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DENKMÄLER
GRIECHISCHER UND
RÖMISCHER SKULPTUR
Im Auftrag des K. Bayer. Staatsmini steriums des Innern
für Kirchen- und Schulangelegenheiten
herausgegeben von
A.FURTWÄNGLER und H. L. URLICHS
HANDAUSGABE
Dritte stark vermehrte Aufläse
Mit 60 Tafeln und 73 Textabbildungen
F. BRUCKMANNA.-O./MÜNCHEN
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übersetzungsrecht vorbehalten
Copyright by F. Bruckmann A.-G. München 191 1
pq
i "1 ; :
Druck Tou F. Bruckmann A.-G., München
VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE
Die hier gegebene bequeme Handausgabe der soeben beendeten,
in großem Folioformate') publizierten Auswahl von „Denk-
mälern griechischer und römischer Skulptur" erscheint auf den
einstimmigen Wunsch einer sehr großen Anzahl von Leitern und
Lehrern höherer Unterrichtsanstalten in Deutschland, Österreich-
Ungarn und der Schweiz. Sie soll es ermöglichen, daß Lehrer und
Schüler jeder einzeln für sich in der Schule wie zu Hause den
ganzen Inhalt des großen Werkes bequem sich vergegenwärtigen
können.
Die Texterklärungen sind von den Verfassern von neuem
durchgesehen und verbessert, den fremdsprachlichen Zitaten Über-
setzungen beigefügt worden. Vor allem aber sind die Texte nach
kunsthistorischen wie sachlichen Gesichtspunkten geordnet und in
zehn verschiedene Gruppen verteilt worden. Jeder dieser Gruppen
wurde ein zusammenfassender neuer Text vorangestellt, der das
zerstreute Einzelne unter gemeinsamen größeren Gesichtspunkten
zu betrachten strebt. Es sollen diese Texte nicht den Ersatz einer
Kunstgeschichte bieten, der Charakter des ganzen Werkes als einer
Denkmälersammlung sollte durch sie nicht verändert werden ; allein
das einzelne Monument soll durch sie die Stelle angewiesen er-
halten, die ihm innerhalb der gesamten Entwicklung der antiken
Kunst zukommt. Da die ausgewählten Denkmäler alle Hauptepochen
vertreten, so gestalten sich diese Gruppentexte allerdings zugleich
zu einem Überblick über die ganze antike Kunstentwicklung und
über alle Hauptgattungen der alten Plastik.
Neuere Autoren zu zitieren ist grundsätzlich fast ganz ver-
mieden worden; nur antike Schriftsteller sind an geeigneten Stellen
herangezogen. Überall ist das Bedürfnis der Schule und das der
weiteren Kreise der Gebildeten im Auge behalten.
') Denkmäler griechischer und römischer Skulptur, Auswahl für den Schulgebrauch aus
der von Heinrich Brunn, Paul Arndt und Friedrich Bruckmann herausgegebenen Sammlung.
Im Auftrage des K. Bayer. Staatsministeriums des Innern für Kirchen- und Schulangelegen-
heiten veranstaltet und mit erläuternden Texten versehen von A, Furtwängler und H. L. Urlichs.
München 1895—1898. 5 Lieferungen.
IV VORWORT
Auch der bildliche Teil des Werkes ist in dieser Handaus-
gabe gegenüber der großen um einige Stücke vermehrt worden.
In die Arbeit haben sich die beiden Herausgeber nach ge-
meinsam festgestelltem Plane zu gleichen Teilen geteilt. Die ein-
zelnen Texte sind jeweils von ihren Verfassern besonders ge-
zeichnet.
München, im Juni 1898. A. Furtwängler. H. L. Urlichs.
VORWORT ZUR DRITTEN AUFLAGE
Das Ziel des in Illustrationen reich vermehrten, in Erläuterungen
vielfach veränderten und erweiterten Buches bleibt das näm-
liche wie früher: An vorsichtig und maßvoll ausgewählten Proben
wird das Verständnis für die Antike in ihrer historischen Entwick-
lung und ästhetischen Bedeutung durch Bild und Wort vermittelt.
Die eigenartigen Texte Furtwänglers, dessen jähen, frühzeitigen
Tod wir alle in immer gleich starkem Schmerze tieffühlend be-
klagen, wurden in pietätvoller Gesinnung genau revidiert, aber
nur möglichst wenig verändert, freilich an gar manchen Stellen
wesentlich vervollständigt. Der Widerspruch von Fachgenossen
gegenüber einzelnen subjektiven Meinungen des kühn genialen For-
schers ist kurz hervorgehoben. Zur Ergänzung der auch von mir
allein bearbeiteten Teile sind Furtwänglers andere Werke oft benützt
worden, für die äginetischen Skulpturen waren seine Publikationen
Hauptquelle; diese bleiben ein unvergängliches Denkmal von Energie
und Umsicht, von Glück und Kombinationsgabe, für alle Zeiten ein
stolzes Monument der hohen Bedeutung des großen Archäologen.
M ün che n, Ende April 1911. Heinrich Ludwig Urlichs.
Von A. Furtwängler sind in den beiden ersten Auflagen be-
arbeitet: Die Einleitungen zu den Gruppen I — IV, VI und die
Texte zu den jetzigen Tafeln 1, 2, 5, 7—9, U^-IS, 18, 19, 21,
22, 26, 28, 35—40, 43—45, 48, 49 und 56.
INHALTSVERZEICHNIS
Seite
I. Gruppe: Die altertümliche Kunst .... l
Tafel 1. Altertümlichejünglingsstatue von Tenea. München, Glyp-
tothek "^
2. Altertümliche Mädchenstatue. Athen, Akropollsmuseum . 4
Textfigur 1. Mädchen von der Akropolis, ebenda .... 6
,, 2. Kopf von Figur /.....,...■■.•• 7
3/4. Giebelgruppen des Aphaiatempels von Ägina. München,
Glyptothek 8
Textfigur 3. Ostgiebel des Aphaiatempds von Agina in
Wiederherstellung .... 8
„ 4. Kopf und Schulterten eines Knappen aus dem
Ostgiebel 13
5. Bogenschießender Herakles aus dem Ostgiebel 14
II. Gruppe: Götterbilder aus dem fünften Jahrhundert 16
Tafel 5. Athena Lemnia des Phidias. Marmorstatue. Dresden,
Albertinum ^°
Textfigur 6. Athena Lemnia nach der Ergänzung im Münch-
ner Gipsmuseum ■ 19
718. Kopf der Athena Lemnia. Bologna, Stadt.
Museum 20, 21
6. Athena Parthenos. Marmorstatuette. Athen, Zentralmuseum 23
Textfigur 9. Gemme des Aspasios. Wien, Kaiserl. Antiken-
sammlungen 24
7. Athena von Velletri. Kolossalstatue. Paris, Louvre ... 26
" Textfigur 10. Kopf der Athena von Velletri. Vorderansicht 27
11. „ „ „ n " Seitenansicht 27
8. Apoilon mit der Kithara. Kolossalstatue. München, Glyp
tothek
28
„ 9. Statue der Hera. Rom, Vatikan 30
10. Statue des Asklepios. Neapel, Museo Nazionale 32
Textfigur 12. Asklepios von Melos. London, British Museum 34
„ 11. Dioskur vom Monte Cavallo zu Rom • • • 36
Textfigur 13 und 14. Die beiden Dioskuren vom Monte
Cavallo. Seitenansichten 38, 39
15. Kopf eines der Dioskuren 40
„ 12. Nike" des Paionios in Olympia, ergänzt') 41
III. Gruppe: Andere Skulpturen des fünften Jahrhunderts 44
Tafel 13. Die Eleusinischen Gottheiten. Marmorrelief. Athen, Zentral-
museum '*^
14, Orpheus und Eurydike. Marmorrelief. Neapel, Museo Na-
zionale
48
15. Medusa. Marmormaske. München, Glyptothek 51
16/17. Reliefs vom Parthenonfries. Athen und London ■ • . 52
Textfigur 16. Kopf des „Apollo" . " • • 53
„ 17. Jünglingskopf vom Westfries 55
18. Oberkörper des Reiters mit bäumendem Pferd 57
•) Nach einer Photographie aus dem Verlage von Ernst Wasmuth in Berlin.
VI INHALTSVERZEICHNIS
Seite
Tafel 18. Gruppe von drei weiblichen Statuen aus dem Ostgiebel
des Parthenon. London, British Museum 58
„ 19, Liegende männliche Statue aus dem Ostgiebel des Par-
thenon. London, British Museum . 61
„ 20. Statue eines Mädchens von der Korenhalle des Erech-
theions zu Athen. London, British Museum 63
IV. Gruppe: Skulpturen aus dem vierten Jahrhundert:
Götterbilder, Jäger mit Hund 66
Tafel 21. Eirene mit dem Kinde Plutos. München, Glyptothek . . 68
„ 22. Statue der Demeter von Knidos. London, British Museum 70
Textfigur 19. Kopf der Demeter von Knidos. Nach dem
ergänzten Abguß 71
„ 23. Ruhender Ares. Rom, Thermenmuseum 72
Textfigur 20. Kopf des Ares Ludovisi 74
„ 24. Kopf des Hermes aus der Gruppe des Hermes und
des Dionysosknäbleins. Marmorgruppe. Olympia ... 75
Textfigur 21. Statue des Hermes. Olympia 76
„ 25. Marmorkopf der Aphrodite. Berlin, Sammlung von Kauf-
mann. Vorder- und Seitenansicht 78
Textfigur 22. Mädchenkopf praxitelischer Zeit. München,
Glyptothek 79
„ 26. Marmorbüste aus Eleusis. Athen, Zentralmuseum .... 80
„ 27. Zeus von Otricoli. Rom, Vatikan . 82
Textfigur 23. Marmorkopf des Zeus., Boston, Museum of
Fine Arts . • 83
„ 24. 25. Zeus. Boston. Nach ergänztem Abguß.
Vorderansicht. Seitenansicht 84, 85
„ 28. Der Apoll vom Belvedere. Rom, Vatikan 86
Textfigur 26. Kopf des Apolls vom Belvedere 88
„ 29. Artemis von Versailles. Paris, Louvre 89
„ 30. Melpomene. Marmorstatue. Rom, Vatikan 91
„ 31. Hypnos. Bronzekopf. London, British Museum 94
Textfigur 27. Hypnos, Marmorstatue. Madrid, MuseodelPrado 96
„ 28. Hypnos. Abguß in Ergänzung. Straßburg . 97
„ 32. Jäger mit Hund. ') Marmorstatue. Kopenhagen, Glyptothek
Ny-Carlsberg . 98
Textfigur 29. Kopf eines Jägers. Marmor. Rom, Villa Medici 99
V. Gruppe: Griechische Athletenstatuen lOi
Tafel 33. Diskobol nach der Bronzestatue des Myron in Ergänzung.
Rom, Thermenmuseum 105
Textfigur 30,31. Bronzekopf. München, Glyptothek. Seiten-
ansicht. Vorderansicht ....-■■. 102, 103
„ 32. Kopf vom Diskobol des Myron 104
„ 33. Diadumenos nach Polyklet. Marmorstatue
aus Delos. Athen, Zentralmuseum .... 105
„ 34. Bronzestatue eines Faustkämpfers. Rom,
Thermenmuseum 106
') Nach einer Photographie von V. Tryde, Kopenhagen.
INHALTSVERZEICHNIS VII
Seite
Tafel 34. Apoxyomenos. Marmorstatue nach Lysipp. Rom, Vatikan 107
Textfigur 35. Kopf des Apoxyomenos 109
VI. Gruppe: Grabmalen in
Tafel 35 36. Zwei Grabreliefs in Athen 113
Textfigur 36 Trauernde Dienerin, Berlin, K. Museen . . 115
„ 37/39. Der sogenannte Alexandersarkophag von Sidon. Kon-
stantinopel, Kaiserlich Ottomanisches Museum 116
Textfigur 37. Perserkopf 117
„ 38139. Kopf Alexanders d. Gr. ...... 1 18, 119
„ 40. Perserkopf 121
„ 41. Kampfgruppe von der Vorderseite des Ale-
xandersarkophags ... 122
42. Perserkopf 123
„ 43. Makedonenkopf 124
VII. Gruppe: Statuarische Gruppen 129
Tafel 40. Niobe. Marmorgruppe. Florenz, Offizien 131
Textfigur 44. Kopf der Niobe 133
„ 41. Rettung der Leiche des Patroklos durch Menelaos. Mar-
morgruppe in der Loggia dei Lanzi, Florenz 134
„ 42. Laokoongruppe. Rom, Vatikan 137
Textfigur45. Laokoongruppe. Ergänzung. Dresden, Albertinum 138
Textfigur 46. Kopf des Laokoon 141
„ 43. Odysseus. Kopf der Marmorstatue. Venedig, Dogenpalast.
Vorder- und Seitenansicht 142
Textfigur 47. Marmorstatue des Odysseus 143
„ 44. Orestes und Elektra. Marmorgruppe des Künstlers Mene-
laos. Rom, Thermenmuseum 146
VIII. Hellenistische Kunst 150
Textfigur 48. Nike von Samothrake. Paris, Louvre ... 151
„ 49. Marmorkopfeines Barbaren. Brüssel, Musee
Royal 152
„ 50, Marmorrelief mit ländlicher Szene. München,
Glyptothek 153
,, 51. Bronzekopf eines jugendlichen Satyrs. Mün-
chen, Glyptothek 154
Tafel 45. Der Nil. Kolossale Marmorstatue. Rom, Vatikan . . . 155
„ 46. Sterbender Gallier. Marmorstatue. Rom, Kapitolinisches
Museum 157
Textfigur 52. Kopf des sterbenden Galliers ....... 158
„ 53. Kopf des Galaters aus der Marmorgruppe ,, Der
Galater und sein Weib", Rom, Thermenmuseum 159
IX. Gruppe: Historische Kunst der Römer i6i
Textfigur 54, Marmorrelief vom Trajansbogen in Benevent.
Darbringung eines Opfers durch den Kaiser 162
„ 55. Marmorrelief von der Trajanssäule in Rom.
Sturm einer dakischen Abteilung gegen eine
römische Festung 163
VIII INHALTSVERZEICHNIS
Seite
Textfigur 56. Sauopfer, den Penaten dargebracht. Relief
von der Ära Pacis. Rom, Thermenmuseum 164
Tafel 47. Statue einer trauernden Barbarin. Florenz, Loggia dei Lanzi 166
48/49. Reliefs der Marcussäule zu Rom, Piazza Colonna . . 168
X. Gruppe: Griechische und römische Porträts 172
Textfigur 57. Altrömer. Marmorkopf. München, Glyptothek 172
„ 58. Plato. Hermenbüste. Rom, Vatikan . . . 173
„ 59. Hellenistischer Feldherr oder Fürst. Kopf der
Bronzestatue. Rom, Thermenmuseum ... 174
„ 60. Hellenistischer Fürst, Antiochus HI. von
Syrien genannt. Marmorkopf. Paris, Louvre 175
„ 61. Büste aus grünem Basalt, Cäsar benannt.
Berlin, K. Museen 176
„ 62. Terrakottakopf eines Altrömers. Boston, Mu-
seum of Fine Arts 177
„ 63. Marmorkopf der jüngeren Agrippina. Kopen-
hagen, Glyptothek Ny-Carlsberg 178
„ 64. Antoninus Pius. Marmorbüste. Neapel, Museo
Nazionale 179
„ 65. Marmorbüste des Caracalla. Berlin, K. Museen 180
„ 66. Bronzekopf des Kaisers Maximinus Thrax.
München, Antiquarium 181
„ 67. Marmorkopf einer Römerin. Kopenhagen,
Glyptothek Ny-Carlsberg 182
Tafel 50. Perikles. Hermenbüste. London, British Museum . . . 183
„ 51. Sophokles. Marmofstatue. Rom, Lateran 185
Textfigur 68. Kopf der Marmorstatue des Sophokles . . . 187
Tafel 52. Euripides. Hermenbüste. Neapel, Museo Nazionale . . 188
„ 53. Sokrates. Hermenbüste. Rom, Villa Albani ...... 190
Textfigur 69. Marmorbüste des Sokrates. Neapel, Museo
Nazionale 192
„ 54. Kopf der Marmorstatue Alexanders des Großen. München,
Glyptothek 194
Textfigur 70. Marmorstatue Alexanders des Großen . . . 195
„ 55. Demosthenes. Marmorstatue. Rom, Vatikan 197
Textfigur 71. Demosthenes. Marmorkopf. Kopenhagen,
Glyptothek Ny-Carlsberg . 198
„ 56. Homer. Marmorherme. Schwerin, Großh. Bibliothek . 199
Textfigur 72. Kopf des Homer. Marmor. Rom, Vatikan 201
,, vS7. Zwei römische Porträts: Büste des Agrippa in Paris, Louvre,
und Bronzekopfeines Unbekannten in Rom, Konservatoren-
palast 202
„ 58. Augustus. Bemalte Marmorstatue. Rom, Vatikan .... 205
Textfigur 73. Reliefs vom Panzer der Augustusstatue . . 2Ü7
„ 59. Marmorstatue einer Frau aus Herkulaneum. Dresden,
Albertinum 209
„ 60. Römischer Bürger, mit der Toga bekleidet. Marmorstatue.
London, British Museum . 212
I. DIE ALTERTÜMLICHE KUNST
L)ie Kunst hat in Griechenland schon im zweiten Jahr-
tausend V. Chr. sich zu hoher Blüte entfaltet. Es war dies die
Periode der sogenannten mykenischen Kultur mit ihren glänzenden
Palästen, den bunten, von Goldschmuck bedeckten Gewändern,
prachtvollen Waffen, reich in Relief und Malerei geschmückten
Geräten und Gefäßen. Die Erinnerung an diese Epoche lebte im
Heldengesange der Griechen fort.
Allein wie kunstreich und schmuckvoll man in jener Heroen-
zeit die Umgebung zu gestalten wußte, die große monumentale
Skulptur befand sich noch in ihren Anfängen. Und auch diese
verkümmerten, als die dorische Wanderung zunächst einen all-
gemeinen Rückgang der Kultur zur Folge hatte.
Erst langsam und allmählich begann im Laufe des siebenten
Jahrhunderts v. Chr. sich eine monumentale Plastik in Griechen-
land zu entwickeln. Es geschah dies indes nicht ganz aus eigener
Kraft, sondern mit Anregung aus der Fremde, nach auswärtigen
Vorbildern. Die Verbindungen der lonier mit dem kleinasiatischen
Hinterlande und namentlich die Kenntnis Ägyptens wirkten be-
fruchtend. Für die ruhig stehende Einzelfigur entlehnte man das
Schema einfach aus der ägyptischen Kunst, und auch in der ein-
zelnen Formgebung hatte diese anfangs großen Einfluß. Doch
rasch bahnte sich der griechische Geist seine eigenen Wege; er
brachte individuelles Leben zum Ausdruck und überwand das ab-
strakte, tote Schema.
Ein vorzügliches Werk, an dem man die übernommenen Grund-
Denkmäler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl. 1
2 DIE ALTERTÜMLICHE KUNST
züge des ägyptischen Vorbildes ebenso wie die Eigenart des leben-
digen griechischen Geistes erkennt, ist die Statue Tafel 1.
Sie ist schon in dem schönen Marmor der Insel Faros ge-
arbeitet, der für monumentale Skulpturen erst gegen Ende des
siebenten Jahrhunderts benutzt zu werden begann. Die älteren
griechischen Skulpturen bestanden in der Regel aus Holz oder
geringeren Kalksteinarten, die man im Altertum gewöhnlich
„Porös" nannte. Die Marmorskulptur entwickelte sich zuerst
auf den marmorreichen Inseln Naxos und Faros. Erstere Insel
ging voran, allein ihr Material ist das gröbere, und der unendlich
schönere parische Marmor ward mit der Zeit natürlich bevor-
zugt und verdrängte jenen. Er gewann große Verbreitung; auch
in Attika sind fast alle altertümlichen Skulpturen, die nicht aus
heimischem Kalkstein gefertigt sind, aus jenem parischen Marmor
gearbeitet. Der schöne Marmor des Fentelikon bei Athen ward
erst seit dem fünften Jahrhundert für die Skulptur ausgebeutet.
Neben der monumentalen Steinplastik entwickelte sich der
Bronzeguß größerer Statuen. Samische Künstler scheinen den
Hohlguß in Ägypten gelernt und nach Griechenland übertragen
zu haben. Doch erst gegen Ende des sechsten Jahrhunderts
kommt der monumentale Bronzeguß zu voller Entwicklung und
wird von nun an die vornehmste Technik für die Einzelfiguren.
Die altertümliche monumentale Flastik hat menschliche Figuren
als Denkmäler für die Gräber sowohl wie als Weihgeschenke für
die Heiligtümer gearbeitet; sie hat aber auch Götter und Heroen
gebildet, sei es als Tempelbilder, sei es als Votivgaben in den
Heiligtümern. Und auch Tierfiguren wurden nicht selten als Weih-
geschenke sowie für Grabmäler gearbeitet. Eine Grabstatue ist
Tafel 1, ein Weihgeschenk aus einem Heiligtum Tafel 2 sowie Figur L
Die dekorative Flastik hatte die schönsten Aufgaben an den
Tempeln zu erfüllen, die seit dem Ende des siebenten Jahr-
hunderts aus gewaltigen Steinblöcken errichtet zu werden pflegten,
während man sich in älterer Zeit mit Holz- und Lehmwänden be-
gnügt hatte. Sowohl die Metopen als die Giebel der Tempel und
zuweilen die Friese wurden nun mit Steinskulpturen bedeckt. Aus
parischem Marmor bestehen die Giebelfiguren des Aphaiatempels
von Ägina (Tafel 3/4 und Fig. 4 u. 5),der köstlichste Schatz des reifen
Archaismus, gleich ausgezeichnet durch sorgfältige Wiedergabe
der Natur und rhythmische Bewegung in den Einzelgestalten und
Gruppen sowie durch das frische Leben der ganzen Komposition.
ALTERTUMLICHE JÜNGLINGSSTATUE
VON TENEA
MÜNCHEN, GLYPTOTHEK
JÜNGLINGSSTATUE VON TENEA
TAFEL 1
ALTERTÜMLICHE JÜNGLINGSSTATUE
VON TENEA
MÜNCHEN, GLYPTOTHEK.
Die etwa r'2 Meter hohe Statue wurde 184C in der Nähe von
Korinth an der Stelle des alten Tenea gefunden und 1853 für die
Glyptothek erworben.
Sie besteht aus großkörnigem, parischem Marmor. Bei der
Auffindung waren die Arme und Beine in mehrere Stücke ge-
brochen; nur der mittlere Teil des rechten Armes fehlte und ist
daher ergänzt worden. Im übrigen ist die Figur vorzüglich erhalten;
namentlich ist auch der Kopf, der durch ein übergestülptes Ton-
gefäß geschützt gefunden wurde, glücklicherweise ganz unversehrt.
Dargestellt ist ein unbekleideter Jüngling in steifer, straffer
Haltung. Das Gewicht des Körpers ruht auf beiden Füßen; der
linke ist etwas vorgesetzt; beide berühren den Boden mit voller
Sohle. Die Arme hängen völlig symmetrisch an beiden Seiten
gerade herab, und beide Hände sind in gleicher Weise gekrümmt,
so daß der Daumen nach vorn zu stehen kommt. Die Haare sind
lang und fallen in breiter Masse auf den Rücken herab. Sie sind
nur in einfachen Wellen gegliedert. Sie waren ohne Zweifel eben-
so wie Augäpfel und Lippen einst bemalt. Ein schmückendes
Band, das ursprünglich auch farbig war, umgibt den Kopf.
Die Statue wird gewöhnlich als „Apoll von Tenea" bezeich-
net. Es ist richtig, daß der vorliegende Typus einer jugendlichen
männlichen Figur von der altgriechischen Kunst für den Gott Apollon
verwendet worden ist. Allein er ist ebensowohl auch zur Dar-
stellung von Heroen und Menschen benutzt worden. In unserem
Falle sprechen nun die Umstände der Auffindung entschieden da-
für, daß die Statue einen Verstorbenen darstellte. Sie ward nämlich
in der Nekropole von Tenea auf einem Grabe gefunden. Der Ver-
storbene ist aber nicht in der Tracht des Lebens, sondern in idealer,
unbekleideter Gestalt wie ein höheres Wesen, ein Heros dargestellt.
Alle wesentlichen Züge des Schemas, welches die Statue zeigt,
sind — mit Ausnahme der völligen Nacktheit — von der ägyp-
tischen Kunst entlehnt; die damaligen Erstversuche monumentaler
Statuen bei den Griechen benützten ägyptische Vorbilder. Die
Durchbildung im einzelnen jedoch ist rein griechisch und von der
1»
4 DIE ALTERTUMLICHE KUNST
bei den Ägyptern üblichen Art sehr verschieden. Der Jüngling ist
nicht bloß steif hingestellt wie die gleichartigen Figuren bei den Ägyp-
tern, sondern steht, voll von eigenster innerer Energie, mit stramm
durchgedrückten Knien da, und aus dem Kopfe leuchtet schon,
im Gegensatze zu dem stumpfen Ausdruck bei den Ägyptern, ein
Strahl jenes freien lebendigen Menschentums, das sich in Griechen-
land so herrlich entwickeln sollte. Das steife Lächeln an diesem
Jüngling von Tenea ist der erste Vorbote einer künftigen Fülle
individuellen geistigen Ausdrucks in der griechischen Kunst.
In der Bildung des Körpers sind die Beine der am meisten
gelungene Teil. Die feinen Gelenke, die Knöchel und Knie, die
zierlichen Füße, die straffen, fleischigen, von den knochigen Teilen
deutlich geschiedenen Muskeln sind schon überraschend richtig ge-
geben. Viel unvollkommener sind Brust und Bauch gebildet; doch
zeigt sich auch hier, dem ägyptischen Vorbild gegenüber, ein
durchaus selbständiges Streben und eigenes Beobachten der Natur.
So ist der Brustkorb wesentlich richtiger gegeben als im ägyptischen
Typus und an einigen ihm genauer folgenden älteren griechischen
Werken.
Das Ideal, welches dem Künstler vorschwebte, ist das eines
straffen, athletisch gebildeten Jünglings mit kräftiger Brust und
feinen gelenkigen Gliedern, frei von allem Weichlichen und Vollen.
Das Werk ist etwa gegen Ende des siebenten oder um den
Anfang des sechsten Jahrhunderts v. Chr. entstanden und aller
Wahrscheinlichkeit nach ein vorzügliches Erzeugnis der zu jener
Zeit in der Gegend von Tenea (in Kleonä, Argos, Korinth, Sikyon)
tätigen Künstler Dipoinos und Skyllis oder ihrer Schule. Es ist
bei weitem das schönste erhaltene Exemplar einer in neuerer Zeit
nicht mehr seltenen Gattung von altertümlichen Steinskulpturen,
die am Anfang der Entwicklung monumentaler Plastik in Griechen-
land stehen.
TAFEL 2
ALTERTÜMLICHE MÄDCHENSTATUE
ATHEN, AKROPOLISMUSEUM.
Auf der Akropolis zu Athen wurde in den achtziger Jahren
des vergangenen Jahrhunderts innerhalb des sogenannten Perser-
schuttes, d. h. des durch die Einäscherung der Burg um 480 v, Chr.
ALTERTÜMLICHE MADCHENSTATUE
ATHEN, AKROPOLISMUSEUM
ALTERTUMLICHE MADCHENSTATUE 5
entstandenen Schuttes eine ganze Anzahl ahertümlicher Mädchen-
statuen gefunden, die in feinem parischen Marmor gearbeitet sind
und zum Teil noch ihren ursprünglichen Farbenschmuck erhalten
haben.
Eines der vorzüglichsten Stücke dieses Fundes gibt die Tafel 2
wieder. Die Statue wurde 1886 in drei getrennten Teilen nord-
westlich vom Erechtheion gefunden. Sie ist ein weniges unter
Lebensgröße.
Das Mädchen steht nach ganz altertümlicher Weise mit ge-
schlossenen Beinen da. Der rechte Arm hängt mit geschlossener
Faust in derselben ägyptischem Vorbilde folgenden Weise herab,
wie bei der vorigen Figur des Jünglings Tafel 1. Der linke
Unterarm war horizontal vorgestreckt und besonders angesetzt;
er ist nicht gefunden worden. Die Gewandung besteht aus einem
ionischen linnenen Unterchiton, der nur unten in welligen Linien
zum Vorschein kommt. Darüber ist der dorische wollene Peplos
gezogen, der auf beiden Schultern zusammengesteckt ist. Er wird
von einem Gürtel umschlossen, dessen beide Enden vorne herab-
fallen ; vorne und hinten zeigt der Peplos einen bis gegen den
Gürtel reichenden Überfall. Nur an den Oberarmen und an den
beiden Nebenseiten vom Gürtel abwärts ist der Peplos in spär-
liche, knappe Falten gelegt; die große Masse des Gewandes ist
völlig faltenlos gebildet.
Diese Faltenlosigkeit des Gewandes, ebenso wie die Stellung
mit geschlossenen Beinen, gehört der Typik der älterarchaischen
Kunst an. Dagegen überrascht der Kopf durch die außerordent-
liche Lebendigkeit des Ausdrucks und die Feinheit der Aus-
führung. Die Statue ist wesentlich jünger als der Jüngling Tafel 1;
die Gesichtsformen und die Bildung der Haare sind von bedeutend
entwickelterer Art. Der Künstler hätte, wenn er gewollt hätte,
ebenso wie andere seiner Zeitgenossen reiche Falten und eine be-
wegtere Stellung bilden können; er folgte in Gewand und Stellung
absichtlich einer gewissen älteren Tradition. Die Wirkung, die er
erzielte, ist in der Tat eine mächtige; der Kontrast, welchen die
starre Haltung und die glatte Fläche des Körpers mit dem leben-
sprühenden Kopfe bilden, wirkt überaus fesselnd und macht diese
Figur zu der anziehendsten unter allen ihren Genossinnen auf der
Akropolls.
Das Haar fällt ganz offen und lose auf die Schultern und
weit im Rücken herab; es entbehrt jeder künstlichen Anordnung.
Ein schlichtes, gerades Band liegt darin. Wohl erhalten ist die
rote Färbung des Haares; auch die Iris der Augen ist rot. Am
Gewände sind feine Ornamente mit roter und grüner Farbe auf-
DIE ALTERTÜMLICHE KUNST
Fig. 1. Mädchen von der
Akropolis
gemalt; vom Gürtel abwärts laufen
drei breite Ornamentstreifen ; der
Saum unten ebenso wie der Saum
des Überfalles zeigen sehr zierliches
Ornament. Die Masse des Ge-
wandes aber ist ebenso wie alles
Fleisch einfach weiß gelassen.
Als Probe einer aus derselben
Zeit, aber aus einer ganz verschie-
denen Stilrichtung stammenden Figur
desselben Fundes von der Akropolis
geben wir eine zweite Statue (Fig. 1),
die bisher nur im Oberteil zusam-
mengesetzt war und erst jüngst durch
glückliche Angliederung anderer
erhaltener Stücke vervollständigt
wurde. Nun erscheint die Figur,
die das linke Bein vorsetzt und das
in reiche Falten gebrochene Gewand
mit der Linken emporzog, in Be-
wegung und Kleidung erst recht
von dem Typus unserer Tafel
völlig verschieden. Schlank, elegant,
wie verjüngt steht sie da, freilich ist
die Stellung der Füße noch unbe-
holfen, sie will in schwachem Ver-
such das Gehmotiv zum Ausdruck
bringen. Die stark und mannigfach
geschwungenen Faltenzüge des eng-
anliegenden Gewandes sind eingra-
viert und lassen die Formen der
Beine deutlich durchblicken. Ur-
sprüngliche Bemalung hat die jetzt
leer erscheinende Fläche belebt.
Die vorgehaltene Rechte hielt höchst
wahrscheinlich eine Frucht. Das
reichgeschmückte Mädchen trägt
über dem ionischen Chiton ein
schräg über die Brust gelegtes,
auf der rechten Schulter zusam-
mengeknüpftes Obergewand mit
reich gefälteltem Überfall. Den
Kopf (Fig. 2) mit den zierlich ge-
ALTERTÜMLICHE MADCHENSTATUE
lockten Haaren schmückt ein
Diadem '). Der Ausdruck des
Gesichtes mit den vollen, sinn-
lichen Lippen ist besonders
freundlich. Die Säume des Ge-
wandes sind wie bei der Statue
auf Tafel 2 mit farbigem Orna-
mente geziert.
Die eigentliche Heimat der
Kunstrichtung dieser Figur ist
ohne Zweifel lonien, und zwar
Kleinasien und besonders die
Insel Chics, während der Stil
jener anderen Statue (Tafel 2)
mehr auf einzelnen Inseln, wie
Naxos, sowie im Peloponnes
erwachsen sein wird.
Beide Statuen sind kaum
vor dem letzten Viertel des
sechsten Jahrhunderts entstanden
zudenken. Einen anderen Namen
als „Mädchen", xöpcti, können
wir ihnen nicht geben; es sind
nicht Göttinnen, sondern nur der Göttin Athena geweihte Mädchen-
bilder. Sie gehören zu dem Köstlichsten, das uns die archaische
Kunst hinterlassen hat.
Fig. 2. Kopf von Fig. 1
') Oben im Scheitel steckt ein langer, spitzer Metalinagel zur Abwehr der
Vögel von der im Freien aufgestellten Figur. Vgl. auch Horaz Satiren 1, 8,3 — 7.
DIE ALTERTÜMLICHE KUNST
Fig. 3. Ostgiebel des Aphaiatempels von Ägina in Wiederherstellung
TAFEL 3/4
GIEBELGRUPPEN
DES APHAIATEMPELS VON ÄGINA
MÜNCHEN, GLYPTOTHEK.
Durch gnädige Fügung des Geschicks sind die unter dem
Namen „Ägineten" weltberühmten Skulpturen verhältnismäßig gut
erhalten geblieben: auf der Athen gegenüberliegenden Insel Ägina
erhebt sich ein Tempel, fern von größeren Siedelungen in stiller
Einsamkeit auf waldiger Höhe gelegen. Gerade vor 100 Jahren
haben zwei Architekten, der Engländer Cockerell und der Nürn-
berger Haller von Hallerstein, die von edler Begeisterung für die
Antike und von jugendlich romantischen Gefühlen beseelt waren, aus
den unberührten Trümmern des Tempels die aus feinem parischen
Marmor hergestellten Statuen herausgeholt, unter dem huldvollen
Schutz von Athena Ergane. Die Erwerbung bei bedenklich drohender,
OSTGIEBEL DES APHAIATEMP
WESTGIEBEL DES APHAIATEMI
GEFALLENER AUS DER RECHTEN ECKE
DES WESTGIEBELS
MÜNCHEN. GLYPTOTHEK
F. ERUCKMANN
TAFEL 3/4
^Si.!
■.LS VON ÄGINA IN ERGÄNZUNG
'■^•'•^
ELS VON AGINA IN ERGÄNZUNG
GEFALLENER AUS DER LINKEN ECKE
DES OSTGIEBELS
MÜNCHEN. GLYPTOTHEK
DIE GIEBELGRUPPEN VON ÄGINA 9
drängender Konkurrenz, der Transport von Malta aus durch Meeres-
stürme und Seeräubergefahren hindurch bis zur Landung bei Neapel,
der Landweg von da nach Rom, das liest sich wie eine moderne
Odyssee. Die Bergung ist das Werk des Bildhauers Martin von
Wagner, des tatkräftigen und zähen Agenten von Kronprinz Lud-
wig von Bayern '). Jene beiden Entdecker, die in engem Freund-
schaftsbunde edle Ziele gemeinsam ins Auge faßten, bleiben dem
Nachwuchs für immer ein leuchtendes Vorbild idealen Strebens
und ein stets gleich stark wirkender Sporn zur Nachahmung. Vor
allem gebührt die Ehre dem kunstsinnigen Fürsten, der gleich nach
der Auffindung den hohen Wert der Ägineten erkannt und deren
Kauf veranlaßt hat. Denn sie bildeten seit der 1828 in der Münchner
Glyptothek erfolgten Aufstellung bis zum heutigen Tag ein sehr
wichtiges Muster reifarchaischer Kunst und vermittelten zwei
Generationen die allerdings oft nur äußerliche Kenntnis jenes Stils;
das „äginetische Lächeln", das ist der liebevolle Ausdruck der
Gefühle, gewann unter den Laien infolge Verkennung der Absicht
oft fast komische Bedeutung. Erst 90 Jahre nach der Auffindung
wurde der Tempelbezirk unter Furtwänglers energischer und um-
sichtiger Leitung methodisch durchforscht; auf Grund neuer Funde
und erneuter Durcharbeitung des alten Materials ist die unserer
Darlegung zugrunde gelegte Rekonstruktion bewerkstelligt worden.
Die Modelle -) von ein Fünftel natürlicher Größe erregen in der
Glyptothek auch durch die Wiederherstellung der reichen Bemalung
lebhaftes Interesse weiter Kreise. Neben der harmonischen Ge-
schlossenheit und dem rhythmischen Wechsel beider Giebelkompo-
sitionen sehen die Originale, auseinandergerissene und lückenhafte
Teile des Ganzen, gar öde und langweilig aus. Deren Ergänzung
wurde in Rom unter Thorwaldsens Leitung nach damaliger Sitte
ohne pietätvolle Schonung des Erhaltenen in Marmor ausgeführt.
Auch der Name des Tempels ward durch die bayerischen Gra-
M Er drückt nach dem 1813 glücklich erreichten Kauf des kost-
baren Schatzes den freudig gestimmten Dank brieflich aus in den charak-
teristischen Worten: „Wie Odysseus, viel geduldet haben Sie, Wagner,
und das wegen meiner, dessen ich mein ganzes Leben eingedenk seyn
werde". Das gleichzeitige Geschenk, eine goldene Uhr, zeigt auf der Rück-
seite ein „L" mit der Umschrift des leicht geänderten Verses von Vergil
Aeneis I, 204: Post varios casus, post tot discrimina rerum. („Nach
mannigfachen Wechselfällen, nach so vielen Gefahren".)
-) Figur 3 bietet die Ostfront in Ergänzung dar: Sechs Säulen, als
Akroterien in der Mitte die feingeformte Palmette mit zwei Mädchenge-
staltcn, an den Ecken je ein Greif. Die Metopen, von denen man keine
Spur gefunden hat, bestanden vielleicht nur aus bemalten Holzplatten.
Das Ganze ist eine treffliche Probe der streng regelmäßigen dorischen Bau-
art in ernstem, gedrungenem Stil.
10 DIE ALTERTUMLICHE KUNST
bungen festgestellt; das Heiligtum, früher fälschlich dem Zeus Pan-
hellenios, später scheinbar mit etwas mehr Berechtigung der Athena
zugesprochen, ist jetzt durch einen Inschriftfund als Tempel der
Aphaia erwiesen. Der Kult der auf dem Eiland hochverehrten
Lokalgöttin war in der Frühzeit Griechenlands, schon im zweiten
vorchristlichen Jahrtausend von kretischen Siedlern aus der Heimat
dort eingeführt worden; der nunmehr auf Ägina heimischen Aphaia
ward zwischen 490 — 480 v. Chr. ein neues Haus gebaut. Auf diese
Zeit führt der Stil von Architektur und Plastik; bestimmtere Datie-
rung war bisher nicht möglich.
Wir wenden uns nun der Betrachtung der Skulpturen zu und
beginnen mit der Komposition. Gleich der erste, leicht gewon-
nene Eindruck lehrt, daß die Statuen vortrefflich in dem von der
Mitte nach den Seiten schräg abfallenden Räume dastehen, in archi-
tektonischer Regelmäßigkeit den Giebeln sich eingliedern, doch
keine starren Gebilde darstellen, vielmehr die Vorstellung frischen
Lebens wecken. Dadurch ist die schwierige Aufgabe der Aus-
füllung des enggeschlossenen Rahmens gelöst. Doch auch inner-
halb der Giebelfronten haben die Künstler für reichen Wechsel in
Inhalt und Gruppierung, in Waffen und Kleidung gesorgt. Ins-
besondere vermeidet der deutlich erkennbare Kontrast der zwei
Szenen im allgemeinen die allzu leicht mögliche Eintönigkeit. Beide-
male weilt die Kriegsgöttin unter ihren Helden, einmal in ruhiger
Situation, nur durch die Fußstellung als gehend gedacht, das zweite-
mal stürmt sie, die Agis weit ausbreitend, dahin. Sie bildet in
der Mitte den festen Punkt und wahrt dadurch strenge Symmetrie
des Ganzen. Am Westgiebel schließt sich je ein trefflich kompo-
nierter Dreiverein von Kämpfern an ; nach altüberliefertem Schema
streiten zwei Helden über einem Unterlegenen. Darauf folgen je
zwei Angreifer, gegen einen Verwundeten gerichtet. Gerade in
diesen Daliegenden, sowie in dem Schild und Helm an den Ecken
scheint das allmähliche Austoben der lauten Schlacht zu größerer
Ruhe symbolisch angedeutet und zugleich die vom architektonischen
Standpunkt aus schwierige Ausfüllung jener Teile gelungen.
Zwar ebenfalls regelmäßig, doch weit mannigfaltiger und geist-
reicher präsentiert sich die Ostfront: mehr Lösung statt Verknüp-
fung, viel bunter Wechsel der Bewegung, fast ein elastisches Hoch-
und Niederfluten der Glieder, den Meereswogen vergleichbar. Die
Gruppen zu beiden Seiten der Göttin sind aus vier Figuren zu-
sammengestellt: einem Niedersinkenden wird vom Sieger der Todes-
stoß versetzt, ein Knappe eilt zu Hilfe, ein Bogenschütze zielt
auf den siegesgewissen Gegner: edle Heldentreue in schlichter
Form. Und wiederum klingt das hitzige Gefecht sanft aus: zwei
DIE GIEBELGRUPPEN VON ÄGINA 11
Schwerverwundete hauchen fern vom Getümmel ihr Leben aus,
Waffen beschließen das Ganze.
Gerade in dieser ebenso einfachen wie sinnreichen Raumaus-
füllung, dem glücklichen Ergebnis reiflicher Überlegung, besteht
das erste hohe Verdienst der Künstler. Im einzelnen ist jeder
Teil besonderer Würdigung wert. Die Hauptgruppen für sich ge-
nommen erscheinen als wohl gelungene Bildungen. Und weiter,
der Gegensatz von Aktion und Ruhe, der Kontrast von Nacktheit
und Bekleidung, die Verschiedenheit von Wehr und Waffen, alles
erregt Aufmerksamkeit und Interesse. Liegende, Kniende, nach
rückwärts Sinkende, vorwärts Stürmende, Beispringende zu be-
trachten bietet immer neue Reize; jeder in seiner Art ist in Stel-
lung und Bewegung eine achtenswerte Leistung, am kühnsten er-
scheint das Wagnis der großartig gelungenen Wiedergabe der zu-
rücksinkenden Helden in voller Rundplastik. Und überblickt man
wieder das Ganze, so glaubt man sich versetzt in den männermor-
denden Kampf um Troja und in manchen Betrachters Phantasie
gewinnen einzelne Episoden, einzelne Verse der Ilias plastische
Verkörperung, noch lebensvoller, wenn man vor den bunt bemalten ')
Modellen steht. Aber nicht etwa bestimmte Szenen werden illu-
striert, vielmehr ist das lange, abwechslungsreiche Ringen um die
starke Feste in zwei Darstellungen gewissermaßen typisch wieder-
gegeben. Und diese umfassende Vorstellung wird durch geringe
Mittel erzielt, durch elf bzw. dreizehn Gestalten. Um Troja spielen
sich die Vorgänge ab. Das durfte man wohl gemäß dem kriege-
rischen Inhalt von vornherein für wahrscheinlich erachten, erwiesen
wird es durch die vorletzte Figur rechts vom Ostgiebel (auch ab-
gebildet Fig. 5): Herakles ist kenntlich an dem vorne am Helm
sichtbaren Löwenoberkopf, der einen Teil dieser Bedeckung des
Hauptes bildet; er zog im Bunde mit den Agineten, mit dem Äakiden
Telamon gegen den Troerfürsten Laomedon. Nun kann sich der
rückwärtige Giebel nur auf die spätere berühmtere Expedition be-
ziehen, woran wieder Heroen der Insel, vor allem der Telamonier
Aias, hervorragenden Anteil nahmen. Diese doppelte Ruhmestat
wird von Pindar^) in lauten Tönen gepriesen und die Skulpturen
haben somit in der fast gleichzeitigen Literatur eine Parallele zum
Zeugnis für die Popularität der Sagen. Die Darstellungen waren
so recht geeignet, die Erinnerung an die tapferen Ahnen beim
starken, tatenlustigen Seevolk wachzuhalten. Nähere Deutung, be-
') Reste der ehemaligen Bemalung sind am Marmor noch vorhanden;
sie waren reichlicher bemerkbar bald nach der AutHndung der Skulpturen.
2) Nemeische Siegesgesänge 111, 36 ff., IV, 24 tf. ; isthmische V, 35 ff.,
VI, 27 ff.
12 DIE ALTERTUMLICHE KUNST
stimmte Benennung einzelner Figuren, genaue Illustration des Epos
lag gewiß weder im staatlichen Auftrag noch im Sinne der aus-
führenden Bildhauer, Jedem Betrachter, jedem Bewohner des Eilands
kamen ungezwungen die Kämpfe um Ilion, der Vorfahren glor-
reiche Talen ins Gedächtnis. Und mehr wollte damals die Kunst
nicht zum Ausdruck bringen, nicht erreichen.
Mit eingehender Betrachtung einzelner Gestalten erzielen wir
eine Würdigung des Stils. Unterlebensgroß sind die Skulpturen
mit kurzem Oberkörper und langen Beinen, im Westgiebel die Um-
risse knapp und präzis, fast etwas hart im Gegensatz zu der volleren,
reicheren Formgebung des Ostgiebels; hier schauen auch die geistig
durchdrungenen Physiognomien ausdrucksvoller drein als dort:
Übergangsstil, Mischung von Älterem und Vollendeterem, ehrliches
Ringen nach ganzer Vollendung. Die Marmortechnik wird kühn
souverän geübt, mit der Bronzetechnik wetteifernd : ohne Stütze
sind sogar weit vorgestellte oder vorgestreckte Glieder gearbeitet.
Von reliefartiger Behandlung ist kaum mehr eine Spur bemerkbar.
In voller Körperlichkeit sind die Figuren vor die Giebelwand frei
hingestellt, überwiegend in Profil, indes mehrfach durch leichte
Wendung, Drehung en face sich nähernd, im einzelnen in Haltung
wohl noch unbeholfen : Athena-West setzt die Füße zur Seite, der
Körper ist nach vorne gerichtet. Genaue Naturbeobachtung, liebe-
volle Ausarbeitung, getreue Wiedergabe des Nackten zeichnen diese
Werke des reifen Archaismus besonders aus, die üppig quellende,
oft noch naiv zur Geltung kommende Frische der Gesichter zu
studieren wird man nicht müde, es sind die vollen Knospen, aus
denen die Blüte der hohen Kunst zu schöner Entfaltung sich ent-
wickelt. Die helle Schaffensfreudigkeit, von der die Meister
beseelt waren, teilt sich unwillkürlich dem Betrachter mit, besonders
vor dem Marmor in der Glyptothek; dorthin wird von den Repro-
duktionen weg immer wieder gerne jeder eilen, dem der Zauber
altertümlicher Plastik sich offenbart hat, dort kommt auch der
gewaltige Unterschied von Original und Kopie durch den bequemen
Vergleich mit anderen Skulpturen des Museums erst recht zum
Bewußtsein. Die Ägineten einer bestimmten Schule, bestimmten
Künstlern zuzuweisen, ist in Ermanglung schriftlicher Überlieferung
unmöglich, jedenfalls war nur durch lange Handhabung jene Sicher-
heit in der Marmortechnik und jener ausgezeichnete Naturalismus
erreichbar, gewiß beeinflußt von den östlichen Inseln, von lonien,
vom benachbarten Athen, vielleicht auch durch einheimische Tradi-
tion. Seit alter Zeit sind gewisse Figuren besonders berühmt.
Der bärtige, in der Brust schwer verwundete Krieger (Tafel 3/4),
der auch in Todesmattigkeit heldenhaft daliegt, erregt als schlichtes
DIE GIEBELGRUPPEN VON ÄGINA
13
Fig. 4. Kopf und Schulterteil des beispringenden Knappen
aus der rechten Hälfte des Äginetischen Ostgiebels
München, Glyptothek
Bild des edlen Heroismus starkes Mitgefühl, vor allem, wenn man
auf das leiderfüllte Antlitz hinschaut. Bewundernswert ist die
wohlgelungene Formenbildung, z. B. die genaue Wiedergabe der
Adern und Muskeln am linken Beine. Am jugendlichen Ver-
wundeten (Tafel 3 4) weckt neben der ganzen Haltung, in der das
rechte Bein, über das linke geschlagen, krampfhaften Schmerz
kennzeichnen soll, an erster Stelle das Gesicht Interesse: wohl
deutet der breitgezogene, offene Mund jenes arge Schmerzgefühl
an, aber nur verhaltenes Leid vermag der ernst sinnende Blick
auszuprägen. Immerhin bleibt auch dieser Kopf mit den vor-
quellenden, mandelförmigen Augäpfeln eine sehr beachtenswerte
Probe altertümlichen Stils; recht charakteristisch für ihn ist die
Fülle des Haares, die, vorne in zwei Reihen Löckchen geordnet,
nach rückwärts in langer und breiter Masse herabfällt; über die
Brust legten sich dereinst einzelne Metallocken. Die ganze Frische
des reifen Archaismus schaut man in den Zügen des jungen
Knappen (Fig. 4), der weit vorgebeugt ausschreitet und seinem
zurücksinkenden Herrn beispringend den herabgefallenen Helm reicht.
14
DIE ALTERTÜMLICHE KUNST
Fig. 5. Bogenschießender Herakles aus der rechten Hälfte des Äginetischen
Ostgiebels. München, Glyptothek
Am schön gewölbten Schädel ist das Haar wie auf Tafel 3/4, Figur
links unten, wohl in Anlehnung an damalige Mode, aber auch in kunst-
voller Stilisierung zurechtgeschmückt; vom Scheitel fällt es nach vorn
und wird dort in drei Reihen Löckchen zusammengenommen, die sich
durch sorgfältige Arbeit auszeichnen. Der Hinterkopf war bemalt, von
Ohr zu Ohr läuft ein dicker Doppelzopf. Die Körperformen sind
in voller Rundung durchgeführt. Der belebte Gesichtsausdruck
läßt den freudigen Pflichteifer des treuen Dieners in naiv reizvoller
Art erkennen. — Neben jenem Sterbenden in der linken Ecke des
Ostgiebels galt von jeher der kniende Bogenschütze (Fig. 5)
DIE GIEBELGRUPPEN VON ÄGINA 15
als eine Perle unter den Ägineten; der jugendliche Herakles wird
dargestellt im Moment des Abschnellens seines Pfeiles , ziel-
und sieggewiß. Schon die Situation ist äußerst prägnant. Nicht
einmal das rechte Knie berührt den Boden, es setzen nur der Ballen
des rechten und die Ferse des linken Fußes auf. Dadurch wird
das Bewegliche, das elastisch Schwebende des athletisch geschulten
Helden, des in allen Gliedern gymnastisch durchgebildeten Körpers
so wahrheitsgetreu wiedergegeben, daß man zweifeln kann, ob
kalter Marmor geformt ist oder kräftiges Leben pulsiert. „Welcher
Ausdruck von Spannung und Energie, von Sto'z und Kühnheit,
von selbstbewußtem Vertrauen auf jene volle Beherrschung der
Glieder, die nur gymnastische Zucht den Menschen gibt. Am
ganzen Körper ist nichts, das nicht in Spannung wäre. Und so
sind sie alle, diese Ägineten. Sie kennen kein Sichnachgeben,
kein Sichgehenlassen; nur der Tod selbst kann ihnen die Spannung
rauben — ein Geschlecht, das nimmer müde wird noch matt,
immer froh und frisch, immer arbeitsfreudig, immer bereit, den
sehnigen, in Muskelübung gestählten Körper zur Tat voll einzusetzen. "
So gewährt das Studium der Einzelgestalt ebenso großen Ge-
nuß als die Betrachtung der Giebelgruppen im ganzen, wie sie
in den Modellen rekonstruiert sind. Wir freuen uns dankbar des
durch die Forschung Errungenen und werden jetzt mit weit grö-
ßerem Verständnis als unsere Väter, unsere Großväter Komposition
und Stil der altberühmten Ägineten würdigen und zwar am besten in
der Münchner Glyptothek, wo Ludwig L von Bayern als Kronprinz
dem nicht zum mindesten durch seine Umsicht vereinigten Antiken-
schatze ein vornehm klassisches Heim durch Klenze bereitet hat.
Und doch, erst zur vollen Wirkung kamen dereinst jene in far-
benprächtigem Festglanze prangenden Skulpturen an Ort und Stelle,
im Zusammenhang mit der Architektur, für die sie geschaffen waren,
in der klaren Beleuchtung des Südens, als sie auf der einsamen
Berghöhe von Ägina die Giebel des dorischen Tempels schmückten,
dessen Ruinen noch heutzutage dem Seefahrer in ihrer lichten Er-
scheinung aus der Feme trauten Gruß senden.
II. GÖTTERBILDER AUS DEM FÜNFTEN
JAHRHUNDERT
Nachdem die griechische Kunst sich aus den Fesseln des
gebundenen altertümlichen Stiles befreit hatte, gewann die Götter-
bildung außerordentlich an Vertiefung und lebendiger Charakteristik.
Während man vorher sich begnügt hatte allgemein menschliche
Bildungen durch äußerliche Attribute zu Göttern zu stempeln,
während also ein Zeus von einem beliebigen würdigen bärtigen
Manne, Apollon von irgend einem Jünglinge sich nur durch äußere
Zutaten unterschied, suchte und fand man jetzt Mittel, das innere
Wesen, die in Poesie und Glauben längst ausgebildete tiefere Eigen-
art des Gottes zur Darstellung zu bringen. Die große Kunst des
fünften Jahrhunderts verstand es dabei das Erhabene und Gött-
liche immer als wesentlichsten Grundton festzuhalten, während die
spätere Zeit in der Vermenschlichung weiter ging.
Das fünfte Jahrhundert ist die eigentlich klassische Periode
der Götterbildung, in der die bedeutendsten und großartigsten
Schöpfungen, welche die längste Nachwirkung hatten, entstanden.
Weitaus der größte Anteil hieran kam den attischen Künstlern zu,
unter diesen voran Myron, dann Phidias und seinen Schülern,
insbesondere Agorakritos und Alkamenes.
Die Göttin Athena hat ihre charaktervollsten Bilder fast alle
im fünften Jahrhundert erhalten. Die späteren Athenabildungen
machen zumeist einen etwas flauen, weichen Eindruck gegenüber
jenen. Den Ernst und die strenge, hoheitsvolle Reinheit im Wesen
der Göttin hat nur die ältere Kunst voll ausgedrückt.
GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT 17
Unsere Tafeln (5 und 6) bieten zwei Athenastatuen des
Phidias in antiken Nachbildungen, die Athena Lemnia') und die
Athena Parthenos, beide trotz aller Verwandtschaft doch auch über-
aus verschieden: die Parthenos, die in Glanz und Pracht strahlende
Göttin, die allzeit siegreiche, die deshalb die Siegesgöttin auf der
Hand trägt, in voller Waffenrüstung und in glänzendem Schmucke,
der am Helm, an Ohren und Hals, am Schilde und bis herab zu
den Sohlen der Sandalen alles festlich ziert, das Gesicht mit freudigem
Stolze ruhig geradeaus den frommen Besuchern des Tempels ent-
gegengekehrt — dagegen die Lemnia, schmucklos und schlicht, im
Werktagskleide, den Helm auf der Hand, die Ägis nachlässig schräg
umgetan, in der ganzen Erscheinung nur die kraftvolle, reine, hohe
Jungfrau, den Kopf lebhaft nach der Seite wendend, ebenso knaben-
haft unschuldig wie wunderbar schön.
Es ist uns die Athena Lemnia in außerordentlich viel besseren
Kopien erhalten als die Parthenos, indem dieses kolossale Gold-
elfenbeinwerk nur gleichsam in Auszügen, jene Bronzestatue, um
bei dem Gleichnis zu bleiben, in genauen Abschriften auf uns ge-
kommen ist. Nur die letzteren geben uns einen Begriff von dem
Höchsten und Feinsten, was Phidias vermochte.
Eine dritte Athenastatue (Tafel 7), ebenfalls eines der groß-
artigsten Götterbilder des fünften Jahrhunderts, zeigt uns, wie ein
anderer Künstler die Göttin auffaßte; sie hat hier statt der milden
Schönheit phidiasischer Bilder mehr Strenge und Ernst, ihr
denkendes, kluges Wesen war dem Künstler am wichtigsten
erschienen.
Diese drei so verschiedenen Bildungen der einen Athena sind
zugleich ein deutliches Beispiel dafür, daß die schöpferische, eigent-
lich klassische Periode der antiken Kunst keine festen Göttertypen
kennt; hier schafft noch jeder Künstler frei und sucht immer neue,
andere Seiten der Gottheit abzugewinnen, so daß selbst die Athena-
bilder des einen Phidias untereinander durchaus verschieden waren.
Die viel verbreitete Vorstellung, daß es im Altertum für jede Gott-
heit nur immer ein sogenanntes kanonisches Ideal gegeben habe,
ist falsch und hat höchstens eine beschränkte Geltung für die
Spätzeit, in welcher nichts Neues mehr erfunden ward und von
der ganzen bunten Fülle der älteren Schöpfungen nur wenige durch
ständige Wiederholung sich erhielten, die nun die kanonischen
Typen darstellten.
Auch eine großartige Bildung des A pol Ion aus der Schule
des Phidias zeigen unsere Tafeln (8); er ist hier als der Gott der
') Siehe Textzusatz zu Tafel 5.
Denkmäler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl.
18 GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT
ernsten, hohen Musik in feierlichem Schritte, in langem Gewände,
wie ein Kitharode dargestellt, der einen heiligen Hymnos anzu-
stimmen im Begriffe ist.
Ebenfalls aus der Schule des Phidias ist die Hera (Tafel 9)
hervorgegangen. Leider ist der olympische Zeus des Phidias
uns nur in flüchtigsten Umrissen durch kleine Münznachbildungen
hadrianischer Zeit bekannt; die Ausgrabungen zu Olympia haben
nur noch Splitter der steinernen Basis dieses wunderbaren Gold-
elfenbeinkolosses zutage gebracht.
Dagegen ist A s k 1 e p i o s uns mehrfach in Statuen erhalten,
die auf Schöpfungen des phidiasischen Kreises zurückgehen ; eine
der schönsten ist die Tafel 10 wiedergegebene Statue,
Die Dioskuren vom Monte Cavallo (Tafel 11) sind stark und
schwungvoll bewegte, unbekleidete Heldengestalten und geben jenen
bekleideten, ruhigen Göttern gegenüber eine notwendige Ergänzung
unserer Vorstellung von dem, was die phidiasische Kunst in Ge-
staltung mythologischer Figuren geleistet hat ').
Durch lebhafte Bewegung verwandt ist die schwebende Nike
von Paionios (Tafel 12), die uns glücklicherweise im Originale
erhalten ist.
TAFEL 5
DIE ATHENA LEMNIA DES PHIDIAS^)
MARMORSTATUE. DRESDEN, K. ALBERTINUM.
Die Tafel gibt eine etwas überlebensgroße Marmorstatue im
K. Albertinum zu Dresden wieder. Ihr in zwei Ansichten abgebildeter
') Siehe Textzusatz zu Tafel 11.
-) Das wundervolle Bildwerk, das als eine der schönsten Götterstatuen
des fünften Jahrhunderts wiedererstanden ist, ward namentlich neuerdings
dem Phidias abgesprochen und einem ebenbürtigen Zeitgenossen zuge-
wiesen, sei es, daß er ein Attiker oder Peloponnesier war oder Elemente
beider Kunstrichtungen in sich vereinigte. Ganz sichere oder wenigstens
höchst wahrscheinliche Lösung des Problems könnte nur dann erfolgen,
wenn Nachbildungen der „Lemnia" auf anderen die dereinstige Bestimmung,
des Originals klarstellenden Monumenten, etwa auf Urkunden-, beziehungs-
weise Weihreliefs oder auf Münzen einer bestimmten Siedelung oder Kult-
stätte zutage kämen. Aber auch ohne Entscheidung bleibt die tiefempfundene
Freude am Anblick des herrlichen Götterbildes aus der Glanzzeit helle-
nischer Skulptur ungeschwächt lebendig.
DIE ATHENA LEMNIA DES PHIDIAS
DRESDEN, K. ALBERTINUM
ATHENA LEMNIA
19
Kopf (Fig. 7
u. 8) mit dem
Halse bis zum
Gewandaus-
schnitt ist in-
des der Gips-
abguß eines
imStädtischen
Museum zu
Bologna be-
findlichen
Marmororigi-
nales. Die
rechte Brust
und der linke
Armstumpf
bestehen
ebenfalls aus
Gips; sie sind
abgeformt von
einer in den
entsprechen-
den Teilen
besser erhal-
tenen zweiten
Statue inDres-
den, die eine
genaue Wie-
derholung je-
ner ersteren
ist. An dieser
zweiten ist
auch der Kopf
erhalten, nurin
verstümmel-
tem Zustande.
Dieser Kopf, der zwar abgebrochen war, aber in seiner Bruch-
fläche genau auf den Torso paßt, also zweifellos zugehört, ist eine
genaue Wiederholung jenes prachtvoll erhaltenen Kopfes in Bologna,
dessen Abguß deshalb zur Vervollständigung jener ersteren, auf
unserer Tafel dargestellten Dresdner Statue benutzt worden ist.
Der Nachweis der Zugehörigkeit des helmlosen, früher meist für
männlich angesehenen Kopftypus von einziger Schönheit zu diesen
Fig. 6. Sog. Atliena Lemnia
nach der Ergänzung im Münchner Gipsmuseum
20 GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT
Athenastatuen ist zugleich mit dem Nachweise, daß wir in diesen
Marmorwerken römischer Zeit mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit
getreue Kopien einer verlorenen Bronzestatue der Athena von
Phidias, und zwar der von den Alten Lemnia genannten und als
schönstes Werk des Mei-
sters bewunderten Statue
der Akropolis zu Athen
besitzen, erst in neuerer
Zeit gelungen.
Attische Vasenbilder,
ein attisches Relief, sowie
Nachbildungen des Ober-
körpers der Statue, die
mehrfach auf antiken ge-
schnittenen Steinen vor-
kommen, machen es sehr
wahrscheinlich, daß die
vorgestreckte rechte Hand
der Göttin einst den abge-
nommenen Helm trug. Die
erhobene Linke stützte
sich ohne Zweifel auf die
Lanze (Fig. 6). Die nach
älterer Weise noch recht
groß gebildete Ägis ist
schräg umgelegt und mit
Schlangen über der Hüfte
gegürtet. Sie läßt die linke
Brust frei; wahrscheinlich
soll durch diese Art die
Ägis anzulegen, das friedliche Wesen der Göttin hervorgehoben
werden, das sich auch in dem unbedeckten Kopfe deutlich kundgibt.
Das Haar ist ziemlich kurz und überdies hinten in einen Wulst auf-
genommen. Eine breite Binde, die rückwärts geknüpft ist, schneidet
tief in das weiche, volle, lockige Haar ein. Der Bologneser Kopf
gibt die feine Ziselierung der Haare des Bronzeoriginales offenbar
recht treu wieder. Die Augenhöhlen sind an diesem Kopfe leer,
weil das Auge aus farbigen anderen Stoffen, in Nachahmung der
an dem Bronzeoriginal befolgten Weise, eingesetzt war.
Die Göttin steht fest auf dem rechten Fuße, der linke ist
entlastet zur Seite gesetzt, gleichfalls noch mit ganzer Sohle ruhend,
doch erscheint im Gegensatz zur Athena Parthenos die Figur auch
dadurch viel bewegter. Sie hat schlanke, kraftvolle, zum Männ-
Fig. 7. Kopf der Athena Lemnia
Bologna, Stadt. Museum
ATHENA LEMNIA
21
liehen neigende Körperformen. Die Hüften sind schmal, der Busen
ist flach, doch die Brust kräftig breit. Auch der Kopf enthält zu
dem weiblichen eine Beimischung knabenhaft männlichen Wesens.
Die Göttin ist das Idealbild klarer Reinheit, Unschuld und Kraft.
Der Kopf ist stark
nach der einen Seite
gewendet, während der
Körper an dieser Be-
wegung keinen Teil
nimmt und sich gerade
von vorn zeigt. Es ist
dieseinegewisse Härte,
die den Werken um die
Mitte des fünften Jahr-
hunderts noch eigen ist.
Jene Wendung des
Kopfes beweist aber
auch, daß das Original
der Statue kein Tempel-
bild war, indem ein
solches mehr geradeaus
dem anbetend von vorn
Nahenden entgegen-
blicken mußte.
Das Gewand der
Göttin ist dasselbe, das
auch die Parthenos
trägt ; es ist der dorische
Peplos aus kräftigem
Wollstoff. Er hat einen
großen Überschlag und ist darüber gegürtet. An der rechten
Seite ist er offen. Es ist das für die kräftige Jungfrau charakte-
ristische Gewand'). Die Faltengebung ist sehr verwandt derjenigen
an der Parthenos, zeichnet sich vor dieser aber aus durch eine
gewisse kühne Frische und weniger absichtlich wirkende Anord-
nung. Dagegen lassen verschiedene Anzeichen in der stilistischen
Behandlung des Gewandes wie auch des Kopfes erkennen, daß das
Original ein wenig älter als die Parthenos gewesen sein muß.
Dies Original muß ein sehr berühmtes gewesen sein. Außer
mehreren Marmorkopien sind uns auch, wie schon bemerkt, ver-
Fig. 8. Kopf der Athena Lemnia
Seitenansicht
') Über diese Tracht vgl. auch den Text zu dem Relief
nischen Gottheiten" (Taf. 13).
.Die Eleusi-
22 GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT
schiedene Nachbildungen des Oberteils der Statue auf geschnittenen
Steinen erhalten. Daß das Original von Bronze und daß es kein
Tempelbild war, ist schon erwähnt worden. Die große Verwandt-
schaft mit der Parthenos läßt vermuten, daß auch dies ein Werk
desselben Künstlers, des Phidias, war. So bezeugen die Monu-
mente eine einst berühmte unbehelmte Athena phidiasischen Stiles.
Nun wissen wir anderseits durch die literarische Überlieferung'), daß
zu Athen auf der Akropolis, nicht als Tempelbild, sondern als Weih-
geschenk im Freien, eine Bronzestatue der Athena von Phidias stand,
welche nach den Weihenden die Lemnia genannt wurde und durch ihre
außerordentliche Schönheit berühmt war. Lukian-) schwärmt ins-
besondere von dem Gesichte der Göttin, dessen ganzen, also von
einer attischen Helmkappe offenbar nicht beeinträchtigten Umriß
er zu der Musterschönheit nehmen will, die er aus den berühm-
testen Statuen konstruiert. Ferner erfahren wir durch Himerius')
von einer durch Schönheit des Gesichts und Helmlosigkeit cha-
rakterisierten, aber sonst nicht näher bezeichneten Athena des
Phidias. Da aber gerade die Lemnia, wie aus Lukian zu schließen
ist, im Kreise der späteren Rhetoren als diejenige Athena des Phidias
galt, die durch Schönheit hervorragte, so ist die Identifikation der
helmlosen Athena des Himerius mit der Lemnia als nahezu sicher
anzusehen. Die literarische Überlieferung von dieser durch ihre ein-
zige Schönheit des Gesichtes berühmten helmlosen Lemnia stimmt
nun aber so vortrefflich zu jener durch die erhaltenen Kopien in
Marmor und auf Gemmen erschlossenen phidiasischen Athena-
statue, daß an ihrer Identität kaum ein Zweifel sein kann.
Die Marmorkopien der Lemnia bieten uns zum erstenmal ein
Götterbild des Phidias in genauer, auch in der Größe dem Ori-
ginale entsprechender Nachbildung; denn die Kopien der Parthenos
sind alle ungenau, weil freie Reduktionen eines Kolossalbildes.
Die Entstehungszeit der Athena Lemnia ist rund um die Mitte
des fünften Jahrhunderts anzusetzen. Genauer fällt sie wohl um
447, indem sie wahrscheinlich in Beziehung steht zu der um diese
Zeit erfolgten Herabsetzung des jährlichen Tributs von Lemnos auf
die Hälfte des früheren Betrages. Diese ist aller Wahrschein-
lichkeit nach dadurch veranlaßt, daß attische Bürger neues Land
auf Lemnos angewiesen bekamen, weshalb der Tribut natürlich
herabgesetzt werden konnte. Die Statue, die Phidias ausführte,
ist wahrscheinlich der Dank der Athener auf Lemnos für die Ver-
') Pausanias Beschreibung Griechenlands I, 28, 2.
2) Bilder 6, vgl. auch 4.
3) Reden 21, 4.
ATHENA PARTHENOS 23
Stärkung durch Zuzug neuer attischer Bürger und ein Zeichen des
dadurch hergestellten engeren Verhältnisses zur Heimatstadt und
ihrer Göttin. Die Statue ward nach den Athenern auf Lemnos,
die sie geweiht, die Lemnierin genannt.
TAFEL 6
ATHENA PARTHENOS
STATUETTE AUS PENTELISCHEM MARMOR
ATHEN, ZENTRALMUSEUM.
Gegen Schluß des Jahres 1880 ist zu Athen in der Nähe
eines Gymnasiums, das nach dem Stifter Varvakion heißt, die mit
der Basis etwas über einen Meter hohe, auffallend gut erhaltene
Statuette ans Licht gekommen; nach dem Fundorte benannt, zählte
sie bald zu den bekanntesten Überresten antiker Plastik. Sie ist
eine Kopie aus hadrianischer Zeit. Daß dieselbe eine Nachbildung
des Götterbildes ist, welches Phidias für die 14 m hohe Cella des
Parthenon auf der Burg von Athen 438 v. Chr. vollendet hat, konnte
bei einem Vergleiche der genauen Beschreibung, die Pausanias ')
von dem Originale gibt, und der bereits nachgewiesenen Kopien
des Meisterwerkes nicht bezweifelt werden. Es war im wesent-
lichen eine Holzstatue, deren Gewandteile mit einer dünnen, ab-
nehmbaren Goldhülle überzogen waren, während Elfenbeinplättchen
die nackten Körperteile bedeckten. Die Gesamthöhe betrug ver-
mutlich ungefähr 12 m -), das Gewicht des Goldes allein wahr-
scheinlich 44 Talente 1 1 52,62 kg. Die Varvakionstatuette gibt zum
erstenmal eine Gesamtvorstellung des chryselephantinen Kolosses.
Wenn sie auch erst in der römischen Kaiserzeit ohne Kunstver-
ständnis gearbeitet ist, so bietet sie doch das Urbild ohne willkür-
liche Umgestaltung, nur mit teilweiser Abstreifung des reichen
Nebenwerkes, wie vor allem der Reliefs, getreu dar.
Auf einer an der Vorderseite architektonisch gegliederten Basis
steht die Göttin, in jugendlichen, kräftigen Formen gebildet, auf-
') Beschreibung Griechenlands I, 24, 5—7.
-) Die Höhe des Goldelfenbeinbildes ohne Basis wird auf etwa 10 — 1 1 m
berechnet. Schwanthalers kolossale Bronzestatue der Bavaria, die zu Mün-
chen in freier Natur auf der die Theresienwiese begrenzenden Anhöhe
mächtig emporragt, ist ohne das stattliche Steinpiedestal ungefähr 20,5 m,
also fast doppelt so hoch.
24 GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT
recht da. Der Peplos, der, in Steilfalten geordnet, sie bis zu den
Füßen bekleidet, ist auf der rechten Seite offen; sein Überwurf
fällt tief herab und ist über den
>.^*<4^
Fig. 9. Gemme des Aspasios
Wien, Kaiserl. Antikensammlungen
Hüften mit einem Gurte zusam-
mengezogen und in regelmäßigen
Falten kunstvoll zurechtgelegt. Auf
der schuppigen, schlangenumsäum-
ten Ägis, die kragenartig um die
Brust sich legt, ist in der Mitte
das in altertümlichem Stile fratzen-
haft gebildete Medusenhaupt an-
gebracht. Der Helm, dessen Kappe
am Hinterkopfe bis über den
Nacken schützend hinabreicht und
vorn ein breites Stirnband trägt,
liegt am Kopfe eng an und läßt vor
den Ohren kleine Ringellocken
hervorquellen, während von rück-
wärts je zwei langgezogene Haar-
strähnen über die Ägis nach vorn
sich legen. Hoch empor ragt der
reichgebildete Schmuck des Helms.
In der Mitte ruht auf einer Sphinx
der geschwungene Bügel, der bis in den Nacken hinabreicht, zu den
Seiten desselben bildet je ein teilweise zerstörtes Flügelpferd die
Grundlage zweier weiterer Büsche. Die Backenklappen sind schräg
nach aufwärts geschlagen.
Von den mit hohen Sohlen bekleideten Füßen steht der rechte
ganz auf dem Boden auf und ist so der Träger der Last, der linke,
ein wenig zur Seite gesetzt und leise erhoben, läßt die Form des
Spielbeines durchschauen und gibt der schweren Gewandung eine
mäßige Bewegung, ohne die strenge Regelmäßigkeit des Ganzen
zu stören. Beide Arme sind am Handgelenke mit Schlangenbändern
geschmückt. Auf der rechten geöffneten Hand schwebt Nike, deren
Kopf nicht erhalten ist, in langem Kleide und mit gesenkten Flügeln,
die stetige Gefährtin der siegreichen Athena. Sie ist halb zum Be-
schauer gewandt, dem sie mit beiden Händen eine Binde wie zur
Bekränzung gereicht haben wird. Da die schwere Last der Nike
von dem frei gehaltenen Arme nicht getragen werden konnte, so
ist eine Stütze in der Form einer Säule untergestellt worden, die
zugleich die sonst unangenehm wirkende Leere auf der rechten
Seite ausfüllt. Denn auf der linken faßt die Göttin nur leicht den
großen, kreisförmigen, in der Mitte mit Gorgomaske gezierten
ATHENA PARTHENOS
ATHEN, ZENTRALMUSEUM
ATHENA PARTHENOS 25
Schild, der auf eine kleine Erhöhung aufgesetzt ist. In der inneren
Wölbung ringelt sich eine mächtige, bärtige Schlange empor, die
Hüterin der Burg, das heilige Tier des Erichthonios. Die Angriffs-
waffe der Athena, die Lanze, war im Originale an der linken Schulter
angelehnt.
Das Geistige, das in dem Urbilde lebte, prägt sich, wenn auch
sehr vermindert'), in dem Gesichte dieser recht geringen Kopie
aus; tadellos erhalten, zeigt es volle, runde Formen, ebenso wie
der Hals durch kräftige Bildung auffällt. Der Mund ist leise ge-
öffnet und verleiht dem Antlitze den Ausdruck frischen Lebens,
den im Originale die leuchtenden Augensterne aus Edelsteinen
noch gesteigert haben werden. Man erkennt in den klugen, ge-
messenen, Hoheit und auch Milde offenbarenden Zügen die würdige
Tochter des Beraters Zeus, dessen Haupt sie entsprungen und dessen
Offenbarung sie ist. Indes das Großartige der Erscheinung beruht
in der Erhabenheit der ganzen Gestalt. Denn trotz der Kleinheit
der Kopie glaubt man die Statue in ihrer gewaltigen Größe vor
sich zu sehen und gewinnt eine klare Vorstellung von dem ehr-
würdigen Tempelbilde, das, auch losgelöst von der strengen dori-
schen Architektur der säulenumgebenen Cella, mit tiefer religiöser
Scheu erfüllt, während der Anblick des Frieses') durch den reichen
Wechsel immer frischen Lebens den Beschauer in gehobene Stim-
mung versetzt. Phidias hat in der Goldelfenbeinstatue viel von
dem zum Ausdruck gebracht, woraus die Blüte des perikleischen
Zeitalters sich entfaltete, Achtung gebietende Stärke, nach sieg-
reichen Kämpfen bewaffneten Frieden, Verstand und Geist, endlich
den Reichtum an barem Gelde. „Die Göttin auf der Burg war
die Personifikation der mächtigen Stadt, deren Herrschaft Meere
und Länder umspannte. Es war die Herrin, die ihr Volk und
dessen Verbündete beschirmt, zur See und auf dem Lande zum
Siege führt." Die Auffassung der Athena als der majestätischen,
friedlichen, aber wohlgerüsteten und starken Schutzgöttin ist im
Gegensatze zu der lanzenschwingenden Pallas, der kampfesfreudigen
Promachos der älteren Zeit von nun an in der Kunst maßgebend
geblieben, und dieses Bild der Göttin ist auch uns vertraut.
') Einen Ersatz bietet die vortretfliche Gemme des Aspasios aus
augusteischer Zeit (Fig. 9).
-) Proben sind Tafel 16—17 abgebildet.
26 GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT
TAFEL 7
ATHENA VON VELLETRI
KOLOSSALSTATUE. PARIS, LOUVRE.
Diese wohlerhaltene Marmorstatue gibt ein im Altertum be-
rühmtes Bronzeoriginal wieder; wir besitzen noch andere Marmor-
kopien, namentlich des Kopfes, z. B. in der Münchner Glyptothek
aus Villa Albani in Rom; doch die Pariser, in einer römischen
Villa zu Velletri gefundene Statue ist die beste der Kopien.
Die Göttin steht in majestätischer Haltung da. Auf dem linken
Fuße ruht sie fest auf, während sie den rechten nach sich zieht;
die Spitze des rechten Fußes ist ziemlich stark nach außen ge-
wendet, wodurch der Unterkörper breite und monumentale Ruhe
erhält. Der rechte Arm ist erhoben und faßte die schräg nach
unten aufgestützte Lanze hoch am Schafte. Die rechte Hand mit
der vorderen Hälfte des Unterarmes ist jetzt erneuert, am Ellen-
bogen ist der Arm gebrochen ; er war wahrscheinlich etwas mehr
gebogen. Der linke Arm liegt fest am Körper an, der Unterarm
ist vorgestreckt, die Hand ist ergänzt; sie trug einst, wie eine
athenische Kupfermünze zeigt, welche das Original der Statue nach-
bildet, eine Nikefigur, die der Göttin in Athen so unlöslich ver-
bunden ist und die auch die Parthenos des Phidias auf der Hand
trug. Auf einer anderen Münze und zwar von Amastris in Pa-
phlagonien, die gleichfalls das Urbild des Werkes wiedergibt, hält
die Linke die Eule.
Die Gewandung der Göttin besteht aus dem dorischen Peplos
von derbem Wollstoffe, der wie bei der Parthenos mit einer Schlange
gegürtet ist; an der Seite ist er indes nicht offen, sondern zuge-
näht. Darüber trägt sie den Mantel, ebenfalls von dickem, wol-
lenem Stoffe, der auf der linken Schulter aufruht und, um die
Hüften geschlungen, vom linken Arme festgehalten wird. Er bildet
vorn einen großen, dreieckigen Überschlag. Dieser Mantel trägt
sehr zur majestätischen Erscheinung der Göttin bei.
Auf der Brust ruht wie ein Kragen die Ägis, die hier auch
am oberen Rande mit Schlangen besetzt ist, absichtlich klein ge-
bildet, da Athena nicht als streitbare Göttin gedacht ist. Der Ober-
kopf wird vom Helme bedeckt, der die korinthische Form hat;
heruntergezogen deckte derselbe, der Ausschnitte für die Augen
hatte, das ganze Gesicht; gewöhnlich trug man ihn zurückgeschoben.
ATHENA VON VELLETRI
PARIS, LOUVRE
ATHENA VON VELLETRI
27
Fig. 10 u. 11. Kopf der Athena von Velletri. Paris, Louvre
SO wie er auch am Porträt des Perikles erscheint. Ihr Haar hat
die Göttin in der schlichtesten Weise zurückgestrichen.
Die Züge und der Ausdruck des Kopfes (Fig. 10 u. 11) stehen in
vollem Gegensatze gegen das volle breite Gesicht der Parthenos
und ihr freudig sieghaftes Wesen. Hier bilden Ernst und Strenge
den Ausdruck; es ist die sinnende, denkende, kluge und reine Jung-
frau dargestellt.
Der Kopf ist vortrefflich erhalten, indem selbst die Nase antik
ist. Er erscheint schmal und fein gegenüber der mächtigen, breiten
Brust. Sehr charaktervoll ist auch das Gewand behandelt. Es
zeigt schwere, einfache, wahre Falten, die nicht gefällig sein wollen,
die aber an der Majestät und Wucht der ganzen Erscheinung wesent-
lich beteiligt sind.
Die Eigentümlichkeiten des Stiles von Kopf und Gewand lassen
sowohl eine Zeitbestimmung als eine Vermutung über den Künstler
zu, dem wir das Original verdanken. Dasselbe muß in der peri-
kleischen Zeit, doch an ihrem Ende, kurz vor Ausbruch des Pelo-
ponnesischen Krieges entstanden sein ; wie die athenische Münze
28 GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT
zeigt, befand es sich im Bereiche Athens. Der Künstler aber muß
dem Kreise des Phidias unabhängig gegenübergestanden haben.
Genauere Vergleiche der Formen mit anderen Werken, z. B. mit
der Herme des Perikles und mit der Medusa Rondanini lehren,
daß es wahrscheinlich Kresilas war, der Künstler, der eben den
Perikleskopf gebildet.
Die Statue aber war vielleicht identisch mit einer schon im
Altertum viel bewunderten Athena Soteira im Heiligtume des Zeus
Soter im Piräus.
Als Retterin, als kluge, mächtige Beschützerin des siegreichen
Athen war die Göttin gedacht.
TAFEL 8
APOLLON MIT DER KITHARA
KOLOSSALSTATUE AUS MARMOR. MÜNCHEN, GLYPTOTHEK.
Eine erhabene, mächtige Gestalt kommt in langsam feierlichem
Schritt auf uns zu. Sie hält im Schreiten inne, ruht fest auf dem
rechten Fuße und zieht den linken nach sich. Eine große Kithara
wird vom linken Arme an den Körper gedrückt, doch muß sie
noch an einem Tragbande befestigt gedacht werden, das um die
Brust hing. Die Rechte war ruhig vorgestreckt und hielt die Schale
zur Spende bereit (der jetzige rechte Arm ist ganz modern). Nicht
Gesang und Saitenspiel ist dargestellt, sondern der vorangehende
Moment des feierlichen Antretens und der Spende vor Beginn des
festlichen Spiels.
Die Gestalt ward früher für weiblich gehalten. Sie galt Win-
ckelmann, der sie noch im Palaste Barberini zu Rom bewunderte,
für eine Muse; er erkannte den hoheitsvollen Stil älterer Zeit in
ihr und vermutete, es sei die Muse des Ageladas, des Lehrers
des Polyklet und Phidias. Er sah die „hohe Gratie" in ihr im
Gegensatze zur „gefälligen Gratie" des anderen schreitenden Kitha-
roden, der in der Tat auch jüngerer Zeit angehört.
Es ist Apollon dargestellt in dem langen Festgewande, das alle
trugen, die sich am Feste des Gottes durch Kitharaspiel und Ge-
sang um die Preise bewarben. Bis in die spätere griechische Zeit
wird daher Apollon der Musiker zum Unterschiede von dem nackten
bogenkämpfenden Gotte regelmäßig in jenem langen Gewände dar-
gestellt. Es ist der dorische Peplos mit großem Überfall, unter
APOLLON MIT DER KITHARA
MÜNCHEN, GLYPTOTHEK
APOLLON MIT DER KITHARA 29
der Brust mit breitem Bande gegürtet. Auf den Schultern ist ein
weiterer Überfall als hinten herabfallender kurzer Mantel befestigt.
Zu der feierlichen Tracht gehören auch die Sandalen mit hohen
Sohlen. Der Kopf zeigt eingesetzte Augen, die hier, was sich sehr
selten findet, ziemlich gut erhalten sind. Das Weiße der Augen
besteht aus weißem Steine. Die dunkle Pupille ist ausgefallen;
die Wimpern bestanden aus gezacktem Bronzeblech; ihre Spuren
sind deutlich erhalten. Der Kopf ist mit dem Halse in die Statue
eingesetzt, doch von dem alten Künstler selbst, er ist keineswegs
etwa eine antike spätere Restauration. Das üppige, volle Haar ist
gescheitelt und fällt in je zwei Locken auf die Brust herab; über
der Stirne emporgebunden steigert es das Majestätische des Kopfes.
Die Ausführung der Statue, die in einer Villa zu Tuskulum
1678 gefunden wurde, fällt, wie aus der Art der Arbeit zu schließen
ist, ungefähr in die augusteische Epoche. Doch kann kein Zweifel
sein, daß sie ein älteres griechisches Original wiedergibt. Es läßt
sich auch noch mit voller Sicherheit angeben, welcher Kunstschule
dies Original angehört hat : die Vergleichung der sicheren Werke
des Phidias, der Athena Lemnia und Parthenos, ergibt, daß dieser
Apollon im Anschlüsse an Phidias geschaffen ist und eine unmittel-
bare Weiterbildung des Stiles des Meisters darstellt; auch der
dorische Peplos erscheint in der Form und Faltengebung, die der
Meister und sein Kreis bei weiblichen Gottheiten bevorzugten. Auf
Münzen des Kaisers Augustus, die sich auf den bei Aktium 31 v.Chr.
errungenen Sieg und auf den dafür geweihten Palatinischen Tempel
beziehen, ist das Original unserer Statue wiedergegeben. Da die
Identifikation mit dem im Tempel selbst aufgestellten Bilde des im
4. Jahrhundert v, Chr. tätigen Skopas aus stilistischen Gründen un-
möglich erscheint, ist so gut wie sicher eine zweite, bei Properz III,
29, 5 f. als im Hofe wohl nahe am Altare stehende Marmorstatue
in unserem Werke veranschaulicht, zumal die von dem Dichter
angedeutete Situation damit sich wohl vereinigen läßt.
Unter den uns erhaltenen Götterbildern gibt es kaum ein
zweites, das bei gleich guter Erhaltung eine gleich grandiose Auf-
fassung wie die unseres Apollon zeigt, das so vollständig und un-
getrübt den reinen Eindruck eines majestätischen Tempelbildes der
phidiasischen Auffassung vermittelt.
30 GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT
TAFEL 9
STATUE DER HERA
ROM, VATIKAN.
Diese überlebensgroße Marmorstatue wurde in Rom auf dem
Viminal bei einer vom Kardinal Francesco Barberini veranstalteten
Ausgrabung gefunden und befindet sich jetzt in der großen Rotunde
des Vatikanischen Museums. Man pflegt sie nach dem ersten
Besitzer die „Barberinische Hera" zu nennen. Die Statue ist gut
erhalten ; nur die aus dem Gewände vortretenden Arme, die aus
besonderen Stücken gearbeitet und angesetzt waren, sind verloren
und jetzt ergänzt; doch konnte der Ergänzer das Richtige kaum
verfehlen. Am Kopfe ist nur die Nase neu; im übrigen ist der
Kopf vortrefflich erhalten und ungebrochen ; er ist aber mit dem
anstoßenden unbekleideten Teile der Brust aus einem besonderen
Stück Marmor gearbeitet und eingesetzt. Auch die Füße waren
besonders angesetzt; der linke ist ergänzt. Das Zusammenfügen
großer Marmorfiguren aus Stücken war im Altertum etwas ganz
Gewöhnliches und man hatte eine große Geschicklichkeit darin.
Man sparte auf diese Weise an Material und konnte die Marmor-
figuren zu relativ billigen Preisen herstellen.
Die Statue ist eine im zweiten Jahrhundert n. Chr. wahrschein-
lich für den Palast eines vornehmen Römers, möglicherweise aber
auch für ein Heiligtum in Rom gearbeitete Kopie eines verlorenen
griechischen Originals aus der Zeit unmittelbar vor oder während
des Peloponnesischen Krieges. Das Werk muß in späterer Zeit
berühmt gewesen sein, indem es mehrfach kopiert worden ist.
Eine besonders gute Wiederholung, die in den Ruinen einer römischen
Villa in den Sabinerbergen gefunden ward, befindet sich jetzt in
Kopenhagen; sie ist eine Arbeit etwa augusteischer Zeit; das hohe
Diadem, das den Kopf unserer Statue schmückt, fehlt ihr nach
dem Gebrauche der älteren Marmorarbeit, wo dergleichen Einzel-
heiten besonders aus Metall angesetzt zu werden pflegten.
Der Stil des uns durch die Kopien vergegenwärtigten Werkes
ist so sehr verwandt dem einer ebenfalls im Altertum hochberühmten
und in zahlreichen Kopien erhaltenen Aphroditestatue, wo die Göttin
in dünnem, ungegürtetem Gewände dargestellt ist, daß man einen
und denselben Künstler als Schöpfer beider Werke anzusehen hat.
Die Aphrodite geht aber sehr wahrscheinlich auf Alkamenes, den
STATUE DER HERA
ROM, VATIKAN
STATUE DER HERA 31
berühmten Schüler des Phidias, zurück; mithin wird auch die Hera
auf denselben großen Künstler zurückzuführen sein.
Die Deutung der Göttin als Hera kann zwar nicht als völlig
gewiß angesehen werden, indem ihr Typus an keinem Denkmale
als Hera oder Juno gesichert ist; allein sie ist sehr wahrscheinlich,
und der Name Hera erklärt die gesamte Auffassung wie die Einzel-
heiten der Statue entschieden am besten.
Eine hehre Gestalt steht vor uns, eine große, erhabene Göttin,
eine wahre Königin und Herrin. Und doch trägt sie den Kopf
nicht stolz erhoben, sondern milde geneigt, Gewährung verheißend
den Wünschen des Frommen, der sich ihr betend naht.
Sie trägt das dünne, ungegürtete Untergewand, das die mäch-
tigen Formen des Körpers durchscheinen läßt, ähnlich Aphrodite,
der Göttin der Liebe, und wie bei jener gleitet das Gewand an
der einen Schulter lose herab. Allein der Unterkörper ist von
dem schweren, dichten Mantel verhüllt, der ernste, strenge Würde
verkündet.
Der Mantel liegt mit dem einen Ende auf der Imken Schulter
auf und ist im Rücken nach der rechten Hüfte und von hier mit
dem anderen Ende nach der linken Seite gezogen, wo er von dem
linken Ellenbogen fest angedrückt und gehalten wird. Der Mantel
bildet vorn einen großen, dreieckigen Überschlag, ganz ähnlich wie
bei der Athena von Velletri (Tafel 7). Hier wie dort gibt eben diese
Gewandanordnung dem Auftreten der Göttin etwas besonders
Majestätisches.
Die Statue stimmt mit jener Athena auch in der Stellung und
Haltung überein. Die Göttin ruht wie dort auf dem linken Fuße,
während der rechte in Schrittstellung zurückgezogen ist. Die nackten
Füße tragen an beiden Statuen jene Sandalen mit schweren, dicken
Sohlen, die an den Götterbildern der phidiasischen Periode gewöhn-
lich sind und die auch die Athena Parthenos (Tafel 6) trägt. Es
stimmt ferner an jenen beiden Statuen die Haltung der Arme und
die Wendung des Kopfes durchaus überein. Die erhobene Rechte
stützte sich dort auf die Lanze, hier auf das Szepter; die vor-
gestreckte Linke trug ein Attribut, das wir nicht mehr feststellen
können, möglicherweise die Opferschale, wie der Ergänzer angenom-
men hat.
Die welligen, mit dem Diadem geschmückten Haare sind in der
Mitte gescheitelt und zurückgestrichen, hinten aber aufgenommen
und in ein Tuch gesammelt, ganz ähnlich wie bei der obengenannten
Aphrodite. Allein der Ausdruck des Kopfes ist recht verschieden
von der hingebenden, süß lächelnden Anmut jener Liebesgöttin; er
ist ernst und streng, wenn auch nicht ohne königliche Milde.
32 GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT
So paßt das plastische Bild dieser Göttin vortrefflich zu jener
in Mythus und Dichtkunst erscheinenden Gestalt der Hera, der
hehren Gemahlin des Zeus, der Himmelskönigin, der Beschützerin
des Ehebundes unter den Menschen.
TAFEL 10
STATUE DES ASKLEPIOS
MARMOR. NEAPEL, MUSEO NAZIONALE.
Die nicht unbedeutend über die natürliche Größe eines Erwach-
senen gebildete, im ganzen gut erhaltene und richtig ergänzte') Statue,
als deren Fundort ohne sichere Gewähr der Äskulaptempel auf der
Tiberinsel in Rom bezeichnet wird, ist seit Mitte des sechzehnten Jahr-
hunderts in der Antikensammlung der römischen Familie Famese
nachweisbar und nach dem Aussterben derselben zu Ende des acht-
zehnten Jahrhunderts mit anderen teilweise weltberühmten Antiken
nach Neapel gelangt. Sie ist die mäßig gute Kopie eines griechi-
schen Originalwerkes, das mit größter Wahrscheinlichkeit unter
dem Einfluß phidiasischer Kunst wohl nicht allzulange nach den
Parthenonskulpturen von einem unbekannten Künstler geschaffen
worden ist^) und jedenfalls dereinst als Kultbild in einem Heiligtume
des Gottes geweiht war.
Asklepios, bei Homer ^) als einfacher Arzt genannt, wurde in
Griechenland als orakel- und heilspendender Erdgeist verehrt und
hat daher die heilige Schlange als unzertrennliches Attribut bei sich.
Sein Kult ist dort seit alter Zeit an vielen Orten unter immer
') Abgesehen von kleineren Ergänzungen ist der größte Teil des
rechten Armes, sowie des Stabes und der Schlange erneuert.
2) Der Typus trägt das geistige Gepräge attischer Kunst dieser Epoche;
als Schöpfer wird Alkamenes vermutet, der um 420 zu Mantlnea das Tempel-
bild des Gottes gefertigt hat (Pausanias, Beschreibung Griechenlands 8,9, 1).
Doch auch zu Athen ist wohl um dieselbe Zeit für den am Südfuße der
Akropolis gelegenen heiligen Bezirk die Statue des Asklepios entstanden,
dessen Kult 420 aus Epidauros nach Athen kam; der maßgebende Einfluß
der hier ausgebildeten Darstellungen auf die Folgezeit läßt sich wenigstens
an den zahlreichen Votivreliefs noch erkennen und ist demgemäß auch
für die Rundplastik sehr wohl möglich, wenn auch aus dem vorhandenen
statuarischen Material bisher nicht erweisbar.
^) llias 4, 194.
STATUE DES ASKLEPIOS
NEAPEL. MUSEO NAZIONALE
STATUE DES ASKLEPIOS .33
stärkerer Betonung des ärztlichen Berufes des Heilgottes weit ver-
breitet gewesen und hat insbesondere zu Epidauros in Argolis,
später auch zu Pergamon in Kleinasien einen berühmten Mittel-
punkt gefunden. Dorthin pilgerten von nah und fern Kranke aller
Art um Genesung zu gewinnen und gesundeten durch mannigfache,
sonderbare Wunderkuren. Von Epidauros nach Rom überführt, hat
Asklepios von hier aus seinen Weltlauf weiter genommen.
Die künstlerische, bis in die spätrömische Zeit maßgebende
Darstellung des Asklepios ist in den letzten Jahrzehnten des fünften
Jahrhunderts v. Chr. von einem attischen Meister im Kreise des
Phidias ausgestaltet worden und kann in der hier abgebildeten Statue
als einem wertvollen Beispiele der zahlreich erhaltenen Monumente
gewürdigt werden. Die Göttlichkeit des Bildes, das bei geschlos-
senen Umrissen beinahe in architektonischer Regelmäßigkeit sich
aufbaut, wird durch die an eine Kultstatue erinnernde ehrwürdige
Erscheinung, sowie durch die Beifügung der breiten, wulstigen Woll-
binde im Haare, durch die heilige Schlange und den mit Binden
netzartig umhüllten Omphalos ') angedeutet. Im übrigen ist die
Gestalt über das Menschliche nicht erhaben, sondern tritt uns als
ein im besten Lebensalter stehender Mann entgegen, dessen breite
Körperbildung insbesondere durch die vom Gewände freigelassene
Brust sich offenbart und den Gott als Muster kräftiger Gesund-
heit darstellt. Die Kleidung entspricht derjenigen des griechischen
Bürgers. Das Himation ist in großen Flächen und einfachen Falten
um den Körper gelegt und nur an den beiden über den linken
Arm fallenden Enden reicher drapiert. Die festaufstehenden Füße
sind mit dicksohligen Sandalen bekleidet. Der linke, in dem Hi-
mation verborgene Arm ist in die Seite gestützt, der gesenkte
rechte faßt den dicken, in die Achselhöhle gestemmten Wander-
stab, der von der heiligen Schlange umringelt wird. So ist As-
klepios hier als der stets rüstige, von einem Kranken zum an-
dern eilende Arzt gedacht, der zwar im gegenwärtigen Augen-
blicke in ausruhender Stellung verharrt, aber in seinem Geiste
auch jetzt tätig erscheint. Denn er hat das Haupt, das von einem '
Vollbarte umrahmt ist und durch die üppige Fülle des Locken-
kranzes ein überaus ehrwürdiges Aussehen gewinnt, leise zur Seite
geneigt; die mächtige, stark vortretende Stirne, der nachdenkliche,
') Die Beziehung dieses sonst dem delphischen Apollon beigegebenen
Attributs zu Asklepios ist literarisch nicht überliefert; es scheint ebenso
wie die Schlange eine Erinnerung an den unter der Erde hausenden Gott
zu sein, wie man ihn ursprünglich sich gedacht hat. Übrigens wird auch
eine Übertragung des Omphalos als Symbol des chthonischen Kultus in
Delphi von Apollon auf Asklepios vermutet.
Denkmäler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl. 3 .
34 GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT
in die Ferne gerich-
tete Blick, die milden,
väterlichen Züge (tö
ueiAi/io\', TTpdov, das
Milde, Sanfte), lassen
den Betrachter das
Wesen des gereiften
und erfahrenen, stets
hilfbereiten Arztes in
seiner edelsten Form
erkennen. Gerade der
Ausdruck des Hauptes
erhebt neben der ge-
samten ehrwürdigen Er-
scheinung das Bildwerk
auch ohne starke Be-
tonung äußerer Mittel
der Darstellung über
das Menschliche empor.
Diese Vereinigung von
schlichter Einfachheit
und göttlicher Erhaben-
heit, die noch heutzu-
tage tiefe Wirkung aus-
übt und großes Ver-
trauen einflößt, wird im
Altertum dem im Heilig-
tum dem Kultbilde nahenden Gläubigen Trost im Leide und
zuversichtliche Hoffnung geweckt haben. So versteht man beim
Anblicke des ehrwürdigen Bildwerkes die zahlreichen, dem Askle-
pios gewidmeten Beinamen, die weniger fromme religiöse Scheu
als rührendes kindliches Vertrauen der Menschheit zu dem Heil-
gotte offenbaren: Die dichterisch erhabenen Bezeichnungen „xc'tpjaa
^ey' dvüp(ö:;Toiöi, xaxwv iieXxTip' öbuvdoov" („die große Wonne
für die Menschen, den Bezwinger böser Schmerzen")') und „rexrova
voD^uvia:: äuF,f)()V ymapxHoc . ., i'ipoa :TavToban:ctv dXxTfipa voüöcov"
(„den milden Schöpfer gliederstärkender Schmerzlosigkeit, den Heros,
der die mannigfaltigen Krankheiten abwehrt")-) haben ebenso wie
die das Wesen der Gottheit knapp und klar zusammenfassenden
Worte „xt'ewv 6 TipaöiaTÖc re xai cpiXavOp.corrÖTaToc" („der sanf-
Fig. 12. Asklepios von Melos
Marmorkopf. London, British Museum
') Hymnos auf Asklepios, homerische Hymnen 16, 4.
^) Pindar, pythische Oden 3, 6 ff .
STATUE DES ASKLEPIOS 35
teste und menschenfreundlichste der Götter") ') und ähnliche mehr
in der künstlerischen Darstellung des Asklepios monumentalen
Ausdruck gefunden.
Interessant ist die Beobachtung vom Wandel in Auffassung
und Bildung der Götter gerade bei Asklepios. Durch den Stil
maßgebender Neuerer, wie Skopas, sind etwa seit der Mitte des
vierten Jahrhunderts v. Chr. die Gestalten vielfach bewegt, das
pathetisch belebte Gesicht bekundet innere Erregung; praxitelischer
Einfluß wirkt oft auch fernerhin vorteilhaft ausgleichend '). Diese
veränderte Art kommt im Ideal des Asklepios dem Wesen des
Heilenden entsprechend in einem verbreiteten Typus trefflich
zur Geltung. Was wir gemäß dem streng gemessenen, feierlichen
Ernst der Olympier des fünften Jahrhunderts in dem Neapolitaner
Bildwerk mehr ahnen als schauen dürfen, das tritt jetzt in volle Er-
scheinung. Der sonst ruhig stehende Arzt ist nun in Stellung lebhaft
bewegt, demzufolge ist das Haupt, der Blick zur Seite nach auf-
wärts gerichtet. In dieser Situation muß der sehr große Kopf von
der Insel Melos (Fig. 12), dessen Deutung schon durch den Fund
im Bereich einer Asklepioskultstätte gesichert bleibt, nach den zu
Epidauros gefundenen Statuetten aufgefaßt und zu einer mächtigen
Statue ergänzt werden; er ist ein griechisches Original wohl aus
den letzten Jahrzehnten des vierten Jahrhunderts. Himmlisch er-
haben wirkt er schon durch die üppige Haar- und Bartfülle, Hei-
lung ersinnend, ersehnend schauen die Augen nach oben ohne be-
stimmtes Ziel träumerisch in die Ferne. Das Milde, Hoffnung-
erregende leuchtet hervor, die teilnahmsvolle Menschenfreundlich-
keit des Arztes, wie sie auch aus dem geöffneten Munde mit der
herabhängenden Unterlippe spricht, kann kaum stärker, kaum edler
hervorgehoben werden. Ein eigentümlicher Zauber glänzt in dem
Antlitz, unwillkürlich auf den hilfeflehenden Kranken warmen Trost
ausstrahlend. „Das Auge voll keuscher Reinheit und wohlwollender
Milde schlägt der Gott auf und es leuchtet daraus hervor eine
unsägliche Tiefe von Würdigkeit und sittlichem Adel." „ndvaYvov
xai VXecov dvaxiv(')v öuuct, ßdiloc äf|OnaC)Tov vnaörpä'rixei öef-ivoTrjToq
aiboi jaiyei'önc" (Kallistratos Beschreibungen von Statuen 10). Diese
Charakteristik hat im Asklepios von Melos monumentalen Ausdruck.
') Aelius Aristides 18: dg tö (ppeap toü 'AcjxXhttioö („auf den Heil-
brunnen des Asklepios"). (Dindorf, I. 409.)
^) Siehe Text zu „Demeter von Knidos" (Tafel 22l.
3*
36 GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT
TAFEL 11
DIOSKUR VOM MONTE CAVALLO ZU ROM
Die Tafel zeigt die eine der beiden gewaltigsten und besterhal-
tenen Kolossalfiguren, die uns das Altertum hinterlassen hat. Die
Seitenansicht ist auf den Figur 13 und 14 gegebenen Abbildungen
zu sehen. Das Gegenstück zeigt die gleiche Bewegung, nur mit
vertauschten Seiten. Es sind die beiden Dioskuren, die ihre bäu-
menden Rosse am Zügel führen, nach denen der Platz auf dem
Quirinal zu Rom, wo sie stehen, seit dem Mittelalter der „Monte
Cavallo" heißt. Als „cavalli marmorei" werden sie zuerst im
zehnten Jahrhundert erwähnt. Sie gehören zu den wenigen Antiken,
die niemals verschüttet waren. Sie standen bis 1589 auf einem
antiken, mächtigen, aufgemauerten und mit Marmorplatten verklei-
deten Postamente, und zwar pflegt man anzunehmen, daß sie zum
Schmucke der Hallen und Gärten der gewaltigen Konstantinsther-
men gehörten, von denen Reste in jener Gegend bis ins sechzehnte
Jahrhundert erhalten waren. Auf den Marmorplatten des Posta-
mentes standen in monumentalen großen Buchstaben die antiken,
dem Postamente offenbar gleichzeitigen, also wohl der konstan-
tinischen Epoche angehörigen Inschriften: „opus Fidiae" unter
der auf unserer Tafel abgebildeten Statue, welche das Pferd mit
der Linken zügelt, „opus Praxitelis" unter der anderen, welche
das Roß mit der Rechten zügelt. In dem Postamente waren, wie
dergleichen namentlich in späterer römischer Zeit sehr gewöhnlich
war, ältere Architekturstücke verbaut. Die Statuen selbst waren
viel älter als diese dem Standort nach vermutlich konstantinischen,
jedenfalls wegen des Gebrauchs von F statt Ph nicht wesentlich
früheren Inschriften; ihrer Arbeit nach können die Statuen kaum
später als die frühere Kaiserzeit sein.
Erst 1589 ward durch Sixtus V. diese spätantike Aufstellung
ersetzt durch eine neue, die im wesentlichen noch jetzt besteht.
Die beiden Kolosse wurden auf zwei neuen getrennten Basen neben-
einandergestellt und die schadhaften Teile ergänzt. Die Inschriften
wurden durch neue Kopien ersetzt. Endlich wurde 1786 der vom
Mausoleum des Augustus stammende Obelisk zwischen die beiden
etwas auseinandergerückten Kolosse gesetzt, und 1818 ward eine
große Brunnenschale hinzugefügt. Schon weit früher, vielleicht
sogar bereits vor Sixtus V., haben sie einen Brunnen vor sich gehabt.
DIOSKUR VOM MONTE CAVALLO
ROM
DIOSKUR VOM MONTE CAVALLO 37
Abgesehen davon, daß durch das jahrhundertelange Stehen
im Freien die Oberfläche des Marmors an den Vorderseiten
ganz zerfressen ist, sind die Kolosse vortrefflich erhalten und
nur unwesentliche Stücke sind ergänzt. Das größte moderne
Stück ist die Brust mit den Vorderbeinen des Pferdes auf un-
serer Tafel.
Die Inschriften gehören in eine Klasse mit verschiedenen ganz
ähnlichen, an römischen Postamenten gefundenen Bezeichnungen
berühmter Werke oder deren Kopien, wie opuc Polycliti, opus
Praxitelis, opus Bryaxidis u. a., die in gute Zeit, meist etwa das zweite
Jahrhundert n.Chr. zu datieren sind und eine vortreffliche authentische
Überlieferung über die Urheber der einst auf den Basen befind-
lichen Statuen darstellen. Unsere Inschriften, wenn auch erst bei der
Neuaufstellung in spätantiker Zeit angebracht, ersetzten doch ver-
mutlich ältere gleichlautende ; denn die prächtige neue Aufstellung
nach der Zerstörung des einst zugehörigen Baues erfolgte doch
eben wohl, weil die Statuen namhafte waren und ihre großen
Künstlernamen schon trugen. Jedenfalls haben wir von vornherein
keinen triftigen Grund, diese inschriftliche Überlieferung Lügen
zu strafen. Wir würden nur dann ein Recht dazu haben, wenn
es aus stilistischen Gründen unmöglich wäre die Statuen als das
zu verstehen, was die Inschriften von ihnen sagen, als Werke
d. h. Kopien nach Werken eines Praxiteles und Phidias. Dies
ist aber nicht nur nicht der Fall, sondern das Gegenteil tritt ein:
auch ganz abgesehen von allen Inschriften müßten wir, nur dem
Stile nach, die Statuen notwendigerweise dem Kreise des Phidias
zuschreiben.
Nun hat es einen älteren Praxiteles gegeben — es war wahr-
scheinlich der Großvater des berühmten jüngeren Trägers dieses
Namens — , der ein etwas jüngerer Zeitgenosse des Phidias war.
Die Namen der Inschriften stehen also nicht im Widerspruche mit
dem Stile der Statuen. Freilich besteht natürlich auch die Mög-
lichkeit, daß die Inschriften erst in der spätantiken Zeit ihrer Aus-
führung willkürlich erfunden worden sind, indem man einfach die
zwei berühmtesten Bildhauernamen wählte. Der Umstand, daß es
gerade zwei so berühmte, allbekannte Namen sind, wird immerhin
diese Möglichkeit als naheliegend erscheinen lassen.
Allein wie immer es mit den Namen bestellt sein mag, die
stilistische Analyse ist davon unabhängig. Die Stilformen sprechen
ihre deutliche, entschiedene Sprache. Hier ist keine Spur von
„Eklektizismus", hier herrschen nur rein phidiasische Formen.
Was der feine Blick des Bildhauers Canova schon erkannt
hatte, daß es in Rom kein Werk gebe, das der großartigen Eigen-
38 GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT
Fig. 13. Dioskur vom Monte Cavallo
art der Parthenonskulpturen so nahe komme wie jene Kolosse,
bestätigt sich bei jeder genaueren Vergleichung. Allerdings haben
wir hier nur römische Kopien, nicht Originale vor uns; die ver-
lorenen Originale waren ohne Zweifel von Bronze und entbehrten
der plumpen Stützen, welche im Marmor notwendig waren und
sich unter den Pferden sowie je neben dem vorschreitenden Beine
des Jünglings in Gestalt' eines Panzers befinden. Der Stil entspricht,
in allem einzelnen wie im ganzen, vollkommen dem von Fries und
Giebeln des Parthenon. Insbesondere charakteristisch ist die eigen-
artige Bildung der Rosse und die ganze schwungvolle Bewegung
der sie bändigenden Jünglinge, die genau entsprechend am Basis-
relief der Athena Parthenos wie am Parthenon fries vorkommt, und
nicht minder charakteristisch ist die Art der Stilisierung der Kör-
performen der Jünglinge und die ihrer Köpfe, zu denen sich unter
DIOSKUR VOM MONTE CAVALLO
39
Fig. 14. Dioskur vom Monte Cavallo
den attischen Reitern des Parthenonfrieses die nächsten Verwandten
finden ').
Der begeisterte, feurige Schwung, der die ganzen Gestalten durch-
zieht, erreicht in den herrlichen Köpfen seinen höchsten Ausdruck
(Fig. 15). Die Haare wehen im Winde zurück und umgeben wie
Strahlen das Haupt, und aus den weit offenen Augen sprüht gött-
liches Feuer. Das sind die lichten Söhne des Zeus, die Aioöxofmi, die
im Strahlenglanze mit ihren glänzend weißen Rossen sich tummeln,
') Diese kühn und genial begründete Annahme wird angezweifelt
und das Original aus stilistischen Gründen in die Zeit nach Alexander
den Großen datiert, doch gibt man auch auf gegnerischer Seite die in die
Augen fallende Verwandtschaft in Bildung der Jünglinge wie der Rosse
mit Parthenon und Phidias zu; in dieser Hinsicht ist der Vergleich mit
Tafel 17 sowie mit Fig. 17 und 18 lehrreich.
40 GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT
die JTtbXcüv biuaTipeq
(Alkman), die Xeuxö-
TTcoXoi (Pindar), die
i'rijroiöi |aap|aaipovTS
(Euripides).
In die erhobenen
Hände sind natürlich
die Zügel zu ergän-
zen, in die gesenkten
je eine Lanze. Ver-
mutlich waren, wor-
auf je ein Loch auf
dem Scheitel deutet,
vergoldete Sterne auf
den Köpfen ange-
bracht; denn Sterne
gehören zu den ge-
wöhnlichsten Sym-
bolen derDioskuren.
Daß ihnen hier die
eiförmigen Mützen,
die Piloi, fehlen,
kommt daher, weil
zur Zeit der Ent-
stehung der Origi-
nale dies Attribut
der Dioskuren über-
haupt noch unbe-
kannt war; es verbreitete sich erst in der Epoche nach Alexander.
In ihrer ursprünglichen Aufstellung standen die vier Figuren,
die Rosse wie die Lenker, nicht wie jetzt in zwei rechten Winkeln
gebrochen, sondern in einer Flucht vor einer Wandfläche angeordnet.
Die Mitte zwischen den beiden Gruppen bildete vielleicht eine
Brunnenanlage. Denn „wie sie nach schwerer Arbeit sich selbst
und ihre Tiere am frischen Naß erquicken, so teilen sie dieses
Labsal, Wasser spendend, auch anderen gnädig mit. Als Wasser-
spender werden sie schon sehr frühzeitig bei den Hellenen im
Kult verehrt und im Bilde veranschaulicht".
Fig. 15. Kopf eines der Dioskuren
vom Monte Cavallo
NIKE DES PAIONIOS 41
TAFEL 12
NIKE DES PAIONIOS
OLYMPIA.
Vor der Ostseite des Zeustempels zu Olympia stand* einst in-
mitten einer Fülle anderer Statuen, doch sie alle noch überragend,
auf dreiseitigem Pfeiler die Statue der herabschwebenden Nike,
welche in verstümmeltem Zustande bei den deutschen Aus-
grabungen gefunden wurde; in der von dem Bildhauer Grüttner in
Berlin hergestellten Ergänzung ist sie abgebildet. Die Statue besteht
aus parischem Marmor und ward im Dezember 1875 in ihren Haupt-
teilen wiedergewonnen, zu welchen später noch verschiedene weit
verschleppte Splitter kamen. Leider ist das Gesicht nicht gefunden
worden ; hierfür bietet einen gewissen Ersatz eine in Rom zutage
gekommene Kopie des Kopfes aus römischer Zeit, die für den Ruhm
des Werkes im Altertume zeugt. Die Statue maß bis zu den
Flügelspitzen gegen 2,90 m Höhe; mit der dreieckigen, nach oben
sich verjüngenden Basis aber erreichte das Ganze fast die Höhe
von 12 m.
Einer der Basisblöcke trägt die folgende Inschrift: Meöadvioi
xai NaujrdxTioi dveö-ev Ali 'GXufaJTiDJ bexarav d;TÖ tcov TToXefii'cov.
Ilaicovioc e7ioir\(5E Mevbaioc xai TdxpcoTTpta iroicov eril tov vaöv
evi'xa. „Die Messenier und die Naupaktier haben (dies Bildwerk)
dem olympischen Zeus als Zehnten von den Feinden geweiht,
Paionios von Mende hat es gemacht, der auch gesiegt hat, wie er
die Akroterien auf den Tempel machte." Nach Pausanias Bericht
(V, 26, 1) bezogen die Messenier das Denkmal auf den Erfolg
von Sphakteria 425 v. Chr., bei welchem messenische Hilfstruppen
wesentlich mit beteiligt waren; Pausanias selbst dachte an die von
ihm IV, 25 erzählten Ereignisse um 455 v. Chr., wo die Messenier
von Naupaktos das akarnanische Oiniadai einnahmen, aber freilich
bald wieder aufgeben mußten. Beide Annahmen sind nur antike
Vermutungen, nicht zuverlässige Überlieferung; sie sind beide nicht
haltbar. Die zu der Fassung der Inschrift und den historischen
Verhältnissen einzig passende Zeit ist vielmehr die unmittelbar
nach dem Frieden des Nikias (421 v. Chr.), und die Statue galt
den verschiedenen erfolgreichen Kämpfen, welche die Messenier
und Naupaktier während des Archidamischen Krieges bestanden
haben. Die Errichtung der alles überragenden Statue unmittelbar
42 GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT
vor dem Zeustempel war zugleich eine starke Demonstration gegen
das sonst in Olympia dominierende Sparta, die nur verständlich
ist in einer Zeit, in der Sparta mit Elis zerfallen war, wie 420,
wo Elis im Bunde mit Argos und Athen stand; auch machte man
eben damals Versuche, die messenischen Emigranten von Naupaktos
wieder in die Heimat zurückzuführen.
Nur mit dieser Datierung der Statue ist auch ihr Stil ver-
einbar, ja er weist mit Bestimmtheit auf dieselbe Zeit hin. Die
nächsten stilistischen Analogien sind gewisse um diese Zeit er-
richtete Akroteriengruppen eines Tempels zu Delos und die Skulp-
turen des Nereidendenkmals zu Xanthos. Um oder gar vor der
Mitte des fünften Jahrhunderts, dürfen wir nach dem Stande unserer
sicheren kunstgeschichtlichen Kenntnisse mit Bestimmtheit sagen,
war jene eigentümliche die Nike charakterisierende Behandlung des
Gewandes, das sich feucht an den Körper anlegt und dessen Formen
völlig durchscheinen läßt und das vom Winde in freie flatternde Be-
wegung versetzt wird, völlig unmöglich. Es bedurfte dazu erst
einer längeren Entwicklung, die wir an den erhaltenen datierbaren
Denkmälern noch verfolgen können.
Die Akroterien auf dem Zeustempel, mit denen Paionios in
der Inschrift sich rühmt — in einer Konkurrenz offenbar — ge-
siegt zu haben, waren nicht etwa, wie man auch angenommen hat,
die von Pausanias wahrscheinlich irrtümlich dem Paionios zuge-
schriebenen Statuen des Ostgiebels, sondern die vergoldeten Niken
auf den Firsten des Tempels, die im Motiv der von den Messe-
niern geweihten Marmorstatue wohl sehr geglichen haben. Diese
Niken (Pausanias erwähnt V, 10, 4 nur eine über der Ostseite,
doch ist wohl eine gleiche im Westen vorauszusetzen) scheinen
um dieselbe Zeit wie die der Messenier aufgestellt worden zu sein.
Paionios stammte aus der ionischen Stadt Mende an der thra-
kischen Küste. Aber auch durch seine Kunstart gehört er in den
ionischen Kreis. Die Technik der Marmorarbeit beherrscht er mit
außerordentlichem Geschick. Sie ermöglicht es ihm, der Kühnheit
seiner Phantasie vollen Ausdruck zu verleihen.
Aus dem Himmel hernieder durch die Lüfte schwebend —
so hat er die Nike gedacht, und dies wiederzugeben ist ihm wirk-
lich gelungen. Ja, man darf wohl sagen, es gibt in der ganzen
Plastik aller Zeiten und Völker keine menschliche Figur, welche
das Schweben und Fliegen so glaubwürdig darstellte, daß man es
der Natur selbst nachgebildet meinen möchte. Leise vornüberge-
neigt, das linke Bein etwas vorbewegend, die Arme ausgebreitet,
die wie ein Segel hinter sich den Mantel halten, die Flügel ge-
hoben, so schwebt sie hernieder, den Kopf geneigt und, wie den
PHOI.E. VVASMUTH A,-G., BERLIN
NIKE DES PAIONIOS, OLYMPIA
ERGÄNZT VON RICHARD GRÜTTNER IN BERLIN
NIKE DES PAIONIOS 43
ganzen Körper, ein wenig nach ihrer Rechten gewendet, wie denn
auch der linke Flügel höher gehoben ist. Durch die Luft kommt
sie daher, und unter ihren Füßen zur Seite fliegt der Adler mit
ausgebreiteten Schwingen, gleich ihr, der Siegesgöttin, ein Bote
des Zeus, des olympischen Gottes.
Die Marmormasse unter den Füßen und dem Gewände, aus
welcher der Adler herauskommt, ist als Luft gedacht und war ge-
wiß dementsprechend bemalt. Das technisch notwendige Gleich-
gewicht gegen die vornübergeneigte Stellung der Göttin gaben der
schwere Mantel und die Flügel. Mit großem Geschick hat der
Künstler fast alle Stützen vermieden und dazu die flatternden Ge-
wandenden benutzt. Die Göttin ist mit dorischem Peplos bekleidet,
der über dem Überschlag gegürtet ist; auffallenderweise ist er an
beiden Seiten offen und besteht aus zwei getrennten Hälften. Das
linke Bein tritt durch die Verschiebung des Gewandes nackt her-
aus. Die Formen des Körpers heben sich äußerst wirkungsvoll
ab von dem prächtig bewegten Hintergrunde des bauschenden, flat-
ternden Gewandes. Das Haar ist aufgenommen und größtenteils
unter breiten Binden verhüllt. Unter der Brust ist ein bronzener
Gürtel hinzuzudenken. In der Ansicht von unten, für welche sie
berechnet war, erschien die Statue noch viel schlanker und natür-
licher bewegt als in der hier abgebildeten Ansicht aus gleicher Höhe.
Die wundervolle Schöpfung hat schon im Altertum zahlreiche
freie Nachbildungen erfahren; wir kennen aber kein anderes Werk,
das ihr gleichgekommen wäre.
III. ANDERE SKULPTUREN DES FÜNFTEN
JAHRHUNDERTS
Während uns die wichtigsten Meisterwerke der antiken
Plastik, die bedeutendsten Tempel- und Votivstatuen, wenn über-
haupt, so zumeist nur in Kopien erhalten sind, besitzen wir von
Skulpturen, die dekorativen Zwecken dienten, und namentlich von
Reliefs der Gräber und Heiligtümer manche überaus wertvolle
Originale.
Das hervorragendste aller erhaltenen Weihreliefs aus Heilig-
tümern ist Tafel 13, ein Relief, das, wenn auch flach gehalten
doch durch seine Größe und Sorgfallt der Ausführung uns fast
verlorene Statuen ersetzen kann; der Stil führt in den Kreis des
Phidias. Nach der älteren Weise dieser Reliefs sind hier nur die
Gottheiten, denen es geweiht war, unter sich dargestellt. Später
pflegte der Weihende, oft mit seiner ganzen Familie, in kleiner
Figur daneben angebracht zu werden.
Ebenfalls aus der phidiasischen Schule, aber aus etwas jün-
gerer Zeit als das vorige, stammt das Orpheusrelief (Tafel 14),
das vielleicht auch ursprünglich in einem Heiligtume geweiht war,
obwohl) es nicht Gottheiten, sondern einen Vorgang aus der Heroen-
sage darstellt.
Diese zwei auf drei Figuren beschränkten Reliefs geben einen
vorzüglichen Begriff von jener stillen Hoheit, welche die religiösen
Kompositionen phidiasischer Kunst auszeichnete.
Nicht ein Relief, aber etwas Verwandtes ist die Medusen-
maske (Tafel 15), deren Original einst in einem Tempel geweiht
und an der Wand aufgehängt war.
Unter den dekorativen Skulpturen nehmen die Reste des
Marmorschmuckes des Parthenon in Athen die erste Stelle ein.
Es ist noch eine größere Anzahl der Metopen erhalten, welche in
Hochrelief namentlich Kämpfe mit den Kentauren schildern. Künst-
lerisch noch bedeutender sind die Reliefs des Frieses, welcher
den Festzug der Panathenäen darstellt und aus welchem Tafel 16
und 1 7 mit Figur 16 — 18 Proben bieten. Das Schönste und Großartigste
DIE ELEUSINISCHEN GOTTHEITEN 45
aber waren die Statuen der beiden Giebelfelder, von denen freilich
nur wenige und diese verstümmelt auf uns gekommen sind. Tafel 18
und 19 sind vier der besten dieser Statuen wiedergegeben. Der
Ostgiebel, dem sie angehörten, stellte die Geburt oder das erste
Auftreten der Athena im Kreise der olympischen Götter dar; der
Westgiebel zeigte den Streit der Athena mit Poseidon um das
attische Land. Die Giebelstatuen wurden erst unmittelbar vor dem
Peloponnesischen Kriege gearbeitet und zeigen gegenüber den Ko-
pien der Athena Parthenos und Lemnia schon eine wesentliche
Weiterbildung des phidiasischen Stiles. Wie das Gewand immer
dünner und leichter und wie feucht anklebend gebildet wurde, das
lehrt namentlich ein Vergleich der Mädchenstatue vom Erech-
theion (Tafel 20) mit jenen älteren Athenafiguren. Auch diese
Statue gehört zu den dekorativen Skulpturen, indem sie als Stütze
verwendet war.
TAFEL 13
DIE ELEUSINISCHEN GOTTHEITEN
RELIEF AUS PENTELISCHEM MARMOR
ATHEN, ZENTRAL-MUSEUM.'
Es ist unter den Denkmälern streng"' religiöser Kunst der
Griechen das schönste, großartigste und best erhaltene, das, 1859
beim Bau eines Schulhauses im alten Heiligtum der großen Göt-
tinnen zu Eleusis gefunden, sich jetzt zu Athen befindet und unter
dem Namen das „eleusinische Relief" berühmt geworden ist.
Drei etwas überlebensgroße Figuren sind auf einer einzigen
gewaltigen Platte in ziemlich flachem Relief gebildet. Die Platte
ist vollständig; sie hat nur unten und oben einen vorspringenden
Rand; der untere dient als Standplatte für die Figuren, der obere
als schmückende Krönung. An den Seiten fehlt jeder Rahmen.
Diese Einfachheit ist der alten Zeit eigen. Die Form der Platte
ist genau diejenige, welche im fünften Jahrhundert auch bei den
gewöhnlichen kleineren Weihreliefs die Regel ist. Erst die spätere
Zeit pflegte kräftige pfeilerförmige Rahmen an den Seiten hin-
zuzufügen.
Die Platte muß im Heiligtum aufgestellt gewesen sein wie
andere Votivtafeln auch. Die leichten kleinen Weihtäfelchen des
alten einfachen Kultus pflegten aufgehängt zu werden. Die schwereren
46 ANDERE SKULPTUREN DES 5. JAHRHUNDERTS
Marmorplatten wurden entweder mittels eines Zapfens auf einem frei-
stehenden Pfeiler befestigt, oder sie wurden einfach an die Wand,
besonders die einer Nische, gelehnt. Das eleusinische Relief, das
nur eine monumentale Vergrößerung einer Votivtafel ist, muß man
sich in letzterer Weise aufgestellt denken.
Nach der wahrscheinlichsten Deutung ist hier dargestellt, wie
der Knabe Triptolemos von den beiden großen Göttinnen von Eleusis,
Demeter und Köre, mit der Frucht des Feldes, den Ähren, ausge-
stattet und mit dem Auftrage, die Kenntnis des Feldbaues in die
weite Welt zu verbreiten, ausgesandt wird. Allerdings weicht das
Relief von der sonst herkömmlichen Darstellung dieses Vorganges
wesentlich ab. Doch wird dies aus künstlerischen Gründen zu er-
klären sein, indem der Wagen, mit dem Triptolemos sonst zu fahren
pflegt, die einfach strenge Komposition, die sich auf drei ruhig auf-
recht stehende Figuren beschränkt, gestört haben würde.
Der Knabe empfängt etwas von der links stehenden Göttin,
welche das Szepter mit der Linken aufstützt. Wahrscheinlich war
es ein Büschel Ähren, der ursprünglich durch Bemalung ausge-
drückt war. Die andere Göttin, an deren linke Schulter eine lange
Fackel gelehnt ist, legt die Rechte auf den Kopf des Knaben; vor
dem Stirnhaar des letzteren befindet sich ein Bohrloch, das einen
metallenen Gegenstand festhielt; man vermutet darin einen Kranz,
den die Göttin dem Knaben aufsetzte.
Daß die beiden Frauen Demeter und Köre sind, steht außer
Zweifel; allein welche die Mutter, welche die Tochter sei, ist nicht
sicher. Im Altertum gaben vermutlich, der damals herrschenden
Sitte gemäß, gemalte Inschriften über den Figuren bestimmten Auf-
schluß über deren Bedeutung. Da eine feste Typik, welche De-
meter und Köre unterschieden hätte, wenigstens auf den Denk-
mälern des fünften Jahrhunderts noch keineswegs nachzuweisen
ist, so können wir die beiden Figuren auch nicht ohne weiteres
benennen. Der Umstand, daß die eine das Szepter, die andere die
Fackel trägt, daß die eine, wie es scheint, die Ähren übergibt,
die andere einen Kranz aufsetzt, reicht ebenfalls nicht zur Unter-
scheidung hin. Jene Attribute sind den beiden Göttinnen gemein-
sam, ebenso wie sie beide in gleicher Weise an Triptolemos Aus-
sendung beteiligt sind. Allerdings scheint die Figur links durch
das Szepter und die ihr zugewandte Haltung des Triptolemos als
die an Würde und Rang hervorragendere gekennzeichnet, wonach
man in ihr Demeter gesehen hat. Jene Züge passen aber auch
zu Persephone, der Heiligen, der Herrin (äyvi], dyaiM], bKönoiva,
dvaööa). Dagegen hat der Künstler die beiden Gestalten offenbar
durch die Tracht des Gewandes sowohl wie der Haare und durch
DIE ELEUSINISCHEN GOTTHEITEN
ATHEN, ZENTRALMUSEUM
3
DIE ELEUSINISCHEN GOTTHEITEN 47
die Art der Körperhaltung — aber nicht durch die Körperformen
— unterschieden. Die Göttin zur Rechten trägt den weichen, dünnen
ionischen Linnenchiton mit Oberärmeln und darüber den Mantel.
Es war dies zur Zeit der Entstehung des Reliefs in Athen die
ältere Modetracht der Frauen, die eben damals begann, durch den
dorischen ärmellosen, wollenen Peplos mehr und mehr verdrängt
zu werden. Diesen letzteren trägt denn auch die andere Göttin,
und zwar gegürtet und mit einem langen Überschlag versehen,
dessen Enden vom Rücken über die Schultern gelegt sind. Diese
Tracht ward in Athen damals zunächst besonders von jungen Mäd-
chen angenommen. Unter den Göttinnen ist es die Parthenos, die
Jungfrau Athena, die sie zuerst annimmt. Die jungen Mädchen,
die Korai, welche die Halle am Erechtheion stützen, sind in der-
selben dargestellt. Dies deutet darauf hin, daß die Köre unseres
eleusinischen Reliefs in der Gestalt links zu erkennen ist. Frei-
lich ward auch Demeter in eben dieser Tracht sicher schon in der
zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts dargestellt; allein hier, wo
eine Unterscheidung offenbar beabsichtigt ist, wird jene Tracht doch
wohl Köre bezeichnen sollen.
Die Haare dieser Göttin zur Linken fallen lose ohne jeden
Schmuck auf den Nacken herab; die Haare der andern sind in
die Höhe genommen. Wenn dies, wie es offenbar hier der Fall
ist, einen Unterschied von Tochter und Mutter andeuten soll, so
kann kaum ein Zweifel sein, daß das lose herabhängende Haar
dem Mädchen zukommt, das aufgesteckte der Frau. Denn es ist
uns ausdrücklich überliefert, allerdings erst aus jüngerer Zeit, daß
das unverheiratete Mädchen das Haar hängen ließ, die Frau es
aufsteckte '). Die Denkmäler zeigen uns, daß dies durchaus nicht
immer der Fall war; allein wo, wie hier, ein Altersunterschied durch
die Haartracht angedeutet werden soll, ist derselbe wohl nur in
jenem Sinne aufzufassen.
Zu der Annahme, daß die Göttin links Köre, die rechts De-
meter sei, paßt auch die Verschiedenheit ihrer Haltung sehr gut.
Die herbe, düstere Strenge scheint für die hehre Jungfrau, die
Herrin der Unterwelt ebenso bezeichnend, wie das weichere mildere
Wesen für die mütterliche Demeter. -)
') Callimachus, hymn. in Cer. v. 5 nebst dem Scholion dazu. Epigramm
des Antipater Anthol. Pal. 6, 276.
-) Neuerdings wird wohl allgemein in der Gottheit links die Mutter,
in der rechts die Schwester des Triptolemos erkannt. Schon der Umstand,
daß erstere die Ähren reicht, paßt entschieden für Demeter Karpophoros,
auch der Typus der Gestalt und Gewandung ist für sie in dieser Form
nachweisbar.
48 ANDERE SKULPTUREN DES 5. JAHRHUNDERTS
Triptolemos der Knabe steht zwischen beiden, ganz dem hin-
gegeben, was die hohen Göttinnen mit ihm vornehmen. Er trägt
einen langen Mantel, der ihm auf der rechten Schulter liegt und
dessen Ende er mit der Linken festhält. Das Haar des Oberkopfes
ist nach vorn gekämmt und über der Stirne in einen Knoten ge-
schlungen. Es ist dies eine Haartracht der Knaben, die besonders
in der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts v. Chr. in Mode war.
Der Stil des Reliefs ist durchaus der attische der phidiasischen
Periode. Durch genauere Vergleiche mit datierbaren Skulpturen
läßt sich das Werk in die Zeit zwischen 450 und 440 setzen;
es wird ein wenig älter sein als der Fries des Parthenon. Geist
und Ausführung entsprechen vollständig dem, was wir von phidia-
sischer Kunst wissen, der wir dieses herrliche Werk unbedenklich
zurechnen dürfen.
Die religiöse Kunst des Phidias zeichnete eben diese Kon-
zentration auf eine große Wirkung, die erreicht wird durch Fern-
halten jedes nebensächlichen störenden Elements, und die Art jener
Wirkung aus, die stille Ruhe, der feierliche, fromme Ernst der nur
leise bewegten Figuren.
TAFEL 14
ORPHEUS UND EURYDIKE
MARMORRELIEF. NEAPEL, MUSEO NAZIONALE
Dieses im Museo Nazionale zu Neapel befindliche Relief unbe-
kannter Provenienz ist aus pentelischem Marmor gearbeitet und eine
ziemlich gute, etwa aus der augusteischen Epoche stammende Kopie
eines verlorenen attischen Reliefs, das in den letzten Dezennien des
fünften Jahrhunderts entstand und einen Meister der phidiasischen
Schule zum Urheber hatte. Es sind noch andere Kopien dieses
Reliefs erhalten ; doch ist das hier wiedergegebene Neapler Exem-
plar das beste. Es hat auch den Vorztig antiker, griechischer
Namensbeischriften, die in absichtlich altertümlicher Schreibart über
den Köpfen der Figuren stehen. Bei Orpheus sind die Buchstaben
von rechts nach links zu lesen, wie auch die Stellung dieser Figur
den beiden anderen entgegengesetzt ist. Doch auch ohne die
Inschriften wäre die Bedeutung der Gestalten unzweifelhaft.
ORPHEUS UND EURYDIKE
NEAPEL, MUSEO NAZIONALE
F. BRUCKMANN A.-G., MÜNCHEN
ORPHEUS UND EURYDIKE 49
Orpheus hat durch die Macht seines Gesanges und seines
Leierspieles die sonst unerbittlichen Unterweltsgottheiten gerührt
und erweicht; er hat seine geliebte Gattin Eurydike wieder er-
halten. Da vergißt er des Gebotes, auf dem Wege sich nach ihr
nicht umzukehren. So zeigt uns das Relief das Paar; Orpheus
hat sich nach der Geliebten umgewendet; er sieht sie, und der
beiden Blicke versenken sich ineinander; sie haben sich wieder-
gefunden. Sie legt dem Gatten, seines Besitzes sich zu verge-
wissern, die Hand auf die Schulter. Doch zur gleichen Zeit er-
greift Hermes, der Totenführer, die Rechte Eurydikes, um sie
wieder zu den Schatten zu führen: die sich soeben in Liebe ge-
funden, werden mit leiser, aber unerbittlicher Gewalt von neuem
getrennt.
Orpheus ist als der Sänger gekennzeichnet durch die Leier,
die er in der Linken hält, als Thraker durch die hohen, bis zu
den Knien reichenden Stiefel, die aus Rehkalbleder zu denken
sind, und durch die Fuchspelzmütze, die ct\con:exfi, die ihm den
Kopf bedeckt '). Er trägt im übrigen einen gegürteten Chiton
griechischer Sitte und eine auf der rechten Schulter geknüpfte
Chlamys, welche auch den linken Arm nebst der Hand verhüllt.
Das Gesicht des Orpheus ist modern ergänzt, ebenso wie seine
rechte Hand, die aber, wie die übrigen Repliken zeigen, ähnlich
bewegt war; der Gestus begleitet seine Worte, die er zu sprechen
im Begriffe ist. Nach anderer Auffassung will er die Hand der
Gattin fassen oder hat ihr Antlitz entschleiert.
Eurydike trägt den dorischen Peplos in der Weise, wie sie
in der phidiasischen Zeit zu Athen üblich war. Das gegürtete
Gewand bildet einen Bausch über dem Unterleib; der Überfall
des auf den Schultern zusammengesteckten Kleides reicht bis
zu eben jenem Bausch. Über den Kopf hat sie ein Schleiertuch
geworfen, das auf ihre Schultern fällt. Durch die völlige Profil-
stellung ihres linken Fußes ist angedeutet, daß sie nach rechts
hin zu schreiten im Begriffe war und nur jetzt innehält; die ver-
schiedene Fußstellung des Orpheus zeigt an, daß er sich umge-
dreht hat.
Hermes ist als Gott durch etwas größere Gestalt ausgezeichnet.
Auch er hält inne im Schreiten nach rechts. Er trägt, wie ge-
wöhnlich in der älteren Kunst, einen Chiton und darüber eine
Chlamys, die auf der rechten Schulter geknüpft ist. Der Chiton
ist mit einem breiten Riemen gegürtet und bildet darunter einen
kleinen Bausch. Im Nacken hängt Hermes sein breitkrämpiger
') Vgl. Herodot 7, 75. Xenophon Anab. 7, 4, 4.
Denkmäler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl.
50 ANDERE SKULPTUREN DES 5. JAHRHUNDERTS
Reisehut, der Petasos, der an einem (plastisch nicht ausgedrückten)
Bande um den Hals befestigt wird. Der vorstehende Rand des
Petasos ist modern ergänzt. Das gelockte Haar ist kurz geschnitten,
wie bei den die athletischen Übungen pflegenden Jünglingen. An
den Füßen trägt er Sandalen ; eine andere Replik (die des Louvre)
gibt ihm Stiefel. Das Kerykeion hält er nicht. In anmutiger,
fast verlegen schüchterner Weise faßt seine Rechte den Chiton.
Das ganze Auftreten des Gottes ist still bescheiden. Er handelt
in höherem Auftrag und führt ihn so milde aus, wie er es nur
vermag.
Die ruhigen, großen Züge der Köpfe, die reichen, schönen
Falten der Gewänder und die gesamte Stilisierung sind durchaus
von der Art wie am Parthenonfries und an den verwandten Werken
der phidiasischen Schule aus der Epoche rund um 430 v. Chr.
Vor allem bewundernswert ist aber, wie hier auf so engem
Räume mit so still und ruhig bewegten Figuren bei noch völligem
Fehlen detaillierter, physiognomischer Ausprägung der Gefühle doch
eine solche Fülle von Handlung und eine solche Tiefe der Emp-
findung zum Ausdruck gekommen ist. Eine Schöpfung dieser Art
war nur in der phidiasischen Zeit möglich. Die Komposition ist
vollendet; man kann nicht den kleinsten Zug an ihr ändern, ohne
das Ganze zu zerstören.
Die Bestimmung des einstigen Originalreliefs zu Athen ist un-
gewiß. Jedenfalls war es aber nicht ein bloßer „Wandschmuck",
wie man gemeint hat; denn dergleichen gab es in jener Zeit
noch nicht. Das Relief kann sehr wohl religiöse Bedeutung gehabt
haben; es schließt sich in seiner Form und Gestalt durchaus an
die älteren Votivreliefs an ; es war eine selbständige Tafel, oben
mit einem Randleistchen abgeschlossen, einst auf einem Pfeiler
oder in einer Nische aufgestellt. Eine neuerdings vielfach ange-
nommene aber ungewisse Vermutung ist die, daß es ein von einem
im Wettkampfe siegreichen szenischen Choregen zum Danke er-
richtetes Weihrelief ist, das den Hauptinhalt der Tragödie, mit
welcher der Chorege siegte, in gedrängter Fassung zum Ausdruck
bringt: dann hätte es dereinst mit zwei ähnlichen Darstellungen,
etwa mit dem Peliadenrelief, vereinigt, den in einer Trilogie an
den großen Dionysien zu Athen errungenen Sieg verewigt; es wäre
der Dreiverein in einen tempelartigen Bau eingegliedert zu denken
nahe dem Theater an der Tripodenstraße, wo noch heute das zier-
liche Lysikratesdenkmal, des Dreifußes freilich längst beraubt,
einsam dasteht. Jedenfalls erscheint durch das ergreifende Ethos,
welches die Handlung leise durchbebt, der abgeklärte Adel der
attischen Tragödie insbesondere des Sophokles verkörpert.
MEDUSA 51
Die Schönheit der Komposition veranlaßte kunstsinnige Römer
sich Kopien davon anfertigen zu lassen, deren eine das Neapler
Relief ist.
TAFEL 15
MEDUSA
MASKE VON MARMOR. MÜNCHEN, GLYPTOTHEK.
Diese berühmte Maske befand sich ehemals im Palaste Rondanini
zu Rom, wo sie von Goethe bewundert wurde. Sie pflegt die
Medusa Rondanini genannt zu werden. Sie ist eine treue, römische
Kopie etwa augusteischer Epoche nach einem verlorenen grie-
chischen, höchst wahrscheinlich in Bronze ausgeführten Originale.
Es sind uns noch mehrere Repliken, d. h. andere Kopien nach
demselben Originale erhalten, die für die Rekonstruktion der Stil-
formen des Urbildes von Wichtigkeit sind. Diese Repliken waren
vielleicht als ct7T<)rp6::Taia („Unheil abwehrende Bilder") am Eingang
römischer Gebäude angebracht. An dem hier wiedergegebenen,
gut gearbeiteten Münchner Exemplare sind nur unbedeutende Teile
der Schlangen und Haare, sowie die äußerste Spitze der Nase er-
gänzt. Die Maske ist frei gearbeitet; sie war ohne Zweifel be-
stimmt, an irgend einer Wand befestigt, d. h. aufgehängt zu werden.
Niemals aber hat sie, wie man fälschlich gemeint hat, in einem
bestimmten Zusammenhange mit einem Architekturgliede gestanden;
sie war kein dekoratives, tektonisches, sondern ein selbständiges
Werk, die Weihgabe in einem Heiligtum.
Medusa erscheint hier nicht in der alten Weise fratzenhaft
verzerrt, sondern in reiner menschlicher Schönheit. Doch hat der
Künstler zur Charakteristik die Flügel und die zwei Schlangen
benutzt, die, um den Kopf geringelt, sich unter dem Kinn zu einem
Knoten verschlingen. Ferner gab er ihr große geöffnete Augen
und gesträubtes Haar. Zum Hauptträger des Ausdruckes aber
machte er den Mund, den er von ungewöhnlicher Breite und etwas
geöffnet bildete, so daß die obere Zahnreihe sichtbar ward.
Man glaubte früher, die Medusa sei hier sterbend gedacht;
Goethe meinte zuerst in dieser Maske „das ängstliche Starren des
Todes" ausgedrückt zu sehen. Es war das ein Irrtum. Dem ganzen
Kreise von Werken, in den sich die Rondaninische Medusa historisch
52 ANDERE SKULPTUREN DES 5. JAHRHUNDERTS
einreiht, liegt es vollständig fern, eine Sterbende, im Tode Er-
starrende darstellen zu wollen. Sie wollen nur in menschlich
schöner Form ausdrücken, was die alten Typen durch die rohe
Verzerrung taten, die zwingende Gewalt des dämonischen Wesens,
dessen Anblick dem Sterblichen das Blut in den Adern gerinnen,
ihn zu Stein erstarren läßt. Dies ist dem Künstler vortrefflich
gelungen durch den Ausdruck schauriger Kälte, den er dem
Gesichte zu verleihen wußte, durch den breiten, geöffneten Mund,
das mächtige Kinn und die großen, starren, durch die breite Nase
weit auseinanderstehenden Augen.
Auch der streng lineare, für die Maske besonders passende
Aufbau steigert jene Wirkung des Dämonischen. Die wagerecht
ausgebreiteten Flügel bilden einen horizontalen oberen Abschluß,
der auf das Ganze darunter gleichsam einen düster lastenden
Druck ausübt. Nach unten konvergieren die Linien in der Art
eines gleichschenkligen Dreiecks und treffen zusammen da, wo
der schreckhafte Ausdruck des Ganzen sich konzentriert und in
dem halbgeöffneten Munde seine größte Stärke erreicht.
Man hat die Maske früher in spätgriechische Zeit gesetzt;
mit Unrecht; denn ihr Stil weist das Original mit voller Bestimmt-
heit noch bis an das Ende des fünften Jahrhunderts. Ein großer
Künstler muß ihr Schöpfer sein. Die Behandlung der Formen
enthält charakteristische Züge, welche gestatten, in der Maske die
Schöpfung des Künstlers Kresilas zu vermuten, desselben, auf
welchen der Perikles (Tafel 50) und wahrscheinlich auch die
Athena Velletri (Tafel 7) zurückgehen.
TAFEL 16/17
RELIEFS VOM PARTHENONFRIES
PENTELISCHER MARMOR. GÖTTERGRUPPE VOM OSTFRIES
ATHEN, AKROPOLISMUSEUM. REITER MIT BÄUMENDEM PFERD
VOM WESTFRIES ATHEN, NOCH AM TEMPEL. REITERGRUPPE
VOM NORDFRIES, LONDON, BRITISH MUSEUM.
Rings um die äußere Cellawand des 438 eingeweihten Tem-
pels der Athena Parthenos auf der Akropolis zu Athen lief
ein fast 160 m langer, 1 m hoher Fries in Flachrelief, der seit
RELIEFS VOM PARTH ENON FRI ES
ATHEN, AKROPOLISMUSEUM
UND LONDON, BRITISH MUSEUM
RELIEFS VOM PARTHENONFRIES
53
1816 großenteils im British
Museum zu London aufbewahrt
wird. Dargestellt sind die feier-
liche, an den großen Panathenäen
erfolgte Übergabe des Festge-
wandes, des sogenannten Peplos,
an Athena, welche nach des
Künstlers Idee in Gegenwart
der olympischen Götter statt-
fand, und der aus diesem An-
lasse veranstaltete Festzug der
Bevölkerung der Stadt auf die
Burg. Die sowohl aus dem
Göttervereine als auch aus dem
Festzuge hier abgebildeten Pro-
ben gewähren in Verbindung
mit den auf Tafel 18 und 19
wiedergegebenen Figuren aus
dem Ostgiebel des Parthenon von
Fig. 16. Kopf des „Apollo'
der Vollendung der attischen Kunst zur Zeit des Phidias eine an-
schauliche Vorstellung. Seit ihrer würdigen Bekanntmachung sind
die Parthenonskulpturen wie eine Offenbarung der reinen Antike
als der Gipfelpunkt griechischer und menschlicher Kunst über-
haupt insbesondere von hervorragenden Künstlern gewürdigt und
gepriesen worden; sie werden für alle Zeiten durch die künst-
lerische Auffassung, die technische Vollendung, den wahren Tri-
umph der Verbindung des Realismus und Idealismus für die
Grenzen und Ziele der Plastik einen richtigen Maßstab abgeben,
sowie zur Läuterung des Kunstgeschmackes beitragen und dadurch
auf unsere modernen Kunstrichtungen, die zum großen Teile aller-
dings in berechtigtem Widerspruch mit der seit Winckelmann
geltenden Klassizität stehen, einen mäßigenden, wohltätigen Ein-
fluß ausüben.
Von den hier abgebildeten Göttern ist Poseidon sicher erklärt,
in der mittleren Gestalt ist höchst wahrscheinlich Apollo zu er-
kennen, die weibliche von unsicherer Deutung wird Artemis
oder wegen der Nachbarschaft mit Aphrodite Peitho genannt.
Auch losgelöst von dem gesamten Göttervereine erregt die Gruppe
der drei Figuren unser künstlerisches Interesse im höchsten Grade.
Was den Betrachter mächtig anzieht, ist die in der äußeren Form
über das Menschliche nicht erhobene Darstellung und zugleich
die überirdische Schönheit und Erhabenheit der Gestalten, die Ver-
körperung des ungezwungenen Verkehrs der homerischen Götter-
54 ANDERE SKULPTUREN DES 5. JAHRHUNDERTS
weit, die insbesondere an den nackten Körperteilen sich zeigende
unerreichte Formengebung, vor allem die Behandlung der Draperie
der Gewandung, ein ewig wechselndes, immer neue Gesichtspunkte
erschließendes Wellenspiel der Falten, das Ergebnis eingehenden be-
rechnenden Studiums, das in seiner rhythmischen und harmonischen
Wirkung den Eindruck der Natürlichkeit hervorruft. Im einzelnen wird
das Auge zunächst auf die herrliche Gestalt des jugendlichen „Apollo"
gelenkt, der in ungezwungener Haltung zu Poseidon sich zurück-
wendet: er ist ein Bild kräftiger, schwellender Gesundheit und
wird in seiner vornehm leichten Bewegung, den üppigen, fast
weichlichen Zügen des schöngelockten Kopfes (Fig. 16) als die
Zierde des Göttervereins am Parthenonfries bewundert'). Der bärtige
Poseidon^) sitzt aufrecht da, ernst und gemessen, fast etwas steif,
dem herankommenden Festzuge entgegensehend, ebenso wie
„Artemis" in feierlicher Haltung dorthin blickt. Sie ist von
kräftiger, jugendlicher Körperbildung und durch reiche Kleidung
ausgezeichnet: über den von der linken Seite herabgefallenen Chiton
legt sich an dem unteren Teil des Körpers der Mantel, eine Haube
verdeckt fast völlig das Haar. In der zierlich erhobenen rechten
Hand hat die Göttin vielleicht eine Blume gefaßt. Gerade durch
den Gegensatz in Haltung und Bewegung des Dreivereins hat der
Künstler die störende Einförmigkeit des Ganzen glücklich vermieden
und dem harmonischen Bilde einen neuen Reiz verliehen.
Die Götter erwarten sitzend die Prozession des attischen Volkes,
welche wegen der Mannigfaltigkeit von Inhalt und Anordnung, des
Wechsels der Darstellung, der Vorzüglichkeit der bis ins einzelne
ausgeführten Arbeit als das unerreichte Meisterwerk friesartiger
Reliefverzierung von Künstlern und Kunstkennern gepriesen wird.
Vor allem hat der Reiterzug ^) durch die unerschöpfliche Fülle der
Motive und Bewegungen von jeher besondere Bewunderung erregt
und kann auch in den hier abgebildeten Proben gewürdigt werden.
Er ist ein Abbild der rossefreudigen und rossestolzen athenischen
Jugend ^), ein Beweis für die Trefflichkeit der Pferdezucht der
') In der. linken Hand wird ein Lorbeerzweig vermutet, das Haar
war, wie aus den Fig. 16 deutlich sichtbaren Bohrlöchern zu erschließen
ist, mit einem metallenen Kranze geschmückt.
2) Die linke Hand hat nach einer wahrscheinlichen Annahme den
kurzen Dreizack gehalten, sein Haar hat ein Band geziert.
^) Für dessen Verständnis bieten Xenophons Schriften „über die Reit-
kunst" und „von den Obliegenheiten eines Reiterobersten" mannigfache
Anregung.
^) Vgl. Aristophanes Wolken 15, Thukydides, Geschichte des Pelo-
ponnesischen Krieges VI, 12, 15, 16 u. a. St. m.
RELIEFS VOM PARTHENON FRIES
55
Fig. 17. Kopf eines lebhaft erregten Jünglings, der auf
sprengendem Rosse sitzt und nach dem säumenden
Genossen umschaut. Westfries des Parthenon. Marmor.
London, British Museum
euirtrroc /topa („des durch Pferdezucht berühmten Landes"), wie
Attika von Sophokles') genannt wird, und für die Tüchtigkeit
der Lenker. Die wechselvoll gekleideten und ausgerüsteten Reiter,
schlanke und bewegliche Gestalten, sitzen mit sicherem Schluß der
Schenkel und leicht bewegtem Oberkörper auf den feurigen, nur
durch großes Geschick zu bändigenden Tieren, die auffallend klein
') Ödipus auf Kolonos 668 (Teubnerscher Text, 5. .^ufl. 1882); vgl.
56 ANDERE SKULPTUREN DES 5.JAHRHUNDERTS
mit dickem Halse und kurzer Mähne gebildet sind '). Roß und
Reiter rufen auch heutzutage in ihrer harmonischen Vereinigung das
lebhafte Interesse des Kenners wach und ernten uneingeschränktes
Lob. Die Bewegungen der drei einigermaßen gut und vollständig
erhaltenen Gruppen unserer Tafel 16, die eine gedrängte Kavalkade
bilden und in kurzem Galopp dahinreiten, erklären sich größtenteils
aus sich selbst: der Jüngling links sieht, vorwärts gebeugt, mit einem
gewissen feierlichen Ernst auf das Zaumzeug hin und bringt es mit
beiden Händen in Ordnung; er zeigt, ebenso wie der mittlere, auf-
recht sitzende, in seinem ganzen Auftreten Anstand und Beschei-
denheit. Die Perle der Darstellung ist der Reiter, welcher mit der
linken Hand das eine Ende des Zügels festhält, zugleich aber den
Luftsprung des ungestümen Pferdes mit einer kühnen Bewegung
des rechten Armes zu begleiten und durch Anziehen des anderen
Zügelendes zu hemmen bestrebt ist; die in der halben Rückenan-
sicht zur vollen Geltung kommende Körperform ist nach Kompo-
sition und Bewegung eine bedeutende Leistung der Bildhauerkunst.
Weit übertroffen wird er von dem Relief auf Tafel 17, wo nur ein
Reiter mit seinem Tiere die ganze Platte okkupiert; es ist eines
der herrlichsten des Frieses und weckt schon durch die frappie-
rende Darstellung sofort packendes Interesse, wertvoll auch des-
halb, weil es die landläufige Vorstellung vom phidiasischen Stile
modifiziert und erweitert; denn dem Bilde gibt nicht hoheitsvoller
Adel, sondern überaus starker Realismus, dramatisches Pathos das
Gepräge (vgl. auch Fig. 17). Rückwärts ist der Zug in Vorberei-
tung, noch nicht zu dichter Schar geordnet. Eben will der Mann,
der mit der Rechten den Zaum fest und kurz hält, von rechts mit
dem linken Bein sich aufschwingen, auf einen an der Straße stehenden
Trittstein den rechten Fuß setzend, da steigt das ungestüm vor-
wärtsdrängende Vollblutpferd noch im Anlaufe hoch empor und
sucht die unbequeme Last sich fernzuhalten ; nur ein Fuß berührt
den Boden. In diesem Augenblick reißt sich der Lenker unwill-
kürlich selbst nach links zurück, zieht den bisher schlapp herab-
auch Vers 708 ff.:
"AWov b' aivov e/co jnaxpoitöXei xäbe xpatiöTov
bc7)pov ToG lueydXou &a{)aovo^ etJtsTv, yß-oxbc, aü/i^jna ^eiiaTov
eui7i:iov, euTiwXov, . . . (des Poseidon).
„Hoch nun preise das Lied
noch ein anderes Gut,
welches als edelste Gabe dem Lande
geschenkt der erhabene Meergott!
Du, Kronide, verliehst
uns das herrliche Roß "
') Siehe zu Tafel 17.
Hl o
^
/
RELIEFS VOM PARTHENONFRIES
57
hängenden lin-
ken Zügel nach
oben straff an ')
und gewinnt
momentan die
bestmöglichste
Gewalt über
sein Roß. Der
ausgezeichnete
Künstler hat
gewiß im Frei-
en oder in der
Rennbahn,viel-
leicht gar am
Modell im Ate-
lier, die zu-
fällige Augen -
blickssituation
beobachtetund
alsposenhaftes
Bravourstück
seines Könnens
wiedergegeben.
Man zweifelt,
ob der Kontra-
post der Kom-
position, der
Zusammen-
schluß wider-
strebender
Fig. 18. Oberkörper des Reiters mit bäumendem Pferd.
Nach einem aus alter Zeit erhaltenen Gipsabguß
Kräfte oder die rhythmische Stellung, die anatomisch sorgfältige
Bildung der zwei Einzelfiguren größere Bewunderung verdienen.
Von dem kühn und genial gestalteten Pferde, an dem jede
Falte, jede Ader zum Ausdruck kommt, fällt der edel und lebens-
voll geformte, feuersprühende Kopf ins Auge; sein Körper ist
aus künstlerischen Erwägungen im Widerspruch mit der Wirklich-
keit allzu klein gebildet um beide Figuren in proportionelles Ver-
hältnis zu bringen. Des bärtigen Reiters Haupt, das am Original
jetzt leider zerstört ist, läßt sich glücklicherweise einigermaßen
würdigen an einem aus alter Zeit erhaltenen Gipsabguß (Fig. 18).
Es trägt die thrakische, zu Athen in Mode gekommene Fuchspelz-
■) Linker Unterarm nur ganz schwach sichtbar.
58 ANDERE SKULPTUREN DES 5.J AHRHUNDERTS
mutze (siehe zu Tafel 14), der nur auf der linken Schulter geknüpfte
Chiton ist infolge der heftigen Bewegung herabgeglitten, au-ch der
kurze Mantel mit dem gefalteten Saume flattert vom Winde ge-
peitscht nach rückwärts und steigert die Vorstellung von dem stür-
mischen Vorgang; zugleich ist dadurch ebenso wie durch den Pferde-
schwanz der Raum noch weiterhin ausgefüllt. Und erst recht glaubt
man sich mittenhinein in die Szene versetzt beim Anblick des stark
erregten, zornerfüllten Gesichts; durch lauten Zuruf sucht der Lenker
die schwere Bändigung des unfügsamen Tieres zu erleichtern. So
zeigt sich auch an diesem Teil der hochbedeutende Wert der Friesdar-
stellung, doch wird das Auge von selbst wieder dem Ganzen sich
zuwenden, von neuem das grandiose Gesamtbild auf sich wirken
lassen. Die beiden Tafeln 16/17 sind gerade durch den Gegensatz
der Auffassung geeignet den ausgedehnten, mannigfachen Reiter-
zug im Gedächtnis lebendig zu erhalten. Freilich erst durch bunte
Bemalung und glänzende Metallzutaten wurde die volle Wirkung
erreicht, wovon man nur eine blasse Ahnung, kein klares Bild, ge-
winnen kann. Aber auch ohnedies spenden die Reliefs eine un-
versiegbare, immer nur kräftiger wirkende Quelle vornehm reinen
Kunstgenusses. Die abwechselnden Motive, die Gestalten der Reiter
und Pferde, den Ausdruck der klugen, durchgeistigten Gesichter der
athenischen Jugend, die feurig belebten Köpfe der Tiere wird man
im einzelnen zu studieren nicht müde, um dann wieder an der Be-
trachtung des Ganzen sich zu erfreuen. Heitere Frische und Natür-
lichkeit, ernste Feststimmung, der Abglanz der lebendigen Wirk-
lichkeit teilen sich dem Beschauer unwillkürlich mit und versetzen
ihn in die Zeit der großen Panathenäen dorthin, wo der feierliche
Zug den Burgweg hinauf zum Tempel der Athena Parthenos ge-
wallt ist.
TAFEL 18
GRUPPE VON DREI WEIBLICHEN STATUEN
AUS DEM OSTGIEBEL DES PARTHENON
LONDON, BRITISH MUSEUM.
Diese Gruppe von pentelischem Marmor befand sich einst
nahe der rechten Ecke im östlichen Giebelfelde des Parthenon auf
der Akropolis zu Athen. Seit 1816 gehört sie dem Britischen
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OSTGIEBEL DES PARTHENON 59
Museum zu London. Die Figuren sind als Hestia, Demeter, Per-
sephone; Amphitrite, Thalassa, Rhode, Perse, Circe; Klotho, La-
chesis, Atropos; Aglauros, Herse, Pandrosos; Thallo, Karpo; die
Chariten; Peitho, Aphrodite, und endlich als Personifikationen von
Wolken gedeutet worden. Unter dem Namen „Tauschwestern"
wurden sie am bekanntesten.
Die Köpfe fehlen alle und die Arme sind verstümmelt; doch
sind die Figuren durch ihre die Natur getreu wiedergebenden und
doch weit übertreffenden Körperformen, durch ihre wohlerhaltene
und wundervoll gearbeitete Gewandung, durch die meisterhafte
Technik in der Marmorbearbeitung die mit Recht am meisten be-
wunderten Reste der Giebel des Parthenon. Sie stellen eine eng-
verbundene Gruppe von drei Frauen dar. Aufgerichtet würde ins-
besondere die Gestalt rechts ein Wunderbild weiblicher Fülle und
Pracht darbieten. Die Figur links war im Giebel eng an die
beiden anderen herangeschoben und mit dem Körper gerade nach
vorn gerichtet (also noch etwas weiter nach rechts herumgedreht
als auf unserer Tafel); ihr Kopf dagegen wendete sich nach links,
nach der Mitte zu; er war 1674 noch erhalten. Wie eine damals
gemachte Zeichnung lehrt, berührte die zweite, mittlere Figur mit
ihrem rechten Ellenbogen das linke Knie der links sitzenden. Mit
der rechten Hand zog diese mittlere Figur den Mantel an ihrem
Rücken empor; den linken Arm legt sie um ihre Genossin, deren
Oberkörper sie in ihrem Schöße sich aufstützen läßt. Beide blickten
nach der Giebelecke zu; der Kopf der Gelagerten war 1674 noch
vorhanden. Die Linke dieser Figur war erhoben und hielt lose
ein stabförmiges Bronzeattribut, wie aus einem durch die Falten
auf dem linken Oberschenkel gehendes Bohrloch bezeugt wird.
Die drei Frauen ruhen auf felsigem Boden; sie sind alle mit
dem ionischen dünnen Linnenchiton bekleidet, der weite, geknüpfte
Oberärmel hat und in sehr feinen Falten bricht. Um den Unter-
körper haben sie den aus schwerem Wollstoff bestehenden Mantel
geschlungen. Ein gröberes Tuch ist unter der Liegenden und ihrer
Genossin auf dem Felsen ausgebreitet.
Nach rechts hin folgte im Giebel die mit ihrem Viergespann
von Rossen in den Okeanos hinabtauchende Selene oder Nyx, die
Göttin der Nacht.
Die Gruppe muß einen Dreiverein von Göttinnen darstellen.
Die verbreitetste Deutung auf die sogenannten Tauschwestern, die
drei Töchter des Kekrops, entspricht nun zwar dieser Bedingung;
allein sie ist deshalb unhaltbar, weil die im Ostgiebel dargestellte
Szene, die Geburt der Athena, nicht auf dem Burgfelsen Athens,
dem Sitze jener Kekropstöchter, sondern im Olymp spielt, der
60 ANDERE SKULPTUREN DES 5.J AHRHUNDERTS
von Sonne und Mond umkreist und vom Okeanos umflutet wird.
Es sind die drei Moiren, die Töchter der Nacht'), auch hier im
Giebel der in den Okeanos hinabsteigenden Göttin der Nacht zu-
gewendet. Die Schicksalsgöttinnen wurden allzeit bei den Geburten
gegenwärtig gedacht^); sie bestimmen die Zukunft des Neugebo-
renen; sie durften auch bei der himmlischen Geburt der Athena
nicht fehlen. Mit der Athena Polias der Akropolis waren sie über-
dies im Kulte verbunden^).
Die Schicksalsgöttinnen wurden seit alter Zeit als Spinne-
rinnen gedacht; sie heißen xAcoO^ec; („Spinnerinnen") schon in der
homerischen Poesie ^). Das verlorene Bronzeattribut der Gelagerten,
das sie in der Linken hielt, war ohne Zweifel ein Spinnrocken und
die — wie man an dem Armstumpf noch sieht, einst nicht un-
beschäftigte — Rechte zog spinnend den Faden.
Die Moiren wurden nicht etwa alt und häßlich gedacht; ja,
in Athen galt Aphrodite, die Göttin der Schönheit, als die älteste
der Moiren ; die Poesie nannte sie die eücoXevoi xoupai Nuxtc):;
(„die schönarmigen Töchter der Nacht") '). In berückender Schön-
heit hat sie der Künstler des Ostgiebels dargestellt.
Die Figuren sind das Vollendetste, was uns an bekleideten
Statuen der phidiasischen Kunst erhalten ist. —
Neuerdings hat man wiederum die Figur links aus dem Drei-
verein gelöst und in der Erwägung, daß die olympischen Götter
bei der Geburt der Athena anwesend sein müssen, für die beiden
liegenden Figuren die Deutung auf Aphrodite, im Schöße der Peitho
oder der Mutter Dione ruhend, bevorzugt; mit der Göttin der Liebe
war deren stets dienstbereite Gehilfin, die Göttin der Überredung,
zu Athen in gemeinsamem Kult verehrt. Die Erklärung der dritten
Gestalt bleibt freilich in diesem Falle noch unsicherer als bisher,
Hestia, die Personifikation des häuslichen Herdes, ward sie benannt.
') Hesiod, Theogonie 217.
-) Vgl. z. B. Pindar, Ol. 6, 42; 10, 52; Isthm. 6, 17.
3) Corpus inscriptionum Atticarum I, 93.
^) Odyssee n 197.
5) Bergk, poetae lyrici Graeci III, fragmenta adespota 140.
OSTGIEBEL DES PARTHENON 61
TAFEL 19
LIEGENDE MÄNNLICHE STATUE AUS DEM
OSTGIEBEL DES PARTHENON
LONDON, BRITISH MUSEUM.
Diese Statue von pentelischem Marmor befand sich einst im
östlichen Giebel des Parthenon auf der Akropolis zu Athen, und
zwar nahe der linken Ecke desselben. Sie gehört seit 1816 dem
Britischen Museum zu London. Sie ist als Herakles, Theseus,
Jakchos, Dionysos, Pan, Kephalos, Kekrops und Olympos erklärt
worden; doch ward sie unter dem Namen „Theseus" am be-
kanntesten.
Hände und Füße fehlen und der Kopf ist stark beschädigt;
dennoch ist die Figur die besterhaltene von allen Giebelstatuen
des Parthenon. Sie stellt einen nackten Jüngling dar, welcher auf
felsigem Boden lagert, über welchen er das Fell eines wilden
Tieres, anscheinend eines Panthers, und darüber sein Gewand ge-
breitet hat. An den Füßen befand sich, wie ein Bohrloch am
linken Knöchel zeigt, eine von Bronze angesetzte Fußbekleidung.
Der linke Unterarm ist auf den Fels gelehnt und stützt den auf-
gerichteten Oberkörper. Die Linke hielt ein Bronzeattribut, wie
aus der Bronzepatina hervorgeht, die sich, durch das Regenwasser
herabgeschwemmt, noch jetzt an dem Rande des Auflagers der
Figur, auf dem Giebelboden, erkennen läßt. Die Rechte war er-
hoben, wahrscheinlich ohne ein Attribut. Der Kopf zeigt kurz ge-
schnittenes, nicht gelocktes und einfach anliegendes Haar; an der
rechten (in der Abbildung nicht sichtbaren) Seite des Oberkopfes
ist das Haar noch ziemlich gut erhalten. Auf dem Scheitel be-
findet sich ein tiefes antikes Bohrloch und von da am Hinterkopf
abwärts eine rauh behauene Stelle. Dies rührt von der Aufstellung
und Befestigung der Statue im Giebelrahmen her. Es ist ein Irr-
tum, wenn einige im Nacken des Jünglings Spuren von Zöpfen
haben sehen wollen; das Haar erscheint einfach anliegend und
kurz wie das der Athleten, nach anderer Beobachtung ist der Ein-
druck der Tänie (Binde) zu erkennen.
Der Fluß der Umrisse dieser freien Rundplastik ist herrlich,
die Formen des nackten Körpers sind kraftvoll, wie durch athletische
Übung gestählt und auch der geistig belebte Kopf mit seiner in
62 ANDERE SKULPTUREN DES5.J AHRHUNDERTS
der Mitte nach unten stark vordringenden Stirne zeigt den Typus
der Athleten und kraftvollen, jugendlichen Heroen. Die ruhende
Kraft ist zum Ausdruck gebracht, aufrecht stehend gedacht würde
die Figur als ein wunderbar vollendetes Bild männlicher Stärke
und Schönheit vor Augen treten.
Die Stellung der Statue im Giebel war etwas schräger, als sie
unsere Abbildung zeigt, und zwar so, daß die rauhgespitzte Stelle
des Felsens unter dem linken Arme zur Giebelwand vertikal stand.
Die Füße sind angezogen. Bis unmittelbar an sie heran reichten
die in plastischen Wellen im Marmor nachgebildeten Fluten des
Okeanos, aus welchen die vier Rosse des Helios und der Sonnen-
gott selbst mit Kopf und Armen emportauchen. Diese Gruppe
füllte die linke Ecke des Giebels. Unser Jüngling scheint die
Rechte dem aufgehenden Helios zum Gruße zu erheben.
Die in dem Giebelfelde dargestellte Handlung war die Geburt
der Athena, eine Sage, die gerade den Athenern lieb und wert war;
in voll erwachsener Gestalt war die Göttin in der Mitte des
Giebels ihrem thronenden Vater Zeus gegenübergestellt. Rings
versammelte Götter, die staunen ob der neuen gewaltigen Erscheinung.
An den Enden die ruhige Flut des Okeanos, der die Welt um-
spannt, für welche Athena geboren wird; aus ihm erheben sich
und in ihn sinken die himmlischen Gestirne, Helios und Selene,
welche die Giebelecken füllen.
Die Deutung der Jünglingsfigur dieser Tafel, welche sowohl
mit den Tatsachen in Einklänge steht als sich aus dem Zusammen-
hange der Darstellung begründen läßt, ist die auf Kephalos, den
schönen, jugendlichen Jäger, den Eos geraubt und zu sich an den
Okeanos entführt hat. Das verlorene Bronzeattribut der Linken
war die Lanze, die an der linken Schulter lehnend zu denken ist.
Die Giebel des Parthenon sind erst kurz vor dem Ausbruch
des Peloponnesischen Krieges zur Vollendung gekommen. Die
Jünglingsfigur dieser Tafel ist das beste erhaltene Zeugnis für die
Meisterschaft, welche die von Phidias beherrschte attische Kunst
dieser Zeit in der Bildung des unbekleideten männlichen Körpers
erreicht hatte. —
Wie bei den sogenannten Moiren (Tafel 18) wird jetzt in dem
Jüngling, der auf Pantherfell ruht, wieder ein Olympier vermutet
und zwar Dionysos, für den allerdings auch die ganze bequeme
Haltung trefflich paßt.
MÄDCHENSTATUE VOM ERECHTHEION 63
TAFEL 20
STATUE EINES MÄDCHENS VON DER
KORENHALLE DES ERECHTHEIONS
ZU ATHEN
PENTELISCHER MARMOR. LONDON, BRITISH MUSEUM.
Unter dem falschen, bereits im Altertum für ähnliche Figuren
gebrauchten Namen der Karyatide') ist die inschriftlich-) nur all-
gemein und unbestimmt als xopp („Mädchen") bezeichnete, etwa
2,30 m hohe, leider mehrfach nicht unerheblich verletzte Statue
weltbekannt geworden. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts
von Lord Elgin aus Athen nach London gebracht, hat sie dort einst
auf der Akropolis mit fünf Genossinnen das Gebälk der Südwest-
halle des Heiligtums der Athena Polias, das nach einem Räume
desselben gewöhnlich Erechtheion genannt wird'^), als vollständig
frei gebildete Rundfigur auf einer hohen Brüstung stehend, ge-
tragen und ist durch eine Terrakottanachbildung ersetzt worden.
Jener gewöhnlich als Korenhalle bezeichnete Teil des Tempels war,
wie aus den über die Bauzeit des Erechtheions teilweise Aufschluß
gewährenden Inschriften geschlossen worden ist, bereits mindestens
413 v. Chr. im wesentlichen vollendet. Die architektonische Ver-
wendung der Gestalt ist durch den auf dem Kopfe ruhenden rund-
lichen Wulst, sowie das einfache Kapitell mit der überaus fein und
frisch gearbeiteten Verzierung der Perlenschnur und des Eier-
stabes, endlich durch die profilierte Deckplatte angedeutet. An der
Halle selbst schließen sich das dreifach gegliederte Epistylion ohne
Fries und das Kranzgesimse mit Zahnschnitt an.
Eine attische Jungfrau von kräftigen und schönen Formen
steht in blühendem Lebensalter vor uns und ist hier im Dienste
der Gottheit verwendet, wie attische Mädchen am Cellafriese des
Parthenon im panathenäischen Festzuge mancherlei für das der
Athena dargebrachte Festopfer nötige Geräte herbeitragen. Sie
') Vgl. Vitruv, de architectura I, 1, 5; die dort gegebene Erklärung
des Namens entbehrt durchaus der Wahrscheinlichkeit.
-) Corpus inscriptionum Atticarum 1, 322.
■'') Pausanias, Beschreibung Griechenlands I, 26, 5 ff.
64 ANDERE SKULPTUREN DES 5.J AHRHUNDERTS
erscheint bis über die Füße bekleidet mit dem nur Hals und
Arme freilassenden Peplos, über dessen Gürtel der Bausch in
geschwungener Linie verlaufend herabhängt. Geschmückt ist sie mit
der reichen Fülle des feingewellten Haares, das in mehreren nur teil-
weise sichtbaren Zöpfen kunstvoll geordnet nach vorwärts über die
Schultern in je zwei langen Strähnen sich legt und rückwärts, in einen
starken und langen Schopf endigend, frei und tief hinabreicht.
Der architektonischen Verwendung entsprechend, steht die Gestalt
in gerader Haltung aufrecht da, ist indes durch das zur Seite
gesetzte, deutlich hervortretende linke Bein ohne große Störung
der Ruhe und Regelmäßigkeit des Ganzen mäßig bewegt. Die
nur teilweise erhaltenen Arme schließen sich fest an den Ober-
körper an, die linke Hand hatte den vorn an der Brust und ins-
besondere im Rücken sichtbaren Überschuß des Peplos leicht ge-
faßt. Die Gewandung, die in steifen, tiefen Falten verläuft und
an jenem über den Gürtel hervorgezogenen Teile in wechselvollem
Spiele geordnet ist, umhüllt zwar den Körper fast ganz, läßt aber
großenteils dessen Formen klar durchscheinen. Das volle, breite
Gesicht zeigt die echt attischen, klugen und lebendigen Züge, be-
wahrt aber zugleich den dem architektonischen Prinzipe entspre-
chenden feierlichen Ernst des Ausdrucks. Die Gestalt ist auch los-
gelöst von dem Gebäude, für das sie bestimmt war, als eine aus-
gezeichnete Schöpfung der attischen Kunst des fünften Jahr-
hunderts von der Hand eines unbekannten, dem Stile und der
Zeit nach dem Phidias nicht fernstehenden Meisters ein unschätz-
bares Werk. Zur vollen Geltung aber kommt sie im Zusammen-
hange mit der Architektur unter dem heiteren, blauen Himmel
von Athen dort, wo die kleine Korenhalle auch neben dem mäch-
tigen Bau des Parthenon in ihren edlen und einfachen, feinen
und anmutigen Formen hervorragt. Denn in ihr ist die Verbin-
dung von Plastik und Architektur, die Vertretung der Säule durch
die menschliche Gestalt') ohne Störung des architektonischen Ge-
setzesund ohne Zurückdrängung der Vorstellung von einem mensch-
lichen Wesen überaus glücklich hergestellt worden. Die Mädchen
erfüllen die ihnen gewordene Aufgabe, ohne in derselben aufge-
gangen zu sein ; sie tragen ebenso sicher als leicht, stehen in
geschlossenen Umrissen und vollen Formen den Säulen gleich in
feierlicher, ernster Haltung ruhig und fest da, atmen aber in un-
') Sie ist in sehr ähnlicher Form bereits in der archaischen Kunst
nachweisbar; denn beiden erfolgreichen französischen Grabungen zu Delphi
sind derartige Frauenfiguren zutage gekommen, die als Bestandteile des
Schatzhauses der Knidier gelten und demgemäß aus dem Ende des sechsten
Jahrhunderts v. Chr. stammen.
TAFEL 20
STATUE EINES MADCHENS VON DER KORENHALLE
DES ERECHTHEIONS ZU ATHEN
LONDON, BRITISH MUSEUM
F. BRUCKMANN A.-G.. MÜNCHEN
MÄDCHENSTATUE VOM ERECHTHEION 65
geschwächter Fülle jugendliches, frisches Leben, das am Kapitelle
in den lebensvollen Verzierungen des ionischen Baustiles gewisser-
maßen sich fortsetzt und durch die nur wenig überragende, leicht
aufruhende Deckplatte nicht gestört wird. Darum sind sie auch,
bald nachdem sie in weiteren Kreisen durch würdige Ver-
öffentlichung bekannt geworden waren, als Vertreterinnen der
reinen griechischen Antike allseitig bewundert und gepriesen worden,
darum schon im Altertum ebenso wie in neuerer Zeit bis in un-
sere Tage bei Bauten angebracht, nachgeahmt, umgebildet, nie-
mals freilich erreicht worden. Gerade durch ^^ergleichung mit
diesen Erzeugnissen späterer Kunst und späteren Kunsthandwerks
werden die Urbilder bei ihrer höchsten Vollendung in noch glänzen-
derem Lichte erscheinen.
Denkmäler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl.
IV. SKULPTUREN AUS DEM VIERTEN JAHR-
HUNDERT: GÖTTERBILDERJÄGER MIT HUND
Auch im vierten Jahrhundert sind es die attischen Künstler,
welchen die Weiterbildung der Göttertypen insbesondere verdankt
wird. In dieser Epoche verlieren die Götterbilder an unnahbarer
Hoheit, um an Menschlichkeit und Innerlichkeit zu gewinnen. Die
Künstler suchen weniger vom Standpunkte des Frommen aus das
Erhabene und Göttliche als sich in die Seele der Gottheiten
versetzend das Menschliche in ihnen darzustellen. Die Gottheiten
erscheinen nun von Empfindungen bewegt und mit sich selbst be-
schäftigt, wo sie vordem nur dem Anbetenden sich würdevoll zeigten.
Ein vortreffliches Beispiel bietet der sitzende Ares (Tafel 23),
den manche ohne sichere Begründung auf Skopas, den großen
Zeitgenossen des Praxiteles, zurückführen, andere mit mehr Recht
als eine Schöpfung aus lysippischen und skopasischen Ele-
menten betrachten. Der Gott ist ohne alle Rücksicht auf fromme
Verehrer ganz in sich selbst versunken gedacht; das Motiv
deutet Leidenschaft und Unruhe an, die in seinem Innern gärt,
die aus dem erregten, in die Ferne gerichteten Blicke spricht
und in dem ungeduldigen Umfassen des Knies sich ausdrückt. Ähn-
lich die Demeter (Tafel 22), die von älteren Bildern würdevoll
thronender Gottheiten so sehr verschieden ist. Auch sie zeigt sich
nicht der Außenwelt, sondern ist ganz ihrer eigenen Empfindung
hingegeben. Wir haben Grund, diese Statue mit der Richtung des
Skopas in Beziehung zu setzen.
Weniger tiefe Empfindung, keine stärkere Erregung der Seele,
aber heitere, süße Anmut ist der Grundzug der Schöpfungen des
zweiten großen Meisters der Epoche, des Praxiteles. Sein Her-
mes (Tafel 24), den wir so glücklich sind im Originale zu be-
SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT 67
sitzen, ist ein herrliches Beispiel dafür; die ganze Gruppe und
namentlich der Kopf des Hermes sind von einer entzückenden An-
mut. Zugleich ist dieses Werk auch in technischer Hinsicht sehr
charakteristisch; es zeigt, welche der früheren Zeit unbekannten,
außerordentlichen Wirkungen die Marmorarbeit nun hervorbringen
konnte. Die wunderbare Zartheit der Meißel führung im Gesichte,
besonders um das Auge, die feine Wiedergabe der Textur der Haut,
dazu das lockere, mit dem Bohrer gearbeitete Haar mit seiner von
der glatten Haut stark abstechenden, stumpfen Oberfläche — dies
sind Effekte, die erst Praxiteles dem Marmor abzuringen gewußt
hat. Leider besitzen wir seine Aphrodite zu Knidos nur in
Kopien (Tafel 25), die wenigstens einen annähernden Begriff von dem
Reize des Werkes vermitteln. Hier feierte die Vermenschlichung
der Gottheit einen besonderen Triumph: die Idee der zum Bade
sich bereitenden Göttin — die der Auffassung der Götter in der
vorigen Periode so sehr zuwiderläuft — ward in den auf Praxiteles
folgenden Zeiten außerordentlich beliebt und immer neu variiert.
Ein köstliches Original, das lange fast allgemein als ein Werk von
Praxiteles Hand galt, ist dann wieder der sogenannte Eubuleus
von Eleusis (Tafel 26), der mit milder Anmut den trüben Ernst
des Unterweltgottes vereinigt; freilich bleibt die Deutung auf Tri-
ptolemos sehr erwägenswert. Auch hier können wir die Technik der
antiken Marmorarbeit auf ihrer Höhe bewundern.
Die Eirene (Tafel 21), von Kephisodotos, wohl einem älteren
Anverwandten des Praxiteles, herrührend, ist ein für den Anfang
des vierten Jahrhunderts charakteristisches Werk, das in Stellung
und Gewandung ein merkwürdiges Rückgreifen auf die ältere phi-
diasische Weise zeigt und doch vom Wesen jener älteren Werke
schon völlig verschieden ist. Nach dem Zusammenbruch des glän-
zenden attischen Reiches am Ende des Peloponnesischen Krieges
setzt die neue Richtung in der Kunst zunächst etwas befangen ein
und wendet sich von den Extravaganzen der letztvorangegangenen
Epoche recht absichtlich zu den älteren, mehr Einfachheit und Wahr-
heit zeigenden Formen zurück, um so allmählich zu einem neuen
Stile zu gelangen. Die Vollendung der neuen Weise in der Ge-
wandbehandlung zeigt die Demeter (Tafel 22).
Neben Praxiteles und Skopas wirkten noch manche andere
bedeutende Künstler. Der Typus des Zeus, den der Kopf von
O tri coli zeigt (Tafel 27), ist vielleicht im Kreise von Meistern atti-
scher und lysippischer Kunstrichtung entstanden. Möglicherweise
geht der schwungvolle Apoll (Tafel 28) auf Leochares zurück.
Er ist im Gegensatze zu dem langbekleideten Kitharoden Apoll
(Tafel 8) ein prachtvolles Beispiel der anderen Auffassung des
68 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT
Gottes als des unbekleideten ferntreffenden Jünglings mit Bogen und
Pfeil. Die eilende Artemis (Tafel 29) kann aus dem Kreise des
Praxiteles oder seiner Nachfolger oder anderer Attiker hervorge-
gangen sein. Auch die Muse Melpomene (Tafel 30) scheint
vielen praxitelischen Ursprungs. Die weit reichende, lange wirk-
same Tradition zeigt sich bis in die hellenistische Epoche hinein,
wo die Körperbildung weichlicher, die Gesichtsformen zart ver-
schwommener erscheinen, die Bewegungsmotive oft noch viel kühner,
genialer gestaltet werden: Ein Produkt dieser Fortsetzung und Er-
weiterung praxitelischen Geistes ist der Hypnos (Tafel 31), der
wohl auch von anderen kongenialen Meistern, von Skopas Stil nicht
unbeeinflußt geblieben ist. Von des letzteren männlichem Schön-
heitsideal bietet der Jäger mit Hund (Tafel 32) eine glänzende
Probe.
TAFEL 21
EIRENE MIT DEM KINDE PLUTOS
MÜNCHEN, GLYPTOTHEK.
Die Statue, die aus pentelischem Marmor besteht, befand sich
früher in der Villa Albani zu Rom und ward wahrscheinlich in
der Gegend von Rom gefunden. Nachdem sie vorübergehend,
durch Napoleon L entführt, in Paris gewesen war, kam sie in die
Glyptothek zu München. Sie ward früher als Ino Leukothea
mit dem Dionysoskinde erklärt. Später erkannte man mit größter
Wahrscheinlichkeit in ihr die Nachbildung einer einst zu Athen
befindlichen Statue des Künstlers Kephisodotos, welche die Friedens-
göttin Eirene mit dem Knaben Plutos, dem Dämon des Reich-
tums, auf dem Arme darstellte'). Diese Gruppe wurde in Athen
wahrscheinlich 374 nach glänzenden Siegen über die Peloponnesier
und nach Befestigung der Hegemonie über die Seestaaten gelobt
und wohl 371/70 bei Gelegenheit eines festlichen Friedenskon-
gresses errichtet; vor ihr wurde der Friedensgöttin alljährlich ein
größeres Opfer von Staats wegen dargebracht-).
In majestätischer Haltung steht die Göttin da, fest auf dem
linken Fuße ruhend, den rechten entlastet zur Seite setzend. Die
') Pausanias, Beschreibung Griechenlands 9, 16, 2.
-) Isokrates XV, 109. Cornelius Nepos, Timotheus 2.
EIRENE MIT DEM KINDE PLUTOS
MÜNCHEN, GLYPTOTHEK
EIRENE MIT DEM KINDE PLUTOS 69
erhobene Rechte stützte sich auf ein langes Szepter (der rechte
Arm der Statue ist modern ergänzt). Auf dem linken Unterarm
trägt sie ein kleines Knäbchen, das die Rechte (ergänzt, doch
richtig) nach ihr ausstreckt und in der Linken ein Füllhorn hielt,
das Symbol der segensreichen Fülle des Reichtums. Der Ergänzer
hat der linken Hand fälschlich eine Kanne gegeben; das Füllhorn
wird sowohl durch die Nachbildung der Gruppe, die sich auf
athenischen Münzen erhalten hat, als durch eine besser erhaltene
Wiederholung des Knaben bezeugt, die sich in Athen befindet.
Auch der Kopf des Knaben ist nicht der richtige ; er ist zwar
antik, stammt aber von einer anderen Figur, wahrscheinlich einem
Eros; an jener Wiederholung in Athen und einer anderen in
Dresden ist der richtige Kopf erhalten.
Die Friedensgöttin erscheint hier in sinnvoller Weise als die
Pflegerin des Reichtums. Wie eine Mutter hält sie den Knaben
auf dem Arme und blickt milde zu ihm nieder, der sich zärtlich
zu ihr wendet. Das weiche, volle Haar der Göttin ist aus der
Stirne gestrichen und um ein Diadem gelegt, das nur in der Mitte
vorn sichtbar ist. Nach hinten fallen reiche Locken nieder. Ihr
Gewand ist der dorische Peplos von Wollstoff, der so angezogen
ist, wie es in Athen im fünften Jahrhundert üblich war. Sie ist
gegürtet, doch fällt das Gewand über den Gürtel, so daß ein
Bausch quer über dem Unterleib entsteht; auf den Schultern sind
die Enden des Gewandes zusammengeheftet, und der große Über-
schuß des Stoffes fällt als Überfall nach vorn und hinten herab.
Die stilistische Behandlung der Falten schließt sich in den Grund-
zügen an die Vorbilder an, die Phidias geschaffen, unterscheidet
sich von jenen aber durch manche kleine Züge, die von erneutem
Naturstudium zeugen. Dieser Gewandstil ist dem Anfang des
vierten Jahrhunderts recht charakteristisch, indem man damals
von der in der Zeit des Peloponnesischen Krieges herrschenden
Weise (vgl. Tafel 20) sich abwandte und zu den älteren, nicht
manierierten, der Natur näher stehenden Vorbildern zurückkehrte,
die man nun neu umzuarbeiten begann. In der Bildung des Kopfes
der Eirene und der ganzen milden, weichen Stimmung in der
Wendung und Neigung desselben spricht sich der Charakter der
Epoche, welcher das Original der Statue angehörte, deutlicher aus,
der Epoche, in welcher Praxiteles seine Tätigkeit begann.
Der Künstler Kephisodotos war nämlich, wie es scheint, ein
etwas älterer Zeitgenosse des berühmten Praxiteles, der wahr-
scheinlich zu diesem in einem nahen verwandtschaftlichen Verhält-
nisse stand. Daß er sein Vater war, wie in neuerer Zeit gewöhn-
lich angenommen wird, ist möglich, aber nicht sicher.
70 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT
Das Original der Gruppe war sehr wahrscheinlich von Erz.
Die uns erhaltene Marmorkopie ist etwa in der augusteischen
Epoche gearbeitet.
TAFEL 22
STATUE DER DEMETER VON KNIDOS
MARMOR. LONDON, BRITISH MUSEUM.
Eine der schönsten Götterstatuen, die uns erhalten, ein echtes
griechisches Originalwerk nicht nur aus der Zeit, sondern auch
aus dem Kunstkreise der großen Meister des vierten Jahrhunderts
V. Chr., des Skopas und Praxiteles, ist die sitzende Demeterstatue
von Knidos, die 1858 gefunden und ins Britische Museum gebracht
worden ist.
Die Statue befand sich nicht in einem Tempel, sondern in
einem offenen Temenos zu Knidos, d. h. einem umzäunten heiligen
Räume. Das Temenos bildete eine Terrasse am Abhang einer
schroff ansteigenden Felswand. An den übrigen drei Seiten war
die Plattform von einer Mauer umgeben. Eine Nische in der
felsigen Rückwand scheint die Stelle gewesen zu sein, an der sich
die Statue ursprünglich befand. Die gefundenen Inschriften zeigen,
daß das Temenos den unterirdischen Gottheiten und insbesondere
der Demeter und Persephone geweiht war. Leider ist eine zur
Statue gehörige Inschrift nicht gefunden.
Indes kann kein Zweifel sein, daß diese Göttin von weichem,
mildem, mütterlichem Charakter nicht Persephone, sondern die
Mutter Demeter selbst darstellt.
Die mütterlichen Gottheiten wurden in der griechischen Kunst
seit alter Zeit mit Vorliebe, ihrem ruhigen Wesen entsprechend,
sitzend dargestellt. Auch die volle Bekleidung und die Verhüllung
des Hinterhauptes, die wir an unserer Statue bemerken, sind Züge,
die schon von alters her der mütterlichen Göttin eigneten. Demeter
trägt hier einen feinen ionischen Linnenchiton, der nur unten über
den Füßen und am rechten Oberarm sichtbar wird; darüber hat
sie den Mantel geschlungen, der von feinem Wollstoff zu denken
ist. Der Mantel bedeckt den Hinterkopf und verhüllt in eng an-
schließenden Falten fast den ganzen Körper. Der Sitte nach ist er
unter dem rechten Arme durchgezogen, so daß dieser zur Bewe-
STATUE DER DEMETER VON KNIDOS
LONDON, BRITISH MUSEUM
DEMETER VON KNIDOS
71
gung Frei bleibt.
Das Ende des
Mantels ist über
die linl>ce Schul-
ter geworfen.
Leider feh-
len die beiden
Unterarme; ohne
Zweifel haben die
Hände etwas ge-
halten; doch fehlt
jede Spur, um
etwas Sicheres
darüber zu sagen.
Auch die Kniee
und das ganze
rechte Unterbein
sind sehr beschä-
digt. Dagegen ist
der Kopf (Fig. 19)
bis auf die Na-
senspitze vor-
trefflicherhalten.
Er ist, wie die
Tafel deutlich er-
kennen läßt, mit
dem Halse in den
Torso eingelas-
sen. Er besteht
aus feinem, wei-
ßem parischen
Marmor, dessen durchscheinendes Korn selbst in der Photographie
kenntlich ist. Der Körper ist aus geringerem, etwas graubläulichem
Marmor gearbeitet. Ein ähnliches Verfahren ward gerade in der
guten Zeit griechischer Skulptur öfters angewendet. Wenn man
nicht die ganze Statue aus dem teuren feinen Marmor machen
konnte, so benutzte man ihn wenigstens für den Kopf und setzte
diesen in das geringere Material ein. Freilich ging dies nur
bei bekleideten Figuren gut an, wo das Gewand die Fuge ver-
bergen half.
Das Gewand bricht in zahllosen Falten, die sich vielfach kreuzen
und schneiden. Es ist dieser Gewandstil für die Kunst des vierten
Jahrhunderts v. Chr. recht charakteristisch. Der Künstler geht
Fig. 19. Kopf der Demeter von Knidos, ergänzt
72 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT
nicht aus auf wirkungsvolle, einfach große Formen, sondern sucht
dem Reichtum der Natur durch Beobachtung der kleinen, einzelnen,
zufälligen Erscheinungen nachzukommen.
Die Haare der Göttin sind, wie es der Mutter ziemt, schlicht
und einfach angeordnet. Das weiche, volle Haar ist in der Mitte
gescheitelt und nach den Seiten gekämmt. Am Halse fallen lose
natürliche Locken bis zur Brust herab.
Der Künstler hat sich — und dies ist das Bedeutendste an
der Statue — in das Innere, die Seele der von ihm dargestellten
Göttin selbst versetzt. Er hat sie nicht als unnahbares, fernes,
von menschlichen Empfindungen unbewegtes Wesen geschildert.
Er hat ihr Seele gegeben. Und dies ist wieder ein charakteri-
stischer Zug für die Götterbildung im vierten Jahrhundert. Ob-
wohl thronend, ist doch die Haltung der Göttin keine unbewegt
feierliche. Der linke Fuß ist lebhaft zurückgezogen und vor allem
ist der Blick etwas nach der Seite und aufwärts gerichtet : diese
Göttin schaut nicht majestätisch auf die nahenden Andächtigen, sie
ist mit sich selbst, mit ihrer eigenen Stimmung beschäftigt. Ins-
besondere durch die Bildung des Auges, und dann auch die des
Mundes, hat es der Künstler verstanden, ihrem Kopfe den Aus-
druck einer gewissen wehmütigen Sehnsucht zu verleihen: es ist
Demeter die Mutter, der die Tochter Persephone geraubt ward.
Um die Mitte des vierten Jahrhunderts wurden namentlich
durch das Mausoleum zu Halikarnaß und den neuen Tempelbau
zu Ephesos die ersten Künstler aus Athen nach der kleinasiati-
schen Küste gerufen. Auch in Knidos haben diese damals ge-
arbeitet. Der Kunstcharakter der Demeter stimmt sehr mit der
Richtung überein, die, nach dem, was wir wissen, Skopas einge-
schlagen hat; die Statue wird von einem ihm nahestehenden, auch
praxitelische Elemente stark ausdrückenden Meister geschaffen sein.
TAFEL 23
RUHENDER ARES
MARMOR. ROM, THERMENMUSEUM.
Auf dem alten Marsfelde zu Rom zwischen den heutigen
Palazzi Santa Croce und Campitelli, wo im Altertum das 13 v. Chr.
eingeweihte Theater und die gleichzeitig erbaute Krypta des Baibus
RUHENDER ARES 73
lagen, ist die im ganzen gut erhaltene und richtig ergänzte') Statue
gefunden worden und bereits im siebzehnten Jahrhundert im Be-
sitze der Familie Ludovisi nachweisbar; nach ihrem ehemaligen
Aufbewahrungsorte in der Villa Ludovisi benannt, ist sie neben
dem sogenannten Ares Borghese im Louvre zu Paris die berühm-
teste Darstellung des Kriegsgottes und gibt in guter römischer
Nachbildung ein griechisches Originalwerk wieder, von dem mehrere
Kopien in Bruchstücken erhalten sind ; die oft vermutete Beziehung
zu dem sitzenden Ares des Skopas-), an dessen Kunstcharakter
der pathetische Ausdruck des Kopfes manchen erinnert, ist in Er-
manglung näherer Nachrichten über dieses Werk unerweisbar,
vielmehr erscheint die Schöpfung durch einen nur noch unter dem
Einfluß des Skopas stehenden Bildhauer, der zugleich schon stark
von Lysipp abhängt, weit wahrscheinlicher. Auch ob die unten
zum Teil wenig glücklich angebrachten Attribute, Schild, Helm,
Beinschiene, sowie der Eros, welcher auf das insbesondere in
hellenistischer und augusteischer Zeit betonte Verhältnis des Ares
zu Aphrodite hindeutet, erst Zutaten des römischen Kopisten sind,
läßt sich nicht ganz sicher entscheiden ; jedenfalls zeigt sich die genial
entworfene, durch den wunderbaren Fluß der Linien und die
rhythmische Bewegung der Glieder von allen Seiten gleichmäßig
wirksame Figur innerhalb ihrer geschlossenen Umrisse ohne diese
Beifügungen um so einheitlicher und günstiger. Schon ohne jene
kriegerischen Attribute und das Schwert, das vermutlich auch im
Originale von der linken Hand gehalten war, ist die körperliche
Beschaffenheit ebenso wie das geistige Wesen des Kriegsgottes
unübertrefflich klar zum Ausdruck gebracht. Auf einem Felsen
sitzt Ares mit vorwärts gebeugtem Oberkörper in bequemer Hal-
tung da, die Hände über das hoch emporgezogene linke Bein
legend; durch die herabgefallene Chlamys tritt die durch athletische
Übung errungene Elastizität und Gewandtheit des von dicker Fett-
masse umspannten Körpers deutlich hervor, die breite Brust und
') Abgesehen von kleineren Ergänzungen sind am Ares im wesent-
lichen neu die rechte Hand, der Schwertgriff und der rechte Fuß, am Eros
der Kopf, der linke Arm mit dem Köcher, der rechte Vorderarm mit dem
Bogen, der rechte Fuß. Die Ansatzspuren auf der linken Schulter des
Ares und unterhalb derselben sicher zu erklären, ist bisher nicht gelungen;
man hat einen zweiten Eros vermutet, den Gott auch mit der ihm zur
Seite stehenden Aphrodite gruppiert. Die Höhe der sitzenden Figur be-
trägt 1,56 m.
-) Das marmorne Kolossalbüd befand sich zu Rom im Tempel des
Mars, den Brutus Callaecus, der Bezwinger der Lusitaner und Gallaecer
(Konsul 138 v. Chr.l, in der Nähe des Circus Flaminius erbaut hatte
(Plinius der Ältere, naturalis historia 36, 26).
74 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT
die mächtigen Arme ')
zeigen gewaltige Kraft,
die überaus langen und
schlanken Beine un-
übertroffene Schnellig-
keit -) des Gottes. So
ruft die Gestalt trotz
der ruhigen Situation
den Eindruck rastloser
Tätigkeit hervor und
läßt erwarten, daß der
Kriegsgott jeden Au-
genblick aufspringt um
im Kampfgetümmel als
ßpoToXoiyoc;, ftoOpoq
"Apric;(„ menschenver-
derbender, ungestümer
Ares") zu wüten.
Diese aus dem Ge-
samtbilde gewonnene
Vorstellung wird be-
stätigt und bekräftigt
durch den Ausdruck
des vorgebeugten Kop-
fes, der, getrennt von
der Statue betrachtet,
immer neue Gedanken
wachruft (Fig. 20). Während wir bei dem Anblick anderer thronen-
der oder sitzender Gottheiten von einer gewissen frommen Scheu
befangen werden, wird hier Auge und Gemüt von persönlichem
Interesse für den Kriegsgott gefesselt, wenn wir die geistige
Stimmung des jugendlichen, von üppigem Lockenhaare bedeckten
Kopfes zu ergründen suchen. Getrennt vom fröhlichen Kreise
der olympischen Götter blickt Ares träumerisch sinnend in die
Ferne, nicht ohne den Zug tiefer Melancholie und Unzufrieden-
heit mit seinem Dasein, im Inneren leidenschaftlich erregt und
Fig. 20. Kopf des Ares Ludovisi
') . . . im' "ApT(o:; 7iaXa,uäcDv („von Ares Armen") Homer, Ilias 3, 128.
2) . . . "Apqa
ojxÜTaTOv Ttep eovTa O'etöv, oi "OXv)|ii7tov e)^ouöiv.
(„. . . den Ares,
der doch an Schnelle besiegt die Unsterblichen auf dem Olympos")
Homer, Odyssee 8, 330 f.
RUHENDER ARES
ROM, THERMENMUSEUM
F. BRUCKMANN A.-G., MÜNCHEN
KOPF DES HERMES 75
von Unruhe gepeinigt, ein stürmischer, unbändiger, streitbarer
Charakter :
Aiei yäp toi e'pi^ tk 91X1] rtöXejuioi' Tt-" ,Lia/oi re.
l^qTpöt; Tox jLievoc; kötu ääöyexov, oüx KTiieixTOv
"Hpn^').
(„Immer hast du den Zank nur geliebt und Kampf und Befehdung!
Gleich der Mutter an Trotz und unerträglichem Starrsinn,
Heren").
Die aus der homerischen Poesie in plastischer Anschaulich-
keit hervortretende Gestalt des Ares ist in der herrlichen Statue
verkörpert.
TAFEL 24
KOPF DES HERMES AUS DER GRUPPE DES
HERMES UND DIONYSOSKNÄBLEINS
VON PRAXITELES. ÜBERLEBENSGROSS. PARISCHER MARMOR.
OLYMPIA.
Der bereits seit längerer Zeit erfolgte Nachweis mehrerer
literarisch überlieferter Werke des Praxiteles in römischen Kopien
hat die Bedeutung des von alten Schriftstellern gepriesenen attischen
Marmorbildners, sowie die Größe des Verlustes der Originale ahnen
lassen. Um so berechtigter war die laute Freude der Kunstkenner,
die sich rasch der ganzen gebildeten Welt mitgeteilt hat, als am
8. Mai 1877 bei Gelegenheit der auf Kosten des Deutschen Reiches
unternommenen Ausgrabung der Festesstätte von Olympia die hier
im Texte abgebildete, im ganzen sehr gut erhaltene -) Gruppe (Fig. 2 1 )
an das Tageslicht gekommen und würdig bekannt gemacht worden
war. In der Cella des Heratempels der Altis wurde sie zwar ohne
Künstler- und Weihinschrift gefunden, konnte aber auf Grund ihrer
stilistischen Eigenart sogleich mit der von Pausanias^) als dort be-
findlich erwähnten Gruppe des Praxiteles identifiziert werden. Wahr-
scheinlich ist sie von einer anderen Stelle der Altis oder vielleicht
') Homer, Ilias 5, 891 ff.
2) Die linke Hand hat einst das in vergoldeter Bronze gebildete
Kerykeion, die hoch erhobene Rechte wahrscheinlich eine Traube gehalten.
•') Beschreibung Griechenlands 5, 17, 3.
76 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT
auch aus einem ande-
ren Orte erst später zu
einer uns unbekannten
Zeit in jenes Heiligtum
versetzt worden, da die
gemeinsam mit der
Gruppe gefundene Ba-
sis einer bedeutend
jüngeren Epoche als
diese angehört und
infolgedessen nicht
die ursprüngliche ist.
Der ehemalige Aufstel-
lungsort des Meister-
werkes kann ebenso-
wenig wie der Anlaß
der Darbringung in Er-
manglung literarischer
Nachrichten ermittelt
werden. Dagegen bie-
tet das Verständnis
derDarstellung keiner-
lei Schwierigkeit: Der
Götterbote Hermes ist
von Zeus beauftragt
worden, sein Brüder-
lein, den kleinen Dio-
nysos, nach Nysa in
Böotien zu den Nym-
phen als dessen künf-
tigen Pflegerinnen und
Erzieherinnen zu brin-
gen, und hält auf der
Wanderschaft dorthin Rast, indem er die Chlamys abgestreift hat und
auf einem von dem Gewände größtenteils bedeckten Baumstamme den
linken Ellenbogen aufstützt. Das Knäblein, das er auf dem Arme
hält, lehnt sich mit der rechten Hand an die Schulter seines Be-
schützers und hat die linke nach einem von Hermes einst gehal-
tenen Gegenstand ausgestreckt; in demselben, der mit dem größten
Teile des rechten Armes verloren gegangen ist, vermutet man mit
hoher Wahrscheinlichkeit eine für den künftigen Gott des Weines
überaus passende Traube. Wie Hermes von den griechischen Dich-
tern als allzeit rüstiger, stets dienstbereiter und gewandter Götter-
Fig. 21. Statut- des Ht-rmcs in Olympia
KOPF DER STATUE DES PRAXITELISCH EN HERMES
OLYMPIA
F. BRUCKMANN A.-G., MÜNCHEN
KOPF DES HERMES 77
böte '), als V^ertreter jugendlicher Kraft-) und Schönheit ') gefeiert und
im Kultdienste weit und breit verehrt worden ist, so bietet diese
Statue eine plastische Verkörperung seines Wesens und seiner Wirk-
samkeit dar. Denn er tritt in derselben als kräftig gebaute, edle
Jünglingsgestalt von heiterem, freundlichem Charakter entgegen.
Doch weit mehr als das rhythmisch bewegte und harmonisch ge-
schlossene Gesamtbild der Gruppe ist das tadellos erhaltene ')
Haupt als schönster Teil des Bildwerkes in Abbildungen und ins-
besondere Abgüssen weit verbreitet und geschätzt. Sei es, daß
die technisch meisterhafte Behandlung des Marmors und die
sorgfältig durchgeführte Arbeit beobachtet wird, sei es, daß
man die Einfachheit und Erhabenheit der Auffassung und Dar-
stellung ins Auge faßt, in gleichem Maße muß die Leistung des
Praxiteles als Höhepunkt künstlerischen Schaffens gepriesen werden.
Der Kopf ist leise gesenkt, das Auge ruht nicht unmittelbar auf
dem Kinde, sondern richtet in scheinbarer Sorglosigkeit den Blick
träumerisch sinnend in die Ferne. Betrachtet man die formale
Bildung des Kopfes, so werden die klaren und bestimmten Umrisse
des mächtig gewölbten Rundschädels und das nach unten sich stark
verjüngende Gesicht als bezeichnende Eigentümlichkeiten praxite-
lischer Kunst hervortreten. Richtet man das Auge auf die Details,
so wird das mit genialer Freiheit behandelte, in einzelne Locken
sich teilende Haar^), das von den glatten Flächen des Gesichts
wirkungsvoll sich abhebt, ebenso wie die von demselben scharf
abgegrenzte, in ihrem Unterteil stark hervortretende Stirne, die in
leichter Wellenlinie verlaufende Nase, die Modellierung der Wangen,
der ernste und zugleich freundliche Zug um den kleinen, leise ge-
öffneten Mund, endlich die Abrundung des Kinns mit dem Grüb-
chen auch im einzelnen das feine Formenverständnis des Künstlers
auf das glänzendste offenbaren. Im Gesamtbilde des Hauptes aber
ist es das durchgeistigte, von leiser seelischer Erregung belebte
') 0-ewv Ta/v:, uYyeXo^ („der schnelle Götterbote'*) (Hesiod, Werke und
Tage 85) u. a. St. m. Das bei Homer übliche Beiwort bidv.Topo- („der Ge-
leitende") kennzeichnet seine Tüchtigkeit in dieser Hinsicht am klarsten.
2) 'E\ayv>\\v- (wörtlich „zum Wettkampf gehörig") heißt Hermes als
Gott der Wettkämpfe und der Palästra.
•5) /cipiv b' tneU^nxe Kpü\{(!)v („Anmut aber hat Kronion hinzugefügt")
liest man im Hymnos auf Hermes, homerische Hymnen 3, 575; ebenda
Vers 127 führt der Gott den Beinamen /apjau^pwv („heiteren Sinnes").
^} Die auf der Abbildung sichtbaren dunkeln Flecken rühren von
Kalksinter her, welcher sich unter der Erde an den Marmor angesetzt hat.
') Dasselbe war höchstwahrscheinlich einst mit einem aus Metall
gebildeten Kranze geschmückt, wie aus den auch in der Abbildung deut-
lich erkennbaren Einarbeitungen im Marmor geschlossen werden darf.
78 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT
Antlitz, das den Betrachter unwiderstehlich fesselt. Freilich wird
gemäß der künstlerischen Auffassung und Empfänglichkeit desselben
der Eindruck in mancher Hinsicht ein verschiedener sein und darf
hier durch allzustarke Betonung individueller Gefühle nicht gestört
werden. Zweifellos aber wird jedermann beim Anblicke des voll-
endeten Marmorwerkes weniger in laute Begeisterung als in frohe,
gehobene Feststimmung versetzt, die als edelste und erhabenste
Wirkung der bildenden Kunst erachtet werden muß.
TAFEL 25
MARMORKOPF DER APHRODITE
NACH PRAXITELES. ETWAS ÜBERLEBENSGROSS. AUS TRALLES
IN KARIEN. BERLIN, SAMMLUNG VON KAUFMANN.
Im Altertum wurde als schönste Statue der Erde und berühm-
teste Schöpfung des attischen Marmorbildners Praxiteles die nackte,
in das Bad steigende Aphrodite gepriesen, welche, aus leuchtendem,
parischem Marmor gebildet, an einer ihrer berühmtesten Kultstätten'),
zu Knidos ^) am Vorgebirge Kariens, in einem kleinen, am Meere
gelegenen Tempel aufgestellt war^). Jene durch die alten Schrift-
steller bezeugte Wertschätzung des Bildwerkes, das auf Grund der
Darstellungen knidischer Münzen aus römischer Kaiserzeit schon
lange in mehreren Kopien nachgewiesen war, wird jetzt durch zahl-
reich erhaltene Wiederholungen auch monumental bestätigt. Bereits
im Altertum wurde der Kopf als der künstlerisch vollendetste und
edelste Teil der Statue insbesondere von dem feinfühlenden Kunst-
kenner Lucian ^) verständnisvoll beurteilt und kann in der hier in
Vorder- und Seitenansicht abgebildeten Kopie, die fast unversehrt
erhalten ist und als tüchtige Arbeit eines griechischen Künstlers
•) So ruft Horaz, carmina 1, 30, 1, Venus als ,regina Cnidi' („Königin
von Knidos") an.
2) Den Reichtum der blühenden Seehandelsstadt an Marmorwerken
berühmter attischer Meister des vierten Jahrhunderts v. Chr. bezeugt lite-
rarisch Piinius der Ältere, naturalis historia 36, 22, monumental die dort
gefundene Statue der Demeter, abgebildet in dieser Handausgabe Tafel 22.
3) Piinius der Ältere, naturalis historia 36, 20 f. (vgl. auch 34, 69).
Pausanias, Beschreibung Griechenlands 1, 1, 3. Lucian, imagines 4. Pseudo-
lucian, amores 13.
••) imagines 6; vgl. auch Pseudolucian, a. a. O. 13.
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APHRODITE NACH PRAXITELES
79
sich darstellt, gut ge-
würdigt werden. So
ist sie geeignet, die im
Altertum dem Origi-
nale gespendeten, uns
fast überschwenglich
erscheinenden Lob-
sprüche vollauf zu be-
stätigen, und läßt vor
allem die der praxi-
telischen Kunst eigen-
tümliche zarte Be-
handlung des harten
und spröden Marmors
auch in diesem Ab-
glanze des Urbildes
genügend erkennen.
Die Göttin der
Liebe, deren Aussehen
und Wesen insbeson-
dere durch die seit der
homerischen Poesie
beliebten Beinamen
„xaXii, 91X01.1 uBibiir"
(„schön, hold lä-
chelnd") u. a. m. ge-
kennzeichnet sind, ist
in der Gestalt eines
jugendlichen, blühen-
den Weibes verkör-
pert. Ihr Haupt, das auf dem in vollen Formen gebildeten Halse ruht,
ist etwas zur Seite geneigt, der Blick der flachen, schmalen Augen
träumerisch sinnend und sehnend in die Ferne auf ein unbestimmtes
Ziel gerichtet. Das in vielen, gleichmäßig verlaufenden Strähnen
angeordnete Haar, welches durch ein doppeltes Band in drei Zonen
sich sondert und Ohren, sowie Schläfe teilweise bedeckt, ist rück-
wärts in einem Schöpfe zusammengehalten. Die einzelnen Teile
des ovalförmigen Gesichtes hat Praxiteles mit feinstem Formen-
verständnis wiedergegeben: Die dreieckige Stirne, die zarten Um-
risse der Brauen, die Abrundung des Kinns, die feine Modellierung
der Wangenflächen und Nase, vor allem aber der zartgebildete,
etwas geöffnete Mund, um den ein leises Lächeln spielt, sind eigen-
tümliche Vorzüge seiner Kunst, die zwar auch bei anderen weib-
Fig. 22. Mädchenkopf praxitelischer Zeit und
Richtung, eine Göttin oder Sterbliche darstel-
lend. Griechisches Marmororiginal, München,
Glyptothek (nach Ergänzung in Gips)
80 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT
liehen, auf ihn oder seine Schule zurückgeführten Köpfen hervor-
treten, bei keinem aber in dieser harmonischen Vereinigung von
Anmut und Würde wiederkehren (vgl. auch Fig. 22). Während bei
älteren Darstellungen der Aphrodite die stärkere Betonung reifer
Weiblichkeit ins Auge fällt, erscheint hier der zarte Liebreiz eines
jugendlichen, mädchenhaften Wesens hervorgehoben, der für die
Kunst der Folgezeit bis in die Gegenwart trotz des späterhin viel-
fach hervortretenden Ausdrucks der Sinnlichkeit im wesentlichen
maßgebend geblieben ist. Er wird in seiner schlichten Einfachheit
und göttlichen Erhabenheit, ebenso wie die kraftvolle und heitere
Gestalt des Hermes, als höchster künstlerischer Ausdruck jugend-
licher Schönheit auf jedes empfängliche Auge einen mächtigen
Zauber ausüben, so oft es auf diesem Doppelbilde ruht, bei dessen
Anblick man nur darüber Zweifel hegen kann, welcher von beiden
Ansichten der Preis gebührt.
TAFEL 26
MARMORBÜSTE AUS ELEUSIS
ATHEN, ZENTRALMUSEUM.
Dieser herrliche Jünglingskopf ist 1885 zu Eleusis in einem
kleinen Heiligtume des Pluton gefunden worden, das sich vor einer
ernsten, dunkeln Felshöhle nahe den Propyläen des großen eleu-
sinischen Heiligtums befand. Zugleich waren hier Weihinschriften
an ein nur als „der Gott" und die „Göttin" bezeichnetes altes
chthonisches Götterpaar, sowie an Eubuleus gefunden worden.
Dieser Eubuleus war eine selbständige Gestalt des eleusinischen
Glaubens und nicht etwa mit einem anderen Gotte identisch. Sein
Name, mag er den Wohlberater oder Wohlwollenden bedeuten, ge-
hört zu jenen den unterirdischen Mächten aus Scheu und Furcht
gegebenen Namen, in denen der Wunsch sich ausspricht, daß der
chthonische Dämon sich nur von seiner segenbringenden Natur
zeigen möge. Im Kulte des Eubuleus zu Eleusis vergrub man ihm
ein Schweinchen in die Erde. Daher machte ihn die Sage zum
Schweinehirten, dessen Tiere beim Raube der Kora mit in die Erde
verschwanden; und um ihn an die großen eleusinischen Göttinnen
näher anzugliedern, machte ihn die dortige Sage zum Bruder des
Triptolemos oder Sohne der Demeter; er ward somit jugendlich ge-
MARMORBUSTE AUS ELEUSIS
ATHEN, ZENTRALMUSEUM
MARMORBÜSTE AUS ELEUSIS 81
dacht. In der Tat ist der jugendliche, lockige Eubuleus, zum Teil
mit dem Schweinchen und dem Zweigbündel des mystischen Kultus
in den Händen, in verschiedenen, den eleusinischen Kultus an-
gehenden Denkmälern nachzuweisen.
Die Fundumstände machen es somit möglich, in dem hier ab-
gebildeten Jünglingskopfe, der ein chthonisches Wesen darstellen
kann, jenen Eubuleus zu erkennen. Die symmetrisch in die Stirne
hereinfallenden Haare sind für die Unterweltgottheiten charakte-
ristisch.
Der Kopf muß berühmt gewesen sein. Im eleusinischen Heilig-
tume selbst fanden sich zwei Repliken, die sich als geringere, spätere
Wiederholungen kundgeben. Ferner aber wurde der Kopf von den
Kopisten der römischen Zeit in Italien nachgebildet; wir besitzen
noch solche Kopien in italienischen Museen, die dort früher als
Bildnisse Vergils galten.
Die wunderbar vollendete Ausführung des eleusinischen Kopfes,
die in jedem Zuge die Meisterhand bekundet, läßt keinen Zweifel,
daß wir in ihm eben das berühmte Original selbst besitzen, das
die späteren Kopisten wiederholten. Sein Künstler muß ein nam-
hafter gewesen sein, da das Werk sonst nicht wiedergegeben worden
wäre. Sein Stil weist es in den praxitelischen Kreis; ja, die Technik
der Ausführung von Haar und Fleisch hat nirgends eine nähere Par-
allele als am Hermes von Olympia (Tafel 24), der nach dem Zeug-
nisse des Pausanias von Praxiteles herrührt.
Nun wissen wir durch die Inschrift einer Herme im Vatika-
nischen Museum zu Rom, deren Kopf leider verloren ist, daß die
dortigen Kopisten den Kopf eines „Eubuleus des Praxiteles" dar-
stellten ; die Inschrift der Herme, EußouXeüq ripa^iTeXouc, ist eben-
so abgefaßt wie die von zwei anderen römischen Kopien, lavDjui'ibiiq
Aeco/dpoi::; und 'HpaxXqc Eücppdvopo(:;. Der Eubuleus des Praxi-
teles mußte sich einst in Eleusis befinden, da wir sonst nichts von
dem Kulte eines Eubuleus ohne Zusatznamen wissen. Der Künstler
Praxiteles aber war natürlich der große, berühmte, nach dem die
römischen Kopisten so unzählige Male arbeiteten, und nicht ein
anderer obskurer Mann.
So drängte denn manches zu der Identifikation des eleusini-
schen Kopfes mit dem verlorenen, später kopierten Originale des
Praxiteles. Allerdings ist jene Inschriftenherme im Vatikan
heutzutage kopflos und möglicherweise war von Praxiteles ein an-
derer Typus des „Wohlberaters", der des bärtigen chthonischen
Gottes, dargestellt. So erscheint die Beziehung des eleusinischen
Kopfes zu dem Künstler oder wenigstens zu seinem Kreise eigent-
lich nur durch den Stil gesichert, doch auch der Stil führt keines-
Denkmäler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl. tJ
82 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT
wegs ausschließlich auf jenen großen attischen Meister selbst. Die oft
vorgeschlagene Deutung auf Triptolemos bleibt sehr erwägenswert,
zumal da er tatsächlich auf einem eleusinischen Votivrelief aus der
Mitte des vierten Jahrhunderts v. Chr. so erscheint. Freilich drückt
unser Kopf in wunderbar vollendeter Weise gerade das Gemisch
von milder, freundlicher Weichheit und trübem, düsterem Ernste
aus, das eben den Unterweltgott, den Eubuleus, charakterisiert. Auf
der Brust ist ein Chiton angedeutet, wie ihn die chthonischen Götter
in der Regel tragen.
Man vermutet, daß der Kopf nicht zu einer Statue gehörte,
auch saß er nicht auf einer Herme, und ebensowenig hat er die
spätere, erst in Rom entstandene Form der eigentlichen hinten
hohlen Büste. Er ist an der Brust durchgeschnitten wie die Büsten
der früheren Renaissance. Auch die klassische griechische Kunst
kannte diese Form. Der Kopf war vielleicht einst in einer kleinen
Ädikula auf einer Tischplatte aufgestellt, in welche er mit dem
unteren Rande eingelassen war. Ein Relief aus Eleusis zeigt eine
gleichfalls als Eubuleus gedeutete Büste etwa in dieser Weise auf-
gestellt, freilich gehört es nach der Haartracht in flavische Zeit und
jener Kopf kann ebensogut Triptolemos oder lacchos genannt werden.
Trotz der Verstümmelung an Nase und Augenbrauen ist der
Kopf unserer Tafel eines der herrlichsten Originalwerke, das wir
aus der Antike besitzen.
TAFEL 27
ZEUS VON OTRICOLI
KOLOSSALKOPF VON MARMOR. ROM, VATIKANISCHES MUSEUM.
Dieses in den weitesten Kreisen der Gebildeten bekannte
und durch Abgüsse vielfach verbreitete Kunstwerk ist in den letzten
Jahrzehnten des achtzehnten Jahrhunderts in Otricoli, dem alten Ocri-
culum, einer nordöstlich von Rom im ehemaligen Umbrien gelegenen
Landstadt, bei den von Papst Pius VI. veranstalteten Grabungen
zutage gekommen und gilt, in der Sala rotonda des Vatikanischen
Museums aufgestellt, mit Recht als eine Zierde des an auser-
lesenen Werken reichen Prachtraumes. Trotz völliger Erneuerung
der Büste und Rückseite darf die Erhaltung eine glückliche ge-
nannt werden, da das Gesicht, abgesehen von kleineren Ergän-
ZEUS VON OTRICOLI
ROM, VATIKANISCHES MUSEUM
ZEUS VON OTRICOLI
83
Zungen, unversehrt ist.
Früher fälschlich als
Nachbildungdes Kopfes
von der phidiasischen
Goldelfenbeinstatue im
Zeustempel zu Olympia
betrachtet, wird das
Bildwerk heutzutage als
eine gute römische Ko-
pie nach dem Haupte
des Marmorstandbildes
eines unbekannten grie-
chischen Meisters an-
gesehen,welches gemäß
der kräftigen, realisti-
schen Formengebung
und der trotz schein-
barer feierlicher Ruhe
des Ganzen im ein-
zelnen erregten Züge
des Antlitzes nicht vor
der zweiten Hälfte des
vierten Jahrhunderts v.
Chr., vielleicht auch et-
was später entstanden
ist und neuerdings mit
Wahrscheinlichkeit auf
Grund des Stils und Gesichtsausdrucks mit Meistern, die Elemente
attischer und lysippischer Kunstrichtung in sich vereinigen, in Ver-
bindung gebracht wird. Jenes Marmorwerk muß, als Kultbild in
einem Tempel oder heiligen Bezirke der Gottheit geweiht, durch
seine Kolossalität und die wahrhaft göttliche Erhabenheit des Hauptes
im Gemüte des frommen Gläubigen tiefe religiöse Scheu mit
zwingender Gewalt wachgerufen haben; durch die im Originale
vorauszusetzende Neigung des Kopfes wurde diese Wirkung gewiß
noch verstärkt.
Gerade bei dem Anblicke des Antlitzes gewinnt die Tatsache,
Homer habe den Griechen ihren Olymp geschaffen, neue Bestä-
tigung; denn das Bild des Zeus, das durch die schöpferische Ge-
staltungskraft der homerischen Poesie in die Religion und das
V^olksbewußtsein der Griechen und Römer übergegangen ist und
noch heutzutage dem Leser der homerischen Gesänge deutlich
vor Augen tritt, ist hinsichtlich der äußeren Form und des inneren
Fig. 23. Marmorkopf des Zeus
Boston, Museum of Fine Arts
84 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT
geistigen Wesens in
dem Werke plastisch
verkörpert, das zugleich
eine ausgezeichnete
Probe für die bewun-
derungswürdige Fähig-
keit der griechischen
Kunst ablegt, die Be-
deutung einer Gottheit
in ihrem vollen Um-
fange auch ohne Bei-
fügung bezeichnender
Attribute gerade in dem
Haupte zum Ausdruck
zu bringen.
Zeus ist in gereif-
tem, würdigem Mannes-
alter gedacht, von der
Schwäche des Greises
unberührt; das Haupt
ist leise nach vorwärts
gesenkt. Das mächtige,
der Mähne des Löwen
vergleichbare Haar, das
wie ein dichter, wellen-
artig bewegter Kranz
das Gesicht umrahmt und die Ohren bedeckt, sowie der herrliche
Vollbart mit den rundlich gekräuselten Locken verleihen dem Ant-
litze den Ausdruck des Väterlichen, Ehrwürdigen, erheben es aber
durch die Großartigkeit der Erscheinung über das Menschliche
hinaus. In dem durch die Fülle des Haares und Bartes fast etwas
zu eng begrenzten Gesichte offenbaren die lange Querfurche und
die darunter stark vorspringenden Knochen der mächtig empor-
ragenden Stime den Sitz klaren Verstandes und energischen
Willens, die schmalen, tiefliegenden Augen, über welchen in lang-
gezogenem Bogen die Brauen sich wölben, zeigen den festen,
ruhigen, sicheren Blick, sprechen aber zugleich in Verbindung mit
dem geöffneten Munde und der herabhängenden Unterlippe eine
gewisse Heiterkeit und Gutmütigkeit des Alters aus. Harmonisch
mischen sich Züge stürmischer Leidenschaft und abgeklärter Ruhe.
Man erkennt in dem Bilde den Zeüq xvbiaxoc, ineyiöroq („den
erhabensten, gewaltigsten Zeus"), der durch die Bewegung des
Kopfes und der Locken, durch das Zucken der Brauen den Olymp
Fig. 24. Zeus. Boston. Nach ergänztem Abguß
ZEUS VON OTRICOLI
85
erschüttert, den jitnTie:ra
Zei3:; („Berater Zeus"),
den Tiarqp dvbptov xt
Oewv TE („Vater der
Menschen undGötter"),
von dem mit weiser
Besonnenheit aller Ge-
schicke geleitet werden,
den Zevc |aei\i/iöc(„den
milden Zeus"), der
durch die leise Nei-
gung des Hauptes dem
in frommer Scheu na-
henden Gläubigen Er-
füllung seiner Bitten
gewährt und Trost im
Leide spendet. So sucht
und findet man in den
einzelnen Zügen des
Antlitzes die Elemente,
aus denen das Wesen
des Allherrschers und
Allvaters sich zusam-
mensetzt; wenn man
sich aber wieder zur
Betrachtung desganzen
Bildes sammelt und erhebt, wird, je länger das Auge auf ihm ruht,
der Eindruck erhabener, allumfassender Majestät vorherrschen.
Viel ruhiger und reiner als im Zeus von Otricoli ist das
Wesen des Gottes wiedergegeben in einem Kopfe, der vor einigen
Jahren in dem an wundervollen Skulpturen der zweiten Blüte
attischer Kunst überreichen Kleinasien, zu Mylasa unweit von
Halikarnaß zutage kam ') (Fig. 23); er ist ein kostbares Marmor-
original des vierten Jahrhunderts v. Chr., das Werk eines attischen
Meisters ersten Ranges. Die in der Abbildung nicht sichtbaren
Löcher am Oberkopfe lassen auf das ursprüngliche Vorhandensein
eines Aufsatzes (Polos oder Kalathos) schließen: So ward der ka-
rische Zeus dargestellt. „Eine vornehme, aber milde Schönheit
strahlt aus diesem Kopfe. Es ist nicht die straffe und unnah-
Fig. 25. Zeus. Boston. Nach ergänztem Abguß
') Er war allein gearbeitet und bestimmt, in eine Statue, wohl ein
Sitzbild, eingelassen zu werden. Die Erhaltung ist bis auf die größtenteils
zerstörte Nase recht gut.
86 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT
bare Hoheit der phidiasischen Epoche, nicht das ruhelose, stür-
mische Wollen der Alexanderzeit, es ist ein freundliches, auch
menschliches Wesen, das in schlichten, ruhigen und milden For-
men hier sich ausspricht." In diesen abgeklärten Zügen glaubt
man trotz der durch Zeit und Kunstrichtung bedingten Verschie-
denheit der Formengebung die Majestät des Zeus zu Olympia von
Phidias, wie er auf elischen Münzen geschaut wird, noch leise
zu ahnen, deutlich zu verspüren. Dadurch steigert sich der
WertdesWerkes, daszu den schönsten auf uns gekommenen Götter-
köpfen, zu den herrlichsten Antiken überhaupt zählt.
TAFEL 28
DER APOLL VOM BELVEDERE
MARMORSTATUE. ROM, VATIKANISCHES MUSEUM.
Diese berühmte Statue wurde schon zu Ende des fünfzehnten
Jahrhunderts, vielleicht in der Nähe von Rom gefunden ; über den
Ort des Fundes schweigen die zuverlässigen Quellen ältester Zeit.
Die Statue ward vom Papste Julius IL, in dessen Besitze sie sich
befand, zum Schmucke des von ihm erbauten Belvedere im Vati-
kanischen Palaste verwendet. Sie hat eine ungeheure Wirkung
auf die Künstler und Gelehrten sowohl wie auf die Laien aus-
geübt. Sie hat eine Menge von Erklärungen hervorgerufen, die
zum Teil geistvoll, zum Teil verkehrt und nicht selten auch beides
zusammen waren.
Der schlanke Götterjüngling Apollon ist im Begriffe, schwung-
voll elastischen, leichten Ganges an uns vorüberzuschreiten. Der
Kopf ist nicht nach der Richtung des Schrittes, sondern nach der
Seite gewendet. Der strahlende Blick ist weit in die Ferne ge-
richtet. Der Künstler will sagen : dieser Apollon hat nicht ein
einziges beschränktes Ziel im Auge; er schaut nach links, er schaut
nach rechts, er schaut allüberallhin ; denn er ist der rettende, der
helfende Gott, der abwehrt alles Unheil; er ist der Strahlende,
der alles Finstere besiegt, der alles Böse, alles Kranke sühnt und
heilt. Seine Namen sind (l'oißoc und llaid\', poiibpoinioc, dXe^i-
xaxoc, ärrorporraio::, iax\\p, iarpöi und äxeöTODp (der Hilfreiche,
der Unheilabwehrer, der Heilende).
APOLL VOM BELVEDERE 87
Die Waffe aber, mit der er fernhin trifft und immer siegt,
ist sein Bogen; er ist der äf^yrfiorüro- und y.Xvivroloz, der ky.uEnyoz
und !';xii|j().\oc (der mit dem silbernen Bogen, der Bogenberühmte,
der Ferntreffer). Die linke Hand der Statue, die verloren und
ergänzt ist, trug einst ohne Zweifel den Bogen, vielleicht zugleich
einen Pfeil, den die Bogenschützen mit dem Mittelfinger der den
Bogen haltenden Linken zu umfassen pflegten. Um die Brust
läuft das Band des auf dem Rücken hängenden Köchers; schon
dieses Attribut fordert das Vorhandensein des Bogens.
Die rechte Hand trug einen Lorbeerzweig mit daran befestigten
geknoteten Binden (ars^unara). Das Ende dieses Attributes ist
oben am Stamme (oberhalb des Kopfes der Schlange) noch erhalten
und auf der Tafel sichtbar. Das jetzt das obere Ende bildende
Stück des Stammes ist zusammen mit dem ganzen rechten Unter-
arme und der rechten Hand modern ergänzt. Der Unterarm war
ursprünglich etwas mehr gehoben und weiter vorbewegt. Die Ver-
bindung mit dem Stamme war durch den in Marmor ausgeführten
Lorbeerzweig mit den Binden hergestellt. Dies Attribut bezieht
sich auf die reinigende, die heilende und sühnende Kraft des Gottes
und kommt öfters in seiner Hand vor. Auch die Verbindung von
Bogen in der Linken und Lorbeerzweig in der Rechten ist durch
zahlreiche Apollodarstellungen zu belegen.
In neuerer Zeit war lange die Ansicht verbreitet, der Gott
habe in der Linken die Ägis gehalten, die er im Kampfe den nach
Delphi eingedrungenen Galliern entgegenhalte. Diese Hypothese
gründete sich auf die Erklärung eines Attributrestes in der Linken
einer Bronzereplik der Statue im Besitze des Grafen Stroganoff zu
St. Petersburg. Allein diese Bronzestatuette ist nichts als eine mo-
derne Fälschung; die auf sie gebauten, schon an sich äußerst un-
wahrscheinlichen Hypothesen fallen damit in sich zusammen. Aber
auch alle anderen Erklärungen, welche dem Gotte und seinem Bogen
ein bestimmtes Ziel vorschreiben, sind verfehlt.
Zu bemerken sind noch die äußerst zierlichen Sandalen, die für
den durch sein Reich wandernden und überallhin Hilfe bringenden
Gott charakteristisch sind. Auf der rechten Schulter ist eine Chlamys
geknüpft, die über den linken Arm herabfällt. Man hat sich mit
Recht gewundert, daß die ruhig drapierten Falten dieses Gewandes
ohne alle Rücksicht auf die rasche Bewegung der Figur gebildet
sind. Indes diese Chlamys ist vielleicht nur eine Zutat des Mar-
morkopisten. Eine solche Zutat ist wohl sicher der stützende Baum-
stamm mit der Schlange. Denn das Original war höchstwahrschein-
lich eine Erzstatue, die solcher Stütze nicht bedurfte. Auch das
Gewand fungiert wesentlich als Stütze des linken Armes der Mar-
88 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT
morkopie. Die Aus-
führung der Kopie
fällt erst in das
zweite Jahrhundert
n. Chr.
Das Original
aber war ein herr- .
liches Werk der
Blütezeit griechi-
scher Skulptur. Es
gehörte dem vierten
Jahrhundert v. Chr.
und zwar der zwei-
ten Hälfte desselben
an. Es gibt Gründe,
die es manchem
wahrscheinlich ma-
chen, daß es ein
Werk des Leocha-.
res, eines jüngeren
Zeitgenossen des
Praxiteles und Sko-
pas, war.
Der schlanke
Körper und die
schwungvolle Be-
wegung sind präch-
tig; allein das
Schönste und Be-
deutendste an dem Werke ist der Kopf (Fig. 26). In ihm gewinnt
die ganze Hoheit und Reinheit des apollinischen Wesens, in ihm
auch die feurige Energie des strahlenden Gottes ihren vollendet-
sten Ausdruck ; stolze Erhabenheit des allbeherrschenden Geistes,
souveräne Verachtung des Niedrigen, Gemeinen prägt sich in den
Gesichtszügen deutlich vernehmbar aus. Die sittliche Macht helle-
nischer Religion erzielt durch das Götterbild noch heutzutage tiefe
Wirkung. Daß diesem männlichen Wesen aber weibliche Zartheit
nicht ganz fehle, das deutet die von der Mädchentracht entlehnte
üppige Haarfrisur an, indem die Fülle der Locken auf dem Kopfe
in eine Schleife gebunden ist. In der Dichtung heißt der Gott ja
auch dxepöex6|ar|c und äßpoxairn^ (mit ungeschorenem, weich-
lichem Haare).
Fig. 26. Kopf des Apolls vom Belvedere
DER APOLL VOM BELVEDERE
ROM, VATIKANISCHES MUSEUM
90 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT
Denn nicht auf ein Ziel ist sie in ihrem Blicke beschränkt, überall
hat sie ein wachsames Auge und Ohr, überallhin eilt sie:
IltuTr) i-'nirsTpt'f^ieTai, i>np(ov nA^xoDOct YevE!>\i\v ')
(„Wendet sich überallhin, die Geschlechter der Tiere vertilgend").
Gerade in diesem Gegensatze des vorwärts stürmenden Kör-
pers und des zur Seite geworfenen Hauptes ist der wunderbare
Rhythmus der Bewegung, welcher die Gewandung in schönem Flusse
der Falten sich anschließt, und damit ein hohes künstlerisches Ver-
dienst der Statue begründet.
Das rasche, kräftige Wesen der wie eine Nymphe den Freuden
der Jagd ergebenen Göttin, das aus den Gesängen des Homer
dem Leser in klarer Deutlichkeit entgegentritt, hat in dem Bild-
werke plastische Verkörperung gewonnen ; denn die Verse
. . ."ApTejuii; eiöi xai' oupea io/Katpa,
r\ xard TriöyeTov 7tEpi,ut]xeTov r\ 'Epü)j,av9-ov,
TEp7t(i(.ie\i) xtt:;ipoiöi xai c)xe{ij^' e-Xdcpoacsiv^;
(„. . . Artemis herrlich einhergeht, froh des Geschosses,
über Taygetos Höhn und das Waldgebirg Erymanthos
und sich ergötzt, Waldeber und flüchtige Hirsche zu jagen")
erschließen gleichsam erst das volle Verständnis der Statue, und
die Bezeichnungen dypoTepri, lo/eaipa, xeXabeivii, norvia iHripcov
(„wild, Pfeilschützin, tosend, Herrin des Wildes") finden in ihr
monumentalen Ausdruck. Diese Vorstellung von Artemis, die in
dem griechischen Volke geherrscht hat, ist auch bei den Römern
verbreitet gewesen: Horaz dichtete von Diana:
(dicite virgines) . . .
vos laetam fluviis et nemorum conia,
quaecumque aut gelido prominet Algido,
nigris aut Erymanthi
silvis aut viridis Cragi^)
(Jungfrauen)
(„Ihr, lobpreist sie, die gern weilet in Strom und Hain,
der auf Algidus Schnee-Kuppe die Wipfel hebt,
dort auch, wo Erymanthus
dunkel raget und Cragus grünt").
Mit der lebhaft bewegten Gestalt stehen die Bildung des vom
Winde gekräuselten Haares, das vorn von einem kammartig auf-
gesetzten Diadem gekrönt und rückwärts zu einem Knoten auf-
gebunden ist, und der erregte, kampfesmutige, siegesgewisse Aus-
druck des Antlitzes mit dem geöffneten Munde und der aufgeworfenen
Unterlippe in voller Übereinstimmung. Indes tritt in der Form des
feinen Ovals des Gesichtes, den zarten Wangen, dem runden Kinne
') Hymnos auf Artemis, homerische Hvmnen 27, 10.
2) Odyssee 6, 102 ff.
3) Carmina, 1, 21, 1 ff.
ARTEMIS VON VERSAILLES
PARIS, LOUVRE
MELPOMHNE 91
der mädchenhafte Charakter der jugendlichen Schwester des in
Schönheit strahlenden Apollo klar hervor. Nur zufällig freilich ist
die nahe Verwandtschaft mit der gleichfalls weltberühmten Statue
des Gottes im Belvedere des Vatikanischen Museums, welche
auf der Ähnlichkeit des Kunststiles, der Handlung und Bewegung
beruht. Auch das Original der Artemis von Versailles, die eine
mäßig gute Kopie der römischen Kaiserzeit ist, war ein Meister-
werk aus der Blütezeit der griechischen Kunst und hat, wenn es
aus Bronze gegossen war, der etwas störenden, zwischen der Hirsch-
kuh und dem linken Beine der Göttin angebrachten Stütze nicht
bedurft'); aus kunsthistorischen Gründen kann es kfum früher als
um die Mitte des vierten Jahrhunderts entstanden sein, wegen der
Trefflichkeit der Erfindung und des Stiles darf es wohl kaum später
angesetzt werden. Wie Praxiteles für das auf felsiger Höhe empor-
ragende Heiligtum zu Antikyra in Phokis ein auf römischen Kaiser-
münzen erhaltenes Kultbild der Göttin, die mit Köcher und viel-
leicht auch Bogen ausgerüstet, mit der Fackel in der rechten Hand
und dem Hunde zur linken Seite dahinstürmt, gearbeitet hat-), so
war auch das Urbild der Artemis von Versailles, dessen Künstler
unbekannt ist, dereinst in einem Tempel oder heiligen Bezirke der
Gottheit geweiht. Einem Attiker etwa aus dem Kreise des Praxi-
teles oder der am Mausoleum von Halikarnaß tätigen Meister mag
es verdankt werden.
TAFEL 30
MELPOMENE
MARMORSTATUE. ROM, VATIKANISCHES MUSEUM.
Die etwa lebensgroße, gut erhaltene und richtig ergänzte-')
Statue wurde gemeinsam mit sechs anderen Musen und einem
leierspielenden Apollo 1774 unter den Trümmern einer südöst-
lich von Tivoli gelegenen antiken Villa entdeckt und hat, von
Papst Pius VI. für das Vatikanische Museum angekauft, in dem
') Vielleicht ist auch das Tier erst vom Kopisten beigefügt.
-) Pausanias, Beschreibung Griechenlands 10, 37, 1.
■*) Abgesehen von unbedeutenderen Ergänzungen sind neu die rechte
Hand mit dem obersten Teil der Maske, der linke Fuß, der linke Vorder-
arm mit dem Schwerte; dieses ist durch eine in Stockholm befindliche
Wiederholung der Statue gesichert.
92 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT
nach den Musenstatuen benannten Prachtsaale Aufstellung ge-
funden. Daß die Musen auch in unserem Zyklus in freier Natur
und wahrscheinlich auf dem abgeschiedenen, wald- und schluchten-
reichen Helikongebirge, wo sie einst in der Neunzahl, den
Nymphen gleich, die Reigen aufführten'), gedacht sind, daran
erinnert die Andeutung der Gegend durch die Felsen; indes nicht
mehr zum Tanze sind die Schwestern vereinigt, sondern jede ist
für sich mit der ihr zugewiesenen Bestimmung beschäftigt. So
hat Melpomene, einst die Muse des Gesanges, vielleicht schon
zur Zeit der Blüte des attischen Dramas die Tragödie vertreten
und diese Rolle trotz einiger Schwankungen auch in späterer Zeit
bis auf den heutigen Tag behauptet'). Die Darstellung derselben,
wie sie in der hier abgebildeten Statue vor Augen tritt, ist eine
der bedeutendsten und eines von jenen Kunstwerken der Antike, die
durch ihre Erhabenheit unmittelbar wirken, indes auch noch manche
Schönheiten bergen, die dem Auge erst allmählich sich offenbaren.
Eine mächtige Gestalt in ihren starken Formen mit der An-
deutung fast männlicher Kraft steht in Vorderansicht und nur
etwas nach links seitwärts gerichtet in bequemer Haltung aufrecht
da. Sie hat das linke Bein auf ein hohes Felsstück aufgesetzt,
welche Stellung durch die ruhige Situation erklärt wird und zu-
gleich den großartigen Eindruck der Gesamterscheinung erhöht ;
durch den Gegensatz der Haltung der Arme und Füße ist sie in
mäßige Bewegung gesetzt. In der Gewandung einer tragischen
Schauspielerin ist sie völlig bekleidet mit dem aus schwerem
Stoffe gearbeiteten, mit langen Ärmeln und Überschlag versehenen,
schleppenden Chiton, der durch die hohe Gürtung mit breitem
Bande die Vorstellung der Größe der Figur steigert und in ein-
fachen, schweren, durch die Verschiedenheit der Körperbewegung
teils gradlinigen, teils geschwungenen Linien sich bricht. Den
Mantel hat sie in fast absichtlich unregelmäßiger und nachlässiger
Form um den rechten gesenkten Arm wulstartig gewunden,
über den Rücken gezogen und in einem kleinen Reste über
die linke Schulter gelegt. Dicke Schuhe bekleiden anstatt des
üblichen Kothurns die Füße. Die Muse der Tragödie wird durch
die mit der rechten Hand gehaltene, in typischer Form gleichfalls
der tragischen Bühne entnommene Maske des Herakles gekenn-
zeichnet; er ist als Vertreter der Heroen der Tragödie gedacht.
') Hesiod, Theogonie 1 ff.
2) Auf einem Wandgemälde aus Pompeji, jetzt im Louvre zu Paris,
liest man die Inschrift Mf:\-t(j|aKvq • Tpaycobiav (ergänze txet) („Melpomene;
ihr Gebiet ist die Tragödie") u. a. m. Bei Horaz, Oden 1, 24 aber ist
Melpomene die Muse der klagenden Gesänge überhaupt.
MELPOMENE
ROM, VATIKANISCHES MUSEUM
MELPOMENE 93
da seine Sagen besonders häufig gerade in späterer Zeit im Drama
behandelt wurden, und erscheint durch das onkosartig über den
Kopf gezogene Löwenfell deutlich charakterisiert. Auch das mit
der linken Hand gefaßte Schwert, durch welches die Verwicklung
der Handlung blutige Lösung fand, weist auf die Muse der Tra-
gödie ebenso klar hin wie sie durch den Schmuck des Haares, das
Laub und die Frucht des Weingottes Dionysos, zu dessen Ehren
die attischen Festspiele gegründet und gefeiert wurden, und durch
die Kleidung in ihrer äußeren Erscheinung unverkennbar vor
Augen tritt'). Doch der Eindruck männlicher Kraft und feierlicher
Erhabenheit, strenger und vornehmer Schönheit wird vollendet
durch die Bildung des Kopfes, dessen Aussehen durch die schwere,
in den Nacken frei herabfallende und die Stirne teilweise bedek-
kende Lockenfülle noch ehrwürdiger erscheint. Der leise geöffnete
Mund mit dem eigentümlich herben Zuge um die Lippen, der ab-
wärts gerichtete feste Blick der schmalen, hochumränderten Augen
verleihen dem Gesichte den Ausdruck ernsten Sinnens, einer in
sich gesammelten und geschlossenen Stimmung, nicht lauter Klage,
nicht maßlosen Jammers. Zugleich entbehrt das längliche, nach
unten sich zuspitzende Antlitz in seinen feinen und zarten Formen
nicht völlig des Reizes jugendlicher Weiblichkeit ohne den ernsten
Charakter des Ganzen zu stören. So versetzt der Künstler in
Verbindung mit der majestätischen Gesamterscheinung auch durch
den Ausdruck des Gesichtes den Betrachter in die Stimmung, die
ihn bei der Lektüre der Tragödien noch heute erfaßt und des
Besuchers des antiken Theaters in erhöhtem Maße sich bemäch-
tigt haben muß. Denn er hat den kraftvollen, ernsten, ergreifenden
Gehalt der antiken Tragödie in ihrer äußeren Darstellung und ihrem
inneren Wesen durch das eine edle Bildwerk ohne allzu starken
Aufwand äußerer Mittel mit voller Klarheit und Individualität zum
Ausdruck gebracht und dadurch das höchste künstlerische Ziel
der schwierigen Aufgabe einer Verkörperung der Tragödie erreicht.
Über den Schöpfer des Originals jenes Zyklus der neun
Musen, von denen sieben in guten römischen Kopien erhalten
sind, ist eine Vermutung geäußert worden. Genaue Vergleichung
des Kunstcharakters der Statuen, insbesondere des Stils und Aus-
drucks der in wechselvollen, charakteristischen Formen gebildeten
Köpfe hat an die Kunst des Praxiteles erinnert. Dieser hat für
') Vgl. aus der Literatur Ovid, amores 3, 1, 11 ff.
venit et ingenti violenta Tragoedia passu
fronte comae torva, palla iacebat humi.
(„Auch die Tragödie kam, mit mächtigen Schritten gewaltig,
wild in der Stirne das Haar, schleppend das lange Gewand").
94 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT
die am Fuße des Helikon gelegene böotische Stadt Thespiä, wo die
Göttinnen gleichfalls besondere Verehrung genossen, eine Erzgruppe
der Musen gearbeitet, die nach dem Standorte Thespiades genannt,
von Konsul L. Licinius Lucullus nach seinen siegreichen Kämpfen
in Spanien zu Rom an dem von ihm aus der Kriegsbeute erbauten
Tempel der Felicitas beim Velabrum geweiht worden sind'). Doch
läßt sich die unmittelbare Rückführung auf Praxiteles trotz mancher
Anklänge an seine Kunstart nicht beweisen, und die Ansicht, daß
die Statuen des Vatikanischen Museums einen späteren, in Anleh-
nung an ältere Vorbilder etwa in hellenistischer Zeit entstandenen
Musenzyklus wiedergeben, bleibt erwägenswert. Jedenfalls lebt in
den Köpfen soviel praxitelische Eigenart, daß wir den Ursprung im
Kreise des Meisters oder seiner Nachfolger, seiner Nachahmer zu
suchen haben.
TAFEL 31
HYPNOS
BRONZEKOPF. LONDON, BRITISH MUSEUM.
Durch glückliche Fügung läßt sich der 1855 bei Perugia
(Perusia) zutage gekommene, ausgezeichnete Bronzekopf unschwer
ergänzen. Denn eine Madrider Marmorstatue -) gleichen Größen-
verhältnisses, welcher die Arme fehlen, wird leicht und sicher ver-
vollständigt durch andere Nachbildungen des Originals, z. B, durch
eine Berliner Gemme (Fig. 27 und 28). Auch die Deutung ist über
jeden Zweifel erhaben: der schlank gewachsene Junge mit Hörn
und Mohnzweig in den Händen ist Hypnos, der Schlafgott; an den
Zwillingsbruder Oneiros, den Traumgott, zu denken verbietet die
Tatsache, daß dieser in Volksreligion, Literatur, Kunst gegenüber
jenem wenig hervortritt. Der Typus der Statue, der bis in spät-
römische Zeit im wesentlichen maßgebend blieb, entstand frühestens
in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts v. Chr., da er manche
') Cicero in Verrem 4, 2, 4. Plinius der Ältere, naturalis historia
34, 69 (vgl. auch 36, 39), Strabo, Geographie 8, p. 381. Cassius Dio,
römische Geschichte fragm. 75 Melber.
2) Ohne Ergänzung niifit sie 1,50 m in der geneigten Stellung, auf-
gerichtet würde sie etwa 1,62 m hoch sein. Am Gipsabguß (Fig. 28) ist mit
Recht der das Auge störende Baumstamm, welcher dem Marmor (Fig. 27)
als Stütze dient, weggelassen; denn er fehlte auch am Urbild aus Erz.
BRONZEKOPF DES HYPNOS NACH DEM ABGUSS
LONDON, BRITISH MUSEUM
F. BRUCKMANN A. -G . MÜNCHEN
HYPNOS 95
im Kreise des Praxiteles und Skopas ausgebildete Stilelemente zu
vereinigen scheint, kann aber sehr wohl auch einige Jahrzehnte
später geschaffen sein; denn bei der langen Dauer dieser Kunst-
richtung bleibt in Ermanglung historischer Nachrichten genaue
Datierung unerreichbar. Möglichkeiten der Weihung waren mannig-
fach gegeben. Wohl mag ein dankbarer Sterblicher, der nach langen
Qualen endlich Schlaf fand, das V'otiv gestiftet haben. Doch hat
sich der Kult des Gottes in anderer Hinsicht ausgestaltet: die
Himmlischen geben den kindlich naiv Gläubigen ihren Willen in
Traumerscheinungen oft durch Hermes Vermittlung kund oder es
wird im Schlaf durch göttliche Eingebung Erfüllung der Herzens-
wünsche gewährt. Vor allem wurden in den heiligen Bezirken des
Asklepios den seelisch und körperlich Leidenden im Zustande des
langen Schlafes (i-Yxoiuiirti::, incubatio) Kuren empfohlen, Genesung
ward verheißen. Von solchen Wundern lesen wir auf Inschriften
von Epidauros, so erklärt sich die Verehrung des Hypnos im
Asklepieion zu Sikyon (Pausanias, Beschreibung von Griechen-
land 11, 10, 2). An einer Kultstätte geweiht und etwa neben dem
Altare oder in einem kleinen Tempel von verschiedenen Seiten
in wirkungsvoller Beleuchtung sichtbar, hat das Bronzeoriginal, durch
reiche Vergoldung glanzvoll verziert, zauberhaften Reiz ausge-
strahlt, wenn es in andächtiger Stimmung vom richtigen Stand-
punkte aus bei mäßiger Entfernung geschaut wurde. Beim Anblick
der Kopie findet noch heutzutage das Gemüt in schwerer Arbeit,
schwerer Sorge Erholung und Erquickung.
Eine zartgebildete, fast noch knabenhafte Gestalt von reifender
Schönheit schwebt in der Stille der Nacht durch die Lüfte über
die Erde dahin, scheinbar nur nach einem Punkte zielend, in Ge-
danken gewiß nach allen Seiten hilfreich sich wendend, wo nur immer
Mühebeladene wachen oder unruhig schlafen. Mit dem Oberkörper
nach vorwärts gebeugt, neigt sich Hypnos leise auf die Menschen
nieder, um schlafspendenden Saft über die Augen zu träufeln und
mit schlummerbewirkendem Mohn die Schläfen zu berühren '). Das
vortrefflich zur Geltung kommende Motiv des leichten Schreitens,
sachten Schwebens, der scharfe Gegensatz der Armbewegung, der
wundervolle Rhythmus der ganzen Figur, durch den die Raum-
grenze der Rundskulptur fast überschritten wird, endlich die glück-
liche Wahl des prägnanten Moments verdienen ebenso große Be-
wunderung wie die meisterhaft gelungene Personifikation, wodurch
das Wesen des gütigen Allhelfers, wie es seit der homerischen
') Diesedurch viele Kunstdarsteilungen veranschaulichte Tätigkeit wird
auch an zahlreichen Stellen römischer Dichter wiedergegeben; besonders
deutlich ausgeprägt ist die Schilderung bei Silius Italicus Punica X, 352 tf.
96 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT
Poesie im Volksbewußt-
sein lebte, durch die Pla-
stik in die Erscheinung
tritt, nicht realistisch derb,
nicht unheimlich, keine
Furcht erregend, nur das
Sinnen und Sehnen der
Menschen zart verkör-
pernd, schon durch die
jugendlich holde Gestalt
wie schmerzenlindemder
Balsam wohltätig wirkend.
Diese Bildung von der
Hand eines gemüt- und
phantasiereichen, schöp-
fungskräftigen Künstlers
ist so recht antik, so recht
der damaligen Vorstel-
lung vom Verhältnis zwi-
schen Göttern und Sterb-
lichen entsprechend, mutet
uns aber zugleich ganz
modern an; denn Auf-
fassung und Ausführung
stimmt mit unserem Füh-
len und Denken überein.
Und wiederum erregt wie
bei anderen Göttergestal-
ten des vierten Jahrhun-
derts v.Chr. der Kopf für
sich psychologisches In-
teresse. Seine Schönheit erschließt am reinsten nicht allzu eingehende
Formenanalyse, sondern Festhaltung und Vertiefung des einmal ge-
wonnenen Eindrucks durch stilles Betrachten. Das jugendlich reiche
Haar erscheint nach der Mode frisiert. Es ist gescheitelt und durch ein
breites Band geteilt, üppige Locken hängen hinter den Ohren herab,
vorn wird es zu je einem Wulst zusammengenommen, rückwärts in
einem dicken Schopf vereinigt. An das in architektonischer Regelmäs-
sigkeit geordnete Haar schließt sich ungezwungen das große Flügel-
paar') an, das Gebilde gewissermaßen fortsetzend und verbreiternd.
Fig. 27. Hypnos, Marmorstatue
Madrid, Museo de! Prado
') Der linke Flügel ist am Original nicht erhalten, am ergänzten Ab-
guß (Fig. 28) erneuert.
HYPNOS
97
Erklärung findet es
am geeignetsten da-
durch, daß Hypnos
wie ein Nachtvogel
möglichst geräusch-
los durch die Dun-
kelheit dahinhu-
schend gedacht ist.
Gemäß der Rich-
tung des Oberkör-
pers ist der Kopf
stark geneigt. Die
Züge des Gesichts,
das zum feinen Oval
sich abrundet, hau-
chen sanfte Milde
aus, träumerisches
Sinnen, leises Lä-
cheln liegt auf dem
Antlitz, fast etwas
verschwommen ist
der Blick, die Au-
genlider scheinen
sich bereits zu
senken : Der Mo-
ment des Ein-
schlummerns naht
beim Gott selbst,
bei dem liebreichen
und huldvollen Dä-
mon, der als Hyp-
nodotes den müden Sterblichen herzerquickenden Schlaf (vi'ibuiLiov
vriNov) eben spendet. Feierliche Stimmung, stiller Friede teilt sich
uns mit. Im Innern klingen nur leise homerische Verse wieder:
. . . "\'TtVO\
i'|büv in\ ßXetpctpolOi ßdXe yAauy.o)Tti^ 'A&q\i\.
„Herzerquickenden Schlaf senkte über die Lider die lichtäugige Athene"
(Odyssee I, 363 f.).
In der Tat, die geniale Schöpfung eines Meisters aus der
zweiten Blüte griechischer Kunst hat mit gleicher Kraft von der
hellenischen Kultur bis ins römische Weltreich hinein gewirkt,
von da weiter bis auf den heutigen Tag. Ein solches Zauberbild
läßt sich nicht durch viele Worte beschreiben, man muß es still in
Fig. 28. Hypnos. Abguß in Ergänzung. Straßburg
Denkmäler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl.
98 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT
sich versunken immer von neuem betrachten und studieren; dann
wird es das empfängliche Auge unwiderstehlich bannen. Gerade
vielen dem klassischen Altertum kongenialen Kennern der Antike
ist die Bronze von Perugia als sorgenlösendes Bild lieb und traut
geworden.
TAFEL 32
JÄGER MIT HUND
MARMORSTATUE. KOPENHAGEN, GLYPTOTHEK NY-CARLSBERG.
Auffassung und Erklärung der etwas überlebensgroßen, aus
Italien und zwar angeblich aus Monte Cassino herrührenden Statue
bildet ein interessantes Problem. In zahlreichen, voneinander mehr-
fach verschiedenen Kopien ist das etwa aus der Mitte des vierten
Jahrhunderts v. Chr. stammende Original erhalten. Die unter dem
Namen „Meleager" altberühmte Statue im Belvedere des Vatikani-
schen Museums zu Rom hat zur linken Seite einen mächtigen Eber-
kopf; die daraus erschlossene Deutung auf jenen Heros ist auf alle
Nachbildungen übergegangen. Eine Wiederholung in Berlin er-
mangelt des Gewandes, eine andere im Fogg Museum of art zu
Cambridge bei Boston, ebenfalls ohne Chlamys, stemmt zum Er-
satz für den langen Spieß einen kurzen Stock ') unter die Achsel.
Wahrscheinlich war das Urbild wenigstens vom Kleide frei und trug
vielleicht statt des Speers diese Stütze; höchstens der treue Hund,
der alle Strapazen mit dem Herrn teilt (öuvdetfAoc), schaute zu ihm
auf. War das Original aus Bronze, so hat sogar der beim Marmor
aus statischen Gründen angebrachte Baumstumpf gefehlt. So wirkt
die Komposition durch ihre Einfachheit weit besser. Die Verschieden-
heiten in der Darstellung zeigen an einem lehrreichen Muster das
freie Schalten und Walten der späteren Kopisten, die dem Geschmack
und Bedürfnis der Zeit folgend, willkürlich änderten. Gerade jene
Statue wurde von den das Weidwerk eifrig pflegenden Römern
zum Schmuck der Villen und Parks bevorzugt und da besonders
') Ein solcher ward, wie Monumente zeigen und Xenophon Kyne-
getikos 6, 11 und 17 berichtet, auf der Jagd getragen und diente wohl zum
Aufscheuchen, zum Treiben und Erlegen des Wildes. Die Lektüre der
Schrift des Xenophon regt auch sonst zum Verständnis unserer Statue viel-
fach an.
FHOT. V. TRYDE, KOPENHAGEN
JAGER MIT HUND
KOPENHAGEN, GLYPTOTHEK NY-CARLSBERG
JÄGER MIT HUND
Italien durch Reichtum an
Schwarzwild sichauszeich-
nete, lag die Beifügung des
Eberkopfes sehr nahe. So
bleibt nicht einmal für die
weitbekannte Replik im
Vatikan die alte Erklärung
ganz gesichert. Jäger und
Hund nennen wir das Ori-
ginal und vermuten, daß
dieses schöne Idealbild
ohne Porträtzüge dereinst
an einem Orte hellenischer
Kultur als Votiv eines
Sterblichen zum Dank für
guten Erfolg der Jagd in
einem Heiligtum etwa der
Artemis geweiht war oder
an einer Grabstätte das An-
denken des jagdliebenden
Verstorbenen den Hinter-
bliebenen wachhielt. Der-
artige Darstellungen des
täglichen Lebens zeigen
attische Grabreliefs, in der Literatur überliefert Plinius der Altere,
Naturalis historia 34, 91 Erzbilder der venatores von mehreren
griechischen Künstlern. Bei den Griechen galt gleich der Athletik
dieser Sport, der den Körper stählt und die Sinne schärft, für ein
schönes und nützliches Vergnügen und mit Passion ward ihm ge-
huldigt.
Die Kopenhagener Kopie ist sehr gut und konnte nach anderen
Repliken richtig ergänzt werden : Der rechte Arm, Teile des Speers
sowie der Kopf sind erneuert, letzterer nach einer ausgezeichneten
Wiederholung in Villa Medici zu Rom (unergänzt abgebildet Fig. 29).
Auf jedes künstlerisch empfängliche Auge übt das wundervolle Bild-
werk beim ersten Anblick frappierende, tiefgehende Wirkung aus.
Meisterhaft erscheint die Formengebung des nackten männlichen
Körpers, abgerundet, abgeschlossen in den Umrissen, naturgetreu,
die Natur fast übertreffend. Kräftig und schlank gebaut, elastisch
bewegt steht der junge Weidmann da, mit rechtem Standbein, den
linken Fuß ein wenig zurück und zur Seite gesetzt. Der starke
Holzspieß läßt sich durch eine eiserne Spitze mit zwei Wider-
haken (xvwbovTec) zur üblichen Form unschwer vervollständigen.
Fig. 29. Kopf eines Jägers. Marmor
Rom, Villa Medici
100 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT
Der an den Rücken gelehnte rechte Arm deutet Rast nach den
Mühen der Jagd an, doch die rhythmisch schwungvolle Linie des
Körpers, an dem namentlich die hohen Beine leicht zu schweben
scheinen, vor allem der Ausdruck des zur Seite geworfenen, träu-
merisch in die Ferne sinnenden Kopfes, sogar die Chlamys, die
um Schultern und Unterarm in genialer Draperie sich schlingt,
rufen den Eindruck nervöser Unruhe des Ruhenden hervor, lassen
ahnen, daß im nächsten Augenblick Mann und Hund von neuem
über freies Feld, durch dichten Wald in wilder Hatz dahinstürmen.
So kommt das Wesen des Weidwerks in der Person des Jägers ohne
starke äußere Mittel vortrefflich zur Geltung; man fühlt sich mit-
gerissen von der den Jüngling erfüllenden Kraft und Begeisterung.
Zu diesem Sujet paßte eben ausgezeichnet die Kunstrichtung, welcher
der unbekannte Meister folgte. Der Stil des Skopas aus Faros wird
glänzend veranschaulicht. Er erstrebt und erreicht intensiven Aus-
druck seelischer Erregung, Leidenschaft in bewegter Situation, in
der Hitze des Kampfes, aber auch in ruhiger Haltung der Menschen,
dem etwas jüngeren Lysipp in mancher Beziehung nicht fernstehend,
scharf entgegensetzt dem etwa gleichalterigen Praxiteles. Und
dieses Pathos glüht, sprüht am mächtigsten im lockenreichen Haupte
(Fig. 29). Schon der ziemlich flache Schädelbau, die breiten Um-
risse des Gesichts sind ganz verschieden vom mächtig gewölbten
Rundschädel, vom zartgeformten Oval des Antlitzes am praxiteli-
schen Hermes, die tiefliegenden, nach aufwärts schauenden Augen
rufen das eigentümlich starke Feuer des Blicks hervor, aus dem
geöffneten Mund glaubt man den Atem zu vernehmen. Die in der
antiken Literatur viel erörterten Gegensätze von Ethos und Pathos,
psychologische Studien haben eine Wandlung in Auffassung und
Wiedergabe des Seelenlebens geschaffen, ein neues in Malerei und
Plastik lange und weithin erkennbares Schönheitsideal bewirkt;
vermutlich haben auf die Skulptur führende Meister der Schwester-
kunst maßgebenden Einfluß gewonnen. Die Gesichtszüge strahlen
nicht anmutigen Zauber auf den Betrachter sanft und mild aus,
sondern innere Erregung teilt sich ihm unwillkürlich mit. Der
hochbedeutende Wert der kraftvoll herrlichen Statue wird durch
die psychologisches Interesse weckende Bildung des Kopfes ge-
waltig gesteigert.
V. GRIECHISCHE ATHLETENSTATUEN
In Griechenland bestand eine sehr alte Sitte, das Bildnis der
Sieger in den Wettkämpfen dem Gotte, zu dessen Ehren die Fest-
spiele veranstaltet wurden, zu weihen. Denn an vielen Orten, so
in Olympia, sind Statuetten aus Ton oder Bronze von teilweise
primitivster Kunstübung gefunden worden, welche die Wettkämpfer
in mannigfacher Art und Situation, als Reiter, Krieger, Wagen-
lenker usw. darzustellen versuchen. In Übereinstimmung mit
der mächtig vorwärts schreitenden Entwicklung der statuarischen
Kunst wurde es gemäß literarischer und inschriftlicher Überlieferung
seit dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert ein häufig geübter
Gebrauch, zur dauernden Ehrung des Siegers und bleibenden Er-
innerung an den errungenen Erfolg fast ausschließlich aus Bronze
gefertigte und etwa in Lebensgröße gebildete Statuen in der Regel
an der Festesstätte selbst zu weihen, aber manchmal auch in der
Palästra oder an einem öffentlichen Platze der Heimat des Siegers
aufstellen zu lassen; für die Errichtung trug er selbst oder auch
die heimatliche Gemeinde, Verwandte, Privatpersonen Sorge. So
waren an den berühmten Stätten der Festspiele allmählich zahl-
reiche Bildnisse vereinigt, die im Altertum bei dem Besucher in
ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit einen überwältigenden Gesamt-
eindruck bewirkt haben müssen. Für Delphi durften wir dies aus
literarischen Nachrichten schon längst erschließen und haben durch
die von der französischen Regierung dort veranstalteten Ausgrabungen
Bestätigung gewonnen. Der Fund des Wagenlenkers aus Bronze,
der zu dem einen Sieg des Polyzalos von Syrakus verherrlichenden
102
GRIECHISCHE ATHLETENSTATUEN
Viergespann gehörte,
ist eine der wertvoll-
sten Antiken des rei-
fen Archaismus. Über
Olympia waren wir
durch den Perigeten
Pausanias schon vor
der auf Kosten des
Deutschen Reichs un-
ternommenen Aufdek-
kung der Altis näher
unterrichtet ; zahlreiche
bei dieser Gelegenheit
zutage gekommene
Basen jener Bronze-
werke, auf denen in
gebundener oder unge-
bundener Rede Name
und Heimat des Siegers,
die Art des Sieges,
häufig auch seine frü-
heren athletischen Er-
folge inschriftlich ver-
zeichnet sind, geben
jetzt einen monumen-
talen Beleg. Die Statuen
selbst freilich waren
schon im Altertum fast alle geraubt oder zerstört worden, und nur ganz
geringe Reste sind in Olympia wiedergefunden; auch sonst sind Origi-
nale griechischer Athletenbilder nur vereinzelt erhalten (Fig. 30 u. 3 1 ).
Einigermaßen Ersatz für den unermeßlichen Verlust der Urbilder
bieten zahlreiche, fast ausschließlich aus Marmor gefertigte Kopien,
die auf Bestellung römischer Kunstliebhaber zur Ausschmückung der
Paläste und Villen, der öffentlichen Plätze und Gebäude, wie der
Thermen gefertigt worden sind. Viele archaische Meister, in der
Blütezeit griechischer Kunst die bedeutendsten Erzgießer insbe-
Fig. 30. Bronzekopf')
München, Glyptothek
') Knabenkopf mit der Binde geschmückt, wohl von der Statue eines
Siegers im Faustl^ampf, da der sichtbare Teil des rechten Ohres stark ver-
schwoilen gebildet ist. Griechisches Original im Stil und aus der Zeit
des Polyklet und Phidias, „der kostbarste Schatz der Münchner Glyptothek,
das Ideal von Reinheit, Unschuld, liebenswürdig edler Größe, eines der
herrlichsten griechischen Originale, die uns erhalten sind". — Die Büste
mit vergoldetem Schwertband ist modern.
GRIECHISCHE ATHLETENSTATUEN
103
sondere des fünften
und vierten Jahrhun-
derts V. Chr. haben
Siegerstatuen gearbei-
tet, deren Nachbil-
dungen aus der Menge
der erhaltenen römi-
schen Kopien wieder
aufzufinden der archäo-
logischen Forschung
teilweise bereits ge-
glückt ist und noch
gegenwärtig eine ihrer
hervorragendsten Auf-
gaben bildet. Dadurch
sind wir in den Stand
gesetzt, die künstle-
rische Richtung füh-
render Meister und
ihrer Schule zu wür-
digen : Dem Argiver
Polyklet war die
formale Bildung ruhig
stehender Gestalten
nach mathematisch ge-
nau festgesetztem Pro-
portionssystem höch-
stes Ziel; auch ist auf manchen Jünglings- und Knabengestalten
aus Polyklets Werkstatt, Schule oder Nachfolge durch das gemessene
und bescheidene Wesen sowie durch die reine jugendliche Scham,
die in den Gesichtszügen leise hervortritt, der wunderbare Zauber
ethischer Anmut, der „ctibco:;", des „decor" ') ausgebreitet (Fig. 30,
31 u. 33). Der etwas ältere Athener Myron gilt als Meister in
der Wiedergabe rhythmisch bewegter und geistig belebter, von
intensiver innerer Glut erfüllter Figuren (Taf. 33 und Fig. 32), der
Sikyonier Lysipp hat im Gegensatz zu der weitverzweigten und
weithin wirksamen polykletischen Schule ein neues, schlankere
Formen bezweckendes Proportionssystem des menschlichen Körpers
zur Anwendung gebracht und als Gründer der naturalistischen Rich-
tung für die Folgezeit große Bedeutung gewonnen („Apoxyomenos"
Tafel 34).
Fig. 31. Bronzekopf
München, Glyptothek
') Vgl. Quintilian, institutio oratoria XII, 10, 7 f.
104
GRIECHISCHE ATHLETENSTATUEN
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Fig. 32. Kopf vom Diskobol des Myron
In völliger Nacktheit dargestellt, geben die gymnastisch durch-
gebildeten Körper der schlanken Knaben und Jünglinge, der kräf-
tigen Männer, die nicht getreu nach dem Leben als Porträts wieder-
gegeben, sondern nach den in den Palästren sich darbietenden
Modellen und Motiven zu dem erhabensten Ideal von Stärke und
Schönheit umgestaltet und erhöht sind, in dieser Form das beste
Zeugnis für die veredelnde Wirkung der maßvoll betriebenen
Athletik ab. Es sind die herrlichsten Menschen, welche die Kunst aller
Zeiten geschaffen hat. In der Menge der erhaltenen Typen lassen
sich ungezwungen zwei Hauptgruppen unterscheiden : Der Athlet ist
entweder in lebhafter Situation, in einem Kampfschema oder in ruhiger
Stellung vor oder nach dem Kampfe dargestellt. Für erstere genügt
es, an Myrons rhythmisch vollendeten Diskobol ') mit dem leben-
sprühenden, von Leidenschaft durchleuchteten Antlitz (Tafel 33 und
Fig. 32) und an die beiden Ringer aus Bronze in Neapel zu erinnern,
') Die Abbildung Tafel 33 bietet den bronzierten Gipsabguß, der haupt-
sächlich aus zwei sehr guten Kopien zusammengesetzt ist: Der größte Teil
des Körpers stammt von dem im Thermenmuseum zu Rom aufbewahrten
Marmorfund, der 1906 im Krongut von Castel Porziano auf dem Boden
des alten Laurentum unter den Resten einer antiken Villa zutage kam,
der Kopf ist nach der altberühmten Kopie im Palazzo Lancelotti zu Rom
ergänzt.
DISKOBOL NACH DER BRONZESTATUE DES MYRON
IN ERGÄNZUNG
ROM. THERMENMUSEUM
GRIECHISCHE ATHLETENSTATUEN
105
die in gebückter Hal-
tung und mit vorge-
streckten Händen den
günstigen Augenblick
zum Erfassen desGeg-
ners erlauern (Nach-
bildungen von Sieger-
statuen lysippischer
Kunstrichtung), end-
lich auf die sinnreich
und kunstvoll ver-
schlungene Ringer-
gruppe zu Florenz,
eine Kopie nach einem
Originale etwa der
ersten Hälfte des drit-
ten Jahrhunderts v.
Chr., hinzuweisen, um
die wechselvollen Mo-
tive der Situation, die
glückliche Wahl des
bezeichnenden Mo-
ments, die meisterhafte
Rhythmik der Bewe-
gung, die große An-
schaulichkeit und Le-
benswahrheit würdi-
gen zu können. Häu-
figervertreten und rei-
cher an Motiven ist die
letztere Gruppe: Der
Sieger träufelt sich vor
dem Kampfe aus dem
Salbfläschchen Öl auf
den Körper, um die
Glieder für den Ring-
kampf geschmeidiger zu machen (sogenannter „Salber" zu München
nach einem attischen Werke des fünften Jahrhunderts v. Chr.); nach
errungenem Erfolge legt ein anderer die Siegesbinde um das Haupt
(„Diadumenos" nach Polyklet Fig. 33) oder schabt sich das Öl und
') Das Motiv der Statue ist trotz der fehlenden Hände erkennbar:
Der Jüngling faßte die Enden der Binde, um den am Hinterkopfe ge-
schlungenen Knoten fest zusammenzuziehen. Da in der guten Marmor-
Fig.33. Diadumenos ') nacli Polyklet. Marmor-
statue aus Delos. Athen, Zentralmuseum
106
GRIECHISCHE ATHLETENSTATUEN
den Schmutz vom
Körper(„Apoxyo-
menos" nach Ly-
sipp Tafel 34). In
diesen Bildungen
ist es die ruhige
Stellung und Ge-
schlossenheit der
Figuren, oft auch
das zurückhalten-
de Auftreten, der
ernste und sin-
nende Ausdruck
des Antlitzes, die
den Betrachter
vom künstleri-
schen Standpunkte
aus befriedigen
und zugleich sym-
pathisch berüh-
ren. Erst etwa vom
Ende des vierten
vorchristlichen
Jahrhunderts an,
wohl teilweise
unter dem Ein-
flüsse lysippischer
Kunstrichtung und
Schule wird die
Persönlichkeit des
Siegers in der Körper- und Gesichtsbildung stärker betont und
genaue Wiedergabe der Natur in wachsendem Maße erstrebt. Ein
in Olympia zutage gekommener Bronzekopf ist eine treffliche
Fig. 34.
Bronzestatue eines l-austkampfers
Rom, Thermenmuseum
Kopie, die wohl noch in vorchristlicher Zeit gefertigt ist, die in der Ab-
bildung weggelassene, am rechten Beine angebrachte Stütze Chlamys
und Köcher trägt, ward jüngst in kühner und geistreicher Vermutung die
Deutung auf Apollo vorgeschlagen, während bisher jene Attribute als will-
kürliche Zutaten des Kopisten galten. Jedenfalls ist die Figur ein har-
monisch vollendetes Bild des Zusammenwirkens gymnastischer, ethischer,
musischer Erziehung. Sie scheint schwebend, fast tanzend einherzu-
schreiten, neigt bescheiden den Kopf, gleichsam vor höherer Macht sich
beugend. Eine Darstellung des Apollo, der die Binde um das Haupt sich
legt, ist bei Pausanias, Beschreibung Griechenlands 1, 8, 4 als nahe am
Arestempel zu Athen befindlich überliefert.
APOXYOMENOS 107
Probe aus den Anfängen dieser neuen realistischen Richtung.
Indes als die ausgeprägteste Schöpfung derselben wird die in
Rom gefundene und dort im Thermenmuseum aufbewahrte Bronze-
statue eines Faustkämpfers (Fig. 34), ein aus einem Lande
griechischer Kultur entführtes Original vielleicht noch des dritten
vorchristlichen Jahrhunderts, mit Recht bezeichnet. Auf einem
Felsen ruht nach errungenem Siege ein bärtiger, überaus kräftig
gebildeter Faustkämpfer, dessen Vorderarme und größter Teil der
Hände mit dem Schlagriemenzeug umwickelt sind, und blickt
mit stolzer, höhnischer Miene nach aufwärts. Sein zerstoßenes
Gesicht zeigt ebenso wie die breitgedrückten Ohren und die platt-
geschlagene Nase die deutlichsten Spuren des bestandenen Kampfes.
Nur durch die künstlerisch hervorragende Ausführung und die
packende Wirkung der Darstellung kann der abstoßende Eindruck,
den man beim Anblicke dieses rohen, berufsmäßigen Athleten er-
hält, gemildert werden. Das empfängliche und empfindsame Auge
wird sich bald wieder jenen Kopien der Meisterwerke des fünften
und vierten Jahrhunderts v. Chr., wie dem Diadumenos, Apoxyo-
menos u. a. m. zuwenden, in denen die griechische Athletik in ihrer
edelsten Form verkörpert ist.
TAFEL 34
APOXYOMENOS
MARMORSTATUE NACH LYSIPP IM BRACCIO NUOVO DES
VATIKANISCHEN MUSEUMS ZU ROM.
Wohl selten hat die Entdeckung der römischen Kopie eines
griechischen Meisterwerkes in der antiken Kunstgeschichte eine
solche Wichtigkeit erlangt, als die 1849 in Trastevere zu Rom
ans Tageslicht gekommene ') Nachbildung des bei Plinius dem
Alteren ^) unter dem griechischen Namen des Apoxyomenos er-
') In den Trümmern eines umfangreichen Gebäudes aus der späteren
Kaiserzeit, wahrscheinlich eines Bades, zu dessen Schmuck eine Athleten-
statue geeignet erscheint.
^) Naturalis historia 34, 62; der lateinische Name „destringens se" ist
von Plinius a. a. O. ebenfalls beigefügt.
108 GRIECHISCHE ATHLETENSTATUEN
wähnten und unter dieser Bezeichnung bekannten Werkes des sikyo-
nischen Erzgießers Lysipp. Wohl erhahen '), konnte die vortreff-
liche Kopie auf diesen Meister auf Grund der Nachrichten ^) über
das von ihm angewendete Proportionssystem des menschlichen
Körpers mit größter Wahrscheinlichkeit sogleich nach dem Funde
zurückgeführt werden und bildet seitdem einen festen Ausgangs-
punkt für die Zuweisung anderer Werke in die lysippische Schule
und Zeit. Das verlorene Bronzeoriginal, dessen ursprüngliche Be-
stimmung und Aufstellungsort in einem Lande griechischer Kultur
uns literarisch nicht überliefert sind, wird das Bildnis eines Wett-
kämpfers gewesen sein, der bei einem Festspiele im Ringkampfe
oder Pankration den Sieg errungen hatte und zu dessen Ehrung
die Statue an der Festesstätte selbst, vielleicht auch etwa im Gymna-
sium oder auf einem öffentlichen Platze seiner Heimat geweiht
war. Von Agrippa^) nach Rom übergeführt und der Darstellung
entsprechend vor den von ihm erbauten, an das Pantheon sich
anschließenden Thermen im Campus Martius aufgestellt, ist es
dort allgemein bekannt und geschätzt worden ; darum wurde es,
als es Tiberius in die Gemächer seines Palastes entführt hatte,
vom Volke bei Gelegenheit einer Theatervorstellung in echt süd-
ländischer Weise stürmisch zurückgefordert, so daß es der Kaiser
an dem bezeichneten Platze wieder aufstellen ließ ^).
Etwas über die Lebensgröße gebildet, steht in völliger Nackt-
heit ein jugendlicher, kräftig gebauter Athlet vor uns, der nach
dem Kampfe das ÖL^) und den Schmutz von dem rechten Arme
mit dem festgehaltenen Schabeisen'^) entfernt. Dies alltägliche,
der Palästra entlehnte Motiv, das auch von anderen bedeuten-
') Abgesehen von unbedeutenden Ergänzungen sind nur die Finger
der rechten Hand mit dem fälschlich beigefügten Würfel erneuert.
-) Bei Plinius dem Alteren, naturalis historia 34, 65.
^) Hingewiesen sei auf sein Porträt, abgebildet in dieser Handausgabe
Tafel 57.
") Ygl. Plinius a. a. O. 34, 62.
^) Über die Sitte der Griechen, in der Palästra vor dem Ringkampfe
den Körper mit Öl und Staub zu bestreichen, genügt es, auf die anschau-
liche und belehrende Darstellung bei Lucian, Anacharsis sive de exercita-
tionibus 28 f. zu verweisen.
'') Dasselbe ist in der Abbildung nur teilweise und ganz undeutlich
zu erkennen; es ist ein mit einem Griffe versehenes Gerät, das sichel-
förmig gebogen und an der Innenseite zum Zwecke der Aufnahme des
Öles und Schmutzes ausgehöhlt ist. Der griechische Name ist ötXfiyyic,
aber auch 'S,vaxpiq und Siiotpa. Von dem gleichen Stamme ist das Verbum
(XTio^ÜEiv („abschaben") und die in die lateinische Sprache übergegangene
statt „destringens se" gebrauchte Partizipalform „ü:xu5uü|uevoc;" („der sich.
Abschabende") gebildet.
APOXYOMENOS
ROM, VATIKANISCHES MUSEUM
APOXYOMENOS
109
den Meistern, wie von
Polyklet ') zur Darstel-
lung gebracht wurde,
hat Lysipp mit uner-
reichter Kunst wieder-
gegeben Die hochauf-
gewachsene, elastische
Gestalt mit überaus
großem Unterkörper,
breiter Brust, hohem
Halse und auffallend
kleinem Kopfe-) steht
mit ziemlich weitaus-
einandergesetzten Füs-
sen in scheinbarer Ruhe
da, ruft aber infolge der
Stellung der Beine und
Arme die Vorstellung
lebhafter Bewegung,
eines Hin- und Her-
wiegens des ganzen
Körpers hervor. Beim
Anblicke derselben
zweifelt man, ob die
Geschmeidigkeit der
Glieder, die feine Mo-
dellierung des Nackten,
der reiche Wechsel des Muskelspiels oder die schlanke Proportio-
nalität, die geschlossenen Umrisse-), die Rhythmik der Bewegung
größere Bewunderung verdienen. Diese Vorzüge, die vor der Mar-
morstatue selbst oder deren Abgüsse bei wechselndem Standpunkte
erst in ihrem ganzen Umfange gewürdigt werden können, haben
seit der Auffindung die stets wachsende Anerkennung der Kunst-
verständigen erlangt und sind für den ausübenden Künstler eine
nie versiegende Quelle der Belehrung geblieben.
Über der Bewunderung des rhythmisch und harmonisch voll-
endeten Gesamtbildes wird allzuleicht die Betrachtung und Wür-
digung des Hauptes (Fig 35) vernachlässigt, durch dessen Bildung
Fig. 35. Kopf des Apoxyomenos
') Plinius a. a. O. 34, 55.
-) Vgl. die bereits angeführte Steile des Plinius 34, 65.
^) Da die in der römischen Marmorkopie ursprünglich angebrachten
und teilweise noch erhaltenen Stützen, welche zur Entlastung der vorge-
streckten Arme aus statischem Grunde notwendig waren, ebenso wie der
110 jGRIECHISCHE ATHLETENSTATUEN
der Meister eine neue Probe seines Könnens abgelegt und seine
individuelle, Naturwahrheit und Realismus erstrebende Eigenart zum
Ausdruck gebracht hat. Von der wirr durcheinander geworfenen
Haarmasse bedeckt, ist der Kopf, in dem im Gegensatze zu älteren
Athletenbildern die Porträtzüge des Dargestellten vielleicht schon
ein wenig angedeutet sind, zum Zeichen der Ruhe nach bestan-
denem Kampfe leise nach abwärts gesenkt. Das Gesicht zeigt ein
breites Oval, der untere Teil der Stirne tritt in naturalistischer Weise
stark hervor. In dem sinnenden, fast melancholischen Antlitze, so-
wie dem geöffneten Munde ist starke innere Erregung veranschau-
licht, wie sie im Ausdrucke anderer, auf die lysippische Schule
und Zeit zurückgeführter Köpfe wiederkehrt') und bei einem Ath-
leten nach den Aufregungen des Wettkampfes wohlbegründet ist.
So wird durch die Physiognomie des Antlitzes das Interesse des
Betrachters aufs neue angeregt, das Verdienst des ganzen Werkes
aber gesteigert, das auch abgesehen von der hohen künstlerischen
yollendung als Musterbild eines von Jugend auf durch methodische
Übung gekräftigten und gestählten Körpers für die weitesten Kreise
des Volkes unschätzbare Bedeutung gewinnt.
an der Rückseite des linken Beines befindliche Baumstamm in dem Bronze-
originale gefehlt haben, war die Wirkung des Rundwerkes eine noch viel
einheitlichere.
') Die Gegenüberstellung mit dem Kopf des Hermes von Olympia
(Tafel 24) veranschaulicht den tiefgehenden Unterschied zwischen praxi-
telischer und lysippischer Kunst in Formengebung und seelischem Aus-
druck; auch die Vergleichung mit dem Kopf des Ares Ludovisi (Fig. 20),
der mit Lysipps Kunstcharakter verwandt ist, aber auch noch an Skopas
erinnert, ist lehrreich. Vom feurigen Pathos seiner Physiognomien und
von der schwungvoll elastischen Bewegung seiner Gestalten wecken pak-
kende Vorstellung Figur 29 und Tafel 32, die den Vergleich mit jenen beiden
Meistern nahelegen. So stehen die für die Stilentwicklung griechischer
Plastik weithin und lange wirksamen Künstler in bezeichnender Eigenart
klar vor Augen.
VI. GRABMÄLER
N,
leben den Heiligtümern der Gottheiten waren es die der Ver-
storbenen, d. h. waren es die Gräber, welche in der klassischen
Zeit die plastische Kunst hervorragend beschäftigten. Wir besitzen
noch aus fast allen Perioden der antiken Kultur, von den ältesten
Zeiten bis in die spätesten, plastisch verzierte Grabmäler.
Es lassen sich unter ihnen drei Reihen unterscheiden, die frei-
lich vielfach ineinander übergehen und miteinander verbunden
sind. Die eine geht aus von dem durch den Tod erhöhten Zu-
stande des Verstorbenen, der den Überlebenden als höheres Wesen
des Jenseits erscheint, dem Verehrung gebührt. Die andere und
wichtigste Reihe will nur die Erinnerung festhalten an den Ver-
storbenen, dessen Bild in irgend einer mehr oder weniger charak-
teristischen Weise wiedergegeben wird. Die klassische Kunst be-
gnügte sich dabei immer mit allgemeinen Umrissen und betonte
das allgemein Menschliche gegenüber dem Individuellen. Immer
gibt sie den Menschen in einem sein allgemeines Wesen charak-
terisierenden Zustandsbild, niemals in irgend einem einzelnen, vom
Zufalle bedingten Momente des Lebens. Selbst individuelle, por-
trätmäßige Gesichtszüge der Personen werden erst in der späteren
Zeit, etwa von der Alexanderepoche an, gewöhnlicher. — Die dritte
Reihe der Grabmäler ist diejenige, welche nicht das Bild des Ver-
storbenen, sondern allerlei Bildwerk als Schmuck enthält; doch
kann diese Gattung auch mit einer der vorigen verbunden sein.
Der Schmuck wird zumeist aus dem Kreise der Heroensage ge-
wählt; die Beziehungen zu dem Verstorbenen sind, wenn sie vor-
kommen, immer ganz allgemeine; sie deuten auf die Lieblings-
beschäftigung des Toten, wie Jagd und Krieg, oder auf den Todes-
fall im allgemeinen, wie Klagefrauen, Leichenzug, Leichenspiele u. dgl.
Ganz individuelle Darstellungen aus der persönlichen Lebensge-
schichte des Verstorbenen werden niemals zum Grabesschmucke
gewählt.
Die Formen der künstlerisch geschmückten Gräber der Alten
112 GRABMÄLER
sind überaus verschiedene gewesen. Man muß das eigentliche
Grabmal, das über dem Grabe sich erhebt, unterscheiden von dem
Grabe als Behälter des Verstorbenen. Unsere Tafeln geben Proben
von beiden.
Künstlerisch reich verzierte Särge kennen wir schon aus dem
sechsten Jahrhundert, aus der ionischen Stadt Klazomenae; sie
sind mit Tieren und allerlei Kampfesbildern geschmückt. Aus der
besten Zeit des freien Stiles besitzen wir nur geringere Reste von
Holzsarkophagen, die dekorativ oder mit Bildwerk aus der Helden-
sage, wie dem Tode der Niobiden, geschmückt waren. Äußerst
selten sind die Marmorsärge in dieser Epoche ; doch ist ein vor-
zügliches Stück des vierten Jahrhunderts mit Amazonenkämpfen
in Wien, und sind vor allem die herrlichen Sarkophage von Sidon
erhalten, deren größter und vorzüglichster Tafel 37 bis 39 abge-
bildet ist. Überaus gewöhnlich wird die Sitte der reliefgeschmück-
ten Marmorsärge in der römischen Kaiserzeit, aus der sie in Menge
erhalten sind. Sie tragen zumeist mythologische Darstellungen ;
die Bilder aus dem Menschenleben haben immer allgemeinen Cha-
rakter. — Außer den Särgen wurden auch die Aschenurnen zu-
weilen mit Bildwerk geziert; es geschah dies indes in Griechen-
land nur vereinzelt, sehr häufig aber in Etrurien und Rom.
Die einfachste Gattung der eigentlichen Grabmäler über dem
Grabe ist die der Stele, der in die Erde gerammten Steinplatte,
die schon in der alten mykenischen Epoche mit Relief geschmückt
zu werden pflegte. Im sechsten Jahrhundert war die schmale,
hohe Stele, welche nur die aufrechte Figur des Verstorbenen in
Lebensgröße enthielt, zumeist beliebt; Frauen wurden oft sitzend
dargestellt. Nur durch die Figur einer Dienerin erweitert, zeigt
diesen Typus die noch aus dem fünften Jahrhundert stammende
schöne Stele der Hegeso Tafel 36. Von den im vierten Jahrhundert
in Athen beliebten Familienbildern gibt Tafel 35 ein sehr gutes
Beispiel. Der giebelförmige Abschluß, den diese Grabmäler haben,
geht indes schon über den Typus der eigentlichen Stele hinaus
und berührt sich mit einem anderen, der ein mehr oder weniger
ädicula- oder tempeiförmiges Mal über dem Grabe zeigt. Reiche,
prunkvolle Grabmäler, wie sie namentlich in Kleinasien entstanden,
haben geradezu die Tempelform gewählt, dafür ist das Mausoleum
von Halikarnaß klassisches Beispiel. Eine andere Reihe von Grab-
mälern geht dagegen von der Idee eines Altares aus, der über
dem Grabe sich erhebt; eine andere begnügt sich, den Grabhügel,
die Aufschüttung des Grabtumulus, künstlerisch auszugestalten;
doch bestanden diese verschiedenen Arten durchaus nicht zu allen
Zeiten und an allen Orten.
ZWEI GRABRELIEFS VON ATHEN 113
TAFEL 35 und 36
ZWEI GRABRELIEFS VON ATHEN
Auf einer Platte pentelischen Marmors von 1,45 Höhe und
0,85 Breite (Tafel 35) ist eine Gruppe von drei Figuren in Relief
ausgehauen. Die rechte obere Ecke der Platte ist ergänzt. An
beiden Seiten wird die Platte von schmalen Antenpfeilern einge-
faßt. Oben lag über diesen ein giebelförmiger Abschluß, der in
einem besonderen Blocke gearbeitet war und verloren ist. Auf
dem Gesimse desselben stand die Inschrift, welche angab, wem
das Grabmal galt.
Die Platte, jetzt im Zentralmuseum zu Athen, ist 1870 bei
den Ausgrabungen am Dipylon zu Athen, nahe dem Kirchlein Agia
Triada gefunden worden. Damals entdeckte man, unter tiefem
Schutte vergraben, ein wunderbar wohl erhaltenes Stück der alten
Nekropole vor dem großen Doppeltore, dem Dipylon zu Athen,
aus welchem die heilige Straße nach Eleusis und die große Fahr-
straße nach dem Piräus führte. Es war Sitte bei den Alten, die
Grabmäler längs der Hauptstraße unmittelbar vor den Toren an-
zulegen. Die Athener scheinen indes selbst bei einem uns un-
bekannten Anlaß späterer Zeit jenes Stück der Gräberstadt zu-
geschüttet zu haben ; man vermutet, daß dies etwa in der Zeit
bald nach der Einnahme Athens durch Sulla geschah, und nimmt
an, daß die Athener das Stück vor dem Tore freier Benutzung
zurückgewinnen, aber auch die Grabstätten der Väter schonen
wollten und deshalb den ganzen Platz mit Schutt auffüllen ließen.
So hat sich eine Reihe der stattlichsten, schönsten Grabmäler aus
der Blütezeit attischer Kunst noch unversehrt aufrecht stehend
erhalten.
Zu den frühesten der erhaltenen bildlich verzierten Grabmäler
an diesem Platze vor dem Dipylon gehört die schöne Stele der
Hegeso, der Tochter des Proxenos, welche Tafel 36 abgebildet ist.
Sie steht noch jetzt an ihrer ursprünglichen Stelle an der Gräber-
straße aufrecht. Auch diese Platte ist an beiden Seiten eingefaßt
von Antenpfeilern, deren Kapitell aber viel sorgfältiger gearbeitet
ist als an der anderen Stele. Darüber der giebelförmige Abschluß,
auf welchem die Inschrift 'Hyriaw Ilpo^evo(u) angebracht ist; die
Schreibweise o für ov gehört der älteren Zeit an. Auf einem Lehn-
stuhl von ebenso einfacher wie außerordentlich schöner Form mit
Denkmäler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl. 8
114 GRABMÄLER
geschwungenen Beinen sitzt Hegeso in ionischem Chiton mit Halb-
ärmeln und dem Mantel. Ihr Haar ist mit einem Tuche und Bin-
den in zierlichster Weise geschmückt, und auf dem Hinterkopfe
hängt ein dünner, feiner Schleier. Sie ist im Begriffe, aus dem
Schmuckkästchen, das eine Dienerin ihr vorhält, einen Gegenstand,
der nur durch Farbe angegeben war, der Haltung der Finger nach
eine Halskette, zu nehmen. Sie blickt prüfend auf den Schmuck.
Die Dienerin trägt ein von der Herrin ganz verschiedenes Kostüm;
auch ist ihr Gesicht, obwohl schön, doch von minder edlen, vor-
nehmen Zügen als das der Herrin. Ihr Haar ist ganz unter einer
Haube verborgen, und sie trägt einen ungegürteten Chiton mit
engen Ärmeln, der die Fremde, die Sklavin charakterisiert; auch
sind ihre Füße in Schuhen versteckt, während die Herrin Sandalen
an den auf einem zierlichen Schemel ruhenden Füßen trägt.
Der Stil weist dies köstliche Relief in die Zeit der Schule
und Nachfolge des Phidias, in die Epoche des Peloponnesischen
Krieges. Die Köpfe haben viel Ähnlichkeit mit denen am Par-
thenonfriese; die dünn und wie feucht sich anschmiegende Ge-
wandung weist auf die angegebene etwas jüngere Zeit. Jedenfalls
gehört die Stele noch in das fünfte Jahrhundert.
Das Relief hat nur die Absicht, die Erinnerung festzuhalten
an die edle, schöne Frau Hegeso, und das Mittel, das gewählt
ward, ist, sie einfach darzustellen, wie sie in der Erinnerung lebte,
zu Hause sitzend, mit Schmuck beschäftigt, von der Sklavin be-
dient. Nicht die Spur einer Andeutung des Todes, als Abschieds
vom Leben, oder des Jenseits.
Die größere Stele, welche Tafel 35 wiedergibt, stellt nicht
eine Verstorbene allein, sondern eine Familienvereinigung dar. Sie
gehört zu den im vierten Jahrhundert sehr üblichen Denkmälern,
welche Familiengräber schmückten und den einzelnen nicht allein,
sondern im Vereine mit den geliebten Angehörigen darstellen. Auch
diese Reliefs sind Erinnerungsbilder, bestimmt, das Gedächtnis an
die in Liebe innig Verbundenen festzuhalten. Auch bei ihnen
keine Spur einer Andeutung des Abschieds vom Leben.
Man hat diese Bildwerke vielfach mißverstanden. Den An-
laß dazu bot ein auf ihnen besonders beliebtes Motiv, der Hand-
schlag, den man ohne weiteres, moderner Auffassung folgend, als
Zeichen des Abschieds mißverstand. Obwohl gleich die nächsten
Fragen, wer denn Abschied nehme, wer dableibe, wer der Tote,
wer die Überlebenden seien, in die größten Schwierigkeiten ver-
wickeln und die falsche Fährte erkennen lassen, so war doch jene
verkehrte Deutung sehr verbreitet. Sie beruht auf völligem Ver-
kennen dessen, was die antiken Grabdenkmäler sind und wollen.
ATTISCHES GRABRELIEF
ATHEN, ZENTRALMUSEUM
F BRUCKMANN A.-G.. MÜNCHEN
GRABSTELE DER HEGESO
ATHEN, DIPYLON
ZWEI GRABRELIEFS VON ATHEN
115
Der Handschlag bedeu-
tet nicht Abschied, sondern
ist nur ein Zeichen des in-
nigen, unverbrüchlich treuen
Zusammenhaltens der Fami-
lienglieder. Der Schatten des
Todes, der auf diese Verei-
nigungen auf dem Grabmale
fällt, läßt sich nur an einzel-
nen wehmütigen Bewegun-
gen erkennen, die meist nur
den im Hintergrunde stehen-
den Figuren geliehen sind.
Auf unserer Platte sehen
wir eine sitzende und eine
von rechts herantretende
Frau im Handschlag vereint.
Beide tragen den ionischen
Chiton und den Mantel, an
den Füßen Sandalen. Sie
blicken sich treu und innig
an. Immer ist wie hier das Zu-
sammenhalten, Zusammen-
kommen, niemals ein Aus-
einandergehen dargestellt.
Im Hintergrunde steht,
auf seinen Stab gelehnt, ein
bärtiger Mann, der den Man-
tel in üblicher Weise auf der
linken Schulter und um den
Unterkörper gelegt trägt. In
trübem Sinnen legt er die
linke Hand an den Bart. Sein Kopf ist, wie dies auf den älteren
Stelen fast immer der Fall ist, allgemein und nicht als Porträt
gebildet; es ist ein kräftiger, schöner Männerkopf, ebenso wie die
Frauen von typischer Schönheit sind.
Der Stil dieses Reliefs zeigt schon große Verschiedenheit von
dem der Hegeso; am deutlichsten ist dies in den Köpfen und der
Behandlung des Haares. Der große Zug, das abgeklärt Reine, Edle
ist mit der stärkeren Stilisierung der Formen verschwunden; dafür
sind Gesicht und Haar und Gewand freilich natürlicher und wahrer
gebildet. Das Relief gehört der ersten Hälfte des vierten Jahr-
hunderts v. Chr. an.
Fig. 36. Trauernde Dienerin aus Menidhi,
dem alten Acharnä. Attische Grabstatue
um die Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr.
Berlin, K. Museen
8*
116 GRABMALER
Wie auf attischen Grabreliefs im Hintergrund als Nebenfigur
eine Dienerin erscheint, mit der Gebärde der Trauer den gesenkten
Kopf auf die Hand legend, so waren Rundplastiken in gleicher
Situation an Grabstätten angebracht. Unter den erhaltenen Exem-
plaren ist eine Perle die etwa um die Mitte des vierten Jahr-
hunderts V. Chr. zu datierende junge Sklavin (Fig. 36), die nach
einer sinnigen, allerdings nicht sicheren Erklärung dereinst mit einem
gleichfalls erhaltenen Pendant an einer Grabanlage zu Menidhi in
Attika, an der Stelle des alten Demos Acharnä, auf einem Felsen
sitzend als Wächterin gedacht war. Wie die Mädchen ihren Herrinnen
zu deren Lebzeiten treue Dienste leisteten, so hüteten sie später die
Ruhestätte, in schlichter Einfachheit ergreifende Bilder wehmütiger
Hingebung über den Tod hinaus.
TAFEL 37—39
DER SOGENANNTE ALEXANDERSARKOPHAG
VON SIDON
KONSTANTINOPEL, KAISERLICH OTTOMANISCHES MUSEUM.
Im Frühling des Jahres 1887 stieß man in der Nekropole
des alten Sidon (heute Saida) beim Suchen nach Bausteinen zu-
fällig auf eine große unterirdische Grabanlage, die von der türki-
schen Regierung mit Umsicht und Vorsicht ausgegraben wurde; sie
enthielt 17 Sarkophage, die in das Kaiserliche Museum zu Kon-
stantinopel verbracht wurden. Der größte und in der Ausschmük-
kung reichste dieser Sarkophage ist derjenige, welchen man nach
der Figur Alexanders d. Gr., die auf den Reliefs vorkommt, den
Alexandersarkophag benannte.
Die Ansicht Tafel 37 zeigt in zwei Teile zerlegt die Reliefs der
Vorderseite, während Tafel 38 den ganzen Sarkophag etwas schräg
von seiner Rückseite gesehen wiedergibt; diese letztere stand einst
in der Grabkammer nahe ihrer Westwand. Man erkennt hier links
noch in starker Verkürzung die nördliche Schmalseite des Sarges.
Die Hauptseite war nach Osten, nach dem freien Räume der Grab-
kammer gekehrt; sie unterscheidet sich von der Rückseite durch
eine sehr viel reichere Reliefdarstellung, die siebzehn menschliche
Figuren und sechs Rosse enthält, während jene nur sieben Männer
und fünf größere Tierfiguren aufweist. Indes die Feinheit und
Sorgfalt der Ausführung ist auf allen Seiten die gleiche.
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DER SOGEN. ALEXANDERSARKOPHAG 117
Fig. 37. Perserkopf
Durch den bei statt-
licher Größe (die mensch-
lichen Figuren des Haupt-
reliefs haben 58 cm Höhe)
außerordentlichen Reich-
tum und durch die vollen-
dete Schönheit des orna-
mentalen wie figürlichen
Schmuckes, sowie durch
die einzig dastehende Er-
haltung, welche sich sogar
auf die farbenprächtige
Bemalung erstreckt, ist
dieser Sarkophageines der
allerersten und bedeutend-
sten aller uns gebliebenen
Werke der Antike. Die
Ausdehnung der Relief-
streifen der Langseiten
beträgt je 2,80 m.
Die ornamentale Ver-
zierung des Sarkophages
gehört dem ionischen Architekturstile an. Der eigentliche Körper des
Sarges hat die Gestalt eines oben und unten reich mit ionischer
Profilierung gezierten hölzernen Kastens mit Rahmenwerk und Fül-
lung. Die letztere besteht aus den ziemlich hoch ausgearbeiteten
Reliefs. Der Deckel des Kastens hat die Gestalt eines Tempel-
giebels mit ionischem Gebälk. Unter dem Zahnschnitt läuft ein
Fries mit reizend natürlich gebildetem Weinlaub. Dieses natura-
listische Ornament war zur Zeit der Entstehung des Sarkophages
noch etwas Neues; später finden wir es an mancherlei Geräten
öfter. Die Sima ist mit dreifach gehörnten Löwenköpfen geziert,
die dem Typus des persischen Löwengreifs angehören. Dieser
Greifentypus ward in Griechenland als speziell persisch empfunden;
in ganzer Figur erscheinen diese Löwengreife zu den Seiten der
Palmette der beiden Giebelfirstakroterien, sowie gemalt auf der
Satteldecke des Persers der nördlichen Schmalseite. Als Eckakro-
terien fungieren gelagerte Löwen. Als Stirnziegelschmuck dienen
an den Langseiten weibliche Köpfe mit schilfblattartiger Bekrönung,
die sich an eine in gewissen Kulten übliche Tracht von Tänzerinnen
anzuschließen scheint. Dieselben Köpfe kehren oben als First-
akroterien wieder; doch wechselten sie hier ab mit Adlern, die
weggebrochen und bis auf geringe Reste verloren sind.
118
GRABMALER
Fig. 38. Kopf Alexanders d. Gr.
Das Ganze ist aus
zwei gewaltigen Blöcken
pentelischen Marmors ge-
arbeitet.
Das Relief der Rück-
seite Tafel 38 (die Haupt-
gruppe größer auf Tafel 39)
zeigt eine Löwenjagd, an
welcher sowohl griechisch
als persisch gekleidete
Männer teilnehmen. In
der Mitte wird ein durch
Kleidung wie Gesichts-
typus (siehe Abbildung des
Kopfes Fig. 37) als Per-
ser charakterisierter Rei-
ter von einem Löwen an-
gefallen. Der Löwe, der
nach einer in der grie-
chischen Kunst häufigen
nicht ganz natürlichen hundeartigen Weise gebildet ist, hat sich
auf das Roß des Reiters gestürzt und zerfleischt dessen Brust.
Der Perser zückt die Lanze gegen das Tier. Diese Lanze war
von Metall gearbeitet und besonders angesetzt ; sie ist mit allen
anderen metallischen Zutaten (Waffen, Gürtelschließen u. a.) ver-
loren gegangen. Dem bedrängten Perser kommen fünf andere
Männer zur Hilfe, zunächst ein Perser zu Fuß, der mit dem Beile
nach dem Löwen ausholt. Die persische Tracht ist hier wie bei
dem Reiter sehr deutlich ; sie besteht aus bunten, engen Bein-
kleidern, ebenfalls buntem Rock mit engen Ärmeln und einem
Überwurf, der ebenfalls mit Ärmeln ausgestattet ist, die aber nicht
angezogen sind ; es ist der Kandys, der frei im Rücken flattert
und dessen Ärmel nur bei der Parade vor dem Könige angezogen
wurden (vgl. Xenophon, Kyropaed, 8, 3, 10). Der Kopf ist be-
deckt von der weichen Tiara, die auch das Untergesicht fast bis
zur Nase umhüllt. Dem Perser eilen ferner zu Hilfe zwei griechisch
gekleidete jugendliche Reiter mit (jetzt fehlenden) Lanzen ; sie
tragen kurzen Chiton und Chlamys; der linke hat enge Ärmel
am Chiton ; im kurzen Haare liegt eine Binde, wodurch er von
dem anderen unterschieden wird ; sein Kopf ist voll Energie und
Kraft, aber ohne eigentlich individuelle Porträtzüge (siehe Fig. 38);
er hat vielmehr die typischen Züge, welche die attische Kunst des
vierten Jahrhunderts den Athleten und dem jugendlichen Herakles
CO 5
DER SOGEN. ALEXANDERSARKOPHAG 119
Fig. 39. Kopf Alexanders d. Gr.
gibt. Insbesondere kann von
einer Ähnlichkeit mit den in-
dividuellen Zügen sicherer
Porträts Alexanders d. Gr.
nicht die Rede sein; der Haar-
wuchs ist sogar vollständig
verschieden von jenen und
vielmehr der typische der
Athleten und des Herakles.
Dennoch ist es höchst
wahrscheinlich, daß in diesem
Reiter links von dem vor-
nehmen Perser Alexander d.
Gr. zu erkennen ist, und zwar
deshalb, weil er auf der
Hauptseite des Sarkophages
(Tafel 37) erkannt werden
muß in einer Gestalt, deren
Gesicht ebensowenig Porträt-
ähnlichkeit mit Alexander hat, die aber durch das Löwenkopffell auf
dem Haupte und durch die Handlung unzweideutig als Alexander
charakterisiert ist. Dort ist eine große Schlacht zwischen Persem
und Makedonen dargestellt und Alexander durch die Löwenhaut un-
zweifelhaft (der Kopf Fig. 39). Diese läßt aber auch erkennen, woher
der Künstler seine ganze Vorstellung vom Äußeren des großen Königs
hatte : nicht von den wirklichen Porträts — sonst hätte er niemals ein
so unähnliches allgemeines Bild gegeben — , sondern lediglich von
den Münzen Alexanders mit dem jugendlichen Herakleskopfe. Daß
dieser in späterer hellenistischer Zeit als Bildnis Alexanders ange-
sehen wurde, wußten wir bereits; daß dieser populäre Irrtum aber in
die Alexanderzeit selbst zurückgeht, lehrt unser Sarkophag. Der
Herakleskopf der Münzen war nicht im mindesten als Porträt Ale-
xanders beabsichtigt, sondern stellt nichts als die normale Weiter-
bildung des Heraklestypus in der Alexanderzeit dar; nur durch Miß-
verständnis sah man das Bild des Königs darin, von dem man wußte,
daß er sich gerne mit Herakles identifizierte und mit Löwenfell und
Keule auftrat (Ephippos bei Athenaeus, deipnosophistai 12, p. 537 f.).
Die Tatsache, daß der Künstler des Sarkophages keine wirk-
lichen Bildnisse Alexanders gekannt und nur das vermeintliche der
Münzen benutzt hat, ist auch wichtig, indem sie zeigt, daß man
sicher auf falschem Wege war, wenn man, wie bisher allgemein
geschehen, den Künstler im Kreise des Lysippos von Sikyon suchte
und nur zwischen dessen beiden Hauptschülern Euthykrates und
120 GRABMALER
Eutychides schwanken zu dürfen vermeinte. Die Künstler aus
Lysippos Kreise waren natürlich mit dem wirklichen Porträt Alexan-
ders, das ja ein Hauptgegenstand von Lysippos Kunst war, aufs
genaueste vertraut. Es kommt hinzu, daß der Auftrag, eine deko-
rative Arbeit zu liefern, wie sie unser Sarkophag darstellt, ganz
außerhalb des Kreises der Tätigkeit des Lysippos und seiner Schule
lag, die nur den vornehmen Erzguß pflegte. Dagegen waren die
attischen Ateliers eben für derartige Aufträge eingerichtet. Da nun
ferner das Material unseres Sarkophages attischer Marmor ist, kann
kaum bezweifelt werden, daß auch der Künstler der attischen Schule
angehörte. Der Stil der Bildwerke aber bestätigt diese Annahme
aufs entschiedenste. Sowohl die Erfindung der Motive, als die
Ausführung des einzelnen, insbesondere des Gewandes und der
Köpfe, zeigt den Künstler als unmittelbaren Nachfolger jener attischen
Meister, welche das Grabmal des Königs Maussollos zu Halikarnaß
mit ihren Marmorwerken geschmückt hatten. Indes muß man sich
wohl hüten, an einen der großen Namen selbst zu denken ; einem
Leochares z. B., der Alexander selbst porträtiert hat, dürfte man
die Alexanderbildung unseres Sarkophages niemals zuschreiben.
Im Museum zu Wien befindet sich ein in der Arbeit sehr
verwandter Sarkophag mit Amazonendarstellungen, der aus demselben
attischen Künstlerkreise herstammen muß wie der große sidonische;
indem man fälschlich annahm, daß der Marmor des Wiener Sarko-
phages peloponnesischer Herkunft sei, glaubte man darin eine Stütze
für die Annahme gleichen Ursprungs des Alexandersarkophages
zu haben. Allein jener Wiener Sarg stammt, wie neuerdings nach-
gewiesen ward, aus Soloi auf Kypros, und der Marmor desselben
ist nicht peloponnesisch, sondern vielmehr pentelisch wie der des
sidonischen. Es war derselbe mit Aufträgen für den Osten be-
schäftigte attische Künstlerkreis, dem beide Werke entsprangen.
Doch fahren wir fort in Betrachtungen der Jagdszene des
sidonischen Sarkophages.
Der andere Reiter in kurzem Chiton und Chlamys, der auf
dem Jagdbilde von rechts heransprengt, muß einer der Genossen
Alexanders sein; ihn bestimmt Hephaistion oder, wie man auch
wollte, Krateros zu nennen, ist schon zu weit gegangen, da der
Künstler die Figur nicht weiter individualisiert hat; er hat ihr einen
Kopf von ganz allgemeinem, kräftigem, athletenartigem Typus ge-
geben, denselben, den er bei dem rechts folgenden Jüngling ver-
wendet hat.
Die zwei Figuren am linken Ende des Bildes stehen noch mit
der Hauptszene in Verbindung; hinter Alexander eilt ein nackter
Mann zur Hilfe herbei, der nur über dem linken Arm ein Ge-
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DER SOGEN. ALEXANDERSARKOPHAG 121
wandstück hängen
hat. Der Moment
des eiligen Laufes
ist ganz vortrefflich
erfaßt. Nicht min-
der ausgezeichnet
in der Bewegung
ist der folgende,
im Zurückweichen
den Bogen ab-
schießende Perser,
die Linke hielt den
Bogen, die Rechte
zog die Sehne an.
Die Ärmel des
Kandys flattern im
Rücken empor.
Auch am rechten
Ende ist ein Grieche
und ein Perser dar-
gestellt, doch ohne
Beziehung zur
Hauptszene; es ist
hier ein selbstän-
diges kleines Bild
der Erlegung eines
Hirsches gegeben.
Der Hirsch wird
von dem nur mit der Chlamys bekleideten griechischen Jüngling mit
der Linken am Geweih gepackt und mit der verlorenen Lanze in der
Rechten bedroht; die Bewegung hat entschieden mehr Schönheit
und Schwung als Wahrscheinlichkeit. Der Perser schwingt die Axt
ähnlich wie der hinter dem Löwen stehende. Seine nach rechts
ausweichende Bewegung entspricht genau der des bogenschießen-
den Persers am anderen Ende, eine Symmetrie, welche dem ganzen
Bilde einen wohltuenden Abschluß gibt. Drei Jagdhunde, von denen
einer den Löwen in das Hinterbein beißt, vervollständigen das leben-
dige Bild einer Jagd, in der Alexander d. Gr. mit den Seinen als
Genosse eines persischen Großen erscheint.
Die menschlichen wie tierischen Figuren sind von gleicher
Feinheit und Vollendung der Ausführung; die Köpfe zeigen leiden-
schaftliche Erregung. Die Wirkung wird bedeutend unterstützt durch
die Bemalung, die noch fast vollständig erhalten ist. Sie erstreckt
Fig. 40. Perserkopf
122
GRABMALER
p"" '• "''
Fig. 41. Kampfgruppe von der Vorderseite des Alexandersarkophages
sich namentlich auf die ganzen Gewänder, dann die Haare, die
Augen nebst Brauen und Wimpern, sowie die Lippen; dagegen war
das Fleisch nicht bemalt, sondern nur leicht getönt. Es sind sechs
Farben verwendet. Violett, Purpur, Rot, Braunrot, Gelb und Blau.
Besonders wirkungsvoll ist die Bemalung der Augen, durch welche
der Künstler eine außerordentliche Kraft und Intensität des Blickes
erreicht hat (Fig. 40). Man erkennt an diesem Beispiele, wie un-
geheuer viel wir dadurch verloren haben, daß die Bemalung der
antiken Marmorwerke in der Regel verschwunden ist.
Die Hauptseite des Sarkophages (Tafel 37) stellt eine große
Schlacht zwischen Persern und Makedonen dar (die mittlere Gruppe
zeigt auch Fig. 41), in welcher Alexander nebst zwei Genossen zu Pferd
die beiden Ecken und die Mitte herausheben. Die Fülle der Figuren,
die zum Teil in drei Gründen hintereinander angeordnet sind, gibt
das Gewühl der Schlacht vortrefflich wieder. Das Relief erreicht
hier eine damals durchaus neue malerische Vertiefung des Grundes.
Während die Rückseite in den hergebrachten Formen des Friesreliefs
gehalten ist, wird hier etwas völlig Neues geleistet.
Die Figur Alexanders zur Linken mit dem Löwenfell haben
wir bereits besprochen. Mit der (fehlenden) Lanze stieß er nach
einem vornehmen Perser, dessen Roß auf die Vorderbeine ge-
stürzt ist, der sich aber mit der Waffe in der erhobenen Rechten
noch zur Wehre setzt (den Kopf dieses Persers gibt Fig. 42).
Die Gruppe kehrt ähnlich wieder auf einem berühmten Mosaik
aus Pompeji, das kopiert ist nach einem Gemälde der Alexander-
zeit. Der Vergleich zeigt aber, daß der Sarkophagkünstler die
DER SOGEN. ALEXANDEF^SARKOF^HAG 123
Fig. 42. Perserkopt
Szene, die ihm bekannt
gewesen sein muß, des
individuellen Charakters
entkleidet hat. Überhaupt
ist der Sarkophag in
allem verallgemeinert
und idealisiertgegenüber
der bis in das Detail
gehenden historischen
Treue des in dem Mosaik
kopierten Gemäldes.
Nach rechtshin folgt
die schöne Gruppe eines
Zweikampfs zwischen
einem Perser und einem
Makedonen. Hinter letz-
terem schießt ein Perser
den Bogen ab in der
Richtung nach Alexan-
der. Im Vordergrunde
fleht ein Perser um Gnade vor einem berittenen Makedonen, in
dessen allgemein gehaltenem, jugendlichem Kopf man mit Unrecht
Porträtzüge — des Philotas, Hephaistion oder Krateros — hat sehen
wollen. Einem galoppierenden Perser fällt ein fast nackter, junger
Grieche in die Zügel — die Nacktheit wieder ein sprechender Be-
weis für den verallgemeinerten heroisierten Charakter der Szene — ,
während im Vordergrunde ein Perser den Bogen abschießt nach
rechts, wo vom Ende her ein Makedone mit sehr entschlossenen
Zügen (Fig. 43) und in voller Rüstung heranreitet. Man hat auch
hier eine bestimmte Persönlichkeit vermutet und den älteren Mann,
ein Bild eiserner Kraft, Parmenion, den bedeutendsten Feldherrn
Alexanders, benannt. Dazwischen die schöne Gruppe, wie ein Per-
ser zu Fuß den verwundet vom Pferde sinkenden Genossen auffängt.
Außer den genannten Figuren sieht man noch am Boden vier ge-
fallene Perser und einen toten nackten Griechen liegen.
Die Schmalseiten des Sarkophages sind in der einfacheren Art
der Rückseite komponiert. Sie wiederholen dieselben Themata, die
dort erscheinen, nur mit Weglassung Alexanders und alleiniger Her-
vorhebung der Perser. Die nördliche Schmalseite zeigt wieder einen
Kampf von Persern und Makedonen; ein vornehmer Perser zu Roß
bildet die Mitte; die Makedonen oder Griechen sind auch hier, der
Wirklichkeit entgegen, aber dem gewöhnlichen idealisierenden heroi-
schen Stile entsprechend, nackt gebildet.
124
GRABMALER
Fig. 43. MakedoncnLüpl
Die südliche
Schmalseite stellt
wieder eine Jagd
dar, in welcher die
Perser aber allein
sind ; das gejagte
Tier ist ein Panther.
Auch die beiden
Giebel zeigen Re-
liefs, einerseits den
Kampf von Persern
und Griechen (man
hat auch hier Ale-
xander erkennen
wollen, aber offen-
bar mit Unrecht),
anderseits einen
Kampf zwischen
griechisch beklei-
deten Männern, ver-
mutlich Makedonen
und Griechen.
In der letzter-
wähnten Szene hat
man alle möglichen
Mordtaten der Ale-
xander- und Diado-
chenzeit illustriert
sehen wollen; allein auch die Erklärung der übrigen Bilder hat sich
bisher nach unserer Meinung auf durchaus falscher Bahn bewegt,
von der irrigen Voraussetzung ausgehend, es müßten die Bilder
bestimmte einzelne Vorgänge aus dem Leben derjenigen Person
darstellen, für welche der Sarg bestimmt war. In dieser Annahme
befangen, haben sich bisher sämtliche Erklärer bemüht, die Per-
sonen der Bilder möglichst alle mit historischen Namen zu belegen.
So wollte eine der Deutungen mit größter Bestimmtheit den
Griechen Laomedon von Mitylene als „Grabherrn" erkennen, der
von dem Künstler aber bald in persisches Kostüm verkleidet und
mit Schnurrbart ausgestattet, bald in makedonischer Tracht mit glatt-
rasiertem Gesichte dargestellt worden wäre! Ja eine so genaue
Illustration des Lebenslaufs dieses Laomedon vermeinte man hier
zu erkennen, daß man den Sarkophag geradezu als „neue histo-
rische Quelle" für Einzelheiten der Diadochengeschichte bezeich-
DER SOGEN. ALEXANDERSARKOPHAG 125
nete. Eine andere Deutung sieht in dem „Grabherrn" Kophen,
Sohn des Artabazos, einen vornehmen Perser, und glaubt die Sar-
kophagbilder als genaue Illustrationen aus dem Leben eben dieses
Mannes ansehen zu dürfen. All dies sind wertlose Phantasien,
hervorgegangen aus einem völligen Verkennen des künstlerischen
Wesens unseres Denkmals.
Wir haben bemerkt, daß an den beiden Langseiten Alexander
d. Gr. dargestellt ist. Diese unmittelbar nach der Entdeckung schon
gefundene Benennung ist, wie wir glauben, die einzige, die wirk-
lich gerechtfertigt ist. Alle anderen Personen sind nicht nur für
uns, sondern waren wahrscheinlich auch für den Künstler schon
namenlos.
Die Anwesenheit Alexanders macht die Reliefs allerdings zu
historischen; allein sie sind historisch in einem sehr beschränkten,
aber echt antiken, griechischen, einem allgemeinen, weiten, idealen
Sinne. Alexander ist das einzige wirkliche Individuum, das hier
erscheint, er, der schon den Zeitgenossen himmelhoch und götter-
gleich erhaben erschien; ihm gegenüber sind alle anderen nur Ver-
treter von Menschenklassen, keine Persönlichkeiten mit Namen.
Vergeblich wird man sich bemühen, die große Schlacht genau zu
bestimmen als die von Issos oder Arbela und die Makedonen und
Perser einzeln zu benennen und in einem von ihnen den „Grab-
herrn" zu erkennen; der Künstler wollte ja nur eine Schlacht
Alexanders gegen die Perser in echt hellenischer, allgemeiner Weise
darstellen. Das Jagdbild zeigt Alexander nach der Besiegung Per-
siens : er verkehrt freundschaftlich mit den persischen Großen und
nimmt an ihren Jagden teil: auch dieses Bild von typischem, all-
gemeinem Gehalt. Das Jagdleben der persischen Vornehmen, die
Kämpfe der Perser mit den Makedonen und Griechen, sowie die
Kämpfe der Makedonen und der Griechen untereinander — dies
schildern die übrigen kleinen Bilder — ein lebendiges Zeitgemälde,
aber mit typischen, nicht individuellen Figuren, daher auch mit
typischen Motiven und selbst mit Einmischung des ganz unhisto-
rischen heroischen Kostüms.
Würde der Sarkophag wirklich, wie man in gänzlicher Ver-
kennung der Eigenart griechischer Kunst gemeint hat, einzelne auf
Tag und Stunde bestimmbare Momente illustrieren, so würde er
aus allem herausfallen, was wir von griechischer Gräberkunst wissen;
erst wenn das Historische in den Bereich des Typischen, Allge-
meinen gehoben ist, gliedert sich auch dieser Sarkophag als ver-
ständliches Glied in die Kette des uns Bekannten.
Die Bilder zeigen unzweideutig, daß das Ziel des Künstlers
nicht die Schilderung der Griechen oder Makedonen, sondern die
126 GRABMÄLER
der edlen Perser der Alexanderzeit in Jagd und Krieg war. Damit
stimmt der ornamentale Schmuck des Sarges überein, der, wie wir
sehen, eine so starke Verwendung von dem persischen Greife macht.
Und damit stimmt endlich vor allem die aus dem Orte der Auf-
findung zu erschließende Bestimmung des Sarkophages.
Diese letztere ist freilich Gegenstand einer lebhaften Kontro-
verse geworden. Anfangs vermutete man sogar, der Sarg sei für
Alexander d. Gr. selbst bestimmt gewesen ; dann setzte man dafür
einen der makedonischen Generale ein, wie Parmenion oder Per-
dikkas, oder einen Statthalter Syriens, ferner einen der vornehmen
Perser, wie Artabazos oder Mazaios, indem man annahm, der Sar-
kophag sei anderswohin, etwa nach Ägypten oder Babylonien, be-
stimmt gewesen und nur durch irgend einen Zufall, durch Raub
oder Kauf, an die Stelle der Auffindung in die Gruft zu Sidon ge-
kommen. Diese Annahme ist gänzlich willkürlich und haltlos. Alle
Tatsachen weisen vielmehr darauf hin, daß der Sarkophag für die
Stelle gearbeitet ist, an welcher er gefunden ward.
Der Sarg stand in einer geräumigen Grabkammer zusammen
mit drei anderen, die offenbar aus denselben Künstlerhänden her-
vorgingen wie der große und mit ihm zugleich aufgestellt wurden;
sie sind nur ornamental verziert; der reizende Weinlaubfries er-
scheint auch an ihnen. An zweien finden sich phönikische Buch-
staben als Versatzmarken für Deckel und Sarg; sie zeigen, daß
die Ausführung der Särge gemeinsam und am Orte vorging, wo
die attischen Meister sich phönikischer Steinmetzen für die unter-
geordneten Arbeiten bedienten. Die wunderbare Erhaltung der Särge
ist ohnedies kaum anders zu erklären, als daß sie frisch aus der
Werkstatt am Orte in die Gruft kamen. Die Grabkammer ist die
jüngste in einer größeren Anlage von sieben Kammern, die von
einem Schachte ausgehen; die sukzessive Anlage dieser Kammern
läßt sich noch deutlich verfolgen; mit ihr im vollkommenen Ein-
klang steht die aus dem Stil zu erschließende Folge der darin
befindlichen siebzehn Sarkophage. Die ganze Anlage ist gemacht
mit sorgfältiger Berücksichtigung und Schonung eines unmittelbar
benachbarten älteren Grabes, dessen Sarg eine Inschrift enthielt,
die den sidonischen König Tabnit nennt, der an das Ende des
sechsten Jahrhunderts v. Chr. zu setzen ist. Die Gräber liegen
zusammen auf einem Familiengrundstück; nach der Inschrift des
ältesten ist es die Gruft der Könige von Sidon ; der Mangel der
Inschriften an den anderen Särgen kann nicht als Gegengrund an-
geführt werden, da sie jünger sind, und die Sitte, die Inschrift an
den unterirdischen Särgen anzubringen, abgekommen sein wird.
Noch weniger Gewicht ist auf den Mangel goldener Diademe zu
DER SOGEN. ALEXANDERSARKOPHAG 127
legen; das Goldband im Grabe des Tabnit ist kein königliches
Emblem, sondern ein in jener Zeit allgemeiner, später abgekommener
Schmuck, der ähnlich in vielen nicht königlichen älteren Gräbern
vorkommt; übrigens hat das älteste Grab der großen Anlage
gleichfalls ein solches Goldband enthalten. Auch der sogenannte
Alexandersarkophag ist demnach als der eines sidonischen Königs
anzusehen; er ist mit den drei kleineren gleichzeitigen Särgen der
jüngste und letzte in der Reihe; er wird dem letzten sidonischen
König der heimischen Familie, dem Abdalonymos, gehören. Diese
von einem deutschen Gelehrten, Franz Studniczka, aufgestellte und
mit Glück verteidigte Annahme hat die größte Wahrscheinlichkeit
für sich. Wenn man neuerdings gemeint hat, in einem auf dem
Boden der Grabkammer gefundenen, aus numismatischen Gründen
in die Zeit um 230 — 217 zu datierenden Didrachmon des Ptolemaios
Soter eine Zeitbestimmung für die Aufstellung des Sarges zu be-
sitzen — der dann einem reichen sidonischen Kaufherrn zuge-
schrieben wird, der ihn antiquarisch erschachert hätte — , so war
dies ein Irrtum; denn jene Münze kann immer nur einen terminus
ante quem abgeben; da die Grabkammer nach ihrer Anlage sicher
wenigstens von Grabräubern besucht worden ist, so kann jener
Fund durchaus nicht befremden. Abdalonymos ist auf Geheiß
Alexanders durch Hephaistion auf den Thron der Väter gesetzt
worden, um 333 v. Chr.; zugleich sollen ihm reiche Schätze und
mehr Gebiet zugewiesen worden sein ').
Wir wissen sonst von ihm nur, daß er einmal feinen Parfüm
(|it3pov) an Alexander gesendet hat. Große Taten hatte er sicher
nicht aufzuweisen. Es war ein Irrtum, aus der oben charakte-
risierten falschen Voraussetzung entsprungen, wenn man gemeint
hat, Szenen aus seinem Leben auf dem Sarkophage zu erkennen.
Er selbst kommt gewiß gar nicht vor auf den Bildern, die ein
anderes höheres, allgemeineres Ziel verfolgen. Auch haben wir
bereits bemerkt, daß die dargestellten Orientalen den Kopftypen
wie der Tracht nach keine Semiten, sondern reine Perser sind.
Die Adelsklasse aber, um so zu sprechen, in welche der sidonische
König sich rechnen mußte, war die der persischen Großen, der
Umgebung des Großkönigs, in welcher seine Vorgänger zum Teil
einer hohen Stellung gewürdigt worden waren. Diese Klasse in
den Verhältnissen zu schildern, welche die Eroberung Alexanders
bedingte, das war die dem griechischen Künstler zunächst ge-
stellte Aufgabe. Der sidonische Fürst erhielt damit einen zwar
') Curtius Rufus, Geschichte Alexanders des Großen IV, 1, 16—26;
die dort gebotene Erzählung erscheint stark ausgeschmückt.
128 GRABMÄLER
nicht individuell persönlichen, aber einen vornehmen Grabesschmuck,
der die Klasse wohl charakterisierte, zu welcher er sich rechnen
zu dürfen stolz war. Indem diese aber damals von Alexander
gleich ihrer Sonne das Licht empfing, so konnte die Gestalt dieses
Helden den Bildern nicht fehlen ').
Wenn der sidonische König einen Griechen mit seinem Grab-
male beauftragte, folgte er nur der Tradition des Hauses. Die
Funde haben gezeigt, daß seine Vorfahren nicht anders als die
vornehmen Phöniker überhaupt schon seit dem fünften Jahrhundert
sich für ihre Grabmäler an Griechen gewendet haben, die längere
Zeit zwar noch die ägyptische Sargform nachahmen mußten, dann
aber frei die eigenen griechischen Formen anwenden durften.
Der Künstler hat die Aufgabe in echt griechischem Sinne ge-
löst; unbekümmert um Kleines und Persönliches, nur das Große
und Allgemeine im Auge, hat er gleichsam die Idee der Geschichte
seiner Zeit, gesehen vom Standpunkte eines Großen des von Alexander
besiegten, Alexander willig als Herrn erkennenden Ostens gegeben.
Wir wissen nicht, wann Abdalonymos starb. Die äußerst un-
ruhigen historischen Verhältnisse in Syrien, ferner der Stil der
Bildwerke und das ohne Kenntnis des wirklichen Porträts Alexanders
gearbeitete Bild desselben, endlich der Inhalt der Reliefs, die nur
mit Unrecht auf Diadochenkämpfe bezogen worden sind, die sich
vielmehr ganz aus den Verhältnissen der Alexanderzeit selbst er-
klären, sprechen für eine relativ frühe Datierung des Sarkophages,
der demnach vielleicht selbst noch zu Lebzeiten Alexanders ent-
standen ist. Es ist auch nicht völlig ausgeschlossen, daß der sidonische
Herrscher, wie Maußolos von Halikarnaß, während seiner Regierung
in eigener Person das Grab und dessen plastischen Schmuck aus-
gewählt sowie die vorzeitige Ausführung veranlaßt hat.
') Und in diese konnte auch an nebensächlicher Stelle eines auf-
genommen werden, das die Kämpfe der Griechen und Makedonen unter-
einander schilderte (die oben S. 124 erwähnte sog. Mordszene) und das
dem Künstler zur Vervollständigung des allgemeinen Zeitbildes (vgl. S. 125)
passend erscheinen mochte.
VII. STATUARISCHE GRUPPEN
Die griechische Rundplastik hat im vierten Jahrhundert v. Chr.
und in erhöhtem Maße in der hellenistischen Zeit eine bedeutende
stoffliche Erweiterung gewonnen. Während sie in den älteren Epochen
abgesehen von vereinzelten Ausnahmen unmittelbar an die Religion,
das öffentliche Leben, den Grabeskult geknüpft war, erwuchsen
ihr in den aufblühenden Handelsstädten Kleinasiens und der Inseln,
sowie in den Residenzen hellenistischer Fürsten durch die statuarische
Ausschmückung der Paläste, öffentlichen Plätze und Gebäude, aus-
gedehnten Parkanlagen, prächtigen tempelartigen Grabdenkmäler
völlig neue Aufgaben, oder es wurden dort die alten Aufgaben
wenigstens in veränderter, erweiterter Gestalt gelöst. So erklärt
sich die Entstehung zahlreicher, teilweise rein dekorativer Rund-
werke, die entweder in der freien Natur aufgestellt oder zu einer
baulichen Anlage in Beziehung standen. Die Stoffe derselben
waren teils dem reinen Genre oder dem bacchischen, erotischen,
neptunischen Götterkreise, teils der in der Malerei und Relief-
kunst schon lange vorher bearbeiteten Heroensage entnommen,
welche durch die ältere epische Poesie und das Drama lebendig
geblieben war und in der gleichzeitigen Dichtung behandelt oder
umgestaltet wurde. Da derartige statuarische Rundwerke dem Kunst-
geschmacke der Römer entsprachen und als Zierden der Villen und
Gärten reicher Privaten, der öffentlichen Gebäude, wie der Thermen
und Theater, sich eigneten, sind Originale aus Ländern griechischer
Kultur nach Rom entführt oder dort die Vorbilder kopiert worden,
so daß eine verhältnismäßig große Anzahl von Werken dieser Kunst-
richtung erhalten ist. Die dargestellten Sagen erforderten meistens
die Bildung lebhaft bewegter Gruppen, in denen sich gewaltiger
dramatischer Affekt kundgibt. Die Vereinigung zweier oder mehrerer
lebender Wesen in bestimmter Situation und Handlung ist zwar
schon in der archaischen Rundplastik, aber nur durch Aneinander-
reihung oder Gegenüberstellung, durch lose Berührung wieder-
gegeben worden. Die Bildung völlig oder großenteils freistehender,
Denkmäler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl. 9
130 STATUARISCHE GRUPPEN
geschlossener Rundgruppen, sei es als Einzelwerke, sei es als
Teile eines Zyklus, die bisher nur in Verbindung mit der Archi-
tektur in Giebeldarstellungen oder auf Akroterien von Tempeln
vorkam und die mit Recht als die schwierigste Aufgabe der Skulptur
bezeichnet wird, ist das Verdienst der griechischen Plastik des
vierten Jahrhunderts v. Chr. und des Hellenismus. Die herrliche
Gruppenbildung von Eirene mit Plutos (Tafel 21) und Hermes mit
dem Dionysos (Fig. 21) deutet zwar in einem gemütvollen Stim-
mungsbilde auf das innige Verhältnis des Erwachsenen zu dem
Kinde hin, zeigt aber in der formalen Gestaltung noch kein eng
verbundenes Ganzes. Dagegen gehört von rein künstlerischem
Standpunkte betrachtet in diesen Kreis auch die Ringergruppe zu
Florenz, die nach Gegenstand und Bestimmung sich ausscheidet
(vgl. S. 105). Von den hier abgebildeten Proben ist künstlerisch am
bedeutendsten und zeitlich am frühesten die Vereinigung der
Niobe mit der jüngsten Tochter (Tafel 40), die als Mittel-
punkt der von rechts und links herbeieilenden Kinder in den Inter-
kolumnien einer Säulenhalle nahe der Cellawand eines Tempels
des Apollo, beziehungsweise der Artemis oder einer tempelartigen
Grabanlage Kleinasiens passende Aufstellung gefunden haben mag;
als plastische Verkörperung der Vergänglichkeit irdischen Glücks
eignet sie sich vortrefflich zum Schmucke eines Grabes. Die er-
schütternde Sage von dem Untergange der blühenden Familie ist
in der Poesie bereits von Homer erzählt, von Äschylus und
Sophokles dramatisch gestaltet, auch schon in der Kunst des fünften
Jahrhunderts v. Chr. behandelt worden und war auf diese Weise
im Volksbewußtsein lebendig geblieben. Die RettungderLeiche
des Patroklos durch Menelaos (Tafel 41), ein Sinnbild
wahrer Heldenfreundschaft, und der auf einem Abenteuer begrif-
fene, in seiner Eigenart vorzüglich charakterisierte Odysseus
(Tafel 43 und Fig. 47) führen ebenso wie die Darstellung
des tragischen Schicksals des Laokoon und seiner
Söhne (Tafel 42) unmittelbar in die Kämpfe um Ilion. Die Ori-
ginale ersterer Bildwerke waren vielleicht Bruchstücke eines größe-
ren Zyklus homerischer Szenen, die in fortlaufender Reihe oder
geeigneter Gruppierung aufgestellt waren. Die Laokoongruppe,
die freilich erst um 50 v. Chr. entstanden ist, trägt dennoch durchaus
den Charakter hellenistischer Kunst an sich; sie hat vermutlich
dereinst die Nische einer baulichen Anlage profaner oder religiöser Be-
stimmung ausgefüllt. Und wenn wirklich die von Winckelmann vorge-
schlagene Deutungder Gruppe des Kunst lersMenelaos(Tafel44)
zu Recht bestehen kann, dann darf man annehmen, daß die Szene des
Wiedersehens des Orestes und der Elektra am Grabe des Vaters,
NIOBE 131
das in ebenso einfacher als rührender Weise zum Ausdruck ge-
bracht ist, im engen Anschluß an des Äschylus und Sophokles
Tragödien erfunden worden ist und dereinst vielleicht ein römi-
sches Theater geschmückt hat. Zu den anderen lebhaft bewegten
Statuengruppen pathetischer Richtung steht sie durch die weihe-
volle Stimmung des ganzen Bildes in wirkungsvollem Kontrast;
auch zeitlich ist sie von jenen zu trennen, da sie das Werk einer
eklektischen, zu Rom im ersten vor- und nachchristlichen Jahr-
hundert tätigen Kunstschule ist, welche ältere griechische Einzel-
figuren kopierte oder daraus neue Gruppen zusammenstellte.
„Hellas urväterlicher Sagen göttlich heldenhafter Reichtum,"
das Epos und Drama, sie haben die Stoffe zu diesen statuarischen
Gruppen geliefert. Bei der Lektüre der griechischen und römi-
schen Poesie gewinnen sie als plastische Veranschaulichungen der
Mythologie unschätzbare Bedeutung, Bild und Lied werden durch
gemeinsame Betrachtung wechselseitig erläutert. Vom künstleri-
schen Standpunkte aus ist es die durch völlige Beherrschung der
Technik bedingte Gebundenheit und Geschlossenheit der Figuren,
der architektonische Aufbau, die Wahl des spannenden Moments,
das maßvolle Pathos in dem Ausdruck der Gefühle, welche unbe-
grenzte Bewunderung erregen und für alle Zeiten mustergültig
bleiben werden.
TAFEL 40
NIOBE
MARMORSTATUE. FLORENZ, OFFIZIEN.
Die Mutter Niobe ist mit ihrer jüngsten Tochter vereinigt.
Sie sind sich beide entgegengeeilt. Die Tochter ist entsetzt mit
ausgestreckten Armen vor den Füßen der Mutter zusammenge-
brochen. Die Mutter beugt sich zu ihr nieder und hat sie in ihren
Schoß aufgenommen; sie drückt die Tochter mit der rechten Hand
an sich; mit der Linken zieht sie den Mantel empor, um das Kind
zu schützen gegen die Pfeile, die von oben niederschwirren. Denn
in der Höhe befinden sich, unsichtbar, die erzürnten Gottheiten
Apollon und Artemis, die, um ihre beleidigte Mutter zu rächen,
die Kinder der Niobe mit den ferntrefFenden Geschossen erlegen.
132 STATUARISCHE GRUPPEN
Niobe, die Tochter des Tantalos, wie dieser des Umgangs
der Götter gewürdigt, hatte wie dieser im Übermut sich erhoben
und sich vermessen, glücklicher als Apolls und Artemis Mutter,
als Leto, sein zu wollen, weil ihr reicherer Kindersegen als jener
geworden. Mit dem Verluste ihrer ganzen blühenden Kinderschar
muß sie büßen. Sie blickt zum Himmel auf, von wo ihr das Un-
heil kommt, in stummem Schmerze. Ihre hoheitsvolle Gestalt, die
unter Göttern gewandelt, ist geknickt. Sie beugt sich vor der Ge-
walt des Überirdischen, die wie ein Sturm über ihr hinbraust;
aber alles Weh des Irdischen, Endlichen ist in ihrem schmerz-
vollen Aufblick vereinigt.
Im felsigen Gebirge vollzieht sich das Unheil. Der Boden
ist ungleich und steigt nach rechts an. Hier nach rechts hinauf
war die Mutter zu eilen im Begriffe, wie ihr Jüngstes sich ihr
entgegenwirft und sie nun innehält, den Oberkörper etwas und den
Kopf ganz herumwendet, so daß er in Vorderansicht erscheint.
Die Figur baut sich reliefartig auf und ist nur für die Betrachtung
von ihrer einen breiten Vorderseite komponiert. Sie bildete den
Mittelpunkt einer größeren Gruppe; von rechts und von links kamen
bestürzt eilende Kinder auf sie zu, und weiterhin folgten verwun-
dete und sterbende. Alle überragte bei weitem die Mutter. Die
Kinder sind — und dies gilt auch von der jüngsten Tochter —
im Verhältnis zur Mutter zu klein gebildet, und zwar aus künst-
lerischen Gründen, um diese als Hauptfigur recht hervortreten zu
lassen. Die Gruppe hat niemals etwa einen Giebel geschmückt,
auch nie ganz frei gestanden, sondern befand sich vermutlich ur-
sprünglich zwischen den Säulen eines prachtvollen Baues aufge-
stellt, vielleicht eines Grabmals in Kleinasien, in den Interkolumnien
eines schmalen Peristyls nahe vor der Cellawand.
Uns sind nur Kopien eines großen Teiles, jedoch nicht der
vollständigen Gruppe erhalten; die Niobestatue wurde 1583 zu Rom
nebst anderen Teilen der Gruppe gefunden, und zwar in der Nähe
der Laterankirche, auf dem Esquilin, wo zur Kaiserzeit die Parks
und Villen der Nobilität lagen; es sind nicht sehr gut gearbeitete,
aber im wesentlichen als treu anzusehende Kopien. Sie befinden
sich jetzt in den Uffizien zu Florenz, aus dem Besitz der Medici
stammend.
Plinius (naturalis historia 36, 28) erwähnt das Original als zu Rom
in dem im Marsfeld am Marcellustheater gelegenen Apollotempel be-
findlich; man zweifle, berichtet er, ob es von Skopas oder von Praxi-
teles gearbeitet sei. Man kannte also den Künstler in Rom nicht mehr.
Der Annahmederdortigen Kunstverständigen könnenwir nurbeitreten,
insofern das Werk jedenfalls in den Kreis des Skopas und Praxiteles
NIOBE
FLORENZ, UFFIZIEN
F. BRUCKMANN A.-G , MÜNCHEN
NIOBE
133
Fig. 44. Kopf der Niobe
und in die Blütezeit der attischen Kunst des viertenjahrhunderts v. Chr.
gehört. Gerade das Pathos in Gestalten und Gesichtern ist dem Kunst-
charakter des ersteren eigen. Allein daß die Gruppe wirklich von
Skopas oder Praxiteles war, ist nicht wahrscheinlich ; sie zeigt Ele-
mente des Stils beider Künstler vereinigt und gehört deshalb ver-
mutlich einem dritten Unbekannten an, und zwar einem Meister,
der zu den damals in Kleinasien vielfach tätigen Attikern zählte.
Von dort hat Sosius, wahrscheinlich Konsul 32 v. Chr., der unter
Antonius als dessen Legat 38 v. Chr. in Syrien und Kilikien be-
fehligte, die Originale nach Rom gebracht und in jenem nach glor-
reichen Siegen wohl gleich nach 35 v. Chr. von ihm wiederher-
gestellten Apollotempel geweiht. So mag Ovid, der die Metamor-
134 STATUARISCHE GRUPPEN
phosen vor der 8 n. Chr. erfolgten Verbannung entworfen hatte,
die Bildwerke gekannt haben, als er die Tötung der Niobiden und
die Bestrafung der Niobe in plastisch anschaulicher, psychisch er-
greifender Art gestaltete. Und in der Tat, nicht nur die wechsel-
volle Schilderung von den durch unsichtbare Macht getroffenen
Kindern VI, 218 ff. erinnert lebhaft an die statuarischen Gruppen,
sondern vor allem die Verse VI, 298 ff.
(Filia) ultima restabat; quam toto corpore mater,
Tota veste tegens ,Unam minimamque relinque!
De multis minimam posco' clamavit .et unam !' ')
vergegenwärtigen im Liede die Schmerzensmutter mit der jüngsten
Tochter, Indes darf höchstens unbewußte Nachahmung angenommen
werden. Denn abgesehen von tatsächlicher Verschiedenheit zwi-
schen Bild und Dichtung, es zeigt Ovid auch sonst, z. B. in der
Orpheusszene, so viel selbständige Gestaltungskraft, daß er jene
Metamorphose in Anlehnung an die überkommene populäre Sage
gar leicht aus eigenem Können frei geschaffen hat. Immerhin bietet
der Vergleich von Kunst und Poesie in diesem Falle besonderes
Interesse und trägt zur Auffassung, zum Verständnis beider wesent-
lich bei.
TAFEL 41
RETTUNG DER LEICHE DES PATROKLOS
DURCH MENELAOS
MARMORGRUPPE IN DER LOGGIA DEI LANZI ZU FLORENZ.
Die nicht unbedeutend über Lebensgröße gebildete Gruppe,
die nur in den unteren Teilen erhalten war, aber durch eine gleich-
falls in Florenz und zwar im Palazzo Pitti befindliche Wiederholung
ergänzt worden ist-), wurde im sechzehnten Jahrhundert zu Rom
jenseits des Tiber vor Porta Portese, der alten porta Portuensis
') „Nur die letzte noch blieb, die ganz mit dem Leibe die Mutter,
Ganz in Gewand umhüllt: O die einzige laß mir, die kleinste!
Von so vielen die kleinste verlang ich nur, rief sie, und eine!"
") Die Abbildung ist nach dem im Dresdner Albertinum zusammen-
gesetzten Abguß wiedergegeben, der, anderen Repliken entsprechend, die
richtige Stellung des Kopfes und der Arme bietet; im Originale ist ersterer
nach der Wiederholung im Palazzo Pitti gesenkt.
PATROKLOS MIT MENELAOS 135
aus welcher die Straße nach dem von Kaiser Claudius angelegten
Hafen Portus führte, in einer nach dem Besitzer Velli benannten
Vigna entdeckt und 1570 von Großherzog Cosimo I. von Medici
gekauft. Anfangs am Fuße des Ponte vecchio unweit des Palazzo
Pitti aufgestellt, hat sie später an der Piazza Signoria in der Mitte
der Loggia dei Lanzi zwischen teilweise hochberühmten Werken
antiker und neuerer Kunst den Ehrenplatz gefunden.
Ein ungemein kräftiger und elastisch gebildeter, bärtiger Krieger,
dessen mächtiger Helm mit Reliefs des Kentauren- und Lapithen-
kampfes sowie zweier Adler mit ausgebreiteten Flügeln geschmückt
ist, und der um den Körper ein Schwertgehänge und einen ge-
gürteten, behufs freierer Bewegung an der rechten Seite offenen
Chiton trägt, schreitet mit vorgesetztem linken Beine in stürmischem
Schritte weitaus; er hat den rechten Arm um den Oberleib eines
schlanken, in zarten Formen gebildeten, der Rüstung und Kleidung
beraubten Jünglings geschlungen, der unter der linken Brust tödlich
getroffen niedergestürzt ist und nun dem Gedränge der Schlacht
und der Gewalt der Feinde entzogen wird. Der Jüngling ist auf die
Knie gesunken und läßt den linken Arm schlaff herabhängen, den
rechten Arm hat er auf den linken des Freundes gelegt, der wieder
seinerseits mit diesem den Toten stützt. Der seitwärts wohl gegen
nachdrängende Feinde zurückblickende Kopf des Retters zeigt in
den leidenschaftlich erregten Zügen, dem schmerzvollen Auge, dem
wie zum Schreien nach Hilfe weitgeöffneten Munde starke innere
Erregung und bange Sorge um das Schicksal des gefallenen Ge-
nossen. Der schön gelockte Kopf des Jünglings hängt hilflos nach
rückwärts herab, das zarte Antlitz mit dem gebrochenen Auge und
leise geöffneten Munde hat den frischen Hauch blühenden Lebens
bewahrt. Beide Krieger erregen in hohem Maße die Teilnahme
und das Mitleid des Betrachters.
Über die Deutung hat man lange gestritten und vielleicht auch
heutzutage noch nicht allgemeine Übereinstimmung erzielt, daran
freilich niemals gezweifelt, daß sie im troischen Sagenkreise zu
suchen sei. Lange galt auf Grund einer Stelle der kleinen Ilias')
der Tote für Achill, der Retter für Aias; seitdem man jedoch an
einem im Vatikanischen Museum zu Rom aufbewahrten Bruchstücke
einer Wiederholung des jugendlichen Genossen zwei Wunden, die
eine wie auf unserer Gruppe, die andere am Rücken zwischen
den Schultern beachtet hat, ist die richtige Folgerung gezogen wor-
den, daß dieses Fragment das Original getreuer nachbildet, und auf
Grund von Ilias 16, 806 ff. und 16, 821 ff. die Rettung des von
') Epicorum graecorum fragmenta coUeg. Kinkel I. S. 39 fragm. 2.
136 STATUARISCHE GRUPPEN
Euphorbos und Hektor gerade an jenen Stellen tödlich verwundeten
Patroklos durch Menelaos erkannt worden. Indes die ganze Situation
der Handlung und das bedeutende künstlerische Verdienst des Bild-
werkes wird erst durch vollständige und genaue Lektüre des sech-
zehnten und insbesondere des siebzehnten Gesanges der Ilias er-
schlossen. Der Künstler hat aus den vom Beginne des Kampfes
bis zur Bergung des Leichnams mannigfaltig und wechselvoll sich
gestaltenden Szenen dem Gesetze der Rundplastik gemäß nur einen
Augenblick zur Darstellung wählen können und als glückliche Zu-
sammenfassung des wesentlichen Inhalts des siebzehnten Gesangs
die Rettung des Patroklos durch Menelaos gewissermaßen frei ge-
schaffen ').
Das Originalwerk, dessen Berühmtheit und Beliebtheit durch
mehrere teilweise ausgezeichnete Nachbildungen meistens aus rö-
mischer Zeit-) bezeugt ist, wird wegen der naturalistischen Cha-
rakteristik sowie des starken Ausdrucks der Muskulatur mit der
Laokoongruppe verglichen und mit pergamenischer Kunst in Ver-
bindung gebracht, indes auch wegen des Vorzugs künstlerischer
Bildung überhaupt und insbesondere der weisen Beschränkung in
dem Ausdruck der Gefühle und der zwar bedeutenden, aber nicht
übertriebenen Entwicklung der Muskulatur, endlich wegen der in
dem jugendlichen Helden sich offenbarenden, an die Blütezeit attischer
Kunst gemahnenden Schönheit höher geschätzt und sogar bis in
die letzten Jahrzehnte des vierten Jahrhunderts v. Chr. hinaufge-
rückt. Hinsichtlich der Körperbildung des Menelaos kann man auf
einige mit der Kunst des Lysipp in Verbindung gebrachte Werke
hinweisen und für die Gestalt, sowie den Gesichtsausdruck des
Helden vielleicht auch in der Kunst des Skopas, als dessen wesent-
liche Neuerung die Wiedergabe der Gefühle in leidenschaftlich er-
regten Gesichtern lebhaft bewegter Figuren gilt, Anknüpfungspunkte
finden. Eine ähnliche Gruppenbildung freilich ist aus jener Epoche
bei Rundwerken bisher nicht nachgewiesen worden ; auch zeigt die
starke Betonung des Anatomischen und bedeutende Hervorhebung
des Pathos auf spätere Zeit hin, so daß die Entstehung des Werkes in
hellenistischer Epoche, etwa im dritten Jahrhundert v.Chr., in hohem
') An die Darstellung erinnern allerdings Ilias 17, 580 f. und 17, 588 f.;
aber es ist sehr unwahrscheinlich, daß der Künstler gerade diesen bestimmten
Moment im Auge gehabt und illustriert hat. Die Erbeutung der Wehr und
Waffen des Patroklos durch Hektor, wodurch in dem Bildwerk die völlige
Nacktheit des Gefallenen sich erklärt, ist insbesondere Ilias 17, 122 erwähnt.
-) Weitbekannt ist die bei dem Palazzo Braschi zu Rom im Freien
aufgestellte Pasquinogruppe, nach der die Pasquillendichtung benannt wird.
Diese vortreffliche Wiederholung ist griechische Arbeit.
I
RETTUNG DER LEICHE DES PATROKLOS DURCH MENELAOS
FLORENZ, LOGGIA DEI LANZI
F. BRUCKMANN A.-G.. MÜNCHEN
LAOKOON 137
Grade wahrscheinlich ist. Genauere Datierung derartiger Werke
aus rein stilistischen Gründen ist unmöglich. Der Künstler, die Ver-
anlassung und der Ort der Aufstellung der Gruppe als eines Einzel-
werkes oder in Gemeinschaft mit anderen Darstellungen aus der
Ilias können in Ermanglung schriftlicher Nachrichten und verwandter
Monumente nicht ermittelt werden. Doch der hervorragende Wert
des Werkes ist auch in ihm allein wohlbegründet. Denn die Voll-
endung der Komposition, die trotz des größten Gegensatzes der
Bewegung meisterhafte Geschlossenheit sowie der pyramidale Auf-
bau der Gruppe befriedigen das Auge, ebenso wie das Gemüt durch
die aus dem Epos gewählte, wahrhaft dramatische Handlung, den
scharfen Kontrast der Situation und des Schicksals beider Krieger,
die Betätigung aufopfernder Heldenfreundschaft, die Äußerung tiefen
Seelenlebens mächtig bewegt und ergriffen wird. Aber auch darum
ist das ebenso kraftvolle als edle Bildwerk wertvoll und schätzbar,
weil es mitten in das Kampfgetümmel um Troja versetzt und das
herrliche Lied der Patrokleia dem Gedächtnisse wachruft.
TAFEL 42
LAOKOONGRUPPE
MARMOR. ROM, VATIKANISCHES MUSEUM (CORTILE DEL
BELVEDERE). ETWAS ÜBERLEBENSGROSS.
Das berühmteste Werk antiker Bildhauerkunst ist 1506 auf
dem Esquilin in der Nähe der Titusthermen wie durch ein gnädiges
Geschick wohlerhalten ') zutage gekommen, alsbald in Erinnerung
^) Abgesehen von unbedeutenderen Ergänzungen sind unschön und
unrichtig in Stuck erneuert der rechte Arm des Laokoon, der ursprünglich
nach dem Hinterkopfe zu gekrümmt war, der halbe rechte Unterarm mit
Hand des älteren, der rechte Arm des jüngeren Sohnes, der wohl ein wenig
nach innen gebogen war. Das Problem der Ergänzung beschäftigt seit
langem Künstler und Kunstforscher. Eine neue, im Dresdner Albertinum
ausgeführte Wiederherstellung ist Fig. 45 abgebildet. Herr Geheimer Hof-
rat Professor Dr. Treu, dem die Erlaubnis zur Veröffentlichung verdankt
wird, betrachtet das Problem auch dadurch noch nicht für abgeschlossen.
Dessen Lösung wird jetzt erleichtert durch den Fund des schlangen-
umwundenen rechten Armes von Laokoon; er stammt von einer etwas
verkleinerten Kopie.
138
STATUARISCHE GRUPPEN
Fig. 45. Laokoongruppe
Ergänzung, ausgeführt im K. Albertinum zu Dresden
an die berühmte Schilderung des Vergil ') richtig gedeutet und mit
der von Plinius dem Älteren-) gepriesenen Gruppe der rhodischen
Künstler Hagesandros, Polydoros und Athenodoros identifiziert
worden. Sogleich nach der Auffindung von Papst Julius II. ange-
') Aeneis 2, 199 fF.
2) Naturalis historia 36, 37. Da das Haus des Titus, in dem nach
Plinius das Werk aufgestellt war, auf dem Palatin lag, so muß der Stand-
ort gewechselt haben.
TAFEL 42
LAOKOONGRUPPE
ROM, VATIKANISCHES MUSEUM
F. BRUCKMANN A.-G., MÜNCHEN
LAOKOON 139
kauft, hat es von Anfang an die Begeisterung gleichzeitiger nam-
hafter Künstler und Gelehrten wachgerufen, wurde insbesondere
von Michelangelo als Wunder der Kunst gepriesen und hat neben
den Werken dieses Meisters in der Plastik der Folgezeit, nament-
lich in der Barockskulptur hinsichtlich der Richtung auf das Pathe-
tische und der Darstellung des nackten menschlichen Körpers nicht
immer im günstigen Sinne vorbildlich gewirkt. Nachdem die Gruppe
auch in der Blütezeit der deutschen Literatur von Winckelmann
und Goethe überaus geschätzt und in sehr lehrreichen, indes von
persönlicher Auffassung beeinflußten Ausführungen gewürdigt, sowie
von Lessing in einer durch die scharfe Beweisführung klassischen,
in den Ergebnissen großenteils verfehlten Erörterung über das gegen-
seitige Verhältnis von bildender Kunst und Poesie behandelt worden
war, ist der richtige Standpunkt für die Beurteilung in dem Grade
verrückt worden, daß der subjektiven Auffassung, wie kaum bei
einem anderen Kunstwerke ersten Ranges, weiter Spielraum gegeben
ist. Aufgabe des Archäologen ist es, den wahren Wert der Gruppe
mit unbefangenem Auge und nüchternem Urteile im Zusammen-
hange mit anderen Werken der nämlichen Richtung festzustellen.
Der ehemalige Aufstellungsort, von dem das Werk nach Rom
gelangt ist, kann in Ermanglung urkundlicher Nachrichten nicht
ermittelt werden; neuerdings hat man unter Berücksichtigung datier-
barer, mit der Künstlerfamilie in Verbindung gebrachter rhodischer
Inschriften die Entstehungszeit der Gruppe um 50 v. Chr. gesetzt.
Der dargestellte Mythus ist in der nämlichen Fassung bereits im
vierten Jahrhundert monumental nachweisbar und später von dem
Dichter Euphorion ') aus Chalkis auf Euböa, Bibliothekar zu An-
tiochia in Syrien zur Zeit des Königs Antiochos des Großen
(224 — 187), im Epos behandelt worden: Laokoon, der troische
Priester des thymbräischen Apollo, wird, als er bei dem schein-
baren Abzüge der Griechen von Troja in Vertretung des getöteten
Priesters des Poseidon diesem Gotte ein Opfer darbrachte, wegen
einer früher von ihm begangenen Entweihung des Apolloheiligtums
samt seinen Söhnen durch zwei aus dem Meere gesandte Schlangen
getötet. Die Lösung der schwierigen Aufgabe einer Verknüpfung von
fünf lebenden Wesen zu einer geschlossenen Rundgruppe ist durch
die Mannigfaltigkeit der Schlangenwindungen ermöglicht worden.
Als Grundlage des Aufbaus der Gruppe und Andeutung des Ortes
der Handlung dient der Altar, auf dessen linker Kante Laokoon-)
') Vgl. Servius zu Vergil, Aeneis 2, 201.
2) Aus einer um das Haupt herumlaufenden Rille und aus Blätter-
resten hinter den Ohren ist zu erschließen, daß er durch einen Lorbeer-
kranz als Priester des Apollo gekennzeichnet war.
140 STATUARISCHE GRUPPEN
niedergesunken ist und festgehalten wird, nachdem während der
Darbringung des Opfers Vater und Söhne von den plötzlich
herbeieilenden Schlangen überrascht worden waren. In der Wahl
des blitzartigen Moments und in der Vergänglichkeit des Vor-
gangs ist ein wesentliches künstlerisches Verdienst der Gruppe
begründet; bewundernswert sind die bei richtiger Ergänzung der
fehlenden Teile noch wirksamere Geschlossenheit der Gruppe und
der Aufbau zu einem nach linkshin verschobenen Dreieck, welches
die mächtige Gestalt des Vaters durchschneidet, ferner die äußerst
einfache, auf einen Blick zu überschauende, von jeder Überladung
mit Details freie Komposition, der innerhalb der Gebundenheit dar-
gestellte lebhafte Kontrast in Stellung und Bewegung der Figuren
und die trotz scheinbarer Regelmäßigkeit des Ganzen im einzelnen
vorherrschende Mannigfaltigkeit der Motive, endlich die Abstufung
der Gefahr und der Wechsel in dem Ausdruck der Gefühle. Durch
die fast gänzliche Abstreifung der Gewandung haben die Künstler
ihre durch genaueste anatomische Kenntnis des menschlichen Kör-
pers erreichte Virtuosität in der Behandlung des Nackten absicht-
lich zur Geltung gebracht. Vermutlich haben die Bildhauer von
der mächtig blühenden medizinischen Wissenschaft, von der exakten
Beobachtung der Anatomie und Physiologie, wie sie seit der Ptole-
mäerzeit besonders in Alexandria sich entwickelte, eingehend Kennt-
nis genommen, um für ihre Technik daraus großen Gewinn zu ziehen.
Jenen großen Vorzügen gegenüber wird man einzelne Unrichtig-
keiten in den Proportionen, wie die übertriebene Länge des linken
Beines des Vaters und die Verkürzung des linken Unterschenkels
am älteren Sohne, mehr als den Ausfluß einer mit Michelangelo
vergleichbaren, über Kleinigkeiten sich hinwegsetzenden künstle-
rischen Genialität betrachten als einen das Auge wirklich störenden
Fehler darin finden; insbesondere ist die Kleinheit der Knaben-
gestalten im Verhältnis zu dem mächtigen Körper des Vaters das
Ergebnis wohlerwogener Berechnung, welche Laokoon als die Haupt-
person der Gruppe hervortreten zu lassen bezweckt hat. Freilich
darf auch nicht die fast aufdringlich erscheinende Art der Bildhauer,
mit ihrem Können zu prunken, die Muskulatur des Körpers, die Leiden
der Seele beinahe in übertriebenem Maße zur Schau zu tragen, dem
von dem ersten Eindruck gebannten Auge des Betrachters entgehen.
Die Bewunderung des Gesamtwerkes wird gesteigert durch den
Anblick der einzelnen Figuren: Die ganze Bewegung des über-
aus kräftig gebildeten, in reifem Mannesalter gedachten Vaters ist
veranlaßt durch den plötzlichen Biß der Schlange. Laokoon, der mit
dem ganzen Aufgebot der Kraft seiner starken Arme Angriff und Um-
schlingung abzuwehren sucht, zieht unwillkürlich die linke Seite und
LAOKOON
141
Fig. 46. Kopf des Laokoon
den Unterleib ein, preßt Brustkasten und Rippen fast übertrieben
heraus, wirft den Kopf (Fig. 46) weit zurück, um seinem maß-
losen Schmerze in einem aus dem Innersten tief ausgeholten Seufzer,
den man aus dem lebensvollen Marmor beinahe zu vernehmen glaubt,
Luft zu machen. Der Schmerz prägt sich auf dem in allen seinen
Flächen durchfurchten Gesichte, sowie in dem wirrbewegten Kopf-
und Barthaare aus, sammelt sich aber in den verzogenen, nach auf-
wärts wie nach höherer Hilfe gerichteten Augen. So wird immer-
hin trotz des Mitleid weckenden Jammers eines schwachen und
hilflosen Geistes gewissermaßen das Gefühl stiller Ergebenheit, der
Ausdruck einer „großen und gesetzten Seele" erzielt, der durch
die meisterhafte Vereinigung des körperlichen und seelischen Leids
142 STATUARISCHE GRUPPEN
stets die Aufmerksamkeit auf sich gezogen und Bewunderung er-
regt hat. Zu Laokoon hinauf blickt der ältere Sohn, erschreckt
und entsetzt über das Schicksal des Vaters, eine rhythmisch voll-
endete Figur, die großenteils losgelöst aus dem engen Verbände
der Gruppe, durch die Möglichkeit der Befreiung leise Hoffnung
bestehen läßt. Sein jüngerer Bruder aber ist, an Armen und Beinen
fest umschlungen, des Widerstandes kaum mehr fähig und zeigt
in dem weit zurückgeworfenen Kopfe hilflosen, dem Erstarren des
Todes nahen Jammer.
Dem die Teile der Gruppe betrachtenden und beurteilenden
Auge erschließen sich neue Gesichtspunkte, neue Vorzüge. Doch
wird der Beschauer von selbst vom Einzelnen wieder dem Ganzen
sich zuwenden, um dann vielleicht zum Einzelnen zurückzukehren.
So wird er die Behauptung Winckelmanns bestätigt finden, daß
der "Weise darinnen zu forschen und der Künstler unaufhörlich
zu lernen finde, und die Worte anerkennen, mit denen Goethe
seine berühmte Darlegung über Laokoon einleitet: „Ein echtes
Kunstwerk bleibt, wie ein Naturwerk, für unseren Verstand immer
unendlich: es wird angeschaut, empfunden: es wirkt, es kann aber
nicht eigentlich erkannt werden." Doch muß man in der Gruppe
nicht zu viel suchen, den Meistern keine Erwägungen unterschieben,
welche unerweislich oder unwahrscheinlich sind. Dann wird eine
ungestörte und reine Würdigung erzielt werden.
TAFEL 43
ODYSSEUS
MARMORSTATUE. VENEDIG, DOGENPALAST.
Der in großen Ansichten auf der Tafel erscheinende Kopf sitzt
ungebrochen auf der im Texte (Fig. 47) gegebenen Statue des Odys-
seus im archäologischen Museum des Dogenpalastes zu Venedig.
Sie kam dahin schon 1584 aus der Sammlung Grimani. Diese vor-
treffliche, etwas über halblebensgroße Marmorstatue (Höhe 0,98)
ist eine mit besonderer Sorgfalt gearbeitete Kopie des zweiten Jahr-
hunderts n. Chr. nach einem verlorenen Originale der hellenisti-
schen Epoche, des dritten bis zweiten Jahrhunderts v. Chr., als
dessen Material mit größter Wahrscheinlichkeit Bronze angenommen
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ODYSSEUS
143
werden darf. Der
stützende Baum-
stamm neben
dem rechten
Beine ist von
dem Marmor-
kopisten hinzu-
gefügt; er hat
einen Schuppen-
panzer über den
Baumstamm ge-
hängt, dereinen
sehr eleganten
Eindruck macht.
Die Eleganz und
Sorgfalt in sol-
chen nebensäch-
lichen Dingen
ist den Kopien
ausderhadriani-
sehen und an-
toninischenZeit
besonders cha-
rakteristisch ;
auch die zier-
liche, runde pro-
filierte Basis, die
freilich viel ge-
flickt, aber gro-
ßenteils antik
Fig. 47. Marmorstatue des Odysseus
ist, gehört zu den Eigenheiten jener Kopien. Die Beine sind zwar
gebrochen, aber bis auf Unwesentliches antik. Die einzige größere
Ergänzung ist der rechte Arm, der nebst dem Schwerte ganz neu
ist. Nur der Ansatz des nach hinten bewegten Oberarmes ist
antik; der Unterarm muß mehr nach vorn gebogen gewesen sein,
wie ein an der rechten Seite des Unterleibes sichtbarer, modern
abgearbeiteter Rest einer im Marmor stehen gelassenen Stütze
zeigt, die den Körper mit dem Unterarm oder dem Schwert, das,
wie die leere Scheide, wohl auch in Marmor gearbeitet war, ver-
bunden haben muß. Von der Schwertscheide ist nur das Ende
ergänzt. Daß solche Attribute wie Waffen, die in älterer Zeit
immer besonders angesetzt zu sein pflegen, aus dem Marmor ge-
arbeitet werden, ist ebenfalls eine der charakteristischen Eigen-
144 STATUARISCHE GRUPPEN
Schäften der Kopien jener Epoche, der unsere Figur angehört. Am
linken Arme ist nur die Hand und der herabhängende Zipfel der
Chlamys modern. Der Kopf ist, wie bemerkt, ungebrochen und
ganz vortrefflich selbst mit der Nase, deren Spitze nur ein wenig
beschädigt ist, erhalten.
Das Werk teilte mit anderen unserer besterhaltenen und vor-
züglichsten Antiken (wie dem Bologneser Kopfe der Athena Lemnia,
Fig. 7 und 8) das Schicksal, irrtümlicherweise für modern oder
wenigstens für ganz überarbeitet gehalten worden zu sein. In Wirk-
lichkeit ist es ganz vortrefflich erhalten und gerade am Kopfe auch
nicht im geringsten überarbeitet.
Der Held trägt den Pilos, den ihm die spätere Kunst als dem
Wanderer und Schiffer gegeben hat; denn eine solche Filzmütze
war in Wirklichkeit die Tracht jener Leute. Der Pilos ist hier
nicht steif und emporragend, sondern weich anliegend. Auf der
rechten Schulter hat der Held die Chlamys geknüpft, deren Ende
er um den linken Oberarm gewickelt hat. Der große runde Knopf
auf der rechten Schulter ist mit dem Brustbilde der Athena ge-
schmückt, der Göttin, deren Liebling Odysseus war, die ihn durch
alle Gefahren schützend hindurchgeleitete. Die Göttin ist mit dem
zurückgeschobenen korinthischen Helme und mit hinten kurz auf-
genommenem Haare, sowie mit der Ägis auf der Brust gebildet.
Auch dieses Detail ist von unberührter antiker Arbeit und ent-
spricht, wie überhaupt die ganze Chlamys, dem Geschmacke der
Epoche, in welcher die Marmorkopie entstand, so sehr, daß wir
in diesem Gewände mit dem Knopfe eine Zutat des Marmorkopisten
vermuten und das einstige Bronzeoriginal ganz unbekleidet denken
dürfen. Die leere Scheide an der linken Seite beweist, daß Odysseus
in der verlorenen Rechten das Schwert hielt.
In lebhaftem Ausschreiten einen Moment innehaltend, wendet
er den Kopf um, blickt etwas empor und erhebt den linken Arm :
der Vorsichtige hemmt den Schritt, indem er eine Gefahr zu be-
merken glaubt. Durchdringenden Blickes späht er in die Ferne.
Atemlose Spannung bannt ihn an die Stelle. Man sieht, wie der
Leib eingezogen und der Mund geöffnet ist, indem er den Atem
anhält; es wird die obere Reihe der Zähne sichtbar. Der Blick
der weit offenen Augen ist gespannt, die Muskeln der Stirne sind
zusammengezogen und bilden Falten. Offenbar späht er nicht nur,
sondern lauscht auch in die Ferne. Odysseus ist nicht in offenem
Kampfe, sondern in einem Abenteuer gedacht, wo es Vorsicht und
Kühnheit, Geistesgegenwart und Schlagfertigkeit zugleich gilt, kurz,
in einer Situation, die so recht für den Helden paßt, der eben
jene Eigenschaften in der vollkommensten Weise in sich vereinte.
ODYSSEUS 145
Welches Abenteuer der Künstler gemeint hat, läßt sich nicht
mehr mit Sicherheit bestimmen. Vielleicht gehörte noch eine zweite
Figur dazu. Man könnte an eine Gruppe von Odysseus und
Diomedes denken, da diese beiden Helden von der antiken Kunst
überaus häufig zusammen dargestellt worden sind, namentlich in
dem Abenteuer vom Raube des Palladions. Da pflegt in Odysseus
die vorsichtige Klugheit, in Diomed der trotzige Mut charakterisiert
zu sein. Wirklich gibt es Darstellungen dieser Art, in welchen
Odysseus recht ähnlich wie in unserer Statue erscheint. Wir
würden ihn dann auf dem Wege zum Raube des Palladions denken.
Doch wahrscheinlicher dünkt uns noch, daß er auf dem Wege zum
Lager des Rhesos gedacht ist, also in dem ir der Doloneia der
llias beschriebenen Abenteuer. Sicher ist der Sinn des Motivs:
er schreitet durch die Nacht, stutzt, horcht, späht und hält das
gezückte Schwert bereit.
Der Künstler hat die Anregung zu seiner Figur wahrschein-
lich aus der Malerei genommen. In Gemälden waren Stoffe wie
der hier zugrunde liegende längst bearbeitet worden, ehe sie in
die Rundplastik übergingen. Erst die hellenistische Kunst nach
Alexander, der eben das Original unserer Statue angehört, hat das
Stoffgebiet der Rundplastik dadurch wesentlich erweitert, daß sie
in großem Umfange Szenen aus der Heroensage aufnahm, die man
bis dahin nur in Gemälden dargestellt hatte. Ein Werk der gleichen
Art und Richtung hellenistischer Kunst ist die Gruppe des Menelaos,
der den toten Patroklos rettet (Tafel 41), wo der bärtige Kopf des
Helden auch eine nahe stilistische Parallele zu unserem Odysseus
bietet; ebenso gab es zu der Laokoongruppe (Tafel 42) wahrschein-
lich in der Malerei ältere Vorstufen.
Odysseus trägt einen kurzen, kräftigen, stark gelockten Voll-
bart und ebenso krauslockiges Haupthaar, das über der Stirne kräftig
emporwächst, den oberen Teil der Ohren bedeckt und hinten ziem-
lich kurz gehalten ist. Dieser tatkräftige Held kann keinen lang-
hängenden Haarschmuck brauchen. Die Trennung der Locken über
der Stirne ist mit feiner Absicht nicht über die Mitte gelegt, sondern
etwas an die Seite, um den Schein des Nachlässigen, nicht des
Symmetrischen, Würdigen zu erwecken. Mit seinem stark gelockten,
schwarzen Haare ist dieser Odysseus recht ein Typus des Südländers,
der er auch im Charakter ist, während andere unter den griechischen
Heroen sich mehr unserem nordischen Heldenbegriffe nähern.
Der Künstler hat das Vielgewandte, Vielerfahrene, Listig- Kluge
im Wesen des Odysseus und seine Verbindung mit schlagfertiger
Kraft vortrefflich anzudeuten verstanden. Das liegt in allen Zügen,
insbesondere in der nicht hohen, aber reich modellierten, durch-
Denkmäler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl. 10
146 STATUARISCHE GRUPPEN
gearbeiteten Stirne, dem durchdringenden Blicke, der kräftigen,
etwas gebogenen Nase, dem kleinen, beredten, vom Bart umrahmten
Munde. Das alles kommt nicht dem Unerfahrenen, nicht dem
Schwärmer oder Denker, sondern dem tatkräftigen, in den mannig-
faltigsten Lebenserfahrungen geprüften Manne zu. Ein psycho-
logisches Meisterstück ist geschaffen, gleich beweiskräftig für die
wundervolle Anschaulichkeit der homerischen Poesie wie für die
schöpferische Gestaltungskraft der hellenistischen Plastik und der
wohl vorbildlich wirkenden Malerei. Denn wie in jener des
Odysseus Charakter deutlich sich ausprägt, so blieb er im Volks-
bewußtsein lebendig und tritt in der Kunst vor Augen.
TAFEL 44
ORESTES UND ELEKTRA
MARMORGRUPPE DES KÜNSTLERS MENELAOS.
ROM, THERMENMUSEUM
Diese Gruppe befand sich seit Anfang des siebzehnten Jahr-
hunderts in der Villa Ludovisi zu Rom und wurde erst kürzlich
bei dem Abbruche jener Villa in einen neuen Palast, das Museo
Boncompagni, überführt. Sie steht jetzt im Thermenmuseum. Über
ihre Herkunft ist nichts Sicheres bekannt; daß sie auf dem Boden
der Villa selbst gefunden sei, bleibt nur Vermutung.
Eine stattliche Frauengestalt und ein Jüngling, der um einen
Kopf kleiner ist, halten sich umfangen. Die Frau legt ihm die
Rechte auf die Schulter, der Jüngling hat seinen linken Arm um
ihren Rücken gelegt. Ihre vorgestreckten Arme sind zwar beide
ergänzt, allein sie können nicht viel anders gewesen sein. Die
Frau steht ruhig und fest auf dem rechten Beine, während sie das
linke entlastet zur Seite gesetzt hat ; ihr Oberkörper wendet sich
dem Jüngling zu, auf den sie mit inniger Teilnahme herabsieht.
Der Jüngling hält im Schreiten inne ; er ruht auf dem linken Fuße,
indem er den rechten in Schrittstellung nachzieht; er blickt zu der
Frau empor. Die Absicht des Künstlers war offenbar, zu zeigen,
daß der Jüngling herankommt, während die Frau schon länger an
dem Platze ist. Das innige Umfangen und Anblicken deutet an,
daß es sich um eine Wiedervereinigung lange Getrennter handelt.
Nur um möglichst viel Vorderansicht von den Figuren zu zeigen.
ORESTES UND ELEKTRA
ROM, THERMENMUSEUM
ORESTES UND ELEKTRA 147
erscheinen sie sich weniger unmittelbar zugewendet, als es beim
Zusammentreffen zweier Personen natürlich wäre. Ein Auseinander-
gehen, ein Abschied der beiden ist indes ganz offenbar nicht dar-
gestellt, und die Deutungen der Gruppe, welche von dieser An-
nahme ausgehen, sind deshalb falsch.
Zu einer bestimmten Erklärung verhelfen zwei charakteristische
Umstände; erstlich der Altersunterschied der beiden dargestellten
Personen, die Frau muß älter sein als der Jüngling; zweitens das
kurz geschorene Haar der Frau; sie muß in Trauer sein — zum
Zeichen der Trauer schnitten die Frauen ihr Haar ab — und dieser
Umstand muß für die Person ein sehr wesentlicher sein, da ihn
der Künstler offenbar als Hauptkennzeichen benutzt hat.
Die treffendste und deshalb gewiß einzig richtige Deutung,
die sich auf dieser Grundlage ergibt, ist schon von Winckelmann
gefunden worden : es ist das Wiedersehen von Orestes und Elektra
am Grabe des Vaters. Elektra ist die ältere. Sie hat, selbst schon
erwachsen, das Kind Orestes einst beim Tode des Agamemnon
aus Klytaimestras Händen gerettet. Kaum mannbar geworden,
noch als unausgewachsener Jüngling kommt Orestes zur Rachetat
nach der Heimat zurück. Es ist sehr wahrscheinlich, daß man auf
der Bühne die beiden in ähnlicher Weise in der Größe verschieden
sein ließ, wie es die Gruppe zeigt; ja diesen starken, die Natur
übertreibenden Größenunterschied hat der Künstler vermutlich eben
von der Bühne, zu deren konventionellem Stile er sehr wohl paßt,
übernommen. — Elektra ist in Trauer: sie trat auf der Bühne mit
der Maske der xorniuoc rrap^t-evo:; auf, d. h. sie hatte eine Maske
mit kurzgeschorenem Haare ; sie hat seit dem Tode des Vaters
die Trauer um ihn nicht aufgegeben, und dieser Zug ist der wich-
tigste in ihrem Wesen und ward von allen Dichtern festgehalten.
„Auf die erste erschütternde Bewegung bei einer Wieder-
erkennung folgt naturgemäß die ruhigere Freude, worin man des
Glückes genießt, indem man sich fragt: bist du es wirklich? Diesen
schönen Moment, worin die Geschwister aus dem Innern heraus die
Bestätigungeines Glückeszu schöpfen verlangen, welchem äußere Um-
stände die höchste Wahrscheinlichkeit gegeben haben, obgleich sie in
völlig verschiedener und kaum noch erinnerlicher Gestalt einander
verließen, drückt die Gruppe recht bestimmt aus . . . der Jüngere
scheint gespannter zur Schwester aufzublicken, sie mit mehr Ruhe ihr
Auge auf ihn zu heften, damit auch durch diese Art der Über-
legenheit der Unterschied des Alters . . sichtbar werde . . Durch
das kurz abgeschnittene Haar wird sie zur unglücklichen und im
Druck der harten Mutter selbständigen und entschiedenen Elektra."
Dies die schönen Worte, mit denen Welcker die Winckelmannsche
148 STATUARISCHE GRUPPEN
Deutung, die er mit Recht „die einzig richtige" nannte, begründet
hat. — Hinzufügen läßt sich noch, daß, wie Emil Braun bemerkte,
die Marmorstütze hinter Orestes gewiß nicht ohne Absicht die
sonst nicht gewöhnliche Form einer Stele hat: sie soll das Grab
Agamemnons andeuten, an dem die Tragiker die Begegnung statt-
finden lassen.
Otto Jahn hat geglaubt, noch eine bessere Deutung zu finden,
indem er Merope mit ihrem Sohne zu erkennen vorschlug. Ob-
wohl die Deutung vielen Beifall gefunden hat, ist sie doch durch-
aus zu verwerfen. Merope erkennt ihren Sohn wieder, nachdem
sie eben das Beil gegen ihn geschwungen hat, um ihn als ver-
meintlichen Mörder ihres Sohnes zu töten. Diese Situation von
gewaltigster Aufregung und starker, äußerer Bewegung ist unver-
einbar mit der fest und ruhig stehenden Frauengestalt der Gruppe.
Dann aber paßt auch das kurz geschorene Haar nicht zur Merope.
Denn wenn auch innerlich trauernd um Mann und Kinder, war
diese doch Fürstin und dem regierenden König vermählt; sie konnte
auf der Bühne gewiß nicht als xot3pi|aoc, „mit geschorenem Haare",
auftreten '), sondern mußte äußerlich als Königin erscheinen. End-
lich aber hat die Geschichte der Merope nicht entfernt diejenige
Berühmtheit genossen wie die der Elektra: der antike Beschauer
kann bei unserer Gruppe nur zuerst an Elektra gedacht haben.
Übrigens beschäftigen sich auch die anderen Gruppen, welche der-
selben Kunstschule angehören wie die vorliegende, gerade mit Orest,
Elektra und Pylades. Dagegen sind Kunstdenkmäler, die sich sicher
auf Merope bezögen, überhaupt nicht nachzuweisen.
Die sonstigen Deutungen der Gruppe, Andromache Astyanax,
Penelope Telemach, Aithra Demophon, Aithra Theseus, Deianeira
Hyllos, Iphigenie Orest u. a. verdienen kaum der Erwähnung.
Der Künstler der Gruppe hat seinen Namen an der Stütze
neben Orestes Bein angebracht. Dort steht : MeveXaoq STe9dvoD
|aa\)r|Tilc eTroi'ei. Stephanos, der Lehrer des Künstlers Menelaos,
ist uns bekannt als Schüler des Pasiteles, der zu Pompejus Zeit
lebte. Menelaos gehört sonach in den Beginn der Kaiserzeit. Er
arbeitete ohne Zweifel in Rom. Die Schule, der er angehörte,
pflegte ältere Werke zu kopieren oder Gruppen zusammenzustellen
') Auch wenn sie bei Quintilian 11, 3, 73 „tristis" (traurig) hieße,
würde dies gar nichts dafür beweisen; indessen an jener von Jahn ange-
führten Stelle ist Merope Konjektur, und zwar eine ganz unnütze; über-
liefert ist „Aerope in tragoedia tristis". Es genügt, an das Epigramm des
Nikomedes auf ein Gemälde des Ophelion (Anth. Pal. 6, 316) zu erinnern,
um zu erkennen, daß eben die „tristis Aerope" (die traurige Aerope) ein
bekannter Typus war.
ORESTES UND ELEKTRA 149
aus älteren Einzelfiguren. Wahrscheinlich ist auch unsere Gruppe
auf diese Art zustande gekommen. Es ist zu Rom im Museo Tor-
lonia eine Wiederholung der Frauenfigur, aber mit einem ganz
anderen Kopfe erhalten, die auch nicht in der Gruppenverbindung
stand wie die unsrige. Es ist möglich, daß Menelaos für die Frauen-
figur ein Vorbild aus dem vierten Jahrhundert benutzte und die
Gruppierung, den Kopftypus und die Figur des Orestes hinzuer-
fand. Dazu würde stimmen, daß der Mantel des Orest eine nicht
griechische, wohl aber in der ersten Kaiserzeit sehr beliebte Ge-
stalt zeigt. Die vielfach gebilligte Vermutung, daß das Ganze Kopie
nach einer griechischen Grabesgruppe sei, daß so dereinst die still
Vertrauten, Mutter und Sohn, auf der letzten Ruhestätte vereinigt
standen, erscheint sehr sinnig, doch nicht erweisbar.
VIII. HELLENISTISCHE KUNST')
Die Entstehung und Entwicklung der hellenistischen Kunst
vollzieht sich großenteils im engen Zusammenhange mit der Ge-
staltung der staatlichen Verhältnisse nach Alexanders des Großen
Tode. Die in den früheren Epochen als Pflegerinnen des Kunst-
lebens hervorragenden Städte des griechischen Festlandes, insbe-
sondere Athen, treten infolge ihrer politischen Schwächung in den
Hintergrund; die neuen Residenzen der Diadochenreiche, Antiochia,
Seleucia, vor allem Pergamon und Alexandria, die aufblühenden
Seehandelsstädte, wie Rhodos, werden Mittelpunkte einer reichen,
von der vergangenen Zeit in Auffassung und Inhalt teilweise völlig
verschiedenen, in ihren Leistungen höchst originellen Kunst-
richtung. Denn das gesteigerte Wohlleben, die große Prachtliebe,
der veränderte Geschmack haben der Architektur, Plastik, Malerei
und nicht am wenigsten dem Kunstgewerbe, der sogenannten Klein-
kunst, bei der Errichtung und Ausschmückung öffentlicher Bauten
und Anlagen, bei der prunkvollen Ausstattung der Wohnräume be-
güterter Privaten und der mit ihnen verbundenen Gärten neue,
mannigfaltige Aufgaben gestellt.
In den bedeutendsten Werken der Plastik erregen hinsicht-
lich der äußeren Erscheinung vor allem das großartig Monumen-
tale, die Kolossalität und Kühnheit der Komposition, sodann die
meisterhafte Technik und die durch genaue Kenntnis der Anatomie
erreichte Virtuosität der Behandlung des Nackten die höchste Be-
wunderung; durch den effektvollen Realismus und das tiefe dra-
matische Pathos der Darstellung lebhaft bewegter Figuren und Szenen
werden die Nerven des Betrachters ergriffen und erschüttert, während
') Vgl. auch die einschlägigen Bemerkungen in der Einleitung zu
Abschnitt VII: „Statuarische Gruppen" und X: „Griechische und römische
Porträts".
HELLENISTISCHE KUNST
151
der Anblick
der einfachen
und edlen
Skulpturen
des Parthenon
der liebrei-
zenden Schöp-
fungen praxi-
telischen Mei-
ßels Auge und
Gemüt befrie-
digen und er-
heben. Diese
bezeichnen-
den Merkmale
vereinigt in
sich das künst-
lerisch bedeu-
tendste Bild-
werk der Epo-
che, die gran-
diose Barock-
figurderNike
von Samo-
thrake (Fig.
48), die meist
als Weihge-
schenk des
DemetriosPo-
liorketes zur
Erinnerung
an den 306 v.
Chr. in den
cyprischen Gewässern über Ptolemäos errungenen Seesieg gilt,
gestiftet in das zur Diadochenzeit weitberühmte Kabirenheiligtum.
Vorn auf einem Dreiruderer dahineilend nimmt die hochgewach-
sene, schlanke Göttin mitten im Gewühl an der Seeschlacht teil
und verkündet durch Trompetenstoß laut den Erfolg, indem sie
dadurch die Streiter nur noch leidenschaftlicher und kampfes-
freudiger stimmt; die linke Hand hält gemäß eines Ergänzungsver-
suches als Siegeszeichen den kreuzförmigen Schmuck eines feind-
lichen Fahrzeuges. Genialität der Auffassung, wechselvoller Rhyth-
mus der stürmischen Bewegung, raffiniert behandelte Draperie der
Fig. 48. Nike von Samothrake. Marmor. Paris, Louvre
152
HELLENISTISCHE KUNST
vom Meerwind an den
Körper gepeitschten Ge-
wandung, vollendeter Aus-
druck der weiblichen For-
men, souveräne Beherr-
schung der Marmortech-
nik, alle diese Vorzüge
machen die vielbewun-
derte Gestalt auch im
Torso zu einem Meister-
werk der Plastik der Grie-
chen, ja aller Zeiten über-
haupt. Jene charakteri-
stischen Eigentümlich-
keiten des Hellenismus
treten auch aus einem der
glänzendsten Denkmäler,
den Reliefdarstellungen
der Gigantenkämpfe vom
pergamenischen Altar
ebenso wie aus der zwar
viel jüngeren, indes stil-
verwandten Laokoon-
gruppe (Tafel 42) deut-
lich hervor und sind teil-
weise auch in der des
Menelaos mit der Leiche des Patroklos (Tafel 41) und
in dem Kopfe des Odysseus (Tafel 43) erkennbar. Diese im
höchsten Grade pathetische Kunstrichtung spiegelt gewissermaßen
den gewaltigen und gewaltsamen Charakter des Hellenismus
und seiner durch ihre Persönlichkeit in der Geschichte mächtig
hervortretenden Fürsten wider, deren kraftvolles Wesen in ihren
Porträts bezeichnend zum Ausdruck kommt (vgl. Fig. 59). Den
Herrschern war bei der Aufstellung prächtiger, in die Augen fal-
lender Kunstwerke die Erhöhung des eigenen Ruhmes und Stei-
gerung des Glanzes ihrer Regierung erstes Ziel. In diesem Sinne
ist die Errichtung der umfangreichen Siegesdenkmäler zur Erin-
nerung an die Bezwingung der wilden und tapferen Galater zu Per-
gamon erst in vollem Maße verständlich; von ihnen vermutlich ist
in dem „sterbenden Gallier" (Tafel 46, vgl. auch Fig. 52 und 53)
eine Nachbildung erhalten, die als hervorragendes Muster der natura-
listischen Kunstrichtung der Zeit überhaupt und insbesondere der
verständnisvollen Auffassung und Wiedergabe des fremden Volks-
Fig. 49. Marmorkopf eines Barbaren
Brüssel, Musee Royal du Cinquantenaire
HELLENISTISCHE KUNST
153
^
'T'
ti-y
'-# ^'
^'•^
Fig. 50. Marmorrelief mit ländlicher Szene : Bauer, eine Kuh zur Stadt treibend.
Gute römische Kopie eines hellenistischen Originals. München, Glyptothek
typus von hohem Werte ist. In gleicher Beziehung gewinnt der
weit unterlebensgroße Kopf eines Barbaren (Fig. 49) erhöhte Be-
deutung. An ihm wirkt im Gegensatz zu abgeblaßten Kopien der
köstliche Reiz des lebensfrischen Originals; dem Stile nach scheint
es der älteren pergamenischen Schule verwandt zu sein und dem-
gemäß noch ins dritte Jahrhundert v. Chr. zu gehören; indes ist
längere, weiter reichende Wirkung dieser Kunstrichtung sogar bis
in die Wende des zweiten und ersten Jahrhunderts v. Chr. wohl
möglich. „Der Kopf stammt aus einer Kampfgruppe und gehört
einem kämpfenden, aber unterliegenden Barbaren an, der mit An-
spannung der letzten Kräfte mutvoll vorwärtsdringen möchte, dessen
Pathos voll höchster Energie, aber auch schmerzvoll ist, darin sich
sein Unterliegen ankündet. Der Blick der Augen ist von wunder-
barem, packendem Ausdruck, der Mund weit geöffnet, die obere
Zahnreihe sichtbar, die Stirne über den Augen stark zusammen-
154
HELLENISTISCHE KUNST
Fig. 51. Bronzekopf des jugend-
lichen Satyrs, voll naiver, fröh-
licher Anmut, voll harmloser
Schalkhaftigkeit. Feines, früh-
hellenistisches Original. Mün-
chen, Glyptothek
gezogen." An Wange und Ober-
lippe sind Bartspuren bemerkbar.
Die Deutung freilich macht große
Schwierigkeiten. „Das Haar ist im
Nacken hinten kurz gehalten, am
Oberkopf ist es lang wachsen ge-
lassen. Das lange, schlaffe Haar
des Oberkopfes ist von der linken
Kopfseite und von hinten her alles
nach der rechten Seite hinüberge-
kämmt und hier über der rechten
Schläfe in einen Knoten zusammen-
gedreht, dessen Spitze leider abge-
brochen ist." Diese Mode läßt sich
schon frühzeitig, etwa zu Beginn
unserer Zeitrechnung, als germa-
nisch'), später besonders bei den
Bastarnern, monumental nachwei-
sen. Deshalb hat man in dem Bild
einen Vertreter dieses Stammes
vermutet und weiter angenommen,
daß das Wandervolk, das von der oberen Weichsel herkam, wohl
schon um die Wende des dritten und zweiten Jahrhunderts v. Chr.
in die Pontusgegend gelangte, jedenfalls bereits 184 v. Chr. in den
Ländern der Donaumündung festsaß, auf diesen Zügen Galatern
sich anschloß und in deren Diensten gegen Diadochenfürsten
kämpfte; vielleicht ist es sogar selbst mit ihnen zusammengestoßen.
Zur Erinnerung an den Sieg mag ein hellenistischer Machthaber das
Denkmal errichtet haben. Indes das sind alles unerweisbare Hypo-
thesen. Falls wirklich jene eigentümliche Haartracht schon früh-
zeitig ausschließlich auf Germanen beschränkt und nicht auch bei
anderen Barbaren, bei den Galatern Gebrauch war, dann gewinnt
der Kopf erhöhtes Interesse für uns Deutsche als älteste Darstellung
eines Deutschen, doch auch ohne sichere Erklärung erzielt er als
charakteristisches Werk des Hellenismus in seiner monumentalen
Kraft, in seinem heroischen Pathos gewaltige Wirkung.
Auf die Stoffe der hellenistischen Kunst hat die gleichzeitige
Poesie nach verschiedenen Richtungen hin wirksamen Einfluß ge-
wonnen. Zwar sind auch die althergebrachten Sagen, die im Volke
stets lebendig geblieben waren, in der Dichtkunst behandelt und
in der Plastik dargestellt worden (vgl. die bereits angeführten Bild-
') Vgl. auch Tacitus, Germania 38.
DER NIL 155
werke Tafel 41 — 43), aber auch viele entlegene Mythen, wie das
Leben und Lieben der niederen Götter des erotischen, bacchischen,
neptunischen Kreises, gewannen vorwiegend durch die alexandri-
nische Poesie und durch gleichzeitige Schöpfungen der Kunst Po-
pularität (siehe auch Fig. 51). Das gemütvolle Idyll, jene originelle
Leistung der hellenistischen Dichtkunst, in welchem die wechsel-
vollen Erscheinungen des Naturlebens, das ernste und heitere Trei-
ben der Landleute usw. mit sichtbarer Liebe und genauer Beobach-
tung bis ins einzelne geschildert werden, hat sein Gegenbild in
genreartigen Erzeugnissen alexandrinischer Kunst, die verschiedene
Vertreter der unteren Bevölkerungsklassen, den Fischer mit seiner
Beute, den die Kuh zum Markte treibenden Lc»ndmann (Fig. 50)
u. a. m. naturgetreu gebildet haben. Einer verwandten Anschauungs-
weise verdankt die kolossale Statue des in voller Ruhe hingelagerten,
von fröhlichen Knaben umspielten „Vaters" Nil (Tafel 45) ihre Ent-
stehung, in welchem die behagliche und heitere Stimmung eines
anmutigen Idylls zur Darstellung kommt.
TAFEL 45
DER NIL
KOLOSSALE MARMORSTATUE. ROM, VATIKANISCHES MUSEUM.
Die Statue wurde zusammen mit einem Gegenstück, das den
Tiber darstellt und sich jetzt im Louvre zu Paris befindet, unter
Leo X. wahrscheinlich 1513 zu Rom unweit von S. Maria sopra
Minerva gefunden und im Vatikan aufgestellt. Die beiden Figuren
hatten dereinst das in jener Gegend gelegene Heiligtum der Isis
und des Serapis geschmückt. Der Nil ist die schönste Darstellung
eines Flusses aus dem Altertum, das Vorbild für zahlreiche Nach-
ahmungen bis in die neueste Zeit.
Er ist nicht als ein selbständiger Gott, sondern als Symbol
seines Elementes aufgefaßt : das Ganze ist eine Allegorie des Flusses.
Die kraftvolle Gestalt ist breit hingelagert; dies symbolisiert das
ruhige, mächtige Dahinströmen des gewaltigen Flusses. Die sech-
zehn Kinder, die ihn umspielen, sind Allegorien der sechzehn Ellen,
um welche der Spiegel des Nils steigt, wenn er den höchsten Wasser-
156 HELLENISTISCHE KUNST
stand, der die höchste Fruchtbarkeit mit sich bringt, erreicht. Das
Füllhorn in der Linken mit seinen Früchten und Ähren deutet eben
diese Fruchtbarkeit des von dem Flusse bewässerten Tales an und
den gleichen Sinn hat der Kranz von Ähren, Blüten und Blättern
auf dem Kopfe sowie der Strauß in der Rechten, zu einem Ähren-
büschel ergänzt. Die Heimat des Stromes wird durch die Sphinx
gekennzeichnet, die dem linken Unterarme als Stütze dient; sie
charakterisiert Ägypten ebenso wie die Wölfin mit Romulus und
Remus an dem Gegenstücke die Heimat des Tiber bezeichnet. Der
ägyptische Strom ist aber noch weiter durch das Krokodil verdeut-
licht, mit dem einige der Kinder links spielen; vorn neben dem
linken Knie sieht man ein Ichneumon, das auf das Krokodil los-
gehen will ; auch mit ihm beschäftigen sich die Kleinen.
Das Element des Wassers ist indes nicht nur symbolisiert,
sondern auch selbst dargestellt. Unter der linken Hand strömt es
hervor und ergießt sich über die ganze Basis der Statue. An der
auf unserer Abbildung allein sichtbaren Vorderseite derselben sieht
man nur das fließende Wasser und rechts einige Wasserpflanzen.
Auf den anderen Seiten der Basis sind auf dem Wasser Kämpfe
von Nilpferden und Krokodilen, sind auf Barken rudernde Pygmäen,
die von solchen Tieren bedroht werden, sind Ichneumon und Kro-
kodil, Wasservögel und am Ufer weidende Rinder dargestellt.
Das stufenweise Emporklettern der Kinder zeigt das — nach
Ellen gemessene — wachsende Ansteigen des Nils') an. Die Kinder
sind übrigens stark ergänzt; an beinahe allen ist der Oberkörper
modern, an einigen noch mehr. Ihre Gruppierung um die Haupt-
figur ist aber nicht nur bedeutungsvoll, sondern auch künstlerisch
überaus geschickt. Die Klarheit der Umrisse der Hauptfigur wird
durch sie durchaus nicht beeinträchtigt, ja die mächtigen Formen
derselben werden durch den Kontrast hervorgehoben, und Lücken
wie die am Fußende und zwischen Armen und Körper werden
passend gefüllt. Meisterhaft sind die Vorzüglichkeit der schwierigen
Komposition, die Lebendigkeit der Motive, die poetische Gestaltungs-
kraft, reizvoll wirkt der gesunde, anmutig spielende Humor.
Der wohlerhaltene Kopf des Flußgottes zeigt den Ausdruck
ruhiger, erhabener Milde, wie er dem mächtigen, segenbringenden
Strome geziemt. Der volle Bart ist fließenden Wellen gleich be-
handelt.
Die uns erhaltene Statue, die mit ihrem Gegenstück, dem Tiber,
gleichzeitig in Rom ausgeführt ward, ist die gute Kopie eines älteren,
höchstwahrscheinlich in der Ptolemäerzeit zu Alexandrien geschaf-
') Plinius der Ältere, Naturalis historia 36, 58 u. a. St.
STERBENDER GALLIER 157
fenen Originales. Dafür spricht vor allem, ganz abgesehen von der
Darstellung selbst, die Vertrautheit mit Pflanzen- und Tierformen
Ägyptens, mit dem dortigen Kulturleben überhaupt, die frische Ur-
sprünglichkeit des Ganzen.
Die hier durchgeführte allegorische Auffassung des Flußgottes
ist der griechischen Kunst vor Alexander fremd. Diese kennt noch
keine gelagerten, ihrem Elemente identischen Flußgötter. Die Fluß-
götter der älteren griechischen Kunst sind nicht Allegorien der Flüsse,
sie bedeuten nicht ein Naturelement, sondern sie sind lebendige
Personen des Glaubens wie die anderen Götter, denen sie auch
in den Motiven gleichen. Die Statue des Nil ist nicht nur das
schönste, sondern wahrscheinlich auch das älteste Beispiel des alle-
gorischen gelagerten Typus der Flußgötter.
TAFEL 46
STERBENDER GALLIER
MARMORSTATUE. ROM, KAPITOLINISCHES MUSEUM.
Unter dem Namen des sterbenden Fechters ist diese Statue
seit langer Zeit weitbekannt und vielgepriesen. Von nicht sicherer
Herkunft') läßt sie sich seit der ersten Hälfte des siebzehnten Jahr-
hunderts als zum Bestände der Sammlung der Villa Ludovisi zu
Rom gehörig nachweisen und ist von dort unter Papst Clemens XIL
in das Kapitolinische Museum gekommen. Die Erhaltung ist nicht
sehr glücklich: abgesehen von kleineren Ergänzungen sind völlig neu
und daher nicht gesichert das Schwert nebst Scheide und Tragband
') Die Annahme, daß sie ebenso wie die Gruppe „Der Gallier und
sein Weib" in den ehemaligen Gärten des Sallust, in deren Bereich Villa
und Park Ludovisi angelegt waren, zutage gekommen ist, läßt sich ur-
kundlich nicht beweisen. Der Galater hat im Schlachtgetümmel sein
Weib, das nach Barbarensitte mit ihm in den Kampf gezogen ist, getötet,
um es vor Gefangenschaft seitens nachdrängender Feinde zu retten; er
selbst stößt sich soeben im letzten Augenblick vor der auch ihm drohenden
Schmach das Schwert in den Hals, ängstlich erregt und zornerfüllt nach
dem Gegner umblickend. Der von Pathos durchglühte Kopf (Fig. 53) ist
ein ergreifendes Bild von tragischem Heroismus und ein künstlerisches
Meisterwerk der hellenistischen Epoche.
158
HELLENISTISCHE KUNST
Fig. 52. Kopf des sterbenden Galliers
mit dem dazu gehörigen Teile der Basis ; zweifellos unrichtig hin-
zugefügt ist an dieser Stelle das Ende des Horns, das nur in ein
Mundstück auslaufen kann. Der rechte Arm ist echt, war aber ge-
brochen.
Wie in dem rechtsseitigen Teile eines Giebels ruht hingestreckt
auf der sich abdachenden Basis ein Krieger, der auf der rechten
Seite dicht unter der Brust durch eine Stoßwunde von Feindeshand
tödlich getroffen ist; er ist auf seinen mächtigen ovalen Schild
niedergesunken, um den sich ein gewundenes, in zwei Teile ge-
brochenes Hörn herumlegt, und vermeidet durch die ganze Lage
des Körpers, insbesondere durch den aufgestüzten rechten Arm,
dessen Hand nach außen gedreht ist, und das untergeschlagene
rechte Bein, das von dem linken Arme krampfhaft gefaßt wird,
jede durch eine Spannung der Muskeln eintretende Steigerung des
Schmerzes. Hilflos und gebrochen ist der Kopf gesenkt, das Ge-
sicht offenbart den Ausdruck schmerzhaften Leids, bewahrt aber die
.'Vliene wilden Trotzes und verbitterter Wut (Fig. 52). Die Nationalität
des Verwundeten ist zwar in einer durch den Einfluß griechischer
Kunst etwas idealisierten Form, aber in unverkennbaren Zügen
STERBENDER GALLIER
159
meisterhaft
zum Ausdruck
gebracht.
Denn die
schlanke, ge-
schmeidige
Jünglingsge-
stalt von her-
vorragender
Größe, deren
saftiges und
kräftiges
Fleisch von
fetter und
dicker Haut
umspannt
wird, ganz
nackt und nur
mit der aus
Metall gewun-
denen Hals-
kette(torquis)
geschmückt,
die unregel-
mäßige, un-
griechische
Kopf- und Ge-
sichtsbildung
mit struppi-
gem, durch
den Gebrauch der Salbe in wulstige Strähnen verdicktem Haare
und dem kurzgeschorenen Schnurrbarte der Oberlippe gewähren
eine deutliche Veranschaulichung und Belebung der Vorstellung,
die von dem Aussehen eines Galaters aus den Nachrichten
antiker Schriftsteller') gewonnen wird; vermutlich hat dem Künst-
ler ein charakteristischer Vertreter des Barbarenstammes un-
mittelbar als Modell gedient oder er hat ein lebensgetreues
Vorbild benützt; jedenfalls ist durch diese Darstellung eine glän-
zende Probe für die Fähigkeit der hellenistischen Plastik, auch
Fig. 53. Kopf des Galaters aus der Marmorgruppe „Der
Galater und sein Weib". Rom, Thermenmuseum
') Polybius, Geschichte 2, 29, Cäsar über den Gallischen Krieg 2, 30,
Livius, römische Geschichte 6, 7, Diodor, Bibliothek, 5, 27 ff., Pausanias,
Beschreibung Griechenlands 10, 19 ff.
160 HELLENISTISCHE KUNST
neue Typen zu bilden, dargeboten. Man empfindet Mitleid mit
dem Schicksal des der Ermattung nahen Helden, der auch im Todes-
kampfe die seinem Stamme eigene unbeugsame Tapferkeit bewahrt:
in der Schlacht tödlich getroffen, hat er sich aus dem engen Ge-
tümmel eine kurze Strecke weggeschleppt und haucht nun auf dem
geretteten Schilde sein Leben aus im Anblick des Kriegshorns,
durch dessen Schall er seine Genossen zum Kampfe entflammt
hat und das im Gedränge des Gefechts zerbrochen ist. Dieses
Stimmungsbild entwickelt sich dem Beschauer aus der Betrachtung
des Werkes allein, als einer Einzelfigur gedacht. Mit Recht aber
hat man die Zugehörigkeit der unter dem Namen „Der Gallier und
sein "Weib" berühmten Gruppe im Thermenmuseum (Rom) zu der
Statue des sterbenden Galaters aus der Gleichheit des Materials,
Kunststils und Gegenstandes erschlossen, welche Folgerung durch
die ehemals gemeinsame Aufbewahrung in der Villa Ludovisi be-
stärkt wird. Auch hat man beide Werke als Bestandteile eines
umfangreichen Schlachtendenkmals erkannt, das zur Erinnerung an
Siege über jene kriegerischen Stämme errichtet worden ist, und
nur unentschieden gelassen, ob die Originale selbst oder gute, mit
diesen im wesentlichen gleichzeitige, vielleicht auch spätere Nach-
bildungen von Bronzen erhalten sind ; auf Grund der Marmorart
wird Kleinasien, neuerdings Ephesos oder Tralles, als Entstehungs-
ort angenommen. In der Art haben Könige von Pergamon ') die
gegen die Galater errungenen militärischen Erfolge auf ihrem
Herrschersitz verherrlicht. Eine unmittelbare Beziehung zu diesen
Denkmälern pergamenischer Kunst ist zwar urkundlich nicht ge-
sichert, erscheint aber durch die Gleichheit der Darstellung und des
Stils fast zweifellos. Die Entstehung ist innerhalb der ganzen
Periode der Kämpfe, die von den Anfängen der Regierung Attalos I.
bis 165 V. Chr. sich ausdehnten, sehr wohl möglich; eine genauere
Zeitbestimmung könnte nur durch die Ermittlung des Anlasses der
Stiftung, durch die Feststellung des geschichtlichen Ereignisses,
zu dessen Verewigung jene Bildwerke beitragen sollten, gewonnen
werden ^).
') Attalos I. (241 — 197), Eumenes II. (197—159), (Plinius der Ältere,
naturalis historia 34, 84. Inschriften von Pergamon No. 20 tf.). Von den
bei Plinius erwähnten, aus Bronze gearbeiteten Schlachtendenkmäiern
sind bei Gelegenheit der von Preußen unternommenen Grabungen leider
weder monumentale noch sichere epigraphische Reste zutage gekommen.
Trotzdem muß die dereinstige Existenz zu Pergamon als gewiß gelten.
Die Monumente waren von Attalos und Eumenes zu verschiedener Zeit
getrennt oder vielleicht auch von letzterem Herrscher allein gemeinsam
aufgestellt worden. Die Entscheidung darüber könnte durch genauere
chronologische Bestimmung der bei Plinius a. a. O. aufgezählten Erzgießer
IX. HISTORISCHE KUNST DER RÖMER
L)ie Anfänge der historischen Kunst der Römer reichen ge-
mäß der Nachrichten alter Schriftsteller bis in die frührepublikanische
Epoche, wohl noch in das Ende des vierten, jedenfalls in das dritte
vorchristliche Jahrhundert zurück. Insbesondere aus dem zweiten
Jahrhundert v. Chr. wird berichtet, daß siegreiche Feldherm ihre
Kriegstaten durch Wandgemälde in Tempeln verewigen oder auf
Tafelgemälden darstellen ließen, die in Heiligtümern geweiht oder
öffentlich ausgestellt und dem Volke erklärt, im Triumphzuge ein-
hergetragen wurden. Aus den kurzen, literarisch überlieferten In-
haltsangaben einzelner dieser Darstellungen ersehen wir, daß darin
die Grundlage für die Entwicklung der späteren monumentalen Relief-
kunst der Römer ruht. Zwei vor einiger Zeit zu Rom in Gräbern
zutage gekommene Fresken, das eine mit einer fortlaufenden Reihe
von Szenen aus der Vorgeschichte Roms (aus dem Ende der Re-
publik), das andere mit streifenweise übereinander angeordneten
Abbildungen eines bestimmten, bisher nicht ermittelten kriegerischen
Ereignisses (wohl aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert) er-
innern hinsichtlich der Form, letzteres auch des Inhalts der Dar-
stellung unmittelbar an diese spätere Reliefkunst und geben für
jene literarischen Nachrichten über die altrömische Malerei den
Isigonus, Pyromachus, Stratonicus, Antigonus gewonnen werden, diese
aber ist mit dem vorhandenen literarischen und inschriftlichen Material
nur bei Phyromachus und zwar teilweise möglich; er hat sicher unter
Eumenes II. gearbeitet, kann aber auch noch unter Attalos I. tätig gewesen
sein. Die Konjektur „Epigonus" (vgl. Piinius 34, 88 und Inschriften von
Pergamon a. a. O.) für das Piinius 34, 84 handschriftlich überlieferte „Isigo-
nus" entbehrt der Berechtigung, und demgemäß ist die Beteiligung beider
Künstler an den Siegesdenkmälern gesichert.
-) Aus Attalos I. Regierung wurden zu Pergamon Bathren derartiger
Siegesmonumente, die auf Grund der darauf angebrachten Inschriften
datierbar sind, gefunden ; doch ist die Beziehung zu den beiden in Rom
befindlichen Marmorwerken unerweisbar, ebenso wie deren aus stilistischen
Erwägungen erfolgte Zuweisung in jene ältere pergamenische Kunstschule
nicht unbedingt überzeugt.
Denkmäler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl. 11
162
HISTORISCHE KUNST DER RÖMER
Fig. 54. Marmorrelief vom Trajansbogen in Benevent
Darbringung eines Opfers durch den Kaiser
monumentalen Beleg. Zugleich sind sie durch die schlichte und
getreue Wiedergabe der Tatsachen als ein verhältnismäßig frühes
Zeugnis für den ausgeprägten geschichtlichen Sinn der Römer von
großer Wichtigkeit. Indes diese geringen Reste der Malerei er-
scheinen unbedeutend gegenüber den zahlreichen, von dem Beginn
der Kaiserzeit bis auf Konstantin herab erhaltenen Skulpturen der
Sieges- und Ehrendenkmäler, welche zur dauernden Verewigung
insbesondere militärischer Erfolge in den verschiedenen Teilen des
Weltreichs errichtet wurden.
In Rom sind es abgesehen von unbedeutenderen Baulichkeiten
drei Ehrenbogen ') und zwei Siegessäulen -), die noch heutzutage
als weithin sichtbare Wahrzeichen der ewigen Stadt in die Luft
emporragen. Beide Arten dieser Denkmäler sind gewissermaßen
als hohe Postamente für die auf der Spitze zu errichtenden Dar-
stellungen des Kaisers, sei es als einer Einzelfigur auf jenen Säulen,
sei es ein Viergespann lenkend, wie häufig auf den Bogen, auf-
zufassen. Beiden ist die Tendenz ihrer Entstehung gemeinsam, die
in der Verherrlichung der Person des Herrschers sowie seiner krie-
') Der des Titus (eintorig), der des Septimius Severus und Konstantin
(dreitorig).
2) Die des Trajan und Marc Aurel.
HISTORISCHE KUNST DER ROMER
163
Fig. 55. Marmorrelief von der Trajanssäule in Rom
Sturm einer dakischen Abteilung gegen eine römische Festung
gerischen Taten und seiner Wirksamkeit im Frieden begründet ist.
Beide zeigen wenigstens in der vorliegenden Gestalt und in der sie
umkleidenden plastischen Dekoration ein echt nationales Gepräge ').
Die architektonisch einfache und vornehme Symmetrie der Ehren-
bogen, die in geschlossenen Umrissen von der örtlichen Umgebung
scharf sich abheben, befriedigt den Betrachter in hohem Maße.
An den ragenden Siegessäulen dagegen ist es nur die originelle
Form und imponierende Höhe, die anfangs in Erstaunen setzen, auf
die Dauer aber eine befriedigende Wirkung nicht erzielen. Während
an den räumlich begrenzten und abgeteilten Flächen der ersteren
eine Scheidung des Reliefschmucks in einzelne Szenen ermöglicht
und eine Häufung derselben erschwert ist, sowie bei der mäßigen
Höhe der Gebäude die Übersicht erleichtert wird, reihen sich an
letzteren die Reliefs in schmalen Streifen spiralförmig fortlaufend
von unten bis hoch nach oben und sind dem Auge nur im ge-
ringsten Teile erreichbar-). Der sachliche Wert der Skulpturen so-
wohl der Ehrenbogen, als auch der Siegessäulen beruht in erster
M Vorstufen der Entwicklung lassen sich in ägyptischer und grie-
chischer Kunst verfolgen.
2) Nach neuer Erklärung stellen sie eine aufgewickelte Papyrusrolle
die ein gemaltes Bilderbuch ohne Text war, in Marmor dar.
11*
164
HISTORISCHE KUNST DER RÖMER
Fig. 56. Sauopfer, den Penaten dargebracht
Relief von der Ära Pacis. Rom, Thermenmuseum
Linie auf dem reichen Inhalt der Darstellungen, welche die lite-
rarischen Quellen der Kaisergeschichte monumental bestätigen und
ergänzen. Für das Staatsleben und den Kultus, vor allem aber
für das Militärwesen in seinen mannigfachen Formen, für die Be-
waffnung, den Kampf, die Belagerung und Befestigung u. a. m., end-
lich für das Kulturleben der besiegten Völker, voran unserer eigenen
Vorfahren, sind sie eine unschätzbare Quelle der Veranschaulichung
und Belehrung (Fig. 54 — 56). Was die künstlerische Bedeutung
betrifft, so ist dieselbe je nach der Zeit der Entstehung der
einzelnen Denkmäler verschieden. In den Darstellungen der Ära
Pacis Augustae ') (Fig. 56) und des Titusbogens wird man das weise
') Ahar der Friedensgöttin, den der Senat zur Feier der Rüclckehr
des restitutor orbis Romani aus Spanien und Gallien im Campus Martius
zu Rom gelobt hat (Monumentum Ancyranum II, 37); dessen Errichtung
fällt in die Jahre 13—9 v. Chr. Die Szene (Fig. 56) wird feinsinnig auf den
Urahnen des Augustus, Aeneas, bezogen. Dieser beabsichtigte den von
HISTORISCHE KUNST DER RÖMER 165
Maßhalten in der Gestaltung der Szenen, das vornehme und ruhige
Auftreten der Personen, ihre treffliche Charakterisierung und vor-
zügliche Wiedergabe im Porträt verdientermaßen würdigen. Von
den Reliefs der Trajanssäule abwärts wird die verwirrende Häufung
der Szenen und Figuren, der Mangel an Übersichtlichkeit und Klar-
heit der Situation trotz der vielfach namentlich an der Trajans-
säule anerkennenswerten Erfindungsgabe, vor allem aber die male-
rischen Vorbildern entlehnte Anordnung in zwei oder noch mehr
Reihen übereinander das Auge des Betrachters stören '). Auch
wird die absichtliche Hervorhebung der Taten der Sieger und Zu-
rückdrängung der Gegner, die rohe Gewalt in der Kriegsführung
unser Gefühl verletzen. Großes historisches und künstlerisches
Interesse bietet insbesondere unter den Reliefs der Trajans- und
Marcussäule die bezeichnende und lebensvolle Bildung der bar-
barischen, der germanischen Volkstypen und unter diesen wir-
ken erhebend die Einzelfiguren männlichen und weiblichen Ge-
schlechts, die auch nach der Unterwerfung in ihrem Auftreten hel-
denhafte Fassung und Würde bewahren. Unter den erhaltenen
Rundwerken dieser Art erscheint, vorausgesetzt, daß die Deutung
richtig ist, als herrlichste Schöpfung die Statue einer trauernden
Barbarin (Tafel 47), die vielleicht als Personifikation eines über-
wundenen Volkes ein in den Anfängen der Kaiserzeit zu Rom er-
richtetes Siegesdenkmal geschmückt hat; hinsichtlich der künst-
lerischen Auffassung und trefflichen Wiedergabe der fremdländischen
Nation ist sie ein Meisterwerk,
Troja mitgebrachten Penaten nach der Landung in Latium eine trächtige
Sau zu opfern. Zur Andeutung der Götter, denen das Opfer gilt, ist mit
unanstößlichem Anachronismus der von dem Kaiser wiederhergestellte
Tempel der Penaten zu Rom gewählt, wo diese als Jünglinge mit Speeren
in den Händen gebildet waren. Der Vorgang selbst ist in Ritus und Typus
römischen Opfern entsprechend veranschaulicht. Gerade der Kult der
troischen Penaten, die Verherrlichung des Aeneas ward von Augustus und
seiner Zeit wie ein Unterpfand der Weltherrschaft mit besonderer Sorg-
falt gepflegt.
') Vgl. die Tafel 48 und ^49 gebotenen Proben der Reliefs der
Marcussäule.
166 HISTORISCHE KUNST DER RÖMER
TAFEL 47
STATUE EINER TRAUERNDEN BARBARIN
MARMOR. FLORENZ, LOGGIA DEI LANZL
Unter dem falschen Namen der „Thusnelda" ist die bedeutend
überlebensgroße, gut erhaltene') Statue bekannt geworden. Bereits
in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts in der Antiken-
sammlung der Familie della Valle zu Rom nachweisbar, ist sie noch
in dem nämlichen Jahrhundert in den Besitz der Medici und da-
durch später nach Florenz gelangt, wo sie in der Loggia dei Lanzi
aufgestellt, wohlverdienten Ruhm erlangt hat. Denn sie erregt so-
wohl unser künstlerisches als auch gegenständliches Interesse in
hohem Grade. Mit Recht wird in der Figur, welche in dem Ge-
sichtsausdruck weder griechischen noch römischen Typus zeigt,
eine trauernde Barbarin erkannt; da aber in Ermanglung eines
Fundberichtes die ursprüngliche Bestimmung nicht ermittelt ist, so
kann die fast allgemein gebilligte Vermutung, daß die Statue als
Personifikation eines besiegten Barbarenvolkes ein in den Anfängen
der Kaiserzeit zu Rom errichtetes Siegesdenkmal geschmückt habe,
nicht ganz sicher erwiesen werden, und die Möglichkeit früheren
Ursprungs oder der Nachbildung eines älteren Musters aus helleni-
stischer Zeit bleibt vorerst noch bestehen. Jene Deutung freilich
wird begünstigt durch die Tatsache, daß sehr ähnliche Gestalten
neben einem gefangenen Fürsten auf dem zu Arausio, dem heutigen
Orange, in Gallia Narbonensis wahrscheinlich zur Zeit des Tiberius
errichteten Triumphbogen wiederkehren-) und Germaninnen auf der
Marcussäule zu Rom in der Tracht mit der sogenannten Thusnelda
manchen Berührungspunkt bieten^), sowie deren charakteristische
Kleidung durch die berühmte Stelle in Tacitus Germania*) wenig-
') Abgesehen von kleineren Ergänzungen ist fast der ganze rechte
lynterarm neu.
-) Ebenso auf einem zu Palermo aufbewahrten römischen Sarkophag
mit Darstellungen von Kämpfen zwischen Römern und Galliern, ferner
an dem Basament des Konstantinsbogens zu Rom.
^) Auf einem in Triest befindlichen Relief aus Kula in der Nähe von
Philadelphia in Lydien, durch welches der Inschrift zufolge Germanicus
oder der Kaiser Gaius geehrt wird, ist ein solches Frauenbild als .repfxavia'
(„Germania") bezeichnet.
'') Gap. 17: ... feminae . . . lineis amictibus velantur . . ., partemque
vestitus superioris in manicas non extendunt, nudae brachia ac lacertos;
STATUE EINER TRAUERNDEN BARBARIN
FLORENZ, LOGGIA DEI LANZI
TRAUERNDE BARBARIN 167
stens teilweise erklärt wird. So wird die Bezeichnung „Gallia de-
victa" oder „Germania devicta", wenn auch die Möglichkeit der
Darstellung einer anderen besiegten Völkerschaft zugegeben werden
muß, nach dem zurzeit vorliegenden monumentalen und literarischen
Material der Wirklichkeit am nächsten kommen ').
In ruhiger Haltung, mit beiden Fußsohlen fest auftretend, steht
eine hochgewachsene Frau von kräftiger Körperbildung vor uns;
sie ist in ihren geschlossenen Umrissen einer schlanken Säule oder
einem regelmäßig emporgewachsenen Baumstamme vergleichbar und
eignet sich in dieser Gebundenheit der Formen vortrefflich zu archi-
tektonischer Verwendung. Durch das zum Zeichen der Ruhe über-
geschlagene linke Bein und den Wechsel in der Haltung der Arme
ist sie in Verbindung mit der kontrastierenden Bewegung der Kreuz-
und Querlinien der Gewandung trotz der ruhigen Stellung überaus
lebensvoll rhythmisch bewegt. Die Kleidung besteht aus dicksohligen
Schuhen und einem die Arme sowie die linke Brust freilassenden
Leibrock mit gegürtetem Überschlag, endlich einem chlamysartigen
Mantel, der über das linke Handgelenk gelegt und, nach hinten ge-
zogen, über die linke Schulter vorfällt, sowie unter dem linken Arm
durchgesteckt, nach abwärts hängt. Bewundert wird mit Recht Hal-
tung und Ausdruck des Kopfes. Das herrliche, durch Scheitelung
mehrfach gegliederte Haar wallt in mächtigen Strähnen nach rück-
wärts tief herab, einzelne Löckchen hängen zur Andeutung der
durch den Schmerz veranlaßten Vernachlässigung der Haarpflege
in die Stirne herein. Das Haupt ist einem häufigen Typus der
Trauer entsprechend gegen den rechten, zum Kinne erhobenen Arm
geneigt, der auf die linke Hand gestützt zu denken ist. Das feine
Oval des Antlitzes zeigt in dem ernsten und festen Blick tiefe Be-
trübtheit, stille Ergebenheit in das unvermeidliche Geschick der
Besiegung, entbehrt aber nicht einer gewissen Hoheit und Würde
des vornehmen, durch die Unterwerfung ungebeugten Charakters,
(„ . . . die Weiber . . . hüllen sich in Linnen . . ., und den oberen Teil
des Gewandes verlängern sie nicht zu Ärmeln, an den Ober- und Unter-
armen nackt"; der Zusatz: sed et proxima pars pectoris patet („doch auch
der zunächstliegende Teil der Brust ist frei") bezeichnet nicht, manchen
Monumenten wie der „Thusnelda" entsprechend, die Entblößung einer
Brustseite, sondern dem Wortlaute des Textes gemäß die Nacktheit des
ganzen oberen Brustkorbs; auch diese Mode scheint sicher z. B. durch
die Tracht einer Germanin auf der Marcussäule veranschaulicht zu sein.
Die Enthüllung einer Brustseite kann auch allgemein das Motiv der Trauer
darstellen.
') Die erwägenswerte Deutung auf eine nichtgriechische Heroine der
Tragödie, etwa auf Medea, die als architektonischer oder dekorativer Schmuck
ein römisches Theater geziert hat, läßt sich schon infolge der Unkenntnis
über die ehemalige Verwendung des Standbilds nicht begründen.
168 HISTORISCHE KUNST DER ROMER
der dem Sieger Achtung geboten haben wird und uns heute noch
mächtig ergreift, je länger der Blick auf dem Bilde stiller und edler
Trauer ruht.
Die ganze Statue wäre, wenn sie wirklich ein römisches Original-
werk vorstellte, ein beachtenswerter Beweis für die Leistungsfähig-
keit der römischen Triumphalkunst. Indes das Vorbild derselben
läßt sich mindestens bis in die erste Hälfte des vierten Jahrhun-
derts V. Chr. zurückverfolgen und zeigt an einem klaren Beispiele
den lange wirksamen Einfluß der Tradition eines Typus. Denn
auf attischen Grabdenkmälern und, von diesen entlehnt, auf dem
berühmten Sarkophag der „Klagefrauen" aus Sidon in Konstanti-
nopel kehrt die Gestalt der trauernden Frau in fast völlig gleicher
Form wieder. In der hellenistischen Epoche, vielleicht in Per-
gamon, wird das Urbild zur Darstellung der Personifikation unter-
worfener nichtgriechischer Nationen verwendet und umgestaltet
worden sein, um zur Zeit der Römer griechischen oder unter grie-
chischem Einflüsse arbeitenden einheimischen Künstlern bei der
statuarischen Ausschmückung von Siegesdenkmälern über barba-
rische Völker als Muster zu dienen.
TAFEL 48 und 49
RELIEFS DER MARCUS-SÄULE ZU ROM
PIAZZA COLONNA.
Noch heute stehen in Rom zwei mächtige Säulen aufrecht,
die von einem erzählenden Reliefbande spiralförmig umschlungen
sind. Beide beziehen sich auf die Kämpfe römischer Kaiser mit
den kräftigen Völkern, welche das Reich von Norden, von der
Donau her, bedrohten. Künstlerisch bedeutender ist die Säule
Trajans, welche die Siege dieses Kaisers über die Daker feiert;
aber gegenständlich wichtiger für uns Deutsche ist die des Kaisers
Marcus, welche den Kämpfen mit den vorwiegend germanischen
Völkern an der mittleren Donau, dem sog. Markomannenkriege, gilt.
Aus der langen Serie der Bilder dieser Marcussäule sind hier
vier Proben auf zwei Tafeln vereinigt.
1. Das Regenwunder im Quadenlande. Dieses Bild
fällt in den Anfang der langen Reihe. Es ist berühmt, und die
hier dargestellte Szene wird auch in unserer sonst so kümmer-
RELIEF DER MARCUS-SAULE 169
liehen Überlieferung über den Markomannenkrieg eingehender er-
wähnt. Das zuverlässig überlieferte Datum der Begebenheit ist
das Jahr 174 n. Chr., woran man mit Unrecht hat rütteln wollen.
Es sind somit die Ereignisse des Jahres 174, mit welchen die Säule
beginnt. Ihren Endpunkt aber bezeichnet, wie aus verschiedenen
Umständen mit Sicherheit hervorgeht, der vorläufige Abschluß des
Krieges 175. Die Errichtung der Säule ist höchstwahrscheinlich
schon bei dem Triumphe, den Kaiser Marcus 176 über die Ger-
manen und Sarmaten feierte, beschlossen und ihr Bilderschmuck
entworfen worden.
Das „Regenwunder" von 174 ereignete sich nach der Über-
lieferung (bei Dio Cassius 71, 8 ff.) in folgender Weise: Die Römer
rückten im Lande der Quaden vor, wurden von den Feinden um-
zingelt, vom Wasser abgeschnitten und litten in der Hitze unter
entsetzlichem Durste. Da bricht ein gewaltiges Gewitter los, das
den Feinden nur Schaden, den Römern nur Nutzen bringt und sie
aus der Gefahr der Vernichtung befreit; sie erfechten einen glän-
zenden Sieg. Der Kaiser schreibt an den Senat, daß er kein Be-
denken getragen habe, da die unverhoffte Hilfe eine göttliche —
dies bestimmte der Kaiser nicht näher — gewesen sei, auch ohne
vorherige Genehmigung des Senats die siebente Imperatorenakkla-
mation seitens des Heeres anzunehmen. Das Relief der Säule
stellt nicht einen helfenden Gott, sondern nur die Naturerscheinung
selbst, das mit gewaltigem Platzregen verbundene Gewitter, personi-
fiziert dar, wobei als Grundlage der Typus des als Gott gedachten
Regenwindes, des Notus, diente'), von diesem stammen die Flügel;
mit der Personifikation ist in geschickter Weise die natürliche
Darstellung des Regens selbst verbunden, der in Strömen von Haar,
Bart und Armen herniederwallt. Notus ist rings vom Naß derart
umflossen, daß die ganze Gestalt sich in Wasser aufzulösen scheint.
Unten sieht man versinkende Rosse und tote Quaden, links einige
') Ovid Metamorphosen I, 264fF.:
(Juppiter) emittitque Notum, madidis Notus evolat alis,
Terribilem picea tectus caligine vultum :
Barba gravis nimbis, canis fluit unda capillis.
Fronte sedent nebulae, rorant pennaeque sinusque
Utque manu lata pendentia nubila pressit,
Fit fragor, inclusi funduntur ab aethere nimbi.
„Notus allein wird gesandt: und mit triefenden Schwingen entfleugt er,
Sein scheusäliges Haupt pechschwarz in Dunkel gehüllet;
Schwarz von Güssen der Bart, den greisenden Haaren entströmt Flut;
Nebel umlagern die Stirn, ihm taut's von Gefieder und Busen;
Und wie in breiter Hand abhängende Wolken er drückte,
Donnert es; dicht nun stürzen die Regenschauer vom Äther."
170 HISTORISCHE KUNST DER ROMER
der geretteten Römer. „In engen Felstälern ringen die Pferde noch
mit dem Wasserschwall und bereits gewaltsam niedergeworfen vom
Unwetter sind die Feinde; das Ganze ist ein mitleiderregendes
Bild der furchtbaren Wirkung elementarer Gewalt." Die Figuren
rechts gehören zu der folgenden Szene.
Mit Unrecht hat man neuerdings einen Gegensatz zwischen
der Überlieferung und dem Säulenrelief gesehen oder gar gemeint,
die Überlieferung sei nur aus Mißverständnis der Säule entsprungen.
Allein sicher ist, daß sowohl heidnische als christliche Legende
sich sofort an jenen oben nach der ältesten Tradition und der Säule
berichteten Vorgang angeschlossen hat. Die Christen eigneten das
anerkannte, gerade biblisch anmutende Wunder sich und dem von
ihnen angebeteten Gotte zu; sie erkannten in dem Gebete christ-
licher Soldaten die Ursache des Wunders. Die heidnische Version
führt den Regen, durch den das römische Heer von peinigendem
Durste erlöst wird, entweder allgemein auf göttliches Eingreifen oder
auf die magischen Künste eines den Kaiser begleitenden Ägypters
beziehungsweise Chaldäers oder auch auf des Herrschers Gebet
zurück.
2. Hinrichtung germanischer Edlen. Sechs Männer
werden durchs Schwert gerichtet. Ihre Hände sind auf dem Rücken
zusammengebunden. Die Häupter zweier liegen schon am Boden.
Auch die Männer, welche die Exekution vollstrecken, sind ihrem
Typus nach Germanen. Im Hintergrunde römische Reiter, welche
den Richtplatz umstellt haben. Wahrscheinlich ist die Bestrafung
aufständischer Germanen gemeint. Die den Römern treu geblie-
benen deutschen Stammesgenossen müssen die Exekution ausführen.
Der germanische Typus ist hier deutlich ausgeprägt in den edeln,
schmalen, hohen Gesichtern mit den langen Barten. Die Tracht
der Germanen besteht hier wie immer auf der Säule aus engen
Hosen, die aber häufig das einzige Kleidungsstück sind; dazu tritt
oft ein kurzer Rock und ein auf der Schulter festgestecktes Sagum.
3. Römische Reiterei jagt berittene Sarmaten in
die Flucht. Die Hauptgegner der Römer in diesem Kriege waren
neben den Germanen die die Theißebene bewohnenden Sarmaten.
Sie werden von den Germanen sehr verschieden gebildet. Sie sind
ein flinkes Reitervolk von aufgeregtem, leidenschaftlichem Wesen,
aber niedrigen, servilen Manieren; die Köpfe haben einen unedlen
Typus mit tief eingesenkter Nasenwurzel ; der Bart läßt die Wangen
größtenteils frei, ist aber vom Kinn aus stark und lang. Sie tragen
außer den Hosen immer den Rock und zuweilen das Sagum dar-
über. Ihre Waffe ist die Wurflanze. Auf diesem Bilde sind sie
in eiligster Flucht begriffen. Einer ist vom Pferde gefallen, das
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RELIEFS DER MARCUS-SAULE 171
allein weiter rennt; er wird von einem Römer niedergestoßen. —
Mit Unrecht hat man in diesem Typus auch Slaven zu erkennen
geglaubt.
4. G ermanis che r Für s t gefangen abgeführt. Links
oben ist eine hochgelegene Burg angedeutet. Zwei römische Sol-
daten führen zwei germanische Männer gefesselt den Bergweg her-
unter. Der vordere von ihnen ist vom Künstler besonders sorg-
fältig ausgeführt; es ist der schönste, edelste Germanenkopf auf
der Säule. Man darf in ihm den König Ariogaesus vermuten, auf
dessen Einbringung Kaiser Marcus einen hohen Preis gesetzt hatte
(Dio Cassius 71, 14). Ein dritter römischer Soldat treibt die ge-
fangenen zwei Söhne des Fürsten vor sich her. Die Bruchstücke
von Darstellungen links und rechts betreffen diese Szene nicht
unmittelbar.
Der germanische und der sarmatische Typus sind auf der Säule
immer deutlich geschieden. Daneben kommen nebensächlich noch
einige andere Völkertypen vor, wie die keltischen Cotini.
Von den römischen Soldaten tragen die Legionare den seit
Trajan eingeführten Streifenpanzer, die Auxiliar-Kohorten und die
Reiterei das Kettenhemd.
Die Figuren sind (wie auch schon an der Trajanssäule) immer
so geordnet, daß, was hintereinander gedacht ist, übereinander dar-
gestellt wird.
X. GRIECHISCHE UND ROMISCHE PORTRATS
Infolge des im Altertum
zu allen Zeiten vorhandenen
Bedürfnisses, das Andenken
der Verstorbenen durch die
plastische Ausschmückung der
Gräber den Nachkommen zu
erhalten, infolge der schon
frühzeitig weitverbreiteten Sit-
te, Bildnisse der Sterblichen
den Göttern zu weihen und der
seit dem vierten Jahrhundert
V. Chr. in stets wachsendem
Ma(3e üblichen Gepflogenheit,
verdiente Persönlichkeiten
durch Ehrenstatuen auszu-
zeichnen, hat die Porträtkunst
von den ältesten Zeiten des
griechischen Archaismus bis in
die spätrömische Kaiserzeit in
einer Mannigfaltigkeit und Vor-
trefflichkeit sich ausgebildet, daß sie den Leistungen der übrigen
Zweige antiker Kunst als gleichberechtigt an die Seite gestellt werden
muß ; bisher aber hat sie in den weiteren Kreisen der Kunstfreunde
die gebührende Beachtung noch nicht gefunden. Durch die in dieser
Sammlung gebotenen Abbildungen kann sie zwar nicht ganz voll-
ständig in ihrer historischen Entwicklung, aber wenigstens in glän-
zenden Proben insbesondere aus ihrer Blütezeit gewürdigt werden.
Freilich nur bei eingehendem Studium wird die technisch meister-
hafte Arbeit und hohe künstlerische Auffassung erkannt werden. Vor
allem gewährt es einen fesselnden Reiz, aus den Physiognomien
der Dargestellten ihren Charakter, ihre Gesinnung zu ergründen,
bei historisch oder literarisch hervorragenden Persönlichkeiten das
Aussehen mit ihren Taten und Leistungen zu vergleichen und in
Fig. 57. Altrömer. iWarmorkopf gegen
Ende der Republik
München, Glyptothek
GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS
173
Einklangzubringen.
Diese Betrachtungs-
weise erschließt bei
Anwendung der
dringend nötigen
Vorsicht eine reiche
und reine Quelle der
Belehrung.
Außerhalb des
Bereiches dieser
Skizze liegt die Be-
handlung der An-
fänge griechischer
Bildniskunst, die
mit der Entwicklung
der ältesten griech-
ischen Plastik zu-
sammenfällt; um an
die frühzeitigsten
Versuche der Wie-
dergabe mensch-
licher Gesichtszüge
zu erinnern, genügt
es, auf die in my-
kenischen Gräbern
gefundenen Masken
aus getriebenem
Goldblech, die in die zweite Hälfte des zweiten Jahrtausends v. Chr.
gesetzt werden, hinzuweisen. In viel jüngere Zeit, und zwar in
die Wende des siebenten und sechsten Jahrhunderts v. Chr.
gehört eine Anzahl nackter Gestalten, welche Jünglinge in
strammer Haltung darstellen; im Schema zwar noch ägyptischen
Vorbildern sich anschließend, sind sie doch durch die auf ge-
nauem Studium der Natur beruhende Gestaltung des mensch-
lichen Körpers und durch den lebensvollen Gesichtsausdruck von
jenen starren Erzeugnissen nichtgriechischer Kunst gewaltig unter-
schieden. Freilich hat man in der Kopfbildung Porträtähnlichkeit
noch nicht erstrebt, sondern mit der Wiederholung oder Ausge-
staltung überkommener Typen sich begnügt. Als klassisches Bei-
spiel dieses Stils gilt mit Recht der sogenannte „Apoll von
Tenea" (Tafel 1), ein Werk aus der Schule des Dipoinos und
Skyllis, das zur Erinnerung an einen Verstorbenen dereinst auf
dessen Grabe aufgestellt war. Wie im sechsten und fünften Jahr-
Fig. 58. Plato, Hermen-Büste. Rom, Vatikan
174
GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS
Fig. 59. Hellenistischer Feldherr oder Fürst
Kopf der Bronzestatue. Thermenmuseum, Rom
hundert v, Chr. die
in ihrerEntwicklung
vorwärts schreiten-
de altattische Kunst
treffliche Schöp-
fungen frischen Le-
bens, freilich ohne
individuelles Ge-
präge, hervorge-
bracht hat, das zei-
gen neben anderen
Werken die dereinst
der Göttin Athena
geweihten Frauen-
statuen, die vor
nicht allzulanger
Zeit auf der Akro-
polis zu Athen
unter der durch die
Zerstörungder Bau-
ten der Burg 480 v.
Chr. entstandenen
Schuttschicht zu-
tage gekommen sind
(Tafel 2, Fig. 1 u. 2),
das zeigt die schon
längst gefundene
und weithin bekannte Grabstele des Aristion von dem Künstler
Aristokles, ein naturgetreues Bild attischer Mannskraft und Tüchtig-
keit aus dem Ende des sechsten Jahrhunderts v. Chr.
Als die griechische Kunst im fünften Jahrhundert v. Chr. zu
ihrer Höhe gelangt war, ist in der Bildniskunst noch lange jener
Idealismus, der auf naturgetreue Nachbildung der Persönlichkeit ver-
zichtet und mit der Wiedergabe zwar künstlerisch hervorragender,
aber nur allgemeiner Formen sich begnügt, z. B. in den herrlichen
attischen Grabreliefs vorherrschend, allmählich aber auch der Nieder-
schlag der Individualitäten großer Meister in steigendem Maße erkenn-
bar. Vielbeschäftigt und hochberühmt war der Erzgießer Kresilas
(zweite Hälfte des fünften Jahrhunderts v. Chr.). Für dessen Bedeu-
tung bietet die Kopie des Kopfes seiner Statue des P e r i k 1 e s (Tafel 50)
eine glänzende monumentale Bestätigung. In ihr ist nach Abstreifung
aller unwesentlichen Einzelheiten der äußeren Erscheinung der xaXöq
xdyaö'oc ävi'p, der feingebildete Weltmann in vollendeter Form ver-
GRIECH. UND ROM. PORTRATS
175
anschaulicht. Kre-
silas hat also auf
genaue Wiedergabe
des Individuums
verzichtet und sehr
stark idealisierte
Porträts geschaffen.
Im Gegensatz zu
ihm stand der etwas
jüngere attische
Erzgießer Deme-
trios, der gemäß der
literarischen Über-
lieferung zuerst die
Wirklichkeit mit
ausgeprägtem Rea-
lismus veranschau-
lichte und daherden
Beinamen „dvltpco-
TTO-Toiö:;, Menschen-
bildner", erhielt.
Leider hat man von
seiner Kunstart aus
Monumenten eine
genaue Vorstellung
noch nichtgewinnen
können. In den
ruhigen, vornehmen Formen attischer Kunst der letzten Jahrzehnte
des fünften Jahrhunderts ist der ehrwürdige Greis Homer (Fig. 72)
gebildet. Von der Eigenart des Atheners Silanion, der um die Mitte
des vierten vorchristlichen Jahrhunderts tätig war, gewährt die in
Nachbildungen erhaltene Büste des Philosophen Plato einen deutlichen
Begriff ( Fig. 58) : Einfache, fast etwas nüchterne Auffassung, schlichte,
ehrliche Naturwahrheit ohne absichtlichen Ausdruck der geistigen
Bedeutung schauen aus den auf ihn oder auf Meister von ähn-
licher Kunstrichtung zurückzuführenden Bildnissen hervorragender
Persönlichkeiten entgegen (vgl. Sokrates im älteren Typus Fig. 69).
Diese Richtung ist deshalb besonders wertvoll, weil sie unverfälschte
Treue vor Augen stellt: So steht das schwunglose Porträt des Plato
in starkem Kontrast zu der Vorstellung, die man aus den Schriften
des ebenso tiefgeistigen, poetisch beanlagten Philosophen wie fein
anmutigen Stilisten gewinnt. Eine weitere, in der Folgezeit überaus
wirksame Phase der Entwicklung ist unter dem Einflüsse philo-
Fig. 60. Hellenistischer Fürst, Antiochus III. von
Syrien genannt. Marmorkopf. Paris, Louvre
176
GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS
sophischer, auf die
Erforschung des
inneren Menschen
gerichteter Studien
bewirkt worden.
„Der Bildhauer soll
die Tätigkeit der
Seele in dem Bilde
zum Ausdruck brin-
gen" hat Sokrates
einem Künstler ge-
genüberbetont. Die-
se Forderung ist in
der Porträtkunst
des vierten Jahr-
hunderts V. Chr. und
der nachfolgenden
Zeit erfüllt worden.
Vor allem ist es üb-
lich gewesen, Dich-
ter und Gelehrte
zwar nach der Natur
oder naturgetreuen
Vorbildern , aber
ohne die Zufällig-
keiten der äußeren
Erscheinung so
wiederzugeben und
frei zu gestalten, wie ihre bleibende geistige Bedeutung, ihr
ethischer Gehalt in dem Andenken der Nachwelt fortlebte. Von
diesem Gesichtspunkte aus sind die erhabene, phantasievolle Ge-
stalt des Sophokles (Tafel 51), die Hermen des philosophisch
beanlagten, tiefen Denkers Euripides (Tafel 52), sowie des geist-
und gemütvollen Sokrates (Tafel 53) zu betrachten. In ähnlichem
Sinne gedacht, aber auf Grund der aus der Überlieferung gewon-
nenen Vorstellung von der Persönlichkeit aus der Phantasie völlig
frei geschaffen ist das dichterisch begeisterte Antlitz des erblin-
deten Sängers Homer (Tafel 56), eine herrliche Schöpfung aus
hellenistischer Epoche. Eine neue Richtung gab der griechischen
Bildniskunst die lysippische Schule und Zeit. Das Streben nach
Naturwahrheit, die realistische Auffassung, der verstärkte Ausdruck
innerer Gefühle und Erregungen im Antlitz sind Eigentümlichkeiten
dieses Stils, die zusammengewirkt haben, um die Statue des
Fig. 61. Büste aus grünem Basalt, Cäsar benannt,
einst im Besitz Friedrichs des Großen
Berlin, K. Museen
GRIECH. UND ROM. PORTRATS
177
Demosthenes mit
den zerrissenen und
durchfurchten Ge-
sichtszügen (Tafel 55)
zu bilden, die von je-
ner idealisierten Sta-
tue des Sophokles
gewaltig sich unter-
scheidet. Zur Zeit
Alexanders desGroßen
und der Diadochen
steht die Persönlich-
keit der Fürsten im
Vordergrunde. In ihrer
Wiedergabe haben die
Porträtisten neue Auf-
gaben erhalten und
glänzend gelöst. Nicht
mehr der geistvolle
Ausdruck der Gesich-
ter, wie bei den Dich-
tern und Gelehrten,
fesselt in erster Linie
das Auge des Be-
trachters, sondern das
historische Interesse
an den einzelnen
Physiognomien dieser
kraftvollen, zum Herr-
schen wie geborenen Fürsten ist es, das beim Anblicke ihrer Bild-
nisse in hohem Maße erregt wird (Fig. 59). Eine Vorstufe dieser
Entwicklung ist in dem Kopfe des jugendlichen, feurig schwung-
vollen Alexander (Tafel 54) veranschaulicht: ein größerer Gegen-
satz als der zwischen der vornehmen Ruhe des Perikles und der
vorwärtsstürmenden Entschlossenheit Alexanders ist kaum denk-
bar. Und dieser gewaltige Unterschied wird auch veranschaulicht
durch die Einzelköpfe vom sidonischen Sarkophag (vgl. Fig. 38 und 43),
insoweit sie nicht rein ideal gebildet sind. Zurückgehaltene Ener-
gie, nüchterne Denkungsart, abgeklärte Ruhe und Besonnenheit sind
auf dem vornehm würdevollen Antlitz eines schon durch das Lebens-
alter an Erfahrung ausgereiften Königs (Fig. 60) in harmonischer
Vollendung ausgeprägt; es wird auf den mächtigen Gegner Roms,
Antiochus III. von Syrien, gedeutet.
Fig. 62. Terrakottakopf eines Altrömers, wohl
aus der zweiten Hälfte des ersten vorchristlichen
Jahrhunderts. Boston, Museum of Fine Arts
Denkmäler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl.
178
GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS
Die hellenistische
Porträtkunst hat auf
römischem Boden eine
unmittelbare Weiterent-
wicklung nicht erfahren.
Vielmehr trat der grie-
chischen Kunst bei
ihrem Übergange nach
Rom eine verhältnis-
mäßig durchgebildete,
auf lokaler Tradition
gegründete, spezifisch
italische Porträtkunst
entgegen, die uns heute
noch in erster Linie
durch die zahlreich er-
haltenen etruskischen
Bildnisse vergegen-
wärtigt wird und für die
rücksichtslose Nach-
ahmung der Natur in
ihrer unverfälschten Ur-
wüchsigkeit ohne jeg-
liche Verfeinerung maß-
gebend war. Freilich
die überwiegende Mehr-
zahl römischer Bildnisse
stellt sich bereits als das
Ergebnis der Vereini-
gung einheimischer,
schon bedeutend vorgeschrittener Kunstübung und des namentlich
in der künstlerischen Auffassung und Technik sich offenbarenden
griechischen Einflusses dar. Als eines der ältesten Denkmäler dieser
Gattung, dessen genaue Datierung bisher leider nicht gelungen ist,
gilt wohl mit Recht der bärtige Bronzekopf des Konservatoren-
palastes zu Rom (Tafel 57), in dem der Typus des alten Repu-
blikaners in verhältnismäßig reiner Form wiedergegeben ist. Ver-
schieden von diesem stilistisch bis jetzt alleinstehenden Werke ist
eine ziemlich große Reihe von Porträtbüsten unbärtiger Römer aus
dem ersten vorchristlichen Jahrhundert bis in die Anfänge der
Kaiserzeit, in denen die herbe Realistik des Aussehens infolge des
künstlerischen Verdienstes zwar meistens gemildert erscheint, aber
das nationale Gepräge des civis Romanus von echtem Schrot und
Fig. 63. Marmorkopf der jüngeren Agrippina,
der Gemahlin des Claudius und Mutter des
Nero, mit dem psychologisch merkwürdigen,
künstlerisch meisterhaften Ausdruck weh-
muts- und entsagungsvoller Trauer.
Kopenhagen, Glyptothek Ny-Carlsberg
GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS
179
Korn, seineEinfach-
heit und Tüchtig-
keit, sein prakti-
scher Verstand, sei-
ne gewaltigeEnergie
unverfälscht zum
Ausdruck kommen
(vgl. Tafel 60: „Rö-
mischer Bürger
m i t der T oga be-
kleidet", ferner
Fig. 57, das Grab-
relief mit der Grup-
pe eines römischen
Ehepaars imBüsten-
Zimmer des Vati-
kanischen Muse-
ums, die „Marius"
benannten Köpfe im
Museo Chiaramonti
ebenda usw.). Von
diesen meisterhaf-
ten Charakterbil-
dern echtrömischen
Wesens scheidet
sich eine kleine
Gruppe von Bildnissen etwa der nämlichen Epoche aus, die andere
Physiognomien zeigen. Es sind dies jene intelligenten und geist-
reichen, oft eines gewissen sarkastischen Zuges nicht entbehrenden
Gesichter, die durch die griechische Bildung, insbesondere durch das
Studium der griechischen Philosophie verfeinert erscheinen. Ausge-
zeichnete Beispiele dieses Volkstypus sind dieCicero,Cäsar, Marc An-
ton u.a.m. benannten Köpfe (Fig. 61). Aus der Büste des Agrippa
(Tafel 57) ist jene geistige Durchbildung nur in geringerem Grade zu
erkennen, da in seinem Antlitze der Typus des alten Römers überwiegt
und die Gesichtszüge in lebhafter, pathetischer Erregung wiedergege-
ben sind. Vollendete Harmonie von körperlicher Kraft und innerer
Bildung, von Charakter und Geist bringt der wundervolle Terrakotta-
kopf (Fig. 62) zur Geltung. In Material und Technik an heimische
Tradition anknüpfend, in pathetischer Auffassung und künstlerischer
Gestaltung vom Hellenismus beeinflußt, erregt er durch packende
Naturwahrheit und Lebendigkeit beim ersten Anblick gewaltiges
Interesse. Das Porträt des betagten, indes ungebrochenen Mannes
Fig. 64. AntoninusPius. Panzerbüste mit gefibeltem
Paludamentum. Marmor. Neapel, Museo Nazionale
12*
180
GRIECH. UND ROM. PORTRATS
scheint nach der
Wirklichkeit frei
modelliert zu sein,
ist aber durchaus
nicht kleinlich pein-
lich ausgearbeitet,
erreicht vielmehr in
klarer, bestimmter
Formengebung, die
durch die bildsame
Tonmasse begünst-
igt wird, bestmög-
lichste Ähnlichkeit
und löst glänzend
die höchste Aufgabe
der Bildniskunst
auch dadurch, daß
im Individuum der
Typus veranschau-
licht wird. Denn in
jenem unbekannten
Römer mit vornehm
stolz erhobenem
Haupte, eisernem
Willen, verhaltener
Entschlossenheit,
zielbewußtem Blick ist die plastische Verkörperung der virtus, der
nobilitas im vollsten und besten Wortsinne meisterhaft gelungen.
In der Kaiserzeit waren es vorwiegend die ungemein häufigen
Darstellungen der Kaiser und der Mitglieder ihrer Familie, welche
die römische Plastik beschäftigt haben. In der ganzen Gestalt
der Herrscher, die sowohl über das Menschliche nicht erhaben
in der Kleidung des Bürgers oder in militärischer Rüstung, als
auch in Heroisierung verewigt worden sind, galt es vor allem, die
Majestät des Imperators zur Geltung zu bringen : eine wahrhaft
fürstliche Erscheinung ist die Panzerstatue des Augustus aus
Prima Porta (Tafel 58), der in würdevoller Stellung als Feldherr
vor dem Heere eine Ansprache zu halten im Begriffe ist. Mit
dem sitzenden Nerva der Rotunde des Vatikanischen Museums,
der nach dem Vorbilde des thronenden Zeus gebildet ist, lassen
sich wenige Porträtstatuen an Wahrheit und Größe der Auffassung
vergleichen. Marc Aurel auf dem Kapitolsplatze, der hoch zu Roß
über besiegte und Gnade flehende Gegner hinwegreitend gedacht
Fig. 65. Marmorbüste des Caracalla
Berlin, K. Museen
GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS
181
ist, gilt mit Recht
als eines der groß-
artigsten Reiter-
standbilder aller
Zeiten. In das Ge-
biet des Idealen er-
hoben erscheinen
einige Statuen rö-
mischer Damen et-
wa aus der auguste-
ischen Epoche, die
in den Formen
griechischer Mei-
sterwerke des fünf-
ten und viertenjahr-
hunderts v.Chr. wie-
dergegeben sind :
die auf dem Lehn-
stuhl sitzenden
Frauen (in den Of-
fizien zu Florenz
und in mehreren
Museen Roms), die
in ihrer bequemen
Haltung Anmut und
Würde vereinigen,
sind vermutlich
Nachbildungen at-
tischer Grabsta-
tuen; die unter dem
Namen der „Herkulanenserin" bekannte, leider nicht sicher
gedeutete Statue in Dresden (Tafel 59), die vielleicht als ein in
der Heimat errichtetes Ehrenstandbild aufzufassen ist, geht in ihrem
Typus auf ein Werk praxitelischer Zeit und Richtung zurück. In
der Wiedergabe des Antlitzes der Kaiser, kaiserlichen Prinzen und
Damen (Fig. 63) hat die römische Skulptur bis in die späteste Zeit
bewundernswerte Beherrschung der Technik, höchste Meisterschaft
in der wirkungsvollen Hervorhebung des Charakters der Darge-
stellten betätigt. In der Epoche des julisch-claudischen Hauses
prägt sich bis auf Claudius in den Gesichtern meist ruhige Ge-
schlossenheit, vornehm höfischer Adel aus (Tafel 58), während von
da ab die Physiognomien mannigfach wirksam im guten und schlim-
men Sinne hervortreten, dem wechselvollen Wesen der Herrscher
Fig.66. Bronzekopf des Kaisers Maximinus Thrax
München, Antiquarium
182
GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS
gemäß, ihrer verschie-
denen Abstammung und
Herkunft entsprechend,
psychologisches Inter-
esse stets mächtig er-
regend. Als edle Er-
scheinungen allbekannt
sind Trajan, Hadrian,
Marc Aurel. Ein treffen-
des Bild des eigenen
Charakters ebenso wie
des vielfach trockenen
Bildungsniveaus der
Zeit und der damals
wohl akademisch sorg-
fältigen, doch der Ge-
nialität ermangelnden
Plastik bietet die aus-
gezeichnete Büste des
Antoninus Pius{Fig.64),
noch eindrucksvoller
durch die leichte Wen-
dung des Kopfes. Mild,
leidenschaftslos, frei-
lich recht nüchtern sind
die Züge des würdigen,
schon durch die Lebens-
jahre zur Ruhe abge-
klärten Fürsten (vgl. auch Julius Capitolinus, Kap. 2). Welche
Schaffenskraft noch in der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts
n. Chr. die römische Kunst bewahrt hat, bezeugt der treffliche
Charakterkopf des Caracalla (Fig. 65), der Inbegriff des Cäsaren-
tums in seiner schlimmsten Bedeutung. Eine gleich meisterhafte
Schöpfung ist der Kopf des Maximinus Thrax (Fig. 66). Durch
den Lorbeerkranz wird er als Herrscher gekennzeichnet. Er
stammte wohl aus der Gegend nördlich von Thrakien, von der
unteren Donau, der Sohn eines Goten und einer Alanin; er war
der erste Germane auf dem römischen Kaiserthron, hervorragend
durch Riesengröße und Riesenstärke. In seiner unverfälschten
Naturwahrheit ist das Bildnis von ganz gewaltig wirksamer Kraft.
Fast möchte man in den derb ausgeprägten, aber ehrlich biederen
Zügen , in dem schlichten, geraden Wesen echte Germanenart
wiedererkennen. Maximinus Thrax, der schon ziemlich gealtert
Fig. 67. Marmorkopf einer Römerin. Wende
des zweiten und dritten Jahrhunderts n. Chr.
Kopenhagen, Glyptothek Ny-Carlsberg
PERIKLES 183
erscheint, schaut uns wie lebendig an. „Der geradeaus gerichtete
Blick aus den großen , weit oPFenen Augen, ernst, streng und
sorgenvoll zugleich, dient der Charakteristik der Person in eminen-
tem Maße ebenso wie der böse, nach der Seite gerichtete Blick
beim Porträt des Caracalla". Auch unter den Frauenbildnissen hat
gerade diese Spätzeit in den Plautilla, Julia Domna benannten
Köpfen reizvolle Porträts geschaffen; zu diesem Kreise und dem-
gemäß um die Wende des zweiten und dritten Jahrhunderts n. Chr.
gehört nach der Haartracht und dem Stile das lebensfrische Bild
einer vornehmen Römerin von unsicherer Deutung (Fig. 67), worin
der unwiderstehlich bannende Zauber jugendlicher Weiblichkeit in
feinen und zarten Formen sich ausprägt, so daß jedes empfäng-
liche Auge immer von neuem gefesselt wird.
TAFEL 50
PERIKLES
HERMENBÜSTE AUS MARMOR. LONDON, BRITISH MUSEUM.
Diese nur wenig verletzte Herme, die gute Kopie eines grie-
chischen Werkes des fünften Jahrhunderts v. Chr., ist im Jahre
1781 unter den Trümmern einer südöstlich von Tivoli gelegenen
antiken Villa gefunden worden und kam später in das British Mu-
seum. Daß Perikles dargestellt ist, sagt die antike griechische In-
schrift ') unten am Schafte. Bei Plinius dem Alteren, naturalis
historia 34, 74, ist überliefert, daß ein Zeitgenosse des Staats-
mannes, der aus dem kretischen Kydonia stammende, in Athen
tätige Erzgießer Kresilas, dessen Bronzestatue gefertigt hat. Die
längst geäußerte Vermutung, daß dieselbe mit der von dem Perie-
geten Pausanias 1, 25 und 28 ohne Künstlerbezeichnung in der Be-
schreibung der Akropolis von Athen erwähnten, unweit der Athena
Promachos des Pheidias und in der Nähe der Propyläen aufge-
stellten identisch sei, hat kürzlich vielleicht eine Bestätigung ge-
') Der Buchstabencharakter fünrt nach dem Urteil von Epigraphikern
vielleicht in die erste Hälfte des zweiten oder gar schon in das Ende des
dritten vorchristlichen Jahrhunderts; demgemäß würde diese Nachbildung
aus griechischer Zeit stammen. Doch muß man sich bei der Unsicherheit
der Datierung derartiger Inschriften vorerst mit der Tatsache begnügen,
daß Schriftform und Arbeit der Herme jedenfalls auf eine für Kopien auf-
fällig frühe Entstehung hinweisen.
184 GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS
funden : unter den unerschöpflichen Marmortrümmern der Burg ist
das Bruchstück eines Blocks zum Vorschein gekommen, das in
zwei Zeilen die unvollständige Inschrift . . . txXeo^ | . . . iXaq etioxe
trägt; diese nun wurde freilich nicht sicher zu n8p]ixAeoc KpEc]\\aq
^TToie ergänzt '). Eine Nachbildung jenes Werkes des Kresilas ist
in der hier wiedergegebenen Marmorkopie erhalten. Denn die Be-
trachtung des fast noch ein wenig archaischen Stils führt auf die
Zeit des Künstlers, die knappe, feste Formengebung auf ein Bronze-
original, endlich läßt das Vorhandensein von Wiederholungen des-
selben Kopfes auf ein berühmtes Vorbild schließen. So hat sich
in der Tat eine zu Lebzeiten des Mannes wohl etwa zwischen 440 — 430
gearbeitete Darstellung erhalten, indes ist sie keineswegs ein Porträt
im modernen Sinne, das die Physiognomie genau wiedergibt, sondern
erscheint stark beeinflußt von der Kunstrichtung des Meisters und
bietet dem Geschmack und der Kunstübung der Zeit entsprechend
ein Idealbild, das unter Abstreifung aller Zufälligkeiten des Äußeren
den vornehmen und feingebildeten Athener vergegenwärtigt. Trotz-
dem zeigt sich in der Gesamterscheinung und in einzelnen Zügen
noch so viel Individualität, daß man daraus von dem großen Staats-
mann eine zwar phantasievolle, indes das Wesen des Perikles
allgemein charakterisierende Vorstellung gewinnen darf.
Das längliche Oval des edlen, regelmäßig gebildeten, mäßiger
Fülle nicht entbehrenden Gesichtes ist von einem kurzgeschorenen,
wohlgepflegten Vollbarte umrahmt. Unter dem hohen, ein wenig
nach rückwärts geschobenen Helm quillt üppig das Lockenhaar zu
beiden Seiten des Gesichtes hervor. Den Helm hat Perikles wahr-
scheinlich nicht, wie in der vita des Plutarch 3 berichtet ist, des-
halb auf dem Kopfe, um die von den gleichzeitigen Komikern ver-
spottete Spitzform des Schädels zu verbergen, sondern, wie andere
erhaltene Porträts von Feldherrn lehren, nur der Sitte der Zeit ge-
mäß zur Bezeichnung des Strategenamtes, das er fast fortdauernd
bekleidete und unter dem er den maßgebenden Einfluß gewann.
Die Haltung des etwas zur Seite geneigten Kopfes hat Kresilas
vielleicht im Leben an Perikles selbst als Eigentümlichkeit seiner
Erscheinung beobachtet und durch die Wiedergabe derselben in
der Statue die lebendige Vorstellung, die man von der Persönlich-
keit des großen Staatsmannes noch heutzutage aus der Büste zu ge-
') „Perikles. Kresilas ist der Verfertiger". „IleptxAROi;" steht für
„riepixXf'ouc;" und „kjxoif," für „eTioiex" nach der älteren attischen Schreib-
weise. Dem Sinne nach ist zu „riepixAeoui;" „ei)ni" zu ergänzen und wört-
lich zu übersetzen: „ich gehöre dem Perikles". Die knappe Form der Ab-
fassung ist immerhin ungewöhnlich und schon deshalb die Ergänzung
zweifelhaft.
PERIKLES
LONDON, BRITISH MUSEUM
F. BRUCKMANN A.-G.. MÜNCHEN
SOPHOKLES 185
winnen glaubt, bedeutend gesteigert'). Man erblickt einen schönen
Mann im besten Lebensalter, in voller Schaffenskraft, der auch auf
das Äußere etwas gehalten hat. Schon die leicht gewölbte Stirne und
der Einschnitt über der regelmäßig geformten Nase, die scharfum-
rissenen, geschwungenen Brauen, vor allem aber der Träger des Gei-
stigen, das tiefliegende,hochumränderte Auge offenbaren den gedanken-
reichen, besonnenen Ernst des großen Staatsmannes. Aber frisches
Leben gewinnt der Marmor durch die Bildung des Mundes. Die vollen,
breiten, fast etwas weichlichen Lippen sind ein weniggeöffnet: So glaubt
man den reichen Fluß der Worte, die dem Munde entströmen, zu ver-
nehmen. Man gedenkt unwillkürlich des Lobes, das von den alten
Schriftstellern-) der Beredsamkeit des Perikles gespendet worden
ist, und erinnert sich der herrlichen Leichenrede auf die im ersten
Jahre des Peloponnesischen Krieges Gefallenen'). Wenn man aber
den Gesamteindruck, den die Büste macht, festhält, versteht man
wohl, wie der Staatsmann in der Volksversammlung die leiden-
schaftlichen und aufbrausenden Massen gelenkt hat, bei aller Volks-
tümlichkeit unerschütterlich fest und bestimmt, den Angriffen der
Feinde mit kalter Ruhe entgegnend '). Hoheit und Kraft, ruhiger
und klarer Verstand , feine geistige Bildung, Milde und heiterer
Friede sind in wunderbarer Harmonie auf den Gesichtszügen aus-
gebreitet. Der Beiname des Olympiers, dessen die Bronzestatue
ebenso wie der Dargestellte selbst im Altertum gewürdigt worden
ist, behauptet in dem Abglanze der Marmorkopie volle Geltung.
Auf diesem vornehmen Antlitz zu ruhen wird das Auge nicht müde.
TAFEL 51
SOPHOKLES
MARMORSTATUE. ROM, LATERANISCHES MUSEUM.
Die Zierde der Sammlung des Lateranischen Palastes ist dieses
etwas überlebensgroße Standbild, das 1839 in dem heutigen Ter-
') Freilich besteht auch die Möglichkeit, daß durch die uns nicht
überlieferte Situation der Statue, etwa in der Auffassung eines Redners,
die seitliche Neigung des Hauptes gegeben war und von dem Kopisten
in der Herme beibehalten worden ist.
-) Eupolis und aus ihm z. B. Cicero Brutus 9, 38. Vgl. Comicorum
Atticorum fragmenta ed. Kock I. 281, 94 und III. 718, 94.
^) Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges 2, 35 ff.
•») Vgl. Thukydides a. a. O. 2, 65, 8, Piutarch Perikles 5.
186 GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS
racina, der alten Volskerstadt Anxur '), ans Licht gekommen und
von der dort ansässigen Familie Antonelli dem Papste Gregor XVI.
zum Geschenke gemacht worden ist. Mehrfach gebrochen, aber
im wesentlichen glücklich erhalten, ist das treffliche Kunstwerk
von dem Bildhauer Tenerani nach antiken Mustern ergänzt worden -).
Die Deutung ist durch eine kleine Marmorbüste des Vatikans ge-
geben, auf welcher der Name des Dichters in griechischer Inschrift
zum Teil zu lesen ist. Da des Sophokles Sohn, lophon, seinem
Vater nach dessen Tode eine Statue hat errichten lassen ^), war
der Nachwelt wohl ein getreues Abbild des großen Dichters über-
liefert. Daß in der lateranischen Statue eine Nachbildung dieses
Werkes zu erkennen ist, scheint aus stilistischen Gründen unwahr-
scheinlich ; die Beziehung auf das Erzbildnis, das von dem athenischen
Volke auf Antrag des Redners Lykurg zwischen 350 und 330 v. Chr.
dem Dichter gestiftet worden ist ^), kann in Ermanglung einer Be-
schreibung desselben nicht bewiesen werden, dem Stile und der
Komposition nach gehört das Original der lateranischen Statue etwa
in die Mitte des vierten Jahrhunderts und stammt von einem attischen,
praxitelischer Kunstart nahestehenden Meister. Da nun jenes zweite
vor aller Augen stehende, populär gewordene Werk am ehesten kopiert
wurde, ist die Rückführung sehr plausibel.
Unser Bildnis ist ein Idealporträt. In frischer Kraft männlicher
Jahre steht der Dichter da, den linken Fuß wie zum Ausschreiten
vorgesetzt und so in leichter Bewegung, durch die bequeme Haltung
der Arme aber in das richtige Maß ruhiger Stellung gebracht, eine
elastische Gestalt, die über sich selbst fast hinauszuragen scheint
und der eigenen Würde sich bewußt ist, indes bei aller Vornehm-
heit ohne Stolz und ungezwungen, das Musterbild des xaXöq xctya^oq
dvTp, des feingebildeten Weltmannes des fünften Jahrhunderts v. Chr.,
der auch auf das Äußere viel gehalten hat. Vorwiegend die zarte
Behandlung des Marmors an dem weiten, reichlich bemessenen
Mantel, der den größten Teil des Körpers bedeckt, läßt auch in
dieser ausgezeichneten Kopie die Hand eines großen Künstlers er-
kennen ; denn man zweifelt, ob die ruhiger gehaltenen Teile, an
denen die edlen Körperformen mehr durchscheinen als verhüllt
') Sie hieß auch im Altertum schon frühzeitig Tarracina.
2) Unter den bedeutenderen Ergänzungen sind vollständig erneuert
die Basis, der Schriftenkorb, die Füße.
3) Vita Sophoclis 11, abgedruckt in Sophoclis Electra edidit Otto Jahn
— Michaelis.
'') Leben der zehn Redner 841 F, womit Pausanias, Beschreibung
Griechenlands I, 21, 1 mit Recht in Verbindung gebracht wird; demgemäß
stand das Werk im Dionysostheater zu Athen.
SOPHOKLES
ROM, LATERANISCHES MUSEUM
SOPHOKLES
187
werden, oder der reiche
Wechsel in der Linien-
führung, die trotz der
rhythmischen Mannig-
fahigkeit ein einheit-
liches Bild darstellt,
größere Bewunderung
verdienen. Die mächtige
Wirkung der Statue wird
erhöht durch die Be-
trachtung des regel-
mäßig gebildeten, edel
geformten Hauptes, wel-
ches, mit einem Bande
geschmückt, etwas er-
hoben ist (Fig. 68). „Der
Ausdruck des Gesichtes,
das von wohlgepflegter
Lockenfülle des Haares
und Bartes umkränzt
wird, an dem die hohe
Stirne erhabene Weis-
heit und die feine Bil-
dung des Mundes be-
zaubemdeBeredsamkeit
ahnen lassen, ist ebenso heiter und klar als ernst und tiefgeistig;
das Seherische des Dichters bei etwas nach oben gewandtem
Blicke verbindet sich mit der verständigen Durchbildung des
reichsten und tätigsten Geistes. Dadurch ist es möglich, im An-
blicke dieses Bildes sich in den Geist des Dichters und das Ei-
gentümliche seiner vollendeten Bildung zu versenken, sich ihrer
gewissermaßen im Anblicke der Person selbst zu vergewissern"
(Welcker). So erregt das Antlitz den Eindruck der reinen Harmonie
des geistigen und leiblichen Daseins, wie sie höher kaum gedacht
werden kann, und steigert den Wert des ganzen Werkes, das mit
Recht als die schönste aus dem Altertum erhaltene Porträtstatue,
als ein für die ganze gebildete Welt schätzbares und teures Denk-
mal gepriesen wird.
Fig. 6S. Kopf der Marmorstatue des Sophokles
Rom, Lateran
188 GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS
TAFEL^52
EURIPIDES
HERMENBUSTE AUS MARMOR. NEAPEL, MUSEO NAZIONALE.
Unter den in nicht unbeträchtlicher Anzahl vorwiegend aus der
römischen Kaiserzeit erhaltenen Porträts des Euripides, die neben
literarischen Nachrichten ein monumentales Zeugnis für seine Popu-
larität in späterer Zeit abgeben, ist die hier abgebildete, bis auf die
teilweise ergänzte Nase fast unversehrt erhaltene Büste von feiner
Arbeit das beste und bedeutendste ; sie wird in ihrem Werte ge-
steigert durch die unten am Schafte angebrachte antike griechische
Inschrift, die in unregelmäßigen, aber deutlich lesbaren Buchstaben
die Person des Dargestellten nennt und so auch für andere Bild-
werke zuerst die sichere Deutung ermöglicht hat'). Bereits gegen
Ende des sechzehnten Jahrhunderts als Eigentum der römischen
Familie Farnese erwähnt, ist sie nach dem Aussterben dieses Hauses
zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts mit weltberühmten Antiken
in den Besitz des damaligen Königs von Neapel und von ihm in
das dortige Museum gelangt.
Euripides ist in reiferen Jahren, fast an der Schwelle des Greisen-
alters dargestellt, indes von der Schwäche des Alters noch nicht
berührt. Der Kopf ruht in leichter Neigung auf dem Hermen-
schafte auf, an dem das um die Schulter sich legende und auf der
linken Seite nach vorwärts herabhängende Mantelstück die Vor-
stellung einer ganzen Statue erleichtert. Von dem Wirbel hängen
nach rückwärts und in gleicher Masse nach beiden Seiten lange,
freigearbeitete Locken, die bis in den Nacken reichen, sowie Schläfe
und Ohren völlig bedecken, fast wie eine schwere Last herab, während
in die Stirne nur einzelne dünne Strähnen hineinreichen. Unmittel-
bar an das Haar schließt sich auf beiden Seiten der ziemlich lange,
nicht allzu sorgfältig gepflegte Vollbart an. Der Grundcharakter
der Züge des breiten, mageren Gesichtes ist hoher Ernst, Ge-
dankenreichtum und Gedankenschwere, die in dem gesenkten Blicke,
den tiefliegenden, hochumränderten, von geschwungenen Brauen
beschatteten Augen, der mächtigen, gewölbten Siirne, endlich den
') Die Kopie gehört in verhältnismäßig frühe Zeit, vielleicht noch in
das erste vorchristliche Jahrhundert; mit dieser Datierung scheinen Cha-
rakter und Buchstabenform der Inschrift nicht im Widerspruch zu stehen.
TAFEL 52
EURIPIDES
NEAPEL, MUSEO NAZIONALE
EURIPIDES 189
bezeichnenden Einschnitten über der Nase sich kundgeben und durch
die eingefallenen Backen mit den vorstehenden Knochen noch deut-
licher zum Ausdrucke gebracht werden. Indes ist auf dem ganzen
Gesichte Ruhe und Milde des gereiften Alters ausgebreitet, die
durch die Fülle des Haares und Neigung des Hauptes noch ver-
stärkt wird und einen vertrauenerweckenden, sympathischen Ein-
druck gewährt.
So finden die Nachrichten der Schriftsteller über das Aussehen
und den Charakter des Dichters in der Büste nur teilweise Be-
stätigung. Denn „er erschien", wie überliefert ist, „mit mürrischem
Antlitze, gedankenvoll, streng. . ."') und „hat nicht einmal beim
Weine heiter zu sein gelernt" -). Doch darf ma.n vermuten, daß
einige dieser Eigenschaften und Eigentümlichkeiten von der gleich-
zeitigen Komödie, wenn auch nicht völlig erdichtet, so doch zu
stark betont worden sind, und annehmen, daß die Gesichtszüge in
vorgeschrittenen Jahren sich abgeklärt und gemildert haben. Ein
Zusammenhang der Hermenbüste mit der Bronzestatue, die auf An-
trag des Staatsmannes Lykurg von dem athenischen Volke errichtet
worden ist-'), kann ebenso wie bei der lateranischen Statue des
Sophokles in Ermanglung einer Beschreibung derselben weder be-
wiesen noch widerlegt werden ; er erscheint aber wahrscheinlich in
Hinblick darauf, daß zahlreiche der erhaltenen Büsten auf den näm-
lichen Typus zurückgehen und daß das an berühmter Stätte er-
richtete Standbild gewiß kopiert worden ist. Jedenfalls ist das Ur-
bild der Büste, die ohne scharfe Betonung von Einzelheiten die
Persönlichkeit des Dargestellten zwar zu einem Charakterbild ver-
klärt, aber in bezeichnender Individualität ausprägt, kein etwa nach
dem Tode des Dichters aus der Phantasie frei geschaffenes Ideal-
porträt, sondern kann nur nach der Natur oder einem naturgetreuen
Muster gebildet worden sein. Besonders schätzbar ist das Bild-
werk auch darum, weil in ihm die Eigentümlichkeit der von den
Lehren der Philosophen beeinflußten, gedankenreichen, sittlich tief-
ernsten Dichtung, welcher Euripides den Namen des Philosophen
der Bühne verdankt^), eine Erklärung und Bestätigung findet, ebenso
wie die Statue des Sophokles gleichsam als Verkörperung seines
geistigen Wesens, wie es in den Tragödien zum Ausdruck kommt,
') Vita ed. Nauck vor der Teubnerschen Te\tausgabe I. Zeile 64 ff.
2) Alexander Aetolus bei Gellius, noctes Atticae 15, 20.
3) Leben der zehn Redner 841 F, womit Pausanias, Beschreibung
Griechenlands 1, 21, 1 mit Recht in Verbindung gebracht wird; demgemäß
stand das Werk im Dionysostheater zu Athen.
^) Athenaeus, Tischgespräche 158e und561a; Vitruv, dearchitectura VIII
praefatio u. a. St. m.
190 GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS
erscheint. Auch neben diesem vornehmen, erhabenen, heiteren
Standbilde, das in seiner unerreichten Vollendung unmittelbar fesselt
und mächtig begeistert, wird das Auge auf den einfacheren und
schlichteren, aber edlen und ehrwürdigen Zügen der Büste des
Euripides mit steigendem Interesse und wachsender Befriedigung
ruhen. Sie ist zugleich eine der bedeutendsten Leistungen antiker
Porträtkunst.
TAFEL 53
SOKRATES
HERMENBÜSTE AUS MARMOR. ROM, VILLA ALBANL
Diese ein wenig überlebensgroße Herme, eine zwar recht gute,
aber etwas harte Kopie wohl noch der ersten römischen Kaiser-
zeit, wurde 1735 bei dem alten Tuskulum unter den Trümmern
eines antiken römischen Landhauses gefunden, das noch heutzu-
tage ohne jede Begründung als die ehemalige Villa des Cicero be-
zeichnet wird, und kam alsbald in den Besitz des großen Kunst-
sammlers und Kunstkenners Kardinal Alessandro Albani. Abge-
sehen von dem ergänzten Schafte vortrefflich erhalten, gilt sie mit
Recht als die eigenartigste unter den zahlreich erhaltenen Büsten
des Sokrates und erregt durch die Originalität des Dargestellten
und der Darstellung wie kaum ein anderes Porträt der hervor-
ragenden Persönlichkeiten der Glanzzeit Athens das Interesse der
ganzen gebildeten Welt.
Der in leichter Neigung auf dem Schafte ruhende Kopf stellt den
großen Philosophen in reiferen Jahren dar. Der mächtige, über der ge-
falteten Stirne steil aufsteigende und in langgezogenem, flachem Bogen
sich wölbende Schädel ist größtenteils vom Haare entblößt und nur
rückwärts von leise gekräuselten Locken nicht allzu dicht bedeckt.
Unmittelbar an das Ohr schließt sich der große Vollbart an, der in ein-
zelnen, gewellten Strähnen nach abwärts fällt und überragt wird von
dem ungewöhnlich langen, im Bogen wulstartig gedrehten Schnurr-
barte. Was sofort das Auge des Betrachters auf sich zieht, ist die
hornartig gebogene, in einen dichten Knollen endigende Stumpfnase
mit den aufgeblähten Flügeln. Damit steht in Einklang die dicke
Unterlippe des leise geöffneten Mundes, sowie die brettartig auf
der Stirne aufgelagerte Fett- und Hautmasse, die, nur unterbrochen
SOKRATES
ROM, VILLA ALBANI
F. RRIJCKMANN A.-G.. MÜNCHEN
SOKRATES 191
durch den tiefen, dreieckförmigen Einschnitt über der Nase, in der
ganzen Ausdehnung des unteren Teiles der Stirne sich ausbreitet
und in den aufgequollenen Teilen über den schmalen Augen ge-
wissermaßen sich fortsetzt ; gerade durch den Gegensatz zu den
etwas eingefallenen , fast welken Backen mit den vorstehenden
Knochen wirkt sie um so bezeichnender und eigentümlicher. Es
bedarf gar nicht der inschriftlichen Beglaubigung einer Büste in
Neapel, um die Person des Dargestellten beim ersten Anblicke zu
erkennen. Denn das Bild, das von Sokrates Aussehen in der zeit-
genössischen Literatur') überliefert ist und insbesondere aus den
platonischen Dialogen in strahlendem Lichte hervorleuchtet, tritt
in der Büste lebendig vor Augen. Es ist bezeichnend für den
Wert derselben, daß man nicht lange an den silenartigen Formen
des Gesichtes Anstoß nimmt, sondern in Erkennung des geistigen
Gehaltes die Häßlichkeit vergißt, und wenn sie in Erinnerung bleibt,
') Plato, Symposion 215: v'l,"' (Alkibiades) öfxovoTaTov aütöv eivai tote
oiXqvoT^ . . . ÖTi uev oüv tö ye eifioc öf-ioiot; f:i toutoic, ch Zcoxpaiei;, oüb' avxbc civ
bqnor ctficpicßiiTiioai; („ich behaupte, er sei den Silenen sehr ähnlich . . .
daß du diesen im Aussehen ähnlich bist, Sokrates, möchtest du wohl selbst
nicht leugnen . . .").
Die Glatze ist durch Aristophanes, Wolken Vers 146 f. bezeugt, vgl.
Schol. zu Vers 146.
ci\uuc („stumpfnasig") nennt Sokrates sich selbst Theätet 209; vgl.
Xenophon, Symposion 5, 6.
E^or^O^aXiao:; („mit hervorstechenden Augen ') desgleichen Theätet a. a. O.
'OrpO^aXuoi trti-töXaiui („an der Oberfläche liegend"), wie beim Krebs, also auch
klein, Xenophon a. a. O. 5, 5. Man bezieht diese Bezeichnungen auf die
Lage der kleinen Augen weit vorn im Schädel und flach im Gesicht, wie sie
besonders z. B. in der Neapler Büste (Fig. 69) hervortreten. Auch der scherz-
hafte Vergleich im Menon 80 A mit der Narke, dem Zitterrochen, wird
zum Teil auf die winzigen Augen, die vorn auf dem scheibenartig ge-
formten Fische dicht nebeneinanderstehen, bezogen, wie auch das ganze
Gesicht beider eine drollige Ähnlichkeit dem phantasiereichen Betrachter
darbieten soll. Bei Phädon 117: Monep eicöOki latipi^böv vTToßXt'iba:; („nach-
dem er seiner Gewohnheit entsprechend ihn stier von unten angesehen
hatte") ist die dämonische Gewalt des Blicks gemeint.
Xenophon a. a. O. 5, 7: tüü ye f.iT|v OToj^iaxo:;, k(|)h o KpiTö|5oviXoi;, ti(^>ieuai.
El yt'tp TOI* Ü-HibciKVEU fc'vEXa 7IE:Jto{TlTai, -JtuXl) civ CV [.lElIüV f| E^Ct) ÜTiobäy.oic,. biü bk
TÖ Tta/Ktt k;^eiv tu /e{Xi] oux oVei y.a\ uaXaxo'jTepcn aov i^Eiv xö cpiX)^|ua; Eoixa, erpq
(Sokrates\ Eyw y.axu töv ööv Xöyov v.ai tiüv hncov aiayiov tö öT()|ua e/eiv („was
freilich den Mund anlangt," versetzte Kritobulos „so bescheide ich mich.
Denn wenn er zum Abbeißen gemacht ist, so möchtest du bei weitem ein
größeres Stück abbeißen als ich. Glaubst du aber nicht, daß, weil deine
Lippen dick sind, auch dein Kuß weicher ist?" „Nach deiner Rede scheine
ich," sagte Sokrates, ,, einen häßlicheren Mund als die Esel zu haben").
Ein Vergleich der ganzen Stelle 5, 3—7 mit der Albanischen Büste ist
interessant; fast meint man, daß jene dem Schöpfer des Originals vor
Augen schwebte, da man auch beim Anblick der Plastik an das ausführ-
liche literarische Porträt unwillkürlich sich erinnert.
192
GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS
mit der Vorstellung
von dem Wesen
des Dargestellten in
Einklang bringt.
Denn was sie über
den Typus jenes
Halbgottes gewaltig
erhebt, ist der vor-
trefflich zur Gel-
tung kommende
Ausdruck des Ant-
litzes, der ruhige,
nachdenkliche
Blick, der klare, be-
sonnene Verstand,
die milden, väter-
lichen Züge, das
einfache, edle We-
sen des Mannes,
welches unserAuge
heutzutage unwi-
derstehlich gebannt
hält und der Per-
sönlichkeit in dem
gleichzeitigen Krei-
se ihrer Freunde
und Feinde sieg-
reiche Überlegen-
heit verschafft hat.
Es ist in der Tat in
rauher Schale ein
goldener Kern oder,
wie Alkibiades bei
Plato ') sinnig und fein es ausdrückt, ein göttliches Bild in der
äußeren Hülle der Silenherme verborgen.
Das Original der Büste, die vielleicht in manchen Betrachters
Auge als ein völlig individuelles, realistisches Bildnis erscheint, ist
nicht zu Lebzeiten des Sokrates gearbeitet worden. Denn wenn
auch bereits im fünften Jahrhundert v.Chr. eine Richtung der Porträt-
kunst, welche die Wirklichkeit mit allen Zufälligkeiten wiedergibt,
durch literarische Nachrichten bezeugt ist, so lehrt doch ein Ver-
Fig. 69. Marmorbüste des Sokrates
Neapel, Museo Nazionale
•) Symposion 215 A f., vgl. auch 216 ff.
SOKRATES 193
gleich mit anderen ganz getreu oder wenigstens viel getreuer der
Natur nachgebildeten. Büsten, z. B. mit der Fig. 69 abgebildeten
des Neapolitaner Museums, daß in der Herme der Villa Albani
zum Zwecke der Schöpfung eines ausgeprägten Charakterkopfes
die literarisch und zweifellos auch monumental überlieferten Züge
zu stark betont und in dem Ausdrucke des hellenistischen Silen-
typus geradezu übertrieben worden sind. Ein Zusammenhang mit
der von den Athenern im Pompeion, einem für die Vorbereitung
der Festzüge bestimmten Gebäude, errichteten Erzstatue von der
Hand des Lysipp ') ist aus stilistischen Gründen unmöglich; das
Original des Typus der Villa Albani ist eine Schöpfung des Helle-
nismus, dem Homer vergleichbar, für eine der großen Bibliotheken
derDiadochenzeitim dritten bis zweitenjahrhundert v.Chr. entworfen.
Wenn nun auch die ebenso schlichten als durchgeistigten Züge des
großen Philosophen aus unserer Büste nicht in voller Wahrheit ent-
gegenschauen, ist doch dadurch der Wert des Werkes nur wenig
geschmälert. Denn Charakter und Geist des Dargestellten sind in
klarer und reiner Form zum Ausdruck gebracht. So ist die Auf-
gabe, die Sokrates selbst der Porträtkunst einem Künstler gegen-
über in hochbedeutender Auseinandersetzung gestellt hatte, wie durch
einen Zufall viel später gerade in seinem eigenen Bildnisse gelöst
worden: Aei tov ctYbpiavTo:JToi6v xä xv\q \\>vy^r\q epya tw ei'bei
TipoqEixaCEw -) („der Bildhauer soll die Tätigkeit der Seele in dem
Bilde zum Ausdruck bringen"). Es ist ein physiognomisches Meister-
werk geschaffen, das noch heute dämonische Gewalt ausübt.
') Zu einem Zweifel an der allein von Laertius Diogenes, Leben der
Philosophen II, 43 überlieferten Nachricht liegt kein zwingender Grund
vor. Denn wenn auch die ebenda erwähnte Bestrafung der Ankläger des
Sokrates als erdichtet gilt und die Errichtung der lysippischen Statue so-
fort nach dem Tode des Philosophen zeitlich unmöglich war, so stand
doch der späteren Ehrung seitens der Mitbürger nichts im Wege. Auch
erscheint der Aufstellungsort, ganz abgesehen von anderen in der Nähe
befindlichen Erzstatuen hervorragender Persönlichkeiten, auch deshalb ge-
eignet, weil im Pompeion selbst ein gemaltes Porträt des Redners Iso-
krates nachweisbar ist. (Pausanias, Beschreibung Griechenlands, I, 2, 4,
Leben der zehn Redner 839 C; vgl. auch Plinius der Ältere, naturalis
historia 35, 140).
2) Xenophon, Memorabilien, 3, 10, 8.
Denkmaler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl.
194 GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS
TAFEL 54
KOPF DER STATUE
ALEXANDERS DES GROSSEN')
MARMOR. MÜNCHEN, GLYPTOTHEK.
Diese etwa lebensgroße Statue, deren Fundort nicht ermittelt
ist und die schon Winckelmann als im Palazzo Rondanini zu Rom
befindlich erwähnt hat, ist eine gute Kopie aus römischer Zeit.
Trotz der Erneuerung des rechten Beines mit der Erhöhung und
der unrichtigen Ergänzung des größeren Teils der Arme-) ist die
Erhaltung glücklich zu nennen, da der fast völlig unversehrte Kopf
niemals von der Statue getrennt war. Der rückwärts als Stütze
dienende Panzer, über dem oben ein Gewand aufliegt, weist, ebenso
wie die Andeutung eines Schildes auf der Plinthe, auf die mili-
tärische Stellung der Persönlichkeit hin, falls beide nicht erst von
dem Kopisten beigefügt sind. Die seit langer Zeit gebilligte Deu-
tung der in heroischer Nacktheit gebildeten Statue auf Alexander
den Großen bleibt trotz des erhobenen Widerspruchs in voller
Geltung; sie wird durch literarische Nachrichten über das Aus-
sehen des Königs begründet und insbesondere durch die Ähnlich-
keit mit den auf Münzen des Königs Lysimachos von Thrakien
geprägten Köpfen Alexanders gestützt, konnte aber durch statua-
rische Werke bisher nicht bekräftigt werden.
Der jugendliche, etwa 20 Jahre alte Prinz hat den rechten
Fuß auf eine Erhöhung aufgesetzt, steht indes in kaum vorge-
beugter Haltung da. Die überaus kräftig entwickelten Körper-
formen sind durch starke Muskelbildung ausgezeichnet. Die ganze
Erscheinung ist im Vorgefühle jugendlicher Kraft auch in der be-
quemen Stellung fürstlich erhaben, ungezwungen vornehm. Aber
erst durch den Typus des Kopfes wird das Porträt einer außer-
ordentlichen Persönlichkeit in ihrer ganzen Bedeutung erkannt und
gewürdigt. Auf dem kräftig modellierten Halse ruht der wunder-
') Die ganze Statue ist Fig. 70 abgebildet.
2) Bei Ergänzungsversuchen hat man in Rücksicht auf die antiken,
parallel laufenden Oberarme der Figur ein Schwert so in die Hände ge-
geben, daß es quer auf dem rechten Oberschenkel liegt und die Rechte
den Schwertgritf, die Linke die Scheide faßt. Andere vermuten, daß beide
Hände am rechten Bein festangepreßt waren, um das Übermaß innerer Lei-
denschaft zu bezähmen.
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ALEXANDER DER GROSSE
195
bar schöne, in Über-
einstimmung mit
der Körperhaltung
zur rechten Seite
gewendete und et-
wasgehobene Kopf,
der durch den Zau-
ber ebenso kraft-
voller als zarter
Jugendlichkeit den
Beschauer fesselt
und begeistert. Die
üppige Lockenfülle,
die über der Mitte
der Stirne in ein-
zelnen Strähnen ge-
rade emporragt')
und Schläfe sowie
teilweise das Ohr
bedeckend, über
den Hals in edlem
Flusse herabwallt,
ist wohlgeeignet, die
großartige Schön-
heit und Erhaben-
heit des Gesichts-
ausdruckes zu stei-
gern. Das breite,
mäßig volle, bart-
lose Oval, das von
einem runden Kinn
abgeschlossen wird,
ist in ruhigen Flä-
chen ungemein re-
gelmäßig gebildet,
aber kraftvoll belebt durch die gebogene Nase; auch dringt die Stirne
nach unten vor. Der zartgebildete, leise geöffnete Mund zeigt einen
fast herben Zug, der durch den sinnenden, träumerisch in die
Ferne gerichteten Blick der von geschwungenen Brauen be-
schatteten, weitgeöffneten Augen-) mit dem aufgeschwollenen Un-
') Plutarch, vita des Pompeius cap. 2, Älian, varia historia 12, 14.
-) Über den Ausdruck der Augen vgl. auch Plutarch, vita cap. 4 und
de Alexandri Magni fortuna aut virtute II, 2.
Fig. 70. Marmorstatue Ale.vanders des Großen
München, Glyptothek
13*
196 GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS
terlide beinahe zu einem leisen Anflug von Melancholie gesteigert
erscheint. Der Kopf erweckt, von vorne gesehen, den Eindruck
bedeutender Begabung und eines nachdenklichen Charakters so-
wie einer gewissen zurückgehaltenen Energie, in der Seitenansicht
aber ist mehr die gewaltige, stolze Kraft, das vorwärts drängende,
feurige Wesen, die fast übermenschliche Schönheit und Erhaben-
heit des Dargestellten, ') trotz weiser Maßhaltung des Künstlers,
trotz ruhiger Situation der Statue zu voller Geltung und Klar-
heit gebracht. So findet die Schilderung der Persönlichkeit des
jugendlichen Prinzen, wie sie besonders in den Eingangskapiteln
der vita des Plutarch gekennzeichnet ist, seiner besonnenen,
philosophisch beanlagten und philosophischen Studien zugewandten
Natur einerseits und seines selbständigen, schwer zu leitenden
Charakters anderseits sowohl in der ganzen Gestalt, als auch ins-
besondere in der Büste Bestätigung und Bekräftigung. Zugleich
erinnert die Statue unwillkürlich an das Musterbild jugendlicher
Stärke und Schönheit, an das Vorbild des gewaltigen Ehrgeizes,
den Heldenjüngling Achill, von dem mütterlicherseits seine Ab-
stammung hergeleitet wurde -) und dem er von früher Jugend an
eine durch die Lektüre des Homer genährte glühende Verehrung
und Begeisterung entgegenbrachte. ^)
Der Schöpfer des Originals, das vor des Königs Auszug nach
Asien gefertigt ist, hat sich durch die Darstellung des jugend-
lichen Alexander als ganz hervorragenden Porträtkünstler gezeigt.
Seine Lebenszeit fällt aus stilistischen Gründen gewiß mit der
des Dargestellten zusammen, sein Name aber kann weder durch
literarische Nachrichten, noch durch kunsthistorische Erwägungen
ermittelt werden, wahrscheinlich gehört der Meister zu dem
sogenannten attischen Kreise, jedenfalls nicht zu lysippischer
Kunstrichtung^).
') 'AXeHavbpov i\ 9-ep|iiöTi\c; toü cw|LiaTO^, wc, eoixev, . . . 9-ruoeibf( TiapeT/Ev
(„den Alexander machte die Hitze des Körpers, wie es scheint, feurig")
(Plutarch, vita cap. 4), aüioü döpevcDTtöv xai XeovTcobEc; („sein mannhaftes
und löwenähnliches Wesen") (Plutarch, de Alexandri Magni fortuna aut
virtute II, 2), diipay).u'>vcoc; wpaiov yevf:a9-ai Xt:yotiön („er soll ohne Beihilfe
der Kunst ein schöner Mann gewesen sein") (Älian, varia historia 12, 14).
2) Curtius Rufus, historiae Alexandri Magni 4, 28. Plutarch, vita
cap. 2 und de Alexandri Magni fortuna aut virtute II, 2.
3) Cicero, oratio pro Archia poeta 24, Plutarch, vita cap. 5, 8, 15.
*) Neben anderen Künstlern hat man an einen jüngeren Zeitgenossen
des Praxiteles und Skopas, an Leochares, gedacht, auf den auch das
Original des Apoll vom Belvedere zurückgeführt wird. An diese Götter-
statue erinnert allerdings etwas das lockenumwallte Haar.
DEMOSTHENES 197
TAFEL 55
DEMOSTHENES
MARMORSTATUE IM BRACCIO NUOVO DES VATIKANISCHEN
MUSEUMS ZU ROM NACH DER ERGÄNZUNG DES ABGUSSES
IM GIPSMUSEUM ZU MÜNCHEN.
Unter den zahlreichen aus römischer Zeit erhaltenen Porträts
des Demosthenes nimmt dieses etwa 2 m hohe Standbild einen
hervorragenden Platz ein, da es neben einer in englischem Pri-
vatbesitze befindlichen, im Typus identischen Statue allein den
großen Redner und Staatsmann in ganzer Gestalt darstellt. Wäh-
rend der Fundort nicht ermittelt ist, weiß man bestimmt, daß das
Werk bereits 1709 in der Villa Aldobrandini zu Frascati aufgestellt
war und 1823 vom Papste Pius VII. für die Sammlung des Va-
tikans angekauft worden ist. Zwar mehrfach gebrochen, ließ sich
die Statue aus den einzelnen Teilen im wesentlichen sicher wieder-
herstellen. Daß Demosthenes dargestellt ist, wird durch eine seit
langer Zeit im Museum von Neapel befindliche kleine Erzbüste
aus Herculaneum bewiesen, auf deren Brust der Name in grie-
chischer Schrift zu lesen ist. Die vielfach erörterte Frage, ob
die vatikanische Statue ein Nachbildung der Bronzestatue ist,
welche die Athener ihrem großen Mitbürger gemäß des Antrages
seines Neffen Demochares 280/79 auf dem Marktplatze der Stadt
errichtet haben und welche der Erzgießer Polyeuktos gefertigt
hat '), ist vor zehn Jahren in ein neues Stadium getreten. Denn
damals sind zu Rom in der Nähe des Palazzo Barberini unter
einer Anzahl von Marmorfragmenten ein rechter, mit Sandale
bekleideter Fuß und zwei herabhängende, fest ineinandergeschlos-
sene Hände zutage gekommen, die zu einer dritten Replik ge-
rechnet werden, da in jener Statue des Polyeuktos die Hände
zum Zeichen innerer Erregung in gleicher Weise gefaltet waren').
So können jetzt auch die Vorderarme der beiden fast vollständig
erhaltenen Standbilder sicher wiederhergestellt werden und deren
Rückführung auf den Erzgießer Polyeuktos ist zur Gewißheit ge-
bracht, da ihr Urbild dem Kunststile nach sehr wohl in die erste
') Leben der zehn Redner 847 A und D, Plutarch, Demosthenes 30,
Pausanias, Beschreibung Griechenlands 1, 8, 2 u. a. St. m.
-) Plutarch a. a. O. 31 KmiixK tov^ baxTÜXov;; avxt/oiv bi' dXXt|\o)v
<nämlich Demosthenes).
198
GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS
Hälfte des dritten Jahr-
hunderts gehören kann
und an einer so be-
rühmten Stätte aufge-
stellt, sicher kopiert
worden ist. Die For-
mengebung der Bronze
prägt sich in der aus-
gezeichneten Replikdes
Kopfes (Fig. 71) beson-
ders deutlich aus.
Einfach und schlicht
steht Demosthenes da,
indem er von den mit
Sandalen bekleideten
Füßen den linken als
Hauptträger der Körper-
last fest aufgestützt, den
rechten ein wenig vor-
gesetzt und zur Seite
gestellt hat, bekleidet
mit dem knapp zuge-
messenen Mantel, des-
sen Falten in einfachen,
langgezogenen Linien
verlaufen und der den
größeren Teil der
schmalen Brust und die mageren Arme freiläßt, so daß der
schwächliche Körper sichtbar wird'). Mit der ganzen Gestalt steht
die Bildung des Kopfes, der von kurzgeschorenem Barte und
ziemlich kurzgehaltenen Locken umrahmt ist, in vollem Einklänge.
Demosthenes tritt dem Beschauer als ein Mann entgegen, der die
besten Jahre überschritten hat und nicht allzuweit von der Grenze
seines Lebens entfernt ist. Das ernst sinnende, mürrische und
verbitterte Gesicht mit der hohen, faltenreichen Stirne und den
ciefliegenden, von Brauen beschatteten Augen trägt, von Furchen
durchzogen, die Spuren eines arbeits- und kampfesreichen Lebens,
scheint fast auch die düstere Furcht für die Zukunft des Vater-
landes ahnen zu lassen, offenbart aber zugleich in seinen Zügen
die unerschütterliche Überzeugungstreue und beharrliche, in hartem
Fig. 7L Demosthenes. Marmorkopf
Kopenhagen, Glyptothek Ny-Carlsberg
(Büste modern)
') Vornehm elegant ist dagegen das Himation an der lateranensischen
Statue des Sophokles (Tafel 51) um den Körper gelegt.
DEMOSTHENES
ROM, VATIKANISCHES MUSEUM. NACH DER ER-
GÄNZUNG IM MÜNCHNER GIPSMUSEUM
F. BRUCKMANN A.-G, MÜNCHEN
HOMER 199
Kampfe gestählte Willenskraft, Die verschränkten Hände, wie sie
jetzt statt der Schriftenrolle in der Ergänzung beigefügt sind, ver-
stärken den Eindruck inneren Kummers, verhaltener Resignation
und lassen zugleich die ganze Gestalt in fest umschlossenen Um-
rissen um so ergreifenderwirken. Die berühmten Verse:
Ei'^tep iöt\\ Yvcü,ui\ 6c6,ur|v, Ati|Uöo&eve^, ei/zc, '),
ouTiox' UV 'EWqvcDv i^p^Ev "Apqj; Maxebcov
(„wäre, Demosthenes, dir, wie der Geist, so die Macht auch geworden,
nie makedonischem Schwert hätte sich Hellas gebeugt"),
welche die Athener unter jenes auf dem Markte zu Athen auf-
gestellte Standbild des Demosthenes als treffliche Zusammen-
fassung des Ergebnisses seines Lebens und Strebens gesetzt haben,
finden in der Kopie offenbare Bestätigung. Das Vorbild eines so
bezeichneten Bildnisses muß, wenn es auch erst 42 Jahre nach
dem Tode des Redners errichtet worden ist, doch sicherlich nach
einem lebensgetreuen Muster gefertigt sein. Denn man fühlt im
Anblicke der Statue, daß Demosthenes mit seiner schwachen Na-
tur hat ringen müssen; man hat sogar an dem Munde mit der
zurückgezogenen Unterlippe eine Andeutung seines Sprachfehlers
finden wollen, gewinnt aber zugleich aus der ganzen Erscheinung
eine Bestätigung und Befestigung des mächtigen Eindrucks, den
die Lektüre der Reden des großen Staatsmannes von seinen
Charaktereigenschaften und seiner öffentlichen Tätigkeit hinterläßt,
und dadurch wird der hohe Wert der überaus eindrucksvollen
Porträtstatue noch gesteigert.
TAFEL 56
HOMER
MARMORHERME. SCHWERIN, GROSSH. BIBLIOTHEK.
'" ^ Durch zahlreiche römische Kopien kennen wir eine bedeutende
Schöpfung der spätgriechischen Kunst und zwar der hellenistischen
Zeit, welche mit Zuversicht als eine Darstellung Homers betrach-
tet werden darf. Zwar fehlt leider ein inschriftliches Zeugnis da-
für, allein die unzweifelhaft angedeutete Blindheit, die Greisen-
haftigkeit, der würdige Charakter des Kopfes mit dem Reif in dem
lockigen Haar, und vor allem der deutliche Ausdruck dichterischen
') Plutarch, Demosthenes 30 u. a. St. m.
200 GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS
Schauens lassen die Erklärung des Kopfes als Homer als die einzig
zutreffende und demnach hinlänglich gesicherte erscheinen.
Unter diesen verschiedenen Kopien ist die hier wiedergegebene
eine zwar wenig bekannte, aber durch die fast vollständige Erhaltung
und die Arbeit hervorragend gute, ja zur Vergegenwärtigung des
Ganzen von allen am besten geeignete. Einige Einzelheiten mögen
an diesem oder jenem anderen Exemplare besser und treuer kopiert
sein, das Ganze gibt sie am vorzüglichsten wieder.
Die Herme wurde 1868 bei Terracina gefunden und befindet
sich jetzt in der Großherzogl. Bibliothek zu Schwerin. Der Kopf
sitzt ungebrochen auf der antiken Herme auf, so daß hier dessen
richtige Haltung geboten wird, was z. B. bei den bekannten Exem-
plaren in Sanssouci und dem Farnesischen in Neapel nicht der Fall
ist, die überdies auch sonst viel schlechter erhalten, mehr erneuert
und von geringerer Arbeit sind. An der Schweriner Herme ist die
vordere Hälfte der Nase die einzig nennenswerte Ergänzung.
Mit demjenigen Realismus, den die griechische Kunst erst in
der Zeit nach Alexander erreichte, ist ein blinder Greis dargestellt.
Sowohl das Greisenalter wie die Blindheit sind gleich meister-
haft zum Ausdruck gekommen. Die verfallene, welke Haut mit
ihren virtuos wiedergegebenen zahlreichen Falten und Runzeln,
sowie die Haarbekleidung des Kopfes, wo die Reste der einstigen
Lockenfülle nach vorn gekämmt sind, ohne daß dadurch die Kahl-
heit über der Stirne bedeckt würde, sind die Anzeichen des Greisen-
alters, während die Blindheit in der besonderen Bildung der Augen
angedeutet ist. Die Augäpfel sind wie verkümmert, zusammen-
geschrumpft, in auffallender Kleinheit und tief in die Augenhöhlen
zurückgesunken gebildet, deren Fettpolster völlig geschwunden er-
scheint. Überdies ist auch die Lidspalte ganz klein, indem das
obere Lid sich schwer über den Augapfel legt. Dies alles hat die
Wirkung, uns den erloschenen, leeren Blick eines blinden Auges
zu vergegenwärtigen. Dazu kommt noch die Stellung der Augen-
brauen ; ihr innerer, der Nase zugewendeter Teil ist stark nach
unten gezogen, um den Augapfel zu beschatten ; damit im Zusammen-
hange stehen die vertikalen Falten der Stirne über der Nase. Es
ist von augenärztlicher Seite nachgewiesen worden, daß die Ver-
kleinerung der Augäpfel, sowie eben diese Stellung der Brauen
und Stirnfalten den Erblindungsformen eigen ist, welche aus einer
Erkrankung der vorderen Augapfelhälfte hervorgehen, solange noch
eine Spur von Lichtempfindung vorhanden ist. Dagegen ist nun
aber die gehobene Haltung des Kopfes und das Emporschauen,
das durch die im Gegensatze zu der inneren stark emporgezogene
äußere Hälfte der Brauen angedeutet ist, und durch welches auch
HOMER
SCHWERIN, GROSSHERZOGLICHE BIBLIOTHEK
F. BRUCKMANN A.-G., MUNCHE^4
HOMER
201
die bogenförmigen
Stirnfalten bedingt
werden, gar nicht in
der Art jener Blinden,
welche den Kopf viel-
mehr gesenkt zu hal-
ten pflegen. Diese ge-
hobene Kopfhaltung
mit welcher auch der
wie zum Singen oder
Sprechen leicht geöff-
nete Mund zusammen-
hängt — ist vielmehr
nur als das charakte-
ristische Ausdrucks-
mittel für die dichte-
rische Begeisterung
gewählt. Es ist so das
innere Schauen des
entzückten Dichters in
einen feinen, gesuch-
ten Kontrastmit seinem
körperlichen Leiden
gesetzt. Als Vorbild
für das Leiden hat dem
Künstler wahrschein-
lich einer der im Sü-
den so häufigen, durch
vorangehende sog.
ägyptische Augen-
krankheit Erblindeten gedient. Aber die Haltung und den geistigen
Ausdruck hat er frei nach dem Bilde geschaffen, das er sich von
dem begeisterten Dichter gemacht.
Die nächsten stilistischen Analogien zu dem Homerkopfe bieten
die bekannten charakteristischen Werke der Diadochenzeit, wie der
wenigstens im Geiste der Epoche dargestellte, freilich später ent-
standene Laokoon, der geschundene Marsyas oder der bärtige Ken-
taur, dem der Eros auf dem Rücken sitzt, unter den Porträts Asop
und Sokrates in der Villa Albani zu Rom. Auch der Homerkopf
bekundet jene Neigung der hellenistischen Kunst, bis an die Grenze
des Darstellbaren zu gehen ; auch er zeigt jene Neigung, an das
Pathologische zu streifen. Den Verfall des Alters und die Blind-
heit hat der Künstler so eingehend und wahrheitsgetreu geschil-
Fig. 72. Kopf des Homer. Marmor
Rom, Vatikan (Büste modern)
202 GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS
dert, daß wir, hätte er nicht zugleich dem Kopfe auch einen Funken
göttlicher Begeisterung zu verleihen gewußt, nur das Jammerbild
eines kläglichen Greises vor uns haben würden. Ganz anders sind
die Bilder Homers zu denken, welche die ältere griechische Kunst
vor der Diadochenzeit geschaffen; da kam gewiß vor allem das
Ehrwürdige des alten Dichterfürsten zur Geltung. Eine Bestätigung
bietet der in mehreren Exemplaren repräsentierte Typus des ehr-
würdigen Greises (Fig. 72) mit fließendem, langem Bart und mit
einem runden Reif im wohlgeordneten, nur wenig gewellten Haar.
Die Blindheit ist durch die friedlich über die erloschenen Augen-
sterne gesenkten Lider charakterisiert. „Die feine, edle Formen-
gebung, das ruhige, in großen Flächen gebildete Gesicht, nicht zu-
letzt Haar- und Bartbehandlung, weisen auf die letzten Jahrzehnte des
fünften Jahrhunderts v. Chr. In feierliche, friedliche Stimmung ver-
setzt der tiefergreifende Anblick der Büste, die uns die Vorstellung
wiedergibt von dem Vater der Dichtkunst, von dem weisen Sänger
und Seher, wie sie in der Glanzzeit hellenischer Kultur populär war."
Doch der Typus des Schweriner Kopfes war im späteren Alter-
tum weit berühmter. Geschaffen wurde er wahrscheinlich für eine
der großen Bibliotheken der Diadochenzeit, etwa die zu Alexandrien
oder die zu Pergamon, in der Zeit der Blüte der Homerstudien im
dritten bis zweiten Jahrhundert v. Chr. ; aller Wahrscheinlichkeit nach
war auch das ursprüngliche Werk nur eine Herme, nicht eine Statue.
TAFEL 57
ZWEI RÖMISCHE PORTRÄTS
BÜSTE DES AGRIPPA. MARMOR. PARIS, LOU VRE. — BRONZEKOPF
EINES UNBEKANNTEN. ROM, KONSERVATORENPALAST.
Die beiden auf einer Tafel vereinigten Porträts, die zwei hin-
sichtlich des Charakters der Dargestellten und der künstlerischen
Auffassung sehr verschiedene Bildnisse wiedergeben, sind wohl-
geeignet, von der in weiten Kreisen viel zu wenig gewürdigten
Leistungsfähigkeit der römischen Porträtkunst eine hohe Vorstellung
zu gewähren. Während ersteres durch die inschriftlich beglaubigten
Darstellungen des Agrippa auf Münzen bestimmt ist und demgemäß
mit größter Wahrscheinlichkeit in die letzten Jahrzehnte der vor-
christlichen Zeit') gehört, ist Deutung und Datierung des letzteren
') Agrippa wurde 63 v. Chr. geboren und starb 12 v. Chr., 51 Jahre alt.
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ZWEI ROMISCHE PORTRATS 203
durchaus unsicher; denn die seit alter Zeit weitverbreitete Bezeich-
nung als Bildnis des L. Junius Brutus, die auf eine flüchtige Ähnlich-
keit mit Darstellungen dieses Gründers der Republik und ersten Kon-
suls auf Münzen späterer Zeit sich gestützt hat, entbehrt jedes Bewei-
ses, die kunstgeschichtliche Zeitbestimmung') ist in Ermanglung stili-
stisch verwandterund chronologisch feststehender Porträts leider bis-
her nicht gelungen. Doch scheint die Trefflichkeit der bis ins einzelne
meisterhaft ausgeführten Bronzearbeit eines griechischen oder wenig-
stens unter griechischem Einflüsse stehenden einheimischen Meisters,
ebenso wie die künstlerische Auffassung und der physiognomische,
den altrömischen Typus in ausgezeichneter Weise wiedergebende
Gesamtausdruck des Kopfes auf eine ziemlich frühe Zeit der Republik,
vielleicht noch das zweite vorchristliche Jahrhundert hinzuweisen.
Die trefflich gearbeitete und bis auf die ergänzte Nasenspitze
vorzüglich erhaltene Büste des Agrippa ist 1792 an der Stelle der
alten östlich von Rom gelegenen Stadt Gabii bei Gelegenheit der
von dem Fürsten Borghese veranstalteten Grabungen nebst anderen
vorzüglichen Antiken zutage gekommen und 1808 mit diesen Bild-
werken von Rom nach Paris gebracht worden. Vielleicht war sie
dereinst in jener Landstadt zum Dank für erworbene Verdienste als
Ehrendenkmal geweiht. M. Vipsanius Agrippa, der Sieger von Aktium
und einflußreiche Berater des Augustus, der große Wohltäter des
Volkes, dessen Andenken insbesondere zu Rom durch ausgedehnte
bauliche Anlagen im Campus Martius noch heutzutage fortdauert,
ist in reifem Mannesalter zwar mit bezeichnender Individualisierung,
aber unter Abstreifung unbedeutender Zufälligkeiten getreu nach
dem Leben dargestellt. Die der Mode der Zeit entsprechende Bart-
losigkeit sowie der kurze Haarschnitt stimmen mit vielen Bild-
nissen von Mitgliedern des augusteischen Kaiserhauses-) überein;
was aber den Kopf von diesen ruhigen, in sich geschlossenen Por-
trätzügen gewaltig unterscheidet und ihm ein überaus lebendiges
Gepräge verleiht, ist der feste, durchbohrende Blick der tiefliegenden
und tiefbeschatteten Augen, der durch die zusammengezogenen
Brauen und die Einsenkung über der etwas gebogenen Nase, sowie
durch die seitliche Wendung des Hauptes eine um so größere Wir-
kung erzielt. Eiserne Willenskraft und unerbittliche Energie, eine nur
durch den praktischen Verstand zurückgehaltene vorwärtsstürmende
Tatkraft, ein starres Wesen treten als bezeichnende Eigenschaften
') Anklänge an späthellenistische Bildnisse glaubte man bisweilen
in der Bronze zu bemerken und hat sie, freilich nur vorübergehend, dem
Römertum abgesprochen.
-I Beispielsweise sei hingewiesen auf den Kopf der Statue des
Augustus von Prima Porta, Tafel 58.
204 GRIECH. UND ROM. PORTRATS
des Mannes aus seinen Gesichtszügen entgegen, die im wirklichen
Leben auf jedermann zwingende Gewalt ausgeübt haben müssen
und noch heutzutage im Bildnisse trotz der trefflichen künstle-
rischen Auffassung und Arbeit den Betrachter wenigstens beim ersten
Eindrucke eher zurückzustoßen als zu befriedigen geeignet sind.
Dagegen wird unser Blick durch das Antlitz des unbekannten
Mannes unwiderstehlich gefesselt, der in dem trefflich erhaltenen
und vorzüglich ausgearbeiteten Bronzekopfe wiedergegeben ist. Von
unbestimmtem Fundort, ist derselbe schon im sechzehnten Jahr-
hundert in der Sammlung von Antiken des als Kunstmäcen be-
kannten Kardinals Rodolfo Pio di Carpi nachweisbar; er war der
Stadt Rom vermutlich wegen der schon damals üblichen Deutung
von dem Besitzer testamentarisch zugesprochen worden und wurde
demgemäß nach dessen Tode 1564 Eigentum des römischen Magi-
strats. Seitdem im Konservatorenpalast als eines der hervor-
ragendsten Stücke der auserlesenen Sammlung aufbewahrt, hat er
wohlverdienten Ruhm erlangt. Die Persönlichkeit des Dargestellten
erregt das Interesse des Betrachters beim ersten Anblicke. Sie
ist von dem Künstler mit den Zufälligkeiten der äußeren Erscheinung
in allen Teilen des Kopfes getreu wiedergegeben. Denn die auf-
fallend großen Ohren, die wildgewachsenen und nicht gepflegten
Brauen, der länglich zugeschnittene, kurzgeschorene Spitzbart, die
hohe, in ihrem Unterteile stark vortretende Stirne, der eigentüm-
lich herbe Zug um den langgestreckten Mund und zu beiden Seiten
der langen Nase sind ebenso wie die welken und mageren Züge
des nach unten sich verjüngenden Gesichts und der düstere, tief-
traurige Blick der Augen ') mit genauer, verständnisvoller Beobach-
tung der Natur gebildet. Trotzdem ist das Gesamtbild zu einem
über das Zufällige erhabenen Charakterkopf umgestaltet und er-
hoben worden. Der Dargestellte, der in vorgerückterem Alter steht,
zeigt zwar in seinem Äußern keine höhere geistige Durchbildung
und Belebung, aber klaren und kalten Verstand, unerschütterlichen
Ernst, beneidenswerte Nüchternheit und Vorsicht. So darf in der
Tat dieser Bronzekopf auch hinsichtlich der künstlerischen Auf-
fassung als ein ikonographisches Meisterwerk bezeichnet werden,
das, mit den durchgeistigten und pathetisch erregten Gesichtszügen
des Agrippa verglichen, durch die vornehme Ruhe und würdevolle
Strenge der Erscheinung tiefe, nachhaltige Wirkung erzielt. In
jenem ist der Typus des Republikaners von echtem Schrot und Korn,
in diesem der durch höhere geistige Bildung verfeinerte Vertreter
einer neuen Epoche plastisch verkörpert.
') Sie sind eingesetzt; die Hornhaut ist aus einer weißen, die Pupillen
sind aus einer braunen Masse.
AUGUSTUS 205
TAFEL 58
AUGUSTUS
BEMALTE MARMORSTATUE IM BRACCIO NUOVO DES
VATIKANISCHEN MUSEUMS ZU ROM.
Diese berühmteste unter den erhaltenen Statuen des Kaisers und
eine der schönsten römischen Porträtstatuen überhaupt ist etwas
über die natürliche Größe gebildet, Sie wurde 1863 neun Millien
von Rom an der alten via Flaminia bei der heutigen Ortschaft
Prima Porta unter den Trümmern des ehemals prächtigen Land-
hauses gefunden, das, von Augustus Gemahlin Livia erbaut, villa
Caesarum oder villa ad Gallinas geheißen hat '); dort hatte sie der-
einst in einer Nische Aufstellung gefunden. Gut erhalten, konnte
sie von dem Bildhauer Tenerani im wesentlichen richtig ergänzt
werden. Die Arbeit des Standbildes, welches das Werk eines un-
bekannten Meisters vergegenwärtigt, ist hervorragend und wohlge-
eignet, von der Kunstübung im augusteischen Zeitalter einen hohen
Begriff zu geben. Aus mehrfach erhaltenen Farbenspuren läßt sich
die ursprüngliche Bemalung der Haare und Gewandung sowie des
Panzers feststellen, während an den nackten Körperteilen abge-
sehen von den Augen keine Farben zu erkennen sind; von der
Gesamtwirkung der bunten Pracht läßt sich aus den geringen Resten
eine sichere Vorstellung nicht gewinnen.
Eine majestätische, wahrhaft fürstliche Gestalt -) von starken
Körperformen steht in der Blüte des kräftigen Mannesalters vor
uns, indem sie das linke Bein in Schrittstellung zurücksetzt, das
rechte als den Träger der schweren Körperlast fest aufgestellt hat.
Der Kaiser ist durch die Rüstung als Imperator bezeichnet; in der
Nacktheit der Füße hat man eine Andeutung der Heroisierung ver-
mutet, doch scheint der akademisch klassizistische Künstler nur
älteren, schon in griechischer Kunst nachweisbaren Traditionen
gefolgt zu sein; auch das Standmotiv ist hellenischem Vorbild,
dem Doryphoros des Polyklet, entnommen. Über die nicht ganz
bis zu den Knien reichende Tunika sind Lederkoller und
Panzer gelegt, und darüber war das Paludamentum geworfen, das,
von dem Rücken und den Schultern herabgeglitten, in großartig
schwungvoller Linie und wirkungsvollem Faltenwurfe um den mitt-
') Plinius der Ältere, naturalis historia 15, 137. Sueton, Galba 1.
2) Vgl. auch Sueton, Augustus 79.
206 GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS
leren Teil des Körpers sich legt und, von dem linken Arm ge-
halten, gerade nach abwärts fällt. Die linke Hand hatte in Über-
einstimmung mit der sonstigen kriegerischen Rüstung wahrschein-
lich den Speer und nicht das Szepter, das ergänzt ist, gefaßt. Durch
die gebieterische Bewegung des hocherhobenen rechten Armes, dessen
Richtung die ganze Haltung des Körpers und der Blick der Augen
folgen, befiehlt Augustus als Imperator dem vor ihm versammelt
zu denkenden Heere Ruhe, um eine feierliche Ansprache zu halten').
Unten zur rechten Seite weist der auf einem Delphin in lebhafter
Bewegung reitende Amor auf die Abstammung des julischen Hauses
von Venus hin-). Man erkennt durch kühne Kombination in den
allerdings etwas individuellen und realistischen Gesichtszügen des
etwa zweijährgien Bübchens den gerade im Jahre des parthischen
Erfolgs geborenen Gaius, den Sohn der Julia und des grippa; inA
diesem Falle wäre er eben einer auch sonst nachweisbaren Gepflogen-
heit gemäß gar sinnig im Bilde des Knaben Amor dargestellt. Mehr als
eine geistreiche Vermutung darf dieser Deutungsversuch nicht gelten.
Der vortreffliche Porträtkopf, der auf dem starken Halse ruht,
zeigt die auch an anderen Bildnissen des Kaisers erkennbare schlichte
Haartracht mit einzelnen kurz abgeschnittenen Büscheln und trägt
in dem runden, völlig bartlosen Gesichte mit den vorstehenden
Backenknochen die nämlichen Züge, die in der weitbekannten und
hochgeschätzten Büste des jugendlichen Oktavian im Vatikanischen
Museum so bezeichnend hervortreten. Während die schwache Ge-
sundheit, die in dieser Büste wahrnehmbar ist, in der dem kräf-
tigen Körper entsprechenden kraftvollen Physiognomie kaum noch
zu ahnen ist, wird der Ausdruck, der belebt ist durch den etwas
geöffneten Mund, vorwiegend bestimmt und gekennzeichnet durch
den scharfen, sicheren Blick-^) der tiefliegenden Augen, deren Pupillen
mit dem Meißel leicht umrissen sind und durch Bemalung noch mehr
hervorgehoben waren ; er läßt einen ebenso bestimmten und energi-
schen als vorsichtigen und leidenschaftslosen Charakter erkennen,
wirkt aber in seinen kalten und berechnenden Zügen nicht sym-
pathisch und beinahe etwas unheimlich.
Was den Wert der Statue unersetzlich macht und das Auge
von der erhabenen Majestät des großartigen Gesamtbildes ablenkt
') In ähnlicher Weise sind andere Kaiser vor den Truppen auf histo-
rischen Denkmälern wie der Trajanssäule und auf Münzen dargestellt; auf
diesen wird die Anrede durch eine Beischrift adlocutio benannt.
-) „Clarus Anchisae Venerisquesanguis" („des Anchises und der Venus
berühmter Sprößling") singt Horaz von Augustus im Carmen saeculare 50
(vgl. auch Oden IV, 15, 32 „Almaeprogeniem Veneris canemus", „wir werden
den Nachkommen der segenspendenden Venus besingen").
^) Vgl. Tacitus, Annalen 1, 42. Sueton, Augustus 79.
AUGUSTUS
ROM, VATIKANISCHES MUSEUM
AUGUSTUS
207
und auf sich zieht, ist der Panzer mit seinen Verzierungen, der
einen aus Metall getriebenen Harnisch getreu nachbildet und in
den Reliefs ein charakteristisches Beispiel der gerade in jener Zeit
neuaufbliihenden Toreutik bietet (Fig. 73); an diesen schließen
Fig. 73. Reliefs vom Panzer der Augustusstatue
sich befranzte, die Schulterblätter und den Unterleib, sowie einen
Teil der Oberschenkel bedeckende Lederstreifen an; sie gehören
zum Koller. Oben geschlossen durch zwei mit je einer Sphinx
verzierte Schulterklappen, ist der Harnisch auf der ganzen Vorder-
fläche mit streng symmetrisch geordneten Reliefs geschmückt. Den
Mittelpunkt nimmt eine auch durch größere Bildung der Figuren her-
vorgehobene Gruppe ein, welche die 20 v. Chr. freiwillig erfolgte Rück-
gabe der seit den Niederlagen des Krassus und Antonius in dem Be-
208 GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS
sitze der Parther befindlichen römischen Feldzeichen darstellt: Ein
Krieger, in Tracht und Bewaffnung eines römischen Feldherrn, der
früher vielfach recht unnatürlich als Mars Ultor, von dem diesem
Gotte heiligen Hund begleitet, gedeutet wurde, streckt den rechten
Arm weit aus, um von einem bärtigen, behosten Barbaren von etwas
kleinerer Körperbildung einen Legionsadler in Empfang zu nehmen.
Ganz neuerdings erkennt man in dem jugendlichen Krieger als stark
idealisiertes Porträt den 22jährigen Prinzen Tiberius, der als Bote
seines Stiefvaters die Signa holt') und vom Kriegshund als Wächter
an der Grenzwacht begleitet ist; der Parther vor ihm soll durch
das Diadem als König Phraates IV.-) charakterisiert sein. Doch
scheint in den beiden Figuren nur allgemein die Vertretung der
römischen Militärmacht und des gedemütigten Partherkönigtums
repräsentiert zu sein. Umgeben sind beide von zwei weiblichen,
in trauriger Haltung dasitzenden Personifikationen, von denen die
auf der linken Seite ein in einen Vogelkopf endigendes Schwert
hinhält und hinter sich ein Tropaeum stehen hat^^), die rechts eine
große, in einen Drachenkopf auslaufende Kriegstrompete sowie
eine Schwertscheide trägt und vor sich den oberen Teil eines mit
einem Eber verzierten Feldzeichens sieht. Es sind Vertreter der
jüngst überwundenen, noch trauernden Provinzen Hispania und
Gallia, der Keltiber, gegen die Agrippa 21 v. Chr. erfolgreich
kämpfte, sowie der gallischen Völker, die 27 v. Chr. von Messala
geschlagen worden waren und 19 v. Chr. jenem großen Feldherm
des Kaisers zu schaffen machten ^). Nach unten schließen sich
die Schutzgötter des julischen Hauses, Apollo mit der Leier auf
dem Greif und Diana mit der Fackel auf dem Hirsch, an, und
unter diesen ist die allnährende Erdgöttin gelagert, von zwei sich
anschmiegenden Kindern begleitet; mit der rechten Hand faßt sie
ein in ihrem Schoß stehendes, großes Füllhorn, zwei undeutliche,
für Tympanon und Mohnkopf erklärte Gegenstände sind neben
ihr. Es entspricht der Erdgöttin oben die aus Wolken sich er-
hebende Halbgestalt des bärtigen Caelus, der ein Gewand wie die
Himmelswölbung mit beiden Händen über seinem Haupte aus-
breitet. Darunter zügelt der jugendliche Sol auf einem Viergespann
in der gebückten Haltung und langen Gewandung eines Wagen-
lenkers die ungestümen Sonnenrosse, begleitet und geführt von
den dahinschwebenden Göttinnen des Morgentaues und der Mor-
genröte, die in der anmutigen Gruppe eines bekleideten und be-
') Sueton Tiberius 9.
2) Vgl. Horaz Episteln I, 12, 27.
^) In der Abbildung nicht mehr sichtbar.
■») Cassius Dio 54, II; 19—25.
FRAU AUS HERCULANEUM 209
flügelten Mädchens mit dem tauspendenden Kruge und einer auf
dessen Schultern sitzenden Frau mit bogenförmig wallendem
Schleier und der lichtverbreitenden Fackel dargestellt sind. Das
Verständnis des Ganzen wird erschlossen durch die Hauptdar-
stellung in der Mitte des Panzers: Der große, weithin wirksame
Parthererfolg ist in erster Linie zum Ausdruck gebracht, zugleich
aber die nach langwierigen Kriegen erreichte ruhmvolle Beruhi-
gung des Weltalis im Osten und Westen, die dadurch gewonnene
Beglückung seiner Bewohner versinnbildlicht. Die historischen
Ereignisse führen vielleicht auf die Zeit bald nach der Heimkehr des
Princeps aus dem Orient, etwa auf 18 v, Chr. Das Alter des da-
mals Mitte der vierziger Jahre stehenden AugUbtus entspricht der
ganzen Gestalt wie den Gesichtszügen. Dann fällt die Errichtung
des polychromen Marmorbildes im Landhause der Livia fast gleich-
zeitig mit der Entstehung des Carmen saeculare von Horaz, das
bei den 17 v. Chr. zur Erinnerung an die Gründung von Rom ver-
anstalteten Festlichkeiten von einem Knaben- und Mädchenchor ge-
sungen wurde. Es kann aber auch durch Hispania und Gallia sehr
passend auf des Kaisers persönliche Neuordnung der beiden Länder
angespielt sein, woher er nach langer Abwesenheit 13 v. Chr.
endlich nach Rom heimkehrte. Nicht nur mehrere Darstellungen
des Panzers erinnern unmittelbar an jenes Festlied, sondern auch
die gehobene, freudige Stimmung des römischen Volkes über die
Beruhigung des Erdkreises und die Segnungen des Friedens, die
durch den Gesang durchklingt und in anderen berühmten Oden
des Dichters ') widerhallt, findet in den Reliefs der Panzerstatue
monumentalen Ausdruck: Bild und Lied werden durch gemein-
same Betrachtung wechselseitig erläutert.
TAFEL 59
MARMORSTATUE EINER FRAU AUS
HERCULANEUM
DRESDEN, ALBERTINUM.
Diese trefflich erhaltene und gut gearbeitete Statue etwa aus
augusteischer Zeit ist zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts ge-
') IV, 2, 4, 5, 14, 15. - Auch die Weihung der Ära Pacis (vgl. S. 164»
bietet einen monumentalen Ausdruck dieser Gefühle.
Denkmäler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl. 14
210 GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS
meinsam mit zwei im Stile eng verwandten, etwas kleineren Frauen-
statuen zu Herculaneum bei Gelegenheit der vom General Prinz
von Elbouf veranlaßten Grabungen ans Tageslicht gekommen. An
seinen Onkel, Prinz Eugen von Savoyen, mit jenen beiden anderen
Werken gesandt und zu Wien in dessen Palast aufgestellt, wurde
sie 1736 nach dem Tode des Besitzers von dem als Kunstsammler
bekannten Könige August III. von Sachsen angekauft und bildete
unter dem Namen der „großen Dresdener Herkulanenserin" eines
der kostbarsten und berühmtesten Bildwerke der Sammlung „Augu-
steum"; nunmehr befindet sie sich in der Königlichen Skulpturen-
sammlung, dem Albertinum. In beiden Städten, zu Dresden ins-
besondere in dem Winckelmann nahestehenden Kreise, sind die drei
Statuen von Künstlern und Kunstkennern als wahre Vertreterinnen
der reinen griechischen Antike erkannt und gepriesen worden ; so
haben sie zu einer Läuterung des Kunstgeschmackes im Gegensatze
zu dem damals herrschenden Barockstile wesentlich beigetragen.
Eine jugendliche Frauengestalt von lebenswahren und lebens-
warmen Formen steht vor uns in ruhiger, würdiger Haltung, doch
mäßig bewegt durch das linke vorgesetzte Bein, sowie den Gegen-
satz des rechten halberhobenen und linken gesenkten Armes, weiter-
hin durch die Neigung des Kopfes. Den feingefalteten Chiton, der teil-
weise bis über die Füße hinabreicht und nur den kräftigen Hals frei-
läßt, deckt zum größten Teil der weite Mantel, der, schleierartig über
den Hinterkopf gezogen, in wunderbar mannigfaltigem Wechselspiel
der Falten „mit edler Freiheit und sanfter Harmonie des Ganzen"
umgelegt ist. Von den beiden Enden des Himations, die sich auf
der linken Seite vereinigen, ist das eine in der Form eines Drei-
ecks über den Oberkörper geschlagen und fällt über die linke Schul-
ter und den linken Arm herab.
Den höchsten Genuß gewährt die Betrachtung des Kopfes, der
sich aus dem durch den Schleier gebildeten Hintergrunde präch-
tig abhebt. Das Haar, das reizvoller Mode entsprechend in ein-
zelnen nach rückwärts laufenden Wülsten geordnet ist, war vermut-
lich durch goldene Färbung noch mehr hervorgehoben, da Spuren
roter Bemalung als der Grundlage für das aufzutragende Gold noch
heute erkennbar sind. Dem nach unten sich verjüngenden, von
einem runden Kinn abgeschlossenen Oval des Gesichts verleihen
die zarte Bildung der Wangen, an dem kleinen, leise geöffneten
Munde die geschwungene Ober- und aufgeworfene Unterlippe, die
regelmäßige Form der Nase, endlich die tiefliegenden, schmalen
Augen einen wunderbar anmutigen Ausdruck echter Weiblichkeit,
der stillen Ernst, leises Sinnen und Sehnen empfinden läßt und
durch die Neigung des etwas zur Seite und nach vorwärts gerich-
MARMORSTATUE EINER FRAU AUS HERCULANEUM
DRESDEN, ALBERTINUM
FRAU AUS HERCULANEUM 211
teten Kopfes, sowie die zierliche Haltung der rechten, das Himation
leicht fassenden Hand noch stimmungsvoller wirkt. Vor allem in
diesen Zügen offenbart sich der Künstler, in dessen Zeitalter und
vielleicht unterdessen Einflüsse das Urbild entstanden ist: der Geist
der Kunst des Praxiteles lebt in dem Werke (vgl. auch Fig. 22).
Bezeichnend für die unmittelbare Wirkung der Statue auf den
Beschauer ist es, daß er, von der Schönheit des Werkes einge-
nommen, nach der Deutung zunächst nicht fragt. Doch ist sie
selbstverständlich seit der Entdeckung oft besprochen worden, frei-
lich ohne daß ein sicheres Ergebnis erzielt werden konnte. An-
fangs auf Grund der Kleidung für eine römische Vestalin gehalten,
wurde das Werk hinsichtlich seines Typus unu aus stilistischen
Gründen sehr bald als griechisch betrachtet und eine Göttin, De-
meter oder Köre, auch ein stark idealisiertes Porträt, eine Ehren-
und Grabesstatue erkannt. Es läßt sich nicht leugnen, daß für
Demeter und Köre das Gesicht mit dem Ausdrucke leiser Sehn-
sucht geeignet ist, und es ist Tatsache, daß unserem Bilde ähn-
liche Typen bei Darstellungen dieser Gottheiten verwendet worden
sind. Allein der Mangel eines bezeichnenden Attributes läßt über
eine bloße Vermutung nicht hinauskommen. Wenn schon die drei
Originale dereinst eine Gruppe gebildet haben '), ist ihre ursprüng-
liche Bestimmung als Porträts der Glieder einer Familie etwa zum
Schmucke eines Grabes wahrscheinlich, zumal die Gesamterschei-
nung und der Ausdruck des Gesichtes unserer Statue für diesen
Ort besonders passend erscheinen, und da der Mangel unverkenn-
barer Porträtzüge durch die gleichzeitigen Grabreliefs genügend er-
klärt wird. Die Verhüllung des Kopfes findet sich insbesondere
auch auf diesen gemäß der für die Straße üblichen Mode häufig
wieder, wie auch die sonstige Form der Kleidung bei Porträtstatuen
der Tracht des täglichen Lebens entsprechend vorkommt. Die Be-
stimmung der drei zu Dresden befindlichen Bildwerke läßt sich erst
durch genaue und klare Feststellung der Fundumstände, die bis-
her noch nicht ermöglicht wurde, mit einiger Sicherheit entscheiden.
Die Vermutung, daß sie dereinst zum Andenken dreier Herku-
lanenserinnen gestiftet waren, erscheint wohl erwägenswert. In die-
sem Falle würden die Bildnisse einer auch sonst bei Frauenporträts
aus römischer Epoche nachweisbaren Gepflogenheit entsprechend,
nach griechischen Vorbildern aus der Blütezeit der Kunst in ideali-
siertem Stile wiedergegeben sein. Aber auch die Möglichkeit, daß
') Erwägenswert erscheint es, ob nicht die drei Herkulanenserinnen
erst in römischer Zeit aus griechischen Einzeltypen zusammengestellt
wurden.
14«
212 GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS
die drei Figuren in Herculaneum zum Schmucke eines Platzes oder
Hauses als Kopien der Darstellungen griechischer Göttinnen oder
sterblicher Frauen aufgestellt waren, bleibt immerhin bestehen.
Mit der Äußerung dieser Vermutungen muß man sich be-
scheiden. Doch auch ohne sichere Deutung werden Klarheit und
Bestimmtheit der Körperformen, Geschlossenheit der Umrisse, Voll-
endung des Rhythmus der Draperie, ungezwungene Vornehmheit
und reizende Anmut, vor allem der feierliche Ernst des ganzen
Bildes, die „edle Einfalt, stille Größe" auf jeden Beschauer einen
mächtigen Zauber ausüben und den Namen des „göttlichen", durch
welchen Winckelmann „dieses Meisterstück griechischer Kunst"
für alle Zeiten geadelt hat, vollkommen rechtfertigen.
TAFEL 60
RÖMISCHER BÜRGER, MIT DER TOGA
BEKLEIDET
MARMORSTATUE. LONDON, BRITISH MUSEUM.
Diese überlebensgroße Statue, deren Fundort und Herkunft
nicht gesichert sind, gehört wegen der guten Arbeit und des Kopf-
typus vielleicht noch in die republikanische Epoche oder doch
wenigstens in die Anfänge der Kaiserzeit; mit dieser Datierung
scheint die Art, wie die Toga um den Körper gelegt ist, nicht im
Widerspruch zu stehen. Abgesehen von kleineren Ergänzungen
sind Nase und Ohren, der größere Teil des Halses mit einem
Stückchen der Tunika, endlich die linke Hand mit der Rolle er-
neuert; der in die Statue eingesetzte Kopf dagegen wird gemäß
einer am Originale angestellten Untersuchung als zu der Statue
gehörig angesehen.
Dargestellt ist ein unbekannter Römer von reiferen Jahren
in der Tracht des einfachen Bürgers; er trägt, abgesehen von der
Tunika und den calcei, die unverzierte Toga. Vermutlich war
die Statue zu seinen Ehren etwa auf einem öffentlichen Platze
seiner Heimat oder auf seinem Grabe errichtet. Er steht in ruhiger,
aber überaus stolzer Haltung mit etwas erhobenem Kopfe da
und gewährt von der gravitas des civis Romanus eine plastische
Vorstellung. Das volle, faltendurchzogene Gesicht mit ganz kurzem
RÖMISCHER BURGER, MIT DER TOGA BEKLEIDET
LONDON, BRITISH MUSEUM
F. BRUCKMANN A.-G., MÜNCHEN
ROMISCHER BÜRGER 213
Barte gibt die Wirklichlceit mit allen Zufälligkeiten getreu wieder
und reiht sich jenen ziemlich zahlreichen überaus charakteristischen
Römerköpfen an, die durch ihre bezeichnende Individualität und
lebensvolle Darstellung das Interesse des Beschauers mächtig er-
regen und seinem Gedächtnisse sich tief und dauernd einprägen.
Die zusammengezogene, durchfurchte Stirne, in welche das Haar
wie in der Form eines Dreiecks etwas hereinreicht, der tiefe Ein-
schnitt über der Nase, auf den Backen die schräg abwärts ge-
richteten Falten, die geschwungene, gegen das Kinn sich fort-
setzende Linie des festgeschlossenen Mundes, endlich der scharfe
und sichere Blick der Augen bestimmen den Ausdruck dieses Por-
träts: feste und zielbewußte Willenskraft, klarer, praktischer Ver-
stand, nicht geringes Selbstgefühl, zugleich aber eine gewisse feinerer
Geistes- und Gemütsbildung ermangelnde Urwüchsigkeit des Äußeren
sind die Eigenschaften der Persönlichkeit, welche sie mit der Mehr-
zahl ihrer Mitbürger vorwiegend aus der republikanischen Zeit ge-
meinsam hat und welche wesentliche Grundzüge des Charakters
des römischen Volksstammes überhaupt gewesen sind. Indes die
vornehme Erscheinung des Gesamtbildes wird durch die feierlich
imponierende Tracht der Toga erreicht, die den Körper in wechsel-
voll drapierten, tiefbauschigen, großartig schönen Faltenmassen um-
hüllt und der Gestalt ein volles, stattliches, reiches Aussehen ver-
leiht. Über Form und Anlegung dieses Gewands und vor allem
die Entstehung des besonders an der rechten Vorderseite des Kör-
pers gebildeten Umschlages, des sogenannten sinus, sind ganz ge-
sicherte Ergebnisse der Forschung noch nicht erzielt worden. Was
als feststehend oder wahrscheinlich betrachtet werden kann, ist
etwa folgendes: Die Toga, ein wollenes Tuch von schwerem Stoff
und weißer Farbe, war zu der Grundform eines Ovals zugeschnitten
und ungefähr dreimal so lang als die Schulterhöhe des Mannes;
zu einem Doppeltuche zusammengenommen, wurde sie zuerst von
rückwärts mit einem Drittel ihrer Länge über die linke Schulter
nach vorn geworfen, so daß sie bis zur Erde hinabgereicht hat;
hinten aber wurden die beiden anderen Drittel um den Rücken
gelegt, unter dem rechten Arme durchgeführt, quer über die Brust
gezogen und wiederum über die linke Schulter zurückgeworfen.
Diese Form der Toga ist hier in einem hervorragenden Muster
klar zu erkennen, abgesehen von einzelnen Abweichungen vom
Gewöhnlichen; so ist die rechte Schulter samt Arm und Hand
von dem Tuche umhüllt. Zugleich sind einzelne Vorschriften, die
Quintilian') über die Tracht des Gewandes gegeben hat, gewisser-
') Institutio oratoria XI, 3, 137 ff.
214 GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS
maßen im Bilde veranschaulicht: man sieht deutlich die runde
Form') an den Rändern des Tuches, der sinus reicht bis zum
rechten Knie herab^), der als balteus bezeichnete, quer über der
Brust liegende obere Teil des Umschlages erscheint weder zu eng
noch zu weit^), der linke Arm ist etwa bis zu einem rechten Winkel
gebogen^). Dadurch ist unsere Statue auch im einzelnen besonders
lehrreich. Doch der Wert des Werkes liegt vor allem darin, daß
ein Römer von echtem Schrot und Korn in der Nationaltracht der
gens togata entgegentritt. Erhöhte Bedeutung gewinnt es durch
eine Gegenüberstellung und Vergleichung griechischer und insbe-
sondere attischer Porträts aus der Blütezeit dieses Volkes: denn
nicht nur der Gegensatz der weiten, feierlichen Toga und des den
Formen des Körpers sich anfügenden, einfachen Himations, sondern
auch die große Verschiedenheit der ganzen Erscheinung des würde-
vollen, stolzen Römers und des leichtbeweglichen, heiteren Griechen,
vor allem aber der Ausdruck des Römerkopfes, der vorwiegend für
das praktische Leben Sinn und Verständnis offenbart, im Vergleiche
mit den feinen, durchgeistigten Zügen des Antlitzes eines Hellenen
sind wohl geeignet, die bezeichnenden und unterscheidenden Indi-
vidualitäten der beiden großen Nationen des Altertums auch durch
die monumentale Kunst zu veranschaulichen.
') Ipsam togam rotundam esse et apte caesam velim („ich möchte,
daß die Toga selbst rund und passend zugeschnitten ist").
2) Sinus decentissimus, si aliquo supra imam togam fuerit, nunquam
certe sit inferior („der , sinus' ist am schicklichsten, wenn er ein Stück
oberhalb des untersten Teiles der Toga ist, niemals wenigstens sei er
unterhalb derselben"). (Für das handschriftlich überlieferte „togam" ist
in den Ausgaben meist „tunicam" eingesetzt).
3) nie (sinus), qui sub umero dextro ad sinistrum oblique ducitur
velut balteus. nee strangulet nee fluat („jener [der sinus], welcher unter
der rechten Schulter zur linken in schräger Linie wie ein Gurt geführt
wird, soll weder spannen noch schlaff herabhängen").
■•) Sinistrum bracchium eo usque adlevandum est, ut quasi normalem
illum anguium faciat („der linke Arm ist so weit emporzuheben, daß er
gewissermaßen einen rechten Winkel bildet").
Außer der vorliegenden kleinen Handausgabe erschien in un-
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GRIECHISCHE GOTTERIDEALE. In ihren Formen erläutert
von Heinrich Brunn. Gr. 8". Mit 10 Lichtdrucktafeln und
23 Text-Abbildungen. Broschiert 7 Mk. Gebunden 9 Mk.
In diesen formvollendeten, gedankentiefen Darstellungen erläutert uns der Alt-
meisler der archäologischen Wissenschaft in genialer Weise, wie sieh die allen
Griechen ihre Götter gedacht haben und fesselt das Interesse aller, die an antiker
Kunst Anteil nehmen. ::
GRIECHISCHE KUNSTGESCHICHTE. Von Heinrich Brunn.
Erstes und Zweites Buch. Gr. 8^'. Mit 142 Abbildungen.
Broschiert 7.50 Mk.
GRIECHISCHE IKONOGRAPHIE. Die Bildnisse berühmter
Griechen mit Ausschluß Alexanders des Großen und der
Diadochen. Von I. I. Bernoulli. 2 Bände. Gr. 8«. Mit 60 Licht-
drucktafeln und 58 Abbildungen im Text. In 2 Halblederbände
gebunden 42 Mk. Broschiert 36 Mk.
DIE BILDNISSE ALEXANDERS DES GROSSEN. Von
I. I. Bernoulli. Ein Band in Groß-Oktav mit 37 Textabbil-
dungen und 9 Lichtdrucktafeln. Broschiert 9 Mk. In Halbfranz
gebunden 12 Mk.
'ÜHRER DURCH DIE ANTIKEN IN FLORENZ. Von Walther
Amelung. Kl. 8*'. Mit 49 Tafeln. In biegsamem Leinenband 5 Mk.
Ferner sind in unserem Verlage große Sammelwerke über
antike Kunst erschienen, die für kunstwissenschaftliche In-
stitute und Sammlungen, sowie für Kunsthistoriker von größtem
Werte sind. Das große ILLUSTRIERTE VERZEICHNIS DER
BIBLIOTHEK- UND SAMMELWERKE mit 8 ganzseitigen Bild-
proben ist für 50 Pfg. franko zu beziehen. ::
VERLAG F.BRUCKMANN A.-G., MÜNCHEN
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NB
85
F9
1911
Furtwängler, Adolf
Denkmäler
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