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Full text of "Denkmäler griechischer und römischer Skuptur; im Auftrag des K. Bayer. Staatsministeriums des Innern für Kirchen und Schulangelegenheiten, hrsg. von A. Furtwängler und H.L. Urlichs. Handausgabe"

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DENKMÄLER 

GRIECHISCHER  UND 
RÖMISCHER  SKULPTUR 

Im  Auftrag  des  K.  Bayer.  Staatsmini steriums  des  Innern 
für  Kirchen-  und  Schulangelegenheiten 

herausgegeben  von 

A.FURTWÄNGLER  und  H.  L.  URLICHS 


HANDAUSGABE 

Dritte  stark  vermehrte  Aufläse 
Mit  60  Tafeln  und  73  Textabbildungen 


F.  BRUCKMANNA.-O./MÜNCHEN 


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übersetzungsrecht  vorbehalten 
Copyright  by  F.  Bruckmann  A.-G.  München  191 1 


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Druck  Tou  F.  Bruckmann  A.-G.,  München 


VORWORT  ZUR  ERSTEN  AUFLAGE 

Die  hier  gegebene  bequeme  Handausgabe  der  soeben  beendeten, 
in  großem  Folioformate')  publizierten  Auswahl  von  „Denk- 
mälern griechischer  und  römischer  Skulptur"  erscheint  auf  den 
einstimmigen  Wunsch  einer  sehr  großen  Anzahl  von  Leitern  und 
Lehrern  höherer  Unterrichtsanstalten  in  Deutschland,  Österreich- 
Ungarn  und  der  Schweiz.  Sie  soll  es  ermöglichen,  daß  Lehrer  und 
Schüler  jeder  einzeln  für  sich  in  der  Schule  wie  zu  Hause  den 
ganzen  Inhalt  des  großen  Werkes  bequem  sich  vergegenwärtigen 
können. 

Die  Texterklärungen  sind  von  den  Verfassern  von  neuem 
durchgesehen  und  verbessert,  den  fremdsprachlichen  Zitaten  Über- 
setzungen beigefügt  worden.  Vor  allem  aber  sind  die  Texte  nach 
kunsthistorischen  wie  sachlichen  Gesichtspunkten  geordnet  und  in 
zehn  verschiedene  Gruppen  verteilt  worden.  Jeder  dieser  Gruppen 
wurde  ein  zusammenfassender  neuer  Text  vorangestellt,  der  das 
zerstreute  Einzelne  unter  gemeinsamen  größeren  Gesichtspunkten 
zu  betrachten  strebt.  Es  sollen  diese  Texte  nicht  den  Ersatz  einer 
Kunstgeschichte  bieten,  der  Charakter  des  ganzen  Werkes  als  einer 
Denkmälersammlung  sollte  durch  sie  nicht  verändert  werden ;  allein 
das  einzelne  Monument  soll  durch  sie  die  Stelle  angewiesen  er- 
halten, die  ihm  innerhalb  der  gesamten  Entwicklung  der  antiken 
Kunst  zukommt.  Da  die  ausgewählten  Denkmäler  alle  Hauptepochen 
vertreten,  so  gestalten  sich  diese  Gruppentexte  allerdings  zugleich 
zu  einem  Überblick  über  die  ganze  antike  Kunstentwicklung  und 
über  alle  Hauptgattungen  der  alten  Plastik. 

Neuere  Autoren  zu  zitieren  ist  grundsätzlich  fast  ganz  ver- 
mieden worden;  nur  antike  Schriftsteller  sind  an  geeigneten  Stellen 
herangezogen.  Überall  ist  das  Bedürfnis  der  Schule  und  das  der 
weiteren  Kreise  der  Gebildeten  im  Auge  behalten. 

')  Denkmäler  griechischer  und  römischer  Skulptur,  Auswahl  für  den  Schulgebrauch  aus 
der  von  Heinrich  Brunn,  Paul  Arndt  und  Friedrich  Bruckmann  herausgegebenen  Sammlung. 
Im  Auftrage  des  K.  Bayer.  Staatsministeriums  des  Innern  für  Kirchen-  und  Schulangelegen- 
heiten veranstaltet  und  mit  erläuternden  Texten  versehen  von  A,  Furtwängler  und  H.  L.  Urlichs. 
München   1895—1898.     5  Lieferungen. 


IV  VORWORT 

Auch  der  bildliche  Teil  des  Werkes  ist  in  dieser  Handaus- 
gabe gegenüber  der   großen    um    einige  Stücke  vermehrt  worden. 

In  die  Arbeit  haben  sich  die  beiden  Herausgeber  nach  ge- 
meinsam festgestelltem  Plane  zu  gleichen  Teilen  geteilt.  Die  ein- 
zelnen Texte  sind  jeweils  von  ihren  Verfassern  besonders  ge- 
zeichnet. 

München,  im  Juni  1898.  A.  Furtwängler.  H.  L.  Urlichs. 


VORWORT  ZUR  DRITTEN  AUFLAGE 

Das  Ziel  des  in  Illustrationen  reich  vermehrten,  in  Erläuterungen 
vielfach  veränderten  und  erweiterten  Buches  bleibt  das  näm- 
liche wie  früher:  An  vorsichtig  und  maßvoll  ausgewählten  Proben 
wird  das  Verständnis  für  die  Antike  in  ihrer  historischen  Entwick- 
lung und  ästhetischen  Bedeutung  durch  Bild  und  Wort  vermittelt. 
Die  eigenartigen  Texte  Furtwänglers,  dessen  jähen,  frühzeitigen 
Tod  wir  alle  in  immer  gleich  starkem  Schmerze  tieffühlend  be- 
klagen, wurden  in  pietätvoller  Gesinnung  genau  revidiert,  aber 
nur  möglichst  wenig  verändert,  freilich  an  gar  manchen  Stellen 
wesentlich  vervollständigt.  Der  Widerspruch  von  Fachgenossen 
gegenüber  einzelnen  subjektiven  Meinungen  des  kühn  genialen  For- 
schers ist  kurz  hervorgehoben.  Zur  Ergänzung  der  auch  von  mir 
allein  bearbeiteten  Teile  sind  Furtwänglers  andere  Werke  oft  benützt 
worden,  für  die  äginetischen  Skulpturen  waren  seine  Publikationen 
Hauptquelle;  diese  bleiben  ein  unvergängliches  Denkmal  von  Energie 
und  Umsicht,  von  Glück  und  Kombinationsgabe,  für  alle  Zeiten  ein 
stolzes  Monument  der  hohen  Bedeutung  des  großen  Archäologen. 

M  ün  che n,  Ende  April  1911.  Heinrich  Ludwig  Urlichs. 


Von  A.  Furtwängler  sind  in  den  beiden  ersten  Auflagen  be- 
arbeitet: Die  Einleitungen  zu  den  Gruppen  I — IV,  VI  und  die 
Texte  zu  den  jetzigen  Tafeln  1,  2,  5,  7—9,  U^-IS,  18,  19,  21, 
22,  26,   28,  35—40,   43—45,  48,  49   und  56. 


INHALTSVERZEICHNIS 


Seite 


I.  Gruppe:  Die  altertümliche  Kunst    ....  l 
Tafel     1.     Altertümlichejünglingsstatue  von  Tenea.    München,  Glyp- 
tothek      "^ 

2.     Altertümliche  Mädchenstatue.    Athen,  Akropollsmuseum  .  4 

Textfigur  1.    Mädchen  von  der  Akropolis,  ebenda     ....  6 

,,         2.    Kopf  von  Figur  /.....,...■■.••  7 
3/4.    Giebelgruppen    des  Aphaiatempels  von  Ägina.     München, 

Glyptothek 8 

Textfigur  3.     Ostgiebel  des   Aphaiatempds   von   Agina   in 

Wiederherstellung     ....  8 

„         4.     Kopf  und  Schulterten  eines  Knappen  aus  dem 

Ostgiebel 13 

5.     Bogenschießender  Herakles  aus  dem  Ostgiebel  14 

II.  Gruppe:   Götterbilder   aus   dem   fünften  Jahrhundert  16 

Tafel     5.     Athena    Lemnia    des    Phidias.      Marmorstatue.      Dresden, 

Albertinum ^° 

Textfigur  6.    Athena  Lemnia  nach  der  Ergänzung  im  Münch- 
ner Gipsmuseum     ■ 19 

718.     Kopf  der  Athena  Lemnia.     Bologna,  Stadt. 

Museum 20,  21 

6.  Athena  Parthenos.  Marmorstatuette.  Athen,  Zentralmuseum  23 
Textfigur  9.    Gemme  des  Aspasios.    Wien,  Kaiserl.  Antiken- 
sammlungen      24 

7.  Athena  von  Velletri.    Kolossalstatue.    Paris,  Louvre  ...  26 
"               Textfigur  10.    Kopf  der  Athena  von  Velletri.    Vorderansicht  27 

11.      „        „         „         n        "  Seitenansicht  27 

8.  Apoilon  mit  der  Kithara.    Kolossalstatue.    München,  Glyp 


tothek 


28 


„        9.     Statue  der  Hera.    Rom,  Vatikan 30 

10.     Statue  des  Asklepios.    Neapel,  Museo  Nazionale 32 

Textfigur  12.    Asklepios  von  Melos.  London,  British  Museum  34 

„      11.     Dioskur  vom  Monte  Cavallo  zu  Rom      •    •    •  36 

Textfigur   13  und  14.     Die   beiden   Dioskuren    vom   Monte 

Cavallo.    Seitenansichten 38,  39 

15.     Kopf  eines  der  Dioskuren 40 

„      12.     Nike" des  Paionios  in  Olympia,  ergänzt') 41 

III.  Gruppe:  Andere  Skulpturen  des  fünften  Jahrhunderts  44 

Tafel  13.    Die  Eleusinischen  Gottheiten.  Marmorrelief.  Athen,  Zentral- 
museum                                  '*^ 


14,    Orpheus  und  Eurydike.    Marmorrelief.   Neapel,  Museo  Na- 


zionale 


48 


15.    Medusa.    Marmormaske.    München,  Glyptothek 51 

16/17.    Reliefs  vom  Parthenonfries.    Athen  und  London    ■    •    .  52 

Textfigur  16.    Kopf  des  „Apollo"  . "  •    •  53 

„         17.   Jünglingskopf  vom  Westfries 55 

18.    Oberkörper  des  Reiters  mit  bäumendem  Pferd  57 

•)  Nach  einer  Photographie  aus  dem  Verlage  von  Ernst  Wasmuth  in  Berlin. 


VI  INHALTSVERZEICHNIS 

Seite 
Tafel    18.    Gruppe   von    drei   weiblichen  Statuen   aus   dem   Ostgiebel 

des  Parthenon.     London,  British  Museum 58 

„      19,    Liegende   männliche   Statue   aus    dem  Ostgiebel   des   Par- 
thenon.   London,  British  Museum     . 61 

„      20.    Statue   eines   Mädchens    von    der   Korenhalle    des   Erech- 

theions  zu  Athen.    London,  British  Museum 63 

IV.  Gruppe:   Skulpturen   aus   dem   vierten  Jahrhundert: 

Götterbilder,  Jäger  mit  Hund 66 

Tafel  21.     Eirene  mit  dem  Kinde  Plutos.     München,  Glyptothek  .    .  68 

„      22.     Statue  der  Demeter  von  Knidos.    London,  British  Museum  70 
Textfigur  19.      Kopf  der  Demeter  von  Knidos.     Nach  dem 

ergänzten  Abguß 71 

„      23.     Ruhender  Ares.     Rom,  Thermenmuseum 72 

Textfigur  20.     Kopf  des  Ares  Ludovisi 74 

„      24.     Kopf    des    Hermes    aus    der    Gruppe    des    Hermes    und 

des  Dionysosknäbleins.     Marmorgruppe.     Olympia     ...  75 

Textfigur  21.     Statue  des  Hermes.     Olympia      76 

„      25.     Marmorkopf  der  Aphrodite.    Berlin,  Sammlung  von  Kauf- 
mann.    Vorder-  und  Seitenansicht 78 

Textfigur  22.     Mädchenkopf  praxitelischer  Zeit.    München, 

Glyptothek 79 

„      26.     Marmorbüste  aus  Eleusis.    Athen,  Zentralmuseum  ....  80 

„     27.     Zeus  von  Otricoli.    Rom,  Vatikan .  82 

Textfigur  23.     Marmorkopf  des  Zeus.,  Boston,  Museum  of 

Fine  Arts    . • 83 

„  24.  25.  Zeus.    Boston.    Nach  ergänztem  Abguß. 

Vorderansicht.     Seitenansicht 84,  85 

„      28.     Der  Apoll  vom   Belvedere.    Rom,  Vatikan 86 

Textfigur  26.     Kopf  des  Apolls  vom  Belvedere 88 

„     29.     Artemis  von  Versailles.     Paris,  Louvre 89 

„     30.     Melpomene.     Marmorstatue.     Rom,  Vatikan 91 

„      31.     Hypnos.    Bronzekopf.    London,  British  Museum 94 

Textfigur 27.  Hypnos,  Marmorstatue.  Madrid,  MuseodelPrado  96 

„        28.      Hypnos.    Abguß  in  Ergänzung.    Straßburg  .  97 
„     32.    Jäger  mit  Hund. ')   Marmorstatue.  Kopenhagen,  Glyptothek 

Ny-Carlsberg .  98 

Textfigur  29.   Kopf  eines  Jägers.  Marmor.  Rom,  Villa  Medici  99 

V.  Gruppe:  Griechische  Athletenstatuen lOi 

Tafel  33.     Diskobol  nach  der  Bronzestatue  des  Myron  in  Ergänzung. 

Rom,  Thermenmuseum 105 

Textfigur  30,31.  Bronzekopf.  München,  Glyptothek.  Seiten- 
ansicht.    Vorderansicht   ....-■■.  102,  103 

„        32.     Kopf  vom  Diskobol  des  Myron 104 

„        33.     Diadumenos   nach   Polyklet.     Marmorstatue 

aus  Delos.     Athen,  Zentralmuseum    ....    105 
„        34.     Bronzestatue    eines    Faustkämpfers.      Rom, 
Thermenmuseum 106 

')  Nach   einer  Photographie  von  V.  Tryde,   Kopenhagen. 


INHALTSVERZEICHNIS  VII 

Seite 

Tafel  34.     Apoxyomenos.    Marmorstatue  nach  Lysipp.    Rom,  Vatikan  107 

Textfigur  35.     Kopf  des  Apoxyomenos 109 

VI.  Gruppe:  Grabmalen in 

Tafel  35  36.     Zwei  Grabreliefs  in  Athen 113 

Textfigur  36      Trauernde  Dienerin,     Berlin,  K.  Museen  .    .  115 
„      37/39.     Der   sogenannte  Alexandersarkophag  von  Sidon.     Kon- 
stantinopel, Kaiserlich  Ottomanisches  Museum 116 

Textfigur  37.     Perserkopf 117 

„        38139.     Kopf  Alexanders  d.  Gr.     ......    1 18,  119 

„        40.     Perserkopf 121 

„        41.     Kampfgruppe   von    der  Vorderseite   des  Ale- 
xandersarkophags        ...  122 

42.     Perserkopf 123 

„        43.     Makedonenkopf 124 

VII.  Gruppe:  Statuarische  Gruppen 129 

Tafel  40.     Niobe.     Marmorgruppe.     Florenz,  Offizien 131 

Textfigur  44.     Kopf  der  Niobe 133 

„     41.     Rettung   der  Leiche   des  Patroklos  durch  Menelaos.    Mar- 
morgruppe in  der  Loggia  dei  Lanzi,  Florenz 134 

„      42.     Laokoongruppe.     Rom,  Vatikan      137 

Textfigur45.  Laokoongruppe.  Ergänzung.  Dresden,  Albertinum  138 

Textfigur  46.     Kopf  des  Laokoon 141 

„     43.     Odysseus.    Kopf  der  Marmorstatue.    Venedig,  Dogenpalast. 

Vorder-  und  Seitenansicht 142 

Textfigur  47.     Marmorstatue  des  Odysseus 143 

„      44.     Orestes  und  Elektra.     Marmorgruppe  des  Künstlers  Mene- 
laos.    Rom,  Thermenmuseum 146 

VIII.  Hellenistische  Kunst 150 

Textfigur  48.     Nike  von  Samothrake.     Paris,  Louvre   ...  151 
„         49.     Marmorkopfeines  Barbaren.    Brüssel,  Musee 

Royal 152 

„        50,     Marmorrelief  mit  ländlicher  Szene.  München, 

Glyptothek 153 

,,        51.     Bronzekopf  eines  jugendlichen  Satyrs.    Mün- 
chen, Glyptothek 154 

Tafel  45.     Der  Nil.     Kolossale  Marmorstatue.     Rom,  Vatikan     .    .    .  155 
„     46.     Sterbender  Gallier.     Marmorstatue.    Rom,  Kapitolinisches 

Museum 157 

Textfigur  52.     Kopf  des  sterbenden  Galliers   .......  158 

„        53.    Kopf  des  Galaters  aus  der  Marmorgruppe ,, Der 

Galater  und  sein  Weib",  Rom,  Thermenmuseum  159 

IX.  Gruppe:  Historische  Kunst  der  Römer i6i 

Textfigur  54,    Marmorrelief  vom  Trajansbogen  in  Benevent. 

Darbringung  eines  Opfers  durch  den  Kaiser  162 
„         55.    Marmorrelief  von  der  Trajanssäule  in  Rom. 
Sturm  einer  dakischen  Abteilung  gegen  eine 

römische  Festung 163 


VIII  INHALTSVERZEICHNIS 

Seite 

Textfigur  56.    Sauopfer,  den  Penaten  dargebracht.     Relief 

von   der  Ära  Pacis.     Rom,  Thermenmuseum  164 

Tafel  47.     Statue  einer  trauernden  Barbarin.  Florenz,  Loggia  dei  Lanzi  166 

48/49.     Reliefs  der  Marcussäule  zu  Rom,  Piazza  Colonna    .    .  168 

X.  Gruppe:  Griechische  und  römische  Porträts 172 

Textfigur  57.  Altrömer.  Marmorkopf.  München,  Glyptothek  172 
„  58.  Plato.  Hermenbüste.  Rom,  Vatikan  .  .  .  173 
„        59.     Hellenistischer  Feldherr  oder  Fürst.  Kopf  der 

Bronzestatue.     Rom,  Thermenmuseum   ...     174 
„        60.     Hellenistischer    Fürst,    Antiochus   HI.     von 

Syrien  genannt.  Marmorkopf.  Paris,  Louvre     175 
„        61.     Büste   aus  grünem  Basalt,    Cäsar  benannt. 

Berlin,  K.  Museen 176 

„        62.     Terrakottakopf  eines  Altrömers.  Boston,  Mu- 
seum of  Fine  Arts 177 

„        63.     Marmorkopf  der  jüngeren  Agrippina.    Kopen- 
hagen, Glyptothek  Ny-Carlsberg 178 

„        64.     Antoninus  Pius.  Marmorbüste.  Neapel,  Museo 

Nazionale 179 

„        65.     Marmorbüste  des  Caracalla.  Berlin,  K.  Museen    180 
„        66.     Bronzekopf  des  Kaisers   Maximinus    Thrax. 

München,  Antiquarium 181 

„        67.     Marmorkopf  einer   Römerin.      Kopenhagen, 

Glyptothek  Ny-Carlsberg 182 

Tafel  50.     Perikles.     Hermenbüste.     London,  British  Museum    .    .    .    183 

„      51.     Sophokles.     Marmofstatue.     Rom,  Lateran 185 

Textfigur  68.     Kopf  der  Marmorstatue  des  Sophokles  .    .    .    187 

Tafel  52.     Euripides.     Hermenbüste.     Neapel,  Museo  Nazionale     .    .    188 

„      53.     Sokrates.     Hermenbüste.     Rom,  Villa  Albani    ......    190 

Textfigur  69.     Marmorbüste  des  Sokrates.     Neapel,  Museo 

Nazionale 192 

„      54.     Kopf  der  Marmorstatue  Alexanders  des  Großen.    München, 

Glyptothek 194 

Textfigur  70.     Marmorstatue  Alexanders  des  Großen   .    .    .    195 

„      55.     Demosthenes.     Marmorstatue.     Rom,  Vatikan 197 

Textfigur  71.     Demosthenes.      Marmorkopf.      Kopenhagen, 

Glyptothek  Ny-Carlsberg   . 198 

„      56.     Homer.     Marmorherme.     Schwerin,  Großh.  Bibliothek      .    199 
Textfigur  72.     Kopf  des  Homer.     Marmor.     Rom,   Vatikan    201 
,,      vS7.     Zwei  römische  Porträts:  Büste  des  Agrippa  in  Paris,  Louvre, 
und  Bronzekopfeines  Unbekannten  in  Rom,  Konservatoren- 
palast     202 

„      58.     Augustus.     Bemalte  Marmorstatue.    Rom,  Vatikan  ....    205 
Textfigur  73.     Reliefs  vom  Panzer  der  Augustusstatue   .    .    2Ü7 
„     59.     Marmorstatue    einer    Frau    aus    Herkulaneum.     Dresden, 

Albertinum 209 

„      60.     Römischer  Bürger,  mit  der  Toga  bekleidet.    Marmorstatue. 

London,  British  Museum     . 212 


I.  DIE  ALTERTÜMLICHE  KUNST 


L)ie  Kunst  hat  in  Griechenland  schon  im  zweiten  Jahr- 
tausend V.  Chr.  sich  zu  hoher  Blüte  entfaltet.  Es  war  dies  die 
Periode  der  sogenannten  mykenischen  Kultur  mit  ihren  glänzenden 
Palästen,  den  bunten,  von  Goldschmuck  bedeckten  Gewändern, 
prachtvollen  Waffen,  reich  in  Relief  und  Malerei  geschmückten 
Geräten  und  Gefäßen.  Die  Erinnerung  an  diese  Epoche  lebte  im 
Heldengesange  der  Griechen   fort. 

Allein  wie  kunstreich  und  schmuckvoll  man  in  jener  Heroen- 
zeit die  Umgebung  zu  gestalten  wußte,  die  große  monumentale 
Skulptur  befand  sich  noch  in  ihren  Anfängen.  Und  auch  diese 
verkümmerten,  als  die  dorische  Wanderung  zunächst  einen  all- 
gemeinen  Rückgang  der  Kultur  zur  Folge  hatte. 

Erst  langsam  und  allmählich  begann  im  Laufe  des  siebenten 
Jahrhunderts  v.  Chr.  sich  eine  monumentale  Plastik  in  Griechen- 
land zu  entwickeln.  Es  geschah  dies  indes  nicht  ganz  aus  eigener 
Kraft,  sondern  mit  Anregung  aus  der  Fremde,  nach  auswärtigen 
Vorbildern.  Die  Verbindungen  der  lonier  mit  dem  kleinasiatischen 
Hinterlande  und  namentlich  die  Kenntnis  Ägyptens  wirkten  be- 
fruchtend. Für  die  ruhig  stehende  Einzelfigur  entlehnte  man  das 
Schema  einfach  aus  der  ägyptischen  Kunst,  und  auch  in  der  ein- 
zelnen Formgebung  hatte  diese  anfangs  großen  Einfluß.  Doch 
rasch  bahnte  sich  der  griechische  Geist  seine  eigenen  Wege;  er 
brachte  individuelles  Leben  zum  Ausdruck  und  überwand  das  ab- 
strakte, tote  Schema. 

Ein  vorzügliches  Werk,  an  dem  man  die  übernommenen  Grund- 
Denkmäler  griech.  u.  röm.  Skulptur,  3.  Aufl.  1 


2  DIE  ALTERTÜMLICHE  KUNST 

züge  des  ägyptischen  Vorbildes  ebenso  wie  die  Eigenart  des  leben- 
digen griechischen  Geistes  erkennt,  ist  die  Statue  Tafel  1. 

Sie  ist  schon  in  dem  schönen  Marmor  der  Insel  Faros  ge- 
arbeitet, der  für  monumentale  Skulpturen  erst  gegen  Ende  des 
siebenten  Jahrhunderts  benutzt  zu  werden  begann.  Die  älteren 
griechischen  Skulpturen  bestanden  in  der  Regel  aus  Holz  oder 
geringeren  Kalksteinarten,  die  man  im  Altertum  gewöhnlich 
„Porös"  nannte.  Die  Marmorskulptur  entwickelte  sich  zuerst 
auf  den  marmorreichen  Inseln  Naxos  und  Faros.  Erstere  Insel 
ging  voran,  allein  ihr  Material  ist  das  gröbere,  und  der  unendlich 
schönere  parische  Marmor  ward  mit  der  Zeit  natürlich  bevor- 
zugt und  verdrängte  jenen.  Er  gewann  große  Verbreitung;  auch 
in  Attika  sind  fast  alle  altertümlichen  Skulpturen,  die  nicht  aus 
heimischem  Kalkstein  gefertigt  sind,  aus  jenem  parischen  Marmor 
gearbeitet.  Der  schöne  Marmor  des  Fentelikon  bei  Athen  ward 
erst   seit    dem  fünften  Jahrhundert    für   die  Skulptur   ausgebeutet. 

Neben  der  monumentalen  Steinplastik  entwickelte  sich  der 
Bronzeguß  größerer  Statuen.  Samische  Künstler  scheinen  den 
Hohlguß  in  Ägypten  gelernt  und  nach  Griechenland  übertragen 
zu  haben.  Doch  erst  gegen  Ende  des  sechsten  Jahrhunderts 
kommt  der  monumentale  Bronzeguß  zu  voller  Entwicklung  und 
wird  von   nun   an   die  vornehmste  Technik    für   die  Einzelfiguren. 

Die  altertümliche  monumentale  Flastik  hat  menschliche  Figuren 
als  Denkmäler  für  die  Gräber  sowohl  wie  als  Weihgeschenke  für 
die  Heiligtümer  gearbeitet;  sie  hat  aber  auch  Götter  und  Heroen 
gebildet,  sei  es  als  Tempelbilder,  sei  es  als  Votivgaben  in  den 
Heiligtümern.  Und  auch  Tierfiguren  wurden  nicht  selten  als  Weih- 
geschenke  sowie  für  Grabmäler  gearbeitet.  Eine  Grabstatue  ist 
Tafel  1,  ein  Weihgeschenk  aus  einem  Heiligtum  Tafel  2  sowie  Figur  L 

Die  dekorative  Flastik  hatte  die  schönsten  Aufgaben  an  den 
Tempeln  zu  erfüllen,  die  seit  dem  Ende  des  siebenten  Jahr- 
hunderts aus  gewaltigen  Steinblöcken  errichtet  zu  werden  pflegten, 
während  man  sich  in  älterer  Zeit  mit  Holz-  und  Lehmwänden  be- 
gnügt hatte.  Sowohl  die  Metopen  als  die  Giebel  der  Tempel  und 
zuweilen  die  Friese  wurden  nun  mit  Steinskulpturen  bedeckt.  Aus 
parischem  Marmor  bestehen  die  Giebelfiguren  des  Aphaiatempels 
von  Ägina  (Tafel  3/4  und  Fig.  4  u.  5),der  köstlichste  Schatz  des  reifen 
Archaismus,  gleich  ausgezeichnet  durch  sorgfältige  Wiedergabe 
der  Natur  und  rhythmische  Bewegung  in  den  Einzelgestalten  und 
Gruppen  sowie  durch  das  frische  Leben  der  ganzen  Komposition. 


ALTERTUMLICHE  JÜNGLINGSSTATUE 
VON  TENEA 

MÜNCHEN,   GLYPTOTHEK 


JÜNGLINGSSTATUE  VON  TENEA 


TAFEL  1 

ALTERTÜMLICHE  JÜNGLINGSSTATUE 
VON  TENEA 

MÜNCHEN,  GLYPTOTHEK. 

Die  etwa  r'2  Meter  hohe  Statue  wurde  184C  in  der  Nähe  von 
Korinth  an  der  Stelle  des  alten  Tenea  gefunden  und  1853  für  die 
Glyptothek  erworben. 

Sie  besteht  aus  großkörnigem,  parischem  Marmor.  Bei  der 
Auffindung  waren  die  Arme  und  Beine  in  mehrere  Stücke  ge- 
brochen; nur  der  mittlere  Teil  des  rechten  Armes  fehlte  und  ist 
daher  ergänzt  worden.  Im  übrigen  ist  die  Figur  vorzüglich  erhalten; 
namentlich  ist  auch  der  Kopf,  der  durch  ein  übergestülptes  Ton- 
gefäß geschützt  gefunden  wurde,  glücklicherweise  ganz  unversehrt. 

Dargestellt  ist  ein  unbekleideter  Jüngling  in  steifer,  straffer 
Haltung.  Das  Gewicht  des  Körpers  ruht  auf  beiden  Füßen;  der 
linke  ist  etwas  vorgesetzt;  beide  berühren  den  Boden  mit  voller 
Sohle.  Die  Arme  hängen  völlig  symmetrisch  an  beiden  Seiten 
gerade  herab,  und  beide  Hände  sind  in  gleicher  Weise  gekrümmt, 
so  daß  der  Daumen  nach  vorn  zu  stehen  kommt.  Die  Haare  sind 
lang  und  fallen  in  breiter  Masse  auf  den  Rücken  herab.  Sie  sind 
nur  in  einfachen  Wellen  gegliedert.  Sie  waren  ohne  Zweifel  eben- 
so wie  Augäpfel  und  Lippen  einst  bemalt.  Ein  schmückendes 
Band,  das  ursprünglich  auch   farbig  war,  umgibt  den  Kopf. 

Die  Statue  wird  gewöhnlich  als  „Apoll  von  Tenea"  bezeich- 
net. Es  ist  richtig,  daß  der  vorliegende  Typus  einer  jugendlichen 
männlichen  Figur  von  der  altgriechischen  Kunst  für  den  Gott  Apollon 
verwendet  worden  ist.  Allein  er  ist  ebensowohl  auch  zur  Dar- 
stellung von  Heroen  und  Menschen  benutzt  worden.  In  unserem 
Falle  sprechen  nun  die  Umstände  der  Auffindung  entschieden  da- 
für, daß  die  Statue  einen  Verstorbenen  darstellte.  Sie  ward  nämlich 
in  der  Nekropole  von  Tenea  auf  einem  Grabe  gefunden.  Der  Ver- 
storbene ist  aber  nicht  in  der  Tracht  des  Lebens,  sondern  in  idealer, 
unbekleideter  Gestalt  wie  ein  höheres  Wesen,  ein  Heros  dargestellt. 

Alle  wesentlichen  Züge  des  Schemas,  welches  die  Statue  zeigt, 
sind  —  mit  Ausnahme  der  völligen  Nacktheit  —  von  der  ägyp- 
tischen Kunst  entlehnt;  die  damaligen  Erstversuche  monumentaler 
Statuen  bei  den  Griechen  benützten  ägyptische  Vorbilder.  Die 
Durchbildung  im  einzelnen  jedoch  ist  rein  griechisch   und   von  der 

1» 


4  DIE  ALTERTUMLICHE  KUNST 

bei  den  Ägyptern  üblichen  Art  sehr  verschieden.  Der  Jüngling  ist 
nicht  bloß  steif  hingestellt  wie  die  gleichartigen  Figuren  bei  den  Ägyp- 
tern, sondern  steht,  voll  von  eigenster  innerer  Energie,  mit  stramm 
durchgedrückten  Knien  da,  und  aus  dem  Kopfe  leuchtet  schon, 
im  Gegensatze  zu  dem  stumpfen  Ausdruck  bei  den  Ägyptern,  ein 
Strahl  jenes  freien  lebendigen  Menschentums,  das  sich  in  Griechen- 
land so  herrlich  entwickeln  sollte.  Das  steife  Lächeln  an  diesem 
Jüngling  von  Tenea  ist  der  erste  Vorbote  einer  künftigen  Fülle 
individuellen  geistigen  Ausdrucks  in  der  griechischen  Kunst. 

In  der  Bildung  des  Körpers  sind  die  Beine  der  am  meisten 
gelungene  Teil.  Die  feinen  Gelenke,  die  Knöchel  und  Knie,  die 
zierlichen  Füße,  die  straffen,  fleischigen,  von  den  knochigen  Teilen 
deutlich  geschiedenen  Muskeln  sind  schon  überraschend  richtig  ge- 
geben. Viel  unvollkommener  sind  Brust  und  Bauch  gebildet;  doch 
zeigt  sich  auch  hier,  dem  ägyptischen  Vorbild  gegenüber,  ein 
durchaus  selbständiges  Streben  und  eigenes  Beobachten  der  Natur. 
So  ist  der  Brustkorb  wesentlich  richtiger  gegeben  als  im  ägyptischen 
Typus  und  an  einigen  ihm  genauer  folgenden  älteren  griechischen 
Werken. 

Das  Ideal,  welches  dem  Künstler  vorschwebte,  ist  das  eines 
straffen,  athletisch  gebildeten  Jünglings  mit  kräftiger  Brust  und 
feinen  gelenkigen  Gliedern,  frei  von  allem  Weichlichen  und  Vollen. 

Das  Werk  ist  etwa  gegen  Ende  des  siebenten  oder  um  den 
Anfang  des  sechsten  Jahrhunderts  v.  Chr.  entstanden  und  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  ein  vorzügliches  Erzeugnis  der  zu  jener 
Zeit  in  der  Gegend  von  Tenea  (in  Kleonä,  Argos,  Korinth,  Sikyon) 
tätigen  Künstler  Dipoinos  und  Skyllis  oder  ihrer  Schule.  Es  ist 
bei  weitem  das  schönste  erhaltene  Exemplar  einer  in  neuerer  Zeit 
nicht  mehr  seltenen  Gattung  von  altertümlichen  Steinskulpturen, 
die  am  Anfang  der  Entwicklung  monumentaler  Plastik  in  Griechen- 
land stehen. 


TAFEL  2 
ALTERTÜMLICHE  MÄDCHENSTATUE 

ATHEN,  AKROPOLISMUSEUM. 

Auf  der  Akropolis  zu  Athen  wurde  in  den  achtziger  Jahren 
des  vergangenen  Jahrhunderts  innerhalb  des  sogenannten  Perser- 
schuttes, d.  h.  des  durch  die  Einäscherung  der  Burg  um  480  v,  Chr. 


ALTERTÜMLICHE   MADCHENSTATUE 

ATHEN,   AKROPOLISMUSEUM 


ALTERTUMLICHE  MADCHENSTATUE  5 

entstandenen  Schuttes  eine  ganze  Anzahl  ahertümlicher  Mädchen- 
statuen gefunden,  die  in  feinem  parischen  Marmor  gearbeitet  sind 
und  zum  Teil  noch  ihren  ursprünglichen  Farbenschmuck  erhalten 
haben. 

Eines  der  vorzüglichsten  Stücke  dieses  Fundes  gibt  die  Tafel  2 
wieder.  Die  Statue  wurde  1886  in  drei  getrennten  Teilen  nord- 
westlich vom  Erechtheion  gefunden.  Sie  ist  ein  weniges  unter 
Lebensgröße. 

Das  Mädchen  steht  nach  ganz  altertümlicher  Weise  mit  ge- 
schlossenen Beinen  da.  Der  rechte  Arm  hängt  mit  geschlossener 
Faust  in  derselben  ägyptischem  Vorbilde  folgenden  Weise  herab, 
wie  bei  der  vorigen  Figur  des  Jünglings  Tafel  1.  Der  linke 
Unterarm  war  horizontal  vorgestreckt  und  besonders  angesetzt; 
er  ist  nicht  gefunden  worden.  Die  Gewandung  besteht  aus  einem 
ionischen  linnenen  Unterchiton,  der  nur  unten  in  welligen  Linien 
zum  Vorschein  kommt.  Darüber  ist  der  dorische  wollene  Peplos 
gezogen,  der  auf  beiden  Schultern  zusammengesteckt  ist.  Er  wird 
von  einem  Gürtel  umschlossen,  dessen  beide  Enden  vorne  herab- 
fallen ;  vorne  und  hinten  zeigt  der  Peplos  einen  bis  gegen  den 
Gürtel  reichenden  Überfall.  Nur  an  den  Oberarmen  und  an  den 
beiden  Nebenseiten  vom  Gürtel  abwärts  ist  der  Peplos  in  spär- 
liche, knappe  Falten  gelegt;  die  große  Masse  des  Gewandes  ist 
völlig  faltenlos  gebildet. 

Diese  Faltenlosigkeit  des  Gewandes,  ebenso  wie  die  Stellung 
mit  geschlossenen  Beinen,  gehört  der  Typik  der  älterarchaischen 
Kunst  an.  Dagegen  überrascht  der  Kopf  durch  die  außerordent- 
liche Lebendigkeit  des  Ausdrucks  und  die  Feinheit  der  Aus- 
führung. Die  Statue  ist  wesentlich  jünger  als  der  Jüngling  Tafel  1; 
die  Gesichtsformen  und  die  Bildung  der  Haare  sind  von  bedeutend 
entwickelterer  Art.  Der  Künstler  hätte,  wenn  er  gewollt  hätte, 
ebenso  wie  andere  seiner  Zeitgenossen  reiche  Falten  und  eine  be- 
wegtere Stellung  bilden  können;  er  folgte  in  Gewand  und  Stellung 
absichtlich  einer  gewissen  älteren  Tradition.  Die  Wirkung,  die  er 
erzielte,  ist  in  der  Tat  eine  mächtige;  der  Kontrast,  welchen  die 
starre  Haltung  und  die  glatte  Fläche  des  Körpers  mit  dem  leben- 
sprühenden Kopfe  bilden,  wirkt  überaus  fesselnd  und  macht  diese 
Figur  zu  der  anziehendsten  unter  allen  ihren  Genossinnen  auf  der 
Akropolls. 

Das  Haar  fällt  ganz  offen  und  lose  auf  die  Schultern  und 
weit  im  Rücken  herab;  es  entbehrt  jeder  künstlichen  Anordnung. 
Ein  schlichtes,  gerades  Band  liegt  darin.  Wohl  erhalten  ist  die 
rote  Färbung  des  Haares;  auch  die  Iris  der  Augen  ist  rot.  Am 
Gewände  sind   feine  Ornamente    mit   roter  und  grüner  Farbe  auf- 


DIE  ALTERTÜMLICHE  KUNST 


Fig.  1.    Mädchen  von  der 
Akropolis 


gemalt;  vom  Gürtel  abwärts  laufen 
drei  breite  Ornamentstreifen ;  der 
Saum  unten  ebenso  wie  der  Saum 
des  Überfalles  zeigen  sehr  zierliches 
Ornament.  Die  Masse  des  Ge- 
wandes aber  ist  ebenso  wie  alles 
Fleisch  einfach  weiß  gelassen. 

Als  Probe  einer  aus  derselben 
Zeit,  aber  aus  einer  ganz  verschie- 
denen Stilrichtung  stammenden  Figur 
desselben  Fundes  von  der  Akropolis 
geben  wir  eine  zweite  Statue  (Fig.  1), 
die  bisher  nur  im  Oberteil  zusam- 
mengesetzt war  und  erst  jüngst  durch 
glückliche  Angliederung  anderer 
erhaltener  Stücke  vervollständigt 
wurde.  Nun  erscheint  die  Figur, 
die  das  linke  Bein  vorsetzt  und  das 
in  reiche  Falten  gebrochene  Gewand 
mit  der  Linken  emporzog,  in  Be- 
wegung und  Kleidung  erst  recht 
von  dem  Typus  unserer  Tafel 
völlig  verschieden.  Schlank,  elegant, 
wie  verjüngt  steht  sie  da,  freilich  ist 
die  Stellung  der  Füße  noch  unbe- 
holfen, sie  will  in  schwachem  Ver- 
such das  Gehmotiv  zum  Ausdruck 
bringen.  Die  stark  und  mannigfach 
geschwungenen  Faltenzüge  des  eng- 
anliegenden Gewandes  sind  eingra- 
viert und  lassen  die  Formen  der 
Beine  deutlich  durchblicken.  Ur- 
sprüngliche Bemalung  hat  die  jetzt 
leer  erscheinende  Fläche  belebt. 
Die  vorgehaltene  Rechte  hielt  höchst 
wahrscheinlich  eine  Frucht.  Das 
reichgeschmückte  Mädchen  trägt 
über  dem  ionischen  Chiton  ein 
schräg  über  die  Brust  gelegtes, 
auf  der  rechten  Schulter  zusam- 
mengeknüpftes Obergewand  mit 
reich  gefälteltem  Überfall.  Den 
Kopf  (Fig.  2)    mit  den  zierlich  ge- 


ALTERTÜMLICHE  MADCHENSTATUE 


lockten  Haaren  schmückt  ein 
Diadem  ').  Der  Ausdruck  des 
Gesichtes  mit  den  vollen,  sinn- 
lichen Lippen  ist  besonders 
freundlich.  Die  Säume  des  Ge- 
wandes sind  wie  bei  der  Statue 
auf  Tafel  2  mit  farbigem  Orna- 
mente geziert. 

Die  eigentliche  Heimat  der 
Kunstrichtung  dieser  Figur  ist 
ohne  Zweifel  lonien,  und  zwar 
Kleinasien  und  besonders  die 
Insel  Chics,  während  der  Stil 
jener  anderen  Statue  (Tafel  2) 
mehr  auf  einzelnen  Inseln,  wie 
Naxos,  sowie  im  Peloponnes 
erwachsen  sein  wird. 

Beide  Statuen  sind  kaum 
vor  dem  letzten  Viertel  des 
sechsten  Jahrhunderts  entstanden 
zudenken.  Einen  anderen  Namen 
als  „Mädchen",  xöpcti,  können 
wir  ihnen  nicht  geben;    es  sind 

nicht  Göttinnen,  sondern  nur  der  Göttin  Athena  geweihte  Mädchen- 
bilder. Sie  gehören  zu  dem  Köstlichsten,  das  uns  die  archaische 
Kunst  hinterlassen  hat. 


Fig.  2.    Kopf  von  Fig.  1 


')  Oben  im  Scheitel  steckt  ein  langer,  spitzer  Metalinagel  zur  Abwehr  der 
Vögel  von  der  im  Freien  aufgestellten  Figur.  Vgl.  auch  Horaz  Satiren  1, 8,3 — 7. 


DIE  ALTERTÜMLICHE  KUNST 


Fig.  3.   Ostgiebel  des  Aphaiatempels  von  Ägina  in  Wiederherstellung 


TAFEL  3/4 

GIEBELGRUPPEN 

DES  APHAIATEMPELS  VON  ÄGINA 

MÜNCHEN,  GLYPTOTHEK. 

Durch  gnädige  Fügung  des  Geschicks  sind  die  unter  dem 
Namen  „Ägineten"  weltberühmten  Skulpturen  verhältnismäßig  gut 
erhalten  geblieben:  auf  der  Athen  gegenüberliegenden  Insel  Ägina 
erhebt  sich  ein  Tempel,  fern  von  größeren  Siedelungen  in  stiller 
Einsamkeit  auf  waldiger  Höhe  gelegen.  Gerade  vor  100  Jahren 
haben  zwei  Architekten,  der  Engländer  Cockerell  und  der  Nürn- 
berger Haller  von  Hallerstein,  die  von  edler  Begeisterung  für  die 
Antike  und  von  jugendlich  romantischen  Gefühlen  beseelt  waren,  aus 
den  unberührten  Trümmern  des  Tempels  die  aus  feinem  parischen 
Marmor  hergestellten  Statuen  herausgeholt,  unter  dem  huldvollen 
Schutz  von  Athena  Ergane.  Die  Erwerbung  bei  bedenklich  drohender, 


OSTGIEBEL   DES  APHAIATEMP 


WESTGIEBEL   DES   APHAIATEMI 


GEFALLENER  AUS  DER  RECHTEN  ECKE 
DES  WESTGIEBELS 

MÜNCHEN.    GLYPTOTHEK 


F.    ERUCKMANN 


TAFEL  3/4 


^Si.! 


■.LS  VON    ÄGINA    IN    ERGÄNZUNG 


'■^•'•^ 


ELS   VON    AGINA    IN    ERGÄNZUNG 


GEFALLENER  AUS  DER   LINKEN   ECKE 
DES  OSTGIEBELS 

MÜNCHEN.   GLYPTOTHEK 


DIE  GIEBELGRUPPEN  VON  ÄGINA  9 

drängender  Konkurrenz,  der  Transport  von  Malta  aus  durch  Meeres- 
stürme und  Seeräubergefahren  hindurch  bis  zur  Landung  bei  Neapel, 
der  Landweg  von  da  nach  Rom,  das  liest  sich  wie  eine  moderne 
Odyssee.  Die  Bergung  ist  das  Werk  des  Bildhauers  Martin  von 
Wagner,  des  tatkräftigen  und  zähen  Agenten  von  Kronprinz  Lud- 
wig von  Bayern  ').  Jene  beiden  Entdecker,  die  in  engem  Freund- 
schaftsbunde edle  Ziele  gemeinsam  ins  Auge  faßten,  bleiben  dem 
Nachwuchs  für  immer  ein  leuchtendes  Vorbild  idealen  Strebens 
und  ein  stets  gleich  stark  wirkender  Sporn  zur  Nachahmung.  Vor 
allem  gebührt  die  Ehre  dem  kunstsinnigen  Fürsten,  der  gleich  nach 
der  Auffindung  den  hohen  Wert  der  Ägineten  erkannt  und  deren 
Kauf  veranlaßt  hat.  Denn  sie  bildeten  seit  der  1828  in  der  Münchner 
Glyptothek  erfolgten  Aufstellung  bis  zum  heutigen  Tag  ein  sehr 
wichtiges  Muster  reifarchaischer  Kunst  und  vermittelten  zwei 
Generationen  die  allerdings  oft  nur  äußerliche  Kenntnis  jenes  Stils; 
das  „äginetische  Lächeln",  das  ist  der  liebevolle  Ausdruck  der 
Gefühle,  gewann  unter  den  Laien  infolge  Verkennung  der  Absicht 
oft  fast  komische  Bedeutung.  Erst  90  Jahre  nach  der  Auffindung 
wurde  der  Tempelbezirk  unter  Furtwänglers  energischer  und  um- 
sichtiger Leitung  methodisch  durchforscht;  auf  Grund  neuer  Funde 
und  erneuter  Durcharbeitung  des  alten  Materials  ist  die  unserer 
Darlegung  zugrunde  gelegte  Rekonstruktion  bewerkstelligt  worden. 
Die  Modelle  -)  von  ein  Fünftel  natürlicher  Größe  erregen  in  der 
Glyptothek  auch  durch  die  Wiederherstellung  der  reichen  Bemalung 
lebhaftes  Interesse  weiter  Kreise.  Neben  der  harmonischen  Ge- 
schlossenheit und  dem  rhythmischen  Wechsel  beider  Giebelkompo- 
sitionen sehen  die  Originale,  auseinandergerissene  und  lückenhafte 
Teile  des  Ganzen,  gar  öde  und  langweilig  aus.  Deren  Ergänzung 
wurde  in  Rom  unter  Thorwaldsens  Leitung  nach  damaliger  Sitte 
ohne  pietätvolle  Schonung  des  Erhaltenen  in  Marmor  ausgeführt. 
Auch   der   Name    des  Tempels  ward  durch  die  bayerischen   Gra- 


M  Er  drückt  nach  dem  1813  glücklich  erreichten  Kauf  des  kost- 
baren Schatzes  den  freudig  gestimmten  Dank  brieflich  aus  in  den  charak- 
teristischen Worten:  „Wie  Odysseus,  viel  geduldet  haben  Sie,  Wagner, 
und  das  wegen  meiner,  dessen  ich  mein  ganzes  Leben  eingedenk  seyn 
werde".  Das  gleichzeitige  Geschenk,  eine  goldene  Uhr,  zeigt  auf  der  Rück- 
seite ein  „L"  mit  der  Umschrift  des  leicht  geänderten  Verses  von  Vergil 
Aeneis  I,  204:  Post  varios  casus,  post  tot  discrimina  rerum.  („Nach 
mannigfachen  Wechselfällen,  nach  so  vielen  Gefahren".) 

-)  Figur  3  bietet  die  Ostfront  in  Ergänzung  dar:  Sechs  Säulen,  als 
Akroterien  in  der  Mitte  die  feingeformte  Palmette  mit  zwei  Mädchenge- 
staltcn,  an  den  Ecken  je  ein  Greif.  Die  Metopen,  von  denen  man  keine 
Spur  gefunden  hat,  bestanden  vielleicht  nur  aus  bemalten  Holzplatten. 
Das  Ganze  ist  eine  treffliche  Probe  der  streng  regelmäßigen  dorischen  Bau- 
art in  ernstem,  gedrungenem   Stil. 


10  DIE  ALTERTUMLICHE  KUNST 

bungen  festgestellt;  das  Heiligtum,  früher  fälschlich  dem  Zeus  Pan- 
hellenios,  später  scheinbar  mit  etwas  mehr  Berechtigung  der  Athena 
zugesprochen,  ist  jetzt  durch  einen  Inschriftfund  als  Tempel  der 
Aphaia  erwiesen.  Der  Kult  der  auf  dem  Eiland  hochverehrten 
Lokalgöttin  war  in  der  Frühzeit  Griechenlands,  schon  im  zweiten 
vorchristlichen  Jahrtausend  von  kretischen  Siedlern  aus  der  Heimat 
dort  eingeführt  worden;  der  nunmehr  auf  Ägina  heimischen  Aphaia 
ward  zwischen  490  —  480  v.  Chr.  ein  neues  Haus  gebaut.  Auf  diese 
Zeit  führt  der  Stil  von  Architektur  und  Plastik;  bestimmtere  Datie- 
rung war  bisher  nicht  möglich. 

Wir  wenden  uns  nun  der  Betrachtung  der  Skulpturen  zu  und 
beginnen  mit  der  Komposition.  Gleich  der  erste,  leicht  gewon- 
nene Eindruck  lehrt,  daß  die  Statuen  vortrefflich  in  dem  von  der 
Mitte  nach  den  Seiten  schräg  abfallenden  Räume  dastehen,  in  archi- 
tektonischer Regelmäßigkeit  den  Giebeln  sich  eingliedern,  doch 
keine  starren  Gebilde  darstellen,  vielmehr  die  Vorstellung  frischen 
Lebens  wecken.  Dadurch  ist  die  schwierige  Aufgabe  der  Aus- 
füllung des  enggeschlossenen  Rahmens  gelöst.  Doch  auch  inner- 
halb der  Giebelfronten  haben  die  Künstler  für  reichen  Wechsel  in 
Inhalt  und  Gruppierung,  in  Waffen  und  Kleidung  gesorgt.  Ins- 
besondere vermeidet  der  deutlich  erkennbare  Kontrast  der  zwei 
Szenen  im  allgemeinen  die  allzu  leicht  mögliche  Eintönigkeit.  Beide- 
male  weilt  die  Kriegsgöttin  unter  ihren  Helden,  einmal  in  ruhiger 
Situation,  nur  durch  die  Fußstellung  als  gehend  gedacht,  das  zweite- 
mal stürmt  sie,  die  Agis  weit  ausbreitend,  dahin.  Sie  bildet  in 
der  Mitte  den  festen  Punkt  und  wahrt  dadurch  strenge  Symmetrie 
des  Ganzen.  Am  Westgiebel  schließt  sich  je  ein  trefflich  kompo- 
nierter Dreiverein  von  Kämpfern  an ;  nach  altüberliefertem  Schema 
streiten  zwei  Helden  über  einem  Unterlegenen.  Darauf  folgen  je 
zwei  Angreifer,  gegen  einen  Verwundeten  gerichtet.  Gerade  in 
diesen  Daliegenden,  sowie  in  dem  Schild  und  Helm  an  den  Ecken 
scheint  das  allmähliche  Austoben  der  lauten  Schlacht  zu  größerer 
Ruhe  symbolisch  angedeutet  und  zugleich  die  vom  architektonischen 
Standpunkt  aus  schwierige   Ausfüllung  jener  Teile  gelungen. 

Zwar  ebenfalls  regelmäßig,  doch  weit  mannigfaltiger  und  geist- 
reicher präsentiert  sich  die  Ostfront:  mehr  Lösung  statt  Verknüp- 
fung, viel  bunter  Wechsel  der  Bewegung,  fast  ein  elastisches  Hoch- 
und  Niederfluten  der  Glieder,  den  Meereswogen  vergleichbar.  Die 
Gruppen  zu  beiden  Seiten  der  Göttin  sind  aus  vier  Figuren  zu- 
sammengestellt: einem  Niedersinkenden  wird  vom  Sieger  der  Todes- 
stoß versetzt,  ein  Knappe  eilt  zu  Hilfe,  ein  Bogenschütze  zielt 
auf  den  siegesgewissen  Gegner:  edle  Heldentreue  in  schlichter 
Form.     Und   wiederum   klingt  das  hitzige  Gefecht  sanft  aus:  zwei 


DIE  GIEBELGRUPPEN  VON  ÄGINA  11 

Schwerverwundete  hauchen    fern    vom  Getümmel    ihr  Leben  aus, 
Waffen  beschließen  das  Ganze. 

Gerade  in  dieser  ebenso  einfachen  wie  sinnreichen  Raumaus- 
füllung, dem    glücklichen   Ergebnis    reiflicher   Überlegung,  besteht 
das  erste   hohe  Verdienst    der  Künstler.      Im    einzelnen    ist  jeder 
Teil  besonderer  Würdigung  wert.      Die  Hauptgruppen   für  sich  ge- 
nommen erscheinen    als  wohl  gelungene  Bildungen.      Und  weiter, 
der  Gegensatz  von  Aktion  und   Ruhe,  der  Kontrast  von   Nacktheit 
und  Bekleidung,  die  Verschiedenheit  von  Wehr  und  Waffen,  alles 
erregt   Aufmerksamkeit   und   Interesse.      Liegende,    Kniende,    nach 
rückwärts    Sinkende,    vorwärts    Stürmende,  Beispringende    zu    be- 
trachten bietet  immer  neue  Reize;  jeder  in  seiner  Art  ist  in  Stel- 
lung und  Bewegung  eine  achtenswerte  Leistung,  am  kühnsten  er- 
scheint das  Wagnis  der  großartig  gelungenen  Wiedergabe  der  zu- 
rücksinkenden Helden   in  voller  Rundplastik.     Und  überblickt  man 
wieder  das  Ganze,  so  glaubt  man  sich  versetzt  in  den  männermor- 
denden Kampf  um  Troja    und    in    manchen   Betrachters  Phantasie 
gewinnen    einzelne  Episoden,  einzelne  Verse    der  Ilias    plastische 
Verkörperung,  noch  lebensvoller,  wenn  man  vor  den  bunt  bemalten  ') 
Modellen  steht.    Aber  nicht  etwa  bestimmte  Szenen  werden  illu- 
striert, vielmehr  ist  das  lange,  abwechslungsreiche  Ringen  um  die 
starke  Feste  in  zwei  Darstellungen  gewissermaßen  typisch  wieder- 
gegeben.    Und  diese  umfassende  Vorstellung  wird  durch  geringe 
Mittel  erzielt,  durch  elf  bzw.  dreizehn  Gestalten.    Um  Troja  spielen 
sich  die  Vorgänge  ab.    Das  durfte  man  wohl  gemäß  dem  kriege- 
rischen Inhalt  von  vornherein  für  wahrscheinlich  erachten,  erwiesen 
wird  es  durch  die  vorletzte  Figur  rechts  vom  Ostgiebel  (auch  ab- 
gebildet Fig.  5):    Herakles    ist    kenntlich  an  dem  vorne  am  Helm 
sichtbaren  Löwenoberkopf,  der    einen  Teil    dieser  Bedeckung  des 
Hauptes  bildet;  er  zog  im  Bunde  mit  den  Agineten,  mit  dem  Äakiden 
Telamon  gegen  den  Troerfürsten  Laomedon.     Nun  kann  sich  der 
rückwärtige  Giebel  nur  auf  die  spätere  berühmtere  Expedition  be- 
ziehen, woran  wieder  Heroen  der  Insel,  vor  allem  der  Telamonier 
Aias,  hervorragenden  Anteil    nahmen.      Diese  doppelte  Ruhmestat 
wird  von  Pindar^)  in  lauten  Tönen  gepriesen  und  die  Skulpturen 
haben  somit  in  der  fast  gleichzeitigen  Literatur  eine  Parallele  zum 
Zeugnis  für  die   Popularität  der  Sagen.     Die  Darstellungen  waren 
so   recht    geeignet,    die  Erinnerung   an    die    tapferen   Ahnen    beim 
starken,  tatenlustigen  Seevolk  wachzuhalten.     Nähere  Deutung,  be- 


')  Reste  der  ehemaligen  Bemalung  sind  am  Marmor  noch  vorhanden; 
sie  waren  reichlicher  bemerkbar  bald  nach  der  AutHndung  der  Skulpturen. 

2)  Nemeische  Siegesgesänge  111,  36  ff.,  IV,  24  tf. ;  isthmische  V,  35  ff., 
VI,  27  ff. 


12  DIE  ALTERTUMLICHE  KUNST 

stimmte  Benennung  einzelner  Figuren,  genaue  Illustration  des  Epos 
lag  gewiß  weder  im  staatlichen  Auftrag  noch  im  Sinne  der  aus- 
führenden Bildhauer,  Jedem  Betrachter,  jedem  Bewohner  des  Eilands 
kamen  ungezwungen  die  Kämpfe  um  Ilion,  der  Vorfahren  glor- 
reiche Talen  ins  Gedächtnis.  Und  mehr  wollte  damals  die  Kunst 
nicht  zum  Ausdruck  bringen,  nicht  erreichen. 

Mit  eingehender  Betrachtung  einzelner  Gestalten  erzielen  wir 
eine  Würdigung  des  Stils.  Unterlebensgroß  sind  die  Skulpturen 
mit  kurzem  Oberkörper  und  langen  Beinen,  im  Westgiebel  die  Um- 
risse knapp  und  präzis,  fast  etwas  hart  im  Gegensatz  zu  der  volleren, 
reicheren  Formgebung  des  Ostgiebels;  hier  schauen  auch  die  geistig 
durchdrungenen  Physiognomien  ausdrucksvoller  drein  als  dort: 
Übergangsstil,  Mischung  von  Älterem  und  Vollendeterem,  ehrliches 
Ringen  nach  ganzer  Vollendung.  Die  Marmortechnik  wird  kühn 
souverän  geübt,  mit  der  Bronzetechnik  wetteifernd :  ohne  Stütze 
sind  sogar  weit  vorgestellte  oder  vorgestreckte  Glieder  gearbeitet. 
Von  reliefartiger  Behandlung  ist  kaum  mehr  eine  Spur  bemerkbar. 
In  voller  Körperlichkeit  sind  die  Figuren  vor  die  Giebelwand  frei 
hingestellt,  überwiegend  in  Profil,  indes  mehrfach  durch  leichte 
Wendung,  Drehung  en  face  sich  nähernd,  im  einzelnen  in  Haltung 
wohl  noch  unbeholfen :  Athena-West  setzt  die  Füße  zur  Seite,  der 
Körper  ist  nach  vorne  gerichtet.  Genaue  Naturbeobachtung,  liebe- 
volle Ausarbeitung,  getreue  Wiedergabe  des  Nackten  zeichnen  diese 
Werke  des  reifen  Archaismus  besonders  aus,  die  üppig  quellende, 
oft  noch  naiv  zur  Geltung  kommende  Frische  der  Gesichter  zu 
studieren  wird  man  nicht  müde,  es  sind  die  vollen  Knospen,  aus 
denen  die  Blüte  der  hohen  Kunst  zu  schöner  Entfaltung  sich  ent- 
wickelt. Die  helle  Schaffensfreudigkeit,  von  der  die  Meister 
beseelt  waren,  teilt  sich  unwillkürlich  dem  Betrachter  mit,  besonders 
vor  dem  Marmor  in  der  Glyptothek;  dorthin  wird  von  den  Repro- 
duktionen weg  immer  wieder  gerne  jeder  eilen,  dem  der  Zauber 
altertümlicher  Plastik  sich  offenbart  hat,  dort  kommt  auch  der 
gewaltige  Unterschied  von  Original  und  Kopie  durch  den  bequemen 
Vergleich  mit  anderen  Skulpturen  des  Museums  erst  recht  zum 
Bewußtsein.  Die  Ägineten  einer  bestimmten  Schule,  bestimmten 
Künstlern  zuzuweisen,  ist  in  Ermanglung  schriftlicher  Überlieferung 
unmöglich,  jedenfalls  war  nur  durch  lange  Handhabung  jene  Sicher- 
heit in  der  Marmortechnik  und  jener  ausgezeichnete  Naturalismus 
erreichbar,  gewiß  beeinflußt  von  den  östlichen  Inseln,  von  lonien, 
vom  benachbarten  Athen,  vielleicht  auch  durch  einheimische  Tradi- 
tion. Seit  alter  Zeit  sind  gewisse  Figuren  besonders  berühmt. 
Der  bärtige,  in  der  Brust  schwer  verwundete  Krieger  (Tafel  3/4), 
der  auch  in  Todesmattigkeit  heldenhaft  daliegt,  erregt  als  schlichtes 


DIE  GIEBELGRUPPEN  VON  ÄGINA 


13 


Fig.  4.    Kopf  und  Schulterteil  des  beispringenden  Knappen 

aus  der  rechten  Hälfte  des  Äginetischen  Ostgiebels 

München,  Glyptothek 


Bild  des  edlen  Heroismus  starkes  Mitgefühl,  vor  allem,  wenn  man 
auf  das  leiderfüllte  Antlitz  hinschaut.  Bewundernswert  ist  die 
wohlgelungene  Formenbildung,  z.  B.  die  genaue  Wiedergabe  der 
Adern  und  Muskeln  am  linken  Beine.  Am  jugendlichen  Ver- 
wundeten (Tafel  3  4)  weckt  neben  der  ganzen  Haltung,  in  der  das 
rechte  Bein,  über  das  linke  geschlagen,  krampfhaften  Schmerz 
kennzeichnen  soll,  an  erster  Stelle  das  Gesicht  Interesse:  wohl 
deutet  der  breitgezogene,  offene  Mund  jenes  arge  Schmerzgefühl 
an,  aber  nur  verhaltenes  Leid  vermag  der  ernst  sinnende  Blick 
auszuprägen.  Immerhin  bleibt  auch  dieser  Kopf  mit  den  vor- 
quellenden, mandelförmigen  Augäpfeln  eine  sehr  beachtenswerte 
Probe  altertümlichen  Stils;  recht  charakteristisch  für  ihn  ist  die 
Fülle  des  Haares,  die,  vorne  in  zwei  Reihen  Löckchen  geordnet, 
nach  rückwärts  in  langer  und  breiter  Masse  herabfällt;  über  die 
Brust  legten  sich  dereinst  einzelne  Metallocken.  Die  ganze  Frische 
des  reifen  Archaismus  schaut  man  in  den  Zügen  des  jungen 
Knappen  (Fig.  4),  der  weit  vorgebeugt  ausschreitet  und  seinem 
zurücksinkenden  Herrn  beispringend  den  herabgefallenen  Helm  reicht. 


14 


DIE  ALTERTÜMLICHE  KUNST 


Fig.  5.  Bogenschießender  Herakles  aus  der  rechten  Hälfte  des  Äginetischen 
Ostgiebels.    München,  Glyptothek 

Am  schön  gewölbten  Schädel  ist  das  Haar  wie  auf  Tafel  3/4,  Figur 
links  unten,  wohl  in  Anlehnung  an  damalige  Mode,  aber  auch  in  kunst- 
voller Stilisierung  zurechtgeschmückt;  vom  Scheitel  fällt  es  nach  vorn 
und  wird  dort  in  drei  Reihen  Löckchen  zusammengenommen,  die  sich 
durch  sorgfältige  Arbeit  auszeichnen.  Der  Hinterkopf  war  bemalt,  von 
Ohr  zu  Ohr  läuft  ein  dicker  Doppelzopf.  Die  Körperformen  sind 
in  voller  Rundung  durchgeführt.  Der  belebte  Gesichtsausdruck 
läßt  den  freudigen  Pflichteifer  des  treuen  Dieners  in  naiv  reizvoller 
Art  erkennen.  —  Neben  jenem  Sterbenden  in  der  linken  Ecke  des 
Ostgiebels    galt    von    jeher    der    kniende    Bogenschütze    (Fig.  5) 


DIE  GIEBELGRUPPEN  VON  ÄGINA  15 

als  eine  Perle  unter  den  Ägineten;  der  jugendliche  Herakles  wird 
dargestellt  im  Moment  des  Abschnellens  seines  Pfeiles ,  ziel- 
und  sieggewiß.  Schon  die  Situation  ist  äußerst  prägnant.  Nicht 
einmal  das  rechte  Knie  berührt  den  Boden,  es  setzen  nur  der  Ballen 
des  rechten  und  die  Ferse  des  linken  Fußes  auf.  Dadurch  wird 
das  Bewegliche,  das  elastisch  Schwebende  des  athletisch  geschulten 
Helden,  des  in  allen  Gliedern  gymnastisch  durchgebildeten  Körpers 
so  wahrheitsgetreu  wiedergegeben,  daß  man  zweifeln  kann,  ob 
kalter  Marmor  geformt  ist  oder  kräftiges  Leben  pulsiert.  „Welcher 
Ausdruck  von  Spannung  und  Energie,  von  Sto'z  und  Kühnheit, 
von  selbstbewußtem  Vertrauen  auf  jene  volle  Beherrschung  der 
Glieder,  die  nur  gymnastische  Zucht  den  Menschen  gibt.  Am 
ganzen  Körper  ist  nichts,  das  nicht  in  Spannung  wäre.  Und  so 
sind  sie  alle,  diese  Ägineten.  Sie  kennen  kein  Sichnachgeben, 
kein  Sichgehenlassen;  nur  der  Tod  selbst  kann  ihnen  die  Spannung 
rauben  —  ein  Geschlecht,  das  nimmer  müde  wird  noch  matt, 
immer  froh  und  frisch,  immer  arbeitsfreudig,  immer  bereit,  den 
sehnigen,  in  Muskelübung  gestählten  Körper  zur  Tat  voll  einzusetzen. " 
So  gewährt  das  Studium  der  Einzelgestalt  ebenso  großen  Ge- 
nuß als  die  Betrachtung  der  Giebelgruppen  im  ganzen,  wie  sie 
in  den  Modellen  rekonstruiert  sind.  Wir  freuen  uns  dankbar  des 
durch  die  Forschung  Errungenen  und  werden  jetzt  mit  weit  grö- 
ßerem Verständnis  als  unsere  Väter,  unsere  Großväter  Komposition 
und  Stil  der  altberühmten  Ägineten  würdigen  und  zwar  am  besten  in 
der  Münchner  Glyptothek,  wo  Ludwig  L  von  Bayern  als  Kronprinz 
dem  nicht  zum  mindesten  durch  seine  Umsicht  vereinigten  Antiken- 
schatze ein  vornehm  klassisches  Heim  durch  Klenze  bereitet  hat. 
Und  doch,  erst  zur  vollen  Wirkung  kamen  dereinst  jene  in  far- 
benprächtigem Festglanze  prangenden  Skulpturen  an  Ort  und  Stelle, 
im  Zusammenhang  mit  der  Architektur,  für  die  sie  geschaffen  waren, 
in  der  klaren  Beleuchtung  des  Südens,  als  sie  auf  der  einsamen 
Berghöhe  von  Ägina  die  Giebel  des  dorischen  Tempels  schmückten, 
dessen  Ruinen  noch  heutzutage  dem  Seefahrer  in  ihrer  lichten  Er- 
scheinung aus  der  Feme  trauten  Gruß  senden. 


II.  GÖTTERBILDER  AUS  DEM  FÜNFTEN 
JAHRHUNDERT 


Nachdem  die  griechische  Kunst  sich  aus  den  Fesseln  des 
gebundenen  altertümlichen  Stiles  befreit  hatte,  gewann  die  Götter- 
bildung außerordentlich  an  Vertiefung  und  lebendiger  Charakteristik. 
Während  man  vorher  sich  begnügt  hatte  allgemein  menschliche 
Bildungen  durch  äußerliche  Attribute  zu  Göttern  zu  stempeln, 
während  also  ein  Zeus  von  einem  beliebigen  würdigen  bärtigen 
Manne,  Apollon  von  irgend  einem  Jünglinge  sich  nur  durch  äußere 
Zutaten  unterschied,  suchte  und  fand  man  jetzt  Mittel,  das  innere 
Wesen,  die  in  Poesie  und  Glauben  längst  ausgebildete  tiefere  Eigen- 
art des  Gottes  zur  Darstellung  zu  bringen.  Die  große  Kunst  des 
fünften  Jahrhunderts  verstand  es  dabei  das  Erhabene  und  Gött- 
liche immer  als  wesentlichsten  Grundton  festzuhalten,  während  die 
spätere  Zeit  in  der  Vermenschlichung  weiter  ging. 

Das  fünfte  Jahrhundert  ist  die  eigentlich  klassische  Periode 
der  Götterbildung,  in  der  die  bedeutendsten  und  großartigsten 
Schöpfungen,  welche  die  längste  Nachwirkung  hatten,  entstanden. 
Weitaus  der  größte  Anteil  hieran  kam  den  attischen  Künstlern  zu, 
unter  diesen  voran  Myron,  dann  Phidias  und  seinen  Schülern, 
insbesondere  Agorakritos  und  Alkamenes. 

Die  Göttin  Athena  hat  ihre  charaktervollsten  Bilder  fast  alle 
im  fünften  Jahrhundert  erhalten.  Die  späteren  Athenabildungen 
machen  zumeist  einen  etwas  flauen,  weichen  Eindruck  gegenüber 
jenen.  Den  Ernst  und  die  strenge,  hoheitsvolle  Reinheit  im  Wesen 
der  Göttin  hat  nur  die  ältere  Kunst  voll  ausgedrückt. 


GÖTTERBILDER  AUS  DEM  5.  JAHRHUNDERT   17 

Unsere  Tafeln  (5  und  6)  bieten  zwei  Athenastatuen  des 
Phidias  in  antiken  Nachbildungen,  die  Athena  Lemnia')  und  die 
Athena  Parthenos,  beide  trotz  aller  Verwandtschaft  doch  auch  über- 
aus verschieden:  die  Parthenos,  die  in  Glanz  und  Pracht  strahlende 
Göttin,  die  allzeit  siegreiche,  die  deshalb  die  Siegesgöttin  auf  der 
Hand  trägt,  in  voller  Waffenrüstung  und  in  glänzendem  Schmucke, 
der  am  Helm,  an  Ohren  und  Hals,  am  Schilde  und  bis  herab  zu 
den  Sohlen  der  Sandalen  alles  festlich  ziert,  das  Gesicht  mit  freudigem 
Stolze  ruhig  geradeaus  den  frommen  Besuchern  des  Tempels  ent- 
gegengekehrt —  dagegen  die  Lemnia,  schmucklos  und  schlicht,  im 
Werktagskleide,  den  Helm  auf  der  Hand,  die  Ägis  nachlässig  schräg 
umgetan,  in  der  ganzen  Erscheinung  nur  die  kraftvolle,  reine,  hohe 
Jungfrau,  den  Kopf  lebhaft  nach  der  Seite  wendend,  ebenso  knaben- 
haft unschuldig  wie  wunderbar  schön. 

Es  ist  uns  die  Athena  Lemnia  in  außerordentlich  viel  besseren 
Kopien  erhalten  als  die  Parthenos,  indem  dieses  kolossale  Gold- 
elfenbeinwerk nur  gleichsam  in  Auszügen,  jene  Bronzestatue,  um 
bei  dem  Gleichnis  zu  bleiben,  in  genauen  Abschriften  auf  uns  ge- 
kommen ist.  Nur  die  letzteren  geben  uns  einen  Begriff  von  dem 
Höchsten  und  Feinsten,  was  Phidias  vermochte. 

Eine  dritte  Athenastatue  (Tafel  7),  ebenfalls  eines  der  groß- 
artigsten Götterbilder  des  fünften  Jahrhunderts,  zeigt  uns,  wie  ein 
anderer  Künstler  die  Göttin  auffaßte;  sie  hat  hier  statt  der  milden 
Schönheit  phidiasischer  Bilder  mehr  Strenge  und  Ernst,  ihr 
denkendes,  kluges  Wesen  war  dem  Künstler  am  wichtigsten 
erschienen. 

Diese  drei  so  verschiedenen  Bildungen  der  einen  Athena  sind 
zugleich  ein  deutliches  Beispiel  dafür,  daß  die  schöpferische,  eigent- 
lich klassische  Periode  der  antiken  Kunst  keine  festen  Göttertypen 
kennt;  hier  schafft  noch  jeder  Künstler  frei  und  sucht  immer  neue, 
andere  Seiten  der  Gottheit  abzugewinnen,  so  daß  selbst  die  Athena- 
bilder  des  einen  Phidias  untereinander  durchaus  verschieden  waren. 
Die  viel  verbreitete  Vorstellung,  daß  es  im  Altertum  für  jede  Gott- 
heit nur  immer  ein  sogenanntes  kanonisches  Ideal  gegeben  habe, 
ist  falsch  und  hat  höchstens  eine  beschränkte  Geltung  für  die 
Spätzeit,  in  welcher  nichts  Neues  mehr  erfunden  ward  und  von 
der  ganzen  bunten  Fülle  der  älteren  Schöpfungen  nur  wenige  durch 
ständige  Wiederholung  sich  erhielten,  die  nun  die  kanonischen 
Typen  darstellten. 

Auch  eine  großartige  Bildung  des  A  pol  Ion  aus  der  Schule 
des  Phidias  zeigen  unsere  Tafeln  (8);  er  ist  hier  als  der  Gott  der 


')  Siehe  Textzusatz  zu  Tafel  5. 

Denkmäler  griech.  u.  röm.  Skulptur,  3.  Aufl. 


18  GÖTTERBILDER  AUS  DEM  5.  JAHRHUNDERT 

ernsten,  hohen  Musik  in  feierlichem  Schritte,  in  langem  Gewände, 
wie  ein  Kitharode  dargestellt,  der  einen  heiligen  Hymnos  anzu- 
stimmen im   Begriffe  ist. 

Ebenfalls  aus  der  Schule  des  Phidias  ist  die  Hera  (Tafel  9) 
hervorgegangen.  Leider  ist  der  olympische  Zeus  des  Phidias 
uns  nur  in  flüchtigsten  Umrissen  durch  kleine  Münznachbildungen 
hadrianischer  Zeit  bekannt;  die  Ausgrabungen  zu  Olympia  haben 
nur  noch  Splitter  der  steinernen  Basis  dieses  wunderbaren  Gold- 
elfenbeinkolosses zutage  gebracht. 

Dagegen  ist  A  s  k  1  e  p  i  o  s  uns  mehrfach  in  Statuen  erhalten, 
die  auf  Schöpfungen  des  phidiasischen  Kreises  zurückgehen ;  eine 
der  schönsten  ist  die  Tafel  10  wiedergegebene  Statue, 

Die  Dioskuren  vom  Monte  Cavallo  (Tafel  11)  sind  stark  und 
schwungvoll  bewegte,  unbekleidete  Heldengestalten  und  geben  jenen 
bekleideten,  ruhigen  Göttern  gegenüber  eine  notwendige  Ergänzung 
unserer  Vorstellung  von  dem,  was  die  phidiasische  Kunst  in  Ge- 
staltung mythologischer  Figuren  geleistet  hat '). 

Durch  lebhafte  Bewegung  verwandt  ist  die  schwebende  Nike 
von  Paionios  (Tafel  12),  die  uns  glücklicherweise  im  Originale 
erhalten  ist. 


TAFEL  5 
DIE  ATHENA  LEMNIA  DES  PHIDIAS^) 

MARMORSTATUE.     DRESDEN,  K.  ALBERTINUM. 

Die  Tafel  gibt  eine  etwas   überlebensgroße  Marmorstatue  im 
K.  Albertinum  zu  Dresden  wieder.  Ihr  in  zwei  Ansichten  abgebildeter 


')  Siehe  Textzusatz  zu  Tafel  11. 

-)  Das  wundervolle  Bildwerk,  das  als  eine  der  schönsten  Götterstatuen 
des  fünften  Jahrhunderts  wiedererstanden  ist,  ward  namentlich  neuerdings 
dem  Phidias  abgesprochen  und  einem  ebenbürtigen  Zeitgenossen  zuge- 
wiesen, sei  es,  daß  er  ein  Attiker  oder  Peloponnesier  war  oder  Elemente 
beider  Kunstrichtungen  in  sich  vereinigte.  Ganz  sichere  oder  wenigstens 
höchst  wahrscheinliche  Lösung  des  Problems  könnte  nur  dann  erfolgen, 
wenn  Nachbildungen  der  „Lemnia"  auf  anderen  die  dereinstige  Bestimmung, 
des  Originals  klarstellenden  Monumenten,  etwa  auf  Urkunden-,  beziehungs- 
weise Weihreliefs  oder  auf  Münzen  einer  bestimmten  Siedelung  oder  Kult- 
stätte zutage  kämen.  Aber  auch  ohne  Entscheidung  bleibt  die  tiefempfundene 
Freude  am  Anblick  des  herrlichen  Götterbildes  aus  der  Glanzzeit  helle- 
nischer Skulptur  ungeschwächt  lebendig. 


DIE   ATHENA   LEMNIA    DES    PHIDIAS 

DRESDEN,    K.   ALBERTINUM 


ATHENA   LEMNIA 


19 


Kopf  (Fig.  7 
u.  8)  mit  dem 
Halse  bis  zum 

Gewandaus- 
schnitt ist  in- 
des der  Gips- 
abguß eines 
imStädtischen 
Museum  zu 
Bologna  be- 
findlichen 
Marmororigi- 
nales. Die 
rechte  Brust 
und  der  linke 

Armstumpf 
bestehen 
ebenfalls  aus 
Gips;  sie  sind 
abgeformt  von 
einer  in  den 
entsprechen- 
den Teilen 
besser  erhal- 
tenen zweiten 
Statue  inDres- 
den, die  eine 
genaue  Wie- 
derholung je- 
ner ersteren 
ist.  An  dieser 
zweiten  ist 
auch  der  Kopf 
erhalten, nurin 

verstümmel- 
tem Zustande. 

Dieser  Kopf,  der  zwar  abgebrochen  war,  aber  in  seiner  Bruch- 
fläche genau  auf  den  Torso  paßt,  also  zweifellos  zugehört,  ist  eine 
genaue  Wiederholung  jenes  prachtvoll  erhaltenen  Kopfes  in  Bologna, 
dessen  Abguß  deshalb  zur  Vervollständigung  jener  ersteren,  auf 
unserer  Tafel  dargestellten  Dresdner  Statue  benutzt  worden  ist. 
Der  Nachweis  der  Zugehörigkeit  des  helmlosen,  früher  meist  für 
männlich  angesehenen  Kopftypus  von  einziger  Schönheit  zu  diesen 


Fig.  6.    Sog.  Atliena  Lemnia 
nach  der  Ergänzung  im  Münchner  Gipsmuseum 


20  GÖTTERBILDER  AUS  DEM  5.  JAHRHUNDERT 


Athenastatuen  ist  zugleich  mit  dem  Nachweise,  daß  wir  in  diesen 
Marmorwerken  römischer  Zeit  mit  allerhöchster  Wahrscheinlichkeit 
getreue  Kopien  einer  verlorenen  Bronzestatue  der  Athena  von 
Phidias,    und  zwar  der  von  den  Alten  Lemnia  genannten  und  als 

schönstes  Werk  des  Mei- 
sters bewunderten  Statue 
der  Akropolis  zu  Athen 
besitzen,  erst  in  neuerer 
Zeit  gelungen. 

Attische  Vasenbilder, 
ein  attisches  Relief,  sowie 
Nachbildungen  des  Ober- 
körpers der  Statue,  die 
mehrfach  auf  antiken  ge- 
schnittenen Steinen  vor- 
kommen, machen  es  sehr 
wahrscheinlich,  daß  die 
vorgestreckte  rechte  Hand 
der  Göttin  einst  den  abge- 
nommenen Helm  trug.  Die 
erhobene  Linke  stützte 
sich  ohne  Zweifel  auf  die 
Lanze  (Fig.  6).  Die  nach 
älterer  Weise  noch  recht 
groß  gebildete  Ägis  ist 
schräg  umgelegt  und  mit 
Schlangen  über  der  Hüfte 
gegürtet.  Sie  läßt  die  linke 
Brust  frei;  wahrscheinlich 
soll  durch  diese  Art  die 
Ägis  anzulegen,  das  friedliche  Wesen  der  Göttin  hervorgehoben 
werden,  das  sich  auch  in  dem  unbedeckten  Kopfe  deutlich  kundgibt. 
Das  Haar  ist  ziemlich  kurz  und  überdies  hinten  in  einen  Wulst  auf- 
genommen. Eine  breite  Binde,  die  rückwärts  geknüpft  ist,  schneidet 
tief  in  das  weiche,  volle,  lockige  Haar  ein.  Der  Bologneser  Kopf 
gibt  die  feine  Ziselierung  der  Haare  des  Bronzeoriginales  offenbar 
recht  treu  wieder.  Die  Augenhöhlen  sind  an  diesem  Kopfe  leer, 
weil  das  Auge  aus  farbigen  anderen  Stoffen,  in  Nachahmung  der 
an  dem  Bronzeoriginal  befolgten  Weise,  eingesetzt  war. 

Die  Göttin  steht  fest  auf  dem  rechten  Fuße,  der  linke  ist 
entlastet  zur  Seite  gesetzt,  gleichfalls  noch  mit  ganzer  Sohle  ruhend, 
doch  erscheint  im  Gegensatz  zur  Athena  Parthenos  die  Figur  auch 
dadurch  viel  bewegter.     Sie  hat  schlanke,  kraftvolle,   zum  Männ- 


Fig.  7.    Kopf  der  Athena  Lemnia 
Bologna,  Stadt.  Museum 


ATHENA  LEMNIA 


21 


liehen  neigende  Körperformen.  Die  Hüften  sind  schmal,  der  Busen 
ist  flach,  doch  die  Brust  kräftig  breit.  Auch  der  Kopf  enthält  zu 
dem  weiblichen  eine  Beimischung  knabenhaft  männlichen  Wesens. 
Die  Göttin  ist  das  Idealbild  klarer  Reinheit,   Unschuld   und  Kraft. 

Der  Kopf  ist  stark 
nach  der  einen  Seite 
gewendet,  während  der 
Körper  an  dieser  Be- 
wegung keinen  Teil 
nimmt  und  sich  gerade 
von  vorn  zeigt.  Es  ist 
dieseinegewisse  Härte, 
die  den  Werken  um  die 
Mitte  des  fünften  Jahr- 
hunderts noch  eigen  ist. 
Jene  Wendung  des 
Kopfes  beweist  aber 
auch,  daß  das  Original 
der  Statue  kein  Tempel- 
bild war,  indem  ein 
solches  mehr  geradeaus 
dem  anbetend  von  vorn 
Nahenden  entgegen- 
blicken mußte. 

Das  Gewand  der 
Göttin  ist  dasselbe,  das 
auch  die  Parthenos 
trägt ;  es  ist  der  dorische 
Peplos  aus  kräftigem 
Wollstoff.   Er  hat  einen 

großen  Überschlag  und  ist  darüber  gegürtet.  An  der  rechten 
Seite  ist  er  offen.  Es  ist  das  für  die  kräftige  Jungfrau  charakte- 
ristische Gewand').  Die  Faltengebung  ist  sehr  verwandt  derjenigen 
an  der  Parthenos,  zeichnet  sich  vor  dieser  aber  aus  durch  eine 
gewisse  kühne  Frische  und  weniger  absichtlich  wirkende  Anord- 
nung. Dagegen  lassen  verschiedene  Anzeichen  in  der  stilistischen 
Behandlung  des  Gewandes  wie  auch  des  Kopfes  erkennen,  daß  das 
Original  ein  wenig  älter  als  die   Parthenos  gewesen  sein  muß. 

Dies  Original  muß  ein   sehr  berühmtes  gewesen  sein.    Außer 
mehreren  Marmorkopien  sind  uns  auch,  wie  schon  bemerkt,  ver- 


Fig.  8.     Kopf  der  Athena  Lemnia 
Seitenansicht 


')  Über  diese  Tracht  vgl.  auch  den  Text  zu  dem  Relief 
nischen  Gottheiten"  (Taf.  13). 


.Die  Eleusi- 


22    GÖTTERBILDER   AUS  DEM  5.  JAHRHUNDERT 

schiedene  Nachbildungen  des  Oberteils  der  Statue  auf  geschnittenen 
Steinen  erhalten.  Daß  das  Original  von  Bronze  und  daß  es  kein 
Tempelbild  war,  ist  schon  erwähnt  worden.  Die  große  Verwandt- 
schaft mit  der  Parthenos  läßt  vermuten,  daß  auch  dies  ein  Werk 
desselben  Künstlers,  des  Phidias,  war.  So  bezeugen  die  Monu- 
mente eine  einst  berühmte  unbehelmte  Athena  phidiasischen  Stiles. 
Nun  wissen  wir  anderseits  durch  die  literarische  Überlieferung'),  daß 
zu  Athen  auf  der  Akropolis,  nicht  als  Tempelbild,  sondern  als  Weih- 
geschenk im  Freien,  eine  Bronzestatue  der  Athena  von  Phidias  stand, 
welche  nach  den  Weihenden  die  Lemnia  genannt  wurde  und  durch  ihre 
außerordentliche  Schönheit  berühmt  war.  Lukian-)  schwärmt  ins- 
besondere von  dem  Gesichte  der  Göttin,  dessen  ganzen,  also  von 
einer  attischen  Helmkappe  offenbar  nicht  beeinträchtigten  Umriß 
er  zu  der  Musterschönheit  nehmen  will,  die  er  aus  den  berühm- 
testen Statuen  konstruiert.  Ferner  erfahren  wir  durch  Himerius') 
von  einer  durch  Schönheit  des  Gesichts  und  Helmlosigkeit  cha- 
rakterisierten, aber  sonst  nicht  näher  bezeichneten  Athena  des 
Phidias.  Da  aber  gerade  die  Lemnia,  wie  aus  Lukian  zu  schließen 
ist,  im  Kreise  der  späteren  Rhetoren  als  diejenige  Athena  des  Phidias 
galt,  die  durch  Schönheit  hervorragte,  so  ist  die  Identifikation  der 
helmlosen  Athena  des  Himerius  mit  der  Lemnia  als  nahezu  sicher 
anzusehen.  Die  literarische  Überlieferung  von  dieser  durch  ihre  ein- 
zige Schönheit  des  Gesichtes  berühmten  helmlosen  Lemnia  stimmt 
nun  aber  so  vortrefflich  zu  jener  durch  die  erhaltenen  Kopien  in 
Marmor  und  auf  Gemmen  erschlossenen  phidiasischen  Athena- 
statue,  daß  an  ihrer  Identität  kaum  ein  Zweifel  sein  kann. 

Die  Marmorkopien  der  Lemnia  bieten  uns  zum  erstenmal  ein 
Götterbild  des  Phidias  in  genauer,  auch  in  der  Größe  dem  Ori- 
ginale entsprechender  Nachbildung;  denn  die  Kopien  der  Parthenos 
sind  alle  ungenau,  weil  freie  Reduktionen  eines  Kolossalbildes. 

Die  Entstehungszeit  der  Athena  Lemnia  ist  rund  um  die  Mitte 
des  fünften  Jahrhunderts  anzusetzen.  Genauer  fällt  sie  wohl  um 
447,  indem  sie  wahrscheinlich  in  Beziehung  steht  zu  der  um  diese 
Zeit  erfolgten  Herabsetzung  des  jährlichen  Tributs  von  Lemnos  auf 
die  Hälfte  des  früheren  Betrages.  Diese  ist  aller  Wahrschein- 
lichkeit nach  dadurch  veranlaßt,  daß  attische  Bürger  neues  Land 
auf  Lemnos  angewiesen  bekamen,  weshalb  der  Tribut  natürlich 
herabgesetzt  werden  konnte.  Die  Statue,  die  Phidias  ausführte, 
ist  wahrscheinlich  der  Dank  der  Athener  auf  Lemnos  für  die  Ver- 


')  Pausanias  Beschreibung  Griechenlands  I,  28,  2. 

2)  Bilder  6,  vgl.  auch  4. 

3)  Reden  21,  4. 


ATHENA  PARTHENOS  23 

Stärkung  durch  Zuzug  neuer  attischer  Bürger  und  ein  Zeichen  des 
dadurch  hergestellten  engeren  Verhältnisses  zur  Heimatstadt  und 
ihrer  Göttin.  Die  Statue  ward  nach  den  Athenern  auf  Lemnos, 
die  sie  geweiht,  die  Lemnierin  genannt. 


TAFEL  6 
ATHENA  PARTHENOS 

STATUETTE  AUS  PENTELISCHEM  MARMOR 
ATHEN,  ZENTRALMUSEUM. 

Gegen  Schluß  des  Jahres  1880  ist  zu  Athen  in  der  Nähe 
eines  Gymnasiums,  das  nach  dem  Stifter  Varvakion  heißt,  die  mit 
der  Basis  etwas  über  einen  Meter  hohe,  auffallend  gut  erhaltene 
Statuette  ans  Licht  gekommen;  nach  dem  Fundorte  benannt,  zählte 
sie  bald  zu  den  bekanntesten  Überresten  antiker  Plastik.  Sie  ist 
eine  Kopie  aus  hadrianischer  Zeit.  Daß  dieselbe  eine  Nachbildung 
des  Götterbildes  ist,  welches  Phidias  für  die  14  m  hohe  Cella  des 
Parthenon  auf  der  Burg  von  Athen  438  v.  Chr.  vollendet  hat,  konnte 
bei  einem  Vergleiche  der  genauen  Beschreibung,  die  Pausanias ') 
von  dem  Originale  gibt,  und  der  bereits  nachgewiesenen  Kopien 
des  Meisterwerkes  nicht  bezweifelt  werden.  Es  war  im  wesent- 
lichen eine  Holzstatue,  deren  Gewandteile  mit  einer  dünnen,  ab- 
nehmbaren Goldhülle  überzogen  waren,  während  Elfenbeinplättchen 
die  nackten  Körperteile  bedeckten.  Die  Gesamthöhe  betrug  ver- 
mutlich ungefähr  12  m -),  das  Gewicht  des  Goldes  allein  wahr- 
scheinlich 44  Talente  1 1 52,62  kg.  Die  Varvakionstatuette  gibt  zum 
erstenmal  eine  Gesamtvorstellung  des  chryselephantinen  Kolosses. 
Wenn  sie  auch  erst  in  der  römischen  Kaiserzeit  ohne  Kunstver- 
ständnis gearbeitet  ist,  so  bietet  sie  doch  das  Urbild  ohne  willkür- 
liche Umgestaltung,  nur  mit  teilweiser  Abstreifung  des  reichen 
Nebenwerkes,  wie  vor  allem  der  Reliefs,  getreu  dar. 

Auf  einer  an  der  Vorderseite  architektonisch  gegliederten  Basis 
steht  die  Göttin,  in  jugendlichen,  kräftigen  Formen  gebildet,  auf- 


')  Beschreibung  Griechenlands  I,  24,  5—7. 

-)  Die  Höhe  des  Goldelfenbeinbildes  ohne  Basis  wird  auf  etwa  10 — 1 1  m 
berechnet.  Schwanthalers  kolossale  Bronzestatue  der  Bavaria,  die  zu  Mün- 
chen in  freier  Natur  auf  der  die  Theresienwiese  begrenzenden  Anhöhe 
mächtig  emporragt,  ist  ohne  das  stattliche  Steinpiedestal  ungefähr  20,5  m, 
also  fast  doppelt  so  hoch. 


24   GÖTTERBILDER  AUS  DEM  5.  JAHRHUNDERT 


recht  da.    Der  Peplos,  der,  in  Steilfalten  geordnet,  sie  bis  zu  den 
Füßen  bekleidet,    ist  auf  der  rechten  Seite   offen;    sein  Überwurf 

fällt   tief  herab  und  ist  über  den 


>.^*<4^ 


Fig.  9.    Gemme  des  Aspasios 
Wien,  Kaiserl. Antikensammlungen 


Hüften  mit  einem  Gurte  zusam- 
mengezogen und  in  regelmäßigen 
Falten  kunstvoll  zurechtgelegt.  Auf 
der  schuppigen, schlangenumsäum- 
ten  Ägis,  die  kragenartig  um  die 
Brust  sich  legt,  ist  in  der  Mitte 
das  in  altertümlichem  Stile  fratzen- 
haft gebildete  Medusenhaupt  an- 
gebracht. Der  Helm,  dessen  Kappe 
am  Hinterkopfe  bis  über  den 
Nacken  schützend  hinabreicht  und 
vorn  ein  breites  Stirnband  trägt, 
liegt  am  Kopfe  eng  an  und  läßt  vor 
den  Ohren  kleine  Ringellocken 
hervorquellen,  während  von  rück- 
wärts je  zwei  langgezogene  Haar- 
strähnen über  die  Ägis  nach  vorn 
sich  legen.  Hoch  empor  ragt  der 
reichgebildete  Schmuck  des  Helms. 
In  der  Mitte  ruht  auf  einer  Sphinx 
der  geschwungene  Bügel,  der  bis  in  den  Nacken  hinabreicht,  zu  den 
Seiten  desselben  bildet  je  ein  teilweise  zerstörtes  Flügelpferd  die 
Grundlage  zweier  weiterer  Büsche.  Die  Backenklappen  sind  schräg 
nach  aufwärts  geschlagen. 

Von  den  mit  hohen  Sohlen  bekleideten  Füßen  steht  der  rechte 
ganz  auf  dem  Boden  auf  und  ist  so  der  Träger  der  Last,  der  linke, 
ein  wenig  zur  Seite  gesetzt  und  leise  erhoben,  läßt  die  Form  des 
Spielbeines  durchschauen  und  gibt  der  schweren  Gewandung  eine 
mäßige  Bewegung,  ohne  die  strenge  Regelmäßigkeit  des  Ganzen 
zu  stören.  Beide  Arme  sind  am  Handgelenke  mit  Schlangenbändern 
geschmückt.  Auf  der  rechten  geöffneten  Hand  schwebt  Nike,  deren 
Kopf  nicht  erhalten  ist,  in  langem  Kleide  und  mit  gesenkten  Flügeln, 
die  stetige  Gefährtin  der  siegreichen  Athena.  Sie  ist  halb  zum  Be- 
schauer gewandt,  dem  sie  mit  beiden  Händen  eine  Binde  wie  zur 
Bekränzung  gereicht  haben  wird.  Da  die  schwere  Last  der  Nike 
von  dem  frei  gehaltenen  Arme  nicht  getragen  werden  konnte,  so 
ist  eine  Stütze  in  der  Form  einer  Säule  untergestellt  worden,  die 
zugleich  die  sonst  unangenehm  wirkende  Leere  auf  der  rechten 
Seite  ausfüllt.  Denn  auf  der  linken  faßt  die  Göttin  nur  leicht  den 
großen,    kreisförmigen,    in   der   Mitte   mit   Gorgomaske    gezierten 


ATHENA    PARTHENOS 

ATHEN,    ZENTRALMUSEUM 


ATHENA  PARTHENOS  25 

Schild,  der  auf  eine  kleine  Erhöhung  aufgesetzt  ist.  In  der  inneren 
Wölbung  ringelt  sich  eine  mächtige,  bärtige  Schlange  empor,  die 
Hüterin  der  Burg,  das  heilige  Tier  des  Erichthonios.  Die  Angriffs- 
waffe der  Athena,  die  Lanze,  war  im  Originale  an  der  linken  Schulter 
angelehnt. 

Das  Geistige,  das  in  dem  Urbilde  lebte,  prägt  sich,  wenn  auch 
sehr  vermindert'),  in  dem  Gesichte  dieser  recht  geringen  Kopie 
aus;  tadellos  erhalten,  zeigt  es  volle,  runde  Formen,  ebenso  wie 
der  Hals  durch  kräftige  Bildung  auffällt.  Der  Mund  ist  leise  ge- 
öffnet und  verleiht  dem  Antlitze  den  Ausdruck  frischen  Lebens, 
den  im  Originale  die  leuchtenden  Augensterne  aus  Edelsteinen 
noch  gesteigert  haben  werden.  Man  erkennt  in  den  klugen,  ge- 
messenen, Hoheit  und  auch  Milde  offenbarenden  Zügen  die  würdige 
Tochter  des  Beraters  Zeus,  dessen  Haupt  sie  entsprungen  und  dessen 
Offenbarung  sie  ist.  Indes  das  Großartige  der  Erscheinung  beruht 
in  der  Erhabenheit  der  ganzen  Gestalt.  Denn  trotz  der  Kleinheit 
der  Kopie  glaubt  man  die  Statue  in  ihrer  gewaltigen  Größe  vor 
sich  zu  sehen  und  gewinnt  eine  klare  Vorstellung  von  dem  ehr- 
würdigen Tempelbilde,  das,  auch  losgelöst  von  der  strengen  dori- 
schen Architektur  der  säulenumgebenen  Cella,  mit  tiefer  religiöser 
Scheu  erfüllt,  während  der  Anblick  des  Frieses')  durch  den  reichen 
Wechsel  immer  frischen  Lebens  den  Beschauer  in  gehobene  Stim- 
mung versetzt.  Phidias  hat  in  der  Goldelfenbeinstatue  viel  von 
dem  zum  Ausdruck  gebracht,  woraus  die  Blüte  des  perikleischen 
Zeitalters  sich  entfaltete,  Achtung  gebietende  Stärke,  nach  sieg- 
reichen Kämpfen  bewaffneten  Frieden,  Verstand  und  Geist,  endlich 
den  Reichtum  an  barem  Gelde.  „Die  Göttin  auf  der  Burg  war 
die  Personifikation  der  mächtigen  Stadt,  deren  Herrschaft  Meere 
und  Länder  umspannte.  Es  war  die  Herrin,  die  ihr  Volk  und 
dessen  Verbündete  beschirmt,  zur  See  und  auf  dem  Lande  zum 
Siege  führt."  Die  Auffassung  der  Athena  als  der  majestätischen, 
friedlichen,  aber  wohlgerüsteten  und  starken  Schutzgöttin  ist  im 
Gegensatze  zu  der  lanzenschwingenden  Pallas,  der  kampfesfreudigen 
Promachos  der  älteren  Zeit  von  nun  an  in  der  Kunst  maßgebend 
geblieben,  und  dieses  Bild  der  Göttin  ist  auch  uns  vertraut. 

')  Einen  Ersatz  bietet  die  vortretfliche  Gemme  des  Aspasios  aus 
augusteischer  Zeit  (Fig.  9). 

-)  Proben  sind  Tafel   16—17  abgebildet. 


26    GÖTTERBILDER  AUS  DEM  5.  JAHRHUNDERT 


TAFEL  7 
ATHENA  VON  VELLETRI 

KOLOSSALSTATUE.   PARIS,  LOUVRE. 

Diese  wohlerhaltene  Marmorstatue  gibt  ein  im  Altertum  be- 
rühmtes Bronzeoriginal  wieder;  wir  besitzen  noch  andere  Marmor- 
kopien, namentlich  des  Kopfes,  z.  B.  in  der  Münchner  Glyptothek 
aus  Villa  Albani  in  Rom;  doch  die  Pariser,  in  einer  römischen 
Villa  zu  Velletri  gefundene  Statue  ist  die  beste  der  Kopien. 

Die  Göttin  steht  in  majestätischer  Haltung  da.  Auf  dem  linken 
Fuße  ruht  sie  fest  auf,  während  sie  den  rechten  nach  sich  zieht; 
die  Spitze  des  rechten  Fußes  ist  ziemlich  stark  nach  außen  ge- 
wendet, wodurch  der  Unterkörper  breite  und  monumentale  Ruhe 
erhält.  Der  rechte  Arm  ist  erhoben  und  faßte  die  schräg  nach 
unten  aufgestützte  Lanze  hoch  am  Schafte.  Die  rechte  Hand  mit 
der  vorderen  Hälfte  des  Unterarmes  ist  jetzt  erneuert,  am  Ellen- 
bogen ist  der  Arm  gebrochen ;  er  war  wahrscheinlich  etwas  mehr 
gebogen.  Der  linke  Arm  liegt  fest  am  Körper  an,  der  Unterarm 
ist  vorgestreckt,  die  Hand  ist  ergänzt;  sie  trug  einst,  wie  eine 
athenische  Kupfermünze  zeigt,  welche  das  Original  der  Statue  nach- 
bildet, eine  Nikefigur,  die  der  Göttin  in  Athen  so  unlöslich  ver- 
bunden ist  und  die  auch  die  Parthenos  des  Phidias  auf  der  Hand 
trug.  Auf  einer  anderen  Münze  und  zwar  von  Amastris  in  Pa- 
phlagonien,  die  gleichfalls  das  Urbild  des  Werkes  wiedergibt,  hält 
die  Linke  die  Eule. 

Die  Gewandung  der  Göttin  besteht  aus  dem  dorischen  Peplos 
von  derbem  Wollstoffe,  der  wie  bei  der  Parthenos  mit  einer  Schlange 
gegürtet  ist;  an  der  Seite  ist  er  indes  nicht  offen,  sondern  zuge- 
näht. Darüber  trägt  sie  den  Mantel,  ebenfalls  von  dickem,  wol- 
lenem Stoffe,  der  auf  der  linken  Schulter  aufruht  und,  um  die 
Hüften  geschlungen,  vom  linken  Arme  festgehalten  wird.  Er  bildet 
vorn  einen  großen,  dreieckigen  Überschlag.  Dieser  Mantel  trägt 
sehr  zur  majestätischen  Erscheinung  der  Göttin  bei. 

Auf  der  Brust  ruht  wie  ein  Kragen  die  Ägis,  die  hier  auch 
am  oberen  Rande  mit  Schlangen  besetzt  ist,  absichtlich  klein  ge- 
bildet, da  Athena  nicht  als  streitbare  Göttin  gedacht  ist.  Der  Ober- 
kopf wird  vom  Helme  bedeckt,  der  die  korinthische  Form  hat; 
heruntergezogen  deckte  derselbe,  der  Ausschnitte  für  die  Augen 
hatte,  das  ganze  Gesicht;  gewöhnlich  trug  man  ihn  zurückgeschoben. 


ATHENA  VON    VELLETRI 
PARIS,    LOUVRE 


ATHENA  VON  VELLETRI 


27 


Fig.  10  u.  11.    Kopf  der  Athena  von  Velletri.    Paris,  Louvre 


SO  wie  er  auch  am  Porträt  des  Perikles  erscheint.  Ihr  Haar  hat 
die  Göttin  in  der  schlichtesten  Weise  zurückgestrichen. 

Die  Züge  und  der  Ausdruck  des  Kopfes  (Fig.  10  u.  11)  stehen  in 
vollem  Gegensatze  gegen  das  volle  breite  Gesicht  der  Parthenos 
und  ihr  freudig  sieghaftes  Wesen.  Hier  bilden  Ernst  und  Strenge 
den  Ausdruck;  es  ist  die  sinnende,  denkende,  kluge  und  reine  Jung- 
frau dargestellt. 

Der  Kopf  ist  vortrefflich  erhalten,  indem  selbst  die  Nase  antik 
ist.  Er  erscheint  schmal  und  fein  gegenüber  der  mächtigen,  breiten 
Brust.  Sehr  charaktervoll  ist  auch  das  Gewand  behandelt.  Es 
zeigt  schwere,  einfache,  wahre  Falten,  die  nicht  gefällig  sein  wollen, 
die  aber  an  der  Majestät  und  Wucht  der  ganzen  Erscheinung  wesent- 
lich beteiligt  sind. 

Die  Eigentümlichkeiten  des  Stiles  von  Kopf  und  Gewand  lassen 
sowohl  eine  Zeitbestimmung  als  eine  Vermutung  über  den  Künstler 
zu,  dem  wir  das  Original  verdanken.  Dasselbe  muß  in  der  peri- 
kleischen  Zeit,  doch  an  ihrem  Ende,  kurz  vor  Ausbruch  des  Pelo- 
ponnesischen  Krieges  entstanden  sein ;  wie  die  athenische  Münze 


28  GÖTTERBILDER  AUS  DEM  5.  JAHRHUNDERT 

zeigt,  befand  es  sich  im  Bereiche  Athens.  Der  Künstler  aber  muß 
dem  Kreise  des  Phidias  unabhängig  gegenübergestanden  haben. 
Genauere  Vergleiche  der  Formen  mit  anderen  Werken,  z.  B.  mit 
der  Herme  des  Perikles  und  mit  der  Medusa  Rondanini  lehren, 
daß  es  wahrscheinlich  Kresilas  war,  der  Künstler,  der  eben  den 
Perikleskopf  gebildet. 

Die  Statue  aber  war  vielleicht  identisch  mit  einer  schon  im 
Altertum  viel  bewunderten  Athena  Soteira  im  Heiligtume  des  Zeus 
Soter  im  Piräus. 

Als  Retterin,  als  kluge,  mächtige  Beschützerin  des  siegreichen 
Athen  war  die  Göttin  gedacht. 


TAFEL  8 
APOLLON  MIT  DER  KITHARA 

KOLOSSALSTATUE  AUS  MARMOR.     MÜNCHEN,  GLYPTOTHEK. 

Eine  erhabene,  mächtige  Gestalt  kommt  in  langsam  feierlichem 
Schritt  auf  uns  zu.  Sie  hält  im  Schreiten  inne,  ruht  fest  auf  dem 
rechten  Fuße  und  zieht  den  linken  nach  sich.  Eine  große  Kithara 
wird  vom  linken  Arme  an  den  Körper  gedrückt,  doch  muß  sie 
noch  an  einem  Tragbande  befestigt  gedacht  werden,  das  um  die 
Brust  hing.  Die  Rechte  war  ruhig  vorgestreckt  und  hielt  die  Schale 
zur  Spende  bereit  (der  jetzige  rechte  Arm  ist  ganz  modern).  Nicht 
Gesang  und  Saitenspiel  ist  dargestellt,  sondern  der  vorangehende 
Moment  des  feierlichen  Antretens  und  der  Spende  vor  Beginn  des 
festlichen  Spiels. 

Die  Gestalt  ward  früher  für  weiblich  gehalten.  Sie  galt  Win- 
ckelmann,  der  sie  noch  im  Palaste  Barberini  zu  Rom  bewunderte, 
für  eine  Muse;  er  erkannte  den  hoheitsvollen  Stil  älterer  Zeit  in 
ihr  und  vermutete,  es  sei  die  Muse  des  Ageladas,  des  Lehrers 
des  Polyklet  und  Phidias.  Er  sah  die  „hohe  Gratie"  in  ihr  im 
Gegensatze  zur  „gefälligen  Gratie"  des  anderen  schreitenden  Kitha- 
roden,  der  in  der  Tat  auch  jüngerer  Zeit  angehört. 

Es  ist  Apollon  dargestellt  in  dem  langen  Festgewande,  das  alle 
trugen,  die  sich  am  Feste  des  Gottes  durch  Kitharaspiel  und  Ge- 
sang um  die  Preise  bewarben.  Bis  in  die  spätere  griechische  Zeit 
wird  daher  Apollon  der  Musiker  zum  Unterschiede  von  dem  nackten 
bogenkämpfenden  Gotte  regelmäßig  in  jenem  langen  Gewände  dar- 
gestellt.    Es    ist  der  dorische  Peplos   mit  großem  Überfall,  unter 


APOLLON    MIT  DER  KITHARA 
MÜNCHEN,   GLYPTOTHEK 


APOLLON  MIT  DER   KITHARA  29 

der  Brust  mit  breitem  Bande  gegürtet.  Auf  den  Schultern  ist  ein 
weiterer  Überfall  als  hinten  herabfallender  kurzer  Mantel  befestigt. 
Zu  der  feierlichen  Tracht  gehören  auch  die  Sandalen  mit  hohen 
Sohlen.  Der  Kopf  zeigt  eingesetzte  Augen,  die  hier,  was  sich  sehr 
selten  findet,  ziemlich  gut  erhalten  sind.  Das  Weiße  der  Augen 
besteht  aus  weißem  Steine.  Die  dunkle  Pupille  ist  ausgefallen; 
die  Wimpern  bestanden  aus  gezacktem  Bronzeblech;  ihre  Spuren 
sind  deutlich  erhalten.  Der  Kopf  ist  mit  dem  Halse  in  die  Statue 
eingesetzt,  doch  von  dem  alten  Künstler  selbst,  er  ist  keineswegs 
etwa  eine  antike  spätere  Restauration.  Das  üppige,  volle  Haar  ist 
gescheitelt  und  fällt  in  je  zwei  Locken  auf  die  Brust  herab;  über 
der  Stirne  emporgebunden  steigert  es  das  Majestätische  des  Kopfes. 

Die  Ausführung  der  Statue,  die  in  einer  Villa  zu  Tuskulum 
1678  gefunden  wurde,  fällt,  wie  aus  der  Art  der  Arbeit  zu  schließen 
ist,  ungefähr  in  die  augusteische  Epoche.  Doch  kann  kein  Zweifel 
sein,  daß  sie  ein  älteres  griechisches  Original  wiedergibt.  Es  läßt 
sich  auch  noch  mit  voller  Sicherheit  angeben,  welcher  Kunstschule 
dies  Original  angehört  hat :  die  Vergleichung  der  sicheren  Werke 
des  Phidias,  der  Athena  Lemnia  und  Parthenos,  ergibt,  daß  dieser 
Apollon  im  Anschlüsse  an  Phidias  geschaffen  ist  und  eine  unmittel- 
bare Weiterbildung  des  Stiles  des  Meisters  darstellt;  auch  der 
dorische  Peplos  erscheint  in  der  Form  und  Faltengebung,  die  der 
Meister  und  sein  Kreis  bei  weiblichen  Gottheiten  bevorzugten.  Auf 
Münzen  des  Kaisers  Augustus,  die  sich  auf  den  bei  Aktium  31  v.Chr. 
errungenen  Sieg  und  auf  den  dafür  geweihten  Palatinischen  Tempel 
beziehen,  ist  das  Original  unserer  Statue  wiedergegeben.  Da  die 
Identifikation  mit  dem  im  Tempel  selbst  aufgestellten  Bilde  des  im 
4.  Jahrhundert  v,  Chr.  tätigen  Skopas  aus  stilistischen  Gründen  un- 
möglich erscheint,  ist  so  gut  wie  sicher  eine  zweite,  bei  Properz  III, 
29,  5  f.  als  im  Hofe  wohl  nahe  am  Altare  stehende  Marmorstatue 
in  unserem  Werke  veranschaulicht,  zumal  die  von  dem  Dichter 
angedeutete  Situation  damit  sich  wohl  vereinigen  läßt. 

Unter  den  uns  erhaltenen  Götterbildern  gibt  es  kaum  ein 
zweites,  das  bei  gleich  guter  Erhaltung  eine  gleich  grandiose  Auf- 
fassung wie  die  unseres  Apollon  zeigt,  das  so  vollständig  und  un- 
getrübt den  reinen  Eindruck  eines  majestätischen  Tempelbildes  der 
phidiasischen  Auffassung  vermittelt. 


30  GÖTTERBILDER  AUS  DEM  5.  JAHRHUNDERT 


TAFEL  9 
STATUE  DER  HERA 

ROM,  VATIKAN. 

Diese  überlebensgroße  Marmorstatue  wurde  in  Rom  auf  dem 
Viminal  bei  einer  vom  Kardinal  Francesco  Barberini  veranstalteten 
Ausgrabung  gefunden  und  befindet  sich  jetzt  in  der  großen  Rotunde 
des  Vatikanischen  Museums.  Man  pflegt  sie  nach  dem  ersten 
Besitzer  die  „Barberinische  Hera"  zu  nennen.  Die  Statue  ist  gut 
erhalten ;  nur  die  aus  dem  Gewände  vortretenden  Arme,  die  aus 
besonderen  Stücken  gearbeitet  und  angesetzt  waren,  sind  verloren 
und  jetzt  ergänzt;  doch  konnte  der  Ergänzer  das  Richtige  kaum 
verfehlen.  Am  Kopfe  ist  nur  die  Nase  neu;  im  übrigen  ist  der 
Kopf  vortrefflich  erhalten  und  ungebrochen ;  er  ist  aber  mit  dem 
anstoßenden  unbekleideten  Teile  der  Brust  aus  einem  besonderen 
Stück  Marmor  gearbeitet  und  eingesetzt.  Auch  die  Füße  waren 
besonders  angesetzt;  der  linke  ist  ergänzt.  Das  Zusammenfügen 
großer  Marmorfiguren  aus  Stücken  war  im  Altertum  etwas  ganz 
Gewöhnliches  und  man  hatte  eine  große  Geschicklichkeit  darin. 
Man  sparte  auf  diese  Weise  an  Material  und  konnte  die  Marmor- 
figuren zu  relativ  billigen  Preisen  herstellen. 

Die  Statue  ist  eine  im  zweiten  Jahrhundert  n.  Chr.  wahrschein- 
lich für  den  Palast  eines  vornehmen  Römers,  möglicherweise  aber 
auch  für  ein  Heiligtum  in  Rom  gearbeitete  Kopie  eines  verlorenen 
griechischen  Originals  aus  der  Zeit  unmittelbar  vor  oder  während 
des  Peloponnesischen  Krieges.  Das  Werk  muß  in  späterer  Zeit 
berühmt  gewesen  sein,  indem  es  mehrfach  kopiert  worden  ist. 
Eine  besonders  gute  Wiederholung,  die  in  den  Ruinen  einer  römischen 
Villa  in  den  Sabinerbergen  gefunden  ward,  befindet  sich  jetzt  in 
Kopenhagen;  sie  ist  eine  Arbeit  etwa  augusteischer  Zeit;  das  hohe 
Diadem,  das  den  Kopf  unserer  Statue  schmückt,  fehlt  ihr  nach 
dem  Gebrauche  der  älteren  Marmorarbeit,  wo  dergleichen  Einzel- 
heiten besonders  aus  Metall  angesetzt  zu  werden  pflegten. 

Der  Stil  des  uns  durch  die  Kopien  vergegenwärtigten  Werkes 
ist  so  sehr  verwandt  dem  einer  ebenfalls  im  Altertum  hochberühmten 
und  in  zahlreichen  Kopien  erhaltenen  Aphroditestatue,  wo  die  Göttin 
in  dünnem,  ungegürtetem  Gewände  dargestellt  ist,  daß  man  einen 
und  denselben  Künstler  als  Schöpfer  beider  Werke  anzusehen  hat. 
Die  Aphrodite  geht  aber  sehr  wahrscheinlich  auf  Alkamenes,  den 


STATUE    DER    HERA 
ROM,   VATIKAN 


STATUE  DER   HERA  31 

berühmten  Schüler  des  Phidias,  zurück;  mithin  wird  auch  die  Hera 
auf  denselben  großen   Künstler  zurückzuführen  sein. 

Die  Deutung  der  Göttin  als  Hera  kann  zwar  nicht  als  völlig 
gewiß  angesehen  werden,  indem  ihr  Typus  an  keinem  Denkmale 
als  Hera  oder  Juno  gesichert  ist;  allein  sie  ist  sehr  wahrscheinlich, 
und  der  Name  Hera  erklärt  die  gesamte  Auffassung  wie  die  Einzel- 
heiten der  Statue  entschieden  am  besten. 

Eine  hehre  Gestalt  steht  vor  uns,  eine  große,  erhabene  Göttin, 
eine  wahre  Königin  und  Herrin.  Und  doch  trägt  sie  den  Kopf 
nicht  stolz  erhoben,  sondern  milde  geneigt,  Gewährung  verheißend 
den  Wünschen  des  Frommen,  der  sich  ihr  betend  naht. 

Sie  trägt  das  dünne,  ungegürtete  Untergewand,  das  die  mäch- 
tigen Formen  des  Körpers  durchscheinen  läßt,  ähnlich  Aphrodite, 
der  Göttin  der  Liebe,  und  wie  bei  jener  gleitet  das  Gewand  an 
der  einen  Schulter  lose  herab.  Allein  der  Unterkörper  ist  von 
dem  schweren,  dichten  Mantel  verhüllt,  der  ernste,  strenge  Würde 
verkündet. 

Der  Mantel  liegt  mit  dem  einen  Ende  auf  der  Imken  Schulter 
auf  und  ist  im  Rücken  nach  der  rechten  Hüfte  und  von  hier  mit 
dem  anderen  Ende  nach  der  linken  Seite  gezogen,  wo  er  von  dem 
linken  Ellenbogen  fest  angedrückt  und  gehalten  wird.  Der  Mantel 
bildet  vorn  einen  großen,  dreieckigen  Überschlag,  ganz  ähnlich  wie 
bei  der  Athena  von  Velletri  (Tafel  7).  Hier  wie  dort  gibt  eben  diese 
Gewandanordnung  dem  Auftreten  der  Göttin  etwas  besonders 
Majestätisches. 

Die  Statue  stimmt  mit  jener  Athena  auch  in  der  Stellung  und 
Haltung  überein.  Die  Göttin  ruht  wie  dort  auf  dem  linken  Fuße, 
während  der  rechte  in  Schrittstellung  zurückgezogen  ist.  Die  nackten 
Füße  tragen  an  beiden  Statuen  jene  Sandalen  mit  schweren,  dicken 
Sohlen,  die  an  den  Götterbildern  der  phidiasischen  Periode  gewöhn- 
lich sind  und  die  auch  die  Athena  Parthenos  (Tafel  6)  trägt.  Es 
stimmt  ferner  an  jenen  beiden  Statuen  die  Haltung  der  Arme  und 
die  Wendung  des  Kopfes  durchaus  überein.  Die  erhobene  Rechte 
stützte  sich  dort  auf  die  Lanze,  hier  auf  das  Szepter;  die  vor- 
gestreckte Linke  trug  ein  Attribut,  das  wir  nicht  mehr  feststellen 
können,  möglicherweise  die  Opferschale,  wie  der  Ergänzer  angenom- 
men  hat. 

Die  welligen,  mit  dem  Diadem  geschmückten  Haare  sind  in  der 
Mitte  gescheitelt  und  zurückgestrichen,  hinten  aber  aufgenommen 
und  in  ein  Tuch  gesammelt,  ganz  ähnlich  wie  bei  der  obengenannten 
Aphrodite.  Allein  der  Ausdruck  des  Kopfes  ist  recht  verschieden 
von  der  hingebenden,  süß  lächelnden  Anmut  jener  Liebesgöttin;  er 
ist  ernst  und  streng,  wenn  auch  nicht  ohne  königliche  Milde. 


32   GÖTTERBILDER  AUS  DEM  5.  JAHRHUNDERT 

So  paßt  das  plastische  Bild  dieser  Göttin  vortrefflich  zu  jener 
in  Mythus  und  Dichtkunst  erscheinenden  Gestalt  der  Hera,  der 
hehren  Gemahlin  des  Zeus,  der  Himmelskönigin,  der  Beschützerin 
des  Ehebundes  unter  den  Menschen. 


TAFEL  10 
STATUE  DES  ASKLEPIOS 

MARMOR.     NEAPEL,  MUSEO  NAZIONALE. 

Die  nicht  unbedeutend  über  die  natürliche  Größe  eines  Erwach- 
senen gebildete,  im  ganzen  gut  erhaltene  und  richtig  ergänzte') Statue, 
als  deren  Fundort  ohne  sichere  Gewähr  der  Äskulaptempel  auf  der 
Tiberinsel  in  Rom  bezeichnet  wird,  ist  seit  Mitte  des  sechzehnten  Jahr- 
hunderts in  der  Antikensammlung  der  römischen  Familie  Famese 
nachweisbar  und  nach  dem  Aussterben  derselben  zu  Ende  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts  mit  anderen  teilweise  weltberühmten  Antiken 
nach  Neapel  gelangt.  Sie  ist  die  mäßig  gute  Kopie  eines  griechi- 
schen Originalwerkes,  das  mit  größter  Wahrscheinlichkeit  unter 
dem  Einfluß  phidiasischer  Kunst  wohl  nicht  allzulange  nach  den 
Parthenonskulpturen  von  einem  unbekannten  Künstler  geschaffen 
worden  ist^)  und  jedenfalls  dereinst  als  Kultbild  in  einem  Heiligtume 
des  Gottes  geweiht  war. 

Asklepios,  bei  Homer  ^)  als  einfacher  Arzt  genannt,  wurde  in 
Griechenland  als  orakel-  und  heilspendender  Erdgeist  verehrt  und 
hat  daher  die  heilige  Schlange  als  unzertrennliches  Attribut  bei  sich. 
Sein  Kult   ist   dort   seit   alter  Zeit    an   vielen  Orten    unter  immer 


')  Abgesehen  von  kleineren  Ergänzungen  ist  der  größte  Teil  des 
rechten  Armes,  sowie  des  Stabes  und  der  Schlange  erneuert. 

2)  Der  Typus  trägt  das  geistige  Gepräge  attischer  Kunst  dieser  Epoche; 
als  Schöpfer  wird  Alkamenes  vermutet,  der  um  420  zu  Mantlnea  das  Tempel- 
bild des  Gottes  gefertigt  hat  (Pausanias,  Beschreibung  Griechenlands  8,9, 1). 
Doch  auch  zu  Athen  ist  wohl  um  dieselbe  Zeit  für  den  am  Südfuße  der 
Akropolis  gelegenen  heiligen  Bezirk  die  Statue  des  Asklepios  entstanden, 
dessen  Kult  420  aus  Epidauros  nach  Athen  kam;  der  maßgebende  Einfluß 
der  hier  ausgebildeten  Darstellungen  auf  die  Folgezeit  läßt  sich  wenigstens 
an  den  zahlreichen  Votivreliefs  noch  erkennen  und  ist  demgemäß  auch 
für  die  Rundplastik  sehr  wohl  möglich,  wenn  auch  aus  dem  vorhandenen 
statuarischen  Material  bisher  nicht  erweisbar. 

^)  llias  4,  194. 


STATUE  DES  ASKLEPIOS 

NEAPEL.  MUSEO  NAZIONALE 


STATUE  DES  ASKLEPIOS  .33 

stärkerer  Betonung  des  ärztlichen  Berufes  des  Heilgottes  weit  ver- 
breitet gewesen  und  hat  insbesondere  zu  Epidauros  in  Argolis, 
später  auch  zu  Pergamon  in  Kleinasien  einen  berühmten  Mittel- 
punkt gefunden.  Dorthin  pilgerten  von  nah  und  fern  Kranke  aller 
Art  um  Genesung  zu  gewinnen  und  gesundeten  durch  mannigfache, 
sonderbare  Wunderkuren.  Von  Epidauros  nach  Rom  überführt,  hat 
Asklepios  von  hier  aus  seinen  Weltlauf  weiter  genommen. 

Die  künstlerische,  bis  in  die  spätrömische  Zeit  maßgebende 
Darstellung  des  Asklepios  ist  in  den  letzten  Jahrzehnten  des  fünften 
Jahrhunderts  v.  Chr.  von  einem  attischen  Meister  im  Kreise  des 
Phidias  ausgestaltet  worden  und  kann  in  der  hier  abgebildeten  Statue 
als  einem  wertvollen  Beispiele  der  zahlreich  erhaltenen  Monumente 
gewürdigt  werden.  Die  Göttlichkeit  des  Bildes,  das  bei  geschlos- 
senen Umrissen  beinahe  in  architektonischer  Regelmäßigkeit  sich 
aufbaut,  wird  durch  die  an  eine  Kultstatue  erinnernde  ehrwürdige 
Erscheinung,  sowie  durch  die  Beifügung  der  breiten,  wulstigen  Woll- 
binde im  Haare,  durch  die  heilige  Schlange  und  den  mit  Binden 
netzartig  umhüllten  Omphalos ')  angedeutet.  Im  übrigen  ist  die 
Gestalt  über  das  Menschliche  nicht  erhaben,  sondern  tritt  uns  als 
ein  im  besten  Lebensalter  stehender  Mann  entgegen,  dessen  breite 
Körperbildung  insbesondere  durch  die  vom  Gewände  freigelassene 
Brust  sich  offenbart  und  den  Gott  als  Muster  kräftiger  Gesund- 
heit darstellt.  Die  Kleidung  entspricht  derjenigen  des  griechischen 
Bürgers.  Das  Himation  ist  in  großen  Flächen  und  einfachen  Falten 
um  den  Körper  gelegt  und  nur  an  den  beiden  über  den  linken 
Arm  fallenden  Enden  reicher  drapiert.  Die  festaufstehenden  Füße 
sind  mit  dicksohligen  Sandalen  bekleidet.  Der  linke,  in  dem  Hi- 
mation verborgene  Arm  ist  in  die  Seite  gestützt,  der  gesenkte 
rechte  faßt  den  dicken,  in  die  Achselhöhle  gestemmten  Wander- 
stab, der  von  der  heiligen  Schlange  umringelt  wird.  So  ist  As- 
klepios hier  als  der  stets  rüstige,  von  einem  Kranken  zum  an- 
dern eilende  Arzt  gedacht,  der  zwar  im  gegenwärtigen  Augen- 
blicke in  ausruhender  Stellung  verharrt,  aber  in  seinem  Geiste 
auch  jetzt  tätig  erscheint.  Denn  er  hat  das  Haupt,  das  von  einem  ' 
Vollbarte  umrahmt  ist  und  durch  die  üppige  Fülle  des  Locken- 
kranzes ein  überaus  ehrwürdiges  Aussehen  gewinnt,  leise  zur  Seite 
geneigt;  die  mächtige,  stark  vortretende  Stirne,  der  nachdenkliche, 


')  Die  Beziehung  dieses  sonst  dem  delphischen  Apollon  beigegebenen 
Attributs  zu  Asklepios  ist  literarisch  nicht  überliefert;  es  scheint  ebenso 
wie  die  Schlange  eine  Erinnerung  an  den  unter  der  Erde  hausenden  Gott 
zu  sein,  wie  man  ihn  ursprünglich  sich  gedacht  hat.  Übrigens  wird  auch 
eine  Übertragung  des  Omphalos  als  Symbol  des  chthonischen  Kultus  in 
Delphi  von  Apollon  auf  Asklepios  vermutet. 

Denkmäler  griech.  u.  röm.  Skulptur,  3.  Aufl.  3   . 


34   GÖTTERBILDER  AUS  DEM  5.  JAHRHUNDERT 


in  die  Ferne  gerich- 
tete Blick,  die  milden, 
väterlichen  Züge  (tö 
ueiAi/io\',  TTpdov,  das 
Milde,  Sanfte),  lassen 
den  Betrachter  das 
Wesen  des  gereiften 
und  erfahrenen,  stets 
hilfbereiten  Arztes  in 
seiner  edelsten  Form 
erkennen.  Gerade  der 
Ausdruck  des  Hauptes 
erhebt  neben  der  ge- 
samten ehrwürdigen  Er- 
scheinung das  Bildwerk 
auch  ohne  starke  Be- 
tonung äußerer  Mittel 
der  Darstellung  über 
das  Menschliche  empor. 
Diese  Vereinigung  von 
schlichter  Einfachheit 
und  göttlicher  Erhaben- 
heit, die  noch  heutzu- 
tage tiefe  Wirkung  aus- 
übt und  großes  Ver- 
trauen einflößt,  wird  im 
Altertum  dem  im  Heilig- 
tum dem  Kultbilde  nahenden  Gläubigen  Trost  im  Leide  und 
zuversichtliche  Hoffnung  geweckt  haben.  So  versteht  man  beim 
Anblicke  des  ehrwürdigen  Bildwerkes  die  zahlreichen,  dem  Askle- 
pios  gewidmeten  Beinamen,  die  weniger  fromme  religiöse  Scheu 
als  rührendes  kindliches  Vertrauen  der  Menschheit  zu  dem  Heil- 
gotte  offenbaren:  Die  dichterisch  erhabenen  Bezeichnungen  „xc'tpjaa 
^ey'  dvüp(ö:;Toiöi,  xaxwv  iieXxTip'  öbuvdoov"  („die  große  Wonne 
für  die  Menschen,  den  Bezwinger  böser  Schmerzen")')  und  „rexrova 
voD^uvia::  äuF,f)()V  ymapxHoc  . .,  i'ipoa  :TavToban:ctv  dXxTfipa  voüöcov" 
(„den  milden  Schöpfer  gliederstärkender  Schmerzlosigkeit,  den  Heros, 
der  die  mannigfaltigen  Krankheiten  abwehrt")-)  haben  ebenso  wie 
die  das  Wesen  der  Gottheit  knapp  und  klar  zusammenfassenden 
Worte  „xt'ewv  6  TipaöiaTÖc  re  xai  cpiXavOp.corrÖTaToc"  („der  sanf- 


Fig.  12.    Asklepios  von  Melos 
Marmorkopf.    London,  British  Museum 


')  Hymnos  auf  Asklepios,  homerische  Hymnen  16,  4. 
^)  Pindar,  pythische  Oden  3,  6  ff . 


STATUE  DES  ASKLEPIOS  35 

teste  und  menschenfreundlichste  der  Götter") ')  und  ähnliche  mehr 
in  der  künstlerischen  Darstellung  des  Asklepios  monumentalen 
Ausdruck  gefunden. 

Interessant  ist  die  Beobachtung  vom  Wandel  in  Auffassung 
und  Bildung  der  Götter  gerade  bei  Asklepios.  Durch  den  Stil 
maßgebender  Neuerer,  wie  Skopas,  sind  etwa  seit  der  Mitte  des 
vierten  Jahrhunderts  v.  Chr.  die  Gestalten  vielfach  bewegt,  das 
pathetisch  belebte  Gesicht  bekundet  innere  Erregung;  praxitelischer 
Einfluß  wirkt  oft  auch  fernerhin  vorteilhaft  ausgleichend  ').  Diese 
veränderte  Art  kommt  im  Ideal  des  Asklepios  dem  Wesen  des 
Heilenden  entsprechend  in  einem  verbreiteten  Typus  trefflich 
zur  Geltung.  Was  wir  gemäß  dem  streng  gemessenen,  feierlichen 
Ernst  der  Olympier  des  fünften  Jahrhunderts  in  dem  Neapolitaner 
Bildwerk  mehr  ahnen  als  schauen  dürfen,  das  tritt  jetzt  in  volle  Er- 
scheinung. Der  sonst  ruhig  stehende  Arzt  ist  nun  in  Stellung  lebhaft 
bewegt,  demzufolge  ist  das  Haupt,  der  Blick  zur  Seite  nach  auf- 
wärts gerichtet.  In  dieser  Situation  muß  der  sehr  große  Kopf  von 
der  Insel  Melos  (Fig.  12),  dessen  Deutung  schon  durch  den  Fund 
im  Bereich  einer  Asklepioskultstätte  gesichert  bleibt,  nach  den  zu 
Epidauros  gefundenen  Statuetten  aufgefaßt  und  zu  einer  mächtigen 
Statue  ergänzt  werden;  er  ist  ein  griechisches  Original  wohl  aus 
den  letzten  Jahrzehnten  des  vierten  Jahrhunderts.  Himmlisch  er- 
haben wirkt  er  schon  durch  die  üppige  Haar-  und  Bartfülle,  Hei- 
lung ersinnend,  ersehnend  schauen  die  Augen  nach  oben  ohne  be- 
stimmtes Ziel  träumerisch  in  die  Ferne.  Das  Milde,  Hoffnung- 
erregende leuchtet  hervor,  die  teilnahmsvolle  Menschenfreundlich- 
keit des  Arztes,  wie  sie  auch  aus  dem  geöffneten  Munde  mit  der 
herabhängenden  Unterlippe  spricht,  kann  kaum  stärker,  kaum  edler 
hervorgehoben  werden.  Ein  eigentümlicher  Zauber  glänzt  in  dem 
Antlitz,  unwillkürlich  auf  den  hilfeflehenden  Kranken  warmen  Trost 
ausstrahlend.  „Das  Auge  voll  keuscher  Reinheit  und  wohlwollender 
Milde  schlägt  der  Gott  auf  und  es  leuchtet  daraus  hervor  eine 
unsägliche  Tiefe  von  Würdigkeit  und  sittlichem  Adel."  „ndvaYvov 
xai  VXecov  dvaxiv(')v  öuuct,  ßdiloc  äf|OnaC)Tov  vnaörpä'rixei  öef-ivoTrjToq 
aiboi  jaiyei'önc"  (Kallistratos  Beschreibungen  von  Statuen  10).  Diese 
Charakteristik  hat  im  Asklepios  von  Melos  monumentalen  Ausdruck. 


')  Aelius   Aristides  18:   dg  tö  (ppeap  toü  'AcjxXhttioö   („auf   den    Heil- 
brunnen des  Asklepios").     (Dindorf,  I.  409.) 

^)  Siehe  Text  zu  „Demeter  von  Knidos"  (Tafel  22l. 


3* 


36   GÖTTERBILDER  AUS  DEM  5.  JAHRHUNDERT 


TAFEL  11 
DIOSKUR  VOM  MONTE   CAVALLO  ZU  ROM 

Die  Tafel  zeigt  die  eine  der  beiden  gewaltigsten  und  besterhal- 
tenen Kolossalfiguren,  die  uns  das  Altertum  hinterlassen  hat.  Die 
Seitenansicht  ist  auf  den  Figur  13  und  14  gegebenen  Abbildungen 
zu  sehen.  Das  Gegenstück  zeigt  die  gleiche  Bewegung,  nur  mit 
vertauschten  Seiten.  Es  sind  die  beiden  Dioskuren,  die  ihre  bäu- 
menden Rosse  am  Zügel  führen,  nach  denen  der  Platz  auf  dem 
Quirinal  zu  Rom,  wo  sie  stehen,  seit  dem  Mittelalter  der  „Monte 
Cavallo"  heißt.  Als  „cavalli  marmorei"  werden  sie  zuerst  im 
zehnten  Jahrhundert  erwähnt.  Sie  gehören  zu  den  wenigen  Antiken, 
die  niemals  verschüttet  waren.  Sie  standen  bis  1589  auf  einem 
antiken,  mächtigen,  aufgemauerten  und  mit  Marmorplatten  verklei- 
deten Postamente,  und  zwar  pflegt  man  anzunehmen,  daß  sie  zum 
Schmucke  der  Hallen  und  Gärten  der  gewaltigen  Konstantinsther- 
men gehörten,  von  denen  Reste  in  jener  Gegend  bis  ins  sechzehnte 
Jahrhundert  erhalten  waren.  Auf  den  Marmorplatten  des  Posta- 
mentes standen  in  monumentalen  großen  Buchstaben  die  antiken, 
dem  Postamente  offenbar  gleichzeitigen,  also  wohl  der  konstan- 
tinischen Epoche  angehörigen  Inschriften:  „opus  Fidiae"  unter 
der  auf  unserer  Tafel  abgebildeten  Statue,  welche  das  Pferd  mit 
der  Linken  zügelt,  „opus  Praxitelis"  unter  der  anderen,  welche 
das  Roß  mit  der  Rechten  zügelt.  In  dem  Postamente  waren,  wie 
dergleichen  namentlich  in  späterer  römischer  Zeit  sehr  gewöhnlich 
war,  ältere  Architekturstücke  verbaut.  Die  Statuen  selbst  waren 
viel  älter  als  diese  dem  Standort  nach  vermutlich  konstantinischen, 
jedenfalls  wegen  des  Gebrauchs  von  F  statt  Ph  nicht  wesentlich 
früheren  Inschriften;  ihrer  Arbeit  nach  können  die  Statuen  kaum 
später  als  die  frühere  Kaiserzeit  sein. 

Erst  1589  ward  durch  Sixtus  V.  diese  spätantike  Aufstellung 
ersetzt  durch  eine  neue,  die  im  wesentlichen  noch  jetzt  besteht. 
Die  beiden  Kolosse  wurden  auf  zwei  neuen  getrennten  Basen  neben- 
einandergestellt und  die  schadhaften  Teile  ergänzt.  Die  Inschriften 
wurden  durch  neue  Kopien  ersetzt.  Endlich  wurde  1786  der  vom 
Mausoleum  des  Augustus  stammende  Obelisk  zwischen  die  beiden 
etwas  auseinandergerückten  Kolosse  gesetzt,  und  1818  ward  eine 
große  Brunnenschale  hinzugefügt.  Schon  weit  früher,  vielleicht 
sogar  bereits  vor  Sixtus  V.,  haben  sie  einen  Brunnen  vor  sich  gehabt. 


DIOSKUR   VOM    MONTE   CAVALLO 
ROM 


DIOSKUR  VOM  MONTE  CAVALLO  37 

Abgesehen  davon,  daß  durch  das  jahrhundertelange  Stehen 
im  Freien  die  Oberfläche  des  Marmors  an  den  Vorderseiten 
ganz  zerfressen  ist,  sind  die  Kolosse  vortrefflich  erhalten  und 
nur  unwesentliche  Stücke  sind  ergänzt.  Das  größte  moderne 
Stück  ist  die  Brust  mit  den  Vorderbeinen  des  Pferdes  auf  un- 
serer Tafel. 

Die  Inschriften  gehören  in  eine  Klasse  mit  verschiedenen  ganz 
ähnlichen,  an  römischen  Postamenten  gefundenen  Bezeichnungen 
berühmter  Werke  oder  deren  Kopien,  wie  opuc  Polycliti,  opus 
Praxitelis,  opus  Bryaxidis  u.  a.,  die  in  gute  Zeit,  meist  etwa  das  zweite 
Jahrhundert  n.Chr.  zu  datieren  sind  und  eine  vortreffliche  authentische 
Überlieferung  über  die  Urheber  der  einst  auf  den  Basen  befind- 
lichen Statuen  darstellen.  Unsere  Inschriften,  wenn  auch  erst  bei  der 
Neuaufstellung  in  spätantiker  Zeit  angebracht,  ersetzten  doch  ver- 
mutlich ältere  gleichlautende ;  denn  die  prächtige  neue  Aufstellung 
nach  der  Zerstörung  des  einst  zugehörigen  Baues  erfolgte  doch 
eben  wohl,  weil  die  Statuen  namhafte  waren  und  ihre  großen 
Künstlernamen  schon  trugen.  Jedenfalls  haben  wir  von  vornherein 
keinen  triftigen  Grund,  diese  inschriftliche  Überlieferung  Lügen 
zu  strafen.  Wir  würden  nur  dann  ein  Recht  dazu  haben,  wenn 
es  aus  stilistischen  Gründen  unmöglich  wäre  die  Statuen  als  das 
zu  verstehen,  was  die  Inschriften  von  ihnen  sagen,  als  Werke 
d.  h.  Kopien  nach  Werken  eines  Praxiteles  und  Phidias.  Dies 
ist  aber  nicht  nur  nicht  der  Fall,  sondern  das  Gegenteil  tritt  ein: 
auch  ganz  abgesehen  von  allen  Inschriften  müßten  wir,  nur  dem 
Stile  nach,  die  Statuen  notwendigerweise  dem  Kreise  des  Phidias 
zuschreiben. 

Nun  hat  es  einen  älteren  Praxiteles  gegeben  —  es  war  wahr- 
scheinlich der  Großvater  des  berühmten  jüngeren  Trägers  dieses 
Namens  — ,  der  ein  etwas  jüngerer  Zeitgenosse  des  Phidias  war. 
Die  Namen  der  Inschriften  stehen  also  nicht  im  Widerspruche  mit 
dem  Stile  der  Statuen.  Freilich  besteht  natürlich  auch  die  Mög- 
lichkeit, daß  die  Inschriften  erst  in  der  spätantiken  Zeit  ihrer  Aus- 
führung willkürlich  erfunden  worden  sind,  indem  man  einfach  die 
zwei  berühmtesten  Bildhauernamen  wählte.  Der  Umstand,  daß  es 
gerade  zwei  so  berühmte,  allbekannte  Namen  sind,  wird  immerhin 
diese  Möglichkeit  als  naheliegend  erscheinen  lassen. 

Allein  wie  immer  es  mit  den  Namen  bestellt  sein  mag,  die 
stilistische  Analyse  ist  davon  unabhängig.  Die  Stilformen  sprechen 
ihre  deutliche,  entschiedene  Sprache.  Hier  ist  keine  Spur  von 
„Eklektizismus",  hier  herrschen  nur  rein  phidiasische  Formen. 

Was  der  feine  Blick  des  Bildhauers  Canova  schon  erkannt 
hatte,  daß  es  in  Rom  kein  Werk  gebe,  das  der  großartigen  Eigen- 


38  GÖTTERBILDER  AUS  DEM  5.  JAHRHUNDERT 


Fig.  13.    Dioskur  vom  Monte  Cavallo 


art  der  Parthenonskulpturen  so  nahe  komme  wie  jene  Kolosse, 
bestätigt  sich  bei  jeder  genaueren  Vergleichung.  Allerdings  haben 
wir  hier  nur  römische  Kopien,  nicht  Originale  vor  uns;  die  ver- 
lorenen Originale  waren  ohne  Zweifel  von  Bronze  und  entbehrten 
der  plumpen  Stützen,  welche  im  Marmor  notwendig  waren  und 
sich  unter  den  Pferden  sowie  je  neben  dem  vorschreitenden  Beine 
des  Jünglings  in  Gestalt' eines  Panzers  befinden.  Der  Stil  entspricht, 
in  allem  einzelnen  wie  im  ganzen,  vollkommen  dem  von  Fries  und 
Giebeln  des  Parthenon.  Insbesondere  charakteristisch  ist  die  eigen- 
artige Bildung  der  Rosse  und  die  ganze  schwungvolle  Bewegung 
der  sie  bändigenden  Jünglinge,  die  genau  entsprechend  am  Basis- 
relief der  Athena  Parthenos  wie  am  Parthenon fries  vorkommt,  und 
nicht  minder  charakteristisch  ist  die  Art  der  Stilisierung  der  Kör- 
performen der  Jünglinge  und  die  ihrer  Köpfe,  zu  denen  sich  unter 


DIOSKUR  VOM  MONTE  CAVALLO 


39 


Fig.  14.    Dioskur  vom  Monte  Cavallo 


den  attischen  Reitern  des  Parthenonfrieses  die  nächsten  Verwandten 
finden '). 

Der  begeisterte,  feurige  Schwung,  der  die  ganzen  Gestalten  durch- 
zieht, erreicht  in  den  herrlichen  Köpfen  seinen  höchsten  Ausdruck 
(Fig.  15).  Die  Haare  wehen  im  Winde  zurück  und  umgeben  wie 
Strahlen  das  Haupt,  und  aus  den  weit  offenen  Augen  sprüht  gött- 
liches Feuer.  Das  sind  die  lichten  Söhne  des  Zeus,  die  Aioöxofmi,  die 
im  Strahlenglanze  mit  ihren  glänzend  weißen  Rossen  sich  tummeln, 


')  Diese  kühn  und  genial  begründete  Annahme  wird  angezweifelt 
und  das  Original  aus  stilistischen  Gründen  in  die  Zeit  nach  Alexander 
den  Großen  datiert,  doch  gibt  man  auch  auf  gegnerischer  Seite  die  in  die 
Augen  fallende  Verwandtschaft  in  Bildung  der  Jünglinge  wie  der  Rosse 
mit  Parthenon  und  Phidias  zu;  in  dieser  Hinsicht  ist  der  Vergleich  mit 
Tafel  17  sowie  mit  Fig.  17  und    18  lehrreich. 


40  GÖTTERBILDER  AUS  DEM  5. JAHRHUNDERT 


die  JTtbXcüv  biuaTipeq 
(Alkman),  die  Xeuxö- 
TTcoXoi  (Pindar),  die 
i'rijroiöi  |aap|aaipovTS 
(Euripides). 

In  die  erhobenen 
Hände  sind  natürlich 
die  Zügel  zu  ergän- 
zen, in  die  gesenkten 
je  eine  Lanze.  Ver- 
mutlich waren,  wor- 
auf je  ein  Loch  auf 
dem  Scheitel  deutet, 
vergoldete  Sterne  auf 
den  Köpfen  ange- 
bracht; denn  Sterne 
gehören  zu  den  ge- 
wöhnlichsten Sym- 
bolen derDioskuren. 
Daß  ihnen  hier  die 
eiförmigen  Mützen, 
die  Piloi,  fehlen, 
kommt  daher,  weil 
zur  Zeit  der  Ent- 
stehung der  Origi- 
nale dies  Attribut 
der  Dioskuren  über- 
haupt noch  unbe- 
kannt war;  es  verbreitete  sich  erst  in  der  Epoche  nach  Alexander. 
In  ihrer  ursprünglichen  Aufstellung  standen  die  vier  Figuren, 
die  Rosse  wie  die  Lenker,  nicht  wie  jetzt  in  zwei  rechten  Winkeln 
gebrochen,  sondern  in  einer  Flucht  vor  einer  Wandfläche  angeordnet. 
Die  Mitte  zwischen  den  beiden  Gruppen  bildete  vielleicht  eine 
Brunnenanlage.  Denn  „wie  sie  nach  schwerer  Arbeit  sich  selbst 
und  ihre  Tiere  am  frischen  Naß  erquicken,  so  teilen  sie  dieses 
Labsal,  Wasser  spendend,  auch  anderen  gnädig  mit.  Als  Wasser- 
spender werden  sie  schon  sehr  frühzeitig  bei  den  Hellenen  im 
Kult  verehrt  und  im  Bilde  veranschaulicht". 


Fig.  15.    Kopf  eines  der  Dioskuren 
vom  Monte  Cavallo 


NIKE  DES  PAIONIOS  41 


TAFEL  12 
NIKE  DES  PAIONIOS 

OLYMPIA. 

Vor  der  Ostseite  des  Zeustempels  zu  Olympia  stand*  einst  in- 
mitten einer  Fülle  anderer  Statuen,  doch  sie  alle  noch  überragend, 
auf  dreiseitigem  Pfeiler  die  Statue  der  herabschwebenden  Nike, 
welche  in  verstümmeltem  Zustande  bei  den  deutschen  Aus- 
grabungen gefunden  wurde;  in  der  von  dem  Bildhauer  Grüttner  in 
Berlin  hergestellten  Ergänzung  ist  sie  abgebildet.  Die  Statue  besteht 
aus  parischem  Marmor  und  ward  im  Dezember  1875  in  ihren  Haupt- 
teilen wiedergewonnen,  zu  welchen  später  noch  verschiedene  weit 
verschleppte  Splitter  kamen.  Leider  ist  das  Gesicht  nicht  gefunden 
worden ;  hierfür  bietet  einen  gewissen  Ersatz  eine  in  Rom  zutage 
gekommene  Kopie  des  Kopfes  aus  römischer  Zeit,  die  für  den  Ruhm 
des  Werkes  im  Altertume  zeugt.  Die  Statue  maß  bis  zu  den 
Flügelspitzen  gegen  2,90  m  Höhe;  mit  der  dreieckigen,  nach  oben 
sich  verjüngenden  Basis  aber  erreichte  das  Ganze  fast  die  Höhe 
von    12  m. 

Einer  der  Basisblöcke  trägt  die  folgende  Inschrift:  Meöadvioi 
xai  NaujrdxTioi  dveö-ev  Ali  'GXufaJTiDJ  bexarav  d;TÖ  tcov  TToXefii'cov. 
Ilaicovioc  e7ioir\(5E  Mevbaioc  xai  TdxpcoTTpta  iroicov  eril  tov  vaöv 
evi'xa.  „Die  Messenier  und  die  Naupaktier  haben  (dies  Bildwerk) 
dem  olympischen  Zeus  als  Zehnten  von  den  Feinden  geweiht, 
Paionios  von  Mende  hat  es  gemacht,  der  auch  gesiegt  hat,  wie  er 
die  Akroterien  auf  den  Tempel  machte."  Nach  Pausanias  Bericht 
(V,  26,  1)  bezogen  die  Messenier  das  Denkmal  auf  den  Erfolg 
von  Sphakteria  425  v.  Chr.,  bei  welchem  messenische  Hilfstruppen 
wesentlich  mit  beteiligt  waren;  Pausanias  selbst  dachte  an  die  von 
ihm  IV,  25  erzählten  Ereignisse  um  455  v.  Chr.,  wo  die  Messenier 
von  Naupaktos  das  akarnanische  Oiniadai  einnahmen,  aber  freilich 
bald  wieder  aufgeben  mußten.  Beide  Annahmen  sind  nur  antike 
Vermutungen,  nicht  zuverlässige  Überlieferung;  sie  sind  beide  nicht 
haltbar.  Die  zu  der  Fassung  der  Inschrift  und  den  historischen 
Verhältnissen  einzig  passende  Zeit  ist  vielmehr  die  unmittelbar 
nach  dem  Frieden  des  Nikias  (421  v.  Chr.),  und  die  Statue  galt 
den  verschiedenen  erfolgreichen  Kämpfen,  welche  die  Messenier 
und  Naupaktier  während  des  Archidamischen  Krieges  bestanden 
haben.     Die  Errichtung  der  alles  überragenden  Statue  unmittelbar 


42  GÖTTERBILDER  AUS  DEM  5.  JAHRHUNDERT 

vor  dem  Zeustempel  war  zugleich  eine  starke  Demonstration  gegen 
das  sonst  in  Olympia  dominierende  Sparta,  die  nur  verständlich 
ist  in  einer  Zeit,  in  der  Sparta  mit  Elis  zerfallen  war,  wie  420, 
wo  Elis  im  Bunde  mit  Argos  und  Athen  stand;  auch  machte  man 
eben  damals  Versuche,  die  messenischen  Emigranten  von  Naupaktos 
wieder  in  die  Heimat  zurückzuführen. 

Nur  mit  dieser  Datierung  der  Statue  ist  auch  ihr  Stil  ver- 
einbar, ja  er  weist  mit  Bestimmtheit  auf  dieselbe  Zeit  hin.  Die 
nächsten  stilistischen  Analogien  sind  gewisse  um  diese  Zeit  er- 
richtete Akroteriengruppen  eines  Tempels  zu  Delos  und  die  Skulp- 
turen des  Nereidendenkmals  zu  Xanthos.  Um  oder  gar  vor  der 
Mitte  des  fünften  Jahrhunderts,  dürfen  wir  nach  dem  Stande  unserer 
sicheren  kunstgeschichtlichen  Kenntnisse  mit  Bestimmtheit  sagen, 
war  jene  eigentümliche  die  Nike  charakterisierende  Behandlung  des 
Gewandes,  das  sich  feucht  an  den  Körper  anlegt  und  dessen  Formen 
völlig  durchscheinen  läßt  und  das  vom  Winde  in  freie  flatternde  Be- 
wegung versetzt  wird,  völlig  unmöglich.  Es  bedurfte  dazu  erst 
einer  längeren  Entwicklung,  die  wir  an  den  erhaltenen  datierbaren 
Denkmälern  noch  verfolgen  können. 

Die  Akroterien  auf  dem  Zeustempel,  mit  denen  Paionios  in 
der  Inschrift  sich  rühmt  —  in  einer  Konkurrenz  offenbar  —  ge- 
siegt zu  haben,  waren  nicht  etwa,  wie  man  auch  angenommen  hat, 
die  von  Pausanias  wahrscheinlich  irrtümlich  dem  Paionios  zuge- 
schriebenen Statuen  des  Ostgiebels,  sondern  die  vergoldeten  Niken 
auf  den  Firsten  des  Tempels,  die  im  Motiv  der  von  den  Messe- 
niern  geweihten  Marmorstatue  wohl  sehr  geglichen  haben.  Diese 
Niken  (Pausanias  erwähnt  V,  10,  4  nur  eine  über  der  Ostseite, 
doch  ist  wohl  eine  gleiche  im  Westen  vorauszusetzen)  scheinen 
um  dieselbe  Zeit  wie  die  der  Messenier  aufgestellt  worden  zu  sein. 

Paionios  stammte  aus  der  ionischen  Stadt  Mende  an  der  thra- 
kischen  Küste.  Aber  auch  durch  seine  Kunstart  gehört  er  in  den 
ionischen  Kreis.  Die  Technik  der  Marmorarbeit  beherrscht  er  mit 
außerordentlichem  Geschick.  Sie  ermöglicht  es  ihm,  der  Kühnheit 
seiner  Phantasie  vollen  Ausdruck  zu  verleihen. 

Aus  dem  Himmel  hernieder  durch  die  Lüfte  schwebend  — 
so  hat  er  die  Nike  gedacht,  und  dies  wiederzugeben  ist  ihm  wirk- 
lich gelungen.  Ja,  man  darf  wohl  sagen,  es  gibt  in  der  ganzen 
Plastik  aller  Zeiten  und  Völker  keine  menschliche  Figur,  welche 
das  Schweben  und  Fliegen  so  glaubwürdig  darstellte,  daß  man  es 
der  Natur  selbst  nachgebildet  meinen  möchte.  Leise  vornüberge- 
neigt, das  linke  Bein  etwas  vorbewegend,  die  Arme  ausgebreitet, 
die  wie  ein  Segel  hinter  sich  den  Mantel  halten,  die  Flügel  ge- 
hoben, so  schwebt  sie  hernieder,  den  Kopf  geneigt  und,  wie  den 


PHOI.E.    VVASMUTH    A,-G.,     BERLIN 

NIKE    DES    PAIONIOS,   OLYMPIA 
ERGÄNZT  VON    RICHARD  GRÜTTNER    IN    BERLIN 


NIKE  DES  PAIONIOS  43 

ganzen  Körper,  ein  wenig  nach  ihrer  Rechten  gewendet,  wie  denn 
auch  der  linke  Flügel  höher  gehoben  ist.  Durch  die  Luft  kommt 
sie  daher,  und  unter  ihren  Füßen  zur  Seite  fliegt  der  Adler  mit 
ausgebreiteten  Schwingen,  gleich  ihr,  der  Siegesgöttin,  ein  Bote 
des  Zeus,  des  olympischen   Gottes. 

Die  Marmormasse  unter  den  Füßen  und  dem  Gewände,  aus 
welcher  der  Adler  herauskommt,  ist  als  Luft  gedacht  und  war  ge- 
wiß dementsprechend  bemalt.  Das  technisch  notwendige  Gleich- 
gewicht gegen  die  vornübergeneigte  Stellung  der  Göttin  gaben  der 
schwere  Mantel  und  die  Flügel.  Mit  großem  Geschick  hat  der 
Künstler  fast  alle  Stützen  vermieden  und  dazu  die  flatternden  Ge- 
wandenden benutzt.  Die  Göttin  ist  mit  dorischem  Peplos  bekleidet, 
der  über  dem  Überschlag  gegürtet  ist;  auffallenderweise  ist  er  an 
beiden  Seiten  offen  und  besteht  aus  zwei  getrennten  Hälften.  Das 
linke  Bein  tritt  durch  die  Verschiebung  des  Gewandes  nackt  her- 
aus. Die  Formen  des  Körpers  heben  sich  äußerst  wirkungsvoll 
ab  von  dem  prächtig  bewegten  Hintergrunde  des  bauschenden,  flat- 
ternden Gewandes.  Das  Haar  ist  aufgenommen  und  größtenteils 
unter  breiten  Binden  verhüllt.  Unter  der  Brust  ist  ein  bronzener 
Gürtel  hinzuzudenken.  In  der  Ansicht  von  unten,  für  welche  sie 
berechnet  war,  erschien  die  Statue  noch  viel  schlanker  und  natür- 
licher bewegt  als  in  der  hier  abgebildeten  Ansicht  aus  gleicher  Höhe. 

Die  wundervolle  Schöpfung  hat  schon  im  Altertum  zahlreiche 
freie  Nachbildungen  erfahren;  wir  kennen  aber  kein  anderes  Werk, 
das  ihr  gleichgekommen  wäre. 


III.  ANDERE  SKULPTUREN  DES  FÜNFTEN 
JAHRHUNDERTS 

Während  uns  die  wichtigsten  Meisterwerke  der  antiken 
Plastik,  die  bedeutendsten  Tempel-  und  Votivstatuen,  wenn  über- 
haupt, so  zumeist  nur  in  Kopien  erhalten  sind,  besitzen  wir  von 
Skulpturen,  die  dekorativen  Zwecken  dienten,  und  namentlich  von 
Reliefs  der  Gräber  und  Heiligtümer  manche  überaus  wertvolle 
Originale. 

Das  hervorragendste  aller  erhaltenen  Weihreliefs  aus  Heilig- 
tümern ist  Tafel  13,  ein  Relief,  das,  wenn  auch  flach  gehalten 
doch  durch  seine  Größe  und  Sorgfallt  der  Ausführung  uns  fast 
verlorene  Statuen  ersetzen  kann;  der  Stil  führt  in  den  Kreis  des 
Phidias.  Nach  der  älteren  Weise  dieser  Reliefs  sind  hier  nur  die 
Gottheiten,  denen  es  geweiht  war,  unter  sich  dargestellt.  Später 
pflegte  der  Weihende,  oft  mit  seiner  ganzen  Familie,  in  kleiner 
Figur  daneben  angebracht  zu  werden. 

Ebenfalls  aus  der  phidiasischen  Schule,  aber  aus  etwas  jün- 
gerer Zeit  als  das  vorige,  stammt  das  Orpheusrelief  (Tafel  14), 
das  vielleicht  auch  ursprünglich  in  einem  Heiligtume  geweiht  war, 
obwohl)  es  nicht  Gottheiten,  sondern  einen  Vorgang  aus  der  Heroen- 
sage darstellt. 

Diese  zwei  auf  drei  Figuren  beschränkten  Reliefs  geben  einen 
vorzüglichen  Begriff  von  jener  stillen  Hoheit,  welche  die  religiösen 
Kompositionen  phidiasischer  Kunst  auszeichnete. 

Nicht  ein  Relief,  aber  etwas  Verwandtes  ist  die  Medusen- 
maske (Tafel  15),  deren  Original  einst  in  einem  Tempel  geweiht 
und  an  der  Wand  aufgehängt   war. 

Unter  den  dekorativen  Skulpturen  nehmen  die  Reste  des 
Marmorschmuckes  des  Parthenon  in  Athen  die  erste  Stelle  ein. 
Es  ist  noch  eine  größere  Anzahl  der  Metopen  erhalten,  welche  in 
Hochrelief  namentlich  Kämpfe  mit  den  Kentauren  schildern.  Künst- 
lerisch noch  bedeutender  sind  die  Reliefs  des  Frieses,  welcher 
den  Festzug  der  Panathenäen  darstellt  und  aus  welchem  Tafel  16 
und  1 7  mit  Figur  16 — 18  Proben  bieten.  Das  Schönste  und  Großartigste 


DIE  ELEUSINISCHEN  GOTTHEITEN  45 

aber  waren  die  Statuen  der  beiden  Giebelfelder,  von  denen  freilich 
nur  wenige  und  diese  verstümmelt  auf  uns  gekommen  sind.  Tafel  18 
und  19  sind  vier  der  besten  dieser  Statuen  wiedergegeben.  Der 
Ostgiebel,  dem  sie  angehörten,  stellte  die  Geburt  oder  das  erste 
Auftreten  der  Athena  im  Kreise  der  olympischen  Götter  dar;  der 
Westgiebel  zeigte  den  Streit  der  Athena  mit  Poseidon  um  das 
attische  Land.  Die  Giebelstatuen  wurden  erst  unmittelbar  vor  dem 
Peloponnesischen  Kriege  gearbeitet  und  zeigen  gegenüber  den  Ko- 
pien der  Athena  Parthenos  und  Lemnia  schon  eine  wesentliche 
Weiterbildung  des  phidiasischen  Stiles.  Wie  das  Gewand  immer 
dünner  und  leichter  und  wie  feucht  anklebend  gebildet  wurde,  das 
lehrt  namentlich  ein  Vergleich  der  Mädchenstatue  vom  Erech- 
theion  (Tafel  20)  mit  jenen  älteren  Athenafiguren.  Auch  diese 
Statue  gehört  zu  den  dekorativen  Skulpturen,  indem  sie  als  Stütze 
verwendet  war. 


TAFEL   13 

DIE  ELEUSINISCHEN  GOTTHEITEN 

RELIEF  AUS  PENTELISCHEM  MARMOR 
ATHEN,  ZENTRAL-MUSEUM.' 

Es  ist  unter  den  Denkmälern  streng"' religiöser  Kunst  der 
Griechen  das  schönste,  großartigste  und  best  erhaltene,  das,  1859 
beim  Bau  eines  Schulhauses  im  alten  Heiligtum  der  großen  Göt- 
tinnen zu  Eleusis  gefunden,  sich  jetzt  zu  Athen  befindet  und  unter 
dem  Namen  das  „eleusinische  Relief"  berühmt  geworden  ist. 

Drei  etwas  überlebensgroße  Figuren  sind  auf  einer  einzigen 
gewaltigen  Platte  in  ziemlich  flachem  Relief  gebildet.  Die  Platte 
ist  vollständig;  sie  hat  nur  unten  und  oben  einen  vorspringenden 
Rand;  der  untere  dient  als  Standplatte  für  die  Figuren,  der  obere 
als  schmückende  Krönung.  An  den  Seiten  fehlt  jeder  Rahmen. 
Diese  Einfachheit  ist  der  alten  Zeit  eigen.  Die  Form  der  Platte 
ist  genau  diejenige,  welche  im  fünften  Jahrhundert  auch  bei  den 
gewöhnlichen  kleineren  Weihreliefs  die  Regel  ist.  Erst  die  spätere 
Zeit  pflegte  kräftige  pfeilerförmige  Rahmen  an  den  Seiten  hin- 
zuzufügen. 

Die  Platte  muß  im  Heiligtum  aufgestellt  gewesen  sein  wie 
andere  Votivtafeln  auch.  Die  leichten  kleinen  Weihtäfelchen  des 
alten  einfachen  Kultus  pflegten  aufgehängt  zu  werden.  Die  schwereren 


46  ANDERE  SKULPTUREN  DES  5.  JAHRHUNDERTS 

Marmorplatten  wurden  entweder  mittels  eines  Zapfens  auf  einem  frei- 
stehenden Pfeiler  befestigt,  oder  sie  wurden  einfach  an  die  Wand, 
besonders  die  einer  Nische,  gelehnt.  Das  eleusinische  Relief,  das 
nur  eine  monumentale  Vergrößerung  einer  Votivtafel  ist,  muß  man 
sich  in  letzterer  Weise  aufgestellt  denken. 

Nach  der  wahrscheinlichsten  Deutung  ist  hier  dargestellt,  wie 
der  Knabe  Triptolemos  von  den  beiden  großen  Göttinnen  von  Eleusis, 
Demeter  und  Köre,  mit  der  Frucht  des  Feldes,  den  Ähren,  ausge- 
stattet und  mit  dem  Auftrage,  die  Kenntnis  des  Feldbaues  in  die 
weite  Welt  zu  verbreiten,  ausgesandt  wird.  Allerdings  weicht  das 
Relief  von  der  sonst  herkömmlichen  Darstellung  dieses  Vorganges 
wesentlich  ab.  Doch  wird  dies  aus  künstlerischen  Gründen  zu  er- 
klären sein,  indem  der  Wagen,  mit  dem  Triptolemos  sonst  zu  fahren 
pflegt,  die  einfach  strenge  Komposition,  die  sich  auf  drei  ruhig  auf- 
recht stehende  Figuren  beschränkt,  gestört  haben  würde. 

Der  Knabe  empfängt  etwas  von  der  links  stehenden  Göttin, 
welche  das  Szepter  mit  der  Linken  aufstützt.  Wahrscheinlich  war 
es  ein  Büschel  Ähren,  der  ursprünglich  durch  Bemalung  ausge- 
drückt war.  Die  andere  Göttin,  an  deren  linke  Schulter  eine  lange 
Fackel  gelehnt  ist,  legt  die  Rechte  auf  den  Kopf  des  Knaben;  vor 
dem  Stirnhaar  des  letzteren  befindet  sich  ein  Bohrloch,  das  einen 
metallenen  Gegenstand  festhielt;  man  vermutet  darin  einen  Kranz, 
den  die  Göttin  dem  Knaben  aufsetzte. 

Daß  die  beiden  Frauen  Demeter  und  Köre  sind,  steht  außer 
Zweifel;  allein  welche  die  Mutter,  welche  die  Tochter  sei,  ist  nicht 
sicher.  Im  Altertum  gaben  vermutlich,  der  damals  herrschenden 
Sitte  gemäß,  gemalte  Inschriften  über  den  Figuren  bestimmten  Auf- 
schluß über  deren  Bedeutung.  Da  eine  feste  Typik,  welche  De- 
meter und  Köre  unterschieden  hätte,  wenigstens  auf  den  Denk- 
mälern des  fünften  Jahrhunderts  noch  keineswegs  nachzuweisen 
ist,  so  können  wir  die  beiden  Figuren  auch  nicht  ohne  weiteres 
benennen.  Der  Umstand,  daß  die  eine  das  Szepter,  die  andere  die 
Fackel  trägt,  daß  die  eine,  wie  es  scheint,  die  Ähren  übergibt, 
die  andere  einen  Kranz  aufsetzt,  reicht  ebenfalls  nicht  zur  Unter- 
scheidung hin.  Jene  Attribute  sind  den  beiden  Göttinnen  gemein- 
sam, ebenso  wie  sie  beide  in  gleicher  Weise  an  Triptolemos  Aus- 
sendung beteiligt  sind.  Allerdings  scheint  die  Figur  links  durch 
das  Szepter  und  die  ihr  zugewandte  Haltung  des  Triptolemos  als 
die  an  Würde  und  Rang  hervorragendere  gekennzeichnet,  wonach 
man  in  ihr  Demeter  gesehen  hat.  Jene  Züge  passen  aber  auch 
zu  Persephone,  der  Heiligen,  der  Herrin  (äyvi],  dyaiM],  bKönoiva, 
dvaööa).  Dagegen  hat  der  Künstler  die  beiden  Gestalten  offenbar 
durch  die  Tracht  des  Gewandes  sowohl  wie  der  Haare  und  durch 


DIE    ELEUSINISCHEN    GOTTHEITEN 

ATHEN,    ZENTRALMUSEUM 


3 


DIE  ELEUSINISCHEN  GOTTHEITEN  47 

die  Art  der  Körperhaltung  —  aber  nicht  durch  die  Körperformen 
—  unterschieden.  Die  Göttin  zur  Rechten  trägt  den  weichen,  dünnen 
ionischen  Linnenchiton  mit  Oberärmeln  und  darüber  den  Mantel. 
Es  war  dies  zur  Zeit  der  Entstehung  des  Reliefs  in  Athen  die 
ältere  Modetracht  der  Frauen,  die  eben  damals  begann,  durch  den 
dorischen  ärmellosen,  wollenen  Peplos  mehr  und  mehr  verdrängt 
zu  werden.  Diesen  letzteren  trägt  denn  auch  die  andere  Göttin, 
und  zwar  gegürtet  und  mit  einem  langen  Überschlag  versehen, 
dessen  Enden  vom  Rücken  über  die  Schultern  gelegt  sind.  Diese 
Tracht  ward  in  Athen  damals  zunächst  besonders  von  jungen  Mäd- 
chen angenommen.  Unter  den  Göttinnen  ist  es  die  Parthenos,  die 
Jungfrau  Athena,  die  sie  zuerst  annimmt.  Die  jungen  Mädchen, 
die  Korai,  welche  die  Halle  am  Erechtheion  stützen,  sind  in  der- 
selben dargestellt.  Dies  deutet  darauf  hin,  daß  die  Köre  unseres 
eleusinischen  Reliefs  in  der  Gestalt  links  zu  erkennen  ist.  Frei- 
lich ward  auch  Demeter  in  eben  dieser  Tracht  sicher  schon  in  der 
zweiten  Hälfte  des  fünften  Jahrhunderts  dargestellt;  allein  hier,  wo 
eine  Unterscheidung  offenbar  beabsichtigt  ist,  wird  jene  Tracht  doch 
wohl  Köre  bezeichnen  sollen. 

Die  Haare  dieser  Göttin  zur  Linken  fallen  lose  ohne  jeden 
Schmuck  auf  den  Nacken  herab;  die  Haare  der  andern  sind  in 
die  Höhe  genommen.  Wenn  dies,  wie  es  offenbar  hier  der  Fall 
ist,  einen  Unterschied  von  Tochter  und  Mutter  andeuten  soll,  so 
kann  kaum  ein  Zweifel  sein,  daß  das  lose  herabhängende  Haar 
dem  Mädchen  zukommt,  das  aufgesteckte  der  Frau.  Denn  es  ist 
uns  ausdrücklich  überliefert,  allerdings  erst  aus  jüngerer  Zeit,  daß 
das  unverheiratete  Mädchen  das  Haar  hängen  ließ,  die  Frau  es 
aufsteckte  ').  Die  Denkmäler  zeigen  uns,  daß  dies  durchaus  nicht 
immer  der  Fall  war;  allein  wo,  wie  hier,  ein  Altersunterschied  durch 
die  Haartracht  angedeutet  werden  soll,  ist  derselbe  wohl  nur  in 
jenem  Sinne  aufzufassen. 

Zu  der  Annahme,  daß  die  Göttin  links  Köre,  die  rechts  De- 
meter sei,  paßt  auch  die  Verschiedenheit  ihrer  Haltung  sehr  gut. 
Die  herbe,  düstere  Strenge  scheint  für  die  hehre  Jungfrau,  die 
Herrin  der  Unterwelt  ebenso  bezeichnend,  wie  das  weichere  mildere 
Wesen  für  die  mütterliche  Demeter.  -) 


')  Callimachus,  hymn.  in  Cer.  v.  5  nebst  dem  Scholion  dazu.  Epigramm 
des  Antipater  Anthol.  Pal.  6,  276. 

-)  Neuerdings  wird  wohl  allgemein  in  der  Gottheit  links  die  Mutter, 
in  der  rechts  die  Schwester  des  Triptolemos  erkannt.  Schon  der  Umstand, 
daß  erstere  die  Ähren  reicht,  paßt  entschieden  für  Demeter  Karpophoros, 
auch  der  Typus  der  Gestalt  und  Gewandung  ist  für  sie  in  dieser  Form 
nachweisbar. 


48  ANDERE  SKULPTUREN  DES  5.  JAHRHUNDERTS 

Triptolemos  der  Knabe  steht  zwischen  beiden,  ganz  dem  hin- 
gegeben, was  die  hohen  Göttinnen  mit  ihm  vornehmen.  Er  trägt 
einen  langen  Mantel,  der  ihm  auf  der  rechten  Schulter  liegt  und 
dessen  Ende  er  mit  der  Linken  festhält.  Das  Haar  des  Oberkopfes 
ist  nach  vorn  gekämmt  und  über  der  Stirne  in  einen  Knoten  ge- 
schlungen. Es  ist  dies  eine  Haartracht  der  Knaben,  die  besonders 
in  der  ersten  Hälfte  des  fünften  Jahrhunderts  v.  Chr.  in  Mode  war. 

Der  Stil  des  Reliefs  ist  durchaus  der  attische  der  phidiasischen 
Periode.  Durch  genauere  Vergleiche  mit  datierbaren  Skulpturen 
läßt  sich  das  Werk  in  die  Zeit  zwischen  450  und  440  setzen; 
es  wird  ein  wenig  älter  sein  als  der  Fries  des  Parthenon.  Geist 
und  Ausführung  entsprechen  vollständig  dem,  was  wir  von  phidia- 
sischer  Kunst  wissen,  der  wir  dieses  herrliche  Werk  unbedenklich 
zurechnen  dürfen. 

Die  religiöse  Kunst  des  Phidias  zeichnete  eben  diese  Kon- 
zentration auf  eine  große  Wirkung,  die  erreicht  wird  durch  Fern- 
halten jedes  nebensächlichen  störenden  Elements,  und  die  Art  jener 
Wirkung  aus,  die  stille  Ruhe,  der  feierliche,  fromme  Ernst  der  nur 
leise  bewegten  Figuren. 


TAFEL  14 
ORPHEUS  UND  EURYDIKE 

MARMORRELIEF.   NEAPEL,  MUSEO  NAZIONALE 

Dieses  im  Museo  Nazionale  zu  Neapel  befindliche  Relief  unbe- 
kannter Provenienz  ist  aus  pentelischem  Marmor  gearbeitet  und  eine 
ziemlich  gute,  etwa  aus  der  augusteischen  Epoche  stammende  Kopie 
eines  verlorenen  attischen  Reliefs,  das  in  den  letzten  Dezennien  des 
fünften  Jahrhunderts  entstand  und  einen  Meister  der  phidiasischen 
Schule  zum  Urheber  hatte.  Es  sind  noch  andere  Kopien  dieses 
Reliefs  erhalten ;  doch  ist  das  hier  wiedergegebene  Neapler  Exem- 
plar das  beste.  Es  hat  auch  den  Vorztig  antiker,  griechischer 
Namensbeischriften,  die  in  absichtlich  altertümlicher  Schreibart  über 
den  Köpfen  der  Figuren  stehen.  Bei  Orpheus  sind  die  Buchstaben 
von  rechts  nach  links  zu  lesen,  wie  auch  die  Stellung  dieser  Figur 
den  beiden  anderen  entgegengesetzt  ist.  Doch  auch  ohne  die 
Inschriften  wäre  die  Bedeutung  der  Gestalten  unzweifelhaft. 


ORPHEUS   UND   EURYDIKE 

NEAPEL,    MUSEO   NAZIONALE 


F.    BRUCKMANN    A.-G.,    MÜNCHEN 


ORPHEUS  UND  EURYDIKE  49 

Orpheus  hat  durch  die  Macht  seines  Gesanges  und  seines 
Leierspieles  die  sonst  unerbittlichen  Unterweltsgottheiten  gerührt 
und  erweicht;  er  hat  seine  geliebte  Gattin  Eurydike  wieder  er- 
halten. Da  vergißt  er  des  Gebotes,  auf  dem  Wege  sich  nach  ihr 
nicht  umzukehren.  So  zeigt  uns  das  Relief  das  Paar;  Orpheus 
hat  sich  nach  der  Geliebten  umgewendet;  er  sieht  sie,  und  der 
beiden  Blicke  versenken  sich  ineinander;  sie  haben  sich  wieder- 
gefunden. Sie  legt  dem  Gatten,  seines  Besitzes  sich  zu  verge- 
wissern, die  Hand  auf  die  Schulter.  Doch  zur  gleichen  Zeit  er- 
greift Hermes,  der  Totenführer,  die  Rechte  Eurydikes,  um  sie 
wieder  zu  den  Schatten  zu  führen:  die  sich  soeben  in  Liebe  ge- 
funden, werden  mit  leiser,  aber  unerbittlicher  Gewalt  von  neuem 
getrennt. 

Orpheus  ist  als  der  Sänger  gekennzeichnet  durch  die  Leier, 
die  er  in  der  Linken  hält,  als  Thraker  durch  die  hohen,  bis  zu 
den  Knien  reichenden  Stiefel,  die  aus  Rehkalbleder  zu  denken 
sind,  und  durch  die  Fuchspelzmütze,  die  ct\con:exfi,  die  ihm  den 
Kopf  bedeckt ').  Er  trägt  im  übrigen  einen  gegürteten  Chiton 
griechischer  Sitte  und  eine  auf  der  rechten  Schulter  geknüpfte 
Chlamys,  welche  auch  den  linken  Arm  nebst  der  Hand  verhüllt. 
Das  Gesicht  des  Orpheus  ist  modern  ergänzt,  ebenso  wie  seine 
rechte  Hand,  die  aber,  wie  die  übrigen  Repliken  zeigen,  ähnlich 
bewegt  war;  der  Gestus  begleitet  seine  Worte,  die  er  zu  sprechen 
im  Begriffe  ist.  Nach  anderer  Auffassung  will  er  die  Hand  der 
Gattin  fassen  oder  hat  ihr  Antlitz  entschleiert. 

Eurydike  trägt  den  dorischen  Peplos  in  der  Weise,  wie  sie 
in  der  phidiasischen  Zeit  zu  Athen  üblich  war.  Das  gegürtete 
Gewand  bildet  einen  Bausch  über  dem  Unterleib;  der  Überfall 
des  auf  den  Schultern  zusammengesteckten  Kleides  reicht  bis 
zu  eben  jenem  Bausch.  Über  den  Kopf  hat  sie  ein  Schleiertuch 
geworfen,  das  auf  ihre  Schultern  fällt.  Durch  die  völlige  Profil- 
stellung ihres  linken  Fußes  ist  angedeutet,  daß  sie  nach  rechts 
hin  zu  schreiten  im  Begriffe  war  und  nur  jetzt  innehält;  die  ver- 
schiedene Fußstellung  des  Orpheus  zeigt  an,  daß  er  sich  umge- 
dreht hat. 

Hermes  ist  als  Gott  durch  etwas  größere  Gestalt  ausgezeichnet. 
Auch  er  hält  inne  im  Schreiten  nach  rechts.  Er  trägt,  wie  ge- 
wöhnlich in  der  älteren  Kunst,  einen  Chiton  und  darüber  eine 
Chlamys,  die  auf  der  rechten  Schulter  geknüpft  ist.  Der  Chiton 
ist  mit  einem  breiten  Riemen  gegürtet  und  bildet  darunter  einen 
kleinen    Bausch.    Im  Nacken    hängt  Hermes    sein    breitkrämpiger 


')  Vgl.  Herodot  7,  75.    Xenophon  Anab.  7,  4,  4. 

Denkmäler  griech.  u.  röm.  Skulptur,  3.  Aufl. 


50  ANDERE  SKULPTUREN  DES  5.  JAHRHUNDERTS 

Reisehut,  der  Petasos,  der  an  einem  (plastisch  nicht  ausgedrückten) 
Bande  um  den  Hals  befestigt  wird.  Der  vorstehende  Rand  des 
Petasos  ist  modern  ergänzt.  Das  gelockte  Haar  ist  kurz  geschnitten, 
wie  bei  den  die  athletischen  Übungen  pflegenden  Jünglingen.  An 
den  Füßen  trägt  er  Sandalen ;  eine  andere  Replik  (die  des  Louvre) 
gibt  ihm  Stiefel.  Das  Kerykeion  hält  er  nicht.  In  anmutiger, 
fast  verlegen  schüchterner  Weise  faßt  seine  Rechte  den  Chiton. 
Das  ganze  Auftreten  des  Gottes  ist  still  bescheiden.  Er  handelt 
in  höherem  Auftrag  und  führt  ihn  so  milde  aus,  wie  er  es  nur 
vermag. 

Die  ruhigen,  großen  Züge  der  Köpfe,  die  reichen,  schönen 
Falten  der  Gewänder  und  die  gesamte  Stilisierung  sind  durchaus 
von  der  Art  wie  am  Parthenonfries  und  an  den  verwandten  Werken 
der  phidiasischen  Schule  aus  der  Epoche  rund  um  430  v.  Chr. 

Vor  allem  bewundernswert  ist  aber,  wie  hier  auf  so  engem 
Räume  mit  so  still  und  ruhig  bewegten  Figuren  bei  noch  völligem 
Fehlen  detaillierter,  physiognomischer  Ausprägung  der  Gefühle  doch 
eine  solche  Fülle  von  Handlung  und  eine  solche  Tiefe  der  Emp- 
findung zum  Ausdruck  gekommen  ist.  Eine  Schöpfung  dieser  Art 
war  nur  in  der  phidiasischen  Zeit  möglich.  Die  Komposition  ist 
vollendet;  man  kann  nicht  den  kleinsten  Zug  an  ihr  ändern,  ohne 
das  Ganze  zu  zerstören. 

Die  Bestimmung  des  einstigen  Originalreliefs  zu  Athen  ist  un- 
gewiß. Jedenfalls  war  es  aber  nicht  ein  bloßer  „Wandschmuck", 
wie  man  gemeint  hat;  denn  dergleichen  gab  es  in  jener  Zeit 
noch  nicht.  Das  Relief  kann  sehr  wohl  religiöse  Bedeutung  gehabt 
haben;  es  schließt  sich  in  seiner  Form  und  Gestalt  durchaus  an 
die  älteren  Votivreliefs  an ;  es  war  eine  selbständige  Tafel,  oben 
mit  einem  Randleistchen  abgeschlossen,  einst  auf  einem  Pfeiler 
oder  in  einer  Nische  aufgestellt.  Eine  neuerdings  vielfach  ange- 
nommene aber  ungewisse  Vermutung  ist  die,  daß  es  ein  von  einem 
im  Wettkampfe  siegreichen  szenischen  Choregen  zum  Danke  er- 
richtetes Weihrelief  ist,  das  den  Hauptinhalt  der  Tragödie,  mit 
welcher  der  Chorege  siegte,  in  gedrängter  Fassung  zum  Ausdruck 
bringt:  dann  hätte  es  dereinst  mit  zwei  ähnlichen  Darstellungen, 
etwa  mit  dem  Peliadenrelief,  vereinigt,  den  in  einer  Trilogie  an 
den  großen  Dionysien  zu  Athen  errungenen  Sieg  verewigt;  es  wäre 
der  Dreiverein  in  einen  tempelartigen  Bau  eingegliedert  zu  denken 
nahe  dem  Theater  an  der  Tripodenstraße,  wo  noch  heute  das  zier- 
liche Lysikratesdenkmal,  des  Dreifußes  freilich  längst  beraubt, 
einsam  dasteht.  Jedenfalls  erscheint  durch  das  ergreifende  Ethos, 
welches  die  Handlung  leise  durchbebt,  der  abgeklärte  Adel  der 
attischen  Tragödie  insbesondere  des  Sophokles  verkörpert. 


MEDUSA  51 

Die  Schönheit  der  Komposition  veranlaßte  kunstsinnige  Römer 
sich  Kopien  davon  anfertigen  zu  lassen,  deren  eine  das  Neapler 
Relief  ist. 


TAFEL  15 
MEDUSA 

MASKE  VON  MARMOR.     MÜNCHEN,  GLYPTOTHEK. 

Diese  berühmte  Maske  befand  sich  ehemals  im  Palaste  Rondanini 
zu  Rom,  wo  sie  von  Goethe  bewundert  wurde.  Sie  pflegt  die 
Medusa  Rondanini  genannt  zu  werden.  Sie  ist  eine  treue,  römische 
Kopie  etwa  augusteischer  Epoche  nach  einem  verlorenen  grie- 
chischen, höchst  wahrscheinlich  in  Bronze  ausgeführten  Originale. 
Es  sind  uns  noch  mehrere  Repliken,  d.  h.  andere  Kopien  nach 
demselben  Originale  erhalten,  die  für  die  Rekonstruktion  der  Stil- 
formen des  Urbildes  von  Wichtigkeit  sind.  Diese  Repliken  waren 
vielleicht  als  ct7T<)rp6::Taia  („Unheil  abwehrende  Bilder")  am  Eingang 
römischer  Gebäude  angebracht.  An  dem  hier  wiedergegebenen, 
gut  gearbeiteten  Münchner  Exemplare  sind  nur  unbedeutende  Teile 
der  Schlangen  und  Haare,  sowie  die  äußerste  Spitze  der  Nase  er- 
gänzt. Die  Maske  ist  frei  gearbeitet;  sie  war  ohne  Zweifel  be- 
stimmt, an  irgend  einer  Wand  befestigt,  d.  h.  aufgehängt  zu  werden. 
Niemals  aber  hat  sie,  wie  man  fälschlich  gemeint  hat,  in  einem 
bestimmten  Zusammenhange  mit  einem  Architekturgliede  gestanden; 
sie  war  kein  dekoratives,  tektonisches,  sondern  ein  selbständiges 
Werk,  die  Weihgabe  in  einem  Heiligtum. 

Medusa  erscheint  hier  nicht  in  der  alten  Weise  fratzenhaft 
verzerrt,  sondern  in  reiner  menschlicher  Schönheit.  Doch  hat  der 
Künstler  zur  Charakteristik  die  Flügel  und  die  zwei  Schlangen 
benutzt,  die,  um  den  Kopf  geringelt,  sich  unter  dem  Kinn  zu  einem 
Knoten  verschlingen.  Ferner  gab  er  ihr  große  geöffnete  Augen 
und  gesträubtes  Haar.  Zum  Hauptträger  des  Ausdruckes  aber 
machte  er  den  Mund,  den  er  von  ungewöhnlicher  Breite  und  etwas 
geöffnet  bildete,  so  daß  die  obere  Zahnreihe  sichtbar  ward. 

Man  glaubte  früher,  die  Medusa  sei  hier  sterbend  gedacht; 
Goethe  meinte  zuerst  in  dieser  Maske  „das  ängstliche  Starren  des 
Todes"  ausgedrückt  zu  sehen.  Es  war  das  ein  Irrtum.  Dem  ganzen 
Kreise  von  Werken,  in  den  sich  die  Rondaninische  Medusa  historisch 


52  ANDERE  SKULPTUREN  DES  5. JAHRHUNDERTS 

einreiht,  liegt  es  vollständig  fern,  eine  Sterbende,  im  Tode  Er- 
starrende darstellen  zu  wollen.  Sie  wollen  nur  in  menschlich 
schöner  Form  ausdrücken,  was  die  alten  Typen  durch  die  rohe 
Verzerrung  taten,  die  zwingende  Gewalt  des  dämonischen  Wesens, 
dessen  Anblick  dem  Sterblichen  das  Blut  in  den  Adern  gerinnen, 
ihn  zu  Stein  erstarren  läßt.  Dies  ist  dem  Künstler  vortrefflich 
gelungen  durch  den  Ausdruck  schauriger  Kälte,  den  er  dem 
Gesichte  zu  verleihen  wußte,  durch  den  breiten,  geöffneten  Mund, 
das  mächtige  Kinn  und  die  großen,  starren,  durch  die  breite  Nase 
weit  auseinanderstehenden  Augen. 

Auch  der  streng  lineare,  für  die  Maske  besonders  passende 
Aufbau  steigert  jene  Wirkung  des  Dämonischen.  Die  wagerecht 
ausgebreiteten  Flügel  bilden  einen  horizontalen  oberen  Abschluß, 
der  auf  das  Ganze  darunter  gleichsam  einen  düster  lastenden 
Druck  ausübt.  Nach  unten  konvergieren  die  Linien  in  der  Art 
eines  gleichschenkligen  Dreiecks  und  treffen  zusammen  da,  wo 
der  schreckhafte  Ausdruck  des  Ganzen  sich  konzentriert  und  in 
dem  halbgeöffneten  Munde  seine  größte  Stärke  erreicht. 

Man  hat  die  Maske  früher  in  spätgriechische  Zeit  gesetzt; 
mit  Unrecht;  denn  ihr  Stil  weist  das  Original  mit  voller  Bestimmt- 
heit noch  bis  an  das  Ende  des  fünften  Jahrhunderts.  Ein  großer 
Künstler  muß  ihr  Schöpfer  sein.  Die  Behandlung  der  Formen 
enthält  charakteristische  Züge,  welche  gestatten,  in  der  Maske  die 
Schöpfung  des  Künstlers  Kresilas  zu  vermuten,  desselben,  auf 
welchen  der  Perikles  (Tafel  50)  und  wahrscheinlich  auch  die 
Athena  Velletri  (Tafel  7)   zurückgehen. 


TAFEL  16/17 
RELIEFS  VOM  PARTHENONFRIES 

PENTELISCHER     MARMOR.       GÖTTERGRUPPE     VOM     OSTFRIES 

ATHEN,  AKROPOLISMUSEUM.     REITER  MIT  BÄUMENDEM  PFERD 

VOM  WESTFRIES    ATHEN,    NOCH  AM    TEMPEL.     REITERGRUPPE 

VOM  NORDFRIES,  LONDON,  BRITISH  MUSEUM. 

Rings  um  die  äußere  Cellawand  des  438  eingeweihten  Tem- 
pels der  Athena  Parthenos  auf  der  Akropolis  zu  Athen  lief 
ein    fast    160  m  langer,    1  m   hoher   Fries   in  Flachrelief,   der  seit 


RELIEFS  VOM    PARTH  ENON  FRI  ES 


ATHEN,    AKROPOLISMUSEUM 
UND    LONDON,    BRITISH    MUSEUM 


RELIEFS  VOM  PARTHENONFRIES 


53 


1816  großenteils  im  British 
Museum  zu  London  aufbewahrt 
wird.  Dargestellt  sind  die  feier- 
liche, an  den  großen  Panathenäen 
erfolgte  Übergabe  des  Festge- 
wandes, des  sogenannten  Peplos, 
an  Athena,  welche  nach  des 
Künstlers  Idee  in  Gegenwart 
der  olympischen  Götter  statt- 
fand, und  der  aus  diesem  An- 
lasse veranstaltete  Festzug  der 
Bevölkerung  der  Stadt  auf  die 
Burg.  Die  sowohl  aus  dem 
Göttervereine  als  auch  aus  dem 
Festzuge  hier  abgebildeten  Pro- 
ben gewähren  in  Verbindung 
mit  den  auf  Tafel  18  und  19 
wiedergegebenen  Figuren  aus 
dem  Ostgiebel  des  Parthenon  von 


Fig.  16.     Kopf  des  „Apollo' 


der  Vollendung  der  attischen  Kunst  zur  Zeit  des  Phidias  eine  an- 
schauliche Vorstellung.  Seit  ihrer  würdigen  Bekanntmachung  sind 
die  Parthenonskulpturen  wie  eine  Offenbarung  der  reinen  Antike 
als  der  Gipfelpunkt  griechischer  und  menschlicher  Kunst  über- 
haupt insbesondere  von  hervorragenden  Künstlern  gewürdigt  und 
gepriesen  worden;  sie  werden  für  alle  Zeiten  durch  die  künst- 
lerische Auffassung,  die  technische  Vollendung,  den  wahren  Tri- 
umph der  Verbindung  des  Realismus  und  Idealismus  für  die 
Grenzen  und  Ziele  der  Plastik  einen  richtigen  Maßstab  abgeben, 
sowie  zur  Läuterung  des  Kunstgeschmackes  beitragen  und  dadurch 
auf  unsere  modernen  Kunstrichtungen,  die  zum  großen  Teile  aller- 
dings in  berechtigtem  Widerspruch  mit  der  seit  Winckelmann 
geltenden  Klassizität  stehen,  einen  mäßigenden,  wohltätigen  Ein- 
fluß ausüben. 

Von  den  hier  abgebildeten  Göttern  ist  Poseidon  sicher  erklärt, 
in  der  mittleren  Gestalt  ist  höchst  wahrscheinlich  Apollo  zu  er- 
kennen, die  weibliche  von  unsicherer  Deutung  wird  Artemis 
oder  wegen  der  Nachbarschaft  mit  Aphrodite  Peitho  genannt. 
Auch  losgelöst  von  dem  gesamten  Göttervereine  erregt  die  Gruppe 
der  drei  Figuren  unser  künstlerisches  Interesse  im  höchsten  Grade. 
Was  den  Betrachter  mächtig  anzieht,  ist  die  in  der  äußeren  Form 
über  das  Menschliche  nicht  erhobene  Darstellung  und  zugleich 
die  überirdische  Schönheit  und  Erhabenheit  der  Gestalten,  die  Ver- 
körperung des  ungezwungenen  Verkehrs  der  homerischen  Götter- 


54  ANDERE  SKULPTUREN  DES  5.  JAHRHUNDERTS 

weit,  die  insbesondere  an  den  nackten  Körperteilen  sich  zeigende 
unerreichte  Formengebung,  vor  allem  die  Behandlung  der  Draperie 
der  Gewandung,  ein  ewig  wechselndes,  immer  neue  Gesichtspunkte 
erschließendes  Wellenspiel  der  Falten,  das  Ergebnis  eingehenden  be- 
rechnenden Studiums,  das  in  seiner  rhythmischen  und  harmonischen 
Wirkung  den  Eindruck  der  Natürlichkeit  hervorruft.  Im  einzelnen  wird 
das  Auge  zunächst  auf  die  herrliche  Gestalt  des  jugendlichen  „Apollo" 
gelenkt,  der  in  ungezwungener  Haltung  zu  Poseidon  sich  zurück- 
wendet: er  ist  ein  Bild  kräftiger,  schwellender  Gesundheit  und 
wird  in  seiner  vornehm  leichten  Bewegung,  den  üppigen,  fast 
weichlichen  Zügen  des  schöngelockten  Kopfes  (Fig.  16)  als  die 
Zierde  des  Göttervereins  am  Parthenonfries  bewundert').  Der  bärtige 
Poseidon^)  sitzt  aufrecht  da,  ernst  und  gemessen,  fast  etwas  steif, 
dem  herankommenden  Festzuge  entgegensehend,  ebenso  wie 
„Artemis"  in  feierlicher  Haltung  dorthin  blickt.  Sie  ist  von 
kräftiger,  jugendlicher  Körperbildung  und  durch  reiche  Kleidung 
ausgezeichnet:  über  den  von  der  linken  Seite  herabgefallenen  Chiton 
legt  sich  an  dem  unteren  Teil  des  Körpers  der  Mantel,  eine  Haube 
verdeckt  fast  völlig  das  Haar.  In  der  zierlich  erhobenen  rechten 
Hand  hat  die  Göttin  vielleicht  eine  Blume  gefaßt.  Gerade  durch 
den  Gegensatz  in  Haltung  und  Bewegung  des  Dreivereins  hat  der 
Künstler  die  störende  Einförmigkeit  des  Ganzen  glücklich  vermieden 
und  dem  harmonischen  Bilde  einen  neuen  Reiz  verliehen. 

Die  Götter  erwarten  sitzend  die  Prozession  des  attischen  Volkes, 
welche  wegen  der  Mannigfaltigkeit  von  Inhalt  und  Anordnung,  des 
Wechsels  der  Darstellung,  der  Vorzüglichkeit  der  bis  ins  einzelne 
ausgeführten  Arbeit  als  das  unerreichte  Meisterwerk  friesartiger 
Reliefverzierung  von  Künstlern  und  Kunstkennern  gepriesen  wird. 
Vor  allem  hat  der  Reiterzug  ^)  durch  die  unerschöpfliche  Fülle  der 
Motive  und  Bewegungen  von  jeher  besondere  Bewunderung  erregt 
und  kann  auch  in  den  hier  abgebildeten  Proben  gewürdigt  werden. 
Er  ist  ein  Abbild  der  rossefreudigen  und  rossestolzen  athenischen 
Jugend  ^),    ein    Beweis   für   die   Trefflichkeit   der   Pferdezucht   der 


')  In  der.  linken  Hand  wird  ein  Lorbeerzweig  vermutet,  das  Haar 
war,  wie  aus  den  Fig.  16  deutlich  sichtbaren  Bohrlöchern  zu  erschließen 
ist,  mit  einem  metallenen  Kranze  geschmückt. 

2)  Die  linke  Hand  hat  nach  einer  wahrscheinlichen  Annahme  den 
kurzen  Dreizack  gehalten,  sein  Haar  hat  ein  Band  geziert. 

^)  Für  dessen  Verständnis  bieten  Xenophons  Schriften  „über  die  Reit- 
kunst" und  „von  den  Obliegenheiten  eines  Reiterobersten"  mannigfache 
Anregung. 

^)  Vgl.  Aristophanes  Wolken  15,  Thukydides,  Geschichte  des  Pelo- 
ponnesischen  Krieges  VI,  12,  15,  16  u.  a.  St.  m. 


RELIEFS  VOM   PARTHENON  FRIES 


55 


Fig.  17.    Kopf  eines  lebhaft  erregten  Jünglings,  der  auf 

sprengendem    Rosse   sitzt    und    nach    dem   säumenden 

Genossen  umschaut.  Westfries  des  Parthenon.  Marmor. 

London,  British  Museum 


euirtrroc  /topa  („des  durch  Pferdezucht  berühmten  Landes"),  wie 
Attika  von  Sophokles')  genannt  wird,  und  für  die  Tüchtigkeit 
der  Lenker.  Die  wechselvoll  gekleideten  und  ausgerüsteten  Reiter, 
schlanke  und  bewegliche  Gestalten,  sitzen  mit  sicherem  Schluß  der 
Schenkel  und  leicht  bewegtem  Oberkörper  auf  den  feurigen,  nur 
durch  großes  Geschick  zu  bändigenden  Tieren,  die  auffallend  klein 


')  Ödipus  auf  Kolonos  668  (Teubnerscher  Text,  5.  .^ufl.   1882);    vgl. 


56  ANDERE  SKULPTUREN  DES  5.JAHRHUNDERTS 

mit  dickem  Halse  und  kurzer  Mähne  gebildet  sind  ').  Roß  und 
Reiter  rufen  auch  heutzutage  in  ihrer  harmonischen  Vereinigung  das 
lebhafte  Interesse  des  Kenners  wach  und  ernten  uneingeschränktes 
Lob.  Die  Bewegungen  der  drei  einigermaßen  gut  und  vollständig 
erhaltenen  Gruppen  unserer  Tafel  16,  die  eine  gedrängte  Kavalkade 
bilden  und  in  kurzem  Galopp  dahinreiten,  erklären  sich  größtenteils 
aus  sich  selbst:  der  Jüngling  links  sieht,  vorwärts  gebeugt,  mit  einem 
gewissen  feierlichen  Ernst  auf  das  Zaumzeug  hin  und  bringt  es  mit 
beiden  Händen  in  Ordnung;  er  zeigt,  ebenso  wie  der  mittlere,  auf- 
recht sitzende,  in  seinem  ganzen  Auftreten  Anstand  und  Beschei- 
denheit. Die  Perle  der  Darstellung  ist  der  Reiter,  welcher  mit  der 
linken  Hand  das  eine  Ende  des  Zügels  festhält,  zugleich  aber  den 
Luftsprung  des  ungestümen  Pferdes  mit  einer  kühnen  Bewegung 
des  rechten  Armes  zu  begleiten  und  durch  Anziehen  des  anderen 
Zügelendes  zu  hemmen  bestrebt  ist;  die  in  der  halben  Rückenan- 
sicht zur  vollen  Geltung  kommende  Körperform  ist  nach  Kompo- 
sition und  Bewegung  eine  bedeutende  Leistung  der  Bildhauerkunst. 
Weit  übertroffen  wird  er  von  dem  Relief  auf  Tafel  17,  wo  nur  ein 
Reiter  mit  seinem  Tiere  die  ganze  Platte  okkupiert;  es  ist  eines 
der  herrlichsten  des  Frieses  und  weckt  schon  durch  die  frappie- 
rende Darstellung  sofort  packendes  Interesse,  wertvoll  auch  des- 
halb, weil  es  die  landläufige  Vorstellung  vom  phidiasischen  Stile 
modifiziert  und  erweitert;  denn  dem  Bilde  gibt  nicht  hoheitsvoller 
Adel,  sondern  überaus  starker  Realismus,  dramatisches  Pathos  das 
Gepräge  (vgl.  auch  Fig.  17).  Rückwärts  ist  der  Zug  in  Vorberei- 
tung, noch  nicht  zu  dichter  Schar  geordnet.  Eben  will  der  Mann, 
der  mit  der  Rechten  den  Zaum  fest  und  kurz  hält,  von  rechts  mit 
dem  linken  Bein  sich  aufschwingen,  auf  einen  an  der  Straße  stehenden 
Trittstein  den  rechten  Fuß  setzend,  da  steigt  das  ungestüm  vor- 
wärtsdrängende Vollblutpferd  noch  im  Anlaufe  hoch  empor  und 
sucht  die  unbequeme  Last  sich  fernzuhalten ;  nur  ein  Fuß  berührt 
den  Boden.  In  diesem  Augenblick  reißt  sich  der  Lenker  unwill- 
kürlich selbst  nach  links  zurück,  zieht  den  bisher  schlapp  herab- 


auch Vers  708 ff.: 

"AWov  b'   aivov  e/co  jnaxpoitöXei  xäbe  xpatiöTov 
bc7)pov  ToG  lueydXou  &a{)aovo^  etJtsTv,  yß-oxbc,  aü/i^jna  ^eiiaTov 
eui7i:iov,  euTiwXov,  .  .  .  (des  Poseidon). 
„Hoch  nun  preise  das  Lied 
noch  ein  anderes  Gut, 
welches  als  edelste  Gabe  dem  Lande 
geschenkt  der  erhabene  Meergott! 
Du,  Kronide,  verliehst 
uns  das  herrliche  Roß  " 
')  Siehe  zu  Tafel   17. 


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RELIEFS  VOM  PARTHENONFRIES 


57 


hängenden  lin- 
ken Zügel  nach 
oben  straff  an  ') 
und  gewinnt 
momentan  die 
bestmöglichste 
Gewalt  über 
sein  Roß.  Der 
ausgezeichnete 
Künstler  hat 
gewiß  im  Frei- 
en oder  in  der 
Rennbahn,viel- 
leicht  gar  am 
Modell  im  Ate- 
lier, die  zu- 
fällige Augen - 
blickssituation 
beobachtetund 
alsposenhaftes 
Bravourstück 
seines  Könnens 
wiedergegeben. 
Man  zweifelt, 
ob  der  Kontra- 
post der  Kom- 
position,     der 

Zusammen- 
schluß   wider- 
strebender 


Fig.  18.    Oberkörper  des  Reiters  mit  bäumendem  Pferd. 
Nach  einem  aus  alter  Zeit  erhaltenen  Gipsabguß 


Kräfte  oder  die  rhythmische  Stellung,  die  anatomisch  sorgfältige 
Bildung  der  zwei  Einzelfiguren  größere  Bewunderung  verdienen. 
Von  dem  kühn  und  genial  gestalteten  Pferde,  an  dem  jede 
Falte,  jede  Ader  zum  Ausdruck  kommt,  fällt  der  edel  und  lebens- 
voll geformte,  feuersprühende  Kopf  ins  Auge;  sein  Körper  ist 
aus  künstlerischen  Erwägungen  im  Widerspruch  mit  der  Wirklich- 
keit allzu  klein  gebildet  um  beide  Figuren  in  proportionelles  Ver- 
hältnis zu  bringen.  Des  bärtigen  Reiters  Haupt,  das  am  Original 
jetzt  leider  zerstört  ist,  läßt  sich  glücklicherweise  einigermaßen 
würdigen  an  einem  aus  alter  Zeit  erhaltenen  Gipsabguß  (Fig.  18). 
Es  trägt  die  thrakische,  zu  Athen  in  Mode  gekommene  Fuchspelz- 


■)  Linker  Unterarm  nur  ganz  schwach  sichtbar. 


58  ANDERE  SKULPTUREN  DES  5.J AHRHUNDERTS 

mutze  (siehe  zu  Tafel  14),  der  nur  auf  der  linken  Schulter  geknüpfte 
Chiton  ist  infolge  der  heftigen  Bewegung  herabgeglitten,  au-ch  der 
kurze  Mantel  mit  dem  gefalteten  Saume  flattert  vom  Winde  ge- 
peitscht nach  rückwärts  und  steigert  die  Vorstellung  von  dem  stür- 
mischen Vorgang;  zugleich  ist  dadurch  ebenso  wie  durch  den  Pferde- 
schwanz der  Raum  noch  weiterhin  ausgefüllt.  Und  erst  recht  glaubt 
man  sich  mittenhinein  in  die  Szene  versetzt  beim  Anblick  des  stark 
erregten,  zornerfüllten  Gesichts;  durch  lauten  Zuruf  sucht  der  Lenker 
die  schwere  Bändigung  des  unfügsamen  Tieres  zu  erleichtern.  So 
zeigt  sich  auch  an  diesem  Teil  der  hochbedeutende  Wert  der  Friesdar- 
stellung, doch  wird  das  Auge  von  selbst  wieder  dem  Ganzen  sich 
zuwenden,  von  neuem  das  grandiose  Gesamtbild  auf  sich  wirken 
lassen.  Die  beiden  Tafeln  16/17  sind  gerade  durch  den  Gegensatz 
der  Auffassung  geeignet  den  ausgedehnten,  mannigfachen  Reiter- 
zug im  Gedächtnis  lebendig  zu  erhalten.  Freilich  erst  durch  bunte 
Bemalung  und  glänzende  Metallzutaten  wurde  die  volle  Wirkung 
erreicht,  wovon  man  nur  eine  blasse  Ahnung,  kein  klares  Bild,  ge- 
winnen kann.  Aber  auch  ohnedies  spenden  die  Reliefs  eine  un- 
versiegbare, immer  nur  kräftiger  wirkende  Quelle  vornehm  reinen 
Kunstgenusses.  Die  abwechselnden  Motive,  die  Gestalten  der  Reiter 
und  Pferde,  den  Ausdruck  der  klugen,  durchgeistigten  Gesichter  der 
athenischen  Jugend,  die  feurig  belebten  Köpfe  der  Tiere  wird  man 
im  einzelnen  zu  studieren  nicht  müde,  um  dann  wieder  an  der  Be- 
trachtung des  Ganzen  sich  zu  erfreuen.  Heitere  Frische  und  Natür- 
lichkeit, ernste  Feststimmung,  der  Abglanz  der  lebendigen  Wirk- 
lichkeit teilen  sich  dem  Beschauer  unwillkürlich  mit  und  versetzen 
ihn  in  die  Zeit  der  großen  Panathenäen  dorthin,  wo  der  feierliche 
Zug  den  Burgweg  hinauf  zum  Tempel  der  Athena  Parthenos  ge- 
wallt ist. 


TAFEL  18 

GRUPPE  VON  DREI   WEIBLICHEN  STATUEN 
AUS  DEM  OSTGIEBEL  DES  PARTHENON 

LONDON,  BRITISH  MUSEUM. 

Diese  Gruppe  von  pentelischem  Marmor  befand  sich  einst 
nahe  der  rechten  Ecke  im  östlichen  Giebelfelde  des  Parthenon  auf 
der   Akropolis   zu   Athen.     Seit   1816   gehört   sie   dem    Britischen 


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OSTGIEBEL  DES  PARTHENON  59 

Museum  zu  London.  Die  Figuren  sind  als  Hestia,  Demeter,  Per- 
sephone;  Amphitrite,  Thalassa,  Rhode,  Perse,  Circe;  Klotho,  La- 
chesis,  Atropos;  Aglauros,  Herse,  Pandrosos;  Thallo,  Karpo;  die 
Chariten;  Peitho,  Aphrodite,  und  endlich  als  Personifikationen  von 
Wolken  gedeutet  worden.  Unter  dem  Namen  „Tauschwestern" 
wurden  sie  am  bekanntesten. 

Die  Köpfe  fehlen  alle  und  die  Arme  sind  verstümmelt;  doch 
sind  die  Figuren  durch  ihre  die  Natur  getreu  wiedergebenden  und 
doch  weit  übertreffenden  Körperformen,  durch  ihre  wohlerhaltene 
und  wundervoll  gearbeitete  Gewandung,  durch  die  meisterhafte 
Technik  in  der  Marmorbearbeitung  die  mit  Recht  am  meisten  be- 
wunderten Reste  der  Giebel  des  Parthenon.  Sie  stellen  eine  eng- 
verbundene Gruppe  von  drei  Frauen  dar.  Aufgerichtet  würde  ins- 
besondere die  Gestalt  rechts  ein  Wunderbild  weiblicher  Fülle  und 
Pracht  darbieten.  Die  Figur  links  war  im  Giebel  eng  an  die 
beiden  anderen  herangeschoben  und  mit  dem  Körper  gerade  nach 
vorn  gerichtet  (also  noch  etwas  weiter  nach  rechts  herumgedreht 
als  auf  unserer  Tafel);  ihr  Kopf  dagegen  wendete  sich  nach  links, 
nach  der  Mitte  zu;  er  war  1674  noch  erhalten.  Wie  eine  damals 
gemachte  Zeichnung  lehrt,  berührte  die  zweite,  mittlere  Figur  mit 
ihrem  rechten  Ellenbogen  das  linke  Knie  der  links  sitzenden.  Mit 
der  rechten  Hand  zog  diese  mittlere  Figur  den  Mantel  an  ihrem 
Rücken  empor;  den  linken  Arm  legt  sie  um  ihre  Genossin,  deren 
Oberkörper  sie  in  ihrem  Schöße  sich  aufstützen  läßt.  Beide  blickten 
nach  der  Giebelecke  zu;  der  Kopf  der  Gelagerten  war  1674  noch 
vorhanden.  Die  Linke  dieser  Figur  war  erhoben  und  hielt  lose 
ein  stabförmiges  Bronzeattribut,  wie  aus  einem  durch  die  Falten 
auf  dem    linken   Oberschenkel   gehendes   Bohrloch    bezeugt   wird. 

Die  drei  Frauen  ruhen  auf  felsigem  Boden;  sie  sind  alle  mit 
dem  ionischen  dünnen  Linnenchiton  bekleidet,  der  weite,  geknüpfte 
Oberärmel  hat  und  in  sehr  feinen  Falten  bricht.  Um  den  Unter- 
körper haben  sie  den  aus  schwerem  Wollstoff  bestehenden  Mantel 
geschlungen.  Ein  gröberes  Tuch  ist  unter  der  Liegenden  und  ihrer 
Genossin  auf  dem  Felsen  ausgebreitet. 

Nach  rechts  hin  folgte  im  Giebel  die  mit  ihrem  Viergespann 
von  Rossen  in  den  Okeanos  hinabtauchende  Selene  oder  Nyx,  die 
Göttin   der  Nacht. 

Die  Gruppe  muß  einen  Dreiverein  von  Göttinnen  darstellen. 
Die  verbreitetste  Deutung  auf  die  sogenannten  Tauschwestern,  die 
drei  Töchter  des  Kekrops,  entspricht  nun  zwar  dieser  Bedingung; 
allein  sie  ist  deshalb  unhaltbar,  weil  die  im  Ostgiebel  dargestellte 
Szene,  die  Geburt  der  Athena,  nicht  auf  dem  Burgfelsen  Athens, 
dem   Sitze    jener  Kekropstöchter,   sondern    im   Olymp    spielt,  der 


60  ANDERE  SKULPTUREN  DES  5.J  AHRHUNDERTS 

von  Sonne  und  Mond  umkreist  und  vom  Okeanos  umflutet  wird. 
Es  sind  die  drei  Moiren,  die  Töchter  der  Nacht'),  auch  hier  im 
Giebel  der  in  den  Okeanos  hinabsteigenden  Göttin  der  Nacht  zu- 
gewendet. Die  Schicksalsgöttinnen  wurden  allzeit  bei  den  Geburten 
gegenwärtig  gedacht^);  sie  bestimmen  die  Zukunft  des  Neugebo- 
renen; sie  durften  auch  bei  der  himmlischen  Geburt  der  Athena 
nicht  fehlen.  Mit  der  Athena  Polias  der  Akropolis  waren  sie  über- 
dies im  Kulte  verbunden^). 

Die  Schicksalsgöttinnen  wurden  seit  alter  Zeit  als  Spinne- 
rinnen gedacht;  sie  heißen  xAcoO^ec;  („Spinnerinnen")  schon  in  der 
homerischen  Poesie  ^).  Das  verlorene  Bronzeattribut  der  Gelagerten, 
das  sie  in  der  Linken  hielt,  war  ohne  Zweifel  ein  Spinnrocken  und 
die  —  wie  man  an  dem  Armstumpf  noch  sieht,  einst  nicht  un- 
beschäftigte —  Rechte  zog  spinnend  den  Faden. 

Die  Moiren  wurden  nicht  etwa  alt  und  häßlich  gedacht;  ja, 
in  Athen  galt  Aphrodite,  die  Göttin  der  Schönheit,  als  die  älteste 
der  Moiren ;  die  Poesie  nannte  sie  die  eücoXevoi  xoupai  Nuxtc):; 
(„die  schönarmigen  Töchter  der  Nacht") ').  In  berückender  Schön- 
heit hat  sie  der  Künstler  des  Ostgiebels  dargestellt. 

Die  Figuren  sind  das  Vollendetste,  was  uns  an  bekleideten 
Statuen  der  phidiasischen  Kunst  erhalten  ist.  — 

Neuerdings  hat  man  wiederum  die  Figur  links  aus  dem  Drei- 
verein gelöst  und  in  der  Erwägung,  daß  die  olympischen  Götter 
bei  der  Geburt  der  Athena  anwesend  sein  müssen,  für  die  beiden 
liegenden  Figuren  die  Deutung  auf  Aphrodite,  im  Schöße  der  Peitho 
oder  der  Mutter  Dione  ruhend,  bevorzugt;  mit  der  Göttin  der  Liebe 
war  deren  stets  dienstbereite  Gehilfin,  die  Göttin  der  Überredung, 
zu  Athen  in  gemeinsamem  Kult  verehrt.  Die  Erklärung  der  dritten 
Gestalt  bleibt  freilich  in  diesem  Falle  noch  unsicherer  als  bisher, 
Hestia,  die  Personifikation  des  häuslichen  Herdes,  ward  sie  benannt. 


')  Hesiod,  Theogonie  217. 

-)  Vgl.  z.  B.  Pindar,  Ol.  6,  42;  10,  52;  Isthm.  6,  17. 

3)  Corpus  inscriptionum  Atticarum  I,  93. 

^)  Odyssee  n  197. 

5)  Bergk,  poetae  lyrici  Graeci  III,  fragmenta  adespota  140. 


OSTGIEBEL  DES  PARTHENON  61 


TAFEL  19 

LIEGENDE  MÄNNLICHE  STATUE  AUS  DEM 
OSTGIEBEL  DES  PARTHENON 

LONDON,  BRITISH  MUSEUM. 

Diese  Statue  von  pentelischem  Marmor  befand  sich  einst  im 
östlichen  Giebel  des  Parthenon  auf  der  Akropolis  zu  Athen,  und 
zwar  nahe  der  linken  Ecke  desselben.  Sie  gehört  seit  1816  dem 
Britischen  Museum  zu  London.  Sie  ist  als  Herakles,  Theseus, 
Jakchos,  Dionysos,  Pan,  Kephalos,  Kekrops  und  Olympos  erklärt 
worden;  doch  ward  sie  unter  dem  Namen  „Theseus"  am  be- 
kanntesten. 

Hände  und  Füße  fehlen  und  der  Kopf  ist  stark  beschädigt; 
dennoch  ist  die  Figur  die  besterhaltene  von  allen  Giebelstatuen 
des  Parthenon.  Sie  stellt  einen  nackten  Jüngling  dar,  welcher  auf 
felsigem  Boden  lagert,  über  welchen  er  das  Fell  eines  wilden 
Tieres,  anscheinend  eines  Panthers,  und  darüber  sein  Gewand  ge- 
breitet hat.  An  den  Füßen  befand  sich,  wie  ein  Bohrloch  am 
linken  Knöchel  zeigt,  eine  von  Bronze  angesetzte  Fußbekleidung. 
Der  linke  Unterarm  ist  auf  den  Fels  gelehnt  und  stützt  den  auf- 
gerichteten Oberkörper.  Die  Linke  hielt  ein  Bronzeattribut,  wie 
aus  der  Bronzepatina  hervorgeht,  die  sich,  durch  das  Regenwasser 
herabgeschwemmt,  noch  jetzt  an  dem  Rande  des  Auflagers  der 
Figur,  auf  dem  Giebelboden,  erkennen  läßt.  Die  Rechte  war  er- 
hoben, wahrscheinlich  ohne  ein  Attribut.  Der  Kopf  zeigt  kurz  ge- 
schnittenes, nicht  gelocktes  und  einfach  anliegendes  Haar;  an  der 
rechten  (in  der  Abbildung  nicht  sichtbaren)  Seite  des  Oberkopfes 
ist  das  Haar  noch  ziemlich  gut  erhalten.  Auf  dem  Scheitel  be- 
findet sich  ein  tiefes  antikes  Bohrloch  und  von  da  am  Hinterkopf 
abwärts  eine  rauh  behauene  Stelle.  Dies  rührt  von  der  Aufstellung 
und  Befestigung  der  Statue  im  Giebelrahmen  her.  Es  ist  ein  Irr- 
tum, wenn  einige  im  Nacken  des  Jünglings  Spuren  von  Zöpfen 
haben  sehen  wollen;  das  Haar  erscheint  einfach  anliegend  und 
kurz  wie  das  der  Athleten,  nach  anderer  Beobachtung  ist  der  Ein- 
druck der  Tänie  (Binde)  zu  erkennen. 

Der  Fluß  der  Umrisse  dieser  freien  Rundplastik  ist  herrlich, 
die  Formen  des  nackten  Körpers  sind  kraftvoll,  wie  durch  athletische 
Übung   gestählt   und   auch  der  geistig  belebte   Kopf  mit  seiner  in 


62  ANDERE  SKULPTUREN  DES5.J  AHRHUNDERTS 

der  Mitte  nach  unten  stark  vordringenden  Stirne  zeigt  den  Typus 
der  Athleten  und  kraftvollen,  jugendlichen  Heroen.  Die  ruhende 
Kraft  ist  zum  Ausdruck  gebracht,  aufrecht  stehend  gedacht  würde 
die  Figur  als  ein  wunderbar  vollendetes  Bild  männlicher  Stärke 
und  Schönheit  vor  Augen  treten. 

Die  Stellung  der  Statue  im  Giebel  war  etwas  schräger,  als  sie 
unsere  Abbildung  zeigt,  und  zwar  so,  daß  die  rauhgespitzte  Stelle 
des  Felsens  unter  dem  linken  Arme  zur  Giebelwand  vertikal  stand. 
Die  Füße  sind  angezogen.  Bis  unmittelbar  an  sie  heran  reichten 
die  in  plastischen  Wellen  im  Marmor  nachgebildeten  Fluten  des 
Okeanos,  aus  welchen  die  vier  Rosse  des  Helios  und  der  Sonnen- 
gott selbst  mit  Kopf  und  Armen  emportauchen.  Diese  Gruppe 
füllte  die  linke  Ecke  des  Giebels.  Unser  Jüngling  scheint  die 
Rechte  dem  aufgehenden  Helios  zum  Gruße  zu  erheben. 

Die  in  dem  Giebelfelde  dargestellte  Handlung  war  die  Geburt 
der  Athena,  eine  Sage,  die  gerade  den  Athenern  lieb  und  wert  war; 
in  voll  erwachsener  Gestalt  war  die  Göttin  in  der  Mitte  des 
Giebels  ihrem  thronenden  Vater  Zeus  gegenübergestellt.  Rings 
versammelte  Götter,  die  staunen  ob  der  neuen  gewaltigen  Erscheinung. 
An  den  Enden  die  ruhige  Flut  des  Okeanos,  der  die  Welt  um- 
spannt, für  welche  Athena  geboren  wird;  aus  ihm  erheben  sich 
und  in  ihn  sinken  die  himmlischen  Gestirne,  Helios  und  Selene, 
welche  die  Giebelecken  füllen. 

Die  Deutung  der  Jünglingsfigur  dieser  Tafel,  welche  sowohl 
mit  den  Tatsachen  in  Einklänge  steht  als  sich  aus  dem  Zusammen- 
hange der  Darstellung  begründen  läßt,  ist  die  auf  Kephalos,  den 
schönen,  jugendlichen  Jäger,  den  Eos  geraubt  und  zu  sich  an  den 
Okeanos  entführt  hat.  Das  verlorene  Bronzeattribut  der  Linken 
war  die  Lanze,  die  an  der  linken  Schulter  lehnend  zu  denken  ist. 

Die  Giebel  des  Parthenon  sind  erst  kurz  vor  dem  Ausbruch 
des  Peloponnesischen  Krieges  zur  Vollendung  gekommen.  Die 
Jünglingsfigur  dieser  Tafel  ist  das  beste  erhaltene  Zeugnis  für  die 
Meisterschaft,  welche  die  von  Phidias  beherrschte  attische  Kunst 
dieser  Zeit  in  der  Bildung  des  unbekleideten  männlichen  Körpers 
erreicht  hatte.  — 

Wie  bei  den  sogenannten  Moiren  (Tafel  18)  wird  jetzt  in  dem 
Jüngling,  der  auf  Pantherfell  ruht,  wieder  ein  Olympier  vermutet 
und  zwar  Dionysos,  für  den  allerdings  auch  die  ganze  bequeme 
Haltung  trefflich  paßt. 


MÄDCHENSTATUE  VOM  ERECHTHEION         63 


TAFEL  20 

STATUE  EINES  MÄDCHENS  VON  DER 

KORENHALLE   DES    ERECHTHEIONS 

ZU  ATHEN 

PENTELISCHER  MARMOR.     LONDON,  BRITISH  MUSEUM. 

Unter  dem  falschen,  bereits  im  Altertum  für  ähnliche  Figuren 
gebrauchten  Namen  der  Karyatide')  ist  die  inschriftlich-)  nur  all- 
gemein und  unbestimmt  als  xopp  („Mädchen")  bezeichnete,  etwa 
2,30  m  hohe,  leider  mehrfach  nicht  unerheblich  verletzte  Statue 
weltbekannt  geworden.  Zu  Beginn  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
von  Lord  Elgin  aus  Athen  nach  London  gebracht,  hat  sie  dort  einst 
auf  der  Akropolis  mit  fünf  Genossinnen  das  Gebälk  der  Südwest- 
halle des  Heiligtums  der  Athena  Polias,  das  nach  einem  Räume 
desselben  gewöhnlich  Erechtheion  genannt  wird'^),  als  vollständig 
frei  gebildete  Rundfigur  auf  einer  hohen  Brüstung  stehend,  ge- 
tragen und  ist  durch  eine  Terrakottanachbildung  ersetzt  worden. 
Jener  gewöhnlich  als  Korenhalle  bezeichnete  Teil  des  Tempels  war, 
wie  aus  den  über  die  Bauzeit  des  Erechtheions  teilweise  Aufschluß 
gewährenden  Inschriften  geschlossen  worden  ist,  bereits  mindestens 
413  v.  Chr.  im  wesentlichen  vollendet.  Die  architektonische  Ver- 
wendung der  Gestalt  ist  durch  den  auf  dem  Kopfe  ruhenden  rund- 
lichen Wulst,  sowie  das  einfache  Kapitell  mit  der  überaus  fein  und 
frisch  gearbeiteten  Verzierung  der  Perlenschnur  und  des  Eier- 
stabes, endlich  durch  die  profilierte  Deckplatte  angedeutet.  An  der 
Halle  selbst  schließen  sich  das  dreifach  gegliederte  Epistylion  ohne 
Fries  und  das   Kranzgesimse    mit  Zahnschnitt  an. 

Eine  attische  Jungfrau  von  kräftigen  und  schönen  Formen 
steht  in  blühendem  Lebensalter  vor  uns  und  ist  hier  im  Dienste 
der  Gottheit  verwendet,  wie  attische  Mädchen  am  Cellafriese  des 
Parthenon  im  panathenäischen  Festzuge  mancherlei  für  das  der 
Athena    dargebrachte    Festopfer   nötige  Geräte    herbeitragen.     Sie 

')  Vgl.  Vitruv,  de  architectura  I,  1,  5;    die  dort  gegebene  Erklärung 
des  Namens  entbehrt  durchaus  der  Wahrscheinlichkeit. 
-)  Corpus  inscriptionum  Atticarum  1,  322. 
■'')  Pausanias,  Beschreibung  Griechenlands  I,  26,  5  ff. 


64  ANDERE  SKULPTUREN  DES  5.J  AHRHUNDERTS 

erscheint  bis  über  die  Füße  bekleidet  mit  dem  nur  Hals  und 
Arme  freilassenden  Peplos,  über  dessen  Gürtel  der  Bausch  in 
geschwungener  Linie  verlaufend  herabhängt.  Geschmückt  ist  sie  mit 
der  reichen  Fülle  des  feingewellten  Haares,  das  in  mehreren  nur  teil- 
weise sichtbaren  Zöpfen  kunstvoll  geordnet  nach  vorwärts  über  die 
Schultern  in  je  zwei  langen  Strähnen  sich  legt  und  rückwärts,  in  einen 
starken  und  langen  Schopf  endigend,  frei  und  tief  hinabreicht. 
Der  architektonischen  Verwendung  entsprechend,  steht  die  Gestalt 
in  gerader  Haltung  aufrecht  da,  ist  indes  durch  das  zur  Seite 
gesetzte,  deutlich  hervortretende  linke  Bein  ohne  große  Störung 
der  Ruhe  und  Regelmäßigkeit  des  Ganzen  mäßig  bewegt.  Die 
nur  teilweise  erhaltenen  Arme  schließen  sich  fest  an  den  Ober- 
körper an,  die  linke  Hand  hatte  den  vorn  an  der  Brust  und  ins- 
besondere im  Rücken  sichtbaren  Überschuß  des  Peplos  leicht  ge- 
faßt. Die  Gewandung,  die  in  steifen,  tiefen  Falten  verläuft  und 
an  jenem  über  den  Gürtel  hervorgezogenen  Teile  in  wechselvollem 
Spiele  geordnet  ist,  umhüllt  zwar  den  Körper  fast  ganz,  läßt  aber 
großenteils  dessen  Formen  klar  durchscheinen.  Das  volle,  breite 
Gesicht  zeigt  die  echt  attischen,  klugen  und  lebendigen  Züge,  be- 
wahrt aber  zugleich  den  dem  architektonischen  Prinzipe  entspre- 
chenden feierlichen  Ernst  des  Ausdrucks.  Die  Gestalt  ist  auch  los- 
gelöst von  dem  Gebäude,  für  das  sie  bestimmt  war,  als  eine  aus- 
gezeichnete Schöpfung  der  attischen  Kunst  des  fünften  Jahr- 
hunderts von  der  Hand  eines  unbekannten,  dem  Stile  und  der 
Zeit  nach  dem  Phidias  nicht  fernstehenden  Meisters  ein  unschätz- 
bares Werk.  Zur  vollen  Geltung  aber  kommt  sie  im  Zusammen- 
hange mit  der  Architektur  unter  dem  heiteren,  blauen  Himmel 
von  Athen  dort,  wo  die  kleine  Korenhalle  auch  neben  dem  mäch- 
tigen Bau  des  Parthenon  in  ihren  edlen  und  einfachen,  feinen 
und  anmutigen  Formen  hervorragt.  Denn  in  ihr  ist  die  Verbin- 
dung von  Plastik  und  Architektur,  die  Vertretung  der  Säule  durch 
die  menschliche  Gestalt')  ohne  Störung  des  architektonischen  Ge- 
setzesund ohne  Zurückdrängung  der  Vorstellung  von  einem  mensch- 
lichen Wesen  überaus  glücklich  hergestellt  worden.  Die  Mädchen 
erfüllen  die  ihnen  gewordene  Aufgabe,  ohne  in  derselben  aufge- 
gangen zu  sein ;  sie  tragen  ebenso  sicher  als  leicht,  stehen  in 
geschlossenen  Umrissen  und  vollen  Formen  den  Säulen  gleich  in 
feierlicher,  ernster  Haltung  ruhig  und  fest  da,  atmen  aber  in  un- 


')  Sie  ist  in  sehr  ähnlicher  Form  bereits  in  der  archaischen  Kunst 
nachweisbar;  denn  beiden  erfolgreichen  französischen  Grabungen  zu  Delphi 
sind  derartige  Frauenfiguren  zutage  gekommen,  die  als  Bestandteile  des 
Schatzhauses  der  Knidier  gelten  und  demgemäß  aus  dem  Ende  des  sechsten 
Jahrhunderts  v.  Chr.  stammen. 


TAFEL   20 


STATUE   EINES  MADCHENS  VON   DER  KORENHALLE 
DES  ERECHTHEIONS  ZU  ATHEN 

LONDON,    BRITISH    MUSEUM 


F.    BRUCKMANN    A.-G..    MÜNCHEN 


MÄDCHENSTATUE  VOM  ERECHTHEION         65 

geschwächter  Fülle  jugendliches,  frisches  Leben,  das  am  Kapitelle 
in  den  lebensvollen  Verzierungen  des  ionischen  Baustiles  gewisser- 
maßen sich  fortsetzt  und  durch  die  nur  wenig  überragende,  leicht 
aufruhende  Deckplatte  nicht  gestört  wird.  Darum  sind  sie  auch, 
bald  nachdem  sie  in  weiteren  Kreisen  durch  würdige  Ver- 
öffentlichung bekannt  geworden  waren,  als  Vertreterinnen  der 
reinen  griechischen  Antike  allseitig  bewundert  und  gepriesen  worden, 
darum  schon  im  Altertum  ebenso  wie  in  neuerer  Zeit  bis  in  un- 
sere Tage  bei  Bauten  angebracht,  nachgeahmt,  umgebildet,  nie- 
mals freilich  erreicht  worden.  Gerade  durch  ^^ergleichung  mit 
diesen  Erzeugnissen  späterer  Kunst  und  späteren  Kunsthandwerks 
werden  die  Urbilder  bei  ihrer  höchsten  Vollendung  in  noch  glänzen- 
derem Lichte  erscheinen. 


Denkmäler  griech.  u.  röm.  Skulptur,  3.  Aufl. 


IV.  SKULPTUREN   AUS  DEM  VIERTEN  JAHR- 
HUNDERT: GÖTTERBILDERJÄGER  MIT  HUND 


Auch  im  vierten  Jahrhundert  sind  es  die  attischen  Künstler, 
welchen  die  Weiterbildung  der  Göttertypen  insbesondere  verdankt 
wird.  In  dieser  Epoche  verlieren  die  Götterbilder  an  unnahbarer 
Hoheit,  um  an  Menschlichkeit  und  Innerlichkeit  zu  gewinnen.  Die 
Künstler  suchen  weniger  vom  Standpunkte  des  Frommen  aus  das 
Erhabene  und  Göttliche  als  sich  in  die  Seele  der  Gottheiten 
versetzend  das  Menschliche  in  ihnen  darzustellen.  Die  Gottheiten 
erscheinen  nun  von  Empfindungen  bewegt  und  mit  sich  selbst  be- 
schäftigt, wo  sie  vordem  nur  dem  Anbetenden  sich  würdevoll  zeigten. 

Ein  vortreffliches  Beispiel  bietet  der  sitzende  Ares  (Tafel  23), 
den  manche  ohne  sichere  Begründung  auf  Skopas,  den  großen 
Zeitgenossen  des  Praxiteles,  zurückführen,  andere  mit  mehr  Recht 
als  eine  Schöpfung  aus  lysippischen  und  skopasischen  Ele- 
menten betrachten.  Der  Gott  ist  ohne  alle  Rücksicht  auf  fromme 
Verehrer  ganz  in  sich  selbst  versunken  gedacht;  das  Motiv 
deutet  Leidenschaft  und  Unruhe  an,  die  in  seinem  Innern  gärt, 
die  aus  dem  erregten,  in  die  Ferne  gerichteten  Blicke  spricht 
und  in  dem  ungeduldigen  Umfassen  des  Knies  sich  ausdrückt.  Ähn- 
lich die  Demeter  (Tafel  22),  die  von  älteren  Bildern  würdevoll 
thronender  Gottheiten  so  sehr  verschieden  ist.  Auch  sie  zeigt  sich 
nicht  der  Außenwelt,  sondern  ist  ganz  ihrer  eigenen  Empfindung 
hingegeben.  Wir  haben  Grund,  diese  Statue  mit  der  Richtung  des 
Skopas  in  Beziehung  zu  setzen. 

Weniger  tiefe  Empfindung,  keine  stärkere  Erregung  der  Seele, 
aber  heitere,  süße  Anmut  ist  der  Grundzug  der  Schöpfungen  des 
zweiten  großen  Meisters  der  Epoche,  des  Praxiteles.  Sein  Her- 
mes (Tafel  24),   den  wir   so  glücklich   sind    im  Originale  zu  be- 


SKULPTUREN  AUS  DEM  4.  JAHRHUNDERT      67 

sitzen,  ist  ein  herrliches  Beispiel  dafür;  die  ganze  Gruppe  und 
namentlich  der  Kopf  des  Hermes  sind  von  einer  entzückenden  An- 
mut. Zugleich  ist  dieses  Werk  auch  in  technischer  Hinsicht  sehr 
charakteristisch;  es  zeigt,  welche  der  früheren  Zeit  unbekannten, 
außerordentlichen  Wirkungen  die  Marmorarbeit  nun  hervorbringen 
konnte.  Die  wunderbare  Zartheit  der  Meißel führung  im  Gesichte, 
besonders  um  das  Auge,  die  feine  Wiedergabe  der  Textur  der  Haut, 
dazu  das  lockere,  mit  dem  Bohrer  gearbeitete  Haar  mit  seiner  von 
der  glatten  Haut  stark  abstechenden,  stumpfen  Oberfläche  —  dies 
sind  Effekte,  die  erst  Praxiteles  dem  Marmor  abzuringen  gewußt 
hat.  Leider  besitzen  wir  seine  Aphrodite  zu  Knidos  nur  in 
Kopien  (Tafel  25),  die  wenigstens  einen  annähernden  Begriff  von  dem 
Reize  des  Werkes  vermitteln.  Hier  feierte  die  Vermenschlichung 
der  Gottheit  einen  besonderen  Triumph:  die  Idee  der  zum  Bade 
sich  bereitenden  Göttin  —  die  der  Auffassung  der  Götter  in  der 
vorigen  Periode  so  sehr  zuwiderläuft  —  ward  in  den  auf  Praxiteles 
folgenden  Zeiten  außerordentlich  beliebt  und  immer  neu  variiert. 
Ein  köstliches  Original,  das  lange  fast  allgemein  als  ein  Werk  von 
Praxiteles  Hand  galt,  ist  dann  wieder  der  sogenannte  Eubuleus 
von  Eleusis  (Tafel  26),  der  mit  milder  Anmut  den  trüben  Ernst 
des  Unterweltgottes  vereinigt;  freilich  bleibt  die  Deutung  auf  Tri- 
ptolemos  sehr  erwägenswert.  Auch  hier  können  wir  die  Technik  der 
antiken  Marmorarbeit  auf  ihrer  Höhe  bewundern. 

Die  Eirene  (Tafel  21),  von  Kephisodotos,  wohl  einem  älteren 
Anverwandten  des  Praxiteles,  herrührend,  ist  ein  für  den  Anfang 
des  vierten  Jahrhunderts  charakteristisches  Werk,  das  in  Stellung 
und  Gewandung  ein  merkwürdiges  Rückgreifen  auf  die  ältere  phi- 
diasische  Weise  zeigt  und  doch  vom  Wesen  jener  älteren  Werke 
schon  völlig  verschieden  ist.  Nach  dem  Zusammenbruch  des  glän- 
zenden attischen  Reiches  am  Ende  des  Peloponnesischen  Krieges 
setzt  die  neue  Richtung  in  der  Kunst  zunächst  etwas  befangen  ein 
und  wendet  sich  von  den  Extravaganzen  der  letztvorangegangenen 
Epoche  recht  absichtlich  zu  den  älteren,  mehr  Einfachheit  und  Wahr- 
heit zeigenden  Formen  zurück,  um  so  allmählich  zu  einem  neuen 
Stile  zu  gelangen.  Die  Vollendung  der  neuen  Weise  in  der  Ge- 
wandbehandlung zeigt  die   Demeter  (Tafel  22). 

Neben  Praxiteles  und  Skopas  wirkten  noch  manche  andere 
bedeutende  Künstler.  Der  Typus  des  Zeus,  den  der  Kopf  von 
O  tri  coli  zeigt  (Tafel  27),  ist  vielleicht  im  Kreise  von  Meistern  atti- 
scher und  lysippischer  Kunstrichtung  entstanden.  Möglicherweise 
geht  der  schwungvolle  Apoll  (Tafel  28)  auf  Leochares  zurück. 
Er  ist  im  Gegensatze  zu  dem  langbekleideten  Kitharoden  Apoll 
(Tafel  8)   ein    prachtvolles    Beispiel    der   anderen    Auffassung    des 


68      SKULPTUREN  AUS  DEM  4.  JAHRHUNDERT 

Gottes  als  des  unbekleideten  ferntreffenden  Jünglings  mit  Bogen  und 
Pfeil.  Die  eilende  Artemis  (Tafel  29)  kann  aus  dem  Kreise  des 
Praxiteles  oder  seiner  Nachfolger  oder  anderer  Attiker  hervorge- 
gangen sein.  Auch  die  Muse  Melpomene  (Tafel  30)  scheint 
vielen  praxitelischen  Ursprungs.  Die  weit  reichende,  lange  wirk- 
same Tradition  zeigt  sich  bis  in  die  hellenistische  Epoche  hinein, 
wo  die  Körperbildung  weichlicher,  die  Gesichtsformen  zart  ver- 
schwommener erscheinen,  die  Bewegungsmotive  oft  noch  viel  kühner, 
genialer  gestaltet  werden:  Ein  Produkt  dieser  Fortsetzung  und  Er- 
weiterung praxitelischen  Geistes  ist  der  Hypnos  (Tafel  31),  der 
wohl  auch  von  anderen  kongenialen  Meistern,  von  Skopas  Stil  nicht 
unbeeinflußt  geblieben  ist.  Von  des  letzteren  männlichem  Schön- 
heitsideal bietet  der  Jäger  mit  Hund  (Tafel  32)  eine  glänzende 
Probe. 


TAFEL  21 

EIRENE  MIT  DEM  KINDE  PLUTOS 

MÜNCHEN,  GLYPTOTHEK. 

Die  Statue,  die  aus  pentelischem  Marmor  besteht,  befand  sich 
früher  in  der  Villa  Albani  zu  Rom  und  ward  wahrscheinlich  in 
der  Gegend  von  Rom  gefunden.  Nachdem  sie  vorübergehend, 
durch  Napoleon  L  entführt,  in  Paris  gewesen  war,  kam  sie  in  die 
Glyptothek  zu  München.  Sie  ward  früher  als  Ino  Leukothea 
mit  dem  Dionysoskinde  erklärt.  Später  erkannte  man  mit  größter 
Wahrscheinlichkeit  in  ihr  die  Nachbildung  einer  einst  zu  Athen 
befindlichen  Statue  des  Künstlers  Kephisodotos,  welche  die  Friedens- 
göttin Eirene  mit  dem  Knaben  Plutos,  dem  Dämon  des  Reich- 
tums, auf  dem  Arme  darstellte').  Diese  Gruppe  wurde  in  Athen 
wahrscheinlich  374  nach  glänzenden  Siegen  über  die  Peloponnesier 
und  nach  Befestigung  der  Hegemonie  über  die  Seestaaten  gelobt 
und  wohl  371/70  bei  Gelegenheit  eines  festlichen  Friedenskon- 
gresses errichtet;  vor  ihr  wurde  der  Friedensgöttin  alljährlich  ein 
größeres  Opfer  von  Staats  wegen  dargebracht-). 

In  majestätischer  Haltung  steht  die  Göttin  da,  fest  auf  dem 
linken  Fuße  ruhend,  den  rechten  entlastet  zur  Seite  setzend.   Die 


')  Pausanias,  Beschreibung  Griechenlands  9,  16,  2. 
-)  Isokrates  XV,  109.     Cornelius  Nepos,  Timotheus  2. 


EIRENE  MIT    DEM    KINDE    PLUTOS 

MÜNCHEN,    GLYPTOTHEK 


EIRENE  MIT  DEM  KINDE  PLUTOS  69 

erhobene  Rechte  stützte  sich  auf  ein  langes  Szepter  (der  rechte 
Arm  der  Statue  ist  modern  ergänzt).  Auf  dem  linken  Unterarm 
trägt  sie  ein  kleines  Knäbchen,  das  die  Rechte  (ergänzt,  doch 
richtig)  nach  ihr  ausstreckt  und  in  der  Linken  ein  Füllhorn  hielt, 
das  Symbol  der  segensreichen  Fülle  des  Reichtums.  Der  Ergänzer 
hat  der  linken  Hand  fälschlich  eine  Kanne  gegeben;  das  Füllhorn 
wird  sowohl  durch  die  Nachbildung  der  Gruppe,  die  sich  auf 
athenischen  Münzen  erhalten  hat,  als  durch  eine  besser  erhaltene 
Wiederholung  des  Knaben  bezeugt,  die  sich  in  Athen  befindet. 
Auch  der  Kopf  des  Knaben  ist  nicht  der  richtige ;  er  ist  zwar 
antik,  stammt  aber  von  einer  anderen  Figur,  wahrscheinlich  einem 
Eros;  an  jener  Wiederholung  in  Athen  und  einer  anderen  in 
Dresden  ist  der  richtige  Kopf  erhalten. 

Die  Friedensgöttin  erscheint  hier  in  sinnvoller  Weise  als  die 
Pflegerin  des  Reichtums.  Wie  eine  Mutter  hält  sie  den  Knaben 
auf  dem  Arme  und  blickt  milde  zu  ihm  nieder,  der  sich  zärtlich 
zu  ihr  wendet.  Das  weiche,  volle  Haar  der  Göttin  ist  aus  der 
Stirne  gestrichen  und  um  ein  Diadem  gelegt,  das  nur  in  der  Mitte 
vorn  sichtbar  ist.  Nach  hinten  fallen  reiche  Locken  nieder.  Ihr 
Gewand  ist  der  dorische  Peplos  von  Wollstoff,  der  so  angezogen 
ist,  wie  es  in  Athen  im  fünften  Jahrhundert  üblich  war.  Sie  ist 
gegürtet,  doch  fällt  das  Gewand  über  den  Gürtel,  so  daß  ein 
Bausch  quer  über  dem  Unterleib  entsteht;  auf  den  Schultern  sind 
die  Enden  des  Gewandes  zusammengeheftet,  und  der  große  Über- 
schuß des  Stoffes  fällt  als  Überfall  nach  vorn  und  hinten  herab. 
Die  stilistische  Behandlung  der  Falten  schließt  sich  in  den  Grund- 
zügen an  die  Vorbilder  an,  die  Phidias  geschaffen,  unterscheidet 
sich  von  jenen  aber  durch  manche  kleine  Züge,  die  von  erneutem 
Naturstudium  zeugen.  Dieser  Gewandstil  ist  dem  Anfang  des 
vierten  Jahrhunderts  recht  charakteristisch,  indem  man  damals 
von  der  in  der  Zeit  des  Peloponnesischen  Krieges  herrschenden 
Weise  (vgl.  Tafel  20)  sich  abwandte  und  zu  den  älteren,  nicht 
manierierten,  der  Natur  näher  stehenden  Vorbildern  zurückkehrte, 
die  man  nun  neu  umzuarbeiten  begann.  In  der  Bildung  des  Kopfes 
der  Eirene  und  der  ganzen  milden,  weichen  Stimmung  in  der 
Wendung  und  Neigung  desselben  spricht  sich  der  Charakter  der 
Epoche,  welcher  das  Original  der  Statue  angehörte,  deutlicher  aus, 
der  Epoche,  in  welcher  Praxiteles    seine  Tätigkeit  begann. 

Der  Künstler  Kephisodotos  war  nämlich,  wie  es  scheint,  ein 
etwas  älterer  Zeitgenosse  des  berühmten  Praxiteles,  der  wahr- 
scheinlich zu  diesem  in  einem  nahen  verwandtschaftlichen  Verhält- 
nisse stand.  Daß  er  sein  Vater  war,  wie  in  neuerer  Zeit  gewöhn- 
lich angenommen  wird,  ist  möglich,  aber  nicht  sicher. 


70     SKULPTUREN  AUS  DEM  4.  JAHRHUNDERT 

Das  Original  der  Gruppe  war  sehr  wahrscheinlich  von  Erz. 
Die  uns  erhaltene  Marmorkopie  ist  etwa  in  der  augusteischen 
Epoche  gearbeitet. 


TAFEL  22 

STATUE  DER  DEMETER  VON  KNIDOS 

MARMOR.     LONDON,    BRITISH  MUSEUM. 

Eine  der  schönsten  Götterstatuen,  die  uns  erhalten,  ein  echtes 
griechisches  Originalwerk  nicht  nur  aus  der  Zeit,  sondern  auch 
aus  dem  Kunstkreise  der  großen  Meister  des  vierten  Jahrhunderts 
V.  Chr.,  des  Skopas  und  Praxiteles,  ist  die  sitzende  Demeterstatue 
von  Knidos,  die  1858  gefunden  und  ins  Britische  Museum  gebracht 
worden  ist. 

Die  Statue  befand  sich  nicht  in  einem  Tempel,  sondern  in 
einem  offenen  Temenos  zu  Knidos,  d.  h.  einem  umzäunten  heiligen 
Räume.  Das  Temenos  bildete  eine  Terrasse  am  Abhang  einer 
schroff  ansteigenden  Felswand.  An  den  übrigen  drei  Seiten  war 
die  Plattform  von  einer  Mauer  umgeben.  Eine  Nische  in  der 
felsigen  Rückwand  scheint  die  Stelle  gewesen  zu  sein,  an  der  sich 
die  Statue  ursprünglich  befand.  Die  gefundenen  Inschriften  zeigen, 
daß  das  Temenos  den  unterirdischen  Gottheiten  und  insbesondere 
der  Demeter  und  Persephone  geweiht  war.  Leider  ist  eine  zur 
Statue  gehörige  Inschrift  nicht  gefunden. 

Indes  kann  kein  Zweifel  sein,  daß  diese  Göttin  von  weichem, 
mildem,  mütterlichem  Charakter  nicht  Persephone,  sondern  die 
Mutter  Demeter  selbst  darstellt. 

Die  mütterlichen  Gottheiten  wurden  in  der  griechischen  Kunst 
seit  alter  Zeit  mit  Vorliebe,  ihrem  ruhigen  Wesen  entsprechend, 
sitzend  dargestellt.  Auch  die  volle  Bekleidung  und  die  Verhüllung 
des  Hinterhauptes,  die  wir  an  unserer  Statue  bemerken,  sind  Züge, 
die  schon  von  alters  her  der  mütterlichen  Göttin  eigneten.  Demeter 
trägt  hier  einen  feinen  ionischen  Linnenchiton,  der  nur  unten  über 
den  Füßen  und  am  rechten  Oberarm  sichtbar  wird;  darüber  hat 
sie  den  Mantel  geschlungen,  der  von  feinem  Wollstoff  zu  denken 
ist.  Der  Mantel  bedeckt  den  Hinterkopf  und  verhüllt  in  eng  an- 
schließenden Falten  fast  den  ganzen  Körper.  Der  Sitte  nach  ist  er 
unter  dem  rechten  Arme  durchgezogen,  so  daß  dieser  zur  Bewe- 


STATUE   DER   DEMETER  VON   KNIDOS 

LONDON,    BRITISH    MUSEUM 


DEMETER   VON  KNIDOS 


71 


gung  Frei  bleibt. 
Das  Ende  des 
Mantels  ist  über 
die  linl>ce  Schul- 
ter geworfen. 

Leider  feh- 
len die  beiden 
Unterarme;  ohne 
Zweifel  haben  die 
Hände  etwas  ge- 
halten; doch  fehlt 
jede  Spur,  um 
etwas  Sicheres 
darüber  zu  sagen. 
Auch  die  Kniee 
und  das  ganze 
rechte  Unterbein 
sind  sehr  beschä- 
digt. Dagegen  ist 
der  Kopf  (Fig.  19) 
bis  auf  die  Na- 
senspitze vor- 
trefflicherhalten. 
Er  ist,  wie  die 
Tafel  deutlich  er- 
kennen läßt,  mit 
dem  Halse  in  den 
Torso  eingelas- 
sen. Er  besteht 
aus  feinem,  wei- 
ßem     parischen 

Marmor,  dessen  durchscheinendes  Korn  selbst  in  der  Photographie 
kenntlich  ist.  Der  Körper  ist  aus  geringerem,  etwas  graubläulichem 
Marmor  gearbeitet.  Ein  ähnliches  Verfahren  ward  gerade  in  der 
guten  Zeit  griechischer  Skulptur  öfters  angewendet.  Wenn  man 
nicht  die  ganze  Statue  aus  dem  teuren  feinen  Marmor  machen 
konnte,  so  benutzte  man  ihn  wenigstens  für  den  Kopf  und  setzte 
diesen  in  das  geringere  Material  ein.  Freilich  ging  dies  nur 
bei  bekleideten  Figuren  gut  an,  wo  das  Gewand  die  Fuge  ver- 
bergen half. 

Das  Gewand  bricht  in  zahllosen  Falten,  die  sich  vielfach  kreuzen 
und  schneiden.  Es  ist  dieser  Gewandstil  für  die  Kunst  des  vierten 
Jahrhunderts  v.  Chr.  recht   charakteristisch.      Der    Künstler   geht 


Fig.  19.    Kopf  der  Demeter  von  Knidos,  ergänzt 


72     SKULPTUREN  AUS  DEM  4.  JAHRHUNDERT 

nicht  aus  auf  wirkungsvolle,  einfach  große  Formen,  sondern  sucht 
dem  Reichtum  der  Natur  durch  Beobachtung  der  kleinen,  einzelnen, 
zufälligen  Erscheinungen  nachzukommen. 

Die  Haare  der  Göttin  sind,  wie  es  der  Mutter  ziemt,  schlicht 
und  einfach  angeordnet.  Das  weiche,  volle  Haar  ist  in  der  Mitte 
gescheitelt  und  nach  den  Seiten  gekämmt.  Am  Halse  fallen  lose 
natürliche  Locken  bis  zur  Brust  herab. 

Der  Künstler  hat  sich  —  und  dies  ist  das  Bedeutendste  an 
der  Statue  —  in  das  Innere,  die  Seele  der  von  ihm  dargestellten 
Göttin  selbst  versetzt.  Er  hat  sie  nicht  als  unnahbares,  fernes, 
von  menschlichen  Empfindungen  unbewegtes  Wesen  geschildert. 
Er  hat  ihr  Seele  gegeben.  Und  dies  ist  wieder  ein  charakteri- 
stischer Zug  für  die  Götterbildung  im  vierten  Jahrhundert.  Ob- 
wohl thronend,  ist  doch  die  Haltung  der  Göttin  keine  unbewegt 
feierliche.  Der  linke  Fuß  ist  lebhaft  zurückgezogen  und  vor  allem 
ist  der  Blick  etwas  nach  der  Seite  und  aufwärts  gerichtet :  diese 
Göttin  schaut  nicht  majestätisch  auf  die  nahenden  Andächtigen,  sie 
ist  mit  sich  selbst,  mit  ihrer  eigenen  Stimmung  beschäftigt.  Ins- 
besondere durch  die  Bildung  des  Auges,  und  dann  auch  die  des 
Mundes,  hat  es  der  Künstler  verstanden,  ihrem  Kopfe  den  Aus- 
druck einer  gewissen  wehmütigen  Sehnsucht  zu  verleihen:  es  ist 
Demeter  die  Mutter,  der   die   Tochter    Persephone   geraubt  ward. 

Um  die  Mitte  des  vierten  Jahrhunderts  wurden  namentlich 
durch  das  Mausoleum  zu  Halikarnaß  und  den  neuen  Tempelbau 
zu  Ephesos  die  ersten  Künstler  aus  Athen  nach  der  kleinasiati- 
schen Küste  gerufen.  Auch  in  Knidos  haben  diese  damals  ge- 
arbeitet. Der  Kunstcharakter  der  Demeter  stimmt  sehr  mit  der 
Richtung  überein,  die,  nach  dem,  was  wir  wissen,  Skopas  einge- 
schlagen hat;  die  Statue  wird  von  einem  ihm  nahestehenden,  auch 
praxitelische  Elemente  stark  ausdrückenden  Meister  geschaffen  sein. 


TAFEL  23 
RUHENDER  ARES 

MARMOR.     ROM,  THERMENMUSEUM. 

Auf  dem  alten  Marsfelde  zu  Rom  zwischen  den  heutigen 
Palazzi  Santa  Croce  und  Campitelli,  wo  im  Altertum  das  13  v.  Chr. 
eingeweihte  Theater  und  die  gleichzeitig  erbaute  Krypta  des  Baibus 


RUHENDER  ARES  73 

lagen,  ist  die  im  ganzen  gut  erhaltene  und  richtig  ergänzte')  Statue 
gefunden  worden  und  bereits  im  siebzehnten  Jahrhundert  im  Be- 
sitze der  Familie  Ludovisi  nachweisbar;  nach  ihrem  ehemaligen 
Aufbewahrungsorte  in  der  Villa  Ludovisi  benannt,  ist  sie  neben 
dem  sogenannten  Ares  Borghese  im  Louvre  zu  Paris  die  berühm- 
teste Darstellung  des  Kriegsgottes  und  gibt  in  guter  römischer 
Nachbildung  ein  griechisches  Originalwerk  wieder,  von  dem  mehrere 
Kopien  in  Bruchstücken  erhalten  sind  ;  die  oft  vermutete  Beziehung 
zu  dem  sitzenden  Ares  des  Skopas-),  an  dessen  Kunstcharakter 
der  pathetische  Ausdruck  des  Kopfes  manchen  erinnert,  ist  in  Er- 
manglung näherer  Nachrichten  über  dieses  Werk  unerweisbar, 
vielmehr  erscheint  die  Schöpfung  durch  einen  nur  noch  unter  dem 
Einfluß  des  Skopas  stehenden  Bildhauer,  der  zugleich  schon  stark 
von  Lysipp  abhängt,  weit  wahrscheinlicher.  Auch  ob  die  unten 
zum  Teil  wenig  glücklich  angebrachten  Attribute,  Schild,  Helm, 
Beinschiene,  sowie  der  Eros,  welcher  auf  das  insbesondere  in 
hellenistischer  und  augusteischer  Zeit  betonte  Verhältnis  des  Ares 
zu  Aphrodite  hindeutet,  erst  Zutaten  des  römischen  Kopisten  sind, 
läßt  sich  nicht  ganz  sicher  entscheiden ;  jedenfalls  zeigt  sich  die  genial 
entworfene,  durch  den  wunderbaren  Fluß  der  Linien  und  die 
rhythmische  Bewegung  der  Glieder  von  allen  Seiten  gleichmäßig 
wirksame  Figur  innerhalb  ihrer  geschlossenen  Umrisse  ohne  diese 
Beifügungen  um  so  einheitlicher  und  günstiger.  Schon  ohne  jene 
kriegerischen  Attribute  und  das  Schwert,  das  vermutlich  auch  im 
Originale  von  der  linken  Hand  gehalten  war,  ist  die  körperliche 
Beschaffenheit  ebenso  wie  das  geistige  Wesen  des  Kriegsgottes 
unübertrefflich  klar  zum  Ausdruck  gebracht.  Auf  einem  Felsen 
sitzt  Ares  mit  vorwärts  gebeugtem  Oberkörper  in  bequemer  Hal- 
tung da,  die  Hände  über  das  hoch  emporgezogene  linke  Bein 
legend;  durch  die  herabgefallene  Chlamys  tritt  die  durch  athletische 
Übung  errungene  Elastizität  und  Gewandtheit  des  von  dicker  Fett- 
masse umspannten  Körpers  deutlich  hervor,  die  breite  Brust  und 


')  Abgesehen  von  kleineren  Ergänzungen  sind  am  Ares  im  wesent- 
lichen neu  die  rechte  Hand,  der  Schwertgriff  und  der  rechte  Fuß,  am  Eros 
der  Kopf,  der  linke  Arm  mit  dem  Köcher,  der  rechte  Vorderarm  mit  dem 
Bogen,  der  rechte  Fuß.  Die  Ansatzspuren  auf  der  linken  Schulter  des 
Ares  und  unterhalb  derselben  sicher  zu  erklären,  ist  bisher  nicht  gelungen; 
man  hat  einen  zweiten  Eros  vermutet,  den  Gott  auch  mit  der  ihm  zur 
Seite  stehenden  Aphrodite  gruppiert.  Die  Höhe  der  sitzenden  Figur  be- 
trägt 1,56  m. 

-)  Das  marmorne  Kolossalbüd  befand  sich  zu  Rom  im  Tempel  des 
Mars,  den  Brutus  Callaecus,  der  Bezwinger  der  Lusitaner  und  Gallaecer 
(Konsul  138  v.  Chr.l,  in  der  Nähe  des  Circus  Flaminius  erbaut  hatte 
(Plinius  der  Ältere,  naturalis  historia  36,  26). 


74      SKULPTUREN  AUS  DEM  4.  JAHRHUNDERT 


die  mächtigen  Arme ') 
zeigen  gewaltige  Kraft, 
die  überaus  langen  und 
schlanken  Beine  un- 
übertroffene Schnellig- 
keit -)  des  Gottes.  So 
ruft  die  Gestalt  trotz 
der  ruhigen  Situation 
den  Eindruck  rastloser 
Tätigkeit  hervor  und 
läßt  erwarten,  daß  der 
Kriegsgott  jeden  Au- 
genblick aufspringt  um 
im  Kampfgetümmel  als 
ßpoToXoiyoc;,  ftoOpoq 
"Apric;(„  menschenver- 
derbender, ungestümer 
Ares")  zu  wüten. 

Diese  aus  dem  Ge- 
samtbilde gewonnene 
Vorstellung  wird  be- 
stätigt und  bekräftigt 
durch  den  Ausdruck 
des  vorgebeugten  Kop- 
fes, der,  getrennt  von 
der  Statue  betrachtet, 
immer  neue  Gedanken 
wachruft  (Fig.  20).  Während  wir  bei  dem  Anblick  anderer  thronen- 
der oder  sitzender  Gottheiten  von  einer  gewissen  frommen  Scheu 
befangen  werden,  wird  hier  Auge  und  Gemüt  von  persönlichem 
Interesse  für  den  Kriegsgott  gefesselt,  wenn  wir  die  geistige 
Stimmung  des  jugendlichen,  von  üppigem  Lockenhaare  bedeckten 
Kopfes  zu  ergründen  suchen.  Getrennt  vom  fröhlichen  Kreise 
der  olympischen  Götter  blickt  Ares  träumerisch  sinnend  in  die 
Ferne,  nicht  ohne  den  Zug  tiefer  Melancholie  und  Unzufrieden- 
heit mit    seinem    Dasein,    im    Inneren    leidenschaftlich  erregt  und 


Fig.  20.    Kopf  des  Ares  Ludovisi 


')  .  .  .  im'  "ApT(o:;  7iaXa,uäcDv  („von  Ares  Armen")  Homer,  Ilias  3,  128. 
2)  .  .  .  "Apqa 

ojxÜTaTOv  Ttep  eovTa  O'etöv,  oi  "OXv)|ii7tov  e)^ouöiv. 
(„.  .  .  den  Ares, 

der  doch  an  Schnelle  besiegt  die  Unsterblichen  auf  dem  Olympos") 
Homer,  Odyssee  8,  330  f. 


RUHENDER  ARES 

ROM,    THERMENMUSEUM 


F.    BRUCKMANN    A.-G.,     MÜNCHEN 


KOPF  DES  HERMES  75 

von    Unruhe    gepeinigt,    ein    stürmischer,    unbändiger,    streitbarer 
Charakter : 

Aiei  yäp   toi   e'pi^  tk   91X1]   rtöXejuioi'  Tt-"   ,Lia/oi   re. 
l^qTpöt;  Tox   jLievoc;  kötu    ääöyexov,  oüx   KTiieixTOv 

"Hpn^'). 

(„Immer  hast  du  den  Zank  nur  geliebt  und  Kampf  und  Befehdung! 
Gleich  der  Mutter  an  Trotz  und  unerträglichem  Starrsinn, 
Heren"). 

Die  aus  der  homerischen  Poesie  in  plastischer  Anschaulich- 
keit hervortretende  Gestalt  des  Ares  ist  in  der  herrlichen  Statue 
verkörpert. 


TAFEL  24 

KOPF  DES  HERMES  AUS  DER  GRUPPE  DES 
HERMES  UND  DIONYSOSKNÄBLEINS 

VON    PRAXITELES.     ÜBERLEBENSGROSS.     PARISCHER  MARMOR. 

OLYMPIA. 

Der  bereits  seit  längerer  Zeit  erfolgte  Nachweis  mehrerer 
literarisch  überlieferter  Werke  des  Praxiteles  in  römischen  Kopien 
hat  die  Bedeutung  des  von  alten  Schriftstellern  gepriesenen  attischen 
Marmorbildners,  sowie  die  Größe  des  Verlustes  der  Originale  ahnen 
lassen.  Um  so  berechtigter  war  die  laute  Freude  der  Kunstkenner, 
die  sich  rasch  der  ganzen  gebildeten  Welt  mitgeteilt  hat,  als  am 
8.  Mai  1877  bei  Gelegenheit  der  auf  Kosten  des  Deutschen  Reiches 
unternommenen  Ausgrabung  der  Festesstätte  von  Olympia  die  hier 
im  Texte  abgebildete,  im  ganzen  sehr  gut  erhaltene  -)  Gruppe  (Fig.  2 1 ) 
an  das  Tageslicht  gekommen  und  würdig  bekannt  gemacht  worden 
war.  In  der  Cella  des  Heratempels  der  Altis  wurde  sie  zwar  ohne 
Künstler-  und  Weihinschrift  gefunden,  konnte  aber  auf  Grund  ihrer 
stilistischen  Eigenart  sogleich  mit  der  von  Pausanias^)  als  dort  be- 
findlich erwähnten  Gruppe  des  Praxiteles  identifiziert  werden.  Wahr- 
scheinlich ist  sie  von  einer  anderen  Stelle  der  Altis  oder  vielleicht 


')  Homer,  Ilias  5,  891  ff. 

2)  Die    linke    Hand    hat   einst   das    in   vergoldeter    Bronze   gebildete 
Kerykeion,  die  hoch  erhobene  Rechte  wahrscheinlich  eine  Traube  gehalten. 
•')  Beschreibung  Griechenlands  5,   17,  3. 


76      SKULPTUREN  AUS  DEM  4.  JAHRHUNDERT 


auch  aus  einem  ande- 
ren Orte  erst  später  zu 
einer  uns  unbekannten 
Zeit  in  jenes  Heiligtum 
versetzt  worden,  da  die 
gemeinsam  mit  der 
Gruppe  gefundene  Ba- 
sis einer  bedeutend 
jüngeren  Epoche  als 
diese  angehört  und 
infolgedessen  nicht 
die  ursprüngliche  ist. 
Der  ehemalige  Aufstel- 
lungsort des  Meister- 
werkes kann  ebenso- 
wenig wie  der  Anlaß 
der  Darbringung  in  Er- 
manglung literarischer 
Nachrichten  ermittelt 
werden.  Dagegen  bie- 
tet das  Verständnis 
derDarstellung  keiner- 
lei Schwierigkeit:  Der 
Götterbote  Hermes  ist 
von  Zeus  beauftragt 
worden,  sein  Brüder- 
lein, den  kleinen  Dio- 
nysos, nach  Nysa  in 
Böotien  zu  den  Nym- 
phen als  dessen  künf- 
tigen Pflegerinnen  und 
Erzieherinnen  zu  brin- 
gen, und  hält  auf  der 
Wanderschaft  dorthin  Rast,  indem  er  die  Chlamys  abgestreift  hat  und 
auf  einem  von  dem  Gewände  größtenteils  bedeckten  Baumstamme  den 
linken  Ellenbogen  aufstützt.  Das  Knäblein,  das  er  auf  dem  Arme 
hält,  lehnt  sich  mit  der  rechten  Hand  an  die  Schulter  seines  Be- 
schützers und  hat  die  linke  nach  einem  von  Hermes  einst  gehal- 
tenen Gegenstand  ausgestreckt;  in  demselben,  der  mit  dem  größten 
Teile  des  rechten  Armes  verloren  gegangen  ist,  vermutet  man  mit 
hoher  Wahrscheinlichkeit  eine  für  den  künftigen  Gott  des  Weines 
überaus  passende  Traube.  Wie  Hermes  von  den  griechischen  Dich- 
tern als  allzeit  rüstiger,  stets  dienstbereiter  und  gewandter  Götter- 


Fig.  21.   Statut-  des  Ht-rmcs  in  Olympia 


KOPF  DER   STATUE    DES    PRAXITELISCH  EN    HERMES 
OLYMPIA 


F.    BRUCKMANN    A.-G.,     MÜNCHEN 


KOPF  DES  HERMES  77 

böte  '),  als  V^ertreter  jugendlicher  Kraft-)  und  Schönheit ')  gefeiert  und 
im  Kultdienste  weit  und  breit  verehrt  worden  ist,  so  bietet  diese 
Statue  eine  plastische  Verkörperung  seines  Wesens  und  seiner  Wirk- 
samkeit dar.  Denn  er  tritt  in  derselben  als  kräftig  gebaute,  edle 
Jünglingsgestalt  von  heiterem,  freundlichem  Charakter  entgegen. 
Doch  weit  mehr  als  das  rhythmisch  bewegte  und  harmonisch  ge- 
schlossene Gesamtbild  der  Gruppe  ist  das  tadellos  erhaltene ') 
Haupt  als  schönster  Teil  des  Bildwerkes  in  Abbildungen  und  ins- 
besondere Abgüssen  weit  verbreitet  und  geschätzt.  Sei  es,  daß 
die  technisch  meisterhafte  Behandlung  des  Marmors  und  die 
sorgfältig  durchgeführte  Arbeit  beobachtet  wird,  sei  es,  daß 
man  die  Einfachheit  und  Erhabenheit  der  Auffassung  und  Dar- 
stellung ins  Auge  faßt,  in  gleichem  Maße  muß  die  Leistung  des 
Praxiteles  als  Höhepunkt  künstlerischen  Schaffens  gepriesen  werden. 
Der  Kopf  ist  leise  gesenkt,  das  Auge  ruht  nicht  unmittelbar  auf 
dem  Kinde,  sondern  richtet  in  scheinbarer  Sorglosigkeit  den  Blick 
träumerisch  sinnend  in  die  Ferne.  Betrachtet  man  die  formale 
Bildung  des  Kopfes,  so  werden  die  klaren  und  bestimmten  Umrisse 
des  mächtig  gewölbten  Rundschädels  und  das  nach  unten  sich  stark 
verjüngende  Gesicht  als  bezeichnende  Eigentümlichkeiten  praxite- 
lischer  Kunst  hervortreten.  Richtet  man  das  Auge  auf  die  Details, 
so  wird  das  mit  genialer  Freiheit  behandelte,  in  einzelne  Locken 
sich  teilende  Haar^),  das  von  den  glatten  Flächen  des  Gesichts 
wirkungsvoll  sich  abhebt,  ebenso  wie  die  von  demselben  scharf 
abgegrenzte,  in  ihrem  Unterteil  stark  hervortretende  Stirne,  die  in 
leichter  Wellenlinie  verlaufende  Nase,  die  Modellierung  der  Wangen, 
der  ernste  und  zugleich  freundliche  Zug  um  den  kleinen,  leise  ge- 
öffneten Mund,  endlich  die  Abrundung  des  Kinns  mit  dem  Grüb- 
chen auch  im  einzelnen  das  feine  Formenverständnis  des  Künstlers 
auf  das  glänzendste  offenbaren.  Im  Gesamtbilde  des  Hauptes  aber 
ist    es    das  durchgeistigte,    von  leiser  seelischer  Erregung  belebte 


')  0-ewv  Ta/v:,  uYyeXo^  („der  schnelle  Götterbote'*)  (Hesiod,  Werke  und 
Tage  85)  u.  a.  St.  m.  Das  bei  Homer  übliche  Beiwort  bidv.Topo-  („der  Ge- 
leitende") kennzeichnet  seine  Tüchtigkeit  in  dieser  Hinsicht  am  klarsten. 

2)  'E\ayv>\\v-  (wörtlich  „zum  Wettkampf  gehörig")  heißt  Hermes  als 
Gott  der  Wettkämpfe  und  der  Palästra. 

•5)  /cipiv  b'  tneU^nxe  Kpü\{(!)v  („Anmut  aber  hat  Kronion  hinzugefügt") 
liest  man  im  Hymnos  auf  Hermes,  homerische  Hymnen  3,  575;  ebenda 
Vers  127  führt  der  Gott  den  Beinamen  /apjau^pwv  („heiteren  Sinnes"). 

^}  Die  auf  der  Abbildung  sichtbaren  dunkeln  Flecken  rühren  von 
Kalksinter  her,  welcher  sich  unter  der  Erde  an  den  Marmor  angesetzt  hat. 

')  Dasselbe  war  höchstwahrscheinlich  einst  mit  einem  aus  Metall 
gebildeten  Kranze  geschmückt,  wie  aus  den  auch  in  der  Abbildung  deut- 
lich erkennbaren  Einarbeitungen  im  Marmor  geschlossen  werden  darf. 


78      SKULPTUREN  AUS  DEM  4.  JAHRHUNDERT 

Antlitz,  das  den  Betrachter  unwiderstehlich  fesselt.  Freilich  wird 
gemäß  der  künstlerischen  Auffassung  und  Empfänglichkeit  desselben 
der  Eindruck  in  mancher  Hinsicht  ein  verschiedener  sein  und  darf 
hier  durch  allzustarke  Betonung  individueller  Gefühle  nicht  gestört 
werden.  Zweifellos  aber  wird  jedermann  beim  Anblicke  des  voll- 
endeten Marmorwerkes  weniger  in  laute  Begeisterung  als  in  frohe, 
gehobene  Feststimmung  versetzt,  die  als  edelste  und  erhabenste 
Wirkung  der  bildenden  Kunst  erachtet  werden  muß. 


TAFEL  25 

MARMORKOPF  DER  APHRODITE 

NACH  PRAXITELES.    ETWAS  ÜBERLEBENSGROSS.    AUS  TRALLES 
IN  KARIEN.     BERLIN,  SAMMLUNG  VON  KAUFMANN. 

Im  Altertum  wurde  als  schönste  Statue  der  Erde  und  berühm- 
teste Schöpfung  des  attischen  Marmorbildners  Praxiteles  die  nackte, 
in  das  Bad  steigende  Aphrodite  gepriesen,  welche,  aus  leuchtendem, 
parischem  Marmor  gebildet,  an  einer  ihrer  berühmtesten  Kultstätten'), 
zu  Knidos  ^)  am  Vorgebirge  Kariens,  in  einem  kleinen,  am  Meere 
gelegenen  Tempel  aufgestellt  war^).  Jene  durch  die  alten  Schrift- 
steller bezeugte  Wertschätzung  des  Bildwerkes,  das  auf  Grund  der 
Darstellungen  knidischer  Münzen  aus  römischer  Kaiserzeit  schon 
lange  in  mehreren  Kopien  nachgewiesen  war,  wird  jetzt  durch  zahl- 
reich erhaltene  Wiederholungen  auch  monumental  bestätigt.  Bereits 
im  Altertum  wurde  der  Kopf  als  der  künstlerisch  vollendetste  und 
edelste  Teil  der  Statue  insbesondere  von  dem  feinfühlenden  Kunst- 
kenner Lucian  ^)  verständnisvoll  beurteilt  und  kann  in  der  hier  in 
Vorder-  und  Seitenansicht  abgebildeten  Kopie,  die  fast  unversehrt 
erhalten  ist  und  als  tüchtige  Arbeit   eines  griechischen  Künstlers 


•)  So  ruft  Horaz,  carmina  1,  30,  1,  Venus  als  ,regina  Cnidi'  („Königin 
von  Knidos")  an. 

2)  Den  Reichtum  der  blühenden  Seehandelsstadt  an  Marmorwerken 
berühmter  attischer  Meister  des  vierten  Jahrhunderts  v.  Chr.  bezeugt  lite- 
rarisch Piinius  der  Ältere,  naturalis  historia  36,  22,  monumental  die  dort 
gefundene  Statue  der  Demeter,  abgebildet  in  dieser  Handausgabe  Tafel  22. 

3)  Piinius  der  Ältere,  naturalis  historia  36,  20  f.  (vgl.  auch  34,  69). 
Pausanias,  Beschreibung  Griechenlands  1,  1,  3.  Lucian,  imagines  4.  Pseudo- 
lucian,  amores   13. 

••)  imagines  6;  vgl.  auch  Pseudolucian,  a.  a.  O.  13. 


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APHRODITE  NACH  PRAXITELES 


79 


sich  darstellt,  gut  ge- 
würdigt werden.  So 
ist  sie  geeignet,  die  im 
Altertum  dem  Origi- 
nale gespendeten,  uns 
fast  überschwenglich 
erscheinenden  Lob- 
sprüche vollauf  zu  be- 
stätigen, und  läßt  vor 
allem  die  der  praxi- 
telischen  Kunst  eigen- 
tümliche zarte  Be- 
handlung des  harten 
und  spröden  Marmors 
auch  in  diesem  Ab- 
glanze  des  Urbildes 
genügend  erkennen. 
Die  Göttin  der 
Liebe,  deren  Aussehen 
und  Wesen  insbeson- 
dere durch  die  seit  der 
homerischen  Poesie 
beliebten  Beinamen 
„xaXii,  91X01.1  uBibiir" 
(„schön,  hold  lä- 
chelnd") u.  a.  m.  ge- 
kennzeichnet sind,  ist 
in  der  Gestalt  eines 
jugendlichen,  blühen- 
den Weibes  verkör- 
pert. Ihr  Haupt,  das  auf  dem  in  vollen  Formen  gebildeten  Halse  ruht, 
ist  etwas  zur  Seite  geneigt,  der  Blick  der  flachen,  schmalen  Augen 
träumerisch  sinnend  und  sehnend  in  die  Ferne  auf  ein  unbestimmtes 
Ziel  gerichtet.  Das  in  vielen,  gleichmäßig  verlaufenden  Strähnen 
angeordnete  Haar,  welches  durch  ein  doppeltes  Band  in  drei  Zonen 
sich  sondert  und  Ohren,  sowie  Schläfe  teilweise  bedeckt,  ist  rück- 
wärts in  einem  Schöpfe  zusammengehalten.  Die  einzelnen  Teile 
des  ovalförmigen  Gesichtes  hat  Praxiteles  mit  feinstem  Formen- 
verständnis wiedergegeben:  Die  dreieckige  Stirne,  die  zarten  Um- 
risse der  Brauen,  die  Abrundung  des  Kinns,  die  feine  Modellierung 
der  Wangenflächen  und  Nase,  vor  allem  aber  der  zartgebildete, 
etwas  geöffnete  Mund,  um  den  ein  leises  Lächeln  spielt,  sind  eigen- 
tümliche Vorzüge  seiner  Kunst,  die  zwar  auch  bei  anderen  weib- 


Fig.  22.    Mädchenkopf  praxitelischer  Zeit  und 
Richtung,  eine  Göttin  oder  Sterbliche  darstel- 
lend.   Griechisches  Marmororiginal,  München, 
Glyptothek  (nach  Ergänzung  in  Gips) 


80      SKULPTUREN  AUS  DEM  4.  JAHRHUNDERT 

liehen,  auf  ihn  oder  seine  Schule  zurückgeführten  Köpfen  hervor- 
treten, bei  keinem  aber  in  dieser  harmonischen  Vereinigung  von 
Anmut  und  Würde  wiederkehren  (vgl.  auch  Fig.  22).  Während  bei 
älteren  Darstellungen  der  Aphrodite  die  stärkere  Betonung  reifer 
Weiblichkeit  ins  Auge  fällt,  erscheint  hier  der  zarte  Liebreiz  eines 
jugendlichen,  mädchenhaften  Wesens  hervorgehoben,  der  für  die 
Kunst  der  Folgezeit  bis  in  die  Gegenwart  trotz  des  späterhin  viel- 
fach hervortretenden  Ausdrucks  der  Sinnlichkeit  im  wesentlichen 
maßgebend  geblieben  ist.  Er  wird  in  seiner  schlichten  Einfachheit 
und  göttlichen  Erhabenheit,  ebenso  wie  die  kraftvolle  und  heitere 
Gestalt  des  Hermes,  als  höchster  künstlerischer  Ausdruck  jugend- 
licher Schönheit  auf  jedes  empfängliche  Auge  einen  mächtigen 
Zauber  ausüben,  so  oft  es  auf  diesem  Doppelbilde  ruht,  bei  dessen 
Anblick  man  nur  darüber  Zweifel  hegen  kann,  welcher  von  beiden 
Ansichten  der  Preis  gebührt. 


TAFEL  26 
MARMORBÜSTE  AUS  ELEUSIS 

ATHEN,  ZENTRALMUSEUM. 

Dieser  herrliche  Jünglingskopf  ist  1885  zu  Eleusis  in  einem 
kleinen  Heiligtume  des  Pluton  gefunden  worden,  das  sich  vor  einer 
ernsten,  dunkeln  Felshöhle  nahe  den  Propyläen  des  großen  eleu- 
sinischen  Heiligtums  befand.  Zugleich  waren  hier  Weihinschriften 
an  ein  nur  als  „der  Gott"  und  die  „Göttin"  bezeichnetes  altes 
chthonisches  Götterpaar,  sowie  an  Eubuleus  gefunden  worden. 
Dieser  Eubuleus  war  eine  selbständige  Gestalt  des  eleusinischen 
Glaubens  und  nicht  etwa  mit  einem  anderen  Gotte  identisch.  Sein 
Name,  mag  er  den  Wohlberater  oder  Wohlwollenden  bedeuten,  ge- 
hört zu  jenen  den  unterirdischen  Mächten  aus  Scheu  und  Furcht 
gegebenen  Namen,  in  denen  der  Wunsch  sich  ausspricht,  daß  der 
chthonische  Dämon  sich  nur  von  seiner  segenbringenden  Natur 
zeigen  möge.  Im  Kulte  des  Eubuleus  zu  Eleusis  vergrub  man  ihm 
ein  Schweinchen  in  die  Erde.  Daher  machte  ihn  die  Sage  zum 
Schweinehirten,  dessen  Tiere  beim  Raube  der  Kora  mit  in  die  Erde 
verschwanden;  und  um  ihn  an  die  großen  eleusinischen  Göttinnen 
näher  anzugliedern,  machte  ihn  die  dortige  Sage  zum  Bruder  des 
Triptolemos  oder  Sohne  der  Demeter;  er  ward  somit  jugendlich  ge- 


MARMORBUSTE   AUS    ELEUSIS 

ATHEN,    ZENTRALMUSEUM 


MARMORBÜSTE  AUS  ELEUSIS  81 

dacht.  In  der  Tat  ist  der  jugendliche,  lockige  Eubuleus,  zum  Teil 
mit  dem  Schweinchen  und  dem  Zweigbündel  des  mystischen  Kultus 
in  den  Händen,  in  verschiedenen,  den  eleusinischen  Kultus  an- 
gehenden Denkmälern  nachzuweisen. 

Die  Fundumstände  machen  es  somit  möglich,  in  dem  hier  ab- 
gebildeten Jünglingskopfe,  der  ein  chthonisches  Wesen  darstellen 
kann,  jenen  Eubuleus  zu  erkennen.  Die  symmetrisch  in  die  Stirne 
hereinfallenden  Haare  sind  für  die  Unterweltgottheiten  charakte- 
ristisch. 

Der  Kopf  muß  berühmt  gewesen  sein.  Im  eleusinischen  Heilig- 
tume  selbst  fanden  sich  zwei  Repliken,  die  sich  als  geringere,  spätere 
Wiederholungen  kundgeben.  Ferner  aber  wurde  der  Kopf  von  den 
Kopisten  der  römischen  Zeit  in  Italien  nachgebildet;  wir  besitzen 
noch  solche  Kopien  in  italienischen  Museen,  die  dort  früher  als 
Bildnisse  Vergils  galten. 

Die  wunderbar  vollendete  Ausführung  des  eleusinischen  Kopfes, 
die  in  jedem  Zuge  die  Meisterhand  bekundet,  läßt  keinen  Zweifel, 
daß  wir  in  ihm  eben  das  berühmte  Original  selbst  besitzen,  das 
die  späteren  Kopisten  wiederholten.  Sein  Künstler  muß  ein  nam- 
hafter gewesen  sein,  da  das  Werk  sonst  nicht  wiedergegeben  worden 
wäre.  Sein  Stil  weist  es  in  den  praxitelischen  Kreis;  ja,  die  Technik 
der  Ausführung  von  Haar  und  Fleisch  hat  nirgends  eine  nähere  Par- 
allele als  am  Hermes  von  Olympia  (Tafel  24),  der  nach  dem  Zeug- 
nisse des  Pausanias  von   Praxiteles  herrührt. 

Nun  wissen  wir  durch  die  Inschrift  einer  Herme  im  Vatika- 
nischen Museum  zu  Rom,  deren  Kopf  leider  verloren  ist,  daß  die 
dortigen  Kopisten  den  Kopf  eines  „Eubuleus  des  Praxiteles"  dar- 
stellten ;  die  Inschrift  der  Herme,  EußouXeüq  ripa^iTeXouc,  ist  eben- 
so abgefaßt  wie  die  von  zwei  anderen  römischen  Kopien,  lavDjui'ibiiq 
Aeco/dpoi::;  und  'HpaxXqc  Eücppdvopo(:;.  Der  Eubuleus  des  Praxi- 
teles mußte  sich  einst  in  Eleusis  befinden,  da  wir  sonst  nichts  von 
dem  Kulte  eines  Eubuleus  ohne  Zusatznamen  wissen.  Der  Künstler 
Praxiteles  aber  war  natürlich  der  große,  berühmte,  nach  dem  die 
römischen  Kopisten  so  unzählige  Male  arbeiteten,  und  nicht  ein 
anderer  obskurer  Mann. 

So  drängte  denn  manches  zu  der  Identifikation  des  eleusini- 
schen Kopfes  mit  dem  verlorenen,  später  kopierten  Originale  des 
Praxiteles.  Allerdings  ist  jene  Inschriftenherme  im  Vatikan 
heutzutage  kopflos  und  möglicherweise  war  von  Praxiteles  ein  an- 
derer Typus  des  „Wohlberaters",  der  des  bärtigen  chthonischen 
Gottes,  dargestellt.  So  erscheint  die  Beziehung  des  eleusinischen 
Kopfes  zu  dem  Künstler  oder  wenigstens  zu  seinem  Kreise  eigent- 
lich nur  durch  den  Stil  gesichert,  doch  auch  der  Stil  führt  keines- 

Denkmäler  griech.  u.  röm.  Skulptur,  3.  Aufl.  tJ 


82      SKULPTUREN  AUS  DEM  4.  JAHRHUNDERT 

wegs  ausschließlich  auf  jenen  großen  attischen  Meister  selbst.  Die  oft 
vorgeschlagene  Deutung  auf  Triptolemos  bleibt  sehr  erwägenswert, 
zumal  da  er  tatsächlich  auf  einem  eleusinischen  Votivrelief  aus  der 
Mitte  des  vierten  Jahrhunderts  v.  Chr.  so  erscheint.  Freilich  drückt 
unser  Kopf  in  wunderbar  vollendeter  Weise  gerade  das  Gemisch 
von  milder,  freundlicher  Weichheit  und  trübem,  düsterem  Ernste 
aus,  das  eben  den  Unterweltgott,  den  Eubuleus,  charakterisiert.  Auf 
der  Brust  ist  ein  Chiton  angedeutet,  wie  ihn  die  chthonischen  Götter 
in  der  Regel  tragen. 

Man  vermutet,  daß  der  Kopf  nicht  zu  einer  Statue  gehörte, 
auch  saß  er  nicht  auf  einer  Herme,  und  ebensowenig  hat  er  die 
spätere,  erst  in  Rom  entstandene  Form  der  eigentlichen  hinten 
hohlen  Büste.  Er  ist  an  der  Brust  durchgeschnitten  wie  die  Büsten 
der  früheren  Renaissance.  Auch  die  klassische  griechische  Kunst 
kannte  diese  Form.  Der  Kopf  war  vielleicht  einst  in  einer  kleinen 
Ädikula  auf  einer  Tischplatte  aufgestellt,  in  welche  er  mit  dem 
unteren  Rande  eingelassen  war.  Ein  Relief  aus  Eleusis  zeigt  eine 
gleichfalls  als  Eubuleus  gedeutete  Büste  etwa  in  dieser  Weise  auf- 
gestellt, freilich  gehört  es  nach  der  Haartracht  in  flavische  Zeit  und 
jener  Kopf  kann  ebensogut  Triptolemos  oder  lacchos  genannt  werden. 

Trotz  der  Verstümmelung  an  Nase  und  Augenbrauen  ist  der 
Kopf  unserer  Tafel  eines  der  herrlichsten  Originalwerke,  das  wir 
aus  der  Antike  besitzen. 


TAFEL  27 
ZEUS  VON  OTRICOLI 

KOLOSSALKOPF  VON  MARMOR.  ROM,  VATIKANISCHES  MUSEUM. 

Dieses  in  den  weitesten  Kreisen  der  Gebildeten  bekannte 
und  durch  Abgüsse  vielfach  verbreitete  Kunstwerk  ist  in  den  letzten 
Jahrzehnten  des  achtzehnten  Jahrhunderts  in  Otricoli,  dem  alten  Ocri- 
culum,  einer  nordöstlich  von  Rom  im  ehemaligen  Umbrien  gelegenen 
Landstadt,  bei  den  von  Papst  Pius  VI.  veranstalteten  Grabungen 
zutage  gekommen  und  gilt,  in  der  Sala  rotonda  des  Vatikanischen 
Museums  aufgestellt,  mit  Recht  als  eine  Zierde  des  an  auser- 
lesenen Werken  reichen  Prachtraumes.  Trotz  völliger  Erneuerung 
der  Büste  und  Rückseite  darf  die  Erhaltung  eine  glückliche  ge- 
nannt werden,  da  das  Gesicht,    abgesehen    von    kleineren   Ergän- 


ZEUS  VON   OTRICOLI 

ROM,   VATIKANISCHES   MUSEUM 


ZEUS  VON  OTRICOLI 


83 


Zungen,  unversehrt  ist. 
Früher  fälschlich  als 
Nachbildungdes  Kopfes 
von  der  phidiasischen 
Goldelfenbeinstatue  im 
Zeustempel  zu  Olympia 
betrachtet,  wird  das 
Bildwerk  heutzutage  als 
eine  gute  römische  Ko- 
pie nach  dem  Haupte 
des  Marmorstandbildes 
eines  unbekannten  grie- 
chischen Meisters  an- 
gesehen,welches  gemäß 
der  kräftigen,  realisti- 
schen Formengebung 
und  der  trotz  schein- 
barer feierlicher  Ruhe 
des  Ganzen  im  ein- 
zelnen erregten  Züge 
des  Antlitzes  nicht  vor 
der  zweiten  Hälfte  des 
vierten  Jahrhunderts  v. 
Chr.,  vielleicht  auch  et- 
was später  entstanden 
ist  und  neuerdings  mit 
Wahrscheinlichkeit  auf 
Grund  des  Stils  und  Gesichtsausdrucks  mit  Meistern,  die  Elemente 
attischer  und  lysippischer  Kunstrichtung  in  sich  vereinigen,  in  Ver- 
bindung gebracht  wird.  Jenes  Marmorwerk  muß,  als  Kultbild  in 
einem  Tempel  oder  heiligen  Bezirke  der  Gottheit  geweiht,  durch 
seine  Kolossalität  und  die  wahrhaft  göttliche  Erhabenheit  des  Hauptes 
im  Gemüte  des  frommen  Gläubigen  tiefe  religiöse  Scheu  mit 
zwingender  Gewalt  wachgerufen  haben;  durch  die  im  Originale 
vorauszusetzende  Neigung  des  Kopfes  wurde  diese  Wirkung  gewiß 
noch  verstärkt. 

Gerade  bei  dem  Anblicke  des  Antlitzes  gewinnt  die  Tatsache, 
Homer  habe  den  Griechen  ihren  Olymp  geschaffen,  neue  Bestä- 
tigung; denn  das  Bild  des  Zeus,  das  durch  die  schöpferische  Ge- 
staltungskraft der  homerischen  Poesie  in  die  Religion  und  das 
V^olksbewußtsein  der  Griechen  und  Römer  übergegangen  ist  und 
noch  heutzutage  dem  Leser  der  homerischen  Gesänge  deutlich 
vor  Augen  tritt,  ist  hinsichtlich  der  äußeren  Form  und  des  inneren 


Fig.  23.    Marmorkopf  des  Zeus 
Boston,  Museum  of  Fine  Arts 


84      SKULPTUREN  AUS  DEM  4.  JAHRHUNDERT 


geistigen  Wesens  in 
dem  Werke  plastisch 
verkörpert,  das  zugleich 
eine  ausgezeichnete 
Probe  für  die  bewun- 
derungswürdige Fähig- 
keit der  griechischen 
Kunst  ablegt,  die  Be- 
deutung einer  Gottheit 
in  ihrem  vollen  Um- 
fange auch  ohne  Bei- 
fügung bezeichnender 
Attribute  gerade  in  dem 
Haupte  zum  Ausdruck 
zu  bringen. 

Zeus  ist  in  gereif- 
tem, würdigem  Mannes- 
alter gedacht,  von  der 
Schwäche  des  Greises 
unberührt;  das  Haupt 
ist  leise  nach  vorwärts 
gesenkt.  Das  mächtige, 
der  Mähne  des  Löwen 
vergleichbare  Haar,  das 
wie  ein  dichter,  wellen- 
artig bewegter  Kranz 
das  Gesicht  umrahmt  und  die  Ohren  bedeckt,  sowie  der  herrliche 
Vollbart  mit  den  rundlich  gekräuselten  Locken  verleihen  dem  Ant- 
litze den  Ausdruck  des  Väterlichen,  Ehrwürdigen,  erheben  es  aber 
durch  die  Großartigkeit  der  Erscheinung  über  das  Menschliche 
hinaus.  In  dem  durch  die  Fülle  des  Haares  und  Bartes  fast  etwas 
zu  eng  begrenzten  Gesichte  offenbaren  die  lange  Querfurche  und 
die  darunter  stark  vorspringenden  Knochen  der  mächtig  empor- 
ragenden Stime  den  Sitz  klaren  Verstandes  und  energischen 
Willens,  die  schmalen,  tiefliegenden  Augen,  über  welchen  in  lang- 
gezogenem Bogen  die  Brauen  sich  wölben,  zeigen  den  festen, 
ruhigen,  sicheren  Blick,  sprechen  aber  zugleich  in  Verbindung  mit 
dem  geöffneten  Munde  und  der  herabhängenden  Unterlippe  eine 
gewisse  Heiterkeit  und  Gutmütigkeit  des  Alters  aus.  Harmonisch 
mischen  sich  Züge  stürmischer  Leidenschaft  und  abgeklärter  Ruhe. 
Man  erkennt  in  dem  Bilde  den  Zeüq  xvbiaxoc,  ineyiöroq  („den 
erhabensten,  gewaltigsten  Zeus"),  der  durch  die  Bewegung  des 
Kopfes  und  der  Locken,  durch  das  Zucken  der  Brauen  den  Olymp 


Fig.  24.  Zeus.  Boston.  Nach  ergänztem  Abguß 


ZEUS  VON  OTRICOLI 


85 


erschüttert,  den  jitnTie:ra 
Zei3:;  („Berater  Zeus"), 
den  Tiarqp  dvbptov  xt 
Oewv  TE  („Vater  der 
Menschen  undGötter"), 
von  dem  mit  weiser 
Besonnenheit  aller  Ge- 
schicke geleitet  werden, 
den  Zevc  |aei\i/iöc(„den 
milden  Zeus"),  der 
durch  die  leise  Nei- 
gung des  Hauptes  dem 
in  frommer  Scheu  na- 
henden Gläubigen  Er- 
füllung seiner  Bitten 
gewährt  und  Trost  im 
Leide  spendet.  So  sucht 
und  findet  man  in  den 
einzelnen  Zügen  des 
Antlitzes  die  Elemente, 
aus  denen  das  Wesen 
des  Allherrschers  und 
Allvaters  sich  zusam- 
mensetzt; wenn  man 
sich  aber  wieder  zur 
Betrachtung  desganzen 
Bildes  sammelt  und  erhebt,  wird,  je  länger  das  Auge  auf  ihm  ruht, 
der  Eindruck  erhabener,  allumfassender  Majestät  vorherrschen. 

Viel  ruhiger  und  reiner  als  im  Zeus  von  Otricoli  ist  das 
Wesen  des  Gottes  wiedergegeben  in  einem  Kopfe,  der  vor  einigen 
Jahren  in  dem  an  wundervollen  Skulpturen  der  zweiten  Blüte 
attischer  Kunst  überreichen  Kleinasien,  zu  Mylasa  unweit  von 
Halikarnaß  zutage  kam  ')  (Fig.  23);  er  ist  ein  kostbares  Marmor- 
original des  vierten  Jahrhunderts  v.  Chr.,  das  Werk  eines  attischen 
Meisters  ersten  Ranges.  Die  in  der  Abbildung  nicht  sichtbaren 
Löcher  am  Oberkopfe  lassen  auf  das  ursprüngliche  Vorhandensein 
eines  Aufsatzes  (Polos  oder  Kalathos)  schließen:  So  ward  der  ka- 
rische Zeus  dargestellt.  „Eine  vornehme,  aber  milde  Schönheit 
strahlt  aus  diesem  Kopfe.     Es   ist   nicht    die   straffe    und   unnah- 


Fig.  25.  Zeus.  Boston.  Nach  ergänztem  Abguß 


')  Er  war  allein  gearbeitet  und  bestimmt,  in  eine  Statue,  wohl  ein 
Sitzbild,  eingelassen  zu  werden.  Die  Erhaltung  ist  bis  auf  die  größtenteils 
zerstörte  Nase  recht  gut. 


86     SKULPTUREN  AUS  DEM  4.  JAHRHUNDERT 

bare  Hoheit  der  phidiasischen  Epoche,  nicht  das  ruhelose,  stür- 
mische Wollen  der  Alexanderzeit,  es  ist  ein  freundliches,  auch 
menschliches  Wesen,  das  in  schlichten,  ruhigen  und  milden  For- 
men hier  sich  ausspricht."  In  diesen  abgeklärten  Zügen  glaubt 
man  trotz  der  durch  Zeit  und  Kunstrichtung  bedingten  Verschie- 
denheit der  Formengebung  die  Majestät  des  Zeus  zu  Olympia  von 
Phidias,  wie  er  auf  elischen  Münzen  geschaut  wird,  noch  leise 
zu  ahnen,  deutlich  zu  verspüren.  Dadurch  steigert  sich  der 
WertdesWerkes, daszu  den  schönsten  auf  uns  gekommenen  Götter- 
köpfen, zu  den  herrlichsten  Antiken  überhaupt  zählt. 


TAFEL  28 
DER  APOLL  VOM  BELVEDERE 

MARMORSTATUE.     ROM,  VATIKANISCHES  MUSEUM. 

Diese  berühmte  Statue  wurde  schon  zu  Ende  des  fünfzehnten 
Jahrhunderts,  vielleicht  in  der  Nähe  von  Rom  gefunden ;  über  den 
Ort  des  Fundes  schweigen  die  zuverlässigen  Quellen  ältester  Zeit. 
Die  Statue  ward  vom  Papste  Julius  IL,  in  dessen  Besitze  sie  sich 
befand,  zum  Schmucke  des  von  ihm  erbauten  Belvedere  im  Vati- 
kanischen Palaste  verwendet.  Sie  hat  eine  ungeheure  Wirkung 
auf  die  Künstler  und  Gelehrten  sowohl  wie  auf  die  Laien  aus- 
geübt. Sie  hat  eine  Menge  von  Erklärungen  hervorgerufen,  die 
zum  Teil  geistvoll,  zum  Teil  verkehrt  und  nicht  selten  auch  beides 
zusammen  waren. 

Der  schlanke  Götterjüngling  Apollon  ist  im  Begriffe,  schwung- 
voll elastischen,  leichten  Ganges  an  uns  vorüberzuschreiten.  Der 
Kopf  ist  nicht  nach  der  Richtung  des  Schrittes,  sondern  nach  der 
Seite  gewendet.  Der  strahlende  Blick  ist  weit  in  die  Ferne  ge- 
richtet. Der  Künstler  will  sagen :  dieser  Apollon  hat  nicht  ein 
einziges  beschränktes  Ziel  im  Auge;  er  schaut  nach  links,  er  schaut 
nach  rechts,  er  schaut  allüberallhin ;  denn  er  ist  der  rettende,  der 
helfende  Gott,  der  abwehrt  alles  Unheil;  er  ist  der  Strahlende, 
der  alles  Finstere  besiegt,  der  alles  Böse,  alles  Kranke  sühnt  und 
heilt.  Seine  Namen  sind  (l'oißoc  und  llaid\',  poiibpoinioc,  dXe^i- 
xaxoc,  ärrorporraio::,  iax\\p,  iarpöi  und  äxeöTODp  (der  Hilfreiche, 
der  Unheilabwehrer,  der  Heilende). 


APOLL  VOM  BELVEDERE  87 

Die  Waffe  aber,  mit  der  er  fernhin  trifft  und  immer  siegt, 
ist  sein  Bogen;  er  ist  der  äf^yrfiorüro-  und  y.Xvivroloz,  der  ky.uEnyoz 
und  !';xii|j().\oc  (der  mit  dem  silbernen  Bogen,  der  Bogenberühmte, 
der  Ferntreffer).  Die  linke  Hand  der  Statue,  die  verloren  und 
ergänzt  ist,  trug  einst  ohne  Zweifel  den  Bogen,  vielleicht  zugleich 
einen  Pfeil,  den  die  Bogenschützen  mit  dem  Mittelfinger  der  den 
Bogen  haltenden  Linken  zu  umfassen  pflegten.  Um  die  Brust 
läuft  das  Band  des  auf  dem  Rücken  hängenden  Köchers;  schon 
dieses   Attribut  fordert  das  Vorhandensein  des  Bogens. 

Die  rechte  Hand  trug  einen  Lorbeerzweig  mit  daran  befestigten 
geknoteten  Binden  (ars^unara).  Das  Ende  dieses  Attributes  ist 
oben  am  Stamme  (oberhalb  des  Kopfes  der  Schlange)  noch  erhalten 
und  auf  der  Tafel  sichtbar.  Das  jetzt  das  obere  Ende  bildende 
Stück  des  Stammes  ist  zusammen  mit  dem  ganzen  rechten  Unter- 
arme und  der  rechten  Hand  modern  ergänzt.  Der  Unterarm  war 
ursprünglich  etwas  mehr  gehoben  und  weiter  vorbewegt.  Die  Ver- 
bindung mit  dem  Stamme  war  durch  den  in  Marmor  ausgeführten 
Lorbeerzweig  mit  den  Binden  hergestellt.  Dies  Attribut  bezieht 
sich  auf  die  reinigende,  die  heilende  und  sühnende  Kraft  des  Gottes 
und  kommt  öfters  in  seiner  Hand  vor.  Auch  die  Verbindung  von 
Bogen  in  der  Linken  und  Lorbeerzweig  in  der  Rechten  ist  durch 
zahlreiche  Apollodarstellungen  zu  belegen. 

In  neuerer  Zeit  war  lange  die  Ansicht  verbreitet,  der  Gott 
habe  in  der  Linken  die  Ägis  gehalten,  die  er  im  Kampfe  den  nach 
Delphi  eingedrungenen  Galliern  entgegenhalte.  Diese  Hypothese 
gründete  sich  auf  die  Erklärung  eines  Attributrestes  in  der  Linken 
einer  Bronzereplik  der  Statue  im  Besitze  des  Grafen  Stroganoff  zu 
St.  Petersburg.  Allein  diese  Bronzestatuette  ist  nichts  als  eine  mo- 
derne Fälschung;  die  auf  sie  gebauten,  schon  an  sich  äußerst  un- 
wahrscheinlichen Hypothesen  fallen  damit  in  sich  zusammen.  Aber 
auch  alle  anderen  Erklärungen,  welche  dem  Gotte  und  seinem  Bogen 
ein  bestimmtes  Ziel  vorschreiben,  sind  verfehlt. 

Zu  bemerken  sind  noch  die  äußerst  zierlichen  Sandalen,  die  für 
den  durch  sein  Reich  wandernden  und  überallhin  Hilfe  bringenden 
Gott  charakteristisch  sind.  Auf  der  rechten  Schulter  ist  eine  Chlamys 
geknüpft,  die  über  den  linken  Arm  herabfällt.  Man  hat  sich  mit 
Recht  gewundert,  daß  die  ruhig  drapierten  Falten  dieses  Gewandes 
ohne  alle  Rücksicht  auf  die  rasche  Bewegung  der  Figur  gebildet 
sind.  Indes  diese  Chlamys  ist  vielleicht  nur  eine  Zutat  des  Mar- 
morkopisten. Eine  solche  Zutat  ist  wohl  sicher  der  stützende  Baum- 
stamm mit  der  Schlange.  Denn  das  Original  war  höchstwahrschein- 
lich eine  Erzstatue,  die  solcher  Stütze  nicht  bedurfte.  Auch  das 
Gewand   fungiert  wesentlich  als  Stütze  des  linken  Armes  der  Mar- 


88     SKULPTUREN  AUS  DEM  4.  JAHRHUNDERT 


morkopie.  Die  Aus- 
führung der  Kopie 
fällt  erst  in  das 
zweite  Jahrhundert 
n.  Chr. 

Das  Original 
aber  war  ein  herr-  . 
liches  Werk  der 
Blütezeit  griechi- 
scher Skulptur.  Es 
gehörte  dem  vierten 
Jahrhundert  v.  Chr. 
und  zwar  der  zwei- 
ten Hälfte  desselben 
an.  Es  gibt  Gründe, 
die  es  manchem 
wahrscheinlich  ma- 
chen, daß  es  ein 
Werk  des  Leocha-. 
res,  eines  jüngeren 
Zeitgenossen  des 
Praxiteles  und  Sko- 
pas,  war. 

Der  schlanke 
Körper  und  die 
schwungvolle  Be- 
wegung sind  präch- 
tig; allein  das 
Schönste  und  Be- 
deutendste an  dem  Werke  ist  der  Kopf  (Fig.  26).  In  ihm  gewinnt 
die  ganze  Hoheit  und  Reinheit  des  apollinischen  Wesens,  in  ihm 
auch  die  feurige  Energie  des  strahlenden  Gottes  ihren  vollendet- 
sten Ausdruck ;  stolze  Erhabenheit  des  allbeherrschenden  Geistes, 
souveräne  Verachtung  des  Niedrigen,  Gemeinen  prägt  sich  in  den 
Gesichtszügen  deutlich  vernehmbar  aus.  Die  sittliche  Macht  helle- 
nischer Religion  erzielt  durch  das  Götterbild  noch  heutzutage  tiefe 
Wirkung.  Daß  diesem  männlichen  Wesen  aber  weibliche  Zartheit 
nicht  ganz  fehle,  das  deutet  die  von  der  Mädchentracht  entlehnte 
üppige  Haarfrisur  an,  indem  die  Fülle  der  Locken  auf  dem  Kopfe 
in  eine  Schleife  gebunden  ist.  In  der  Dichtung  heißt  der  Gott  ja 
auch  dxepöex6|ar|c  und  äßpoxairn^  (mit  ungeschorenem,  weich- 
lichem Haare). 


Fig.  26.  Kopf  des  Apolls  vom  Belvedere 


DER   APOLL  VOM    BELVEDERE 

ROM,    VATIKANISCHES    MUSEUM 


90     SKULPTUREN  AUS  DEM  4.  JAHRHUNDERT 

Denn  nicht  auf  ein  Ziel  ist  sie  in  ihrem  Blicke  beschränkt,  überall 
hat  sie  ein  wachsames  Auge  und  Ohr,  überallhin  eilt  sie: 

IltuTr)   i-'nirsTpt'f^ieTai,   i>np(ov   nA^xoDOct  YevE!>\i\v  ') 
(„Wendet  sich  überallhin,  die  Geschlechter  der  Tiere  vertilgend"). 

Gerade  in  diesem  Gegensatze  des  vorwärts  stürmenden  Kör- 
pers und  des  zur  Seite  geworfenen  Hauptes  ist  der  wunderbare 
Rhythmus  der  Bewegung,  welcher  die  Gewandung  in  schönem  Flusse 
der  Falten  sich  anschließt,  und  damit  ein  hohes  künstlerisches  Ver- 
dienst der  Statue  begründet. 

Das  rasche,  kräftige  Wesen  der  wie  eine  Nymphe  den  Freuden 
der  Jagd  ergebenen  Göttin,  das  aus  den  Gesängen  des  Homer 
dem  Leser  in  klarer  Deutlichkeit  entgegentritt,  hat  in  dem  Bild- 
werke plastische  Verkörperung  gewonnen ;  denn  die  Verse 

.  .  ."ApTejuii;  eiöi  xai'   oupea  io/Katpa, 
r\  xard  TriöyeTov  7tEpi,ut]xeTov  r\  'Epü)j,av9-ov, 
TEp7t(i(.ie\i)   xtt:;ipoiöi   xai  c)xe{ij^'   e-Xdcpoacsiv^; 
(„.  .  .  Artemis  herrlich  einhergeht,  froh  des  Geschosses, 
über  Taygetos  Höhn  und  das  Waldgebirg  Erymanthos 
und  sich  ergötzt,  Waldeber  und  flüchtige  Hirsche  zu  jagen") 
erschließen  gleichsam  erst  das  volle  Verständnis  der  Statue,   und 
die  Bezeichnungen  dypoTepri,   lo/eaipa,  xeXabeivii,  norvia  iHripcov 
(„wild,    Pfeilschützin,   tosend,    Herrin  des  Wildes")  finden  in  ihr 
monumentalen  Ausdruck.     Diese  Vorstellung  von  Artemis,  die  in 
dem  griechischen  Volke  geherrscht  hat,  ist  auch  bei  den  Römern 
verbreitet  gewesen:  Horaz  dichtete  von  Diana: 

(dicite  virgines)  .  .  . 

vos  laetam  fluviis  et  nemorum  conia, 

quaecumque  aut  gelido  prominet  Algido, 

nigris  aut  Erymanthi 

silvis  aut  viridis  Cragi^) 
(Jungfrauen) 
(„Ihr,  lobpreist  sie,  die  gern  weilet  in  Strom  und  Hain, 
der  auf  Algidus  Schnee-Kuppe  die  Wipfel  hebt, 
dort  auch,  wo  Erymanthus 
dunkel  raget  und  Cragus  grünt"). 

Mit  der  lebhaft  bewegten  Gestalt  stehen  die  Bildung  des  vom 
Winde  gekräuselten  Haares,  das  vorn  von  einem  kammartig  auf- 
gesetzten Diadem  gekrönt  und  rückwärts  zu  einem  Knoten  auf- 
gebunden ist,  und  der  erregte,  kampfesmutige,  siegesgewisse  Aus- 
druck des  Antlitzes  mit  dem  geöffneten  Munde  und  der  aufgeworfenen 
Unterlippe  in  voller  Übereinstimmung.  Indes  tritt  in  der  Form  des 
feinen  Ovals  des  Gesichtes,  den  zarten  Wangen,  dem  runden  Kinne 

')  Hymnos  auf  Artemis,  homerische  Hvmnen  27,   10. 

2)  Odyssee  6,  102  ff. 

3)  Carmina,  1,  21,  1  ff. 


ARTEMIS  VON   VERSAILLES 

PARIS,    LOUVRE 


MELPOMHNE  91 

der  mädchenhafte  Charakter  der  jugendlichen  Schwester  des  in 
Schönheit  strahlenden  Apollo  klar  hervor.  Nur  zufällig  freilich  ist 
die  nahe  Verwandtschaft  mit  der  gleichfalls  weltberühmten  Statue 
des  Gottes  im  Belvedere  des  Vatikanischen  Museums,  welche 
auf  der  Ähnlichkeit  des  Kunststiles,  der  Handlung  und  Bewegung 
beruht.  Auch  das  Original  der  Artemis  von  Versailles,  die  eine 
mäßig  gute  Kopie  der  römischen  Kaiserzeit  ist,  war  ein  Meister- 
werk aus  der  Blütezeit  der  griechischen  Kunst  und  hat,  wenn  es 
aus  Bronze  gegossen  war,  der  etwas  störenden,  zwischen  der  Hirsch- 
kuh und  dem  linken  Beine  der  Göttin  angebrachten  Stütze  nicht 
bedurft');  aus  kunsthistorischen  Gründen  kann  es  kfum  früher  als 
um  die  Mitte  des  vierten  Jahrhunderts  entstanden  sein,  wegen  der 
Trefflichkeit  der  Erfindung  und  des  Stiles  darf  es  wohl  kaum  später 
angesetzt  werden.  Wie  Praxiteles  für  das  auf  felsiger  Höhe  empor- 
ragende Heiligtum  zu  Antikyra  in  Phokis  ein  auf  römischen  Kaiser- 
münzen erhaltenes  Kultbild  der  Göttin,  die  mit  Köcher  und  viel- 
leicht auch  Bogen  ausgerüstet,  mit  der  Fackel  in  der  rechten  Hand 
und  dem  Hunde  zur  linken  Seite  dahinstürmt,  gearbeitet  hat-),  so 
war  auch  das  Urbild  der  Artemis  von  Versailles,  dessen  Künstler 
unbekannt  ist,  dereinst  in  einem  Tempel  oder  heiligen  Bezirke  der 
Gottheit  geweiht.  Einem  Attiker  etwa  aus  dem  Kreise  des  Praxi- 
teles oder  der  am  Mausoleum  von  Halikarnaß  tätigen  Meister  mag 
es  verdankt  werden. 


TAFEL  30 
MELPOMENE 

MARMORSTATUE.     ROM,  VATIKANISCHES  MUSEUM. 

Die  etwa  lebensgroße,  gut  erhaltene  und  richtig  ergänzte-') 
Statue  wurde  gemeinsam  mit  sechs  anderen  Musen  und  einem 
leierspielenden  Apollo  1774  unter  den  Trümmern  einer  südöst- 
lich von  Tivoli  gelegenen  antiken  Villa  entdeckt  und  hat,  von 
Papst  Pius  VI.   für  das  Vatikanische  Museum  angekauft,    in    dem 


')  Vielleicht  ist  auch  das  Tier  erst  vom   Kopisten  beigefügt. 

-)  Pausanias,  Beschreibung  Griechenlands   10,  37,   1. 

■*)  Abgesehen  von  unbedeutenderen  Ergänzungen  sind  neu  die  rechte 
Hand  mit  dem  obersten  Teil  der  Maske,  der  linke  Fuß,  der  linke  Vorder- 
arm mit  dem  Schwerte;  dieses  ist  durch  eine  in  Stockholm  befindliche 
Wiederholung  der  Statue  gesichert. 


92      SKULPTUREN  AUS  DEM  4.  JAHRHUNDERT 

nach  den  Musenstatuen  benannten  Prachtsaale  Aufstellung  ge- 
funden. Daß  die  Musen  auch  in  unserem  Zyklus  in  freier  Natur 
und  wahrscheinlich  auf  dem  abgeschiedenen,  wald-  und  schluchten- 
reichen Helikongebirge,  wo  sie  einst  in  der  Neunzahl,  den 
Nymphen  gleich,  die  Reigen  aufführten'),  gedacht  sind,  daran 
erinnert  die  Andeutung  der  Gegend  durch  die  Felsen;  indes  nicht 
mehr  zum  Tanze  sind  die  Schwestern  vereinigt,  sondern  jede  ist 
für  sich  mit  der  ihr  zugewiesenen  Bestimmung  beschäftigt.  So 
hat  Melpomene,  einst  die  Muse  des  Gesanges,  vielleicht  schon 
zur  Zeit  der  Blüte  des  attischen  Dramas  die  Tragödie  vertreten 
und  diese  Rolle  trotz  einiger  Schwankungen  auch  in  späterer  Zeit 
bis  auf  den  heutigen  Tag  behauptet').  Die  Darstellung  derselben, 
wie  sie  in  der  hier  abgebildeten  Statue  vor  Augen  tritt,  ist  eine 
der  bedeutendsten  und  eines  von  jenen  Kunstwerken  der  Antike,  die 
durch  ihre  Erhabenheit  unmittelbar  wirken,  indes  auch  noch  manche 
Schönheiten  bergen,  die  dem  Auge  erst  allmählich  sich  offenbaren. 
Eine  mächtige  Gestalt  in  ihren  starken  Formen  mit  der  An- 
deutung fast  männlicher  Kraft  steht  in  Vorderansicht  und  nur 
etwas  nach  links  seitwärts  gerichtet  in  bequemer  Haltung  aufrecht 
da.  Sie  hat  das  linke  Bein  auf  ein  hohes  Felsstück  aufgesetzt, 
welche  Stellung  durch  die  ruhige  Situation  erklärt  wird  und  zu- 
gleich den  großartigen  Eindruck  der  Gesamterscheinung  erhöht ; 
durch  den  Gegensatz  der  Haltung  der  Arme  und  Füße  ist  sie  in 
mäßige  Bewegung  gesetzt.  In  der  Gewandung  einer  tragischen 
Schauspielerin  ist  sie  völlig  bekleidet  mit  dem  aus  schwerem 
Stoffe  gearbeiteten,  mit  langen  Ärmeln  und  Überschlag  versehenen, 
schleppenden  Chiton,  der  durch  die  hohe  Gürtung  mit  breitem 
Bande  die  Vorstellung  der  Größe  der  Figur  steigert  und  in  ein- 
fachen, schweren,  durch  die  Verschiedenheit  der  Körperbewegung 
teils  gradlinigen,  teils  geschwungenen  Linien  sich  bricht.  Den 
Mantel  hat  sie  in  fast  absichtlich  unregelmäßiger  und  nachlässiger 
Form  um  den  rechten  gesenkten  Arm  wulstartig  gewunden, 
über  den  Rücken  gezogen  und  in  einem  kleinen  Reste  über 
die  linke  Schulter  gelegt.  Dicke  Schuhe  bekleiden  anstatt  des 
üblichen  Kothurns  die  Füße.  Die  Muse  der  Tragödie  wird  durch 
die  mit  der  rechten  Hand  gehaltene,  in  typischer  Form  gleichfalls 
der  tragischen  Bühne  entnommene  Maske  des  Herakles  gekenn- 
zeichnet;  er   ist    als    Vertreter  der  Heroen  der  Tragödie  gedacht. 


')  Hesiod,  Theogonie  1  ff. 

2)  Auf  einem  Wandgemälde  aus  Pompeji,  jetzt  im  Louvre  zu  Paris, 
liest  man  die  Inschrift  Mf:\-t(j|aKvq  •  Tpaycobiav  (ergänze  txet)  („Melpomene; 
ihr  Gebiet  ist  die  Tragödie")  u.  a.  m.  Bei  Horaz,  Oden  1,  24  aber  ist 
Melpomene  die  Muse  der  klagenden  Gesänge  überhaupt. 


MELPOMENE 
ROM,   VATIKANISCHES   MUSEUM 


MELPOMENE  93 

da  seine  Sagen  besonders  häufig  gerade  in  späterer  Zeit  im  Drama 
behandelt  wurden,  und  erscheint  durch  das  onkosartig  über  den 
Kopf  gezogene  Löwenfell  deutlich  charakterisiert.  Auch  das  mit 
der  linken  Hand  gefaßte  Schwert,  durch  welches  die  Verwicklung 
der  Handlung  blutige  Lösung  fand,  weist  auf  die  Muse  der  Tra- 
gödie ebenso  klar  hin  wie  sie  durch  den  Schmuck  des  Haares,  das 
Laub  und  die  Frucht  des  Weingottes  Dionysos,  zu  dessen  Ehren 
die  attischen  Festspiele  gegründet  und  gefeiert  wurden,  und  durch 
die  Kleidung  in  ihrer  äußeren  Erscheinung  unverkennbar  vor 
Augen  tritt').  Doch  der  Eindruck  männlicher  Kraft  und  feierlicher 
Erhabenheit,  strenger  und  vornehmer  Schönheit  wird  vollendet 
durch  die  Bildung  des  Kopfes,  dessen  Aussehen  durch  die  schwere, 
in  den  Nacken  frei  herabfallende  und  die  Stirne  teilweise  bedek- 
kende  Lockenfülle  noch  ehrwürdiger  erscheint.  Der  leise  geöffnete 
Mund  mit  dem  eigentümlich  herben  Zuge  um  die  Lippen,  der  ab- 
wärts gerichtete  feste  Blick  der  schmalen,  hochumränderten  Augen 
verleihen  dem  Gesichte  den  Ausdruck  ernsten  Sinnens,  einer  in 
sich  gesammelten  und  geschlossenen  Stimmung,  nicht  lauter  Klage, 
nicht  maßlosen  Jammers.  Zugleich  entbehrt  das  längliche,  nach 
unten  sich  zuspitzende  Antlitz  in  seinen  feinen  und  zarten  Formen 
nicht  völlig  des  Reizes  jugendlicher  Weiblichkeit  ohne  den  ernsten 
Charakter  des  Ganzen  zu  stören.  So  versetzt  der  Künstler  in 
Verbindung  mit  der  majestätischen  Gesamterscheinung  auch  durch 
den  Ausdruck  des  Gesichtes  den  Betrachter  in  die  Stimmung,  die 
ihn  bei  der  Lektüre  der  Tragödien  noch  heute  erfaßt  und  des 
Besuchers  des  antiken  Theaters  in  erhöhtem  Maße  sich  bemäch- 
tigt haben  muß.  Denn  er  hat  den  kraftvollen,  ernsten,  ergreifenden 
Gehalt  der  antiken  Tragödie  in  ihrer  äußeren  Darstellung  und  ihrem 
inneren  Wesen  durch  das  eine  edle  Bildwerk  ohne  allzu  starken 
Aufwand  äußerer  Mittel  mit  voller  Klarheit  und  Individualität  zum 
Ausdruck  gebracht  und  dadurch  das  höchste  künstlerische  Ziel 
der  schwierigen  Aufgabe  einer  Verkörperung  der  Tragödie  erreicht. 
Über  den  Schöpfer  des  Originals  jenes  Zyklus  der  neun 
Musen,  von  denen  sieben  in  guten  römischen  Kopien  erhalten 
sind,  ist  eine  Vermutung  geäußert  worden.  Genaue  Vergleichung 
des  Kunstcharakters  der  Statuen,  insbesondere  des  Stils  und  Aus- 
drucks der  in  wechselvollen,  charakteristischen  Formen  gebildeten 
Köpfe  hat  an  die  Kunst   des  Praxiteles   erinnert.     Dieser  hat  für 


')  Vgl.  aus  der  Literatur  Ovid,  amores  3,  1,  11  ff. 
venit  et  ingenti  violenta  Tragoedia  passu 
fronte  comae  torva,  palla  iacebat  humi. 
(„Auch  die  Tragödie  kam,  mit  mächtigen  Schritten  gewaltig, 
wild  in  der  Stirne  das  Haar,  schleppend  das  lange  Gewand"). 


94      SKULPTUREN  AUS  DEM  4.  JAHRHUNDERT 

die  am  Fuße  des  Helikon  gelegene  böotische  Stadt  Thespiä,  wo  die 
Göttinnen  gleichfalls  besondere  Verehrung  genossen,  eine  Erzgruppe 
der  Musen  gearbeitet,  die  nach  dem  Standorte  Thespiades  genannt, 
von  Konsul  L.  Licinius  Lucullus  nach  seinen  siegreichen  Kämpfen 
in  Spanien  zu  Rom  an  dem  von  ihm  aus  der  Kriegsbeute  erbauten 
Tempel  der  Felicitas  beim  Velabrum  geweiht  worden  sind').  Doch 
läßt  sich  die  unmittelbare  Rückführung  auf  Praxiteles  trotz  mancher 
Anklänge  an  seine  Kunstart  nicht  beweisen,  und  die  Ansicht,  daß 
die  Statuen  des  Vatikanischen  Museums  einen  späteren,  in  Anleh- 
nung an  ältere  Vorbilder  etwa  in  hellenistischer  Zeit  entstandenen 
Musenzyklus  wiedergeben,  bleibt  erwägenswert.  Jedenfalls  lebt  in 
den  Köpfen  soviel  praxitelische  Eigenart,  daß  wir  den  Ursprung  im 
Kreise  des  Meisters  oder  seiner  Nachfolger,  seiner  Nachahmer  zu 
suchen  haben. 


TAFEL  31 
HYPNOS 

BRONZEKOPF.     LONDON,  BRITISH  MUSEUM. 

Durch  glückliche  Fügung  läßt  sich  der  1855  bei  Perugia 
(Perusia)  zutage  gekommene,  ausgezeichnete  Bronzekopf  unschwer 
ergänzen.  Denn  eine  Madrider  Marmorstatue  -)  gleichen  Größen- 
verhältnisses, welcher  die  Arme  fehlen,  wird  leicht  und  sicher  ver- 
vollständigt durch  andere  Nachbildungen  des  Originals,  z.  B,  durch 
eine  Berliner  Gemme  (Fig.  27  und  28).  Auch  die  Deutung  ist  über 
jeden  Zweifel  erhaben:  der  schlank  gewachsene  Junge  mit  Hörn 
und  Mohnzweig  in  den  Händen  ist  Hypnos,  der  Schlafgott;  an  den 
Zwillingsbruder  Oneiros,  den  Traumgott,  zu  denken  verbietet  die 
Tatsache,  daß  dieser  in  Volksreligion,  Literatur,  Kunst  gegenüber 
jenem  wenig  hervortritt.  Der  Typus  der  Statue,  der  bis  in  spät- 
römische  Zeit  im  wesentlichen  maßgebend  blieb,  entstand  frühestens 
in  der  zweiten  Hälfte  des  vierten  Jahrhunderts  v.  Chr.,  da  er  manche 


')  Cicero  in  Verrem  4,  2,  4.  Plinius  der  Ältere,  naturalis  historia 
34,  69  (vgl.  auch  36,  39),  Strabo,  Geographie  8,  p.  381.  Cassius  Dio, 
römische  Geschichte  fragm.  75  Melber. 

2)  Ohne  Ergänzung  niifit  sie  1,50  m  in  der  geneigten  Stellung,  auf- 
gerichtet würde  sie  etwa  1,62  m  hoch  sein.  Am  Gipsabguß  (Fig.  28)  ist  mit 
Recht  der  das  Auge  störende  Baumstamm,  welcher  dem  Marmor  (Fig.  27) 
als  Stütze  dient,  weggelassen;  denn  er  fehlte  auch  am  Urbild  aus  Erz. 


BRONZEKOPF  DES  HYPNOS  NACH   DEM  ABGUSS 
LONDON,    BRITISH    MUSEUM 


F.     BRUCKMANN    A. -G  .     MÜNCHEN 


HYPNOS  95 

im  Kreise  des  Praxiteles  und  Skopas  ausgebildete  Stilelemente  zu 
vereinigen  scheint,  kann  aber  sehr  wohl  auch  einige  Jahrzehnte 
später  geschaffen  sein;  denn  bei  der  langen  Dauer  dieser  Kunst- 
richtung bleibt  in  Ermanglung  historischer  Nachrichten  genaue 
Datierung  unerreichbar.  Möglichkeiten  der  Weihung  waren  mannig- 
fach gegeben.  Wohl  mag  ein  dankbarer  Sterblicher,  der  nach  langen 
Qualen  endlich  Schlaf  fand,  das  V'otiv  gestiftet  haben.  Doch  hat 
sich  der  Kult  des  Gottes  in  anderer  Hinsicht  ausgestaltet:  die 
Himmlischen  geben  den  kindlich  naiv  Gläubigen  ihren  Willen  in 
Traumerscheinungen  oft  durch  Hermes  Vermittlung  kund  oder  es 
wird  im  Schlaf  durch  göttliche  Eingebung  Erfüllung  der  Herzens- 
wünsche gewährt.  Vor  allem  wurden  in  den  heiligen  Bezirken  des 
Asklepios  den  seelisch  und  körperlich  Leidenden  im  Zustande  des 
langen  Schlafes  (i-Yxoiuiirti::,  incubatio)  Kuren  empfohlen,  Genesung 
ward  verheißen.  Von  solchen  Wundern  lesen  wir  auf  Inschriften 
von  Epidauros,  so  erklärt  sich  die  Verehrung  des  Hypnos  im 
Asklepieion  zu  Sikyon  (Pausanias,  Beschreibung  von  Griechen- 
land 11,  10,  2).  An  einer  Kultstätte  geweiht  und  etwa  neben  dem 
Altare  oder  in  einem  kleinen  Tempel  von  verschiedenen  Seiten 
in  wirkungsvoller  Beleuchtung  sichtbar,  hat  das  Bronzeoriginal,  durch 
reiche  Vergoldung  glanzvoll  verziert,  zauberhaften  Reiz  ausge- 
strahlt, wenn  es  in  andächtiger  Stimmung  vom  richtigen  Stand- 
punkte aus  bei  mäßiger  Entfernung  geschaut  wurde.  Beim  Anblick 
der  Kopie  findet  noch  heutzutage  das  Gemüt  in  schwerer  Arbeit, 
schwerer  Sorge  Erholung  und   Erquickung. 

Eine  zartgebildete,  fast  noch  knabenhafte  Gestalt  von  reifender 
Schönheit  schwebt  in  der  Stille  der  Nacht  durch  die  Lüfte  über 
die  Erde  dahin,  scheinbar  nur  nach  einem  Punkte  zielend,  in  Ge- 
danken gewiß  nach  allen  Seiten  hilfreich  sich  wendend,  wo  nur  immer 
Mühebeladene  wachen  oder  unruhig  schlafen.  Mit  dem  Oberkörper 
nach  vorwärts  gebeugt,  neigt  sich  Hypnos  leise  auf  die  Menschen 
nieder,  um  schlafspendenden  Saft  über  die  Augen  zu  träufeln  und 
mit  schlummerbewirkendem  Mohn  die  Schläfen  zu  berühren ').  Das 
vortrefflich  zur  Geltung  kommende  Motiv  des  leichten  Schreitens, 
sachten  Schwebens,  der  scharfe  Gegensatz  der  Armbewegung,  der 
wundervolle  Rhythmus  der  ganzen  Figur,  durch  den  die  Raum- 
grenze der  Rundskulptur  fast  überschritten  wird,  endlich  die  glück- 
liche Wahl  des  prägnanten  Moments  verdienen  ebenso  große  Be- 
wunderung wie  die  meisterhaft  gelungene  Personifikation,  wodurch 
das  Wesen    des   gütigen  Allhelfers,    wie   es  seit  der  homerischen 

')  Diesedurch  viele  Kunstdarsteilungen  veranschaulichte  Tätigkeit  wird 
auch  an  zahlreichen  Stellen  römischer  Dichter  wiedergegeben;  besonders 
deutlich  ausgeprägt  ist  die  Schilderung  bei  Silius  Italicus  Punica  X,  352  tf. 


96      SKULPTUREN  AUS  DEM  4.  JAHRHUNDERT 


Poesie  im  Volksbewußt- 
sein lebte,  durch  die  Pla- 
stik in  die  Erscheinung 
tritt,  nicht  realistisch  derb, 
nicht  unheimlich,  keine 
Furcht  erregend,  nur  das 
Sinnen  und  Sehnen  der 
Menschen  zart  verkör- 
pernd, schon  durch  die 
jugendlich  holde  Gestalt 
wie  schmerzenlindemder 
Balsam  wohltätig  wirkend. 
Diese  Bildung  von  der 
Hand  eines  gemüt-  und 
phantasiereichen,  schöp- 
fungskräftigen Künstlers 
ist  so  recht  antik,  so  recht 
der  damaligen  Vorstel- 
lung vom  Verhältnis  zwi- 
schen Göttern  und  Sterb- 
lichen entsprechend,  mutet 
uns  aber  zugleich  ganz 
modern  an;  denn  Auf- 
fassung und  Ausführung 
stimmt  mit  unserem  Füh- 
len und  Denken  überein. 
Und  wiederum  erregt  wie 
bei  anderen  Göttergestal- 
ten des  vierten  Jahrhun- 
derts v.Chr.  der  Kopf  für 
sich  psychologisches  In- 
teresse. Seine  Schönheit  erschließt  am  reinsten  nicht  allzu  eingehende 
Formenanalyse,  sondern  Festhaltung  und  Vertiefung  des  einmal  ge- 
wonnenen Eindrucks  durch  stilles  Betrachten.  Das  jugendlich  reiche 
Haar  erscheint  nach  der  Mode  frisiert.  Es  ist  gescheitelt  und  durch  ein 
breites  Band  geteilt,  üppige  Locken  hängen  hinter  den  Ohren  herab, 
vorn  wird  es  zu  je  einem  Wulst  zusammengenommen,  rückwärts  in 
einem  dicken  Schopf  vereinigt.  An  das  in  architektonischer  Regelmäs- 
sigkeit geordnete  Haar  schließt  sich  ungezwungen  das  große  Flügel- 
paar') an,  das  Gebilde  gewissermaßen  fortsetzend  und  verbreiternd. 


Fig.  27.  Hypnos,  Marmorstatue 
Madrid,  Museo  de!  Prado 


')  Der  linke  Flügel  ist  am  Original  nicht  erhalten,  am  ergänzten  Ab- 
guß (Fig.  28)  erneuert. 


HYPNOS 


97 


Erklärung  findet  es 
am  geeignetsten  da- 
durch, daß  Hypnos 
wie  ein  Nachtvogel 
möglichst  geräusch- 
los durch  die  Dun- 
kelheit dahinhu- 
schend  gedacht  ist. 
Gemäß  der  Rich- 
tung des  Oberkör- 
pers ist  der  Kopf 
stark  geneigt.  Die 
Züge  des  Gesichts, 
das  zum  feinen  Oval 
sich  abrundet,  hau- 
chen sanfte  Milde 
aus,  träumerisches 
Sinnen,  leises  Lä- 
cheln liegt  auf  dem 
Antlitz,  fast  etwas 
verschwommen  ist 
der  Blick,  die  Au- 
genlider scheinen 
sich  bereits  zu 
senken :  Der  Mo- 
ment des  Ein- 
schlummerns  naht 
beim  Gott  selbst, 
bei  dem  liebreichen 
und  huldvollen  Dä- 
mon, der  als  Hyp- 

nodotes  den  müden  Sterblichen  herzerquickenden  Schlaf  (vi'ibuiLiov 
vriNov)  eben  spendet.  Feierliche  Stimmung,  stiller  Friede  teilt  sich 
uns  mit.     Im   Innern  klingen  nur  leise  homerische  Verse  wieder: 

.     .     .    "\'TtVO\ 

i'|büv   in\   ßXetpctpolOi   ßdXe  yAauy.o)Tti^  'A&q\i\. 

„Herzerquickenden  Schlaf  senkte  über  die  Lider  die  lichtäugige  Athene" 

(Odyssee  I,  363  f.). 

In  der  Tat,  die  geniale  Schöpfung  eines  Meisters  aus  der 
zweiten  Blüte  griechischer  Kunst  hat  mit  gleicher  Kraft  von  der 
hellenischen  Kultur  bis  ins  römische  Weltreich  hinein  gewirkt, 
von  da  weiter  bis  auf  den  heutigen  Tag.  Ein  solches  Zauberbild 
läßt  sich  nicht  durch  viele  Worte  beschreiben,  man  muß  es  still  in 


Fig.  28.    Hypnos.    Abguß  in  Ergänzung.    Straßburg 


Denkmäler  griech.  u.  röm.  Skulptur,  3.  Aufl. 


98     SKULPTUREN  AUS  DEM  4.  JAHRHUNDERT 

sich  versunken  immer  von  neuem  betrachten  und  studieren;  dann 
wird  es  das  empfängliche  Auge  unwiderstehlich  bannen.  Gerade 
vielen  dem  klassischen  Altertum  kongenialen  Kennern  der  Antike 
ist  die  Bronze  von  Perugia  als  sorgenlösendes  Bild  lieb  und  traut 
geworden. 


TAFEL  32 
JÄGER  MIT  HUND 

MARMORSTATUE.    KOPENHAGEN,  GLYPTOTHEK  NY-CARLSBERG. 

Auffassung  und  Erklärung  der  etwas  überlebensgroßen,  aus 
Italien  und  zwar  angeblich  aus  Monte  Cassino  herrührenden  Statue 
bildet  ein  interessantes  Problem.  In  zahlreichen,  voneinander  mehr- 
fach verschiedenen  Kopien  ist  das  etwa  aus  der  Mitte  des  vierten 
Jahrhunderts  v.  Chr.  stammende  Original  erhalten.  Die  unter  dem 
Namen  „Meleager"  altberühmte  Statue  im  Belvedere  des  Vatikani- 
schen Museums  zu  Rom  hat  zur  linken  Seite  einen  mächtigen  Eber- 
kopf; die  daraus  erschlossene  Deutung  auf  jenen  Heros  ist  auf  alle 
Nachbildungen  übergegangen.  Eine  Wiederholung  in  Berlin  er- 
mangelt des  Gewandes,  eine  andere  im  Fogg  Museum  of  art  zu 
Cambridge  bei  Boston,  ebenfalls  ohne  Chlamys,  stemmt  zum  Er- 
satz für  den  langen  Spieß  einen  kurzen  Stock ')  unter  die  Achsel. 
Wahrscheinlich  war  das  Urbild  wenigstens  vom  Kleide  frei  und  trug 
vielleicht  statt  des  Speers  diese  Stütze;  höchstens  der  treue  Hund, 
der  alle  Strapazen  mit  dem  Herrn  teilt  (öuvdetfAoc),  schaute  zu  ihm 
auf.  War  das  Original  aus  Bronze,  so  hat  sogar  der  beim  Marmor 
aus  statischen  Gründen  angebrachte  Baumstumpf  gefehlt.  So  wirkt 
die  Komposition  durch  ihre  Einfachheit  weit  besser.  Die  Verschieden- 
heiten in  der  Darstellung  zeigen  an  einem  lehrreichen  Muster  das 
freie  Schalten  und  Walten  der  späteren  Kopisten,  die  dem  Geschmack 
und  Bedürfnis  der  Zeit  folgend,  willkürlich  änderten.  Gerade  jene 
Statue  wurde  von  den  das  Weidwerk  eifrig  pflegenden  Römern 
zum  Schmuck  der  Villen  und  Parks  bevorzugt  und  da  besonders 


')  Ein  solcher  ward,  wie  Monumente  zeigen  und  Xenophon  Kyne- 
getikos  6,  11  und  17  berichtet,  auf  der  Jagd  getragen  und  diente  wohl  zum 
Aufscheuchen,  zum  Treiben  und  Erlegen  des  Wildes.  Die  Lektüre  der 
Schrift  des  Xenophon  regt  auch  sonst  zum  Verständnis  unserer  Statue  viel- 
fach an. 


FHOT.    V.    TRYDE,     KOPENHAGEN 

JAGER    MIT   HUND 

KOPENHAGEN,    GLYPTOTHEK    NY-CARLSBERG 


JÄGER  MIT  HUND 


Italien  durch  Reichtum  an 
Schwarzwild  sichauszeich- 
nete, lag  die  Beifügung  des 
Eberkopfes  sehr  nahe.  So 
bleibt  nicht  einmal  für  die 
weitbekannte  Replik  im 
Vatikan  die  alte  Erklärung 
ganz  gesichert.  Jäger  und 
Hund  nennen  wir  das  Ori- 
ginal und  vermuten,  daß 
dieses  schöne  Idealbild 
ohne  Porträtzüge  dereinst 
an  einem  Orte  hellenischer 
Kultur  als  Votiv  eines 
Sterblichen  zum  Dank  für 
guten  Erfolg  der  Jagd  in 
einem  Heiligtum  etwa  der 
Artemis  geweiht  war  oder 
an  einer  Grabstätte  das  An- 
denken des  jagdliebenden 
Verstorbenen  den  Hinter- 
bliebenen wachhielt.  Der- 
artige Darstellungen  des 
täglichen     Lebens    zeigen 

attische  Grabreliefs,  in  der  Literatur  überliefert  Plinius  der  Altere, 
Naturalis  historia  34,  91  Erzbilder  der  venatores  von  mehreren 
griechischen  Künstlern.  Bei  den  Griechen  galt  gleich  der  Athletik 
dieser  Sport,  der  den  Körper  stählt  und  die  Sinne  schärft,  für  ein 
schönes  und  nützliches  Vergnügen  und  mit  Passion  ward  ihm  ge- 
huldigt. 

Die  Kopenhagener  Kopie  ist  sehr  gut  und  konnte  nach  anderen 
Repliken  richtig  ergänzt  werden :  Der  rechte  Arm,  Teile  des  Speers 
sowie  der  Kopf  sind  erneuert,  letzterer  nach  einer  ausgezeichneten 
Wiederholung  in  Villa  Medici  zu  Rom  (unergänzt  abgebildet  Fig.  29). 
Auf  jedes  künstlerisch  empfängliche  Auge  übt  das  wundervolle  Bild- 
werk beim  ersten  Anblick  frappierende,  tiefgehende  Wirkung  aus. 
Meisterhaft  erscheint  die  Formengebung  des  nackten  männlichen 
Körpers,  abgerundet,  abgeschlossen  in  den  Umrissen,  naturgetreu, 
die  Natur  fast  übertreffend.  Kräftig  und  schlank  gebaut,  elastisch 
bewegt  steht  der  junge  Weidmann  da,  mit  rechtem  Standbein,  den 
linken  Fuß  ein  wenig  zurück  und  zur  Seite  gesetzt.  Der  starke 
Holzspieß  läßt  sich  durch  eine  eiserne  Spitze  mit  zwei  Wider- 
haken (xvwbovTec)  zur  üblichen  Form  unschwer  vervollständigen. 


Fig.  29.    Kopf  eines  Jägers.    Marmor 
Rom,  Villa  Medici 


100    SKULPTUREN  AUS  DEM  4.  JAHRHUNDERT 

Der  an  den  Rücken  gelehnte  rechte  Arm  deutet  Rast  nach  den 
Mühen  der  Jagd  an,  doch  die  rhythmisch  schwungvolle  Linie  des 
Körpers,  an  dem  namentlich  die  hohen  Beine  leicht  zu  schweben 
scheinen,  vor  allem  der  Ausdruck  des  zur  Seite  geworfenen,  träu- 
merisch in  die  Ferne  sinnenden  Kopfes,  sogar  die  Chlamys,  die 
um  Schultern  und  Unterarm  in  genialer  Draperie  sich  schlingt, 
rufen  den  Eindruck  nervöser  Unruhe  des  Ruhenden  hervor,  lassen 
ahnen,  daß  im  nächsten  Augenblick  Mann  und  Hund  von  neuem 
über  freies  Feld,  durch  dichten  Wald  in  wilder  Hatz  dahinstürmen. 
So  kommt  das  Wesen  des  Weidwerks  in  der  Person  des  Jägers  ohne 
starke  äußere  Mittel  vortrefflich  zur  Geltung;  man  fühlt  sich  mit- 
gerissen von  der  den  Jüngling  erfüllenden  Kraft  und  Begeisterung. 
Zu  diesem  Sujet  paßte  eben  ausgezeichnet  die  Kunstrichtung,  welcher 
der  unbekannte  Meister  folgte.  Der  Stil  des  Skopas  aus  Faros  wird 
glänzend  veranschaulicht.  Er  erstrebt  und  erreicht  intensiven  Aus- 
druck seelischer  Erregung,  Leidenschaft  in  bewegter  Situation,  in 
der  Hitze  des  Kampfes,  aber  auch  in  ruhiger  Haltung  der  Menschen, 
dem  etwas  jüngeren  Lysipp  in  mancher  Beziehung  nicht  fernstehend, 
scharf  entgegensetzt  dem  etwa  gleichalterigen  Praxiteles.  Und 
dieses  Pathos  glüht,  sprüht  am  mächtigsten  im  lockenreichen  Haupte 
(Fig.  29).  Schon  der  ziemlich  flache  Schädelbau,  die  breiten  Um- 
risse des  Gesichts  sind  ganz  verschieden  vom  mächtig  gewölbten 
Rundschädel,  vom  zartgeformten  Oval  des  Antlitzes  am  praxiteli- 
schen  Hermes,  die  tiefliegenden,  nach  aufwärts  schauenden  Augen 
rufen  das  eigentümlich  starke  Feuer  des  Blicks  hervor,  aus  dem 
geöffneten  Mund  glaubt  man  den  Atem  zu  vernehmen.  Die  in  der 
antiken  Literatur  viel  erörterten  Gegensätze  von  Ethos  und  Pathos, 
psychologische  Studien  haben  eine  Wandlung  in  Auffassung  und 
Wiedergabe  des  Seelenlebens  geschaffen,  ein  neues  in  Malerei  und 
Plastik  lange  und  weithin  erkennbares  Schönheitsideal  bewirkt; 
vermutlich  haben  auf  die  Skulptur  führende  Meister  der  Schwester- 
kunst maßgebenden  Einfluß  gewonnen.  Die  Gesichtszüge  strahlen 
nicht  anmutigen  Zauber  auf  den  Betrachter  sanft  und  mild  aus, 
sondern  innere  Erregung  teilt  sich  ihm  unwillkürlich  mit.  Der 
hochbedeutende  Wert  der  kraftvoll  herrlichen  Statue  wird  durch 
die  psychologisches  Interesse  weckende  Bildung  des  Kopfes  ge- 
waltig gesteigert. 


V.  GRIECHISCHE  ATHLETENSTATUEN 


In  Griechenland  bestand  eine  sehr  alte  Sitte,  das  Bildnis  der 
Sieger  in  den  Wettkämpfen  dem  Gotte,  zu  dessen  Ehren  die  Fest- 
spiele veranstaltet  wurden,  zu  weihen.  Denn  an  vielen  Orten,  so 
in  Olympia,  sind  Statuetten  aus  Ton  oder  Bronze  von  teilweise 
primitivster  Kunstübung  gefunden  worden,  welche  die  Wettkämpfer 
in  mannigfacher  Art  und  Situation,  als  Reiter,  Krieger,  Wagen- 
lenker usw.  darzustellen  versuchen.  In  Übereinstimmung  mit 
der  mächtig  vorwärts  schreitenden  Entwicklung  der  statuarischen 
Kunst  wurde  es  gemäß  literarischer  und  inschriftlicher  Überlieferung 
seit  dem  sechsten  vorchristlichen  Jahrhundert  ein  häufig  geübter 
Gebrauch,  zur  dauernden  Ehrung  des  Siegers  und  bleibenden  Er- 
innerung an  den  errungenen  Erfolg  fast  ausschließlich  aus  Bronze 
gefertigte  und  etwa  in  Lebensgröße  gebildete  Statuen  in  der  Regel 
an  der  Festesstätte  selbst  zu  weihen,  aber  manchmal  auch  in  der 
Palästra  oder  an  einem  öffentlichen  Platze  der  Heimat  des  Siegers 
aufstellen  zu  lassen;  für  die  Errichtung  trug  er  selbst  oder  auch 
die  heimatliche  Gemeinde,  Verwandte,  Privatpersonen  Sorge.  So 
waren  an  den  berühmten  Stätten  der  Festspiele  allmählich  zahl- 
reiche Bildnisse  vereinigt,  die  im  Altertum  bei  dem  Besucher  in 
ihrer  Fülle  und  Mannigfaltigkeit  einen  überwältigenden  Gesamt- 
eindruck bewirkt  haben  müssen.  Für  Delphi  durften  wir  dies  aus 
literarischen  Nachrichten  schon  längst  erschließen  und  haben  durch 
die  von  der  französischen  Regierung  dort  veranstalteten  Ausgrabungen 
Bestätigung  gewonnen.  Der  Fund  des  Wagenlenkers  aus  Bronze, 
der  zu  dem  einen  Sieg  des  Polyzalos  von  Syrakus  verherrlichenden 


102 


GRIECHISCHE  ATHLETENSTATUEN 


Viergespann  gehörte, 
ist  eine  der  wertvoll- 
sten Antiken  des  rei- 
fen Archaismus.  Über 
Olympia  waren  wir 
durch  den  Perigeten 
Pausanias  schon  vor 
der  auf  Kosten  des 
Deutschen  Reichs  un- 
ternommenen Aufdek- 
kung  der  Altis  näher 
unterrichtet ;  zahlreiche 
bei  dieser  Gelegenheit 
zutage  gekommene 
Basen  jener  Bronze- 
werke, auf  denen  in 
gebundener  oder  unge- 
bundener Rede  Name 
und  Heimat  des  Siegers, 
die  Art  des  Sieges, 
häufig  auch  seine  frü- 
heren athletischen  Er- 
folge inschriftlich  ver- 
zeichnet sind,  geben 
jetzt  einen  monumen- 
talen Beleg.  Die  Statuen 
selbst  freilich  waren 
schon  im  Altertum  fast  alle  geraubt  oder  zerstört  worden,  und  nur  ganz 
geringe  Reste  sind  in  Olympia  wiedergefunden;  auch  sonst  sind  Origi- 
nale griechischer  Athletenbilder  nur  vereinzelt  erhalten  (Fig.  30  u.  3 1 ). 
Einigermaßen  Ersatz  für  den  unermeßlichen  Verlust  der  Urbilder 
bieten  zahlreiche,  fast  ausschließlich  aus  Marmor  gefertigte  Kopien, 
die  auf  Bestellung  römischer  Kunstliebhaber  zur  Ausschmückung  der 
Paläste  und  Villen,  der  öffentlichen  Plätze  und  Gebäude,  wie  der 
Thermen  gefertigt  worden  sind.  Viele  archaische  Meister,  in  der 
Blütezeit   griechischer  Kunst    die    bedeutendsten  Erzgießer  insbe- 


Fig.  30.    Bronzekopf') 
München,  Glyptothek 


')  Knabenkopf  mit  der  Binde  geschmückt,  wohl  von  der  Statue  eines 
Siegers  im  Faustl^ampf,  da  der  sichtbare  Teil  des  rechten  Ohres  stark  ver- 
schwoilen  gebildet  ist.  Griechisches  Original  im  Stil  und  aus  der  Zeit 
des  Polyklet  und  Phidias,  „der  kostbarste  Schatz  der  Münchner  Glyptothek, 
das  Ideal  von  Reinheit,  Unschuld,  liebenswürdig  edler  Größe,  eines  der 
herrlichsten  griechischen  Originale,  die  uns  erhalten  sind".  —  Die  Büste 
mit  vergoldetem  Schwertband  ist  modern. 


GRIECHISCHE  ATHLETENSTATUEN 


103 


sondere  des  fünften 
und  vierten  Jahrhun- 
derts V.  Chr.  haben 
Siegerstatuen  gearbei- 
tet, deren  Nachbil- 
dungen aus  der  Menge 
der  erhaltenen  römi- 
schen Kopien  wieder 
aufzufinden  der  archäo- 
logischen Forschung 
teilweise  bereits  ge- 
glückt ist  und  noch 
gegenwärtig  eine  ihrer 
hervorragendsten  Auf- 
gaben bildet.  Dadurch 
sind  wir  in  den  Stand 
gesetzt,  die  künstle- 
rische Richtung  füh- 
render Meister  und 
ihrer  Schule  zu  wür- 
digen :  Dem  Argiver 
Polyklet  war  die 
formale  Bildung  ruhig 
stehender  Gestalten 
nach  mathematisch  ge- 
nau festgesetztem  Pro- 
portionssystem höch- 
stes Ziel;  auch  ist  auf  manchen  Jünglings-  und  Knabengestalten 
aus  Polyklets  Werkstatt,  Schule  oder  Nachfolge  durch  das  gemessene 
und  bescheidene  Wesen  sowie  durch  die  reine  jugendliche  Scham, 
die  in  den  Gesichtszügen  leise  hervortritt,  der  wunderbare  Zauber 
ethischer  Anmut,  der  „ctibco:;",  des  „decor"  ')  ausgebreitet  (Fig.  30, 
31  u.  33).  Der  etwas  ältere  Athener  Myron  gilt  als  Meister  in 
der  Wiedergabe  rhythmisch  bewegter  und  geistig  belebter,  von 
intensiver  innerer  Glut  erfüllter  Figuren  (Taf.  33  und  Fig.  32),  der 
Sikyonier  Lysipp  hat  im  Gegensatz  zu  der  weitverzweigten  und 
weithin  wirksamen  polykletischen  Schule  ein  neues,  schlankere 
Formen  bezweckendes  Proportionssystem  des  menschlichen  Körpers 
zur  Anwendung  gebracht  und  als  Gründer  der  naturalistischen  Rich- 
tung für  die  Folgezeit  große  Bedeutung  gewonnen  („Apoxyomenos" 
Tafel  34). 


Fig.  31.    Bronzekopf 
München,  Glyptothek 


')  Vgl.  Quintilian,  institutio  oratoria  XII,  10,  7  f. 


104 


GRIECHISCHE  ATHLETENSTATUEN 


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Fig.  32.    Kopf  vom  Diskobol  des  Myron 


In  völliger  Nacktheit  dargestellt,  geben  die  gymnastisch  durch- 
gebildeten Körper  der  schlanken  Knaben  und  Jünglinge,  der  kräf- 
tigen Männer,  die  nicht  getreu  nach  dem  Leben  als  Porträts  wieder- 
gegeben, sondern  nach  den  in  den  Palästren  sich  darbietenden 
Modellen  und  Motiven  zu  dem  erhabensten  Ideal  von  Stärke  und 
Schönheit  umgestaltet  und  erhöht  sind,  in  dieser  Form  das  beste 
Zeugnis  für  die  veredelnde  Wirkung  der  maßvoll  betriebenen 
Athletik  ab.  Es  sind  die  herrlichsten  Menschen,  welche  die  Kunst  aller 
Zeiten  geschaffen  hat.  In  der  Menge  der  erhaltenen  Typen  lassen 
sich  ungezwungen  zwei  Hauptgruppen  unterscheiden :  Der  Athlet  ist 
entweder  in  lebhafter  Situation,  in  einem  Kampfschema  oder  in  ruhiger 
Stellung  vor  oder  nach  dem  Kampfe  dargestellt.  Für  erstere  genügt 
es,  an  Myrons  rhythmisch  vollendeten  Diskobol ')  mit  dem  leben- 
sprühenden, von  Leidenschaft  durchleuchteten  Antlitz  (Tafel  33  und 
Fig.  32)  und  an  die  beiden  Ringer  aus  Bronze  in  Neapel  zu  erinnern, 


')  Die  Abbildung  Tafel  33  bietet  den  bronzierten  Gipsabguß,  der  haupt- 
sächlich aus  zwei  sehr  guten  Kopien  zusammengesetzt  ist:  Der  größte  Teil 
des  Körpers  stammt  von  dem  im  Thermenmuseum  zu  Rom  aufbewahrten 
Marmorfund,  der  1906  im  Krongut  von  Castel  Porziano  auf  dem  Boden 
des  alten  Laurentum  unter  den  Resten  einer  antiken  Villa  zutage  kam, 
der  Kopf  ist  nach  der  altberühmten  Kopie  im  Palazzo  Lancelotti  zu  Rom 
ergänzt. 


DISKOBOL  NACH    DER    BRONZESTATUE    DES   MYRON 
IN   ERGÄNZUNG 


ROM.   THERMENMUSEUM 


GRIECHISCHE  ATHLETENSTATUEN 


105 


die  in  gebückter  Hal- 
tung und  mit  vorge- 
streckten Händen  den 
günstigen  Augenblick 
zum  Erfassen  desGeg- 
ners erlauern  (Nach- 
bildungen von  Sieger- 
statuen lysippischer 
Kunstrichtung),  end- 
lich auf  die  sinnreich 
und  kunstvoll  ver- 
schlungene Ringer- 
gruppe zu  Florenz, 
eine  Kopie  nach  einem 
Originale  etwa  der 
ersten  Hälfte  des  drit- 
ten Jahrhunderts  v. 
Chr.,  hinzuweisen,  um 
die  wechselvollen  Mo- 
tive der  Situation,  die 
glückliche  Wahl  des 
bezeichnenden  Mo- 
ments, die  meisterhafte 
Rhythmik  der  Bewe- 
gung, die  große  An- 
schaulichkeit und  Le- 
benswahrheit würdi- 
gen zu  können.  Häu- 
figervertreten und  rei- 
cher an  Motiven  ist  die 
letztere  Gruppe:  Der 
Sieger  träufelt  sich  vor 
dem  Kampfe  aus  dem 
Salbfläschchen  Öl  auf 
den  Körper,  um  die 
Glieder  für  den  Ring- 
kampf geschmeidiger  zu  machen  (sogenannter  „Salber"  zu  München 
nach  einem  attischen  Werke  des  fünften  Jahrhunderts  v.  Chr.);  nach 
errungenem  Erfolge  legt  ein  anderer  die  Siegesbinde  um  das  Haupt 
(„Diadumenos"  nach  Polyklet  Fig.  33)  oder  schabt  sich  das  Öl  und 

')  Das  Motiv  der  Statue  ist  trotz  der  fehlenden  Hände  erkennbar: 
Der  Jüngling  faßte  die  Enden  der  Binde,  um  den  am  Hinterkopfe  ge- 
schlungenen Knoten  fest  zusammenzuziehen.     Da  in  der  guten  Marmor- 


Fig.33.    Diadumenos ')  nacli  Polyklet.  Marmor- 
statue aus  Delos.    Athen,  Zentralmuseum 


106 


GRIECHISCHE  ATHLETENSTATUEN 


den  Schmutz  vom 
Körper(„Apoxyo- 
menos"  nach  Ly- 
sipp  Tafel  34).  In 
diesen  Bildungen 
ist  es  die  ruhige 
Stellung  und  Ge- 
schlossenheit der 
Figuren,  oft  auch 
das  zurückhalten- 
de Auftreten,  der 
ernste  und  sin- 
nende Ausdruck 
des  Antlitzes,  die 
den  Betrachter 
vom  künstleri- 
schen Standpunkte 
aus  befriedigen 
und  zugleich  sym- 
pathisch berüh- 
ren. Erst  etwa  vom 
Ende  des  vierten 

vorchristlichen 
Jahrhunderts    an, 
wohl        teilweise 
unter    dem    Ein- 
flüsse lysippischer 
Kunstrichtung  und 
Schule    wird    die 
Persönlichkeit  des 
Siegers    in    der  Körper-    und  Gesichtsbildung   stärker   betont  und 
genaue  Wiedergabe  der  Natur  in  wachsendem  Maße  erstrebt.     Ein 
in    Olympia    zutage   gekommener    Bronzekopf    ist    eine    treffliche 


Fig.  34. 


Bronzestatue  eines  l-austkampfers 
Rom,  Thermenmuseum 


Kopie,  die  wohl  noch  in  vorchristlicher  Zeit  gefertigt  ist,  die  in  der  Ab- 
bildung weggelassene,  am  rechten  Beine  angebrachte  Stütze  Chlamys 
und  Köcher  trägt,  ward  jüngst  in  kühner  und  geistreicher  Vermutung  die 
Deutung  auf  Apollo  vorgeschlagen,  während  bisher  jene  Attribute  als  will- 
kürliche Zutaten  des  Kopisten  galten.  Jedenfalls  ist  die  Figur  ein  har- 
monisch vollendetes  Bild  des  Zusammenwirkens  gymnastischer,  ethischer, 
musischer  Erziehung.  Sie  scheint  schwebend,  fast  tanzend  einherzu- 
schreiten,  neigt  bescheiden  den  Kopf,  gleichsam  vor  höherer  Macht  sich 
beugend.  Eine  Darstellung  des  Apollo,  der  die  Binde  um  das  Haupt  sich 
legt,  ist  bei  Pausanias,  Beschreibung  Griechenlands  1,  8,  4  als  nahe  am 
Arestempel  zu  Athen  befindlich  überliefert. 


APOXYOMENOS  107 

Probe  aus  den  Anfängen  dieser  neuen  realistischen  Richtung. 
Indes  als  die  ausgeprägteste  Schöpfung  derselben  wird  die  in 
Rom  gefundene  und  dort  im  Thermenmuseum  aufbewahrte  Bronze- 
statue eines  Faustkämpfers  (Fig.  34),  ein  aus  einem  Lande 
griechischer  Kultur  entführtes  Original  vielleicht  noch  des  dritten 
vorchristlichen  Jahrhunderts,  mit  Recht  bezeichnet.  Auf  einem 
Felsen  ruht  nach  errungenem  Siege  ein  bärtiger,  überaus  kräftig 
gebildeter  Faustkämpfer,  dessen  Vorderarme  und  größter  Teil  der 
Hände  mit  dem  Schlagriemenzeug  umwickelt  sind,  und  blickt 
mit  stolzer,  höhnischer  Miene  nach  aufwärts.  Sein  zerstoßenes 
Gesicht  zeigt  ebenso  wie  die  breitgedrückten  Ohren  und  die  platt- 
geschlagene Nase  die  deutlichsten  Spuren  des  bestandenen  Kampfes. 
Nur  durch  die  künstlerisch  hervorragende  Ausführung  und  die 
packende  Wirkung  der  Darstellung  kann  der  abstoßende  Eindruck, 
den  man  beim  Anblicke  dieses  rohen,  berufsmäßigen  Athleten  er- 
hält, gemildert  werden.  Das  empfängliche  und  empfindsame  Auge 
wird  sich  bald  wieder  jenen  Kopien  der  Meisterwerke  des  fünften 
und  vierten  Jahrhunderts  v.  Chr.,  wie  dem  Diadumenos,  Apoxyo- 
menos  u.  a.  m.  zuwenden,  in  denen  die  griechische  Athletik  in  ihrer 
edelsten  Form  verkörpert  ist. 


TAFEL  34 
APOXYOMENOS 

MARMORSTATUE  NACH  LYSIPP  IM  BRACCIO  NUOVO  DES 
VATIKANISCHEN  MUSEUMS  ZU   ROM. 

Wohl  selten  hat  die  Entdeckung  der  römischen  Kopie  eines 
griechischen  Meisterwerkes  in  der  antiken  Kunstgeschichte  eine 
solche  Wichtigkeit  erlangt,  als  die  1849  in  Trastevere  zu  Rom 
ans  Tageslicht  gekommene  ')  Nachbildung  des  bei  Plinius  dem 
Alteren  ^)    unter    dem    griechischen  Namen   des  Apoxyomenos  er- 


')  In  den  Trümmern  eines  umfangreichen  Gebäudes  aus  der  späteren 
Kaiserzeit,  wahrscheinlich  eines  Bades,  zu  dessen  Schmuck  eine  Athleten- 
statue geeignet  erscheint. 

^)  Naturalis  historia  34,  62;  der  lateinische  Name  „destringens  se"  ist 
von  Plinius  a.  a.  O.  ebenfalls  beigefügt. 


108  GRIECHISCHE  ATHLETENSTATUEN 

wähnten  und  unter  dieser  Bezeichnung  bekannten  Werkes  des  sikyo- 
nischen  Erzgießers  Lysipp.  Wohl  erhahen '),  konnte  die  vortreff- 
liche Kopie  auf  diesen  Meister  auf  Grund  der  Nachrichten  ^)  über 
das  von  ihm  angewendete  Proportionssystem  des  menschlichen 
Körpers  mit  größter  Wahrscheinlichkeit  sogleich  nach  dem  Funde 
zurückgeführt  werden  und  bildet  seitdem  einen  festen  Ausgangs- 
punkt für  die  Zuweisung  anderer  Werke  in  die  lysippische  Schule 
und  Zeit.  Das  verlorene  Bronzeoriginal,  dessen  ursprüngliche  Be- 
stimmung und  Aufstellungsort  in  einem  Lande  griechischer  Kultur 
uns  literarisch  nicht  überliefert  sind,  wird  das  Bildnis  eines  Wett- 
kämpfers gewesen  sein,  der  bei  einem  Festspiele  im  Ringkampfe 
oder  Pankration  den  Sieg  errungen  hatte  und  zu  dessen  Ehrung 
die  Statue  an  der  Festesstätte  selbst,  vielleicht  auch  etwa  im  Gymna- 
sium oder  auf  einem  öffentlichen  Platze  seiner  Heimat  geweiht 
war.  Von  Agrippa^)  nach  Rom  übergeführt  und  der  Darstellung 
entsprechend  vor  den  von  ihm  erbauten,  an  das  Pantheon  sich 
anschließenden  Thermen  im  Campus  Martius  aufgestellt,  ist  es 
dort  allgemein  bekannt  und  geschätzt  worden ;  darum  wurde  es, 
als  es  Tiberius  in  die  Gemächer  seines  Palastes  entführt  hatte, 
vom  Volke  bei  Gelegenheit  einer  Theatervorstellung  in  echt  süd- 
ländischer Weise  stürmisch  zurückgefordert,  so  daß  es  der  Kaiser 
an  dem  bezeichneten  Platze  wieder  aufstellen  ließ  ^). 

Etwas  über  die  Lebensgröße  gebildet,  steht  in  völliger  Nackt- 
heit ein  jugendlicher,  kräftig  gebauter  Athlet  vor  uns,  der  nach 
dem  Kampfe  das  ÖL^)  und  den  Schmutz  von  dem  rechten  Arme 
mit  dem  festgehaltenen  Schabeisen'^)  entfernt.  Dies  alltägliche, 
der  Palästra   entlehnte    Motiv,    das    auch    von    anderen    bedeuten- 


')  Abgesehen  von  unbedeutenden  Ergänzungen  sind  nur  die  Finger 
der  rechten  Hand  mit  dem  fälschlich  beigefügten  Würfel  erneuert. 

-)  Bei  Plinius  dem  Alteren,  naturalis  historia  34,  65. 

^)  Hingewiesen  sei  auf  sein  Porträt,  abgebildet  in  dieser  Handausgabe 
Tafel  57. 

")  Ygl.  Plinius  a.  a.  O.  34,  62. 

^)  Über  die  Sitte  der  Griechen,  in  der  Palästra  vor  dem  Ringkampfe 
den  Körper  mit  Öl  und  Staub  zu  bestreichen,  genügt  es,  auf  die  anschau- 
liche und  belehrende  Darstellung  bei  Lucian,  Anacharsis  sive  de  exercita- 
tionibus  28  f.  zu  verweisen. 

'')  Dasselbe  ist  in  der  Abbildung  nur  teilweise  und  ganz  undeutlich 
zu  erkennen;  es  ist  ein  mit  einem  Griffe  versehenes  Gerät,  das  sichel- 
förmig gebogen  und  an  der  Innenseite  zum  Zwecke  der  Aufnahme  des 
Öles  und  Schmutzes  ausgehöhlt  ist.  Der  griechische  Name  ist  ötXfiyyic, 
aber  auch  'S,vaxpiq  und  Siiotpa.  Von  dem  gleichen  Stamme  ist  das  Verbum 
(XTio^ÜEiv  („abschaben")  und  die  in  die  lateinische  Sprache  übergegangene 
statt  „destringens  se"  gebrauchte  Partizipalform  „ü:xu5uü|uevoc;"  („der  sich. 
Abschabende")  gebildet. 


APOXYOMENOS 

ROM,    VATIKANISCHES    MUSEUM 


APOXYOMENOS 


109 


den  Meistern,  wie  von 
Polyklet ')  zur  Darstel- 
lung gebracht  wurde, 
hat  Lysipp  mit  uner- 
reichter Kunst  wieder- 
gegeben Die  hochauf- 
gewachsene, elastische 
Gestalt  mit  überaus 
großem  Unterkörper, 
breiter  Brust,  hohem 
Halse  und  auffallend 
kleinem  Kopfe-)  steht 
mit  ziemlich  weitaus- 
einandergesetzten Füs- 
sen in  scheinbarer  Ruhe 
da,  ruft  aber  infolge  der 
Stellung  der  Beine  und 
Arme  die  Vorstellung 
lebhafter  Bewegung, 
eines  Hin-  und  Her- 
wiegens des  ganzen 
Körpers  hervor.  Beim 
Anblicke  derselben 
zweifelt  man,  ob  die 
Geschmeidigkeit  der 
Glieder,  die  feine  Mo- 
dellierung des  Nackten, 

der  reiche  Wechsel  des  Muskelspiels  oder  die  schlanke  Proportio- 
nalität, die  geschlossenen  Umrisse-),  die  Rhythmik  der  Bewegung 
größere  Bewunderung  verdienen.  Diese  Vorzüge,  die  vor  der  Mar- 
morstatue selbst  oder  deren  Abgüsse  bei  wechselndem  Standpunkte 
erst  in  ihrem  ganzen  Umfange  gewürdigt  werden  können,  haben 
seit  der  Auffindung  die  stets  wachsende  Anerkennung  der  Kunst- 
verständigen erlangt  und  sind  für  den  ausübenden  Künstler  eine 
nie  versiegende  Quelle  der  Belehrung  geblieben. 

Über  der  Bewunderung  des  rhythmisch  und  harmonisch  voll- 
endeten Gesamtbildes  wird  allzuleicht  die  Betrachtung  und  Wür- 
digung des  Hauptes  (Fig  35)  vernachlässigt,  durch  dessen  Bildung 


Fig.  35.  Kopf  des  Apoxyomenos 


')  Plinius  a.  a.  O.  34,  55. 

-)  Vgl.  die  bereits  angeführte  Steile  des  Plinius  34,  65. 

^)  Da  die  in  der  römischen  Marmorkopie  ursprünglich  angebrachten 
und  teilweise  noch  erhaltenen  Stützen,  welche  zur  Entlastung  der  vorge- 
streckten Arme  aus  statischem  Grunde  notwendig  waren,  ebenso  wie  der 


110         jGRIECHISCHE  ATHLETENSTATUEN 

der  Meister  eine  neue  Probe  seines  Könnens  abgelegt  und  seine 
individuelle,  Naturwahrheit  und  Realismus  erstrebende  Eigenart  zum 
Ausdruck  gebracht  hat.  Von  der  wirr  durcheinander  geworfenen 
Haarmasse  bedeckt,  ist  der  Kopf,  in  dem  im  Gegensatze  zu  älteren 
Athletenbildern  die  Porträtzüge  des  Dargestellten  vielleicht  schon 
ein  wenig  angedeutet  sind,  zum  Zeichen  der  Ruhe  nach  bestan- 
denem Kampfe  leise  nach  abwärts  gesenkt.  Das  Gesicht  zeigt  ein 
breites  Oval,  der  untere  Teil  der  Stirne  tritt  in  naturalistischer  Weise 
stark  hervor.  In  dem  sinnenden,  fast  melancholischen  Antlitze,  so- 
wie dem  geöffneten  Munde  ist  starke  innere  Erregung  veranschau- 
licht, wie  sie  im  Ausdrucke  anderer,  auf  die  lysippische  Schule 
und  Zeit  zurückgeführter  Köpfe  wiederkehrt')  und  bei  einem  Ath- 
leten nach  den  Aufregungen  des  Wettkampfes  wohlbegründet  ist. 
So  wird  durch  die  Physiognomie  des  Antlitzes  das  Interesse  des 
Betrachters  aufs  neue  angeregt,  das  Verdienst  des  ganzen  Werkes 
aber  gesteigert,  das  auch  abgesehen  von  der  hohen  künstlerischen 
yollendung  als  Musterbild  eines  von  Jugend  auf  durch  methodische 
Übung  gekräftigten  und  gestählten  Körpers  für  die  weitesten  Kreise 
des  Volkes  unschätzbare  Bedeutung  gewinnt. 


an  der  Rückseite  des  linken  Beines  befindliche  Baumstamm  in  dem  Bronze- 
originale gefehlt  haben,  war  die  Wirkung  des  Rundwerkes  eine  noch  viel 
einheitlichere. 

')  Die  Gegenüberstellung  mit  dem  Kopf  des  Hermes  von  Olympia 
(Tafel  24)  veranschaulicht  den  tiefgehenden  Unterschied  zwischen  praxi- 
telischer  und  lysippischer  Kunst  in  Formengebung  und  seelischem  Aus- 
druck; auch  die  Vergleichung  mit  dem  Kopf  des  Ares  Ludovisi  (Fig.  20), 
der  mit  Lysipps  Kunstcharakter  verwandt  ist,  aber  auch  noch  an  Skopas 
erinnert,  ist  lehrreich.  Vom  feurigen  Pathos  seiner  Physiognomien  und 
von  der  schwungvoll  elastischen  Bewegung  seiner  Gestalten  wecken  pak- 
kende  Vorstellung  Figur  29  und  Tafel  32,  die  den  Vergleich  mit  jenen  beiden 
Meistern  nahelegen.  So  stehen  die  für  die  Stilentwicklung  griechischer 
Plastik  weithin  und  lange  wirksamen  Künstler  in  bezeichnender  Eigenart 
klar  vor  Augen. 


VI.  GRABMÄLER 


N, 


leben  den  Heiligtümern  der  Gottheiten  waren  es  die  der  Ver- 
storbenen, d.  h.  waren  es  die  Gräber,  welche  in  der  klassischen 
Zeit  die  plastische  Kunst  hervorragend  beschäftigten.  Wir  besitzen 
noch  aus  fast  allen  Perioden  der  antiken  Kultur,  von  den  ältesten 
Zeiten  bis  in  die  spätesten,  plastisch  verzierte  Grabmäler. 

Es  lassen  sich  unter  ihnen  drei  Reihen  unterscheiden,  die  frei- 
lich vielfach  ineinander  übergehen  und  miteinander  verbunden 
sind.  Die  eine  geht  aus  von  dem  durch  den  Tod  erhöhten  Zu- 
stande des  Verstorbenen,  der  den  Überlebenden  als  höheres  Wesen 
des  Jenseits  erscheint,  dem  Verehrung  gebührt.  Die  andere  und 
wichtigste  Reihe  will  nur  die  Erinnerung  festhalten  an  den  Ver- 
storbenen, dessen  Bild  in  irgend  einer  mehr  oder  weniger  charak- 
teristischen Weise  wiedergegeben  wird.  Die  klassische  Kunst  be- 
gnügte sich  dabei  immer  mit  allgemeinen  Umrissen  und  betonte 
das  allgemein  Menschliche  gegenüber  dem  Individuellen.  Immer 
gibt  sie  den  Menschen  in  einem  sein  allgemeines  Wesen  charak- 
terisierenden Zustandsbild,  niemals  in  irgend  einem  einzelnen,  vom 
Zufalle  bedingten  Momente  des  Lebens.  Selbst  individuelle,  por- 
trätmäßige Gesichtszüge  der  Personen  werden  erst  in  der  späteren 
Zeit,  etwa  von  der  Alexanderepoche  an,  gewöhnlicher.  —  Die  dritte 
Reihe  der  Grabmäler  ist  diejenige,  welche  nicht  das  Bild  des  Ver- 
storbenen, sondern  allerlei  Bildwerk  als  Schmuck  enthält;  doch 
kann  diese  Gattung  auch  mit  einer  der  vorigen  verbunden  sein. 
Der  Schmuck  wird  zumeist  aus  dem  Kreise  der  Heroensage  ge- 
wählt; die  Beziehungen  zu  dem  Verstorbenen  sind,  wenn  sie  vor- 
kommen, immer  ganz  allgemeine;  sie  deuten  auf  die  Lieblings- 
beschäftigung des  Toten,  wie  Jagd  und  Krieg,  oder  auf  den  Todes- 
fall im  allgemeinen,  wie  Klagefrauen,  Leichenzug,  Leichenspiele  u.  dgl. 
Ganz  individuelle  Darstellungen  aus  der  persönlichen  Lebensge- 
schichte des  Verstorbenen  werden  niemals  zum  Grabesschmucke 
gewählt. 

Die  Formen  der  künstlerisch  geschmückten  Gräber  der  Alten 


112  GRABMÄLER 

sind  überaus  verschiedene  gewesen.  Man  muß  das  eigentliche 
Grabmal,  das  über  dem  Grabe  sich  erhebt,  unterscheiden  von  dem 
Grabe  als  Behälter  des  Verstorbenen.  Unsere  Tafeln  geben  Proben 
von  beiden. 

Künstlerisch  reich  verzierte  Särge  kennen  wir  schon  aus  dem 
sechsten  Jahrhundert,  aus  der  ionischen  Stadt  Klazomenae;  sie 
sind  mit  Tieren  und  allerlei  Kampfesbildern  geschmückt.  Aus  der 
besten  Zeit  des  freien  Stiles  besitzen  wir  nur  geringere  Reste  von 
Holzsarkophagen,  die  dekorativ  oder  mit  Bildwerk  aus  der  Helden- 
sage, wie  dem  Tode  der  Niobiden,  geschmückt  waren.  Äußerst 
selten  sind  die  Marmorsärge  in  dieser  Epoche ;  doch  ist  ein  vor- 
zügliches Stück  des  vierten  Jahrhunderts  mit  Amazonenkämpfen 
in  Wien,  und  sind  vor  allem  die  herrlichen  Sarkophage  von  Sidon 
erhalten,  deren  größter  und  vorzüglichster  Tafel  37  bis  39  abge- 
bildet ist.  Überaus  gewöhnlich  wird  die  Sitte  der  reliefgeschmück- 
ten Marmorsärge  in  der  römischen  Kaiserzeit,  aus  der  sie  in  Menge 
erhalten  sind.  Sie  tragen  zumeist  mythologische  Darstellungen ; 
die  Bilder  aus  dem  Menschenleben  haben  immer  allgemeinen  Cha- 
rakter. —  Außer  den  Särgen  wurden  auch  die  Aschenurnen  zu- 
weilen mit  Bildwerk  geziert;  es  geschah  dies  indes  in  Griechen- 
land nur  vereinzelt,  sehr  häufig  aber  in  Etrurien  und  Rom. 

Die  einfachste  Gattung  der  eigentlichen  Grabmäler  über  dem 
Grabe  ist  die  der  Stele,  der  in  die  Erde  gerammten  Steinplatte, 
die  schon  in  der  alten  mykenischen  Epoche  mit  Relief  geschmückt 
zu  werden  pflegte.  Im  sechsten  Jahrhundert  war  die  schmale, 
hohe  Stele,  welche  nur  die  aufrechte  Figur  des  Verstorbenen  in 
Lebensgröße  enthielt,  zumeist  beliebt;  Frauen  wurden  oft  sitzend 
dargestellt.  Nur  durch  die  Figur  einer  Dienerin  erweitert,  zeigt 
diesen  Typus  die  noch  aus  dem  fünften  Jahrhundert  stammende 
schöne  Stele  der  Hegeso  Tafel  36.  Von  den  im  vierten  Jahrhundert 
in  Athen  beliebten  Familienbildern  gibt  Tafel  35  ein  sehr  gutes 
Beispiel.  Der  giebelförmige  Abschluß,  den  diese  Grabmäler  haben, 
geht  indes  schon  über  den  Typus  der  eigentlichen  Stele  hinaus 
und  berührt  sich  mit  einem  anderen,  der  ein  mehr  oder  weniger 
ädicula-  oder  tempeiförmiges  Mal  über  dem  Grabe  zeigt.  Reiche, 
prunkvolle  Grabmäler,  wie  sie  namentlich  in  Kleinasien  entstanden, 
haben  geradezu  die  Tempelform  gewählt,  dafür  ist  das  Mausoleum 
von  Halikarnaß  klassisches  Beispiel.  Eine  andere  Reihe  von  Grab- 
mälern  geht  dagegen  von  der  Idee  eines  Altares  aus,  der  über 
dem  Grabe  sich  erhebt;  eine  andere  begnügt  sich,  den  Grabhügel, 
die  Aufschüttung  des  Grabtumulus,  künstlerisch  auszugestalten; 
doch  bestanden  diese  verschiedenen  Arten  durchaus  nicht  zu  allen 
Zeiten  und  an  allen  Orten. 


ZWEI  GRABRELIEFS  VON   ATHEN  113 

TAFEL  35  und  36 

ZWEI  GRABRELIEFS  VON  ATHEN 

Auf  einer  Platte  pentelischen  Marmors  von  1,45  Höhe  und 
0,85  Breite  (Tafel  35)  ist  eine  Gruppe  von  drei  Figuren  in  Relief 
ausgehauen.  Die  rechte  obere  Ecke  der  Platte  ist  ergänzt.  An 
beiden  Seiten  wird  die  Platte  von  schmalen  Antenpfeilern  einge- 
faßt. Oben  lag  über  diesen  ein  giebelförmiger  Abschluß,  der  in 
einem  besonderen  Blocke  gearbeitet  war  und  verloren  ist.  Auf 
dem  Gesimse  desselben  stand  die  Inschrift,  welche  angab,  wem 
das  Grabmal  galt. 

Die  Platte,  jetzt  im  Zentralmuseum  zu  Athen,  ist  1870  bei 
den  Ausgrabungen  am  Dipylon  zu  Athen,  nahe  dem  Kirchlein  Agia 
Triada  gefunden  worden.  Damals  entdeckte  man,  unter  tiefem 
Schutte  vergraben,  ein  wunderbar  wohl  erhaltenes  Stück  der  alten 
Nekropole  vor  dem  großen  Doppeltore,  dem  Dipylon  zu  Athen, 
aus  welchem  die  heilige  Straße  nach  Eleusis  und  die  große  Fahr- 
straße nach  dem  Piräus  führte.  Es  war  Sitte  bei  den  Alten,  die 
Grabmäler  längs  der  Hauptstraße  unmittelbar  vor  den  Toren  an- 
zulegen. Die  Athener  scheinen  indes  selbst  bei  einem  uns  un- 
bekannten Anlaß  späterer  Zeit  jenes  Stück  der  Gräberstadt  zu- 
geschüttet zu  haben ;  man  vermutet,  daß  dies  etwa  in  der  Zeit 
bald  nach  der  Einnahme  Athens  durch  Sulla  geschah,  und  nimmt 
an,  daß  die  Athener  das  Stück  vor  dem  Tore  freier  Benutzung 
zurückgewinnen,  aber  auch  die  Grabstätten  der  Väter  schonen 
wollten  und  deshalb  den  ganzen  Platz  mit  Schutt  auffüllen  ließen. 
So  hat  sich  eine  Reihe  der  stattlichsten,  schönsten  Grabmäler  aus 
der  Blütezeit  attischer  Kunst  noch  unversehrt  aufrecht  stehend 
erhalten. 

Zu  den  frühesten  der  erhaltenen  bildlich  verzierten  Grabmäler 
an  diesem  Platze  vor  dem  Dipylon  gehört  die  schöne  Stele  der 
Hegeso,  der  Tochter  des  Proxenos,  welche  Tafel  36  abgebildet  ist. 
Sie  steht  noch  jetzt  an  ihrer  ursprünglichen  Stelle  an  der  Gräber- 
straße aufrecht.  Auch  diese  Platte  ist  an  beiden  Seiten  eingefaßt 
von  Antenpfeilern,  deren  Kapitell  aber  viel  sorgfältiger  gearbeitet 
ist  als  an  der  anderen  Stele.  Darüber  der  giebelförmige  Abschluß, 
auf  welchem  die  Inschrift  'Hyriaw  Ilpo^evo(u)  angebracht  ist;  die 
Schreibweise  o  für  ov  gehört  der  älteren  Zeit  an.  Auf  einem  Lehn- 
stuhl von  ebenso  einfacher   wie  außerordentlich  schöner  Form   mit 

Denkmäler  griech.  u.  röm.  Skulptur,  3.  Aufl.  8 


114  GRABMÄLER 

geschwungenen  Beinen  sitzt  Hegeso  in  ionischem  Chiton  mit  Halb- 
ärmeln und  dem  Mantel.  Ihr  Haar  ist  mit  einem  Tuche  und  Bin- 
den in  zierlichster  Weise  geschmückt,  und  auf  dem  Hinterkopfe 
hängt  ein  dünner,  feiner  Schleier.  Sie  ist  im  Begriffe,  aus  dem 
Schmuckkästchen,  das  eine  Dienerin  ihr  vorhält,  einen  Gegenstand, 
der  nur  durch  Farbe  angegeben  war,  der  Haltung  der  Finger  nach 
eine  Halskette,  zu  nehmen.  Sie  blickt  prüfend  auf  den  Schmuck. 
Die  Dienerin  trägt  ein  von  der  Herrin  ganz  verschiedenes  Kostüm; 
auch  ist  ihr  Gesicht,  obwohl  schön,  doch  von  minder  edlen,  vor- 
nehmen Zügen  als  das  der  Herrin.  Ihr  Haar  ist  ganz  unter  einer 
Haube  verborgen,  und  sie  trägt  einen  ungegürteten  Chiton  mit 
engen  Ärmeln,  der  die  Fremde,  die  Sklavin  charakterisiert;  auch 
sind  ihre  Füße  in  Schuhen  versteckt,  während  die  Herrin  Sandalen 
an  den  auf  einem  zierlichen  Schemel  ruhenden  Füßen  trägt. 

Der  Stil  weist  dies  köstliche  Relief  in  die  Zeit  der  Schule 
und  Nachfolge  des  Phidias,  in  die  Epoche  des  Peloponnesischen 
Krieges.  Die  Köpfe  haben  viel  Ähnlichkeit  mit  denen  am  Par- 
thenonfriese; die  dünn  und  wie  feucht  sich  anschmiegende  Ge- 
wandung weist  auf  die  angegebene  etwas  jüngere  Zeit.  Jedenfalls 
gehört  die  Stele  noch  in  das  fünfte  Jahrhundert. 

Das  Relief  hat  nur  die  Absicht,  die  Erinnerung  festzuhalten 
an  die  edle,  schöne  Frau  Hegeso,  und  das  Mittel,  das  gewählt 
ward,  ist,  sie  einfach  darzustellen,  wie  sie  in  der  Erinnerung  lebte, 
zu  Hause  sitzend,  mit  Schmuck  beschäftigt,  von  der  Sklavin  be- 
dient. Nicht  die  Spur  einer  Andeutung  des  Todes,  als  Abschieds 
vom  Leben,  oder  des  Jenseits. 

Die  größere  Stele,  welche  Tafel  35  wiedergibt,  stellt  nicht 
eine  Verstorbene  allein,  sondern  eine  Familienvereinigung  dar.  Sie 
gehört  zu  den  im  vierten  Jahrhundert  sehr  üblichen  Denkmälern, 
welche  Familiengräber  schmückten  und  den  einzelnen  nicht  allein, 
sondern  im  Vereine  mit  den  geliebten  Angehörigen  darstellen.  Auch 
diese  Reliefs  sind  Erinnerungsbilder,  bestimmt,  das  Gedächtnis  an 
die  in  Liebe  innig  Verbundenen  festzuhalten.  Auch  bei  ihnen 
keine  Spur  einer  Andeutung  des  Abschieds  vom  Leben. 

Man  hat  diese  Bildwerke  vielfach  mißverstanden.  Den  An- 
laß dazu  bot  ein  auf  ihnen  besonders  beliebtes  Motiv,  der  Hand- 
schlag, den  man  ohne  weiteres,  moderner  Auffassung  folgend,  als 
Zeichen  des  Abschieds  mißverstand.  Obwohl  gleich  die  nächsten 
Fragen,  wer  denn  Abschied  nehme,  wer  dableibe,  wer  der  Tote, 
wer  die  Überlebenden  seien,  in  die  größten  Schwierigkeiten  ver- 
wickeln und  die  falsche  Fährte  erkennen  lassen,  so  war  doch  jene 
verkehrte  Deutung  sehr  verbreitet.  Sie  beruht  auf  völligem  Ver- 
kennen dessen,  was  die  antiken  Grabdenkmäler  sind  und  wollen. 


ATTISCHES  GRABRELIEF 

ATHEN,    ZENTRALMUSEUM 


F     BRUCKMANN    A.-G..     MÜNCHEN 


GRABSTELE    DER    HEGESO 

ATHEN,    DIPYLON 


ZWEI  GRABRELIEFS  VON  ATHEN 


115 


Der  Handschlag  bedeu- 
tet nicht  Abschied,  sondern 
ist  nur  ein  Zeichen  des  in- 
nigen, unverbrüchlich  treuen 
Zusammenhaltens  der  Fami- 
lienglieder. Der  Schatten  des 
Todes,  der  auf  diese  Verei- 
nigungen auf  dem  Grabmale 
fällt,  läßt  sich  nur  an  einzel- 
nen wehmütigen  Bewegun- 
gen erkennen,  die  meist  nur 
den  im  Hintergrunde  stehen- 
den Figuren   geliehen  sind. 

Auf  unserer  Platte  sehen 
wir  eine  sitzende  und  eine 
von  rechts  herantretende 
Frau  im  Handschlag  vereint. 
Beide  tragen  den  ionischen 
Chiton  und  den  Mantel,  an 
den  Füßen  Sandalen.  Sie 
blicken  sich  treu  und  innig 
an.  Immer  ist  wie  hier  das  Zu- 
sammenhalten, Zusammen- 
kommen, niemals  ein  Aus- 
einandergehen dargestellt. 

Im  Hintergrunde  steht, 
auf  seinen  Stab  gelehnt,  ein 
bärtiger  Mann,  der  den  Man- 
tel in  üblicher  Weise  auf  der 
linken  Schulter  und  um  den 
Unterkörper  gelegt  trägt.  In 
trübem  Sinnen  legt   er   die 

linke  Hand  an  den  Bart.  Sein  Kopf  ist,  wie  dies  auf  den  älteren 
Stelen  fast  immer  der  Fall  ist,  allgemein  und  nicht  als  Porträt 
gebildet;  es  ist  ein  kräftiger,  schöner  Männerkopf,  ebenso  wie  die 
Frauen  von  typischer  Schönheit  sind. 

Der  Stil  dieses  Reliefs  zeigt  schon  große  Verschiedenheit  von 
dem  der  Hegeso;  am  deutlichsten  ist  dies  in  den  Köpfen  und  der 
Behandlung  des  Haares.  Der  große  Zug,  das  abgeklärt  Reine,  Edle 
ist  mit  der  stärkeren  Stilisierung  der  Formen  verschwunden;  dafür 
sind  Gesicht  und  Haar  und  Gewand  freilich  natürlicher  und  wahrer 
gebildet.  Das  Relief  gehört  der  ersten  Hälfte  des  vierten  Jahr- 
hunderts v.  Chr.  an. 


Fig.  36.  Trauernde  Dienerin  aus  Menidhi, 

dem  alten  Acharnä.    Attische  Grabstatue 

um  die  Mitte  des  4.  Jahrhunderts  v.  Chr. 

Berlin,  K.  Museen 


8* 


116  GRABMALER 

Wie  auf  attischen  Grabreliefs  im  Hintergrund  als  Nebenfigur 
eine  Dienerin  erscheint,  mit  der  Gebärde  der  Trauer  den  gesenkten 
Kopf  auf  die  Hand  legend,  so  waren  Rundplastiken  in  gleicher 
Situation  an  Grabstätten  angebracht.  Unter  den  erhaltenen  Exem- 
plaren ist  eine  Perle  die  etwa  um  die  Mitte  des  vierten  Jahr- 
hunderts V.  Chr.  zu  datierende  junge  Sklavin  (Fig.  36),  die  nach 
einer  sinnigen,  allerdings  nicht  sicheren  Erklärung  dereinst  mit  einem 
gleichfalls  erhaltenen  Pendant  an  einer  Grabanlage  zu  Menidhi  in 
Attika,  an  der  Stelle  des  alten  Demos  Acharnä,  auf  einem  Felsen 
sitzend  als  Wächterin  gedacht  war.  Wie  die  Mädchen  ihren  Herrinnen 
zu  deren  Lebzeiten  treue  Dienste  leisteten,  so  hüteten  sie  später  die 
Ruhestätte,  in  schlichter  Einfachheit  ergreifende  Bilder  wehmütiger 
Hingebung  über  den  Tod  hinaus. 


TAFEL  37—39 

DER  SOGENANNTE  ALEXANDERSARKOPHAG 
VON  SIDON 

KONSTANTINOPEL,  KAISERLICH  OTTOMANISCHES  MUSEUM. 

Im  Frühling  des  Jahres  1887  stieß  man  in  der  Nekropole 
des  alten  Sidon  (heute  Saida)  beim  Suchen  nach  Bausteinen  zu- 
fällig auf  eine  große  unterirdische  Grabanlage,  die  von  der  türki- 
schen Regierung  mit  Umsicht  und  Vorsicht  ausgegraben  wurde;  sie 
enthielt  17  Sarkophage,  die  in  das  Kaiserliche  Museum  zu  Kon- 
stantinopel verbracht  wurden.  Der  größte  und  in  der  Ausschmük- 
kung  reichste  dieser  Sarkophage  ist  derjenige,  welchen  man  nach 
der  Figur  Alexanders  d.  Gr.,  die  auf  den  Reliefs  vorkommt,  den 
Alexandersarkophag  benannte. 

Die  Ansicht  Tafel  37  zeigt  in  zwei  Teile  zerlegt  die  Reliefs  der 
Vorderseite,  während  Tafel  38  den  ganzen  Sarkophag  etwas  schräg 
von  seiner  Rückseite  gesehen  wiedergibt;  diese  letztere  stand  einst 
in  der  Grabkammer  nahe  ihrer  Westwand.  Man  erkennt  hier  links 
noch  in  starker  Verkürzung  die  nördliche  Schmalseite  des  Sarges. 
Die  Hauptseite  war  nach  Osten,  nach  dem  freien  Räume  der  Grab- 
kammer gekehrt;  sie  unterscheidet  sich  von  der  Rückseite  durch 
eine  sehr  viel  reichere  Reliefdarstellung,  die  siebzehn  menschliche 
Figuren  und  sechs  Rosse  enthält,  während  jene  nur  sieben  Männer 
und  fünf  größere  Tierfiguren  aufweist.  Indes  die  Feinheit  und 
Sorgfalt  der  Ausführung  ist  auf  allen  Seiten  die  gleiche. 


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DER  SOGEN.  ALEXANDERSARKOPHAG        117 


Fig.  37.    Perserkopf 


Durch  den  bei  statt- 
licher Größe  (die  mensch- 
lichen Figuren  des  Haupt- 
reliefs haben  58  cm  Höhe) 
außerordentlichen  Reich- 
tum und  durch  die  vollen- 
dete Schönheit  des  orna- 
mentalen wie  figürlichen 
Schmuckes,  sowie  durch 
die  einzig  dastehende  Er- 
haltung, welche  sich  sogar 
auf  die  farbenprächtige 
Bemalung  erstreckt,  ist 
dieser  Sarkophageines  der 
allerersten  und  bedeutend- 
sten aller  uns  gebliebenen 
Werke  der  Antike.  Die 
Ausdehnung  der  Relief- 
streifen der  Langseiten 
beträgt  je  2,80  m. 

Die  ornamentale  Ver- 
zierung  des  Sarkophages 

gehört  dem  ionischen  Architekturstile  an.  Der  eigentliche  Körper  des 
Sarges  hat  die  Gestalt  eines  oben  und  unten  reich  mit  ionischer 
Profilierung  gezierten  hölzernen  Kastens  mit  Rahmenwerk  und  Fül- 
lung. Die  letztere  besteht  aus  den  ziemlich  hoch  ausgearbeiteten 
Reliefs.  Der  Deckel  des  Kastens  hat  die  Gestalt  eines  Tempel- 
giebels mit  ionischem  Gebälk.  Unter  dem  Zahnschnitt  läuft  ein 
Fries  mit  reizend  natürlich  gebildetem  Weinlaub.  Dieses  natura- 
listische Ornament  war  zur  Zeit  der  Entstehung  des  Sarkophages 
noch  etwas  Neues;  später  finden  wir  es  an  mancherlei  Geräten 
öfter.  Die  Sima  ist  mit  dreifach  gehörnten  Löwenköpfen  geziert, 
die  dem  Typus  des  persischen  Löwengreifs  angehören.  Dieser 
Greifentypus  ward  in  Griechenland  als  speziell  persisch  empfunden; 
in  ganzer  Figur  erscheinen  diese  Löwengreife  zu  den  Seiten  der 
Palmette  der  beiden  Giebelfirstakroterien,  sowie  gemalt  auf  der 
Satteldecke  des  Persers  der  nördlichen  Schmalseite.  Als  Eckakro- 
terien  fungieren  gelagerte  Löwen.  Als  Stirnziegelschmuck  dienen 
an  den  Langseiten  weibliche  Köpfe  mit  schilfblattartiger  Bekrönung, 
die  sich  an  eine  in  gewissen  Kulten  übliche  Tracht  von  Tänzerinnen 
anzuschließen  scheint.  Dieselben  Köpfe  kehren  oben  als  First- 
akroterien  wieder;  doch  wechselten  sie  hier  ab  mit  Adlern,  die 
weggebrochen  und  bis  auf  geringe  Reste  verloren  sind. 


118 


GRABMALER 


Fig.  38.    Kopf  Alexanders  d.  Gr. 


Das  Ganze  ist  aus 
zwei  gewaltigen  Blöcken 
pentelischen  Marmors  ge- 
arbeitet. 

Das  Relief  der  Rück- 
seite Tafel  38  (die  Haupt- 
gruppe größer  auf  Tafel  39) 
zeigt  eine  Löwenjagd,  an 
welcher  sowohl  griechisch 
als  persisch  gekleidete 
Männer  teilnehmen.  In 
der  Mitte  wird  ein  durch 
Kleidung  wie  Gesichts- 
typus (siehe  Abbildung  des 
Kopfes  Fig.  37)  als  Per- 
ser charakterisierter  Rei- 
ter von  einem  Löwen  an- 
gefallen. Der  Löwe,  der 
nach  einer  in  der  grie- 
chischen Kunst  häufigen 
nicht  ganz  natürlichen  hundeartigen  Weise  gebildet  ist,  hat  sich 
auf  das  Roß  des  Reiters  gestürzt  und  zerfleischt  dessen  Brust. 
Der  Perser  zückt  die  Lanze  gegen  das  Tier.  Diese  Lanze  war 
von  Metall  gearbeitet  und  besonders  angesetzt ;  sie  ist  mit  allen 
anderen  metallischen  Zutaten  (Waffen,  Gürtelschließen  u.  a.)  ver- 
loren gegangen.  Dem  bedrängten  Perser  kommen  fünf  andere 
Männer  zur  Hilfe,  zunächst  ein  Perser  zu  Fuß,  der  mit  dem  Beile 
nach  dem  Löwen  ausholt.  Die  persische  Tracht  ist  hier  wie  bei 
dem  Reiter  sehr  deutlich ;  sie  besteht  aus  bunten,  engen  Bein- 
kleidern, ebenfalls  buntem  Rock  mit  engen  Ärmeln  und  einem 
Überwurf,  der  ebenfalls  mit  Ärmeln  ausgestattet  ist,  die  aber  nicht 
angezogen  sind ;  es  ist  der  Kandys,  der  frei  im  Rücken  flattert 
und  dessen  Ärmel  nur  bei  der  Parade  vor  dem  Könige  angezogen 
wurden  (vgl.  Xenophon,  Kyropaed,  8,  3,  10).  Der  Kopf  ist  be- 
deckt von  der  weichen  Tiara,  die  auch  das  Untergesicht  fast  bis 
zur  Nase  umhüllt.  Dem  Perser  eilen  ferner  zu  Hilfe  zwei  griechisch 
gekleidete  jugendliche  Reiter  mit  (jetzt  fehlenden)  Lanzen ;  sie 
tragen  kurzen  Chiton  und  Chlamys;  der  linke  hat  enge  Ärmel 
am  Chiton ;  im  kurzen  Haare  liegt  eine  Binde,  wodurch  er  von 
dem  anderen  unterschieden  wird ;  sein  Kopf  ist  voll  Energie  und 
Kraft,  aber  ohne  eigentlich  individuelle  Porträtzüge  (siehe  Fig.  38); 
er  hat  vielmehr  die  typischen  Züge,  welche  die  attische  Kunst  des 
vierten  Jahrhunderts  den  Athleten  und  dem  jugendlichen  Herakles 


CO      5 


DER  SOGEN.  ALEXANDERSARKOPHAG        119 


Fig.  39.    Kopf  Alexanders  d.  Gr. 


gibt.  Insbesondere  kann  von 
einer  Ähnlichkeit  mit  den  in- 
dividuellen Zügen  sicherer 
Porträts  Alexanders  d.  Gr. 
nicht  die  Rede  sein;  der  Haar- 
wuchs ist  sogar  vollständig 
verschieden  von  jenen  und 
vielmehr  der  typische  der 
Athleten  und  des  Herakles. 

Dennoch  ist  es  höchst 
wahrscheinlich,  daß  in  diesem 
Reiter  links  von  dem  vor- 
nehmen Perser  Alexander  d. 
Gr.  zu  erkennen  ist,  und  zwar 
deshalb,  weil  er  auf  der 
Hauptseite  des  Sarkophages 
(Tafel  37)  erkannt  werden 
muß  in  einer  Gestalt,  deren 
Gesicht  ebensowenig  Porträt- 
ähnlichkeit mit  Alexander  hat,  die  aber  durch  das  Löwenkopffell  auf 
dem  Haupte  und  durch  die  Handlung  unzweideutig  als  Alexander 
charakterisiert  ist.  Dort  ist  eine  große  Schlacht  zwischen  Persem 
und  Makedonen  dargestellt  und  Alexander  durch  die  Löwenhaut  un- 
zweifelhaft (der  Kopf  Fig.  39).  Diese  läßt  aber  auch  erkennen,  woher 
der  Künstler  seine  ganze  Vorstellung  vom  Äußeren  des  großen  Königs 
hatte  :  nicht  von  den  wirklichen  Porträts  —  sonst  hätte  er  niemals  ein 
so  unähnliches  allgemeines  Bild  gegeben  — ,  sondern  lediglich  von 
den  Münzen  Alexanders  mit  dem  jugendlichen  Herakleskopfe.  Daß 
dieser  in  späterer  hellenistischer  Zeit  als  Bildnis  Alexanders  ange- 
sehen wurde,  wußten  wir  bereits;  daß  dieser  populäre  Irrtum  aber  in 
die  Alexanderzeit  selbst  zurückgeht,  lehrt  unser  Sarkophag.  Der 
Herakleskopf  der  Münzen  war  nicht  im  mindesten  als  Porträt  Ale- 
xanders beabsichtigt,  sondern  stellt  nichts  als  die  normale  Weiter- 
bildung des  Heraklestypus  in  der  Alexanderzeit  dar;  nur  durch  Miß- 
verständnis sah  man  das  Bild  des  Königs  darin,  von  dem  man  wußte, 
daß  er  sich  gerne  mit  Herakles  identifizierte  und  mit  Löwenfell  und 
Keule  auftrat  (Ephippos  bei  Athenaeus,  deipnosophistai  12,  p.  537  f.). 

Die  Tatsache,  daß  der  Künstler  des  Sarkophages  keine  wirk- 
lichen Bildnisse  Alexanders  gekannt  und  nur  das  vermeintliche  der 
Münzen  benutzt  hat,  ist  auch  wichtig,  indem  sie  zeigt,  daß  man 
sicher  auf  falschem  Wege  war,  wenn  man,  wie  bisher  allgemein 
geschehen,  den  Künstler  im  Kreise  des  Lysippos  von  Sikyon  suchte 
und  nur  zwischen   dessen   beiden   Hauptschülern  Euthykrates   und 


120  GRABMALER 

Eutychides  schwanken  zu  dürfen  vermeinte.  Die  Künstler  aus 
Lysippos  Kreise  waren  natürlich  mit  dem  wirklichen  Porträt  Alexan- 
ders, das  ja  ein  Hauptgegenstand  von  Lysippos  Kunst  war,  aufs 
genaueste  vertraut.  Es  kommt  hinzu,  daß  der  Auftrag,  eine  deko- 
rative Arbeit  zu  liefern,  wie  sie  unser  Sarkophag  darstellt,  ganz 
außerhalb  des  Kreises  der  Tätigkeit  des  Lysippos  und  seiner  Schule 
lag,  die  nur  den  vornehmen  Erzguß  pflegte.  Dagegen  waren  die 
attischen  Ateliers  eben  für  derartige  Aufträge  eingerichtet.  Da  nun 
ferner  das  Material  unseres  Sarkophages  attischer  Marmor  ist,  kann 
kaum  bezweifelt  werden,  daß  auch  der  Künstler  der  attischen  Schule 
angehörte.  Der  Stil  der  Bildwerke  aber  bestätigt  diese  Annahme 
aufs  entschiedenste.  Sowohl  die  Erfindung  der  Motive,  als  die 
Ausführung  des  einzelnen,  insbesondere  des  Gewandes  und  der 
Köpfe,  zeigt  den  Künstler  als  unmittelbaren  Nachfolger  jener  attischen 
Meister,  welche  das  Grabmal  des  Königs  Maussollos  zu  Halikarnaß 
mit  ihren  Marmorwerken  geschmückt  hatten.  Indes  muß  man  sich 
wohl  hüten,  an  einen  der  großen  Namen  selbst  zu  denken ;  einem 
Leochares  z.  B.,  der  Alexander  selbst  porträtiert  hat,  dürfte  man 
die  Alexanderbildung   unseres    Sarkophages    niemals    zuschreiben. 

Im  Museum  zu  Wien  befindet  sich  ein  in  der  Arbeit  sehr 
verwandter  Sarkophag  mit  Amazonendarstellungen,  der  aus  demselben 
attischen  Künstlerkreise  herstammen  muß  wie  der  große  sidonische; 
indem  man  fälschlich  annahm,  daß  der  Marmor  des  Wiener  Sarko- 
phages peloponnesischer  Herkunft  sei,  glaubte  man  darin  eine  Stütze 
für  die  Annahme  gleichen  Ursprungs  des  Alexandersarkophages 
zu  haben.  Allein  jener  Wiener  Sarg  stammt,  wie  neuerdings  nach- 
gewiesen ward,  aus  Soloi  auf  Kypros,  und  der  Marmor  desselben 
ist  nicht  peloponnesisch,  sondern  vielmehr  pentelisch  wie  der  des 
sidonischen.  Es  war  derselbe  mit  Aufträgen  für  den  Osten  be- 
schäftigte  attische  Künstlerkreis,    dem   beide   Werke   entsprangen. 

Doch  fahren  wir  fort  in  Betrachtungen  der  Jagdszene  des 
sidonischen  Sarkophages. 

Der  andere  Reiter  in  kurzem  Chiton  und  Chlamys,  der  auf 
dem  Jagdbilde  von  rechts  heransprengt,  muß  einer  der  Genossen 
Alexanders  sein;  ihn  bestimmt  Hephaistion  oder,  wie  man  auch 
wollte,  Krateros  zu  nennen,  ist  schon  zu  weit  gegangen,  da  der 
Künstler  die  Figur  nicht  weiter  individualisiert  hat;  er  hat  ihr  einen 
Kopf  von  ganz  allgemeinem,  kräftigem,  athletenartigem  Typus  ge- 
geben, denselben,  den  er  bei  dem  rechts  folgenden  Jüngling  ver- 
wendet hat. 

Die  zwei  Figuren  am  linken  Ende  des  Bildes  stehen  noch  mit 
der  Hauptszene  in  Verbindung;  hinter  Alexander  eilt  ein  nackter 
Mann   zur  Hilfe   herbei,   der   nur   über  dem   linken  Arm  ein  Ge- 


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DER  SOGEN.  ALEXANDERSARKOPHAG       121 


wandstück  hängen 
hat.  Der  Moment 
des  eiligen  Laufes 
ist  ganz  vortrefflich 
erfaßt.  Nicht  min- 
der ausgezeichnet 
in  der  Bewegung 
ist  der  folgende, 
im  Zurückweichen 
den  Bogen  ab- 
schießende Perser, 
die  Linke  hielt  den 
Bogen,  die  Rechte 
zog  die  Sehne  an. 
Die  Ärmel  des 
Kandys  flattern  im 
Rücken  empor. 
Auch  am  rechten 
Ende  ist  ein  Grieche 
und  ein  Perser  dar- 
gestellt, doch  ohne 
Beziehung  zur 
Hauptszene;  es  ist 
hier  ein  selbstän- 
diges kleines  Bild 
der  Erlegung  eines 
Hirsches  gegeben. 
Der    Hirsch    wird 

von  dem  nur  mit  der  Chlamys  bekleideten  griechischen  Jüngling  mit 
der  Linken  am  Geweih  gepackt  und  mit  der  verlorenen  Lanze  in  der 
Rechten  bedroht;  die  Bewegung  hat  entschieden  mehr  Schönheit 
und  Schwung  als  Wahrscheinlichkeit.  Der  Perser  schwingt  die  Axt 
ähnlich  wie  der  hinter  dem  Löwen  stehende.  Seine  nach  rechts 
ausweichende  Bewegung  entspricht  genau  der  des  bogenschießen- 
den  Persers  am  anderen  Ende,  eine  Symmetrie,  welche  dem  ganzen 
Bilde  einen  wohltuenden  Abschluß  gibt.  Drei  Jagdhunde,  von  denen 
einer  den  Löwen  in  das  Hinterbein  beißt,  vervollständigen  das  leben- 
dige Bild  einer  Jagd,  in  der  Alexander  d.  Gr.  mit  den  Seinen  als 
Genosse  eines  persischen  Großen  erscheint. 

Die  menschlichen  wie  tierischen  Figuren  sind  von  gleicher 
Feinheit  und  Vollendung  der  Ausführung;  die  Köpfe  zeigen  leiden- 
schaftliche Erregung.  Die  Wirkung  wird  bedeutend  unterstützt  durch 
die  Bemalung,  die  noch  fast  vollständig  erhalten  ist.    Sie  erstreckt 


Fig.  40.    Perserkopf 


122 


GRABMALER 


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Fig.  41.  Kampfgruppe  von  der  Vorderseite  des  Alexandersarkophages 

sich  namentlich  auf  die  ganzen  Gewänder,  dann  die  Haare,  die 
Augen  nebst  Brauen  und  Wimpern,  sowie  die  Lippen;  dagegen  war 
das  Fleisch  nicht  bemalt,  sondern  nur  leicht  getönt.  Es  sind  sechs 
Farben  verwendet.  Violett,  Purpur,  Rot,  Braunrot,  Gelb  und  Blau. 
Besonders  wirkungsvoll  ist  die  Bemalung  der  Augen,  durch  welche 
der  Künstler  eine  außerordentliche  Kraft  und  Intensität  des  Blickes 
erreicht  hat  (Fig.  40).  Man  erkennt  an  diesem  Beispiele,  wie  un- 
geheuer viel  wir  dadurch  verloren  haben,  daß  die  Bemalung  der 
antiken  Marmorwerke  in  der  Regel  verschwunden  ist. 

Die  Hauptseite  des  Sarkophages  (Tafel  37)  stellt  eine  große 
Schlacht  zwischen  Persern  und  Makedonen  dar  (die  mittlere  Gruppe 
zeigt  auch  Fig.  41),  in  welcher  Alexander  nebst  zwei  Genossen  zu  Pferd 
die  beiden  Ecken  und  die  Mitte  herausheben.  Die  Fülle  der  Figuren, 
die  zum  Teil  in  drei  Gründen  hintereinander  angeordnet  sind,  gibt 
das  Gewühl  der  Schlacht  vortrefflich  wieder.  Das  Relief  erreicht 
hier  eine  damals  durchaus  neue  malerische  Vertiefung  des  Grundes. 
Während  die  Rückseite  in  den  hergebrachten  Formen  des  Friesreliefs 
gehalten  ist,  wird  hier  etwas  völlig  Neues  geleistet. 

Die  Figur  Alexanders  zur  Linken  mit  dem  Löwenfell  haben 
wir  bereits  besprochen.  Mit  der  (fehlenden)  Lanze  stieß  er  nach 
einem  vornehmen  Perser,  dessen  Roß  auf  die  Vorderbeine  ge- 
stürzt ist,  der  sich  aber  mit  der  Waffe  in  der  erhobenen  Rechten 
noch  zur  Wehre  setzt  (den  Kopf  dieses  Persers  gibt  Fig.  42). 
Die  Gruppe  kehrt  ähnlich  wieder  auf  einem  berühmten  Mosaik 
aus  Pompeji,  das  kopiert  ist  nach  einem  Gemälde  der  Alexander- 
zeit.     Der   Vergleich   zeigt  aber,    daß    der   Sarkophagkünstler   die 


DER  SOGEN.  ALEXANDEF^SARKOF^HAG        123 


Fig.  42.    Perserkopt 


Szene,  die  ihm  bekannt 
gewesen  sein  muß,  des 
individuellen  Charakters 
entkleidet  hat.  Überhaupt 
ist  der  Sarkophag  in 
allem  verallgemeinert 
und  idealisiertgegenüber 
der  bis  in  das  Detail 
gehenden  historischen 
Treue  des  in  dem  Mosaik 
kopierten  Gemäldes. 

Nach  rechtshin  folgt 
die  schöne  Gruppe  eines 
Zweikampfs  zwischen 
einem  Perser  und  einem 
Makedonen.  Hinter  letz- 
terem schießt  ein  Perser 
den  Bogen  ab  in  der 
Richtung  nach  Alexan- 
der.    Im    Vordergrunde 

fleht  ein  Perser  um  Gnade  vor  einem  berittenen  Makedonen,  in 
dessen  allgemein  gehaltenem,  jugendlichem  Kopf  man  mit  Unrecht 
Porträtzüge  —  des  Philotas,  Hephaistion  oder  Krateros  —  hat  sehen 
wollen.  Einem  galoppierenden  Perser  fällt  ein  fast  nackter,  junger 
Grieche  in  die  Zügel  —  die  Nacktheit  wieder  ein  sprechender  Be- 
weis für  den  verallgemeinerten  heroisierten  Charakter  der  Szene  — , 
während  im  Vordergrunde  ein  Perser  den  Bogen  abschießt  nach 
rechts,  wo  vom  Ende  her  ein  Makedone  mit  sehr  entschlossenen 
Zügen  (Fig.  43)  und  in  voller  Rüstung  heranreitet.  Man  hat  auch 
hier  eine  bestimmte  Persönlichkeit  vermutet  und  den  älteren  Mann, 
ein  Bild  eiserner  Kraft,  Parmenion,  den  bedeutendsten  Feldherrn 
Alexanders,  benannt.  Dazwischen  die  schöne  Gruppe,  wie  ein  Per- 
ser zu  Fuß  den  verwundet  vom  Pferde  sinkenden  Genossen  auffängt. 
Außer  den  genannten  Figuren  sieht  man  noch  am  Boden  vier  ge- 
fallene Perser  und  einen  toten  nackten  Griechen  liegen. 

Die  Schmalseiten  des  Sarkophages  sind  in  der  einfacheren  Art 
der  Rückseite  komponiert.  Sie  wiederholen  dieselben  Themata,  die 
dort  erscheinen,  nur  mit  Weglassung  Alexanders  und  alleiniger  Her- 
vorhebung der  Perser.  Die  nördliche  Schmalseite  zeigt  wieder  einen 
Kampf  von  Persern  und  Makedonen;  ein  vornehmer  Perser  zu  Roß 
bildet  die  Mitte;  die  Makedonen  oder  Griechen  sind  auch  hier,  der 
Wirklichkeit  entgegen,  aber  dem  gewöhnlichen  idealisierenden  heroi- 
schen Stile  entsprechend,  nackt  gebildet. 


124 


GRABMALER 


Fig.  43.    MakedoncnLüpl 


Die  südliche 
Schmalseite  stellt 
wieder  eine  Jagd 
dar,  in  welcher  die 
Perser  aber  allein 
sind ;  das  gejagte 
Tier  ist  ein  Panther. 
Auch  die  beiden 
Giebel  zeigen  Re- 
liefs, einerseits  den 
Kampf  von  Persern 
und  Griechen  (man 
hat  auch  hier  Ale- 
xander erkennen 
wollen,  aber  offen- 
bar mit  Unrecht), 
anderseits  einen 
Kampf  zwischen 
griechisch  beklei- 
deten Männern, ver- 
mutlich Makedonen 
und  Griechen. 

In  der  letzter- 
wähnten Szene  hat 
man  alle  möglichen 
Mordtaten  der  Ale- 
xander- und  Diado- 
chenzeit    illustriert 


sehen  wollen;  allein  auch  die  Erklärung  der  übrigen  Bilder  hat  sich 
bisher  nach  unserer  Meinung  auf  durchaus  falscher  Bahn  bewegt, 
von  der  irrigen  Voraussetzung  ausgehend,  es  müßten  die  Bilder 
bestimmte  einzelne  Vorgänge  aus  dem  Leben  derjenigen  Person 
darstellen,  für  welche  der  Sarg  bestimmt  war.  In  dieser  Annahme 
befangen,  haben  sich  bisher  sämtliche  Erklärer  bemüht,  die  Per- 
sonen der  Bilder  möglichst  alle  mit  historischen  Namen  zu  belegen. 
So  wollte  eine  der  Deutungen  mit  größter  Bestimmtheit  den 
Griechen  Laomedon  von  Mitylene  als  „Grabherrn"  erkennen,  der 
von  dem  Künstler  aber  bald  in  persisches  Kostüm  verkleidet  und 
mit  Schnurrbart  ausgestattet,  bald  in  makedonischer  Tracht  mit  glatt- 
rasiertem Gesichte  dargestellt  worden  wäre!  Ja  eine  so  genaue 
Illustration  des  Lebenslaufs  dieses  Laomedon  vermeinte  man  hier 
zu  erkennen,  daß  man  den  Sarkophag  geradezu  als  „neue  histo- 
rische Quelle"   für  Einzelheiten  der  Diadochengeschichte  bezeich- 


DER  SOGEN.  ALEXANDERSARKOPHAG        125 

nete.  Eine  andere  Deutung  sieht  in  dem  „Grabherrn"  Kophen, 
Sohn  des  Artabazos,  einen  vornehmen  Perser,  und  glaubt  die  Sar- 
kophagbilder als  genaue  Illustrationen  aus  dem  Leben  eben  dieses 
Mannes  ansehen  zu  dürfen.  All  dies  sind  wertlose  Phantasien, 
hervorgegangen  aus  einem  völligen  Verkennen  des  künstlerischen 
Wesens  unseres  Denkmals. 

Wir  haben  bemerkt,  daß  an  den  beiden  Langseiten  Alexander 
d.  Gr.  dargestellt  ist.  Diese  unmittelbar  nach  der  Entdeckung  schon 
gefundene  Benennung  ist,  wie  wir  glauben,  die  einzige,  die  wirk- 
lich gerechtfertigt  ist.  Alle  anderen  Personen  sind  nicht  nur  für 
uns,  sondern  waren  wahrscheinlich  auch  für  den  Künstler  schon 
namenlos. 

Die  Anwesenheit  Alexanders  macht  die  Reliefs  allerdings  zu 
historischen;  allein  sie  sind  historisch  in  einem  sehr  beschränkten, 
aber  echt  antiken,  griechischen,  einem  allgemeinen,  weiten,  idealen 
Sinne.  Alexander  ist  das  einzige  wirkliche  Individuum,  das  hier 
erscheint,  er,  der  schon  den  Zeitgenossen  himmelhoch  und  götter- 
gleich erhaben  erschien;  ihm  gegenüber  sind  alle  anderen  nur  Ver- 
treter von  Menschenklassen,  keine  Persönlichkeiten  mit  Namen. 
Vergeblich  wird  man  sich  bemühen,  die  große  Schlacht  genau  zu 
bestimmen  als  die  von  Issos  oder  Arbela  und  die  Makedonen  und 
Perser  einzeln  zu  benennen  und  in  einem  von  ihnen  den  „Grab- 
herrn" zu  erkennen;  der  Künstler  wollte  ja  nur  eine  Schlacht 
Alexanders  gegen  die  Perser  in  echt  hellenischer,  allgemeiner  Weise 
darstellen.  Das  Jagdbild  zeigt  Alexander  nach  der  Besiegung  Per- 
siens :  er  verkehrt  freundschaftlich  mit  den  persischen  Großen  und 
nimmt  an  ihren  Jagden  teil:  auch  dieses  Bild  von  typischem,  all- 
gemeinem Gehalt.  Das  Jagdleben  der  persischen  Vornehmen,  die 
Kämpfe  der  Perser  mit  den  Makedonen  und  Griechen,  sowie  die 
Kämpfe  der  Makedonen  und  der  Griechen  untereinander  —  dies 
schildern  die  übrigen  kleinen  Bilder  —  ein  lebendiges  Zeitgemälde, 
aber  mit  typischen,  nicht  individuellen  Figuren,  daher  auch  mit 
typischen  Motiven  und  selbst  mit  Einmischung  des  ganz  unhisto- 
rischen heroischen   Kostüms. 

Würde  der  Sarkophag  wirklich,  wie  man  in  gänzlicher  Ver- 
kennung der  Eigenart  griechischer  Kunst  gemeint  hat,  einzelne  auf 
Tag  und  Stunde  bestimmbare  Momente  illustrieren,  so  würde  er 
aus  allem  herausfallen,  was  wir  von  griechischer  Gräberkunst  wissen; 
erst  wenn  das  Historische  in  den  Bereich  des  Typischen,  Allge- 
meinen gehoben  ist,  gliedert  sich  auch  dieser  Sarkophag  als  ver- 
ständliches Glied  in  die  Kette  des  uns  Bekannten. 

Die  Bilder  zeigen  unzweideutig,  daß  das  Ziel  des  Künstlers 
nicht  die  Schilderung  der  Griechen  oder  Makedonen,  sondern  die 


126  GRABMÄLER 

der  edlen  Perser  der  Alexanderzeit  in  Jagd  und  Krieg  war.  Damit 
stimmt  der  ornamentale  Schmuck  des  Sarges  überein,  der,  wie  wir 
sehen,  eine  so  starke  Verwendung  von  dem  persischen  Greife  macht. 
Und  damit  stimmt  endlich  vor  allem  die  aus  dem  Orte  der  Auf- 
findung zu  erschließende  Bestimmung  des  Sarkophages. 

Diese  letztere  ist  freilich  Gegenstand  einer  lebhaften  Kontro- 
verse geworden.  Anfangs  vermutete  man  sogar,  der  Sarg  sei  für 
Alexander  d.  Gr.  selbst  bestimmt  gewesen ;  dann  setzte  man  dafür 
einen  der  makedonischen  Generale  ein,  wie  Parmenion  oder  Per- 
dikkas,  oder  einen  Statthalter  Syriens,  ferner  einen  der  vornehmen 
Perser,  wie  Artabazos  oder  Mazaios,  indem  man  annahm,  der  Sar- 
kophag sei  anderswohin,  etwa  nach  Ägypten  oder  Babylonien,  be- 
stimmt gewesen  und  nur  durch  irgend  einen  Zufall,  durch  Raub 
oder  Kauf,  an  die  Stelle  der  Auffindung  in  die  Gruft  zu  Sidon  ge- 
kommen. Diese  Annahme  ist  gänzlich  willkürlich  und  haltlos.  Alle 
Tatsachen  weisen  vielmehr  darauf  hin,  daß  der  Sarkophag  für  die 
Stelle  gearbeitet  ist,  an  welcher  er  gefunden  ward. 

Der  Sarg  stand  in  einer  geräumigen  Grabkammer  zusammen 
mit  drei  anderen,  die  offenbar  aus  denselben  Künstlerhänden  her- 
vorgingen wie  der  große  und  mit  ihm  zugleich  aufgestellt  wurden; 
sie  sind  nur  ornamental  verziert;  der  reizende  Weinlaubfries  er- 
scheint auch  an  ihnen.  An  zweien  finden  sich  phönikische  Buch- 
staben als  Versatzmarken  für  Deckel  und  Sarg;  sie  zeigen,  daß 
die  Ausführung  der  Särge  gemeinsam  und  am  Orte  vorging,  wo 
die  attischen  Meister  sich  phönikischer  Steinmetzen  für  die  unter- 
geordneten Arbeiten  bedienten.  Die  wunderbare  Erhaltung  der  Särge 
ist  ohnedies  kaum  anders  zu  erklären,  als  daß  sie  frisch  aus  der 
Werkstatt  am  Orte  in  die  Gruft  kamen.  Die  Grabkammer  ist  die 
jüngste  in  einer  größeren  Anlage  von  sieben  Kammern,  die  von 
einem  Schachte  ausgehen;  die  sukzessive  Anlage  dieser  Kammern 
läßt  sich  noch  deutlich  verfolgen;  mit  ihr  im  vollkommenen  Ein- 
klang steht  die  aus  dem  Stil  zu  erschließende  Folge  der  darin 
befindlichen  siebzehn  Sarkophage.  Die  ganze  Anlage  ist  gemacht 
mit  sorgfältiger  Berücksichtigung  und  Schonung  eines  unmittelbar 
benachbarten  älteren  Grabes,  dessen  Sarg  eine  Inschrift  enthielt, 
die  den  sidonischen  König  Tabnit  nennt,  der  an  das  Ende  des 
sechsten  Jahrhunderts  v.  Chr.  zu  setzen  ist.  Die  Gräber  liegen 
zusammen  auf  einem  Familiengrundstück;  nach  der  Inschrift  des 
ältesten  ist  es  die  Gruft  der  Könige  von  Sidon ;  der  Mangel  der 
Inschriften  an  den  anderen  Särgen  kann  nicht  als  Gegengrund  an- 
geführt werden,  da  sie  jünger  sind,  und  die  Sitte,  die  Inschrift  an 
den  unterirdischen  Särgen  anzubringen,  abgekommen  sein  wird. 
Noch   weniger  Gewicht  ist  auf  den  Mangel  goldener  Diademe  zu 


DER  SOGEN.  ALEXANDERSARKOPHAG        127 

legen;  das  Goldband  im  Grabe  des  Tabnit  ist  kein  königliches 
Emblem,  sondern  ein  in  jener  Zeit  allgemeiner,  später  abgekommener 
Schmuck,  der  ähnlich  in  vielen  nicht  königlichen  älteren  Gräbern 
vorkommt;  übrigens  hat  das  älteste  Grab  der  großen  Anlage 
gleichfalls  ein  solches  Goldband  enthalten.  Auch  der  sogenannte 
Alexandersarkophag  ist  demnach  als  der  eines  sidonischen  Königs 
anzusehen;  er  ist  mit  den  drei  kleineren  gleichzeitigen  Särgen  der 
jüngste  und  letzte  in  der  Reihe;  er  wird  dem  letzten  sidonischen 
König  der  heimischen  Familie,  dem  Abdalonymos,  gehören.  Diese 
von  einem  deutschen  Gelehrten,  Franz  Studniczka,  aufgestellte  und 
mit  Glück  verteidigte  Annahme  hat  die  größte  Wahrscheinlichkeit 
für  sich.  Wenn  man  neuerdings  gemeint  hat,  in  einem  auf  dem 
Boden  der  Grabkammer  gefundenen,  aus  numismatischen  Gründen 
in  die  Zeit  um  230 — 217  zu  datierenden  Didrachmon  des  Ptolemaios 
Soter  eine  Zeitbestimmung  für  die  Aufstellung  des  Sarges  zu  be- 
sitzen —  der  dann  einem  reichen  sidonischen  Kaufherrn  zuge- 
schrieben wird,  der  ihn  antiquarisch  erschachert  hätte  — ,  so  war 
dies  ein  Irrtum;  denn  jene  Münze  kann  immer  nur  einen  terminus 
ante  quem  abgeben;  da  die  Grabkammer  nach  ihrer  Anlage  sicher 
wenigstens  von  Grabräubern  besucht  worden  ist,  so  kann  jener 
Fund  durchaus  nicht  befremden.  Abdalonymos  ist  auf  Geheiß 
Alexanders  durch  Hephaistion  auf  den  Thron  der  Väter  gesetzt 
worden,  um  333  v.  Chr.;  zugleich  sollen  ihm  reiche  Schätze  und 
mehr  Gebiet  zugewiesen  worden  sein '). 

Wir  wissen  sonst  von  ihm  nur,  daß  er  einmal  feinen  Parfüm 
(|it3pov)  an  Alexander  gesendet  hat.  Große  Taten  hatte  er  sicher 
nicht  aufzuweisen.  Es  war  ein  Irrtum,  aus  der  oben  charakte- 
risierten falschen  Voraussetzung  entsprungen,  wenn  man  gemeint 
hat,  Szenen  aus  seinem  Leben  auf  dem  Sarkophage  zu  erkennen. 
Er  selbst  kommt  gewiß  gar  nicht  vor  auf  den  Bildern,  die  ein 
anderes  höheres,  allgemeineres  Ziel  verfolgen.  Auch  haben  wir 
bereits  bemerkt,  daß  die  dargestellten  Orientalen  den  Kopftypen 
wie  der  Tracht  nach  keine  Semiten,  sondern  reine  Perser  sind. 
Die  Adelsklasse  aber,  um  so  zu  sprechen,  in  welche  der  sidonische 
König  sich  rechnen  mußte,  war  die  der  persischen  Großen,  der 
Umgebung  des  Großkönigs,  in  welcher  seine  Vorgänger  zum  Teil 
einer  hohen  Stellung  gewürdigt  worden  waren.  Diese  Klasse  in 
den  Verhältnissen  zu  schildern,  welche  die  Eroberung  Alexanders 
bedingte,  das  war  die  dem  griechischen  Künstler  zunächst  ge- 
stellte Aufgabe.     Der    sidonische  Fürst    erhielt    damit  einen  zwar 


')  Curtius  Rufus,  Geschichte  Alexanders  des  Großen  IV,  1,  16—26; 
die  dort  gebotene  Erzählung  erscheint  stark  ausgeschmückt. 


128  GRABMÄLER 

nicht  individuell  persönlichen,  aber  einen  vornehmen  Grabesschmuck, 
der  die  Klasse  wohl  charakterisierte,  zu  welcher  er  sich  rechnen 
zu  dürfen  stolz  war.  Indem  diese  aber  damals  von  Alexander 
gleich  ihrer  Sonne  das  Licht  empfing,  so  konnte  die  Gestalt  dieses 
Helden  den  Bildern  nicht  fehlen  '). 

Wenn  der  sidonische  König  einen  Griechen  mit  seinem  Grab- 
male beauftragte,  folgte  er  nur  der  Tradition  des  Hauses.  Die 
Funde  haben  gezeigt,  daß  seine  Vorfahren  nicht  anders  als  die 
vornehmen  Phöniker  überhaupt  schon  seit  dem  fünften  Jahrhundert 
sich  für  ihre  Grabmäler  an  Griechen  gewendet  haben,  die  längere 
Zeit  zwar  noch  die  ägyptische  Sargform  nachahmen  mußten,  dann 
aber  frei  die  eigenen  griechischen  Formen  anwenden  durften. 

Der  Künstler  hat  die  Aufgabe  in  echt  griechischem  Sinne  ge- 
löst; unbekümmert  um  Kleines  und  Persönliches,  nur  das  Große 
und  Allgemeine  im  Auge,  hat  er  gleichsam  die  Idee  der  Geschichte 
seiner  Zeit,  gesehen  vom  Standpunkte  eines  Großen  des  von  Alexander 
besiegten,  Alexander  willig  als  Herrn  erkennenden  Ostens  gegeben. 

Wir  wissen  nicht,  wann  Abdalonymos  starb.  Die  äußerst  un- 
ruhigen historischen  Verhältnisse  in  Syrien,  ferner  der  Stil  der 
Bildwerke  und  das  ohne  Kenntnis  des  wirklichen  Porträts  Alexanders 
gearbeitete  Bild  desselben,  endlich  der  Inhalt  der  Reliefs,  die  nur 
mit  Unrecht  auf  Diadochenkämpfe  bezogen  worden  sind,  die  sich 
vielmehr  ganz  aus  den  Verhältnissen  der  Alexanderzeit  selbst  er- 
klären, sprechen  für  eine  relativ  frühe  Datierung  des  Sarkophages, 
der  demnach  vielleicht  selbst  noch  zu  Lebzeiten  Alexanders  ent- 
standen ist.  Es  ist  auch  nicht  völlig  ausgeschlossen,  daß  der  sidonische 
Herrscher,  wie  Maußolos  von  Halikarnaß,  während  seiner  Regierung 
in  eigener  Person  das  Grab  und  dessen  plastischen  Schmuck  aus- 
gewählt sowie  die  vorzeitige  Ausführung  veranlaßt  hat. 


')  Und  in  diese  konnte  auch  an  nebensächlicher  Stelle  eines  auf- 
genommen werden,  das  die  Kämpfe  der  Griechen  und  Makedonen  unter- 
einander schilderte  (die  oben  S.  124  erwähnte  sog.  Mordszene)  und  das 
dem  Künstler  zur  Vervollständigung  des  allgemeinen  Zeitbildes  (vgl.  S.  125) 
passend  erscheinen  mochte. 


VII.  STATUARISCHE  GRUPPEN 


Die  griechische  Rundplastik  hat  im  vierten  Jahrhundert  v.  Chr. 
und  in  erhöhtem  Maße  in  der  hellenistischen  Zeit  eine  bedeutende 
stoffliche  Erweiterung  gewonnen.  Während  sie  in  den  älteren  Epochen 
abgesehen  von  vereinzelten  Ausnahmen  unmittelbar  an  die  Religion, 
das  öffentliche  Leben,  den  Grabeskult  geknüpft  war,  erwuchsen 
ihr  in  den  aufblühenden  Handelsstädten  Kleinasiens  und  der  Inseln, 
sowie  in  den  Residenzen  hellenistischer  Fürsten  durch  die  statuarische 
Ausschmückung  der  Paläste,  öffentlichen  Plätze  und  Gebäude,  aus- 
gedehnten Parkanlagen,  prächtigen  tempelartigen  Grabdenkmäler 
völlig  neue  Aufgaben,  oder  es  wurden  dort  die  alten  Aufgaben 
wenigstens  in  veränderter,  erweiterter  Gestalt  gelöst.  So  erklärt 
sich  die  Entstehung  zahlreicher,  teilweise  rein  dekorativer  Rund- 
werke, die  entweder  in  der  freien  Natur  aufgestellt  oder  zu  einer 
baulichen  Anlage  in  Beziehung  standen.  Die  Stoffe  derselben 
waren  teils  dem  reinen  Genre  oder  dem  bacchischen,  erotischen, 
neptunischen  Götterkreise,  teils  der  in  der  Malerei  und  Relief- 
kunst schon  lange  vorher  bearbeiteten  Heroensage  entnommen, 
welche  durch  die  ältere  epische  Poesie  und  das  Drama  lebendig 
geblieben  war  und  in  der  gleichzeitigen  Dichtung  behandelt  oder 
umgestaltet  wurde.  Da  derartige  statuarische  Rundwerke  dem  Kunst- 
geschmacke der  Römer  entsprachen  und  als  Zierden  der  Villen  und 
Gärten  reicher  Privaten,  der  öffentlichen  Gebäude,  wie  der  Thermen 
und  Theater,  sich  eigneten,  sind  Originale  aus  Ländern  griechischer 
Kultur  nach  Rom  entführt  oder  dort  die  Vorbilder  kopiert  worden, 
so  daß  eine  verhältnismäßig  große  Anzahl  von  Werken  dieser  Kunst- 
richtung erhalten  ist.  Die  dargestellten  Sagen  erforderten  meistens 
die  Bildung  lebhaft  bewegter  Gruppen,  in  denen  sich  gewaltiger 
dramatischer  Affekt  kundgibt.  Die  Vereinigung  zweier  oder  mehrerer 
lebender  Wesen  in  bestimmter  Situation  und  Handlung  ist  zwar 
schon  in  der  archaischen  Rundplastik,  aber  nur  durch  Aneinander- 
reihung oder  Gegenüberstellung,  durch  lose  Berührung  wieder- 
gegeben worden.    Die  Bildung  völlig  oder  großenteils  freistehender, 

Denkmäler  griech.  u.  röm.  Skulptur,  3.  Aufl.  9 


130  STATUARISCHE  GRUPPEN 

geschlossener  Rundgruppen,    sei   es    als  Einzelwerke,    sei    es    als 
Teile  eines  Zyklus,   die  bisher  nur  in  Verbindung  mit  der  Archi- 
tektur  in  Giebeldarstellungen    oder   auf  Akroterien    von   Tempeln 
vorkam  und  die  mit  Recht  als  die  schwierigste  Aufgabe  der  Skulptur 
bezeichnet  wird,    ist  das  Verdienst    der   griechischen  Plastik    des 
vierten  Jahrhunderts  v.  Chr.  und  des  Hellenismus.     Die  herrliche 
Gruppenbildung  von  Eirene  mit  Plutos  (Tafel  21)  und  Hermes  mit 
dem  Dionysos  (Fig.  21)   deutet   zwar   in  einem  gemütvollen  Stim- 
mungsbilde  auf   das   innige  Verhältnis   des  Erwachsenen   zu  dem 
Kinde  hin,  zeigt  aber  in  der  formalen  Gestaltung  noch  kein  eng 
verbundenes   Ganzes.     Dagegen    gehört    von    rein    künstlerischem 
Standpunkte  betrachtet  in  diesen  Kreis  auch  die  Ringergruppe  zu 
Florenz,   die  nach  Gegenstand  und  Bestimmung   sich  ausscheidet 
(vgl.  S.  105).    Von  den  hier  abgebildeten  Proben  ist  künstlerisch  am 
bedeutendsten  und  zeitlich  am  frühesten  die  Vereinigung  der 
Niobe  mit  der  jüngsten  Tochter  (Tafel  40),  die  als  Mittel- 
punkt der  von  rechts  und  links  herbeieilenden  Kinder  in  den  Inter- 
kolumnien  einer  Säulenhalle   nahe   der  Cellawand    eines  Tempels 
des  Apollo,  beziehungsweise  der  Artemis  oder  einer  tempelartigen 
Grabanlage  Kleinasiens  passende  Aufstellung  gefunden  haben  mag; 
als  plastische  Verkörperung  der  Vergänglichkeit  irdischen  Glücks 
eignet  sie  sich  vortrefflich  zum  Schmucke  eines  Grabes.     Die  er- 
schütternde Sage  von  dem  Untergange  der  blühenden  Familie  ist 
in    der    Poesie    bereits    von    Homer    erzählt,    von    Äschylus    und 
Sophokles  dramatisch  gestaltet,  auch  schon  in  der  Kunst  des  fünften 
Jahrhunderts  v.  Chr.  behandelt  worden  und  war  auf  diese  Weise 
im  Volksbewußtsein  lebendig  geblieben.  Die  RettungderLeiche 
des    Patroklos    durch    Menelaos    (Tafel  41),    ein    Sinnbild 
wahrer  Heldenfreundschaft,  und  der  auf  einem  Abenteuer  begrif- 
fene,   in    seiner    Eigenart    vorzüglich    charakterisierte   Odysseus 
(Tafel  43    und    Fig.  47)    führen    ebenso   wie    die   Darstellung 
des    tragischen    Schicksals    des    Laokoon    und    seiner 
Söhne  (Tafel  42)  unmittelbar  in  die  Kämpfe  um  Ilion.     Die  Ori- 
ginale ersterer  Bildwerke  waren  vielleicht  Bruchstücke  eines  größe- 
ren Zyklus  homerischer  Szenen,    die  in  fortlaufender  Reihe  oder 
geeigneter    Gruppierung    aufgestellt   waren.      Die    Laokoongruppe, 
die  freilich  erst  um  50  v.  Chr.  entstanden  ist,  trägt  dennoch  durchaus 
den  Charakter   hellenistischer  Kunst  an  sich;    sie  hat   vermutlich 
dereinst  die  Nische  einer  baulichen  Anlage  profaner  oder  religiöser  Be- 
stimmung ausgefüllt.   Und  wenn  wirklich  die  von  Winckelmann  vorge- 
schlagene Deutungder  Gruppe  des  Kunst  lersMenelaos(Tafel44) 
zu  Recht  bestehen  kann,  dann  darf  man  annehmen,  daß  die  Szene  des 
Wiedersehens  des  Orestes  und  der  Elektra  am  Grabe  des  Vaters, 


NIOBE  131 

das  in  ebenso  einfacher  als  rührender  Weise  zum  Ausdruck  ge- 
bracht ist,  im  engen  Anschluß  an  des  Äschylus  und  Sophokles 
Tragödien  erfunden  worden  ist  und  dereinst  vielleicht  ein  römi- 
sches Theater  geschmückt  hat.  Zu  den  anderen  lebhaft  bewegten 
Statuengruppen  pathetischer  Richtung  steht  sie  durch  die  weihe- 
volle Stimmung  des  ganzen  Bildes  in  wirkungsvollem  Kontrast; 
auch  zeitlich  ist  sie  von  jenen  zu  trennen,  da  sie  das  Werk  einer 
eklektischen,  zu  Rom  im  ersten  vor-  und  nachchristlichen  Jahr- 
hundert tätigen  Kunstschule  ist,  welche  ältere  griechische  Einzel- 
figuren kopierte  oder  daraus  neue  Gruppen  zusammenstellte. 

„Hellas  urväterlicher  Sagen  göttlich  heldenhafter  Reichtum," 
das  Epos  und  Drama,  sie  haben  die  Stoffe  zu  diesen  statuarischen 
Gruppen  geliefert.  Bei  der  Lektüre  der  griechischen  und  römi- 
schen Poesie  gewinnen  sie  als  plastische  Veranschaulichungen  der 
Mythologie  unschätzbare  Bedeutung,  Bild  und  Lied  werden  durch 
gemeinsame  Betrachtung  wechselseitig  erläutert.  Vom  künstleri- 
schen Standpunkte  aus  ist  es  die  durch  völlige  Beherrschung  der 
Technik  bedingte  Gebundenheit  und  Geschlossenheit  der  Figuren, 
der  architektonische  Aufbau,  die  Wahl  des  spannenden  Moments, 
das  maßvolle  Pathos  in  dem  Ausdruck  der  Gefühle,  welche  unbe- 
grenzte Bewunderung  erregen  und  für  alle  Zeiten  mustergültig 
bleiben  werden. 


TAFEL  40 
NIOBE 

MARMORSTATUE.    FLORENZ,  OFFIZIEN. 

Die  Mutter  Niobe  ist  mit  ihrer  jüngsten  Tochter  vereinigt. 
Sie  sind  sich  beide  entgegengeeilt.  Die  Tochter  ist  entsetzt  mit 
ausgestreckten  Armen  vor  den  Füßen  der  Mutter  zusammenge- 
brochen. Die  Mutter  beugt  sich  zu  ihr  nieder  und  hat  sie  in  ihren 
Schoß  aufgenommen;  sie  drückt  die  Tochter  mit  der  rechten  Hand 
an  sich;  mit  der  Linken  zieht  sie  den  Mantel  empor,  um  das  Kind 
zu  schützen  gegen  die  Pfeile,  die  von  oben  niederschwirren.  Denn 
in  der  Höhe  befinden  sich,  unsichtbar,  die  erzürnten  Gottheiten 
Apollon  und  Artemis,  die,  um  ihre  beleidigte  Mutter  zu  rächen, 
die  Kinder  der  Niobe  mit  den  ferntrefFenden  Geschossen  erlegen. 


132  STATUARISCHE  GRUPPEN 

Niobe,  die  Tochter  des  Tantalos,  wie  dieser  des  Umgangs 
der  Götter  gewürdigt,  hatte  wie  dieser  im  Übermut  sich  erhoben 
und  sich  vermessen,  glücklicher  als  Apolls  und  Artemis  Mutter, 
als  Leto,  sein  zu  wollen,  weil  ihr  reicherer  Kindersegen  als  jener 
geworden.  Mit  dem  Verluste  ihrer  ganzen  blühenden  Kinderschar 
muß  sie  büßen.  Sie  blickt  zum  Himmel  auf,  von  wo  ihr  das  Un- 
heil kommt,  in  stummem  Schmerze.  Ihre  hoheitsvolle  Gestalt,  die 
unter  Göttern  gewandelt,  ist  geknickt.  Sie  beugt  sich  vor  der  Ge- 
walt des  Überirdischen,  die  wie  ein  Sturm  über  ihr  hinbraust; 
aber  alles  Weh  des  Irdischen,  Endlichen  ist  in  ihrem  schmerz- 
vollen Aufblick  vereinigt. 

Im  felsigen  Gebirge  vollzieht  sich  das  Unheil.  Der  Boden 
ist  ungleich  und  steigt  nach  rechts  an.  Hier  nach  rechts  hinauf 
war  die  Mutter  zu  eilen  im  Begriffe,  wie  ihr  Jüngstes  sich  ihr 
entgegenwirft  und  sie  nun  innehält,  den  Oberkörper  etwas  und  den 
Kopf  ganz  herumwendet,  so  daß  er  in  Vorderansicht  erscheint. 
Die  Figur  baut  sich  reliefartig  auf  und  ist  nur  für  die  Betrachtung 
von  ihrer  einen  breiten  Vorderseite  komponiert.  Sie  bildete  den 
Mittelpunkt  einer  größeren  Gruppe;  von  rechts  und  von  links  kamen 
bestürzt  eilende  Kinder  auf  sie  zu,  und  weiterhin  folgten  verwun- 
dete und  sterbende.  Alle  überragte  bei  weitem  die  Mutter.  Die 
Kinder  sind  —  und  dies  gilt  auch  von  der  jüngsten  Tochter  — 
im  Verhältnis  zur  Mutter  zu  klein  gebildet,  und  zwar  aus  künst- 
lerischen Gründen,  um  diese  als  Hauptfigur  recht  hervortreten  zu 
lassen.  Die  Gruppe  hat  niemals  etwa  einen  Giebel  geschmückt, 
auch  nie  ganz  frei  gestanden,  sondern  befand  sich  vermutlich  ur- 
sprünglich zwischen  den  Säulen  eines  prachtvollen  Baues  aufge- 
stellt, vielleicht  eines  Grabmals  in  Kleinasien,  in  den  Interkolumnien 
eines  schmalen  Peristyls  nahe  vor  der  Cellawand. 

Uns  sind  nur  Kopien  eines  großen  Teiles,  jedoch  nicht  der 
vollständigen  Gruppe  erhalten;  die  Niobestatue  wurde  1583  zu  Rom 
nebst  anderen  Teilen  der  Gruppe  gefunden,  und  zwar  in  der  Nähe 
der  Laterankirche,  auf  dem  Esquilin,  wo  zur  Kaiserzeit  die  Parks 
und  Villen  der  Nobilität  lagen;  es  sind  nicht  sehr  gut  gearbeitete, 
aber  im  wesentlichen  als  treu  anzusehende  Kopien.  Sie  befinden 
sich  jetzt  in  den  Uffizien  zu  Florenz,  aus  dem  Besitz  der  Medici 
stammend. 

Plinius  (naturalis  historia  36,  28)  erwähnt  das  Original  als  zu  Rom 
in  dem  im  Marsfeld  am  Marcellustheater  gelegenen  Apollotempel  be- 
findlich; man  zweifle,  berichtet  er,  ob  es  von  Skopas  oder  von  Praxi- 
teles gearbeitet  sei.  Man  kannte  also  den  Künstler  in  Rom  nicht  mehr. 
Der  Annahmederdortigen  Kunstverständigen  könnenwir  nurbeitreten, 
insofern  das  Werk  jedenfalls  in  den  Kreis  des  Skopas  und  Praxiteles 


NIOBE 

FLORENZ,    UFFIZIEN 


F.    BRUCKMANN    A.-G  ,    MÜNCHEN 


NIOBE 


133 


Fig.  44.    Kopf  der  Niobe 


und  in  die  Blütezeit  der  attischen  Kunst  des  viertenjahrhunderts  v.  Chr. 
gehört.  Gerade  das  Pathos  in  Gestalten  und  Gesichtern  ist  dem  Kunst- 
charakter des  ersteren  eigen.  Allein  daß  die  Gruppe  wirklich  von 
Skopas  oder  Praxiteles  war,  ist  nicht  wahrscheinlich ;  sie  zeigt  Ele- 
mente des  Stils  beider  Künstler  vereinigt  und  gehört  deshalb  ver- 
mutlich einem  dritten  Unbekannten  an,  und  zwar  einem  Meister, 
der  zu  den  damals  in  Kleinasien  vielfach  tätigen  Attikern  zählte. 
Von  dort  hat  Sosius,  wahrscheinlich  Konsul  32  v.  Chr.,  der  unter 
Antonius  als  dessen  Legat  38  v.  Chr.  in  Syrien  und  Kilikien  be- 
fehligte, die  Originale  nach  Rom  gebracht  und  in  jenem  nach  glor- 
reichen Siegen  wohl  gleich  nach  35  v.  Chr.  von  ihm  wiederher- 
gestellten Apollotempel  geweiht.     So  mag  Ovid,  der  die  Metamor- 


134  STATUARISCHE  GRUPPEN 

phosen  vor  der  8  n.  Chr.  erfolgten  Verbannung  entworfen  hatte, 
die  Bildwerke  gekannt  haben,  als  er  die  Tötung  der  Niobiden  und 
die  Bestrafung  der  Niobe  in  plastisch  anschaulicher,  psychisch  er- 
greifender Art  gestaltete.  Und  in  der  Tat,  nicht  nur  die  wechsel- 
volle Schilderung  von  den  durch  unsichtbare  Macht  getroffenen 
Kindern  VI,  218  ff.  erinnert  lebhaft  an  die  statuarischen  Gruppen, 
sondern  vor  allem  die  Verse  VI,  298  ff. 

(Filia)  ultima  restabat;  quam  toto  corpore  mater, 
Tota  veste  tegens  ,Unam  minimamque  relinque! 
De  multis  minimam  posco'  clamavit  .et  unam !' ') 

vergegenwärtigen  im  Liede  die  Schmerzensmutter  mit  der  jüngsten 
Tochter,  Indes  darf  höchstens  unbewußte  Nachahmung  angenommen 
werden.  Denn  abgesehen  von  tatsächlicher  Verschiedenheit  zwi- 
schen Bild  und  Dichtung,  es  zeigt  Ovid  auch  sonst,  z.  B.  in  der 
Orpheusszene,  so  viel  selbständige  Gestaltungskraft,  daß  er  jene 
Metamorphose  in  Anlehnung  an  die  überkommene  populäre  Sage 
gar  leicht  aus  eigenem  Können  frei  geschaffen  hat.  Immerhin  bietet 
der  Vergleich  von  Kunst  und  Poesie  in  diesem  Falle  besonderes 
Interesse  und  trägt  zur  Auffassung,  zum  Verständnis  beider  wesent- 
lich bei. 


TAFEL  41 

RETTUNG  DER  LEICHE  DES  PATROKLOS 
DURCH  MENELAOS 

MARMORGRUPPE  IN  DER  LOGGIA  DEI  LANZI  ZU  FLORENZ. 

Die  nicht  unbedeutend  über  Lebensgröße  gebildete  Gruppe, 
die  nur  in  den  unteren  Teilen  erhalten  war,  aber  durch  eine  gleich- 
falls in  Florenz  und  zwar  im  Palazzo  Pitti  befindliche  Wiederholung 
ergänzt  worden  ist-),  wurde  im  sechzehnten  Jahrhundert  zu  Rom 
jenseits  des  Tiber  vor  Porta  Portese,  der  alten   porta  Portuensis 


')  „Nur  die    letzte  noch  blieb,  die   ganz    mit  dem  Leibe  die   Mutter, 
Ganz  in  Gewand  umhüllt:  O  die  einzige  laß  mir,  die  kleinste! 
Von  so  vielen  die  kleinste  verlang  ich  nur,  rief  sie,  und  eine!" 
")  Die  Abbildung  ist  nach  dem  im  Dresdner  Albertinum  zusammen- 
gesetzten Abguß  wiedergegeben,  der,  anderen  Repliken  entsprechend,  die 
richtige  Stellung  des  Kopfes  und  der  Arme  bietet;  im  Originale  ist  ersterer 
nach  der  Wiederholung  im   Palazzo  Pitti  gesenkt. 


PATROKLOS  MIT  MENELAOS  135 

aus  welcher  die  Straße  nach  dem  von  Kaiser  Claudius  angelegten 
Hafen  Portus  führte,  in  einer  nach  dem  Besitzer  Velli  benannten 
Vigna  entdeckt  und  1570  von  Großherzog  Cosimo  I.  von  Medici 
gekauft.  Anfangs  am  Fuße  des  Ponte  vecchio  unweit  des  Palazzo 
Pitti  aufgestellt,  hat  sie  später  an  der  Piazza  Signoria  in  der  Mitte 
der  Loggia  dei  Lanzi  zwischen  teilweise  hochberühmten  Werken 
antiker  und  neuerer  Kunst  den   Ehrenplatz  gefunden. 

Ein  ungemein  kräftiger  und  elastisch  gebildeter,  bärtiger  Krieger, 
dessen  mächtiger  Helm  mit  Reliefs  des  Kentauren-  und  Lapithen- 
kampfes  sowie  zweier  Adler  mit  ausgebreiteten  Flügeln  geschmückt 
ist,  und  der  um  den  Körper  ein  Schwertgehänge  und  einen  ge- 
gürteten, behufs  freierer  Bewegung  an  der  rechten  Seite  offenen 
Chiton  trägt,  schreitet  mit  vorgesetztem  linken  Beine  in  stürmischem 
Schritte  weitaus;  er  hat  den  rechten  Arm  um  den  Oberleib  eines 
schlanken,  in  zarten  Formen  gebildeten,  der  Rüstung  und  Kleidung 
beraubten  Jünglings  geschlungen,  der  unter  der  linken  Brust  tödlich 
getroffen  niedergestürzt  ist  und  nun  dem  Gedränge  der  Schlacht 
und  der  Gewalt  der  Feinde  entzogen  wird.  Der  Jüngling  ist  auf  die 
Knie  gesunken  und  läßt  den  linken  Arm  schlaff  herabhängen,  den 
rechten  Arm  hat  er  auf  den  linken  des  Freundes  gelegt,  der  wieder 
seinerseits  mit  diesem  den  Toten  stützt.  Der  seitwärts  wohl  gegen 
nachdrängende  Feinde  zurückblickende  Kopf  des  Retters  zeigt  in 
den  leidenschaftlich  erregten  Zügen,  dem  schmerzvollen  Auge,  dem 
wie  zum  Schreien  nach  Hilfe  weitgeöffneten  Munde  starke  innere 
Erregung  und  bange  Sorge  um  das  Schicksal  des  gefallenen  Ge- 
nossen. Der  schön  gelockte  Kopf  des  Jünglings  hängt  hilflos  nach 
rückwärts  herab,  das  zarte  Antlitz  mit  dem  gebrochenen  Auge  und 
leise  geöffneten  Munde  hat  den  frischen  Hauch  blühenden  Lebens 
bewahrt.  Beide  Krieger  erregen  in  hohem  Maße  die  Teilnahme 
und  das  Mitleid  des  Betrachters. 

Über  die  Deutung  hat  man  lange  gestritten  und  vielleicht  auch 
heutzutage  noch  nicht  allgemeine  Übereinstimmung  erzielt,  daran 
freilich  niemals  gezweifelt,  daß  sie  im  troischen  Sagenkreise  zu 
suchen  sei.  Lange  galt  auf  Grund  einer  Stelle  der  kleinen  Ilias') 
der  Tote  für  Achill,  der  Retter  für  Aias;  seitdem  man  jedoch  an 
einem  im  Vatikanischen  Museum  zu  Rom  aufbewahrten  Bruchstücke 
einer  Wiederholung  des  jugendlichen  Genossen  zwei  Wunden,  die 
eine  wie  auf  unserer  Gruppe,  die  andere  am  Rücken  zwischen 
den  Schultern  beachtet  hat,  ist  die  richtige  Folgerung  gezogen  wor- 
den, daß  dieses  Fragment  das  Original  getreuer  nachbildet,  und  auf 
Grund  von  Ilias    16,  806  ff.  und    16,  821   ff.  die   Rettung  des  von 


')  Epicorum  graecorum  fragmenta  coUeg.    Kinkel  I.  S.  39  fragm.  2. 


136  STATUARISCHE  GRUPPEN 

Euphorbos  und  Hektor  gerade  an  jenen  Stellen  tödlich  verwundeten 
Patroklos  durch  Menelaos  erkannt  worden.  Indes  die  ganze  Situation 
der  Handlung  und  das  bedeutende  künstlerische  Verdienst  des  Bild- 
werkes wird  erst  durch  vollständige  und  genaue  Lektüre  des  sech- 
zehnten und  insbesondere  des  siebzehnten  Gesanges  der  Ilias  er- 
schlossen. Der  Künstler  hat  aus  den  vom  Beginne  des  Kampfes 
bis  zur  Bergung  des  Leichnams  mannigfaltig  und  wechselvoll  sich 
gestaltenden  Szenen  dem  Gesetze  der  Rundplastik  gemäß  nur  einen 
Augenblick  zur  Darstellung  wählen  können  und  als  glückliche  Zu- 
sammenfassung des  wesentlichen  Inhalts  des  siebzehnten  Gesangs 
die  Rettung  des  Patroklos  durch  Menelaos  gewissermaßen  frei  ge- 
schaffen '). 

Das  Originalwerk,  dessen  Berühmtheit  und  Beliebtheit  durch 
mehrere  teilweise  ausgezeichnete  Nachbildungen  meistens  aus  rö- 
mischer Zeit-)  bezeugt  ist,  wird  wegen  der  naturalistischen  Cha- 
rakteristik sowie  des  starken  Ausdrucks  der  Muskulatur  mit  der 
Laokoongruppe  verglichen  und  mit  pergamenischer  Kunst  in  Ver- 
bindung gebracht,  indes  auch  wegen  des  Vorzugs  künstlerischer 
Bildung  überhaupt  und  insbesondere  der  weisen  Beschränkung  in 
dem  Ausdruck  der  Gefühle  und  der  zwar  bedeutenden,  aber  nicht 
übertriebenen  Entwicklung  der  Muskulatur,  endlich  wegen  der  in 
dem  jugendlichen  Helden  sich  offenbarenden,  an  die  Blütezeit  attischer 
Kunst  gemahnenden  Schönheit  höher  geschätzt  und  sogar  bis  in 
die  letzten  Jahrzehnte  des  vierten  Jahrhunderts  v.  Chr.  hinaufge- 
rückt. Hinsichtlich  der  Körperbildung  des  Menelaos  kann  man  auf 
einige  mit  der  Kunst  des  Lysipp  in  Verbindung  gebrachte  Werke 
hinweisen  und  für  die  Gestalt,  sowie  den  Gesichtsausdruck  des 
Helden  vielleicht  auch  in  der  Kunst  des  Skopas,  als  dessen  wesent- 
liche Neuerung  die  Wiedergabe  der  Gefühle  in  leidenschaftlich  er- 
regten Gesichtern  lebhaft  bewegter  Figuren  gilt,  Anknüpfungspunkte 
finden.  Eine  ähnliche  Gruppenbildung  freilich  ist  aus  jener  Epoche 
bei  Rundwerken  bisher  nicht  nachgewiesen  worden ;  auch  zeigt  die 
starke  Betonung  des  Anatomischen  und  bedeutende  Hervorhebung 
des  Pathos  auf  spätere  Zeit  hin,  so  daß  die  Entstehung  des  Werkes  in 
hellenistischer  Epoche,  etwa  im  dritten  Jahrhundert  v.Chr.,  in  hohem 


')  An  die  Darstellung  erinnern  allerdings  Ilias  17,  580  f.  und  17,  588  f.; 
aber  es  ist  sehr  unwahrscheinlich,  daß  der  Künstler  gerade  diesen  bestimmten 
Moment  im  Auge  gehabt  und  illustriert  hat.  Die  Erbeutung  der  Wehr  und 
Waffen  des  Patroklos  durch  Hektor,  wodurch  in  dem  Bildwerk  die  völlige 
Nacktheit  des  Gefallenen  sich  erklärt,  ist  insbesondere  Ilias  17,  122  erwähnt. 

-)  Weitbekannt  ist  die  bei  dem  Palazzo  Braschi  zu  Rom  im  Freien 
aufgestellte  Pasquinogruppe,  nach  der  die  Pasquillendichtung  benannt  wird. 
Diese  vortreffliche  Wiederholung  ist  griechische  Arbeit. 


I 


RETTUNG    DER    LEICHE    DES  PATROKLOS   DURCH  MENELAOS 

FLORENZ,    LOGGIA   DEI    LANZI 


F.    BRUCKMANN    A.-G..     MÜNCHEN 


LAOKOON  137 

Grade  wahrscheinlich  ist.  Genauere  Datierung  derartiger  Werke 
aus  rein  stilistischen  Gründen  ist  unmöglich.  Der  Künstler,  die  Ver- 
anlassung und  der  Ort  der  Aufstellung  der  Gruppe  als  eines  Einzel- 
werkes oder  in  Gemeinschaft  mit  anderen  Darstellungen  aus  der 
Ilias  können  in  Ermanglung  schriftlicher  Nachrichten  und  verwandter 
Monumente  nicht  ermittelt  werden.  Doch  der  hervorragende  Wert 
des  Werkes  ist  auch  in  ihm  allein  wohlbegründet.  Denn  die  Voll- 
endung der  Komposition,  die  trotz  des  größten  Gegensatzes  der 
Bewegung  meisterhafte  Geschlossenheit  sowie  der  pyramidale  Auf- 
bau der  Gruppe  befriedigen  das  Auge,  ebenso  wie  das  Gemüt  durch 
die  aus  dem  Epos  gewählte,  wahrhaft  dramatische  Handlung,  den 
scharfen  Kontrast  der  Situation  und  des  Schicksals  beider  Krieger, 
die  Betätigung  aufopfernder  Heldenfreundschaft,  die  Äußerung  tiefen 
Seelenlebens  mächtig  bewegt  und  ergriffen  wird.  Aber  auch  darum 
ist  das  ebenso  kraftvolle  als  edle  Bildwerk  wertvoll  und  schätzbar, 
weil  es  mitten  in  das  Kampfgetümmel  um  Troja  versetzt  und  das 
herrliche  Lied  der  Patrokleia  dem  Gedächtnisse  wachruft. 


TAFEL  42 
LAOKOONGRUPPE 

MARMOR.     ROM,  VATIKANISCHES  MUSEUM  (CORTILE  DEL 
BELVEDERE).     ETWAS  ÜBERLEBENSGROSS. 

Das  berühmteste  Werk  antiker  Bildhauerkunst  ist  1506  auf 
dem  Esquilin  in  der  Nähe  der  Titusthermen  wie  durch  ein  gnädiges 
Geschick  wohlerhalten ')  zutage  gekommen,  alsbald  in  Erinnerung 


^)  Abgesehen  von  unbedeutenderen  Ergänzungen  sind  unschön  und 
unrichtig  in  Stuck  erneuert  der  rechte  Arm  des  Laokoon,  der  ursprünglich 
nach  dem  Hinterkopfe  zu  gekrümmt  war,  der  halbe  rechte  Unterarm  mit 
Hand  des  älteren,  der  rechte  Arm  des  jüngeren  Sohnes,  der  wohl  ein  wenig 
nach  innen  gebogen  war.  Das  Problem  der  Ergänzung  beschäftigt  seit 
langem  Künstler  und  Kunstforscher.  Eine  neue,  im  Dresdner  Albertinum 
ausgeführte  Wiederherstellung  ist  Fig.  45  abgebildet.  Herr  Geheimer  Hof- 
rat Professor  Dr.  Treu,  dem  die  Erlaubnis  zur  Veröffentlichung  verdankt 
wird,  betrachtet  das  Problem  auch  dadurch  noch  nicht  für  abgeschlossen. 
Dessen  Lösung  wird  jetzt  erleichtert  durch  den  Fund  des  schlangen- 
umwundenen rechten  Armes  von  Laokoon;  er  stammt  von  einer  etwas 
verkleinerten  Kopie. 


138 


STATUARISCHE  GRUPPEN 


Fig.  45.    Laokoongruppe 
Ergänzung,  ausgeführt  im  K.  Albertinum  zu  Dresden 


an  die  berühmte  Schilderung  des  Vergil ')  richtig  gedeutet  und  mit 
der  von  Plinius  dem  Älteren-)  gepriesenen  Gruppe  der  rhodischen 
Künstler  Hagesandros,  Polydoros  und  Athenodoros  identifiziert 
worden.    Sogleich  nach  der  Auffindung  von  Papst  Julius  II.  ange- 


')  Aeneis  2,  199  fF. 

2)  Naturalis  historia  36,  37.  Da  das  Haus  des  Titus,  in  dem  nach 
Plinius  das  Werk  aufgestellt  war,  auf  dem  Palatin  lag,  so  muß  der  Stand- 
ort gewechselt  haben. 


TAFEL   42 


LAOKOONGRUPPE 

ROM,   VATIKANISCHES    MUSEUM 


F.    BRUCKMANN    A.-G.,    MÜNCHEN 


LAOKOON  139 

kauft,  hat  es  von  Anfang  an  die  Begeisterung  gleichzeitiger  nam- 
hafter Künstler  und  Gelehrten  wachgerufen,  wurde  insbesondere 
von  Michelangelo  als  Wunder  der  Kunst  gepriesen  und  hat  neben 
den  Werken  dieses  Meisters  in  der  Plastik  der  Folgezeit,  nament- 
lich in  der  Barockskulptur  hinsichtlich  der  Richtung  auf  das  Pathe- 
tische und  der  Darstellung  des  nackten  menschlichen  Körpers  nicht 
immer  im  günstigen  Sinne  vorbildlich  gewirkt.  Nachdem  die  Gruppe 
auch  in  der  Blütezeit  der  deutschen  Literatur  von  Winckelmann 
und  Goethe  überaus  geschätzt  und  in  sehr  lehrreichen,  indes  von 
persönlicher  Auffassung  beeinflußten  Ausführungen  gewürdigt,  sowie 
von  Lessing  in  einer  durch  die  scharfe  Beweisführung  klassischen, 
in  den  Ergebnissen  großenteils  verfehlten  Erörterung  über  das  gegen- 
seitige Verhältnis  von  bildender  Kunst  und  Poesie  behandelt  worden 
war,  ist  der  richtige  Standpunkt  für  die  Beurteilung  in  dem  Grade 
verrückt  worden,  daß  der  subjektiven  Auffassung,  wie  kaum  bei 
einem  anderen  Kunstwerke  ersten  Ranges,  weiter  Spielraum  gegeben 
ist.  Aufgabe  des  Archäologen  ist  es,  den  wahren  Wert  der  Gruppe 
mit  unbefangenem  Auge  und  nüchternem  Urteile  im  Zusammen- 
hange mit  anderen  Werken  der  nämlichen  Richtung  festzustellen. 
Der  ehemalige  Aufstellungsort,  von  dem  das  Werk  nach  Rom 
gelangt  ist,  kann  in  Ermanglung  urkundlicher  Nachrichten  nicht 
ermittelt  werden;  neuerdings  hat  man  unter  Berücksichtigung  datier- 
barer, mit  der  Künstlerfamilie  in  Verbindung  gebrachter  rhodischer 
Inschriften  die  Entstehungszeit  der  Gruppe  um  50  v.  Chr.  gesetzt. 
Der  dargestellte  Mythus  ist  in  der  nämlichen  Fassung  bereits  im 
vierten  Jahrhundert  monumental  nachweisbar  und  später  von  dem 
Dichter  Euphorion  ')  aus  Chalkis  auf  Euböa,  Bibliothekar  zu  An- 
tiochia  in  Syrien  zur  Zeit  des  Königs  Antiochos  des  Großen 
(224  — 187),  im  Epos  behandelt  worden:  Laokoon,  der  troische 
Priester  des  thymbräischen  Apollo,  wird,  als  er  bei  dem  schein- 
baren Abzüge  der  Griechen  von  Troja  in  Vertretung  des  getöteten 
Priesters  des  Poseidon  diesem  Gotte  ein  Opfer  darbrachte,  wegen 
einer  früher  von  ihm  begangenen  Entweihung  des  Apolloheiligtums 
samt  seinen  Söhnen  durch  zwei  aus  dem  Meere  gesandte  Schlangen 
getötet.  Die  Lösung  der  schwierigen  Aufgabe  einer  Verknüpfung  von 
fünf  lebenden  Wesen  zu  einer  geschlossenen  Rundgruppe  ist  durch 
die  Mannigfaltigkeit  der  Schlangenwindungen  ermöglicht  worden. 
Als  Grundlage  des  Aufbaus  der  Gruppe  und  Andeutung  des  Ortes 
der  Handlung  dient  der  Altar,  auf  dessen  linker  Kante  Laokoon-) 


')  Vgl.  Servius  zu  Vergil,  Aeneis  2,  201. 

2)  Aus  einer  um  das  Haupt  herumlaufenden  Rille  und  aus  Blätter- 
resten hinter  den  Ohren  ist  zu  erschließen,  daß  er  durch  einen  Lorbeer- 
kranz als  Priester  des  Apollo  gekennzeichnet  war. 


140  STATUARISCHE  GRUPPEN 

niedergesunken  ist  und  festgehalten  wird,  nachdem  während  der 
Darbringung  des  Opfers  Vater  und  Söhne  von  den  plötzlich 
herbeieilenden  Schlangen  überrascht  worden  waren.  In  der  Wahl 
des  blitzartigen  Moments  und  in  der  Vergänglichkeit  des  Vor- 
gangs ist  ein  wesentliches  künstlerisches  Verdienst  der  Gruppe 
begründet;  bewundernswert  sind  die  bei  richtiger  Ergänzung  der 
fehlenden  Teile  noch  wirksamere  Geschlossenheit  der  Gruppe  und 
der  Aufbau  zu  einem  nach  linkshin  verschobenen  Dreieck,  welches 
die  mächtige  Gestalt  des  Vaters  durchschneidet,  ferner  die  äußerst 
einfache,  auf  einen  Blick  zu  überschauende,  von  jeder  Überladung 
mit  Details  freie  Komposition,  der  innerhalb  der  Gebundenheit  dar- 
gestellte lebhafte  Kontrast  in  Stellung  und  Bewegung  der  Figuren 
und  die  trotz  scheinbarer  Regelmäßigkeit  des  Ganzen  im  einzelnen 
vorherrschende  Mannigfaltigkeit  der  Motive,  endlich  die  Abstufung 
der  Gefahr  und  der  Wechsel  in  dem  Ausdruck  der  Gefühle.  Durch 
die  fast  gänzliche  Abstreifung  der  Gewandung  haben  die  Künstler 
ihre  durch  genaueste  anatomische  Kenntnis  des  menschlichen  Kör- 
pers erreichte  Virtuosität  in  der  Behandlung  des  Nackten  absicht- 
lich zur  Geltung  gebracht.  Vermutlich  haben  die  Bildhauer  von 
der  mächtig  blühenden  medizinischen  Wissenschaft,  von  der  exakten 
Beobachtung  der  Anatomie  und  Physiologie,  wie  sie  seit  der  Ptole- 
mäerzeit  besonders  in  Alexandria  sich  entwickelte,  eingehend  Kennt- 
nis genommen,  um  für  ihre  Technik  daraus  großen  Gewinn  zu  ziehen. 
Jenen  großen  Vorzügen  gegenüber  wird  man  einzelne  Unrichtig- 
keiten in  den  Proportionen,  wie  die  übertriebene  Länge  des  linken 
Beines  des  Vaters  und  die  Verkürzung  des  linken  Unterschenkels 
am  älteren  Sohne,  mehr  als  den  Ausfluß  einer  mit  Michelangelo 
vergleichbaren,  über  Kleinigkeiten  sich  hinwegsetzenden  künstle- 
rischen Genialität  betrachten  als  einen  das  Auge  wirklich  störenden 
Fehler  darin  finden;  insbesondere  ist  die  Kleinheit  der  Knaben- 
gestalten im  Verhältnis  zu  dem  mächtigen  Körper  des  Vaters  das 
Ergebnis  wohlerwogener  Berechnung,  welche  Laokoon  als  die  Haupt- 
person der  Gruppe  hervortreten  zu  lassen  bezweckt  hat.  Freilich 
darf  auch  nicht  die  fast  aufdringlich  erscheinende  Art  der  Bildhauer, 
mit  ihrem  Können  zu  prunken,  die  Muskulatur  des  Körpers,  die  Leiden 
der  Seele  beinahe  in  übertriebenem  Maße  zur  Schau  zu  tragen,  dem 
von  dem  ersten  Eindruck  gebannten  Auge  des  Betrachters  entgehen. 
Die  Bewunderung  des  Gesamtwerkes  wird  gesteigert  durch  den 
Anblick  der  einzelnen  Figuren:  Die  ganze  Bewegung  des  über- 
aus kräftig  gebildeten,  in  reifem  Mannesalter  gedachten  Vaters  ist 
veranlaßt  durch  den  plötzlichen  Biß  der  Schlange.  Laokoon,  der  mit 
dem  ganzen  Aufgebot  der  Kraft  seiner  starken  Arme  Angriff  und  Um- 
schlingung abzuwehren  sucht,  zieht  unwillkürlich  die  linke  Seite  und 


LAOKOON 


141 


Fig.  46.    Kopf  des  Laokoon 


den  Unterleib  ein,  preßt  Brustkasten  und  Rippen  fast  übertrieben 
heraus,  wirft  den  Kopf  (Fig.  46)  weit  zurück,  um  seinem  maß- 
losen Schmerze  in  einem  aus  dem  Innersten  tief  ausgeholten  Seufzer, 
den  man  aus  dem  lebensvollen  Marmor  beinahe  zu  vernehmen  glaubt, 
Luft  zu  machen.  Der  Schmerz  prägt  sich  auf  dem  in  allen  seinen 
Flächen  durchfurchten  Gesichte,  sowie  in  dem  wirrbewegten  Kopf- 
und  Barthaare  aus,  sammelt  sich  aber  in  den  verzogenen,  nach  auf- 
wärts wie  nach  höherer  Hilfe  gerichteten  Augen.  So  wird  immer- 
hin trotz  des  Mitleid  weckenden  Jammers  eines  schwachen  und 
hilflosen  Geistes  gewissermaßen  das  Gefühl  stiller  Ergebenheit,  der 
Ausdruck  einer  „großen  und  gesetzten  Seele"  erzielt,  der  durch 
die  meisterhafte  Vereinigung  des  körperlichen  und  seelischen  Leids 


142  STATUARISCHE  GRUPPEN 

stets  die  Aufmerksamkeit  auf  sich  gezogen  und  Bewunderung  er- 
regt hat.  Zu  Laokoon  hinauf  blickt  der  ältere  Sohn,  erschreckt 
und  entsetzt  über  das  Schicksal  des  Vaters,  eine  rhythmisch  voll- 
endete Figur,  die  großenteils  losgelöst  aus  dem  engen  Verbände 
der  Gruppe,  durch  die  Möglichkeit  der  Befreiung  leise  Hoffnung 
bestehen  läßt.  Sein  jüngerer  Bruder  aber  ist,  an  Armen  und  Beinen 
fest  umschlungen,  des  Widerstandes  kaum  mehr  fähig  und  zeigt 
in  dem  weit  zurückgeworfenen  Kopfe  hilflosen,  dem  Erstarren  des 
Todes  nahen  Jammer. 

Dem  die  Teile  der  Gruppe  betrachtenden  und  beurteilenden 
Auge  erschließen  sich  neue  Gesichtspunkte,  neue  Vorzüge.  Doch 
wird  der  Beschauer  von  selbst  vom  Einzelnen  wieder  dem  Ganzen 
sich  zuwenden,  um  dann  vielleicht  zum  Einzelnen  zurückzukehren. 
So  wird  er  die  Behauptung  Winckelmanns  bestätigt  finden,  daß 
der  "Weise  darinnen  zu  forschen  und  der  Künstler  unaufhörlich 
zu  lernen  finde,  und  die  Worte  anerkennen,  mit  denen  Goethe 
seine  berühmte  Darlegung  über  Laokoon  einleitet:  „Ein  echtes 
Kunstwerk  bleibt,  wie  ein  Naturwerk,  für  unseren  Verstand  immer 
unendlich:  es  wird  angeschaut,  empfunden:  es  wirkt,  es  kann  aber 
nicht  eigentlich  erkannt  werden."  Doch  muß  man  in  der  Gruppe 
nicht  zu  viel  suchen,  den  Meistern  keine  Erwägungen  unterschieben, 
welche  unerweislich  oder  unwahrscheinlich  sind.  Dann  wird  eine 
ungestörte  und  reine  Würdigung  erzielt  werden. 


TAFEL  43 
ODYSSEUS 

MARMORSTATUE.     VENEDIG,  DOGENPALAST. 

Der  in  großen  Ansichten  auf  der  Tafel  erscheinende  Kopf  sitzt 
ungebrochen  auf  der  im  Texte  (Fig.  47)  gegebenen  Statue  des  Odys- 
seus  im  archäologischen  Museum  des  Dogenpalastes  zu  Venedig. 
Sie  kam  dahin  schon  1584  aus  der  Sammlung  Grimani.  Diese  vor- 
treffliche, etwas  über  halblebensgroße  Marmorstatue  (Höhe  0,98) 
ist  eine  mit  besonderer  Sorgfalt  gearbeitete  Kopie  des  zweiten  Jahr- 
hunderts n.  Chr.  nach  einem  verlorenen  Originale  der  hellenisti- 
schen Epoche,  des  dritten  bis  zweiten  Jahrhunderts  v.  Chr.,  als 
dessen  Material  mit  größter  Wahrscheinlichkeit  Bronze  angenommen 


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ODYSSEUS 


143 


werden  darf.  Der 
stützende  Baum- 
stamm neben 
dem  rechten 
Beine  ist  von 
dem  Marmor- 
kopisten hinzu- 
gefügt; er  hat 
einen  Schuppen- 
panzer über  den 
Baumstamm  ge- 
hängt, dereinen 
sehr  eleganten 
Eindruck  macht. 
Die  Eleganz  und 
Sorgfalt  in  sol- 
chen nebensäch- 
lichen Dingen 
ist  den  Kopien 
ausderhadriani- 
sehen  und  an- 
toninischenZeit 
besonders  cha- 
rakteristisch ; 
auch  die  zier- 
liche, runde  pro- 
filierte Basis, die 
freilich  viel  ge- 
flickt, aber  gro- 
ßenteils     antik 


Fig.  47.    Marmorstatue  des  Odysseus 


ist,  gehört  zu  den  Eigenheiten  jener  Kopien.  Die  Beine  sind  zwar 
gebrochen,  aber  bis  auf  Unwesentliches  antik.  Die  einzige  größere 
Ergänzung  ist  der  rechte  Arm,  der  nebst  dem  Schwerte  ganz  neu 
ist.  Nur  der  Ansatz  des  nach  hinten  bewegten  Oberarmes  ist 
antik;  der  Unterarm  muß  mehr  nach  vorn  gebogen  gewesen  sein, 
wie  ein  an  der  rechten  Seite  des  Unterleibes  sichtbarer,  modern 
abgearbeiteter  Rest  einer  im  Marmor  stehen  gelassenen  Stütze 
zeigt,  die  den  Körper  mit  dem  Unterarm  oder  dem  Schwert,  das, 
wie  die  leere  Scheide,  wohl  auch  in  Marmor  gearbeitet  war,  ver- 
bunden haben  muß.  Von  der  Schwertscheide  ist  nur  das  Ende 
ergänzt.  Daß  solche  Attribute  wie  Waffen,  die  in  älterer  Zeit 
immer  besonders  angesetzt  zu  sein  pflegen,  aus  dem  Marmor  ge- 
arbeitet  werden,   ist   ebenfalls   eine    der   charakteristischen  Eigen- 


144  STATUARISCHE  GRUPPEN 

Schäften  der  Kopien  jener  Epoche,  der  unsere  Figur  angehört.  Am 
linken  Arme  ist  nur  die  Hand  und  der  herabhängende  Zipfel  der 
Chlamys  modern.  Der  Kopf  ist,  wie  bemerkt,  ungebrochen  und 
ganz  vortrefflich  selbst  mit  der  Nase,  deren  Spitze  nur  ein  wenig 
beschädigt  ist,  erhalten. 

Das  Werk  teilte  mit  anderen  unserer  besterhaltenen  und  vor- 
züglichsten Antiken  (wie  dem  Bologneser  Kopfe  der  Athena  Lemnia, 
Fig.  7  und  8)  das  Schicksal,  irrtümlicherweise  für  modern  oder 
wenigstens  für  ganz  überarbeitet  gehalten  worden  zu  sein.  In  Wirk- 
lichkeit ist  es  ganz  vortrefflich  erhalten  und  gerade  am  Kopfe  auch 
nicht  im  geringsten  überarbeitet. 

Der  Held  trägt  den  Pilos,  den  ihm  die  spätere  Kunst  als  dem 
Wanderer  und  Schiffer  gegeben  hat;  denn  eine  solche  Filzmütze 
war  in  Wirklichkeit  die  Tracht  jener  Leute.  Der  Pilos  ist  hier 
nicht  steif  und  emporragend,  sondern  weich  anliegend.  Auf  der 
rechten  Schulter  hat  der  Held  die  Chlamys  geknüpft,  deren  Ende 
er  um  den  linken  Oberarm  gewickelt  hat.  Der  große  runde  Knopf 
auf  der  rechten  Schulter  ist  mit  dem  Brustbilde  der  Athena  ge- 
schmückt, der  Göttin,  deren  Liebling  Odysseus  war,  die  ihn  durch 
alle  Gefahren  schützend  hindurchgeleitete.  Die  Göttin  ist  mit  dem 
zurückgeschobenen  korinthischen  Helme  und  mit  hinten  kurz  auf- 
genommenem Haare,  sowie  mit  der  Ägis  auf  der  Brust  gebildet. 
Auch  dieses  Detail  ist  von  unberührter  antiker  Arbeit  und  ent- 
spricht, wie  überhaupt  die  ganze  Chlamys,  dem  Geschmacke  der 
Epoche,  in  welcher  die  Marmorkopie  entstand,  so  sehr,  daß  wir 
in  diesem  Gewände  mit  dem  Knopfe  eine  Zutat  des  Marmorkopisten 
vermuten  und  das  einstige  Bronzeoriginal  ganz  unbekleidet  denken 
dürfen.  Die  leere  Scheide  an  der  linken  Seite  beweist,  daß  Odysseus 
in  der  verlorenen  Rechten  das  Schwert  hielt. 

In  lebhaftem  Ausschreiten  einen  Moment  innehaltend,  wendet 
er  den  Kopf  um,  blickt  etwas  empor  und  erhebt  den  linken  Arm : 
der  Vorsichtige  hemmt  den  Schritt,  indem  er  eine  Gefahr  zu  be- 
merken glaubt.  Durchdringenden  Blickes  späht  er  in  die  Ferne. 
Atemlose  Spannung  bannt  ihn  an  die  Stelle.  Man  sieht,  wie  der 
Leib  eingezogen  und  der  Mund  geöffnet  ist,  indem  er  den  Atem 
anhält;  es  wird  die  obere  Reihe  der  Zähne  sichtbar.  Der  Blick 
der  weit  offenen  Augen  ist  gespannt,  die  Muskeln  der  Stirne  sind 
zusammengezogen  und  bilden  Falten.  Offenbar  späht  er  nicht  nur, 
sondern  lauscht  auch  in  die  Ferne.  Odysseus  ist  nicht  in  offenem 
Kampfe,  sondern  in  einem  Abenteuer  gedacht,  wo  es  Vorsicht  und 
Kühnheit,  Geistesgegenwart  und  Schlagfertigkeit  zugleich  gilt,  kurz, 
in  einer  Situation,  die  so  recht  für  den  Helden  paßt,  der  eben 
jene  Eigenschaften  in  der  vollkommensten  Weise  in  sich  vereinte. 


ODYSSEUS  145 

Welches  Abenteuer  der  Künstler  gemeint  hat,  läßt  sich  nicht 
mehr  mit  Sicherheit  bestimmen.  Vielleicht  gehörte  noch  eine  zweite 
Figur  dazu.  Man  könnte  an  eine  Gruppe  von  Odysseus  und 
Diomedes  denken,  da  diese  beiden  Helden  von  der  antiken  Kunst 
überaus  häufig  zusammen  dargestellt  worden  sind,  namentlich  in 
dem  Abenteuer  vom  Raube  des  Palladions.  Da  pflegt  in  Odysseus 
die  vorsichtige  Klugheit,  in  Diomed  der  trotzige  Mut  charakterisiert 
zu  sein.  Wirklich  gibt  es  Darstellungen  dieser  Art,  in  welchen 
Odysseus  recht  ähnlich  wie  in  unserer  Statue  erscheint.  Wir 
würden  ihn  dann  auf  dem  Wege  zum  Raube  des  Palladions  denken. 
Doch  wahrscheinlicher  dünkt  uns  noch,  daß  er  auf  dem  Wege  zum 
Lager  des  Rhesos  gedacht  ist,  also  in  dem  ir  der  Doloneia  der 
llias  beschriebenen  Abenteuer.  Sicher  ist  der  Sinn  des  Motivs: 
er  schreitet  durch  die  Nacht,  stutzt,  horcht,  späht  und  hält  das 
gezückte  Schwert  bereit. 

Der  Künstler  hat  die  Anregung  zu  seiner  Figur  wahrschein- 
lich aus  der  Malerei  genommen.  In  Gemälden  waren  Stoffe  wie 
der  hier  zugrunde  liegende  längst  bearbeitet  worden,  ehe  sie  in 
die  Rundplastik  übergingen.  Erst  die  hellenistische  Kunst  nach 
Alexander,  der  eben  das  Original  unserer  Statue  angehört,  hat  das 
Stoffgebiet  der  Rundplastik  dadurch  wesentlich  erweitert,  daß  sie 
in  großem  Umfange  Szenen  aus  der  Heroensage  aufnahm,  die  man 
bis  dahin  nur  in  Gemälden  dargestellt  hatte.  Ein  Werk  der  gleichen 
Art  und  Richtung  hellenistischer  Kunst  ist  die  Gruppe  des  Menelaos, 
der  den  toten  Patroklos  rettet  (Tafel  41),  wo  der  bärtige  Kopf  des 
Helden  auch  eine  nahe  stilistische  Parallele  zu  unserem  Odysseus 
bietet;  ebenso  gab  es  zu  der  Laokoongruppe  (Tafel  42)  wahrschein- 
lich in  der  Malerei  ältere  Vorstufen. 

Odysseus  trägt  einen  kurzen,  kräftigen,  stark  gelockten  Voll- 
bart und  ebenso  krauslockiges  Haupthaar,  das  über  der  Stirne  kräftig 
emporwächst,  den  oberen  Teil  der  Ohren  bedeckt  und  hinten  ziem- 
lich kurz  gehalten  ist.  Dieser  tatkräftige  Held  kann  keinen  lang- 
hängenden Haarschmuck  brauchen.  Die  Trennung  der  Locken  über 
der  Stirne  ist  mit  feiner  Absicht  nicht  über  die  Mitte  gelegt,  sondern 
etwas  an  die  Seite,  um  den  Schein  des  Nachlässigen,  nicht  des 
Symmetrischen,  Würdigen  zu  erwecken.  Mit  seinem  stark  gelockten, 
schwarzen  Haare  ist  dieser  Odysseus  recht  ein  Typus  des  Südländers, 
der  er  auch  im  Charakter  ist,  während  andere  unter  den  griechischen 
Heroen  sich  mehr  unserem  nordischen  Heldenbegriffe  nähern. 

Der  Künstler  hat  das  Vielgewandte,  Vielerfahrene,  Listig- Kluge 
im  Wesen  des  Odysseus  und  seine  Verbindung  mit  schlagfertiger 
Kraft  vortrefflich  anzudeuten  verstanden.  Das  liegt  in  allen  Zügen, 
insbesondere  in  der  nicht  hohen,  aber  reich  modellierten,  durch- 

Denkmäler  griech.  u.  röm.  Skulptur,  3.  Aufl.  10 


146  STATUARISCHE  GRUPPEN 

gearbeiteten  Stirne,  dem  durchdringenden  Blicke,  der  kräftigen, 
etwas  gebogenen  Nase,  dem  kleinen,  beredten,  vom  Bart  umrahmten 
Munde.  Das  alles  kommt  nicht  dem  Unerfahrenen,  nicht  dem 
Schwärmer  oder  Denker,  sondern  dem  tatkräftigen,  in  den  mannig- 
faltigsten Lebenserfahrungen  geprüften  Manne  zu.  Ein  psycho- 
logisches Meisterstück  ist  geschaffen,  gleich  beweiskräftig  für  die 
wundervolle  Anschaulichkeit  der  homerischen  Poesie  wie  für  die 
schöpferische  Gestaltungskraft  der  hellenistischen  Plastik  und  der 
wohl  vorbildlich  wirkenden  Malerei.  Denn  wie  in  jener  des 
Odysseus  Charakter  deutlich  sich  ausprägt,  so  blieb  er  im  Volks- 
bewußtsein lebendig  und  tritt  in  der   Kunst  vor  Augen. 


TAFEL  44 
ORESTES  UND  ELEKTRA 

MARMORGRUPPE  DES  KÜNSTLERS  MENELAOS. 
ROM,  THERMENMUSEUM 

Diese  Gruppe  befand  sich  seit  Anfang  des  siebzehnten  Jahr- 
hunderts in  der  Villa  Ludovisi  zu  Rom  und  wurde  erst  kürzlich 
bei  dem  Abbruche  jener  Villa  in  einen  neuen  Palast,  das  Museo 
Boncompagni,  überführt.  Sie  steht  jetzt  im  Thermenmuseum.  Über 
ihre  Herkunft  ist  nichts  Sicheres  bekannt;  daß  sie  auf  dem  Boden 
der  Villa  selbst  gefunden  sei,  bleibt  nur  Vermutung. 

Eine  stattliche  Frauengestalt  und  ein  Jüngling,  der  um  einen 
Kopf  kleiner  ist,  halten  sich  umfangen.  Die  Frau  legt  ihm  die 
Rechte  auf  die  Schulter,  der  Jüngling  hat  seinen  linken  Arm  um 
ihren  Rücken  gelegt.  Ihre  vorgestreckten  Arme  sind  zwar  beide 
ergänzt,  allein  sie  können  nicht  viel  anders  gewesen  sein.  Die 
Frau  steht  ruhig  und  fest  auf  dem  rechten  Beine,  während  sie  das 
linke  entlastet  zur  Seite  gesetzt  hat ;  ihr  Oberkörper  wendet  sich 
dem  Jüngling  zu,  auf  den  sie  mit  inniger  Teilnahme  herabsieht. 
Der  Jüngling  hält  im  Schreiten  inne ;  er  ruht  auf  dem  linken  Fuße, 
indem  er  den  rechten  in  Schrittstellung  nachzieht;  er  blickt  zu  der 
Frau  empor.  Die  Absicht  des  Künstlers  war  offenbar,  zu  zeigen, 
daß  der  Jüngling  herankommt,  während  die  Frau  schon  länger  an 
dem  Platze  ist.  Das  innige  Umfangen  und  Anblicken  deutet  an, 
daß  es  sich  um  eine  Wiedervereinigung  lange  Getrennter  handelt. 
Nur  um  möglichst  viel  Vorderansicht  von  den  Figuren  zu  zeigen. 


ORESTES   UND  ELEKTRA 

ROM,    THERMENMUSEUM 


ORESTES  UND  ELEKTRA  147 

erscheinen  sie  sich  weniger  unmittelbar  zugewendet,  als  es  beim 
Zusammentreffen  zweier  Personen  natürlich  wäre.  Ein  Auseinander- 
gehen, ein  Abschied  der  beiden  ist  indes  ganz  offenbar  nicht  dar- 
gestellt, und  die  Deutungen  der  Gruppe,  welche  von  dieser  An- 
nahme ausgehen,  sind  deshalb   falsch. 

Zu  einer  bestimmten  Erklärung  verhelfen  zwei  charakteristische 
Umstände;  erstlich  der  Altersunterschied  der  beiden  dargestellten 
Personen,  die  Frau  muß  älter  sein  als  der  Jüngling;  zweitens  das 
kurz  geschorene  Haar  der  Frau;  sie  muß  in  Trauer  sein  —  zum 
Zeichen  der  Trauer  schnitten  die  Frauen  ihr  Haar  ab  —  und  dieser 
Umstand  muß  für  die  Person  ein  sehr  wesentlicher  sein,  da  ihn 
der  Künstler  offenbar  als  Hauptkennzeichen  benutzt  hat. 

Die  treffendste  und  deshalb  gewiß  einzig  richtige  Deutung, 
die  sich  auf  dieser  Grundlage  ergibt,  ist  schon  von  Winckelmann 
gefunden  worden :  es  ist  das  Wiedersehen  von  Orestes  und  Elektra 
am  Grabe  des  Vaters.  Elektra  ist  die  ältere.  Sie  hat,  selbst  schon 
erwachsen,  das  Kind  Orestes  einst  beim  Tode  des  Agamemnon 
aus  Klytaimestras  Händen  gerettet.  Kaum  mannbar  geworden, 
noch  als  unausgewachsener  Jüngling  kommt  Orestes  zur  Rachetat 
nach  der  Heimat  zurück.  Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  daß  man  auf 
der  Bühne  die  beiden  in  ähnlicher  Weise  in  der  Größe  verschieden 
sein  ließ,  wie  es  die  Gruppe  zeigt;  ja  diesen  starken,  die  Natur 
übertreibenden  Größenunterschied  hat  der  Künstler  vermutlich  eben 
von  der  Bühne,  zu  deren  konventionellem  Stile  er  sehr  wohl  paßt, 
übernommen.  —  Elektra  ist  in  Trauer:  sie  trat  auf  der  Bühne  mit 
der  Maske  der  xorniuoc  rrap^t-evo:;  auf,  d.  h.  sie  hatte  eine  Maske 
mit  kurzgeschorenem  Haare ;  sie  hat  seit  dem  Tode  des  Vaters 
die  Trauer  um  ihn  nicht  aufgegeben,  und  dieser  Zug  ist  der  wich- 
tigste in  ihrem  Wesen  und  ward  von  allen  Dichtern  festgehalten. 

„Auf  die  erste  erschütternde  Bewegung  bei  einer  Wieder- 
erkennung folgt  naturgemäß  die  ruhigere  Freude,  worin  man  des 
Glückes  genießt,  indem  man  sich  fragt:  bist  du  es  wirklich?  Diesen 
schönen  Moment,  worin  die  Geschwister  aus  dem  Innern  heraus  die 
Bestätigungeines  Glückeszu  schöpfen  verlangen,  welchem  äußere  Um- 
stände die  höchste  Wahrscheinlichkeit  gegeben  haben,  obgleich  sie  in 
völlig  verschiedener  und  kaum  noch  erinnerlicher  Gestalt  einander 
verließen,  drückt  die  Gruppe  recht  bestimmt  aus  .  .  .  der  Jüngere 
scheint  gespannter  zur  Schwester  aufzublicken,  sie  mit  mehr  Ruhe  ihr 
Auge  auf  ihn  zu  heften,  damit  auch  durch  diese  Art  der  Über- 
legenheit der  Unterschied  des  Alters  .  .  sichtbar  werde  .  .  Durch 
das  kurz  abgeschnittene  Haar  wird  sie  zur  unglücklichen  und  im 
Druck  der  harten  Mutter  selbständigen  und  entschiedenen  Elektra." 
Dies  die  schönen  Worte,  mit  denen  Welcker  die  Winckelmannsche 


148  STATUARISCHE  GRUPPEN 

Deutung,  die  er  mit  Recht  „die  einzig  richtige"  nannte,  begründet 
hat.  —  Hinzufügen  läßt  sich  noch,  daß,  wie  Emil  Braun  bemerkte, 
die  Marmorstütze  hinter  Orestes  gewiß  nicht  ohne  Absicht  die 
sonst  nicht  gewöhnliche  Form  einer  Stele  hat:  sie  soll  das  Grab 
Agamemnons  andeuten,  an  dem  die  Tragiker  die  Begegnung  statt- 
finden lassen. 

Otto  Jahn  hat  geglaubt,  noch  eine  bessere  Deutung  zu  finden, 
indem  er  Merope  mit  ihrem  Sohne  zu  erkennen  vorschlug.  Ob- 
wohl die  Deutung  vielen  Beifall  gefunden  hat,  ist  sie  doch  durch- 
aus zu  verwerfen.  Merope  erkennt  ihren  Sohn  wieder,  nachdem 
sie  eben  das  Beil  gegen  ihn  geschwungen  hat,  um  ihn  als  ver- 
meintlichen Mörder  ihres  Sohnes  zu  töten.  Diese  Situation  von 
gewaltigster  Aufregung  und  starker,  äußerer  Bewegung  ist  unver- 
einbar mit  der  fest  und  ruhig  stehenden  Frauengestalt  der  Gruppe. 
Dann  aber  paßt  auch  das  kurz  geschorene  Haar  nicht  zur  Merope. 
Denn  wenn  auch  innerlich  trauernd  um  Mann  und  Kinder,  war 
diese  doch  Fürstin  und  dem  regierenden  König  vermählt;  sie  konnte 
auf  der  Bühne  gewiß  nicht  als  xot3pi|aoc,  „mit  geschorenem  Haare", 
auftreten  '),  sondern  mußte  äußerlich  als  Königin  erscheinen.  End- 
lich aber  hat  die  Geschichte  der  Merope  nicht  entfernt  diejenige 
Berühmtheit  genossen  wie  die  der  Elektra:  der  antike  Beschauer 
kann  bei  unserer  Gruppe  nur  zuerst  an  Elektra  gedacht  haben. 
Übrigens  beschäftigen  sich  auch  die  anderen  Gruppen,  welche  der- 
selben Kunstschule  angehören  wie  die  vorliegende,  gerade  mit  Orest, 
Elektra  und  Pylades.  Dagegen  sind  Kunstdenkmäler,  die  sich  sicher 
auf  Merope  bezögen,  überhaupt  nicht  nachzuweisen. 

Die  sonstigen  Deutungen  der  Gruppe,  Andromache  Astyanax, 
Penelope  Telemach,  Aithra  Demophon,  Aithra  Theseus,  Deianeira 
Hyllos,  Iphigenie  Orest  u.  a.  verdienen  kaum  der  Erwähnung. 

Der  Künstler  der  Gruppe  hat  seinen  Namen  an  der  Stütze 
neben  Orestes  Bein  angebracht.  Dort  steht :  MeveXaoq  STe9dvoD 
|aa\)r|Tilc  eTroi'ei.  Stephanos,  der  Lehrer  des  Künstlers  Menelaos, 
ist  uns  bekannt  als  Schüler  des  Pasiteles,  der  zu  Pompejus  Zeit 
lebte.  Menelaos  gehört  sonach  in  den  Beginn  der  Kaiserzeit.  Er 
arbeitete  ohne  Zweifel  in  Rom.  Die  Schule,  der  er  angehörte, 
pflegte  ältere  Werke  zu  kopieren  oder  Gruppen  zusammenzustellen 


')  Auch  wenn  sie  bei  Quintilian  11,  3,  73  „tristis"  (traurig)  hieße, 
würde  dies  gar  nichts  dafür  beweisen;  indessen  an  jener  von  Jahn  ange- 
führten Stelle  ist  Merope  Konjektur,  und  zwar  eine  ganz  unnütze;  über- 
liefert ist  „Aerope  in  tragoedia  tristis".  Es  genügt,  an  das  Epigramm  des 
Nikomedes  auf  ein  Gemälde  des  Ophelion  (Anth.  Pal.  6,  316)  zu  erinnern, 
um  zu  erkennen,  daß  eben  die  „tristis  Aerope"  (die  traurige  Aerope)  ein 
bekannter  Typus  war. 


ORESTES  UND  ELEKTRA  149 

aus  älteren  Einzelfiguren.  Wahrscheinlich  ist  auch  unsere  Gruppe 
auf  diese  Art  zustande  gekommen.  Es  ist  zu  Rom  im  Museo  Tor- 
lonia  eine  Wiederholung  der  Frauenfigur,  aber  mit  einem  ganz 
anderen  Kopfe  erhalten,  die  auch  nicht  in  der  Gruppenverbindung 
stand  wie  die  unsrige.  Es  ist  möglich,  daß  Menelaos  für  die  Frauen- 
figur ein  Vorbild  aus  dem  vierten  Jahrhundert  benutzte  und  die 
Gruppierung,  den  Kopftypus  und  die  Figur  des  Orestes  hinzuer- 
fand. Dazu  würde  stimmen,  daß  der  Mantel  des  Orest  eine  nicht 
griechische,  wohl  aber  in  der  ersten  Kaiserzeit  sehr  beliebte  Ge- 
stalt zeigt.  Die  vielfach  gebilligte  Vermutung,  daß  das  Ganze  Kopie 
nach  einer  griechischen  Grabesgruppe  sei,  daß  so  dereinst  die  still 
Vertrauten,  Mutter  und  Sohn,  auf  der  letzten  Ruhestätte  vereinigt 
standen,  erscheint  sehr  sinnig,  doch  nicht  erweisbar. 


VIII.  HELLENISTISCHE  KUNST') 


Die  Entstehung  und  Entwicklung  der  hellenistischen  Kunst 
vollzieht  sich  großenteils  im  engen  Zusammenhange  mit  der  Ge- 
staltung der  staatlichen  Verhältnisse  nach  Alexanders  des  Großen 
Tode.  Die  in  den  früheren  Epochen  als  Pflegerinnen  des  Kunst- 
lebens hervorragenden  Städte  des  griechischen  Festlandes,  insbe- 
sondere Athen,  treten  infolge  ihrer  politischen  Schwächung  in  den 
Hintergrund;  die  neuen  Residenzen  der  Diadochenreiche,  Antiochia, 
Seleucia,  vor  allem  Pergamon  und  Alexandria,  die  aufblühenden 
Seehandelsstädte,  wie  Rhodos,  werden  Mittelpunkte  einer  reichen, 
von  der  vergangenen  Zeit  in  Auffassung  und  Inhalt  teilweise  völlig 
verschiedenen,  in  ihren  Leistungen  höchst  originellen  Kunst- 
richtung. Denn  das  gesteigerte  Wohlleben,  die  große  Prachtliebe, 
der  veränderte  Geschmack  haben  der  Architektur,  Plastik,  Malerei 
und  nicht  am  wenigsten  dem  Kunstgewerbe,  der  sogenannten  Klein- 
kunst, bei  der  Errichtung  und  Ausschmückung  öffentlicher  Bauten 
und  Anlagen,  bei  der  prunkvollen  Ausstattung  der  Wohnräume  be- 
güterter Privaten  und  der  mit  ihnen  verbundenen  Gärten  neue, 
mannigfaltige  Aufgaben  gestellt. 

In  den  bedeutendsten  Werken  der  Plastik  erregen  hinsicht- 
lich der  äußeren  Erscheinung  vor  allem  das  großartig  Monumen- 
tale, die  Kolossalität  und  Kühnheit  der  Komposition,  sodann  die 
meisterhafte  Technik  und  die  durch  genaue  Kenntnis  der  Anatomie 
erreichte  Virtuosität  der  Behandlung  des  Nackten  die  höchste  Be- 
wunderung; durch  den  effektvollen  Realismus  und  das  tiefe  dra- 
matische Pathos  der  Darstellung  lebhaft  bewegter  Figuren  und  Szenen 
werden  die  Nerven  des  Betrachters  ergriffen  und  erschüttert,  während 


')  Vgl.  auch  die  einschlägigen  Bemerkungen  in  der  Einleitung  zu 
Abschnitt  VII:  „Statuarische  Gruppen"  und  X:  „Griechische  und  römische 
Porträts". 


HELLENISTISCHE  KUNST 


151 


der     Anblick 
der  einfachen 

und  edlen 

Skulpturen 
des  Parthenon 

der  liebrei- 
zenden Schöp- 
fungen praxi- 
telischen  Mei- 
ßels Auge  und 
Gemüt  befrie- 
digen und  er- 
heben.  Diese 

bezeichnen- 
den Merkmale 
vereinigt  in 
sich  das  künst- 
lerisch bedeu- 
tendste Bild- 
werk der  Epo- 
che, die  gran- 
diose Barock- 
figurderNike 
von  Samo- 
thrake  (Fig. 
48),  die  meist 
als  Weihge- 
schenk des 
DemetriosPo- 
liorketes    zur 

Erinnerung 
an  den  306  v. 
Chr.    in    den 

cyprischen  Gewässern  über  Ptolemäos  errungenen  Seesieg  gilt, 
gestiftet  in  das  zur  Diadochenzeit  weitberühmte  Kabirenheiligtum. 
Vorn  auf  einem  Dreiruderer  dahineilend  nimmt  die  hochgewach- 
sene, schlanke  Göttin  mitten  im  Gewühl  an  der  Seeschlacht  teil 
und  verkündet  durch  Trompetenstoß  laut  den  Erfolg,  indem  sie 
dadurch  die  Streiter  nur  noch  leidenschaftlicher  und  kampfes- 
freudiger stimmt;  die  linke  Hand  hält  gemäß  eines  Ergänzungsver- 
suches als  Siegeszeichen  den  kreuzförmigen  Schmuck  eines  feind- 
lichen Fahrzeuges.  Genialität  der  Auffassung,  wechselvoller  Rhyth- 
mus der  stürmischen  Bewegung,  raffiniert  behandelte  Draperie  der 


Fig.  48.     Nike  von  Samothrake.    Marmor.    Paris,  Louvre 


152 


HELLENISTISCHE  KUNST 


vom  Meerwind  an  den 
Körper  gepeitschten  Ge- 
wandung, vollendeter  Aus- 
druck der  weiblichen  For- 
men, souveräne  Beherr- 
schung der  Marmortech- 
nik, alle  diese  Vorzüge 
machen  die  vielbewun- 
derte Gestalt  auch  im 
Torso  zu  einem  Meister- 
werk der  Plastik  der  Grie- 
chen, ja  aller  Zeiten  über- 
haupt. Jene  charakteri- 
stischen Eigentümlich- 
keiten des  Hellenismus 
treten  auch  aus  einem  der 
glänzendsten  Denkmäler, 
den  Reliefdarstellungen 
der  Gigantenkämpfe  vom 
pergamenischen  Altar 
ebenso  wie  aus  der  zwar 
viel  jüngeren,  indes  stil- 
verwandten Laokoon- 
gruppe  (Tafel  42)  deut- 
lich hervor  und  sind  teil- 
weise auch  in  der  des 
Menelaos  mit  der  Leiche  des  Patroklos  (Tafel  41)  und 
in  dem  Kopfe  des  Odysseus  (Tafel  43)  erkennbar.  Diese  im 
höchsten  Grade  pathetische  Kunstrichtung  spiegelt  gewissermaßen 
den  gewaltigen  und  gewaltsamen  Charakter  des  Hellenismus 
und  seiner  durch  ihre  Persönlichkeit  in  der  Geschichte  mächtig 
hervortretenden  Fürsten  wider,  deren  kraftvolles  Wesen  in  ihren 
Porträts  bezeichnend  zum  Ausdruck  kommt  (vgl.  Fig.  59).  Den 
Herrschern  war  bei  der  Aufstellung  prächtiger,  in  die  Augen  fal- 
lender Kunstwerke  die  Erhöhung  des  eigenen  Ruhmes  und  Stei- 
gerung des  Glanzes  ihrer  Regierung  erstes  Ziel.  In  diesem  Sinne 
ist  die  Errichtung  der  umfangreichen  Siegesdenkmäler  zur  Erin- 
nerung an  die  Bezwingung  der  wilden  und  tapferen  Galater  zu  Per- 
gamon  erst  in  vollem  Maße  verständlich;  von  ihnen  vermutlich  ist 
in  dem  „sterbenden  Gallier"  (Tafel  46,  vgl.  auch  Fig.  52  und  53) 
eine  Nachbildung  erhalten,  die  als  hervorragendes  Muster  der  natura- 
listischen Kunstrichtung  der  Zeit  überhaupt  und  insbesondere  der 
verständnisvollen  Auffassung  und  Wiedergabe  des  fremden  Volks- 


Fig.  49.    Marmorkopf  eines  Barbaren 
Brüssel,  Musee  Royal  du  Cinquantenaire 


HELLENISTISCHE  KUNST 


153 


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Fig. 50.  Marmorrelief  mit  ländlicher  Szene :  Bauer,  eine  Kuh  zur  Stadt  treibend. 
Gute  römische  Kopie  eines  hellenistischen  Originals.    München,  Glyptothek 


typus  von  hohem  Werte  ist.  In  gleicher  Beziehung  gewinnt  der 
weit  unterlebensgroße  Kopf  eines  Barbaren  (Fig.  49)  erhöhte  Be- 
deutung. An  ihm  wirkt  im  Gegensatz  zu  abgeblaßten  Kopien  der 
köstliche  Reiz  des  lebensfrischen  Originals;  dem  Stile  nach  scheint 
es  der  älteren  pergamenischen  Schule  verwandt  zu  sein  und  dem- 
gemäß noch  ins  dritte  Jahrhundert  v.  Chr.  zu  gehören;  indes  ist 
längere,  weiter  reichende  Wirkung  dieser  Kunstrichtung  sogar  bis 
in  die  Wende  des  zweiten  und  ersten  Jahrhunderts  v.  Chr.  wohl 
möglich.  „Der  Kopf  stammt  aus  einer  Kampfgruppe  und  gehört 
einem  kämpfenden,  aber  unterliegenden  Barbaren  an,  der  mit  An- 
spannung der  letzten  Kräfte  mutvoll  vorwärtsdringen  möchte,  dessen 
Pathos  voll  höchster  Energie,  aber  auch  schmerzvoll  ist,  darin  sich 
sein  Unterliegen  ankündet.  Der  Blick  der  Augen  ist  von  wunder- 
barem, packendem  Ausdruck,  der  Mund  weit  geöffnet,  die  obere 
Zahnreihe  sichtbar,   die  Stirne  über  den  Augen  stark  zusammen- 


154 


HELLENISTISCHE  KUNST 


Fig.  51.  Bronzekopf  des  jugend- 
lichen Satyrs,  voll  naiver,  fröh- 
licher Anmut,  voll  harmloser 
Schalkhaftigkeit.  Feines,  früh- 
hellenistisches Original.  Mün- 
chen, Glyptothek 


gezogen."  An  Wange  und  Ober- 
lippe sind  Bartspuren  bemerkbar. 
Die  Deutung  freilich  macht  große 
Schwierigkeiten.  „Das  Haar  ist  im 
Nacken  hinten  kurz  gehalten,  am 
Oberkopf  ist  es  lang  wachsen  ge- 
lassen. Das  lange,  schlaffe  Haar 
des  Oberkopfes  ist  von  der  linken 
Kopfseite  und  von  hinten  her  alles 
nach  der  rechten  Seite  hinüberge- 
kämmt und  hier  über  der  rechten 
Schläfe  in  einen  Knoten  zusammen- 
gedreht, dessen  Spitze  leider  abge- 
brochen ist."  Diese  Mode  läßt  sich 
schon  frühzeitig,  etwa  zu  Beginn 
unserer  Zeitrechnung,  als  germa- 
nisch'), später  besonders  bei  den 
Bastarnern,  monumental  nachwei- 
sen. Deshalb  hat  man  in  dem  Bild 
einen  Vertreter  dieses  Stammes 
vermutet  und  weiter  angenommen, 
daß  das  Wandervolk,  das  von  der  oberen  Weichsel  herkam,  wohl 
schon  um  die  Wende  des  dritten  und  zweiten  Jahrhunderts  v.  Chr. 
in  die  Pontusgegend  gelangte,  jedenfalls  bereits  184  v.  Chr.  in  den 
Ländern  der  Donaumündung  festsaß,  auf  diesen  Zügen  Galatern 
sich  anschloß  und  in  deren  Diensten  gegen  Diadochenfürsten 
kämpfte;  vielleicht  ist  es  sogar  selbst  mit  ihnen  zusammengestoßen. 
Zur  Erinnerung  an  den  Sieg  mag  ein  hellenistischer  Machthaber  das 
Denkmal  errichtet  haben.  Indes  das  sind  alles  unerweisbare  Hypo- 
thesen. Falls  wirklich  jene  eigentümliche  Haartracht  schon  früh- 
zeitig ausschließlich  auf  Germanen  beschränkt  und  nicht  auch  bei 
anderen  Barbaren,  bei  den  Galatern  Gebrauch  war,  dann  gewinnt 
der  Kopf  erhöhtes  Interesse  für  uns  Deutsche  als  älteste  Darstellung 
eines  Deutschen,  doch  auch  ohne  sichere  Erklärung  erzielt  er  als 
charakteristisches  Werk  des  Hellenismus  in  seiner  monumentalen 
Kraft,  in  seinem  heroischen  Pathos  gewaltige  Wirkung. 

Auf  die  Stoffe  der  hellenistischen  Kunst  hat  die  gleichzeitige 
Poesie  nach  verschiedenen  Richtungen  hin  wirksamen  Einfluß  ge- 
wonnen. Zwar  sind  auch  die  althergebrachten  Sagen,  die  im  Volke 
stets  lebendig  geblieben  waren,  in  der  Dichtkunst  behandelt  und 
in  der  Plastik  dargestellt  worden  (vgl.  die  bereits  angeführten  Bild- 


')  Vgl.  auch  Tacitus,  Germania  38. 


DER  NIL  155 

werke  Tafel  41 — 43),  aber  auch  viele  entlegene  Mythen,  wie  das 
Leben  und  Lieben  der  niederen  Götter  des  erotischen,  bacchischen, 
neptunischen  Kreises,  gewannen  vorwiegend  durch  die  alexandri- 
nische  Poesie  und  durch  gleichzeitige  Schöpfungen  der  Kunst  Po- 
pularität (siehe  auch  Fig.  51).  Das  gemütvolle  Idyll,  jene  originelle 
Leistung  der  hellenistischen  Dichtkunst,  in  welchem  die  wechsel- 
vollen Erscheinungen  des  Naturlebens,  das  ernste  und  heitere  Trei- 
ben der  Landleute  usw.  mit  sichtbarer  Liebe  und  genauer  Beobach- 
tung bis  ins  einzelne  geschildert  werden,  hat  sein  Gegenbild  in 
genreartigen  Erzeugnissen  alexandrinischer  Kunst,  die  verschiedene 
Vertreter  der  unteren  Bevölkerungsklassen,  den  Fischer  mit  seiner 
Beute,  den  die  Kuh  zum  Markte  treibenden  Lc»ndmann  (Fig.  50) 
u.  a.  m.  naturgetreu  gebildet  haben.  Einer  verwandten  Anschauungs- 
weise verdankt  die  kolossale  Statue  des  in  voller  Ruhe  hingelagerten, 
von  fröhlichen  Knaben  umspielten  „Vaters"  Nil  (Tafel  45)  ihre  Ent- 
stehung, in  welchem  die  behagliche  und  heitere  Stimmung  eines 
anmutigen  Idylls  zur  Darstellung  kommt. 


TAFEL  45 
DER  NIL 

KOLOSSALE  MARMORSTATUE.    ROM,  VATIKANISCHES  MUSEUM. 

Die  Statue  wurde  zusammen  mit  einem  Gegenstück,  das  den 
Tiber  darstellt  und  sich  jetzt  im  Louvre  zu  Paris  befindet,  unter 
Leo  X.  wahrscheinlich  1513  zu  Rom  unweit  von  S.  Maria  sopra 
Minerva  gefunden  und  im  Vatikan  aufgestellt.  Die  beiden  Figuren 
hatten  dereinst  das  in  jener  Gegend  gelegene  Heiligtum  der  Isis 
und  des  Serapis  geschmückt.  Der  Nil  ist  die  schönste  Darstellung 
eines  Flusses  aus  dem  Altertum,  das  Vorbild  für  zahlreiche  Nach- 
ahmungen bis  in  die  neueste  Zeit. 

Er  ist  nicht  als  ein  selbständiger  Gott,  sondern  als  Symbol 
seines  Elementes  aufgefaßt :  das  Ganze  ist  eine  Allegorie  des  Flusses. 
Die  kraftvolle  Gestalt  ist  breit  hingelagert;  dies  symbolisiert  das 
ruhige,  mächtige  Dahinströmen  des  gewaltigen  Flusses.  Die  sech- 
zehn Kinder,  die  ihn  umspielen,  sind  Allegorien  der  sechzehn  Ellen, 
um  welche  der  Spiegel  des  Nils  steigt,  wenn  er  den  höchsten  Wasser- 


156  HELLENISTISCHE  KUNST 

stand,  der  die  höchste  Fruchtbarkeit  mit  sich  bringt,  erreicht.  Das 
Füllhorn  in  der  Linken  mit  seinen  Früchten  und  Ähren  deutet  eben 
diese  Fruchtbarkeit  des  von  dem  Flusse  bewässerten  Tales  an  und 
den  gleichen  Sinn  hat  der  Kranz  von  Ähren,  Blüten  und  Blättern 
auf  dem  Kopfe  sowie  der  Strauß  in  der  Rechten,  zu  einem  Ähren- 
büschel ergänzt.  Die  Heimat  des  Stromes  wird  durch  die  Sphinx 
gekennzeichnet,  die  dem  linken  Unterarme  als  Stütze  dient;  sie 
charakterisiert  Ägypten  ebenso  wie  die  Wölfin  mit  Romulus  und 
Remus  an  dem  Gegenstücke  die  Heimat  des  Tiber  bezeichnet.  Der 
ägyptische  Strom  ist  aber  noch  weiter  durch  das  Krokodil  verdeut- 
licht, mit  dem  einige  der  Kinder  links  spielen;  vorn  neben  dem 
linken  Knie  sieht  man  ein  Ichneumon,  das  auf  das  Krokodil  los- 
gehen will ;   auch  mit  ihm  beschäftigen  sich  die  Kleinen. 

Das  Element  des  Wassers  ist  indes  nicht  nur  symbolisiert, 
sondern  auch  selbst  dargestellt.  Unter  der  linken  Hand  strömt  es 
hervor  und  ergießt  sich  über  die  ganze  Basis  der  Statue.  An  der 
auf  unserer  Abbildung  allein  sichtbaren  Vorderseite  derselben  sieht 
man  nur  das  fließende  Wasser  und  rechts  einige  Wasserpflanzen. 
Auf  den  anderen  Seiten  der  Basis  sind  auf  dem  Wasser  Kämpfe 
von  Nilpferden  und  Krokodilen,  sind  auf  Barken  rudernde  Pygmäen, 
die  von  solchen  Tieren  bedroht  werden,  sind  Ichneumon  und  Kro- 
kodil, Wasservögel  und  am  Ufer  weidende  Rinder  dargestellt. 

Das  stufenweise  Emporklettern  der  Kinder  zeigt  das  —  nach 
Ellen  gemessene  —  wachsende  Ansteigen  des  Nils')  an.  Die  Kinder 
sind  übrigens  stark  ergänzt;  an  beinahe  allen  ist  der  Oberkörper 
modern,  an  einigen  noch  mehr.  Ihre  Gruppierung  um  die  Haupt- 
figur ist  aber  nicht  nur  bedeutungsvoll,  sondern  auch  künstlerisch 
überaus  geschickt.  Die  Klarheit  der  Umrisse  der  Hauptfigur  wird 
durch  sie  durchaus  nicht  beeinträchtigt,  ja  die  mächtigen  Formen 
derselben  werden  durch  den  Kontrast  hervorgehoben,  und  Lücken 
wie  die  am  Fußende  und  zwischen  Armen  und  Körper  werden 
passend  gefüllt.  Meisterhaft  sind  die  Vorzüglichkeit  der  schwierigen 
Komposition,  die  Lebendigkeit  der  Motive,  die  poetische  Gestaltungs- 
kraft, reizvoll  wirkt  der  gesunde,  anmutig  spielende  Humor. 

Der  wohlerhaltene  Kopf  des  Flußgottes  zeigt  den  Ausdruck 
ruhiger,  erhabener  Milde,  wie  er  dem  mächtigen,  segenbringenden 
Strome  geziemt.  Der  volle  Bart  ist  fließenden  Wellen  gleich  be- 
handelt. 

Die  uns  erhaltene  Statue,  die  mit  ihrem  Gegenstück,  dem  Tiber, 
gleichzeitig  in  Rom  ausgeführt  ward,  ist  die  gute  Kopie  eines  älteren, 
höchstwahrscheinlich  in  der  Ptolemäerzeit  zu  Alexandrien  geschaf- 


')  Plinius  der  Ältere,  Naturalis  historia  36,  58  u.  a.  St. 


STERBENDER  GALLIER  157 

fenen  Originales.  Dafür  spricht  vor  allem,  ganz  abgesehen  von  der 
Darstellung  selbst,  die  Vertrautheit  mit  Pflanzen-  und  Tierformen 
Ägyptens,  mit  dem  dortigen  Kulturleben  überhaupt,  die  frische  Ur- 
sprünglichkeit des  Ganzen. 

Die  hier  durchgeführte  allegorische  Auffassung  des  Flußgottes 
ist  der  griechischen  Kunst  vor  Alexander  fremd.  Diese  kennt  noch 
keine  gelagerten,  ihrem  Elemente  identischen  Flußgötter.  Die  Fluß- 
götter der  älteren  griechischen  Kunst  sind  nicht  Allegorien  der  Flüsse, 
sie  bedeuten  nicht  ein  Naturelement,  sondern  sie  sind  lebendige 
Personen  des  Glaubens  wie  die  anderen  Götter,  denen  sie  auch 
in  den  Motiven  gleichen.  Die  Statue  des  Nil  ist  nicht  nur  das 
schönste,  sondern  wahrscheinlich  auch  das  älteste  Beispiel  des  alle- 
gorischen gelagerten  Typus  der  Flußgötter. 


TAFEL  46 
STERBENDER  GALLIER 

MARMORSTATUE.    ROM,  KAPITOLINISCHES  MUSEUM. 

Unter  dem  Namen  des  sterbenden  Fechters  ist  diese  Statue 
seit  langer  Zeit  weitbekannt  und  vielgepriesen.  Von  nicht  sicherer 
Herkunft')  läßt  sie  sich  seit  der  ersten  Hälfte  des  siebzehnten  Jahr- 
hunderts als  zum  Bestände  der  Sammlung  der  Villa  Ludovisi  zu 
Rom  gehörig  nachweisen  und  ist  von  dort  unter  Papst  Clemens  XIL 
in  das  Kapitolinische  Museum  gekommen.  Die  Erhaltung  ist  nicht 
sehr  glücklich:  abgesehen  von  kleineren  Ergänzungen  sind  völlig  neu 
und  daher  nicht  gesichert  das  Schwert  nebst  Scheide  und  Tragband 


')  Die  Annahme,  daß  sie  ebenso  wie  die  Gruppe  „Der  Gallier  und 
sein  Weib"  in  den  ehemaligen  Gärten  des  Sallust,  in  deren  Bereich  Villa 
und  Park  Ludovisi  angelegt  waren,  zutage  gekommen  ist,  läßt  sich  ur- 
kundlich nicht  beweisen.  Der  Galater  hat  im  Schlachtgetümmel  sein 
Weib,  das  nach  Barbarensitte  mit  ihm  in  den  Kampf  gezogen  ist,  getötet, 
um  es  vor  Gefangenschaft  seitens  nachdrängender  Feinde  zu  retten;  er 
selbst  stößt  sich  soeben  im  letzten  Augenblick  vor  der  auch  ihm  drohenden 
Schmach  das  Schwert  in  den  Hals,  ängstlich  erregt  und  zornerfüllt  nach 
dem  Gegner  umblickend.  Der  von  Pathos  durchglühte  Kopf  (Fig.  53)  ist 
ein  ergreifendes  Bild  von  tragischem  Heroismus  und  ein  künstlerisches 
Meisterwerk  der  hellenistischen  Epoche. 


158 


HELLENISTISCHE  KUNST 


Fig.  52.    Kopf  des  sterbenden  Galliers 


mit  dem  dazu  gehörigen  Teile  der  Basis ;  zweifellos  unrichtig  hin- 
zugefügt ist  an  dieser  Stelle  das  Ende  des  Horns,  das  nur  in  ein 
Mundstück  auslaufen  kann.  Der  rechte  Arm  ist  echt,  war  aber  ge- 
brochen. 

Wie  in  dem  rechtsseitigen  Teile  eines  Giebels  ruht  hingestreckt 
auf  der  sich  abdachenden  Basis  ein  Krieger,  der  auf  der  rechten 
Seite  dicht  unter  der  Brust  durch  eine  Stoßwunde  von  Feindeshand 
tödlich  getroffen  ist;  er  ist  auf  seinen  mächtigen  ovalen  Schild 
niedergesunken,  um  den  sich  ein  gewundenes,  in  zwei  Teile  ge- 
brochenes Hörn  herumlegt,  und  vermeidet  durch  die  ganze  Lage 
des  Körpers,  insbesondere  durch  den  aufgestüzten  rechten  Arm, 
dessen  Hand  nach  außen  gedreht  ist,  und  das  untergeschlagene 
rechte  Bein,  das  von  dem  linken  Arme  krampfhaft  gefaßt  wird, 
jede  durch  eine  Spannung  der  Muskeln  eintretende  Steigerung  des 
Schmerzes.  Hilflos  und  gebrochen  ist  der  Kopf  gesenkt,  das  Ge- 
sicht offenbart  den  Ausdruck  schmerzhaften  Leids,  bewahrt  aber  die 
.'Vliene  wilden  Trotzes  und  verbitterter  Wut  (Fig.  52).  Die  Nationalität 
des  Verwundeten  ist  zwar  in  einer  durch  den  Einfluß  griechischer 
Kunst   etwas   idealisierten  Form,    aber    in   unverkennbaren  Zügen 


STERBENDER  GALLIER 


159 


meisterhaft 
zum  Ausdruck 

gebracht. 
Denn  die 

schlanke,  ge- 
schmeidige 
Jünglingsge- 
stalt von  her- 
vorragender 
Größe,  deren 
saftiges     und 

kräftiges 
Fleisch     von 

fetter  und 
dicker     Haut 

umspannt 
wird,       ganz 
nackt  und  nur 
mit    der    aus 
Metall  gewun- 
denen   Hals- 
kette(torquis) 
geschmückt, 
die    unregel- 
mäßige,    un- 
griechische 
Kopf- und  Ge- 
sichtsbildung 
mit     struppi- 
gem,     durch 

den  Gebrauch  der  Salbe  in  wulstige  Strähnen  verdicktem  Haare 
und  dem  kurzgeschorenen  Schnurrbarte  der  Oberlippe  gewähren 
eine  deutliche  Veranschaulichung  und  Belebung  der  Vorstellung, 
die  von  dem  Aussehen  eines  Galaters  aus  den  Nachrichten 
antiker  Schriftsteller')  gewonnen  wird;  vermutlich  hat  dem  Künst- 
ler ein  charakteristischer  Vertreter  des  Barbarenstammes  un- 
mittelbar als  Modell  gedient  oder  er  hat  ein  lebensgetreues 
Vorbild  benützt;  jedenfalls  ist  durch  diese  Darstellung  eine  glän- 
zende Probe    für   die  Fähigkeit    der    hellenistischen  Plastik,    auch 


Fig.  53.    Kopf  des  Galaters  aus  der  Marmorgruppe  „Der 
Galater  und  sein  Weib".    Rom,  Thermenmuseum 


')  Polybius,  Geschichte  2,  29,  Cäsar  über  den  Gallischen  Krieg  2,  30, 
Livius,  römische  Geschichte  6,  7,  Diodor,  Bibliothek,  5,  27  ff.,  Pausanias, 
Beschreibung  Griechenlands   10,  19  ff. 


160  HELLENISTISCHE  KUNST 

neue  Typen  zu  bilden,  dargeboten.  Man  empfindet  Mitleid  mit 
dem  Schicksal  des  der  Ermattung  nahen  Helden,  der  auch  im  Todes- 
kampfe die  seinem  Stamme  eigene  unbeugsame  Tapferkeit  bewahrt: 
in  der  Schlacht  tödlich  getroffen,  hat  er  sich  aus  dem  engen  Ge- 
tümmel eine  kurze  Strecke  weggeschleppt  und  haucht  nun  auf  dem 
geretteten  Schilde  sein  Leben  aus  im  Anblick  des  Kriegshorns, 
durch  dessen  Schall  er  seine  Genossen  zum  Kampfe  entflammt 
hat  und  das  im  Gedränge  des  Gefechts  zerbrochen  ist.  Dieses 
Stimmungsbild  entwickelt  sich  dem  Beschauer  aus  der  Betrachtung 
des  Werkes  allein,  als  einer  Einzelfigur  gedacht.  Mit  Recht  aber 
hat  man  die  Zugehörigkeit  der  unter  dem  Namen  „Der  Gallier  und 
sein  "Weib"  berühmten  Gruppe  im  Thermenmuseum  (Rom)  zu  der 
Statue  des  sterbenden  Galaters  aus  der  Gleichheit  des  Materials, 
Kunststils  und  Gegenstandes  erschlossen,  welche  Folgerung  durch 
die  ehemals  gemeinsame  Aufbewahrung  in  der  Villa  Ludovisi  be- 
stärkt wird.  Auch  hat  man  beide  Werke  als  Bestandteile  eines 
umfangreichen  Schlachtendenkmals  erkannt,  das  zur  Erinnerung  an 
Siege  über  jene  kriegerischen  Stämme  errichtet  worden  ist,  und 
nur  unentschieden  gelassen,  ob  die  Originale  selbst  oder  gute,  mit 
diesen  im  wesentlichen  gleichzeitige,  vielleicht  auch  spätere  Nach- 
bildungen von  Bronzen  erhalten  sind ;  auf  Grund  der  Marmorart 
wird  Kleinasien,  neuerdings  Ephesos  oder  Tralles,  als  Entstehungs- 
ort angenommen.  In  der  Art  haben  Könige  von  Pergamon  ')  die 
gegen  die  Galater  errungenen  militärischen  Erfolge  auf  ihrem 
Herrschersitz  verherrlicht.  Eine  unmittelbare  Beziehung  zu  diesen 
Denkmälern  pergamenischer  Kunst  ist  zwar  urkundlich  nicht  ge- 
sichert, erscheint  aber  durch  die  Gleichheit  der  Darstellung  und  des 
Stils  fast  zweifellos.  Die  Entstehung  ist  innerhalb  der  ganzen 
Periode  der  Kämpfe,  die  von  den  Anfängen  der  Regierung  Attalos  I. 
bis  165  V.  Chr.  sich  ausdehnten,  sehr  wohl  möglich;  eine  genauere 
Zeitbestimmung  könnte  nur  durch  die  Ermittlung  des  Anlasses  der 
Stiftung,  durch  die  Feststellung  des  geschichtlichen  Ereignisses, 
zu  dessen  Verewigung  jene  Bildwerke  beitragen  sollten,  gewonnen 
werden  ^). 


')  Attalos  I.  (241  —  197),  Eumenes  II.  (197—159),  (Plinius  der  Ältere, 
naturalis  historia  34,  84.  Inschriften  von  Pergamon  No.  20  tf.).  Von  den 
bei  Plinius  erwähnten,  aus  Bronze  gearbeiteten  Schlachtendenkmäiern 
sind  bei  Gelegenheit  der  von  Preußen  unternommenen  Grabungen  leider 
weder  monumentale  noch  sichere  epigraphische  Reste  zutage  gekommen. 
Trotzdem  muß  die  dereinstige  Existenz  zu  Pergamon  als  gewiß  gelten. 
Die  Monumente  waren  von  Attalos  und  Eumenes  zu  verschiedener  Zeit 
getrennt  oder  vielleicht  auch  von  letzterem  Herrscher  allein  gemeinsam 
aufgestellt  worden.  Die  Entscheidung  darüber  könnte  durch  genauere 
chronologische  Bestimmung  der  bei  Plinius  a.  a.  O.  aufgezählten  Erzgießer 


IX.  HISTORISCHE  KUNST  DER  RÖMER 


L)ie  Anfänge  der  historischen  Kunst  der  Römer  reichen  ge- 
mäß der  Nachrichten  alter  Schriftsteller  bis  in  die  frührepublikanische 
Epoche,  wohl  noch  in  das  Ende  des  vierten,  jedenfalls  in  das  dritte 
vorchristliche  Jahrhundert  zurück.  Insbesondere  aus  dem  zweiten 
Jahrhundert  v.  Chr.  wird  berichtet,  daß  siegreiche  Feldherm  ihre 
Kriegstaten  durch  Wandgemälde  in  Tempeln  verewigen  oder  auf 
Tafelgemälden  darstellen  ließen,  die  in  Heiligtümern  geweiht  oder 
öffentlich  ausgestellt  und  dem  Volke  erklärt,  im  Triumphzuge  ein- 
hergetragen  wurden.  Aus  den  kurzen,  literarisch  überlieferten  In- 
haltsangaben einzelner  dieser  Darstellungen  ersehen  wir,  daß  darin 
die  Grundlage  für  die  Entwicklung  der  späteren  monumentalen  Relief- 
kunst der  Römer  ruht.  Zwei  vor  einiger  Zeit  zu  Rom  in  Gräbern 
zutage  gekommene  Fresken,  das  eine  mit  einer  fortlaufenden  Reihe 
von  Szenen  aus  der  Vorgeschichte  Roms  (aus  dem  Ende  der  Re- 
publik), das  andere  mit  streifenweise  übereinander  angeordneten 
Abbildungen  eines  bestimmten,  bisher  nicht  ermittelten  kriegerischen 
Ereignisses  (wohl  aus  dem  zweiten  vorchristlichen  Jahrhundert)  er- 
innern hinsichtlich  der  Form,  letzteres  auch  des  Inhalts  der  Dar- 
stellung unmittelbar  an  diese  spätere  Reliefkunst  und  geben  für 
jene   literarischen  Nachrichten   über  die   altrömische  Malerei   den 


Isigonus,  Pyromachus,  Stratonicus,  Antigonus  gewonnen  werden,  diese 
aber  ist  mit  dem  vorhandenen  literarischen  und  inschriftlichen  Material 
nur  bei  Phyromachus  und  zwar  teilweise  möglich;  er  hat  sicher  unter 
Eumenes  II.  gearbeitet,  kann  aber  auch  noch  unter  Attalos  I.  tätig  gewesen 
sein.  Die  Konjektur  „Epigonus"  (vgl.  Piinius  34,  88  und  Inschriften  von 
Pergamon  a.  a.  O.)  für  das  Piinius  34,  84  handschriftlich  überlieferte  „Isigo- 
nus" entbehrt  der  Berechtigung,  und  demgemäß  ist  die  Beteiligung  beider 
Künstler  an  den  Siegesdenkmälern  gesichert. 

-)  Aus  Attalos  I.  Regierung  wurden  zu  Pergamon  Bathren  derartiger 
Siegesmonumente,  die  auf  Grund  der  darauf  angebrachten  Inschriften 
datierbar  sind,  gefunden ;  doch  ist  die  Beziehung  zu  den  beiden  in  Rom 
befindlichen  Marmorwerken  unerweisbar,  ebenso  wie  deren  aus  stilistischen 
Erwägungen  erfolgte  Zuweisung  in  jene  ältere  pergamenische  Kunstschule 
nicht  unbedingt  überzeugt. 

Denkmäler  griech.  u.  röm.  Skulptur,  3.  Aufl.  11 


162 


HISTORISCHE  KUNST  DER  RÖMER 


Fig.  54.    Marmorrelief  vom  Trajansbogen  in  Benevent 
Darbringung  eines  Opfers  durch  den  Kaiser 

monumentalen  Beleg.  Zugleich  sind  sie  durch  die  schlichte  und 
getreue  Wiedergabe  der  Tatsachen  als  ein  verhältnismäßig  frühes 
Zeugnis  für  den  ausgeprägten  geschichtlichen  Sinn  der  Römer  von 
großer  Wichtigkeit.  Indes  diese  geringen  Reste  der  Malerei  er- 
scheinen unbedeutend  gegenüber  den  zahlreichen,  von  dem  Beginn 
der  Kaiserzeit  bis  auf  Konstantin  herab  erhaltenen  Skulpturen  der 
Sieges-  und  Ehrendenkmäler,  welche  zur  dauernden  Verewigung 
insbesondere  militärischer  Erfolge  in  den  verschiedenen  Teilen  des 
Weltreichs  errichtet  wurden. 

In  Rom  sind  es  abgesehen  von  unbedeutenderen  Baulichkeiten 
drei  Ehrenbogen ')  und  zwei  Siegessäulen  -),  die  noch  heutzutage 
als  weithin  sichtbare  Wahrzeichen  der  ewigen  Stadt  in  die  Luft 
emporragen.  Beide  Arten  dieser  Denkmäler  sind  gewissermaßen 
als  hohe  Postamente  für  die  auf  der  Spitze  zu  errichtenden  Dar- 
stellungen des  Kaisers,  sei  es  als  einer  Einzelfigur  auf  jenen  Säulen, 
sei  es  ein  Viergespann  lenkend,  wie  häufig  auf  den  Bogen,  auf- 
zufassen. Beiden  ist  die  Tendenz  ihrer  Entstehung  gemeinsam,  die 
in  der  Verherrlichung  der  Person  des  Herrschers  sowie  seiner  krie- 


')  Der  des  Titus  (eintorig),  der  des  Septimius  Severus  und  Konstantin 
(dreitorig). 

2)  Die  des  Trajan  und  Marc  Aurel. 


HISTORISCHE  KUNST  DER  ROMER 


163 


Fig.  55.    Marmorrelief  von  der  Trajanssäule  in  Rom 
Sturm  einer  dakischen  Abteilung  gegen  eine  römische  Festung 

gerischen  Taten  und  seiner  Wirksamkeit  im  Frieden  begründet  ist. 
Beide  zeigen  wenigstens  in  der  vorliegenden  Gestalt  und  in  der  sie 
umkleidenden  plastischen  Dekoration  ein  echt  nationales  Gepräge  '). 
Die  architektonisch  einfache  und  vornehme  Symmetrie  der  Ehren- 
bogen, die  in  geschlossenen  Umrissen  von  der  örtlichen  Umgebung 
scharf  sich  abheben,  befriedigt  den  Betrachter  in  hohem  Maße. 
An  den  ragenden  Siegessäulen  dagegen  ist  es  nur  die  originelle 
Form  und  imponierende  Höhe,  die  anfangs  in  Erstaunen  setzen,  auf 
die  Dauer  aber  eine  befriedigende  Wirkung  nicht  erzielen.  Während 
an  den  räumlich  begrenzten  und  abgeteilten  Flächen  der  ersteren 
eine  Scheidung  des  Reliefschmucks  in  einzelne  Szenen  ermöglicht 
und  eine  Häufung  derselben  erschwert  ist,  sowie  bei  der  mäßigen 
Höhe  der  Gebäude  die  Übersicht  erleichtert  wird,  reihen  sich  an 
letzteren  die  Reliefs  in  schmalen  Streifen  spiralförmig  fortlaufend 
von  unten  bis  hoch  nach  oben  und  sind  dem  Auge  nur  im  ge- 
ringsten Teile  erreichbar-).  Der  sachliche  Wert  der  Skulpturen  so- 
wohl der  Ehrenbogen,  als  auch  der  Siegessäulen  beruht  in  erster 


M  Vorstufen  der  Entwicklung  lassen  sich  in  ägyptischer  und  grie- 
chischer Kunst  verfolgen. 

2)  Nach  neuer  Erklärung  stellen  sie  eine  aufgewickelte  Papyrusrolle 
die  ein  gemaltes  Bilderbuch  ohne  Text  war,  in  Marmor  dar. 


11* 


164 


HISTORISCHE  KUNST  DER  RÖMER 


Fig.  56.    Sauopfer,  den  Penaten  dargebracht 
Relief  von  der  Ära  Pacis.    Rom,  Thermenmuseum 


Linie  auf  dem  reichen  Inhalt  der  Darstellungen,  welche  die  lite- 
rarischen Quellen  der  Kaisergeschichte  monumental  bestätigen  und 
ergänzen.  Für  das  Staatsleben  und  den  Kultus,  vor  allem  aber 
für  das  Militärwesen  in  seinen  mannigfachen  Formen,  für  die  Be- 
waffnung, den  Kampf,  die  Belagerung  und  Befestigung  u.  a.  m.,  end- 
lich für  das  Kulturleben  der  besiegten  Völker,  voran  unserer  eigenen 
Vorfahren,  sind  sie  eine  unschätzbare  Quelle  der  Veranschaulichung 
und  Belehrung  (Fig.  54  —  56).  Was  die  künstlerische  Bedeutung 
betrifft,  so  ist  dieselbe  je  nach  der  Zeit  der  Entstehung  der 
einzelnen  Denkmäler  verschieden.  In  den  Darstellungen  der  Ära 
Pacis  Augustae ')  (Fig.  56)  und  des  Titusbogens  wird  man  das  weise 


')  Ahar  der  Friedensgöttin,  den  der  Senat  zur  Feier  der  Rüclckehr 
des  restitutor  orbis  Romani  aus  Spanien  und  Gallien  im  Campus  Martius 
zu  Rom  gelobt  hat  (Monumentum  Ancyranum  II,  37);  dessen  Errichtung 
fällt  in  die  Jahre  13—9  v.  Chr.  Die  Szene  (Fig.  56)  wird  feinsinnig  auf  den 
Urahnen  des  Augustus,  Aeneas,   bezogen.     Dieser  beabsichtigte  den  von 


HISTORISCHE  KUNST  DER  RÖMER  165 

Maßhalten  in  der  Gestaltung  der  Szenen,  das  vornehme  und  ruhige 
Auftreten  der  Personen,  ihre  treffliche  Charakterisierung  und  vor- 
zügliche Wiedergabe  im  Porträt  verdientermaßen  würdigen.  Von 
den  Reliefs  der  Trajanssäule  abwärts  wird  die  verwirrende  Häufung 
der  Szenen  und  Figuren,  der  Mangel  an  Übersichtlichkeit  und  Klar- 
heit der  Situation  trotz  der  vielfach  namentlich  an  der  Trajans- 
säule anerkennenswerten  Erfindungsgabe,  vor  allem  aber  die  male- 
rischen Vorbildern  entlehnte  Anordnung  in  zwei  oder  noch  mehr 
Reihen  übereinander  das  Auge  des  Betrachters  stören ').  Auch 
wird  die  absichtliche  Hervorhebung  der  Taten  der  Sieger  und  Zu- 
rückdrängung der  Gegner,  die  rohe  Gewalt  in  der  Kriegsführung 
unser  Gefühl  verletzen.  Großes  historisches  und  künstlerisches 
Interesse  bietet  insbesondere  unter  den  Reliefs  der  Trajans-  und 
Marcussäule  die  bezeichnende  und  lebensvolle  Bildung  der  bar- 
barischen, der  germanischen  Volkstypen  und  unter  diesen  wir- 
ken erhebend  die  Einzelfiguren  männlichen  und  weiblichen  Ge- 
schlechts, die  auch  nach  der  Unterwerfung  in  ihrem  Auftreten  hel- 
denhafte Fassung  und  Würde  bewahren.  Unter  den  erhaltenen 
Rundwerken  dieser  Art  erscheint,  vorausgesetzt,  daß  die  Deutung 
richtig  ist,  als  herrlichste  Schöpfung  die  Statue  einer  trauernden 
Barbarin  (Tafel  47),  die  vielleicht  als  Personifikation  eines  über- 
wundenen Volkes  ein  in  den  Anfängen  der  Kaiserzeit  zu  Rom  er- 
richtetes Siegesdenkmal  geschmückt  hat;  hinsichtlich  der  künst- 
lerischen Auffassung  und  trefflichen  Wiedergabe  der  fremdländischen 
Nation  ist  sie  ein  Meisterwerk, 

Troja  mitgebrachten  Penaten  nach  der  Landung  in  Latium  eine  trächtige 
Sau  zu  opfern.  Zur  Andeutung  der  Götter,  denen  das  Opfer  gilt,  ist  mit 
unanstößlichem  Anachronismus  der  von  dem  Kaiser  wiederhergestellte 
Tempel  der  Penaten  zu  Rom  gewählt,  wo  diese  als  Jünglinge  mit  Speeren 
in  den  Händen  gebildet  waren.  Der  Vorgang  selbst  ist  in  Ritus  und  Typus 
römischen  Opfern  entsprechend  veranschaulicht.  Gerade  der  Kult  der 
troischen  Penaten,  die  Verherrlichung  des  Aeneas  ward  von  Augustus  und 
seiner  Zeit  wie  ein  Unterpfand  der  Weltherrschaft  mit  besonderer  Sorg- 
falt gepflegt. 

')  Vgl.   die  Tafel  48   und  ^49   gebotenen    Proben   der   Reliefs    der 
Marcussäule. 


166  HISTORISCHE  KUNST  DER  RÖMER 


TAFEL  47 
STATUE  EINER  TRAUERNDEN  BARBARIN 

MARMOR.     FLORENZ,  LOGGIA  DEI  LANZL 

Unter  dem  falschen  Namen  der  „Thusnelda"  ist  die  bedeutend 
überlebensgroße,  gut  erhaltene')  Statue  bekannt  geworden.  Bereits 
in  der  ersten  Hälfte  des  sechzehnten  Jahrhunderts  in  der  Antiken- 
sammlung der  Familie  della  Valle  zu  Rom  nachweisbar,  ist  sie  noch 
in  dem  nämlichen  Jahrhundert  in  den  Besitz  der  Medici  und  da- 
durch später  nach  Florenz  gelangt,  wo  sie  in  der  Loggia  dei  Lanzi 
aufgestellt,  wohlverdienten  Ruhm  erlangt  hat.  Denn  sie  erregt  so- 
wohl unser  künstlerisches  als  auch  gegenständliches  Interesse  in 
hohem  Grade.  Mit  Recht  wird  in  der  Figur,  welche  in  dem  Ge- 
sichtsausdruck weder  griechischen  noch  römischen  Typus  zeigt, 
eine  trauernde  Barbarin  erkannt;  da  aber  in  Ermanglung  eines 
Fundberichtes  die  ursprüngliche  Bestimmung  nicht  ermittelt  ist,  so 
kann  die  fast  allgemein  gebilligte  Vermutung,  daß  die  Statue  als 
Personifikation  eines  besiegten  Barbarenvolkes  ein  in  den  Anfängen 
der  Kaiserzeit  zu  Rom  errichtetes  Siegesdenkmal  geschmückt  habe, 
nicht  ganz  sicher  erwiesen  werden,  und  die  Möglichkeit  früheren 
Ursprungs  oder  der  Nachbildung  eines  älteren  Musters  aus  helleni- 
stischer Zeit  bleibt  vorerst  noch  bestehen.  Jene  Deutung  freilich 
wird  begünstigt  durch  die  Tatsache,  daß  sehr  ähnliche  Gestalten 
neben  einem  gefangenen  Fürsten  auf  dem  zu  Arausio,  dem  heutigen 
Orange,  in  Gallia  Narbonensis  wahrscheinlich  zur  Zeit  des  Tiberius 
errichteten  Triumphbogen  wiederkehren-)  und  Germaninnen  auf  der 
Marcussäule  zu  Rom  in  der  Tracht  mit  der  sogenannten  Thusnelda 
manchen  Berührungspunkt  bieten^),  sowie  deren  charakteristische 
Kleidung  durch  die  berühmte  Stelle  in  Tacitus  Germania*)  wenig- 


')  Abgesehen  von  kleineren  Ergänzungen  ist  fast  der  ganze  rechte 
lynterarm  neu. 

-)  Ebenso  auf  einem  zu  Palermo  aufbewahrten  römischen  Sarkophag 
mit  Darstellungen  von  Kämpfen  zwischen  Römern  und  Galliern,  ferner 
an  dem   Basament  des  Konstantinsbogens  zu  Rom. 

^)  Auf  einem  in  Triest  befindlichen  Relief  aus  Kula  in  der  Nähe  von 
Philadelphia  in  Lydien,  durch  welches  der  Inschrift  zufolge  Germanicus 
oder  der  Kaiser  Gaius  geehrt  wird,  ist  ein  solches  Frauenbild  als  .repfxavia' 
(„Germania")  bezeichnet. 

'')  Gap.  17:  ...  feminae .  .  .  lineis  amictibus  velantur  .  .  .,  partemque 
vestitus  superioris  in  manicas  non  extendunt,  nudae  brachia  ac  lacertos; 


STATUE  EINER  TRAUERNDEN  BARBARIN 

FLORENZ,    LOGGIA   DEI    LANZI 


TRAUERNDE  BARBARIN  167 

stens  teilweise  erklärt  wird.  So  wird  die  Bezeichnung  „Gallia  de- 
victa"  oder  „Germania  devicta",  wenn  auch  die  Möglichkeit  der 
Darstellung  einer  anderen  besiegten  Völkerschaft  zugegeben  werden 
muß,  nach  dem  zurzeit  vorliegenden  monumentalen  und  literarischen 
Material  der  Wirklichkeit  am  nächsten  kommen  '). 

In  ruhiger  Haltung,  mit  beiden  Fußsohlen  fest  auftretend,  steht 
eine  hochgewachsene  Frau  von  kräftiger  Körperbildung  vor  uns; 
sie  ist  in  ihren  geschlossenen  Umrissen  einer  schlanken  Säule  oder 
einem  regelmäßig  emporgewachsenen  Baumstamme  vergleichbar  und 
eignet  sich  in  dieser  Gebundenheit  der  Formen  vortrefflich  zu  archi- 
tektonischer Verwendung.  Durch  das  zum  Zeichen  der  Ruhe  über- 
geschlagene linke  Bein  und  den  Wechsel  in  der  Haltung  der  Arme 
ist  sie  in  Verbindung  mit  der  kontrastierenden  Bewegung  der  Kreuz- 
und  Querlinien  der  Gewandung  trotz  der  ruhigen  Stellung  überaus 
lebensvoll  rhythmisch  bewegt.  Die  Kleidung  besteht  aus  dicksohligen 
Schuhen  und  einem  die  Arme  sowie  die  linke  Brust  freilassenden 
Leibrock  mit  gegürtetem  Überschlag,  endlich  einem  chlamysartigen 
Mantel,  der  über  das  linke  Handgelenk  gelegt  und,  nach  hinten  ge- 
zogen, über  die  linke  Schulter  vorfällt,  sowie  unter  dem  linken  Arm 
durchgesteckt,  nach  abwärts  hängt.  Bewundert  wird  mit  Recht  Hal- 
tung und  Ausdruck  des  Kopfes.  Das  herrliche,  durch  Scheitelung 
mehrfach  gegliederte  Haar  wallt  in  mächtigen  Strähnen  nach  rück- 
wärts tief  herab,  einzelne  Löckchen  hängen  zur  Andeutung  der 
durch  den  Schmerz  veranlaßten  Vernachlässigung  der  Haarpflege 
in  die  Stirne  herein.  Das  Haupt  ist  einem  häufigen  Typus  der 
Trauer  entsprechend  gegen  den  rechten,  zum  Kinne  erhobenen  Arm 
geneigt,  der  auf  die  linke  Hand  gestützt  zu  denken  ist.  Das  feine 
Oval  des  Antlitzes  zeigt  in  dem  ernsten  und  festen  Blick  tiefe  Be- 
trübtheit, stille  Ergebenheit  in  das  unvermeidliche  Geschick  der 
Besiegung,  entbehrt  aber  nicht  einer  gewissen  Hoheit  und  Würde 
des  vornehmen,  durch  die  Unterwerfung  ungebeugten  Charakters, 


(„  .  .  .  die  Weiber  .  .  .  hüllen  sich  in  Linnen  .  .  .,  und  den  oberen  Teil 
des  Gewandes  verlängern  sie  nicht  zu  Ärmeln,  an  den  Ober-  und  Unter- 
armen nackt";  der  Zusatz:  sed  et  proxima  pars  pectoris  patet  („doch  auch 
der  zunächstliegende  Teil  der  Brust  ist  frei")  bezeichnet  nicht,  manchen 
Monumenten  wie  der  „Thusnelda"  entsprechend,  die  Entblößung  einer 
Brustseite,  sondern  dem  Wortlaute  des  Textes  gemäß  die  Nacktheit  des 
ganzen  oberen  Brustkorbs;  auch  diese  Mode  scheint  sicher  z.  B.  durch 
die  Tracht  einer  Germanin  auf  der  Marcussäule  veranschaulicht  zu  sein. 
Die  Enthüllung  einer  Brustseite  kann  auch  allgemein  das  Motiv  der  Trauer 
darstellen. 

')  Die  erwägenswerte  Deutung  auf  eine  nichtgriechische  Heroine  der 
Tragödie,  etwa  auf  Medea,  die  als  architektonischer  oder  dekorativer  Schmuck 
ein  römisches  Theater  geziert  hat,  läßt  sich  schon  infolge  der  Unkenntnis 
über  die  ehemalige  Verwendung  des  Standbilds  nicht  begründen. 


168  HISTORISCHE  KUNST  DER  ROMER 

der  dem  Sieger  Achtung  geboten  haben  wird  und  uns  heute  noch 
mächtig  ergreift,  je  länger  der  Blick  auf  dem  Bilde  stiller  und  edler 
Trauer  ruht. 

Die  ganze  Statue  wäre,  wenn  sie  wirklich  ein  römisches  Original- 
werk vorstellte,  ein  beachtenswerter  Beweis  für  die  Leistungsfähig- 
keit der  römischen  Triumphalkunst.  Indes  das  Vorbild  derselben 
läßt  sich  mindestens  bis  in  die  erste  Hälfte  des  vierten  Jahrhun- 
derts V.  Chr.  zurückverfolgen  und  zeigt  an  einem  klaren  Beispiele 
den  lange  wirksamen  Einfluß  der  Tradition  eines  Typus.  Denn 
auf  attischen  Grabdenkmälern  und,  von  diesen  entlehnt,  auf  dem 
berühmten  Sarkophag  der  „Klagefrauen"  aus  Sidon  in  Konstanti- 
nopel kehrt  die  Gestalt  der  trauernden  Frau  in  fast  völlig  gleicher 
Form  wieder.  In  der  hellenistischen  Epoche,  vielleicht  in  Per- 
gamon,  wird  das  Urbild  zur  Darstellung  der  Personifikation  unter- 
worfener nichtgriechischer  Nationen  verwendet  und  umgestaltet 
worden  sein,  um  zur  Zeit  der  Römer  griechischen  oder  unter  grie- 
chischem Einflüsse  arbeitenden  einheimischen  Künstlern  bei  der 
statuarischen  Ausschmückung  von  Siegesdenkmälern  über  barba- 
rische Völker  als  Muster  zu  dienen. 


TAFEL  48  und  49 
RELIEFS  DER  MARCUS-SÄULE  ZU  ROM 

PIAZZA  COLONNA. 

Noch  heute  stehen  in  Rom  zwei  mächtige  Säulen  aufrecht, 
die  von  einem  erzählenden  Reliefbande  spiralförmig  umschlungen 
sind.  Beide  beziehen  sich  auf  die  Kämpfe  römischer  Kaiser  mit 
den  kräftigen  Völkern,  welche  das  Reich  von  Norden,  von  der 
Donau  her,  bedrohten.  Künstlerisch  bedeutender  ist  die  Säule 
Trajans,  welche  die  Siege  dieses  Kaisers  über  die  Daker  feiert; 
aber  gegenständlich  wichtiger  für  uns  Deutsche  ist  die  des  Kaisers 
Marcus,  welche  den  Kämpfen  mit  den  vorwiegend  germanischen 
Völkern  an  der  mittleren  Donau,  dem  sog.  Markomannenkriege,  gilt. 

Aus  der  langen  Serie  der  Bilder  dieser  Marcussäule  sind  hier 
vier  Proben  auf  zwei  Tafeln  vereinigt. 

1.  Das  Regenwunder  im  Quadenlande.  Dieses  Bild 
fällt  in  den  Anfang  der  langen  Reihe.  Es  ist  berühmt,  und  die 
hier  dargestellte  Szene  wird    auch    in  unserer   sonst    so  kümmer- 


RELIEF  DER  MARCUS-SAULE  169 

liehen  Überlieferung  über  den  Markomannenkrieg  eingehender  er- 
wähnt. Das  zuverlässig  überlieferte  Datum  der  Begebenheit  ist 
das  Jahr  174  n.  Chr.,  woran  man  mit  Unrecht  hat  rütteln  wollen. 
Es  sind  somit  die  Ereignisse  des  Jahres  174,  mit  welchen  die  Säule 
beginnt.  Ihren  Endpunkt  aber  bezeichnet,  wie  aus  verschiedenen 
Umständen  mit  Sicherheit  hervorgeht,  der  vorläufige  Abschluß  des 
Krieges  175.  Die  Errichtung  der  Säule  ist  höchstwahrscheinlich 
schon  bei  dem  Triumphe,  den  Kaiser  Marcus  176  über  die  Ger- 
manen und  Sarmaten  feierte,  beschlossen  und  ihr  Bilderschmuck 
entworfen  worden. 

Das  „Regenwunder"  von  174  ereignete  sich  nach  der  Über- 
lieferung (bei  Dio  Cassius  71,  8 ff.)  in  folgender  Weise:  Die  Römer 
rückten  im  Lande  der  Quaden  vor,  wurden  von  den  Feinden  um- 
zingelt, vom  Wasser  abgeschnitten  und  litten  in  der  Hitze  unter 
entsetzlichem  Durste.  Da  bricht  ein  gewaltiges  Gewitter  los,  das 
den  Feinden  nur  Schaden,  den  Römern  nur  Nutzen  bringt  und  sie 
aus  der  Gefahr  der  Vernichtung  befreit;  sie  erfechten  einen  glän- 
zenden Sieg.  Der  Kaiser  schreibt  an  den  Senat,  daß  er  kein  Be- 
denken getragen  habe,  da  die  unverhoffte  Hilfe  eine  göttliche  — 
dies  bestimmte  der  Kaiser  nicht  näher  —  gewesen  sei,  auch  ohne 
vorherige  Genehmigung  des  Senats  die  siebente  Imperatorenakkla- 
mation seitens  des  Heeres  anzunehmen.  Das  Relief  der  Säule 
stellt  nicht  einen  helfenden  Gott,  sondern  nur  die  Naturerscheinung 
selbst,  das  mit  gewaltigem  Platzregen  verbundene  Gewitter,  personi- 
fiziert dar,  wobei  als  Grundlage  der  Typus  des  als  Gott  gedachten 
Regenwindes,  des  Notus,  diente'),  von  diesem  stammen  die  Flügel; 
mit  der  Personifikation  ist  in  geschickter  Weise  die  natürliche 
Darstellung  des  Regens  selbst  verbunden,  der  in  Strömen  von  Haar, 
Bart  und  Armen  herniederwallt.  Notus  ist  rings  vom  Naß  derart 
umflossen,  daß  die  ganze  Gestalt  sich  in  Wasser  aufzulösen  scheint. 
Unten  sieht  man  versinkende  Rosse  und  tote  Quaden,  links  einige 


')  Ovid  Metamorphosen  I,  264fF.: 

(Juppiter)  emittitque  Notum,  madidis  Notus  evolat  alis, 
Terribilem  picea  tectus  caligine  vultum  : 
Barba  gravis  nimbis,  canis  fluit  unda  capillis. 
Fronte  sedent  nebulae,  rorant  pennaeque  sinusque 
Utque  manu  lata  pendentia  nubila  pressit, 
Fit  fragor,  inclusi  funduntur  ab  aethere  nimbi. 
„Notus  allein  wird  gesandt:  und  mit  triefenden  Schwingen  entfleugt  er, 
Sein  scheusäliges  Haupt  pechschwarz  in   Dunkel  gehüllet; 
Schwarz  von  Güssen  der  Bart,  den  greisenden  Haaren  entströmt  Flut; 
Nebel  umlagern  die  Stirn,  ihm  taut's  von  Gefieder  und   Busen; 
Und  wie  in  breiter  Hand  abhängende  Wolken  er  drückte, 
Donnert  es;  dicht  nun  stürzen  die  Regenschauer  vom  Äther." 


170  HISTORISCHE  KUNST  DER  ROMER 

der  geretteten  Römer.  „In  engen  Felstälern  ringen  die  Pferde  noch 
mit  dem  Wasserschwall  und  bereits  gewaltsam  niedergeworfen  vom 
Unwetter  sind  die  Feinde;  das  Ganze  ist  ein  mitleiderregendes 
Bild  der  furchtbaren  Wirkung  elementarer  Gewalt."  Die  Figuren 
rechts  gehören  zu  der  folgenden  Szene. 

Mit  Unrecht  hat  man  neuerdings  einen  Gegensatz  zwischen 
der  Überlieferung  und  dem  Säulenrelief  gesehen  oder  gar  gemeint, 
die  Überlieferung  sei  nur  aus  Mißverständnis  der  Säule  entsprungen. 
Allein  sicher  ist,  daß  sowohl  heidnische  als  christliche  Legende 
sich  sofort  an  jenen  oben  nach  der  ältesten  Tradition  und  der  Säule 
berichteten  Vorgang  angeschlossen  hat.  Die  Christen  eigneten  das 
anerkannte,  gerade  biblisch  anmutende  Wunder  sich  und  dem  von 
ihnen  angebeteten  Gotte  zu;  sie  erkannten  in  dem  Gebete  christ- 
licher Soldaten  die  Ursache  des  Wunders.  Die  heidnische  Version 
führt  den  Regen,  durch  den  das  römische  Heer  von  peinigendem 
Durste  erlöst  wird,  entweder  allgemein  auf  göttliches  Eingreifen  oder 
auf  die  magischen  Künste  eines  den  Kaiser  begleitenden  Ägypters 
beziehungsweise  Chaldäers  oder  auch  auf  des  Herrschers  Gebet 
zurück. 

2.  Hinrichtung  germanischer  Edlen.  Sechs  Männer 
werden  durchs  Schwert  gerichtet.  Ihre  Hände  sind  auf  dem  Rücken 
zusammengebunden.  Die  Häupter  zweier  liegen  schon  am  Boden. 
Auch  die  Männer,  welche  die  Exekution  vollstrecken,  sind  ihrem 
Typus  nach  Germanen.  Im  Hintergrunde  römische  Reiter,  welche 
den  Richtplatz  umstellt  haben.  Wahrscheinlich  ist  die  Bestrafung 
aufständischer  Germanen  gemeint.  Die  den  Römern  treu  geblie- 
benen deutschen  Stammesgenossen  müssen  die  Exekution  ausführen. 
Der  germanische  Typus  ist  hier  deutlich  ausgeprägt  in  den  edeln, 
schmalen,  hohen  Gesichtern  mit  den  langen  Barten.  Die  Tracht 
der  Germanen  besteht  hier  wie  immer  auf  der  Säule  aus  engen 
Hosen,  die  aber  häufig  das  einzige  Kleidungsstück  sind;  dazu  tritt 
oft  ein  kurzer  Rock  und  ein  auf  der  Schulter  festgestecktes  Sagum. 

3.  Römische  Reiterei  jagt  berittene  Sarmaten  in 
die  Flucht.  Die  Hauptgegner  der  Römer  in  diesem  Kriege  waren 
neben  den  Germanen  die  die  Theißebene  bewohnenden  Sarmaten. 
Sie  werden  von  den  Germanen  sehr  verschieden  gebildet.  Sie  sind 
ein  flinkes  Reitervolk  von  aufgeregtem,  leidenschaftlichem  Wesen, 
aber  niedrigen,  servilen  Manieren;  die  Köpfe  haben  einen  unedlen 
Typus  mit  tief  eingesenkter  Nasenwurzel ;  der  Bart  läßt  die  Wangen 
größtenteils  frei,  ist  aber  vom  Kinn  aus  stark  und  lang.  Sie  tragen 
außer  den  Hosen  immer  den  Rock  und  zuweilen  das  Sagum  dar- 
über. Ihre  Waffe  ist  die  Wurflanze.  Auf  diesem  Bilde  sind  sie 
in  eiligster  Flucht  begriffen.     Einer   ist   vom  Pferde  gefallen,  das 


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RELIEFS  DER  MARCUS-SAULE  171 

allein  weiter  rennt;  er  wird  von  einem  Römer  niedergestoßen.  — 
Mit  Unrecht  hat  man  in  diesem  Typus  auch  Slaven  zu  erkennen 
geglaubt. 

4.  G  ermanis  che  r  Für  s  t  gefangen  abgeführt.  Links 
oben  ist  eine  hochgelegene  Burg  angedeutet.  Zwei  römische  Sol- 
daten führen  zwei  germanische  Männer  gefesselt  den  Bergweg  her- 
unter. Der  vordere  von  ihnen  ist  vom  Künstler  besonders  sorg- 
fältig ausgeführt;  es  ist  der  schönste,  edelste  Germanenkopf  auf 
der  Säule.  Man  darf  in  ihm  den  König  Ariogaesus  vermuten,  auf 
dessen  Einbringung  Kaiser  Marcus  einen  hohen  Preis  gesetzt  hatte 
(Dio  Cassius  71,  14).  Ein  dritter  römischer  Soldat  treibt  die  ge- 
fangenen zwei  Söhne  des  Fürsten  vor  sich  her.  Die  Bruchstücke 
von  Darstellungen  links  und  rechts  betreffen  diese  Szene  nicht 
unmittelbar. 

Der  germanische  und  der  sarmatische  Typus  sind  auf  der  Säule 
immer  deutlich  geschieden.  Daneben  kommen  nebensächlich  noch 
einige  andere  Völkertypen  vor,  wie  die  keltischen  Cotini. 

Von  den  römischen  Soldaten  tragen  die  Legionare  den  seit 
Trajan  eingeführten  Streifenpanzer,  die  Auxiliar-Kohorten  und  die 
Reiterei  das  Kettenhemd. 

Die  Figuren  sind  (wie  auch  schon  an  der  Trajanssäule)  immer 
so  geordnet,  daß,  was  hintereinander  gedacht  ist,  übereinander  dar- 
gestellt wird. 


X.  GRIECHISCHE  UND  ROMISCHE  PORTRATS 


Infolge  des  im  Altertum 
zu  allen  Zeiten  vorhandenen 
Bedürfnisses,  das  Andenken 
der  Verstorbenen  durch  die 
plastische  Ausschmückung  der 
Gräber  den  Nachkommen  zu 
erhalten,  infolge  der  schon 
frühzeitig  weitverbreiteten  Sit- 
te, Bildnisse  der  Sterblichen 
den  Göttern  zu  weihen  und  der 
seit  dem  vierten  Jahrhundert 
V.  Chr.  in  stets  wachsendem 
Ma(3e  üblichen  Gepflogenheit, 
verdiente  Persönlichkeiten 
durch  Ehrenstatuen  auszu- 
zeichnen, hat  die  Porträtkunst 
von  den  ältesten  Zeiten  des 
griechischen  Archaismus  bis  in 
die  spätrömische  Kaiserzeit  in 
einer  Mannigfaltigkeit  und  Vor- 
trefflichkeit sich  ausgebildet,  daß  sie  den  Leistungen  der  übrigen 
Zweige  antiker  Kunst  als  gleichberechtigt  an  die  Seite  gestellt  werden 
muß ;  bisher  aber  hat  sie  in  den  weiteren  Kreisen  der  Kunstfreunde 
die  gebührende  Beachtung  noch  nicht  gefunden.  Durch  die  in  dieser 
Sammlung  gebotenen  Abbildungen  kann  sie  zwar  nicht  ganz  voll- 
ständig in  ihrer  historischen  Entwicklung,  aber  wenigstens  in  glän- 
zenden Proben  insbesondere  aus  ihrer  Blütezeit  gewürdigt  werden. 
Freilich  nur  bei  eingehendem  Studium  wird  die  technisch  meister- 
hafte Arbeit  und  hohe  künstlerische  Auffassung  erkannt  werden.  Vor 
allem  gewährt  es  einen  fesselnden  Reiz,  aus  den  Physiognomien 
der  Dargestellten  ihren  Charakter,  ihre  Gesinnung  zu  ergründen, 
bei  historisch  oder  literarisch  hervorragenden  Persönlichkeiten  das 
Aussehen  mit  ihren  Taten  und  Leistungen  zu  vergleichen  und  in 


Fig.  57.  Altrömer.    iWarmorkopf  gegen 

Ende  der  Republik 

München,  Glyptothek 


GRIECH.  UND  ROM.  PORTRÄTS 


173 


Einklangzubringen. 
Diese  Betrachtungs- 
weise erschließt  bei 
Anwendung  der 
dringend  nötigen 
Vorsicht  eine  reiche 
und  reine  Quelle  der 
Belehrung. 

Außerhalb  des 
Bereiches  dieser 
Skizze  liegt  die  Be- 
handlung der  An- 
fänge griechischer 
Bildniskunst,  die 
mit  der  Entwicklung 
der  ältesten  griech- 
ischen Plastik  zu- 
sammenfällt; um  an 
die  frühzeitigsten 
Versuche  der  Wie- 
dergabe mensch- 
licher Gesichtszüge 
zu  erinnern,  genügt 
es,  auf  die  in  my- 
kenischen  Gräbern 
gefundenen  Masken 
aus        getriebenem 

Goldblech,  die  in  die  zweite  Hälfte  des  zweiten  Jahrtausends  v.  Chr. 
gesetzt  werden,  hinzuweisen.  In  viel  jüngere  Zeit,  und  zwar  in 
die  Wende  des  siebenten  und  sechsten  Jahrhunderts  v.  Chr. 
gehört  eine  Anzahl  nackter  Gestalten,  welche  Jünglinge  in 
strammer  Haltung  darstellen;  im  Schema  zwar  noch  ägyptischen 
Vorbildern  sich  anschließend,  sind  sie  doch  durch  die  auf  ge- 
nauem Studium  der  Natur  beruhende  Gestaltung  des  mensch- 
lichen Körpers  und  durch  den  lebensvollen  Gesichtsausdruck  von 
jenen  starren  Erzeugnissen  nichtgriechischer  Kunst  gewaltig  unter- 
schieden. Freilich  hat  man  in  der  Kopfbildung  Porträtähnlichkeit 
noch  nicht  erstrebt,  sondern  mit  der  Wiederholung  oder  Ausge- 
staltung überkommener  Typen  sich  begnügt.  Als  klassisches  Bei- 
spiel dieses  Stils  gilt  mit  Recht  der  sogenannte  „Apoll  von 
Tenea"  (Tafel  1),  ein  Werk  aus  der  Schule  des  Dipoinos  und 
Skyllis,  das  zur  Erinnerung  an  einen  Verstorbenen  dereinst  auf 
dessen  Grabe  aufgestellt  war.    Wie  im  sechsten  und  fünften  Jahr- 


Fig.  58.    Plato,  Hermen-Büste.     Rom,  Vatikan 


174 


GRIECH.  UND  ROM.  PORTRÄTS 


Fig.  59.    Hellenistischer  Feldherr  oder  Fürst 
Kopf  der  Bronzestatue.    Thermenmuseum,  Rom 


hundert  v,  Chr.  die 
in  ihrerEntwicklung 
vorwärts  schreiten- 
de altattische  Kunst 
treffliche  Schöp- 
fungen frischen  Le- 
bens, freilich  ohne 
individuelles  Ge- 
präge, hervorge- 
bracht hat,  das  zei- 
gen neben  anderen 
Werken  die  dereinst 
der  Göttin  Athena 
geweihten  Frauen- 
statuen, die  vor 
nicht  allzulanger 
Zeit  auf  der  Akro- 
polis  zu  Athen 
unter  der  durch  die 
Zerstörungder  Bau- 
ten der  Burg  480  v. 
Chr.  entstandenen 
Schuttschicht  zu- 
tage gekommen  sind 
(Tafel  2,  Fig.  1  u.  2), 
das  zeigt  die  schon 
längst      gefundene 


und  weithin  bekannte  Grabstele  des  Aristion  von  dem  Künstler 
Aristokles,  ein  naturgetreues  Bild  attischer  Mannskraft  und  Tüchtig- 
keit aus  dem  Ende  des  sechsten  Jahrhunderts  v.  Chr. 

Als  die  griechische  Kunst  im  fünften  Jahrhundert  v.  Chr.  zu 
ihrer  Höhe  gelangt  war,  ist  in  der  Bildniskunst  noch  lange  jener 
Idealismus,  der  auf  naturgetreue  Nachbildung  der  Persönlichkeit  ver- 
zichtet und  mit  der  Wiedergabe  zwar  künstlerisch  hervorragender, 
aber  nur  allgemeiner  Formen  sich  begnügt,  z.  B.  in  den  herrlichen 
attischen  Grabreliefs  vorherrschend,  allmählich  aber  auch  der  Nieder- 
schlag der  Individualitäten  großer  Meister  in  steigendem  Maße  erkenn- 
bar. Vielbeschäftigt  und  hochberühmt  war  der  Erzgießer  Kresilas 
(zweite  Hälfte  des  fünften  Jahrhunderts  v.  Chr.).  Für  dessen  Bedeu- 
tung bietet  die  Kopie  des  Kopfes  seiner  Statue  des  P  e  r  i  k  1  e  s  (Tafel  50) 
eine  glänzende  monumentale  Bestätigung.  In  ihr  ist  nach  Abstreifung 
aller  unwesentlichen  Einzelheiten  der  äußeren  Erscheinung  der  xaXöq 
xdyaö'oc  ävi'p,  der  feingebildete  Weltmann  in  vollendeter  Form  ver- 


GRIECH.  UND  ROM.  PORTRATS 


175 


anschaulicht.  Kre- 
silas  hat  also  auf 
genaue  Wiedergabe 
des  Individuums 
verzichtet  und  sehr 
stark  idealisierte 
Porträts  geschaffen. 
Im  Gegensatz  zu 
ihm  stand  der  etwas 
jüngere  attische 
Erzgießer  Deme- 
trios,  der  gemäß  der 
literarischen  Über- 
lieferung zuerst  die 
Wirklichkeit  mit 
ausgeprägtem  Rea- 
lismus veranschau- 
lichte und  daherden 
Beinamen  „dvltpco- 
TTO-Toiö:;, Menschen- 
bildner", erhielt. 
Leider  hat  man  von 
seiner  Kunstart  aus 
Monumenten  eine 
genaue  Vorstellung 
noch  nichtgewinnen 
können.       In     den 

ruhigen,  vornehmen  Formen  attischer  Kunst  der  letzten  Jahrzehnte 
des  fünften  Jahrhunderts  ist  der  ehrwürdige  Greis  Homer  (Fig.  72) 
gebildet.  Von  der  Eigenart  des  Atheners  Silanion,  der  um  die  Mitte 
des  vierten  vorchristlichen  Jahrhunderts  tätig  war,  gewährt  die  in 
Nachbildungen  erhaltene  Büste  des  Philosophen  Plato  einen  deutlichen 
Begriff  ( Fig.  58) :  Einfache,  fast  etwas  nüchterne  Auffassung,  schlichte, 
ehrliche  Naturwahrheit  ohne  absichtlichen  Ausdruck  der  geistigen 
Bedeutung  schauen  aus  den  auf  ihn  oder  auf  Meister  von  ähn- 
licher Kunstrichtung  zurückzuführenden  Bildnissen  hervorragender 
Persönlichkeiten  entgegen  (vgl.  Sokrates  im  älteren  Typus  Fig.  69). 
Diese  Richtung  ist  deshalb  besonders  wertvoll,  weil  sie  unverfälschte 
Treue  vor  Augen  stellt:  So  steht  das  schwunglose  Porträt  des  Plato 
in  starkem  Kontrast  zu  der  Vorstellung,  die  man  aus  den  Schriften 
des  ebenso  tiefgeistigen,  poetisch  beanlagten  Philosophen  wie  fein 
anmutigen  Stilisten  gewinnt.  Eine  weitere,  in  der  Folgezeit  überaus 
wirksame   Phase    der  Entwicklung    ist    unter   dem  Einflüsse   philo- 


Fig.  60.    Hellenistischer  Fürst,  Antiochus  III.  von 
Syrien  genannt.    Marmorkopf.    Paris,  Louvre 


176 


GRIECH.  UND  ROM.  PORTRÄTS 


sophischer,  auf  die 
Erforschung  des 
inneren  Menschen 
gerichteter  Studien 
bewirkt  worden. 
„Der  Bildhauer  soll 
die  Tätigkeit  der 
Seele  in  dem  Bilde 
zum  Ausdruck  brin- 
gen" hat  Sokrates 
einem  Künstler  ge- 
genüberbetont. Die- 
se Forderung  ist  in 
der  Porträtkunst 
des  vierten  Jahr- 
hunderts V.  Chr.  und 
der  nachfolgenden 
Zeit  erfüllt  worden. 
Vor  allem  ist  es  üb- 
lich gewesen,  Dich- 
ter und  Gelehrte 
zwar  nach  der  Natur 
oder  naturgetreuen 
Vorbildern ,  aber 
ohne  die  Zufällig- 
keiten der  äußeren 
Erscheinung  so 
wiederzugeben  und 
frei  zu  gestalten,  wie  ihre  bleibende  geistige  Bedeutung,  ihr 
ethischer  Gehalt  in  dem  Andenken  der  Nachwelt  fortlebte.  Von 
diesem  Gesichtspunkte  aus  sind  die  erhabene,  phantasievolle  Ge- 
stalt des  Sophokles  (Tafel  51),  die  Hermen  des  philosophisch 
beanlagten,  tiefen  Denkers  Euripides  (Tafel  52),  sowie  des  geist- 
und  gemütvollen  Sokrates  (Tafel  53)  zu  betrachten.  In  ähnlichem 
Sinne  gedacht,  aber  auf  Grund  der  aus  der  Überlieferung  gewon- 
nenen Vorstellung  von  der  Persönlichkeit  aus  der  Phantasie  völlig 
frei  geschaffen  ist  das  dichterisch  begeisterte  Antlitz  des  erblin- 
deten Sängers  Homer  (Tafel  56),  eine  herrliche  Schöpfung  aus 
hellenistischer  Epoche.  Eine  neue  Richtung  gab  der  griechischen 
Bildniskunst  die  lysippische  Schule  und  Zeit.  Das  Streben  nach 
Naturwahrheit,  die  realistische  Auffassung,  der  verstärkte  Ausdruck 
innerer  Gefühle  und  Erregungen  im  Antlitz  sind  Eigentümlichkeiten 
dieses    Stils,    die   zusammengewirkt    haben,    um    die    Statue    des 


Fig.  61.    Büste  aus  grünem  Basalt,  Cäsar  benannt, 

einst  im  Besitz  Friedrichs  des  Großen 

Berlin,  K.  Museen 


GRIECH.  UND  ROM.  PORTRATS 


177 


Demosthenes  mit 
den  zerrissenen  und 
durchfurchten  Ge- 
sichtszügen (Tafel  55) 
zu  bilden,  die  von  je- 
ner idealisierten  Sta- 
tue des  Sophokles 
gewaltig  sich  unter- 
scheidet. Zur  Zeit 
Alexanders  desGroßen 
und  der  Diadochen 
steht  die  Persönlich- 
keit der  Fürsten  im 
Vordergrunde.  In  ihrer 
Wiedergabe  haben  die 
Porträtisten  neue  Auf- 
gaben erhalten  und 
glänzend  gelöst.  Nicht 
mehr  der  geistvolle 
Ausdruck  der  Gesich- 
ter, wie  bei  den  Dich- 
tern und  Gelehrten, 
fesselt  in  erster  Linie 
das  Auge  des  Be- 
trachters, sondern  das 
historische  Interesse 
an  den  einzelnen 
Physiognomien  dieser 
kraftvollen,  zum  Herr- 
schen wie  geborenen  Fürsten  ist  es,  das  beim  Anblicke  ihrer  Bild- 
nisse in  hohem  Maße  erregt  wird  (Fig.  59).  Eine  Vorstufe  dieser 
Entwicklung  ist  in  dem  Kopfe  des  jugendlichen,  feurig  schwung- 
vollen Alexander  (Tafel  54)  veranschaulicht:  ein  größerer  Gegen- 
satz als  der  zwischen  der  vornehmen  Ruhe  des  Perikles  und  der 
vorwärtsstürmenden  Entschlossenheit  Alexanders  ist  kaum  denk- 
bar. Und  dieser  gewaltige  Unterschied  wird  auch  veranschaulicht 
durch  die  Einzelköpfe  vom  sidonischen  Sarkophag  (vgl.  Fig.  38  und  43), 
insoweit  sie  nicht  rein  ideal  gebildet  sind.  Zurückgehaltene  Ener- 
gie, nüchterne  Denkungsart,  abgeklärte  Ruhe  und  Besonnenheit  sind 
auf  dem  vornehm  würdevollen  Antlitz  eines  schon  durch  das  Lebens- 
alter an  Erfahrung  ausgereiften  Königs  (Fig.  60)  in  harmonischer 
Vollendung  ausgeprägt;  es  wird  auf  den  mächtigen  Gegner  Roms, 
Antiochus  III.  von  Syrien,  gedeutet. 


Fig.  62.  Terrakottakopf  eines  Altrömers,  wohl 
aus  der  zweiten  Hälfte  des  ersten  vorchristlichen 
Jahrhunderts.     Boston,   Museum   of  Fine  Arts 


Denkmäler  griech.  u.  röm.  Skulptur,  3.  Aufl. 


178 


GRIECH.  UND  ROM.  PORTRÄTS 


Die    hellenistische 
Porträtkunst     hat     auf 
römischem  Boden  eine 
unmittelbare  Weiterent- 
wicklung nicht  erfahren. 
Vielmehr  trat  der  grie- 
chischen     Kunst      bei 
ihrem  Übergange  nach 
Rom    eine    verhältnis- 
mäßig    durchgebildete, 
auf     lokaler     Tradition 
gegründete,    spezifisch 
italische      Porträtkunst 
entgegen,  die  uns  heute 
noch    in    erster    Linie 
durch  die  zahlreich  er- 
haltenen     etruskischen 
Bildnisse         vergegen- 
wärtigt wird  und  für  die 
rücksichtslose       Nach- 
ahmung   der   Natur   in 
ihrer  unverfälschten  Ur- 
wüchsigkeit   ohne    jeg- 
liche Verfeinerung  maß- 
gebend  war.      Freilich 
die  überwiegende  Mehr- 
zahl römischer  Bildnisse 
stellt  sich  bereits  als  das 
Ergebnis    der    Vereini- 
gung       einheimischer, 
schon  bedeutend  vorgeschrittener  Kunstübung  und  des  namentlich 
in  der  künstlerischen  Auffassung  und  Technik  sich  offenbarenden 
griechischen  Einflusses  dar.  Als  eines  der  ältesten  Denkmäler  dieser 
Gattung,  dessen  genaue  Datierung  bisher  leider  nicht  gelungen  ist, 
gilt  wohl  mit  Recht  der  bärtige  Bronzekopf  des  Konservatoren- 
palastes zu  Rom  (Tafel  57),  in  dem  der  Typus  des  alten  Repu- 
blikaners in  verhältnismäßig  reiner  Form  wiedergegeben  ist.  Ver- 
schieden von  diesem  stilistisch  bis  jetzt  alleinstehenden  Werke  ist 
eine  ziemlich  große  Reihe  von  Porträtbüsten  unbärtiger  Römer  aus 
dem    ersten    vorchristlichen  Jahrhundert   bis   in   die   Anfänge    der 
Kaiserzeit,  in  denen  die  herbe  Realistik  des  Aussehens  infolge  des 
künstlerischen  Verdienstes  zwar  meistens  gemildert  erscheint,  aber 
das  nationale  Gepräge  des  civis  Romanus  von  echtem  Schrot  und 


Fig.  63.  Marmorkopf  der  jüngeren  Agrippina, 
der  Gemahlin  des  Claudius  und  Mutter  des 
Nero,  mit  dem  psychologisch  merkwürdigen, 
künstlerisch  meisterhaften  Ausdruck  weh- 
muts-  und  entsagungsvoller  Trauer. 
Kopenhagen,  Glyptothek  Ny-Carlsberg 


GRIECH.  UND  ROM.  PORTRÄTS 


179 


Korn,  seineEinfach- 
heit  und  Tüchtig- 
keit, sein  prakti- 
scher Verstand,  sei- 
ne gewaltigeEnergie 
unverfälscht  zum 
Ausdruck  kommen 
(vgl. Tafel  60:  „Rö- 
mischer Bürger 
m  i  t  der  T  oga  be- 
kleidet", ferner 
Fig.  57,  das  Grab- 
relief mit  der  Grup- 
pe eines  römischen 
Ehepaars  imBüsten- 
Zimmer  des  Vati- 
kanischen Muse- 
ums, die  „Marius" 
benannten  Köpfe  im 
Museo  Chiaramonti 
ebenda  usw.).  Von 
diesen  meisterhaf- 
ten Charakterbil- 
dern echtrömischen 
Wesens  scheidet 
sich  eine  kleine 
Gruppe  von  Bildnissen  etwa  der  nämlichen  Epoche  aus,  die  andere 
Physiognomien  zeigen.  Es  sind  dies  jene  intelligenten  und  geist- 
reichen, oft  eines  gewissen  sarkastischen  Zuges  nicht  entbehrenden 
Gesichter,  die  durch  die  griechische  Bildung,  insbesondere  durch  das 
Studium  der  griechischen  Philosophie  verfeinert  erscheinen.  Ausge- 
zeichnete Beispiele  dieses  Volkstypus  sind  dieCicero,Cäsar,  Marc  An- 
ton u.a.m.  benannten  Köpfe  (Fig.  61).  Aus  der  Büste  des  Agrippa 
(Tafel  57)  ist  jene  geistige  Durchbildung  nur  in  geringerem  Grade  zu 
erkennen,  da  in  seinem  Antlitze  der  Typus  des  alten  Römers  überwiegt 
und  die  Gesichtszüge  in  lebhafter,  pathetischer  Erregung  wiedergege- 
ben sind.  Vollendete  Harmonie  von  körperlicher  Kraft  und  innerer 
Bildung,  von  Charakter  und  Geist  bringt  der  wundervolle  Terrakotta- 
kopf (Fig.  62)  zur  Geltung.  In  Material  und  Technik  an  heimische 
Tradition  anknüpfend,  in  pathetischer  Auffassung  und  künstlerischer 
Gestaltung  vom  Hellenismus  beeinflußt,  erregt  er  durch  packende 
Naturwahrheit  und  Lebendigkeit  beim  ersten  Anblick  gewaltiges 
Interesse.    Das  Porträt  des  betagten,  indes  ungebrochenen  Mannes 


Fig. 64.  AntoninusPius.  Panzerbüste  mit  gefibeltem 
Paludamentum.  Marmor.  Neapel,  Museo Nazionale 


12* 


180 


GRIECH.  UND  ROM.  PORTRATS 


scheint  nach  der 
Wirklichkeit  frei 
modelliert  zu  sein, 
ist  aber  durchaus 
nicht  kleinlich  pein- 
lich ausgearbeitet, 
erreicht  vielmehr  in 
klarer,  bestimmter 
Formengebung,  die 
durch  die  bildsame 
Tonmasse  begünst- 
igt wird,  bestmög- 
lichste Ähnlichkeit 
und  löst  glänzend 
die  höchste  Aufgabe 
der  Bildniskunst 
auch  dadurch,  daß 
im  Individuum  der 
Typus  veranschau- 
licht wird.  Denn  in 
jenem  unbekannten 
Römer  mit  vornehm 
stolz  erhobenem 
Haupte,  eisernem 
Willen,  verhaltener 
Entschlossenheit, 

zielbewußtem  Blick  ist  die  plastische  Verkörperung  der  virtus,  der 
nobilitas  im  vollsten  und  besten  Wortsinne  meisterhaft  gelungen. 
In  der  Kaiserzeit  waren  es  vorwiegend  die  ungemein  häufigen 
Darstellungen  der  Kaiser  und  der  Mitglieder  ihrer  Familie,  welche 
die  römische  Plastik  beschäftigt  haben.  In  der  ganzen  Gestalt 
der  Herrscher,  die  sowohl  über  das  Menschliche  nicht  erhaben 
in  der  Kleidung  des  Bürgers  oder  in  militärischer  Rüstung,  als 
auch  in  Heroisierung  verewigt  worden  sind,  galt  es  vor  allem,  die 
Majestät  des  Imperators  zur  Geltung  zu  bringen :  eine  wahrhaft 
fürstliche  Erscheinung  ist  die  Panzerstatue  des  Augustus  aus 
Prima  Porta  (Tafel  58),  der  in  würdevoller  Stellung  als  Feldherr 
vor  dem  Heere  eine  Ansprache  zu  halten  im  Begriffe  ist.  Mit 
dem  sitzenden  Nerva  der  Rotunde  des  Vatikanischen  Museums, 
der  nach  dem  Vorbilde  des  thronenden  Zeus  gebildet  ist,  lassen 
sich  wenige  Porträtstatuen  an  Wahrheit  und  Größe  der  Auffassung 
vergleichen.  Marc  Aurel  auf  dem  Kapitolsplatze,  der  hoch  zu  Roß 
über  besiegte  und  Gnade  flehende  Gegner  hinwegreitend  gedacht 


Fig.  65.    Marmorbüste  des  Caracalla 
Berlin,  K.  Museen 


GRIECH.  UND  ROM.  PORTRÄTS 


181 


ist,  gilt  mit  Recht 
als  eines  der  groß- 
artigsten Reiter- 
standbilder aller 
Zeiten.  In  das  Ge- 
biet des  Idealen  er- 
hoben erscheinen 
einige  Statuen  rö- 
mischer Damen  et- 
wa aus  der  auguste- 
ischen Epoche,  die 
in  den  Formen 
griechischer  Mei- 
sterwerke des  fünf- 
ten und  viertenjahr- 
hunderts  v.Chr. wie- 
dergegeben sind  : 
die  auf  dem  Lehn- 
stuhl sitzenden 
Frauen  (in  den  Of- 
fizien zu  Florenz 
und  in  mehreren 
Museen  Roms),  die 
in  ihrer  bequemen 
Haltung  Anmut  und 
Würde  vereinigen, 
sind  vermutlich 
Nachbildungen  at- 
tischer Grabsta- 
tuen; die  unter  dem 
Namen  der  „Herkulanenserin"  bekannte,  leider  nicht  sicher 
gedeutete  Statue  in  Dresden  (Tafel  59),  die  vielleicht  als  ein  in 
der  Heimat  errichtetes  Ehrenstandbild  aufzufassen  ist,  geht  in  ihrem 
Typus  auf  ein  Werk  praxitelischer  Zeit  und  Richtung  zurück.  In 
der  Wiedergabe  des  Antlitzes  der  Kaiser,  kaiserlichen  Prinzen  und 
Damen  (Fig.  63)  hat  die  römische  Skulptur  bis  in  die  späteste  Zeit 
bewundernswerte  Beherrschung  der  Technik,  höchste  Meisterschaft 
in  der  wirkungsvollen  Hervorhebung  des  Charakters  der  Darge- 
stellten betätigt.  In  der  Epoche  des  julisch-claudischen  Hauses 
prägt  sich  bis  auf  Claudius  in  den  Gesichtern  meist  ruhige  Ge- 
schlossenheit, vornehm  höfischer  Adel  aus  (Tafel  58),  während  von 
da  ab  die  Physiognomien  mannigfach  wirksam  im  guten  und  schlim- 
men Sinne  hervortreten,  dem  wechselvollen  Wesen  der  Herrscher 


Fig.66.  Bronzekopf  des  Kaisers  Maximinus  Thrax 
München,  Antiquarium 


182 


GRIECH.  UND  ROM.  PORTRÄTS 


gemäß,  ihrer  verschie- 
denen Abstammung  und 
Herkunft  entsprechend, 
psychologisches  Inter- 
esse stets  mächtig  er- 
regend. Als  edle  Er- 
scheinungen allbekannt 
sind  Trajan,  Hadrian, 
Marc  Aurel.  Ein  treffen- 
des Bild  des  eigenen 
Charakters  ebenso  wie 
des  vielfach  trockenen 
Bildungsniveaus  der 
Zeit  und  der  damals 
wohl  akademisch  sorg- 
fältigen, doch  der  Ge- 
nialität ermangelnden 
Plastik  bietet  die  aus- 
gezeichnete Büste  des 
Antoninus  Pius{Fig.64), 
noch  eindrucksvoller 
durch  die  leichte  Wen- 
dung des  Kopfes.  Mild, 
leidenschaftslos,  frei- 
lich recht  nüchtern  sind 
die  Züge  des  würdigen, 
schon  durch  die  Lebens- 
jahre zur  Ruhe  abge- 
klärten Fürsten  (vgl.  auch  Julius  Capitolinus,  Kap.  2).  Welche 
Schaffenskraft  noch  in  der  ersten  Hälfte  des  dritten  Jahrhunderts 
n.  Chr.  die  römische  Kunst  bewahrt  hat,  bezeugt  der  treffliche 
Charakterkopf  des  Caracalla  (Fig.  65),  der  Inbegriff  des  Cäsaren- 
tums  in  seiner  schlimmsten  Bedeutung.  Eine  gleich  meisterhafte 
Schöpfung  ist  der  Kopf  des  Maximinus  Thrax  (Fig.  66).  Durch 
den  Lorbeerkranz  wird  er  als  Herrscher  gekennzeichnet.  Er 
stammte  wohl  aus  der  Gegend  nördlich  von  Thrakien,  von  der 
unteren  Donau,  der  Sohn  eines  Goten  und  einer  Alanin;  er  war 
der  erste  Germane  auf  dem  römischen  Kaiserthron,  hervorragend 
durch  Riesengröße  und  Riesenstärke.  In  seiner  unverfälschten 
Naturwahrheit  ist  das  Bildnis  von  ganz  gewaltig  wirksamer  Kraft. 
Fast  möchte  man  in  den  derb  ausgeprägten,  aber  ehrlich  biederen 
Zügen ,  in  dem  schlichten,  geraden  Wesen  echte  Germanenart 
wiedererkennen.     Maximinus  Thrax,   der    schon    ziemlich    gealtert 


Fig.  67.    Marmorkopf  einer  Römerin.    Wende 

des  zweiten  und  dritten  Jahrhunderts  n.  Chr. 

Kopenhagen,  Glyptothek  Ny-Carlsberg 


PERIKLES  183 

erscheint,  schaut  uns  wie  lebendig  an.  „Der  geradeaus  gerichtete 
Blick  aus  den  großen ,  weit  oPFenen  Augen,  ernst,  streng  und 
sorgenvoll  zugleich,  dient  der  Charakteristik  der  Person  in  eminen- 
tem Maße  ebenso  wie  der  böse,  nach  der  Seite  gerichtete  Blick 
beim  Porträt  des  Caracalla".  Auch  unter  den  Frauenbildnissen  hat 
gerade  diese  Spätzeit  in  den  Plautilla,  Julia  Domna  benannten 
Köpfen  reizvolle  Porträts  geschaffen;  zu  diesem  Kreise  und  dem- 
gemäß um  die  Wende  des  zweiten  und  dritten  Jahrhunderts  n.  Chr. 
gehört  nach  der  Haartracht  und  dem  Stile  das  lebensfrische  Bild 
einer  vornehmen  Römerin  von  unsicherer  Deutung  (Fig.  67),  worin 
der  unwiderstehlich  bannende  Zauber  jugendlicher  Weiblichkeit  in 
feinen  und  zarten  Formen  sich  ausprägt,  so  daß  jedes  empfäng- 
liche Auge  immer  von  neuem  gefesselt  wird. 


TAFEL  50 
PERIKLES 

HERMENBÜSTE  AUS  MARMOR.     LONDON,  BRITISH  MUSEUM. 

Diese  nur  wenig  verletzte  Herme,  die  gute  Kopie  eines  grie- 
chischen Werkes  des  fünften  Jahrhunderts  v.  Chr.,  ist  im  Jahre 
1781  unter  den  Trümmern  einer  südöstlich  von  Tivoli  gelegenen 
antiken  Villa  gefunden  worden  und  kam  später  in  das  British  Mu- 
seum. Daß  Perikles  dargestellt  ist,  sagt  die  antike  griechische  In- 
schrift ')  unten  am  Schafte.  Bei  Plinius  dem  Alteren,  naturalis 
historia  34,  74,  ist  überliefert,  daß  ein  Zeitgenosse  des  Staats- 
mannes, der  aus  dem  kretischen  Kydonia  stammende,  in  Athen 
tätige  Erzgießer  Kresilas,  dessen  Bronzestatue  gefertigt  hat.  Die 
längst  geäußerte  Vermutung,  daß  dieselbe  mit  der  von  dem  Perie- 
geten  Pausanias  1,  25  und  28  ohne  Künstlerbezeichnung  in  der  Be- 
schreibung der  Akropolis  von  Athen  erwähnten,  unweit  der  Athena 
Promachos  des  Pheidias  und  in  der  Nähe  der  Propyläen  aufge- 
stellten identisch  sei,   hat  kürzlich  vielleicht  eine  Bestätigung  ge- 


')  Der  Buchstabencharakter  fünrt  nach  dem  Urteil  von  Epigraphikern 
vielleicht  in  die  erste  Hälfte  des  zweiten  oder  gar  schon  in  das  Ende  des 
dritten  vorchristlichen  Jahrhunderts;  demgemäß  würde  diese  Nachbildung 
aus  griechischer  Zeit  stammen.  Doch  muß  man  sich  bei  der  Unsicherheit 
der  Datierung  derartiger  Inschriften  vorerst  mit  der  Tatsache  begnügen, 
daß  Schriftform  und  Arbeit  der  Herme  jedenfalls  auf  eine  für  Kopien  auf- 
fällig frühe  Entstehung  hinweisen. 


184  GRIECH.  UND  ROM.  PORTRÄTS 

funden :  unter  den  unerschöpflichen  Marmortrümmern  der  Burg  ist 
das  Bruchstück  eines  Blocks  zum  Vorschein  gekommen,  das  in 
zwei  Zeilen  die  unvollständige  Inschrift  .  .  .  txXeo^  |  .  .  .  iXaq  etioxe 
trägt;  diese  nun  wurde  freilich  nicht  sicher  zu  n8p]ixAeoc  KpEc]\\aq 
^TToie  ergänzt ').  Eine  Nachbildung  jenes  Werkes  des  Kresilas  ist 
in  der  hier  wiedergegebenen  Marmorkopie  erhalten.  Denn  die  Be- 
trachtung des  fast  noch  ein  wenig  archaischen  Stils  führt  auf  die 
Zeit  des  Künstlers,  die  knappe,  feste  Formengebung  auf  ein  Bronze- 
original,  endlich  läßt  das  Vorhandensein  von  Wiederholungen  des- 
selben Kopfes  auf  ein  berühmtes  Vorbild  schließen.  So  hat  sich 
in  der  Tat  eine  zu  Lebzeiten  des  Mannes  wohl  etwa  zwischen  440 — 430 
gearbeitete  Darstellung  erhalten,  indes  ist  sie  keineswegs  ein  Porträt 
im  modernen  Sinne,  das  die  Physiognomie  genau  wiedergibt,  sondern 
erscheint  stark  beeinflußt  von  der  Kunstrichtung  des  Meisters  und 
bietet  dem  Geschmack  und  der  Kunstübung  der  Zeit  entsprechend 
ein  Idealbild,  das  unter  Abstreifung  aller  Zufälligkeiten  des  Äußeren 
den  vornehmen  und  feingebildeten  Athener  vergegenwärtigt.  Trotz- 
dem zeigt  sich  in  der  Gesamterscheinung  und  in  einzelnen  Zügen 
noch  so  viel  Individualität,  daß  man  daraus  von  dem  großen  Staats- 
mann eine  zwar  phantasievolle,  indes  das  Wesen  des  Perikles 
allgemein  charakterisierende  Vorstellung  gewinnen  darf. 

Das  längliche  Oval  des  edlen,  regelmäßig  gebildeten,  mäßiger 
Fülle  nicht  entbehrenden  Gesichtes  ist  von  einem  kurzgeschorenen, 
wohlgepflegten  Vollbarte  umrahmt.  Unter  dem  hohen,  ein  wenig 
nach  rückwärts  geschobenen  Helm  quillt  üppig  das  Lockenhaar  zu 
beiden  Seiten  des  Gesichtes  hervor.  Den  Helm  hat  Perikles  wahr- 
scheinlich nicht,  wie  in  der  vita  des  Plutarch  3  berichtet  ist,  des- 
halb auf  dem  Kopfe,  um  die  von  den  gleichzeitigen  Komikern  ver- 
spottete Spitzform  des  Schädels  zu  verbergen,  sondern,  wie  andere 
erhaltene  Porträts  von  Feldherrn  lehren,  nur  der  Sitte  der  Zeit  ge- 
mäß zur  Bezeichnung  des  Strategenamtes,  das  er  fast  fortdauernd 
bekleidete  und  unter  dem  er  den  maßgebenden  Einfluß  gewann. 
Die  Haltung  des  etwas  zur  Seite  geneigten  Kopfes  hat  Kresilas 
vielleicht  im  Leben  an  Perikles  selbst  als  Eigentümlichkeit  seiner 
Erscheinung  beobachtet  und  durch  die  Wiedergabe  derselben  in 
der  Statue  die  lebendige  Vorstellung,  die  man  von  der  Persönlich- 
keit des  großen  Staatsmannes  noch  heutzutage  aus  der  Büste  zu  ge- 


')  „Perikles.  Kresilas  ist  der  Verfertiger".  „IleptxAROi;"  steht  für 
„riepixXf'ouc;"  und  „kjxoif,"  für  „eTioiex"  nach  der  älteren  attischen  Schreib- 
weise. Dem  Sinne  nach  ist  zu  „riepixAeoui;"  „ei)ni"  zu  ergänzen  und  wört- 
lich zu  übersetzen:  „ich  gehöre  dem  Perikles".  Die  knappe  Form  der  Ab- 
fassung ist  immerhin  ungewöhnlich  und  schon  deshalb  die  Ergänzung 
zweifelhaft. 


PERIKLES 

LONDON,    BRITISH    MUSEUM 


F.    BRUCKMANN    A.-G..     MÜNCHEN 


SOPHOKLES  185 

winnen  glaubt,  bedeutend  gesteigert').  Man  erblickt  einen  schönen 
Mann  im  besten  Lebensalter,  in  voller  Schaffenskraft,  der  auch  auf 
das  Äußere  etwas  gehalten  hat.  Schon  die  leicht  gewölbte  Stirne  und 
der  Einschnitt  über  der  regelmäßig  geformten  Nase,  die  scharfum- 
rissenen,  geschwungenen  Brauen,  vor  allem  aber  der  Träger  des  Gei- 
stigen, das  tiefliegende,hochumränderte  Auge  offenbaren  den  gedanken- 
reichen, besonnenen  Ernst  des  großen  Staatsmannes.  Aber  frisches 
Leben  gewinnt  der  Marmor  durch  die  Bildung  des  Mundes.  Die  vollen, 
breiten,  fast  etwas  weichlichen  Lippen  sind  ein  weniggeöffnet:  So  glaubt 
man  den  reichen  Fluß  der  Worte,  die  dem  Munde  entströmen,  zu  ver- 
nehmen. Man  gedenkt  unwillkürlich  des  Lobes,  das  von  den  alten 
Schriftstellern-)  der  Beredsamkeit  des  Perikles  gespendet  worden 
ist,  und  erinnert  sich  der  herrlichen  Leichenrede  auf  die  im  ersten 
Jahre  des  Peloponnesischen  Krieges  Gefallenen').  Wenn  man  aber 
den  Gesamteindruck,  den  die  Büste  macht,  festhält,  versteht  man 
wohl,  wie  der  Staatsmann  in  der  Volksversammlung  die  leiden- 
schaftlichen und  aufbrausenden  Massen  gelenkt  hat,  bei  aller  Volks- 
tümlichkeit unerschütterlich  fest  und  bestimmt,  den  Angriffen  der 
Feinde  mit  kalter  Ruhe  entgegnend  ').  Hoheit  und  Kraft,  ruhiger 
und  klarer  Verstand ,  feine  geistige  Bildung,  Milde  und  heiterer 
Friede  sind  in  wunderbarer  Harmonie  auf  den  Gesichtszügen  aus- 
gebreitet. Der  Beiname  des  Olympiers,  dessen  die  Bronzestatue 
ebenso  wie  der  Dargestellte  selbst  im  Altertum  gewürdigt  worden 
ist,  behauptet  in  dem  Abglanze  der  Marmorkopie  volle  Geltung. 
Auf  diesem  vornehmen  Antlitz  zu  ruhen  wird  das  Auge  nicht  müde. 


TAFEL  51 
SOPHOKLES 

MARMORSTATUE.    ROM,  LATERANISCHES  MUSEUM. 

Die  Zierde  der  Sammlung  des  Lateranischen  Palastes  ist  dieses 
etwas  überlebensgroße  Standbild,  das   1839  in  dem  heutigen  Ter- 

')  Freilich  besteht  auch  die  Möglichkeit,  daß  durch  die  uns  nicht 
überlieferte  Situation  der  Statue,  etwa  in  der  Auffassung  eines  Redners, 
die  seitliche  Neigung  des  Hauptes  gegeben  war  und  von  dem  Kopisten 
in  der  Herme  beibehalten  worden  ist. 

-)  Eupolis  und  aus  ihm  z.  B.  Cicero  Brutus  9,  38.  Vgl.  Comicorum 
Atticorum   fragmenta  ed.  Kock  I.  281,  94  und  III.  718,  94. 

^)  Thukydides,  Geschichte  des  Peloponnesischen  Krieges  2,  35  ff. 

•»)  Vgl.  Thukydides  a.  a.  O.  2,  65,  8,  Piutarch   Perikles  5. 


186  GRIECH.  UND  ROM.  PORTRÄTS 

racina,  der  alten  Volskerstadt  Anxur '),  ans  Licht  gekommen  und 
von  der  dort  ansässigen  Familie  Antonelli  dem  Papste  Gregor  XVI. 
zum  Geschenke  gemacht  worden  ist.  Mehrfach  gebrochen,  aber 
im  wesentlichen  glücklich  erhalten,  ist  das  treffliche  Kunstwerk 
von  dem  Bildhauer  Tenerani  nach  antiken  Mustern  ergänzt  worden  -). 
Die  Deutung  ist  durch  eine  kleine  Marmorbüste  des  Vatikans  ge- 
geben, auf  welcher  der  Name  des  Dichters  in  griechischer  Inschrift 
zum  Teil  zu  lesen  ist.  Da  des  Sophokles  Sohn,  lophon,  seinem 
Vater  nach  dessen  Tode  eine  Statue  hat  errichten  lassen  ^),  war 
der  Nachwelt  wohl  ein  getreues  Abbild  des  großen  Dichters  über- 
liefert. Daß  in  der  lateranischen  Statue  eine  Nachbildung  dieses 
Werkes  zu  erkennen  ist,  scheint  aus  stilistischen  Gründen  unwahr- 
scheinlich ;  die  Beziehung  auf  das  Erzbildnis,  das  von  dem  athenischen 
Volke  auf  Antrag  des  Redners  Lykurg  zwischen  350  und  330  v.  Chr. 
dem  Dichter  gestiftet  worden  ist  ^),  kann  in  Ermanglung  einer  Be- 
schreibung desselben  nicht  bewiesen  werden,  dem  Stile  und  der 
Komposition  nach  gehört  das  Original  der  lateranischen  Statue  etwa 
in  die  Mitte  des  vierten  Jahrhunderts  und  stammt  von  einem  attischen, 
praxitelischer  Kunstart  nahestehenden  Meister.  Da  nun  jenes  zweite 
vor  aller  Augen  stehende,  populär  gewordene  Werk  am  ehesten  kopiert 
wurde,  ist  die  Rückführung  sehr  plausibel. 

Unser  Bildnis  ist  ein  Idealporträt.  In  frischer  Kraft  männlicher 
Jahre  steht  der  Dichter  da,  den  linken  Fuß  wie  zum  Ausschreiten 
vorgesetzt  und  so  in  leichter  Bewegung,  durch  die  bequeme  Haltung 
der  Arme  aber  in  das  richtige  Maß  ruhiger  Stellung  gebracht,  eine 
elastische  Gestalt,  die  über  sich  selbst  fast  hinauszuragen  scheint 
und  der  eigenen  Würde  sich  bewußt  ist,  indes  bei  aller  Vornehm- 
heit ohne  Stolz  und  ungezwungen,  das  Musterbild  des  xaXöq  xctya^oq 
dvTp,  des  feingebildeten  Weltmannes  des  fünften  Jahrhunderts  v.  Chr., 
der  auch  auf  das  Äußere  viel  gehalten  hat.  Vorwiegend  die  zarte 
Behandlung  des  Marmors  an  dem  weiten,  reichlich  bemessenen 
Mantel,  der  den  größten  Teil  des  Körpers  bedeckt,  läßt  auch  in 
dieser  ausgezeichneten  Kopie  die  Hand  eines  großen  Künstlers  er- 
kennen ;  denn  man  zweifelt,  ob  die  ruhiger  gehaltenen  Teile,  an 
denen  die    edlen  Körperformen    mehr  durchscheinen   als    verhüllt 


')  Sie  hieß  auch  im  Altertum  schon  frühzeitig  Tarracina. 

2)  Unter  den  bedeutenderen  Ergänzungen  sind  vollständig  erneuert 
die  Basis,  der  Schriftenkorb,  die  Füße. 

3)  Vita  Sophoclis  11,  abgedruckt  in  Sophoclis  Electra  edidit  Otto  Jahn 
—  Michaelis. 

'')  Leben  der  zehn  Redner  841  F,  womit  Pausanias,  Beschreibung 
Griechenlands  I,  21,  1  mit  Recht  in  Verbindung  gebracht  wird;  demgemäß 
stand  das  Werk  im  Dionysostheater  zu  Athen. 


SOPHOKLES 

ROM,    LATERANISCHES    MUSEUM 


SOPHOKLES 


187 


werden,  oder  der  reiche 
Wechsel  in  der  Linien- 
führung, die  trotz  der 
rhythmischen  Mannig- 
fahigkeit  ein  einheit- 
liches Bild  darstellt, 
größere  Bewunderung 
verdienen.  Die  mächtige 
Wirkung  der  Statue  wird 
erhöht  durch  die  Be- 
trachtung des  regel- 
mäßig gebildeten,  edel 
geformten  Hauptes,  wel- 
ches, mit  einem  Bande 
geschmückt,  etwas  er- 
hoben ist  (Fig.  68).  „Der 
Ausdruck  des  Gesichtes, 
das  von  wohlgepflegter 
Lockenfülle  des  Haares 
und  Bartes  umkränzt 
wird,  an  dem  die  hohe 
Stirne  erhabene  Weis- 
heit und  die  feine  Bil- 
dung des  Mundes  be- 
zaubemdeBeredsamkeit 

ahnen  lassen,  ist  ebenso  heiter  und  klar  als  ernst  und  tiefgeistig; 
das  Seherische  des  Dichters  bei  etwas  nach  oben  gewandtem 
Blicke  verbindet  sich  mit  der  verständigen  Durchbildung  des 
reichsten  und  tätigsten  Geistes.  Dadurch  ist  es  möglich,  im  An- 
blicke dieses  Bildes  sich  in  den  Geist  des  Dichters  und  das  Ei- 
gentümliche seiner  vollendeten  Bildung  zu  versenken,  sich  ihrer 
gewissermaßen  im  Anblicke  der  Person  selbst  zu  vergewissern" 
(Welcker).  So  erregt  das  Antlitz  den  Eindruck  der  reinen  Harmonie 
des  geistigen  und  leiblichen  Daseins,  wie  sie  höher  kaum  gedacht 
werden  kann,  und  steigert  den  Wert  des  ganzen  Werkes,  das  mit 
Recht  als  die  schönste  aus  dem  Altertum  erhaltene  Porträtstatue, 
als  ein  für  die  ganze  gebildete  Welt  schätzbares  und  teures  Denk- 
mal gepriesen  wird. 


Fig.  6S.  Kopf  der  Marmorstatue  des  Sophokles 
Rom,  Lateran 


188  GRIECH.  UND  ROM.  PORTRÄTS 


TAFEL^52 
EURIPIDES 

HERMENBUSTE  AUS  MARMOR.    NEAPEL,  MUSEO  NAZIONALE. 

Unter  den  in  nicht  unbeträchtlicher  Anzahl  vorwiegend  aus  der 
römischen  Kaiserzeit  erhaltenen  Porträts  des  Euripides,  die  neben 
literarischen  Nachrichten  ein  monumentales  Zeugnis  für  seine  Popu- 
larität in  späterer  Zeit  abgeben,  ist  die  hier  abgebildete,  bis  auf  die 
teilweise  ergänzte  Nase  fast  unversehrt  erhaltene  Büste  von  feiner 
Arbeit  das  beste  und  bedeutendste ;  sie  wird  in  ihrem  Werte  ge- 
steigert durch  die  unten  am  Schafte  angebrachte  antike  griechische 
Inschrift,  die  in  unregelmäßigen,  aber  deutlich  lesbaren  Buchstaben 
die  Person  des  Dargestellten  nennt  und  so  auch  für  andere  Bild- 
werke zuerst  die  sichere  Deutung  ermöglicht  hat').  Bereits  gegen 
Ende  des  sechzehnten  Jahrhunderts  als  Eigentum  der  römischen 
Familie  Farnese  erwähnt,  ist  sie  nach  dem  Aussterben  dieses  Hauses 
zu  Ende  des  achtzehnten  Jahrhunderts  mit  weltberühmten  Antiken 
in  den  Besitz  des  damaligen  Königs  von  Neapel  und  von  ihm  in 
das  dortige  Museum  gelangt. 

Euripides  ist  in  reiferen  Jahren,  fast  an  der  Schwelle  des  Greisen- 
alters dargestellt,  indes  von  der  Schwäche  des  Alters  noch  nicht 
berührt.  Der  Kopf  ruht  in  leichter  Neigung  auf  dem  Hermen- 
schafte auf,  an  dem  das  um  die  Schulter  sich  legende  und  auf  der 
linken  Seite  nach  vorwärts  herabhängende  Mantelstück  die  Vor- 
stellung einer  ganzen  Statue  erleichtert.  Von  dem  Wirbel  hängen 
nach  rückwärts  und  in  gleicher  Masse  nach  beiden  Seiten  lange, 
freigearbeitete  Locken,  die  bis  in  den  Nacken  reichen,  sowie  Schläfe 
und  Ohren  völlig  bedecken,  fast  wie  eine  schwere  Last  herab,  während 
in  die  Stirne  nur  einzelne  dünne  Strähnen  hineinreichen.  Unmittel- 
bar an  das  Haar  schließt  sich  auf  beiden  Seiten  der  ziemlich  lange, 
nicht  allzu  sorgfältig  gepflegte  Vollbart  an.  Der  Grundcharakter 
der  Züge  des  breiten,  mageren  Gesichtes  ist  hoher  Ernst,  Ge- 
dankenreichtum und  Gedankenschwere,  die  in  dem  gesenkten  Blicke, 
den  tiefliegenden,  hochumränderten,  von  geschwungenen  Brauen 
beschatteten  Augen,  der  mächtigen,  gewölbten  Siirne,  endlich  den 


')  Die  Kopie  gehört  in  verhältnismäßig  frühe  Zeit,  vielleicht  noch  in 
das  erste  vorchristliche  Jahrhundert;  mit  dieser  Datierung  scheinen  Cha- 
rakter und  Buchstabenform  der  Inschrift  nicht  im  Widerspruch  zu  stehen. 


TAFEL   52 


EURIPIDES 

NEAPEL,    MUSEO    NAZIONALE 


EURIPIDES  189 

bezeichnenden  Einschnitten  über  der  Nase  sich  kundgeben  und  durch 
die  eingefallenen  Backen  mit  den  vorstehenden  Knochen  noch  deut- 
licher zum  Ausdrucke  gebracht  werden.  Indes  ist  auf  dem  ganzen 
Gesichte  Ruhe  und  Milde  des  gereiften  Alters  ausgebreitet,  die 
durch  die  Fülle  des  Haares  und  Neigung  des  Hauptes  noch  ver- 
stärkt wird  und  einen  vertrauenerweckenden,  sympathischen  Ein- 
druck gewährt. 

So  finden  die  Nachrichten  der  Schriftsteller  über  das  Aussehen 
und  den  Charakter  des  Dichters  in  der  Büste  nur  teilweise  Be- 
stätigung. Denn  „er  erschien",  wie  überliefert  ist,  „mit  mürrischem 
Antlitze,  gedankenvoll,  streng.  .  ."')  und  „hat  nicht  einmal  beim 
Weine  heiter  zu  sein  gelernt"  -).  Doch  darf  ma.n  vermuten,  daß 
einige  dieser  Eigenschaften  und  Eigentümlichkeiten  von  der  gleich- 
zeitigen Komödie,  wenn  auch  nicht  völlig  erdichtet,  so  doch  zu 
stark  betont  worden  sind,  und  annehmen,  daß  die  Gesichtszüge  in 
vorgeschrittenen  Jahren  sich  abgeklärt  und  gemildert  haben.  Ein 
Zusammenhang  der  Hermenbüste  mit  der  Bronzestatue,  die  auf  An- 
trag des  Staatsmannes  Lykurg  von  dem  athenischen  Volke  errichtet 
worden  ist-'),  kann  ebenso  wie  bei  der  lateranischen  Statue  des 
Sophokles  in  Ermanglung  einer  Beschreibung  derselben  weder  be- 
wiesen noch  widerlegt  werden ;  er  erscheint  aber  wahrscheinlich  in 
Hinblick  darauf,  daß  zahlreiche  der  erhaltenen  Büsten  auf  den  näm- 
lichen Typus  zurückgehen  und  daß  das  an  berühmter  Stätte  er- 
richtete Standbild  gewiß  kopiert  worden  ist.  Jedenfalls  ist  das  Ur- 
bild der  Büste,  die  ohne  scharfe  Betonung  von  Einzelheiten  die 
Persönlichkeit  des  Dargestellten  zwar  zu  einem  Charakterbild  ver- 
klärt, aber  in  bezeichnender  Individualität  ausprägt,  kein  etwa  nach 
dem  Tode  des  Dichters  aus  der  Phantasie  frei  geschaffenes  Ideal- 
porträt, sondern  kann  nur  nach  der  Natur  oder  einem  naturgetreuen 
Muster  gebildet  worden  sein.  Besonders  schätzbar  ist  das  Bild- 
werk auch  darum,  weil  in  ihm  die  Eigentümlichkeit  der  von  den 
Lehren  der  Philosophen  beeinflußten,  gedankenreichen,  sittlich  tief- 
ernsten Dichtung,  welcher  Euripides  den  Namen  des  Philosophen 
der  Bühne  verdankt^),  eine  Erklärung  und  Bestätigung  findet,  ebenso 
wie  die  Statue  des  Sophokles  gleichsam  als  Verkörperung  seines 
geistigen  Wesens,  wie  es  in  den  Tragödien  zum  Ausdruck  kommt, 


')  Vita  ed.  Nauck  vor  der  Teubnerschen  Te\tausgabe  I.     Zeile  64 ff. 

2)  Alexander  Aetolus  bei  Gellius,  noctes  Atticae  15,  20. 

3)  Leben  der  zehn  Redner  841  F,  womit  Pausanias,  Beschreibung 
Griechenlands  1,  21,  1  mit  Recht  in  Verbindung  gebracht  wird;  demgemäß 
stand  das  Werk  im  Dionysostheater  zu  Athen. 

^)  Athenaeus, Tischgespräche  158e  und561a;  Vitruv,  dearchitectura  VIII 
praefatio  u.  a.  St.  m. 


190  GRIECH.  UND  ROM.  PORTRÄTS 

erscheint.  Auch  neben  diesem  vornehmen,  erhabenen,  heiteren 
Standbilde,  das  in  seiner  unerreichten  Vollendung  unmittelbar  fesselt 
und  mächtig  begeistert,  wird  das  Auge  auf  den  einfacheren  und 
schlichteren,  aber  edlen  und  ehrwürdigen  Zügen  der  Büste  des 
Euripides  mit  steigendem  Interesse  und  wachsender  Befriedigung 
ruhen.  Sie  ist  zugleich  eine  der  bedeutendsten  Leistungen  antiker 
Porträtkunst. 


TAFEL  53 
SOKRATES 

HERMENBÜSTE  AUS  MARMOR.     ROM,  VILLA  ALBANL 

Diese  ein  wenig  überlebensgroße  Herme,  eine  zwar  recht  gute, 
aber  etwas  harte  Kopie  wohl  noch  der  ersten  römischen  Kaiser- 
zeit, wurde  1735  bei  dem  alten  Tuskulum  unter  den  Trümmern 
eines  antiken  römischen  Landhauses  gefunden,  das  noch  heutzu- 
tage ohne  jede  Begründung  als  die  ehemalige  Villa  des  Cicero  be- 
zeichnet wird,  und  kam  alsbald  in  den  Besitz  des  großen  Kunst- 
sammlers und  Kunstkenners  Kardinal  Alessandro  Albani.  Abge- 
sehen von  dem  ergänzten  Schafte  vortrefflich  erhalten,  gilt  sie  mit 
Recht  als  die  eigenartigste  unter  den  zahlreich  erhaltenen  Büsten 
des  Sokrates  und  erregt  durch  die  Originalität  des  Dargestellten 
und  der  Darstellung  wie  kaum  ein  anderes  Porträt  der  hervor- 
ragenden Persönlichkeiten  der  Glanzzeit  Athens  das  Interesse  der 
ganzen  gebildeten  Welt. 

Der  in  leichter  Neigung  auf  dem  Schafte  ruhende  Kopf  stellt  den 
großen  Philosophen  in  reiferen  Jahren  dar.  Der  mächtige,  über  der  ge- 
falteten Stirne  steil  aufsteigende  und  in  langgezogenem,  flachem  Bogen 
sich  wölbende  Schädel  ist  größtenteils  vom  Haare  entblößt  und  nur 
rückwärts  von  leise  gekräuselten  Locken  nicht  allzu  dicht  bedeckt. 
Unmittelbar  an  das  Ohr  schließt  sich  der  große  Vollbart  an,  der  in  ein- 
zelnen, gewellten  Strähnen  nach  abwärts  fällt  und  überragt  wird  von 
dem  ungewöhnlich  langen,  im  Bogen  wulstartig  gedrehten  Schnurr- 
barte. Was  sofort  das  Auge  des  Betrachters  auf  sich  zieht,  ist  die 
hornartig  gebogene,  in  einen  dichten  Knollen  endigende  Stumpfnase 
mit  den  aufgeblähten  Flügeln.  Damit  steht  in  Einklang  die  dicke 
Unterlippe  des  leise  geöffneten  Mundes,  sowie  die  brettartig  auf 
der  Stirne  aufgelagerte  Fett-  und  Hautmasse,  die,  nur  unterbrochen 


SOKRATES 

ROM,    VILLA   ALBANI 


F.    RRIJCKMANN    A.-G..     MÜNCHEN 


SOKRATES  191 

durch  den  tiefen,  dreieckförmigen  Einschnitt  über  der  Nase,  in  der 
ganzen  Ausdehnung  des  unteren  Teiles  der  Stirne  sich  ausbreitet 
und  in  den  aufgequollenen  Teilen  über  den  schmalen  Augen  ge- 
wissermaßen sich  fortsetzt ;  gerade  durch  den  Gegensatz  zu  den 
etwas  eingefallenen ,  fast  welken  Backen  mit  den  vorstehenden 
Knochen  wirkt  sie  um  so  bezeichnender  und  eigentümlicher.  Es 
bedarf  gar  nicht  der  inschriftlichen  Beglaubigung  einer  Büste  in 
Neapel,  um  die  Person  des  Dargestellten  beim  ersten  Anblicke  zu 
erkennen.  Denn  das  Bild,  das  von  Sokrates  Aussehen  in  der  zeit- 
genössischen Literatur')  überliefert  ist  und  insbesondere  aus  den 
platonischen  Dialogen  in  strahlendem  Lichte  hervorleuchtet,  tritt 
in  der  Büste  lebendig  vor  Augen.  Es  ist  bezeichnend  für  den 
Wert  derselben,  daß  man  nicht  lange  an  den  silenartigen  Formen 
des  Gesichtes  Anstoß  nimmt,  sondern  in  Erkennung  des  geistigen 
Gehaltes  die  Häßlichkeit  vergißt,  und  wenn  sie  in  Erinnerung  bleibt, 


')  Plato,  Symposion  215:  v'l,"'  (Alkibiades)  öfxovoTaTov  aütöv  eivai  tote 
oiXqvoT^  .  .  .  ÖTi  uev  oüv  tö  ye  eifioc  öf-ioiot;  f:i  toutoic,  ch  Zcoxpaiei;,  oüb'  avxbc  civ 
bqnor  ctficpicßiiTiioai;  („ich  behaupte,  er  sei  den  Silenen  sehr  ähnlich  .  .  . 
daß  du  diesen  im  Aussehen  ähnlich  bist,  Sokrates,  möchtest  du  wohl  selbst 
nicht  leugnen  .  .  ."). 

Die  Glatze  ist  durch  Aristophanes,  Wolken  Vers  146  f.  bezeugt,  vgl. 
Schol.  zu  Vers  146. 

ci\uuc  („stumpfnasig")  nennt  Sokrates  sich  selbst  Theätet  209;  vgl. 
Xenophon,  Symposion  5,  6. 

E^or^O^aXiao:;  („mit  hervorstechenden  Augen  ')  desgleichen  Theätet  a.  a.  O. 
'OrpO^aXuoi  trti-töXaiui  („an  der  Oberfläche  liegend"),  wie  beim  Krebs,  also  auch 
klein,  Xenophon  a.  a.  O.  5,  5.  Man  bezieht  diese  Bezeichnungen  auf  die 
Lage  der  kleinen  Augen  weit  vorn  im  Schädel  und  flach  im  Gesicht,  wie  sie 
besonders  z.  B.  in  der  Neapler  Büste  (Fig.  69)  hervortreten.  Auch  der  scherz- 
hafte Vergleich  im  Menon  80  A  mit  der  Narke,  dem  Zitterrochen,  wird 
zum  Teil  auf  die  winzigen  Augen,  die  vorn  auf  dem  scheibenartig  ge- 
formten Fische  dicht  nebeneinanderstehen,  bezogen,  wie  auch  das  ganze 
Gesicht  beider  eine  drollige  Ähnlichkeit  dem  phantasiereichen  Betrachter 
darbieten  soll.  Bei  Phädon  117:  Monep  eicöOki  latipi^böv  vTToßXt'iba:;  („nach- 
dem er  seiner  Gewohnheit  entsprechend  ihn  stier  von  unten  angesehen 
hatte")  ist  die  dämonische  Gewalt  des  Blicks  gemeint. 

Xenophon  a.  a.  O.  5,  7:  tüü  ye  f.iT|v  OToj^iaxo:;,  k(|)h  o  KpiTö|5oviXoi;,  ti(^>ieuai. 

El  yt'tp  TOI*   Ü-HibciKVEU   fc'vEXa  7IE:Jto{TlTai,  -JtuXl)   civ  CV  [.lElIüV  f|  E^Ct)  ÜTiobäy.oic,.    biü  bk 

TÖ  Tta/Ktt  k;^eiv  tu  /e{Xi]  oux  oVei  y.a\  uaXaxo'jTepcn  aov  i^Eiv  xö  cpiX)^|ua;  Eoixa,  erpq 
(Sokrates\  Eyw  y.axu  töv  ööv  Xöyov  v.ai  tiüv  hncov  aiayiov  tö  öT()|ua  e/eiv  („was 
freilich  den  Mund  anlangt,"  versetzte  Kritobulos  „so  bescheide  ich  mich. 
Denn  wenn  er  zum  Abbeißen  gemacht  ist,  so  möchtest  du  bei  weitem  ein 
größeres  Stück  abbeißen  als  ich.  Glaubst  du  aber  nicht,  daß,  weil  deine 
Lippen  dick  sind,  auch  dein  Kuß  weicher  ist?"  „Nach  deiner  Rede  scheine 
ich,"  sagte  Sokrates,  ,, einen  häßlicheren  Mund  als  die  Esel  zu  haben"). 
Ein  Vergleich  der  ganzen  Stelle  5,  3—7  mit  der  Albanischen  Büste  ist 
interessant;  fast  meint  man,  daß  jene  dem  Schöpfer  des  Originals  vor 
Augen  schwebte,  da  man  auch  beim  Anblick  der  Plastik  an  das  ausführ- 
liche literarische  Porträt  unwillkürlich  sich  erinnert. 


192 


GRIECH.  UND  ROM.  PORTRÄTS 


mit  der  Vorstellung 
von  dem  Wesen 
des  Dargestellten  in 
Einklang  bringt. 
Denn  was  sie  über 
den  Typus  jenes 
Halbgottes  gewaltig 
erhebt,  ist  der  vor- 
trefflich zur  Gel- 
tung kommende 
Ausdruck  des  Ant- 
litzes,  der  ruhige, 

nachdenkliche 
Blick,  der  klare,  be- 
sonnene Verstand, 
die  milden,  väter- 
lichen Züge,  das 
einfache,  edle  We- 
sen des  Mannes, 
welches  unserAuge 
heutzutage  unwi- 
derstehlich gebannt 
hält  und  der  Per- 
sönlichkeit in  dem 
gleichzeitigen  Krei- 
se ihrer  Freunde 
und  Feinde  sieg- 
reiche Überlegen- 
heit verschafft  hat. 
Es  ist  in  der  Tat  in 
rauher  Schale  ein 
goldener  Kern  oder, 
wie  Alkibiades  bei 
Plato ')  sinnig  und  fein  es  ausdrückt,  ein  göttliches  Bild  in  der 
äußeren  Hülle  der  Silenherme  verborgen. 

Das  Original  der  Büste,  die  vielleicht  in  manchen  Betrachters 
Auge  als  ein  völlig  individuelles,  realistisches  Bildnis  erscheint,  ist 
nicht  zu  Lebzeiten  des  Sokrates  gearbeitet  worden.  Denn  wenn 
auch  bereits  im  fünften  Jahrhundert  v.Chr.  eine  Richtung  der  Porträt- 
kunst, welche  die  Wirklichkeit  mit  allen  Zufälligkeiten  wiedergibt, 
durch  literarische  Nachrichten  bezeugt  ist,  so  lehrt  doch  ein  Ver- 


Fig.  69.    Marmorbüste  des  Sokrates 
Neapel,  Museo  Nazionale 


•)  Symposion  215  A  f.,  vgl.  auch  216  ff. 


SOKRATES  193 

gleich  mit  anderen  ganz  getreu  oder  wenigstens  viel  getreuer  der 
Natur  nachgebildeten.  Büsten,  z.  B.  mit  der  Fig.  69  abgebildeten 
des  Neapolitaner  Museums,  daß  in  der  Herme  der  Villa  Albani 
zum  Zwecke  der  Schöpfung  eines  ausgeprägten  Charakterkopfes 
die  literarisch  und  zweifellos  auch  monumental  überlieferten  Züge 
zu  stark  betont  und  in  dem  Ausdrucke  des  hellenistischen  Silen- 
typus  geradezu  übertrieben  worden  sind.  Ein  Zusammenhang  mit 
der  von  den  Athenern  im  Pompeion,  einem  für  die  Vorbereitung 
der  Festzüge  bestimmten  Gebäude,  errichteten  Erzstatue  von  der 
Hand  des  Lysipp ')  ist  aus  stilistischen  Gründen  unmöglich;  das 
Original  des  Typus  der  Villa  Albani  ist  eine  Schöpfung  des  Helle- 
nismus, dem  Homer  vergleichbar,  für  eine  der  großen  Bibliotheken 
derDiadochenzeitim  dritten  bis  zweitenjahrhundert  v.Chr.  entworfen. 
Wenn  nun  auch  die  ebenso  schlichten  als  durchgeistigten  Züge  des 
großen  Philosophen  aus  unserer  Büste  nicht  in  voller  Wahrheit  ent- 
gegenschauen, ist  doch  dadurch  der  Wert  des  Werkes  nur  wenig 
geschmälert.  Denn  Charakter  und  Geist  des  Dargestellten  sind  in 
klarer  und  reiner  Form  zum  Ausdruck  gebracht.  So  ist  die  Auf- 
gabe, die  Sokrates  selbst  der  Porträtkunst  einem  Künstler  gegen- 
über in  hochbedeutender  Auseinandersetzung  gestellt  hatte,  wie  durch 
einen  Zufall  viel  später  gerade  in  seinem  eigenen  Bildnisse  gelöst 
worden:  Aei  tov  ctYbpiavTo:JToi6v  xä  xv\q  \\>vy^r\q  epya  tw  ei'bei 
TipoqEixaCEw -)  („der  Bildhauer  soll  die  Tätigkeit  der  Seele  in  dem 
Bilde  zum  Ausdruck  bringen").  Es  ist  ein  physiognomisches  Meister- 
werk geschaffen,  das  noch  heute  dämonische  Gewalt  ausübt. 


')  Zu  einem  Zweifel  an  der  allein  von  Laertius  Diogenes,  Leben  der 
Philosophen  II,  43  überlieferten  Nachricht  liegt  kein  zwingender  Grund 
vor.  Denn  wenn  auch  die  ebenda  erwähnte  Bestrafung  der  Ankläger  des 
Sokrates  als  erdichtet  gilt  und  die  Errichtung  der  lysippischen  Statue  so- 
fort nach  dem  Tode  des  Philosophen  zeitlich  unmöglich  war,  so  stand 
doch  der  späteren  Ehrung  seitens  der  Mitbürger  nichts  im  Wege.  Auch 
erscheint  der  Aufstellungsort,  ganz  abgesehen  von  anderen  in  der  Nähe 
befindlichen  Erzstatuen  hervorragender  Persönlichkeiten,  auch  deshalb  ge- 
eignet, weil  im  Pompeion  selbst  ein  gemaltes  Porträt  des  Redners  Iso- 
krates  nachweisbar  ist.  (Pausanias,  Beschreibung  Griechenlands,  I,  2,  4, 
Leben  der  zehn  Redner  839  C;  vgl.  auch  Plinius  der  Ältere,  naturalis 
historia  35,  140). 

2)  Xenophon,  Memorabilien,  3,  10,  8. 


Denkmaler  griech.  u.  röm.  Skulptur,  3.  Aufl. 


194  GRIECH.  UND  ROM.  PORTRÄTS 


TAFEL  54 

KOPF  DER  STATUE 
ALEXANDERS  DES  GROSSEN') 

MARMOR.     MÜNCHEN,  GLYPTOTHEK. 

Diese  etwa  lebensgroße  Statue,  deren  Fundort  nicht  ermittelt 
ist  und  die  schon  Winckelmann  als  im  Palazzo  Rondanini  zu  Rom 
befindlich  erwähnt  hat,  ist  eine  gute  Kopie  aus  römischer  Zeit. 
Trotz  der  Erneuerung  des  rechten  Beines  mit  der  Erhöhung  und 
der  unrichtigen  Ergänzung  des  größeren  Teils  der  Arme-)  ist  die 
Erhaltung  glücklich  zu  nennen,  da  der  fast  völlig  unversehrte  Kopf 
niemals  von  der  Statue  getrennt  war.  Der  rückwärts  als  Stütze 
dienende  Panzer,  über  dem  oben  ein  Gewand  aufliegt,  weist,  ebenso 
wie  die  Andeutung  eines  Schildes  auf  der  Plinthe,  auf  die  mili- 
tärische Stellung  der  Persönlichkeit  hin,  falls  beide  nicht  erst  von 
dem  Kopisten  beigefügt  sind.  Die  seit  langer  Zeit  gebilligte  Deu- 
tung der  in  heroischer  Nacktheit  gebildeten  Statue  auf  Alexander 
den  Großen  bleibt  trotz  des  erhobenen  Widerspruchs  in  voller 
Geltung;  sie  wird  durch  literarische  Nachrichten  über  das  Aus- 
sehen des  Königs  begründet  und  insbesondere  durch  die  Ähnlich- 
keit mit  den  auf  Münzen  des  Königs  Lysimachos  von  Thrakien 
geprägten  Köpfen  Alexanders  gestützt,  konnte  aber  durch  statua- 
rische Werke  bisher  nicht  bekräftigt  werden. 

Der  jugendliche,  etwa  20  Jahre  alte  Prinz  hat  den  rechten 
Fuß  auf  eine  Erhöhung  aufgesetzt,  steht  indes  in  kaum  vorge- 
beugter Haltung  da.  Die  überaus  kräftig  entwickelten  Körper- 
formen sind  durch  starke  Muskelbildung  ausgezeichnet.  Die  ganze 
Erscheinung  ist  im  Vorgefühle  jugendlicher  Kraft  auch  in  der  be- 
quemen Stellung  fürstlich  erhaben,  ungezwungen  vornehm.  Aber 
erst  durch  den  Typus  des  Kopfes  wird  das  Porträt  einer  außer- 
ordentlichen Persönlichkeit  in  ihrer  ganzen  Bedeutung  erkannt  und 
gewürdigt.    Auf  dem  kräftig  modellierten  Halse  ruht  der  wunder- 


')  Die  ganze  Statue  ist  Fig.  70  abgebildet. 

2)  Bei  Ergänzungsversuchen  hat  man  in  Rücksicht  auf  die  antiken, 
parallel  laufenden  Oberarme  der  Figur  ein  Schwert  so  in  die  Hände  ge- 
geben, daß  es  quer  auf  dem  rechten  Oberschenkel  liegt  und  die  Rechte 
den  Schwertgritf,  die  Linke  die  Scheide  faßt.  Andere  vermuten,  daß  beide 
Hände  am  rechten  Bein  festangepreßt  waren,  um  das  Übermaß  innerer  Lei- 
denschaft zu  bezähmen. 


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ALEXANDER  DER  GROSSE 


195 


bar  schöne,  in  Über- 
einstimmung mit 
der  Körperhaltung 
zur  rechten  Seite 
gewendete  und  et- 
wasgehobene Kopf, 
der  durch  den  Zau- 
ber ebenso  kraft- 
voller als  zarter 
Jugendlichkeit  den 
Beschauer  fesselt 
und  begeistert.  Die 
üppige  Lockenfülle, 
die  über  der  Mitte 
der  Stirne  in  ein- 
zelnen Strähnen  ge- 
rade emporragt') 
und  Schläfe  sowie 
teilweise  das  Ohr 
bedeckend,  über 
den  Hals  in  edlem 
Flusse  herabwallt, 
ist  wohlgeeignet,  die 
großartige  Schön- 
heit und  Erhaben- 
heit des  Gesichts- 
ausdruckes zu  stei- 
gern. Das  breite, 
mäßig  volle,  bart- 
lose Oval,  das  von 
einem  runden  Kinn 
abgeschlossen  wird, 
ist  in  ruhigen  Flä- 
chen ungemein  re- 
gelmäßig gebildet, 
aber  kraftvoll  belebt  durch  die  gebogene  Nase;  auch  dringt  die  Stirne 
nach  unten  vor.  Der  zartgebildete,  leise  geöffnete  Mund  zeigt  einen 
fast  herben  Zug,  der  durch  den  sinnenden,  träumerisch  in  die 
Ferne  gerichteten  Blick  der  von  geschwungenen  Brauen  be- 
schatteten, weitgeöffneten  Augen-)  mit  dem  aufgeschwollenen  Un- 

')  Plutarch,  vita  des  Pompeius  cap.  2,  Älian,  varia  historia   12,   14. 
-)  Über  den  Ausdruck  der  Augen  vgl.  auch  Plutarch,  vita  cap.  4  und 
de  Alexandri  Magni  fortuna  aut  virtute  II,  2. 


Fig.  70.     Marmorstatue  Ale.vanders  des  Großen 
München,  Glyptothek 


13* 


196  GRIECH.  UND  ROM.  PORTRÄTS 

terlide  beinahe  zu  einem  leisen  Anflug  von  Melancholie  gesteigert 
erscheint.  Der  Kopf  erweckt,  von  vorne  gesehen,  den  Eindruck 
bedeutender  Begabung  und  eines  nachdenklichen  Charakters  so- 
wie einer  gewissen  zurückgehaltenen  Energie,  in  der  Seitenansicht 
aber  ist  mehr  die  gewaltige,  stolze  Kraft,  das  vorwärts  drängende, 
feurige  Wesen,  die  fast  übermenschliche  Schönheit  und  Erhaben- 
heit des  Dargestellten, ')  trotz  weiser  Maßhaltung  des  Künstlers, 
trotz  ruhiger  Situation  der  Statue  zu  voller  Geltung  und  Klar- 
heit gebracht.  So  findet  die  Schilderung  der  Persönlichkeit  des 
jugendlichen  Prinzen,  wie  sie  besonders  in  den  Eingangskapiteln 
der  vita  des  Plutarch  gekennzeichnet  ist,  seiner  besonnenen, 
philosophisch  beanlagten  und  philosophischen  Studien  zugewandten 
Natur  einerseits  und  seines  selbständigen,  schwer  zu  leitenden 
Charakters  anderseits  sowohl  in  der  ganzen  Gestalt,  als  auch  ins- 
besondere in  der  Büste  Bestätigung  und  Bekräftigung.  Zugleich 
erinnert  die  Statue  unwillkürlich  an  das  Musterbild  jugendlicher 
Stärke  und  Schönheit,  an  das  Vorbild  des  gewaltigen  Ehrgeizes, 
den  Heldenjüngling  Achill,  von  dem  mütterlicherseits  seine  Ab- 
stammung hergeleitet  wurde  -)  und  dem  er  von  früher  Jugend  an 
eine  durch  die  Lektüre  des  Homer  genährte  glühende  Verehrung 
und  Begeisterung  entgegenbrachte.  ^) 

Der  Schöpfer  des  Originals,  das  vor  des  Königs  Auszug  nach 
Asien  gefertigt  ist,  hat  sich  durch  die  Darstellung  des  jugend- 
lichen Alexander  als  ganz  hervorragenden  Porträtkünstler  gezeigt. 
Seine  Lebenszeit  fällt  aus  stilistischen  Gründen  gewiß  mit  der 
des  Dargestellten  zusammen,  sein  Name  aber  kann  weder  durch 
literarische  Nachrichten,  noch  durch  kunsthistorische  Erwägungen 
ermittelt  werden,  wahrscheinlich  gehört  der  Meister  zu  dem 
sogenannten  attischen  Kreise,  jedenfalls  nicht  zu  lysippischer 
Kunstrichtung^). 


')  'AXeHavbpov  i\  9-ep|iiöTi\c;  toü  cw|LiaTO^,  wc,  eoixev,  .  .  .  9-ruoeibf(  TiapeT/Ev 
(„den  Alexander  machte  die  Hitze  des  Körpers,  wie  es  scheint,  feurig") 
(Plutarch,  vita  cap.  4),  aüioü  döpevcDTtöv  xai  XeovTcobEc;  („sein  mannhaftes 
und  löwenähnliches  Wesen")  (Plutarch,  de  Alexandri  Magni  fortuna  aut 
virtute  II,  2),  diipay).u'>vcoc;  wpaiov  yevf:a9-ai  Xt:yotiön  („er  soll  ohne  Beihilfe 
der  Kunst  ein  schöner  Mann  gewesen  sein")  (Älian,  varia  historia  12,  14). 

2)  Curtius  Rufus,  historiae  Alexandri  Magni  4,  28.  Plutarch,  vita 
cap.  2  und  de  Alexandri  Magni  fortuna  aut  virtute  II,  2. 

3)  Cicero,   oratio    pro  Archia   poeta  24,    Plutarch,  vita    cap.  5,   8,    15. 
*)  Neben  anderen  Künstlern  hat  man  an  einen  jüngeren  Zeitgenossen 

des  Praxiteles  und  Skopas,  an  Leochares,  gedacht,  auf  den  auch  das 
Original  des  Apoll  vom  Belvedere  zurückgeführt  wird.  An  diese  Götter- 
statue erinnert  allerdings  etwas  das  lockenumwallte  Haar. 


DEMOSTHENES  197 

TAFEL  55 
DEMOSTHENES 

MARMORSTATUE  IM  BRACCIO  NUOVO  DES  VATIKANISCHEN 

MUSEUMS   ZU   ROM  NACH   DER  ERGÄNZUNG  DES  ABGUSSES 

IM  GIPSMUSEUM  ZU   MÜNCHEN. 

Unter  den  zahlreichen  aus  römischer  Zeit  erhaltenen  Porträts 
des  Demosthenes  nimmt  dieses  etwa  2  m  hohe  Standbild  einen 
hervorragenden  Platz  ein,  da  es  neben  einer  in  englischem  Pri- 
vatbesitze befindlichen,  im  Typus  identischen  Statue  allein  den 
großen  Redner  und  Staatsmann  in  ganzer  Gestalt  darstellt.  Wäh- 
rend der  Fundort  nicht  ermittelt  ist,  weiß  man  bestimmt,  daß  das 
Werk  bereits  1709  in  der  Villa  Aldobrandini  zu  Frascati  aufgestellt 
war  und  1823  vom  Papste  Pius  VII.  für  die  Sammlung  des  Va- 
tikans angekauft  worden  ist.  Zwar  mehrfach  gebrochen,  ließ  sich 
die  Statue  aus  den  einzelnen  Teilen  im  wesentlichen  sicher  wieder- 
herstellen. Daß  Demosthenes  dargestellt  ist,  wird  durch  eine  seit 
langer  Zeit  im  Museum  von  Neapel  befindliche  kleine  Erzbüste 
aus  Herculaneum  bewiesen,  auf  deren  Brust  der  Name  in  grie- 
chischer Schrift  zu  lesen  ist.  Die  vielfach  erörterte  Frage,  ob 
die  vatikanische  Statue  ein  Nachbildung  der  Bronzestatue  ist, 
welche  die  Athener  ihrem  großen  Mitbürger  gemäß  des  Antrages 
seines  Neffen  Demochares  280/79  auf  dem  Marktplatze  der  Stadt 
errichtet  haben  und  welche  der  Erzgießer  Polyeuktos  gefertigt 
hat '),  ist  vor  zehn  Jahren  in  ein  neues  Stadium  getreten.  Denn 
damals  sind  zu  Rom  in  der  Nähe  des  Palazzo  Barberini  unter 
einer  Anzahl  von  Marmorfragmenten  ein  rechter,  mit  Sandale 
bekleideter  Fuß  und  zwei  herabhängende,  fest  ineinandergeschlos- 
sene  Hände  zutage  gekommen,  die  zu  einer  dritten  Replik  ge- 
rechnet werden,  da  in  jener  Statue  des  Polyeuktos  die  Hände 
zum  Zeichen  innerer  Erregung  in  gleicher  Weise  gefaltet  waren'). 
So  können  jetzt  auch  die  Vorderarme  der  beiden  fast  vollständig 
erhaltenen  Standbilder  sicher  wiederhergestellt  werden  und  deren 
Rückführung  auf  den  Erzgießer  Polyeuktos  ist  zur  Gewißheit  ge- 
bracht, da  ihr  Urbild  dem  Kunststile  nach   sehr  wohl  in  die  erste 


')  Leben  der  zehn  Redner  847  A  und  D,  Plutarch,  Demosthenes  30, 
Pausanias,  Beschreibung  Griechenlands  1,  8,  2  u.  a.  St.  m. 

-)  Plutarch    a.  a.   O.   31    KmiixK    tov^    baxTÜXov;;    avxt/oiv    bi'    dXXt|\o)v 
<nämlich   Demosthenes). 


198 


GRIECH.  UND  ROM.  PORTRÄTS 


Hälfte  des  dritten  Jahr- 
hunderts gehören  kann 
und  an  einer  so  be- 
rühmten Stätte  aufge- 
stellt, sicher  kopiert 
worden  ist.  Die  For- 
mengebung  der  Bronze 
prägt  sich  in  der  aus- 
gezeichneten Replikdes 
Kopfes  (Fig.  71)  beson- 
ders deutlich  aus. 

Einfach  und  schlicht 
steht  Demosthenes  da, 
indem  er  von  den  mit 
Sandalen  bekleideten 
Füßen  den  linken  als 
Hauptträger  der  Körper- 
last fest  aufgestützt,  den 
rechten  ein  wenig  vor- 
gesetzt und  zur  Seite 
gestellt  hat,  bekleidet 
mit  dem  knapp  zuge- 
messenen Mantel,  des- 
sen Falten  in  einfachen, 
langgezogenen  Linien 
verlaufen  und  der  den 
größeren  Teil  der 
schmalen  Brust  und  die  mageren  Arme  freiläßt,  so  daß  der 
schwächliche  Körper  sichtbar  wird').  Mit  der  ganzen  Gestalt  steht 
die  Bildung  des  Kopfes,  der  von  kurzgeschorenem  Barte  und 
ziemlich  kurzgehaltenen  Locken  umrahmt  ist,  in  vollem  Einklänge. 
Demosthenes  tritt  dem  Beschauer  als  ein  Mann  entgegen,  der  die 
besten  Jahre  überschritten  hat  und  nicht  allzuweit  von  der  Grenze 
seines  Lebens  entfernt  ist.  Das  ernst  sinnende,  mürrische  und 
verbitterte  Gesicht  mit  der  hohen,  faltenreichen  Stirne  und  den 
ciefliegenden,  von  Brauen  beschatteten  Augen  trägt,  von  Furchen 
durchzogen,  die  Spuren  eines  arbeits-  und  kampfesreichen  Lebens, 
scheint  fast  auch  die  düstere  Furcht  für  die  Zukunft  des  Vater- 
landes ahnen  zu  lassen,  offenbart  aber  zugleich  in  seinen  Zügen 
die  unerschütterliche  Überzeugungstreue  und  beharrliche,  in  hartem 


Fig.  7L    Demosthenes.    Marmorkopf 

Kopenhagen,  Glyptothek  Ny-Carlsberg 

(Büste  modern) 


')  Vornehm  elegant  ist  dagegen  das  Himation  an  der  lateranensischen 
Statue  des  Sophokles  (Tafel  51)  um  den   Körper  gelegt. 


DEMOSTHENES 
ROM,  VATIKANISCHES    MUSEUM.     NACH    DER    ER- 
GÄNZUNG   IM    MÜNCHNER    GIPSMUSEUM 


F.    BRUCKMANN    A.-G,    MÜNCHEN 


HOMER  199 

Kampfe  gestählte  Willenskraft,  Die  verschränkten  Hände,  wie  sie 
jetzt  statt  der  Schriftenrolle  in  der  Ergänzung  beigefügt  sind,  ver- 
stärken den  Eindruck  inneren  Kummers,  verhaltener  Resignation 
und  lassen  zugleich  die  ganze  Gestalt  in  fest  umschlossenen  Um- 
rissen um  so  ergreifenderwirken.     Die  berühmten  Verse: 

Ei'^tep  iöt\\    Yvcü,ui\   6c6,ur|v,   Ati|Uöo&eve^,   ei/zc,  '), 
ouTiox'  UV   'EWqvcDv  i^p^Ev  "Apqj;   Maxebcov 

(„wäre,  Demosthenes,  dir,  wie  der  Geist,  so  die  Macht  auch  geworden, 
nie  makedonischem  Schwert  hätte  sich  Hellas  gebeugt"), 

welche  die  Athener  unter  jenes  auf  dem  Markte  zu  Athen  auf- 
gestellte Standbild  des  Demosthenes  als  treffliche  Zusammen- 
fassung des  Ergebnisses  seines  Lebens  und  Strebens  gesetzt  haben, 
finden  in  der  Kopie  offenbare  Bestätigung.  Das  Vorbild  eines  so 
bezeichneten  Bildnisses  muß,  wenn  es  auch  erst  42  Jahre  nach 
dem  Tode  des  Redners  errichtet  worden  ist,  doch  sicherlich  nach 
einem  lebensgetreuen  Muster  gefertigt  sein.  Denn  man  fühlt  im 
Anblicke  der  Statue,  daß  Demosthenes  mit  seiner  schwachen  Na- 
tur hat  ringen  müssen;  man  hat  sogar  an  dem  Munde  mit  der 
zurückgezogenen  Unterlippe  eine  Andeutung  seines  Sprachfehlers 
finden  wollen,  gewinnt  aber  zugleich  aus  der  ganzen  Erscheinung 
eine  Bestätigung  und  Befestigung  des  mächtigen  Eindrucks,  den 
die  Lektüre  der  Reden  des  großen  Staatsmannes  von  seinen 
Charaktereigenschaften  und  seiner  öffentlichen  Tätigkeit  hinterläßt, 
und  dadurch  wird  der  hohe  Wert  der  überaus  eindrucksvollen 
Porträtstatue  noch  gesteigert. 


TAFEL  56 
HOMER 

MARMORHERME.    SCHWERIN,  GROSSH.  BIBLIOTHEK. 

'"  ^  Durch  zahlreiche  römische  Kopien  kennen  wir  eine  bedeutende 
Schöpfung  der  spätgriechischen  Kunst  und  zwar  der  hellenistischen 
Zeit,  welche  mit  Zuversicht  als  eine  Darstellung  Homers  betrach- 
tet werden  darf.  Zwar  fehlt  leider  ein  inschriftliches  Zeugnis  da- 
für, allein  die  unzweifelhaft  angedeutete  Blindheit,  die  Greisen- 
haftigkeit, der  würdige  Charakter  des  Kopfes  mit  dem  Reif  in  dem 
lockigen  Haar,  und  vor  allem  der  deutliche  Ausdruck  dichterischen 


')  Plutarch,  Demosthenes  30  u.  a.  St.  m. 


200  GRIECH.  UND  ROM.  PORTRÄTS 

Schauens  lassen  die  Erklärung  des  Kopfes  als  Homer  als  die  einzig 
zutreffende  und  demnach  hinlänglich  gesicherte  erscheinen. 

Unter  diesen  verschiedenen  Kopien  ist  die  hier  wiedergegebene 
eine  zwar  wenig  bekannte,  aber  durch  die  fast  vollständige  Erhaltung 
und  die  Arbeit  hervorragend  gute,  ja  zur  Vergegenwärtigung  des 
Ganzen  von  allen  am  besten  geeignete.  Einige  Einzelheiten  mögen 
an  diesem  oder  jenem  anderen  Exemplare  besser  und  treuer  kopiert 
sein,  das  Ganze  gibt  sie  am  vorzüglichsten  wieder. 

Die  Herme  wurde  1868  bei  Terracina  gefunden  und  befindet 
sich  jetzt  in  der  Großherzogl.  Bibliothek  zu  Schwerin.  Der  Kopf 
sitzt  ungebrochen  auf  der  antiken  Herme  auf,  so  daß  hier  dessen 
richtige  Haltung  geboten  wird,  was  z.  B.  bei  den  bekannten  Exem- 
plaren in  Sanssouci  und  dem  Farnesischen  in  Neapel  nicht  der  Fall 
ist,  die  überdies  auch  sonst  viel  schlechter  erhalten,  mehr  erneuert 
und  von  geringerer  Arbeit  sind.  An  der  Schweriner  Herme  ist  die 
vordere  Hälfte  der  Nase  die  einzig  nennenswerte  Ergänzung. 

Mit  demjenigen  Realismus,  den  die  griechische  Kunst  erst  in 
der  Zeit  nach  Alexander  erreichte,  ist  ein  blinder  Greis  dargestellt. 
Sowohl  das  Greisenalter  wie  die  Blindheit  sind  gleich  meister- 
haft zum  Ausdruck  gekommen.  Die  verfallene,  welke  Haut  mit 
ihren  virtuos  wiedergegebenen  zahlreichen  Falten  und  Runzeln, 
sowie  die  Haarbekleidung  des  Kopfes,  wo  die  Reste  der  einstigen 
Lockenfülle  nach  vorn  gekämmt  sind,  ohne  daß  dadurch  die  Kahl- 
heit über  der  Stirne  bedeckt  würde,  sind  die  Anzeichen  des  Greisen- 
alters, während  die  Blindheit  in  der  besonderen  Bildung  der  Augen 
angedeutet  ist.  Die  Augäpfel  sind  wie  verkümmert,  zusammen- 
geschrumpft, in  auffallender  Kleinheit  und  tief  in  die  Augenhöhlen 
zurückgesunken  gebildet,  deren  Fettpolster  völlig  geschwunden  er- 
scheint. Überdies  ist  auch  die  Lidspalte  ganz  klein,  indem  das 
obere  Lid  sich  schwer  über  den  Augapfel  legt.  Dies  alles  hat  die 
Wirkung,  uns  den  erloschenen,  leeren  Blick  eines  blinden  Auges 
zu  vergegenwärtigen.  Dazu  kommt  noch  die  Stellung  der  Augen- 
brauen ;  ihr  innerer,  der  Nase  zugewendeter  Teil  ist  stark  nach 
unten  gezogen,  um  den  Augapfel  zu  beschatten ;  damit  im  Zusammen- 
hange stehen  die  vertikalen  Falten  der  Stirne  über  der  Nase.  Es 
ist  von  augenärztlicher  Seite  nachgewiesen  worden,  daß  die  Ver- 
kleinerung der  Augäpfel,  sowie  eben  diese  Stellung  der  Brauen 
und  Stirnfalten  den  Erblindungsformen  eigen  ist,  welche  aus  einer 
Erkrankung  der  vorderen  Augapfelhälfte  hervorgehen,  solange  noch 
eine  Spur  von  Lichtempfindung  vorhanden  ist.  Dagegen  ist  nun 
aber  die  gehobene  Haltung  des  Kopfes  und  das  Emporschauen, 
das  durch  die  im  Gegensatze  zu  der  inneren  stark  emporgezogene 
äußere  Hälfte  der  Brauen  angedeutet  ist,  und  durch  welches  auch 


HOMER 

SCHWERIN,    GROSSHERZOGLICHE    BIBLIOTHEK 


F.    BRUCKMANN    A.-G.,    MUNCHE^4 


HOMER 


201 


die  bogenförmigen 
Stirnfalten  bedingt 
werden,  gar  nicht  in 
der  Art  jener  Blinden, 
welche  den  Kopf  viel- 
mehr gesenkt  zu  hal- 
ten pflegen.  Diese  ge- 
hobene Kopfhaltung 
mit  welcher  auch  der 
wie  zum  Singen  oder 
Sprechen  leicht  geöff- 
nete Mund  zusammen- 
hängt —  ist  vielmehr 
nur  als  das  charakte- 
ristische Ausdrucks- 
mittel für  die  dichte- 
rische Begeisterung 
gewählt.  Es  ist  so  das 
innere  Schauen  des 
entzückten  Dichters  in 
einen  feinen,  gesuch- 
ten Kontrastmit  seinem 
körperlichen  Leiden 
gesetzt.  Als  Vorbild 
für  das  Leiden  hat  dem 
Künstler  wahrschein- 
lich einer  der  im  Sü- 
den so  häufigen, durch 
vorangehende  sog. 
ägyptische  Augen- 
krankheit Erblindeten  gedient.  Aber  die  Haltung  und  den  geistigen 
Ausdruck  hat  er  frei  nach  dem  Bilde  geschaffen,  das  er  sich  von 
dem  begeisterten   Dichter  gemacht. 

Die  nächsten  stilistischen  Analogien  zu  dem  Homerkopfe  bieten 
die  bekannten  charakteristischen  Werke  der  Diadochenzeit,  wie  der 
wenigstens  im  Geiste  der  Epoche  dargestellte,  freilich  später  ent- 
standene Laokoon,  der  geschundene  Marsyas  oder  der  bärtige  Ken- 
taur, dem  der  Eros  auf  dem  Rücken  sitzt,  unter  den  Porträts  Asop 
und  Sokrates  in  der  Villa  Albani  zu  Rom.  Auch  der  Homerkopf 
bekundet  jene  Neigung  der  hellenistischen  Kunst,  bis  an  die  Grenze 
des  Darstellbaren  zu  gehen ;  auch  er  zeigt  jene  Neigung,  an  das 
Pathologische  zu  streifen.  Den  Verfall  des  Alters  und  die  Blind- 
heit hat  der  Künstler  so  eingehend    und   wahrheitsgetreu  geschil- 


Fig.  72.    Kopf  des  Homer.    Marmor 
Rom,  Vatikan  (Büste  modern) 


202  GRIECH.  UND  ROM.  PORTRÄTS 

dert,  daß  wir,  hätte  er  nicht  zugleich  dem  Kopfe  auch  einen  Funken 
göttlicher  Begeisterung  zu  verleihen  gewußt,  nur  das  Jammerbild 
eines  kläglichen  Greises  vor  uns  haben  würden.  Ganz  anders  sind 
die  Bilder  Homers  zu  denken,  welche  die  ältere  griechische  Kunst 
vor  der  Diadochenzeit  geschaffen;  da  kam  gewiß  vor  allem  das 
Ehrwürdige  des  alten  Dichterfürsten  zur  Geltung.  Eine  Bestätigung 
bietet  der  in  mehreren  Exemplaren  repräsentierte  Typus  des  ehr- 
würdigen Greises  (Fig.  72)  mit  fließendem,  langem  Bart  und  mit 
einem  runden  Reif  im  wohlgeordneten,  nur  wenig  gewellten  Haar. 
Die  Blindheit  ist  durch  die  friedlich  über  die  erloschenen  Augen- 
sterne gesenkten  Lider  charakterisiert.  „Die  feine,  edle  Formen- 
gebung,  das  ruhige,  in  großen  Flächen  gebildete  Gesicht,  nicht  zu- 
letzt Haar-  und  Bartbehandlung,  weisen  auf  die  letzten  Jahrzehnte  des 
fünften  Jahrhunderts  v.  Chr.  In  feierliche,  friedliche  Stimmung  ver- 
setzt der  tiefergreifende  Anblick  der  Büste,  die  uns  die  Vorstellung 
wiedergibt  von  dem  Vater  der  Dichtkunst,  von  dem  weisen  Sänger 
und  Seher,  wie  sie  in  der  Glanzzeit  hellenischer  Kultur  populär  war." 
Doch  der  Typus  des  Schweriner  Kopfes  war  im  späteren  Alter- 
tum weit  berühmter.  Geschaffen  wurde  er  wahrscheinlich  für  eine 
der  großen  Bibliotheken  der  Diadochenzeit,  etwa  die  zu  Alexandrien 
oder  die  zu  Pergamon,  in  der  Zeit  der  Blüte  der  Homerstudien  im 
dritten  bis  zweiten  Jahrhundert  v.  Chr. ;  aller  Wahrscheinlichkeit  nach 
war  auch  das  ursprüngliche  Werk  nur  eine  Herme,  nicht  eine  Statue. 


TAFEL  57 
ZWEI  RÖMISCHE  PORTRÄTS 

BÜSTE  DES  AGRIPPA.  MARMOR.  PARIS,  LOU VRE.  —  BRONZEKOPF 
EINES  UNBEKANNTEN.    ROM,  KONSERVATORENPALAST. 

Die  beiden  auf  einer  Tafel  vereinigten  Porträts,  die  zwei  hin- 
sichtlich des  Charakters  der  Dargestellten  und  der  künstlerischen 
Auffassung  sehr  verschiedene  Bildnisse  wiedergeben,  sind  wohl- 
geeignet, von  der  in  weiten  Kreisen  viel  zu  wenig  gewürdigten 
Leistungsfähigkeit  der  römischen  Porträtkunst  eine  hohe  Vorstellung 
zu  gewähren.  Während  ersteres  durch  die  inschriftlich  beglaubigten 
Darstellungen  des  Agrippa  auf  Münzen  bestimmt  ist  und  demgemäß 
mit  größter  Wahrscheinlichkeit  in  die  letzten  Jahrzehnte  der  vor- 
christlichen Zeit')  gehört,  ist  Deutung  und  Datierung  des  letzteren 

')  Agrippa  wurde  63  v.  Chr.  geboren  und  starb  12  v.  Chr.,  51  Jahre  alt. 


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ZWEI  ROMISCHE  PORTRATS  203 

durchaus  unsicher;  denn  die  seit  alter  Zeit  weitverbreitete  Bezeich- 
nung als  Bildnis  des  L.  Junius  Brutus,  die  auf  eine  flüchtige  Ähnlich- 
keit mit  Darstellungen  dieses  Gründers  der  Republik  und  ersten  Kon- 
suls auf  Münzen  späterer  Zeit  sich  gestützt  hat,  entbehrt  jedes  Bewei- 
ses, die  kunstgeschichtliche  Zeitbestimmung')  ist  in  Ermanglung  stili- 
stisch verwandterund  chronologisch  feststehender  Porträts  leider  bis- 
her nicht  gelungen.  Doch  scheint  die  Trefflichkeit  der  bis  ins  einzelne 
meisterhaft  ausgeführten  Bronzearbeit  eines  griechischen  oder  wenig- 
stens unter  griechischem  Einflüsse  stehenden  einheimischen  Meisters, 
ebenso  wie  die  künstlerische  Auffassung  und  der  physiognomische, 
den  altrömischen  Typus  in  ausgezeichneter  Weise  wiedergebende 
Gesamtausdruck  des  Kopfes  auf  eine  ziemlich  frühe  Zeit  der  Republik, 
vielleicht  noch  das  zweite  vorchristliche  Jahrhundert  hinzuweisen. 
Die  trefflich  gearbeitete  und  bis  auf  die  ergänzte  Nasenspitze 
vorzüglich  erhaltene  Büste  des  Agrippa  ist  1792  an  der  Stelle  der 
alten  östlich  von  Rom  gelegenen  Stadt  Gabii  bei  Gelegenheit  der 
von  dem  Fürsten  Borghese  veranstalteten  Grabungen  nebst  anderen 
vorzüglichen  Antiken  zutage  gekommen  und  1808  mit  diesen  Bild- 
werken von  Rom  nach  Paris  gebracht  worden.  Vielleicht  war  sie 
dereinst  in  jener  Landstadt  zum  Dank  für  erworbene  Verdienste  als 
Ehrendenkmal  geweiht.  M.  Vipsanius  Agrippa,  der  Sieger  von  Aktium 
und  einflußreiche  Berater  des  Augustus,  der  große  Wohltäter  des 
Volkes,  dessen  Andenken  insbesondere  zu  Rom  durch  ausgedehnte 
bauliche  Anlagen  im  Campus  Martius  noch  heutzutage  fortdauert, 
ist  in  reifem  Mannesalter  zwar  mit  bezeichnender  Individualisierung, 
aber  unter  Abstreifung  unbedeutender  Zufälligkeiten  getreu  nach 
dem  Leben  dargestellt.  Die  der  Mode  der  Zeit  entsprechende  Bart- 
losigkeit  sowie  der  kurze  Haarschnitt  stimmen  mit  vielen  Bild- 
nissen von  Mitgliedern  des  augusteischen  Kaiserhauses-)  überein; 
was  aber  den  Kopf  von  diesen  ruhigen,  in  sich  geschlossenen  Por- 
trätzügen gewaltig  unterscheidet  und  ihm  ein  überaus  lebendiges 
Gepräge  verleiht,  ist  der  feste,  durchbohrende  Blick  der  tiefliegenden 
und  tiefbeschatteten  Augen,  der  durch  die  zusammengezogenen 
Brauen  und  die  Einsenkung  über  der  etwas  gebogenen  Nase,  sowie 
durch  die  seitliche  Wendung  des  Hauptes  eine  um  so  größere  Wir- 
kung erzielt.  Eiserne  Willenskraft  und  unerbittliche  Energie,  eine  nur 
durch  den  praktischen  Verstand  zurückgehaltene  vorwärtsstürmende 
Tatkraft,  ein  starres  Wesen  treten  als  bezeichnende  Eigenschaften 


')  Anklänge  an  späthellenistische  Bildnisse  glaubte  man  bisweilen 
in  der  Bronze  zu  bemerken  und  hat  sie,  freilich  nur  vorübergehend,  dem 
Römertum  abgesprochen. 

-I  Beispielsweise  sei  hingewiesen  auf  den  Kopf  der  Statue  des 
Augustus  von  Prima  Porta,  Tafel  58. 


204  GRIECH.  UND  ROM.  PORTRATS 

des  Mannes  aus  seinen  Gesichtszügen  entgegen,  die  im  wirklichen 
Leben  auf  jedermann  zwingende  Gewalt  ausgeübt  haben  müssen 
und  noch  heutzutage  im  Bildnisse  trotz  der  trefflichen  künstle- 
rischen Auffassung  und  Arbeit  den  Betrachter  wenigstens  beim  ersten 
Eindrucke  eher  zurückzustoßen  als  zu  befriedigen  geeignet  sind. 
Dagegen  wird  unser  Blick  durch  das  Antlitz  des  unbekannten 
Mannes  unwiderstehlich  gefesselt,  der  in  dem  trefflich  erhaltenen 
und  vorzüglich  ausgearbeiteten  Bronzekopfe  wiedergegeben  ist.  Von 
unbestimmtem  Fundort,  ist  derselbe  schon  im  sechzehnten  Jahr- 
hundert in  der  Sammlung  von  Antiken  des  als  Kunstmäcen  be- 
kannten Kardinals  Rodolfo  Pio  di  Carpi  nachweisbar;  er  war  der 
Stadt  Rom  vermutlich  wegen  der  schon  damals  üblichen  Deutung 
von  dem  Besitzer  testamentarisch  zugesprochen  worden  und  wurde 
demgemäß  nach  dessen  Tode  1564  Eigentum  des  römischen  Magi- 
strats. Seitdem  im  Konservatorenpalast  als  eines  der  hervor- 
ragendsten Stücke  der  auserlesenen  Sammlung  aufbewahrt,  hat  er 
wohlverdienten  Ruhm  erlangt.  Die  Persönlichkeit  des  Dargestellten 
erregt  das  Interesse  des  Betrachters  beim  ersten  Anblicke.  Sie 
ist  von  dem  Künstler  mit  den  Zufälligkeiten  der  äußeren  Erscheinung 
in  allen  Teilen  des  Kopfes  getreu  wiedergegeben.  Denn  die  auf- 
fallend großen  Ohren,  die  wildgewachsenen  und  nicht  gepflegten 
Brauen,  der  länglich  zugeschnittene,  kurzgeschorene  Spitzbart,  die 
hohe,  in  ihrem  Unterteile  stark  vortretende  Stirne,  der  eigentüm- 
lich herbe  Zug  um  den  langgestreckten  Mund  und  zu  beiden  Seiten 
der  langen  Nase  sind  ebenso  wie  die  welken  und  mageren  Züge 
des  nach  unten  sich  verjüngenden  Gesichts  und  der  düstere,  tief- 
traurige Blick  der  Augen  ')  mit  genauer,  verständnisvoller  Beobach- 
tung der  Natur  gebildet.  Trotzdem  ist  das  Gesamtbild  zu  einem 
über  das  Zufällige  erhabenen  Charakterkopf  umgestaltet  und  er- 
hoben worden.  Der  Dargestellte,  der  in  vorgerückterem  Alter  steht, 
zeigt  zwar  in  seinem  Äußern  keine  höhere  geistige  Durchbildung 
und  Belebung,  aber  klaren  und  kalten  Verstand,  unerschütterlichen 
Ernst,  beneidenswerte  Nüchternheit  und  Vorsicht.  So  darf  in  der 
Tat  dieser  Bronzekopf  auch  hinsichtlich  der  künstlerischen  Auf- 
fassung als  ein  ikonographisches  Meisterwerk  bezeichnet  werden, 
das,  mit  den  durchgeistigten  und  pathetisch  erregten  Gesichtszügen 
des  Agrippa  verglichen,  durch  die  vornehme  Ruhe  und  würdevolle 
Strenge  der  Erscheinung  tiefe,  nachhaltige  Wirkung  erzielt.  In 
jenem  ist  der  Typus  des  Republikaners  von  echtem  Schrot  und  Korn, 
in  diesem  der  durch  höhere  geistige  Bildung  verfeinerte  Vertreter 
einer  neuen  Epoche  plastisch  verkörpert. 

')  Sie  sind  eingesetzt;  die  Hornhaut  ist  aus  einer  weißen,  die  Pupillen 
sind  aus  einer  braunen  Masse. 


AUGUSTUS  205 

TAFEL  58 
AUGUSTUS 

BEMALTE  MARMORSTATUE  IM   BRACCIO  NUOVO   DES 
VATIKANISCHEN  MUSEUMS  ZU   ROM. 

Diese  berühmteste  unter  den  erhaltenen  Statuen  des  Kaisers  und 
eine  der  schönsten  römischen  Porträtstatuen  überhaupt  ist  etwas 
über  die  natürliche  Größe  gebildet,  Sie  wurde  1863  neun  Millien 
von  Rom  an  der  alten  via  Flaminia  bei  der  heutigen  Ortschaft 
Prima  Porta  unter  den  Trümmern  des  ehemals  prächtigen  Land- 
hauses gefunden,  das,  von  Augustus  Gemahlin  Livia  erbaut,  villa 
Caesarum  oder  villa  ad  Gallinas  geheißen  hat  ');  dort  hatte  sie  der- 
einst in  einer  Nische  Aufstellung  gefunden.  Gut  erhalten,  konnte 
sie  von  dem  Bildhauer  Tenerani  im  wesentlichen  richtig  ergänzt 
werden.  Die  Arbeit  des  Standbildes,  welches  das  Werk  eines  un- 
bekannten Meisters  vergegenwärtigt,  ist  hervorragend  und  wohlge- 
eignet, von  der  Kunstübung  im  augusteischen  Zeitalter  einen  hohen 
Begriff  zu  geben.  Aus  mehrfach  erhaltenen  Farbenspuren  läßt  sich 
die  ursprüngliche  Bemalung  der  Haare  und  Gewandung  sowie  des 
Panzers  feststellen,  während  an  den  nackten  Körperteilen  abge- 
sehen von  den  Augen  keine  Farben  zu  erkennen  sind;  von  der 
Gesamtwirkung  der  bunten  Pracht  läßt  sich  aus  den  geringen  Resten 
eine   sichere  Vorstellung  nicht  gewinnen. 

Eine  majestätische,  wahrhaft  fürstliche  Gestalt  -)  von  starken 
Körperformen  steht  in  der  Blüte  des  kräftigen  Mannesalters  vor 
uns,  indem  sie  das  linke  Bein  in  Schrittstellung  zurücksetzt,  das 
rechte  als  den  Träger  der  schweren  Körperlast  fest  aufgestellt  hat. 
Der  Kaiser  ist  durch  die  Rüstung  als  Imperator  bezeichnet;  in  der 
Nacktheit  der  Füße  hat  man  eine  Andeutung  der  Heroisierung  ver- 
mutet, doch  scheint  der  akademisch  klassizistische  Künstler  nur 
älteren,  schon  in  griechischer  Kunst  nachweisbaren  Traditionen 
gefolgt  zu  sein;  auch  das  Standmotiv  ist  hellenischem  Vorbild, 
dem  Doryphoros  des  Polyklet,  entnommen.  Über  die  nicht  ganz 
bis  zu  den  Knien  reichende  Tunika  sind  Lederkoller  und 
Panzer  gelegt,  und  darüber  war  das  Paludamentum  geworfen,  das, 
von  dem  Rücken  und  den  Schultern  herabgeglitten,  in  großartig 
schwungvoller  Linie  und  wirkungsvollem  Faltenwurfe  um  den  mitt- 


')  Plinius  der  Ältere,  naturalis  historia   15,  137.     Sueton,  Galba   1. 
2)  Vgl.  auch  Sueton,  Augustus  79. 


206  GRIECH.  UND  ROM.  PORTRÄTS 

leren  Teil  des  Körpers  sich  legt  und,  von  dem  linken  Arm  ge- 
halten, gerade  nach  abwärts  fällt.  Die  linke  Hand  hatte  in  Über- 
einstimmung mit  der  sonstigen  kriegerischen  Rüstung  wahrschein- 
lich den  Speer  und  nicht  das  Szepter,  das  ergänzt  ist,  gefaßt.  Durch 
die  gebieterische  Bewegung  des  hocherhobenen  rechten  Armes,  dessen 
Richtung  die  ganze  Haltung  des  Körpers  und  der  Blick  der  Augen 
folgen,  befiehlt  Augustus  als  Imperator  dem  vor  ihm  versammelt 
zu  denkenden  Heere  Ruhe,  um  eine  feierliche  Ansprache  zu  halten'). 
Unten  zur  rechten  Seite  weist  der  auf  einem  Delphin  in  lebhafter 
Bewegung  reitende  Amor  auf  die  Abstammung  des  julischen  Hauses 
von  Venus  hin-).  Man  erkennt  durch  kühne  Kombination  in  den 
allerdings  etwas  individuellen  und  realistischen  Gesichtszügen  des 
etwa  zweijährgien  Bübchens  den  gerade  im  Jahre  des  parthischen 
Erfolgs  geborenen  Gaius,  den  Sohn  der  Julia  und  des  grippa;  inA 
diesem  Falle  wäre  er  eben  einer  auch  sonst  nachweisbaren  Gepflogen- 
heit gemäß  gar  sinnig  im  Bilde  des  Knaben  Amor  dargestellt.  Mehr  als 
eine  geistreiche  Vermutung  darf  dieser  Deutungsversuch  nicht  gelten. 

Der  vortreffliche  Porträtkopf,  der  auf  dem  starken  Halse  ruht, 
zeigt  die  auch  an  anderen  Bildnissen  des  Kaisers  erkennbare  schlichte 
Haartracht  mit  einzelnen  kurz  abgeschnittenen  Büscheln  und  trägt 
in  dem  runden,  völlig  bartlosen  Gesichte  mit  den  vorstehenden 
Backenknochen  die  nämlichen  Züge,  die  in  der  weitbekannten  und 
hochgeschätzten  Büste  des  jugendlichen  Oktavian  im  Vatikanischen 
Museum  so  bezeichnend  hervortreten.  Während  die  schwache  Ge- 
sundheit, die  in  dieser  Büste  wahrnehmbar  ist,  in  der  dem  kräf- 
tigen Körper  entsprechenden  kraftvollen  Physiognomie  kaum  noch 
zu  ahnen  ist,  wird  der  Ausdruck,  der  belebt  ist  durch  den  etwas 
geöffneten  Mund,  vorwiegend  bestimmt  und  gekennzeichnet  durch 
den  scharfen,  sicheren  Blick-^)  der  tiefliegenden  Augen,  deren  Pupillen 
mit  dem  Meißel  leicht  umrissen  sind  und  durch  Bemalung  noch  mehr 
hervorgehoben  waren ;  er  läßt  einen  ebenso  bestimmten  und  energi- 
schen als  vorsichtigen  und  leidenschaftslosen  Charakter  erkennen, 
wirkt  aber  in  seinen  kalten  und  berechnenden  Zügen  nicht  sym- 
pathisch und  beinahe   etwas  unheimlich. 

Was  den  Wert  der  Statue  unersetzlich  macht  und  das  Auge 
von  der  erhabenen  Majestät  des  großartigen  Gesamtbildes  ablenkt 

')  In  ähnlicher  Weise  sind  andere  Kaiser  vor  den  Truppen  auf  histo- 
rischen Denkmälern  wie  der  Trajanssäule  und  auf  Münzen  dargestellt;  auf 
diesen  wird  die  Anrede  durch  eine   Beischrift  adlocutio  benannt. 

-)  „Clarus  Anchisae  Venerisquesanguis"  („des  Anchises  und  der  Venus 
berühmter  Sprößling")  singt  Horaz  von  Augustus  im  Carmen  saeculare  50 
(vgl.  auch  Oden  IV,  15,  32  „Almaeprogeniem  Veneris  canemus",  „wir  werden 
den  Nachkommen  der  segenspendenden  Venus  besingen"). 

^)  Vgl.  Tacitus,  Annalen   1,  42.     Sueton,  Augustus  79. 


AUGUSTUS 

ROM,    VATIKANISCHES    MUSEUM 


AUGUSTUS 


207 


und  auf  sich  zieht,  ist  der  Panzer  mit  seinen  Verzierungen,  der 
einen  aus  Metall  getriebenen  Harnisch  getreu  nachbildet  und  in 
den  Reliefs  ein  charakteristisches  Beispiel  der  gerade  in  jener  Zeit 
neuaufbliihenden   Toreutik   bietet  (Fig.  73);    an    diesen    schließen 


Fig.  73.    Reliefs  vom  Panzer  der  Augustusstatue 


sich  befranzte,  die  Schulterblätter  und  den  Unterleib,  sowie  einen 
Teil  der  Oberschenkel  bedeckende  Lederstreifen  an;  sie  gehören 
zum  Koller.  Oben  geschlossen  durch  zwei  mit  je  einer  Sphinx 
verzierte  Schulterklappen,  ist  der  Harnisch  auf  der  ganzen  Vorder- 
fläche mit  streng  symmetrisch  geordneten  Reliefs  geschmückt.  Den 
Mittelpunkt  nimmt  eine  auch  durch  größere  Bildung  der  Figuren  her- 
vorgehobene Gruppe  ein,  welche  die  20  v.  Chr.  freiwillig  erfolgte  Rück- 
gabe der  seit  den  Niederlagen  des  Krassus  und  Antonius  in  dem  Be- 


208  GRIECH.  UND  ROM.  PORTRÄTS 

sitze  der  Parther  befindlichen  römischen  Feldzeichen  darstellt:  Ein 
Krieger,  in  Tracht  und  Bewaffnung  eines  römischen  Feldherrn,  der 
früher  vielfach  recht  unnatürlich  als  Mars  Ultor,  von  dem  diesem 
Gotte  heiligen  Hund  begleitet,  gedeutet  wurde,  streckt  den  rechten 
Arm  weit  aus,  um  von  einem  bärtigen,  behosten  Barbaren  von  etwas 
kleinerer  Körperbildung  einen  Legionsadler  in  Empfang  zu  nehmen. 
Ganz  neuerdings  erkennt  man  in  dem  jugendlichen  Krieger  als  stark 
idealisiertes  Porträt  den  22jährigen  Prinzen  Tiberius,  der  als  Bote 
seines  Stiefvaters  die  Signa  holt')  und  vom  Kriegshund  als  Wächter 
an  der  Grenzwacht  begleitet  ist;  der  Parther  vor  ihm  soll  durch 
das  Diadem  als  König  Phraates  IV.-)  charakterisiert  sein.  Doch 
scheint  in  den  beiden  Figuren  nur  allgemein  die  Vertretung  der 
römischen  Militärmacht  und  des  gedemütigten  Partherkönigtums 
repräsentiert  zu  sein.  Umgeben  sind  beide  von  zwei  weiblichen, 
in  trauriger  Haltung  dasitzenden  Personifikationen,  von  denen  die 
auf  der  linken  Seite  ein  in  einen  Vogelkopf  endigendes  Schwert 
hinhält  und  hinter  sich  ein  Tropaeum  stehen  hat^^),  die  rechts  eine 
große,  in  einen  Drachenkopf  auslaufende  Kriegstrompete  sowie 
eine  Schwertscheide  trägt  und  vor  sich  den  oberen  Teil  eines  mit 
einem  Eber  verzierten  Feldzeichens  sieht.  Es  sind  Vertreter  der 
jüngst  überwundenen,  noch  trauernden  Provinzen  Hispania  und 
Gallia,  der  Keltiber,  gegen  die  Agrippa  21  v.  Chr.  erfolgreich 
kämpfte,  sowie  der  gallischen  Völker,  die  27  v.  Chr.  von  Messala 
geschlagen  worden  waren  und  19  v.  Chr.  jenem  großen  Feldherm 
des  Kaisers  zu  schaffen  machten  ^).  Nach  unten  schließen  sich 
die  Schutzgötter  des  julischen  Hauses,  Apollo  mit  der  Leier  auf 
dem  Greif  und  Diana  mit  der  Fackel  auf  dem  Hirsch,  an,  und 
unter  diesen  ist  die  allnährende  Erdgöttin  gelagert,  von  zwei  sich 
anschmiegenden  Kindern  begleitet;  mit  der  rechten  Hand  faßt  sie 
ein  in  ihrem  Schoß  stehendes,  großes  Füllhorn,  zwei  undeutliche, 
für  Tympanon  und  Mohnkopf  erklärte  Gegenstände  sind  neben 
ihr.  Es  entspricht  der  Erdgöttin  oben  die  aus  Wolken  sich  er- 
hebende Halbgestalt  des  bärtigen  Caelus,  der  ein  Gewand  wie  die 
Himmelswölbung  mit  beiden  Händen  über  seinem  Haupte  aus- 
breitet. Darunter  zügelt  der  jugendliche  Sol  auf  einem  Viergespann 
in  der  gebückten  Haltung  und  langen  Gewandung  eines  Wagen- 
lenkers die  ungestümen  Sonnenrosse,  begleitet  und  geführt  von 
den  dahinschwebenden  Göttinnen  des  Morgentaues  und  der  Mor- 
genröte, die  in  der  anmutigen  Gruppe  eines  bekleideten  und  be- 


')  Sueton  Tiberius  9. 

2)  Vgl.  Horaz  Episteln   I,  12,  27. 

^)  In  der  Abbildung  nicht  mehr  sichtbar. 

■»)  Cassius  Dio  54,  II;   19—25. 


FRAU   AUS  HERCULANEUM  209 

flügelten  Mädchens  mit  dem  tauspendenden  Kruge  und  einer  auf 
dessen  Schultern  sitzenden  Frau  mit  bogenförmig  wallendem 
Schleier  und  der  lichtverbreitenden  Fackel  dargestellt  sind.  Das 
Verständnis  des  Ganzen  wird  erschlossen  durch  die  Hauptdar- 
stellung in  der  Mitte  des  Panzers:  Der  große,  weithin  wirksame 
Parthererfolg  ist  in  erster  Linie  zum  Ausdruck  gebracht,  zugleich 
aber  die  nach  langwierigen  Kriegen  erreichte  ruhmvolle  Beruhi- 
gung des  Weltalis  im  Osten  und  Westen,  die  dadurch  gewonnene 
Beglückung  seiner  Bewohner  versinnbildlicht.  Die  historischen 
Ereignisse  führen  vielleicht  auf  die  Zeit  bald  nach  der  Heimkehr  des 
Princeps  aus  dem  Orient,  etwa  auf  18  v,  Chr.  Das  Alter  des  da- 
mals Mitte  der  vierziger  Jahre  stehenden  AugUbtus  entspricht  der 
ganzen  Gestalt  wie  den  Gesichtszügen.  Dann  fällt  die  Errichtung 
des  polychromen  Marmorbildes  im  Landhause  der  Livia  fast  gleich- 
zeitig mit  der  Entstehung  des  Carmen  saeculare  von  Horaz,  das 
bei  den  17  v.  Chr.  zur  Erinnerung  an  die  Gründung  von  Rom  ver- 
anstalteten Festlichkeiten  von  einem  Knaben-  und  Mädchenchor  ge- 
sungen wurde.  Es  kann  aber  auch  durch  Hispania  und  Gallia  sehr 
passend  auf  des  Kaisers  persönliche  Neuordnung  der  beiden  Länder 
angespielt  sein,  woher  er  nach  langer  Abwesenheit  13  v.  Chr. 
endlich  nach  Rom  heimkehrte.  Nicht  nur  mehrere  Darstellungen 
des  Panzers  erinnern  unmittelbar  an  jenes  Festlied,  sondern  auch 
die  gehobene,  freudige  Stimmung  des  römischen  Volkes  über  die 
Beruhigung  des  Erdkreises  und  die  Segnungen  des  Friedens,  die 
durch  den  Gesang  durchklingt  und  in  anderen  berühmten  Oden 
des  Dichters  ')  widerhallt,  findet  in  den  Reliefs  der  Panzerstatue 
monumentalen  Ausdruck:  Bild  und  Lied  werden  durch  gemein- 
same Betrachtung  wechselseitig  erläutert. 


TAFEL  59 

MARMORSTATUE  EINER  FRAU  AUS 
HERCULANEUM 

DRESDEN,  ALBERTINUM. 

Diese  trefflich  erhaltene  und  gut  gearbeitete  Statue  etwa  aus 
augusteischer  Zeit  ist  zu  Beginn  des  achtzehnten  Jahrhunderts  ge- 


')  IV,  2,  4,  5,  14,  15.    -   Auch  die  Weihung  der  Ära  Pacis  (vgl.  S.  164» 
bietet  einen  monumentalen   Ausdruck  dieser  Gefühle. 

Denkmäler  griech.  u.  röm.  Skulptur,  3.  Aufl.  14 


210  GRIECH.  UND  ROM.  PORTRÄTS 

meinsam  mit  zwei  im  Stile  eng  verwandten,  etwas  kleineren  Frauen- 
statuen zu  Herculaneum  bei  Gelegenheit  der  vom  General  Prinz 
von  Elbouf  veranlaßten  Grabungen  ans  Tageslicht  gekommen.  An 
seinen  Onkel,  Prinz  Eugen  von  Savoyen,  mit  jenen  beiden  anderen 
Werken  gesandt  und  zu  Wien  in  dessen  Palast  aufgestellt,  wurde 
sie  1736  nach  dem  Tode  des  Besitzers  von  dem  als  Kunstsammler 
bekannten  Könige  August  III.  von  Sachsen  angekauft  und  bildete 
unter  dem  Namen  der  „großen  Dresdener  Herkulanenserin"  eines 
der  kostbarsten  und  berühmtesten  Bildwerke  der  Sammlung  „Augu- 
steum";  nunmehr  befindet  sie  sich  in  der  Königlichen  Skulpturen- 
sammlung, dem  Albertinum.  In  beiden  Städten,  zu  Dresden  ins- 
besondere in  dem  Winckelmann  nahestehenden  Kreise,  sind  die  drei 
Statuen  von  Künstlern  und  Kunstkennern  als  wahre  Vertreterinnen 
der  reinen  griechischen  Antike  erkannt  und  gepriesen  worden ;  so 
haben  sie  zu  einer  Läuterung  des  Kunstgeschmackes  im  Gegensatze 
zu  dem  damals  herrschenden  Barockstile  wesentlich    beigetragen. 

Eine  jugendliche  Frauengestalt  von  lebenswahren  und  lebens- 
warmen Formen  steht  vor  uns  in  ruhiger,  würdiger  Haltung,  doch 
mäßig  bewegt  durch  das  linke  vorgesetzte  Bein,  sowie  den  Gegen- 
satz des  rechten  halberhobenen  und  linken  gesenkten  Armes,  weiter- 
hin durch  die  Neigung  des  Kopfes.  Den  feingefalteten  Chiton,  der  teil- 
weise bis  über  die  Füße  hinabreicht  und  nur  den  kräftigen  Hals  frei- 
läßt, deckt  zum  größten  Teil  der  weite  Mantel,  der,  schleierartig  über 
den  Hinterkopf  gezogen,  in  wunderbar  mannigfaltigem  Wechselspiel 
der  Falten  „mit  edler  Freiheit  und  sanfter  Harmonie  des  Ganzen" 
umgelegt  ist.  Von  den  beiden  Enden  des  Himations,  die  sich  auf 
der  linken  Seite  vereinigen,  ist  das  eine  in  der  Form  eines  Drei- 
ecks über  den  Oberkörper  geschlagen  und  fällt  über  die  linke  Schul- 
ter und  den  linken  Arm  herab. 

Den  höchsten  Genuß  gewährt  die  Betrachtung  des  Kopfes,  der 
sich  aus  dem  durch  den  Schleier  gebildeten  Hintergrunde  präch- 
tig abhebt.  Das  Haar,  das  reizvoller  Mode  entsprechend  in  ein- 
zelnen nach  rückwärts  laufenden  Wülsten  geordnet  ist,  war  vermut- 
lich durch  goldene  Färbung  noch  mehr  hervorgehoben,  da  Spuren 
roter  Bemalung  als  der  Grundlage  für  das  aufzutragende  Gold  noch 
heute  erkennbar  sind.  Dem  nach  unten  sich  verjüngenden,  von 
einem  runden  Kinn  abgeschlossenen  Oval  des  Gesichts  verleihen 
die  zarte  Bildung  der  Wangen,  an  dem  kleinen,  leise  geöffneten 
Munde  die  geschwungene  Ober-  und  aufgeworfene  Unterlippe,  die 
regelmäßige  Form  der  Nase,  endlich  die  tiefliegenden,  schmalen 
Augen  einen  wunderbar  anmutigen  Ausdruck  echter  Weiblichkeit, 
der  stillen  Ernst,  leises  Sinnen  und  Sehnen  empfinden  läßt  und 
durch  die  Neigung  des  etwas  zur  Seite  und  nach  vorwärts  gerich- 


MARMORSTATUE   EINER   FRAU  AUS  HERCULANEUM 

DRESDEN,    ALBERTINUM 


FRAU  AUS  HERCULANEUM  211 

teten  Kopfes,  sowie  die  zierliche  Haltung  der  rechten,  das  Himation 
leicht  fassenden  Hand  noch  stimmungsvoller  wirkt.  Vor  allem  in 
diesen  Zügen  offenbart  sich  der  Künstler,  in  dessen  Zeitalter  und 
vielleicht  unterdessen  Einflüsse  das  Urbild  entstanden  ist:  der  Geist 
der  Kunst  des  Praxiteles  lebt  in  dem  Werke  (vgl.  auch  Fig.  22). 
Bezeichnend  für  die  unmittelbare  Wirkung  der  Statue  auf  den 
Beschauer  ist  es,  daß  er,  von  der  Schönheit  des  Werkes  einge- 
nommen, nach  der  Deutung  zunächst  nicht  fragt.  Doch  ist  sie 
selbstverständlich  seit  der  Entdeckung  oft  besprochen  worden,  frei- 
lich ohne  daß  ein  sicheres  Ergebnis  erzielt  werden  konnte.  An- 
fangs auf  Grund  der  Kleidung  für  eine  römische  Vestalin  gehalten, 
wurde  das  Werk  hinsichtlich  seines  Typus  unu  aus  stilistischen 
Gründen  sehr  bald  als  griechisch  betrachtet  und  eine  Göttin,  De- 
meter oder  Köre,  auch  ein  stark  idealisiertes  Porträt,  eine  Ehren- 
und  Grabesstatue  erkannt.  Es  läßt  sich  nicht  leugnen,  daß  für 
Demeter  und  Köre  das  Gesicht  mit  dem  Ausdrucke  leiser  Sehn- 
sucht geeignet  ist,  und  es  ist  Tatsache,  daß  unserem  Bilde  ähn- 
liche Typen  bei  Darstellungen  dieser  Gottheiten  verwendet  worden 
sind.  Allein  der  Mangel  eines  bezeichnenden  Attributes  läßt  über 
eine  bloße  Vermutung  nicht  hinauskommen.  Wenn  schon  die  drei 
Originale  dereinst  eine  Gruppe  gebildet  haben '),  ist  ihre  ursprüng- 
liche Bestimmung  als  Porträts  der  Glieder  einer  Familie  etwa  zum 
Schmucke  eines  Grabes  wahrscheinlich,  zumal  die  Gesamterschei- 
nung und  der  Ausdruck  des  Gesichtes  unserer  Statue  für  diesen 
Ort  besonders  passend  erscheinen,  und  da  der  Mangel  unverkenn- 
barer Porträtzüge  durch  die  gleichzeitigen  Grabreliefs  genügend  er- 
klärt wird.  Die  Verhüllung  des  Kopfes  findet  sich  insbesondere 
auch  auf  diesen  gemäß  der  für  die  Straße  üblichen  Mode  häufig 
wieder,  wie  auch  die  sonstige  Form  der  Kleidung  bei  Porträtstatuen 
der  Tracht  des  täglichen  Lebens  entsprechend  vorkommt.  Die  Be- 
stimmung der  drei  zu  Dresden  befindlichen  Bildwerke  läßt  sich  erst 
durch  genaue  und  klare  Feststellung  der  Fundumstände,  die  bis- 
her noch  nicht  ermöglicht  wurde,  mit  einiger  Sicherheit  entscheiden. 
Die  Vermutung,  daß  sie  dereinst  zum  Andenken  dreier  Herku- 
lanenserinnen  gestiftet  waren,  erscheint  wohl  erwägenswert.  In  die- 
sem Falle  würden  die  Bildnisse  einer  auch  sonst  bei  Frauenporträts 
aus  römischer  Epoche  nachweisbaren  Gepflogenheit  entsprechend, 
nach  griechischen  Vorbildern  aus  der  Blütezeit  der  Kunst  in  ideali- 
siertem Stile  wiedergegeben  sein.    Aber  auch  die  Möglichkeit,  daß 


')  Erwägenswert  erscheint  es,  ob  nicht  die  drei  Herkulanenserinnen 
erst  in  römischer  Zeit  aus  griechischen  Einzeltypen  zusammengestellt 
wurden. 

14« 


212  GRIECH.  UND  ROM.  PORTRÄTS 

die  drei  Figuren  in  Herculaneum  zum  Schmucke  eines  Platzes  oder 
Hauses  als  Kopien  der  Darstellungen  griechischer  Göttinnen  oder 
sterblicher  Frauen  aufgestellt  waren,  bleibt  immerhin  bestehen. 
Mit  der  Äußerung  dieser  Vermutungen  muß  man  sich  be- 
scheiden. Doch  auch  ohne  sichere  Deutung  werden  Klarheit  und 
Bestimmtheit  der  Körperformen,  Geschlossenheit  der  Umrisse,  Voll- 
endung des  Rhythmus  der  Draperie,  ungezwungene  Vornehmheit 
und  reizende  Anmut,  vor  allem  der  feierliche  Ernst  des  ganzen 
Bildes,  die  „edle  Einfalt,  stille  Größe"  auf  jeden  Beschauer  einen 
mächtigen  Zauber  ausüben  und  den  Namen  des  „göttlichen",  durch 
welchen  Winckelmann  „dieses  Meisterstück  griechischer  Kunst" 
für  alle  Zeiten  geadelt  hat,  vollkommen  rechtfertigen. 


TAFEL  60 

RÖMISCHER  BÜRGER,  MIT  DER  TOGA 
BEKLEIDET 

MARMORSTATUE.     LONDON,  BRITISH  MUSEUM. 

Diese  überlebensgroße  Statue,  deren  Fundort  und  Herkunft 
nicht  gesichert  sind,  gehört  wegen  der  guten  Arbeit  und  des  Kopf- 
typus vielleicht  noch  in  die  republikanische  Epoche  oder  doch 
wenigstens  in  die  Anfänge  der  Kaiserzeit;  mit  dieser  Datierung 
scheint  die  Art,  wie  die  Toga  um  den  Körper  gelegt  ist,  nicht  im 
Widerspruch  zu  stehen.  Abgesehen  von  kleineren  Ergänzungen 
sind  Nase  und  Ohren,  der  größere  Teil  des  Halses  mit  einem 
Stückchen  der  Tunika,  endlich  die  linke  Hand  mit  der  Rolle  er- 
neuert; der  in  die  Statue  eingesetzte  Kopf  dagegen  wird  gemäß 
einer  am  Originale  angestellten  Untersuchung  als  zu  der  Statue 
gehörig  angesehen. 

Dargestellt  ist  ein  unbekannter  Römer  von  reiferen  Jahren 
in  der  Tracht  des  einfachen  Bürgers;  er  trägt,  abgesehen  von  der 
Tunika  und  den  calcei,  die  unverzierte  Toga.  Vermutlich  war 
die  Statue  zu  seinen  Ehren  etwa  auf  einem  öffentlichen  Platze 
seiner  Heimat  oder  auf  seinem  Grabe  errichtet.  Er  steht  in  ruhiger, 
aber  überaus  stolzer  Haltung  mit  etwas  erhobenem  Kopfe  da 
und  gewährt  von  der  gravitas  des  civis  Romanus  eine  plastische 
Vorstellung.    Das  volle,  faltendurchzogene  Gesicht  mit  ganz  kurzem 


RÖMISCHER  BURGER,  MIT  DER  TOGA  BEKLEIDET 

LONDON,    BRITISH    MUSEUM 


F.    BRUCKMANN    A.-G.,    MÜNCHEN 


ROMISCHER  BÜRGER  213 

Barte  gibt  die  Wirklichlceit  mit  allen  Zufälligkeiten  getreu  wieder 
und  reiht  sich  jenen  ziemlich  zahlreichen  überaus  charakteristischen 
Römerköpfen  an,    die  durch   ihre  bezeichnende   Individualität  und 
lebensvolle  Darstellung  das  Interesse  des  Beschauers   mächtig  er- 
regen und  seinem  Gedächtnisse  sich  tief  und  dauernd  einprägen. 
Die  zusammengezogene,   durchfurchte  Stirne,  in  welche  das  Haar 
wie  in  der  Form  eines  Dreiecks  etwas  hereinreicht,  der  tiefe  Ein- 
schnitt  über   der  Nase,   auf  den  Backen   die   schräg   abwärts  ge- 
richteten   Falten,   die   geschwungene,   gegen   das   Kinn   sich   fort- 
setzende Linie  des  festgeschlossenen  Mundes,  endlich  der  scharfe 
und  sichere  Blick  der  Augen  bestimmen  den  Ausdruck  dieses  Por- 
träts:  feste  und  zielbewußte  Willenskraft,  klarer,  praktischer  Ver- 
stand, nicht  geringes  Selbstgefühl,  zugleich  aber  eine  gewisse  feinerer 
Geistes-  und  Gemütsbildung  ermangelnde  Urwüchsigkeit  des  Äußeren 
sind  die  Eigenschaften  der  Persönlichkeit,  welche  sie  mit  der  Mehr- 
zahl ihrer  Mitbürger  vorwiegend  aus  der  republikanischen  Zeit  ge- 
meinsam hat  und  welche  wesentliche  Grundzüge    des  Charakters 
des  römischen  Volksstammes  überhaupt  gewesen  sind.    Indes  die 
vornehme  Erscheinung  des  Gesamtbildes  wird  durch  die  feierlich 
imponierende  Tracht  der  Toga  erreicht,  die  den  Körper  in  wechsel- 
voll drapierten,  tiefbauschigen,  großartig  schönen  Faltenmassen  um- 
hüllt und  der  Gestalt  ein  volles,  stattliches,  reiches  Aussehen  ver- 
leiht.    Über  Form  und  Anlegung  dieses  Gewands  und  vor  allem 
die  Entstehung  des  besonders  an  der  rechten  Vorderseite  des  Kör- 
pers gebildeten  Umschlages,  des  sogenannten  sinus,  sind  ganz  ge- 
sicherte Ergebnisse  der  Forschung  noch  nicht  erzielt  worden.    Was 
als    feststehend    oder  wahrscheinlich    betrachtet  werden    kann,    ist 
etwa  folgendes:  Die  Toga,  ein  wollenes  Tuch  von  schwerem  Stoff 
und  weißer  Farbe,  war  zu  der  Grundform  eines  Ovals  zugeschnitten 
und  ungefähr  dreimal  so  lang    als  die  Schulterhöhe  des  Mannes; 
zu  einem  Doppeltuche  zusammengenommen,  wurde  sie  zuerst  von 
rückwärts  mit  einem   Drittel  ihrer  Länge  über  die  linke  Schulter 
nach  vorn  geworfen,    so  daß  sie  bis   zur  Erde  hinabgereicht  hat; 
hinten    aber  wurden    die    beiden   anderen  Drittel    um  den   Rücken 
gelegt,  unter  dem  rechten  Arme  durchgeführt,  quer  über  die  Brust 
gezogen   und   wiederum    über   die   linke  Schulter  zurückgeworfen. 
Diese  Form   der  Toga   ist   hier   in   einem  hervorragenden  Muster 
klar   zu    erkennen,   abgesehen    von    einzelnen  Abweichungen    vom 
Gewöhnlichen;    so    ist   die    rechte  Schulter   samt  Arm    und    Hand 
von  dem  Tuche  umhüllt.    Zugleich  sind  einzelne  Vorschriften,  die 
Quintilian')  über  die  Tracht  des  Gewandes  gegeben  hat,  gewisser- 


')  Institutio  oratoria  XI,  3,  137  ff. 


214  GRIECH.  UND  ROM.  PORTRÄTS 

maßen  im  Bilde  veranschaulicht:  man  sieht  deutlich  die  runde 
Form')  an  den  Rändern  des  Tuches,  der  sinus  reicht  bis  zum 
rechten  Knie  herab^),  der  als  balteus  bezeichnete,  quer  über  der 
Brust  liegende  obere  Teil  des  Umschlages  erscheint  weder  zu  eng 
noch  zu  weit^),  der  linke  Arm  ist  etwa  bis  zu  einem  rechten  Winkel 
gebogen^).  Dadurch  ist  unsere  Statue  auch  im  einzelnen  besonders 
lehrreich.  Doch  der  Wert  des  Werkes  liegt  vor  allem  darin,  daß 
ein  Römer  von  echtem  Schrot  und  Korn  in  der  Nationaltracht  der 
gens  togata  entgegentritt.  Erhöhte  Bedeutung  gewinnt  es  durch 
eine  Gegenüberstellung  und  Vergleichung  griechischer  und  insbe- 
sondere attischer  Porträts  aus  der  Blütezeit  dieses  Volkes:  denn 
nicht  nur  der  Gegensatz  der  weiten,  feierlichen  Toga  und  des  den 
Formen  des  Körpers  sich  anfügenden,  einfachen  Himations,  sondern 
auch  die  große  Verschiedenheit  der  ganzen  Erscheinung  des  würde- 
vollen, stolzen  Römers  und  des  leichtbeweglichen,  heiteren  Griechen, 
vor  allem  aber  der  Ausdruck  des  Römerkopfes,  der  vorwiegend  für 
das  praktische  Leben  Sinn  und  Verständnis  offenbart,  im  Vergleiche 
mit  den  feinen,  durchgeistigten  Zügen  des  Antlitzes  eines  Hellenen 
sind  wohl  geeignet,  die  bezeichnenden  und  unterscheidenden  Indi- 
vidualitäten der  beiden  großen  Nationen  des  Altertums  auch  durch 
die  monumentale  Kunst  zu  veranschaulichen. 


')  Ipsam  togam  rotundam  esse  et  apte  caesam  velim  („ich  möchte, 
daß  die  Toga  selbst  rund  und  passend  zugeschnitten  ist"). 

2)  Sinus  decentissimus,  si  aliquo  supra  imam  togam  fuerit,  nunquam 
certe  sit  inferior  („der  , sinus'  ist  am  schicklichsten,  wenn  er  ein  Stück 
oberhalb  des  untersten  Teiles  der  Toga  ist,  niemals  wenigstens  sei  er 
unterhalb  derselben").  (Für  das  handschriftlich  überlieferte  „togam"  ist 
in  den  Ausgaben  meist  „tunicam"  eingesetzt). 

3)  nie  (sinus),  qui  sub  umero  dextro  ad  sinistrum  oblique  ducitur 
velut  balteus.  nee  strangulet  nee  fluat  („jener  [der  sinus],  welcher  unter 
der  rechten  Schulter  zur  linken  in  schräger  Linie  wie  ein  Gurt  geführt 
wird,  soll  weder  spannen  noch  schlaff  herabhängen"). 

■•)  Sinistrum  bracchium  eo  usque  adlevandum  est,  ut  quasi  normalem 
illum  anguium  faciat  („der  linke  Arm  ist  so  weit  emporzuheben,  daß  er 
gewissermaßen  einen  rechten  Winkel  bildet"). 


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ist  im  Auftrage  des  K.  Bayer.  Staatsministeriums  für  Kirchen-  und 
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Furtwängler,  Adolf 
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