könnte.  Auch  sei  zu  bedenken,  daß  Deutschland  die  bul- 
garische Aktion  vorderhand  nur  unter  der  Bedingung  an- 
genommen habe,  daß  die' Abmachungen  mit  Bulgarien  keine 
Spitze  gegen  Rumänien  haben  dürften.  Es  werde  nicht  leicht 
sein,  diese  Bedingungen  ganz  zu  erfüllen  und  es  könnten 
daraus  für  die  Zukunft  unklare  Situationen  sich  ergeben '. 
Es  wurde  hierauf  in  längerer  Debatte  die  Kriegsfrage 
eingehend  diskutiert.  Am  Schlüsse  dieser  Erörterungen 
konnte  konstatiert  werden: 

1.  Daß  alle  Versammelten  eine  tunlichst  rasche  Ent- 
scheidung des  Streitfalles  mit  Serbien  im  kriegerischen  oder 
friedlichen  Sinne  wünschten; 

2.  daß  der  Ministerrat  bereit  wäre,  sich  der  Ansicht 
des  königlich  ungarischen  Ministerpräsidenten  anzuschließen, 
wonach  erst  mobilisiert  werden  solle,  nachdem  konkrete 
Forderungen  an  Serbien  gerichtet  und  dieselben  zurück- 
gewiesen worden  seien,  sowie  ein  Ultimatum  gestellt  worden  sei. 

Dagegen  waren  alle  Anwesenden  mit  Ausnahme  des  könig- 
lich ungarischen  Ministerpräsidenten  der  Ansicht,  daß  ein  rein 
diplomatischer  Erfolg,  wenn  er  auch  mit  einer  eklatanten 
Demütigung  Serbiens  enden  würde,  wertlos  wäre  und  daß 
daher  solche  weitgehende  Forderungen  an  Serbien  gestellt 
werden  müßten,  die  eine  Ablehnung  voraussehen  ließen, 
damit  eine  radikale  Lösung  im  Wege  militärischen  Eingreifens 
angebahnt  würde  -. 

'  Die  Stelle  von:  ,,Auch  dürfe  man  nicht  übersehen"  (Seite  57  Mitte) 
bis  „sich  ergeben"  lautete  in  der  Fassung  des  Konzepts:  „Auch  dürfe  man 
„nicht  vergessen,  daß  Deutschland  die  bulgarische  Aktion  vorderhand  nur 
„unter  der  Bedingung  angenommen  habe,  daß  die  Abmachungen  mit  Bul- 
„garien  keine  Spitze  gegen  Rumänien  haben  dürften.  Es  würde  nicht 
„leicht  sein,  diese  Bedingungen  ganz  zu  erfüllen,  auf  jeden  Fall  sei  es 
„aber  fraglich,  ob  die  deutsche  Regierung  eine  Gegenüberstellung  Bul- 
„gariens  und  der  Türkei  gegen  Serbien  und  Rumänien  gerne  sehen  würde. 
„Darum  habe  man  auch  in  Berlin  sich  dahin  ausgesprochen,  daß  eine 
„Abrechnung  mit  Serbien  die  beste  Lösung  wäre."  (Umänderung  von 
der  Hand  des  Grafen  Berchtold.) 

-  Ursprünglich  im  Konzepte:  „und  daß  daher  ganz  unannehmbare 
„Forderungen  an  Serbien  gestellt  werden  müßten,  damit  es  bestimmt 
„zum  Kriege  komme."  Umänderung  von  der  Hand  des  Grafen  Berchtold. 

58 


Graf  Tisza  bemerkte  hierauf,  er  sei  bestrebt,  dem 
Standpunivte  aller  anderen  Anwesenden  entgegenzukommen 
und  daher  auch  insofern  eine  Konzession  zu  machen,  als 
er  zugeben  wolle,  daß  die  an  Serbien  zu  richtenden  For- 
derungen sehr  harte  sein  sollten,  jedoch  nicht  solcher  Art, 
daß  man  die  Absicht  Österreich-Ungarns,  unannehmbare 
Forderungen  zu  stellen,  klar  erkennen  könne.  Sonst  hätte 
die  Monarchie  eine  unmögliche  rechtliche  Grundlage  für  eine 
Kriegserklärung.  Der  Text  der  Note  müsse  sehr  genau  studiert 
werden  und  er  würde  jedenfalls  Wert  darauf  legen,  die  Note 
zur  Einsicht  zu  erhalten,  bevor  sie  abgesendet  werde.  Auch 
müsse  er  betonen,  daß  er  für  seine  Person  genötigt  wäre,  die 
Konsequenzen  daraus  zu  ziehen,  wenn  sein  Standpunkt  nicht 
berücksichtigt  werde. 

Hierauf  wurde  die  Sitzung  bis  zum  Nachmittag  unter- 
brochen. 

Beim  Wiederzusammentritte  des  Ministerrates  waren  auch 
der  Chef  des  Generalstabes  und  der  Stellvertreter  des  Marine- 
kommandanten anwesend. 

Der  Kriegsminister  ergriff  auf  Wunsch  des  Vorsitzen- 
den das  Wort,  um  an  den  Chef  des  Generalstabes  nach- 
stehende drei  Fragen  zu  richten: 

1.  Ob  es  möglich  wäre,  zuerst  nur  gegen  Serbien  zu 
mobilisieren  und  erst  nachträglich,  wenn  sich  die  Notwen- 
digkeit dazu  ergäbe,  auch  gegen  Rußland; 

2.  ob  man  zur  Einschüchterung  Rumäniens  größere 
Truppenmengen  in  Siebenbürgen  zurückhalten    könnte    und 

3.  wo  man  den  Kampf  gegen  Rußland  aufnehmen 
würde. 

Der  Chef  des  Generalstabes  gab  auf  diese  Anfragen 
geheime  Aufklärungen  und  ersuchte,  dieselben  nicht  in  das 
Protokoll  aufzunehmen. 

Es  entspann  sich  auf  Grund  dieser  Aufklärungen  eine 
längere  Aussprache  über  die  Kräfteverhältnisse  und  den  wahr- 
scheinlichen Verlauf  eines  europäischen  Krieges,  die  wegen 
ihres  geheimen  Charakters  nicht  in  das  Protokoll  auf- 
genommen wurden.  Am  Schlüsse  der  Debatte  wiederholte  der 
königlich  ungarische  Ministerpräsident  seinen  früheren  Stand- 
punkt hinsichtlich  der  Kriegsfrage  und  richtete  einen  neuen 

59 


Appell  an  die  Anwesenden,  ihre  Entscheidung  sorgfdhig  zu' 
prüfen. 

Hierauf  wurden  die  Puntcte  besprochen,  welche  als 
Forderungen  an  Serbien  in  die  Note  aufgenommen  werden 
könnten.  Bezüglich  dieser  Punkte  wurde  im  Ministerrat 
kein  definitiver  Beschluß  gefaßt;  sie  wurden  nur  aufgestellt, 
um  ein  Bild  darüber  zu  erlangen,  welche  Forderungen 
gestellt  werden  könnten '. 

Nach  einer  Debatte  über  die  bosnischen  Angelegenheiten 
konstatierte  der  Vorsitzende,  daß,  wenn  auch  noch  immer 
eine  Divergenz  zwischen  den  Ansichten  aller  Teilnehmer 
und  jener  des  Grafen  Tisza  bestehe,  man  sich  näher- 
gekommen sei,  nachdem  auch  die  Vorschläge  des  königlich 
ungarischen  Ministerpräsidenten  aller  Wahrscheinlichkeit 
nach  zu  der  von  ihm  und  den  übrigen  Mitgliedern  der 
Konferenz  für  notwendig  gehaltenen  kriegerischen  Aus- 
einandersetzung mit  Serbien  führen  würden. 

Das  Protokoll  schloß  mit  der  Mitteilung  des  Grafen 
Berchtold  an  den  Ministerrat,  daß  er  gesonnen  sei,  sich 
zur  Vortragerstattung  am  8.  Juli  nach  Ischl  zu  begeben. 
Im  Zusammenhange  mit  dieser  Äußerung  bat  Graf  Tisza 
den  Minister  des  Äußern,  eine  von  ihm  selbst  zu  ver- 
fassende Eingabe  über  seine  Auffassung  der  Lage  dem 
Monarchen  zu  unterbreiten-. 

Hierauf  wurde  die  Konferenz  nach  Aufsetzung  eines  für 

die  Presse  bestimmten  Communiques  vom  Grafen  Berchtold 

aufgehoben. 

Zirkulation  Das  Protokoll  zirkulierte  in  den  Tagen  vom  8.  Juli  bis 

desProto-     2um  14.  August  bei  den  einzelnen  Konferenzteilnehmern  und 

kolls  bei  den  ^  *  «  t  •    t  i  .       j 

Konferenz-  gelangte  crst  am   16.  August  zur  Unterzeichnung  durch  den 

leiinehmern  Monarchcn.  Zur  mündlichen  Berichterstattung  beim  Monarchen 

ni"nahmr  meldete    sich    Graf   Berchtold    in    einem    Immediatvortrage 

desselben  ^och  am  7.  JuH  an. 

durch  den 
Monarchen 

Das  Ergebnis        Der   Ministerrat   für   gemeinsame   Angelegenheiten   vom 

des  Minister-  7_  j^^\■^    j^at    als    die    erste  Bekanntgabe   der  Absichten    des 

Wiener  Kabinetts  in  foro  interno  zu  gelten.  Graf  Berchtold 

1  Vgl.  Seite  93,  Anmerkung   1. 
-  Siehe  Seite  65  unten. 

60 


bemühre  sich  in  diesei»  Sitzung,  das  Einverständnis  der  in 
den  gemeinsamen  Angelegeniieiten  verantwortlichen  Falctoren 
der  Monarchie  für  seine  Intentionen  zu  gewinnen.  Diese 
Maßnahmen  Hefen  nach  der  Formulierung  des  Protokolls 
dahin  hinaus,  den  Gegnern  der  Monarchie  zuvorzukommen 
und  durch  eine  rechtzeitige  Abrechnung  mit  Serbien  den 
bereits  in  vollem  Gange  befindlichen  Entwicklungsprozeß 
(des  Zusammenschlusses  der  Balkanstaaten,  Rumänien  inklu- 
sive) aufzuhalten.  Der  durch  einen  Waffengang  mit  Serbien 
bedingten  Möglichkeit  eines  Krieges  mit  Rußland  müsse  die 
stetige  Verschlechterung  der  Lage  der  Monarchie  durch  eine 
Politik  des  untätigen  Gewährenlassens  gegenüber  der  eigenen 
südslawischen  und  rumänischen  Bevölkerung  der  Monarchie 
entgegengehalten  werden. 

Nach  längerer  Erörterung  des  Sachlage  konnte  kon- 
statiert werden,  daß  von  allen  Anwesenden  eine  tunlichst 
rasche  Entscheidung  des  Streitfalles  mit  Serbien  im  kriege- 
rischen oder  im  friedlichen  Sinne  gewünscht  werde  und 
daß  erst  nach  der  Aufstellung  von  konkreten  Forderungen 
an  Serbien  und  nach  Übermittlung  eines  Ultimatums  im 
Falle  ihrer  Abweisung  die  Mobilisierung  eingeleitet  werden 
solle.  Auch  in  der  Frage  der  Unzulänglichkeit  eines  rein 
diplomatischen  Erfolges  begegneten  sich  die  Meinungen 
aller  Konferenzteilnehmer  mit  Ausnahme  jener  des  Grafen 
Tisza,  dem  es  gelang,  den  Ministerrat  für  seinen  Standpunkt 
der  Notwendigkeit  der  Formulierung  bestimmter  Forderungen 
und  der  Stellung  eines  Ultimatums  erst  nach  deren 
Ablehnung  zu  gewinnen.  Über  die  Art  dieser  Forderungen 
sprach  sich  das  Protokoll  —  insbesondere  in  der  Fassung 
seines  Konzeptes  —  eindeutig  genug  aus'.  Bloß  Graf  Tisza 
verharrte  (wenigstens  teilweise)  in  Opposition;  auch  seine 
Vorschläge  wurden  indessen  von  dem  Vorsitzenden  dahin 
charakterisiert,  daß  sie  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  zu  der 
vom  Grafen  Berchtold  und  den  übrigen  Mitgliedern  der 
Konferenz  für  notwendig  gehaltenen  kriegerischen  Aus- 
einandersetzung mit  Serbien  führen  würden. 

Sofern  Graf  Berchtold  die  Bedenken  Graf  Tiszas  be- 
kämpfen zu  müssen  glaubte,  benützte  er  als  Argumentation 

'  Vgl.  Anmerkung  2,  Seite  58. 

61 


den  Hinweis  auf  die  unbedingte  Lfhterstützung  der  Mon- 
archie seitens  der  deutsciien  Regierung.  Hiebei  sekundierte 
dem  Grafen  Berchtold  der  k.  k.  Ministerpräsident  Graf 
Stürgkh,  der  die  Notwendigkeit  der  Verwertung  der  gegen- 
wärtig bestehenden,  in  einem  späteren  Zeitpunkt  aber  nicht 
mehr  so  sicheren  deutschen  Hilfe  besonders  hervorhob. 

Hier  also,  in  diesem  in  Wien  am  7.  Juli  abge- 
haltenen Ministerrat  für  gemeinsame  Angelegen- 
heiten, wurde  die  folgenschwere  Beschlußfassung 
eingeleitet,  die  der  weiteren  Entwicklung  des 
österreichisch -ungarisch  -serbischen  Konfliktes 
die  Wege  wies. 

3.  Der  Sonderstandpunkt  des  Grafen  Tisza 

Vortrag  di-s  Noch  am  1.  JuH  hatte  Graf  Tisza  dem  Monarchen  seine 
u^juiir""  Auffassung  der  politischen  Lage  in  einem  schrifdichen 
Vorirage  dargelegt  '  und  erklärt,  er  könne  der  Absicht  des 
Grafen  Berchtold,  die  ihm  dieser  soeben  persönlich  eröffnet 
habe,  die  Greueltat  in  Sarajevo  zum  Anlasse  der  Abrechnung 
mit  Serbien  zu  machen,  nicht  beipflichten.  Er  habe  dem 
Grafen  Berchtold  gegenüber  kein  Hehl  daraus  gemacht,  daß 
er  dies  für  einen  verhängnisvollen  Fehler  halte  und  die 
Verantwortung  keinesfalls  teilen  würde.  Erstens  hätte  die 
Monarchie  bisher  keine  genügenden  Anhaltspunkte,  um 
Serbien  verantwortlich  machen  zu  können  und  um  trotz 
etwaiger  befriedigender  Erklärungen  der  serbischen  Regierung 
einen  Krieg  mit  diesem  Staate  zu  provozieren.  Die  Staats- 
männer der  Monarchie  würden  den  denkbar  schlechtesten 
Locus  standi  haben,  würden  vor  der  ganzen  Welt  als  die 
Friedensstörer  dastehen  und  einen  großen  Krieg  unter  den 
ungünstigsten  Umständen  anfachen.  Zweitens  halte  Graf  Tisza 
diesen  Zeitpunkt,  in  dem  die  Monarchie  Rumänien  so  gut 
wie  verloren  habe,  und  Bulgarien,  der  einzige  Staat,  auf  den 
sie  rechnen  könne,  erschöpft  darniederliege,  überhaupt  für 
einen  recht  ungünstigen. 

Bei  der  jetzigen  Balkanlage  wäre  es  der  geringste 
Kummer  Graf  Tiszas,  einen  passenden  Casus  belli  zu  finden. 

'  Kopie  des  Vortrages  Graf  Tiszas  d.  d.  Budapest,  1.  Juli. 
fi2 


Sei  einmal  der  Zeitpunkt  zum  Lossciilagen  getcommen,  so 
könne  man  aus  den  verscliiedensten  Fragen  einen  Kriegs- 
fall aufrollen.  Vorher  müsse  jedoch  eine  politische  Kon- 
stellation geschaffen  werden,  die  das  Kräfteverhältnis  weniger 
ungünstig  für  die  Monarchie  gestalte. 

Der  definitive  Anschluß  Bulgariens,  in  einer  Weise, 
welche  keine  Spitze  gegen  Rumänien  habe  und  zu  einer 
Verständigung  sowohl  mit  diesem  Staate  wie  mit  Griechen- 
land die  Türe  offen  halte,  werde  von  Tag  zu  Tag  drin- 
gender; es  müßte  demnach  ein  letzter  Versuch  mit  Deutsch- 
land gemacht  werden,  um  den  offenen  Anschluß  Rumäniens 
an  den  Dreibund  durchzuführen.  Wolle  oder  könne  aber 
Deutschland  diese  Mission  nicht  erfüllen,  so  müsse  es 
hinnehmen,  daß  die  Monarchie  wenigstens  Bulgarien  dem 
Dreibunde  sichere. 

Versäume  die  Monarchie  dies  Rumänien  zuliebe  noch 
länger,  so  würde  nur  sie  die  Schuld  tragen,  wenn  Bulgarien 
—  von  der  Monarchie  verlassen  —  eines  schönen  Tages 
sich  dem  gegen  die  Monarchie  gebildeten  Bündnisse  an- 
schließe und  Österreich-Ungarn  ausplündern  helfe,  um  ein 
Stück  mazedonisches  Land  zu  erhalten.  Schließlich  glaube 
Graf  Tisza,  ein  Bündnis  der  Monarchie  mit  Bulgarien  biete 
die  einzige  Möglichkeit,  Rumänien  zurückzugewinnen.  Bei 
allem  Größenwahn  der  Rumänen  sei  nämlich  die  ent- 
scheidende Triebkraft  in  der  Psyche  dieses  Volkes  die 
Angst  vor  Bulgarien.  Würden  die  Rumänen  sehen,  daß  sie 
die  Monarchie  vor  einem  Bündnisse  mit  Bulgarien  nicht 
zurückhalten  konnten,  so  würden  sie  vielleicht  suchen,  in 
den  Bund  aufgenommen  zu  werden,  um  auf  diese  Weise 
vor  bulgarischer  Aggression  geschützt  zu  werden. 

Dies  seien  die  Hauptgesichtspunkte,  welche  eine  ener- 
gische Aktion  seines  Erachtens  zu  einer  dringenden  Not- 
wendigkeit machten,  und  da  der  bevorstehende  Besuch 
Kaiser  Wilhelms  möglicherweise  Gelegenheit  hiezu  bieten 
werde,  so  habe  sich  Graf  Tisza  für  verpflichtet  gehalten, 
an  den  Monarchen  mit  der  Bitte  heranzutreten,  die  An- 
wesenheit Kaiser  Wilhelms  in  Wien  dazu  benützen  zu  wollen, 
„um  die  Eingenommenheit  dieses  hohen  Herrn  für  Serbien 
„an  der  Hand  der  letzten  empörenden  Ereignisse  zu  bekämpfen" 

63 


und  ihn  zur  tatkräftigen  Unterstützung  der  österreichisch- 
ungarischen  Balkanpoiitii<:  zu  bewegen  '. 

Graf  Tiszo  In  dem  Ministerrat  für  gemeinsame  Angelegenheiten  vom 

und  die  aus-  7^  jy]j  hatten  sich  die  Konferenzteilnehmer  dem  Standpunkt 
tikderMon.  des  Grafen  Tisza  akkommodiert  und  damit  eine  gewisse 
archie  Anerkennung  seiner  geistigen  Führerschaft  an  den  Tag  gelegt. 

Der  ganze  Einfluß  des  Grafen  Tisza  läßt  sich  aber  nicht 
ausschließlich  aus  der  Eigenart  seiner  Persönlichkeit  er- 
klären; erst  wenn  man  sich  vor  Augen  hält,  daß  man  es 
hier  mit  dem  zielbewußten  Exponenten  der  ungarischen 
Staatspolitik  zu  tun  hat,  gewinnt  man  den  Maßstab  für  eine 
richtige  Beurteilung  seiner  dominierenden  Geltung  auch  in 
der  auswärtigen  Politik  der  Monarchie.  Die  Interessen,  die 
Graf  Tisza  dabei  vertrat,  waren  von  den  Ideen  des  einheit- 
lichen ungarischen  Nationalstaates  diktiert. 

Unter  diesem  Gesichtswinkel  betrachtet,  erklärt  sich  auch 
die  Divergenz  der  österreichisch-ungarischen  und  der  deutschen 
Balkanpolitik.  Die  von  Budapest  aus  beeinflußte  politische  Kon- 
zeption des  Ballhausplatzes  erforderte  —  eingedenk  der  öster- 
reichisch-ungarischen Stellungnahme  beim  Bukarester  Vertrag 
das  Jahres  1912  —  eine  Hintanhaltung  jeden  Machtzuwachses 
Rumäniens  und  eine  um  so  intensivere  Bevorzugung  Bulga- 
riens. Eine  forcierte  Erstarkung  Bulgariens  sollte  gleichzeitig 
auch  dem  Machtbegehren  Serbiens  einen  Riegel  vorschieben. 
Dem  spezifisch  ungarischen  Staatsinteresse  konnte  aus  offen- 
liegenden Gründen  eine  andere  Richtlinie  der  österreichisch- 
ungarischen Balkanpolitik  nicht  entsprechen. 

Wenn  demnach  Kaiser  Wilhelm  durch  den  Grafen  Tisza 
einer  „Eingenommenheit"  für  die  Serben  geziehen  wurde,  so 
hätte  der  gleiche  Gedanke  in  anderer  Fassung  als  Mangel  einer 
Animosität  Rumänien  gegenüber  formuliert  werden  können. 
Denn    da    die    rumänisch-sirbische  Annäherung    (durch  die 

'  Worauf  sich  die  Bemerkung  des  Grafen  Tisza  liinsielitlich  einer 
Art  Serbenfreundlichkeit  Kaiser  Wilhelms  stützt,  ist  aus  dem  zur  Ver- 
fügung stehenden  Aktenmateriale  nicht  zu  ersehen.  Jedenfalls  bietet  sie 
eine  bemerkenswerte  Parallele  zu  dem  Herrn  von  Tschirschky  gegenüber 
erhobenen  Vorwurfe  des  Grafen  Berchtold  von  der  in  praxi  bei  Deutsch- 
land nicht  immer  gefundenen  Unterstützung  der  österreichisch-ungarischen 
Balkanpolitik.  (Vgl.  Seite  38.) 

64 


chauvinistischen  Auswüchse  einer  politisch  sterilen  Oppo- 
sition des  ungarischen  Reichstages  mitveranlaßt)  in  erster 
Reihe  eigenstaatliche  Interessen  Ungarns  berührte,  lag  für 
Deutschland  der  Grund  zu  einer  besonderen  Gegner- 
Schaft,  sei  es  gegen  Serbien,  sei  es  gegen  Rumänien,  tat- 
sächlich nicht  vor.  Nach  den  Erwägungen  des  Grafen 
Tisza  durfte  weiters  ein  Balkankrieg  der  Monarchie,  sofern 
das  damit  verbundene  Risiko  einer  europäischen  Kon- 
flagration mit  allen  ihren  verheerenden  Folgen  überhaupt  zu 
verantworten  war,  folgerichtig  selbst  bei  glücklichem  Aus- 
gange keinen  territorialen  Zuwachs  erbringen,  weil  ein 
solcher  den  kardinalsten  Forderungen  der  ungarischen 
Nationalitätenpolitik  widersprochen  hätte;  von  den  unaus- 
bleiblichen Folgen  eines  ungünstig  ausgehenden  Krieges  gar 
nicht  zu  sprechen. 

Deshalb  stand  Graf  Tisza  auf  einem  die  Politik  des 
Grafen  Berchtold  —  anfänglich  wenigstens.  —  ablehnenden 
Standpunkte.  Am  Ballhausplatze  aber  versäumte  man  keine 
Gelegenheit,  diesen  Widerstand  zu  verringern,  und  bediente 
sich  dazu  als  erfolgverheißenden  Mittels  der  vorsätzlichen 
Betonung  des  Drängens  Deutschlands  zu  einer  radikalen 
Lösung  der  serbischen  Krise'.  Es  war  also  nur  konsequent 
gehandelt,  wenn  Graf  Berchtold  durch  den  ungarischen 
Exponehten  im  Ministerium  des  Äußern,  Grafen  Forgäch,  die 
Nachricht  von  den  Besprechungen  des  Grafen  Szögyeny 
mit  Kaiser  Wilhelm  dem  Grafen  Tisza  in  zweckdienlicher 
Formulierung  unverzüglich  übermittelte-. 

Vorläufig  freilich  verharrte  Graf  Tisza  auf  seinem  im 
Ministerrat  vom  7.  Juli  zum  Ausdrucke  gebrachten  Sonder- 
standpunkte. Zur  Erhärtung  seiner  Ansichten  unterbreitete 
er  dem  Monarchen  am  8.  Juli  den  im  Ministerrate  vom 
7.  1.  M.  angekündigten  Vortrag': 

Die  allerdings  sehr  erfreulichen  Nachrichten  aus  Berlin,  Vortrag  des 
verbunden  mit  der  sehr  gerechten  Entrüstung  über  die  Vor-  *^'"'''^'"  ^'"^ 


(8.  Juli) 


'  Vgl.  Anmerkung  1,  Seite  58. 

2  Telegramm  an  den  Grafen  Tisza  d.  d.  Wien,  6,  Juli,  1  Uhr  30  Minuten 
p.  m.,  Pr.  Nr.  4529. 

"■  Vortrag  des  Grafen  Tisza  d.  d.  Budapest,  8.  Juli,  Kabinettsarchiv. 
(Auszugsweise  wiedergegeben.) 

^  65 


kommnisse  in  Serbien,  hätten  bei  allen  anderen  Teilnehmern 
der  gestrigen  gemeinsamen  Ministerkonferenz  die  Absicht 
reifen  lassen,  einen  Krieg  mit  Serbien  zu  provozieren,  um 
mit  diesem  Erzfeinde  der  Monarchie  endgültig  abzurechnen. 

Graf  Tisza  sei  nicht  in  der  Lage  gewesen,  diesem  Plane 
in  vollem  Umfange  zuzustimmen. 

Das  Wiener  Kabinett  habe  gerade  jetzt  den  langersehnten 
vollen  Erfolg  in  Berlin  auch  in  jener  Richtung  erzielt,  daß 
einer  konsequenten,  aktiven,  Erfolg  versprechenden  Politik 
am  Balkan  von  dort  aus  kein  Hindernis  mehr  im  Wege 
stehe;  die  Monarchie  habe  somit  gerade  jetzt  die  Mittel 
in  die  Hände  bekommen,  einen  maßgebenden  Einfluß  auf 
die  Entwicklung  am  Balkan  auszuüben  und  eine  der  Mon- 
archie günstigere  Konstellation  daselbst  durchzuführen.  Dies 
berechtige  zu  der  Hoffnung,  daß  die  Monarchie,  wenn  ihr 
der  Entscheidungskampf  später  aufgenötigt  würde,  denselben 
mit  besseren  Chancen  aufnehmen  könne.  Auf  die  Frage 
des  Grafen  Tisza,  wie  sich  die  Kräfteverhältnisse  bei  den 
Großmächten  infolge  der  überall  vorgenommenen  Rüstungen 
im  Laufe  der  nächsten  Jahre  verschieben  würden,  habe  der 
Chef  des  Generalstabes  nach  einigem  Nachdenken  ge- 
antwortet: „Eher  zu  unseren  Ungunsten."  Aus  dieser  Ant- 
wort könne  wohl  mit  Recht  gefolgert  werden,  daß  diese 
Verschiebung  keine  allzu  wesentliche  sein  und  durch  die 
günstigere  Ausgestaltung  der  Verhältnisse  am  Balkan  mehr 
als  wettgemacht  werde. 

Wenn  Graf  Tisza  neben  den  politischen  Gesichtspunkten 
die  Lage  der  Staatsfinanzen  und  der  Volkswirtschaft  in  Be- 
tracht ziehe,  welche  die  Kriegführung  kolossal  erschweren  und 
die  mit  dem  Kriege  verbundenen  Opfer  und  Leiden  beinahe 
unerträglich  für  die  Gesellschaft  machen  würde,  so  könne 
er  nach  peinlich  gewissenhafter  Überlegung  die  Verant- 
wortung für  die  in  Vorschlag  gebrachte  militärische  Aggression 
gegen  Serbien  nicht  mittragen. 

Es  stehe  ihm  ferne,  eine  energielose  und  untätige  Politik 
gegenüber  Serbien  empfehlen  zu  wollen.  Er  plaidiere  daher 
keineswegs  dafür,  daß  die  Monarchie  diese  Provokationen 
einstecken  solle,  und  er  sei  bereit,  die  Verantwortung  für 
alle    Konsequenzen     eines    durch    die    Zurückweisung    der 

66 


gerechten  Forderungen  der  Monarchie  verursachten  Krieges 
zu  tragen.  Es  müsse  aber  seines  Erachtens  Serbien  die 
Möglichiceit  gegeben  werden,  den  Krieg  im  Wege  einer  aller- 
dings schweren  diplomatischen  Niederlage  zu  vermeiden; 
und  wenn  es  doch  zum  Kriege  komme,  solle  vor  alier 
Welt  Augen  bewiesen  werden,  daß  sich  die  Monarchie  auf 
dem  Boden  gerechter  Notwehr  befinde. 

Es  wäre  also  eine  in  gemessenem,  aber  nicht  drohendem 
Tone  gehaltene  Note  an  Serbien  zu  richten,  in  welcher  die 
konkreten  Beschwerden  der  Monarchie  aufzuzählen  und 
präzise  Forderungen  mit  denselben  zu  verbinden  wären. 
Würde  Serbien  eine  ungenügende  Antwort  geben  oder  die 
Sache  verschleppen  wollen,  so  wäre  mit  einem  Ultimatum 
und  sofort  nach  Ablauf  desselben  mit  der  Eröffnung  der 
Feindseligkeiten  zu  antworten. 

Ein  solches  Vorgehen  seitens  der  Monarchie  würde  die 
Chancen  der  deutschen  Aktion  in  Bukarest  jedenfalls  stark 
vermehren  und  vielleicht  auch  Rußland  von  einer  Beteiligung 
am  Kriege  abhalten.  Es  sei  vorauszusehen,  daß  England 
aller  Wahrscheinlichkeit  nach  einen  Druck  in  diesem  Sinne 
auf  die  übrigen  Ententemächte  ausüben  und  daß  auch  bei 
dem  Zaren  der  Gedanke  in  die  Wagschale  fallen  würde,  daß 
es  kaum  seine  Aufgabe  sei,  anarchistische  Wühlereien  und 
antidynasiische  Mordanschläge  unter  seinen  Schutz  zu  nehmen. 

Um  jedoch  Verwicklungen  mit  Italien  aus  dem  Wege  zu 
gehen,  der  Monarchie  dife  Sympathien  Englands  zu  sichern 
und  es  Rußland  überhaupt  zu  ermöglichen,  Zuschauer  des 
Krieges  zu  bleiben,  müßte  durch  das  Wiener  Kabinett  in 
entsprechender  Zeit  und  Form  die  Erklärung  abgegeben 
werden,  daß  die  Monarchie  Serbien  nicht  vernichten,  noch 
weniger  annektieren  wolle. 

Das  wäre  die  Ausgestaltung  der  Verhältnisse,  auf  die  für  den 
Kriegsfall  hinzuarbeiten  wäre.  Sollte  Serbien  nachgeben,  so 
müßte  die  Monarchie  freilich  auch  diese  Lösung  bona  fide 
hinnehmen  und  ihm  den  Rückzug  nicht  verlegen.  In  diesem 
Falle  hätte  sie  sich  mit  einer  starken  Knickung  des  serbischen 
Hochmutes  und  einer  schweren  diplomatischen  Niederlage 
dieses  Staates  zu  begnügen  und  die  bewußte  intensive  Aktion 
in  Bulgarien  und  den  anderen  Balkanstaaten  um  so  energischer 


Schreiben 
Graf  Berch- 
tolds  an 
Graf  Tisza 
<S.  Juli) 


in  die  Hand  zu  nehmen,  da  der  soeben  erreichte  diplomatische 
Erfolg  jedenfalls  günstig  auf  das  Ergebnis  dieser  Verhand- 
lungen wirken  würde. 

Graf  Tisza  habe  sich  erlaubt,  seine  Anschauung  dem 
Monarchen  eingehend  vorzulegen.  Er  sei  sich  der  schweren 
Verantwortung  bewußt,  die  in  diesen  kritischen  Zeiten  ein 
jeder  zu  tragen  habe,  der  das  Vertrauen  des  Herrschers 
besitze.  Im  vollen  Bewußtsein,  daß  die  Last  dieser  Verant- 
wortung dieselbe  bleibe,  ob  man  sich  für's  Handeln  oder 
für's  Unterlassen  entscheide,  glaube  er,  nach  peinlicher 
Erwägung  aller  einschlägigen  Momente,  den  in  diesen  Aus- 
einandersetzungen beschriebenen  Mittelweg  anraten  zu  sollen, 
der  einen  friedlichen  Erfolg  nicht  ausschließe  und  die  Chancen 
des  Krieges  —  sollte  er  doch  unvermeidlich  sein  —  in 
mancher  Beziehung  bessere. 

Es  werde  seine  Pflicht  sein,  in  dem  für  morgen  einberufenen 
Ministerrate  die  Stellungnahme  des  ungarischen  Kabinetts  zu 
veranlassen;  einstweilen  könne  er  im  eigenen  Namen  die 
Erklärung  abgeben,  daß  er,  trotz  seiner  Hinneigung  an  den 
Dienst  des  Herrschers  —  oder  besser  gesagt  gerade  infolge 
derselben  — ,  die  Verantwortung  für  die  ausschließlich  und 
aggressiv  kriegerische  Lösung  nicht  mittragen  könnte. 

In  der  Argumentation  seines  Vortrages  erschien  dem 
Grafen  Tisza  (soweit  er  diesen  Gegenstand  berührte)  die 
Berliner  Balkanpolitik  als  eine  die  Interessen  der  Monarchie 
noch  immer  nicht  hinlänglich  genug  fördernde;  wenigstens 
kann  die  eingangs  seiner  Ausführungen  gebrauchte  Wendung 
von  den  „allerdings  sehr  erfreulichen  Nachrichten  aus 
Berlin"  dahin  verstanden  werden.  Graf  Berchtold  mußte 
es  sich  also  um  so  angelegener  sein  lassen,  Graf  Tisza  gerade 
mit  dem  Hinweise  auf  die  günstigen  Dispositionen  des 
Berliner  Kabinetts  zu  beeinflussen;  ein  übriges  sollte  die 
Vorstellung  tun,  daß  eine  schwankende  Haltung  der  Monarchie 
unerwünschte  Rückwirkungen  auf  die  Politik  Deutsch- 
lands selbst  ausüben  könnte.  Die  Mitteilung  über  eine  mit 
Herrn  von  Tschirschky  am  8.  Juli  gepflogene  Besprechung 
bot  dazu  neuerdings  die  Gelegenheit  ': 

'  Hausabschrift  eines  Briefes  des  Grafen  Berchtold  an  den  Grafen 
Tisza  d.  d.  Wien,  8.  Juli   1914. 


68 


Herr  von  Tschirschky  habe  Graf  Berchtold  verständigt,  ein 
Telegramm  aus  Berlin  erhalten  zu  haben,  demzufolge  Kaiser 
Wilhelm  ihn  beauftragt  hätte,  in  Wien  mit  allem  Nachdruck 
zu  erklären,  daß  man  in  Berlin  eine  Aktion  der  Monarchie 
gegen  Serbien  erwarte  und  daß  es  in  Deutschland  nicht  ver- 
standen würde,  wenn  die  Monarchie  die  gegebene  Gelegenheit 
vorübergehen  ließe,  ohne  einen  Schlag  zu  führen  •. 

Auf  die  Bemerkung  des  Grafen  Berchtold,  daß  es  dem 
Wiener  Kabinett  bei  Fassung  endgültiger  Entschlüsse  natür- 
lich von  großer  Wichtigkeit  wäre  zu  wissen,  inwieweit  das- 
selbe auf  die  Einwirkung  Deutschlands  in  Bukarest  rechnen 
könnte  und  was  von  derselben  zu  erhoffen  wäre,  habe  der 
Botschafter  bemerkt,  man  halte  es  in  Berlin  für  aus- 
geschlossen, daß  Rumänien  in  diesem  Falle  gegen  die 
Monarchie  Stellung  nehmen  könnte.  Übrigens  habe  sich 
Kaiser  Wilhelm  auch  brieflich  an  König  Carol  gewendet 
und  man  könne  sich  denken,  „daß  dieser  Brief  an  Deudich- 
keit  nichts  zu  wünschen  übrig  gelassen  habe!" 

Aus  den  weiteren  Ausführungen  des  Botschafters  habe 
Graf  Berchtold  ersehen  können,  daß  man  in  Deutschland 
ein  Transigieren  seitens  der  Monarchie  mit  Serbien  als 
Schwächebekenntnis  auslegen  würde,  was  nicht  ohne  Rück- 
wirkung auf  die  Stellung  der  Monarchie  im  Dreibunde  und 
auf  die  künftige  Politik  Deutschlands  bleiben  könnte. 

Die  vorstehenden  Eröffnungen  Herrn  von  Tschirschkys 
erschienen  Graf  Berchtold  von  solcher  Tragweite,  daß  sie 
eventuell  auch  von  Einfluß  auf  die  Schlußfassung  der  vom 

1  In  dem  Telegramme  des  Reichskanzlers  an  den  deutschen  Bot- 
schafter in  Wien  d.  d.  Berlin,  6.  Juli  1914  (Weißbuch,  betr.  d.  V.  d.  U.  a.  K., 
Seite  70)  lautet  die  gegenständliche  Stelle:  „Was  endlich  Serbien 
anlange,  so  könne  Seine  Majestät  zu  den  zwischen  Österreich- 
Ungarn  und  diesem  Lande  schwebenden  Fragen  naturgemäß 
keine  Stellung  nehmen,  da  sie  sich  seiner  Kompetenz  ent- 
zögen. Kaiser  Franz  Joseph  könne  sich  aber  darauf  verlassen, 
daß  Seine  Majestät  im  Einklang  mit  seinen  Bündnispflichten 
und  seiner  alten  Freundschaft  treu  an  Seite  Österreich- 
Ungarns  stehen  werde."  Unser  Text  stellt  also  die  durch  den 
Grafen  Berchtold  vollzogene  Niederschrift  der  von  Herrn 
von  Tschirschky  gegebenen  Interpretation  des  angeführten  Passus 
der  offiziellen  Weisung  dar. 

69 


Graf  Tisza 

revidiert 

seine 


Grafen  Tisza  beabsichtigten  Eingabe  an  den  Monarchen  sein 
könnten.  Er  habe  daher  dem  Grafen  Tisza  ungesäumt  davon 
Mitteilung  machen  wollen  und  bitte  ihn,  wenn  er  es  für 
angezeigt  finde,  ihm  diesbezüglich  nach  Bad  Ischl  zu  tele- 
graphieren. Graf  Berchtold  verbringe  den  9.  Juli  daselbst 
und  könnte  sich  zum  Interpreten  der  Auffassung  des  Grafen 
Tisza  beim  Monarchen  machen  '. 

Unmittelbar  bewirkten  die  Mitteilungen  Graf  Berchtolds 
keine  Veränderung  der  Auffassung  des  Grafen  Tisza.  Erst 
Anschauung  am  16.  JuM  traf  eine  Meldung  des  Grafen  Szögyeny  aus 
Berlin  ein  -,  Graf  Tisza  habe  während  seines  letzten  Auf- 
enthaltes in  Wien  Herrn  von  Tschirschky  aufgesucht  und 
ihm  versichert,  daß  er  nunmehr  alle  seine  anfänglich  aller- 
dings bestandenen  Bedenken  aufgegeben  habe  und  mit  einer 
energischen  Aktion  einverstanden  sei.  Die  im  ungarischen 
Parlament  am  15.  Juli  abgegebenen  Erklärungen  seien  bereits 
der  neuen  Anschauungsweise  des  ungarischen  Minister- 
präsidenten entsprungen. 

Da  am  14.  Juli  eine  Besprechung  des  Grafen  Berchtold 
mit  den  beiden  Ministerpräsidenten  und  dem  königlich 
ungarischen  Minister  am  allerhöchsten  Hoflager  stattgefunden 
hatte  %  war  die  Änderung  der  Stellungnahme  Graf  Tiszas 
wohl  hier  erfolgt. 


Offizielle 

Stellung- 
nahme der 
serbischen 
Regierung 


4.  Die  k.  u.  k.  Regierung  und  die  europäischen 

Kabinette 

Belgrad 

Eine  von  dem  königlich  serbischen  Preßbureau  am  I.Juli 
1914  veröffentlichte  Erklärung  der  serbischen  Regierung 
gab  dem  Abscheu  Serbiens  über  die  in  Sarajevo  verübten 
Morde  und  dem  Willen  der  serbischen  Regierung  Ausdruck, 
die  Umtriebe  verdächtiger  Elemente  mit  Aufmerksamkeit  zu 

'  Zu  dem  Bemühen  Graf  Berchtolds,  die  Gedankengänge  des  Vor- 
trages Graf  Tiszas  zu  beeinflussen  oder  aber  selbst  heim  Monarchen  als 
Dolmetsch  der  Auffassung  des  ungarischen  Ministerpräsidenten  zu  dienen, 
vgl.  Seite  40,  Anmerkung  1,  Absatz  2 — 4. 

"  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.   16.  Juli,  Nr.  259. 

3  Vgl.  Seite  85  tf. 


70 


verfolgen  und  nichts  zu    unterlassen,   was   zur   Beruhigung 
der  Geister  beizutragen  vermöchte. 

Die  offizielle  „Samouprava"  legte  den  eigenen  Standpunkt 
dahin  fest:  Nicht  nur  Serbien,  sondern  auch  Österreich- 
Ungarn  werde  dem  Urteile  der  zivilisierten  Welt  nicht  entgehen 
können.  Zugleich  wurde  der  Hoffnung  Ausdruck  gegeben, 
daß  die  Beziehung  zwischen  den  beiden  Nachbarstaaten  nicht 
weiter  durch  unbedachte  und  ungerechtfertigte  Äußerungen 
und  journalistische  Verdächtigungen  gestört  würden. 

Auch    sollte    die    serbische    Regierung,  wie  der  k.  u.  k.  Angebliche 
Geschäftsträger  in  Belgrad  auf  Grund  einer  Nachricht  der  zirkuiamoie 
„Politika"  vom  7.  Juli   meldete',   in    einer  Zirkularnote   an  sJbischen 
ihre    Vertreter    ihren    Standpunkt    des   Weiteren    bekannt-  Regierung 
gegeben  haben: 

Das  offizielle  sowie  das  nichtoffizielle  Serbien  verurteile 
das  Attentat  in  der  entschiedensten  Weise.  Trotzdem 
wünsche  man  österreichisch-ungarischerseits  Verhältnisse  zu 
schaffen,    die    den    gutnachbarlichen  Beziehungen    zwischen  ** 

Serbien  und  der  Monarchie  zuwiderlaufen  würden. 

Die  serbische  Regierung  lehne  die  Anklage  ab,  daß  sich 
auf  serbischem  Territorium  anarchistische  Elemente  ver- 
sammelten, und  füge  hinzu,  dies  würde  in  Serbien  niemals 
gestattet  sein.  Außer  einem  bereits  vorbereiteten  Gesetze 
gegen  die  Anarchisten  gedenke  man  auch  Maßregeln  zu 
ergreifen,  damit  sich  die  exaltierten  Elemente,  die  sich  in 
Serbien  aufhielten,  möglichst  beruhigten. 

Alle  Angriffe  der  Wiener  und  der  Budapester  Presse  weise 
die  serbische  Regierung  im  Namen  des  offiziellen  Serbien 
zurück  und  sie  füge  hinzu,  daß  an  dem  Sarajevoer  Attentat 
die  Schuld  nur  einen  einzigen  Menschen  treffe,  der  dazu 
ein  Staatsangehöriger  der  Monarchie  sei-. 

Große  Indignation  riefen  am  Ballhausplatze    die    in    der  imerviews 
Petersburger  „Wetschernoje  Wremja"  vom  29.  Juni  repro-  serbischer 
duzierten  Äußerungen  aus  serbischen  diplomatischen  Kreisen 
hervor,  die  tags  darauf  in  der  ganzen  Presse  dem  serbischen 
Gesandten  in  Petersburg,  Herrn  Spalajkovic,  zugeschrieben 

'  Bericht  aus  Belgrad  d.  d.  8.  Juli,  Nr.  108/P.  A— B. 
2  Der  Attentäter  Gavrilo  Princip  stammte  aus  Grahovo,  Bezirk  Livno, 
Bosnien. 

71 


Diplomaten 
im  Auslande 


wurden  und  ohne  ein  Dementi  blieben.  Die  Ausführungen 
gipfelten  in  der  Kontclusion,  die  Reise  des  Thronfolgers  sei 
in  Bosnien  schon  lange  kommentiert  worden  und  habe 
feindselige  Proteste  hervorgerufen.  Der  Boden  des  Attentates 
sei  die  lokale  Unzufriedenheit  gewesen. 

Tags  darauf  brachte  die  „Nowoje  Wrenija"  ein  anderes 

Interview  eines  serbischen  Diplomaten  mit  ähnlicher  Tendenz'. 

Als    der    k.    u.     k.     Legadonsrat     und     interimistische 

Geschäftsträger  in  St.    Petersburg,    Graf  Otto    Czernin,    in 

einer     Unterredung     mit     Herrn     Sazonow     (6.    Juli)     die 

Äußerungen    des    Herrn  Spalajkovic   zur  Sprache    brachte, 

vermied  der  russische  Minister  jedwede  Inschutznahme  des 

serbischen  Diplomaten-. 

Die  Haltung         Dcr  Vertreter  panslawistischer  Interessen,  der  russische 

■"^ .  ,        Gesandte    in  Belgrad  Herr  von   Hartwig,    legte   seiner  zur 

russischen  ^  oi  o 

Gesandten  Schau  getragenen  Gegnerschaft  gegen  die  Monarchie  auch 
in  Belgrad  u^tgp  (jg^n  Unmittelbaren  Eindruck  des  Sarajevoer  Attentats 
keine  Hemmungen  auf.  Nach  einer  Meldung  des  k.  u.  k. 
Geschäftsträgers  in  Belgrad  ^  solle  er  beim  Eintreffen  der 
Todesnachricht  in  die  Worte  ausgebrochen  sein:  „Au  nom 
du  Ciel!  Pourvu  que  9a  ne  soit  pas  un  Serbe."  Die  Gesell- 
schaft, die  Herr  von  Hartwig  für  den  Abend  des  28.  Juni 
zu  sich  geladen  hatte,  wurde  trotz  der  schon  am  Nachmittag 
bekannten  Nachricht  des  Attentats  nicht  abgesagt,  und  zur 
Zeit  des  Requiems  für  den  ermordeten  Thronfolger  wurde 
die  russische  Gesandtschaftsflagge,  als  die  einzige  der  fremden 
Vertretungen,  nicht  auf  Halbmast  gehißt. 

Es  war  wohl  —  wie  der  k.  u.  k.  Geschäftsträger  mel- 
dete* —  das  Unbehagen,  daß  nicht  nur  diese  Verletzung  des 
internationalen  Taktes,  sondern  auch  seine  Schmähungen  des 
österreichisch-ungarischen  Herrscherhauses  zu  den  Ohren 
des  k.  u.  k.  Gesandten  in  Belgrad  gekommen  sein  könnten, 
das  den  russischen  Gesandten  veranlaßte,  sich  sofort  nach 
der  Rückkehr  des  Freiherrn  von  Giesl  auf  die  k.  u.  k. 
Gesandtschaft  zu  begeben,  um  das  Prävenire  zu  spielen. 

'  Telegramm  aus  St.  Petersburg  d.  d.  3.  Juli,  Nr.   136. 

=  Telegramm  aus  St.  Petersburg  d.  d.  7.  Juli,  Nr.  139. 

•1  Bericht  aus  Belgrad  d.  d.  29.  Juni,  Nr.  S7iP.  A— B. 

*  Bericht  aus  Belgrad  d.  d.   13.  Juli,  Zahl   117P. 

72 


kanzler 
(8.  Juli)  ■ 


Berlin 

Die     Zusage     der     bundesgenössischen     Unterstützung  Dank  des 
Deutschlands    quittierte    Graf    Berchtold     mit     einer    dem  ^™'^" , . 

T  Berchtold  an 

k.  u.  k.  Botschafter    in    Berlin    am    8.   Juli    aufgetragenen,  denReichs- 
dem      Reichskanzler      abzustattenden     Versicherung  '      des 
wärmsten  Dankes  für  die  vom  Geiste  reinster  Bundestreue 
getragenen  Erklärungen. 

Graf  Berchtold  erblicke  in  der  Bereitwilligkeit,  mit  der 
sich  die  deutsche  Regierung  seinen  Ausführungen  an- 
geschlossen habe,  einen  neuen  Beweis  dafür,  daß  die  Ziele 
und  die  großen  Richtlinien  der  Politik,  weiche  die  beiden  ver- 
bündeten Mächte  auf  dem  Balkan  verfolgten,  identisch  seien. 

Graf  Szögyeny  wolle  Herrn  von  Bethmann  Hollweg 
noch  mitteilen,  daß  am  7.  Juli  in  Wien  ein  gemeinsamer 
Ministerrat  wegen  der  weiter  zu  ergreifenden  Maßnahmen 
stattgefunden  habe  und  daß  sich  Graf  Berchtold  nach  Ischl 
begebe,  um  dem  Monarchen  Vortrag  zu  erstatten. 

Sobald  endgültige  Entschließungen  gefaßt  seien  (der 
Zeitpunkt  hänge  auch  noch  von  der  Beendigung  der  Unter- 
suchung in  Sarajevo  ab),  werde  Graf  Berchtold  dieselben 
unverweilt  zur  Kenntnis  der  deutschen  Regierung  bringen-. 
"Was  die  in  Anregung  gebrachte  diplomatische  Orien- 
tierung des  Dreibundes  Bulgarien  gegenüber  anbelange, 
glaube  Graf  Berchtold  der  Ansicht  Ausdruck  geben  zu 
sollen,  es  würde  sich  empfehlen,  vorläufig  noch  mit  den 
diesbezüglichen  Eröffnungen  in  Bukarest  zuzuwarten,  da, 
im  Falle  es  jetzt  zu  einer  Aktion  gegen  Serbien  kommen 
sollte,  die  fragliche  Mitteilung  in  Bukarest  eine  unfreund- 
schaftliche Haltung  Rumäniens  zur  Folge  haben  könnte. 

Graf  Szögyeny  ließ  diese  Dankesbezeugung  durch  die 
Vermittlung  des  von  seinem  Urlaube  eben  zurückgekehrten 
Staatssekretärs  dem  Reichskanzler,  der  sich  in  Hohenfinow 
befand,  unverzüglich  abstatten. 

Der  Staatssekretär  sei,  telegraphierte  Graf  Szögyeny 
(9.  Juli)  ■,  wie  er  sich  überzeugen  konnte,  mit  der  gemeldeten 

1  Weisung  nach  Berlin  d.  d,  Wien,  8.  Juli,  Nr.  220. 

2  Vergleiche  unsere  Ausführungen  Seite   110  ff. 

3  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  9.  Juli,  Nr.  244. 

73 


Stellungnahme  der  deutschen  Regierung  vollkommen  ein- 
verstanden und  habe  ihm  in  sehr  entschiedener  Weise  ver- 
sichert, daß  auch  seiner  Ansicht  nach  die  in  Aussicht 
gestellte  Aktion  gegen  Serbien  ohne  Verzug  in  Angriff 
genommen  werden  sollte. 

Der  deutsche  Gesandte  in  Bukarest  sei  beauftragt,  die 
Demarche  an  König  Carol  vorerst  auf  die  Verhandlungen 
mit  Bulgarien  zu  beschränken,  die,  soweit  der  Staats- 
sekretär selbst  informiert  sei,  bisher  in  konkreter  Form 
noch  nicht  begonnen  hätten. 
Das  Wiener  Als  Tag  für  Tag  Verging,  ohne  daß  die  unmittelbar 
Kabinett  be-   gewarteten    Maßnahmen    der   Wiener   Regierung    gegenüber 

gründet  die  ö  &      6    & 

Verzögerung  Serbien  in  Berlin  mitgeteilt  wurden,  sah  sich  Graf  Berchtold 
!f'""  bemüßigt,    am   15.   Juli  die  notwendigen  Aufklärungen  durch 

Demarche  b  ■>  o  &  ö 

(15.  Juli)       den  k.  u.  k.  Botschafter  abzugeben  ': 

Graf  Berchtold  habe  Herrn  von  Tschirschky  bereits  die 
Gründe  mitgeteilt,  die  die  Verzögerung  der  bevorstehenden 
Auseinandersetzung  mit  Serbien  verursachten.  Graf  Berchtold 
würde  aber  Wert  darauflegen,  daß  der  k.  u.  k.  Bot- 
schafter dem  Reichskanzler,  beziehungsweise  Staatssekretär 
in  der  Sache  Nachstehendes  streng  geheim  zur  Kenntnis 
bringe: 

Wenn  auch  die  bisherige  Untersuchung  in  Sarajevo  ge- 
nügendes Material  liefere-,  so  glaube  das  Wiener  Kabinett 
dennoch  mit  der  sehr  energisch  gedachten  Demarche  in 
Belgrad  noch  solange  zuwarten  zu  müssen,  bis  der  eben 
auf  der  Reise  nach  Petersburg  begriffene  Präsident  der 
französischen  Republik  wieder  den  russischen  Boden  ver- 
lassen haben  werde.  Die  ins  Auge  gefaßte  Aktion  in  einem 
Augenblicke  zu  beginnen,  in  dem  der  Präsident  als  Gast 
des  Zaren  in  Rußland  gefeiert  werde,  könnte  begreiflicher- 
weise als  ein  politischer  Affront  aufgefaßt  werden,  was  das 
Wiener  Kabinett  gerne  vermieden  sehen  möchte.  Andrer- 
seits scheine  es  dem  Wiener  Kabinett  auch  unklug,  den 
komminatorischen  Schritt  in  Belgrad  gerade  zu  einer  Zeit 
zu  machen,  in  der  der  friedliebende,  zurückhaltende  Kaiser 
Nikolaus  und  der  immerhin  vorsichtige  Herr  Sazonow  dem 

I  Weisung  nach  Berlin  d.  d.  Wien,  15.  Juli,  Nr.  234. 
-  Vgl.  Seite  91  fF. 

74 


unmittelbaren  Einflüsse  der  beiden  Hetzer  Iswolslcy  und 
Poincare  ausgesetzt  wären. 

Unter  diesen  Umständen  glaube  das  Wiener  Kabinett, 
vor  Ende  der  nächsten  Woclie  nicht  an  die  Ausführungen 
des  mit  Herrn  von  Tschirschtcy  bereits  besprochenen  Planes » 
gehen  zu  können.  Aus  dieser  auch  dem  Wiener  Kabinett 
nicht  erwünschten  Verzögerung  lasse  sich  auch  die  Haltung 
der  Wiener  offiziösen  Presse  unschwer  erklären.  Man 
müsse  in  Wien  momentan  einerseits  ein  Abflauen  der 
der  offiziellen  Politik  günstigen  öffentlichen  Meinung  der 
Monarchie  verhindern,  andrerseits  nicht  durch  eine  die 
Situation  systematisch  zuspitzende  Sprache  der  österreichi- 
schen und  ungarischen  Presse  bei  anderen  Mächten  etwa 
einen  Mediationsgedanken  aufkommen  lassen. 

Der  Staatssekretär,  meldete  Graf  Szögyeny  am  16.  Juli-, 
sehe  zwar  vollkommen  ein,  daß  mit  der  in  Aussicht 
genommenen  energischen  Demarche  in  Belgrad  bis  zur 
Abreise  des  Präsidenten  der  französischen  Republik  aus 
Petersburg  zugewartet  werden  müsse,  bedauere  aber  diese 
Verzögerung  ganz  außerordentlich.  Auch  befürchte  Herr 
von  Jagow,  daß  die  sympathische  Zustimmung  und  das 
Interesse  für  die  Demarche  auch  in  Deutschland  durch  diese 
Verzögerung  abflauen  werde. 

Rom 

Über  die  in  Aussicht  genommene  Demarche  des  Wiener  Die  Frage 
Kabinetts  wurde  der  k.  u.  k.  Botschafter  Herr  von  Merey  ''"^'"• 

weihung  der 

durch  ein  Privatschreiben  des  Sektionschefs  Grafen  Forgäch  italienische« 
unterrichtet.  Eine  am  12.  Juli  nach  Rom  übermittelte  "'^s'"""« 
Weisung  ■'■  verständigte  den  k.  u.  k.  Botschafter,  daß  die 
geplante  Aktion  gegen  Belgrad  wahrscheinlich  gegen  Ende 
des  Monats  stattfinden  werde;  die  Details  würden  in  der 
laufenden  Woche  fixiert  werden.  Die  deutsche  Regierung, 
mit  welcher  in  vollkommenem   Einvernehmen  vorgegangen 

<  Im  Konzept  ursprünglich:  „ausführlich  besprochenen  Planes"  (das 
Wort  „ausführlich"  nachträglich  gestrichen). 

-  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.   16.  Juli,  Nr.  259. 
■i  Weisung  nach  Rom  d.  d.  Wien,  12.  Juli,  Nr.  801. 


werde,  sei  der  vom  Grafen  Berchtold  geteilten  Ansicht', 
daß  die  italknisclie  Regierung  nicht  eingeweiht  und  durch 
das  sehr  ernste  Auftreten  der  Monarchie  in  Belgrad  vor 
eine  unabwendbare  Situation  gestellt  werde.  Doch  werde 
die  maßgebende  Ansicht  des  k.  u.  k.  Botschafters  erbeten, 
ob  es  nicht  nützlich  wäre,  Marquis  di  San  Giuliano  einen 
Tag  oder  einige  Stunden  vorher  zu  verständigen,  um  ein 
Froissement  des  italienischen  Ministers  zu  vermeiden,  und 
damit  dieser  in  der  Lage  sei,  eine  Einwirkung  auf  die 
italienische  Presse  und  Öffentlichkeit  in  bundestreuem  Sinne 
zu  veranlassen. 

Was  den  Anschluß  Bulgariens  an  den  Dreibund  an- 
belange, werde  der  k.  u.  k.  Gesandte  in  Sofia  während  der 
laufenden  Woche  vorsichtige  Pourparlers  mit  dem  bulgarischen 
Kabinett  beginnen.  Sobald  man  in  Wien  zur  Überzeugung 
gelange,  daß  vertragsmäßige  Abmachungen  derzeit  bereits 
möglich  seien,  werde  die  italienische  Regierung  vom  Wiener 
Kabinett  verständigt  und  zu  der  notwendigen  Kooperation 
aufgefordert  werden. 
Äußerungen  Hcrr  von  Mcrcy  äußerte  seine  Anschauung  dahin 
Bo^is'lhafiers  (^4.  Juli)  ■,  Wenn  er  auch  für  den  Fall,  daß  die  Monarchie  den 
<i4.  Juli)  kriegerischen  Konflikt  mit  Serbien  forcieren  wolle,  der  Ansicht 
sei,  von  aussichtslosen  vorherigen  Verhandlungen  mit  Italien 
abzusehen,  würde  er  doch,  um  ein  allzuarges  persönliches 
Froissement  Marquis  di  San  Giulianos  zu  vermeiden,  unbe- 
dingt anraten,  die  Ermächtigung  zu  erhalten,  diesem  die 
Aktion  des  Wiener  Kabinetts  etwa  einen  Tag  vorher  anzu- 
kündigen. Eine  Einwirkung  auf  die  römische  Presse  im  Sinne 
der  Monarchie  verspreche  sich  der  k.  u.  k.  Botschafter  von 
Seite  des  italienischen  Ministers  des  Äußern  allerdings  auch  in 
diesem  Falle  nicht,  aber  die  Ausschaltung  und  Überrumpelung 
des  römischen   Kabinetts   wäre   immerhin    ein    klein   wenig 

'  Zu  der  Stilisierung  des  Satzes:  Die  deutsche  Regierung  sei  der 
vom  Grafen  Berchtold  geteilten  Ansicht,  vergleiche  die  Meldung  Graf 
Szögyenys  vom  6.  Juli:  „Auch  sei  er  (der  Reichskanzler)  ganz  damit 
einverstanden,  daß  das  Wiener  Kabinett  weder  Italien  noch  Rumänien 
vorher  von  einer  eventuellen  Aktion  gegen  Serbien  verständige."  (Seite  34 
oben.)  Die  gegenständliche  Anregung  ging  also  von  Wien  und  nicht  von 
Berlin  aus. 

-  Telegramm  aus  Rom  d.  d.   14.  Juli,  Nr.  512. 

76 


gemildert.  Bei  dem  bezüglichen  Auftrage  sei  zu  berück- 
sichtigen, daß  der  Minister  des  Äußern  sich  gegenwärtig  in 
Fiuggi  aufhalte  und  sich  gegen  Ende  der  nächsten  Woche 
nach  Vallombrosa  bei  Florenz  begeben  dürfte,  daß  dem 
k.  u.  k.  Botschafter  also  die  Möglichkeit  der  rechtzeitigen 
Reise  geboten  sein  müßte. 

In  Erledigung  seiner  Meldung  erhielt  der  k.  u.  k.  Bot-  Weisung  an 
schafter  am  15.  Juli  den  Bescheid  ',  [der  gegenwärtig  in  Wien  gJJ^'^Jf,^^; 
weilende,  in  Diensteseinteilung  bei  der  k.  u.  k.  Botschaft  am  ds.  juid 
Quirinal  stehende  k.  u.  k.  außerordentliche  Gesandte  und 
bevollmächtigte  Minister]  Graf  Ambrözy  sei   zur  Beschleu- 
nigung seiner  Rückkehr  verhalten  worden,  um  dem  k.  u.  k. 
Botschafter    einige    geheime,    auf    die    Verhandlungen    mit 
Deutschland  bezügliche,  die  bevorstehende  Aktion  betreffende 
Piecen   zu    überbringen-.   Graf  Ambrözy  sei  über  die  Ab- 
sichten des  Wiener  Kabinetts  vollkommen  aufgeklärt  worden, 
um  Herrn  von  Merey  alle  notwendigen  Informationen  geben 
zu  können.   Weitere  Instruktionen,  speziell  den  Text  einer 
der  italienischen  Regierung  zu  überreichenden  Note,  werde 
ein  voraussichtlich  am  21.  Juli  abends  in  Rom  eintreffender 
Kurier  überbringen. 

Graf  Berchtold  erkläre  sich  einverstanden,  daß  Herr 
von  Merey  Marquis  di  San  Giuliano  die  bevorstehende 
Aktion  des  Wiener  Kabinetts  einen  Tag  früher  ankündige -^ 

Doch  seien  die  Daten  noch  nicht  endgültig  fixiert;  der 
k.  u.  k.  Botschafter  werde  rechtzeitig  telegraphisch  avisiert 
werden,  damit  er  seinen  Besuch  beim  italienischen  Minister 
des  Äußern  mit  demselben  telegraphisch  vereinbaren  könne. 
Die  Überreichung  der  Note  an  Serbien  dürfte  wahrscheinlich 
am  24.  oder  25.  JuU  erfolgen. 

~  I  Weisung  nach  Rom  d.  d.  Wien,   15.  Juli,  Nr.  820. 

-  Gemeint  sein  können  kaum  andere  als  die  von  uns  bisher  behan- 
delten einschlägigen  Aktenstücke. 

2  Im  Konzept  folgte  an  dieser  Stelle  der  nachträglich  durchstrichene 
Absatz:  „Es  dürfte  sich  wahrscheinlich  dann  darum  handeln,  daß  Eure 
„Exzellenz  Marquis  di  San  Giuliano  nächsten  Mittwoch,  Donnerstag  oder 
„Freitag  [22.,  23.  oder  24.  Juli]  in  seinem  Sommeraufenthalt  aufsuchen. 
„Schritt  in  Belgrad  würde  an  dem  darauffolgenden  Tage,  Überreichung 
„der  an  die  Mächte  gerichteten  Note  am  selben  Tage  oder  am  Tage  nach 
,,dem  Schritte  in  Belgrad  erfolf  t." 

77 


Fesistcl- 
lungcn  des 
k.    u.  k. 
Botschafters 
<I6.  Juli) 


Angebliche 
Konfidenzen 
des  deut- 
schen Bot- 
schafters in 
Rom 


Wie  Herr  von  Merey  in  einem  Berichte  vom  16.  Juli 
hervorhob  ',  besitze  er  bisher  über  den  Charakter  und  den 
Inhalt  der  bevorstehenden  Demarche  in  Belgrad  sowie 
speziell  darüber,  ob  sich  das  Wiener  Kabinett  mit  der  Er- 
füllung gewisser  legitimer  Forderungen  begnügen  oder  die 
kriegerische  Abrechnung  mit  Serbien  bei  diesem  Anlasse 
unbedingt  forcieren  werde,  ob  es  sich  also  dem  Wiener 
Kabinett  um  einen  kleinen  diplomatischen  oder  um  einen 
großen  militärischen  und  politischen  Erfolg  handle,  nur  so 
geringe  und  vage  Informationen,  daß  er  bei  Beurteilung  der 
ganzen  Angelegenheit  auf  bloße  Hypothesen  angewiesen  sei. 

Einer  Meldung  des  Grafen  Szögyeny  vom  16.  Juli 
zufolge  -  zeigte  sich  der  italienische  Botschafter  in  Berlin 
während  der  letzten  Tage  über  die  Situation  höchst  be- 
unruhigt, wenn  er  auch  in  den  Nachrichten  über  den  Urlaub 
des  k.  u.  k.  Kriegsministers  und  des  k.  u.  k.  Chefs  des 
Generalstabes  ein  ihm  offenbar  sehr  erwünscht  erscheinen- 
des, beruhigendes  Symptom  erblicke. 

Den  Schlüssel  zur  Erklärung  dieses  Umstandes  bot  nach 
der  Auffassung  des  Wiener  Kabinetts  der  Inhalt  einer  tele- 
graphischen Meldung  Herrn  von  Mereys  vom  18.  Juli-: 

Aus  Äußerungen  des  deutschen  Botschaftssekretärs 
Grafen  Berchem  gegenüber  zwei  Herren  der  k.  u.  k.  Bot- 
schaft hatten  letztere  den  Eindruck,  als  ob  der  seit  vierzehn 
Tagen  gleichfalls  in  Fiuggi  befindliche  deutsche  Botschafter 
dem  italienischen  Minister  des  Äußern  bereits  Konfidenzen 
über  die  Absichten  des  Wiener  Kabinetts  gegenüber  Serbien 
gemacht  hätte. 

Es  wäre  -  äußerte  sich  Herr  von  Merey  -  nicht 
das  erstemal,  daß  man  deutscherseits  in  heiklen  Fragen 
zwischen  der  Monarchie  und  Italien  letzterem  einen  Liebes- 
dienst zu  erweisen  trachte. 

Vielleicht  im  Zusammenhange  hiermit  stehe  der  Umstand, 
daß  Marquis  di  San  Giuliano,  der  gegen  Ende  nächster 
Woche  seine  Kur  in  Fiuggi  abschließen,  für  zwei  Tage  nach 
Rom    kommen    und    sich    dann  nach  Vallombrosa    begeben 

<  Bericht  aus  Rom  d.  d.   16.  Juli,  Nr.  32,P.  A— O. 
-  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.   16.  Juli,  Nr.  259. 
■  Telegramm  aus  Rom  d.  d.   18.  Juli,  Nr.  523. 


78 


sollte,  dem  k.  u.  k.  Botschafter  soeben  schreibe,  er  werde 
seine  Kur  am  Dienstag  den  21.  1.  M.  unterbrechen  und 
Dienstag  nachmittags  für  24  Stunden  in  Rom  eintreffen.  Erst 
um  den  27.  1.  M.  dürfte  er  Fiuggi  definitiv  verlassen. 

Der  k.  u.  k.  Botschafter  müsse  somit  darauf  gefaßt  sein, 
daß  der  Minister  ihn  am  21.  Juli  bezüglich  der  Spannung 
zwischen  der  Monarchie  und  Serbien  interpelliere,  wie  dies 
schon  der  Generalsekretär  de  Martino  zu  tun  versucht 
habe.  Vorbehahlich  anderweitiger  Instruktionen  werde  sich 
der  Botschafter  ganz  uninformiert  stellen,  was  allerdings 
recht  peinlich  werden  könne,  wenn  er  etwa  aus  den  Aus- 
führungen des  Ministers  entnehme,  daß  dieser  bereits  (etwa 
von  deutscher  Seite)  eingeweiht  sei.  ' 

Paris 

Herr    Poincare,    dem    der    k.    u.    k.    Botschafter    Graf  Äußerungen 
Szecsen    am   4.  Juli    den  Dank    der  k.  u.  k.  Regierung  für  p"^,,"^ 
das  Beileid  der  französischen  Regierung  übermittelte,  benützte  (*  jniii 
diesen  Anlaß,  um  seine  wärmste  Teilnahme  für  Kaiser  und 
König    Franz    Joseph    und    die  Monarchie    neuerlich    zum 
Ausdruck  zu  bringen. 

Auf  die  serbenfeindlichen  Demonstrationen  in  der  Mon- 
archie anspielend,  erwähnte  Herr  Poincare,  daß  nach  der 
Ermordung  des  Präsidenten  Carnot  in  ganz  Frankreich 
alle  Italiener  den  ärgsten  Verfolgungen  seitens  der  Bevöl- 
kerung ausgesetzt  waren.  Der  k.  u.  k.  Botschafter  machte 
darauf  aufmerksam,  daß  die  damalige  Bluttat  mit  keinerlei 
antifranzösischer  Agitation  in  Italien  im  Zusammenhange 
stand,  während  man  jetzt  zugeben  müsse,  daß  in  Serbien 
seit  Jahren  mit  allen  erlaubten  und  unerlaubten  Mitteln 
gegen  die  Monarchie  gehetzt  werde. 

'  Zu  den  angeblichen  Konfidenzen  des  deutschen  Botschafters  in 
Rom  vergleiche  die  Ausführungen  Seite   117  ff. 

Daß  die  italienische  Regierung  auch  auf  anderem  Wege  über  die 
Absichten  der  Wiener  Regierung  orientiert  sein  konnte,  besitzt  nach  dem 
Inhalte  der  Anmerkung  2,  Seite  84,  immerhin  einen  gewissen  Grad  der 
Wahrscheinlichkeit.  Ferner  müssen  wohl  auch  die  von  Graf  Berchtold 
dem  italienischen  Botschafter  in  Wien  selbst  gemachten  diesbezüglichen 
Eröffnungen  in  Betracf       zogen  werden.   (Vgl.  Anm.  1,  Absatz  5,  Seite  142.) 

79 


Zum  Schlüsse  sprach  Herr  Poincare  die  Überzeugung 
aus,  die  serbische  Regierung  werde  der  Monarchie  bei  der 
gerichtlichen  Untersuchung  und  der  Verfolgung  eventueller 
Mitschuldiger  sicher  das  größte  Entgegenkommen  zeigen. 
Es  sei  dies  eine  Pflicht,  der  sich  kein  Staat  entziehen 
könne  '. 
Verstand!-  Wie  den  k.  u.  k.  Botschafter    in  Rom,    so  unterrichtete 

«uns  des      Sektionschef  Graf   Forgäch    auch    Graf  Szecsen    in    einem 

k.  u.  k.  Bot-  '^ 

schafters       Privatschreibcn  vom  8.  Juli  über  die  vom  Wiener  Kabinett 
(8  und  10.    beabsichtigten  Schritte.    Zur  weiteren  Verständigung  erhielt 

Juh)  über  "  o        o 

die  vom       Graf  Szecsen  am  10.  Juli  die  Mitteilung,  daß  mit  Deutsch- 
wiener  Ka-    j^^^^  bezüglich  dcr  aus  dem  Sarajevoer  Attentat  erwachsenen 

bmett  ge-  ^ 

planten  Maß-  außcrpoHtischen  Situation  und  aller  ihrer  eventuellen  Kon- 
nahmen        sequcnzcn  ein  vollkommenes  Einvernehmen    erzielt  worden 

sei  -. 
situations-  Ein  Bericht  des  Grafen  Szecsen  vom  18.  Juli  besagte  =, 

meidung  des  ^  ß  ^^j     j^gj     ^jj  j^^  Ministerpräsident  Graf  Tisza  die  im 

k,  u.  k.  Bot-  '  "^ 

schafters       ungarlschcn    Abgeordnetenhause     eingebrachten     Interpella- 
(18-  Juli)      tionen  über  das  Attentat  von  Sarajevo  und  die  Beziehungen 
der  Monarchie    zu    Serbien    beantwortete  ">,    in   Paris   einen 
entschieden  guteii  Eindruck  gemacht  hätte. 

Die  Zeitungen  anerkannten  die  sachliche  Art  und  die 
Mäßigung,  mit  der  Graf  Tisza  die  Vorfälle  der  jüngsten 
Zeit  besprochen  habe,  und  zeigten  auch  ein  gewisses  Ver- 
ständnis für  die  Erklärung,  daß  die  Monarchie  ihre  Inter- 
essen und  ihre  staatliche  Würde  unter  allen  Umständen  zu 
wahren  wissen  werde.  Sogar  der  „Temps"  habe  einige 
anerkennende  Worte  für  die  k.  u.  k.  Regierung  gefunden. 
Natürlich  seien  aber  die  Pariser  Zeitungen  bestrebt,  auf 
den  Widerspruch  hinzuweisen,  der  zwischen  den  Erklärungen 
des  Grafen  Tisza  und  der  Sprache  gewisser  österreichischer 
und  ungarischer  Zeitungen  bestehe.  Sie  zögen  daraus  den 
Schluß,  daß  man  noch  immer  unliebsame  Überraschungen  der 
österreichisch-ungarischen  Politik  befürchten  müsse,  und  daß 

1  Telegramm  aus  Paris  d.  d.  4.  Juli,  Nr.   100. 

2  Weisung  nach  Paris  d.  d.  Wien,  10.  Juli,  Nr.   142. 

52 
-  Bericht  aus  Paris  d.  d.   18.  Juli,  Nr.    p  — E- 

4  Vgl.  Seite  70. 
80 


schließlich  die  Vorfälle  von  Sarajevo  als  Vorwand  benutzt 
werden  würden,  um  Serbien  zu  „vergewaltigen". 

Graf  Szecsen  sei  bestrebt,  in  seinen  Konversationen  mit 
Politikern  und  Journalisten  dieser  Auffassung  entgegen- 
zutreten. In  einer  Besprechung  mit  Herrn  Pichon  [damals 
an  der  Spitze  des  „Petit  Parisien"]  habe  er  diesen\  aus 
österreichischen  und  ungarischen  Zeitungen  die  Auszüge 
serbischer  Blätter  vorgelesen,  deren  maßlos  provokatorische 
Sprache  sichtlich  einen  gewissen  Eindruck  machte.  Herr 
Pichon  habe  schließlich  gesagt:  „En  somme,  chaque  fois  que 
„vous  avec  parle  serieusement  avec  la  Serbie,  eile  a  fini  par 
„entendre  raison;  je  suis  convaincu  que  ce  sera  aussi  le 
„cas  maintenant." 

Leider  sei,  schloß  Graf  Szecsen  seinen  Bericht,  Herr 
Pichon  momentan  nicht  Minister  des  Äußern. 

London 

Während    eines    Besuches    bei    Sir    Edward    Grey    amocrk.  u.  k. 
16.  Juli  streifte  der  k.    u.    k.    Botschafter   Graf  Mensdorff,  ^°'l^^'^^"^' 

•^  '   bei  Sir 

als    das    Ereignis    von    Sarajevo    besprochen     wurde,     das  Edward 
Thema  der  Beziehungen  der  Monarchie  zu  Serbien.  Als  er  °';",  ,. 

»  (16.  Juli) 

von  dem  beispiellosen  Tone  der  serbischen  Presse  sprach 
und  die  Bemerkung  machte,  Sir  Edward  Grey  sei  hierüber 
wohl  durch  die  Berichte  aus  Belgrad  unterrichtet,  fragte 
der  Staatssekretär,  ob  nicht  ein.  einziges  dortiges  Blatt  eine 
anständige  Sprache  geführt  hätte.  Der  k.  u.  k.  Botschafter 
erwiderte,  vielleicht  ein  von  der  serbischen  Regierung 
inspirierter  Artikel;  jedenfalls  sei  aber  im  übrigen  die  ge- 
samte Belgrader  Presse  ganz  zügellos  und  von  einer 
Heftigkeit,  die  in  ihren  Anklagen  und  Insinuationen  alles 
übersteige,  was  man  noch  erlebt  habe. 

Im  weiteren  Verlaufe  der  Unterredung  wies  Graf  Mens- 
dorff darauf  hin,  daß  die  großserbische  Propaganda  vor 
allem  darauf  abziele,  revolutionäre  Bewegungen  in  Gebieten 
hervorzurufen,  die  einen  integrierenden  Bestandteil  der 
Monarchie  bildeten,  was  doch  kein  Staat  —  und  sei  er  noch 
so    friedliebend  —  zugeben  könne '.    Sir  Edward   gab    dies 

•  Bericht  aus  London  d.  d.   17.  Juli,  Nr.  34/P— E. 
6  81 


zu,  ging  aber  in  eine  weitere  Erörterung  über  diesen  Gegen- 
stand nicht  ein. 
Die  englische        Die    HaltuHg   der    maßgebenden    englischen    Blätter   der 
Monarchie  gegenüber  war  eine  völlig  objektive.  Graf  Mens- 
dorfF  berichtete  hierüber  am  16.  Juli<: 

Der  Leitartikel  der  „Times"  von  diesem  Tage  erkenne 
das  volle  Recht  der  Monarchie  an,  auf  eingehender  Unter- 
suchung aller  Verästelungen  zu  bestehen,  die  unzweifelhaft 
der  Verschwörung  zugrunde  lägen,  auch  daß  die  Monarchie 
berechtigt  sei,  Garantien  gegen  Agitationen  zu  fordern,  die 
von  Serbien  an  ihre  Grenzen  getragen  würden. 

Die  provokatorische  Sprache  der  serbischen  Presse  er- 
fahre eine  energische  Verurteilung.  Vorübergehend  werde 
aber  auch  auf  die  heftige  Sprache  einzelner  österreichischer 
Zeitungen  und  Zeitschriften  hingewiesen. 

Mr.  Steed  habe  auch  diesmal  nicht  ganz  darauf  verzichten 
können,  einige  Belehrungen  an  die  Adresse  der  Monarchie 
zu  richten,  doch  sei  der  diesbezügliche  Artikel  viel  günstiger 
als  alles,  was  seit  langem  aus  seiner  Feder  gekommen. 


St.  Petersburg 

Konversation  In  dcr  Unterredung,  die  Herr  Sazonow  mit  dem  k.  u.  k. 
Ge^schäfis"^  Legationsrate  Grafen  Otto .  Czernin  in  Angelegenheit  des 
irägersmii     Intervicws  des  Herrn  Spalajkovic  am  6.  Juli  gepflogen  hatte, 

Herrn 

Sazonow 


hatte  sich  der  russische  Minister  als  warmer  Freund  der 
(i4.jui!)  Monarchie  bekannt.-  Am  14.  Juli  teilte  Herr  Sazonow  dem 
Grafen  Czernin  gesprächsweise  mit,  er  gehe  dieser  Tage  aufs 
Land  und  werde  erst  am  19.  Juli,  am  Tage  vor  der  Ankunft 
des  Präsidenten  der  französischen  Republik,  zurückkehren. 
Aus  der  gleichzeitigen  Abwesenheit  der  stellvenretenden 
Beamten  des  Ministers,  Herrn  Neratows  und  des  Fürsten 
Trubetzkoj,  lasse  sich  nach  Graf  Otto  Czernins  Ansicht 
schließen,  daß  man  in  Petersburg  die  äußere  politische  Lage 
ruhig  auffassen  dürfte.  Dem  deutschen  Botschafter,  der  Graf 

'  Telegramm  aus  London  d.  d.   16.  Juli,  Nr.  98. 

■i  Telegramm  aus  St.  Petersburg  d.  d.  7.  Juli,  Nr.   139. 

82 


Czernin  fragte,  ob  die  ihm  zu  Ohren  gelcommenen  Gerüchte 
wahr  seien,  wonach  Graf  Czernin  als  k.  u.  ic.  Geschäftsträger 
auftragsgemäß  die  russische  Unterstützung  zur  Durchsetzung 
der  österreichisch-ungarischen  Forderungen  bei  der  serbi- 
schen Regierung  angesucht  hätte,  gab  Graf  Otto  Czernin  eine 
kategorisch  verneinende  Antwort '. 

Mit   Herrn   Sazonow,   der    dem    deutschen    Botschafter  Besprechung 
Grafen  Pourtales    gegenüber  hervorgehoben  hatte,  daß  ihn  i"^'"l^' 

o    ö  o  '  Botscharters 

das  Beileid  des  k.  u.  k.  Kabinetts  anläßlich  des  Todes  Herrn  mit  Herrn 
von  Hartwigs  besonders  angenehm  berührt  habe,  hatte  Graf  ^^g''Zu) 
Friedrich  Szäpdry  am  18.  Juli  eine  Besprechung  -.  Der 
russische  Minister  vermied  es  dabei,  die  Beziehungen  der 
Monarchie  zu  Serbien  von  sich  aus  zur  Sprache  zu  bringen. 
Graf  Szäpdry  erwähnte,  wie  sehr  in  der  Monarchie  alles  noch 
unter  dem  traurigen  Eindrucke  der  jüngsten  Katastrophe  stehe, 
auch  hob  er  hervor,  welch  bedenkliches  Symptom  das 
Eindringen  terroristischer  revolutionärer  Methoden  in  das 
Nebeneinanderleben  der  Völker  bilde  und  welche  Gefahr 
dies  für  alle  Staaten,  vor  allem  aber  auch  für  Rußland, 
bedeute. 

Der  Minister  stellte  dies  nicht  in  Abrede,  bemerkte  aber, 
daß  ihn  die  letzten  Nachrichten  aus  Wien  etwas  beunruhigt 
hätten  und  sprach  seine  Überzeugung  aus,  es  werde  niemals 
ein  Beweis  für  die  Tolerierung  solcher  Machenschaften 
seitens  der  serbischen  Regierung  erbracht  werden  können. 
Graf  Szäpäry  erwiderte,  die  bisherigen  Resultate  der  dies- 
bezüglichen Untersuchung  seien  ihm  zwar  unbekannt,  jede 
Regierung  aber  müsse  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ver- 
antworten, was  auf  ihrem  Territorium  vorgehe.  Übrigens  sei 
man  in  Wien  überzeugt,  daß  die  serbische  Regierung  sich 
den  eventuellen  Forderungen  gegenüber  entgegenkommend 
zeigen  werde.  Seiner  unmittelbar  vorhör  dem  Grafen  Pour- 
tales gegenüber  geäußerten  Besorgnis  über  die  Folgen  dieser 
Forderungen  gab  Herr  Sazonow  dem  k.  u.  k.  Botschafter 
gegenüber  keinen  Ausdruck. 

I  Telegramm  aus  Petersburg  d.d.   14.  Juli,  Nr.   143. 
-  Telegramm  aus  Petersburg  d.  d.   IS.  Juli,  Nr.   146. 


83 


5.  Der  Ministerrat  für  gemeinsame   Angelegenheiten 

vom   19.  Juli     -- 

Bcmer-  Dcr   k.  u.  k.    Chcf  des  Generalstabes    fühlte    sich    hin- 

Tu^r  "  sichthch    seiner   in    dem    Ministerrate   für  gemeinsame   An- 

chefsdes  geiegenheitcn  vom  7.  Juli  gebotenen  Darlegungen  veranlaßt, 

General-  ^^^  ^j^  Rücksicht  auf  Seine  dienstliche  Funktion  vertretenen 

Stabes  (bei- 
läufig Standpunkt  auch  noch  schrifdich  niederzulegen': 

'"■■'"'''  Für    ihn    als    Chef    des     Generalstabes     komme     nur 

,  die    präzise    Formulierung    der    Entscheidung    in    Betracht, 

ob  auf  den  Ausbruch  eines    Krieges   gegen    Serbien    direkt 

hingearbeitet  oder  ob  nur  mit  der  Möglichkeit  eines  Krieges 

gerechnet  werde. 

In  welcher  Weise  das  eine  oder  das  andere  diplomatisch 
behandelt  werde,  entziehe  sich  selbstverständlich  seiner 
Ingerenz;  nur  müßte  er  erneuert  hervorheben,  daß  bei 
dem  diplomatischen  Wege  alles  vermieden  werden  müsse, 
was  durch  Hinausziehen  und  etwa  nur  sukzessives  Ein- 
setzen der  diplomatischen  Aktion  den  Gegnern  Zeit  zu 
militärischen  Maßnahmen  geben  würde,  so  daß  die 
Monarchie  dadurch  militärisch  in  die  Nachhand  käme  — 
was  überhaupt  von  Nachteil  sei,  es  ganz  besonders  aber 
Serbien  und  Montenegro  gegenüber  wäre. 

In  diesem  Sinne  wäre  auch  alles  zu  vermeiden,  was 
die  Gegner  vorzeitig  alarmieren  und  zu  Gegenmaßnahmen 
veranlassen    könnte-;    es    müßte    vielmehr    in    jeder    Hin- 

'  K.  u.  k.  Chef  des  Generalstabes,  Gstb.  Nr.  2508  res.,  ohne  Datum. 

-  Der  k.  u.  k.  Chef  des  Generalstabes  streifte  hiemit  einen  heiklen 
Gegenstand.  Mitteilungen  in  gewissen  Organen  der  österreichischen  und 
der  deutschen  Presse  (9.  und  10.  Juli)  besprachen  die  Angelegenheit  des 
fraglichen  diplomatischen  Schrittes  in  einer  Weise,  die  direkt  auf  das 
Konferenzzimmer  des  Ministerrates  für  gemeinsame  Angelegenheiten  vom 
7.  Juli  als  den  Ort  der  Provenienz  dieser  Informationen  hinwies.  Graf 
Berchtold  fand  sich  denn  auch  veranlaßt,  diesbezüglich  an  ein  Mitglied 
des  Ministerrates  selbst  am  11.  Juli  ein  Privatschreiben  zu  richten.  (Haus- 
abschrift des  Schreibens  d.  d.  Wien,  11.  Juli  1914.)  Auch  Graf  Tisza  sah 
sich  bemüßigt,  auf  Abstellung  gewisser  —  aus  einer  dem  Generalstabe 
naheliegenden  Quelle  herrührender,  die  Sachlage  tendenziös  entstellender, 
alarmierender  —  Nachrichten  zu  dringen,  deren  Veröffentlichung  in  einem 
Budapester  Blatte  er  selbst  hintangehalten  habe.  (Telegramm  d.  d.  Buda- 
pest, 17.  Juli,  8  Uhr  50  Minuten  p.  m.,  o.  Nr.) 

84 


sieht  ein  durcliaus  friedliches  Gepräge  zur  Schau   getragen 
werden. 

Stehe  aber  der  Entschluß  zur  Demarche  fest,  dann 
müsse  dieselbe  im  Hinblick  auf  die  militärischen  Interessen 
in  einem  einzigen  Akt  mit  kurz  befristetem  Ultimatum 
geschehen,  dem,  wenn  es  abschlägig  beschieden  werde, 
der  Mobilisierungsbefehl  zu  folgen  hätte. 

In    dem    Ministerrat    vom    7.  Juli    hatte  Graf  Berchtold  Besprechung 
die    eigenen    Absichten  in  großen  Konturen  gezeichnet  und  ßj^chtoids 
bis  auf  die  Meinung  des  Grafen  Tisza  die  Zustimmung  der  mit  den 
üorigen      Konferenzteilnehmer     gefunden.     Es     oblag     ihm  ^'."'.'" 

o  &  o  Minister- 

nunmehr     die     Aufgabe,    die    Formulierung    der    von    der  Präsidenten 
Monarchie  an  Serbien    zu    stellenden    Forderungen    vorzu-  ""''/p"' 

ö  königlich 

nehmen.    Hierüber   war   in    einer  Besprechung  des  Grafen  ungarischen 
Berchtold    mit    den    beiden   Ministerpräsidenten    und    dem  '^'"'^"='' 

*  am  aller- 

königlich  ungarischen  Minister  am  allerhöchsten  Hoflager  höchsten 
(14.  Juli)  eine  vollkommene  Übereinstimmung  erzielt  "°"!^" 
worden. 

Es  werde  nun,   wie  Graf  Berchtold  in  einem  Immediat-  immediat- 
vortrage    an    den  Kaiser    am  14.  Juli  berichtete',    an    die  ™"™^ ''^^ 
Redaktion  der  an  Serbien    zu    richtenden  Note   geschritten,  Berchtoia 
deren  Überprüfung   in  einer  Sonntag,   den    19.  Juli  -,   statt-  *'■*■  •'"''* 
findenden  gemeinsamen  Besprechung  erfolgen  werde.  Nach 
erzielter  Übereinstimmung  über  die  Form  dieser  Note  werde 
dieselbe  Samstag,  den  25.  Juli,  in  Belgrad  überreicht  ^   und 
der     serbischen     Regierung     gleichzeitig     eine     Frist    von 
48  Stunden    gegeben    werden,    innerhalb    welcher    sie    die 
Forderungen  der  Monarchie  annehmen  müsse. 

Dies  Datum  *  sei  mit  Rücksicht  auf  den  Besuch  des 
Präsidenten  der  französischen  Republik  bei  dem  Zaren 
gewählt,  der  vom  20.  bis  25.  Juli  dauern  solle,  da  alle 
Anwesenden  die  Auffassung  des  Grafen  Berchtold  geteilt 
hätten,  daß  die  Absendung  des  Ultimatums  während  dieser 
Zusammenkunft  als  Affront    angesehen  werden  würde,   und 

1  Konzept  des  Immediatvortrages  d.  d.   14.  Juli,  C.  d.  M. 
-  Im  Konzept  ursprünglich:  Samstag,  den   18.  Juli. 
3  Vergleiche    den    Antrag   Graf  Berchtolds    in    dem   Ministerrat  vom 
19.  Juli,  Seite  87,  88. 

*  Im  Konzept  ursprünglich:  „Dies  späte  Datum"  etc. 

8S 


daß  eine  persönliche  Aussprache  des  ehrgeizigen  Präsidenten 
der  Republiii  mit  dem  Zaren  über  diellurch  die  Absendung 
des  Ultimatums  geschaffene  internationale  Lage  die  Wahr- 
scheinlichkeit eines  kriegerischen  Eingreifens  Rußlands  und 
Frankreichs  erhöhen  würde  '. 

Graf  Tisza  habe  seine  Bedenken  gegen  ein  kurzfristiges 
Ultimatum  aufgegeben,  da  Graf  Berchtold  auf  die  mili- 
tärischen Schwierigkeiten  hingewiesen  habe,  die  sich  aus 
einer  Verzögerung  ergeben  würden.  Auch  habe  Graf  Berch- 
told geltend  gemacht,  daß  selbst  nach  erfolgter  Mobilisierung 
eine  friedliche  Beilegung  möglich  wäre,  falls  Serbien  noch 
rechtzeitig  einlenken  würde.  In  diesem  Falle  müßte  die 
Monarchie  allerdings  von  der  serbischen  Regierung  fordern, 
daß  sie  die  Kosten  ersetze,  welche  der  Monarchie  durch 
die  Mobilisierung  erwachsen  seien,  und  sie  müßte  bis  zur 
Erfüllung  dieser  Forderungen  ein  Faustpfand  in  Serbien 
besetzen. 

Graf  Tisza  habe  ferner  ausdrücklich  betont,  daß  er  seine 
Zustimmung  zu  dem  beabsichtigten  Vorgehen  nur  unter 
der  Bedingung  erteilen  könne-,  daß  noch  vor  Stellung  des 
Ultimatums  in  einem  gemeinsamen  Ministerrate  der  Beschluß 
gefaßt  werde,  daß  die  Monarchie  —  abgesehen  von  kleineren 
Grenzregulierungen  —  keinen  Ländererwerb  aus  dem 
Kriege  gegen  Serbien  anstrebe  -^ 

'  Der  Abschnitt:  „Dies  späte  Datum. .  ."  bis  „erhöhen  würde"  nach- 
trägfiche  Einfügung  im  Konzept. 

~  Hierauf  ursprünglich  im  Konzept:  „nur  unter  der  Bedingung 
„erteilen  könne,  daß  vor  Stellung  des  Ultimatums  ein  einheitlicher 
„Beschluß  gefaßt  werde,  dahin  gehend,  daß  die  Monarchie....  anstrebe". 
Sodann  geändert  in:  „nur  unter  der  Bedingung  erteilen  könne,  daß  noch 
,,vor  Stellung  des  Ultimatums  in  einem  gemeinsamen  Ministerrate  ein 
„einheitlicher  Beschlufi  gefaßt  und  von  Eurer  Majestät  allergnädigst  zur 
„Kenntnis  genommen  werde,  daß  die  Monarchie  ....  anstrebe".  Die  end- 
gültige Fassung  siehe  oben. 

3  Im  Konzept  folgte  ein  nachträglich  durchstriehener  Absatz:  „Ich 
„wage  es  daher,  Eurer  Majestät  treugehorsamst  um  die  allergnädigste 
„Ermächtigung  zu  bitten,  einem  solchen  Beschlüsse  meinerseits  zustimmen 
„zu  dürfen,  weil  ich  der  Ansicht  bin,  daß  eine  Annexion  größerer  serbischer 
„Gebiete  an  die  Monarchie  in  Ungarn  sehr  großen  Schwierigkeiten  be- 
„gegnen  würde  und  daß  die  diesbezügliche  Auffassung  des  Grafen  Tisza 
„von  der  Mehrzahl   der    ungarischen  Politiker    geteilt    wird."    (Vergleiche 

86 


Der  heute  (14.  Juli)  festgesetzte  Inhalt  der  nach  Belgrad 
zu  richtenden  Note  sei  ein  solcher,  daß  mit  der  Wahr- 
scheinlichkeit einer  kriegerischen  Auseinandersetzung  ge- 
rechnet werden  müsse '.  Falls  Serbien  aber  trotzdem 
nachgeben  und  den  Forderungen  entsprechen  sollte,  so 
würde  ein  solches  Vorgehen  des  Königreiches  nicht  nur 
eine  tiefe  Demütigung  desselben,  pari  passu  damit  eine 
Einbuße  des  russischen  Prestiges  am  Balkan  bedeuten, 
sondern  auch  für  die  Monarchie  gewiße  Garantien  in  der 
Richtung  der  Eindämmung  der  großserbischen  Wühlarbeit 
auf  ihrem  Boden  involvieren. 

Die  Aufgabe  des  für  den  19.  Juli  anberaumten  Minister-  Verlauf  des 
rates    für    gemeinsame    Angelegenheiten    bildete    die    Über-  '"■"'-"^™'=;' 

°  o         o  vom    19.  Jiih 

Prüfung  der  an  Serbien  zu  richtenden  Note  und  die  defi- 
nitive Festsetzung  ihres  Textes. 

Als  Gegenstand  der  offiziellen  Beratung  war:  „Die 
bevorstehende  diplomatische  Aktion  gegen  Serbien"  ange- 
setzt. Die  Konferenzteilnehmer  waren  die  gleichen  wie 
gelegentlich  der  Sitzung  vom  7.  Juli  -. 

Der  Vorsitzende  eröffnete  den  Ministerrat»  und  bean- 
tragte, daß  die  Note  der  königlich  serbischen  Regierung 
am  Donnerstag,  den  23.  Juli,  um  5  Uhr  nachmittags  über- 
reicht werde,  so  daß  die  48stündige  Frist  am  Samstag,  den 
25.  1.  M.,  um  5  Uhr  nachmittags  ablaufe  und  die  Mobili- 
sierungsverordnung noch  in  der  Nacht  von  Samstag  auf 
Sonntag  hinausgegeben  werden  könne.  Seiner  Ansicht  nach 
sei  es  nicht  wahrscheinlich,  daß  der  Schritt  des  Wiener 
Kabinetts  noch  vor  der  Abreise  des  Präsidenten  der  fran- 
zösischen Republik  von  Petersburg  bekannt  werden  werde, 
aber  selbst  wenn  dies  der  Fall  wäre,  würde  er  hierin 
keinen    großen    Nachteil    erblicken,    nachdem    das    Wiener 

unsere  Ausführungen  Seite  65  und  das  Votum  des  Grafen  Tisza 
Seite  89.) 

'  Die  beiden  ursprünglichen  Fassungen  dieses  vom  Grafen  Berchtold 
selbst  umredigierten  Satzes  lauteten:  „daß  ein  Krieg  mit  Serbien  sehr 
■wahrscheinlich  erscheint";  sodann:  „daß  eine  kriegerische  Auseinander- 
setzung höchst  wahrscheinlich  erscheint". 

-  Vgl.  Seite  51   oben. 

3  Wir  verfolgen  den  Verlauf  des  Ministerrats  ausschließlich  in  seinen 
Hauptphasen. 

87 


Kabinett  den  Courtoisie-Rücksichten  genügt  hätte,  indem  es 
das  Ende  des  Besuches  abgewartet  hätte.  Dagegen  würde 
sich  Graf  Berchtold  aus  diplomatischen  Gründen  ent- 
schieden gegen  eine  weitere  Verschiebung  aussprechen 
müssen,  da  man  schon  jetzt  in  Bedin  nervös  zu  werden 
beginne  und  Nachrichten  über  die  Intentionen  der  Mon- 
archie schon  nach  Rom  durchgesici^ert  seien,  so  daß  Graf 
Berchtold  nicht  für  unerwünschte  Zwischenfälle  gutstehen 
könnte,  wenn  man  die  Sache    noch    hinausschieben  würde. 

Mit  Rücksicht  auf  diese  Erklärung  des  Vorsitzenden 
wurde  einstimmig  beschlossen,  daß  die  Note  am  23.  Juli 
um  5  Uhr  nachmittags  zu  übergeben  sein  werde. 

Der  königlich  ungarische  Ministerpräsident  behielt 
sich  vor,  falls  die  Nachricht  von  der  Überreichung  des  Ultima- 
tums noch  am  Donnerstag  abends  aus  Belgrad  nach  Buda- 
pest gelangt  sein  sollte,  im  ungarischen  Abgeordnetenhause 
eine  Erklärung  abzugeben. 

Der  Chef  des  Generalstabes  betonte,  daß  er  auch  aus 
militärischen  Gründen  eine  möglichst  rasche  Initiierung  der 
Aktion  für  wünschenswert  halten  würde. 

Der  k.  u.  k.  Kriegsminister  gab  hierauf  Aufschlüsse 
über  die  verschiedenen  Mobilisierungsmaßnahmen,  welche 
er  vorbereitet  habe.  Aus  seinen  Äußerungen  ging  hervor, 
daß  alles  Erforderliche  Mittwoch,  den  22.  1.  M.,  der  Sank- 
tion des  Monarchen  unterbreitet  werden  solle,  und  daß  das 
Einvernehmen  mit  den  beiden  Regierungen  bezüglich  der 
von  den  Verwaltungsbehörden  vorzunehmenden  Amtshand- 
lungen bereits   hergestellt  worden  sei. 

Hierauf  beschloß  der  Ministerrat,  den  Landeschef  von 
Bosnien  und  der  Herzegowina  durch  Privatschreiben  des 
gemeinsamen  Finanzministers  von  den  Absichten  der  k.  u.  k. 
Regierung  gegenüber  Serbien  in  Kenntnis  zu  setzen. 

Auf  Wunsch  des  königlich  ungarischen  Ministerpräsi- 
denten gab  der  Chef  des  Generalstabes  sodann  geheime 
Auskünfte  über  die  Mobilisierung  und  erklärte  über  eine 
Anfrage  des  Grafen  Tisza,  daß  die  im  Falle  einer  allge- 
meinen Mobilisierung  in  Siebenbürgen  verbleibenden  Siche- 
rungsbesatzungen weitaus  genügten,  um  die  innere  Ruhe 
des  Landes  bei  lokalem  Aufruhr  zu  sichern. 

88 


Auf  Verlangen  des  k.  k.  Ministerpräsidenten  Grafen 
Stürgkh  wurde  hierauf  die  Frage  akademisch  erörtert,  was  die 
k.  u.  k.  Regierung  zu  unternehmen  hätte,  wenn  Italien  eine 
Expedition  nach  Valona  entsenden  sollte. 

Der  Vorsitzende  verwies  darauf,  daß  er  eine  solche 
Aktion  seitens  Italiens  nicht  für  wahrscheinlich  halte,  und 
daß  auch  diplomatisch  einer  solchen  entgegengearbeitet  werde. 
Sollte  sie  dennoch  stattfinden,  so  müßte  die  k.  u.  k.  Regie- 
rung wahrscheinlich  pro  forma  an  derselben  teilnehmen,  doch 
sei  es  noch  verfrüht,  dies  ernstlich  ins  Auge  zu  fassen. 

Hierauf  ersuchte  der  königlich  ungarische  Minister- 
präsident die  Anwesenden,  den  Beschluß  zu  fassen,  von 
dem  er,  wie  er  bei  der  letzten  Besprechung  betont  hätte, 
die  Zustimmung  der  königlich  ungarischen  Regierung  zur 
ganzen  Aktion  abhängig  machen  müsse.  Der  Ministerrat 
hätte  nämlich  noch  einstimmig  auszusprechen,  daß  mit  der 
Aktion  gegen  Serbien  keine  Eroberungspläne  für  die  Mon- 
archie verknüpft  seien,  und  daß  dieselbe,  bis  auf  aus 
militärischen  Gründen  gebotene  Grenzberichtigungen,  kein 
Stück  von  Serbien  für  sich  annektieren  wolle.  Er  müsse 
unbedingt  darauf  bestehen,  daß  ein  solcher  einstimmiger 
Beschluß  gefaßt  werde  •. 

Hiezu  erklärte  der  Vorsitzende,  daß  er  sich  dem  Stand- 
punkte des  königlich  ungarischen  Ministerpräsidenten  nur 
mit  einer  gewissen  Reserve  anschließen  könne.  Auch  er 
sei  der  Ansicht,  daß,  wie  die  politische  Lage  jetzt  sei,  die 
Monarchie,  im  Falle  sie  in  einem  Kriege  mit  Serbien  den 
Sieg  davontrage,  von  diesem  Lande  nichts  annektieren, 
sondern  trachten  sollte,  es  durch  möglichst  große  Abtretung 
von  serbischen  Gebieten  an  Bulgarien,  Griechenland  und 
Albanien,  eventuell  auch  an  Rumänien  so  zu  verkleinern, 
daß  es  nicht  mehr  gefährlich  sei.  Die  Situation  am  Balkan 
könne  sich  ändern,  es  sei  immerhin  nicht  unmöglich,  daß 
es  Rußland  gelinge,  das  jetzige  Kabinett  in  Sofia  zu  stürzen 
und  dort  wieder  ein  der  Monarchie  feindselig  gesinntes 
Regime  an  die  Macht  zu  bringen;  Albanien  sei  auch  noch 
kein    verläßlicher    Faktor,    und    er    müsse    als    Leiter    der 

I  Vgl.  hiezu  unsere  Ausführungen  Seite  65  ff. 

89 


auswärtigen  Politik  mit  der  Möglichkeit  rechnen,  daß  es  der 
Monarchie  am  Ende  des  Krieges  wegen  der  dann  vorhan- 
denen Verhältnisse  nicht  mehr  möglich  sein  werde,  nichts 
zu  annektieren,  wenn  die  Monarchie  bessere  Verhältnisse  an 
ihrer  Grenze  schaffen  wollte,  als  wie  sie  jetzt  bestünden. 

Zu  diesem  Gegenstande  führte  derköniglich  ungarische 
Ministerpräsident  aus,  er  könne  die  Reserven  des  Grafen 
Berchtold  nicht  gelten  lassen  und  müsse  mit  Rücksicht  auf  seine 
Verantwortlichkeit  als  ungarischer  Ministerpräsident  darauf 
bestehen,  daß  sein  Standpunkt  einstimmig  von  der  Konferenz 
angenommen  werde.  Er  stelle  dies  Verlangen  nicht  nur 
aus  Gründen  der  inneren  Politik,  sondern  insbesondere 
auch,  weil  er  persönlich  überzeugt  sei,  daß  Rußland  sich 
ä  outrance  zur  Wehr  setzen  müßte,  wenn  die  Monarchie 
auf  der  vollständigen  Vernichtung  Serbiens  bestehen  würde 
und  weil  er  glaube,  daß  eines  der  stärksten  Atouts,  um  die 
internationale  Situation  der  Monarchie  zu  verbessern,  darin 
bestehen  würde,  daß  die  Monarchie  möglichst  bald  den 
Mächten  erkläre,  keine  Gebiete  annektieren  zu  wollen. 

Der  Vorsitzende  erklärte  hiezu,  ohnedies  die  Absicht 
zu  haben,  diese  Erklärung  in  Rom  abzugeben. 

Hierauf  verwies  der  k.  k.  Ministerpräsident  Graf 
Stürgkh  auf  den  Umstand,  daß,  wenn  auch  die  Besitz- 
ergreifung serbischen  Territoriums  durch  die  Monarchie  aus- 
geschlossen bleiben  solle,  es  doch  noch  möglich  sein  werde, 
Serbien  durch  die  Absetzung  der  Dynastie,  eine  Militärkonven- 
tion und  andere  entsprechende  Maßregeln  in  ein  Abhängig- 
keitsverhältnis zur  Monarchie  zu  bringen.  Auch  dürfe  der 
Beschluß  des  Ministerrates  nicht  etwa  notwendig  erscheinende 
strategische  Grenzberichtigungen  unmöglich  machen. 

Nachdem  der  k.  u.  k.  Kriegsminister  erklärt  hatte,  daß 
er  diesem  Beschlüsse  zustimmen  würde,  jedoch  nur  unter 
der  Bedingung,  daß  außer  einer  Grenzberichtigung  auch  die 
dauernde  Besetzung  eines  Brückenkopfes  jenseits  der  Save, 
etwa  des  Schabatzer  Kreises,  hiedurch  nicht  ausgeschlossen 
werden  dürfe,  wurde  der  nachstehende  Beschluß  einstimmig 
gefaßt: 

„Der  gemeinsame  Ministerrat  beschließt  auf  Antrag  des 
„königlich   ungarischen  Ministerpräsidenten,    daß  sofort    bei 

90 


„Beginn  des  Krieges  den  fremden  Mächten  erklärt  werde, 
„daß  die  Monarcliie  tceinen  Eroberungskrieg  fülirt  und  niclit 
„die  Einverleibung  des  Königreiches  beabsichtigt.  Natürlich 
„sollen  strategisch  notwendige  Grenzberichtigungen  sowie  die 
„Verkleinerung  Serbiens  zu  Gunsten  anderer  Staaten  sowie 
„eventuell  notwendige  vorübergehende  Besetzung  serbischer 
„Gebietsteile  durch  diesen  Beschluß  nicht  ausgeschlossen 
„werden." 

Der  Vorsitzende  konstatierte  hierauf,  daß  in  allen 
Fragen  vollständige  Einmütigkeit  erzielt  worden  sei,  und  hob 
den  Ministerrat  auf'. 

Graf  Berchtold  konnte  jetzt,  gestützt  auf  die  Stimmen- 
einhelligkeit des  k.  u.  k.  Ministerrates,  an  die  Durchführung 
der  von  dem  engsten  Stabe  seiner  Mitarbeiter-  vorbereiteten 
•diplomatischen  Aktion  in  Belgrad  herantreten. 

C.  Die  österreichisch-ungarische  Note  an 
Serbien  vom  23.  Juli   1914 

1.  Die  Genesis  der  Note 

Von  Seite  de§  k.  u.   k.    Ministeriums   des   Äußern   war  ßerichi  des 
•der  im  Rechtsdepartement  eingeteilte  Sektionsrat  Ritter  von  s^J[io„srates 
"Wiesner    nach    Sarajevo    delegiert  worden,  um   Einsicht  in  vonWiesnc. 
die    Untersuchungsakten     zu    nehmen.     Er    berichtete     am  "''"''*^ 

ö  Saraievoer 

1  Das  vom  Schriftführer  Grafen  A.    Hoyos    verfaßte  Protokoll  dieses      chunzs- 
Ministerrates  zirkulierte  während  der  nächsten  zwei  Wochen  bei  den  Kon-  material 
ferenzteilnehmern  und  gelangte  am  5.  August  zur  Unterzeichnung  an  den 
Monarchen,  elf  Tage  früher  als  das  Protokoll  des  Ministerrates  vom  7.  Juli. 
(Vgl.  Seite  60  unten). 

~  Hiezu  gehörten:  k.  u.  k.  Sektionschef  Johann  Graf  Forgäch  von 
■Ghymes  und  Gäcs  (seinerzeit  aus  dem  ungarischen  Komitatsdienste  in 
das  k.  u.  k.  Ministerium  des  Äußern  übernommen),  außerordentlicher 
Gesandter  und  bevollmächtigter  Minister  Alexander  Freiherr  Musulin 
von  Gomirje  (vor  seinem  Eintritte  in  das  k.  u.  k.  Ministerium  des  Äußern 
im  Dienste  bei  der  königlich  kroatisch-slawonisch-dalmatinischen  Landes- 
regierung). Graf  Berchtold  selbst  erscheint  in  seiner  Eigenschaft  als 
lt.  u.  k.  Minister  des  k.  u.  k.  Hauses  und  des  Äußern  —  neben  den 
beiden  andern  gemeinsamen  Ministern,  den  Österreichern,  k.  u.  k. 
Kriegsminister  FZM.  von  Krobatin,  und  k.  u.  k.  gemeinsamer  Finanz- 
minister Dr.  von  Bilinski  —  als  Ungar. 

91 


13.  Juli,  vor  allem  die  außenpolitische  Seite  der  Unter- 
suchung berücksichtigend,  teiegraphisch  über  seine  an  Ort 
und  Stelle  gewonnenen  Eindrücke': 

Daß  die  großserbische  Propaganda  in  Bosnien  und  der 
Herzegowina  von  Serbien  aus  —  abgesehen  von  der  Presse 
auch  durch  Vereine  und  sonstige  Organisationen  —  be- 
trieben werde,  und  daß  dies  unter  Förderung  sowie  mit 
Wissen  und  Billigung  der  serbischen  Regierung  geschehe, 
sei  die  Überzeugung  aller  maßgebenden  Kreise. 

Das  Sektionsrat  von  Wiesner  als  Basis  dieser  Über- 
zeugungen von  Zivil-  und  Militärbehörden  vorgelegte  Material 
qualifiziere  sich  wie  folgt:  Das  Material  aus  der  Zeit  vor 
dem  Attentat  biete  keine  Anhaltspunkte  für  eine  Förderung 
der  Propaganda  durch  die  serbische  Regierung.  Dafür,  daß 
diese  Bewegung  von  Serbien  aus,  unter  Duldung  seitens 
der  serbischen  Regierung,  von  Vereinen  genährt  werde,  sei 
das  Material,   wenn  auch  dürftig,  doch    hinreichend. 

Zur  Untersuchung  über  das  Attentat:  Die  Mitwissenschaft 
der  serbischen  Regierung  an  der  Leitung  des  Attentats  oder 
dessen  Vorbereitung  und  die  Beistellung  der  Waffen  sei  durch 
nichts  erwiesen  oder  auch  nur  zu  vermuten.  Es  bestünden 
vielmehr  Anhaltspunkte,  dies  als  ausgeschlossen  anzusehen. 

Durch  Aussagen  von  Beschuldigten  sei  es  kaum  anfecht- 
bar festgestellt-,  daß  das  Attentat  in  Belgrad  beschlossen  und 
unter  Mitwirkung  des  serbischen  Staatsbahnbeamten  Ciganovic 
und  des  Majors  Tankosic  vorbereitet  wurde,  von  welchen 
beiden  auch  die  Bomben,  Brownings,  Munition  und  Zyankali 
beigestellt  worden  seien.  Die  Mitwirkung  des  Sekretärs  der 
„Narodna  Odbrana",  Pribicevic,  sei  nicht  festgestellt. 

Der  Ursprung  der  Bomben  aus  dem  serbischen  Armee- 
magazin Kragujevac  sei  objektiv  einwandfrei  erwiesen,  doch 
bestünden  keine  Anhaltspunkte  dafür,  daß  sie  erst  jetzt,  ad 
hoc,  Magazinen  entnommen  worden  seien,  da  die  Bomben 
auch  aus  Vorräten  der  Komitatschis  vom  Kriege  her  stammen 
können. 

1  Telegramm  aus  Sarajevo  d.  d.  13.  Juli,  1  Uhr  10  Minuten  p.  m.,  ohne 
Nummer.    Vgl.   den  Auszug  im  Weißbuch  b.  d.  V.  d.  U.  a.  Kr.  Seite  33. 

~  Telegramm  aus  Sarajevo  d.  d.  13.  Juli,  2  Uhr  p.  m.,  ohne  Nummer. 
(Fortsetzung  und  Schluß  des  vorhergehenden  Telegramms.) 

92 


Auf  Grund  der  Aussagen  der  Beschuldigten  sei  es  kaum 
zweifelhaft,  daß  Princip,  Cabrinovic  und  Grabez  mit  Bomben 
und  Waffen  auf  Veranlassung  des  Ciganovic  von  serbischen 
Organen  geheimnisvoll  über  die  Grenze  nach  Bosnien 
geschmuggelt  worden  seien.  Diese  organisierten  Transporte 
seien  von  den  Grenzhauptmännern  zu  Schabatz  und  Loznica 
geleitet  und  von  Finanzwachorganen  durchgeführt  worden. 
Wenn  es  auch  nicht  festgestellt  sei,  ob  diese  den  Zweck 
der  Reise  kannten,  hätten  dieselben  doch  eine  geheimnisvolle 
Mission  annehmen  müssen. 

Die  sonstigen  Erhebungen  nach  dem  Attentate  gäben  einen 
Einblick  in  die  Organisierung  der  Propaganda  der  „Narodna 
Odbrana".  Sie  enthielten  wertvolles  verwertbares  Material, 
das  jedoch  noch  nicht  nachgeprüft  worden  sei;  schleunigste 
Erhebungen  seien  im  Zuge. 

Sodann  äußerte  sich  Sektionsrat  von  Wiesner  bezüglich 
der  an  Serbien  zu  richtenden  Postulate.  Falls  die  bei  seiner 
Abreise  bestandenen  Absichten  noch  bestünden,  könnten  die 
Forderungen  erweitert  werden: 

A.  Unterdrückung  der  Mitwirkung  serbischer  Regierungs- 
organe am  Schmuggel  von  Personen  und  Gegenständen  über 
die  Grenze. 

B.Entlassung  der  serbischen  Grenzhauptmänner  zu  Schabatz 
und  Loznica  sowie  der  beteiligten  Finanzwachorgane. 

C.  Strafverfahren  gegen  Ciganovic  und  Tankosic. 

Eine  ihm  selbst  notwendig  erscheinende  mündliche  Er- 
gänzung seines  Berichtes  wollte  Sektionsrat  von  Wiesner 
sofort  nach  seiner  Ankunft  in  Wien,  am  14.  Juli  abends, 
nachtragen. 

Für  die  Beurteilung  der  österreichisch-ungarischen  Be-  Entstehung 
gehrnote  in  Staats-  und  völkerrechtlicher  Hinsicht  ist  die  ''"  ^"'^ 
Kenntnis  ihrer  Entstehung  nicht  ohne  Belang.  Bereits  in 
dem  Ministerrate  vom  7.  Juli  waren  gewisse  Punkte 
in  unverbindlicher  Weise  besprochen  worden,  die  als 
Forderungen  an  Serbien  in  die  zu  überreichende  Note  auf- 
genommen werden  könnten  '.  An  der  Hand  der  aufbewahrten 

'  Die  punktweise  Formulierung  erscheint  bloß  im  Konzept  des 
Ministerratsprotokolls.  Die  Punkte  betrafen:   1.  Bestrafung  oder  Ausstoßung 

93 


Entwürfe  läßt  sich  die  Entwici^lung  »nd  Ausgestaltung  dieser 
Postulate  nach  ihrer  chronologischen  Reihenfolge  feststellen. 
Entwürfein  In  dcm  zeitüch  ersten   Entwürfe  '  erklärte  die  k.  u.  k. 

deuischer      Regierung,  von  dem  Hinweis  auf  die  Unzulänglichkeit   der 
Erster  Erklärung   des   serbischen    Preßbureaus   vom    1.  Juli    aus- 

Enwurf  gehend,  sich  mit  .den  daselbst  gegebenen  platonischen  Ver- 
sicherungen nicht  zu  begnügen  -  und  darauf  bestehen  zu 
müssen,  daß  die  serbische  Regierung  ihren  guten  Willen,  mit 
der  österreichisch-ungarischen  Monarchie  im  Frieden  zu 
leben  und  ihren  völkerrechtlichen  Pflichten  zu  entsprechen, 
durch  geeignete  Maßnahmen  auf  dem  Gebiete  der  inneren 
Politik  Ausdruck  gebe. 

Als  solche  geeignete  Maßnahmen  erachte  die  k.  u.  k. 
Regierung: 

1.  die  Erlassung  von  Ausnahmsbestimmungen  zur  Be- 
schränkung der  Preßfreiheit, 

2.  die  Überwachung  der  Tätigkeit  der  politischen  und 
kulturellen  Vereine  und  die  Auflösung  jener  Vereine,  die  wie 
die  „Narodna  Odbrana",  eine  gegen  den  Bestand  der  Mon- 
archie gerichtete  Tätigkeit  entfalteten, 

3.  das  Verbot  der  Waffenausfuhr  nach  der  Monarchie, 

4.  die  sofortige  Zensur  der  an  den  königlich  serbischen 
Schulen  eingeführten  Lehrmittel  mit  großserbischem  Inhalte. 

Daran  schloß  sich  das  Anliegen:  Die  k.  u.  k.  Regierung 
dürfe  einer  gefälligen  Rückäußerung  der  königlich  serbischen 
Regierung  über  den    Zeitpunkt  entgegensehen,  bis  zu  dem 

an  der  großserbischen  Propaganda  beteiligter  Offiziere  aus  der  Armee; 
2.  Entschuldigung  der  serbischen  Regierung  wegen  der  Äußerungen  dcs 
Herrn  Spalajkoviö;  3.  Forderung  einer  Untersuchung  über  die  Lieferung 
der  Bomben;  4.  Dienstesenthebung  gewisser  administrativer  Beamten 
(Affäre  Pokrajac);  5.  Votierung  eines  neuen  Preßgesetzes.  Einschreiten 
gegen  das  Blatt  „Piemont";  6.  Revidierung  des  serbischen  Vereinsgesetzes; 
7.  Verbot  des  Abonnements  Österreich-Ungarn  feindlicher  Blätter  für 
Offiziersvereine  und  öffentliche  Anstalten. 

'  Gemäß  der  Ausführungen  des  Immediatvortrages  des  Grafen  Berch- 
told  vom  14.  Juli  wurde  unmittelbar  nach  der  an  diesem  Tage  statt- 
gehabten Besprechung  mit  den  beiden  Ministerpräsidenten  und  dem 
königlich  ungarischen  Minister  am  allerhöchsten  Hoflager  an  die  Redaktion 
der  Note  geschritten.  Entwurf  1  und  2  sind,  wie  aus  inhaltlichen  Gründen 
gefolgert  werden  kann,  wohl  früheren  Datums. 

2  Vgl.  Seite  70,  71. 

94 


diese  in  der  Lage  sein  werde,  die  eben  angefülirten  Maß- 
nahmen durchzuführen  '. 

Während  der  erste  Entwurf  von  der  vom  königlich  zweiicr  Em- 
serbischen  Preßbureau  am  I.Juli  veröffentlichten  Erklärung  *"''^ 
der  königlich  serbischen  Regierung  ausging,  machte  der 
einleitende  Absatz  des  zweiten  Entwurfes  die  der  öster- 
reichisch-ungarischen Regierung  übergebene  Note  der  ser- 
bischen Regierung  vom  18./31.  März  1909  (Anerkennung 
der  durch  die  Annexion  Bosniens  und  der  Herzegowina 
geschaifenen  Rechtslage)  zum  Ausgangspunkte  seiner  Argu- 
mentationen. An  der  ursprünglichen  Fassung  dieses  zweiten 
Entwurfes  wurden  durch  den  Fachreferenten,  den  außer- 
ordentlichen Gesandten  und  bevollmächtigten  Minister  Baron 
Musulin,  den  eigentlichen  Autor  der  Note,  vielfache 
Änderungen  vorgenommen.  Der  Hauptinhalt  lautete  vor 
Vornahme  der  Korrekturen-: 

Die  königlich  serbische  Regierung  erklärt,  die  sogenannte 
großserbische  Propaganda,  das  ist  die  Gesamtheit  jener 
Bestrebungen  zu  verurteilen,  welche  auf  die  Losreißung.  von 
Teilen  der  österreichisch-ungarischen  Monarchie  abzielen, 
und  ihrerseits  auf  serbischem  Territorium  mit  allen  Mitteln 
auf  die  Unterdrückung  dieser  Propaganda  hinzuwirken. 
Insbesondere  verpflichtet  sie  sich: 

1.  Das  Erscheinen  und  die  Verbreitung  von  Preßerzeug- 
nissen großserbischcr  Tendenz  zu  verhindern. 

2.  Sofort  mit  der  Auflösung  des  Vereines  „Narodna 
Odbrana"  vorzugehen  und  die  gleiche  Maßregel  überdies 
gegenüber  all  jenen  serbischen  Vereinen  zu  treffen,  die  sich 

1  Auf  einem  beigelegten  Bogen  findet  sicli  der  folgende  Blei- 
stiftvermerk von  der  Hand  des  Grafen  Forgäch:  „Es  kämen  noch  als 
„Forderungen  eventuell  hinzu: 

„I.  Ausstoßung  aus  der  Armee  der  kompromittierten  Offiziere,  Major 
„Tankosic,  Pribicevio  (?). 

„2.  Entlassung  aus  dem  diplomatischen  Dienste  jener  serbischen 
„Diplomaten  in  Petersburg  und  Berlin,  welche  unziemliche  Interviews  ver- 
„öffentlichten  über  Attentat  und  unsere  inneren  Zustände. 

„3.  Zuziehung  unserer  Staatsanwälte  und  Untersuchungsrichter  zur 
„Untersuchung  des  Komplotts  in  Serbien." 

-  Die  vollzogenen  Änderungen  erhellen  aus  dem  Text  des  dritten 
Entwurfes.  (S.  Seite  97  ff.) 

95 


mit  der  Förderung  und  Verbreitung  der  großserbischen 
Idee  befassen. 

3.  Aus  dem  gesamten  Unterriciite  in  Serbien,  sowohl 
was  das  Lehrpersonal  als  auch  die  hiebei  verwendeten 
Lehrbehelfe  anbelangt,  alles  zu  eliminieren,  was  der  groß- 
serbischen Idee  in  irgend  einer  Form  dient. 

4.  Gegen  jene  Organe  der  serbischen  Zivil-  und  Militär- 
verwaltung, welche  dieser  Propaganda  in  irgendeiner  Form 
Vorschub  leisten,  mit  deren  Entfernung  aus  dem  königlich 
serbischen  Dienste  vorzugehen. 

Mit  Rücksicht  darauf,  daß  eine  im  Sinne  der  groß- 
serbischen Idee  erfolgte  Betätigung  der  Herren 

bereits  festgestellt  ist,  wird  die  königlich  serbische  Regie- 
rung die  eben  genannten  Funktionäre  aus  ihrem  Dienste 
entlassen ', 

Als  Bleistiftnotiz  des  Barons  Musulin  erscheint  die  For- 
mulierung der  folgenden  Punkte  nachgetragen; 

5.  Die  Mitwirkung  der  k.  u.  k.  Regierung  bei  den  von 
der  königlich  serbischen  Regierung  zur  Unterdrückung  der 
großserbischen  Bewegung  eingeleiteten  Maßnahmen  nach 
im  besonderen  zu  vereinbarenden  Modalitäten  zu  akzeptieren. 

6.  Mit  Rücksicht  auf   den  Gang  der  Untersuchung  .  .  . 


und  endlich: 

7.  Die  k.  u.  k.  Regierung  binnen  Monatsfrist  von  den 
zur  Durchführung  der  in  der  Note  bezeichneten  Forde- 
rungen getroffenen  Maßnahmen  zu  verständigen. 

Als  Schlußbemerkung  hatte  der  folgende,  ebenfalls  nach- 
träglich niedergeschriebene  Passus  zu  gelten: 

Die  k.  u.  k.  Regierung  erwartet  die  gefällige  Antwort 
der    königlich    serbischen    Regierung    auf    die    vorliegende 

Note  bis  längstens 

Dritter  Eot-  Für  die  Datierung   des  nächsten  Entwurfes  läßt  sich  ein 

Anhaltspunkt    aus    der    von  der  Hand  des  Barons  Musulin 
niedergeschrieb'enen     Kopfnotiz    gewinnen:    Entwurf    einer 

'  Der  zweite  Absatz  des  Punktes  4  wurde  später  durchstrichen. 
Inhaltsgemäß  sollte  er  unter  Punkt  6  Verwertung  finden. 

~    Zur    Ausfüllung    dieses    Rahmens    sollte    vermutlich    der    (durch- 
,  strichene)  zweite  Absatz  des  Punktes  4  dienen. 

96 


wurf 


Note  an  Serbien  auf  Grund  der  Beschlüsse  des  gemein- 
samen Ministerrates  vom  14.  Juli  1914  '.  Dieser  dritte  Ent- 
wurf basierte  auf  den  an  dem  zweiten  Entwürfe  vorge- 
nommenen Änderungen  und  bezieht  sich  in  seinem  Schluß- 
absatze  bereits  auf  den  eventuell  vorzunehmenden  Abbruch 
der  diplomatischen  Beziehungen.  Der  Text  der  als  tele- 
graphische Weisung  an  den  k.  u.  k.  Gesandten  in  Belgrad 
gedachten  Note  lautete  nunmehr: 

„Wien,  am  .  .  .  Juli  1914. 

„Ich  ersuche  Euer  Hochwohlgeboren,  die  nachfolgende 
,,Note  an  die  königlich  serbische  Regierung  zu  richten  =: 

„Die  Entwicklung  der  letzten  Jahre,  insbesondere  aber 
„die  Ereignisse  der  jüngsten  Tage,  haben  gezeigt,  daß  unter 
„den  Augen  der  serbischen  Regierung  von  serbischem 
„Boden  aus  eine  Bewegung  in  die  Gebiete  der  öster- 
„reichisch-ungarischen  Monarchie  getragen  wird,  die  in 
„ihren  Endabsichten  auf  eine  Losreißung  einzelner  Teile 
„der  Monarchie  abzielt  und  die  sich  bereits  in  hochver- 
„räterischen,  auch  vor  gemeinem  Morde  nicht  zurück- 
„schreckenden  terroristischen  Taten  äußert. 

„Nach  den  Erklärungen,  welche  der  königlich  serbische 
„Gesandte  in  Wien  namens  seiner  Regierung  mit  Note  vom 
„18./31.  März  1909  der  k.  u.  k.  Regierung  abgegeben  hat", 
„und  die  in  der  Anerkennung  der  durch  die  Annexion 
„Bosniens  nnd  der  Herzegowina  an  Österreich-Ungarn 
„geschaffenen  neuen  Rechtslage  gipfelten,  war  es  Pflicht  der 
„serbischen  Regierung,  im  Geiste  der  von  ihr  feierlich  ver- 
„sprochenen  guten  nachbarlichen  Beziehungen  zur  Monarchie 
„derartige  Bestrebungen  auf  serbischem  Boden  nicht  zu  dulden. 

'  Unter  dem  hier  genannten  gemeinsamen  Ministerrate  kann,  sofern 
das  Datum,  14.  Juli,  richtig  ist,  nur  die  Besprechung  Graf  Berchtolds 
mit  den  beiden  Ministerpräsidenten  und  dem  königlich  ungarischen 
Minister  am  allerhöchsten  Hoflager  gemeint  sein.  (Vgl.  Seite  85.) 

=  Nachträgliche  Änderung  von  der  Hand    des    Baron    Musulin:    „die 

nachfolgende  Note   der  königlich   serbischen  Regierung  am 1.  M. 

zu  übergeben". 

3  Änderung  in:  „Nach  den  Erklärungen,  die  die  königlich  serbische 
Regierung  am  18.31.  März  1909  in  Wien  abgeben  ließ,"  von  der  Hand 
■des  Baron  Musulin. 

^  97 


„Da  aber  die  serbische  Regierurig  in  dieser  Richtung 
, nichts  unternommen  hat,  im  Gegenteil  ihrer  Verpflichtungen 
,uneingedenk,  die  Verherrlichung  und  Förderung  aller  gegen 
,die  Monarchie  gerichteten  Tendenzen  in  ihrer  Presse,  in 
,ihren  Vereinen  und  in  ihren  Schulen  Jahre  hindurch  und 
,bis  auf  den  heutigen  Tag  geduldet  und  hiedurch  eine 
, Mitschuld'  an  den  Ereignissen  vom  28.  Juni  1.  J.  auf  sich 
, geladen  hat,  sieht  sich  die  k.  u.  k.  Regierung  genötigt,  um 
,der  Fortsetzung  der  von  außen  in  die  Gebiete  der 
,Monarchie  getragenen  anarchistischen  Bewegung  ein  für 
, allemal  ein  Ende  zu  bereiten  und  um  der  Verführung  und 
,Verhetzung  ihrer  Staatsangehörigen  endgültig  zu  steuern, 
,von  der  königlich  serbischen  Regierung  die  Abgabe  der 
,nachstehenden  Erklärung  und  die  Übernahme  der  folgenden 
, Verpflichtungen  zu  verlangen: 

„Die  königlich  serbische  Regierung  erklärt  feierlichst, 
,die  gegen  die  benachbarte  Monarchie  gerichtete  Propaganda, 
,das  heißt  die  Gesamtheit  jener  Bestrebungen  zu  verurteilen, 
,welche  auf  die  Losreißung  von  Teilen  der  österreichisch- 
, ungarischen  Monarchie  abzielen,  und  gibt  ihrem  ent- 
,schiedenen  Willen  Ausdruck,  ihrerseits  auf  serbischem 
,Territorium  mit  allen  Mitteln  auf  die  Unterdrückung  dieser, 
,mit  terroristischen  Mitteln  arbeitenden  Propaganda  hin- 
,wirken  zu  wollen.  Zu  diesem  Ende  verpflichtet  sich  die 
,serbische  Regierung,  die  nachfolgende  Erklärung  im 
, Amtsblatte-  zu  veröffentlichen,  eine  Erklärung,  die  gleich- 
, lautend  auch  durch  einen  Armeebefehl  Seiner  Majestät  des 
, Königs  zur  Kenntnis  der  Truppen    gebracht  werden  wird: 

,Die  königlich  serbische  Regierung,  die  die  gegen  die 
benachbarte  Monarchie  gerichtete  Propaganda,  das  heißt 
die  Gesamtheit  jener  Bestrebungen,  die  auf  die  Losreißung ' 
von  Teilen  der  österreichisch-ungarischen  Monarchie  ab- 
zielen, auf  das  schärfste  verurteilt  und  die  beklagenswerten 

'  Zusatz  von  der  Hand  des  Baron  Musulin:  „und  hiedurch  eine 
moralische  Mitschuld". 

=  Zusatz  von  der  Hand  des  Baron  Musulin:  „die  nachfolgende 
Erklärung  am an  der  ersten  Stelle  im  Amtsblatte". 

"  Zusatz  von  der  Hand  des  Baron  Musulin:  „die  in  letzter  Linie  auf 
die  Losreißung". 

98 


/ 


,Folgen  einer  verbrecherischen  Agitation  auf  das  tiefste 
, bedauert,  warnt  ^  ihre  Staatsangehörigen  vor  der  weiteren 
,Teilnahme  an  solchen  Bestrebungen  und  macht  die  Bevöl- 
,kerung  des  Königreiches  darauf  aufmericsam,  daß  sie  gegen 
,die  eventuellen  Schuldtragenden  mit  wirksamer  und  voller 
,Strenge  vorgehen  wird.' 

„Abgesehen  von  dieser  Erklärung,  verpflichtet  sich  die 
„königlich  serbische  Regierung: 

„1.  Das  Erscheinen  und  die  Verbreitung  von  Preßerzeug- 
„nissen,  die  eine  gegen  die  territoriale  Integrität  der  Mon- 
„archie  gerichtete  Tendenz  aufweisen,  in  Zukunft  zu  ver- 
„hindern, 

„2.  sofort  mit  der  Auflösung  des  Vereines  „Narodna 
„Odbrana"  vorzugehen  und  die  gleiche  Maßregel  überdies 
„all  jenen  serbischen  anerkanhten  und  geheimen  Vereinen 
„gegenüber  zu  treffen,  die  sich  mit  der  Förderung  und  Ver- 
„breitung  der  eben  gekennzeichneten  Tendenzen   befassen ', 

„3.  aus  dem  gesamten  Unterrichte  in  Serbien,  sowohl 
„was  das  Lehrpersonal  als  auch  die  hiebei  verwendeten 
„Lehrbehelfe  anbelangt,  alles  zu  eliminieren,  was  der  Agita- 
„tion  gegen  den  Besitzstand  der  Monarchie  in  irgendeiner 
„Form  dient; 

„4.  gegen  jene  Organe  der  serbischen  Zivil-  und  Mili- 
„tärverwaltung,  welche  dieser  Propaganda  in  irgendeiner 
„Form  Vorschub  leisten,  mit  deren  Entfernung  aus  dem 
„königlich  serbischen  Dienste  vorzugehen; 

„5.  die  Mitwirkung  von  Organen  der  k.  u.  k.  Regierung 
„bei  den  von  der  königlich  serbischen  Regierung  zur  Unter- 
„drückung  der  großserbisehen  Bewegung-  einzuleitenden 
„Maßnahmen  nach  im  besonderen  zu  vereinbarenden  Modali- 
„täten  zu  akzeptieren; 

„6.  mit  Rücksicht  auf  den  Gang  der  Untersuchung'  ... 
„ ,  und  endlich 

'  Zusatz  von  der  Hand  des  Baron  Musulin:  „überdies  auch  die 
Bildung  neuer  solcher  Vereine  nicht  zuzulassen". 

-  „der  großserbischen  Bewegung"  geändert  in  „der  gegen  die  Mon- 
archie gerichteten  Bewegung",  von  der  Hand  des  Baron  Musulin. 

"  Vgl.  Punkt  6  des  zweiten  Entwurfes,  Seite  96,  und  Anmerkung  1 
daselbst. 

99 


„7.  die  k.  u.  k.  Regierung  von  den  zur  Durchführung 
„der  im  Vorstehenden  bezeichneten  Forderungen  getroffenen 
„Maßnahmen  unverzüglich  zu  verständigen. 

„Die  k.  u.  k.  Regierung  erwartet  die  gefällige  Antwort 
„auf  die  vorliegende  Note  bis  längstens 


„Euer  Hochwohlgeboren  wollen  gelegentlich  der  Über- 
„gabe  dieser  Note  mündlich  hinzufügen,  daß  Sie  beauftragt 
„seien  —  falls  Ihnen  inzwischen  nicht  eine  zustimmende 
„Antwort  der  königlich  serbischen  Regierung  zugekommen 
„sein  sollte  — ,  nach  Ablauf  der  in  der  Note  vorgesehenen, 
„vom  Tage  und  von  der  Stunde  Ihrer  Mitteilung  an  zu 
„rechnenden  48stündigen  Frist  Ihre  Pässe  zu  verlangen".' 


Entwürfe  in 

französischer 

Sprache 


Endgültiger 
Text 


Die  in  französischer  Sprache  aufgesetzten  Entwürfe  der 
Begehrnote  fußten  im  Großen  und  Ganzen  auf  der  gemäß 
der  Festsetzungen  der  Mmisterbesprechung  vom  14.  Juli 
erfolgten  Redaktion  des  dritten  deutschen  Entwurfes  der 
Note. 

In  dem  an  die  Adresse  des  k.  u.  k.  Gesandten  gerich- 
teten Schlußabsatze  dokumentiert  die  Einschaltung  eines 
einzigen  Wortes  die  Verschärfung  des  Tenors  der  Note: 
„Gelegentlich  der  Übergabe  der  vorstehenden  Note  wollen 
„Euer  Hochwohlgeboren  mündlich  hinzufügen,  daß  Sie 
„beauftragt  seien  —  falls  Ihnen  nicht  inzwischen-  eine  vor- 
„behaltlose-  zustimmende  Antwort  der  königlichen  Regie- 
„rung  zugekommen  sein  sollte  — ,  nach  Ablauf  der  in  der 
„Note  vorgesehenen,  vom  Tage  und  von  der  Stunde  Ihrer 
„Mitteilung  an  zu  rechnenden  48stündigen  Frist,  mit  dem 
„Personal  der  k.  u.  k.  Gesandtschaft  Belgrad  zu  verlassen." 

Das  Protokoll  des  Ministerrates  für  gemeinsame  Ange- 
legenheiten vom  19.  Juli  führt  eingangs  an,  daß,  bevor  der 
Ministerrat  sich  konstituiert  und  der  Vorsitzende  die  Sitzung 
eröffnet  hatte,  eine  formlose  Besprechung  über  die  Redaktion 


'  Geändert  in  „vom  Tage  und  von  der  Stunde  Ihrer  Mitteilung  an 
zu  rechnenden  48stündigen  Frist  mit  dem  Personal  der  k.  u.  k.  Gesandt- 
schaft Belgrad  zu  verlassen",  von  der  Hand  des  Baron  Musulin. 

~  Das  Wort  „vorbehaltlose",  Einschaltung  von  der  Hand  des  Baron 
Musulin. 


100 


der  Note  stattgefunden  habe  und  daß  deren  definitiver  Text 
festgestellt  worden  sei.  Im  offiziellen  Teile  der  Konferenz 
wurde  sodann  auf  Antrag  des  Grafen  Berchtold  einstimmig  . 
beschlossen,  die  Note  solle  am  23.  Juli,  um  5  Uhr  nach- 
mittags, in  Belgrad  überreicht  werden.  Die  in  Form  eines 
"an  den  k.  u.  k.  Gesandten  in  Belgrad,  Freiherrn  von  Giesl, 
zu  richtenden  Erlasses  gehaltene  Note  erlangte  damit  ihre 
endgültige  Fassung  '.  Nach  dem  Wortlaute  der  Einbegleitung 
erhielt  der  k.  u.  k.  Gesandte  den  Auftrag,  die  Note  am 
Donnerstag,  den  23.  Juli  nachmittags,  jedenfalls  zwischen 
4  und  5  Uhr,  der  königlich  serbischen  Regierung  zu  über- 
reichen'-. 

Ein  aus  Ischl  am  20.  Juli  vormittags  von  dem  Chef  der  Audienz  des 
Kabinettskanzlei     Baron    Schießl     aufgesetztes    Telegramm  '^''^'^" 

°  °  Berchtold 

unterrichtete    den    Grafen    Berchtold,    der    Monarch    inter-  beim 
essiere    sich  zu    erfahren,    ob    die  Angelegenheit    der   Note  '«<"'"':i>en 

'  *=         ^  (21.  Juli) 

am  19.  d.  M.  zum  Abschlüsse  gelangt  sei,  und  wann  das 
Operat  in  Ischl  einlangen  könne.  '  Laut  Antwort  Graf 
Berchtolds  war  die  fragliche  Angelegenheit  zu  Ende  gediehen; 
das  bezügliche  Elaborat,  das  am  19.  Juli  nicht  fertiggestellt 
werden  konnte,  werde  mit  dem  am  20.  Juli  abgehenden 
Kurier  unterbreitet  werden.  Graf  Berchtold  selbst  gedenke  am 
21.  Juli  früh  in  Begleitung  des  Grafen  Hoyos  in  Bad  Ischl 
einzutreffen  und  noch  vormittags  vor  dem  Monarchen  zu 
erscheinen  *. 

1  Die  lithographierte  Vorlage  trägt  den  von  der  Hand  des  Baron 
Musulin  geschriebenen  Vermerk:  Letzte  definitive  Fassung  vom  Sonntag, 
den  19.  Juli.  Sie  weist  mehrere,  von  Graf  Berchtold  nachträglich  vor- 
genommene stilistische  und  sachliche  Korrekturen  auf.  Diese  letzteren 
beziehen  sich  zum  großen  Teile  auf  die  Behebung  von  Verstößen,  auf 
die  vom  Standpunkte  der  ungarischen  Eigenstaatlichkeit  hätte  hingewiesen 
werden  können.  Der  französische  Text  der  Note  ist  abgedruckt  im  öster- 
reichisch-ungarischen Rotbuch  Nr.  7,  in  deutscher  Sprache  in  der  Volks- 
ausgabe des  österreichisch-ungarischen  Rotbuches  unter  der  gleichen 
Nummer,  mit  der  vorsätzlichen  Datierung  auf  den  22.  Juli,  statt  der  tat- 
sächlichen und  zutreffenden  vom  20.  Juli.  (Vgl.  Seite   109,  Anmerkung  2.) 

•  Die  Fixierung  des  Datums  erscheint  als  nachträglicher  Bleistift- 
vermerk von  der  Hand  des  Baron  Musulin. 

■■  Telegramm  aus  Bad  Ischl  d.  d.  20.  Juli,   11   Uhr  a.  m.,  o.  Nr. 

*  Telegramm  an  Baron  Schießl  d.  d.  Wien,  20.  Juli,  1  Uhr  30  Minuten 
p.  m.,  C.  d.  M. 

101 


2.  Die  Überreichung  der  Note  in  Belgrad 
(23.  Juli,  6  Uhr  nachmittags) 
verhaitungs-        Dic  speziclIcn  Weisungen,    die    dem  k.  u.  k.  Gesandten 
füfdefk^.  Freiherrn   von   Giesl    für    den  Fall    der    Überreichung    der 
k. Gesandten  Bcgehmote    erteih    wurden,    gingen    ihm    in    einem  Privat- 
rli'ehung  der  schrcibcn  des  Grafen  Berchtold  vom  20.  Juli  zu  '. 
No'E  Danach  stelhen  die  Forderungen  das  Minimum  dar,  das 

die  Monarchie  verlangen  müsse,  damit  ihr  gegenwärtig  ganz 
unhaltbares  Verhältnis  zu  Serbien'  geklärt  werde.  Auch 
müsse  die  Monarchie  darauf  bestehen,  daß  ihr  die  Ent- 
scheidung der  serbischen  Regierung  innerhalb  der  Frist  von 
48  Stunden  bekanntgegeben  werde;  eine  Verlängerung  dieser 
Frist  könnte  keinesfalls  —  etwa  unter  dem  Vorwande,  daß 
die  serbische  Regierung  nähere  Auskünfte  über  die  Trag- 
weite und  den  Sinn  einzelner  unter  diesen  Forderungen  zu 
erhalten  wünsche  —  zugestanden  werden. 

Das  Wiener  Kabinett  könne  sich  bezüglich  seiner  For- 
derungen auf  keine  Verhandlungen  mit  Serbien  einlassen, 
nur  deren  bedingungslose  Annahme  innerhalb  der  vorge- 
sehenen Frist  könne  genügen  und  das  Wiener  Kabinett 
davon  abhalten,  die  weiteren  Konsequenzen  zu  ziehen. 

Was  die  Schritte,  welche  die  k.  u.  k.  Regierung  nach 
dem  Abbruch  der  diplomatischen  Beziehungen  zu  unter- 
nehmen gedenke,  betreffe,  so  wolle  der  k.  u.  k.  Gesandte 
erklären,  hierüber  keine  Informationen  erhalten  zu  haben. 
Aus  eigener  Initiative  und  ohne  sich  auf  einen  Auftrag  zu 
berufen,  könne  der  Gesandte  hinzusetzen,  daß  die  Monarchie 
in  den  letzten  Jahren  wegen  der  feindseligen  Haltung  des 
Königreiches  schon  zweimal  zu  kostspieligen  militärischen 
Maßregeln  genötigt  worden  sei,  und  daß  sie  sich,  falls  dies 
neuerlich  geschehen  sollte,  jedenfalls  genötigt  sehen  würde, 
,  die  serbische  Regierung    für    alle    der  Monarchie    hiedurch 

verursachten  Auslagen  haftbar  zu  machen. 

Eine  Diskussion  über  den  Inhalt  der  Note  und  die  Inter- 
pretation der  einzelnen  Forderungen  wolle  der  k.  u.  k.  Ge- 
sandte vermeiden  und  Herrn  Pasic,  wenn  dieser  insistieren 

1  Privatschreiben  des  Grafen  Berchtold  an  Baron  Giesl  d.  d.  Wien, 
20.  Juli,  C.  d.  M. 

102 


sollte,  erklären,  daß  er  zu  einer  weiteren  Diskussion 
nicht  ermächtigt  sei,  vielmehr  die  Annahme  pur  et  simple 
verlangen  müßte.  Mündlich  müßte  der  Gesandte  von  Herrn 
Pasic  auch  verlangen,  daß  ihm  die  serbische  Übersetzung 
der  im  Amtsblatte  zu  publizierenden  Deklaration  sowie  der 
■serbische  Text  des  Armeebefehls  vorgelegt  werde,  damit 
sich  der  Gesandte  überzeugen  könne,  daß  die  Übersetzung 
richtig  sei. 

Wie  sich  der  Gesandte  im  Falle  des  Abbruches  der 
diplomatischen  Beziehungen  zu  verhalten  habe,  darüber  sei 
er  bereits  durch  frühere  Weisungen  genau  instruiert. 

Sobald  die  48stündige  Frist,  von  der  Überreichung  der 
Note  an  gerechnet,  verstrichen  sei,  ohne  daß  eine  Annahme 
eingelangt  wäre,  habe  der  Gesandte  daher  der  serbischen 
Regierung  mittels  einer  Note  mitzuteilen,  daß  er  mit  Rück- 
sicht auf  den  Ablauf  des  Termins,  seinen  Instruktionen 
gemäß  Serbien  mit  dem  Personal  der  Gesandtschaft  verlassen 
und  den  Schutz  der  österreichisch-ungarischen  Konnationalen 
und  Interessen  in  Serbien  auftragsgemäß  der  .  .  .  [noch  zu 
bestimmenden  fremden]  Gesandtschaft  übergebe,  der  ein 
k.  u.  k.  Kanzleisekretär  in  dienstlicher  Eigenschaft  zugeteilt 
werde.  Hiemit  seien  die  diplomatischen  Beziehungen  Öster- 
reich-Ungarns zu  Serbien  abgebrochen. 

Der  Gesandte  wolle  sich  darauf  nach  genauer  Durch- 
führung seiner  bereits  früher  erhaltenen  Instruktionen  zu- 
sammen mit  dem  Personal  der  Gesandtschaft  mit  nächstem 
Schiffe  nach   Semlin  begeben. 

Die  Tatsache,  daß  Serbien  die  Forderungen  des  Wiener 
Kabinetts  nicht  erfüllt  habe,  beziehungsweise  daß  die  Frist 
ohne  Annahme  der  Note  abgelaufen  sei,  wolle  der  k.  u.  k. 
Gesandte  mittels  Chiffretelegramms  noch  aus  Belgrad  tele- 
graphieren. 

Eine  Weisung  an  Freiherrn  von  Giesl  vom  21.  Juli  führte 
ergänzend  aus: ' 

Da  sich  Zeitungsmeldungen  zufolge  Ministerpräsident 
Pasic  in  Wahlangelegenheiten  nach  Ostserbien  begeben  haben 
und  erst  Ende  der  Woche  nach  Belgrad  zurückkehren  solle, 

1  Weisung  an  Baron  Giesl  d.  d.  Wien,  21.  Juli,  7  Uhr  p.  m.,  Nr.  76. 

103 


erscheine  es,  falls  sich  diese  Meldungen  bestätigten,  dem 
Wiener  Kabinette  notwendig,  daß  der  k.  u.  k.  Gesandte  in 
Belgrad  dem  ersten  Beamten  des  serbischen  Auswärtigen 
Amtes  am  23.  Juli  früh  in  einem  Briefe,  den  ein  Konzepts- 
beamter der  k.  u.  k.  Gesandtschaft  zu  überbringen  hätte, 
die  Verständigung  zugehen  lasse,  der  k.  u.  k.  Gesandte  sei 
beauftragt,  der  königlichen  Regierung  am  Nachmittag  eine 
wichtige  Mitteilung  zu  machen.  Der  k.  u.  k.  Gesandte  würde 
zu  diesem  Zwecke  zwischen  4  und  5  Uhr  nachmittag  im 
Auswärtigen  Amte  vorsprechen.  Seine  Mitteilung  werde  vor- 
aussichtlich die  schleunige  Rückkehr  Herrn  Pasic'  notwendig 
machen.  Der  Leiter  des  Auswärtigen  Amtes  solle,  falls  er 
es  für  nützlich  erachte,  sich  diesbezüglich  sofort  mit  dem 
Ministerpräsidenten  in  Verbindung  setzen. 

Um  jedes  Mißverständnis  zu  vermeiden,  sei  ausdrücklich 
zu  bemerken,  daß  dieser  Brief  des  k.  u.  k.  Gesandten  nur 
als  ein  Akt  der  Courtoisie  zu  betrachten  sei,  um  die  je 
frühere  Rückkehr  und  Informierung  des  Ministerpräsidenten 
zu  ermöglichen,  daß  aber  die  Übergabe  der  Note  seitens  des 
k.  u.  k.  Gesandten  unter  allen  Umständen  am  Nachmittag 
zwischen  4  und  5  Uhr,  und  zwar  im  Falle  der  Abwesenheit 
des  Herrn  Pasic  an  dessen  Vertreter  oder  an  den  rang- 
höchsten anwesenden  Beamten  des  Auswärtigen  Amtes,  zu 
erfolgen  habe. 

Die  vollzogene  Übergabe  der  Note  wolle  der  k.  u.  k. 
Gesandte  durch  vorher  vorbereitete  Expreßchiffretelegramme 
in  duplo  sowohl  aus  Belgrad  als  auch  aus  Semlin  in  drin- 
gendster Weise  nach  Wien  melden.  Wegen  der  Publi- 
kation und  anderer  Maßnahmen  wünsche  Graf  Berchtold 
die  Nachricht  noch  am  23.  Juli  vor  7  oder  8  Uhr  abends 
in  Wien  zu  erhalten. 

Über  ein  eventuelles  Gespräch   bei  der  Übergabe  wolle 

der  k.  u.  k.  Gesandte  getrennt  ebenfalls  sofort  telegraphisch 

berichten. 

situations-  Scinc    eigene    Auffassung    der    politischen    Sachlage    in 

benchtdes     Sgpj^jgj,  jggjg  (jg^  j^_  ^^  j^    Gcsandtc  in  einem  Berichte  vom 

Gesandten     21.  JuH  '  nicdcr: 

(21.  Juli) 

'  Bericht  aus  Belgrad  d.  d.  21.  Juli,  Nr.   131/P. 
104 


Die  Besorgnis,  die  nach  dem  Attentate  iierrsclite,  die 
Monarchie  würde  scharfe  Forderungen  stellen,  beginne  sich 
mit  dem  verzögerten  Abschlüsse  der  Untersuchung  und  dem 
Ausbleiben  der  befürchteten  Demarche  von  Tag  zu  Tag 
immer  mehr  zu  verflüchtigen  und  werde  bald  wie  ein 
böser  Traum  beim  glücklichen  Erwachen  verschwinden. 

Seine  Gedankengänge  zusammenfassend,  stellte  der 
k.  u.  k.  Gesandte  fest:  Das  Prinzip  der  Nichteinmischung 
oder  der  Intervention  erst  nach  hergestelltem  Einvernehmen 
zwischen  allen  Großmächten  habe  die  Balkankrise  ver- 
schuldet, nur  ein  selbständiges  Eingreifen  der  Macht,  die 
hier  allein  bedroht  sei,  unter  dem  Motto:  „Wer  nicht  mit 
mir  ist,  ist  gegen  mich",  könne  der  Meinung  des  k.  u.  k. 
Gesandten  nach,  den  Feind,  der  sich  drohend  vor  die 
Monarchie  gestellt  habe,  niederwerfen  und  dem  Reiche 
nach  jahrelangen  Krisen  die  Ruhe  geben. 

Halbe  Mittel,  ein  Stellen  von  Forderungen,  langes  Parla- 
mentieren  und  schließlich  ein  fauler  Kompromiß  wären  der 
härteste  Schlag,  der  Österreich-Ungarns  Ansehen  in  Serbien 
und  seine  Machtstellung  in  Europa  treffen  könnte. 

Hinsichtlich  der  von  der  serbischen  Regierung  vor-  serbische 
genommenen  Orientierung  teilte  Herr  von  Tschirschky  am  ^"^''"''"■"'"« 
21.  Juli  dem  Grafen  Berchtold  den  Inhalt  einer  Depesche 
Herrn  von  Jagows  mit  \  derzufolge  der  königlich  serbische 
Geschäftsträger  in  Berlin,  in  Entsprechung  einer  wahr- 
scheinlich an  alle  serbischen  Vertreter  ergangenen  Zirkular- 
weisung, dem  Staatssekretär  erklärt  habe,  Serbien  beab- 
sichtige, die  besten  und  korrektesten  Beziehungen  mit  der 
Nachbarmonarchie  zu  unterhalten  und  sei  bereit,  alle  For- 
derungen Österreich-Ungarns  nach  einer  strengen  Unter- 
suchung des  Attentats  von  Sarajevo  zu  erfüllen,  soweit  sie 
mit  der  Ehre  und  Souveränität  des  Königreiches  vereinbar 
seien.  Der  königlich  serbische  Geschäftsträger  habe  die 
kaiserlich  deutsche  Regierung  gleichzeitig  gebeten,  auf  das 
Wiener  Kabinett  versöhnlich  einzuwirken. 

Die  Antwort  Herrn  von  Jagows  an  den  Vertreter 
Serbiens    hätte,    so    fügte  Herr  von  Tschirschky  bei,  dahin 

'  Tagesbericht  vom  21.  Juli,  Nr.  3444. 

105 


gelautet,  daß  nach  Ansicht  der  deutschen  Regierung  Serbien 
es  an  einem  korrekten  nachbarlichen  Verhaken  Österreich- 
Ungarn  gegenüber  gerade  in  den  letzten  Jahren  derart  habe 
fehlen  lassen,  daß  es  nur  zu  begreiflich  sei,  wenn  das 
Wiener  Kabinett  bei  Bekanntgabe  seiner  Forderungen  eine 
sehr  energische  Sprache  führen  sollte. 
Die  s.unde  Sclt  dcm  21.  JuH,  11  Uhr  nachts,  befand  sich  der  k.  u.  k. 

der  nJis^"  "^  Gesandte    in  Belgrad    im  Besitze    des    die  Begehrnote  ent- 
wird ver-      haltenden  Erlasses  '. 

Die  Überreichung  sollte,  wie  bisher  bestimmt  worden 
war,  Donnerstag  den  23.  Juli,  nachmittags  zwischen  4  und 
5  Uhr,  stattfinden.  Eine  am  Vormittage  des  23.  Juli 
erlassene  telegraphische  Weisung  -  an  den  k.  u.  k.  Ge- 
sandten schuf  in  dem  zeitlichen  Arrangement  zwischen  Tür 
und  Angel  noch  eine  Verschiebung.  9  Uhr  30  Minuten 
ging  an  Freiherrn  von  Giesl  die  Weisung  ab,  die  für 
Nachmittag  anberaumte  Demarche  keinesfalls  um  4  Uhr, 
sondern  frühestens  einige  Minuten  vor  5  Uhr  vorzunehmen. 
Falls  es  dem  Gesandten  möglich  sei,  wolle  er  die  Demarche 
auf  6  Uhr  verschieben,  in  welchem  Falle  auch  in  der 
Note  der  Ablauftermin  der  48stündigen  Frist  auf  Samstag, 
den  25.  Juli,  6  Uhr,  zu  ändern  wäre. 

Zur  Informierung  des  k.  u.  k.  Gesandten  werde  hinzu- 
gefügt, das  Wiener  Kabinett  wolle  tunlichst  verhindern, 
daß  die  Nachricht  über  die  erfolgte  Demarche  noch  am 
selben  Abend  in  Petersburg  eintreffe,  da  Präsident  Poincare 
noch  bis  11  Uhr  abends  daselbst  verweile. 

Der  k.  u.  k.  Gesandte  wolle  sofort  dringendst  telegra- 
phieren, ob  er  die  Demarche  um  5  Uhr  ausführen  werde 
oder  ob  er  sie  auf  6  Uhr  verschieben    könne. 

Freiherr  von  Giesl  meldete  um  2  Uhr  30  Minuten  nach- 
mittags, er  werde  alles  aufbieten,  um  die  Demarche  erst 
um  6  Uhr  durchzuführen.  ■' 

t  Erlaß  nach  Belgrad  d.  d.  Wien,  20.  Juli,  Nr.  3400,  Empfangs- 
bestätigung Telegramm  aus  Belgrad  d.  d.  22.  Juli,   1   Uhr  p.  m.,  Nr.   168. 

s  Weisung  nach  Belgrad  d.  d.  Wien,  23.  Juli,  9  Uhr  30  a.  m.,  Nr.  80. 

•'  Telegramm  aus  Belgrad  d.  d.  23.  Juli,  2  Uhr  30  Minuten  p.  m., 
Nr.   172. 

106 


Um  einem  eventuellen  Schachzug  des  serbischen  Minister-  Angebliche 
Präsidenten,  der  angeblich  im  Momente  der  Übernahme  der  „b^XhÜnd« 
Note    zu    demissionieren  beabsichtige,  zuvorzukommen,   er-  serbischen 
ging  noch  am  23.  Juli,  2  Uhr  nachmittags,  an  Freiherrn  von  prälidente« 
Giesl  die  Weisung':    Die  Demission    des  Kabinetts    könnte 
natürlich  weder  die  Stellung  der  österreichisch-ungarischen 
Forderungen,    noch    den  Lauf  der  48stündigen  Frist  beein- 
flussen,   da    bekanntlich    ein    demissioniertes    Kabinett    die 
Geschäfte    bis    zur    Bildung    des    neuen    Ministeriums    mit 
voller  Verantwortlichkeit  weiterzuführen  habe. 

Seit  dem  22.  Juli    war    mittels    Dekretes    der    königlich  ^.^^  q^^_. 
serbische    Finanzminister    Pacu     mit    der    Vertretung    des  reichung  der 
Regierungschefs    und    des    Ministers    des    Äußern    betraut  23°'juii, 
worden.  In  einer  Besprechung  mit  Freiherrn  von  Giesl  am  euhrp.  m. 
23.  Juli  vormittags    hatte  Herr  Pacu  die  vom  k.  u.  k.  Ge- 
sandten    betonte     Notwendigkeit     der    Verständigung     des 
abwesenden  Ministerpräsidenten  Pasic    mit  der  Motivierung 
der  durch    ihn    selbst   besorgten  Stellvertretung  afs  unnötig 
abgelehnt-. 

Freiherr  von  Giesl  ließ  sich  vormittags  durch  Herrn 
Pacu,  nachdem  derselbe  eine  Weile  gezögert  hatte,  eine 
Unterredung  für  6  Uhr  nachmittags  anberaumen  und  wurde 
mit  dem  Glockenschlage  in  Gegenwart  des  Generalsekretärs 
Gruic  (da  Pacu  nicht  französisch  sprach)  empfangen. 

Der  k.  u.  k.  Gesandte  übergab  die  Note^  und  fügte  bei, 
daß  die  Antwort  bis  Samstag,  den  25.  Juli,  6  Uhr  abends, 
befristet  sei,  zu  welchem  Zeitpunkte  er,  wenn  keine  oder 
eine  ungenügende  Antwort  eintreffe,  mit  dem  Personal  der 
Gesandtschaft  Belgrad  verlassen  würde  und  erklärte,  daß 
er  gleichzeitig  mit  der  Antwort  die  Übergabe  des  serbischen 
Textes  der  beiden  offiziellen  Enunziationen  wünsche,  um 
dieselben  kontrollieren  zu  können. 

Minister  Pacu  bemerkte,  ohne  die  Note  gelesen  zu  haben, 
daß  jetzt  die  Wahlen  stattfänden  und  daß  ein  Teil  der  Minister 
abwesend    sei;     er    fürchte    die    physische    Unmöglichkeit 

'  Weisung  nach  Belgrad  d.  d.  Wien,  23.  Juli,  2  Uhr  p.  m.,  Nr.  81. 

2  Telegramm  aus  Belgrad  d.  d.  23.  Juli,  2  Uhr  p.  m.,  Nr.   171. 

3  Telegramm  aus  Belgrad-  Semlin  d.  d.  23.  Juli,  7  Uhr  p.  m.,  Nr.  173. 

107 


Nichl  Ulti- 
matum, son- 
dern :  Be- 
fristete De- 
marche 


Verständi- 
gung des 
Monarchen 


den  vollständigen  Ministerrat  rechtzeitig  zu  der  augen- 
scheinlich wichtigen  Entscheidung  einberufen  zu  können. 

Der  Ministerrat  war  schon  seit  5  Uhr  versammelt. 
Freiherr  von  Giesl  entgegnete,  daß  die  Rückkehr  der  Mi- 
nister im  Zeitalter  der  Eisenbahnen,  des  Telegraphen  und 
Telephons  bei  der  Größe  des  Landes  nur  die  Affäre  einiger 
Stunden  sein  könne  und  daß  er  bereits  vormittags  die  even- 
tuelle Verständigung  des  Herrn  Pasic  als  nützlich  angeregt 
habe.  Im  übrigen  sei  dies  eine  interne  Angelegenheit  der 
serbischen  Regierung,  die  der  k.  u.  k.  Gesandte  weiter 
nicht  zu  beurteilen  habe.  Eine  andere  Diskussion  hatte  nicht 
stattgefunden ". 

Freiherr  von  Giesl  hatte  in  seiner  telegraphischen 
Berichterstattung  vom  23.  Juli  zur  Bezeichnung  der  Note 
das  Schlagwort  „Ultimatum"  benützt.  Der  k.  u.  k.  Gesandte 
erhielt  diesbezüglich  —  noch  nach  erfolgter  Übergabe  der 
Note  —  die  Direktive  =,  daß  die  von  ihm  gewählte  Be- 
nennung insofern  unrichtig  sei,  als  auf  den  fruchtlosen 
Ablauf  der  Frist  nur  der  Abbruch  der  diplomatischen  Be- 
ziehungen, nicht  auch  sofort  der  Eintritt  des  Kriegszustandes 
folgen  werde.  Der  Kriegszustand  werde  erst  mit  der  Kriegs- 
erklärung, beziehungsweise  mit  dem  serbischen  Angriff  auf 
die  Monarchie  eintreten. 

Nach  der  im  k.  u.  k.  Ministerium  des  Äußern  angewandten 
Terminologie  war  der  in  Belgrad  vollzogene  Schritt  der 
k.  u.  k.  Regierung  als  eine' „befristete  Demarche"  zu 
bezeichnen. 

Die  Nachricht  von  der  vollzogenen  Durchführung  der 
diplomatischen  Aktion  in  Belgrad  wurde  noch^  am  23.  Juli, 
11  Uhr  50  Minuten  nachts,  telegraphisch  an  den  Chef  der 
Kabinettskanzlei  des  Monarchen  übermittelt,  mit  der  gleich- 
zeitigen Verständigung,  daß  die  48stündige  Frist  am  Samstag, 
den  25.  Juli  ■■,  6  Uhr  abends,  ablaufe  *. 

'  Telegramm  aus  Belgrad  d.  d.  23.  Juli,  8  Uhr  p.  m.,  Nr.  175. 

-  Weisung  nach  Belgrad  d.  d.  Wien,  23.  Juli,  1 1  Uhr  20  Minuten 
p.  m.,  Nr.  83. 

■'  Im  Konzepte  irrtümlich:  „Samstag,  den  26." 

*  Telegramm  an  Baron  Schießl,  Bad  Ischl,  d.  d.  Wien,  23.  Juli, 
11   Uhr  50  Minuten  p.  m.,  C.  d.  M. 


108 


Die  Beschlußfassung  des  gemeinsamen  Minister- 
rates vom  7.  und  19.  Juli  hatte  ihre  Realisierung 
gefunden.  Die  zu  gewärtigenden  Konsequenzen 
—  Eintritt  des  Krieges  mit  Serbien  und  Wahr- 
scheinlichkeit einer  kriegerischen  Auseinander- 
setzung mit  Rußland  -  waren  bereits  in  der 
Sitzung  vom  7.  Juli  ins  Auge  gefaßt  worden.  Zu 
der  Frage,  welche  Stellungnahme  die  serbische 
Regierung  bekunden  werde,  gesellte  sich  die  gleich 
wichtige:  welches  Echo  der  Schritt  der  k.  u.  k.  Re- 
gierung bei  den  europäischen  Kabinetten  auslösen 
werde. 

3.  Die  österreichisch-ungarische  Zirkularnote  an  die 
Signatarmächte  vom  24.  Juli   1914 

Bei  der  Abfassung  der  an  die  Signatarmächte  zu  rieh-  Aufgabe  der 
tenden   Note  war  am   Ballhausplatze   der   Grundsatz  maß-  ^'"■^"^^'•""^ 
gebend,   die    Zirkularnote   habe   den   Mächten   eine   bereits 
vollzogene  Tatsache  einfach  zur  Kenntnis  zu  bringen  und  es 
keineswegs  einzuräumen,  die  Begehrnote  an  Serbien  selbst 
zum  Gegenstande  von  Erörterungen  zu  machen. 

Die  verschiedenen  Entwürfe  der  Zirkularnote  —  in 
deutscher  und  französischer  Sprache  —  dürften  zeitlich 
parallel  mit  denen  der  Begehrnote  aufgesetzt  worden  sein  '. 

Die  Zirkularnote  wurde  den  k.  u.  k.  Botschaftern  bei  den 
Signatarmächten  am  20.  Juli  mittels  Kuriers  zugestellt.  Sie 
trug  die  Vordatierung  auf  den  24.  Juli,  den  Tag,  an  dem  ihre 
Übergabe  stattzufinden  hatte  -, 

Die  Instruktion,  die  den  k.  u.  k.  Botschaftern  aus  Anlaß 
der  Überreichung  der  Zirkularnote  an  die  Signatarmächte 
übermittelt  wurde,  wies  eine  für  die  einzelnen  Kabinette  ver- 
schieden gehaltene  Formulierung  auf. 

'  Die  Zirkularnote  ist  in  französischer  Sprache  im  österreichisch- 
ungarischen  Rotbuch  unter  Nr.  8,  in  deutscher  Sprache  unter  derselben 
Nummer  in  der  Volksausgabe  des  österreichisch-ungarischen  Rotbuches 
abgedruckt. 

-  Die  Datierung  der  Zirkularnote  an  die  Signatarmächte  ist  im 
österreichisch-ungarischen  Rotbuche  Nr.  8,  wie  jene  der  Begehrnote  vor- 
sätzlich auf   den   22.  Juli,  verlegt.  (Vgl.  Seite   101,  Anmerkung  1.) 

109 


Berlin 


begleitende 
Weisung 


Kon- 
statierungen 
des  k.  u.  k. 
Botschafters 


Für  Berlin  besagte  der  einbegleitende  Text ':  Wenn  der 
k.  u.  k.  Botschafter  den  offiziellen  Erlaß  der  deutschen  Regie- 
rung am  Freitag,  den  24.  Juli  vormittags,  persönlich  zur 
Kenntnis  bringen  werde,  wolle  er  nur  bemerken,  daß  das  bereits 
erzielte  vollständige  politische  Einvernehmen  mit  dem  deut- 
schen Kabinett  ihn  der  Mühe  einer  weiteren  vertraulichen 
und  mündlichen  Begründung  des  Schrittes  des  Wiener 
Kabinetts  in  Belgrad  enthebe  K 

Die  Gründe,  deretwegen  das  Wiener  Kabinett  die  Demarche 
in  Belgrad  erst  gestern  unternehmen  konnte,  seien  Herrn 
von  Tschirschky  bereits  seinerzeit  mündlich  dargelegt 
worden  und  inzwischen  auch  durch  Graf  Szögyeny  selbst 
zur  Kenntnis  der  kaiserlichen  Regierung  gebracht   worden. 

Graf  Szögyeny  sah  sich  veranlaßt,  nach  Erhalt  des  Er- 
lasses, am  21.  Juli,  7  Uhr  50  Minuten  p.  m.,  telegraphisch 
festzustellen': 

Dem  Erlasse  vom  20.  Juli  entsprechend,  könnte  die 
beigeschlossene  Note  erst  am  24.  Juli  vormittags  der  Berliner 
Regierung  zur  Kenntnis  gebracht  werden. 

Wördich  fährt  Graf  Szögyeny  in  seinem  Telegramm 
fort:  „Nach  meiner  ergebensten  Meinung  hielte  ich  es  für 
„unbedingt  nötig,  Inhalt  dieses  Erlasses  der  hiesigen  Re- 
„gierung  sofort,  also  bevor  er  auch  den  anderen  Kabinetten 
„mitgeteilt  wird,  in  vorläufig  streng  vertraulicher  Weise  zur 
„Kenntnis  zu  bringen.  In  dieser  Ansicht  werde  ich  bestärkt 
„durch  eine  in  meiner  heutigen  Unterredung  fallengelassene  Be- 
„merkung  des  Staatssekretärs,  der  mich  fragte,  ob  ich  schon 
„eine  Mitteilung  aus  Wien  über  den  Inhalt  der  für  Belgrad 


1  Erlaß  nach  Berlin  d.  d.  Wien,  20.  Juli,  Nr.  3426. 

-  Vergleiche  hiezu  die  Stelle  im  Privatschreiben  des  Grafen  Szögyeny 
an  Graf  Berchtold  vom  21.  Juli  (Seite  111  unten):  Auch  glaube  der  k.  u.  k. 
Botschafter  noch  hervorheben  zu  sollen,  der  Staatssekretär  habe  ihm  klar 
zu  verstehen  gegeben,  „daß  Deutschland  selbstredend  unbedingt  und  mit 
aller  Kraft  hinter  der  Monarchie  stehen  werde,  daß  es  aber  für  die 
deutsche  Regierung  gerade  aus  diesem  Grunde  von  vitalem  Interesse 
sei,  beizeiten  darüber    informiert  zu  werden,  wohin  unsere  Wege  führen.'' 

3  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  21.  Juli,  7  Uhr  50  Minuten  p.  m.. 
Nr.  271. 


110 


„bestimmten  Note  erhalten  habe.  Er  habe  durch  Herrn 
„von  Tschirschky  erfahren,  daß  dieselbe  bereits  am  23. 
,,d.  M.  überreicht  würde,  und  er  glaube  doch  erwarten  zu 
„können,  daß  man  die  deutsche  Regierung  als  Bundes- 
„genossin  früher  als  die  anderen  Kabinette  von  dem  Inhalte 
„und  den  Modalitäten  unseres  Belgrader  Schrittes  benach- 
„richtigen  werde."  ' 

In  einem  besonderen  Schreiben  an  Graf  Berchtold  gab 
Graf  Szögyeny  noch  am  selben  Tage  seiner  Ansicht  über 
die  unleidliche  Situation  Ausdruck,  die  dem  Wiener  Kabinett 
(und  dem  k.  u.  k.  Botschafter  selbst)  aus  der  erst  zum  ange- 
gebenen Zeitpunkte  vorzunehmenden  Durchführung  des  Er- 
lasses erwachsen  könnte: 

Mit  seinem  heutigen  Telegramm-  habe  Graf  Szögyeny 
dem  Grafen  Berchtold  gemeldet,  daß  es  nach  seiner  An- 
sicht dringend  notwendig  wäre,  die  von  der  Wiener  Regie- 
rung am  23.  1.  M.  an  Serbien  zu  übergebende  Note  früher 
als  den  anderen  Kabinetten,  und  zwar  ehestens,  dem  von 
Berlin  mitzuteilen. 

„Da  von  Kaiser  Wilhelm  angefangen",  setzt  Graf  Szögyeny 
sein  Schreiben  fort,  ,,alle  maßgebenden  hiesigen  Kreise  unserer 
„Aktion  Serbien  gegenüber  von  dem  ersten  Moment  an  ohne 
„weitere  Bedenken  in  loyalster  Weise  ihre  Unterstützung 
„zugesagt  haben,  so  glaube  ich,  daß  wir  eine  Verstimmung 
„hier  vermeiden  sollten,  die  dadurch  entstehen  könnte,  daß 
„wir  durch  gleichzeitige  Bekanntgabe  unserer  Note  an 
„Serbien  an  alle  Kabinette,  dasjenige  Deutschlands,  unseres 
„Bundesgenossen,  auf  die  gleiche  Linie  mit  den  Regierungen 
„der  anderen  Großmächte  stellen  würden.  Ich  rechne  daher 
„zuversichtlichst  darauf,  daß  Euer  Exzellenz  mir  die  Er- 
„mächtigung  erteilen  werden,  die  betreffende  Mitteilung  der 
„hiesigen  Regierung  sofort  zu  machen." 

„Zum  Schlüsse",  beendete  Graf  Szögyeny  sein  Schreiben, 
„glaube  ich  noch  hervorheben  zu  sollen,  daß  der  Herr 
„Staatssekretär  mir  klar  zu  verstehen  gab,  daß  Deutschland 
„selbstredend  unbedingt  und  mit  aller  Kraft  hinter  der 
„Monarchie   stehen   werde,    daß    es    aber   für  die    deutsche 

'  Vgl.  die  Ausführungen  Seite  73  Mitte. 
-  Vgl.  Seite   110,  Anmerkung  3. 

111 


„Regierung  gerade  aus  diesem  Grunde  von  vitalem  Interesse 

„sei,  beizeiten  darüber  informiert  zu  werden,  wohin  unsere 

„Wege  führen,  und  insbesondere,  ob  wir  eine  provisorische 

„Besetzung   serbischen    Gebietes    vor    hätten    oder   ob  wir, 

„wie  dies  auch  Graf  Hoyos  bei  seiner  letzten  Unterredung 

„mit  dem  Reichskanzler  durchblicken  ließ,  eine  Aufteilung 

„Serbiens  als  ultima  ratio  beabsichtigten." 

Weisung  Den  telegraphisch  übermittelten  Erwägungen    Graf  Szö- 

G"-»f  gyenys  begegnete  Graf  Berchtold  am  22.    luli  mit  der  Fest- 

andenk. u.k.  Stellung':  „Der  bewußte  Erlaß  hatte  Deutschland  gegenüber 

Botschafter    ^^ledigHch    formalc    Bedeutung:    Die     offizielle    Übergabe 

„unserer  Note  sollte  in  Berlin  unter  denselben  Modalitäten 

„erfolgen,   wie   bei   den   anderen  Signatarmächten.    Streng 

„vertraulich    haben   wir   Herrn   von   Tschirschky   die  er- 

„wähnte  Note  (die  bekanntlich  auch  jene  an  Serbien  textuell 

„anführt)  schon   gestern  [21.  Juli]  mitgeteilt;    sie    ist    durch 

„den  .Herrn  Botschafter    jedenfalls  bereits  nach  Berlin  vor- 

„gelegt  worden." 

Das  Berliner        Gemäß     dicscr     Ko n s  13 ti er u n ge n      des     Wiener 

Kabinett       KabiRetts  selbst  muß  an  dieser  Stelle   die  Tatsache 

ohne  Kennt- 

nisdeswori-  festgehalten    werden,    daß    dem    Berliner    Kabinett 
lautes  der     dcrWoTtlaut  der  österreichisch-ungarischen  Begeh r- 

österrei-  ^  " 

chisch-unga-   note  (a u c h  in  dem  -      tatsächlich   erfolgten    -    Falle, 
rischenNote  (jgß  jj g ^  Jext  vom    dcutschcH   Botschafter   nach  Er- 

an  Serbien 

halt  unverzüglich  nach  Berlin  weitergeleitet  wurde) 
doch  erst  zu  einem  Zeitpunkte  zukommen  konnte,  in 
dem  eine  Beeinflussung  des  Wiener  Kabinetts  seitens 
der  deutschen  Regierung  durch  eingehende  Be- 
ratung und  Antragstellung  nicht  mehr  möglich  war-. 

'  Weisung  nach  Berlin  d.  d.  Wien,  22.  Juli,   1   Uhr  p.  m.,  Nr.  249. 

2  Vgl.  Seite  142,  Anmerkung  1.  —  Dali  in  eingeweihten  deutschen 
Kreisen  auch  späterhin  der  Eindruck  vorherrschend  blieb,  das  Berliner 
Kabinett  sei  bei  der  Festsetzung  der  Modalität  des  Vorgehens  der 
Monarchie  gegen  Serbien  nicht  aktiv  beteiligt,  geschweige  denn  der 
drängende  Teil  gewesen,  erhellt  unter  anderem  aus  dem  instruktiven 
Depeschenwechsel  des  k.  u.  k.  Ministers  des  Äußern  Grafen  Ottokar 
Czernin  mit  dem  k.  u.  k.  Botschafter  in  Berlin  Prinzen  zu  Hohenlohe 
vom  Anfang  April   1918. 

Graf  Czernin  telegraphierte  am  2.  April  an  den  k.  u.  k.  Botschafter 
in  Berlin: 

112 


Gab  es  also,  wie  wir  früher  feststellen  konnten,  niemals 
einen    Kronrat    zu    Potsdam,    der    den    Krieg   gegen 

„Während  meines  Aufenthaltes  in  Bukarest  hat  Staatssekretär 
„von  Kühlmann  die  Vorgeschichte  des  Krieges  zur  Sprache  gebracht  und 
„hiebei  die  Anschauung  geäußert,  daß  Deutschland  lediglich  aus  Bundes- 
„treue  uns  gegenüber  sich  mit  unserem  Ultimatum  an  Serbien  einver- 
„standen  erklärt,  uns  aber  keineswegs  zu  einem  energischen  Vorgehen 
„ermutigt  habe. 

„Da  mir  bekannt  war,  daß  diese  Auffassung  sich  durchaus  nicht  mit 
„den  Eindrücken  decke,  welche  unsere  damalige  Leitung  der  auswärtigen 
„Angelegenheiten  von  der  Haltung  der  maßgebenden  Faktoren  des  Deutsehen 
„Reiches,  speziell  in  dem  entscheidenden  Monat  Juli  des  Jahres  1914 
„gewonnen  hatte,  habe  ich  mit  Herrn  von  Kühlmann  vereinbart,  daß  ich 
„nach  meiner  Rückkehr  nach  Wien  die  betreffenden  Akten  durchsehen 
„und  ihm  dann  weitere  Mitteilungen  zukommen  lassen  werde. 

„Die  beiliegenden  Piecen  [es  waren  dies  7  Kopien;  soweit  es  sich 
„konstatieren  läßt,  partielle  Abschriften  der  folgenden  Stücke:  Tagesbericht 
„Nr.  3117  (vgl.  Seite  40,  Anmerkung  1);  Telegramm  aus  Berlin  Nr.  237 
„(vgl.  Seite  30,  Anmerkung  2);  Telegramm  aus  Beriin  Nr.  239  (vgl.  Seite  32, 
„Anmerkung  1);  Telegramm  aus  Berlin  Nr.  244  (vgl.  Seite  73,  Anmer- 
„kung  3);  Brief  Graf  Berchtolds  an  Grafen  Tisza  (vgl.  Seite  68,  An- 
„merkung  1);  Bericht  aus  Beriin  Nr.  60/P  (vgl.  Seite  41,  Anmerkung  1); 
„das  7.  Stück  ist  nicht  feststellbar],  welche  sämtlich  aus  der  ersten  Hälfte 
„des  Monats  Juli  stammen,  bestätigen  nun  in  unzweifelhafter  Weise 
„die  von  mir  Herrn  von  Kühlmann  gegenüber  vertretene  Auffassung, 
„daß  uns  nämlich  Deutschland  zu  einem  scharfen  Auftreten  geradezu 
„gedrängt  hat. 

„Ich  ersuche  Euer  Exzellenz,  dem  Staatssekretär  unter  Betonung  des 
„streng  geheimen  und  rein  persönlichen  Charakters  dieser  Mit- 
„teilung  Einsicht  in  diese  Schriftstücke  zu  geben,  ihm  dieselben  jedoch  nicht 
„zu  überiassen,  falls  dies  ohne  Kränkung  des  Herrn  Staatssekretärs  möglich 
„ist.  Euer  Exzellenz  wollen  beifügen,  daß  auch  Graf  Wedel  schon  vor  einiger 
„Zeit  auf  Grund  eines  Auftrages  des  Auswärtigen  Amtes  dieses  Thema 
„hier  zur  Sprache  gebracht  hatte,  und  daß  ihm  speziell  das  Schreiben  des 
„Grafen  Berchtold  an  den  Grafen  Tisza  vom  8.  Juli  1914  mitgeteilt 
„worden  ist." 

Herr  von  Kühlmann  ließ  seinen  Dank  für  die  „hochinteressanten 
Mitteilungen"  übermitteln  und  wollte  anläßlich  des  bevorstehenden 
Zusammentreffens  in  Bukarest  noch  Gelegenheft  nehmen,  den  Inhalt  der 
Dokumente  zu  besprechen.  (Telegramm  des  k.  u.  k.  Botschafters  aus 
Beriin  d.  d.  8.  April   1918.) 

Graf  Czernin  scheint  übrigens  von  der  Beweiskraft  der  ausgewählten 
Aktenstücke  nicht  durchaus  überzeugt  gewesen  zu  sein.  Wenigstens 
muß,  da  die  meisten  der  erwähnten  Dokumente  in  mehrfachen  Kopien 
vorhanden    waren     und     etwa     die     Preisgabe     des    Chiffregeheimnisses 

^  113 


Serbien  beschlossen  hätte,  wohl  aber  einen  k.  u.  k. 
Ministerrat  in  Wien  am  7.  Juli,  der  diese  Materie 
behandelte,  so  sehen  wir  uns  jetzt  der  Tatsache 
gegenübergestellt,  daß  die  Berliner  Regierung  an 
der  Abfassung  der  österreichisch-ungarischen  Note 
an  Serbien  keinerlei  Anteil  hatte. 

Rom 
Ein-  Herrn  von  Merey   wurde    die  Zirkularnote   der  Wiener 

weilung'*'^     Regierung   am  20.  Juli    mit   der  Weisung  zugesendet ',    die 

praktisch  nicht  in  Frage  kam,  der  Mangel  eines  sachlich  bedingungs- 
losen Vertrauens  zur  Erklärung  der  immerhin  auffallenden  Tatsache 
herangezogen  werden,  daß  Graf  Czernin  eigenhändig  in  dem  Konzepte 
der  Weisung  die  Einschaltung  des  Passus  vornahm:  „ihm  dieselben  (die 
„Abschriften  dem  Staatssekretär)  jedoch  nicht  zu  überlassen,  falls  dies 
„ohne  Kränkung  des  Herrn  Staatssekretärs  möglich  ist". 

Auch  ersche'nt  noch  ein  weiterer  Umstand  beachtenswert.  Das 
Konzept  des  oberwähnten  Telegramms  an  den  Priiizen  Hohenlohe 
d.  d.  2.  April  1918  war  von  dem  in  Dienstesverwendung  im  k.  u.  k.  Mini- 
sterium des  Äußern  stehenden  ehemaligen  k.  u.  k.  Botschafter  in  Rom, 
Herrn  von  Merey,  aufgesetzt  worden.  Derselbe  Diplomat  legte  seine 
eigene  Auffassung  über  die  Stellungnahme  des  Deutschen  Reiches  zum 
Konflikt  der  Monarchie  mit  Serbien  während  der  kritischen  Tage 
im  Juli  1914  selbst  in  folgender  Zusammenfassung  dar  (Bericht  aus 
Rom  d.  d.  27.  Juli,  Z.  34  P.): 

„Mein  Gefühl  geht  sonach  dahin,  daß  das  deutsche  Kabinett  über 
„die  Situation  in  Petersburg  und  Paris  hinlänglich  informiert  und  beruhigt 
„ist,  um  ein  Eingreifen  von  diesen  Seiten  nur  im  alleräußersten  Falle  zu 
„fürchten,  daß  es  auf  verschiedenen  Wegen,  zum  Beispiel  in  Rom  und 
„Bukarest,  auch  unserem  kriegerischen  Konflikt  mit  Serbien  entgegen- 
„zuarbeiten  trachtet  und  sich  mit  der  Hoffnung  trägt,  es  würden  auf  diese 
„Art  in  der  Zeit  zwischen  der  Obergabe  unseres  Ultimatums  in  Belgrad 
„und  dem  Ausbruche  der  Feindseligkeiten  von  allen  Seiten,  von  Freund 
„und  Feind,  genügende  diplomatische  und  politische  Barrieren  aufgerichtet 
„werden,  um  das  Losschlagen  zu  verhindern.  Gelänge  dies,  so  würde 
„schließlich  Serbien  in  der  Hauptsache  nachgeben,  in  der  Form  aber  eine 
„gewisse  Schonung  seiner  staatlichen  Würde  zugebilligt  erhalten.  Es  wäre 
„dies  schließlich  jener  von  Euer  Exzellenz  vorläufig  so  perhorreszierte 
„Ausgang,  welcher  in  der  Tat  für  uns  eine  gegenüber  der  dermaligen 
„noch  weit  verschlechterte  Situation  schaffen  würde. 

„Deutschland  würde  aber  wieder  in  Wien  einen  billigen  und  unver- 
„dienten  Jubel  über  sein  Eintreten  für  uns  ,in  schimmernder  Wehr'  ein- 
„heimsen." 

1  Erlaß  nach  Rom  d.  d.  Wien,  20.  Juli,  Nr.  3427. 

114 


Übergabe,  die,  falls  Marquis  di  San  Giuliano  noch  von  Rom 
abwesend  sein  sollte,  auch  an  seinen  Stellvertreter  erfolgen 
könne,  am  Freitag,  den  24.  Juli,  durchzuführen.  Nähere 
mündliche  Erläuterungen  des  k.  u.  k.  Botschafters  dürften 
sich  bei  diesem  Anlasse  kaum  noch  als  notwendig  erweisen, 
da  Herr  von  Merey  den  italienischen  Minister  des  Äußern 
ohnehin  erst  kurz  vorher  gesehen  und  ihn  auf  das  Kom- 
mende vorbereitet  habe. 

Bevor  noch  diese  Weisung  an  den  k.  u.  k.  Botschafter  instruk- 
am  20.  Juli  mittels  Kurierpost  abgesendet  worden  war,  hatte  ^""/d!  san 
das  römische  Kabinett  einen  Schritt  unternommen,  der  sich  ciuiianos  an 
für  die  beiden  Kaisermächte  von  folgenschwerer  Bedeutung  j^^en  ve"' 
erwies.    Er  entsprang  der  Kenntnis  Marquis  San  Giulianos  treter  in 
über  die  Absichten  der  Monarchie  gegen  Serbien  und  über  '"'''"^''"''s 

ö    o  und  Bukarest 

die  bundestreue  Entschlossenheit  des  Berliner  Kabinetts,  für  (vor2o.  jum 
alle  eventuellen  Konsequenzen  einzustehen.  Marquis  di  San 
Giuliano  hatte  unverzüglich  nach  Petersburg  und  Bukarest 
Instruktionen  erteilt,  die  dortigen  Regierungen  auf  Umwegen 
zu  veranlassen,  in  Berlin  und  Wien  drohend  aufzutreten,  um 
die  österreichisch-ungarische  Aktion  zu  verhindern  •.  Selbst- 
verständlich —  so  hieß  es  in  einer  diesbezüglich  Herrn 
von  Merey  noch  am  20.  Juli  zugeschickten  Instruktion  -  — 
würden  eventuelle  Intimidierungsversuche  in  Wien  wirkungs- 
los bleiben. 

Bei  seiner  voraussichdich  am  21.  Juli  stattfindenden  versiändi- 
Zusammenkunft  mit  Marquis  di  San  Giuliano  habe  der  fg^fsehen 
k.  u.  k.  Botschafter  ungefähr  folgende  Sprache  zu  führen»:  Kabinetts 

Über  den  Abschluß  der  Untersuchung  in  Sarajevo  und 
über  die  in  Belgrad  aus  diesem  Anlasse  beabsichtigten 
Schritte  des  Wiener  Kabinetts  seien  dem  k.  u.  k.  Bot- 
schafter noch  keine  präzisen  Informationen  zugekommen. 
Doch  sei  derselbe  verständigt  worden,  daß  das  bereits  vor- 
liegende   Material     sowie     die     seit    Jahren      fortgesetzten 

'  Wir  werden  die  Folgewirkungen  dieser  Demarche  in  der  Gestaltung 
der  Krise  verschiedentlicli  zu  konstatieren  haben.  (Vgl.  Seite  164,  Anmer- 
kung 3,  und  Seite  201,  Anmerkung   1.) 

2  Weisung  nach  Rom  d.  d.  Wien,  20.  Juli,  5  Uhr  30  Minuten  p.  m., 
Nr.  842. 

=  Weisung  nach  Rom  d.  d.  Wien,  20.  Juli,  Nr.  843. 

115 


(21.  Juli) 


Wühlereien    das  Wiener  Kabinett  zu  einer  ernsten  Sprache 
in  Belgrad  zwingen  würden. 

Der  k.  u.  k.  Botschafter  sei  ermächtigt  worden,  dies 
Marquis  di  San  Giuiiano  mitzuteilen  und  hinzuzufügen,  das 
Wiener  Kabinett  erachte  bei  seinem  Schritte  in  Belgrad 
den  friedlichen  Erfolg  als  durchaus  im  Bereiche  der  Mög- 
lichkeit gelegen.  Jedenfalls  sei  das  Wiener  Kabinett  über- 
zeugt, daß  es  bei  Klärung  des  Verhältnisses  der  Monarchie 
zu  Serbien  auf  die  bundestreue  und  loyale  Haltung  Italiens 
rechnen  könnte.  Marquis  di  San  Giuiiano  hätte  in  richtiger 
Beurteilung  der  internationalen  Lage  sowohl  öfters  Herrn 
von  Merey,  als  auch  Graf  Berchtold  in  Abbazia  erklärt, 
Italien  brauche  ein  starkes  Österreich-Ungarn.  Die  Klärung 
des  so  mißlichen  Verhältnisses  der  Monarchie  zu  Serbien 
erscheine  als  eine  absolute  Notwendigkeit  zur  Erhaltung  der 
gegenwärtigen  Situation  der  Monarchie  und  der  derzeitigen 
Widerstandskraft  des  Dreibundes,  auf  dessen  Pestigkeit  der 
Friede  und  das  Gleichgewicht  Europas  beruhe.  Im  gegen- 
wärtigen Augenblick  sei  es  auch  im  Interesse  Italiens,  daß 
dasselbe  offensichtlich  die  Partei  der  Monarchie  ergreife. 
Miiieiiungen  Herr  von  Tschirschky  eröffnete  dem  Grafen  Berchtold 
T^hTrs'chkvs  '"  cincr  Besprechung  am  20.  Juli ',  man  sei  in  Berlin  sehr 
,20.  Juli)  besorgt  wegen  der  Haltung  Italiens  angesichts  der  geplanten 
Aktion  der  Monarchie  gegen  Serbien.  Der  deutsche  Bot- 
schafter in  Rom  hätte  unter  dem  15.  Juli  berichtet,  daß 
man  in  der  Umgebung  des  Marquis  di  San  Giuiiano  infolge 
pessimistisch  lautender  Berichte  des  Herzogs  von  Avarna 
beunruhigt  sei.  San  Giuiiano  vermeide  eine  diesbezügliche 
eingehende  Konversation  mit  Flotow;  Luzzati  und  andere 
aus  der  Umgebung  des  Ministers  ließen  sich  aber  dahin 
vernehmen,  daß  Österreich-Ungarn  sich  durch  zu  weit- 
gehende Forderungen  ins  Unrecht  setzen  würde  und  nicht 
auf  die  Unterstützung  Italiens  rechnen  könne. 

Unter  dem  16.  1.  M.  hätte  dann  Herr  von  Flotow  ge- 
meldet, daß  Marquis  di  San  Giuiiano  ein  völkerrechtliches 
Gutachten  seitens  Fusinatos  eingeholt  habe,  ^demzufolge 
Reklamationen  an  einen  fremden  Staat  nur  wegen  gemeiner 

1  Tagesbericlit  d.  d.  20.  Juli,  Nr.  3425. 
116 


Verbrechen,  nicht  wegen  politischer  Propaganda  zulässig 
seien.  Die  Ermordung  des  Thronfolgers  sei  nicht  von  Unter- 
tanen Serbiens  begangen  worden,  daher  könne  sie  nicht 
zum  Gegenstande  einer  Reklamation  gemacht  werden. 

Der  italienische  Minister  des  Äußern  hätte  sich  auch  dahin 
geäußert,  daß  Italien  unmöglich  eine  Politik  der  Unter- 
drückung der  nationalen  Idee  mitmachen  könne.  Zwischen 
Wien  und  Rom  hätten  sich  seit  den  Triester  Erlässen  des 
Prinzen  Hohenlohe,  die  in  ganz  Italien  peinlichstes  Aufsehen 
hervorgerufen  hätten,  wiederholte  Differenzen  ergeben,  unter 
deren  Einfluß  sich  eine  Stimmung  gegen  die  Monarchie 
herausgebildet  habe,  gegen  welche  anzukämpfen  vergebliche 
Arbeit  wäre.  Marquis  di  San  Giuliano  sehe  so  viele  schwarze 
Punkte  am  Horizont  der  wechselseitigen  Beziehungen,  daß 
er  an  der  weiteren  Arbeit  zur  Erhaltung  des  Einvernehmens 
beinahe  verzweifle.  Auch  fürchte  er,  Italien  werde  die  öster- 
reichischen Reklamationen  nicht  unterstützen  können,  ohne 
sich  in  Gegensatz  mit  den  tief  eingewurzelten  Prinzipien 
des  italienischen  Volkes  zu  setzen. 

Herr  von  Jagow  komme  angesichts  dieser  Meldungen 
zum  Schlüsse,  daß  eine  Aktion  Österreich-Ungarns  nicht  nur 
keiner  Sympathie  in  Italien  begegnen,  sondern  eventuell 
direkten  Widerstand  finden  würde.  Der  deutsche  Staats- 
minister würde  daher  dringend  raten,  daß  sich  das  Wiener 
Kabinett  mit  Italien  ins  Einvernehmen  setze,  wobei  er  der 
Ansicht  Ausdruck  gebe,  daß  eine  Aktion  Italiens  gegen 
Valona  (welche  Italien  zwar  nicht  intendierte  und  auch  nicht 
gerne  unternehmen  würde,  zu  welcher  es  aber  ä  titre  de 
compensation  genötigt  werden  könnte)  geeignet  wäre,  Italien 
zu  „beschäftigen",  und  dessen  Aufmerksamkeit  von  der 
serbischen  Aktion  der  Monarchie  abzulenken. 

Graf  Berchtold  machte  in  seiner  Erwiderung  vor  allem 
geltend,  es  sei  sehr  bedauerlich,  daß  Italien  allem  Anscheine 
nach  bereits  Wind  von  dem  geplanten  Vorgehen  der  Mon- 
archie gegen  Serbien  erhalten  habe.  Von  Wien  aus,  wo 
dem  italienischen  Botschafter  keinerlei  Andeutung  gemacht 
worden  sei ',  könne  die  italienische  Regierung  ihre  Informa- 
tion nicht  gewonnen  haben. 

'  Vgl.  Seite   142,  Anmerkung   1,  Absatz  5. 

117 


Die  Versicherung  Herrn  von  Tschirschkys,  das  deutscher- 
seits auch  keine  gegenständliche  Mitteilung  erfolgt  sei,  quit- 
tierte Graf  Berchtold  mit  der  Bemerkung,  daß  Flotow 
vielleicht  von  sich  aus  einiges  erzählt  haben  könnte.  Solche 
Konfidenzen  an  Italien,  von  welcher  Seite  sie  auch  aus- 
gegangen sein  mögen,  erschienen  dem  Grafen  Berchtold 
höchst  bedenklich,  und  es  stünden  ihm  schon  jetzt  Anhalts- 
punkte zur  Verfügung,  daß  es  sich  Italien  angelegen  sein 
lasse,  die  Aktion  des  Wiener  Kabinetts  zu  durchkreuzen. 
Graf  Berchtold  könnte  sich  daher  auch  nicht  entschließen, 
sich  jetzt-  schon  in  einen  Gedankenaustausch  über  die  ge- 
plante Aktion  mit  der  italienischen  Regierung  einzulassen, 
(was  übrigens  in  dieser  Weise  seinerzeit  in  Berlin  zwischen 
Unterstaatssekretär  Zimmermann  und  Graf  Hoyos  be- 
sprochen worden  sei) '.  Das  Wiener  Kabinett  beabsichtige, 
einen  Tag  vor  Mitteilung  der  Note  an  Serbien  das  Kabinett 
von  Rom  diesbezüglich  zu  informieren,  was  dem  Grafen 
Berchtold  als  Courtoisieakt  einem  unverläßlichen  Verbün- 
deten gegenüber  vollkommen  hinlänglich  erscheine. 

In  merito  machte  Graf  Berchtold  geltend,  daß  durch 
einen  Ministerratsbeschluß  bereits  festgestellt  worden  sei, 
die  Monarchie  würde  kein  serbisches  Gebiet  annektieren, 
wodurch  italienische  Kompensationsansprüche,  selbst  wenn 
man  solche  aus  einer  willkürlichen  Interpretation  des 
Artikels  VII 3,  herleiten  wollte,  in  sich  selbst  zusammen- 
fielen. Was  speziell  Valona  anbelange,  bestehe  in  der  Mon- 
archie eine  so  starke  Strömung  in  der  öffentlichen  Meinung 
gegen  die  Zulassung  einer  italienischen  Festsetzung  auf  der 
jenseitigen  fKüste  der  Adria  an  der  Straße  von  Otranto, 
daß  sich  Graf  Berchtold  auf  eine  Transaktion  über  diesen 
Punkt  nicht  einlassen  könnte ". 

Wenn  kalienischerseits  das  Nationalitätenprinzip  in  den 
Vordergrund  gestellt  werde,  so  sei  darauf  zu  erwidern,  daß 
die  Monarchie  nichts  anderes  anstrebe,  als  ihren  serbischen 
Staatsangehörigen  weitgehende  Freiheiten  zu  geben,  bezie- 
hungsweise   die  bereits    denselben    konzedierten    Freiheiten 

'  Die  eingeklammerte   Bemerkung  nachträglicher  Zusatz  im  Konzept. 

-  Vgl.  den  Text  Seite   119,  Anmerkung  I. 

-  Vgl.  Seite  309. 

118 


ungeschmälert  zu  erhalten,  daß  die  Monarchie  aber  eben 
hieran  durch  die  großserbische  Wühlarbeit  gehindert  werde, 
gegen  welche  sie  Stellung  nehmen  müsse.  Graf  Berchtold 
legte  Herrn  von  Tschirschky  auch  nahe,  über  Berlin  Mar- 
quis dl  San  Giullano  auf  den  Widerspruch  aufmerksam  zu 
machen,  der  darin  gelegen  sei,  daß  dieser  einerseits  versichere, 
Italien  brauche  ein  starkes  Österreich-Ungarn  als  Schutz- 
wall gegen  den  Slawismus,  anderseits  in  kritischen  Mo- 
menten eine  Politik  mache,  die  ihn  mit  Rußland,  der  Vor- 
macht des  Slawismus,  zusammenführe  und  darauf  ausgehe, 
der  Monarchie  die  Möglichkeit  zu  benehmen,  ihren  gegen- 
wärtigen Besitzstand  zu  erhalten. 

Schließlich  betonte  Graf  Berchtold,  daß  sich  das  Wiener 
Kabinett  durch  solche  Machinationen  Italiens  nicht  ein- 
schüchtern und  sich  vom  vorgesteckten  Pfade  nicht  ablenken 
lassen  dürfte,  um  so  weniger  als  er  aus  der  Bericht- 
erstattung des  k.  u.  k.  Botschafters  am  Quirinal  ersehe, 
daß  Italien  derzeit  infolge  des  lybischen  Feldzuges  noch 
keineswegs  aktionslustig  sei  und  seinem  Unmut  gegen  die 
Monarchie  wohl  in  Worten,  kaum  aber  in  Taten  Luft 
machen  werde. 

Da    in    Wien    mit    der   wachsenden    Wahrscheinlichkeit  noUz  und 

gerechnet  werden  mußte,  daß  die  italienische  Regierung  für  sJhtH"hder 

den    Fall    einer    kriegerischen    Komplikation    zwischen    der  imerpretie- 

Monarchie    und    Serbien    den    Artikel    VII    des    Dreibund-  AriLis"vii 

Vertrages  "    in    einem  ihr  genehmen  Sinne  zu  interpretieren  des  Drei- 
bund- 
vertrages 

'  Der  Text  des  Artikels  lautet:  „L'Autriche-Hongrie  et  l'Italie,  n'ayant 
„en  vue  que  le  maintien  autant  que  possible  du  statu  quo  territorial  en 
„Orient,  s'engagent  ä  user  de  Leur  influence  pour  prevenir  toute  modifi- 
„cation  territoriale  qui  porterait  dommage  a  l'une  ou  ä  l'autre  des  Puis- 
„sances  signataires  du  present  Traite.  EUes  se  communiqueront  ä  cet 
„efFet  lous  les  renseignements  de  nature  ä  s'eclairer  mutuelleinent  sur 
„Leurs  propres  dispositions  ainsi  que  sur  Celles  d'autres  Puissances. 
„Toutefois  dans  le  cas  oü,  par  suite  des  evements,  le  maintien  du  statu 
„quo  dans  les  regions  des  Balcans  ou  des  cötes  et  lies  ottomanes  dans 
„l'Adriatique  et  dans  la  mer  Egee  deviendrait  impossible  et  que,  soit  en 
„consequence  de  l'action  d'une  Puissance  tierce  soit  autrement,  l'Autriche- 
„Hongrie  ou  l'Italie  se  verraient  dans  la  necessite  de  le  modifier  par  une 
„occupation  temporaire  ou  permanente  de  Leur  part,  cette  occupation 
„n'aura  lieu  qu'apres  un  accord  prealable  entre  les  deux  Puissances,  base 

119 


versuchen  und  die  Kompensationsfrage  aufwerfen  werde, 
wurde  dem  k.  u.  k.  Botschafter  in  Rom  am  20.  Juli  eine 
Notiz  zugestellt,  die  ihm  als  Richtschnur  dienen  sollte,  um 
einer  allenfalls  von  Marquis  di  San  Giuliano  gesprächsweise 
vorgebrachten  italienischen  Interpretation  des  obgenannten 
Artikels  entgegentreten  zu  können. 

Die  Ausführungen  der  Notiz  gipfelten  in  der  Auf- 
fassung: 

Es  hieße  den  Geist  des  Dreibundvertrages  gründlich 
verkennen,  wenn  man  Artikel  VII  dahin  interpretieren 
wollte,  daß  die  temporäre  Besetzung  von  Gebieten  eines 
mit  der  Monarchie  im  Kriegszustande  befindlichen  benach- 
barten Balkanstaates  von  einem  vorherigen  "auf  Grund  einer 
Kompensation  erzielten  Einverständnisse  mit  Italien  ab- 
hängig wäre. 

Der  Wortlaut  des  Artikels  VII  ließ  es  indessen  fraglos 
erscheinen,  daß  man  sich  in  Rom  zur  österreichisch- 
ungarischen  Interpretierung  desselben  nicht  bequemen 
werde.  Der  k.  u.  k.  Botschafter  erhielt  darum  am  21.  Juli 
die  Weisung  ',  daß  er,  sofern  Marquis  di  San  Giuliano  auf 
seinem  Standpunkte  verharre,  eine  weitere  Diskussion  zu 
vermeiden  habe  und  sein  Verhalten  damit  begründen  solle, 
es  werde  wohl  keinem  der  beiden  Teile  gelingen,  den 
anderen  zu  seiner  Interpretation  zu  bekehren.  Vielmehr 
schiene  es  in  beiderseitigem  Interesse  gelegen,  anstatt  einer 
juridischen  Diskussion  über  die  Auslegung  eines  Artikels 
die  Situation  vom  Standpunkte  der  großen  Interessen 
Österreich-Ungarns  und  Italiens  als  Freunde  und  Bundes- 
genossen zu  besprechen.  Auch  erscheine  es  dem  Grafen 
Berchtold  nicht  unbedenklich,  wenn  eine  Aussprache  über 
den  Artikel  VII  in  Rom  eine  gereizte  Stimmung  hervor- 
rufen und  in  der  letzten  Konsequenz  sich  vielleicht  sogar 
zu  einer  Gefährdung  des  gesamten  Vertrages  zuspitzen 
könnte. 

„sur  le  principe  d'une  compensation  reciproque  pour  tout  avantage,  terri- 
„toriale  ou  autre,  que  chacune  d'Elles  obtiendrait  en  sus  du  statu  quo 
„actuel  et  donnant  satisfaction  aux  interets  et  aux  pretentions  bien  fond^es 
„des  deux  Parties." 

1  Weisung  nach  Rom  d.  d.  Wien,  21.  Juli,  Nr.  848. 

120 


Zum  selben  Gegenstande  erhielt  Graf  Szögyeny  die 
Instruktion  ',  sich  dem  Staatssekretär  gegenüber  dahin  aus- 
zusprechen, daß  eine  Diskussion  zwischen  Italien  und  der 
Monarchie  über  die  Auslegung  des  Artikels  VII  im  gegen- 
wärtigen Augenblicke  nach  Ansicht  des  Wiener  Kabinetts 
lieber  unterbleiben  sollte. 

Herr    von    Merey    erhielt    in    seiner    Besprechung    am  Unterredung 
Nachmittage  des  21.  Juli  Gelegenheit,   den  Standpunkt   des  "^revsTit' 
italienischen  Ministers  des  Äußern  kennen  zu  lernen-.  Der  Marquis  di 
Minister   zeigte    sich    hinsichtlich    der   bevorstehenden  De-  f,7  jun,'""" 
marche  des  Wiener  Kabinetts  in  Beigrad  sehr  präokkupiert. 
Er  hörte  den  Ausführungen  Herrn  von  Mereys  aufmerksam 
zu    und  machte   sich  Notizen.    Was    die  Klärung   des  Ver- 
hältnisses  der  Monarchie  zu  Serbien  anbelange,    setzte  der 
Minister  weitläufig  auseinander,  könnte  die  Monarchie  eine 
Sanierung  nicht  mit  Demütigung  und  Gewalt,    sondern  nur 
mit  Konzilianz  herbeiführen.  Für  national  gemischte  Staaten, 
wie  für  die  Monarchie,  sei  dies  die  einzige  Politik,  und  bei 
den  Deutschen  und  Polen    sei  dies    der  k.  u.  k.  Regierung 
auch  gelungen.    Herr   von  Merey    erklärte  dies    oft    vorge- 
brachte   Raisonnement    für   rein    theoretisch    und    überdies 
falsch;   die  Wirklichkeit  sehe  anders  aus.    Auch  versäumte 
er  es  nicht,    auf  alles,    was   die  Monarchie  für  Serbien  seit 
dem    Berliner   Vertrage    getan    habe,    auf   ihre    Konzilianz 
während  des  Balkankrieges    und    auf   die    immer   heftigere 
panserbische  Offensive  hinzuweisen. 

Italien,  fuhr  der  Minister  fort,  wünsche  ein  starkes  Öster- 
reich-Ungarn, aber  so  wie  es  sei,  ohne  territoriale  Ver- 
größerung. Jede  solche  —  das  müsse  er  mit  aller  Offenheit 
erklären  —  würde  von  Italien,  welches  eine  Politik  der 
Konzilianz  und  des  Gleichgewichtes  befolge,  als  seinen 
Interessen  abträglich  betrachtet  werden.  Die  Ausführungen 
des  k.  u.  k.  Botschafters,  daß  das  Wiener  Kabinett  keine 
Gebietseinverleibung  anstrebe,  nahm  der  Minister  mit  Be- 
friedigung, eine  weitere  Bemerkung,  daß  die  Monarchie 
keinen  Überfall  auf  den  Lovcen  plane,  mit  schlecht  ver- 
hülltem Jubel    auf. 

'  Weisung  nach  Berlin  d.  d.  Wien,  22.  Juli,  Nr.  250. 
"  Telegramm  aus  Rom  d.  d.  21.  Juli,  Nr.  525. 

121 


Marquis  di  San  Giuliano  erklärte  schließlich,  es  sei 
seine  entschiedene  Absicht,  das  Wiener  Kabinett  zu  unter- 
stützen, wenn  dessen  Begehren  an  Serbien  ein  solches  sei, 
daß  seine  Erfüllung  legitim  erscheine.  Andernfalls  hätte  er 
die  Stimmung  seines  ganzen  Landes  gegen  sich,  das  nun 
einmal  liberal  seines  revolutionären  Ursprunges  eingedenk  sei 
und  für  irredentistische  Manifestationen,  wo  immer,  Sympa- 
thien habe.  Er  betonte,  seine  Haltung  werde  erleichtert, 
wenn  die  österreichisch-ungarische  Demarche  in  Belgrad 
sich,  wenn  nicht  ausschließlich  doch  worwiegend,  auf  die 
Katastrophe  in  Sarajevo  und  weniger  auf  sonstige  Agi- 
tationen stützen  werde. 

Herr  von  Merey  argumentierte  gegen  alle  diese  Ein- 
schränkungen, die  er  theoretisch  als  verfehlt  (weil  Serbien 
auf  das  Niveau  eines  modernen  Kulturstaates  stellend), 
praktisch  als  ungenügende  Freundschaft  und  Solidarität 
bezeichnete. 

Schließlich  bemerkte  Marquis  di  San  Giuliano,  sein 
Vertrauen  auf  die  Mäßigung  des  Wiener  Kabinetts  gegen- 
über Serbien  gründe  sich  vor  allem  auf  die  Weisheit  des 
Monarchen. 

Der  k.  u.  k.  Botschafter  empfing  aus  dieser  Unterredung 
im  Ganzen  wohl  den  Eindruck  vieler  freundlichen  Phrasen, 
aber  ebenso  vieler  mentalen  Reservationen  sowie  die  Über- 
zeugung, der  Minister  glaube  offenbar  vorläufig  nicht  an 
den  Krieg,  sondern  an  ein  Einlenken  Serbiens,  wobei  er 
vermutlich  auf  ein  intensives  diplomatisches  Einwirken  der 
Mächte  in  Wien  und  Belgrad  rechne. 
Wider-  Am  22.  Juli,  7  Uhr  abends,  erging  die  Weisung  an  Herrn 

dcn"weilun-  ^"^^  Mcrey  s  Marquis  di  San  Giuliano  im  Verfolge  der  bereits 
gen  an  den  gemachten  Mitteilungen  streng  vertraulich  zu  eröffnen,  daß 
k  u.  k.  Bot-  jjg  Demarche    des  Wiener    Kabinetts  in  Belgrad  nunmehr 

scnaller  o 

für  Donnerstag,  den  23.  Juli  nachmittags,  festgesetzt  sei.  Die 
Verständigung  der  Signatarmächte  erfolge  am  Freitag,  den 
24.  1.  M.,  und  es  werde  der  k.  u.  k.  Botschafter  an  diesem 
Tage  auch  in  der  Lage  sein,  der  italienischen  Regierung 
offizielle      Kenntnis     von     der^   österreichisch-ungarischen 

'  Weisung  nach  Rom  d.  d.  Wien,  22.  Juli,  7  Uhr  p.  m.,  Nr.  852. 
122 


Demarche  in  Belgrad  zu  geben.  Der  heutige  Schritt  erfolge 
nur  in  Rom,  Berlin  und  Bulcarest,  mit  spezieller  Rücksicht 
auf  das  Bundesverhältnis. 

Herr  von^Merey  wolle  diese  Mitteilung  womöglich  Marquis 
di  San  Giuliano  persönlich  (wenn  dies  unmöglich,  seinem 
Vertreter)  erst  nachmittags  (23.  Juli)  machen.  Das  Wiener 
Kabinett  wolle  nämlich  unbedingt  vermeiden,  daß  die  Nach- 
richt noch  am  selben  Tage  von  Rom  nach  Petersburg 
gelange. 

Bevor  noch  diese  Instruktion  in  Rom  eintraf,  hatte  Herr 
von  Merey  am  23.  Juli,  [12  Uhr  10  Minuten  ,vormittags,  ein 
Telegramm  nach  Wien  expedieren  Jassen',  'das  der  augen- 
blicklich unklaren  Situation  Ausdruck  gab,  in  der  sich  der 
k.  u.  k.  Botschafter  zufolge  der  erhaltenen  gegenständlichen 
Instruktionen  befinde:  Graf  Berchtold  habe  den  k.  u.'k.  Bot- 
schafter in  Rom  mittels  Telegramms  vom  15.  Juli  ermächtigt  -, 
Marquis  di  San  Giuliano  die  Demarche  in  Belgrad  (und  da 
die  Tatsache  einer  solchen  längst  [notorisch  sei,  könnte  es 
sich  nur  um  ihren  Inhalt  handeln)  einen  Tag  früh.er  an- 
zukündigen. Hierüber  sei  Herr  von  Merey  ein  telegraphisches 
Aviso  hinsichtlich  der  bezüglichen  Daten  in  Aussicht  gestellt 
worden. 

Im  Widerspruch  mit  diesem  bisher  nicht  widerrufenen 
Auftrag  entnehme  Herr  von  Merey  dem  heute  —  am  22.  Juli 
—  durch  Kurier  übermittelten  Erlaß  vom  20.  Juli,  daß, 
obwohl  die  Demarche  in  Belgrad  schon  am  23.  stattfinde,, 
dem  Minister  des  Äußern  die  betreffende  Mitteilung  am 
24.  1.  M.,  also  nicht  einen  Tag  früher,  sondern  sogar  einen 
Tag  später  zu  machen  sei. 

Angesichts  dieser  Aktenlage,  und  da  er,  Herr  von  Merey, 
in  seiner  am  21.  Juli  mit  dem  Minister  gepflogenen  Unter- 
redung instruktionsgemäß  erklärt  habe,  über  den  Schritt  in 
Belgrad  noch  ohne  Informationen  zu  sein,  werfe  sich  die 
Frage  auf,  ob  der  k.  u.  k.  Botschafter  nicht  doch  die  in 
Rede  stehende  Mitteilung  nicht  erst  am  24.  d.  M.,  sondern 
schon  am  23.  machen  solle. 

»  Telegramm    aus   Rom   d.   d.  22.  Juli.   Expediert   23.   Juli,    12  Ultr 
10  Minuten  a.  m.,  Nr.  528. 
2  Vgl.  Seite  77. 

123 


Herr  von  Merey  glaube  annehmen  zu  sollen,  daß  Graf 
Berchtold  —  leider  ohne  ihn  zu  informieren  —  seine  Ansicht 
geändert  habe  und  daß  er  selbst  sich  daher  an  den  Erlaß 
vom  20.  Juli  halten  solle. 

Als  die  Weisung  des  Grafen  Berchtold  vom  22.  Juli, 
7  Uhr  abends  ',  am  23.  Juli  morgens  in  Rom  anlangte,  glaubte 
Herr  von  Merey  erstens  konstatieren  zu  müssen  -,  daß  die 
ihm  mit  dem  Telegramm  vom  15.  Juli  zugesagte  rechtzeitige 
Verständigung  (um  seinen  Besuch  bei  Marquis  di  San  Giuliano 
in  Fiuggi  telegraphisch  vereinbaren  zu  können)  nicht  erfolgt, 
sondern  daß  ihm  der  Auftrag  erst  am  23.  Juli,  also  dem  Tage, 
an  dem  die  Demarche  bereits  ausgeführt  werden  sollte,  zu- 
gekommen sei.  Zweitens  könne  von  einem  Courtoisieakte 
gegenüber  Italien  nicht  mehr  die  Rede  sein,  da  entgegen  der 
einschlägigen  Verabredung  und  entgegen  den  dem  deutschen 
Botschafter  am  20.  Juli  in  Wien  gemachten  Eröffnungen,  die 
Mitteilung  über  die  Belgrader  Demarche  in  Rom  nicht  einen 
Tag  vor  derselben,  sondern  erst  am  23.  Juli  nachmittags, 
also  gleichzeitig  mit  derselben,  angeordnet  wurde. 

Hiezu  trete  noch  unglücklicherweise  der  Umstand,  daß 
der  k.  u.  k.  Botschafter  krankheitshalber  die  Durchführung 
der  Demarche  dem  Grafen  Ambrözy  überlassen  müsse,  der 
sich  nach  erfolgter  telephonischer  Verständigung  mit  Marquis 
di  San  Giuliano  heute  —  am  23.  Juli  —  nachmittags  per 
Automobil  nach  Fiuggi  begeben  und  dem  Minister  die 
anbefohlene  Mitteilung  machen  werde. 
Äuoerunjen  Bei  dcm  Mlßgcschlck,  das  die  Verhandlungen  zwischen 
italienischen  Wicn  Und  Rom  von  Anfang  an  begleitete,  konnten  die 
Botschafters  bundesfreundlichcn  Äußerungen  des  italienischen  Bot- 
schafters in  Wien,  Herzogs  von  Avarna,  die  dem  Grafen 
Berchtold  durch  Herrn  von  Tschirschky  am  21.  Juli  mit- 
geteilt wurden -^  keine  hinlängliche  Garantie  eines  gedeih- 
lichen Einvernehmens  gewähren.  Herr  von  Tschirschky 
hatte  Graf  Berchtold  zunächst  neuerlich  verständigt,  Marquis 
di  San  Giuliano  zeige  sich  über  den  zu  gegenwärtigenden 
Schritt  Österreich-Ungarns  gegen  Serbien  sehr  erregt.  Doch 

I  Siehe  Seite  122  unten. 

-  Telegramm  aus  Rom  d.  d.  23.  Juli,  4  Uhr  15  Minuten  p.  m.,  Nr.  531, 

^  Tagesbericht  vom  21.  Juli,  Nr.  3443. 

124 


habe  Herr  von  Tschirschky  kürzlich  ein  Gespräch  mit 
dem  Herzog  von  Avarna  gehabt,  der  seiner  Überzeugung 
Ausdruck  gegeben  habe,  die  italienische  Regierung  werde 
in  dem  österreichisch-ungarisch-serbischen  Streitfalle  ihre 
Bundespflicht  getreu  erfüllen  und  —  sollten  in  der  italienischen 
Öff^entlichkeit  auch  gegenteilige  Stimmen  laut  werden  —  auf 
der  Seite  Österreich-Ungarns  stehen. 

Die   Absicht   Graf  Berchtolds,    dem  k.  u.  k.  Botschafter  Begründung 
'  in  Rom  eine  Darstellung  der  Politik  des  Wiener  Kabinetts  t"/!^'"'"  ^ 

"  Politik  durch 

in  ihrer  speziellen    Rückwirkung   auf  die    Beziehungen    zu  Graf 
Italien    zu   geben,   zeitigte    am  21.  Juli  die  Abfassung  eines  2'='"'='"°''' 
Schreibens  an  Herrn  von  Merey,   in    dem    Graf  Berchtold 
die  eigenen  Anschauungen  begründete  und  charakterisierte': 

Für  die  Haltung  des  Wiener  Kabinetts  seien  inner-  wie 
außenpolitische  Motive  maßgebend:  die  zunehmende  Gewiß- 
heit, daß  die  in  erschreckendem  Maße  betriebene  Minier- 
arbeit auf  bosnisch-herzegowinischem  Boden  mit  Verästelungen 
nach  Dalmatien,  Kroatien,  Slawonien  und  Ungarn  nur  durch 
energisches  Einschreiten  in  Belgrad,  wo  die  Fäden  zusammen- 
liefen, aufgehalten  werden  könne,  und  daß  unter  rumänischer 
und  russischer  Konnivenz  eine  Orientierung  am  Balkan  im 
Werdeprozesse  sei,  deren  Endziel  die  Zertrümmerung  der 
Monarchie  bilde.  Dessen,  daß  die  Verantwortung  bei  der 
exponierten  Lage  der  Monarchie,  der  Unverläßlichkeit  und 
Eifersucht  des  italienischen  Verbündeten,  der  Hostilität  der 
rumänischen  öffendichen  Meinung  und  dem  Gewichte  der 
slawophilen  Ratgeber  am  Zarenhofe  keine  leichte  sei,  sei 
sich  Graf  Berchtold  bewußt.  Die  Verantwortung  dafür, 
nichts  zu  tun  und  weiter  die  Dinge  gewähren  zu  lassen, 
bis  die  Fluten  über  die  Monarchie  zusammenschlügen, 
scheine  dem  Grafen  Berchtold  aber  noch  gewichtiger 
—  wenn  auch  für  den  Moment  bequemer  —  als  jene,  der 
Gefahr  die  Stirne  zu  bieten  und  die  Konsequenzen  auf  sich 
zu  nehmen. 

Bei  der  Redigierung  der  an  Serbien  zu  richtenden  Note 
sei  für  das  Wiener  Kabinett  der  Gesichtspunkt  maßgebend 

'  Abschrift  eines  Sclireibens  Graf  Berchtolds  an  Herrn  von  Merey, 
Konzept  d.  d.  Wien,  21.  Juli,  expediert  23.  Juli. 

125 


gewesen,  das  gute  Recht  der  Monarchie,  an  Serbien  ge- 
wisse Forderungen  zur  Sicherung  der  inneren  Ruhe  der 
Monarchie  zu  stellen,  vor  aller  Welt  zu  dokumentieren, 
diese  Forderungen  aber  derart  zu  formulieren,  daß  von 
Serbien  in  unzweideutiger  Weise  gegen  die  monarchiefeind- 
liche Propaganda  pro  praeterito  und  pro  futuro  Stellung 
genommen  und  der  Monarchie  die  Möglichkeit  geboten 
werde,  von  nun  an  diesbezüglich  mitzusprechen.  Es  sei  dem 
Wiener  Kabinett  nicht  darum  zu  tun  gewesen,  Serbien  zu 
demütigen,  sondern  hinsichtlich  seines  nachbarlichen  Ver- 
hältnisses zur  Monarchie  eine  klare  Situation  zu  schaffen 
und  als  praktisches  Resultat  —  entweder  bei  Annahme  der 
Forderungen  einen  gründlichen  Säuberungsprozeß  in  Serbien 
unter  Mitwirkung  der  Monarchie  oder  bei  Ablehnung  des- 
selben eine  Auseinandersetzung  mit  den  Waffen  und  in 
weiterer  Folge  —  die  tunlichste  Lahmlegung  Serbiens  zu 
erzielen. 

Wie  sich  Herr  von  Merey  denken  könne,  war  es  nicht 
ganz  leicht,  eine  Einigung  im  gemeinsamen  Ministerrate  über 
die  Textierung  der  Note  zu  erzielen,  zumal  ein  gewisser 
Unterschied  in  der  Auffassung  der  Situation  zwischen  dem 
Grafen  Berchtold  und  Grafen  Stürgkh  einerseits  und  dem 
Grafen  Tisza  andrerseits  zutage  getreten  sei,  indem  letzterer 
auch  in  einem  bloßen  diplomatischen  Erfolge  ein  Mittel  zur 
Befestigung  der  österreichisch-ungarischen  Stellung  am 
Balkan  sehe  und  den  Bruch  tunlichst  vermieden  haben 
wolle,  während  Graf  Berchtold  auf  Grund  des  1909  und 
1912  errungenen  diplomatischen  Erfolges,  der  der  Monarchie 
auf  die  Dauer  nicht  genutzt,  sondern  das  Verhältnis  zu 
Serbien  nur  verschärft  habe,  einem  neuen  friedlichen 
Triumph  äußerst  skeptisch  gegenüberstehe.  Hierüber  teile 
auch  Graf  Stürgkh  vollkommen  die  Ansicht  des  Grafen 
Berchtold.  Durch  schrittweises  Entgegenkommen  de  part  et 
d'autre  sei  es  schließlich  gelungen,  diesbezüglich  eine  Über- 
einstimmung herzustellen,  wie  auch  hinsichtlich  des  End- 
zieles des  eventuellen  Waffenganges,  bezüglich  dessen  Graf 
Tisza  absolut  festgelegt  haben  wollte,  daß  eine  Annexion 
serbischen  Gebietes  an  die  Monarchie  als  j  ausgeschlossen 
erklärt   werden    müsse,  .  wozu  ;.,Graf   Berchtold    schließlich 

126 


tinter  der  Voraussetzung  seine  Zustimmung  gegeben  habe, 
daß  strategisclie  Grenzrelctifikationen  und  gewisse  Garantien 
für  die  zukünftige  Haltung  Serbiens  (Militärkonvention 
und  dergleichen)  zu  verlangen  wären,  abgesehen  von 
Gebietsabtretungen  an  andere  Balkanstaaten. 

Dem  k.  u.  k.  Botschafter  in  Rom  werde  nun  die  gewiß 
nicht  leichte  Aufgabe  zufallen,  die  italienische  Regierung  an 
der  Seite  der  Monarchie  zu  erhalten,  was,  wie  Graf  Berch- 
told  der  telegraphischen  Berichterstattung  Herrn  Mereys 
entnehme,  vorläufig  dem  Anscheine  nach  der  Fall  sei.  Das 
Wiener  Kabinett  habe  den  Italienern  gegenüber  die  Allianz, 
das  territoriale  Desinteressement  und  den  albanischen  Akkord 
und,  was  den  Artikel  VII  anbelange,  die  italienische 
Okkupation  von  Inseln  im  Aegäischen  Meere  als  Atouts 
in  der  Hand. 

Eine  Sonderaktion  Italiens  gegen  Valona  würde  in  der 
Monarchie  den  peinlichsten  Eindruck  hervorrufen.  Graf 
Berchtold  glaube,  man  dürfe  in  Rom  keinen  Zweifel  darüber 
aufkommen  lassen,  daß  eine  solche  Aktion,  die  den  albanischen 
Akkord  zunichte  machen  und  die  Londoner  Beschlüsse 
verletzen  würde,  die  größten  Komplikationen  involvieren 
könnte.  Sollte  Italien  die  Monarchie  zu  einer  Kooperation 
auffordern,  wäre  dies  allerdings  eine  Verlegenheit  für  das 
Wiener  Kabinett  und  ein  nicht  ungefährliches  Experiment; 
es  scheine  dem  Grafen  Berchtold  aber  kaum  vermeidlich, 
darauf  einzugehen. 

Graf  Berchtold  wolle  sich  nicht  länger  in  Erörterungen 
aller  der  verschiedenen  Möglichkeiten  und  Eventualitäten, 
die  in  dieser  oder  in  einer  anderen  Richtung  während  der 
nächsten  Wochen  an  das  Wiener  Kabinett  herantreten 
könnten,  einlassen,  da  dieses  dem  Spaziergange  in  einem 
Labyrinth  gleichkäme. 

„Vorderhand  habe  ich",  schloß  Graf  Berchtold  den 
politischen  Teil  seiner  Ausführungen,  „das  Gefühl,  von  der 
„Vorsehung  dazu  ausersehen  worden  zu  sein,  mich  den 
„Ministern,  die  Friedenspolitik  treiben  wollten  und  Kriegs- 
„politik  machen  mußten  —  von  Kardinal  Fleury  bis  Lambs- 
„dorff  — ,  anzuschließen,  hoffentlich  mit  mehr  Erfolg  als 
„der  letzte  Exponent  dieser  Richtung!" 

127 


Paris 

Ein»"^-  Graf  Szecsen  hatte  auftragsgemäß  der  Pariser  Regierung 

\\'e''"^E  ^^^  Zirkularnote  der  i^.  u.  k.  Regierung  am  Freitag,  den 
24.,  vormittags,  zur  Kenntnis  zu  bringen.  Die  Darlegung 
dieser  Staatsschrift  sei  so  beredt,  hieß  es  im  Texte  der  ein- 
begleitenden Weisung',  daß  sie  den  Grafen  Berchtold  der 
Aufgabe  enthebe,  den  k.  u.  k.  Botschafter  in  Paris  auch 
mit  einer  mündlichen  Begründung  des  Vorgehens  gegen- 
über Serbien  zu  betrauen.  Es  werde  aber  jedenfalls  nützlich 
sein,  wenn  Graf  Szecsen  gelegentlich  der  Übergabe  dieser 
Note  daran  erinnern  wolle,  daß  sich  Frankreich  anläßlich 
der  Schwierigkeiten,  die  in  der  europäischen  Politik  der 
letzten  Jahre  zutage  getreten  wären,  stets  in  dankenswerter 
Weise  im  Sinne  eines  Ausgleiches  der  Gegensätze  zwischen 
den  beiden  Mächtegruppen  betätigt  habe. 

Graf  Szecsen  glaubte  sofort  nach  Erhalt  des  mittels 
Kuriers  am  22.  Juli  zugestellten  Erlasses  vom  lokalen  Ge- 
sichtspunkte aus  erwähnen  zu  sollen-,  daß  die  Koinzidenz 
der  Wiener  Demarche  in  Belgrad  mit  der  Abreise  des 
Präsidenten  aus  Petersburg,  die  am  23.  Juli  abends  erfolgen 
sollte,  in  Paris  wahrscheinlich  vielfach  kommentiert  und  als 
Überrumpelung  ausgelegt  werden  würde.  Herr  Poincare 
verlasse  Kronstadt  am  23.  Juli  abends  programmäßig  und 
solle  am  25.  Juli,  10  Uhr  früh,  in  Stockholm  eintreffen. 
Während  der  Überfahrt  dürfte  ein  telegraphischer  Meinungs- 
austausch ziemlich  beschwerlich  sein. 

Gleichzeitig  bat  Graf  Szecsen  um  telegraphische  Antwort, 
ob  er  bei  der  Übergabe  der  Kopie  der  Note  eventuell  eine 
vertrauliche  Behandlung  des  Textes  verlangen  solle  oder 
nicht.  Einige  der  an  Serbien,  gestellten  sehr  scharfen  For- 
derungen dürften  nämlich  in  der  Pariser  Presse  recht  ab- 
fällig beurteilt  werden,  und  es  wäre  vielleicht  erwünscht, 
daß  die  Pariser  Zeitungen  den  amdichen  Text  nicht  sofort 
besäßen.  Falls  die  Veröffentlichung  in  Wien  beabsichtigt 
sei,  so  wäre  das  Verlangen  nach  vertraulicher  Behandlung 
natürlich  zwecklos.  Übrigens  brächten  die  Pariser  Zeitungen 

1  Erlaß  nach  Paris  d.  d.  Wien,  20.  Juli,  Nr.  3428. 

-  Telegramm  aus  Paris  d.  d.  22.  Juli,  Nr.   114  und   115. 

128 


bereits  Informationen    über    den    Inlialt    der    an  Serbien  zu 
überreiclienden  Note. 

In  Wien    hatte    sicii    der   französische  Botschafter  Herr  Unterredung 
Dumaine   bei   Graf  Berchtold   am   22.  Juli    auf  das  Ange-  ßerch.^id" 
lesentlichste    nach    dem    Stande    des   Verhähnisses    Öster-  mit  detn 
reich-Ungarns  zu  Serbien  erkundiet '.    Er  icam  hiebei  auch  ^TTT  ''" 

o  '-'  rSotscnatter 

auf  alle  Eventualitäten  zu  sprechen,  die  sich  aus  einem  (22.  jun) 
energischen  Schritte  der  Wiener  Regierung  beim  Belgrader 
Kabinett  ergeben  könnten  und  auf  die  Gefahr  eines  Krieges 
Österreich-Ungarns  mit  Serbien,  besonders  mit  Rücksicht 
darauf,  daß  dieser  den  Charakter  eines  Rassenkrieges  des 
serbischen  Volkes  gegen  die  Monarchie  annehmen  könnte. 
Diese  Gefahr  malte  Herr  Dumaine  in  den  drastischesten 
Farben  aus.  Trotzdem  schloß  er  seine  Ausführungen  damit, 
daß  er  auf  ein  kürzliches  Gespräch  mit  seinem  russischen 
Kollegen  hinwies,  wobei  die  in  Rede  stehende  Frage  erörtert 
worden  sei  und  er  die  Überzeugung  gewonnen  habe,  daß 
Rußland  nicht  gesonnen  sei,  für  Serbien  anläßlich  der  be- 
vorstehenden Auseinandersetzung  mit  Österreich-Ungarn 
stark  einzutreten  und  ihm  mehr  als  eine  moralische  Unter- 
•  Stützung  zu  gewähren.  Im  Falle  eines  Waffenganges  zwischen 
der  Monarchie  und  Serbien  würde  Rußland,  nach  Ansicht 
des  französischen  Botschafters,  nicht  aktiv  eingreifen, 
sondern  vielmehr  anstreben,  daß  der  Krieg  lokalisiert 
bleibe. 

Dem  k.  u.  k.    Botschafter    in    Paris    beantwortete    Graf  Koinzidenz 
Berchtold  am  23.  Juli  die  erbetenen  Auskünfte  dahin-,  daß  oJ^^J"^^^,,™  "" 
eine   vertrauliche  Behandlung   des  Textes   der  Zirkularnote  mit  der 
nicht  verlangt  zu  werden  brauche,    da  das  Wiener  Kabinett  p"^^^^J"" 
den  betreffenden  Text  am  24.  Juli  den  Blättern    selbst  mit- 
teilen werde. 

Was  die  Koinzidenz  der  Demarche  in  Belgrad  mit  der 
Abreise  Herrn  Poincares  von  Petersburg  anbelange,  so  sei 
zu  bemerken,  daß  das  Wiener  Kabinett  die  Demarche  immer 
für  den  Moment  ins  Auge  gefaßt  habe,  in  dem  —  was 
inzwischen  geschehen  sei  —  die  Voruntersuchung  in  Sarajevo 

1  Tagesbericht  d.  d.  22.  Juli,  Nr.  3487. 

-  Weisung  nach  Paris  d.  d.  Wien,  23.  Juli,  Nr.   152. 

9  129 


abgeschlossen  sein  werde.  Es  wäre  übrigens  noch  viel  weniger 
liebenswürdig  gewesen,  wenn  das  Wiener  Kabinett  durch 
ein  früheres  Vorgehen  die  Festesfreude  in  Petersburg  gestört 
hätte,  während  es  andrerseits  auch  dem  Wiener  Kabinett 
keineswegs  hätte  passen  können,  den  Schritt  in  Belgrad  zu 
machen,  während  Kaiser  Nikolaus  und  die  russischen  Staats- 
männer den  Einflüssen  der  zwei  Hetzer  Poincare  und  Iswolsky 
ausgesetzt  gewesen  wären. 

London 

Eiabegiei-  Bei   dcr   Übergabe   der   Zirkularnote    in    London   sollte 

T^^  Graf  Mensdorff  am   Freitag,    den  24.  Juli  vormittags,  dem 

Staatssekretär  oder  dessen  Stellvertreter  darlegen ',  daß  die 
englische  Politik  und  die  der  Monarchie  in  den  letzten  Jahren 
erfreulicherweise  auch  in  den  Fragen  des  nahen  Orients 
eine  konvergierende  Tendenz  gezeigt  hätten;  das  gegenseitige 
Vertrauen  sei  wieder  hergestellt  und  auch  die  englische 
Öffentlichkeit  zeige  (nach  einer  jetzt  ganz  überwundenen 
Periode  der  Schwankungen)  wieder  volles  Interesse  für  die 
Bedeutung  der  österreichisch-ungarischen  Großmachtstellung 
und  für  die  Lebensinteressen  der  Monarchie.  Bei  der  in  die 
Wege  geleiteten  Aussprache  mit  Serbien  handle  es  sich  nun 
eben  um  ein  solches  Lebensintqresse.  Die  Ermordung  des 
Erzherzog-Thronfolgers,  die  in  Serbien  beschlossen  und 
geleitet  wurde  (ein  zur  Verfügung  der  Mächte  stehendes 
Dossier  gebe  darüber  erschöpfende  Auskünfte-),  habe  deut- 
lich gezeigt,  wessen  man  sich  zu  versehen  habe,  wenn  man 
Serbien  nicht  zwinge,  alle  Verbindungen  abzubrechen,  die 
von  den  politischen  Verschwörerzentren  (wie  der  „Narodna 
Odbrana")  nach  den  Ländern  und  Gebieten  der  Monarchie 
hinüberführten.  England,  in  dem  der  serbische  Königsmord 
die  Gemüter  auf  das  tiefste  aufgewühlt  habe,  werde  gewiß 
begreifen,  daß  die  öffentliche  Meinung  der  Monarchie 
gebieterisch  eine  Sühne  für  die  moralische  Mitschuld  und 
das  verbrecherische  Geschehenlassen  der  Belgrader  Kreise 
fordere.  Wie  wenig  diese  Kreise  bisher  zur  Kenntnis  der 

1  Erlaß  nach  London  d.  d.  Wien,  20.  Juli,  Nr.  3429. 

2  Vgl.  hiezu  Seite   134,  152,   153,  161,   167,  197  oben,  202. 

130 


Verwerflichkeit  des  Sarajevoer  Attentats  gelangt  seien,  bewiesen 
die  Äußerungen  serbischer  Diplomaten  und  Offiziere  nach 
dem  Attentat,  beweise  jede  Zeile,  die  in  den  Belgrader 
Blättern  geschrieben  werde,  und  die  Tatsache,  daß  die 
serbische  Regierung  noch  keinen  Finger  gerührt  habe,  um 
auf  serbischem  Boden  gegen  die  serbischen  Mitschuldigen 
des  Verbrechens  vom  28.  Juni  vorzugehen. 

Als  Graf  Mensdortf  (nach  Erhalt  des  Erlasses  am  Nach-  Anfrage  des 
mittag   des   22.  Juli)   eine   telephonische    Aufforderung   Sir  jvtensdorn 
Edward  Greys   erhielt,   am   23.   um   3  Uhr  nachmittags  bei  betreffs  vor- 
ihm  vorzusprechen,   und  da  er   es   immerhin    für   möglich  "(',„„"^6" 
erachtete,    daß    ihm    der    englische    Staatssekretär    in    An-  zirkuumote 
gelegenheit   des  bevorstehenden  Schrittes    in    Belgrad   Mit-  *^^- ••"''' 
teilungen  machen  wolle,  erbat  sich  der  k.  u.  k.  Botschafter 
von     Graf     Berchtold     telegraphisch     die     Autorisierung ', 
eventuell  statt  am  24.  früh  schon  am  23.  nachmittags  dem 
Staatssekretär  den  offiziellen  Erlaß  mitzuteilen,  mit  der  Bitte, 
ihn    bis   zum    24.  vertraulich   zu    behandeln.    Die  Antwort- 
depesche des  Grafen  Berchtold  besagte,  daß  Graf  Mensdorff 
bei  seiner  am  23.  Juli  stattfindenden  Unterredung  mit  Sir 
Edward  Grey  die  offizielle  Übergabe  der  Zirkularnote  für 
den   24.  Juli    vormittags    ankündigen    und    ihm    gleichzeitig 
streng   vertraulich    und    mit   der    ausdrücklichen    Bitte   um 
vertrauliche  Behandlung  den  Inhalt  derselben  mitteilen  könne  =. 

Am    23.  Juli    nachmittags    unterrichtete   Graf  Mensdorff  Unterredung 
nach    erhaltener  Weisung    den  Staatssekretär  auftragsgemäß  BM^^^^af^rs 
dahin,    er   werde  die  Zirkularnote  am  24.  Juli  überbringen,  mit  sir  Ed- 
Unterdessen    wolle    er   ihm    streng  vertraulich   einiges  über  '^23'^, '^iT 
den  Inhalt  derselben  mitteilen.  Befrisiungs- 

Seinerseits  äußerte  Sir  Edward,  er  habe  bisher  dem 
k.  u.  k.  Botschafter  gegenüber  von  dieser  Frage  nicht 
gesprochen,  weil  man  die  Note  in  Wien  wohl  als  eine  Sache 
zwischen  Serbien  und  der  Monarchie  betrachten  dürfte  und 
er  auch  nicht  wisse,  inwieweit  das  Wiener  Kabinett  Beweise 
von  der  Mitschuld  Serbiens  besitze.  Man  habe  ihm  aber 
viel    und    mit    lebhafter  Besorgnis    davon  gesprochen,    und 

'  Telegramm   aus    London   d.  d.  22.  Juli,   7  Uhr  30  p.  m.,   Nr.   106. 
-  Weisung  nach  London  d.  d.  23.  Juli,  9  Uhr  a.  m.,  Nr.   158. 

131 


diese  Besorgnis  sei  nicht  auf  eine  Mächtegruppe  beschränkt. 
Seine  Antwort  sei  gewesen,  es  werde  davon  abhängen, 
inwieweit  die  österreichisch  -  ungarischen  Ani^iagen  gegen 
Serbien  ernsdich  begründet  seien  und  welche  Genugtuung 
die  Monarchie  verlange.  Seien  ihre  Beschwerden  gut  fundiert 
und  das,  was  sie  von  Serbien  fordere,  für  diesen  Staat 
ausführbar,  so  könne  man  hoffen,  daß  Rußland  auf  die 
Belgrader  Regierung  mäßigend  einwirken  werde.  Die  Gefahr 
sei  das  Aufflammen  der  slawischen  Erregung  in  der  öffent- 
lichen Meinung  Rußlands. 

Über  das,  was  ihm  Graf  Mensdorff  von  der  bevor- 
stehenden Demarche  mitteilte  (die  wichtigsten  Punkte  der 
Note),  wollte  sich  Sir  Edward  nicht  äußern,  bevor  er  die 
Note  selbst  in  Händen  hätte.  Als  Graf  Mensdorff  noch 
erwähnte,  er  glaube,  es  würde  auch  eine  Frist  zur  Beant- 
wortung gesetzt  werden,  könne  ihm  das  Nähere  aber  erst 
morgen  mitteilen,  bedauerte  Sir  Edward  die  Befristung,  weil 
dadurch  die  Möglichkeit  benommen  würde,  die  erste  Er- 
regung zu  beruhigen  und  auf  Belgrad  einzuwirken,  dem 
Wiener  Kabinett  eine  befriedigende  Antwort  zu  geben.  Ein 
Ultimatum  könne  man  immer  noch  stellen,  wenn  die  Antwort 
nicht  annehmbar  sei. 

Graf  Mensdorff  bemühte  sich  des  Längeren,  den  öster- 
reichisch-ungarischen Standpunkt  zu  vertreten.  Sir  Edward 
anerkannte  auch  die  Schwierigkeiten  der  Stellung  des 
Wiener  Kabinetts,  sprach  aber  nachdrücklich  von  dem 
Ernste  der  Situation.  Wenn  vier  große  Staaten,  Österreich- 
Ungarn,  Deutschland,  Rußland  und  Frankreich,  in  einen 
Krieg  verwickelt  würden,  so  folge  ein  Zustand,  der  einem 
wirtschafdichen  Bankerott  Europas  gleichkomme.  Ein  Kredit 
sei  nicht  mehr  zu  erlangen,  die  industriellen  Zentren  in 
Aufruhr,  so  daß  in  den  meisten  Ländern,  gleichgültig  ob 
Sieger  oder  Besiegte,  „so  manche  bestehende  Institution 
weggefegt"  werden  würde.  Noch  gab  Graf  Mensdorff  seiner 
Ansicht  Ausdruck,  die  Monarchie  müsse  in  vorliegendem 
Falle  trotz  ihrer  bekannten  Friedensliebe  Serbien  gegenüber 
„sehr  fest"  bleiben.  Er  rechne  dabei  auf  Sir  Edward  und 
dessen  objektives  und  fairesUrteil.DerStaatssekretär  erwiderte, 
es  sei  mit  einer  einfachen  Vorstellung  in  Petersburg  diesmal 

132 


nicht  zu  machen.  Man  müsse  Rußland  beweisen  können, 
daß  die  österreichisch-ungarischen  Beschwerden  wohl- 
begründet und  die  Forderungen  für  einen  Staat  wie  Serbien 
ausführbar  seien.  Das  beste  wäre  wohl,  wenn  zwischen 
Wien  und  Petersburg  ein  direkter  Gedankenaustausch  ge- 
führt werden  könne. 

Graf  Mensdorff  fand  den  englischen  Staatssekretär  kühl 
und  objektiv  wie  immer,  freundschaftlich  und  nicht  ohne 
Sympathie  für  die  Monarchie.  Über  die  möglichen  Folgen 
schien  Sir  Edward  unzweifelhaft  sehr  besorgt.  Insbesondere 
aber  befürchtete  Graf  Mensdorff,  Sir  Edward  werde  den 
Charakter  eines  Ultimatums  der  österreichisch-ungarischen 
Demarche  und  die  kurze  Frist  kritisieren. 

In  einer  dem  k.  u.  k.  Botschafter  am  23.  Juli  vormittags  Motivierung 
zugeschickten  "Weisung   begegnen   wir   der  folgenden  Argu-  'l"'^""'^«" 

*  ö  ö    O  ö  ö         Befristung 

mentation  des  Wiener  Kabinetts':  durch  das 

Da  unter  den  Ententemächten  England  am  ehesten  für  KabiTe« 
eine  objektive  Beurteilung  des  Schrittes  zu  gewinnen  sein 
dürfte,  den  das  Wiener  Kabinett  am  23.  Juli  in  Belgrad 
unternehme,  solle  Graf  Mensdorff  bei  der  Besprechung,  die 
er  am  24.  Juli  gelegentlich  der  Überreichung  der  Zirkular- 
note im  Foreign  Office  haben  werde,  unter  anderem  auch 
darauf  hinweisen,  daß  es  Serbien  in  der  Hand  gehabt  hätte, 
den  ernsten  Schritten,  die  es  von  Seite  der  Monarchie  er- 
warten mußte,  zu  begegnen,  wenn  es  seinerseits  spontan 
das  Notwendige  vorgekehrt  hätte,  um  auf  serbischem  Boden 
eine  Untersuchung  gegen  die  serbischen  [Teilnehmer  am 
Attentat  vom  28.  Juni  einzuleiten  und  die  Verbindungen  auf- 
zudecken, die  hinsichtlich  des  Attentats  erwiesenermaßen 
von  Belgrad  nach  Sarajevo  führten. 

Die  serbische  Regierung  habe  bis  heute,  obwohl  eine 
Anzahl  notorisch  bekannter  Indizien  nach  Belgrad  weise, 
in  diesem  Belange  nicht  nur  nichts  unternommen,  sie  habe 
vielmehr  die  vorhandenen  Spuren  zu  verwischen  getrachtet. 
Was  die  kurze  Befristung  der  österreichisch-ungarischen 
Forderungen  anbetreffe,  so  sei  dieselbe  auf  die  langjährigen 

I  Weisung  nach  London  d.  d.  Wien,  23.  Juli,  Nr.   159. 

133 


Erfahrungen     serbischer     Verschleppungskünste     zurückzu- 
führen. 

Das  Wiener  Kabinett  könne  die  Forderungen,  deren 
Erfüllung  es  von  Serbien  verlange  und  die  eigentlich  im 
Verkehre  zweier  Staaten,  die  in  Frieden  und  Freundschaft 
leben  sollen,  nur  Selbstverständliches  enthielten,  nicht  zum 
Gegenstande  von  Verhandlungen  und  Kompromissen  machen 
und  könne  es  mit  Rücksicht  auf  die  volkswirtschaftlichen 
Interessen  der  Monarchie  nicht  riskieren,  eine  politische 
Methode  zu  akzeptieren,  die  es  Serbien  freistellen  würde, 
die  entstandene  Krise  nach  seinem  Belieben  zu  verlängern. 

St.  Petersburg 
Ein-  Bei   der  Überreichung    der   Zirkularnote   in    Petersburg 

we'lun"''^    hatte    Graf  Szäpdry    am  24.  Juli  vormittags  mündlich  aus- 
zuführen >: 

Die  k.  u.  k.  Regierung  wisse  sich  frei  von  jedem  Gefühl 
der  Mißgunst  und  des  Übelwollens  Serbien  gegenüber;  noch 
während  der  Krise  vom  Jahre  1912  habe  es  die  k.  u.  k. 
Regierung  durch  ihre  wohlwollende  und  territorial  des- 
interessierte Haltung  Serbien  möglich  gemacht,  sein  Gebiet 
um  fast  das  Doppelte  zu  vergrößern.  Auch  heute  sehe  sich 
die  Monarchie  zu  den  ernsten  Schritten,  die  sie  in  Belgrad 
unternehme,  nur  aus  Gründen  der  Selbsterhaltung  und  der 
Selbstverteidigung  genötigt. 

Es  sei  der  k.  u.  k.  Regierung  lediglich  darum  zu  tun,  das 
Territorium  der  Monarchie  vor  dem  Eindringen  insurrek- 
tioneller  Miasmen  aus  dem  benachbarten  Königreiche  zu 
sichern  und  der  nachsichtigen  Duldung  zu  steuern,  die  die 
königlich  serbische  Regierung  bisher  allen  Bestrebungen  ent- 
gegengebracht habe,  die  auf  serbischem  Boden  durch  Wort 
und  Tat  gegen  die  Integrität  der  Monarchie  gerichtet  waren. 

Mit  der  von  Belgrad  aus  geleiteten  Ermordung  des 
Erzherzog-Thronfolgers  (ein  zur  Verfügung  der  kaiserlichen 
Regierung  stehendes  Dossier  -  gebe  über  die  aufgedeckten 
Zusammenhänge  und  die  Mithilfe  der  „Narodna  Odbrana" 

'  Erlaß  nach  St.  Petersburg  d.  d.  Wien,  20.  Juli,  Nr.  3430. 
-  Vgl.  Seite   130,  Anmerkung  2. 

134 


erschöpfende  Aufschlüsse)  mußte  die  Langmut  der  k.  u.  k. 
Regierung  den  serbischen  Umtrieben  gegenüber  ein  Ende 
erreichen. 

Die  Mordtat  von  Sarajevo  müsse  aber  auch  gleichzeitig 
das  Solidaritätsgefühl  der  großen  Monarchien  erwecken, 
deren  gemeinsames  Interesse  es  sei,  sich  gegen  den  Königs- 
mord zur  Wehr  zu  setzen,  von  wo  er  auch  komme  und  wen 
er  auch  zunächst  treffe. 

Der  auf  Besuch  in  St.  Petersburg  weilende  Präsident  der  Ansprache 
französischen  Republik,  Herr  Poincare,  hatte  am  21.  Juli  das  p„7™ar6s  an 
diplomatische  Korps,  und  zwar  die  Botschafter  einzeln,  in  dasdipio- 
Anwesenheit  des  französischen  Ministers  des  Äußern,  Viviani,  K^"p°i^ 
und  des  französischen  Botschafters,  Paleologue,  empfangen/,  st.  Peters- 

Der  Präsident  drückte  dem  k.  u.  k.  Botschafter  in  ^"'^ 
warmen  Worten  seine  Sympathie]^anläßlich  des  Sarajevoer 
Attentats  aus  und  ging  dann  auf  das  politische  Gebiet  über, 
indem  er  nach  der  Situation  in  Albanien  fragte,  worüber 
sich  eine  längere  Konversation  entspann.  Sodann  erkundigte 
sich  Herr  Poincare  hinsichtlich  des  österreichisch-ungarisch- 
serbischen Verhältnisses,  bemerkte,  daß  man  in  Serbien  beun- 
ruhigt sei,  und  fragte,  welche  Auffassung  man  diesbezüglich 
in  Wien  hege.  Graf  Szäpdry  erwiderte,  man  betrachte  dort 
die  Sache  mit  Gelassenheit,  weil  man  überzeugt  sei,  daß  sich 
Serbien  dem,  was  das  Wiener  Kabinett  zu  verlangen  haben 
würde,  nicht  verschließen  werde.  Auf  die  weitere  Frage, 
welche  Forderungen  man  denn  an  Serbien  richten  wolle, 
beschränkte  sich  Graf  Szäpäry,  darauf  zu  verweisen,  daß  die 
diesbezügliche  Untersuchung  noch  im  Gange  und  ihm  über 
deren  Resultat  nichts  bekannt  sei. 

Herr  Poincare  erging  sich  hierauf  in  einem  mit  großem 
oratorischen  Aufwand  und  Nachdruck  gehaltenen  Vor- 
trag, in  dem  er  auseinandersetzte,  daß  es  wohl  nur  dann 
zulässig  sei,  eine  Regierung  für  etwas  verantwortlich  zu 
machen,  wenn  konkrete,  gegen  dieselbe  sprechende  Beweise 
vorlägen;  es  sei  denn,  daß  es  sich  um  einen  bloßen  Vor- 
wand handeln  würde,  was  er  doch  Österreich-Ungarn  gegen- 
über einem  so  kleinen  Lande  nicht  zumute.  In  einem  solchen 

'  Telegramm  aus  St.  Petersburg  d.  d.  21.  Juli,  Nr.   148. 

135 


Falle  aber  dürfe  man  nicht  vergessen,  daß  Serbien  Freunde 
habe  und  daß  hiedurch  eine  für  den  Frieden  gefährliche 
Situation  entstehen  würde.  Graf  Szäpäry  beschränkte  sich 
auf  eine  sachliche  Erwiderung  und  hob  hervor,  daß  jede 
Regierung  bis  zu  einem  gewissen  Grade  für  alles  verant- 
wortlich sei,  was  auf  ihrem  Gebiete  vorgehe.  Der  Präsident 
suchte  diese  These  durch  Konstruktionen  analoger  Fälle 
zwischen  anderen  Staaten  zu  entkräften,  so  daß  Graf 
Szäpäry  sich  genötigt  sah,  darauf  zu  verweisen,  daß  alles 
auf  die  Umstände  ankomme,  daß  solche  Analogien  unvoll- 
kommen und  Generalisierungen  untunlich  seien.  Herr 
Poincare  schloß  die  Unterredung,  indem  er  dem  Wunsche 
Ausdruck  gab,  die  Untersuchung  werde  nicht  zu  Ergebnissen 
führen,  die  zu  einer  Beunruhigung  Anlaß  gäben. 

„Das  vom  Standpunkt  eines  auf  '  Besuch  weilenden 
„fremden  Staatsoberhauptes",  schloß  Graf  Szäpäry  seinen 
Bericht,  „taktlose,  wie  eine  Drohung  klingende  Auftreten 
„des  Präsidenten,  welches  von  der  reservierten,  vorsichtigen 
„Haltung  Herrn  Sazonows  so  auffällig  absticht,  bestätigt  die 
„Erwartung,  daß  Herr  Poincare  hier  nichts  weniger  als 
„kalmierend  einwirken  werde.  Bezeichnend  ist  die  Verwandt- 
„schaft  der  juristischen  Deduktionen  des  Präsidenten  mit 
„den  Exkursionen  Herrn  Pasic'  in  den  „Leipziger  Neuesten 
„Nachrichten".  Herr  Spalajkovic,  den  mir  Herr  Sazonow 
„noch  neulich  als  „desequilibre"  bezeichnete,  dürfte  dabei 
„die  Hand  im  Spiele  haben." 

Aus  der  Übereinstimmung  der  Sprache,  die  Herr  Sazonow 
schon  vor  der  Ankunft  Herrn  Poincares  geführt  hatte,  mit 
jener  des  Präsidenten  schloß  der  deutsche  Botschafter,  daß 
letzterem  von  Sazonow  die  Lektion  gemacht  worden  sei, 
um  auf  diese  Weise  größeren  Eindruck  hervorzurufen. 

Bezeichnend  sei,  wie  Graf  Späpäry  am  23.  Juli  meldete  ', 
daß  Sazonow  verbreite,  Herr  Poincare  habe  Graf  Szäpäry 
gegen  Serbien  sehr  aufgebracht  gefunden,  während  sich  dieser 
„aus  naheliegenden  Gründen  der  größten  Zurückhaltung" 
hätte  befleißigen  müssen. 

'  Telegramm  aus  St.  Petersburg  d.  d.  23.  Juli,  1  Uhr  25  Minuten 
p.  m.,  Nr.   152. 

136 


Verständigung  der  übrigen  k.  u.  k.  Missionen. 

Ein  am  23.  Juli  nacli  10  Uhr  abends  zu  expedierendes 
Zirtculartelegramm  teilte  allen  nicht  speziell  benachrichtigten 
k.  u.  k.  Missionen  die  in  Belgrad  vollzogene  Übergabe  der 
österreichisch-ung^arischen  Note  mit  '. 

Endlich  trug  eine  noch  am  23.  Juli,  11  Uhr  mitternachts, 
aufgegebene  telegraphische  Weisung  den  k.  u.  k.  Bot- 
schaftern, den  Vertretern  bei  den  Balkanmissionen  und 
Graf  Hadik  in  Stockholm  auf-,  in  Anbetracht  der  um  eine 
Stunde  verschobenen  Demarche  in  Belgrad  in  dem  zur  Mit- 
teilung an  die  bezüglichen  Kabinette  bestimmten  Texte  die 
sinngemäße  Korrektur  vorzunehmen:  die  Frist  der  Beant- 
wortung der  österreichisch-ungarischen  Begehrnote  laufe 
bis  Samstag,  den  25.  Juli,  nachmittags  6  Uhr. 

<  Zirkulartelegramm  an  alle  Missionen  (mit  Ausnahme  der  Signatar- 
botschaften, der  Balkangesandtscliaften,  der  Botschaft  [in  Madrid,  Rom 
I  Vatikan],  Washington,  Tokio  und  der  Gesandtschaft  in  Stockholm)  d.  d. 
Wien,  23.  Juli,  Prot. -Nr.  5108  bis  5129. 

~  Weisung  an  die  Signatarbotschaften,  Balkanmissionen  und  Gesandt- 
schaft Stockholm  d.  d.  Wien,  23.  Juli,  Prot.-Nr.  5136  bis  5147. 


137 


II 


Von     der    Überreichung    der    österreichisch- 
ungarischen   Note    in    Belgrad   (23.  Juli)    bis 
zur    Kriegserklärung    Österreich-Ungarns     an 
Serbien  (28.  Juli) 


A.  Die  Aufnahme  der  österreichisch-ungarischen 

Zirkularnote  vom  24.  JuH  und  die  Maßnahmen 

der  europäischen  Kabinette 

Berlin 

Graf  Szögyeny  überreichte  —  laut  eigener  Meldung  —  über- 
die  Zirkularnote  des  Wiener  Kabinetts  dem  deutschen  Staats-  7 'f  711" 

Zirkularnoie 

Sekretär  am  23.  Juli  und  gab  ihm  am  24.  früh  die  Ver- 
schiebung der  Ablaufstunde  für  die  Befristung  der  Begehr- 
iVOte  an  Serbien  bekannt  ^  Herr  von  Jagow  nahm  diese  Mit- 
teilung mit  Dank  entgegen  und  versicherte,  gemäß  der 
Berichterstattung  Graf  Szögyenys  -,  die  deutsche  Regierung 
sei  mit  dem  Inhalte  dieser  Note  „selbstverständlich  ganz  ein- 
verstanden" 3. 

Die  eigenartige  Lage,  in  welche  die  deutsche  Regierung  Äußerungen 
als  erster   und   engster  Bundesgenosse    durch    die   so    spät  ^"^J"" 
erfolgte     Mitteilung     der     österreichisch-ungarischen     Note  gegenüber 
versetzt    wurde,    zeitigte,    wie  Graf  Szögyeny    richtig    ver 
mutete,  sehr  bald  ein  unleidliches  Zwischenspiel.  schafier 

Am  25.  Juli  teilte  Herr  von  Jagow  dem  Grafen  Szögyeny 
mit*,    der    italienische    Botschafter    in    Berlin     habe     sich 

1  Dem  gegenständlichen  Erlasse  und  der  besonderen  Weisung  gemäß 
(Seite  110  und  112)  war  die  Zirkularnote  erst  am  24.  Juli  vormittags 
zur  Kenntnis  zu  bringen.  Nach  Th.  von  Bethmann  Holhveg:  Betrachtungen 
zum  Weltkriege,  I,  Seite  138,  139,  und  G.  von  Jagow:  Ursachen  und 
Ausbruch  des  Weltkrieges,  Seite  109,  hat  Graf  Szögyeny  den  Text  der 
österreichisch-ungarischen  Note  an  Serbien  Herrn  von  Jagow  tatsächlich 
bereits  am  22.  Juli  spät  nachmittags  mitgeteilt.  Der  k.  u.  k.  Bot- 
schafter trug  damit  offenbar  seinen  im  Privatschreiben  an  Graf  Berchtold 
vom  21.  Jun  (vgl.  Seite  111,  112)  geäußerten  Bedenken  Rechnung. 

-  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  24.  Juli,  Nr.  279. 

s  Vgl.  Seite  34,  Anmerkung  1.  —  Im  englischen  Blaubuch  Nr.  18  ist 
(die  Angaben  Th.  von  Bethmann  Hollwegs  1.  c.  Seite  139,  140  und  G.  von 
Jagows  1.  c.  Seite  HO  bestätigend)  die  gegenteilige  Feststellung  ent- 
halten.    ' 

*  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  25.  Juli,  Nr.  283. 

141 


dem    italieni- 
schen Bot- 


darüber  verwundert  gezeigt,  daß  Graf  Berchtold  der 
italienischen  Regierung  als  verbündeten  Macht  nicht  früher 
Mitteilung  von  dem  Belgrader  Schritte  gemacht  hätte. 

Herr  von  Jagow  antwortete,  daß  auch  Deutschland  nicht 
früher  von  Wien  verständigt  worden  sei,  was  er  auch  für 
die  richtige  Vorgangsweise,  halte,  da  der  jetzige  Konflikt 
als  eine  Angelegenheit  zwischen  Österreich-Ungarn  und 
Serbien  zu  betrachten  sei. 

Es  mag  Herrn  von  Jagow  nicht  leicht  gefallen  sein, 
diesen  Ausweg  der  Billigung  des  Vorgehens  des  Wiener 
Kabinetts  einzuschlagen,  da  er  doch  vor  knappen  vier 
Tagen  über  die  bloße  Gleichstellung  der  eigenen  Regierung 
mit  den  Kabinetten  der  übrigen  Mächte  dem  k.  u.  k.  Bot- 
schafter gegenüber  Beschwerde  geführt  hatte  ^ 

1  Vgl.  Seite  HO,  111.  —  Eine  weitere  Bestätigung,  daß  die  serbische 
Aktion  des  Wiener  Kabinetts  keineswegs  mit  der  deutschen  Regierung 
einverständlich  vorbereitet  wurde,  bietet  übrigens  eine  Feststellung  Graf 
Berchtolds  selbst.  In  der  italienischen  Presse  machte,  wie  Graf  Ambrözy 
am  9.  August  1914  meldete  (Telegramm  aus  Rom,  Nr.  640)  die  Meldung  der 
„Tribuna"  großen  Eindruck,  laut  welcher  es  aus  dem  deutschen  Weißbuch 
hervorgehe,  daß  das  Wiener  Kabinett  seine  Aktion  gegen  Serbien  lange  vor- 
her und  in  allen  Details  mit  Deutschland  besprochen  habe,  während  Italien 
davon  erst  nach  dem  Beginne  derselben  in  Kenntnis  gesetzt  worden  sei. 

Graf  Berchtold  sah  sich  veranlaßt,  zu  diesem  Gegenstande  Graf 
Ambrözy  telegraphisch  zu  erwidern  (Weisung  nach  Rom  d.  d.  Wien, 
10.  August,  Nr.  990): 

„Die  Textierung  des  deutschen  Weißbuches  ist  in  der  Tat  geeignet, 
„den  Eindruck  hervorzurufen,  als  ob  unsere  Aktion  gegen  Serbien  lange 
„vorher  und  in  allen  Details  mit  Deutschland    besprochen    worden   wäre. 

„Darin  liegt  ebenso  eine  gewisse  Übertreibung,  als  es  andrerseits 
„nicht  ganz  den  Tatsachen  entspricht,  daß  Italien  erst'nach  dem  Beginne 
„der  Aktion  von  derselben  Kenntnis  erhalten  habe. 

„Ich  würde  Wert  darauf  legen,  daß  Euer  Hochgeboren  sich  in  diesem 
„Sinne  bei  Marquis  di  San  Giuliano  vernehmen  lassen.  Dem  Minister 
„kann  der  Inhalt  meiner  einschlägigen  Eröffnungen  an  Herzog  Avarna 
„nicht  unbekannt  geblieben  sein,  dem  ich  wiederholt  von  unserer  Enquete 
„in  Sarajevo  wie  von  dem  beabsichtigten  Schritte  in  Belgrad  zwecks 
„Schaffung  entsprechender  Garantien  für  die  Zukunft  gesprochen  habe, 
,,deren  genaue  Formulierung  jedoch  erst  kurz  vor  der  Übergabe  möglich 
„und  daher  auch  dem  deutschen,  gleichwie  dem  römischen  Kabinett  erst 
„in  letzter  Stunde  bekanntgegeben  wurde. 

„Der  Umstand,  daß  wir  erst  nach  der  Ablehnung  unserer  Forde- 
„rungen  seitens  Serbiens  zu  einer  teilweisen  Mobilisierung    schritten,   für 

142 


Bei    Gelegenheit    einer  Unterredung,    die    der    deutsche  Unterredung 
Botschafter  Graf  Pourtales    mit    Herrn  Sazonow    nach    er-  q^"^"^' 
folgter    Überreichung    der    österreichisch-ungarischen    Note  Pourtaus 
gepflogen  hatte  <,  erging  sich  der  russische  Minister,  wie  der  *"*'  •'"''* 
deutsche  Botschafter  meldete,    in  maßlosen  Ausfällen  gegen 
Österreich-Ungarn.    Die    rechtliche    Frage    müsse    von    der 
politischen     vollkommen     getrennt    werden,     dann     könne 
Serbien    eventuell    in    den    bewiesenen    rechtlichen    Fragen 
nachgeben.     Die    Resultate     der    österreichisch-ungarischen 
gerichtlichen    Untersuchung   würden    Herrn    Sazonow    aber 
mehr  als  zweifelhaft  erscheinen. 

Die  ganze  Frage  müsse  vor  die  Großmächte  zur  Über- 
prüfung gebracht  werden.  Serbien  hätte  sich  nicht  Öster- 
reich-Ungarn, sondern  allen  Großmächten  gegenüber  im 
Jahre  1909  verpflichtet,  also  sei  die  Angelegenheit  eine 
internationale  und  nicht  eine  zwischen  Österreich-Ungarn 
und  Serbien  allein  zu  regelnde.  Die  Monarchie  wolle  An- 
kläger und  Richter  zugleich  sein,  was  unstatthaft  sei.  Wenn 
Österreich-Ungarn  Serbien  „verschlinge",  sagte  Sazonow 
weiter,  so  müsse  Rußland  absolut  eingreifen.  Allen  diesen 
Angriffen  Sazonows  auf  Österreich-Ungarn  trat  Graf  Pour- 
tales energisch  entgegen;  er  erhielt,  als  er  auch  das  mon- 
archische Prinzip  vorbrachte,  vom  russischen  Minister  des 
Äußern  die  ablehnende  Antwort,  „das  habe  mit  dem  mon- 
archischen Prinzip  gar  nichts  zu  tun,  das  sei  eine  politische 
Frage". 

Der  deutschen  Regierung,    die   die  Sache  Öster-  Bemühender 
reich-Ungarns  in  St.  Petersburg  bundesgenössisch  ''^"'^chen 

Regierung, 

zu  vertreten  gesonnen  war,  schwebte  wie  bisher,  auch  den  Konflikt 
weiterhin  als  Ziel  die  Lokalisierung  des  Konflikts  ™'schen 

Osterreicli- 

zwischen    der  Monarchie  und  Serbien  vor=.    Sie  be- ungam  und 
rücksichtigte  bei  diesem  Bemühen  das  dem  Bundesgenossen  serwen  zu 

lolvalisieren 

„welche  vorher  keinerlei  vorbereitende  'Maßnahmen  getroFFen  worden 
„waren,  beweist  zur  Genüge,  daß  wir  mit  der  Wahrscheinlichkeit  der 
„Annahme  unserer  Forderungen  gerechnet  hatten  und  keinerlei  Detail- 
„vorbereitungen  verfügt,  geschweige  denn  mit  Deutschland  einverständlich 
„vorbereitet  hatten." 

'  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  25.  Juli,  Nr.  290. 

=  Vgl.  Seite   144,  Anmerkung  1;  147,  150,  173,  227. 

143 


als  Großmacht  zukommende  Prestige  und  suchte  gleich- 
zeitig die  Gefahren  einer  europäischen  Verwicklung  durch 
ihre  Einwirkung  auf  das  mobilisierende  Rußland  zu  bannen'. 

Rom 

(jbfr-  In  Rom  übergab  Graf  Ambrözy  am  24.  Juli  um  11  Uhr 

reichung  der:  SOMinutcn  vormittags  die  österreichisch-ungarische  Zirkular- 

Zirkularnole'  .. 

note  in  Abwesenheit  des  Ministers  des  Äußern  und  des 
Unterstaatssekretärs  dem  Generalsekretär  de  Martino^ 

Dieser  machte  bei  Beginn  der  Lektüre  die  Bemerkung, 
es  sei  sehr  geschickt,  die  Note  mit  der  Zitierung  der  ser- 
bischen Note  aus  dem  Jahre  1909  zu  beginnen.  Im  weiteren 
Verlaufe  der  Lektüre  sagte  er,  den  persönlichen  Charakter 
dieser  Bemerkung  betonend,  es  scheine  ihm,  daß  die 
Monarchie    Serbien     geradezu     als    Großmacht     behandle, 

1  In  der  Berichterstattung  des  k.  u.  k.  Gesandten  in  München 
spiegelt  sich  die  Haltung  der  Berliner  Regierung  in  folgender  Weise 
wieder: 

„Nach  vertraulichen  Meldungen,  die  aus  Berlin  hier  eintrafen,  erblickt 
„man  daselbst  in  der  drohenden  Sprache  Frankreichs  und  Rußlands  den 
„Versuch,  Österreich-Ungarn  durch  Bluff  einzuschüchtern.  Mitte  nächster 
„Woche  werde  man  wahrscheinlich  sehen,  daß  Rußland  Reserven  ein- 
„berufe.  Dann  heiße  es  für  Wien,  wie  für  Berlin,  die  Nerven  nicht  zu 
„verlieren,  „denn  jede  Gegenmaßnahme  würde  eine  Atmosphäre  erzeugen, 
„bei  der  die  Lokalisierung  des  Konflikts  unmöglich  werden  könnte". 
„Deutschlands  Bestrehen  müsse  sein,  bei  den  Kabinetten,  vor  allem  in 
„London,  sowie  in  der  Presse  den  Standpunkt  zu  vertreten,  daß  es  sich 
„um  eine  Auseinandersetzung  handle,  die  nur  Österreich-Ungarn  und 
„Serbien  angehe  und  zu  der  die  Monarchie  nach  dem  Vorgefallenen 
„unbedingt  berechtigt  sei.  Als  mot  d'ordre  gehe:  Volle  moralische  Unter- 
„stützung  Österreich-Ungarns,  aber  kein  Säbelgerassel  deutscherseits  und 
„keine  Anspielung  auf  , Entscheidung  zwischen  Deutschtum  und  Slawentum', 
„noch  auch  Hinweise  auf  die  Nibelungentreue  mit  Spitze  gegen  Rußland." 

(Bericht  aus  München  d.  d.  25.  Juli,  Nr.  69  P.) 

Tags  darauf  (26.  Juli)  meldete  der    k.  u.  k.   Gesandte  aus  München: 

„Es  ist  bezeichnend,  daß  die  in  meiner  gestrigen  Relation  gemeldeten 
„Berliner  Beschwichtigungsnachrichten  heute  nochmals  auf  das  Nachdrück- 
„lichste  wiederholt  und  appuyiert  wurden.  Danach  wären  den  russischen 
„Annoncen  über  Mobilisierung  großer  Truppenmassen  deutscherseits  nur 
„kühles  Zuwarten,    keineswegs    aber  Gegenrüstungen   entgegenzustellen." 

(Bericht  aus  München  d.  d.  26.  Juli,  Nr.  70  P.) 

ä  Telegramm  aus  Rom  d.  d.  24.  Juli,  Nr.  535. 

144 


indem  sie  sich  durch  die  auf  seinem  Territorium  betriebene 
Agitation  als  gefährdet  erachte.  Über  die  Publikation,  die 
das  Wiener  Kabinett  von  Serbien  verlange,  bemerkte  er, 
dieses  Petitum  könne  und  müsse  die  Belgrader  Regierung 
annehmen.  Zu  Punkt  4  der  Forderungen  äußerte  er  sich, 
daß  dessen  Annahme  der  serbischen  Regierung  schwer 
fallen  würde.  Als  er  die  Notiz  über  das  Untersuchungs- 
ergebnis in  Sarajevo  gelesen  hatte*  schien  er  sehr  über- 
rascht. 

Am  Schlüsse  der  Lektüre  meinte  Herr  de  Martino: 
„Wir  scheinen  an  einem  Wendepunkte  der  Geschichte 
angekommen  zu  sein."  Der  Antwort  Graf  Ambrözys, 
der  Generalsekretär  müsse  den  rein  defensiven  Charakter 
der  österreichisch-ungarischen  Aktion  zugeben,  stimmte 
dieser  mit  den  Worten  zu:  „Certainement,  je  n'aurais  cru 
„que  Ton  puisse  constater  et  prouver  !a  culpabilite  d'offi- 
„ciers  et  de  fonctionnaires  serbes  dans  le  drame  de  Sara- 
„jevo."  Schließlich  versicherte  Herr  de  Martino  noch,  daß 
er  die  Abschrift  der  Note  ehestens  an  Marquis  di  San 
Giuliano  leiten  werde. 

Als    Widerhall    auf    die    Mitteilung    der    österreichisch-  offizielle 
ungarischen  Zirkularnote  in  Rom  erfolgte  in  Wien  die  offi-  ')'""f"'s 

o  *^  des  Kompen- 

zielle  Anmeldung  des  Kompensationsrechtes  Italiens '.  Herzog  saiions- 
von  Avarna   erschien  am  25.  Juli    beim    Grafen    Berchtold  7?'"    <■ 

^  Italiens  auf 

und  teilte  ihm  aus  Anlaß  des  Konflikts  zwischen  der  Mon-  Grund  des 
archie  und  Serbien  mit,  die  königlich  italienische  Regierung  jJ^dJ.^;^" 
behalte  sich   für  den  Fall,    als    dieser  Konflikt   eine   kriege-  bundver- 
rische  Wendung  nehme   und  zu  einer    —    wenn    auch    nur  '"^°' 
provisorischen  —  Besetzung  serbischen  Territoriums  führen 
sollte,  vor,    das  ihr  auf  Grund    des  Artikels  VII    des  Drei- 
bundvertrages zustehende  Kompensationsrecht   in  Anspruch 
zu    nehmen.    Die    italienische    Regierung    sei    überdies    auf 
Grund   des    eben    angeführten  Vertragsartikels  der  Ansicht, 
daß  das  Wiener  Kabinett  sich  vor  der  eventuellen  Besetzung 
serbischen  Gebietes  mit  ihr  ins  Einvernehmen  setzen  müßte. 
Im  übrigen  beabsichtige  die  italienische  Regierung,  in  dem 
eventuell   bewaffneten   Konflikt  zwischen  Österreich-Ungarn 

I  Tagesbericht  d.  d.  25.  Juli,  Nr.  3539. 
10  145 


und  Serbien  eine  freundsciiaf'tliche  und  den  Bündnispflichten 
entsprechende  Haltung  einzunehmen. 

Paris 
über-  In  Paris  übermittelte  Graf  Szecsen  am  24.  Juli  dem  mit 

reichung   der 
Zirkularnole 


re.chung   er  ^^^  Vertretung   des  abwesenden    Ministers   des  Äußern  be 


trauten  Justizminister  dun  Zirkularerlaß,  indem  er  ihm  den- 
selben vorlas  und  eine  Abschrift  desselben  einhändigte'. 
Herr  Bienvenu  Martin,  der  durch  die  Pariser  Morgenblätter 
vom  Inhalte  der  Demarche  in  Belgrad  beiläufig  informiert 
war,  schien  durch  die  Mitteilung  des  Grafen  Szecsen  ziem- 
lich beeinflußt.  Er  ließ  sich  in  keine  nähere  Erörterung 
des  Textes  ein,  gab  aber  bereitwillig  zu,  daß  die  Ereignisse 
der  letzten  Zeit  und  die  Haltung  der  serbischen  Regierung 
ein  energisches  Einschreiten  seitens  der  Monarchie  ganz 
begreiflich  erscheinen  ließen.  Der  Punkt  5  schien  dem 
Minister  besonders  aufzufallen,  denn  er  ließ  sich  denselben 
zweimal  vorlesen.  Im  übrigen  dankte  er  für  die  Mitteilung 
des  k.  u.  k.  Botschafters,  die,  wie  er  sagte,  eingehend  geprüft 
werden  würde. 

Graf  Szecsen  nahm  die  Gelegenheit  wahr  zu  betonen, 
daß  es  sich  hier  um  eine  Frage  handle,  die  direkt  zwischen 
Serbien  und  der  Monarchie  ausgetragen  werden  müsse,  daß 
es  aber  im  allgemeinen  europäischen  Interesse  liege,  wenn 
die  Unruhe,  die  seit  Jahren  durch  die  serbischen  Stänke- 
reien gegen  die  Monarchie  aufrecht  erhalten  werde,  endlich 
einem  klaren  Zustande  Platz  mache.  Alle  Freunde  des 
Friedens  und  der  Ordnung  —  und  zu  diesen  zähle  er 
Frankreich  in  erster  Linie  —  sollten  daher  Serbien  ernstlich 
raten,  seine  Haltung  gründlich  zu  ändern  und  den  berech- 
tigten österreichisch-ungarischen  Forderungen  Rechnung  zu 
tragen. 

Der  Minister  gab  zu,  daß  Serbien  die  Pflicht  habe, 
gegen  etwaige  Komplizen  der  Mörder  von  Sarajevo  energisch 
vorzugehen,  eine  Pflicht,  der  es  sich  wohl  nicht  entziehen 
werde.  Unter  nachdrücklicher  Betonung  der  Sympathie 
Frankreichs  für  Österreich-Ungarn    und    der    zwischen  den 

'  Telegramm  aus  Paris  d.  d.  24.  Juli,  Nr.   119. 
146 


beiden  Ländern  bestehenden  guten  Beziehungen  sprach 
Herr  Bienvenu  die  Hoffnung  aus,  daß  die  Streitfrage  fried- 
lich in  einer  den  Wünschen  der  Monarchie  entsprechenden 
Weise  ausgetragen  werden  möge.  Der  Minister  vermied 
dabei  jeden  Versuch,  die  Hahung  Serbiens  irgendwie  zu 
verteidigen  und  zu  beschönigen. 

Auf  die  Leitung  der  auswärtigen  Politik  —  schloß  Graf 
Szecsen  seinen  Bericht  —  habe  Herr  Bienvenu  natürlich 
keinen  Einfluß. 

Zur  Bekundung  der  Solidarität  mit  der  Monarchie  hatte  Demaivhe 


'ö 


des  deut- 


der  deutsche  Botschafter  Baron  Schön  den  Auftrag  erhalten,-    ,    „ 

o  '   sehen  Bot- 

in Paris  mitzuteilen  ^,    nach  Ansicht  des  Berliner    Kabinetts  schafters  in 

sei    die  Kontroverse    der  Monarchie    mit  Serbien    eine  An-  ^"'^  , 

(24.  Julil 

gelegenheit,  die  nur  die  beiden  beteiligten  Staaten  angehe. 
Anknüpfend  hieran  sollte  er  auch  zu  verstehen  geben,  daß, 
falls  sich  dritte  Staaten  einmischen  wollten,  Deutschland, 
seinen  Allianzpflichten  getreu,  auf  der  Seite  der  Monarchie 
zu  finden  sein  werde. 

Baron  Schön  führte  die  ihm  aufgetragene  Demarche  am 
24.  Juli  aus=.  Herr  Bienvenu  ließ  sich  dabei  vernehmen,  er 
könne  sich  noch  nicht  definitiv  äußern;  soviel  könne  er 
aber  schon  jetzt  sagen,  daß  die  französische  Regierung 
ebenfalls  der  Ansicht  sei,  die  österreichisch-ungarische  Kon- 
troverse mit  Serbien  ginge  nur  Belgrad  und  Wien  an,  und 
daß  man  in  Paris  hoffe,  die  Frage  werde  eine  direkte  und 
friedliche  Lösung  finden. 

Dem  serbischen  Gesandten  sei  bereits  der  Rat  erteilt 
worden,  seine  Regierung  möge  in  allen  Punkten,  soweit 
als  nur  möglich,  nachgeben,  „insofern  ihre  Souveränitäts- 
rechte nicht  tangiert  würden". 

Herr  Berthelot,  der  dieser  Unterredung  beiwohnte, 
schien  zu  befürchten,  daß  die  öffentliche  Meinung  in  Ruß- 
land einen  starken  Druck  zugunsten  des  Eingreifens  aus- 
üben würde.  Könne  die  russische  Regierung  diesem  Drucke 
widerstehen,  so  halte  er  eine  friedliche  Verständigung  für 
möglich. 

1  Telegramm  aus  Paris  d.  d.  24.  Juli,  Nr.   120. 
-  Telegramm  aus  Paris  d.  d.  24.  Juli,  Nr.   121. 

147 


Bezüglich  der  österreichisch-ungarischen  Forderungen 
meinte  er,  die  serbische  Regierung  sollte  eine  prinzipielle 
Annahme  derselben  sofort  erklären,  hinsichtlich  einzelner 
Punkte  aber  nähere  Details  und  Aufklärungen  verlangen, 
zum  Beispiel  über  die  Art  und  Weise  der  Mitwirkung^ 
österreichisch-ungarischer  Organe  bei  der  in  Serbien  vor- 
zunehmenden gericTitlichen  Untersuchung. 

London 

Autviarun-  Der  engUschc  Staatssekretär  hatte  sich  bei   der  vertraur 

EdwÜrdGrey,  'ichen  Mitteilung,  die  ihm  Graf  Mensdorff  am  Nachmittag 
betreffend  die  des  23.  JuH  Über  die  österreichisch-ungarische  Note  machte, 
mimn/der  '"  cincm  Sinnc  geäußert,  der  es  Graf  Mensdorff  naheliegend 
Note  erscheinen  ließ,  Sir  Edward  werde  sich  insbesondere  an  der 

kurzen  Befristung  der  Note  stoßen  '.  Graf  Mensdorff  erhielt 
darauf  unverzüglich  den  Auftrag  -,  den  englischen  Minister 
darüber  aufzuklären,  daß  die  in  Belgrad  vollzogene  De- 
marche nicht  als  formelles  Ultimatum  zu  betrachten  sei, 
sondern  daß  es  sich  um  eine  befristete  Demarche  handle, 
die  —  wenn  die  Frist  fruchtlos  ablaufe  —  einstweilen  nur 
von  dem  Abbruche  der  diplomatischen  Beziehungen  und 
von  dem  Beginne  notwendiger  militärischer  Vorbereitungen 
gefolgt  sein  werde,  da  Österreich-Ungarn  unbedingt  ent- 
schlossen sei,  seine  berechtigten  Forderungen  durchzusetzen. 
Graf  Mensdorff  wolle  gleichzeitig  als  seine  persönliche 
Meinung  beifügen,  daß  die  Monarchie  allerdings  Serbien, 
wenn  es  nach  Ablauf  des  Termins  nur  unter  dem  Drucke 
der  militärischen  Vorkehrungen  der  Monarchie  nachgeben 
würde,  zum  Ersätze  der  ihr  erwachsenen  Kosten  verhalten 
müßte,  da  die  Monarchie  bekanndich  1908  und  1912  zwei- 
mal Serbiens  wegen  habe  mobilisieren  müssen. 
Cbei-  Sir  Edward  Grey    las  die  ihm    am   24.  Juli  überreichte 

reichung  der  zjrkulamote  aufmerksam  durch  =.  Bei  Punkts  fragte  er,  wie 

iirkularnote  *-" 

(24.  Juli).  die  Einsetzung  der  Organe  der  österreichisch-ungarischen 
Eru-agunK      RegieruHg  in  Serbien  zu  verstehen  sei;    das    wäre    gleich- 

eines  Ge-  ö  o  7  o 

1  Vgl.  Seite   132  ff. 

-  Weisung  nach  London  d.  d.  Wien,  24.  Juli,  Nr.   161. 

•  Telegramm  aus  London  d.  d.  24.  Juli,  Nr.  108. 

148 


lands 


bedeutend  mit  dem  Aufhören  der  staatlichen  Unabhängigkeit  Jankenaus- 
Serbiens.  Graf  Mensdorff  erwiderte,  die  Kollaboi-ation,  zum  "J^f^enden 
Beispiel  von  Polizeiorganen,  tangiere  keineswegs  die  Staats-  Aiiiienen 

Österreich- 
Souveränität.  Ungarns  imd 

Des  "Weiteren  wiederholte  der  Staatssekretär  seine  jenen  ruij- 
gestrigen  Bedenken  gegen  die  kurze  Befristung,  die  die 
Einwirkung  anderer  Mächte  nahezu  unmöglich  mache.  Er 
bezeichnete  die  Note  als  das  formidabelste  Dokument,  das 
je  von  einem  Staate  an  einen  anderen  gerichtet  wurde,  er 
anerkannte  aber,  daß  das  über  die  Mitschuld  an  dem  Ver- 
brechen von  Sarajevo  Gesagte  sowie  manche  der  Forde- 
rungen berechtigt  seien. 

Das  Hauptbedenken  zur  Annahme  scheine  ihm  Punkt  5, 
sodann  die  kurze  Befristung  und  der  Umstand  zu  sein, 
daß  eigentlich  der  Text  der  Antwort  diktiert  werde. 

Was  ihn  ernstlich  beunruhige,  sei  die  Rückwirkung  auf 
den  europäischen  Frieden.  Wenn  dieser  nicht  gefährdet 
wäre,  würde  er  bereit  sein,  die  Angelegenheit  als  eine  solche 
zu  betrachten,  die  nur  Österreich-Ungarn  und  Serbien  be- 
rühre. Er  sei  aber  sehr  „apprehensiv",  daß  mehrere  Groß- 
mächte in  einen  Krieg  verwickelt  werden  könnten.  Von  Ruß- 
land, Deutschland  und  Frankreich  sprechend,  bemerkte  Sir 
Edward,  die  Bestimmungen  des  französisch-russischen  Bünd- 
nisses dürften  ungefähr  so  lauten,  wie  die  des  Dreibundes. 

Graf  Mensdorff  legte  dem  Staatssekretär  ausführlich  den 
Standpunkt  des  Wiener  Kabinetts  dar.  Er  begreife,  daß  Sir 
Edward  zunächst  nur  die  Frage  der  Rückwirkung  auf  den 
europäischen  Frieden  erwäge,  der  Staatssekretär  müsse  aber 
auch,  um  den  Standpunkt  des  Wiener  Kabinetts  zu  würdi- 
gen,  sich  in  die  Lage  der  Monarchie  versetzen. 

Sir  Edward  wollte  in  eine  nähere  Diskussion  über  dieses 
Thema  nicht  eingehen;  er  müsse  die  Note  auch  noch 
genauer  studieren.  Jetzt  handle  es  sich  darum,  zu  versuchen, 
was  man  noch  tun  könne,  um  der  drohenden  Gefahr  zu 
begegnen.  Er  habe  zunächst  den  deutschen  und  den  fran- 
zösischen Botschafter  zitiert.  Mit  den  Alliierten  Österreich- 
Ungarns  und  Rußlands,  die  aber  selbst  keine  direkten 
Interessen  in  Serbien  hätten,  müsse  er  vor  allem  in 
Gedankenaustausch  treten. 

14Ö 


Zwischendurch    wiederholte  Sir  Edward    häufig,    er    sei 
hinsichtlich  der  Erhaltung  des  Friedens  zwischen  den  Groß- 
mächten sehr  besorgt. 
Äußerungen         Dcm    Fürstcn    Lichnowsky   gegenüber,   der   Sir   Edward 
Sir  Edward    instruktionsgemäß  den  Standpunkt  der  deutschen  Regierung 

Greys  gegen-  °  '^  es  o 

über  dem      mitgeteilt  hatte,    äußerte  sich    der   Staatssekretär,   wie    Graf 
deutschen      Mcnsdorff  gleichfalls  am  24.  Juli '  meldete,  sehr  perplex  und 

Boischafler  °  ^  t  f       r 

(24.  juiii.      beunruhigt.  Es  sei  noch  nie  in  solch  einem  Tone  zu  einem 
Erste  An.      Unabhängigen  Staate  gesprochen  worden.    Sir  Edward  kriti- 

regung  einer  ^  "  o      r 

Vermittlung    sicrtc  die  Form  noch  mehr  als  den  Inhalt;    die  kurze  Frist 

zu  viert        mache    jede    Einwirkung    unmöglich.    Wenn    die    deutsche 

Regierung  darauf  einginge,  möchte  er  gemeinschaftlich  mit 

ihr  eine  kurze  Fristerstreckung  vorschlagen,  um  noch  etwas 

zu  versuchen. 

Wenn  es  nur  eine  österreichisch-ungarisch-serbische 
Frage  wäre,  würde,  sich  der  Staatssekretär  nicht  weiter 
darum  kümmern.  Er  wisse  noch  nichts  von  Petersburg; 
sollte  aber  die  den  Slawen  sympathische  Strömung  einsetzen, 
so  könne  er  mit  Ratschlägen  nichts  ausrichten. 

Den  Eindruck  seiner  Unterredung  mit  dem  englischen 
Staatssekretär  resümierte  Fürst  Lichnowsky  dahin,  daß  sich 
Sir  Edward  mit  der  deutschen  Regierung  im  Wunsche 
begegne,  den  Konflikt  zwischen  der  Monarchie  und  Serbien 
zu  lokalisieren. 

Sollte  aber  ein  Konflikt  zwischen  der  Monarchie  und 
Rußland  entstehen,  so  würde  Sir  Edward  Grey  an  eine  Ver- 
mittlung ä  quatre  (England,  Deutschland,  Frankreich  und 
Italien)  zwischen  Wien  und  Petersburg  denken. 


St.  Petersburg 

Oberrci-  Dcu  erhaltenen  Weisungen  entsprach  der  k.  u.  k.  Bot- 

chung  der     gchaftcr  Graf  Szäpäry  auftragsgemäß  am  24.  Juli  -. 

Zirkularnote  f       j  ö    o  ^ 

i24.  juiii  Der  Minister   empfing  Graf  Szäpäry    mit   den  Worten  '•, 

er  wisse,   was  den  k.  u.  k.  Botschafter  zu  ihm  führe,    und 

I  Telegramm  aus  London    d.    d.   24.  Juli,    8  Uhr  48  Minuten  p.  m., 
Nr.   109. 

-  Telegramm  aus  Petersburg  d.  d.  24.  Juli,  Nr.   156. 

■  Telegramm  aus  Petersburg  d.  d.  24.  Juli,  Nr.   157. 

150 


er  müsse  ihm  gleich  eritlären,  er  werde  zu  der  öster- 
reichisch-ungarischen Demarche  iceine  Stellung  nehmen.  Graf 
Szäpary  begann  mit  der  Verlesung  seines  Auftrages.  Der 
Minister  unterbrach  ihn  zum  ersten  Male  bei  der  Erwähnung 
der  Serie  von  Attentaten  und  fragte,  ob  denn  erwiesen  sei, 
daß  diese  alle  in  Belgrad  ihren  Ursprung  hätten.  Graf 
Szäpäry  betonte,  sie  seien  der  Ausfluß  der  serbischen  Auf- 
wiegelung. Im  weiteren  Verlaufe  der  Vorlesung  äußerte 
Herr  Sazonow,  er  wisse,  worum  es  sich  handle:  Die  Mon- 
archie wolle  Serbien  den  Krieg  machen  und  die  angegebenen 
Gründe  sollten  der  Vorwand  sein.  Graf  Szäpäry  replizierte, 
die  Haltung  der  Monarchie  [in  den  letzten  Tagen  sei  ein 
hinreichender  Beweis,  daß  sie  Serbien  gegenüber  Vorwände 
weder  suche  noch  brauche.  Die  seitens  Österreich-Ungarns 
von  der  serbischen  Regierung  geforderten  solennen  Enun- 
ziationen  riefen  merkwürdigerweise  den  Widerspruch  des 
Ministers  nicht  hervor;  er  versuchte  nur  immer  wieder  zu 
behaupten,  daß  Pasic  sich  bereits  in  dem  gewünschten  Sinne 
ausgesprochen  habe,  was  Graf  Szäpäry  richtigstellte.  „II 
dira  cela  25  fois,  si  vous  voulez"  sagte  er.  Bei  der  Erwäh- 
nung der  Publikationen  meinte  Herr  Sazonow  nur,  ob 
dies  auf  Gegenseitigkeit  beruhen  werde.  Graf  Szäpäry 
erwiderte  darauf,  niemand  wende  sich'  in  der  Monarchie 
gegen  Serbiens  Integrität  oder  Dynastie.  Am  lebhaftesten 
erklärte  sich  Herr  Sazonow  gegen  die  Auflösung  der 
„Narodna  Odbrana",  die  Serbien  niemals  vornehmen  werde. 
Weiteren  Widerspruch  von  Seite  des  Ministers  löste  die 
Beteiligung  von  k.  u.  k.  Funktionären  an  der  Unter- 
drückung der  subversiven  Bewegung  aus.  Serbien  werde 
also  daheim  nicht  mehr  der  Herr  sein.  „Sie  werden  dann 
„immer  wieder  intervenieren  wollen  und  welches  Leben 
„werden  Sie  da  Europa  bereiten!"  Graf  Szäpäry  erwiderte, 
es  werde,  wenn  Serbien  guten  Willen  habe,  ein  ruhigeres 
sein  als  bisher. 

Die  Beilage  mit  den  Ergebnissen  der  Untersuchung 
trachtete  Herr  Sazonow  zu  zerpflücken  und  die  Richngkeit 
der  angeführten  Resultate  in  Zweifel  zu  ziehen.  Warum 
habe  man  die  Serben  nicht  zu  Worte  kommen  lassen,  und 
■wozu    die    Ultimatumform?    Serbien    könne    vielleicht    die 

151 


Unrichtigkeit  der  Anklagen  beweisen.  Graf  Szäpäry  machte 
gegenständliche  Einwendungen. 

Den  an  die  Mitteilung  der  Note  angefügten  Kommentar 
hörte  der  Minister  ziemlich  ruhig  an;  bei  dem  Passus,  daß 
sich  die  Monarchie  in  ihren  Gefühlen  mit  allen  zivilisierten 
Nationen  eins  wisse,  meinte  er,  dies  sei  ein  Irrtum.  Graf 
Szdpdry  wies  mit  allem  ihm  zu  Gebote  stehenden  Nach- 
druck darauf  hin,  wie  traurig  es  wäre,  wenn  die  Monarchie 
in  dieser  Frage,  bei  der  alles  im  Spiele  sei,  was  sie  Heiligstes 
hätte  und  —  was  immer  der  Minister  sagen  wolle  —  auch 
in  Rußland  heilig  sei,  in  Rußland  kein  Verständnis  fände. 
Der  Minister  suchte  die  monarchische  Spitze  der  Angelegen- 
heit abzubrechen.  „L'idee  monarchique  n'a  rien  ä  faire  avec 
cela." 

Das  zur  Verfügung  der  Regierung  gehaltene  Dossier 
betreffend,  meinte  Herr  Sazonow  ',  weshalb  sich  das  Wiener 
Kabinett  diese  Mühe  gegeben  habe,  da  es  doch  bereits  ein 
Ultimatum  erlassen  hätte.  Dies  beweise  am  besten,  daß  man 
in  Wien  eine  unparteiische  Prüfung  des  Falles  gar  nicht 
anstrebe.  Graf  Szäpäry  entgegnete,  daß  für  das  Vorgehen  in 
dieser  zwischen  Österreich-Ungarn  und  Serbien  spielenden 
Angelegenheit  die  durch  die  eigene  Untersuchung  der 
Monarchie  erzielten  Resultate  genügten  und  daß  das  Wiener 
Kabinett  bereit  sei,  den  Mächten  weitere  Aufschlüsse  zu 
geben,  weil  es  nichts  zu  verstecken  hätte,  falls  dieselben  sie 
interessierten. 

Herr  Sazonow  meinte  darauf,  jetzt,  nach  dem  Ultimatum, 
sei  er  eigentlich  gar  nicht  neugierig:  „C'est  que  vous  voulez 
„la  guerre  et  vous  avez  brüle  vos  ponts."  Graf  Szäpäry 
erwiderte,  die  Monarchie  sei  die  friedliebendste  Macht  auf  der 
Welt,  was  sie  wolle,  sei  nur  die  Sicherung  ihres  Territoriums 
vor  der  Revolution  und  der  Dynastie  vor  Bomben.  „On  voit 
„comme  vous  etes  pacifiques  puisque  vous  mettez  le  feu 
ä  l'Europe"  meinte  Herr  Sazonow. 

Was  die  Monarchie  wolle,  entgegnete  Graf  Szäpäry  noch- 
mals, sei,  Ruhe  zu  haben,  und  seine  Regierung  habe  dazu  die 
zweckdienlichen  Maßnahmen  gewählt. 

1  Telegramm  aus  Petersburg  d.  d.  24.  Juli,  Nr.   159. 
152 


Auch  den  von  Graf  Szäpäry  auftragsgemäß  mündlich  vor- 
getragenen Kommentar  hörte  der  Minister  ruhig  an,  versuchte 
aber  hiebei  wieder  die  Ablehnung  des  letzten,  den  Königs- 
mord betreffenden  Passus. 

An  die  Ausführung  des  Auftrages  des  Grafen  Szäpäry 
schloß  sich  eine  längere  Diskussion  an,  in  welcher  Herr 
Sazonow  unter  anderem  die  Politik  des  Wiener  Kabinetts 
dem  Grafen  Forgäch  unterschieben  wollte.  Im  Verlaufe  der 
weiteren  Erörterung  ließ  Sazonow  nochmals  die  Bemerkung 
fallen,  daß  das  Wiener  Kabinett  jedenfalls  eine  ernste 
Situation  geschaffen  habe.  Rußland,  das  Slawentum,  die 
Orthodoxie  wurden  dabei  von  ihm  nicht  genannt;  er  sprach 
nur  immer  von  England,  Frankreich,  Europa  und  dergleichen, 
und  von  dem  Eindruck,  den  der  Schritt  des  Wiener  Kabinetts 
in  Petersburg  und  anderwärts  machen  werde. 

Trotz  der  relativen  Ruhe  des  Ministers  war  seine  Stellung- 
nahme eine  durchaus  ablehnende  und  gegnerische.  Nach 
eineinhalbstündigem  Verweilen  verließ  Graf  Szäpäry  das 
Arbeitskabinett  des  Ministers. 

Nach  fünfstündigem  Ministerrate  empfing  Herr  Sazonow  Besprechung 
am  24.  Juli  abends  den  deutschen  Botschafter,  mit  dem  er  sazonow- 
eine  lange,  zum  Teil  sehr  erregte,  schließlich  aber  freund-  Pounaies 
schaftlich  endende  Unterredung  hatte  '. 

Der  Minister  verfocht  Graf  Pourtales  gegenüber  die 
wahrscheinlich  als  Resultat  des  Ministerrates  zu  betrachtende 
—  Ansicht,  der  österreichisch-ungarisch-serbische  Streit 
sei  keine  auf  diese  beiden  Staaten  beschränkte  Angelegenheit, 
sondern  eine  europäische,  da  der  im  Jahre  1909  durch  eine 
serbische  Deklaration  erfolgte  Ausgleich  unter  den  Auspizien 
ganz  Europas  vollzogen  worden  sei.  Herr  Sazonow  hob 
hervor,  es  habe  ihn  insbesondere  der  Umstand  unangenehm 
berührt,  daß  Österreich-Ungarn  die  Prüfung  eines  Dossiers 
angeboten  habe,  während  bereits  ein  Ultimatum  ergangen  sei. 
Rußland  würde  eine  internationale  Prüfung  dieses  Dossiers 
verlangen.  Graf  Pourtales  machte  Herrn  Sazonow  sofort 
darauf  aufmerksam,  daß  Österreich-Ungarn  eine  Einmischung 

I  Telegramm  aus  Petersburg  d.  d.  24.  Juli,  Nr.   160. 

153 


Abgabe  einer 
Erklärung 
hinsichtlich 
des  terri- 
torialen Des- 
inleresse- 
menls 
seitens  der 
Monarchie. 
Anregung 
des  Grafen 
Späpäry 
(24.  Juli) 


Weisung  an 
den  k.  u.  k. 
Botschafter 
(25.  Juli) 


in  srein  Verhältnis  zu  Serbien  nicht  akzeptieren  werde  und 
daß  auch  Deutschland  seinerseits  eine  Zumutung  nicht  an- 
nehmen könne,  die  der  Würde  des  Bundesgenossen  als 
Großmacht  zuwiderlaufe. 

Im  weiteren  Verlaufe  des  Gespräches  erklärte  der  rus- 
sische Minister,  daß  dasjenige,  was  Rußland  nicht  gleich- 
gültig hinnehmen  könne,  die  eventuelle  Absicht  Österreich- 
Ungarns  wäre  „de  devorer  la  Serbie".  Graf  Pourtales  er- 
widerte, er  nehme  eine  solche  Intention  bei  Österreich- 
Ungarn  nicht  an,  da  dies  dem  eigensten  Interesse  der  Mon- 
archie zuwiderlaufen  würde.  Österreich-Ungarn  sei  wohl  nur 
daran  gelegen,  „d'infliger  a  la  Serbie  le  chätiment  justement 
merite".  Herr  Sazonow  drückte  darauf  seine  Zweifel  aus, 
ob  es  sich  Österreich-Ungarn,  selbst  wenn  hierüber  Erklä- 
rungen vorliegen  würden,  hieran  genügen  lassen  werde. 

Die  Unterredung  schloß  mit  einem  Appell  Herrn  Sazonows, 
Deutschland  möge  mit  Rußland  an  der  Erhaltung  des  Friedens 
zusammenarbeiten.  Der  deutsche  Botschafter  versicherte  dem 
russischen  Minister,  daß  Deutschland  gewiß  nicht  den  Wunsch 
habe,  einen  Krieg  zu  entfesseln,  daß  es  aber  selbstverständlich 
die  Interessen  seines  Bundesgenossen  voll  vertrete. 

Diesem  am  25.  Juli,  2  Uhr  30  Minuten  a.  m.,  expedierten 
telegraphischen  Berichte  fügte  Graf  Szäpäry  die  Anfrage  an 
Graf  Berchtold  bei,  ob  und  wann  er  zur  Verwertung  des 
—  Italien  gegenüber  ohnehin  unentbehrlichen  —  Momentes 
des  territorialen  Desinteressements  der  Monarchie  ermächtigt 
werde. 

Ohne  bis  jetzt  Ursache  für  die  Annahme  zu  haben,  daß 
Marquis  Cariotti  diesbezüglich  im  Zweifel  sei,  erscheine 
Graf  Szapäry  eine  Andeutung  darüber  sehr  angezeigt,  ob 
er  sich  seinem  italienischen  Kollegen  gegenüber  auf  den 
Standpunkt  der  territorialen  Uninteressiertheit  stellen  dürfe. 

Auf  die  Anregung  des  Grafen  Szäpäry  erfloß  am  25.  Juli 
der  Bescheid  Graf  Berchtolds,  das  Moment  des  territorialen 
Desinteressements  vorläufig  weder  Herrn  Sazonow  noch 
dem  italienischen  Botschafter  gegenüber  zu  berühren'. 


1  Weisung  nach  Petersburg   d.   d.  Wien,  25.  Juli,  Nr.   175.  Expediert 
26.  Juli,  7  Uhr  40  Minuten  a.    m. 


154 


Am  Vormittag  des   24.  Juli,    an    dem    Graf  Szdpäry   in  Besprechung 
Petersburg     die     Zirtcularnote     überreichte,      erhielt      Graf   "  .™,';" 

o  '  Berchtold 

Berchtold     den    Besuch    des     russischen     Geschäftsträgers  mit  dem 
Fürsten   Kudascheif '.    Graf   Berchtold   versicherte   ihm,    er  rT'T-e^" 

'  Oeschaits- 

habe  ein  spezielles  Gewicht  darauf  gelegt,    ihn    sobald    als  irager 
möglich  von  dem  Schritte  des  Wiener  Kabinetts  in  Belgrad  KuTasoheff 
in    Kenntnis    zu    setzen    und    ihm    diesbezüglich    den    ein-  (24.  juii) 
genommenen  Standpunkt  darzulegen. 

Fürst  Kudascheff  dankte  für  diese  Aufmerksamkeit, 
verhehlte  jedoch  dem  Grafen  Berchtold  seine  Beunruhigung 
über  das  kategorische  Vorgehen  des  Wiener  Kabinetts  gegen 
Serbien  nicht,  wobei  er  bemerkte,  daß  man  in  St.  Peters- 
burg immer  besorgt  gewesen  sei,  ob  nicht  die  Demarche 
die  Form  einer  Demütigung  für  Serbien  haben  werde,  was 
nicht  ohne  Rückwirkung  auf  Rußland  bleiben  könnte. 

Graf  Berchtold  ließ  es  sich  angelegen  sein,  den  russischen 
Geschäftsträger  in  dieser  Richtung  zu  beruhigen.  Nichts 
liege  dem  Wiener  Kabinett  ferner,  als  Serbien  demütigen 
zu  wollen,  woran  es  nicht  das  geringste  Interesse  hätte. 
Auch  sei  das  Bestreben  dahin  gegangen,  nichts  in  die 
Note  aufzunehmen,  was  einen  solchen  Eindruck  erwecken 
könnte.  Das  Ziel  des  Wiener  Kabinetts  bestehe  lediglich 
darin,  das  unhaltbare  Verhältnis  Serbiens  zur  Monarchie 
zu  klären,  und  zu  diesem  Zwecke  die  dortige  Regierung 
zu  veranlassen,  einerseits  die  gegen  den  derzeitigen  Bestand 
der  Monarchie  gerichteten  Strömungen  öffendich  zu  des- 
avouieren und  durch  administrative  Maßnahmen  zu  unter- 
drücken, andrerseits  die  Möglichkeit  zu  bieten,  der  Monarchie 
von  der  gewissenhaften  Durchführung  dieser  Maßnahmen 
Rechenschaft  zu  geben.  Graf  Berchtold  führte  des  Längeren 
aus,  welche  Gefahr  ein  weiteres  Gewährenlassen  der  groß- 
serbischen Propaganda  nicht  nur  für  die  Integrität  der 
Monarchie,  sondern  auch  für  das  Gleichgewicht  und  den 
Frieden  in  Europa  nach  sich  ziehen  würde,  und  wie  sehr 
alle  Dynastien,  nicht  zuletzt  die  russische,  durch  die  Ein- 
bürgerung der  Auffassung  bedroht  erschienen,  daß  eine 
Bewegung  ungestraft  bleiben  könne,    die    sich    des    Mordes 

1  Tagesbericht  vom  24.  Juli,  Nr.  3578. 

155 


als  eines  nationalistischen  Kampfmittels  bediene.  Schließlich 
verwies  Graf  Berchtold  darauf,  daß  die  Monarchie  keine 
Gebietserwerbung,  sondern  bloß  die  Erhaltung  des  Bestehen- 
den bezwecke;  ein  Standpunkt,  der  bei  der  russischen 
Regierung  ebenso  Verständnis  finden  müsse,  wie  es  in 
Wien  selbstverständlich  erscheine,  daß  Rußland  keinen 
Angriff  auf  seine  territoriale  Integrität  gewähren  lassen 
würde. 

Fürst  Kudascheff  bemerkte  darauf,  er  kenne  den  Stand- 
punkt seiner  Regierung  nicht  und  wisse  auch  nicht,  wie 
sich  Serbien  zu  den  einzelnen  Forderungen  stellen  werde. 
Sein  persönlicher  Eindruck  gehe  dahin,  daß  das  Wiener 
Kabinett  von  der  Regierung  eines  konstitutionellen  Staates 
Unmögliches  verlange.  Es  komme  ihm  vor,  als  ob  von 
jemand  gefordert  werden  würde,  zuerst  zum  Fenster  hinaus- 
zuspringen und  dann  über  die  Stiege  zurückzukommen. 
Daß  der  Wortlaut  der  Regierungserklärung  und  des  Armee- 
befehles von  dem  Wiener  Kabinett  vorgeschrieben  werde, 
erscheine  ihm  als  eine  starke  Demütigung  Serbiens.  Weiter 
sei  ihm  der  Punkt  aufgefallen,  wonach  die  Monarchie  die 
Mitwirkung  ihrer  Organe  bei  der  Unterdrückung  der  gegen 
die  Monarchie  gerichteten  Propaganda  verlange;  dies  sei 
wohl  nicht  mit  dem  Völkerrecht  in  Einklang  zu  bringen. 
Rußland  habe  allerdings  auch  Abmachungen  mit  Frankreich 
und  Deutschland  wegen  Etablierung  russischer  Sicherheits- 
organe in  diesen  Staaten.  Dies  bilde  aber  ein  „Privileg"  und 
kein  „Recht".  Nicht  minder  sei  es  völkerrechtswidrig,  die 
Bestrafung  der  Schuldigen  auf  serbischem  Boden  zu 
begehren,  man  könnte  höchstens  die  Auslieferung  ver- 
langen. (Was  Fürst  Kudascheff  damit  meinte,  erschien 
Graf  Berchtold  nicht  recht  klar;  doch  ließ  sich  der 
russische  Geschäftsträger  auf  die  Einwendung,  daß  sich 
dieses  Petit  nicht  im  Widerspruche  mit  dem  Völkerrecht 
befinde,  nicht  näher  ein.)  Auch  die  kurze  Befristung  flöße 
dem  russischen  Geschäftsträger  große  Besorgnis  ein.  Was 
werde  geschehen,  wenn  dieselbe  verlaufe,  ohne  daß  eine 
zufriedenstellende  Antwort  von  Serbien  gegeben  werde? 
Auf  die  Erwiderung  des  Grafen  Berchtold,  daß  dann  der 
österreichisch-ungarische  Gesandte  und  das  Gesandtschafts- 

156 


personal    abzureisen    hätten,    reflektierte    Fürst    Kudasclietf 
mit  dem  Bemerken:  „Alors  c'est  la  guerre." 

Zum  Schlüsse  der  Unterredung  betonte  der  Geschäftsträger, 
daß  er  nicht  ermangeln  werde,  seiner  Regierung  die  Aus- 
künfte zur  Kenntnis  zu  bringen,  die  ihm  Graf  Berchtold 
über  den  Schritt  des  Wiener  Kabinetts  gegeben  habe, 
namentlich  auch  in  der  Richtung,  daß  von  Seite  der  Monarchie 
keine  Demütigung  Serbiens  beabsichtigt  sei. 

Die  kurze  Befristung  der  österreichisch-ungarischen  Note  Russischer 
hatte   auch   anderwärts,   insbesondere   aber  bei  Sir  Edward  |,°"5i,tHch 
Grey  Bedenken  hervorgerufen.    Herr  Sazonow  hatte  seine  einer  Frist- 
diesbezüglichen  Befürchtungen  sowohl  dem  Grafen  Szäpäry  fürstrhiTn^ 
als     dem     deutschen     Botschafter     gegenüber     betont.      In  120.  juii» 
Wien    vollzog    der    russische    Geschäftsträger    am    25.    Juli 
positive  Schritte  zur  Erwirkung  einer  Fristverlängerung  für 
Serbien. 

Zu  diesem  Zwecke  richtete  Fürst  Kudascheff  an  den  in ' 
Bad  Ischl  weilenden  (oder  eventuell  noch  auf  der  Hinreise 
begriffenen)    Grafen   Berchtold   am   25.  Juli  vormittags  ein 
dringliches  Telegramm '. 

Auch  sprach  der  russische  Geschäftsträger  bei  dem  ersten 
Sektionschef  Baron  Macchio  vor-,  dem  er  den  Wunsch  seiner 
Regierung  ausdrückte,  die  in  der  Note  an  Serbien  ange- 
gebene Frist  möge  verlängert  werden.  Dieses  Ersuchen  werde 
damit  begründet,  daß  die  Mächte  von  dem  Schritte  des 
Wiener  Kabinetts  vollständig  überrascht  worden  seien,  und 
daß  die  russische  Regierung  es  als  eine  natürliche  Rück- 
sicht des  Wiener  gegen  die  anderen  Kabinette  betrachten 
würde,  wenn  den  letzteren  Gelegenheit  gegeben  würde, 
die  Grundlage  der  Mitteilung  des  Wiener  Kabinetts  an  die 
Mächte  zu  prüfen  und  das  in  Aussicht  gestellte  Dossier  zu 
studieren. 

1  Telegramm  an  Graf  Berchtold  in  Ischl  d.  d.  Wien,  25.  Juh, 
11  Uhr  5  Minuten  a.  m.,  Telegraphenamt  49,  Nr.  2089;  Telegramm  an 
Graf  Berchtold,  Schnellzug  109,  Linz,  d.  d.  Wien,  25.  Juli,  10  Uhr 
50  Minuten  a.  m.,  Telegraphenamt' 49,  Nr.  2085. 

2  Telegramm  an  Graf  Berchtold  in  Ischl  d.  d.  Wien,  25.  Juli,  1  Uhr 
45  Minuten  p.  m.,  Prot.  Nr.  5241. 

157 


Baron  Macchio  antwortete  dem  Geschäftsträger,  er  werde 
seine  Ausführungen  sofort  zur  Kenntnis  des  Grafen  Berchtoid 
bringen;  er  könne  ihm  aber  schon  jetzt  sagen,  es  bestehe 
keine  Aussicht,  daß  von  Seite  des  Wiener  Kabinetts  eine 
Verlängerung  der  angegebenen  Frist  gewährt  würde.  Was 
die  Gründe  anbelange,  die  die  russische  Regierung  zur 
Erhärtung  des  von  ihf  vorgebrachten  Wunsches  angeführt 
habe,  so  beruhten  dieselben  anscheinend  auf  einer  irrtüm- 
lichen Voraussetzung,  da  die  Note  an  die  Mächte  keines- 
wegs den  Zweck  verfolgt  hätte,  dieselben  einzuladen,  ihre 
gegenständliche  Auffassung  bekanntzugeben,  sondern  nur  den 
Charakter  einer  Information  habe,  die  das  Wiener  Kabinett 
als  eine  Pflicht  internationaler  Höflichkeit  angesehen  hätte. 
Im  übrigen  betrachte  das  Wiener  Kabinett  die  Aktion  als 
eine  nur  Österreich-Ungarn  und 'Serbien  berührende  Ange- 
legenheit, zu  der  die  Monarchie  sehr  gegen  ihren  Wunsch 
und  trotz  ihrer  seit  Jahren  bekundeten  Langmut  und  Geduld 
durch  die  Entwicklung  der  Verhältnisse  zur  Verteidigung 
ihrer  vitalsten  Interessen  gezwungen  worden  sei. 

Baron    Macchio    versprach    dem    russischen    Geschäfts- 
träger, ihm  eine  möglichst  baldige  Antwort  mitzuteilen,  und 
bat  daher  um  eine  telegraphische  Benachrichtigung,  ob  Graf 
Berchtoid  die  erteilte  Erwiderung  billige. 
Depeschen-  DicsB  von  Baron  Macchio  am  25.  Juli,  1  Uhr  45  Minuten 

Wechsel  Graf  nachmittags,  ausgestellte   Depesche    kreuzte   sich    mit   einer 
Baron"        sus  Lambach  um  2  Uhr  nachmittags  expedierten,  für  Baron 
Macchio  in     Macchlo    bestimmten    Weisung '.    Graf  Berchtoid    ersuchte 
de?FriTt"     darin    Baron    Macchio,   dem    russischen  Geschäftsträger   in 
erstreckung    seinem   Namen  zu  antworten,  er  könne  eine  Verlängerung 
der  Frist  nicht  zugeben.    Baron   Macchio  wolle   hinzufügen, 
daß   Serbien  auch  nach  dem  Abbruche  der  diplomatischen 
Beziehungen  durch  uneingeschränkte  Annahme   der  Forde- 
rungen des  Wiener  Kabinetts  eine  friedliche  Lösung  herbei- 
führen könne,  doch  würde  das  Wiener  Kabinett  in  diesem 
Falle  genötigt  sein,  den  Rückersatz  aller  der  Monarchie  durch 
militärische  Maßnahmen  verursachten  Kosten  und  Schäden 
von  Serbien  zu  verlangen. 

1  Telegramm  des  Ministers  des  Äußern  an  Baron  Macchio  d.  d. 
Lambach,  25.  Juli,  2  Uhr  p.  m.,  ohne  Nummer. 

158 


Der  deutsche  Botschafter  sei  von  Vorstehendem  zu  ver- 
ständigen '. 

Noch  am  selben  Tage,  nachmittags  6  Uhr  40  Minuten, 
setzte  Graf  Berchtold  in  Bad  Ischl  ein  weiteres  Telegramm 
an  Baron  Macchio  auf,  das  die  entschiedene  Erwiderung  des 
ersten  Sektionschefs  dem  russischen  Staatsträger  gegenüber 
vollkommen  billigte  und  Baron  Macchio  ersuchte,  Fürst 
Kudascheff  dies  mitzuteilen  s.  Auch  wurde  Graf  Szäpäry 
am  25.  Juli,  9  Uhr  abends,  von  der  erfolgten  Ablehnung  des 
russischen  Vorschlages  zur  eigenen  Orientierung  unter- 
richtet"'. 

Für  das  Wiener  Kabinett  begann  sich  der  Schwerpunkt  Instruktion 
der    Krise   von   Belgrad    mehr   und  mehr  nach  Petersburg  für  den 
zu  verschieben.  Es  oblag  dem  Grafen  Berchtold,  dem  k.  u.  k.  schafter  in 
Botschafter   in  Petersburg   eine  Instruktion  zu  erteilen,   die  s«-  Peters- 

.    ,  .        ,  ....'<..■.■  •  L  •         L  T^.pp         burg(2S.JuIi) 

Sich  mit  der  Möglichkeit  eines  aus  aer  serbischen  Diffe- 
renz hervorgehenden  Konflikts  mit  Rußland  befaßtet 
In  dem  Augenblicke  besagte  der  Text  ^  — ,  in  dem 
sich  das  Wiener  Kabinett  zu  einem  ernsten  Vorgehen  gegen 
Serbien  entschlossen  habe,  sei  es  sich  natürlich  auch  der 
Möglichkeit  eines  sich  aus  der  serbischen  Differenz  ent- 
wickelnden Zusammenstoßes  mit  Rußland  bewußt  gewesen. 
Das  Wiener  Kabinett  konnte  sich  aber  durch  diese  Eventualität 
in  seiner  Stellungnahme  gegenüber  Serbien  nicht  beirren 
lassen,   weil    grundlegende    staatspolitische    Konsiderationen 

'  Eine  frühere  Benachrichtigung  des  deutschen  Botschafters  hinsichtlich 
dieses  Gegenstandes  ist  nicht  feststellbar. 

•  Telegramm  aus  Bad  Ischl  d.  d.  25.  Juli,  6  Uhr  40  Minuten  p,  m. 
ohne  Nummer.  In  dem  Konzept  dieses  Telegramms  war  der  folgende 
Abschnitt  nachträglich  gestrichen  worden: 

„Ich  ersuche  Euere  Exzellenz,  wenn  Sie  im  Sinne  meines  Telegrammes 
„über  die  Möglichkeit  eines  späteren  Nachgebens  Serbiens  und  über  die 
„Kosten  sprechen,  dies  in  inoffizieller  Weise  zu  tun,  damit  nicht  der 
,,Anschein  erweckt  werde,  als  sollten  wir  weitere  Verhandlungen  mit 
„Serbien  möglich  machen." 

=  Weisung  nach  St.  Petersburg  d.  d.  Wien,  25.  Juli,  9  Uhr  p.  m.,  Nr.  173. 

■4  Erlaß  nach  St.  Petersburg  d.  d.  Wien,  25.  Juli,  Nr.  3530. 

^  Das  Konzept  dieser  Instruktion  weist  verschiedene  Zusätze,  Aus- 
lassungen und  Änderungen  der  ursprünglichen  Vorlage  auf.  An  der 
Redaktion  waren  mit  eigener  Handschrift  Graf  Berchtold,  Graf  Forgäch 
und  Baron  Musulin  beteiligt. 

159 


die  Monarchie  vor  die  Notwendigkeit  stellten,  der  Situation 
ein  Ende  zu  machen,  daß  ein  russischer  Freibrief  Serbien 
die  dauernde,  ungestrafte  und  unstrafbare  Bedrohung  der 
Monarchie  ermögliche. 

Für  den  Fall,  als  Rußland  den  Moment  für  die  große 
Abrechnung  mit  dpn  europäischen  Zentralmächten  bereits 
für  gekommen  erachten  sollte  und  daher  von  vorneherein 
zum  Kriege  entschlossen  wäre,  erscheine  die  nachstehende 
Instruierung  des  k.  u.  k.  Botschafters  in  Petersburg  aller- 
dings überflüssig. 

Es  wäre  aber  immerhin  möglich,  daß  Rußland  die  ge- 
gebene Gelegenheit  als  eine  Verlegenheit  empfinde,  daß  es 
nicht  so  angriffslustig  und  kriegsbereit  sei,  wie  die  „Nowoje 
Wremja"  und  die  „Birschewija  Wjedomosti"  es  glauben 
machen  wollen  und  wie  es  Herr  Poincare  und  Herr 
Iswolsky  vielleicht  wünschen  mögen. 

Es  wäre  denkbar,  daß  Rußland,  nach  der  eventuellen 
Ablehnung  der  österreichisch-ungarischen  Forderungen  durch 
Serbien  und  angesichts  der  sich  für  das  Wiener  Kabinett 
ergebenden  Notwendigkeit  eines  bewaffneten  Vorgehens,  mit 
sich  selbst  zu,  Rate  ginge  und  daß  es  sogar  gewillt  sein 
könnte,  sich  von  dem  aufbrausenden  slawischen  Solidaritäts- 
gefühl nicht  mitreißen  zu  lassen.  Dieser  Situation  seien  die 
nachfolgenden  Darlegungen  angepaßt,  die  der  k.  u.  k.  Bot- 
schafter im  gegebenen  Falle  und  in  der  ihm  geeignet  er- 
scheinenden Weise  und  nach  der  von  ihm  zu  ermessenden 
Opportunität  bei  Herrn  Sazonow  und  dem  Ministerpräsi- 
denten verwerten  wolle: 

Graf  Berchtold  setze  im  allgemeinen  voraus,  daß  der 
k.  u.  k.  Botschafter  unter  den  gegenwärtigen  Verhältnissen 
ein  enges  Einvernehmen  mit  seinem  deutschen  Kollegen 
hergestellt  habe,  der  seitens  seiner  Regierung  gewiß  beauf- 
tragt worden  sein  dürfte,  der  russischen  Regierung  keinen 
Zweifel  darüber  zu  lassen,  daß  Österreich-Ungarn  im  Falle 
eines  Konflikts    mit  Rußland  nicht    allein  stehen  würde. 

Den  Schritt  des  Wiener  Kabinetts  in  Belgrad  dem  russi- 
schen Minister  des  Äußern  zu  erklären  und  in  überzeu- 
gender Weise  verständlich  zu  machen,  werde  dem  k.  u.  k. 
Botschafter  wohl  kaum  gelingen. 

160 


Es  gebe  aber  ein  Moment,  das  seinen  Eindruck  auf  den 
russischen  Minister  des  Äußern  nicht  verfehlen  könne,  und 
das  sei  die  Betonung 'des  Umstandes,  daß  die  österreichisch- 
ungarische  Monarchie  dem  von  ihr  seit  Jahrzehnten  fest- 
gehaltenen Grundsatze  entsprechend,  auch  in  der  gegen- 
wärtigen Krise  und  bei  der  bewaffneten  Austragung  des  Gegen- 
satzes zu  Serbien  keinerlei  eigennützige  Motive  verfolge. 

Die  Monarchie  sei  territorial  gesättigt  und  trage  nach 
serbischem  Besitz  kein  Verlangen.  Wenn  der  Kampf  mit 
Serbien  der  Monarchie  aufgezwungen  werde,  so  werde  dies 
für  sie  kein  Kampf  um  territorialen  Gewinn,  sondern  ledig- 
lich ein  Mittel  der  Selbstverteidigung  und  Selbsterhaltung  sein. 

Der  Inhalt  des  Zirkularerlasses,  der  an  sich  schon  beredt 
genug  sei,  werde  in  das  rechte  Licht  gerückt  durch  das 
Dossier  über  die  serbische  Propaganda  '  gegen  die  Monarchie 
und  die  Zusammenhänge,  die  zwischen  dieser  Propaganda 
und  dem  Attentat  vom  28.  Juni  bestünden. 

Auf  dies  Dossier,  das  dem  k.  u.  k.  Botschafter  mit 
einem  speziellen  Erlasse  zukomme  (um  Mißverständnissen 
vorzubeugen,  werde  bemerkt,  daß  das  Dossier  den  Mächten 
nur  für  den  Fall  einer  Ablehnung  der  Forderungen  an 
Serbien  übermittelt  werden  solle),  wolle  der  k.  u.  k.  Bot- 
schafter die  Aufmerksamkeit  des  Herrn  russischen  Ministers 
ganz  speziell  lenken  und  dartun,  es  sei  eine  in  der 
Geschichte  singulare  Erscheinung,  daß  eine  Großmacht  die 
aufrührerischen  Umtriebe  eines  angrenzenden  kleinen  Staates 
durch  so  lange  Zeit  mit  so  beispielloser  Langmut  geduldet 
hätte,  wie  Österreich-Ungarn  jene  Serbiens. 

Die  Hauptursache,  warum  die  Monarchie  so  lange  gleich- 
mütig geblieben  wäre,  sei  darin  zu  suchen,  daß  sie  Serbien 
nicht  während  jener  Periode  seiner  staatlichen  Entwicklung 
zur  Rechenschaft  ziehen  wollte,  in  der  es  dem  alten 
türkischen  Erbfeinde  gegenüberstand. 

Die  Monarchie  wollte  keine  Politik  gegen  das  Aufstreben 
der  christlichen  Balkanstaaten  machen  und  habe  es  daher  — 
trotzdem  ihr  der  geringe  Wert  serbischer  Versprechungen 
bekannt  war  —  nach   der  Annexionskrise   vom  Jahre  1908 

'  Vgl.  Anmerkung  3,  Seite  167. 
11  161 


zugelassen,  daß  sich  Serbien  beinahe  um  das  Doppelte 
vergrößere. 

Heute  lägen  die  Dinge  anders:  Serbien  habe  seine 
Aspirationen  der  Türkei  gegenüber  durchgesetzt  und  die 
Monarchie  könne  gegen  Serbien  vorgehen,  ohne  sich  dem 
Vorwurf  auszusetzen,  daß  sie  die  freie  Entwicklung  des 
serbischen  Staates  behindern  wolle. 

Andrerseits  habe  die  subversive  Bewegung,  die  in 
Serbien  gegen  die  Monarchie  genährt  werde,  inzwischen 
so  exzessive  Formen  angenommen,  daß  das  monarchische 
und  dynastische  Interesse  durch  die  serbische  Wühlarbeit 
bedroht  erscheine. 

Das  Wiener  Kabinett  müsse  annehmen,  daß  das  konser- 
vative kaisertreue  Rußland  ein  energisches  Vorgehen  von 
Seite  der  Monarchie  gegen  diese  Bedrohung  aller  staatlichen 
Ordnung  begreiflich  und  sogar  notwendig  finden  werde. 
Daß  das  Wiener  Kabinett  bei  seinem  Vorgehen  nicht  von 
dem  Wunsche  einer  Zurückdrängung  des  orthodoxen 
Slawentums  geleitet  sei,  sei  schon  früher  angedeutet 
worden. 

Der  k.  u.  k.  Botschafter  könne  dies  Moment  dem 
russischen  Minister  des  Äußern  gegenüber  auch  mit  dem 
Hinweise  darauf  entsprechend  illustrieren,  daß  sich  die 
Monarchie  derzeit  nur  in  einem  Gegensatze  zu  Serbien 
befinde,  während  ihre  Beziehungen  zu  Montenegro  normal 
und  freundnachbarlich  geblieben  seien. 

Das  Wiener  Kabinett  habe  sich  in  der  Tat  —  was  die  nach 
Österreich-Ungarn  getragene  großserbische  Agitation  anbe- 
lange —  über  Montenegro  nicht  zu  beklagen  und  auch  das 
Dossier,  das  der  k.  u.  k.  Botschafter  Herrn  Sazonow  zu 
übergeben  habe,  enthalte  kein  Material  gegen  das  genannte 
Königreich.  Wenn  der  k.  u.  k.  Botschafter  in  seinem  Ge- 
spräche mit  Herrn  Sazonow  an  diesem  Punkte  angelangt 
sei,  werde  der  Moment  gekommen  sein,  an  die  Aufstellung 
der  Beweggründe  und  Absichten  des  Wiener  Kabinetts  den 
Hinweis  zu  knüpfen,  daß  es  zwar  —  wie  der  k.  u.  k.  Bot- 
schafter   bereits    in  der  Lage    gewesen  sei,    darzulegen  '  — 

I  Graf  Szäpäry  harte  inzwischen  die  Weisung  erhalten,  die  Frage  des 
territorialen  Desinteressements  nicht  zu  streifen.  (Siehe   Seite  154  unten.) 

162 


keinen  territorialen  Gewinn  anstrebe  und  auch  die  Sou- 
veränität des  Königreiches  nicht  anzutasten  gedächte,  daß  es 
aber  andrerseits  zur  Durchsetzung  seiner  Forderung  bis 
zum  Äußersten  gehen  und  auch  vor  der  Möglichkeit  euro- 
päischer Verwicklungen  nicht  zurückschrecken  würde. 

Daß  das  Wiener  Kabinett  bisher,  soviel  an  ihm  lag, 
bestrebt  war,  den  Frieden  zu  erhalten,  den  man  auch  in 
Wien  als  das  kostbarste  Gut  der  Völker  betrachte,  zeige 
der  Verlauf  der  letzten  vierzig  Jahre  und  die  geschichdiche 
Tatsache,  daß  sich  der  Monarch  den  Namen  eines  Hüters 
des  Friedens  erworben  hätte. 

Das  Wiener  Kabinett  würde  eine  Störung  des  euro- 
päischen Friedens  schon  deshalb  auf  das  Lebhafteste  be- 
dauern, weil  es  stets  der  Ansicht  gewesen  sei,  daß  die 
Aufteilung  des  türkischen  Erbes  und  das  Erstarken  der 
Balkanstaaten  zur  staatlichen  und  politischen  Selbständig- 
keit auch  alle  Möglichkeit  eines  Gegensatzes  zwischen  der 
Monarchie  und  Rußland  beseitiget  hätte;  und  weil  das  Wiener 
Kabinett  immer  bereit  war,  die  wohlverstandenen  großen 
politischen  Interessen  Rußlands  bei  der  eigenen  politischen 
Orientierung  zu  berücksichtigen,  und  weil  es  endlich  immer 
gehofft  hätte,  daß  die  gleichen  konservativen  monarchischen 
und  dynastischen  Interessen  der  drei  Kaiserreiche  nicht  für 
alle  Zukunft  ohne  heilsame  Rückwirkung  auf  ihre  politischen 
Beziehungen  bleiben  würden. 

Eine  weitere  Duldung  der  serbischen  Umtriebe  hätte  die 
staatliche  Existenz  der  Monarchie  untergraben,  ihren  Bestand 
als  Großmacht,  daher  auch  das  europäische  Gleichgewicht 
in  Frage  gestellt.  Das  Wiener  Kabinett  aber  sei  überzeugt, 
daß  es  Rußlands  eigenstes,  von  seinen  friedlichen  Staatsleitern 
wohlverstandenes  Interesse  sei,  daß  das  gegenwärtige  euro- 
päische, für  den  Weltfrieden  so  nützlicheGleichgewicht  erhalten 
bleibe.  Die  Aktion  gegen  Serbien,  in  welcher  Form  immer  sie 
erfolge,  sei  eine  durchaus  konservative  und  ihr  Zweck  dte 
notwendige  Erhaltung  der  europäischen  Stellung  derMonarchie. 

Eine  spezielle  Weisung   trug   Graf  Szäpäry    am  25.  Juli  Weisung  hm- 
noch  auf',  sich  über  den  Punkt  der  Beteiligung  von  k.  u.  k.  p''''1',"\''h" 

'  o        o  Punkteso  der 

1  Weisung    nach    St.  Petersburg  d.  d.  Wien,    25.  Juli,    1   Uhr    p.  m.,  ^'^sehrnoie 
Nr.   172. 

163 


Funktionären  bei  der  Unterdrückung  der  subversiven  Be- 
wegung in  Serbien  (Punkt  5  der  Note),  der  den  besonderen 
Widerspruch  Herrn  Sazonows  hervorgerufen  hatte,  dahin 
zu  äußern,  daß  dessen  Einschaltung  lediglich  praktischen 
Rücksichten  entspringe  und  keineswegs  der  Absicht,  die 
Souveränität  Serbiens  zu  tangieren.  Das  Wiener  Kabinett 
denke  bei  Punkt  5,  „collaboration",  an  die  Errichtung  eines 
geheimen  „bureau  de  sürete"  in  Belgrad,  das  nach  Art  der 
analogen  russischen  Einrichtungen  in  Paris  und  Berlin 
funktionieren  und  mit  der  serbischen  Polizei  und  Verwal- 
tungsbehörde kooperieren  würde. 
Anzeichen  Ein    im    amtlichen  Organ    der  russischen  Regierung  am 

^'""y^""',    24.  lull    veröffentlichtes  Communique    besagte,    die  kaiser- 

scharfungder  ^  t  o      ^ 

Situation  liehe  Regierung  verfolge,  lebhaft  besorgt  durch  die  über- 
raschenden Ereignisse  und  durch  das  an  Serbien  gerichtete 
Ultimatum  Österreich-Ungarns,  mit  Aufmerksamkeit  die 
Entwicklung  des  österreichisch-ungarisch-serbischen  Kon- 
flikts, in  dem  Rußland  nicht  indifferent  bleiben  könne '. 
Tags  darauf  erschien  die  Haltung  der  Petersburger  Presse 
geändert;  auch  räumte  die  bisher  beobachtete  vollkommene 
Gleichgültigkeit  der  öffentlichen  Meinung  einer  bemerk- 
baren Erregung  den  Platz.  Noch  vermochte  Graf  Szdpäry 
nicht  zu  entscheiden,  ob  dies  alles  als  Begleitmusik  zu  den 
russischen  Demarchen  geplant  war,  die  bestimmt  waren,  die 
Entschließung  des  Wiener  Kabinetts  zu  verzögern,  oder  ob 
ein  noch  ernsterer  Hintergrund  vorhanden  sei  -. 
Gerüchte  Sclt    dem    25.   Juli    wurden    in    Petersburg    sowohl    in 

""      ^     diplomatischen     wie     in     russischen    Kreisen     mit    großer 

militärische  *^ 

Maßnahmen   Bestimmtheit    Nachrichten     über     militärische    Maßnahmen 

Rußlands      Rußlands  kolportiert.  So  wollte  der  dänische  Gesandte  aus 

ganz    verläßlicher   Quelle    wissen,    daß    noch    am    24.   Juli 

abends  die  Mobilisierungsordre  für  die  Grenzbezirke  gegen 

Österreich-Ungarji  und  Deutschland  erflossen  sei  •". 

I  Vgl.  Rotbuch,  Nr.   15. 

-  Telegramm  aus  St.  Petersburg  d.  d.  25.  Juli,  Nr.   182. 

•■•  Telegramm  aus  St.  Petersburg  d.  d.  25.  Juli,  Nr.   161. 

In  Wien  glaubte  man  (Tagesbericht  vom  11.  Februar  1915,  Nr.  965) 
annehmen  zu  können,  „daß  nach  der  Überreichung  des  Ultimatums  in 
„Belgrad  der  italienische  Botschafter  das  Petersburger  Kabinett  autoritativ 

164 


B.  Die  serbische  Antwortnote  an  Österreich- 
Ungarn  vom  12.  25.  Juli  1914  und  der  Abbruch 
der  diplomatischen  Beziehungen  Österreich- 
Ungarns  zu  Serbien  (25.  Juli,  6  Uhr  nachmittags) 

Am  24.  Juli,  morgens  5  Uhr,  war  Herr  Pasic  nach  Belgrad  Ministerui 
zurückgekehrt;  seit  10  Uhr  vormittags  tagte  ein  Ministerrat,  I24  j'^," 
der    aber    bis    zum    Abend    noch    keine    Beschlüsse    gefaßt 
haben  sollte  ". 

Aus  Diplomatenkreisen  hatte  Freiherr  von  Giesl  gehört, 
daß  die  Verlegung  der  Regierung  nach  Nisch  geplant  sei. 
Das  Regierungsorgan  brachte  eine  kurze  Meldung  über  die 
am  23.  Juli  erfolgte  Übergabe  der  Note,  welche  schwerste 
Bedingungen  enthalte,  und  bezeichnete  die  Situation  als 
äußerst  ernst  und  kritisch.  Alle  übrigen  Blätter,  von  denen 
einige  wegen  allzu  heftiger  Ausfälle  gegen  die  Monarchie 
konfisziert  wurden,  gaben  der  übereinstimmenden  Ansicht 
Ausdruck,  daß  sich  Serbien  nur  einer  Forderung  fügen 
könne,  die  die  Selbständigkeit  nicht  tangiere. 

In  Beamtenkreisen  wurde  am  24.  Juli  das  Gerücht 
lanciert,  daß  die  Regierung  bereits  gestern  abends  aus 
Petersburg  ein  Telegramm  erhalten  habe,  wonach  Serbien 
unbedingt  auf  Rußland  zählen  könne.  Demgegenüber 
konnte  Freiherr  von  Giesl  konstatieren,  daß  die  serbische 
Regierung  vom  Inhalte  der  österreichisch-ungarischen  Note 
augenscheinlich  vollkommen  überrascht  wurde.  Nach  über- 
einstimmenden Informationen  hatte  denn  auch  der  Ministerrat 
unter  Vorsitz  des  Kronprinzen  bis  abends  keine  bindenden 
Beschlüsse  gefaßt. 

„von  der  unerschütterlichen  vereinbarten  Entschlossenheit  der  deutschen 
„und  österreichisch-ungarischen  Regierungen  verständigen  konnte  und  daß 
„dies  dazu  beigetragen  haben  mag,  daß  in  Rußland  die  allgemeine  Mobili- 
„sierung  ohne  Zaudern  sofort  angeordnet  wurde."  (Vergleiche  die  angeblichen 
Konfidenzen  des  deutschen  Botschafters  in  Rom  (Seite  79,  Anmerkung  1) 
und  die  Demarchen  Marquis  di  San  Giulianos  (Seite  115). 

'  Telegramm  aus  Belgrad  d.  d.  24.  Juli,  6  Uhr  40  Minuten  p.  m. 
Nr.   180. 

165 


Es  wurde  erklärt,  daß  die  Antwort  auf  keinen  Fall  noch 
am  24.  Juli  erteilt  würde,  da  noch  nicht  sämtliche  Minister 
anwesend  seien  '. 
Weisungen  Am  Ballhausplatz    setzte  man  voraus,    daß  Freiherr  von 

Gesandten  Gicsl  auf  Grund  der  ihm  zuteil  gewordenen  Instruktionen 
(24.  Juli)  bereits  alle  Vorkehrungen  getroffen  habe,  um  nach  eventuell 
fruchtlosem  Ablauf  der  48stündigen  Frist  Belgrad  mit  dem 
Personal  der  Gesandtschaft  sofort  verlassen  zu  können  -. 
Das  Ergebnis  der  48stündigen  Frist,  das  nur  die  vorbehalt- 
lose Annahme  der  österreichisch-ungarischen  Forderungen 
oder  die  Ablehnung  derselben  sein  könne  (jede  bedingte 
oder  mit  Reserve  begleitete  Annahme  habe  der  k.  u.  k. 
Gesandte  als  Ablehnung  aufzufassen),  sollte  sofort  in 
wenigen  Worten  von  Semlin  aus  in  claris  an  die  Kabinetts- 
und an  die  Militärkanzlei  des  Monarchen  nach  Ischl  und 
sowohl  in  claris  von  Semlin,  wie  in  Ziffern  von  Belgrad  aus  an 
das  Ministerium  des  Äußern  und  an  Graf  Tisza  nach  Buda- 
pest telegraphiert  werden. 

Fortdauer  Am  25.  JuH,  I  Uhr  nachmittags,  depeschierte  der  k.  u.  k. 

des  Minister-  Gesandtc-^: 

rates  in 

Belgrad  Qgj.    Ministerrat    sei    am    24.  Juli    abends    und   25.  Juli 

abends,  morgcns  abermals  zusammengetreten.  Die  Antwort  auf  die 
-"^•J""  f'"*"  österreichisch-ungarische  Note  solle  nach  mehrfachen  Ver- 
sionen noch  vor  dem  Ablaufe  der  Frist  übergeben  werden. 
Freiherr  von  Giesl  höre,  daß  ein  Hofzug  zusammengestellt 
werde;  das  Geld  der  Nationalbank  und  der  Eisenbahn  sowie 
die  Akten  des  Ministeriums  des  Äußern  würden  in  das 
innere  des  Landes  gebracht.  Ein  Teil  der  Diplomaten  sei 
der  Auffassung,  der  Regierung  folgen  zu  müssen;  speziell 
auf  der  russischen  Gesandtschaft  werde  eifrig  gepackt. 
•  Die  Garnison  habe  in  Feldausrüstung  die  Stadt  ver- 
lassen. Die  Munitionsdepots  der  Festung  würden  evakuiert. 
Am  Bahnhof  herrsche  starker  militärischer  Verkehr.  Die 
Sanitätskolonnen  hätten  Belgrad  in  der  Richtung  nach  Süden 
verlassen.  Freiherr  von  Giesl  gedenke  im  Falle  des  Abbruches 

'  Telegramm  aus  Belgr.-id  d.  d.  24.  Juli,   Nr.   181. 

"•  Weisung  nach  Belgrad  d.  d.  Wien,  24.  Juli,  Nr.  85. 

=  Telegramm  aus  Belgrad-Semlin  d.  d.  25.  Juli,  1  Uhr  p.  m.,  Nr.  182. 

166 


der  Beziehungen  Belgrad  mit  dem  Zuge  6  Uhr  30  Minuten 
zu  verlassen. 

Am    25.    Juli,    7  Uhr  45    Minuten  abends,    wurde    vom  Abbruch 
Legationssekretär    Franz    Graf  Kinsky   in  Wien  die  nach-  ^l^^i^^^rn 
folgende    Telephondepesche    zur   Weiterleitung    an    den    in  Beziehungen 
Bad  Ischl  weilenden  Grafen  Berchtold  aufgenommen:  östl?re"ch- 

„Gesandter  Baron  Giesl    telephoniert    aus  Semiin    nach  ungam  und 
Budapest:  Zwei  Minuten  vor  6  Uhr  abends  wurde.  Antwort-  ^'"''"^" 
note  überreicht;  da  sie  in  mehreren  Punkten  unbefriedigend, 
hat    Baron    Giesl    die    Beziehungen    abgebrochen    und    ist 
abgereist. 

Um  3  Uhr  nachmittags  wurde  in  Serbien  die  allgemeine 
Mobilisierung  angeordnet. 

Regierung  und  diplomatisches  Korps  sind  nach  Kragu- 
jevac  abgereist." 

Die  instruktionsgemäß  aus  Semiin  in  claris  aufgegebene 
Depesche  des  Freiherrn  von  Giesl  lautete':  „Ich  habe 
„infolge  ungenügender  Antwort  der  königlich  serbischen 
„Regierung  auf  unsere  am  23.  1.  M.  gestellten  Forderungen 
„die  diplomatischen  Beziehungen  mit  Serbien  für  abgebrochen 
„erklärt  und  mit  dem  Personal  der  Gesandtschaft  Belgrad 
„verlassen." 

Die    telegraphische    Verständigung    vom    Abbruche    der  zirkulär- 
diplomatischen    Beziehungen   zu    Serbien   an    alle   k.   u.  k.  änXTT  k 
Missionen  erfolgte  noch  am  Abend  des  25.  Juli  -.  Missionen 

Ebenfalls    noch    am    25.  Juli    wurde    an    die   k.   u.   k.  Das  Dossier 
Funktionäre  das  in  der  Zirkularnote  an  die  Signatarmächte  Kabiülit"" 
angekündigte    Dossier,    das   die   großserbische    Propaganda 
und    ihre    Zusammenhänge    mit    dem    Sarajevoer   Attentate 
zum  Gegenstand  hatte  =,  abgeschickt*,  um  dem  Eindruck  der 
serbischen  Antwortnote  im  Auslande  zu  begegnen. 

1  Telegramm  aus  Semiin  d.  d.  25.  Juli,  8  Uhr  p.  m.,  ohne  Nummer. 

-  Zirkulartelegramm  an  die  k.  u.  k.  Missionen  d.  d.  Wien,  25.  Juli, 
Prot.  Nr.  5240. 

3  Das  weitläufige  Dokument  ist  abgedruckt  im  österreichisch-ungari- 
schen Rotbuch  Nr.  19.  Über  die  Verwertung  des  Dossiers  vergleiche  die 
Ausführungen  Seite  130,  134,  152,  153,  161,  197  oben,  202,  209,  210 
und  285. 

*  Protokoll  Nr.  3540  bis  3560  und  3569,  3570,    d.  d.  25.  Juli. 

167 


Dieserbischc  Die  vom  k.  u.  k.  Gesandten  als  unzulänglich  erachtete 
Antwortnote  der  serbischen  Regierung '  kam  den  öster- 
reichisch-ungarischen Forderungen  in  weitem  Umfange  ent- 
gegen. Die  Argumentation  der  Note  brachte  gewisse  Vor- 
behalte zum  Ausdrucke,  insbesondere  hinsichtlich  des 
Punktes  4:  Endassung  der  durch  die  gerichdiche  Unter- 
suchung kompromittierten  Offiziere  und  Beamten  aus  dem 
Militär-  und  Zivildienste;  Punkt  5:  Mitwirkung  von  k.  u.  k. 
Organen  bei  der  strafprozeßlichen  Untersuchung  auf  dem 
Gebiete  des  Königreiches  Serbien;  Punkt  7:  Bekanntgabe 
der  Schuldbeweise  gegen  Ciganovic;  Punkt  9:  Beweise  und 
Überführungsmittel  hinsichtlich  der  Interviews  serbischer 
Diplomaten;  und  schloß  ihre  Ausführungen  mit  der  Bereit- 
willigkeitserklärung, eine  friedliche  Lösung  anzunehmen,  sei 
es  durch  Übertragung  der  Entscheidung  dieser  Frage  an 
das  internationale  Gericht  im  Haag,  sei  es  durch  Über- 
stellung der  Entscheidung  an  die  Großmächte,  welche  an 
der  Ausarbeitung  der  von  der  serbischen  Regierung  am 
18./31.  März  1909  abgegebenen  Erklärung  mitgewirkt  hatten. 
Das  Dokument  selbst  wurde  von  Graf  Berchtold  als  „sehr 
geschickt  verfaßt"  bezeichnet-. 


C.  Die  k.  u.  k.  Regierung  und  die  europäischen 

Kabinette 

Berlin 
Bekanntgabe         Die  offiziellc  Vcrständigung  von  dem  Abbruche  der  diplo- 
ches^dlTBe-  matischcn  Beziehungen  zwischen  Wien  und  Belgrad  wurde 
Ziehungen  zu  dcm  k.  u.  k.  Botschafter  in  Berlin  am  26.  Juli   nachmittags 

Serbien  .   •    i   ^  . 

,    .  .        zugeschickt-: 

durch  das  & 

Wiener  Nachdem  Serbien  die  von  der  Monarchie   aufgestellten 

Forderungen  abgelehnt  habe,  habe    die  Monarchie  die  Be- 
ziehungen zu  diesem  Lande  abgebrochen. 

'  Vgl.  den  Originaltext  in  französischer  Sprache  im  österreichisch- 
ungarischen  Rotbuche  Nr.  25,  in  deutscher  Sprache  unter  derselben 
Nummer  in  der  Volksausgabe  des  Rotbuches. 

2  Vgl.  Seite  217  unten. 

■:  Weisung  nach  Berlin  d.  d.  Wien,  26.  Juli,  Nr.  270. 

168 


Kabinett 


i 


Die  königlich  serbische  Regierung  habe  die  Erfüllung  der 
Forderungen,  welche  die  Monarchie  zur  dauernden  Sicherung 
ihrer  durch  Serbien  bedrohten  vitalsten  Interessen  stellen 
mußte,  abgelehnt  und  damit  bekundet,  daß  sie  nicht  willens 
sei,  ihre  subversiven,  auf  die  stete  Beunruhigung  einiger 
Grenzländer  der  Monarchie  und  ihre  schließliche  Lostren- 
nung aus  dem  Gefüge  der  Monarchie  gerichteten  Bestrebungen 
aufzugeben. 

Zu  seinem  Bedauern  und  sehr  gegen  seinen  Willen  sei 
daher  das  Wiener  Kabinett  in  die  Notwendigkeit  versetzt 
worden,  Serbien  durch  die  schärfsten  Mittel  zu  einer  grund- 
sätzlichen Änderung  seiner  bisherigen  feindseligen  Haltung 
zu  zwingen.  Der  kaiserlich  deutschen  Regierung  sei  es  wohl 
bekannt,  daß  der  Monarchie  hiebei  aggressive  Tendenzen  fern- 
lägen, und  daß  es  ein  Akt  der  Selbstverteidigung  sei,  wenn 
sich  das  Wiener  Kabinett  nach  jahrelanger  Duldung  endlich 
entschließe,  den  großserbischen  Wühlereien  auch  mit  dem 
Schwerte  entgegenzutreten. 

Es  gereiche  dem  Wiener  Kabinett  zur  aufrichtigen  Ge- 
nugtuung, bei  der  deutschen  Regierung  und  dem  ganzen 
deutschen  Volke  volles  Verständnis  dafür  zu  finden,  daß  das 
nach  den  Ergebnissen  der  Untersuchung  in  Belgrad  vor- 
bereitete und  von  dortigen  Sendlingen  ausgeführte  Attentat 
von  Sarajevo  die  gegen  Serbien  bisher  bewiesene  Langmut 
der  Monarchie  erschöpfen  mußte,  und  daß  die  Monarchie 
jetzt  mit  allen  Mitteln  bestrebt  sein  müsse,  sich  Garantien 
gegen  die  Fortdauer  der  gegenwärtigen  unleidlichen  Ver- 
hältnisse an  ihrer  südöstlichen  Grenze  zu  verschaffen.  Das 
Wiener  Kabinett  hoffe  zuversichtlich,  daß  die  bevorstehende 
Auseinandersetzung  mit  Serbien  zu  keinen  weiteren  Kompli- 
kationen Anlaß  geben  werde;  sollte  dies  aber  dennoch  der 
Fall  sein,  so  stelle  das  Wiener  Kabinett  mit  Dankbarkeit  fest, 
daß  Deutschland  in  oft  erprobter  Treue  seiner  Bundes- 
pflichten eingedenk  sein  und  die  Monarchie  in  dem  auf- 
gezwungenen Kampfe  gegen  einen  anderen  Gegner  unter- 
stützen werde. 

Der  Umstand,  daß  es  das  Wiener  Kabinett  unterließ.  Die  deutsche 
die  serbische  Antwortnote  der  Berliner  Regierung  ^rw'ttavom 
unaufgefordert  mitzuteilen,    bildet   ein   auffallendes  wiener 

169 


Kabineiiden  Gcgcnstück     ZU     der    Tatsache,    daß    das    Berliner 
serbischen     K- 3 D 1 H c 1 1  cpst  gleichzeitig  mit  den  übrigen  Machten 
Antwortnoie  vom  WoFtlautc  d c p  ö s t c Tf c i c h i s c h - u H ga T i s c h e n  Be- 
(27J"i')       gehrnote  in  Kenntnis  gesetzt  wurde.  Wie  damals  (21.Juh) 
der  k.  u.  k.  Botschafter  in  Berlin  die  unverzügliche  Mitteilung 
der  Begehrnote  urgierte,  so  erhielt  jetzt  Herr  von  Tschirschky 
den  telegraphischen   Auftrag    (27.  Juli),  Graf  Berchtold  zu 
ersuchen,  den  Wortlaut  der  serbischen  Antwortnote  ehestens 
mitzuteilen  '.  Es  wäre  dies,  wie  Herr  von  Jagow  dem  Grafen 
Szögyeny  sagte,   aus  dem  Grunde  erwünscht,  um  England 
gegenüber  der  Unrichtigkeit  der  erhobenen  Behauptung  ent- 
gegenzutreten,   daß   die   serbische    Antwort    in    den    Haupt- 
punkten den  Wünschen  des  Wiener  Kabinetts  entspreche. 

Bisher  hatte  bloß  der  serbische  Geschäftsträger  den  an- 
geblichen Inhalt  der  Antwort  des  Herrn  Pasic  am  27.  Juli 
mittags  Herrn  Jagow  mitgeteilt  -. 

'  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  27.  Juli,  5  Uhr  50  Minuten  p.  m., 
Nr.  303. 

-  Kaiser  Wilhelm  erhielt  den  Text  der  serbischen  Antwortnote  erst 
am  28.  Juli  morgens  zur  Einsicht.  Er  charakterisierte  ihren  Inhalt  mit 
der  eigenhändigen  Bemerkung: 

„Eine  brillante  Leistung  für  eine  Frist  von  48  Stunden.  Das  ist  mehr, 
als  man  erwarten  konnte.  Ein  großer  moralischer  Erfolg  für  Wien.  Damit 
fällt  jeder  Kriegsgrund  fort  und  Giesl  hätte  ruhig  in  Belgrad  bleiben 
sollen.  Daraufhin  hätte  ich  niemals  Mobilmachung  befohlen." 

An  den  Reichskanzler  erfloß  gleichzeitig  der  Bescheid  des  Kaisers: 
„Neues  Palais,  28.  Juli  1914,  10  Uhr  vormittags. 

Eure  Exzellenz!  Nach  Durchlesung  der  serbischen  Antwort,  die  ich 
heute  morgen  enthielt,  bin  ich  überzeugt,  daß  im  Großen  und  Ganzen  die 
Wünsche  der  Donaumonarchie  erfüllt  sind.  Die  paar  Reserven,  welche 
Serbien  zu  einzelnen  Punkten  macht,  können  meines  Erachtens  durch 
Verhandlungen  wohl  geklärt  werden.  Aber  die  Kapitulation  liegt  darin 
urbi  et  orbi  verkündet  und  durch  sie  entfällt  jeder  Grund  zum  Kriege. 
Dennoch  ist  dem  Stück  Papier  wie  seinem  Inhalt  nur  beschränkter  Wert 
beizumessen,  solange  er  nicht  in  die  Tat  umgesetzt  wird.  Die  Serben  sind 
Orientalen,  daher  verlogen,  falsch  und  Meister  im  Verschleppen.  Damit 
diese  schönen  Versprechungen  Wahrheit  und  Tatsache  werden,  muß  eine 
douce  violence  geübt  werden.  Das  würde  dergestalt  zu  machen  sein,  daß 
Österreich  ein  Faustpfand  (Belgrad)  für  die  Erzwingung  und  Durchführung 
der  Versprechungen  besetzte  und  solange  behielte,  bis  tatsächlich  die 
Petita  durchgeführt  sind.  Das  ist  auch  notwendig,  um  der  zum  drittenmal 
umsonst    mobilisierten    österreichischen    Armee    eine   äußere  Satisfaktion 

170 


In  Berlin  setzte  man  —  wie  Graf  Szögyeny  meldete  —  Die  Frage 
allgemein  als  sicher  voraus  ',  daß  auf  die  eventuell  abweisende  ^1%"^'."^ 
Antwort  Serbiens  sofort  die  Kriegserklärung  der  Monarchie,  ■väreigenden 
verbunden  mit  kriegerischen  Operationen,  erfolgen  werden.  J^^jf^„„g 
Man  sehe  in  jeder  Verzögerung  des  Beginnes  der  kriegerischen  Österreich- 
Operationen    eine    große    Gefahr   betreffs   der   Einmischung  ^„"l^^bL 
anderer  Mächte.  Man  rate  dringend,  sofort  vorzugehen  und  die 
Welt  vor  ein  Fait  accompli  zu  stellen.    Graf  Szögyeny  teile 
diese  Ansicht  des  Auswärtigen  Amtes  vollkommen. 

Der  hiezu  erst  am  27.  Juli  nachts  nach  Berlin  abgeschickte 
Bescheid  Graf  Berchtolds  führte  aus^,  die  Kriegserklärung 

d'honneur  zu  geben,  den  Schein  eines  Erfolges  dem  Ausland  gegenüber 
und  das  Bewußtsein,  wenigstens  auf  fremdem  Boden  gestanden  zu  haben, 
ihr  zu  ermöglichen.  Ohne  dies  dürfte  bei  Unterbleiben  eines  Feldzuges 
eine  sehr  üble  Stimmung  gegen  die  Dynastie  aufkommen,  die  höchst 
bedenklich  wäre.  Falls  Eure  Exzellenz  diese  meine  Auffassung  teilen,  so 
würde  ich  vorschlagen,  Österreich  zu  sagen,  der  Rückzug  Serbiens  sei 
erzwungen  und  man  gratuliere  dazu.  Natürlich  sei  damit  ein  Kriegs- 
zustand nicht  mehr  vorhanden,  wohl  aber  eine  Garantie  nötig,  daß  die 
Versprechungen  ausgeführt  würden.  Das  würde  durch  die  vorübergehende 
Besetzung  eines  Teiles  von  Serbien  wohl  erreichbar  sein,  ähnlich  wie  wir 
im  Jahre  1871  in  Frankreich  Truppen  stehen  Heßen,  bis  die  Milliarden 
bezahlt  waren.  Auf  dieser  Basis  bin  ich  bereit,  den  Frieden  mit  Öster- 
reich zu  vermitteln.  Dagegen  lautende  Vorschläge  oder  Proteste  von 
anderer  Seite  würde  ich  unbedingt  abweisen,  umsomehr,  als  alle  mehr 
oder  weniger  offen  an  mich  appellieren,  den  Frieden  erhalten  zu  helfen. 
Das  werde  ich  tun  nach  meiner  Manier  so  schonend  für  das  öster- 
reichische Nationalgefühl  und  für  die  Waffenehre  seiner  Armee  als 
möglich.  Denn  an  letztere  ist  schon  bereits  seitens  des  obersten  Kriegs- 
herrn appelliert  worden  und  sie  ist  dabei,  dem  Appell  zu  folgen.  Also 
muß  sie  unbedingt  eine  Satisfaction  d'honneur  haben.  Das  ist  eine  Vor- 
bedingung für  meine  Vermittlung,  daher  wollen  Eure  Exzellenz  mir  in 
dem  skizzierten  Sinne  einen  Vorschlag  unterbreiten,  der  nach  Wien  mit- 
geteilt werden  soll.  Ich  habe  im  obigen  Sinne  an  den  Chef  des  General- 
stabes durch  Plessen  schreiben  lassen,  der  ganz  meine  Ansicht  teilt. 

Gez.:  Wilhelm  I.  R." 

(Veröffentlicht    in    den    Tagesblättern    nach    der    Wiedergabe    in    der 
Zeitschrift  „Deutsche  Politik".) 

1  Telegramm    aus    Berlin    d.  d.   25.   Juli,    2   Uhr    15   Minuten   p.  m., 
Nr.  285.  Vgl.  Weißbuch  betreffend  d.  V.  d.  U.  a.  Kr.,  Seite  33. 

-  Daß  eine  analoge  Überzeugung  auch  anderwärts    vorherrschte,    er- 
hellt aus  den  Feststellungen  Seite   192  unten,  211  Mitte,  213,  215. 

3    Weisung    nach    Berlin    d.    d.    Wien,    27.  Juli,    Nr.   274.    Expediert 
27.  Juli,  11  Uhr  10  Minuten  p.  m. 

171 


erfolge  in  den  nächsten  Tagen.  Der  Beginn  der  Kriegs- 
operationen müsse  jedoch  bis  zur  Beendigung  des  Auf- 
marsches verzögert  werden,  um  dann  mit  voller  Kraft 
den  entscheidenden  Schlag  führen  zu  können.  Hiezu  werde 
noch  eine  gewisse  Zeit  erforderlich  sein,  da  das  Wiener 
Kabinett,  durch  die  Erfahrungen  der  letzten  Jahre  gewitzigt, 
mit  den  militärischen  Maßnahmen  in  größerem  Stile  nicht 
beginnen  wollte,  bevor  es  feststand,  daß  es  tatsächlich  zum 
Kriege  kommen  werde. 

Den  zutreffenden  Grund  gab  wohl  präziser  eine  Mit- 
teilung Herrn  von  Jagows  an  Graf  Szögyeny  vom  27.  Juli 
nachmittags  an':  Herr  von  Tschirschky  habe  telegraphiert, 
General  Conrad  von  Hötzendorf  hätte  ihm  vertraulich  mit- 
geteilt, daß,  um  mit  entsprechendem  militärischen  Nach- 
druck gegen  Serbien  vorgehen  zu  können,  die  österreichisch- 
ungarische Mobilisierung  erst  am  12.  August  perfekt  werden 
könnte. 

Der  Staatssekretär  habe   gleichzeitig   bedauert,   daß    der 

Termin    des    Beginnes    des    militärischen     Eingreifens    der 

Monarchie  so  lange  hinausgeschoben  werden  müsse. 

Das  Berliner         In    ciner  Unterredung    mit    Fürst  Lichnowsky  hatte  Sir 

Kabinett  und  g^j^^j-d  Grcv    am  24.  luli    die  Anregung    einer  Vermitt- 

die  engli*  '  rx 

sehen ver-     lung  ZU  vlcrt   (England,   Frankreich,  Italien  und  Deutsch- 
mittiungs-      \2,^^     gegeben     und    sich    bemüht,    die    Zusicherung    der 

anregungen  '        o    o 

(24., 26. juiii  Unterstützung  seitens  Deutschlands  zu  erlangen-. 

Überdies  hatte  Sir  Edward  Grey  am  25.  Juli  an  Fürst 
Lichnowsky  in  einem  Privatschreiben  das  Ersuchen  gestellt, 
das  Berliner  Kabinett  wolle  sich  in  Wien  für  eine  wohl- 
wollende Berücksichtigung  der  serbischen  Antwortnote  ein- 
setzen. 

Dies  Anliegen  Sir  Edward  Greys  war  seitens  der  Berliner 
Regierung   an    das  Wiener  Kabinett  weitergeleitet  worden». 

Von  Sir  Edward  Grey  war  sodann  am  26.  Juli  nach 
Paris,  Berlin  und   Rom    dem    Anliegen    Ausdruck   gegeben 

'  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  27.  Juli,  5  Uhr  50  Minuten  p.  m., 
Nr.  305. 

2  Vgl.  Seite  149  unten,   150. 

■"  Vgl.  die  Ausführungen  Seite   198. 

172 


• 
worden I,  durch  die  Abhaltung  einer  Botschaftericon- 
ferenz  (England,  Deutschland,  Frankreich  und  Italien)  den 
nötigen  Zeitvorsprung  zu  gewinnen,  um  die  zwischen 
Österreich-Ungarn  und  Serbien  obschwebende  Angelegenheit 
bei  Enthaltung  jeglicher  militärischen  Operationen  seitens 
Serbiens,  Österreich-Ungarns  und  Rußlands  zur  Regelung 
zu  bringen. 

Dieser  Vorschlag  Sir  Edward  Greys  war  seitens  der 
deutschen  Regierung  mit  der  Begründung  abgelehnt  worden, 
es  erscheine  Deutschland  nicht  angängig,  den  Bundes- 
genossen wegen  seiner  Auseinandersetzungen  mit  Serbien 
gleichsam  vor  einen  europäischen  Schiedsgerichtshof  zu 
ziehen  -.  Die  deutsche  Vermittlungstätigkeit  habe  zuvörderst 
die  Behebung  der  Gefahr  eines  österreichisch-russischen 
Konflikts  zum  Ziele. 

An  dieser  Stelle  wird  eine  vom  k.  u.  k.  Botschafter   in  Die  eng 
Berlin    am    27.   Juli    um    9    Uhr    15    Minuten    p.    m.  nach  ^'^'^'"' 
Wien  übermittelte  Depesche  eingehend   zu    berücksichtigen  miniungs- 
sein\    deren    Inhalt    —    ohne    kritische    Überprüfung  vorschlage 

angebliche 

seiner  Angaben    —    danach    angetan    erscheint,   em  ver-  steiiung- 
zeichnetes  Bild  der  Stellungnahme  der  deutschen  Regierung  ""'""= 

Herrn  von 

gegenüber  den  englischen  Vermittlungsvorschlägen  zu  geben,  j^gows 
Das  Dokument  lautet  in  wörtlicher  Wiedergabe: 
„Staatssekretär  erklärte  mir  in  streng  vertraulicher  Form 
„sehr  entschieden,  daß  in  der  nächsten  Zeit  eventuell  Ver-  - 
„mittlungsvorschläge  Englands  durch  die  deutsche  Regierung 
„zur  Kenntnis  Eurer  Exzellenz  gebracht  würden. 

„Die  deutsche  Regierung  versichere  auf  das  Bündigste, 
„daß  sie  sich  in  keiner  Weise  mit  den  Vorschlägen 
„identifiziere,  sogar  entschieden  gegen  deren  Berück- 
„sichtigung  sei  und  dieselben,  nur  um  der  englischen  Bitte 
„Rechnung  zu  tragen,  weitergebe. 

„Sie  gehe  dabei  von  dem  Gesichtspunkte  aus,  daß  es 
„von  der  größten  Bedeutung  sei,   daß  England  im   jetzigen 

«  Blaubuch  Nr.  36. 

=  Vgl.  Blaubuch  Nr.  43;  ferner  Seite   196  unten. 

3  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  27.  Juli,  9  Uhr  15  Minuten  p.  m., 
Nr.  307.  Eingetroffen  am  28.  Juli,  9  Uhr  a.  m.  Vgl.  Weißbuch  betreffend 
d.  V.  d.  U.  a.  Kr.,  Seite  33. 

173 


„Momente  nicht  gemeinsame  Sache  mit  Rußland  und  Frank- 
„reich  mache.  Daher  müsse  alles  vermieden  werden,  daß 
„der  bisher  gut  funktionierende  Draht  zwischen  Deutsch- 
„land  und  England  abgebrochen  werde.  Würde  nun  Deutsch- 
„land  Sir  Edward  Grey  glatt  erklären,  daß  es  seine 
„Wünsche  an  Österreich-Ungarn,  von  denen  England  glaubt, 
„daß  sie  durph  Vermittlung  Deutschlands  eher  Berück- 
„sichtigung  bei  uns  finden,  nicht  weitergeben  will,  so  würde 
„eben  dieser  vorerwähnte,  unbedingt  zu  vermeidende  Zustand 
„eintreten. 

„Die  deutsche  Regierung  würde  übrigens  bei  jedem 
„einzelnen  derartigen  Verlangen  Englands  in  Wien  dem- 
„selben  auf  das  Ausdrücklichste  erklären,  daß  sie  '  in  keiner 
„Weise  derartige  Interventionsverlangen  Österreich-Ungarn 
„gegenüber  unterstütze  und  nur  um  Wunsch  Englands  zu 
„entsprechen,  dieselben  weitergebe. 

„So  sei  bereits  gestern  die  englische  Regierung  durch 
„den  deutschen  Botschafter  in  London  und  direkt  durch 
„ihren  hiesigen  Vertreter  an  ihn,  Staatssekretär,  heran- 
„getreten,  um  ihn  zu  veranlassen,  den  Wunsch  Englands 
„betreffs  unserseitiger  Milderung  der  Note  an  Serbien  zu 
„unterstützen.  Er,  Jagow,  habe  darauf  geantwortet,  er  wolle 
„wohl  Sir  Edward  Greys  Wunsch  erfüllen,  Englands  Be- 
„gehren  an  Euer  Exzellenz  weiterzuleiten,  er  selbst  könne 
„dasselbe  aber  nicht  unterstützen,  da  der  serbische  Konflikt 
„eine  Prestigefrage  der  österreichisch-ungarischen  Monarchie 
„sei,  an  der  auch  Deutschland  partizipiere. 

„Er,  Staatssekretär,  habe  daher  die  Note  Sir  Edward 
„Greys  an  Herrn  von  Tschirschky  weitergegeben,  ohne 
„ihm  aber  Auftrag  zu  erteilen,  dieselbe  Euer  Exzellenz 
„vorzulegen;  darauf  hätte  er  dann  dem  englischen  Kabinett 
„Mitteilung  machen  können,  daß  er  den  englischen  Wunsch 
„nicht  direkt  ablehne,  sondern  sogar  nach  Wien  weiter- 
„gegeben  habe. 

„Zum  Schlüsse  wiederholte  mir  Staatssekretär  seine 
„Stellungnahme  und  bat  mich,  um  jedwedem  Mißverständ- 
„nisse  vorzubeugen.    Euer  Exzellenz  zu  versichern,    daß  er 

'  In  der  Vorlage:  daß  es  .. 
174 


„auch  in  diesem  eben  angefülirten  Fall,  dadurch,  daß  er 
„als  Vermittler  aufgetreten  sei,  absolut  nicht  für  eine 
„Berücksichtigung  des  englischen  Wunsches  sei." 

Zunächst  erscheint  die  Feststellung  notwendig,  daß  der 
eigentliche  Gegenstand,  das  ist  der  materielle  Inhalt 
des  englischen  Vorschlages  vom  26.  Juli,  in  unver- 
ständlicher Weise  wiedergegeben  ist. 

Das  Telegramm  Graf  Szögyenys  formuliert  nämlich  den 
Vorschlag  Sir  Edward  Greys  dahin,  daß  Deutschland 
den  Wunsch  Englands  hinsichtlich  einer  von  Öster- 
reich-Ungarn vorzunehmenden  Milderung  der  Note 
an  Serbien  unterstützen  möge'.  Was  wollte  dieser  am 
27.  Juli  aufgesetzte  Satz  besagen,  da  doch  die  Note  bereits  am 
23.  Juli,  6  Uhr  abends,  in  Belgrad  überreicht  und  am  25.  der 
Abbruch  der  diplomatischen  Beziehungen  vollzogen  worden 
war?  Entgegen  den  Ausführungen  des  k.  u.  k.  Botschafters 
müssen  wir  konstatieren,  daß  es  sich  an  dieser  Stelle  sinn- 
gemäß nur  um  den  Konferenzvorschlag  Sir  Edward 
Greys  (vom  26.  Juli)  handeln  kann,  der  von  Deutschland  mit 
der  obenerwähnten  Begründung  allerdings  Sir  Edward  Grey 
gegenüber  direkt  abgelehnt  worden  war-. 

Eine  .weitere  unrichtige  Angabe  sachlichen  Belanges  in 
der  vorliegenden  Berichterstattung  Graf  Szögyenys  wird 
durch  das  Zeugnis  der  Tatsachen  selbst  widerlegt  und  auf- 
geklärt. 

Nach  den  Ausführungen  des  Telegramms  habe  Herr 
von  Jagow  dem  Grafen  Szögyeny  erklärt,  es  würden  in  der 
nächsten  Zeit  eventuell  Vermitdungsvorschläge  Englands 
durch  die  deutsche  Regierung  zur  Kenntnis  des  Grafen 
Berchtold  gebracht  werden; 

„Die  deutsche  Regierung  würde  übrigens  bei  jedem  ein- 
„zelnen  derartigen  Verlangen  Englands  in  Wien  demselben 

'  Vgl.  Seite  174  Mitte.  —  Diese  Formulierung  kann  als  weiterer  Beleg 
(siehe  Seite  31,  Anmerkung  1)  für  die  mit  fortschreitender  Krise  sich 
steigernde  Ungenauigkeit  der  Berichterstattung  des  bejahrten  k.  u.  k. 
Botschafters  in  Berlin  dienen.  Ist  nun  freilich  der  Mangel  an  positiver 
Zuverlässigkeit  in  der  Berichterstattung  des  Grafen  Szögyeny  einmal  fest- 
gestellt, so  werden  auch  die  bisher  auf  Grund  ausschließlich  seiner 
Meldungen  gezogenen  Schlüsse  einer  Revision  zu  unterziehen  sein. 

■i  Vgl.  Blaubuch  Nr.  43. 

175 


„auf  das  Ausdrücklichste  erklären,  daß  sie  in  keiner  Weise 
„derartige  Interventionsverlangen  Österreich-Ungarn  gegen- 
„über  unterstütze  und  nur,  um  dem  Wunsche  Englands  zu 
„entsprechen,  dieselben  weitergebe." 

Welches  Maß  von  Zuverläßlichkeit  kommt  diesem  Teil 
der  Meldung  Graf  Szögyenys  angesichts  der  Tatsache 
zu,  daß  die  deutsche  Regierung  einen  weiteren  Vor- 
schlag Sir  Edwards,  und  zwar  hinsichtlich  der 
Annahme  der  serbischen  Antwortnote  oder  ihrer 
Geltendlassung  als  Grundlage  für  Besprechungen, 
in  Wien  am  28.  Juli  tatsächlich  zur  Erwägung  vor- 
legen ließ  und  gleichzeitig  erklärte,  die  Rolle  des 
Vermittlers  nicht  abweisen  zu  können? 

Noiiz  der  Hcrr  von  Tschirschky    überreichte    nämlich   an   diesem 

BMlchir      ^^§^  ^^^  Grafen  Berchtold  die  folgende  Notiz  der  deutschen 

in  Wien        Botschaft  in  Wien: 

(28.  jui,)  „Der  kaiserliche  Botschafter  in  London  meldet: 

,Soeben  ließ  mich  Sir  E.  Grey  zu  sich  kommen  und 
,bat,  Eurer  Exzellenz  von  Nachstehendem  Kenntnis  zu 
,geben: 

,Der  serbische  Geschäftsträger  habe  ihm  soeben  den 
,Wortlaut  der  serbischen  Antwort  auf  die  österreichische 
,Note  übermittelt.  Es  gehe  aus  derselben  hervor,  daß  Serbien 
,in  einem  Umfange  den  österreichischen  Forderungen 
,entgegengekommen  sei,  wie  er  es  niemals  für  möglich 
,gehalten  habe;  bis  auf  einen  Punkt,  der  Teilnahme  öster- 
,reichischer  Beamten  an  den  gerichtlichen  Untersuchungen, 
,habe  SerbieA  tatsächlich  in  alles  eingewilligt,  was  von  ihm 
,verlangt  worden  ist.  Es  sei  klar,  daß  diese  Nachgiebigkeit 
,Serbiens  lediglich  auf  einen  Druck  von  Petersburg  zurück- 
,zuführen  sei. 

,Werde  sich  Österreich  nicht  mit  dieser  Antwort  be- 
jgnügen,  beziehungsweise  werde  diese  Antwort  vom  Wiener 
, Kabinett  nicht  als  Grundlage  für  friedliche  Unterhand- 
,lungen  betrachtet  oder  gehe  Österreicji  gar  zur  Besetzung 
,von  Belgrad  vor,  welches  vollkommen  wehrlos  daliege, 
,so  sei  es  vollkommen  klar,  daß  Österreich  nur  nach  einem 
,Vorwand  suche,  um  Serbien  zu  erdrücken.  In  Serbien 
,solle  aber  alsdann  Rußland  und  der   russische  Einfluß  auf 

176 


,dem  Balkan  getroffen  werden.  Daß  Rußland  dem  nicht 
,gleichgültig  zusehen  könne  und  es  als  eine  direkte  Heraus- 
,forderung  auffassen  müsse,  sei  klar.  Daraus  würde  der 
jfürchterlichste  Krieg  entstehen,  den  Europa  jemals  gesehen 
,habe,  und  niemand  wisse,  wohin  ein  solcher  Krieg  führen 
, könne. 

, Deutschland  hätte  sich,  so  meinte  der  Minister,  wieder- 
,holt  und  so  noch  gestern  mit  der  Bitte  an  ihn  gewandt,  in 
, Petersburg  in  mäßigendem  Sinne  Vorstellungen  zu  erheben. 
, Diesen  Bitten  habe  er  stets  gern  entsprochen  und  sich 
,während  der  letzten  Krise  Vorwürfe  aus  Rußland  zugezogen, 
,daß  er  sich  zu  sehr  auf  die  deutsche  und  zu  wenig  auf  die 
, russische  Seite  stelle.  Nun  wende  er  sich  mit  der  Bitte  an 
,die  deutsche  Regierung,  ihren  Einfluß  beiin  Wiener  Kabinett 
, dahin  geltend  zu  machen,  daß  man  die  Antwort  aus  Belgrad 
,entweder  als  genügend  betrachte  oder  aber  als  Grundlage 
,für  Besprechungen.  Er  sei  überzeugt,  daß  es  in  der  Hand 
,der  kaiserlichen  Regierung  liege,  die  Sache  durch  ent- 
, sprechende  Vorstellungen  zu  erledigen,  und  er  betrachte  es 
,als  eine  gute  Vorbedeutung  für  die  Zukunft,  wenn  es  uns 
,beiden  abermalig  gelänge,  durch  unseren  beiderseitigen 
, Einfluß  auf  unsere  Verbündeten  den  Frieden  Europas  gesichert 
,zu  haben.  Ich  fand  Sir  Edward  Grey  zum  ersten  Male  ver- 
,stimmt.  Er  sprach  mit  großem  Ernst  und  schien  von  der 
jdeutschen  Regierung  auf  das  Bestimmteste  zu  erwarten, 
,daß  es  ihrem  Einfluß  gelingen  möge,  die  Frage  beizulegen. 
,Er  wird  noch  heute  ein  Statement  im  House  of  Commons 
, machen,  worin  er  seinen  Standpunkt  zum  Ausdruck  bringt. 
,Ich  bin  auf  jeden  Fall  der  Überzeugung,  daß,  falls  es  jetzt 
,doch  noch  zum  Kriege  käme,  wir  mit  den  englischen  Sym- 
,pathien  und  der  britischen  Unterstützung  nicht  mehr  zu 
, rechnen  hätten,  da  man  in  dem  Vorgehen  Österreichs  alle 
,Zeichen  üblen  Willens  erblicken  würde.' 

Fortfahrend  sagt  die  Notiz: 

„Nachdem  wir  bereits  einen  englischen  Konferenzvorschlag 
„abgelehnt  haben,  ist  es  uns  unmöglich,  auch  diese  englische 
„Anregung  a  limine  abzuweisen.  Durch  eine  Ablehnung  jeder 
„Vermittlungsaktion  würden  wir  für  die  Konflagration  vor 
„der  ganzen  Welt  verantwortlich  gemacht  und  als  die  eigent- 

12  177 


„liehen  Treiber  zum  Kriege  hingestellt  werden.  Das  würde 
„auch  unsere  eigene  Stellung  im  Lande  unmöglich  machen, 
„wo  wir  als  die  zum  Kriege  Gezwungenen  dastehen  müssen. 
„Unsere  Situation  ist  um  so  schwieriger,  als  Serbien  scheinbar 
„sehr  weit  nachgegeben  hat.  Wir  können  daher  die  Rolle 
„des  Vermittlers  nicht  abweisen  und  müssen  den  englischen 
„Vorschlag  dem  Wiener  Kabinett  zur  Erwägung  unterbreiten, 
„zumal  London  und  Paris  fortgesetzt  auf  Petersburg  ein- 
„wirken. 

„Erbitte  Graf  Berchtolds  Ansicht  über  die  englische 
„Anregung,  ebenso  wie  über  Wunsch  Herrn  Sazonows,  mit 
„Wien  direkt  zu  verhandeln. 

„gezeichnet:  Bethmann  Hollweg. 
„Wien,  den  28.  Juli  1914."  ' 

Die  Überreichung  dieser  —  inhaltlich  wortgemäß 
angeführten  —  Notiz  der  deutschen  Botschaft  in 
Wien  widerlegt  also  ihrerseits  die  Richtigkeit  der 
in  der  fraglichen  Depesche  des  Grafen  Szögyeny  vom 

27.  Juli    enthaltenen    diesbezüglichen    Ausführung-. 

Weisungen  Mlttcls    einer    am    28.  Juli,    11  Uhr    50  Minuten  p.  m., 

t^[dl  an'den  exp^dlerten  Weisung  •"•  beauftragte  Graf  Berchtold  den  k.  u.  k. 
k.  u.  k.  Bot-  Botschafter  in  Berlin,  Herrn  von  Jagow  in  seinem  Namen 
^t^^^'"        für  die  Mitteilung  der  Gründe,    die    das    deutsche  Kabinett 

(28.  Juli)  o  ' 

bestimmten,  die  englischen  Vermitdungsvorschläge  an  das 
Wiener  Kabinett  weiterzuleiten,  bestens  zu  danken  und  bei- 
zufügen, daß  Graf  Berchtold  die  Motive  für  diese  Haltung 
des  deutschen  Kabinetts  vollauf  würdige. 

Mittlerweile  habe  auch  Herr  von  Tschirschky  die  eng- 
lische Anregung  zur  Kenntnis  gebracht;  Graf  Berchtold 
werde    den    deutschen    Botschafter    am    29.   Juli    von    den 

1  Die  seitens  des  Wiener  Kabinetts  am  29.  Juli  besorgte  Erledigung 
dieser  Notiz,  siehe  Seite  229  ff. 

~  Damit  erscheinen  auch  die  im  Weißbuch  betreffend  d.  V.  d.  U. 
a.  Kr.,  Seite  39,  mitgeteilten,  auf  Grund  der  Auskünfte  des  Reichskanzlers 
von  Bethmann  Hollweg  und  des  Staatssekretärs  von  Jagow  erbrachten, 
Angaben  bestätigt. 

•"  Weisung    nach    Berlin  d.  d.    Wien,  28.    Juli,    Nr.    284.     Expediert 

28.  Juli,   11   Uhr  50  Minuten  p.  m. 

178 


Gründen    unterrichten  ',    die    ihm    die   Annahme    derselben 
untunlich  erscheinen  lassen  -. 

Um  1 1  Uhr  nachts  war  überdies  der  Bescheid  Graf 
Berchtolds  an  den  k.  u.  k.  Botschafter  in  Berlin  ergangen ', 
der  englische  Konferenzvorschlag,  insoweit  er  den  Konflikt 
der  Monarchie  mit  Serbien  im  Auge  habe,  sei  angesichts 
des  bereits  eingetretenen  Kriegszustandes  durch  die  Er- 
eignisse überholt.  • 

Noch    waren    diese   beiden    Depeschen  Graf  Berchtolds  Meldung  des 
nach  Berlin  nicht  abgeschickt,  als  vom  k.  u.  k.  Botschafter  ll^'^f^f^^ 
am  28.  Juli,  7  Uhr  40  Minuten  p.  m.,   die  Nachricht  über-  über  die  Ab- 
mittelt    wurde  *,    daß    der    englische  Vermittlungsvorschlag,  e'^fli^Xn''" 
laut  welchem   Deutschland,  Italien,  England  und  Frankreich  Vorschlages 
zu  einer  Konferenz  in  London  zusammen  treten  sollten,  um  *='""  ^°'' 

'  Schalter- 

die  Mittel    zur    Beilegung    der    jetzigen    Schwierigkeiten  zu  konferenz 
finden,  deutscherseits  mit  der  Begründung  abgelehnt  worden  B^diner" 

Regierung 

1  Vgl.  Seite  229  ff.  (2S-  Juü» 

-  Im  Konzept  ursprünglich:  „Mittlerweile  hat  mir  Herr  von 
„Tschirschky  die  englische  Anregung  im  Wege  einer  schriftlichen  Notiz 
„zur  Kenntnis  gebracht  und  ich  habe  Veranlassung  genommen,  den  Herrn 
„kaiserlich  deutschen  Botschafter  auf  demselben  Wege  von  den  Gründen 
„zu  unterrichten,  die  uns  die  Annahme  derselben  untunlich  erscheinen 
„lassen." 

Sodann  geändert  in: 

„Mittlerweile  hat  mir  Herr  von  Tschirschky  die  englische  Anregung 
„zur  Kenntnis  gebracht  und  ich  "werde  den  Herrn  kaiserlich  deutschen 
„Botschafter  morgen  von  den  Gründen  unterrichten,  die  uns  die  Annahme 
„derselben  untunlich  erscheinen  lassen." 

Wir  werden  auf  den  Umstand  der  Auslassung  der  Worte  „im  Wege 
einer  schriftlichen  Notiz"  und  auf  die  Textesänderung  hinsichtlich 
der  Modalität  der  Beantwortung  in  der  Folge  noch  hinzuweisen  haben. 
(Vgl.  unsere  Ausführungen  Seite  229  ff.  und  231  und  Anmerkung  3  daselbst.) 
Auch  muß  weiters  vermerkt  werden,  daß  das  Wiener  Kabinett  (soweit 
sich  dies  aus  dem  gegenständlichen  Aktenmaterial  feststellen  läßt)  den 
k.  u.  k.  Botschafter  in  Berlin  von  der  durch  Graf  Berchtold  selbst 
bereits  (28.  Juli)  vollzogenen  Ablehnung  des  englischen  Ver- 
mittlungsvorschlages Sir  M.  Bunsen  gegenüber  (vgl.  Seite  203  ff.) 
nicht  verständigte. 

3  Weisung  nach  Berlin  d.  d.  28.  Juli,  Nr.  283.  Expediert  28.  Juli, 
11   Uhr  p.  m. 

*  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  28.  Juli,  7  Uhr  40  Minuten  p.  m., 
Nr.  314. 

179 


Militär- 
attaches) 


sei,  daß  eine  Konferenz  nicht  das  geeignete  Mittel  wäre,  um 

einen  Erfolg  zu  erzielen  '. 
nie  Wie    der    deutsche    Militärattache    aus    Petersburg    am 

russischen     26.  JuH    meldete  -,    habe    das  Gardekorps    Ordre    erhalten, 

Rüstungen  ^  j  r  ) 

(Meldung  des  oach  Krasnojc  Selo  zurückzukehren,  desgleichen  sollten 
deutschen  g||g  Regimenter  in  ihre  Garnisonen  wieder  einrücken;  die 
Manöver  sollten  abgebrochen  werden. 

Bei  dem  deutschen*  Generalstab  war  die  —  allerdings 
nicht  als  sicher  zu  betrachtende  —  Nachricht  eingelaufen, 
daß  vier  Jahrgänge  russischer  Reserve  einberufen  worden 
seien.  Sollte  dies  wirklich  zutreffen,  so  käme  es  nach  Ansicht 
des  Großen  Generalstabes  einer  allgemeinen  Mobilisierung 
Rußlands  gleich. 

Weiters  war  in  Berlin  die  —  übrigens  auch  nicht  als 
feststehend  geltende  —  Nachricht  eingelangt,  daß  die 
Militärbezirke  Moskau,  Warschau,  Kiew  und  Odessa 
mobilisiert  wurden. 

Dem  Grafen  Szögyeny  wurde  am  27.  Juli  im  Aus- 
wärtigen Amte  die  Eröffnung  gemacht ',  daß  sich  nach 
neuesten  Nachrichten  die  Meldung  der  Einberufung  von 
vier  Jahrgängen  der  Reserve  und  die  Mobilisierung  der 
russischen  Militärbezirke  nicht  zu  bewahrheiten  scheine. 

Herr  Sazonow  habe  dem  deutschen  Botschafter  erklärt, 
er  könne  ihm  „garantieren,  daß  russischerseits  keine  Mobili- 
„sierung  vorgenommen  worden  sei." 

Weiters  habe  sich  der  russische  Minister  des  Äußern 
Graf  Pourtales  gegenüber  geäußert,  „daß  Rußland  nur  dann 


'  Da  die  Ablehnung  des  englischen  Vorschlages  einer  Botschafter- 
konferenz deutscherseits  bereits  am  27.  Juli  erfolgt  war  (Blaubuch  Nr.  43), 
(vgl.  Seite  173),  erfolgte  die  Berichterstattung  Graf  Szögyenys  vom 
28.  Juli,  7  Uhr  40  Minuten  p.  m.,  etwas  verspätet. 

Zur  Tatsache,  daß  das  Wiener  Kabinett  dieses  Telegramm  Graf 
Szögyenys  —  und  nicht  die  vom  Grafen  Berchtold  direkt  vorgenom- 
mene Ablehnung  des  englischen  Vermittlungsvorschlages  gegenüber  Sir 
M.  Bunsen  (vgl.  Seite  203)  —  den  k.  u.  k.  Missionen  am  29.  Juli  mitteilte, 
vgl.  unsere  Ausführungen  Seite  229  ff. 

=  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  26.  Juli,  8  Uhr  38  Minuten  p.  m., 
Nr.  297. 

=  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  27.  Juli,  4  Uhr  20  Minuten  p.  m., 
Nr.  301. 


180 


„mobilisieren  würde,  wenn  Österreich-Ungarn  eine  feind- 
„liche  Haltung  gegen  Rußland  einnehmen  werde.  Rußland 
„wünsche  den  Frieden  und  hoffe,  daß  Deutschland  es  darin 
„unterstützen  werde". 

Der  deutsche  Militärattache  in  Petersburg  habe  auch 
gemeldet,  der  russische  Kriegsminister  habe  ihm  sein 
Ehrenwort  gegeben,  daß  weder  ein  Mann  noch  ein  Pferd 
mobilisiert  seien,  doch  seien  natürlicherweise  gewisse  militä- 
rische Vorsorgen  getroffen  worden;  Vorsorgen,  die,  wie  der 
deutsche  Militärattache  seiner  Meldung  als  von  sich  aus 
hinzugefügt  habe,  allerdings  ziemlich  weitgehend  seien. 

In    Erwiderung     des    vorstehenden     Telegramms     Graf  Weisung  an 
Szögyenys    führte  Graf  Berchtold    am  28.  Juli  aus':    Vom  Bo"scha"Jer 
k.    u.    k.    Militärattache    in  Petersburg    lägen    analoge  Mel-  in  Berlin 
düngen  über  russische  Rüstungen  vor.  *^^'  •*"''' 

Der  k.  u.  k.  Botschafter  wolle  sich  sofort  zum  Reichs- 
kanzler oder  Staatssekretär  begeben  und  ihm  folgendes  im 
Namen  des  Grafen  Berchtold  mitteilen: 

Nach  übereinstimmenden  Nachrichten  aus  Petersburg, 
Kiew,  Warschau,  Moskau  und  Odessa  treffe  Rußland 
umfangreiche  militärische  Vorbereitungen.  Herr  Sazonow 
habe  zwar  ebenso  wie  der  russische  Kriegsminister  unter 
Ehrenwort  versichert,  daß  eine  Mobilisierung  bisher  nicht 
angeordnet  wurde,  der  letztere  habe  jedoch  dem  deutschen 
Militärattache  mitgeteilt,  daß  die  gegen  Österreich-Ungarn 
gelegenen  Militärbezirke  Kiew,  Odessa,  Moskau  und  Kasan 
mobilisiert  werden  würden,  wenn  österreichisch-ungarische 
Truppen  die  serbischen  Grenzen  überschritten. 

Unter  diesen  Umständen  halte  es  der  k.  u.  k.  Chef  des 
Generalstabes  für  unbedingt  nötig,  darüber  ohne  Verzug 
Klarheit  zu  gewinnen,  ob  die  Monarchie  mit  starken  Kräften 
gegen  Serbien  marschieren  könne  oder  ob  sie  ihre  Haupt- 
macht gegen  Rußland  zu  verwenden  haben  werde.  Von  der 
Entscheidung  dieser  Frage  hänge  die  ganze  Anlage  des 
Feldzuges  gegen  Serbien  ab.    Falls  Rußland  die  erwähnten 

I  Weisung  nach  Berlin  d.  d.  Wien,  28.  Juli,  Nr.  282.  Expediert  28.  Juli, 
11   Uhr  p.  ni. 

181 


Militärbezirke  tatsächlich  mobilisiere,  wäre  es  schon  mit 
Rücksicht  auf  die  große  Bedeutung  des  Zeitgewinnes  für 
Rußland  unerläßlich,  daß  sowohl  Österreich-Ungarn  als, 
nach  der  ganzen  Situation,  auch  Deutschland  sofortige 
weitestgehende  Gegenmaßregeln  ergriffen. 

Die  Ansicht  des  Barons  Conrad  scheine  dem  Grafen 
Berchtold  höchst  beachtenswert,  und  er  würde  das 
Berliner  Kabinett  dringend  ersuchen,  der  Erwägung  näherzu- 
treten, ob  nicht  Rußland  in  freundschaftlicher  Weise  darauf 
aufmerksam  gemacht  werden  sollte,  daß  die  Mobilisierung 
der  genannten  Bezirke  einer  Bedrohung  Österreich-Ungarns 
gleichkäme  und  daher,  falls  sie  tatsächlich  erfolge,  sowohl 
von  der  Monarchie  als  vom  verbündeten  Deutschen  Reiche 
mit  den  weitestgehenden  militärischen  Gegenmaßregeln 
beantwortet  werden  müßte. 

Um  Rußland  ein  eventuelles  Einlenken  zu  erleichtern, 
scheine  es  dem  Wiener  Kabinett  angezeigt,  daß  ein  solcher 
Schritt  vorerst  von  Deutschland  allein  unternommen  werden 
sollte,  doch  wäre  das  Wiener  Kabinett  natürlich  bereit,  den 
Schritt  auch  zu  zweien  zu  machen. 

Eine  deutliche  Sprache  scheine  dem  Grafen  Berchtold  in 
diesem  Augenblicke  das  wirksamste  Mittel,  um  Rußland  die 
ganze  Tragweite  eines  drohenden  Verhaltens  zum  Bewußt- 
sein zu  bringen. 

Auch  wäre  zu  überlegen,  oh  nicht  die  günstigen  Dis- 
positionen, die  nach  den  dem  Berliner  Kabinett  zu- 
gekommenen Nachrichten  in  Bukarest  bestünden,  zu  benützen 
wären,  um  auch  von  Rumänien  her  einen  Druck  auf  Ruß- 
land auszuüben.  Zu  diesem  Zwecke  scheine  es  dem  Grafen 
Berchtold  wünschenswert,  daß  der  k.  u.  k.  und  der  deutsche 
Gesandte  in  Bukarest  unverzüglich  angewiesen  würden,  an 
König  Carol  mit  dem  Ersuchen  heranzutreten,  sei  es  durch 
eine  solenne  Demarche  in  St.  Petersburg  (eventuell  auch 
ein  geheimes  Telegramm  König  Carols  an  Kaiser  Nikolaus) 
oder  durch  die  öffentliche  Bekanntgabe  des  Bündnisses, 
offen  zu  erklären,  daß  Rumänien  im  Falle  einer  europäischen 
Konflagration  an  der  Seite  des  Dreibundes  gegen  Rußland 
kämpfen  würde. 

182 


Diese  Klarstellung  müßte,  um  ihrem  Zweck  zu  ent- 
sprechen, bis  spätestens  1.  August  erfolgen  '. 

Graf  Szögyeny  wolle  schließlich  bemerken,  Graf  Berch- 
told  nehme  an,  daß  die  maßgebenden  deutschen  Faktoren 
angesichts  des  die  beiden  Reiche  bedrohenden  Verhaltens 
Rußlands  seinen  Vorschlägen  zustimmen  würden. 

Rom 

Dem    römischen    Kabinett    wurde    die    Abweisung    der  offizkiie 

serbischen  Antwortnote    mit   folgender  Motivierung   offiziell  '^'"=''""s 

ö  ö  des  Ab- 

mitgeteilt-:    Der    königlich    italienischen    Regierung    sei    es  bruches  der 
wohl   bekannt,   daß   dem  Wiener   Kabinett  aggressive  Ten-  ^"''"""f" 

'  öö  Osterreich- 

denzen  ferne  lägen,  und  daß  es  ein  Akt  der  Selbstverteidigung  Ungarns  zu 
sei,  wenn  es  sich  nach  jahrelanger  Duldung  endlich  dazu  %''"^"|;, 
entschließe,  den  großserbischen  Wühlereien  eventuell  mit 
dem  Schwerte  entgegenzutreten.  Man  werde  dem  Wiener 
Kabinett  in  Rom  das  Zeugnis  nicht  versagen  können,  daß 
es  trotz  der  schwersten  Provokationen  Serbien  gegenüber 
seit  einer  Reihe  von  Jahren  die  größte  Langmut  habe  walten 
lassen,  obwohl  ihm  die  immer  kühner  auftretende  groß- 
serbische Propaganda  die  schwersten  Besorgnisse  einflößen 
mußte.  Nachdem  nunmehr  aber  das  nach  den  Ergebnissen 
3er  Untersuchung  in  Belgrad  vorbereitete  und  von  den 
dortigen  Sendungen  ausgeführte  Attentat  in  Sarajevo  deutlich 
beweise,  daß  man  in  Serbien  zur  vermeintlichen  Förderung 
seiner  Ziele  auch  vor  den  gewalttätigsten  Mitteln  nicht 
zurückschrecke,  sei  das  Wiener  Kabinett  zur  Erkenntnis 
gelangt,  es  sei  höchste  Zeit,  sich  mit  allem  Nachdrucke 
Garantien  gegen  den  Fortbestand  der  gegenwärtigen  unleid- 
lichen Verhältnisse  an  der  südöstlichen  Grenze  der  Monarchie 
zu  verschaffen. 

Da  nun  die  friedlichen  Mittel,  um  Serbien  zu  einer 
Änderung  seiner  Haltung  zu  bewegen,  erschöpft  seien,  sei 
die  Entscheidung  durch  die  Waffen  voraussichtlich. 

'  Der  Satz:  „Diese  Klarstellung  müßte,  um  ihren  Zwecken  zu  ent- 
sprechen, bis  spätestens  1.  August  erfolgen",  erscheint  im  Konzept 
als  nachträglicher  Zusatz  von  der  Hand  Graf  Berchtolds. 

2  Weisung  nach  Rom  d.  d.  Wien,  26.  Juli,  Nr.  884. 

183 


Als  Italien  vor  kurzer  Zeit  genötigt  war,  zur  Befestigung 
seiner  Stellung  im  Mittclmeer  und  zur  Wahrung  seiner 
wirtschaftlichen  Interessen  Krieg  zu  führen,  habe  die 
Monarchie  in  bundesfreundlicher  Gesinnung  die  Erfolge  seiner 
Waffen  mit  Freuden  begrüßt  und  die  sich  hieraus  ergebende 
Erweiterung  der  italienischen  Machtsphäre  bereitwilligst 
anerkannt. 

Dem  freundschaftlichen  Charakter  des  Bundesverhält- 
nisses entsprechend,  habe  nunmehr  Herzog  von  Avarna  die 
offizielle  Erklärung  abgegeben,  daß  Italien  im  Falle  des  Ein- 
tretens eines  kriegerischen  Konflikts  zwischen  der  Monarchie 
und  Serbien  seiner  Bundespflichten  eingedenk  sein  werde. 
Hievon  nehme  das  Wiener  Kabinett  mit  dankbarer  Genug- 
tuung Kenntnis. 

Rekrimiaa-  Dcm  k.  u.  k.  Botschaftcr  in  Rom  stattete  der  Sekretär 

lioncn  der     ^^^   Minlstcrs    dcs    Äußern,    Biancheri,    am    26.    luli    einen 

Italienischen  '  j  ^ 

Regierung      Krankcttbesuch  ab. 

(26.  Juli) 

In  einer  längeren  unverbindlichen  Konversation  über 
den  Konflikt  der  Monarchie  mit  Serbien'  hob  der  italienische 
Funktionär,  der  hiebei  offenbar  die  Auffassung  seines  Chefs 
zum  Ausdrucke  brachte,  den  für  jeden  Staat  inakzeptablen 
Ton  der  Note  und  den  Umstand  hervor,  daß  letztere  den 
Kabinetten  nicht  früher  mitgeteilt  worden  sei,  so  daß  die- 
selben jeden  Engagements  frei  seien;  daß  ihnen  die  Note 
nachträglich  aber  dann  doch  mitgeteilt  worden  sei,  was 
ihnen  Gelegenheit  zur  Einmischung  gebe  und  mit  der  These 
unvereinbar  sei,  es  handle  sich  um  eine  ausschließlich  die 
Monarchie  und  Serbien  angehende  Angelegenheit.  Wozu 
dann  die  Mitteilung  an  die  Signatarmächte?  Auch  von  Italien, 
das  man  früher  weder  gefragt  noch  verständigt  habe,  könne 
man  nicht  verlangen,  daß  es  eventuell  im  weiteren  Verlaufe 
des  Konflikts  für  die  Monarchie  vom  Leder  ziehe.  Käme 
es  zu  zeitweisen  oder  definitiven  Okkupationen  von  öster- 
reichisch-ungarischer Seite,  so  stehe  das  Anrecht  Italiens 
auf  Kompensationen  außer  Zweifel. 


'  Telegramm    aus  Rom    d.  d.  26.  Juli,  Nr.  541.    Expediert    27.   Juli, 
2  Uhr  a.  m. 

184 


Herr  von  Merey  trat  allen  diesen  Thesen  nachdrück- 
lichst entgegen,  wobei  er  aber,  wie  er  in  seiner  Meldung 
feststellte,  die  zwar  nicht  überraschende,  aber  höchst  be- 
dauerliche Konstatierung  machte,  daß  sich  Herr  Biancheri 
sowohl  hinsichtlich  der  Kritik  der  Redaktion  der  öster- 
reichisch-ungarischen Note,  wie  bezüglich  der  Unterlassung 
ihrer  früheren  Mitteilung,  wie  vollends  betreffs  der  Kompen- 
sationen theoretisch  auf  die  Übereinstimmung  zwischen  Rom 
und  Berlin  berief. 

Herr  von  Merey  war  überzeugt,  Italien  werde  an  das 
Wiener  Kabinett  mit  allerlei  dasselbe  irgendwie  bindenden 
Anträgen  hinsichtlich  einer  Mediation  oder  Kompensation 
herantreten.  Seines  Erachtens  sollte  sich  die  Monarchie 
absolut  ablehnend  verhalten,  ja  keinerlei  Engagements  ein- 
gehen und  die  römische  Presse  und  Regierung  sich  gebär- 
den lassen.  Je  entschlossener  und  unerschütterlicher  man 
in  Wien  sei,  desto  mehr  werde  dies  in  Italien  nützen. 

Der    deutsche    Botschafter    in    Wien    hatte    am   26.  Juli  un,erredung 
bei    Graf    Berchtold    vorgesprochen '    und    ihm    auftrags-  Herrn  von 
gemäß    den  Inhalt   eines    Telegramms    des    deutschen    Bot-  J^G^Tf 
schafters  in  Rom  mitgeteilt,   worin    der  Letztere    über   eine  ßerchtoid 
Unterredung    mit    Marchese    di    San  Giuliano    betreffs    der  Deuts"hiand 
österreichisch-ungarisch-serbischen  Krise  referierte.  "kUrt  sich 

Darnach  solle  der  italienische  Minister  des  Äußern  in  sehr  "älien^iLhen 
gereiztem    Tone    den    österreichisch-ungarischen    Schritt   in  interpreta- 
Belgrad  besprochen  und  betont  haben,    derselbe  stelle  sich  Artikels  vii 
als  ein  aggressiver  Akt   dar,    für  dessen  Konsequenzen  die  solidarisch 
italienische   Regierung   nicht   herangezogen   werden    könne. 
Der  Dreibundvertrag  sei  rein  defensiver  Natur,  der  Vorstoß 
der  Monarchie  gegen  Serbien  aber  offensiv;  wenn  Rußland 
dadurch  in  den  Kampf  hineingezogen   werden    sollte,    wäre 
für  Italien  der  Casus  foederis  nicht  gegeben  und   es  würde 
sich  passiv  verhalten. 

Baron  Flotow  bemühte  sich  im  Laufe  der  mehrstündigen 
Unterredung,  den  Minister  von  seinem  Standpunkt  abzu- 
bringen, ihm  die  österreichisch-ungarische  Aktion  als  einen 
Akt  der  Notwehr  und  Selbsterhaltung  darzustellen  und  den 

1  Tagesbericht  d.  d.  26.  Juli,  Nr.  3577. 

185 


defensiven  Charakter  einer  eventuellen  militärischen  Stellung- 
nahme Deutschlands  und  Österreich-Ungarns  gegen  ein 
Eingreifen  Rußlands  hervorzuheben,  wodurch  Italien  nach 
dem  Bündnisvertrage  verpflichtet  werde,  an  der  Seite 
Österreich-Ungarns  und  Deutschlands  zu  kämpfen. 

Marchese  di  San  Giuliano,  der  seine  Anschauungsweise 
mit  großer  Zähigkeit  vertrat  und  auf  die  außerordent- 
lichen Schwierigkeiten  verwies,  die  ihm  seitens  der  öffent- 
lichen Meinung  seines  Landes  angesichts  dieses  Konflikts 
bereitet  würden,  bei  welchem  die  Sympathien  nicht  auf 
österreichisch-ungarischer,  sondern  auf  gegnerischer  Seite 
stünden,  habe  schließlich  geltend  gemacht,  daß  die  Mon- 
archie nach  Artikel  VII  des  Dreibundvertrages  auch  im 
Falle  vorübergehender  Besetzung  eines  Gebietes  am  Balkan 
Italien  gegenüber  kompensationspflichtig  sei,  daß  also  Italien 
die  Erfüllung  der  Stipulationen  dieses  Abkommens  ver- 
langen müßte. 

Herr  von  Tschirschky  betonte  hiebei,  daß  sich  die 
deutsche  Regierung  in  letzterer  Beziehung  mit  der  italie- 
nischen Regierung  solidarisch  erkläre,  da  nach  dem  Wortlaute 
des  Allianzvertrages,  so  ungelegen  dies  im  gegenwärtigen  Falle 
erscheinen  möge,  für  jede  auch  vorübergehende  Okkupation 
von  Gebieten  „dans  les  regions  des  Balcans"  --  sei  es  von 
Österreich-Ungarn,  sei  es  von  Italien  —  vom  anderen 
Kontrahenten  Kompensationsansprüche  auf  Grund  vorher- 
gehenden Übereinkommens  gefordert  werden  könnten. 

Auf  die  Entgegnung  Graf  Berchtolds,  daß  das  Wiener 
Kabinett  diesbezüglich  anderer  Auffassung  sei,  da  dem  Geiste 
des  Dreibundvertrages  und  speziell  des  Artikels  VII  zufolge 
die  fragliche  Kompensationsbestimmung  sich  bloß  auf  türki- 
sches Gebiet  beziehen  könne,  replizierte  Herr  von  Tschirschky 
mit  der  Bemerkung,  daß  die  Abfassung  des  Artikels  VII 
„unglücklicherweise"  eine  solche  sei,  den  Anspruch  der 
italienischen  Regierung  vollkommen  zu  rechtfertigen,  und  daß 
daher  die  deutsche  Regierung  in  dieser  Frage  sich  auf  Seite 
der  italienischen  Regierung  stellen  müsse,  somit  zwei  Stimmen 
gegen  eine  in  die  Wagschale  fallen  würden. 

Graf  Berchtold  verhehlte  dem  Botschafter  sein  Befrem- 
den   über    die  starre  Haltung    des    römischen    Kabinetts  in 

186 


dieser  Frage  nicht.  Während  des  lybischen  Feldzuges  hätten 
die  italienischen  Truppen  eine  Reihe  von  ottomanischen 
Inseln  im  Ägäischen  Meere  besetzt,  was  für  die  Monarchie 
einen  Kompensationsanspruch  begründet  habe.  Graf  Berch- 
told  hätte  damals  zugegeben,  daß  man  Rhodus,  Karpathos 
und  Stampalia,  welche  am  Ausgange  des  Ägäischen  Meeres 
in  das  Mittelmeer  gelegen  seien,  noch  ausschalten  könne, 
die  übrigen  aber  unbedingt  als  in  das  Gebiet  des  Ägäischen 
Meeres  fallend  rechnen  müsse,  für  welche  der  Monarchie 
ein  Kompensationsanspruch  zustehe.  Graf  Berchtold  hätte 
letzteren  damals  nicht  geltend  gemacht,  müßte  aber  nun, 
falls  Italien  eine  so  weitgehende  und  intransigente  Inter- 
pretation für  sich  in  Anspruch  nehmen  sollte,  die  Gegen- 
rechnung der  Monarchie  präsentieren.  Im  übrigen  sei  er  der 
Ansicht,  daß  die  Frage  jetzt,  da  die.  Monarchie  ja  nicht  die 
Absicht  hätte,  weder  temporär  noch  definitiv  serbische  Ge- 
biete zu  besetzen  —  (vorübergehende  Kriegsoperationen 
könnten  doch  nicht  als  temporäre  Besetzung  klassifiziert 
werden)  —  nicht  auf  die  Tagesordnung  zu  stellen  wäre. 

Der  italienische    Botschafter,    Herzog   von    Avarna,    der  Unterredung 
ebenfalls  am  26.  Juli  bei  Graf   Berchtold   erschienen  war',  ß^chwid" 
teilte   aus   Anlaß    des     Konflikts    zwischen    der   Monarchie  mit  dem 
und    Serbien    mit,   daß    sich    die    italienische  Regierung  für  B^„','"hlte7 
den    Fall,    als   dieser   Konflikt   eine   kriegerische   Wendung  (26.  jun) 
nehmen  und  zu  einer  —  wenn  auch  nur  provisorischen  —  <'"''^" 

reklamiert 

Besetzung     serbischen     Territoriums     führen     sollte,    vor-  seinKom- 
behalte,  das  ihr  auf  Grund  des  Artikels  VII  des  Dreibund-  p'^n^"'!»"^- 

recht  für  den 

Vertrages  zustehende    Kompensationsrecht   in    Anspruch   zu  paii  einer 
nehmen.  Die  italienische  Regierung  sei  überdies  auf  Grund  ««""'""^h 

nur  provi- 

des  eben  angeführten  Vertragsartikels  der  Ansicht,  daß  sich  sorischen 
die  Monarchie   vor   der   eventuellen    Besetzung   serbischen  ^""^""g 

serbischen 

Gebietes  mit  ihr  ins  Einvernehmen  setzen  müßte.  Terri- 

Im  übrigen  beabsichtige  die  italienische  Regierung  in 
dem  eventuell  bewaffneten  Konflikt  zwischen  Österreich- 
Ungarn  und  Serbien  eine  freundschaftliche  und  den  Bündnis- 
pflichten entsprechende  Haltung  einzunehmen. 

•  Weisung  nach  Rom  d.  d.  26.  Juli,  Nr.  887.  Expediert  26.  Juli, 
1 1  Uhr  45  Minuten  p.  m. 

187 


Weisung  an 
den  k.  u.  k. 
Botschuflcr 
in  Rom 
(26.  Juli) 


Ratschläge 
Herrn  von 
Jagows  an 
das  Wiener 
Kabinett 
<27.  Juli) 


Ausführung 
der  Weisung 
vom  26.  Juli 
(2S.  Juli) 


Dem  k.  u.  k.  Botschafter  in  Rom  ließ  Graf  Berchtold 
die  Information  über  die  Mitteilung  des  Herzogs  von  Avarna 
noch  in  der  Nacht  des  26.  Juli  zukommen,  wobei  er 
bemerkte,  er  habe  noch  keine  Gelegenheit  gefunden,  Herzog 
von  Avarna  den  eigenen  Standpunkt  gegenüber  dessen 
Erklärungen  darzulegen. 

Da  es  heute  noch  ungewiß  sei,  ob  und  in  welchem 
Ausmaße  sich  die  Monarchie  zu  einer  provisorischen 
Besetzung  serbischen  Gebietes  veranlaßt  sehen  werde, 
scheine  Graf  Berchtold  eine  Diskussion  über  diesen 
Gegenstand  verfrüht  und  er  werde  bestrebt  sein,  eine  solche 
vorläufig  noch  hinauszuschieben. 

Herr  von  Jagow  erklärte  sich  (27.  Juli)  mit  der  ihm 
durch  Graf  Szögyeny  mitgeteilten  Stellungnahme  Graf  Berch- 
tolds  dem  italienischen  Standpunkte  gegenüber  vollkommen 
einverstanden'  und  fand  es  ganz  angezeigt,  daß  derselbe 
vorerst  in  keine  Auseinandersetzung  über  die  Interpretation 
des  Artikels  VII  eingegangen  sei.  Trotz  alledem  sei  Herr 
von  Jagow  der  Meinung,  daß  Graf  Berchtold  schon  jetzt, 
ohne  Berufung  auf  den  Artikel  VII,  in  ausdrücklicher  Weise 
der  italienischen  Regierung  erklären  solle,  daß  er,  falls  eine 
als  nicht  nur  vorübergehend  anzusehende  Okkupation 
serbischen  Gebietes  gegen  den  Willen  des  Wiener  Kabinetts 
doch  als  unvermeidliche  Verfügung  erachtet  würde,  mit 
einer  Kompensation  (ohne  irgendwelche  Angabe  über  ihren 
Umfang)  an  Italien  einverstanden  sein  werde. 

Durch  eine  derartige  Erklärung,  meinten  Herr  von 
Jagow  und  Herr  Zirrunermann,  würde  Italien,  das  fort- 
während in  Berlin  in  diesem  Sinne  Vorstellungen  erhebe, 
beruhigt  werden. 

Den  mit  der  Instruktion  vom  26.  Juli  erhaltenen  Auftrag - 
ließ  Herr  von  Merey,  der  noch  bettlägerig  war,  durch  Graf 
Ambrözy  ausführen  3.  Zugleich  wies  er  Graf  Ambrözy  an, 
um  den  Auftrag,  angesichts  der  nicht  unbedenklichen 
Haltung  der  italienischen  Regierung  in  der  Kompensations- 
frage, nicht  in  einen  unverdienten  Dank  ausklingen  zu  lassen. 


1  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  27.  Juli,  Nr.  302. 

=  Siehe  Seite   183,   184. 

=  Telegramm  aus  Rom  d.  d.  28.  Juli,  Nr.  546. 


188 


beizufügen,  Graf  Berchtold  behalte  sich  vor,  in  eine  Dis- 
icussion  der  Kompensationsfrage  in  einem  gefahrlosen  Zeit- 
punkte einzugehen.  Der  Minister  des  Äußern,  bei  dem  sich 
Graf  Ambrözy  seines  Auftrages  entledigte,  bat,  die  Mit- 
teilung einem  seiner  Sekretäre  zu  wiederholen,  der  sich 
darüber  Notizen  machte.  Die  eigene  Antwort  versprach 
Marquis    di    San  Giuliano  eventuell  am  29.  Juli  zu  erteilen. 

Nach  seiner  Kenntnis  der  Sachlage  und  auf  Grund  seiner 
Besprechung  mit  Herrn  Biancheri,  glaubte  Herr  von  Merey 
vor  einer  mißverständlichen  oder  allzu  optimistischen  Auf- 
fassung der  durch  den  Herzog  von  Avarna  vollzogenen 
Demarche  warnen  zu  sollen'. 

Dieselbe  habe  offenbar  in  erster  Linie,  um  nicht  zu  sagen 
ausschließlich,  der  Ankündigung  der  Kompensationsansprüche 
gegolten  und  die  daran  geknüpfte  freundschafdiche,  übrigens 
sehr  vage  und  unverbindliche  Phrase,  sei  wohl  nur  eine 
captatio  benevolentiae  gewesen. 

Die  teilweise  überschwengliche  Quittierung  der  letzteren 
bei  gleichzeitiger  Vermeidung  der  Diskussion  über  das 
schwierige  Thema  erscheine  Herrn  von  Merey  bedenklich, 
da  sie  italienischerseits  entweder  als  eine  stillschweigende 
Zustimmung  oder  dahin  interpretiert  werden  könnte,  daß 
die  Monarchie  mit  einem  militärischen  Konflikt  selbst  nicht 
rechne  und  daher  die  Kompensationsfrage  als  gegenstandslos 
betrachte. 

Charakteristischerweise  sei  die  Nachricht  über  die  bundes- 
freundlichen Äußerungen  Italiens  nur  von  Wien  aus  in  die 
römischen  Journale  gelangt,  während  sie  von  der  Consulta 
der  Presse  bisher  vorenthalten  wurde.  Das  ceterum  censeo 
Herrn  von  Mereys  bleibe  daher,  Kompensationsansprüche 
rundweg  in  Abrede  zu  stellen  und  sich  ja  in  keine  heiklen 
Verhandlungen  oder  Engagements  einzulassen.  Gegenteiligen- 
falls  würde  die  Monarchie  Italien  die  Rolle  eines  Mannes 
einräumen,  der  seinem  in  die  Donau  gestürzten  Freunde 
sagen  würde:  „Ich  ziehe  dich  nicht  heraus.  Wenn  du  dir 
„aber  aus  eigener  Kraft  heraushilfst,  dann  müßtest  du  mir 
„eine  Entschädigung  geben." 

'  Telegramm  aus  Rom  d.  d.  28.  Juli,  Nr.  547. 

189 


Demarchen  Wclchc  Bcsorgnissc  die  Berliner  Regierung    hinsichtlich 

Herrn  von  (jgj.  östcrreichisch-ungarisch-italienischen  Unstimmigkeiten  in 

bei  Graf  der  Kompensatiünsfragc    bereits    hegte,    dokumentieren   die 

Berchioid  in  j,^    27.    und    28.  Juli   bei    Graf  Berchtold   unternommenen 

der  Kompen-  ^  ^r-       < 

saiionsfrage    Demarchen  Herrn  von  Tschirschkys '. 

(27.  und  Beide  Male  erschien  der  deutsche  Botschafter  im  persön- 

lichen Auftrage  Kaiser  Wilhelms,  des  Reichskanzlers  sowie 
des  Staatsministers,  um  den  Grafen  Berchtold  angesichts  der 
ernsten  Lage  und  der  drohenden  Gefahren  „um  Himmels- 
willen" zu  bitten,  sich  mit  Italien  über  die  Interpretation 
des  Artikels  VII  des  Dreibundvertrages  ins  Reine  zu  setzen. 
Italienischerseits  werde  das  Vorgehen  der  Monarchie  gegen 
Serbien  als  ein  aggressiver  Akt  auch  gegenüber  Rußland 
angesehen  und  daher  der  Standpunkt  vertreten,  Italien  könne 
sich  bei  dem  defensiven  Charakter  des  Dreibundvertrages 
nicht  als  verpflichtet  ansehen,  in  einem  eventuell  daraus 
entstehenden  Kampfe  mit  Rußland  auf  die  Seite  der  Monarchie 
zu  treten.  Weiter  sei  erklärt  worden,  und  zwar  sowohl  durch 
den  italienischen  Botschafter  in  Berlin  wie  durch  San 
Giuliano  und  Salandra  in  Rom,  daß  Italien  nur  dann  eine 
freundschaftliche  Haltung  einnehmen  könnte,  wenn  das 
Wiener  Kabinett  die  italienische  Interpretation  des  Artikels  VII 
des  Dreibundvertrages  akzeptieren  würde. 

Herr  von  Tschirschky,  der  beauftragt  war,  Graf  Berchtold 
zu  erklären,  die  deutsche  Regierung  interpretiere  den  Artikel  VII 
in  der  gleichen  Weise  wie  die  italienische,  richtete  (wie  die 
gegenständliche  Aufzeichnung  des  k.  u.  k.  Ministeriums  des 
Äußern  besagt)  einen  feierlichen  und  nachdrucksvollen 
Appell  an  den  Grafen  Berchtold,  diese  Situation  tunlichst 
bald  ins  klare  zu  bringen,  da  die  ganze  militärische  Aktion 
Deutschlands  aufs  Spiel  gesetzt  würde,  wenn  Italien  den 
Casus  foederis  nicht  anerkennen  sollte. 

Erklärungen         Hcrzog   von    Avama,    der   gleichfalls    am    28.   Juli    bei 

des  Herzogs  Qj.gf  ßcrchtold  vorsprach,  gab  im  Auftrage  seiner  Regierung 

von  Avarna  i     i-v      r-i 

(28.  Juli)       eine  analoge   Erklärung   ab,  wie    kürzlich   (25.  Juli)    Baron 
Macchio  gegenüber,  dahingehend,  man  hätte  in  Rom  erwartet, 

1  Weisung  nach  Rom  d.  d.  Wien,  28.  Juli,  Nr.  892,  und  Weisung  nach 
Berlin  d.  d.  Wien,  28.  Juli,   Nr.  280.   E.\pediert  am  28.  Juli,   1   Uhr  p.  m. 

190 


das  Wiener  Kabinett  würde  in  einem  Falle,  wie  der  gegen- 
wärtige (Demarche  in  Belgrad),  der  unter  die  Bestimmung 
des  Artiivels  VII  des  Dreibundvertrages  („dans  les  Balcans") 
falle,  zuerst  das  Einvernehmen  mit  den  beiden  Verbündeten 
pflegen;  daß  ferner  die  italienische  Regierung  für  den  Fall, 
als  der  drohende  Konflikt  eine  kriegerische  Wendung  nehmen 
und  zu  einer,  wenn  auch  nur  provisorischen  Besetzung 
serbischen  Territoriums  führen  sollte,  sich  vorbehalte,  das 
ihr  auf  Grund  des  Artikels  VII  des  Dreibundvertrages  zu- 
stehende Kompensationsrecht  in  Anspruch  zu  nehmen, 
worüber  vorhergehend  ein  Einvernehmen  herzustellen  wäre, 
schließlich,  daß  die  königlich  italienische  Regierung  in  dem 
eventuellen  Waffengange  zwischen  Österreich-Ungarn  und 
Serbien  eine  freundschaftliche  und  den  Bündnispflichten 
entsprechende  Haltung  einnehmen  wolle. 

Graf  Berchtold  erwiderte  dem  italienischen  Botschafter, 
daß  der  Streitfall  der  Monarchie  mit  Serbien  nur  diese  und 
Serbien  angehe  und  daß  das  Wiener  Kabinett  übrigens  an 
keine  territoriale  Erwerbung  dächte;  eine  Besetzung  serbischen 
Gebietes  daher  nicht  in  Frage  käme. 

Auf  die  Bemerkung  des  Herzogs  von  Avarna,  daß  es 
den  Mächten  gegenüber  von  großem  Vorteil  wäre,  wenn 
das  Wiener  Kabinett  eine  bindende  Erklärung  hierüber 
abgeben  würde,  entgegnete  Graf  Berchtold,  dies  sei  aus 
dem  Grunde  nicht  möglich,  da  man  derzeit  nicht  voraus- 
sehen könne,  ob  die  Monarchie  nicht  durch  den  Verlauf 
des  Krieges  in  die  Lage  gebracht  würde,  gegen  ihren  Willen 
serbisches  Territorium  okkupiert  zu  halten.  Bei  normaler 
Abwicklung  sei  dies  allerdings  nicht  zu  erwarten,  da  die 
Monarchie  absolut  kein  Interesse  hätte,  die  Zahl  ihrer 
serbischen  Untertanen  noch  zu  vermehren. 

Graf  Berchtold    ersuchte  Herrn    von  Merey    (28.  Juli) ',  Eereitwiiiig- 
Marquis   di    San    Giuliano  von  der  abgegebenen  Erklärung  I^^L/^^ 
des  Herzogs  von  Avarna  und  der  darauf  erteilten  Antwort  Kabinetts, 
Mitteilung  zu  machen  und  hinsichtlich  der  aus  dem  Artikel  VII  „^^^''^^'i-  au 
des  Dreibundvertrages  abgeleiteten  Kompensationsansprüche  vorüber- 
Nachstehendes  zu  bemerken:  !ehenden"^" 

1  Weisung  nach  Rom  d.  d.  Wien,  28.  Juli,  Nr.  892. 

191 


Okkupation 

serbischen 
Gebietes  in 
Meinungs- 
austausch 
über  die 
Kompen- 
sationsfrage 
zu  treten 


Weisung  an 
den  k.  u.  k. 
Botschafter 
in  Berlin 
(2S.  Juli) 
(Trentino) 


Zweifel  "der 

italienischen 

Presse  an 

einer  Kriegs- 

absicht 

Osterreicli- 

Ungarns 


Wie  bereits  dem  italienischen  Botscliafter  gegenüber 
erlilärt  wurde,  lägen  territoriale  Erwerbungen  durchaus 
nicht  in  den  Absichten  des  Wiener  Kabinetts.  Sollte  es  sich 
aber  dennoch  wider  Erwarten  gezwungen  sehen,  zu  einer 
nicht  als  nur  vorübergehend  anzusehenden  Okkupation 
serbischen  Gebietes  zu  schreiten,  so  sei  es  bereit,  für  diesen 
Fall  mit  Italien  in  einen  Meinungsaustausch  über  eine 
Kompensation  zu  treten.  Auf  der  andern  Seite  erwarte  man 
in  Wien  von  Italien,  daß  das  Königreich  den  Verbündeten 
in  den  zur  Erreichung  seiner  Ziele  nötigen  Aktionen  nicht 
hindern,  sondern  ihm  vielmehr  die  in  Aussicht  gestellte 
bundesfreundliche  Haltung  unentwegt  bewahren  werde. 

Graf  Berchtold  fügte  noch  als  geheim  hinzu:  er  habe 
sich  zu  diesem  Entgegenkommen  entschlossen,  weil  es  sich 
gegenwärtig  um  ein  großes  Spiel  handle,  das  an  sich  mit 
bedeutenden  Schwierigkeiten  verbunden,  ohne  festes  Zu- 
sammenhalten der  Dreibundmächte  gänzlich  undurchführbar 
wäre. 

Diese  für  den  k.  u.  k.  Botschafter  in  Rom  bestimmte 
Instruktion  wurde  gleichzeitig  Graf  Szögyeny  nach  Berlin 
mit  dem  Auftrage  übermittelt',  sich  im  erwähnten  Sinne 
Herrn  von  Jagow  gegenüber  auszusprechen  und  sich  weiters 
dahin  vernehmen  zu  lassen,  das  Wiener  Kabinett  habe  den 
Eindruck,  daß  an  manchen  Stellen  Italiens  an  Kom- 
pensationen auf  Kosten  von  Gebieten  der  Monarchie, 
speziell  der  mit  italienischer  Bevölkerung,  etwa  des  Tren- 
tino, gedacht  werde.  Demgegenüber  wolle  Graf  Szögyeny 
auf  das  Nachdrücklichste  erklären,  daß  die  Frage  einer 
Loslösung  irgendeines  Teiles  der  Monarchie  nicht  einmal 
Gegenstand  einer  Erörterung  bilden  dürfe. 

Die  Tatsache,  daß  Österreich-Ungarn  nach  Ablehnung 
der  serbischen  Antwortnote  nicht  sofort  durch  operative 
militärische  Maßnahmen  vollendete  Tatsachen  schuf,  wurde 
nicht  bloß  in  Berlin  releviert-,  sondern  wurde  auch  — -wie 
Herr  von  Merey  am  27.  Juli  berichtete  ^  —  von  der  ge- 
samten römischen  Presse    mit  Erstaunen    registriert  und  in 

1  Weisung  nach  Berlin  d.  d.  Wien,  28.  Juli,  Nr.  280. 
=  Vgl.  Seite   171   oben,  211   Mitte,  213,  215. 
3  Telegramm  aus  Rom  d.  d.  27.  Juli,  Nr.  548. 


192 


dem    Sinne    kommentiert,    daß  Österreich-Ungarn    offenbar 
doch  eine  friedliche  Beilegung  des  Konflikts  anstrebe. 

Paris 

In  Paris  hatte  Graf  Szecsen  den  Abbruch  der  diplo- 
matischen Beziehungen  Österreich-Ungarns  zu  Serbien 
neben  dem  Hinweise  auf  die  allgemeinen  Gründe  der  Ab- 
lehnung noch  im  besonderen  mit  folgender  Erwägung  zu 
motivieren ': 

Infolge  der  Unzulänglichkeit  der  serbischen  Antwortnote  Instruktion 
und   infolge   der  immer  kühner  auftretenden  Provokationen  BotsThaf.e,- 
und  der   daraus    hervorgehenden  Bedrohung   der   Integrität  anläßlich  der 
der  Monarchie  sei  das  Wiener  Kabinett  in  die  Notwendigkeit  deTAb"^ 
versetzt    worden,    Serbien    durch    die    schärfsten  Mittel    zu  '"■"'^hes  der 
einer   grundsätzlichen    Änderung    seiner    bisherigen    feind-  ,i's''(,heTBe- 
seligen  Haltung  zu  zwingen.  Ziehungen  zu 

Die  französische  Regierung  werde  begreifen,  daß  die 
Monarchie  nun  endlich  den  Augenblick  für  gekommen 
halten  müsse,  um  sich  mit  dem  größten  Nachdrucke  Garan- 
tien zu  verschaffen,  die  in  absoluter  Weise  die  Unter- 
drückung der  serbischen  Aspirationen  und  damit  die  Ruhe 
und  Ordnung  an  den  südöstlichen  Grenzen  der  Monarchie 
gewährleisten  würden. 

Da  die  zu  diesem  Zwecke  aufgewendeten  friedlichen 
Mittel  erschöpft  seien,  müsse  eventuell  die  Entscheidung 
durch  die  Waffen  angerufen  werden.  Die  österreichisch- 
ungarische Regierung  habe  sich  hiezu  nicht  leicht  und  nur 
darum  entschlossen,  weil  ihr  Vorgehen,  dem  jede  aggressive 
Tendenz  fernliege,  nicht  anders  als  ein  unaufzuschiebender 
Akt  der  Selbstverteidigung  dargestellt  werden  könne  und 
weil  sie  einem  europäischen  Interesse  zu  dienen  glaube, 
wenn  sie  Serbien  die  Möglickeit  benehme,  auch  fernerhin 
wie  seit  den  letzten  zehn  Jahren  ein  Element  der  allge- 
meinen Beunruhigung  zu  sein. 

In  der  Haltung  Prankreichs  während  der  Annexions- 
krise, in  den  wertvollen,  von  dem  Wiener  Kabinett  dankbar 

•  Weisung  nach  Paris  d.  d.  Wien,  26.  Juli,  Nr.   163. 

^^  193 


anerkannten  Beweisen  einer  gerechten  Würdigung  der 
politischen  Bestrebungen  zu  jener  Zeit,  dürfe  das  Wiener 
Kabinett  ein  Unterpfand  dafür  erblicicen,  daß  ihm  die 
französische  Regierung  auch  in  einem  aufgezwungenen 
Kampfe  ihre  Sympathien  nicht  versagen  und  daß  sie  die 
auf  dessen  Lokalisierung  gerichteten  Bemühungen  vor- 
kommenden Falles  unterstützen  werde. 
Äußerungen  Noch    bcvor    Griif   Szecscn    diese    am    26.  Juli,    4  Uhr 

ITheTMini-  ^^  Minuten  nachmittags,  abgegangene  telcgraphische  Weisung 
sterium  des  zugckommcn  War,  wurde  ihm  anläßlich  eines  Besuches  im 
^^r'^T'!,       französischen    Ministerium    des  Äußern    am    26.    Juli    ver- 

(26.  Juli)  ■J 

traulich  Einsicht  in  ein  Telegramm  des  französischen  Ver- 
treters in  Belgrad  gewährt,  das  den  Inhalt  der  serbischen 
Antwortnote  zusammenfaßte'. 

Laut  dieser  Darstellung  akzeptiere  Serbien  alle  Wünsche 
des  Wiener  Kabinetts  rückhaltlos,  erkläre  sich  bereit,  das 
Preßgesetz  zu  modifizieren  und  bitte  nur  hinsichtlich  der 
Teilnahme  von  österreichisch-ungarischen  Organen  an  der 
Untersuchung  in  Serbien,  die  es  im  Prinzip  auch  annehme, 
um  nähere  Auskünfte. 

Als  Herr  Berthelot  sein  Erstaunen  darüber  aussprach, 
daß  diese  Antwort,  die  einer  vollkommenen  Kapitulation 
gleichkomme,  nicht  akzeptiert  wurde,  antwortete  Graf 
Szecsen,  er  kenne  den  Text  der  serbischen  Note  nicht, 
müsse  aber  vermuten,  daß  in  derselben  Reserven  enthalten 
seien,  die  deren  anscheinend  entgegenkommenden  Charakter 
modifizierten  und  die  Antwort  als  unannehmbar  erscheinen 
ließen. 

Sollte,  führte  Graf  Szecsen  in  seiner  Meldung  aus, 
Serbien  die  österreichisch-ungarischen  Wünsche  wirklich 
rückhaltslos  akzeptiert  haben,  so  würde  die  intransigente 
Haltung  des  Wiener  Kabinetts  in  Paris,  so  fürchte  er,  einen 
sehr  ungünstigen  Eindruck  machen. 

Die  Sprache  Herrn  Berthelots  sei  sonst  sehr  versöhnlich 
gewesen;  er  habe  die  Hoffnung  ausgedrückt,  das  jedenfalls 
sehr  große  Entgegenkommen  Serbiens  werde  eine  Basis 
für  weitere  Verhandlungen  bieten. 

<  Telegramm  aus  Paris  d.  d.  26.  Juli,  Nr.   125. 
194 


Die  erwähnte  Depesche  aus  Belgrad  scheine  20  Stunden 
unterwegs  gewesen  zu  sein,  ein  Umstand,  den  Herr  Berthelot 
relevierte,  ohne  daran  einen  Kommentar  zu  knüpfen. 

Bei  dieser  im  Pariser  Auswärtigen  Amt  vorherrschenden  Mitteilung 
Stimmung  hatte  Graf  Szecsen,   als  er  am  27.  Juli  auftrags-  Bruches  d;- 
gemäß    die   Mitteilung    des   Abbruches    der    diplomatischen  dipiomaü- 
Beziehungen    der  Monarchie   zu  Serbien    erstattete,    keinen  ^'i!I,'u"ngen  zu 
leichten  Stand  '.  Herr  Bienvenu  Martin  schien  peinlich  über-  serwen 
rascht   und  äußerte  sich,   die  serbische  Regierung  habe   in  *"'' 
so     weitgehendem     Maße     den     österreichisch-ungarischen 
Wünschen    Rechnung    getragen,    daß    die    übriggebliebenen 
Differenzen   so  unbedeutend  erschienen,    daß   niemand  ver- 
stehe,  warum   es   wegen    derselben    zum    Bruche   und   zur 
Anwendung  schärfster  Maßregeln  kommen  könne. 

Ohne  es  direkt  zu  sagen,  schien  Herr  Bienvenu  Martin 
anzunehmen,  der  Ausbruch  der  Feindseligkeiten  mit  Serbien 
müsse  einen  allgemeinen  Krieg  zur  Folge  haben.  Er  äußerte 
sich,  Österreich-Ungarn  würde  eine  furchtbare  Verantwortung 
auf  sich  laden,  wenn  es,  nachdem  Serbien  so  viel  nach- 
gegeben habe,  v/egen  der  verbleibenden  kleinen  Differenzen 
einen  Weltkrieg  hervorrufe.  Graf  Szecsen  erwiderte,  das 
ganze  Bestreben  der  Monarchie  sei  darauf  gerichtet,  ihrer- 
seits den  Konflikt  mit  Serbien  zu  lokalisieren;  die  Gefahr 
weiterer  Komplikationen  würde  nur  eintreten,  wenn  eine 
dritte  Macht  sich  in  diesen  Konflikt  einmischen  würde.  In 
dieser  Hinsicht  könne  Frankreich  sehr  nützlich  wirken. 

Der  Minister  versicherte,  Frankreich  höre  nicht  auf,  in 
Belgrad  zur  Nachgiebigkeit  zu  raten.  Er  gebe  die  Hoffnung 
nicht  auf,  Serbien  werde  Mittel  und  Wege  finden,  um  das 
Wiener  Kabinett  ganz  zufriedenzustellen. 

Wenn  Serbien  die  Note  nachträglich  ohne  Vorbehalt 
akzeptieren  würde,  müsse  dies  doch  genügen.  Ferner 
fragte  der  französische  Minister  Grafen  Szecsen,  was  unter 
dem  von  Graf  Berchtold  erwähnten  „schärfsten  Mitteln"  zu 
verstehen  sei,  worauf  der  k.  u.  k.  Botschafter  entgegnete, 
er  könne  dieselben  nicht  näher  präzisieren.  Herr  Bienvenu 
Martin  hoffte,  es  werde  nur  ein  Ultimatum  sein,  um  Serbien 

1  Telegramm  aus  Paris  d.  d.  27.  Juli,  Nr.   131. 

195 


die  Möglichkeit  zu  geben,  seine  Antwort  in  befriedigendem 
Sinne  zu  ergänzen. 

Die  weitgehende  Nachgiebigkeit  Serbiens,  die  in  Paris 
für  unmöglich  gehalten  wurde,  habe,  meldete  Graf  Szecsen 
des  Weiteren,  starken  Eindruck  gemacht.  Angesichts  der 
Haltung  des  Wiener  Kabinetts  verbreite  sich  die  Ansicht, 
daß  die  Monarchie  den  Krieg  um  jeden  Preis  wolle,  was 
die  Stimmung  ungünstig  beeinflusse. 

Herr  Poincare  habe  den  Besuch  in  Kopenhagen  und 
Christiania  abgesagt,  was  ihn  sicher  sehr  verstimmen  werde. 
Er  treffe  am  29.  Juli  in  Paris  ein,  Herr  Iswolsky  am  27. 
oder  28.  Juli.  „Wir  werden  jetzt  wahrscheinlich",  schloß  Graf 
Szecsen  seinen  Bericht,  „eine  schärfere  Tonart  zu  hören 
bekommen." 
Demarche  BaFOH   SchÖH    brachte    auftragsgemäß    im    Pariser   Aus- 

"•^  wärtigen  Amt  am  26.  Juli  zur  Sprache,  die  Monarchie  wolle 

deutschen  t  r>       t  t^ 

Botschafters  die  territoriale  Integrität  Serbiens  nicht  antasten.  Diese  Mit- 
(26.  juiii  teilung  wurde  (gemäß  einer  Meldung  Graf  Szecsens  vom 
26.  Juli  ')  vom  stellvertretenden  Minister  des  Äußern  mit 
sichtlicher  Freude  zur  Kenntnis  genommen.  Der  deutsche 
Botschafter  knüpfte  hieran  das  Ansuchen,  Frankreich  möge, 
wie  dies  auch  die  deutsche  Regierung  tue,  in  Petersburg 
einwirken,  daß  Rußland  den  Serben  zur  Nachgiebigkeit 
rate.  Der  Minister  versicherte,  daß  Frankreich  lebhaft  die 
Beilegung  des  Konflikts  wünsche  und  war  erstaunt,  daß 
die  serbische  Note,  die,  wie  er  sagte,  allen  Wünschen  der 
Monarchie  Rechnung  trage,  nicht  annehmbar  befunden 
wurde. 

Er  kam  auch  auf  die  Idee  Herrn  Sazonows  zu  sprechen, 
daß,  nachdem  die  serbische  Erklärung  vom  März  1909  den 
Mächten  notifiziert  worden  sei,  diese  berufen  seien,  die 
Haltung  Serbiens  zu  prüfen  und  zu  diesem  Zweck  die 
Mitteilung  des  betreffenden  Dossiers  verlangen  sollten. 

Baron  Schön  legte  Herrn  Bienvenu  Martin  die  Undurch- 
führbarkeit  dieser  Idee  dar,  worauf  der  Minister  zugab,  die 
Monarchie  könnte  sich  in  dem  vorliegenden  Falle  einem 
europäischen  Areopag  nicht  unterwerfen. 

'  Telegramm  aus  Paris  d.  d.  26.  Juli,  Nr.   128. 
196 


Am  28.  Juli  wurde  Graf  Szecsen,  der  in  einer  Meldung  «eisung  an 
vom  26.  Juli    auf   die  Notwendigkeit    der  Bekanntgabe  des  t"  ''ü  1'  ^' 

^  ö  ö  Botschafter 

offiziellen  Textes  der  serbischen  Antwortnote  hingewiesen  as.  juid 
hatte  ',  beauftragt  =,  das  ihm  mit  Postsendung  übermittelte 
Dossier  und  die  an  diesem  Tage  ebenfalls  im  Postwege 
abgehenden  kritischen  Bemerkungen  zu  der  serbischen 
Anrwortnote  sowohl  den  französischen  Staatsmännern  wie 
der  Öffentlichkeit  gegenüber  nach  TunHchkeit  zu  verwerten. 
Speziell  wolle  er  auf  das  Moment  den  Nachdruck  legen, 
daß  Senbien,  nur  um  Europa  irrezuführen,  in  seiner  Note 
sich  den  Anschein  der  Nachgiebigkeit  gegeben,  aber 
keinerlei  Garantien  für  die  Zukunft  geboten  habe;  nahezu 
jede  seiner  Zusagen  sei  durch  Vorbehalte  und  Reserven 
wertlos  gemacht.  Seine  wahre  Gesinnung  habe  es  durch  seine 
Mobilisierung  gezeigt,  während  die  Monarchie  vor  Ablauf 
der  befristeten  Note  keine  militärischen  Maßnahmen  ge- 
troffen hatte. 

London 

Graf   Mensdorff  hatte    bei  Bekanntgabe  des  Abbruches  Weisung  an 
der    diplomatischen     Beziehungen    Österreich-Ungarns     zu  ßmseha'frer 
Serbien  dieselbe  Sprache  zu  führen  wie  sein  österreichisch-  ausAniaOder 
ungarischer  Kollege  in  Paris.  "J"';';"^ 

'Nach  der  Darlegung  der  Motive,  die  das  Wiener  Kabinett  bruches  der 
zu  seinem  ablehnenden  Standpunkt  gedrängt  hatten,  sollte  Graf  .'l'J'JheTBe- 
Mensdorff  an    die    Adresse    Sir    Edwards    Greys    folgende  Ziehungen 
spezielle  Ausführungen  richten  ^:  ^u  serhien 

Das  hochentwickelte  Gerechtigkeitsgefühl  des  englischen 
Volkes  und  seiner  leitenden  Staatsmänner  könne  dem 
Wiener  Kabinette  nicht  Unrecht  geben,  wenn  es  sich  dazu 
entschließen  müßte,  mit  dem  Schwerte  zu  verteidigen,  was 
der  Monarchie  sei;  wenn  sich  diese  endlich  mit  einem 
Lande  auseinandersetze,  dessen  feindselige  Politik  die  Mon- 
archie seit  Jahren  zu  den  kostspieligsten  Maßregeln  zwinge, 
die  den  Wohlstand  derselben  auf  das  empfindlichste  beein- 
trächtigten.   Im  Vertrauen    auf  die  glücklicherweise  wieder 

i  Telegramm  aus  Paris  d.  d.  26.  Juli,  Nr.   129. 

2  Weisung  nach  Paris  d.  d.  Wien,  28.  Juli,  Nr.   169. 

3  Weisung  nach  London  d.  d.  Wien,  26.  Juli,  Nr.   172. 

197 


hergestellten  traditionell  freundschaftlichen  Beziehungen  zu 
England  dürfe  das  Wiener  Kabinett  auf  die  Sympathien  der 
königlich  großbritannischen  Regierung  bei  einem  der  Mon- 
archie aufgezwungenen  Kampfe  hoffen  und  darauf  rechnen, 
daß  sie  die  auf  dessen  Lokalisierung  gerichteten  Bestre- 
bungen Vorkommendenfalls  unterstützen  werde. 
Durch-  Instruktionsgemäß     verständigte     Graf    Mensdorff     die 

Weisung  "  Londoner  Regierung  am  26.  Juli  von  dem  Abbruch  der 
(28.  Juli.  diplomatischen  Beziehungen  Österreich-Ungarns  zu  Serbien '. 
Sir  A.  Nicolson,  den  der  k.  u.  k.  Botschafter  in  Abwesen- 
heit Sir  Edward  Greys  sprach,  war  sehr  beunruhigt,  hoffte 
aber  noch  immer,  daß  irgendein  Mittel  gefunden  werde, 
um  den  Beginn  der  Feindseligkeiten  zu  verhindern. 
Herrn  von  In    Wien    hatte    Herr    von    Tschirschky     dem     Grafen 

Muteuunger  Bcrchtold  am  26.  Juli  auftragsgemäß  mitgeteilt  -,  daß  laut 
über  das  cines  in  London  am  25.  1.  M.,  3  Uhr  nachmittags,  aufge- 
si^r'EdJa"rd  gebcncn  Telegramms  des  Fürsten  Lichnowsky,  Sir  Edward 
Greys  an  den  Grey  dicscm  die  Skizze  einer  Antwortnote  Serbiens  über- 
Ro'IchlLr  sendet  und  in  dem  begleitenden  Privatschreiben  bemerkt 
in  London  habc,  cr  hoffc,  das  Berliner  Kabinett  würde  sich  angesichts 
''■''''''  des  versöhnlichen  Tenors  dieser  Antwort  in  Wien  für  deren 
Annahme  verwenden  ^ 

Graf  Berchtold  halte  es  für  angezeigt,  daß  Graf  Mens- 
dorff dem  Staatssekretär  gegenüber  auf  die  Sache  zurück- 
komme und  ihn  darauf  aufmerksam  mache,  daß  fast  zu 
derselben  Zeit,  als  er  dies  Schreiben  an  Fürst  Lichnowsky 
richtete,  nämlich  am  25.  Juli  um  3  Uhr  nachmittags,  Serbien 
bereits  die  allgemeine  Mobilisierung  seiner  Armee  angeordnet 
habe,  was  beweise,  daß  in  Belgrad  zu  einer  friedlichen 
Austragung  der  Sache  keine  Neigung  bestand.  Die,  wie  es 
scheine,  schon  vorher  nach  London  telegraphierte  Antwort 
sei  mit  einem  den  Anforderungen  des  Wiener  Kabinetts 
nicht  entsprechenden  Inhalte  erst  um  6  Uhr  nach  erfolgter 
Ausschreibung  der  Mobilisierung  dem  k.  u.  k.  Ge- 
sandten in  Belgrad  überreicht  worden. 

1  Telegramm  aus  London  d.  d.  2ö.  Juli,  Nr.   112. 
-  Weisung   nach    London    d.    d.  Wien,   26.  Juli,    Nr.  170.    Expediert 
27.  Juli,  12  Uhr  10  Minuten  a.  m. 
"  Vgl.  Seite   172. 

198 


Am    27.  Juli    vormittags    hatte    Fürst    Lichnowsky    mit  Äußerungen 
Sir  Edward    Grey    ein  Gespräch    geführt,    über    das    Graf  ^b'^r^di^HT- 
Mensdorff  nachmittags    berichtete  '.    Die    serbische  Antwort  tung  öster- 
nehme  alles    an    bis    auf   einen  Punkt,    über  den  man  sich  '^"^  '  '"' 

„  garns 

noch  verständigen  könnte.  Wenn  Österreich-Ungarn  mit  127.  jum 
dieser  unerhörten  Demütigung  Serbiens  nicht  zufrieden  sei, 
so  beweise  es,  daß  dies  nur  ein  Vorwand  gewesen  sei  und 
darauf  abziele,  Serbien  und  den  russischen  Einfluß  zu  ver- 
nichten. Die  Okkupation  Belgrads  wäre  ein  sehr  unüber- 
legter Schritt  und  würde  die  größte  europäische  Kon- 
flagration herbeiführen.  Sir  Edward  werde  eine  Erklärung 
im  Unterhause  abgeben  und  proponiere  Mediation  und 
Konferenz  Englands,  Deutschlands,  Frankreichs  und  Italiens 
in  London. 

Sir  Edward  sei  sehr  bestimmt  gewesen  und  habe  erklärt, 
man  bitte  ihn  immer,  in  Petersburg  zu  beruhigen;  nun  sei 
der  Moment  gekommen,  daß  Deutschland  in  Wien  kalmiere. 
Der  deutsche  Botschafter  erschien,  wie  Graf  Mensdorff 
meldete,  sehr  beunruhigt  und  überzeugt,  daß  wenn  die 
Monarchie  in  Serbien  einmarschiere,  England  vollständig 
in  das  andere  Lager  hinüberschwenke. 

Am  gleichen  Tage  (27.  Juli)  fand  Graf  Mensdorff  Ge-  umemedung 
legenheit,  Sir  Edward  persönlich  den  Abbruch  der  diplo-  G^ef-Graf 
matischen  Beziehungen  zu  Serbien  mitzuteilen  -.  Mensdorn 

Daran  anknüpfend  erklärte  der  k.  u.  k.  Botschafter  aus-  Der 
führlich,    die  Aktion    der  Monarchie    sei    keine    aggressive,  ="g>'S':iie 
sondern    Selbstverteidigung   und  Selbsterhaltung;    die  Mon-  lungsvor- 
archie    beabsichtige    weder    territoriale    Eroberungen    noch  ^'^'''"s  <c°"- 
die  Vernichtung    der   serbischen  Unabhängigkeit.    Sie  wolle  ^uaire) 
eine     gewisse     Genugtuung     für     die     Vergangenheit     und 
Garantien  für  die  Zukunft. 

Sir  Edward  äußerte  sich,  er  sei  sehr  enttäuscht,  daß  das 
Wiener  Kabinett  die  serbische  Antwort  so  behandle,  als 
wenn    sie    ganz  ablehnend  wäre,  indeß  sie  doch  die  größte 

•  Telegramm  aus  London  d.  d.  27.  Juü,  2  Uhr  12  Minuten  p.  m., 
Nr.  113. 

-  Telegramm  aus  London  d.  d.  27.  Juli,  8  Uhr  5  Minuten  p.  m., 
Nr.   114. 

199 


Demütig'ung  bedeute,  der  sich  ein  unabhängiger  Staat  jemals 
unterworfen  habe  und  eigentlich  alle  Punkte  annehme.  Graf 
Mensdorff'  verwies  darauf,  daß  gerade  die  Auslassung  des 
Punktes  über  die  Teilnahme  der  österreichisch-ungarischen 
Organe  geeignet  erscheine,  alle  übrigen  Zusicherungen 
illusorisch  zu  machen. 

Sir  Edward  sagte  weiter,  der  deutsche  Botschafter  habe 
ihn  vor  zwei  Tagen  gebeten,  seinen  mäßigenden  Einfluß 
in  Petersburg  geltend  zu  machen.  Er  habe  geantwortet,  es 
wäre  nicht  möglich,  von  Rußland  zu  verlangen,  daß  es  auf 
Serbien  einwirke,  noch  weiter  zu  gehen,  als  es  dies  in  seiner 
Antwort  bereits  getan  habe. 

Sir  Edward  hätte  geglaubt,  diese  Antwort  würde  eine 
Basis  liefern,  auf  der  die  vier  anderen  Regierungen  ein 
befriedigendes  Arrangement  ausarbeiten  könnten. 

Das  sei  seine  Idee  beim  Vorschlage  einer  Konferenz 
gewesen. 

Die  Konferenz  würde  sich  versammeln  unter  der  Vor- 
aussetzung, daß  sowohl  Österreich-Ungarn  wie  Rußland 
sich  jeder  militärischen  Operation  enthalten  würden  während 
des  Versuches  der  anderen  Mächte,  einen  befriedigenden 
Ausweg  zu  finden. 

Die  Erklärung  Sir  Edwards  im  Unterhause  am  27.  Juli 
habe  dies  Konferenzprojekt  erörtert.  Als  Sir  Edward  vom 
Enthalte  militärischer  Operationen  seitens  der  Monarchie 
gegen  Serbien  sprach,  machte  Graf  Mensdorff  die  Bemerkung, 
er  fürchte,  es  sei  vielleicht  schon  zu  spät.  Der  Staats- 
sekretär meinte,  wenn  das  Wiener  Kabinett  entschlossen 
sei,  unter  allen  Umständen  mit  Serbien  Krieg  zu  führen, 
und  voraussetze,  daß  Rußland  ruhig  bleiben  werde,  so 
nehme  es  ein  großes  Risiko  auf  sich.  Könne  man  in  Wien 
Rußland  dazu  bewegen,  ruhig  zu  bleiben,  sei  alles  gut  und 
er  habe  nichts  mehr  zu  sagen.  Wenn  nicht,  seien  die  Mög- 
lichkeiten und  die  Gefahren  unberechenbar. 

Als  Symptom  der  Beunruhigung  bezeichnete  es  ferner 
Sir  Edward,  daß  die  große  Flotte,  die  nach  den  Manövern 
in  Portsmouth  konzentriert  wurde  und  am  28.  Juli  aus- 
einandergehen sollte,  vorläufig  dort  bleiben  werde. 

200 


i 


Die  Bedeu- 
tung dieser 


„Wir  hätten  keine  Reserven  einberufen,  aber  nachdem 
„sie  versammelt  sind,  können  wir  sie  in  diesem  Augenblicke 
„nicht  nach  Hause  schicken"  '. 

Der  Staatssekretär  war  betrübt  und  beunruhigt,  aber  nicht 
gereizt,  wie  Fürst  Lichnowsky  Grafen  Mensdorff  morgens 
gesagt  hatte. 

Die  Idee  Sir  Edwards  einer  Konferenz  habe  den  Zweck, 
wenn  möglich,  die  KoUission  zwischen  den  Großmächten 
hintanzuhalten;  Sir  Edward  dürfte  also  auf  Isolierung  des 
Konflikts  hinzielen.  Falls  aber  Rußland  mobilisiere  und 
Deutschland  in  Aktion  trete,  so  falle  die  Konferenz  von  selbst 
in  die  Brüche. 

Sowohl   dem    deutschen   als   dem    k.    u.    k.    Botschafter  Dieensiische 
gegenüber  hatte  sich  Sir  Edward  -am  27.  Juli  geäußert  -,  daß  ^"^  "y  "^"° 
ihm  bereits  von  Rußland  vorgeworfen  werde,  daß  er  sich  geschoben- 
zu  sehr  auf  die  Seite  Österreich-Ungarns  stelle.  öTierrelh. 

Ungarns 
durch 

<  Die  Erklärung  zu  diesen  Maßnahmen  Sir  Edwards  bieten,   wie   der  Deutschland. 
bereits   zitierte   Tagesbericht    vom    11.  Februar    1915,  Nr.  965  (Seite    164, 
Anmerkung  3|  feststellen   zu  können  glaubt,   die  angeblichen  Konfidenzen 
des    deutschen    Botschafters    in   Rom    an  Marquis   di  San  Giuliano  (Vgl. 
Seite  79,  Anmerkung  1).  Der  erwähnte  Tagesbericht  sagt  hierüber: 

„Wie  wir  [das  Wiener  Kabinett]  von  sehr  beachtenswerter  und  voll- 
„kommen  glaubwürdiger  Seite  erfahren,  hat  sich  Sir  Edward  Grey  einem 
„seiner  politischen  Freunde  gegenüber  dahin  geäußert,  daß  ihn  unsere 
„[Österreich-Ungarns]  Aktion  gegen  Serbien  keineswegs  überrascht  habe, 
„da  er  durch  den  italienischen  Botschafter  auf  unsere  bevorstehende 
„Aktion  aufmerksam  gemacht  worden  war.  Marquis  Imperiali  habe  damals, 
„um  die  englische  Regierung  zu  einer  je  energischeren  Einsprache  in 
„Berlin  und  Wien  zu  bewegen,  auch  auf  die  Möglichkeit  einer  Über- 
„rumpelung  durch  die  deutsche  Flotte  hingewiesen.  Hieraus  erklärt  sich  — 
„laut  eigener  Aussage  des  englischen  Staatssekretärs  — , 
„daß  die  englische  Flotte,  die  Mitte  Juli  bei  Spithead  konzentriert  worden 
„war,  bis  über  den  ursprünglich  beabsichtigten  Termin  zusammenbehalten 
„wurde. 

„Sir  Edward  habe  sich  durch  die  Mitteilung  des  italienischen  Bot- 
„schafters  veranlaßt  gesehen,  die  oberwähnte  Maßregel,  trotz  der  Über- 
„raschung  seiner  Ministerkollegen,  vor  denen  er  die  streng  vertraulichen 
„Informationen  des  Botschafters  seinem  Versprechen  gemäß  damals  ge- 
„heim  halten  mußte,  im  Ministerrate  zu  verlangen  und  durchzusetzen." 

-  Telegramm  aus  London  d.  d.  28.  Juli,  Nr.   115. 

201 


Graf  Mensdorff  glaube,  Sir  Edward  wolle  mit  Deutsch- 
land in  friedlicher  Absicht  zusammenarbeiten,  wenn  er  aber 
Mißtrauen  hege,  daß  Deutschland  das  Wiener  Kabinett  „vor- 
geschoben" habe  '  oder  überhaupt  den  Krieg  mit  Rußland 
zu  provozieren  wünsche,  so  würde  Sir  Edward  sehr  ab- 
schwenken und,  wie  Graf  Mensdorff  befürchte,  sich  viel 
entschiedener  auf  die  russische  Seite  stellen. 
Weisungen  Dcr  Inhalt  der  Berichterstattung  des  k.  u.  k.  Botschafters 

oenk.  u.  k.    in   London   bestimmte   Graf  Berchtold  zur  Abfassung   fol- 
(28.  Juli)       gender  Weisung  (28.  Juli)  ■: 

Da  das  Wiener  Kabinett  das  größte  Gewicht  darauf  lege, 
daß  Sir  Edward  das  Vorgehen  der  Monarchie  gegen  Serbien 
im  allgemeinen  und  speziell  die  Ablehnung  der  serbischen 
Antwort  in  unparteiischer  Weise  würdige,  ersuche  Graf 
Berchtold  den  k.  u.  k.  Botschafter,  Gelegenheit  zu  nehmen, 
Sir  Edward  das  dem  Grafen  Mensdorff  auf  dem  Postwege 
übermittelte  Dossier  im  Detail  und  unter  Hervorhpbung  der 
besonders  markanten  Stellen  auseinanderzusetzen.  In  dem- 
selben Sinne  wolle  Graf  Mensdorff  die  kritischen  Bemer- 
kungen zu  der  serbischen  Note  mit  Sir  Edward  durch- 
sprechen und  ihm  darlegen,  daß  das  serbische  Entgegen- 
kommen nur  ein  scheinbares  war,  bestimmt,  Europa  zu 
täuschen  und  daß  es  für  die  Zukunft  keinerlei  Garantien 
geboten  hätte. 

Da  die  serbische  Regierung  wußte,  daß  das  Wiener 
Kabinett  nur  eine  vorbehaltlose  Annahme  seiner  For- 
derungen befriedigen  könne,  sei  die  serbische  Taktik  klar  zu 
durchschauen:  Serbien  akzeptierte,  um  Eindruck  auf  die 
europäische  Öffentlichkeit  zu  machen,  mit  allerlei  Vor- 
behalten eine  Anzahl  der  Forderungen,  darauf  bauend,  daß 
es  nicht  in  die  Lage  kommen  werde,  seine  Zusagen  zu 
erfüllen.  Ein  Hauptgewicht  bei  seiner  Besprechung  mit  Sir 
Edward  Grey  wolle  Graf  Mensdorff  auf  den  Umstand  legen, 
daß  die  allgemeine  Mobilisierung  der  serbischen  Armee  für 
den  25.  Juli,  nachmittags  3  Uhr,  angeordnet  worden  sei, 
während   die    Beantwortung    der   österreichisch-ungarischen 

1  Vergleiche  hiezu  die  Ausführungen  Seite  271,  276,  279  oben. 
=  Weisung   nach    London    d.  d.   Wien,    28.  Juli,    Nr.  178.    Expediert 
28.  Juli,  12  Uhr  40  Minuten  p.  m. 

202 


Note  erst  knapp  vor  Ahlauf  der  Frist,  das  heißt  wenige 
Minuten  vor  6  Uhr,  erfolgte.  Die  Monarchie  habe  vorher 
keine  militärischen  Vorbereitungen  getroffen,  sei  aber  durch 
die  serbische  Mobilisierung  zu  denselben  in  großem  Aus- 
maße gezwungen  worden. 

Am  28.  Juli  sprach  der  englische  Botschafter  Sir  Maurice  orezieiie 
Bunsen  bei  Graf  Berchtold  vor,  um  auftraggemäß  den  Stand-  Übermittlung 

der  eneli- 

punkt  Sir  Edward  Greys  zum  Konflikt  der  Monarchie  mit  sehen  ver 
Serbien  auseinanderzusetzen':  Die  englische  Regierung  habe  m-"'""?«- 
mit  lebhaftem  Interesse  den  bisherigen  Verlauf  der  Krise  ver-  ,„  wien. 
folgt  und  lege  Wert  darauf,  das   Wiener   Kabinett   zu    ver-  Ablehnung 
sichern,    daß  sie   Sympathien    für   seinen    Standpunkt   hege  durch  crar 
und   seine    Beschwerden    gegen    Serbien    vollkommen   ver-  B^rehtow 
stehe.   Auch    wolle    sie    betonen,    daß    sie    keine    warmen 
Gefühle  für  Serbien  übrig  habe,  vielmehr  wohl  wisse,  was 
sich  letzteres  in  der  Vergangenheit  zuschulden  habe  kommen 
lassen. 

Wenn  somit  England  keinen  Grund  habe,  den  Streitfall 
der  Monarchie  mit  Serbien  an  sich  zum  Gegenstande 
besonderer  Präokkupation  zu  machen,  so  könne  derselbe 
doch  nicht  der  Aufmerksamkeit  des  Londoner  Kabinetts 
entgehen,  weil  dieser  Konflikt  weitere  Kreise  ziehe  und 
dadurch  den  europäischen  Frieden  in  Frage  stellen    könne. 

Nur  aus  diesem  für  England  in  Betracht  kommenden 
Grunde  habe  sich  Sir  Edward  veranlaßt  gesehen,  eine  Ein- 
ladung an  die  Regierungen  jener  Staaten  zu  richten,  die  an 
dem  Konflikt  nicht  näher  interessiert  seien  (Deutschland,  Italien 
und  Frankreich),  um  gemeinschaftlich  mit  ihnen,  im  Wege 
fordaufenden  Gedankenaustausches,  die  Möglichkeiten  zu 
prüfen  und  zu  erörtern,  wie  die  Differenz  möglichst  rasch 
ausgeglichen  werden  könnte.  Nach  dem  Muster  der  Londoner 
Konferenz  während  der  letzten  Balkankrise  sollten  nach  der 
Anschauung  des  englischen  Staatssekretärs  die  Londoner 
Botschafter  der  genannten  Staaten  sich  zu  dem  angegebenen 
Zwecke  in  fortlaufendem  Kontakt  mit  ihm  halten.  Sir 
Edward  Grey  habe  bereits  von  den  betreffenden  Regierungen 

I  Weisung  nach  London  d.  d.  Wien,  28.  Juli,  Nr.  179.  Expediert 
29.  Juli,   1  Uhr  a.  m. 

203 


sehr  freundschaftlich  gehahene  Antworten  erhalten,  worin 
dieselben  dem  angeregten  Gedanken  zustimmten.  Gegen- 
wärtig wäre  es  der  Wunsch  des  Staatssekretärs,  wenn  mög- 
lich den  Ausbruch  der  Feindseligkeiten  zwischen  Österreich- 
Ungarn  und  Serbien  in  elfter  Stunde  zu  verhindern,  wenn 
dies  aber  nicht  tunlich  wäre,  doch  vorzubeugen,  daß  es  zu 
einem  blutigen  Zusammenstoße  komme,  eventuell  dadurch, 
daß  die  Serben  sich  zurückziehen  und  den  Kampf  nicht 
aufnehmen  könnten.  Die  von  Serbien  nach  Wien  gelangte 
Antwort  scheine  die  Möglichkeit  zu  bieten,  eine  Basis  für 
eine  Verständigung  abzugeben.  England  sei  gerne  bereit, 
hiebei  im  Sinne  des  Wiener  Kabinetts  und  nach  dessen 
Wünschen  seinen  Einfluß  zur  Geltung  zu  bringen. 

Graf  Berchtold  dankte  dem  Botschafter  für  die  Sympathie- 
kundgebung Sir  Edward  Greys  und  erwiderte  ihm,  daß  er 
der  Auffassung  des  Staatssekretärs  volle  Würdigung  zu 
zollen  wisse.  Der  Standpunkt  des  englischen  Premiers  sei 
aber  von  dem  des  Grafen  Berchtold  naturgemäß  verschieden, 
da  England  an  dem  Streitfalle  zwischen  der  Monarchie  und 
Serbien  nicht  direkt  interessiert  sei  und  der  Staatssekretär 
wohl  kaum  gründlich  orientiert  sein  könne  über  die 
schwerwiegende  Bedeutung  der  zu  lösenden  Fragen  für  die 
Monarchie.  Wenn  Sir  Edward  Grey  von  der  Möglichkeit 
rede,  den  Ausbruch  der  Feindseligkeiten  zu  verhindern,  so 
komme  dieser  Gedanke  zu  spät,  da  bereits  gestern  (27.  Juli) 
serbischerseits  auf  österreichisch-ungarische  Grenzsoldaten 
geschossen '  und  heute  vom  Wiener  Kabinett  der  Krieg 
an  Serbien  erklärt  worden  sei.  Was  die  Idee  eines  Transi- 
gierens  auf  Grund  der  serbischen  Antwortnote  anbelange, 
müsse  Graf  Berchtold  eine  solche  ablehnen,  das  Wiener 
Kabinett  hätte  die  integrale  Annahme  gefordert,  Serbien 
habe  sich  durch  Winkelzüge  aus  der  Verlegenheit  zu  ziehen 
gesucht;  dem  Wiener  Kabinett  seien  diese  serbischen 
Methoden  nur  zu  gut  bekannt.  Man  dürfe  nicht  glauben, 
daß  man  es  mit  einer  Kulturnation  zu  tun  habe,  und  dürfe 
nicht  übersehen,  wie  oft  die  Langmut  des  Wiener  Kabinetts 
getäuscht  worden  sei. 

1  Vgl.  Seite  218,  219. 
204 


Sir  Maurice  Bunsen  könne  dies  nun  durch  seine  eigenen 
in  Wien  erworbenen  Lokalkenntnisse  gewiß  richtig  ein- 
schätzen und  werde  in  der  Lage  sein,  dem  Staatssekretär 
hierüber  ein  genaues  Bild  zu  geben.  Sir  Edward  Grey 
wolle  dem  europäischen  Frieden  dienen,  was  gewiß  nicht 
auf  Widerstand  beim  Wiener  Kabinett  stoßen  würde.  Sir 
Edward  müsse  jedoch  bedenken,  daß  der  europäische  Friede 
nicht  dadurch  gerettet  würde,  daß  sich  Großmächte  hinter 
Serbien  stellten  und  für  dessen  Straffreiheit  einträten. 
Denn  selbst  wenn  die  Monarchie  auf  einen  solchen  Aus- 
gleichsversuch eingehen  wollte,  würde  dadurch  Serbien  nur 
um  so  mehr  ermutigt,  auf  dem  bisherigen  Pfade  weitergehen, 
was  den  Frieden  binnen  der  allerkürzesten  Zeit  abermals 
in  Frage  stellen  würde. 

Der  englische  Botschafter  versicherte  Graf  Berchtold 
zum  Schlüsse,  er  verstehe  den  Standpunkt  des  Wiener 
Kabinetts  vollkommen,  er  bedauere  aber  andrerseits,  daß 
unter  diesen  Umständen  der  Wunsch  der  englischen  Re- 
gierung, einen  friedlichen  Ausgleich  zu  erzielen,  für  den 
Augenblick  keine  Aussicht  auf  Verwirklichung  habe.  Er 
hoffe,  weiterhin  mit  dem  Grafen  Berchtold  im  Kontakt 
bleiben  zu  dürfen,  was  ihm  wegen  der  großen  Gefahr 
einer  europäischen  Konflagration  von  besonderem  Wert 
wäre. 

Mit  der  Versicherung,  Graf  Berchtold  stehe  dem  Bot- 
schafter jederzeit   zur  Verfügung,   schloß    die  Konversation. 

St.  Petersburg 

Dem  Grafen  Szapäry  war  am  27.  Juli,  12  Uhr  40  Minuten  Weisung  an 
vormittags,    die    Weisung    zugeschickt    worden ',    eine    Ge-  ^^"  ^-  "•  ''■ 

Botschafter 

legenheit  herbeizuführen,    um    sich  Herrn  Sazonow   gegen-  ,26.  juiü 
über   im  Sinne    des    am  25.  Juli    von    Wien    abgegangenen 
Erlasses-  auszusprechen. 

'  Weisung  nach  St.  Petersburg  d.  d.  26.  Juli,  Nr.  185.  (Expediert 
27.  Juli,  12  Uhr  40  Minuten  vormittags). 

-  Siehe  Seite  159  Mitte.  Die  Instruktion '  selbst  traf  erst  am  27.  Juli 
abends  in  St.  Petersburg  ein.  (Siehe  Seite  210  Mitte.) 

205 


Unterredung 
des  k.  u.  k. 
Boischafrers 
mit  Herrn 
Sazonow 
(27.  Juli). 
Durch- 
sprechung 
des  Te.\tes 
der  öster- 
reichisch- 
ungarischen 
Note 


Die  Unterredung  Graf  Szdpärys  mit  Herrn  Sazonow 
fand  am  27.  Juli  mittags  statt'. 

Der  deutsche  Botschafter  hatte  Graf  Szäpäry  bereits 
vormittag  mitgeteilt,  er  habe  Herrn  Sazonow  heute  früh 
viel  ruhiger  und  entgegenkommender  gefunden  und  habe 
diesem  geraten,  eine  Aussprache  mit  Graf  Szäpäry  zu 
suchen,  denn  er  wisse,  daß  der  k.  u.  k.  Botschafter  gegen- 
über Rußland  von  den  besten  Dispositionen  beseelt  sei,  und 
wie  sehr  er  es  bedauere,  daß  die  österreichisch-ungarische 
Aktion  gegen  Serbien  in  Petersburg  auf  so  wenig  Ver- 
ständnis stoße.  Herr  Sazonow  empfing  Graf  Szäpäry  im 
Gegensatze  zu  seiner  Haltung  vom  24.  Juli  sehr  liebens- 
würdig. Er  berief  sich  auf  die  Mitteilungen  des  Grafen 
Pourtales  und  sagte,  er  würde  den  Grafen  Szäpäry,  wenn 
dieser  sich  nicht  selbst  angesagt  hätte,  gebeten  haben,  zu 
ihm  zu  kommen,  um  einmal  offen  mit  ihm  zu  sprechen. 
Er  selbst  sei  am  24.  Juli  etwas  überrascht  gewesen  und  habe 
sich  nicht  soweit  beherrscht,  als  er  gewünscht  hä"tte,  und 
dann  sei  ihr  Gespräch  doch  nur  ein  ganz  offizielles  ge- 
wesen •. 

Graf  Szäpäry  erwiderte,  auch  er  hätte  den  Wunsch 
gehabt,  mit  Herrn  Sazonow  einmal  aufrichtig  zu  sprechen, 
da  er  den  Eindruck  habe,  daß  man  über  den  Charakter  der 
österreichisch-ungarischen  Aktion  in  Rußland    in  Irrtümern 

•  Telegramm  aus  St.  Petersburg  d.  d.  27.  Juli,  2  Uhr  15  Minuten  p.  m., 
Nr.   165. 

-  Aus  Kopenhagen  langte  am  27.  Juli  in  Wien  eine  Nachricht 
ein,  die  vielleicht  den  Schlüssel  zur  Erklärung  des  dem  k.  u.  k.  Bot- 
schafter in  Petersburg  und  auch  Grafen  Pourtales  unverständlichen  Ver- 
haltens und  Stimmungswechsels  (vgl.  Seite  210  unten)  des  anfänglich 
erregten  russischen  Ministers  abgeben  könnte.  Wie  der  k.  u.  k.  Gesandte 
Graf  Sz6chenyi  aus  Hofkreisen  erfuhr,  beginne  der  König  die  Situation 
zuversichtlicher  zu  beurteilen,  seitdem  er  wisse,  daß  England  die 
Neutralität  wahren  wolle,  da  Dänemark  nur  im  Falle  eines  aktiven 
Eingreifens  des  Inselreiches  der  Gefahr  ausgesetzt  sei,  in  einen  Krieg 
verwickelt  zu  werden.  Diese  Aussage  wurde  durch  vertrauliche  Mit- 
teilungen bestätigt,  vom  dänischen  Gesandten  in  Petersburg  sei  der  tele- 
graphische Bericht  eingelaufen,  daß  England  bei  der  russischen  Regierung 
Erklärungen  abgegeben  habe,  sich  neutral  verhalten  zu  wollen.  (Tele- 
gramm aus  Kopenhagen  d.  d.  27.  Juli,  11  Uhr  56  Minuten  a.  m., 
ohne  Nummer.)  (Vgl.  Seite  271,  Anmerkung  2.) 


206 


befangen  sei.  Man  imputiere  dem  Wiener  Kabinett,  hiemit 
einen  Vorstoß  auf  den  Balkan  unternelimen  und  den 
Marsch  nach  Salonii^i  oder  gar  nach  Konstantinopei  an- 
treten zu  wollen.  Andere  wieder  gingen  so  weit,  die  öster- 
reichisch-ungarische Aktion  nur  als  den  Auftakt  eines  von 
Deutschland  geplanten  Präventivkrieges  gegen  Rußland  zu 
bezeichnen.  All  dies  sei  teils  irrig,  teils  geradezu  unver- 
nünftig. Das  Ziel  der  österreichisch-ungarischen  Aktion  sei 
Selbsterhaltung  und  Notwehr  gegenüber  einer  feindseligen, 
die  österreichisch-ungarische  Integrität  bedrohenden  Pro- 
paganda des  Wortes,  der  Schrift  und  der  Tat.  Niemandem 
in  Österreich-Ungarn  falle  es  ein,  russische  Interessen  zu 
bedrohen  oder  gar  Händel  mit  Rußland  suchen  zu  wollen. 
Das  Ziel  jedoch,  das  sich  das  Wiener  Kabinett  vorgesetzt 
habe,  sei  es  unbedingt  entschlossen  zu  erreichen,  und  der 
Weg,  den  es  dazu  gewählt  hätte,  scheine  demselben  der 
zweckdienlichste.  Da  es  sich  aber  um  eine  Aktion  der  Not- 
wehr handle,  könne  Graf  Szdpäry  Herrn  Sazonow  nicht 
verhehlen,  daß  man  bei  einer  solchen  jede  wie  immer 
geartete  Konsequenz  in  Betracht  ziehe.  Trotzdem  sei  sich 
Graf  Szäpäry  darüber  klar,  daß,  wenn  es  zu  einem  Konflikt 
mit  den  Großmächten  käme,  dies  die  fürchterlichsten  Folgen 
haben  müsse  und  dann  die  religiöse,  moralische  und  soziale 
Ordnung  auf  dem  Spiele  stehen  würde.  Graf  Szäpäry 'führte 
sodann  in  lebhaften  Farben  den  Gedanken  an  die  Kon- 
sequenzen eines  europäischen  Krieges  aus. 

Herr  Sazonow  stimmte  Graf  Szäpäry  eifrig  zu  und 
zeigte  sich  über  die  Tendenzen  seiner  Ausführungen  un- 
gemein erfreut.  Er  erging  sich  in  Versicherungen,  daß  in 
Rußland  nicht  nur  er,  sondern  das  ganze  Ministerium  und, 
was  am  meisten  ins  Gewicht  falle,  der  Souverän  von  den 
gleichen  Gefühlen  gegen  Österreich-Ungarn  beseelt  seien. 
Er  könne  nicht  leugnen,  man  habe  in  Rußland  alte  Rankünen 
gegen  die  Monarchie;  er  gestehe,  er  habe  sie  auch;  doch 
gehöre  dies  der  Vergangenheit  an  und  dürfe  in  der  prakti- 
schen Politik  keine  Rolle  spielen.  Und  was  die  Slawen 
anbelange,  so  sollte  er  dies  dem  österreichisch-ungarischen 
Botschafter  zwar  nicht  sagen,  aber  er  habe  gar  kein  Gefühl 
für  die  Balkanslawen.  Diese    seien    für  Rußland  sogar  eine 

207 


schwere  Last  und  man  könnte  sich  in  Wien  itaum  vorstellen, 
was  man  von  ihnen  schon  zu  leiden  gehabt  habe.  Das 
österreichisch-ungarische  Ziel,  wie  Graf  Szäpäry  es  ihm 
geschildert  habe,  sei  ein  vollkommen  legitimes,  aber  er 
meine,  der  Weg,  den  die  Monarchie  zu  dessen  Erreichung 
verfolge,  sei  nicht  der  sicherste.  Die  Note,  die  das  Wiener 
Kabinett  in  Belgrad  überreicht  hätte,  sei  in  der  Form  nicht 
glücklich.  Er  habe  sie  seitdem  studiert,  und  wenn  Graf 
Szäpäry  Zeit  hätte,  möchte  er  sie  nochmals  mit'  ihm  durch- 
schauen. Graf  Szäpäry  bemerkte,  daß  er  zu  seiner  Disposition 
stehe,  aber  weder  autorisiert  sei,  den  Notentext  mit  Herrn 
Sazonow  zu  diskutieren,  noch  denselben  zu  interpretieren. 
Herrn  Sazanows  Bemerkungen  seien  aber  natürlich  von 
Interesse.  Der  Minister  nahm  sodann  alle  Punkte  der  Note 
durch  und  fand  jetzt  von  den  zehn  Punkten  sieben  ohne 
allzu  große  Schwierigkeiten  annehmbar.  Nur  die  zwei 
Punkte,  betreffend  die  Mitwirkung  von  k.  u.  k.  Funktionären 
in  Serbien,  und  den  Punkt,  betreffend  die  Entlassung  von 
durch  Österreich -Ungarn  ad  libitum  zu  bezeichnenden 
Offizieren  und  Beamten,  fand  er  in  dieser  Form  unannehm- 
bar. Bezüglich  des  fünften  Punktes  war  Graf  Szäpäry  bereits 
in  der  Lage,  eine  authentische  Interpretation  zu  geben'; 
bei  den  beiden  anderen  meinte  der  k.  u.  k.  Botschafter, 
daß  el"  deren  Interpretation  durch  die  Wiener  Regierung 
nicht  kenne,  daß  aber  beide  notwendige  Forderungen  seien. 
Herr  Sazonow  memte,  man  könnte  zum  Beispiel  eine 
konsularische  Intervention  bei  Untersuchungen  ins  Auge 
fassen,  und  was  die  Entlassung  anbelange,  müßte  man  doch 
Beweise  gegen  die  Betreffenden  vorbringen.  Sonst  würde 
König  Peter  sofort  riskieren,  umgebracht  zu  werden.  Graf 
Szäpäry  erwiderte,  diese  Einschätzung  durch  den  Minister 
bilde  die  beste  Begründung  der  österreichisch-ungarischen 
Aktion  gegen  Serbien.  Herr  Sazonow  meinte  ferner,  die 
Monarchie  müsse  sich  vor  Augen  halten,  daß  die  Dynastie 
Karageorgevic  wohl  die  letzte  serbische  Dynastie  sei,  und 
daß  die  Monarchie  doch  nicht  einen  anarchischen  Hexen- 
kessel   an    ihrer    Grenze    schaffen    wolle?     Graf    Szäpäry 

1  Vgl.  Seite  J63  unten. 
208 


entgegnete,  Österreich-Ungarn  habe  gewiß  an  der  Erhahung 
der  monarchischen  Staatsform  ein  Interesse;  aber  auch  diese 
Bemerisiung  des  Ministers  beweise,  wie  notwendig  ein  ent- 
sprechendes Auftreten  der  Monarchie  gegen  Serbien  sei. 
Resümierend  ertclärte  der  Minister,  er  finde,  daß  es  sich 
eigentlich  in  der  Angelegenheit  der  Note  nur  um  Worte 
handle  und  daß  sich  vielleicht  ein  dem  Wiener  Kabinett  ge- 
nehmer Weg  finden  ließe,  wie  man  über  diese  Schwierigkeiten 
hinwegkommen  könnte.  Würde  das  Wiener  Kabinett  die 
Mediation  seines  Alliierten,  des  Königs  von  Italien,  annehmen 
oder  die  des  Königs  von  England?  Graf  Szäpäry  erwiderte, 
daß  er  hierüber  nicht  in  der  Lage  sei,  eine  Ansicht  zu 
äußern,  daß  ihm  die  Dispositionen  seiner  Regierung  unbe- 
kannt, die  Dinge  im  Rollen  seien,  und  daß  gewisse  Sachen 
nicht  rückgängig  gemacht  werden  könnten.  Überdies  hätten 
die  Serben  schon  gestern  mobilisiert,  und  was  sich  seither 
noch  ereignet  habe,  sei  ihm  unbekannt. 

Herr  Sazonow  äußerte  am  Schlüsse  seiner  Unterredung 
nochmals  in  den  wärmsten  Worten  seine  Freude  über  die 
Aufklärungen,  die  ihm  Graf  Szäpäry  gegeben  habe  und  die 
ihn  wesentlich  beruhigt  hätten.  Er  werde  auch  Kaiser 
Nikolaus  Meldung  erstatten,  den  er  an  dessen  Empfangs- 
tage, am  29.  Juli,  sehen  werde.' 

Seine  Gedanken  über  diese  Besprechung  resümierte 
Graf  Szäpäry  dahin: 

Der  Weg,  den  die  russische  Politik  in  zwei  Tagen  von 
der  ersten  schroffen  Ablehnung  des  österreichisch-ungari- 
schen Vorgehens  und  der  Anregung  einer  Gerichtssitzung 
über  das  österreichisch-ungarische  Dossier  bis  zum  Vor- 
schlage der  Europäisierung  der  ganzen  Angelegenheit  und 
von  da  wieder  bis  zur  Anerkennung  der  Legitimität  der 
österreichisch-ungarischen  Ansprüche  und  zum  Suchen  nach 
Mediatoren  zurückgelegt  habe,  sei  ein  weiter.  Trotzdem 
dürfe  nicht  übersehen  werden,  daß  neben  der  rückläufigen 
diplomatischen  Bewegung  eine  lebhafte  militärische  Aktivität 
einhergehe,  durch  die  sich  Rußlands  militärische  und  somit 
auch  diplomatische  Situation  täglich  zu  Ungunsten  der  Mon- 
archie zu  verschieben  drohe. 

209 


Gesprächsweise  hatte  Herr  von  Sazonow  noch  erwähnt, 

ob  Graf  Szapäry  ihm  Einsicht  in  das  angei<ündigte  Dossier 

geben  könne,  und  hatte  auf  dessen  Erwiderung,  er  sei  noch 

nicht  im  Besitze  desselben,  gefragt,  ob  dasselbe  nicht  Herrn 

Schebeko  in  Wien  zugänglich  gemacht  werden  könnte. 

Der  k.  u.  k.         Am  27.  Juli,  abends   10  Uhr  20  Minuten,    ging   an  den 

wu-dtr^    ^-  "•  ^-   Botschafter    die    ermächtigende  Weisung  ab,    ohne 

mäehiigt, die  irgendein   bindendes   Engagement  einzugehen',  Herrn  Sazo- 

bln-effraes    ""w    und    Marquis    Carlotti    gegenüber    sich    dahin    auszu- 

lerritormien    sprcchcn,  daß  die  Monarchie,  solange  der  Krieg  zwischen 

«"m"'ms     Österreich-Ungarn   und  Serbien    lokalisiert  bleibe, 

abzugeben      keinerlei  territoriale  Eroberungen-  beabsichtige''. 

127.  juii)  j-jgj.  J.JJJ.  ^^^  ^    ^    ^    Botschafter    bestimmte  Erlaß  vom 

des'Eriasses  -^-  J""  '^igf^  ^m  27.  juli  erst  spät  nachmittags  in  Peters- 
vora  25.  Juli  bürg  ein;  das  angekündigte  Dossier  war  auch  um  diese  Zeit 
k"u.''k"Bot.  "^^h  ausständig.  Graf  Szäpäry  gedachte  sich  am  28.  Juli 
schafter  bei  Herrn  Sazonow  im  Sinne  der  eben  erhaltenen  Weisung 
''JehmÜC^'  auszusprechen  \ 

optimisti-  ^'^  ^^^  ^-  "•  ^-  Botschafter  am  28.  Juli  morgens  meldete  ■, 

sehe  Auf-      habe  ihm  Graf  Pourtales,    der  am  27.  Juli  Herrn  Sazonow 

Fassung  der 

Situation  1  Weisung    nach  St.  Petersburg  d.  d.  Wien,  27.  Juli,   Nr.   187.    Expe- 

diert 27.  Juli,  10  Uhr  20  Minuten  p.  m.  Die  Formulierung  „ohne  irgendein 
bindendes  Engagement  einzugehen"  erscheint  im  Konzept  als  nach- 
träglicher Zusatz  von  der  Hand  des  Grafen  Forgäch. 

-  Im  Konzept  ursprünglich:  territorialen  Gewinn;  von  Graf  Forgach 
geändert  in:  territoriale  Eroberungen. 

3  Diese  Weisung  verdankte  —  einer  der  wenigen  feststellbaren 
Fälle  —  ihre  Entstehung  einer  direkten  Anregung  des  Monarchen.  Am 
26.  Juli  hatte  der  Kabinettsdirektor  Freiherr  von  Schießl  an  das  Ministerium 
des  Äußern  jenes  Telegramm  zurückgestellt,  in  dem  Graf  Szäpäry  um 
Andeutung  darüber  bat,  ob  er  sich  seinem  italienischen  Kollegen  gegen- 
über auf  den  Standpunkt  der  territorialen  Uninteressiertheit  stellen 
dürfe.  (Vgl.  Seite  154  Mitte.)  Freiherr  von  Schießl  teilte  gleichzeitig  Graf 
Berchtold  mit,  der  Monarch  lasse  Graf  Berchtold  auf  den  angestrichenen 
[einschlägigen]  Passus  dieses  Berichtes  des  Grafen  Szäpäry  aufmerksam 
machen.  Ohne  die  Entscheidung  des  Grafen  Berchtold  beeinflussen  zu 
wollen,  scheine  es  dem  Monarchen,  als  ob  Graf  Szäpäry  ermächtigt 
werden  könnte,  in  dem  von  ihm  beantragten  Sinne  seinem  italienischen 
Kollegen  gegenüber  sprechen  zu  dürfen. 

*  Telegramm  aus  St.  Petersburg  d.  d.  28.  Juli,  Nr.  172.  Expediert 
28.  Juli,   1   Uhr  20  Minuten  a.  m. 

'  Ebendort. 

210 


durch  Herrn 
Sazonow 


gesprochen  hatte,  mitgeteilt,  der  russische  Minister  verharre 
in  optimistischer  Auffassung,  deren  Gründe  weder  dem 
deutschen  Botschafter,  noch  Graf  Szäpäry  erfindlich  seien. 
Auch  die  bei  dieser  Gelegenheit  geführte  ernste  Sprache 
des  Grafen  Pourtales  sei  an  Herrn  Sazonow  ziemlich 
wirkungslos  abgeprallt. 

Die  Petersburger  Presse  vom  27.  Juli  sei  voll  Nachrichten, 
daß  die  bisherige  Sprache  der  deutschen  Diplomaten,  weil 
sie  sich  als  politischer  Fehler  herausgestellt  habe,  verändert 
werde,  daß  Deutschland  einer  Mediation  nicht  ablehnend 
gegenüberstehe,  daß  mit  einem  Ausgleiche  zu  rechnen  sei  usw. 
Emmissäre  und  Politiker  würden  auf  der  k.  u.  k.  Botschaft 
die  Haltung  Deutschlands  zu  denunzieren  versuchen.  Da  die 
Annahme  einer  tatsächlichen  Abschwenkung  ausgeschlossen 
sei,  bleibe  nur  die  Hypothese  eines  Versuches  übrig,  in 
letzter  Stunde  zwischen  Österreich-Ungarn  und  Deutschland 
einen  Keil  zu  treiben. 

Nach  der  Anschauung  Graf  Szäpärys  scheine  das  Aus- 
bleiben der  im  Auslande  gleich  für  die  allerersten  Tage  nach 
Ablauf  des  Ultimatums  erwarteten  militärischen  Operationen 
den  Anlaß  zu  der  irrigen  Interpretation  zu  bilden,  Österreich- 
Ungarns  Entschlossenheit  sei  —  vielleicht  infolge  der  Haltung 
Deutschlands  —  nicht  unabänderlich,  und  es  sei  noch 
Gelegenheit  zu  Verhandlungen  geboten. 

Am  28.  Juli    erschien    der   russische    Botschafter   beim  Unterredung 
Grafen    Berchtold,    um    ihm    seine    Rückkehr   von    seinem  "^^ ''''"'" 

sehen  Bot- 

Urlaub    in   Rußland  mitzuteilen  und  um  gleichzeitig  einem  schafiers 
telegraphischen  Auftrage  Herrn  Sazonows  nachzukommen '.  "'"  *^'°'' 

°      "^  '^  Berehtold 

Letzterer   hätte   ihm    mitgeteilt,   daß    er   eine  längere,    sehr  (zs.juii,. 
freundschaftliche  Aussprache  mit  Graf  Szäpäry  gehabt  hätte,  ^"'■'=s""g 
in  deren  Verlaufe  Graf  Szäpäry  mit  großer  Bereitwilligkeit  fühnmg  des 
die   einzelnen    Punkte    der   serbischen   Antwortnote   durch-  ^"'s«^"""- 

menen 

gesprochen    hätte-.    Herr    Sazonow    sei    der    Ansicht,    daß  Gedanken- 
Serbien  in  weitgehendem  Maße  den  österreichisch-ungarischen  ""^'"""^hes- 

°  °  Durch- 

Wünschen  entgegengekommen  sei,  daß  aber  einige  Forderungen  sprechung 
ihm  ganz  unannehmbar  erschienen,  was  er  auch  Graf  Szäpäry  ''" 

"^     serbischen 

'  Weisung    nach    St.   Petersburg   d.   d.   28.   Juli,    Nr.    191.    Expediert  *"'*''""»"= 
28.  Juli,  II   Uhr  40  Minuten  p.  m. 
2  Vgl.  Seite  206  ff. 

211 


nicht  verhehlt  habe.  Es  scheine  ihm  unter  diesen  Umständen, 
daß  die  serbische  Antwortnote  geeignet  sei,  den  Ausgangs- 
puniit  zu  einer  Verständigung  abzugeben,  wozu  die  russi- 
sche Regierung  gerne  die  Hand  bieten  möchte.  Herr 
Sazonow  wolle  daher  dem  Grafen  Berchtold  vorschlagen, 
daß  der  so  glücklich  aufgenommene  Gedankenaustausch 
mit  Graf  Szapäry  eine  Fortsetzung  finde  und  daß  der 
k.  u.  k.  Botschafter  diesbezüglich  mit  Instruktionen  ver- 
sehen werde. 

In  seiner  Entgegnung  betonte  Graf  Berchtold,  daß  er 
auf  einen  derartigen  Vorschlag  nicht  eingehen  könne.  Eine 
Verhandlung  über  den  Wortlaut  der  vom  Wiener  Kabinett 
als  unbefriedigend  bezeichneten  Antwortnote  könne  in  der 
Monarchie  niemand  verstehen  und  niemand  billigen.  Es  wäre 
dies  um  so  weniger  möglich,  als  sich,  wie  der  Botschafter 
wisse,  bereits  eine  tiefgehende  allgemeine  Erregung  der 
öffentlichen  Meinung  sowohl  in  Ungarn  wie  in  Österreich 
bemächtigt  hätte,  überdies  seitens  der  Monarchie  heute  der 
Krieg  an  Serbien  erklärt  worden  sei. 

Auf  die  mit  großer  Eloquenz  vorgebrachten  Auseinander- 
setzungen des  Botschafters,  die  hauptsächlich  darin  gipfelten, 
daß  die  Monarchie  die  durchaus  nicht  abgeleugnete  feind- 
selige Stimmung  in  Serbien  durch  eine  kriegerische  Aktion 
nicht  niederringen,  im  Gegenteil  nur  steigern  würde,  gab 
Graf  Berchtold  Herrn  Schebeko  einige  Streiflichter  hinsicht- 
lich des  derzeitigen  Verhältnisses  der  Monarchie  zu  Serbien, 
das  es  unvermeidlich  mache,  ganz  gegen  den  eigenen  Willen 
und  ohne  jede  egoistische  Nebenabsicht,  dem  unruhigen 
Nachbar  mit  dem  nötigen  Nachdrucke  die  ernste  Absicht  zu 
zeigen,  nicht  länger  eine  von  der  Regierung  geduldete,  gegen 
den  Bestand  der  Monarchie  gerichtete  Bewegung  zuzulassen. 
Die  Haltung  Serbiens  nach  dem  Empfang  der  österreichisch- 
ungarischen Note  sei  übrigens  nicht  danach  gewesen,  eine 
friedliche  Beilegung  zu  ermöglichen,  indem  Serbien,  noch 
bevor  es  der  Monarchie  seine  ungenügende  Antwort  über- 
geben ließ,  die  allgemeine  Mobilisierung  angeordnet  und  schon 
dadurch  der  Monarchie  gegenüber  einen  feindseligen  Akt 
vorgenommen  habe.  Trotzdem  hätte  das  Wiener  Kabinett  noch 
drei  Tage  zugewartet.  Am  27.  Juli  seien  nun  serbischerseits 

212 


gegen  die  Monarchie  die  Feindseligkeiten  an  der  ungarischen 
Grenze  eröffnet  worden'.  Dadurch  sei  der  Monarchie 
die  Möglichkeit  benommen,  bei  ihrer  Serbien  gegenüber 
bewiesenen  Langmut  weiter  zu  beharren.  Die  Herbeiführung 
einer  gründlichen,  aber  friedlichen  Sanierung  des  Verhält- 
nisses Österreich-Ungarns  zu  Serbien  sei  der  Monarchie 
nunmehr  unmöglich  gemacht  worden  und  die  Monarchie 
sehe  sich  gezwungen,  den  serbischen  Provokationen  in  der 
Form  entgegenzutreten,  die  unter  den  gegebenen  Umständen 
allein  ihrer  Würde  entspreche. 

Die    durch    das    russische    offizielle    Communique    vom  Die  russi- 
24.  Juli  angedeutete  Stellungnahme  Rußlands,    einem  öster-  ^''"'"  """ 

»^  o  o  '  stungen 

reichisch-ungarisch-serbischen  Konflikt  nicht  teilnahmslos 
gegenüberzustehen,  erfuhr  während  der  nächsten  Tage 
ihre  Bestätigung  dadurch,  daß  die  Vornahme  weitgehender 
russischer  Rüstungen  immer  mehr  erkenntlich  und  bald 
auch  offiziell  nicht  mehr  in  Abrede  gestellt  wurde. 

Am  26.  Juli  telegraphierte  der  k.  u.  k.  Militärattache  in  Meldungen 
Petersburg:    Nachrichten    verdichten    sich    dahin,    daß    die  ^" ''•  "■  ' 

o  '  Militar- 

Militärbezirke  Kiew,  Warschau,  Odessa  und  Moskau  Mobi-  auaches 
lisierungsbefehl  erhielten,  bei  gleichzeitiger  Einziehung  von  '-^-  -•"''* 
Reservisten;  Bezirke  Petersburg,  Wilna,  wahrscheinlich  auch 
Kasan,  Befehl  zur  Vorbereitung  der  Mobilisierung,  jedoch 
ohne  Reservisten.  Im  ganzen  europäischen  Rußland  erhielten 
die  Truppen  Befehl  zur  Einrückung  aus  den  Lagern  in  ihre 
Standorte.  Diese  Verfügung  werde  naturgemäß  in  den 
nächsten  Tagen  vielfache  Meldungen  von  Truppenbewegungen 
im  ganzen  Reiche  zur  Folge  haben,  wobei  es  sehr  schwer 
sein  werde,  zu  kontrollieren,  ob  es  Einrückungs-  oder 
Mobilisierungstransporte  seien.  Die  Stimmung  im  Lager  bei 
der  Parade  am  12.  Juli  (a.  St.)  im  Gegensatze  zu  jener 
am  11.  erregt  und  aggressiv;  doch  scheine  man  zum  Teil  in 
militärischen  Kreisen  doch  an  einen  Bluff  der  Monarchie 
zu  glauben.  Es  sei  schwer,  ein  Urteil  darüber  zu  fällen,  ob 
eine  Geneigtheit  Rußlands  bestehe,  aktiv  einzugreifen.  Die 
sehr    aggressive    Kriegspartei    scheine    an    der  Arbeit,    die 

1  Siehe  Seite  21«,  219. 

213 


„Stimmung  in  der  ÖPFcntlichkeit,  von  der  dann  die  Regierung 
mitgerissen  werden  soll",  vorzubereiten  '. 

Bei  der  Theatervorstellung  im  militärischen  Theater  von 
Krasnoje  Selo  am  25.  Juli  abends  kam  es  zu  einer  spontanen 
Ovation  seitens  der  Offiziere  für  den  Zaren.  Die  Offiziere 
verlangten  beim  Erscheinen  des  Kaisers,  ganz  gegen  alle 
Gebräuche,  das  Abspielen  der  Hymne,  worauf  ein  nie  enden- 
wollendes Hurra  angestimmt  wurde.  Der  Gehilfe  des 
französischen  Militärattaches  begründete  diese  Ovation  mit 
Bekanntwerden  des  Mobilisierungsbefehles  „pour  quelques 
circonscriptions".  Die  Stimmung  in  Militärkreisen  stehe 
danach  mit  dem  weniger  aggressiven  Ton,  den  die  Regierung 
anzuschlagen  scheine,  im  Widerspruche  -. 
vorstei-  Bisher   hatte  Graf  Szdpäry    Herrn    Sazonow    gegenüber 

lungen  des     hinsichtlich    der    russischen    Mobilisierungsmaßnahmen    ab- 
deutschen '-^ 
Botschafters  sichtUch    kcinc    Erwähnung    getan,    um    seinem    deutschen 

Kollegen  die  Vorhand  zu  lassen  '. 

In  den  Aussprachen,  die  Graf  Pourtales  mit  Herrn 
Sazonow  am  28.  Juli  pflog,  verwies  derselbe  neuerlich  in 
energischer  Weise  auf  die  Gefährlichkeit  der  russischen 
Rüstungen,  da  dieselben  unversehens  deutsche  Gegenmaß- 
nahmen hervorrufen  könnten.  Herr  Sazonow  suchte  die 
vom  Grafen  Pourtales  vorgebrachten  Tatsachen  abzuleugnen, 
worauf  ihn  der  deutsche  Botschafter  auf  das  Dringendste 
ersuchte,  die  militärischen  Faktoren  scharf  zu  kontrollieren, 
damit  nicht  etwa  hinter  seinem  Rücken  gehandelt 
werde  *. 

Ebenso  nachdrücklich  verwahrte  sich  Graf  Pourtales 
gegen  die  Versuche  der  russischen  Presse,  Deutschland  und 
Österreich-Ungarn  zu  verhetzen.  Dies  werde  nicht  gelingen, 
dazu  bedürfe  es  feinerer  Finger  als  die,  welche  solche  plumpe 

I  Telegramm  aus  St.  Petersburg  d.  d.  26.  Juli,  4  Uhr  20  Minuten 
p.  m.,  Nr.   163. 

-  Telegramm  aus  St.  Petersburg  d.  d.  26.  Juli,  10  Uhr  50  Minuten 
p.  m.,  Nr.  167. 

-  Telegramm  aus  St.  Petersburg  d.  d.  26.  Juli,  Nr.  168.  E.\pediert 
27.  Juli,  4  Uhr  30  Minuten  a.  m. 

4  Telegramm  aus  St.  Petersburg  d.  d.  28.  Juli,  Nr.  175.  Expediert 
29.  Juli,  1   Uhr  15  Minuten  a.  m. 

214 


Manöver  inszenierten.  Der  russische  Minister  suchte  jede 
Verantwortung  in  Abrede  zu  stellen,  worauf  Graf  Pourtales 
noch  darauf  verwies,  warum  der  Minister,  wenn  er  mit  diesen 
Treibereien  nicht  einverstanden  sei,  es  unterlasse,  denselben 
entgegenzutreten. 

Wie  dem   k.  u.  k.  Ministerium  des  Äußern  am  27.  Juli  Dismssi- 
aus   Odessa   telegraphiert   wurde,   war   der   Mobilisierungs-  !.^^ru"n'"s°'"'' 
befehl  für  die  Militärbezirke  Odessa,    Kiew  und  Warschau  maßnahmen 
bereits     ergangen,      wenn      auch      noch      nicht      publiziert  ^^'j"",^ 
worden '. 

Die  im  russischen  Generalstabe  am  27.  Juli  abends  vor- 
herrschende Stimmung  war  —  wie  der  k.  u.  k.  Militär- 
attache meldete  -  —  kompliziert,  da  einerseits  nicht  recht  an 
die  Energie  Österreich-Ungarns,  andrerseits  auch  an  eine 
europäische  Beilegung  des  Konflikts  geglaubt  werde.  Nun- 
mehr würden  auch  die  vorbereitenden  Mobilisierungsmaß- 
nahmen im  europäischen  Rußland  —  jedoch  ohne  spezielle 
Ausnahme  gegenüber  der  deutschen  Grenze  —  zugegeben. 
Der  k.  u.  k.  Militärattache  unterließ  es  nicht,  auf  die  Bedenk- 
lichkeit solcher  Maßnahmen,  die  deutscher-  und  österrei- 
chisch-ungarischerseits  ähnliche  „Vorbereitungen"  provozieren 
könnten,  aufmerksam  zu  machen.  Übrigens  äußerten  sich 
mehrere  russische  Generalstabsoffiziere  dem  türkischen 
Militärattache  gegenüber,  daß  ein  österreichisch-ungarischer 
Bluff  noch  immer  sehr  möglich  sei,  da  die  Kriegsoperationen 
ja  noch  immer  nicht  begonnen  hätten. 


Seit  dem  26.  Juli  war  das  den  europäischen 
Frieden  unmittelbar  gefährdende  Moment  einge- 
treten: die  positiven,  Offensivabsichten  gegen 
Österreich-Ungarn  und  Deutschland  bekundenden 
großzügigen  Mobilmachungsvorbereitungen  Ruß- 
lands. Der  Monarchie,  mittelbar  auch  dem  an  der 
Krise  noch  nicht  direkt  beteiligten  Deutschen  Reiche, 

I  Telegramm  aus  Odessa  d.  d.  27.  Juli,  1 1  Uhr  25  Minuten  p.  m., 
Nr.  8544. 

-  Telegramm  aus  St.  Petersburg  d.  d.  27.  Juli,  1 1  Uhr  22  Minuten 
p.  m.,  Nr.   170. 

215 


Begründung 
der  Ableh- 
nung der 
serbischen 
Antwortnote. 
Communique 
|27.  Juli) 


Die  kriti- 
schen Be- 
merkungen 
des  k.  u.  k. 
Ministeriums 
des  Äußern 
zur  serbi- 
schen Ant- 
wortnote 

Partielle 
Mobi  • 
sierung  in 
Österreich- 
Ungarn. 
2.S.  Juli 
abends. 


wurde  hiedurch  die  Einleitung  der  ersten  ab- 
wehrenden militärischen  Schutzmaßnahmen  gegen 
Rußland  im  Interesse  der  Selbstverteidigung  in  der 
Folge  aufgedrängt '. 

D.  Die  Kriegserklärung  Österreich-Ungarns 
an  Serbien 

(28.  Juli   1914) 

Um  die  öffentliche  Meinung  auf  die  bevorstehende 
Kriegserklärung  an  Serbien  vorzubereiten,  brachten  die 
Wiener  Abendblätter  vom  27.  Juli  ein  offizielles  Communique, 
das  auch  den  k.  u.  k.  Botschaftern  bei  den  Signatarmächten 
und  den  diplomatischen  Funktionären  bei  den  Balkanstaaten 
zur  Verwertung  mitgeteilt  wurde. 

Ein  Zirkularerlaß  übermittelte  ferner  am  28.  JuH  sämtlichen 
k.  u.  k.  Missionen  die  wortgetreue  Übersetzung  der  ser- 
bischen Antwortnote  sowie  die  kritischen  Bemerkungen  des 
k.  u.  k.  Ministeriums  des  Äußern-.  Den  letzteren  sollten  die 
k.  u.  k.  Funktionäre  zur  Verwertung  die  Gründe  entnehmen, 
die  das  Ministerium  veranlaßt  hätten,  die  Note  als  unbe- 
friedigend zu  qualifizieren. 

Noch  am  24.  Juli  hatte  sich  Graf  Tisza  an  Graf  Berchtold 
mit  dem  Ersuchen  gewendet  s,  nötigenfalls  auch  in  seinem 
Namen  beim  Monarchen  zu  betonen,  daß  im  Falle  einer 
unbefriedigenden  Antwort  Serbiens  die  unverzügliche  An- 
ordnung der  Mobilisierung  unbedingt  zu  erfolgen  hätte. 
Dieser  Auffassung  gab  Graf  Tisza  in  einem  Vortrage  an  den 
Monarchen  am  25.  Juli  neuerlichen  Ausdrucke 

1  Wie  sehr  ein  gegen  Rußland  ~  schon  gar  in  einigen  wenigen 
Tagen  —  vorzunehmender  Angriffskrieg  außerhalb  der  Konzeption  der 
Generalstäbe  der  beiden  Zentralmächte  lag,  erhellt  aus  der  Seite  311, 
Anmerkung  1,  behandelten  Feststellung.  (Vgl.  auch  Seite  306  und  307.) 

i  Zirkularerlaß  an  alle  Missionen  d.  d.  28.  Juli,  Nr.  3581  bis  3612, 
3612a.  Die  Bemerkungen  abgedruckt  bei  Nebeneinanderstellung  mit  der 
serbischen  Antwortnote  im  österreichisch-ungarischen  Rotbuch,  Nr.   34. 

3  Telegramm  des  Grafen  Tisza  d.  d.  Budapest,  24.  Juli,  12  Uhr 
50  Minuten  p.  m.,  ohne  Nummer. 

*  Vortrag  des  Grafen  Tisza  d.  d.  25.  Juli,  Kabinettsarchiv. 


216 


Der  k.  u.  k.  Chef  des  Generalstabes  richtete  in  der 
Nacht  vom  24.  zum  25.  Juli  (12  Uhr)  an  den  Grafen 
Berchtold  die  Verständigung ',  er  habe  soeben  die  tele- 
graphische Meldung  erhalten,  daß  in  Schabatz  am  24.  Juli, 
4  Uhr  nachmittags,  die  Mobilisierung  proklamiert  wurde. 
Serbien  scheine  also  das  Ultimatum  mit  der  Mobilisierung 
zu  beantworten.  Dies  erfordere  seitens  Österreich-Ungarns 
sofortiges  Handeln;  er  (der  Chef  des  Generalstabes)  erachte 
es  daher  für  notwendig,  daß  auch  in  der  Monarchie  die 
Mobilisierung  sofort  —  also  nicht  am  26.,  sondern  schon 
am  25.  Juli  -  befohlen  werde.  Erster  Mobilisierungstag 
hätte  der  28.  Juli  zu  sein. 

Am  25.  Juli  abends  wurden  hierauf  die  für  den 
Kriegsfall  am  Balkan  vorgesehenen  8  Armeekorps 
samt  den  dazugehörigen  Landwehr-  und  Landsturm- 
formationen, u.  zw.:  VIIL  (Prag),  IX.  (Leitmeritz), 
HL  (Graz),  XIIL  (Agram),  IV.  (Budapest),  VII.  (Temes- 
vär)  und  die  beiden  Korps  in  Bosnien  und  der 
Herzegowina,  XV.  und  XVI.  mobilisiert. 

Den    Entwurf   der    Kriegserklärung    an    Serbien    unter-  immediat- 
breitete  Graf  Berchtold  dem    Monarchen   am    27.   Juli   mit  ^«"■"■"s  "^'^ 

Grafen 

folgendem  Immediatvortrage  -:  Berchtoia 

„Ich  nehme  mir  die  ehrerbietigste  Freiheit,  Euer  Majestät  (27-  Jui:  ) 

"  &  '  '  Kriegs- 

„in    der   Anlage    den    Entwurf    eines    Telegramms   an   das  erkiarungan 
„serbische  Ministerium  des  Äußern  zu  unterbreiten,  welches  serwen 

(Entwurf» 

„die  Kriegserklärung  an  Serbien  enthält,  und  erlaube  mir 
„alleruntertänigst  anzuregen,  Euer  Majestät  wollen  geruhen, 
„mich  zu  ermächtigen,  dieses  Telegramm  morgen  früh  ab- 
„zusenden  und  die  amtliche  Verlautbarung  der  Kriegs- 
„erklärung  in  Wien  und  Budapest  gleichzeitig  zu  veranlassen. 
„Mit  Rücksicht  auf  die  dem  k.  u.  k.  Gesandten  Baron 
„Giesl  am  25.  d.  M.  durch  Herrn  Pasic  übergebene,  sehr 
„geschickt  verfaßte  Antwortnote  der  serbischen  Regierung, 
„welche  inhaldich  zwar  ganz  wertlos,  der  Form  nach  aber 
„entgegenkommend  ist,  halte  ich  es  für  nicht  ausgeschlossen, 
„daß  die  Tripelententemächte    noch   einen  Versuch   machen 

I  Schreiben  des  k.  u.  k.  Chefs  des  Generalstabes  an  Graf  Berchtold 
d.  d.  Wien,  nachts  vom  24.  auf  den  25.  Juli,  12  Uhr. 

-  Konzept  von  der  Hand  des  Legationsrates  Grafen  A.  Hoyos. 

217 


„könnten,  eine  friedliche  Beilegung  des  Konflikts  zu  erreichen, 
„wenn  nicht  durch  die  Kriegserklärung  eine  klare  Situation 
„geschaffen  wird. 

„Einer  Meldung  des  4.  Korpskommandos  zufolge  haben 
„serbische  Truppen  von  Donaudampfern  bei  Temes-Kubin 
„gestern  unsere  Truppen  beschossen  und  es  entwickelte  sich 
„auf  die  Erwiderung  des  Feuers  hin  ein  größeres  Geplänkel. 
„Die  Feindseligkeiten  sind  hiemit  tatsächlich  eröffnet  worden 
„und  es  erscheint  daher  um  so  mehr  geboten,  der  Armee  in 
„völkerrechtlicher  Hinsicht  jene  Bewegungsfreiheit  zu  sichern, 
„welche  sie  nur  bei  Eintritt  des  Kriegszustandes  besitzt. 

„Die  Notifikation  des  Kriegszustandes  an  die  neutralen 
„Mächte  würde,  vorbehaltlich  der  allerhöchsten  Genehmi- 
„gung  Eurer  Majestät,  gleichzeitig  mit  der  Kriegserklärung 
„an  deren  hiesige  Vertreter  abgesendet  werden. 

„Ich  erlaube  mir  zu  erwähnen,  daß  Seine  k.  u.  k.  Hoheit 
„der  Oberkommandant  der  Balkanstreitkräfte,  Erzherzog 
„Friedrich,  sowie  der  Chef  des  Generalstabes  gegen  die 
„Absendung  der  Kriegserklärung  morgen  Vormittag  nichts 
„einzuwenden  hätten. 

In  tiefster  Ehrfurcht 

(gez.)  Berchtold." 

Der  beigelegte  Entwurf,  der  als  Telegramm  in  claris  an 
das  königliche  Ministerium  des  Äußern  in  Belgrad,  even- 
tuell in  Kragujevac,  abgesendet  werden  sollte,  lautete: 

„Le  Gouvernement  Royal  de  Serbie  n'ayant  pas  re- 
„pondu  d'une  maniere  satisfaisante  ä  la  Note  qui  lui  avait 
„ete  remise  par  le  Ministre  d'Autriche-Hongrie  ä  Beigrade 
„ä  la  date  du  23  juillet  1914,  le  Gouvernement  Imperial 
„et  Royal  se  trouve  dans  la  necessite  de  pourvoir  lui-meme 
„ä  la  sauvegarde  de  ses  droits  et  interets  et  de  recourir  ä 
„cet  effet  ä  la  force  des  armes,  et  cela  d'autant  plus  que 
„des  troupes  serbes  ont  dejä  attaque  pres  de  Temes-Kubin 
„un  detachement  de  l'armee  Imperiale  et  Royale.  L'Autriche- 
„Hongrie  se  considere  donc  de  ce  moment  en  etat  de  guerre 
„avec  la  Serbie. 

„Le  Ministre  des  Affaires  Etrangeres  d'Autriche-Hongrie, 

Comte  Berchtold." 

218 


Der  Monarch  setzte  in  Bad  Ischl  am  28.  Juli  seine 
Entschließung  zum  Vortrage  Graf  Berchtolds  mit  den 
Worten  auf: 

„Ich  genehmige  den  beiliegenden  Entwurf  eines  Tele- 
„gramms  an  das  serbische  Ministerium  des  Äußern, 
„welches  die  Kriegserklärung  an  Serbien  enthält  und  erteile 
„Ihnen  die  erbetene  Ermächtigung 

(gez.)  Franz  Joseph." 

Ungeachtet  dieser  Genehmigung   durch    den    Monarchen  Textes 
wurde    der    endgültige    Text   der  Kriegserklärung    nicht  im  jerTnegs. 
präzisen  Wortlaute  des    vorgelegten    Entwurfes    abgesendet,  erkiärung 
Graf  Berchtold  sah  sich  nämlich  genötigt,  den  Satz  „et  cela 
„d'autant  plus  que  des  troupes  serbes  ont  dejä  attaque  pres 
„de  Temes-Kubin    un  detachement    de  l'armee  Imperiale  et 
„Royale"  aus  dem  bereits  genehmigten  Entwürfe  zu  streichen 
und  diese    nachträgliche  Änderung   dem  Monarchen    gegen- 
über mit  der  folgenden  Argumentation    in  einem  Immediat- 
vortrage  vom  29.  Juli  zu  begründen: 

„Allergnädigster  Herr ! 
„Nachdem  die  Nachrichten  von  einem  Gefechte  bei 
„Temes-Kubin  keine  Bestätigung  erfahren  haben,  hingegen 
„bloß  eine  Einzelmeldung  über  ein  geringfügiges  Geplänkel 
„bei  Gradiste  vorlag,  die  wohl  nicht  geeignet  erschien,  zur 
„Begründung  eines  gewichtigen  Staatsaktes  herangezogen  zu 
„werden,  habe  ich  es  in  Anhoffnung  der  nachträglichen 
„allerhöchsten  Genehmigung  Eurer  Majestät  auf  mich  ge- 
„nommen,  aus  der  an  Serbien  gerichteten  Kriegserklärung 
„den  Satz  über  den  Angriff  serbischer  Truppen  bei  Temes- 
„Kubin  zu  eliminieren. 

In  tiefster  Ehrfurcht 

Berchtold." 
„Wien,  am  29  Juli   1914. 

Die  Kriegserklärung  selbst  war  also  unter  Auslassung 
des    vom    Grafen    Berchtold    eliminierten    Satzes '  am 

1  Gewissermaßen  als  Gegenstück  der  Begründung  einer  Kriegs- 
erklärung kann  auf  die  Einleitungsargumentation  hingewiesen  werden,  mit 

219 


28.    Juli    vorYnittags    an    das    königliche    Ministerium    des 

Äußern  abgegangen. 
Tciegraphi-  Dlc    Zustellung    der    Kriegserklärung    an    die    serbische 

mi'iMun''"er  Regierung  begegnete  mancherlei  Schwierigkeiten.  Der  ge- 
Kriegs- wohnliche  Weg  der  persönlichen  Überreichung  an  den 
erkiarung      Minister  des  Äußern  des  gegnerischen  Staates    durch  einen 

an  die  ~    o 

serbische  diplomatischcn  Vertreter  konnte  nicht  in  Frage  kommen, 
Regierung  j^  ^^^  ^  ^^  ^  Gesandte  mit  dem  Personal  der  Mission 
nach  Erhalt  der  Antwortnote  Belgrad  verlassen  hatte.  Es 
wurde  daher  die  Kriegserklärung  von  Wien  aus  auf  tele- 
graphischem Wege  nach  Belgrad  an  die  Adresse  des  Aus- 
wärtigen Amtes  gerichtet.  Da  jedoch  die  direkte  Drahtver- 
bindung von  Wien  nach  Belgrad,  wohl  von  serbischer  Seite 
selbst,  außer  Funktion  gesetzt  war,  nahm  die  Kriegserklä- 
rung den  Weg  über  Czernowitz  und  Bukarest.  Eine  Art 
Empfangsbestätigung,  daß  das  die  Kriegserklärung  enthal- 
tende Telegramm  am  28.  Juli,  1  Uhr  20  Minuten  nachmit- 
tags, im  serbischen  Ministerium  des  Äußern  übernommen 
wurde,  langte  aus  Nisch  am  1.  August  an  die  Adresse  des 
Grafen  Berchtold  ein  '. 

der  Graf  Berchtold  in  einem  Inimediatvortrage  vom  27.  August  dem 
Monarchen  gegenüber  die  Kriegserklärung  an  Belgien  motivierte: 

„Obwohl  Österreich-Ungarn  nach  dem  Dreibundvertrage 
„verpflichtet  gewesen  wäre,  Belgien  den  Krieg  zu  erklären, 
„sobald  das  Deutsche  Reich  sich  mit  diesem  Lande  im  Kriegszustande 
„befand,  hat  die  Monarchie  die  diplomatischen  Beziehungen  zu  Belgien 
„trotz  der  ihrer  Vertretung  bereiteten  großen  Schwierigkeiten  nicht  abge- 
„brochen ". 

Es  ist  unerfindlich,  auf  welchen  Punkt  des  Dreibundvertrages  diese 
Argumentation  Graf  Berchtolds  Bezug  haben  soll. 

I  Telegramm  d.  d.  Nisch,  Eingangsnummer  220,  Wien,   1.  August  1914. 


220 


III 


Von  der  Kriegserklärung  Österreich-Ungarns 
an  Serbien  (28.  Juli)  bis  zur  Kriegserklärung 
des  Deutschen  Reiches  an  Rußland  (1.  August) 


A.  Das  Berliner  Kabinett 

Beziehungen  Berlin  — Wien  — Rom. 


Hinsiclitiich  der  von  Herrn  von  Tschirschky  am  27.  und  Der  umer 
28.  Juli  am   Ballhausplatze   gemachten  Mitteilungen,   Italien  1'^^^^'^^^^ 
werde    ein    kriegerisches   Vorgehen    seitens    der  Monarchie  pflichtet  der 
gegen    Serbien    als    aggressiven    Akt    auch    gegen    Rußland  B°™|,?oTd" 
betrachten   und  sich  daher  seiner  Dreibundverpflichtung  im  an  itaiien 
Konfliktsfalle  mit  Rußland  für  entbunden  erachten,  scheine,  fs=.e=''="'=" 

'  '    Erklärung 

wie  sich  Herr  Zimmermann  in  einer  Besprechung  am  29.  Juli  bei  (29.  juni 
Graf  Szögyeny  gegenüber  äußerte ',  ein  Mißverständnis  ob- 
zuwalten.   Dies  sei  allerdings  im  Anfang  der  österreichisch- 
ungarischen Kontroverse  mit  Serbien  italienischerseits  einmal 
gesagt,  seitdem  aber  nicht  wiederholt  worden. 

Auch  der  italienische  Botschafter,  dem  Graf  Szögyeny 
rein  persönlich  den  vorerwähnten  Standpunkt  der  italie- 
nischen Regierung  als  ein  ihm  zugekommenes  Gerücht 
mitteilte,  habe  sich  geäußert,  dies  sei  allerdings  einmal  von 
einem  italienischen  Vertreter  im  Auslande  erklärt  worden, 
derselbe  habe  aber  dafür  sofort  von  Rom  einen  Verweis 
erhalten,  und  es  sei  dies,  wie  er  Graf  Szögyeny  „ganz 
kategorisch"  versichere,  absolut  nicht  die  Auffassung  des 
italienischen  Kabinetts. 

Was  die  vom  Grafen  Berchtold  der  italienischen  Regie- 
rung durch  Herrn  von  Merey  abgegebene  Erklärung  be- 
treffe, sei  der  Unterstaatssekretär  damit  einverstanden  und 
glaube  sicher  annehmen  zu  können,  die  italienische  Regie- 
rung werde  sich  damit  begnügen,  daß  Graf  Berchtold  erklärt 
habe,  territoriale  Erwerbungen  lägen  nicht  in  den  Absichten 

I  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  29.  Juli,  Nr.  317. 

22^ 


Die  Berliner 
Regierung 
rät  eine 
„large"  In- 
lerpretalion 
der  Kora- 
pensations- 
frage  an 
(3ü.  Juli) 


der  Monarchie,  und  daß  das  Wiener  Kabinett,  sollte  Öster- 
reich-Ungarn sich  dennoch  zu  einer  nicht  als  nur  vorüber- 
gehend aufzufassenden  Okkupation  serbischen  Gebietes 
gezwungen  sehen,  für  diesen  Fall  mit  Italien  in  einen 
Meinungsaustausch  über  eine  ihm  zu  gewährende  Kompen- 
sation treten  werde. 

Nachrichten,  laut  welchen  man  an  manchen  Stellen  in 
Italien  als  Kompensation  an  Gebietsteile  Österreich-Ungarns 
denke,  seien  auch  in  Berfin  eingelangt.  Daß  die  Loslösung 
eines  Gebietsteiles  der  Monarchie  nicht  einmal  zur  Dis- 
kussion gestellt  werden  dürfe,  sei  jedoch  auch  die  Berliner 
Ansicht. 

Über  einen  entscheidenden  Stimmungswechsel  der  Ber- 
liner Regierungskreise  hinsichdich  der  österreichisch-unga- 
risch-italienischen Beziehungen  referierte  Graf  Szögyeny  am 
30.  Juli  I.  Während  er  noch  bis  vor  kurzem  bezüglich  der 
Eventualität  eines  europäischen  Konfliktes  bei  allen  maß- 
gebenden Berliner  Kreisen  die  größte  Ruhe  konstatieren 
konnte,  müsse  der  k.  u.  k.  Botschafter  gestehen,  nunmehr 
das  Gefühl  zu  haben,  daß  dieselben  in  den  allerletzten  Tagen 
eine  nicht  bloß  auf  die  größere  Aktualität  der  Frage  zurück- 
zuführende Nervosität  ergriffen  habe. 

Der  Grund  dieses  Umschwunges  der  Stimmung  der 
Berliner  Kreise  liege  unbedingt  in  der  durch  die  tele- 
graphische Berichterstattung  des  Grafen  Szögyeny  bereits 
gemeldeten  begründeten  Angst,  daß  Italien  seine  Bündnis- 
verpflichtungen dem  Dreibund  gegenüber  in  einem  allge- 
meinen Konflikt  nicht  einhalten  werde,  ja,  daß  sogar  seine 
allgemeine  Haltung  der  Monarchie  gegenüber  eine  direkt 
zweifelhafte  sein  könnte.  Sei  aber,  der  Dreibund,  so  argu- 
mentiere die  deutsche  Regierung  weiter,  nicht  als  geschlos- 
senes Ganzes  zu  betrachten,  so  würden  die  Chancen  für 
Deutschland  und  Österreich  im  großen  Konfliktsfalle  bedeu- 
tend verschlechtert  werden.  Es  müsse  also  Italien  unbedingt 
dem  Dreibund,  und  zwar  als  aktiver  Faktor,  erhalten  bleiben. 

Deshalb  rate  man  Graf  Berchtold  auf  das  Allerdringendste, 
in  der  Auslegung  des    Artikels  VII    des    Dreibundvertrages 


<  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  30.  Juli,  Nr.  328. 


224 


möglichst  „large"  zu  sein  und  Italien,  was  die  Kompen- 
sationsfrage anbetreffe,  größtes  Entgegenkommen  zu  be- 
kunden und  so  schnell  wie  möglich  zu  erklären,  daß  man 
sofort  im  Sinne  großzügigsten  Entgegenkommens  auf  Ver- 
handlungen über  Auslegung  des  Artikels  VII  der  Kompen- 
sationsverpflichtungen einzugehen  bereit  wäre,  wobei  selbst- 
redend auch  nach  Berliner  Überzeugung  von  dem  Trentino 
keine  Rede  sein  könne. 

Dieser  Wunsch  Deutschlands  beruhe  nach  der  fest- 
stehenden Meinung  des  Grafen  Szögyeny  absolut 
nicht  auf  einem  Abflauen  seiner  Bündnistreue  Österreich- 
Ungarn  gegenüber,  sondern  einzig  und  allein  auf  der  Über- 
zeugung, daß  Österreich-Ungarn  und  Deutschland  unbedingt 
Italien  brauchten,  um  in  den  allgemeinen  Konflikt  mit 
Sicherheit  eintreten  zu  können. 

Die  nach  Berlin  bekanntgegebenen  Zugeständnisse  seien 
nach  Meldungen  des  deutschen  Botschafters  in  Rom  von 
dem  italienischen  Kabinett  als  nicht  genügend  betrachtet 
worden.  Wie  der  k.  u.  k.  Militärattache  dem  Grafen 
Szögyeny  berichte,  habe  sich  der  Generalstabschef  Graf 
Moltke  in  demselben  Sinne  hinsichtlich  der  unbedingten 
Notwendigkeit  eines  sofortigen  Verständnisses  mit  Italien 
geäußert.  In  Anbetracht  des  großen  Ernstes  der  Lage 
schließe  sich  der  k.  u.  k.  Botschafter  vollinhaltlich  der 
vorberichteten  Überzeugung  der  deutschen  Regierung  an. 

Zu  einer  Richtigstellung  seiner  letzten  Äußerungen '  sah  Meidungen 
sich  der  Unterstaatssekretär  in  einer  Unterredung  mit  Graf  ■*" 

^  deutschen 

Szögyeny  am  30.  Juli  veranlaßt-.  Herr  Zimmermann  las  dem  Botschafiers 
k.  u.  k.  Botschafter  ein  soeben  eingelangtes  Telegramm  des  '"  ""^ 

°  '^  °  (30.   Juli) 

deutschen  Botschafters  in  Rom  vor,  laut  welchem  Marquis 
di  San  Giuliano  ihm  jetzt  doch  erklärt  habe,  daß  „Italien 
das  kriegerische  Vorgehen  gegen  Serbien  als  aggressiven 
Akt  gegen  Rußland  ansehe  und  sich  daher  für  den  daraus 
eventuell  entstehenden  Konflikt  als  von  seinen  im  Drei- 
bunde vorgesehenen  Unterstützungsverpflichtungen  entbunden 

•  Siehe  Seite  223. 

■^  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  31.  Juli,  12  Uhr  35  Minuten  a.  m., 
Nr.  334. 

•^  225 


betrachte".  Auch  müsse  Italien  unbedingt  auf  Kompensationen 
auf  Grund  des  Artikels  VII  bestehen. 

Auf  die  energischen  Einwendungen  des  deutschen  Bot- 
schafters habe  der  italienische  Minister  des  Äußern 
erwidert,  er  behaupte  ja  nicht,  daß  Italien  seine  Bundes- 
genossen eventuell  nicht  unterstützen  werde,  er  sage  nur, 
daß  es  in  diesem  Falle  auf  Grund  des  Dreibundvertrages 
nicht  verpflichtet  sei,  Deutschland  und  Österreich-Ungarn 
zu  unterstützen.  Herr  von  Flotow  habe  sein  Telegramm 
mit  der  Bemerkung  geschlossen,  Österreich-Ungarn  solle 
unbedingt  schon  jetzt  Kompensationen  für  die  eventuelle 
Besetzung  serbischen  Gebietes  Italien  zusichern. 
Italien  Von    Hcrm    von    Jagow    erhielt    Graf    Szögyeny     am 

erachtet  sich  j  August  vormittags  die  Mitteilung'  von  einem  Telegramm 
BündDis-  des  deutschen  Botschafters  in  Rom,  demzufolge  Marquis  di 
pflichten  ent-  gan  GiuUano  ihm  erklärt  habe,  daß  sich  Italien  seiner 
(""August)  Dreibundpflichten  für  entbunden  erachte,  da  Österreich- 
Ungarn  auf  eine  Kompensationsgewährung  nicht  ein- 
gegangen sei. 

Italien  würde,  so  meinte  Marquis  di  San  Giuliano,  nicht 
aktiv  mit  Deutschland  und  Österreich-Ungarn  gehen,  aber 
unbedingt  neutral  bleiben. 
Vor-  Als  Graf  Szögyeny    dem    Staatssekretär   ein  Telegramm 

Stellungen     (jgg  Grafen  Berchtold  vom  31.  Juli  zwecks  Erzielung  eines 
jagows™in-    Einvernehmens    in    der    Kompensationsfrage    vorlas  -,     bat 
sichtlich" der  Herr  von  Jagow  den    k.  u.  k.  Botschafter  dringendst,  Graf 
it.''u'!"k^  '^  Berchtold  zu  melden,  daß,  laut  übereinstimmender  Meldungen 
Botschafters  Hcrm  von    Flotows   aus    Rom    und   des   italienischen    Bot- 
u.  A^l^ust)    schafters  in   Berlin,    Herr   von    Merey   den    Vorschlag   des 
Grafen  Berchtold  (vom  28.  Juli)  in  der  Kompensationsfrage^ 
der  italienischen  Regierung  nicht  mitgeteilt  habe,    daß  Herr 
von  Jagow  also  die  berechtigte  Furcht  hege,  der  k.  u.  k.  Bot- 
schafter werde  auch  diese  letzte  Eröffnung  in  der  Kompen- 
sationsfrage  nicht  machen,  was  von  katastrophaler  Wirkung 
sein  könnte.  Herr  von  Merey  sei  gegen  die  Gewährung  von 

•  Telegramm    aus    Berlin   d.   d.   1.  August,  2  Uhr  50  Minuten  p.  m., 
Nr.  348. 

=  Vgl.  Seite  259  ff. 

s  Vgl.  Seite   191   unten. 

226 


Kompensationen  und  führe  daher  die  diesbezüglichen  Anträge 
nicht  aus. 

Graf  Szögyeny  widersprach  „selbstredend"  dieser  An- 
schuldigung und  beeilte  sich,  nach  einem  inzwischen  mit 
Graf  Forgäch  gepflogenen  telephonischen  Gespräche  neuer- 
lich den  Staatssekretär  aufzusuchen,  um  diesem  die  Zu- 
sicherung hinsichtlich  der  Ausführung  des  Auftrages  Graf 
Berchtolds  durch  die  k.  u.  k.  Botschaft  in  Rom  bekannt- 
zugeben. 

Beziehungen  Berlin  —  Paris 

Nach    der    Meldung    des    k.   u.   k.  Botschafters '   schien  Demarche 
es     unzweifelhaft,    daß    Frankreich    im    Einvernehmen    mit  ^^„,55^60 
Rußland  seit  dem  29.  Juli  gewisse  militärische  Vorbereitungen  Botschafters 
treffe.  Graf  Szecsen  erfuhr  an  diesem  Tage  vertraulich,  der  *^' 
deutsche  Botschafter  solle  diese  Vorbereitungen  bei  Herrn 
Viviani  zur  Sprache  bringen  und   darauf  hinweisen,  Deutsch- 
land könnte  unter    diesen    Umständen    gezwungen    werden, 
ähnliche  Maßnahmen  zu  treffen,  die  natürlich   nicht  geheim 
bleiben  könnten  und  deren  Bekanntwerden    in    der   Öffent- 
lichkeit  große  Aufregung  verursachen  würde.    So    könnten 
beide  Länder,  trotzdem  sie    nur  den  Frieden  anstrebten,  zu 
einer  wenigstens  teilweisen  Mobilisierung  gedrängt  werden, 
was  gePährlich  wäre.  Baron  Schön  solle  weiters  erklären,  daß 
Deutschland    lebhaft   wünsche,    den    Konflikt   zwischen    der 
Monarchie    und  Serbien    lokalisiert    zu    sehen,    und   hiebei 
auf  die  Unterstützung   Frankreichs  zähle. 

Baron  Schön  hatte  übrigens  im  Auftrage  des  Berliner 
Kabinetts  am  Quai  d'Orsay  bereits  mitgeteilt,  die  Monarchie 
habe  in  Petersburg  erklärt,  keine  Eroberungsabsichten  in 
Serbien  zu  haben.  Der  deutsche  Botschafter  habe  dieses 
Argument  seither  wiederholt  verwertet.  Die  Nachricht  war, 
wenn  auch  nicht  in  offizieller  Form,  in  die  Zeituiigen  ge- 
drungen und  es  wurde  in  denselben  auf  die  früheren  wieder- 
holten Erklärungen  des  Wiener  Kabinetts,  die  Monarchie 
sei  territorial  saturiert,  hingewiesen.  Ein  Abgehen  von  diesem 
Standpunkt  würde,  nach  Graf  Szecsens  Ansicht^  jedenfalls 

*  Telegramm  aus  Paris  d.  d.  29.  Juli,  Nr.  136. 
2  Telegramm  aus  Paris  d.  d.  30.  Juli,  Nr.   137. 

227 


Anfrage  des 

deutschen 

Botschafters 

betreffs  der 

Neutralität 

Frankreichs 

(31.  Juli) 


in  Frankreich  und  auch  in  England  den  denl<har  schiechtesten 
Eindruclc  machen. 

In  ein  Icritisches  Stadium  traten  die  deutsch-französischen 
Beziehungen,  als  Baron  Schön  am  31.  Juli  auftragsgemiäß 
erklärte,  daß  wenn  die  angeordnete  allgemeine  russische 
Mobilisierung  nicht  binnen  zwölf  Stunden  eingestellt  werde, 
Deutschland  gleichfalls  mobilisiere.  Baron  Schön  fragte 
gleichzeitig  an,  ob  Frankreich  im  Falle  eines  deutsch- 
russischen  Krieges  neutral  bleibe.  Die  diesbezügliche  Ant- 
wort werde  binnen  achtzehn  Stunden  erbeten,  der  Termin 
laufe  am   1., August,  1   Uhr  nachmittags,  ab'. 

Auf  diese  Anfrage  erhielt  Baron  Schön  den  Bescheid: 
Frankreich  würde  in  diesem  Falle  das  tun,  was  seine 
Interessen  erheischen. 

Die  Formulierung  dieser  Antwort  erklärte  Herr  Viviani, 
nach  der  Meldung  Graf  Szecsens  vom  1.  August-  damit, 
daß  ein  neuer  Vorschlag  Sir  Edwards  vorliege,  alle  Mächte 
sollten  gleichzeitig  die  kriegerischen  Vorbereitungen  ein- 
stellen. Rußland  habe,  falls  andere  Mächte  das  gleiche 
täten,  den  Vorschlag  akzeptiert.  Da  überdies  jetzt  die 
österreichisch-ungarische  Erklärung  vorliege,  die  staadiche 
Souveränität  Serbiens  nicht  antasten  zu  wollen,  scheine  Herr 
Viviani  eine  Verständigung  für   nicht  unmöglich  zu  halten. 


Änderung  der 
Auffassung 
in  Berlin 


Beziehungen  Berlin — Wien  —  London 

Die  optimistische  Auffassung,  zu  der  man  sich  in  Berlin 
hinsichdich  der  Haltung  Englands  in  einem  europäischen 
Konflikt  bisher  bekannte,  erfuhr  durch  die  seit  dem 
29.  Juli  einlangenden  Nachrichten  eine  Erschütterung.  Wie 
Herr  Zimmermann  dem  k.  u.  k.  Botschafter  am  29.  Juli 
mitteilte,  habe  der  französische  Botschafter  erklärt,  daß  sich 
England  ganz  zweifellos  „des  le  premier  coup  de  notre 
cote"  (Frankreich,  Rußland)  stellen  werde'.  Der  italienische 
Botschafter   habe   Herrn   von   Jagow    gegenüber    derselben 

1  Telegramm  aus  Paris  d.  d.  31.  Juli,  Nr.   143. 

-  Telegramm  aus  Paris  d.  d.  1.  August,  1  Uhr  35  Minuten  p.  m., 
Nr.   146. 

3  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  29.  Juli,  II  Uhr  40  Minuten  a.  m., 
Nr.  324. 


228 


Überzeugung  Ausdruck  gegeben.  Der  Unterstaatssekretär, 
der  bisher  von  der  wenigstens  anfänglichen  Neutralität 
Englands  überzeugt  schien,  sprach  sich  seit  dem  29.  Juli 
abends  in  dieser  Hinsicht  im  pessimistischen  Sinne  aus. 

Am  29.  Juli  erging   an    die    k.  u.  k.  Signatarbotschaften  DieM»- 
und  Balkanmissionen  die  telegraphische  Verständigung,  nach  I^'|""^^/" 
einer  Meldung  des  Grafen  Szögyeny  aus  Berlin  vom  28.  Juli'  Kabinetts  an 
sei  der  englische  Vermittlungsvorschlag,  laut  welchem  Eng-  „^Jj^^''' 
land,  Deutschland,  Italien    und  Frankreich  zu  einer  Konfe-  hinsichtlich 
renz  in  London  zusammentreten  sollten,  um  Mittel  zur  Bei-  ^"^^  ^^^^' 
legung    der   jetzigen  Schwierigkeiten    zu  finden,    deutscher-  englischen 
seits    mit    der   Begründung    abgelehnt    worden,     daß    eine  (jaTui'r^" 
Konferenz  nicht  das  geeignete  Mittel  wäre,  um  einen  Erfolg 
zu  erzielen  -. 

Herrn    von    Tschirschky   war    am    nämlichen  Tage   von  Memoire  des 
Graf  Berchtold  in  Beantwortung  des  zur  Kenntnis  gebrachten  Ka'wnetts zur 
englischen  Vermittlungsvorschlages  ein  die  ablehnende  Haltung  Begründung 
des    Wiener    Kabinetts    motivierendes    Memoire    überreicht  ^l[^  ^Jj. ' 

worden*^;  durch  Herrn 

„Die  k.  u.  k.  Regierung  hat  mit  dem  ergebensten  Danke  ^""i^irscbiiy 
„von  der  Mitteilung*  Kenntnis  genommen,   welche    ihr  der  ubermitieiten 
„Herr  kaiserlich  deutsche  Botschafter  am  28.  1.  M.  gemacht  p"^pos'^,^i"„ 
„hat    in  betreff   des    Ersuchens    des  englischen    Kabinetts  %  i29.  juü) 

1  Vgl.  Seite  179. 

2  Zirkularerlaß  an  die  Signatarbotschaften  und  die  Balkanmissionen 
d.  d.  29.  Juli,  Protokoll  Nr.  5814  bis  5822.  Es  muß  auffallen,  daß  sich 
diese  Mitteilung  an  die  k.  u.  k.  Missionen  auf  die  deutscherseits 
bereits  am  27.  Juli  erfolgte  Ablehnung  des  englischen  Konferenzvor- 
schlages berief  und  nicht  auf  die  von  Graf  Berchtold  selbst  dem 
englischen  Botschafter  in  der  Besprechung  am  28.  Juli  gegenüber  voll- 
zogene Abweisung  der  Vermittlungsvorschläge.  (Vgl.  Seite  203  ff.) 

•'  Der  wörtlichen  Zitierung  der  im  Konzepte  dieses  Memoires  vor- 
genommenen Änderungen  kommt  ein  sachliches  Interesse  zu.  Wir  ver- 
zeichnen daher  die  gegenständlichen  Vermerke. 

*  Ursprünglich  im  Konzepte:  „von  dem  Inhalte  der  Notiz";  sodann 
von  der  Hand  Baron  Musulins:  „von  dem  Inhalte  des  Aide-memoires"; 
zuletzt  Korrektur  des  Grafen  Berchtold:  „von  der  Mitteilung". 

■'  Ursprünglich  im  Konzept:  „die  ihr  der  Herr  kaiserlich  deutsche 
Botschafter  am  28.  1.  M.  zur  Verfügung  gestellt  hat  und  die  das  Ersuchen 
des  englischen  Kabinetts  betraf".  (Umänderung  von  der  Hand  des  Grafen 
Berchtold.) 

229 


„die  kaiserlich  deutsche  Regierung  möge  ihren  Einfluß  beim 
„Wiener  Kabinett  dahin  geltend  machen,  damit  dieses  die 
„Antwort  aus  Belgrad  entweder  als  genügend  betrachte  oder 
„aber  als  Grundlage  für  Besprechungen  annehme'.  Zu  der 
„Aussprache  des  Herrn  englischen  Staatssekretärs  zu  Fürst 
„Lichnowsky  möchte  die  k.  u.  k.  Regierung  zunächst  darauf 
„aufmerksam  machen,  daß  die  serbische  Antwortnote  keines- 
„wegs,  wie  dies  Sir  Edward  Grey  anzunehmen  scheint, 
„eine  Zustimmung  zu  allen  unseren  Forderungen  mit  einer 
„einzigen  Ausnahme  impliziere,  daß  vielmehr  in  den  meisten 
„Punkten  Vorbehalte  formuliert  sind,  welche  den  Wert  der 
„gemachten  Zugeständnisse  wesentlich  herabdrücken.  Die 
„Ablehnung  betreffe  aber  gerade  jene  Punkte,  welche  einige 
„Garantie-  für  die  faktische  Erreichung  des  angestrebten 
„Zweckes  enthalten." 

„Die  k.  u.  k.  Regierung  kann  ihre  Überraschung  über 
„die  Annahme  nicht  unterdrücken,  als  ob  ihre  Aktion  gegen 
„Serbien  Rußland  und  den  russischen  Einfluß  am  Balkan 
„trefl^en  wolle,  denn  dies  hätte  zur  Voraussetzung,  daß  die 
„gegen  die  Monarchie  gerichtete  Propaganda  nicht  allein 
„serbisch,  sondern  russischen  Ursprunges  sei.  Wir  sind 
„bisher  vielmehr  von  der  Auffassung  ausgegangen,  daß  das 
„offizielle  Rußland  diesen  der  Monarchie  feindlichen  Ten- 
„denzen  fernstehe,  und  es  richtet  sich  unsere  gegenwärtige 
„Aktion  ausschließlich  gegen  Serbien,  während  unsere 
„Gefühle  für  Rußland,  wie  wir  Sir  E.  Grey  versichern 
„können,  durchaus  freundschaftliche  sind. 

„Im  übrigen  muß  die  k.  u.  k.  Regierung  darauf  hin- 
„weisen,  daß  sie  zu  ihrem  lebhaften  Bedauern  nicht  mehr 
„in  der  Lage  ist,  zu  der  serbischen  Antwortnote  im  Sinne 
„der    englischen    Anregung    Stellung    zu    nehmen,    da    im 

1  An  dieser  Stelle  folgte  im  Konzept  ein  mit  den  Worten  eingeleiteter 
Absatz:  „In  Beantwortung  dieser  Notiz  beehrt  sich  die  k.  u.  k.  Regierung 
mitzuteilen,  daß  sie  zu  ihrem  lebhaften  Bedauern  nicht  mehr  in  der  Lage 
ist,  .  .  .  ."  (Fortsetzung  in  unserem  Texte  Seite  230,  Zeile  2  von  unten). 
Der  Passus  von:  „Zu  der  Aussprache"  bis:  „Im  übrigen  muß  die  k.  u.  k. 
Regierung  darauf  hinweisen":  Einschaltung   auf  einem  besonderen  Bogen. 

-  Im  Konzepte:  „jenen  Punkt,  welcher  die  wirksamste  Garantie  für 
die  faktische  Erreichung  des  angestrebten  Zweckes  enthält".  (Korrektur 
von  der  Hand  Graf  Berchtolds.l 

230 


„Zeitpunkte  des  hier  gemachten  deutschen  Schrittes '  der 
„Kriegszustand  zwischen  der  Monarchie  und  Serbien  bereits 
„eingetreten  war  und  die  serbische  Antwortnote  demnach 
„durch  die  Ereignisse  bereits  überhoh  ist. 

„Die  k.  u.  k.  Regierung  erlaubt  sich  bei  diesem  Anlasse 
„darauf  aufmerksam  zu  machen,  daß  die  königlich  serbische 
„Regierung  noch  vor  Erteilung  ihrer  Antwort  mit  der  Mobili- 
„sierung  der  serbischen  Streitkräfte  vorgegangen  ist  und  daß 
„sie  auch  nachher  drei  Tage  verstreichen  ließ,  ohne  die  Ge- 
„neigtheit  kundzugeben,  den  Standpunkt  ihrer  Antwortnote 
„zu  verlassen  %  worauf  unsererseits  die  Kriegserklärung  er- 
folgte. 

„Wenn  im  übrigen  das  englische  Kabinett  seinen  Einfluß 
„auf  die  russische  Regierung  im  Sinne  der  Erhaltung  des 
„Friedens  zwischen  den  Großmächten  und  der  Lokalisierung 
„des  uns  durch  die  jahrelangen  serbischen  Umtriebe  aufge- 
„zwungenen  Krieges  geltend  zu  machen  sich  bereit  findet, 
„so  kann  dies  die  k.  u.  k.  Regierung  nur  begrüßen." 

Dies  Memoire,  das  eine  direkte  Bezugnahme  auf  die 
deutsche  schriftliche  Notiz  —  bei  Benennung  als  einer 
solchen  —  vorsätzlich  vermied  (wie  es  aus  den  diesbezüglich 
konsequent  vorgenommenen  Änderungen  im  Konzept  er- 
hellt) 3,  wurde  am  29.  Juli,  11  Uhr  40  Minuten  nachmittags, 
den  k.  u.  k.  Botschaftern  in  Petersburg,  London,  Paris 
und  Rom  telegraphisch   zugestellt*.    Ein   weiteres  Exemplar 

•  Ursprünglich  im  Konzepte:  „Im  Zeitpunkte  des  Einlangens  der 
dortigen  Notiz".  (Korrektur  von  der  Hand  des  Grafen  Forgäch.) 

-  Im  Konzepte  hierauf  die  folgenden  Worte  durchstrichen:  „sondern 
mit  der  Eröffnung  der  Feindseligkeiten  begonnen  hat". 

3  Die  gleiche  Absicht  erkennen  wir  in  dem  Bestreben  des  Wiener 
Kabinetts,  in   dem   Konzept  der  Weisung  an   den    Grafen  Szögyeny   vom 

28.  Juli  (vgl.  Seite  178)  jede  ursprüngliche  Erwähnung  der  deutschen 
schriftlichen  Notiz  umzuformulieren.  (Vgl.  Seite   179,  Anmerkung  2.) 

*  Weisung  nach  St.  Petersburg  d.  d.  Wien, 

29.  Juli,  Nr.   193. 
Weisung  nach  London  d.  d.  Wien,  29.  Juli, 

Nr.   182. 

Weisung  nach  Paris  d.  d.  Wien,  29.  Juli, 
Nr.   172. 

Weisung  nach  Rom  d.  d.  Wien,  29.  Juli, 
Nr.  900. 

231 


Expediert  29.  Juli, 

11   Uhr  40  Minuten 

p.  m. 


ging    am    gleichen     Tage     mit    Depeschenkasten     an    Graf 
Szögyeny    ab;    ein    Exemplar    endlich    wurde    Herrn    von 
Tschirschky  selbst  ausgefolgt. 
Derengiische        Der  Ausbruch    dcs  Krieges  zwischen  Österreich-Ungarn 
vermiti-        ^^^  Serbien,  im  Gefolge    damit    die  offenkundige  Aussicht- 
schlag  vom    losigkcit   direkter  Besprechungen    zwischen  Petersburg  und 
29.  Juli        Wien,  vollends  die  Einleitung  der  russischen  Mobilisierung, 
hatten    die    Gefahr    einer    internationalen    Konflagration    in 
greifbare  Nähe  gerückt.    Am  29.  Juli    vormittags    war  vom 
englischen  Staatssekretär  dem  deutschen  Botschafter  Fürsten 
Lichnowsky   neuerlich  eine  Formel   vorgeschlagen   worden, 
mittels  welcher  die  vier  an  der  Krise  nicht  direkt  beteiligten 
Großmächte  —  England,  Deutschland,  Frankreich  und  Italien 
—  in  den  Stand  gesetzt  werden  sollten,    den  schwergefähr- 
deten Frieden  zu  erhalten. 

In  der  an  den  englischen  Botschafter  in  Berlin,  Sir  E. 
Goschen,  zu  diesem  Gegenstande  gerichteten  Weisung  Sir 
Edward  Greys  vom  29.  Juli  lautete  der  dem  Fürsten 
Lichnowsky  zur  Weiterleitung  nach  Berlin  übermittelte 
Vorschlag: 

„I  pointed  out,  however,  that  the  Russian  Government, 
„while  desirous  of  mediation,  regarded  it  as  a  condition 
„that  the  military  Operations  against  Servia  should  be  sus- 
„pended,  as  otherwise  a  mediation  would  only  drag  on 
„matters,  and  give  Austria  time  to  crush  Servia.  It  was,  of 
„course,  too  late  for  all  military  Operations  against  Servia 
„to  be  suspended.  In  a  short  time,  I  supposed,  the  Austrian 
„forces  would  be  in  Beigrade,  and  in  occupation  of  some 
„Servian  territory.  But  even  then  it  might  be  possible  to 
„bring  some  mediation  into  existence,  if  Austria,  while  saying 
„that  she  must  hold  the  occupied  territory  until  she  had 
„complete  satisfaction  from  Servia,  stated  that  she  would  not 
„advance  further,  pending  an  effort  of  the  Powers  to  mediate 
„between  her  and  Russia."  '. 

Dieser  Vorschlag  Sir  Edward  Greys  war  nach  der 
Aussage  des  deutschen  Botschafters'  unverzüglich  nach 
Berlin  telegraphiert  worden-. 

1  Blaubuch  Nr.  88. 

2  Daselbst  Schlußabsatz. 

232 


Im    Auftrage    des    Reichskanzlers    machte    der  deutsche  Intervention 
Botschafter    in  Wien    Herr   von    Tschirschicy    am    30.    Juli  deutschen 
Graf  Berchtold  Mitteilung    über    die  erwähnte  Unterredung  Regierung 
zwischen    Sir   Edward  Grey    und  Fürst  Lichnowsky.  Diese  Jj^  j^°.^ 
Besprechung   hatte    nach    dem   Wortlaute    der   im    k.  u.  k. 
Ministerium  des  Äußern   aufgesetzten  gegenständlichen  Auf- 
zeichnung   —   Tagesbericht   vom   30.  Juli;  Weisung    an  die 
k.  u.  k.  Botschafter  in  London,  Berlin  und  Petersburg  vom 
31.  Juli'  —  folgenden  Inhalt: 

„Sazonow  habe  die  englische  Regierung  wissen  lassen, 
„daß  er  nach  der  Kriegserklärung  Österreich-Ungarns  an 
„Serbien  nicht  mehr  in  der  Lage  sei,  mit  Österreich-Ungarn 
„direkt  zu  verhandeln  und  daher  die  Bitte  ausspreche,  England 
„möge  seine  Vermittlung  wieder  aufnehmen.  Als  Voraus- 
„setzung  betrachte  die  russische  Regierung  die  vorläufige 
„Einstellung  der  Feindseligkeiten. 

„Zu  dieser  russischen  Eröffnung  bemerkte  Sir  Edward 
„Grey  zu  Fürst  Lichnowsky,  England  denke  an  eine  Ver- 
„mittlung  ä  quatre  und  halte  dieselbe  für  dringend  geboten, 
„wenn  nicht  ein  Weltkrieg  entstehen  solle. 

„In  privater  Weise  hat  Sir  Edward  Grey  dem  deutschen 
„Botschafter  zu  verstehen  gegeben,  daß  England  zwar,  wenn 
„es  sich  nur  um  ein  Eingreifen  Rußlands  handeln  würde, 
„neutral  bleiben  könnte,  daß  es  aber,  wenn  auch  Deutschland 
„und  Frankreich-  in  die  Aktion  trete,  nicht  untätig  bleiben, 
„sondern  zu  sofortigen  Entschlüssen  und  Handlungen  ge- 
„zwungen  wäre.  Das  englische  Kabinett  müsse  mit  der 
„öffendichen  Meinung  rechnen,  die  wegen  der  österreichi- 
„scherseits  bewiesenen  Hartnäckigkeit  umzuschlagen  beginne. 

„Dem  italienischen  Botschafter,  den  Sir  Edward  Grey 
„kurz  nach  dem  Fürsten  Lichnowsky  empfing,  sagte  der 
„englische  Staatssekretär,  er  glaube  Österreich-Ungarn  jede 
„mögliche  Genugtuung  verschaffen  zu  können.  Ein  demütiges 
„Zurückweichen  Österreich-Ungarns    käme    nicht   in  Frage, 

'  Weisung  nach  London  d.  d.  Wien,  Nr.  194;  nach  Berlin,  Nr.  308, 
nach  St.  Petersburg,  Nr.  208,  alle  drei  d.  d.  31.  Juli,  expediert  1.  August 
3  ühr  45  Minuten  a.  m. 

-  Die  Worte  „Deutschland  und"  Zusatz  im  Konzept  von  der  Hand 
des  Grafen  Forgäch. 

233 


„da  die  Serben  auf  alle  Fälle  gezüchtigt  und  mit  Zustimmung 

„Rußlands  genötigt  würden,  sich  den   österreichisch-ungari- 

„schen  Wünschen  unterzuordnen.  Österreich-Ungarn  könne 

„also,  auch  ohne  einen  Weltkrieg  zu  entfesseln,  Bürgschaften 

„für  die  Zukunft  erlangen." 

Befür-  Herr  von  Tschirschky   war  beauftragt,    an    die    im  Vor- 

rruschen"  stehenden  wiedergegebenen  Äußerungen  Sir  Edward  Greys 

Vorschlages   die  nachstehenden   Konsiderationen    des    deutschen    Reichs- 

demsch?      kanzlers  zu  knüpfen': 

Regierung  „Wenn    Österrcich-Ungam    jede    Vermittlung    ablehne, 

„würden  Österreich-Ungarn  und  Deutschland  einer  Koalition 
„von  ganz  Europa  gegenüberstehen,  da  auch  Italien  und 
„Rumänien  nicht  mit  ihnen  gingen. 

„Österreich-Ungarns  politischem  Prestige,  der  Waffen- 
„ehre  seiner  Armee  und  seinen  berechtigten  Ansprüchen 
„Serbien  gegenüber  könnte  durch  die  Besetzung  Belgrads 
„und  anderer  Punkte  Genüge  getan  werden.  Auch  seine 
„Stellung  am  Balkan  —  Rußland  gegenüber  —  würde  Öster- 
„reich-Ungarn  durch  die  erfolgte  Demütigung  Serbiens  zu 
„einer  starken  machen.  Unter  diesen  Umständen  müsse 
„es  das  deutsche  Kabinett  dringendst  und  nach- 
„drücklichst  der  Erwägung  der  k.  u.  k.  Regierung 
„anheimstellen,  die  Vermittlung  Englands  unter 
„den  angegebenen  ehrenvollen  Bedingungen  anzu- 
„nehmen.  Es  wäre  für  Österreich-Ungarn  und 
„Deutschland  ungemein  schwer,  die  Verantwortung 
„für  die  Folgen  einer  ablehnenden  Haltung  zu 
„tragen"^. 

Dieser  durch  Herrn  von  Tschirschky  dem  Wiener 
Kabinett  „dringendst  und  nachdrücklichst"  übermittelte  Vor- 
schlag Sir  E.  Greys,  im  Anschlüsse  an  die  Eröffnungen 
Herrn  Sazonows  einer  Vermittlung  ä  quatre  zuzustimmen, 
erfuhr  durch  Graf  Berchtold  die  folgende,  mit  Rücksicht 
auf  ihre  Folgenschwere  eine  ausführlichere  Darlegung  er- 
heischende Erledigung. 

'  Fortsetzung   der   eben   zitierten  Weisung  nach  Londen,  Berlin  und 
St.  Petersburg  vom  31.  Juli. 
-  Vom  Autor  gesperrt. 

234 


Mittels   der  vorerwähnten,    am  31.  Juli    aufgesetzten  Weisung  «n 
und  erst  am  1.  August  um  3  Uhr  45  Minuten  vormit-  Bo"sj,|,"f,er 
tags  expedierten  telegraphischen  Weisung  wurde  den  in  Berün 
k.  u.  k.  Botschaftern  in  London,  Berlin  und  Petersburg  von  *■"■  •'"''^ 
der  Demarche  Herrn  von  Tschirschkys  in  Angelegenheit  des 
englischen  Vermittlungsvorschlages  und  von  den  diesbezüg- 
lichen Erwägungen  der  deutschen  Regierung  zur  persönlichen 
Information  Mitteilung  gemacht.  Der  k.  u.  k.  Botschafter  in 
Berlin  Graf  Szögyeny  erhielt  hiebei  den  Auftrag: 

„Ich  ersuche  Euer  Exzellenz,  dem  Herrn  Staatssekretär 
„für  die  uns  durch  Herrn  von  Tschirschky  gemachten  Mit- 
„teilungen  verbindlichst  zu  danken  und  ihm  zu  erklären, 
„daß  wir  trotz  der  Änderung,  die  in  der  Situation  seither 
„durch  die  Mobilisierung  Rußlands  eingetreten  sei,  in  voller 
„Würdigung  der  Bemühungen  Englands  um  die  Erhaltung  des 
„Weltfriedens  gerne  bereit  seien,  dem  Vorschlag  Sir  E.  Greys, 
„zwischen  uns  und  Serbien'  zu  vermitteln,  näher- 
„zutreten  -. 

„Die  Voraussetzungen  unserer  Annahme  seien  jedoch 
„natürlich,  daß  unsere  militärische  Aktion  gegen  das  König- 
„reich  einstweilen  ihren  Fortgang  nehme,  und  daß  das 
„englische  Kabinett  die  russische  Regierung  vermöge,  die 
„gegen  uns  gerichtete  Mobilisierung  seiner  Truppen  zum 
„Stillstand  zu  bringen,  in  welchem  Falle  wir  selbstverständ- 
„lich  auch  die  uns  durch  die  russische  Mobilisierung  auf- 
„gezwungenen  defensiven  militärischen  Gegenmaßregeln  in 
„Galizien  sofort  rückgängig  machen  würden." 

Graf  Berchtold  erklärte  also  „in  voller  Würdigung  der  DerChiirre- 
Bemühungen  Englands  um  die  Erhaltung  des  Weltfriedens",  J"J'Q^^f^„ 
das  Wiener  Kabinett  sei    gerne  bereit,    dem  Vorschlag  Sir  szögytny 
E.  Greys,  zwischen  der  Monarchie  und   Serbien  zu  ver- 
mitteln, näherzutreten.  Worauf  gründete  er  diese  —  mindestens 
unpräzise    —    Formulierung    des    englischen    Vermittlungs- 
vorschlages? 

In  den  Ausführungen  Herrn  von  Tschirschkys  war 
unmißverständlich  von  der  Absicht  Englands  die  Rede,  eine 

•  Im  Original  gesperrt. 

2  Ursprünglich  im  Konzept  „anzunehmen".  Die  Formulierug  „näher- 
zutreten" Änderung  von  der  Hand  des  Grafen  Forgäch. 

235 


Vermittlung  ä  quatre  herbeizuführen.  Den  Schlüssel  zu 
der  überraschenden  Konzeption  des  Grafen  Berchtold  bietet 
der  —  Chiffre-Irrtum  in  einem  Telegramm  des  k.  u.  k. 
Botschafters  in  Berlin.  Graf  Szögyeny  hatte  nämlich  — 
ebenfalls  in  Angelegenheit  des  Greyschen  Vorschlages  — 
am  30.  Juli,  5  Uhr  15  Minuten  nachmittags,  depeschiert: 

„Nr.  327 

„Chiffre. 

„Geheim. 

„Staatssekretär  hat,  wie  er  mir  sagt,  Herrn  von  Tschirschky 
„beauftragt.  Euer  Exzellenz  mitzuteilen,  daß  laut  eines  Tele- 
„gramms  Fürsten  Lichnowsky  Sir  E.  Grey  das  Ersuchen 
„an  die  deutsche  Regierung  gestellt  habe,  Euer  Exzellenz 
„nahezulegen,  nach  eventueller  Besetzung  Belgrads  und 
„auch  anderer  strategischer  Punkte  Halt  zu  machen  und  in 
„Verhandlungen  mit  Serbien  einzutreten. 

„Herr  von  Jagow  sieht  es  vollkommen  ein,  daß  nach 
„unserer  erfolgten  Kriegserklärung  und  Mobilisierung  unserer 
„Armee  wir  eine  militärische  Genugtuung  haben  müssen, 
„was  durch  die  Besetzung  in  Serbien  dann  erlangt  sei,  so 
„daß  wir  darauf  nach  seiner  Ansicht  in  die  Pourparlers 
„eintreten  könnten." 

Dieses  Telegramm  traf  in  Wien  am  30.  Juli,  8  Uhr  nach- 
mittags, ein. 

Der  unterlaufene  Chiffre-Fehler  war  von  Graf  Szögyeny 
bemerkt  und  noch  am  selben  Tage  in  einem  um  7  Uhr 
15  Minuten  nachmittags  nach  Wien  abgeschickten  Tele- 
gramm richtiggestellt  worden,  das  folgendermaßen  lautet: 

„Nr.  330. 

„Chiffre. 

„Zu  meinem  Telegramm  327  von  heute.  Nach  erstem 
„Absatz  soll  es  nicht  heißen  „in  Verhandlungen  mit  Serbien 
„einzutreten",  sondern  „mit  den  Mächten  einzutreten"." 

In  dem  ersten  Telegramm  des  Grafen  Szögyeny  (vom 
30.  Juli,  5  Uhr  15  Minuten  nachmittags)  hat  Graf  Berchtold 
das  Wort  „Serbien"  eigenhändig  durchstrichen  und  darüber 
mit  Bleistift  das  Wort  „Mächten"  gesetzt.  Es  ist  also  aus- 
geschlossen, daß  Graf  Berchtold,  der  die  sinngemäße 
Korrektur  des  Textes  selbst  besorgte,  sich  von  dem  Irrtum 

236 


in  der  chiffrierten  (ersten)  Depesche  des  Grafen  Szögyeny 
nicht  überzeugt  hätte.  Da  das  i^orrigierende  (zweite)  Tele- 
gramm Graf  Szögyenys  bereits  am  30.  Juli,  10  Uhr  abends, 
in  Wien  eingelangt  war,  hätte  dieses  als  Basis  der  am 
31.  Juli  aufgesetzten  und  gar  erst  am  1.  August  -  früh- 
morgens expedierten  Weisung  nach  Berlin  dienen  müssen'. 

Als    nun   die   deutsche    Regierung   im    Laufe   des  Die  deutsche 
30.    und    31.    Juli    von    Seite    des    englischen    Bot-  ^'^^^^^ 
schafters    wiederholte    Male    um     Antwort    befragt  wien  keine 
wurde,    vermochte  sie,    da    sie  physisch  noch  nicht  ^"^"„'„^ 
im    Besitze    der    von    Wien    erst    am    Morgen     desihrerAn- 
1.  August   expedierten  Erledigung   ihrer  Befürwor-  j^/^'j^'g,""^ 
tung  des  englischen  Vorschlages    sein  konnte,  bloß  sehen  ver- 
zu  konstatieren,  daß   ihr   trotz   wiederholter   dring-  ["„'^"'"^"^^^3 
lieber  Anfragen-  eine  gegenständliche  Antwort  aus  vom 29. ju« 
Wien    nicht   zugekommen    sei''.     In    mittelbarer    Folge 
aber    mußte    in    London    während    dieser     entscheidenden 
Stunden  die  unerschütterliche    Überzeugung   von  der  mala 
fides  der  deutschen  Regierung  erstehen*. 

Wie  wehrlos  die  deutsche  Regierung  dem  Verdachte 
der  ihrerseits  beabsichtigten  und  durchgeführten  Vereitlung 
dieses  Vermittlungsvorschlags  Sir  Edward  Greys  auch  in  der 
Folgezeit    gegenüberstand,    erweist    sich    aus    den   weiteren 

'  Wir  sind  auf  Grund  unserer  Feststellungen  nunmehr  in  der  Lage, 
auf  die  im  Weißbuch  betreffend  d.  V.  d.  U.  a.  K.,  Seite  41,  in  den 
Schlußfolgerungen  offengelassene  Frage,  warum  die  Antwort  des  Wiener 
Kabinetts  auf  den  Vorschlag  Sir  Edward  Greys  vom  29.  Juli  nachmittags 
„nicht  sofort  erfolgt  ist",  genauen  Aufschluß  zu  geben  und  erhellen  damit 
diesen  „einen  der  wesentlichsten  Punkte,  der  noch  der  Auf- 
klärung bedarf".  (Vgl.  ebendort.) 

'-'  Es  wäre  sachlich  wichtig  festzustellen,  welche  Erledigung  die  von 
der  Wiener  deutschen  Botschaft  im  Auftrage  der  Berliner  Regierung  voll- 
zogenen gegenständlichen  Urgenzen  im  einzelnen   gefunden  haben. 

■1  Blaubuch  Nr.  98,   107,   112. 

*  Vgl.  hiezu  das  Telegramm  des  Grafen  Szögyeny  d.  d.  Berlin,  31.  Juli, 
12  Uhr  35  Minuten  a.  m.  Nr.  333:  „Wie  mir  Unterstaatssekretär  heute 
„abends  (30.  Juli)  versicherte,  sei  die  deutsche  Regierung  auf  Grund  zu- 
„verlässiger  Nachrichten  nunmehr,  im  Gegensatze  zu  ihrer  kürzlich  noch 
„gehabten  Oberzeugung  leider  sicher,  daß  England  unbedingt  sofort  gegen 
„Deutschland  und  Österreich-Ungarn  losgehen  werde,  wenn  der 
„kriegerische    Konflikt    mit    Frankreich  und  Rußland  ausbrechen  würde." 

237 


Konsequenzen  der  vom  Wiener  Kabinett  in  der  geschilderten 
Weise  durchgeführten  Erledigung  der  englischen  Ver- 
mittlungsanreguDg. 

Am  4.  November  1916  teilte  der  deutsche  Botschaftsrat 
PrinzStolberg  —  laut  Tagesbericht '  —  dem  k.  u.  k.  Ministerium 
des  Äußern  auftraggemäß  mit,  der  Reichskanzler  habe  die 
Absicht,  in  seiner  nächsten  Rede  auf  die  letzten  Äußerungen 
Lord  Greys  zurückzukommen  und  im  Gegensatz  zu  den 
Anschuldigungen  des  englischen  Ministers,  daß  Deutschland 
durch  seine  Weigerung,  an  der  Erhaltung  des  Friedens  mit- 
zuarbeiten, den  Ausbruch  des  Weltkrieges  veranlaßt  habe, 
den  Beweis  zu  erbringen,  daß  die  deutsche  Regierung  bis 
zum  letzten  Augenblick  ihre  Bemühungen  zwecks  Erhaltung 
des  Friedens  fortgesetzt  habe,  daß  dieselben  aber  durch  die 
russische  Mobilisierung  gescheitert  seien.  Herr  von  Beth- 
mann  wolle  hiebei  auch  seine  unterm  30.  Juli  an  Herrn 
von  Tschirschky  erlassene  Instruktion  (vide  h.  a.  Telegramm 
nach  London,  Berlin,  Petersburg  d.  d.  31.  Juli  1914)  ver- 
werten und  speziell  den  nachstehenden  Passus  aus  derselben 
wörtlich  verlesen: 

„Wir  stehen  somit,  falls  die  österreichisch- 
„ungarische  Regierung  jede  Vermittlung  ablehnt, 
„vor  einer  Konflagration,  bei  der  England  gegen 
„uns,  Italien  und  Rumänien  nach  allen  Anzeichen 
„nicht  mit  uns  gehen  würden,  so  daß  wir  mit  Öster- 
„reich-Ungarn  drei  Großmächten  gegenüberstünden. 
„Deutschland  würde  infolge  der  Gegnerschaft 
„Englands  das  Hauptgewicht  des  Kampfes  zu- 
„fallen.  Das  politische  Prestige  Österreich-Ungarns, 
„die  Waffenehre  seiner  Armee  sowie  seine  berech- 
„tigten  Ansprüche  gegen  Serbien  könnten  durch 
„die  Besetzung  Belgrads  oder  andrer  Plätze  hin- 
„reichend  gewahrt  werden.  Wir  müssen  daher  der 
„Erwägung  des  Wiener  Kabinetts  dringend  und 
„nachdrücklich  zur  Erwägung  geben,  die  Ver- 
„mittlung  zu  den  angegebenen  Bedingungen  an- 
„zunehmen.    Die    Verantwortung    für  die    sonst    ein- 

'  Tagesbericht  d.  d.  4.  November   1916,  Nr.  5418. 
238 


„zutretenden  Folgen  wäre  für  Österreich-Ungarn 
„und  uns  eine  ungemein  schwere." 

Zu  diesem  von  ihm  beabsichtigten  Vorgange  erbitte  er 
sich  die  Zustimmung  des  Herrn  Ministers. 

An  vorstehende  Ausführungen  icnüpfte  Prinz 
Stolberg  die  Bemerkung,  daß  es  aus  den  Ai^ten  des 
Auswärtigen  Amtes  hervorgehe,  daß  das  Wiener 
Kabinett  den  auf  Grund  der  obenerwähnten  Instruk- 
tion unternommenen  Schritt  Herrn  von  Tschirschkys 
unbeantwortet  gelassen  hätte. 

In  wörtlicher  Fortsetzung  sagt  der  Tagesbericht: 

„Es  wurde  dem  deutschen  Botschaftsrat  sofort  erwidert, 
„daß  diese  Annahme  nur  auf  einem  Irrtum  beruhen  könne. 
„Graf  Szögyeny  sei  sofort  i  beauftragt  worden  (h.  a. 
„Telegramm  nach  Berlin  Nr.  308  d.  d.  31.  Juli  1914),  dem 
„Herrn  Reichskanzler  für  seine  Mitteilungen  zu  danken  und 
„ihn  über  die  Auffassung  zu  informieren,  die  seine  Anregung 
„in  Wien  gefunden  hätte.  Auch  sei  der  Schritt  Herrn  von 
„Tschirschkys  und  die  an  Graf  Szögyeny  ergangene  gegen- 
„ständliche  Weisung  des  Wiener  Kabinetts  in  der  Piece 
„Nr.  51  des  über  die  diplomatische  Vorgeschichte  des  Krieges 
„vom  Wiener  Kabinett  herausgegebenen  Rotbucnes  ver- 
„wertet." 

Hier   lautet   das   ebengenannte    Dokument   —   ohne  der  Das  ein- 
deutschen Befürwortung  irgendwie  Erwähnung  zu  tun:        schiägige 

°         °  »  Siück  des 

Graf  Berchtold  an  die  k.  u.  k.  Botschafter  in  London       retchisch- 
und  St.  Petersburg.  ungarischen 

Roibuches 

Telegramm.  Wien,  31.  Juli  1914. 

„Ich  telegraphiere  wie  folgt  nach  Berlin : 
„Herr  von  Tschirschky  hat  auftraggemäß  gestern  hier 
„Mitteilung  über  eine  Unterredung  zwischen  Sir  E.  Grey 
„und  Fürst  Lichnowsky  gemacht,  in  welcher  der  englische 
„Staatssekretär  dem  deutschen  Botschafter  das  Nachfolgende 
„eröffnete: 

,Sazonow  habe  die  englische  Regierung  wissen  lassen, 
,daß   er    nach    der   Kriegserklärung  Österreich-Ungarns    an 

'  Vom  Autor  gesperrt. 

239 


,Serbien  nicht  mehr  in  der  Lage  sei,  mit  Österreich-Ungarn 
,direl^t  zu  verhandeln  und  daher  die  Bitte  ausspreche, 
, England  möge  seine  Vermittlung  wieder  aufnehmen.  Als 
,Voraussetzung  betrachte  die  russische  Regierung  die  vor- 
,läufige  Einstellung  der  Feindseligkeiten. 

,Zu  dieser  russischen  Eröifnung  bemerkte  Sir  E.  Grey 
,zu  Fürst  Lichnowsky,  England  denke  an  eine  Vermittlung 
,ä  quatre  und  halte  dieselbe  für  dringend  geboten,  wenn 
,nicht  ein  Weltkrieg  entstehen  solle.' 

„Ich  ersuche  Euer  Exzellenz,  dem  Herrn  Staatssekretär 
„für  die  uns  durch  Herrn  von  Tschirschky  gemachten  Mit- 
„teilungen  verbindlichst  zu  danken  und  ihm  zu  erklären, 
„daß  wir  trotz  der  Änderung,  die  in  der  Situation  seither 
„durch  die  Mobilisierung  Rußlands  eingetreten  sei,  gerne 
„bereit  seien,  dem  Vorschlag  Sir  E.  Greys,  zwischen  uns 
„und  Serbien  zu  vermitteln,  näherzutreten. 

„Die  Voraussetzungen  unserer  Annahme  seien  jedoch 
„natürlich,  daß  unsere  militärische  Aktion  gegen  Serbien 
„einstweilen  ihren  Fortgang  nehme  und  daß  das  englische 
„Kabinett  die  russische  Regierung  bewege,  die  gegen  uns 
„gerichtete  russische  Mobilisierung  zum  Stillstand  zu  bringen, 
„in  welchem  Falle  selbstverständlich  auch  wir  die  uns  durch 
„dieselbe  aufgezwungenen  defensiven  militärischen  Gegen- 
„maßregeln  in  Galizien  sofort  wieder  rückgängig  machen 
„würden"  '. 

Weiters  wurde  -  setzt  der  erwähnte  Tagesbericht  fort  — 
dem  Prinzen  Stoiberg  gesagt,  seine  Demarche  würde  sofort 
zur  Kenntnis  des  Ministers  gebracht  und  die  Stellungnahme 

•  Auch  in  foro  interne  erwuchsen  dem  k.  u.  k.  Ministerium  des 
Äußern  aus  der  in  der  geschilderten  Weise  vollzogenen  Erledigung  des 
englischen  Vorschlages  vom  29.  Juli  Schwierigkeiten.  Auf  der  für  den 
Druck  des  österreichisch-ungarischen  Rotbuches  vorbereiteten,  die  In- 
struktion für  den  k.  u.  k.  Botschafter  in  London,  Berlin  und  Petersburg 
(siehe  Seite  233  ff.)  enthaltenden  Kopie  findet  sich  der  vom  Referenten 
aufgesetzte  Bleistifrvermerk:  „Die  englische  Anregung  muß  irgend- 
wie in  diesem  Telegramm  zum  Ausdruck  kommen,  ebenso 
Deutschlands  Anempfehlung,  und  [soll]  doch  nicht  uns  mit 
schwerer  Verantwortung    belasten.  Erbitte  Besprechung." 

In  welcher  Weise  es  versucht  wurde,  diesen  Gesichtspunkten  zu 
entsprechen,  zeigt  der  oben  abgedruckte  Text. 

240 


desselben  zum  Wunsche  des  Reichskanzlers  ihm  noch  am 
morgigen  Tage  mitgeteilt  werden. 

Dem  am  5.  November  abermals  erschienenen  deutschen 
Botschaftsrat  wurde,  wie  der  gegenständliche  Tagesbericht 
feststellt',  auf  seine  gestern  gestellte  Anfrage  im  Auftrage 
des  Ministers  geantwortet,  daß  Baron  Buridn  gegen  die 
Absicht  des  Reichskanzlers,  in  seiner  nächsten  Rede  die 
unter  dem  30.  Juli  1914  an  Herrn  von  Tschirschky  er- 
gangene Instruktion  zu  verwerten  und  speziell  den  von  ihm 
bezeichneten  Passus  derselben  zu  verlesen,  unter  der  Vor- 
aussetzung nichts  einzuwenden  habe,  daß  er  auch  die  zwei 
letzten  Alineas  der  Piece  Nr.  51  des  vom  Wiener  Kabinett 
über  die  diplomatische  Vorgeschichte  des  Krieges  heraus- 
gegebenen Rotbuches  ausdrücklich  erwähne  und  zur  Ver- 
lesung bringe,  da  diese  Piece  die  Antwort  des  Wiener 
Kabinetts  auf  den  erwähnten  deutschen  Schritt  enthalte. 

„Dies"  —  schließt  der  Wortlaut  des  gegenständlichen 
Tagesberichtes  —  „würde  sicherlich  auch  den  Intentionen 
„des  Reichskanzlers  entsprechen,  da  er  dadurch  hervorheben 
„könne,  daß  nicht  nur  Deutschland,  sondern  auch  die  öster- 
„reichisch-ungarische  Monarchie,  welche  durch  die  serbische 
„Angelegenheit  und  Greys  Vorschlag  am  unmittelbarsten 
„betroffen  war,  bereit  ;gewesen  sei,  jede  Möglichkeit  zur 
„Verhütung  des  Weltkonflikts  aufzugreifen.  Die  russische 
„Mobilisierung  und  Kriegsabsicht  habe  jedwede  Verhand- 
„lung  verhindert"-. 

Überblicken  wir  das  Schicksal  dieses  in  den 
folgenschwersten  Stunden  der  Weltkrise  vorge- 
brachten Vermittlungsvorschlages  Sir  E.  Greys,  so 
kann  es  fortab  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  die 
deutsche  Regierung  denselben  nach  Wien  unver- 
züglich weitergeleitet  und  daselbst  nachdrücklich 
befürwortet  hat.  Ebenso  unverkenntlich  erscheint 
die  weitere  Tatsache,  daß    der    englische  Vorschlag 

<  Tagesbericht  d.  d.  5.  November  1916,  Nr.  5419. 

-  Der  letzte  Absatz  („Dies  würde"  bis  „Verhandlung  verhindert") 
erscheint  im  Konzept  als  nachträglicher  Zusatz  von  der  Hand  des 
Crafen  Forgäch. 

16  241 


infolge  der  dilatorischen  und  unsachlichen  Behand- 
lung seitens    des  Wiener  Kabinetts    keine  Annahme 
fand'. 
BrsprechunR        Fürst  Lichnowsky  hatte  am  31.  Juli  Gelegenheit,  Sir  E. 
mu^dcm'^"*  Grey  zu  sprechen-.    Der   Staatssekretär    insistierte   wieder, 
deutschen      daß,    wenn    die    allgemeine    Konflagration    überhaupt    noch 
mT"ui[|'"    verhütet  werden  könne,  etwas  in  Petersburg  von  Seite  der 
Monarchie  geboten  werden  müsse,  „das  denjenigen,   der  es 
nicht   annehme,    ins    Unrecht    setzen    würde".    Dies    würde 
ihm  ermöglichen,    in  Petersburg    und  Paris    sowie    auf  die 
öffentliche  Meinung,    in  der  sich  ja  keine  Animosität  gegen 
Deutschland  geltend  mache,  einzuwirken. 

Der  vorstehende  Ausspruch  erscheine  dem  Fürsten  sehr 
bezeichnend  und  als  dem  Charakter  des  Staatsseksetärs- 
entsprechend.  Fürst  Lichnowsky  sei  überzeugt,  daß  Sir  E. 
Grey  auch  in  letzter  Stunde  alles  benützen  werde,  womit 
man  ihm  an  die  Hand  gehen  könnte. 

Übrigens  sollte  nach  dieser  Meldung  des  Grafen  Mens- 
dorff  Sir  Edward  nurmehr  sehr  wenig  Hoffnung  haben 
und  auch  der  deutsche  Botschafter  ganz  entmutigt  sein.  Im 
Londoner  Auswärtigen  Amte  werde  die  Situation  als  nahezu 
hoffnungslos  angesehen,  namentlich  infolge  der  Reuter- 
meldung über  die  deutsche  Mobilisierung.  Nur  die  vom 
Fürsten  Lichnowsky  am  31.  Juli  morgens  überbrachte 
Meldung  von  neuerlichen  direkten  Besprechungen  zwischen 
Wien  und  Petersburg  hätte  Sir  Edward  wieder  etwas  Hoff- 
nung gegeben ^ 

<  Vergleiche  die  Ausführungen  Graf  Berchtoids  in  dem  Ministerrat 
für  gemeinsame  Angelegenheiten  vom  31.  Juli:  „Seine  Maiestät  habe 
„den  Antrag  genehmigt,  daß  wir  es  zwar  sorgsam  vermeiden, 
„den  englischen  Antrag  in  meritorischer  Hinsicht  anzu- 
„nehmen,  daß  wir  aber  in  der  Form  unserer  Antwort  Entgegen- 
„kommen  zeigen  und  dem  Wunsche  des  deutschen  Reich s- 
„kanzlers,  die  Regierung  nicht  vor  den  Kopf  zu  stoßen,  auf 
„diese  Weise  entgegenkommen.  Er  (Graf  Berchlold)  beab- 
, .sichtige    daher,    auf   den    englischen  Vorschlag   in   sehr   ver- 

„bindlicher    Form    zu    antworten,    dabei    aber zu 

„vermeiden,  auf  den  meritorischen  Teil  einzugehen."  (G.  M. 
K.  P.  Z.  514,  vgl.  Seite  302,  303.) 

-  Telegramm  aus  London  d.  d.  31.  Juli,  3  Uhr  55  Minuten  p.  m.,  Nr.  125. 

•  Telegramm  aus  London  d.  d.  31.  Juli,  4  Uhr  30  Minuten  p.  m.,  Nr.  126. 

242 


Wie  Graf  Mensdorff  am  1.  August  telegraphierte',  scliien  Frage  der 
Sir  Edward  Grey  dem  deutschen  Botschafter  angedeutet  zu  ^lllZT' 
haben,  England  wäre  geneigt,  neutral  zu  bleiben,  daß  aber 
im  Falle  der  Verletzung  der  Neutralität  Belgiens  die  eng- 
lische Meinung  völlig  auf  Seite  Frankreichs  schwenken 
würde.  Der  Staatssekretär  habe  anfragen  lassen,  ob  Deutsch- 
land eine  Erklärung  abgeben  wolle,  die  Neutralität  Belgiens 
zu  respektieren,  wie  dies  Frankreich  getan  habe.  Die  deutsche 
Antwort  habe  ausweichend  gelautet.  Sir  Edward  Grey  rege 
noch  eine  gegenseitige  Zusicherung  an,  daß  sich  die  an  der 
Grenze  massierten  deutschen  und  französischen  Truppen 
nicht  angreifen  sollten. 

Beziehungen  Berlin  —  Wien  —  Petersburg 

Herr  von  Tschirschky  brachte  am  29.  Juli  Graf  Berch-  Anregungen 
told  eine  ihm  soeben  zugekommene  Depesche  des  Reichs-  deutschen 
kanzlers  zur  Verlesung-,  die  den  Gedanken  erörterte,  ob  es  Regierung 
nicht  zweckmäßig   wäre,    wenn  die    k.  u.  k.    Regierung    in  Ka^nltr"^"^ 
Petersburg  ihre  Erklärung  wiederholen  ließe,  daß  ihr  terri-  (29.  juM) 
toriale  Erwerbungen  in  Serbien  durchaus  fernelägen  und  daß 
ihre  militärischen  Maßnahmen  lediglich  eine  vorübergehende 
Besetzung    Belgrads    und   anderer   bestimmter   Punkte    des 
serbischen  Gebietes  bezweckten  3,    um  Serbien  zur  völligen 
Erfüllung   der   österreichisch-ungarischen  Forderungen    und 
zur  Schaffung  von  Garantien   für   sein    künftiges  Wohlver- 
halten der  Monarchie  gegenüber  zu  zwingen,  Garantien,  auf 
die   Österreich-Ungarn    nach    den    mit   Serbien    bisher   ge- 
machten Erfahrungen    unbedingt  Anspruch    hätte.    Die  mili- 
tärische Besetzung  wäre  gedacht  in  der  Art,  wie  die  deutsche 
Okkupation    in  Frankreich   nach   dem    Frankfurter  Frieden 
zur  Sicherstellung    der    Kriegsentschädigung.    Sobald    diese 
Forderung    erfüllt    wäre,    würde    die    Räumung    vollzogen 
werden  \ 

<  Telegramm  aus  London  d.  d.  1.  August,  11  Uhr  16  Minuten  p.  m., 
Nr.  132. 

2  Tagesbericht  d.  d.  29.  Juli,    Nr.  3632. 

3  Vergleiche  den  englischen  Vermittlungsvorschlag  vom  29.  Juli 
(Seite  232  ff.)  und  das  Telegramm  Kaiser  Wilhelms  an  Kaiser  Franz 
Joseph  vom  30.  Juli,  Seite  246,  247. 

'>  Vgl.  Seite  170,  Anmerkung  2. 

243 


„Der  Herr  Reichskanzler  würde",  heißt  es  im  Tages- 
bericht wörtlich  weiter,  „in  einem  solchen  Vorgehen  Ruß- 
„land  gegenüber  ein  zweckdienliches  Mittel  erblicken,  um 
„gegebenenfalls  das  Odium  eines  Weltkrieges,  das  bei  der 
„gegenwärtigen  Stimmung  vielleicht  uns '  treffen  könnte, 
„einzig  und  allein  auf  Rußland  zu  schieben.  Die  Anregung- 
„zu  der  eben  erwähnten  Demarche  beim  Petersburger 
„Kabinett  bittet  der  Reichskanzler  durchaus  nicht  dahin  zu 
„verstehen  ■,  als  würde  er  damit  einen  Druck  auf  uns  aus- 
„üben  wollen,  oder  als  läge  ihm  der  Wunsch  nahe,  uns  von 
„unserer  Aktion*  zurückzuhalten.  Es  leite  ihil  hiebei  nur  das 
„Bestreben,  eine  Besserung  der  Bedingungen,  unter  denen 
„wir  einen  Weltkrieg  führen  müßten,  und  eine  Verallge- 
„meinerung  der  Sympathie  unserem  Standpunkte  gegenüber 
„zu  erzielen.  Hauptsächlich  mit  Rücksicht  auf  die  öffentliche 
„Meinung  in  England  würde  es  von  großem  Werte  sein, 
„wenn  durch  unser  konziliantes  Vorgehen  Rußland  gegen- 
„über  es  allenthalben  klar  würde,  daß  im  Falle  eines  Über- 
,,greifens  unseres  Krieges  gegen  Serbien  nicht  uns,  sondern 
„Rußland  allein  die  Schuld  trifft". 

Setzte  die  deutsche  Regierung  die  Verfolgung  ihres  haupt- 
sächlichsten Zieles,  den  bereits  ausgebrochenen  Krieg  der 
Monarchie  gegen  Serbien  zu  lokalisieren,  bei  den  euro- 
päischen Kabinetten  mit  unvermindertem  Bemühen  fort,  so 
trat  sie  in  Wien  mit  einem  bei  fortschreitender  Krise 
wachsenden  Nachdrucke  für  die  Wiederaufnahme  des 
unterbrochenen  Meinungsaustausches  mit  St.  Peters- 
burg ein. 
Graf  Am  29.  Juli  abends  war  in   Berlin  ein  Telegramm  des 

Grafen   Pourtales   eingelangt   und   von  Graf  Szögyeny  um 


Pourtales 
meldet  den 

Mangeleines  10  Uhr  35  Minuten  abends  nach  Wien  weitergeleitet  worden. 

Gedanken- 
austausches 


Die   Depesche   hatte   nach   der    Meldung    Graf   Szögyenys 
zwischen       „Ungefähr"  folgenden  Inhalt': 

Wien  und 

Petersburg  '  ^^^  ^^''''i    t'^i  ''S"!  Ausdrucke  „uns"  („wir"),  („unser")    zu    unter- 

(29.  Juli)        scheiden  haben,  wann  derselbe  sinngemäß  auf  die  Monarchie  allein  und 

wann  auf  Österreich-Ungarn  und  Deutschland  gemeinsain  zu  beziehen  ist. 

-  Im  Konzept  ursprünglich:  Empfehlung. 

3  Im  Konzept  ursprünglich:  nicht  dahin  auszulegen. 

*  D.  h.  der  österreichisch-ungarisch-serbischen  Aktion. 

5  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  29.  Juli,  10  Uhr  35  Minuten  p.  m.,  Nr.  320. 

244 


„Herr  Sazonow  habe  sich  Graf  Pourtales  gegenüber  auf 
„das  Schärfste  darüber  ausgesprochen,  daß  die  k.  u.  k.  Re- 
„gierung  keinen  Gedankenaustausch  mit  Rußland  suche. 
„Graf  Szäpdry  erkläre  immer,  er  habe  keine  Instruktionen, 
„und  Herr  Scheheko  habe  aus  Wien  gemeldet,  daß  bei 
„seinem  Besuche  bei  Graf  Berchtold  ebenfalls  kein  Ge- 
„dankenaustausch  stattgefunden  habe." 

Die   zu   diesem   Gegenstand    an    den   Grafen    Szögyeny  Gegen- 
erlassene Weisung  Graf  Berchtolds  besagte':  wdsu'nVan 

Es  scheine  dem  Grafen  Berchtold  notwendig,  daß  Graf  den  k.  u.  k. 

„  ,__^  ..1JC  Botschafter 

Pourtales  beauftragt  werde,  Herrn  Sazonow  gegenüber  darauf  j^  b^^,.„ 
hinzuweisen,  daß  Graf  Szäpäry  mit  eingehenden  Instruk-  oo.  juio 
tionen  -  für  eine  Aussprache  mit  dem  russischen  Minister 
versehen  sei,  die  sich  dahin  zusammenfassen  ließen,  daß  die 
Monarchie  bei  ihrer  Aktion  gegen  Serbien  keinerlei  terri- 
torialen Erwerb  beabsichtige  und  auch  die  selbständige 
Existenz  des  Königreiches  ganz  und  gar  nicht  vernichten 
wolle  '.  Das  Vorgehen  der  Monarchie  richte  sich  überhaupt 
nicht  gegen  das  Serbentum,  sondern  gegen  die  die  Mon- 
archie bedrohende,  von  Belgrad  ausgehende  subversive 
Propaganda. 

In  Berlin,   wo    man    jede  Gelegenheit   der  Vermitdung  Nachdrück- 
zwischen  Wien  und  St.  Petersburg  auch  v.  eiterhin   bereit-  s^eiLgln 
willig   aufgriff*,   wo   man    aber   den  Widerspruch   zwischen  der  Berliner 
den    gegenständlichen  Meldungen  Graf  Pourtales'    und   den  f^^l^^^ 
Mitteilungen    des    Wiener    Kabinetts     konstatieren    mußte,  oo.  juU) 
bezeichnete  man  nunmehr   die  Verweigerung   jedes 
Gedankenaustausches  mit  St.  Petersburg  als  einen 

1  Weisung  nach  Berlin  d.  d.  30.  Juli,   I   Uhr  p.  m.,  Nr.  293. 

-  Vergleiche  hiezu  den  Passus  in  der  Meldung  Graf  Szäpärys  vom 
31.  Juli,  daß  er  „heute  (30.  Juli)  für  Herrn  Sazonow  keine  Aufträge" 
besitze.  (Seite  295.) 

■■  „  .  .  .  und  auch  die  selbständige  Existenz  des  Königreiches  ganz  und 
gar  nicht  vernichten  wolle".  Ursprünglich  im  Konzepte  „und  auch  die 
Souveränität  des  Königreiches  nicht  antasten  wolle". 

*  Bei  der  Obergabe  einer  Notiz  über  den  Inhalt  der  eben  erwähnten 
Weisung  durch  Graf  Szögyeny  sprach  sich  Herr  Zimmermann  über  die 
darin  für  Rußland  bestimmten  Erklärungen  erfreut  aus  und  sagte  dem 
k.  u.  k.  Botschafter  zu,  Graf  Pourtales  hierüber  Mitteilung  zu  machen 
(Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  31.  Juli,  12  Uhr  35  Minuten  a.  m.,  Nr.  335). 

245 


Mitteilungen 
Herrn  Zim- 
mermanns 
über  den 
Depeschen- 
wechsel 
zwischen 
Kaiser  Wil- 
helm und 
Kaiser 
Nikolaus 
<39.  Juli) 


Depeschen- 
wechsel 
Kaiser 

Wilhelms  mit 
Kaiser  Franz 
Joseph 
(30.u.31.JuIi) 

Übermittlung 
der  Anregung 
des  Zaren 
durch  Kaiser 
Wilhelm  an 
Kaiser  und 
König  Franz 
Joseph 


schweren  Fehler  und  ließ  das  Wiener  Kabinett  mit 
allem  Nachdrucke  wissen:  „Wir  sind  zwar  bereit, 
unsere  Bündnispflicht  zu  erfüllen,  müssen  es  aber 
ablehnen,  uns  von  Wien  leichtfertig  und  ohne 
Beachtung  unserer  Ratschläge'  in  einen  Weltbrand 
hineinziehen  zu  lassen"-. 

Wie  Herr  Zimmermann  dem  k.  u.  k.  Botschafter  am 
29.  Juli  mitteilte  ■■,  sei  an  diesem.  Tage  an  Kaiser  Wilhelm 
eine  Depesche  von  Kaiser  Nikolaus  eingetroffen,  die  sich 
mit  einem  Telegramme  des  deutschen  Kaisers  gekreuzt  hatte. 
Kaiser  Wilhelm  habe  dem  Zaren  telegraphiert,  er  solle  sich 
doch  nicht  der  Serben,  die  es  jetzt  nicht  verdienten,  an- 
nehmen; Österreich-Ungarn  habe  vollkommen  recht,  jetzt 
energisch  gegen  dieselben  vorzugehen.  Zum  Schlüsse  seiner 
Depesche  habe  Kaiser  Wilhelm  an  Kaiser  Nikolaus  einen 
warmen  Appell  zur  Erhaltung  des  Friedens  gerichtet. 

Der  Zar  habe  hinwieder  in  seiner  Depesche  Kaiser 
Wilhelm  geschrieben,  daß  die  österreichisch-ungarische  Mon- 
archie vollkommen  im  Unrechte  sei,  in  dieser  Weise  über 
Serbien  herzufallen.  „Rußland  stehe  hinter  Serbien",  er 
appelliere  an  die  Friedensliebe  Kaiser  Wilhelms,  auf  Öster- 
reich-Ungarn kalmierend  einzuwirken. 

Ob  noch  Weiteres  in  den  beiden  Kaiserdepeschen  gestan- 
den, habe  Graf  Szögyeny  nicht  konstatieren  können,  da  ihm  der 
Unterstaatssekretär  über  deren  Inhalt  nicht  mehr  mitgeteilt  habe. 

Dem  Anliegen  Kaiser  Nikolaus',  zwischen  Wien  und 
Petersburg  zu  vermitteln,  leistete  Kaiser  Wilhelm  am  30.  Juli, 

7  Uhr  18  Minuten  nachmittags,  Folge,  indem  er  an  Kaiser 
Franz  Joseph  nach  Wien,  Schönbrunn,   die   dortselbst   um 

8  Uhr  10  Minuten  abends  eingetroffene  Depesche  richtete: 

„Die  persönliche  Bitte  des  Kaisers  von  Rußland,  einen 
„Vermittlungsversuch  zur  Abwendung  eines  Weltenbrandes 
„und  zur  Erhaltung  des  Weltfriedens  zu  unternehmen,  habe 
„ich  nicht  ablehnen  zu  können  geglaubt  und  Deiner  Regie- 
„rung  durch  meinen  Botschafter  gestern  und  heute  Vor- 
„schläge  unterbreiten  lassen.  Sie  gehen  unter  anderem  dahin, 

'  Vgl.  Seite  232  ff. 

^  Vgl.  Weißbuch,  betr.  d.  V.  d.  U.  a.  Kr.,  Seite  38. 

"  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  29.  Juli,  1 1  Uhr  40  Minuten  p.  m.,  Nr.  321. 


246 


„daß    Österreich    nach    Besetzung    Belgrads    oder    anderer 
„Plätze  seine  Bedingungen  kundgäbe. 

„Ich  wäre  Dir  zu  aufrichtigstem  Dank  verpflichtet,  wenn 
„Du  mir  Deine  Entscheidung  möglichst  bald  zugehen  lassen 
„könntest. 

In  treuester  Freundschaft 

Wilhelm." 
Als  Erwiderung  auf  diese  Depesche  setzte  Graf  Berchtold  Amwo«- 
den  Entwurf  folgender  Antwort  auf:  '="^"T 

o  Kaiser  Franz 

„Ich  beeile  mich,    Dir  für  Dein  freundschaftliches  Tele-  jjssphs 
„gramm  verbindlichst  und  wärmstens  zu  danken  '.  f  uh!"p'  m  i 

„Gleich  nachdem  Dein  Botschafter  meiner  Regierung 
„gestern  den  Vermittlungsvorschlag  Sir  E.  Greys  über- 
„mittelt  hatte,  ist  mir  die  offizielle  Meldung  meines  Bot- 
„schafters  in  St.  Petersburg  zugekommen,  wonach  der 
„Kaiser  von  Rußland  die  Mobilisierung  aller  Militärbezirke 
„an  meinen  Grenzen  angeordnet  hat  -. 

„Graf  Szögyeny  meldet  mir.  Du  hättest  Kaiser  Nikolaus 
„in  einzig  treffender  Weise  schon  gesagt,  daß  die  russischen 
„Rüstungen  einzustellen  seien,  weil  sonst  die  ganze  Ver- 
„antwortung  für  einen  Weltkrieg    auf   seine  Schultern  falle. 

„Im  Bewußtsein  meiner  [schweren  Pflichten  für  die 
„Zukunft  meines  Reiches  habe  ich  die  Mobilisierung  meiner 
„ganzen  bewaffneten  Macht  angeordnet  3. 

„Die  im  Zuge  befindliche  Aktion  meiner  Armee  gegen 
„Serbien  kann  durch  die  bedrohliche  und  herausfordernde 
„Haltung  Rußlands  keine  Störung  erfahren. 

'  Dieser  Satz  wurde  dem  mit  Maschinenschrift  geschriebenen  Kon- 
zept von  Graf  Berchtold  nachträglich  beigefügt. 

-  Am'^30.  Juli  langte  —  soweit  sich  dies  aus  dem  einschlägigen 
Material  feststellen  läßt  —  bloß  ein  einziges  Telegramm  des  Grafen 
Szdpäry  aus  Petersburg  ein  und  dies  '^behandelte  die  Taktik  Herrn 
Sazonows.  (Vgl.  Seite  291.)  Es  ist  daher  anzunehmen,  daß  es  sich  um 
die  durch  den  k.  u.  k.  Botschafter  eingesandte  Meldung  des  öster- 
reichisch-ungarischen Militärattaches  vom  29.  Juli  handelt  (vgl.  Seite  250), 
die  am  29.  Juli,  10  Uhr  abends,  in  Wien  eintraf. 

'■'  „Habe  ich  die  Mobilisierung  meiner  ganzen  bewaffneten  Macht 
angeordnet."  Ursprünglicher  Wortlaut  des  Konzeptes:  „Habe  ich  verfügt, 
daß  meine  ganze  bewaffnete  Macht  mobilgemacht  und  die  Konzentrierung 
aller  nicht  in  Serbien  verwendeten  Truppen  an  der  russischen  Grenze 
■durchgeführt  werde." 

247 


Kaiser 
Nikolaus 


„Eine  neuerliche  Rettung  Serbiens  durch  Rußlands 
„Intervention  müßte  die  ernstesten  Folgen  für  meine  Länder 
„nach  sich  ziehen,  und  ich  kann  daher  eine  solche  Inter- 
„vention  unmöglich  zugeben. 

„Ich  bin  mir  der  Tragweite  meiner  Entschlüsse  bewußt 
„und  habe  dieselben  im  Vertrauen  auf  Gottes  Gerechtigkeit 
„gefaßt,  mit  der  Sicherheit,  daß  Deine  Wehrmacht  in  un- 
„wandelbarer  ßundestreue  für  mein  Reich  und  für  den 
„Dreibund  einstehen  wird."  ' 
Meldung  Auf  dcm  Auswärtlgcn  Amte    erfuhr    Graf  Szögyeny  am 

^''f  .         31.  Juli  von  Herrn  von   lagow -,  Kaiser  Wilhelm  habe  dem 

Szogyenys  "^  k>     o  j 

über  einen     Zarcn  „zugcsagt",  daß  er,  dem  Wunsche  des  letzteren  ent- 
neueri.chen    sprcchcnd,    ZU    Vermitteln    suchen    werde.    Es    müsse    ein 

Depeschen-         '^  ' 

Wechsel        direktes    Einvernehmen    zwischen    Österreich-Ungarn    und 
zwischen       Rußland    hergestellt    werden,    doch    müsse    Rußland    seine 

Kaiser  "  -  ' 

Wilhelm  und  militärischen  Rüstungen  einstellen,  da  dies  sonst  von  Seite 
Österreich-Ungarns  ebensolche  zur  Folge  haben  würde,  die 
dann  seine  —  Kaiser  Wilhelms  ^  —  Rolle  als  „Mediator" 
unmöglich  machen  würden. 

Darauf  antwortete  Kaiser  Nikolaus,  die  Sprache  Kaiser 
Wilhelms  differiere  sehr  bedeutend  von  der  seines  Bot- 
schafters Graf  Pourtales,  er  bitte  diesbezüglich  um  Auf- 
klärung und  schlage  vor,  daß  der  österreichisch-ungarisch- 
serbische Streitfall  vor  das  Haager  Schiedsgericht  gebracht 
werde*. 

In  der  darauf  erfolgten  Antwort  habe  Kaiser  Wilhelm 
den  Zaren  nochmals  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  die 
russischen  Rüstungen  einzustellen  seien,  da  sonst  die  ganze 
Verantwortung  eines  Weltkrieges  „auf  seine  —  des  Zaren  — 
Schultern  falle". 

'  Dieses  Antworttelegramm  Kaiser  Franz  Josephs  ging  am  31.  Juli, 
I  Uhr  nachmittags,  von  Schönbrunn  ab;  Kaiser  Wilhelm  hatte  eine 
möglichst  baldige  Entscheidung  erbeten. 

"  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  31.  Juli,  12  Uhr  38  Minuten  a.  m., 
Nr.  332. 

3  Im  Originaltelegramme :  „die  dann  seine  —  Kaiser  Nikolaus'  —  Rolle 
als  Mediator  unmöglich  machen  würden."  Sinngemäß  kann  hier  nur  von 
Kaiser  Wilhelm  die  Rede  sein;  ein  neuerliches  Beispiel  für  die  Eigenart 
der  Meldungen  Graf  Szogyenys  (vgl.  Seite  31,  Anmerkung  1). 

•>  Vgl.  Weißbuch  betreffend  d.  V.  d.  U.  a.  K.,  Seite  39. 

248 


In  dem  in  englischer  Sprache  abgefaßten  und  von  Herrn 
Zimmermann  dem  k.  u.  k.  Botschafter  vorgelesenen 
Depeschenwechsel  zwischen  den  beiden  Monarchen  werde 
in  jedem  einzelnen  Telegramm  an  die  besondere  persönliche  . 
Freundschaft  und  an  die  Erhaltung  des  Friedens  in  empha- 
tischen Worten  appelliert'. 

Kaiser  Wilhelm  habe  es  in  keinem  seiner  Telegramme 
unterlassen,  besonders  hervorzuheben,  daß  Österreich-Ungarn 
zu  seinem  Schritt  den  „Mörder"-Serben  gegenüber  voll- 
kommen berechtigt  sei. 

Über  den  Depeschenwechsel  zwischen  dem  Zaren   und  GrafSzäpsry 


und  dem 
Zaren 


dem  Deutschen  Kaiser  berichtete  der  k.  u.  k.  Botschafter  in  d/p^^^^\"^„. 
Petersburg  am  31.  Juli  abends-:  »echsei 

Kaiser  Wilhelm  hatte  sich  mit  einem  Telegramm  an  K^iter" 
Kaiser  Nikolaus  gewendet,  dessen  Inhalt  Graf  Szäpäry  zwar  wuheim 
nicht  genaiP  feststellen  konnte,  das  aber  auf  die  Gefahr  der 
russischen  Mobilisierung  in  einem  Augenblick  hingewiesen 
haben  dürfte,  in  welchem  Österreich-Ungarn  noch  geneigt 
sei  zu  verhandeln,  und  in  welchem  die  Notwendigkeit  der 
Einstellung  der  russischen  Mobilisierung  betont  gewesen  sein 
dürfte. 

Graf  Pourtales  entschloß  sich  am  31.  Juli  mittags, 
wie  er  behauptete  ohne  Auftrag,  um  eine  Audienz  in 
Peterhof  anzusuchen,  wo  er  die  gleichen  Argumente  bei 
Kaiser  Nikolaus  angeblich  verwendet  haben  wollte.  Graf 
Szäpäry  glaube,  der  "deutsche  Botschafter  sei  einfach  beauf- 
tragt gewesen,  das  Telegramm  zu  überbringen.  Kaiser  Nikolaus 
scheine  Kaiser  Wilhelm  ungefähr  geantwortet  zu  haben,  daß 
die  Sistierung  der  verordneten  Mobilisierung  aus  technischen 
Gründen  unmöglich  sei,   daß  er  aber  sein  Wort  verpfände, 

'  Zu  dem  Depeschenwechsel  der  beiden  Herrscher  meldete  der  k.  u.  k. 
Gesandte  in  München  unterm  31.  Juli  (Bericht  Nr.  77,  P.):  „Der  Befehl 
„zur  allgemeinen  Mobilmachung  wird,  wie  mir  mitgeteilt  wurde,  binnen 
„der  nächsten  24  oder  48  Stunden  erwartet,  da  Seine  Majestät  der  Deutsche 
„Kaiser  noch  gewünscht  haben,  über  das  Ergebnis  der  in  Wien  eingeleiteten 
„freundschaftlichen  Anfrage  auf  Basis  der  Greyschen  Vorschläge  zunächst 
„noch  einen  Depeschenwechsel  mit  dem  Zaren,  als  ein  Mittel  in  zwölfter 
„Stunde  zur  Abwendung  des  europäischen  Krieges,  durchzuführen." 

-  Telegramm  aus  St.  Petersburg  d.  d.  31.  Juli,  1 1  Uhr  17  Minuten  p.  m., 
Nr.   189.  Eingetroffen  in  Wien,  2.  August,  9  Uhr  a.  m. 

249 


Die  russische 
Mobili- 
sierung 


Erklärungen 
Herrn 
Sazonows 
<29.  Juli) 


Meldung 
des  k.  u. 
Militär- 
Attaches 
(29.  Julii 


die  Armee  werde  nichts  unternelimen,  wenn  Österreich- 
Ungarn  geneigt  sei,  mit  RuIMand  in  Verhandlung  zu  treten. 

Noch  am  26.  Juli  hatte  die  deutsche  Regierung  in  Peters- 
burg erklären  lassen,  daß  eine  russische  Mobilisierung  die 
deutsche  nach  sich  ziehen  werde.  Daraufwar  die  ausweichende 
Antwort  Herrn  Sazonows  erfolgt,  er  könne  dem  deutschen 
Botschafter  garantieren,  daß  russischerseits  keine  Mobilisierung 
vorgenommen  worden  sei;  allerdings  wären  gewisse  not- 
wendigste militärische  Vorsorgen  getroffen.  Am  29.  Juli 
erhielt  hierauf  Graf  Pourtales  den  Auftrag,  in  Petersburg 
wissen  zu  lassen,  daß  auch  die  Fortsetzung  der  jetzigen 
militärischen  Rüstungen  Rußlands  Deutschland  zur  Mobili- 
sierung veranlassen  könnte'. 

Am  nämlichen  Tage  erklärte  Herr  Sazonow  dem  deutschen 
Botschafter,  der  Umstand,  daß  Österreich  ganze  acht  Korps 
mobilisiert  habe,  sei  ein  Beweis,  daß  diese  Maßregel  nicht 
allein  gegen  Serbien  gerichtet  sei,  sondern  auch  eine  Spitze 
gegen  Rußland  habe.  Aus  diesem  Grunde  werde  noch  am 
29.  Juli  abends  der  russische  Mobilisierungsbefehl 
an  die  an  der  südwestlichen  Grenze  gegen  Öster- 
reich-Ungarn gelegenen  Militärbezirke  erfolgen. 

Herr  Sazonow  setzte  hinzu,  daß  in  Rußland  eine  Mobili- 
sierung nicht  so  wie  in  westeuropäischen  Ländern  bereits 
den  Krieg  bedeute;  der  russische  Soldat  könne  Monate  lang 
Gewehr  bei  Fuß  an  der  Grenze  stehen.  Herr  Sazonow 
habe  bis  auf  Weiteres  auch  nicht  die  Absicht,  Herrn 
Schebeko  aus  Wien  abzuberufen.  Graf  Pourtales  antwortete, 
daß  dann  Deutschland  wohl  auch  in  den  Kriegsvorbereitungs- 
zustand  übergehen  müsse.  Dies  sei  absolut  keine  Drohung 
gegen  Rußland,  „aber  Deutschland  würde  seine  Bundes- 
pflichten Österreich-Ungarn  gegenüber  einhalten"  =. 

Hinsichtlich  der  russischen  Rüstungen  meldete  der  k.  u.  k. 
Militärattache  unterm  29.  Juli^: 

„Herr  Sazonow  gab  heute  vormittags  deutschem  Bot- 
„schafter    zu,     daß    Mobilisierungsbefehl     im    Sinne,     wie 


'  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  29.  Juli,  6  Uhr  13  Minuten  p.  m.,  Nr.  319. 
-  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  29.  Juli,  10  Uhr  35  Minuten  p.  m.,  Nr.  320. 
'■'■  Telegramm    aus    St.  Petersburg    d.  d.    29.  Juli,  4  Uhr   26  Minuten 
m.,  Nr.   178.  Eingetroffen  in  Wien  29.  Juli,  10  Uhr  p.  m. 


250 


„Kriegsminister  für  den  Fall  einer  Überschreitung  serbischer 
„Grenze  in  Aussicht  hat,  ergangen  sei,  motiviert  damit,  daß 
„Österreich-Ungarn  acht  Korps  mobilisiert,  was  gegen 
„Serbien  zu  viel  sei;  es  sei  noch  immer  kein  „Grund  zur 
„Beunruhigung". 

„Generalstab  leugnet  weiter  Tatsache  Mobilisierungs- 
„befehls  und  spricht  noch  immer  von  Vorbereitungen  gegen 
„Monarchie  im  Umfang,  wie  Kriegsminister  sich  äußerte,  was 
„aber  mit  einlaufenden  Meldungen  aus  allen  Teilen  des 
„Reiches  im  Widerspruch  scheint. 

„Meiner  Ansicht  nach  geschieht  soviel,  daß  man,  obwohl 
„Reservisteneinziehung  noch  nicht  konstatiert,  dieselbe  jeden 
„Moment  erwarten  kann. 

Hohenlohe." 

Die    Mitteilungen    Herrn    Sazonows    an    Graf  Pourtales  Eröffnungen 
erfuhren  noch  am  29.  Juli  eine  Bestätigung    durch    die  Er-  ""^ .  . 

'  o        o  russischen 

Öffnungen,   die  Herr  Schebeko    dem    deutschen   Botschafter  Boischafiers 
in  Wien  machte.    Herr   von  Tschirschkv   verständigte  Graf '"  ^  '.^" 

o  gegenüber 

Berchtold    am    selben    Tage,     Herr    Schebeko     habe    ihm  Herrn  von 
berichtet,    er  habe  von  seiner  Regierung  die  Verständigung  ^^^'^jun)''''' 
erhalten,  daß  die  Militärbezirke  von  Kiew,  Odessa,  Moskau 
und  Kasan  mobilisiert  würden.   Rußland  sei  in  seiner  Ehre 
als  Großmacht  gekränkt  und  genötigt,  entsprechende  Maß- 
nahmen zu  ergreifen. 

In    der  Weisung,    die    an  Graf  Szögyeny    in  Erledigung  Weisung 
dieser  Mitteilung  Herrn  von  Tschirschkys  am  30.  Juli,  1  Uhr  s"ggj.7ny 
morgens,    expediert  wurde,    führte  Graf  Berchtold,    an    die  <29.  juii) : 
Nachricht  des  deutschen  Botschafters  anknüpfend,  aus':        Regierung"" 

möge  in 

I  Weisung  nach  Berlin  d.  d.  Wien,  29.  Juli,  Nr.  291,  nach  Rom  d.  d.  Petersburg 
Wien,    29.  Juli,  Nr.  904,   expediert  30.  Juli,    1  Uhr  a.  m.    Das  Ursprung-  erklären,  daß 
liehe  Konzept  dieser  Weisung  lautet:  '^    °  ' . 

'^  "  Setzung  der 

„Herr    von    Tschirschky    hat    mir    soeben    mitgeteilt,    der    russische  russisehen 
„Botschafter  sage  ihm,  er  habe    von  seiner  Regierung   die  Verständigung  MobUisie- 
„erhalten,    daß  die  Militärbezirke   von  Kiew,  Odessa,  Moskau  und  Kasan  rung  Gegen- 
„mobilisiert  würden.  Rußland  sei  in  seiner  Ehre  als  Großmacht  gekränkt  ""  '"''^^  "  '" 

"  Deutschland 

„und  genötigt,   entsprechende  Maßnahmen    zu    ergreifen.    Die    russische  „„^j  öster- 
„Mobilisierung  wird  von   unseren    galizischen  Korpskommanden    bestätigt  reich-Ungam 
„und  wurde,  einer  Meldung  des  k.  u.  k.  Militärattaches  zufolge,  heute  auch  zur  Folge 
„von  Herrn  Sazonow    dem    deutschen  Botschafter  gegenüber   nicht  mehr 
„geleugnet. 

251 


„Die  russische  Mobilisierung  wird  von  unseren  galizi- 
„schen  Korpsicommanden  bestätigt  und  wurde,  einer  Meldung 
„des  k.  u.  k.  Militärattaches  zufolge,  heute  auch  von  Herrn 
„Sazonow  dem  deutschen  Botschafter  gegenüber  nicht  mehr 
„geleugnet.  Ich  ersuche  Eure  Exzellenz,  vorstehendes  unver- 
„züglich  zur  Kenntnis  der  deutschen  Regierung  zu  bringen 
„und  hiebei  zu  betonen,  daß,  wenn  die  russischen  Mobili- 
„sierungsmaßnahmen  nicht  ohne  Säumen  eingestellt  werden, 
„unsere  allgemeine  Mobilisierung  aus  militärischen  Gründen 
„unverzüglich  veranlaßt  werden  muß. 

„Als  letzten  Versuch,  den  europäischen  Krieg  hintanzu- 
„halten,  hielte  ich  es  für  wünschenswert,  daß  unser  und  der 
„deutsche  Vertreter  in  St.  Petersburg,  eventuell  auch  in 
„Paris,  sogleich  angewiesen  werden,  den  dortigen  Regierungen 
„in  freundschafdicher  Weise  zu  erklären,  daß  die  Fortsetzung 
„der  russischen  Mobilisierung  Gegenmaßregeln  in  Deutsch- 
„land  und  Österreich-Ungarn  zur  Folge  haue,  die  zu 
„ernsten  Konsequenzen  führen  müßten. 

„Eure  Exzellenz  wollen  hinzufügen,  daß  wir  uns  selbst- 
„verständlich  in  unserer  kriegerischen  Aktion  in  Serbien 
,,nicht  beirren  lassen  werden. 

„Die  k.  u.  k.  Botschafter  in  St.  Petersburg  und  Paris 
„erhalten     unter     einem     die    Weisung,     die    vorerwähnte 

„Ich  beabsichtige,  den  k.  u.  k.  Botschafter  in  Petersburg  unverzüglich 
„zu  beauftragen,  die  Anfrage  an  die  russische  Regierung  zu  richten,  was 
„diese  Maßnahmen  zu  bedeuten  haben,  und  hinzuzufügen,  daß  wir  uns  in 
„unserer  Aktion  gegen  Serbien  hiedurch  nicht  beirren  lassen  werden. 

„Ich  ersuche  Eure  Exzellenz,  vorstehendes  unverzüglich  zur  Kenntnis 
„der  deutschen  Regierung  zu  bringen  und  hiebei  zu  betonen,  daß,  falls 
„die  russische  Mobilisierung  tatsächlich  erfolgt,  der  Rest  unserer  Armee 
„sofort  mobil  gemacht  wird. 

„Ich  erachte  es  für  dringend  notwendig,  daß  Deutschland  in  Rußland 
„und  Frankreich  kategorisch  erkläre,  daß  selbst  die  einseitige  Mobilisierung 
,, Rußlands  gegen  Österreich-Ungarn  die  Mobilmachung  Deutschlands  gegen 
„Rußland  auslösen  müßte. 

„Eine  sofortige  Demarche  Deutschlands  in  Petersburg  und  Paris  ist 
„deshalb  unerläßlich,  weil,  wenn  die  russischen  Mobilisierungsmaßnahmen 
„nicht  ohne. Säumen  eingestellt  werden,  unsere  allgemeine  Mobilisierung 
„aus  militärischen  Gründen  sofort  veranlaßt  werden  muß." 

Das  Weitere  wie  in  der  an  Graf  Szögyeny  abgeschickten  Instruktion. 

252 


(30.  Juli) 


„Erklärung  abzugeben,  sobald  ihr  deutscher  Kollege  analoge 
„Instruktionen  erhält'. 

„Wir  überlassen  es  der  deutschen  Regierung,  ob  Italien 
„von  diesem  Schritte  zu  verständigen  wäre.  Herr  von  Merey 
„erhält  für  jeden  Fall  eine  Abschrift  dieses  Telegramms 
„mit  der  Weisung,  die  italienische  Regierung  zu  informieren, 
„sobald  deutscher  Botschafter  hiezu  beauftragt  wird." 

Diese  Weisung  an  Graf  Szögyeny  fand  durch    eine    am  nie  Berliner 
31.   Juli,     12  Uhr    38     Minuten     vormittags,     aufgegebene  ^'^i'J^"^^^ 
Depesche  des  k.  u.  k.  Botschafters  die  Beantwortung,   daß  wiener  An- 
Herr von  Jagow  nach  Rücksprache  mit  dem  Reichskanzler  ^'„^"pfj^''|;' 
den  k.  u.  k.  Botschafter  ersucht  habe,    Graf  Berchtold   zu  zu  können, 
melden,  daß  die  deutsche  Regierung  zu  ihrem  lebhaftesten  "l^f^Jl"^^^. 
Bedauern  der  Anregung  des    Grafen    Berchtold   nicht   ent-  sieiiung 

,  .    ..  eines 

sprechen  könne.  direkten  E.n- 

Motiviert  werde  die  Haltung  der  Berliner  Regierung  mit  vemehmens 
dem  Hinweise  auf  die  vom  Kaiser  Wilhelm  über  Wunsch  ö^'.'f^"^^. 
Kaiser  Nikolaus'  übernommene  Vermittlungstätigkeit  und  ungam  und 
mit  der  Betonung  der  Notwendigkeit  der  Herstellung  eines  ''"'"^"'* 
direkten  Einvernehmens  zwischen  Österreich-Ungarn  und 
Rußlands 

1  Weisung  nach  St.  Petersburg  d.  d.  Wien,  29.  Juli,  Nr.  196,  nach  Paris 
d.   d.  Wien,  29.  Juli,  Nr.  175.  Expediert  30.  Juli,  12  Uhr  30  Minuten  a.  m. 

•  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  31.  Juli,  12  Uhr  38  Minuten  a.  m., 
Nr.  332.  Diese  Antwortdepesche  Graf  Szögyenys  wies  im  Wortlaute  ihres 
ersten  Absatzes  einen  durchaus  unklaren  Inhalt  auf: 

„Nach  Rücksprache  mit  dem  Reichskanzler  ersuchte  mich  Staats- 
„sekretär,  Eurer  E.\zellenz  zu  melden,  daß  deutsche  Regierung  zu  ihrem 
„lebhaftesten  Bedauern  Eurer  Exzellenz  Anregung  nicht  entsprechen  kann, 
„da  sie  noch  vor  kurzem  ihre  Vertreter  in  Petersburg  und  Paris  ange- 
„wiesen  habe,  den  dortigen  Regierungen  zu  erklären,  daß  die  Fortsetzung 
„der  russischen  Mobilisierung  Gegenmaßregeln  in  Deutschland  und 
„Österreich-Ungarn  zur  Folge  hätte,  die  zu  ernsten  Konsequenzen  führen 
„müßten." 

Der  Inhalt  der  übrigen  präzis  formulierten  Absätze  erhellt  aus  unseren 
obenstehenden  und  den  auf  Seite  248  gebrachten  Ausführungen. 

In  dem  zitierten  Texte  des  ersten  Absatzes  der  Antwort  des  Grafen 
Szögyeny  begegnen  wir  gewissen  Sätzen  aus  der  korrespondierenden 
■Weisung  Graf  Berchtolds  (vgl.  Seite  252).  Es  liegt  also  eine  —  vielleicht 
technischen  Gründen  —  entspringende  Unstimmigkeit  vor. 

Bestätigt  wird  der  Mangel  einer  unbedingten  sachlichen  Klarheit  in 
der  Darstellungsweise  des  k.  u.  k.  Botschafters   in    Berlin   übrigens  auch 

253 


Allgemeine  Dufch    die    am    30.   Juli    abends    ausgegebene    und    am 

"e?üng  in  ^^-  J""  ^'""'^   "^'^  Maucranschiag  kundgegebene  allgemeine 

Rußland  Mobilisierungsordre    für    die    gesamte    Armee    und    Flotte 

irendsl'  Rußlands  wurde  jede  Möglichkeit  einer  in  Wien  seitens  der 

durch    ein    im    Anschlüsse    an   die   nachstehende    Episode    erfolgtes  Ein- 
geständnis des  k.  u.  k.  Botschafters  selbst: 

Graf  Szögyeny  hatte  am  27.  Juli  Erklärungen  des  russischen  Kriegs- 
ministers an  den  deutschen  Militärattache  in  Petersburg  nach  Wien 
telegraphisch  gemeldet.  (Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  27.  Juli,  Nr.  301.) 
Die  diesbezügliche  Depesche  schloß  mit  den  Worten:  „Ich  ersuche  Eure 
„Exzellenz,  vom  Berichte  des  deutschen  Militärattaches  auch  Herrn  von 
„Tschirschky  gegenüber  keine  Erwähnung  zu  machen." 

Graf  Berchtold  ersuchte  am  29.  Juli  Grafen  Szögyeny  hierüber  mit 
dem  Hinweise  um  Aufklärung,  daß  die  Konversationen  mit  dem  deutschen 
Botschafter,  die  derzeit  sehr  vertraulich  und  rege  seien,  durch  derartige 
Einschränkungen  naturgemäß  erschwert  würden.  Übrigens  habe  Herr  von 
Tschirschky  aus  Berlin  von  der  Meldung  des  deutschen  Militärattaches 
in  Petersburg  Kenntnis  erhalten  und  auch  Graf  Kageneck  dem  k.  u.  k. 
Kriegsministerium  hierüber  Mitteilung  gemacht.  (Weisung  nach  Berlin  d.  d. 
Wien,  29.  Juli,  Nr.  289.) 

Graf  Szögyeny  erwiderte  am  30.  Juli:  „Ich  habe  Eure  Exzellenz 
„ersucht,  Herrn  von  Tschirschky  von  der  Meldung  kaiserlich  deutschen 
„Militärattaches  keine  Erwähnung  zu  tun,  weil  mich  Unterstaatssekretär 
„bei  Verlesung  derselben  bat,  von  der  Bemerkung  des  Militärattaches 
„„Vorsorgen,  die  allerdings  ziemlich  weitgehend  seien",  Eurer  Exzellenz 
„keine  Erwähnung  zu  tun,  da  dieselben  in  Wien  vielleicht  unnötig 
,,alarmieren  könnten.  Ich  hielt  es  daher  für  zweckmäßiger  und  auch  dem 
„zwischen  mir  und  dem  Auswärtigen  Amte  bestehenden,  auf  persönlichem 
„Vertrauen  basierten  Einverständnis  dienlicher,  wenn  das  Auswärtige 
„Amt  nicht  durch  Herrn  von  Tschirschky  erfährt,  daß  Mitteilungen,  die 
„mir  mit  der  Bitte,  sie  nicht  weiterzugeben,  gemacht  wurden,  selbst- 
„verständlich  von  mir  doch  gemeldet  werden.  Wobei  ich  zugeben  muß. 
„daß  die  Fassung  des  in  Rede  stehenden  Passus  meines  Telegramms 
„vom  27.  1.  M.  vielleicht  nicht  ausführlich  genug  war;  um  so  mehr  als 
„mein  Ersuchen  um  Nichtmitteilung  sich  nur  auf  die  persönliche  Impression 
„des  deutschen  Militärattaches  beziehen  sollte."  (Telegramm  aus  Berlin 
„d.  d.  30.  Juli,  Nr.  326.) 

Sachlich  verdient  in  der  eben  erwähnten  Depesche  Graf  Szögyenys 
der  Umstand  festgehalten  zu  werden,  daß  Herr  Zimmermann  den  k.  u.  k. 
Botschafter  mit  der  Begründung  ersuchte,  von  der  bewußten  Bemerkung 
des  deutschen  Militärattaches  über  die  russischen  „Vorsorgen,  die  aller- 
dings ziemlich  weitgehend  seien",  dem  Grafen  Berchtold  gegenüber  keine 
Erwähnung  zu  tun,  „da  dieselben  in  Wien  vielleicht  unnötig 
alarmieren  könnten". 


254 


Berliner  Regierung  vorzunehmenden  weiteren  Vermittlung 
ausgeschaltet'.  Der  Befehl  zur  allgemeinen  Mobilisierung 
dürfte,  nach  Ansicht  Graf  Szdpdrys,  dem  Zaren  mittels 
falscher  Nachrichten  über  die  deutsche  und  österreichisch- 
ungarische Mobilisierung   abgerungen  worden  sein-. 

In  der  Nacht   vom  31.  Juli    auf   den    1.  August    erhielt  Äußerungen 
der  deutsche  Botschafter  in  Petersburg  den  Auftrag  ^  Herrn  """" 
Sazonow  in  nachdrücklichster  Weise  auf  die  Gefährlichkeit  über  die 
der  russischen  Mobilisierung  aufmerksam  zu   machen  *  und  'ruT'"' 

°  mobilisie- 

ihm  mitzuteilen,  daß  man  deutscherseits  einstweilen  zwar  rung(3i.juii 
noch  keine  Mobilisierung,  jedoch  den  „Schutz  gegen  Kriegs-  ''^•"""'"^''t) 
gefahr"  verfügt  habe.  Der  russische  Minister,  den  Graf 
Pourtales  um  Mitternacht  wecken  ließ,  verwies  darauf,  daß 
die  Sistierung  der  Mobilisierung  unmöglich  sei,  daß  Kaiser 
Nikolaus  aber  bereits  so  bindende  Zusagen  erteilt  habe, 
„daß  zu  einer  Beunruhigung  doch  kein  Anlaß  sei". 

Am   1.  August,  12  Uhr  52  Minuten    p.  m.,    erhielt  Graf  Eintritt  des 
Pourtales  den  Auftrag,    falls    die    russische    Regierung  hin-  ^"'"s^- 

ö'  o  o  zuStandes 

sichtlich  der  Einstellung  ihrer  Kriegsmaßnahmen  bis  5  Uhr  zwischen 
nachmittags   keine  befriedigende  Antwort   erteile,    zu  dieser  '^""Tll!''"'! 

ö  *=  '  und  Rußland 

Stunde  offiziell  bekanntzugeben,  daß  sich  Deutschland  nach  (i.  August 
Ablehnung  seiner  Forderungen  mit  Rußland  als  im  Kriegs-  '  """" 

o  ö  o        nachm.) 

zustande  befindlich  betrachten 

Hierüber  traf  in  Wien  am  2.  August,  4  Uhr  p.  m.,  das 
folgende  Telegramm  Graf  Szögyenys  ein«: 

Der  Staatssekretär  erklärte  mir  soeben:  Von  Rußland  ist 
keine  Antwort  auf  die  deutsche  Anfrage  eingelangt. 

Russische  Truppen  haben  die  deutsche  Grenze  bei 
Schwidden  (südöstlich  Bialla)  überschritten. 

<  Telegramm  aus  St.  Petersburg  d.  d.  31.  Juli,  11  Uhr  25  Minuten 
a.  m.,  Nr.  183.  EingetrofPen  am  1.  August,  9  Uhr  a.  m.;  Telegramm  aus 
Berlin  d.  d.  31.  Juli,  7  Uhr  p.  m.,  Nr.  340.  (Vgl.  Weißbuch  betr.  d.  V. 
d.  U.  a.  Kr.  S.  50.) 

-  Telegramm  aus  St.  Petersburg  d.  d.  31.  Juli,  2  Uhr  5  Minuten 
p.  m.,  Nr.   185.  Eingetroffen   1.  August,  2  Uhr  30  Minuten  a.  m. 

■■!  Telegramm  aus  Petersburg  d.  d.  1.  August,  2  Uhr  20  Minuten 
a.  m.,  Nr.  192. 

<  Vgl.  W.eißbuch   1914,  Anlage  Nr.  24. 
••  Weißbuch   1914,  Anlage  Nr.  26. 

«  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  2.  August,  3  Uhr  6  Minuten  a.  m.,  Nr.  357. 

255 


Rußland  hat  daher  Deutschland  angegriffen. 

Deutschland  betrachtet  sich  daher  im  Kriegszustande 
mit  Rußland. 

Deutscherseits  erfolgt  keine  Kriegserklärung  mehr'. 

Russischer  Botschafter  hat  heute  vormittags  Pässe  zuge- 
stellt erhalten  und  reist  voraussichtlich  heute  abends  ab." 


Weisung  an 
den  k.  u.  k. 
Botschafter 
(29.  Juli); 
Die  Geneigt- 
heit des 
Wiener 
Kabinetts, 
in  Kompen- 
Sationsver- 
handlungen 
einzutreten, 
ist  geheim 
zu  halten 


Antwort  der 
italienischen 
Regierung 
hinsichtlich 
des  Aner- 
bietens der 
k.  u.  k. 
Regierung, 
auf  Kompen- 
sationsver- 
handlungen 
einzugehen 
<29.  Juli) 


B.  Das  Wiener  Kabinett 

Verhandlungen  mit  Italien 

Von  seiner  ursprünglichen  Politik  des  Ablehnens  jeglicher 
Kompensation  an  Italien  war  Graf  Berchtold  unter  deutscher 
Beeinflussung  soweit  abgewichen,  daß  er  am  28.  Juli  nach 
Rom  die  Geneigtheit  des  Wiener  Kabinetts  zu  Kompen- 
sationsverhandlungen auch  für  den  Fall  einer  nur  als  pro- 
visorisch anzusehenden  Besetzung  serbischen  Territoriums 
mitteilen  ließ-.  An  Herrn  von  Merey  war  in  dieser  Ange- 
legenheit am  29.  Juli  die  nachträgliche  Weisung  ergangen  ■% 
Graf  Berchtold  betrachte  es  als  selbstverständlich,  bitte  dies 
jedoch  Marquis  di  San  Giuliano  ausdrücklich  zu  sagen, 
daß  die  Mitteilung  betreffs  der  eventuellen  Aufnahme  von 
Kompensationsverhandlungen  als  streng  geheim  zu  betrachten 
sei,  und  daß  wegen  der  in  der  Monarchie  herrschenden 
öffentlichen  Meinung  derzeit  von  einer  Verlautbarung  der- 
selben als  äußerst  bedenklich  unbedingt  abzusehen  wäre. 

Herr  von  Merey  hatte  in  seinem  Telegramm  vom 
28.  Juli  die  Antwort  der  italienischen  Regierung  auf  die 
Vorschläge  des  Wiener  Kabinetts  in  Aussicht  gestellt*. 
Diese  Antwort  wurde  ihm  am  29.  Juli  durch  den  Kabinetts- 
chef des  Ministers  in  schriftlicher  Form,  aber  mit  dem 
Bemerken,  sie  habe  als  mündlich  erteilt  zu  gelten,  zugestellt. 

Diese  Antwort  bestätige,  wie  der  k.  u.  k.  Botschafter 
am  29.  Juli  nachmittags  meldete-,  vollständig  den  Eindruck, 


'    Eine    neuerliche    Bestätigung    der    mangelnden    Exaktheit    in 
Berichterstattung  des  k.  u.  k.  Botschafters  in  Berlin. 
-  Vgl.  Seite   191. 

■■  Weisung  nach  Rom  d.  d.  29.  Juli,  Nr.  896. 
*  Vgl.  Seite  189. 
;•  Telegramm  aus  Rom  d.  d.  29.  Juli,  Nr.  552. 


der 


256 


daß  es  der  italienischen  Regierung  vor  allem  andern  auf 
die  Kompensationsfrage  ankomme,  daß  sie  dieselbe  jetzt 
forcieren  wolle,  daß  sie  sich  hiebei  auf  Deutschland  berufe, 
und  daß  sie  charakteristischerweise  die  betreffenden  Kon- 
versationen in  Wien  und  Berlin  führen  wolle. 

Je  entgegenkommender,  zufriedener,  dankbarer  sich  das 
Wiener  Kabinett  gegenüber  der  Haltung  Italiens  zeigen 
werde,  desto  weitgehender  und  insistierender  würden  die 
römischen  Prätensionen  werden. 

Ohne  noch  im  Besitze  der  vom  29.  Juli  datierten  Mel-  Aufforderung 
düng  Herrn  von  Mereys  zu  sein,  hatte  sich  Graf  Berchtold  B",s''"i,^f,",.''' 
unter    dem    Eindrucke    der    vom    k.    u.    k.    Botschafter    in  zur  Kompen. 
Berlin  und  von  Herrn  von  Tschirschky  mitgeteilten  Besorg-  s^^nuf^u^ 
nisse    der    deutschen    Regierung    veranlaßt    gesehen,     am  nehmen 
30.  Juli    an    Herrn    von    Merey    das    Ersuchen    zu    stellen,  ''^^  ■'"'" 
seine  Anschauung  hinsichtlich    der  Haltung   Italiens    gegen- 
über   der    Kompensationsfrage    wie   auch    bezüglich   seiner 
Bündnispflichten    mitzuteilen    und    sich  darüber    zu  äußern, 
ob,    beziehungsweise    in    welcher   Weise    er    eine    Lösung 
dieser  hochaktuellen  Frage  für  möglich  halte '. 

Herr  von  Merey  hatte    inzwischen    (29.  Juli)  den  italie-  Unterredung 
nischen  Minister  des  Äußern  von  der  Erklärung  des  Herzogs  "^""  ™" 

o  o      Mereys  mit 

von  Avarna,  von  der  Antwort  des  Grafen  Berchtold  bezüg-  Marquis  di 
lieh  der  Frage  der  territorialen  Erwerbungen  und  von  dem  sa"Giuiiano 

°  ö  (29.  Juli) 

Standpunkte  desselben  bezüglich  der  Kompensationsfrage 
samt  der  daran  geknüpften  Erwartung-,  mündlich,  aber  ganz 
exakt  in  Kenntnis  gesetzt. 

Der  Minister,  der  sich  die  Materie  mit  Schlagworten 
notierte,  sagte,  er  müsse,  da  es  sich  um  schwerwiegende 
und  delikate  Angelegenheiten  handle,  dieselben  überlegen 
und  mit  dem  Ministerpräsidenten  besprechen,  bevor  er 
antworte.  Hiebei  bemerkte  Marquis  di  San  Giuliano  neuer- 
lich, diese  Frage  sollte  (da  er  jetzt  nach  der  Kur  leidend 
sei)  in  Wien  verhandelt  werden  =. 

•  Weisung  nach  Rom  d.  d.  30.  Juli,  Nr.  908.  E.xpediert  31.  Juli, 
2  Uhr  a.  m. 

-  Vgl.  Seite   191   unten. 

=  Telegratnm  aus  Rom  d.  d.  30.  Juli,  Nr.  554. 

»7  257 


Krieges 
(30.  Juli) 


.Marquis  di  Djc  HaltUHg  Itaücns  im  Falle  eines  europäischen  Krieges 

San  G.uhano  gpQptertc    def    italienische    Minister   bei    einer    Unterredung 

II Der  üie  o 

HaiiunK        mit  Herrn  von  Merey  am  30.  Juli   aus  eigenem  Antriebe': 
riaiicns  ,m  jj^  ^^^  Drcibund    rein  defensiven  Charakter  habe,    und 

ralle  eines  ' 

europäischen  da  das  Wiener  Kabinett  durch  sein  violentes  Vorgehen 
gegen  Serbien  die  europäische  Konfiagration  provoziert  und 
sich  überdies  mit  der  römischen  Regierung  nicht  vorher 
ins  Einvernehmen  gesetzt  habe,  obliege  Italien  keine  Ver- 
pflichtung, an  dem  Kriege  teilzunehmen.  Damit  sei  aber 
nicht  gesagt,  daß  Italien  bei  Eintritt  dieser  Eventualität  sich 
nicht  die  Frage  stellen  werde,  ob  es  seinen  Interessen 
besser  entspreche,  sich  militärisch  an  die  Seite  der  Monarchie 
zu  stellen  oder  neutral  zu  bleiben.  Marquis  di  San  Giuliano 
persönlich  neige  mehr  der  ersten  Alternative  zu  und  halte 
dieselbe  auch  für  die  wahrscheinlichere,  vorausgesetzt  daß 
Italiens  Interessen  am  Balkan  dabei  gewahrt  werden  und 
daß  die  Monarchie  dort  nicht  Veränderungen  anstrebe, 
welche  ihr  eine  Vormachtstellung  —  zum  Schaden  Italiens  — 
einräumen  würden. 
.Standpunkt  Dcr    Instruktion    vom    30.  Juli    kam    Herr    von    Merey 

Herrn  von     niittcls  clncs  am  31.  Juli,   1   Uhr  nachmittags,  aufgegebenen 

Mereys  hin-  -j        f  o    »  o    o 

siehiiich  der  Telegrammes  nach-.  Unter  Hinweis  auf  seine  bisherigen,  in 
Kompensa-    ^^^   einschlägigen    Telegrammen    und    Berichten    niederge- 

tionsfrage  o  o  o  o 

iM.  juiii  legten  Ansichten  führte  Herr  von  Merey  aus,  daß  entgegen 
seinen  Ratschlägen,  Graf  Berchtold  unter  dem  Drucke  der 
deutschen  Regierung  dem  römischen  Kabinett  in  der  Kom- 
pensationsfrage bereits  zu  Dreivierteln  entgegengekommen 
sei.  Eine  zum  großen  Teil  gelungene  Chantage  setze  aber 
bezüglich  des  Restes  natürlich  um  so  stärker  ein.  Tatsäch- 
lich habe  auch  am  31.  Juli  Marquis  di  San  Giuliano 
bemerkt,  er  habe  in  Beantwortung  der  Erklärung  Graf 
Berchtoids  nach  Wien  mitgeteilt,  daß  dieselbe  vag  und 
ungenügend  sei.  Es  sei  daher  augenblicklich  eine  besonders 
schwierige  Aufgabe  für  Herrn  von  Merey,  einen  Rat  in 
einer  Situation  zu  erteilen,  in  die  sich  das  Wiener  Kabinett 
gegen  seine  Ansicht  und  gegen  seine  wiederholte  Warnung 
begeben  habe. 

I  Telegramm  aus  Rom  d.  d.  30.  Juli,  Nr.  560. 
-  Telegramm  aus  Rom  d.  d.  31.  Juli,  Nr.  569. 

258 


Nach  der  Überzeugung  des  k.  u.  k.  Botschafters  hänge 
die  Frage,  ob  Italien  am  Kriege  teilnehme  oder  neutral 
bleibe,  nicht  wirklich  von  der  Kompensation  ab,  sondern 
hauptsächlich  von  der  in  Rom  herrschenden  Beurteilung 
der  ganzen  europäischen  Situation  und  von  militärischen 
Erwägungen.  Das  Wiener  Kabinett  könnte  daher  riskieren, 
in  der  Kompensationsfrage  weitgehende  Engagements  ein- 
zugehen, ohne  vielleicht  den  Zweck,  die  militärische  Koope- 
ration Italiens,  zu  erreichen. 

Nachdem  sich  ferner  das  Wiener  Kabinett  über  das 
Kompensationsobjekt  offenbar  nicht  im  Klaren  sei  oder 
doch  nicht  im  Voraus  eine  Kompensation  fixieren  könne, 
insolange  es  selbst  nicht  wisse,  was  die  Monarchie  be- 
komme, so  könne  das  Wiener  Kabinett  nach  dem  Erachten 
des  k.  u.  k.  Botschafters  äußerstenfalls  nur  noch  einen 
Schritt  weitergehen  und  erklären,  daß  die  Monarchie  nach 
.Abschluß  des  lokalisierten  oder  allgemeinen  Krieges  bereit 
sei,  Italien  im  Sinne  des  Artikels  VII  des  Dreibundver- 
trages eine  adäquate  Kompensation  einzuräumen,  falls  die 
Monarchie  selbst  Territorien  auf  dem  Balkan,  sei  es  definitiv, 
sei  es  in  einer  die  italienische  Okkupation  des  Dodekanes 
übersteigenden  Dauer  okkupieren  sollte  und  falls  Italien 
seine  Bundespflichten  exakt  erfülle. 

Während    man    sich    in    Rom    anschickte,    den    in    der  p«P'-"'""'g 

Herzog  von 

Kompensationsfrage   eingeschlagenen  Weg   zielsicher  weiter  Avama- 
zu  verfolgen,  glaubte  Graf  Berchtold  in  seiner  Besprechung  ^"' 
mit  dem  Herzog  von  Avarna  am  31.  Juli  die  Angelegenheit  über  die 
zu  einer  befriedigenden  Lösung,  das  heißt  zum  Stillstande,  ■^"■"p^^"- 

^  ^  tionsrrage 

gebracht  zu  haben.  Ein  am  31.  Juli  aufgesetztes  Telegramm  (si.  juii). 
Graf   Berchtolds    orientierte    Herrn    von    Merey  und    Graf  ''"'^'"'"''"g 

einer  Ver- 

Szögyeny  hierüber  ':  einbarung 

Graf  Berchtold    habe    am    31.  Juli    über    die    Kompen- '^'"■'^'"''" 

*  Herzog  von 

sationsfrage  eine    lange   Unterredung  mit  dem    Herzog   von  Avama  und 
Avarna  gehabt,  bei  welcher  ein  vollkommenes  Einvernehmen  "'"'''"  ™" 

°  '  Tschirschky 

erzielt  worden  sei.  Der  deutsche  und  der  italienische  Bot- 
schafter hätten  darauf  auf  Basis  dieser  Unterredung  eine 
den  Herzog  von  Avarna  vollständig  befriedigende  Textierung 

1  Weisung  nach  Rom  d.  d.  31.  Juli,  11  Uhr  30  Minuten  p.  m.,  Nr.  914; 
Weisung  nach  Berhn  d.  d.  31.  Juli,  1 1  Uhr  30  Minuten  p.  m.,  Nr.  307. 

259 


ausgearbeitet,  welche  morgen    (1.   August)    nach    Rom    tele- 
graphiert werde  '. 

Graf  Berchtold   hoffe,  daß  die  Frage  nunmehr  im  Ein- 
vernehmen   aller    Dreibundmächte    gelöst    erscheine.    Herr 
von  Merey  wolle  Marquis  di  San  Giuliano  von  Vorstehen- 
dem sofort  in  Kenntnis  setzen  und  hinzufügen,  das  Wiener 
Kabinett   würde    nunmehr  (woran   Graf  Berchtold  übrigens 
nie  gezweifelt  hätte)    mit  Bestimmtheit  darauf  rechnen,  daß 
Italien  seine  Bündnispflicht  voll  und  ganz  erfüllen    werde. 
Eine  zur  Absendung  an  die  k.  u.  k.  Botschafter  in  Rom 
und  Berlin  vorbereitete,  den  Text  der  Vereinbarung  in  der 
Kompensationsfrage    enthaltende,    aber    nicht    abgeschickte 
Instruktion  führte  aus-: 
Texidervom        Der    italienische    Botschafter    habe    Graf  Berchtold    am 
Herzog  von    ^j    .  |j  auftraggemäß  mitgeteilt,  angesichts  der  Möglichkeit 

Avarna  und  ■^  ö=>  °  ..  ='  " 

Herrn  von     einer  territorialen  Erwerbung  Österreich-Ungarns  am  Balkan 
müsse  die  italienische  Regierung  geltend  macnen,   daß  nach 


Tschirschky 
aufgesetzten, 

von  Graf      Artikel  VII    des  Dreibundvertrages    einem    solchen  Erwerb 
Berchtold      ^j^^  Akkord  mit  Österreich-Ungarn  auf  Grund  wechselseitiger 

akzeptierten  '-'  ^ 

nach  Rom  Kompcnsationcn  vorhergehen  müsse. 

Italien    wolle  jedoch  den   Kriegsoperationen  Österreich- 


nichl   über- 
mittelten 


Vereinbarung  Ungams  keinerlei  Schwierigkeiten  bereiten,  unter  der  Reserve 
m  der  Korn-   ggjj|gp  g^p  ^jg^p,  zitierten  Artikel  basierenden  Ansprüche. 

pensations-  ^ 

frage  Hinsichtlich    der    Kompensationen    halte   es   Marquis  di 

131.  juh)  g^j^  Giuliano  für  dringend,  daß  von  Seite  der  Monarchie 
die  italienische,  auch  von  Deutschland  akzeptierte  Inter- 
pretation des  Artikels  VII  angenommen  werde,  dahingehend, 
daß  Italien  für  jede  Akquisition  Österreich-Ungarns  am 
Balkan  (Serbien,  Montenegro  etc.)  ein  Kompensations- 
anspruch zustehe. 

Es  sei  für  die  italienische  Regierung  notwendig,  dies- 
bezüglich eine  explizierte  Antwort  von  Österreich-Ungarn 
zu  erhalten,  weil  der  gegenwärtig  bestehende  Zweifel  jede 
Aktion  Italiens  paralysiere. 

Wenn  Österreich-Ungarn  diese  Idee  nicht  akzeptieren 
könnte,    müßte    Italien   eine  Richtlinie  verfolgen,   die  jedem 

1  Vgl.  Seite  262  unten. 

2  Konzept  (in  der  Hauptsache)   von  der  Hand  des  Grafen  Berchtold. 

260 


Gebietserwerb    Österreich-Ungarns    am    Baltcan    entgegen- 
gesetzt wäre. 

Hinsiclitlich  der  als  Antwort  dem  italienischen  Botschafter 
abzugebenden  Erklärung  Graf  Berchtolds  hätten  Pourparlers 
zwischen  ihm,  dem  Herzog  von  Avarna  und  Herrn  von 
Tschirschky  stattgefunden.  Graf  Berchtold  habe  den  von 
den  beiden  Botschaftern  formulierten  Text  akzeptiert.  Der- 
selbe laute: 

Si  cependant  par  la  force  des  choses  TAutriche-Hongrie 
serait  obligee  ä  faire  des  acquisitions  territoriales  dans 
la  Peninsule  Balcanique,  notamment  en  Serbie  et  au  Monte- 
negro, le  Gouvernement  I.  et  R.  est  pret  ä  se  concerter  avec 
ritalie  au  sujet  des  compensations  ä  lui  accorder,  soit  que 
ritalie  prete  son  concours  ä  l'Autriche-Hongrie  dans  le  cas 
que  se  presente  le  casus  foederis  vise  par  le  traite,  soit 
qu'elle  prete  son  concours  sans  que  le  casus  foederis  se 
presente. 

Cette  declaration  contient  les  Clements  qui  constituent 
la  substance  meme  de  Tinterpretation  que  Vous  donnez  ä 
l'Art.  VII  et  que  je  consens  ä  Vous  faire,  bien  que  je  ne  par- 
tage  pas  cette  interpretanon  meme. 

Obigen  NX'ortlaut  habe  Herzog  von  Avarna  gebilligt. 

Wie  dem  k.  u.  k.  Botschafter  bekannt  sei,  bestünden 
zwischen  den  Verbündeten  militärische  Abmachungen  betreffs 
Beistellung  italienischer  Truppenkontingente  an  den  Rhein 
für  den  Kriegsfall  mit  Frankreich.  Überdies  habe  der  Chef 
des  Generalstabes,  Baron  Conrad,  bei  seiner  letzten  Be- 
gegnung mit  dem  seither  verstorbenen  italienischen  General- 
stabschef Pollio  mündlich  verabredet,  daß  bei  Eintritt  des 
Casus  foederis  italienische  Truppenkontingente  der  Mon- 
archie nach  Galizien  zur  Verfügung  gestellt  würden. 

Angesichts  der  nun  kaum  mehr  ausweichlichen  euro- 
päischen Konflagration  lege  die  österreichisch-ungarische 
wie  die  deutsche  Armeeleitung  das  größte  Gewicht  darauf, 
daß  Italien  seinen  Engagements  nachkomme  und  baldigst 
darüber  Klarheit  geschaffen  werde,  umsomehr  als  Rumäniens 
Haltung,  nach  geheimen  Informationen,  zum  Teil  von 
Italiens  Stellungnahme  bedingt  sein  werde. 

261 


Der  k.  u.  k.  Botschafter  wolle  Marquis  di  San  Giuliano 
von  der  zwischen  Graf  Berchtold  und  dem  itah'eni^chen 
Botschafter  vereinbarten  Formel  Kenntnis  geben  und  unter 
Hinweis  auf  den  Umstand,  daß  der  Minister  die  Führun-;; 
der  Verhandlung  in  Wien  ausdrücklich  gewünscht  habe,  sowie 
darauf,  daß  das  Wiener  Kabinett  die  von  Herzog  von  Avarna 
mit  dem  deutschen  Botschafter  formulierte  Erklärung  an- 
genommen habe,  bei  dem  Minister  des  Äußeren  nach- 
drücklich dahin  wirken,  daß  Italien  sich  raschestens  ent- 
schließe, seinen  Bundespflichten  vollinhaltlich  nachzukommen. 
Graf  Berchtold  halle  es  nicht  für  ausgeschlossen,  daß 
Marquis  di  San  Giuliano  an  dem  Wortlaute  des  oben- 
stehenden französischen  Textes  einiges  auszusetzen  haben 
werde,  und  ermächtige  den  k.  u.  k.  Botschafter  für  diesen 
Fall  zur  Abgabe  folgender  Interpretationen: 

Der  Ausdruck  „acquisicions  territoriales"  sei  Graf  Berch- 
told vorgeschlagen  worden.  Er  habe  denselben  angenommen, 
sei  aber  bereit,  denselben  über  Verlangen  San  Giulianos 
durch  „occupations"  zu  ersetzen. 

Die  ausdrückliche  Erwähnung  Serbiens  und  Montenegros 
könnte  den  Anschein  erwecken,  als  ob  die  Monarchie  einen 
Angriff  gegen  Montenegro  beabsichtigen  würde.  Dies  sei 
nicht  der  Fall  und  es  könnte  nach  dem  Worte  „Monte- 
negro" eingeschoben  werden  „si  le  Montenegro  prenait  part 
ä  la  luttc". 

Zur   Information   des   k.   u.   k.    Botschafters    füge   Graf 
Berch.old  noch  bei,  daß  das  Wiener    Kabinett   Italien    das 
Recht  einer  Kompensation  auch  für  den  allerdings  unwahr- 
scheinlichen Fall  einer  Lokalisierung  unseres    Konflikts    mit 
Serbien  zuerkenne,  sofern  die  Monarchie   zu   einer  nicht  als 
nur    vorübergehend    anzusehenden    Okkupation    serbischen 
Gebietes  schreiten  müsse. 
Mitteilung  an        Dem  k.  u.  k.  Botschaftcr  in  Rom    wurde  am   1.  August 
Brnschafier    ^'"    Telegramm    des    Grafen    Berchiold    mit    dem    Auftrage 
daß  das       zugesicUt ',  cr  wolle  sich  sofort  zu  Marquis  di  San  Giuliano 
wienerKabi.  j-jgge^gr,    ypp  j^m  zu  eröffnen,  daß  Graf  Berchtold  mit  dem 

neitdic  Italic-         »  '  ' 

nische  Inier.  Herzog  vou  Avama  und  Herrn  von  Tschirschky  vereinbart 

pretation  des 

Artikels  VII  '  Weisung    nach    Rom    d.  d.    Wien,     1.  August,    Nr.  916,    expediert 

annehtne         12  Uhr   15  Minuten  p.  m. 

<1.  August; 

282 


habe,  die  italienische  Interpretation  des  Artikels  VII  des 
Dreibundvertrages  anzunehmen  unter  der  Voraussetzung, 
daß  Italien  seinen  Bündnispflichten  in  dem  gegenwärtigen 
Konflikt  voll  nachkomme. 

Die  dem  Herzog  von  Avarna  gegebene  Erklärung  lautete  ': 

„Je  considere  qu'une  divergence  de  vue  sur  l'inter- 
„pretation  de  l'article  VII  forme  un  Clement  d'incertitude 
„pour  nos  relations  du  present  et  de  l'avenir  qui  pourraic 
„etre  prejudiciable  aux  rapports  intimes  entre  les  deux 
„Puissances.  J'accepte  l'interpretatiön  donnee  ä  l'article  VII 
„par  ritalie  et  l'Allemagne  ä  condition    que    l'Italie   observe  , 

„une  attitude  amicale  par  rapport  aux  Operations  de  guerre 
„engagees  actuellement  par  TAutriche-Hongrie  et  la  Serbie 
„et  remplira  ses  devoirs  d'allie  dans  le  cas  oü  le  conflit 
„actuel  pourrait  amener  une  conflagration  gc^nerale." 

Herr  von  Merey  wolle  diese  Erklärung  Marquis  di  San 
Giullano  unverzüglich  zur  Kenntnis  bringen.  Zur  persön- 
lichen Information  des  k.  u.  k.  Botschafters  füge  Graf 
Berchtold  bei,  er  habe  diese  Erklärung  dem  italienischen 
Botschafter  deshalb  abgegeben,  weil  ihm  die  deutsche 
Regierung  in  allerernstester  Weise  zu  verstehen  gab,  San 
Giuliano  habe  gestern  erklärt,  sich  infolge  der  Weigerung 
des  Wiener  Kabinetts,  die  italienisch-deutsche  Auslegung 
des  Artikels  VII  anzunehmen,  an  den  Vertrag  nicht  gebunden 
zu  erachten. 

Noch    am    Abend    des    1.    August    wurde    dem    Grafen  xonstatie- 
Szögyeny   im  Auswärtigen  Amte    der  Text    des   von  Herrn  k"Tk.  " 
von  Tschirschky    aufgesetzten    und    dem    Grafen    Berchtold  Botschafters 
übermittelten  Entwurfes  der  an  Italien  hinsichtlich  der  Aus-  '" 
legung   des    Artikels   VII    zu    übergebenden    Antwort   vor- 
gelesen-. 

Wenn  derselbe  auch  in  merito,  meldete  Graf  Szögyeny, 
mit  dem  Inhalte  der  ihm  von  Wien  aus  übermittelten,  nach 

1  Weisung    nach  Rom  d.  d.   Wien,    1.  August   1 
[vj^   Q^-j  I       Beide  expediert 

Weisung   nach    Berlin  d.  d.    Wien.    1.  August   (  '   ^^^  ^^  Minuten 
Nr.  313.                                                                             I  P-  "1- 

-  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  1.  August,  Nr.  355.  E.xpediert  2.  August 
1   Uhr  57  Minuten  a.  m. 

263 


italienischer 
Ministerrat 
11-  August) 


Begründung 
der  Haltung 
Italiens 
liurch  den 
k.  u.  k.  Bot 
schaftcr 
U.  August) 


Rom  gegebenen  Antwort,  soweit  er  es  in  der  Schnelligkeit 
habe  feststellen  können,  übereinstimme,  so  sei  die  Tex- 
tierung  doch  eine  sehr  verschiedene  gewesen. 

In  einem  am  1.  August  abgehaltenen  Ministerrate  zeigte 
sich,  wie  Marquis  di  San  Giulano  Herrn  von  Merey  mit- 
teilte ',  die  Tendenz,  daß  Italien  im  Falle  eines  europä- 
ischen Krieges  neutral  bleibe.  Maßgebend  hiefür  sei  die 
Erwägung  gewesen,  daß  Italien  weder  die  Verpflichtung 
noch  das  Interesse  habe;  an  dem  Kriege  teilzunehmen.  Der 
Dreibund  sei  rein  defensiv,  der  Krieg  aber  von  der  Monarchie 
provoziert  worden,  ohne  daß  das  Wiener  Kabinett  früher 
die  italienische  Regierung  von  der  Aktion  verständigt  hätte. 
Wie  könne  man  Italien  zumuten,  daß  es  Gut  und  Blut 
opfere  und  bei  seiner  Küstenentwicklung  die  größte  Gefahr 
laufe?  Dies  alles,  um  ein  Kriegsziel  zu  erreichen,  das 
seinem  Interesse  direkt  zuwiderlaufe,  nämlich  eine  Verän- 
derung des  Status  quo  am  Balkan,  sei  es  zum.  materiellen, 
sei  es  zum  moralischen  Vorteil  Österreich-Ungarns.  Nach- 
dem Marquis  di  San  Giuliano  und  Herr  von  Merey  fast 
eine  ganze  Stunde  hierüber  lebhaft  debattiert  hatten,  wobei 
der  italienische  Minister  unter  andern  auch  die  „chikanöse" 
Politik  Österreich-Ungarns  in  Albanien  sowie  die  Behandlung 
der  Italiener  in  der  Monarchie  erwähnt  hatte,  meinte  er 
schließlich,  es  sei  noch  immer  nicht  gesagt,  da  ein  formeller 
Beschluß  noch  nicht  vorliege,  daß  Italien  nicht  doch  — 
eventuell  vielleicht  erst  später  —  an  dem  Kriege  teilnehme. 
Dabei  fiel  wieder  das  Wort  Kompensation. 

Zur  Motivierung  der  Haltung  Italiens  meldete  der  k.  u.  k. 
Botschafter  -: 

Obwohl  er  selbst  sowohl  wie  sein  deutscher  Kollege 
(für  Deutschland  habe  ja  die  Sache  ungleich  mehr  praktische 
Bedeutung)  alles  aufböten,  um  auf  die  Regierung  im  Sinne 
der  Kooperation  einzuwirken,  neige  vorläufig  die  Wage 
weitaus  mehr  nach  der  Neutralität. 

Für  diese  eigentlich  erst  in  den  letzten  Tagen  durch- 
gedrungene Tendenz  sei  der  vollen  Überzeugung  des  k.  u.  k. 

'  Telegramm  aus  Rom  d.  d.  1.  August,  1.  Uhr  50  Minuten  a.  m., 
Nr.  570. 

=  Telegramm  aus  Rom,  1.  August,  9  Uhr  45  Minuten  p.  m.,  Nr.  575. 


264 


Botschafters  nach  in  allererster  Linie  der  Umstand  ent- 
scheidend gewesen,  daß,  entgegen  der  italienischen  (und  der 
Berliner)  Annahme,  England  nicht  neutral  bleibe,  sondern 
eingreife.  Seine  ausgebreiteten  und  schlecht  geschützten 
Küsten  dem  Bombardement  englischer  Schiffe  auszusetzen 
und  die  samt  der  österreichisch-ungarischen  Flotte,  der  ver- 
einigten französischen  und  englischen  Mittelmeerflotte  doch 
inferiore  italienische  Marine  den  Kampf  aufnehmen  zu 
lassen,  erscheine  in   Rom  als  eine  entsetzliche  Perspektive. 

Hiezu  trete  der  infolge  des  lybischen  Feldzuges  (60.000 
Mann  seien  noch  in  Lybien)  ganz  desorganisierte  Zustand 
der  Armee  und,  wie  der  k.  u.  k.  Botschafter  bestimmt 
erfahre,  die  Angst  vor  inneren  Unruhen. 

Das  letzte  Wort  sei  noch  immer  nicht  gesprochen,  aber 
vorläufig  laute  die  Losung:  Neutralität. 

Vielleicht  könnte  daran  gedacht  werden,  daß  Österreich- 
Ungarn  und  Deutschland  Italien  erklärten,  sie  würden,  falls 
Italien  seiiie  Bundespflicht  nicht  bis  auf  den  letzten  Mann 
loyal  erfülle,  sondern  neutral  bleibe,  sich,  gleichfalls  von 
ihren  Allianzpflichten  völlig  lossagen  und  Italien  als  aus  dem 
Dreibunde  ausgetreten  betrachten. 

Die  Anordnung  der  allgemeinen  russischen  Mobilisierung  Depeschen- 

Wechsel 

veranlaßte    Kaiser  Franz  Joseph,   am   1.  August'    die  nach- „„isehen 
stehende  Depesche  an  König  Viktor  Emanuel  zu  richten:         Kaiser  und 

T  r^  .  .        ,  «  1        -         1  ,.  •  1  König  Franz 

„La    Russie   qui   s  arroge   le    droit   de   s  immiscer   dans  Joseph  und 
„notre   conflit   avec   la   Serbie  a  mobilise   son  armee    et  sa  '^""■s  >'''<""■ 
„Hotte  et  menace  la  paix  de  lEurope.  ,,.  „„j 

„D'accord  avec  l'Allemagne  je  suis  decide  de  defendre  ^-  Augus» 
„las  droits  de  la  Triple  Alliance  et  j'ai  ordonne  la  mobilisation 
„de  toutes  mes  forces  militaires  et  navales.  Nous  devons 
„trente  annees  de  paix  et  de  prosperite  au  traite  qui  nous 
„unit  et  dont  je  constate  avec  satisfaction  l'interpretation 
„identique  par  nos  gouvernements. 

„Je  suis  heureux  en  ce  moment  solennel  de  pouvoir 
„compter  sur  le  concours  de  mes  AUies  et  de  leurs 
„vaillantes  armees  -  et  je  forme  les  voeux  les  plus  chaleureux 

'  Expediert  5  Uhr  p.  m. 

-'  Im  Konzept  folgen  an  dieser  Stelle  die  nachträglich  ausgestrichenen 
Ausführungen:    Je   recommande   tout  particulidrement   l'archiduc  Frederic 

265 


Viviani 
(30.  Juli) 


„pour  le  succes  de  nos  armes  et  pour  un  glorieux  avenir 
„de  nos  pays." 

Der  italienische  König  beantwortete  die  Depesche  am 
2.  August':  „J'ai  re^u  le  teiegramme  de  Votre  Majeste. 

„Je  n'ai  pas  besoin  d'assurer  Votre  Majeste  que  i'Italie 
„qui  a  fait  tous  les  efforts  possibles  pour  assurer  le  maintien 
„de  la  paix  et  qui  fera  tout  ce  qu'elle  pourra  pour  contribuer 
„ä  la  retablir  aussitöt  que  possible  gardera  une  attitude 
„cordialement  amicale  envers  ses  allies  conformement  au 
„traite  de  la  Triple  Alliance,  ä  ses  sentimente  sinceres  et  aux 
„grands  interets  qu'elle  doit  sauvegarder". 

Verhandlungen  mit  Frankreich 

Unterredung         Der  Umschwung  der  öffentlichen  Stimmung  zu  Ungunsten 
des  k  u  k.   jgj.  jviQnarchie,    der    sich    seit  dem  27.    luli  in  der  Pariser 

Botschallers  '  ^ 

mit, Herrn  Pressc  geltend  zu  machen  anfing,  spiegelte  sich  bis  zum 
30.  Juli  in  den  Unterredungen  des  k.  u.  k.  Botschafters 
mit  den  französischen  Staatsmännern  nicht  wieder. 

An  diesem  Tage  hatte  Graf  Szecsen  mit  Herrn  Viviani 
eine  lange,  friedlich  und  versöhnlich  geführte  Unter- 
redung -.  Der  französische  Staatsmann  hörte  die  Ausfüh- 
rungen des  k.  u.  k.  Botschafters  über  die  Haltung  Serbiens, 
über  die  Ursachen,  die  das  Wiener  Kabinett  bestimmten, 
die  Antwort  des  Herrn  Pasic  nicht  zu  akzeptieren,  sehr 
aufmerksam  an.  Seine  Hauptthese  war,  man  wisse  jetzt 
nicht,  was  die  Monarchie  wolle,  und  so  sei  jeder  Vermitt- 
lung der  Weg  gesperrt.  Graf  Szecsen  erwiderte,  die  Mon- 
archie habe  Serbien  ihre  Forderungen  sehr  deutlich  mit- 
geteilt; nachdem  sie  nicht  erfüllt  wurden,  sei  der  Kriegs- 
zustand eingetreten. 

Als  persönliche  Ansicht  fügte  Graf  Szecsen  bei,  daß, 
wenn  Serbien    geneigt  wäre,    nachzugeben,    es  leicHt  Mittel 

qui  se  trouve  ä  la  tete  de  mes  troupes  ä  la  bienveillance  de  Votre 
Majeste  et  je  regrette  que  le  precipitation  des  evenements  ne  lui  aie  pas 
permis  d'aller  presenter  ses  hommages  a  Votre  Majeste  et  de  se  faire 
aupres  d'Elle  Tinterpr^te  de  mes  voeux  les  plus  chalereux. 

1  Hausabschrift  des  Telegramms  des  Königs  von  Italien  an  Kaiser 
und  König  Franz  Joseph  d.  d.  Rom,  2.  August. 

-  Telegramm  aus  Paris  d.  d.  30.  Juli,  Nr.   139. 

266 


finden  könnte,  um  in  Wien  anzufragen,  weiche  Bedingungen 
die  Monarcliie  jetzt  steile.  „Was  gescliielit  aber  mii  Ruß- 
land?", fragte  Herr  Viviani.  Graf  Szecsen  antwortete,  die 
Monarchie  hätte  von  Rußland  nichts  verlangt  und  wünschte 
nur,  daß  es  sich  nicht  einmische.  Der  Minister  meinte, 
man  müsse  trachten,  eine  Lösung  zu  finden,  die  Rußland 
eine  Demütigung  erspare  und  kam  auf  den  englischen  Vor- 
schlag der  Beratung  der  vier  Botschafter  zurück,  worauf 
Graf  Szecsen  erklärte,  derselbe  sei   bisher  nicht  sehr  klar. 

Die  Pariser  Zeitungsnachrichten  über  eine  französische 
Mobilisierung  dementierte  der  Minister  auf  das  Ent- 
schiedenste. Graf  Szecsen  wies  auf  das  diesbezügliche,  von 
Rußland  gegebene  Beispiel  hin,  dessen  mögliche  Folgen 
der  Minister  als  sehr  gefährlich  bezeichnete.  Noch  erwähnte 
Graf  Szecsen,  es  sei  sehr  nützlich,  wenn  Rußland  die 
Mobilisierung  nicht  fortsetze  und  wenn  es  diesbezüglich 
eine  beruhigende  Erklärung  abgeben  würde.  Herr  Viviani 
bemerkte  hiezu,  zuerst  müsse  Rußland  darüber  beruhigt 
werden,  daß  die  Monarchie  Serbien  nicht  vernichten  wolle. 

In  Paris  war  übrigens  vielfach  die  Ansicht  verbreitet,  die  Angebliche 


Monarchie  strebe  die  Wiedereroberung  des  Sandschaks  an  '. 


Absichten 

der 

Dies  würde,    sage    man,    für    Rußland  den  Krieg  bedeuten.  MonNrchie, 
Graf  Szecsen    werde    von    Regieruneskreisen    und  anderen  t^" ,  .  , 
Politikern     vielfach     gedrängt,     irgendwelche     beruhigende  wiedcrzu- 
Aufklärungen  über  die  österreichisch-ungarischen  Absichten  ^j^'jul'i^ 
abzugeben,  die  den  russischen  Alarmnachrichten  gegenüber 
verwertet    werden    könnten.    Die    Hauptbesorgnis    in    Paris 
heiße:  Sandschak,  Annexion    gewisser    serbischer  Distrikte, 
Antasten    der    staatlichen  Unabhängigkeit,    Protektorat , über 
Serbien.  Viele  Leute  in  Paris,    auch    in   Regierungskreisen, 
wünschten    den    Frieden    und    möchten    Argumente    haben, 
die  sie  den  russischen    und    den    französischen    Hetzereien 
entgegenstellen  könnten. 

Auf  Grund  dieser  Meldungen  ermächtigte  Graf  Berchtold  insiruk- 
am  3L  Juli  den  k.  u.  k.  Botschafter,  sich  den  französischen  ''""l"  ."' 

*-'  '  Graf  Szecsen 

Staatsmännern  gegenüber    in    folgendem  Sinne  zu  äußern-:  oi.  juiü 

'  Telegramm  aus  Paris  d.  d.  30.  Juli,  Nr.   141. 

-  Weisimg  nach  Paris  d.  d.  31.  Juli,  7  Uhr  p.  m.    Nr.   181. 

267 


Durchfüh- 
rung des 
Auftrages 
(31.  Julil 


Situations- 
bericht des 
l(.  u.  k.  Bot- 
schafters 
(30.  Juli) 


Was  die  von  Herrn  Viviani  ausgesprochene  Befürchtung 
betreffe,  die  Monarchie  wolle  Serbien  vernichten,  so  wolle 
Graf  Szecsen  Herrn  Viviani  unverzüglich  darauf  aufmerksam 
machen,  daß  das  Wiener  Kabinett  in  Petersburg  bereits 
offiziell  mitgeteilt  hätte,  bei  seiner  Aktion  gegen  Serbien 
auf  keine  territoriale  Erwerbung  auszugehen  und  die  staat- 
liche Souveränität  des  Königreiches  nicht  antasten  zu  wollen. 
Ebenso  sei  der  Ansicht  mit  Nachdruck  entgegenzutreten, 
als  ob  die  Monarchie  eine  Wiederbesetzung  des  Sandschaks 
beabsichtige.  Es  sei  aber  natürlich,  daß  alle  auf  das  Des- 
interessemeat  Österreich-Ungarns  gegebenen  Erklärungen 
nur  für  den  Fall  gelten  würden,  daß  der  Krieg  zwischen 
der  Monarchie  und  Serbien  lokalisiert  bleibe. 

Den  erhaltenen  Auftrag  führte  Graf  Szecsen  noch  am 
Abend  des  31.  Juli  aus.  Da  der  Ministerpräsident  nicht 
erreichbar  war,  teilte  er  den  Inhalt  seiner  Instruktion  Herrn 
Berthelot  mit.  Derselbe  nahm  die  Äußerungen  des  k.  u.  k. 
Botschafters  zur  Kenntnis  und  brachte  seine  persönliche 
Ansicht  zum  Ausdruck,  daß  die  serbische  Frage  angesichts 
der  heute  unternommenen  deutschen  Demarche'  ganz  in 
den  Hintergrund  trete-. 

Aus  einem  Situationsbericht  Graf  Szecsens  vom  30.  Juli 
ergajb  sich  das  folgende  Bild  über  die  Stimmung  und 
Haltung  Frankreichs': 

Die  Stimmung  in  Frankreich  der  Monarchie  gegenüber 
habe    sich    in  den  letzten  Tagen  entschieden  verschlechtert. 

Die  Ablehnung  der  serbischen  Antwort,  die  man  zu 
Anfang  nicht  recht  begreiflich  fand  und  die  man  nun,  da 
die  Gründe  dafür  in  den  Zeitungen  dargelegt  wurden, 
nicht  verstehen  wolle,  die  österreichisch-ungarische  Kriegs- 
erklärung an  Serbien,  die  russische  Mobilisation  hätten  die 
Gefahr  einer  allgemeinen  Konflagration  viel  nähergerückt, 
und  da  es  sich  nicht  leugnen  lasse,  „que  c'est  nous  qui 
avons    declenche  le  mouvement",   so    werde    natürlich    die 


Vgl.  Seite  228. 

Telegramm  aus  Paris  d.  d.  31.  Juli,  Nr.   144. 

56 
Bericht  aus  Paris   d.  d.   30.  Juli,  Z.    --   —  B. 


268 


Monarchie  für  alle  Gefahren    und  deren  schon  jetzt  zutage 
tretende  finanzielle  Folgen  verantwortlich  gemacht. 

Die  Rückkehr  der  Herren  Poincare  und  Iswolsky  habe 
die  Zeitungskampagne  gegen  die  Monarchie  auch  gefördert. 

Man  habe  in  Frankreich  trotz  chauvinistischen  National- 
stolzes, trotz  berechtigten  patriotischen  Selbstgefühls  mit 
vollem  Recht  Angst  vor  dem  Kriege  und  dessen  unabseh- 
baren Folgen.  „Mais  la  peur  est  une  mauvaise  conseillere." 

Der  allgemeine  Eindruck  sei,  daß  Serbien  sich  in  seiner 
Antwortnote  so  tief  gedemütigt  habe,  wie  dies  selten  ein 
Staat  getan.  Man  glaube,  daß  die  zwischen  den  österreichisch- 
ungarischen Forderungen  und  der  serbischen  Antwort  be- 
stehenden Differenzen,  für  die  man  übrigens  kein  besonderes 
Verständnis  zeige,  durch  Verhandlungen  leicht  geregelt 
hätten  werden  können.  Man  hätte,  glaube  Graf  Szecsen, 
nichts  dagegen  gehabt,  wenn  Serbien  die  österreichisch- 
ungarische Note  tale  quäle  angenommen  hätte.  Aber  man 
könne  nicht  begreifen,  daß  wegen  gewisser  redaktioneller 
Fragen  ein  Weltbrand  entstehen  solle. 

Graf  Szecsen  sei  vielfach  befragt  worden,  was  nun 
geschehen  solle,  was  die  Monarchie  jetzt  verlange.  Er  habe 
stets  darauf  geantwortet:  Die  Monarchie  hätte  Forderungen 
an  Serbien  gestellt,  die  es  nicht  erfüllt  habe,  dies  habe 
schließlich  zum  Kriegszustande  geführt.  Es  sei  nun  an 
Serbien,  wenn  es  ein  Ende  dieses  Kriegszustandes  herbei- 
führen wolle,  anzufragen,  welches  jetzt  die  Forderungen  der 
Monarchie  seien.  Je  länger  die  kriegerischen  Operationen 
dauerten,  je  größere  Opfer  sie  erforderten,  desto  schwerer 
dürften  die  Bedingungen  Österreich-Ungarns  werden. 

Frankreich  hatte  am  1.  August  die  allgemeine  Mobili-  Die  franzosi- 
sierung  angeordnet.  Herr  Margerie,  der  dies  Grafen  Szecsen  ^!''"'  '^°'"''' 
mitteilte ',  erklärte  gleichzeitig,  die  französische  Regierung 
habe  dem  Vorschlage  Sir  Edwards  betreffs  gleichzeitiger 
Einstellung  der  militärischen  Maßnahmen  zugestimmt.  Die 
französische  Mobilisierung  sei  rein  defensiv  und  sei  nur 
eine  Antwort  auf  die  deutschen  Maßnahmen.  Sobald  Deutsch- 

1  Telegramm  aus  Paris  d.  d.  I.  August,  10  Uhr  50  Minuten  p.  m., 
Nr.   148. 

269 


land  den  Greyschen  Vorschlag  annehme  und  die  militäri- 
schen Maßnahmen  einstelle,  werde  Frankreich  ein  gleiches 
tun.  Von  der  Mobilisierung  bis  zu  der  Kriegserklärung  sei 
übrigens  ein  langer  Weg,  speziell  in  Frankreich,  wo  die 
Zustimmung  des  Parlaments  nötig  sei,  das  bisher  nicht  ein- 
berufen wurde.  Zwischen  Deutschland  und  Frankreich 
bestünden  gar  keine  Streitfragen  und  man  könne  sich  in 
Paris  die  deutsche  Haltung  und  die  Sprache  des  Botschaf- 
ters nur  mit  dem  Wunsche  Deutschlands,  den  Krieg  herbei- 
zuführen, erklären. 

Graf  Szecsen  trat  dieser  Anschauung  entgegen.  Herr 
Margerie  erwähnte  mit  Befriedigung  die  Besprechung  Graf 
Szäpärys  mit  Herrn  Sazonow  in  Petersburg  und  betonte 
nachdrücklichst  den  französischen  Wunsch,  eine  Detente 
herbeizuführen. 
BespieehuiiK  In  cincr  Konversation,  die  Graf  Szecsen  am  1.  August 
P"*^  mi:  Herrn  Iswolskv  pflog  ',  setzte  der  k.  u.  k.  Botschafter 

Szecsens  •      ^        o    ^ 

mii  Herrn     dcn  russlschcn  Diplomaten  in  Kenntnis  von  der  Mitteilung, 
iswoisky       jjg  gj,  ^^  ^^^  j^lj  hifisichdich  des   territorialen   Desinteresse- 

(1.    AugUST)  ^' 

ments  der  Monarchie  Herrn  Viviani  gemacht  hatte.  Der  rus- 
sische Botschafter  zeigte  lebhaftes  Interesse  und  behauptete, 
von  einer  Mitteilung  seitens  der  Monarchie  in  Petersburg,  daß 
sie  die  staatliche  Souveränität  des  Königreiches  nicht  an- 
lasten wolle,  bisher  nichts  gehört  zu  haben.  Herr  Iswoisky 
erwähnte  die  Pourparlers  in  Petersburg,  welche  eine  Ver- 
ständigung nicht  unmöglich  erscheinen  ließen.  Das  deutsche 
Ultimavum,  sagte  er,  habe  die  Siiuation  äußerst  kritisch 
gestaltet.  Herr  Iswoisky,  der  die  russische  Mobilisierung, 
außer  jener  von  dreizehn  Korps  an  der  österreichisch-ungari- 
schen Grenze,  noch  immer  leugne,  schloß  seine  Ausführungen 
mit  dem  Bemerken,  er  wisse,  Herr  Sazonow  sei  noch  immer 
zu  einer  Konversation  bereit. 

Verhandlungen  mit  England 

Die  hishcriRc        Wescntüch  entscheidend  für  die  Wendung,  welche    die 
Hallung  des   gy^   ^jg^    österreichisch-ungarisch-scrbischen     Konflikt     er- 

Londoner  ...,,-.  ,  j.        ii    <  r~ 

Kabinet.s      wachsenc  europaische  Krise  nahm,  war  die  Haltung   hng- 

I  Telegramm  aus  Paris  d.  d.   1.  August,  Nr.   145. 
270 


lands.  In  Wien  und  Berlin  glaubte  man  bisher  Grund  zur 
Annahme  zu  haben,  das  Londoner  Kabinen  werde  sich 
letzten  Endes  im  Sinne  der  Neutralität  aussprechen.  Auf  dem 
Wege  über  Kopenhagen  war  man  in  Wien  am  30.  Juli  zur 
Kenntnis  gelangt,  daß  England  in  Petersburg  vor  drei  Tagen 
seine  Neutralität  hatte  mitteilen  lassen  und  konnte  sich  nun- 
mehr auch  die  bis  dahin  unerklärlich  erscheinende  entgegen- 
kommende Art  Herrn  Sazonows  zurechtlegen  '.  Der  unver-  . 
mittelt  zutage  getretene  Umschwung  in  der  Haltung  des 
russischen  Ministers  schien  auf  die  inzwischen  erfolgte 
Zurückziehung  der  Neutralitätserklärung  Englands  zurück- 
zuführen zu  sein  -. 

Wo   lag   das   psychologische   Moment,   das   Sir   Edward  Die  Frage 
Grey  veranlaßte,  den  anfänglich  eingenommenen  Standpunkt  g^s^hobTn- 
der  Neutralität  aufzugeben?  Es  scheint  letztlich  in  der  vor- «erdens" de.- 
herrschend  gewordenen  Überzeugung  des  englischen  Staats-  ^J'^,"""  '^ 
Sekretärs  begründet  gewesen  zu  sein,  daß  die  Monarchie  bei  Deutschland 
ihrer  Aktion  gegen  Serbien  durch  Deutschland  „geschoben" 
werde.  Wiederholtemale  hatte  der  k.  u.  k.  Botschafter  Graf 
Mensdorff  hingewiesen,   er   glaube,   Sir  Edward   wolle   mit 
Deutschland  friedlich  zusammen  arbeiten.  Sollte  der  englische 
Staatssekretär  aber  das  unbehebbare  Mißtrauen  hegen,  daß 
Deutschland  die  Monarchie  vorgeschoben  habe  oder  über- 
haupt einen  Krieg  mit  Rußland  zu  provozieren  wünsche,  so 
würde  Sir  Edward  abschwenken  und  sich  viel  entschiedener 
auf  Rußlands  Seite  stellen  ■'. 

Zu  der  vom  k.  u.  k.  Botschafter  befürchteten  Auffassung 
scheint  Sir  Edward  -  spätestens  seit  dem  30.  Juli  —  tatsächlich 
gelangt  zu  sein.  Die  Überzeugung  Sir  Edwards  resultierte  aus 

'  Vgl.  Seite  206  ff. 

-  Zu  diesem  Gegenstande  meldete  der  k.  u.  k.  Gesandte  Graf 
Szechenyi  aus  Kopenhagen  am  30.  Juli,  der  deutsche  Gesandte  habe 
aus  dänischen  Hoflvreisen  die  Nachricht  erhalten,  daß  England  allerdings 
vor  drei  Tagen  in  Petersburg  eine  Neutralitätserklärung  abgegeben  habe, 
daß  es  jedoch  48  Stunden  später  —  walirscheinüch  über  Pression  aus 
Paris  —  nachgegeben  und  seinen  Standpunkt  mit  der  Motivierung  geändert 
hätte,  daß  es  inzwischen  zu  einer  anderen  Auffassung  seiner  Bündnis- 
pflichten gelangt  sei.  (Telegramm  aus  Kopenhagen  d.  d.  30.  Juli,  6  Uhr 
16  Minuten  p.  m.,  Nr.  9.)  (Vgl.  Seite  206  Anmerkung  2;  Seite  229  oben.) 

■■■  Siehe  Seite  201,  202,  276,  279  oben. 

271 


dem  Schicksale  seiner  Vermittlungsvorschläge  in  Berlin  und 
Wien,  wobei  sich  die  Eindrücke  des  Staatssekretärs  offenbar 
dahin    verdichteten,    das    Berliner    Kabinett    sei     der 
Spiritus    rector    der    auf     eine     europäische    Kon- 
flagration zusteuernden  Politik  der  beiden  Zentral- 
mächte. Daß  Sir  Edward  zu  einer  solchen  Anteilsbemessung 
der  Initiative  und  politischen  Führung  zwischen  dem  Wiener 
und  dem   Berliner   Kabinett  gelangen  konnte    und   geradezu 
gelangen    mußte,    war,    da    der    englische    Staatsmann    die 
Geschehnisse  bloß  nach  ihrer  Erscheinungsform,  nicht  aber 
nach  ihren  letzten  Zusammenhängen  zu  beurteilen  vermochte, 
durchaus  begreiflich. 
Weisung  an         Um   sclncn    in    nachdrücklicher   Weise    geäußerten    Er- 
ßlischafte^   wägungen  und  Bedenken  Rechnung  zu  tragen,  wurde  Graf 
(29.  Juli)       Mensdorff  am  29.  Juli  beauftragt  ',  mit  allen  zur  Verfügung 
„Österreich-  stchendcn    Argumenten   den   Staatssekretär    darüber   aufzu- 
"u?^"*'''  l^lären,  daß  das  Wiener  Kabinett  bei  seiner  Aktion  gegen 
niemanden     Serbien  durch   niemanden  geschoben  werde,  sich  viel- 
geschoben"    ^gj^p   lediglich   von   dem   vitalen    Interesse   der   Monarchie 
beraten    lasse,   das    es    ihr    zur    Pflicht    mache,    der    groß- 
serbischen  Wühlarbeit  in  ihren  Grenzländern  in  energischer 
Weise  ein  Ziel  zu  setzen. 

Es  sei  ebenso  der  Monarchie  wie  Deutschlands  auf- 
richtigster Wunsch,  daß  das  gute  Verhältnis  zwischen  den 
europäischen  Großmächten  nicht  gestört  werde  und  der 
Weltfriede  erhalten  bleiben  möge. 

Die  durch  die  jahrelangen  Provokationen  seitens  Serbien 
erzeugte  Mißstimmung  gegen  dieses  Land  habe  sich  aber 
unter  dem  Eindrucke  der  furchtbaren  Bluttat  in  Sarajevo 
zu  einer  derartigen  Empörung  gesteigert,  daß  besonders  die 
kaisertreue  eigene  südslawische  Bevölkerung  es  nicht  mehr 
verstanden  hätte,  wenn  das  Wiener  Kabinett  das  bisherige 
Geschehenlassen  noch  weiter  fortgesetzt  hätte. 
Bcspre.iiung  Bci  clncr  Besprechung  Graf  Mensdorffs  mit  Sir  Edward 
Graf  Mens-    Qpgy   gp-,    £9.   luH-    erklärte   dieser,    die   Situation    sei  viel 

dorff— Sir  '  ■' 

Edward  Grey 

(29.  Juli)  '  Weisung   nach    London   d.  d.   29.  Juli,  Nr.   184.   Expediert  30.  Juli, 

2  Uhr  20  Minuten  a.  m. 

-  Telegramm  aus  London  d.  d.  29.  Juli,  4  Uhr  32  Minuten  p.  m., 
Nr.   119. 

272 


ernster  geworden,  und  er  sei  heute  sehr  besorgt.  Von 
BerHn  melde  man  die  russische  Mobilisierung,  von  Wien 
die  seitens  der  k.  u.  k.  Regierung  erfolgte  Ablehnung,  mit 
Rußland  direkt  zu  verhandeln;  somit  rücke  die  Gefahr  einer 
großen  europäischen  Komplikation  immer  näher. 

Sir  Edward  sagte  wiederholt,  die  Monarchie  würde 
voraussichtlich  die  Unterstützung  und  Sympathie  aller 
Mächte  haben,  wenn  sie  sich  damit  begnügen  würde,  daß 
Serbien  alle  ihre  Forderungen  akzeptiere  und  daß  der 
Monarchie  nebstdem  noch  eine  Garantie  der  Mächte  für 
die  Einhaltung  der  Versprechungen  gegeben  werde. 

Graf  Mensdorff  wies  darauf  hin,  daß  es  dazu  nach  der 
Kriegserklärung  und  dem  Beginne  der  Feindseligkeiten  wohl 
zu  spät  sein  dürfte.  „Dann  ist  es  vielleicht  auch  zur  Ver- 
hütung des  allgemeinen  Krieges  zu  spät",  rief  Sir  Edward  aus. 

Graf  Mensdortf  kam  immer  wieder  darauf  zurück,  daß 
man  die  Frage  des  österreichisch-ungarisch-serbischen  Kon- 
fliktes von  der  Frage  des  allgemeinen  Krieges  trennen  und 
darauf  einwirken  müsse,  daß  Rußland  nicht  denselben  durch 
seine  Intervention  herbeiführe. 

Hierauf  bemerkte  Sir  Edward:  „Wenn  die  Mächte 
nur  in  Rußland  raten  sollten,  daß  es  passiv  bleibe,  so  ist 
es  gleichbedeutend,  Ihnen  freie  Hand  zu  geben,  was  Ruß- 
land nicht  annehmen  wird.  Irgend  etwas  müßten  Sie  uns 
zum  mindesten  geben,  das  wir  in  Petersburg  verwerten 
können." 

Sir  Edward  wolle  die  Pro  und  Kontra  des  öster- 
reichisch-ungarischen Standpunktes  nicht  diskutieren.  Was 
ihn  beschäftige,  seien  Fakten  und  das  Wichtigste:  Wie  kann 
ein  europäischer  Krieg  noch  verhindert  werden?  Auch  ohne 
territoriale  Erwerbungen  könnte  die  Monarchie  Serbien  in 
das  Verhältnis  eines  Vasallen  bringen  und  dadurch  Rußland 
vollständig  vom  Balkan  eliminieren. 

Graf  Mensdorff  erwiderte,  nach  den  ehemaligen  Ab- 
machungen der  Monarchie  mit  Rußland,  von  denen  Sir 
Edward  am  27.  Juli  gesprochen  habe,  wäre  ja  Serbien  in 
die  Einflußsphäre  der  Monarchie  gerückt.  Es  wäre  absurd 
zu  glauben,  daß  der  russische  Einfluß  am  Balkan  aus- 
geschaltet   würde,    wenn    Belgrad    aufhöre,    das    Pivot    der 

18  273 


russischen  Balkanpolitik  zu  sein.  Vielmehr  sei  es  die 
Monarchie,  die  sich  jetzt  in  legitimer  Verteidigung  befinde; 
der  Versuch,  alle  ihre  kleinen  Nachbarstaaten  zu  ihren 
Feinden  zu  machen,  und  die  ganze  Agitation  gegen  die 
Monarchie  bedrohe  ihre  Großmachtstellung  und  daher  das 
Gleichgewicht  der  Mächte  in  Europa,  für  das  Sir  Edward 
immer  eintrete. 

Der  Staatssekretär  war  sehr  pessimistisch:  „Heute 
spreche  Petersburg  noch  mit  Berlin;  wie  wird  es  morgen 
sein?"  Er  erwähnte  auch,  er  sei  in  steter  Fühlung  mit  dem 
Reichskanzler,  der  auch  ein  Mittel  suche,  um  zwischen 
Wien  und  Petersburg  zu  vermitteln. 

Der  Privatsekretär  Sir  Edwards,  Tyrrell,  den  Graf 
Mensdorff  später  sprach,  bestätigte,  der  Staatssekretär  sei 
sehr  beunruhigt  und  suche  fort  nach  einem  Ausweg,  um  die 
Konflagration  zu  verhindern. 

Seinen  Eindruck  betreffs  der  Haltung  des  Londoner 
Kabinetts  faßte  Graf  Mensdorff  dahin  zusammen:  wenn 
irgend  möglich,  jeder  europäischen  Komplikation  ferne  zu 
bleiben;  russische  Interessen  ließen  England  kühl,  wenn  es 
sich  aber  um  ein  vitales  Interesse  Frankreichs  oder  gar  um 
seine  Machtstellung  handle,  so  sei  keine  englische  Regierung 
in  der  Lage,  eine  Beteiligung  Englands  an  der  Seite  Frank- 
reichs zu  verhindern. 
Resume  des  In  ErgänzuHg  Seiner  telegraphischen  Berichterstattung 
o  "\''',       bot  Graf  Mensdorff  am    29.     Juli    eine    zusammenfassende 

Botschaners  ^ 

über  seine     Darstellung  seiner  mit  Sir  Edward  in  der  Zeit  vom  22.  bis 
Bcsprechun-  29.  juü  gepflogenen  Unterredungen': 

gen  mit  Sir  »^  ö    r'        ö  ö 

Edward  Grey        ^^^1  Mlttwoch,  den  22.  Juli,  abends  habe  der  k.  u.  k.  Bot- 

(22    bis  29. 

Juli,  schafter  durch  Kurier  die  Zirkulardepesche  an    die  Mächte 

erhalten,  die  er  Freitag,  den  24.  Juli,  mitzuteilen  beauftragt  war. 

Am  selben  Abend  habe  Sir  Edward  Graf  Mensdorff 
aufgefordert,  ihn  am  nächsten  Tag  zu  besuchen. 

Daraufhin  erbat  und  erhieh  der  k.  u.  k.  Botschafter  die 
Ermächtigung,  dem  Staatssekretär  schon  Donnerstag,  den 
23.  Juli,  zu  sagen,  daß   er  ihm  am  nächsten  Vormittag  die 

'  Bericht  aus  London  d.  d.  29.  Juli,  Z.  36  P.  A.-D. 
274 


Note  überbringen  würde,  deren  wesentlichen  Inhalt  er  ihm 
streng  vertraulich  skizzieren  durfte. 

Diese  Ermächtigung  sei  für  Graf  Mensdorff  von  größtem 
Werte  gewesen,  denn  er  hatte  die  Erwartung,  die,  wie  er 
konstatieren  konnte,  vollständig  begründet  war,  daß  Sir 
Edward  am  vorigen  Donnerstag  (23.  Juli)  durch  Graf 
Mensdorff  einen  Appell  oder  dringende  Ratschläge  an  die 
k.  u.  k.  Regierung  richten  wollte,  damit  dieselbe  ihre  De- 
marche in  Belgrad  in  einer  konzilianten  Form  mache,  um 
es  der  serbischen  Regierung  zu  ermöglichen,  darauf  einzu- 
gehen. 

Graf  Mensdorff  habe  eine  Wiederholung  des  Vorganges 
vom  Oktober  1908  befürchtet,  als  Sir  E.  Grey  den  ver- 
storbenen Grafen  Aehrenthal  in  letzter  Stunde  ersuchte,  „to 
reconsider  his  decision". 

Dadurch,  daß  Graf  Mensdorff  Sir  Edward  habe  sagen 
können,  die  österreichisch-ungarische  Demarche  in  Belgrad 
sei  zur  Stunde,  als  das  Gespräch  geführt  wurde,  wahr- 
scheinlich bereits  erfolgt,  sei  für  ihn  jede  Veranlassung, 
bezüglich  derselben  noch   Ratschläge  zu  erteilen,    entfallen. 

Sehr  beunruhigt  war  Sir  Edward,  als  Graf  Mensdorff 
sagte,  daß  das  Wiener  Kabinett  eine  Frist  zur  Beantwortung 
der  Note  stellen  würde. 

Als  Graf  Mensdorff  dann  Freitag  vormittags  (24.  Juli) 
die  Zirkulardepesche  übergab,  war  es  wieder  die  kurze 
Frist  zur  Beantwortung,  die  die  Hauptbesorgnis  Sir  Edwards 
hervorrief.  Es  wäre  unmöglich  für  die  anderen  Mächte,  in 
dieser  kurzen  Spanne  Zeit  in  Belgrad  ihren  Einfluß  geltend 
zu  machen. 

Er  bezeichnete  die  Note  an  Serbien  als  „the  most  formi- 
dable  document  ever  addressed  by  one  State  to  another"  und 
eine  Annahme  derselben  kaum  vereinbar  mit  der  Existenz 
eines  unabhängigen  Staates,  nachdem  das  Wiener  Kabinett 
ihm  ja  den  Text  der  Antwort  sogar  diktiere. 

Die  Hauptsorge  des  Staatssekretärs  sei  aber  die  Rück- 
wirkung auf  den  europäischen  Frieden  gewesen.  In  allen 
seinen  Konversationen  habe  Sir  Edward  betont,  daß  er,  so- 
lange als  es  nur  eine  Frage  zwischen  der  Monarchie  und 
Serbien    sei,    keine  Veranlassung   habe,   sich  einzumischen. 

275 


Ihn  beschäftige  nur  die  Möglichkeit  des  Eingreifens 
Rußlands,  was  zu  unabsehbaren  Folgen  führen  könnte, 
die  für  ganz  Europa  verhängnisvoll  werden  müßten.  Er 
sprach  zunächst  stets  von  der  Eventualität  eines  Kampfes 
zwischen  vier  Großmächten,  Österreich-Ungarn,  Rußland, 
Deutschland  und  Frankreich  (auch  Fürst  Lichnowsky 
gegenüber  tat  er  das),  und  nannte  weder  England  noch 
Italien. 

Ein  derartiger  Krieg  würde  mit  dem  Bankerott  Europas 
enden,  die  Industrien  in  allen  Ländern  lahmlegen.  Es  würde 
kein  Kredit  mehr  existieren,  die  Industriearbeiter,  ohne 
Broterwerb,  würden  losbrechen  und  so  manche  bestehende 
Institution  (das  heißt  das  monarchische  Prinzip)  würde  ein- 
fach weggefegt  werden. 

Fürst  Lichnowsky,  der  überhaupt  schlechte  Nerven  habe, 
sei  durch  die  bestimmte  Sprache  Sir  Edwards  sehr  im- 
pressioniert  gewesen,  die  der  englische  Staatssekretär  führte, 
als  er  hörte,  das  Wiener  Kabinett  hätte  die  serbische  Ant- 
wort als  unbefriedigend  zurückgewiesen,  nachdem  er  die- 
selbe als  die  weitestgehende  Demütigung  ansah,  der  sich 
jemals  ein  unabhängiger  Staat  unterworfen  habe. 

Fürst  Lichnowsky  habe  stets  die  Besorgnis,  England 
werde  sich  vollständig  und  demonstrativ  auf  die  Seite  seiner 
Ententefreunde  stellen,  wenn  man  den  Eindruck  habe,  daß 
die  Monarchie  nur  einen  Vorwand  gesucht  habe,  um  Serbien 
zu  vernichten. 

Wenn  gar  das  Mißtrauen  in  London  Platz  greife,  daß 
Deutschland  die  Monarchie  vorschiebe  '  und  einen  Krieg 
mit  Rußland  provozieren  wolle,  so  würde  England  unbe- 
dingt diese  befürchtete  Schwenkung  vollziehen.  (In  diesem 
Punkte  könne  Graf  Mensdorff  seinem  deutschen  Kollegen 
nur  beipflichten,  denn  wenn  man  einmal  in  London  glaube, 
Deutschland  treibe  zum  Kriege,  könne  die  Stimmung  sehr 
gefährlich  werden.  Bezeichnend  sei  der  Appell  an  Kaiser 
Wilhelm,  der  in  zahlreichen  Artikeln  Londoner  Blätter  zu 
finden  sei,  er  möge  seinen  ganzen  Einfluß  im  Interesse  des 
Friedens  geltend  machen.) 

1  Siehe  Seite  201,  202,  271,  279  oben. 
276 


Am  Sonntag,  den  26.  Juli,  war  Sir  E.  Grey  nicht  an- 
wesend und  Graf  MensdorfF  sah  nur  Sir  A.  Nicolson  ganz 
kurz,  um  Ihm  offiziell  den  Abbruch  der  diplomatischen 
Beziehungen  Österreich-Ungarns   mit  Serbien  mitzuteilen. 

Montag,  den  27.  Juli,  habe  Sir  Edward  den  k.  u.  k.  Bot- 
schafter nachmittags  im  Parlamentsgebäude  empfangen,  kurz 
nachdem  er  seine  Erklärung  im  Unterhause  abgegeben  hatte. 

Er  kam  immer  darauf  zurück,  daß  Serbien  ja  beinahe 
alle  österreichisch-ungarischen  Forderungen  angenommen 
habe,  jedenfalls  viel  mehr,  als  man  der  serbischen  Regierung 
zumuten  konnte. 

Graf  Mensdorff  versuchte,  an  der  Hand  der  einzelnen 
Punkte  nachzuweisen,  daß  gerade  die  Reserven  und  Aus- 
lassungen In  der  Antwort  geeignet  seien,  die  Durchführung 
aller  österreichisch-ungarischen  Forderungen  illusorisch  zu 
machen,  und  betonte,  daß  nach  allen  traurigen  Erfahrungen 
der  letzten  Jahre  eine  endgültige  Regelung  des  Verhältnisses 
der  Monarchie  zu  Serbien  für  dieselbe  eine  vitale  Frage 
sei.  Die  Monarchie  könnte  nicht  zugeben,  daß  in  einem 
kleinen  Nachbarstaate  der  baldige  Zusammenbruch  der 
Monarchie  auf  der  Tribüne,  in  der  Presse,  in  der  Armee 
und  in  der  Schule  als  Dogma  verkündet  werde  und,  als  ob 
die  Monarchie  in  einem  schlechteren  Zustande  als  die 
Türkei  wäre,  die  Territorien  bezeichnet  würden,  die  den 
habgierigen,  von  Größenwahn  erfaßten  kleinen  Anrainern 
zufallen  sollten. 

Keine  Großmacht  könne  sich  das  bieten  lassen.  Die 
Monarchie  verteidige  ihre  Lebensinieressen,  für  Rußland 
sei  es  höchstens  eine  Prestigefrage. 

Sir  E.  Grey  erwiderte,  das  Prestige  spiele  am  Balkan 
eine  große  Rolle,  und  wenn  die  österreichisch-ungarische 
Politik  dahin  abziele,  den  russischen  Einfluß  ganz  vom 
Balkan  auszuschalten,  so  könne  man  nicht  von  der  rus- 
sischen Regierung  verlangen,  daß  sie  das  akzeptiere. 

Er  sprach  noch  von  den  früheren  Abmachungen  (Mürz- 
steg),  wodurch  gerade  eine  billige  Teilung  des  Einflusses 
der  Monarchie   und  Rußlands   herbeigeführt  werden   sollte. 

Graf  Mensdorff  verwies  darauf,  daß  bei  diesen  Ab- 
machungen   und    namentlich    noch   weiter    zurück,    Serbien 

277 


stets  als  in  die  Einflußsphäre  der  Monarchie  gehörend  an- 
gesehen wurde.  Jetzt  habe,  im  Gegensatze  dazu,  Rußland 
gerade  Belgrad  zum  Hauptzentrum  seines  Einflusses  machen 
wollen. 

Sir  Edward  Grey  brachte  ferner  wiederholt  —  unzweifel- 
haft von  Petersburg  suggeriert  —  das  Argument  vor,  daß 
die  Monarchie  ohne  direkten  Territorialerwerb  einen  Zustand 
schaffen  wolle,  der  Serbien  jeder  staatlichen  Unabhängigkeit 
beraube  und  es  in  ein  Vasallenverhältnis  zur  Monarchie 
bringe. 

Resümierend  bemerkte  Graf  Mensdorff,  Sir  Edward 
sehe  heute  sehr  schwarz,  weil  die  direkten  Besprechungen 
zwischen  Wien  und  Petersburg  abgehrochen  scheinen. 

Er  sei  in  steter  Verbindung  mit  Berlin  und  gebe  sich 
die  größte  Mühe,  im  Verein  mit  dem  deutschen  Reichs- 
kanzler ein  Mittel  zu  finden,  um  den  Bruch  zwischen  der 
Monarchie  und  Rußland  zu  verhindern. 

Vom  englischen  egoistischen  Standpunkt  betrachtet, 
handle  es  sich  für  die  englische  Regierung  darum,  daß 
Frankreich  nicht  hineingezogen  werde.  Wie  Graf  Mensdorff 
wiederholt  telegraphisch  gemeldet  habe,  dürfte  England 
wegen  eines  russischen  Interesses  nicht  aus  seiner  Neutralität 
heraustreten.  Sobald  aber  Frankreich  in  Aktion  trete,  ändere 
sich  die  Lage  bedeutend.  Keine  englische  Regierung  könne 
sich  dem  entziehen,  Frankreich  beizustehen,  wenn  es  in 
einem  vitalen  Interesse  bedroht  sei.  Die  absolut  unge- 
schwächte Erhaltung  der  Großmachtstellung  Frankreichs  sei 
ein  unverrückbares  Grundprinzip  der  englischen  Politik 
aller  Parteien.  Das  müsse  man  stets  und  unentwegt  vor 
Augen  halten,  wenn  man  die  Haltung  Englands  in  großen 
europäischen  Fragen  in  Betracht  ziehe. 
Besprechung  Bei  cincr  Besprechung  mit  Sir  Edward  am  30.  Juli ' 
ir    war  s  ^^achtc  Graf  Mensdorff  neuerlich  auf  den  unbefriedigenden 

mit  dem  o 

k.  u.  k.        Charakter    der    serbischen  Note    aufmerksam    und  erklärte 

3o"T"°i)"    '^'''  gi^ößtem  Nachdrucke,  die  Monarchie   hege   ebenso  wie 

Deutschland  den  aufrichtigen  Wunsch,  die  guten  Beziehungen 

unter    den    Großmächten    nicht    gestört    zu     sehen.    Auch 

1  Telegramm  aus  London  d.  d.  30.  Juli,   10  Uhr  p.  m.,  Nr.   121. 
278 


betonte  Graf  MensdorfF,  das  Wiener  Kabinett  werde  durcii 
niemand  gesclioben ',  was  Sir  Edward  aucli  anerkannte. 
Trotzdem  war  seine  Beurteilung  der  Lage  eine  sehr  pessi- 
mistisclie  und  er  meinte,  wir  steuerten  einem  allgemeinen 
Kriege  entgegen.  Die  Versicherungen  des  Grafen  Mensdorff, 
daß  die  Monarchie  gezwungen  sei,  sich  mit  Serbien  aus- 
einanderzusetzen, daß  sie  aber  keinen  Streit  mit  irgend- 
einer Großmacht  habe,  beantwortete  der  Staatssekretär  stets 
damit,  daß  es  dann  unbegreiflich  sei,  warum  man  es  in 
Wien  absolut  abgelehnt  habe,  die  glücklich 'begonnene  Kon- 
versation zwischen  Herrn  Sazonow  und  Graf  Szäpdry  fort- 
zusetzen, die  wie  ein  Hoffnungsstrahl  auf  ganz  Europa 
gewirkt  hätte.  Jetzt  mobilisiere  Rußland,  morgen  vielleicht 
Deutschland  und  Frankreich.  Auch  die  Konversation  zwi- 
schen Berlin  und  Petersburg  scheine  nicht  einen  günstigen 
Verlauf  zu  nehmen. 

Auf  die  Bemerkung  Graf  Mensdorffs,  er  rechne  auf  Sir 
Edward,  um  in  Petersburg  zu  beruhigen,  erwiderte  der 
Staatssekretär,  es  würden  ihm  zwei  entgegengesetzte  Stand- 
punkte angeraten:  sich  unbedingt  auf  die  Seite  Rußlands 
und  Frankreichs  zu  stellen,  wodurch  der  Krieg  verhindert 
werden  könnte  (Graf  Mensdorff  warf  ein,  das  würde  wohl 
höchstens  das  Gegenteil  herbeiführen),  oder  zu  erklären, 
daß  England  unter  keiner  Bedingung  an  einem  Kriege 
Frankreichs  und  Rußlands  teilnehmen  würde.  Letzteres,  ver- 
sicherte er,  würde  den  Krieg  auch  nicht  verhindern. 

Sir  Edward  sei  stets  mit  Berlin  in  Verbindung  und 
bemühe  sich  noch  weiter  im  Interesse  des  Friedens.  Um  in 
Petersburg  etwas  zu  erwirken,  müsse  er  aber  irgend  etwas 
haben;  wenn  er  mit  leeren  Händen  käme  und  nur  verlange, 
Rußland  solle  bei  Seite  stehen,  bis  die  Monarchie  mit  Serbien 
abgerechnet  habe,  werde  er  nichts  durchsetzen  können.        , 

Graf  Mensdorff  verwies  wieder  ausführlich  darauf,  daß 
für  die  Monarchie  die  Austragung  ihrer  Differenzen  mit 
Serbien  eine  Existenzfrage  sei,  für  alle  andern  höchstens 
eine  Prestigefrage.  Sir  Edward  meinte,  er  müsse  mit  Fakten 
rechnen,    und  wenn  das  Wiener  Kabinett   glaubte,   Rußland 

1  Siehe  Seite  201,  202,  271,  276. 

279 


würde  die  Vernichtung  Serbiens  ruhig  hinnehmen,  so  sei 
dies  ein  Irrtum.  England  icümmere  nicht  der  Kampf  der 
Monarchie  mit  Serbien,  nur  dessen  Rüci^wirtcung  auf  das 
Verhähnis  zwischen  den  Großmächten.  Das  Wiener  Kabinett 
aber  habe  die  Konversation  mit  Petersburg  abgebrochen 
und  brächte  auch  den  anderen  Mächten  nichts,  was  sie  in 
Petersburg  verwerten  könnten. 

Auf  diesen  letzten  Punkt  antwortete  Graf  Mensdorff,  es 
sei  jetzt,  da  der  Krieg  begonnen  habe,  für  die  Monarchie 
schwer,  irgend  etwas  zu  sagen.  Was  könnte  denn  das 
Wiener  Kabinett  Sir  Edward  zur  Vermittlung  an  die  Hand 
geben?  Der  Staatssekretär  erwiderte,  er  wolle  lieber  keine 
Anregung  machen,  nachdem  eine  solche  in  der  Monarchie  wie 
eine  unberufene  Einmischung  angesehen  werden  könnte. 
Graf  Mensdorff  versicherte,  alles  von  Sir  Edward  Kommende 
würde  in  Wien  stets  mit  Rücksicht  und  freundschaftlicher 
Sympathie  aufgenommen  werden,  drang  aber  nicht  weiter, 
da  er  eine  Anregung  jetzt  für  vielleicht  nicht  erwünscht 
hielt.  Im  Laufe  der  Konversation  konnte  Graf  Mensdorff 
indessen  konstatieren,  es  erscheine  nach  Ansicht  Sir  Edwards 
irgendeine  Erklärung  seitens  der  Monarchie,  daß  sie  nach 
Besetzung  der  Hauptstadt  und  eines  Teiles  des  Landes  ^s 
Pfand  innehalten  würde,  falls  Serbien  die  Forderungen 
befriedige  (etwa  mit  Garantie  der  Mächte,  daß  Serbien 
seine  Versprechungen  einhalte),  als  einziges  Mittel,  den 
großen  Konflikt  zu  verhüten.  Sir  Edward  verwahrte  sich 
aber  ausdrücklich  dagegen,  irgendeine  Suggestion  zu 
machen.  Sowohl  Sir  Edward  wie  sein  Privatsekretär  be- 
urteilten die  Lage  sehr  ernst.  Auch  letzterer  beklagte  haupt- 
sächlich den  Abbruch  der  direkten  Konversation  mit  Sazo- 
now.  Auch  meinte  Tyrrell,  Deutschland  habe  nicht  sehr 
-glücklich  seine  Besprechung  mit  Petersburg  begonnen. 
Sazonow  sei  entschlossen,  unter  keiner  Bedingung  die  Rolle 
Iswolskys  im  Jahre  1909  zu  spielen.  Kaiser  Nikolaus  solle 
diesmal  auch  sehr  aufgebracht  sein.  Auch  bemerkte  Tyrrell, 
wenn  Frankreich  in  Aktion  trete,  werde  die  Stellung  der 
britischen  Regierung  eine  sehr  schwierige  sein. 

Der  Eindruck  Graf  Mensdorffs  ging  dahin,  daß  man  sich 
in  London  eifrigst  bemühe,  den  Frieden  zu  erhalten,  und 

280 


jedem  Versuch,  der  dahin  ausgehe,  vollste  Unterstützung 
angedeihen  lassen  werde.  Auch  sei  man  bestrebt,  der 
Monarchie  sehr  weitgehende  Satisfaktion  und  Garantien  für 
die  Zukunft  gegenüber' Serbien  zu  verschaffen,  wenn,  wozu 
es  vielleicht  jetzt  zu  spät  sei,  das  Wiener  Kabinett  irgendeine 
Erklärung  bezüglich  der  künftigen  Existenz  Serbiens  als 
unabhängiger  Staat  geben  könnte,  die  für  Rußland  irgend- 
wie akzeptabel  wäre. 

Die   von    dem    k.  u.  k.  Botschafter   im    letzten    Absätze  Weisung  an 
seiner    Meldung    gegebene    Anregung   wurde   vom    Grafen  ß^tschaflir 
Berchtold    insofern    aufgegriffen,    als    Graf  Mensdorff  am  betreffs  der 
1.  August,    7    Uhr   morgens,   eine    am    31.  Juli    aufgesetzte  I;','','^^""^''^ 
Weisung  zugestellt  wurde  ',   der   zufolge   der  k.  u.  k.  Bot-  Desimer- 
schafter   nochmals   aufmerksam    machen  sollte,    das  Wiener  "j^^ju,"!^ 
Kabinett   habe  Rußland  und  allen  Mächten  offiziell  erklärt, 
daß    die    Monarchie    Serbiens    Existenz    als    unabhängiger 
Staat    nicht   anzutasten    gedenke    und   daß    ihre  Aktion    auf 
keinen  territorialen  Gewinn  abziele.  Trotzdem  habe  Rußland 
die    die    Monarchie    bedrohende    Mobilisierung    schon    seit 
mehreren  Tagen  angeordnet. 

Fürst  Lichnowsky  hatte    sich    in    einer  Unterredung  mit  Besorgnisse 
Graf  Mensdorff  am  30.   luli  sehr  beunruhigt  und  aufgeregt  ""„ 

*^  tj  ö  o     Stellungen 

gezeigt.  Der  deutsche  Botschafter  sehe,  meldete  Graf  Mens-  des  Fürsten 
dorff  am  30.  Juli  \  die  letzte  Hoffnung,  den  Weltkrieg  zu  l^o""/^''^' 
verhüten  darin,  daß  die  k.  u.  k.  Regierung  die  Suggestion 
annehme,  auf  dem  Wege  über  Berlin  mit  St.  Petersburg  zu 
verhandeln.  Österreich-Ungarn  sollte  sich  mit  der  bisherigen 
Besetzung  serbischen  Gebietes  als  Pfand  begnügen  und 
seine  Bedingungen  stellen,  über  welche  mit  Rußland  ver- 
handelt werden  könnte.  Am  besten  sei  es,  neue  Bedingungen 
zu  formulieren  und  nicht  auf  das  Ultimatum  zurückzu- 
kommen, was  nur  zu  irritierenden  Rekriminationen  Anlaß 
geben  würde.  Diesmal  hätte  man  sich  in  Berlin  ebenso  wie 
in  Wien  verrechnet,  in  der  Annahme,  Rußland  werde  nicht 
eingreifen.  Es  sei  nur  mehr  ein  letzter  Hoffnungsstrahl, 
Europa  vor  der  Katastrophe  eines  allgemeinen  Krieges  zu 

<  Weisung    nach    London    d.  d.  Wien,    31.  Juli,    Nr.    195.    Expediert 
1.  August,  7  Uhr  a.  m. 

-  Telegramm  aus  London  d.  d.  30.  Juli,  Nr.  122. 

281 


bewahren.  Sir  Edward  habe  ihm  in  freundschaftlichster 
Weise,  aber  ganz  klar  zu  verstehen  gegeben,  daß,  wenn 
Frankreich  in  den  Krieg  gezogen  würde,  die  englische  Flotte 
sogleich  eingreife. 

Der  Pessimismus  des  Fürsten  Lichnowsky  wurde  übrigens 
auch  von  dem  russischen  Botschafter  in  London,  Graf 
Benckendorff,  geteilt,  der  seine  letzte  Hoffnung  auf  das  Ver- 
meiden des  allgemeinen  Krieges  in  die  Wiederaufnahme 
einer  direkten  Konversation  zwischen  Wien  und  St.  Peters- 
burg setzte  '. 
Demarche  Graf  Mcnsdorff  führte  am  1.  August  vormittags  die  ihm 

jesk.u.k.  21     juij  übermittelten  beiden  Aufträge   aus-.    Der  erste 

Botschatiers  '^  " 

<i.  August)  betraf  die  Bekanntgabe  der  neuerlichen  Erklärung  des  Wiener 
Kabinetts  hinsichtlich  des  territorialen  Desinteressements  in 
Serbien';  der  zweite  ging  dahin,  Sir  Edward  über 
die  bezüglich  der  Aussprache  Graf  Berchtolds  mit  Herrn 
Schebeko  russischerseits  obwaltenden  Mißverständnisse  auf- 
zuklären *.  Der  Staatssekretär  bemerkte  hiezu,  er  setze  seine 
Bemühungen  unentwegt  fort  und  verwerte  alles,  was  man 
ihm  an  die  Hand  gebe. 

Das  an  den  k.  u.  k.  Botschafter  in  Berlin,  in  London 
und  in  Petersburg  am  1.  August  morgens,  3  Uhr  45  Minuten, 
expedierte  Telegramm,  das  Graf  Mensdorff  über  die  Erledigung 
des  deutscherseits  in  Wien  vorgebrachten  englischen  Ver- 
mitdungsvorschlages  (vom  29.  Juli)  orientieren  sollte '■,  traf 
in  London  am  1.  August  nachmittags  ein.  Graf  Mensdorff 
beeilte  sich,  dasselbe,  da  Fürst  Lichnowsky  noch  ohne 
Instruktion  war,  mit  dessen  Wissen  sofort  Sir  Edward  Grey 
informativ  und  vertraulich  vorzutragen.  Der  Staatssekretär 
versprach,  ohne  die  erhaltene  Nachricht  als  Mitteilung  der 
k.  u.  k.  Regierung  durch  Graf  Mensdorff  zu  bezeichnen, 
den  Inhalt  als  von  zuverlässiger  Seite  kommend  zu  verwerten. 
Er  wiederholte  auch  jetzt,  daß  er  auch  in  letzter  Stunde 
bereit  sei,  alles  aufzubieten,  um  den  Frieden  zu  erhalten. 

'  Telegramm  aus  London  d.  d.  31.  Juli,  Nr.   123. 
-  Telegramm  aus  London  d.  d.   1.  August,  Nr.   131. 

3  Vgl.  Seite  267  unten. 

4  Vgl.  Seite  211  If,  292  ff. 
■^  Vgl.  Seite  233  ff. 

282 


Die  inzwischen  in  Wien  bekannt  gewordene  Geste  Eng-  Auftrag  »n 
lands,  alctiv  in  den  Weitkrieg  einzugreifen,  veranlaßte  Graf  Bo"s^hafier 
Berclitold,  dem  k.  u.  k.  Botscliafter  in  einer  am  1.  August,  England  die 
11  Ulir  nactits,  übermittelten  Weisung  anheimzustellen,  in  Neu^r'amär 
seiner  nächsten  Konversation  mit  Sir  Edward  Grey  oder  vorzuhalten 
anderen  englischen  Politikern  die  folgenden  Argumente  zu  "'  *"^"^" 
verwerten '. 

Durch  ein  Jahrhundert  sei  die  englische  Politik  von  dem 
Gegensatze  zu  Rußland  beherrscht  gewesen.  Erst  nach  dem 
Burenkrieg  und  den  ostasiatischen  Niederlagen  Rußlands 
habe  England  den  Kurs  geändert  und  sich  die  diplomatische 
Eindämmung  des  deutschen  Einflusses  zum  Ziel  gesetzt. 
Seither  habe  sich  Rußland  jedoch  nicht  nur  ganz  erholt, 
sondern  es  nehme  gegenwärtig  militärisch  wie  wirtschaftlich 
eine  fast  präponderierende  Stellung  ein.  Entspreche  es  unter 
solchen  Umständen  den  englischen  Interessen,  sich  aktiv  an 
einer  Aktion  zu  beteiligen,  deren  eventueller  Erfolg  nur 
darin  bestehen  könne,  die  Macht  Rußlands  enorm  zu  steigern 
und  die  Aufrollung  der  Meerengen-  und  der  kleinasiatischen 
Fragen  näherzurücken?  Wäre  es  vom  Standpunkt  Eng- 
lands nicht  gefährlich,  eine  Entwicklung  zu  fördern,  die  in 
letzter  Konsequenz  zu  einer  Bedrohung  der  englischen 
Stellung  in  Indien  führen  müsse? 

Durch  eine  abwartende  und  neutrale  Haltung  im  Falle 
des  europäischen  Konflikts  würde  England  vollkommen 
freie  Hand  behalten,  zu  dessen  Ergebnis  seinen  Interessen 
entsprechend  Stellung  zu  nehmen,  ohne  durch  frühere 
Parteinahme  gebunden  zu  sein.  Hiedurch  würde  Eng- 
land sich  auch  die  Möglichkeit  offen  halten,  bei  den 
späteren  Friedensverhandlungen  im  Interesse  des  euro- 
päischen Gleichgewichtes  die  vermittelnde  Rolle  fortzusetzen, 
in  der  es  sich  während  der  Balkankrise  so  große  Ver- 
dienste erworben  habe. 

Bis  zum  31.  Juli  bestanden  laut  Meldung    des  k.  u.  k.  Militärische 
Botschafters  die    militärischen    Maßnahmen    in  England  in  J^"""^'"""-" 

^  in    hnpiand 

der  Kriegsausrüstung  der  Befestigungen,  im   Vorkaufsrecht 
auf  die  Walliser  Kohlenreservoire,  in  der  Annahme  eines 

'  Weisung  nach  London  d.  d.  Wien,  1.  August,  11  Ulir  p.  m.,  Nr.  199. 

283 


in   England 


Anregungen 
des  russi- 
schen Bot- 
schafters 
in  seiner 
Besprechung 
mit  Graf 
Berchiold 
(28.  Juli) 


Besprechung 

des  ic.  u.  k. 

Botschafters 

mit  Herrn 

Sazonow 

(29.  Juli). 

Graf  Szäpäry 

ohne 

Weisung 

hinsichtlich 

der  von 

Herrn 

Sazonow 

angeregten 

Mediation 


Bereitschaftszustandes  regulärer  und  auch  eines  Teiles  der 
Territorialarmee,   ohne  eine  ausgesprochene  Mobilisierung'. 

Verhandlungen  mit  Rußland 

Im  Verlaufe  seines  mit  dem  Grafen  Berchtold  am 
28.  Juli  geführten  Gespräches-  hatte  Herr  Schebeko 
bemerkt,  es  wäre  nicht  unmöglich,  daß  eine  zwischen  den 
Kabinetten  von  Wien  und  Petersburg  eingeleitete  Konver- 
sation über  die  serbische  Frage  auch  zu  einer  Besprechung 
jener  Angelegenheiten  führen  könne,  welche  die  Beziehungen 
zwischen  Rußland  und  Österreich-Ungarn  direkt  beträfen, 
was  diesen  Beziehungen  zum  Vorteil  gereichen  könnte. 

In  seiner  Erwiderung  an  den  russischen  Botschafter 
hatte  Graf  Berchtold  zwar  eine  weitere  Konversation  über 
den  Streit  der  Monarchie  mit  Serbien  als  untunlich 
bezeichnet,  die  weitere  Anregung  Herrn  Schebekos  bezüg- 
lich einer  Besprechung  der  beide  Kabinette  direkt  berühren- 
den Fragen  jedoch  nicht  abgelehnt,  da  er  es  für  nützlich 
hielt,  die  Frage  noch  offen  zu  lassen  und  auf  diese  Weise 
dem  Wiener  Kabinett  die  Möglichkeit  zu  wahren,  die  Kon- 
versation hierüber  fortzusetzen,  wenn  sich  hiezu  eine 
Gelegenheit  ergäbe. 

Die  ihm  mit  dem  Erlasse  d.  d.  25.  Juli  am  27.  d.  M. 
abends  zugekommenen  Aufträge  führte  Graf  Szäpäry  in 
einer  Besprechung  mit  Herrn  Sazonow  am  29.  Juli  durchs 

Da  Graf  Szäpäry  schon  am  27.  Juli  aus  eigenen  Stücken 
die  meisten  in  der  zitierten  Weisung  enthaltenen  Konsi- 
derationen vorgebracht  hatte,  wiederholte  er  dieselben 
präziser,  mit  dem  Hinweis,  daß  er  nunmehr  im  selben 
Sinne  und  auf  Grund  von  Instruktionen  sprechen  könne. 
Der  Minister  schien  entäuscht,  da  er  erwartet  hatte,  Graf 
Szäpäry  werde  zu  der  von  ihm  am  27.  Juli  angeregten 
Mediation  Stellung  nehmend  Er  fragte,  ob  Graf  Szäpäry 
auf  seine  diesbezügliche    Meldung    Antwort   erhalten    hätte, 

1  Telegramm  aus  London  d.  d.  31.  Juli,  Nr.   124. 

^  Tagesbericht  d.  d.  29.  Juli,  Nr.  3631.  —  Vgl.  Seite  211. 

■>  Telegramm  aus  St.  Petersburg  d.  d.  29.  Juli,  10  Uhr  a.  m.,  Nr.  173. 

*  Vgl.  Seite  206  ff. 


284 


was  dieser  verneinte.  Sazonow  meinte,  dies  bedeute  nicht 
allzu  viel  Gutes  und  konstatierte,  daß  die  Situation  jeden- 
falls ernst  sei.  Die  serbische  Antwort  sei  so  konziliant 
gewesen,  daß  er  erstaunt  sei,  daß  man  dieselbe  als 
ungenügend  angesehen  habe.  Graf  Szapäry  kritisierte  die 
Note  des  Herrn  Pasic  und  hob  hervor,  daß  besonders  der 
am  meisten  im  Vordergrund  stehende  Punkt  der  Mit- 
wirkung bei  der  Untersuchung  über  das  Attentat  unglaub- 
licherweise glatt  abgelehnt  worden  sei.  Wenn  sich  die 
serbische  Regierung  wenigstens  auch  hier  auf  eine  Bitte 
um  Interpretierung  beschränkt  hätte!  Herr  Sazonow  erklärte 
hierauf,  die  Monarchie  sei  also  nur  wegen  des  einen  Punktes 
mit  Serbien  uneinig.  Graf  Szäpdry  korrigierte,  die  serbische 
Regierung  sei  auch  bei  vielen  anderen  Punkten  nur  der 
Form  nach  entgegengekommen,  daß  aber  die  Ablehnung 
dieses  Punktes  wohl  den  schlechtesten  Eindruck  hervor- 
rufen müsse.  Sodann  bat  Herr  Sazonow  nochmals  dringend 
um  die  Übermitdung  des  Dossiers,  welches  den  Mächten 
versprochen  worden  sei  und  noch  nicht  vorliege.  Man  wolle 
dasselbe  doch  sehen,  bevor  der  Krieg  mit  Serbien  begonnen 
habe.  Wenn  der  Kriegsausbruch  einmal  erfolgt  sei,  sei  es 
zu  spät,  Dossiers  zu  prüfen.  Dies  alles  besprach  der 
Minister  trotz  sichtlicher  Enttäuschung  in  ziemlich  ruhiger 
und  freundschaftlicher  "\yeise,  so  daß  der  k.  u.  k.  Bot- 
schafter den  Eindruck  hatte,  Herr  Sazonow  setze  noch 
Hoffnung  darauf,  im  Dossier  etwas  zu  finden,  was  ihm  das 
Abrücken  von  Serbien  ermöglichen  könnte. 

Die  Erklärung  des  territorialen  Desinteressements,  dessen 
Ankündigung  Herrn  Sazonow  wohl  ohnehin  erwartet  hatte, 
machte  ihm  nicht  viel  Eindruck.  Daß  das  Wiener  Kabinett 
die  Souveränität  Serbiens  zu  schonen  gedenke,  wollte  er 
unter  Hinweis  auf  die  Natur  der  österreichisch-ungarischen 
Forderungen  nicht  recht  gelten  lassen.  Daß  die  Monarchie 
nicht  eine  gegen  Rußland  gerichtete  Balkanpolitik  machen 
wolle,  führte  zu  einer  längeren  akademischen  und  historischen 
Erörterung  über  die  Reformära,  Sandschakbahn  usw.  Die 
ganze  Unterredung  spielte  sich  in  vollkommen  freundschaft- 
licher Form  ab.  Graf  Szäpäry  verabschiedete  sich  sodann,  da 
der  Minister  zum  Zaren  nach  Peterhof  beschieden  war. 

285 


Graf  Szäpäry 
bitter  um 
Instruk- 
tionen 

zwecks  Rück- 
.lußerung 
auf  die 
Mediations- 
anregung 
Herrn 
Sazonows 
(29.  Juli) 


Weisung 
an  Graf 
Szäpäry 


Nach  Graf  Szäpdrys  Ansicht  klammere  sich  der  Minister 
bei  der  vorhandenen  Unlust,  mit  der  Monarchie  in  Konflikt 
zu  geraten,  an  Strohhalme,  in  der  Hoffnung,  doch  noch 
der  gegenwärtigen  Situation  zu  entkommen.  Der  k.  u.  k. 
Botschafter  müsse  speziell  konstatieren,  daß  Herr  Sazonow 
im  Gegensatze  zu  früheren  Spannungsperioden  diesmal  nie 
von  öffentlicher  Meinung,  Slawentum,  Orthodoxie  gesprochen 
habe  und  stets  politisch  sachlich  diskutiere,  indem  er 
besonders  das  Interesse  Rußlands  an  dem  Unterbleiben 
einer  Infeodierung  Serbiens  hervorhebe.  Die  seither  erfolgte 
Kriegserklärung  an  Serbien  werde  nunmehr  bald  die  wahren 
Absichten  Rußlands  in  Erscheinung  treten  lassen. 

Die  öffentliche  Meinung  sei  bis  jetzt  merkwürdig  ruhig 
gewesen,  so  daß  eine  Berufung  auf  dieselbe  einstweilen 
schwer  gewesen  wäre;  die  Kriegserklärung  Österreich- 
Ungarns  an  Serbien  dürfte  allerdings  eine  starke  Reper- 
kussion  hervorbringen. 

In  diplomatischen  Kreisen  sei  die  Stimmung  im  allge- 
meinen sehr  pessimistisch.  Der  die  englischen  und  die 
Petersburger  Verhältnisse  sehr  genau  kennende  japanische 
Botschafter  halte  ein  Eingreifen  Rußlands  für  unver- 
meidlich. 

Um  eine  Kränkung  Herrn  Sazonows,  der  irgendeine 
Rückäußerung  auf  seine  Mediationsanregung  erwarte,  zu 
vermeiden  und  um  dem  Anscheine  zu  entgehen,  als  ob  die 
österreichisch-ungarische  Kriegserklärung  sozusagen  die 
Antwort  auf  seinen  Vorschlag  gewesen  sei,  richtete  Graf 
Szäpäry  am  29.  Juli  vormittags  die  unvorgreifliche  Anfrage 
an  Graf  Berchtold  ',  ob  er  dem  russischen  Minister  sagen 
könne,  die  Erklärung  des  Kriegszustandes  sei  schon  „be- 
schlossen gewesen,  als  Graf  Szäpdrys  Telegramm  in  Wien 
eingetroffen  sei,  beziehungsweise  als  Herr  Schebeko  die 
analoge  Anregung  machte.  Sollte  Herrn  Schebeko  irgend- 
welche Antwort  auf  die  russischen  Vorschläge  zuteiT  ge- 
worden   sein,    so    erbitte  Graf  Szäpäry  hierüber  Mitteilung. 

Dieses  am  29.  Juli  um  halb  vier  Uhr  nachmittags  in 
Wien    einlangende    Telegramm    des    k.    u.    k.    Botschafters 

I  Telegramm  aus  St.  Petersburg  d.  d.  29.  Juli,  11  Uhr  27  Minuten 
a.  m.,  Nr.   176. 


286 


beantwortete  Graf  Berchtold  mit  einer  am  29.  Juli,  1 1  Uhr  <3o.  juii): 
45  Minuten  nachmittags,  expedierten  Depesche  '.  ceLndc"  ^' 

Der  k.  u.  k.  Botschafter  könne  jedenfalls  der  Wahrheit  ''"""  ^''="- 

tuell  auf  eine 

entsprechend  Herrn  Sazonow  gegenüber   darauf   hinweisen,  umerbind- 
daß,  als  die  Meldung  Graf  Szäpärys    über   die  Mediations-  ''""''^  ""■ 

'  "  ^       '  gemein 

anregung    Herrn    Sazonows    eintraf-,    „die    Erklärung    des  gei,aitene 
Kriegszustandes     bereits     endgültig     beschlossen     gewesen  E'^önerunR 
sei"  K 

Eine  zweite  hinsichtlich  der  Vermittlungsanregung  Herrn 
Sazonows  an  Graf  Szäpdry  ergangene  Weisung  führte 
aus  *: 

Aus  dem  Telegramm  des  Grafen  Szäpäry  vom  29.  Juli 
ersehe  Graf  Berchtold,  daß  Herr  Sazonow  die  Antwort 
Graf  Berchtolds  betreffs  der  Proposition  des  russischen 
Ministers  zur  Fortführung  der  mit  dem  Grafen  Szäpäry 
eingeleiteten  Konversation  möglicherweise  mißverstanden 
habe. 

Graf  Berchtold  sei  selbstverständlich  nach  wie  vor 
bereit,  die  einzelnen  Punkte  der  durch  die  Ereignisse 
übrigens  bereits  überholten,  an  Serbien  gerichteten  Note 
Österreich-Ungarns  durch  den  Grafen  Szäpäry  Herrn 
Sazonow  zu  erläutern.  Auch  würde  Graf  Berchtold  beson- 
deren Wert  darauf  legen,  bei  dieser  Gelegenheit  der  ihm 
durch  Herrn  Schebeko  verdolmetschten  Anregung  des 
russischen  Ministers  des  Äußern  entsprechend,  auch  die 
die  Beziehungen  der  Monarchie  zu  Rußland  direkt  be- 
rührenden Fragen  einer  freundschaftlichen  und  vertrauens- 
vollen Ausspräche  zu  unterziehen,  wovon  eine  Behebung 
der  in  diesem  Belange  bedauerlicherweise  bestehenden 
Unklarheiten  und  die  Sicherstellung  der  so  wünschenswerten 
friedlichen  Entwicklung  der  nachbarlichen  Verhältnisse  zu 
erhoffen  wäre. 

'  Weisung  nach  St.  Petersburg  d.  d.  29.  Juli,  1 1  Uhr  45  Minuten 
p.  m.,  Nr.   194. 

2  27.  Juli,  4  Uhr  30  Minuten  p.  m.  (Telegramm  aus  St.  Petersburg 
d.  d.  27.  Juli,  Nr.   165).  (Vgl.  Seite  206.) 

'■'•  Die  Worte  „beschlossen  gewesen"  stehen  im  Konzepte    auf  Rasur. 

*  Weisung  nach  St.  Petersburg  d.  d.  30.  Juli,  1  Uhr  20  Minuten 
p.  m.,  Nr.   198. 

287 


Zweite  Be- 
sprechung 
des  k.  u.  k. 
Botschaflers 
mit  Herrn 
Sazonow 
(29.  Juli) 


Grat'  Szäpdry  wolle  Herrn  Sazonow  von  sich  aus 
fragen,  welche  Belange  der  Minister  dieser  Konversation 
zugrunde  legen  würde,  eventuell  auch  auf  eine  unverbind- 
liche, allgemein  gehaltene  Erörterung,  die  natürlich  jeden 
Gegensatz  zu  russischen  Interessen  a  limine  ausschalten 
müßte,  eingehen  und  die  Bereitwilligkeit  aussprechen,  dem 
Grafen  Berchtold  hierüber  Meldung  zu  erstatten. 

Da  der  deutsche  Botschafter  dem  Grafen  Szdpäry  mit- 
geteilt hatte,  Herr  Sazonow  zeige  sich  über  das  Refus  des 
Grafen  Berchtold,  den  Gedankenaustausch  mit  Rußland 
fortzusetzen  und  über  die  angeblich  weit  über  das  not- 
wendige Maß  hinausgehende  und  daher  gegen  Rußland 
gerichtete  Mobilisierung  Österreich-Ungarns  sehr  aufgeregt, 
suchte  Graf  Szdpäry  Herrn  Sazonow  am  29.  Juli  neuerlich 
auf,  um  einige  vorhandene  Mißverständnisse  aufzuklären 
und  hiebei  näheren  Einblick  in  die  russischen  Pläne  zu 
gewinnen*. 

Herr  Sazonow  begann  damit  zu  konstatieren,  daß  Öster- 
reich-Ungarn kategorisch  einen  weiteren  Gedankenaustausch 
ablehne.  Graf  Szdpdry  stellte  richtig,  daß  Graf  Berchtold 
es  zwar  abgelehnt  hätte,  nach  allem  was  vorgefallen,  über 
die  Notentexte  und  den  österreichisch-ungarisch-serbischen 
Konflikt  überhaupt  zu  diskutieren,  daß  Graf  Szdpdry  aber 
feststellen  müsse,  er  sei  in  der  Lage  gewesen,  eine  viel 
breitere  Basis  des  Gedankenaustausches  dadurch  anzuregen, 
daß  er  erklärte,  das  Wiener  Kabinett  wünschte  keine 
russischen  Interessen  zu  verletzen,  hätte  nicht  die  Absicht, 
serbisches  Territorium  an  sich  zu  bringen  und  gedächte 
auch  nicht,  die  Souveränität  Serbiens  anzutasten.  Graf 
Szdpdry  sei  überzeugt,  daß  Graf  Berchtold  über  öster- 
reisch-ungarische  und  russische  Interessen  immer  bereit 
sein  würde,  mit  Petersburg  Fühlung  zu  nehmen. 

Herr  Sazonow  meinte,  in  territorialer  Hinsicht  habe  er 
sich  überzeugen  lassen,  aber  was  die  Souveränität  anbelange, 
müsse  er  den  Standpunkt  festhalten,  die  Aufzwingung  der 
österreichisch-ungarischen  Bedingungen  sei  ein  Vasallentum. 


I  Telegramm  aus  St.  Petersburg  d.  d.  29.  Juli,   1 1  Uhr  p.  m.,  Nr.  180. 
EingetrofFen  am  30.  Juli,  1 1   Uhr  a.  m. 


288 


Dieses  aber  verstoße  gegen  das  Gleichgewicht  am  Balkan, 
und  letzteres  sei  das  in  Frage  kommende  russische  Interesse. 
Darauf  kam  Herr  Sazonow  wieder  auf  die  Diskussion  über 
die  Note,  auf  die  Aktion  Sir  E.  Greys  zurück  und  wollte 
Graf  Szapary  neuerlich  nahelegen,  daß  man  das  legitime 
Interesse  der  Monarchie  zwar  anerkenne  und  voll  befriedigen 
wolle,  daß  dies  aber  in  eine  für  Serbien  annehmbare  Form 
gekleidet  werden  sollte.  Denn  man  streite  sich  da  wirklich 
nur  um  Worte  herum.  Graf  Szdpäry  meinte,  das  in  Frage 
stehende  Interesse  sei  kein  russisches,  sondern  ein  serbisches 
und  versuchte,  als  Herr  Sazonow  geltend  machte,  russische 
Interessen  seien  in  diesem  Falle  eben  serbische,  dem 
circulus  vitiosus  durch  den  Übergang  auf  ein  anderes  Thema 
^in  Ende  zu  machen. 

Der  k.  u.  k.  Botschafter  erwähnte  weiter,  er  habe  gehört, 
man  sei  in  Rußland  beunruhigt,  daß  die  Monarchie  für  die 
Aktion  gegen  Serbien  acht  Korps  mobilisiert  habe.  Herr 
Sazonow  bestätigte,  daß  nicht  er,  der  hievon  gar  nichts  gewußt 
habe,  sondern  Kaiser  Nikolaus,  auf  eine  Information  des 
Generalstabschefs,  diese  Bedenken  geäußert  habe.  Graf 
Szäpäry  suchte  dem  Minister  darzulegen,  daß  auch  ein 
militärisches  Kind  sich  leicht  überzeugen  könne,  daß  die 
südlichen  Korps  der  Monarchie  keine  Bedrohung  Rußlands 
bedeuten  könnten.  Auch  machte  Graf  Szäpäry  Herrn 
Sazonow  auf  die  Erfahrung  Österreich-Ungarns  im  bosni- 
schen Feldzuge  aufmerksam.  Bei  diesem  Anlasse  erwähnte 
er  auch  die  ungewisse  Haltung  Montenegros,  bezüglich 
welcher  Herr  Sazonow  einwarf,  Herr  von  Giers  habe  tele- 
graphiert, der  König  habe  seiner  Abneigung  gegen  Serbien 
und  seiner  austrophilen  Gesinnung  laut  Ausdruck  gegeben. 
Graf  Szäpäry  erwiderte,  daß  die  Monarchie  bei  allem  Ver- 
trauen in  König  Nikolaus  hierin  noch  keine  militärische 
Garantie  erblicken  könnte,  und  bedeutete  dem  Minister, 
daß  es  gut  wäre,  wenn  sein  kaiserlicher  Herr  über  die 
wahre  Situation  informiert  würde,  um  so  mehr,  als  es 
dringend  geboten  sei,  wenn  man  den  Frieden  wolle,  dem 
militärischen  Lizitieren,  das  sich  jetzt  auf  Grund  falscher 
Nachrichten  einzustellen  drohe,  ein  rasches  Ende  zu  bereiten. 
Herr  Sazonow  meinte  (wie  der  k.  u.  k.  Botschafter  in  seiner 

»9  289 


Meldung  bemerkte:  sehr  charakteristischerweise),  er  könne 
dies  dem  Genralstabschef  mitteilen,  denn  dieser  sehe 
den  Zaren  alle  Tage.  Der  Minister  hingegen  gehe  in  einer 
Zeit  wie  in  der  gegenwärtigen  zum  normalen  Dienstag- 
empfang und  erfahre  erst  durch  den  Zaren,  was  die  Militärs 
demselben  zutrügen. 

Herr  Sazonow  teilte  ferner  mit,  es  werde  heute  ein 
Ukas  unterzeichnet,  der  eine  Mobilisierung  in  ziemlich 
weitem  Umfange  anordne.  Er  könne  dem  Grafen  Szdpäry 
aber  auf  das  Alleroffiziellste  versichern,  daß  diese  Truppen 
nicht  dazu  bestimmt  seien,  über  die  Monarchie  herzufallen; 
sie  würden  nur  Gewehr  bei  Fuß  bereit  stehen  für  den  Fall, 
als  Rußlands  Balkaninteressen  gefährdet  würden.  Eine  note 
ex'plicative  werde  dies  feststellen,  denn  es  handle  sich  nur 
um  eine  Vorsichtsmaßregel,  die  Kaiser  Nikolaus  gerecht- 
fertigt gefunden  habe,  da  die  Monarchie,  die  ohnedies  den 
Vorteil  rascherer  Mobilisierung  habe,  nunmehr  auch  den 
so  großen  Vorsprung  hätte.  Graf  Szdpäry  machte  Herrn 
Sazonow  in  ernsten  Worten  auf  den  Eindruck  aufmerksam, 
den  eine  solche  Maßnahme  in  der  Monarchie  erwecken 
werde.  Er  könne  nur  bezweifeln,  daß  die  note  explicative 
diesen  Eindruck  zu  mildern  geeignet  sein  werde,  worauf  der 
Minister  sich  nochmals  in  Versicherungen  über  die  Harm- 
losigkeit dieser  Verfügung  erging. 

Während  der  Minister  mit  Graf  Szdpäry  solcherart 
in  vertraulichem  Gedankenaustausch  stand,  erhielt  Herr 
Sazonow  durch  das  Telephon  die  Nachricht,  Österreich- 
Ungarn  hätte  Belgrad  beschossen.  Herr  Sazonow  war  auf 
Grund  dieser  Mitteilung  wie  ausgewechselt  und  meinte, 
indem  er  seine  bisherigen  Argumente  wieder  aufnahm, 
er  sehe  jetzt,  wie  Kaiser  Nikolaus  recht  gehabt  habe.  „Sie 
wollen  nur  Zeit  mit  Verhandlungen  gewinnen,  aber  Sie 
gehen  vorwärts  und  beschießen  eine  ungeschützte  Stadt!" 
„Was  wollen  Sie  eigentlich  noch  erobern,  wenn  Sie  die 
Hauptstadt  im  Besitz  haben?"  Das  Argument,  daß  ein 
solches  Vorgehen  gegen  Serbien  das  Gegenteil  einer 
Bewegung  gegen  Rußland  bilde,  störte  den  Minister  wenig, 
„Was  sollen  wir  noch  konversieren,  wenn  Sie  so  vor- 
gehen",    sagte     er.     Als    Graf    Szdpäry     Herrn     Sazonow 

290 


Taktik  Herrn 
Sazonows 


verließ,  befand  sich  dieser  in  äußerst  aufgeregter  Stimmung, 
und  auch  Graf  Pourtales,  der  den  russischen  Minister 
nachher  neuerlich  aufsuchte,  mußte  wenigstens  für  diesen 
Tag  (29.  Juli)  auf  eine  ruhige  Konversation  verzichten. 

Die  sich  häufenden  Indizien  diplomatischer  und  mili-  Ansichten 
tärischer  Natur  ermöglichten  es,  wie  Graf  Szäpdry  in  Fort-  g^s^hafiers 
Setzung  seines  Berichtes  meldete  ',  nunmehr  eine  Vermutung  über  die 
über  die  von  Herrn  Sazonow  beabsichtigte  Taktik  auszu- 
sprechen. Der  Minister  scheue  den  Krieg  ebenso  wie  sein  (m.  juin 
kaiserlicher  Herr  und  suche,  ohne  aus  dem  serbischen  Feld- 
zug Österreich-Ungarns  die  sofortige  Konsequenz  zu  ziehen, 
der  Monarchie  die  Früchte  desselben,  wenn  möglich  ohne 
Krieg,  streitig  zu  machen,  sollte  es  aber  zum  Kriege  kommen, 
in  denselben  besser  als  jetzt  gerüstet  einzutreten.  Durch 
eine  von  friedlichen  Erklärungen  begleitete,  scheinbar  nur 
gegen  Österreich-Ungarn  gerichtete,  zugleich  Rumänien  eine 
Rückendeckung  bietende  Mobilisierung  solle  Deutschland 
tunlichst  ausgeschaltet,  auf  Österreich-Ungarn  in  der  serbi- 
schen Kampagne  möglichst  ein  Druck  ausgeübt  und,  sobald 
die  Operationen  zu  einem  Erfolge  geführt  hätten,  die  Rettung 
Serbiens  durch  Rußland  vorgenommen  werden.  Sollten  die 
übrigen  Balkanstaaten  sich  rühren  und  aus  dem  Vorgehen 
der  Monarchie  Profit  ziehen  wollen,  so  würde  Rumänien 
zum  Schutze  des  Bukarester  Friedens  vorgeschoben.  Wollte 
Österreich-Ungarn  hiegegen  Stellung  nehmen,  könnte  es 
zum  europäischen  Kriege  mit  Rumänien  auf  russischer  Seite 
kommen.  Wollte  aber  Österreich-Ungarn  und  Deutschland 
aus  der  russischen  Mobilisierung  schon  jetzt  die  Konse- 
quenzen ableiten  und  einen  militärischen  Vorsprung  Rußlands 
nicht  aufkommen  lassen,  stünde  das  friedliche  Rußland  als 
angegriffen  da  und  hätte  mehr  Aussicht,  auf  diese  Weise 
Frankreich  und  vielleicht  sogar  England  mitzureißen,  und 
die  günstige  moralische  und  militärische  Situation  der 
Monarchie  würde  geschädigt.  Rußland  umgehe  die  Klemme, 
die  sich  aus  der  Berechtigung  des  österreichisch-ungarischen 
Vorgehens  gegen  Serbien  ergebe,  und  wäre  doch  in  der 
Lage  —  vielleicht    sogar    ohne  Krieg    zu    führen    —    seine 

1  Telegramm  aus  St.  Petersburg  d.  d.  30.  Juli,   1   Uhr  a.  m.,  Nr.   181. 

291 


ßalkaninteressen     zu     wahren.     Unter    Anführung    solcher 

Konsiderationcn    dürfte  Kaiser  Nikolaus   für  die  ihm  gewiß 

wenig  sympathische  Mobilisierung   gewonnen   worden   sein. 

Daß  die  militärischen  Kreise   eifrig   am  Werk  sein  dürften, 

diesen    komplizierten    politischen    Kalkül,    wenn  nur  irgend 

möglich,  auf  eine  einfachere  Form  zu  reduzieren  und  durch 

Stimmungmachen  und  Einwirkung  auf  den  Kaiser  im  Wege 

falscher  Nachrichten,  sobald  eine  gewisse  Kriegsbereitschaft 

erreicht  sei,  die  Ereignisse  nach  Tunlichkeit  zu  überstürzen, 

sei  allerdings  keineswegs  ausgeschlossen. 

Besprechung        Dic  Mitteilungen,  die  Graf  Szäpäry  auf  die  eigenen  Wahr- 

Bcrchi'Jid"    nshmungen    und    auf    seine    Verständigungen    durch    Graf 

mit  dem       Pourtalcs  basicrt  hatte,  bewirkten,    daß  Graf  Berchtöld  am 

russischen     3^^  j^jj  i^^^^^  Schebcko  ZU  slch  bitten  ließ ',  um  ihm  aus- 

Botscnarter  ^  ' 

(30.  Juli),  einanderzusetzen,    daß    allem   Anscheine    nach    ein   Mißver- 

uZl  ^"t  ständnis  über  die  Konversation  am  28.  Juli  vorliegen  müsse, 

lungnahme  indem  Graf  Berchtöld  gemeldet  worden  sei,  Herr  Sazonow 

schwtrde-  ^^'  ^°"  ^^^  glatten  Ablehnung  seiner  Proposition  bezüglich 

führung  dcr    Aussprachc   mit    Graf   Szäpäry     peinlich  berührt,   wie 

Herrn 
Sazonows 


nicht  minder  davon,  daß  kein  Gedankenaustausch  zwischen 
i.betreffsder  Graf  Berchtold  und  Herrn  Schebeko  stattgefunden  habe. 
Ablehnung  ^^^  ^^^  ^^^^^^^  p^^^^  anbclangc,   habe  Graf  Berchtold 

semer  Propo-  ^    ' 

aiiion  hin-     dcm  Grafen  Szäpäry  bereits  telegraphisch  freigestellt,   auch 
sichtlich       weiterhin    etwa    seitens    Herrn    Sazonows    gewünschte    Er- 

einer  Aus-  o 

spräche  mit   läutcrungcn  der  Note  —  welche  übrigens  durch  den  Krlegs- 
dem  k.  u.  k.  ays^^pm^i^  übcrholt    erscheine  —  zu  geben.    Es    könne    sich 

Botschafter  0 

in  Peters-      dics  allerdings  nur  im  Rahmen  nachträglicher  Aufklärungen 
^"^' ,         bewegen,  da  es  niemals  in  der  Absicht  des  Wienes  Kabinetts 

Z.  es  hatte  ö       ' 

kein  Gedan-  gelegen  habe,  von  den  Punkten  der  Note   etwas  abhandeln 
kenaustausch        j^  ^     j^  j^^       ^^    f  Bcrchtold  dcn  Grafen  Szäpäry 

zwischen  ,.  t^       J 

Graf  ermächtigt,    die  speziellen   Beziehungen  Österreich-Ungarns 

Berciitoid      ^^    Rußland    mit  Herrn    Sazonow    freundschaftlich    zu    be- 

und  Herrn 

Schebeko      sprechen.  (Wie  Graf  Berchtold  bei  dieser  Gelegenheit  habe 
stattgefunden  fggt^tgUgr,  ^önncn,    stammte  die  Anregung  hiezu  nicht   von 
Herrn    Sazonow,   sondern   war  eine  gesprächsweise   fallen- 
gelassene Idee  Herrn  Schebekos-.) 

1  Weisung  nach  St.  Petersburg  d.  d.  30.  Juli,  Nr.  202.  Expediert  31.  Juli, 
1  Uhr  40  Minuten  a.  m. 

2  Vgl.  Seite  287. 

292 


Daß  Herr  Sazonow  sich  darüber  beklagen  konnte,  es 
hätte  kein  Gedankenaustausch  zwischen  Herrn  Schebeko 
und  Graf  Berchtold  stattgefunden ',  müsse  auf  einem 
Irrtum  beruhen,  da  sie  beide  —  Schebeko  und  Graf  Berch- 
told —  am  28.  Juli  nahezu  dreiviertel  Stunden  lang  die 
aktuellen  Fragen  durchgesprochen  hätten-,  was  Herr  Schebeko 
dem  Grafen  Berchtold  mit  dem  Bemerken  bestätigte,  er 
habe  Herrn  Sazonow  in  ausführlicher  Weise  über  diese 
Unterredung  referiert. 

Herr  Schebeko  habe  dann  ausgeführt,  warum  man  in 
Petersburg  das  Vorgehen  der  Monarchie  gegen  Serbien  mit 
solcher  Besorgnis  betrachte.  Österreich-Ungarn  sei  eine 
Großmacht,  die  gegen  den  kleinen  serbischen  Staat  vor- 
gehe, ohne  daß  man  in  Petersburg  etwas  darüber  wisse, 
was  das  Wiener  Kabinett  mit  demselben  vorhätte,  ob  die 
Monarchie  dessen  Souveränität  tangieren,  ihn  ganz  nieder- 
werfen oder  gar  zertreten  wollte.  Durch  historische  und 
andere  Bande  mit  Rußland  verbunden,  könne  letzterem 
das  weitere  Schicksal  Serbiens  nicht  gleichgültig  sein.  Man 
habe  es  sich  in  Petersburg  angelegen  sein  lassen,  mit  allem 
Nachdrucke  auf  Belgrad  einzuwirken,  daß  es  alle  For- 
derungen der  Monarchie  erfülle,  allerdings  zu  einer  Zeit, 
wo  man  nicht  wissen  konnte,  was  für  Forderungen  die 
Monarchie  nachmals  gestellt  habe.  Aber  selbst  bezüglich 
dieser  Forderungen  würde  man  alles  einsetzen,  um  wenig- 
stens das  Mögliche  durchzubringen. 

Graf  Berchtold  erinnerte  den  Botschafter  daran,  daß  das 
Wiener  Kabinett  wiederholt  betont  hätte,  die  Monarchie 
wolle  keine  Eroberungspolitik  in  Serbien  treiben,  auch 
dessen  Souveränität  nicht  antasten,  sondern  bloß  einen  Zu- 
stand herstellen,  der  ihr  Sicherheit  biete  gegen  Beunruhi- 
gung seitens  Serbiens.  Hieran  knüpfte  Graf  Berchtold  eine 
längere  Erörterung  des  unleidlichen  Verhältnisses  der 
Monarchie  zu  Serbien,  auch  gab  er  Herrn  Schebeko  deut- 
lich zu  verstehen,  in  welch'  hohem  Maße  die  russische 
Diplomatie    an    diesen    Zuständen    schuld    sei,    was    Herr 

'  Vgl.  Seite  286. 
»  Vgl.  Seite  211   ff. 

293 


Der  k.  u.  k. 
Botschafter 
glaubt  ohne 
neuerlichen 
ausdrück- 
lichen Auf- 
trag die  am 
30.  Juli  auf- 
getragene 
Demarche 
<  eventuelles 
Eingehen  auf 
eine  unver- 
bindliche 
allgemein 
gehaltene 
Erörterung) 
unterlassen 
zu  sollen 


Schebeko  durchaus  nicht  ableugnete,  nur  nahm  er  seinen 
Minister  in  Schutz  und  stellte  ihn  als  Antagonisten  einer 
solchen  Politik  hin. 

Im  weiteren  Verlaufe  der  Unterredung  erwähnte  Graf 
Berchtold  die  nunmehr  zu  seiner  Kenntnis  gelangte  russi- 
sche Mobilisierung.  Nachdem  sich  dieselbe  auf  die  Militär- 
bezirke Odessa,  Kiew,  Moskau  und  Kasan  beschränke,  trage 
sie  einen  hostilen  Charakter  gegen  die  Monarchie.  Was  der 
Grund  hievon  sei,  wisse  er  nicht,  da  ja  gar  kein  Streitfall 
zwischen  der  Monarchie  und  Rußland  existiere.  Öster- 
reich-Ungarn habe  ausschließlich  gegen  Serbien  mobilisiert, 
gegen  Rußland  nichts,  was  schon  allein  aus  dem  Umstände 
zu  ersehen  sei,  daß  das  erste,  zehnte  und  elfte  Korps  nicht 
mobilisiert  worden  seien  '.  Bei  dem  Umstände  jedoch,  daß 
Rußland  offensichtlich  gegen  die  Monarchie  mobilisiere, 
müßte  auch  die  Monarchie  ihre  Mobilisierung  erweitern, 
wobei  Graf  Berchtold  jedoch  ausdrücklich  erwähnen  wolle, 
daß  diese  Maßnahme  selbstverständlich  keinen  feindseligen 
Charakter  gegen  Rußland  trage  und  lediglich  als  die  not- 
wendige Gegenmaßnahme  gegen  die  russische  Mobilisierung 
zu  betrachten  sei. 

Graf  Berchtold  bat  schließlich  Herrn  Schebeko,  dies 
nach  Petersburg  zu  melden,  was  der  russische  Botschafter 
ihm  auch  zusagte. 

Sobald  Graf  Szäpäry  in  den  Besitz  der  an  ihn  am 
30.  Juli,  1  Uhr  20  Minuten  nachmittags,  expedierten  Weisung 
gelangt  war-,  telegraphierte  er  am  31.  Juli,  2  Uhr  45  Mi- 
nuten nachmittags  ■■,  daß  er,  wie  Graf  Berchtold  seiner 
Berichterstattung  vom  29.  Juli  habe  entnehmen  können, 
ohne  einen  diesbezüglichen  Auftrag  abzuwarten,  die  Kon- 
versation mit  Herrn  Sazonow  nahezu  auf  der  ihm  nunmehr 
aufgetragenen  Grundlage  wieder  aufgenommen  habe,  ur.d 
daß  dieselbe,  ohne  daß  sich  die  beiderseitigen  Standpunkte 
wesentlich  genähert  hätten,  auf  die  inzwischen  eingetroffene 

I   D.  h.  die  galizischen  Korps.   (Vgl.  Seite  307.1 
-  Vgl.  Seite  287  ff. 

•■  Telegramm  aus  St.  Petersburg  d.  d.  31.  Juli,  2  Uhr  45  Minuten 
p.  m.,  Nr.   186. 


294 


Nachricht  von  der  Beschießung  Belgrads,  die  Herr  Sazonow 
wohl  als  Beweis  des  tatsächlichen  Ausbruches  der  Feind- 
seligkeiten betrachtete,  vom  Minister  in  brüsker  >X'''eise  ab- 
gebrochen worden  sei. 

Mit  Rücksicht  darauf,  daß  sich  inzwischen  aus  der  von 
dem  deutschen  Botschafter  mit  dem  russischen  Minister  des 
Äußern  geführten  Konversation  ergeben  habe,  daß  Rußland 
sich  selbst  mit  einer  formellen  Erklärung,  Österreich-Ungarn 
werde  weder  das  serbische  Territorium  schmälern,  noch 
die  serbische  Souveränität  antasten,  noch  russische  Balkan- 
oder sonstige  Interessen  verletzen,  nicht  zufrieden  geben 
würde  und  daß  seither  russischerseits  die  allgemeine  Mobili- 
sierung angeordnet  worden  sei,  glaube  der  k.  u.  k.  Bot- 
schafter ohne  einen  neuerlichen  ausdrücklichen  Auftrag  des 
Grafen  Berchtold  die  anbefohlene  Demarche  unterlassen  zu 
sollen. 

Ein    am    31.  Juli,    2   Uhr   55   Minuten    nachmittags    auf-  suuaiions- 
gegebenes  —  vom   k.  u.  k.  Botschafter    offenbar   noch    am  k"u\' b". 
30.  Juli  verfaßtes  —  Telegramm    des    k.  u.  k.  Botschafters  schafters 
besagte  ',    daß    sich  Graf  Szdpäry,    da    er  heute  für  Herrn 
Sazonow  keine  Aufträge  besaß  und  seine  gestrige  Konver- 
sation mit  Herrn  Sazonow  ein  durchaus   negatives  Resultat 
hatte,    nicht   veranlaßt   gesehen    habe,    das  Auswärtige  Amt 
aufzusuchen. 

Die  Situation  sei  übrigens  heute  noch  unklarer  als 
bisher.  Dem  italienischen  Botschafter  habe  Fürst  Trubetzkoj 
erklärt,  die  Situation  sei  eine  durchaus  veränderte,  da  die 
Monarchie  Belgrad,  „eine  offene  Stadt",  an  dem  Tage  be- 
schossen hätte,  an  dem  das  Wiener  Kabinett  die  Anwendung 
der  ein  solches  Vorgehen  angeblich  verbietenden  Haager 
Bestimmungen  in  Aussicht  gestellt  hätte.  Dieses  Argument 
scheine  ein  vorbedachtes,  weil  Herr  Sazonow  Graf  Szäpäry 
gegenüber  in  dem  Momente,  als  er  die  Nachricht  von  der 
Beschießung  Belgrads  telephonisch  erhielt,  eine  analoge 
Bemerkung  gemacht  habe. 


'  Telegramm    aus    St.    Petersburg  d.  d.   31.  Juli,    2  Uhr   55   Minuten 
p.  m.,  Nr.   182. 

295 


Der  deutsche  Botschafter,  der  den  russischen  Minister 
heute  vor  dem  Kronrate  gesehen  und  ihm  neuerlich 
ins  Gewissen  geredet  hatte,  habe  Herrn  Sazonow  nach 
dessen  Rückkehr  vom  Kronrate  aus  Peterhof  nochmals 
gesprochen,  ohne  daß  die  Konversation  neue  Momente  auf- 
gewiesen hätte.  Der  hieraus  zu  ziehende  Schluß  scheine 
der  zu  sein,  daß  man  auch  in  der  heutigen  Beratung  in 
Peterhof  zu  keiner  klaren  Stellungnahme  gel^ommen  sei. 

Auffallend  sei  es,  daß,  während  man  bisher  täglich 
stundenlang  vor  der  k.  u.  k.  Botschaft  das  Gejohle  demon- 
strierenden Pöbels  (wie  es  verlaute,  durch  Herrn  Maklakow  - 
bezahlte  Hooligans)  hören  konnte,  heute  um  die  Botschaft 
fast  vollkommene  Stille  herrsche.  Der  mit  dem  Auswärtigen 
Amte  in  engsten  Beziehungen  stehende  Journalist  Bogacki, 
Korrespondent  des  „Russkoje  Slowo",  habe  sich  abends  per- 
sönlich auf  der  Botschaft  eingefunden  und  sich  sehr  auf- 
geregt erkundigt,  ob  die  in  der  Stadt  umlaufenden  Gerüchte 
von  einem  österreichisch-ungarischerseits  wegen  der  russi- 
schen Mobilisierung  ergangenen  Ultimatum  richtig  seien; 
dies  wäre  doch  bedauerlich,  da  es  ein  irreparabler  Schritt 
sei.  Auch  die  Zeitung  „Rjetsch"  habe  sich  auffallend 
erkundigt,  ob  Nachrichten  aus  Wien  eingetroffen  seien. 

Die  Stimmung  in  der  ruhigen  Bürgerschaft,  besonders 
in  industriellen  und  finanziellen  Kreisen,  weise  seit  dem 
31.  Juli  eine  Reaktion  auf,  da  die  Furcht  vor  den  ökono- 
mischen Folgen  eines  Krieges  um  sich  greife. 

Im  Ministerrate  sollten  sich  Herr  Sazonow  und  der  sehr 
maßgebende  Herr  Kriwoschein  gegen  den  Krieg  einsetzen, 
auch  der  Handelsminister  Timaschow  solle  unter  dem  Ein- 
drucke der  Mißstimmung  der  wirtschaftlichen  Kreise  stehen. 
An  der  Spitze  der  Kriegspartei  gehe  neben  den  Militärs  der 
Minister  des  Innern  Maklakow  einher,  der  auch  die,  übrigens 
unglaublich  matten,  Demonstrationen  durch  Verteilung  von 
ein  bis  drei  Rubeln  organisieren  solle.  Merkwürdigerweise 
solle  auch  Ministerpräsident  Goremykin  für  die  Opportunität 
eines  Krieges  im  Ministerrate  eingetreten  sein. 

Eine  Klärung  der  Situation,  die  allerdings  auch  sehr 
unvermittelt  eintreten  könne,  müsse  bis  auf  Weiteres  noch 
abgewartet  werden. 

296 


Sollte  der  Zustand  der  Unentschlossenheit  andauern, 
werde  Graf  Szäpäry  versuchen,  auf  den  Ministerpräsidenten 
durch  Vorweisung  der  Wiener  Publikation  über  die 
serbische  Note  einzuwirken. 

Von  der  zur  Aufklärung  der  russischen  Mobilisierung 
in  Aussicht  gestellten  note  explicative  verlaute  bisher  in 
Petersburg  nichts. 

Im    Laufe    des  31.  Juli  erhielt  Graf  Szdpdry  die  an  ihn  Entschluß 
am  30.  Juli,    1   Uhr   20    Minuten    nachmittags,  und    die    am  ß^schafters 
31.  Juli  morgens,    1  Uhr    40  Minuten,    expedierten    beiden  die  am 
Weisungen'.  Er  entschloß  sich,    dieselben    ohne    Rücksicht^'.',/"''"'"'''' 

o  '  mittags  er- 

auf  die  seit  deren  Abgang  verfügte  allgemeine  Mobilisierung  haucnen 
in  Rußland  und  den  Abbruch  des  vertraulichen  Gedanken-  aJ^Tifg" 
austausches     dennoch    auszuführen,   weil    er    einerseits    die  achtet  der 
Behauptung  Kaiser  Wilhelms,  die  Monarchie  sei  noch  immer  ^obm'" 
bereit  zu  könversieren,  nicht  desavouieren  wollte  und  weil  sierung 
es  ihm  andrerseits  schon  zur  Feststellung  der  eigenen   tak-  rühren" 
tischen  Stellung,    als    angegriffen    zu    erscheinen,    opportun  (si-  Juid 
dünkte,    noch    einen    äußersten    Beweis   guten    Willens   ge- 
geben zu  haben,  um  Rußland  tunlichst  ins  Unrecht  zu  setzen. 

Graf  Szäpäry  fragte  demnach   bei   Herrn    Sazonow    an  -,  Letzte  bc- 
der    ihn    unverzüglich    empfing'.    Graf   Szäpäry    legte  dem  ^erk^"u^k 
Minister  dar,  daß  er  chiffrierte  Instruktionen  erhalten  hätte,  Botschafters 
daß    er    aber   vorausschicken    müsse,    die    augenblickliche,  "J^oJ^" 
durch  die    russische    allgemeine    Mobilisierung    geschaffene  (3i.  jum 

1  Telegramm  aus  St.  Petersburg  d.  d.  31.  Juli,  11  Uhr  17  Minuten 
p.  m.,  Nr.  189.  Eingetroffen  2.  August,  9  Uhr  a.  m. 

'  Telegramm  aus  St.  Petersburg  d.  d.  1.  August,  10  Uhr  45  Minuten 
a.  m.,  Nr.  190.  Eingetroffen  1  Uhr  p.  m.  Fortsetzung  des  Telegrammes 
Nr.  189. 

"  Im  österreichisch-ungarischen  Rotbuch  Nr.  56  ist  diese  Besprechung 
(bei  gleichzeitiger  Änderung  der  einleitenden  Worte  des  Telegrammes)  auf 
den  1.  August  verlegt.  Das  zitierte  Telegramm  stellt  die  am  Schlüsse  des 
(am  31.  Juli,  11  Uhr  17  Minuten  p.  m.,  expedierten)  Telegrammes  Nr.  189 
angekündigte  Fortsetzung  der  Berichterstattung  dar.  Da  nun  Graf  Szäpäry 
bereits  in  der  Depesche  Nr.  189  die  vollzogene  Durchführung  der 
an  diesem  Tage  (31.  Juli)  erhaltenen  Weisungen  meldet  (vgl.  den 
Passus:  .  .  .  weil  es  ihm  opportun  erschien,  „noch  einen  äußersten 
Beweis  guten  Willens  gegeben  zu  haben"),  so  ist  das  Telegramm  Nr.  190 
bloß  als  die  detaillierte  Wiedergabe  eben  der  Besprechung  mit 
Herrn  Sazonow  am  31.  Juli  zu  betrachten. 

297 


Lage  in  Wien  sei  ihm  gänziicli  unbekannt,  so  daß  er  von 
dieser  bei  Verdolmeischung  seiner  noch  vorher  abgegangenen 
Weisung  vollkommen  absehen  müsse.  Der  Minister  unter- 
brach ihn  lebhaft  mit  den  Worten,  die  Mobilisierung  habe 
nichts  zu  bedeuten,  und  Kaiser  Nikolaus  habe  Kaiser 
Wilhelm  sein  Wort  verpfändet,  die  Armee  werde  sich 
solange  nicht  rühren,  solange  eine  auf  eine  Verständigung 
gerichtete  Konversation  mit  Wien  im  Zuge  sei.  Übrigens 
hätte  die  Monarchie  zuerst  mobilisiert,  eine  Behauptung, 
der  Graf  Szäpäry  lebhaft  widersprach,  so  daß  der  Minister 
sagte:  „Lassen  wir  die  Chronologie."  Man  solle  nicht 
fürchten,  daß  die  Gewehre  von  selber  losgehen  würden; 
denn  was  die  russische  Armee  betreffe,  sei  diese  so  diszi- 
pliniert, daß  der  Kaiser  sie  durch  ein  Wort  noch  von  der 
Grenze  zurückziehen  könne.  Graf  Szäpäry  fuhr  fort  und 
sagte,  daß  die  beiden  letzten  Weisungen  des  Grafen  Berchtold 
das  Mißverständnis  behandelten,  als  ob  Österreich-Ungarn 
weitere  Verhandlungen  mit  Rußland  abgelehnt  hätte.  Dies 
sei,  wie  Graf  Szäpäry  Herrn  Sazonow  schon  ohne  Auftrag 
mitgeteilt  hätte,  ein  Irrtum.  Graf  Berchtold  sei  nicht  nur 
gerne  bereit,  mit  Rußland  auf  breitester  Basis  zu  verhandeln, 
sondern  auch  speziell  geneigt,  den  Notentext  einer  Be- 
sprechung zu  unierziehen,  sofern  es  sich  um  dessen  Inter- 
pretation handle. 

Graf  Szäpäry  sei  sich  allerdings  bewußt,  daß  Rußland 
auf  dem  Standpunkt  stehe,  die  Form  der  Note  sollte  ge- 
mildert werden,  während  Graf  Berchtold  der  Ansicht  sei, 
der  Sinn  derselben  könne  erläutert  werden.  Dies  ergebe 
eine  Diskrepanz,  die  nicht  übersehen  werden  dürfe,  obwohl 
es  dem  Grafen  Szäpäry  im  Wesen  auf  dasselbe  heraus- 
zukommen scheine. 

Herr  Sazonow  meinte,  dies  sei  eine  gute  Nachricht,  denn 
er  hoffe  noch  immer,  daß  auf  diese  Weise  die  Angelegen- 
heit auf  jenes  Terrain  gelenkt  werden  könne,  welches  ihm 
von  Anfang  an  vorgeschwebt  habe.  Graf  Szäpäry  betonte, 
wie  sehr  die  Instruktionen  des  Grafen  Berchtold  einen 
weiteren  Beweis  guten  Willens  böten,  wenn  freilich  der 
k.  u.  k.  Botschafter  Herrn  Sazonow  auch  nochmals  in 
Erinnerung  rufen  müsse,    daß  ihm  die  durch  die  seitherige 

298 


allgemeine  Mobilisierung  geschaffene  Situation  unbekannt 
sei.  Graf  Szäpäry  könne '  nur  hoffen,  daß  der  Gang  der 
Ereignisse  die  Monarchie  nicht  schon  zu  weit  geführt  habe; 
jedenfalls  hätte  er  es  für  seine  Pflicht  gehalten,  im  gegen- 
wärtigen hochernsten  Augenblicke  den  guten  Willen  der 
k.  u.  k.  Regierung  nochmals  zu  dokumentieren.  Herr  Sazonow 
erwiderte,  er  nehme  von  diesem  Beweise  guten  Willens  mit 
Befriedigung  Kenntnis;  auch  möchte  er  Graf  Szäpäry  auf- 
merksam machen,  daß  ihm  Unterhandlungen  in  St.  Peters- 
burg aus  naheliegenden  Gründen  weniger  Erfolg  versprechend 
erschienen,  als  solche  auf  dem  neutralen  Londoner  Terrain. 
Graf  Szäpäry  erwiderte,  Graf  Berchtold  gehe,  wie  Graf 
Szäpäry  selbst  schon  dargelegt  hätte,  vom  Gesichtspunkte  einer 
direkten  Fühlungnahme  mit  St.  Petersburg  aus,  so  daß  der 
Botschafter  nicht  in  der  Lage  sei,  zu  Sazonows  Anregung 
bezüglich  Londons  Stellung  zu  nehmen;  doch  werde  er  nach 
Wien  hierüber  Meldung  erstatten. 

Herr  Sazonow  schien  (laut  dieser  Meldung  Graf  Szäpärys) 
durch  die  eben  empfangenen  Eröffnungen  wesentlich  er- 
leichtert und  maß  denselben  offensichtlich  eine  übertriebene 
Bedeutung  bei,  so  daß  Graf  Szäpäry  immer  wieder  auf 
die  geänderte  Situation,  auf  die  Diskrepanz  der  beider- 
seitigen Ausgangspunkte  u.  dgl.  verweisen  mußte.  Außer- 
dem wurden  bei  der  Konversation  zwei  Hauptpunkte  voll- 
kommen umgangen:  von  Seite  des  Grafen  Szäpäry  der 
ihm  aus  den  Telegrammen  des  Grafen  Berchtold  hervor- 
zugehen scheinende  rein  rückblickende  und  theoretische 
Charakter  einer  Konversation  über  den  Notentext,  von 
Seite  Herrn  Sazonows  die  Frage,  was  während  der  etwaigen 
Verhandlungen  bezüglich  der  militärischen  Operationen 
geschehen  solle? 

Im  Hinblick  auf  den  Vorbehalt,  den  Graf  Szäpäry 
bezüglich  der  russischen  allgemeinen  Mobilisierung  machte, 
sei  —  nach  Graf  Szäpärys  Ansicht  —  Graf  Berchtold  voll- 
kommen in  der  Lage,  die  gemachten  Eröffnungen  als  gegen- 
standslos zu  erklären.  Andrerseits  scheine  es  dem  Grafen 
Szäpäry  vom  Standpunkte  der  Rollenverteilung  ,  überaus 
wichtig,  noch  einen  Schritt  gemacht  zu  haben,  der  wohl  als 
das  Äußerste  an  Entgegenkommen  bezeichnet  werden  könne. 

299 


Sollte  Graf  Berchtold  jedoch  diplomatische  Verhandlungen 
auch  heute  noch  für  tunlich  odep  opportun  halten,  so  wäre 
hietür  eine  Unterlage  geboten.  Aus  diesen  Gründen  hoffe 
Graf  Szäpäry,  daß  sein  Vorgehen  die  Billigung  des  Grafen 
Berchtold  finden  werde. 
Leizic  Der   russische    Botschafter   suchte    Graf   Berchtold    am 

Besprechung  j    y^yg^gj  j^,  freundschaftUchcr  Weise  auf,  um  sich,  wie  er 

Graf  Berch-  o  ■  7  J 

toids  mii  sagte,  nach  etwaigen  Neuigkeiten  zu  erkundigen '.    Er  hoffe 

schXko  "^'^^  immer,  daß  es  gelingen  werde,  den'bestehenden  Streit- 

(1.  August),  fall  durch  direkte  Verhandlungen  zu  beheben.  Bei  der  gegen- 

.E.geniiich  bärtigen  Lage  der  Dinge  wäre  es  wohl  besser,  sich   hiezu 

handle  es  ö  ö  &  ' 

sichzwischen  auf  neutrales  Terrain  zu  begeben,  wofür  London  besonders 
ostcrre.ch-    „ggjg^gj    wäre.    Es    sei   überaus    bedauerlich,   daß    man    in 

Ungarn  und     o         o 

Rußland  um  Deutschland  anscheinend  den  Krieg  forcieren  wolle-.  Rußland 
MmveT-"^^  hätte  ja  in  Berlin  bereits  die  bündigsten  Versicherungen 
siändnis"  abgegeben,  daß  seine  militärischen  Maßnahmen  keinen  feind- 
lichen Charakter  gegen  die  Monarchie  oder  Deutschland 
trügen.  Allerdings  müßte  man  in  Petersburg  nach  wie  vor 
darauf  bestehen,  daß  die  Monarchie  den  Konflikt  mit  Serbien 
nicht  löse,  ohne  Rußland  zu  konsultieren,  dessen  Interesse 
bei  dieser  Frage  im  Spiele  sei. 

Graf  Berchtold  ging  auf  diese  Darlegung  Herrn  Schebekos 
nicht  weiter  ein,  begann  jedoch  ein  freundschaftliches,  nicht 
offizielles  Gespräch,  in  dessen  Verlauf  er  den  russischen 
Botschafter  auf  die  vielfachen  Torheiten  der  russischen 
Balkanpolitik  aufmerksam  machte.  Es  gäbe  eine  weit  breitere 
Grundlage  zu  einer  Auseinandersetzung  zwischen  der  Mon- 
archie und  Rußland,  wenn  man  sich  nur  einmal  in  Peters- 
burg dazu  entschließen  könnte,  nicht  immer  und  ausschließ- 
lich das  Schicksal  der  Balkanstaaten  zum  Angelpunkte  des 
Verhaltens  gegen  die  Monarchie  zu  machen.  Herr  Schebeko 
antwortete  gleichfalls  sehr  freundschaftlich,  erörterte  in 
akademischer  Weise  die  mannigfachen  Verpflichtungen  Ruß- 
lands als  orthodoxer  und  slawischer  Staat,  verwies  auf 
gewisse  sentimentale  Veranlagungen    des  russischen  Volkes 


'  Tagesbericht  d.  d.   1.  August,  Nr.  3737. 

-  Ursprünglich  im  Konzept:  „in  Deutschland  anscheinend  den  Kopf 
verloren  habe".  „Den  Krieg  forcieren  wolle",  Umänderung  von  der  Hand 
des  Grafen  Berchtold. 

300 


und  verließ  Graf  Berchtold  mit  der  Bemerivung,  eigentlicli 
handle  es  sich  zwischen  der  Monarchie  und  Rußland  um 
ein  großes  Mißverständnis. 

Unmittelbar  darauf  erhieh  Graf  Berchtold  den  Besuch 
Herrn  Dumaines,  der  ebenso  friedliche  Töne  anschlug  wie 
sein  russischer  Kollege,  mit  wehmütigem  Bedauern  auf  das 
kriegerische  Vorgehen  Kaiser  Wilhelms  verwies  und  seiner 
Überzeugung  Ausdruck  gab,  es  müsse  eine  Formel  gefunden 
werden,  die  den  gerechten  Ansprüchen  der  Monarchie 
Rechnung  trage ',  Rußlands  Interesse  an  Serbien  befriedige 
und  den  Weg  zum  Frieden  eröffne. 

Der    Ministerrat    für    gemeinsame    Angelegenheiten 

vom  31.  Juli 

Die  Wichtigkeit  der  zu  behandelnden  Materien  veranlaßte 
Graf  Berchtold,  für  den  31.  Juli  einen  Ministerrat  für  gemein- 
same Angelegenheiten  einzuberufen-.  Als  Konferenzteilnehmer 
erschienen  die  Minister  und  Funktionäre,  die  auch  dem 
Ministerräte  vom  7.  und  19.  Juli  beigewohnt  hatten,  mit 
Ausnahme  des  k.  u.  k.  Chefs  des  Generalstabes.  Anwesend 
war  diesmal  auch  der  königlich  ungarische  Minister  am 
allerhöchsten  Hoflager  Freiherr  von  Buriän;  als  Schrift- 
führer fungierte  wieder  Legationsrat  Graf  A.  Hoyos.  Den 
Gegenstand  der  Tagesordnung  bildete  die  Beratung  über  den 
englischen  Vermittlungsvorschlag  und  über  an  Italien  zu 
gewährende  Kompensationen. 

Der  Vorsitzende,  Graf  Berchtold,  eröffnete  die  Sitzung 
und  verlas  den  den  englischen  Vermittlungsvorschlag  ent- 
haltenden Tagesbericht  vom  30.  Juli-. 

Hieran  anknüpfend  erklärte  Graf  Berchtold,  er  habe  dem 
deutschen  Botschafter,  als  dieser  ihm  den  englischen  Vorschlag 
vorlegte,  sogleich  erklärt,  daß  eine  Einstellung  der  Feind- 
seligkeiten gegen  Serbien  unmöglich  sei.  Über  den  Ver- 
mittlungsvorschlag könne  er  nicht  allein  entscheiden,  sondern 

'  „die  unseren   gerechten   Ansprüchen   Rechnung  frage".   Zusatz   im 
Konzept  von  der  Hand  des  Grafen  Berchtold. 
2  G.  M.  K.  P.  Z.  514  d.  d.  31.  Juli   1914. 
•■>  Vgl.  Seite  233  ff. 

301 


er  müsse  hierüber  die  Befehle  des  Monarchen  einholen  und 
die  Angelegenheit  im  Ministerrate  besprechen. 

Er  habe  dann  über  den  Inhalt  der  Demarche  des  deutschen 
Botschafters  dem  Monarchen  Vortrag  erstattet,  der  sofort 
erklärt  habe,  daß  die  Einstellung  der  Feindseligkeiten  gegen 
Serbien  unmöglich  sei.  Der  Monarch  habe  hingegen  den 
Antrag  genehmigt,  daß  das  Wiener  Kabinett  es  zwar  sorgsam 
vermeide,  den  englischen  Antrag  in  meritorischer  Hinsicht 
anzunehmen,  daß  es  aber  in  der  Form  seiner  Antwort 
Entgegenkommen  zeige  und  dem  Wunsche  des  deutschen 
Reichskanzlers,  die  Regierung'  nicht  vor  den  Kopf  zu 
stoßen,  auf  diese  Weise  entgegenkomme. 

Die  Antwort  an  die  deutsche  Regierung  sei  noch  nicht 
ausgearbeitet,  er  könne  aber  jetzt  schon  sagen,  daß  bei 
ihrer  Textierung  auf  drei  Grundprinzipien  Bedacht  zu  nehmen 
sein  werde,  nämlich: 

1.  Die  kriegerischen  Operationen  gegen  Serbien  müssen 
fortgesetzt  werden; 

2.  Das  Wiener  Kabinett  könnte  über  den  englischen 
Vorschlag  nicht  unterhandeln,  solange  die  russische  Mobili- 
sierung nicht  eingestellt  werde,  und 

3.  die  Bedingungen  Österreich-Ungarns  müßten  integral 
angenommen  werden  und  es  könnte  sich  die  Monarchie  in 
keine  Verhandlungen  über  dieselben  einlassen  -; 

Erfahrungsgemäß  würden  die  Mächte  in  solchen  Fällen 
immer  Abstriche  bei  Weitergabe  seitens  einer  Macht  auf- 
gestellter Bedingungen  zu  machen  versuchen;  es  sei  sehr 
wahrscheinlich,  daß  man  dies  auch  jetzt  versuchen  würde, 
wo  bei  der  jetzigen  Zusammensetzung  Frankreich,  England 
und  auch  Italien  den  russischen  Standpunkt  vertreten 
würden  und  die  Monarchie  an  dem  gegenwärtigen  deutschen 
Vertreter  in  London  eine  sehr  zweifelhafte  Stütze  hätte. 
Von  dem  Fürsten  Lichnowsky  sei  alles  andere  zu  erwarten, 

'  Im  Konzept  ursprünglich:  „daß  wir  aber  in  der  Form  unserer  Ant- 
wort Entgegenkommen  zeigen  und  die  englische  Regierung  nicht  vor  den 
Kopf  stoßen  dürften". 

-  Vergleiche  die  Textierung  der  Antwort  an  die  deutsche  Regierung. 
Seite  235. 

302 


als  daß  er  die  Interessen  Österreich-Ungarns  warm  ver- 
treten würde.  Wenn  die  Aktion  jetzt  nur  mit  einem  Prestige- 
gewinne endete,  so  wäre  sie  nach  der  Ansicht  des  Vor- 
sitzenden ganz  umsonst  unternommen  worden.  Die  Mon- 
archie hätte  von  einer  einfachen  Besetzung  Belgrads  gar 
nichts,  selbst  wenn  Rußland  hiezu  seine  Einwilligung  geben 
würde.  Alles  dies  wäre  Flitterwerk,  Rußland  würde  als 
Retter  Serbiens  und  namentlich  der  serbischen  Armee  auf- 
treten. Letztere  würde  intakt  bfeiben  und  die  Monarchie 
hätte  in  zwei  bis  drei  Jahren  wieder  einen  Angriff  Serbiens 
unter  viel  ungünstigeren  Bedingungen  zu  gewärtigen.  Graf 
Berchtold  beabsichtige  daher,  auf  den  englischen  Vorschlag 
in  sehr  verbindlicher  Form  zu  antworten,  dabei  aber  die 
vorerwähnten  Bedingungen  zu  stellen  und  zu  vermeiden, 
auf  den  meritorischen  Teil  einzugehen. 

Der  gemeinsame  Finanzminister  Ritter  von  Biliriski 
wies  darauf  hin,  daß  durch  die  Mobilisierung  der  Mon- 
archie eine  ganz  neue  Situation  geschaffen  worden  sei. 
Vorschläge,  die  in  einem  früheren  Zeitpunkte  akzeptabel 
gewesen  wären,  seien  jetzt  nicht  mehr  annehmbar. 

Der  königlich  ungarische  Ministerpräsident  er- 
klärte, er  schließe  sich  den  Ausführungen  des  Vorsitzenden 
vollkommen  an  und  sei  auch  der  Ansicht,  daß  es  verhängnis- 
voll wäre,  auf  das  Meritum  des  englischen  Vorschlages 
einzugehen.  Die  Kriegsoperationen  gegen  Serbien  müßten 
jedenfalls  ihren  Fortgang  nehmen.  Er  frage  sich  aber,  ob 
es  notwendig  sei,  schon  jetzt  die  neuen  Forderungen  der 
Monarchie  an  Serbien  den  Mächten  überhaupt  bekannt- 
zugeben, und  er  würde  vorschlagen,  die  englische  Anregung 
dahin  zu  beantworten,  daß  die  Monarchie  prinzipiell  bereit 
wäre,  derselben  näherzutreten,  jedoch  nur  unter  der  Be- 
dingung, daß  die  Operationen  gegen  Serbien  fortgesetzt 
werden  und  die  russische    Mobilisierung    eingestellt  werde. 

Der  k.  k.  Ministerpräsident  führte  aus,  der  Gedanke 
einer  Konferenz  sei  ihm  so  odios,  daß  er  selbst  ein  schein- 
bares Eingehen  auf  denselben  vermeiden  möchte.  Er  halte 
daher  den  Vorschlag  des  Grafen  Tisza  für  den  richtigen. 
Die    Monarchie    müßte    den    Krieg    mit    Serbien   fortsetzen 

303 


und  sich  bereit  ericlären,    mit    den  Mächten  weiter  zu  ver- 
handeln, sobald  Rußland  seine  Mobilmachung  einstelle. 

Herr  von  Biliriski  fand  die  Anregung  des  Grafen  Tisza 
außerordentlich  geschickt;  die  Monarchie  würde  durch  das 
Stellen  der  erwähnten  zwei  Bedingungen  Zeit  gewinnen. 
Auch  er  könnte  sich  mit  der  Idee  einer  Konferenz  nicht 
befreunden.  Der  Verlauf  der  Londoner  Konferenz  stünde  in 
so  entsetzlicher  Erinnerung,  daß  sich  die  ganze  Öffentlichkeit 
gegen  die  Wiederholung*  eines  solchen  Schauspieles  auf- 
lehnen würde.  Auch  er  sei  der  Ansicht,  man  solle  den 
englischen  Vorschlag  nicht  schroff  ablehnen. 

Nachdem  noch  Freiherr  von  Burian  sich  in  zustim- 
mendem Sinne  geäußert  hatte,  wurde  der  Vorschlag  des 
Grafen  Tisza  einstimmig  angenommen  und  festgestellt,  daß 
prinzipielle  Geneigtheit  bestehe,  auf  den  englischen  Vor- 
schlag unter  den  zwei  vom  Grafen  Tisza  aufgestellten  Bedin- 
gungen einzugehen. 

Der  Vorsitzende  hob  hierauf  hervor,  wie  wichtig  es 
sei,  Italien  beim  Dreibund  zu  erhalten.  Nun  hätte  sich  aber 
Italien  auf  den  Standpunkt  gestellt,  der  Konflikt  sei  von  der 
Monarchie  provoziert  worden  und  ihr  Vorgehen  gegen 
Serbien  habe  eine  aggressive  Spitze  gegen  Rußland.  Aus 
allen  Äußerungen  des  Marquis  di  San  Giuliano  gehe  klar 
hervor,  daß  die  ganze  italienische  Haltung  von  dem  Ver- 
langen nach  einer  Kompensation  getragen  sei.  Italien  stütze 
dieses  sein  Verlangen  auf  den  Wortlaut  des  Artikels  VII  des 
Dreibundvertrages.  Die  Auffassung  des  Wiener  Kabinetts 
sei,  daß  laut  dieses  Artikels  das  Recht  auf  eine  Kompensation 
nur  dann  bestünde,  wenn  die  Monarchie  türkisches  Gebiet 
auf  dem  Balkan  dauernd  oder  vorübergehend  besetzen  würde, 
da  dem  Geiste  des  Vertrages  nach  nur  von  Gebieten  des 
„Empire  Ottoman"  die  Rede  sein  könne.  Italien  behaupte 
dagegen,  daß,  nachdem  an  einer  Stelle  auch  die  Worte  „dans 
les  Balcans"  vorkommen,  die  ganze  Balkanhalbinsel  gemeint 
sei.  Wenn  sich  auch  die  italienische  Auffassung  durch  eine 
Reihe  von  Gründen  bekämpfen  ließe,  so  müsse  er  doch 
darauf  hinweisen,  daß  die  deutsche  Regierung  sich  die  An- 
schauung Italiens  zu  eigen  gemacht  habe.  Im  Laufe  der 
letzten    Woche  seien   täglich    Demarchen   bei    ihm   gemacht 

304 


worden,  um  zu  erreichen,  daß  sich  die  k.  u.  k.  Regierung 
der  Auffassung  der  Kompensationsfrage  seitens  der  zwei 
anderen  verbündeten  Mächte  anschließe. 

Der  k.  u.  k.  Kriegsminister  erwähnte  dazu,  daß  ihm 
der  k.  u.  k.  Militärattache  in  Berlin  über  Untferredungen  be- 
richtet habe,  die  dieser  mit  Kaiser  Wilhelm  und  dem  General- 
stabschef Grafen  Moltke  gehabt  habe,  in  welchen  beide  in 
eindringlicher  Weise  hervorgehoben  hätten,  wie  wichtig  ein 
aktives  Eingreifen  Italiens  in  dem  bevorstehenden  Konflikt 
sei,  und  daß  es  daher  äußerst  wünschenswert  wäre,  wenn  die 
k.  u.  k.  Regierung  Italien  in  der  Kompensationsfrage  ent- 
gegenkommen würde. 

Der  Vorsitzende  erkläre  darauf,  man  hätte  ihn  von  Rom 
aus  wissen  lassen,  der  bevorstehende  Krieg  widerstreite  den 
italienischen  Interessen,  da  durch  einen  günstigen  Ausgang 
desselben  die  Machtstellung  der  Monarchie  am  Balkan  ver- 
mehrt würde.  Unter  diesen  Umständen  könne  Italien  nur 
dann  aktiv  eingreifen,  wenn  seine  Ansprüche  anerkannt 
würden.  Graf  Berchtold  habe  den  k.  u.  k.  Botschafter  in 
Rom  bisher  beauftragt,  mit  vagen  Phrasen  auf  die  Kompen- 
sationsforderungen zu  antworten  und  dabei  immer  wieder 
nachdrücklich  zu  betonen,  daß  dem  Wiener  Kabinett  der 
Gedanke  an  territoriale  Erwerbungen  fernliege.  Wenn  die 
Monarchie  aber  dazu  gezwungen  würde,  eine  nicht  nur  vor- 
übergehende Okkupation  vorzunehmen,  so  wäre  noch  immer 
Zeit,  der  Kompensationsfrage  näherzutreten. 

Graf  Berchtold  sehe  nun  zwei  Wege,  die  man  hier  ein- 
schlagen könne.  Entweder  auf  der  eigenen  Auslegung  des 
Artikels  VII  zu  beharren,  aber  mit  einem  „beau  geste" 
Italien  eine  Kompensation  zuzusprechen,  oder  aber  die 
italienische  Auslegung  des  Artikels  VII  anzunehmen,  wobei 
ausdrücklich  hervorzuheben  wäre,  daß  Italien  nur  dann 
Anspruch  auf  eine  Kompensation  hätte,  wenn  die  Monarchie 
zu  einer  dauernden  Besitzergreifung  eines  Gebietes  auf  der 
Balkanhalbinsel  schreiten  würde.  Zum  Schlüsse  wolle  er  darauf 
hinweisen,  daß  die  Monarchie  während  des  libyschen  Feld- 
zuges den  Artikel  VII  in  sehr  rigoroser  Weise  ausgelegt  hätte. 

Freiherr  von  Buriän  und  Graf  Tisza  betonten,  daß 
man  nicht  nur  die  italienische  Interpretation  des  Artikels  VII 

20  305 


des  Vertrages  anfechten  könne,  sondern  auch  die  Auffassung 
der  italienischen  Regierung,  daß  der  Casus  foederis  für  ^ie 
nicht  gegeben  sei.  Daher  soHte  man  nur  unter  der  Bedingung 
sich  zu  Konzessionen  entschließen,  daß  die  italienische 
Kooperation  im  Falle  eines  großen  Krieges  tatsächlich 
Platz  greife. 

Herr  von  Biliriski  wies  darauf  hin,  daß  der  große 
Kampf,  der  bevorstehe,  für  die  Monarchie  ein  Existenzkampf 
sei.  Wenn  die  effektive  Hilfe  Italiens  in  diesem  Kampfe 
wirklich  von  so  großem  Werte  sei,  so  werde  man  wohl  ein 
Opfer  bringen  müssen,  um  dieselbe  zu  erkaufen. 

Graf  Stürgkh  vertrat  den  Standpunkt,  daß  Italien  keinen  , 
Anspruch  auf  eine  Kompensation    erheben  könne,   wenn  es 
nach  Ausbruch    des    großen  Krieges    seine  Bundespflichten 
nicht  erfülle. 

Der  Ministerrat  erteilte  hierauf  dem  Vorsitzenden  die 
prinzipielle  Ermächtigung,  Italien  für  den  Fall,  als  die  Mon- 
archie eine  dauernde  Besetzung  serbischen  Territoriums 
vornehmen  sollte,  eine  Kompensation  in  Aussicht  zu  stellen, 
und  wenn  es  die  Umstände  erheischen  sollten  und  Italien 
seine  Bundespflicht  tatsächlich  erfülle,  auch  über  die  Ab- 
tretung Valonas  an  Italien  zu  sprechen,  in  welchem  Falle 
Österreich-Ungarn  sich  den  ausschlaggebenden  Einfluß  in 
Nordalbanien  sichern  würde. 

Hierauf  erklärte  der  Vorsitzende  die  Beratung  für  be- 
endet. 

Das  Protokoll  dieses  Ministerrates  unterzeichnete  der 
Monarch  am  21.  August. 

Die  österreichisch-ungarische  allgemeine  Mobilisie- 
rung 

Militärische  Seit  der  Mobilisierung  der  für  den  Krieg  gegen  Serbien 
I^Te'Tüt  bestimmten  8  Armeekorps  am  25.  Juli  abends  '  wurden 
vom  25.  bis  bis  zum  31.  Juli  militärische  Maßnahmen  (Ausnahmsgesetze 
^''  •*"''  u.  dgl.)  zwar  in  beträchtlichem  Umfange  vorgenommen, 
doch  betrafen  sie  ausschließlich  die  Kriegsbereit- 
schaft nach  dem  Südosten. 

1  Vgl.  Seite  216,  217.  , 

306 


Eine  weitere  Teilmobilisierung  fand  in  keiner 
Weise  statt.  Auch  die  drei  nordöstlichen  Korps  (I., 
X.  und  XI.)  wurden  erst  auf  Grund  des  allgemeinen 
Mobilisierungsbefehls  „alarmiert". 

Am  30.  Juli  nachmittags    fand    zwischen    dem  Chef  des  Unterredung 
deutschen  Generalstabes    und    dem    k.    u.  k.    Militärattache  ''" ''""'" 

sehen  (jene- 

eine    wichtige    Unterredung    statt.    Als    Ergebnis    wurde    an  raistabschefs 
Baron  Conrad    durch   den  k.  u.  k.  Militärattache  ein  Tele-  ™' ''''" 

k.  u.  k. 

gramm  abgesendet,    das    den    dringenden  Ratschlag  der  so-  MUitär- 
fortigen  allgemeinen  Mobilisierung  enthielt'.  """'*'* 

Dieses  am  30.  Juli,  abends  10  Uhr  20  Minuten,  in  Wien  Allgemeine 
eingetroffene  Telegramm    Graf  Szögyenys  wurde   von  Graf  "^i'^^js^h. 
Berchtold   mit   folgender    am    31.  Juli,    8  Uhr   vormittags,  ungariscive 
expedierten  Weisung  an  den  k.  u.  k.  Botschafter  in  Berlin  ^.°_,JJg 
erledigt:  (3'-  J"" 

„Freiherr   von  Conrad   telegraphiert  gleichzeitig,   in  Be-  '"""s^* 
„antwortung    einer   Anfrage,    an    den    Chef    des    deutschen 
„Generalstabes: 

„Auf  Grund  Allerhöchster  Entscheidung  ist  Entschluß: 
„Krieg  gegen  Serbien  durchführen.  Rest  der  Armee  mobili- 
„sieren  und  in  Galizien  versammeln.  Erster  Mobilisierungs- 
„tag  4.  August.  Mobilisierungsbefehl  ergeht  heute  31.  Juli. 
„Erbitte  Bekanntgabe  dortseitigen  ersten  Mobilisierungs- 
„tages"  K 

Der  Befehl  zur  allgemeinen  Mobilisierung  langte 
von  der  Militärkanzlei  des  Monarchen  am  31.  Juli, 
12  Uhr  23  Minuten  mittags,  im  Kriegsministerium 
und  beim  Chef  des  Generalstabes  ein  und  wurde 
sofort  ausgegeben. 

Zur  Begründung  der  militärischen  Maßnahmen  in  Gali-  Motivierung 
zien  erhielten  die  Signatarbotschaften,  die  Balkanmissionen,  '^"."'l'' 

o  '  '    tanscnen 

der  Gesandte  in  Stockholm    und    der  Botschafter  in  Tokio  Maßnahmen 
eine  am  1.  August,  7  Uhr  morgens,  expedierte  Instruktion  ^i  '"^^  jj,'p" 

1  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  30.  Juli,  7  Uhr  40  Minuten  p.  m., 
Nr.  331. 

2  Weisung  nach  Berlin  d.  d.  31.  Juli,  8  Uhr  a.  m.,  Nr.  302. 

3  Zirkulartelegramm  d.  d.  31.  Juli,  Prot.  Nr.  5955—5965.  Expediert 
1.  August,  7  Uhr  a.  m. 

307 


„Da  die  russische  Regierung  Mobilisierungen  an  unserer 
„Grenze  angeordnet  hat,  werden  wir  zu  militärischen  Maß- 
„nahmen  in  Galizien  gezwungen.  Diese  Maßnahmen  haben 
„einen  rein  defensiven  Charakter  und  sind  lediglich  unter 
„dem  Drucke  der  russischen  Vorkehrungen  erfolgt,  die  wir 
„sehr  bedauern,  da  wir  selbst  keine  aggressiven  Absichten 
„gegen  Rußland  haben  und  die  Fortdauer  der  bisherigen 
„guten  nachbarlichen  Beziehungen  wünschen.  Die  der  Situation 
„entsprechenden  Besprechungen  zwischen  dem  Wiener  und 
„Petersburger  Kabinett,  von  denen  wir  uns  eine  allseitige 
„Beruhigung  erhoffen,  gehen  inzwischen  in  freundschaftlicher 
„Weise  weiter." 
immediat-  Die  großcn  Probleme    und  Ereignisse    dieses   schicksal- 

vorirag  des    schwcreu  Tagcs  faßte  Graf  Berchtold  in  einem  (am  Abend 

Grafen 

Berchiow      dcs  31.  JuU  mundicrten)  Immediatvortrage  zusammen: 

(31.  Juli»  Qpgf  Berchtold  nehme  sich  die  Freiheit  zu  melden,  daß 

(Entwurf)  ' 

der  kaiserlich  deutsche  Botschafter  ihm  soeben  '  im  Auftrage 
der  deutschen  Regierung  mitgeteilt  habe,  der  deutsche  Kaiser 
habe  den  Übergang  der  deutschen  Armee  und  Marine  in 
den  „drohenden  Kriegszustand"  am  31.  Juli  vormittags  an- 
geordnet -. 

Es  sei  dies,  wie  der  deutsche  Botschafter  hinzufügte,  die 
in  der  Monarchie  als  „Alarm"  bezeichnete  Vorbereitung  zur 
allgemeinen  Mobilisierung,  welche  in  zwei  Tagen  beginnen 
werde. 

Man  rechne,  wie  der  deutsche  Botschafter  noch  bemerkte, 
im  deutschen  Generalstabe  damit,  daß  die  österreichisch- 
ungarische Armee  bei  Fortsetzung  der  Aktion  gegen  Serbien 
auch  die  kriegerische  Aktion  gegen  Rußland  möglichst  bald 
beginnen  werde. 

Auch  habe  Herr  von  Tschirschky  am  31.  Juli  morgens 
auf  Grund  einer  telephonischen  Verständigung  aus  Berlin 
mitgeteilt,  der  Reichskanzler  beabsichtige,  sofort  ein  Ulti- 
matum an  Rußland  wegen  Einstellung  der  Mobilmachung  zu 
richten. 

'  Am  Abend  des  31.  Juli. 

-  Vgl.  Seite  310.  —  Nach  der  Feststellung  im  Weißbuch  betr.  d.  V. 
d.  U.  a.  Kr.,  Seite  48,  erfolgte  die  Erklärung  des  Zustandes  drohender 
Kriegsgefahr  am  31.  Juli  nachmittags. 

308 


In  einer  am  31.  Juli  vormittags  stattgehabten  gemein- 
samen Ministerkonferenz  sei  der  Beschluß  gefaßt  worden, 
den  englischen  Vermittlungsvorschlag,  der  gestern  von  dem 
deutschen  Botschafter  vorgelegt  wurde,  in  sehr  verbind- 
licher Weise  dahin  zu  beantworten,  daß  die  Monarchie  zwar 
nicht  abgeneigt  sei,  den  englischen  Vermittlungsvorschlag 
in  Erwägung  zu  ziehen;  ihre  kriegerische  Aktion  gegen 
Serbien  dürfe  hiedurch  jedoch  keine  Unterbrechung  erfahren, 
und  die  Monarchie  müßte  überdies  es  zur  Bedingung  für 
ihr  Eingehen  auf  den  Vermittlungsantrag  Sir  E.  Greys 
machen,  daß  Rußland  alle  Mobilisierungsmaßnahmen  sofort 
einstelle  und  seine  Reserven  endasse. 

Die  Konferenz  habe  außerdem  über  eine  Italien  zu 
gewährende  Kompensation  für  den  Fall  beraten,  daß  sie  zu 
einer  dauernden  Besitzergreifung  am  Balkan  genötigt  wäre. 
Es  sei  beschlossen  worden,  daß  es  angesichts  der  bedroh- 
lichen Lage  unbedingt  notwendig  sei,  sich  die  loyale  Koope- 
ration Italiens  zu  sichern  und  zu  diesem  Ende,  obwohl  der 
Artikel  VII  des  Dreibundvertrages  nach  der  eigenen  Inter- 
pretation auf  den  Kriegsfall  mit  Serbien  nicht  zur  Anwendung 
kommen  könne,  der  hievon  divergierenden  Anschauung 
Italiens  —  welcher  sich  auch  Deutschland  angeschlossen 
habe  —  Rechnung  zu  tragen. 

Hiebei  sei  namentlich  die  Eventualität  der  Zedierung 
des  albanischen  Hafens  von  Valona  in  Erörterung  gezogen 
worden,  wogegen  seitens  des  anwesenden  Admirals  Kailer 
unter  der  Voraussetzung  keine  schwerwiegenden  Bedenken 
erhoben  worden  seien,  daß  dieser  Hafen  nicht  zu  einem 
Kriegshafen  ausgestaltet  werden  dürfte. 

Baron  Conrad  hoffe,  Italien  dazu  zu  bewegen,  außer 
der  Erfüllung  der  Bundespflichten  gegen  Frankreich,  der 
Monarchie  auch  Truppen  für  Galizien  zur  Verfügung  zu 
stellen.  Selbstredend  könnten  Kompensationen  für  Italien 
nur  dann  ins  Auge  gefaßt  werden,  wenn  es  der  Monarchie 
gegenüber  im  Falle  des  lokalisierten  Krieges  eine  freund- 
schaftliche Haltung  entgegenbringe,  im  Falle  des  euro- 
päischen Krieges  aber  seinen  Bundespflichten  effektiv 
nachkomme. 

309 


K«iser  Wil- 
helm im 
Gespräche 
mit  dem 
k.  u.  k.  Le- 
gationsrat 
Grafen 
Larisch 
(1.  August) 


Depeschen- 
wechsel 
zwischen 
den  beiden 
Herrschern. 
Telegramm 
Kaiser 
Wilhelms 
(31.  Juli  und 
1.  August) 


Bei  einem  Spazierritte,  den  Kaiser  Wilhelm  am  1.  August 
im  Tiergarten  unternahm,  fand  er  Gelegenheit,  den  k.  u.  k. 
Legationsrat  Grafen  Larisch  in  ein  längeres  politisches 
Gespräch  zu  ziehen '.  Kaiser  Wilhelm  betonte  zu  wieder- 
holten Malen,  daß  Österreich-Ungarn  unbedingt  seine  Haupt- 
macht mit  allen  verfügbaren  Mitteln  gegen  Rußland  richten 
müsse,  da  nach  den  ihm  zukommenden  Nachrichten  die 
Truppenansammlungen  an  der  russischen  Grenze  Riesen- 
dimensionen annähmen.  Weiters  erwähnte  der  deutsche 
Kaiser,  daß  die  Tatsache  der  allgemeinen  Mobilisierung 
Rußlands  ihn  vollkommen  überrascht  hätte.  Was  die  Haltung 
Englands  betreffe,  so  hätte  König  Georg  selbst  dem  Prinzen 
Heinrich  bei  dessen  vor  kurzem  stattgefundenen  Besuch 
in  England  versichert,  England  werde  bei  einem  Konflikt 
der  vier  Kontinentalmächte  nicht  aktiv  eingreifen;  diese 
königliche  Versicherung  habe  jedoch  Sir  Edward  Grey 
24  Stunden  später  desavouiert,  indem  er  dem  deutschen 
Botschafter  erklärte,  England  könne  nicht  ruhig  bleiben 
und  müsse  seine  „Alliierten"  unbedingt  unterstützen. 

An  Kaiser  Franz  Joseph  war  am  31.  Juli  nachmittags 
von  Kaiser  Wilhelm  das  nachstehende  Telegramm  abge- 
sendet worden: 

„Der  heute  von  mir  angeordneten  einleitenden  Mobil- 
„machung  meines  gesamten  Heeres  und  meiner  Marine  - 
„wird  die  definitive  Mobilmachung  in  kürzester  Frist  folgen  =. 
„Ich  rechne  mit  dem  2.  August  als  ersten  Mobilmachungstag 
„und  bin  bereit,  in  Erfüllung  meiner  Bündnispflichten  sofort 
„den  Krieg  gegen  Rußland  zu  beginnen.  In  diesem  schweren 
„Kampfe  ist  es  von  größter  Wichtigkeit,  daß  Österreich  seine 
„Hauptkräfte  gegen  Rußland  einsetzt  und  sich  nicht  durch 
„eine  gleichzeitige  Offensive  gegen  Serbien  zersplittert.  Dies 
„ist  um  so  wichtiger,  als  ein  großer  Teil  meines  Heeres 
„durch  Frankreich  gebunden  sein  wird.  Serbien  spielt 
„in    dem    Riesenkampfe,    in    den    wir  Schulter  an   Schulter 


1  Telegramm  aus  Berlin  d.  d.  1.  August,  2  Uhr  50  Minuten  p.  m., 
Nr.  350. 

-  Übergang  in  den  „drohenden  Kriegszustand"  am  31.  Juli.  (Vgl. 
Seite  308.) 

"  Mobilmachungsbefehl  1.  August  5  Uhr  nachmittags. 


310 


„eintreten,    eine    ganz    nebensächliche    Rolle,    die    nur   die 

„allernötigsten  Defensivmaßregeln  erfordert.   Ein  Erfolg  des 

„Krieges  und  damit  der  Bestand  unserer  Monarchien  kann 

„nur   erhofft  werden,  wenn  wir  beide  den  neuen  mächtigen 

„Gegnern    mit    voller  Kraft  entgegentreten.    Ich    bitte  Dich 

„ferner,  alles  zu  tun,  um  Italien  durch  möglichstes  Entgegen- 

„kommen    zur   Teilnahme  zu  bewegen.    Alles   andere    muß 

„zurücktreten,  damit  der  Dreibund  gemeinsam  in  den  Krieg 

„eintritt. 

Wilhelm." 
• 

Am  1.  August,  5  Uhr  45  Minuten  nachmittags,  wurde  an  Antwo«- 
den  Grafen  Szögyeny  von  Wien    aus    der  Auftrag    erteilt',  '^°ZTZd 
das   folgende   Antworttelegramm   Kaiser   Franz  Josephs  un-  König 
verzüglich  an  Kaiser  Wilhelm  gelangen  zu  lassen:  Josephs 

„Ich  danke  Dir,  teuerer  Freund,  für  Deine  herzerfreuende  ('•  August) 
„Mitteilung  und  bin  in  dieser  ernsten  Stunde  mit  Dir  vereint  ' 
„und   bete  zu  Gott,    daß   er  unseren   verbündeten  Armeen 
„in  ihrem  Kampfe  um  die  gerechte  Sache  den  Sieg  verleihe. 

„Sobald  mein  Generalstab  erfahren  hat,  daß  Du  ent- 
„schlossen  bist,  den  Krieg  gegen  Rußland  sogleich  zu  be- 
„ginnen  und  mit  aller  Kraft  durchzuführen,  stand  auch  hier 
„der  Entschluß  fest,  die  überwiegenden  Hauptkräfte  gegen 
„Rußland  zu  versammeln  -.  Mit  Italien  sind  seitens  meines 
„Generalstabes  Verhandlungen  angebahnt,  welche  auf  eine 
„weitere  Teilnahme  italienischer  Truppen  am  Dreibundkriege 
„abzielen;  eine  fördernde  Einflußnahme  Deinerseits  in  dieser 
„Hinsicht  wäre  dringend  erwünscht. 

'  Entwurf  des  Telegramms  d.  d.  1.  August,  Protokoll  Nr.  6073. 
Expediert  1.  August,  5  Uhr  45  Minuten  p.  m. 

2  Die    militärischen    Ausführungen    des    Telegramms    waren    den    Er-  , 

wägungen  entnommen,  die  der  k.  u.  k.  Chef  des  Generalstabes  am 
1.  August  eigenhändig  auf  einem  besonderen  Blatte  aufgesetzt  hatte.  Diese 
Aufzeichnungen  hatten  ursprünglich  den  folgenden  —  wegen  der  daraus 
zu  ziehenden  Schlußfolgerungen  —  bemerkenswerten  Wortlaut: 

„Auch  hier  stand  mit  dem  Momente,  als  Deutschland  seinen  Willen 
„bestimmt  kundgab,  den  großen  Krieg  tatsächlich  sogleich  zu  beginnen, 
„der  Entschluß  fest,  die  überwiegenden  Hauptkräfte  gegen  Rußland  zu 
„versammeln,  trotz  der  großen  technischen  Schwierigkeiten,  welche  da- 
„durch  entstehen,  daß  die  Transporte  nach  Süden  bereits  im  Laufen  sind, 
„was  vor  zwei  Tagen  noch  hätte  inhibiert  werden  können. 

311 


„Du  kannst  versichert  sein,  daß  seitens  meiner  Armee 
„das  Äußerste  geschehen  wird,  um  den  großen  KampF  zum 
„erfolgreichen  Ausgang  zu  führen.  Mein  Militärattache  in 
„Berlin  berichtet  heute  über  seinen  gestrigen  Empfang  durch 
„Dich.  Ich  bin  hocherfreut  und  begeistert  über  Deine  um- 
„fassenden  Vorkehrungen,  um  unsere  Streitmacht  durch  den 
„Anschluß  neuer  Verbündeter  zu  stärken  '. 

„Angesichts  des  Ernstes  der  Lage  erhielt  mein  Bot- 
„schafter  in  Rom  bereits  den  Auftrag,  der  italienischen 
„Regierung  zu  erklären,  daß  wir  bereit  sind,  deren  Inter- 
„pretation  des  Artikels  VII  des  Vertrages  zu  akzeptieren,* 
„falls  Italien  seinen  Bundespfiichten  jetzt  voll  entspricht. 
„Ich  telegraphiere  auch  selbst  an  den  König  von  Italien,  um 
„ihm  zu  sagen,  daß  wir  nach  dreißigjähriger  Friedensarbeit 
„darauf  rechnen,  daß  die  drei  Verbündeten  ihre  Heere  zu 
„diesem  Entscheidungskampfe  vereinigen  werden"-. 

(Die  Bemerkungen  „trotz  der  großen  technischen  Schwierigkeiten 
.  .  .  ."  bis:  „inhibiert  werden  können",  ebenso  wie  unten:  „man  ist  .  .  .  ." 
bis:  „Deutschlands  dient"  wurden  im  Ministerium  des  Äußern  gestrichen.) 

„Mit  Italien  sind  seitens  meines  Generalstabes  Verhandlungen  an- 
„gebahnt,  welche  auf  eine  weitere  Teilnahme  italienischer  'Truppen  am 
„Dreibundkrieg  abzielen;  eine  fördernde  Einflußnahme  deutscherseits  in 
,dieser  Hinsicht  wäre  dringend  erwünscht. 

„Deutschland  möge  versichert  sein,  daß  hierorts  militärischerseits 
„das  Äußerste  geschehen  wird,  um  den  großen  Kampf  zum  erfolgreichen 
„Ausgang  zu  führen  —  man  ist  sich  hier  bewußt,  daß  die  Aufnahme  des 
„Krieges  durch  die  Hauptkräfte  in  Galizien  zunächst  vor  allem  der  Rücken- 
„deckung  Deutschlands  dient." 

Aus  diesen  Ausführungen  Baron  Conrads  ergibt  sich  die  sachlich 
wichtige  Schlußfolgerung:  Der  deutsche  Generalstab  hat  eine  Beein- 
flussung der  Instradierung  der  österreichisch-ungarischen  Armee  nach  dem 
serbischen  Kriegsschauplatze  nicht  vorgenommen;  eine  Maßnahme,  die 
für  den  Fall  eines  beabsichtigten  gemeinsamen  Angriffskrieges 
gegen  Rußland  nicht  hätte  unterlassen  werden  können. 

Die  —  im  k.  u.  k.  Ministerium  des  Äußern  aus  wohlverständlichen 
Gründen  gestrichene  —  Notiz  Baron  Conrads  hinsichtlich  der  großen 
technischen  Schwierigkeiten,  „welche  dadurch  entstehen,  daß  die 
Transporte  nach  Süden  bereits  im  Laufen  sind,  was  vor  zwei  Tagen 
noch  hätte  inhibiert  werden  können",  involviert  indirekt  einen 
Hinweis  auf  diese  Unterlassung.   (Vgl.  Seite   181,   182.) 

'  Es  handelt  sich  um  die  Bemühungen  Kaiser  Wilhelms  zur  Gewin- 
nung Italiens,  der  Türkei,  Griechenlands,  Rumäniens  und  Bulgariens. 

-  Vgl.  Seite  265. 

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312 


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