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Full text of "Der Türmer 10.1907 08, Band 2"

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Der Türmer 


— chrift für 
Gemüt und Geiſt 


Herausgeber: 


Jeannot Emil Freiherr von Grotthuß 


Zehnter Jahrgang „ Band II 
ta „ (April bis September 1908) mr 


Stuttgart 
Druck und Verlag von Greiner & Pfeiffer 


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Inhalts -Verzeichnis 


Gedichte 


Baehr, Paul: Reſpekt vor der Arbeit . 
Bewer, Max: Der deutſche Himmel. . . 
Dittmann, Charlotte: Meinem Töchterlein . 
Dix, Anna: Pfingſten ’ pr ae 
Dörr, Paul: Hohe Liebe . 

A „ Bismarck. NE 
Herold, Franz: Im Sachſenwalde 
Lang, Martin: Erinnerung 

* * Wenn die Blätter fallen 
Maſſé, Grete: Verklärt a 
Metz, Joſefa: Ideale. „ N She ee ad ad eX 
Oskar II., König von Schweden: Ein Augenblick 
Plinke, Aug. H.: Dein Bild oe 
Quandt, Joh.: Anverſtanden 
Scharrelmann, H.: In der Abendſtille . 

* „Ave Maria. a 
Schaukal, Richard: Die alten Bilder. 
Schmitt, Chriſtian: Der Sieger 
Seeliger, Ewald Gerhard: Grem. . . 
Wildegg, E. v.: Du wirft verwandelt . a 
Wolf, Paul: Trag auf der Stirn die Wunden 


Novellen und Skizzen 


Amieis, Edmondo de: Anſer Lehrer . 
Bechſtein, K.: Kindermund 
Berlepſch, Goswina v.: Traum 
Damm, Käthe: Ein Mutterwort 
Foerſter, Karl: Pan und Pfyde . 
Keller, Paul: Skat 


Mayer, Friedr.: Der Waldpfarrer am Schoharie 12. 164. 338. 466. 626. 


Schneider, Phil.: Zwiſchen Tag und Dunkeeeee un 
Schtſchepkina-Kupernik, T.: Ein nicht abgeſandter Brief 


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IV 


Snhalts-QVerzeichnig 


Aufſätze 

Seite 
Badenerin, Eine: Aus dem Liebesleben eines Fürſten . 477. 812 
Borkenhagen, Hermann: Die Heimatlofen . . 214 
5 1 Falſche Achtung ; 374 
Bovenſiepen, Dr. jur.: Die Reform des Strafrechts 494 
Brunnemann, Anna: Francois Coppée 578 
Corbach, Otto, Schule und Haus 515 
Damaſchke, A.: Vom Bauſchwindel 208 
Diers, Marie: Frühlingsſtimmen im Bücherwald 200 
Dobsky, Arthur: Kunſt und Gemüt 733 
Engel, Eduard: Der neueſte Büchmann 115 
= Grundfragen der Literatur 567 
Engelhard, Karl: Helden 426 
Förſter, Prof. Dr. Paul: Deutſche Erziehung : .. 659 
Fried, A. H.: Die Möglichkeit einer internationalen Sitfafprace . . 671 
Gaulle, Johannes: Afthetifehe Ankultuer . .. 250 
Gerhardt. i Dagobert v.: Mein religiöſes Kredo ie. oe 

5 „Der gebildete Laie und die Natur- 
philoſophie. . e re ete A re ee DE 
Grimmbagen: Katholiſches 814 
Gr.: Deutſche Witzblätter 213 
„ Die Zukunftsſchlacht in den Lüften . 808 
„ Die moderne Türkin 809 
„ Bismarck als Künſtler des Wortes 865 


Grotthuß, J. E. Frhr. v.: Die Anabhängigkeit des preußiſchen Risers 305 


Holthof, L.: Aus Tolſtois Ideenwelt 


Jaffé, Robert: Die letzten Ziele der chriſtlichen Arbeiterbewegung . . 641 
Kniſchewsky, E.: Erfüllen unſere Volks bibliotheken nr m; 670 


Köhrer, Erich: Weiſers Tetralogie „Jeſus“. 112 
Korn, Dr. med. Georg: Friedrich v. Esmarch . „ . Sl 
Kra ue, Rudolf: Hans v. Hoffensthal und fein neuefter Roman . . 871 
Lomer, Dr. Georg: Über den Lärm . . en . . 51 
„ Bismarcks Raſſe und d Sertunft 652 
M.: Kultus minifter Holle oe % 367 
M. K.: Deutſche Lehrerverſammlungen 508 
„ „ Der Beamte als Staatsbürger . 793 
Meyer ⸗Benfey, H.: Tolſtois Weltanſchauung 753 
Möller, Dr. Alfred: Technik, Kultur und Kunſt 120 
„ Erfüllen unſere Volksbibliotheken be Aufgabe? 255 
Morold, Max: „Erde“ von Karl Schönherr 258 
Müller, Karl: Friedrichs rug 5 656 
Münz, Dr. Bernh.: Goethe als Geſchäftsmann ; 721 
Murbach, Hans: Sarah Bernhardts Erinnerungen 724 
Oſtmärker, Ein: Das preußiſche Landtagswahlrecht 55 
Petersdorff, Herman v.: Bismarcks Freundſchaften . 610 
Pohl, Karl: Die Schule und das Leben 665 
Poppenberg, Felix: Satyrſpiele (Wied, Zweimalzwei gleich fünf — 
Greiner, Lyſiſtrata — Gide, en Randaules — 
Bab, Der Andere) . 107 


gnbalts· Verzeichnis V 


Seite 
Doppenberg, Felix: Dekorative Kün fte 286 
„ Heimſtätten für Menſchen 591 
Reinke, J.: Der größte Naturforſcher Deutſchlands im 19. . Sabehunder 145 
Rogge, Chrift.: Ein Blick über den Graben 206 
„ Das Gebet in der Literatur er SO 
Robben, Dr. G. v.: Ein Vollserzieher im großen Stil te E> ee ce 280 
Schaukal, Richard: Gott, Leben und Kunſt e u ee. 299 
Schmid, Hedda v.: Zum Schuldkonto der Frau . . . 818 
Schneider - Weckerling, Meta: Zum Schuldkonto der Gran 35-916 
Schorn, Adelheid v.: Die letzten Goethes : . . 697 
Schwann, M.: Arbeitsteilung und menſchliche Kultur ne. 781 
Siebert, Dr. O.: Zur Erinnerung an Otto Pfleiderer . 797 
Skowronnek, Dr. Fritz: Die Ausdehnung des Vogelſchutzes 504 
Stern, Maurice v.: Prinz Emil zu Schönaich ⸗Carolath 423 
Storck, Dr. Karl: Neue Bücher u. Bilder 118. 263. 290. 304. 448. 588. 731. 
743. 873. 884 
= „ „ IM Ahde ein religiöfer Maler? Eine Antwort . 123 
5 „ „ Vom Chriftustypus .... . . « 126 
= „ „ Auguſt v. Brandis . er ee as GZS 
‘2 „ „ Steernlein (Johanna Beckmann) i 33 
P „ „ Soziale Nöte im deutſchen n e rar AS 
5 „ „ Zum Fall Weingartner e 
0 „ „  Oviginalitét und Kultur wert. 143 
5 „ „ Zu unſerer Notenbellage . . » . . 144. 456 
5 „ „ Johann Hinrich GebrS . - » >» 3257 
is „ „ Wege nach Weimar a, 5 261 
A „ „ Aoer hiſtoriſche Malerei (Bei Peter Sener Cove) 265 
e „ „ Altſchweizeriſche Baufunft . . . 276 
= „ „ Peter Cornelius’ ,Gunlbdb“ . . . 2. 2... 292. 745 
„ „ „ Der Kaiſer und Meyerber . . . 2 2 . . 302 
* „ „ Goethes „Fauſt“ auf der Bühnen 415 
8 „ „ Zur Ausſtellung der Berliner Sezeſſion . . 4431 
1 „ „ Fritz v. Ahdes 60. Geburtstag . . . . . 443 
= „ „ Bilder von Uhde . . . 447 
" „ „ Die Genoſſenſchaft tongertierender Künftler mit Pen 
ſionsanſtalt : 449 
1 „ „ Robert Schumann über die „Hugenotten . . . . 454 
1 „ „ Adolf L' Arrongne ie ar ee‘ 
1 „ „ Anthologien. 33282 
R „ „ Der Rulturfhraubfiod . » . 2 . 1... 3586 
” „ „ Sans Balufhel. 2... 2 22 nennen. 5% 
„ „ „ Zwei Jahrbüchee ew 598 
1 „ „ RNuſſtſche Open 599 
" „ „ Donna Diana 607 
n „ „ Reigiöfe Silber 2... 2 rennen. 7139 
" „ „ Bismarck und Lenbahb . » 2 een. 74 
1 „ „ Wagner Bildniſſee e Aa Oe 
” „ „ Vom Geiſte deutſcher Plaſtit e e 
" „ „ Richard und Minna Wagner . 885 


VI Inhalts- Verzeichnis 


Seite 
Strang, Kurd v.: Die neue Kolonialzeit 3364 
Sydow, Dr. Georg: Die Reichsfinanznot 40 
Treu, Max: Die beiden Napoleon und das Nationalgefühl der Völker 179 
Troll, Alexander: Iſt Ahde ein religiöſer Maler? 122 
Vielrogge, Günther v.: Ein Prüfling für die . e as OE 
Voigtel, Paftor: Der fehfte Tag . . . . Be ar og ee. re IST 
Weſtermarck, Prof. Ed.: Dankbarkeit . . . . . . . « 802 
Wilpert, Richard v.: Gerhart Hauptmanns Schlottervers . . . 103 
Sell, Dr. Th.: Stehen Tiere einander bei? 370 
Zink, Georg: Zur un An a Dottsbibtitpeten on auf 
gaben? 822 
Beſprochene Schriften 
Anheiſſer, Dr. R.: . . W Jt. ae “i, “os Sak “gt: 282 
Bab, Julius: Der Andere . e ee e SETT 
Beckmann, Johanna: Sternlein 8 vn ge fg ee ae DSS 
Bernhardt, Sarah: Mein Doppelleben e ed ae 724 
Bethge, Hans: Deutfche Lyrik feit Lilieneron . . . 2 2 22020. 582 
Blei, Franz: Das Luftwäldhen . > . . . . . . we 583 
Boehmer-Romundbt: Die Sefuiten . . . .. . 208 
Brieger Waſſervogel, Lothar: Joachim.- „Gedenkbüchlein ... . « 304 
Bruckmanns Verlagsanſtalt: Wagner. Bildniſſe 752 
Büchmann, Georg: Geflügelte Worte 3 115 
Cuénoud, Edmond, und Carlegle: Das Automobil 217 UU . . « 884 
Deutſche Leinen bücher „ 291 
Deutſche Verlagsanſtalt: Klaſſiter der Runft . = 443 
Dieterichſche Verlagsbuchhandl.: Zehn lyriſche Saab vort 584 
Dohſe, Richard: Meerumſchlungen . 585 
Duhr, B.: Geſchichte der Sefuiten in den Ländern deutſcher Zunge 207 
Elchinger, Richard: Prinzeſſin Schnu . . . 119 
Engel, Eduard: Geſchichte der deutſchen Literatur des 19. Jahrhunderts 
und der Gegenwart 588 
Feuth, Ludwig: Humanität und Strafverfolgung im 20. Sabepundert 230 
Freeſe, Heinrich: Pfandrecht der . a 2 212 
Gebet in der Literatur 8 E ee ee SD 
Gide, André: König Kandaules 8 SB. i tae A ee we eg: TOS 
Gjellerup, Karl: Der Pilger Ramanita ee E 88 
Grautoff, Otto: Die Gemäldeſammlungen Düngens 9 2 nn. 29% 
Gregori, Ferdinand: Lyriſche Andachten E 
Greiner, Leo: Lyfiftrata . . . 10 
Günther, Rudolf: Aus der verlornen Kirche „ A . . . 583 
Hanfſtaengl, Franz: F des ie in Madrid . . . 743 
Ham: Die Hölle ‘ — = & 207 
Helden von Fr. Lienhard ngs e e e 
Henniger, K.: Das neue Wunderhorn Bn as. Soe hen hs hs Be, Fey SEE. ay FOOD 


Hermann, Georg: Jettchen Geber 589 


Inhalts · Verzeichnis VII 


Sette 
Hermann, Georg: Jüdiſche Ninfiller. . . . i: oes ew a SE 
Hoffensthal, Hans v.: Buch vom ar Mart Se BR ee. Se. ee. we Bl 
Kiefl, F. X.: Hermann Schell : bode i ae Be, ia Ge: 2206 
Knoeckel, Charlotte: Schwefter Gertrud „0 90 
Knoop, Gerhard Duckama: Nadeshda Badini. . . » . 118 
Leinweber, Rob.: Die Heilige F we ew ww . 740 
Leſſing, Theodor: Der Lärm „ Ber les al 2: 
Lienhard, Fritz: Wege nach Weimar . . e 22861 
„ Helden 426 
Lim an, Dr. Paul: Bismarck. Zum 10. Todestage. Ein Gedenkblatt 865 
Lomer, Georg: Bismarck im Lichte der lan ae 655 
Löns, Hermann: Mein braunes Buch 263 
Malvery, Olive: Vom Markte der Seelen 204 
Matthies-Mafuren, F.: Die pootograppifhe wan im Sabre 1 1907 598 
Möller, Alfred: Künſtler und Publikum 256 
Möller, Karl: Schönheit und Gymnaftit . . . 201 
Naumann, Guſtav: Otto der Ausreißer — Vom Lärm n auf dunklen 
Gaſſen 3 873 
Paſtor, Willy: Jahrbuch der büdenden Kunft „ 98 
Pazaurek, G.: Biedermeier ⸗Wünſchhhheettteteeeeee 2590 
Perlberg, F.: Bilder aus dem heiligen Lande 740 
Pudor, Dr. Heinrich: Ihr jungen Mädchens 203 
Radezwill, M.: Schönheit und Gymnaftil -. -. - ... 201 
Reuter: Gabriele: Das Problem der Che . . » 2 2 22.202.205 
Reznicet, C. N. v.: Donna Diana 607 
Röttger, Karl: Die moderne Jeſusdichtunnn- ag 585 
Schmidt, Karl Eugen: Der perfekte Kunſtlfennenr 448 
Schmidt, F. A.: Schönheit und Gymnaſti e 201 
Schönherr, Karl: Erde . . .. 258 
Seeßelberg, Friedrich: Volk und Kunſt, Rultusgebanten er 24 
Sewett, Arthur: Die Eisrofe . . . A nn. 264 
Siebert, Dr. med.: Buch für die Eltern er ee 20 
Stein, O. Th.: Aus dem Sprechzimmer einer Arztin 8 205 
Thalhofer, Fr. X. u. Phil. Schumacher: Vom  göttißen Heiland 740 
Theiſen: Anwürdig und unfähig? .. g 306 
Troll, Alexander: Fritz v. Ahde e 
Voigtländer, Verlag: Farbige Eitograppien i ee a ee SO 
Wagner, Richard: Briefe an Minna eae ww 885 
Wagnerbildniffe . . . . o the 3 tes 
Waſſermann, Jakob: Die Schweſtern „ ee ee eee eee ee 
Weber, Hans v.: Deurſche 8 SS > e ar e e 
Wege nach Weimar by a oh Te igh os Be aan Ms ai 20 
Beifer, Karl: Sefus . . e 
Wied, Guſtav: Zweimalzwei gleich fünf Bi A e 
Wittſtock, O.: Der ſechſte ag 731 


Wulffen, Dr. Erich: Der Strafprozeß, ein Runftwert der Zukunft 238 
Wychgram, Jakob: Vorträge und EN zum nee . 202 
Wyl, W.: 9 5 von Lenbaoaohyhhhyh⸗³hÖm¼ed wt 741 
Zepler, Marg. A.: Menſchenkultu ee 202 


Dffene Halle 


Falſche Achtung : 
Frau, ihr Schuldkonto 
Heimatloſen, Die ad 
Snternationale Sitfefprage : 
Katholiſches ; j 
Liebesleben eines Fürſten — 
Preußiſches 5 
Schule und Haus : 
„ Leben 


Volksbibliotheken, Erfüllen fie ihre Aufgabe? 


Türmers Tagebuch 


Justitia fundamentum ! 
ns II. 


Im Zeitalter des Verkehrs — National? — Ein Röngle — — Oeutſcher 


Inhalts -Verzeichnis 


Jammer — Eulenburg und Harden 376 
Im Zuge der Nörgler — Der Heroismus der Yummpeit — Preußen 

Wahlſumpf : A 521 
Ein „demokratiſches“ Programm - — Der Prozeß — Bereit fein . . . 675 


Ein moderner Held — Griffe kloppen! — Erziehung zur Mannhaftigkeit 826 


Literatur 


Anthologien at 

Aſthetiſche Unkultur . 

Bab, Julius 

Bernhardt, Sarah 

Bismarck 

Büchmann, Der neueſte 

Coppée, Francois 

„Erde“ von Karl Schönherr 
Fehrs, Johann Hinrich 

Gebet in der Literatur. 

Gide, André ‘ 

Goethes „Fauft“ auf ber Bühne 
Goethes, Die letzten be 
Goethe als Geſchäftsmann 

Gott, Leben und Kunſt 

Greiner, Leo 

Grundfragen der Literatur 


Hauptmann, . Sein elo 


Helden 

Hoffensthal, Hans v. 
Kulturſchraubſtock 

L' Arronge, Adolf 


Inhalts- Verzeichnis 


Lienhard, Fritz 
Literatur: Grundfragen ae 
„ Das Gebet in bs 


Neue Bilder... . . ee 118. 263. 588. 731. 


Satyrſpiele 

Scherl 

Schönherr, Karl Br a 
Schönaich · Carolath, Prinz Emil = : 
Tolſtois Ideenwelt ar . 
Volksbibliotheken 

Wege nach Weimar . . . . 
Weiſers Tetralogie: = ‘ 

Wied, Guftav . . . 


Bildende Kunſt 


Baluſchek, Hans 
Vaufunft, altſchweizeriſche 
Beckmann, Johanna . 
Berliner Sezeſſion, Ihre Austellung 
Bismard und en : 
Brandis, Auguſt v. 
Chriftustypus . 

Dekorative Künſte 
Heimſtätten für Menſchen 
Hiſtoriſche Malerei . . . 
Sanffen, Peter 

Jahrbücher, zwei 

Kunſt und Gemüt 

Lenbach 8 

Matthies ⸗Maſuren, F 


255. 


Neue Bücher und Bilder . 290. 448. 743. 


Paſtor, Willy 

Plaſtik, vom Geiſte Deuter 

Religiöfe Bilder 

Sezeſſion, Berliner 

Technik, Kultur und Kuntt 

Ahde, Fritz v.: Ein religiöſer Maler 
" „ „ Sein 60. e 
” „ „ Bilder f 


Mufit 


Cornelius, Peter: „Gunlöd“ 
Donna Diana 


Genoſſenſchaft konzertierender Rünfer mit + Denflonsanftat ; 


Kaiſer und Meverbeer . 
Neue Bücher N 
Notenbeilage, Anſere ; 


292. 


144. 


X Inhalts. Verzeichnis 


Seite 
Originalität und Kulturweerrttrtrk . I43 
Reznicek, C. N. v»sssß . b6007 
Ruffifhe Opern E ae & ee a 0 
Schumann, Robert, über die „Hugenotten“ Sow ee Bice co Ve ABA 
Soziale Nöte im deutſchen Mufilleben -. . . . > . 2 ..... . 134 
Wagner, Rihard und Minna. » > 2... eee 885 
Wagner Bildniſſe e ee oid) ae Se ter DZ 
Weingartner . > 2 ww ee ee ee ee ee ew ew we «140 

Briefe 
Auf den Beilagen. 
Büchereingänge 


Auf den Beilagen. 


Kunſtbeilagen, Photogravüren und Illuſtrationen 


Heft 7: Interieur. Von A. v. Brandis. 
Jeſus mit Jüngern. Von A. v. Brandis. 
Grablegung. Von A. v. Brandis. 
Chriſtus und Kind. Von L. Fahrenkrog. 
Sternlein. Von Johanna Beckmann. 
Heft 8: Feldarbeit. Von Peter Janſſen. 
Erfurter Bürger verbrennen 1814 den Napoleon-⸗ Obelisken. Von 
Peter Janſſen. 
Die Gefangennahme des Ober-Vierherrn Heinrich Kellner durch die 
Bürgerſchaft. Von Peter Janſſen. 
Heft 9: Selbſtbildnis. Von Fritz v. Ahde. 
Die gelehrten Hunde. Von Fritz v. Ahde. 
In der Sommerfriſche. Von Fritz v. Ahde. 
Laffet die Kindlein zu mir kommen. Von Fritz v. Ah de. 
Kinderprozeſſion. Von Fritz v. Ahde. 
Schwerer Gang. Von Fritz v. UHde. 
Hundefütterung. Von Fritz v. Ahde. 
Heft 10: Der Bahnhof. Von H. Baluſchek. 
Laſtzug. Von H. Baluſchek. 
Weißbieridyll. Von H. Baluſchek. 
Vergnügungspark. Von H. Baluſchek. 
Sonntag auf dem Tempelhofer Felde. Von H. Baluſchek. 
Muſikus. Von H. Baluſchek. 
Heft 11: Bismarck. Von F. Lenbach. 
Wolf v. Goethe. Von K. Begas d. A. 
Walther v. Goethe. Von Chr. Schuchardt. 
Ottilie v. Goethe. Von Luiſe Seidler. 
Alrike v. Pogwitſch. 
Das Kind. Von L. Fahrenkrog. 
Kain. Von L. Fahrenkrog. 
Heft 12: Graf Leo Tolſtoi 
6 Abbildungen von Skulpturwerken von Ernſt Müller. 


Inhalts-Verzeihnis XI 


Heft 7: 
Heft 8: 
Heft 9: 


Heft 10: 
Heft 11: 


Heft 12: 


Notenbeilagen 


Gunlöds Aufnahme in Walhall. Aus der dreiaktigen Oper „Gunlöd“ 
von Peter Cornelius, ergänzt von Waldemar v. Baußnern. 

Zwei Lieder. Ged. von J. E. v. Grotthuß. Komp. von Oskar 

Hieke. 1. Heimatklänge. 2. Nachtgedanken. 

Spirito santo. Ged. von Baronin Emily von der Goltz. Komp. 
von Karl Loewe. 

Liebesgedanken. Ged. von Wilhelm Müller. Komp. von Karl 
Loewe. 

Narrenlied aus der komiſchen Oper „Donna Diana“ von E. N. 
v. Regnicet. 

Das Lied von Hans dem Schuſter. Ged. von H. Benzmann. 
Komp. von Clara Faißt. 

Rofenmär. Ged. von F. Hein. Komp. von Clara Faißt. 

Drei Klavierſtücke. Von Victor Hansmann. Sehnſucht. Tückiſche 

Gewalten. Idylle. 


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— Jrannot Emil Freiherr. Brotfhuss, N 


T hn April 1908 Belt 7 


Du wirſt verwandelt! 


Von 


E. v. Wildegg 


Dente du noch, Geele, der träumenden Stunde? 


Lag in den Halmen, in fäufelnden Blumen, 
Hörte die Stimmen von Vögeln und Wind, 
Sinnende Sehnſucht ſchwoll mir im Herzen, 
Anbewußt litt ich der Einſamkeit Weh. 
Hatte ja keinen, keinen Geſpielen — 

Blumen im Garten, wie habt ihr's gut! 
Standen ſo viele hier plaudernd beiſammen, 
Neigten ſich, nickten — ach, immer ſo viele, 
Freunde, Geſpielen — wie habt ihr's gut! 


Sieh, und da dachı? ich: „Wär' ich kein Menſch doch! 
Wär ich ein Blümchen! Wie hätt' ich's gut!“ 


Alſo ſchloß feſt ich die Augen und preßte 
Kräftig den Körper, den Zopf und die Wange 
Gegen die Erde, die kühle, die ſtille. 

Dachte: „Da wachſ' ich am Ende wohl feſt! 


Der Tirmer X. 7 


Wildegg: Du wirft verwandelt! 


Würzelchen fchlagen aus Füßen und Zöpfen, 
Aus dem Geſicht aber ſproſſen die Blüten: 
Glockenblümchen, ein klingendes, ſchwingendes 
Bin ich und läute ſo lieblich und hallend — 
Weithin die Blumen ſie hören mir zu!“ 


Alſo preßt' ich, inbrünſtig und bittend, 
Feſt an die Erde die brennende Wange, 
Träumte geſchloſſenen Auges, träumte: 

Daß ich ſank in dunkle Tiefe, 

Wurzeln ſchlug in kühler Tiefe, 

Keimend lag’? im Erdenſchoß .. 
Iſt's jetzt vollendet? — Bin ich verwandelt? — 
Zaghaft rühr' ich die Glieder — das Haupt — — 
Ach! — da war ja noch alles beim alten! 
Ach, noch immer Kopf, Kleider und Zöpfchen! 
Immer kein Blümchen — noch immer ein Menſch! 


Denkſt du noch, Seele, der träumenden Stunde? 


Warte nur, harre nur! Einſt aus der Erde 
Wirſt du erſtehen, verklärt und verwandelt! 
Seliges Klingen wird dir entſtrömen, 

Freunde werden die Hände dir reichen, 
Einſamkeit gibt es im Himmel nicht mehr! 
Was du geträumt, als mit brennender Wange 
Du an die ſchweigende Erde dich preßteſt: 
Tauſendmal ſchöner noch wird dir's zuteil! 


Denke drum, Seele, der träumenden Stunde, 
Freu' dich und jauchze: du wirſt verwandelt! 


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Mein religiöſes Kredo 
(Oſtern 1903) 


Aus dem noch unveröffentlichten III. Teile von „Das Skizzenbuch meines Lebens“ 
Von 


Dagobert v. Gerhardt⸗Amyntor 


inundſiebenzig Winter ſind über meinem Haupte dahingegangen, 

und ſiebenzig Oſterfeſte habe ich erlebt. Dem einundſieben— 
© 20 zigſten Ofterfefte, das diesmal erft in den April fällt, gehe 
SIE) ich entgegen, und es drängt mich, mich einmal mit mir ſelbſt 
über die Gedanken auseinanderzuſetzen, die gerade das höchſte Feſt der 
Chriſtenheit in mir anregt. 

In den heiligen Schriften finden wir vielfach Berichte, denen die 
Bemerkung hinzugefügt iſt: „Auf daß die Schrift erfüllet würde.“ Die 
berichteten Vorgänge werden dadurch abſichtlich ſo dargeſtellt, als ob ſie 
von einer höheren Macht nur deshalb veranlaßt worden ſeien, um dieſe 
oder jene Vorherſage wahr zu machen. Der Glaube an das Propheten- 
tum ſoll dadurch geſtärkt, es ſoll die Aberzeugung hervorgerufen werden, 
daß Gott dieſes und jenes getan habe, nur um ſeine vor Jahren oder Jahr— 
hunderten gemachten Verſprechungen zu erfüllen. Es iſt ein recht eigent- 
licher Anthropomorphismus, dem man mit ſolcher Darſtellungsart Vorſchub 
leiſtet; man bildet einen Gott, der weisſagt, der Verſprechungen macht, der 
ſie ſchein bar vergißt und ſich endlich ihrer wieder erinnert, und ſo gelangt 
man zu einem völlig vermenſchlichten Gotte, der mit menſchlichem Ver— 
ſtande ausgerüſtet und deſſen Herz von menſchlichen Affekten, von Liebe, 
Zorn und Reue erfüllt if. Man ſtelle ſich nur einmal recht genau einen 
ſolchen Gott vor, der etwas tut, nur um die von ſündigen und irrenden 
Menſchen gemachten Vorherverkündigungen zu erfüllen, und man erkennt 
ſofort, daß da irgendwo in der Rechnung ein falſcher Anſatz ſein muß. 
Dieſer falſche Anſatz liegt in den Worten: Prophet, Prophetentum. 

Die Kirchenlehre hat ſich immer bemüht, die ſogenannten Propheten 
als Männer darzuſtellen, die infolge göttlicher Erleuchtung mit ſicherem 


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4 Gerharbt-Ampntor: Mein religidfes Kredo 


Blicke in die Zukunft ſehen konnten und ganz befonders berufen und be- 
fähigt waren, Chriſtum vorherzuſagen. Schon die Evangelienſchreiber haben 
dieſe Auffaſſung geteilt, und ſo manches, was ſie niederſchrieben, mag 
dadurch beeinflußt und vielleicht unbewußterweiſe zurechtkonſtruiert worden 
ſein. Je niedriger die Kulturſtufe iſt, auf der ein Volk ſteht, um ſo höher 


iſt die Ehrfurcht vor dem geſchriebenen Worte, in dem man eine Art Talis. 


man erblickt, dem man allerlei wunderkräftige Eigenſchaften zuſchreibt. So 
erinnere ich mich jenes marokkaniſchen Generals, den ich einſt um ſein Auto⸗ 
gramm gebeten hatte. Er kam meiner Bitte mit Würde nach. Feierlich 
und gemeſſen malte er ſeine Schnörkel in mein Notizbuch, und die Herren 
ſeines Gefolges ſchauten ſeiner Malerei in atemloſer Stille und Erwartung 
zu. Als die Niederſchrift beendet war, ſeufzten ſie erleichtert auf, be⸗ 
trachteten aber den Namenszug ihres Chefs mit einer Art ſcheuer Ver⸗ 
wunderung, als ob in ihm etwas Geheimnisvolles, Kabbaliſtiſches verborgen 
fein müßte. Das mit Furcht gepaarte Staunen des auf niedrigem Rultur- 
niveau ſtehenden Orientalen (ſo darf man auch einen Marokkaner nennen) 
über das ihm rätſelhaft dünkende und mit Zauberkraft ausgeſtattete Myſterium 
der Schrift! Nur einem Drientalen ift der Gedankengang möglich und ge⸗ 
läufig, daß Gott etwas tue, nicht aus dem ſouveränen Willen feiner gött⸗ 
lichen Allmacht und Zweckbewußtheit heraus, ſondern nur, um das ge⸗ 
ſchriebene Wort irgend eines armſeligen, irrtumgeblendeten Menſchenkindes 
wahr zu machen. Dieſer gänzlich unhaltbaren Auffaſſung liegt ein Miß⸗ 
verſtehen zugrunde, das durch das Prophetentum des Alten Teſtamentes 
veranlaßt iſt. Das hebräiſche Arwort für Prophet iſt nabi. Dieſes nabi 
bedeutet niemals einen Vorherſager, ſchon darum nicht, weil die ſemitiſchen 
Sprachen gar nicht imſtande ſind, Wortkompoſita zu bilden, alſo den Be⸗ 
griff des Vorherſagens gar nicht durch ein einfaches Wort ausdrücken 
können. Nabi, plur. nebiim kommt von der allgemein ⸗ſemitiſchen Wurzel 
naba’ a = reden, ſprechen. Nabi ift daher der Sprecher und zwar genau 
in demſelben Sinne, wie man etwa im engliſchen Parlamente von einem 
Sprecher redet: nicht ein Mann, der von ſich aus und Eigenes redet, ſondern 
der für einen anderen aus einer beſonderen Veranlaſſung redet. Der näbi 
fühlte ſich als Botſchafter Gottes, als ein in deſſen Auftrag Redender. 
Was er redet — davon iſt er völlig überzeugt — iſt nicht Erfindung ſeines 
Geiſtes, ſondern ein Höheres redet aus ihm; er muß, auch wenn er es nicht 
wollte, der Mund Gottes ſein. Er hat allerdings die Fähigkeit, zeitliche 
Dinge unter ewigen Geſichtspunkten zu betrachten, aber er iſt kein Weis⸗ 
ſager und Wahrſager im Sinne eines ganz beſtimmte Ereigniſſe vorher 
verkündenden Mantikers; er ſieht überall das Walten Gottes, mahnt ſeine 
Zeitgenoſſen, ſich dieſem göttlichen Walten willig hinzugeben, verſtärkt ſeine 
Mahnungen durch ſymboliſch eingekleidete Drohungen, will aber nicht in 
der Rolle eines Zauberers und Geiſterſehers verftanden werden und be⸗ 
hauptet auch keineswegs, mit dem zweiten Geſicht begabt zu ſein, vermöge 
deſſen er etwa zukünftige Ereigniſſe beſtimmt vorherſagen könnte. 


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Gerhardt - Amyntor: Mein religibſes Kredo 5 


Wenn es z. B. Heſekiel 32, 6 heißt: „Das Land, darinnen du 
ſchwimmeſt, will ich von deinem Blut rot machen bis an die Berge hinan, 
daß die Bäche von dir voll werden“, ſo wird doch kein Vernünftiger dies 
wörtlich als eine Prophezeiung verſtehen, nach welcher ſich eine wahre Sint⸗ 
flut von Blut über das Land bis an die Berge hinan ergießen ſolle, 
ſondern man wird unſchwer hier nur ein kraſſes Bild, eine rhetoriſche 
Hyperbel, erkennen, die gerade als ſolche einen ſtarken Eindruck auf die 
Hörer machen ſollte. Gott iſt in allen ſolchen Ermahnungen als der all⸗ 
gewaltige zorn · und racheſchnaubende Jahveh dargeſtellt, der fic in Drohungen 
und in der Ausmalung furchtbarer Schrecken gar nicht genug tun kann und 
ſeine Ermahnungen faſt immer mit den Worten ſchließt: „Daß ſie erfahren, 
daß ich der Herr fei”. Die Worte des näbi follen alſo durchaus keine 
Vorherſage eines beſtimmten geſchichtlichen Ereigniſſes ſein; ſie wollen nur 
ganz im allgemeinen Zeitbilder malen und beſonders auf die Strafmittel hin 
weiſen, die Gott für diejenigen bereit hält, die ſich dauernd von ihm abwenden. 

Ahnlich verhält es ſich mit den ſogenannten meſſianiſchen Ver⸗ 
kündigungen. Die Israeliten hatten von alters her einen Volkserretter er- 
wartet, einen Mann, der zu rein politiſchen Zwecken von Gott geſandt 
werden ſollte; er ſollte ein theokratiſches Reich begründen und dem Volke 
Israel die Weltherrſchaft ſichern. So wie die deutſche Volksſeele faſt ein 
Jahrtauſend lang die Sage von dem im Kyffhäuſer ſchlafenden Barbaroſſa 
treu bewahrte, der einſt erwachen und die deutſche Macht und Herrlichkeit 
wiederherſtellen würde, ſo war die Hoffnung auf den „Maſchiaſch“, den 
Geſalbten, der Traum Israels, und in dieſem Traume ſah das israelitiſche 
Volk die zukünftige jüdiſche Weltherrſchaft und zugleich die Vollendung 
des wahren Gottesreiches geſichert. Wenn nun gewiſſe Verkündigungen 
der Propheten nicht auf den bis heute vergeblich erwarteten politiſchen Er⸗ 
retter, ſondern auf Jeſus bezogen werden, ſo läuft hier tatſächlich mancherlei 
Willkür und gewaltſame Umdeutung mit unter, immer zum offenkundigen 
Zwecke, die Glaubwürdigkeit der ſogenannten Propheten zu erweiſen und 
ſo der Religion ihren Offenbarungscharakter zu bewahren. 

Der Begriff des näbi deckt ſich übrigens nur mit den fpäteren Dro- 
pheten; die in früheren Zeiten hervorgetretenen geiſtigen Führer des Volkes 
wurden „Seher“ (ro&h) genannt. Samuel ift ein ſolcher Seher. Saul 
wird von einem ihm entgegenkommenden Haufen Propheten in Begeiſterung 
verſetzt und „weisſagt“ (ſo überſetzt Luther); richtiger würde es heißen: 
benimmt ſich wie ein Prophet. Unter dieſem Prophetenhaufen find Leute 


zu verſtehen, die durch erzentriſches Weſen ihre religiöfe Exaltation äußerten. 


und ſich um die Perſon eines näbi zuſammenſcharten: die ſpäter fogenannten 
Prophetenſchulen. Ein Seitenſtück zu dieſen Propheten ſind die tanzenden 


Derwiſche des heutigen Orients. Mit ſolchen ekſtatiſchen Fakiren, die unter 


wilder Muſil im Lande umherzogen, darf allerdings ein näbi nicht ver- 
wechfelt werden, und ſchon Amos weiſt eine ſolche Gleichſtellung mit Ent 
ſchiedenheit zurück. 


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6 Berharbt-Ampntor: Mein religtöfes Kredo 


Diefe Bedeutung des Prophetentums bleibt infolge mangelhaften 
Schul- und Religionsunterrichtes den meiſten Laien ganz verſchloſſen; auch 
durch die Lutherſche Bibelüberſetzung wird ihre Kenntnis gerade nicht ge⸗ 
fördert. Wenn Luther z. B. 1 Korinther 13, 9 überſetzt: „Denn unſer 
Wiſſen iſt Stückwerk und unſer Weisſagen iſt Stückwerk“, ſo iſt dieſes 
noopntevouer hier wieder im Sinne von Vorherverkünden genommen; rich- 
tiger würde es heißen: unſer Gottverkünden, unſere Ausſagen über Gott 
find Stückwerk. Dies gäbe einen auch dem einfachſten Laienverſtande faß⸗ 
baren Sinn, denn Stückwerk iſt tatſächlich alles, was der Menſchengeiſt je 
über Gott ausgeſagt hat und noch ausſagen wird; eine Prophezeiung aber, 
die nur Stückwerk iſt, nur lückenhaft oder gar deutungsfähig wie ein del⸗ 
phiſches Orakel, iſt keine Prophezeiung mehr. Der Menſch des 20. Jahr- 
hunderts, deſſen Weltanſchauung ſich nicht mehr in Widerſpruch mit natur⸗ 
wiſſenſchaftlichen Tatſachen zu ſetzen vermag, bedarf keiner Prophezeiungen 
und keiner Offenbarungen mehr. Der Glaube an Menſchen, die befähigt 
ſein ſollen, ganz beſtimmte Ereigniſſe in der Zukunft vorherzuſehen, erſcheint 
ihm als Aberglaube. Wir lüften alle den Schleier der Zukunft nur ſo 
weit, als uns dies logiſche Schlußfolgerungen aus bisher gemachten all: 
gemein gültigen Erfahrungen ermöglichen. Wer da verkündet, daß jemand 
einmal ſterben werde, der offenbart eine durch Erfahrung bis zur Gewißheit 
erhärtete Tatſache; wer aber vorherſagen wollte, daß jemand an beſtimmtem 
Tage und zu beſtimmter Stunde, an beſtimmtem Orte und aus beſtimmter 
Arſache ſterben werde, der gebärdet ſich als Weisſager; man glaubt ihm 
nicht. Entweder gibt es keine Propheten, oder wir ſind alle Propheten; man 
hat die Wahl, das eine oder das andere zu bejahen. Natürlich gibt es 
Menfchen, die durch Bildung oder Begabung mehr als andere befähigt 
find, ein ungefähres Bild der nächſten Zukunft in allgemeinen Umriffen zu 
entwerfen, und die ſicherſten und glaubwürdigſten Propheten ſind allezeit 
die Dichter geweſen, die die Schrecken oder die Herrlichkeit kommender Zeiten 
zu ahnen vermochten; wenn ſie ſich aber auf die Vorherſage ganz beſtimmter 
Daten und Ereigniſſe einlaſſen wollten, würde man mit Recht an ihnen zweifeln. 

Kann man überhaupt ernſtlich annehmen, daß Gott einzelnen Menſchen, 
die doch wie alle anderen fündig und dem Irrtum unterworfen find, Wahr⸗ 
heiten offenbaren werde, an die die übrige Menſchheit bedingungslos zu 
glauben habe? Bedarf denn die Gottheit einer ſolchen Mediumſchaft, da 
ſie ſich ja direkt im Herzen und Gewiſſen jedes einzelnen zu offenbaren pflegt? 
Iſt es nicht ein ungeheuerlicher und der Weisheit und Macht der Gottheit 
widerſprechender Anthropomorphismus, wenn man irgend einen Termin 
im Weltprozeſſe annimmt, an dem die Gottheit erkannt haben ſoll, daß es 
mit der Entwicklung des Menſchen ſo nicht weiter gehe, und daß durch 
eine beſondere Offenbarung an einzelne dem Gange des geſamten Prozeſſes 
nachgeholfen werden müſſe? Blüht Religion und Glaube nicht in jedem 
Menſchenherzen ganz von ſelber auf? Wozu bedarf der Menſch eines 
Glaubens an andere, die ſich einer empfangenen Offenbarung rühmen, wenn 


Gerharbt-Amyntor: Mein religidfes Kredo 7 


er im eigenen Herzen täglich und ſtündlich die Stimme Gottes zu ver- 
nehmen vermag? Die Stimme Gottes, die den einen hierhin und den 
anderen dahin ruft, alle aber auf Wege weiſt, die ſo oder ſo zum Heile führen. 

Solche Gedanken kamen mir ſchon in meinen Jünglingsjahren. Ich 
habe fie fpäter gewaltſam verſcheucht, und da ich meine Bedenken jemals 
zu löſen verzweifelte, gab ich mich ſchließlich einem gänzlichen Indifferentis⸗ 
mus hin. Ich war aber in einem ſtreng gläubigen Elternhauſe auf⸗ 
gewachſen und von orthodoxen Lehrern erzogen worden; als nun ſpäter der 
Ernſt des Lebens an mich herantrat und ich durch die Schule der Not und 
der Leiden zu gehen hatte, da erwachten in mir die verblaßten Sugend- 
eindrücke zu neuer Friſche und gewaltſam ſuchte ich mich wieder dem alten 
Glauben hinzugeben. Vergebliches Bemühen! Ich war zu weit in das 
Gebiet exakter Wiſſenſchaften eingedrungen, zu lange und zu eifrig hatte 
ich in den Syſtemen alter und neuer Philoſophen geforſcht, um noch ein- 
mal den verlorenen Standpunkt blinden, kritikloſen Glaubens zurückgewinnen 
zu können. Viele, viele Jahre lang bin ich ſo durch ſtete Zweifel und Be⸗ 
unruhigungen hindurchgegangen; nicht ohne ſchmerzlichen Kampf mußte ich, 
wenn ich ehrlich gegen mich und meinen Gott ſein wollte, ein Stück nach 
dem anderen des alten naiven Dogmenglaubens über Bord werfen, und 
es währte für mein heißes Sehnen unerträglich lange, bis ich endlich Ruhe 
und Frieden mit mir ſelbſt und die feſte Aberzeugung gewann, daß jeder, 
dem Gott die Gnadengabe logiſcher Denkfähigkeit verliehen hat, ſich ſeinen 
Glauben felber zurechtzuzimmern hat. Nicht das, was uns andere vor- 
ſagen, ſondern das, was wir ſelbſt in heißem Mühen und Ringen aus 
dem tiefen Schachte unaufhellbarer Dunkelheiten und Geheimniſſe für uns 
ans Licht des Tages heraufbefördern, das iſt unſere Erlöſung. 

Oft hat es mir ſcheinen wollen, als ob man die erhebende und be⸗ 
ſeligende Kraft der Lehre und des Beiſpiels Chriſti ganz unnötig durch 
Offenbarungs⸗ und Wunderdogmen abſchwaͤche und dadurch viele dem Chriſten 
tum entfremde, die ſonſt, wenn man ihnen das Opfer des exakten Denkens 
nicht zumutete, freudige und überzeugte Bekenner des Menſchenſohnes ſein 
würden. Daß man dieſem eine für den einfachen Menſchenverſtand ganz 
unfaßbare und myſtiſche Doppelnatur, halb als Menſch, halb als Gott zu⸗ 
ſchreibt, iſt mir mehr und mehr als eine Schädigung ſeines erhabenen 
Bildes und feiner unſterblichen Lehre erſchienen. Der brave, ſtreng ortho- 
dore Pfarrer, der mich konfirmierte, quälte ſich vergeblich damit ab, mir 
die ganz beſondere Eigenart Chriſti als „Gottes Sohn“ dadurch klar zu 
erweiſen, daß dieſer Gottmenſch ganz allein Tote zum Leben erweckt und 
am Oſtermorgen die Pforte des Grabes als Auferſtandener geſprengt habe. 
Auf dieſer Gedankenbahn, die ich mich redlich zu verfolgen bemühte, ſtolperte 
ich immer wieder über andere, ebenfalls in der Schrift berichtete Tatſachen. 
Als der Vorhang im Tempel zerriß und die Erde erbebte, taten ſich nach 
dem Matthaͤus⸗ Evangelium (27, 52. 53) die Gräber auf, und „viele Leiber 
der Heiligen, die da ſchliefen, ſtanden auf und gingen aus den Gräbern 


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8 Gerhardt-Amyntor: Mein religiöſes Kredo 


und kamen in die heilige Stadt und erſchienen vielen“. Hier haben wir 
ja eine Totenauferſtehung in Maſſe, die mein Lehrer als bedeutungslos zu 
übergehen ſchien, denn wenn das berichtete Ereignis wahr war, dann war 
ja die Auferſtehung Chriſti kein Anikum mehr und von keiner Beweiskraft 
für ſeine beſondere Gottnatur. Mit welchem Rechte aber durfte man etwa 
die eine Tatſache verwerfen und die andere annehmen? Ich hatte alſo 
beide zu glauben. Das widerſprach aber allem, was uns in der Natur⸗ 
geſchichte auf dem Gymnaſium gelehrt wurde. Und nicht anders verhielt 
es ſich mit der Beweiskraft der Krankenheilungen und Totenauferweckungen. 
Wenn Paulus wirklich einem Lahmgeborenen zu Lyſtra durch ſein bloßes 
Wort den Gebrauch der Füße wiedergegeben hatte, und wenn andererſeits 
Petrus zu Joppe die tote Tabea, die als gewaſchene Leiche ſchon auf dem 
Söller lag, durch fein Wort: „Tabea, ſtehe auf!“ wirklich ins Leben zurück- 
gerufen hatte, wenn alle die in der Apoſtelgeſchichte teils ausführlich be⸗ 
richteten, teils nur ſummariſch angedeuteten Wundertaten keine Legenden, 
ſondern hiſtoriſche Tatſachen waren, dann hatten ja ſündige Menſchen, 
denen wir durchaus keine beſondere Gottnatur zuerkennen, ganz dieſelben 
übernatürlichen Kräfte offenbart, wie der Menſchen ſohn; wo blieb dann die 
Einzigart der Taten Jeſu und die Logik der aus dieſen Taten gezogenen 
Folgerungen? Solche und ähnliche Gedanken kamen mir, wie geſagt, ſchon 
in meinen jüngeren Jahren. Später, als ich mich, um meiner Zweifel Herr 
zu werden, eingehender mit dieſen Fragen zu beſchäftigen entſchloſſen hatte, 
machte ich die Bekanntſchaft geiſtreicher theologiſcher Schriftſteller und Exe⸗ 
geten, die ſich in ſubtilſten Begriffsſpaltereien bemühen, dieſe Widerſprüche 


als gar nicht vorhanden darzutun. Auch nicht einer von ihnen konnte mich 


überzeugen. So brachte z. B. noch neuerdings der Theologieprofeſſor 
Frhr. v. Soden eine Oſterbetrachtung (B. L. A. 12. April 1903), in der 
er ſagt: „Der Glaube, der ſich ſelbſt verſteht, bezieht ſich überhaupt nicht 
auf vergangene Ereigniſſe, ſondern auf gegenwärtige Kräfte. Seine eigent⸗ 
liche Welt iſt die Zukunft und nicht die Vergangenheit. Glaube, der ſich 
ſelbſt verſteht, fürchtet ſich darum auch nicht vor einer etwaigen Anderung 
des Geſchichtsbildes, betreffe es nun die Weltſchöpfung in ſechs Tagen oder 
die Art, wie Jeſus zu neuem Leben erſtanden iſt.“ Solche halben Zu- 
geſtändniſſe an das naturwiſſenſchaftliche Denken können aber den zwiſchen 
Glauben und Wiſſenſchaft hin und her Schwankenden nicht endgültig be⸗ 
ruhigen; hier heißt es: entweder die berichtete Tatſache iſt wahr oder ſie 
kann nicht wahr fein, weil fie Gott und der von ihm geſetzten Natur- 
ordnung widerſpricht. Ein Kompromiß zwiſchen dieſem Entweder und Oder 
iſt unvereinbar mit der Geſetzmäßigkeit des Denkens. 

Je länger ich mich mit dieſen Fragen herumquälte, weil mir mein 
germaniſches Gewiſſen keine Ruhe ließ und mir der moderne religidfe In⸗ 
differentismus nur Abſcheu einflößte, um ſo zwingender drängte ſich mir 
die Anſicht auf, daß die Aberlieferung von Chriſti Lehre und Leben durch 
jüdiſche Superſtitionen weſentlich gefälſcht und geſchädigt ſein müſſe. Ich 


Gerdardt-Ampntor: Mein rellgidſes Kredo 9 


bin feſt überzeugt, daß, wenn Männer deutichen Blutes uns Evangelien 
geſchrieben hätten, wir ein ganz anderes Sefusbild beſitzen würden, ein 
Bild, das uns bekannter, verſtändlicher und, wenn dies überhaupt noch 
möglich wäre, noch hoheitsvoller anmuten würde. And ich denke mir, eine 
nahe oder ferne Zukunft wird uns ein ſolches von Prophetentum und Offen⸗ 
barungsdogmen befreites Jeſusbild bringen, einen deutſchen Jeſus, der uns 
nichts Denk⸗ und Naturwidriges mehr zumutet und durch ſeine unvergleichliche 
Herrlichkeit und welterlöſende Liebes kraft alle deutſchen Herzen im Sturme 
gewinnen und alle Zweifel an ihm, ein ſtrahlender Triumphator, ſiegreich 
niederſchlagen wird. Dann wird der unſelige Zwieſpalt beſeitigt ſein, der 
heute die Herzen und Gewiſſen ſchon der lernenden Jugend zerreißt: daß 
nämlich die Schule vieles als abſurd zu verwerfen lehrt, was im Religions. 
unterrichte als glaubwürdig und heilbringend ins Gewiſſen geſchoben wird. 

„Das Wunder iſt des Glaubens liebſtes Kind“, heißt es im Fauſt; 
vielleicht wird man aber in jener erleuchteten Zukunft mit beſſerem Rechte 
ſagen lernen: „Das Wunder iſt des Glaubens ärgſter Feind“. Denn wenn 
wir Söhne und Töchter der deutſchen Erde gemeinſam einen deutſchen Jeſus 
beſäßen und mit unverletztem wiſſenſchaftlichen Gewiſſen verehren und lieben 
dürften, dann bedürfte in der Tat unſer Glaube an ihn keiner Wunder mehr 
als Stützen; Chriſti Erlöferlegitimation läge allein in feinen un vergänglichen 
göttlichen Worten und in der Tat ohnegleichen, wie der größte Liebesheros 
der Menſchheit in den bittren Tod ging. Ein ſchwacher und ſchwächlicher 
Glaube ſucht ſich durch eifriges Lauſchen auf Wundermären zu kräftigen; 
ein ſtarker, im Herzen geborener und dort wurzelnder Glaube hat dies nicht 
nötig. Schon das Kind glaubt an die unerſchöpfliche Kraft der Mutter: 
liebe, ohne daß es widernatürliche Wundertaten ſeiner Mutter verlangt; 
um wieviel bereiter und inniger wird ſich der reif fühlende und denkende 
Menſch dem Menſchenſohne hingeben, der nirgends mehr die Geſetze der 
Natur, das find die Geſetze Gottes, durchbricht, der aber in einem bisher 
unerreichten Beiſpiele uns gezeigt hat, welche grandioſen Wunderwerke an 
Liebe ein einziges kleines und doch ſo großes Menſchenherz zu wirken 
vermag — Wunderwerke, die, wenn fie unverfälſcht überliefert und all- 
gemein begriffen und verſtanden würden, die ganze Menſchheit zur Ver⸗ 
ehrung auf die Knie zwingen müßten. 

Soll ich endlich noch der eschatologiſchen Worte Chriſti gedenken, 
die uns die Evangelienſchreiber überliefert haben? Auch ſie haben mir 
allzeit das Bild des Erlöſers unklar gemacht. Wenn dieſer ſagt (Luk. 9, 27): 
„Ich ſage euch aber wahrlich, daß etliche ſind von denen, die hier ſtehen, 
die den Tod nicht ſchmecken werden, bis daß fie das Reich Gottes ſehen“; 
wenn er das Weltende ſchildert (Matth. 24) und ſeine Jünger mahnt, bei 
deſſen Eintritt auf die Berge zu fliehen und Gott zu bitten, daß dieſe 
Flucht nicht im Winter oder am Sabbath geſchehen möge, und wenn er 
dann wieder hinzufügt, „daß dies Geſchlecht nicht vergehen werde, bis daß 
dies alles geſchehe“, ſo drängt ſich uns doch unabweislich der begründetſte 


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10 Gerdardt-Amyntor: Mein religidfes Rredo 


Zweifel an der richtigen Wiedergabe feiner Worte auf, wenn wir nicht 
annehmen follen, daß ſich Chriſtus im Hinblick auf das damals allgemein 
erwartete und gefürchtete Weltende ebenfalls im landläufigen Irrtum be⸗ 
funden habe. Selbſt wenn wir eine bewußte und abſichtliche Anpaſſung 
Chriſti an die Gedankenwelt ſeiner Jünger annehmen wollten, bliebe doch 
immer der fragwürdige und ſelbſt im Hinblick auf die damalige höchſt mangel- 
hafte Naturkenntnis durchaus unwahrſcheinliche Rat, beim Eintritt des 
Weltendes auf die Berge zu flüchten, ein kaum zu beſeitigender Stein des 
Anſtoßes. Es iſt wohl nicht mehr zu bezweifeln, daß die vom kraſſeſten 
Aberglauben ihrer Zeit und Raffe erfüllten jüdiſchen Evangelienſchreiber 
in ſolchen und ähnlichen Stellen ihren eigenen eschatologiſchen Gedanken 
naiven Ausdruck gegeben haben. 

Das Bedürfnis, das getrübte Jeſusbild von fo ungehörigen Zutaten 
zu reinigen, mag wohl in vielen Chriſten, die es ernſt meinen mit den 
Fundamenten ihres Glaubens, bewußt oder unbewußt lebendig ſein. Ganz 
verwerflich erſcheint daher jede orthodoxe Anduldſamkeit, die einem Chriſten⸗ 
menſchen, wenn er über die behauptete Gottnatur des Menſchenſohnes ſeine 
eigenen autonomen Anſichten hat, überhaupt die Eigenſchaft eines Chriſten 
abſprechen möchte. Von ſolcher intoleranten Einſeitigkeit, von ſolcher ketzer⸗ 
riecheriſchen und autodafefüchtigen Gewiſſenstyrannei ſollten ſich die Prediger 
der Liebe im 20. Jahrhundert ausnahmslos und völlig frei machen. Ich 
habe mich mein ganzes Leben lang redlich bemüht, ein Chriſt zu ſein; ich 
habe geforſcht und gerungen und auf die Stimme der mir von Gott ver⸗ 
liehenen Vernunft unbeirrt gelauſcht; ich habe das von H. St. Chamberlain 
erwähnte Dilemma glücklich vermieden: verzweifelnd wählen zu müſſen 

„ zwiſchen der Religion der Iſis und der Religion des Blödſinns, genannt 
„Kraft und Stoff“; ich bin weder einem vernunftwidrigen Wunderglauben 
noch einem flachen geift- und gemütloſen Materialismus und Rationalismus 
verfallen; ich habe mich nie dem Wahne hingegeben, daß man auf dem 
Felde der Wiſſenſchaft die Frucht des religidfen Glaubens anbauen und 
ernten könne; ich habe mir die Überzeugung von der Exiſtenz eines un⸗ 

| erforſchlichen und undefinierbaren Gottes der Liebe in tauſend blutigen 
„ Gileiſtesſchlachten ſiegreich erkämpft; ich glaube an die beſeligende Kraft 
„jener Worte Chrifti, die unzweifelhaft echt find, und fühle die Verpflichtung, 

dem unerreichbaren Beiſpiele, das er uns im Leben und im Sterben gab, 

> trotz kreatürlicher Schwachheit wenigſtens einigermaßen nachzueifern; ich 
7 glaube an die Anzerſtörbarkeit unſerer geiſtigen Perſönlichkeit, an eine ſitt⸗ 
liche Weltordnung und trotz der bedingten Gebundenheit unſeres Willens 

an unſere niemals aufgehobene ſittliche Verantwortlichkeit — ſo denke ich, 

auch auf den Namen eines Chriſten, eines germaniſchen Chriſten, vollen 

und unbeſtreitbaren Anſpruch zu haben. Die Einwände, die man von 
orthodoxer Seite gegen eine ſolche Auffaſſung des deutſchen Chriſtentums 

gemacht bat, konnten mich nie erſchüttern. So hat erſt jüngſt Dr. F. W. Förfter 

(Der Tag No. 181. 1903) dem Verfaſſer der „Grundlagen des 19. Sabre 


EN 


Gerhardt-Amynter: Mein religiöfeö Rredo 11 


hunderts“ vorgeworfen, daß er einen neuen Götzenkultus der germanifchen 
Naſſe aufgebaut habe und alle höheren ſittlichen Mächte durch das Raſſen⸗ 
idol erſetzen wolle. Es fei, wie F. W. Förſter behauptet, keine „Verirrung 
des Menſchengeiſtes“, ſondern das Ergebnis tiefen Wirklich keits ſinnes, daß 
man die Bibel nicht als „intereſſante“ Literatur neben anderer Literatur, 
ſondern als heilige Schrift, als das Wort Gottes, als die Offenbarung 
Gottes bezeichne. Die Offenbarungslehre habe einen tiefen Sinn, „welcher 
der rein wiſſenſchaftlichen Betrachtung niemals zugänglich ſei und ihr auch 
niemals widerſprechen könne, da er ſich auf Anterſchiede in der Welt geiſtiger 
Hervorbringungen beziehe, die nur durch das innere Erlebnis erfaßt werden 
können“. Mit ſolchen Sätzen geht man meiner Anſicht nach um den Weſens⸗ 
kern der Offenbarungslehre herum. Die Wahrheit der Behauptungen 
anderer, die da vorgeben, von Gott beſondere Eingebungen empfangen zu 
haben, kann ich niemals durch das „innere Erlebnis“ prüfen. Ich kann 
ſelbſt ein inneres Erlebnis erfahren (ſo iſt mir z. B. der Glaube an Gott 
kein Refultat wiſſenſchaftlicher Betrachtung, ſondern tatſächlich ein inneres 
Erlebnis), aber was andere als Offenbarung ausgeben, das bleibt und muß 
für mich bleiben ein Objekt der Kritik, die nicht vom Glauben, ſondern von 
der Vernunft geübt wird. Will man dies nicht zugeben, dann gerät man 
in Gefahr, dem Spiritismus zu verfallen und ſich durch Medien Kunde 
bringen zu laſſen aus der überſinnlichen Welt. 

Als ein deutſcher Chriſt habe ich in Schwachheit gelebt, und als ein 
deutſcher Chriſt will ich dereinſt friedlich einſchlummern zu jenem geheimnis⸗ 
vollen Schlafe, den ich glaubensfroh als den Anfang eines neuen geheimnis⸗ 
vollen Lebens betrachte. Die Hagelkörner praſſeln, während ich dieſes 
ſchreibe, gegen die Fenſterſcheiben und ab und zu dringt die Aprilſonne 
ſiegreich durch das jagende Gewölk und fendet einen neugierigen Strahl 
auf meinen Arbeitstiſch. Dies wechſelnde Frühlingswetter iſt ein Bild 
meines Lebens. Nicht immer hat mir die Sonne geleuchtet, und die Saat⸗ 
felder meiner Hoffnungen ſind mir gar oft durch den Hagelſchlag wider⸗ 
licher Schickſale und ſchmerzlicher Enttäuſchungen verwüſtet worden. And 
doch fühle ich, daß auch da, wo mir bittere Schmerzen bereitet wurden, 
mich die Hand der ewigen Liebe geleitet hat; rückblickend erkenne ich dies 
in Dank und Beſchämung. And ſollte mir auch bis zum Ende April⸗ 
wetter beſchieden bleiben, ich weiß, daß jenſeits dieſes Endes ein neuer Mai 
beginnt, der Lenzmonat der Ewigkeit. So darf auch ich Oſtern feiern, das 
Feſt des Lebensſieges über Tod und Vernichtung. Dies iſt mein Glaube. 
Er iſt, wie alle Religion, kein Erzeugnis der Wiſſenſchaft; aber er ſetzt 
ſich nirgends mit Vernunft und Wiſſenſchaft in Widerſpruch. 

Auch meiner wartet jene große Lücke; 

Ein Abgrund bleibt der Tod, ein ewig trüber; 
Wie ſchön der Dichter ihn mit Blumen ſchmücke, 
Kein Liedchen tändelt fort das Gegenüber, 


Kein Schluß der Weisheit ſchlägt die kühne Brücke, 
And nur des Glaubens Flügel trägt hinüber. — 


& 


Der Waldpfarrer am Schoharie 


Kulturhiſtoriſche Erzählung aus dem deutſch-amerikaniſchen Leben 


des achtzehnten Jahrhunderts 


von 


Friedrich Mayer 


Erſtes Kapitel 


err Pfarrer, hier ift das Pfarrhaus!“ 

Eine Reihe unbeſchlagener Holzſtämme im Viereck auf— 
einandergeſchichtet, die Spalten mit Mörtel ausgefüllt, an 
der Vorderſeite eine niedrige Tür, über dem Ganzen ein ſteiles, 
nur nach einer Seite hin abfallendes Dach, ſo lag das Haus vor mir. 
Wirr durcheinander jagte ein ſchneidend kalter Wind kleine Schneeflocken 
und trieb mir eine ins Geſicht. Es war gut ſo, mein Begleiter erriet nicht, 
warum ich mir die Augen wiſchte. 

Mein Gott, dieſe elende, von der Sonne ſchwarzgebrannte Block— 
hütte verdient doch nicht den altedlen Namen Pfarrhaus! 

Phantaſie und Wirklichkeit, — welche Gegenſätze! 

Was hat mir ſeit meiner Flucht aus dem alten Vaterlande die 
Phantaſie, dieſe Tauſendkünſtlerin, alles vorgezaubert als meine neue 
Heimat! Ein ſtattliches Pfarrhaus mit hohem Giebel, von Reben und 
Epheu umrankt, bald ſtand es in einem lachenden Blumengarten, bald in— 
mitten wogender Weizenfelder, bald von Bäumen umſchattet auf einer An⸗ 
höhe, ein weithin ſichtbares Wahrzeichen! And nun dieſe Hütte; keine 
Straße führt daran vorbei, durch einen hohen Bretterzaun, eine Schutz⸗ 
vorrichtung gegen die Überfälle der Indianer und der wilden Tiere, iſt fie 
abgeſchloſſen von der Außenwelt! 

Wir treten ein. Das Schneetreiben verhindert ja doch jede Ausſicht 
auf die Umgebung. 

„Achtung, Herr Pfarrer, hier ſteht ein Tiſch!“ 

Es iſt dunkel in der Stube, durch ein einziges, kleines Fenſter zittert 
matt das Tageslicht herein. Heute bin ich dankbar für meine kleine Statur, 
ſo muß ich doch nicht gebückt im Pfarrhauſe herumgehen. 


Mayer: Der Waldpfarter am Schoharie | 13 


„Hier iſt noch ein Simmer, Herr Pfarrer!“ Da iſt's ein wenig heller, 
es hat zwei Fenfter. Alles ſchön geräumig; das gibt Studierzimmer und 
Schlafzimmer, die andere Stube fol als Küche, Speiſe · und Empfangs- 
zimmer dienen. Klingt recht vornehm! 

Mein Begleiter geht. Ich ſetze mich auf meine Bücherkiſte, weil doch 
kein Stuhl im Hauſe aufzutreiben iſt, und ſtrecke die Beine. Wie wohl das tut 
nach dem mehrtägigen Ritt von New Vork bis hierher! Im Ofen praſſelt ein 
luſtiges Feuer; am Ende wohnt ſich's gar nicht ſo ſchlecht in der Blockhütte. 

Aber da draußen alles Wald, ein ſchmaler Fußpfad nur führt bin- 
durch. So wäre ich denn wirklich der Waldpfarrer am Schoharie! 

Meine Bücher habe ich wenigſtens gerettet, das iſt ein Troſt in meiner 
traurigen Lage. Ich kann leſen und will ſchreiben; wer weiß, ob mein 
Tagebuch nicht dereinſt ein Geſchichtswerk dieſes Volkes wird. 

So weit hatte ich geſtern abend geſchrieben. Eine alte Frau brachte 
mir das Abendeſſen. 

„Wie heißen Sie?“ Ich mußte zum zweitenmal fragen. 

„Arſchel!“ 

„Verheiratet?“ 

„Witwe, mein Mann wurde von den Indianern ſkalpiert.“ Sie fuhr 
mit der Schürze nach den Augen. 

„Müſſen laut ſprechen, die Not bat mich ſchwerhörig gemacht.“ Sie 
ſagte es in jenem Flüſterton, welcher Schwerhörigen eigen iſt. 

Flink breitete ſie über den gezimmerten Tiſch ein ſauberes Tuch und 
trug auf. 

„Wollen Sie eſſen, und Gott geſegne s!“ Sie ging. Ich fing an zu 
ſchreiben, doch bald überkam mich die Müdigkeit und ich legte mich zu Bett. 
Es ſchläft ſich gut hier. Das Geräuſch der alten Arſchel bat mich aufgeweckt; 
es iſt heller Tag, das Schneegeſtöber hat nachgelaſſen, aber der Himmel 
iſt düſter. Ich weiß nichts Beſſeres heute zu tun, als an meiner Geſchichte 
weiter zu ſchreiben. 

Vor zwei Jahren hatte ich nicht geträumt, daß ich mit dem Schoharie 
jemals Bekanntſchaft machen würde. Damals erhielt ich, ein junger Kandidat, 
die anſehnliche Pfarrei Echterdingen. Noch iſt's mir fo friſch im Ge⸗ 
daͤchtnis, als ob es heute erſt paſſiert wäre, wie mir's ſchwarz vor den 
Augen wurde, als ich das Schreiben Seiner Durchlaucht aufbrach und las, 
daß ich, Johann Peter Refig, zum Pfarrer in Echterdingen ernannt ſei. 
Es klang unglaublich! Wohl hatte ich das Examen cum laude beſtanden, 
aber mit mir wetteiferte mein Freund, der talentvolle Heinrich Ofterdingen, 
Sohn des ehrwürdigen Pfarrers Ofterdingen aus Echterdingen. Als ſein 
Vater plötzlich penſioniert wurde, erwartete man allgemein, der Sohn werde 
ſein Nachfolger. Aber eine arme Hauslehrerſtelle in der Reſidenzſtadt mußte 
er antreten, und ich erhielt die ſchöne Pfarrſtelle. Ich konnte das nicht be- 
greifen, auch als der Herr Prälat bei meiner Inſtallation auf meine des⸗ 
fãllige Frage mit den Achſeln zuckte, merkte ich noch nichts. 


14 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharte 


Allerdings hatte ich auch das Gerücht gehört, unſer Herzog ſei ein 
Schwelger; an ſeinem Hofe wimmle es von franzöſiſchen und italieniſchen 
Buhlerinnen, aber den Ausdruck: „Ich will dich im Hirſch zu Echterdingen 
treffen“, welcher neuerdings aufkam, konnte ich nicht deuten. Als Pfarrer 
habe ich es leider lernen müſſen, und es koſtete mich Pfarrſtelle und Vater⸗ 
land. Traf nämlich Seine Durchlaucht, wenn er in der Nähe jagte, ein 
ſchönes Mädchen auf der Straße, dann händigte er ihr einen Zettel ein, welchen 
ſie an den Hirſchwirt abgeben ſolle, und zugleich gab er ihr einen Gulden 
als Trägerlohn. Im Hirſch wurde dann das Mädchen feſtgehalten, bis 
am Abend der Herzog kam. Mein Vorgänger, der Pfarrer Ofterdingen, 
verweigerte deshalb zu Oſtern dem Hirſchwirt das heilige Sakrament, und 
drum wurde er von dem Fürften feines Amtes entſetzt. 

Zu meinen Beichtkindern gehörte der ehmalige Bauer Chriſtoph 
Weiſenberg. Er hatte ein einziges Kind, ſeine ſechzehnjährige, bildhübſche 
Katherine. Am Petrie und Paulitag war fie in den Wald gegangen, um 
Blumen zu pflücken für das friſche Grab ihrer Mutter, als ihr der Herzog 
begegnete. Zum Unglück kam ich des Weges, weil ich dem alten Laible 
das Sterbeſakrament bringen ſollte. 

„O retten Sie mich, Herr Pfarrer!“ rief händeringend das Mädchen. 
So viel zarte Schönheit und Anſchuld habe ich nie zuvor geſehen. Ich ere 
barmte mich des Kindes. 

„Gib mir den Zettel,“ ſprach ich, „eile zu deinem Vater, noch heute 
müßt ihr die Heimat verlaſſen!“ 

Wie eine gehetzte Gazelle floh das Mädchen dem Dorfe zu. 

Des Wegs kam die alte, bucklige Schreinerbärbel, ihr gab ich den 
Zettel und den Gulden. Der Hirſchwirt ſoll große Augen gemacht haben, 
als das alte Weib ankam und er ſie in des Fürſten Schlafzimmer führte. 
Seine Durchlaucht aber, wütend, daß ihm der zarte Biſſen entſchlüpft und 
man es noch gewagt hatte, ihn zu höhnen, beſchloß, mich nach dem Hohen- 
aſperg zu ſchicken, damit ich auf der Feſtung bei Waſſer und Brot die 
nötige Reverenz lerne. 

Ich kam ihm aber zuvor. Mein Krankenbeſuch bei dem Laible war 
meine letzte amtliche Funktion, dann eilte ich zu Weiſenbergs; ſie waren 
reiſefertig. „Es bleibt uns nichts übrig als die Flucht“, rief der Alte. 
„Der Herzog hat mir alles andere genommen, meine Tochter will ich 
retten.“ 

„Haben Sie das Reiſegeld?“ 

„Viel haben wir nicht, aber wir werden durchkommen. Herr Pfarrer, 
Gott ſoll mich ſtrafen, wenn ich lüge! Als vor zwanzig Jahren der Weiſer 
mit den vielen Pfälzern und Schwaben nach Amerika ging, da wollte mein 
Schwager Chriſtian Merkle mitgehen. Der Herzog hatte ihn um Hab und 
Gut gebracht, nur ein Schwein war ihm noch geblieben. Sein Weib, meiner 
Frau Schweſter, wollte nicht mitgehen. Die Heimat aufgeben, iſt ſchwer! 
Da heiratete eine Prinzeſſin im Lande und es gab neue Steuern. Weil 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schobarie 15 


aber mein Schwager nichts anderes mehr befaß, fo nahmen ihm die Be⸗ 
amten das Schwein fort. 

„Mann, ich gehe“, ſagte darauf meine Schwägerin. 

Zu ihr wollen wir ziehn, aber ich meine, das Herz wolle mir brechen. 
Hier find wir geboren, hier haben meine Vorfahren als ehrſame Bauern 
gewohnt, wie es in den alten Büchern der Gemeinde aufgeſchrieben iſt. 
Dort unter dem Lindenbaum hat der edle Herzog Chriſtoph oft geraſtet, 
wenn er nach Tübingen ritt. In unſerer Familie herrſcht Fürſtentreue, denn 
man erzählt ſich, daß mein Urgroßvater dem flüchtigen Herzog Ulrich den 
Weg gezeigt habe nach dem Schwarzwald. Neben der Kirche ſtehn die 
Grabſteine meiner Väter, dort liegt mein Weib, neben ihr wollte ich ein- 
mal den letzten Schlaf tun, und nun — nun —“ 

„Mann, flucht nicht dem Herzog!“ 

„Ich fluche nicht, Gott erbarm' dich über mein ſchönes Vaterland!“ 

Seine Bruſt hob und ſenkte ſich, er ballte die Fäuſte und ſchrie: 

„Ausgeſtoßen, fortgejagt —“ 

„Flucht nicht!“ 

Die Tochter umſchlang den Vater. 

„Ich danke Ihnen“, ſprach ſie und die Tränen netzten ihr die Wangen. 

Ich wollte einen Abſchiedsſegen ſprechen, aber die Worte blieben mir 
im Halſe ſtecken; ſo drückte ich ihnen ſtumm die Hände. Als ich das 
Waſſer endlich aus den Augen gewiſcht hatte, ſah ich nur noch, wie ein 
gebeugter Mann ſchwer auf den Stab geſtützt zum Dorfe hinaus wankte, 
eine zarte Mädchengeſtalt ſchmiegte ſich an ihn, langſam verſchwinden die 
beiden im Dunkel der Nacht. Ich lauſchte, noch meinte ich Fußtritte zu 
vernehmen, jetzt klingt es wie Schluchzen — nun iſt's ſtille! Eine Wachtel 
ſchlägt an, es gibt ein Gewitter. O Heimat, wie reich find deine Täler, 
wie fruchtbar deine Felder, wie prächtig deine Wälder, wie herrlich deine 
Berge, wie furchtlos und treu deine Bürger. Warum ein ſolcher Fürſt? 

Warum floh ich nicht gleich mit ihnen? Ich weiß es nicht. In der 
nächſten Nacht eilte ich durch den Schönbuch und den Böblinger Wald 
nach dem Schwarzwald; es tobte ein ſchweres Gewitter. In der Heimat 
hat meine Mutter mich noch einmal umarmt. 

„Nach Amerika willſt du? Dort werden die wilden Indianer dich 
totſchlagen“, ſchrie ſie. 

„Mutter, vielleicht ſind ſie barmherziger als unſer vor Gott und 
Menſchen unwürdiger Souverän!“ 

„Fluche deinem Fürſten nicht!“ 

„Ich habe keinen Fürſten mehr, keine Heimat, ich bin ausgeſtoßen!“ 

„Aber du haſt eine Mutter, mein Sohn, o mir bricht das Herz!“ 
Wir lagen uns zum letztenmal in den Armen. 

Wie ich das hie aufſchreibe, miſcht ſich Waſſer mit der Tinte. Laß 
es ſein. Das Heiligſte gehört nicht auf das Papier, es bleibe als ein 
Heiligtum im Herzen. — — 


16 Mayer: Der Waldpfarrer am Schobarie 


Der Schneefturm hat nachgelaſſen, im Sommer mag es hier leidlich 
zu wohnen ſein; gerade hinter der Blockhütte iſt ein Tal, durch welches 
der Schoharie durchfließt nach dem Mohawkfluß. Auf der andern Seite 
iſt eine Sägemühle; ich bin alſo nicht ganz allein. Sonſt alles Wald. Weit 
in der Ferne winken blaue Berge herüber, das ſeien die Catskillberge, und 
im Süden ſieht man bis in das Gebiet, durch welches der Susquehanna 
fließt; an ihm ſollen auch viele Deutſche wohnen. Der Harzgeruch, der 
von den Tannenbäumen ausſtrömt, iſt derſelbe wie im Schwarzwald, ich habe 
alſo doch etwas, was mich an die Heimat erinnert. 


Zweites Kapitel 


Seit vier Tagen bin ich nun hier. Außer der alten Arſchel iſt mir 
aber noch kein menſchliches Weſen begegnet, und doch ſoll eine ſtarke deutſche 
Bevölkerung ringsum in kleinen Dörfern und den Wäldern wohnen. Ich 
hoffe nur, daß die Leute nicht dem Klima ähnlich ſind, welches hier herrſcht. 
Starker Regen fiel heute früh, nun iſt's ganz klarer Himmel und dazu 
bitter kalt. Das Feld und der Wald ſind mit einer ſpiegelglatten Eisrinde 
bedeckt; nach Weſten, der untergehenden Sonne zu, glüht die Eisdecke unter 
den Sonnenſtrahlen in unbeſchreiblicher Pracht. Dem von dem Lichter⸗ 
glanze geblendeten Auge verſchwindet die Grenzlinie zwiſchen Sonne und 
Erde; als ob ein Feuerwagen alles entzündend über die Erde gefahren 
und jetzt über dem Walde und den Bergen in weiter Ferne ſchwebend ſich 
mit Wohlbehagen in ſeinem eigenen Werke ſpiegele, ſo glänzt und wogt 
ein unabſehbar Feuermeer. 

Horch, auf dem Fußpfad zu meiner Hütte nahen Schritte. Ein 
Mann ſteht unter der geöffneten Türe. 

„Hans Gerlach iſt mein Name, und Sie ſind der neue Pfarrer? 
Nein, nein, ich will mich nicht ſetzen; aber heute abend wird eine große 
Bauernverſammlung abgehalten in Weiſers Scheune, dahin wollte ich Sie 
mit Ihrer Erlaubnis abholen, Sie lernen dabei das ganze Deutſchtum der 
Gegend auf einmal kennen.“ 

Am Abend ſteige ich mit ihm das Tal hinab und Weiſerdorf zu. 

„Es wird laut zugehen,“ begann unterwegs Gerlach; „die Delegaten, 
welche wir nach London geſandt haben, um dem Könige unſere Beſchwerden 
vorzulegen, ſind zurück und werden uns ihren Bericht erſtatten. Wie man 
hört, iſt die Antwort, welche ſie mitbringen, ungünſtig, ja ein neuer ſchwerer 
Schlag für die Niederlaſſung.“ 

„Was iſt denn der Inhalt der Klage?“ 

„Sie werden alles vernehmen heute abend, Herr Pfarrer, unſere ganze 
bisherige Geſchichte werden Sie hören. So wie ich den alten Weiſer kenne, 
wird er einen großen Lärm machen; er iſt ein rechtſchaffener Mann, hat 
ein warmes Herz für die Anſiedler und viel für ſie getan, aber er iſt mir 
faſt zu rechthaberiſch. Da ſind wir. Stoßen Sie ſich nicht an dem rauhen 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 17 


Außeren der Leute, das Leben im Urwald macht harte Hände, aber es find 
trotzdem Menſchen mit weichen Herzen.“ 

„Wollen Sie mich heute abend der Verſammlung vorſtellen?“ 

„Es iſt beſſer, wir unterlaſſen das; die Leute ſind gerade jetzt zu ſehr 
erregt, die rechte Stunde wird ſchon kommen. Vieles verdirbt der Menſch, 
weil er Paſſendes unpaſſend vorbringt.“ 

Ein langes Gebäude, von Holzblöcken errichtet, lag vor uns; dort 
ſtrömten die Männer hinein. Auf langen Brettern ſaßen fie dicht zuſammen⸗ 
gedrängt, manche lehnten an den Wänden, faſt alle aber rauchten aus ſelbſt⸗ 
verfertigten Pfeifen einen Tabak, der einem den Atem beinahe wegnahm. 
Ein Ofen ſtand in der Mitte, doch diente ſein Feuer weniger der Erwärmung 
des Lokals, als dem Anzünden der Pfeifen und der Kienſpäne, mit denen 
der Raum matt beleuchtet wurde. Ein lautes Stimmengewirr ſchlug mir 
entgegen, als ich eintrat. 

„Schau die Leute genau an, denn unter ihnen ſollſt du leben und wirken.“ 

Mehrere hundert Männer in rauhen Kleidern, viele mit Bären ⸗ und 
Hirſchfellen um die Schultern, Geſicht und Hände von Pech und Rauch 
geſchwärzt, Arme und GFaufte durch Arbeit gehärtet, lauter kräftige, ftämmige 
Geſtalten, waren hier verſammelt; das Ganze bot ein maleriſches, aber fremd⸗ 
artiges Bild. Sind das meine Landsleute, mußte ich mich fragen, oder 
bin ich nicht nur in ein fremdes Land verſchlagen, ſondern auch unter fremde 
Volksſtämme? 

Die Verhandlungen hatten ſchon ihren Anfang genommen, als wir 
eintraten. Vornen auf einer Erhöhung ſaßen an einem Tiſche eine Anzahl 
Männer, die Führer dieſes Volkes, die Leiter der Verſammlung. 

„Das Schwerſte liegt hinter uns; fehlt es auch nicht an berechtigter 
Klage, ſo bleiben wir doch im Beſitz unſeres Landes; niemand, auch der 
Gouverneur nicht, kann uns von hier vertreiben, darum ſage ich, laßt uns 
das Erworbene feſthalten, für das übrige ſorgt unſer Fleiß und des 
Himmels Segen.“ 

So drang es durch die Scheune; mit den Füßen entſtand ein all⸗ 
gemeines Stampfen, das Zeichen des Beifalls der Verſammlung. Ein 
kleiner Mann hatte geſprochen, wie mir ſchien, der Vorſitzer, welcher die 
Verhandlung leitete. 

„Warum ſollen wir noch einmal auswandern“, fuhr er fort. „Un- 
recht iſt uns freilich geſchehen, aber jeder Tag hat ſeine Plage, jedes Land 
ſeine Not, in Pennſylvanien wird auch nicht alles ſo glatt ablaufen, wie 
wir vielleicht jetzt denken.“ 

„Gut, Kreiskorn“, hörte man rufen, als der Redner ſich niederſetzte. 
Eine kurze Pauſe entſtand, jeder begann laut mit ſeinem Nachbarn zu 
ſprechen, als plötzlich wie auf Kommando die Anterhaltung verſtummte. 
Aller Augen richteten ſich auf den Mann, der auf dem Podium erſchien, 
ſelbſt die Pfeifen legten die Männer zur Seite, als ob es zu einem feier⸗ 
lichen Gottes dienſt ginge. 

Der Türmer I. 7 2 


18 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 


„Nachbarn und Mitbürger, ohne Kreuz keine Krone, ohne Arbeit kein 
Segen, darin ſtimme ich dem Vorredner bei, aber mein Innerſtes empört 
ſich gegen die Vergewaltigungen, welche an uns begangen werden, ich ſage, 
ohne Freiheit und Recht kein Leben. Geduld, eine ſchöne Tugend, kann 
auch zum großen Laſter werden.“ 

Es war ganz ſtille geworden, auf jedem Angeſicht lag die Spannung 
geſchrieben, mit welcher ein jeder der Rede folgte. Ein großer, ſtark ge 
bauter Mann ſtand vor ihnen; er mochte etwa ſechzig Jahre alt ſein, ſeine 
grauen Augen blickten verſtändig unter der mächtig gewölbten Stirne her⸗ 
vor; ſein ganzes Auftreten und ſeine Bewegungen verrieten Sicherheit und 
Selbſtvertrauen. Nicht ein Schönredner war es, welchem die Männer ſo 
aufmerkſam zuhörten, fondern ein Mann der Tat; es war Johann 
Konrad Weiſer, der geiſtige Führer der Deutſchen im Staate New Vork. 

„Bleibt ihr hier, wenn ihr wollt, aber mich und die Meinen laßt in 
Frieden ziehen. Seit fünfundzwanzig Jahren, vom erſten Anfang an, war 
ich mit euch, es iſt das letztemal, daß ich vor euch ſtehe, laßt mich reden! 
Pfälzer und Schwaben ſind wir. Als unſere Fürſten Franzoſen geworden —“ 

„Dreißigjähriger Krieg“, unterbrach hier eine Stimme. 

„Meinetwegen,“ fuhr Weiſer fort, „der Schullehrer Heim will, daß 
ich den Dreißigjährigen Krieg nicht vergeſſe. Durch jenen Krieg und die 
Einfälle der franzöſiſchen Mordbrenner in Süddeutſchland wurde unſere 
alte Heimat verwüſtet und die Bürgerſchaft vielfach an den Bettelſtab 
gebracht. Wir hätten uns wieder erholt, wenn unſere Fürften deutſche 
Männer geblieben wären, aber ſie hatten kein Herz für deutſche Art und 
deutſche Rechtſchaffenheit. Meine Vorfahren waren Schulzen zu Groß- 
aſpach in Württemberg, ich ſelber hatte dieſes Vertrauensamt mehrere 
Jahre lang verwaltet, aber der Druck von oben war unerträglich geworden, 
die Maitreſſen der Fürſten verſchlangen große Summen, welche aus den 
armen Bauern herausgepreßt wurden. Dazu kam noch Anno 1709 der 
arg kalte Winter; es war ſo kalt, daß der Vogel im Fluge erfror, unſere 
Weinberge und Saaten waren vernichtet, und unſere Fürften hatten kein 
Einſehen. 

„Darum wanderten wir aus! Wir aus der Pfalz und aus Schwaben 
zogen den Rhein hinab nach Holland und von dort nach England; mehr 
als zehntauſend Deutſche lagerten in London. Ausgeſtoßen von deutſchen 
Fürften, ſorgte nun die Königin Anna von England und der tapfere eng⸗ 
liſche Herzog von Marlborough für uns. Ehrliche Leute waren wir alle, 
Leute, welche ſich vor keiner Arbeit ſcheuten, und mußten jetzt von Almoſen 
leben und uns angaffen laſſen von den Modenarren und⸗Närrinnen in London. 

„Gerade in jenen Tagen kamen von Amerika drei Häuptlinge der 
Mohawkindianer nach London. Das lenkte das Tagesgeſpräch von uns 
ab, die Zeitungen waren angefüllt mit Beſchreibungen der ‚Drei Könige 
aus Amerika“, man ſprach mit Bewunderung von dero Majeſtäten.“ 

Lautes Gelächter unterbrach die bisher faſt peinliche Stille. 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schobarie 19 


„Die drei Indianer kamen auch nach unſerem Lager; mein Lebtag 
vergeſſe ich's nicht, wie ich zum erſtenmal die kupfer farbigen, wüſten Ge⸗ 
ſichter ſah, den wilden, kriegeriſchen Aufputz mit Tomahawk und Streitaxt! 
Als ſie hörten, wir hätten die Heimat verlaſſen aus Mangel an Land, an 
Feldern und Gärten, da lachten ſie laut auf und verſprachen uns Wieſen 
und Felder zu geben ſoviel, als wir nur bebauen konnten am Schoharie. 
Iſt's wahr, was ich erzähle?“ 

„Ja, ja“, donnerte ihm von allen Seiten entgegen; augenſcheinlich 
lebte die Erinnerung an dieſe Indianer noch friſch im Gedächtnis der meiſten. 

„Von uns Deutſchen ſchickte zunächſt die engliſche Regierung alle, 
welche katholiſch waren, wieder nach Deutſchland zurück. War das ein Jammer 
unter den armen Leuten. Ein anderer Haufen wurde nach Irland geſandt, 
damit er dort ein Gegengewicht gegen die katholiſche Bevölkerung bilde, 
wieder andere kamen nach Virginien und den füdlichen Kolonien, wir, die 
noch Übrigen, etwa 3500, wurden nach New Vork verſandt. 

„Wir wurden auf zehn Schiffen, ich kann nicht anders ſagen, einfach 
verpackt, wie man das Vieh oder eine Ware verſchickt. Auf dem Schiffe 
Lyon“, auf welchem ich die Reife machte, ſtarben unterwegs am Schiffs⸗ 
fieber und an den Entbehrungen 470 Menſchen, und 250 ſtarben an den 
Folgen der Reife, als wir ſchon in New Vork waren. Alles zuſammen 
ſind, wie ich das auch an den König von England berichtet habe, 1700 
Menſchen unterwegs geſtorben. Allein wir waren arm, wir hatten nichts 
zu fordern, wir mußten uns alles gefallen laſſen. 

„Nach dem Schoharie wollten wir ziehen, dort den Urwald lichten 
und das Land urbar machen; aber der Gouverneur in der Kolonie hatte 
es anders beſchloſſen. Nicht freie Koloniſten ſollten wir werden; auf Schritt 
und Tritt wurden wir bewacht wie Staatsgefangene, man griff ein in unſere 
Selbſtändigkeit und Selbſtverantwortung. Nimmſt du dieſe dem Menſchen, 
dann machſt du einen Sklaven aus ihm! 

„Gouverneur Hunter, unſer Vorgeſetzter, hatte kein Verſtändnis für 
unſere Bedürfniſſe; er ſandte uns den Hudſonfluß hinauf, wo er von dem 
ſchlechteſten Menſchen in Amerika, Robert Livingſtone, einem Freunde des 
Seeräubers Kidd, Ländereien erworben hatte, auf welchen wir für die eng- 
liſche Regierung Teer, Pech und Terpentin bereiten ſollten. Im Winter 
lamen wir halbnackt dort an; Livingſtone ſollte uns die Nahrungsmittel liefern. 
Er betrog uns an Maß und Gewicht, er zwang uns verdorbene Waren 
auf, ſo daß unſere Kinder krank wurden, er überforderte uns. Was nützte 
alle Beſchwerde? Er war reich, wir arm, er war Engländer, wir Deutſche. 
Für ſolche Leute gibt es hier kein Recht! 

„Landsleute und Nachbarn, wir taten unſere Pflicht gegen die eng⸗ 
liſche Regierung, wir fällten Bäume, wir bearbeiteten fie zur Gewinnung 
von Teer, wir wollten, was die Königin Anna an uns getan hat, ſo gut 
wir's vermochten, zurückzahlen, wir ertrugen Hunger und Krankheit, ſahen 
unſere Brüder vor unſeren Augen wegſterben, am Hudſon ſind ihre Leichen 


20 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharte 


eingeſcharrt! Mehr als das! Der Gouverneur nahm meine Buben mir, 
ihrem Vater, hinweg und verpfändete ſie als Leibeigene auf lange Jahre 
hinaus, mein Sohn Konrad wurde dem Indianerhäuptling Quaquant über- 
geben; bei den Wilden hat er gewohnt in Höhlen und Löchern, faſt nackt 
ſchleppten ſie mein Kind mitten im kalten Winter durch die Wälder, er 
war oft in Todesgefahr, weil die Indianer von dem Branntwein vergiftet 
wurden, welchen Hunter und ſeine Leute ihnen gegeben haben. 

„Eure Söhne und Töchter ſind verkauft worden wie die meinen! 
Wie viele find wieder ins Elternhaus zurückgekommen? Alles kann ich er- 
tragen, aber daß Gouverneur Hunter mir meine Kinder genommen hat, das 
werde ich ihm gedenken vor dem Richter der Lebendigen und der Toten 
am jüngſten Tag!“ 

Mit ſteigender Spannung waren die Männer der Ausführung Weiſers 
gefolgt, fie durchlebten in dieſem Augenblick die Jahre der Not und Ent⸗ 
würdigung noch einmal, als aber der Redner die letzten Worte förmlich 
herausgeſtoßen, entſtand eine Szene, wie ich es für menſchenunmöglich ge- 
halten habe. 

Die lang zurückgedrängte Qual des Herzens kam bei dieſen Bauern 
mit elementarer Gewalt zum Ausbruch. Manche ſprangen auf die Bänke, 
ballten die Fäuſte und ſtießen Verwünſchungen aus; andere, keines Wortes 
mächtig, zitterten vor innerer Erregung, manche hielten das Haupt in den 
Händen und ſchluchzten vor Schmerz und Zorn, wieder andere preßten die 
Lippen feſt aufeinander, ihre Augen funkelten unheimlich, wie die des Tigers, 
wenn er ſeine Jungen verteidigt. Ich ſaß wie verſteinert, mehrmals griff 
ich nach dem Herzen, ich meinte, das Blut wolle mir in den Adern ge- 
rinnen. Hin und her tobte der Sturm allgemeiner Gemütserregung, jetzt 
ſchien er ausgetobt zu haben, aber nur einen Augenblick, um dann mit 
friſcher Gewalt ſich aufs neue zu entladen. Lange dauerte es, bis Weiſer 
ſich wieder Gehör verſchaffen konnte. Nicht ohne Beimiſchung einer leichten 
Ironie fuhr er fort: „Man verlangte, daß wir mit den Indianerſtämmen 
uns vermiſchen ſollten, um auf ſolche Weiſe als ein Miſchlingsvolk ein 
Bollwerk zu bilden gegen das Vordrängen der Franzoſen von Kanada. 
So nieder denkt England von dem deutſchen Volke! Obgleich wir unter 
engliſcher Fahne gegen die Franzoſen am Hudſon gefochten, obgleich das 
Blut unſerer Brüder dabei vergoſſen wurde, wies Hunter uns mit unſeren 
Bitten einfach die Tür, ja, er ſchickte ſeine Soldaten, welche uns zur Arbeit 
zwingen ſollten. — Da entſchloſſen wir uns zur Flucht! Wir kauften das 
uns in England ſchon verſprochene Land am Schoharie von den Indianern; 
freie und ſelbſtändige Bauern wollten wir werden, darum zogen wir hier— 
her. Mitten im Winter brachen wir auf, der Schnee lag drei Fuß hoch, 
die Waldpfade waren von den Indianern, welche Livingſtone dazu auf— 
gehetzt hatte, ſorgfältig zugedeckt worden. Nun traf es ſich gut, daß mein 
Konrad unter ihnen gewohnt hatte und ihre Schliche kannte; er wurde 
unſer Führer. So ſind wir vor Hunger und Froſt zitternd durch den 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 21 


großen Wald und Schnee vorgedrungen und endlich zum Tode ermattet 
in das Schoharietal niedergeſtiegen. Wie arm waren wir, unſere ganze 
Habe trugen wir auf dem Rücken! Wir durften nichts mitnehmen, ſonſt 
hätte Hunter uns des Diebſtahls angeklagt und uns mit Waffengewalt 
zurückgeführt. Hier find gleich in den erſten Wochen vier Kinder geboren; 
die Indianer erbarmten ſich der Mütter und ſchenkten ihnen Pelze, um ſich 
damit vor der Kälte zu ſchützen. Wir lebten von Gras und Wurzeln; 
was Gott einſt als Strafe über die Menſchen verhängt hatte, war uns 
ſogar zum Segen geworden. Wie oft haben wir gebetet: „Laß uns in 
deine Hände, o Gott, aber nicht in die Hände der Menſchen geraten.“ — 

„Endlich brach das Frühjahr an; wir hatten kein Ackergeräte, kein 
Vieh, kein Pferd. Da, wo die Indianer früher ihr Lager aufgeſchlagen 
hatten, war eine baumfreie Lichtung, ſonſt alles dichter Urwald. Anſer guter 
Nachbar Lambert Sternberg kaufte in Schenectady, zwanzig Meilen von 
hier, den erſten Scheffel Saatweizen und trug ihn auf dem Rücken den 
weiten Weg hierher. Wir hatten keinen Pflug, mit Sicheln bearbeiteten 
wir den Boden, dann ſäeten wir den Weizen und er ging auf; jeder Halm 
trug feine Ahre, jede Ahre beugte fic) vor der Schwere, und als der Weizen 
im Herbſt gedroſchen wurde, kamen auf den einen Scheffel dreiundachtzig. 
Gott ſegnete auch ſeither unſere Felder und unſere Arbeit, ſo daß wir im 
letzten Jahr fünfundzwanzigtauſend Scheffel Weizen verkaufen konnten.“ 

„Dann ſeid doch zufrieden“, rief eine Stimme. 

„Pſt, nicht unterbrechen, hört Weiſer!“ tönt's von verſchiedenen Seiten. 

„Der Gouverneur und die reichen holländiſchen Nachbarn laſſen uns 
nicht in Frieden. Sobald Hunter merkte, daß wir voran kamen, verkaufte 
er an ſieben Holländer, die ſogenannten ‚fieben Partner,“ unſer Land. Das 
war ein Bubenſtück, eine Verletzung des Kolonialgeſetzes, ein rechtswidriger 
Eingriff in unſeren Beſitz. Was halfen unſere Proteſte? Hunter ſandte 
den Sheriff von Albany mit Soldaten, es kam zu einem Aufſtand! Wir 
verteidigten unſer Heim; Männer und Weiber zogen gegen die Soldaten 
ins Feld, und der Sheriff bekam mit ſeinen Leuten deutſche Hiebe, welche 
ſie nicht ſo bald vergeſſen dürften. Wir aber durften die Anſiedlung nicht 
mehr verlaſſen, weil man uns überall auflauerte; wie endlich nach Jahres⸗ 
friſt mein Sohn Konrad mit einigen Männern nach Albany ging, um für 
die Settlers Salz zu kaufen, wurden ſie überfallen, geſchlagen und ins 
Gefängnis geworfen. 

„Um dieſer Anſicherheit ein Ende zu machen, ſandtet ihr eine Depu⸗ 
tation nach London an den König. Obgleich wir es heimlich anfingen, er⸗ 
fuhren die ſieben Partner doch davon; wir wurden von dem Seeräuber 
Kidd, dem Freunde Livingſtones überfallen. Drei Monate lang ward ich 
an den Maſtbaum ſeines Schiffes feſtgebunden, unſer Freund Wallrat er⸗ 
lag ſeinen Leiden; Wilhelm Scheff und ich entkamen endlich und erreichten 
ohne Gelb London. Weil wir dort Geld borgen mußten, wurde ich in 
den Schuldturm geworfen. Hätten ſich nicht zwei deutſche Paſtoren, die 


22 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 


ehrwürdigen Pfarrer Böhm und Robert, unfer dort angenommen, wir 
ſäßen heute noch im Gefängnis. Abrigens ſoll es öffentlich ausgeſprochen 
werden: dem Pfarr. und Lehrſtand verdanken wir's, daß wir noch deutſch 
ſind. O, hätte Deutſchland Fürſten, edel und menſchenfreundlich, wie ſeine 
Paſtoren und Schulmeiſter, Amerika würde eine deutſche Kolonie werden! 

„In London empfing mich der König, aber Hunter war vor mir bei 
ihm geweſen, darum ſchenkte er meinem Bericht keinen Glauben. Für uns 
Deutſche hat auch der engliſche König kein Recht. Bleiben wir hier, dann 
müſſen wir weiter kämpfen: ich bin des Haders müde. In Pennſylvanien 
gibt es auch für den Deutſchen Recht und Freiheit! Dorthin zieht der 
Strom der Einwanderung von Deutſchland ſeit Jahren. Man hat auch 
in der alten Heimat von unſeren Kämpfen gehört. Noch eine Reife will 
ich machen, dann ſterben.“ 

Seine Stimme zitterte, die ganze Geſtalt bebte. Er ſchwieg. 

Der Vorſitzer Kreiskorn ſprach nun: „Wir haben gearbeitet und ge⸗ 
litten, laßt uns das Erworbene feſthalten; niemand kann uns aus der kaum 
erworbenen Heimat wegtreiben, wir ſind ſtärker als Hunter, ja als die 
Regierung.” 

„Aber ich will frei fein”, unterbrach ihn Weiler, „von dem Joche des 
Treibers, ehe ich ſterbe, ich ziehe in ein Land, wo ein Geſetz herrſcht über 
Hohe und Niedre, über Engländer und Deutſche, wo niemand in meine 
Familie eingreifen darf und mir meine Kinder wegnehmen kann. Auf dem- 
ſelben Schiff mit mir kam ein Mann aus Echterdingen mit einer ſchönen, 
kaum ſechzehnjährigen Tochter; er floh, weil der Herzog dem Mädchen 
nachſtellte. Der alte Mann ſtarb auf der Reife, und in New Vork haben 
ſie das Mädchen verkauft! Nein, ich gehe! Nicht mit leichtem Herzen 
ziehe ich hinweg, hier habe ich meine beſten Kräfte verbraucht, auf dem 
Schohariehügel liegen mehrere meiner Kinder begraben, ein alter Baum 
verpflanzt ſich ſchlecht; haltet mich nicht auf. Ich habe das Meine bier ge- 
tan; auch in der Ferne werde ich der tapfern Deutſchen am Mohawk und 
Schoharie gedenken.“ Er hatte es langſam gefprochen, in feiner Stimme 
waren Tränen. 

Die Männer drängten ſich nach vorne, viele Hände ſtreckten ſich nach 
ihm aus, andere verſuchten zu reden. Selbſt der Schulmeiſter Heim fuchtelte 
mit den Händen und ſchrie mit lauter Stimme, allein es war mit der 
Ordnung jetzt vorbei. 

Gerlach nahm mich unter ſeinen Arm und führte mich in Weiſers Haus. 

„So, Sie ſind der Pfarrer von Echterdingen, Gott ſegne Sie, ich 
habe viel Gutes von Ihnen gehört.“ Mir taten die Worte aus dem Munde 
dieſes Mannes, der Schläge und Gefängnis erduldet hatte, wohler, als 
wenn ſie ein Kirchenfürſt geſprochen hätte. 

„Die Katherine Weiſenberg? Sie iſt nach Albany verkauft auf ſieben 
Jahre! Mein Sohn Konrad wird zunächſt hier bleiben; hier, Karl Herkimer, 
ich ſtelle dir den Pfarrer vor; er iſt ein guter Mann, haltet ihn wert!“ 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 23 


Der alte Mann war übermüdet, neue Beſucher drängten fich vor, 
ſo mochte ich nicht weiter fragen. 

Mitternacht war längſt vorüber, als ich den Hügel hinaufſtieg. Ich 
war aufgeregt. Männer, denen Fleiß und Treue auf dem Angeſicht ge⸗ 
ſchrieben ſteht, müſſen fort! Warum? Weil es nicht genug Land gibt? 
Nein, ſondern weil auch im Arwald Menſchen leben, die durch Habſucht 
Anmenſchen geworden ſind. Dieſe Deutſchen am Schoharie, das arme ver⸗ 
kaufte Mädchen — Gott beſchütze fie! 


Drittes Kapitel 


Der Frühling iſt ins Land gekommen; ſchreckliche Stürme ſind vor 
ihm hergezogen. Eine Windsbraut hat über die Berge und Wälder ihren 
Weg ins Schoharietal genommen und hier mit furchtbarer Gewalt ge⸗ 
hauſt. Meine Blockhütte hat gezittert, als wolle ſie aus den Fugen gehen, 
hundertjährige Bäume gingen krachend im Arwalde nieder, Bären und 
Wölfe ſtrichen heute nacht um mein Haus, ſie fürchten bei dieſem Wetter 
den Wald mehr als die Nähe des Menſchen. 

Wie wohlig hier im Zimmer zu ſitzen und in die Sturmnacht hin⸗ 
auszuhorchen! Wie das heult und wimmert! Es klingt wie Schlacht⸗ 
geſchrei, wie das Seufzen kranker Herzen, wie die Begleitung der Elemente 
zu den erſchütternden Auftritten in der Bauernverſammlung! 

Da iſt es wieder! Wahrhaftig, es rollen ferne Donner, grelle Blitze 
durchleuchten pechſchwarze Wolken; immer lauter wird das Brüllen des 
Donners, von Wolke zu Wolke zucken die Blitze, das ganze Firmament 
iſt zu einem ziſchenden Feuermeer geworden. Ein furchtbarer Bllitzſtrahl 
fährt hernieder zur Erde! Hat er gezündet? Was follte denn in der 
Wildnis brennen! 

Selbſt die alte Arſchel wird aufmerkſam: 

„Das Frühjahr kommt!“ 

Ein heftiger Donnerſchlag, das Blockhaus bebt: 

„Das iſt der Eisbrecher!“ 

Sie ſchaut nach den Wolken, das Leuchten der Blitze blendet die 
Augen: 
„Das treibt das Gras aus dem Boden!“ 

Sie hat es fo ruhig geſagt, als ſpräche fie: „Das Eſſen ijt fertig!” 

Nun fällt der Regen, wie ein ſturmgepeitſchter Ozean ſtürzt er auf 
das Dach, er überbrüllt das Schreien des Donners! 

So hat es geregnet die ganze Nacht, nun läßt der Regen nach, wie 
ein Ringender, um Atem zu ſchöpfen. 

Ich trete ins Freie, um ins Tal zu ſchauen. Da ſtehe ich mitten 
in den Wollen, es blitzt um mich, elektriſche Funken fahren von der Erde 

auf nach dem Wolkennebel. 


24 Mayer: Der Waldpfarrer am Schobarie 


Warme Frühlingslüfte fpielen um mein Geſicht, Schnee und Eis 
ſind verſchwunden, der kleine Schoharie überflutet das Tal, er iſt zum reißen⸗ 
den Strome geworden. 

„Arſchel, heraus, ſieh die Waſſerſtelle, die Sägmühle!“ Beide hat 
der Strom erfaßt und mit ſich geriſſen. Wie das toſt und tobt, wie die 
Waſſer im Walde aufbrauſen! 

„Was haſt du, Arſchel!“ 

Mit dem Eimer hat fie zwei große Fiſche aus dem Schoharie her- 
ausgezogen. 

„Fiſche, große Fiſche in dieſem Waſſer?“ 

„Nur im Frühjahr, wenn die Fiſche unruhig find, verirren fie ſich 
zu uns!“ — 

O, und meine Anruhe, woher ſtammt ſie? Ich kann nicht zu 
Haufe bleiben, nicht predigen, noch ſonſt meines Amtes warten, die Un- 
ruhe hat mich gepackt. Der Frühlingsgeruch, der von der Erde auf⸗ 
ſteigt, treibt mich nach dem Walde. Ich ſtürme durch die Anſiedlung, die 
Bauern ziehen friſche Furchen und zwingen die im Felde ſchlummernden 
Kräfte zur Arbeit; ſchon ſproſſen die Saaten und der Wind fächelt über 
den Weizenfeldern. In der Frühlings ſonne verlieren ſelbſt die Blockhütten 
ihre graue, düſtere Farbe. Die Leute ſtehen ſtill auf den Feldern und 
gaffen nach dem jungen Sonderling, der dem Walde zueilt. 

Urwald! Tauſend Schritte habe ich erſt gemacht von dem letzten 
Zaun, mit welchem ein deutſcher Anſiedler ſein Feld vor den Waldtieren 
geſchützt hat, und doch ſcheint es, als lägen Jahrtauſende dazwiſchen. 
Draußen Felder und Gärten, hier alle Schrecken der Wildnis. Kein Weg 
führt durch das Waldesdunkel, mit der Axt bahne ich mir den Pfad durch 
Geſträuch und Anterholz; ich dringe einer Lichtung zu. Da hat der Sturm 
mit den alten Bäumen aufgeräumt, die Sonnenſtrahlen fallen hier auf die 
Erde, und eh' ich's mich verſehe, ſtehe ich in der Mitte eines unabſehbaren 
Blumengartens. Soll ich einen Strauß pflücken? Für wen? Die alte 
Arſchel? Da, ich bin tief eingeſunken. Ich bin auf den verfaulten Stamm 
einer Riefeneiche getreten, nur mit Not werde ich wieder frei. 

Es wird wieder dunkler, die Blumenpracht verſchwindet; hier hat der 
Sturm nicht getobt, dichter Holzwuchs bedeckt den Boden; ich arbeite mich 
durch aromatiſche Geſträuche, durch Minze und Thymian hindurch. Immer 
dunkler wird der Wald, durch die ineinander verſchlungenen Aſte der Baum⸗ 
rieſen zittert noch ſchwach der Sonnenſtrahl herein. Tau und Regen tröp⸗ 
feln nieder auf den lehmigen Grund, es wird ſchwül, oben ſummt die In⸗ 
ſektenwelt ihr gleichförmiges Lied. Es ſteht ganz vereinzelt hier und da 
ein dünner Grashalm. Ob je eines Menſchen Fuß die Stelle betreten 
hat, ob je ein Menſch in dieſem Wald Taten geplant oder eine Menſchen⸗ 
bruſt dieſen Bäumen ihre Not geklagt hat? Wenn Homer nach dieſem 
Arwald verſchlagen worden wäre, würde die Welt ihn auch dann als den 
unſterblichen Sänger rühmen? 


Mayer: Der Waldpfarrer am Sdobarie 25 


Langſam ſchleppe ich mich weiter. Es ift nicht möglich, eine Rich- 
tung feſtzuhalten. Ich kann ebenſogut tauſend Meilen von den nächſten 
Menſchen entfernt ſein wie tauſend Schritte. Oben auf dem Hügel wird 
es heller. Ein Bergſee liegt zwiſchen den Bergrücken. Wer hat den Grund 
waſſerdicht gemacht, daß er nicht abläuft? Wie hoch mag der See liegen 
ũber dem Schoharie? Das Anterholz teilt ſich, ein Rudel Hirſche galop⸗ 
piert an mir vorüber, dicht verfolgt von einer Meute Hunde. Nun wird 
der Jäger nicht ferne ſein. Ich halte den Atem an, kein menſchliches Weſen 
zeigt ſich. Dort liegt ein Reh, dem die Hinterbeine fehlen. Jetzt verſtehe 
ich's. Es iſt der Waldkrieg, dem ich zuſchaute. Beutehungrige Wölfe 
haben an der Tränke auf die Hirſche gelauert. Waldfrieden, Waldkrieg! 
Vor Menſchen haben die Tiere keine Angſt. Das Reh ſchaut mich ver- 
wundert an, als habe es noch nie ein ähnliches Geſchöpf geſehen; mittler⸗ 
weile ſpielen Eichhörnchen im Sonnenſchein um mich, ohne mich weiter 
zu beachten. 

Waldesſtille, Waldeinſamkeit, wie wohl tuſt du! Der Streit der 
Menſchen ſchweigt, was mir zuvor wichtig vorkam, wird hier zur Kleinig- 
keit. Hier könnte ich wohnen, hier ein Grab mit einem Steinhügel darauf! 
Es wäre ein Monument, unberührt, unzerſtört nach Jahrtauſenden! 

„Buſcho!“ 

Ich erſchrecke, das war eine menſchliche Stimme. 

An einen Baum, nachläſſig hingelehnt, ſtand ein Menſch. Sein 
kupferfarbiges Geſicht verriet auf den erſten Blick den Indianer. Sein 
Körper war faſt nackt; den glattraſierten Kopf, auf welchem kein Haar war 
außer dem wohlbekannten und ritterlichen Skalpierbündel, ſchmückte eine 
lange Adlerfeder, die bis auf die Schulter reichte. Aus ſeinen raſchen 
Bewegungen ließ ſich ſchließen, daß ich einen jungen Mann vor mir hatte. 

„Was ſucht der weiße Medizinmann (Prieſter, Arzt) im Walde?“ 
Sein Auge lief raſtlos hin und her, während er redete, wie das des Jägers, 
welcher dem Wild auflauert. 

„Woher kennt mich der tapfere Mohawk?“ 

„Du warſt in Weiſers Scheune!“ 

„Wohl, doch ſah ich nicht den großen Häuptling!“ 

„Indianers Auge ſchläft nie, ſieht alles, kann die Aſche finden ſeiner 
Väter.“ 

Er ſchwieg. Um ihn zu einem Geſpräch zu veranlaſſen, begann ich: 
„Ich will den Wald und ſeine Leute ſehen!“ 

„Blaßgeſicht iſt klug, weiß vieles, mehr als der Indianer, aber Blaß⸗ 
geſichter am Schoharie ſind dumm!“ 

„Warum beſchimpft der große Häuptling meine Landsleute!“ 

„Indianer niemand beſchimpft, ſpricht nur wahres Wort. Dein Volk 
kam über den großen Bach gegen Oſten (Atlantiſcher Ozean), weil dort 
teine Acker und Wieſen — hier viel Land; Indianer ſchenkt Land, ver- 
kauft Land. Aber dein Volk liebt nicht Indianer — deine jungen Männer 


26 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 


wollen nicht unſere Squaws heiraten, eure Squaws nicht tapfern Indianer 
heiraten. Darum viel Streit. Der große Vater über dem Waſſer (König 
von England) will deine Squaw für roten Mann, meine Squaw für weißen 
Mann — ſtarkes Volk ſchaffen — dann Franzoſe am Champlain (ein See) 
die Streitaxt begraben. Aber Deutſche wollen nicht Squaw, Franzoſen 
Squaw heiraten, und rauchen Pfeife (Friedenspfeife). Darum zürnt euch 
der große Vater und hat finſter Geſicht.“ 

Habe ich es hier mit einem Propheten zu tun oder mit einem Ge⸗ 
ſchichtsphiloſophen? Alſo hat der alte Weiſer die Lage doch richtig be⸗ 
urteilt. 

„Weiſer wollte hier bleiben, aber der große Vater zürnt, darum zog 
er fort.“ 

„Er wird ſich's noch überlegen!“ 

„Aberlegen, nichts! Iſt ſchon fort, ich ſein Führer!“ 

Ich ſchaute ihn fragend an, da fuhr er fort: 

„Dreihundert Bleichgeſichter, Männer und Squaws, Pferde, Kühe, 
Wagen fort nach Mittag. Viel Schreien — zwölf Pferde in den Wald 
gelaufen, nicht mehr fangen — am fünften Tag am Susgquehanna ihr Zelt 
ausgeſpannt, Kanoe bauen, dann nach Tupelhook Creek fahren — dort 
Wildnis wie dieſe — müſſen neu anfangen. Dumme Leute, Indianer 
Squaw heiraten, wir viel Land, der große Vater macht ein freundlich 
Geſicht.“ 

„And wann ſind Weiſers fort?“ 

„Schnee im Geſicht (der alte Weiſer) iſt fort; Feuer im Geſicht (der 
Blonde, alſo der junge) hiergeblieben. Ich ihr Führer, ich habe ſie ver⸗ 
laſſen, ſeitdem iſt die Sonne zehnmal aufgegangen. Mein Vater, der große 
Häuptling, wollte Feuer im Geſicht (Konrad Weiſer) junge Squaw geben 
— wollte nicht, nahm weiße Squaw — muß jetzt ſchaffen — Medizinmann 
ihnen ſagen, nicht dumm ſein — Squaw heiraten!“ 

Er hatte ausgeredet, und ich konnte kein weiteres Wort aus ihm her⸗ 
ausbekommen. In dieſer Stunde ſtieg die Achtung vor meinen Landsleuten 
gewaltig. Wo iſt ein Geſchlecht, welches in unſeren Tagen einen ſchwereren 
Kampf zu beſtehen hat zur Erhaltung des Deutſchtums als die Bauern 
im Urwalde Amerikas? 

Stundenlang bin ich mit dem Indianer umhergegangen, leicht fand 
er überall einen Pfad, meine Axt wurde mir läſtig. Auf eine Frage, wie 
es möglich ſei, in der Wildnis den Weg zu ſinden, antwortete er nicht. 
Plötzlich blieb er ſtehen, ſtieß einen kurzen Ruf der Verwunderung aus 
und wies mit dem Finger auf die Erde. Deutlich waren die Spuren von 
Pferdetritten zu ſehen. 

„Weiſers Pferd.“ 

„Vielleicht gehört es doch ſonſt jemand“, warf ich dazwiſchen. 

„Weiſers Schimmel“, entgegnete er trocken. „Es iſt lahm am Vorder⸗ 
fuß, blind auf dem linken Auge, auch fehlt ihm der Vorderzahn!“ 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 27 


„Dieſe Fußſpuren können ebenſowohl von einem andern Pferde her⸗ 
rühren!“ 

„Medizinmann hat fchlechtes Auge,“ ſprach er, „lieb hier. Der eine 
Tritt geht tiefer als der andere, weil Pferd ift lahm und {cont kranken 
Fuß; es iſt blind auf linkem Auge, darum frißt es nur das Gras auf der 
rechten Seite, lann Futter an der andern Seite nicht ſehen; es fehlt dem 
Tier der Vorderzahn, darum ſteht an jedem Platz, wo das Pferd gegraſt 
hat, ein wenig Futter unverletzt. Iſt Weiſers alter Schimmel!“ — 

Es muß Abend ſein, meine Füße brennen, der Wald wird dunkler. 
Plötzlich ſtehen wir an einem kleinen Bergſee. „Spinnenſee“, ſagt der 
Mohawk, ſtößt ein ſchwaches „Hu“ aus, das ebenſo beantwortet wird, und 
verſchwindet zwiſchen Zelten und den Erdhöhlen, welche das Indianerdorf 
bilden. Kinder ſpielen an dem Waſſer, Indianer huſchen im Halbdunkel 
an mir vorüber, ohne den Fremdling eines Blicks zu würdigen. Blaue 
Rauchfäulen ſteigen auf, und Fleiſch⸗ und Kräutergeruch dringt von den 
Kochſtellen. 

Eine Hand berührt meine Schulter; es iſt ein Mann, welcher mir 
winkt; ich folge ihm und ſetze mich auf die Grasbank vor ſeiner Hütte. Ein 
Weib, jedenfalls ſeine Squaw, legt ein Stück Bärenfleiſch vor; ich habe 
Hunger und laſſe mir den Appetit nicht verderben durch das ſchmutzige, 
häßliche Weib. Der Indianer ſcheint viel freundlicher und geſprächiger zu 
fein als der Reifegenoffe heute im Wald. Auf meine Frage teilt er fo- 
fort mit, es ſei nicht ſchwer, auch im pfadloſen Arwald den Weg zu finden, 
man müſſe bloß die Bäume genau beobachten, an der Nordſeite ſei die 
Baumrinde rauher und ſtärker als an den anderen Stellen, außerdem neigen 
die Wipfel der Bäume mehr nach der ſüdlichen Richtung. Aus Dankbar⸗ 
keit gegen den Gaſtfreund erzähle ich von dem Leben auf dem Schwarz⸗ 
wald, den Holzern und Pechnern, dann gebe ich allerlei Studentenſtreiche 
zum beſten. Zu meiner Verwunderung beginnt er franzöſiſch zu ſprechen, 
und zwar ſo vollkommen, wie ich das nie zuvor gehört habe. Auf einmal 
ſteht er auf und ſpricht Deutſch: „Ik auk Deutſch ſprecken, hab' in Leipzik 
Medizin ſtudiert und Poetik gelernt: 

Menſchliches Weſen, 

Was iſt's geweſen? 

In einer Stunde 

Geht es zugrunde, 

Sobald die Lüfte des Todes drein wehen!“ 

Er hält den Atem an, ſeine Bruſt hebt ſich, dann eilt er nach dem 
Walde. Hier hatte ich das Beiſpiel des Franzoſen, von dem mein Mohawk. 
indianer gerühmt: „Franzoſe heiratet Squaw und raucht Pfeife!“ 

Ich liege lange wachend auf der Grasbank. Ja, ja, der Deutſche 
will ſein Haus, ſein Heim beſitzen, er will eine Familie erziehen und wäre 
nicht zufrieden zwiſchen vier Pfählen in den Armen dieſer ekligen In⸗ 
dianer weiber. 


28 Schmitt: Der Steger 


Welch ſchöne Sommernacht im Urwald! Der Sternenhimmel über 
uns, die Tauſende von hellaufleuchtenden Feuerfliegen um uns erhellen die 
Nacht. Die Indianerkinder amüſieren fic) damit, die Fröſche mit einge 
fangenen Feuerfliegen zu füttern. Die Fröſche verſchlingen ſie begierig, 
und die Feuerfliege bleibt lebendig und leuchtet im Leibe des Froſches, 
was ſehr ſonderbar ausſieht. Die Feuerfliegen find fo zahlreich, daß die 
Luft voll fliegender Sterne zu ſein ſcheint. 

Fortſetzung folgt) 


Der Sieger 
Von 


Chriſtian Schmitt 


Aberm Poſtweg an der Halde 

Ragt ein Chriſtkreuz, alt und grau; 
Ernſt und einſam ſchaut's vom Walde 
Niederwärts auf Bahn und Bau. 


Blinkend in die blaue Weite 

Läuft ein Schienendoppelſtrang. 

Aus dem Werkhaus, ihm zur Seite, 
Dröhnt Geſtampf und Hammerklang. 


Schwarzer Rauch in ſchwanker Säule 
Steigt aus ſteilgetürmtem Schlot, 
Hoch wie eine Rieſenkeule, 

Wachſend vor das Bild der Not. 


Lang und ſpurlos ſcheint's verſchwunden, 
Ganz in dunkle Nacht verhüllt, 

Als ob die Karfreitagsſtunden 

Hier aufs neue ſich erfüllt. 


Aber ſieh, mit einem Male 

Reißt der Schleier, und den Qualm 
Fegt ein Windſtoß tief im Tale 
Beugend über Buſch und Halm. 


Der Erlöſer ſteht im Lichte, 

Auf dem Haupt den Dornenkranz; 
Mild auf ſeinem Angeſichte 

Ruht des Abends ſtiller Glanz. 


W 


a 
f 
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— 
4 


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Pan und Piyche 


Frühling im Garten (Mitte April) 
Von 


Karl Foerfter (Weſtend) 


ieder nimmt heiliger, jugendſüßer Frühling die winter— 

geſtählte Seele weich ans Herz, um ſie durchs Paradies 
in Paradieſe zu tragen. 

> Daß uns dies große monatelange Weltenfeſt alljähr— 


lich gewährt wird! 
Durchs halboffene Fenſter tönt Amſeljauchzen und fernes Donnerrollen. 
Aus kühler Luft der Flurhalle trete ich in laue balſamiſche Garten— 
luft hinaus; jeder Atemzug wie ein Zuwachs an Geſundheit und Kraft; 
alle Düfte der Wildnis- und Bergfriſche walten nach dem Regen im Früh— 
lingsgarten. 


XK 55. 
* 


Schweres Gewölk zieht ab und feuriges Wtherblau ſteigt hoch empor 
über knoſpenquellender Welt und ſpiegelt in tauſend Wiederſcheinen; Näſſe 
dampft von den Zäunen, jeder Blick ſammelt ſich Knoſpenmeere ein, tropfende 
Geſchmeide funkeln im Sonnenglanz, Finken laſſen ihre ſchmetternden Ton— 
raketen ſteigen; Wechſelſang der Amſeln tönt hoch aus den blühenden Spitz— 
pappeln, die wie Purpurtürme in den böigen Himmel ragen. 


Wie dringt der Amſelſang ſeit Wochen in die Wohnungen und Ge— 
ſpräche hinein; abends noch aus dämmernden Gärten in lampenhelle Zimmer! 
And morgens früh, wenn aus voller Sternennacht göttlich leiſe blaues 
Licht erblüht, dann quillt's tief aufregend aus ſchlafgetränkten Gärten und 
ſingt den fernhin verſchwebenden Geſtirnen nach. 
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Gleich nach dem Regen find die Veilchenpolfter wieder von Bienen 
umſummt, und Zitronenfalter flattern über Anemonen, blühenden Taub— 
neſſeln und alten lieben Kräutern und Pflanzen, die in friſcher Götterjugend 
wieder hervorgezaubert ſind und an manchen Stellen ſchon kleine Frühlings— 
dickichte bilden; auch die ungeduldig erwarteten Entwicklungen bringen 


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30 Foerſter: Pan und Pſyche 


immer wieder Augenblicke mit ſich, in denen ihre Schnelligkeit überraſcht 
und bald den Wunſch weckt, das ſtürmende Werden zu dämpfen. 
* * 


Die alte Kaſtanie dort vor den blauſpiegelnden Fenſterſcheiben ſtand 
geſtern noch in goldenen Knoſpenbällen; heut breiten ſich tauſend betende 
Hände dem Licht entgegen. 

Wie köſtlich mannigfaltig dies magiſche junge Grün durch die früh⸗ 
lingsſauberen ſingenden Gärten ringsum. Noch läßt die zarte Pracht weit 
hin Blüten und Gewänder in Nachbargärten, frühlingshafte Berg und 
Himmelsfernen durchſchimmern; doch ſchon beginnt das Laub die großen 
Kuppeln und Wölbungen, Schirme und Gänge zu füllen, vergeſſenes un⸗ 
erſchöpfliches Raumglück bereitend. 

Drüben in der Mädchenſchule wird unermüdlich ein vielſtimmiger 
Geſang eingeübt. Hundert Silberſtimmen der Vögel ſingen mit. 

Bilder aller Jahreszeiten fluten durcheinander: Dicht neben braunem 
Laub dringt junger Blütenſchein und ſtilles grünes Feuer aus ſchwarzem 
Holz. Auf Krokuswieſen liegt Schattennetzwerk gewaltiger kahler Baum⸗ 
rieſen, zu denen man erwartungsfroh aufblickt wie zu den Maſten eines 
reichbeladenen Schiffes, das nun bald alle Segel ſetzen wird. 

Aber Winter⸗ und Frühlingswipfeln wechſeln kaltgraue ſturmverwehte 
Himmelsgründe mit flammend blauweißer Pracht oder ſtrichweiß ſchweben⸗ 
dem Sommergewölk. 

Mit ſteigender Wärme beginnt wieder das Walten ungeheurer Wolken⸗ 
geſtalten, das auch in idylliſche Landſchafts⸗ und Gartenbilder einen großen 
heroiſchen Zug trägt. 

Alle möglichen Wetterarten ziehen jetzt an einem Tage übers Land. 
Mit wilden feierlichen Farben wirbt der Himmel um die herbe junge Früh⸗ 
lingserde; bald wird er ruhevoller auf die göttlich Geſchmückte blicken. 


Hoch über dem Geſang der Gartenvögel führt jetzt die Lerche eine 
ſüße Oberſtimme. Ich trete an die Gartenmauer über der Landſtraße und 
blicke weit hinaus in die offene Ferne. 

Aus ſauberen grünen Saaten ſteigt ſchlehengeſäumt violettes Wald⸗ 
gebirg empor, das unter Wolkenſchatten ſogleich tief erblaut. Die dunklen 
Forſten ſind von hellgrünen Spitzflammen der Lärchenbäume durchwirkt; 
Feuerwolken thronen hinter den Bergen und ſchimmern durch kahle 
Kammwipfel. | 

Der Fluß ift über hellgrüne Uferweidenreiben getreten; über jen- 
feitige Dörfer und Hügel zieht jetzt auch Sonnenſchein und erhellt grelle Frũh ; 
lings farben unter ſchwefelgelbem Horizontgewölk, in dem ein Fetzen ſtrahlend 
bunten Regenbogens hängen blieb; das vertraute Antlitz der fernen Land⸗ 
ſchaft lächelt wunderfremd wie unter Tränen. 


* 
* 


fang: Erinnerung 3 


Wie ich fo hinauslauſche in Kuckucksruf und Wald- und Flur⸗ 
geheimnis, in Tropfenfall und Vogelſang, in das frühlings ſchaurige Weben 
der quellenden funkelnden Welt, da war es, als rückten alle Dinge näher 
aneinander, ein Viſier ward gelüftet, wortfernes Myſterium flammte in der 
Seele auf wie Blitzgeleucht am hellen Tag, weithin nachhallend und zitternd 
in allem, was ich fühlte und ſah, in jedem Kraut und Blättchen. 


Die Mufikſchule hat die Sängerinnen rings in die Frühlingsgefilde 
entlaſſen. Eine von ihnen wandelt, am Arm die Notenmappe, von einem 
jungen Manne begleitet, dicht an der Gartenmauer vorüber. Jugend und 
Frühling ſtäubt wahrhaft aus den Stimmen, und in den Geſichtern ſteht 
das leiſe, halb ſpottende, halb feierliche Lächeln, in dem alten Schauſpiel 
Jugend Frühling ⸗Liebe mitzuwirken. 

Im Blumenbeet am neugeſchäftigen Bienenhauſe reckt ſich viel⸗ 
geſtaltiges Grün aus dampfender, ſchwarzer Erde. Farne entrollen Silber- 
ſpiralen, die Primeln haben alle wieder ihre mannigfaltigen wohlbekannten 
Sammetaugen aufgeſchlagen; auch die Blüte mit der Goldrandverzierung 
fehlt nicht. Die Pflanze am halbvergrabenen Felsblock ſteht erſt in reicher 
Knoſpe; ich weiß nicht mehr, wie fie blüht, doch wird's ja bald ein Wieder 
erkennen geben. 


* * 
* 


Weither hallt kurzes ſchwaches Donnern wie das Zufallen ferner 
ſchwerer Tore. — Sonne ſcheint ſo jung und feurig durch ſproſſende Wipfel; 
alle Sinne ſchlürfen, vergeſſene Kindheitsdüfte erwachen, altes, unverwelk 
liches Hoffen quillt empor. — 

In manchen Frühlingstagen wohnen Kräfte urtiefer geiſtig ⸗körper⸗ 
licher Erneuerung, Glättung und Wandlung, für die wir Wochen nötig 
glaubten. — Frühlingsfeuer werden in unſerm Innern entzündet, die noch 
abends bei Lampen und Sternenſchein nachglühen! 


vir 


Erinnerung 
Bon 


Martin Lang 


Er ſah ein feines Blatt im Lichte ſchweben 

And grüßt' es voller Andacht, froh und lange, 

And küßt es fromm als einer Schweſter Wange — 
Der Herr behüte dich, du heil'ges Leben! 


S 


Ein nicht abgeſandter Brief 


Von 


T. Schtſchepkina-Kupernik 


.. Wenn Du wüßteſt, Serjoſha, mit welchen Gefühlen ich dieſen 
Brief an Dich beginne, wenn Du in dieſem ſelben Augenblick das durch— 
leben könnteſt, was ich durchlebe ... Wie vieles möchte ich Dir ſagen, 
wie gerne wünſchte ich, daß ein jedes von meinen Worten Dich ſo erreichen 
möchte, wie ich es niederſchreibe, daß es nichts von ſeiner Kraft und Liebe 
verliere, und daß Du in dieſer ſchrecklichen Entfernung von 10000 Werſt 
alle die Zärtlichkeit durchfühlen möchteſt, die eben mein Herz bis zum LMber- 
fließen erfüllt ... Ja, ſolch ein ſchreckliches elementares Unglück, wie der 
Krieg, wie eine plötzliche Krankheit, eine drohende Gefahr, — es tritt in 
unſerem Leben auf wie ein Gewitter und reinigt die allzu dumpf ge— 
wordene Luft. 

Man lebt fo in den Tag hinein; über nichts ſtellt man ernſte Ge- 
trachtungen an; leichtſinnigerweiſe nimmt man alles, was man hat, als ſelbſt— 
verſtändlich an — Geſundheit, Reichtum, Ruhe — und man ſchätzt es 
nicht, man verſteht nicht, wie wenig man eigentlich alles das verdient. 
Man gewöhnt ſich daran, alles fremde Leid von der Ferne aus zu be— 
trachten mit gleichgültigem Mitleid... Irgendwo kämpfen die Männer 
miteinander, irgendwo hungern ganze Dörfer, irgendwo endet jemand ſein 
Leben mit Selbſtmord; die Gefängniſſe ſind überfüllt, in den Hoſpitälern 
iſt kein Platz vorhanden ... Alles das weiß man, man lieſt das in der 
Zeitung beim Morgenkaffee, noch im Bette liegend. 

Man lieſt es durch und ſagt mechaniſch: „Wie ſchrecklich!“ Aber 
der Kaffee wird davon nicht bitter, und das Bett bleibt ebenſo warm und 
gemütlich ... And daneben erblickt man in der Zeitung: „Benefiz von 
Schaliapin“ oder „Ankunft der Cavalieri“ und denkt, da will ich hingehen. 
Schon allein bei dieſem Gedanken macht man halt; man denkt darüber nach, 
was man anziehen, wen man in die Loge auffordern ſoll .. . Und dort — 
iſt Mord, Totſchlag, Hunger ... aber man ſieht es ja nicht, man hört ja 
nicht die Seufzer. 


Sſchrfche prima - Ruyerntk: em nicht abdgefandter Brief 33 


And erſt wenn der Schrecken über Dich ſelbſt kommt, Dich ſelbſt um⸗ 
gibt, ſich vor Dich hinſtellt, erſt wenn das eigene Leid ſich über Dich ergießt, 
dann begreifſt Du auch das fremde. 

Neulich wurden mir einige Epiſoden aus der Judenhetze im Süden 
erzählt. Ein Fall blieb mir beſonders im Gedächtnis haften. Ein alter 
Jude wollte ſich mit ſeiner greiſen Frau vor der wütenden Menge ſchützen 
und verſteckte ſich im Keller hinter Kiſten. Die rohe Bande plünderte das 
Haus und drang bis in den Keller. Einer von ihnen rief: „Vielleicht 
haben fie ſich hier verſteckt? Wollen wir ſuchen!! „Wozu denn ſuchen, 
wir können den Keller anzünden und dann abſchließen“ — erwiderte ein 
anderer — „fo werden fie nicht davonkommen, wenn ſie ſich auch verſteckt 
haben“. In dieſem Augenblick rief jemand von oben nach den Räubern, 
und ſie verließen den Keller. So wurden die Alten wie durch ein Wunder 
gerettet. Dieſer Jude war ein reicher, ſtadtbekannter Mann. Als man ihn 
aber fragte, woran er in dem Augenblick dachte, als man vorſchlug, ihn zu 
verbrennen, da antwortete er: 

„Die Juden kennen zwei Gebete für die Sterbeſtunde, ein langes und 
ein kurzes; ich begann das kurze zu Dan, aus Angſt, das lange nicht zu 
Ende bringen zu können.“ 

Hieran alſo dachte dieſer Mann im Augenblicke der Gefahr und ge⸗ 
wiß nicht an ſein Geld, ſeine Häuſer und ſein Geſchäft: alles dieſes wurde 
plötzlich gering, nichtig und unnütz. Ich weiß nicht weshalb, aber dieſe 
Erzählung kann ich mir jetzt nicht aus dem Sinne ſchlagen. Es wurde 
nämlich plötzlich auch mir ſelbſt klar, wie klein und nichtig alles iſt, was 
mich umgibt: alles, worüber ich mich freute, alles, was mir Kummer ver⸗ 
urſachte — meine Bekannten, meine Freundinnen mit ihren Zärtlichkeiten 
und Klatſchereien, meine Möbel, auf die ich ſo ſtolz war, meine Kleider 
und ſogar meine Blumen. Ich verſtehe es nicht zu beſchreiben, aber um 
mich herum und in mir ſelbſt iſt alles gleichſam anders geworden. Ich ſehe, 
daß alles, was um mich iſt, nur Schein iſt, daß aber das Echte, Große, 
Wichtige nicht hier liegt. Ich möchte Dir ſchreiben, alles Dir erzählen, mein 
armer, in der Ferne weilender Junge. Meine Gedanken verwirren ſich; es 
herrſcht in ihnen fold ein Chaos, fold eine Anordnung. Ich möchte mit 
Dir reden, Dir Mut und Hoffnung einhauchen, möchte zugleich auch vor 
Dir weinen und Dich um Verzeihung bitten. Ja, ja, mein Junge! Um 
Verzeihung, nicht für ein Dir angetanes Leid, für ein begangenes Anrecht, 
ſondern für ein jedes nicht ausgeſprochene Wort, jeden nicht zur rechten 
Zeit gegebenen Kuß, jede nicht erwiderte Zärtlichkeit, jeden Blick, der die 
Seele nicht erwärmt hat. Für alles, alles, was ich Dir geben konnte und 
Dir nicht gegeben habe nicht aus Mangel an Liebe zu Dir, nein, glaube 
es mir, ſondern infolge dieſer verbrecheriſchen Gleichgültigkeit, durch die wir 
alle uns auszeichnen in bezug auf die anderen, die Amgebung, ja fogar 
auf uns ſelbſt. Wir verſtehen nicht zu lieben. And ich liebe Dich doch, 
ich liebe Dich heiß — und vielleicht erſt jetzt habe ich begriffen, 5 heiß. 

Der Türmer X, 7 


34 Sſchtſcheptina · Kupernit: em nicht abgefandter Brief 


Glaube mir nicht, glaube nicht dem, der Dir ſagen konnte, daß ich Dich 
nicht geliebt habe. Allerdings habe ich ſelbſt ſehr häufig geſagt: „Mein 
Sohn? Was bedeutet mir mein Sohn? Er kann doch nicht mein ganzes 
Leben ausfüllen, kann mir doch nicht mein perſönliches Glück erſetzen. Er 
wird ſelbſt älter werden und von mir zu einer anderen Frau gehen, und 
ſelbſt wenn ich ihm meine ganze Seele hingebe — zuletzt erweiſe ich mich 
doch als bankerott!“ Auch zu Dir ſelbſt habe ich dieſe Worte ſo nebenhin 
halb im Scherz geſagt in den ſeltenen Augenblicken, wo wir miteinander 
redeten, und wenn Du dann bekümmert Dein Haupt neigteſt, habe ich nur 
gelächelt. Doch das waren ja nur Sophismen, um in meinen eigenen Augen 
den Mangel an Aufmerkſamkeit zu Dir, zu Deinem Leben zu rechtfertigen. 
Ich hatte keine Zeit für Dich. Ich war zu jung. And es ſchien mir un⸗ 
gerecht, daß ich — die außergewöhnliche Frau, für die mich alle und ich 
mit ihnen hielten, „la jolie Nessy Brianskaja“, wie mich alle nannten, die 
Wirtin des intereſſanteſten Salons in unſerem Kreiſe, daß ich nur eine 
Stunde meiner Zeit für dieſen heranwachſenden Jungen opfern ſollte, der 
ausgezeichnet auch ohne mich auskommen wird. „Er hat viel eher den 
Vater und Miſter Kelver nötig als mich!“ ſagte ich mir. And als Papa 
Dich ins Kadettenkorps abgab, beruhigte ich mich vollſtändin. Man hatte 
Dir den Weg gewieſen, Du warſt beſchäftigt. Wenn Du zu den Feier⸗ 
tagen nach Hauſe kamſt, erſt aus dem Korps und dann aus der Zunker⸗ 
ſchule, dann kamſt Du zu mir, küßteſt mir die Hand, ich plauderte mit 
Dir fünf Minuten und entließ Dich dann wieder. Ich hatte keine Zeit! 
Meiner warteten der Friſeur, Ausſtellungen, Wohltätigkeits bazare, Proben 
von Liebhabervorſtellungen, Viſiten, Empfänge uſw. So habe ich Dich eben 
überſehen. 

Nach dem Tode Deines Vaters wurde es Dir ganz einſam. Aber 
ich kam gar nicht auf dieſen Gedanken. Mir ſchien es ſo einfach: Du haſt 
Deine Kameraden, Geld gebe ich Dir genügend ... Was brauchteſt Du 
noch. And mich kränkte ſogar ein wenig, daß Du heranwuchſeſt ſo in Dich 
gekehrt, unzugänglich, ungern zu Gaſt gingſt und des Abends lieber in 
Deinem Zimmer ſaßeſt. Ich blieb ſelten zu Hauſe, und wenn ich blieb, 
dann nicht allein, und wir waren faſt nie mit Dir zuſammen. And dabei 
ſagte ich allen, daß ich Deinetwegen nicht zum zweitenmal heirate. Dem 
war nicht ſo. Mir gefiel eben die Freiheit, mir gefiel die allgemeine Ver⸗ 
ehrung, mir gefiel es, mit den Menſchen zu ſpielen und in ihnen die ver⸗ 
ſchiedenſten Gefühle und Empfindungen hervorzurufen.... An Dich dachte 
ich gar nicht ... Siehſt Du, ich will ganz aufrichtig vor Dir fein, damit 
nach dieſem Brief, wie nach einer Beichte, ſich nichts mehr zwiſchen uns 
ſtelle, kein Hindernis: es ſoll ſein ein völliges gegenſeitiges Verſtehen vom 
Herzen zum Herzen, von der Mutter zum Sohne. 

Als man Dich vor der Zeit zum Offizier beförderte und ich Dich in 
Deiner neuen, glänzenden Aniform erblickte, ſo jung, ſo ſtattlich und ſchön, 
da freute ich mich ſogar. Mir gefiel es, daß mein Sohn nun erwachſen, 


eſchtſcheyktma · Kupernik: Ein nicht adgefandter Brief 35 


ein Offizier war. Mit Vergnügen ließ ich mich an Deinem Arm ſehen, 
mir ſchmeichelte die allgemeine Verwunderung, daß Du mein Sohn und 
nicht mein Bruder biſt. Und wie hübſch war es, wie entzückte es alle, 
wenn Du, mein großer, ſtarker Sohn, mich, die Schlanke und Zarte, ſo vor⸗ 
ſichtig, zärtlich und ſtolz am Arme führteſt. 

Die rührende Freude Deiner alten Wärterin, als wir mit Dir zum 
Photographen fuhren, Du — in der neuen Uniform, ich — in einem weißen 
Spitzenlleide .. „Wer hätte gedacht, Frau, daß Ihr Mutter und Sohn 
ſeid? Braut und Bräutigam, fage ich“ ... Dieſe Freude brachte mich 
zum Lachen, verurfachte mir aber zugleich auch großes Vergnügen. Und 
dieſe wenigen Wochen vor Deiner Abreiſe brachten uns näher. Du warſt 
ſchon kein Knabe mehr, dem man 5 Rubel Taſchengeld geben und erlauben 
oder nicht erlauben mußte, ins Theater zu gehen: Du warſt ein ſelbſtändiger 
junger Offizier. And Deine ſchüchterne, allmählich kühner werdende Zärt⸗ 
lichkeit zu mir, die Blumen, die Du mir brachteſt, als Du dein erſtes eigenes 
Geld bekamſt, das feſſelte mich als etwas Neues und ſchmeichelte mir. 
Aber das war noch nicht das Nichtige, das Wahre 

Ich begleitete Dich zur Bahn, gleichſam ohne der Bedeutung des 
Augenblicks mir bewußt zu werden; ich war ſtolz auf Deinen jugendlichen 
Mut; ich ſelbſt hatte mich nie vor etwas gefürchtet, weder vor Pferden 
noch vor einem Revolver oder vor Spinnen, vor nichts, was meinen 
Freundinnen Schrecken einzujagen pflegt; und von Dir erwartete ich natürlich 
auch nichts anderes als Kühnheit. Nachdem ich Dich begleitet hatte, fuhr 
ich am ſelben Abend in aller Gemütsruhe auf einen Rout zu Koltowskys. 
And erſt als ich nach Hauſe zurückkehrte, begriff ich plötzlich, daß Du nicht 
mehr da warſt und in den Krieg gezogen warft. 

In den Krieg 

Dieſes Wort war mir noch fremd, und ich verſtand nicht, was alles 
damit verbunden iſt 

Aus dem Speiſezimmer führt in Dein Zimmer — die frühere „Kinder- 
ftube” — eine mit Gobelins verhängte Glastür; das hatte noch Papa fo 
eingerichtet, um zu jeder Zeit nachzuſehen, womit Du Dich beſchäftigteſt. And 
es war mir zur Gewohnheit geworden, am Abend, wenn ich an der Tür 
vorbeiging, den Vorhang zurückzuziehen und nachzuſchauen, was Du machteſt, 
und ob nicht bei Dir das Licht brennt. 

Wie ſich in dieſem Zimmer alles allmählich veränderte. Die 
Kindermöbel und das kleine Bettchen wurden durch gewöhnliche erſetzt; 
der kindliche Lockenkopf verwandelte ſich in den geſchorenen Kopf des Kadett⸗ 
leins mit abſtehenden Ohren, dann in den hübſchen dunklen Kopf mit dem 
beginnenden Schnurbart. — And wie das Kadettlein fleißig über den Büchern 
ſaß, ſo beugte ſich nachher immer ſpäter und ſpäter in die Nacht hinein der 
Kopf des Jünglings unter der grünen Lampe über dem Buche, wenn ich 
nur immer zur Tür hineinſchaute. 

And jetzt ... jetzt warſt Du nicht da. Aber Licht brannte in Deinem 


36 Sſchtſchepkma-Kuperntt: Ein nicht abgefandter Brief 


Zimmer. Dort machte ſich trotz der ſpäten Stunde die Wärterin zu ſchaffen 
und räumte die beim Packen verſtreuten Sachen weg. Als ſie mich er⸗ 
blickte, begann ſie zu weinen: 

„Ausgeflogen iſt unſer Vögelchen!“ 

Dieſe Tränen der Alten fielen mir plötzlich ſchwer aufs Herz. Warum 
habe ich denn nicht geweint? 

Ich fing an, mechaniſch in Deinen Sachen zu kramen. Dieſe lieben, 
halb männlichen, halb kindlichen Sachen. Neben einem alten Porte Cigares 
und zurückgelaſſenen Papiros — noch ein Pennal, Käſtchen mit farbigen 
Bleiſtiften, ein photographiſcher Apparat für Kinder; neben Nietzſche und 
Doſtojewsky (alſo darüber ſaßt Du bis in die Nacht hinein, mein Junge) 
— noch Cooper und die Abenteuer von Sherlock Holmes ... Rappiere 
und daneben ein altes Croquetſpiel ... Alles Stückchen Deiner Kindheit, 
Deines Lebens, das mir fo wenig und fo oberflächlich bekannt war... 

Auf dem Tiſche fehlte mein großes Porträt. „Serjoſha hat es mit⸗ 
genommen“, ſagte die Wärterin auf meine Frage. 

„Es hatte doch keinen Platz mehr.“ 

„Der junge Herr hat einiges aus ſeinem Koffer herausgenommen und 
gemeint, er müſſe das Bild der Mutter jedenfalls mitnehmen.“ 

Bei mir krampfte ſich plötzlich das Herz zuſammen. Ich erinnerte 
mich deutlich der Geſchichte dieſes Bildniſſes. Ich hatte es für meinen 
Mann beſtellt — ich war im Ballkleide, mit weißen Blumen im Haar — 
es war mein gelungenſtes Porträt. Man hatte mir zwei Exemplare ge⸗ 
bracht. And plötzlich ſagteſt Du mir ſchüchtern und dabei doch beſtimmt: 
„Mama, ſchenken Sie mir das andere.“ Ich war ſo erſtaunt — ſelten 
batſt Du mich um etwas direkt —, daß ich antwortete: „Nun, ſo nimm es 
meinetwegen.“ 

Nach zwei Tagen kam die Gräfin Liſa zu mir und verlangte von 
mir auch ſolch ein Bild. Da ging ich in Dein Zimmer, Du warſt gerade 
zu Hauſe, und ſagte: „Serjoſha, gib mir das Bild zurück — Liſa bittet 
ſehr darum.“ Du ſprangſt plötzlich auf; die Augen blitzten wie bei einem 
jungen Wolf, Du hielteſt beide Hände ſchützend über dem Bild und riefſt 
mit vor Erregung zitternder Stimme: „Wie Sie wollen, Mama, Sie haben 
es mir geſchenkt, und ich gebe es für keinen Preis her.“ Ich zuckte die 
Achſeln und ging fort. Liſa verſprach ich, ein neues zu beſtellen, und dem 
ganzen Vorfall ſchenkte ich nur inſofern Beachtung, als ich mich wunderte, 
wie Du es gewagt hatteſt, mir etwas abzuſchlagen. 

Und jetzt, wo ich mich daran wieder erinnerte, wurde es mir weh⸗ 
mütig und wohl ums Herz. Doch warte. Nach Deiner Abreiſe vergingen 
Tage, Wochen, Monate. Von Dir trafen Briefe ein, erſt von der Reife, 
dann aus Charbin, dann ſchon von den Poſitionen. Die Briefe waren 
ehrerbietig, zurückhaltend, wie alle Deine Briefe. Dazwiſchen ſchimmerte 
in ihnen eine Zärtlichkeit durch, aber fo zaghaft. Und keine einzige Klage, 
kein trauriges Wort. 


E 


— 


Sſchtſcheytima · Kupernik: Ein nicht adgefandier Brief 37 


Auch ich ſchrieb Dir — wie immer, über das, was bei uns vorging, 
über unſere Verwandten und Bekannten, über das Wetter, über häusliche 
Neuigkeiten. ; 

Aber allmählich vollzog ſich in mir eine große Veränderung, das Leben 
um mich herum ging weiter .. und begann mir feine wahre Seite zu zeigen. 

Meinen erſten wirklichen Eindruck vom Kriege (nicht aus fertigen 
Redensarten, wie Tapferkeit, Offizierspflicht, glänzender Sieg ufw.) erhielt 
ich aus einem Brief von Maruſſja, die als barmherzige Schweſter in den 
Oſten gezogen war, einem Brief, der ſo einfach war, wie ſie ſelbſt, ohne 
viel unnütze Worte ... Ich will Dir einige Stellen daraus anführen und 
Du wirſt ſelbſt ſehen, was ich hätte fühlen müſſen. Abrigens fürchte ich, 
daß Du das nicht erfahren wirſt, da ich jetzt verſtehe, daß für Dich das 
alles etwas ganz Gewöhnliches iſt. Aber mir, die ich dieſen Brief in einem 
weichen Seſſel am Kamin las, in meinem blauen Zimmer, in einem Peig⸗ 
noir aus Spitzen und Fell, erſchien er wie ein blutiger Vorwurf 

„Jeden Tag werden bei uns Operationen ausgeführt, Verbände 
werden angelegt bis ſpät in die Nacht hinein, und die ganze Zeit hört man 
das Geſtöhn der Verwundeten. 

Du kannſt Dir, Neſſy, gar nicht vorſtellen, wie die Leute leiden. 
Vorgeſtern empfing ich eine Partie Verwundeter, die vom Baikal kamen. 
Alles ſchwer Verwundete, die von den Sanitären auf dem Rücken getragen 
wurden. Zu allererſt kleiden wir ſie völlig aus. Sie ſind ſchmutzig, erſtarrt, 
hungrig, halb nackt. An einigen hingen anſtatt der Hemden ſchmutzige Flicker 
— Schweiß und Schmutz hatten die Wäſche förmlich zerfreſſen. Dann 
kleiden wir ſie in reine Wäſche, legen ſie auf die Betten, geben ihnen Tee 
und freuen uns, daß fie nun warm und rein gebettet find. Das find noch 
die Glücklichen, die zu uns kommen — aber viele ſterben unterwegs an ihren 
Wunden, Krankheiten, vor Hunger und Kälte. Man erzählt, daß ſie auf 
den Stationen direkt auf der Diele liegen, wenn keine Züge vorhanden ſind, 
um fie weiter zu befoͤrdern 

. . . Die Offiziere kommen auch an ſchmutzig, abgemagert, erſchöpft, 
und freuen ſich wie die Kinder aufs Bad. Wie waren ſie zufrieden, als 
wir den Tiſch mit einem Tiſchtuch bedeckten und das Eſſen auftrugen. 
„Ganz wie zu Hauſe“, ſagen ſie. Wirklich rührend war es, ihre glücklichen 
Gefichter zu ſehen. Die Armen waren ja fo verfroren und ausgehungert. 
Wir dürfen nur Kranke und Verwundete aufnehmen, aber bisweilen kommen 
zu uns erſchöpfte, abgemattete Offiziere, bitten um die Erlaubnis, ſich zu 
erholen, und um Wäſche. Ein Offizier knöpfte feinen Mantel los, zeigte 
ſein Hemd, das ſchwarz war, und bat um ein reines. Sie haben alles ver⸗ 
tragen oder direkt verloren, haben häuſig kein Geld, um ſich Neues zu 
laufen, und wir haben nicht das Recht, ihnen Wäſche zu verabfolgen, und 
miifjen ihnen ihre Bitten abſchlagen.“ 

Viele ſolche einfache, in ihrer Einfachheit ſchreckliche Dinge ſchrieb 
mir Maruffia und bat, ihr einiges zu ſchicken. Für mich war das wie eine 


38 Sſchtſchepkina⸗Kupernik: Ein nicht abgeſandter Brief 


Offenbarung: ich verſtand plötzlich, daß den Krieg nicht die Redensarten 
von Sieg. Tapferkeit uſw. ausmachen, ſondern ſolche gemeinen, aber uner- 
träglichen Leiden, und daß vielleicht Du, mein Sohn, ebendort unter Schmutz, 
Kälte und Hunger leideſt, während bei mir Maiglöckchen in den Sardiniéren 
blühen, und es warm und hell iſt. . 

Und zum erſtenmal in meinem Leben ſchämte ich mich, Serjoſha. 
Aber das Leben ging weiter... Vom Kriege wurde immer mehr und 
mehr die Maske heruntergeriſſen. Es kamen die erſten Niederlagen, die 
erſten genaueren Beſchreibungen der ſchrecklichen Kämpfe; und ich griff des 
Morgens zur Zeitung nicht mehr mit der früheren Gleichgültigkeit, ſondern 
mit Zittern und Herzbeklemmung. 

Dann kehrte Annas Mann zurück — Du weißt, ſie waren nur 
drei Monate verheiratet, als er einberufen wurde; — er iſt nur mit einem 
Bein zurückgekommen, ein Schatten des früheren Lwoff, mit völlig grauen 
Haaren, trotz ſeiner 27 Jahre. Sie war auch über eine ſolche Rückkehr glücklich. 

Krivozoff iſt ganz geſtört zurückgekehrt. Er kauert immer in einem 
Winkel und weint. Als ich zu ihm hereintrat und er die roten Blumen 
auf meinem Muff erblickte, ſprang er auf, zeigte mit dem Finger auf die 
Blumen und rief: „Blut, Blut!“ 

Und immer mehr und mehr öffneten ſich meine Augen. Ich hatte 
nur für den Krieg noch Intereſſe. Ich fuhr überall hin, wo ich etwas vom 
Kriege hören konnte: ich beſuchte die zurückgekehrten Verwundeten in den 
Hoſpitälern; ich ſtudierte eifrig die Zeitungen, und mein Ohr gewöhnte ſich 
an die ſeltſamen Namen der chineſiſchen Dörfer. Alles was ich las, hörte, 
wußte, das drückte, quälte mich; immer mehr wurde ich vom Grauſen er⸗ 
faßt .. . Aber in Deinen Briefen fand ſich kein Wort der Klage. 

Und allmählich, mein Junge, war ich nicht mehr die frühere Brians⸗ 
kaja, la jolie Nessy, der Gegenſtand allgemeiner Verehrung, — ſondern 
die vierzigjährige Frau, die Mutter, deren Sohn im Kriege iſt. Jetzt bin 
ich nur dies letztere. 

And zwei Dinge habe ich zugelernt, die ich früher nicht kannte: ich 
habe gelernt mich zu grämen, und ich habe beten gelernt wie jener alte Zube, 
den man verbrennen wollte. 

Ich lebe nicht mehr ſo wie früher: ich haſſe die Viſiten, Theater, 
Wohltätigkeitsſoireen und andere Veranſtaltungen ... Ich ſchäme mich 
meines Komforts, meiner eleganten Toiletten. Ich lebe von Brief zu Brief, 
von Telegramm zu Telegramm, von Zeitung zu Zeitung, ich zittere für 
Dich, mein Kind, und liebe Dich, und leide für Dich ebenſo wie vor 
20 Jahren, als ich Dich unter Schmerzen gebar. Es ſind jetzt dieſelben 
Schmerzen, denn Du, ein Stück meiner ſelbſt, ein Stück meines Leibes, 
Blutes und meiner Seele, biſt von mir losgeriſſen, ſchwebſt jeden Augen⸗ 
blick in Gefahr. Wenn ich Dir ſchreibe, bin ich im Angewiſſen, ich weiß 
nicht, wo Du biſt, was mit Dir iſt! ... O, dieſe ſchrecklichen, dieſe ere 
barmungsloſen 10 000 Werft. 


Dörr: Hobe Liebe 39 


Der Gedanke an alle die Entbehrungen, die Du erduldeſt, vergiftet 
mir jeden Augenblick meines Lebens. Du fitzſt zuſammengekauert tagelang 
in einer dunklen Erdhütte .. Wie mag ich in großen, hellen Räumen 
wohnen? Du freuft Dich wie auf ein Feſt auf die Soldatenportion, wie 
kann ich Wildpaſtete und friſche Früchte eſſen? Du hörſt jede Sekunde 
den Lärm der Geſchütze in ſchlafloſer Nacht — wie kann ich auf meinen 
ſeidenen Kiſſen ſchlafen? 

Nein, mein Junge, jetzt habe ich mich entſchloſſen. Ich mache einen 
Kurſus durch und nach einem Monat vielleicht trete ich die Reife in die 
Mandſchurei an. Mein Platz iſt an Deiner Seite; alles übrige iſt gering 
und unwichtig, das iſt mir jetzt klar. 

Alſo in 2—3 Monaten ſehen wir uns, mein Kind. Dann wird Dich 
Deine Mutter ans Herz preſſen unter heißen Tränen des Glücks und 
des Schmerzes. 

Später aber, wenn dieſe Schreckenszeit vorbei ſein wird und wir heim⸗ 
kehren werden, wie werden wir dann das Leben genießen! Ein neues Leben 
wird für uns beginnen. Ich werde Dich nach Italien zu den Seen mit⸗ 
nehmen, damit Du dich erholſt. Du wirſt kennen lernen, was die Zärtlichkeit, 
Sorge und Liebe einer Mutter einem geben können; ich will hundertfältig 
alles bezahlen, was ich Dir bis jetzt ſchuldig geblieben bin! Mein Junge, 
mein Kind! Ich drücke an meine Bruſt Dein einſames Haupt und bitte 
Dich noch einmal, bitte Dich unter Tränen, vergib mir, vergib Deiner 
— und von nun an nur Deiner — Dich grenzenlos liebenden Mutter. 
Gott mit Dir! Agnes B. 

(Der Brief wurde nicht abgeſandt, da die Nachricht eintraf vom Tode 
des Adreſſaten Sergei Briansky, der in der Schlacht am Schaho von einer 
feindlichen Kugel getroffen wurde.) 

Deutſch von W. Held, St. Petersburg 


SIEB 
Hohe Liebe 


Bon 
Paul Dörr 

Wie ewige Liebe tut, Du ſcheuchſt des Wahnes Wut 
So tuſt mir du: Aus wirrem Hirn, 
Du ſprichſt: Nur Mut, nur Mut, Du bannſt des Fiebers Glut 
And habe Ruf! Von heißer Stirn. 
Du legſt ſo mild die Hand Du biſt ſo lieb und gut, 
Auf müdes Haupt: Du biſt die Ruh. — 
„Laß ab vom nichtigen Tand, Wie ewige Liebe tut, 
Gehofft, geglaubt!“ So tuft mir du! 


2 


* 
75 Ruy. 
227 tH 


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Die Reichsfinanznot 


rotz der Reichsfinanzreform des Jahres 1906, die den Reichsfinanzen 
) durch Erſchließung neuer Steuerquellen einen Mehrertrag von rund 
N 150 Millionen Mark zuführte, ſtehen Regierung und Reichstag 
wiederum vor der ſchwierigen Aufgabe, durch Schaffung neuer Reichs ſteuern 
das noch immer vorhandene Mißverhältnis zwiſchen Einnahme und Ausgabe 
in der Reichsfinanzwirtſchaft zu beſeitigen. Das Bild, welches der Staats- 
ſekretär im Reichsſchatzamt Frhr. v. Stengel bei der Eröffnung der gegen- 
wärtigen Seſſion des Reichstages von der Lage der Reichsfinanzen entrollte, 
iſt ein höchſt trübes. Schon das Jahr 1906 ſchloß trotz ſeiner Finanzreform 
mit einem Fehlbetrag von rund 50 Mill. Mk. ab, im Jahre 1907 belief ſich 
dieſer auf 85 Mill. Mk., für das neue Etatsjahr 1908 wird er auf rund 
150 Mill. Mk. veranſchlagt infolge der Beſoldungsvorlage für die Reichs- 
beamten, die rund 70 Mill. Mk. Mehrausgaben gegenüber den Vorjahren 
verurſacht. Da in jeder geſunden Finanzwirtſchaft Einnahme und Ausgabe 
einander das Gleichgewicht halten müſſen, ſo ſtellt das Defizit von 150 Mill. Mk. 
zugleich den Betrag dar, der durch neue Steuern aufgebracht werden muß. 
Die Entwicklung der Reichs finanzen zeigt in der Mehrzahl der Jahre 
ſeit der Schaffung des Deutſchen Reiches kein ſehr erfreuliches Bild, und 
namentlich im letzten Jahrzehnt hat faſt jedes Rechnungsjahr mit einem erheb- 
lichen Fehlbetrage abgeſchloſſen. Während die Aufgaben der Reichsverwaltung 
mit der zunehmenden Erſtarkung der Induſtrie, der wachſenden Aus dehnung der 
Handelsintereſſen, dem Ausbau der ſozialpolitiſchen Geſetzgebung ſich ſtändig 
erweiterten und ebenſo ſtändig anſchwellende Ausgaben zur Folge hatten, 
hielten die Einnahmen hiermit nicht gleichen Schritt, und die Folge war eine 
in den letzten Jahren chroniſch gewordene Defizitwirtſchaft, die auch auf den 
finanziellen Kredit des Reiches nicht ohne empfindliche Einwirkung blieb. Da 
der Fehlbetrag der einzelnen Rechnungs jahre gedeckt werden mußte und ordent- 
liche Einnahmen hierfür nicht zur Verfügung ftanden, die Leiſtungsfähigkeit 
der Einzelſtaaten in der Aufbringung der Matrikularbeiträge ſich aber in ziem- 
lich engen Grenzen bewegte, ſo blieb als einziges Mittel der ſehr anfechtbare 
Weg, die fehlende Summe im Wege der Anleihe zu beſchaffen. Ein unauf- 
haltſames und namentlich in den letzten Jahren rapides Anſchwellen der Reichs · 
ſchuld war die Folge dieſer ungeſunden Finanzpolitik. Im Jahre 1880 betrug 


Die Neichsſmanzuot 41 


die geſamte Reichs ſchuld noch 267 Mill. Mk., im Jahre 1890 waren es ſchon 
1317 Millionen, 1900 war eine weitere Milliarde hinzugekommen. und von da 
ab geht es gar in doppelt ſo raſchem Tempo vorwärts. 1903 wird die dritte 
Milliarde überſchritten, 1905 find es 3,5 Milliarden und am 5. Oktober 1907 
weiſt der Reichs kredit eine Belaſtung mit 4003 Millionen Mark auf mit der 
Ausſicht, im Jahre 1908 ſtark auf die erſte Hälfte der fünften Milliarde los ⸗ 
zuſchreiten. 

Es leuchtet ein, daß einer ſolchen Entwicklung Einhalt getan und un- 
bedingt das Gleichgewicht zwiſchen Einnahme und Ausgabe hergeſtellt werden 
muß. Hierzu würden zwei Wege, nämlich entweder eine Verminderung der 
Ausgaben oder eine Vermehrung der Einnahmen, zur Verfügung ſtehen. Der 
erſte Weg könnte nur auf Koſten der Wehrfähigkeit des Reiches beſchritten 
werden, da nur die Etats für Heer und Marine fo große find, daß bei ihnen 
nennenswerte Abſtriche vorgenommen werden könnten. Da von einer Schwä- 
chung der Wehrkraft des Reiches nicht die Rede fein kann, fo muß der zweite 
Weg, die Vermehrung der Einnahmen durch Schaffung neuer Reichs ſteuern, 
beſchritten werden. Prinzipielle Bedenken, die ſich aus einer Aberlaſtung der 
Steuerzahler durch neue Reichs ſteuern ergeben würden, beſtehen nicht. Mit 
der induſtriellen und handelspolitiſchen Entwicklung iſt auch die wirtſchaftliche 
Leiſtungs fähigkeit entſprechend geſtiegen, fo daß ohne erhebliche Mühen auch die 
finanziellen Mehrforderungen, die die Reichs finanzwirtſchaft ſtellt, aufgebracht 
werden können. Aus Gründen der Gerechtigkeit muß nur das Verlangen ge ; 
ſtellt werden, daß neue Steuern ſo geſtaltet werden, daß ſte in erſter Linie 
die tragfähigen Schultern belaſten, die minder tragfähigen ſchonen. 

Dieſe Forderung findet in der heutigen Geſtaltung der Reichseinnahmen 
ihre Begründung. Dieſe bauen ſich überwiegend auf einem Syſtem von in⸗ 
direkten Steuern auf. Daneben kommen in beſchränktem Maße Verkehrs ſteuern 
und Erwerbseinkünfte in Betracht. Direkte Neichsſteuern find bisher nur in 
einem ſchwachen Anſatz, nämlich der im Jahre 1906 neugeſchaffenen Erbſchafts⸗ 
fteuer, die zunächft noch ſehr zaghaft auftritt, vorhanden. 

Für die indirekte Beſteuerung trifft der Vorwurf zu, daß fie eine un- 
gleichmäßige Selaftung der Steuerzahler mit ſich bringt. Da fie aus Rüdficht 
auf ihre finanzielle Ergiebigkeit vorwiegend Gegenſtände des Maſſenkonſums 
erfaßt, fo wird fie von allen Senfiten in abſolut gleichen Beträgen gezahlt, 
eine Abſtufung des Steuerbetrages nach der Leiſtungsfähigkeit des einzelnen, 
wie fie die direkte Beſteuerung ermöglicht, findet nicht ſtatt. In dieſer Tat; 
fade an und für ſich liegt eine ſoziale Ungerechtigkeit. Hierbei ſpielt es keine 
Nolle, ob die auf den einzelnen entfallende Jahres ſteuerſumme im Verhältnis 
zu ſeinem Einkommen hoch oder niedrig iſt, ob er noch weitere Erhöhungen 
ohne Schädigung feiner Exiſtenz tragen könnte oder nicht — das find Fragen, 
die je nach der individuellen Anſicht, nach dem Parteiſtandpunkt u. and. ver⸗ 
ſchieden beurteilt werden können — hier handelt es ſich lediglich um die Feft- 
ſtellung, daß es ein Zuſtand iſt, der den Grundſätzen der Gerechtigkeit in der 
Beſteuerung widerſpricht, wenn der Reiche, der Wohlhabende und der Arme, 
deren Leiſtungsfähigkeit eine verſchiedene iſt, den abſolut gleichen Steuerſatz 
zu tragen haben. Die Nichtigkeit dieſes Satzes kann in Wiſſenſchaft und 
Praxis als unbeſtritten gelten. Folgerichtig wird auch anerkannt, daß in einem 
gsi pear durch Schaffung direkter Steuern ein Laſtenaus gleich geſchaffen 
werden 


42 Die Reichs finanznot 


Aus dieſem Grunde wird, ſobald die Frage neuer Reichsſteuern zur 
Erörterung gelangt, regelmäßig die Forderung erhoben, den notwendigen Be- 
darf wenigſtens teilweiſe im Wege der direkten Beſteuerung zu decken. Dieſe 
Forderung erſcheint um ſo mehr als begründet, weil auch in den Einzelſtaaten, 
wenngleich hier in der Einkommenſteuer durchweg direkte Steuern vorhanden 
find, doch noch immer ein erheblicher Teil des Bedarfs gleichfalls im Wege 
indirekter Beſteuerung aufgebracht wird. Dieſer Anteil beläuft fic beifpiels- 
weiſe in Bayern auf 50%, in Württemberg auf 32%, in Baden auf 31% 
und in den Neichslanden auf 22%, des Geſamtſteuerertrages. 

Beleuchten dieſe Ziffern, daß der indirekten Reichs beſteuerung keines. 
wegs eine ausſchließlich direkte Beſteuerung in den Einzelſtaaten gegenüber 
ſteht und daß daher auf dieſem Wege der gewünſchte Laſtenausgleich zwiſchen 
den tragfähigen und den ſchwachen Schultern nicht zuſtande kommt, ſo wird 
das Bild noch ungünſtiger, wenn man den relativ geringen Anteil betrachtet, 
den die direkten Steuern an den Geſamteinkünften haben, weil dieſe weit über- 
wiegend aus Erwerbseinkünften ſtammen. In Preußen mit ſeinem vorbildlich 
gewordenen Syſtem der direkten Steuern werden 7,74% des Geſamtbedarfes 
durch dieſe, in den meiſten Staaten nicht mehr als 10 - 20% durch direkte 
Steuern aufgebracht. Das Verhältnis ſtellt ſich etwa ſo, daß durch indirekte 
Steuern insgeſamt etwa doppelt ſoviel wie durch direkte Steuern in den Einzel. 
ſtaaten aufgebracht wird. 

Je mehr der Finanzbedarf des Reiches durch weitere indirekte Steuern 
gedeckt werden würde, deſto ungünſtiger müßte ſich dieſes Verhältnis geſtalten, 
deſto mehr Gewicht müſſen daher die Stimmen, die für die bevorſtehenden 
Steuerpläne vornehmlich direkte Steuern befürworten, ins Gewicht fallen. 

Als direkte Steuern würden die Einkommens und Vermögensſteuer, eine 
eventuelle Erweiterung der Erbſchafts⸗ und die Wehrſteuer in Frage kommen. 

Die Erbſchaftsſteuer iſt, wie bereits erwähnt, die einzige bisher be⸗ 
ſtehende direkte Reichsſteuer, die gelegentlich der Reichsſinanzreform des 
Jahres 1906 geſchaffen wurde. Ihr Ertrag im erſten Jahre ihres Beſtehens 
iſt nur ein geringer geweſen, was im Etatsbericht damit begründet wird, daß 
gerade die großen Erbſchaften längere Zeit als 1 Jahr für ihre Abwicklung 
in Anſpruch nähmen, ſo daß höhere Erträge erſt in den folgenden Jahren zu 
erwarten wären. 

Die jetzige Neichserbſchafts ſteuer nimmt eine nach dem Verwandtſchafts · 
grade abgeſtufte Beſteuerung, zu der je nach der Höhe des Erbteiles noch 
Steuerzuſchläge treten, vor, läßt jedoch im Gegenſatz zu den Grundſätzen in 
England und Frankreich, wo die Erbſchaftsſteuer einen Haupt beſtandteil der Ein ⸗ 
nahmen bildet, die Kinder und Ehegatten frei. Bei dieſer Beſteuerung wird 
mit einem Ertrage von rund 72 Mill. Mk. gerechnet. Durch die Einbeziehung 
der Deſzendenten, wobei allerdings die Beſteuerung bei der Vererbung von 
Grundbeſitz wohl gewiſſe Ausnahmen zulaſſen müßte, würde eine nicht unbe- 
trächtliche Mehreinnahme zu erzielen ſein. Das in Deutſchland jährlich zur 
Vererbung gelangende Vermögen beläuft ſich auf etwa 4000 Mill. Mk., wovon 
jedoch zirka 3000 Will. Mk., als an die Defzendenten fallend, fic der Be- 
ſteuerung entziehen. Die Beſteuerung der Deſzendenten mit nur 1%, würde 
unter Berückſichtigung der Steuerzuſchläge einen Mehrertrag von wenigſtens 
40 Mill. Mk. ergeben, eine Summe, die bei einer Finanzreform immerhin ins 
Gewicht fallen würde. 


Die Reichsfinanznot 43 


Eine Steuer, die im Reichstage fic großer Sympathien erfreut, ift die 
zweite der direkten Steuern, die Neichswehrſteuer, d. h. die Erhebung einer 
Abgabe von allen denen, die zwar erwerbsfähig ſind, aber zum Militärdienſt 
infolge kleiner körperlicher Fehler als nicht tauglich befunden werden. Gegen 
die Wehrſteuer, die im Aus lande bereits verſchiedentlich, ſo in Frankreich, 
Italien, Oſterreich⸗Angarn, der Schweiz eingeführt iſt, wird in Deutſchland 
vielfach der Vorwurf erhoben, daß der Grundſatz des deutſchen Heerweſens, 
wonach der Dienſt nicht nur eine Pflicht, ſondern eine Ehre ſei, dadurch ver⸗ 
ſchoben werde und daß die Vorſtellung „wer nicht dient, zahlt“, und weiterhin 
„wer zahlt, dient nicht“, mit ihr erweckt werden könne. Dieſe Einwände ſind 
verfehlt. „Zu der Wehrſteuer hat“ — wie Bismarck gelegentlich der Vorlage 
des Entwurfes zu einem deutſchen Wehrſteuergeſetz im Jahre 1881 aus führte — 
„nur das Gefühl Anlaß gegeben, welches ſich des die Muskete tragenden Sol. 
daten bemächtigt, wenn er einen ſeiner Meinung nach auch dienſttauglichen 
Nachbar zu Haus bleiben ſieht.“ 

Für die geſetzliche Geſtaltung einer Wehrſteuer bieten die Beiſpiele und 
Erfahrungen des Auslandes eine willkommene Grundlage. Steuerpflichtig 
wären alle zum Dienſt mit der Waffe nicht tauglich befundenen oder aus 
anderen Gründen nicht herangezogenen Wehrpflichtigen mit Ausnahme der- 
jenigen, die infolge geiſtiger oder körperlicher Gebrechen erwerbsunfähig wären. 
Wie wenig hierbei von einer „Krüppelſteuer“ die Rede iſt, erhellt, wenn man 
berüdfichtigt, daß z. B. im Jahre 1903 nach den Angaben im „Statiftifchen 
Jahrbuch für das Deutſche Reich“ neben rund 41 000 wirklich Antauglichen 
und daher nicht Steuerpflichtigen 183 000 als „minder“ oder „künftig“ Taug · 
liche dem Landſturm oder der Erſatzreſerve überwieſen, alſo zur Militärpflicht 
nicht herangezogen wurden. Was die Geſtaltung der Steuer anbetrifft, ſo iſt 
zu fordern, daß fie allgemein iſt und gleichzeitig die Leiſtungsfähigkeit berück · 
ſichtigt. Die Forderung nach der Allgemeinheit wird durch eine fefte Kopf · 
ſteuer, nach der Leiſtungs fähigkeit durch eine Einkommenſteuer mit progreffiv 
wachſendem Steuerfuß erfüllt. Der Entwurf des deutſchen Wehrſteuergeſetzes 
vom Jahre 1881 ſah eine feſte Jahresabgabe von 4 Mk. und eine von 1—3 0% 
progreſſiv geſtaltete Einkommenſteuer vor, wobei Einkommen unter 1000 Mk. 
nur die feſte Jahresabgabe entrichteten. Würde man an dem Grundgedanken 
des damaligen Entwurfes feſthalten, die Progreſſion aber, um die höhere 
Leiſtungs fähigkeit ſtärker zu erfaſſen, etwa bis zu 5% bei Einkommen über 
10 000 Mk. fteigern und die Dauer der Steuerpflicht entſprechend der Dauer 
der Dienftpflicht im deutſchen Heere mit dem 20. Lebens jahr beginnen, mit dem 39. 
enden laſſen, fo würde der finanzielle Ertrag unter Zugrundelegung der Er. 
fahrungen in anderen Ländern auf rund 50 Mill. Me jährlich zu bemeſſen ſein. 

An dritter Stelle im Syſtem direkter Reichöfteuern würden die Reichs · 
einfommens- und die Reichsvermögensſteuer, die erfte als die Abgabe vom 
beweglichen, die andere als die vom fundierten Einkommen, zu behandeln ſein. 
So ſympathiſch man im Prinzip dem Gedanken, die Einkommenbeſteuerung 
in den Dienſt der Reichsfinanzen zu ſtellen, gegenüberstehen mag, da dieſe eine 
wirkliche Abſtufung der Steuerlaſt nach der Leiſtungsfähigkeit ermöglichen 
würde, ſo wird man die praktiſchen Bedenken, die gegen eine ſolche erhoben 
werden, nicht ohne weiteres übergehen dürfen. Die Bundes regierungen find 
ausgeſprochene Gegner jeder Reichseinkommenſteuer. Die Einkommenſteuer 
bildet, wie vorher bereits angedeutet wurde, die Grundlage des Steuerſyſtems 


44 Die Neichsſmanznot 


in der Mehrzahl der Einzelſtaaten, eine gleichzeitige Inanſpruchnahme durch 
das Reich könnte ihre Verwendung für die Zwecke der einzelſtaatlichen Finanz ⸗ 
wirtſchaften beeinträchtigen und dadurch unter Umftänden dieſe empfindlichen 
Störungen ausſetzen. Dieſe Steuer bleibt daher beſſer den Bundesfinanzen 
vorbehalten, zum mindeſten ſo lange, als andere direkte Steuerquellen dem 
Reith zur Verfügung ftehen. 

Nicht das gleiche Zugeſtändnis kann den Einzelſtaaten hinſichtlich der 
Vermögensſteuer gemacht werden. Auch hier wird von dieſen der Anſpruch 
auf alleinigen Vorbehalt erhoben, ohne daß jedoch die gleichen ſtichhaltigen 
Gründe dafür geltend gemacht werden können. Die Vermögensſteuer iſt nicht 
wie die Einkommenſteuer in der Mehrzahl, ſondern erſt in einer kleinen Minder ⸗ 
heit von Einzelſtaaten zur Einführung gelangt, ihre Schaffung als Reichs ſteuer 
würde daher keinen ſtörenden Eingriff in das Finanz- und Steuergebiet jener 
Körperſchaften bedeuten. Dagegen würde eine Reichs vermögent ſteuer vom 
Standpunkt der Gerechtigkeit in der Beſteuerung außerordentlich ſympathiſch 
zu begrüßen ſein. Ohne verhältnismäßig erhebliche Anforderungen an die 
Steuerpflichtigen zu ſtellen, würde hier ein erheblicher Teil des Mehrbedarfs 
der Reichs finanzwirtſchaft von den wirklich Leiſtungs fähigſten aufgebracht werden 
können. Der Steuerſatz der Vermögensſteuer in Preußen beträgt / pro Tau ⸗; 
fend. Der Ertrag einer Reichs vermögensſteuer, die den gleichen Satz zugrunde 
legen würde, wird von berufener Seite auf 50 Mill. Mk. im Jahr geſchätzt, 
was einem Drittel des Reichsdefizits entſprechen würde. Auch ein Steuerſatz 
von 1 pro Tauſend, zum mindeſten eine Staffelung in dieſer Weiſe für größere 
Vermögen würde nicht als eine unbillige Forderung zu bezeichnen ſein. 

Die Erträge der genannten direkten Neichsfteuern würden ausreichen, 
um den geſamten Mehrbedarf der Reichs finanzen zu decken. Es iſt jedoch 
nicht unbedingtes Erfordernis, daß der geſamte Fehlbetrag durch direkte Steuern 
aufgebracht wird, es würde ſchon aus Opportunitätsgründen kaum abzulehnen 
ſein, einen Teil, vielleicht ein Drittel, aus indirekten Steuern zu ſchöpfen. 

Die beiden Steuerobjekte, die von der Regierung, nachdem das Bier 
bei der letzten Finanzreform erheblich herangezogen worden iſt, namentlich ins 
Auge gefaßt werden würden, ſind der Tabak und der Branntwein. 

Eine Erhöhung der Tabakbeſteuerung, deren Ertrag zuſammen aus In- 
landſteuer und Zoll ſich gegenwärtig auf rund 85 Will. Mk. jährlich beläuft, 
iſt von der Regierung wiederholt, zuletzt gelegentlich der Finanzreform des 
Jahres 1906, vorgeſchlagen, jedoch ſelbſt vom Reichstage abgelehnt worden. 
Auch die letzten Etats debatten im November 1907 haben keinen Zweifel darüber 
gelaſſen, daß auch im gegenwärtigen Reichs tag eine Mehrheit für eine Er- 
höhung der Tabakfteuer kaum zu haben iſt. Die Arſachen für dieſe ablehnende 
Stellungnahme find in der Hauptſache in der voraus ſichtlichen Wirkung einer 
weiteren Belaſtung des Tabaks auf die Zigarren herſtellende Arbeiterſchaft 
zu ſuchen. Die Herſtellung der Zigarre erfolgt heute zum überwiegenden Teil 
unter Zahlung ſehr niedriger Löhne im Wege der Haus induſtrie, fie gibt zahl · 
reichen minder leiſtungsfähigen Arbeits kräften die Möglichkeit zum Erwerb des 
Lebensunterhalts. Eine Verteuerung der Zigarre durch eine Steuererhöhung 
würde nach den Erfahrungen früherer Jahre einen Rückgang des Konſums 
zur Folge haben und dadurch zahlreiche gerade der Minderleiſtungs fähigen 
brotlos machen. Dieſe Erwägung läßt eine Tabakſteuererhöhung als nicht 
annehmbar erſcheinen. 


Pie RetHsfinangnet 45 


Anders liegen die Verhältniſſe hinſichtlich der Branntweinfteuer. Der 
jährliche Verbrauch an Trinkbranntwein im Deutſchen Reiche beträgt nicht 
weniger als 2 250 000 Hektoliter reinen Alkohol, der mit etwa 195 Mill. Mk. 
Steuern belaftet iſt, wovon allerdings infolge von Vergütungen an die Bundes ⸗ 
ftaaten an Erhebungskoſten, ferner infolge der Zahlung von Prämien bei 
Denaturierung zu gewerblichen Zwecken und Exportierung ins Ausland nur 
etwa 120 Mill. Mk. in die Neichskaſſe gelangen. Die Steuer iſt in kleinerem 
Amfange bei landwirtſchaftlichen Brennereien eine Materialſteuer, in der Haupt. 
ſache, ſo bei allen gewerblichen und auch den größeren landwirtſchaftlichen 
Brennereien, eine Verbrauchs abgabe. Einer Erhöhung der Verbrauchs abgabe, 
die heute 50 Mk. für den kontingentierten, 70 Mk. pro Hektoliter reinen Alkohol 
für die darüber hinaus erzeugte Menge beträgt, würden keine Bedenken ent- 
gegenſtehen. Ein Rückgang des Konſums, der vielleicht eintreten würde, könnte 
nur begrüßt werden, andererſeits aber iſt bei dem Alkohol die Gewähr vor- 
handen, daß dieſer Nückgang nicht fo erheblich fein würde, daß das fis kaliſche 
Intereſſe dadurch geſchädigt würde. Ferner könnte durch eine Herabſetzung 
der Vergütung an die Bundes ſtaaten, die die tatſächlichen Erhebungs koſten 
weit überſteigt, ſowie durch eine Herabſetzung der Prämiengewährung, die 
heute nicht mehr in dem Umfange erforderlich iſt, wenigſtens ein Teil der Ein- 
nahmen, die heute der Reichs kaſſe entgehen, feſtgehalten werden. Jedenfalls 
könnte ein Drittel des Mehrbedarfs der Reichs finanzwirtſchaft durch die Er- 
höhung der Branntweinſteuer ohne Schwierigkeiten aufgebracht werden. 

Die kurze Skizze der vorſtehenden Ausführungen zeigt, daß die Lage 
der Reichs finanzen eine Vermehrung der Reichseinnahmen gebieteriſch erheiſcht, 
fie läßt gleichzeitig erkennen, daß Einnahmequellen unter Berückſichtigung der 
Leiſtungs fähigkeit des Steuerzahlers zur Genüge zur Verfügung ſtehen. Ge⸗ 
lingt es aber, durch eine durchgreifende Finanzreform das Gleichgewicht zwiſchen 
Einnahme und Ausgabe im Reichs haushalt wiederherzuſtellen, fo wird es 
auch möglich werden, die geſetzlich vorgeſchriebene, aber gegenwärtig aus Mangel 
an Mitteln fuspendierte Schuldentilgung wieder aufzunehmen und für den Kredit 
des Deutſchen Reiches das Vertrauen wiederzugewinnen, wie ihn ein Land 
von der wirtſchaftlichen Kraft und Leiſtungs fähigkeit Deutſchlands mit Recht 
für ſich in Anſpruch nehmen kann. 

* * 
* 

In der Zeit zwiſchen der Niederſchrift und der Drucklegung des obigen 
Aufſatzes hat ſich ein Wechſel in der Leitung des Reicht ſchatzamtes vollzogen. 
Herr v. Stengel, der ſeit 1904 an feiner Spitze ſtand, und der die Reform des 
Jahres 1906 durchgeführt hat, iſt im Februar d. 3. von feinem dornenvollen 
Poſten zurückgetreten. Die Debatten im Reichstage ließen keinen Zweifel 
darüber, daß eine Finanzreform, die ſich nur auf neuen indirekten Steuern 
— Tabak , und Branntweinſteuern — aufbauen würde, keine Ausſicht auf An⸗ 
nahme hatte. Da Herrn v. Stengels Projekte hierauf baſierten, ſo ſtand ihr 
Schickſal von vornherein feft, und er vermied es durch feinen Rücktritt, ſich 
einer offiziellen Ablehnung auszuſetzen. Hierdurch wird die Durchführung der 
Finanzreform bis zum Herbſt dieſes Jahres verſchoben, da der neue Staats ⸗ 
ſekretär, um fo mehr, da er aus einem ganz anderen Verwaltungsgebiete ſtammt, 
nicht ſofort mit einem fertigen Programm vor den Reichstag treten kann. 
Immerhin hat durch die Vorgänge der letzten Wochen die geſamte Situation 
ein beſtimmtes Anſehen gewonnen. Es ſteht einmal feſt, daß der Reichstag eine 


46 Ein Volkserzieher im großen Stil 


großzügige Finanzreform verlangt, und ein bloßes Flickwerk, das nach kurzer 
Friſt wiederum nicht mehr zureicht, ablehnt, und es iſt ferner klar geworden, 
daß in dem Reformprogramm die direkten Steuern eine hervorragende Stelle 
einnehmen müſſen, ſodaß die oben gemachten Ausführungen etwa die Anſicht 
der Mehrheit des Reichstages wiedergeben. 


ER 


Ein Volkserzieher im großen Stil 
Zum 100jährigen Geburtstag J. H. Wicherns, 21. April 1908 


\\ 


Dr. Georg Sydow 


(die Gütersloher Gymnaſiaſten machte, als er einmal in der Aula 
eine Anſprache an ſie richtete: „Hoch war die Geſtalt, gewaltig ſein 
Haupt, und noch weiß ich, wie ich den Blick niederſchlagen mußte, als er ſeine 
großen, eben fo ernſten wie liebesmilden Augen auf uns hinwälzte.. .. Aber 
nun gar, als er redete. Jetzt waren ſeine Worte wie zuckende Blitze und dann 
wieder hatten ſie den Ton der wärmſten, zarteſten Mutterliebe.“ — Seine 
geiſtesmächtige, zwingende Perſönlichkeit war es, die Wichern zu dem gemacht, 
was er unſerm Volke geworden iſt. Denn er war mehr als der Herold und 
Organiſator der Innern Miſſion, wenn man dieſen Ausdruck nur als den In⸗ 
begriff der freien chriſtlichen Liebestätigkeit zur Linderung und Heilung aller 
möglichen religiöſen und ſittlichen Volks ſchäden faßt. Wichern verſtand unter 
„Innerer Miſſion“ Größeres, Tieferes. Sie war ihm nicht nur eine Summe von 
Liebeswerken, ſondern ein „Prinzip der Kirche“. Die Reformation iſt ihm 
„nichts anderes als ein großer weltgeſchichtlicher Akt Innerer 
Miſſion innerhalb der abendländiſchen Chriſtenheit“. And umgekehrt: „Die 
Innere Miffion ift eine wahrhafte Verwirklichung des Prinzips der 
Reformation im Volksleben und nimmt mit ihr die nationale Be- 
deutung in Anſpruch.“ Innere Miffion bedeutet alſo nichts geringeres als 
gründliche „Regeneration“, Erneuerung nicht nur der Kirche, ſondern des ge⸗ 
ſamten Volkslebens, Verinnerlichung, Vergeiſtigung des Volkstums, Herbei- 
führung chriſtlichen Lebens, praktiſches Chriſtentum. „Die Innere 
Miffion tft weſentlich das lebendige, helfende Chriſtentum und 
darum lebendiges Kirchentum gegenüber den verroſteten Su- 
ſtänden und inmitten derſelben gegenüber der Erſtorbenheit 
und dem Abfall.“ 

Wichern war für ſeine Perſon der Mann des machtvoll quellenden 
perſönlichen Lebens; daher konnte er auch die Neubelebung der chriſtlichen 
Geſellſchaft fordern und anbahnen. Die Sauerteigskraft des Lebenswerkes 
Chriſti ſchuf ſich in dieſer gewaltigen Perſönlichkeit ein beſonders zubereitetes 
Organ. Ein Kirchenmann, der wie Schleiermacher zwar aus dem Pietismus 
hervorgegangen war, aber die zu enge Hülle ſeiner geiſtigen Herkunft ſprengte 
und ins Ganze wirkte, die Nation erzog. „Alles iſt euer“ war ſeine Loſung, 
und das Ganze des Volkslebens war das Feld ſeiner Tätigkeit. Die „großen 
nationalen Probleme, die der ſozialen Löſung bedürfen, werden gleichzeitig die 
Aufgaben derer, welche zuerſt und zuletzt das Chriſtentum wollen. Denn das 


Be 


em Boltserpicher im großen Stu 47 


Chriftentum iſt nicht ein Etwas, das auf geſonderten Wegen neben dem übrigen 
Leben und Tun einhergeht, ſondern mit ſeinem Leben und Weſen eine Macht, 
die als Ferment und Sauerteig alles durchdringen und durchſäuern, das Volk 
in ſeinen innerſten Lebenswurzeln erfaſſen und das Leben der Nation mit 
Gotteskräften durchwirken ſoll.“ „Das Evangelium gehört dem ganzen Volk 
mit all feinen öffentlichen und privaten Inſtitutionen und Lebens erweiſungen, 
und dieſem Volk gehört wiederum das ganze Evangelium in der Fülle ſeiner 
geoffenbarten Wahrheit mit allen den darin eröffneten Perſpektiven für die 
einſtige Vollendung des göttlichen Reiches, welche die Vollendung des natio- 
nalen Lebens weſentlich in ſich einſchließt.“ 

Wichern konnte ſeine Ziele nicht niedriger, nicht enger ſtecken; konnte 
nach dem Maß ſeiner Gaben ſich nicht auf das bloß kirchliche Gebiet beſchränken, 
eben weil er Chriſtentum und Kirche viel tiefer und innerlicher verſtand, als 
die meiſten „Gläubigen“ es noch bis zum heutigen Tage tun. Er bekennt fid 
wohl gelegentlich auch als „Pietiſt“, lehnt aber mit klarer Entſchiedenheit das 
„nicht geſunde Element der Einſeitigkeit“ in dieſer Geſtalt der Innern Miſſion 
ab, das in ſeinem endlichen Verlauf in einen Wider ſpruch mit dem, was in 
Wahrheit Innere Miſſion iſt, geraten muß. Denn die Innere Miſſion „darf 
ſich nicht auf einzelnes, wie das ſpezifiſch Kirchliche, noch viel weniger auf ein- 
engende Erweiſung und Abſonderung der Innerlichkeit des chriſtlichen Weſens 
beſchränken und beſchränken laſſen“. Chriſtentum iſt nicht ängſtliche Abſonde⸗ 
rung, religiöfes Leben ſoll ſich nicht in frommen Konventikeln verkriechen, ſondern 
ſeine Wirklichkeit und Lebendigkeit in zuverſichtlichem Eindringen auf die Welt 
beweiſen. Es gilt einen friſchen, fröhlichen Krieg der Ewigkeitmächte mit den 
Weltgewalten; es gilt unſerm Volke aufs neue und ernſthaft zuzutrauen, daß 
es im Grunde ein chriſtliches Volk iſt, und ſeine chriſtlichen Kräfte wieder zu 
ſammeln und wirkſam zu machen. 

Dem Entkirchlichten und Unreligidfen oder den kleinen Seelen auch man⸗ 
cher Kirchendiener mögen die kühnen, hochgemuten Anſprüche und Adlerflüge 
Wicherns wie kirchliche Aberhebung klingen; aber es war doch nichts anderes 
als der Geiſt Luthers, der in neuer Lebendigkeit und praktiſcher Zielſtrebigkeit 
in Wichern lebte, der Geiſt des ſieghaften, weltüberwindenden Glaubens und 
der brennenden Liebe und des Eifers um fein Volk. Ja „es iſt etwas Eigen ⸗ 
tümliches um den weiten Flug und Flügelſchlag, den die Innere Miſſion alfo- 
bald genommen! Aber das iſt eben die Art aller Miſſion, weil die Liebe hier 
treibt, die ſich ebenſo ſehr vertieft und verinnerlicht, als ausbreitet und Geſtalt 
aus ſich gebiert.“ „Cedo nulli“ machte ſich ſchon der Schüler Wichern zur 
Lebensloſung. — 

So ſtark die Leidenſchaftlichkeit iſt, die aus ſolchen Worten hervorblitzt, 
ſo angreifend, ja bedrohlich die in dieſem Vulkan wogende Kräfteſpannung 
werden konnte, ſo war dieſe Energie doch nicht auf Niederreißen und Zerſtören 
angelegt, ſondern nur auf Bauen und Bilden. Denn das Wirken wurde nicht von 
einem perſönlichen oder kirchlichen Ehrgeiz reguliert, ſondern von der zielfegen- 
den und maßhaltenden Liebe. Es war eben die Leidenſchaft des Erbarmens 
mit den Verwahrloſten, die Energie des Erziehers, die in ihm lebte und neues 
Leben allenthalben zeugte. Keineswegs trat er gleich mit hochfliegenden Plänen, 
mit großartigen Entwürfen und Reformprogrammen für Kirche und Staat 
auf, ſondern ließ in liebender Hingebung an das Kleine und Geringe ſeine 
großen Gaben und Kräfte ſich erſt entwickeln. And fo hoch er fpäter auch 


48 Ein Vollserzieher im großen Stu 


geſtellt war, ein fo weitgefpanntes Feld der Aufgaben und Wirkungsmöglich- 
keiten ihm ſich mehr und mehr auftat, fo kehrte er mit Freude und Gefliffent- 
lichkeit ſtets zu feiner erſten Liebe, zu dem unmittelbaren Dienſt an den An ⸗ 
mündigen zurück. Sein fruchtbarſtes Wirken geht ſtets von Perſon zu Perſon, 
ſeine quellende Perſönlichkeit dringt unwillkürlich auf das geiſtige Schöpferwerk, 
Perſönlichkeiten zu zeugen, zu erziehen. So fühlte er fic bei feinen Nauh⸗ 
häuslern, unter den Zöglingen und Erziehungsgehilfen, ſtets am wohlſten. Mit 
der Rettung verheißenden Liebe, ſagt er, will feine Anſtalt „jedem einzelnen 
Kinde ſogleich entgegentreten: und wie vermöchte ſie das kräftiger als mit dem 
freudigen und freimachenden Wort: Mein Kind, dir iſt alles vergeben! Sieh 
um dich her, in was für ein Haus du aufgenommen biſt. Hier iſt keine Mauer, 
kein Graben, kein Riegel; nur mit einer ſchweren Kette binden wir dich hier, 
du magſt wollen oder nicht. Du magſt ſie zerreißen, wenn du kannſt; dieſe 
heißt Liebe und ihr Maß iſt Geduld.“ „Auch das verkommenſte Kind, in deſſen 
Leben vielleicht noch nie ein Strahl gefallen, ſollte gewahr werden, wie es nicht 
in der Menge vergeſſen, ſondern für ſich perſönlich ein Gegenſtand der hin⸗ 
gebendſten Liebe und Fürſorge ſei. Jedem einzelnen Zöglinge ſollte da zu Mute 
werden, als wäre alles, was ihn umgibt, nur um ſeinetwillen da.“ Die Er- 
zieherliebe will alſo die Eigenart des Zöglings nicht unterdrücken, ſondern ent- 
wickeln. Wichern war ein Feind aller Dreſſur und eines chriſtlichen Schematismus. 
Er ſtellte ſogar eine Zeitlang den Zöglingen die Teilnahme an den Morgen 
andachten frei, und unendlich ſchwer wird ſein Erziehergewiſſen durch den Zwang 
der Konſirmations ordnung mit ihrem obligatoriſchen Bekenntnis und Gelübde 
bedrückt. In dieſem Sinne macht er auch einmal in einem Kongreßvortrage 
die chriſtlichen Eltern, zumal die Mütter, ernſtlich darauf aufmerkſam, daß 
„eine Hauptquelle des Mißlingens der Kindererziehung in einem krankhaft 
pietiſtiſchen und in einem falſch geſetzlichen Geiſt zu ſuchen iſt“. Die freie Ent- 
wicklung der Perſönlichkeit iſt für ihn das oberſte Prinzip der Erziehung; 
nicht einmal an ſeine Perſon will er die Kinder gebunden wiſſen, und ſo nimmt 
er ſich, vielleicht im Gefühl des erdrückenden Abergewichts ſeiner Perſönlichkeit, 
gefliſſentlich vor, „weder dem Ganzen (ſeiner Anſtalt), noch dem einzelnen das 
Gepräge feines individuellen geiſtigen und religiöſen Lebens aufzunötigen, ſondern 
die freie ſelbſtändige Entwicklung der verſchiedenen Gemüter in den ver ſchiedenen 
wahren und rechten Formen des chriſtlichen Lebens und Seins zu gewähren“. 

Gerade hierin wirkt Wichern als echter Sohn der Reformation; die 
Freiheit des Gewiſſens und die ſelbſtändige Entwicklung des inneren Lebens 
jedes Einzelnen war ihm das Hauptanliegen. Er ſagt einmal: „Anſer Haus 
iſt die Darſtellung der lebendigen Durchdringung der vier relativ ſelbſtändigen, 
auf göttlicher Stiftung beruhenden Faktoren: der Familie, der Schule, der 
Arbeit und der Kirche, foweit dies in einem fo kleinen Gemeinweſen dar- 
ſtellbar iſt. Dieſe Darſtellung iſt möglich geworden durch den Organismus, 
der ſeine Wurzel hat in der höchſten Wertſchätzung der einzelnen Perſönlichkeit 
jedes zu rettenden Kindes, dem in der individuellen Behandlung ſein ihm von 
Chriſto gewordenes Recht zuteil werden muß.“ „Individuelle Behandlung“ 
ift alſo die Norm und das ſchöpferiſche Geheimnis feiner Erziehungswirkſam⸗ 
keit, er individualiſiert durch die Gruppierung der Zöglinge in Familien, durch 
die Anweiſung paſſender Arbeit, durch Aufſicht und Einzelzucht, individualifiert 
im Anterricht, in den Hausandachten, in den Hausgottesdienſten, den Spielen, 
den Geften. Aberall fordert und fördert er die Selbſtändigkeit des Zöglings. — 


Gin Volkserzieher im großen Stil 49 


Was er in hinreißenden Reden hernach an weitaus ſchauenden Entwürfen 
und Programmen zur Neubelebung der Kirche und des Volkstums forderte, 
das hat er alles ſelbſt in perſönlichſter Kleinarbeit erprobt. Aus dieſer Klein ⸗ 
arbeit entnahm er Anlaß, Erfahrung und Necht, ins Große zu organiſieren, 
Großes zu fordern. Die Aufgabe der Regeneration des geſamten Volks lebens 
fußte für ihn immer wieder auf der Arbeit an dem Nachwuchs, der BVerfitt: 
lichung der Jugend. Aus der praktiſchen Pädagogik erwuchs ihm wie von 
ſelbſt die umfaſſendſte Volkswirtſchaftslehre, der chriſtliche Sozialismus. „Päda⸗ 
gogik und Architektur“, ſagt er z. B. einmal, „ſind zwei verwandte Künſte und 
Wiſſenſchaften.“ Der Erziehungserfolg in feiner nach dem Familienſyſtem an- 
geordneten Anſtalt hing ganz weſentlich von den zweckmäßigſten baulichen Ein- 
richtungen ab und er widmete ihnen das eingehendſte Intereſſe und Studium. 
Aufs Große und Ganze angewendet, erkennt er daher in der Wohnungs- 
frage eines der fundamentalſten Probleme des Voltswohls. „Unter den gegen ⸗ 
wärtigen Wohnungsverhältniſſen der arbeitenden Klaſſen kann Familienleben 
unmöglich gedeihen.“ „Die Wohnung des Menſchen iſt des Menſchen 
Kleid, iſt ſein zweiter Leib, in dem er als die Seele wohnt, in dem er 
ſich heimatlich fühlen muß,“ ſagt er ſchon 1860 in Anlehnung an ein Wort 
von V. A. Huber. — Die Familie iſt ihm der eigentliche Kernpunkt der 
ſozialen Frage: „Die Familie iſt und bleibt der Ausgangspunkt wie alles 
chriſtlich ⸗ſozialen Lebens, fo auch aller chriſtlichen Arbeit.“ Auf die Pflege der 
Familie bezieht er alle anderen ſozialen Probleme: in einem beftimmten in- 
duſtriellen Vorgang hatte ſich ergeben, daß der von den Fabrikanten anfangs 
verabſcheute geſetzliche Kinderſchutz maſchinelle Verbeſſerungen veranlaßte, die 
die Kinderarbeit tatſächlich entbehrlich machte. „Hier ſehen wir“, ſagte Wichern, 
„eine chriſtliche Aufgabe auch von der Technik gelöſt und einen Weg betreten, 
auf welchem weiter fortgeſchritten werden muß, um durch die Maſchine 
der Maſchine ſelber für die Menſchen und Chriſtenwelt neues 
Territorium abzugewinnen.“ So will er „nicht zu denen gehören, die 
die volkswirtſchaftlichen Beſtrebungen gering achten: wir müſſen dieſelben viel ⸗ 
mehr ſehr hoch halten“. 

And wie er in dem Intereſſe für die volks wirtſchaftlichen Be⸗ 
ſtrebungen feiner kirchlichen Umgebung weit voraus war, ebenſo lebhaft 
nahm er an den neueren Unternehmungen der wiſſenſchaftlich angeregten Volks. 
freunde zur Pflege der Volksbildung Anteil, auch darin die zurückbleiben ⸗ 
den Vertreter der Kirche energiſch anſpornend. Aberhaupt trat er ſchon vor 
40 Jahren, als erſt wenig Gebildete ſich um die ſoziale Frage ernſthaft küm⸗ 
merten, für materielle und kulturelle Hebung der arbeitenden 
Klaſſen mit größter Wärme ein. 

So drang Wicherns Liebes energie, der glühendſte Eifer um das Wohl 
ſeines deutſchen Volkes in alle Gebiete ein, wo es galt, Schäden zu beſeitigen, 
gute Saat aus zuſtreuen, hoffnungsvolle Keime zu behüten und zu pflegen, 
Perſönlichkeiten zu bilden. Sein Feuergeiſt beklagte tief die Kurzſichtigkeit 
und Engherzigkeit der ſpeziſiſch chriſtlichen Kreiſe, die ſolcher Weltoffenheit, 
ſolchem modernen Betrieb zaghaft kopfſchüttelnd gegenüberſtanden: „Wenn 
auch keineswegs allgemein, ſo fehlt doch an vielen Stellen dem religiöfen Leben 
der Gegenwart faft gänzlich die energiſche Richtung, fic in das große, öffent 
lich ſich darſtellende Volksleben aktiv, ethiſch hineinzubilden. Es fteht, möchte 
ich ſagen, noch immer auf dem Spenerſchen Standpunkt; es tritt nicht als ver- 

Der Türmer X, 7 4 


50 Ein Volkserzieher im großen Stil 


pflichtet und berechtigt in die ſittlichen Sphären des Volkslebens ein; es hält 
fic) vielmehr davon vielfach fern, weil es dasſelbe als Welt’ fürchtet und 
deſſen Bedeutung für das Reich Gottes und feine Berechtigung im Reiche 
Gottes, das alles in dieſem Volksleben heiligen und durchdringen will, verkennt.“ 

So mußte Wichern ſich auch eine weltfremde, dem öffentlichen Leben 
abgeneigte Chriſtenheit ſelbſt erziehen. Seine zur perſönlichen Beeinfluſſung ſo 
beſonders ausgeſtattete, eindrucksvolle, treibende Perſönlichkeit wurde in jeder 
Beziehung das, was uns als die eigentliche geſchichtliche Bedeutung Wicherns 
bei dieſer Charakterſkizze vorſchwebte, „ein Volkserzieher im großen 
Stil“. Die Rettung der Jugend war, wenn auch der grundlegende Teil, fo 
doch nur ein Teil der umfaſſenden Volkserziehungsarbeit, wie ſie Wichern im 
Auge hatte und betrieb. In den von ſeinen „Brüdern“ geleiteten Herbergen 
zur Heimat konnte er auch bald die ſittlich gefährdeten Erwachſenen von der 
Landſtraße aufnehmen und damit ein Volkserziehungswerk von allerhöchſtem 
Belang betreiben. Den tiefer Geſunkenen ging er nach in die Gefängniſſe und 
unternahm es wiederum durch feine in der Aufſeheruniform an dieſem Nettungs 
werk dienenden Brüder, die ſittliche Hebung der Gefangenen als eigentlichen 
Zweck des Strafvollzuges zur öffentlichen Anerkennung zu bringen. Nicht 
minder wirkte er für die Schutzaufſicht über die aus den Strafanſtalten Ent- 
laſſenen in weitaus ſchauender Weiſe und trat in den Kampf wider die Proftt- 
tution und die andern volksvergiftenden Mächte auf das energiſchſte mit ein. 
And ebenſo kräftig, wie er der Verwahrloſung der Jugend entgegenarbeitete, 
ſuchte er auch der ſittlich religiöſen Verwahrloſung der Volksmaſſen in den 
großen Städten zu begegnen und entſandte zu dieſem Ende ebenfalls ſeine 
Brüder in die Stadtmiſſionen zur Anterſtützung der nicht ausreichenden kirchlichen 
Kräfte. Wiederum, wo ein Volksteil durch leibliche Not zu verkommen in Gefahr 
war, wie bei der oſtpreußiſchen Hungersnot 1863, war Wichern mit feinen Briü- 
dern zur Stelle, um leiblich und geiſtlich zugleich zu helfen. Nicht minder ging 
er den Verwundeten und Kranken der großen deutſchen Kriege in tatkräftiger 
Organiſation der Hilfsmannſchaften als guter Samariter erfolgreich nach. 

Bedeutſamer aber noch als alle dieſe Einzelunternehmungen iſt doch der 
verborgene, aber dem tiefer blickenden Auge erkennbare erzieheriſche Einfluß, 
den Wicherns Wirken auf die großen ſittlichen Erziehungsmächte Staat und 
Kirche ſelbſt gewonnen und hinterlaſſen hat. In dem Gebiet des Gefängnis 
und Armenweſens, das fo recht einen Maßſtab für die ſutliche Höhe eines 
Kulturſtaates darſtellt, erzog ſich Wichern, ſolange er feinen unmittelbaren amt · 
lichen Einfluß in Preußen ausüben konnte, ſeine Behörden ſelbſt zu ſeiner 
höheren Auffaſſung ihrer Aufgaben; und man hat nie wieder dieſes einmal 
aufgeſtellte und anerkannte fittlide Ideal innerer Politik verleugnen wollen 
und völlig vernachläſſigen können. Noch weniger konnten ſich die Kirche und 
ihre Vertreter, die Geiſtlichkeit, dem machtvoll erziehenden Einfluß feiner hin ; 
reißenden Perſönlichkeit verſagen. Denn durch ihn wurde die evangeliſche 
Kirche nachdrücklicher und eindrücklicher als wohl je zuvor an ihre ethiſchen 
Aufgaben gemahnt und zwar nicht nur theoretiſch. Wichern iſt doch eigentlich 
der Mann, der den großen Gedanken vom praktiſchen Chriſtentum zu Ehren 
gebracht und der Kirche unverlierbar eingeprägt hat, daß ihr „die Liebe 
ebenfo gehören muß wie der Glaube“. 

Dr. G. von Rohden 


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Friedrich v. Esmarch + 51 


Friedrich v. Esmarch + 


> bis 1850 haben in der Geſchichte der Medizin eine außerordentliche 
S Bedeutung erlangt; ſie gelten als die Wiege der modernen 
deutſchen Chirurgie. Sie waren es auch, in denen das chirurgiſche Genie 
jenes tapferen ſchleswig - holſteiniſchen Patrioten zutage trat, der als der ge. 
feierte Altmeiſter der deutſchen Chirurgie hochbetagt in den Februartagen die 
Augen für immer ſchloß, Friedrichs von Es march. Als Erfinder der künſt⸗ 
lichen Blutleere, als Vater der Samaritervereine, als glänzender Operateur 
und Pfadfinder auf dem Gebiete der Kriegs chirurgie, als allezeit getreuer 
Eckart werktätiger Humanität, als opfermutiger Patriot in Tagen ſchwerer 
nationaler Bedrängnis, endlich auch als Oheim der deutſchen Kaiſerin genoß 
der greife Wundarzt in den verſchiedenſten Kreiſen des deutſchen Volkes eine 
hohe Popularität, die feinem wohlverdienten Ruf als Forſcher innerhalb der 
engeren Fachkreiſe zur Seite ſtand. 

Friedrich Esmarch (geadelt wurde er erſt 1888) ſtammte aus dem Städtchen 
Tönning an der Eider, wo er am 2. Januar 1823 geboren wurde. Sein Vater 
war ein ausgezeichneter Arzt und wirkte ſpäter als Juſtizrat und Phyſikus 
von Flensburg erfolgreich während des ſchlewig⸗holſteiniſchen Aufftandes in 
den Lazaretten. In einem Briefe Stromeyers, des Generalſtabsarztes der 
Schletz wig⸗Holſteiner, aus Flensburg vom 22. April 1849 heißt es: „Der Auf⸗ 
merkſamſte und Lernbegierigſte iſt Dr. Esmarchs Vater, ein Mann mit grauen 
Haaren, obgleich er erft fünfzig zählt.“ Verſchiedene andere Mitglieder der 
Familie Esmarch, fo namentlich die Juriſten Heinrich Karl und Karl Bern- 
hard Esmarch haben ſich noch im Kampf um die Rechte und die Befreiung 
der Elbherzogtümer vom däniſchen Joche hervorgetan. Der junge Friedrich 
Esmarch beſuchte zunächſt die Gymnaſien in Rendsburg und Flensburg und 
ſtudierte dann von 1843 ab in Kiel und Göttingen Medizin. Bernhard 
Langenbeck, der damals die chirurgiſche Klinit in Kiel leitete, wurde ſein 
Lehrmeiſter in der Chirurgie und machte ihn 1846 zu feinem Aſſiſtenten. Zwei 
Jahre darauf griffen die Schleswig ⸗Holſteiner gegen die däniſche Fremdherr⸗ 
ſchaft zu den Waffen, und Esmarch zog mit dem Kieler Turnerkorps zuerft 
als Offizier, dann als Militärarzt zu Felde. Mit dem größten Teile des 
Kieler Studentenkorps fiel er bei Bau in die Hände däniſcher Dragoner, 
während er einen Verwundeten, dem die Schlagader des Oberarms durch; 
ſchoſſen war, vor Verblutung ſchützte. Nach neunwöchentlicher Gefangenſchaft 
bei Kopenhagen auf der „Dronning Maria“, einem abgetakelten Kriegsſchiffe, 
konnte er glücklich heimkehren und wurde als Oberarzt in der fchleswig-hol- 
ſteiniſchen Armee angeſtellt. Langenbeck empfahl ihn bei feinem Rücktritt als 
Generalſtabsarzt dieſer kleinen Armee feinem Nachfolger Louis Stromeyer 
als Adjutanten im Felde. Auf deſſen Vorſchlag wurde Esmarch, der inzwiſchen 
in Flensburg tätig war, nach Kiel kommandiert, um dort die Stellung von 
Stromeyers erſtem Affiftenten zu übernehmen und ihn zu vertreten, wenn er 
verreiſt war. In dieſer Eigenſchaft eines Adjutanten des Generalſtabsarztes 
machte er dann die Feldzüge von 1849 und 1850 mit und erwarb ſich den Ruf 
eines ebenſo umſichtigen wie kühnen Operateurs. Stromeyers älteſte Tochter 
Anna wurde noch während des Feldzuges Esmarchs Braut. In der Zeit des 


52 Friedrich v. Esmarch + 


Waffenſtillſtandes habilitierte ſich Esmarch in Kiel als Privatdozent für 
Chirurgie mit einer Vorleſung über Schußwunden. 

Nach dem unglücklichen Ausgang des Krieges übernahm er wieder die 
Stellung eines erſten Aſſiſtenten der chirurgiſchen Klinik in Kiel. Er ordnete 
die Sammlung von Knochenpräparaten aus dem Felde, die ihm neben den ge- 
ſammelten Hoſpitalbüchern dazu diente, fein Werk über Neſektionen bei 
Schuß wunden zu ſchreiben. Es erſchien Oſtern 1852 und fand als erſte 
Monographie über dieſen für die Kriegschirurgie wichtigen Gegenſtand all - 
gemeinen Beifall, auch in England und Amerika. Dann ging der junge Autor 
auf Reifen, um Deutſchlands und Frankreichs wiſſenſchaftliche Stätten kennen 
zu lernen. Nach Prag und Wien beſuchte er Paris, wo der Staatsſtreich 
Louis Napoleons am 2. Dezember 1852 mit feinen blutigen Folgen ihm Ge- 
legenheit gab, Vergleiche zwiſchen deutſcher und franzöſiſcher Kriegschirurgie 
anzuſtellen. Oſtern 1853 kam er von Paris nach Kiel zurück, um dort zu 
praktizieren und Vorleſungen zu halten. Bei ſeiner politiſchen „Anrüchigkeit“ 
machten ihm zwar die däniſchen Gewalthaber in Kiel Schwierigkeiten, doch 
ſeine anerkannte Tüchtigkeit ſchuf ihm freie Bahn, und ſo erhielt er 1854 nach 
Stromeyers Fortgang nach Hannover die Leitung der chirurgiſchen Klinik; aber 
erſt 1857 wurde er zum ordentlichen Profeſſor der Chirurgie ernannt. Sn- 
zwiſchen hatte er Anna Stromeyer heimgeführt, mit der er bis zu ihrem Tode 
1870 in glücklichſter Ehe lebte. Seine zweite Gattin, die er 1872 heiratete, die 
Pringeffin Henriette von Schleswig - Holftein-Sonderburg- Auguftenburg, tft be- 
kanntlich eine Tante der regierenden deutſchen Kaiſerin. Der Aniverſttät Kiel 
blieb Esmarch dann treu, bis er 1899 ſeine Lehrtätigkeit aufgab und als 
„Exzellenz“ in den Ruheſtand trat. 

Die neuen Kämpfe gegen die Dänen im Jahre 1864, die mit der end- 
gültigen Befreiung der Elbherzogtümer endeten, riſſen Esmarch aufs neue aus 
feiner Lehrtätigkeit. Er eilte nach dem blutigen Tage von Overſee am 6. Feb- 
ruar 1864 von Kiel nach Schleswig, wo er mit feinem Aſſiſtenten, dem fpäteren 
Profeſſor Völkers, und feinen Schülern den verwundeten Öfterreichern die erſte 
Hilfe leiſtete. Die öſterreichiſchen Ambulanzen waren weit hinter den kämpfenden 
Truppen zurückgeblieben und erſchienen erſt nach vier Tagen auf der Bildfläche. 
Noch wochenlang fuhren Esmarch und Völkers fort, die von ihnen mit Hilfe der 
Einnahme Schleswigs errichteten Hoſpitäler zu dirigieren. Während der Kämpfe 
zu Düppel im April 1864 wirkte Esmarch als eine Art konſultierender Chirurg 
freiwillig und unentgeltlich zur großen Freude der jungen Arzte an den Hofpi- 
tälern zu Sundwik uſw. Er war dazu auserſehen, Generalſtabsarzt der zu 
bildenden Schleswig ⸗Holſteiniſchen Armee zu werden und beabfichtigte, das 
Sanitätsweſen der hannoverſchen Armee zum Muſter zu nehmen. Die Ereig- 
niſſe von 1866, die mit der Einverleibung von Schleswig ⸗Holſtein in den 
preußiſchen Staat endeten, entſchieden anders. Esmarch felbft wurde auf be- 
ſondern Wunſch der Königin Auguſta 1866 für die Dauer des Krieges nach 
Berlin berufen, um die Lazarette für Verwundete zu leiten; er ging auch nach 
Langenſalza und erfand dort eine neue Schiene für Ellenbogen ⸗Neſezierte, die 
vielen Verwundeten gute Dienſte leiſtete. Er drang jedoch damals mit ſeinem 
Vorſchlage zur Errichtung eines Barackenlagers auf dem Tempelhofer 
Felde nicht durch, ſowie er auch mit feinen Bemühungen, Sanitätszüge 
auf Eiſenbahnen zu errichten, auf Widerſtand ſtieß. Erſt der Krieg von 1870 
ſollte hierin Beſſerung ſchaffen. Vorher, im Jahre 1867, nahm Esmarch noch 


Friedrich v. Esmarch + 53 


an den wichtigen Berliner Konferenzen für die Ausgeſtaltung des Feldſani⸗ 
tätsweſens mit Eifer und Erfolg teil. Bald darauf erſchien fein Werk „Ver ⸗ 
bandplatz und Feldlazarett“, das für amerikaniſches Trans portweſen und 
Barackenhoſpitäler eintrat, die ſich eben im nordamerikaniſchen Bürgerkriege 
bewährt hatten. Im Jahre 1869 hielt er in Kiel und Hamburg ſeine berühmte 
und weitverbreitete Rede „Aber den Kampf der Humanität mit den 
Schrecken des Krieges“, die er 1899 in einer bis auf die Gegenwart 
fortgeführten Neuausgabe veröffentlichte. Warmherzig und packend führt ſie 
die gewaltigen Fortſchritte der Krankenpflege, wie fie das Note Kreuz und ver- 
wandte Einrichtungen geſchaffen, dem großen Publikum vor Augen. In dem- 
ſelben Jahre erſchien auch ſeine kleine Schrift: „Der erſte Verband auf dem 
Schlachtfelde.“ 

Der Ausbruch des deutſch⸗franzöſiſchen Krieges fand ihn gebeugt durch 
den Tod ſeiner Gattin, und von ſchwerer eigener Krankheit eben langſam ge⸗ 
neſend. Er wurde zum Generalarzt und konſultierenden Chirurgen ernannt 
und wäre am liebſten mit ins Feld gezogen, aber ſein Befinden verbot es. 
Er organifierte die freiwillige Krankenpflege in Kiel und Hamburg und wurde 
dann wieder nach Berlin berufen, um das große Baracken Lazarett auf dem 
Tempelhofer Felde zu leiten. Er hatte den ganzen Winter noch unter den 
Folgen feiner Erkrankung zu leiden, unterbrach aber feine anſtrengende Tätig- 
keit nicht. Inzwiſchen waren die Transportwagen, die auf fein Drängen der 
preußiſche Handelsminiſter Graf Itzenplitz 1868 beſtellt hatte, in Tätigkeit ge- 
treten. Sie waren in Vergeſſenheit geraten und zerſtreut worden. Es bedurfte 
Virchows Energie, ſie wieder ſammeln zu laſſen und am 8. Oktober 1870 ſelbſt 
den erſten Zug von Metz nach Berlin zu führen. Mittlerweile waren ſchon 
bayriſche und württembergiſche Sanitätszüge in Tätigkeit getreten. 

Bald nach der ſiegreichen Beendigung des großen Krieges war es Es. 
march vergönnt, allen Kulturvölkern die erſte und glänzende Gabe zu bieten, 
die das geeinigte Deutſchland auf dem Gebiete der Chirurgie aufweiſen konnte, 
ſeine „blutloſe Operation“, eine der Großtaten der modernen 
Chirurgie. Am 18. April 1873 teilte Esmarch dem in Berlin verſammelten 
Chirurgen-Rongreffe (der kurz zuvor unter feiner Mitwirkung begründet war) 
ſeine Erfindung mit, an den Extremitäten blutlos zu operieren. Sein Vortrag 
erregte wenig Aufmerkſamkeit, er war der letzte kurz vor Tiſch; bei der Sitzung 
am folgenden Tage war nicht davon die Rede. Im September 1873 erſchien 
Esmarchs kliniſcher Vortrag über blutloſe Operationen in der Sammlung von 
Volkmann. Langenbeck und Billroth ſprachen ſich günſtig aus; in Frankreich 
und namentlich in England fand die Erfindung enthuſiaſtiſche Aufnahme. In 
der erſten Sitzung des nächſten Berliner Chirurgenkongreſſes vom 8. April 1874 
konnte Esmarch ſchon über 200 blutloſe Operationen berichten; die Erfolge 
lebensgefährlicher Eingriffe waren ſehr befriedigend. Aberwältigend nennt 
VBillroth den Eindruck der neuen, anſcheinend fo einfachen und naheliegenden 
Erfindung auf die Chirurgen. Mittelſt elaſtiſcher Binden und Gummiſchläuche 
werden die Gliedmaßen, an denen operiert werden ſoll, möglichſt blutleer ge · 
macht und ſo nicht nur Ströme Blutes erſpart, ſondern auch dem Chirurgen 
ein ſicherer Aberblick über das Operationsfeld geſchaffen. Die Entbehrlichkeit 
kunſtgerechter Aſſtſtenz iſt ein weiterer Vorteil des Verfahrens. Esmarchs 
Grundgedanke war: Jede Operation an den Extremitäten, die nicht den Zweck 
hat, Blut zu entziehen, muß blutlos gemacht werden. Das neue Verfahren 


54 Friedrich v. Esmarch + 


verbreitete ſich raſch und iſt längſt zum Segen der Operierten ein Grundprinzip 
der wiſſenſchaftlichen Chirurgie geworden. 

Auch die beiden andern großen Errungenſchaften der modernen Chirurgie, 
die ſchmerzloſe Narkoſe und die antiſeptiſche und aſeptiſche Wundbehandlung, 
hat Esmarch weſentlich gefördert. Für die erſtere wurde die einfache Es⸗ 
marchſche Maske und der Esmarchſche Handgriff, das Vordrängen des 
Anterkiefers mit den an die Kieferwinkel gelegten Händen, von Bedeutung, 
während die Wundbehandlung durch ſeinen Dauerverband, die Beſchränkung 
der Drainage, die Einführung der Etagennähte u. a. Fortbildung erfuhr. Ins⸗ 
befondere aber wirkten Ee march und feine Schüler von der Kieler Klinik aus 
für die Einführung und Durchführung der Aſepſis, des keimfreien, reizloſen 
Verbandes, in den deutſchen Kliniken. Andere feiner Arbeiten behandeln ein- 
zelne Kapitel der Chirurgie, namentlich aber die kriegschirurgiſche Technik, 
über die er 1877 ein preisgekröntes Werk herausgab. Zu alledem kommt, daß 
Esmarch, deſſen edle, vornehme Erſcheinung allen, die ihn einmal geſehen, un- 
vergeßlich bleibt, auch als kliniſcher Lehrer ungemein anregend und erfolg. 
reich war. 

Seit 1883 galt fein Streben namentlich den Samariter. Vereinen, 
für die er ſeine „Erſte Hilfe bei plötzlichen Anglücks fällen“ ſchrieb. Er hatte 
bei den Feldzügen erfahren, wie wichtig die Anlegung des erſten Verbandes 
und die erſte Hilfe für Verletzte iſt, und wollte ſchon im Frieden Vorſorge 
treffen, daß möglichſt viel geſchulte Perſonen zur Verfügung ſtänden. Welchen 
Anklang ſein Gedanke fand, iſt bekannt; er hatte die Genugtuung, nicht nur 
Hunderttauſende nach ſeinen Plänen unterrichtet zu wiſſen, ſondern auch die 
amtliche Einreihung der Samariter Vereine in die Organe des Sanitäts dienſtes 
im Felde zu erleben. Immer ein Apoftel der Humanität im Felde trat er 
noch als Greis mit einem geharniſchten Proteſt gegen die grauſam zerfleiſchenden 
mantelloſen Geſchoſſe der Engländer in die Schranken. 

Sein achtzigſter Geburtstag 1903 geſtaltete ſich zu einer Huldigung der 
Kulturwelt für den hochbedeutenden Forſcher und Menſchen, um ihm für ein 
Leben zu danken, das im Dienſt des Gemeinwohls und der Humanität ſeine 
ganze Kraft willig geopfert hat. Keine Klage geziemt ſich für die Nachlebenden 
am Ausgang eines ſo reich erfüllten Daſeins, ſondern ein dankbares treues 
Gedenken an fein Wirken und feine Taten, würdig der größten Zeit Deutſch⸗ 
lands, die er an feinem Teil als tatkräftiger Förderer miterlebt und mit ⸗ 
erſchaffen hat. 

Dr. med. Georg Korn 


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Das preußiſche Landtagswahlrecht 


(Zu „Türmers Tagebuch“ im Februarheft) 


A: Mor Verfaſſer des Tagebuchs ſcheint mir doch zu wenig die Stimmung 
zu kennen, die bei uns in Preußen bezüglich der Wahlrechtsreform 
herrſcht. Das wird wohl jeder zugeben, daß unſer Wahlrecht, als 
menſchliche Einrichtung, natürlich ſeine Fehler hat, und daß ein beſſeres an 
ſeine Stelle geſetzt werden könnte. Der Verfaſſer irrt aber, wenn er meint, 
daß nun unbedingt das allgemeine Wahlrecht von der Mehrzahl herbeigewünſcht 
wird, und daß dies das einzige Wahlrecht ſei, das Preußen glücklich machen 
könnte. (Sft nirgends behauptet worden. D. T.) Abrigens iſt es völlig un- 
richtig, daß die Verfaſſung vor 60 Jahren vom König verletzt ſein ſoll. Da 
dies behauptet iſt, muß ich kurz auf die geſchichtlichen Tatſachen eingehen. 
Wir hatten bis zur Verkündung der preußiſchen Verfaſſungsurkunde ein ab- 
ſolutes Königtum. Das Volk ſehnte eine Mitwirkung bei der Geſetzgebung 
herbei, und fo verhieß der König Friedrich Wilhelm IV. kurz nach den März- 
tagen 1848 eine konſtitutionelle Verfaſſung. Er berief den vereinigten Land- 
tag, der nun ein Wahlgeſetz für die neueinzuberufende Volksvertretung aus- 
arbeitete. Es wurde ein zwar indirektes, aber geheimes und allgemeines 
Wahlrecht beſchloſſen. Und was war die Folge? In der neugewählten preu— 
ßiſchen Nationalverſammlung herrſchte der Geiſt der Revolution, man ver- 
langte die Beſeitigung des Königtums, die Abſchaffung des Adels; kurz, es 
war für die Regierung unmöglich, mit dieſer Volksvertretung zu regieren. 
Trotz Auflöſung tagte fie aber weiter, fo daß fie ſchließlich mit Gewalt auf- 
gelöſt werden mußte, „weil ſie ſich angemaßt hätten, mit ſouveräner Gewalt 
über den König zu beſtimmen, und ſie die Fackel der Anarchie in das Land 
geſchleudert hätten“. Gleichzeitig wurde vom König das Verfaſſungswerk ge- 
fördert. Am 5. Dezember 1848 oktroyierte der immer noch abſolute König die 
Verfaſſungsurkunde, aus eigener Entſchließung, weil eine Vereinbarung nicht 
möglich geweſen fet. Aber er verhieß gleichzeitig eine Revifion dieſer Ver⸗ 
faſſung durch eine neu zu bildende Volksvertretung. Ein zweites Wahlgeſetz, 
wonach zwei Kammern gebildet wurden, die Zweite Kammer auf Grund des 
allgemeinen Wahlrechts, hatte denſelben Erfolg, die Zweite Kammer erwies 
ſich als Volksvertretung unfähig. Daraufhin wurde vom König am 30. Mai 
1849 das heutige Wahlgeſetz mit dem jest fo angefeindeten Dreiklaſſenſyſtem 


56 Das preußiſche Landtagswahlrecht 


erlaſſen, und das Verfaſſungswerk wurde nun unter Mitwirkung des Land. 
tags zum Abſchluß gebracht. Wie hier ein Verfaſſungsbruch vorliegen ſoll, iſt 
nicht erſichtlich. Der König war durch die Revolution nicht geſtürzt, wie der 
König von Belgien; er iſt nicht vom Volke eingeſetzt, ſondern war König aus 
eigenem Recht. (Aus eigenem Recht iſt nur Gott. D. T.) Sein Verſuch, mit 
einer aus allgemeinen geheimen Wahlen hervorgegangenen Volksvertretung 
zu regieren, war geſcheitert, und es war ſein gutes Recht, dieſe von ihm frei⸗ 
willig einberufene, zum Regieren unfähige Volksvertretung wieder nach Haus 
zu ſchicken. 

Die Einführung des allgemeinen Wahlrechts in Preußen iſt auch heute 
noch mit dem Staatswohl nicht vereinbar. Auch die geheime Wahl hat ihre 
Schattenſeiten. Sie verdirbt den Charakter. Es gibt viele, die ſogenannten 
Mitläufer der Sozialdemokratie, die durchaus königstreu ſind, die ſich aber 
über irgend etwas geärgert haben, z. B. über Erhöhung ihrer Steuern, ſie 
machen ihrem Ärger Luft und geben den Sozialdemokraten ihre Stimme, fo 
auch viele kleine Beamte, obwohl ſie ſich ſagen müſſen, daß ſie hiermit ihrem 
König, dem fie den Eid geſchworen, die Treue brechen. Dies find die verderb- 
lichen Folgen der geheimen Wahl; ich verhehle durchaus nicht, daß die öffent⸗ 
liche Wahl auch ihre großen Nachteile hat. — And nun das allgemeine Wahl⸗ 
recht; welche Folgen es hat, lehrt uns die Weltgeſchichte, die beſte Lehrmeiſterin. 
Es führt entweder zum Stillſtand in der Geſetzgebung oder zum Cäſarismus. 
Das zeigt uns z. B. die Geſchichte Roms und auch Frankreichs. Auf die 
römiſche Republik mit ihrem allgemeinen Wahlrecht folgte das abſolute Kaifer- 
tum mit Männern wie Nero und Caligula, das franzöſiſche Volk in der 
Revolutionszeit hat wiederholt für das Kaiſertum geſtimmt. Auch unſer Reichs- 
tag hat ſchon einige Male in der Geſetzgebung verſagt, es wäre zum Stillſtand 
jedesmal gekommen, wenn er nicht aufgelöſt worden wäre. In den ſüddeutſchen 
Staaten wird durch Einführung des allgemeinen Wahlrechts der nationale 
Liberalismus an die Wand gedrückt. Altramontanismus und Sozialdemokratie 
gewinnen die Oberhand. Das allgemeine Wahlrecht ſteht, wie der Staats- 
rechtslehrer Profeſſor Hübler in ſeinem Kolleg ausführte, im Widerſpruch mit 
der heutigen Geſellſchaftsordnung. Es löſt den Organismus auf in eine Addition 
von ganz gleichen Größen, das läuft der Wahrheit zuwider. Bildung und 
Kapital werden vergewaltigt. Die große Maſſe beſtimmte aber auch nicht den 
Kurs, ſie ſchiebt nicht, ſondern wird geſchoben, ſie wird regiert von ihren 
Führern, oft dunklen Exiſtenzen, man ſehe ſich nur die römiſche und auch die 
Geſchichte Athens z. B. an. 

Würde jetzt in Preußen das allgemeine Wahlrecht eingeführt, der 
Liberalismus würde keine Freude erleben, Zentrum und Sozialdemokratie 
hätten allein den Vorteil. Der Liberalismus ſollte weniger doktrinär ſein, ſich 
mehr von praktiſchen Erwägungen leiten laſſen, dann würde er ſich nicht zu 
der gefährlichen Parole hinreißen laſſen: „Raus aus dem Block.“ 

And was würde aus unſerer Oſtmark werden? Bisher iſt die Oſtmark 
im Abgeordnetenhauſe meiſt durch konſervative und liberale Abgeordnete ver- 
treten, der Reichstag durch polniſche. In Süddeutſchland und im Weſten 
ſcheint man die Polengefahr nicht zu kennen. Faſt täglich kann man in den 
polniſchen Zeitungen leſen, wie ſtaatsfeindlich die Polen ſind, welchen Haß ſie 
gegen alles Deutſchtum ſäen. Die Artikel grenzen oft an Hoch- und Landes · 
verrat. Das Ausland, insbeſondere Frankreich, ſuchen ſie gegen uns auf⸗ 


Das preußiſche Landtags wahlrecht 57 


zuſtacheln, indem ſie in ausländiſchen Zeitungen Märchen von der preußiſchen 
Gewalttätigkeit auftiſchen. Ihre Abgeordneten beſtreiten dies, ſie ſtellen ſich 
unwiffend; der Reichskanzler wie einzelne Miniſter haben dagegen Beiſpiele 
angeführt. Die Geſchichte beweiſt ebenfalls, daß die Polen jede befte Gelegen · 
heit zu erfaffen ſuchen, ihr altes Reich wiederherzuſtellen. Um uns von ihnen 
nicht unterdrücken zu laſſen, insbeſondere zum Schutz unſerer Oſtgrenze, brauchen 
wir die Enteignung, unſer Selbſterhaltungstrieb gebietet es, hier dürfen keine 
philoſophiſchen und doktrinären Fragen erwogen werden, das Staats wohl geht 
über das Privatwohl des einzelnen, und dabei ſoll volle Entſchädigung ge- 
währt werden; andere Staaten haben in ſolchen Fällen einfach konſisziert. 
Hier können wir von dem freien England viel lernen, das die Enteignung aus 
Staatswohl in viel größerem Amfang kennt als wir. 

Aus all dieſen Gründen iſt die Einführung eines allgemeinen Wahlrechts 
für das Staatswohl Preußens und ſomit auch des Reiches gefährlich. Es 
iſt deshalb von Bülow durchaus praktiſch, wenn er abwartet, wie ſich andere 
neu eingeführte Wahlſyſteme, z. B. das ſächſiſche und vor allem das belgiſche, 
bewähren. Doch da muß erſt gewiſſe Zeit verſtreichen. Bisher fühlen wir 
uns in Preußen als Staats- wie Stadtbürger bei unſerem Dreiklaſſenwahl⸗ 
ſyſtem ſehr wohl. Wegen einzelner Mißſtände, wie fie in Hamburg und Berlin 
3. B. vorkommen, die immer wieder als Kurioſa herangezogen werden, ſoll 
man nicht gleich das ganze Syſtem über den Haufen werfen und durch ein 
ſchlechteres erſetzen. 

Ein Oſtmärker 


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Justitia fundamentum 


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as find wir doch für ein forſches, ſtaatskluges, geſchäfts— 
SW, tüchtiges Volk geworden! Allen Reſpekt! Nur mit Be— 
SEN 4G ſchämung denken wir noch, wie an Sugendfiinden und Tor— 
heiten, der Zeit, da wir unſere Ehre darein festen, den 
Völkern das Banner des Ideals voranzutragen, und man uns noch das 
Volk der Dichter und Denker nannte. Wir danken heute für ſolche Ehren— 
titel. Dichten und Denken iſt ein anſtändiges Geſchäft, wie jedes andere 
auch, ſolange es ſeinen Mann ernährt und er nicht der öffentlichen Armen— 
pflege zur Laſt fällt. Aber ein „Volk“ von Dichtern und Denkern zu ſein, 
von Bekennern und Wahrheitſuchern: das ſoll und darf uns niemand mehr 

vorwerfen. Heute ſind wir „realpolitiſch“, heute ſind wir „national“. 
„Das Wort ‚national’”, ſagt Julius Gmelin in der „Chriſtlichen 
Welt“, „hat nun einmal für ſo viele Deutſche der Neuzeit, zumal in 
Preußen, einen Klang, der alle andern Töne zurückdrängt oder überhören 
läßt. Ja dieſe dürfen in unſrer realiſtiſchen Zeit nur ganz ſchüchtern ſich 
vernehmen laſſen, ſo ſchüchtern, daß ſie für das moderne Tagesleben, zumal 
das öffentliche, wo nur das laute Geſchrei der Parteien mehr durchzudringen 
vermag, kaum exiſtieren. Weil der ‚nationale‘ Geſichtspunkt im Vergleich 
mit dem zweiten modernen Hauptfaktor, dem wirtſchaftlichen, der den 
nackten Egoismus oft nur ſchlecht verhüllt, eine ſo viel beſſere, 
idealere Figur macht, vergißt man ganz, daß auch der Nationalismus 
zu einem Götzen ausarten kann, der uns um unſer beſtes Teil, das Ein— 
treten für die höchſten ſittlichen Güter und die bleibenden Gewinne, die 
daran hängen, erſt recht betrügt und bei der Rechnung den wahren Natio— 
nalismus, den höheren, zu kurz kommen läßt. Denn als national gilt da 
allemal bloß, was im Dienſte der Macht, d. i. der Machtausdehnung des 
Deutſchen Reichs wie des deutſchen Namens ſteht, mit dem man jenes gerne 
identifiziert, um dabei zu vergeſſen, daß der ſtärkſte Pfeiler völkiſcher Macht 


¥ oe. 


Sürmers Tagebuch 59 


von den Tagen der altteftamentlichen Propheten an noch immer das Recht, 
die fittliche Gerechtigkeit auch im Völkerleben, geweſen ift. 

Früher brauchte man das wohl dem Deutſchen, als dem Vertreter 
des Idealismus unter den Völkern, nicht lange zu ſagen. Aber es iſt, wie 
wenn der moderne Deutſche ſich dieſer ſeiner echteſten Mitgift, mit der er, 
ob auch äußerlich oft mannigfach verkürzt, doch ſeine ſittliche Geſund⸗ 
heit und ſeine Kraft durch die Jahrhunderte bewahrt hat, 
nur noch mit Scham erinnerte und nun um ſo mehr darauf aus wäre, durch 
möglichſt gegenteilige Taten, durch eine Politik des nackten Realismus, 
jenes alte Renommee ſoviel als möglich in fein Gegenteil zu verkehren. Und 
ein großes Teil der Schuld daran trägt der Name Bismarck. Seine 
erfolgreiche Realpolitik, auf dem genialen Inſtinkt eines Mannes der Tat 
beruhend, der doch auch kein Bedenken trug, von irrtümlichen Wegen 
entſchloſſen umzulenken, noch ehe es zu ſpät war, muß nun auch 
für die mittelmäßigen Geiſter zur Entſchuldigung dienen, ſitt⸗ 
liche Empfindungen für den Politiker als eine überwundene 
Stufe hinzuſtellen und auch ihr unbedeutendes Können in dem Dienſt der 
brutalen Machtinſtinkte mit dem Nimbus Bismarckiſcher Kunſt zu ſchmücken: 
ungefragt, ob ſie wohl auch ſo wie Bismarck imſtande wären, im Falle 
des Mißerfolgs jederzeit die Gegenbremſe in Anwendung zu bringen, ja 
ohne die Ehrlichkeit zu beſitzen, ſich ſolche Mißerfolge auch rechtzeitig noch 
einzugeſtehen.“ 

Es iſt leider an dem: Wir haben weder unſere militäriſch⸗politiſchen 
Erfolge noch auch die gewaltige Perſönlichkeit Bismarcks ertragen können, 
ohne Schaden zu nehmen an unſerer Seele. Die große Zeit fand einen 
kleinen Nachwuchs. An Bismarck, dieſer inkommenſurabeln Größe, ſtrafften 
ſich alle die Kleinen und Vielzuvielen zu verwegenen „Tatmenſchen“ und 
„Staatsmännern“ empor und zerkleinerten in aller Geſchwindigkeit die Erz⸗ 
blöcke des Giganten in ihre armſelige Scheidemünze, in die Marktgroſchen 
ihrer kleinperſönlichen Wünſche und Ambitionen. 

Was iſt Wahrheit, was iſt Recht! Wahrheit iſt wertloſes Hirn⸗ 
geſpinſt, ſonſt aber unter polizeiliche Kontrolle zu ſtellen. Wer ſeine Wahr⸗ 
heit öffentlich vertreten will, hat ſie von Staats wegen nicht vor dem Forum 
der Vernunft zu vertreten, ſondern vor Gericht oder der vorgeſetzten Be⸗ 
hörde. Die allein entſcheiden, welche Wahrheit vertreten werden darf und 
welche nicht. Recht aber — nun das iſt doch ſonnenklar: — Recht iſt Macht. 

Ja, es iſt Macht. Es iſt am letzten Ende die Macht, die Staat 
und Geſellſchaft vor der Auflöſung in Anarchie bewahrt, die Beſtie im 
Menſchen zähmt, indem ſie jedem das Seine gibt. Justitia fundamentum 
regnorum. Wer aber die Grundlagen erſchüttert, erſchüttert der nicht den 
ganzen Bau? Den Baumeiſter, der die Mauerſteine des Fundaments los- 
löſte, um mit ihnen ein Nebengebäude aufzuführen, würde man als Narren 
davonjagen. Bei unſeren Staatskünſtlern heißt das gleiche Unternehmen 
„realpolitiſch“ und „national“. 


60 Türmers Tagebuch 


Ich kann mir nicht helfen: ich halte auch den Sprachenparagraphen 
für das neue Reichs⸗Vereinsgeſetz und das Enteignungsgeſetz gegen die 
Polen für Zeichen einer bedenklichen Erſchütterung der Rechtsbegriffe und 
des Rechtsempfindens. Läge klare Notwehr vor mit der berechtigten Er⸗ 
wartung der Abwendung einer drohenden Lebensgefahr für Reich und 
Volk, lebten wir in Kriegszuſtand mit den uns eingegliederten fremden 
Volksſtämmen, dann hätte die Sache noch ein anderes Ausſehen, dann 
wäre fie eben unter dem ausſchließlich gegebenen Geſichtspunkte der Selb ft- 
erhaltung zu entſcheiden, der ja auch unſer Privatrecht Ausnahme⸗ 
befugniſſe einräumt. Aber ſo liegen die Dinge doch lange nicht, und was 
dafür ins Feld geführt wird, kann nur die überzeugen, die man nicht erſt 
zu überzeugen braucht. 

Welcher Kulturſtaat hat eine Beſtimmung, nach der ſeine Bürger 
nicht in ihrer Mutterſprache öffentlich reden dürfen? And was um alles 
in der Welt ſoll mit dieſer ganz gewöhnlichen, geradezu einfältigen Polizei⸗ 
ſchikane erreicht werden? Sie könnte dem Hirn eines allzu ſtrebſamen Militär- 
anwärters entſprungen fein. Und für das bloße erhebende Gefühl: „Siehſt 
du nun, daß ich ſtärker bin?“ — dieſe Blamage, dieſe unvermeidliche Auf⸗ 
hetzung und Verbitterung der nationalen Minoritäten von Staats: und Obrig⸗ 
keits wegen, dieſe Verunzierung unſeres teuerſten Gutes, unſeres Rechtes: 
die Einverleibung von Anrecht in das Buch des Rechtes. Ich frage mich 
wieder und wieder vergeblich nach dem Nutzen ſolch kindiſchen Aufprotzens 
gegen kleine Minderheiten, die an eine Auflehnung gegen die Staatsgewalt 
nicht im Traume denken, ihre Aberlegenheit auch ohne irgendwelche putzigen 
Herausforderungen und Kraftproben bereitwilligſt anerkennen. Sie haben 
auch ohne öffentliche Verſammlungen Mittel und Wege genug, ſich im 
Rahmen des Geſetzes zu verſtändigen. And ſtrafbare Dinge können ſie 
doch ohnehin nicht erörtern, wenn man ihnen einen ſprachkundigen Beamten 
hinſetzt. Wäre es nicht vielleicht doch einfacher und zweckmäßiger geweſen, 
ein paar Beamte mehr in den nötigen Sprachen auszubilden, als eine ſolche 
Haupt⸗ und Staatsaktion zu unternehmen, deren praktiſcher Wert im um⸗ 
gekehrten Verhältnis zu dem dabei aufgewandten Brimborium ſteht? 

Das Enteignungsgeſetz gegen die Polen iſt vollends das unverfrorene 
Eingeſtändnis eines völligen Bankerotts der ganzen preußiſchen 
Polenpolitik. And dazu — ich prophezeie nicht gern, aber dies glaube 
ich verantworten zu können: — wird es ſich auch nur als ein Schlag 
ins Waſſer erweiſen. Bis zum Jahre 1885, d. h. bis zum Beginn der 
Schneidigkeitsmethode gegen die Polen hat deren Verdrängung aus dem 
Grundbeſitze angehalten. In der Begründung des erſten Anſiedelungs⸗ 
geſetzes am 22. Februar 1886 hat der damalige Land wirtſchaftsminiſter 
mitgeteilt, daß ſich der polniſche Grundbeſitz in der Zeit von 1860 bis 1885 
in der Provinz Poſen um 195537 Hektar vermindert habe. Von da ab 
— doch bleiben wir bei den Zahlen: die aufgewendeten 350 Millionen 
find mit dem Erfolge drangegeben worden, daß ſeit 1886 in den pol⸗ 


1. 


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— 


<ürmers Tagebuch 61 


niſchen Landesteilen 100000 Hektar an die Polen verloren gegangen 
find. Das ſchöne Geld — wie nötig hätten wir's ſelbſt brauchen können! 
And nun haben wir's für die Polen angelegt! Iſt das — „national“? 
Waren ſie denn ſo unterſtützungsbedürftig, daß wir uns reineweg für ſie 
aufopfern mußten, wo doch unſere eigene Blöße aus allen Ecken und Enden 
ziemlich unverſchämt hervorguckte, nicht einmal für anſtändige Schulhäuſer 
und Wohnungen und die zu beſetzenden Lehrerſtellen das bißchen Klein⸗ 
geld bereit war? 

Die preußiſchen Polen, führt Karl Jentſch im „Morgen“ aus, 
brauchen nicht erſt, wie ſeltſamerweiſe immer noch angenommen wird, in 
den Staatskörper „eingegliedert“ zu werden. Sie ſind es ja längſt. „Sie 
haben ſich niemals geweigert, Steuern zu zahlen. Sie haben ſich niemals 
geweigert, die für alle Preußen geltenden Staatsgeſetze anzuerkennen 
und, ſo oft ſie ſie übertreten hatten, die Strafe auf ſich zu nehmen. 
Sie haben niemals den Militärdienſt verweigert und haben ſeit 1864 in 
drei Kriegen für Preußen geblutet. Beſtünden Abfallneigungen 
bei ihnen, ſo wäre die Verſuchung in den zwei großen Kriegen ſtark ge⸗ 
weſen ... Es iſt nichts von Verrat, nichts Verdächtiges vor: 
gekommen. Wäre etwas dergleichen ruchbar geworden, ſo würde es 
Bismarck angeführt haben in feiner großen Rede am 28. Januar 1886, 
wo er die in der Thronrede angekündigten, Maßnahmen zum Schutze der 
deutſchen Intereſſen in den öſtlichen Provinzen“, in Ermangelung von 
Gegenwarttatſachen, mit alten Geſchichten begründen mußte, in einer Weiſe, 
in der man heute noch den Belagerungszuſtand über ganz Preußen be⸗ 
gründen könnte, das ja 1848 einmal rebelliert hat. Alſo die Polen ſind 
in den preußiſchen Staat eingefügt, und der Verwaltungsorganismus funk⸗ 
tioniert bei ihnen ohne die geringſte Störung. Sie haben, gleich allen 
preußiſchen Katholiken, den Maigeſetzen paſſiven Widerſtand geleiſtet, und 
ſie leiſten denſelben Widerſtand dem Verſuche, ihnen ihre Sprache zu rauben. 
In beiden Gallen mit vollem Recht, weil da der Staat feine Kompe⸗ 
tenz überſchritten hat. Aber die beiden Gebiete, in die er da ein- 
gegriffen hat, beſitzt er keine Gewalt. Geſetze und Maßregeln, die gegen 
die Natur gehen, ſind eo ipso nichtig. Der Staat hat weder Gewalt über 
mein Gewiſſen, noch könnte er, wenn er ein polniſcher Staat wäre, meine 
Zunge zwingen, eine polniſche Konſonantenkombination wie prz auszu⸗ 
ſprechen. Im erſten Fall mußte der Staat bald nachgeben, weil die Zahl 
der paffiven Widerſtand Leiſtenden fo groß war, daß er ſich durch die Auf. 
rechterhaltung undurchführbarer Geſetze um alle Autorität gebracht hätte; 
im zweiten Falle kann er das törichte Beginnen etwas länger fortſetzen, 
weil die Zahl der Betroffenen bedeutend kleiner iſt. Daß die Polen, nach⸗ 
dem fie dieſe Vexationen dreißig Jahre lang erduldet haben, und nachdem 
man ihnen offen angekündigt hat, daß man fie von ihrem väterlichen Boden 
verdrängen wolle, die preußiſche Regierung zum Teufel wünſchen (was 
Millionen andere Leute aus anderen Gründen auch tun), iſt ſelbſtoerſtänd⸗ 


62 Virmers Tagebuch 


lich; fie wären nicht Menſchen, ſondern Hunde oder Klötzer, wenn fie es 
nicht täten. Aber quid sine viribus irae? Was bedeuten im Zeitalter 
der Rieſenheere, Riefenkapitalien und Kanonen Schimpfwörter, Phantaſien 
und ein Nationalſchatz von ein paar hunderttauſend Mark? Im paſſiven 
Widerſtand unüberwindlich, ſind die Polen jeder Möglichkeit der Aggreſſion 
beraubt 

Alſo unſere Polen ſind in unſeren Staatskörper eingegliedert. Seit 
1872, noch gewaltſamer ſeit 1886, arbeitet die Regierung daran, dieſes 
Glied auszurenken, und jetzt will ſie durch die Losreißung vom Boden die 
Ausrenkung vollenden.“ Bedeute deutſch ſoviel wie Teil des preußiſchen 
Staates, ſo ſeien die Polen deutſch. „Keine europäiſche Großmacht ſtellt 
das in Frage... Oder man meint damit die Sprache und die Nationalität. 
Dann lautet die Antwort: weder deuiſch noch polniſch, ſondern gemiſcht. 
Das iſt eine Tatſache, die ſich nur dadurch aus der Welt ſchaffen ließe, 
daß man die ganze polniſche Bevölkerung totſchlüge oder nach Weſtafrika 
oder ins rheiniſch⸗weſtfäliſche Induſtriegebiet ſchaffte.“ 

Fürſt Bülow hat in der Herrenhaus ſitzung vom 30. Januar ge 
äußert: „Ich frage nur: können wir zwei Provinzen entbehren, von denen 
die eine 18 Meilen von Berlin ihren Anfang nimm?“ „Keiner der er⸗ 
lauchten Herren hat die Geiſtesgegenwart gehabt, zu rufen: „Aber, Herr 
Reichskanzler, wachen Sie doch auf! Sie träumen! Schauen Sie ſich 
doch um! Wo ſtehen denn die Armeen, die Pofen und Weftpreußen 
erobern wollen?“ Müſſen nicht die armen Polaken überſchnappen und vom 
Größenwahn befallen werden, wenn das gewaltige Preußen, das die zwei 
ſtärkſten Militärmächte Europas zerſchmettert hat, mit ungeheurem Pathos 
ſich rüſtet, um Berlin vor ihnen zu ſchützen? Da Japan doch ein bißchen 
zu entfernt liegt, könnte eine von Oſten anrückende Armee nur eine ruſſiſche 
ſein. In Beziehung auf Rußland gibt es nun zwei Möglichkeiten. Ent⸗ 
weder es löſt ſich auf, dann wird natürlich auch ein polniſcher Staat ent⸗ 
ſtehen, der 7-10 Millionen Einwohner haben, jämmerlich verwaltet und 
blutarm fein wird. Wie könnte der dran denken, auch nur eine Quadrat- 
meile vom preußiſchen Staatsgebiet abzureißen, wenn die Italiener mit all 
ihrem Irredentiſtengeſchrei dem ſchlotterigen Oſterreich das ganz verwelſchte 
Südtirol nicht ſtreitig machen können? Aber noch ungemütlicher freilich 
würden die Zuſtände in Poſen und Weſtpreußen dann werden, wenn die 
dort lebenden Polen immer noch Arſache hätten, mit der preußiſchen Ne⸗ 
gierung unzufrieden zu fein. — Oder Rußland erſtarkt im Wirtſchaftsleben 
und in der Kultur, ſo daß ſein gewaltiges Gebiet und ſeine Kopfzahl in 
feiner politiſchen Macht voll zur Geltung kommen. Dann wird es die eis⸗ 
freien Häfen, die es braucht, an unſerer Oſtſeeküſte ſuchen, und es wird 
die Macht haben, fie zu nehmen. Das einzige Mittel, dieſer Eventualität 
vorzubeugen, iſt eine Politik, welche die dem Rieſenreich unterworfenen 
kleinen Nationalitäten in Preußen eine Schutzmacht ſehen und herbeiwünſchen 
läßt. Statt deſſen hat es ſich bei allen kleinen Nationalitäten, nicht bloß 


. 


Siemers Tagehud 63 


den flavifchen, gefürchtet und verhaßt gemacht, und dadurch den Deutſchen 
den Zugang zu den großen Kulturaufgaben verbaut, die ihrer im Oſten 
und Südoſten harren und die fie aus der kleindeutſchen Heringstonne, in 
der fie ſich ungemütlich in kleinlichem Gezänk drängen, hinaus führen könnten 
ins Freie. 

Vor 20 Jahren fand ich es geraten, zu verſichern, es ſei nicht etwa 
Sympathie mit den Polen, was mich beſtimme, die gegen ſie gerichtete 
Politik zu bekämpfen. Polniſche Wirtſchaft und polniſcher Charakter ſind 
mir immer widerwärtig geweſen. Aber ich muß geſtehen, daß die Polen 
in den letzten Jahren viel von ihren widerlichen Charakterzügen verloren 
haben. Dank der vortrefflichen Erziehung, die ihnen der Hakatismus hat 
angedeihen laſſen, ſind die bäuerlichen Schlampen, die liederlichen Herren 
von Krapulinski und Waſchlappski wirtfchaftlich geworden; find unſre Polen 
aus larmoyanten Klageweibern alleſamt, die Weiber eingerechnet, tatkräftige 
Männer, aus hündiſch unterwürfigen, ſchafsgeduldigen Sklavenſeelen bis zu 
den kleinen Kindern hinunter hartnäckige Proteſtler geworden. 

Wenn ich die Polenpolitik als einen Komplex koloſſaler Dummheiten 
charakteriſiere, ſo will ich damit natürlich nicht etwa Bismarck der Dumm⸗ 
heit beſchuldigen. Im diplomatiſchen Verkehr und im Verkehr mit dem 
Hofe mußte er ſeiner vulkaniſchen Seele übermenſchlichen Zwang anlegen, 
und da Vaſen zerſchlagen und Türklinken abreißen nur eine ſehr mäßige 
Genugtuung iſt, liebte er es, in der inneren Politik den Gluten ſeiner 
Leidenſchaft Luft zu machen. In der Leidenſchaft aber ſieht man nicht, 
wohin man geht. Abrigens gab es neben den ausgeſprochenen Beweg⸗ 
gründen, die ſeine Polenpolitik durchaus zweckwidrig erſcheinen laſſen, un⸗ 
ausge ſprochene, die für feine Nachfolger jedoch nicht mehr beſtehen. Dieſe 
haben ſich nun, anſtatt langſam und vorſichtig abzuwiegeln, mit der jetzt 
ganz unmotivierten Polenpolitik belaſtet. Nun rufen Miniſter und Haka⸗ 
tiſten: Herr, die Not iſt groß! Aber der alte Hexenmeiſter, der den Kultur- 
kämpfern den Dienſt geleiſtet hat, die Verantwortung für den unvermeid- 
lichen Rückzug auf feine Riefenfchultern zu laden, kehrt nicht mehr zurück, 
den Hakatiſten denſelben Gefallen zu erweiſen. Je länger die Regierung 
die unvermeidliche Umkehr verſchiebt, deſto ſchwerer ſchädigt fie die Autorität 
des Staates 

Man braucht nun die Polen noch nicht als fo harmloſe Staats 
bürger einzuſchätzen, wie anſcheinend Karl Jentſch, auch nicht dem ent⸗ 
gegengeſetzten Standpunkte alle Berechtigung abzuſprechen —: das alles 
kann weder die Zweckmäßigkeit des Geſetzes begründen, noch das dazu an⸗ 
gewandte Mittel mit dem geltenden und natürlichen Rechte in Einklang 
bringen. 

Auch Gmelin in der „Chriſtlichen Welt“ will den praktiſchen Nutzen 
durch Anſiedlung von etwa 100 000 deutſchen Bauern nicht verkennen: — 
das Reſultat ſei aber doch „im großen und ganzen kein andres, als wenn 
der preußiſche Staat mit ſeinen Maßnahmen es auf Hebung der 


64 Türmers Tagebuch 


polniſchen, nicht der deutſchen Nationalität abgeſehen hätte. 
Nur leider nicht nur auf Hebung, was ja ſchließlich ein Verdienſt, ob auch 
wider Willen, wäre, ſondern zugleich auf unheilbare Verfeindung! 
Denn eine Bevölkerung zugleich zu heben und zum tödlichen Feind er— 
ziehen: kann es eine wahnſinnigere Politik geben? Dieſe Leiſtung aber 
hat richtig die preußiſche Politik fertig gebracht, damit namentlich, daß ihre 
nachhaltigſte und erſte Wirkung war, den polniſchen Adel, die Schlachta, 
mit deren Zuſammenbruch noch ein Bismarck das polniſche Volk wider: 
ſtandslos zu machen glaubte — eine der ſchwerſten Selbſttäuſchungen, die 
der große Staatsmann beging — von ſeiner dominierenden Stellung zwar 
abzuſetzen, aber nur zugunſten der polniſchen Bauern wie der bisherigen, 
früher zu ſtumpfer Hörigkeit verurteilten Anterſchicht! Alſo, daß es die 
deutſche Politik heutzutage nicht nur mit der Gegnerſchaft von ein paar 
Hundert verlotterten Adelsfamilien, ſondern mit Hunderttauſenden empor⸗ 
ſtrebender Bauern und Arbeiter zu tun hat. Und das in einem Augen⸗ 
blick, wo dieſe Bevölkerung, im Anterſchied von der ſchon früher erwachten, 
aber auch erſt durch Preußen großgezogenen ſtädtiſchen Mittelſchicht, im 
Begriffe ſtand, ſich zum loyalen Untertanen der Krone Preußen, mit der 
ſie nicht am wenigſten der Stolz auf die preußiſchen Fahnen verband, aus⸗ 
zuwachſen. Aber da mußte der deutſche Chauvinismus, der nach dem Siege 
über Frankreich mächtig ins Kraut geſchoſſen war, der preußiſchen Politik 
in den Sinn geben, auch im Oſten nun die von den preußiſchen Grenzen 
eingefriedigten Polen, die ſich 1866 und 70/71 fo glorreich unter preußi⸗ 
ſchem Kommando geſchlagen hatten, möglichſt raſch zu Deutſchen machen 
zu wollen. 

Man möchte ſchwermütig werden, wenn man ſo mit anſehen und faſt 
mit Händen greifen muß, was für verhängnisvolle Fehler dieſe kurzſichtig e 
Gewaltpolitik über dem Vergeſſen der unſichtbaren Faktoren 
gezeitigt hat, und nun erleben muß, wie dieſer Politik in unſerem Jahr⸗ 
hundert nun vollends die Krone aufgeſetzt wird durch ein Geſetz, das nie⸗ 
mals beſſer charakteriſiert werden kann als durch das Prädikat, Anrecht und 
Torheit“. Torheit eben darum, weil es Anrecht iſt und uns fo, wie man 
keinem religiös⸗ſittlich empfindſamen Menſchen erſt zu beweiſen braucht, nie⸗ 
mals einen wirklichen Gewinn bringen kann ...“ 

In den Schulen wird uns eine ſittliche, eine religiöſe Weltanſchauung 
gelehrt; im Staatsleben aber glauben wir an keine ſittliche Weltordnung. 
Denn ſonſt würden wir nicht ihre Geſetze aus unſerer Rechnung ſtreichen 
und doch den klingenden Lohn erwarten. 

Dieſe Zwieſpältigkeit, dies jahe Auseinanderklaffen theoretiſcher und 
praktiſcher Moral wird nachgerade ſchon zum Syſtem erhoben und metho- 
diſch geübt. Was Wunder, wenn dabei eine ſolche Verwirrung und 
Anſicherheit auch in den elementarſten Fragen der Ethik um ſich greift, 
wie wir ſie faſt bei jedem unſerer „volkstümlichen“ Skandalprozeſſe beobachten 
können. Wäre es noch vor einigen Jahrzehnten möglich geweſen, daß man 


Sürmers Tagebuch 65 


einen Peters als nationalen Heros anſchwärmte, noch brühwarm von der 
im Prozeß naturaliſtiſch aufgepinſelten Hänge⸗ und Liebeskolportage? Oder 
daß ſich die öffentliche Teilnahme für einen Hau bis zum Siedegrade erhitzte? 
Daß man dabei ein wehrloſes Mädchen mit geradezu perverſer Lüſternheit 
durch die breiten Goſſen der Offentlichkeit ſchleifte, ſich förmlich an dieſem 
unglücklichen Opfer austobte und ſchadlos hielt für die Anannehmlichkeiten, 
die das Gericht dem geliebten Helden nun einmal nicht erſparen konnte? 

Es iſt kein Widerſpruch, nur eine korreſpondierende, eine Begleiterſchei⸗ 
nung, wenn eine ſolche, auf brutale Senſationen geſchärfte, jederzeit ent⸗ 
gleiſungsfähige öffentliche Meinung wirklichen öffentlichen Notſtänden gegen⸗ 
über mehr oder weniger verſagt oder nach kurzem Aufflackern in tödlichen 
Stumpfſinn verſinkt. Wie könnten ſonſt auch Zuſtände in unſerer Ver⸗ 
waltung und Juſtiz alt und grau werden, deren Beobachtung auf die Dauer 
geradezu aufreizend wirken müßte, und die eine geſunde und kraftvolle öffent⸗ 
liche Meinung längſt hinweggefegt hätte! Aber außer für ſein wirtſchaft⸗ 
liches Fortkommen, ſeine Karriere und ſeine Vergnügungen hat der Durch⸗ 
ſchnittsdeutſche von heute nur noch Intereſſe für das: was „S. M.“ bei dieſer 
oder jener Gelegenheit geäußert oder getan haben ſoll; für ſeinen lieben Nach⸗ 
barn, wenn's — was Schlimmes iſt; für den Verein, in deſſen — Vorſtand 
er ſitzt; und für Senſationsprozeſſe mit möglichſt ſexuellem Hintergrunde. Der 
Hintergrund kann gar nicht feruell genug fein. And er iſt ja denn auch, 
den Forderungen der Neuzeit entſprechend, immer ſexueller geworden. 

Die Türmerleſer brauche ich nicht erſt zu bitten, mir auf andere Ge⸗ 
biete zu folgen, in Bezirke, die zu betreten jeder von uns genötigt wird, und 
in denen doch längſt nicht alles ſo iſt, wie es ſein ſollte und wie es uns von 
Stellen, die es eigentlich beſſer wiſſen könnten und müßten, geprieſen wird. Es 
tut not, ſich einmal die Dinge bei Lichte und dann gründlich anzuſehen. Sollte 
die Zeit auch etwas lang werden. An dem Schauſteller liegt's wahrlich nicht. 

Guckkaſten vor! : 

Ein bier [chon berührter Fall, zu dem aber noch einige ungemein 
charakteriſtiſche Einzelheiten nachgetragen werden müſſen. 

Am 21. November 1906 wurde der Töpfer Marin in Zoppot wegen 
einer Schulſtrafe von einer Mark von den Polizeibeamten Kupper und 
Kamin, denen er Zahlung anbot, am Bahnhof verhaftet und in das Ge⸗ 
fängnis gebracht. Von dort wurde er erſt am nächſten Tage geradezu 
ſchrecklich zugerichtet, mehr tot als lebendig, entlaſſen. Der Arzt, der ihn 
zwei Tage ſpäter untersuchte, ſtellte ihm ein Atteſt aus, wonach der Mann 
ſich in einem „geradezu deſolaten Zuſtande“ befunden hatte. Galt der 
ganze Körper war zerſchunden, auch ließ der Befund auf den Bruch einer 
oder mehrerer Rippen ſchließen. 

Marin war ſieben Wochen erwerbsunfähig. Nach ſeinen Angaben 
hatten ihn die beiden Polizeibeamten in Gemeinſchaft mit dem Gefängnis ⸗ 


wärter Skorczyck mißhandelt. Vor dem Landgericht Danzig wurde gegen 
Der Türmer X. 7 5 


66 Türmers Tagebuch 


Kamin und Skorczyck verhandelt. Sie leugneten, behaupteten, von Marin 
angegriffen zu ſein, verwickelten ſich aber in zahlreiche Widerſprüche und 
wurden auch von den als Zeugen geladenen Beamten belaſtet, obgleich dieſe 
in ihren Ausſagen ſehr zurückhaltend waren und ſich auf manches nicht 
erinnern konnten. Kupper — verweigerte auf die Frage, ob er auch ge⸗ 
ſchlagen habe, die Ausſage und wurde nicht vereidigt. 

Der Mißhandelte bekundete als Zeuge, er habe die Zahlung der 
einen Mark auf dem Bahnhof und auch im Gefängnis angeboten. Ob⸗ 
wohl man ihm den Wochenlohn von 22,70 Mk. abnahm, — vergebens. 
Als er ſchon in die Zelle gebracht war, hat man ihn aufgefordert, Trink- 
waſſer zu holen. Er lehnte das ab und meinte, die Beamten müßten das 
ſelbſt tun. Kamin hat ihn darauf drohend gefragt: „Du roter Hund 
willſt dir kein Waſſer holen?“ und ihn dann zu Boden geſtoßen, wo 
er liegen blieb, bis die ganze Szene vorüber war. Er fei in der bru⸗ 
talſten Weiſe mit den Füßen und mit einem derben Stock miß— 
handelt, in die Rippen getreten worden uſw. Als man ihn mürbe 
geſchlagen hatte, mußte er ſich doch Waſſer holen. Er tat das und wurde 
dann in die Zelle geſchloſſen. Bald darauf kam Kamin in die Zelle und 
bemerkte, daß er auf ſeiner Pelerine ſaß. Er ſchrie ihn nun an: „Du 
roter Hund ſitzt auf meiner Pelerine“, und ſchlug ihn mit dem Helm, 
den er an der Spitze hielt, ins Geſicht. 

Intereſſant aus der Vernehmung Marins iſt dieſe Epiſode: 

Staatsanwalt (mit Nachdruck): Warum haben Sie die Strafanzeige 
erſt ſo ſpät eingereicht? Am 24. November wurden Sie verletzt und erſt (?) 
am 7. Dezember ging die Anzeige ein! Wer hat Ihnen die Anzeige ge- 
ſchrieben? 

Marin: Da die Angelegenheit in Zoppot nicht vorwärts ging, 
hat ſie mir Herr Bartel geſchrieben. 

Staatsanwalt (energiſch): Was iſt das für ein Menſch? 

Gerichtsbeiſitzer, ein Landgerichtsrat (Zwiſchenruf): Das iſt ein 
Sozialdemokrat! 

Marin: Herr Bartel iſt Kaſſenführer der Krankenkaſſe „Die treue 
Selbſthilfe“. 

Staatsanwalt (energiſch): Das iſt ja notoriſch, daß die Leute 
Sozialdemokraten find! Sind Sie auch Sozialdemokrat?! 

Marin: Ich bin gewerkſchaftlich organiſiert. 

Staatsanwalt (ſehr energiſch): Alſo Sie wollen nicht zugeben, 
daß Sie Sozialdemokrat ſind!? Schade, daß ich die Akten nicht hier 
habe, das werden wir aber noch feſtſtellen! 

Der Bürgermeiſter des Bades Zoppot bekundete die Tatſache, daß 
in Zoppot die ihm gar nicht bekannte, von ſeinem Vorgänger herrührende 
Anordnung beſtand, mit Schulſtrafen Belegte auch dann in Haft zu 
nehmen wenn ſie Zahlung anboten! Er habe dieſe Anordnung jetzt 
aufgehoben. 


Dürmers Tagebuch 67 


Der Staatsanwalt ſuchte allerlei Milderungsgründe für die 
Angeklagten heraus und beantragte ſchließlich gegen Kamin für zwei 
Körperverletzungen — 80 Mark und für zwei Beleidigungen — 10 Mark 
Geldſtrafe; gegen Skorczyck 30 Mark für eine Körperverletzung. Das Ge⸗ 
richt verurteilte Kamin zu 90 Mark Geldſtrafe wegen zweimaliger 
Körperverletzung und zweifacher Beleidigung! Skorczyck kam mit 30 Mark 
Geldſtrafe wegen einfacher Körperverletzung davon! Beide wurden tolle 
darifch zu nur 100 Mark Buße verurteilt. 

Dasſelbe Gericht hat einige Tage ſpäter einen nicht vorbeſtraften 
19 jährigen Lehrling, der in angetrunkenem Suftande einen Arzt und feine 
Frau mehrmals anrempelte und beleidigte, hinterher aber brieflich und vor 
Gericht ſeine Tat bereute und um Entſchuldigung bat, zu einem Jahr 
und einem Monat Gefängnis verurteilt. 

Zu vier Monaten Gefängnis war ein älterer Arbeiter P. wegen 
Beleidigung eines Schutzmanns vom Schöffengericht in Berlin verurteilt 
worden. Der Angeklagte hatte eines Tages auf einer Bank geſeſſen, 
Zwiſchen ihm und einem Ehepaar H., das ebenfalls auf der Bank ſaß, 
kam es zu einer Aus einanderſetzung. H. war ébenfo wie der Angeklagte 
infolge einer Maſſenentlaſſung arbeitslos geworden und deshalb mit feiner 
Frau in Streit geraten, an dem ſich auch P. beteiligte. Es kam zu einer 
Szene, in die ſich alsbald ein Schutzmann einmiſchte. Der, behauptet der 
Angeklagte, habe ihn ſofort in grober Weiſe „angeſchnauzt“, und als er 
ſich einen höflicheren Ton aus bat, ohne weiteres ſiſtiert. Auf dem Wege 
zur Polizeiwache machte P. feinem Urger über die feiner Anſicht nach 
ungerechtfertigte Feſtnahme durch die Worte Luft: „Ihr verfl..... Blau⸗ 
köppe lebt doch nur von unſeren Steuern!“ Eines Widerſtandes machte ſich 
P. nicht ſchuldig. Das Schöffengericht verurteilte ihn zu vier Monaten 
Gefängnis. In der Berufungsinſtanz wies der Verteidiger auf einen 
Fall hin, der vor einigen Tagen die Strafkammer beſchäftigt hatte. In 
dieſem hatte ein angetrunkener Schutzmann einen groben Exzeß gegen eine 
Frau verübt und war mit 100 Mark Geldſtrafe davongekommen. — Das 
Urteil gegen P. lautete auf zwei Monate Gefängnis. (!) 

Der Fall, auf den ſich der Verteidiger berief, lag ſo. Der Schutz⸗ 
mann Chr. war angeklagt, eine Frau B. beleidigt, körperlich mißhandelt 
und ohne Anlaß ſiſtiert zu haben. An einem Abend wartete Frau B. vor 
dem Stadtbahnhof Alexanderplatz auf ihren Mann. Nach einer Weile er⸗ 
blickte ſie einen betrunkenen Schlächter und einen offenbar betrunkenen 
Schutz mann. Dieſer iſt dann nach ihrer Erzählung aus dem Bahnhof: 
eingang herausgekommen, auf ſie zugetreten und hat zu ihr geſagt: „Du 
Sau, was ſtehſt du hier herum?“ Sie hat ſich das Duzen verbeten und 
geſagt, daß ſie auf ihren Mann warte. Darauf der Schutzmann: „Dann 
werde ich auf deinen Mann warten! Du ſtehſt ja unter Kontrolle!“ Sie 
wollte ihm entrinnen, er lief ihr aber nach und drohte ihr mit einem be⸗ 
leidigenden Ausdrucke, ſie feſtzuhalten, wenn ſie nicht mitgehen würde. 


68 Türmers Tagebuch 


Dadurch erregte er einen großen Auflauf, aus dem Publikum ertönte der . 


Ruf: „Der Mann ift ja betrunken, der hat ja förmlich das Delirium!“ 
Als ihn die Menſchenmenge umdrängte, hat der Angeklagte ſeinen Säbel 
gezogen, damit zwiſchen die Menge geſtoßen und geſchlagen. Mit den 
Worten: „Du Sau, warte nur, wenn ich dich erſt auf der Wache (h) 
habe“, hat er ſie zweimal mit dem Säbel über das Kreuz geſchlagen. Ein 
dem Angeklagten zu Hilfe gekommener zweiter Schutzmann hat gleichfalls 
blank gezogen, und ſo iſt ſie dann zur Wache gebracht worden. Auf der 
Wache hat der Angeklagte kaum ſchreiben können; er hatte feinen Nock auf- 
geknöpft und den Säbel auf den Tiſch geworfen. Die auf die Wache 
mitgekommenen Zeugen ſchüchterte er ſo ein, daß ſie froh waren, 
ſich wieder entfernen zu können. Die anderen Schutzleute auf der Wache 
hatten ſich gleichfalls vor ihm zurückgezogen. 

Der Zeuge Dr. B., Aſſiſtenzarzt an einem Berliner Krankenhauſe, 
hat gleichfalls den Angeklagten in betrunkenem Zuſtande mit einem be⸗ 
trunkenen Schlächter hin und her wanken ſehen. Der Schutzmann iſt dann 
auf die Frau B. zugewankt, hat die Frau beläſtigt und zu ihr die be⸗ 
leidigenden Worte gebraucht. Der Zeuge hat ſich dann an einen anderen 
Schutzmann gewandt und ihn auf das Gebaren ſeines Kollegen hinge⸗ 
wieſen. Es hatten ſich aber bald ſehr viele Menſchen angeſammelt, die 
den Schutzmann umdrängten. Als es zur Wache ging, wollte der Zeuge 
auch dorthin gehen, um zu bekunden, daß er geſehen habe, wie der Schutz⸗ 
mann die Frau ſogar in ſchamloſer Weiſe angegriffen habe. 
Das iſt dem Zeugen aber ſchlecht bekommen. Als er, ſo erzählte er, 
am Hauſe der Polizeiwache ankam, wurde ihm der Eingang verwehrt. 
Er benutzte dann einen unbewachten Augenblick, ging hinein, wurde aber 
von einem Beamten betroffen und angefahren: „Was? Sie wollen nicht 
gehen? Das iſt Hausfriedensbruch!“ Die Wache bot ein wüſtes Bild: 
Der Angeklagte ſaß verſtört an ſeinem Tiſch, und als er ſeiner anſichtig 
wurde, rief er ihm ein gemeines Schimpfwort zu. Dann kam ein 
anderer Beamter, nahm den Zeugen beim Wickel und ſtieß 
ihn einfach in die Arreſtzelle, aus der er erſt durch die Intervention 
des Polizeihauptmanns befreit wurde. Gegen den Zeugen iſt dann 
noch eine Anzeige wegen Hausfriedens bruch erſtattet worden, der 
aber keine Folge gegeben wurde. 

Der Angeklagte beſtritt, angetrunken geweſen zu ſein, und berief 
ſich auf mehrere Perſonen, mit denen er kurze Zeit vor dem Vorfall ge⸗ 
ſprochen, und die ihm bezeugten, daß er nüchtern geweſen. Auf der anderen 
Seite ſtanden mehrere einwandfreie Zeugen, die übereinſtimmend ausſagten, 
daß der Angeklagte ſtark betrunken geweſen ſei. Der ſtellte die Sache 
ſo dar, daß er Frau B. in Gemeinſchaft mit mehreren anderen Perſonen 


vor dem Eingang zum Bahnhof habe ſtehen ſehen. Da ſie die Paſſage 


beengten (), habe er Frau B. gefragt, was ſie da herumſtehe, und ſo 
höhniſche Antworten bekommen, daß er ſich zur Siſtierung genötigt ſah. 


Zürmers Tagebuch 69 


Da fei er dann vom Publikum fo arg bedrängt worden, daß er zur Waffe 
habe greifen müſſen. Ob er beim Umfichfchlagen Frau B. getroffen, wiſſe 
er nicht. Dieſer Darſtellung wurde von Augenzeugen widerſprochen. 

Der Staatsanwalt beantragte vier Monate Gefängnis. Das Gericht 
nahm an, daß der Angeklagte ſich ſubjektiv nicht bewußt geweſen 
ſei, in unrechtmäßiger Weiſe gegen die Frau einzuſchreiten und ſie wider⸗ 
rechtlich zu ſiſtieren. Ferner nahm es an, daß der Angeklagte die Frau B. 
nicht vorſätzlich geſchlagen, ſondern ſie wohl nur beim Herumfuch⸗ 
teln mit dem Säbel getroffen (!) haben möge. Dagegen hielt der Ge⸗ 
richtshof eine Beleidigung für erwieſen, die er bei der ganzen Sachlage, 
mit Rüdjicht auf die Angetrunkenheit des Angeklagten, mit — 100 Mark 
Geldſtrafe für genügend geahndet erachtete. 

„Eine Frau“, bemerkte der „Vorwärts“, „wird ohne den geringſten 
Anlaß in frivoler, roher Weiſe von einem angetrunkenen Schutzmann be⸗ 
ſchimpft, beläftigt, geſchlagen, zu Anrecht fiftiert; ein über den Vorgang 
erregter Arzt will ſein Zeugnis ablegen —: er wird beleidigt, widerrechtlich 
eingefperrt und gar noch mit einer falſchen Anzeige wegen Hausfriedens- 
bruch bedroht. And dann nimmt das Gericht an, der Schutzmann habe 
geglaubt, im Recht zu ſein, ohne des Schutzmanns Vorſatz habe ſich der 
eigenwillige Säbel wiederholt gegen den Körper der Frau gedrängt. 100 Mk. 
Geldſtrafe. Und die mißhandelten widerrechtlich ſiſtierten Der- 
ſonen können noch von Glück ſagen, daß nicht ſie wegen Wider⸗ 
ſtandes gegen rechtswidrige Angriffe zu ſchweren Gefängnisſtrafen 
verurteilt ſind.“ 

In Halle hatte ein Arbeiter bei einem nächtlichen Nenkontre zu 
den herbeigeeilten Poliziſten geſagt: „Sie haben uns gar keine Vorſchriften 
zu machen, denn dazu ſind Sie uns zu dumm; ich habe ſo viel Grütze in 
den Beinen wie Sie im Kopfe.“ Die Folge war eine Anklage wegen Be⸗ 
amtenbeleidigung. Der Amtsanwalt beantragte gegen den Arbeiter 40 Mk. 
Geldſtrafe, das Gericht verhängte jedoch über ihn eine Gefängnisſtrafe 
von zwei Monaten!! | 

Ein anderer Arbeiter, der etwas angetrunken war und einen Polizei- 
fergeanten, der ihn vom Bürgerſteig wies, mit einigen Schimpfworten, wie 
ſie in Halle üblich ſind, belegt hatte, wurde deshalb zu einem Monat 
Gefängnis verurteilt. 

Nun aber einige andere Fälle: 

Ein Polizeiſergeant gebot einem Studenten, der bei einem von 
ihm provozierten nächtlichen Wortwechſel ſehr laut wurde, vergeblich Ruhe 
und nahm ihn dann mit zur Wache. Auf dem Wege dorthin leiſtete der 
Student nicht nur Widerſtand, ſondern er hieb dem Beamten derart mit 
dem Stocküber den Helm, daß der Stock in Stücke ging, die 
Helmſpitze abbrach und der Helm ſich verbog. Im Wachtlokal äußerte der 
Student ſpöttiſch: „Ach, bei der Halleſchen Polizei braucht man nur zu 
fragen, was die Sache koſtet, dann iſt ſchon alles erledigt.“ Der Amts⸗ 


70 Tlirmers Tagebuch 


anwalt beantragte gegen den Studenten, der einen Beamten geſchlagen und 
die Polizeibehörde durch jene Bemerkung beleidigt hatte, eine Geldſtrafe 
von 170 Mark. Das Gericht hielt aber 40 Mark für ausreichende 
Sühne. 

Hatte der Student mit ſeiner Einſchätzung des „Koſtenpunkts“ ſo 
unrecht? 

Halliſche Studenten verüben wieder einmal einen ſo wüſten Skandal, 
daß die Polizei notgedrungen einſchreiten muß. Mahnungen der Beamten, 
ruhig zu ſein, werden verlacht. Darauf verlangt der Schutzmann die 
Studentenkarte des Hauptattentäters. Die Karte erhält der Schutzmann 
nicht, vielmehr ſtellt der Student ſich kampfbereit dem Schutzmann entgegen: 
„So, Sie Dreckkopf, Sie Dreckkopf, nun faſſen Sie mich einmal an, dann 
ſollen Sie mal ſehen“. Das Urteil lautet: wegen Ruheſtörung 5 Mark 
Geldſtrafe, wegen Widerſtand mit Beamtenbeleidigung 15 Mark Geld⸗ 
ſtrafe. 

Zwei Schutzleute bitten einen des Nachts heftig randalierenden Stu- 

denten, ſich ruhiger zu verhalten. Darauf brüllt der Muſenſohn einen 
Poliziſten mit den Worten an: „Halt 's Maul mit deinem nervöſen, dreckigen 
Geſicht“, dem anderen ſchnarrt er zu: „Sie mit Ihrem dämlichen, langen 
Geſicht müſſen Ihre dumme Naſe auch in alles hineinſtecken“. Das Arteil: 
wegen Ruheſtörung 5 Mark, wegen Beamtenbeleidigung in zwei Fällen 
je 10 Mark. 
f Als in einer Nacht der ſchon bejahrte Privatmann T. auf dem Heim⸗ 
weg begriffen iſt, wird er von dem stud. phil. K. und deſſen Freunde ver⸗ 
höhnt. K., der auf der Straße ſteht, ruft ſeinem Freunde zu: „Du, da 
kommt der Ober mit dem Steifen!“ Als ſich der offenbar händelſuchende 
Student dem alten Herrn nähert, ſagt dieſer: „Bitte laſſen Sie mich doch 
gehen, ich bin Ihr Ober nicht!“ Darauf nimmt der Student ſeinen 
Spazierſtock und ſchlägt damit dem alten Herrn zweimal ins 
Geſicht, daß der Stock zerbricht und das Blut fließt. Ein 
Polizeibeamter, der dieſen Vorgang in der Schöffengerichtsverhandlung be⸗ 
ſtäti gte, ſpringt hinzu und ſchützt den alten Herrn vor weiteren Mißhand⸗ 
lungen. — Der Verletzte hatte derartige Wunden an Stirn und Backe, 
daß er einen Monat ärztlich behandelt werden mußte. Zu 
ſeiner Entſchuldigung wußte das feine Herrchen rein gar nichts anzuführen, 
als daß es von einem Kommers gekommen und „angeheitert“ geweſen ſei. 
Das Schöffengericht bezeichnete die Tat als roh und rückſichtslos und ver⸗ 
urteilte ihn daher auch zu der exemplariſchen Strafe von — 120 Mark 
Geldbuße. : 

Gegen die Anklage, die Ehefrau eines Fabrikanten im Dienſte be- 
leidigt zu haben, hatte ſich der Schumann M. vor dem Schöffengericht 
zu Köln zu verantworten. Als er für den Fabrikanten ein amtliches Schrift⸗ 
ſtück überbrachte, fragte er die Frau, ob ſie die Gattin des Abweſenden ſei. 
Als dies bejaht wurde, überreichte er ihr das Papier und kniff ſie in 


Skemers Tagebuch 71 


die Wange. Die mit diefer amtlichen Vertraulichkeit beglückte Frau war 
hoch in anderen Umftänden. Der Schutzmann beſtritt den von ihr als 
Zeugin bekundeten Vorfall. Der Staatsanwalt erklärte, die Beleidigung 
ſei nicht einfacher Art; wohin ſolle es kommen, wenn die Polizei- 
beamten, die von den Gerichten ſtets in Schutz genommen 
würden — ein ſeltenes, aber um ſo wertvolleres Eingeſtändnis —, in 
ſolcher Weiſe vorgingen. Einem Dienſtmädchen gegenüber hätte man das 
Vorgehen als einen allerdings nicht zu billigenden Scherz auffaſſen können. 
Er beantrage für eine fo ſträfliche Handlungsweiſe 80 Mark. Das Ge- 
richt erklärte im Urteil, es fei in der Tat eine nachdrückliche Strafe 
geboten und — erkannte auf 50 Mark. 

Vor der erſten Strafkammer des Berliner Landgerichts II mußten 
ſich die beiden Schutzleute Korruhn und Keppler wegen Mißhandlung ver⸗ 
antworten. Auch der Referendar Morell ſaß auf der Anklagebank. Dieſer 
war zuſammen mit dem Kammergerichtsreferendar Tſchepke am 20. November 
1906 auf dem Polizeirevier erſchienen, um einen Automobilführer, der ſie 
falſch gefahren hatte, feſtſtellen zu laſſen. Die Beamten, offenbar nicht er- 
baut, aus ihrer Ruhe geſtört zu werden, behielten, ſtatt den Führer feſt⸗ 
zuſtellen, die beiden auf der Wache. Als Morell gegen dieſe Behandlung 
Proteſt erhob, ſchrie der Wachthabende Korruhn dem Schutzmann Keppler 
zu: „Machen Sie den Mann ruhig!“ Keppler kam dieſer Aufforde⸗ 
rung gründlich nach. Er faßte den Morell an beiden Schultern, fchüttelte 
ihn mit Gewalt wohl ein halbes Dutzend Mal hin und her, ſo daß er mit 
dem Kopf gegen die Wand flog. Als Tſchepke auf ſeine Eigenſchaft als 
Referendar hinwies, ſchrie ihn Korruhn an: „Ach was, Referendar! Sie 
können mid...” Aſw. 

Als Morell feinem fic entfernenden Freunde folgen wollte, ſtürzten 
ſich beide Schutzleute auf ihn, hielten ihn mit Gewalt im Lokal 
zurück, und während Keppler den Referendar Tſchepke hinaus beförderte, 
begann Korruhn, ein Hüne, den ſchwächlichen Morell in einer ge⸗ 
radezu brutalen Weiſe zu mißhandeln. Er würgte ihn am 
Halſe, ſchlug ihn auf den Kopf und befahl ſchließlich dem Keppler, 
den Mißhandelten in eine Zelle zu ſperren. Hier, hinter einem 
eiſernen Gitter, wurde Morell, halb bewußtlos, bis 5 Uhr 
früh feſtgehalten. In der Zelle erbrach er ſich wiederholt. Nach ſeiner 
Entlaſſung erſtattete er ſofort Anzeige. Ein Verfahren gegen die 
Schutzleute wurde jedoch ſeitens der Staatsanwaltſchaft ab⸗ 
gelehnt, dagegen das typiſche Verfahren gegen Morell () wegen 
„Beleidigung“ der Schutzleute, „Widerſtandes gegen die Staatsgewalt“ 
und „Hausfriedensbruch“ eingeleitet. Erſt auf Anweiſung des Oberſtaats⸗ 
anwalts wurde die Anklage auch gegen die Schutzleute, wegen Beleidi⸗ 
gung, Mißhandlung und Freiheitsberaubung, erhoben, ſo daß ſich dieſe 
endlich neben Morell zu verantworten hatten. Morell wurde freigeſprochen, 
gegen den Schutzmann Korruhn wegen Körperverletzung und Freiheits⸗ 


72 Türmers Tagebuch 


beraubung auf fünf Monate Gefängnis, gegen Keppler wegen Be⸗ 
leidigung und Körperverletzung auf 100 Mark Geldftrafe erkannt. Der Vor: 
ſitzende betonte in der Begründung, daß das Gericht in allen Punkten der 
Wusfage des Referendars Tſchepke gefolgt fei. Hiernach und nach den 
anderen vorliegenden Beweismitteln habe ſich die Darſtellung des Angeklagten 
Morell als wahr, die Darſtellung der beiden Schutzleute als un- 
wahr herausgeſtellt. Es handle ſich um Vergehen im Amte, und zwar 
um beſonders ſchwere Ausſchreitungen. 

Ein Zeitungshändler in Berlin ſteht abends auf der Straße und 
geht feinem Gewerbe nach, das er ſchon 20 Sabre in derſelben Gegend 
unbehelligt ausübt und wozu er natürlich auch den erforderlichen polizeilichen 
Erlaubnisſchein beſitzt. Trotzdem befiehlt ihm ein Schutzmann in barſchem 
Tone, weiter zu gehen, weil das Handeln dort nicht erlaubt ſei. Der Händler 
macht den Beamten auf ſeinen Erlaubnis ſchein aufmerkſam, wird aber trotz⸗ 
dem zur Wache ſiſtiert. Dort ſitzt der Mann dann auf einer Bank, um 
dem vernehmenden Beamten den Fall klarzulegen. Da öffnet ſich eine 
Seitentür, und ehe er ſich's verſieht, hat er ein paar kräftige Schläge 
gegen das linke und einen gegen das rechte Ohr weg. Er hört 
nur noch die Worte: „Halten Sie das Maul!“ und verliert dann die Be⸗ 
ſinnung. Nach einer Weile erhebt er ſich und verläßt die Wache. In der 
Klinik des Geheimrats Dr. Paſſow wird eine Zerreißung des linken 
Trommelfells feſtgeſtellt. 

Vergeblich alle Bemühungen des Mißhandelten, den Täter auf der 
Wache zu ermitteln. Dafür erhält er ſelbſt ein Strafmandat über 
8 Mark oder zwei Tage Haft wegen „ruheſtörenden Lärms und Erregung 
eines Auflaufs“. Er wendet ſich nun an die Staatsanwaltſchaft beim Königl. 
Landgericht I. Von ihr erhält er den Beſcheid, daß der Täter abfolut 
nicht zu ermitteln und das Verfahren daher eingeſtellt worden ſei. Der 
Mann gibt ſich auch damit noch nicht zufrieden und reicht Beſchwerde bei 
der Oberſtaatsanwaltſchaft ein. Aber auch dieſe Behörde ſieht ſich nicht 
in der Lage, ihm zu ſeinem Rechte zu verhelfen, vielmehr teilt ſie ihm mit: 

„Zu einer gerichtlichen und eidlichen Vernehmung der 
Beamten liegt kein Anlaß vor, da davon ein anderes Ergebnis 
nicht zu erwarten iſt.“ 

Die Oberſtaatsanwaltſchaft hält es alſo für völlig ausgeſchloſſen, 
daß ſelbſt Eideszwang das amtlich gehütete Geheimnis der Wachtſtube 
zu Tage fördern werde! Dabei waren zwei Beamte des Reviers Seu- 
gen der ſtrafbaren Handlung ihres Kollegen! Auch der uniformierte 
Wüterich, der bei einem Krawall in Breslau dem völlig unbeteiligten Ar⸗ 
beiter Biewald, als dieſer die Treppe zu ſeiner eigenen Wohnung herauf⸗ 
ſtieg, mit einem Säbelhiebe die Hand glatt vom Arme herunter⸗ 
hackte, konnte trotz aller amtlichen Bemühungen bis zum heutigen 
Tage nicht feſtgeſtellt werden. Die Breslauer Bürgerſchaft aber iſt 
durch alle Inſtanzen hindurch verurteilt worden, den von einem königlich 


Zürmerd Tagebuch 73 


preußiſchen Beamten zum Krüppel Geſchlagenen mit ihren Steuergroſchen 
zu „entſchädigen“. Von Rechts wegen. Ein ſchöner Zug war es auch, 
daß „gut geſinnte“ Blätter, darunter eine parteiamtliche Korreſpondenz, 
den ganzen Vorgang auch dann noch kaltlächelnd ableugneten und 
als „Schauermär“ hinſtellten, als die Tat bereits amtlich zu- 
geſtanden war und es ſich nur noch um die Entſchädigungsfrage handelte! 
So wird's gemacht! 

Vor der Strafkammer in Beuthen hatte ſich der Polizeiſergeant R. 
wegen ſchwerer Körperverletzung zu verantworten. Eines Tages (im Gep- 
tember 1906) kam der Zimmerhäuer K. in das Bureau der Antonienhütter 
Amtsverwaltung. Bevor er ſein Anliegen vortragen konnte, erhielt er von 
N. einen wuchtigen Schlag ins Geſicht. K. trug ein blutunterlaufenes Auge 
davon. Nach ihm wollte der Zimmerhäuer B. einen Hund anmelden; er 
tat dies in einer etwas lauten Weiſe, worüber der Angeklagte ärgerlich 
wurde. Beide gerieten in einen Wortwechſel, der dazu führte, daß N. den 
B. am Kragen packte und abführen wollte. Er drängte ihn in ein Neben⸗ 
zimmer, zog ſeinen Säbel und ſchlug damit auf B. ein. Dabei wurde 
dem B. die rechte Hand, die er zur Abwehr über dem Kopfe hielt, voll» 
ftändig zerfleiſcht. Zur Heilung waren ſechs Monate erforderlich, die er 
im Knappſchaftslazarett zubringen mußte. Wenige Tage darauf wurde der 
Angeklagte zum Grubenarbeiter B. gerufen, der mit ſeinem Schwiegervater 
in Streit geraten war. Als er mit einem anderen Polizeibeamten erſchien, 
hatte ſich B. inzwiſchen beruhigt und war auf ſeinem Stuhl in der Stube 
eingeſchlafen. Der Angeklagte weckte B. und ſtellte ihn zur Rede. B. er- 
klärte dem Beamten, daß er geſchlafen habe, und forderte ihn auf, die Stube 
zu verlaſſen. Der Angeklagte erklärte danach B. für verhaftet. Seiner 
TFeſtnahme fette dieſer energiſchen Widerſtand entgegen. Der Angellagte 
nahm jetzt die Handkette, legte ſie dem B. aber um den Hals und 
zog ſie ſo feſt zuſammen, daß dem B. die Augen aus dem Kopfe 
traten. Dann zog der Angeklagte blank und ſchlug auf B. ein. Durch 
Zeugenausſagen wurde feſtgeſtellt, daß der Angeklagte auch noch nicht 
nachließ, als dem B. das Blut aus mehreren Wunden über das Geſicht 
lief. Dem Mißhandelten war es trotzdem gelungen, ſich loszureißen. Er 
lief zur Tür hinaus und wollte auf den Boden fliehen. Im Flur ſtand 
der zweite Polizeibeamte, der ihn auf der nach dem Boden führenden 
Treppe feſthielt. Dann kam der Angeklagte hinzu, der nun ſofort wieder 
ſeinen Säbel zog und damit ſo lange auf die Hände des B. 
ſchlug, bis dieſer blutüberſtrömt und beſinnungslos zu- 
ſammenbrach! Augenzeugen bekunden, daß das Blut des B. an den 
Wänden hinaufgeſpritzt feil Die Beamten überließen den in feinem 
Blute liegenden Mann ſeinem Schickſal, machten einige Notizen (!!) und 
verließen dann das Haus. Zeugen des Vorfalles holten dann einen Arzt, 
der nicht weniger als zwanzig ſcharfkantige Hiebwunden feftftellte 
und für Aberführung des Verletzten nach dem Lazarett Sorge trug. Dort 


74 Türmers Tagebuch 


blieb B. ein halbes Jahr. Dann erſt wurde er als geheilt entlaſſen. 
Nach dem ärztlichen Gutachten ſind beide Hände des B. in ihrer Gebrauchs⸗ 
fähigkeit dauernd herabgemindert. R. wurde zu drei Monaten verurteilt. 

Bei einem nächtlichen Renkontre im September des Jahres 1906 in 
Stolpe erſchoß der Gendarmeriewachtmeiſter Jude den Zimmermann Adolf 
Herrmann. Das daraufhin gegen Jude eingeleitete Verfahren wurde von 
der Militärbehörde bis zur Entſcheidung über das gleichzeitig gegen die 
damaligen Begleiter des Erſchoſſenen (Sperling und Genoſſen) wegen 
Widerſtands gegen die Staatsgewalt, Körperverletzung und ruheſtörenden 
Lärms anhängig gemachte Ermittelungsverfahren — eingeſtellt. Das 
Ermittelungs verfahren gegen Sperling und Genoſſen führte zunächſt zur 
Einſtellung wegen Widerſtandes und Körperverletzung, da die Gendarmen 
nicht im Dienſt geweſen ſeien. Dagegen wurde gegen die ſämtlichen in 
Frage kommenden Perſonen ſeitens des Amtsgerichts Oranienburg ein 
Strafbefehl in Höhe von 3 Mark wegen — ruheſtörenden Lärms (!!) er- 
laſſen. Auf den von den ſieben Angeklagten erhobenen Einſpruch wurden 
ſämtliche Angeklagte vom Amtsgericht Oranienburg überhaupt frei⸗ 
geſprochen. 

Das aber lag nicht in den Wünſchen einer hohen Behörde. Der 
Staatsanwalt legte ſofort Berufung ein, und fo hatte denn die Straf⸗ 
kammer des Landgerichts III über den angeblich ruheſtörenden Lärm 
des Getöteten und ſeiner noch lebenden ſieben Genoſſen zu Gericht 
zu ſitzen! 

Klar und bündig ſchilderte in der Verhandlung der Bruder des Er⸗ 
ſchoſſenen, Reinhold Herrmann, den Hergang: Wir, ſämtliche Angeklagten, 
ſowie mein Bruder kamen in der Nacht vom 22. bis 23. September 1906 
gegen /23 Uhr morgens von einem Diskutierabend ... und unterhielten 
uns in ruhiger Weiſe über unſere Verhandlungen. Die Nacht war ſehr 
dunkel, und wir konnten kaum die Hand vor den Augen ſehen. Vor 
dem Borgfeldſchen Lokale wird der Fußweg durch tief herabhängendes 
Geäſt alter Bäume noch mehr verfinſtert und durch eine Hecke, ſowie eine 
Pumpe eingeengt. Kurz hinter dieſer Stelle ſtieß ich unwillkürlich an eine 
Perſon an, die ich vorher nicht bemerken konnte, und entſchuldigte mich. 
Die Perſon ſtand im Dunkel mitten im Wege. Nachdem einer aus unſerer 
Mitte ein Streichholz angeriſſen, ſah ich, daß die Perſon ihre Notdurft 
verrichtete, und einer von uns rief: „Das iſt ja der Gendarm Jude in 
Zivil.“ Der Angeſtoßene ſchimpfte: „Das iſt ja eine Flegelei“ — und 
andere Worte, die mir nicht erinnerlich ſind. Wir gingen ruhig unſeres 
Weges und haben uns über den Vorfall unterhalten. Nachdem wir etwa 
250 Schritte entfernt waren, kamen Jude und Gendarm Tietz plötzlich hinter 
uns her und ſchlugen mit den Worten: „Da haben wir euch Schweine⸗ 
bande ja!“ mit einem Ochſenziemer und einem eichenen Knüppel 
auf uns ein. Wir entwanden, nachdem die meiſten unſerer Begleiter 
entflohen waren, den beiden Gendarmen die Stöcke. Kurz darauf krachte 


Dürmers Tagebuch 75 
ein von Jude abgegebener Schuß, der meinen Bruder in den Anterleib 
tra f. Nach Abgabe des Schuſſes entflohen die beiden Gendarmen. 
Wir haben weder ruheſtörenden Lärm verübt, noch die Gendarmen an⸗ 
gegriffen, ſondern ſind ganz unmotiviert von ihnen überfallen worden. 

Da dieſe Ausſage durch die Zeugenausſagen, auch die der Gen⸗ 
darmen, im weſentlichen beſtätigt wurde und niemand ruheſtörenden 
Lärm () bekunden konnte, ſprach das Gericht nicht nur die Angeklagten 
wiederum frei, fondern legte auch auf Antrag des Verteidigers deren not- 
wendige Auslagen der Staatskaſſe auf. 

Nun aber ein Nachſpiel: das aktive und — paſſive Verfahren 
der Staatsanwaltſchaft und des Juſtizminiſters gegen den Abgeordneten 
Stadthagen. Der ſollte nämlich durch eine Rede, in der er von dem Mörder 
Herrmanns ſprach, den Gendarmen Jude verleumdet haben. Stadthagen 
erklärte gelaſſen, ſo habe er ſich nicht nur in der Rede, ſondern 
ſchon bei der Beſtattung des Erſchoſſenen geäußert. Nicht 
nur Totſchlag — Mord liege vor. Er ſehe der Anklage mit Seelenruhe 
entgegen und werde im Termin den Beweis für ſeine Behauptung 
führen. Bald darauf erhielt Stadthagen von der Staatsanwaltſchaft die 
amtliche Nachricht: — das gegen ihn eingeleitete Verfahren ſei ein⸗ 
geſtellt worden! 

Abertreibt die „Welt am Montag“, wenn ſie behauptet, daß es manche 
Dinge gäbe, die heutzutage wirklich, außer vielleicht in Rußland, nur noch 
in Preußen paſſieren können? „Die Staatsbürger, das „Publikum“, ſind 
eine untergeordnete Klaſſe, die in jedem Beamten, jedem Schutzmann einen 
Vorgeſetzten, einen Kommandeur zu reſpektieren und ſich von ihm devoteſt 
anſchnauzen zu laſſen haben. Die Beamten ſind nicht dazu da, dem Volke 
und ſeinen Bedürfniſſen zu dienen, ſondern es zu bevormunden und im 
Zaume zu halten. Führt ſolche Anſchauung beamtete und uniformierte 
Organe des Staates gelegentlich zu groben Willkürakten, Übergriffen, ja 
zu Bedrohung und Vernichtung von Leib und Leben ſchuld⸗ 
und wehrloſer Bürger, dann erfordert der Schutz der Autori⸗ 
tät nicht etwa prompte Sühne der Tat und Befriedigung des 
beleidigten Rechtsgefühls, ſondern oft genug wird der Spieß 
ſchleunigſt umgedreht und nicht gegen die uniformierten Miſſe⸗ 
täter,fondern gegen ihre Opfer in Zivil wird behördlich vorgegangen, 
ſoweit ſie nicht bereits die Kugel des Gendarmen allen hochnotpeinlichen 
irdiſchen Verhören und Anklagen vorſorglich entrückt hat. Was nützen alle 
Bürgſchaften der Verfaſſung für Verantwortlichkeit und Freiheit des 
preußiſchen Staatsbürgers, wenn ſie praktiſch durch den ſtaatsrettenden Eifer 
der Beamten und Behörden einfach ausgeſchaltet werden! So lange unter 
der Miniſterpräſidentſchaft des Fürſten Bülow ſolche Dinge im ‚Rechts- 
ftaat’ Preußen ſich ereignen, wird man feine „modernen“ Reden nur 
als inhaltsloſe Phraſen erachten können.“ 

Vor der Strafkammer in Dortmund war der Schutzmann W. an- 


76 Türmers Tagebuch 


geklagt, einen Studenten namens Brinkmann arretiert, beleidigt und auf 
der Wache () blutig geſchlagen zu haben, obwohl dieſer weiter nichts 
verbrochen, als daß er aus Rechtsgefühl gegen die unberechtigte Verhaftung 
eines Arbeiters Einſpruch erhoben hatte. Wie ſich auch in der Verhand- 
lung erwies, hatte der Arbeiter nicht den geringſten Anlaß zur Feſt⸗ 
nahme gegeben, ſondern war nur in einer warmen Sommernacht in 
Hemdärmeln über die Straße gegangen. Als der Gerichtsvorſitzende dem 
Schutzmann darüber Vorhaltungen machte, erklärte dieſer allen Ernſtes, er 
habe verhüten wollen, daß der Mann — ſich „erkälte“! Natürlich beſtritt 
er auch die Beleidigung wie die Mißhandlung des Studenten, und ſeine Herren 
Kollegen unterſtützten ihn darin nach Kräften. Dieſe Behauptungen ſtanden 
jedoch mit den Ausſagen einer Reihe einwandfreier anderer Zeugen in 
einem derart ſchroffen Widerſpruch, daß ſogar der Staats— 
anwalt beantragte, die drei Schutzleute, die zugunſten des Ange⸗ 
klagten ausſagten, nicht zu vereidigen, weil ſie der Begünſtigung 
dringend verdächtig ſeien. Der Gerichtshof beſchloß danach. Der 
Staatsanwalt beantragte dann gegen den Angeklagten eine Gefängnisſtrafe 
von 4 Monaten 14 Tagen; das Gericht erkannte auf 4 Monate und 1 Woche. 
In dem Arteil hieß es, daß die Schugleute keinen Glauben ver: 
dienten, der Gerichtshof habe die Aberzeugung gewonnen, ihre Aus⸗ 
ſagen ſollten den Angeklagten der verdienten Strafe entziehen. In der 
Verhandlung wurde auch noch feſtgeſtellt, daß ein paar von den Schutzleuten 
ſchon einmal vor dem Schöffengericht wegen Anglaubwürdigkeit 
nicht vereidigt worden waren! 

Schutzleute dieſes Schlages gibt es leider noch viele, aber ſolche 
Richter wie dieſe in Dortmund ſind nicht häufig, ſo wurde wehmütig hiezu 
geſeufzt. 

Im Jahre 1906 wurde der Arbeiter B. in Köln⸗Bickendorf von dem 
Schutzmann W. erſchoſſen. Ein gegen ihn eingeleitetes Verfahren wurde 
eingeſtellt, dann, nachdem ſozialdemokratiſche Blätter Lärm geſchlagen hatten, 
wieder aufgenommen. Vor dem Schwurgericht zu Köln hatte ſich endlich 
der Schutzmann gegen die Anklage zu verantworten, den Arbeiter B. 
vorſätzlich mit dem Revolver getötet zu haben. 

Er wurde freigeſprochen. Das Gericht ſchenkte dem Ange⸗ 
klagten ſelbſt und einem Kollegen des Angeklagten mehr Glauben 
als den fünf Familienangehörigen des Getöteten, die ſich in ſeiner nächſten 
Nähe befunden hatten und aufs beſtimmteſte und übereinſtimmend be- 
kundeten, daß die drei Schüſſe nicht bei dem Ringen mit dem Schutzmann 
„durch Zufall“ losgegangen ſeien, ſondern daß der Schutzmann, als der von 
ihm ſchwer mißhandelte und ſchon zweimal geſchoſſene B. 
hingefallen fei, auf dem ſchwerverletzt am Boden Liegenden ge 
kniet und ihm eine dritte Kugel in den Leib gejagt habe. 

Als Beweisſtücke dienten auch der Revolver des Schutzmanns und 
die durchſchoſſenen Kleider des Getöteten. Es ergab fic, daß fic der Re: 


Zürmerd Tagebuch 77 


volver nicht mehr im urſprünglichen Zuſtande befand und daß die 
Kleider er ſt nach Wochen von der Staats anwaltſchaft abgeholt 
worden waren. Die Angehörigen hatten ſie zuerſt tagelang liegen laſſen, 
dann aber, als ſie nicht abgeholt wurden und einen unerträglichen 
Geruch verbreiteten, lange in Soda geſteckt und viermal gewaſchen. Dieſe 
„Beweisſtücke“ ließ die Staatsanwaltſchaft nachher — mikroſkopiſch unter ⸗ 
ſuchen. Die erſte Vernehmung des Schutzmanns, der den Mann erſchoſſen 
hatte, geſchah durch — einen anderen Schutzmann, einen Kollegen. 
Er befand ſich die meiſte Zeit auf freiem Fuß. 

In der Schwurgerichtsverhandlung ſtanden die fünf Angehörigen des 
Erſchoſſenen ohne Rechts beiſtand allein einer Anzahl polizeilicher Leu⸗ 
mundszeugen, einzelnen Geſchworenen und drei Verteidigern des an⸗ 
geklagten Schutzmanns gegenüber: nämlich zwei der geſchickteſten Kölner 
Rechtsanwälte und — dem Staats anwalt, die ſie ſtändig mit Kreuz⸗ 
und Querfragen fiberhauften! Ein Herr, der den Gerichtsverhandlungen 
berufsmäßig feit vielen Jahren beiwohnt, erklärte: eine ſolche Verhand⸗— 
lung habe er noch nie erlebt. 

Für die Erſchießung des B., eines 45jährigen Mannes, dem von 
allen Seiten nur Gutes nachgeſagt wurde, hätte es nach dem „Vorwärts“ 
nur eine Erklärung geben können: B. habe, als ihn der ihm perſönlich be⸗ 
kannte Schutzmann mißhandelte, geſagt: „Iſt das der Dank dafür, daß 
ich dich vor dem Zuchthaus bewahrt habe?!“ Das Gericht ſei dem 
Sinn dieſer geheimnisvollen Worte, die in der Tat einen Wutanfall oder 
einen Nacheakt von feiten des Schutzmanns hätten erklären können, nicht 
auf den Grund gegangen, obwohl die Gelegenheit dazu geboten war. In 
Köln herrſchte über dieſe Schwurgerichtsverhandlung mit ihren vielen felt- 
ſamen Einzelheiten wahre Erbitterung. 

Vor der Bamberger Strafkammer ſtand der Schutzmann P. II unter 
der Anklage der Körperverletzung, begangen im Amte. P., der 
wegen desſelben Vergehens vorbeſtraft iſt, hatte eine Frau ver⸗ 
haftet, zur Wache gebracht und dort mit einem Lederriemen mit ſtäh⸗ 
lernen Schnallen derart bearbeitet, daß ſie ärztliche Hilfe in Anſpruch 
nehmen mußte. Der Schutzmann beſtritt alles, während die Geſchlagene, 
als einzige Tatzeugin, ihre Bekundungen unter Eid machte. Trotzdem 
glaubte das Gericht dem angeklagten Schutzmann mehr als der 
vereidigten Zeugin und ſprach ihn frei, weil die Zeugin durch die 
Verhaftung ſo aufgeregt geweſen ſei, daß ſie ſich „geirrt“ haben könne. — 

Karl Schneidt, ein alter Praktiker, ſchreibt zu dieſem Kapitel deutſcher 
Rechtsübung in der „Zeit am Montag“: 

„Die Klagen darüber, daß unter den Schutzleuten ſich minderwertige 
Elemente befinden, deren ruchloſes Treiben zur Gefahr wird für Leben und 
Freiheit der anſtändigen Staatsbürger, wollen in Groß⸗Berlin nun einmal 
kein Ende nehmen. Ich perſönlich erhalte faſt allwöchentlich 
Briefe, in denen mir Einzelfälle mitgeteilt werden, die bedenkliche Rück⸗ 


78 Türmers Tagebuch 


ſchlüſſe zulaſſen auf die Sicherheitszuſtände Berlins und ſeiner Vororte, 
und die als Beweis für die Behauptung ins Treffen geführt werden könnten, 
daß manche Schutzleute der ihrem Schutze empfohlenen Bürgerſchaft gegen⸗ 
über ſich weit empörender und gewalttätiger benehmen, als die 
verrufenſten Rowdies des Scheunenviertels es in ihren ſchlimmſten 
Stunden zu tun vermöchten. 

Solchen Beſchwerden gegenüber befindet ſich der Journaliſt ſtets in 
der denkbar peinlichſten Lage. Die Beſchwerdeführer erklären ſich fait aus- 
nahmslos bereit, die Wahrheit ihrer Angaben vor Gericht eidlich zu er- 
härten — damit ift aber unſereinem herzlich wenig gedient.. Die Be⸗ 
hörde läßt dann den angeſchuldigten Beamten vernehmen, der aber in der 
Regel beſtreitet, ſeine Befugniſſe irgendwie überſchritten zu haben. Dies 
bat faſt regelmäßig zur Folge, daß die Behörde gegen den Re⸗ 
dakteur und feinen Gewährs mann Strafantrag wegen Beamten- 
beleidigung ſtellt. Der beſchuldigte Beamte wird dadurch in die vorteilhafte 
Lage verſetzt, in eigener Angelegenheit als Zeuge ausſagen zu 
dürfen. Wenn der Mann nun gegen die Heiligkeit des Eides abgeſtumpft 
iſt, was ja nicht gerade allzu auffällig erſcheinen kann, da ſolch ein Beamter 
jahrein, jahraus unzählige Male wegen der geringfügigſten 
Dinge zum Schwören kommt — und wenn bei ihm der Selbſterhal⸗ 
tungstrieb ſtärker entwickelt iſt als das Gewiſſen, ſo ſchwört er ohne 
weiteres, daß die in dem Zeitungsartikel niedergelegten Angaben völlig aus 
der Luft gegriffen ſeien, und das Ende vom Liede iſt dann die Ver⸗ 
urteilung des wagemutigen Redakteurs und feines Gewährs— 
mannes. | 

Sogar das Vorhandenſein einwandfreier Augenzeugen, die 
unter Eid die Ausſage des Schutzmanns als tatſächlich unrichtig be⸗ 
zeichnen, vermag in vielen Fällen die Angeklagten nicht vor Strafe 
zu ſchützen. Ehe manche Richter einen Schutzmann des Meineides für 
überführt erachten, glauben ſie, daß die nicht beamteten Zeugen ſich dieſes 
Verbrechens ſchuldig gemacht haben, und es iſt der Fall ſchon häufig da⸗ 
geweſen, daß ein unter ſolchen Umftänden vernommener Zeuge hinterher 
wegen Meineids ins Zuchthaus geſchickt wurde, obwohl er doch 
nur die lauterſte Wahrheit ausgeſagt hatte.“ 

Ein Engländer behauptete einmal, daß etwa ſiebzehn Zivilzeugen nötig 
ſeien, um das Zeugnis eines Schutzmannes zu entkräften. Ganz ſo iſt es 
ja nun nicht, aber — groß iſt die Autorität der Polizei vor Gericht aller- 
dings. Anheimlich, überwältigend groß! So groß, daß öfter Gericht und 
Richter klein neben ihr erſcheinen. 

Ein Gendarm hat angezeigt, daß der Führer des Kraftwagens Nummer 
foundfo an einem beſtimmten Tage zu einer beſtimmten Stunde mit vor⸗ 
ſchriftswidriger Schnelligkeit gefahren ſei. Der Gendarm beſtätigt dieſe 
Angabe vor Gericht. Augenſcheinlich hält der Richter hierdurch „die Sach⸗ 
lage für hinreichend geklärt“ und iſt ſchon im Begriff, die Beweis⸗ 


„„ Ve 


Diirmers Tagebuch 79 


aufnahme zu ſchließen, da erbietet ſich der Angeklagte, durch das 
Zeugnis eines Fabrikbeſitzers nachzuweiſen, daß weder er, noch der 
Kraftwagen mit der angegebenen Nummer zu der fraglichen Zeit im 
Grunewald war, ſondern in der Fabrik des benannten Zeugen, wo er, der 
Angeklagte, einen Gleitſchutz für den Wagen abholte. Der vorſitzende Richter 
ſcheint das als eine Betriebsſtörung zu empfinden: er macht allerlei 
Einwendungen. Der Fabrikant werde doch nicht angeben können, daß 
der Angeklagte vor Monaten zu einer beſtimmten Zeit in der Fabrik 
geweſen ſei. Erſt als dieſer bemerkt, er habe ja eine Empfangs⸗ 
beſcheinigung in der Fabrik unterſchrieben, das werde ſich doch aus 
den Geſchäftsbüchern feſtſtellen laſſen, kann das Gericht nicht umhin, dem 
Antrage des Angeklagten ſtattzugeben und den Fabrikanten zum nächſten 
Termin zu laden. Nicht alle Leute wiſſen ſich aber vor Gericht ſo zu 
helfen. Nur daß er nicht „auf den Mund gefallen“ war, bewahrte dieſen 
Angeklagten vor der ſchon niederfallenden Verurteilung. 

Ein Streikpoſten war beſchuldigt, der Aufforderung eines Schutz⸗ 
mannes, ſich vom Eingang eines Bahnhofs zu entfernen, nicht Folge geleiſtet 
zu haben. Der als Zeuge vernommene Schutzmann ſagte aus, fünfzehn 
Streikpoſten hätten zu jener Zeit am Bahnhof geſtanden, er habe ſie auf⸗ 
gefordert, ſich zu entfernen, ſie ſeien auch gegangen, nur der Angeklagte 
fei zurückgeblieben. Dieſer bezeichnet die Angabe als irrig. Er behauptet, 
er habe ebenfalls den Eingang des Bahnhofs verlaſſen, der Schutzmann 
ſei ihm nachgekommen und habe ihn ſiſtiert. Ein vom Gericht geladener 
Zeuge ſoll das beftätigen. Nun wird natürlich das Gericht auch dieſen Zeugen 
hören, um ſich auf Grund der beiderſeitigen Ausſagen ein eigenes Urteil 
zu bilden. Kein Gedanke! Das Gericht hält die Ausſage des Schutz⸗ 
manns für völlig ausreichend, um „die Sache hinreichend zu klären“, 
es lehnt den Beweisantrag des Angeklagten ab und verurteilt ihn — zu 
einer höheren Strafe, als ſie ihm der Strafbefehl aufgegeben hatte. 
Warum mußte er auch Berufung einlegen? Hatte doch dasſelbe Gericht 
ſchon öfter in feiner Urteilsbegründung angegeben, daß nicht nur die 
Schwere der Ubertretung, ſondern auch die angeblich unbegründete Be⸗ 
rufung des Angeklagten ein höheres Strafmaß rechtfertige. Berufung 
einlegen, d. h. von einem geſetzlich verbürgten Nechte Gebrauch 
machen, kann alſo unter Umftänden eine „ſtrafbare Handlung“ fein. 
Wir entwickeln uns. 

Ein Schutzmann hatte einen Gaſtwirt angezeigt, weil dieſer nach Ein⸗ 
tritt der Polizeiſtunde noch Gäſte gehabt haben ſollte. Das Schöffengericht 
hatte den Mann einzig und allein auf Grund der Ausſage des Schutzmanns 
verurteilt. Der Antrag des Gaſtwirts, er wolle beweiſen, daß die Per⸗ 
ſonen, welche der Schutzmann für Gäſte hielt, gar keine Gäſte waren, 
wurde vom Schöffengericht gar nicht beachtet. Für die Berufungs- 
inſtanz hatte ſich der Angeklagte einen Verteidiger angenommen und durch 
dieſen feine Beweis anträge dem Gericht eingereicht. Durch die Vernehmung 


80 Türmers Tagebuch 


eines der geladenen Entlaſtungszeugen wurde feſtgeſtellt, daß beim Erſcheinen 
des Schutzmanns zwar zwei Perſonen im Lokal anweſend waren, die aber 
kein Bier vor ſich hatten, ſondern mit dem Wirt in ſeiner Eigenſchaft als 
Mitglied der Armenkommiſſion über ein Anterſtützungsgeſuch 
ſprachen, das ihm zur Recherche übertragen war. Da er bis 
11 Ahr mit der Bedienung ſeiner Gäſte beſchäftigt war, ſo konnte dieſe Be⸗ 
ſprechung erſt beginnen, als alle Gäſte nach Eintritt der Polizeiſtunde das 
Lokal verlaſſen hatten. Nach dieſer Feſtſtellung war die Freiſprechung 
ſelbſtoerſtändlich. Der Verteidiger beantragte nicht nur dieſe, ſondern 
auch die Erſtattung der baren Auslagen des Angeklagten einſchließlich 
der Verteidigungskoſten durch die Staatskaſſe. Das Gericht ſprach den An⸗ 
geklagten zwar frei, lehnte aber den Antrag auf Erſtattung der Aus- 
lagen und Verteidigungskoſten ab mit der Begründung: der An⸗ 
geklagte habe ſowohl in der erſten wie in der zweiten Inſtanz keine präziſen 
Beweisanträge geſtellt, er ſei daher ſelber ſchuld, daß er in der erſten 
Inſtanz nicht freigeſprochen wurde. 

Danach hätte alfo ein Angeklagter feine Anſchuld zu beweiſen. 
Auch dieſe Auffaſſung iſt neu. Bisher glaubte man allgemein, daß dem 
Angeklagten ſeine Schuld nachgewieſen werden müſſe. In dieſem Falle 
hat das Gericht erſter Inſtanz ſogar von dem in der zweiten durch⸗ 
ſchlagenden Einwand des Angeklagten überhaupt keine Notiz genommen. 
Macht nichts: er muß die ganzen Koſten für zwei Inſtanzen tragen! Von 
Rechts wegen! 

Vor dem Schöffengericht zu Neumarkt bei Breslau wurde gegen einen 
Arbeiter wegen Verteilens von Boykottzetteln verhandelt. Der Angeklagte 
hatte gegen einen Strafbefehl über fünf Tage Gefängnis Berufung ein- 
gelegt. Die Verhandlung begann ungemein vielverſprechend: 

Vorſitzender: Angeklagter, ziehen Sie Ihre Berufung zurück, 
ſonſt gibt es das Doppelte. 

Angeklagter: Das kann ich nicht. Ich habe doch nur Zettel verteilt, 
und das iſt doch nicht ſtrafbar. 

Vorſitzender (erregt): Was? Sie wollen nicht? Na, da werden 
Sie ja ſehen, was es geben wird! Es iſt doch unerhört, daß 
immer Einſpruch erhoben wird! Wozu ſind denn die Straf— 
befehle da? () Überhaupt werden wir dieſe Boykottſache jetzt mal mit 
eiſernen Handſchuhen anfaſſen. In der folgenden Sache ſind gleich 
ſieben auf einmal angeklagt. Und was find das für Leute! Mit ſchweren 
Gefängnis und Zuchthausſtrafen find fie ſchon vorbeſtraft (vgl. unten)! 
Ich bin dafür, daß jeder mindeſtens vier Wochen kriegt, da— 
mit dieſer Unfug des Boykotts mal aufhört. 

Als der Angeklagte, deſſen ſämtliche Zeugen dieſer Richter abgelehnt 
hatte, auf die unwahre Ausſage eines Belaſtungszeugen etwas erwidern 
wollte, fuhr ihn der Herr Vorſitzende gleich wieder an: Halten Sie 
das Maul! Wenn Sie noch einmal einen Zeugen unterbrechen, laſſe ich 


Cirmers Tagebuch 81 


Sie ſofort 24 Stunden einfperren! Der Angeklagte, obwohl nur 
ein einfacher Arbeiter, hatte mehr Selbſtzucht als dieſer Richter. Er ließ 
die weiteren Erguͤſſe des Herrn ſtillſchweigend über ſich ergehen. 

Dann tam der Amtsanwalt und erklärte, er fei überzeugt, daß fünf 
Tage Gefängnis zu wenig ſeien. Es ſei eine unerhörte Frechheit, mit 
den Zetteln in das boykottierte Lokal zu gehen. Gegen ſolchen Terrorismus 
müſſe eine ſchwere Strafe verhängt werden. Und das Gericht, das kurz 
vorher einen Herrn v. Chr., der einen Beamten mit Totſchlag be⸗ 
droht, „Strolch“, „Vagabund“ uſw. tituliert hatte, trotz mehrfacher 
Vorſtrafen wegen ähnlicher Vergehen, mit 20 Mark Geldſtrafe be- 
legt hatte, — das Gericht erkannte auch tatſächlich gegen den noch nie 
beſtraften Arbeiter auf 14 Tage Gefäͤängnisl! Das nächſte Mal 
gäbe es aber noch „ganz was anderes!“ fügte der Vorſitzende in der 
Begründung hinzu. 

Aber dieſe merkwürdige Gerichtsverhandlung brachte die Breslauer 
„Volkswacht“ einen ungeſchminkten Bericht, und als dann die anderen ſieben 
„ſchweren Verbrecher“ abgeurteilt werden ſollten, war — jener Vorſitzende 
nicht mehr da. An ſeiner Statt leitete ein Breslauer Amtsrichter die Ver⸗ 
handlung. Aber etwas anders als ſein Vorgänger. Er ſtellte ſogar noch 
vor der Verhandlung ausdrücklich feſt, es ſei nicht richtig, daß die An⸗ 
geklagten mit Gefängnis⸗ oder Zuchthausſtrafe vorbeſtraft ſeien, im Gegen⸗ 
teil: ſie ſeien alle ſieben wegen ſolcher oder ähnlicher Delikte noch un⸗ 
beſtraft. Und ſtatt der angekündigten vier Wochen gab es unter dem 
Vorſitze dieſes Richters nur 10 Mark Geldſtrafe. 

Die Duisburger Strafkammer hatte zwei Flugblattverteiler, den einen 
zu 50 Mark, den andern zu vierzehn Tagen Gefängnis verurteilt. Das 
Flugblatt forderte in gemäßigter, aber wirkſamer Tonart zum Boykott von 
drei Wirtſchaften auf, die ſowohl der ſozialdemokratiſchen Partei als auch 
den Gewerkſchaften nicht zu Verſammlungen zur Verfügung ſtanden. In 
dem Arteil hieß es: 

ne . . Durch das Vorgehen wurden die Wirte, deren materielle Exiſtenz 
bedroht war, in hochgradige Erregung verſetzt. Daß ſie durch das brutale 
Vorgehen der ſozialdemokratiſchen Partei bis zur äußerſten Verzweif⸗ 
lung getrieben worden ſind, geht daraus hervor, daß der Zeuge W., als er 
einmal jemand einen derartigen Zettel in der Nähe feiner Wirtſchaft an- 
Heben fab, die ſem () nachlief und ihm (eine Ohrfeige verſetzte, und 
daß P. dem N. erzählt hat, er wolle den Leuten auflauern und dem 
Polizeiſergeanten St. noch hinzugefügt hat, er habe ſich mit einem Re 
volver auf die Lauer gelegt und werde jeden, von dem er merke, 
daß er Zettel anklebe, auf welchen zum Boykott feiner Wirtſchaft auf 
gefordert werde, niederſchießen.“ 

Und am Schluſſe: 

„. . . Mit Rüdfiht auf die ſchweren Schädigungen, die den Gewerbe⸗ 


treibenden durch das terroriſtiſche Vorgehen der ſozialdemokratiſchen 
Der Türmer X, 7 6 


82 Turmers Tagebuch 


Partei ſolchen Leuten gegenüber erwächſt, welche wirtſchaftlich von ihren 
Mitgliedern abhängig ſind, und ſich ihren politiſchen Anſichten nicht fügen, 
erſchien die von dem Schöffengericht gewählte exemplariſche Strafe 
durchaus nicht zu hoch gegriffen, ſondern in jeder Weiſe angemeſſen.“ 

Die „ſozialdemokratiſche Partei“ hatte nun eigentlich mit dieſer Sache 
nichts zu tun; ſie war von einigen Mitgliedern des Bergarbeiterverbandes 
in Szene geſetzt worden. Um fo mehr fühlte ſich die ſozialdemokratiſche 
„Niederrheiniſche Arbeiterzeitung“ gedrungen, die in dem Arteil enthal⸗ 
tenen Angriffe auf ihre Partei ſcharf zurückzuweiſen und das Arteil als 
„Klaſſenurteil“ zu bezeichnen. Dafür wurde der Verantwortliche zu fünf⸗ 
hundert Mark Geldſtrafe verurteilt, und er kam noch gut davon, denn 
der Staatsanwalt hatte drei Monate Gefängnis beantragt! Das 
Arteil billigte dem Angeklagten den Schutz des § 193 nicht zu. Es ſtellte 
ſich ſogar im Gegenſatz zum Staatsanwalt auf den Standpunkt, daß ein 
ſozialdemokratiſcher Redakteur nicht das Recht habe, unter 
dem Schutze des 8 193 Angriffe auf die ſozialdemokratiſche 
Partei zurückzuweiſen, wenn dieſer Redakteur nicht auch gleichzeitig 
an leitender Stelle in der Partei ftebe. 

Eine Rechtsbelehrung im beſten Sinne, wie ſie eines ſo hohen Ge⸗ 
richtshofes würdig iſt, enthält die Arteilsbegründung des Oberlandesgerichts 
Colmar in einem ähnlichen Falle. Bei der Reichstagswahl 1907 wurden 
den Sozialdemokraten in Mülhauſen i. E. wiederholt Verſammlungslokale 
vorenthalten. Die Führer verhängten deshalb über zwei der Lokale den 
Boykott, was durch wiederholte Inſerate bekanntgegeben wurde. Wegen 
dieſes Boykotts, durch den ſie in ihrem Erwerb empfindlich geſchädigt 
wurden, ſtrengten die Gaſtwirte eine Zivilklage an, die ſchließlich an das 
Oberlandesgericht Colmar gelangte, von dieſem aber zurückgewieſen wurde. 
Und zwar von Rechts wegen: 

„Ob eine Schädigung in einer die guten Sitten verletzenden Weiſe 
erfolgte, iſt die Sache des einzelnen Falles; der Begriff der guten Sitten, 
wie die Vorſchrift des Geſetzes ſind nicht beſchränkt auf einzelne Gebiete 
der menſchlichen Lebensbetätigung. Für die Beurteilung maßgebend ſind, 
wie das Reichsgericht in zahlreichen Entſcheidungen zutreffend ausgeführt 
hat, einerſeits der erſtrebte Zweck, anderſeits das zur Erreichung dieſes 
Zweckes angewandte Mittel. Der Zweck iſt ein erlaubter, wenn berechtigte 
Intereſſen verfolgt werden, d. h. Intereſſen, deren Verfolgung weder durch 
geſetzliche Vorſchrift, noch durch die guten Sitten unterſagt ijt. Der Sozial- 
demokratiſche Verein verfolgt unbeſtritten politiſche Intereſſen, er iſt ein 
Organ der ſozialdemokratiſchen Partei, die in dieſer Richtung wie jede 
andere politiſche Partei zu betrachten iſt. Jede politiſche Partei 
bedarf zur Erreichung ihrer Ziele, zu ihrer geſetzlich geſtatteten Betätigung 
des ebenfalls geſetzlich gewährleiſteten Verſammlungsrechts, 
und zu dieſem Zwecke geeigneter Verſammlungs räume, namentlich 
zu Seiten der Wahlkämpfe ... Jede politiſche Partei hat deshalb an ſich 


Zürmerd Tagebuch 83 


ein berechtigtes Sntereffe, ſich den erforderlichen Verſammlungs⸗ 
raum zu ſichern und die Inhaber ſolcher, als welche meiſt Wirte in 
Betracht kommen, zu beſtimmen, ihr die Räume zu gewähren, 
es fei denn, daß die beſonderen Umſtände des einzelnen Galles ein ſolches 
Verlangen als unſittlich erſcheinen laſſen. Solche Umftände find hier 
nicht geltend gemacht. Dieſes Verlangen iſt auch kein unbilliges 
gegenüber ſolchen Wirten, deren Wirtſchaften gewöhnlich von den Partei- 
genoſſen beſucht werden. Die Arbeiter haben allerdings keine rechtliche Ver⸗ 
pflichtung, die gewerblichen Intereſſen des Wirtes weiter zu fördern, wenn 
er durch Verſagung der Säle den Intereſſen der Partei entgegentritt. 
Wenn unter ſolchen Amſtänden eine Partei oder ein politiſcher Verein einen 
ſolchen Wirt boykottiert, um ihn für die erwähnten Zwecke willfährig zu 
machen, ſo liegt hierin an ſich kein Verſtoß gegen die guten Sitten, 
ſondern ein Akt der berechtigten Selbſthilfe.“ 

Das Recht, Streikpoſten zu ſtehen, iſt zwar durch Reichsgeſetz ver- 
bürgt. Aber was will das heißen! Wenn irgendwelche politiſchen oder 
Klaſſenintereſſen in Frage kommen und vor allem, — wenn's der Schutz⸗ 
mann nicht erlaubt, exiſtiert das Geſetz eben nicht. Oder ſagen wir peinlich 
gewiſſenhaft: Es iſt ſo gut wie nicht vorhanden. Es wird aus⸗ 
geſchaltet, kommt gar nicht in Betracht. In Betracht kommen Kabinetts- 
orders, Polizeiverordnungen, als ultima ratio aber immer wieder die 
Majeſtät des Schutzmanns, deſſen Ratfchlüffe auf ihre Berechtigung zu 
prüfen, ſogar Gerichte ſich für unzuſtändig erklären. 

Ein Angeklagter macht den ſchüchternen Verſuch, ſich zu rechtfertigen: 
„Als mich der Schutzmann aufforderte, mich zu entfernen, habe ich eben 
geglaubt, daß ich die Berechtigung habe, Streikpoſten zu ſtehen.“ — 
Der Vorſitzende: „Sie dürfen eben nicht Streikpoſten fteben! 
Da hätten Sie ſich erſt erkundigen müſſen! Sie haben eben jeder poli⸗ 
zeilichen Aufforderung Folge zu leiſten.“ | 

And die Arteilsbegründung enthält wörtlich die lapidaren Sätze: 

„Was die Nichtbefolgung der Aufforderung des Schutzmanns angeht, 
ſo war ihr unbedingt Folge zu leiſten. Es würde die Aufrechterhaltung 
der Ordnung gefährden, wenn jedermann gleich das Recht hätte, 
ſich zu beſchweren und die Maßnahmen der Beamten zu 
kritiſieren. Auch hier lag ein ziemlich erhebliches Delikt (!) vor, 
und man habe zwei Tage Haft als entſprechende Sühne erachtet.“ 

Man muß die Sache nur richtig anfaſſen. Man verhaftet und er⸗ 
hebt Anklage nicht etwa, weil jemand von ſeinem Koalitionsrecht 
Gebrauch macht und Streikpoſten ſteht, — bewahre! — ſondern weil er 
den Anordnungen des Schutzmanns im allgemeinen Intereſſe nicht 
Folge leiſtet. Was im allgemeinen Intereſſe des Verkehrs, der Sicher 
heit uſw. liegt, darüber befindet der Schutzmann nach ſeinem Gutdünken. 
Dies beliebige Gutdünken aber ſteht wiederum fo fouverän da, daß es jeg ⸗ 
licher richterlichen Nachprüfung ſelbſt durch das Gericht entzogen iſt. So 


84 Türmers Tagebuch 


gehandhabt funktioniert der Apparat, trotz aller unbequemen Reichsgeſetz⸗ 
gebung, tadellos. Daß Reichsgeſetze durch Landesgeſetze oder gar lokale 
Polizeiverordnungen auch nach der ausdrücklichen Entſcheidung des 
Reichsgerichts nicht außer Kraft geſetzt werden können, dieſer kleine 
Schönheitsfehler braucht die Gemütlichkeit des polizeilichen und juriſtiſchen 
Betriebes nicht im mindeſten zu ſtören. 

Das Schöffengericht zu Osnabrück war freilich anderer Anſicht geweſen. 
Es hatte ſämtliche wegen eines ſolchen erheblichen „Delikts“ angeklagten Ar⸗ 
beiter freigeſprochen und deren Verhaftung durch die Polizei als „Rechts- 
widrigkeit“ erklärt. Wie drollig die dabei beteiligten „Intereſſen der Ruhe 
und Sicherheit des Verkehrs“ ausgeſehen haben müſſen, darüber gaben die 
Polizeibeamten vor dem Schöffengericht ſelber Auskunft. Ein Polizei- 
ſergeant H. ſagte aus: Er habe bei der Fabrik „Poſten gehabt“, als ihn 
ein Arbeiter Klaus nach der Fabrik fragte. Dann ſei einer der angeklagten 
Streikpoſten, Köhler, auf den Klaus zugetreten und habe mit ihm ver- 
handelt. Als ih m, dem Polizeiſergeanten, dieſe Verhandlungen „zu lange 
dauerten“, ſei er auf die beiden zugegangen und habe Köhler auf- 
gefordert, den Mann „unbehelligt“ zu laſſen. Erſtaunt hielt der Gerichts 
vorſitzende dem Zeugen vor, daß zu einem ſolchen „Einſchreiten“ doch 
gar kein Grund vorgelegen habe. Der erklärte, es ſei den Beamten 
von ihren Vorgeſetzten eine dahingehende Inſtruktion erteilt. Köhler habe 
ihm erwidert, er wolle den Mann über die Lage der Dinge aufklären, das 
ſei ſein gutes Recht. Er, der Beamte, habe Köhler dann bedeutet, das 
fei jetzt „in genügendem Maße“ geſchehen, er müſſe ihm jetzt nach der 
Wache folgen ... Als er darauf Köhler „abgeführt“ habe, fei Steffen 
(ein anderer angeklagter Arbeiter) zu dem Klaus getreten und habe die 
Verhandlungen mit dieſem fortgeſetzt. Deshalb ſei er, der Sergeant, 
mit Köhler umgekehrt und habe Steffen auch gleich mitgenommen! 
Ein Menſchenauflauf ſei nicht entſtanden. Es ſeien auch in der Nähe 
andere Leute nicht zu ſehen geweſen; etwa 40 Meter entfernt hätten nur 
einige Frauen geſtanden. Daß jemals eine Beläſtigung von Paſſanten 
oder gar ein Krawall vor der Fabrik ſtattgefunden habe, konnte kein 
Poliziſt bekunden. Das Schöffengericht hatte ſich nach alledem kein 
Bild machen können von dem „Verkehr“, der hier ausgerechnet durch 
ſtreikende Arbeiter fo um alle „Rube und Sicherheit“ gebracht fein ſollte, 
daß der Amtsanwalt drei Monate Gefängnis beantragen zu müſſen 
glaubte! Es ſprach ſämtliche Angeklagten frei. 

Die Strafkammer wußte es beſſer. Ihr Urteil ging dahin, daß den 
Arbeitern „z war“ das Koalitionsrecht gewährleiſtet, daß fie aber „troß- 
dem auch an andere geſetzliche Beſtimmungen, alſo auch an die Straßen- 
ordnung gebunden“ ſeien. Wenn die Polizei auch nicht das Recht habe, 
willkürlich die Rechte anderer zu verletzen, und wenn auch anzuerkennen 
ſei, daß die Streikenden ſich ordentlich und anſtändig be⸗ 
nommen haben, fo ſtehe doch der Polizei das Recht zu, Vorkehrungen 


Turmers Tagebuch 85 


zu treffen, daß keine Beläſtigungen vorkommen könnten. Wenn fie „et wa 
möglichen“ Ausſchreitungen „vorbeuge“, fo fei fie im Recht. Alſo: 
zehn Mark Geldſtrafe für jeden Streikpoſten. 

Nach dieſem Erkenntnis darf die Polizei alles verbieten, wovon ſie 
beweislos und unbeweisbar behauptet, es könnte eine „etwa 
mögliche“ Gefahr nach ſich ziehen. Das iſt die Proklamierung der ab⸗ 
ſoluten Souveränität Sr. Majeſtät des Schutzmanns. Nicht einmal dem 
Kaiſer werden ſolche Rechte zugebilligt, und über die Unfehlbarkeit des 
Papſtes dürfen wir uns erſt recht nicht mehr entrüſten. Irgendwelche Ge- 
ſetze zum Schutze der perſönlichen Freiheit und Sicherheit erſcheinen hienach 
als gänzlich überflüſſiger Luxus, wenn nicht als eitle Renommiſterei. 

Ein ausgeſperrter Tiſchler in Berlin geht als Streikpoſten auf der 
Straße auf und ab. Als er von einem Schutzmann weggewieſen wird, 
ſtellt er ſich in einen Torweg. Hier ſteht er kurze Zeit, dann wird er vom 
Schutzmann zur Wache gebracht. Wieſo? Warum? Mit welchem Rechte? 
Ja, das möchte ich auch gern wiſſen! Auf der Wache ſtellt ſich heraus, daß 
der Mann vor einigen Tagen ſeine Schlafſtelle gewechſelt hat und zu ſeiner 
verheirateten Schweſter gezogen, aber noch nicht polizeilich angemeldet iſt. 
Ein Schutzmann wird in die Wohnung der Schweſter geſchickt, er trifft aber 
dieſe nicht ſelbſt an, ſondern nur deren Mann. Der mag wohl fürchten, 
es könnten ihm wegen der noch nicht erfolgten Anmeldung Schwierigkeiten 
gemacht werden, und er gibt deshalb dem Beamten die Auskunft, der 
Tiſchler ſei noch nicht zugezogen. Daraufhin betrachtet die Polizei den 
Verhafteten trotz ſeiner wiederholten Bitten, man möge doch noch mal zu 
ſeiner Schweſter ſchicken, als Obdachloſen, behält ihn auf der Wache, 
und ſchickt ihn von da im grünen Wagen und mit gefeſſelten 
Händen nach dem Polizeipräſidium, von wo er erſt nach wiederholten 
Vernehmungen wegen ſeiner Perſonalien gegen Abend entlaſſen wird. 
Selbſt wenn er obdachlos geweſen wäre, — durfte er deshalb als Ver⸗ 
brecher behandelt, durfte er gefeſſelt werden? 

Die Arbeiter einer Berliner Fabrik ſtreiken, im Betriebe iſt eine 
Anzahl Streikbrecher beſchäftigt. Da fie morgens und abends von Polizei: 
beamten begleitet werden, ſo erregen ſie einiges Aufſehen. Aber das geniert 
die „nützlichen Elemente“ nicht weiter: in Gegenwart der Beamten holen 
etliche von ihnen Gummiſchläuche hervor und bedrohen damit die Paſſanten. 
Auch kleine Attacken auf das Publikum unternehmen ſie bisweilen. 

Das Streilpoſtenſtehen iſt dabei von vornherein fürſorglich aus- 
geſchaltet. Jeder, den man für einen Arbeiter halten kann, wird weggejagt. 
In den meiſt menſchenleeren Straßen, die ſich in der Nähe der Fabrik 
hinziehen, bildet jeder ſtreikende Arbeiter ein „Verkehrshindernis“. Es 
wird von Gendarmen und Poliziſten ſchleunigſt und mit größter Nückſichts⸗ 
loſigkeit beſeitigt. Verhaftungen von Leuten, denen nichts weiter nachzuweiſen 
iſt, als daß fie Streikpoſten find, kommen täglich vor. In den Räumen 
der Fabrik iſt eine Polizeiſtation eingerichtet, wo die Siſtierten hin⸗ 


86 Zürmers Tagebuch 


eingebracht und oft längere Zeit eingefperrt werden. Semand, der 
einen Gendarm aufmerkſam machte, daß ein eben von ihm feſtgenommener 
Mann gar nicht zu den Streikenden gehöre, wurde auch auf die Polizei⸗ 
ſtation in der Fabrik gebracht und dort eingeſchloſſen. Der Ein⸗ 
geſperrte klopfte nach einiger Zeit an die Tür. Er wollte den Polizeibeamten 
um ſeine - Entlaſſung erſuchen. Aber da kam er ſchön an. „Sie können 
ſich hier nicht ruhig verhalten, raus“ — ſagte der Beamte. Das „raus“ 
hatte aber eine ganz andere Bedeutung als die erhoffte: Dem Manne 
wurde eine Kette um das Handgelenk gelegt und ſo führte ihn ein 
Polizeibeamter über die Straße nach dem Polizeiamt. Die Kette wurde 
ſo feſt angezogen, daß der Mann auf der Straße laut ſchrie. Da legte 
ihm ein zweiter Beamter um den anderen Arm auch eine 
Kette. So führte man den Mann, der nichts verbrochen hatte, nach 
dem Polizeiamt, wo er noch längere Zeit verbleiben mußte. Es ſind Fälle 
bekannt geworden, wo Streikpoſten den ganzen Tag, von morgens 
bis abends auf dem Polizeiamt eingeſperrt wurden. Leute, die 
gegen ſolche ungeſetzlichen Freiheitsberaubungen Einwendungen 
machten, wurden mit Schimpfworten bedacht. Einem Manne, der 
auch längere Zeit gegen ſeinen Willen auf der Polizeiwache zu bleiben 
gezwungen war und der ſich darüber beſchwerte, wurde geantwortet: „Ver⸗ 
haftung? Sie find ja gar nicht verhaftet, Sie werden nur auf. 
bewahrt!“ Was einmal eine „Aufbewahrung“ ſein ſoll, wird ein ander⸗ 
mal wieder, und zwar ſchriftlich, als Haft bezeichnet, für die der Leid⸗ 
tragende ſogar noch bezahlen ſoll. Soweit die „Aufbewahrten“ oder 
Verhafteten noch über einiges Kleingeld verfügten, haben ſie, vielleicht nicht 
ganz freiwillig, auch die geforderten Koſten für das ihnen zwangsweiſe zu⸗ 
gewieſene Quartier tatſächlich bezahlt. In einer Verſammlung wurden 
mehrere Quittungen über ſolche Zahlungsleiſtungen vorgezeigt. 

Auf dem Lübecker Bahnhofe war eine Anzahl arbeitswilliger Holz⸗ 
arbeiter eingetroffen, die ſogleich durch Meiſter und Schutzleute in mehreren 
bereitſtehenden Droſchken weiter befördert werden ſollten. Als die Droſchken 
abfuhren, ſchwenkten die auf dem Bock ſitzenden Meiſter die Hüte und 
riefen „Hurra!“ Auch das anweſende Publikum, unter dem ſich Meiſter 
und ſtreikende Holzarbeiter befanden, rief „Hurra“. Das gefiel aber der 
Staatsgewalt nicht und fo wurden vier der Hurrarufer — Arbeitgeber 
hatte man nicht gefaßt — mit einem Strafmandat auf drei Tage Haft 
bedacht, und zwar wegen groben Anfugs. Auf ihre Berufung wurden alle 
vier wegen groben Anfugs zu acht Tagen Haft verurteilt: „Das Poli: 
zeiamt habe das richtige Strafmaß (drei Tage Haft) angewandt. Weil 
aber die Angeklagten Berufung eingelegt hatten, ſei auf eine 
Woche Haft zu erkennen.“ Wir entwickeln uns weiter. 

Während des Schreinerſtreiks in Solingen äußert ein ſtreikender 
Arbeiter ſcherzend zu einem Kollegen: „Da wird ein Bär geführt.“ Arteil: 
Zwei Wochen Gefängnis! And da gibt's noch wunderliche Heilige, 


Zürmers Tagebuch 87 


die nach Ausnahmegeſetzen ſchreien! Sie verſtehen ihr Geſchäft ſchlecht. 
Als ob's ſo nicht noch ſchöner ginge. 

In Schmölln hat ein Amtsrichter fein Urteil u. a. fo begründet: „Es 
iſt dem Gericht längſt bekannt, daß zwiſchen den organiſierten Arbeitern 
und den nichtorganiſierten Arbeitern ein heftiger Streit beſteht. Es kommt 
einem organiſierten Arbeiter ſelbſt auf einen Meineid 
nicht an.“ 

Das Gegenteil müßte gerichtsnotoriſch ſein: daß nämlich ein ſolcher 
Vorwurf ſogenannte „Arbeitswillige“ viel eher trifft, als organiſierte Ar⸗ 
beiter. Von jenen „nützlichen Elementen“ haben Dutzende das Blaue vom 
Himmel heruntergeſchworen. Es gibt Geſtalten darunter, für die ſich die 
Staatsgewalt gerade „im öffentlichen Intereſſe“ nicht ſo ſehr ins Zeug legen 
ſollte, wie fie es ſich anſcheinend ſchuldig zu fein glaubt. Aber die Staats. 
gewalt hat ein weites Herz, und auch die zartbeſaitete Ehre eines — Zu⸗ 
hälters kann in Ermangelung eines beſſeren das geeignete Objekt zu einer 
Anklage „im öffentlichen Intereſſe“ hergeben. 

Der Ortsbeamte eines freien Bäckerverbandes hatte den Führer der 
„gelben Gewerkſchaft“, einen Altgeſellen, in einem Flugblatte als „Zuhälter“ 
bezeichnet. Der „Gelbe“ ſtellte Strafantrag, und der Staatsanwalt erhob 
— im öffentlichen Intereſſe — Anklage wegen Beleidigung. Vor 
dem Schöffengericht wurde allerdings feſtgeſtellt, daß der Herr Altgeſelle, 
für deſſen Ehre der Herr Staatsanwalt eintrat, tatſächlich wegen 
Kuppelei, Erpreſſung und Bedrohung 2½ Jahre im Gefäng⸗ 
nis geſeſſen und noch außerdem verſchiedene Male wegen anderer Taten 
Freiheitsſtrafen verbüßt hatte. Schon als er zum Altgeſellen gewählt 
wurde, hatten die Verbändler dagegen proteſtiert, der Magiſtrat jedoch die 
Strafe und Ehrverluſt für verjährt erklärt! Das Gericht verurteilte den 
Beleidiger zu 40 Mark Geldſtrafe. Außerdem follte der Arteilstenor in der 
„Deutſchen Bäckerzeitung“ veröffentlicht werden. Das Gericht erklärte ſo⸗ 
gar, es würde den Beleidiger ins Gefängnis geſteckt haben, wenn er 
nicht das Glück gehabt hätte, als völlig Anbeſcholtener den Gerichtsſaal 
zu betreten 

Ein arger Spötter meinte, dieſes juriſtiſche Erkenntnis werde bei allen 
frũheren und jetzigen Subdltern die größte Befriedigung hervorrufen. 

Der beſchränkte Untertanenverftand ahnt es ja gar nicht, wo überall 
ein „öffentliches Intereſſe obwaltet. Da haben ſich in der guten Stadt 
Bochum einige Mitglieder eines hurrapatriotiſchen Geſangvereins beleidigt 
gefühlt, weil ein ſozialdemokratiſches Blatt ihren — Geſang verulkt hatte! 
Der Verein führt den herausfordernden Namen „Niegedacht“. Es hieß 
nun in der Notiz, daß „die Mannen von Niegedacht in niegedachter Weiſe 
in dem Garten des von den Arbeitern boykottierten Neuhausſchen Lokales 
einen Geſang aufgeführt hätten, bei dem es den Eulen und Krähen angſt 
vor der Konkurrenz geworden wäre“. Die Polizei veranlaßte einen Straf⸗ 
antrag, der Staatsanwalt erhob Anklage „im öffentlichen Intereſſe“ (ö) 


88 Türmers Tagebuch 


und das Gericht verurteilte den Urheber der ſcherzhaften muſikaliſchen Kritik 
zu — vierzehn Tagen Gefängnisl! 

Der Magiſtrat zu Nürnberg hatte auf Wunſch der Bauunternehmer 
eine ortspolizeiliche Vorſchrift erlaſſen, durch die das Streikpoſtenſtehen 
verboten wurde. Die Verordnung wurde vom oberſten Landesgericht zu 
Nürnberg für ungültig erklärt. 

Nun waren aber zwei Maurer wegen Abertretung dieſer „Verordnung“ 
beſtraft worden. Auf Grund des gerichtlichen Erkenntniſſes ſtellten ſie den 
Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens, weil in der oberſtrichter⸗ 
lichen Entſcheidung eine neue Tatſache liege, die geeignet ſei, die ſofortige 
Freiſprechung zu begründen. Der Antrag wurde verworfen, die Verwer⸗ 
fung vom Landgericht Nürnberg beſtätigt. 

Somit beſteht die juriſtiſche Tatſache, daß man auf Grund einer un- 
gültigen „Verordnung“ nicht nur beſtraft, ſondern auch mit Recht be⸗ 
ſtraft werden kann, und daß die Strafe noch überdies von einem Gerichts⸗ 
hof als zu Recht verhängt beſtätigt wird, nachdem der oberſte Gerichts⸗ 
hof die „Verordnung“, auf Grund deren ſie erfolgt war, als ungültig, 
d. h. als widerrechtlich, erklärt hat. In unſerer Rechtfprechung ſcheint 
neuerdings eine Neigung obzuwalten, ſich von der Scholaſtik zur Myſtik 
durchzumauſern. 

Auf welche ſchnurrigen Einfälle die Polizei mitunter verfällt, wenn 
fie den „Roten“ durchaus an den Kragen will und doch abſolulut keine der 
üblichen Handhaben ſich als geeignet dazu erweiſt, davon könnte man ein 
außerordentlich humorvolles Kapitel zuſammenſtellen. Etwa mit dem Motto: 
„In der Not frißt der Teufel Fliegen.“ In Nürnberg waren an einem 
Sonntag eine Menge „Genoſſen“ ausgeſchwärmt, um den Wählern Briefe 
mit Flugblättern und Stimmzetteln zuzuſtellen. Die Arbeit ging auch glatt 
von ſtatten, bis ganz zuletzt ein Polizeiwachtmeiſter einen Verteiler auf der 
Straße ſtellte. Als er mit Schaudern vernahm, daß die Briefe von der 
„roten Rotte“ herrührten, ließ er den „Genoſſen“ durch zwei Schutzleute 
verhaften, die ihn wie einen ſchweren Verbrecher je an einem Arme 
packten und zur Wache ſchleppten. Dies ſtaatsrettende Verfahren 
wurde alſo begründet: Das Austragen der Briefe ſei — „Poſtbetrug“ 
und „Portohinterziehung“ ! Die Briefe wurden auf Anordnung des 
freiſinnig⸗liberalen Magiſtrats beſchlagnahmt. 

Es iſt keine Redensart, keine poetiſche Floskel, die vom „roten Lap⸗ 
pen“, deſſen bloßer Anblick ſchon genügt, die bewaffnete Macht auf die 
Schanzen zu rufen. Es iſt wörtlich, buchſtäblich zu nehmen. Bam⸗ 
berger Arbeiter machten einen Ausflug, wobei einer im Walde einen roten 
Lappen fand, wohl die Fetzen eines roten Schnupftuches. Der Mann hatte 
offenbar eine humoriſtiſche Ader und kannte ſeine Pappenheimer. Er ſuchte 
ſich einen Stecken, knüpfte den Lappen daran und marſchierte damit an der 
Spitze der heimkehrenden Gruppe. Das ſah in einem Dorfe der Gendarm 
und in der Stadt ein Schutzmann. Kaum hatten ſie den roten Lappen 


Zürmers Tagebuch 89 


erblickt, als fie auch ſchon auf ihn ſtürzten. Wütend riffen fie ihr Notiz ⸗ 
buch heraus und erſtatteten Anzeige. Als bei der Verhandlung vor dem 
Schöffengericht das corpus delicti, der rote Schnupftuchfetzen, auf den 
Tiſch des Hauſes niedergelegt wurde, da bemächtigte ſich aller fröhliche 
Heiterkeit, ſelbſt der geſtrenge Herr Amtsrichter konnte ſich das Lachen 
nicht verbeißen. Die Verhandlung wurde ausgeſetzt: ein — Staatsanwalt, 
der den heimkehrenden Ausflüglern begegnet war, ſollte als „Zeuge“ ver- 
nommen werden! Und nun konnte die Schreiberei losgehen — alles wegen 
eines roten Lappens, der kümmerlichen Refte eines Taſchentuchs, deſſen ehe⸗ 
maliger Inhaber ſich wohl nie hat träumen laſſen, welche hochpolitiſche foren⸗ 
ſiſche Rolle es in den ſozialen Kämpfen der Gegenwart dereinſt ſpielen werde. 

Die Wege der Juſtiz ſind wunderbar. Vor dem Schöffengericht in 
Nixdorf hatte ſich zunächft ein noch unbeſtrafter Arbeiter wegen Vee 
truges zu verantworten. Er hatte in einer Wirtſchaft für Abendbrot eine 
Zeche von 1,10 Mk. gemacht, konnte aber nicht zahlen. Auf die gegen ihn 
erſtattete Anzeige wurde er in Anterſuchungshaft genommen. Dieſe 
dauerte 12 Tage. Dann verurteilte ihn das Gericht zu zwei Tagen Ge⸗ 
fängnis, die aber nicht als durch die Anterſuchungshaft für verbüßt erachtet 
wurden. Alſo 14 Tage Freiheitsentziehung für das lukulliſche 
Mahl von 1 Mk. 10. 

Nach dem Arbeiter nahm auf derſelben Anklagebank ein Schlächter⸗ 
meiſter Platz. Er hatte einem andern Schlächtermeiſter ein ganzes Rinder- 
viertel abgeſchwindelt, indem er vorgab, es für einen Kollegen beſorgen zu 
wollen, während er es tatſächlich nach ſeiner Behauſung ſchaffte, um es für 
ſich zu verwerten. Objekt: 97 Mark. Den ſchon wegen Eigentums⸗ 
vergehen wiederholt erheblich vorbeſtraften Schlächtermeiſter 
verurteilte das Schöffengericht zu 20 Mark! 

Ein Offizier prügelte ſeinen Hund auf offener Straße derart, daß 
unter den Paſſanten allgemeine Empörung herrſchte. Auch Schimpfworte 
fielen. Ein anweſender ſozialdemokratiſcher Redakteur äußerte gleichfalls 
feinen Unwillen und ſchilderte den Fall nachher in feinem Blatte. Der 
Offizier fühlte ſich nicht nur durch die Zeitungsnotiz beleidigt, ſondern an⸗ 
ſcheinend noch mehr durch die Schimpfworte, die nach feiner Meinung 
von feiten des Redalteurs gefallen waren. Vor der Strafkammer be⸗ 
kundeten nicht nur der angeklagte Redakteur, ſondern auch mehrere ein⸗ 
wandfreie Zeugen, daß jener dem Offizier nur Vorhaltungen 
gemacht habe, die Schimpfworte aber von anderer Seite gefallen ſeien. 
Die Zeitungsnotiz entſpräche nur den Tatſachen. Der Offizier ſtellte die 
Mißhandlung des Hundes als harmlos hin, was er fic) aber nur von 
zwei — Kindern beſtätigen laſſen konnte. Er beſchwor, daß der Re- 
dakteur die Schimpfworte gebraucht habe. Das Gericht ließ die beſtimmten 
Ausſagen der anderen Zeugen außer acht, erwähnte ſie nicht 
einmal in der Arteilsbegründung und verurteilte den ſozialdemokratiſchen 
Redakteur zu ſechs Wochen Gefängnis! 


90 Türmers Tagebuch 


Selbſt wenn dem Angeklagten ein paar unparlamentariſche Ausdrücke 
in der Erregung entſchlüpft ſein ſollten, ſo war dieſe Erregung doch ſo 
begreiflich und ſittlich berechtigt, daß man auch dann über die 
Art und Höhe der Strafe billig hätte ſtaunen müſſen. Wer ſich aus 
ſolchem Anlaß zu einer Verbalinjurie hinreißen läßt, mag wegen formeller 
Beleidigung immerhin eine entſprechende Geldſtrafe auf ſich nehmen. Das 
iſt nur rechtens. Wieſo aber eine Entgleiſung aus Empfindungen heraus, 
die nur Achtung verdienen, die den, der ſie hegt, nur ehren können, mit 
einer entehrenden Strafe, mit Gefängnis und gar mit ſechs 
Wochen Gefängnis geahndet werden kann, dafür habe ich aus meinem 
ſittlichen Empfinden heraus auch nicht das allergeringſte Verſtändnis und 
ich geize auch nicht darnach. Sechs Wochen eingeſperrt mit Dieben, Zu⸗ 
hältern, Einbrechern — ein Mann, den die korrekte Ruhe verließ, als er 
ein wehrloſes Tier roh mißhandelt glaubte. 

Aber — der Eid des Offiziers in Ehren: erwieſen iſt durch ihn die 
objektive Richtigkeit der Behauptung noch keineswegs, daß der Redakteur 
die Schimpfworte gebraucht hat und nicht doch ein anderer. Dem Zeugnis 
des Offiziers in eigener Sache ſtehen die entgegengeſetzten, ganz beſtimmten 
Ausſagen mehrerer anderer und einwandfreier Zeugen ſchroff 
gegenüber. Ich hege nicht den leiſeſten Zweifel, daß der Offizier den 
Eid nach beſtem Wiſſen und Gewiſſen geſchworen hat. Aber kann er ſich 
nicht getäuſcht haben? In der Erregung, in der er ſich ſchon befand, als 
er den Hund ſo prügelte, daß unwiderlegt „allgemeine Empörung herrſchte“? 
In der Erregung, die noch erheblich gewachſen ſein muß, als ſich das 
Publikum mit Kundgebungen heftigen Unmwillens einmiſchte? Warum ſollten 
ſich denn gerade Anbeteiligte getäuſcht haben, die der ganzen Szene 
doch jedenfalls ruhiger und unbefangener gegenüberſtanden als der ihren 
Mittelpunkt und Hauptakteur darſtellende Offizier? In ſolchen Augenblicken 
ſetzt ſich leicht eine Suggeſtion feſt, auf deren Richtigkeit man ſpäter ohne 
Beſinnen glaubt ſchwören zu können. And es iſt doch nur eine Suggeſtion, 
eine Selbſttäuſchung! Wie oft kommt das vor! Profeſſor v. Liſzt hat ja das 
Exempel mit Studenten in ſeinem Hörſal gemacht: Dutzende von ihnen 
waren bedingungslos bereit, Tatſachen und Beobachtungen zu be⸗ 
ſchwören, die abſolut falſch waren. Irren iſt menſchlich, aber Eid iſt 
Eid. Darum kann man auch gegen ſich und andere nicht vorſichtig genug 
in ſolchen Fällen ſein. Je tiefer wir den Dingen auf den Grund gehen, 
um ſo bedenklicher muß einem ſolche Arteilſprechung erſcheinen. 

Auf dem Friedhof der Märzgefallenen zu Berlin fordert ein Polizei⸗ 
leutnant einen Handlungsgehilfen mehrfach zum „Weitergehen“ auf. Der 
Angerufene, indem er ſich langſam weiter bewegt: „Sie ſehen ja, daß ich 
gehe; man wird doch auch ſtehen bleiben dürfen.“ Polizeileutnant: „Halten 
Sie den Mund!“ Handlungsgehilfe: „Halten Sie den Mund!“ Anklage 
vor dem Schöffengericht, Verurteilung des Handlungsgehilfen zu 200 Mark. 
Berufung bei der Strafkammer: völlige Freiſprechung. Berufung beim 


Zürmers Tagebuch 91 


Kammergericht: 30 Mark Geldſtrafe. Begründung: Man könne darüber 
ftreiten, ob die Worte des Polizeileutnants, „Halten Sie den Mund“, die 
zweckmäßigſten waren; es liege darin aber auf ſeiten des Leutnants 
keine Beleidigung (h, fondern der energiſche Ausdruck des Wunſches, 
Rube zu halten. Wenn der Angeklagte ſich dasſelbe Recht an: 
maße und dem Polizeileutnant dieſelben Worte entgegenſchleudere, 
durch die er ſich verletzt fühlt, ſo füge er ihm eine Ehrenkränkung zu, 
und er müſſe ſich deſſen auch bewußt geweſen ſein. 

Nach § 193 des Strafgeſetzbuchs iſt es dem Richter anheimgeſtellt, 
eine Beleidigung für ſtraffrei zu erklären, wenn ſie auf der Stelle erwidert 
worden iſt. Nun enthalten die inkriminierten Worte eine Beleidigung oder 
ſie enthalten kein e. Im erſten Falle iſt die Beleidigung kompenſiert 
weil auf der Stelle mit gleicher Münze erwidert worden; im zweiten liegt 
überhaupt keine ſtrafbare Handlung vor. Anders das Rammer: 
gericht: nach ihm iſt die gleiche Redensart beim Polizeileutnant nur 
„der energiſche Ausdruck eines Wunſches“, eine „nicht ganz geeignete 
Form“, über deren „Zweckmäßigkeit man ſtreiten“ könne; beim Handlungs⸗ 
gehilfen, der doch nur erwiderte, ſich alſo ſozuſagen in Ehrennotwehr 
befand, eine „Anmaßung“, „Ehrenkränkung“, „Beleidigung“. Warum 
konnte der Polizeileutnant — und mochte es noch fo energiſch fein — nicht 
einfach rufen: „Schweigen Sie“? Bediente er ſich aber ſelbſt einer Wendung, 
die wohl jeder nicht ganz Abgebrühte als Beleidigung empfinden wird, ſo 
iſt nicht einzuſehen, warum ſie gerade bei ihm nicht als Beleidigung auf⸗ 
gefaßt werden ſollte. 

Ein konſervativer Redner, Freiherr v. Maltzahn, war es, der als „ein 
Schulbeiſpiel dafür, wie Klaſſengegenſätze geſchaffen werden“, den Fall 
der Fürſtin Wrede im Reichstage vorbrachte. Mag nun die Fürftin bei 
Begehung ihrer bekannten Diebſtähle geiſtig krank geweſen ſein oder nicht: 
— das wird man doch keinem einreden, daß eine Perſon aus geringerem 
Stande fo glimpflich davongekommen wäre. Die Fürftin hat von ihren Dieb- 
ſtählen weitere Nachteile nicht gehabt. Sie beſtimmt ſelbſt den Ort ihrer 
Kur, die behandelnden Ärzte und wohl auch ihre Kurmethode, muß ſich alfo 
den Amſtänden nach recht wohl befinden. Dagegen durfte ihr Diener Glaſer, 
der die Diebſtähle zur Anzeige brachte, daran glauben: er erhielt wegen 
„Erpreſſung“ neun Monate Gefängnis. Die geiſtig ganz geſunde Geſell⸗ 
ſchafterin aber, die der Fürſtin bei ihren Diebſtählen Beihilfe geleiſtet hatte, 
iſt gänzlich außer Verfolgung geſetzt worden. Wie das möglich war? Ja, 
dazu müſſen wir erſt mal einen ſchwindelnden Gipfel der Logik erklimmen. 
Es iſt nicht ganz leicht, aber nur Mut! Alſo: da die Fürſtin bei Verübung 
ihrer Diebſtähle nach ärztlichem Gutachten unzurechnungsfähig war, ſo 
konnte ſie auch keine ſtrafbare Handlung begehen. Folglich — konnte 
überhaupt keine ſtrafbare Handlung vorliegen, folglich auch die 
Geſellſchafterin keine Beihilfe zu einer ſolchen leiſten. 

Iſt das nicht ein wahrhaft verblüffendes, ein ſtupendes Ergebnis 


92 Türmers Tagebuch 


juriſtiſchen Tiefſinns? Da ſiehſt du, lieber Leſer, wieder einmal ſo recht, 
wie wenig mit deinem ſogenannten geſunden Menſchenverſtande getan iſt, 
wie du eigentlich wohl am beſten täteſt, den alten, überlebten Kram ganz 
wegzuwerfen, wenn du nicht jede Hoffnung aufgeben willſt, dich zur Klar⸗ 
heit und Wahrheit ſolcher juriſtiſchen Logik durchzuläutern. Begreife wohl: 
der Dieb, der Einbrecher, der Mörder begeht weder eine ſtrafbare Hand⸗ 
lung, noch kann er wegen Teilnahme an einer ſolchen verfolgt werden, wenn 
er die Vorſicht übt, irgend ein anderes vor Gericht für unzurechnungs⸗ 
fähig erklärtes Individuum als Haupttäter vorzuſchieben. Der geiſteskranke 
Dieb, Einbrecher oder Mörder kann ſich ja nicht ftraffällig machen, folglich 
liegt auch keine ſtrafbare Handlung vor, folglich kann auch von einer Teil⸗ 
nahme an einer ſtrafbaren Handlung keine Rede ſein. Nichts einfacher als 
das, wenn man ſich erſt einmal zum Chimboraſſo dieſer Jurisprudentia 
emporgeſchwungen hat. Tief unter einem ſolchen Glücklichen liegen dann alle 
die Realitäten dieſes ſchnöden irdiſchen Getriebes, dieſes nüchternen Alltags 
mit all feinen „hart im Raume ſich ſtoßenden Sachen“. Und „leicht bei⸗ 
einander wohnen die Gedanken“, jene wundervollen ätheriſchen Gebilde, jene 
herrlichen Abſtraktionen und Konſtruktionen, an denen kein „Erdenreſt“ mehr 
haftet, „zu tragen peinlich“! 

Eine Schneiderin hatte einen Kapellmeiſter, früheren Anteroffizier, 
wegen Bruchs des Verlöbniſſes verklagt. Sie verlangte einen Schaden- 
erſatz von 5000 Mark. Das Gericht ſprach ihr nur 1000 Mark zu. Aus 
folgenden Gründen: Da die Klägerin eine unvermögende Schneiderin und 
die Tochter einer unverheirateten Frau ſei, die ſich jetzt durch den Betrieb 
eines kleinen Gemüſehandels ernähre, ſo ſei der Schaden, den ſie durch 
Auflöſung des Verlöbniſſes in ihrem guten Rufe erlitten, nicht hoch in 
Anſchlag zu bringen. In den Bevölkerungskreiſen, denen die 
Klägerin zuzuzählen ſei, werde erfahrungsgemäß einem Mädchen daraus 
kein erheblicher Vorwurf gemacht, daß es ſich in Erwartung der 
Eheſchließung einem Manne geſchlechtlich hingebe. Ebenſowenig ſeien die 
Heiratsausſichten der gegen 30 Jahre alten Klägerin erheblich vermindert. 
Mädchen ihres Standes heirateten häufig erſt in höherem Lebensalter. Auch 
der Amſtand, daß fie zwei uneheliche Kinder habe, erſcheine nicht 
als weſentliche Erſchwerung, zumal für den Unterhalt dieſer Kinder 
durch die vom Beklagten zu zahlenden Unterhaltsrenten ausreichend geſorgt 
ſei. Der Beklagte ſei aus dem Anteroffiziersſtande hervorgegangen und erſt 
zur Zeit der Aufhebung des Verlöbniſſes in eine ihn über dieſen Stand 
hinaushebende geſellſchaftliche Stellung und in ein Einkommen gelangt, das 
im günſtigſten Fall jährlich nicht 3320 Mark überſteige ... In Anbetracht 
alles deſſen ſeien 1000 Mark für die Klägerin eine angemeſſene, billige 
Entſchädigung. 

Die Arteilsbegründung ſteht nicht ganz auf der Höhe der Zeit. Vor⸗ 
eheliche intime Verhältniſſe ſind jetzt auch in gewiſſen ſehr feinen, vornehmen 
Kreiſen von Berlin W. W. (ff.) nur dann eine „weſentliche Erſchwerung“ 


Türmerd Tagebuch 93 


ſpäterer Verheiratung, wenn — der nötige Mammon zurückgehalten wird. 
Schreibt aber der Herr Papa das Vorleben ſeiner Tochter mit einem ent⸗ 
ſprechenden Betrage der Mitgift gut, ſo kann von einer Herabminderung ihrer 
Heiratsaus ſichten keine Rede fein. Ein Vater z. B. in Berlin W., der feiner 
Tochter ohne Vorleben 100 000 Mark mitgeben wollte, bietet ſie jetzt, mit 
Vorleben, mit 150 000 Mark aus. Und nicht ohne erhöhte Nachfrage. Wenn 
alſo in dieſen Kreiſen das Vorleben als ſolches und an ſich noch keine 

„weientliche Erſchwerung“ bedeutet, fo erſcheint es auch nicht angängig, die 
Heiratsausſichten der Töchter mit Vorleben je nach den verſchiedenen 

Ständen verſchieden zu bewerten. Es ſei denn zuungunſten der aus den 
ärmeren Klaſſen, deren Eltern nicht in der Lage ſind, die verminderte 

Heirats fähigkeit ihrer Töchter durch Steigerung der Mitgift um 33% 
wieder wettzumachen und dadurch den jungfräulichen status quo ante wieder- 

herzuſtellen. — 

Betrunkene Arbeiter haben in einem Bahnwagen mitfahrende 
Frauen durch zotige Redensarten und gemeine Lieder beläſtigt. Jeder der 
Beteiligten erhält mehrere Monate Gefängnis. 

Nun zwei andere Angeklagte vor einem Berliner Amtsgericht. Sie 
haben auf offener Straße alleingehende Frauen und Mädchen in unſäglich 
ſchamloſer Weiſe beläſtigt, mit Wort und Tat. And das in einem Amfange, 
daß nicht weniger als — 30 und einige anſtändige Damen 
Zeugnis von dieſen ekelhaften Dingen ablegen müſſen. Es find Angehörige 
der gebildeten Stände“: ein Ingenieur, ein Kaufmann und ein Student! 
Sie erhalten — nun was? — 100 Mark Geldſtrafe! 

Auch der mit Recht fo beliebte „Sachverſtändige“ fehlt nicht. Sein 
Fehlen wäre ja auch unverzeihlich geweſen. Er murmelt etwas von jener 
wohlbekannten „krankhaften Neigung“, die merkwürdigerweiſe immer die 
Angehörigen der „beſſeren Stände“ heimſucht und immer erſt in dem Augen⸗ 
blicke, wenn fie ſich vor dem Richter zu verantworten haben. Wer ihnen 
außerhalb des Gerichts „krankhafte Neigungen“ atteſtieren wollte, würde 
übel anlaufen. Bei Angeklagten aus den „unteren“ Klaſſen heißt dieſelbe 
„Neigung“ ganz unwiſſenſchaftlich Roheit und Gemeinheit. 

Ein Student wandelt nach reichlichen Gambrinusopfern die Sieges⸗ 
allee entlang. Er trifft eine Frau und beläſtigt ſie. Er trifft eine zweite, 
von einem Manne begleitete Frau und berührt ſie unanſtändig. Als ihn der 
Begleiter der Frau zur Rede ſtellt, haut er — der Frau eine Ohrfeige 
berunter. Das Schöffengericht verurteilt ihn zu 2 Monaten Gefängnis. 
Der Student legt Berufung ein, und die Strafkammer erkennt auf — 
300 Mark Geldſtrafe. 

. Die auf Monate ins Gefängnis geſteckten betrunkenen, wenig ge⸗ 
bildeten Arbeiter hatten ſich nur in gemeinen Worten ergangen. Der aka⸗ 
demiſch gebildete Jüngling hat anſtändige Frauen — mehrere nacheinander — 
tätlich beleidigt, körperlich angegriffen. Der einen hat er ſogar 
ins Geſicht geſchlagen. Mußte wirklich ſolch hoffnungsvolles Bürſch⸗ 


94 Slirmers Tagebuch 


chen der akademiſchen Laufbahn unter allen Umftänden erhalten bleiben? 
Am vielleicht ſpäter ein Katheder oder einen — Richtertifch zu zieren? — 

Bei einer Beratung des Juſtizetats im preußiſchen Abgeordneten⸗ 
hauſe (1908) gab ein freikonſervativer Redner die Erlebniſſe einer einfachen 
Arbeiterfrau mit der königlich preußiſchen Staatsgewalt zum allgemeinen 
Beſten. Sie fuhr mit ihrem dreieinhalbjährigen Knaben von Grunau nach 
Hirſchberg und hatte im ganzen bare 9 Mark und 50 Pfg. im Vermögen. 
Davon, erzählt nun der Abgeordnete, legte ſie ein Geldſtück, das etwas 
ſchwärzlich ausſah, zur Bezahlung der Fahrkarten hin. Vorher hatte ſie 
ein ähnliches Geldſtück ausgegeben; da kam die heilige Hermandad und 
ſchleppte ſie wegen Ausgabe falſchen Geldes vor die Schranken des Ge⸗ 
richts. (Wenn ich falſches Geld in Umlauf bringen wollte, fo würde ich 
mir eine größere Summe einſtecken, 9,50 Mk. lohnt ſich nicht, meinte unter 
Heiterkeit des Hauſes der konſervative Redner.) Der Kriminalkommiſſar 
hat dann feſtgeſtellt, daß das beſchlagnahmte Geld falſch iſt, und die Frau 
mit dem Kinde wurde eingeſperrt. An den Amtsvorſteher von Grunau, 
meine Wenigkeit, kam eine Depeſche, ich ſollte eine Hausſuchung bei dem 
Arbeiter Schmidt, dem Manne der Frau, halten. Dieſe war ergebnislos. 
Abends kam der Mann weinend zu mir, und ich ſagte ihm, er ſolle nach 
Görlitz fahren und ſich an den Staatsanwalt wenden. Er ſagte, er ſei 
ein armer Arbeiter und könne doch nicht gut den Arbeitslohn verlieren. 
Da ſagte ich: Nehmen Sie, das übrige wird ſich finden. Er iſt dann zur 
Staatsanwaltſchaft gegangen, und aus einem Protokoll geht hervor, daß 
er dort unterſucht wurde, er mußte ſich auch die Stiefel ausziehen, 
ob er darin etwas verborgen hatte, und durfte dann mit ſeinem Knaben 
nach Hauſe fahren. (Wenn die Entdeckung der Diebſtähle ſo leicht wäre, 
daß der Dieb ſelbſt zum Staatsanwalt geht, dann wäre es wohl ſehr ſchön, 
meinte wieder unter allgemeiner Heiterkeit der konſervative Redner.) Die 
Frau war vier Tage eingeſperrt. Am vierten Tage kam das Geld zu 
der Reichsbanknebenſtelle, von da an die Filiale des Schleſiſchen 
Bankvereins und ſchließlich zu einem Goldarbeiter. Das Geld wurde 
als abſolut echt bezeichnet. Der Staatsanwalt hat es aber auch noch an 
die königliche Münze eingeſchickt, und die hat es gar nicht zurück⸗ 
gegeben, ſondern der Frau den ganzen Betrag in funkelnagelneuer 
Münze zurückgezahlt! Die Frau iſt dann entlaſſen worden und meldete ſich 
bei mir. Daß die Staatsanwaltſchaft verpflichtet war, der Frau die Aus⸗ 
lagen zu erſetzen, ſcheint mir klar. Bei der Staatsanwaltſchaft war 
das aber nicht der Fall. Die Auslagen erreichten die ſchwindelnde Höhe 
von 17,90 Mark. Die Staatsanwaltſchaft lehnte die Entſchädigung 
ab. Ich beging nun den Fehler, für die Leute einen Brief an die Staats: 
anwaltſchaft aufzuſetzen, in dem es heißt: „Ich muß die Staatsanwaltſchaft 
bitten, meine Forderung zu erfüllen. Sollte ſie wider Erwarten dazu nicht in 
der Lage ſein, ſo weiſe ich jetzt ſchon darauf hin, daß ich mich an den Herrn 
Juſtizminiſter wenden und mich der Vermittlung des Abgeordneten bedienen 


Sürmers Tagebuch 95 


werde. Die Frau ließ ſich den Brief von einem Nachbarn abſchreiben. Die 
Staatsanwaltſchaft ordnete nun eine Feſtſtellung an, — ob der Nachbar 
ſolche Briefe berufsmäßig abſchreibe und ob etwa eine Steuer⸗ 
kontravention (I!) vorliege. Auch wurde die Frau noch einmal darüber ver- 
nommen, ob fie etwa Queckſilber in der Wohnung (I!) hatte. Nach 
etwa vierzehn Tagen hat der Herr Juſtizminiſter 15 Mark angewieſen, ſo 
daß er alſo drei Mark noch ſchuldig iſt! 

„Es handelte ſich ja nur um eine einfache Arbeiterfrau!“ bemerkte 
vielſagend der konſervative Abgeordnete und Amtsvorſteher. 

Warum hat fic auch die törichte Frau nicht jedesmal vor dem An⸗ 
faſſen die Hände mit Lilienmilchfeife gewaſchen? Dann wäre das Geld 
nicht ſchwarz geworden. Wie aber, wenn ſie es ſchon ſo bekommen hat? 
Dieſe Frage iſt allemal von ſo weittragender Bedeutung, wie etwa die von 
den Richtern in Hamm am Stammtiſch beim Schoppen verhandelte: ob 
der zum Tode verurteilte Heizer Kurſchuß, der feine Henkers mahlzeit 
bereits eingenommen hatte, ſich dadurch — weil doch die Strafe nicht voll⸗ 
zogen wurde — nicht im Sinne des § 812 B. G. ungerechtfertigt auf 
Koſten des Fiskus bereichert habe und deshalb zur Herausgabe des un⸗ 
gerechtfertigt erlangten Guts (des Wertes der Henkersmahlzeit) verpflichtet 
ſei. Die Erörterung mit allem pro und contra ging durch zahlreiche Blätter, 
angeblich ſoll die „Frage“ auch noch den nächſten Juriſtentag beſchäftigen. 
„Den Teufel merkt das Völkchen nie, und wenn er ſie beim Kragen hätte!“ 

Drei Sachverſtändige und Fachleute erklären die ſchwarze Münze für 
echt: die Frau wird weiter in Haft behalten. Der Mann, der mit fremdem 
Geld ihr zu Hilfe kommen will, wird körperlich unterſucht. Erſt die Berliner 
Münze zahlt mit ſolch blanker Münze, daß dem Staatsanwalt die Augen 
aufgehen müſſen. Aber nur mit tiefſtem Widerwillen rückt er mit den 
Moneten heraus, und den Schaden ganz zu erſtatten, bringt er überhaupt 
nicht übers Herz. Es geht ihm zu ſehr gegen das Gemüt, lieber bleibt 
er 3 Mark „ſchuldig“. Von überwältigendem Humor iſt aber, daß der 
Fiskus ausgerechnet dieſe Gelegenheit für günſtig hält, einen gewerbs⸗ 
mäßigen Abſchreiber zur Steuer heranzuholen! Wer wird noch Witzblätter 
leſen wollen, wo der Humor der Wirklichkeit ihnen bald über iſt? Schade, 
daß ſie nicht wegen „unlauteren Wettbewerbs“ verklagt werden kann. — 

Höher als die Ehre, Anverletzlichkeit und Sicherheit der Perſon be⸗ 
werten Rechtſprechung und Geſetzgebung das dreimal heilige Eigentum. 
Für eine Stulle und einen Nordhäuſer im Werte von 25 Pfennig, die er 
dem Wirte nicht bezahlen konnte, mußte ein älterer unbeſcholtener Arbeiter 
16 Tage in Anterſuchungshaft und einen Tag im Gefängnis ſitzen. Wegen 
eines „Stückchen übrig gebliebenen Brotes“, um das er in einem Bäcker⸗ 
laden nur gebettelt hatte, erhielt ein anderer 3 Wochen Gefängnis. 
Er hatte vom frühen Morgen an noch keinen Biſſen im Munde gehabt 
und verſpürte quälenden Hunger. Die Kaſſiererin eines Arbeiterinnen; 
verbandes war durch Krankheiten ihrer zwei Kinder in die bitterſte Not 


96 Sürmers Tagebuch 


geraten und konnte mit ihrem Lohn den Lebensunterhalt nicht mehr be- 
ſtreiten. Als es auch mit der Miete nicht mehr ging und ihr die Exmittierung 
angedroht wurde, entnahm fie aus alten Büchern der Verbands mitglieder die 
Beitragsmarken und verwendete ſie nach Entfernung des Entwertungsver⸗ 
merks von neuem. Die wenigen Pfennige, die ſie in jeder Woche dadurch 
erlangte, verbrauchte ſie für ihren Lebensunterhalt. Sie ſoll ſich auch kleine 
Beträge baren Geldes angeeignet haben. Unter Tränen bat die Angeklagte 
um eine milde Strafe, da ſie ſich nur aus Liebe zu ihren Kindern, die 
ſie nicht hungern ſehen konnte, zu ihren Verfehlungen habe verleiten 
laſſen. Das Gericht erkannte auf zwei Wochen Gefängnis. 

Das ſind nur einige wenige „Stichproben“. Aberall die Anklage: 
„Ihr laßt den Armen ſchuldig werden, dann überlaßt ihr ihn der Pein!“ — 
Wie dachte doch ein großer Held und König über dieſe Art „Verbrechen“? 
Friedrich der Große ſchreibt in einem Briefe: „Wenn ſich indes eine Familie, 
von allen Mitteln entblößt, fände, und zwar in dem ſchrecklichen Zuſtande, 
den Sie ſchildern, ſo würde ich ohne Zögern behaupten, daß der Diebſtahl 
ihr erlaubt wäre. Erſtens: weil ſie überall abgewieſen worden ſtatt Hilfe 
zu finden; zweitens: weil es ein weit größeres Verbrechen wäre, ſich 
und Frau und Kinder vor Hunger ſterben zu laſſen, als einem etwas von 
feinem Aberfluß zu ſtehlen, und drittens, weil die Abſicht eines ſolchen Dieb⸗ 
ſtahls tugendhaft und die Tat unerläßlich notwendig wäre. Ich bin auch 
überzeugt, daß kein Tribunal nach Ermittelung dieſer Tatſachen einen 
Dieb verurteilen werde. Die Bande der Geſellſchaft gründen ſich auf 
gegenſeitigen Beiſtand, beſteht ſie aber aus hartherzigen Seelen, ſo zer⸗ 
reißen alle Bande und der Naturzuſtand tritt ein, in welchem das Recht 
des Stärkeren alles entſcheidet.“ 

Ein zwölfjähriger Knabe wird wegen „Straßenraubes“ (ö) auf 
acht Tage ins Gefängnis geſchickt, weil er beim Indianerſpielen einem 
Kameraden eine Kindertrompete weggenommen hat. Ein Arbeiter ſteckt 
ſich auf dem Gelände des Eiſenbahnfiskus ein paar eiſerne Röllchen im 
Geſamtwerte von 10 Pfennig für ſeine Kinder zum Spielen ein und be⸗ 
kommt dafür 3 Tage Gefängnis. 

Es iſt nur zum Teil wahr, daß das Geſetz ſolche grauſame Härte 
erzwinge und der Richter gar nicht anders könne. Warum kann z. B. ein 
Bauunternehmer, der feinen Arbeitern 325 Mark Krankenkaſſen⸗ 
gelder unterſchlagen hat, mit 30 Mark Geldſtrafe wegkommen? 

Nur in einem Falle iſt der Richter an eine beſtimmte Mindeſtſtrafe 
gebunden: bei Eigentumsvergehen im wiederholten Rückfall. In dieſen 
Fällen darf der Richter ſelbſt dann nicht unter drei Monaten Ge⸗ 
fängnis erkennen, wenn noch ſo mildernde Amſtände vorliegen. Wo 
ſolche ungeheuerlichen Beſtimmungen, zu deren prompter Abſchaffung es 
doch nur eines Antrages der verbündeten Regierungen, d. h. des Reichs⸗ 
kanzlers, im Reichstage bedürfte, ruhig fortbeſtehen, da fragt man ſich, 
was denn das ganze Reichstagsgerede und alle die ſchönen Worte der 


Türmers Tagebuch 97 


Regierungsvertreter, nicht zuletzt Bülows, noch für einen realen Wert haben? 
Müſſen denn derartige Abnormitäten bis zu dem großen Reinemachen einer 
in weiter Ferne irrlichternden allgemeinen „Juſtizreform“ aufgeſpart werden? 
Warum können nicht die drückendſten, allgemein preisgegebenen 
Beſtimmungen für ſich als Einzelvorlagen behandelt und abgetan werden? 
Wo würde denn irgendein organiſcher Zuſammenhang zerriſſen werden, 
wenn man z. B. für Rückfallsvergehen die Feſtſetzung der Mindeſtſtrafe 
ganz ausſchaltete und fie dem Ermeſſen des Richters überließe? Warum 
mũſſen dieſem barbariſchen Geſetz immer weitere Exiſtenzen geopfert werden, 
wo wir es doch in der Hand haben, es in kürzeſter Friſt außer Kraft zu 
ſetzen? Warum? Weil wir vor lauter Blockgeſchwätz und parteipolitiſchem 
Altweibergezänk die allernächſtliegenden Ziele aus den Augen verlieren und 
mögen wir auch mit dem Kopf darauf ſtoßen. 

Eine vorbeſtrafte Händlersfrau muß wegen Diebſtahls von 8 Pfund 
Mehl auf ein Jahr ins Zuchthaus. Einen vorbeſtraften achtzehnjährigen 
Hausburſchen muß das Gericht auf 3 Monate ins Gefängnis ſtecken, weil 
er halbverhungert auf dem Bahnhof einem neben ihm ſitzenden jungen 
Mann 2 Pfennig aus der Taſche geſtohlen hat, um ſich ein Stück Brot 
zu kaufen. Weil ſie zwei Bund Stroh im Werte von 50 Pfg. ſich an⸗ 
geeignet hat, muß eine Frau 3 Monate ins Gefängnis. Ein vorbeſtrafter 
Arbeiter hat den Fiskus um 5 Pfennig betrogen —: 3 Monate. Ein 
Dienſtknecht mit einem kranken Weibe in ungeheizter Stube nimmt zwei 
Tage vor Weihnachten drei Scheite Holz im Werte von 60 Pfennig von 
einem Wagen —: 3 Monate. Ein Bergarbeiter füllt ſich feinen Kaffeekrug 
mit Kohlen im Werte von 9 Pfennig —: 3 Monate. In dieſen Fällen 
haben die Richter ſelbſt geſtöhnt. Daran iſt kein Zweifel. Aber ſie mußten. 
So wollen es Geſetz und Recht unſeres humanitätstriefenden Zeitalters! 

Einen erſchütternden „Notſchrei“ ließ der alte Paſtor F. v. Bodel⸗ 
ſchwingh, der väterliche Freund der Urmſten und Elendeſten, ertönen: „Vor 
einiger Zeit brachte eine ſüddeutſche Zeitung eine Notiz, daß ein kleiner 
Schultheiß zu einem Monat Gefängnis verurteilt ſei, weil er einen armen 
Landfahrer, von dem er ſich überzeugt, daß der Gendarm ihn zu Anrecht 
angezeigt, daß er im Hunger nicht um ein Stück Brot gebettelt, ſondern von 
einer milden Hand angenommen, aus dem Gefängnis hat laufen laffen... 
Ich frage alle Richter Deutſchlands, zu wie viel Jahren Gefängnis fie 
alle diejenigen Bürgermeiſter und ihre Kollegen getroſten Herzens ver⸗ 
urteilen müßten, welche gegen das Geſetz, unſchuldige Menſchen, die ihrer 
Fürſorge anvertraut find, zur Geſetzesübertretung, d. h. zum Betteln gee 
zwungen haben, wie dies ſeit dem Beſtehen des § 28 des Reichsgeſetzes 
über den Anterſtützungswohnſitz fo viel tauſendmal jeden Tag vorkommt. 

Ich fürchte, daß die Welt nicht lange genug mehr beſteht, um dieſe 
Geſetzesũbertretungen an den Schuldigen gebührend zu ahnden, und daß 
alle Korrektionshäuſer und Gefängniſſe verzehnfacht, ja verhundertfacht 
werden müßten, um allen dieſen Delinquenten Naum zu ſchaffen. 

Der Türmer X. 7 


98 Türmers Tagebuch 


Es iſt mir ein ungelöſtes Rätſel, wie es möglich iſt, daß der edle 
Richterſtand Deutſchlands die ihm zugemutete qualvolle Aufgabe hat ertragen 
können, ohne immer lauter um eine Anderung der Geſetzgebung zu bitten, 
welche mit wenig Federſtrichen die Laſt von ſeinem Gewiſſen und die Un- 
gerechtigkeit von den Arbeitsloſen wegnehmen könnte. 

Ich möchte alle Mitglieder der beiden Häuſer des Landtages (und 
auch des Reichstages) herzlich bitten, nur einmal ein paar Wintertage in 
fadenſcheinigem, durchlöchertem Rock, mit zerriſſenen Schuhen in Kälte, 
Schneegeſtöber und Regen zu wandern, in jedem Ort ernſtlich um Arbeit, 
und wenn dieſe nicht vorhanden, beſcheidentlich bei dem Ortsvorſteher auf 
Grund des § 28 um die nötigſte Hilfe anzuhalten — um dann mit den 
Worten: Du Lump, du Vagabund, auf die Straße gezwungen zu werden, 
endlich von quälendem Hunger gezwungen, ſich ein Stückchen Brot zu ere 
betteln, infolgedeſſen auf Grund von § 3614 verhaftet, mit einer Schar 
echter Vagabunden in dasſelbe Polizeigefängnis geſperrt zu werden, hier 
alle Flüche, Läſterungen und unſagbaren Anflätigkeiten in Wort und Tat 
von bis in die tiefſten Tiefen verſunkenen und verbitterten Menſchen an⸗ 
zuhören, um dann am anderen Tage nicht verurteilt, ſondern aufs neue 
auf die Straße geſetzt und weiter gehetzt und weiter zum Abertreten des 
Geſetzes gezwungen zu werden — bis die erſte Verurteilung ſeitens des 
Strafrichters erfolgt! — Ich glaube gewiß, wenn alle dieſe Herren das 
einmal durchmachten, was vielen Tauſenden von Anſchuldigen jedes Jahr 
und auch jetzt in dieſen Wintertagen infolge dieſer ſchauerlichen Lücke in 
der Geſetzgebung täglich widerfährt, ſie würden nicht mehr ſagen: die Sache 
koſtet zuviel oder ſie hat noch Zeit, wir wollen auf eine gelegenere Stunde 
warten ..“ 


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Gott, Leben und Kunſt 


Bekenntniſſe eines Andersgläubigen 
Von 


Richard Schaukal 


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S N eder große Künſtler war, als er auftrat, ein Ketzer. Der Gläu— 
(& Hs bigfte muß ein Ketzer geweſen fein. Das iſt das Geſetz der 
N I Ahnenreihe. Der große Künſtler, der jeweils als „Erſter“ 
= O der Letzte in der Reihe iſt, erſcheint als Einzelner feiner Zeit 
fremdartig und unbequem. Man vergleicht feine abweichende Weiſe mit der 
der eben Herrſchenden, und die Herrſchenden ſind immer die letzten Ausläufer, 
die letzten blaſſen Ableger ſeines unmittelbaren Vorgängers, maſſenhaft, wie 
es die Natur von Ablegern iſt, maſſenhaft und laut, und ſchon ganz ohne 
Metallgehalt in der Stimme. Die Menge hält ſie in Ehren, weil ſie ſelbſt 
Menge ſind. Jeder einzelne aus der Menge fühlt ſich ihnen verwandt. 
Sie ſind ein ſchmeichelnder Spiegel der ſelbſtzufriedenen Kläglichkeit. Der 
Neue aber iſt der Feind. Ihn gilt es zu verhindern. Er ſoll nicht auf— 
kommen. Das iſt das Feldgeſchrei der Maſſenhaften. And ſcheinbar ge— 
lingt es ihnen auch immer wieder. Darum muß jeder große Künſtler, das 
Kreuz der Kunſt auf dem Rücken, das ſchwerer und ſchwerer drückt, ſeinen 
Paſſionsweg mit allen Stationen abſchreiten, bis er ſein Golgatha findet. 
Aber wenn ſie ihn gekreuzigt haben, dann zerreißt der Vorhang des Tem— 
pels, und die Erde bebt und birſt und ſpeit ihre Toten aus: die Ahnen 
ſtehen auf. Da erkennt die zitternde Menge, daß dieſer „Gottes Sohn“ 
geweſen iſt. And nach drei Tagen oder drei Jahrzehnten oder drei Jahr— 
hunderten erſteht er von den Toten, der er von Anfang an unſterblich iſt, 
in Huldigung vor Gottes Thron ſtehend von Ewigkeit zu Ewigkeit. 

Der große Künſtler hebt ſich in aufreizender Einſamkeit von dem 
leeren Hintergrund ab. Später tritt er in die Reihe der Ahnen. Später: 
das heißt, wenn die Diſtanz zwiſchen ihm und dem Betrachter gewachſen 
iſt. Er gliedert ſich ein. Er ſtellt ſich zu denen, — bei denen er immer 


100 : Schaukal: Gott, Leben und Runft 


geweſen iſt, den großen Künſtlern, die vor ihm waren und die dasfelbe 
Schickſal gelitten hatten, in aufreizender Weiſe als einzelne aufzufallen. 
* * 


Die Welt ift traurig, folange wir ihren Ginn nicht empfinden. Wir 
empfinden ihn zu innerft in der Kunſt, im Glauben, in der Liebe. Zer⸗ 
reißend empfinden wir ihn in der Sehnſucht. Alles Leid iſt ein Schlüffel 
zur Welt. Aber die Erfüllung iſt weder Leid noch Freude: ſie iſt „An⸗ 
ſchauen Gottes“. : 

Die Sehnſucht ijt die Ahnung der Nähe Gottes. Wer die Sehn⸗ 
ſucht nicht kennt, ahnt Gott nicht. Wer unter der Sehnſucht leidet, iſt 
Gottes Liebling. . : 

Die Welt ift eine Einheit. Wir wiſſen das mit unheimlicher Sicher- 
heit. Aber wir vergeſſen es immer wieder, weil die Erſcheinungen fo viele 
fältig ſind. 


* * 
* 


Wir tragen die Welt in uns: denn wir find die Einheit der Welt. 
Jeder Menſch ift die Einheit der Welt. Aber die wenigſten kommen zu 
dieſer Gewißheit. And die dazu kommen, haben am meiſten unter den An⸗ 
fechtungen der Vielheit leiden müſſen. Und kein Menſch wird dieſer Er- 
kenntnis dauernd froh. 

* 

Glücklich iſt der Menſch nur, wenn er über fich ſelbſt hinaus gelangt, 
das heißt — ganz in ſich hinein, ins Innerſte, wo die nach allen Seiten 
ausſtrahlend wirkende Bewegung ſtillhält. Im Mittelpunkt der Bewegung 
iſt die Ruhe. Ruhe iſt der Kern der Bewegung. 


Gegenſätze gibt es nicht in der Einheit. Aber im Leben iſt alles 
Umkreis. Und der Kreis iſt Bewegung der Gegenſätze. Es gibt freilich 
Augenblicke, da man ſchon den Kreis als Ruhe empfindet. Aber das find 
nur Ahnungen des Mittelpunktes, Vorläufigkeiten der Erkenntnis. Wir 
friſten unſer Daſein von ſolchen ſeligen Vorläuſigkeiten. 


Die Kunſt iſt eine die ganze Welt reſtlos begreifende Erkenntnis. 
Wer die Kunſt beſitzt, beſitzt die Welt. Aber genau ſo wie der größte 
Künſtler, ganz genau ſo beſitzt das ärmſte Bettelweib, das glaubt, die Welt. 
Das iſt der Sinn der Lehre Chriſti. 


Die Kinder ſind dem Mittelpunkt näher als die Erwachſenen. Je 
weiter der Menſch ſich ins Leben entfernt, um ſo ſeltener gelangt er zum 
Mittelpunkt, zu ſich ſelbſt zurück. Am fo tiefer muß er jedesmal hinab ⸗ 
ſteigen. Es iſt denkbar, daß manche gar nicht mehr herauflkommen. Man 
nennt ſie Wahnſinnige. Sie haben die Organe für den Umkreis: das Leben 


Schantal: Gott, Leben und Kunft 101 


eingebüßt. Nur das Mechaniſche der Sinne reagiert noch auf die Welt, 
wie ſie den normalen Menſchen offen ſteht. Aber in ihrer Finſternis, ganz 
zu innerſt, beſitzen ſie die Welt, von innen heraus. 

* * 


Man muß die Welt von innen heraus befigen, um fie zu überwinden. 
* * 


Wer an der Welt leidet, iſt auf dem Wege, ihrer innezuwerden. 
Dieſer Weg hat kein Ende. Plötzlich ſchlingt er ſich in ſich ſelbſt zurück, 
wird gleichſam zum Punkt, ſteht ſtill, verſtummt, um nur mehr ganz auf 
ſich ſelbſt zu lauſchen. 


Die Philoſophie ift Umweg. Die Heimat ift immer dageweſen. Wir 
hatten uns nie aus ihr entfernt, ſie iſt bloß unſerer innern Anſchauung ent⸗ 
rückt worden, da wir ihrer nicht würdig waren. Wer würdig iſt, erkennt 
die Heimat. Jeder Menſch kann würdig werden. Manche ahnen es nicht, 
daß ſie eben, eben jetzt würdig waren — und nun nicht mehr würdig ſind. 

* * 


= * 


Der Geift iſt unwillig. Aber Gott ift langmütig. And jeder wird 
von der unendlichen Geduld erhört. Die ſich ſträuben, denen hört Gott ſo 
lange zu, bis ſie ihn anbeten. Aber er verlangt keine Anbetung. Dann 
geht er hinweg und wendet ſich wieder Unwilligen zu. Die Anbetenden 
aber läſtern ihn oft, wenn er weggegangen iſt. Und da kommt Gott zurück 
und hört ihren Läſterungen zu. Nie kann er ſich genug läſtern hören. Das 
Läftern des unwilligen Geiſtes und der Lobgeſang der Engel find ihm eines 
Arſprungs: Seines. A 

Nicht die Gefinnung macht den Künſtler und nicht die Form das 
Kunſtwerk: Seele iſt Einheit. 

® g 
* 

Die letzte Wirkung eines Kunſtwerkes iſt geſteigertes Erleben des 
eigenen Schickſals, blitzartiges „Begreifen“ der Welt, die bald wieder ins 
Mechaniſche des Lebensablaufs verſinkt, verſinken muß, auf daß ſie neuerlich 
ein Künſtler zu ihrer Weſenhaftigkeit erlöſe. 


* 

Kunſt iſt Einkehr ins Tal der vielen Echo. Sie ift nicht die Stimme 
des Lebens, ſondern ihr hundertfältiger Widerklang, der bei großen Künſt⸗ 
lern zum Sphärendonner anwächſt. 

(Nach der Lektüre von Gerard de Nerval.) 

Der Tod und der Traum bilden eine „Maſſe“. Daher iſt der Traum 
ſo ganz anders, weſenhaft anders als das Leben des Tages. And im Traum 
ſind wir mit den Einwohnern des Todes vereint, auch mit unſern eigenen 
Vergangenheiten, die, ſowie ſie uns verlaſſen, übergehen in dieſen „Nebel“, 
die Atmoſphäre des Todes und doch unverlierbar, nicht ſtarr, ſondern bee 


102 Schaukal: Gott, Leben und Kunſt 


weglich, aber beweglich nach Geſetzen jenes Reiches, das über unſern drei 
dimenſionalen Erfahrungen iſt. 
* * 

Eros ift der Feind, aber Eros ift nicht die Liebe. Die Griechen 
opferten dem Priapus, und alle alten Kulturvölker verehrten die im Phallus 
ſymboliſierte elementare Naturkraft. Wir Chriſten aber ſagen für das alles 
Liebe und tun der Liebe ſehr großes Anrecht dadurch. Denn das Ver⸗ 
hältnis, das wir Liebe nennen, führe es auch zur Ehe, iſt durchaus nicht 
Liebe, wenn es auch den Keim der Liebe bergen mag. Sonſt wäre ja jede 
reflektoriſche Regung der Sinnlichkeit Liebe. 

* * 


* 

Heute hörte ich in der Kirche den Prediger ſagen: Nicht das Ge- 
hirn denkt, ſondern die Seele bedient ſich des Gehirns, um zu denken. Wie 
wundervoll richtig! And oies vorgetragen, auf daß der Schluß erfolge: 
All unſer Denken hat ſich in der Lehre des Gekreuzigten zu beruhigen. 
Aber ſelbſt in dieſer „Tendenz“ liegt eine gegenüber dem Humbug der 
Freiſinnigkeit mit mächtigen Adlersflügeln emporſtürmende Wahrheit. Denn 
wenn uns auch Chriſtus nicht im Sinne des Dogmas das Endziel zu ſein 
braucht, ſo iſt er doch als der reinſte Vertreter der Seele auf Erden unſrer 
Verehrung würdiger denn irgendeine andre hiſtoriſche Perſönlichkeit. Sicher⸗ 
lich war er der Sohn Gottes. 

* 


* 
* 

Zauberflöte. Der Sprecher: „Er ift Prinz.“ Saraſtro: „Mehr: er 
iſt Menſch!“ 

Daß ſich doch „der Menſch“ immer als die Krone der Schöpfung 
aufſpielt! Wie lächerlich wirkt dieſe geſchmackloſe Manifeſtation des rationa⸗ 
liſtiſchen Jahrhunderts! Wie kläglich iſt überhaupt der ganze „Humanis⸗ 
mus“! Der Menſch! 

* 

Noch einmal Zauberflöte. Papageno: „Ich bin ein Menſch wie du.“ 

Als ob daran etwas Auszeichnendes wäre! Ein Menſch! Wie 
wenig iſt ein Menſch! Geſchöpf iſt alles. Menſch iſt in dieſem Sinn 
des ſtolz bewußten Rationalismus das Vernunftweſen, ein Widerſacher 
der Natur, ein Abtrünniger, ein verworfenes Geſchöpf. Der mit ſeiner 
Vernunft prahlende Menſch (Prometheus, der Lichtbringer, ſo gut wie der 
Famulus Wagner) iſt das entartete Geſchöpf. Wieviel höher ſteht das 
„unvernünftige“ Tier in der Reihe der „Geſchöpfe“! Erſt wenn der ver» 
nünftige Menſch ſeine Vernunft überwindet (was ihm nur durch die 
Gnade zuteil werden kann; das Tier braucht nicht erſt die Gnade dazu) 
und ganz demütiges Geſchöpf wird, hat er — noch lange keinen Anſpruch 
auf ſtolzbewußte Selbſtverkündigung, wohl aber einige Ausſicht auf milde 
Verzeihung. Wir und Gott! „Der Menſch“ das „Ebenbild Gottes“! 
Welch eine maßloſe Überhebung | 

* 


* 
* 


Gerhart Hauptmanns Schlottervers 103 


Der Weg jedes wahrhaftigen Künſtlers führt ihn zu ſich ſelbſt. And 
wer völlig zu ſich gelangt iſt, dem wird die Welt, wie ſie ſich langſam um 
ihn rundet, ſeltſam fern und wiederum innig verwandt. Denn nur aus 
den Tiefen des innerften Ich heraus kann er fie erfaſſen. Es iſt ein Sich⸗ 
in · die · Welt. ergießen und ein In ⸗ ſich⸗ trinken der Welt zugleich, ein Prozeß 
des vollkommenſten Vereinſamens und der Allgegenwärtigung. „Wohin 
gehen wir?“ fragt Novalis, und: „Immer nach Haufe” antwortet das Echo 
ſeiner alliebenden Einſamkeit. Ganz zu ſich ſelbſt gelangen, heißt Gott 
nahe kommen. Das erhaben⸗demütigende Gefühl des „Mittelpunkts“ iſt 
der Schauer der Gotterkenntnis. Jeder Menſch war einmal im „Mittel⸗ 
punkt“. Die meiſten aber vergeſſen es. Es iſt, als fürchteten ſie, ſich zu 
verlieren, wenn fie ſich fo dem Abermächtigen hingäben. Und wahrhaftig, 
es iſt auch ein Sich ⸗ verlieren, dieſes feligfte Sich⸗ſelbſt⸗ finden. Denn alles 
Weſen der Oberfläche, das, worin die Werte der Realeriftenz beruhen, 
muß ja in dieſen ungeheuern Augenblicken der ſich verzehrenden Selbſt⸗ 
befinnung zum Schein werden. Der Gläubige und der Künſtler allein 
können ſich in ſolchen Augenblicken behalten, der Gläubige, indem er ſich 
ganz perſönlich Gott übergibt — die heilige Katharina und Franz von 
Aſſiſi haben Chriſtus geradezu leibhaftig erlebt —, der Künſtler, indem er 
ſich ſeiner Perſon ans Werk entäußert. Alle großen Kunſtwerke ſind aus 
ſolchen erhabenen Augenblicken geboren worden. Es gibt viele bedeutende 
Kunſtwerke gleichſam der Wanderung, wenige nur des Am⸗Ziele⸗ſeins. Und 
auch dieſes Am⸗Ziel⸗ſein iſt nur ein Verweilen. Denn das Bewußtſein 
der Habhaftwerdung verwandelt ſich allſogleich wieder in die Erinnerung 
der bloßen Anteilnahme. Und fo gelangt der Künſtler eben infolge feines 
die ſüße Bewußtloſigkeit immer wieder ſtörenden und dadurch zerſtörenden 
VBewußtwerdens niemals ans Ende, das der „Anfang“ iſt, oder, wenn man 
will, immer wieder darüber hinaus ins Wiederum oder Weiternoch. 


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Gerhart Hauptmanns Schlottervers 


5 ie Tatſache, auf die hier hingewieſen werden ſoll, iſt mir von Anfang 
> oe A an ſo augenfällig vorgekommen, daß ich mich nur zögernd zu dieſem 
2 Hinweis entfchließe. Mir ſcheint, fie müßte aller Welt gerade fo be- 
kannt ſein, wie etwa die Tatſache, daß die Mehrzahl der klaſſiſchen Bühnenwerke 
in fünffüßigen Jamben geſchrieben iſt; und wer etwas ſo Selbſtverſtändliches erſt 
nachzuweiſen ſich bemüht, müßte einfach ausgelacht werden. Aber ſo viel Arteile 
über Gerhart Hauptmann mir auch zu Geſicht gekommen find — und man be- 
kommt deren doch ohne alles Suchen übergenug in Büchern und Zeitſchriften zu 
leſen —, fo habe ich doch nirgendwo auch nur nebenher oder andeutungsweiſe 


etwas darüber erwähnt gefunden. Schon das mußte mich wundern; aber noch 


104 Gerhart Hauptmanns Schlottervers 


mehr wuchs mein Erſtaunen, wenn ſich im Verlauf mündlicher Erörterungen 
herausſtellte, daß auch ſonſt niemand etwas von der augenfälligen Tatſache 
zu wiſſen ſchien; wohl hatte man manches von Hauptmann geleſen, aber ge- 
merkt hatte niemand etwas. Mit ſehenden Augen hatte man nichts geſehen 
und mit hörenden Ohren nichts gehört. And doch war die Sache ſo klar, daß 
es nur des Hinweiſes bedurfte, um zu überzeugen und zugleich ein gewiſſes 
Erſtaunen hervorzurufen, daß man ſo etwas nicht ſelbſt bemerkt hatte. Es 
ging damit gerade ſo wie mit den bekannten Verſteckbildern: hat man uns erſt 
gezeigt, was ſie enthalten, ſo ſieht man, was man bisher gar nicht bemerkt 
hat; ja man kann gar nicht anders, man muß es nun immer ſehen und wun⸗ 
dert ſich, etwas ſo Augenfälliges nicht ſofort ſelbſt herausgefunden zu haben. 
And ſo darf ich wohl getroſt ein ähnliches Verſteckſpiel erörtern, im Vertrauen 
darauf, daß unter den Leſern dieſer Zeilen ſich nicht viele finden werden, denen 
es bekannt iſt. And nun zur Sache. 

Gerhart Hauptmanns Schlottervers? Was heißt das? Iſt etwa die 
Verſunkene Glocke in ſchlotterigen Verſen geſchrieben? 

Natürlich nicht. Der fünffüßige Jambus, auf den die Glocke geſtimmt 
iſt, hat keinen ſchlotterigen Tonfall. Doch habe ich hier gar nicht die gebundene 
Rede im Sinn, ich meine vielmehr Hauptmanns Proſa; und nur um die Sache 
anſchaulicher zu machen, nehmen wir ein paar Verſe aus der Glocke, und zwar 
ein paar von den wenigen, die nicht in Jamben einherſchreiten. Wir finden 
deren am Anfang des erſten Aufzugs (S. 9): 

Drei ſtrotzende Euter trank ich leer: 

Da milkt keine Magd einen Tropfen mehr! 
Nun ſtellt' ich mich auf am roten Floß, 

Wo ſie denn kamen mit Mann und Noß uſw. 

Gerade ſolche Verſe finden wir in Hauptmanns Proſaſtücken, nur ohne 
Reime und etwas frei gebaut, aber in ihrem Tonfall doch deutlich zu erkennen. 
Das einzige ſtändige Merkmal ſind die vier Hebungen (nur ausnahmsweiſe 
kommt auch einmal ein Halbvers mit nur zwei Hebungen vor), aber dieſe vier 
Hebungen find fo deutlich ausgeprägt, daß fie ſich geradezu dem Gehör auf- 
drängen. Die Zahl der Senkungen iſt verſchieden: am Anfang des Verſes 
ſtehen deren eine oder zwei, manchmal auch keine, und nur ausnahmsweiſe drei; 
ähnlich iſt es am Ende; und auch in der Mitte können eine oder zwei, aus- 
nahmsweiſe drei Senkungen aufeinander folgen. Die durch dieſe ziemlich große 
Freiheit im Bau bedingte Holperigkeit wird es begreiflich erſcheinen laſſen, 
wenn ich das ganze als Schlottervers bezeichne. Man leſe ſelbſt und ur- 
teile dann. 

In „Vor Sonnenaufgang“ iſt dieſer Vers, mit ſehr vereinzelten (wohl 
nur zufälligen) Ausnahmen, nicht zu finden. Deutlich erkennbar aber iſt er 
ſchon in „Kollege Crampton“. Nehmen wir den Schluß dieſes Stückes: 

Max a'lſo, nun gu't. Ich will dir was fa'gen. 
Nun Ho'le der Teu' fel die Semmelwo'chen! 
Jetzt mü'ſſen wir ſchu'ften, Ma'r, wie zwei Ku'lis! 


Ma'r heißt der Du'mmkopf, nun fa'gen Sie, Lö'ffler! 
So'n du'mmer Ke'rl! So'n du'mmer Kerl! 


Solche Stellen ſind im Crampton nicht ſelten, auf den letzten Seiten 
z. B. faſt durchgehend. Wer das Buch beſitzt, kann ſich mit leichter Mühe 
davon überzeugen. Aber im Crampton kommt dieſer Tonfall doch nur ftellen- 


Gerhart Sauptmanns Schlottervers 105 


weife vor. In fpäteren Stücken dagegen habe ich den Vers von Anfang bis 
zu Ende angewendet gefunden. Nehmen wir den Anfang vom „Noten Hahn“: 


Fielitz: Jeh man weich aus de Weirkſtelle!! Pa'ck dir man! 
Frau F.: Wer weird ock noch Lo'mm’? 's is ja ie' ber fe'dfe. 
Fielitz: Jeh man weich aus de We'rkftelle mi't dein’ Kra'm! 
Frau F.: Benimm dich blos nich a fo ä'ſelstu mm! 

Was t's denn hier Bee'ſes, HA'? an dem Ki'ſtel? 

A' fo a Ho'lzkiſtel t's doch niſcht Bee 'ſes. 
Fielitz: J, 18 et vielleicht wat Su'tet, wa't? 
Frau F.: Bis hie'rher kommen d' Hu'belſpä' ne 

Dann tu'n fe hier mi'ttenrei'n a Li'cht machen 
Fielitz: Mu'tter, du bi'ſt mir 'n bi'sken zu klu'g! 

Wenn de't fo wei'ter je ht mit de Klu'gheit, 

Denn ſe'h ick mir no'ch mal in Ple'senfee. 
Frau F.: Du ka'nnſt woll o ga'r kee bi'ſſel ni u'ffpaſſen! 

Du ma'gſt a wing be'rn, wenn ma mi't dir re'dt. 

A fo’ was veri'ntreffie'rt een do' ch. 
Fielitz: Ick veri'ntreſſte'r mir for mei'ne Stie'beln, 

Tor wat a'nders veri'ntreſſie'r ick mir nich. 


Wenn die erſte, dritte, vorletzte und letzte der hier angeführten Zeilen 
mit zwei Senkungen beginnt, während andererſeits am Anfang der ſechſten 
und zehnten Zeile die Senkungen ganz fehlen, ſo wird das wohl niemand als 
beſondere Unregelmäßigteit empfinden. Man nehme ein beliebiges Gedicht mit 
ähnlichem Versmaß, etwa Schillers Taucher, und man wird genug ſolcher 
Zeilenanfänge entdecken. Anders iſt es mit Wörtern wie Werkſtelle und Holz ⸗ 
kiſtel, die außer dem Hauptton noch einen Nebenton haben und in Gedichten 
höchſtens am Zeilenanfang ſtehen könnten; in der Mitte der Zeile empfindet 
man fie als unerträglich hart, und am Zeilenſchluß find fie überhaupt unmög- 
lich. Wenn daher trotzdem am Ende der neunten und dreizehnten Zeile ſolche 
Vetonungen auftreten, wie „Licht machen“ und „uffpaſſen“, fo find das nicht 
nur ſtolpernde, ſondern ganz zu Boden gefallene Versfüße. 

Nehmen wir jetzt „Rofe Bernd“, nicht den Anfang, denn da find Lieder ⸗ 
verſe eingemengt, die den Fortgang des Tonfalls ſtören. Fangen wir alſo mit 
dem zweiten Aufzug an: 

Fr. Flamm: J'mmer wer Sn 8... o'd immer rein! — 
Na wer denn? — Das i's woll d'r Va'ter Be'rnd, 
Anſer Wai ' ſenra't und Ki'rchenvorſte' her! 
Immer fo'mmt ock, ich bei'ße euch nicht, Vater Be'rnd. 
Bernd: Mir wo' den ge'rn a Herr Leu'tnant fpre'chen. 
Fr. Flamm: Na, na’! Das ſte'ht ja ſehr fei erlich au's. 
Bernd: Gu'n Mo'rg'n, Frau Leu'tnant. 
Fr. Flamm: Scheen gut'n Ta'g, Vater Be'rnd! — 
Mein Ma'nn war vorhi'n in der Ja'gdkammer dri'nne. 
Da ts ja au'ch der Herr Schwie ' gerſol hn ? 
Bernd: Ja wo'hl, mit Go'ttes Hilfe, Frau Fla'mm. 
Fr. Flamm: Nu da nehm’ Se ock Pla'tz! Da wo'lln Se woll anmelden? 
Nu ſolll's woll eindlich ama' l vor ſich ge'hn. 
Bernd: Ja wo'hl, 's is Go'tt fet Dank nu fo wei't. 


Auch hier kommen Härten vor, wie „Jagdkammer“ und dann am Zeilen⸗ 
ende „anmelden“. Doch darüber kommen wir jetzt, wo wir über den Tonfall 
ſchon unterrichtet find, leichter hinweg. Schwer aber wird es uns, über die 
fiebente Zeile nicht zu ſtolpern; doch wenn es uns nur gelingt, gleich nach der 
zweiten Hebung drei Senkungen in einem Atemzug auszuſprechen (darunter 


106 Gerhart Hauptmanns Schlottervers 


allerdings zwei, die eigentlich Hebungen fein müßten), fo gelangen wir vielleicht 
doch mit einem raſchen Sprung zum Ende der Zeile. 

Nehmen wir nun noch „Michael Kramer“. Die Anfangszeilen dieſes 
Stückes ſind etwas holperig, weiterhin aber geht es wie geſchmiert. Nehmen 
wir hier zur Abwechſelung das Ende: 

Wo ſollen wir landen, wo treiben wir hin? 

Warum faudgen wir manchmal ins Angewiſſe. 

Wir Kleinen, im Angeheuren verlaſſen? 

Als wenn wir wüßten, wohin es geht. 

So haft du gejauchzt! — And was haft du gewußt? — 
Von irdiſchen Feſten iſt es nichts! — 

Der Himmel der Pfaffen iſt es nicht! 

Das iſt es nicht und jen's iſt es nicht! 

Aber was . . . . was wird es wohl fein am Ende??? 


Ende gut, alles gut. Hier iſt das Versmaß wirklich glatt. Nur die 
Verſtümmelung von jenes in jen's iſt nicht ſchön; aber das geſchieht eben dem 
Versmaß zuliebe, ſonſt würden ja wieder zu viel Senkungen eintreten. Gerade 
dieſe Verſtümmelung iſt ein auffallend deutlicher Hinweis auf das Versmaß. 

Genug der Beiſpiele! Der Leſer braucht nur die genannten Stücke Seite 
für Seite durchzuprüfen, er wird den Tonfall desſelben Schlotterverſes überall 
entdecken, durchgehend, von Anfang bis zu Ende. 

Schön iſt der Tonfall nicht, aber ſchön iſt auch das gewöhnliche Leben 
nicht, und wenn Hauptmann das unſchöne Leben in unſchönen Verſen zur Er- 
ſcheinung bringt, ſo paßt ſchließlich beides zueinander. Auch mag wohl der 
ſtolpernde Tonfall ganz wohl dem ſtolpernden Nedefluß des gewöhnlichen 
Lebens entſprechen, gerade fo wie der fünffüßige Jambus der gehobenen Rede 
angemeſſen iſt. And wenn ſich in Goethes Egmont, der Würde des damaligen 
Trauerſpiels entſprechend, zum Schluß einige Jamben eingeſchlichen haben, 
warum ſollen ſich nicht in unſere heutigen Trauerſpiele auch Verſe einſchleichen, 
die den jetzigen veränderten Auffaſſungen über die Würde der Kunſt gerecht 
werden. 

Ja warum nicht? Gewiß, wenn ſie ſich unbewußt eingeſchlichen hätten. 
Aber das iſt ja nicht der Fall. Was nicht vereinzelt auftritt, ſondern ſich durch 
ſo und ſo viel Bücher von Anfang bis zu Ende verfolgen läßt, ohne Anterbrechung 
(nur die Bemerkungen für den Schauſpieler bilden eine Anterbrechung; die be⸗ 
dürfen natürlich keines beſonderen Tonfalls), das iſt doch mit ſo offenbarer 
Abſichtlichkeit hineingelegt, daß vor allem der Verfaſſer ſich ganz ungeheuer 
wundern muß, wie das gar nicht bemerkt wird. 

Aber iſt es denn gar nicht bemerkt worden? Das iſt doch nicht wohl 
möglich. Es wäre ja lächerlich, wollte ich mich für den erſten Entdecker dieſer 
Eigentümlichkeit halten. Sicherlich iſt es bemerkt worden; aber wann, wo 
von wem? 

Wenn man's aber auch bemerkt hat, — beachtet hat man's offenbar nicht. 
Sonſt wäre es ja nicht möglich, daß dieſelben Bücher und Blätter, die feiten- 
und ſpaltenlang den Inhalt von Hauptmanns Werken erzählen und beſprechen, 
kein Wort über die Form zu ſagen wiſſen. Iſt das Zufall? iſt es Abſicht? 
oder iſt es einfach Ankenntnis der Tatſache? 

Der unbefangene Leſer, der den Schlottervers bisher nicht bemerkt hat, 
wird gewiß nicht behaupten, ich hätte den bewußten Tonfall erſt hineingekünſtelt. 
Wer nur eine Spur von Gehör beſitzt, ſindet ihn nunmehr nach den gegebenen 


Gatyrſpiele 107 


Anweifungen mit Leichtigkeit bei Hauptmann überall ſelbſt heraus. And um- 
gekehrt wird es durchaus nicht gelingen, dieſen Tonfall in Werke hinein ⸗ 
zuzwängen, die nicht darin geſchrieben ſind. Jeder kann ſich durch eigenes 


Prüfen davon überzeugen. Richard v. Wilpert 


Satyrſpiele 


n dieſer Faſchingszeit regierte auch in den Theatern ein witzig ⸗ 
JAG ) ſpielender, tronifd-verfappter und mit der Narrenpritſche drein- 
S ſchlagender Geiſt. „Nicht die Schwere dieſer Erden, nur die fpie- 
lenden Gebärden“... Dramatiſcher Mummenſchanz mit Scherz, Satire, Ironie 
und tieferer Bedeutung. 

And als ein fürtrefflicher Narr führte den kunterbunten, ſcheckigen Reigen 
der Dine Guſtav Wied mit feinem Satyrſpiel „Zweimalzwei gleich 
fünf“. 

Wir ſind dieſem lächelnden Philoſophen ſchon früber begegnet. In einem 
feinen Dialog, „Abrechnung“ zwiſchen zwei alten Menſchen, gab ſich ſeine Art 
ſehr rein und ohne das Geſichterſchneiden, das er ſonſt ſo liebt, zu erkennen. 
Es geht vorüber, alles miteinander, das iſt die Erkenntnis, und wer ſie hat, 
der ſieht mit Zweifeln und leiſem Achſelzucken auf große Geſten und auf 
große Worte. 

Es lag über dieſer Szene ein mildes, gedämpftes Abendlicht, eine ftill- 
gefaßte Heiterkeit und beſchauliche Refignation. 

So ſänftlich iſt Wied in feinen anderen Lebensſpiegelungen nicht. Er neigt 
in ſeinen Nomanen ſogar durchaus zum Grotesken und Karikaturiſtiſchen. Er 
iſt verwandt den modernen Seichnern, die ihre Typen auf die einfachſte Formel 
bringen, dann aber durch die witzige Übertreibung eines Zuges einen Exzentrik⸗ 
Akzent daraufſetzen. So behandelt Wied ſeine Konturen, und er ſchleift die 
Gläfer feiner Stereoſkopkamera, daß fie, gleich den Wänden eines Lachkabinetts, 
Bewegung und Mienen der Menſchenkinder zur Grimaſſe umbiegen. Wied 
übertreibt, um zu entlarven. Er will das, was unter dem glatten Konventions- 
firnis ſteckt, herausholen; es beluſtigt ihn, an allen Dingen den heimlichen 
Pferdefuß, den heimlichen Schlangenſchwanz zu finden und dieſe Parties 
honteuses ſeinen lieben Mitbürgern, die ſolche Naturalia Leibes und der 
Seele zimperlich ignorieren, im ſcharfen Blitzlicht feiner dämoniſchen Narren- 
beſchwörungslaterne zu zeigen. 

Gleich einer feiner beſtgelungenen Geſtalten kommt er durch ſolche Sans⸗ 
eulotte⸗Pſychologie zu dem Beinamen der „leibhaftigen Bosheit“. Aber bos⸗ 
haft tft er im Grunde nicht, oder doch nur gegen die Schönfärber und Atrappen⸗ 
Mitmenſchen, die mit dem Bruſtton und der abgeſtimmten Walze die ſtaatlich 
konzeſſionierten Weltanſchauungen ableiern und vor jeder eigenwertigen, voraus ⸗ 
ke paigs und vorurteilsloſen Meinung entfest fid in ihr Konventionsmäntelchen 

eln. 

Sonſt aber iſt er ein verträglicher, luſtiger Nat, der mit ſeinen Fehlern, 
Schwächen, Abeln zu leben weiß und die anderen mit den ihren leben läßt. 
Nur eingeftehen ſollen fie die „gebrechlicher Einrichtung der Welt“ und ihres 


108 Satyrſpiele 


eigenen Ich und ſich nicht ſpreizen, ſonſt ſtellt er ihnen freilich ſchadenfroh ein 
Bein, ſie ſtolpern, die Toga fällt und in ihrer Blöße ſtehen ſie da. 

Die Zöllner gelten in dieſer Welt mehr als die Phariſäer. And den 
Phariſäern die Maske abzureißen oder vielmehr ſie ihnen, wie im Spaße eines 
Maskenballs, abzuliſten, iſt ein Hauptſpaß für die Laune Wieds. 

Auch in dieſem Satyrſpiel mit dem mathematiſchen Titel „Zweimalzwei 
gleich fünf“ ſpielt ſolch Erkennen der ſchönen Seelen die Hauptrolle. And 
witzig deutet ſchon der Titel an, daß es ſich im Leben nicht um die präftabt- 
lierte Harmonie reſtlos ſtimmender und aufgehender Gleichungen handelt, ſon⸗ 
dern vielmehr um die Angleichungen, um den „Erdenreſt, der zu tragen pein- 
lich, und wär' er von Asbeſt, er iſt nicht reinlich“ und darum „fünfe gerade 
fein zu laſſen“. 

In dieſer Burleske fallen zum Schluß alle Perſonen auf die andere 
Seite und legen ſich aus Vorteilsjägerei neue Aberzeugungen zu. And mit der 
gleichen Emphaſe läuten ſie die neuen Meinungen aus, wie vorher die alten. 

And der eigentliche Lebenswitz liegt nun darin, daß ein junger freiheit · 
licher Geiſt, der Schriftſteller Abel, der immer den Foſſilien gegenüber das 
Recht der Entwicklung vertreten, nun plötzlich, da ein liberales Miniſterium 
am Ruder tft, feine Anſchauungen konventionell für den kleinen Tagesbrauch 
ausgemünzt ſieht. Sein eigener Schwiegervater, der Kanzleirat, der mit dem 
neuen Regime das Weltanſchauungshemd gewechſelt, trägt ihm mit der gleichen 
ledernen Stimme, mit der er früher gegen den Geiſt der Amwälzung gepredigt, 
jetzt das Geſetz der Entwicklung vor. Abel, „der Einzige“, iſt mit einemmal 
ein Herdentier geworden, ein Genoſſe der Vielzuvielen mit der Schlagwort ⸗ 
parole, und da ſchlägt auch er um und geht zu der reaktionären Partei. 

Die erſten Akte dieſes im „Kleinen Theater“ ſprühend aufgeführten 
Stückes find außerordentlich temperamentvoll hingewirbelt, mit einer lächelnden 
Verſchwendung von Einfall und Laune. In der zweiten Hälfte wird der Atem 
etwas ſchwächer und dünner, und man merkt, daß Wied, wie ſo oft die nur 
auf den Witz Eingeftellten, nicht ganz takt⸗ und geſchmackfeſt iſt und daß er 
das Gelächter um jeden Preis erkauft. Trotzdem ſei er uns nicht verleidet, 
denn das Lachen in der Kunſt iſt ja ſo ſelten geworden. 

* % 


2 

Den Namen eines Dichters, der das Lachen zu einem göttlich-infernalifchen 
Element ungeheuerlich und ohnemaßen gefteigert, beſchwor eine Aufführung 
der Kammerſpiele. Den Namen des Ariſtophanes, doch nicht ſeinen Geiſt. 

Den muß man fic wohl im Bild eines wilden, aus ſtrotzend⸗ ausſchwei ; 
fender Phantaſie geborenen Dämons vorſtellen, einer Miſchung aus Cherfites 
und Priapus, doch aus den Augen leuchtet ihm der helle Geiſtesſtrahl der 
Pallas Athene; und in ſeinem Licht erkennt man in dem wüſteſten Spuk den 
Propatria-3ug eines weit und tiefblickenden politiſchen Ingeniums, das, um 
feine Gedanken einem nach ſchrankenloſen Erregungen dürſtenden Volke ein- 
dringlich zu machen, ſeine Hörer mit Skorpionen peitſchte oder ihr Zwerchfell 
mit überlebensgroßen Schamloſigkeiten erſchütterte. 

Das geht für die heutige Bühne nicht mehr in Darſtellung umzuſetzen, 
aus den Büchern nur kann man dieſe ſeltſame Einheit von faunifch-firogenden 
Humoren und kulturell-politiſchem Erzieherwerk erkennen und im wüſt⸗ phan⸗ 
taſtiſchen Hohlſpiegel abgekürzte und zuſammengeballte N des Zeit · 
alters leſen. 


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— „ 27 


Satyrſpiele 109 


Für die Kammerſpiele hatte Leo Greiner die „Lyſiſtrata“ ein- 
zurichten verſucht. Das iſt jenes Werk, in dem die Männer von Athen und 
Sparta miteinander den mörderiſchen Krieg führen und ihn beenden, da die 
Frauen von Athen und Sparta, zu gemeinſamer Sache verbündet, während des 
Waffenſtillſtandes ihren Herren das Herrenrecht verweigern, auf daß die ewig 
im Felde weilenden und ihre Hausfrauen vernachläſſigenden Krieger den harten 
Sinn erweichen und endlich Frieden machen. 

Das Motiv des „ſchwachen Fleiſches“ ward von Ariſtophanes mit einem 
großartigen Humor behandelt. Der Bearbeiter konnte ihn nur verwäſſern und 
verdünnen und er hat das redlich getan. Man dachte dabei daran, wie ein 
deutſcher Dichter und lächelnder Betrachter der Menſchlichkeiten, Ludwig Anzen⸗ 
gruber, das gleiche Motiv ebenfalls in einen kulturellen Zuſammenhang ver- 
ſetzte und durchaus möglich machte. In den „Kreuzelſchreibern“ begibt ſich die 
gleiche paffive Refiftenz der Frauen und das Aushungern der Männer, und 
hinter dieſem Ehekrieg ſteht die Kirche und der Zweck heiligt das Mittel. Das 
iſt ganz im Geiſt des Ariſtophanes, die menſchlich allzumenſchlichen Motive 
mit einer weit und hoch geſpannten Satire auf die beſtimmenden Mächte zu 
verknüpfen, dort war es res publica militans, hier tft es die ecclesia militans. 

Während uns nun aber bei Anzengruber im kleinen Aus ſchnitt der Dorf ⸗ 
geſchichte eine deutſame Perſpektive von der lebensbezwingenden Macht der 
katholiſchen Kirche gegeben wird, und dadurch der Krieg am häuslichen Herd 
eine ſchickſalsvolle Beziehung gewinnt, voll Tragik und Komik zugleich, fehlt 
der blaſſen Ariſtophanes⸗ Verarbeitung fold weiterer Horizont durchaus. Der 
Feldzug zwiſchen Athen und Sparta rückt nicht in genügend nahe Sntereffen- 
diſtanz und fo bleibt nur die Farce der unfreiwilligen Abſtinenzler, die natür- 
lich auch noch ſehr gezähmt werden mußte. 

Was feſſelte, war das Bild. Reinhardt nahm ſich den Text, wie ein 
Kapellmeiſter die Partitur. Er ſetzte ſie in eine wirkungsſtarke akuſtiſche und 
optiſche Snftrumentation um. 

Auf der hochanſteigenden Freitreppe der Akropolis, einem Orchefter- 
podium vergleichbar, baute er ſich ſeinen Frauenchor auf. Da ſchwirrte es 
wie in einer Voliere exotiſcher Wundervögel, es ſchwirrte von Farben, Nil- 
grün, Violett, Safran, Purpur, Blau, Orange und Altroſa, und die leuch⸗ 
tenden Schleier flogen wie Wolkenbänder durch die Luft. And mit den klingen. 
den Farben verſchmolzen die klingenden Stimmen: eine Akropolis Symphonie 
mit einem hymniſchen Satz, dem Preis der Pallas; einem Scherzo, dem Zank⸗ 
chor der Frauen voll Gezwitſcher und Geſchnatter im Stakkatorhythmus; und 
ſchließlich dem Finale Furioſo, dem korybantiſchen Kehraus, da die Männer 
die Burg ſtürmen und ſich die Frauen holen, ein michelangeleskes Schauſpiel 
voll Leibergewimmel und chaotiſchem Tumult im nächtlichen Zwielicht, gleich 
dem Raub der Sabinerinnen. A 


* 
% 


Als Satyrſpiel muß man auch das Werk eines jungen Franzoſen be- 
trachten, den „König Kandaules“ von André Gide. 

Ein Intellektueller mit einem ſpitzen, ſpöttiſchen Geiſt tritt hier an das 
Thema, das Hebbels grübleriſche Seheraugen in Nätſelwelten an den Grenzen 
des Lebens ſuchten und das er mit vifiondrer Schickſalsmacht im Drama „Gyges 
und fein Ring” verdichtete. An die Angeln der Welt rührte das und an die 
unterirdiſche Verkettung menſchlicher Beziehungen; den uralten Prozeß der 


110 Satyrſpiele 


Geſchlechter ließ er in purpurner Dämmerung zu einem delphiſchen Geſicht 
werden. 

Man darf die beiden Werke nebeneinander ſtellen, um ſchärfere Phyſio⸗ 
gnomie-Bejtimmung zu treffen, aber man darf fie nicht vergleichsweiſe abwerten. 
Der ſcharfe, kühle, ſondierende Sinn iſt naturgemäß von geringerer dichteriſcher 
Gewalt als der tiefe, ſchauende Sinn. And in einen Abgrund zu den ſchlangen⸗ 
verknäulten Wurzeln des Geſchehens zu blicken, ſchafft gewaltigere Schauer, 
als den geſchmeidigen Antitheſen eines mathematiſch-pſychologiſchen Kopfes zu 
lauſchen. Das iſt ja ſelbſtverſtändlich. Drum ſcheint es richtiger, über Gides 
Drama nicht den dunkelbreiten Nachtſchatten Hebbels fallen zu laſſen, der ihn 
und fein feines aber dünnes Hirngeſpinſt fo ſchwer belaſtet, und lieber un- 
befangen fein Werk an fic zu betrachten als ein Zeichen franzöfifchen Geiſtes, 
der nicht unſer Geiſt. 

André Gide will, wie er es ſelbſt in ſeinem Vorwort, einem Traktat 
über das Drama ankündigt, durchaus auf das „Menſchlich⸗nahe⸗ bringen ver ⸗ 
sichten, ihm liegt daran, moraliſch⸗geſellſchaftliche Begriffe als ‚Reintulturen‘ 
experimentell zu geben und dadurch eine höhere Wirklichkeitserkenntnis zu 
vermitteln als durch Ausſchnitte aus naher Amwelt. Seine Form iſt ein 
Konzert verſchiedener Charakter-⸗ Spielarten, eine Gedankenfuge, deren Stimmen 
aus den Mund und Schallöffnungen von Masken kommen. 

Das paßt natürlich viel mehr für das Buchklima als für die Bühne, 
ſonſt könnte man ja ſchließlich auch platoniſche Dialoge aufführen. 

Gides Ziel iſt dabei, abſolut und fubftantiell zu wirken, wenn er fo vom 
äußern Drum und Dran des Lebens abſieht und die Bewegungen der Cha- 
raktere auf Grundzüge reduziert, und ſeine Theſe lautet: „Das Mittel, das 
Theater aufs neue mit Charakteren zu beleben, iſt, es wieder vom Leben zu 
entfernen.“ 

Es iſt ein Anregungsſpiel, zuzuſehen, wie dieſe Theorien von einer ſehr 
gewandten Hand mit geiſtiger Eleganz entfaltet werden, doch dieſer recht 
anſpruchsvollen Ouverture gegenüber find die Inhalte und Refultate des eigent- 
lichen Werkes ziemlich geringwichtig. 

In Kandaules und Gyges ſtehen ſich, ähnlich wie in den ſozialen Kontraſt - 
figuren in Strindbergs „Fräulein Julie“, die morſche, an ſich ſelbſt krankende, 
zweifelſüchtige Oberkaſte und die robuſte, durch nichts angefochtene — weil ſie 
nichts verlieren kann und darum alles gewinnen — Niederungskaſte gegen- 
über: König und Fiſcher. Die Selbſtſicherheit des Beſitzloſen wühlt die ver · 
wirrten, im Genuß und Aberfluß verſchmachtenden Inſtinkte des Herrſchers auf 
und treibt ihn zu dem fiebrigen Gelüſt, dem anderen die Königin nicht nur im 
Schlafgemach zu zeigen, ſondern auch, durch das Dunkel der Nacht und durch 
die Verkappungsmacht des Ringes gedeckt, Gyges ſtatt ſeiner das Lager der 
Frau teilen zu laſſen. Der Fortgang iſt zunächſt wie bei Hebbel, daß die 
Königin, als ihr der Trug klar wird, den Gyges zur Tötung des Kandaules 
aufreizt. 

Der letzte Sinn des Ganzen als ein Satyrſpiel aber enthüllt ſich in der 
Schlußſzene. Hier will Königin Nyſſia, die ſich dem neuen Gatten gegenüber 
als Königsmacherin aufſpielt, die ſich freigeworden fühlt, ihre neue Freiheit 
fic) beſtätigen und unverfchleiert mit den trinkenden Männern bei Tiſch ſitzen: 
„Meinen Schleier hat Gyges zerriſſen“, ſagt fie höhniſch. Da fährt fie Gyges 
brutal an: „So nähe ihn wieder zuſammen.“ Man merkt, das Weibchen 


Satyriptele 111 


hat ihren Herrn gefunden. Der Emporgekommene hat den feſteren Griff und 
wird ſein Eigentum ſtärker zu packen und zu halten wiſſen als der Aberſättigte, 
dem in der Fülle Macht und Wille welk ward. 

Das iſt logiſch und überzeugend, und auch ſonſt gibt es manch heim ; 
liche ſeeliſche Sronien zu ſpüren, aber fo verblüffend, wie man es nach dem 
Vorſpruch hätte erwarten dürfen, iſt die Erkenntnis denn doch nicht. 

So läßt das Gehirnpräparat uns kühl. 

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* 

„Als Gehirnpräparat wirkt auch die Arbeit eines jungen Dramatikers, 
Julius Bab: „Der Andere“, nur daß hier nicht, wie bei dem Franzoſen, 
eine fo ſichere Selbſterkenntnis herrſcht. Denn Bab glaubt ſicher, daß er Ge⸗ 
ſtalten und ſtrotzendes Leben gegeben hat. 

Dem André Gide kann man nicht gut feine Blutloſigkeit und feine Ge- 
dankenbuhlſchaft tadelnd anmerken, denn er bekennt ſich ſelbſt freiwillig dazu. 

Bab aber hat die Sllufion, Fleiſch⸗ und Blutgeſchöpfe bingeſtellt zu 
haben, ſieht man ſie aber an, jo merkt man, daß fie Figuranten einer begriff- 
lichen Rechnung find. Und wenn bei Gide die Rechnung wenigſtens ſtimmt, 
ſo geht ſie hier in die Brüche, der Autor ſetzt ein effektvolles Fazit darunter, 
das niemals als wirkliches Ergebnis und Reſultat aus den Vorausſetzungen 
herauskommen kann. 

Einen alten italieniſchen Novellenſtoff nimmt ſich Bab, um aus ihm 
ſeeliſche Geheimniſſe herauszuwittern. 

Ein Maskeraden - und Faſchingsmotiv — junge Maler machen einen ge- 
ſpreizten Biedermann betrunken, ſetzen ihm einen Doppelgänger ins Haus, der 
nun mit allem Schein des Rechten den armen „Ent-Ichten“ von der Schwelle 
ſcheucht, bis fic alles in Heiterkeit löſt —, dies Motiv, das ſchwankhaft Geibel 
in ſeinem „Meiſter Andrea“ behandelt, wird auf die tiefern Möglichkeiten 
der Gefühlsverwirrung, des aus den Fugen geratenen Identitätsbewußtſeins 
angeſehen. And dankbar dafür iſt es gewiß und voll tragiſcher Ironien der 
Unficherheit des Lebens. Dies Marionetten- und Puppenſpielhafte der Exiſtenz, 
das: „Du glaubſt zu ſchieben, und du wirft geſchoben,“ die ſeeliſchen Verhext - 
heiten, dies alles bannt Arthur Schnitzler mit wiſſendem Blick und gelaſſener 
Gebärde. Bab aber macht daraus ein ſchwefelndes Feuerwerk, das nur ſpekta · 
kelt und verpufft und keinen Glauben erzwingt. 

Das eigentliche Intereſſe gilt hier übrigens nicht dem um fein Ich ge- 
prellten, ſondern dem „Anderen“, der den Doppelgänger ſpielt. Das iſt Ceſare 
Vincenti, der Garbenreiber der florentiniſchen Maler. Ein dumpfer, ge ⸗ 
drückter Menſch ſchleppt er ſich dahin, er hat ſeine Lebenskraft verloren, weil 
ihm feine Jugendliebe, die ſchöne Elena, den reichen Patrizier Ambrogio vor- 
zog, und jetzt ſoll er gerade bei dieſem Intrigenſpiel dieſen Ambrogio dar- 
ſtellen und ſeines alten Widerſachers Platz einnehmen. 

Ein theaterwirkſame Vorausſetzung. Bab aber will uns nun daraus 
auch eine ſeeliſche Steigerung herausrechnen. Dieſer melodramatiſche Charakter, 
den enttäuſchte Liebe fo niedergezwungen und verſchüttet hat, ſoll nun mit 
einemmal durch den Gewandwechſel zu einem Machtmenſchen erwachen, der 
alles um ſich herum, die Elena und die Anſtifter der Poſſe zum Glauben an 
ſein angeſtammtes Herrſchertum zwingt, und der, nachdem er an allen ſeine 
Genugtuung gebüßt, ſouverän die Rolle hinwirft und fich etwas vage als ein 
freier Weltwanderer davon hebt. 


112 Weiſers Tetralogie „Jeſus⸗ 


Als hohle Theatralik und bequeme Drehbühnenpſychologie wirkt das. 
And dem Selbſtmord der Elena, die vorher als eine naſchſüchtige Liebeskünſt⸗ 
lerin exponiert worden war, fehlt auch jede innerliche Wahrheit. Wo dem 
Dramatiker Begriffe fehlen, da ſtellt der Tod zu rechter Zeit ſich ein. So wirkt 
dieſe tragiſche Komödie als ein Satyrſpiel wider Willen. 


Felix Poppenberg 
2 


Weiſers Tetralogie „Jeſus“ 


De daß Richard Wagner feinen „Chriſtus“ nicht vollenden konnte, iſt nicht 

7A nur für die Opernbühne ein Verluſt. Da „man“ fic an fein Werk 
; wohl ebenſowenig herangewagt haben würde, wie im allgemeinen 
an die Klaſſiker, ſo hätte ſein Vorbild einen Präzedenzfall für die Verwertung 
der Perſönlichkeit Chriſti ſelbſt auf der Schaubühne geſchaffen. Denn ſoviele 
Dichter ſich auch um die dramatiſche Geſtaltung des Jeſusproblems gemüht 
haben, man muß doch ſagen, daß bisher alle, auch die ernſthafteſten und liebe ⸗ 
vollſten Arbeiten, an der Schwierigkeit geſcheitert ſind, den Helden ſelbſt auf 
die Bühne zu bringen. Karl Weiſer, der verdienſtvolle Regiffeur des Wei⸗ 
marer Theaters, der auch als Dramatiker bereits Beachtung gefunden, hat nun 
vor kurzem eine dramatiſche Tetralogie veröffentlicht, die unter dem Titel 
„Jeſus“ eine Dramatifierung der Heiligengeſchichte darſtellt. (Erſchienen in 
Reklams Aniverſalbibliothek, Nr. 4791—94. In einem Band gebunden 1,20 Mk.) 

Da die Zenſur mit Rüdficht auf das Auftreten des Heilands eine öffent ⸗ 
liche Aufführung wohl kaum in abſehbarer Zeit geftatten wird, eine ſolche in ge ; 
ſchloſſenem Kreiſe wegen der erheblichen Schwierigkeiten auch nicht zu erwarten 
iſt, fo muß man ſich zunächſt damit begnügen, an der Hand des Buches nach- 
zuprüfen, ob und wieweit Weiſer des wuchtigen Stoffes Herr geworden iſt. 

Die Dichtung zerfällt in vier fünfaktige Dramen: „Herodes der Große“, 
„Der Täufer“, „Der Heiland“, „Jeſu Leid“. Sie beginnt in den Tagen vor 
Jeſu Geburt und endet am Tage ſeines Todes. 

Der Dramatiker, der an den Jeſus⸗Stoff herantritt, ſteht von vornherein 
vor der Entſcheidung über eine einſchneidende Frage: wie er ſich zu den Wunder⸗ 
taten Jeſu ſtellen ſoll! 

Weiſer iſt dieſer Frage von Anfang an durch ſeine Auffaſſung von dem 
Stifter der chriſtlichen Religion aus dem Wege gegangen. Er hat alles Wunder · 
bare von Jeſus abgeſtreift, alles Göttliche ausgeſchaltet und in ihm einen 
Menſchen hingeſtellt, der ſich nur wenig über die andern erhebt, je nach dem 
Temperament des Beſchauers ſogar unter ihnen zu ſtehen ſcheint. Weiſer hat 
es alſo gemacht wie jene Geiſtlichen, die den Mitgliedern ihrer Gemeinde jede 
gewünſchte religiöſe Freiheit geſtatten, um fie nur äußerlich dem Sufammen- 
ſchluß zu erhalten. Dabei kommt aber auch er nicht über die Hinderniſſe hin⸗ 
weg, die die Aberlieferungen der Evangeliſten jeder rein vernunftgemäßen Aus- 
legung entgegenſtellen. 

Man muß ſich wundern, daß Weiſer, der von ſeinem Berufe her doch 
mit allen Forderungen wirkſamer Dramatik vertraut ſein dürfte, mit ſo grober 


Pſychologie ſich begnügt. 


Weiſers Tetralogie .Sefus 113 


Die von der Theologie aufgegebene Annahme, daß Jeſus fi) aus fremden 
Religionen feine „eigene“ gebildet habe, greift Weiſer wieder auf. Der 16jährige 
Knabe zieht nach Indien, von wo er als Arzt zurückkehrt. 

„Ich machte den Weg, den auch die Menſchheit 
Vielleicht im Gleichnis wandern muß, 

Am in das Land der Wahrheit zu kommen! — — — — 
Ich zog den Afern der Ganga nach, 

And ſah ein edles, ein weiſes Volk — — 

Beglückt durch die Gotteslehre des Mitleids! —- 

So kehrt er nach zehn Wanderjahren zurück, um die Lehre der Liebe 
zu verkündigen. Aber nicht als Meſſias, denn er hält ſich nur für ein „ſchlichtes 
Menſchenkind“. 8 

Von ſeinen Lippen träufen bis zur Peinlichkeit immer und immer wieder 
die Worte „Liebe“, „Mitleid“, „Mitleid“, „Liebe“. Seine Kenntniſſe — er iſt 
Arzt geworden — verwertet er, den Armen und Elenden zu helfen. Sein Ruf 
verbreitet ſich, und als ſein Freund und Lehrer, Johannes der Täufer, ihn 
ſterbend als den Meſſias bezeichnet, ſchart ſich um ihn alles, was auf eine 
Rettung aus leiblicher und ſeeliſcher Not hofft. 

Die beiden erſten Teile des Werkes vermögen zu feſſeln. Zwar iſt es 
Weiſer nicht gelungen, den gewaltigen Hintergrund, von dem ſieghaft empor⸗ 
gereckt die eine Geſtalt des Meſſias ſich abheben müßte, in der zu fordernden 
graufigen Größe zu ſchildern. Hier ſchreit nicht eine Welt nach Erlöſung aus 
Druck und Not! Hier ächzt nicht einmal ein Volk unter dem ſchlummernden 
Bewußtſein ſittlicher Verkommenheit! Hier klingt nicht in tauſend feinen und 
doch fo vernehmbaren Untertönen die ſchmerzvolle Sehnſucht Tauſender an! 

Hier iſt bloß eine arg degenerierte Herrſcherfamilie, in der der Wille 
zur Macht und Größe zerſtiebt und zermorſcht in der Ausgeilung ungezügelter 
Brünſte! Die in Herodes dem Großen noch einen Mann gezeitigt hat, in 
deffen Hirn Königsdenken und empfinden keimt und ſprießt, in deſſen Herzen 
Herrſcherträume ſtürmen, deſſen Kraft aber zermürbt in dem Kampfe des ein- 
zelnen gegen eine Welt und ſein Geſchick! Die dann in Herodes Antipas das 
letzte Glied einer in Fäulnis zerfallenden Naſſe gezeugt hat, in Herodias und 
Salome zwei prangende Purpurbliiten, die auf zermorſchtem Stiele noch hoch 
und ſtolz ihre Schönheit tragen und Irrlichtern gleich alles, was ihnen zu nahe 
kommt, in den Sumpf niedrigſter Verderbnis ziehen! Zwei Frauen, in denen 
ſich die brünſtige Gier eines ganzen Geſchlechts, die ſchwülen Blutſäfte orien- 
taliſcher Sonnen zu einer alles verzehrenden und aufſaugenden Triebüberreife 
verdichtet haben. \ 

Die Familie Herodes iſt von Weiſer am beſten und treffficherften 
charakteriſiert mit der ganzen Liebe des Dichters, der auch in feinen ver- 
worfenſten Geſchöpfen die Spuren von Menſchentum und Menſchengröße auf ; 
zudecken weiß. 

And das Volk, das ſolchen Herrſchern untertan iſt? 

Ein erbärmlich Häuflein ohne jeden Zug feſſelnder Eigenart! Knechtiſch 
dem Fürſten und den Römern untertan, dabei voll Hochmut gegen die Ge⸗ 
ringeren unter ſich! Die Pfaffen falſch und geſchäftseifrig, die große Maſſe 
einfältig und plump. Von einem Streben nach Höherem nichts zu ahnen! 

And Jeſus? Was bedeutet in dieſem Nahmen das Bild dieſes Mannes? 

Ich habe bereits betont, daß Weiſer alle Geſchehniſſe vermenſchlicht hat. 
Am einige Beiſpiele zu nennen: Der Jüngling von Nain war ſcheintot; der 

Ger Türmer X, 7 8 


114 Weiſers Tetralogie, Jeſus 


Engelschor in Betlehem der Geſang vorüberziehender Knaben; die Speiſung 
der Fünftauſend geſchieht dadurch, daß nach der eindringlichen Mahnung 
Jeſu die Leute untereinander die heimlich mitgebrachten Vorräte teilen. 

Die Auferſtehung fällt nicht mehr in die Handlung des Dramas. Aber 
fie wird auch gar nicht körperlich aufgefaßt, ſondern rein geiſtig. Als ein 
Fortleben ſeiner Gedanken und Lehren in den Herzen ſeiner Jünger. Auch 
das Gefühlsleben Jeſu iſt durchaus menſchlich. Zu der ehemaligen Dirne 
Magdalena ſagt er: „Wäre mir nicht die Sendung vertraut, ich hätte dich 
lieben können, wir wären ein glückliches Menſchenpaar geworden.“ 

Mir ſcheint, daß Weiſer mit dieſer Darſtellung des Jeſusproblems ſich 
gründlich zwiſchen zwei Stühle geſetzt hat. Unter den Frommen im Lande 
wird ein großes Wehklagen und Zähneklappern über dieſe Verunglimpfung 
des Heilands ſein, nur gemildert durch die freudige Gewißheit, daß im Lande 
der Dichter und Denker eine fürſorgliche Zenſur weislich ihres Amtes waltet. 
And die anderen, die fähig ſind, ein Kunſtwerk nur als ſolches zu genießen, 
ohne zu forſchen nach Tendenz, Abſicht, Beziehungen und Grundlagen, werden 
ſich abwenden, weil dieſe Jeſustetralogie kein Kunſtwerk im höchften Sinne iſt. 
Sie tft ein kühles, nüchternes Theaterſtück! 

Nicht von ſchlechter Mache! Was zuzugeben iſt! 

Aber der Geſamteindruck? 

Es handelt ſich um den vielleicht gewaltigſten Stoff der Menſchheits⸗ 
geſchichte. 

Fühlen wir bei der Lektüre von Weiſers Drama den ehernen Schritt 
weltgeſchichtlicher Entwicklung über die Szene wuchten? Stürmt ein Föhn 
von Süden her mit welteneinreißender Gewalt über die Lande? Grollt ein 
unterirdiſch Nollen zu uns herauf, das die Erde in ihren Fugen beben macht 
und Welten umzuwälzen droht? Flammt eine leuchtende Lohe auf, deren 
jauchzender Schein Licht trägt in die dunkelſte Finſternis? Jubelt ein Er- 
löſungsſchrei von ſteilen Höhen hinab ins Tal, vielfältig widerhallend und 
fortgepflanzt von einer aufhorchenden Menſchheit? — 

O ihr Anſpruchsvollen, ihr, die ihr ein Sehnen in euch tragt nach wahr · 
haft großer Kunſt, groß in Form wie in Inhalt! 

Ein Menſchlein ſchleicht über die Erde, ſich und andere berauſchend am 
Schwall ſchwärmeriſcher Phraſen, ohne Kraft und Größe, ohne jedes Menfchen- 
herz packende Gedanken, ohne pſychiſche Senſationen, ein Pfäfflein im ärzt- 
lichen Gewande, ein armer Jude, der ſein Joch geduldig ſchleppt wie vorher 
und nachher Tauſende ſeines Stammes! Ein paſſiver Held! — 

Ein paffiver Held! — Die Paffivität ſteht jedem Tragödienhelden ſchlecht! 
Konnte keinem ſchlechter ſtehen als dem Helden einer weltgeſchichtlichen Tragödie! 
Das Tragiſche erdrückt das Perſönliche hier. 

Dieſer Jeſus iſt nicht Schickſalsbringer, Schickſalsträger. Er wird ge⸗ 
tragen vom — Zufall! Von der Gunſt der Zeit! Er fühlt ſich nicht als Meſſias, 
berufen, ſein Volk zu erlöſen! Seine Sendung wird ihm von den Jüngern, 
vor allem von Judas, förmlich aufgezwungen. Sie ſchieben ihn, ſie drängen 
ihn hinein ſelbſt in den Märtyrertod. 

In einem Nachwort bezeichnet Weiſer die Tetralogie als fein Lebens ⸗ 
werk. Aber die Aufnahme, die ſie bei der Vorleſung durch den Verfaſſer in 
engem Kreiſe fand, ſchrieb Profeſſor Lehmann ⸗ Hohenberg: „Das iſt ein Werk 
ſo gewaltig und wuchtig, daß es, vor größeren Volksmaſſen aufgeführt, 


Her neueſte Büchmann 115 


alles unwiderſtehlich hinreißen würde. Keine Predigt kommt gegen dieſe 
Wahrheitsverkündigung in idealer Sprache an; man mag wollen oder nicht, 
unſer Innerſtes wird in ſeinen geheimſten Tiefen erſchüttert und 
eine geiſtige Neugeburt vollzogen.“ 

Ich weiß nicht, ob der Herr Profeffor eine beſonders empfängliche Natur 
oder Weiſer ein außerordentlich eindrucksvoller Vorleſer iſt. Wohl aber weiß 
ich, daß mein anfangs erwecktes Intereſſe von Akt zu Akt abnahm und ich 
vom dritten Teile ab viertelſtündlich nachſah, wieviel Seiten ich noch zu über. 
winden hätte. Das Herz blieb kühl und die Seele unberührt! Bleierne Lange⸗ 
weile legte langſam ihre grauen Schatten auf die Sinne. 

Dieſe Enttäuſchung einer heimlich ⸗hoffenden Sehnſucht aber hat mir die 
Meinung zur Gewißheit gemacht, daß die Behandlung des Jeſusproblems im 
Rahmen unſerer gewöhnlichen Bühne unmöglich iſt. Wir denken meiſt doch 
zu rationaliſtiſch, als daß uns Wunder glaubhaft gemacht werden könnten. 
And eine natürliche, vermenſchlichte Darſtellung wird niemals das Ideal er- 
reichen, das bei aller Skepfis noch immer in unſerer Gefühlswelt herrſcht. 

Doch Weiſer reflektiert nach ſeiner eigenen Angabe gar nicht oder nur in 
zweiter Linie auf Aufführungen ſeines Werkes an ſtändigen Bühnen. Schon 
mit Rückſicht auf das zu erwartende Senfurverbot. 

Aber es hat ſich, wie er mitteilt, bereits ein Ausſchuß gebildet, der Feft- 
auf führungen der Jeſusdichtung veranftalten will. Er meint, dagegen „könne 
auch die Senfur nichts einzuwenden haben. Denn wenn das katholiſche Bayern 
ſeine Oberammergauer Paſſionsſpiele hat, warum ſollte das proteſtantiſche 
Weimar nicht feine Jeſus⸗Darſtellung haben dürfen?“ 

Abgeſehen davon, daß ich Weiſers Vertrauen auf die Intelligenz der 
Senfur für übertrieben erachte, halte ich noch aus anderen Gründen dieſe Hoff ⸗ 
nungen für unerfüllbar. Ich bin aber auch überzeugt, daß die Aufführung eine 
wirklich tiefe, nachhaltige Wirkung nicht erzielen würde! Wir ſind um eine 
ernft zu würdigende, weil hochſtrebende Arbeit reicher, aber um ein Buchdrama. 
Unfere Bühne hat keinen Gewinn davon! — 

Erich Köhrer 


bs 
Der neueſte Büchmann 


ſpricht von einem „Büchmann“, wie man von einem „Baedeker“ ſpricht, 
— ohne noch fo recht daran zu denken, daß Büchmann und Baedeker 
eigentlich einmal lebendige Menſchen waren. Der neueſte Büchmann, der vor 
kurzem für alle Zitatenfreunde als unentbehrliches Hilfsmittel, als Lückenbüßer 
für die Fälle, in denen einem durchaus nichts Eigenes einfallen will, im neuen Ge⸗ 
wande erſchien (die 23. vermehrte und verbeſſerte Auflage, 140. bis 150. Tauſend, 
Verlag von Saude & Spener in Berlin), hat denn auch ganz recht daran 
getan, das Wort „Büchmann“ ſelbſt als eines ſeiner Schlagworte aufzunehmen 
und zur Erläuterung hinzuzufügen die Redensart für zitatenreiche Leute: „Sie 
find ja der reine Büchmann.“ 
Was find geflügelte Worte? Büchmann ſelbſt war nach mehrfachen 
Schwankungen in der Begriffsbeſtimmung zuletzt zu der Erklärung gekommen: 


116 Der neueſte Büchmann 


„Geflügelte Worte nenne ich ſolche Worte, welche von nachweisbaren Verſaſſern 
ausgegangen, allgemein bekannt geworden ſind und allgemein wie Sprichwörter 
angewendet werden.“ Büchmanns Nachfolger in der Herausgeberſchaft, Walter 
Robert-Tornow, hat eine anſcheinend beſſere Erklärung dahin gegeben: „Ein 
geflügeltes Wort iſt ein in weiteren Kreiſen des Vaterlandes dauernd an- 
geführter Ausſpruch, Ausdruck oder Name, gleichviel welcher Sprache, deſſen 
hiſtoriſcher Arheber oder deſſen literariſcher Arſprung nachweisbar iſt.“ Ich 
glaube, dieſe Erklärung läßt ſich nicht aufrecht erhalten, denn die Nachweis⸗ 
barkeit hängt doch nur vom Grade der Beleſenheit oder des Spürſinnes 
der Forſcher und der Herausgeber ab. Entſcheidend ſollte einzig fein die all. 
gemeine Anwendung eines Ausſpruchs, Ausdrucks oder Namens, — mögen 
dann die forſchenden Liebhaber zuſehen, ob ſie den erſten Verfaſſer aufſtöbern 
oder nicht. 

Die neueſte Auflage des Büchmann iſt zu meiner Freude trotz manchen 
Bereicherungen etwas dünner geworden, ſcheint mir aber immer noch viel zu 
dick. 767 Seiten find für ein Hand⸗ und Nachſchlagebuch dieſer Art zuviel. 
Ich glaube, das treffliche Werk ließe ſich durch eine andere Satzform, namentlich 
durch eine ſparſamere Satzanordnung des Rieſenregiſters (nahezu 200 Seiten), 
aber auch durch Kürzung vieler allzu weitſchweifiger gelehrter Anterſuchungen 
auf den Umfang eines bequemen Handbuches von 4 500 Seiten zurückführen, 
ohne daß ſein ſachlicher Wert irgend etwas einbüßen müßte. Ich halte es nicht 
für nötig, bei der Angabe der Quelle des geflügelten Wortes „Kühl bis ans 
Herz hinan“ ein Wort mehr zu ſagen, als daß es aus Goethes „Fiſcher“ 
ſtammt. Niemand verlangt bei dieſer Gelegenheit die gelehrte Angabe, daß 
Goethes Fiſcher zuerſt mit der Muſik eines Freiherrn von Seckendorf in der 
und der Liederſammlung in Weimar 1779 auf Seite 4, und in demſelben Jahr 
in einer Sammlung von Volksliedern Herders im zweiten Teil auf Seite 3 er- 
ſchienen iſt. Ebenſo halte ich es für ganz überflüſſig, über die Fundſtelle der 
Wendung „Ein konfiszierter Kerl“ ein Wort mehr zu ſagen als: Schillers 
Kabale und Liebe, Akt 1, Szene 2. Wozu brauchen wir zu erfahren, daß ein 
den meiſten ganz unbekannt gewordener Karl Hoffmeiſter in ſeinem „Leben 
Schillers“ irrtümlich behauptet hat, es ſtehe in den Räubern? Die Philologie 
in allen Ehren, aber weg mit ihr, wo ſie nicht hingehört. 

Ein Buch wie dieſes kann natürlich niemals vollſtändig werden. Indem 
ich einzelne Lücken nachweiſe, will ich dem Herausgeber, Prof. Eduard Ippel, 
nicht etwa einen Vorwurf machen, fondern ich will ihm ein Zeichen meiner Teil ⸗ 
nahme und Anerkennung geben, um ſo mehr, als ich weiß, daß er allen ſolchen 
Anregungen forſchend nachgeht und fie berückſichtigt, wenn er es für zweck⸗ 
mäßig hält und — wenn er den Arſprung ermittelt hat, was ich, wie geſagt, für 
das Weſen eines geflügelten Wortes nicht notwendig finde. Der Herausgeber 
hat manche politiſche Wendungen aus allerneueſter Zeit hinzugefügt, u. a. auch 
„Scharfmacher“. Da ſollte denn auch das Wort „Wadenſtrümpfler“ nicht 
fehlen, fo ſchwer auch die Nachweiſung des Urfprunges fein mag. Ich ver- 
miſſe ferner die genau nachweisbare, von Bismarck zuerſt berichtete Außerung 
Moltkes von der „Schamade und Fanfare“ bei Gelegenheit der Emſer Depeſche. 
Ich vermiſſe die bei den Franzoſen wie bei uns üblich gewordene Nedensart 
„A corsaire — corsaire et demi“ (Auf einen Schelmen anderthalbe), eine Lieblings 
redensart Bismarcks. Warum iſt der Ausdruck eines öſterreichiſchen Miniſters 
vom „Fortwurſteln“ nicht aufgenommen worden, der zwar nicht für Oſterreich, 


Der neueſte Büchmann ö 117 


wo das Wort nichts Auffallendes hat, wohl aber für Deutſchland zum ge ⸗ 
flügelten Worte geworden iſt? Auch Fritz Reuters tiefſinniger Ausſpruch: 
„Wat dem einen fin Ahl, is dem annern fin Nachtigall“ vermiſſe ich ungern. 
Gern erführe ich auch, wo ſich zuerſt die Geſchichte von den „Krokodilstränen“ 
finden mag. 

Als Beiſpiele für die auszumerzenden Redewendungen und ihre Er. 
klärungen führe ich an: „Schlag auf Schlag“ und „Zittern und Zagen“. Wen⸗ 
dungen dieſer Art bedürfen keiner Erklärung; es wird keinem Menſchen ein- 
fallen, „Schlag auf Schlag“ für ein geflügeltes Wort zu halten und nach einem 
erſten Arſprung zu ſuchen. Läßt man ſich auf ſolche zum eiſernen Beſtande 
jeder Sprache gehörenden Wendungen ein, dann kommt man zu einem gefchicht- 
lichen Wörterbuch der Sprache anſtatt zu einer Sammlung geflügelter Worte. 

Nun aber zu den wirklichen Schätzen unſeres vortrefflichen Büchmann. 
Aberraſchend iſt es für einen nicht ſehr bibelkundigen Leſer, zu erfahren, welche 
reiche Quelle Luthers Bibelüberſetzung für die deutſche Alltagsſprache geworden 
iſt. Wer denkt an den bibliſchen Arſprung von Wendungen wie: ſich wie ein 
Mann erheben, — nicht aus noch ein wiſſen, — es koſtet den Hals, — ſich 
etwas über den Kopf wachſen laſſen, — Lückenbüßer, — die Haare ſtehen mir 
zu Berge, — nicht von geſtern fein, — Gewiſſensbiſſe, — der große Un- 
bekannte, — Bubenſtück, — eherne Stirn, — Kopfhänger, — Lockvogel, 
(daher auch das heutige Lockſpitzel, auf deſſen erſte Prägung Karl Henckell ſo 
ſtolz iff), — Mohrenwäſche, — Denkzettel, — früh aufftehen — in der Be⸗ 
deutung: beſonders klug fein). — Viſchers Romantitel „Auch Einer“ hat feinen 
Arſprung in einer Lutherſchen Aberſetzungswendung. 

Worüber ſonſt Büchmann Auskunft gibt, das ſieht man aus folgenden 
Beiſpielen, die alle fo klingen, als gehörten fie überhaupt zu den Urbeftand- 
teilen deutſcher Sprache, oder als ließe ſich für ſie eine erſte Quelle unmöglich 
nachweiſen. Ich nenne u. a.: Das Gras wachſen hören, — wer zuerſt kommt, 
mahlt zuerſt, — den Wald vor Bäumen nicht ſehen, — die Macht der Ver. 
hältniſſe. Wo kommen zuerſt vor: Die blaue Blume der Romantik, das 
glänzende Elend, das Hohngelächter der Hölle, ein Genieſtreich? Wo wurde 
zuerſt das tiefe Wort gebraucht von den langſam mahlenden Mühlen Gottes, 
wo das von des Sängers Höflichkeit? Wer hat zuerſt „in ſieben Sprachen 
geſchwiegen“? Nicht Moltke, ſondern der Berliner Philologe Bekker, wie aus 
einem Briefe Zelters an Goethe hervorgeht. 

Aberraſchend find viele Arſprungsnachweiſe im Büchmann. Wer möchte 
ohne den urkundlichen Beweis glauben, daß ein Ausdruck wie „Volk der Dichter 
und Denker“ nicht zuerſt von einem deutſchen, ſondern von einem engliſchen 
Schriftſteller gebraucht wurde: von Bulwer in „Erneſt Maltravers“ (1837) und 
zwar in der Form einer Widmung ſeines Romans „An das große deutſche 
Volk von Denkern und Kritikern“, woraus dann „Volk der Dichter und Denker“ 
mit der den geflügelten Worten gegenüber fo oft geübten Freiheit der Um- 
formung gemacht wurde. 

Der Ausſpruch kuror teutonicus ſtammt nicht etwa von Bismarck, ſondern 
iſt römiſchen Arſprungs und kommt zuerſt bei Lucanus (aber nicht dem Ge- 
heimrat, der die Miniſter holt) vor. — „Meergreis“ ſteht zuerſt bei Homer 
für Proteus. — „Meine beſſere Hälfte“ iſt nicht deutſchen, ſondern engliſchen 
Arſprungs. „Es gibt keine Kinder mehr“ iff auch nicht deutſch, ſondern nur 
die wörtliche Aberſetzung einer ſcherzhaften Wendung bei Moliere. 


118 Neue Bücher 


Das ficherfte Zeichen der Volkstümlichkeit eines geflügelten Wortes iſt 
ſeine Verdrehung im Volksmunde. Mehr als die Hälfte aller berühmten Zitate 
aus Dichterwerken wird falſch angeführt. Goethe ſagt im Taſſo nicht: „Man 
merkt die Abſicht und man wird verſtimmt“, ſondern: „So fühlt man Abſicht 
und man iſt verſtimmt“. Der Mohr in Schillers Fiesko hat nicht feine „Schul- 
digkeit“ getan, ſondern ſeine „Arbeit“. In Schillers Tell heißt es nicht: „Wir 
wollen ſein ein einig Volk von Brüdern“, ſondern: „ein einzig Volk von 
Brüdern“. In jedem der angeführten Fälle läßt ſich eine Entſchuldigung für 
die Amdichtung im Volksmunde finden. 

Beſonders kühn verfährt der Volksmund mit den geflügelten Worten 
aus der Geſchichte. Das berühmte Wort „Der Starke weicht mutig einen 
Schritt zurück“ von Manteuffel aus dem Jahr 1850 hat in feinem urfpriing- 
lichen Zuſammenhange nichts Komiſches, ſondern klingt durchaus ſtaatsmänniſch, 
nämlich wörtlich fo: „Das Mißlingen eines Planes hat immer etwas Schmerz ⸗ 
liches; es wirkt aber verſchieden auf den Starken, verſchieden auf den Schwachen. 
Der Schwache gelangt dadurch in eine Gereiztheit; der Starke tritt wohl 
einen Schritt zurück, behält aber das Ziel feſt im Auge und ſieht, auf 
welchem anderen Wege er es erreichen kann.“ Dem allgemein verhaßten Man- 
teuffel hat der Volksmund dieſen ſehr vernünftigen Ausfpruch in eine Lächerlich ⸗ 
keit verdreht. 

Die neueſte Auflage des Büchmann enthält gegen 3600 geflügelte Worte. 
Eigentlich ein furchtbarer Gedanke, wenn man ſich vergegenwärtigt, daß dies 
nichts anderes bedeutet, als daß die Sprache der gebildeten Deutſchen mit ſo 
vielen tauſenden von Wendungen durchſetzt iſt, die nicht aus ihren eigenſten 
Empfindungen herauswachſen. Die franzöſiſche Bezeichnung dieſes Teiles des 
Sprachſchatzes eines Volkes als „Geiſt anderer Leute“ zeigt uns die große Ge- 
fahr, die einem Volke mit ſo großer Beleſenheit wie dem deutſchen aus ſeiner 
Bildung erwächſt. Immer mehr gewöhnt man ſich daran, durch geiſtreiches 
Zitieren die eigenen dürftigen Gedanken blendend aufzuputzen und dem Zuhörer 
Staunen über den geiſtreichen Redner einzuflößen. Es gibt ja allbekannte 
Männer, die wir uns ohne Büchmann überhaupt nicht mehr vorſtellen können. 
Ich muß ſagen: mir hat das an ſich ſehr unterhaltſame Durchblättern dieſes 
dicken Bandes die Aberzeugung beſtärkt, daß es doch nur die Geiſter zweiten, 
dritten und tieferen Ranges find, die ihre Reden und Schriften möglichft 
reich mit geflügelten Worten, mit dem Geiſte der andern zu ſchmücken ſuchen, 
und daß ſich ein eigener guter Gedanke ohne alles Zitieren eigen und gut aus. 
drücken läßt. Eduard Engel 


r 


Neue Bücher 


Gerhard Ouckama Knoop, „Nadeshda Bachini“. Roman. (Egon 
Fleiſchel & Ko., Berlin.) 

Der Verfaſſer iſt in Bremen geboren und lebt ſeit langer Zeit in Ruß- 
land. Er hat zuerſt durch einen hanſeatiſchen Roman „Hermann Osleb“ von 
ſich reden gemacht, der ſich durch eine Fülle feiner Beobachtungen und durch 
die Kunſt, eine ſtete Entwicklung ohne weſentliches äußeres Geſchehen vor- 
zuführen, auszeichnet. An dieſem zweiten Buche merkt man, wie wertvoll aber 
doch der geſchloſſene Stoff für die Entfaltung der zweifellos ſtarken Begabung 


Neue Bader 119 


des Verfaſſers geweſen ift. Gerade da ihm ſelbſt alle eigentlich fompofitorifde 
Kraft abgeht, iſt es doppelt wichtig, daß er an einem Stoff ſich verſucht, der 
in ſich bereits die Geſchloſſenheit trägt. Knoop iſt ſich ſelber völlig klar dar⸗ 
über, daß dieſem neuen Buche die Einheit fehlt. Er ſagt es in der Widmung 
an ſeine Frau, daß dem Werke die kunſtvolle Entwicklung und Steigerung 
fehle, die ein gut komponiertes Diner aufweiſen ſoll, und vergleicht ſein Buch 
einem ruſſiſchen Sakuskatiſche, „der ja auch Anforderungen an den künſtleri⸗ 
ſchen Geſchmack der Hausfrau ſtelle und auch in dem ſcheinbar regelloſen Durch⸗ 
einander von Kaviar, Wildpaſtete, Hering, Schweizerkäſe, Kornbranntwein und 
Bitterbier den berühmten roten Faden aufweiſe“. Der Vergleich iſt nicht 
ſchlecht gewählt. Auch damit hat der Verfaſſer recht, wenn er ſagt, daß er 
die Vorratskammer nicht geizig geſchont habe; endlich auch darin, daß man 
ſich an einer Sakuska recht wohl ſatt eſſen könne. Freilich wird man dann 
bald den Genuß verlieren. Eigentlich iſt eben der Sakuskatiſch doch nur dazu 
beſtimmt, die Vorſpeiſe zu liefern. Sonſt verdirbt man ſich an der Fülle der 
durchweg ſcharf gewürzten Speiſen vielleicht dauernd den Magen. 

Der Fehler des Buches iſt feine Länge. Wenn man die faſt 400 eng 
gedruckten Seiten geleſen hat, ſo hat man eine Fülle kluger Bemerkungen, 
feiner Einfälle, ſcharf gewürzter Geſpräche, ſatiriſcher Beobachtungen und ge- 
legentlich auch lyriſcher Empfindungen vorgeſetzt erhalten; dagegen iſt der ganze 
Ausſchnitt Leben, den man empfangen hat, von dürftiger Armut. Zu allerletzt 
empfindet man es ſchier abſtoßend, daß all dieſes Gerede und Getue nur mög ⸗ 
lich iſt, weil die Leute alle im Grunde nichts zu tun haben, und daß auch ihr 
Reden nicht im Dienſt einer höheren Aufgabe ſteht, ſondern trotz aller Geift- 
reichheit im einzelnen doch ſchließlich müßiges Gerede bleibt. Aber es ſei nicht 
verkannt, daß wir es hier mit einem geiſtreichen und wohl auch erfindungs- 
begabten Manne zu tun haben, der ſicher imſtande iſt, nicht nur hübſche Glas · 
ſtückchen zuſammenzuſuchen, ſondern auch aus ihnen ein finnvolles und ein- 
heitlich wirkendes Moſaikgemälde zuſammenzuſtellen. Auf dieſes Buch von 
Knoop dürfen wir uns freuen; hoffentlich gibt er es uns bald. 

s 


Richard Elchinger: „Prinzeſſin Schnudi“. Eine verliebte Geſchichte. 
(München, Georg Müller.) 

O. J. Bierbaum, der ſich in der letzten Zeit in der etwas onkelhaften 
Tätigkeit des Vorredners zu allerlei Büchern gefällt, hat auch dieſem Erſtlinge 
eines jungen Schriftſtellers ein Geleitwort mitgegeben, in dem er ſich über das 
Weſen des Humors verbreitet, dabei natürlich ſchließlich geſtehen muß, daß 
Humor nicht eigentlich erklärt werden könne, daß das vorliegende Büchlein 
aber wirklich humoriſtiſch ſei. Man könnte dieſe Vorrede miſſen, oder ſie wäre 
vielleicht eher als Nachwort am Platze, um ſo mehr, als die Geſchichte gerade 
dort abbricht, wo ſie ſicher von neuem angeht. Vielleicht wird's allerdings 
nicht fo luſtig, wenn die Prinzeſſin Schnudi und ihr Geliebter Braut oder 
gar Eheleute find. Es iſt Nomantiferhumor, der in dem Bächlein ſteckt; er 
kommt von Eichendorffs „Taugenichts“ her und hat in Kochs „Prinz Rofa 
Stramin“ ſeinen allerdings reicheren Ahnherrn. Aber Humor iſt es, und da 
das ein ſo ſeltenes Kräutlein iſt, wollen wir nicht darum rechten, ob nicht hie 
und da ein. etwas geiler Trieb des kokettierenden Witzigſeins vorhanden fei, 
uns vielmehr der Gabe freuen und das Büchlein mit Behagen genießen. 


ID 


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7 


T Bildende Kunst. 


Technik, Kultur und Kunſt 


Worte zu einer Streitfrage des Alltagslebens 
Von 


Dr. Alfred Möller (Graz) 


an hört ſehr oft in unſeren Tagen von den „ungeheuren 
E Fortſchritten der Technik und ihren ungeahnten Werten für 
die Entwicklung der Menſchheit“ ſprechen. Im Anſchluß 

* daran fällt hie und da das Wort: „Wiſſen Sie, Kunſt iſt 
ja 3 — Schönes“, aber neben den großartigen Wirkungen, die das 
Maſchinenzeitalter auf ſeinem eigentlichen Gebiete zeigt, hat ſie eine weit 
geringere Bedeutung.“ Die guten Leute, die ſo ſprechen, merken nicht, daß 
fie Dinge, die man ganz wohl nebeneinanderſtellen kann (Kunſt und Technih), 
in ganz verſchiedenen Folgeerſcheinungen auf ganz verſchiedenen Wirkungs— 
gebieten vergleichen. 

Was die techniſchen Errungenſchaften dem Menſchen gaben, wird 
kein Vernünftiger gering einſchätzen. Aber man darf nicht vergeſſen, daß 
fie zwar ein Zeugnis von dem geiſtigen Fortſchreiten in vielen Mo— 
menten unſeres praktiſchen Lebens abgeben, ſelbſt aber für den geiſtigen 
Entwicklungsgang der Allgemeinheit viel geringere Bedeutung haben, als 
es, um ein recht beſcheidenes Beiſpiel zu nennen, z. B. die Eröffnung 
einer Volksſchule iſt. Aus dem rein geiſtigen Leben können wir uns alle 
jene Wunder und Werke des Bahnbaues, des Dampfes, der Elektrizität 
hinwegdenken, die uns heute umgeben, und wir hätten keinen Rückgang in 
der durchſchnittlichen Intelligenz der Allgemeinheit zu verzeichnen. Kann 
man ſich heute in jenem durch die Technik aufs reichſte ausgeſtatteten öffent⸗ 
lichen Leben reichere Geiſter denken als einen Homer, einen Dante, einen 
Shakeſpeare, einen Goethe oder einen Schiller? Die Ausgeſtaltung und 
praktiſche Verwertung der techniſchen Wiſſenſchaften bezeugt die Entwicklung 
von ſtarken Intelligenzen auf dieſem Gebiet, kann aber nicht in ihren Emana— 
tionen auf die Intelligenz der Allgemeinheit ſteigernd wirken. Im Zeitalter 
der Maſchine iſt der Boden für die Entwicklung großer Geiſter auf den 


Möller: Technit, Kultur und Kunſt 121 


Gebieten der reinen Wiſſenſchaften und der Kunſt nicht viel günſtiger als in 
einem von all dieſen, einen ſo glänzenden Eindruck machenden Einrichtungen 
entblößten Leben. Wie ſollen auch Dinge, die das Leben bequemer machen, 
eine beſondere Bedeutung im geiſtigen Daſein der Menſchen gewinnen? 
Niemals wirkt die Bequemlichkeit befruchtend und anregend. Niemand 
wird einem Erdenbürger, der im Luftballon auffliegt, im Luxuszug aus dem 
Norden an das ſüdliche Meer raſt oder im puſtenden, huſtenden Kraft⸗ 
wagen eine Bergſtraße „nimmt“, das Hochgefühl verargen, das er in der 
Benüsung dieſer „Wunder der Erfindung“ in ſich erwachen fühlt. Dankbar 
mag und ſoll er der Intelligenz jener Männer gedenken, die ihm ſolche 
Genüſſe ermöglichen, aber er ſoll ſich als einfacher Benützer jener Vor⸗ 
richtungen nicht überheben, nun nicht auf jene Geſchlechter verächtlich herab⸗ 
blicken, die ohne ſolche Verkehrs einrichtungen, alfo weniger bequem und 
raſch, langſamer und bedächtiger, aber gewiß nicht weniger klug, durch die 
Welt ſchritten. 

Im praktiſchen Leben ſind jene Errungenſchaften, die doch nur eine 
Folge hohen geiſtigen Lebens find, kaum zu miſſen. Aber ihre An⸗ 
wendung ſoll man nicht als geiſtige Taten einſchätzen, wie es ge⸗ 
ſchieht, ſo oft man die eingangs zitierte, oft gehörte Redewendung ge⸗ 
braucht. Wer ein gutes Buch in ſich aufnimmt, erfährt eine innere Be⸗ 
reicherung, gelangt zu einer Förderung feines geiſtigen Ich. Wer alle 
Wunder der Technik in ſeinem Hauſe vereinigt hat und in Bewunde⸗ 
rung dieſer Einrichtungen ſich als ihr Verwerter glücklich preiſt, er kann 
weit, weit hinter irgend einem einſamen Mann früherer Jahrhunderte 
guritdfteben, der mitten in einer ſchwerfälligen Zeit feine Bibel las und ſich 
zwar ferne raffinierter Verwertung der Naturkräfte, aber nahe den Quellen 
geiſtigen Lebens befand und davon trank. Freut euch all der Einrichtungen, 
die das Können der Ingenieure euch bietet, aber vergleicht ihre Wirkung 
auf euer Leben nicht mit denen, die die Kunſt auf die Menſchheit übt, 
ſtellt die äußere Bereicherung des Lebens, die techniſche Schöpfungen 
bieten, nicht neben die innere, die das geiſtige Leben einer Nation durch 
die Werke der Literatur, der bildenden Kunſt, der Muſik erhält. 

Daß ſich Einrichtungen der Bequemlichkeit in ihrem Wert raſcher und 
leichter einſchätzen laſſen als geiſtige Einflüſſe, iſt ſelbſtverſtändlich. Jene 
dienen dem Einzelnen in augenfälliger Weiſe, dieſe wirken im Verborgenen, 
zeigen ihre Wirkung oft erſt, wenn man Generationen oder gar Völker, die 
unter dieſen Einflüſſen ſtanden, mit ſolchen, die davon unabhängig blieben, 
vergleicht. Der Philiſter, dem die Augen für Anendliches geſchloſſen ſind, 
der nur Wirkungen gelten läßt, die ſeinem leiblichen Ich dienen (und darauf 
kommt es bei allen Wundern der Elektrizität, des Dampfes doch hinaus!), 
ſollte nicht vergeſſen, daß ſolche Einrichtungen, die ja hervorragenden 
Geiſtern ihre Entſtehung verdanken, für ihn doch darum nicht auf ihrem 
Arſprungsgebiete, ſondern nur in der Sphäre des Körperlichen wirkſam 
werden. Sowenig er beim Eſſen einer Wurſt etwas von dem Geiſtigen des 


122 Iſt Ahde ein religidſer Maler ? 


Erfinders dieſer Köſtlichkeit in ſich ſucht oder ſpürt, ſondern rein körperliches 
Wohlbehagen, ſowenig darf er auch, wenn er ſein geiſtiges Ich nicht in 
der Freude an Wiſſenſchaften und Künſten pflegt, entſchuldigend auf ſeine 
Erſatz gebende Vorliebe für die Größe der Technik weiſen, der allein ſein 
Herz gehöre. Er macht da ein salto mortale aus einer Begriffsregion in eine 
andere, überſieht es, daß ſich ſehr oft noch Dinge, aber ſchon nicht mehr 
deren Folgen vergleichen laſſen. Techniſche Wiſſenſchaften laſſen ſich — wie 
die Wiſſenſchaft überhaupt — als hervorragende Teilſtücke geiſtigen Lebens 
und Schaffens ſehr gut neben die Kunſt ſtellen. Ihre Wirkungen aber 
zeigen ſich ſchon auf ganz verſchiedenen Gebieten, in ganz verſchiedener 
Weiſe und laſſen keine Vergleiche mehr zu. Das beachte man, wenn man 
die Kunſt mit dem Hinweis auf die Technik treffen und als einen unter⸗ 
geordneteren Teil in der Entwicklung der Menſchheit verächtlich machen will! 


Sit Ahde ein religiöſer Maler? 
Eine Entgegnung 


Gieſe Frage ſucht Dr. Karl Storck im Märzheft des Türmers ge- 
legentlich einer Beſprechung der von der Freien Lehrervereinigung 

A für Kunſtpflege herausgegebenen Kunſtgabe „Fritz v. Ube” (Mainz, 
Sof. Scholz. Mk. 1.—) zu beantworten. Er zieht dabei gegen mein Geleit. 
wort zu Felde, das er als „rein artiſtiſche Rederei“ bezeichnet. Meine Auf- 
faffung einer Äußerung Ahdes beliebt er als „unerhörtes Mißverſtändnis“ 
hinzuſtellen. Der ganze Artikel iſt, ſoweit er ſich auf das Geleitwort bezieht, 
irreführend und bedarf dringend der Richtigſtellung. 

Ich hielt es für meine Pflicht, zu Anfang meiner Einleitung mit allem 
Nachdruck einer weitverbreiteten Anſicht entgegenzutreten, nach welcher Ahdes 
Bedeutung nur nach feinen Bildern religiöfen Inhalts abzuſchätzen fet. Der 
Meiſter machte in einer Unterredung mit mir kein Hehl daraus, daß er es 
als ein Anrecht empfinde, wenn man ihn immer nur als religiöfen Maler an- 
ſpreche. Ahnlich äußerte er ſich einem Mitarbeiter von Velhagen & Klafings 
Monatsheften gegenüber, zu dem er ſagte (Märzheft 1907): „. . . meine fo- 
genannte religiöſe Malerei iſt nicht der Kern, ſondern nur ein Teil meiner 
Kunſt“ und weiter: „Meine Chriſtusbilder find wohl kaum als eine beſondere 
religiöſe Malerei aufzufaſſen, wie etwa Steinhauſens, der wohl ein frommer 
Maler iſt, — es liegt eben hier anders und einfacher ...“ Dieſe Worte laſſen 
doch wohl ganz unzweideutig erkennen, was der Meiſter gemeint hat. Jeden; 
falls iſt der Sinn, den Storck den entſprechenden Worten meines Geleitwortes 
unterzuſchieben ſucht, vollſtändig ausgeſchloſſen. Auf welcher Seite liegt alſo 
nun das „unerhörte Mißverſtändnis“? 

Daß es Ahde tatſächlich „vor allem um dieſe Lichtmalerei und die Er⸗ 
forſchung des Lichtproblems zu tun war“, geht ebenſo unzweideutig aus 
Außerungen Ahdes hervor, die ich gleichfalls dem vorhin genannten Artikel, 


SR Ahde ein religiöfer Maler? 123 


den Fritz von Oſtini ein Dokument nennt, entnehme: „Alle dieſe Bilder (die 
religiöſen) find mehr oder weniger maleriſche Probleme. Für die Erſcheinung 
des Lichts paßt die Perſon Chriſti wunderbar ſchön. Er wurde mir zum 
Problem des Lichts.“ „Die Jünger von Emmaus, Das Tiſchgebet: immer 
iſt es dasſelbe Lichtproblem, der Gegenſtand kommt für mich erſt in zweiter 
Linie.“ And in bezug auf ſeine andern Bilder ſagte er: „Es iſt auch da immer 
nur das Licht, die Beleuchtung, die mich reizt.“ Wenn ich nun noch hinzufüge, 
daß er zu mir ſagte: „Eine brennende Kerze hat für mich dasſelbe künſtleriſche 
Intereſſe wie der Chriſtuskopf“, ſo dürften es der Beweiſe für die Wahrheit 
meiner Ausführungen wahrlich genug ſein. Allerdings hat Ahde wohl eine 
andere Auffaſſung von Licht und Lichtbehandlung als die meiſten Maler. Ihm 
iſt das Licht eben nicht nur ein äußeres Mittel, nicht nur Form, ſondern In⸗ 
halt, wenn man will — Religion. „Das Streben nach dem Lichte hatte ich 
auch als Menſch allezeit“ .., fagt er. Darum tut Storck nicht mir, ſondern 
dem Künſtler Unrecht, wenn er die zitierten Erwägungen als „rein artiſtiſche 
Redereien” bezeichnet. Er profaniert damit etwas, was dem Künſtler unendlich 
wichtig und heilig iſt. 

Ahde ſteht dem einſeitigen Inhalts fanatismus ebenſo fern wie dem ein- 
ſeitigen Formfanatismus. Inhalt und Form gehen ihm in eins zuſammen, 
das glaube ich in meiner Arbeit klar und deutlich ausgeſprochen zu haben. 
Darum ſtimme ich mit Storck vollſtändig überein, wenn er Ahde neben Rem- 
brandt ſtellt und an beiden das Gemeinſchaftliche findet, daß ſie es verſtanden, 
die durchgeiſtigende Bedeutung des Lichtes auszunutzen. Dieſe Kraft zeigen 
aber beide nicht nur an religiöſen Stoffen, ſondern beide vergeiſtigen alles, 
was ſie anfaſſen, durch das Licht, jeder auf ſeine Weiſe, wie das Storck ſehr 
ſchön darlegt. Wie man aber Rembrandt trotz der großen Zahl feiner Bilder 
religidfen Inhaltes nicht zu den religiöfen Malern zählt, darf man auch Ahde 
nicht zu ihnen rechnen. Das Schaffen beider iſt zu univerſell, als daß man 
es in das Prokruſtesbett der Formel „religiöfe Malerei“ zwingen könnte. 
Der Ehrenname in Storcks Sinne mag auf einen Teil des Schaffens unſeres 
Künſtlers zutreffen. So lange aber dieſer Sinn nicht in dem Worte liegt, 
kann man es Ahde nicht verdenken, wenn er von der Anwendung desſelben 
auf ſich nichts wiſſen will. Alexander Troll 

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Antwort 


Da der bevorftehende 60. Geburtstag Fritz v. Uhdes die Gelegenheit zu 
einer eingehenden Würdigung der Geſamttätigkeit des Künſtlers bieten wird, 
kann ich mich hier auf den einen Punkt beſchränken. Erfüllte Trolls Ein- 
leitung zu dem Ahde⸗Heft der freien Lehrervereinigung nur den Zweck, einer 
zu engen Auffaſſung des Kunſtſchaffens des verehrten Meiſters entgegenzutreten, 
ſo hätte ich daran um ſo weniger Anſtoß genommen, als ich ſelber bereits 
früher (3. B. im letzten Jahrbuch „Am Webſtuhl der Zeit“) feine Bedeutung 
als Lichtmaler hervorgehoben habe. Aber wenn es in der Einleitung gleich 
heißt, daß Ahde nicht „durch fein religiöſes Gefühl zur bibliſchen Malerei ge- 
führt worden ſei, ſondern es das rein Maleriſche an den heiligen Perſonen 
war, was ihn anzog“ — ſo muß ich hier allerdings Widerſpruch erheben. 
Erſt recht, wenn dieſe Worte in einem Hefte ſtehen, das zur Verbreitung in 
weiteſten Volkskreiſen beſtimmt iſt. Hier wird zum „artiſtiſchen Gerede“, was 


124 Iſt Ahde ein religiöfer Maler? 


in einer fachwiſſenſchaftlichen Würdigung des Künſtlers als Maler ein wert. 
voller Fingerzeig für die Art ſeines Schaffens ſein kann. Auch nicht mehr. 
Denn die Tatſache, daß Ahde die bibliſchen Geſtalten in die Gegenwart 
hineinſtellte, iſt nicht nur von höchſter ſozialer Bedeutung, ſondern bezeugt 
auch ein ſtarkes perſönliches Ringen um religiöſe Probleme. Es 
heißt doch den Künſtler der Gedankenloſigkeit oder der Senſations ſucht be- 
zichtigen, wenn man dieſe grundlegende und vor allem andern auf jeden Be⸗ 
ſchauer ſeiner Werke eindringende Geſtaltung der Vorgänge nicht als 
das Ergebnis einer inneren ſeeliſchen, eben feiner religiöfen Welk. 
anſchauung aufnimmt. Das Licht iſt ihm dann das Mittel, wodurch er die 
in den Alltag unſeres Lebens geſtellten Vorgänge wieder aus dieſem hinaus- 
hebt in die Höhen jenes ſtark erregten ſeeliſchen Lebens, die wir als Religion 
zu bezeichnen pflegen. Es heißt dagegen die Dinge auf den Kopf ſtellen, wenn 
man ſagt: Ahde wählte die Geſtalten Jeſu, Marias uſw. als Mittel, um daran 
maleriſche Lichterperimente vorzuführen. Abgeſehen davon, daß das ein reichlich 
profaner und vor allem für Millionen ihr Heiligſtes profanierender Stand. 
punkt wäre, — wozu dann die Einſtellung dieſer Vorgänge in das Leben der 
Gegenwart? Die hiſtoriſche Gewandung wäre doch kein Hindernis für die 
Vorführung dieſer Lichtwirkungen. Bei ſo rein maleriſcher — ich ſage lieber 
artiſtiſcher — Einſtellung wäre ſogar dieſe Verſetzung in die Gegenwart ein 
ſehr ſchwerer Fehler, inſofern dadurch das Augenmerk der Betrachter allzuſehr 
auf dieſes Gedankliche gezogen und davon abgelenkt würde, in dieſen Bildern 
vor allem die — Lichtmalerei zu ſehen, auf die es dem Künſtler in erſter Linie 
angekommen ſein ſoll. Es wird uns das Wort Ahdes mitgeteilt, daß für ihn 
„eine brennende Kerze dasſelbe künſtleriſche Intereſſe habe wie der Chriftus- 
kopf“. Ja, warum hat er dann nicht die brennende Kerze, ſondern den Chriftus- 
kopf gemalt? Doch vermutlich, weil es ihn dazu drängte. Warum hat er 
Dutzende von Bildern mit bibliſchen Stoffen gemalt, wo — wie ein Blick auf 
die Lichtmalerei unferer Tage zeigt — zahlloſe andere Vorwürfe viel un ⸗ 
vermiſchter (für den Beſchauer) die Gelegenheit bieten, Lichtprobleme zu be ⸗ 
handeln? Es war eben die geiſtige, die religiöſe Kraft dieſer Stoffe, die 
ihn reizte. 

Da ſind nun aber die ausdrücklichen Worte Ahdes, die ſcheinbar das 
Gegenteil ſagen! 

Ich halte es für die Pflicht des Kunſtäſthetikers, ſolche Künſtleraus ſprüche 
pſychologiſch richtig einzuſtellen. Wir müſſen das bei jedem verſtorbenen 
Künſtler gegenüber ſeinen Briefen und äſthetiſchen Bekenntniſſen tun — auch 
bei einem ſo großen Aſthetiker wie Goethe —, alſo auch bei dem lebenden. 

Die Grundlage dafür gibt die von Troll angezogene Bemerkung, daß 
Ahde fic dagegen verwahre, „mit Ed. v. Gebhardt oder Wilhelm Steinhauſen 
in die Reihe der religiöſen Maler geſtellt zu werden.“ Ahde vermißt — ob 
mit Recht oder Anrecht, iſt hier belanglos — offenbar in den Bildern dieſer 
beiden das ausgeſprochen Maleriſche. Dem gegenüber wollte er betonen, daß 
er ſelber in ſeinen Bildern immer Maler ſei; daß ſeine Bilder nicht bloß neue 
Abwandlungen oft geſtalteter ſtofflicher Vorwürfe, ſondern aus echt maleriſchem 
Empfinden heraus entſtandene, nach maleriſchen Grundſätzen geſchaffene Werke 
ſeien. Wenn wir in dem Satze, daß für ihn „eine brennende Kerze basfelbe 
künſtleriſche Intereſſe habe, wie der Chriſtuskopf“ das Wort „künſtleriſch“ 
durch „maleriſch“ erſetzen, fo verſtehen wir das fofort, verſtehen dann gleich ; 


SM Mpde em religtöfer Maler? 125 


zeitig, warum er doch aus umfaffenderen menſchlichen Gründen den künſtleriſch 
reicheren Vorwurf wählte. Ich weiß ſehr wohl, daß man zuweilen verſucht 
hat, zwiſchen „Maler“ und „Menſch“ eine Trennung zu vollziehen. Max Lieber. 
mann hat ſich einmal zu dem Ausſpruch verſtiegen, daß „beim Malen der 
ganze übrige Menſch in der Ecke zu ſtehen habe“, was wohl fo zu verſtehen wäre, 
daß der Maler beim Malen lediglich feinen finnlichen Sehapparat einzuſtellen 
habe. Inwiefern man ſich dieſe Trennung bei der Einheit „Künſtler“ möglich 
denkt, bleibe denen zu erklären überlaſſen, die ſie verlangen. Aus einem Ge⸗ 
ſpräche mit Ahde glaube ich zu wiſſen, daß eine ſolche Auffaſſung ihm fern 
liegt, abgeſehen davon, daß er ſelbſt — wie ja auch Troll anführt — ſagte: 
wet ſuche Inhalt, er habe fo etwas wie Seele geſucht“. 

Als Zweites mag zu den oben erwähnten Nußerungen Ahdes beigetragen 
haben die vielfach übliche Zuſammenſtellung von „kirchlicher“ und „religiöſer“ 
Malerei. Sonſt könnte ich mir auch nicht erklären, wie Troll in feiner Gr- 
widerung von einem „Prokruſtesbett der Formel veligidfer Malerei“ ſprechen 
könnte. Wo bei dem weiteſten aller Empfindungsgebiete, dem Religiöfen, die 
Enge liegen ſoll, iſt mir unerfindlich! 

Im übrigen iſt mir nicht eingefallen, Ahde auf die „Formel religiöfer 
Maler“ einzuengen. Erſtens iſt mir nichts verhaßter als die bequeme „Eti⸗ 
kettierung“ eines Künſtlers; ſodann müßte man doch gar keinen Aberblick über 
Abdes Schaffen haben, um ihn nur nach feinen Bildern religiöfen, genauer 
bibliſchen Inhalts zu werten. Es handelte ſich bei meiner Beſprechung lediglich 
darum, für Ahde auch den Ehrennamen eines „religiöfen” Malers in Anſpruch 
zu nehmen. And den ſtärkſten Ehrentitel in ſeinem Künſtlertum ſcheint mir das 
allerdings darzuſtellen. Denn zugegeben, daß einzelne ſeiner anderen Bilder 
rein maleriſch genommen ſogar intereſſanter“ find als die bibliſchen, ſo beruht 
ſeine höchſte Bedeutung für das Kulturleben unſeres Volkes doch darauf, daß 
es ihm gelungen iſt, durch echte Kunſtwerke das wichtigſte Gebiet des religiöfen 
Lebens unferes Volkes zu befruchten. Perſonen und Vorgänge, die in dieſem 
Volksbewußtſein vielfach erſtarrt waren, zum guten Teil gerade durch die 
ſchablonenhafte Darſtellung in der Kunſt, hat er in unſer lebendiges 
Gegenwartsbewußtſein hineingeftellt, fo daß fie und ihre Empfindungen 
von uns lebendig mitempfunden werden. 

Gerade weil Trolls Abhandlung in einer Volksausgabe von Werken 
Ahdes ſtand, habe ich fie — ich wiederhole es — als ungeeignet abgelehnt, 
wobei der Ausdruck „artifliſche Rederei“ vielleicht zu ſchroff geweſen iſt. Aber 
Werte ſind relativ. Ahde hat „die Seele geſucht“. Gerade in dieſer Ausgabe 
war nach meinem Empfinden die erſte Aufgabe, dieſe „Seele“ der Kunſt Ahdes 
zu offenbaren. Dabei mußte als das wichtigſte Runftmittel dieſer Beſeelung 
die Behandlung des Lichtes und die hervorragende maleriſche Bedeutung dieſes 
Kunſtmittels dargelegt werden. Die Art, wie Troll ſeine Aufgabe anfaßte, 
erſcheint mir dagegen „fehl am Ort“ und eben darum irreführend. An dieſer 
Meinung hat auch Trolls Entgegnung nichts ändern können. 


Karl Storck 


126 Bom Chriftustypus 


Vom Chriſtustypus 


sen Türmerleſern ſtehen jedenfalls die Bilder Ludwig Fahrenkrogs 
Jy nod in lebhafter Erinnerung, die unſere Zeitſchrift im Dezember 1906 
und im April 1907 veröffentlichte. Es knüpfte ſich damals eine aus- 
a literarifche Erörterung an dieſe Veröffentlichung, die durch die drei 
Hefte vom Mai bis Juni 1907 ging. Aus der Vielheit der Meinungen, die 
dabei laut wurden, ging übereinſtimmend hervor, daß dem Chriſtustypus Fabren- 
krogs nicht nur hohe künſtleriſche Werte, ſondern auch eine tief ergreifende reli- 
gidfe Kraft zuerkannt wurde. Dieſes Urteil iſt ſeither dadurch beſtätigt worden, 
daß die Bilder an vielen anderen hervorſtechenden Stellen veröffentlicht wurden. 

Das auffälligſte äußere Merkmal des Fahrenkrogſchen Chriſtus war die 
Bartloſigkeit. Der Künſtler hatte ſeine Auffaſſung außer durch pſychologiſche 
Gründe auch geſchichtlich zu ſtützen verſucht. Die nachfolgende Ausſprache hatte 
dazu manches wertvolle Material beigebracht. Eine beachtenswerte Ergänzung 
zu dem dort Vorgebrachten enthält ein Aufſatz von Lic. theol. R. Schmid 
über den „bartloſen Chriſtustypus“ Fahrenkrogs im „Chriſtlichen Kunſtblatt“ 
(Januar 1908) in den Abſchnitten, die dartun, daß fic das chriſtliche Alter- 
tum ſelbſt bewußt geweſen iſt, keine Tradition über Jeſu leibliches Aus- 
ſehen zu beſitzen. Wir laſſen hier dieſe Darlegungen folgen. 

„Eben um die Zeit, als die Legenden von echten gemalten oder vom 
Himmel gefallenen Chriſtusbildern, die Lukas, Whgar- und Veronikaſagen, an- 
fingen, Geſchichte zu werden, ſagt Auguſtin von Jeſus: qua fuerit facie nos 
penitus ignoramus (feine Geſichtszüge find uns gänzlich unbekannt). Jeder 
bilde ſich vielmehr ſeine Chriſtusvorſtellung nach ſeiner Phantaſie und ſo ſei 
die unendliche Mannigfaltigkeit der Chriſtusbilder entſtanden. Daß Auguſtin 
recht gehabt hat, zeigt jeder Blick in die vorhandene Literatur. So zeigt ſchon 
die älteſte Beſchreibung der Chriſtusgeſtalt, die wir haben, in der Offenbarung 
Johannis, keine Spur einer Erinnerung an das Ausſehen des Menſchen Jeſus. 
Es iſt der Erhöhte mit dem Geſicht wie die Sonne, den Flammenaugen und 
leuchtend ſchneeweißen Haaren, der dort in Anlehnung an das Danielbuch be- 
ſchrieben wird. Dem Hermas (um 130 n. Chr.) erſcheint Chriſtus in Geſtalt 
eines rieſengroßen Mannes. Andere Erzählungen von Viſionen aus den erſten 
Jahrhunderten in den apokryphen Apoſtelgeſchichten, aber auch in den echten 
Märtyrerakten laſſen Chriſtus als ſchönen, freundlich lächelnden Jüngling er- 
ſcheinen, wozu etwa noch das ſchneeweiße Haar aus der Offenbarung kommt. 
Juſtin, der Märtyrer, geboren um 100 n. Chr. in Sichem, alſo Paläſtinenſer, 
und nach ihm eine ganze Reihe von Schriftſtellern, ſchreiben Jeſus nach Jeſ. 53 
eine abſchreckend häßliche Erſcheinung zu. Origenes, der fic gegenüber den 
Vorwürfen des Celſus ausdrücklich mit dem Außern Jeſu befchäftigt, läßt ihn 
gar keine beſtimmte Geſtalt haben, ſondern jedem ſo erſcheinen, wie es gerade 
paſſend war. Erſt im 4. Jahrhundert beginnt die Berufung auf Pf. 45, ‚er 
war der Schönſte unter den Menſchenkindern“, durchzudringen. Kurz, überall 
regiert die dichtende Phantaſie oder die dogmatiſche Theorie der Theologen, 
nirgends eine feſte hiſtoriſche Erinnerung. Was wird nun gegen dieſen Tat- 
beſtand ins Feld geführt? Das, was zu wiſſen wichtig wäre, nämlich daß 
die Juden zur Zeit Jeſu keinen Bart zu tragen pflegten, wagt F. ſelbſt nicht 
zu behaupten. Man hat auch in der Tat keine Kenntnis davon, ob und wie 


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Bom Chriſtustypus 127 


weit die im ganzen alten Teſtament bezeugte altjüdiſche Sitte, wonach der Bart 
das Ehrenzeichen des freien Mannes war, durch die römiſche Bartloſigkeit ver · 
drängt worden wäre. Dagegen will er mit Berufung auf Paulus, 1. Kor. 14, 11, 
der das Tragen langen Haares beim Mann als Anehre bezeichnet, feſtſtellen, 
daß Jeſus unmöglich langes Haar getragen haben könne, ſonſt hätte Paulus 
nicht fo geredet. Auch fet Jeſus kein Naſträer geweſen, und nur dieſe haben 
bei den Juden lange Haare getragen. Nun iſt aber noch ein guter Mittelweg 
zwiſchen der ungeſchorenen Mähne oder den geflochtenen Zöpfen der Naſiräer 
und dem kurzgeſchorenen Haar der Römer. And gerade das lange, wallende 
Haar iſt altjüdiſche Sitte, ebenſo wie der Bart. Was aber Paulus in den 
griechiſchen Gemeinden und von feinen in der Diaſpora erworbenen Anſchau ; 
ungen aus über Haartracht ſagt, kann mangels ſonſtiger Nachrichten nach rück ⸗ 
wärts für die perſönliche Erſcheinung Jeſu nichts beweiſen, zumal bei der 
ausgeſprochenen Gleichgültigkeit des Paulus gegenüber dem ,Chriftus nach 
dem Fleiſch. 

Bleibt die Berufung auf die älteften erhaltenen Chriſtusbilder in den 
Wandgemälden der römiſchen Katakomben. Dieſe ſind ja alle unbärtig, ebenſo 
wie die älteren ſonſtigen Darſtellungen auf geſchnittenen Steinen, Gläſern, 
Sarkophagen, bis vom 4. Jahrhundert an langſam der bärtige Typus durch ⸗ 
dringt, der dann zur Alleinherrſchaft gelangt iſt. Man hat nun ſchon früher 
behaupten wollen, daß dieſe ſchon im 2. Jahrhundert beginnenden Darſtellungen, 
in denen Chriſtus als der gute Hirt, oder in Wunderſzenen aus den Evangelien, 
oder als Lehrer von zuhörenden Jüngern umgeben auftritt, auf eine hiſtoriſche 
Tradition zurückgehen. Aber ohne den Schatten eines Beweiſes. Auch F. 
bringt keinen. Wie ſollte es auch denkbar ſein, daß gerade die römiſchen 
Zimmer und Wandmalermeifter, die die Katakomben mit den Erzeugniſſen 
ihres Pinſels ſchmückten, über mindeſtens 100 Jahre weg eine Kenntnis beſeſſen 
hätten, von der in der ganzen Literatur keine Spur geblieben iſt. Ein Bild 
könnte es nicht geweſen ſein, was ihnen vorlag, denn die einzelnen Darſtellungen 
zeigen keinerlei gemeinſame individuelle Züge. Es müßte eine mündliche Ve- 
ſchreibung der Geſtalt Jeſu ſo lange in Nom umgelaufen ſein. Man müßte 
annehmen, daß Petrus oder ein anderer der Urapoftel, falls je einer nach Nom 
gekommen tft, dort die Kunde hinterlaſſen hätten, daß Jeſus keinen Bart ge- 
tragen und wie ein junger Römer ausgeſehen habe. Das glaube wer mag. 
Beſonders will beachtet fein, daß die Hirtenbilder, bei denen kein Gedanke an 
beabſichtigte Porträtdarſtellung aufkommen kann, älter find, als die fonftigen 
Chriſtus bilder. Die geſamte Katakombenmalerei kennzeichnet ſich zu deutlich 
als naive Arbeit von Handwerkern, die ohne Reflexion und Kunſttheorie ihrem 
Chriſtus ebenſo das runde, bartloſe, jugendlich heitere Geſicht mit dem echt 
römiſchen Schnitt gaben, wie dem Abraham, Moſes, Noah und Orpheus, fo 
daß man oft nur an der Amgebung und der dargeſtellten Handlung erraten 
kann, ob man einen Noah oder einen Chriſtus vor ſich hat. Mögen alſo die 
Katakombenmaler den Empfindungen der römiſchen Chriſten ihrer Zeit ent · 
ſprochen, und ihrerſeits wieder die Phantaſie der Chriſten mit einem beſtimmten 
Ideal göttlicher Jugendlichkeit erfüllt haben, wie es uns ja in den Märtyrer ⸗ 
alten begegnet, aber das können ſie nicht beanſpruchen, uns über das Ausſehen 
des geſchichtlichen Jeſus von Nazareth, wie er an den Geſtaden des galiläiſchen 
Meeres wandelte, zu belehren. Zudem läßt ſich das anfängliche, bartlos jugend ⸗ 
liche Chriſtusbild ebenſo wie das fpätere bärtige, mit größter Wahrſcheinlichkeit 


128 Auguft b. Brandts 


auf Vorbilder der antiken Kunſt zurückführen, die ihren Idealfiguren gerne 
den Ausdruck ewig ſchöner Jugend gab. Nichts führt zurück über den großen 
Graben der tiefen Abneigung der älteſten Chriſtenheit gegen jede bildliche 
Darſtellung, die irgend an den heidniſchen Bilderkult hätte erinnern können. 
Als dieſe Abneigung vom 2. Jahrhundert ab zu ſchwinden begann und im 
Gegenteil ſich das Verlangen nach authentiſchen Bildern Chriſti einſtellte, zuerſt 
in gnoſtiſchen Kreiſen, dann auch in der Kirche, war längſt jede Erinnerung 
erloſchen, und man befriedigte das Bedürfnis durch immer zahlreichere, nicht 
mit Händen gemachte‘, wunderbar entſtandene, wunderbar vermehrte und Wunder 
wirkende Bilder. Der Verſuch Fahrenkrogs geht im Grunde nur aus dem 
allgemein menſchlichen Verlangen hervor, für das, was uns wahr und echt 
erſcheint, auch in der Geſchichte Belege und Stützen zu finden, und unſere 
Lieblingsgedanken durch das Gewand der Geſchichtlichkeit ehrwürdiger und 
eindrucksvoller zu machen. Aber je natürlicher dieſes Verlangen iſt, deſto 
ſchärfer gilt es zu ſcheiden zwiſchen unſerem Wiſſen von dem, was war, und 
unſeren Gedanken darüber, was geweſen ſein könnte oder ſollte. Bleiben wir 
alſo lieber bis auf weiteres bei dem Nichtwiſſen ſtehen.“ 
» * 


2 
Bei aller Anerkennung der Bilder Fahrenkrogs wurde damals und 

ſeither betont, daß fein Chriſtustypus zu ſehr die Milde, Güte und Liebe ver ⸗ 
miſſen laſſe. Es war am Künſtler, den Gegenbeweis dadurch zu erbringen, 
daß er Chriſtus in einer Lebenslage vorführte, in der die Liebe zum be ⸗ 
herrſchenden Ausdruck werden kann. Wir find heute in der Lage, ein ſolches 
Werk des Künſtlers zu zeigen. Fahrenkrog hat ſeinem Bilde „Jeſus und das 
Kind“ folgende Geleitverſe gegeben: 

Ja, du biſt Gott, der aus dem Kinderauge ſchaut 

And ſegnend aus ihm ſpricht. 


Wich grüßt aus ſeligem Himmelreich 
Ein Licht vom ewigen Licht. 


In dir das Reich, — das meine Seele ſucht 
Mit eines Gottes Seele, ſehnend, unverwandt — 
Das Gottesreich. — In deinen Augen, Kind, 


& 
Auguſt v. Brandis 


&) TU glaube, den Türmerleſern eine beſondere Freude zu bereiten, 
2 9 wenn ich hier die Mitteilungen veröffentliche, die mir der Schöpfer 
2 der Bilder, die das vorliegende Heft ſchmücken, auf meine Bitte 
ſandte. Dieſe Ausführungen ſind nicht für die Offentlichkeit beſtimmt. Am 
fo beredter künden fie in ihrer Anmittelbarkeit von des Künſtlers Schaffen 
und Streben. — 

„Wer in ſeine Kindheit zurückſchaut, ein jeder tut das wohl gerne, und 
ſich auf die Entwickelung feiner beſonderen Veranlagungen befinnt, der wird 
den Eindruck haben eines ſich unter dem Frühlingshauch erſchließenden Gärt- 
chens. Hier und da ſprießt ſchon ein Blümchen. Alles ift aber in jenen Duft 
und Nebel gehüllt, den der erſte Frühling hervorzaubert. Alles regt ſich ganz 


Auguſt v. Brandts 129 


unbewußt und zufällig. Aber Spuren find ſchon zu finden. Ich weiß, daß 
ich bis zu meinem fiebenten Lebensjahr ſehr zart und kränklich war und end⸗ 
lich beinahe 2 Jahre am kalten Fieber dermaßen erkrankte, daß ein Schulbeſuch 
zunächſt ausgeſchloſſen war. So fand ich Muße zu ſtiller Beſchäftigung, und 
da entſtanden ganze Armeen großer und verſchiedenartiger Soldaten, welche 
ich mir felbft erdachte, aufzeichnete und bemalte. — Dann wurden fie aus- 
geſchnitten und aufgeklebt und ſo mein liebſtes Spielzeug. 

Mein Vater ſtammte aus einer alten hannoverſchen Familie. Der 
Großvater war Hauptmann in der engliſch⸗deutſchen Legion. Er machte die 
Feldzüge in Spanien mit und kämpfte bei Waterloo. Meine Mutter ſtammt 
aus einer Königsberger Gelehrtenfamilie. Beide hatten vielfeitige Intereſſen 
für künſtleriſche und wiſſenſchaftliche Dinge und mein Vater, der ſich dem 
landwirtſchaftlichen Beruf gewidmet hatte, zeichnete ſehr fein in Silberſtift. 

Als ich ungefähr 9 Jahre alt war, pachtete mein Vater ein Gut in der 
Nähe von Riga und fo ſiedelten wir nach dort über. Es find manche ſchöne 
Erinnerungen aus dieſer Zeit zurückgeblieben. Wir drei Brüder tummelten 
uns auf den mutigen kleinen litauiſchen Pferdchen, und ich war ſo ſelig, wenn 
ich die Felder an der Hand meines Vaters durchwandern konnte. 

Die Schulbildung ſollten wir aber in Deutſchland genießen. So kam 
ich zu lieben Verwandten nach Hannover, wo ich dann bis zu meinem 
15. Lebensjahr verblieb. Auch in dieſer Zeit regte ſich bei mir lebhaft der 
Trieb zum Zeichnen. In der Schule allerdings hatte ich mit manchen Schwierig; 
keiten zu kämpfen, da mir infolge der vielen Krankheiten die erſten Grund⸗ 
lagen fehlten. 

Dann vereinigte ſich unſere Familie wieder in Berlin. Ich bezog von 
neuem das Gymnaſtum und nachher die Aniverſttät, um Medizin zu ſtudieren. 
Aber nicht lange blieb ich dieſem Studium treu. — Ungefähr zwanzigjährig 
bezog ich im Jahre 1882 die Berliner Kunſtakademie. 

Die erften akademiſchen Studien wirkten nicht ſehr ermutigend auf mich 
ein. Es begann jetzt der langwierige, andauernde Kampf, den ein jeder zu 
beſtehen hat, der nach einem künſtleriſchen Ausdruck ſucht und dem es bitterer 
Ernſt iſt mit dem Wert ſeiner Sache. — Dazu kam, daß in jener Zeit der 
Naturalismus energiſch auftrat. Die erſten Liebermanns, welche einen tiefen 
Eindruck auf mich machten, auch ſchon einige Monets und Manets ſogar 
gab es in Berlin zu ſehen und Ende der achtziger Jahre taten ſich die XI 
zuſammen. 

Damals wurde Hugo Vogel als Lehrer an die Berliner Akademie be- 
rufen. — Als Lehrer von großer Energie und anregender Friſche weckte er 
eine gewiſſe Begeiſterung unter den jungen Akademikern. Bald umgab ihn 
ein Kreis von ſtrebenden jungen Schülern. Auch ich gehörte zu dieſen. — 
Ich erkannte nun, wo und wie ich der Natur maleriſche Reize abgewinnen 
konnte, und ſchon in den akademiſchen Weihnachtsferien des Jahres 88 fand 
ich mich bei grimmer Kälte im Veſtibül der alten Berliner Marienkirche, wo 
ich mit dem ſtimmungs vollen Totentanz im Hintergrunde ein Bild mit zwei 
Figuren malte. — Dieſe Arbeit fand Vogels volle Anerkennung. Auf feine 
Veranlaſſung beteiligte ich mich alsbald an einer akademiſchen Konkurrenz. 
Als Aufgabe wurde uns geſtellt: die Auferweckung des Töchterleins Sairt. — 
Indem wir uns einen baldachinartigen Aufbau aus roten Stoffen herrichteten, 


dazu Weißzeug arrangierten und dann mit dem Modell Stück für Stück Stu- 
Der Türmer X, 7 9 


130 Auguft v. Brandis 


dien zu dieſem Bilde herſtellten, gelangten wir zu ſehr anſchaulichen Ergeb- 
niſſen. Ich errang auf dieſe Weiſe den erſten akademiſchen Preis. — 

Bald trat Vogel leider von feiner Lehrtätigkeit zurück. — Große defo- 
rative Arbeiten nahmen ſeine Kräfte völlig in Anſpruch. — Ich ſah mich noch 
eine Zeitlang auf des Meiſters Atelier angewieſen; dann ſchenkte A. v. Werner 
meiner Entwickelung dadurch vor allem ein größeres Intereſſe, daß er mir 
reichliche Mittel für größere angefangene Arbeiten zufließen ließ. — 

In dieſer Zeit entſtand die Grablegung und die Hochzeit von Kana. 
Auch ſtammt von hier der Zuſammenhang mit lieben Freunden, wie Franz 
Staſſen, Müller-Münfter. Wir gründeten die Vereinigung 1897, welcher noch 
angehörten Otto H. Engel, Karl Klimſch, Fritz Klimſch, L. Fahrenkrog, Auguſt 
Gaul, A. Weſtphalen. 

Ich ſing an, mit der größten Hingabe zu arbeiten. Verſchiedene 
größere Figuren malte ich draußen vor der Natur. Mit der „Grablegung“ 
hatte ich die erſten größeren Erfolge. — Für dieſes Bild verſuchte ich durch 
allabendliche Studien zunächſt die landſchaftliche Stimmung zu klären. Drange, 
grün, violett mußten die Träger werden dieſer melancholiſchen Stimmung. 
Die „Hochzeit von Kana“ ging nachher auf rot, gelb, blau. — Dann wurden 
alle Figuren im Freien gemalt und zwar beſonders detailliert der Kopf des 
kräftigen Trägers, der Körper des Chriſtus und die Frau, welche die Maria 
von der linken Seite her ſtützt. — Vor der Ausführung der Figuren in den 
Gewandungen wurden zu allen die lebensgroßen Akte gezeichnet. Aber auch 
durch die Haltung der Figuren in ihren großen ſtrengen Linien wünſchte ich 
zu einem Maximum des Ausdrucks zu gelangen. — Das Leuchten der dunkeln 
Farben ſteigerte ich noch dadurch, daß ich alle Geſtalten gegen das Licht ſtellte, 
wodurch das Randliht und die Wirkung größerer Maſſen erzielt wurde. — 
So wünſchte ich dieſer großen Trauer Ausdruck zu verleihen. Ich wollte ſagen, 
daß edler Schmerz und tiefe Trauer nicht durch exaltierte Gebärde oder 
Poſe auszudrücken fei. Dieſe Grablegung iſt im Beſitz des GSurmondt- 
Muſeums in Aachen. 

In dieſe Zeit fällt auch meine erſte Pariſer Reife, der fpäter eine 
zweite längere folgte. Die größte Bewunderung gewann ich nicht nur für 
die großen Franzoſen von Fontainebleau, für Corot, Diaz, Daubigny, ſondern 
auch Couture lernte ich kennen in feiner „Décadence des Romains“; es er- 
ſchloſſen ſich mir Männer wie Courbet, Manet, Monet, Gignac, Piſſarro, 
l'Hermithe und wie fie alle heißen. — Denn die Ausſtellung von 1889 war 
eine hervorragende und verbunden mit dem, was die Louvre Sammlungen 
und das Luxembourg boten, geradezu erſchöpfend für die Kenntnisnahme der 
Malerei dieſer Zeit. — Den feinen Zauber der Farbe eines Monet, die Frei- 
heit in der techniſchen Behandlung eines Manet, das Hinſtreichen der großen 
Lokaltöne eines Céſanne, die zerlegenden koloriſtiſchen Feinheiten eines Piſſarro 
begeiſterten mich geradezu; mit Entzücken empfand ich dasſelbe vor der Natur 
und ich fühlte es mit größter Klarheit, daß mich dieſe Probleme durch und 
durch erfüllten. — 

Auf techniſchem Gebiet wurde es mir klar, daß auch die techniſche Be⸗ 
handlung für die Erreichung ſolcher Ziele von höchſter Bedeutung ſei. — Denn 
außer dem Farbproblem iſt es das Problem der möglichſt großen Helligkeit 
und Leuchtkraft der Farbe, welches die Malerei zu löſen verſucht an der Hand 
der Natur. — Die Erfahrung hatte mich aber bereits belehrt, daß ein kräftig 


Auguft v. Brandis 131 


hingeſetzter ev. paſtos behandelter Ton eine größere Leuchtkraft beſitzt als ein 
vermalter. Hier ſah ich aber, daß auch dieſe Meiſter, geleitet durch dies 
Streben, der Natur die höchſte Leuchtkraft abzulauſchen, eine freie kühne Be ⸗ 
handlungsweiſe der Farbe nicht ſcheuten. — 

Ich beſchäftigte mich von jetzt ab lebhaft mit den Ideen der Leuchtkraft 
und Intenſität der Farbe. Zunächſt allerdings entſtanden noch einige größere 
Figurenbilder. Dahin gehört: „And ſie folgten ihm nach“. Chriſtus mit ſeinen 
Jüngern; die Landſchaft aus der neu gewonnenen Heimat, der Heimat meiner 
Frau, vom Niederrhein. Dann Pieta und Kinderbegräbnis (im Novemberheft 
1907 des Türmers). Aber zugleich widmete ich mich dem Interieur, an welchem 
ich zunächſt mit aller Energie dieſe vorher erwähnten Farbprobleme, aber 
einzig und allein an der Hand der unmittelbaren Eindrücke, zu löſen verſuchte. 
1903 wurde eine dieſer Arbeiten von der Neuen Pinakothek erworben. 

Im Jahre 1904 wurde ich als Profeſſor an die neue Hochſchule in 
Danzig berufen. — 

Durch dieſe freie und ſchöne akademiſche Tätigkeit wurde ich in die Lage 
verſetzt, mich auch freier bewegen zu können. Ich hatte in demſelben Jahre 
als Vertreter der Berliner Künſtlerſchaft in München durch meinen Freund 
Ernft Hausmann den Dachauer Adolf Hölzel kennen gelernt. Dieſer beweg- 
liche Geiſt hatte durch ſeine große Lebendigkeit, durch ſein ideales hohes Streben 
und durch die mir aus der Seele wachſenden Ziele bald eine große Anziehungs- 
kraft auf mich ausgeübt. Ich beſchloß, meine großen Studienreiſen nach Dachau 
zu unternehmen. — Es folgt jetzt eine mich tief ergreifende, meine ganze Seele 
verſtärkt mit den bereits begonnenen Aufgaben erfüllende Zeit. Ich gewinne 
Hölzels und Dills Freundſchaft. Seitdem bin ich alljährlich im Sommer für 
längere Zeit nach Dachau gewandert und genieße die große Anregung, welche 
von ſolch einer Freundſchaft ausgehen muß. — 

Denn längſt iſt es mir klar geworden, daß ein Künſtler nicht allein 
ſeinem Temperament zu folgen hat. Alle Glanzperioden der Kunſt zeichnen 
ſich durch eine beſonders durchgreifende Schule aus. „Die Kenntnis der künſt ⸗ 
leriſchen Ausdrucksmittel“, wie Hölzel ſagt, iſt von großer Bedeutung. Denn 
nach Goethe entſteht ein Kunſtwerk durch Zuſammenwirken der Vernunft, des 
Verſtandes und der Empfindung. Aus der Empfindung heraus muß das 
Kunſtwerk temperamentvoll geſchaffen werden. Die Vernunft muß die künſt . 
leriſchen Ausdrucksmittel beherrſchen, der Verſtand muß das fertige Kunſt⸗ 
werk auf die Erfüllung der künſtleriſchen Bedingungen hin prüfen, damit das 
Gute erhalten und gefördert werde. Dieſes iſt auch die Grundidee der Hölzel. 
ſchen Lehre. Dieſe Erkenntnis trieb den Meiſter dazu, ſich über die Theorien 
der Fläche und des Raumes, über die altmeiſterlichen Geſetze der Hell Dunkel - 
und Kalt ⸗Warm-⸗ Bewegung, über die Farbtheorien der Leute wie Gignac 
Klarheit zu verſchaffen. — 

And vieles iſt auf dieſem Gebiete zu leiſten, beſonders wenn das Schickſal 
den Forſchenden auf einen Lehrſtuhl berufen hat. Hölzel iſt jetzt in Stuttgart 
Lehrer. Aber auch für die Behandlung der Landſchaft iſt Dachau der geeig- 
nete Platz, um anregende Gedanken zu gewinnen. — 

Auf dieſem Gebiete, welchem ich in letzter Zeit mit vielen Arbeiten 
näher getreten bin, denke ich in Dachau viel Anregendes zu finden, an einem 
Platze, wo ſchon Dill und Hölzel das geworden ſind, was ſie der deutſchen 
Kunſt bedeuten. — Es ſteckt nach meiner Überzeugung und Einſicht eine ſtarke 


132 Auguft v. Brandis 


Schule in dieſer Dachauer Kunſt. And wenn ſie auch auf Widerſpruch ſtößt, 
ſie iſt ſtark genug, ſich zu behaupten. 

Selbſtverſtändlich halte ich bei allen Beſtrebungen an dem Eigenen feſt. 
Denn ich fühle wohl, daß ich ſtark zu den farbigen Problemen hinneige. 

Als Lehrer für junge Architekten halte ich es für eine ſegensreiche Auf- 
gabe, dieſe über die Geſetze der Form, der Farbe, der Flächenkompoſition und 
der im Raum wirkenden Geſetze aufzuklären und zu unterweiſen. Denn der 
Beruf des Architekten iſt nicht allein der eines Konſtrukteurs. Der künſtleriſche 
Konſtrukteur wird hier die größten Erfolge haben. — 

Auch das Kunſtgewerbliche iſt von einem neuen Geiſt erfaßt. Die tech- 
niſche Hochſchule darf ſich dieſem Geiſte nicht verſchließen. Der Architekt muß 
ein ſchaffender, in Form und Farbe denkender Künſtler werden. Nur fo wird 
er imftande fein, ein Werk aus einem Guß zu erſchaffen. — In erſter Reihe 
gehört es dazu, daß er damit beginnt, eine Summe von künſtleriſchen Erkennt ; 
niſſen aus der Natur gewinnen zu lernen. Dann erſt wird er imſtande ſein, 
ein ſelbſtändig ſchaffender Künſtler zu werden. 

Die alte Stadt Danzig iſt mir künſtleriſch eine reiche Quelle geworden 
an ſchönſten maleriſchen Objekten. Das alte Uptagen-Haus in der Langgaſſe 
enthält einen reichen Schatz feiner farbiger Interieurs. Aus dieſem Haus, 
einem alten Patrizierhaus aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, als Fidei⸗ 
kommiß völlig intakt erhalten, iſt auch das von dem Türmer reproduzierte 
Hauptblatt. Es bringt den Luſtre auf der ſehr ſtark farbigen roten Seide in 
mehreren Dreiklängen zum Ausdruck. Dieſes Bild gehört dem Muſeum in 
Danzig. — 

Aber auch die alte, ehrwürdige Marienkirche mit ihren wunderbaren 
Stimmungen iſt unvergleichlich fein und intereſſant. 

Endlich hoffe ich den Straßenmotiven, der Weichſelniederung mit ihrem 
holländiſchen Typus und den Geſtaden des dunkelfarbigen Meeres noch manchen 
Stoff abgewinnen zu können.“ 

A. v. Brandis darf zuverſichtlich die Erfüllung feiner Hoffnungen er- 
warten. Er ſteht jetzt auf der Höhe des Lebens, in der Vollkraft des Schaffens. 
Wer damit ein ſo jugendlich freudiges Streben verbindet, wer ſich gleich ihm 
nie mit dem Erreichten begnügt, niemals bequem vom bereits Erreichten zehrt, 
ſondern derartig immer ſtrebend ſich bemüht, der gelangt ans hochgeſteckte Ziel. 

Für unſere Leſer will ich noch bemerken, daß die beiden Interieurs „Aus 
dem Aptagen-Haus“ und „Auf der Diele“ als große farbige Lithographien 
im Verlage Troitzſch, Berlin, erſchienen find. Sie bilden gerahmt einen ae 
lichen Zimmerſchmuck. 


Sterulein 133 


Sternlein 
(Sohanna Beckmann) 


ch babe vor einem Jahre (IX, 1. Band S. 435 f.) die Türmerleſer auf 
IAG) Johanna Beckmann, als eine ganz eigenartige Künſtlerin der 
2 Silhouettenſchneiderei, hingewieſen. Nun iſt in dieſem Jahre von 
ihr im Verlage von Martin Warneck in Berlin ein neues Buch erſchienen, 
„Sternlein“, das einen weiteren künſtleriſchen Fortſchritt bedeutet. Noch grund ⸗ 
ſätzlicher als früher hat die Künſtlerin die Kleinwelt der Natur als das ihrer 
Kunſt zugehörige Gebiet erkannt. Mit einer ungemein glücklichen Herzenseinfalt 
wird fie eins mit den kleinen Lebeweſen ihrer Phantaſie, und wie das fpann- 
hohe Wichtelmännlein und Wichtelweiblein gewinnt fie für Gräſer und Laub- 
werk den Blick von unten, fo daß ihr die Formen immer mehr in Luft und 
Bewegungs freiheit erſcheinen. Je ſtärker fie ſich fo in die Vorſtellung aus der 
körperlichen Kleinheit heraus eingelebt hat, um fo logiſcher wird dann die Be- 
deutung, die bereits an ſich kleines Getier bekommt; Krähen, Elftern, Wachteln 
ſind dann ſchon große Tiere. Ein Apfel erſcheint tatſächlich als eine Fülle von 
Nahrung, und man kann ſich vorſtellen, daß ein ſolches Lebeweſen bei Meiſen, 
Spinnen und Bienen Arbeit ſucht. 

Anſeren Leſern bietet das vorliegende Heft Gelegenheit, ſich in eine Folge 
Beckmannſcher Bilder zu verſenken und — wie ich nicht zweifle — zu verlieben. 

Die Fülle von Naturbeobachtung iſt erſtaunlich. Die Haltung der Blumen 
und Gräfer iſt, ſoweit meine Kenntnis reicht, nirgendwo in dieſem Maße be ⸗ 
obachtet worden. Für die Darſtellung des Fluges von Schmetterlingen zum 
Beiſpiel, die mannigfache Vogelhaltung, muß man ſchon zu den Japanern 
gehen, um Gleichwertiges zu finden. Aber ich möchte mit dieſem Worte auch 
nicht zum leiſeſten andeuten, daß hier irgend etwas aus der Fremde gelernt 
ſei. Nein, das iſt eine Kunſt, die überhaupt nur auf deutſchem Boden wachſen 
kann; dieſes völlige Aufgehen im Kleinreich der Natur, das durchaus nicht 
— wie jene japaniſche Kunſt — auf Schärfe der Beobachtung, ſondern in der 
liebevollen Verſenkung die Quelle hat. Es erſteht auch aus dem Texte der 
halb märchenhaften Geſchichtchen, die in dieſem Bande vereinigt find, ein 
Menſchenkind vor uns, bei dem eine Weltanſchauung lebendig geblieben iſt, 
wie ſte nur das Märchen kennt. Stern, Blume, Getier, Himmel und Erde, 
alles iſt eine große Einheit. And dieſe ganze Welt ift berufen zum Glück. Frei ⸗ 
lich ein Glück, das ſich jeder ſelber ſchafft, dadurch, daß er findet, was ihm 
Pflicht ift, und daß er dieſe erfüllt. Weiß Gott, dieſe einfachen kindlichen, 
aber nirgendwo kindiſchen, wenn auch oft glücklich einfältigen Märchen ent- 
halten die gleiche Lebensweisheit wie der gewaltige Goetheſche „Fauſt“: daß 
die Erlöſung, das Glücklichſein beruhe im ſteten Sichbemühen zum Guten. Das 
Buch gehört zu den ſchönſten Geſchenkwerken bei allen möglichen Gelegenheiten 
für jung und alt. St. 


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Soziale Nöte im deutſchen Muſikleben 


Von 


Dr. Karl Storck 


er deutſche Dichter, der uns als Menſch und Mann am charakte— 
riſtiſchſten und unvermiſchteſten den Dichterberuf verkörpert, 
(J) Friedrich Schiller, hat in einem ſeiner ſchönſten Gedichte ver— 


FZ; 


2 uündet, daß der Poet bei der Teilung der Erde zu ſpät ge 
kommen ſei. Er hat dabei auch gleichzeitig geſagt, was dieſen Poeten für 
den Verluſt der Erde zu entſchädigen vermag. „Willſt du in meinem 
Himmel mit mir leben — ſo oft du kommſt, er ſoll dir offen ſein.“ Ge— 
wiß, ein herrliches Entgelt iſt dieſes Verweilenkönnen in der Welt der 
Schönheit, iſt dieſe Kraft ſich hineinzuträumen, ſich hinaufzuheben in Welten, 
die unabhängig ſind von den Geſetzen und Qualen der Erde. Traurig 
wäre es um uns beſtellt, wenn dieſe Fähigkeit, um geiſtiger und ſeeliſcher 
Güter willen auf materielle Vorteile zu verzichten, aus unſerem Volke und 
erſt recht aus unſerem Künſtlertum ſchwände. Aber dieſer Tatſache ſteht 
eine andere ebenſo unleugbare gegenüber, daß auch der Poet auf Erden 
leben muß, daß auch er den Bedingungen des Materiellen unterworfen iſt. 
And des weiteren haben wir auch die Tatſache in der Geſchichte der Kunſt 
und der Künſtler unendlich oft beſtätigt, daß dieſe materiellen Verhältniſſe 
von entſcheidender Bedeutung für das geiſtige und künſtleriſche Schaffen 
eines Menſchen geworden ſind und es täglich werden. 

Dieſe ſoziale Frage im Leben der Künſtler iſt allgemein be— 
kannt. Das Wort von der Tragödie des Künſtlers iſt ſo geläufig wie das 
vom Künſtlerelend; all die Abſtufungen von dem verſtändnisinnigen Lächeln 
des reichen Mäcens bis zur entrüſteten Verachtung des Tugendwächters 
für alle Boheme; das Beſtaunen rieſiger Künſtlereinnahmen auf der einen 
Seite, das Mißtrauen gegenüber der Stetigkeit der Lebenseinkünfte eines 
Künſtlers; andererſeits auch der tragiſche Konflikt, in den die künſtleriſche 
Natur ſich faſt immer geſtellt ſieht, wenn ſie für den Broterwerb arbeiten 


Storck: Soziale Nöte im deutſchen Mufitleben 135 


muß — ich ſage, alle diefe ſozialen Erſcheinungen im Leben unſerer Künſtler 
ſind dem Allgemeinbewußtſein ſo vertraut geworden, daß ſie kaum mehr 
näher beachtet werden. 

Viel zu wenig bekannt iſt es dagegen im breiten Publikum, daß die 
Muſiker als Berufsſtand einen ſchweren Daſeinskampf führen. Nur 
wenn gelegentlich, wie jetzt eben in München, dadurch daß Muſikerverbände 
zur Selbſthilfe greifen, um ſich erträgliche Daſeins bedingungen zu erkämpfen, 
die „öffentliche Unterhaltung” oder das „Anſehen einer Stadt“ „gefährdet“ 
wird, pflegt die Offentlichkeit ganz überraſcht zu vernehmen, daß hier nicht 
alles ſo glänzend ſteht, wie allgemein angenommen wird. Während aber 
ſonſt den um anſtändige Daſeinsbedingungen kämpfenden Berufskreiſen 
allgemeines Mitgefühl entgegengebracht wird, iſt hier alles „entrüſtet“. And 
auf einmal beſinnt ſich dann der dickſte Bierphiliſter, der in ſeinem ganzen 
Leben um aller Künſte willen noch nicht eine einzige Maß Bier weniger 
getrunken hat, daß Beſchäftigung mit Kunſt ein „idealer“ Beruf fei. 

Die Notlage unſerer Orcheſtermuſiker, wo bei täglicher Beſchäftigung 
ſelbſt in hervorragenden Verbänden ein monatliches Einkommen von 150 
bis 200 Mk. den oberen Durchſchnitt darſtellt, ſchreit geradezu zum Himmel. 
Wie es mit der ganzen Anterhaltungsmuſik in den Lokalen nach ökonomi⸗ 
ſcher und, eng damit verbunden, ſittlicher Hinſicht beſtellt iſt, gehört zu den 
dunkelſten Nachtſeiten unſeres ſozialen Lebens. Hier muß dringend Wandel 
geſchaffen werden, und nach meiner feſten Überzeugung iſt das nur möglich, 
wenn ſich in weiteſten Kreiſen des Volkes die Kenntnis dieſer Zu⸗ 
ftände verbreitet, wonach dann die allgemeine Anterſtützung jener Beſtre⸗ 
bungen, die auf Beſſerung dieſer Verhältniſſe abzielen, nicht ausbleiben wird. 

Der Türmer wird in einem der nächſten Hefte dieſe Frage eingehen⸗ 
der beleuchten. Heute kommt es mir darauf an, zu zeigen, wie das Ge: 
ſamtbild unſeres Muſiklebens von ſolchen ſozialen Mächten beeinflußt 
wird. Damit wird ſich dann gleichzeitig ergeben, wie traurig es eigentlich 
auch dort ausſieht, wo die Offentlichkeit den höchſten Glanz vermutet. 

Es herrſchte in dieſem Winter in den Fachkreiſen allenthalben die 
Empfindung, als ob die Hochflut der öffentlichen Muſikmacherei, mit der 
wir ſeit einem Jahrzehnt in ſteigendem Maße überſchwemmt worden ſind, 
am Abebben ſei oder doch nicht zugenommen habe. Vielleicht hat das die 
Tatſache bewirkt, daß ſich noch nie ſo offen gezeigt hat, wie ſehr unſer 
ganzes Konzertweſen einem induſtriellen Spekulantentum verfallen 
iſt. Jedenfalls iſt es Pflicht, die weiteſten Kreiſe über dieſe Verhältniſſe 
aufzuklären und ſo zahlreiche Menſchen gegen eine ſyſtematiſche Ausbeutung 
zu ſchützen. Daß damit gleichzeitig die Geſundung unſerer öffentlichen Muſik⸗ 
verhältniſſe gefördert wird, iſt der zweite Gewinn. 

Es iſt noch nicht lange her, daß jeder Virtuoſe allein den Kampf 
mit der Welt aufnahm. Was ihm an Hilfe zuteil werden konnte, lag bei 
den Konzertverbänden der einzelnen Städte, die den Künſtler zur Mit⸗ 
wirkung heranzogen, lag andererſeits in der Vorbereitung von Konzerten 


136 Storck: Soziale Nöte im deutſchen Muſikleben 


durch Muſikalienhandlungen oder durch ein beſonderes Komitee, das den 
Verkauf der Karten, die Beſorgung des Saales uſw. in die Hand nahm. 
Die letztere entſpricht der älteſten zur Zeit unſerer Klaſſiker allgemein üb- 
lichen Weiſe der Veröffentlichung von Werken auf dem Wege der Sub⸗ 
ſkription. Dieſe Art kann leicht etwas unangenehm Gönnerhaftes bekommen, 
ſcheint mir aber auch heute noch der ſicherſte Weg, auf dem man dazu ge⸗ 
langen könnte, an kleinen Orten, in Landſtädtchen u. dgl. gute Konzerte zu 
ermöglichen und auf dieſe Weiſe jene Dezentraliſation unſeres Muſiklebens 
herbeizuführen, die eine der wichtigſten künſtleriſch⸗ſozialen Aufgaben unſerer 
Zeit darſtellt. 

Die Steigerung der Verkehrsmittel hat dann auf ſeiten der Virtuoſen 
eine Tätigkeit ermöglicht, an die man früher gar nicht denken konnte. Bei 
den damaligen Fahrten mit den Poſtwagen, den vielen damit verbundenen 
Zufälligkeiten war eine Konzerttournee im heutigen Sinne ganz ausge⸗ 
ſchloſſen. Man mag auch die höchſten Tätigkeitsentwicklungen eines Lifzt 
heranziehen, ſo bleiben ſie noch unabſehbar zurück hinter einem Verhältnis, 
wie es ſich z. B. zu Beginn dieſer Saiſon für den verſtorbenen Alfred 
Reifenauer offenbarte, bei dem ſich in einer genaueren Prüfung ergab, daß 
er von Ende September bis Mitte April keinen Tag mehr freihatte. Wo⸗ 
hin wir in dieſer Hinſicht noch kommen können, bezeugt die in dieſen Tagen 
aus einer ſächſiſchen Stadt gemeldete Tatſache, daß eine ſehr beliebte Sän⸗ 
gerin — hier war es allerdings eine Brettldiva — mit Hilfe des Auto⸗ 
mobils am gleichen Tage an fünf verſchiedenen Stellen aufgetreten iſt. 
Hier hätten wir alſo einen Induſtrialismus der Künſtler, für den 
ſich viel zahlreichere Beiſpiele aufbringen ließen, als man wohl im allge⸗ 
meinen glauben möchte. Wir haben ſehr viele Opernkräfte, ſelbſt an erſten 
Inſtituten, oder auch gerade die, die jeden freien Spieltag zu irgendeiner 
Gaſtſpielreiſe oder einem Auftreten in Konzert oder Privatgeſellſchaften 
benutzen, wie überhaupt das Auftreten in Privatgeſellſchaften für viele her⸗ 
vorragende Künſtler eine Haupterwerbsquelle bedeutet. Wie ſchädlich dieſe 
Aberſpannung der Kräfte wirken muß, mag man ſich leicht ſagen, wenn 
man bedenkt, daß dieſes Auftreten in Privathäuſern doch erſt gegen Mitter⸗ 
nacht erfolgen kann, nach Abſchluß des eigentlichen Berufsdienſtes. Die 
Nervenüberreizung ſo vieler heutiger Künſtler, der raſche Stimmenverbrauch 
hat in dieſer übertriebenen Ausnützung der Kräfte oft die ſtärkſte Arſache. 
Aber dieſen kapitaliſtiſchen Zug in unſerer Künſtlerwelt hat ſchon vor 
einigen Jahren Eugen d' Albert bewegliche Klage geführt, wozu er, der das 
Beiſpiel einer ſehr ſtrengen Selbſtzucht und eines freiwillig geleiſteten Ver⸗ 
zichtes auf ſichere Einnahmen zugunſten der ihm höher erſcheinenden pro⸗ 
duktiven Tätigkeit gibt, vollauf das Recht hat. Er beklagte dieſe Entwicklung 
hauptſächlich im Intereſſe der künſtleriſchen Jugend, die nicht raſch genug 
herauskommen könne und es zumeiſt an der nötigen Ausbildung fehlen laſſe. 
Wieviel Elend das in geiſtiger, aber auch in kunſttechniſcher Hinſicht (raſcher 
Stimmenverbrauch z. B.) hat, iſt kaum abzuſehen. 


Storck: Soziale Nöte im deutſchen Mufikleben 137 


Aber den ſtark kapitaliſtiſch⸗induſtriellen Zug hat unſer Konzertleben 
doch mehr durch die nichtkünſtleriſchen Kräfte erhalten. Hier wird die 
„Teilung der Erde“, wie ſie Schiller kündete, „fruchtbar“ gemacht. Der 
Künſtler wurde offiziell als der in allen praktiſchen Lebensfragen unzuläng⸗ 
liche Menſch genommen, und die Praktiker des Lebens traten nun an ihn 
heran, um ihm die „Sorge“ dafür abzunehmen, auf daß er lediglich ſeiner 
tünſtleriſchen Tätigkeit leben könne. Auf dieſe Weiſe hat ſich das Konzert⸗ 
agentenweſen entwickelt. Ein übernervöſer, außerordentlich reizbarer 
und aus innerer Notwendigkeit zu haſtiger Tätigkeit gelangter Künſtler wie 
Bülow gewann einen Sekretär, der für ihn alles Geſchäftliche beſorgte. 
Dazu gehört nicht bloß das Pekuniäre, ſondern auch viel mit dem Künſt⸗ 
leriſchen in enger Berührung Stehendes. Zum Beiſpiel Beſorgung eines 
guten Saales, eines guten Inſtrumentes, Überprüfung der Programme 
wegen Zuſammenfalls gleicher Stücke, dann natürlich genaue Aberwachung 
wegen der Zeit u. dgl. m. Aus dem vorzüglichen Sekretär und Geſchäfts⸗ 
verwalter Bülows, Hermann Wolff, iſt die erſte weltumſpannende Konzert⸗ 
agentur geworden. Aus dem untergeordneten Gehilfen eines Künſtlers hat 
ſich eine unſer Konzertleben in kaum zu ahnender Weiſe beherrſchende Macht 
entwickelt, bei der die Künſtler Hilfe ſuchen. Ich will hier im einzelnen 
keine Beſchuldigungen erheben. (In der „Deutſchen Muſiker⸗Zeitung“ 1908, 
Nr. 8, iſt ein ſcharfer Angriff zu leſen.) Es geht die Legende, daß Her⸗ 
mann Wolff Anfängern das Auftreten im Konzertſaal ſogar abgeraten 
habe; ob mit Erfolg, iſt eine andere Frage. Tatſache iſt, daß durch dieſe 
Konzertdirektion ein Konzertbetrieb organiſiert worden iſt, der es fertig ge⸗ 
bracht hat, daß an jedem Abend ſo und ſo viele Soliſtenkonzerte ſtattfinden, 
für die die Offentlichkeit überhaupt gar keine Teilnahme haben kann. Tat⸗ 
ſache iſt, daß das Konzert — zumeiſt die Konzerte — in Berlin den Muſik⸗ 
befliſſenen als Notwendigkeit dargeſtellt werden, ſo daß die Künſtler dieſe 
Konzerte mit dem ganz feſten Bewußtſein unternehmen, daß dieſes Konzert 
eine größere, vom Konzertgeber allein aufzubringende Summe verſchlingen 
würde (mindeſtens 400 Mk., für Konzerte mit Orcheſter wenigſtens 2000 Mk.); 
daß dieſes Konzert lediglich den Zweck haben ſollte, Kritik zu bekommen. 
Das Geſchäft war fo lukrativ — man hat öffentlich den jährlichen Rein ⸗ 
gewinn der Konzertdirektion Wolff auf 200 000 Mk. beziffert —, daß noch 
zahlreiche andere Konzertdirektionen entſtanden. 

Welche Macht beſitzt die Konzertdirektion und wie nützt ſie dieſe aus? 

Der oben erwähnte Aufſatz der „Deutſchen Muſiker⸗Zeitung“ beant- 
wortet die Frage in folgenden Sätzen, zu deren Verſtändnis vorauszuſchicken 
iſt, daß das „Opfer“ der Berliner Konzerte von der Konzertdirektion da⸗ 
durch vergolten werden ſoll, daß ſie dem ihr ſich anvertrauenden Künſtler 
Engagements in der Provinz in Ausſicht ſtellt. „In erſter Linie ha‘ erwähnte 
Firma einen großen Abnehmerkreis ihrer Künſtler in den Konzertvorſtän⸗ 
den, die lediglich aus Bequemlichkeit und Gewohnheit ihren Bedarf an ge⸗ 
nannter Stelle zu decken pflegen, wie ſie ſelbſt gelegentlich der Tonkünſtler⸗ 


138 Storck: Soziale Nöte im deutſchen Muflfieben 


verfammlungen zu wiederholten Malen verlauten ließen. Ferner erfährt 
der Künſtler niemals etwas von ſchwebenden Engagements, ſondern ſtets 
erſt die vollendete Tatſache. Er iſt alſo völlig der Willkür der Leiter dieſes 
Hauſes preisgegeben. Daraus ergibt ſich, daß das Engagement eines Künſt⸗ 
lers hinfällig werden kann, ſobald dieſer die Anluſt oder den Zorn der 
Machthaber erweckt hat, ohne daß ihr Klient jemals erfährt, wer ihn als 
Soliſt gewünſcht, aber nicht erhalten hat. Das iſt die furchtbare Geißel, 
die dieſe „Vertreter der Intereſſen“ ſchwingen, und der ſich das Künſtlertum 
beugen muß, ob es will oder nicht. Und das in unſerem Zeitalter des 
Fortſchrittes!“ 

Natürlich herrſcht in weiten Künſtlerkreiſen heftige Erbitterung über 
dieſe koſtſpielige „Vertretung ihrer Intereſſen“. „Aber die Angſt um die 
Zukunft, das Beſtreben, jeden Eklat zu vermeiden, um nicht den Zorn des 
Machthabers zu entfachen und damit die eigene Exiſtenz aufs Spiel zu ſetzen, 
hindert die Mehrzahl der Künſtler, ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu ver- 
leihen. Die Wenigen, die ſich an der Sonne der Gnade wärmen und ihre 
Taſchen füllen, ſind zu zählen. Alle anderen leben in einer ihrer und 
unſeres Zeitalters unwürdigen Knechtſchaft und ziehen durch ihr Beiſpiel 
ein Proletariat groß, das die Konzertſäle überflutet und das Intereſſe für 
derartige Veranſtaltungen bei dem zahlenden Publikum auf Jahre und 
Zeiten hinaus lahmlegt. Leider fehlt den Künſtlern aus obigen Gründen 
der Mut, dieſen Zuſtänden energiſch zu Leibe zu gehen. Selbſt das Phil⸗ 
harmoniſche Orcheſter, das ſich eine freie Genoſſenſchaft mit eigener Ver⸗ 
waltung nennt, iſt unfrei und zaghaft, weil es von der Gnade des Hauſes 
Wolff abzuhängen meint. And das iſt der Kardinalfehler bei allen denen, 
die ſich losſagen könnten, deren Ruf ſo bedeutend iſt, daß ihnen von allen 
Seiten Engagementsanträge in Hülle und Fülle zugehen würden. Sie 
bleiben aus Bequemlichkeit bei der alten Inſtitution und unterſtützen damit 
das deſpotiſche Regime.“ 

In der Tat iſt der Amſtand, daß die „berühmten“ Künſtler großen 
Nutzen von den Konzertdirektionen haben, die ſchwerſte Hemmung gegen 
die Beſſerung der Lage. Für eine ſolche erſcheint als der natürlichſte Weg 
der Zuſammenſchluß der Künſtler zu einem Zweckverband. „Anſere deut⸗ 
ſchen konzertierenden Künſtler müßten es als Ehrenſache betrachten, Front 
zu machen gegen dieſes Syſtem, das Not, Verzweiflung und Elend über 
viele ihrer Berufsgenoſſen gebracht hat, und ſich einmütig zuſammenſchließen 
zu einem Schutz⸗ und Trutzbündnis gegen alle Widerwärtigkeiten ihres Be⸗ 
rufes. Die Gründung einer Art Genoſſenſchaft konzertierender Künſtler, 
verbunden mit einer Penſionsanſtalt und Zentralſtelle für Engagements⸗ 
vermittelung iſt der Weg, der zur Freiheit und zum Erfolg führt. 

Die Künſtler ſollten zuſammentreten und aus ihrer Mitte eine Kom: 
miſſion wählen. Es würden ſich gewiß juriſtiſche und kaufmänniſche Autori⸗ 
täten bereit finden laſſen, die Künſtler in ihren Beſtrebungen zu unterſtützen. 
Es dürfte nicht ſchwer fallen, auch die Konzertvorſtände als Mitglieder 


Storck: Soziale Nöte im deutſchen Muſttleden 139 


dieſer Genoſſenſchaft zu gewinnen, wenn die Leitung des Unternehmens 
ihnen die Garantie bieten kann, in jeder Weiſe ihren Wünſchen entgegen⸗ 
zukommen und ihren Anſprüchen zu genügen. Alle großen Korporationen, 
Orcheſter⸗ und Chorvereinigungen von Ruf würden ſicher nach und nach 
dieſer Genoſſenſchaft beitreten. Am ſchließlich der Aberproduktion in den 
Konzertſälen energiſch ſteuern zu können, würden ſich im Lauf der Zeit 
auch Mittel und Wege ſinden laſſen.“ 

Da es den deutſchen Komponiſten gelungen iſt, aller Gegnerſchaft 
zum Trotz die „Anſtalt für muſikaliſches Aufführungsrecht“ durchzuſetzen, 
braucht auch die Hoffnung auf einen Zuſammenſchluß der reproduzierenden 
Künſtler nicht bloß ein ſchöner Traum zu bleiben. 

Inzwiſchen aber bringen die allgemeinen Verhältniſſe in den Geſamt⸗ 
zuſtänden wichtige Verſchiebungen zuwege. 

Durch die Betriebſamkeit der Konzertdirektionen iſt die Zahl der Kon⸗ 
zerte in ſo außerordentlichem Maße gewachſen, daß die Bauſpekulation 
auf dieſem Gebiete einſetzte. Allerorten ſind neue Konzertſäle entſtanden; 
Berlin allein hat ſeit 1900 ſieben neue Konzertſäle erhalten. 

Vielleicht, daß damit der Amſchwung bereits eingetreten iſt. Die 
großen Programmbogen, die die Konzertdirektion Wolff allwöchentlich aus: 
gibt, wieſen früher den ganzen Winter hindurch kaum Lücken auf. Heute 
iſt es bereits anders geworden. Es gibt jetzt eine Konkurrenz der 
Konzertdirektionen, die zwei Richtungen annehmen kann: das Ab⸗ 
jagen anerkannter Kräfte und die billigere Arbeit für Anfänger. Des⸗ 
gleichen gibt es eine Konkurrenz der Säle. Von dieſem Wandel der 
Dinge müßten eigentlich die Konzertgeber den Gewinn haben. Aber 
nun ſtellt ſich das ein, was längſt hätte kommen müſſen: es ſtreikt die 
Kritik. Das Publikum ſtreikt ſchon lange. Es iſt ein offenes Geheimnis, 
daß die Konzertdirektionen vielfach die größten Schwierigkeiten haben, um 
die Freibillets anzubringen. 

Viel folgenſchwerer iſt der Streik der Kritik. So unangenehm es 
einem Künſtler ſein mag, vor leeren Bänken zu ſpielen — mit Einnahmen 
pflegt er ja aber für ſein Konzert ſo wie ſo nicht zu rechnen —, wenn nur 
die Kritik nicht verſagt. Erhielt er dieſe kritiſche Stimme, ſo war alſo 
eigentlich der Zweck ſeines Auftretens erfüllt. Ich habe dieſe Einſtellung 
der Kritik ſeit Jahren bekämpft. Es kann keinesfalls Aufgabe der Kritik 
ſein, Künſtlern Zeugniſſe zu geben. Der Kritiker ſteht nicht in Dienſten 
der Künſtler, ſondern der Kunſt. Er iſt Kulturwärter; er hat die doppelte 
Aufgabe: das Volk zur Kunſt hinaufzuleiten und die Kunſt zum Volke zu 
bringen. Aus dieſem Verhältnis zum Volle ergibt ſich ſein Verhältnis 
zur Tätigkeit des Künſtlers. Er hat dieſe künſtleriſche Tätigkeit einzuſchätzen 
nach den ihr innewohnenden Kulture und Kunſtwerten. Stellt er fic auf 
dieſen Standpunkt zu den Erſcheinungen unſeres Muſiklebens, ſo fallen vier 
Fünftel aller Soliſtenkonzerte außerhalb des Bereichs des zu Beſprechenden. 
Denn bier hat bereits der Rahmen des Ganzen die höchſte Bedeutung. 


140 Sum Fall Wemgartner 


Schon die Tatſache, daß zu viele Konzerte ſind, verpflichtet den Kritiker, 
die nach dieſem Stand überflüſſigen überhaupt nicht zu beachten. | 

Jahrelang hat der größte Teil der Berliner Muſikkritik im Gegenſatz 
zu dieſer natürlichen Pflicht ihre Stellung als Referententum aufgefaßt: 
Man erſtattete Bericht über alles, was geſchah. Jetzt endlich hat die 
wachſende Zahl der Konzertſäle, das Auseinanderliegen derſelben es mit 
ſich gebracht, daß auch jenen Zeitungen, die über zwei, ja drei Kritiker ver⸗ 
fügen, die Berichterſtattung über alle Ereigniſſe unmöglich geworden iſt. 
Es hat natürlich auch dieſe Seite journaliſtiſcher Tätigkeit einen finanziellen 
Untergrund. Auch die Zeitungen find von induſtriellen Erwägungen ab⸗ 
hängig. Wenn der Stoff und die Anzeigen den Aufwand an Papier und 
an Honoraren für die journaliſtiſche Arbeit nicht mehr lohnen, erfolgt hier 
ganz von ſelbſt die Einſchränkung. Sobald man aber nur erſt die Be⸗ 
rechtigung des Grundſatzes der Auswahl anerkannt hat, beginnt jene Ein- 
ſtellung der Kritik, auf der die künſtleriſche Stellungnahme genommen wer⸗ 
den muß. Es wird eben nur das Wichtige beſprochen. Im gleichen Augen⸗ 
blick fällt der Hauptreiz für jene vielen Konzertgeber weg, die nur Kritil⸗ 
ſtimmen ſammeln wollen, um auf Grund derſelben anderwärts eine Tätigkeit 
zu ſuchen. Ich meine, wir ftänden da gerade im Abergang dieſer Ente 
wicklung. Sie wird ſicher noch beſchleunigt werden, wenn der „Muſik⸗ 
pädagogiſche Verband“ erſt erreicht hat, daß auf einem anderen Wege als 
dem des öffentlichen Auftretens im Konzert ein allgemein anzuerkennender 
Befähigungsnachweis für die pädagogiſche Muſiktätigkeit erbracht wer⸗ 
den kann. f 

Die Entlaſtung unſeres Konzertlebens iſt die erſte Notwendigkeit; 
der Zuſammenſchluß der die Virtuoſenlaufbahn ergreifenden Künſtler muß 
danach mit allen Kräften erſtrebt werden. Denn nur ſo iſt eine Ge⸗ 
ſundung der ganz verfahrenen ſozialen Muſikverhältniſſe möglich, und nur 
auf der gefunden ſozialen Grundlage kann ſich ein geſundes öffentliches Kunſt⸗ 
leben entwickeln. 


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Zum Fall Weingartner 


72 
N ie Tatſachen find aus der Tagespreſſe allgemein bekannt. Felix Wein- 
+ngartner, der Leiter der Sinfoniekonzerte der Berliner königlichen 
Kapelle, iſt als Direktor an die Wiener Hofoper berufen worden. 
Man gab ihn in Berlin vor Ablauf ſeines Kontraktes frei unter der Bedingung, 
daß er die letzten Konzerte dieſes Winters noch dirigiere. Weingartner hat 
ein an ſich belangloſes Vorkommnis benutzt, um ſich der letzten Verpflichtung 
zu entziehen; der Berliner Intendant hat darauf die Klage wegen Kontrakt. 
bruches erhoben. 


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Sum Fall Wemgartner 141 


Es kann dahingeſtellt bleiben, ob Weingartner oder der Berliner Inten 
dant von Hülſen mit feiner Darſtellung im Rechte iſt. Die Entſcheidung wird 
ſich hier an rein juriſtiſche Auslegungen von Kleinigkeiten halten, die weſentlich 
formaler Natur find, und nichts daran ändern, daß hier an unſerer künſtleriſchen 
Kultur, an der Ethik unſeres öffentlichen Kunſtlebens ſchwer gefehlt 
wird. And zwar von beiden Seiten, zweifellos zumeiſt aber von Weingartner. 
Es iſt durch zu viele öffentliche Fälle belegt, als daß es nicht auch dem Nicht ⸗ 
eingeweihten bekannt ſein ſollte, daß das „preußiſche Syſtem“ nicht danach 
angetan iſt, den im preußiſchen Staats- oder Hofdienſt beſchäftigten Künſtlern 
ihre Stellung angenehm zu machen. Geld wird in Preußen heute genug ver- 
dient, aber Freude blüht hier den Künſtlern, und vorab den eigenartigen und 
ſelbſtändigen nur wenig. Das erſte Geheimnis der Kunſtpolitik iſt, daß mit 
Künſtlern nichts zu machen iſt, wenn man ſie als Beamte behandeln will, daß 
vor allem auch jene Künſtler nicht die beſten find, die gute Beamte werden. 

Doch, wie geſagt, das iſt Syſtem, und man kann einem Intendanten, 
der danach handelt, nie den Vorwurf machen, daß er ſeine Stelle — wie ſie 
nun einmal aufgefaßt wird — nicht gut erfülle, ſondern nur feſtſtellen, daß ſein 
Wirken für unſer Kunſtleben wenig erſprießlich werden wird. 

Aber die Auffaſſung der Regierenden und des Volkes iſt, erſt recht auf 
künſtleriſchem Gebiete, in Preußen längſt nicht mehr die gleiche. And wenn in 
der jetzigen Art weiter gewirtſchaftet wird, muß die Gegenſätzlichkeit bald viel 
folgenſchwerer werden, als es bislang geſchehen iſt. Immerhin iſt gerade auf 
muſikaliſchem Gebiete in den letzten Jahren vom Volksgeſchmack manches durch- 
geſetzt worden. Nicht zuletzt haben durch die ſtarke Betonung dieſer öffent- 
lichen Meinung einige bedeutende Dirigenten eine ſo ſtarke Stellung erhalten, 
daß fie in früher unerhörter Weiſe das geſamte Mufilleben beeinfluſſen können. 
Daraus erwächſt aber doch zweifellos für ſolche Künſtler eine Verpflichtung 
gegenüber dem Volke, gegenüber unſerem ganzen Kunſtleben. 

Hier liegt für mein Gefühl das ſchwere Anrecht Weingartners. Denn 
die Gründe, die er dafür angibt, daß er der doch wirklich nur noch geringen 
Verpflichtung, die letzten Konzerte dieſes Winters zu dirigieren, ſich entzogen 
bat, zeigen, daß er mit Begier nach einer Gelegenheit griff, ein Verhältnis zu 
Iöfen, das durch mehr als anderthalb Jahrzehnte geradezu einen Kultur wert 
darſtellte. Wenn unſere großen Dirigenten es nicht begreifen lernen, daß 
fie die feſten Punkte in der wild bewegten Flucht der Erſcheinungen unſeres 
Muſfiklebens darſtellen müffen, fo find wir überhaupt dem Sturme des vorüber · 
ziehenden Virtuoſentums preisgegeben. 

Der Dirigent iſt geradezu die Perfonififation eines Orcheſters. Dieſes 
Orcheſter ſtellt ſeinerſeits den Brennpunkt der muſtkaliſchen Kräfte einer Stadt 
dar. Er iſt jener muſtkaliſche Faktor, der bei allem großen mufltalifchen Re ; 
produzieren Grund und Stütze iſt. Es hat Jahrhunderte deutſcher Mufikkultur 
gebraucht, bis der Dirigent endlich jene überragende Stellung im Muſikleben 
gewonnen hat, die er als der geiſtige und ſeeliſche Wiedererzeuger, Wieder ⸗ 
ſchöpfer des Kunſtwerks verdient. So erhält der Dirigent im Herzen des 
muſikempfänglichen Publikums eine Stellung von einer Größe und Bedeutung, 
wie fie auch der hervorragendſte Soliſt, ob Sänger oder Inſtrumentaliſt, nie · 
mals erhalten kann. Denn der Dirigent wird uns der Verkünder des Größten 
und Stärkſten in der Muſik. 


Ich verhehle mir nicht, wieviel bei alledem Mode iſt, wenn heute am 


142 Sum Fall Weingartner 


Schluß einer Opernvorſtellung, zumal eines der großen Muſikdramen, faſt ftür- 
miſcher nach dem Dirigenten gerufen wird als nach den Sängern. Aber ein 
ungeheurer Wandel offenbart ſich in dieſer Tatſache gegenüber früher, wo der 
Dirigent als Generalbaßſpieler an ſeinem Klavizimbel ſaß und keine andere 
Aufgabe hatte, als dafür zu ſorgen, daß den Herrſchaften droben auf der Bühne 
keine unliebſame Störung in ihren Launen bereitet wurde. 

Aber aus dieſer Vorrechtsſtellung des Dirigenten erwachſen 
Pflichten. Pflichten nicht nur gegen die Kunſt, ſondern vor allen Dingen 
auch gegen das Publikum. Wir ſprechen ſo gern in aller Kunſt von der 
„Gemeinde“, die der Künſtler habe. Nun, wenn jeder bedeutende Künftler, 
der etwas Eigenes, etwas Neuartiges durchſetzen will, mit der Hilfe einer 
ſolchen Gemeinde rechnen muß, ſo darf er umgekehrt auch dieſe Gemeinde nicht 
im Stich laſſen. Weingartner hat in den erſten Jahren, in denen er an der 
Spitze dieſer Konzerte ſtand, eine ſchwere Stellung gehabt. Er hat aber bald 
eine Gefolgſchaft gefunden, die mit ihm durchhielt, mit ihm noch viel weiter 
durchgehalten hätte, als er ſelber nachher gegangen iſt. Seit Jahren ſtand 
dieſe große Gemeinde in ruhiger ſicherer Haltung um ihn. Die von ihm ge- 
leiteten Konzerte waren für dieſe Tauſende die höchſte muſikaliſche Offenbarung. 
Daß er dieſes ganze Verhältnis löſte, um den größeren Wirkungskreis an der 
Wiener Hofoper zu übernehmen, kann ihm niemand verargen. Daß er aber 
den geringſten Anlaß willkommen heißt, um Verpflichtungen, die ihm jetzt 
äußerlich unbequem fein mögen, weil fie eine kleine ſtörende Anterbrechung 
ſeines Wiener Lebens bedingen, abzuſchütteln, das iſt nicht nur undankbar 
gegenüber der Hörerſchaft, die ihm ſeit Jahren Treue gehalten, ſondern auch 
im höchſten Grade unbedacht gehandelt an dem Anſehen des Künftler- 
ſt andes. Denn wir wollen hier Männer haben. Wir find fo gewohnt, von 
Künſtlerlaunen, von der Anzuverläſſigkeit und dem Abermut von Künſtlern zu 
hören, daß uns doppelt not tun jene Männer, die Beiſpiele treuer Suverlaffig- 
keit und feſter Pflichterfüllung find. Wir ſehen allenthalben eine unwürdige 
Sucht nach Gewinn, eine nervöſe Haft, daß wir um fo mehr jener Künſtler⸗ 
erſcheinungen bedürfen, bei denen wir das Gefühl haben, daß ſie Opfer zu 
bringen imſtande ſind für ihren Beruf. Zweifellos lag darin der höchſte 
ethiſche Wert der Erſcheinung des verftorbenen Joſeph Joachim, daß 
er als ein Ruhepunkt wirkte in der geſamten Haft unſeres heutigen Mufik 
lebens. Solchen Männern glaubt man, daß ſie der Kunſt dienen, daß ſie die 
Kunſt ſuchen und nicht ſich ſelbſt und ihren Vorteil. 

Aus dieſen Gründen iſt mir der Fall Weingartner im höchſten Maße 
bedauerlich. Seit Jahren ſehen wir in bedenklichem Maße den Geiſt des 
Virtuoſentums bei unſeren Dirigenten mächtig werden. Primadonnenhonorare, 
Primadonnengaſtſpiele, Primadonnenkultus, Primadonnenlaunen; natürlich 
auch Primadonnenkünſte und Primadonnenkomödie. Es wird wohl kein deutſcher 
Dirigent im Ernſt behaupten wollen, daß dieſe Primadonnengewohnheiten jemals 
ein Glück geweſen ſind für die Muſik. Ebenſowenig wird er beſtreiten, daß 
fle einen Schaden, ja einen Schandfleck darſtellen in unſerem künſtleriſchen 
Kulturleben. Darum iſt es weiter nicht ſchlimm, wenn einer dieſer Soliſten 
ſich launenhaft, ſelbſtſüchtig oder dumm benimmt. Ganz anders liegt der Fall, 
wenn die geiſtigen und ſeeliſchen Leiter unſeres großen öffentlichen Mufiklebens 
ihre hohe Lebens · und Berufsſtellung nicht mehr echt künſtleriſch und echt männ- 
lich zu erfaſſen vermögen. Wo ſollen wir hinkommen, wenn die Leiter, denen 


drigmalität und Kulturwert 143 


jene Hunderte gehorchen müſſen, nicht mehr in ſich ſelbſt das vornehmſte Geſetz 
fühlen, daß nur der befehlen und führen darf, der ſelber unbedingt der Pflicht 
gehorcht und niemals ſich ſelbſt ſucht, ſondern die Sache, um derentwillen er 
ja die Führung über die vielen überkommen hat! 

Karl Storck 


SQ 
Originalität und Kulturwert 


Irſprünglichkeit iſt heute die erſte Forderung, die wir an den Künſtler 
2 ftellen. Wir find ſehr geneigt, das Goetheſche Verlangen nach Per- 
ſorlichkeit mit dieſer Originalität gleichzuſtellen. Ich möchte nicht 
leugnen, daß jede wahre Perſönlichkeit in gewiſſem Sinne „neu“, alſo ur- 
ſprünglich ſein muß. And für die abſolute Einſchätzung eines Künſtlerwertes 
bleibt der Gehalt an Arſprünglichkeit ein ſicherer Maßſtab. Anders aber ſtellt 
ſich die Beurteilung, wenn wir den Wert eines Künſtlers für ſeine Zeit, für 
ſein Volk zu erkennen ſtreben; wenn wir das Kunſtwerk nicht unbekümmert um 
die Amwelt, in der es ſteht, nur nach ſeinen rein künſtleriſchen, ſondern auch 
nach ſeinen ethiſchen, ſeinen Volkstumskräften beurteilen. Es iſt heute die 
Regel, für die Einſchätzung eines Kunſtwerkes lediglich den rein künſtleriſchen 
Maßſtab anzulegen. Das iſt nicht nur einſeitig — da doch kein Kunſtwerk für 
ſich allein in der Welt ſteht — ſondern unter Amſtänden geradezu frevelhaft 
vom Standpunkt des Volkswohls, der geſamten Kulturentwicklung. 

Es ſollte doch nachdenklich und vorſichtig ſtimmen, daß alle Zeitalter 
einer hohen Entwicklung der Geſamtkultur beim Künſtler die Originalität nicht 
ſo hoch einſchätzten, wie die Fähigkeit, einem Kulturbeſitz den möglichſt packenden, 
künſtleriſchen Ausdruck zu geben. Die griechiſchen Tragiker behandelten immer 
wieder dieſelben mythiſchen Stoffe; die italieniſche Renaiſſancemalerei vererbte 
Typen und Gruppierung; ein Lope da Vega nahm gute Szenen, ja ganze Akte 
ſeiner Vorgänger in ſeine Dramen auf; Shakeſpeare machte große Anleihen; 
Händel führte förmlich Buch über günſtiges Material, das er anderwärts an 
getroffen. Dieſe Großen werden darum nicht kleiner. Die Kunſtgeſchichte 
nimmt ja zeitweilig eine Rangumänderung vor. Auf den Runftgenuß von uns 
Menſchen von heute hat das keinen Einfluß; erft recht ändert es nichts an den 
Tatſachen der einſtigen Wirkung auf das Volksganze. — — 

Zu dieſen Aberlegungen regte mich die 100. Aufführung von Wilhelm 
Kienzls „Evangelimann“ an, die vom königlichen Opernhaus durch eine Neu- 
einſtudierung gefeiert wurde. Vielleicht find die Überlegungen etwas zu ge- 
wichtig für den Anlaß. Denn die genannten Großen hatten doch noch andere 
Werte einzuſetzen als Kienzl, deſſen eigener Ehrgeiz wohl kaum dahingeht, auf 
ferne Zukunftszeiten zu wirken. Aber immerhin: auch die Gerechtigkeit der 
Bewertung einer zeitgenöſſiſchen Erſcheinung kann unter Umftanden eine folche 
Einſtellung aufs Allgemeine gebieten. 

Im Mai 1895 erſchien Kienzls „Evangelimann“ zum erſtenmal auf der 
Bühne. And zwar in unſerem königlichen Opernhaus, das nicht häufig die 
Wiege nachhaltiger Opernerfolge geweſen iſt. Das ſind alſo bald dreizehn 
Jahre. Die ſeit Richard Wagners Tod erſchienenen Opern, die ſich ſo lange 
auf der Bühne behauptet haben, find an den Fingern abzuzählen: „Hänſel 


144 Su unſerer Notenbeilage 


und Gretel“, „Cavalleria rusticana“, „Bajazzi“, Verdis „Falſtaff“ und 7. Das 
iſt doch immerhin bei der Schnellebigkeit unſerer Zeit eine beachtenswerte 
Lebenskraft, die nur in wirklichen Werten ihren Grund haben kann. 

Der ſtärkſte dieſer Werte, derjenige, der auch geſchichtliche Ent ⸗ 
wicklungsbedeutung hat, liegt in der Wahl des Stoffes. 

Als „Schauſpiel“ bezeichnet der Verfaſſer ſein Werk; er hätte es als 
„bürgerliches“ Schauſpiel, als Volksſtück bezeichnen können. Es ſteht auf dem 
karg bebauten Felde, auf dem „Fidelio“ und Cherubinis „Waſſerträger“ ge- 
wachſen ſind. Weit iſt dieſes Gebiet vom üppig überwucherten Acker der 
naturaliſtiſchen Oper entfernt durch die Höhe des ſittlichen Gehalts, durch die 
freudige Zuverſicht auf die Kunſtempfänglichkeit des Volkes, das Lieder auch 
dort entgegennimmt, wo fie „eingelegt“ find; das ein höheres Formgefühl be- 
währt gegenüber geſchloſſenen Szenen, ſobald fie nur Lebensbilder find. Hier 
iſt vor allem das Kegelfeſt im erſten Akt ein ſolches, doppelt wertvoll, weil 
es unſer Volk — nicht bei der Arbeit, ſondern beim Vergnügen zeigt. Kienzls 
Oper ſteht hier auf einem Wege, der uns hoffentlich doch noch zu unſerer Volks · 
oper und auch zur komiſchen Oper führt. 

Schwächer als die Dichtung, iſt die Muſik. Sie lebt zu ſehr aus zweiter 
Hand, d. h. leider aus zweiten Händen. Das Stilgemiſch iſt ſchlimm, aber 
es iſt — alles in allem — geſchickt. Der naive Zuhörer jagt nicht nach Reminif- 
zenzen. Er iſt zufrieden, wenn er wahren und eindrucksvollen Ausdruck erhält. 
Den hat Kienzl erreicht, und fo wird ſich kein Unbefangener einem ſtarken Er- 
griffenſein bei Anhörung dieſes Werkes entziehen können. 


2 


Zu unſerer Notenbeilage 


0 e, Wy ser ftarfe Andrang aktuellen Stoffes hat uns gezwungen, den ein- 
SS) gehenden Aufſatz über Peter Cornelius’ Mufitdrama „Gunlöd“, dem 
V die heutige Notenbeilage entnommen ift, für die nächſte Nummer 
5 Es ſei ſchon jetzt auf dieſe Würdigung des bedeutenden Werkes, 
das bei einer Konzertaufführung in Düſſeldorf zu Ende Februar helle Be⸗ 
geiſterung geweckt hat, hingewieſen. Inzwiſchen wird dann auch die Bühnen⸗ 
aufführung am Stadttheater in Köln Gelegenheit bieten, das Werk auf ſeine 
Bühnenwirkſamkeit zu prüfen. 


Dringend gefl. Beachtung empfohlen! 


Wiederholt werden Briefe und Sendungen für den Türmer an einzelne Mitglteder 
der Redaktion perſönlich gerichtet. Daraus ergibt ſich, daß ſolche Eingänge bei Abweſen ; 
beit des Adreſſaten uneröffnet liegen bleiben oder, falls eingeſchrieben, zunächſt über⸗ 
haupt nicht ausgehändigt werden. Eine Verzögerung in der Erledigung der Eingänge 
iſt in dieſen Fällen unvermeidlich. Die geehrten Abſender werden daher in ihrem eigenen 
Intereſſe freundlich und dringend erſucht, ſämtliche Zuſchriften und Sendungen, die 
auf Redaktions angelegenheiten des Türmers Bezug nehmen, entweder „an den Herausgeber“ 
oder „an die Redaktion des Türmers“ (beide Bad Oeynhauſen i. W., Naiſerſtraße 6) zu richten. 


Verantwortlicher und Chefredakteur: Jeannot Emil Frhr. v. 5 Bad Oeynbauſen i. W. 
ea OUP nn. 5 „ Landshuterſtraße 3. 
Druck und Verlag: Greiner & Dfeiffer, S 


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X. Jahrg. Mai 1908 Brft 8 


Der größte Naturforſcher Deutſchlands 
im 19. Jahrhundert 


Von 
J. Reinke 


No greater genius than Robert Mayer has appeared In our 
century. Some men, who now overshadow him, will be undoubtedly 
placed beneath him in the future history of science. (Rein größeres 
Gente ift in unſerm Jahrhundert erſchienen als Robert Mayer. 
Einige Leute, die ihn jetzt überſcha ten, werden unzweifelhaft 
unter ihn geſtellt werden in der künftigen Geſchichte der Wiſſen⸗ 
ſchaft.) 5 John Tyndall (1891). 

enſchliche Größe iſt einſam. Sie wird im Anfange ſelten 
8 verſtanden. Die Menſchen der Schablone blicken auf ſie 
mit bäuriſcher Geringſchätzung; klügere ſuchen ſie im beſten 
ö Falle mit dem Ellenbogen leiſe zur Seite zu ſchieben. Darum 
blieben Kummer und Leid den Propheten der Wahrheit ſelten erſpart. 

So war auch Julius Robert Mayers Leben in vieler Hinſicht 
ein Martyrium, wenn es ihm auch an köſtlichem Sonnenſchein nicht gefehlt 
hat. Sein Geiſt aber, ſein Schaffen und Wirken erlebte in unſern Tagen, 
wo es ganz verſtanden wurde, die höchſten Triumphe. Die Geſchichte der 
Wiſſenſchaft ſtellt Mayer in eine Reihe mit Archimedes, Galilei, Kepler 
und Newton. 

Jakob Weyrauch hat ſich ein großes literariſches Verdienſt erworben 
durch ſeine ausgezeichnete kritiſche Ausgabe von Mayers ſämtlichen Schriften, 


die zwei ſtattliche Bände füllen und von zahlreichen biographiſchen 3 
Der Türmer X, 8 


146 Reinte: Der größte Naturforfcher Deutſchlands im 19. Jahrhundert 


durchſetzt find. (I. Die Mechanik der Wärme, 3. Aufl., Stuttgart 1893, 
464 S. II. Kleinere Schriften und Briefe, Stuttgart 1893. 502 S. Beide 
Bände ſind im folgenden nach der Seitenzahl zitiert, die kl. Schr. mit 
einer vorgeſetzten II.) Erſt dadurch iſt Mayers unvergleichliches Genie in 
feiner ganzen, auch feiner rein menſchlichen Größe der Nachwelt und ins⸗ 
beſondere dem deutſchen Volke zugänglich geworden. Wer ſie mit Sorg⸗ 
falt und Hingebung geleſen, der wird W. v. Humboldts Wort auf fid 
anwenden dürfen: Wenn man einem reinen und wahrhaft großen Charakter 
lange zur Seite ſteht, geht's wie ein Hauch von ihm auf uns über. 

Solch Geiſteshauch weht aus den Schriften unſerer großen Männer, 
er bildet ihr unvergängliches Erbteil. Aus Robert Mayers Schriften wird 
jeder, der ſich mit Naturwiſſenſchaften beſchäftigt, eine Fülle reichſter Be⸗ 
lehrung und Anregung ſchöpfen. Seine Gedanken ſind einfach und klar 
wie ſein Stil; auch darin offenbart ſich die Größe. Mir erſchien es nütz⸗ 
lich, dem kurzen Abriß des Lebens und Schaffens dieſes Mannes eine An⸗ 
zahl charakteriſtiſcher Ausſprüche von ihm einzuflechten, weil durch ſie der 
Leſer am leichteſten in das Lebenselement Mayers eingeführt wird. 

Der äußere Lebensgang Mayers war einfach; nur ein großes Er⸗ 
eignis, eine Weltreiſe, fällt auf die Grenze zwiſchen Jugend und Mann⸗ 
heit. Das innere Leben war um ſo verwickelter. Aus einem beneidenswert 
idylliſchen Daſein erwuchſen die höchſten Triumphe ſiegreicher Geiſteskraft, 
die, weil ſie mit allzugroßer Feinheit des Empfindens gepaart waren, da⸗ 
durch ein tragiſches Verhängnis heraufbeſchworen, das faſt bis zur Ver⸗ 
nichtung geführt hätte, wenn nicht rechtzeitig freundliche Mächte die 
ſchützenden Hände über den Helden gehalten hätten. So endete dies koſt⸗ 
bare Leben unter einem verklärenden Glanze. — 

Julius Robert Mayer ward geboren zu Heilbronn am 25. Nov. 
1814, als dritter Sohn des Apothekers Chriſtian Mayer daſelbſt; er lebte 
in ſeiner Vaterſtadt als praktiſcher Arzt und ſtarb in ihren Mauern am 
20. März 1878. 

Des Knaben Leiſtungen auf dem Gymnaſium ſeiner Vaterſtadt waren 
keineswegs glänzend. Er war ein Sonntagskind, dem Werktagsarbeit ſchon 
frühzeitig ſchwer fiel. Im ſpäteren Leben hat er dafür römiſche und grie⸗ 
chiſche Klaſſiker viel und gern geleſen. Obgleich Mayer von Anfang an 
Medizin ſtudieren wollte, ſiedelte er doch vom Heilbronner Gymnaſium auf 
das theologiſche Seminar nach Schönthal über, um dort mit feinem ver- 
trauteften Jugendfreunde, Guſtav Rümelin, dem ſpäteren Kanzler der Ani⸗ 
verfität Tübingen, zuſammen fein zu können. Mayers Beurteilung im 
Anterricht durch die Lehrer erhob ſich in Schönthal nicht über die in Heil⸗ 
bronn. Seine Begabung wurde als „ziemlich gut“ eingeſchätzt, der Fleiß 
als „gut“, die Leiſtungen in Sprachen zwiſchen „gering“ und „mittelmäßig“; 
nur in der Mathematik brachte er es ſchließlich auf „recht gut“. Dagegen 
war Mayers Perſönlichkeit nach Rümelins Aufzeichnungen gleich beliebt 
bei Lehrern wie bei Schülern. „Er gab ſich ſtets ganz, wie er war, es 


Nemke: Der größte Naturforſcher Deutſchiands im 19. Zabrhundert 147 


kam kein unwahres Wort aus ſeinem Munde; er hatte eine volle und 
freudige Anerkennung für fremde Vorzüge und trat niemandem zu nahe. 
Aber alles, was er ſagte und tat, trug den Stempel der Driginalität. Und 
da es an Witz und gutem Humor nicht fehlte, war feine Unterhaltung ſtets 
ergötzlich; an Zitaten und Sentenzen aus Bibel und Geſangbuch, aus 
Sprichwörtern, Dichtern und alten Autoren war er unerſchöpflich und wußte 
fie anzubringen, wo ſonſt kein Menſch an fie gedacht hätte.“ (5.) 

Auf der Aniverſität widmete ſich Mayer ausſchließlich den medizi⸗ 
niſchen Fachſtudien; daneben gab er ſich mit Luſt dem Studentenleben hin 
und war eifriges Mitglied des Korps Gueſtphalia, was ihm im Laufe der 
Studienzeit auch Händel mit den Behörden eintrug. Er promovierte 1838 
mit einer Diſſertation über das Santonin. Nachdem er ſich noch eine Zeit⸗ 
lang in Paris zum Beſuch der dortigen Kliniken aufgehalten hatte, trat er 
als Schiffsarzt in holländiſche Dienſte und ſegelte Anfang 1840 mit dem 
Dreimaſter „Java“ nach Batavia ab. 

Die Tagebuchblätter und Briefe, in denen Mayer über dieſe Reife 
berichtet, find höchſt anziehend geſchrieben und jedem, der auf einer Schiffs⸗ 
reiſe die Tropen zu durchqueren gedenkt, zum vorherigen Leſen zu empfehlen; 
er wird viel Wertvolles daraus entnehmen trotz der Verſchiedenheit einer 
Reiſe zu Segelſchiff von der auf einem modernen Ozeandampfer. Ans 
intereſſiert in jenen Aufzeichnungen beſonders, daß Mayer ſich als „jeder 
Zoll ein Naturforſcher“ gibt. Es iſt ein einziger Gedanke, der ihn in den 
einſamen Stunden durch die ſchier endloſe Waſſerwüſte unabläſſig verfolgt 
und ihn nicht wieder losläßt: der Gedanke des griechiſchen Philoſophen 
Demokrit, beziehungsweiſe Anaxagoras: „Aus nichts wird nichts“ und ſein 
Widerſpiel: „Etwas Seiendes kann nicht in nichts zerfließen“. Dieſe Ge⸗ 
danken ſind gleichſam das geiſtige Fahrwaſſer, aus dem er nie wieder heraus⸗ 
kommen ſollte. 

Als der Steuermann ihm erzählt, das Waſſer ſturmbewegter Wellen ſei 
wärmer, als ruhiges Waſſer, fragt Mayer: Woher kommt dieſe Erwärmung? 
Damit hatte er die große Frage ſeines wiſſenſchaftlichen Lebens geſtellt. 

Dann kam die Wahrnehmung, daß das beim Aderlaß eines Matroſen 
einer Vene entſtrömende Blut unter dem Tropenhimmel auffallend hellrot 
gefärbt war, faſt wie das einer Arterie. Mayer zog daraus den Schluß, 
wegen der größeren Wärme der Luft ſei im Innern des Körpers eine ge⸗ 
ringere Oxydation durch Atmung ausreichend. Dies gab ihm Anlaß zu 
tiefem Nachdenken und weitgehenden Folgerungen. Obgleich das Schiff 
an der javaniſchen Küſte vier Monate lag, ſpürte er kaum eine Verſuchung, 
an Land zu gehen und dort Beobachtungen anzuſtellen; er blieb faſt immer 
an Bord, um über ſein „Naturprinzip“ nachzudenken. Auch während der 
121 Tage dauernden Rückfahrt ſpann er ſich ganz in dieſe Betrachtungen 
ein. Schon darin zeigt ſich, daß ſeine Begabung als Naturforſcher mehr 
auf dem Gebiete der Theorie, der unmittelbaren gedanklichen Anſchauung 
lag, als auf dem der Beobachtung und des Experiments. 


148 Reinte: Der größte Naturforſcher Deutſchlauds im 19. Jahrhundert 


So nahmen in der Einſamkeit der Schiffsreiſe die großen Probleme 
ſeines Lebens ihren Arſprung, die ihn zur Aufführung des gewaltigen Lehr⸗ 
gebäudes der Energetik geführt haben, das heute nicht nur die Phyſik, fon- 
dern alle Naturwiſſenſchaften beherrſcht. Es ward Mayer nicht leicht, ſich 
nach dieſen Monaten des Schwebens in den lichten Höhen der Ideen 
wieder dem Alltagsleben mit ſeiner Proſa zuzuwenden, und am 16. Auguſt 
1841 klagt er in einem Briefe an ſeinen Freund Baur, die ſchönen Tage 
des ungeſtörten Studierens, des Schiffslebens ſeien vorüber; „dem Ober⸗ 
wundarzt, dem Praktiker muß ich gewaltſam Sinn und Zeit widmen, denn 
panis regiert die Welt et mehercule non injuria“. 

Seit dem Februar 1841 finden wir Mayer wieder in ſeiner Vater⸗ 
ſtadt Heilbronn, wo er ſich als Arzt niedergelaſſen hatte. Der Tätigkeit 
des Berufes wußte er aber doch die Zeit abzugewinnen, um ſich der Aus- 
arbeitung feiner Gedanken zu widmen, die ihn von der dem Arzte am näch⸗ 
ſten liegenden Phyſiologie bald auf das Gebiet der Chemie und dann ganz 
überwiegend auf das der Phyſik geführt haben; mathematiſche Kenntniſſe, 
die für erfolgreiches Arbeiten auf theoretiſch⸗phyſikaliſchem Gebiete unerläß- 
lich ſind, wurden durch Privatſtudien nachgeholt. 

Alle Aberlegungen der letzten beiden Jahre führten Mayer zu dem 
Ergebnis, daß das, was man in der Chemie und namentlich in der Phyſik 
Arſache und Wirkung nenne, nur verſchiedene Erſcheinungsform eines und 
desſelben Objekts ſei, das bald als Bewegung, bald als Wärme, als 
Elektrizität, als chemiſche Verſchiedenheit oder als räumliches Getrenntſein 
auftreten könne. Mayer nannte dies Objekt Kraft — heute nennt man 
es Energie. Ich werde daher im folgenden bei allen Anführungen das 
Wort Kraft durch das Wort Energie erſetzen. Auf dieſem Gedankengange 
fand Mayer folgende beiden Hauptſätze ſeiner Lehre: 

I, „Eine Energie iſt nicht weniger unzerſtörlich als eine Subſtanz“. 

II. „Aufhörende Bewegung dauert als Wärme fort“. 

Weiter gelangte Mayer durch tiefes Nachdenken zu dem Ergebnis, 
daß alle Energien bei gleichbleibendem Zahlenwerte, alſo bei uns 
veränderlicher Quantität, ſich ineinander verwandeln könnten, und er ſuchte 
zunächſt die Aquivalenz von Bewegung und Wärme zahlenmäßig feft- 
zuſtellen. Am dieſe Zeit machte er auch den erfolgreichen Verſuch, Waſſer 
durch Schütteln zu erwärmen. : 

Im Jahre 1841 brachte Mayer den erften Aufſatz über feine Arbeiten 
zu Papier und ſandte ihn an die angeſehenſte phyſikaliſche Zeitſchrift, 
an Poggendorffs Annalen. Die Redaktion ließ dieſe Arbeit ganz unbe⸗ 
rückſichtigt; der Verfaſſer erhielt nicht einmal Antwort vom Herausgeber, 
auch dann nicht, als er um Rückgabe des Manuſkripts bat. Dennoch war 
letzteres nicht in den Papierkorb geworfen, es fand ſich nach Poggendorffs 
Tode in deſſen Nachlaß und iſt jetzt in den „Kleinen Schriften“ abgedruckt 
worden; ſein Titel lautet: Aber die quantitative und qualitative 
Beſt im mung der Kräfte. Zur Entſchuldigung Poggendorffs iſt geltend 


Reinke: Der größte Naturforſcher Deutſchlands im 19. Jahrhundert 149 


zu machen, daß Mayer ſich in jener Erſtlingsarbeit allerdings irrtümlicher 
Formeln für den mathematiſchen Ausdruck ſeiner Gedanken bedient hat; 
freilich treten dieſe Gedanken nichts deſtoweniger klar genug hervor. Immer⸗ 
hin iſt es wohl zu begreifen, wenn es dem Zunftgelehrten nicht einleuchten 
wollte, daß ein junger, unbekannter Arzt in einer Landſtadt ihm Ideen ein⸗ 
geſandt habe, die geeignet waren, das ganze damalige Gebäude der Phyſik 
umzugeſtalten. 

Durch dieſen Mißerfolg ließ ſich Mayer nicht abſchrecken, 1842 die 
Grundlagen ſeiner Theorie noch einmal auszuarbeiten, und dieſen Aufſatz 
ſandte er an Liebig. Der Scharfblick des genialen Chemikers erkannte ſo⸗ 
fort, daß hier bahnbrechende Gedanken ihm entgegengetragen wurden, und 
er brachte den „Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten 
Natur“ betitelten Aufſatz ſofort in ſeinen „Annalen der Chemie und Phar⸗ 
macie“ zum Abdruck. An dem Maientage des Jahres 1842, an dem 
Mayer die Annahme ſeines Aufſatzes durch Liebig erfuhr, verlobte er ſich 
mit Fräulein Wilhelmine Cloß aus Winnenden; am 14. Auguſt hielt er 
Hochzeit. 

Man geht wohl nicht fehl, wenn man dieſen Schritt anſieht als ge⸗ 
ſchehen im Glücksgefühl über den gehabten Erfolg. Dieſer ſpornte ihn aber 
nur zu erneuter Prüfung und Vertiefung ſeiner Anſichten. Am 5. Dez. 
1842 ſchreibt er an Grieſinger, ſeine Lehrſätze könnten als reine Konſe⸗ 
quenzen aus dem Prinzip der Unmöglichkeit des Perpetuum mobile an- 
geſehen werden; leugne man einen Satz, ſo ſei gleich ein Perpetuum 
mobile da. 

Auch unterliegt es keinem Zweifel, daß Mayer ſich ſchon frühzeitig 
darüber klar war, ſeine Lehren würden zu einer Reform der geſamten Natur⸗ 
wiſſenſchaften führen; er war ſich vollbewußt, Schöpfer deſſen zu ſein, was 
wir heute Energetik nennen. Er forderte, daß man wiſſen müſſe, wie man 
die Energie oder Arbeit und die Wärme nach unveränderlichen Einheiten 
zähle, und welche unveränderliche Größenbeziehung zwiſchen der Arbeits⸗ 
einheit und der Wärmeeinheit ſtattfindet. „Dieſes Wiſſen iſt es, welches 
die Grundlage einer neuen Wiſſenſchaft bildet und welches eine Neugeſtal⸗ 
tung der Naturwiſſenſchaften hervorruft.“ Stammt dieſer Aus ſpruch Mayers 
im Wortlaut auch erſt aus ſpäteren Jahren, ſo hat ihm deſſen Inhalt be⸗ 
reits 1842 klar vor Augen geſtanden. 

Schon 1841 empfand Mayer es mit Verwunderung, daß, während 
in der Chemie feit Lavoiſier nicht an der quantitativen Anveränderlichkeit 
der Materie gezweifelt werde, in der Phyſik niemand ſage, was aus einer 
ſcheinbar verſchwindenden „Kraft“ werde. Dachte er an die Reibungs- 
wärme, ſo wurde ihm klar: die Bewegung kann dabei nicht zu nichts wer⸗ 
den, die Wärme kann nicht aus nichts entſtehen; ſondern es muß notwendig 
die Bewegung ſich in Wärme verwandeln, wobei ein feſtes Verhältnis zwi⸗ 
ſchen Bewegung und Wärme beſteht. Auch der heutige Begriff der 
Diftanz-Energie findet ſich ſchon in feinem erſten Aufſatze feſtgelegt, wo er 


150 Reinke: Der größte Naturfo ſcher Deutſchlands im 19. Jabrhundert 


es ausſpricht, daß nicht die Schwere den Fall bewirke, „ſondern die räum⸗ 
liche Differenz der Materie“. In einem Briefe vom 24. Juli 1841 an 
Baur erklärt er, daß die Ausbildung ſeiner Naturanſchauung, die ihm eine 
unüberſehbare und wirklich unendliche Reihe bis dahin unerklärbarer Er⸗ 
ſcheinungen völlig aufhellte, die außer naturwiſſenſchaftlichen auch die wich⸗ 
tigſten Fragen der Medizin auflöfe, den ausſchließlichen Gegenſtand an⸗ 
geſtrengter Tätigkeit ſeit ſeiner Seereiſe gebildet habe. Im Anſchluß daran 
legt er dar, daß die Energien unzerſtörbar ſeien wie die Subſtanz des 
Chemikers. Dieſe Energien ſeien Bewegung, Elektrizität, Wärme. Sie 
würden nur qualitativ ineinander verwandelt, ohne ihren Quantitätswert 
zu ändern. In einem andern Briefe an Baur vom 16. Auguſt 1841 ver⸗ 
gleicht er die Schläge des Schmiedes, der ein Stück Eiſen weißglühend 
hämmert, mit den Schlägen, die eine Glocke zum Tönen bringen. Am 
30. November 1842 ſchreibt Mayer an Grieſinger: „Die Urfache der Be⸗ 
wegung, die Bewegung ſelbſt und ihre Wirkung ſind nichts als verſchiedene 
Erſcheinungsformen eines und desſelben Objekts, wie dasſelbe vom Eis 
tropfbaren Waſſer und Waſſergas geſagt werden kann“; und an denſelben 
im Dezember 1842: „Meine Behauptung iſt ja gerade: Fallkraft, Be⸗ 
wegung, Wärme, Licht, Elektrizität und chemiſche Verwandtſchaft der Ponde⸗ 
rabilien ſind ein und dasſelbe Objekt in verſchiedenen Erſcheinungsformen“. 
(II. 175 ff.) — Das iſt genau der Standpunkt, den die heutige Energetik 
einnimmt. 

In ſeiner 1842 in Liebigs Annalen erſchienenen Arbeit ſagt Mayer, 
er wolle für die Freunde klarer, hypotheſenfreier Naturanſchauung den Ver⸗ 
ſuch machen, den Begriff von „Kraft“ (Energie) ebenſo präzis wie den von 
Materie aufzufaſſen. Energien ſeien Arſachen. In einer Kette von Ur» 
ſachen und Wirkungen könne nie ein Glied zu Null werden. Dieſe Eigen⸗ 
ſchaft aller Urfachen fei ihre Unzerſtörbarkeit. Habe eine Arſache c eine 
ihr gleiche Wirkung e hervorgebracht, fo habe damit c aufgehört, zu fein; 
c fei zu e geworden. Darum feien Urfachen quantitativ unzerſtörbare und 
qualitativ wandelbare Objekte. Die Arſachen in der Natur ſeien Materien 
oder Energien. Energien ſeien danach unzerſtörliche, wandelbare, imponde⸗ 
rable Objekte. Eine Urfache, die die Hebung einer Laſt bewirke, fei eine 
Energie. Die gehobene Laſt ſei ebenfalls eine Energie, d. h. die räumliche 
Differenz ponderabler Objekte fei eine Energie (Fallkraft). Bei Reibung 
zweier feſter Körper gehe die Bewegung in Wärme über; und um zu 
Wärme werden zu können, müſſe die Bewegung aufhören, Bewegung zu 
fein. Wie Wärme als Wirkung entſtehe, fo verſchwinde fie auch als Ur- 
ſache unter dem Auftreten ihrer Wirkungen, der Bewegung, Volumsver⸗ 
mehrung, Laſthebung. Auch das für die Energetik ſo wichtige Wort „äqui⸗ 
valent“ kommt hier zum erſten Male vor, denn Mayer präziſiert das Problem 
in vollſter Klarheit dahin: „Wir müſſen ausfindig machen, wie hoch ein 
beſtimmtes Gewicht über den Erdboden erhoben werden müſſe, daß ſeine 
Fallkraft äquivalent ſei der Erwärmung eines gleichen Gewichts Waſſer 


Reine: Der größte Naturforſcher Deutſchlands tm 19. Jahrhundert 151 


von 0° auf 1° C. Dies Äquivalent berechnet Mayer in genialer Weiſe 
(nach den damals zur Verfügung ftehenden Zahlen) aus der Wärmemenge, 
die fich bei der Kompreſſion der Gaſe entwickelt, und er gelangt auf Grund 
feiner Rechnungen und Betrachtungen zu dem Ergebnis, „daß dem Herab⸗ 
ſinken eines Gewichtsteiles von einer Höhe von zirka 365 Meter die Er⸗ 
wärmung eines gleichen Gewichtsteiles Waſſer von 0° auf 1° Centſpreche.“ 
Bedenkt man, daß Mayers damals benutzte mathematiſche Formel nicht 
ganz genau war, ſo iſt nicht zu verwundern, daß ſpätere Korrekturen dieſer 
Berechnung das mechaniſche Äquivalent der Wärme auf 425 Meter Fall ⸗ 
höhe feſtgeſtellt haben. Auch alle Nachfolger Mayers in Beſtimmung jener 
ſo wichtigen Zahl haben zunächſt noch Rechenfehler begangen. Auch ſtanden 
die für die Zahl 425 maßgebenden Regnaultfchen Beſtimmungen der Rom: 
preſſionswärme Mayer noch nicht zu Gebot. Aber die Priorität der Be⸗ 
rechnung des Wärmeäquivalents kann heute Mayer von keiner Seite be⸗ 
ſtritten werden. 

Da es ſich hier um eine naturgeſetzliche Verknüpfung handelt, die dem 
Newtonſchen Gravitationsgeſetze an Wichtigkeit nicht nachſteht, ſo erlaube 
ich mir noch die Faſſung des Wärmegeſetzes wiederzugeben, wie Mayer es 
im Jahre 1870 in ſeinem Vortrage über Erdbeben formuliert hat, wo es 
folgendermaßen lautet: 

„Bedienen wir uns der franzöſiſchen Maße, wo die Einheit der Ar⸗ 
beit = 1 Meterkilogramm geſetzt wird, d. h. = der Erhebung von 1 Kilo⸗ 
gramm Gewicht auf 1 Meter Höhe und die Einheit der Wärmequantität, 
Kalorie genannt, = der Erwärmung von 1 Kilogramm Waſſer um 1 Grad 
iſt, ſo müſſen wir wiſſen, wieviele Arbeitseinheiten, d. h. alſo wieviele 
Meterkilogramm einer Wärmeeinheit oder Kalorie entſprechen. Bei Löſung 
dieſer Aufgabe gelangt man auf ganz verſchiedenen Wegen zu dem näm⸗ 
lichen Reſultate. Man findet nämlich, daß eine Kalorie = 425 Meter: 
kilogramm iſt, d. h. die Erwärmung von einem gegebenen Quantum Waſſer 
um 1° C iſt die gleiche Leiſtung als die Erhebung von einem gleichen Ge⸗ 
wichte von irgendwelcher materiellen Beſchaffenheit auf eine vertikale Höhe 
von 425 Meter. Dieſe konſtante Größe, deren Kenntnis für die Natur⸗ 
lehre von höchſter Wichtigkeit iſt, nennt man das mechaniſche Wquivalent 
der Wärme.“ (367). 

Im Jahre 1845 erfolgte die Veröffentlichung von Mayers Haupt⸗ 
arbeit, die als eigenes Büchlein im Verlage der Drechslerſchen Buchhand⸗ 
lung in Heilbronn erſchien. Sie iſt betitelt: Die organiſche Bewegung 
in ihrem Zuſammenhange mit dem Stoffwechſel. Ein Bei. 
trag zur Naturkunde. Dieſer Titel iſt augenſcheinlich gewählt, um zu 
zeigen, daß der Verfaſſer feine Unterfuchungen fortgeſetzt und vom phyſi⸗ 
kaliſchen auf das phyſiologiſche Gebiet ausgedehnt habe; indes iſt auch dieſe 
Schrift reich an rein phyſikaliſchen Lehren. Auch wo ſich anſcheinend nur 
Wiederholungen des bereits früher Geſagten finden, ſind dieſe doch wegen 
der ſchärferen oder eigenartigen Faſſung der Begriffe von bedeutendem 


152 Reinte: Der größte Naturforſcher Deutſchlands im 19. Jahrhundert 


Werte. Es erſcheint mir daher unerläßlich, aus dieſer Arbeit einige 
beſonders charakteriſtiſche Sätze mitzuteilen. Das Thema dürfte in folgen- 
den Worten auf das klarſte hervortreten: 

„Die Energie, als Bewegungsurſache, iſt ein unzerſtörbares Objekt. 
Die quantitative Anveränderlichkeit des Gegebenen iſt ein oberſtes Natur⸗ 
geſetz, das ſich auf gleiche Weiſe über Energie und Materie erſtreckt.“ — 
„Es gibt in Wahrheit nur eine einzige Energie. In ewigem Wechſel kreiſt 
dieſelbe in der toten wie in der lebenden Natur. Die Energie in ihren 
verſchiedenen Formen kennen zu lernen, die Bedingungen ihrer Meta- 
morphoſen zu erforſchen, das iſt die einzige Aufgabe der Phyſik.“ 

„Die Bewegung iſt eine Energie. Bei der Aufzählung der Energien 
verdient ſie die erſte Stelle. Die Wärme erwärmt, die Bewegung bewegt. 
Wenn eine bewegte Maſſe auf eine ruhende trifft, ſo wird die letztere in 
Bewegung geſetzt, während die erſte an Bewegung verliert.“ 

„Gewichtserhebung iſt Bewegungsurſache, iſt Energie.“ — „Wird 
eine Fallkraft in Bewegung, oder eine Bewegung in Fallkraft verwandelt, 
ſo bleibt die gegebene Energie oder der mechaniſche Effekt eine konſtante 
Größe.“ — „Die Wärme iſt eine Energie; ſie läßt ſich in mechaniſchen 
Effekt verwandeln.“ — „Eine Energie, welche Wirkung äußert, ohne abzu⸗ 
nehmen, gibt es für den Phyſiker nicht.“ 

Mayer rechnet weiter zu den Energien die Elektrizität, die aus mecha- 
niſcher Energie zu erzeugen ſei und dieſe wiederum hervorbringen könne, 
ebenſo den Magnetismus und die „chemiſche Differenz“ der Materie. Chlor 
und Waſſerſtoff ſeien in Trennung, Chlor und Stickſtoff in Verbindung 
eine Energie. „Bei allen phyſikaliſchen Vorgängen bleibt die gegebene 
Energie eine konſtante Größe.“ 

Die Sonne nennt Mayer „eine nach menſchlichen Begriffen uner- 
ſchöpfliche Quelle phyſiſcher Energie. Der Strom dieſer Energie, der ſich 
über unſere Erde ergießt, iſt die beſtändig ſich ſpannende Feder, die das 
Getriebe irdiſcher Tätigkeiten im Gange hält. Bei der großen Menge von 
Energie, welche unſere Erde in den Weltenraum hinausſchickt, müßte ihre 
Oberfläche ohne beſtändigen Wiedererſatz alsbald in Todeskälte erſtarren. 
Das Licht der Sonne iſt es, welches, in Wärme verwandelt, die Bewegungen 
in unſerer Atmoſphäre bewirkt und die Gewäſſer zu Wolken in die Höhe 
hebt und die Strömung der Flüſſe hervorbringt; die Wärme, welche von 
den Rädern der Wind- und Waſſermühlen unter Reibung erzeugt wird, 
dieſe Wärme iſt der Erde von der Sonne aus in Gorm einer vibrierenden 
Bewegung zugeſendet worden.“ 

Von diefem kosmiſchen Ausblicke geht Mayer über zu den phyſio⸗ 
logiſchen Konſequenzen ſeiner Lehre. 

Die Erdkruſte ſei mit Pflanzen überzogen, die das Sonnenlicht in 
ſich aufnehmen und unter Verwendung dieſer Energie eine fortlaufende 
Summe chemiſcher Differenz erzeugen. In der Pflanzenwelt ſeien die flüch⸗ 
tigen Sonnenſtrahlen fixiert. Hierbei finde in der Pflanze nur eine Am⸗ 


Reinke: Der größte Naturforſcher Deutſchlands im 19. Jahrhundert 153 


wandlung, nicht eine Erzeugung von Materie ſtatt. „Die Pflanzen nehmen 
eine Energie, das Licht auf, und bringen eine andere Energie hervor: die 
chemiſche Differenz.” Während des Lebensprozeſſes gehe nur eine Am⸗ 
wandlung der Materie wie der Energie vor ſich, niemals aber eine Er⸗ 
ſchaffung der einen oder andern. Indem Mayer daran erinnert, daß die 
Pflanzen die durch Aſſimilation gewonnenen Kohlenſtoffverbindungen bei 
Nacht teilweiſe wieder durch Atmung verbrennen, erſcheint es ihm wahr⸗ 
ſcheinlicher, daß die während der nächtlichen Oxydation gewonnene Energie 
in der Pflanze eine wichtige Verwendung finde, als daß fie in Form freier 
Wärme ausgeſchieden werden ſollte. 

Die durch die Tätigkeit der Pflanzen angeſammelte chemiſche Energie 
komme dann weiter der Tierwelt zugute. Im Tierleben herrſche ein ſtarker 
Verbrauch an chemiſcher Energie, ſchon durch die Muskelarbeit. Außerdem 
komme die Wärmeproduktion in Betracht. Die Atmungs⸗Oxydation ſei 
unmittelbare Urfache für beides. 

Bemerkenswert erſcheint dem Phyſiologen noch folgende Stelle: „Wie 
der ganze Organismus, ſo hat auch das Organ, der Muskel, ſeine pſychiſche 
und phyſiſche Seite; zu jener zählen wir den Nerveneinfluß, zu dieſer den 
chemiſchen Prozeß. Dem Willen des Steuermanns und des Maſchiniſten 
gehorchen die Bewegungen des Dampfboots. Der geiſtige Einfluß aber, 
ohne welchen das Schiff ſich nicht in Gang ſetzen, oder am nächſten Riffe 
zerſchellen würde, er lenkt, aber er bewegt nicht; zur Fortbewegung bedarf 
es einer phyſiſchen Kraft, der Steinkohlen, und ohne dieſe bleibt das Schiff, 
auch beim ſtärkſten Willen ſeiner Lenker, tot.“ (87). 

Die Muskelkraft iſt Mayer chemiſche Verbrennungsenergie; die Ere 
wärmung der Säge bei der Arbeit entſteht aus der Oxydation im Muskel. 
Reizbarkeit nennt er „die Fähigkeit eines lebenden Gewebes, chemiſche 
Energie in mechaniſchen Effekt verwandeln zu können“. In dieſem Sinne 
proteſtiert er auch gegen die Hypotheſe einer Lebenskraft, wie ſie die da⸗ 
malige Phyſiologie beherrſchte, wobei er jene Lebenskraft als Energieform 
nimmt; die Frage der Exiſtenz nichtenergetiſcher Kräfte hat er kaum geſtreift. 

Das Leben wird nach feiner Auffaſſung getragen durch die Amwandlung 
einer Energieform in eine andere; wenn er hierbei von Umwandlung ſpricht, 
ſo hat er ſelbſt dies dahin erläutert: „Etwas anderes als eine konſtante nume⸗ 
riſche Beziehung fol und kann hier das Wort Umwandeln nicht ausdrücken.“ 

Man muß mit der Geſchichte der Naturwiſſenſchaften und insbeſondere 
mit derjenigen der Biologie vertraut ſein, um völlig überſehen zu können, 
wie fremdartig ſolche Betrachtungen, namentlich von einer ſo hohen Warte 
aus, die gleichzeitig das Geſchehen in den Reichen des Belebten wie des 
Anbelebten mit weitem Blick umſpannte, der damaligen Zeit ſein mußten; 
daß ſie erſt nach Jahrzehnten Gemeingut der Wiſſenſchaft werden konnten, 
während heute die Phyſiologie nicht weniger als die Phyſik auf Mayers 
Schultern ſteht. Daher haben ſeine hier mitgeteilten Sätze ſcheinbar eine 
ſo ganz moderne Klangfarbe. 


154 Reinle: Der größte Naturforfcher Deutſchlands im 19. Jahrhundert 


Eine dritte größere Arbeit Mayers, Beiträge zur Dynamik 
des Himmels, die ſeine Ideen im Zuſammenhange des Weltgebäudes 
verfolgt, erſchien 1848 gleichfalls in Heilbronn; ebenſo eine vierte 1851: 
Bemerkungen über das mechaniſche Äquivalent der Wärme, 
beide im Verlage von Landherr. Nur aus der letzten Abhandlung ſeien 
die beiden Worte angeführt, die, ohne etwas im Vergleich zum früher Ge- 
ſagten Neues auszudrücken, in ihrer Faſſung doch Beachtung verdienen 
und die auch in der neueren energetiſchen Literatur eine gewiſſe Rolle 
ſpielen: „Energie iſt etwas, das bei der Erzeugung der Bewegung auf— 
gewendet wird“, und: „Am zu Wärme werden zu können, muß die Ve- 
wegung aufhören, Bewegung zu ſein.“ 

Doch ich bin mit Anführung dieſer letzten Arbeit bereits über wich- 
tige Ereigniſſe in Mayers Leben hinausgelangt. 

Sein äußeres Daſein floß ihm im glücklichſten Familienleben ruhig 
dahin. Aber innerlich dürften ſchon frühe die Erregungen darüber nicht 
gefehlt haben, daß die zünftigen Naturforſcher der damaligen Zeit ſeine Ar⸗ 
beiten, deren Wert ihm völlig klar war, ganz unbeachtet ließen. Nicht 
einmal Widerſpruch oder Kritik fand er, ſondern das härteſte Los des For⸗ 
ſchers ward ihm beſchieden: daß niemand um ſeine Lehren ſich kümmerte. 
Was konnte aus Heilbronn Gutes kommen? Wie konnte ein junger Arzt 
daran denken, die Phyſik reformieren zu wollen? Darum hielt niemand 
es der Mühe wert, ſeine Schriften, die doch öffentlich angezeigt wurden, 
auch nur eines Blickes zu würdigen. 

Nicht bloß die damaligen „Koryphäen“ der Wiſſenſchaft, die Inhaber 
der Lehrſtühle an Aniverſitäten, der Sitze in Akademien ſind hier zu nennen, 
ſind der Blindheit und Taubheit zu zeihen; ſondern auch der wiſſenſchaft⸗ 
liche Nachwuchs, die ſtrebſame Jugend, die doch bei ihren eigenen Erſtlings⸗ 
arbeiten die Pflicht hat, ſich auf das genaueſte um das zu kümmern, was 
von andern auf gleichem Gebiete geleiſtet worden iſt, mag es gut oder 
ſchlecht ſein. Unter den auftauchenden Sternen der Phyſik und Phyſio⸗ 
logie hat der 1821 geborene Dr. Helmholtz damals Mayer gegenüber eine 
eigentümliche Rolle geſpielt, die der Geſchichtſchreiber der Wiſſenſchaft um 
ſo weniger der Vergeſſenheit entziehen darf, als Helmholtz ſpäter auf der 
höchſten Staffel des Ruhms, wo auch ſeine äußere Stellung ihm reiche 
Gelegenheit dazu geboten hätte, keineswegs den Verſuch gemacht hat, an 
Mayer aus dem vollen heraus wieder gut zu machen, was er einſt an ihm 
gefehlt. Es handelt ſich hierbei um folgendes (nach den Angaben bei 
Weyrauch). 

Der junge Dr. med. Helmholtz hatte für den von der phyſikaliſchen 
Geſellſchaft in Berlin unter dem Titel „Die Fortſchritte der Phyſik“ ge- 
gründeten Jahresbericht über die phyſikaliſche Literatur das Referat über 
diejenigen Arbeiten übernommen, denen auch das Arbeitsgebiet Mayers 
angehörte. Der erſte Jahrgang der „Fortſchritte“ erſchien 1847 und be⸗ 
handelte die Literatur des Jahres 1845, des Jahres, in dem Mayers wich⸗ 


Reinte: Der größte Naturforſcher Deutſchlands im 19. Jahrhundert 155 


tigſte und umfaſſendſte Abhandlung erſchienen war. Dieſe war indes von 
Helmholtz überſehen, während er einen Aufſatz von Liebig aus deſſen Annalen 
„über tieriſche Wärme“ beſprach. 

1847 veröffentlichte Helmholtz ſeine eigene Schrift „Aber die Erhal⸗ 
tung der Kraft“, die ihn ſchnell zum berühmten Manne machen ſollte, im 
Verlage von Reimer in Berlin. Ein ausführliches Referat über dieſe Ar⸗ 
beit gab Helmholtz ſelbſt in dem 1850 erfchienenen Bande der „Tortſchritte“, 
die über das Jahr 1847 berichteten, während er Mayers Schrift von 1845 
jetzt nachträglich lediglich dem Titel nach zitierte, „der Vollſtändigkeit halber“, 
wie er bemerkt, indem er noch hinzufügt, ſie enthalte Zuſammenſtellungen 
der bekannten Fakta. Heute ſind die Energetiker wohl einig darüber, daß 
Mayers Arbeiten an Tiefe und weitem Blick die genannte Abhandlung 
von Helmholtz um ein Gewaltiges überragen; Weyrauch urteilt über letztere, 
daß Helmholtz vom allgemeinen Energieprinzip, wie Mayer es vertrat, nur 
„die mathematiſche Formulierung eines hypothetiſchen Spezialfalls“ gebracht 
habe. (II 439). 

In jener Schrift, deretwegen Jahrzehnte hindurch Helmholtz als der 
große Entdecker des Geſetzes der Konſtanz der Energie gefeiert wurde, ſind 
Mayers Arbeiten von 1841 und 1845 nicht erwähnt. Erſt 1852 kommt 
Helmholtz in den „Fortſchritten“ des Jahres 1848 darauf zurück, wobei mit 
Geringſchätzung von Mayers erſter Arbeit (1842) geſagt wird, daß dieſer 
darin die Anzerſtörbarkeit der Kräfte und ihre Aquivalenz in der Trans- 
formation behauptet habe, während er von der Schrift des Jahres 1845 
die magere Notiz gibt, Mayer habe darin ſein Prinzip „auf den Menſchen 
angewendet und auch noch weitere phyſikaliſche Folgerungen gezogen, z. B. 
die Erwärmung der Magnete durch Wechſel ihrer Pole erſchloſſen“. Aber 
Helmholtz war damals ſchon ein wenn auch noch junger, ſo doch bereits 
durch feine „Erhaltung der Kraft“ berühmter Phyſiologie⸗Profeſſor, Mayer 
dagegen ein kleiner, ganz unberühmter Stadtarzt. 

Wenn Helmholtz in ſeiner ſchnell bekannt gewordenen Schrift von 1847 
Mayer mit keiner Silbe erwähnt, ſo haben Feinde daraus den ſchweren 
Vorwurf des Plagiats der Idee herleiten wollen, nach meiner vollen Aber⸗ 
zeugung mit Unrecht. Helmholtz hat feine Arbeit unabhängig von Mayer 
konzipiert und durchgeführt. Aber nichts deſtoweniger erſcheint er ſchwer 
genug belaſtet. Denn nachdem er Mayers Arbeiten kennen gelernt hatte, 
war er verpflichtet, der Wahrheit die Ehre zu geben und ſie nicht zu ver⸗ 
kleinern; verpflichtet, in einer allgemein geleſenen Zeitſchrift Mayers von 
den ſeinigen unabhängige und ältere Verdienſte hervorzuheben und um ſo 
lauter zu rühmen, je mehr er annehmen durfte, daß Mayer durch das Aber⸗ 
ſehen ſeiner Werke ſich verletzt fühlen mußte. Schließlich hat Helmholtz 
doch nicht umhin gekonnt, Mayer als Entdecker des Geſetzes der Erhaltung 
der Energie zu bezeichnen, zuerſt 1854 in einem Vortrage über die Wechſel⸗ 
wirkung der Naturkräfte; allein es geſchah in einer kaum erfreulichen Weiſe, 
und mehr als 40 Jahre hindurch hat Helmholtz ſich behaglich im Genuſſe 


156 Reinke: Der größte Naturforſcher Deutſchlands im 19. Jahrhundert 


des Entdeckerruhms geſonnt und ſich immer wieder als Entdecker feiern laſſen 
(vgl. Kl. Schriften S. 442). Charakteriſtiſch iſt auch, daß zu der Zeit, wo 
Helmholtz' Stellung in der Berliner Akademie eine maßgebende war, er 
keinen Finger gerührt hat, Mayer eine Auszeichnung zukommen zu laſſen, 
dem zahlreiche Akademien des In⸗ und Auslandes die Mitgliedſchaft anzu— 
tragen ſich zur Ehre anrechneten; nur die Berliner Akademie hat fein Da⸗ 
fein beharrlich ignoriert. Und wunderbar berührt es, wenn Helmholtz in 
einer jener Wuferungen, in denen er ſpäter Mayer Gerechtigkeit angedeihen 
zu laſſen ſcheint (1882), über deſſen Schrift von 1845 den Ausſpruch tut, 
ſie falle ihrem allgemeinen Ziele nach im weſentlichen mit dem zuſammen, 
was er ſelbſt 1847 geſagt habe (Kl. Schr., S. 443). Der Unterfchied iſt 
denn doch ein ſehr bedeutender — zugunſten Mayers. 
Große Entdeckungen liegen zu gewiſſen Epochen gleichſam in der Luft. 
Sie ſind gereift am Baume der Zeit unter der gärtneriſchen Arbeit der 
Wiſſenſchaft. Dennoch wiſſen nur gottbegnadete Geiſter, nur Sonntags- 
kinder jene reifen Früchte zu ſchütteln. So ging es auch mit dem Energie- 
Prinzip. Mayer ſelbſt hat auf der Naturforſcherverſammlung in Inns⸗ 
bruck 1869 als Mitentdeder des mechaniſchen Wärmeäquivalents in feiner 
Beſcheidenheit die Namen Hirn, Joule, Colding, Holtzmann und Helmholtz 
genannt — nur die zeitliche Priorität nahm er für ſich in Anſpruch; 
und noch 1877 hat er brieflich mit beſonderer Bezugnahme auf Helmholtz 
die bittere Außerung getan: „Zu bedenken gebe ich aber, daß, wenn es je 
meinen Landsleuten gelänge, mich zu beſeitigen, niemand anders als der 
Engländer Joule die Erbſchaft antreten könnte und würde“. (449). Abrigens 
iſt Mayer auch ganz direkt und öffentlich in der Beſprechung einer von 
Helmholtz 1877 über „Das Denken in der Medizin“ gehaltenen Rede einigen 
allerdings ſehr auffallenden Bemerkungen Helmholtz' über Priorität gegen⸗ 
über für ſein Erſtgeburtsrecht in die Schranken getreten. (II. 439 u. 440). 
Natürlich denke ich gar nicht daran, Helmholtz' wiſſenſchaftliche Ver⸗ 
dienſte irgendwie antaſten zu wollen, die der große Mann auf den ver⸗ 
ſchiedenſten phyſiologiſchen und phyſikaliſchen Gebieten betätigt hat; und 
nur mit tiefem Bedauern iſt feſtzuſtellen, daß er den Grundſatz des „noblesse 
oblige“ gegenüber Mayer nicht in vollem Amfange hat gelten laſſen. 
Das Verhältnis zwiſchen den Entdeckungen Mayers und des eng⸗ 
liſchen Phyſikers Joule bedarf noch eines kurzen Wortes der Erläuterung. 
Joule, ein ausgezeichneter Experimentator, hatte auf Grund praktiſcher 
Verſuche die Frage in Angriff genommen, ob ein Wärmeäquivalent der 
mechaniſchen Arbeit beſtehe, und er bejahte nicht nur dieſe Frage, ſondern 
er beſtimmte dies Äquivalent auch 1843 experimentell zu 429 —432 Meters 
kilogramm. Seine Ergebniſſe wurden am 23. Auguſt 1847 der Pariſer 
Akademie der Wiſſenſchaften vorgelegt und dort erörtert. Dem gegenüber 
ſchrieb Mayer 1848 an die Akademie, um ſeine Priorität mit Hinweis auf 
die Arbeit von 1842 zu wahren. Es entſpann ſich darüber eine Diskuſſion 
zwiſchen Mayer und Soule, auf die zurückzukommen fein wird; heute gilt 


Reinke: Der größte Natur forſcher Deutſchlands im 19. Jahrhundert 157 


es für einen beſonderen Triumph menſchlicher Wiſſenſchaft, daß zwei von⸗ 
einander unabhängige Männer wie Mayer und Joule, der eine durch den 
Verſuch, der andere auf Grund theoretiſcher Erwägungen das gleiche, hoch- 
wichtige Naturgeſetz aufgefunden haben. Auch Joule hat ſpäter dieſe Mei⸗ 
nung geteilt. 

Inzwiſchen brach über Mayer die Kataſtrophe herein, die ſein ferneres 
Leben in wichtigen Beziehungen zum Trauerſpiel geſtalten ſollte. 

Seit Jahren hatte Mayer unter der Nichtbeachtung ſeiner deutſchen 
Landsleute gelitten. Seine Zartheit des Empfindens war hierbei ein er⸗ 
ſchwerender Umftand. Die Tröſtungen einzelner Freunde genügten nicht, 
jene dunkle Wolke des Kummers zu verſcheuchen. 1849 veröffentlichte er 
einen Artikel über den Inhalt ſeiner Arbeiten in der „Allgemeinen Zeitung“. 
Dieſer Artikel zog ihm einen unerhörten Angriff von ſeiten eines Dr. O. Seyffer 
in dem gleichen Blatte zu, der in der abſprechendſten Form ſeine ſämtlichen 
Lehrſätze für baren Unfinn erklärte und ihn als Ignoranten hinzuſtellen 
ſuchte. Da jener Dr. Seyffer engere Beziehungen zur „Allgemeinen Zeitung“ 
beſaß, bemühte ſich Mayer vergeblich, in jenem Blatte den Abdruck einer 
Entgegnung und Rechtfertigung durchzuſetzen. 

Dieſe Mißhandlung verſetzte Mayer in eine ſo hochgradig nervöſe 
Erregung, daß er in der Frühe des 28. Mai 1850 nach ſchlaflos ver⸗ 
brachter Nacht in einem Anfalle plötzlichen Deliriums vor den Augen ſeiner 
Frau zwei Stockwerke hoch durch das Fenſter auf die Straße ſprang und 
infolge davon ein langwieriges, äußerſt ſchmerzhaftes Krankenlager durch⸗ 
machte. Er behielt davon für immer einen ſchleppenden Gang und iſt nie 
mehr zum dauernden Gleichgewicht ſeines Nervenſyſtems gelangt. 

Nach der Geneſung nahm Mayer die Praxis wieder auf und begab 
ſich auch alsbald wieder an die wiſſenſchaftliche Arbeit. Noch 1850 ſchrieb 
er feine bereits oben erwähnten „Bemerkungen über das mechaniſche Aqui⸗ 
valent der Wärme“ (1851), ein Aufſatz, aus dem nicht die geringſte geiſtige 
Trübung zu erkennen iſt. 

Dennoch waren ſeine Nerven tief erſchüttert. Es machte ſich dies in 
einer krankhaften Erregbarkeit geltend, die ihn veranlaßte, in den Jahren 
1852 und 1853 im ganzen 16 Monate in den Irrenanſtalten zu Göppingen 
und Winnenden zuzubringen; obwohl auch damals ſeine „intellektuelle Sphäre“ 
ganz unberührt war. Wenn ſpäter jene Perioden der Unruhe ſich wieder⸗ 
holten, ſuchte er für kürzere oder längere Zeit die Heilanſtalt Kennenburg 
auf. In den Zwiſchenzeiten nahm er ſeine Berufstätigkeit wie ſeine wiſſen⸗ 
ſchaftliche Arbeit mit ungeſchwächter Geiſteskraft wieder auf. Herrliche 
Früchte hat letztere noch gezeitigt, die einzelnen Schriften mögen bei Wep⸗ 
rauch nachgeſehen werden. Dennoch fand dies alles kaum Beachtung, 
während der Ruhm feiner Nebenbuhler laut aller Welt verkündet wurde. 

Unter Mayers ſpäteren Arbeiten fei namentlich auf einen intereffanten 
Vortrag über Erdbeben (1870) hingewieſen, in dem er die Theorie vertritt, 
daß die Erdwärme fo gut mechaniſchen Urfprungs iſt, wie die Sonnen; 


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wärme, deren Konſtanz er ſchon in der Dynamik des Himmels aus dem 
Hineinfallen von mehr oder weniger feinen planetariſchen Maſſen in die 
Sonne erklärte, und den Nachweis führt, daß der Einfluß der Erdkontraktion 
und der der Gezeiten einander im Gleichgewicht und dadurch die Amdre⸗ 
hungsgeſchwindigkeit der Erde konſtant halten. In einem Vortrage über die 
Ernährung (1871) finden ſich u. a. folgende phyſikaliſche Sätze: „In der 
unbelebten Natur wird, wenigſtens ſoweit wir Menſchen ſehen können, nichts 
erzeugt, nichts vernichtet.“ „Jede Bewegung iſt eine unzerſtörbare Kraft, 
die ſich weder aus nichts erzeugen noch auch ſich vernichten läßt.“ 

Während bisher ganz vorwiegend Mayers phyſikaliſche Lehren zur 
Darſtellung gebracht wurden, ſind ſeine biologiſchen Anſchauungen, die 
ihm als Arzt beſonders nahe lagen, und von denen er auch ausgegangen 
iſt, weniger berührt worden. Einiges ſei daraus nachgetragen. 

Schon 1842 vergleicht Mayer in einem Briefe an Grieſinger den 
menſchlichen Körper in bezug auf das Verhältnis von Wärme und Arbeit 
mit einer Dampfmaſchine und ſagt: „Wäre ſonſt nichts als Bewegung und 
Wärme ins Auge zu faſſen, fo könnten wir eine Dampfmaſchine auch ein 
warmblütiges Tier nennen; auch in ihr verwandelt ſich die chemiſche Diffe⸗ 
renz, die zwiſchen ihrer Nahrung und dem Sauerſtoff der Atmoſphäre be⸗ 
ſteht, teils in Wärme, teils in Bewegung.“ In den „Bemerkungen“ uſw. 
von 1851 heißt es, die im Tierkörper aſſimilierten Speiſen würden zum 
größten Teil zur Erzielung phyſikaliſcher Effekte (Arbeit) verbrannt, und 
nur ein geringer Teil diene zum Wachstum und zum Wiedererſatz ab⸗ 
genutzter Feſtteile. In dem ſchon erwähnten Vortrage über Ernährung 
(1871) heißt es: „Es iſt der Zweck der Pflanzen, das Sonnenlicht, welches 
ſonſt für unſre Erde ſchnell wieder verloren ginge, in feſter Form nieder⸗ 
gelegt, uns zu erhalten.“ Ferner: „Die Wärme, welche in dem Brenn⸗ 
material unſerer Wälder enthalten iſt, dieſe Wärme iſt unſerer Erde von 
der Sonne zugefloſſen und wurde von den dunkeln Blättern und Nadeln 
der Bäume feſtgehalten.“ In dem intereſſanten Vortrage „Aber veränder⸗ 
liche Größen“ (1873) findet ſich die Stelle: „Geſetze im phyſikaliſchen Sinne, 
Naturgeſetze, die ſich durch ausnahmsloſe Notwendigkeit charakteriſieren, gibt 
es in der lebenden Welt nicht, denn Geſetze mit Ausnahmen pflegt man 
Regeln zu nennen. So wurden auch für die Lebenserſcheinungen noch keine 
Formeln aufgefunden, denn: der Buchſtabe tötet, der Geiſt allein gibt 
Leben.“ Dabei iſt als bedeutſam anzuerkennen, daß Mayer nie den Ver⸗ 
ſuch gemacht hat, Erblichkeit, Bewußtſein, Willen, kurz die Seele energetiſch 
zu erklären. 

In ſeiner letzten Arbeit, dem 1876 veröffentlichten Aufſatze über das 
ſo wichtige Prinzip der Auslöſung legt er dar, daß die Muskelaktion unter 
Leitung der Bewegungsnerven durch den Willen ausgelöſt werde, freilich 
auf eine völlig rätſelhafte und unbegreifliche Weiſe. „Anſer ganzes Leben 
iſt an einen ununterbrochenen Auslöſungsprozeß geknüpft. Die während 
des Lebens beſtändig vor ſich gehenden Bewegungserſcheinungen beruhen 


N 


Reinke: Der größte Naturforſcher Deutſchlands im 19. Jahrhundert 159 


alle auf Auslöſung.“ Bei der Auslöſung beſtehe gar keine quantitative 
Beziehung zwiſchen Urfache und Wirkung; das Merkmal der Auslöſungen 
ſei, daß bei ihnen nicht mehr nach Einheiten zu zählen ſei, daß ſie als 
Qualitäten außerhalb der Grenzen der Mathematik lägen. Sie ſpielten 
neben der Phyſiologie beſonders in der Pſychologie eine hervorragende Rolle. 

Der Selektionslehre Darwins war Mayer abhold, trotzdem der letzte 
Abſchnitt ſeines Lebens gerade mit dem Höhepunkte ihres Einfluſſes zu⸗ 
ſammenfiel. In einem Briefe an Schmid vom 22. Dezember 1874 nennt 
er den Darwinismus eine moderne Irrlehre. Die Entſtehung von Tieren 
und Pflanzen, die vor unſern Augen durch Zeugung vor ſich gehe, ſei für 
den Phyſiologen ein völlig unbegreifliches Rätſel und unergründliches Ge- 
heimnis. Während wir dieſen nächſtliegenden Tatſachen gegenüber unſere 
völlige Anwiſſenheit eingeſtehen müßten, wolle auf einmal „der gute Darwin“ 
ganz gründliche Auskunft darüber erteilen, wie die Organismen überhaupt 
auf unſerm Planeten entſtanden ſeien; das gehe nach feiner Anſicht lächer- 
lich weit über das Menfchenniögliche hinaus. Übrigens habe der Darwinis⸗ 
mus ohne Zweifel nur deshalb ſo viele Anhänger in Deutſchland, weil ſich 
daraus Kapital für den Atheismus machen laſſe. — 

Obgleich Mayer verſchiedentlich hart über die Philoſophie ab⸗ 
urteilt und dabei offenbar an die Epoche Schelling⸗Hegel zurückdenkt, finden 
ſich bei einem ſo durch und durch philoſophiſch angelegten Kopfe zahlreiche, 
gerade in philoſophiſcher Hinſicht wertvolle Ausſprüche. Hier ſei nur noch 
der intereſſanten Charakteriſtik der drei Naturreiche im Vortrage über Er- 
nährung (1871) gedacht, die wohl eine philoſophiſche genannt zu werden 
verdient. Danach ſind die Minerale das Reich der Notwendigkeit; dieſe 
Notwendigkeit nennt er mit Spinoza eine göttliche. Die Pflanzen bilden 
ein Reich der Zweckmäßigkeit; die Tiere, wohin er in erſter Linie den Men⸗ 
ſchen rechnet, ein Reich der Freiheit und des Willens. 

In religiöſer Hinſicht bekannte Mayer ſich als ein evangeliſcher 
Chriſt. Dies Bekenntnis kehrt immer wieder von den Jugendbriefen bis 
gegen ſein Lebensende. Mit Recht konnte der Geiſtliche vor ſeinem Sarge 
ſagen: „Dieſer Mann war einer der größten ſeines Geſchlechts nach der 
natürlichen Weisheit, aber vor ſeinem Gott und Erlöſer hat er mit dem 
Geringſten unter euch ſeine Knie gebeugt.“ — Als Mayer dies auch am 
Schluß feiner auf der Innsbrucker Naturforſcher⸗Verſammlung (1869) ge- 
haltenen Rede tat, ward er dafür von einer oberflächlichen Preſſe mit Hohn 
übergoſſen. 

Weyrauch charakteriſiert die religibſen Anſichten Mayers folgender- 
maßen: „Dieſelben ſind ſich keineswegs immer gleich geblieben, feſt blieb 
bei ihm nur der Gegenſatz zum Materialismus und Atheismus, und da er 
ſtets für ſeine Aberzeugung mannhaft eintrat, ſo mochte es manchmal ſcheinen, 
als ob er eine ausgeprägter poſitive Richtung vertrete, als ſich aus der Ge⸗ 
ſamtheit feiner Aufzeichnungen nachweiſen läßt. Die Religion war Mayer 
Gefühls ſache und bald auch wiſſenſchaftliche Aberzeugung, niemals Dogmen ⸗ 


160 Reinte: Der größte Naturforſcher Deutſchlands im 19. Jabrhundert 


frage. Er bedurfte ihrer und war deshalb allem entgegen, was ihren Wert 
für das Gemüt herabdrücken konnte.“ (362). 

Damit hängt auch eine der edelſten Früchte wahrer Religiofität zu- 
ſammen, Mayers Toleranz gegen Andersdenkende; für ſie gibt der am 13. Dez. 
1867 an Molefchott gerichtete Brief ein ſchönes Zeugnis. Mayer ſchreibt 
darin: „Wenn wir auch vielleicht, wie Sie mir ebenſo fein als liebenswürdig 
und geiſtreich andeuten, auf dem ſupranaturalen Gebiete nicht in allen 
Punkten harmonieren, ſo wundere ich mich darüber um ſo weniger, als ich 
in dieſer Hinſicht, trotz der 53 Jahre, die ich nun auf dem Rücken habe, 
mit mir ſelbſt nicht einmal ganz ins reine kommen konnte, eine Abereinſtim⸗ 
mung mit einem dritten alſo ſchon aus dieſem Grunde nicht ins Reich der 
Möglichkeit gehört.“ (II. 362). 

Zum vollſtändigen Charakterbilde eines Mannes gehören auch ſeine 
politiſchen Anſichten. 

Aus Mayers Jugendzeit, wo er frohem Lebensgenuß huldigte, liegen 
in dieſer Hinſicht kaum Andeutungen vor. Aus dem Jahre 1848 berichtet 
RNümelin, daß Mayer zwar kurze Zeit auch vom Taumel der Märztage 
ergriffen geweſen, dann aber bald ſehr entſchieden auf die Seite der Auto⸗ 
rität zurückgetreten ſei. Durch dieſe Stellungnahme geriet er einmal ſo⸗ 
gar in Gefahr, von aufſtändigen Freiſchärlern „als Spion“ erſchoſſen zu 
werden. (229). 

Aus der ſpäteren Zeit bemerkt Rümelin folgendes: „In der Politik 
war er keiner beſtimmten Partei zuzuteilen, hatte im einzelnen keine genau 
unter ſich zuſammenhängenden und abgeſchloſſenen Anſichten, war aber im 
allgemeinen konſervativ und auch hier Anhänger des Autoritätsprinzips. 
Er war großdeutſch und verurteilte den Krieg von 1866 mit allen feinen 
Folgen. Als aber der Krieg von 1870 ausgebrochen war, kam er nach 
der Schlacht von Wörth zu Freund Lang mit der Erklärung: er müſſe mit 
Hiob ſagen: Ich bekenne, daß ich habe unweislich geredet. Er war von da 
an gut reichs freundlich geſinnt, ohne ſich jedoch mehr mit politiſchen Fragen 
zu beſchäftigen.“ (394). 

Wie aber Mayers eigener Neffe ihn 1873 für ultramontan erklären 
konnte, erſcheint unverſtändlich. (416). 

Doch es wird Zeit, uns Mayers Lebensſchickſalen wieder zuzuwenden. 

So glücklich auch ſein Familienleben in dem idylliſchen Heilbronn 
verlief — wenn wir von der periodiſchen Wiederkehr des Nervenleidens ab- 
ſehen — in der wiſſenſchaftlichen Welt ſtand er einſam da, und das ſchmerzte 
ihn dauernd. Ich ſelbſt habe erlebt, wie in den ſechziger und ſelbſt noch 
den ſiebziger Jahren überall Helmholtz als der große Entdecker der Konſtanz 
der Energie geprieſen wurde, während von Mayer ſelten und höchſtens bei⸗ 
läufig erwähnt wurde, daß auch er bereits einige Ideen darüber aus 
geſprochen habe, denen es indes an der erforderlichen wiſſenſchaftlichen Ge⸗ 
ſtaltung gefehlt habe; die meiſten wußten von Mayer überhaupt nichts. 
Inzwiſchen war aber wenigſtens in England der berühmte Phyſiker Tyndall 


Neinke: Der größte Naturforſcher Deutſchlands im 19. Jahrhundert 161 


ans Werk gegangen, in bezug auf die Anerkennung der Verdienſte Mayers 
Wandel zu ſchaffen, was um ſo bemerkenswerter iſt, als Mayer gerade 
von engliſcher Seite aufs neue Verunglimpfungen erfahren ſollte. 

Tyndall hielt 1862 in der Royal Institution einen Vortrag über die 
wiſſenſchaftlichen Arbeiten Mayers und bemerkte dazu: „Wenn wir die 
äußern Bedingungen von Mayers Leben und die Zeit, in der er arbeitete, 
bedenken, ſo müſſen wir ſtaunen über das, was er vollbracht hat. Dieſer 
geniale Mann arbeitete ganz in der Stille; nur von der Liebe zu ſeinem 
Gegenſtande erfüllt, gelangte er zu den wichtigſten Ergebniſſen, allen andern 
voraus, deren ganzes Leben der Naturforſchung gewidmet war.“ (339). 

Nunmehr wurde wenigſtens im Auslande Mayers Name mit einem 
Schlage populär. Indeſſen blieben auch weitere Anfechtungen nicht aus, 
die wir als Reaktion auf Tyndalls Vorgehen dem engliſchen Boden ent⸗ 
ſprießen ſehen. In einer populären Londoner Zeitſchrift erſchien ein Artikel 
über Energie von den engliſchen Phyſikern Thomſon (heute Lord Kelvin 
genannt) und Tait. In dieſem Artikel wurde ausgeführt, daß Joule der 
Begründer der dynamiſchen Wärmetheorie fei; während Joule feine Ent: 
deckungen verfolgte und veröffentlichte, ſei allerdings in Deutſchland ein 
Aufſatz von Mayer in Heilbronn erſchienen, der ſich mit dem gleichen 
Gegenſtande beſchäftigte, und es ſei der Verſuch gemacht worden, für Mayer 
den Anſpruch zu erheben, als habe dieſer zuerſt das Prinzip der Erhaltung 
der Energie in ſeiner Allgemeinheit aufgeſtellt. Mit einem noch deutlicheren 
Hinweis auf Tyndall wurde dann deſſen Vorgehen in Bezug auf Mayer 
als wenig patriotiſch getadelt. Tyndall zögerte nicht, hierauf zu antworten, 
und es entſtand ein unerquicklicher Streit, der ſich bis 1864 hinzog. Das 
Ergebnis war indes die Anbahnung der allgemeinen Anerkennung von 
Mayers Verdienſten, in Deutſchland allerdings verhältnismäßig ſpät. Schließ- 
lich kam indes auch dieſer Balſam für Mayers Gemüt. 

So ergoß ſich denn über Mayers letzte Lebensjahre ein mildes, ver⸗ 
ſöhnendes Licht, zumal auch die krankhaften Erregungen ausblieben, und der 
Dekan Lechler konnte 1878 an ſeinem Grabe ſagen: „Der ſchönſte Teil 
ſeines Erdenlaufs iſt der letzte geworden. Der liebliche Schimmer eines 
ſanften, ſtillen Friedens mit Gott und mit den Menſchen, eine rührende 
Geduld und Dankbarkeit im Leiden und der innigſte Verkehr mit den 
Seinigen breitete ſich über ſein Sterbelager aus.“ 

Herber klingt Weyrauchs Wort: „Als wir ſein Grab umſtanden, be⸗ 
ſchlich uns ein bitteres Gefühl. Schwaben hat der Welt zwei Naturforſcher 
von erſtem Range gegeben. Johannes Kepler ſtarb infolge von Entbehrungen, 
als er ſeine Rechte auf dem Reichstage zu Regensburg geltend machen 
wollte. Nobert Mayer wurde verkannt und verletzt, bis er körperlich und 
geiſtig gebrochen war. Ein Fremder entſchied die verſpätete Wandlung.“ 

Heute zählt Mayer in allgemeiner Anerkennung zu den Fürften der 
Wiſſenſchaft. Sein Werk wird gleichwertig erachtet denen eines Galilei, 


Kepler und Newton. Sein Geiſt drang in die Tiefen der i wie 
Der Türmer X, 8 


162 Nelnke: Der größte Naturforſcher Deutſchlands im 19. Jahrhundert 


kein andrer Naturforſcher ſeiner Zeit. Dabei zeigt ſein Beiſpiel, wie Großes 
in den Naturwiſſenſchaften eine faſt rein theoretiſche Bearbeitung der Fragen 
zu leiſten vermag. Und da will man von Geiſteswiſſenſchaften im Gegen⸗ 
ſatz zur Naturwiſſenſchaft ſprechen! 

Das Gebäude der heutigen Energetik ruht auf den von Mayer ge⸗ 
legten Fundamenten. Die Sätze ſeiner Abhandlungen klingen, als ſeien 
fie einem ganz modernen energetiſchen Aufſatze entnommen; ein Prüfſtein 
ihres unvergänglichen Wertes. Mit Wehmut aber malt der Geſchicht⸗ 
ſchreiber das helle Licht feines Ruhmes auf den trüben Untergrund der 
Lebensſchickſale des großen Mannes. 

Ich glaube, den Leſer nicht beſſer über den innerſten Kern von 
Mayers Weſen unterrichten zu können, als dadurch, daß ich noch eine kleine 
Auswahl von intereſſanten Ausſprüchen aus ſeinen Schriften zuſammenſtelle. 

1. Die echte Wiſſenſchaft begnügt ſich mit poſitiver Erkenntnis und 
überläßt es willig den Poeten und Naturphiloſophen, die Auflöſung ewiger 
Ratfel mit Hilfe der Phantaſie zu verſuchen. (52). 

2. Die ſcharfe Bezeichnung der natürlichen Grenzen menſchlicher For⸗ 
ſchung iſt für die Wiſſenſchaft eine Aufgabe von praktiſchem Werte, während 
die Verſuche, in die Tiefen der Weltordnung durch Hypotheſen einzudringen, 
ein Seitenſtück bilden zu dem Streben des Adepten. (108). 

3. Wahrlich ich ſage euch, eine einzige Zahl hat mehr wahren und 
bleibenden Wert, als eine koſtbare Bibliothek voll Hypotheſen. (379). 

4. Man hüte ſich, daß man über dem Streben nach Anerreichbarem 
nichts Erreichbares verliert. Das Streben nach dem Anmöͤglichen und 
Wunderbaren iſt der fruchtbare Boden für den Myſtizismus, Aberglauben 
und Betrug jeder Art. (421). 

5. Wir wiſſen, daß die Natur in ihrer einfachen Wahrheit größer 
und herrlicher iſt, als jedes Gebild von Menſchenhand und als alle Illu⸗ 
ſionen des erſchaffenen Geiſtes. (74). 

6. Die allgemeine Gültigkeit liegt im Weſen der Naturgeſetze 
und iſt ein Probierſtein für die Nichtigkeit menſchlicher Theorien. (170). 

7. Die wichtigſte, um nicht zu ſagen einzige Regel für die echte 
Naturforſchung iſt die: eingedenk zu bleiben, daß es unſere Aufgabe iſt, 
die Erſcheinungen kennen zu lernen, bevor wir nach Erklärungen ſuchen oder 
nach höheren Urfachen fragen mögen. Iſt einmal eine Tatſache nach allen 
ihren Seiten hin bekannt, ſo iſt ſie eben damit erklärt, und die Aufgabe 
der Wiſſenſchaft iſt beendet. (236). 

8. Kraft und Materie ſind unzerſtörliche Objekte. Dies Geſetz, auf 
das ſich die einzelnen Tatſachen am einfachſten zurückführen laſſen, und das 
ich deshalb bildlich den heliozentriſchen Standpunkt nennen möchte, iſt eine 
naturgemäße Grundlage für die Phyſik, Chemie, Phyſiologie und — Philo- 
ſophie. (262). 

9. Dem Menſchen, dem nur eine Spanne von der Zeit, die ſich nach 
rück und vorwärts in die Ewigkeit fortſetzt, hienieden zugemeſſen iſt, und 


Dittmann: Meinem Toöchterlein 163 


deſſen Fuß nur einen nach oben und unten hin enge abgegrenzten Naum 
zu betreten vermag, find auch in feiner wiſſenſchaftlichen Erkenntnis ſowohl 
in der Richtung nach dem unendlich Großen als dem unendlich Kleinen 
hin natürliche Schranken gezogen. Die Atomenfrage aber führt uns, wie 
mir ſcheint, über dieſe Schranke hinaus und halte ich ſie deswegen für un⸗ 
praktiſch. Ein Atom an ſich wird, fo wenig als ein Differential, Gegen- 
ſtand unſerer Unterfuchung fein können. (267). 

10. Die Lebenserſcheinungen mögen einer wundervollen Muſik ver⸗ 
glichen werden, voll herrlicher Wohlklänge und ergreifender Diſſonanzen; 
nur in dem Zuſammenwirken aller Inſtrumente liegt die Harmonie, in der 
Harmonie nur liegt das Leben. (128). 

11. Der Nachweis einer zwiſchen den Denkgeſetzen und der objektiven 
Welt beſtehenden vollkommenen Harmonie iſt die intereſſanteſte, aber auch 
die umfaſſendſte Aufgabe, die ſich finden läßt. (248). 

12. Wenn oberflächliche Köpfe, die ſich gerne als die Helden des 
Tages gerieren, außer der materiellen, ſinnlich wahrnehmbaren Welt über⸗ 
haupt nichts Weiteres und Höheres anerkennen wollen, ſo kann ſolch lächer⸗ 
liche Anmaßung einzelner der wahren Wiſſenſchaft nicht zur Laſt gelegt 
werden, noch viel weniger aber kann ſie derſelben zu Nutz und Ehre ge⸗ 
reichen. (376). 

13. Auch dieſer (kosmiſche) Staub bildet ein wichtiges Glied in einer 
Schöpfung, wo nichts von ungefähr, ſondern alles mit göttlicher Zweckmäßig⸗ 
keit geordnet iſt. (180). 

14. In den exakten Wiſſenſchaften hat man es mit den Erſcheinungen 
ſelbſt, mit meßbaren Größen zu tun; der Urgrund der Dinge aber iſt ein 
dem Menſchenverſtande ewig unerforſchliches Weſen — die Gottheit; wo⸗ 
hingegen „höhere Arſachen“, „überfinnliche Kräfte“ u. dgl. m. mit all 
ihren Konſequenzen in das illuſoriſche Mittelreich der Naturphiloſophie und 
des Myſtizismus gehören. (261). 


2 
Meinem Töchterlein 


Von 
Charlotte Dittmann 


Wem wirſt du wohl einſt blühen, O, ſchütze Gott den Knaben 


Mein goldenes Töchterlein ? Auf ſeiner Lebensfahrt, 

Heiß wallt dein Herzchen über — — Der einſt in feinem Herzen 
Wer wird dein Liebſter fein? Als Mann dein Glück verwahrt. 
Jetzt ſpielſt du noch mit Küſſen Vor Sturm und Reif behütet 
And tauſcheſt ſie im Scherz, Sei, Kind, die Liebe dein — — 
Doch ſeh' ich drin ſchon glühen Geſegnet, der einſt wandelt 

Ein reiches Frauenherz. In deinem Sonnenſchein. 


ASS 


1 77 
CWE 


Der Waldpfarrer am Schoharie 


Kulturhiſtoriſche Erzählung aus dem deutſch-amerikaniſchen Leben 
des achtzehnten Jahrhunderts 


von 
Friedrich Mayer 
(Fortſetzung) 
Viertes Kapitel 
S 7000 ſaß am Mohawkfluß und ſchaute den Waſſerfällen zu. Da 


Ne \ vernahm ich ein lautes Kniſtern, als ob jemand Zweige von 
N N 
X 


den Tannen abbreche. Es war eine Bärenmutter mit ihren 
O drei Jungen, welche nach Honig jagten. Man ſieht es den 
plumpen Tieren nicht an, wie raſch und ſicher ſie die Bäume erklettern. 
Behutſam nähern ſie ſich dem Bienenbau, ein ſchneller Stoß, und er 
fällt zur Erde. Die Bärin, über welche der Bienenſchwarm wütend ber» 
fällt, läuft nach dem Fluſſe, taucht unter, und triefend von Waſſer macht 
ſie ſich jetzt über ihre Beute, kaum mehr beläſtigt von dem Bienenvolk. 

Lange habe ich zugeſchaut; wie ich jetzt aufſtehe, wird die Bärin 
aufmerkſam, ſie entdeckt den Eindringling und flüchtet in das nahe Ge— 
büſch. In der Nähe müſſen Menſchen wohnen, mit denen die Tiere böſe 
Erfahrung gemacht haben. Eine kurze Meile den Fluß hinauf, und ich 
bin mitten unter Pechnern und Teerarbeitern. 

Große, grobknochige Geſellen ſind es, die mit ihren pechſchwarzen 
Fäuſten ein dickes Brett entzweiſchlagen können. Ihre Arbeit iſt ſchwer. 
Sie zerlegen die großen Bäume in vier den Himmelsrichtungen entſprechende 
gleiche Teile. Sobald der Saft im Frühjahr in die Bäume ſteigt, ſchälen 
ſie zwei Fuß lang das nördliche Viertel da ab, wo die Sonne die geringſte 
Kraft hat, den Teer herauszuziehen; im Herbſt ſchälen ſie das ſüdliche 
Viertel und im nächſten Jahr die beiden noch übrigen Teile. Dann wird 
der mit Terpentin durchſättigte Teil in Stücken zerlegt und im Ofen zu— 
bereitet. Man riecht den Pechner und ſeine Heimat auf Meilen. Kein 
Wunder, daß der alte Weiſer und ſeine Deutſchen keine Freude an dieſer 
ihnen aufgezwungenen Arbeit hatten. Daneben klopfen und hämmern die 
Küfer, ſie pichen die Teerfäſſer. Dicht dabei iſt die Sägmühle und das 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schobarte 165 


„Lumber Camp“. Es heult die Säge, und krachend ſtürzen unter den 
wuchtigen Axthieben die Bäume. 

Das ſind harte Menſchen; ſie reden nicht miteinander, ſondern brüllen 
ſich gegenſeitig an: wenn ſie fluchen, dann hallt es noch lauter durch den 
Wald. Keiner iſt ohne Narben. Daran iſt das Kartenſpiel am Abend 
ſchuld und das Bier und der Branntwein, welchen die Weiber im Camp 
ſieden in großen Keſſeln. 

Weiber, ja, ſie haben Weiber bei ſich! Gott weiß. wo deren Wiege 
geſtanden. Nothaarige Srlanderinnen, ſchwarzäugige Franzöſinnen, Miſchlinge 
aus Louifiana, die ihr Leben hier beſchließen, daneben auch ganz junge Dinger. 

Ich frage ein Mädchen, das noch keine vierzehn Jahre zählen kann 
und einen Säugling im Schoße wiegt: „Wo iſt die Mutter, welcher das 
Kind gebört?“ Sie lacht altklug: „Das iſt mein Kind, daß Sie's wiſſen, 
und ich bin das Weib des großen Bill!“ 

Ein Haufen wilder, ungewaſchener Jungen drängt ſich um mich, weil 
ich ihnen das Bild zeige: Joſeph, verkauft von ſeinen Brüdern. Kaum 
haben ſie angefangen, auf meine Erzählung zu horchen, da vernimmt man 
ein Klappern neben uns wie das Klappern der Heuſchrecken. „Klapper⸗ 
ſchlange!“ brüllen ſie und fahren auf. Mit Stecken und Steinen dringen 
ſie auf das vier Fuß lange Tier ein: die Schlange macht einen Sprung 
nach dem Gebüſch; der große Hannes verfolgt ſie und tötet das Tier. Er 
ſpringt ſchnell zurück, weil er dicht daneben eine andere Klapperſchlange 
endeckt hat, die ſich zuſammenwand, um einen Sprung auf ihn zu machen. 
Raſch hat er ſich von dem Schrecken erholt; er kehrt zurück und erlegt auch 
die zweite. Wir betrachten die Giftzähne und ſchneiden die Klappern ab; 
die eine hatte neun, die andere ſieben Klappern. Weil aber die Mädchen 
den Hannes ob feiner Heldentat bewundern, enıfteht lauter Streit; die 
anderen Buben beanſpruchen ebenfalls Anerkennung für ihre Mithilfe. 
Ehe ich mich's verſehe, iſt die ſchönſte Prügelei im Gange. 

„Wollt ihr Frieden halten, ihr Mordsbuben!“ donnert der rote Peter 
ſie an und jagt ſie auseinander. 

Am Abend ſetzen ſie ſich um mich. 

„Sind Sie auch ein rechter Pfarrer?“ fragt die rabenſchwarze Barbel. 

„Das kann man gleich ſehen“, entgegnet ihr Mann, der rote Peter. 
„Was frägft nur fo dumm!“ 

„Der Weiler fol fortgezogen fein,“ wandte er fic) zu mir, „da kann 
man gewiß Land kaufen am Schohari.“ 

„Warum bleiben Sie nicht hier?“ 

„Teer bereiten iſt keine rechte Arbeit; man weiß nicht, für wen man 
arbeitet. Die Gaffer werden gefüllt, dann fortgeſchickt den Mohawk hin⸗ 
unter nach dem Hudſon und New Vork und wer weiß, wo ſonſt noch hin.“ 

„Bezahlt Sie der Gouverneur nicht?“ 

„Das ſchon, aber ich will Land erwerben, auch meine Kinder ſchulen 
laſſen und rechtſchaffen aufziehen als Chriſtenmenſchen, hier ift Seufelsvolt!” 


166 Mayer: Der Waldpfarrer am Schobarte 


„Land koſtet Geld.“ 

„Ich habe ein Bankkonto in Albany.“ 

Schallendes Gelächter begleitete dieſe Mitteilung des roten Peters. 

„Bankkonto iſt beſſer als Land,“ ſchrien die Franzoſen, „Land muß 
man bearbeiten, Bankkonto, das zieht, das kauft Weiber und Wein.“ 

Ihre Spottreden über den einfältigen Deutſchen wollten kein Ende 
nehmen. 

„Sind leichtfertige Franzoſen; wir Deutſche wollen unſern eigenen 
Grund und Boden; nächſtes Jahr verſuche ich's und kaufe eine Farm.“ 

„Mein Gott, wie glücklich ich ſein werde mit dir und den Kindern 
auf unſerem Land“, antwortete glücklich ſeine ſchwarze Barbel. 

So ſind dieſe Deutſchen, ſie wollen ihr eigenes Haus, ohne das iſt 
keiner glücklich; der Romane dagegen lebt, wie der Vogel in der Luft, 
nur fidel, es iſt nichts Solides an dieſen Menſchen. Ich fange an, ſtolz 
zu werden auf meine Landsleute. Rauhe Haut, weiches, unverdorbenes Herz! 


Fünftes Kapitel 


Fruchtbar find die Täler, in denen die Bauern wohnen; jedes 
Weizenkorn geht auf, und an jedem Halm hängt ſchwer die körnerreiche 
Abre. Die Leute verſteben den Landbau, fie geizen mit dem Boden, ſelbſt 
in den Wald hinein werfen ſie den Samen, und ſoweit die Sonne die Erde 
noch ſtreift, ſteht in der Ernte der reife Weizen. 

Jetzt beginnt die Ernte. Vom frühen Morgen bis hinein in die 
Nacht find die Leute auf den Feldern; gefchäftig fährt die Senſe durch 
den Weizen; Frauen und Mädchen binden ihn in kleine Garben und 
ſchichten ihn auf Haufen; glühend brennt die heiße Juliſonne, und manch 
ein Schnitter flüchtet unter den nahen Schattenbaum, ſonſt möchte er dem 
Sonnenſtich zum Opfer fallen. Endlich iſt das letzte Weizenfeld verſchwun⸗ 
den, auf großen Haufen wartet die Frucht des Drefchers. 

„Schau, dieſe Körner, ſie ſind faſt ſo groß wie die Bohnen“, damit 
hält Gerlach eine Handvoll der mehligen Gabe ſeinem Weib vors Geſicht. 

Sie haben wenig Zeit übrig für Feſttage; aber ein Erntefeſt wird ge⸗ 
feiert. Da ſtrömt das Volk zuſammen von den Farmen und aus den Dör⸗ 
fern; ſelbſt die Pechner und Holzer fehlen nicht; ſie kommen aus dem Wald 
herein mit ihren Weibern und der Herde ihrer Kinder. Ganze Berge des 
friſchgebackenen Weißbrots, der Schinken und Würſte werden aufgegeſſen; 
dazu hat der pfiffige Branntweiner und Schenkwirt aller Vorſchrift zuwider 
in ſeinen Körben Branntwein auf den Feſtplatz geſchmuggelt. 

Ein Tannenbaum, glatt geſchält, dient als Maie; oben hängen die 
Siegerpreiſe: Piſtole, Mundharfen, Meſſer und Geldbeutel. Behend 
klettern die Waldbuben hinauf und holen die Herrlichkeiten; dann beginnt 
das Sacklaufen der Mädchen, das Eiertragen und Wettlaufen. 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharte 167 


Schon begann die Feſtfreude laut und lärmend zu werden, als plöß- 
lich vom Walde her ein langer Zug von Indianern kam; immer einer 
hinter dem andern, im Gänſemarſch, maleriſch gekleidet, zogen fie ſtille heran. 

Es begann der Wettkampf der Erwachſenen; ſie werfen Hufeiſen, 
ſpielen Ball; das Ganze aber beſchließt das Wettrennen der hier vertretenen 
Nationen. 

Höflich tritt der Franzoſe ſowie der Irländer in die Rennbahn. Den 
Applaus, mit dem die Menge ihn begrüßt, beantwortet er durch eine 
tiefe Verbeugung und wiederholtes Abnehmen des zerriſſenen Hutes. Ihm 
folgt der Deutſche; auf die Begrüßung der Zuſchauer antwortet er durch 
ein leichtes Lächeln. Zuletzt, in langſamem Schritt, naht der Indianer; 
lärmend begrüßt ibn die Menge; er ſcheint es nicht zu hören. Der In ⸗ 
dianer iſt der Stoiker Amerikas. 

Der Preisrichter gibt das Zeichen. Mit rehartiger Geſchwindigkeit 
ſetzen der Kelte und der Nomane ein, aber nach einer Viertelmeile er⸗ 
lahmen beide; langſamer beginnt in langen Sätzen der Deutſche, und ihm 
ähnlich folgt der Indianer. Eine Viertelmeile — noch haben Irländer und 
Franzoſe den Vorſprung, eine halbe Meile — Kelte und Romane er⸗ 
ſchlaffen und bleiben zurück, dreiviertel Meile — der Deutſche und der In⸗ 
dianer find allein in der Rennbahn! Geſpannt harrt alles des Ausgangs; 
ſelbſt unter den Indianern bemerkt man eine gewiſſe Unruhe. Sie find am 
Ziele! Wer hat gewonnen? Lautes Stimmengewirr, jeder nimmt Partei 
für ſeine Nationalität. 

„Der Deutſche und der Indianer kamen gleichzeitig ans Ziel,“ lautet 
die Entſcheidung des Preisrichters, „beide haben den Gang noch einmal 
zu tun, der Preis beſteht aus einem Bäͤrenfell.“ 

Jetzt erſt kann ich das Geſicht des jungen Deutſchen ſehen, es iſt 
Konrad Weiſer, derſelbe, den die Indianer einmal gekauft hatten; er 
hat nicht nur die Sprache der Indianer gelernt, ſondern auch ihre Zähig⸗ 
keit und Ausdauer. Mit großer Spannung folgt jedermann dem Aus⸗ 
gang des Rennens; Deutſche und Indianer behandeln es als eine Sache, 
von welcher die Ehre ihrer Nation abhängt. 

Der Preisrichter gibt das Zeichen und die beiden Läufer ſauſen da⸗ 
hin. Wie der Staub auffliegt! Eine halbe Meile, bald iſt der eine, bald 
der andere um Kopfeslänge voraus; die Aufregung ſteigt von Minute zu 
Minute, man hält den Atem an, niemand ſpricht ein Wort! Schon nahen 
ſie dem Ziele, und noch iſt der Sieg ungewiß. Da ſprengt der junge Weiſer 
gegen den Indianer (ob mit Abſicht oder aus Zufall, vermag ich nicht zu 
oo Diefer ſtürzt zu Boden, noch einen Satz und der Deutſche ift der 

ieger. 

Wilder Jubel bricht unter den Deutſchen aus; ſie werfen Hüte und 
Ride in die Höhe, und die Buben klettern an den Bäumen empor. — 
Die Indianer aber ſind erbittert, manche ſtoßen Drohungen aus und ballen 
gegen die deutſche Anſiedlung ihre Täuſte. 


168 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 


Konrad Weiſer hat nicht umſonſt unter ihnen gelebt, er kennt In⸗ 
dianerart und Indianerrache. „Mein Fell iſt mir lieber als das Bären⸗ 
fell“, ſagte er zu mir; ging auf die Indianer zu und mit einer wahren 
Leichenbittermiene reichte er einem nach dem andern die Hand und bedauerte 
das Unglüd, das ihm paſſiert fei. Das Bärenfell, welches ihm der Preis- 
richter überreicht hatte, drängte er dem Indianer auf, denn ſein roter Bruder 
fet der ſchnellſte Läufer. Das wirkte! Die Indianer wollten dem Deut⸗ 
ſchen an Großmut nicht nachſtehen und nötigten Weiſer, das Fell zu be⸗ 
halten. O, er iſt ein Diplomat, der junge Weiſer! 

Zum Zeichen, daß aller Groll verſchwunden fei, begann die Brannt- 
weinflaſche die Runde, und als die Sonne unterging, lagen Kelten und 
Romanen, Deutſche und Indianer friedlich durcheinander. 

Das Feuerwaſſer war der Sieger! 


Sechſtes Kapitel 


In der deutſchen Niederlaſſung bildet die Ernte ein unerſchöpfliches 
Geſprächsthema. 

„Ob der Weizen unter der dicken Schneedecke nicht ſchwitzt“, beginnt 
im Winter die Anterhaltung. 

„Die harten Fröſte ruinieren die Saat“, jammert der Bauer im 
Frühjahr. 

„Der Noſt hat angeſetzt“, und die Leute ſchütteln bedenklich die Köpfe. 

Endlich aber klingt's fröhlich: „Ein guter Jahrgang, guter Weizen 
heuer“, und die jungen Männer blicken vielſagend ins Weite, die Mädchen 
aber ſchauen verlegen zu Boden, und jungfräuliche Rote färbt die jugend⸗ 
lich friſchen Wangen. 

„Guter Weizen heuer“ bedeutet hierzulande im Munde eines jungen 
Mannes: „Ich babe genug erübrigt für zwei. Wann ſoll die Hochzeit ſein?“ 

Die glückliche Braut fehlt fortan im Felde. Um fo emſiger aber 
fliegt die Nadel; da wird geſchneidert und anprobiert, da wird gezählt, und 
der Weißzeugkaſten hat keine Stunde Ruhe. Die Zurüſtung auf eine 
Bauernhochzeit iſt ſchwere Arbeit, doch den Weibern wird dieſe Mühe zur 
ſüßen Luſt, jeder Werktag deucht ihnen ein Sonntag. 

Der Hochzeitstag iſt feſtgeſetzt. Es wird doch nichts mehr dazwiſchen 
kommen? Wenn nur das Welſchkorn erſt abgehauen wäre, ein früher Froſt 
kann noch alles verderben! Sobald der Septembermorgen graut, öffnet ſich 
der Fenſterladen, ein hübſcher Mädchenkopf ſchaut heraus: „Es iſt nur Tau, 
bin ich erſchrocken, ſieht ſo weiß, wie der eiſige Reif“, murmelt ſie, guckt 
dann noch einmal nach den Dächern; es iſt wirklich nur Tau, der dem 
Korn keinen Schaden zufügt. Es war Vollmond in der Nacht, iſt der erſt 
vorüber, dann fällt ſo leicht noch kein Reif. 

Im Herbſte iſt das Leben bei den Waldbauern ſchön. Wenn die 
Blätter ſich färben, die rotbackigen Apfel durch das Laub blicken, wenn 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharte 169 


ſchwerbeladen die Wagen vom Felde hereinkommen, wenn die Sonne fo 
mild Feld und Wald füllet, und abends die jungen Männer den ſüßen 
Moſt aus den pfeln preſſen, da iſt's eine Luft, zu leben. 

Aber der Winter iſt ſtreng: ein ſchneidend kalter Wind fährt um die 
Hütte, haushohe Schneewehen blockieren Weg und Steg und verhindern 
jeden Verkehr mit dem Nachbar. Darum holt der junge Bauer im Herbſte 
ſich das junge Weib. Mag's draußen auch ſtürmen und ſauſen, mag die 
Sonne hinter den Wolken ſich verbergen, im Stübchen praſſelt ein luſtiges 
Feuer, und die ſchönen, lachenden Augen ſeiner jungen Frau dünken dem 
Bauer ſchöner als aller Sonnenſchein. Drum keine Hochzeit im Frühling; 
da muß der Mann den ganzen Sommer hindurch von morgens bis abends 
auf dem Felde ſich abquälen, nein, im Herbſt iſt die Hochzeit, und durch 
den rauhen Winter genießt er das ſüße Eheglück und zimmert ſich den 
Ehehimmel. Während er am Morgen den Rindern und Schafen ihr Futter 
austeilt, da jauchzt das Herz in ungeahntem Glück: „Mein Weib, mein 
Haus, o, wie iſt die Welt ſo ſchön!“ 

Es iſt die erſte Trauung, die ich vollziehen ſoll. Die jungen Leute 
find mir wohl bekannt: Chriſtian Schell heißt der Bräutigam, und feine 
Braut iſt das Gretchen Merkle. 

Der Hochzeitbitter iſt durch das ganze deutſche „Settlement“ gegangen 
und hat ſeinen Spruch aufgeſagt: „A höfliche Bitt' und Einladung und 
ihr ſollt auch zur Hochzitt komme im Haus der Brauteltern, Donnerstag 
nach Martini.“ Traf er an einem Platze niemand zu Hauſe, da zog er 
ein Stück Kreide aus der Taſche und zeichnete an die Haustüre den Hoc: 
zeitsſtrauß. Er hat ſeine Arbeit gewiſſenhaft verrichtet, darum kommen am 
Hochzeitsmorgen von allen Seiten die Gäſte. Die Männer tragen den 
Hoch zeitsſtrauß am Nock, die Frauen haben ſich mit bunten Bändern gee 
ſchmückt. Nicht nur ein deutſches Volk lebt in dem Walde, ſondern auch 
deutſcher Brauch und Sitte. 

Am zwölf Ahr fol die Trauung ſtattfinden, fo hat die Braut es ge- 
wünſcht. Schlägt die Ahr zwölf, während der Pfarrer das Paar gue 
ſammenſpricht, dann bringt das Glück, dieweil dann Chriſtus mit den hei⸗ 
ligen zwölf Apoſteln zugegen iſt. Vorſorglich ſteht ein zuverläſſiger Mann 
an der Abr; falls der Pfarrer zu lange predigen ſollte, forgt er dafür, daß 
doch die Ahr im rechten Augenblick zum Schlage ausholt. 

Das Brautpaar tritt auf: der ſchmucke Chriſtian trägt den Hochzeits⸗ 
ſtrauß im Knopfloch, die Braut im weißen Schleier, auf dem braunen Haar 
das zarte Grün der Myrte, unter dem ihr Geſicht allerliebſt hervorſchaut; 
ihnen zur Seite Vater und Mutter, dann die Schar der Jünglinge und 
Jungfrauen als Trauzeugen. 

Jetzt ſtehen fie vor mir. Man hat gewünſcht, ich ſolle den 127. Pſalm, 
das ſchönſte Vertrauenslied des Volkes Gottes, als Hochzeitstext wählen. 
Schon habe ich das heilige Buch geöffnet und will beginnen, da fällt die 
Muſik ein. Faſt alle diefe Pfälzer find Geiger und Pfeifer; fo hatten fie 


170 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharke 


im Hintergrunde von der Menge verdeckt gewartet, bis ich das Hochzeits⸗ 
lied angebe. Da ich fremd und der Sitte unkundig das unterließ, fallen 
ſie aus eigener Machtvollkommenbeit ein und ſpielen den Choral: „In allen 
meinen Taten, laß ich den Höchſten raten uſw.“ Männer und Weiber 
fingen das Lied auswendig mit. Unter dem rauhen Nußern der Bauern 
und Waldverwüſter lebt der lebendige Glaube an die Allgegenwart Gottes. 
So können nur gläubige Chriſten ſingen; das ſchallt und brauſt, als wollen 
ſie die böſen Geiſter in der Luft verſcheuchen, als wollen ſie dem einziehen⸗ 
den Chriſtus ihr Willkommen ins Angeſicht rufen. Dieſes Singen, dieſer 
Ausdruck ihres heiligen Glaubens hat mich faſt aus der Faſſung gebracht. 

Nun leſe ich den Pſalm; was ich von dem Immergrün ewiger Treue, 
von den zarten Noſenbanden alles ſagen wollte, fo wie ich es bei Dichtern 
ſchon geleſen hatte, war nach dieſem Singen nicht mehr zu gebrauchen. So 
ſpreche ich, wie mir's der Augenblick eingibt. Ich rede von Häuſerbauen, 
von der Menſchen Arbeit und des Lebens Not; der alte Weiſer und ſeine 
Rede kamen mir in den Sinn, und ich redete mich in einen argen Eifer 
hinein, ſprach dann von Gottes Durchhilfe und Erbarmen. Wie ich aber 
merkte, daß der alte Weber das Deckblatt der Ahr aufhebt, faſſe ich alles, 
was ich noch ſagen wollte, zuſammen in den Vers: 


„Mit unſrer Macht iſt nichts getan, 
Wir ſind gar bald verloren, 

Es ſtreit' für uns der rechte Mann, 
Den Gott hat ſelbſt erkoren. 
Fragſt du, wer er iſt, 

Er heißet Jeſus Chriſt, 

Der Herre Zebaoth 

And iſt kein andrer Gott, 

Das Feld muß er behalten!“ 


Die Männer hatten die Hände gefaltet, die Weiber wiſchten die 
Augen; fie hatten mich beſſer verftanden als ich ſelber. 

Nachdem Bräutigam und Braut die an ſie geſtellten Fragen beant⸗ 
wortet hatten, ſage ich: „So reichet euch die rechte Hand.“ Eilig ſchiebt 
die Mutter Merkle ibr Gretchen fo nahe wie möglich hin an den Chriſtian, 
damit man nicht zwiſchen dem Brautpaar durchſehen kann in dieſem feier⸗ 
lichen Augenblick, ſonſt gebe es eine Ehe voller Zwietracht und Aneinigkeit. 

So ſpreche ich den Segen über fie, rechtzeitig fällt die Ahr mit den 
zwölf Schlägen ein, damit iſt der Grund gelegt für ein neues Haus am 
Schoharie. 

Man ſetzte ſich nieder zum Hochzeitsſchmaus. Als die Gäſte endlich 
alle ſatt waren, erhob ſich der alte Schullehrer Heim, und wie das bei 
ihm ſeit Jahren Gebrauch war, brachte er in gereimter Gorm feinen Glück⸗ 
wunſch dar; er lautete: „Seit unſer Herr nach Kana kam, And Waſſer 
dort in Wein verwand, Iſt er dabei zu jeder Friſt, Wo neu ein Haus zu 
bauen iſt. An Seufzer hier im Tränental In keiner Eh’ es fehlen ma g 


Mayer: Der Walbpfarrer am Schoharte 171 


Drum kommt die Not in euer Haus, Schaut gläubig nach dem Herren 
aus; Denn, wo das Kreuz errichtet wird, Da fehlet nie der heilige Chriſt. 
Erhebet denn die Gläſer all', Dem jungen, wackern Ehepaar Geſegne Gott 
fein Haus und Feld, Behüte Schaf, und Rinderherd’, Es wachſ' und blithe 
um den Tiſch Die Bubenzabl geſund und friſch, Auch Mädchen gut und 
ſchön und fein, Wie unſre Braut gleich engelrein, Daß fortan glänze klar 
und hell, Der Ruf des Hauſes Chriſtian Schell!“ 

Der Schulmeiſter hatte es mit einer Miſchung von Ernſt und Humor 
geſprochen, die Weiber hatten ihm bewegt zugehört, die Männer klappten 
in die Hände. Nun folgten raſch nacheinander die Glückwünſche und die 
Darbringung der Geſchenke. Am beſten hat es der Konrad Weiſer ge⸗ 
macht; er überreichte ein dickes Buch mit den Worten: 

„Ein wertvoll Buch ſchenke ich euch, nicht, weil es gar viel gekoſtet 
hätte, ſondern weil ich den Weg nach New Pork gelaufen bin (es find zwei⸗ 
hundert engl. Meilen dorthin), um es zu kaufen. Drum braucht das Buch 
recht fleißig, und an Segen wird es euch nicht mangeln.“ Damit überreichte 
er „Arnds wahres Chriſtentum“. Er iſt wirklich nach New Pork gelaufen, 
um das Buch zu beſorgen, und ſoll unterwegs von Wölfen angefallen 
worden ſein. Er iſt doch ein tüchtiger Mann, der junge Weiſer! 

Nach dieſer Rede war es für einen Augenblick fiille geworden; da 
mit einmal beginnen die Geiger, Pfeifer und Trommler eine luſtige, wilde 
Weiſe, und hereingetänzelt kommt ein junges Weib, als Zigeunerin verkleidet, 
um den bloßen Hals die Perlenſchnur, an den Armen Ringe und Bänder. 

„Die Wahrſagerin“, ſchallte es durcheinander. Sie hatte auch ſchon 
die Hand der ſich ſträubenden Braut ergriffen, und raſch ſprudelten die 
Worte hervor: „Es wird nicht fehlen an Weizen und Korn, nicht fehlen 
an tapfern Männern, welche den Bären ſtellen und die Wölfe töten, nicht 
fehlen an Soldaten, wenn treulos die Wilden die Heimat überfallen — 
bu, hu,“ rief fie und hielt die Hand vor die Augen, „hu, weiße Pünktchen 
an den Fingern, das bedeutet Kinder, Buben und Mädchen, eins, zwei, 
drei, vier, fünf, dann Zwillinge, Drillinge — —“ Zetzt aber bekam die 
Grete ihre Hand los, ſie wollte der Hexe den Mund ſchließen, aber ſtarke 
Hände hatten ibren Fuß umſpannt. Ihr Chriſtian hatte in der Aufregung 
vergeſſen, daß gleichzeitig mit dem Eintritt der Wahrſagerin junge Männer 
unter den Tiſch kriechen, und wer der Braut den Schuh vom Fuße zieht, 
den erſten Tanz mit ihr erhält; auch muß der Bräutigam mit ſchwerem 
Gelde dei der ſofort ſtattfindenden Verſteigerung den Schuh wieder zurück⸗ 
kaufen. Iſt's den jungen Männern gelungen? Nicht bei der Grete, über⸗ 
haupt noch nie bei den deutſchen Mädchen am Schoharie, die wiſſen, wie 
man ſich wehrt. 

Nun war die Aufregung aufs höchſte geſtiegen; erſt nach mehr⸗ 
maligem lauten Klopfen konnte ein ſo angeſehener Mann, wie der alte 
Herkimer, ſich Gehör verſchaffen. „Ein alter Bekannter von meinem Haufe 
möchte gerne ein paar Worte reden.“ 


172 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 


Neben ihm erſchien etwas gebückt, in abgetragenem Rod, mit langem 
ſtruppigen Bart ein Mann, der in jener Lebensperiode ſtand, in welcher 
es ſchwer bält, das genaue Alter zu beſtimmen. 

„Ich bin auch deitſch,“ begann er, „bin ich auch kain Chriſtenmenſch, 
ſo doch ein ehrlicher, deitſcher Jud', der viel geraiſt iſt vom Hudſon bis 
an den Susquehanna, von New Vork bis Germantown und Philadelphia 
jeden Deitſchen kennt, ſoll ich bringen Grüße von der Katharine Weiſen⸗ 
berg aus Albany, deren Mutter ſelig iſt geweſen eine Schweſter zur Frau 
Merkle; ſoll ich grüßen und wünſchen in ihrem Namen viel Glück und 
Segen dem Chriſtian Schell und, was iſt ſeine neue Frau, der Grete 
Schell. And, wenn man nicht wird auslachen einen Mann, was iſt ein 
Jud', aber iſt ein ehrlicher Mann, und welchem hat angetan der Herr Karl 
Herkimer die große Ehr', ihn zu haißen ‚einen alten Bekannten von meinem 
Haus“, dann möcht' ich auch wünſchen Glück und viel Segen dem Braut⸗ 
paar,“ und er hob wie zum Segnen ſeine Hände aus und ſagte in feierlich 
ernſter Weiſe: „Der Gott Abrahams, Iſaaks und Jakobs ſegne euch, wie 
er hat geſegnet die Patriarchen, welche ſind auch geweſen Wanderer wie 
wir, er behüte euch, wie er hat behütet den Vater David, als er iſt ge⸗ 
flohen vor dem König Saul, er gebe euch Weisheit, Reichtum und langes 
Leben, wie er hat es gegeben dem großen König Salomo. Er gebe euch 
Söhne, gottes fürchtig wie den Joſeph, treu wie den Jonathan, und Mädchen, 
ſchön wie die Rahel und klug wie die Ruth — das wünſcht von Herzen 
Jonathan Schmul.“ 

So ſprach er, und man hörte ihn mit Achtung. Ich habe ihm nach- 
her die Hand gedrückt und wollte ſeine Rede loben, aber er ſprach immer 
nur: „Is gut, is gut.“ 

Es war mittlerweile Abend geworden, und ich machte mich auf den 
Heimweg. Draußen im Freien feierten die jungen Männer, welche im 
Hauſe nicht Platz hatten, auf ihre Weiſe die Hochzeit. Sie hatten das 
Bier beim Faß gekauft; jeder, der trinken wollte, mußte das Faß frei 
vom Boden heben, und dann trank er und trank und trank. So probierten 
ſie der Reihe nach, wer der Stärkſte ſei. Hier hätte die Wahrſagerin 
leichtes Spiel gehabt; bis in etlichen Stunden hebt keiner mehr ein Faß 
in die Höhe, das Feuerwaſſer iſt auch hier der Stärkſte. 

In dieſer Hochzeitsnacht fand ich keinen Schlaf, der Gruß von der 
Katherine Weiſenberg ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Ich gehe den 
Berg hinter meinem Hauſe hinunter und ſchaue ins Waſſer. Es ſchwätzt 
und flüſtert im Waſſer, als halten unſichtbar die Geiſter dort ihr Stell⸗ 
dichein. Plötzlich hör' ich ganz in der Nähe den Ruf: 


„Hört ihr Leut' und laßt euch ſagen, 
Die Glocke, die hat zwei geſchlagen, 
Zwei Wege hat der Menſch vor ſich, 
O Herr, den ſchmalen führe mich!“ 


Mayet: Der Waldpfarrer am Schoharis 173 


Was, Nachtwächter im Arwalde Amerikas? Doch, ich beſinne mich. 
Für gewöhnlich wacht in jedem Haus einer gegen Überfälle der Wilden, 
aber wegen der Hochzeit iſt für dieſe Nacht ein beſonderer Mann ange⸗ 
ſtellt. Er ſoll mich in dieſer Stunde denn doch nicht hier antreffen; ſo 
ſteige ich wieder den Hügel hinan, meiner Blockhütte zu. 


Siebentes Kapitel 


Wie ich tags darauf Gerlach einen Beſuch abſtattete, kam der Jona⸗ 
than Schmul ins Haus, ſetzte ſeine Kiſten und Bündel auf den Boden und 
holte tief Atem. 

„Was zu kaufen, Madam, was benötigt?“ fing er an; „und wie geht's 
dem Manne und den Kindern, alle friſch, haben Backen wie — —“ 

„Rufe den Vater, Fritz,“ unterbricht ihn die Frau Gerlach, und der 
Junge ſtürmt hinaus und ſchreit ſo laut, wie er kann: 

„Der Pedler (Hauſierer), Vater, komm heim, der Pedler!“ 

Inzwiſchen hat der Pedler Jonathan Schmul ſeine Kiſten und Pakete 
geöffnet, die Kinder ſchauen neugierig zu, und mit Ausrufen der Bee 
wunderung ob all der Herrlichkeiten, welche vor ihren Augen entfaltet 
werden, drängen ſie immer näher. 

„Kauf mir das Meſſer, Mutter, ich brauch' das Meſſer, der Weber⸗ 
fritz hat auch eins“, ruft der Fritz. 

„Mir die Ohrringe, Mutter“, heult das Lieschen. 

„Ich muß einen wollenen Anterkittel haben auf den Winter“, ſagt 
beſtimmt der Andreas, er iſt ſchon fünfzehn und darf fordern. 

„Geht ihr gleich weg! Pedler, ſchlag' ihnen auf die Hände“, befiehlt 
die Mutter. Der Pedler tut es aber nicht, er weiß vielmehr, daß Kinder 
feine beiten Kunden find. 

Mittlerweilen ift der Gerlach hereingekommen, hat ſich die Hände 
gewaſchen und beginnt mit dem Schmul zu parlieren über Wetter und 
Weizen, dann aber geht der Jude über zum Geſchäft. 

„Etwas gefällig heut, hier die Arznei, iſt gegen das Fieber, iſt 
lauter Wurzelſaft, habe das Geheimnis von einem alten Indianer!“ 

„Oder dieſe Pillen, das beſte Mittel gegen Huſten, auch für Kinder, 
wenn ſie nachts nicht ſchlafen wollen, haben Sie noch übrig davon?“ 

„Nicht mehr viel“, ſagt Gerlach kurz. 

„Hab' ich nicht geſagt die Wahrheit, iſt gute Medizin gegen Kolik 
bei Kälbern und Ferkeln, Mann, Sie haben probiert, bezeugt, ob ich fag’ 
die Wahrheit.“ 

„Iſt nicht ſchlecht“, lautet die Antwort. Gerlach fürchtet, wenn er zu 
reichliches Lob ſpende, möchte der Schmul den Preis erhöhen. 

Nun wird gefeilſcht und gekauft, ſchon ſpringt der Fritz hinaus mit 
einer Mundharfe, und das Lieschen ſchreit laut auf, weil die ſilbernen Ohren⸗ 
ringe zu rauh angeheftet ſind. Die großen Buben prüfen die Waren, ſie 


174 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 


kaufen mit Kennerblick Wetzſteine und Meſſer, auch neuer Pulvervorrat 
wird eingelegt, und der Chriſtian unterſucht wohlgefällig eine Tabakspfeife. 

„Jetzt, das iſt zu arg, du ſollſt mir kommen“, ruft die Mutter und 
ſchüttelt zornig die Fauſt gegen den Chriſtian. 

Weil aber die Mutter die Teppiche und das Weißzeug, die Zitze 
und den Faden unterſucht und die Männer nicht recht beobachten kann, 
holt der Chriſtian heimlich aus der Sonntags hoſe Silber, und Kupfer: 
münzen und erhält dafür von dem Pedler die Pfeife mit der Verficherung: 

„Es iſt die ſchönſte am Schoharie!“ 

So wird eingekauft. „Der Winter iſt vor der Tür, wollene Unter- 
kleider, der Kittel koſtet bloß drei Taler und neunundneunzig Cent, verkaufe 
billiger als der Store in Albany und hab's hergetragen, bin zufrieden mit 
einem kleinen Profit, leben und leben laſſen, iſt mein Wahlſpruch.“ 

Dem Gerlach fängt es an bedenklich zu werden; alle Tiſche liegen 
voll mit Kleidungsſtücken, Spielwaren und Arzneien, er kratzt ſich am Kopf, 
er handelt und feilſcht, es hilft nichts. 

„Jonathan Schmul will machen ein ehrliches Geſchäft.“ 

Da ſpielt der Bauer ſeinen größten Trumpf aus: 

„Schmul, eigentlich brauch ich nichts, wollt' Sie nur nicht wegſchicken 
heute, Sie ſind zu teuer, ich kaufe nichts, vielleicht das nächſtemal, und 
nichts für ungut!“ 

Er kauft aber doch, holt ſeine lederne Geldkatze aus der Kommode 
und bezahlt. 

„Was ich ſagen wollte,“ fährt der Schmul fort, „den Shwal, beſeht 
ihn, er iſt der letzte“; damit entfaltet er ein in der Tat prächtiges Amſchlag⸗ 
tuch mit hübſchen ſchweren Franſen. Der Bauer ſchüttelt abwehrend den 
Kopf, aber das Tuch hat der Frau Gerlach Auge gebannt, ſie befühlt es. 

„Wolle, reine portugieſiſche Wolle, geſponnen und gewoben in Paris, 
was iſt die Hauptſtadt von Frankreich, wo iſt die neueſte Mode, habe eins 
verkauft an dem Herkimer ſeine Frau; iſt ſchön, aber nicht ſo ſchön, wie 
dieſes, iſt gemacht in Lyon, was auch liegt in Frankreich, dieſes kommt von 
Paris, was iſt das Zentrum der Mod'!“ 

Er hängt es der Frau Gerlach um die Schultern, und die Mädchen 
ſchauen verlangend nach dem Tuch. 

„Was gafft ihr, jetzt ſo etwas, ich hab' mehr geſchafft, als ihr euer 
Lebtag tun werdet, bin dabei alt geworden und niemand hat mir ſolch einen 
Shawl gekauft“, und ſie räuſpert ſich und ſchluckt und fährt in der Stube 
umher. Der Gerlach iſt ein verſtändiger Mann, er kennt ſeine beſſere Hälfte, 
er geht noch einmal nach der Kommode, es ſind aber Banknoten, die er 
dieſes Mal holt. 

Die Frau aber ſchreit: „Mann, haſt du Geld zum Wegwerfen?“ 
dann wettert ſie an dem Ofen, legt Holz ein, ſchiebt Pfannen und Kacheln 
hin und her und macht ein grauſig düſteres Geſicht, während der Mann 
den Handel vollends ins reine bringt. 


Bayer: der Waldpfarrer am Schoharle 175 


„Sie bleiben hier beim Mittageſſen, es wird gleich auf dem Tiſch 
ſein, erzählen mir ein wenig, wie es in der Niederlaſſung zugeht, und von 
den Händeln in der Welt!“ 

And Jonathan Schmul blieb und erzählte; der Pedler beſorgt in 
dieſer Gegend die Arbeit der Zeitung, er kennt faſt jedermann in zwei 
Staaten, kann ohne langes Nachdenken die ganze Verwandtſchaft aufſagen, 
auch beſorgt er allerlei wichtige Botendienſte. 

Nach dem Eſſen aber holte Schmul ein ſchönes Gebetbuch aus ſeiner 
Kiſte hervor und überreicht's der alten Großmutter. 

„Es iſt ein chriſtliches Buch, gedruckt von meinem Freunde Chriſtian 
Sauer in Philadelphia, leſen Sie es fleißig und denkt's dabei auch an den 
Schmul, was ift ein Sud’, aber macht ein ehrliches Geſchäft.“ Damit ging 
der Pedler. 


Achtes Kapitel 


Ich folgte ihm und lud ihn zu mir in mein Haus. Den ganzen 
Nachmittag habe ich ſeinen Erzählungen zugehört. Von den Freunden 
aus Echterdingen berichtete er, der Weiſenberg ſei auf dem Schiffe der See⸗ 
krankheit erlegen, darauf hätten die „Seelenverkäufer“ fein Geld geſtohlen, 
und, weil nun nicht mehr genug Reiſegeld übrig war, wurde die Katherine 
bei ihrer Ankunft in New Bork auf fieben Jahre verkauft an eine reiche 
holländiſche Familie, welche in Albany wohne. Sie habe es dort gut; 
ihre Schönbeit habe den Sohn des Hauſes gereizt, aber das Mädchen wiſſe, 
wie man ſich ſolcher Burſchen erwehre; denn ſie ſei nicht nur bübſch, ſondern 
auch verſtändig und werde ſich ehrlich durchſchlagen, niemand brauche ihret⸗ 
wegen in Sorgen ſein. Ob ſie von mir geſprochen habe? Schmul wußte 
es nicht. 

Ob ich vielleicht den Sir Johnſon kenne? Es ſei ein junger Eng⸗ 
länder, der große Ländereien beſitze, da, wo der Schoharie in den Mohawk⸗ 
fluß münde. Dieſer junge Mann verkehre viel im Hauſe der Holländer, 
wolle ich mit dem Mädchen in Verbindung treten, ſo würde er jedenfalls 
einen etwaigen Brief abliefern. 

„Kennt Sir Johnſon die Katherine?“ 

„Habe geſehen, wie er im Vorbeigehn hat angeſchaut das Mädchen, 
ſeine Augen brannten.“ 

„O wehe“, entfuhr es mir. 

„Ganz ohne Sorgen, Herr Pfarrer, zur Frau nimmt er ſie nicht 
und zu etwas anderem gibt ſie ſich nicht her.“ 

Mehr war nicht zu erfahren. 

„Herr Pfarrer, nehmen Sie einem armen Jud' nichts für ungut, 
wenn er ſich erlaubt zu reden ein freies Wort. Bleiben Sie am Schoharie, 
hier wohnen lauter Edelleute, wenn ſie auch den Bettlerkittel tragen. Die 
Wanderpfarrer ſind ſchlechte Leute, Sie ſind der Mann für dieſes Volk.“ 

„Aber der Schnaps, Schmul!“ 


176 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 


„Schon wahr; daran find die reichen Holländer ſchuld, fie haben mit 
dem Feuerwaſſer ſich die Freundſchaft der Indianer gekauft; mit meinen 
eigenen Augen habe ich geſehen, wie ſie die Wilden ſo lange mit Brannt⸗ 
wein traktierten, bis daß fie ihnen das ſelbe Land noch einmal überſchrieben, 
welches die Deutſchen ſchon gekauft und bebaut hatten. Hunter hat dieſen 
Betrug nachträglich gut geheißen, und dem alten Weiſer iſt das Herz über dem 
Jammer gebrochen. Die Leute haben einen Führer nötig, dazu ſind Sie der 
geeignete Mann, Sie ſind klug und treu, ſo wahr ich bin ein ehrlicher Jud'.“ 

„Aber der Schnaps“, wiederholte ich. 

„Iſt nötig, die Deutſchen müſſen den Indianern auch Schnaps geben, 
wie die Holländer es tun, ſonſt ſind ſie verloren, der Konrad Weiſer, was 
iſt ein kluger Mann, hat ſelbſt dazu geraten.“ 

„Jonathan Schmul, wo wohnen Sie?“ 

„Habe das noch niemand geſagt, aber als Sie ſind ein Pfarrer und 
kennen bewahren ein Beichtgeheimnis, werd' ich's Ihnen ſagen. Zehn Meilen 
gegen Weſten iſt ein Bach, nach dem Farmer Kobel wird er Kobelskreek 
genannt. Dort habe ich eine Höble gefunden, als die Indianer hinter mir 
drein waren; ich nenne ſie Howeshöhle; dort wohne ich. Schweigen Sie 
darüber; wenn aber ein Krieg ausbricht, dann fliehen Sie dorthin und Sie 
find ſicher. Ich fürchte Schlimmes, denn die Wilden lüſtet's nach den Vieh⸗ 
herden der Deutfchen.“ 

Er ſtand auf und wollte gehen. Der Abſchied wollte mir weh tun, 
ich halte ihn für einen treuen Menſchen. Schon unter der Tür kehrte er 
noch einmal zurück und ſprach: 

„Herr Pfarrer, ich danke Ihnen, daß Sie haben einem Mann, welcher 
iſt ein Jud', angewieſen einen Stuhl in Ihrem Hauſe und gereicht Salz 
und Brot; wenn Sie jemals werden gebrauchen einen Fraind im Walde, 
dann rufen Sie mir, und ich werde Ihnen dienen und geben für die Deutſchen 
und ihren Pfarrer mein Geld und auch mein Leben, fo wahr mein Nam’ 
iſt Schmul!“ ö 


Neuntes Kapitel 


Nun bin ich ſchon zwei Jahre hier und habe noch nichts geleiſtet. 
Durch die Wälder bin ich geſtrichen, den Flüſſen bin ich nachgelaufen, als 
ob noch große Entdeckungen zu machen wären! Menſchen habe ich geſucht, 
ihre Geſchichte mir erzählen laſſen, ob vielleicht in ihrer Anruhe mein auf 
geregtes Herz Ruhe finde. 

Sie waren gut zu mir, die Menſchen hierzulande. Bereitwillig haben 
fie die Türen ihrer Häuſer dem fremden Sonderling geöffnet und Gaſt⸗ 
freundſchaft geübt. Anbequem wurden mir ihre vielen Fragen nach mir 
ſelbſt und den Abſichten, welche ich habe. „Warum predigen Sie uns nicht“, 
iſt beinahe der ſtändige Gruß, wenn ſie mir begegnen. Ich weiß es dem 
alten Weiſer Dank, daß er mich gut empfohlen hat, ſonſt hätten die Leute 
ſchwerlich ſo lange Geduld mit mir. 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 177 


In dieſem Lande gibt es keine Faulenzer, jeder muß arbeiten, auch 
die Reichen ſchämen ſich nicht der Arbeit. Darum ſchauen die Leute mich 
verwundert an. Wie kann ein junger, dazu noch ſtudierter Menſch ſein 
Leben mit Nichtstun zubringen? Ich ſelber harrte ſehnlich auf eine Ver: 
änderung. 

Heute iſt's entſchieden! Bis dato lebte ich der Hoffnung, es ſei für 
mich eine Rückkehr in die Staatskirche der Heimat möglich. Ich habe mich 
darum an verſchiedene einflußreiche Männer gewandt und an Jugendfreunde. 
Endlich iſt die Antwort eingetroffen. 

Elend kaſſiert bin ich worden, wie der gemeinſte Verbrecher werde 
ich aus dem Staats: und Kirchenverband hinausgeworfen. Recht geſchehe 
mir, ſchreibt ſogar einer; denn ich hätte vergeſſen, daß die Fürſten die Ge⸗ 
ſalbten Gottes auf Erden ſeien, ihnen zu trotzen, ſtehe einem Diener des 
Evangeliums nicht zu. Da hab' ich's! Ein ſchändliches Verbrechen habe 
ich begangen, denn ich half mit, daß ein Mädchen weniger ruiniert worden 
iit! Dann dieſe Speichellecker! Gott, warum ftrafft du meine alte, teure 
Heimat mit ſolchen Menſchen! Wie ich die Briefe las, die mir die 
Mutter ſchickte, bekam ich einen Wutanfall; ich ſchlug mit der Fauſt auf 
den Tiſch, fo daß die alte, halbtaube Urfchel aufmerkſam wurde. Sie 
ſchaute durch das Fenſter; weil's ein trüber Tag iſt, hat fie vermeint, es 
donnere. Mein Gott, ich wußte nicht, ſoll ich raſen und fluchen oder weinen 
und lachen. 

„Die dunkelſte Wolke hat eine ſilberne Einfaſſung“, ſagen hier die 
Leute. Auch draußen in der Heimat haben ſie noch Männer. Zwar der 
Profeſſor G. in Tübingen gefällt mir nicht recht. Er läßt mich grüßen, 
ſcheue ſich aber, mir zu ſchreiben, weil ein Brief leicht den Spionen des 
Fürſten in die Hände fallen könnte. Aber der Prälat und Hofprediger 
Arlſperger, das iſt ein ganzer Mann! Dem ſollte die Nachwelt ein Denk: 
mal errichten, direkt vor der Schloßkirche müßte es ſtehen, als eine Pre⸗ 
digt, daß Männerwürde und Männertreue noch nicht ausgeſtorben iſt. Ver⸗ 
langt Sereniſſimus, daß ſeine erſte Mätreſſe ſoll in das ſonntägliche Kirchen⸗ 
gebet eingeſchloſſen werden, und das Heer der Hofſchranzen, der Hofräte, 
der Medizinalräte und ähnlicher Schlucker machen dazu alleruntertänigſt 
ihre Bücklinge und tiefſten Reverengen. Da fährt der Hofprediger wie 
ein Donnerkeil zwiſchen das Gelichter und ſagt dem Herzog und ſeiner 
Mätreſſe ins Geſicht: „Herr Herzog, für dero Mätreſſe beten wir bereits 
jeden Sonntag, denn ſobald wir in ‚Unfer Vater“ die Bitte ausſprechen: 
Erlöſe uns von dem Abel, denkt das ganze Land an den Herzog und ſeine 
ſchamloſe Mätreſſe!“ 

Wäre ich des heiligen römiſchen Reichs deutſcher Kaiſer, ſo würde 
ich um des einen Arlſpergers willen alle Urlfperger im Reiche in den erb- 
lichen Grafenſtand erheben. Ich bin mit dem Brief in den Wald hinaus; 
geſtürmt, und wie ich das Manneswort des Hofpredigers geleſen hatte, fuhr 
es wie ein Sturm durch die Bäume. Ein Manneswort weckt Mannesmut! 

Der Türmer , 8 12 


178 Plinte: Dein Bild 


Ich habe mich entſchieden! Anſere Zeit gebraucht Männer, die opfern 
und entſagen können, Männer, die einfteben für die Wahrheit und das 
Recht, die ſich nicht ſcheuen, auch vor ſolchen nicht, die die Macht haben, 
einen zu züchtigen und einen loszulaſſen. Willſt du dein Leben erhalten, 
dann mußt du es verlieren. Will ich meine Zeit nicht totſchlagen, dann 
muß ich entſagen, leiden und dulden. Aber wenn ich dann einmal nicht 
mehr bin, wird es noch Menſchen geben, welche Gott danken, daß ich nach 
Amerika verſchlagen worden bin. Alſo Johann Peter Reſig, Waldpfarrer 
am Schoharie! Unter dieſem Namen will ich wirken, entweder etwas Rechtes 
leiſten oder untergehen. 

Nun iſt's entſchieden! Wie erfriſchend das wirkt auf mein ganzes 
Weſen, ich bin ein neuer Menſch, ſeitdem ich mutig einen feſten Entſchluß 
gefaßt habe. Ich werde arbeiten, Gemeinden organiſieren, Kinder unter⸗ 
richten, Unterdrücker ſtrafen, Unterdrüdte verteidigen. 

Ich bleibe hier. (Fortſetzung folgt) 


2 
Dein Bild 


Von 


Aug. H. Plinke 


Von meiner Arbeit blick ich oft empor 

Zu deinem Bild — ich kann nicht müde werden, 
Das anzuſchaun, was ich ſo ſchnell verlor, 

And was das Liebſte mir doch war auf Erden. 


O, wie die alte Zeit vor mir erwacht! 

Du ſiehſt mich an mit hellen Kinderaugen, 
Die ſich wie einſt mit ihres Zaubers Macht 
Hinein in meiner Seele Tiefen ſaugen. 


Das ſind die Wangen noch, ſo zart und rund, 
Die ich mit weichen Händen einſt geſtreichelt, 
Das iſt er noch, der ſüße, rote Mund, 

Der mich mit manchem Liebeswort umſchmeichelt. 


Ich weiß, das alles war und iſt nicht mehr, 
And unſre goldnen Tage ſind zu Ende: 

Dein Auge blickte fremd, dein Herz wär' leer, 
Wenn je ich in der Welt dich wiederfände. 


And immer doch ſchau' ich in Luft und Pein 

And ſuch' im Bilde die vertrauten Züge! 

Ein Schatten iſt's, ein Blendwerk nur, ein Schein, 
And doch, — wie lieb' ich dieſe holde Lüge! 


vir 


Die beiden Napoleon und das Nationalgefühl 
der Völker 


Von 


Max Treu 


— iſt noch gar nicht ſo lange her, daß das Nationalgefühl der 
europäiſchen Völker zu erwachen begann und nach jahr— 
hundertelangem Verſchollenſein ſich endlich wieder kräftig er- 
: &) bob. Sit doch gerade erft dieſes erwachende Nationalgefühl 
der angegriffenen Völker es geweſen, welches den beiden kriegsluſtigſten 
Fürſten des 19. Jahrhunderts, den beiden Napoleon, den Antergang be— 
reitete. Aber dem Zuſammenbruch ihrer irdiſchen Größe waltet bei ihnen 
beiden das gleiche tragiſche Verhängnis: beiden bringt eine Riefenfchlacht 
den Untergang, dem einen Waterloo, dem andern Sedan, und beide unter— 
liegen in dem ungeheuren eiſernen Würfelſpiel, weil die ſonſt ſo klugen und 
ſcharfſinnigen Männer bei deſſen Beginn einen Faktor außer acht gelaſſen 
hatten: das Nationalgefühl der Völker, gegen die ſie ihre Waffen trugen. 
Bei dem erſten Napoleon freilich wird man nicht behaupten können, daß, 
wenigſtens im Anfang ſeiner Laufbahn, Amſtände vorhanden geweſen wären, 
welche ſeinen Blick für die erwähnte Eigenſchaft hätten ſchärfen können. 
Er ſelbſt war ein heimatloſer Glücksritter, bereit ſeinen Degen demjenigen 
zu leihen, der ihm für ſeinen ſchrankenloſen Ehrgeiz das glänzendſte Ziel 
in Ausſicht ſtellte, und als der törichte Putſch des Jahres 1793 auf 
Korſika ihn nötigte, dieſe Inſel, ſein Vaterland, zu verlaſſen, da verließ 
ihn auch der letzte Reft von Vaterlandsliebe und andere Ideale zogen in 
das Herz dieſes ſeltſamen Mannes ein. Trotzdem noch die abſchließende 
Biographie Napoleons I. fehlt, laſſen doch bereits heute alle über ihn er— 
ſchienenen Werke von Thiers rühmender Erzählung an bis auf Lanfreys 
vernichtende und des Englanders Roſe erſt kürzlich erſchienene zurückhaltendere 
Kritik keinen Zweifel darüber, daß er auf ſeiner ganzen Laufbahn weder 
als königlicher Artillerieoffizier, noch als General der Republik, noch als 
Weltbeherrſcher ein perſönliches Nationalgefühl beſeſſen, ſich jemals als 


180 Treu: Die beiden Napoleon und das Nationalgefühl der Bölter 


echter Franzoſe gefühlt habe. Und wenn er nun auf die Völker ringsum 
in Europa blickte, hätte ſich da wohl ſein Auge für das Erkennen des 
Nationalgefühls ſchärfen können? Wo wäre in jenen Tagen das Volk 
geweſen, welches — mit Ausnahme der Engländer — ein ſtark entwickeltes 
Nationalgefühl beſeſſen hätte? In Frankreich zwar hatte ſich im Hoch⸗ 
ſommer 1792 das Volk unter den Klängen der Marſeillaiſe in Bewegung 
geſetzt, um das Land gegen die einbrechenden Feinde zu verteidigen; in 
Deutſchland, mit Ausnahme von Oſterreich, hatte einige Jahrzehnte früher 
der alles mit fortreißende Zauber der machtvollen Perſönlichkeit Friedrichs 
des Großen ſelbſt die trägſten Maſſen aus ihrer Lethargie aufgerüttelt und 
ihnen in das Bewußtſein gerufen, daß ſie Deutſche wären; aber im erſten 
Falle konnte ſelbſt ein klares Auge nicht unterſcheiden, wo der Druck, den 
die Schreckensherrſchaft auf die Gemüter ausübte, und der zügellofe Frei⸗ 
heitstaumel, in den ſich die Nation verloren hatte, aufhörten und das 
ſtarke, ſelbſtbewußte Nationalgefühl begann, und im letzteren Falle war 
das Erwachen des Nationalgefühls ſehr bald wieder in jene politiſche Gleich⸗ 
gültigkeit übergegangen, welche für das Zeitalter der unfehlbaren Kabinetts 
regierungen ſo außerordentlich bezeichnend iſt, und verbittert und unver⸗ 
ſtanden war der große König, der es müde geworden, über Sklaven zu 
herrſchen, einſam und allein in den Armen ſeines treuen Kammerlakaien 
Strützki verſchieden. 

Wo alfo follte ſich der Blick Napoleons J. ſchärfen, um das National-; 
gefühl der Völker und feine unermeßliche Bedeutung für Sitte, Fortfchritt 
und Kultur zu erkennen und richtig zu würdigen? And wenn ihm wirklich 
in den erſten Jahren ſeiner Laufbahn eine Ahnung davon aufgedämmert 
wäre, fo mußte dieſe doch bald verblaſſen, als er im Verfolg feiner Feld- 
herrnlaufbahn die Erfahrung machte, daß die fremden Völker bei allen 
Niederlagen, welche ihre Heere und ihre Kabinette trafen, nicht nur gleich- 
gültig und teilnahmlos blieben, ſondern zuweilen ſich ſogar darüber freuten, 
daß das hochmütige, gehaßte Soldatenvolk es tüchtig heimgezahlt bekam. 

Als ſich nach den Tagen von Montenotte und Lodi wohl zum erſten 
Male eine unermeßliche Perſpektive vor den Augen des ehrgeizigen, jungen 
Feldherrn der Republik auftat, und als dann ſpäter unter den Pyramiden 
und vor Abukir, wie uns feine Außerungen zu Frau v. Rémufat erkennen 
laſſen, das, was er mit der Seele ſah, immer klarere Formen annahm, da 
iſt ihm, ſoweit wir unterrichtet ſind, niemals ein Gedanke gekommen, daß, 
wenn er die angeſtrebte Macht dauernd ſichern wollte, er ſie auf das 
Nationalgefühl ſeines Volkes, der Franzoſen, gründen müſſe; ſeine 
Macht, ſein Thron ſollte ſich auf die Bajonette einer unbeſiegten Armee 
ſtützen, aber er überſah dabei, daß Thron und Reich in demſelben Augen⸗ 
blick zuſammenſtürzen müßten, in welchem jene verſagen würden. 

And wiederum: woher ſollte er Blick und Verſtändnis hierfür haben? 

Als er am 18. Brumaire ſich zum tatſächlichen Alleinherrſcher Frank⸗ 
reichs machte, als er ungeachtet des ihm entgegengedonnerten Achtungs⸗ 


Bren: Die beiden Napoleon und das Nationalgefühl der Völter 181 


rufes: „Hors la loi!“ ſeine ihm blindlings folgenden Grenadiere in den 
Saal führte, wo der Nat der „Fünfhundert“ tagte, da hatte ſich das Volk 
nicht geregt, um dem kühnen Fremdling gegenüber, der nicht desſelben 
Stammes war, die mit Blut errungene Verfaſſung zu verteidigen. „Das 
Volk“, ſo ſchrieb damals der ſcharfſichtige ſchwediſche Geſandte Brinkmann, 
„iſt ſo müde, ſo angewidert von den revolutionären Greueln und Torheiten, 
daß es überzeugt iſt, bei jeder Veränderung nur gewinnen zu können.“ 
Schwer ſollte ſich dieſer politiſche Indifferentismus, dieſer Mangel an Selbſt⸗ 
gefühl an dem franzöſiſchen Volke rächen; „es kann“, ſo urteilt ein neuerer 
Forſcher (Fournier, Napoleon I.) „nichts Ergreifenderes geben als dieſe 
Nation, ſo voll von Enthuſiasmus für echt humane Güter, nach wenig 
Jahren ſchon bei dem grellen Widerſpiel aller Humanität ankommen zu 
ſehen, nach Frieden lechzend und zu dezennienlangem, opfervollem Kriege 
verurteilt.“ 

Und in dieſe jahrzehntelangen Kriege hinein führt nun der neue Ge⸗ 
waltherrſcher ſein Volk. 

Sein Volk? 

Nein, für die Regungen der Volksſeele hatte dieſer ſeltſame Mann 
kein Verſtändnis, ſonſt hätte er wiſſen müſſen, daß dieſes Volk des Krieges 
überſatt war. Sein Heer nur führte er vorwärts, und das folgte be⸗ 
geiftert von Schlacht zu Schlacht, von Land zu Land feinem großen Feld- 
herrn. In je höherem Grade dieſer es verſtand, für jenes zu ſorgen und 
ihm ſeine Zuneigung auszudrücken, um ſo feſter ſchloß es ſich an ihn an; 
aber eine tiefe Kluft trennte es von dem Volke, aus dem es doch ſeinen 
Nachwuchs nehmen mußte. 

And blicken wir nun auf die Gegner, die dieſem Heere und ſeinem 
genialen Führer gegenüberſtanden, fo ſehen wir von Marengo bis Fried⸗ 
land wohl tapfere Armeen, eine Zahl tüchtiger Generäle mit ihm ſtreiten, 
aber den bedeutendſten Gegner finden wir nicht darunter: das National. 
gefühl der angegriffenen Völker, welches ihm ſpäter Thron und Reich zer⸗ 
trümmern und ihn ſelbſt auf die einſame Felſeninſel St. Helena zwingen 
ſollte. Wenn auch zuweilen ein leiſes, dem ſchärferen Ohre wohl vernehm⸗ 
bares Murren durch die unterliegenden Völker geht und ſich in einzelnen 
Zeugniſſen und Taten Luft macht, wie z. B. der Groll in Oſterreich nach 
der beiſpiellos ſchmählichen Kataſtrophe Macks bei Alm, in Preußen, wo 
ſich in der Grafſchaft Glatz die notdürftig, oft nur mit Senſe und Drefch- 
flegel bewaffnete Bevölkerung unter der Führerſchaft des Grafen Götzen 
zur Verteidigung des heimatlichen Herdes aufmacht, ſo ſind das doch nur 
wenige Lichtblicke in jenen trüben Zeiten. Das große ftarfe National: 
bewußtſein iſt noch nicht erwacht. Aber es begann doch wenigſtens ſich zu 
regen, wie einer, der nach langem Schlafe zu erwachen anfängt; die Hin⸗ 
richtung Palms, der Tag von Jena und Auerſtädt, des Gewaltherrſchers 
Einzug in Berlin, ſein Vordringen bis zur Weichſel hatten gar zu mächtig 
an dem Langſchläfer gerüttelt. Sehen wir in der heldenhaften Verteidi⸗ 


182 Treu: Die beiden Napoleon und das Nationalgefühl der Bs tler 


gung der Feſtungen Graudenz, Pillau, Koſel das letzte Ausklingen der 
Traditionen des Großen Friedrich, ſo dürfen wir in dem kühnen Zuge 
Blüchers von Auerſtädt bis Lübeck, in dem tapfern Widerſtand Kolbergs 
und feiner Bürgerſchaft, in dem wuchtigen Angriff Scharnhorſts im Schnee 
geſtöber von Preußiſch⸗Eylau die erſten Anzeichen des Heraufziehens einer 
neuen Zeit erblicken, — einer Zeit, die mit einer unbezwinglichen Macht 
auf dem Kampfplatz erſcheinen ſollte. — 

Napoleon I. aber verſtand dieſe Zeichen der Zeit nicht. Er kannte 
in den eroberten Ländern keine Völker, nur Kabinette und Bevölkerungen 
von fo und ſoviel tauſend Seelen. Und fo ſchuf er denn feine neuen Staaten⸗ 
gründungen in einem verhängnisvollen Irrtum, wenn er deren Grenzen ohne 
Rückſicht auf die natürlichen Inſtinkte der Völker nur nach feiner Einſicht 
feſtſetzte. Daß der Piemonteſe anders denkt als der Holländer, der Ham⸗ 
burger anders als der Franzoſe, das kam ihm hierbei nicht in den Sinn, 
war ihm unfaßlich, und daß ſich ſolche widerſtrebenden Nationalitäten nicht zu 
einem Staatsgebilde zuſammenſchweißen laſſen, wie man die Ninge einer 
Kette aneinanderſchweißt, das nur zu äußern, galt ihm ſchon als Hochverrat. 

Aber der Tag ſollte kommen, wo er ſich plötzlich einem Feinde gegen⸗ 
überſah, an den er nie gedacht, eben dem Nationalgefühl der angegriffenen 
Völker, und wenn er auch anfänglich darüber ſpottete, ſo ſollte er doch 
bald mit Schrecken gewahr werden, daß dieſer Feind ihm weder erreichbar 
noch durch Achtung, Füſilladen und Blutopfer beſiegbar war, und daß 
bald unter ſeinem Anſturm alle Macht des Imperators vergehen würde 
wie Schnee vor der Märzenſonne. Nicht erſt auf den Schneegefilden Rub- 
lands, ſondern bereits in jenen Tagen, da er es wagte, ſich an einem Volke 
zu vergreifen, in dem er ſelbſt durch eine ränkevolle Politik und durch eine 
rückſichtsloſe Behandlung ein außerordentlich lebhaftes Nationalgefühl wach: 
gerufen hatte, — da bereits begann für ihn der „Anfang vom Ende“. 

Das unerhörte Ränkeſpiel von Bayonne hatte Spanien in feine Ge⸗ 
walt gebracht, ohne Zweifel ein großer Erfolg ſeiner treuloſen Politik. 
Wie aber, wenn dieſer Erfolg ſich nicht dauerbar erwies? Wenn ſich in 
ſeine Rechnung ein Faktor drängte, den er überſehen hatte? Ein Moment, 
welches er nicht ſchätzen und wägen konnte, weil ihm bisher jedes Maß 
dafür fehlte? Wäre er im Jahre 1795, wie ihm angeboten worden, zur 
Niederwerfung des Aufſtandes in die empörte Vendee gegangen, ſo hätte 
er dort den zur Verzweiflung getriebenen Kampfesmut eines Volkes kennen 
lernen, hätte begreifen können, welch ungeheure Kraft ein Volk beſitzt, das 
ſich als ſolches fühlt und entſchloſſen iſt, jeden Eingriff in feine Rechte 
zurückzuweiſen. And war damals er ſelbſt nicht Augenzeuge geweſen, ſo 
hätte er doch wenigſtens von dem genialen, zu früh verſtorbenen Hoche 
lernen können, daß man ein ſolches Volk nicht zum Außerſten bringen darf, 
wie er es jetzt mit den Spaniern tat, wenn man Ruhe davor haben will. 

Das Nationalgefühl der ſtolzen Söhne Kaſtiliens, Aragoniens und 
der andern Stämme hatte ſich empört gegen den aufgedrungenen König 


Teen: Die deiden Napoleon und das Rattonalgefilhl der Völker 183 


Sofeph und ihn aus Madrid vertrieben. Napoleon, weit entfernt, die dort 
ſich entwickelnden Kräfte richtig zu ſchätzen, beſchloß, ſelbſt ſeinen Bruder 
in die Hauptſtadt zurückzuführen und an der Spitze eines auserleſenen Heeres 
die Unglüdstage von Baylen und Cintra, wo vor den aufſtändiſchen Scharen 
ſeine Generale Dupont und Junot hatten kapitulieren müſſen, wettzumachen. 
Die beiten feiner Generale gingen mit: Lannes, Soult, Beſſières, Ney, 
Lefebvre, Moncey, Victor, und bald hoffte man, der La Romana, der 
Caſtaũos und Palafox Herr zu werden und das engliſche Hilfskorps unter 
John Moore von der Halbinſel zu vertreiben. Wohl gelang es dem Kaiſer, mit 
ein paar raſchen Schlägen die Sieger von Baylen zu beſiegen und den Nimbus 
feiner Uniiberwindlichleit wiederherzuſtellen, — aber merkwürdig: der Wider⸗ 
ſtand hörte trotzdem nicht auf. „Schlachten waren gewonnen, Armeen ge⸗ 
ſchlagen, zerſprengt, vertrieben worden, aber das Land war nicht erobert, 
das Volk nicht unterworfen“, und als der Kaiſer ſich genötigt ſah, des 
drohenden Krieges mit Oſterreich wegen den ſpaniſchen Kriegsſchauplatz zu 
verlaffen, da nahm er die Gewißheit mit ſich fort, daß er ſobald als möglich 
hierher zurückkehren müſſe: ein Gegner, den er bisher nicht gekannt, das 
Nationalgefühl, war wider ihn aufgeſtanden. 

Aberall in dem von Natur zur Verteidigung ſo außerordentlich günſtig 
geſtalteten Lande, in den Schluchten der Pyrenäen, in den zahlloſen un⸗ 
zugänglichen Schlupfwinkeln der Kaſtiliſchen Hochebene, in den tiefeinge⸗ 
ſchnittenen Flußtälern erhoben ſich bewaffnete Scharen, die jede kleinere 
Truppenabteilung, jeden durchziehenden Transport aus ihren ſicheren Hinter: 
halten überfielen und niedermachten. Ein furchtbarer Krieg entſtand. „Dies 
iſt“, ſchreibt damals ein dort ſtehender rheinbündneriſcher Offizier, „ein grau- 
ſamer Krieg, hier gilt nichts als Sieg oder Tod, und am Ende doch nur 
der Tod“. In keinem Augenblicke waren vereinzelte franzöſiſche Abtei⸗ 
lungen ihres Lebens ſicher; urplötzlich ſehen ſie ſich angegriffen und ohne 
Pardon, der nie gegeben wurde, niedergemacht. Und als endlich noch, 
durch die Prieſter infolge Napoleons Vorgehen gegen den Papſt aufge⸗ 
ftachelt, der religidfe Fanatismus neben dem politiſchen feine Karten mit 
in das große Todesſpiel miſchte, da fühlte ſich keiner mehr in dem unheimlichen 
Lande wohl, und die beſten und härteſten der Generale und Soldaten ſehnten 
ſich fort von einem Boden, von dem ihnen tauſend Zeugniſſe ſagten, daß 
ſie ihn mit aller Feldherrnkunſt, mit aller Tapferkeit niemals würden be⸗ 
haupten können. — 

Denſelben geheimnisvollen Gegner, der ihm auf der Pyrenäiſchen Halb⸗ 
inſel zum erſten Male entgegengetreten war, ſollte Napoleon faſt zu gleicher 
Zeit in ebenſo elementarer Gewalt in einem andern Lande kennen lernen: 
in Oſterreich. Der Feldzug von 1805, der für dieſes Reich nicht eben ein 
ruhmvoller geweſen, mochte dem Imperator wohl einer Wiederholung wert 
ſcheinen und es ihn ein leichtes dünken, den iſoliert fechtenden Donauſtaat 
zu zertrümmern. Und in der Tat: anfänglich errang er Erfolg auf Er⸗ 
folg. Nie hat des großen Feldherrn Genie heller geſtrahlt, als da er in 


184 Treu: Die beiden Napoleon und das Nationalgefühl der Völker 


einem fünftägigen Feldzug ohnegleichen, mit einer in der Geſchichte bei: 
ſpielloſen Kühnheit, Raſchheit und Sicherheit in den Gefechten von Tann, 
Abensberg, Eckmühl, Landshut und Regensburg die einzelnen feindlichen 
Korps bis zur Vernichtung ſchlug und ihre letzten Reſte über den Inn 
hinüberwarf. Mit einer Meiſterſchaft, die bewundernswert erſcheint, war 
damit der Krieg in Feindesland geſpielt, und triumphierend rief in dieſen 
Tagen der Kaiſer aus: „In einem Monat werde ich in Wien ſein!“ Da⸗ 
mit irrte er; er war in drei Wochen in Wien. | 

Eine ſchwere Täuſchung aber war es, wenn er nun glaubte, daß der 
Feldzug zu Ende ſei. Er begann erſt. Es waren das jene Tage, in denen 
der hochſinnige Graf Philipp Stadion, der öſterreichiſche Miniſter, das be⸗ 
deutungsſchwere Wort ausſprach: „Wir haben uns als Nation fon- 
ſtituiert!“ — jene Tage, in denen zuerſt in Tirol, dann auch in andern 
Landesteilen ſich die Volkskraft gegen den fremden Eindringling bewaffnete. 
And als in den berühmten Maitagen von 1809 der große Kriegsgelehrte, 
aber kleine Feldherr, Erzherzog Karl dem großen Schlachtenkaiſer auf dem 
Felde von Aſpern und Enzersdorf gegenübertrat, als trotz der Aufbietung 
aller Reſerven, trotz Maſſenas wiederholten bewunderungswürdigen An⸗ 
griffen, trotz Davouſts heldenkühnen Anſtrengungen der Sieg ſich an die 
öſterreichiſchen Fahnen feſſelte, da konnte Napoleon doch nicht anders, als 
ſich zu geſtehen, daß hier eine Armee mit ihm gefochten hätte, die ſo ganz 
anders ſich erwieſen als früher die Kabinettsheere von Lodi und Arcole, 
von Caſtiglione und Marengo, von Alm und Auſterlitz. 

And zu gleicher Zeit führte der Mann vom Land Tirol, der treue 
Hofer, ſeine frommen und tapfern Bauern auf Innsbruck, zu gleicher Zeit 
erhob ſich in Norddeutſchland eine Bewegung, wie ſie ſo eigenartig noch 
nie dageweſen. Zwar hatte König Friedrich Wilhelm III. dem Drängen 
der Patrioten, die aus dem Herzen des zürnenden und grollenden Volkes 
ſprachen, nicht nachgegeben, obwohl ihn auch der geheime öſterreichiſche 
Anterhändler, Oberſt v. Steigenteſch, oſtentativ genug für ſeine „geheime“ 
Miſſion, dazu fortzureißen verſuchte; der König war kein Mann des ſchnellen 
Entſchluſſes, kein Freund „rettender Taten“, und auch ihm war, wie dem 
Franzoſenkaiſer, die Regung des Nationalgefühls ebenſo unverſtändlich wie 
unſympathiſch. Weil aber der König nicht mit dem Volke, ſo wollte das 
Volk ohne ihn vorwärts. Katte, Dörnberg, Schill erhoben das Panier, 
und kurze Zeit darauf unternahm der „ſchwarze Herzog“, Friedrich Wil⸗ 
helm von Braunſchweig, feinen kühnen Zug mitten durch die Feinde hin- 
durch, von Böhmen bis zur Nordſee überall von der Bevölkerung begeiſtert 
empfangen und aufgenommen. 

Mittlerweile war der Schlag von Wagram gefallen — die Hoff- 
nungen der Patrioten ſanken zuſammen, und der „gute“ Kaiſer Franz gab 
ſein treues Land Tirol preis — — — 

Aber der Sieger von Wagram, der jetzt ſeine Hand ausſtreckte nach 
einer habsburgiſchen Kaiſertochter, — verſtand er die Zeichen der Zeit? 


Treu: Die beiden Napoleon und das Nationalgefühl der Völter 185 


Faſt ſcheint es ſo, daß ihm damals eine Ahnung aufgeblitzt iſt von der 
Anbezwinglichkeit des neuen Gegners, der ihm aufgeſtanden, der überall 
und nirgends war, der allerorten ſich erhob und den man doch nirgends 
faſſen konnte, um ihn, wie Hofer und die Schillſchen Offiziere, mit Pulver 
und Blei zu exekutieren: es ſcheint fo, als ob dem Kaiſer hier zum erſten⸗ 
mal ein Verſtändnis aufdämmerte für die ungeheure Kraft eines Volkes, 
das ſich einmütig, Mann für Mann, gegen den Bedränger erhebt, 
um ſeine höchſten Güter, ſeine nationale Selbſtändigkeit, ſeine politiſche 
Freiheit auf Leben und Tod zu verteidigen. Hatte er doch ſoeben erſt, 
als ein deutſcher Jüngling, „ein Ideologe, wie ein Mädchen anzuſchauen“, 
Friedrich Staps, ſogar zum Meuchelmord zu greifen ſich entſchloſſen gezeigt 
hatte, erfahren müſſen, daß ſelbſt auf dunkeln, ungeahnten Wegen Haß, 
Groll und Erbitterung ſich gegen ihn erhoben. Wer ſtand ihm für die 
Wiederkehr ſolcher Vorgänge? And ſo begreifen wir es wohl, wenn er 
damals in Schönbrunn, nach den einen zu Maret, nach den andern zu 
Napp, in die bezeichnenden Worte ausgebrochen iſt: „Fort, nur fort aus 
dieſem unheilvollen Kriege, wo wir von tauſend Vendeen umgeben ſind.“ 

In der Tat, es war ein unheilvoller Krieg, aber lediglich er ſelbſt 
hatte ihn heraufbeſchworen und fein bdfer Dämon ſollte ihn nicht ruhen 
laſſen, bis die ungeheure Tragik ſeines Schickſals voll über ihn herein⸗ 
gebrochen ſein würde. Alle Kriege, die er von jetzt an führt, tragen ein 
ganz anderes Gepräge als die bisherigen; bis jetzt waren es Kabinetts⸗ 
kriege, in denen er mit einigen raſchen Schlägen die feindlichen Heere ver- 
nichtet und den Frieden erzwungen hatte, — nun wurden es Volkskriege, 
in denen zu ſeinem Erſtaunen ſeine Siege in Wahrheit gar keine Siege 
waren und in denen die Gegner nicht eher vom Frieden wiſſen wollten, 
ehe nicht der Feind das Land verlaſſen hatte: das in Spanien anfänglich 
beſpöttelte, dann mit leiſem Grauen bemerkte, in Oſterreich und Norddeutſch— 
land mit immer ſteigenderem Erſtaunen beobachtete Nationalgefühl war im 
Erwachen — wenige Jahre noch und vor ſeiner unwiderſtehlichen Stärke 
ſollte alle Macht des neuen Cäſars verweht werden wie ein Körnlein 
Dünenſand vom Orkan. Darin liegt ein großer Teil der geſchichtlichen 
Bedeutung Napoleons J., vielleicht feine geſamte, daß er es war, der die 
Völker Europas aus jahrhundertelangem politiſchen Indifferentismus zu 
nationalem Selbſtbewußtſein aufrüttelte. 

Was halfen ihm nun, als ſich dieſes gegen ihn waffnete, feine un- 
geheuerlichen Staatenbildungen? Wurden nicht vielmehr gerade ſie, in 
denen er aller nationalen Eigentümlichkeiten geſpottet hatte, ein Grund mehr 
für ſeinen jähen Fall? And was half es ihm, daß er, der kühne Empor⸗ 
kömmling der Revolution und trotz aller Kaiſerwürde doch noch immer ihr 
Vertreter, durch ſeine Ehe mit Marie Luiſe einen Bund einging mit dem 
Legitimitätsprinzip der alten europäiſchen Dynaftien? And was half ihm 
ſchließlich ſeine große Armee, mit der er auszog, die letzte noch unbezwungene 
Macht des Kontinents, Rußland, feinem Willen untertan zu machen? 


186 Dreu: Die beiden Napoleon und das Nationalgefühl der Völker 


Sie zerfloß wie eine kleine Welle in dem Ozean des ruſſiſchen National- 
gefühls, welches zur Verteidigung des Landes und zur Wehrlosmachung 
des Feindes ſogar die heilige Stadt Moskau den Flammen überlieferte; 
kein Mann der franzöſiſchen Armee, auch der Kaiſer nicht, wäre über die 
Bereſina entkommen, wenn die ruſſiſchen Feldherren, der bedächtige Kutuſow, 
der langſame Wittgenſtein und der gänzlich unfähige Tſchitſchagoff ſich zu 
ſchnellem Handeln, wie es nottat, vereinigt hätten: eine Kataſtrophe wäre 
über die Franzoſen hereingebrochen, gegen welche die Furchtbarkeit des 
Abergangs über den Fluß verſchwinden würde. 

Aber das Ende war da. Vorks rettende Tat auf der Mühle von 
Poſcherun ſetzte eine Welt in Flammen, und wenn ſich Napoleon wirklich 
durch die anfänglichen Siege von Lützen, Bautzen und Dresden über die 
Kraft der Gegner hat täuſchen laſſen, ſo ſollte er ſie doch bald richtig 
ſchätzen lernen. Es iſt wahr — und den Schilderer jener Vorgänge über⸗ 
kommt dabei ein peinliches Gefühl —: nach dem Eintritt Oſterreichs in die 
Allianz erhielt jener Krieg ohnegleichen wieder eine Reihe von Zügen, 
welche in verdächtiger Weiſe an die jedes heroiſchen Aufſchwungs bare 
Kriegsführung der Kabinettsheere erinnerten. Aber doch blieb das National⸗ 
gefühl lebendig: die Stein, die Clauſewitz, die Blücher, Bülow, Vork, 
Gneiſenau, die Wilhelm und Eugen von Württemberg — ſie und zahlloſe 
andere im Heere waren die ihrer Kraft ſich bewußten Vertreter dieſes 
Nationalgefühls. Und wenn auch nach dem Anſchluß Oſterreichs viel Un- 
erfreuliches vor ſich ging, wenn auch, wie Droyſen („Vork“) ſo ſchön ſagt, 
der „rechte Zorn dieſes Krieges“ allein im Blücherſchen Hauptquartier zu 
finden war, ſo wurden doch die andern von dieſem Zorn, dieſem raſtloſen 
Drängen und Treiben mit fortgeriſſen, und der feurige Jüngling im greiſen 
Haar wußte durch ſein unermüdliches Wettern und Toben auch die Lauen 
und Kalten für die große Sache warm zu machen und ſie vorwärts zu 
nötigen, bis man endlich an dem erſehnten Ziel, in Paris, ſtand. 

Gab es nun vor dieſem Sturm keine Rettung für den großen Sieger 
von Auſterlitz und Jena? Doch, eine vielleicht: similia similibus. Wenn 
er in jenen Wochen der feindlichen Invaſion in Frankreich, beſonders nach 
den Tagen von Champeaubert, Montmirail und Vauchamps, dem Rate 
einzelner feiner Marſchälle gefolgt wäre, wenn er eine levée en masse an- 
geordnet, wenn er das Nationalgefühl ſeines eigenen Volkes wachgerufen 
hätte gegen das der fremden Völker, dann hätte es einen Verzweiflungs⸗ 
kampf geben müſſen, wie wir ihn 1870/71 erlebt haben, einen Kampf, der 
dem Kaiſer vielleicht — wer kann es wiſſen? — Rettung gebracht hätte. 
Aber wie konnte er, der Mann des 13. Vendémiaire und des 18. Bru⸗ 
maire, an die Kraft des Volkes appellieren? Was er in dieſer Beziehung 
getan hat, trägt alles das Kennzeichen unglücklicher Halbheit an ſich, einer 
Halbheit, die überhaupt damals für den ſonſt ſo kraftvoll entſchloſſenen 
Mann charakteriſtiſch iſt. Aber eben ihm bangte wohl vor den Geiſtern, 
die er hervorrufen ſollte. And mußte ihn, deſſen Thron ja nur auf den 


Treu: Die beiden Napoleon und das Nationalgefiihl der Völter 187 


Bajonetten ſeiner Grenadiere ſtand, nicht blaſſe Furcht anwandeln vor 
jenen dunklen Kräften, die dann entfeſſelt worden wären und die — wer 
war ihm Bürge, daß es nicht geſchah? — ſich ſchließlich wohl gar gegen 
ihn ſelbſt kehren konnten? 

So kam es in dieſer Richtung zu nichts Durchgreifendem. Was 
geſchah, geſchah ohne rechten Nachdruck und verſagte ſchon um des willen. 
Selbſt nach der Kataſtrophe von Waterloo verſuchte der Kaiſer keinen 
Appell an das Nationalgefühl des ſo leicht erregbaren Volkes: er hat hier 
wohl klar erkannt, daß das Volk keinen Anteil hatte an ſeinem beiſpiel⸗ 
loſen Zug vom Mittelmeer bis Paris, daß allein das Heer, deſſen Ab⸗ 
gott er noch immer war, ihn aufs neue zum Throne emporgeführt hatte, 
und dieſes Heer lag vernichtet auf den belgiſchen Schlachtfeldern. 

And die Vernichtung ſeiner Armee mußte bei ſolcher Sachlage für 
ihn gleichbedeutend ſein mit dem Sturz ſeiner Herrſchaft. Schneller, als 
ſeine Gegner ſelbſt es gedacht, reſignierte der Kaiſer; an Bord des 
„Northumberland“ ſchied der wunderbare Mann von Frankreich, der nahezu 
zwanzig Jahre hindurch die Welt mit Blut und Krieg überzogen, der die 
alten Staaten und die alten Heere zertrümmert hatte wie ein Kind ſein 
Spielzeug, und der dennoch mit all ſeinen ungeheuren Anſtrengungen nichts 
Bleibendes geſchaffen und nur die eine Lehre in ſeine Verbannung mit⸗ 
nehmen konnte: daß nur der Fürſt Dauer und Beſtändigkeit für feine 
Schöpfungen gewinnen könne, der dabei mit dem Nationalgefühl ſeines 
eigenen und auch der andern Völker zu rechnen weiß. — 

Ihm ſelbſt aber war dieſes letztere immer nur ein fremdes Kind mit 
unverſtandener Sprache geweſen. 
* * 

* 

Die Geſchichte Napoleons III., deſſen Geburtstag ſich am 20. April 
d. J. zum hunderſten Male jährte, iſt noch nirgends klar und objektiv 
genug dargeſtellt, ganz beſonders in Bezug auf die Motive, welche die 
Handlungsweiſe des ebenſo klugen als verſchloſſenen Mannes beſtimmten, 
die Forſchung darüber noch längſt nicht abgeſchloſſen, und die Arteile über 
ihn gehen noch zu weit auseinander, als daß man bei Betrachtung der Er⸗ 
eigniſſe feines Lebens und feiner Regierung zu feſten und ſicheren Schlüffen 
und Refultaten gelangen könnte. Verſuchen jedoch können wir es, uns die 
Frage zu beantworten: Hatte der kleinere Neffe des großen Oheims, hatte 
Napoleon III. ein Verſtändnis für das Nationalgefühl? Man wird dieſe 
Frage ohne Zweifel bejahen dürfen, wenn auch gerade bei dieſem ſtillen 
und feine Geſinnungen niemals ganz offenbarenden Manne ſchwer feſt⸗ 
zuſtellen iſt, wo bei ſeinen einzelnen Handlungen, bei ſeinen vielfachen 
Proklamationen Wahrheit oder Anwahrheit aus ihm ſpricht. Aber der 
Bürger der freien Schweiz, das alte Mitglied der Carbonari, der Gee 
noſſe Mazzinis hatte doch zu tiefe Blicke in das Weben und Regen der 
Volksſeele zu tun Gelegenheit gehabt, als daß ihm deren lebhafteſte Ne⸗ 
gung, das unter den Kriegen ſeines Oheims erwachte Nationalgefühl, hätte 


188 Treu: Die beiden Napoleon und das Nationalgefübl der Völker 


fremd ſein mögen. Wohin er immer als Jüngling und Mann blickte, 
überall zeigte ſich im alten Europa, nachdem die erſte, unerquidliche Stille, 
die den Freiheitkriegen folgte, vorüber war, das Wehen eines friſchen 
Hauches, anfänglich leiſe nur, mit den Jahren aber an Stärke zunehmend, 
nicht unähnlich jenem zur Zeit der erſten Revolution, und doch wieder fo 
ganz anders geartet. Denn hatte ſich damals ein bedrücktes Volk gegen 
ein Staatsſyſtem erhoben, welches ſeinen Wohlſtand bis auf das Mark 
ausgezehrt und im Volke nur die misera contribuens plebs geſehen hatte, 
ſo begannen jetzt die Völker ſich zu regen gegen ein Syſtem, das ihnen 
und ihrer Wohlfahrt zwar wohlwollte, aber ihnen die in den großen Kriegen 
1809 — 15 bewieſene, mit Feuer und Blut getaufte politiſche Mündigkeit 
zuzuerkennen nicht geneigt war; hatte damals, man mag über den „idealen 
Aufſchwung von 1789“ noch ſo viel reden, im letzten Grunde doch nur der 
hungrige Magen die trägen Maſſen in Bewegung geſetzt, in welche dann 
erſt, als ſie in Fluß gekommen waren, die großen Ideen jener Zeit als 
Zündſtoff geworfen wurden, fo war es in der erſten Hälfte unſeres Jahr⸗ 
hunderts das unklare Gefühl, daß doch eigentlich die Völker nicht bloß 
Steuern und Abgaben zu zahlen haben dürften, ſondern gelegentlich auch 
einmal der Regierung, und wäre es die allerväterlichſte, tüchtig dreinzureden 
haben müßten: ſollte man mittaten, ſo wollte man auch mitraten. Aberall 
gärte und brodelte es im Hexenkeſſel der Zeit: dunkel und verworren noch 
das Meiſte, aber doch auch allerorten das Streben nach etwas Be⸗ 
ſtimmtem, nach einem „ruhenden Pol in der Erſcheinungen Flucht“. Die 
Julirevolution in Frankreich, der Aufſtand in Belgien, die polniſche Be⸗ 
wegung, die italieniſchen Einheitbeſtrebungen, alles das waren vullaniſche 
Ausbrüche eines ſtarken Nationalbewußtſeins; der Gedanke, welcher durch 
das ganze ungeheure Ringen dieſes Jahrhunderts ſich hindurchzieht und 
den man in die unzulängliche Formel „Nationalitätenprinzip“ bineinge- 
heimniſt hat, gewann Form und Geſtalt, und an alle dieſem iſt der Prinz 
Napoleon ſicher nicht gedankenlos vorübergegangen. 

And nicht lange, ſo ſollte er ſelbſt mitten in dieſen Bewegungen 
ſtehen. Die italieniſche Erhebung wuchs mächtig an, und wenn auch der 
Schlag, den der greife Nadetzky bei Novara führte, fie für einige Zeit 
zurückdämmte — aufzuhalten vermochte er ſie nicht, unter der Aſche glimmte 
es fort. Aus dem ſimplen Prinzen Napoleon, dem Abenteurer von Ham, 
war in jenen Tagen der Prinz⸗Präſident geworden, auf deſſen Erlaſſe vom 
Elyſee aus bereits eine Welt horchte. Die Wogen der Februarrevolution 
hatten ihn mit einem Ruck an die Oberfläche geworfen und zum höchſten 
Poſten der Republik geführt. Eine außerordentliche Gunſt des Schickſals 
war es für ihn, daß in Frankreich damals ſeit etwa zehn Jahren die Er⸗ 
innerung an die glanzvollen Tage des erſten Kaiſerreiches mächtig ge⸗ 
worden war und daß ſich überall — etwas ſehr post festum! — die leb⸗ 
hafteſte Teilnahme für das tragiſche Schickſal des großen Toten von 
St. Helena kundgab: damals wurde die „Legende von St. Helena“ ge⸗ 


Tren: Die beiden Napoleon und das Nationalgefiibl der Völker 189 


boren. Die Franzoſen ſehnten ſich aus den dürftigen Tagen Louis Phi⸗— 
lipps zurück in die Zeiten der „Gloire“, wo die Kaiſeradler ſiegreich von 
Land zu Land geflogen waren, und ein Freudenrauſch durchzog ganz Frank⸗ 
reich, als der Prinz von Joinville an Bord der „La belle poule“ die 
fterblichen Aberreſte des Siegers von Auſterlitz den heimatlichen Penaten 
zuführte. War es ein Wunder, wenn man in dem Prinzen Napoleon 
bei ſolcher Stimmung im Lande mehr erblickte als bloß den nachgeborenen 
Träger eines berühmten Namens? 

Als der Prinz⸗Präſident ſich zum Kaiſer Napoleon machte, durfte 
er ſich ſagen, daß er, den Pulsſchlag des nationalen Gefühls ſcharf be- 
obachtend, juſt den rechten Augenblick für fein Unternehmen gewählt habe: 
der Staatsſtreich vom 2. Dezember war ein Verbrechen, aber keine Kunſt; 
das Volk nahm — mit Ausnahme von Paris — ohne Widerſtreben die 
neue Staatsverfaſſung hin, wie ein neues Kleid, welches einem an Stelle 
des alten, über das man ſich geärgert hat, über Nacht an das Bett ge⸗ 
legt wurde. Noch beſſer aber bewies der neue Kaiſer ſeine Kunſt, den 
Wünſchen und Forderungen der Nationen, der eigenen wie der fremden, 
entgegenzukommen, als er, im richtigen Verſtändnis deſſen, was den gären⸗ 
den und tobenden Maſſen innerhalb und außerhalb jetzt allein nottat, mit 
ſchallenden Worten der horchenden Welt verkündete: L' empire, c'est la 
paix! Der Friede! Der erſchien ja allerdings jetzt den Meiſten als die 
Panacee nach den ſchweren Tagen von Schäßburg und Novara, von Wien 
und Berlin, von Eckernförde und Idſtedt, von Bronzell und Olmütz, und 
ſelbſt der grollende Sar, der Todfeind der Revolution, der den neuen Im⸗ 
perator nicht anerkennen wollte, konnte gegen eine ſolche Verkündigung keine 
Einwände erheben. 

Wahrhaftig, er war ein kluger Rechenmeiſter, der verſchloſſene Mann, 
welcher ſich jetzt ſeinen Thron an der Seine erbaut und der dabei in dem 
Schatten des gigantiſchen Toten im Invalidendom ſeinen beſten Verbündeten 
gehabt hatte! Er wußte ganz genau, daß, wenn man jemanden ins Fleiſch 
ſchneidet, man auch einen Verband für ihn bereit haben muß, wenn man 
ihn nicht verdrießlich machen ſoll, und danach handelte er Zeit ſeines Lebens. 
Wie gut er zu rechnen wußte, zeigt auch, daß er ſich hütete, den ſchwerſten 
und verhängnisvollſten Mißgriff feines Oheims zu begehen: ſich Groß⸗ 
britannien zum Feinde zu machen; er wußte ganz genau, daß weder das 
engliſche noch das franzöſiſche Volk ihm jemals eine Schädigung ihres 
blühenden Handels verzeihen würden, die notwendig aus folder Feind⸗ 
ſchaft hätte erwachſen müſſen. Er beeilte ſich vielmehr, den glückwünſchen⸗ 
den Lord Palmerſton über die Abſichten feiner Regierung zu beruhigen 
und ſich den großen Staatsmann geneigt zu machen. 

L'empire c'est la paix! Es war ein ſchönes Wort, gewiß! Aber 
war es aufrichtig gemeint? Sind wir bei dem heutigen Stande der For- 
ſchung über Napoleon III. ſchon in der Lage, hierüber endgültig zu ent- 
ſcheiden? Wollte der neue Kaiſer wirklich den Gedanken einer franzöſiſchen 


1% Treu: Die Beiden Napoleon und das Nationalgefühl der Völker 


Vorherrſchaft über Europa, wie ihn ſein Oheim gehabt, wieder aufnehmen 
und nötigenfalls mit Waffengewalt zur Durchführung bringen? Wie dem 
auch ſei — klar war dem Kaiſer das eine: wie außerordentlich empfänglich 
die franzöſiſche Nation für den Ruhm iſt. Das wußte zwar auch der erſte 
Napoleon, aber ſein zügelloſer Ehrgeiz ließ ihn über das Friedensbedürfnis 
des eigenen Volkes hinwegſehen; dieſes letztere war ihm nur das Mittel 
für ſeine kosmopolitiſchen Zwecke, während bei dem dritten Napoleon in 
richtiger Erkenntnis die Befriedigung der nationalen Inſtinkte des eigenen 
Volks der Zweck war, dem er mit allen den reichhaltigen, oft wenig ge⸗ 
wählten Mitteln feiner Politik zu dienen wußte. Und hierin liegt der 
große Anterſchied zwiſchen Oheim und Neffen. Den erſten Kaiſer täuſchte 
ſeine Rechnung, ſowie das Volk als Mittel für ſeine kosmopolitiſchen Zwecke 
verſagte, — und das war nach Waterloo; bei dem andern war der Zu⸗ 
ſammenbruch ſeines Thrones in demſelben Augenblick, wo er die nationalen 
Inſtinkte nicht mehr zu befriedigen vermochte, die furchtbare Quittung über 
die Richtigkeit ſeiner Rechnung — und das war nach Sedan. 

Damals, in der Zeit, von der wir oben ſprachen, in dem erſten Zeit⸗ 
raum der fünfziger Jahre, waren in Frankreich die Lorbeeren des erſten 
Kaiſerreichs ſtark im Verblaſſen; es galt, ſie aufzufriſchen. Napoleon fühlte, 
daß das nötig fei und feinem friſch gegründeten Throne einen begehrens⸗ 
werten Glanz geben werde, in deſſen Schein ſich die Opfer des 2. Dezem⸗ 
bers leichter vergeſſen ließen, und darum war jetzt plötzlich das Kaiſerreich 
der Friede geweſen und hallte der Lärm des Krimkrieges durch die Welt: 
ganz Europa ſtarrte in Waffen. Die Schlacht an der Alma und der Sturm 
von Sebaſtopol beugten den jungen Zaren und verbreiteten einen erneuten 
RNuhmesſchein über die franzöſiſchen Waffen ſowohl wie auch über die 
Trophäen an der Gruft im Invalidendom; das zweite Kaiſerreich hatte ſeine 
Schlachtentaufe erhalten, und die Namen St. Arnaud, Deliffier, Canrobert 
übertönten dort die warnenden Stimmen derer, welche darauf hinwieſen, 
daß dieſer blutige Krieg nicht der letzte ſein werde des Kaiſerreichs, das 
doch der Friede hatte ſein wollen. Aber die große Menge kümmerte ſich 
nicht um ſolche Warnungsrufe, der Kaiſer kannte ſein Volk, er wußte, daß 
er nur deſſen Nationalgefühl Rechnung getragen hatte und daß man ihm 
dafür dankbar ſein würde. 

And wieder ſtimmte ſeine Rechnung. Jetzt konnte, durfte Ruhe ein⸗ 
treten in der Welt. Oder doch nicht? 

Das Drängen der Stalianiffimi, welche mit Hilfe der franzöſiſchen 
Waffen ihre Einheitbeſtrebungen endlich durchzuführen und ihr Land aus 
einem grenzenloſen Wirrwarr zu befreien hofften, kam dem Kaiſer damals 
wohl kaum ſehr gelegen. Sollte er wirklich die eben gewonnene Ruhe aufs 
neue opfern, noch dazu im Intereſſe eines fremden Volkes, und vielleicht 
auf die Gefahr hin, ganz Europa in Waffen wider ſich zu haben? Konnte 
er hoffen, daß die Franzoſen ihm aufs neue begeiſtert in den Kampf folgen 
würden? Daß ſie ſoweit gehen würden, ſeine ſtets und ſtändig ausge⸗ 


ren: Die beiden Napoleon und das Nationalgefühl der Bölter 191 


ſprochene Betonung des Nationalitätsprinzips durch die Ergreifung der 
Waffen im Intereſſe einer andern Nation zu unterſtützen — einer Nation 
übrigens, die noch nicht einmal eine Bürgſchaft gegeben hatte, daß fie über⸗ 
haupt zu einer feſten konſolidierten Staatsbildung fähig wäre? Welch eine 
ungeheure Perſpektive von Verwicklungen tat ſich da vor ihm auf! Aber 
man ließ ihm keine Zeit zu langen Aberlegungen; die Ereigniſſe gingen faſt 
über ihn weg: das Attentat Orſinis, die Begegnung mit Cavour in Plom- 
biöres, die Begrüßung des öſterreichiſchen Geſandten, Baron Hübner, am 
Neujahrsmorgen 1859 — der Krieg war da. „Frei bis zur Adria!“ war 
die Loſung geworden. Die Schlachten von Magenta und Solferino deckten 
die heilloſen Zuſtände in der öſterreichiſchen Armee auf und machten den 
heldenmütigen Kampf um den Beſitz Oſterreichs jenſeits der Alpen aus⸗ 
ſichtslos. Napoleon ſeinerſeits aber beeilte ſich, die dargebotene Friedens- 
hand Franz Joſephs ſchnell zu ergreifen; konnte er ſich doch nicht ver⸗ 
hehlen, daß Magenta und Solferino gewiſſe Zeichen an ſich trugen, welche 
jenem berühmten Siege des Pyrrhus ähnlich ſahen, und daß es nicht ge- 
raten erſchien, die Waffen etwa gar bis in die öſterreichiſchen Erblande 
fortzutragen, wie es einſt der große Oheim von ſeinen italieniſchen Sieges⸗ 
ftätten aus getan hatte. Der Friede von Villafranca machte dem blutigen 
Kampf ein Ende, juſt zur rechten Zeit, als Preußen drohend rüſtete und 
dem RNuſſen die Wunden von der Alma und vom Malakoff ganz be⸗ 
ſonders weh zu tun begannen. 

Der Kaiſer ſtand im Zenith ſeiner Macht: feſtgegründet ſchien ſein 
Thron. Da aber erhob fich jenſeits des Rheines plötzlich unter kraftvoller 
Führung ein junger Staat, der eine ungeahnte Kraft entwickelte und der 
bald darauf zum Erſtaunen aller Welt in einen unvermeidlich gewordenen 
Krieg zog, darin mit einigen ſchnellen, wuchtigen Schlägen die öſterreichiſche 
Vormacht aus Deutſchland herausdrängte und darauf ſelbſt die Führung 
in den deutſchen Angelegenheiten übernahm, nachdem er ſich durch An⸗ 
nerionen in bedeutendem Umfang wohlarrondiert hatte. Der Name Sadowa 
verurſachte in Frankreich „patriotiſche Bellemmungen“, und wiederum wollte 
der Kaiſer den nationalen Regungen ſeines Volkes entgegenkommen. Für 
diesmal zunächſt durch einen diplomatiſchen Sieg, wie er hoffte: Mainz, 
Luxemburg, Belgien, die Pfalz erſchienen ihm als ſehr begehrenswerte Ob- 
jekte, durch deren Erwerbung das franzöſiſche Nationalgefühl ſich beſchwich⸗ 
tigen laſſen und die unbequeme Erinnerung an Sadowa vergeſſen würde. 

Da aber traf er auf einen Widerſtand, wie er ihn nicht erwartet 
hatte; diesmal trog ihn feine Rechnung. Aber den großen Rechenmeifter 
an der Seine war ein größerer gekommen, das diplomatiſche Spiel ging 
kläglich verloren, keinen Schornſtein Deutſchlands ſollte man erhalten, und 
als man darauf drohte, begab ſich das ungeahnte: ganz Deutſchland ſtand 
entſchloſſen da, die Hand am Schwert. Welches die letzten entſcheidenden 
Beweggründe für Napoleon III. waren, Preußen zum Krieg herauszu⸗ 
fordern, mag unerörtert bleiben: die Frage iſt noch immer eine offene. 


192 Treu: Die beiden Napoleon und das Nationalgefühl der Volker 


Daß es dynaſtiſche Intereſſen geweſen, daß er ſeinen durch die Mißerfolge 
von Sadowa und Mexiko wankenden Thron nicht anders wieder befeſtigen 
zu können gemeint hätte als durch einen erfolgreichen Krieg, laſſen wir da⸗ 
hingeſtellt; noch gehört Napoleon III. zu denen, deren Charakterbild „von 
der Parteien Gunſt und Haß verwirrt“ in der Geſchichte ſchwankt, und 
volle Gerechtigkeit hat, wie wir glauben, dieſem höchſt ſeltſamen und 
eigenartigen Mann bis heute noch niemand widerfahren laſſen, weil dazu 
die Urteile noch nicht geklärt genug find. Das durchaus wegwerfende Ur- 
teil aber, das in den ſiebziger Jahren über ihn herrſchte, hat ſich doch 
bedeutend zu einem beſſern gewendet, und wir wenigſtens glauben, daß der 
künftige Hiſtoriker noch manches an ihm gut zu machen haben wird, was 
in der Literatur der genannten Periode an ihm geſündigt worden iſt. 

Zum erſten Male verrechnete ſich damals Napoleon in bezug auf 
das Nationalgefühl eines Volkes, des deutſchen Volkes. Er hatte ge⸗ 
glaubt, daß ſich Süddeutſchland für ihn erklären würde, um an ſeiner 
Seite Rache für 1866 zu nehmen; aber er hatte in dieſer Beziehung 
einen Faktor außer acht gelaſſen: die großartige Politik der Verſöhnung, 
durch die der größte deutſche Staatsmann den Brüdern jenſeits der 
Mainlinie allzeit die Bruderhand bieten wollte und geboten hatte. Und 
das war in Süddeutſchland unvergeſſen geblieben; Bayern, Württemberg, 
Baden hatten ſich auf ihr Deutſchtum beſonnen und an Stelle der alten 
unfreundlichen Sonderpolitik war eine echt nationale Politik getreten, die 
ſich bald widerſtandslos mit fortgeriſſen fühlte von den großen Geſichts⸗ 
punkten und der genialen Art und Weiſe Bismarcks, die Staatsgeſchäfte 
zu leiten. And als nun jene unerhörte Begegnung in Ems ſtattfand, als 
Graf Benedetti dem greifen König Wilhelm gemäß dem berüchtigten brus- 
quez le roi! gegenübertrat (der Verfaſſer weiß ſehr wohl, daß es in Ems 
„Di offenseur, ni offensé“ gegeben hat; aber es handelt ſich an dieſer Stelle 
nicht um die Tatſache, ſondern um ihre Beurteilung und Wirkung im 
Volke) — da erhob ſich Deutſchland wie ein Mann. Da gab es keinen 
Norden, keinen Süden, keinen Oſten, keinen Weſten mehr, da gab es nur 
eines, und das hieß: Deutſches Vaterland! 

And vor dieſem bangte Napoleon; vor der gewaltigen Kraft der 
geeinten Deutſchen bebte er zurück. Er iſt mit düſteren Ahnungen in dieſen 
für ihn unheilvollen Krieg gezogen, und ihn perſönlich wird die Fanfaro⸗ 
nade von Saarbrücken am 2. Auguſt ſicher nicht froh geſtimmt und be⸗ 
ruhigt haben: er kannte ſein Volk, er wußte, ein unglücklicher Krieg wird 
ihn Thron und Krone koſten. Seinem klugen Blicke wird all der Wirr⸗ 
warr bei der Mobilmachung und dem Aufmarſch der Armee nicht ent⸗ 
gangen ſein; er hat ohne Zweifel darin das nahe Ende vorausgeſehen. 
Man wird es ihm, wie man ſonſt immer über einen ſolchen Vorgang 
denken mag, nicht übelnehmen können, daß er bald den faktiſchen Ober: 
befehl über die Armee niederlegte und Bazaine übergab: es mag niemand 
gern die Vorbereitungen zu ſeinem eigenen Leichenbegängnis leiten, und er, 


Shaufal: Die alten Bilder 193 


der kluge Geurteiler feines Volkes, ſah mit Sicherheit voraus, daß nach 
einem unglücklichen Kriege eben fein Volk ihm und feiner Herrſchaft Toten ⸗ 
gräberdienſte leiſten würde. Viel ſchlimmer aber noch, als er es ahnte, 
ſollte in Erfüllung gehen, was er mit Zagen vor ſeinem geiſtigen Auge 
ſah. Der Tag von Sedan war für ihn das Gericht, gegen welches er 
nach nirgends hin mehr Berufung einlegen konnte: die Einſamkeit und Ver⸗ 
geffenbeit von Chislehurſt nahm ihn auf. Gaft ſcheint es, als fei mit feinem 
Tode der Ning in der Geſchichte der Napoleoniden geſchloſſen; als be⸗ 
deutungsloſe Männer ftiegen beide Napoleon auf aus dem Chaos der Zeit, 
als bedeutungsloſe Männer endeten beide, einſam und verlaſſen, in frem⸗ 
dem Lande. Ein tragiſches Schickſal! 

Beide gingen zugrunde, weil ſie das Nationalgefühl der von ihnen 
angegriffenen Völker gegen ſich wachgerufen hatten — einem ſolchen An⸗ 
furm vermag kein Thron ſtandzuhalten, der ſich nur auf das Glück und 
die Fähigkeiten ſeines Inhabers ſtützt. Es iſt eine harte Lehre, welche die 
Weltgeſchichte in das Leben der beiden franzöſiſchen Kaiſer geſchrieben 
hat, aber fie iſt wahr wie alles, was dieſe größte Lehrerin des Menfchen- 
geſchlechtes ſchreibt. 


Die alten Bilder 


Von 


Richard Schaukal 


Ich weile gerne vor den alten Bildern, 

Die dunkelnd in den Galerien träumen. 

Es kommen Fremde, die befliſſen ſäumen, 
Stumm in den Büchern blättern, die fie ſchildern. 


Ich kenne Bilder, die ſich mählig mildern, 
And ſolche, die ſich immer trotzig bäumen. 
Viele verfallen in den ſtillen Räumen 

Wie troſtlos Eingeſchloßne, die verwildern. 


Manch eines hab' ich wie ein Weib beſeſſen, 
Das eines Tages kühl mir dann entglitten. 
Verſtohlen folgen andre meinen Schritten, 


Die wiederkehrend ich doch ſtets vergeſſen. 
Nur mit Erſtaunen mag ich manchmal leſen, 
Daß alle dieſe Bilder jung geweſen. 


. 


Der Turmer X, 8 13 


Skat 


Eine deutſche Tragödie 
Von 


Paul Keller 
I 


Orei deutſche Millionäre trafen ſich in Marienbad: Miſter Weber 
P aus Neuyork (Natur: und Kunſteis), Miſter Smith (früher 
Schmidt mit dt) aus Bombay (Zimt und Chinarinde) und 
Herr Bellermann aus Bremen (Rohtabake). 

Dieſe drei Männer ſpielten in Marienbad alle Tage von früh bis 
abends Skat und waren höchſt ungehalten, wenn ſie einmal vorübergehend 
wegen Innehaltung einer Kurform, die ſich nicht gut umgehen ließ, pau- 
ſieren mußten. 

So verlebten ſie ſechs Wochen miteinander und waren auch dann 
noch nicht völlig blödſinnig. Ja, ſie beſaßen ſogar noch Phantaſie, was 
daraus hervorging, daß Miſter Weber aus Neuyork (Natur- und Kunſteis) 
während der letzten angeſagten 33 Runden, die fie am Tage vor ihrer Ab— 
reiſe ſpielten, plötzlich ein kluges Geſicht machte und ſagte: 

„Meine Herren, ich finde es ſehr ſchade, daß wir unſer ſchönes Spiel 
ſchon ſo bald abbrechen ſollen. Ich ſchlage vor, daß wir es fortſetzen.“ 

„Wird ſich nicht gut machen laſſen,“ bemerkte Miſter Smith aus 
Bombay (Zimt und Chinarinde), „wird ſich nicht gut machen laſſen, wenn 
einer in Amerika, der zweite in Europa und der dritte in Aſien lebt.“ 

„O, ich verſtehe, ich verſtehe,“ fiel der Rohtabakmann aus Bremen 
ein und ſein Geſicht nahm ſichtlich den Ausdruck der Intelligenz an, „ich 
verſtehe Sie, Miſter Weber, wir ſpielen einfach per Kabel.“ 

„Well“, ſagte Weber, „per Kabel, die Sache wird ſehr einfach fein. 
Wir ſpielen per Kabel, und dieſer ganze olle Glob iſt unſer Skattiſch.“ 

Dieſe Idee begeiſterte die drei, und nachdem fie die 33 angefagten 
Runden zu Ende geſpielt und noch 13 „Troſtrunden“ und 5 „Meiſter⸗ 
ſchaftsrunden“ zugegeben hatten, ſagte Miſter Weber mit großer Feierlich⸗ 
keit: „Das Marienbader Spiel iſt aus! Miſter Smith, geben Sie Blatt 
für die Fernpartie!“ 


Keller: Etat 195 


Und Mifter Smith aus Bombay gab Blatt für die Fernpartie, 
jedem zehn Blätter und zwei legte er in den Talon, fo wie ſich's gehört. 
Jeder der Spieler ſteckte ſeine zehn Karten in die Brieftaſche, und der 
Talon wurde in ein beſonderes Kuvert geſteckt, das dreimal verſiegelt wurde 
und das Herr Weber aus Neuyork (Runft- und Natureis) bekam, weil er 
in Vorhand war. Er mußte ſein Ehrenwort geben, in keiner Weiſe un⸗ 
gerechtfertigt in den „Skat“ zu gucken. 

„Wir ſpielen natürlich wieder /. Pfennig“, fragte der Bremer noch. 

„Ich ſpiele grundſätzlich nie höher“, bemerkte der Amerikaner. 

Darauf nickten ſie ſich einen „Guten Abend“ zu, und am andern 
Morgen reiſte einer nach Bremen, einer nach Neuyork und einer nach 
Bombay. 

Etwa ſechs Wochen fpäter kam ein Kabeltelegramm aus Bombay 
an den Bremer Nohtabakmann des Inhalts: 

„Bellermann, Sie reizen!“ 

„Wer iſt denn eigentlich vorn?“ fragte Bellermann nach zwei Seiten 
telegraphiſch an. 

„Ich!“ kam es aus Amerika zurück. „Je suis vorne!“ 

„Wenn er doch nicht immer den alten Witz riſſe!“ murrte Miſter 
Smith von Bombay her. „Er iſt gräßlich!“ 

„Ich hab' wieder ein Saublatt“, ſchimpfte der Bremer. „Man iſt 
bloß der reine Kartenhalter!“ 

„Sie haben immer was zu ſchimpfen! Sie find nie zufrieden!“ tele 
graphierte der Amerikaner. 

„Sie haben gut reden“, erboſte ſich der Bremer. „Vorhin, ich meine 
vor ſechs Wochen, bei der ſechſten Troſtrunde, als ich den Treffſolo mit 
vieren verlor, das war doch mehr als Pech! So was kann Ihnen natürlich 
nicht paſſieren ! 

„Da waren Sie ſelbſt ſchuld“, kabelte der Amerikaner zurück. „Was 
ſpielen Sie Ihr Fehl⸗As aus, ehe Sie die Trümpfe abgezogen haben.“ 

„Konnte ich denn wiſſen, daß wieder alles in einer Hand figt?“ 
grollte Bellermann aus Bremen. „Aber wenn ich mal ſpiele, da iſt ein 
Sitz — nicht zu ſagen!“ 

„Reizen Sie endlich, Bellermann!“ mahnte Miſter Smith aus 
Bombay. 

„Ja, was ſoll man bei einem ſolchen Schundblatt ſagen?“ klagte 
Bellermann. 

Darauf machte er eine nachdenkliche Pauſe von drei Wochen und 
fragte endlich bei Miſter Weber, Neuyork, an: 

„ft es tournée 2” 

„Nach Zahlen reizen!“ gab Miſter Weber verdroſſen zurück. 

„Haben Sie zehn?“ 

„Fängt's erſt an!“ 

„Zwölf?“ 


196 Keller: Stat 


„Wär' ein Spaß!“ 

„Haben Sie auch fünfzehn?“ 

„Kleinigkeit!“ 

„Sie laſſen einem aber wahrhaftig kein Spiel! So ein hübſches 
Blatt!“ 

„Was machen Sie alſo?“ 

„Paſſe!“ 

„And Sie, Miſter Smith?“ 

„Es iſt eine Gemeinheit: Wenn ich nicht Pique⸗As und Coeur⸗Köͤnig 
blank hätte, fpielte ich Null⸗Ouvert. Paſſe auch!“ 

„Alſo Grand aus der Hand — Schneider angeſagt“, kabelte der 
Amerikaner triumphierend über den Atlantiſchen und Indiſchen Ozean. 

„Ich ſag's ja!“ antwortete der ewig melancholiſche Bremer. 

„Der Mann hat ein Rieſenſchwein“, kam's vom Indierlande her. 
„Doch halt — verflucht! — es iſt — es iſt ja überhaupt falſch Karte ge⸗ 
geben worden!“ 

Als Antwort kam aus Amerika ein greulicher Niggerfluch, den weder 
Miſter Bellermann, noch Miſter Smith überſetzen konnten. Es kam nun 
zu einem ungefähr zwei Monate dauernden gegenſeitigen Meinungsaustauſch, 
ob richtig Karte gegeben fei oder nicht. Der gentlemanlike Ton wurde zeit ⸗ 
weiſe nur noch mit Mühe gewahrt, und die Kabelleitungen waren von den 
Skatgegnern fo in Anſpruch genommen, daß öfters ſogar die amerifani- 
ſchen Börſenberichte mit Verſpätung ankamen und auch ein Danktelegramm 
Roofevelts an den deutſchen Kaiſer einen ganzen Tag zu ſpät anlangte. 

Nach zwei Monaten mußte Bellermann, Bremen (Nohtabake), der 
die alte Marienbader Skatrechnung noch beſaß, eidesſtattlich verſichern, daß 
er an ihr inzwiſchen keinerlei Veränderungen vorgenommen habe, mußte 
drei Sachverſtändige vom Bremer Skatklub und einen Notar heranziehen 
und nach Neuyork und Bombay vierfach beglaubigte Atteſte ſchicken, daß 
in Marienbad tatſächlich nicht Miſter Smith aus Bombay (Zimt und China: 
rinde), ſondern er, Miſter Bellermann, Bremen (Robtabale), zum Karten⸗ 
geben an der Reihe geweſen wäre, daß alſo dieſes Spiel zu annullieren jei. 

Worauf Miſter Weber aus Neuyork eine wütende Rede über das 
grenzenloſe Pech, das ihm einen ſolchen Bombengrand aus der Hand 
nehme, über den Atlantikus und Indikus kabelte, wofür er insgeſamt an 
6000 Dollar bezahlt hatte. 

Auf dieſe Rede zählte der Bremer in 5317 Wörtern und 54 Doppel⸗ 
wörtern alle die Fälle auf, bei denen er im Skatſpiel ein geradezu auf: 
fälliges Pech gezeigt hätte, während ſich der Indier kürzer faßte, indem er 
lakoniſch, aber treffend drahtete: „Immer alles, was recht iſt!“ 

Alſo Bellermann, Bremen, gab für die neue Partie Blatt. Er 
kaufte ein billiges Spiel, ohne Goldecken, damit die Sache nicht zu teuer 
würde, miſchte, packte es ein und ſchickte es nach Amerika, damit Miſter 
Weber in Neuyork „abheben“ könne. Miſter Weber hatte ausdrücklich 


Keller: Stat 197 


auf dieſes ſchöne Vorrecht der Mittelhand nicht verzichtet. Natürlich mußte 
Miſchen und Abheben in Gegenwart vereidigter Zeugen geſchehen, ebenſo 
wie die Verteilung der Blätter, die Bellermann beſorgte und nebſt den 
entſprechenden Dokumenten verſiegelt an die Mitſpieler abſchickte. 

Es vergingen etwa zwei Monate, da mahnte der ungeduldige Bremer 
den Amerikaner: „Reizen Sie endlich!“ 

„Sie werden wohl gefälligſt geſtatten, daß ich mir erſt die Karten 
nach Farben ordne“, kam es zurück. 

Es verging noch geraume Zeit, dann lief aus Neuyork endlich das 
inhaltsſchwere Telegramm ein: „Paſſe!“ 

Während der nächſten Wochen reizten ſich der Bremer und der Aſiat, 
mit dem Schlußerfolg, daß der erſtere „Gucki⸗ Grand“ ſpielte. 

„Gucki⸗Grand“ iſt eine dumme Bezeichnung,“ kabelte der Amerikaner, 
„vorn ſchwäbiſch, hinten franzöſiſch.“ 8 

„Stören Sie mich nicht mit Ihren ganz unnützen ſprachlichen Aus⸗ 
einanderſetzungen; ich muß mir jetzt meinen Verſtandskaſten zuſammen⸗ 
nehmen. Die Sache iſt rieſig kitzlich l“ 

Der Amerikaner wollte daraufhin den Indier verſtändnisinnig an⸗ 
lächeln, merkte aber, daß das infolge der Entfernung nicht möglich war, 
und telegraphierte alſo an ihn: „Merken Sie was?“ 

Worauf Miſter Smith (Zimt und Chinarinde) antwortete: „Wim⸗ 
meln kann ich mächtig! Wir wollen ihn umſägen.“ 

Dem ſtets mißtrauiſchen Bremer mußte ſein Ahnungsvermögen etwas 
offenbart haben, denn er kabelte plötzlich an feine beiden Gegner: „Geredet 
wird nicht!“ 

Worauf beide längere Verteidigungen losließen. 

Endlich konnte der Indier ausſpielen. 

„Alle gangbaren As“, telegraphierte er: „Pique⸗As!“ 

„Wimmle ich!“ kabelte der Amerikaner vergnügt. „Pique⸗Zehn.“ 

„Steche ich mit Carreau⸗Buben!“ jubelte der Bremer. „Macht alſo 23! 
Ich werd euch was — 

„Das iſt ja nicht möglich,” grollte der Aſiat, „ich hab' mein kürzeſtes 
As angezogen. Das muß doch halten!“ 

„Ich habe auch Pique bloß kurz“, meinte der Eismann aus Neu⸗ 
york. „Das iſt ja unerhört!“ 

„Wißt Ihr denn, was ich gedrückt habe?“ meinte der Bremer ſchlau. 
„Im übrigen, geredet wird nicht! Ich ſpiele aus. Coeur-⸗As!“ 

„Dame!“ kam es verdroſſen aus Bombay. 

„Nehm ich mit dem Pique- Buben. Nehm' ich, verhau' ich, Hopp’ 
ich!“ triumphierte jetzt der Amerikaner. 

Nun war der Bremer erbittert und ließ ſofort eine lange telegraphiſche 
Rede vom Stapel, in der er fein immerwährendes Pech bejammerte. 

„Aber Menſch,“ meinte der Neuyorker, „warum ziehen Sie mir denn 
nicht zuvor den Buben ab? Ich habe doch erſt vorhin, vor knapp einem 


198 Keller: Stat 


halben Jahr gefagt, die Hauptſache fei, erſt immer die Trümpfe abzuziehen. 
Aber mancher lernt's eben nie und dann noch unvollkommen. Abrigens 
Sie (wandte er ſich nach Aſien), Sie hätten auch was Beſſeres ſchmieren 
können als die lumpige Dame. Wenn Sie wenigſtens den König riskiert 
hätten.“ 

„Jeder ſpielt nach ſeiner Karte. Wie kann ich ſo was riechen“, 
lehnte der Zimt ⸗ und Chinarindenmann den Tadel ab. „Reben Sie nicht 
ſo viel, ſpielen Sie lieber!“ 

So ſpielten ſie weiter, Stich um Stich, mit wechſelndem Erfolg. Nach 
jedem Stich gab es eine lange Debatte, und namentlich die beiden Zu- 
ſammenſpielenden hatten beſtändig Streit miteinander, weil es keiner dem 
andern jemals ganz recht machte. Einmal nur einigten ſie ſich, als der 
Bremer zu lange zögerte, und behaupteten beide, er zähle wohl die „Points“ 
in ſeinen Stichen; das dürfe er nicht, denn die „Karte ſei kein Bilderbuch“; 
worauf der Bremer erwiderte, er habe nur ſeinen letzten Stich nachgeprüft 
und das dürfe er. 

Nach etwa 21/2 Jahren neigte ſich die Partie ihrem Ende zu. Und 
da telegraphierte eines ſchönen Tages der Bremer: 

„Gewonnen, gewonnen! 61! Gudi-Grand mit einem! Macht 40! 
Donnerwetter, das hat ſich aber ſchwer geſpielt! Hab' ich aber auch fein 
bedeichſelt |” 

Die beiden anderen ſchwiegen anfangs; dann kabelte der Amerikaner 
kleinlaut: f 

„Tatſächlich 59!” 

„Ja,“ antwortete der Indier, „59! Um ein lumpiges Auge zu wenig, 
ſonſt hätten wir's gehabt.“ 

„Das iſt, weil Sie im Mai vorvergangenen Jahres Coeur ⸗Dame ſtatt 
Coeur⸗König zugegeben haben!“ 

„Nein, weil Sie letzten November in Treff geſchnitten haben. Gegen 
den Mann ſchneidet man nicht!“ 

„Halten Sie keine Leichenreden!“ 

„Sie halten Leichenreden!“ | 

„Ich habe ſchon ſchwierigere Skate gefpielt als den!“ 

„Ich auch! Im übrigen, mein Herr, wenn Sie glauben, daß ich 
Ihnen bloß das Geld aus der Taſche ziehen will, dann werf ich die Karten 
hin und ſpiel nicht mehr mit.“ 

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel fiel in dieſe Auseinanderſetzungen 
aus Bremen eine Nachricht. | 

Herr Bellermann, Nohtabake, telegraphierte: 

„Ich bin bankerott geworden!“ 

Eine lange Pauſe eiſigen Schrecks. Nach etwa drei Monaten aber 
kamen von Miſter Weber, Neuyork (Natur und Kunſteis), und von Miſter 
Smith, Bombay (Zimt und Chinarinde), die folgenden Telegramme: 

„Ich bin auch bankerott!“ 


Metz: Ideale 199 


„Ich bin auch bankerott!“ 

Das waren die letzten Kabelungen. Um über die Ozeane telegraphiſch 
„abzurechnen“, dazu langte der Draht nicht mehr. Abgerechnet wurde aber 
doch. Die im Spiel Anterlegenen rechneten jeder für ſich aus, daß ſie pro 
Mann an Herrn Bellermann in Bremen zehn Pfennig zu zahlen hätten. 
Dieſe Summe ſandten ſie an den glücklichen Gewinner ab. Sogar fran⸗ 
kiert. Die Beträge entnahmen ſie der „Maſſe“. 

Leider konnte ſich Herr Bellermann, Bremen (ehemals RNohtabake), 
ſeines Gewinnes nicht mehr freuen, denn er war infolge des üblichen Schlag⸗ 
anfalls geſtorben. Die zwanzig Pfennige Gewinn wurden aber zu gleichen 
Teilen an feine geſetzlichen Erben (Sohn und Tochter) ausgezahlt. Und 
fie konnten es beide gut gebrauchen, denn der Sohn war Regierungsaſſeſſor, 
und die Tochter gedachte ſich ſeit Jahren an einen armen Leutnant zu ver⸗ 
mablen. 


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Joſefa Metz 


Ich griff in einen bunten Frühlings baum 

Und ftreute Blüten auf den Staub der Gaffe, 
Mit Schönheit ſeine Armut zu verdecken. 

Da gab es bald ein wildes Hälſerecken, 

And mich umdrängte eine ſtumpfe Maſſe, 

Die mich verhöhnte, mich und meinen Traum. 
Nun geh' ich längſt in jener Menge mit 

And blick' hinauf nur, wo die Träume blühen, 
And alles läuft in ſeines Alltags Gleiſen. 
Doch wenn verwelkte Blüten ſo im leiſen 
Herniederfinken mich berühren, glühen 

Mir jäh die Wangen und ich möchte weinen 
Vor tiefer Scham, daß mir mein Traum entglitt 
Durch das Geſchrei der Häßlichen und Kleinen. 


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Frühlingsſtimmen im Bücherwald 


A: 

(ch lade alle Mütter, denen es um die Erziehung ihrer Töchter ernft 
iſt, heute ein, mit mir einen Gang durch den Bücherwald zu machen. 
| Aber ich fage es ihnen im voraus: es gibt dort auch mißtöniges 
Gekreiſch, verfaultes Blattwerk, züngelnde Schlangen und Schlänglein wie je 
und je. Das abſolute Paradies iſt auf Erden nirgends zu finden. Ich bin 
auch nicht geſonnen, meine Gefährtinnen auf gebahnter Chauſſee durch den 
Wald zu führen, ſondern oft mitten durch alles Geſtrüpp hindurch. Nur bitten 
möchte ich ſie: horcht über euch! hört ihr das Klingen in den Lüften, den 
ſtarken Sang erwachenden Lebens? Seht ihr die hellgrünen Schleier ſich 
ſchon um die Büſche und Bäume ziehn? O, das Leben iſt doch noch des 
Lebens wert, und unfre junge Generation kann einer hellen Zukunft entgegen- 
gehn, wenn nur wir, die Mütter, auf die Stimmen der Zeit zu lauſchen verſtehn. 

Unendlich viel iſt geſchafft und errungen worden in den letzten Sabr- 
zehnten. Aus dem Sklavenaufſtand der weiblichen Welt mit feinen Aus- 
wüchſen und Torheiten iſt eine maßvolle und vornehme Frauenbewegung ge- 
worden, die ſich gegen die Anerzogenheiten, Taktloſigkeiten und das Phraſentum 
einer radikalen Partei erfolgreich wehrt und ſie ausſchließt. Die wachſende 
Kultur hat die Augen und Gewiſſen geſchärft. 

Da ſtürzt in den fließenden Strom weiblicher Fortbildungs möglichkeiten 
wie ein junger brauſender Bergquell eine neue krafterfüllte Forderung herein: 
Gebt unſern Töchtern neben der intellektuellen Ausbildung die körperliche hinzu! 

Jawohl, die körperliche! Wo blieb bisher der Körper unſrer Mädchen, 
als die fortſchreitende Zeit ihnen überall die Tore aufſtieß, die Straßen ebnete, 
die unwilligen Herren Profeſſoren ihrem Wiſſenstrieb geneigter machte? 

In dem hervorragenden Buch von Wychgram über das Mädchenſchul - 
weſen, auf das ich noch eingehend zurückkomme, fagt dieſer erfahrene Schul 
mann, daß gerade die Mädchen im Gegenſatz zu den Knaben, die die Sache 
mehr an ſich herankommen laſſen, in vorgeſchrittenerem Alter leicht geneigt 
find, mehr zu tun, als von ihnen gefordert wird, ja, daß die Aberbürdung auf 
den Seminarien zum Teil geradezu auf dieſen Amſtand zurückzuführen iſt. 

Wir alle kennen den Typus von jungen Mädchen, der unter dem ſchönen 
Namen „Examenleichen“ bekannt iſt. Mag hierbei auch ein Zuſammenfließen 
von Abelſtänden mitſprechen, zu dem wir an der Hand Wychgrams gelangen, 


Frühlmgs ſtimmen im Bücherwald 201 


fo ſteht doch die Tatſache feſt, daß unſre Töchter in ihrer körperlichen Aus- 
bildung einfach für dieſen Kampf des Lebens nicht genügend geſtärkt wurden. 

Was hilft ihnen das beſte Wiſſen, wenn Kraft, Geſundheit und Friſche 
fehlt? Selbſt dem reinften Intellektualismus werden durch Geſundheitsfehler 
nicht nur Steine in den Weg geworfen, ſondern auch direkt Schranken gezogen. 
Die Anſpannung von Kraft, die vonnöten iſt, körperliche Störungen zu über⸗ 
winden, geht dem Fortſchritt des Geiſteslebens einfach verloren. 

Aber es iſt nicht nur das Studium allein, die für den Beruf nötige 
Spannkraft, die leidet. Nicht nur die Friſche und Freudigkeit, die das ganze 
Leben durchdringen ſollte, die unbekümmerte Sorgloſigkeit des von körperlichen 
Leidens feſſeln freien Menſchen wird bedroht, ſondern auch die wichtigſte Lebens · 
form der Frau: das Muttertum. 

Nun aber der Weg zu dieſer Geſundheit, die für alle Errungenſchaften 
der Frauenbewegung die allererſte Grundlage bildet, und die in Anbetracht 
dieſer entſcheidenden Bedeutung bisher noch viel zu unberückſichtigt blieb! 

Dieſer Weg tft natürlich wieder ſowohl negativ wie poſitiv: Schädlich 
keit vermeiden, ſie ſogar der allmächtigen Mode zum Trotz ausmerzen — und: 
den neuen Möglichkeiten, die ſich jetzt für die Ausbildung des Frauenkörpers 
bieten, freudig und entſchloſſen folgen. 

Schönheit und Gymnaſtik, zur Uſthetit der Leibeserziehung (Verlag 
Teubner, Leipzig. Preis 2,80 Mk.) nennt ſich ein Buch, das jede Mutter, 
die heranwachſende Kinder hat, in ihre Familie einführen ſollte. Es iſt von 
drei Verfaſſern geſchrieben: dem Profeſſor der Medizin: F. A. Schmidt, 
dem Turninſpektor Karl Möller und der Lehrerin M. Nadezwill, und 
mit dem überaus treſſenden Motto Dürers verſehen: „Wahrhaftig ſteckt die 
Kunſt in der Natur. Wer ſie heraus kann reißen, der hat ſie.“ Gewidmet 
ft das Buch dem „79jährigen Cinfiedler von München ⸗Gieſing“, Prof. Dr. 
Otto Heinrich Jäger, dem Griechengymnaſtiker und Meiſter der „Neuen 
Turnſchule“. 

Vor allen Dingen faßt dies Buch, fern von jedem Spezialiſtentum in 
der Turnerei, die Sache an ihrem innerſten Kern. Lebenskraft und Lebensluſt 
durchweht es bis in ſeinen letzten Winkel, und eine klare Erkenntnis führt das 
Steuer. Schon beim Durchleſen wird jeder tüchtigen Mutter zu Mute ſein, 
als habe ſie einen weiten Marſch durch Wieſen und Wälder gemacht und ſei 
vom friſchen Feldwind durchweht und durchſchüttelt. 

Nirgends bleibt dies Buch in irgend einer Phraſe ſtecken, überall iſt 
anpackende Wirklichkeit. Viele Wiedergaben der unvergänglichen Werke jenes 
einzigen Volkes, das durch eine hohe Kultur des menſchlichen Körpers allein 
inſtand gefegt wurde, eine Kunſt zu ſchaffen, der wir in unſrer entwickelten 
Sivilifation immer noch nachhinken — vermitteln Verſtändnis und Vergleich, 
beſonders da auch verunglückte Typen turneriſcher Wißverſtändniſſe ihnen 
gegenũůbergeſtellt find. Jede einfeitige oder auf Schauftellung berechnete tur- 
neriſche Ausbild ung wird ſtreng verurteilt, zugunſten der Durcharbeitung, der 
Kultur des ganzen menſchlichen Körpers. 

Es iſt nicht überflüſſig, hier an erſter Stelle (gleichſam als Anterlage 
für das Kommende) dies Buch zu erwähnen, obwohl es ſich hauptſächlich an 
Knaben und Jünglinge zu richten ſcheint. Doch ſetzt es im Gegenteil gerade 
an der Stelle ein, an der die jetzige weibliche Ausbildung noch klaffende Lücken 
zeigt. Durch den Umftand, daß das Gipfelturnen durchaus verurteilt und das 


202 Frühlingsſtimmen im Bücherwald 


Gerätturnen nur als Mittel, nie als Zweck, vor allem nicht als Schauſtellungs 
zweck hingeſtellt wird, ergibt ſich ſchon von ſelbſt die Hinneigung zu der ſchwe⸗ 
diſchen Turnart, die, auf alle Effekte und demgemäß allzu einſeitig anſtrengende 
Abungen verzichtend, gerade den Mädchenkörper für ſeine wichtigſten Funktionen: 
die Nützlichkeit und die Schönheit auszubilden berufen iſt. Möller ſagt: „Auch 
wenn es gar keine ſchwediſche Gymnaſtik gäbe: wir müßten dieſen neuen Geiſt 
der Wahrheit, des Sinngemäßen und Bedeutſamen, doch zu erringen ſuchen.“ 

Denſelben Gedanken in derſelben eindringlichen und einleuchtenden Weiſe. 
nur kürzer, vertritt Marg. N. Zepler in ihrem Buche Menſchenkultur 
(Anregungen zur Stärkung und Veredlung nationaler Kraft durch zielbewußte 
Mithilfe gebildeter Frauen. Modern ⸗pädagogiſcher und pſychologiſcher Verlag, 
Berlin. 1,50 Mk.) Auch hier fährt es wie ein friſcher Windſtoß durch altes Ge · 
mäuer. Da ſaß man und lernte und ſtudierte, ſah vor ſich Welten und Wunder 
erſtehn, die Grenzen des Erkennens fic) weiten — und dabei hockte man in 
Stubenluft, das Blut im Körper ſtagnierte bei dem ewigen Hinſitzen wie 
Sumpfwaſſer, man wurde bleich und mager, oder man legte ſich Fettpolſter 
auf, die Muskeln erſchlafften (und welches Mädchen in den Zwanzigern bringt 
dann noch ein paar richtige Klimmzüge zuſtande, ohne ſich von einem Sextaner 
auslachen laſſen zu müſſen 7). 

Welche Begriffs verwirrung iſt es, eine Kultur, die den Körper übergeht, 
für möglich zu halten? Soll unſer Volk nicht in Degeneration untergehn, ſoll 
unfre heranwachſende Weiblichkeit den neuen und immer ſtärkeren For - 
derungen einer hochgeſpannten Zeit gewachſen ſein, ſo muß die Körperkultur 
wieder zu ihrem Rechte kommen. Kraft und Anmut find die Ergebniſſe. Sie 
ſollten einfach die Forderungen jeder Bildungsfrage ſein. 

Im Grunde dasſelbe Thema mit beſondrer Bezugnahme auf die ge- 
ſchlechtliche Entwicklung behandelt Dr. med. Siebert in ſeinem Buch für 
die Eltern. (3. Aufl. Seitz & Schauer, München. Preis 1,80 Mk.) Auch 
hier kann man nur raten: Nehmt und left. Was dies Buch wertvoll macht, 
iſt ſein tiefdringendes Eingehen auf die Regungen der Jugend, beſonders auf 
die ſchädlichen. Es findet hier durchaus keine Allgemeinbehandlung der Fragen 
ftatt, kein Verſtecken hinter ſchöne Worte und vage Ratſchläge. Der Verfaſſer 
hat den recht glücklichen Gedanken gehabt, das Buch in Form von Briefen zu 
geben, und zwar im erſten Teil in Briefen an eine Dame betr. ihrer 16jährigen 
Tochter; im zweiten an einen Freund betr. ſeiner Söhne. Sein ärztlicher 
Beruf ermöglicht ihm eingehende und vielſeitige Erfahrungen, die in Ruhe 
und Sachlichkeit durchgeprüft und dargeſtellt ſind. Gerade auf dieſem Felde, 
auf dem die Eltern oft ratlos und verzweifelt vor Untugenden, Anerklärlich⸗ 
keiten, Laſtern oder auch nur verdächtigen Momenten ihrer Kinder ſtehn, iſt 
ſolch ein Ratgeber einfach unentbehrlich. Dies Buch, ſowie die beiden voran ⸗ 
gegangenen gehören für uns Eltern erſt dann in die Tiefe des Bücherſchrankes, 
wenn unſre Kinder erwachſen ſind. Denn: „man ſoll nicht aus Büchern lernen, 
ſondern aus dem Leben“, iſt auch eines jener unſinnigen Schlagworte, hinter 
denen nichts ſteckt. Gehören denn die Bücher nicht mit zum Leben? Ja, hat 
ſich ein großer und in ſeinen Amriſſen gar nicht feſtzuſtellender Teil unſres 
ganzen Gegenwartslebens nicht auf Bücher aufgebaut und nimmt von ihnen 
Beleuchtung, Begründung, Vermittlung? 

Wir kommen nun zu Jakob Wychgram. Vorträge und Auf- 
ſätze zum Mädchenſchulweſen. (Teubner, Leipzig Berlin. Preis 3,20 Mk.) 


Fetiblingsfttmmen im Bücherwald 203 


Der Verfaſſer ift ein hochgemuter nnd feinfinniger Freund der Frauen, und 
wir dürfen ſtolz auf dieſe Freundſchaft fein, denn fle ſtellt viele Voraus- 
ſetzungen. Wir wollen unter uns nur dafür ſorgen, daß er mit dieſen Voraus - 
ſetzungen recht behält — und wenn wir das tun, haben wir als Mutter, als 
Lehrerin, Erzieherin, Freundin und Frau gerade genug zu tun, unſer Leben 
würdig zu führen. 

Es geht ein großer, mannhafter Zug durch das Buch, verbunden mit 
einer fröhlichen Herzlichkeit, die auch die kleinen Täglichkeiten des Schullebens 
mit in ſeinen Kreis zieht. Eine erquickende Vornehmheit der Geſinnung, die 
ſich nicht vor Eingeſtändniſſen eigner Irrtümer ſcheut, eine reife Sicherheit und 
Sachkenntnis, die das weite Feld dieſer Frage: der Mädchenſchule und ihrer 
Lehrkräfte, das ſoviel der Tummelplatz der ungleichartigſten Gewalten iſt, von 
der hohen Warte einer einflußreichen Stellung überſchaut. 

Wychgrams Einfluß neben dem der großen Verſtorbenen, die er in Nach. 
rufen feiert: Auguſte Schmidt, Waetzoldt und Nöldeke, haben wir es zu 
danken, daß jetzt die Ausbildung unſrer Töchter immer mehr aus der Halbheit, 
der Anſicherheit und Befangenheit herauskommt, unter der fie in unſerm Vater⸗ 
lande ſtark zu leiden hat. Dieſer Mann, der die Forderungen der Zeit und 
der natürlichen Weiblichkeit in ſolchem klaren Bilde vor ſich ſieht, wäre vor 
allen der Berufenſte, das immer noch ſchwankende und gefährdete Mädchen- 
foulmefen mit feiner erprobten Autorität zu einer Einheitlichkeit und Vervoll- 
kommnung zu führen, in der wir uns wenigſtens nicht mehr vor der franzd- 
ſiſchen Mädchenſchule, die ſeit dem miniſteriellen Ruck von 1880 einen ſo ſtarken 
und im Ausland längſt bekannten Vorſprung vor uns gewonnen hat, zu 
ſchämen brauchen. 

Was Wochgram über die praktiſche Ausbildung der Seminariſtinnen 
ſagt, iſt ſo durchdacht und am Kernpunkt erfaßt, daß es für alle Vorſchläge 
und Neugeftaltungen einfach vorbildlich wird. 

Auch er vertritt mit ſtarker Betonung die notwendige Grundlage einer 
körperlichen Erziehung. Da er nur die Mädchen im Auge hat, iſt es ſehr 
verſtändlich, daß er der ſchwediſchen Turnart, die jeder Abertreibung der Körper 
übungen vorbeugt, das Wort redet. Es iſt wohl zu wünſchen und zu erwarten, 
daß wir bei unſern Töchtern ganz auf das Gerätturnen zugunſten dieſer ein- 
heitlichen Durchbildung verzichten. Nicht genug kann Wychgram die Schädlich⸗ 
keit und Widerfinnigkeit des ausſchließlichen Zuhauſeſitzens der jungen lernenden 
Mädchen verurteilen, die, von Luft und Sonne entwöhnt, körperlich und damit 
auch geiſtig vertrocknen. 

Herrlich find feine Auslaſſungen über die praktiſche Pädagogik und die 
Verwerfung der nur didaktiſchen Neſultate. „Ein guter Anterricht ſoll dem 
Geiſte Gelenkigkeit und vielfeitige Kraft, dem Urteil die ruhige Sicherheit geben, 
die ſich allezeit, an welcher Aufgabe es auch ſei, bewährt.“ 

Wahrlich, eine helle, zukunftsfreudige Frühlingsſtimme im Bücherwald 
iſt Wychgrams Buch! 

Eine Schrift, die viel vernünftige Forderungen neben einigen ſtarken 
Abertriebenheiten enthält, ift: Shr jungen Mädchen von Dr. Heinrich 
Pudor. (Verlag H. Pudor. Berlin-Steglitz.) Um gleich am erſten Anfang 
einzuhaken, ſo ſcheint mir ſchon der Titel verfehlt. Man erwartet danach einen 
Anruf an unſre Mädchen, denen dieſe auch mindeſtens nachzukommen ver ⸗ 
mögen. Die Forderungen aber, die Pudor aufftellt, find im ganzen folgende: 


204 Frühlmgsſtimmen im Vücherwald 


Erhaltung der Familie und dadurch Bekämpfung jeder Idee, die ſich dem in 
den Weg ſtellt, vor allem der jetzt um ſich greifenden willkürlichen Beſchränkung 
der Kinderzahl. Eine Religion, die dem deutſchen, nicht dem jüdiſchen Emfinden 
entſprungen iſt. Die Verwandlung der Staatsſchule in die Familienſchule. 
Eine natürliche Lebensweiſe, die ſich im Aufſtehn und Zubettgehn ſtrikt nach 
der Sonne richtet, d. h. im Sommer einen Schlaf von kaum fünf, im Winter 
von faſt zehn Stunden ergibt! Die Durchſetzung des Erwerbs einer eignen 
Scholle für jede Familie, die die einzig wahre Pflanzſtätte des Idealismus fet. 

Sollen dies alles die jungen Mädchen ſchaffen, oder ſollen ſie nur wiſſen, 
daß dies nötig fet? Schon dies letztere halte ich für keine dringende Not ⸗ 
wendigkeit. Gerade unſer junges Geſchlecht hat Beſſeres zu tun und zu lernen, 
als auf die Schäden der Zeit beſtändig aufzumerken. Ihr Beruf liegt im 
Rahmen des Tatſächlichen, des Beſtehenden; da iſt gerade genug für ſie zu 
lernen und zu ſchaffen. Die Amgeſtaltung ſteht andern Leuten zu. 

Ich will mich hier nicht mit dem Verfaſſer über Meinungsverſchieden⸗ 
heiten auseinanderſetzen, z. B. über ſeine Anſicht, die nach meinem Empfinden 
in einer wiederum übertriebenen Bewertung der Familienbande liegt und den 
lebendigen Geiſt einer Mechanik unterordnet, wenn er ſagt, daß innere Ver ⸗ 
ſchiedenheiten Verwandte nicht trennen dürften. „Das Blut löſcht jede Mei- 
nung aus. Auf das Blut kommt alles an.“ Der Kern und Grund ſeiner 
Auseinanderſetzungen ift ohne Zweifel ein tief geſunder, und was daraus an 
Verſtiegenheiten, ja Anmöglichkeiten geboren wird, quillt aus einer allzu reich 
blühenden Phantaſie, aus einem embarras de richesse der Vorſtellungskraft. 

Auf ganz andre Wege führt uns das ungemein feſſelnde und beiwunde- 
rungswürdige Buch einer vornehmen Engländerin, die nicht aus Genfations- 
ſucht, ſondern aus tiefer Liebe zu den Anglücklichſten ihres Volkes ein ſeltſam 
entbehrungsvolles, von ungewöhnlicher Tapferkeit durchglühtes Leben in den 
ärmften Schichten des Londoner Pöbels, eine Niedere unter Niederen, geführt 
bat. Vom Markte der Seelen, Entdedungsfahrten einer ſozialen Frau, 
Olive Malvery, im Lande Armut. (Aus dem Engliſchen von Martha 
Sommer. R. Voigtländers Verlag. Leipzig.) 

Aus den höchſten Kreiſen niederſteigend, hat ſie den ganzen Jammer 
der Obdachloſigkeit, des Schmutzes, des Hungers, der Ausnutzung, der perſön⸗ 
lichen Erniedrigung durchgemacht. Wer ſich über die grauenhaften Mißſtände 
unterrichten will, die in der Hauptſtadt eines ſo hochkultivierten Landes herrſchen, 
dem kann keine im wahren Sinn des Wortes ſachverſtändigere Führerin an- 
geraten werden. Zwar „zarte“ Naturen, die man beſſer: weichliche und feige 
Naturen nennen könnte, die ſich um des eigenen Wohlbehagens willen Augen 
und Ohren verſtopfen vor dem Jammer ihrer Mitkreatur, die ſeien heftig vor 
der Lektüre gewarnt, ſie könnte ihnen Nervenanfälle einbringen. 

Aber wahrlich: Wir haben größere Achtung vor dieſer hochgebildeten, 
reichen und vornehmen Frau, deren Nerven auch die ganze verfeinerte Empfind- 
lichkeit ihrer hohen Kultur beſaßen, und deren Zittern und Zurückſchrecken ſie 
ſiegreich überwand, um nicht nur in Entbehrung, nein, auch was ſchlimmer iſt: 
in Schmutz, Ekel und niedrigſter Behandlung den Urmſten gleich zu werden. 
Hier haben wir einmal wieder den höchſten Triumph der Menſchenliebe über 
Nerven und Selbſtſucht. Wer da aber glaubt, weil er ſelbſt einer ſolchen 
Höhe der Liebeskraft nicht fähig iſt, es ſei nur eine Spielerei, der Caunentigel 
einer verwöhnten Frau geweſen, der folge mit eigenen Augen dieſem Aber ⸗ 


Früblingsſtimmen im Bücherwald 205 


windergang, bis er an die Stelle kommt: „Niemand, der ſelbſt gehungert und 
gefroren hat, wird ſolch ein Narr ſein, zu glauben, daß ſich jemand ohne 
Grund ſolchen Qualen aus ſetzt.“ 

Eine Huldigung dieſer edlen, ſtarken Frau, die auch die Sünden ihrer 
weichlichen und faulen Mitſchweſtern trägt! 

Ganz lehrreich für viele, die ſich an den engliſchen Jams und Fleiſch⸗ 
kon ſerven delektieren, ſind die Kapitel: Fleiſchwaren und Marmeladenfabriken. 
Ich denke wohl, daß fie da der Ekel vor dieſen Delifateffen überlaufen wird, 
die ſogar von den ärmften Fabrikmädchen, die den Betrieb kennen, verſchmäht 
werden. 

Gabriele Reuter in der Broſchüre: Das Problem der Ehe 
(Verlag Kantorowicz, Berlin) legt klar, warum heute die Ehe größeren Ge- 
fahren ausgeſetzt iſt als früher, und kommt zu dem Schluß, daß die harmoniſche 
Frau hier die beſte Geſtaltung zuwege bringt. Es wird keinem halbwegs ver- 
nünftigen Menſchen einfallen, ihr das abzuſtreiten. Aber eigentlich weiß man 
dies alles längſt. Es find keine charakteriſtiſchen großen Linien in der Schrift, 
die ſich einem ins Gedächtnis prägen und die Gedanken feſthalten. Dennoch 
wird vielleicht hier und da eine in dieſen Dingen noch unerfahrene Seele auch 
hieraus manches lernen können. Im ganzen iſt die Lektüre durchaus einwand- 
frei, wenn auch für manches innige Gemüt, das in der Liebe zum eignen Heim 
auch ſeine Möbel mit umfaßt, ohne ſie indes in übertriebene Schätzung zu 
bringen, die radikale Verurteilung der Verfaſſerin, die ſogar das amerikaniſche 
boardinghouse empfiehlt, unſympathiſch wirkt. 

Bedeutend fraglicher, aber freilich auch bedeutend charakteriſtiſcher er . 
ſcheint die Broſchüre: Aus dem Sprechzimmer einer Ärztin. (Be⸗ 
arbeitet von O. Th. Stein. Verlag Br. Volger, Leipzig ⸗-Otzſch. Preis 3 Mk.) 
Die Verfaſſerin nennt ſich nicht. Bei derartigen Enthüllungen, Anklagen und 
andrerſeits Hochſtellungen der eigenen Methode iſt dieſer Amſtand der Namen- 
lofigteit kein empfehlender. Die Männer kommen ſchlecht weg, gewiß oft nicht 
ohne Grund. Doch ſcheint mir dieſe Gruppierung ſtark parteiiſch erſchaffen, 
wenn auch freilich das einſeitige Bild einer ſolchen . ſcheinbar 
ſolche Schlüſſe aufdrängt. 

— — Es hat viel um uns her geſproßt, geblüht und saa gen: Ciel 
reiner, ftarfer Wille regt fic. Da dürfen wir auch jene Frauen nicht ver- 
geſſen, die meiſthin den größten Lärm verurſachen, die im Namen der Frauen- 
ſchaft (neuerdings ſagen ſie auch ſchon, halbwegs belehrt: der Menſchheit) zu 
ſprechen vorgeben, und denen wir wenigſtens, wenn die Einficht auch ungenügend 
ift, den guten Willen nicht abſprechen dürfen. Das find die Frauen und ihre 
Schleppenträger, die ſich unter dem Namen „Bund für Mutterſchutz“ 
geſchart haben. 

Ich hatte im Türmer Jahrbuch 1906/07 ſchon einmal Gelegenheit, über 
dieſen Bund und fein Schönrednertum zu ſprechen im Gegenſatz zu Ruth Brés 
geſunder Beſtrebung, verlaſſenen Müttern ein dauerndes Heim und dauernde 
Arbeit zu geben. Es ſoll nicht beſtritten werden, daß dieſer Bund überhaupt 
etwas täte, es wäre auch fonft ein ſonderbarer und in feiner Art einzig da- 
ſtehender Bund. Nur fragt ſich, wie die Hilfe ausſieht, die er leiſtet. Etwas 
mehr konkrete Berichterſtattung ſtatt rührender „Romane aus dem Leben“ 
wäre zu wünſchen. Was dieſen „Romanen“ in der Beziehung zu entnehmen 
iſt, ſcheint ſich auf Einleitung von Alimentationsklagen und Stellenvermittlung 


206 Ein Blick über den Graben 


zu beſchränken. Jedenfalls liegt der Hauptnachdruck auf Redenhalten, um die 
„neue Ethik“ zu erörtern. 

Neuerdings wurde in dieſem Bunde als beſter Mutterſchutz dringend 
die willkürliche Beſchränkung der Kinderzahl empfohlen. Das iſt freilich die 
Bankerotterklärung jeder „ethiſchen“ Beeinfluſſung von dieſer Seite aus. Dies 
iſt alſo der letzte Ausweg, den dieſe Frauen aus der ſozialen Not wiſſen: die 
Löſung der Triebe von ihren natürlichen Feſſeln, ſtatt ihrer Erziehung, der 
letzte Bruch mit dem Verantwortlichkeitsgefühl. Ein Arzt warf dieſen Frauen 
Optimismus vor, weil ſie die Macht der Religion, der pſychiſchen Kräfte in 
der Frauenſeele unterſchätzten. Das iſt noch das wenigſte. In der letzten 
Sitzung der Geſellſchaft für ſoziale Medizin, Hygiene und 
Medizinalſtatiſtik iſt der Leichtſinn, mit dem dort in Sachen der Volks. 
wohlfahrt verfahren wird, gebührend feftgeftellt. „Einſchränkung der Kinderzahl 
ift ein billiger Natſchlag, er legt dem, der ihn erteilt, keine Verpflichtung auf.“ 

Hüten wir uns vor nichts fo ſehr wie vor ſchönen Worten. Sie find 
der Feind jedes ernſten wirklichen Fortſchritts! 

— — — Wir find am Ende des Bücherwalds. Nun geht ein jeder 
wieder in fein eignes Feld hinaus. Aber die Frühlingsſtimmen laßt uns mit · 
nehmen im Herzen, daß ſie nicht für uns verklingen und wir ungeſegnet bleiben! 

Marie Diers 
22 


Ein Blick über den Graben 


NT cit gefpannter Aufmerkſamkeit blicken wir evangeliſchen Theologen 
und Kirchenleute ſeit geraumer Zeit über den breiten Graben, 
der uns in unſerm religiöſen Denken und Empfinden von unſern 
a Mitbürgern trennt. Wir verfolgen mit ſtarker innerer Antell- 
nahme die große Auseinanderſetzung, die gegenwärtig in der katholiſchen Kirche 
vor ſich geht und durch den Syllabus Pius’ X. und die Encyclika Pascendi 
zu einer ſcharfen Abſage des Vatikans an die Moderniſten geführt hat. Auch 
wir Evangeliſchen find bei dieſen Vorgängen intereſſiert. Zu groß ift in Deutfch- 
land die Bedeutung der katholiſchen Kirche nach Einfluß und Zahl ihrer Be⸗ 
kenner, als daß lebhafte Bewegungen in ihrer Mitte nicht auf das geſamte 
geiſtige Leben des Volkes zurückwirken müßten. Auch bleibt es von nicht ge- 
ringer Bedeutung für unſere zukünftige Entwicklung, ob drüben die mildere 
oder, wie es ſcheint, die intranſigente Richtung ſiegt. Denn jeder Sieg der 
letzteren muß mit innerer Notwendigkeit zu einer Verſchärfung unſerer kon · 
feſſionellen Verhältniſſe führen. Endlich erwecken jene Kämpfe ein allgemein 
menſchliches Intereſſe; ſie offenbaren uns eine erſchütternde ern in manchem 
ſtillen Gelehrtenleben. 

Bei dieſer Sachlage iſt es auch für uns Evangeliſche intereſſant und 
wertvoll, einen ſo tiefen Einblick in das Seelenleben und die Gedankenwelt 
eines katholiſchen Theologen zu bekommen, wie ihn F. X. Kiefl in ſeiner 
biographiſchen Skizze über den den Leſern des „Türmer“ wohlbekannten Her ⸗ 
man Schell uns bietet (Mainz und München, bei Kirchheim). Der 
Leſer erhält einen deutlichen Eindruck von den unendlichen Schwierigkeiten und 
großen Gewiſſensnöten, unter denen die theologiſchen Profeſſoren der Tatho- 


Ein Blick über den Graben 207 


liſchen Fakultäten arbeiten, wenn ſie in treuer Liebe an ihrer Kirche hängen 
und doch der Wahrheit dienen wollen. Ja, faft mehr noch als durch die Mit- 
teilungen über Schell erhält man dieſen Eindruck durch die ſtille, faſt ängſtliche 
Vorſicht, mit der Kiefl von jeder Poſition ſeines aufrichtig geſchätzten Freundes 
abrückt, die irgendwie kirchlich beanſtandet werden könnte. 

Aber auch für Schell — welche ſchwierige Stellung! Schon dadurch, 
daß er im ganzen Plato vor Ariſtoteles bevorzugt, kommt er in eine ſchiefe 
Stellung ſeiner Kirche gegenüber, und ſein ehrlicher Verſuch, in der Sprache 
unſerer Zeit zu reden und „das katholiſche Dogma auf allen Linien in die 
modernen Perſpektiven zu rücken“, wird lediglich als ein gefährliches Wagnis 
aufgefaßt. Schell wollte „alle Lehrbeſtandteile des Glaubens möglichſt flüſſig 
machen für Denken und Leben“. Sein Gedanke war, das Dogma nachzuerleben 
und nur innerlich Erlebtes und Erfahrenes ſeinen Schülern darzureichen. Ihm 
galt es als „eine Ehrenſchuld der Glaubenswiſſenſchaft an den Gott der Offen- 
barung, daß das Geheimnis, indem er ſich ſelbſt der Menſchheit enthüllt hat, 
nicht mehr als unverſtändliche Zumutung an die denkende Vernunft gelte, 
ſondern als die ungeachtet ihres undurchdringlichen Lichtes hellſtrahlende und 
lebenerweckende Sonne der übernatürlichen Gnade.“ Das ſind gewiß, ſo ſagt 
fein ſympathiſcher, etwas ängſtlicher Biograph, „hohe, verehrungswürdige Ziele, 
aber nicht jeden kann die Kirche in den wichtigſten Fragen des Lebens ſolchen 
Wegen überlaſſen“, denn es iſt ihre „heiligſte Sorge, zu wachen, daß mit der 
wechſelnden wiſſenſchaftlichen Verteidigungsweiſe nicht auch das heilige und 
unverletzliche Depoſitum der göttlichen Offenbarung ſelbſt alteriert werde.“ 
And darum mußten Schell Werke auf den Index. 

Der unbeteiligte Zuſchauer jenſeits des Grabens ſchüttelt dazu den Kopf. 
Er ſieht wieder einmal klar, wie ſehr die katholiſche Kirche ſich belaſtet und 
ihre beſten geiſtigen Kräfte hemmt, indem fie durch Approbation und Inder 
ihre Kinder in ſteter geiſtiger Unmündigkeit hält und durch ihre offizielle 
Stellungnahme ſelbſt die Verantwortung für deren Werke übernimmt. So 
läßt ſie (in der Flugſchrift von Haw: die Hölle, Ravensburg, Dorn) 
mit biſchöflicher Approbation drucken, daß „die giftig qualmenden Schlünde 
unſerer feuerſpeienden Berge der Hölle mahnende Schlote ſind“, und verbietet 
ihren Gläubigen, Schells von brennender Liebe zu ſeiner Kirche getragene 
Schriften zu leſen. Wieviel heimliche Gewiſſensnot und öffentliche Bloßſtellung 
erleben dieſe Männer, und wie müſſen fie ihre Kirche lieb haben, daß fie trotz · 
dem an ihr hängen! 

Freilich hatte Schell von vornherein mächtige Gegner, bedeutete doch 
ſein Auftreten in Würzburg einen Bruch mit der dortigen wiſſenſchaftlichen 
Aberlieferung, die ausſchließlich der offiziellen Ordenstheologie der Jeſuiten 
huldigte. Denn neben dem echten Judentum hat es in der Geſchichte vielleicht 
keine Macht gegeben, die an Zähigkeit des Willens ſich mit den Jeſuiten meſſen 
könnte. Sie wiſſen ihren Willen durchzuſetzen. B. Duhr hat neuerdings 
(Freiburg, Herder, 1907) feine früheren Studien zuſammengefaßt und 
ergänzt, um in ſeiner „Geſchichte der Jeſuiten in den Ländern 
deutſcher Zunge“ der Tätigkeit ſeines Ordens in unſerem Vaterlande ein 
Denkmal zu ſetzen. Das Buch ift mit jenem Bienenfleiße verfaßt, den wir 
bei katholiſchen Gelehrten, auch bei Schell, oft anſtaunen, und bringt eine Fülle 
ſchäthbaren Materials, das von allen Ecken und Enden herbeigeholt iſt. Einen 
zuverläſſigen Wegweiſer zur Beurteilung des Ordens und feiner Tätigkeit 


208 Bom Bauſchwindel 


bietet es doch nicht. Man vergleiche z. B. Duhrs Schilderung Bobadillas 
mit der kleinen Skizze dieſes vielgeſchäftigen Paters von Friedensburg 
in ſeiner Schrift über die erſten Jeſuiten in Deutſchland, und man merkt, wie 
einſeitig Duhr ſein Material auswählt und mitteilt. Wir nehmen gerne bei 
Duhr Kenntnis davon, daß dem Orden ſelbſt zuzeiten Bedenken gekommen find 
über die Verantwortung, die er durch ſeine beichtväterliche Tätigkeit an den 
Fürſtenhöfen auf ſich nahm; es bleibt doch nach dem von ihm ſelbſt mitgeteilten 
Material dabei beſtehen, daß die Jeſuiten dieſen Weg, Einfluß zu ſuchen und 
auszuüben, mit beſonderer Vorliebe betreten haben. Man kann viele Sefuiten- 
fabeln mit Duhr als Legenden abweiſen; man kann den Ernſt und die perfin- 
liche Sittenreinheit wenigſtens der erſten Sendboten des Ordens in Deutſch⸗ 
land wohl anerkennen; man kann ſogar den Schlußſatz Duhrs von ſeinem 
Standpunkte aus wohl begreifen: „Sie haben an ihre Sache geglaubt, ſie haben 
gearbeitet mit Enthuſiasmus, ſie haben gearbeitet mit Erfolg an der Heilung 
der großen Schäden in den deutſchen Kirchen“ — die geſamte Beurteilung des 
Ordens und ſeiner Tätigkeit kann doch nicht von ſolchem Einzelmaterial aus 
gewonnen werden; dazu muß man weitere hiſtoriſche Perſpektiven eröffnen. 

Es lag doch fo: Um das Jahr 1540 war in deutſchen Landen, wie Duhr 
ſelbſt anerkennt, „die Sache der (katholiſchen) Kirche ſo gut wie verloren.“ Der 
Proteſtantismus durfte, wie Boehmer-Romundt (Die Jeſuiten. Leipzig, 
Teubner) ausführt, „trotz ſeiner inneren Zwietracht hoffen, im Laufe der 
nächſten Jahrzehnte ganz Deutſchland für ſich zu erobern. Dieſer Sieg iſt nicht 
eingetreten, ſondern ſtatt deſſen die Entzweiung der Nation. Aber wer hat 
denn dieſen Sieg verhindert?“ Die Antwort, welche die Geſchichte auf dieſe 
Frage gibt, lautet, wie hüben und drüben unumwunden anerkannt wird: die 
Jeſuiten. Duhr ſagt von ſeinem Standpunkt aus: Das iſt ihr Verdienſt. 
Wir, auf der andern Seite des Grabens, ſagen anders. Daß eine enorme 
Potenz von Geiftes- und Willenskraft dazu gehörte, eine große Nation dauernd 
in zwei Teile auseinanderzureißen, wer wollte das leugnen? Ob aber ſolche 
Arbeit recht angewendet, wirklich ſegensreich und fruchtbar im geſchichtlich 
höchſten Sinne war, darüber wird man billig ſtreiten können. 

Wie dem auch fei, im Intereſſe des inneren Friedens in unſerm Vater · 
lande können wir nur wünſchen, daß der jeſuitiſche Geiſt nicht ganz unum- 
ſchränkt und ohne jedes innerliche Gegengewicht in der katholiſchen Kirche die 
Herrſchaft erlange. Kann man darauf hoffen? Wir auf der andern Seite des 
Grabens wagen es kaum noch. And unſere Mitbürger jenſeits des Grabens? 


Chrift. Rogge 
wy 


Vom Bauſchwindel 


(Val. die Maſſeneingabe zur Einführung einer ſtaatlichen Zuwachsſteuer, Türmer 1908, S. 667) 


* u den Geſetzentwürfen, die zurzeit in einer Kommiſſion des Reichs ⸗ 
res’ tags beraten werden, gehört auch der eines „Geſetzes über die Giche- 
rung der Bauforderungen“. 
Man kann nicht ſagen, daß dieſe Beratungen in den weiten Kreiſen der 
Bevölkerung ſehr großes Intereſſe erregen. Die Organe der öffentlichen Mei ⸗ 


Vom Bauſchwindel 209 


nung berichten kurz über das, was aus den Kommiſſionsberatungen bekannt 
wird, und der Durchſchnittsleſer überſchlägt in der Regel auch noch dieſe kurzen 
Notizen. 

And doch handelt es ſich hier um eine Frage, die weit über die Kreiſe 
des Bauhandwerks hinaus die höchſte Beachtung verdient. Es handelt ſich 
hier darum, in einem einzelnen konkreten Falle einmal den Kampf zwiſchen 
dem formalen Buchſtabenrecht unſerer Boden⸗ und Hypothekarordnung und 
der ehrlichen deutſchen Arbeit bis zu Ende durchzufechten. Der Geſetzentwurf 
muß, ſo ungenügend er im einzelnen ſein mag, doch als der erſte ernſthafte 
Verſuch aufgefaßt werden, den Bauſchwindel in unferem Volke zu zer- 
treten. — Was hat es mit dieſem Schwindel für eine Bewandtnis? 

In geleſenen Zeitungen ſtößt man öfter auf merkwürdige Anzeigen, die 
dem normalen Menſchen völlig unverſtändlich klingen: 

„Wertvolles, baureifes Gelände iſt ohne Anzahlung zu verkaufen: 
Baugeld wird auf Wunſch dazugegeben. Offerten unter X. V.“ 

In jeder Großſtadt finden fic) Exiſtenzen, die nichts mehr zu verlieren 
haben. Warum ſollen ſie ſolche Gelegenheit nicht benutzen, wertvolles Land 
und Baugeld dazu in ihren Beſitz zu bringen? Sie ſetzen ſich mit dem Auf- 
geber ſolcher Anzeigen in Verbindung. Es iſt das meiſt eine Bank oder eine 
Geſellſchaft, damit der „ehrliche“ Name der betreffenden Herren Beſitzer bei 
dieſem Geſchäft möglichſt aus dem Spiele bleibt. Das Bauland iſt vielleicht 
50000 Mk. wert. Aber die Bank fordert 100 000 Mk. Der Käufer bewilligt 
dieſe Summe leichten Herzens. Er hat ja weder die eine Summe noch die 
andere. Dann werden die 100 000 Mk. als erſte Hypothek auf das Grundſtück 
für die Bank eingetragen. Nun erhält der Herr Bauunternehmer die erſten 
Raten des Baugeldes von der Bank. 

Jetzt wird eine reſpektable Wohnung gemietet. Möbel auf Abzahlung 
oder auf den Namen der Frau werden hineingeſtellt. Bauhandwerker, die 
nach Arbeit ſuchen, finden ſich bald. Der Bau beginnt. In den erſten Wochen 
wird das Geld für Materialien und Arbeit bezahlt. Dann wird vertröſtet 
von einer Woche zur andern. Am das Haus überhaupt zu einem Wertobjekt 
zu machen, vollenden die Handwerker den Bau. 

Nun ſtellt ſich heraus, daß der Bauunternehmer ein völlig mittelloſer 
Mann iſt. Die Bauhandwerker beantragen die Zwangsverſteigerung des von 
ihnen errichteten Gebäudes. In dieſem Augenblick meldet die Terraingeſell⸗ 
ſchaft ihre erſte Hypothek über 100 000 Mk. an. In dieſen 100 000 Mk. ſteckt 
der Wert des Gebäudes ſchon drin. Die Bauhandwerker ſind unfähig, eine 
derartige erſte Hypothek auszuzahlen. Deutſche Richter ſind verpflichtet, zu 
verkündigen, daß der Terraingeſellſchaft der Boden und das darauf errichtete 
Gebäude gehört und alle anderen Forderungen aus fallen — „von Rechts wegen“. 

Es iſt das unbeſtreitbare Verdienſt der deutſchen Bodenreformer, dieſe 
geradezu furchtbaren Mißſtände unſeres falſchen Bodenrechts in das Bewußt 
ſein der Offentlichkeit gerückt zu haben. Schon auf ihrer Hauptverſammlung 
am 11. Oktober 1891 beſchloſſen ſie, ſich der Not der deutſchen Bauhandwerker, 
an der bisher die großen Parteien achtlos vorübergegangen waren, tatkräftig 
anzunehmen. 

Ein Ausſchuß von Bauhandwerkern und Juriſten arbeitete eine Petition 
aus, die forderte, daß bei allen Zwangsverſteigerungen den Forderungen der 
beim Neubau beteiligten Handwerker, Lieferanten und Arbeiter ein Vor zugs⸗ 

Der Türmer X, 8 14 


210 Vom Bauſchwindel 


recht vor allen andern dinglichen Belaſtungen, ſoweit ſolche nicht auf öffent⸗ 
lichen Titeln beruhen, eingeräumt würde. 

Die von den Bodenreformern enthüllten Zuſtände waren erſchreckender 
Art. Die Berliner Ortskrankenkaſſe des Maurergewerbes ſchrieb an den 
Bund, daß in den Jahren 1891-93 von den Unternehmern der 1126 bei ihr 
angemeldeten Neubauten nicht weniger als 328 „Bauherren“ ſelbſt die Kranken ⸗ 
kaſſenbeiträge ihrer Arbeiter unterſchlagen hätten! Die Kaſſe verlor dadurch 
38 738 Mk.: 

„Die Bauunternehmer ſeien frühere Maurerpoliere und -gefellen, 
Schlächter, Barbiere, Kellner, und Gott wiſſe, was ſonſt noch, die auf die 
nebelhaften Verſprechungen gewiſſer „Geldmänner' hin Strohmannsdienſte ge- 
leiſtet hätten. Zu bekommen ſei nie etwas. Die Baugeräte gehörten nicht 
ihnen, ſondern einem dritten. Die Möbel ſeien vom Verleiher auf Miete 
entnommen oder von der Frau eingebracht; oder die Sachen ſeien der Ehe⸗ 
frau geſchenkt oder beim Schwager verpfändet; endlich aber legte der Haus wirt 
die Hand darauf.“ 

Der Prozentſatz der Bauherren, die wegen der Krankenkaſſenbeiträge 
den Offenbarungseid geleiſtet haben, betrug bei dieſer Kaſſe im Jahre 1891 
29 vom Hundert, 1892 32 vom Hundert, 1893 27,7 vom Hundert! 

In den Jahren 1891—93 wurden 1126 Neubauten in Berlin errichtet, 
davon kamen 644 in Zwangsverſteigerung! 

And die Not beſchränkt ſich nicht auf Berlin. 

In Hamburg kamen in den Jahren 1890 und 1891 394 Subhaſtationen 
vor, bei denen 3959000 Mk. Hypotheken ausfielen! Eine Firma A. veran- 
laßte in 10 Jahren allein 80 Zwangsverkäufe! 

In Würzburg kamen in einem Jahre 50 Häuſer zur Zwangsverſteige ; 
rung. Die Bauhandwerker verloren etwa 500 000 Mk. daran. 

In Halle gaben 57 Bauhandwerker ihren Verluſt durch dieſen Schwindel 
auf 194000 Mk. an. 

Vor wenigen Monaten hat der Rat der Stadt Dresden eine Unter- 
ſuchung ſeines Statiſtiſchen Amts herausgegeben über die „Verhältniſſe beim 
Bau neuer Wohnhäuſer von 1902 — 05“. In dieſen 3 Jahren haben 67 Ge- 
ſellſchaften zur ungeteilten Hand (BGB. § 705) in Dresden im Baugewerbe 
gearbeitet. 98 Geſellſchafter wohnten in Dresden; von dieſen haben 71 den 
Offenbarungseid geleiſtet. Von den 638 einzelnen Bauunternehmern 
haben 160 das gleiche getan! Von 297 Unternehmern mit einem Einkommen 
bis zu 3500 Mk. haben 116 nicht einmal ihrer Steuerpflicht genügen können. 

Die amtliche Denkſchrift urteilt auf Grund dieſer Tatſachen, daß bei 
dem heutigen Rechtszuſtand das Baugewerbe „von Elementen durch- 
ſeucht wird, denen jedes Pflicht. und Verantwortungsgefühl 
abgeht“. 

Die zehn wichtigſten Bauhandwerkerinnungen und der Bauhandwerker⸗ 
verein zu Berlin erklärten ſich „mit dem Inhalt der Petition der Deutſchen 
Bodenreformer einverſtanden und befürworteten ſie dringend im Intereſſe des 
Handwerks“. — 

Trotz der größten Anſtrengungen ſchien aber alle Arbeit vergeblich zu 
ſein. Da ſchreckte eine Verzweiflungstat die Bevölkerung aus der Ruhe. In 
der Nacht vom 1. zum 2. Juni 1894 erwürgte der 51jährige Malermeiſter Karl 
Seeger in Berlin feine 4 Kinder im Alter von 7— 12 Jahren und feine Frau 


Vom Bauſchwindel 211 


und erhängte ſich dann ſelbſt. In hinterlaſſenen Schreiben an den Obermeifter 
der Malerinnung und an ſeine Arbeiter heißt es: 

„Viel Verluſte, welche ich ſeit Jahren erlitten, haben mich ruiniert. Nach 
jahrelangen Kämpfen bin ich zu Ende. Ich konnte nicht mehr weiterkommen, 
ohne zu betrügen, — wie ich betrogen worden war.“ 

Da beriefen die Bodenreformer eine große Bauhandwerkerverſammlung 
ein. Sie war von mehr als 2000 Bauhandwerkern beſucht und ſtellte einen 
ergreifenden Notſchrei der deutſchen Arbeit dar. Der Schreiber dieſer Zeilen, 
der den Vorſitz führte, wird jene Stunden nie vergeſſen können. Den tiefſten 
Eindruck machte es, als ein ehrlicher Bauhandwerker, der Steinmetzmeiſter 
Heinrich Voelker, mit bitterem Lachen ausrief: 

„Wenn die Regierung nicht mehr die ehrliche Arbeit ſchützen kann, dann 
wollen wir die Arbeit aufgeben und auch unter die Bauſchwindler gehen! 
Was bleibt uns denn, vom deutſchen Recht verlaſſen, anderes übrig?“ — 

Der Juſtizminiſter v. Schelling hatte kurz vorher den Bundes vorſtand 
erſucht, zahlenmäßige Nachweiſe über die Bauhandwerkerverluſte zu beſchaffen. 
Als ich der Verſammlung dieſe Aufforderung des Juftizminiſters mitteilte, 
gaben ſofort 13 Handwerker 395 140 Mk. Verluſte unter genauer Bezeichnung 
des Baues, der „Bauherren“ uſw. an. 

In Nachwirkung dieſer gewaltigen Verſammlung meldeten ſich beim 
Vorſtand Deutſcher Bodenreformer 234 Bauhandwerker, die Verlufte von 
5 486 119,33 Mk. nachwieſen. — Selbſtverſtändlich ſtellten fie nur einen ver- 
ſchwindend kleinen Teil der Opfer des Bauſchwindels dar. 

Die Begleitbriefe der Verluſtangaben waren in ihrer Einfachheit eine 
ergreifende Anklage gegen das herrſchende Bodenrecht. Es ſeien hier nur die 
Briefe von zwei Witwen wiedergegeben. Der Mann der erſten, ein Schloffer- 
meiſter F., hatte 18 326 Mk. verloren und ſtarb vor Gram. Die Frau mußte 
nun durch Arbeit außer dem Hauſe Brot ſuchen und die Kinder ſich ſelbſt 
fiberlaffen : 

„Es wird fo viel von Herrn Seeger gefproden, daß er fic hätte ſelber 
nur das Leben nehmen ſollen. Das kann nur der beurteilen, der es durch; 
gemacht hat. Wie oft habe ich im ſtillen gedacht, hätte mein Mann mich mit 
meinen Kindern auch mitgenommen, dann wäre ich jetzt ohne Sorge und Gram. 
Wie ſanft ruht dagegen die Frau Seeger.“ 

Eine andere Witwe ſchrieb: 

„Wieviel Tränen und Herzeleid der Bauſchwindel hervorbringt, kann 
nur der ermeſſen, der davon betroffen iſt.“ 

Ihr Mann, ein Tiſchlermeiſter N., hatte alles verloren. Er konnte ſeinen 
Leuten nicht mehr den Lohn auszahlen, ging fort und kehrte nicht mehr in die 
Wohnung zurück. Die Frau ſuchte ihn entſetzliche acht Tage lang, dann fand 
ſie ihn — als Leiche. Er war, am deutſchen Recht verzweifelnd, freiwillig aus 
dem Leben gegangen. 

Endlich kam die Bauhandwerkerfrage in den Parlamenten mehr als 
bisher zur Geltung. Namentlich war es der kürzlich verſtorbene Profeſſor 
Dernburg, der im preußiſchen Herrenhauſe entſchieden für das Recht der 
Bauhandwerker eintrat. Der Juſtizminiſter Schönſtedt ſagte daraufhin einen 
Geſetzentwurf zu, und im Dezember 1897 wurden die Entwürfe eines „Reichs · 
geſetzes betreffend die Sicherung der Bauforderungen und eines preußiſchen 
Ausführungsgeſetzes“ veröffentlicht, um zunächſt das öffentliche Urteil zu hören. 


212 Vom Bauſchwindel 


Sie brachten nicht die volle Erfüllung der bodenreformeriſchen Forde⸗ 
rungen; aber ſie hätten doch, in Wirkſamkeit getreten, einen großen Schritt 
vorwärts bedeutet. Da aber zeigte ſich, wie verhängnisvoll es iſt, wenn die 
Organiſation der ehrlichen Arbeit nicht genug Menſchen und Geld hat. Die 
Bodenreformer taten, was ſie konnten — aber die „öffentliche Meinung“ der 
Börſenteile der großen Preſſe erklärte ſich aus naheliegenden Gründen gegen 
die Geſetzentwürfe, und die Regierung zog fie im Jahre 1899 zurück. 

Da änderte der Bund ſeine Taktik. Da das abſolute Vorrecht der 
Bauhandwerker als praktiſch unaus führbar hingeſtellt wurde, fo beantragte 
Heinrich Freeſe in der Hauptverſammlung des Bundes Deutſcher Boden⸗ 
reformer, die am 8. Dezember 1900 im Bürgerſaal des Berliner Rathaufes 
ſtattfand, die „Lien⸗Geſetzgebung“ der Vereinigten Staaten auf unſere Ver⸗ 
hältniſſe zu übertragen. Dieſer Weg habe in den ſchnell wachſenden großen 
Städten der Neuen Welt die Entſtehung des Bauſchwindels unmöglich ge- 
macht. Die Hauptverſammlung ſtimmte einſtimmig zu, und der Bundes⸗ 
vorſtand gab in einer Petition an den Juſtizminiſter dieſem Beſchluß Folge. 
Der Grundgedanke dieſes amerikaniſchen Bauſchutzgeſetzes iſt folgender: Kommt 
ein Neubau zur Zwangsvollſtreckung, ſo ſindet eine getrennte Abſchätzung der 
Bauſtelle und des Gebäudes ſtatt. Der in der Zwangsverſteigerung erzielte 
Geſamterlös wird zwiſchen den Hypothekengläubigern und den Bauhandwerkern 
in dem Verhältnis geteilt, in dem ſich der Wert der Bauſtelle zu dem des 
Gebäudes befindet. Nehmen wir ein Beiſpiel: Der Wert einer Bauſtelle 
wird auf 30000 Mk., der Wert des neuen Gebäudes auf 60 000 Mk. geſchätzt. 
Die Zwangsverſteigerung ergibt 54000 Mk. Dieſer Erlös wird im Verhältnis 
von 30 000 zu 60 000, d. h. von 1 zu 2 geteilt. Die Hypothekengläubiger be- 
kommen demnach 18000 Mk. und die Bauhandwerker 36000 Mk. 

Der Haupteinwand gegen die Bodenreformvorſchläge iſt von Anfang 
an die Behauptung, man dürfe das Baugeſchäft nicht beunruhigen. Dieſer 
Einwand erſcheint durchaus ungerechtfertigt; denn bei allen ſoliden Bauten 
tritt das Geſetz, wie wir es jetzt vorſchlagen, ja überhaupt nicht in Kraft. 
Wirkſam iſt es erſt, wenn eine Zwangsverſteigerung notwendig wird, bei der 
ſich herausſtellt, daß die Bauhandwerker nicht bezahlt worden ſind. In ſolchem 
Falle aber ſteht das Recht der Arbeit vor dem Recht des Buchſtabens der 
grundbuchlichen Eintragung. Eine Form, unter der das amerikaniſche Bau⸗ 
gewerbe ſich nicht „beunruhigt“ fühlt, ſondern Angeheures leiſtet, muß auch in 
Deutſchland möglich ſein. 

Einem volkswirtſchaftlich und ſittlich gleich gefährlichen Zuſtand der 
Rechtsohnmacht offenbarem, erkanntem Schwindel gegenüber wäre endlich ein 
Ende bereitet! — 

Wer ſich mit dieſen Fragen eingehender beſchäftigen will, dem ſeien in 
erſter Reihe die Bücher des Mannes empfohlen, der ſich die größten Ver⸗ 
dienſte im Kampfe für das deutſche Bauhandwerk erworben hat, des durch 
feine muſterhaften Einrichtungen (Achtſtundentag, Gewinnbeteiligung, Arbeiter- 
ausſchuß u. a.) bekannten Fabrikbeſitzers Heinrich Freeſe: „Pfandrecht 
der Bauhandwerker“ (Gotha 1901, Friedrich Emil Perthes, 362 Seiten, 
Preis 3,60 Mk.). Eine volkstümliche Hervorhebung der Hauptgefidts- 
punkte hat Heinrich Freeſe in feinem Vortrag auf dem Düſſeldorfer Bundes- 
tag der Bodenreformer 1906 gegeben: „Baugewerbe und Bodenfrage“ 
(Berlin NW. 23, Verlag Bodenreform, 50 Pf.). 


Oeutſche Wigblätter 213 


Vor kurzem hat H. Freeſe auch feine prächtigen Artikel, die er im Laufe 
von 16 Jahren in dem Bundesorgan der Bodenreformer veröffentlicht hat, ge- 
ſammelt und unter dem Titel: „Bodenreform“ (Gotha 1907, F. E. Perthes, 
269 S., Preis 4 Mk.) herausgegeben. In dieſen trefflichen Aufſätzen, die auch 
an dieſer Stelle aufs wärmſte empfohlen fein mögen, finden ſich S. 153—193 
auch wichtige Beiträge aus dem Kampfe gegen den Bauſchwindel. 

Hoffen wir, daß der Reichstag endlich ein Ergebnis zeitigen möge, das 
wirklich der deutſchen Arbeit zu ihrem Recht verhilft! 


wer 
Deutſche Witzblätter 


TG er Deutſchheit ganzer Jammer faßt mich an,“ ſtöhnt Karl Kraus in der 
Wiener „Fackel“, „wenn ich ihre Witzblätter älteren Stils zur Hand 
5 nehme.“ Selbſt die Belletriſtik des „Simpliziſſimus“ verfalle in 
Philiſtroſität. Einen Anblick des Grauens aber biete der illuſtrierte Humor, den 
Deutſchlands „harmloſe“ Geiſter aus der Welt der Dackeln, Schwiegermütter, 
Schwipſe und Pumpverſuche von Woche zu Woche hervorzuzaubern wüßten. Ein 
Bacchanale der Ledernheit! And die Geſellſchaft, die ſich daran ergötze, fet eine 
Kulturnation. „Nichts bezeichnet die Grazie ihrer Luſtigkeit beſſer als das Syſtem 
der Witzüberſchriften in den Blättern, die ſie am liebſten lieſt. Damit 
der deutſche Mann den Humor der Sache beſſer verdaue oder von dem Geiſt, 
der ihm geboten wird, nicht überrumpelt werde, ſteht über jedem Sätzchen ein 
Titel, der die Meinung des Witzkopfs verdeutlicht. Ein Humor, der ſich 
fortwährend ſelbſt auf die Hühneraugen tritt, durch die er die Welt betrachtet. 
Man ſchlage irgend einen dieſer vollſtändigen Kataloge deutſcher Geiſtesarmut 
auf, und man wird den Einfall ſuchen müſſen, deſſen dürftige Pointe nicht 
ſchon im Titel verraten wäre. Eine kleine Kollektion der beliebteſten Auf- 
Ihriften: ‚Boshaft’, ‚Lbertrumpft‘, Gut gegeben‘, ‚Durch die Blume „„Abgeblitzt', 
Verſteckte Bosheit“, ‚Recht erfreulich‘, „Ganz einfach“, „Empfindlich“, „Beſchei⸗ 
den“, ‚Bitter‘, „Kleines Mißverſtändnis“, „Gut angewendetes Zitat“, ‚Schlechte 
Ausrede“, Anbegreiflich“, Immer derſelbe“, „Ein Schwerenöter“, „Ein Prattitus’, 
Roftipielig’, „Ja, ja“, „Ach fol’, „So, fol’. Man lieſt zum Beiſpiel den folgen- 
den Dialog: Fräulein: Warum find Sie eigentlich noch nicht verheiratet, 
Herr v. Schulze? — Herr v. Schulze: Ich konnte noch immer nicht die Rechte 
finden. — Fräulein: And dabei haben Sie doch ein paar Jahre die Rechte 
ftudiert!“ — Jetzt denke man über den dümmſten „Titel“ für dieſen wunder 
vollen Einfall nach, der natürlich durch ein im Salon ſitzendes Paar illuſtriert 
Wt. Er lautet: „Illuſtriertes Wortſpiel“ .“ 
Somit wäre alles klar und deutlich. Nur eins iſt zweifelhaft: wem 


die Palme der größeren Beſcheidenheit gebührt. Den Leitern dieſer Blätter? 
Oder ihren Leſern? 


A. Damaſchke 


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Die hier veröffentlichten, dem freien Meinungs aus tauſch dienenden Einſendungen find unabhängig 
vom Standpunkte des Herausgebers 


Die Heimatloſen 


bag Tagebuch des Türmers vom April ſchließt mit einem Hinweis 
VY, auf den „Notſchrei“ des alten Paftors F. v. Bodelſchwingh für die 
UMEUBrmſten der Armen, die der Volksmund mit dem vulgären Namen 
„Stromer“ bezeichnet. Es iſt ohne Zweifel ein erfreuliches Zeichen unſerer Zeit, 
daß ein „Edeler“ der Nation mit der Deviſe: „Homo sum“ ſo nachhaltig und 
warm für die Brüder von der Landſtraße eintritt, aber es iſt auch nicht zu ver · 
kennen, daß die fürſorgliche Liebestätigkeit Vater Bodelſchwinghs im allgemeinen 
erfolglos bleiben muß, wenn das Abel nicht mit der Wurzel ausgerodet wird. 
Das Mitleid mit den armen Brüdern genügt nicht, nein, es muß ihnen das 
Handwerk gelegt werden! Es iſt nämlich eine unbeſtreitbare Tatſache, daß 
die Brüder die Straße mehr lieben als die Heimathütte. Sie arbeiten nur 
zeitweiſe gegen einen nicht geringen Lohn, den ſie hauptſächlich in Branntwein 
umſetzen. Wenn ſolch ein Bruder eine Arbeitsſtätte nach acht oder vierzehn 
Tagen — länger hält er gewöhnlich auf einer Stelle nicht aus — verläßt, fo 
ruht er nicht eher, bis er den letzten Sechſer vertrunken hat. Solange ihn der 
Altohol wärmt und ſättigt, liegt er in Strohmieten, Chauſſeegräben uſw. herum. 
Wird er nüchtern, friert und hungert ihn natürlich. Nun geht er ſchnorren. 
Erſt ſpät abends oder wohl gar nachts, wenn er den letzten erbettelten Pfennig 
vertrunken hat, klopft er dann den Dorfſchulzen heraus und verlangt Nacht; 
lager. Was wunder, wenn der Schulze den „Stromer“ anſchnauzt! Iſt doch 
der Schulze ein Bauer, der mit ſolchen Leuten in ſeiner Wirtſchaft ſchon ſeine 
liebe Not gehabt hat. Hatte er einen von ihnen in Arbeit, fo ging er ge 
wöhnlich davon, wenn er ihn gerade am nötigſten brauchte. Wollte er zur 
Erntezeit einen von der Straße in Arbeit nehmen, ſo konnte er fragen und 
fragen, ob ſie arbeiten wollten, es hütete ſich ein jeder, Arbeit anzunehmen. 
Die meiſten von dieſen Leuten arbeiten überhaupt nicht, ſondern ſchnorren ſich 
durch von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr. Bei der Schnorrerei ſteht einer 
dem anderen zur Seite mit Nat und Tat. So werden die Stromer in manchen 
Gegenden zur wahren Plage. Herbergen, Pflegeftationen und Arbeiterkolonien 
helfen dagegen wenig, da ſie meiſtens von den Leuten gemieden oder aus- 
genutzt werden. Was wunder, wenn die Landleute da hartherzig werden gegen 
die Elenden auf der Straße. Das gute Herz Vater Bodelſchwinghs findet 
daher auch bei den Landwirten wenig Anerkennung. Dieſe ſuchen ſich eben 
auf andere Weiſe gegen die Stromerplage zu ſchützen. Paſtor Keil macht 


Die Heimatloſen 215 


darüber in der erften Aprilausgabe der „Naiffeiſenboten“ beachtenswerte Mit. 
teilungen. Die Gemeinde Wölſis am Thüringer Wald hatte — fo berichtet er — 
derart unter der Stromerplage zu leiden, daß ein einheitliches Vorgehen not- 
wendig wurde. Der „RNaiffeiſenverein“ veranlaßte daher einen Gemeinde⸗ 
beſchluß, wonach die Bettlerfürſorge von der politiſchen Gemeinde übernommen 
wurde. Jeder Einwohner muß nun die Bettler an den Schulzen weiſen. Hier 
werden die Papiere der Bettler geprüft und, wenn fie vier Monate nicht da- 
geweſen find, erhalten fie nach Eintragung ihrer Perſonalien einen Gutſchein, 
wofür ihnen in einem Gaſthaus Koſt und Nachtlager gegeben wird. Dieſe 
Maßnahme hat zur Abwendung der Bettlerplage geführt, und Paſtor Keil 
wünfcht lebhaft, daß alle Gemeinden dem Beiſpiel Wölſis folgen möchten. 
Denn erſt dann iſt eine durchgreifende Bekämpfung der Stromerplage möglich, 
wenn das ganze Land einmütig vorgeht und ſomit die Stromer zur Arbeit erzieht. 
Die empfohlene Maßnahme iſt allerdings ein polizeiliches Aberwachungs · 
ſyſtem des Landſtreicherweſens, wie es beſſer kaum erfunden werden kann. Es 
bleibt aber die Befürchtung, daß es dieſe Menſchen auch nicht beſſern wird. 
Die polizeiliche Kontrolle allein genügt nicht zur Bekämpfung des Abels, es iſt 
noch eine ſeelſorgeriſche Fürſorge nötig. And dieſe iſt ja auch bereits von Vater 
Bodelſchwingh angebahnt. Es iſt dringend zu wünſchen, daß in allen Ge- 
meinden Heimſtätten für die Heimatloſen errichtet werden. Dieſe ſind durchaus 
notwendig zur Beſſerung der ſozialen Lage dieſer Leute. Denn auch die Arbeits ⸗ 
willigſten von ihnen werden in der freien Zeit vom Schnapsteufel arg heim⸗ 
geſucht, und wenn ſie nicht im Stall auf ihrem Strohlager liegen, treiben ſie 
ſich im Wirtshaus herum oder torkeln auf der Straße umher. Gelingt es, ſie 
in den Heimſtätten zu ſammeln und geiſtig anzuregen, fo iſt es nicht aus ⸗ 
geſchloſſen, daß ihr beſſeres Selbſt erweckt und ſie wirklich gebeſſert werden. 
Doch hüten wir uns vor allzu großen Hoffnungen. Es wird nie ge- 
lingen, die große Zahl der Heimatloſen für ein ordentliches Leben in der Heimat- 
hütte wieder zu gewinnen. Wer durch ein langes Leben auf der Landſtraße 
dieſe lieb gewonnen, der wird ihr nie mehr entriſſen werden können. Darum 
iſt es wichtig, keinem Menſchen den Aufenthalt auf der Landſtraße lange zu 
geſtatten. Die Jungen müſſen alſo von ihr ferngehalten, müſſen ihr entriſſen 
werden. Wenn das gelingt, dann wird das Abel mit der Wurzel ausgerodet. 
Wie können aber die Jungen von der Landſtraße gebracht werden? 
Ja, das iff wohl leicht zu ſagen, aber nicht leicht getan. Ungeheuer groß und 
mannigfach ſind nämlich die ſozialen Nöte, welche die jungen Leute auf die 
Landſtraße treiben. Zerrüttetes Familienleben, verlotterte Weiber, gewiſſenloſe 
Väter und Mütter, behindertes Fortkommen, Leichtfinn, Trunkſucht und viele 
andere Arſachen drängen die Menſchen in früheſter Jugend faſt aus allen 
Geſellſchaftskreiſen auf die Straße. Ein ungeheurer ſozialer Aufſchwung wird 
notwendig ſein, wenn der Zug auf die Straße vollſtändig aufhören ſoll. Aber 
durch eine fein ausgeſtaltete Jugendfürſorge ſeitens des Staates, der Gemeinde 
und der inneren Miſſion kann es heute ſchon möglich werden, den Zug der 
Jugend auf die Landſtraße aufzuhalten und einzudämmen, ja, ihn langſam 
aufzuheben. Auch hier gilt das Wort Goethes: 
„Mit einer erwachſenen Generation iſt nicht viel zu machen weder in 
körperlichen noch in geiſtigen Dingen, in Dingen des Geſchmacks wie des 
Charakters, aber ſeid klug und fangt es mit der Jugend an, und es wird gehen.“ 


Hermann Borkenhagen 
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Justitia fundamentum 


II. 


Lie ſchwerſten Strafen dem, der ſich an fremdem Eigentum 
vergreift. An fremden menſchlichen Perſonen ſich ver— 
greifen, iſt dagegen lange nicht ſo ſchlimm. Manchmal iſt's 

D überhaupt nicht der Rede wert, die reine Bagatelle, und 
koſtet ſo gut wie nichts. Zumal in den Provinzen mit den vielen patri— 
archaliſchen preußiſchen Geſindeordnungen, von denen eine immer ſchöner 
und durch Alter ehrwürdiger iſt als die andere. In Nixdorf z. B. darf 
eine Gaſtwirtsfrau ihr Dienſtmädchen mit einem Rehfuß und einem um— 
gedrehten Peitſchenſtiel braun und blau ſchlagen, was das Zeugs nur hält, 
und es koſtet bloß 5 Mark. Bei Halle an der Saale darf ein junger Guts- 
inſpektor einen alten Arbeiter mit dem Stock derart verprügeln, daß er ſechs 
Wochen arbeitsunfähig iſt, und es koſtet ganze 25 Mark. Wer von 
den Dienſtboten oder Knechten aber glaubt, daß ihn eine ſolche „Behand— 
lung“ zur Löſung des Arbeitsverhältniſſes und zum Verlaſſen der Arbeits— 
ſtelle berechtige, findet ſich in einem bedauerlichen Irrtum. Er bekommt 
auf die Anzeige der Herrſchaft, daß er „ohne geſetzlichen Grund die Arbeit 
verweigert“ habe, vom Amtsvorſteher den Befehl, die Arbeit ſofort wieder 
aufzunehmen, widrigenfalls er in Strafe genommen werde. Aberwältigt ihn 
nicht gerade die Sehnſucht nach weiteren Liebkoſungen, verweigert er darum 
unter Angabe der Gründe die Rückkehr zu ſeiner idylliſchen Arbeitsſtätte, 
ſo holt der Amtsbote den Renitenten, der auch die angedrohte Geldſtrafe 
nicht bezahlt hat, zur Verbüßung einer Haftſtrafe ab. Von dieſen Zuſtänden 
hat man im weſtlichen und ſüdlichen Deutſchland kaum eine Ahnung. Es 
wird eine Art gemilderter Hörigkeit unter moderneren Formen ſtabiliert, 
durch „zweckmäßige“ Auslegung und Anwendung der geſetzlichen Beſtim— 
mungen und polizeilichen Befugniſſe. Wenn immer noch viele von den 
Herrſchaften das nicht wahr haben wollen und die Behauptung — ſehr mit 
Anrecht — als eine perſönliche Beleidigung empfinden, ſo erklärt ſich das 
eben daraus, daß ſie von ſich ſelbſt, die ſich dergleichen nicht zu ſchulden 


Sürmers Tagebuch 217 


kommen laſſen und ihren Leuten mit Güte und Wohlwollen begegnen, auf 
die anderen ſchließen, die das wirklich nicht verdienen. Es iſt auch weit weniger 
das alteingeſeſſene Gutsbeſitzertum, das von dieſem Vorwurf getroffen wird, 
als gewiſſe agrariſche Streber und Emporkömmlinge, die ihre neu lackierte 
Herrenwürde, die Süßigkeit ihrer ungewohnten Macht nicht genug auskoſten 
können. So wird man auch unter den Offizieren aus alten Militärfamilien 
nur ſelten Hochmut und Brutalität finden, viel ſeltener jedenfalls als bei 
den Söhnen über Nacht Emporgekommener. Was bedeutet denn für den 
Abkömmling einer Familie, deren männliche Vertreter ſeit Jahrhunderten 
höhere und höchſte militäriſche Chargen bekleidet haben, das Bewußtſein, 
„bloß“ Offizier zu ſein? Doch etwas Selbſtverſtändliches, das daher auch 
irgendwelchen Größenwahn nicht ſo leicht aufkommen läßt. — 

Wenn irgendwo das Schwert des Geſetzes mit voller Wucht und 
Schärfe niederſauſen ſollte, ſo bei den beſtialiſchen Vergewaltigungen wehr⸗ 
und hilfloſer Weſen durch Perſonen, deren ſchier unumſchränkter Gewalt 
ſie überantwortet ſind. Es iſt eine wahre Folterkammer, die wir jetzt be⸗ 
treten. Kein Lefer iſt fic noch im Zweifel, daß ich die abſcheulichen Rinder- 
miß handlungen meine, — ſo viele Fälle dieſer Art haben in der letzten 
Zeit die Offentlichkeit beſchäftigt. Die Offentlichkeit! Die aber nicht in 
die Offentlichkeit dringen, — wie viele mögen derer noch ſein?! 
Wie ſchwer ringt ſich faſt jeder ſolche herzzerreißende Schrei bis zum Ge- 
richtsſaal durch! Wie lange dauert es, bis endlich menſchlich fühlende Nach- 
barn das Jammergeſchrei des gefolterten kleinen Geſchöpfes nicht mehr er- 
tragen können und die Polizei zu Hilfe rufen! Von welchen umſtändlichen 
Formalitäten iſt wiederum deren Eingreifen bedingt! Die Torturen müſſen 
ſchon alles menſchliche Maß überſchritten haben, es müſſen ſchon ganz empfind⸗ 
liche Schädigungen der Geſundheit oder gar direkte Lebensgefahr vorliegen, bis 
die Staatsgewalt nach ihren formaliſtiſchen Vorſchriften und Anſchauungen, 
ihrem ganzen bureaukratiſchen Syſtem einſchreitet, einſchreiten zu „dürfen“ 
glaubt. And doch fragt man ſich mit Recht: ſollte eine hochwohllöbliche Polizei, 
die ſolche Befugniſſe hat, wie wir ſie oben geſehen haben; die ſo ſchnell bei 
der Hand iſt, friedliche Bürger in Gewahrſam zu nehmen; die ſich an der 
perſönlichen Freiheit und Unverletzlichkeit des Bürgers vergreifen darf und 
in ſo vielen Fällen noch Recht vor Gericht bekommt: — ſollte dieſes in 
Preußen-Deutfchland faſt allmächtige Inſtitut nicht in der Lage fein, einen 
Teil ihrer Machtentfaltung ſchneller und energiſcher in den Dienſt der 
Schutzbedürftigſten unter den Schutzbedürftigen zu ſtellen? | 

Der Befund an dem Körper eines von feinem leiblichen Vater zu 
Todeg eprügelten Mädchens ergab tiefe Einſchnitte. Man durfte daraus 
ſchließen, daß die Gliedmaßen des Kindes mit einem Stricke feſt aneinander 
gefeſſelt worden waren. An einem Tage ſoll die Kleine auf den Tiſch geſpien 
baben. Hierfür wurde fie von dem Vater über die Sofalehne gelegt und 
in barbariſcher Weiſe längere Zeit mit dem Rohrſtock bearbeitet. Das ge: 
ſchah alle Tage. Endlich war es ſo weit gekommen, daß der Vater es denn 


218 Zürmers Tagebuch 


doch für zweckmäßig hielt, einen Arzt zum Kinde zu rufen. Dieſer fand es 
in einer entſetzlichen Verfaſſung vor. Das UArmſte hatte hohes Fieber, die 
ganzen unteren Gliedmaßen waren mit handtellergroßen eitrigen Beulen 
behaftet, die durch eine unglaubliche Vernachläſſigung der vom Vater ver⸗ 
übten Verletzungen entſtanden waren. Der Zuſtand war hoffnungslos, die 
Blutvergiftung ſchon zu weit vorgeſchritten. An demſelben Abend wurde 
das Opfer durch den Tod erlöſt. 

Vor Gericht entſpann fic) eine gelehrte und ſcharfſinnige Dis⸗ 
kuſſion über die Frage, ob der Tod durch Vernachläſſigung der Wunden 
herbeigeführt ſei und demnach fahrläſſige Tötung vorliege. Das Gericht 
hielt es „nicht für feſtgeſtellt, daß der Tod durch eine Fahrläſſigkeit 
der Angeklagten verſchuldet, auch nicht, daß die Körperverletzung mittels 
einer das Leben gefährdenden Behandlung erfolgt ſei“. Trotzdem 
es ausdrücklich erklärte, daß zur Annahme mildernder Umftände „keine Ver 
anlaſſung“ vorliege, erkannte es gegen den unmenſchlichen Vater auf nur 
drei Monate „wegen Körperverletzung mittels gefährlichen Werkzeugs“. Die 
Frau wurde freigeſprochen. 

Eine Mutter hatte ihr voreheliches dreijähriges Töchterchen in 
der brutalſten Weiſe mißhandelt. Mit Stecken, Beſenſtielen und anderen 
Werkzeugen unbarmherzig auf das kleine Weſen eingeſchlagen und es 
dann auf den Erdboden geſchleudert. Die Schilderungen der Zeugen waren 
geradezu furchtbare. Halbe Tage hindurch mußte das Kind in der 
Märzkälte in nur ganz dünnem Kleidchen auf der Treppe frierend und 
bungernd kampieren. Abereinſtimmend bekundeten die Seuginnen, daß das 
Kind über und über zerſchlagen geweſen ſei. Blutunterlaufene Augen, 
geſchwollene Backen, blau und braun verfärbter Nücken. Arme und Beine 
mit Wunden bedeckt. Endlich wurde auf den Strafantrag des Vor⸗ 
mundes das Verfahren eingeleitet. Die Mutter zeigte während der Ver⸗ 
handlung nicht die geringſte Spur von Reue Auch zu ihrer 
Entſchuldigung vermochte ſie nicht das Geringſte anzugeben. 
Der Amtsanwalt beantragte ſechs Monate, der Gerichtshof erkannte auf — 
vier Wochen Gefängnis! | 

Mancher Redakteur mit blankem Ehrenſchilde, der im Dienfte des 
öffentlichen Wohles für einen nicht vorſichtig genug gewählten Ausdruck, für 
eine nicht bis aufs I-Tüpfelchen juriſtiſch beweisbare und doch wahre 
Behauptung ohne viel Amſtände feine ſoundſoviel Monate abbekommen 
hat, — mancher Ehrenmann ohne Furcht und Tadel hätte von Glück ſagen 
können, wenn ſeine „Straftat“ auch nur ſo eingeſchätzt worden wäre, wie 
die fortgeſetzten unſäglich gemeinen Handlungen dieſer Rabenmutter! 

Aufſehen erregte der Fall der Frau Dr. Elſe B. in Berlin. Das 
Anklagematerial war ſo wuchtig und ſo angewachſen, daß der Staats⸗ 
anwalt zur Verhaftung ſchritt. Frau Elfe iſt die zweite Gattin eines an- 
geſehenen Arztes, der ihr fein aus erſter Ehe ſtammendes, damals zwölf: 
jähriges Töchterlein, Marie B., mitbrachte. Von Anfang an, behauptet 


Türmers Tagebuch 219 


die Anklage, war ihr das Kind ein Dorn im Auge. Ihr Haß gegen das 
unſchuldige Weſen ſteigerte ſich um ſo mehr, als ihre eigene Ehe kinderlos 
blieb. „Du allein haſt mir mein ganzes Eheglück zerſtört!“ hat ſie es öfter 
angeſchrien. Obwohl Dienſtmädchen vorhanden waren, mußte die kleine 
Marie jeden Morgen um 6 Ahr aufſtehen und trotz bitterſter Winterkälte 
in einem dünnen Kattunröckchen ſämtliche Stuben reinigen, den Kehricht 
heruntertragen, den Kohleneimer heraufſchleppen. Als Schlafſtelle hatte ſie 
ein Feldbett, auf dem ſonſt mit gewiſſen Hautleiden behaftete 
Patienten des Dr. B. unterſucht wurden. In das für Kranke eingerichtete 
elektriſche Lichtbad hat die Angeklagte das Mädchen eingeſperrt 
und ſämtliche Lampen eingeſchaltet, ſo daß eine fürchterliche Hitze 
entſtand, das Kind halb ohnmächtig wurde und flehentlich um Hilfe 
ſchrie. Dazu hat fie höhniſch gelacht und mit einem RNohrſtock 
auf den aus dem Kaſten hervorragenden Kopf des Kindes 
geſchlagen. Um auch die geiſtige Geſundheit des Mädchens zu unter- 
graben, behauptet weiter die Anklage, hat ſie des Nachts mit Hilfe eines 
Lakens und einer weißen Larve Geſpenſter⸗Erſcheinungen an ſeinem 
Bette inſzeniert. . 

Die Zeugenausſagen beſtätigten und ergänzten das Weſentliche diefer 
Anklage in erſchütternder Weiſe. Die Schulvorſteherin, bei der das Kind 
mehrere Monate in Penſion war, bekundete, daß der Vater, als er es ihr zu⸗ 
führte, die Worte fallen ließ: „Ich muß das Kind wegbringen, 
ich kann es nicht mehr verantworten!“ Es war nur eine mittel- 
mäßige Schülerin, aber weder ſchlecht noch lügneriſch. Nach den 
Ferien erſchien es ganz bleich und heruntergekommen in der Schule und 
äußerte zu Mitſchülerinnen, es wolle am liebſten gar nicht mehr nach Hauſe. 
Sie, die Zeugin, hat ſelbſt geſehen, wie das Kind einmal vor Schwäche 
und Müdigkeit mit ausgebreiteten Armen umſank. Sie nahm es 
dann ſofort in ihre Wohnung, wo es ſtundenlang wie tot geſchlafen 
hat. Sie benachrichtigte dann die Stiefmutter. Bevor dieſe jedoch er- 
ſchien, erzählte ihr die Marie B., ſie habe die letzten 14 Tage nichts 
als Brotſuppe zu eſſen bekommen. Die Angeklagte war darüber 
ſehr wütend, kaufte ſich, ſo erzählte die kleine Marie ihren Mitſchüle⸗ 
rinnen, auf dem Heimwege zwei Stöcke und ſchlug dieſe auf ihr 
entzwei. Nach den Ferien kam das Mädchen ſehr verſchmutzt und ohne 
ausreichende Wäſche wieder. Dabei hatte es an Armen und Füßen blaue, 
grüne und gelbe Flecken. Auf eine Frage des Verteidigers erklärt die Zeugin 
ſehr entſchieden, daß das Mädchen in der Schule zwar „unordentlich“ (bei 
der „mütterlichen“ Erziehung!) geweſen fei, von Lügenhaftigkeit bei 
ihm aber keine Rede fein könne. In ſtrenger Winterkälte, im Januar⸗ 
monat, kam es im dünnen Kattunröckchen, nur mit einem 
Hemde darunter, zur Schule. „Ein Bettelkind würde dieſes Kattun⸗ 
kleid nicht mehr getragen haben“, ſo unſauber ſei es geweſen. 

Eine im ſelben Hauſe mit der Angeklagten wohnende Frau L. hat 


220 Türmers Tagebuch 


zuerſt ein gutes Verhältnis zwiſchen Stiefmutter und Tochter geſehen. Dann 
aber hörte ſie eines Tages an ihrer Korridortür ein leiſes Pochen und 
Seufzen. Die kleine B. ſtand vor der Tür und weinte bitterlich: ſie habe 
großen Hunger. Einige Stunden ſpäter hatte wohl die Frau Dr. B. 
dieſen Vorgang erfahren, denn bald darauf hörte die Zeugin aus der 
B.'ſchen Wohnung das Geräuſch klatſchender Schläge. Das Mädchen hat 
ſich dann an der Waſſerleitung erbrochen, während Frau Dr. B. daneben 
ſtand und höhniſch lachte. Am nächſten Tage fragte die Zeugin das Kind, 
ob es öfters von der Stiefmutter geſchlagen werde. Es weinte und ſagte: 
„Papa hat keine Ahnung davon, wie ſchlecht es mir geht. Erzählen Sie 
es bloß nicht Papa, ſonſt erfährt es wieder Mama und ich habe 
es dann doppelt ſchlecht!“ Eines Abends beobachtete ſie, wie es ſich 
weit aus dem Fenſter herausbeugte, ſo daß es beinahe in die Tiefe geſtürzt 
wäre. Die kleine B. teilte ihr dann am nächſten Tage mit, ſie ſei von ihrer 
Stiefmutter wieder ſo ſchrecklich geſchlagen worden, daß ſie ſich 
aus dem Fenſter ſtürzen wollte. Wiederholt hat die Zeugin das 
Kind bei bitterer Kälte im Hemd am offenen Fenſter ſitzen 
ſehen. Auf ſeinen Füßen ſah ſie einmal eine große klaffende Wunde. 
Das Mädchen erzählte darüber: Auf Befehl der Mutter habe fie ſich i m 
Hemd an das offene Fenſter ſetzen und ſtricken müſſen. Als ihr Vater 
dazugekommen, ſei er ſehr böſe geworden, habe der Stiefmutter Vorwürfe 
gemacht, das Mädchen ſofort ins Bett gebracht und ihm eine Wärmflaſche 
mitgegeben. Als bald darauf ihr Vater fortgegangen ſei, habe ihre Gtief- 
mutter ſie wieder herausgeriſſen und mit der Wärmflaſche auf 
ſie eingeſchlagen, wodurch jene Wunde entſtanden ſei. Im Hauſe 
war es nach Ausſage der Zeugin allgemein bekannt, daß das Mädchen des 
Mittags nie etwas zu eſſen bekam. Faſt alltäglich klopfte die 
kleine B. bei Hausbewohnern an und bettelte um eine Semmel! 
Eines Tages kam ſie zu ihr und zeigte ihr ein Stück ganz mit grauem 
Schimmel überzogenen Schinken, den ſie als Mittagbrot er— 
halten. „Ich hatte das Gefühl, als ob das Kind nach und nach 
zugrunde gerichtet werden und langſam abgetötet werden 
ſollte. Es lief nur noch herum wie ein geſchlagener und 
kranker Hund.“ Als Abendbrot habe die Marie zwei verſchimmelte 
Brotſcheiben erhalten. Damit der Vater es nicht zufällig ſehe, war dem 
Kinde eingeſchärft worden, das Brot zu verſtecken. Auch daß die Stick 
mutter ihm die genießbaren Butterbrote durch fingerdickes Aufſtreuen von 
Salz ungenießbar machte, erzählte das Mädchen der Zeugin. 

Ein früheres Dienſtmädchen beſtätigte die Vorgänge in dem elektriſchen 
Lichtbade. Das Kind ſei überhaupt ſo erbärmlich behandelt worden, daß ſie 
ſelbſt darüber oft habe weinen müſſen. So ſchwächlich es geweſen und obwohl 
ſie, die Zeugin, noch zugegen war, ſo habe es doch nach zehn Ahr abends 
noch den ſchweren Mülleimer hinunter tragen müſſen. Wenn 
ſie ihm helfen wollte, habe es ihre Hilfe abgelehnt: „Nein, nein, ich muß 


Türmers Tagebuch 221 


alles allein machen, ſonſt bekomme ich Schläge.“ Bis ſpät in die Nacht 
hinein wurde das Kind gezwungen, Strümpfe zu ſtricken, am andern Morgen 
aber mußte es ſchon wieder um ſechs Ahr aufſtehen, um ſchwere Hausarbeit 
zu verrichten, während ſich die gnädige Frau Stiefmutter zumeiſt bis um 
ein Ahr mittags in ihrem Bette pflegte. Ahnliches bekundeten auch noch 
mehrere andere Zeugen. 

Die Angeklagte beſtritt, was ſie beſtreiten konnte. Was ſie zugeben 
mußte, erklärte ſie auf die harmloſeſte Weiſe. So z. B. ſei ſie dem Kinde 
in der Tat einmal in einer Maske erſchienen, aber nur um es „zu einem 
Geſtändnis zu bringen“, als es „geſtohlen“ habe. Der Herr Gemahl 
ſekundierte ſeiner jungen hübſchen Eheliebſten auf das ritterlichſte und 
ſtellte ihr über die Behandlung ſeines Kindes das glänzendſte Zeugnis aus! 
Trotzdem er es ſelbſt „nicht länger verantworten“ konnte, das Kind zuhauſe 
zu behalten! Dieſes verweigerte die Ausſage, was die beiden Eltern 
aber nicht abhielt, es nach Möglichkeit ſchlecht zu machen, es als verlogen, 
ſchmutzig, raffiniert uſw. hinzuſtellen. Ein Sachverſtändiger endlich pro— 
duzierte das Ei des Kolumbus, indem er einfach auf „moral insanity“ 
(moraliſches Irreſein) — bei dem Kinde erkannte. Dieſe pſychiatriſchen 
„Sachverſtändigen“ wachſen ſich nachgerade zu einer öffentlichen Gefahr aus. 
Man braucht kein Fachmann zu ſein, um zu wiſſen, daß die ernſte Wiſſen⸗ 
ſchaft den abgetriebenen Gaul jener angeblichen „moral insanity“ längſt 
ausrangiert hat. 

Die „elegante Erſcheinung“ der „hübſchen jungen Frau“, wie ſie 
in den Zeitungen genannt wurde, hat ihr jedenfalls nicht geſchadet. Und 
die angeſehene ſoziale Stellung, ſowie den Bildungsgrad der Dame machte 
der Herr Verteidiger mit beſonderem Nachdrucke zu ihren Gunſten geltend. 
Den Staatsanwalt rührte das alles nicht, er hielt die Angeklagte für 
völlig überführt und beantragte acht Monat Gefängnis. Der Ge— 
richtshof erkannte auf 300 Mark Geldſtrafe, von denen obendrein 
noch 150 Mark durch die Anterſuchungshaft beglichen ſeien. 

Der Gerichtshof, fo heißt es in der Urteilsbegründung, hat nicht 
angenommen, daß Frau Dr. B. abſichtlich der Stieftochter Körper— 
verletzungen beigebracht und ſie aus Luſt an Marterungen gequält, ſon— 
dern daß ſie unter Verkennung ihrer Mutter⸗ und Erzieherpflichten nur 
fahrläſſigerweiſe das elterliche Züchtigungsrecht überſchritten habe. 
Der Gerichtshof erwog, daß es ſich um eine noch in jungen Jahren ſtehende 
Frau handelt, die ſelbſt noch keine Kinder und deshalb noch keine Er— 
fahrung in bezug auf Kindererziehung gehabt hat. Dazu komme, 
daß nach den Ergebniſſen der Beweisaufnahme ihre Stieftochter ein immer— 
hin ſchwierig zu behandelndes Kind ſei, deſſen mancherlei üble An— 
gewohnheiten die Angeklagte gereizt haben. Der Gerichtshof hat lange 
geſchwankt, ob er nicht Vorſätzlichkeit annehmen ſolle, er ſei aber ſchließ— 
lich doch zu der für die Angeklagte günſtigeren Auffaſſung ge— 
kommen. — 


222 Türmers Tagebuch 


Alſo: die Frau hat das Kind nicht abſichtlich in das Lichtbad 
geſperrt, ſämtliche Lampen eingeſchaltet, ſo daß es in der fürchterlichen Hitze 
um Hilfe ſchrie. Sie hat es nicht abſichtlich zuhauſe ſo geſchunden 
und unterernährt, daß es im Penſionat vor Erſchöpfung umſank, nachher 
wie eine Tote ſtundenlang ſchlief; daß es bei den Nachbarn um ein Stück⸗ 
chen Brot betteln mußte; daß es ſich vor Verzweiflung aus dem Fenſter 
ſtürzen wollte! Sie hat es nicht abſichtlich wochenlang hungern laſſen, 
ihm nicht abſichtlich verſchimmelte Abfälle als Nahrung hingeworfen 
und es in einem dünnen Kattunröckchen, das nebenbei „kein Bettelkind ge⸗ 
tragen haben würde“, in den kalten Winter geſchickt! Sie hat es nicht 
abſichtlich ſo geprügelt, daß ſeine Arme und Füße in allen himmliſchen 
Regenbogenfarben prangten, der eine Fuß ſogar eine große klaffende Wunde 
zeigte. Nichts, aber auch nichts davon hat fie mit Abſicht getan, trotz⸗ 
dem es wochen- und monatelang geſchah, mit ſtaunenswerter Konſequenz ſich 
wiederholte. And die Hiebe mit dem Nobritod über den Kopf des zwiſchen 
Glühkörpern ſich windenden, um Hilfe ſchreienden Kindes; die zwei auf 
ſeiner Jammergeſtalt zerſchlagenen Stöcke, die brutale Mißhandlung mit 
der Wärmflaſche: — das alles ſind wohl Hirngeſpinſte dieſes Mädchens, 
dem irgendwelche Neigung zur Lügenhaftigkeit trotz aller Bemühungen der 
Verteidigung nicht einmal nachgeſagt werden konnte. „So raffiniert“, wie es 
nach dem väterlichen Zeugnis ja war, hat es ſich vielleicht auch die klaffende 
Wunde auf dem Fuße ſelbſt beigebracht, um ihr liebes, gutes Stiefmütterchen 
zu ärgern? 

Weiter erfahren wir aus der Arteilsbegründung, daß es notwendig 
iſt, Kinder zur Welt gebracht und „Erfahrungen in Kindererziehung“ zu 
haben, um zu wiſſen, daß ſyſtematiſche Mißhandlung, Prügeln und Hungern⸗ 
laffen kein den Forderungen der modernen Pädagogik entſprechendes Er⸗ 
ziehungsſyſtem darſtellen. Dann müßte man ja aber ſofort ſämtliche männ⸗ 
lichen Lehrkräfte entlaſſen, da dieſe doch beim beſten Willen der Forderung 
nicht genügen können, Kinder hervorzubringen, dies Geſchäft vielmehr nach 
wie vor vertrauensvoll ihren Frauen überlaſſen müſſen. Und die armen 
Lehrerinnen, die bekanntlich in Preußen nicht heiraten dürfen? 

Die ganze „Schwierigkeit“ endlich in der „Behandlung“ des Kindes 
war, wie die Penſionatsvorſteherin, bei der es ſich jetzt befindet, vor Gericht 
erklärte, ſofort gehoben, wenn man ihm nur mit etwas Liebe und Güte 
entgegenkam. Das nach dem Herrn Sachverſtändigen hoffnungsloſe Opfer 
jener „moral insanity“ wird übrigens von derſelben Zeugin für „hoch⸗ 
begabt“ erklärt. 

Der Gerichtshof, ſo erklärt er ſelbſt, iſt nach langem Schwanken „zu 
der für die Angeklagte günſtigeren Auffaſſung gekommen“. Warum, wenn 
man fragen darf? Doch nicht etwa wegen ihrer „geſellſchaftlichen Stellung“, 
wegen ihres „Bildungsgrades“, dem man ſolche Abſichten nicht zutrauen 
dürfe? Wenn geſellſchaftliche Stellung und was man ſo „Bildung“ nennt, 
vor dergleichen ſchützten! Ein ſchöner Gedanke, aber ein frommer Wunſch, 


Türmers Tagebuch 223 


wie wir's ja alle Tage erleben können. Will man beides in dieſem Falle 
in Anſchlag bringen, ſo kann man's doch nur ganz entſchieden zu⸗ 
ungunſten der Angeklagten. Das iſt ja gerade mit das Häßlichſte an 
dem ganzen Fall: das Milieu, in dem er ſich abſpielt. 

Ganz unerfindlich iſt, wieſo etwa eine angebliche „moral insanity“ 
des Kindes, — wenn wir ſchon dieſen Begriff aus der vierten Dimenſion 
akzeptieren wollten, — die Angeklagte entlaſten könnte? Ein ethiſch 
unzurechnungsfähiges Kind verdiente alſo ſchwerere „Strafen“ 
als ein ethiſch zurechnungsfähiges? Wo Anzurechnungsfähigkeit doch auch 
nach richterlichem Recht jede Strafe ausſchließt? 

„Wenn man“, ſo ſchloß ein Berliner Blatt ſeine Betrachtungen über 
den Fall, „die Frau, die alle dieſe Folterqualen erſinnt und anwendet, 
hart, möglichſt hart beſtrafen will, dann heißt es — und das ſoll ſehr 
modern ſein — man darf niemanden dafür beſtrafen, daß er ſolche Dinge 
verbricht: denn für ſeine Natur kann der Menſch nicht; die Strafe beſſert 
nicht; die Strafe ſchreckt nicht ab. Beſtraft werden darf nur, wer unter 
den Krallen eines Grauſamen leidet? Nicht aber der Grauſame, der mit 
ſeinen Krallen zerfleiſcht, was er haßt? Wahrlich: Wenn man die Anarchie 
will, wenn man will, daß la béte humaine, die Beſtie im Menſchen, auf 
jeden ungehindert und ungeſtraft losgelaſſen werde, der ihr und ihren 
beſtialiſchen Trieben in den Weg läuft, dann iſt dieſe Theorie gut! Dann 
gebe man den Peinigern der Menſchheit Prämien, daß ſie die Güte haben, 
ſich ,ausguleben’, denn dadurch ſtellen fie ja wohl den höheren Typ Menſch 
vor!. 

Nun hat aber das Reichsgericht als Reviſionsinſtanz das Arteil der 
Strafkammer aufgehoben. Man atmet befreit auf: dem natürlichen Nechts⸗ 
empfinden, dem Menſchlichkeitsgefühl wird alſo Genüge geſchehen. Gemach: 
das befreiende Gefühl iſt vielleicht ein wenig zu früh aufgeſtanden. Das 
Reichsgericht hat das Urteil nur deshalb aufgehoben, „weil es nicht zu 
der Annahme gelangen konnte, daß bei der Angeklagten ein Bewußt⸗ 
ſein der Aberſchreitung des Züchtigungsrechtes vorhanden war.“ Nach⸗ 
dem die Strafkammer die Abſicht, das Reichsgericht das Bewußt⸗ 
ſein der ſtrafbaren Handlung ausgeſchaltet hat, iſt es nicht ausgeſchloſſen, 
daß die „hübſche junge Frau“ noch in die Lage kommt, ohne das immerhin 
etwas ftörende Schönheitspfläſterchen einer Beſtrafung in den Salons von 
Berlin W diejenige Rolle zu ſpielen, die ihr nach ihrer „eleganten Erſchei⸗ 
nung“, ihrer „angeſehenen geſellſchaftlichen Poſition“ und ihrem „Bildungs: 
grade“ von Rechts wegen gebührt. 

In dieſem Falle war die öffentliche Meinung einmütig. Die „Tägliche 
Rundſchau“, deren Beziehungen zu Bülow und zum Hofe ja bekannt find, 
brachte ſogar an leitender Stelle eine auffallend ſcharfe Kritik. „Dieſe 
Kinderquälerei“, hieß es da u. a., „dieſe Verſündigung am Wertvollſten, 
was wir haben, an der Jugend, fängt an typiſch zu werden. Das iſt 
eine grauenhafte Ungeheuerlichkeit. Schaudernd gedenkt man einer Neihe 


224 Türmers Tagebuch 


von Fällen dieſer Art, die deutſche Gerichte beſchäftigt haben und die einer 
nach dem andern die Anfähigkeit unſeres formalen Rechtes und 
unſerer berufsmäßigen Rechtſprechung erwieſen haben, ſolche grauen⸗ 
haften Dinge fo anzufaſſen, wie fie angefaßt werden müſſen ... ‚Moral insa- 
nity.“ Iſt das eine Entſchuldigung für einen Vater, für eine Mutter, und 
wäre es hundertmal nur eine Stiefmutter und hundertmal nur eine arm⸗ 
ſelige, elegante, junge Törin, der wir ohne weiteres glauben, daß ſie hundert⸗ 
mal mehr Intereſſe an einem Schneiderkleid hat als an einer Menſchenſeele ..“ 

Der bayriſche Juſtizminiſter empfiehlt den bayriſchen Staatsanwälten 
in einem Erlaß, alle Roheits⸗ und Sittlichkeitsvergehen mit unnach⸗ 
ſichtiger Strenge zu verfolgen. Es werde häufig darüber geklagt, daß die 
Strafen wegen ſolcher Vergehen zu milde ausfielen, während andererſeits 
oft geringfügige Eingriffe in fremde Vermögensrechte verhältnismäßig 
ſchwer beſtraft würden. Mit beſonderem Nachdrucke ſeien Straftaten gegen 
Frauen und Kinder zu verfolgen, und namentlich in Fällen, wo die Tat 
unter Mißbrauch eines Abhängigkeitsverhältniſſes verübt werde. 

Ein fo dankenswerter wie leider zeitgemäßer Erlaß. Aber der nach⸗ 
drückliche Schutz, den jedes Abhängigkeitsverhältnis von der Staatsgewalt 
fordern muß, ſollte ſich auch auf das menſchlicher Willkür und Grauſamkeit 
grenzenlos preisgegebene Tier erſtrecken. Hier ſtehen wir aber vor einer tief 
beſchämenden, ja erſchreckenden Erſcheinung. So völlig unzureichend 
anerkanntermaßen die Strafbeſtimmungen für den Tierſchutz ſind, ſo ſelten 
entſchließt ſich ein Gericht, auch nur von dieſen entſprechenden Ge⸗ 
brauch zu machen und auf die höchſte zuläſſige Strafe zu erkennen. Das 
find auch bei den denkbar beſtialiſchſten, teufliſchſten Ver- 
brechen gegen Tiere ganze ſechs Wochen Haft! 

Ein betrunkener Fuhrherr, alſo kein Proletarier, verfehlte die richtige 
Einfahrt auf ſein Gehöft und blieb mit ſeinem Wagen im tiefen Sande 
ſtecken. Als die beiden Pferde den über 60 Zentner ſchweren Wagen 
nicht fortbringen konnten, ſchlug er mit dem dicken Peitſchenende wie un⸗ 
ſinnig auf die armen Tiere ein. Während die Schläge hageldicht auf die 
Köpfe der Pferde niederſauſten, verſuchten dieſe nochmals, mit äußerfter 
Anſtrengung, den Wagen fortzubewegen, bis eins der Tiere vor Erſchöpfung 
umſank. Voller Wut ſtürzte er ſich nun auf das andere Pferd, das am 
ganzen Leibe zitterte und mit Schaum bedeckt war. „Dir Aas reiße ich die 
Zunge aus dem Schlund, wenn du nicht ziehen willſt!“ Im nächſten Augen- 
blick hatte er auch ſchon dieſe kannibaliſche Drohung wahr gemacht. Er faßte 
das Pferd an der Zunge und verſuchte, es daran fortzuziehen. 
Plötzlich hatte der Anmenſch die Zunge des Tieres in der Hand. Mit 
höhniſchem Lachen warf er dem in der Nähe ſtehenden Knecht die Zunge 
in das Geſicht. Das unglückliche Tier mußte ſich noch einen ganzen Tag 
quälen und ward dann erſt dem Abdecker überwieſen! Das Amtsgericht 
erkannte noch nicht einmal auf die Höchſtſtrafe, die drakoniſchen 
ſechs Wochen, ſondern beließ es bei einer Haftſtrafe von vier Wochen. 


Türmers Tagebuch i 225 


Hiergegen hatte der Angeklagte noch die Anverfrorenheit, Berufung ein: 
zulegen! Das Gericht verwarf unter Beſtätigung des erſten Arteils die 
Berufung: es ſei im Gegenteil zu bedauern, daß das Geſetz bei derartigen 
Tierquälereien nur fo verhältnismäßig milde Strafen zulaſſe. 

Was könnten aber auch die denkbar beſten Geſetze nützen, wenn ſie 
nicht oder in unzulänglicher Auslegung angewandt würden? Gute Geſetze 
find es ja überhaupt nicht allein, was wir nötig haben, betont mit Recht 
der Stuttgarter „Beobachter“: „Wir brauchen einen modernen Richter- 
ſtand. Die Richter rekrutieren ſich aus einer ziemlich beſchränkten Schicht. 
Auf der Aniverſität gehören ſie meiſt dem Korps an. Auf dieſe Weiſe 
wollen ſie Karriere machen. Iſt der stud. jur. Referendar geworden, ſo 
verkehrt er nur in den „feinen“ Kreiſen. Als Aſſeſſor denkt er daran, ſich 
ſtandesgemäß zu verheiraten. Als Richter hat er im Norden lediglich 
feinen Klub oder feine Reffource, wo er ein und aus geht. Der Ssozial⸗ 
demokrat iſt für ihn ein unzufriedenes Menſchenkind, ein unruhiges Ele⸗ 
ment, das den Staat umſtürzen will. Den Streik hält er für eine Ver⸗ 
blendung und Streifvergeben für ungemein Strafwürdiges. In dem Streil⸗ 
brecher ſieht er nicht einen Verräter, der die Diſziplin bricht wie ein Offi⸗ 
zier, der gegen die Standesehre handelt, ſondern ein ungemein ſegens⸗ 
reiches Element.“ 

In Süddeutſchland fei die Juſtiz entſchieden beſſer: „Hier find 
die Klaſſenunterſchiede nicht fo groß. Hier beſucht der Referendar auch 
einmal eine ſozialdemokratiſche Verſammlung, um die Empfindungen der 
Arbeiter kennen zu lernen. Hier tritt der Aſſeſſor in ein induſtrielles Werk 
ein als Volontär, um einen Einblick in das Wirtſchaftsleben zu erlangen. 
Sehr gut wäre es auch, wenn der Vorſchlag eines Redners im Reichstag 
befolgt würde und die Herren Juriſten ſich einmal ein Jahr lang mit einem 
größeren Zeitungsbetriebe bekannt machten. Denn in einer Zeitung fließen 
heute ſehr wichtige Ströme zuſammen. 

Mehrfach wurde im Reichstag der Ruf nach Heranziehung von 
Laienrichtern erhoben. Die Gewerbegerichte und die Kaufmannsgerichte 
find deshalb fo beliebt, weil hier Laien die Richter find und die Juriſten 
ſich auf die Nechtsbelehrung beſchränken. So müßten heute auch zu den 
Amtsgerichten und den Landgerichten, zu den Zivilprozeſſen wie zu den 
Strafprozeſſen Laien herangezogen werden. Die Schöffen: und Geſchworenen⸗ 
gerichte mögen ihre Fehler haben. Aber beſſer als die bloßen Fachgerichte 
ſind ſie entſchieden. (Lange nicht immer! D. T.) Nur müßten natürlich zu 
Schöffen und Geſchworenen alle Bevölkerungsklaſſen herangezogen 
werden.“ Daran liegt's. 

„Langſamkeit der Prozeſſe, Weltfremdheit der Richter und in ge⸗ 
wiſſer Beziehung Klaſſenjuſtiz“ ſtellte ein nationalliberaler Abgeordneter, 
Dr. Heintze, im Reichstage feſt. „Ich ſelbſt habe als Richter vielfach 
bedauert, wie ſchwer es iſt, den Leuten zu ihrem Recht zu verhelfen; die 


große Anzahl von Vertagungen, die Länge der Friſt, lange eee 
Der Tirmer X, 8 


226 Zürmers Tageduch 


haft, wo der Bericht der Zeitung mit Recht die Spitzmarke trug: minima non 
curat praetor! Auch die immerwährenden Klagen über die Klaſſenjuſtiz 
ſind bei objektiver Prüfung nicht durchweg als unberechtigt zu erklären. 
Nur muß man die Arſachen zu ergründen ſuchen. Es iſt juriſtiſch außer⸗ 
ordentlich ſchwer, die Fülle von neuen Begriffen und Anregungen, die die 
aufſteigende Arbeiterbewegung den Gerichten geſtellt hat, ohne weiteres zu 
löſen: Ausſperrungen, Arbeitsniederlegungen, Verrufe, Organiſation uſw. 
Weiter hat die Verquickung der Arbeiterbewegung mit den revolutionären 
Beſtrebungen der Sozialdemokratie manche Richterkollegien mißtrauiſch ge⸗ 
macht. And ſchließlich kann auch ohne weiteres anerkannt werden, daß 
unſere deutſche Juriſtenwelt ſich aus gewiſſen ſozialen Schichten 
zuſammenſetzt, denen es ſchwer fällt, ſich ohne weiteres in andere ſoziale 
Schichten mit ihrer Denk und Anſchauungsweiſe zu verſetzen und daraus 
den einzelnen Fall richtig zu beurteilen. Daraus folgen dann manche Ar- 
teile über Erpreſſungen, manche falſche Auslegung der SS 152 und 153 
der Gewerbeordnung, falſche Definitionen des Begriffs Streikbrecher. Es iſt 
ohne weiteres zuzugeben, daß die Rechtiprechung bezüglich des Koali⸗ 
tionsrechts nicht immer Licht und Schatten in gleicher Weiſe ver- 
teilt, nicht immer die Anternehmerverbände abſolut gleich behandelt. Weiter 
iſt zuzugeben, daß bezüglich des Strafmaßes vielfach bei politi- 
ſchen Prozeſſen hart geurteilt wird, während, wenn die ſogenannten 
gebildeten Stände in Betracht kommen, außerordentlich milde 
Strafen verhängt werden. 

Worauf es ankommt, ift, das Niveau der Richter und Anwärter, 
aller Beteiligten immer mehr zu heben. Es kann dem Richter nicht genug 
eingeſchärft werden, daß die Prozeſſe aus wirtſchaftlichen Dingen ber- 
vorgehen und dieſe ihr Ziel ſind. Die Richter dürfen deshalb ſich nicht 
ausſchließlich mit der Jurisprudenz begnügen. Ein Aberblick 
über das Leben läßt ſich nicht gewinnen durch Verlängerung der Aus- 
bildungszeit, auch nicht durch Aufnahme des Studiums der National⸗ 
ökonomie. Eine gewiſſe Freizügigkeit unſerer Referendare iſt erforderlich. 
Es wäre außerordentlich wünſchenswert, daß die angehenden Richter ſich 
nicht allein in dem deutſchen Staat umſehen, in dem fie die richterliche Lauf⸗ 
bahn haben; es würde einem ſächſiſchen Referendar durchaus nicht ſchaden, 
wenn er einen Teil ſeiner Vorbereitungszeit an einem Hamburger Gericht 
durchmachte, und einem Berliner durchaus nicht, wenn er in Württemberg 
und Bayern ſähe, wie man dort mit dem Publikum verkehrt. Aber auch 
dem Bayer nicht, wenn er einmal nach Berlin käme. Zeitſchriften wie 
die ‚Soziale Praxis“ ſollten in jedem Amtsgericht gehalten werden. 

Vor allem muß alles aus den Gerichtsfälen heraus, was nach Sen- 
ſation klingt. Ein Beiſpiel, wie es nicht gemacht werden ſoll, iſt die 
Rede des Oberſtaats anwalts Sfenbiel beim Moltle-Harden- 
Prozeß. Bei Erhebung der öffentlichen Anklage müſſen die Staats- 
anwälte nach allen Seiten gerecht verfahren. Ohne Parteiunterſchied 


Türmers Tagebuch 227 


muß einer fo behandelt werden wie der andere. Wenn öffentliche Wmter 
und Abgeordnete in Frage kommen, ſollte immer öffentliche Anklage er⸗ 
hoben werden, gleichgültig, welcher Partei der Betreffende angehört ...“ 

Dieſen Forderungen gegenüber will ich hier nur an eine Tatſache 
erinnern: Das Berliner Landgericht! hat ausdrücklich zugegeben, daß 
in Sachſen die Arbeiter minderen Rechtes find. — Nur in Gadfen?... 

„Immer wohlbeleibter wurde Germania, ihre Söhne ſtandes bewußter, 
ſtandesbeſchränkter“, ſchreibt die „B. 3. a. Mittag“: „Die Zugluftfenſter, 
durch die ein friſcher Strom volkstümlicher Richter hätte in die Juſtiz ein⸗ 
ziehen können, wurden ſorgfältig geſchloſſen. Das teure Studium, die Or⸗ 
ganiſationen der herrſchenden Klaſſen ſorgten dafür, daß man ſo ziemlich 
unter ſich blieb. Gewiß, ſie geben ſich alle Mühe mit dem Recht. „Wir wiſſen 
nicht, was ihr mit dem Vorwurf Klaſſenjuſtiz wollt. Wir halten uns an 
das Geſetz', dies ihre ſtändige Verteidigung. Und ein vielſtimmiges, miß⸗ 
tönendes Echo erwidert: Aber ihr ſeid Klaſſenrichter. Richter aus einer 
Kaſte, Richter aus denſelben Familien, aus denſelben Korps und Verbin- 
dungen. Mit dem bloßen Aburteilen der objektiven Sache iſt es nicht 
getan. Ihr habt ſubjektiv den Menſchen zu richten. Den Menſchen der 
großen Maſſe, den Menſchen des Volkes kennt ihr nicht. Nie habt ihr ihn 
in ſeinen Schmerzen und Irrtümern, in ſeinen Hoffnungen und neuen 
Wahrheiten kennen gelernt. 

In den Gewerbegerichten, auf den Redaktionen, bei den Streik⸗ 
kämpfen, in den Fabriken, ja auch in den Nachtaſylen und Zuchthäuſern 
wären die Gelegenheiten für den angehenden Richter, ſich für fein Amt 
vorzubereiten, Menſchen des Volks kennen zu lernen ... Anſere Zeit raft 
mit hundert Pferdekräften in die Zukunft. Geſetze ſind oft ſchon veraltet, 
wenn ſie geboren werden. Neue Geſetzreformen fordert jeder Tag. Im 
Reiche Nieberdings kommt man theoretiſch nicht mehr mit. Könnte nicht 
auf praktiſchem Gebiete nachgeholfen werden? Iſt die Moderniſierung der 
Rechtspflege, die Verjüngung und Populariſierung des Richter⸗ 
ſtandes nicht faſt noch wichtiger als der Ruf nach immer neuen 
Paragraphen? Es iſt nicht leicht für den Staat, bei dem Grundſatz 
der Anabſetzbarkeit der Nichter die Antüchtigen kalt zu ſtellen, die Tiftler 
und Doktrinäre, die Feinde des grünen goldenen Lebensbaumes unſchädlich 
zu machen. Aber er kann, heute beginnend, in die Zukunft bauen. Er 
mache die richterliche Laufbahn für die tüchtigen Köpfe anziehend 
und lohnend. Er mache ſie für die Söhne des großen Volkes 
möglich! Es genügt nicht, daß die Arbeiter mit Mühe und Not zum 
Schöffen oder Geſchworenenamt gelangen, die Bahn muß frei werden 
für die geborenen Juriſten unter den Bürgern und Prole 
tariern hinauf zu den Richterftühlen. Im konſtitutionellen Staate müßten 
wir es eigentlich in der Hand haben, dieſen Wandel zu ſchaffen. — Wie 


id eologiſch, ja faſt utopiſch erſcheint aber ſolch bißchen ‚Auf: 
kläricht'!“ 


228 Türmers Tagebuch 


Auch die ſchreienden Mißſtände bei der Anterſuchungshaft hat der — 
bayriſche Juſtizminiſter ins Auge gefaßt. Mit Rückſicht auf die ſchweren 
Nachteile, die ſie für den Betroffenen und ſeine Angehörigen zur Folge 
haben kann, ſind die Staats⸗ und Amtsanwälte verpflichtet worden, die 
Haft und ihre Vollſtreckung auf das Maß des unbedingt Notwendigen zu 
beſchränken. 

Was haben wir da aber auch alles erleben müſſen! Da war der 
Fall der Frau Marie Feuth. Ihr Mann war als junger Architekt mit 
eigenem Vermögen nach Berlin gekommen, hatte es aber in verunglückten 
Geſchäften verloren und dann noch eine erhebliche Schuldenlaſt auf ſich ge⸗ 
nommen. Trotz alledem gelang es ihm, den größten Teil davon ab⸗ 
zutragen, und es wäre wohl auch alles glatt verlaufen, wenn ihn ſeine 
Gläubiger nicht gar zu hart bedrängt und mit Denunziationen wegen Arreſt⸗ 
bruchs, Arkundenfälſchung, Verſchleppung von Pfandſtücken verfolgt hätten. 
An einem Novembertage des Jahres 1906 wurde er mit ſeiner Frau in 
Berlin auf offener Straße verhaftet und in ein Polizeirevier eingeliefert. 
„Wir wurden hier“, ſo erzählt nun die Dame ihre haarſträubenden Erleb⸗ 
niſſe, „in eine ſogenannte Detentionszelle eingeſperrt und ſaßen dort von 
1½ Ahr mittags bis zum Abend um 8 Ahr. Am 8 Ahr wurden wir nebſt 
einigen Zuhältern in den ‚grünen Wagen“ verladen und nach dem Polizei⸗ 
präſidium übergeführt. Hier ſaßen wir im Siſtierungszimmer“ inmitten der 
geſamten Einlieferung des Tages unter Verbrechern, Dirnen, zotenden 
Zuhältern und betrunkenen Nowdys bis um Mitternacht .. Gegen 
11 Ahr am folgenden Vormittag wurde ich in den Hof hinabgeführt; ein 
Wagen fuhr vor, und ich wurde zum Einſteigen aufgefordert, obwohl das 
kaum noch möglich war, denn in dem auf 10—12 Perſonen bemeſſenen 
Gefährt befanden ſich bereits etwa 20 Menſchen. Als ſich dann heraus⸗ 
ſtellte, daß noch 3—4 Leute übrigblieben, wurde nach einem zweiten Wagen 
geſandt; vorläufig ſchob man auch dieſe reftierenden Trans portobjekte zu 
uns herein. Die Leute ſaßen ſich gegenſeitig auf dem Schoß und ſtanden 
ſich auf den Füßen; Dirnen niedrigſter Kategorie und Zuhälter waren in 
größerer Anzahl vertreten, Witze von unglaublicher Gemeinheit und Hand⸗ 
greiflichkeiten der obſzönſten Art wurden produziert. Die Atmoſphäre ver⸗ 
ſchlechterte ſich derart, daß ein alter Mann in Ohnmacht fiel und über die 
Köpfe hinweg zum Fenſter gehoben werden mußte 

In einem Bureau zu Moabit wurden nochmals meine Perſonalien 
feſtgeſtellt und gebucht; dann wurde ich zwei Weibern übergeben. Sie 
brachten mich in einen Nebenraum, und ich mußte mich .. . bis auf die 
Haut entkleiden. (Das hatte die Dame ſchon einmal müſſen! D. T.) 
Meine Garderobe wurde betaſtet und befühlt und dann rückſichtslos zur Erde 
geworfen. Nach 10 Minuten erſchien die Oberin; ſie kommandierte: „Stellen 
Sie ſich dort in die Ecke.“ Ich durchſchritt im Koſtüm der Eva den 
Raum, und man ließ mich in dieſer Verfaſſung noch eine ganze Weile 
an der Wand ſtehen, mit dem Geſicht dieſer zugekehrt, bis 


Zürmers Tagebuch 229 


meine ſämtlichen Sachen ausreichend beſchnüffelt und gebucht waren. Dann 
wurde ich zu einem Meßapparat geführt und von oben bis unten viſitiert; 
endlich erhielt ich die Genehmigung, mich wieder anzukleiden. Ich wurde 
in eine Zelle gebracht und mit barſchen Worten auf die Lektüre des an der 
Wand hängenden, mit Strafandrohungen geſpickten Reglements verwieſen. 
Nach einer halben Stunde öffnete ſich die Türe, und es hieß: „Kommen Sie 
baden!“ Mit einer anderen Inhaftierten zuſammen wurde ich in den Keller 
geführt, mußte mich mit ſchwarzer Schmierſeife waſchen und dann in einer 
keineswegs reinen Wanne baden. Meine Leibwäſche wurde mir abgenommen 
und ich erhielt die Anſtaltswäſche, ein grobes ſackleinenes Hemd und ein 
Paar dicke Strümpfe, welche für meine Schuhe viel zu ſtark waren, ſo daß 
ich nur mit großen Schmerzen gehen konnte. Beinkleider wurden nicht ver⸗ 
abfolgt.“ Dann mußte fie ſich durch eine Strafgefangene auf — Ungeziefer 
unterſuchen laſſen. 

„Ich wurde in die Zelle zurückgeführt und dort in ſchroffer Weiſe auf 
die Obliegenheiten der Zellenreinigung uſw. hingewieſen. Am Abend gab 
es eine Art von Waſſerſuppe und ein Stück Brot. Ich vermochte nichts 
zu genießen, entkleidete mich auch nicht und blieb wieder die ganze Nacht 
auf der Bettkante ſitzen. Der Naum wimmelte von Ungeziefer, fo daß ich 
nicht wagte, mich von der Stelle zu rühren ... Grierend und weinend ſaß 
ich vom Morgen bis zum Abend auf dem Schemel, immer ohne eine 
Ahnung davon, was ich überhaupt verbrochen haben ſollte. 
Die Oberin richtete an mich eine darauf bezügliche Frage, und ich mußte 
der Wahrheit gemäß erwidern: Ich weiß es nicht.“ Sie entgegnete: „Na, 
etwas müſſen Sie doch gemacht haben, ſonſt wären Sie ja nicht hier.“ 
Indeſſen wußte ſie bis zur Stunde, wo ſie dieſe Zeilen ſchrieb, 
noch nicht, inwiefern ihr irgendeine Straftat zur Laſt gelegt 
werden konnte. Ä 

Im Anterſuchungsgefängnis blieb fie zehn Tage. Dann wurde fie 
entlaſſen und das Verfahren gegen fie eingeſtellt. Erſt jetzt er fuhr fie, 
weswegen ſie überhaupt verhaftet war, wegen des Verdachtes 
der Beihilfe zum Arreſtbruch. Ihr Mann wurde nach 2½ Monaten von 
der Anklage der Arkundenfälſchung und der Verſchleppung von 
Pfandgegenſtänden freigeſprochen und wegen Arreſtbruchs zu 
einem Monat Gefängnis verurteilt, der durch die Anterſuchungshaft ver⸗ 
bũßt war. 

Mit dem „Arreſtbruch“ hatte es aber auch noch ſeine beſondere Be⸗ 
wandtnis. Am Tage vor der Verhandlung wurde Herrn Geuth von feinem 
Verteidiger eröffnet, daß er zwar von der Anklage der Arkundenfälſchung und 
der Verſchleppung von Pfandſtücken beſtimmt freigeſprochen werden würde, 
daß aber vorausſichtlich wegen des Arreſtbruchs eine Vertagung zu er⸗ 
warten ſei. „Sie werden auch von der Anſchuldigung des Arreſtbruchs 
freigeſprochen werden, aber nicht morgen! Sie werden noch lange hier 
ſitzen; die Vorunterſuchung wird aufs neue aufgenommen, und bevor 


230 Türmers Tagebuch 


das Aktenmaterial geprüft iſt, vergehen Monate.“ Daraufhin 
entſchloß ſich Herr Feuth, wegen dieſes Punktes ſich ohne Widerſpruch 
verurteilen zu laſſen, um nur die Freiheit wiederzugewinnen. 
Er tat es mit Rückſicht auf ſeine Frau, die an dieſem Tage mit 85 Pfennig 
auf dem Berliner Pflaſter ſaß. 

Der Antrag auf Selbſtbeköſtigung wurde Feuth erſt nach vollen zehn 
Tagen bewilligt. Am zweiten Tage nach ſeiner Verhaftung arbeitete Feuth 
zwei ausführlich begründete Haftentlaſſungsgeſuche für ſich und ſeine Frau 
aus; auch dieſe Geſuche mußten erft die Stufenleiter des Inſtanzenzuges durch⸗ 
laufen. Der Erfolg war, daß Frau Feuth nach einer Woche ohne weiteres 
entlaſſen wurde; wären die Geſuche unverzüglich an die zuſtändige Stelle 
befördert worden, ſo hätte die Entlaſſung der Frau Feuth ohne weiteres 
bewilligt werden können. „Was haben“, fragt die „Frankf. Ztg.“, „alle 
dieſe Beſchwerderechte für einen Wert, wenn die Eingaben der Gefangenen 
mit der größten Gemütsruhe von Station zu Station befördert 
werden, als handele es ſich um irgendeine Lappalie? Man muß dabei doch 
auch berückſichtigen, daß die meiſten dieſer Anterſuchungsgefangenen rechts⸗ 
unkundige Leute ſind, die nicht in allen Winkeln der Strafprozeßordnung 
Beſcheid wiſſen, ſondern zunächſt überhaupt nicht wiſſen, was ſie dürfen und 
nicht dürfen, und denen man deshalb die Geltendmachung ihrer Rechte auf 
jede mögliche Weiſe erleichtern müßte... 

Die Anterſuchungshaft läßt in der Art, wie fie jetzt verhängt und 
vollzogen wird, nicht dasjenige Maß von Achtung vor der perſön⸗ 
lichen Freiheit des einzelnen erkennen, das man eigentlich im 20. Jahr⸗ 
hundert auch bei einer hohen Obrigkeit als ſelbſtverſtändlich vorausſetzen 
ſollte. Die Opfer dieſer Rechtspraxis ſollten in Fällen, wo die Anter⸗ 
ſuchungshaft ohne genügende Grundlage verhängt oder wo ſie pflichtwidrig 
in die Länge gezogen worden iſt, häufiger den Verſuch machen, die ver- 
antwortlichen Beamten nicht nur im Diſziplinarwege, fon: 
dern auch ſtrafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. And der 
Reichstag wird hoffentlich bei der kommenden Strafprozeßreform darauf 
beſtehen, daß diejenigen Kautelen in die Strafprozeßordnung hineinkommen, 
die zum Schutze des einzelnen gegen bureaukratiſchen Abereifer notwendig ſind.“ 

Der Architekt Ludwig Feuth hat ſeine Erlebniſſe in einer Schrift 
„Humanität und Strafverfolgung im 20. Jahrhundert“ (Berlin, Hugo 
Bermühler) ausführlich geſchildert, und der Abgeordnete Müller-Meiningen 
fie im Reichstage zur Sprache gebracht. Der Herr Staatsſekretär Nieber— 
ding redete, wie meiſt bei Interpellationen, an der Sache vorbei. Er meinte, 
das Buch gebe kein objektives Bild, weil es die „Vorgeſchichte“ der Ver— 
haftung nicht vollſtändig darſtelle. Was hat nun aber die juriſtiſche Vor— 
geſchichte des Rechtsfalles mit der gerügten Handhabung der Unter: 
ſuchungshaft zu tun? Für das Gericht war der Inhaftierte kein über— 
führter Verbrecher, nur ein Angeklagter, deſſen Schuld erſt nachgewieſen 
werden mußte. Bis das nicht geſchehen war, mußte er als Gentleman be— 


Türmers Tagebuch 231 


handelt werden, wie es das Geſetz vorſchreibt. Und nun gar die Frau! 
Von all den geſchilderten, zur Anklage ſtehenden Tatſachen konnte der Herr 
Staatsſekretär auch nicht das geringſte widerlegen. Er beſtritt ſie nicht ein⸗ 
mal! Das alſo iſt das Los, das einem auch unſchuldig, auf irgend eine 
Denunziation hin in Anterſuchungshaft Genommenen bevorſteht! Wer iſt 
da noch ſicher, nicht mit Zuhältern, Dirnen und ſchweren Verbrechern in 
einen Kaſten geſperrt und als ihresgleichen behandelt zu werden? 

Von der Behörde wurde ein Schwindler geſucht, der in Erfurt eine 
Witwe um 60 Mk. betrogen haben ſollte. Die in Suhl erſcheinende „Henne— 
berger Zeitung“ vom 30. Januar 1908 brachte das Signalement. Der Mann 
nenne ſich Georg v. Strachwitz, fei 29—30 Jahre alt, 1,65 Meter groß und 
habe in Erfurt dunkeln Anzug, Aberzieher, ſchwarzen ſteifen Filzhut, graue 
Handſchuhe und einen Klemmer mit ſchwarzer Horneinfaſſung getragen. 
Daraufhin wurde noch am Morgen dieſes ſelben 30. Januar in Suhl der 
Geſchäftsreiſende Moritz Hertz aus Frankfurt a. M. verhaftet. Herr Hertz 
iſt 30 Jahre alt, ca. 1,65 Meter groß und trug bei ſeiner Verhaftung einen 
dunkeln Anzug, Aberzieher, ſchwarzen ſteifen Filzhut, graue Handſchuhe 
und einen Klemmer mit ſchwarzer Horneinfaſſung. Da mußte er ja der 
Gefahndete ſein! In Wirklichkeit hatte er mit ihm nicht das mindeſte zu 
tun; trotzdem behielt man ihn eine volle Woche in Haft und entließ 
ihn dann mit der Zenſur, daß er ſich während dieſer acht Tage „gut ge— 
führt“ habe! Herr Hertz hatte Ausweispapiere bei ſich; er erſuchte 
ferner die Behörde ſofort, in Frankfurt Ermittelungen über ihn an⸗ 
zuſtellen. Das geſchah nicht; es wurde nicht einmal erlaubt, daß er 
ſeiner Frau und ſeinem Chef Mitteilung machte. Weiter bat der 
Verhaftete, man möge ihn auf feine Koſten nach Erfurt trans: 
portieren und mit der betrogenen Witwe konfrontieren; dann 
werde ſich die Sache ſofort erledigen. Auch das wurde abgelehnt; 
man wählte den „billigeren Weg“: die Akten wiederholt zwiſchen Erfurt 
und Suhl hin und her zu ſchicken, bis man ſich endlich von dem Miß— 
griff überzeugte. Selbſtbeköſtigung wurde dem Verhafteten nicht ge— 
währt; er mußte, wie jeder verurteilte Sträfling, von der Ge— 
fängniskoſt leben. Nun gibt es zwar, wie die „Frkf. Ztg.“ bemerkt, gegen 
derartige ungerechtfertigte Beeinträchtigungen eine Beſchwerde; da aber die 
Anterſuchungsgefangenen in den Irrgängen des Beſchwerdeweges gewöhn— 
lich ſehr wenig bewandert find, fo hilft ihnen das nicht viel. Im vorliegen- 
den Falle wurde dem Verhafteten auf ſeine Frage mitgeteilt, er könne ſich 
an die Oberſtaatsanwaltſchaft in Meiningen wenden, nur werde ihm eine 
Beſchwerde vermutlich wenig nützen, da die Antwort der Oberſtaats— 
anwaltſchaft acht Tage auf ſich warten laſſen könne. Am 5. Februar 
wurde er dann plötzlich entlaſſen, nachdem kurz vorher ſein Haftbefehl bis 
zum 14. Februar verlängert worden war. 

Die Art, wie manche Behörden mit der perſönlichen Freiheit, Uns 
antaſtbarkeit und wirtſchaftlichen Exiſtenz des Staatsbürgers umſpringen, 


232 Türmers Tagebuch 


zeugt von einer ſouveränen Nichtachtung, die man indeſſen in den weiteſten 
Kreiſen als etwas Selbſtverſtändliches oder Anabänderliches anzuſehen 
ſcheint. In welchem Lichte präſentiert ſich da aber unſere ſonſt ſo mimoſen⸗ 
haft empfindliche „Ehre“, deren angebliche Verletzung die bekannten lächer⸗ 
lichen Karambolagen und Prozeſſe im Gefolge hat, den humoriſtiſchen 
Teil der Blätter füllt? Muß es nicht etwas faul um eine „Ehre“ ſtehen, 
die ſchon in die Brüche geht, wenn z. B. ein Brief mit „Ergebenſt“ ſtatt 
mit „Hochachtungsvoll“ unterzeichnet iſt, dabei aber die gröblichſten Inſulten 
und Brutalitäten der Staatsgewalt mit unerſchütterlicher Gemütsruhe über 
ſich ergehen läßt? Ausländer ſtehen davor als vor einer rätſelhaften, patho⸗ 
logiſchen Erſcheinung, der fie eine für uns nicht gerade ſchmeichelhafte „Teil⸗ 
nahme“ entgegenbringen. Meiſt lautet dann die Diagnoſe ſo, wie ſie uns 
der Engländer Bart Kennedy geſtellt hat: „Die Deutſchen ſind“, ſo meint 
er, „Maſchinen in der Hand des Staates. Sie ſind friedfertig 
und großherzig; ſie ſind aber in der Hand der Polizei und des 
Militärs zu Puppen geworden. Die Clique, welche dieſe große 
Nation lenkt, hat ihrem Ermeſſen nach ehrlich gehandelt; ſie hat dem Volk 
zur Wohlfahrt verholfen, ſie hat aber dafür dieſe große Nation zu 
Sklaven gemacht.“ Wir haben nun zwar in der Schule gelernt, daß 
ein anderer Ausländer als den Grundzug des deutſchen Weſens die Liebe 
zur Freiheit erklärt hat. Aber dieſer Mann — er hieß Tacitus und iſt 
{chon lange tot — urteilte über die alten Deutſchen, und Bart Kennedy 
über die neuen. Ich bin vermeſſen genug, zu behaupten, daß auch Tacitus 
heute fein Urteil ganz erheblich revidieren würde. — 

In das allerperſönlichſte Leben, in die Geheimkammern des Ge⸗ 
müts, die das Individuum ſcheu vor ſich ſelbſt verſchließt, greift die Staats⸗ 
gewalt mit brutaler Fauſt hinein. Alte, ſchwer vernarbte Wunden wer⸗ 
den rückſichtslos aufgeriſſen, ein ganzes Leben ehrlichen Wandels, mühſamer 
Wiederaufrichtung zuſchanden gemacht, um irgend einem angeblichen öffent⸗ 
lichen Intereſſe zu dienen, das ſich — wie oft! — nur als das höchſt private 
Intereſſe des um ein paar Mark fic geſchädigt glaubenden Herrn Hinz oder 
der durch eine Nachbarin in ihrer Ehre tief verletzten Frau Kunz erweiſt. 
Mit Kanonen wird nach Spatzen geſchoſſen. Es iſt wie mit dem handwerks⸗ 
mäßigen Schwurbetrieb vor Gericht, wo das über alle Begriffe erhabene, 
allmächtige und allwiſſende Weſen zum Zeugen dafür angerufen werden 
kann, daß z. B. die Soubrette eines Kölner Variététheaters, den 
„Bunten Schmetterling“, das „Autogirl“ und „Wir haben 
den Rummel heraus“ wirklich geſungen habe —: „So wahr Gott 
mir helfe!“ 

Ja, wenn's nicht anders ginge, wenn wirklich Lebensfragen des 
gemeinen Wohles auf dem Spiele ſtänden! Auch der Betroffene würde 
ſich dann über den ſchmerzhaften Eingriff in ſein perſönliches Leben leichter 
hinwegſetzen. Ihm würde das Bewußtſein hinüberhelfen, daß er eine ſtaat⸗ 
liche Pflicht erfüllt, daß ſich an ihm eine jener bitteren Notwendigkeiten 


Zürmers Tagebuch | 233 


vollzieht, der wir alle, wie der Krankheit und dem Tode, auf dieſer ſchiefen 
Erde unterworfen ſind. 

Wie aber iſt es in Wirklichkeit? Welches Intereſſe können Staat 
und Geſellſchaft daran haben, die Vergangenheit eines geachteten Bür⸗ 
gers 20—30 Jahre zurück nach irgend einem Vergehen zu durchforſchen, 
das ſich auch beim beſten Willen nicht in den geringſten Zuſammenhang 
mit dem auf der Tagesordnung ſtehenden Falle bringen läßt? — Zu An⸗ 
fang der ſiebziger Jahre wurde ein kleiner Geſchäftsmann vom Gericht zu 
einer Geldſtrafe verurteilt, weil er eine unſittliche Neujahrskarte verkauft 
haben — ſollte. Trotzdem er verſicherte, daß die Karte gegen ſein Wiſſen und 
ſeinen Willen in das Sortiment gekommen war, und ſich tatſächlich auch 
keine weiteren, den Anſtand verletzenden Karten in ſeinem Vorrat fanden, 
erfolgte die Verurteilung. Nach Jahrzehnten ſtand der Mann, der ſich 
inzwiſchen zu einer hochangeſehenen Stellung emporgeſchwungen hatte, 
ftädtifche Ehrenämter bekleidete uſw., in einer geringfügigen Beleidigungsſache 
wieder vor Gericht. And richtig: bei Verleſung ſeiner Perſonalien wurde 
auch jene vor einem Menſchenalter erfolgte Vorſtrafe öffentlich 
verleſen, zur größten Genugtuung ſeiner Gegner. Denn da es ſich um 
einen politiſchen Prozeß handelte, konnten fie ihm nun einen „fittlichen 
Makel“ anhängen, den er ſein Lebenlang nicht wieder los wird. 

In einem Mordprozeß vor den Münchener Geſchworenen war auch 
eine verheiratete Frau als Zeugin geladen. Die Dame war früher Künſt⸗ 
lerin und hat ihrem Gatten ihre Vergangenheit offenbart. Sie iſt eine 
tüchtige, ehrenhafte Hausfrau geworden und erfreut fic) des beſten 
Rufes. Nun aber gewinnt urplötzlich ihre Vergangenheit ein außerordent⸗ 
liches forenſiſches Intereſſe. Der Herr Verteidiger hält es für unbedingt 
notwendig, die Frage an ſie zu richten, ob und welche Liebesverhältniſſe 
ſie früher gehabt habe. Die gequälte Frau weigerte ſich zwar, dieſe 
Fragen zu beantworten, und das Gericht beſtand nicht darauf. Wird 
das aber verhindern, daß der Klatſch ſich ihrer Perſon bemächtigt und 
vielleicht gar ihr eheliches Glück untergräbt? In der Preſſe hat man 
es für Ehrenpflicht gehalten, den Namen der Zeugin und obendrein auch 
den Stand ihres Mannes und ihren nunmehrigen Wohnort 
mitzuteilen! 

Unter dem 4. März 1908 hat das — württembergiſche Juſtiz⸗ 
miniſterium eine Verfügung erlaſſen, in der es u. a. heißt: 

„Nach den im Strafverfahren geltenden Grundſätzen iſt zwar die 
Feſtſtellung etwaiger Vorbeſtrafungen des Beſchuldigten, auch abgeſehen 
von denjenigen ſtrafbaren Handlungen, welche gegebenenfalls den Rückfall 
begründen, dann ein Bedürfnis, wenn ihre Kenntnis für die Beurtei⸗ 
lung der Tat oder die Bemeſſung der Strafe von Erheblich— 
keit iſt. Wo dagegen dieſe Vorausſetzung nicht zutrifft, wird es für die 
Regel angängig und alsdann auch geboten ſein, den Beſchuldigten mit 
Nach forſchungen nach feinem Vorleben zu verſchonen . .“ 


234 Türmers Tagebud, 


Im Hauprozeß hatte die Staatsanwaltſchaft behauptet, es feien aus 
dem Bureau des Verteidigers Mitteilungen über die Anklage erfolgt. Der 
als Zeuge vernommene Berichterſtatter Schweder erklärte die Behauptung 
für unzutreffend. Der Staatsanwalt richtete dann an ihn die Frage, ob er 
von der Familie Molitor Bezahlung erhalte. Dieſe Frage ver- 
neinte der Zeuge und erklärte ſpäter: „Ich habe die Frage des Staats- 
anwalts fo aufgefaßt, als ob ich von der Familie Molitor Bezahlung er- 
hielte. Da dieſe Frage mich aufs tiefſte in meiner Berufsehre 
verletzt, erſuche ich den Herrn Vorſitzenden um Schutz und ſtelle an den 
Herrn Staatsanwalt die Frage, ob er feine Frage wiederholen will. Bor: 
ſitzender: Sie haben keine Fragen zu ſtellen. — Schweder (ſehr erregt, mit 
erhobener Stimme): Ich erkläre die Frage des Staatsanwaltes für eine 
niederträchtige Infamie. (Große Bewegung im Zuhörerraum.) Vor⸗ 
ſitzender: Wie dürfen Sie ſich unterſtehen, derartig in einer öffentlichen 
Gerichtsverhandlung aufzutreten? — Schweder: Die Frage des Staats- 
anwalts iſt geradezu unerhört. Ich ſchreibe für 250 Zeitungen. Wenn 
die Frage des Staatsanwalts ſo durch die Preſſe geht, wird meine Exi⸗ 
ſtenz ruiniert. Er bedauere die Schärfe ſeines Ausdrucks, beharre aber 
auf ſeinem Standpunkt. — Vorſitzender: Wollen Sie ausdrücklich Ihr Be⸗ 
dauern über den Ausdruck ausſprechen? — Schweder: Ich habe das bereits 
getan. Das Gericht verurteilte den Zeugen Schweder wegen Angebühr 
vor Gericht zu einer Geldſtrafe von 30 Mark. 

Im Petersprozeß ſagt der Ankläger: „Wenn die Herren Sachver⸗ 
ſtändigen ſich ausgeſchleimt haben .. Ein Rechtsanwalt bemängelt die 
Vorbildung eines Zeugen, der Oberleutnant a. D. und Kunſtmaler 
iſt. Er „möchte gern etwas über den Bildungsgrad des Zeugen wiſſen“. Ein 
Sachverſtändiger beſchuldigt den Kläger perverſer Neigungen, weil er bis⸗ 
weilen den verſtorbenen Krupp in einem Hotelzimmer beſucht habe. Ein 
anderer Sachverſtändiger nennt ein Urteil, das ſieben hochgeſtellte, völlig 
einwandfreie Richter gefällt haben, „einen Schandfleck der Juſtiz“. „Sonder⸗ 
bar“, bemerkt die „B. Z. a. M.“, „daß wir dieſe Cheruskermanieren gar 
nicht ablegen können und daß es ſelbſt reifen Männern von angeſehener 
ſozialer Stellung nicht gelingt, die gröbſten Ausſchreitungen zu vermeiden. 
Dieſe Ruſtizität des Ausdrucks, dies plebejiſche Schimpfen, dies gehäſſige 
Inſinuieren und Verdächtigen läßt unſeren Volkscharakter in einem wenig 
günſtigen Lichte erſcheinen. Die Ausländer ... denen natürlich gerade die 
Kraftſtellen ſerviert werden, müſſen ſich über die Amgangsformen der deutſchen 
Oberſchicht wirklich wundern. Sie muten den unbefangen Prüfenden ge— 
radezu barbariſch an. Wohin ſollen wir gelangen, wenn vor Gericht 
Schimpffreiheit herrſcht, wenn ein Zeuge den anderen, ein Sachverſtändiger 
den anderen als ,Nindvich’ einſchätzt oder ihm eine ,Snfamie’ vorwirft, 
wenn ein General, der obendrein noch Staatsſtütze par excellence iſt, ein 
ordnungsmäßig beſetztes Gericht beſchimpft? Sollen die Zeugen vogelfrei 
und gegen jede Inſulte des gegneriſchen Anwalts ohnmächtig fein? ... 


Türmers Tagebuch 235 


Im Mittelalter war man inſofern humaner, als ſich die Folterung 
verborgen unter der Erde abſpielte. Heute foltern wir offen vor Krethi 
und Plethi bei Sonnen⸗ und Bogenlampenlicht. Heute errichten wir den 
Schandpfahl der Erzwingung einer Ausſage mitten unter dem — o, ſo 
fortgeſchrittenen — Volke. Hinz und Kunz dürfen ſich daran ergötzen. 
Vettern und Baſen tragen es ſorglich weiter, welcher Vergangenheit ‚die 
da“, bis heute eine Hausfrau, die niemand zu beſchimpfen wagte, geziehen 
wird. Sie hat zwar verneint, geleugnet, geſchrien und geweint. Aber — 
‚man weiß ſchon'. Etwas muß daran ſein ...“ 

Das Blatt weiſt dann zur Abhilfe auf die Möglichkeit hin, den § 173 ff. 
unſeres Gerichtsverfaſſungsgeſetzes („Gefährdung der Sittlichkeit“ als 
Grund zum Ausſchluß der Offentlichkeit) zu erweitern, meint aber, daß der 
andere Weg, der praktiſchere, nicht minder wichtig ſei: „die Erziehung des 
Juriſten zum forenſiſchen Takt, die Bekämpfung jener Metzgermanieren, 
in die mitunter auch gewiſſe Chirurgen durch die abſtumpfende Gewohnheit 
ihres ſchaurigen Berufes verfallen.“ Paragraphen zum Schutze des Menſchen 
als Zeugen ſeien immerhin notwendig. Aber ohne einen Tropfen ſozialen 
Oles, humaner Geſinnung und pſychologiſcher Schulung würden auch die 
dickſten Geſetzbücher nicht vor Schaden bewahren. — 

„Der Stellung des Richters widerſpricht es, wenn der hohe Ernſt 
der Sache, der in der Verhandlung zum Ausdruck kommen ſoll, verlaſſen 
und die Befriedigung in nicht zur Sache gehörigen Bemerkungen, in mit 
dem Gegenſtande außer Zuſammenhang ſtehenden Gloſſen, in überflüſſigen 
Exkurſionen auf das Gebiet der politiſchen oder nationalen Tagesfragen, 
ja ſogar in unpaſſenden Witzeleien geſucht wird; es entſpricht nicht dem 
Berufe des Richters, wenn der Beſchuldigte gehöhnt oder als der ihm zur 
Laſt gelegten Tat bereits überwieſen behandelt wird.“ 

Sollte dieſe Mahnung des — öſterreichiſchen Juſtizminiſters nicht auch 
auf preußiſcher Seite mehr, als es geſchieht, beherzigt werden? „Wie 
mancher Vorſitzende,“ leſen wir in der „Tribüne“, „deſſen Witzeleien und 
ſpöttiſche Bemerkungen über den Angeklagten ein wahres Gaudium für die 
Zuhörer bilden! Der Angeklagte muß ſich dieſe unwürdige Behandlung ruhig 
gefallen laſſen. Er fürchtet, ſich ſonſt den Unwillen des Richters zuzuziehen 
und die Quittung in Geſtalt von ſchärferer Beſtrafung zu erhalten. 

Der Umftand, daß folche ‚geiftreiche‘ Herren in der Regel ſogar eine 
glänzende Karriere machen, iſt natürlich nicht danach angetan, den Richter— 
ſtand in dieſer Hinſicht zu der wünſchenswerten Zurückhaltung zu erziehen. 
Im Gegenteil: es fest ſich bei einzelnen Richtern nach und nach die Mei— 
nung feſt, daß einer um ſo größere Ausſicht auf dienſtliche Beförderung 
habe, je ſubjektiver und voreingenommener er dem Angeklagten — beſonders 
im politiſchen Prozeſſe — gegenübertrete. Und hieraus erklärt es ſich dann 
auch wieder, daß mitunter ſogar die klaren Vorſchriften der Strafprozeß— 
ordnung dem Angeklagten gegenüber verletzt werden, falls Ausſicht vor— 
handen iſt, daß durch ſolches geſetzwidrige Verhalten feine ,Lberfiihrung’ 


236 Zürmers Tagebuch 


erleichtert wird. Die Beſtimmung z. B., daß dem Angeklagten nach der 
Vernehmung jedes Zeugen das Wort zur Erklärung zu geben iſt, beſteht 
wohl in der Strafprozeßordnung, bleibt aber in der Praxis vielfach un⸗ 
beachtet. Oder es wird dem Angeklagten, der von dieſem ſeinem Rechte 
Gebrauch machen will, ins Wort gefallen und ihm erklärt, daß er am Schluß 
noch Gelegenheit haben werde, ſich zu äußern. Begründete Beſchwerde wird 
auch darüber geführt, daß manche Staatsanwälte und ſogar Verhandlungs⸗ 
leiter ganz beſonderen Wert auf die politiſche Parteizugehörigkeit 
des Angeklagten und ſogar der Zeugen legen. Der Zweck ſolchen 
Vorgehens iſt unverkennbar. Gewerkſchaftsprozeſſe und Streikfälle werden 
ſchon jetzt häufig mehr nach politiſchen als nach rechtlichen Ge- 
ſichtspunkten behandelt. 

Aber auch in anderer Hinſicht läßt die Behandlung der Entlaſtungs⸗ 
zeugen gar vieles zu wünſchen übrig. Manche Vorſitzende bringen ihr Miß⸗ 
trauen durch eine beſondere Form der Eidesbelehrung zum Ausdruck. Recht 
beliebt iſt auch das Mittel, Entlaſtungszeugen durch die Drohung, ihre 
Ausſagen protokollieren zu laſſen, einzuſchüchtern. Faſt immer beſteht der 
Erfolg darin, daß der Zeuge, geängſtigt und verwirrt, ſich nicht getraut, 
feine nach beſter Überzeugung abgegebene Ausſage aufrechtzuerhalten. Die 
geringſte Abweichung genügt dann, ihm die volle Glaubwürdigkeit abzu⸗ 
ſprechen. Die Folgen fallen auf das ſündige Haupt des Angeklagten. 

Am mißlichſten iſt der Verſuch, eidliche Schutzmannsausſagen 
durch Ausſagen von Zivilperſonen entkräften zu wollen. Der 
Schutzmann iſt häufig zu einer beſtimmten Ausſage genötigt, will er ſich 
nicht ſelbſt der Aberſchreitung feiner Amtsgewalt oder eines Amts⸗ 
verbrechens bezichtigen; das hindert nicht, wie die Erfahrung im Gerichts 
ſaal lehrt, daß das Zeugnis unbeteiligter Zivilperſonen viel geringer 
bewertet wird. Es gibt Richter, die in ihrer Befangenheit gegenüber Ent: 
laſtungszeugen ſo weit gehen, daß ſie deren Ausſagen nicht einmal ins 
Protokoll aufnehmen laſſen. 

Recht verhängnisvoll iſt auch die übermäßig große Bedeutung, die den 
Akten im Strafprozeß beigemeſſen wird. Da iſt z. B. ein Richter, der 
ſich bei dem Verhör der Angeklagten und Zeugen einfach darauf beſchränkt, 
ihnen ihre früheren Ausſagen vorzuleſen. Einwendungen dagegen bleiben 
unbeachtet oder werden mit der Bemerkung abgetan: „Wollen Sie etwa 
behaupten, es ſei unrichtig protokolliert worden? Dann werde ich den Anter⸗ 
ſuchungsrichter vernehmen“ uſw. Der Grundſatz der mündlichen Ver⸗ 
handlung exiſtiert für viele Richter einfach nicht. Kein Wunder, daß das 
Arteil lediglich auf dem Akteninhalt beruht, der dem Angeklagten 
unbekannt iſt und den er nicht widerlegen kann. 

Wem ſind nicht ſchon Vorſitzende begegnet, deren Kunſt darin be⸗ 
ſteht, Angeklagte und Zeugen anzuſchreien? Das erfordert weder juri⸗ 
ſtiſche Kenntniſſe noch ſonſtige Fähigkeiten, verfehlt aber im Gerichtsſaal 
nie ſeine Wirkung. Der Angeklagte iſt erſchrocken, die Zeugen find ein⸗ 


Zürmers Tagebuch 237 


geſchüchtert, und das Urteil fällt dementſprechend aus. Kommt es doch 
ſogar vor, daß auch die Verteidiger unter dieſer Mißachtung und Vorein⸗ 
genommenheit herb zu leiden haben! Solche Mißſtände find um fo fchlim- 
mer, als zurzeit gegen Urteile der Strafkammern eine Berufung nicht 
zuläſſig ijt und die mitunter recht bedenklichen ‚tatfächlichen Feſtſtellungen“ 
den Angriffen der Reviſion entzogen find.” 

Eine Verallgemeinerung der Anklagen wird man auch aus dieſen 
Ausführungen nicht herausleſen können. Dem widerſpricht der Wortlaut. 
Nur wer vom hohen Noß ſeiner vermeintlichen fachmänniſchen Unfehlbar- 
keit herab jede von „Laien“ an unſerer Rechtſprechung geübte Kritik’ für 
dreiſte Anmaßung, wenn nicht gar für groben Unfug hält, kann ſich der 
nüchternen Tatſache verſchließen, daß hinter ſolchen Anklagen ein nur zu ſehr 
berechtigtes Intereſſe ſteht. Iſt es ſchon eine groteske Zumutung, 
daß der Bürger mit ſeiner wirtſchaftlichen und bürgerlichen Exiſtenz, Ehre, 
Freiheit und Sicherheit ſich als bloßes paſſives Objekt der nun einmal 
„gottgewollten“ Rechtſprechung fühlen ſoll, fo find es nicht ſelten ſelbſt 
Opfer dieſer Rechtſprechung, die aus perſönlichſter ſchmerzlichſter Er⸗ 
fahrung und Beobachtung ſolche Anklagen erheben. Zum Glück aber — und 
es gereicht dies dem ganzen Stande zur Ehre — find auch die Stimmen 
aus Richterkreifen nicht mehr vereinzelt, die ſolche Kritik nicht nur für be- 
rechtigt, ſondern auch für notwendig halten. So führt u. a. der Land⸗ 
gerichtsrat Dr. Clauſius in Köln in der „Deutſchen Juriſtenzeitung“ aus, 
daß es unter den Zünftigen mehrfach üblich fei, die Mißſtim mung, die 
neuerdings (?) gegen die Juſtiz beſtehe, zu beſtreiten. Richtig ſei es, ſie 
feſt ins Auge zu faſſen, ihr auf den Gr und zu gehen, daraus zu lernen 
und ſein eigenes Verhalten, wo nötig auch die Standes anſchau⸗ 
ungen über die Beziehungen zu anderen Ständen, ſolchen Anderungen 
zu unterziehen, die der böſen Pflanze die Nahrung abgraben. Notwendig 
fei, „daß die Juriſten ſich nicht auf den kollegialiſchen Verkehr beſchränken, 
ſondern den Verkehr mit freimütigen Männern anderer Stände 
gern ſehen und daß ſie nicht verſtimmt werden, wenn ihnen dort 
ſonderbare Vorkommniſſe aus dem Gerichtsſaal vorgehalten werden, daß ſie 
auch nicht meinen, alles und jedes decken und entſchuldigen 
zu müſſen, ſondern daß ſie preisgeben, was nicht zu halten iſt.“ 

Man dürfe nicht abwarten, bis die Mißſtimmung gewaltſam hervor⸗ 
bricht, ſondern müſſe für ein Ventil ſorgen. „Man darf nicht den Ein⸗ 
druck erwecken, als ſcheue man die Kritik, ſondern man muß zeigen, 
daß der deutſche Richter nichts zu verdecken und zu verheimlichen hat, daß 
er trotz der Mängel, von denen ſein Stand ebenſowenig frei iſt wie irgend 
ein anderer, ſo treulich arbeitet, daß er den Vergleich mit jedem anderen 
Berufsſtand aushalten kann. So ſoll man die Kritik eher hervorrufen als 
zurückhalten. 

Strafrecht und Strafprozeß unter — künſtleriſchen Geſichtspunkten 
zu betrachten, wird manchen ein etwas eigenartiges Unternehmen dünken. 


238 Türmers Tagebuch 


Es kann uns aber durchaus nicht ſchaden, die Dinge auch mal mit einem 
anderen Maßſtabe gemeſſen zu ſehen, als mit der abgegriffenen landes- 
üblichen Schablone. Zumal wenn dabei fo viel Kluges und Feines heraus- 
fällt, wie aus dem Vortrage des Staatsanwalts Dr. Erich Wulffen über 
den „Strafprozeß, ein Kunſtwerk der Zukunft“ (Buchausgabe Deutſche 
Verlagsanſtalt, Stuttgart). Er hielt die vielbeachtete Anſprache im Februar 
1908 in Dresden. 

Anſer Strafprozeß hat ſich nach ihm — und wer wollte ihm darin 
nicht beipflichten? — zu ſehr der Wirkung auf das Gemüt begeben. 

Heute entbehren wir dieſes ethiſchen Moments völlig in unſerm Recht. 
Der künſtleriſch ſchaffende Geſetzgeber konnte bisher noch nicht geboren 
werden. Aus dem Volke ſelbſt heraus muß dieſe ethiſche Geſetz⸗ 
gebung kommen, kann es aber noch nicht, da unſer Volk ſich in einer 
Abergangszeit befindet. „Geſetze werden geboren, nicht gemacht.“ Geſetzes- 
form muß echte Volkskunſt ſein. In jeder Geſetzeskommiſſion ſollte ein 
Sprachkünſtler figen. In Mailand hat man auch Ähnliches im Parlament 
bereits beantragt. 

Wie „unkünſtleriſch“ unſere Geſetze vielfach empfunden ſind, davon 
gab der Redner einige Beiſpiele. Nicht künſtleriſch iſt es, wenn derjenige, 
der aus einer Sparbüchſe eine Mark entnimmt, indem er die Büchſe er⸗ 
bricht, mit drei Monaten Gefängnis beſtraft wird, wer aber die ganze Büchſe 
mitnimmt und den geſamten Inhalt von zwanzig Mark verpraßt, mit vier- 
zehn Tagen davonkommt. Nicht künſtleriſch iſt die Beſtrafung eines Dieb⸗ 
ſtahls im Rückfalle, auch wenn es ſich nur um 50 Pfennig handelt, mit 
Zuchthaus uſw. Die heutigen Mindeſtſtrafmaße ſind faſt in allen Fällen 
zu hoch. Auch darf die Strafe keine Nachteile im Gefolge führen, die die 
ſittliche Aufwärtsbewegung des Volkes hemmen. Die Verinnerlichung 
des Richtertums zu künſtleriſcher Rechtſprechung iſt die hohe Aufgabe 
unſerer Tage. Dazu bedürfen die Richter freilich der Zeit: Maffen- 
arbeit kann niemals ethiſch ſein. 

Ankünſtleriſch iſt auch das ganze Inſtitut der Vorunterſuchung. Der 
Staatsanwalt erhebt und begründet die Klage auf Grund der Vernehmung 
von Zeugen, die er nie geſehen, durch Poliziſten und den Unterfuchungs- 
richter. Ankünſtleriſch iſt es, wenn bei der Vernehmung eines ſchüchternen 
Mädchens, das zum erſtenmal vor Gericht ſteht, einer der beiſitzenden 
Richter in den Akten blättert, denn das Geräuſch eines einzigen Blattes 
ſtört die feine Pſyche des Mädchens; unkünſtleriſch iſt das Vorhalten 
einer Vorſtrafe, die der Angeklagte vor vielleicht zehn Jahren erlitten und 
ſeitdem durch einwurfsfreies Leben geſühnt hat; unkünſtleriſch iſt es, wenn 
der Vorſitzende den einen Zeugen mit Herr, den Arbeiter mit „Zeuge 
Lehmann“, das Dienſtmädchen mit Zeugin, ſeine Herrin mit „Gnädige 
Frau“ anredet; unkünſtleriſch, wenn der Staatsanwalt eine unhaltbare 
Anklage, der Verteidiger eine unhaltbare Verteidigung aufrecht hält; un⸗ 
künſtleriſch, wenn ſofort nach einem ſchweren Urteil der Angeklagte gefragt 


Türmers Tagebuch 239 


wird, ob er den Richterfpruch, der ihn auf viele Jahre vom Leben abſchließt, 
annimmt; unkünſtleriſch, wenn am Geburtstage des Landesherrn in ſeinem 
Namen ein Strafurteil geſprochen wird. 

Auch die heutige raſche Art der Arteilsſprechung iſt un« 
künſtleriſch. Viel mehr verinnerlicht muß ſie werden, und es fragt ſich, ob 
nicht die Arteilsverkündung auf den übernächſten Tag verſchoben werden 
ſollte, denn ein Arteil braucht Sammlung. 

Auch im Zuſammenwirken von Geſchworenen und Richtern iſt eine 
künſtleriſche Wirkung zu erzielen. Die Belehrung des Vorſitzenden braucht 
keineswegs erſt am Ende der Beweisaufnahme zu erfolgen. Oft mag ſie 
am Anfang oder mögen aufklärende und belehrende Erläuterungen im Laufe 
der Verhandlungen angebracht fein. So entſteht ein innigeres Zufammen- 
arbeiten zwiſchen Richtern und Geſchworenen, und noch mehr als bisher 
werden die Geſchworenengerichtsurteile ſich dann dem künſtleriſchen Volks⸗ 
bewußtſein nähern, wodurch fie ſich heute ſchon vor den Urteilen des Gtraf- 
richters auszeichnen. 

Endlich ſoll auch die juriſtiſche Sprache künſtleriſch ſein, jeder juriſtiſche 
Gedanke läßt ſich einfach, volksverſtändlich und künſtleriſch ausdrücken 

Das iſt alles ſehr ſchöͤn und wahr: hoffen wir, daß es nicht auf 
unfruchtbaren Boden fällt. Aber es gibt noch ein köſtlicher Gut, eine 
Pflanze, an der alles das nur Blüten und Früchte ſind; die alle andern 
mit ihrem königlichen Glanze überſtrahlt: 

„Es iſt die edle Pflanze der Unabhängigkeit des Ridter- 
ſt andes und der Rechtſperechung, die wir vor allem hegen, pflegen 
und wieder aufrichten wollen. Sie zu verteidigen gegen Angriffe von oben 
und von unten, aber auch gegen Angriffe, die ihr aus unſerer eigenen 
Mitte von Indolenz, Schwachheit und Streberei drohen, ſoll unſere erſte, 
ſoll unſere vornehmſte Aufgabe ſein. Bisher ſtanden die Richter ſolchen 
Angriffen machtlos gegenüber. Das ſoll jetzt anders werden! Die Öffent- 
lichkeit, an die wir uns hiermit wenden, ſoll erfahren, welche 
Zumutungen man ‚von oben‘ an die angeblich unabhängigen 
Richter zu ſtellen wagt... Wir werden daher die Reklamehelden, 
die Streber, die Haſenfüße, kurz die Anwürdigen unter uns, ſoferne fie ſich 
an dem koſtbaren Gute der Unabhängigkeit oder an der Ehre des Richter⸗ 
ſtandes vergreifen, ohne Pardon an den Pranger ftellen... 

Wir wollen als Männer mit offenem Viſier kämpfen. Wer den 
Mut nicht hat, ſeine Meinung mit ſeinem Namen, mit ſeiner ganzen 
Perſon zu vertreten, der bleibe unſerem Blatte fern! Der mag vielleicht 
einen hellen Kopf, ein warmes Herz haben, aber er hat nicht das, was 
ein Richter vor allem beſitzen ſoll und muß: ein Rückgrat, 
das eher bricht als ſich biegt.“ 

So ſchreibt das Organ einer Richtervereinigung, die ſich in 
— Oſterreich gebildet hat, die „Mitteilungen der Vereinigung öſterreichiſcher 
Richter“. Sie erſcheinen vom Juli 1908 ab in Wien. 


240 Zürmers Tagebuch 


Im Deutſchen Reichstage ſprach der Abgeordnete Stadthagen von der 
Anabhängigkeit der Richter als von einem „Märchen“. „Daß ich 
mit der Behauptung recht habe,“ ſagte er weiter, „daß für das Aufrücken in 
die höheren Richterftellen die politiſche Zuverläſſigkeit mit maßgebend 
iſt, beim Reichsgericht, wie es ſcheint, ausſchließlich maßgebend iſt, hat 
kein geringerer als Fürſt Bismarck zugegeben. In den von Poſchinger 
veröffentlichten Bismarckerinnerungen iſt ſowohl von dem früheren Reichs⸗ 
kanzler wie dem preußiſchen Miniſter offen und klar zugegeben, daß 
für das Aufrücken der Richter in die höheren Stellen die 
politiſche Zuverläſſigkeit in erſter Linie entſcheidend ſei 
Wenn demgegenüber von einem Richterverein gefordert wird, es möchte 
darauf gedrungen werden, daß die Richter ſelbſt aus ihrer Mitte die 
Vorſchläge zur Beförderung machen und auch darüber entſcheiden, 
ſo iſt das zu unterſtützen, denn die Gefahr, die politiſche Geſinnung könnte 
hierbei ſtatt der Tüchtigkeit maßgebend ſein, iſt hier weniger zu fürchten. 
Freilich, die Richtervereinigung, von der dieſer Vorſchlag ausgeht, beſteht 
nicht in Preußen, ſondern in Oſterreich.“ 

Derſelbe Abgeordnete behauptete, gleichfalls im Reichstage, „Klaſſen⸗ 
juſtiz“ zeige fic) nicht nur bei den Urteilen, ſondern auch bei der Straf⸗ 
vollſtreckung. Er begründete das nach dem Stenogramm wie folgt: „Der 
Bruder des bekannten Kriegsgerichtsrats Romen, der einen Bürgermeiſter 
durch die infamſten Verleumdungen ſo ſchwer beleidigt hatte, daß die Frau 
des Bürgermeiſters in geiſtiger Amnachtung geſtorben iſt, wurde im Jahre 
1903 daraufhin zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Dieſe Strafe 
iſt bis heute nicht vollſtreckt worden. Es wurden alle Hebel in 
Bewegung geſetzt, um es nicht zur Strafvollſtreckung kommen zu laſſen, und 
es iſt auch gelungen, offenbar durch den Einfluß des Geheimen Kriegs; 
gerichtsrats Nomen... Ja, es wird ſogar behauptet, daß inzwiſchen die 
Strafe auf Betreiben der hohen Verwandtſchaft des Angeklagten in ein 
Jahr Feſtung umgewandelt worden ſei; aber auch dieſe Strafe 
iſt noch nicht vollſtreckt. Das geht über Klaſſenjuſtiz hinaus, das 
beweiſt eine Demoraliſation unſerer Juſtiz. Wenn ein armer Teufel darum 
bittet, es möge ihm Strafaufſchub gegeben werden, weil er gerade Arbeit 
gefunden hat, ſo wird dies regelmäßig abgeſchlagen. Hier aber wird mit 
Rückſicht auf die hohen Verwandten des Angeklagten die Strafe vielleicht 
überhaupt nicht vollſtreckt. Dieſer Kriegsgerichtsrat Nomen iſt derſelbe, 
der die Behauptung aufſtellte, daß die Sozialdemokraten durch ihr Pro- 
gramm berechtigt ſeien, Meineide zu leiſten, eine Behauptung, die er vor 
Gericht in keiner Weiſe aufrecht erhalten konnte 

And was hatte der anweſen de Herr Staatsſekretär Dr. Nieber- 
ding — und auch erſt auf Zuruf von ſozialdemokratiſcher Seite! — auf dieſe 
unerhörte Anklage zu erwidern? — Das: „Diefen Fall hat Herr Stadt- 
hagen in einer Art und Weiſe behandelt, daß ich es für unangemeſſen 
halte, darauf weiter einzugehen!“ Das Hohngelächter der Sozial⸗ 


<ürmers Tagebuch 241 


demokraten kann man ſich danach lebhaft vorſtellen. So wird ſolch un⸗ 
geheuerliche Anſchuldigung deutſcher Rechtsübung durch ihren berufenen 
Vertreter vor verſammeltem Reichstage „widerlegt!“ Aber der „Untertan“ 
ſoll nach wie vor an tadelloſe Stubenreinheit glauben! 

Ein Grundſatz der Verfaſſung iſt, daß der Richter der Regierung 
gegenüber völlig unabhängig und unabſetzbar ſei. Das iſt auch im Ge⸗ 
richtsverfaſſungsgeſetz niedergelegt. Dennoch werden für die „zeitweilige 
Wahrnehmung richterlicher Geſchäfte“ noch nicht angeſtellte Hilfs⸗ 
richter, Aſſeſſoren, zugelaſſen. „Dieſer Hilfsrichter⸗Anfug iſt nun“, wie in 
der „Welt am Montag“ dargelegt wird, „namentlich in der Konfliktszeit 
in Preußen politiſch ausgebeutet worden. Noch 1866 beſchloſſen die 
berüchtigten Hilfsrichter des Obertribunals entgegen der Verfaſſung die 
Strafverfolgung gegen Tweſten, ein Vorgang, der für die ſeltſame Ver⸗ 
legung des Reichsgerichts nach Leipzig in der Folge maßgebend war. Auch 
jetzt hat Preußen aus übel angebrachter Gparfamfeit . .. eine Menge 
Aſſeſſoren als Richter tätig, die natürlich, da ihre Anſtellung von den 
Vorgeſetzten abhängt, auf deren Wünſche und Neigungen Rückſicht zu 
nehmen geneigt find, alſo der völligen Unabhängigkeit entbehren, auch wo 
es ihnen ſelbſt nicht bewußt wird.“ 

Als der Hamburger Senat dies Syſtem auch einführen wollte, erhielt 
er von der Bürgerſchaft eine energiſche Zurückweiſung. Der Liberale Dr. Nöl⸗ 
deke, ſelbſt Richter, führte aus, daß in Zeiten politiſcher Kämpfe der Senat 
dahin kommen könnte, Angehörige oder vermeintliche Geſinnungsgenoſſen 
gewiſſer politiſcher Richtungen nicht zu Aſſeſſoren zu ernennen, wie es in 
anderen Staaten ſchon geſchehen fei. Und der Abgeordnete Landrichter 
Dr. Popert bemerkte, unter nicht mißzuverſtehendem Hinweis auf den „großen 
Nachbar“, das Hilfsrichtertum zerſtöre das Vertrauen des Volkes in die 
Rechtspflege. Ganz erheblich trete dies bei den Schöffenrichtern und in 
der Haftabteilung hervor. Dort ſpiele der Aſſeſſor, der nicht in der Lage 
ſei, feine Unabhängigkeit gegenüber der Staatsanwaltſchaft zu wahren, eine 
ganz unmögliche Rolle, weil er ſich ſagen müſſe, daß er ſich bei dauernder 
Meinungsverſchiedenheiten mit der Staatsanwaltſchaft der Anſtellung min⸗ 
deſtens nicht nähert. In den Strafkammern werde der Aſſeſſor als Hilfs⸗ 
richter immer das Gefühl haben, als ſäße er im Examen: „Da iſt es leicht 
möglich, daß der junge Aſſeſſor, um nicht in Meinungsverſchiedenheiten 
mit dem Kammervorſitzenden zu geraten, ein kleines, ganz kleines Kom⸗ 
promiß mit feinem Gewiſſen ſchließt, was unter Umftänden ein paar Jahre 
Zuchthaus ſtatt Gefängnis oder Gefängnis ſtatt Geldſtrafe bedeutet.“ 

Wie doch der Zufall wunderbar ſpielt! Nachdem eine Strafkammer 
unter Vorſitz des Landgerichtsdirektors Schmidt Harden wegen Majeſtäts⸗ 
beleidigung freigeſprochen hatte, ergab die neue Geſchäftseinteilung, daß 
Herr Schmidt in Zukunft an einer Zivilkammer zu wirken habe. Nachdem 
das Schöffengericht unter Vorſitz des Amtsrichters Kern Harden wegen 
Noltkebeleidigung freigeſprochen hat, muß Herr Kern vom 1. Januar 1908 

Der Turmer X, 8 16 


242 Sarmers Tagebuch 


ab in einer Sivilabteilung Dffenbarungseide abnehmen. Selbſtverſtändlich 
beide „auf ihren eigenen Wunſch“. Welcher zähen Anſtrengungen es ber 
durft hatte, dem Landgerichts direktor Schmidt dieſen „eigenen Wunſch“ 
zum Bewußtſein zu bringen, darüber kann man das Authentiſche in älteren 
Jahrgängen der „Zukunft“ nachleſen. „Merkwürdig“, ſchreibt Harden erſt 
jüngſt wieder (unter dem 21. März 1908), „wie oft Gerichtsbeamte, die 
genötigt waren, ſich ex officio mit mir zu beſchäftigen, den Wunſch nach 
einem Amtsklimawechſel ſpüren. Landgerichtsdirektor Schmidt. . . mußte 
fortan einer Zivilkammer vorſitzen und ſtarb bald danach. Ein ihm in ver⸗ 
ehrender Freundſchaft ergebener Landgerichtsrat ſagte damals zu mir: ‚Sch 
war froh, als ich aus der Kammer heraus war, die mit Ihnen 
zu tun hat; da kommt man ja in Teufels Küche.“ Verurteilte 
mich dann, als Präſident der ſelben Strafkammer, wegen des ſelben 
Deliktes; und wurde als Vortragender Nat ins Reichsmarineamt berufen. 
Der Staatsanwalt, der ihm aſſiſtiert hatte, kam ins Juſtizminiſterium und 
wurde Geheimer Juſtizrat. Nicht Bonaparte allein hat dem Talent jede 
Laufbahn geöffnet.“ Ein Richter darf übrigens wider feinen Willen zwar 
nur im Wege des gerichtlichen Diſziplinarverfahrens in eine andere Stelle 
ſtrafverſetzt werden, wohl aber „im Intereſſe des Dienſtes“ von einer Ab⸗ 
teilung zur andern. Auf dieſe Weiſe können Richter, die ſich politiſch oder 
ſonſtwie nach oben hin „kompromittiert“ haben, für Strafſachen unſchädlich 
gemacht werden. 

„Noch im November hörte ich,“ erzählt Harden a. a. O. weiter, „Herr 
Landgerichtsdirektor Lehmann, der in meiner Sache als Vorſitzender 
die Verhandlung zu leiten hatte, habe in einer Geſellſchaft laut ge⸗ 
ſagt: „Der Kerl muß verurteilt werden!“ Der Kerl: Das war ich. 
Aus dem Munde eines Richters, der den Prozeßſtoff nur aus der Zeitung 
kannte, ein hübſches, ziemliches Wort. Ein anderer Richter, der es mit 
eigenem Ohr vernommen hatte, fand es ſo charakteriſtiſch, als Stimmungs⸗ 
ſymptom fo wichtig, das er's weitererzählte und (ungefähr) hinzufügte, da 
fei für den Angeklagten nicht viel mehr zu hoffen. Später er 
fuhr ich, der Herr Vorſitzende habe auch über Strafart und Strafmaß ſchon 
recht Tröſtliches von ſich gegeben; dafür hatte ich aber keine Ohrenzeugen. 
Doch der erſte Ansſpruch konnte genügen. Paragraph 24 der Strafprozeß⸗ 
ordnung ſagt: „Ein Richter kann wegen Beſorgnis der Befangenheit ab⸗ 
gelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, welcher geeignet iſt, Mißtrauen 
gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen.“ Mißtrauen gegen 
die Anparteilichkeit eines Richters, der über die Tat und den Täter im 
Salon das ungünſtigſte Urteil gefällt hat, iſt ſicher gerechtfertigt. Einem 
Angeklagten nicht zuzumuten, er ſolle mit zuverſichtlichem Glauben an vor⸗ 
urteilsloſe Gerechtigkeit vor einem Richter ſtehen, der von ihm geſagt hat: 
„Der Kerl muß verurteilt werden.“ (Ich will nicht hehlen, daß ein ſolcher 
Richter mir eines Amtsklimawechſels bedürftiger ſcheint als der alte Schmidt 
und der junge Kern.) Was die Strafprozeßordnung beſtimmt, iſt meiſt 


Sirmers Tagebuch 243 


aber, nach ehrwürdigem Juriſtenwitz, unbeſtimmt. Der Richter kann ein- 
fach erklären: „Das habe ich nur fo hingeſagt. Das haltbare Urteil werde 
ich mir jetzt erſt, aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung, bilden. Von 
irgendwelcher Befangenheit weiß ich mich ganz frei.“ Dann iſt der Ein⸗ 
wand abgetan. „Verſuchen Sie's nur erſt gar nicht! Bis eine Strafkammer 
ihren Vorſitzenden durch Beſchluß feierlich der Befangenheit zeiht, muß es 
ſchon klafterdick kommen. Und die Verdächtigung, mag fie wenigſtens fub- 
jektiv noch ſo feſt begründet ſein, reizt alle in der Kammer Sitzenden. Jeder 
Zweifel an ihrer Anbefangenheit dünkt fie ſchwerſte Beleidigung: und der 
Angeklagte trägt ſeine Haut zu Markt.“ Solche Weisheit wird Einem von 
„Praktikern“ aufgetiſcht. In keinem Gebiet wird das Berufsgeheimnis fo 
ſchlecht gewahrt, das Allzumenſchliche des Betriebes ſo ungeniert beſeufzt 
wie in dem der Strafjuſtiz. Ich kannte nie einen Kriminaliſten, der auf 
die Gerechtigkeit einer Sache baute; nie einen Staats- oder Rechtsanwalt, 
der die Chance des Falles nicht nach dem Perſonalbeſtande des Gerichts⸗ 
hofes berechnete. ‚Bott, Gott, auf welchem Fundament ruht die menſch⸗ 
liche Gerechtigkeitspflege!l“ fo ſtöhnte einſt Friedrich Hebbel...“ 

Nachdem der Oberreichsanwalt Dr. Olshauſen in dem bekannten 
„Hochverratsprozeß“ gegen Dr. Karl Liebknecht zwei Jahre Zuchthaus 
beantragt hatte, ift er alsbald zum Senatspräſidenten am Reichsgericht 
ernannt worden. Strafrichter Dr. Oppermann wurde bald nach dem 
„Plötzenſeeprozeß“, in dem drei Redakteure auf der Anklagebank ſaßen, 
zum Vertreter des Landgerichtspräſidenten für das Kriminalgericht befördert. 
Jetzt ift er als Reichsgerihtsrat den oberſten Inſtanzen deutſcher Recht: 
ſprechung einverleibt worden. Seine Anſichten über Pflichten und Rechte 
der Preſſe zeichneten ſich durch markante Eigenart aus. In dem „Plötzenſee⸗ 
prozeß“ raſſelten die Ordnungsrufe und Zurechtweiſungen nur ſo nieder. 
Es war ein hochdramatiſcher Prozeß. Herr Oppermann ſtrebte redlich nach 
Gerechtigkeit, wurde aber leider verkannt. 

Wahrhaft tragiſch iſt dagegen, was der Abgeordnete Geck in der 
badiſchen Kammer über das Ende eines badiſchen Staatsanwalts erzählte. 
Der Staatsanwalt Jolly, ein Sohn des Miniſters, einer der heftigſten 
Verfolger der Sozialdemokraten unter dem Sozialiſtengeſetz, habe ihn eines 
Abends zu ſich in ſeine Privatwohnung gebeten und bei einem Glaſe Wein 
zu ihm geſagt: „Ich werde ſchon wieder gendtigt, eine Anklage 
gegen Sie zu erheben, und während ich überzeugt bin, daß ſie ungerecht 
und unhaltbar iſt, muß ich ſie vertreten, da ſie nicht aus Baden, 
ſondern aus Preußen kommt. Man verfolgt Sie ungerecht. 
Wenige Monate darauf habe Jolly den Staatsdienſt verlaſſen und ſei unter 
die Journaliſten gegangen. Alles natürlich post hoc, nicht propter hoc. Zufall! 

In einem angeklagten Artikel hatte die „Königsberger Volkszeitung“ 
geſchrieben: 

„Am Kammergericht werden in den Strafſenaten nur Nichter 
geduldet, welche die juriſtiſchen Anſichten des Staatsminiſteriums 


244 Türmers Tagebuch 


teilen. Befähigte erſtklaſſige Juriſten, deren hohe Begabung ſelbſt der 
Juſtizminiſter ausdrücklich anerkennt, werden wider ihren Willen von 
einem Strafſenat an einen Zivilſenat verſetzt, wenn ſie zu häufig 
freiſprechen. Freiſprechende Arteile find oben nicht beliebt, und wenn 
ein preußiſcher Richter es mit feiner Überzeugung nicht vereinbaren kann, 
zu verurteilen, dann riskiert er ſchwere perſönliche Nachteile.“ 

Der Verteidiger wollte für dieſe Behauptungen den Wahrheits— 
beweis erbringen. Er wollte beweiſen, daß am Kammergericht tat— 
ſächlich die Stellung der Richter zum Staatsminiſterium bei 
ihrer Tätigkeit von entſcheidendem Einfluß ſei. Er wollte beweiſen, 
daß der verſtorbene Landgerichtsrat Havenſtein, deſſen außerordentlich hohe 
juriſtiſche Begabung und juriſtiſchen Scharfſinn ſelbſt der Juſtizminiſter im 
Abgeordnetenhauſe anerkannt habe, wider ſeinen Willen von einem 
Strafſenat an einen Zivilſenat verſetzt worden ſei, lediglich, weil 
er eine Anzahl Polizeiverordnungen für ungültig erklärt hatte. 
And endlich wollte er beweiſen, daß das Präſidium nach dieſen Ge— 
ſichtspunkten ganz allgemein die einzelnen Senate beſetze. 

Das Gericht lehnte den Beweis antrag ab. In der Begrün⸗ 
dung des Urteils, das auf 500 Mark Geldſtrafe lautete, heißt es an der 
einen Stelle: 

„Ein ſchwerer Vorwurf gegen den Präſidenten des Kammergerichts 
werde durch den Satz ausgeſprochen, daß befähigte erſtklaſſige Juriſten, 
deren hohe Begabung ſelbſt der Juſtizminiſter ausdrücklich anerkennt, wider 
ihren Willen von einem Strafſenat an einen Zivilſenat verſetzt werden, 
wenn fie zu häufig freiſprechen, und freiſprechende Urteile ſeien oben nicht 
beliebt. Damit werde dem Kammergerichtspräſidium, in deſſen Hand nach 
dem Gerichtsverfaſſungsgeſetz die Zuſammenſetzung der einzelnen Senate 
liegt, zum Vorwurf gemacht, daß es die Richter nicht nach ihren 
Fähigkeiten und Leiſtungen verteile, ſondern danach, ob ſie die An⸗ 
ſichten des Staats miniſteriums teilen oder nicht, und daß es in die 
Strafſenate nur ſolche Richter nehme, die, wie es im Volksmunde heißt, 
das Mäntelchen nach dem Winde hängen.“ 

Und an der andern: 

„Die Behauptung, es ſei Praxis, daß Richter, die nach 
der Meinung der Mehrheit des Präſidiums des Gerichts 
falſch urteilen, an eine andere Stelle verſetzt werden, ſei 
als wahr unterſtellt worden. Das ſei ſelbſtverſtändlich. Die 
Majorität des Präſidiums habe nach pflichtgemäßem Ermeſſen zu urteilen. 
And wenn ſie einen Richter für einen Platz für nicht befähigt hält, ſo hat 
fie ihn eben dahin zu ſtellen, wo nach ihrer Anſicht der betreffende Richter 
ſeinen Fähigkeiten entſprechend beſſer verwendbar iſt.“ 

Ungefähr ſagt das der Sozi auch, „nur mit ein bißchen andern 
Worten“! And was er ſagt, iſt für jeden, der zu leſen verſteht, „als 
wahr unterſtellt“ worden. Aber bluten muß er doch! 


Sirmers Tagebuch 245 


Der Hamburger Volksſchullehrer Harder, Vorſtandsmitglied der 
dortigen Friedensgeſellſchaft, hatte ſich in einem Aufſatz der „Pädagogi⸗ 
ſchen Reform“ gegen eine allgemeine Sedanfeier durch die Jugend aus- 
geſprochen, da die dabei geſchwungenen Reden wider den „Erbfeind“ und 
ſonſt landes üblichen Ergüſſe bei dem Nachbarvolke ohne Not alte Wunden 
wieder aufrißen und ſo eine Annäherung beider Kulturmächte, wenn nicht 
verhinderten, ſo doch verzögerten. 

Gegen dieſe immerhin doch ſachliche und begründete Kundgebung 
eines ehrlichen Friedens freundes wandten ſich alsbald die „Hamburger Nach⸗ 
richten“ in einem unnötig gereizten und beleidigenden Artikel. Darin wurde 
nicht nur von einem „vaterlandsloſen Treiben der Volksſchul⸗ 
lehrerſchaft“ (ö) phantafiert, ſondern auch von der Inſolenz, Dreiſtigkeit 
und „nicht zu duldenden Anmaßung“ Harders. Dieſer erhob Privatklage, 
und das Hamburger Schöffengericht III verurteilte den verantwortlichen Re- 
dakteur im Oktober 1907 zu 30 Mk. Geldftrafe wegen formaler Geleidi- 
gung, wobei als ſtrafmildernd in Betracht gezogen war, daß Privatbeklagter 
„ſich in ſeinen patriotiſchen Gefühlen tief verletzt fühlte“. Auf die beider⸗ 
ſeits eingelegte Berufung hob die Strafkammer des Hamburger Landgerichts 
am 17. Februar 1908 das erſte Urteil auf und ſprach den beklagten Re- 
dakteur frei, da er in Wahrnehmung berechtigter Intereſſen 
gehandelt habe. In der Begründung heißt es u. a.: 

„Die Voranſtellung franzöſiſcher Intereſſen und Ge- 
fühle (2) auf dem Gebiete der Jugenderziehung enthält eine Verletzung 
der Intereſſen des deutſchen Vaterlandes. Dieſe haben allen anderen vor⸗ 
anzuſtehen. Eine ſie irgendwie außer acht laſſende Friedensbewegung iſt 
vom deutſch⸗ nationalen Standpunkte aus verderblich und verwerflich.“ 

Ferner zeuge die Floskel des Klägers von der „36 jährigen Harmonie 
zwiſchen Deutſchland und Frankreich“ von fo grober Anwiſſenheit, 
daß auch rein objektiv mit Recht von Anmaßung uſw. geſprochen 
werden könne. 

Das juriſtiſch Intereſſanteſte an dem Urteil iſt vielleicht, daß hier 
einem Redakteur — in ganz vereinzeltem Ausnahmefall von 
unſerer geſamten ſonſtigen Rechtſprechung — der Schutz des 
§ 193 („Wahrnehmung berechtigter Intereſſen“) zugebilligt wird, wo als 
ſolche Intereſſen nicht rein perſönliche, materielle des Beklagten 
unterſtellt werden, ſondern öffentliche, Intereſſen des gemeinen Wohles. 
Auch nach der Rechtſprechung des Reichsgerichts wäre das ein entjcheiden- 
der Grund zur Revifion und damit zur Aufhebung des Arteils. Denn auch 
das Reichsgericht hat ſich bekanntlich auf den ſonderbaren Rechtsgrundſatz 
feſtgelegt, daß ein Redakteur in ſeiner Eigenſchaft als ſolcher nur dann 
„berechtigte Intereſſen wahrnimmt, wenn es feine privaten, rein perfön- 
lichen find, nicht aber öffentliche, allgemeine, ethiſche. Danach 
könnte auch das Urteil der Hamburger Strafkammer nur dann als zu Recht 
beſtehend anerkannt werden, wenn die vom Redakteur wahrgenommenen 
patriotiſchen“ Intereſſen objektiv oder ſubjektiv als keine ethiſch⸗patrio⸗ 


246 Türmers Tagebuch 


tiſchen, ſondern als „geſchäftspatriotiſche“ unterſtellt, alſo von ihm 
nicht aus ſelbſtloſen Beweggründen, ſondern aus eigennüsigem Gefchäfts- 
intereſſe vertreten worden wären. Das hat aber die Strafkammer doch wohl 
ſchwerlich behaupten wollen. 

„Ein Muſterſtücklein ‚patriotifcher‘ Rechtskunſt“ nennt die „Ethiſche 
Kultur“, rein objektiv geſprochen, das Urteil. „Welchem Denker möchte 
es wohl einfallen, etwa den Weltpoſtverein vom deutſch⸗ natio- 
nalen Standpunkte“ aus zu betrachten?! Die Tatſache, daß in andern 
Kulturländern ſolch ein groteskes Verkennen der Prinzipien internatio- 
naler Beſtrebungen bereits undenkbar wäre, iſt doch nur ein ſchwacher Troſt, 
der zugleich ein Schlaglicht auf unſere offizielle Kultur wirft. In deutſchen 
Gauen weiß eben der (?) gelehrte Richter noch nicht, daß man die Liebe 
zum eigenen Vaterland gerade dadurch am beſten betätigt, daß man die 
berechtigten Intereſſen anderer Kulturſtaaten reſpektiert, wie es ſchon der 
internationale Takt gebietet. Der civis germanus iſt immer noch ſtolz darauf, 
ſich vom Pfahlbürgertum zum Grenzpfahlpatrioten , aufgeſchwungen“ zu haben. 

„Nimmt ſich ein Prieschen und ſagt: Hätſchi! 

Ich bin der achte der ſieben Weiſen! 

Ach, und er merkt es nicht einmal, wie 
. Aber ihm leuchtend die Sterne kreiſen!“ 
— fo fingt Arno Holz ( Weltgeſchichte) von dem ‚fteinalten Mann“. Während 
ſich ringsum tauſendfältig die Zeichen mehren, daß unſer kleiner Weltkörper 
nur noch ein Organismus mit univerſalem Nervenſyſtem iſt, klammert ſich 
das Urteil der Hamburger Dreimännerkammer an den denkbar engſten Be⸗ 
griff, den es gibt, und glaubt dieſem dadurch zu dienen, daß es die Ge⸗ 
fühle des großen Nachbarlandes einfach ignoriert, als Luft behandelt — 
jenes Landes, das Jahrzehnte hindurch kluge Selbſtbeherrſchung zu üben 
gewußt hat. Ob dies die richtige Art iſt, unſerm geliebten Vaterlande 
neue Freunde in der Welt zu werben und die früheren zu erhalten, das 
mag dem Arteile jedes Denkenden überlaſſen bleiben.“ 

Der „denkbar engſte Begriff“ iſt nun zwar der wohlverſtandene nationale 
Gedanke in allewege noch nicht, wohl aber wird er von der Hamburger Straf⸗ 
kammer zu ſeinem eigenen Schaden verkannt, und darin hat die „Ethiſche 
Kultur“ recht. Aber auch die Aufgaben einer objektiven Rechtſprechung 
werden von dem Gericht verkannt, wenn es ſich in feiner Urteilsbegriindung 
auf das Gebiet des patriotiſchen Leitartikels begibt. Denn 
ſubjektive allgemeine Meinungsäußerungen dieſer Art, mögen ſie noch ſo 
ehrlicher Überzeugung entſpringen, können unmöglich die objektive autoritative 
Geltung beanſpruchen, die man von gerichtlichen Feſtſtellungen nun einmal 
erwartet und — immer im Rahmen menſchlicher Fehlbarkeit — erwarten fol... 

Wohin aber kann es mit der Autorität der Gerichte überhaupt noch 
kommen, wenn Tatfachen, wie fie der „Vorwärts“ erft unter dem 9. April 
dieſes Jahres an die große Glocke hängt, unwiderlegt die allgemeine Rechts⸗ 
ſicherheit beunruhigen dürfen? Wenn ſo nicht etwa nur das Vertrauen 
zu unſerer Rechtſprechung erſchüttert, ſondern auch der Glaube an die 


Zürmers Tagebuch 247 


praktiſche Gültigkeit, an die Durchführung erfolgter Redhts- 
ſprüche untergraben wird? Wenn man ſich im Volke ſchließlich ſagen 
wird: Auch wo die Gerichte uns unſer geſetzliches Recht geben, — es nützt 
uns ja doch nichts! Denn Verwaltungsbehörden und Polizei laſſen Ge⸗ 
richt Gericht, Urteil Urteil fein, wenn's ihnen gerade fo beliebt! Könnte 
der Umſturzgedanke noch wirkſamer gefördert, feſter in die Gemüter ge⸗ 
pflanzt werden, als wenn der Glaube Wurzel faßte, daß die Staatsgewalt 
die in ihrem eigenen Namen von Rechts wegen gefällten Erkenntniſſe nach 
jeweiligem Belieben in Kraft ſetzt oder aber mißachtet? And könnte ſich 
ein Richterftand, der noch auf Ehre und Würde hält, der feine Selbſt⸗ 
achtung und die vor ſeinem hohen Berufe nicht verlieren will, einen ſolchen 
Zuſtand länger gefallen laſſen? 

In der Neichstagsſitzung vom 2. April d. Is. gab der Staatsſekretär 
v. Bethmann ⸗Hollweg die hochgemute Erklärung ab: 

„Ebenſowenig wie in Preußen heute ein Präventivverbot für Ver⸗ 
ſammlungen zuläſſig iſt, wird das künftig in Deutſchland der Fall ſein.“ 

Dieſer feierlichen, hochamtlichen Erklärung gegenüber ſtellt der „Vor⸗ 
warts” die nüchterne Tatſache feſt, daß, wenn auch in Preußen die Voraus⸗ 
verbote von Verſammlungen geſetzlich unzuläſſig find, fie doch wenigſtens 
in Danzig tatſächlich nicht einmal etwas Angewöhnliches feien: 

„Allerdings hat das Oberverwaltungsgericht ſchon ſeit einer 
undenklichen Reihe von Jahren in immer wiederholter Recht⸗ 
ſprechung ſolche Verſammlungsverbote für ungeſetzliche Aber⸗ 
griffe der Polizeiwillkür erklärt. Trotzdem hat der Polizeipräſident 
von Danzig, Max Weſſel, noch im Jahre 1902 ſämtliche gewerkſchaft⸗ 
liche und politiſche Verſammlungen der Arbeiter in unſerem 
damaligen Parteilokal, Brotbänkengaſſe Nr. 11, im voraus verboten! 
Sogar Zahlabende und die harmloſeſten Sitzungen wurden von ſtarken 
Polizeiaufgeboten mit blanker Waffe Im Namen des Geſetzes“ geſprengt. 
Ein ganzes Jahr lang herrſchte dieſer Zuſtand, gegen den ſchon damals 
der weibiſche Börſenliberalismus nicht ein einziges kritiſches Wort übrig⸗ 
hatte. Alle Beſchwerden an den Regierungs⸗ und an den Ober⸗— 
präſidenten, die zum Schutz der Majeſtät des Rechts und der Autorität 
des Oberverwaltungsgerichts angerufen wurden, blieben reſultatlos. Die 
Polizei hatte einfach immer recht. Darauf wurde das Oberverwaltungs⸗ 
gericht auch gegen den Danziger Polizeianarchismus angerufen, und es 
entſchied im Juni 1903 gegen den Polizeipräfidenten Weſſel dahin, daß 
auch die von ihm verfügten Verſammlungsverbote kraſſe Un: 
geſetzlichkeiten geweſen ſeien. Damit hatten die Danziger Arbeiter 
aber noch lange nicht wenigſtens den geſetzlichen preußiſchen Polizei- 
zuſtand errungen. Denn trotz dieſes Urteils verbot der Polizei⸗ 
präſident auch weiterhin die Abhaltung von Verſammlungen. Die 
darauf perſönlich beim Oberpräſidenten geführte Beſchwerde hatte gerade 
den Erfolg, daß die Beſchwerdeführer an demſelben Tage abends trotz 
des der Polizei vorgelegten Urteils wieder mit Gewalt aus 


248 Sürmers Tagebuch 


dem Verſammlungslokal getrieben wurden! Als fie ſich auf das 
Arteil beriefen, erhielten ſte die für das preußiſche Polizeirecht geradezu 
programmatiſche Antwort: „Sie können jetzt wieder von neuemkla⸗ 
gen!“ Nun riß unſeren Genoſſen doch die Geduld, und fie forderten vom 
Staatsanwalt, daß er den Polizeipräfidenten wegen des offenkundigen 
Mißbrauchs ſeiner Amtsgewalt ſtrafrechtlich zur Verantwortung 
ziehe. Die Antwort der objektivſten Behörde der Welt lautete: Die Be⸗ 
amten und Kommiſſare hätten auf Befehl handeln müſſen, der Polizei⸗ 
präſident habe aber nicht das Geſetz verletzt, weil er in gutem Glauben 
gehandelt babe! !! 

Die alte Polizeipraxis hat denn auch trotz aller Mühe des lieben 
Oberverwaltungsgerichts auch jetzt noch nicht ihr Ende erreicht. Der 
gute Polizeiglaube höret eben nimmer auf. Noch am 20. Januar d. 9. 
verbot der Polizeipräſident die Abhaltung der Wahlrechts verſammlung 
aus den altbekannten Gründen der ‚Öffentlichen Ruhe und Sicherheit . Und 
dieſer paradieſiſche Zuſtand ſoll ... künftig in ganz Deutſchland beftehen. 

Wie die robuſte oſtelbiſche Polizeikraft den geſetzlichen Paragraphen⸗ 
gummi ganz nach Bedarf dehnt, dafür noch ein recht einleuchtendes Bei⸗ 
ſpiel. Obgleich es den Frauen in Preußen ſchon längſt erlaubt iſt, an 
öffentlichen politiſchen Verſammlungen unter dem Schutz des ‚Segments’ 
teilzunehmen, wurde hier am 20. Dezember 1907 eine öffentliche fozial- 
demokratiſche Verſammlung aufgelöſt, weil einige Frauen ebenfalls daran 
teilnehmen wollten. Der Polizeipräſident erklärte die Auflöſung für völlig 
berechtigt, weil die öffentliche Verſammlung tatſächlich nur eine Vereins⸗ 
ſitzung“ geweſen ſei. Und zwar deshalb, obgleich ſie als öffentliche 
Verſammlung angemeldet und auch beſcheinigt war, weil die An⸗ 
meldung vom Vorſitzenden des ſozialdemokratiſchen Vereins Danzig ⸗ Stadt 
erfolgt und mit dieſem Zuſatz unterſchrieben war. Ferner auch, weil zum 
Beſuch dieſer öffentlichen Verſammlung durch ein Flugblatt eingeladen war, 
das die ,Parteileitung’ an die ,Parteigenoffen’ gerichtet hatte. Dieſe auch 
hier noch verblüffende Polizeilogik veranlaßte eine Bezirksgruppe der poli- 
tiſchen Organiſation, die praktiſche Probe darauf zu machen, wie lange 
denn die Polizei ſelbſt ihre neue Konſtruktion des Begriffs der „Vereins 
figung’ aufrechterhalten würde. Gerade 20 Mitglieder des ſozialdemokra⸗ 
tiſchen Vereins arrangierten eine engere Bezirksmitgliederſitzung und meldeten 
fie in der Form an und luden dazu auch fo ein, wie es das Polizeipräfidium 
als das beſondere Kennzeichen der „Vereinsſitzung“ ſelbſt forderte. Das Re- 
ſultat war: mit Eintritt der Polizeiſtunde wurde dieſe wirkliche Ver⸗ 
eins ſitzung polizeilich aufgeldft, weil fie nun wieder keine 
Sitzung, ſondern eine öffentliche Verſammlung ſein ſollte! 

Alſo ſelbſt die ausſchweifendſte Phantaſie dürfte an die Vielſeitig keit 
der preußiſchen Polizeifindigkeit nicht heranreichen. Dabei dürfte es nicht 
überflüſſig fein, aus den hieſigen Erfahrungen heraus zu betonen, daß die 
Freiſinnsmannen hier ſtets die allergetreueſte Schutztruppe der grenzenloſeſten 
Polizeireaktion waren. Als unſere Genoſſen in einer beſonderen Verſamm⸗ 


Zürmers Tagebuch 249 


lung gegen das ungeſetzliche Verſammlungsverbot vom 12. Januar pro- 
teſtierten, verhöͤhnte die einſt freifinnige „Danziger Zeitung“ dieſe Notwehr 
der entrechteten Arbeiter, indem fie dummdreiſt das Verbot als nur ‚an- 
geblich“ ungeſetzlich noch beſchönigte.“ 

Es ſeien aber nicht etwa nur die Danziger „Genoſſen“, die ſolche 
Erfahrungen gemacht haben. Auch in anderen Teilen Preußens ſeien ſchon 
häuſig Verſammlungen, und nicht bloß politiſche, wider Recht und Geſetz 
verboten worden: „Im Kreiſe Gelſenkirchen wurden z. B. beim letzten großen 
Bergarbeiterſtreik die Verſammlungen der Bergleute verboten, als ſich eine 
Oppoſition gegen den Beſchluß der Siebenerkommiſſion auf Beendigung 
des Streiks zu regen begann. Die preußiſche Polizei kümmerte 
ſich eben bisher den Teufel um die ihr wohlbekannte Recht⸗ 
ſprechung des Oberverwaltungsgerichts, die Präventivverbote 
für ungeſetzlich erklärte. Ob Herr Bethmann⸗Hollweg den feſten Willen 
hat, dafür zu ſorgen, daß es künftig anders wird?“ Jedenfalls werde er 
anderenfalls im Reichstage energiſch daran erinnert werden! 

Muß das aber erſt abgewartet werden? Müſſen die maßgebenden 
Inſtanzen, die amtlich beſtellten Hüter der geſetzlichen Ordnung erſt von 
der — „Amſturzpartei“ an die Erhaltung dieſer Ordnung „energiſch“ 
gemahnt werden? 

Nein, ſo kommen wir nicht weiter. Mit dem Verſteckenſpielen näm⸗ 
lich, mit dem Kopf in den Sand ſtecken: mein Name iſt — Nieberding, ich 
weiß von nichts. 

„Dagegen iſt es mannhafte Kühnheit, das Abel feſt ins Auge zu 
faſſen, es zu nötigen ſtandzuhalten, es ruhig, kalt und frei zu durchdringen 
und es aufzulöſen in feine Beſtandteile. Auch wird man nur durch diefe 
klare Einſicht des Abels Meiſter und geht in der Bekämpfung desſelben 
einher mit ſicherem Schritte, indem man, in jedem Teile das Ganze über⸗ 
ſehend, immer weiß, wo man ſich befinde, und durch die einmal erlangte 
Klarheit ſeiner Sache gewiß iſt, dagegen der andere, ohne feſten Leitfaden 
und ohne ſichere Gewißheit, blind und träumend herumtappt. 

Warum ſollen wir denn auch uns ſcheuen vor dieſer Klarheit? Das 
Abel wird durch die Anbekanntſchaft damit nicht Heiner, noch durch die Er⸗ 
kenntnis größer; es wird nur heilbar durch die letztere; die Schuld ſoll hier 
gar nicht vorgerückt werden. Züchtige man durch bittere Strafrede, durch 
beißenden Spott, durch ſchneidende Verachtung die Trägheit und die Selbſt⸗ 
ſucht, und reize ſie, wenn auch zu nichts beſſerm, doch wenigſtens zum Haſſe 
und zur Erbitterung gegen den Erinnerer ſelbſt, als doch auch einer kräf⸗ 
tigen Regung, an, ſolange die notwendige Folge, das Abel, noch nicht 
vollendet iſt und von der Beſſerung noch Rettung oder Milderung ſich er- 
warten läßt.“ 

Fichte ſagt das; immer noch der ſelbe, vom Herrn Neichskanzler Bülow 
ſo hoch verehrte, als Vorbild anerkannte: Johann — Gottlieb — Fichte. 


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Aſthetiſche Unkultur 


Von 


Johannes Gaulke 


d cnsdurſt und Schönheitsbedürfnis find das Kennzeichen 
2 * jeder echten Kultur! 

PS 4 Wenn wir an diefem Kriterium in bezug auf die Kultur 

—unſerer Zeit feſthalten, fo dürfte das Endurteil keineswegs 
zur allgemeinen Zufriedenheit ausfallen. Ein Wiffensdurft ijt unverkennbar 
vorhanden, aber mit dem Schönheitsbedürfnis hat es ſein Bewenden. Zwar 
ſtreben viele Bevölkerungsſchichten, die bisher ſo gut wie ausgeſchloſſen 
vom Kulturleben waren, zum Licht, der vierte Stand, der alle materiellen 
Güter produziert, pocht an die Tore des Staates, um ſein Recht auf Leben 
und Lebensgenuß zu fordern. Indeſſen ſtehen dieſen durchaus berechtigten 
Beſtrebungen des Fortſchritts noch viele Hinderniſſe entgegen. Zunächſt 
die ökonomiſchen Verhältniſſe, die auf allen Schichten, vom Fabrikanten 
bis zum unterſten Fabrikarbeiter laſten. Die moderne Ziviliſation, die wir 
kurzweg nach dem ſie beherrſchenden ökonomiſchen Geſetz die kapitaliſtiſche 
nennen, gewährt dem einzelnen nicht die Möglichkeit, ſich individuell aus⸗ 
zuleben — was nun einmal die Vorbedingung zu einer wahren Kultur iſt. 
Der Menſch an ſich iſt getötet, der Berufsarbeiter geblieben. Die Speziali⸗ 
ſierung der Arbeit, die ſich auf allen Gebieten ſtetig vollzieht, und die 
Schablonenhaftigkeit der Erziehung und ſelbſt des Denkens iſt der Fluch 
unſerer Zeit. Der Horizont des Berufsmenſchen wird immer enger und 
ſein Ideenkreis beſchränkter. Die einſeitige Arbeit erſtickt in ihm den Sinn 
für Menſchenwürde, Größe und Schönheit. Das Perſönlichkeitsgefühl ge⸗ 


langt unter dem Zwange der Maſſenerziehung kaum noch zur Entwickelung. 


Die heranwachſende Jugend wird nicht für das Leben erzogen, um einſt 
an der allgemeinen Kulturarbeit mitwirken zu können, ſondern zu Strebern 
und Arbeitsautomaten. Werden doch die Schulmeiſter ſelber auf ihren 
Beruf dreſſiert! 


— — — — — 


Gaulle: Aſthetiſche Ankultur 251 


Die Vorbedingungen zu einem ſozialiſtiſchen Zwangsſtaat werden von 
der Geſellſchaft des Gegenwartſtaates hervorgerufen und feſtgelegt. Wir 
wiſſen nicht, ob und in welcher Form der Sozialismus ſich verwirklichen 
wird, aber wir können uns trotz aller Schwarzſeher beruhigen: ein tieferes 
Sinken der Perſönlichkeit kann kaum eintreten, wie immer die Geſellſchafts⸗ 
ordnung ſich auch geſtalten mag. Größere Gegenſätze und Widerſprüche 
zwiſchen den Intereſſen der einzelnen und denen der Geſamtheit hat kaum 
eine Geſellſchaftsordnung älterer und neuerer Zeit hervorgebracht. Auch iſt 
die äſthetiſche Kultur kaum ärger vernachläſſigt worden als im Zeitalter des 
Dampfes und der Maſchine. Es hat einfach niemand mehr Zeit und Luſt, 
ſich mit den Dingen abzugeben, die abſeits feiner Berufs ſphäre liegen. 

Der gemeine unkünſtleriſche Geiſt, der aus der Zeit geboren iſt, hat 
ſich überaus ſchnell in alle Inſtitutionen der Zeit Eingang verſchafft. Er 
iſt in die Theater, Variétés, Konzerthallen, Kunſtausſtellungen gedrungen, 
er hat das Architekturbild der Städte, die Einrichtungen der Wohnungen, 
ſelbſt das Koſtüm nach ſeinem Bilde geformt. Es haben im allgemeinen 
nur ſolche Veranſtaltungen Ausſicht auf Erfolg, die von vornherein auf die 
Senſationsſucht des Publikums ſpekulieren. Der künſtleriſche Ernſt iſt ver⸗ 
pönt, die Geſchmackloſigkeit das hervorſtechende Merkmal unſerer Zeit. Die 
Theaterdirektoren, die ſich früher wenigſtens als Schützer der Kunſt auf. 
ſpielten, find heute lediglich Geſchäftsleute, die aus ihren Unternehmungen 
zunächſt Geld herausſchlagen wollen. Wenn nebenher die Kunſt zu ihrem 
Rechte kommt, fo iſt dies an ſich kein Fehler, nur ſoll man ſich nicht bei 
der Auswahl der Stücke von unzeitgemäßen ſentimentalen Erwägungen 
leiten laſſen. Ein Stück iſt gut, wenn es dem Publikum gefällt, es iſt 
nichts wert, wenn es keinen Kaſſenerfolg hat. Daher ſteht die platte fran⸗ 
zöſiſche Geſellſchaftskomödie in hohem Anſehen, wie ja überhaupt die Aus⸗ 
länderei auf der Bühne zeitgemäß geworden iſt. 

Was das Theater begonnen, hat das Variété zu einem prächtigen 
Abſchluß geführt; als Mittel dazu diente die Aberbrettelei. Die Kunſt iſt 
zum Volke hinabgeſtiegen — um einem allgemeinen Bedürfnis abzuhelfen! 
Der unnahbare Künſtler, der jede Verquickung ſeiner Kunſt mit dem Hand⸗ 
werk als ein Sakrilegium betrachtete, hat feinen beengten Standpunkt auf ⸗ 
gegeben. Warum nicht! Leben wir doch in einer Blütezeit des Kunſt⸗ 
gewerbes und der literariſchen Kleinkunſt! Die Kunſt ſoll das öffentliche 
wie private Leben durchdringen und durchgeiſtigen. Schönheit überall, im 
Palaſt und in der Hütte, auf der Straße und in der Kneipe! Wir leben 
in einer neuen Renaiffance, die vom Geiſte des Abermenſchentums befruchtet 
iſt. Daher das emſige Suchen nach einem neuen Stil, nach einer neuen 
Schönheitswelt, wie überhaupt die Umwertung aller Werte — um einem 
allgemeinen Bedürfnis abzuhelfen. | 

Das Aberbrettl und Kabarett gehört zweifellos zu den bemerkens⸗ 
werteſten und eigenartigſten Erſcheinungen der äſthetiſchen Kultur up to 
date. Aber was hat es gegenüber der Kunſtverderberei zu bedeuten, die 


252 Gaulke: Aſthetiſche Ankultur 


von der illuſtrierten Wochenliteratur ausgeht! Man entrüſtet ſich bei uns 
vielfach über die amerikaniſche Korruption im allgemeinen und die Korruption 
der amerikaniſchen Preſſe im beſonderen, vergißt aber dabei ganz, daß das 
Volk der Denker auf dem beſten Wege iſt, ſich zu amerikaniſieren, ja, daß 
es in mancher Beziehung ſchon auf das Vankeeniveau geſunken iſt. Die 
Zeiten ſind vorüber, da die Familienblätter eine Meinung vertraten und 
zu allgemeinen Kulturfragen Stellung nahmen. Sogar die „Gartenlaube“, 
gegen die man heute gewiß nicht den Vorwurf radikaler Geſinnung erheben 
kann, iſt einſt wegen ihrer oppoſitionellen Haltung der Zenſur zum Opfer 
gefallen: ſie mußte längere Zeit ohne Kopf erſcheinen. Damals war die 
Rückgratloſigkeit aber noch keine allgemeine Erſcheinung. Heute hält man 
ſich mit derartigen Sentimentalitäten nicht mehr auf. Geſchäft bleibt Ge⸗ 
ſchäft, mag der Rückgrat darüber auch brechen. Es allen recht zu machen, 
iſt der Grundſatz des guten Geſchäftsmannes. Nur nach keiner Seite hin 
anſtoßen und verletzen! Es iſt gleichgültig, ob man mit alten Kleidern 
handelt oder Literatur verſchleißt — das Geſchäftsprinzip bleibt dasſelbe. 
Man muß ſich oft über das Geſchick wundern, das ein Verleger der illu⸗ 
ſtrierten Wochenliteratur in der Zuſammenſtellung und Zurechtſtutzung des 
Stoffes entfaltet und mit welchem Naffinement er den Inſtinkten der Maſſe 
ſchmeichelt. Ein jeder kommt auf ſeine Koſten und jeder iſt vor der Gefahr 
geſchützt, zu einem eigenen Gedanken durch die Lektüre angeregt zu werden. 
Der merkantiliſche Geiſt iſt die Grundurſache des Niederganges der Kunſt, 
wie der äſthetiſchen Kultur überhaupt. Es hat bereits Schiller auf dieſe 
Erſcheinung hingewieſen. In ſeinen Briefen „Aber die äſthetiſche Erziehung 
des Menſchen“ ſagt er u. a.: „Der Lauf der Begebenheiten hat dem Genius 
der Zeit eine Richtung gegeben, die ihn je mehr und mehr von der Kunſt 
des Ideals zu entfernen droht... Der Nutzen iſt das große Idol 
der Zeit, dem alle Kräfte fronen und alle Talente huldigen 
ſollen. Auf dieſer groben Wage hat das geiſtige Verdienſt der Kunſt 
kein Gewicht, und aller Aufmunterung beraubt, verſchwindet ſie vor der 
lärmenden Macht des Jahrhunderts. Selbſt der philoſophiſche Anterneh ; 
mungsgeiſt entreißt der Einbildungskraft eine Provinz nach der andern, 
und die Grenzen der Kunſt verengen ſich, je mehr die Wiſſenſchaft ihre 
Schranken erweitert.“ 

Was Schiller vor mehr als hundert Jahren über dieſen Gegenſtand 
geſagt hat, trifft heute in bei weitem höherem Grade zu. Ja, was hat das 
bißchen Merkantilismus ſeiner Zeit gegenüber dem unbegrenzten Schacher⸗ 
geiſt von heute, der die Kunſt ſeinen Zwecken unterordnet und die Schönheit 
tötet, wenn ſie ihm im Wege iſt, zu bedeuten! 

* * 


Was wird folgen? Wird in abſehbarer Zeit eine andere Auf. 
faſſung der Dinge Platz greifen? oder wird unſere glänzende Ziviliſation 
eine neue Barbarei heraufbeſchwören? Zweifellos ſtehen wertvolle Kultur · 
güter auf dem Spiel. Daß etwas geſchehen muß, wiſſen wir. Aber wie 


Gaulle: Aſthetiſche Ankultur 253 


ſoll es geſchehen? Populariſierung der Kunſt! Man gründet Volksbühnen 
und Volkshochſchulen, man veranſtaltet Führungen durch Galerien und 
Muſeen und man gibt gar eine wiſſenſchaftlich angehauchte Volksliteratur 
heraus. Aber wie ſehen die Nefultate aus! Früher begnügten ſich die 
Volksbeglücker mit Wohltätigkeitsveranſtaltungen, um den Leib zu erquicken, 
jetzt ſoll der Geiſt auch etwas profitieren. Man machte ſich mit großem 
Eifer und höchſt ſentimental daran, die Armut aus der Welt zu ſchaffen, 
ahnte aber nicht, daß man ſie auf einer neuen Baſis rekonſtruierte. Nun 
will man gar die geiſtige Armut bannen und ahnt wiederum nicht, daß das 
Refultat ein gleich negatives fein muß. Die geiſtige Armut tritt eben in 
anderer Form in die Erſcheinung. Wo früher die Anbildung geherrſcht 
hat, herrſcht fortan die Halbbildung. Es iſt die Frage, welcher von beiden 
der bevorzugenswertere Zuſtand iſt. Der Bildungshunger läßt ſich durch 
Surrogate nicht befriedigen. Und der Kunſt iſt durch die heutige Form 
der Populariſierung ein ſchlechter Dienſt erwieſen. Denn ein Kunſtwerk, 
das kommentiert wird, um vom Volke verſtanden zu werden, hat durch dieſen 
Vorgang feine Urfprünglichkeit verloren. Welch eine Barbarei iſt es, den 
„Fauſt“ für eine Vorſtadtbühne zurechtzuſtutzen und von Schauſpielern 
dritten Ranges aufführen zu laſſen! Es iſt für die äſthetiſche Erziehung 
der Menſchen nicht gut, einer ſchlechten Theatervorſtellung beizuwohnen. 

Noch ſchlimmer iſt es um die Populariſierungsverſuche der bildenden 
Kunſt beſtellt. Es wird viel über Kunſt geſchrieben und geſprochen, gerade 
als ließe ſich das Kunſtverſtändnis eintrichtern. Man vergißt dabei, daß 
es mehr auf die Anſchauung als auf die Belehrung ankommt. Das Kunſt⸗ 
werk ſoll unmittelbar auf den Beſchauer wirken, und dieſer muß ſich ſchon 
der Mühe unterziehen, ſelbſt in den Gedankengang des Künſtlers einzu- 
dringen. Was bliebe von einem Böcklin übrig, wenn neben dem Werk 
zugleich ein trockener Kommentar zur gefälligen Benutzung des Publikums 
ausgelegt wäre? Der große Meiſter würde lächeln über die eifrigen Aus⸗ 
leger ſeiner Kunſt, die ſeinem Werke oft etwas andichten, von dem er nichts 
weiß. Je reiner ein Kunſtwerk in der Stimmung iſt, je ſubjektiver es 
empfunden iſt, um ſo weniger iſt eine Interpretation am Platze. Ein 
Böcklin, ein Thoma will wie ein Muſikſtück genoſſen ſein, das je nach dem 
Grade der Senſibilität des Zuhörers tiefere oder flüchtigere Stimmungen 
auslöſt. Wie grundverſchieden ſind doch die Eindrücke, die ſelbſt Perſonen 
gleichen Bildungsgrades aus einer Oper, einem Oratorium, einer Symphonie 
davontragen! And ähnlich ſteht es mit der Stimmungsmalerei eines Böcklin, 
der kein faßbarer Gedanke zugrunde liegt. Jeder große Künſtler ſchafft nur 
aus einem inneren Bedürfnis heraus, um ſich mit der Welt und ihren 
Widerſprüchen abzufinden. Darum iſt es barbariſch gedacht, der Kunſt 
von vornherein beſtimmte Zwecke zu imputieren, wie es viele ihrer Inter⸗ 
preten tun. — — 

Was ſoll alſo geſchehen? Die Kunſterziehung in der üblichen Form 
hat keinen Sinn, ja ſie hat oft eine neue Verwirrung angerichtet. Anſer 


254 Gaulte: Aſthetiſche Ankultur 


ganzes Erziehungs⸗ und Bildungsſyſtem iſt viel zu ſtark von der Phraſe 
durchſetzt, als daß große und ſtarke Erfolge zu erwarten wären. Die ver⸗ 
floffenen Kultur ⸗ und Kunſtepochen haben keine Bildungsinftitute nach unſerer 
Art beſeſſen, und dennoch empfand das Volk künſtleriſch. In Italien ver⸗ 
ſteht der einfache Mann noch heute mehr von der Kunſt als bei uns der 
ſogenannte Gebildete. Anſere Tradition reicht allerdings kaum 400 Jahre 
zurück und iſt außerdem vielfach durch Religions⸗ und Kabinettskriege unter; 
brochen worden. 

Kurzum: Die Erziehung zur Kunſt muß bei der Kunſt ſelbſt einſetzen. 
Die Kunſt, die alle Beziehungen zum Volkstum in unſerer merkantiliſchen 
Zeit eingebüßt hat, muß wieder volkstümlich werden, um als Faktor im 
Kulturleben wirkſam zu ſein. Ich möchte in dieſem Zuſammenhange auf 
das jüngſt erſchienene Werk „Volk und Kunſt, Kulturgedanken von 
Friedrich Seeßelberg“ (Schuſter & Bufleb, Berlin 1907) hinweiſen, das 
eine außerordentliche Fülle von Anregungen für Kunſtſchaffende und Runft- 
genießende enthält. Seeßelberg iſt kein Tendenzſchriftſteller, der irgendeine 
Tagesmode verficht, ſondern er nimmt die Aufgabe der Kunſt bitter ernſt. 
Er will ihr die Stellung zurückerobern helfen, die ſie in beſchaulicheren 
Zeiten, als der Menſch der Natur noch nicht entfremdet war, beſeſſen hatte. 
Die harmoniſche Ausbildung aller im Menſchen ſchlummernden Kräfte und 
die Wiederherſtellung der durch die moderne Ziviliſation verloren gegangenen 
Wechſelbeziehungen zwiſchen Kunſt und Volkstum iſt der leitende Gedanke 
ſeines Buches. „Es iſt keineswegs gleichgültig, ob überhaupt hohe Kunſt, ob 
ſtarke Religion, ob edles Recht uſw. gepflegt wird, ſondern es kommt darauf 
an, ob eben dieſe Kunſt, eben dieſe Religion, eben dieſes Recht auch wirklich 
mit der Eigenart des Volkes im innigſten Wechſelwirkungsverhältnis ſtehen.“ 

Seit der Renaiffance, ſeitdem eine fremde Formenwelt ſich in Deutſch⸗ 
land Eingang verſchafft hat, iſt unſer Volkstum im Geiſtesleben ſtändig 
zurückgedrängt worden. Wir haben uns mit allen möglichen Problemen 
beſchäftigt, wir haben die große und die kleine Welt durchforſcht, wir haben 
uns ſogar höchſt ernſthaft mit der Bekleidungs frage der Neger befaßt, aber 
darüber ganz vergeſſen, daß wir auch ein Anrecht auf die Entfaltung unſerer 
Eigenart haben. Wir haben in der Kunſt eine beiſpielloſe Nachäfferei 
fremder Völker getrieben, wir haben uns in der Architektur mit einem 
exotiſchen Schnörkelreichtum belaſtet und nicht daran gedacht, daß wir in 
der eigenen Umwelt einen ſchier unerſchöpflichen Formenſchatz beſitzen. Nur 
einmal haben wir von unſerem Eigentum Gebrauch gemacht. Das war im 
frühen Mittelalter. Die zerfallenen Burgen und Kirchen, hier und da 
wohl noch einſame Bauerngehöfte zeugen von deutſcher Kraft und Art. 
Dann wurde es für lange Zeit ſtill, bis eine neue Betriebſamkeit einſetzte. 
Aber es war kein Weiterbauen auf dem ſoliden Fundament der deutſchen 
Vergangenheit, ſondern ein Aufeinanderſchichten fremdländiſcher Elemente. 
Kunſt und Architektur des 19. Jahrhunderts ſtehen im Zeichen des Eklekti⸗ 
zismus. Und dann kam der neue Stil ... Wir wollen ihn zu den andern legen. 


erfunen unſere Bolksbibliotheten ihre Aufgabe? 255 


Haben wir überhaupt noch eine aus dem nationalen Geiſt geborene 
Kunſt zu erhoffen? und wird es uns gelingen, das Erbe der deutſchen Ver- 
gangenheit zu heben, um es für eine neudeutſche Kultur zu verwerten? An 
einzelnen tüchtigen Kräften fehlt es uns nicht, aber ob die Zeitverhältniſſe 
dem kulturellen Aufſtieg günſtig find, bleibt eine offene Frage. Ich habe 
anfangs den merkantiliſchen Geiſt, der die Werke der Kunſt und Literatur, 
der Wiſſenſchaft und Technik lediglich als Spekulationsobjekte bewertet, 
bereits gekennzeichnet. Am etwas zu erreichen, müſſen wir uns zunächſt 
von ihm befreien, wir müſſen dahin ſtreben, die Exiſtenzbedingungen des 
einzelnen menſchenwürdiger zu geſtalten. Werfen wir einen Blick auf die 
Maſſenquartiere der Großſtadt, wo die Menſchen in düſteren Löchern zu⸗ 
ſammengepfercht dahinvegetieren, blicken wir in die Fabriken, wo die Ar⸗ 
beiter ohne Ausficht auf Anderung ihres Schickſals automatiſch ihren Dienſt 
verrichten — dann wird unſere Hoffnungsfreudigkeit erheblich herabgeſtimmt. 
Die Großſtadt erdrückt die Perſönlichkeit, fie bildet — eine Folge der gleich⸗ 
artigen Lebensbedingungen — Maſſenempfindungen heran, keine Eigenart. 
Die Maſſe kann aber niemals Trägerin einer äſthetiſchen Kultur werden. 
Nur in kleineren Zentren kann ſich Kultur entwickeln. Das Altertum bietet 
uns ein lehrreiches Beiſpiel. Die griechiſchen Städte haben in verhältnis⸗ 
mäßig kurzer Zeit eine glänzende Kultur geſchaffen. Das mächtige, welt⸗ 
beherrſchende Rom konnte nicht einmal der fremden Kulturelemente Herr 
werden, geſchweige denn ſie eigenartig entwickeln. In Nom hat ſich die 
erſte große Maſſenanhäufung vollzogen. Die Maſſe, die nichts beſitzt, 
nicht einmal ein geiſtiges Erbe, kein Vaterland, oft nicht eine Heimſtätte 
hat, brachte Rom zu Fall, nicht die heranſtürmenden Barbaren. Werden 
wir ſein Schickſal teilen? Die Großſtädte ſind der Schauplatz der modernen 
Kultur. Was das platte Land, die Dörfer und Kleinſtädte an Volkstum 
befigen, wird von der Großſtadt ohne Anterlaß aufgeſogen. Die Großſtadt 
wirkt nivellierend, darum flüchten die Künſtler, die ihre Eigenart entfalten 
wollen, in die Einſamkeit. Das moderne Kulturproblem iſt aus dieſem 
Grunde ohne eine nach vernünftigen Grundlagen geleitete Dezentraliſation 
der Großſtädte, wie fie u. a. in der Gartenſtadt⸗Bewegung zum Ausdruck 
kommt, nicht zu löſen. Wir brauchen Ellbogenraum, in der Enge ver⸗ 
kümmert der Körper und der Geiſt verddet. 


Step 


Erfüllen unſere Volksbibliotheken ihre Aufgabe? 


a 70 


er 68 a, und denken Sie ſich, unſere Bücherei unterſcheidet ſich in nichts 
> von einer erftllaffigen Leihbibliothek. Genau derſelbe Bücherbeſtand, 
uur die Preisfäge find niederer. Wir verlangen bei gleichen Dar- 
bietungen nur vierzig Heller im Monat,“ ſo ſagte mir ein in einer großen 
deutſch - öͤſterreichiſchen Volks bibliothek angeſtelltes junges Mädchen. 


256 Erfüllen unſere Gol€sbtbliotheten ihre Aufgabe? 


In der Tat ſehr billig, mein Fräulein, und das iſt löblich. Aber nur 
das! Im übrigen bin ich ein Feind der genannten Wohlfahrtseinrichtung. 
Mein Gott, daß doch alles Wertvolle ſo oft wertlos, ja ſchädlich wird durch 
die Angeſchicklichkeit, mit der wir es bieten. Mit den Volksbüchereien hätten 
wir eine Möglichkeit, den Geſchmack des Volkes — Volk in weiteſter Be⸗ 
ziehung gemeint, denn die Volks bibliotheken werden von allen Kreiſen der Ge⸗ 
ſellſchaft benützt — wir hätten alſo mit dieſen Einrichtungen eine Möglichkeit, 
den Geſchmack des Volkes zu bilden. Was tut man aber nun? Hier, wo 
man ganz die Macht hätte, ein beſtimmtes Programm klug zur Geltung zu 
bringen, ahmt man einfach jene Geſchäftsleute nach, die eben zu ihrem Vor⸗ 
teile nach den Wünſchen der Menge Leihbibliotheken gründen. Man ſetzt ſie 
nach den erwähnten Vorbildern zuſammen, und ſo findet man hier wie dort 
Sue, Sacher⸗Maſoch, die Marlitt, die Heimburg und noch viel ſchlechtere 
Autoren. Ahnt man, welches Verbrechen man damit begeht? Wie man nur 
ſcheinbar eine Wohltat gewährt, dabei aber gerade den unbefangenen, un- 
orientierten Benützer der Bücherei zur Zeitvertrödelung anleitet? Denn fo — 
ſehr die Lektüre eines guten, reicher Menſchenkenntnis entſprungenen Buches 
einer ernſten Geiſtesübung gleichkommt, ebenſo iſt das Leſen von geſchwätzigen, 
nichtsſagenden Büchern dem ſchädlichſten Müßiggang zu vergleichen, geradezu 
eine Gefahr, weil es von ernſten Vergnügungen abhält, zur Nichtstuerei und 
zum ſeichteſten Genießen des Lebens anleitet. 

Wann endlich wird man eine Volksbüchereigründen, auf 
die auch der Volksfreund mit wahrer Genugtuung und Freude 
blicken kann? Eine ſolche dürfte nur Bücher von wahrhaft literariſchem 
Wert, dieſe aber möglichſt vollzählig und in guten, hübſch gedruckten Aus- 
gaben enthalten. (Auch in dieſer Beziehung bleibt bis nun noch viel zu 
wünſchen übrig.) Ich habe in meiner Schrift „Künſtler und Publikum“ 
(S. Dyk, Berlin- Eberswalde 1901. Mk. 1.—) eine Anleitung zur Beſchaffung 
einer billigen und guten Hausbücherei gegeben, eine Anleitung, die auch für 
Volksbibliotheken Geltung haben müßte. Ich habe dort gezeigt, daß die Aus⸗ 
gaben von Reklam, Meyer, Spemann, der „Deutſche Novellenſchatz“ u. a., ganz 
abgeſehen von den „Klaſſikern“, nicht viel, aber doch eine Anzahl des literariſch 
Wertvollſten enthalten, und daß die Beſchaffung einer auch viel gutes „Moderne“ 
enthaltenden Bibliothek, ſofern man nur die rechten „Quellen“ kennt, tatſächlich 
nur einen Spottpreis erfordert. Man muß nur wiſſen, daß z. B. eine Meifter- 
novelle wie Theodor Storms „Aquis submersus“ nicht nur um 5 Mark, ſondern 
ebenſo ſchön gedruckt, gebunden im „Novellenſchatz“ um 1 Mark erhältlich iſt. 
Ich habe ähnliche Beiſpiele in dem Anhang meiner oben angeführten Schrift 
gebracht. Volksbüchereien, die nur das Gute, davon freilich jedes in mehreren 
Exemplaren, böten, ließen fic alſo im kleinſten Ort auf Grund ganz gering · 
fügiger Stiftungen errichten. Den einfachen Mann, der heute in eine Volks- 
bücherei kommt, ergeht es faſt immer ſo: Der Katalog ſagt ihm nicht, wo 
das Gute liegt. Er frägt alſo eine der in der Anſtalt bedienſteten jungen 
Damen nach „etwas Schönem“ oder „Intereſſantem“. Dieſe jungen Damen 
gehören infolge ihres täglichen Aufenthaltes in den Büchereien, in denen nur 
zu gewiſſen Stunden des Tages ſtärkerer Verkehr herrſcht, meiſt in die Klaſſe 
der Vielleſerinnen, alſo zu den Menſchen, die nicht leſen, um in ein Stück 
Welt zu blicken, ſondern um die unfruchtbare Zeit totzuſchlagen. Sie raten 
dem entſprechend! Wie alle, die damit rechnen müſſen, in der Lektüre immer 


Johann Sinrid Fehrs 257 


wieder geſtört, von ihrem Buch alle Augenblicke aufgeſcheucht zu werden, er- 
ſcheint ihnen nur ein ſolches Buch genießbar, das nicht innere Hingabe, ſondern 
Aufmerkſamkeit in äußerlichſtem Sinn erfordert. Bücher, die die Nerven kitzeln, 
die Spannung erregen ohne Anſpannung der geiſtigen Kräfte, ohne einen gleich; 
mäßig anhaltenden Anteil fordern ſie. Und ſo lieſt wohl hie und da ein armer 
Student oder ein anderer mit Geld ſchlecht verſehener Menſch, der auf akademiſche 
Bildung zurückblickt, das Wertvolle, das eine Volksbücherei eben auch bietet, 
aber das Volk erhält auch von dort mehr ſchlechte als gute geiſtige Nahrung. 
And fo rechne ich, wie ich glaube mit Recht, auch die vielgerühmten Volks- 
bibliotheken zu den Schädlichkeiten unſeres Kulturlebens. 
Dr. Alfred Möller 
Las 


Johann Hinrich Fehrs 


benn ick mal alleen bin un in de rechte Cun, denn lat ick er op; 
6; marſcheern, denn möt fe mi wat vertelln von ole Tiden, von 
Freuden un Smarten, de in't Minſchenhart ut un ingat as Ebb 
und Slot, von Hochtied un Kinnelbett, Krankheit, Not un Dod. — Un in fon 
ſtille Stunn'n ſünd ok düß lütten Geſchichten dalſchreben.“ Der alſo von ſeinem 
Schaffen berichtet, iſt Johann Hinrich Fehrs, der am 10. April 70 Jahre 
alt geworden iſt. Die er aber aufmarſchieren läßt, auf daß ſie ihm erzählen 
miiffen, find die Menſchen feiner ſchleswig⸗holſteiniſchen Heimat, und zwar 
Leute, die zum mindeſten fo alt find wie er ſelber, ja die meiſtens längſt vom 
Naſen bedeckt ſind. 

Es liegt ja im Weſen echt volkstümlicher Erzählungsweiſe, daß ſie gern 
in die Vergangenheit zurückfieht. Wenn der Großvater uns erzählt, fo holt 
er den Stoff und die Menſchen mit Vorliebe aus feinem „Jungs paradies“, 
wie Klaus Groth es nannte. Groth ſelber hat dort ſein Schönſtes gefunden 
und man denke etwa an Heinrich Hans jakob, überhaupt an die meiſten Volks. 
erzähler. Ich glaube, hier liegt denn auch die ſtärkſte Kraft der ſogenannten 
Heimatkunſt. Fehrs ſagt: „Wo de Minſch däglich ſien Sählen drägen deit, 
fit an den Fierobend utraut un fien Sündag hett, dar waft he na un na faſt, 
un fo is' t wol god för altoſam.“ Gewiß, darum verdichtet ſich auch im einzelnen 
Menſchen die Art des heimatlichen Schlages mit den Jahren immer mehr. 
So iſt es denn natürlich, daß ihm ſelber jene Vergangenheit, in der ſich noch 
nicht ſo viel verſchiedene Einflüſſe geltend machten, als beſonders rein an 
heimatlicher Art erſcheint. And wir erleben auch hier, wie für das menſch⸗ 
liche Empfinden das Zurückliegen eines Geſchehens jene Stiliſierung zur Größe 
vollzieht, die ſonſt der Künſtler durch die Aus wahl, durch die kritiſche Sichtung 
ſeines Materials zu ſchaffen hat. Man vergißt das Nebenſächliche und 
Störende; es bleibt das rein Charakteriſtiſche, das eine innere Vorſtellung Ver⸗ 
körpernde. 

Die lange vernachläſſigte plattdeutſche Dichtkunſt hat ſeit Mitte des 
vorigen Jahrhunderts einige große Namen erhalten: Klaus Groth, Fritz 
Reuter, John Brinckmann. Es ift leider bei uns die Kultur der Sprache noch 


nicht ſo weit gediehen, daß wir die Pflege der verſchiedenen Mundarten als 
Der Turmer X, 8 17 


258 Erde · von Karl Schönherr 


eine wunderbare Ergänzung und einen außerordentlich hohen Genuß neben der 
Schriftſprache empfinden. Wir fühlen gerade wegen dieſes nicht hinreichend aus⸗ 
gebildeten Formempfindens gegenüber der Sprache nicht genug, daß die Mund- 
arten eine viel höhere Logik des Ausdrucks und eine viel ſchärfer angepaßte 
Geſtaltung der Form zulaſſen, als die doch reichlich künſtlich gewordene deutſche 
Schriftſprache. So iſt leider der Leſerkreis für mundartliche Dichtung ziemlich 
klein, in weiten Kreiſen nur inſoweit vorhanden, als humoriſtiſche, ja ſogar 
komiſche Wirkungen erzielt werden ſollen. Und das tft ſehr bedauerlich. Denn 
es iſt viel ſchwieriger, aus einer deutſchen Mundart in die deutſche Schrift- 
ſprache zu überſetzen, als aus einer ganz fremden Sprache. Jedenfalls wird 
in viel höherem Maße das gerade Fein⸗Charakteriſtiſche zerſtört. 

Ich bedaure dieſe Gleichgültigkeit gegenüber der Mundart der Literatur 
um ſo mehr, als gerade dieſe Pflege der Mundart in ſo außerordentlichem 
Maße das Sprachgefühl ſtärkt. And dabei ift die Mühe fo gering. Wie raſch 
lieſt man ſich in Reuter ein, wie bald in Gotthelf. Ohne Anſtrengung tut 
man es auch bei Johann Hinrich Fehrs. Er verdient es vor allem mit ſeinen 
Erzählungen. Es find nur wenige Bände. „Lüttj Hinnerk“, die zwei Bände 
„Allerhand Slag Lüd“, „Ettgrön“ und der Noman „Maren“, der erſt vor 
einem Jahre erſchienen iſt. Dieſer „Dörproman ut de Sid von 1848 —51!“ iſt 
Fehrs bedeutendſtes Werk und bringt ein lebendiges Bild von Schleswig; 
Holſteins Freiheitsringen, das dem Verfaſſer ſelber noch lebendig in der 
Kindheitserinnerung ſteht. Fehrs zeigt die fchleswig-holfteinifche Dichterart 
ſehr rein, wie er auch die Mundart ſo unberührt von Schriftſprache ſchreibt, 
wie kaum ein anderer. Ein ſtiller Humor belebt ſeine Werke, in denen jene 
wundervolle Kunſt der Stimmung waltet, durch die die Schleswig ⸗Holſteiner 
Storm und Senfen in der ſchriftdeutſchen Erzählung sliteratur einen charak- 
teriſtiſchen Platz einnehmen. Nicht ſo bedeutend iſt Fehrs Lyrik, obwohl ihm 
auch da, zumal in den plattdeutſchen Gedichten, manche eigenartige Strophe 

St. 


gelungen iſt. 
EN 
„Erde“ von Karl Schönherr 


a WORF vor kurzem der Grillparzerpreis zu vergeben war, dachten viele 
an Karl Schönherr. Aber es war immer noch der „Sonnwendtag“ 

vom Jahre 1902, der dieſe hohe Meinung über Schönherr begrün- 
dete. (Eine Meinung, der auch der „Türmer“ im Heft 9 des IV. Jahrgangs 
lebhaften Ausdruck gegeben.) Das Drama, das bei der jüngſten Vergebung 
des Preiſes in Betracht kam, hatte den Dichter von einer ganz anderen, un- 
erquicklichen Seite gezeigt. „Familie“ wirkt, trotz allem poetiſchen Gehalt, als 
Theaterſtück geradezu lähmend durch die künſtliche Technik und die Troftlofig- 
keit der Stimmung. Die herbe Kraft des Dichters ſchien ſich da in eine Sack⸗ 
gaſſe verrannt zu haben, aus der ein Mann wie Schönherr aber doch wohl 
herausfinden mußte. Und kaum war der Grillparzerpreis an Schnitzler ge- 
langt, ſo bewies die Aufführung der neueſten Komödie Schönherrs im Hof⸗ 
burgtheater, daß der kühne Dramatiker feine Tiroler Arwüchſigkeit und ſeine 
ſtarke theatraliſche Begabung noch keineswegs eingebüßt hatte. Die Freude 
darüber war fo groß, daß er auch gleich den Bauernfeldpreis erhielt. 


„Erde: von Karl Schönherr 259 


Diefe Komödie „Erde“ iſt nun ein Fall für ih. Ein Stück, mit dem 
man kein anderes vergleichen kann. Eine „Komödie des Lebens“ nennt es der 
Dichter in der Buchausgabe (S. Fiſcher, Berlin), und der ungewöhnliche, bei- 
nahe ironiſch klingende Titel läßt ſchon etwas von der ſeltſamen Tragik ſpüren, 
die in dem Stücke waltet. Sonſt ſehen wir auf der Bühne, wie das Leben 
bedroht wird, wie es ſich in einem nie zu Ende zu bringenden Kampfe gegen 
Haß und Neid, Furcht und Leid, Not und Tod wehren muß. Der Held der 
„Erde“ weiß von dieſem Kampfe nichts, und gerade darin, in dieſem Gieg- 
haften, Anzerſtörbaren des Lebens, liegt das Beklemmende und Dämoniſche 
des Stückes. Der alte Grutz, ein zäher, unverwüſtlicher Gebirgsbauer, denkt 
trotz feiner zweiundſiebzig Sabre noch nicht an die Libergabe feines Hauſes an 
den Sohn; mit weißen Haaren der Tätigfte und Tüchtigfte im Haufe und keiner 
Rube bedürftig, hält er den nun auch ſchon ſechsund vierzigjährigen Sohn Hans 
noch lange nicht für reif, ſelber den Herrn zu ſpielen. Er ahnt nicht oder will 
nicht zugeben, daß nur er allein das Leben des Sohnes unterbunden hat, daß 
der friſche, junge Mann, zur Knechtſchaft auf der eigenen Scholle verurteilt, 
innerlich einfrieren mußte und dann nur mehr dumpf und ſtumpf dahinbrüten 
konnte. Aber eine dumpfe, ſtumpfe Hoffnung lebt doch auch in Hans: einmal 
muß es doch anders werden. Mit ihm hofft die Magd Trine, die er ſchon 
vor zehn Jahren zur Bäuerin machen wollte; aber der Alte hat ihnen keinen 
Fleck Erde dazu eingeräumt. Auf ihn hofft die Wirtſchafterin Mena, die auch 
nicht als Dienftbote verſauern möchte und der der Grutzbof hell in die Augen 
ſticht. Siehe! Da trifft den Alten der Hufſchlag eines Pferdes auf die Bruſt 
und mit ſeiner Kraft geht es — anſcheinend — zu Ende. Er ſelbſt, noch immer 
der Herr im Hauſe, beſtellt ſich den Sarg und das Grab. And während er 
ſich ſo mit grimmigem Behagen auf den Tod bereitet, erwacht rings um ihn 
das Leben der anderen. Liebe und Leidenſchaft gewinnt Raum in den vom 
Druck befreiten Seelen. Trine, die Magd, ſieht den erträumten Feſttag kommen. 
Aber ihr Haar tft ergraut, fie wird von Hans beiſeite geſchoben, und ſtürmiſch 
preßt er die jüngere, kräftige Mena ans Herz mit dem jubelnden Aufſchrei: 
„Kinder ſollſt mir austrag'n! Fruchtbar ſollſt mir fein! Mein Art und Bluet 
ſoll nit ſterb'n!“ Der Alte hat ſich in ſein Bett neben dem Sarg verkrochen, 
der in der Stube aufgeftellt iſt, und inzwiſchen regt ſich ſchon ein kommendes 
Geſchlecht. Als der Winter um iſt, keimt und wächſt neues Leben auch im 
Schoße der Mena, und Hans zimmert ſelig an einer Wiege — Hans, nicht 
Knecht, ſondern Bauer, Herr feines Hauſes und Geſchickes. Freilich, ein weich; 
miitiger Herr, ein „Weiberleutslapp“, wie ihn die männlichen Haus genoſſen 
nennen, denen die überlegene Wucht des Alten nun auf einmal abgeht. Der 
aber ſchlief nur eine Art Winterſchlaf an der Seite feiner lärchenen Toten · 
truhe; mit dem Auftauen der Erde im Vorfrühling ſchießt auch Saft und 
Mart in ſein Gebein, aus dem treibenden, ſprießenden Boden ſtrömt Wärme 
und Leben in ſeine Adern und er iſt wieder Herr und befiehlt den anderen: 
„Da ſchauts außer! Frubjahr is! Den Pflug eing'ſpannt und hinaus! Han- 
nesl! Trine! Auf ins Feld! Neißts mir Erd’ und Acker auf! Der Bod'n 
will fein Samen und die Sonn’ ſcheint ſchon bruetig! Gehis nur voran! 
J komm gleich nach!“ And Hans und Trine, dumpf und ſtumpf wie ehedem, 
trollen ſich an die Arbeit. And Mena folgt ohne Zögern einem Werber, den 
fie früher zurückgewieſen hat und dem fie in feiner Eindde mit famt dem un- 
geborenen Kinde (dem Kinde des Hans!) willkommen ift. Und der Alte greift 


260 erde / von Karl Schönderr 


zur Axt und zerſchlägt den Sarg zu Brennholz. Sonnenlicht überflutet ihn. 
Dann geht er hinaus aufs dampfende Feld. 

Dieſe groß geſehene letzte Szene iſt echteſter Schönherr. Aber auch fonft 
verleugnet ſich ſein hoher, ernſter Stil nicht. Ganz wunderbar verſteht es der 
Dichter, Gedankenhaftes zu verſinnlichen und das finnlich Geſchaute ſymboliſch 
zu vertiefen. Wie er den epiſchen Stoff feiner Komödie in theatraliſches Ge- 
ſchehen umſetzte, wie er aus den an und für ſich völlig undramatiſchen Motiven 
eines Anfalles, einer langwährenden Krankheit und der Heilung durch Schlaf 
und Sonne eine wohlvorbereitete, ſich ſchön entwickelnde richtige Handlung 
zu machen wußte, in der die Triebe und Kräfte der mütterlichen Erde und der 
Jahreszeiten gleichſam perſönlich mitfpielen, das quillt fo recht aus der fchöpfe- 
riſchen Anſchauung eines genialen Dichters, der zugleich ein echter Dramatiker 
iſt, dem die Gewalt der Natur, der Zauber der Heimat von ſelbſt zur Perſon 
und zur Szene wird. 

And dennoch fehlt etwas an der dramatiſchen Wirkung. Man hat manch- 
mal mehr den Eindruck einer Skizze, eines Entwurfes, als den eines fertigen 
Dramas. Beim Leſen des Buches wird das nicht ſo deutlich. Der Leſer hat 
Zeit, zu verweilen und nach zudenken und knüpft aus Eigenem allerlei poeſte 
volle Schlußfolgerungen an ein paar Worte des Dialoges, an irgendeine ſzeniſche 
Andeutung. Im Theater aber gilt nur, was wir hören und ſehen, und da 
geht es raſch vorwärts. Da bedarf es alfo einer größeren Fülle von Einzel 
zügen oder einer breiteren Ausführung der entſcheidenden Stellen, damit wir 
warm werden. Die Themen und Motive der Schönherrſchen Komödie — die 
ſtolze Überlegenheit des Alten, die leidende Unterwiirfigfeit ſeines Sohnes, die 
geduckte, aber immer wieder emporſchnellende Liebesſehnſucht der Magd, die 
jäh zugreifende Begehrlichkeit der Wirtſchafterin — alle die Seelenzuſtände 
und Gemütsverfaſſungen, auf denen unſere Teilnahme an den Vorgängen be- 
ruhen ſoll — ſie werden uns auf der Bühne ſozuſagen nur in einer knappen 
Inhaltsangabe, nur in Umriffen und Schlagworten gezeigt, mit einer ſpröden 
Kargbeit des Ausdruckes, einem Mangel an Lyrik, ja förmlich in einer Armut 
und Nacktheit, die ſich ſehr zu ihrem Nachteil von dem Reichtum an fuggeftioen 
Hilfsmitteln unterſcheidet, wodurch die größten Dramatiker aller Zeiten ſich 
ſtets willige Zuſchauer und gläubige Zuhörer zu erzwingen wußten. Der Leſer 
des Buches ſpürt dies kaum, und auch im Theater könnten wir es als eigen · 
tümlich keuſche, gewiſſermaßen bäurifch-einfilbige Geſtaltungsweiſe gelten laffen. 
Auch der Telegrammſtil kann unter Amſtänden auf der Bühne feine Berechti⸗ 
gung haben; auch eine Puppenkomödie, ein Schattenſpiel kann von künſtleri⸗ 
ſchem Werte und vollendeter Wirkung ſein. Aber Schönherr ſelbſt erſchwerte 
uns die Einfühlung in ſeine mehr primitive, holzſchnittartige Technik. Denn 
er ſelbſt will auf gewiſſe moderne Kunſtgriffe keineswegs verzichten. Neben 
dem Dramatiker drängt ſich der Novelliſt vor und wartet mit kleinen, feinen 
Zügen und „ſtimmungfördernden“ Epiſoden auf, die von vornherein der weit ⸗ 
räumigen Bübnenperſpektive widerſtreben und jedenfalls nur in einem realiſtiſch 
gehaltenen Milieuſtück am Platze wären. Gleich zu Anfang wird unſer Auge 
und unſer innerer Sinn auf Nebendinge, auf Illuſtrationsfakten eingeſtellt, 
deren liebevolle Ausmalung mit der großzügigen Plaſtik der Handlung nicht 
in Einklang ſteht; ſo auf einen baumelnden Hoſenknopf, den ſich Hans ſelber 
annähen muß, ſolange der Alte ungebrochen iſt, und in deſſen Befeſtigung 
ſpäter Mena und Trine wetteifern, als jener ſiech geworden. Da iſt auch bei · 


Wege nach Weimar 261 


ſpielsweiſe ein junger Knecht, das „Knechtl“ genannt, der durch einen Anfall 
ſeinen klaren Verſtand verloren hat und nun nicht mehr, gleich den anderen, 
in der Erde wurzelt, ſondern träumend und dichtend über der Erde, in den 
Wolken ſchwebt; dieſer geht zugrunde, der alte Grutz bleibt am Leben. Ein 
ſinniger Kontraft, nämlich einer, der den Sinn der Handlung in einer be- 
ſonderen Weiſe auszudrücken ſucht, für die Handlung ſelbſt aber gar nicht 
nötig, fo daß er nur als überflüſſiges und darum ſtörendes Beiwerk empfun- 
den wird. Gerade die pſychologiſche Durcharbeitung, die ein ſolches umſtänd ; 
licheres Verfahren rechtfertigen würde, liegt nicht in der Art Schönherrs. Das 
Stück ift ſehr kurz, das Ganze fpielt ſich beinahe kinematographiſch ſchnell vor 
uns ab, die Perſonen find und bleiben rein typiſch. Die impreſſtoniſtiſchen 
Einfälle des Dichters verwiſchen aber die ſtrenge Zeichnung des Tppiſchen, 
ohne dafür das Individuell Charakteriſtiſche genügend hervortreten zu laſſen. 
Sie werfen allenfalls ein grelles Blitzlicht auf einen beſtimmten Charakterzug, 
ohne das gleichmäßige, warme Licht auszuſtrahlen, das den Figuren, indem es 
ſie von allen Seiten umfängt, erſt die volle Rundung gibt. Dadurch kommt 
etwas künſtleriſch Anharmoniſches in die bedeutſame Dichtung, das zugleich den 
Theatereffekt fühlbar abſchwächt. 

Die Darſtellung des Burgtheaters hat wenig dazu getan, den ſtetigen 
Fluß und das innere Crescendo des Dramas vor den ablenkenden äußeren 
Zutaten anſchaulich hervortreten zu laſſen. Sie blieb vielmehr in den Außer. 
lichkeiten ſtecken. Trotzdem ſtellte ſich ſogar ein Publikumserfolg ein. Ganz 
Wien ſpricht von Schönherr. Auch die Oberflächlichen und Anterhaltungs⸗ 
ſüchtigen fühlen ſich verpflichtet, fein Stück geſehen zu haben. Wie immer man 
deſſen Kunſtvollendung und Bühnenwirkſamkeit einſchätzen mag, der Geiſt 
des Dichters hat uns alle erobert — das Leben, das ihn durchpulſt, und 
die Kraft der Er de, aus der er emporgewachſen. 


Max Morold (Wien) 
x 


Wege nad Weimar 


em foeben begonnenen Schlußband feiner „Wege nach Weimar“ 
9 (Stuttgart, Greiner & Pfeiffer, geb. Mk. 3.50) gibt F. Lienhard 
folgendes Geleitwort mit: 

„Anſer Verſuch der Verinnerlichung und Vereinfachung einer großen 
Epoche geht ſeinem Abſchluß zu. 

Es liegen fünf Bände vor: Heinrich v. Stein und Emerſon (I), 
Shakeſpeare und Homer (II), Friedrich der Große (III), Herder, 
Jean Paul (IV), und Schiller (V) — und mit Goethe wird ſich der Bau 
abrunden. 

Anſer Titel gibt dem Fernerſtehenden keinen vollkommenen Begriff von 
Sinn und Zweck dieſer Blätter. Man könnte leicht unter dieſem Titel ein- 
feitige Rückſchau oder eine der vielen volkstümlichen Auslegungen des klaſſiſchen 
Zeitalters vermuten. Aber der Leſer weiß, daß unſer Weimar nicht nur 
hiſtoriſchen, ſondern noch mehr ſymboliſchen Klang hat; daß Weimar in uns 
und vor uns liegt; daß dieſes innere Weimar nur erweckt und ermuntert 
worden iſt von Kräften, die ſich — unter anderem — dort im hiſtoriſchen 


262 Wege nach Weimar 


Städtchen Weimar in Thüringen verſichtbart haben. „Wir können dies dahin 
erläutern“, heißt es in der freundlich zuſtimmenden Beſprechung eines Veteranen 
(Z. V. Widmann), „daß Lienhard die Bildungsideale einer großen Ver⸗ 
gangenheit für die Gegenwart fruchtbar zu machen ſucht. Er gehört nicht zu 
denen, die bei Anlaß einer Hundertjahrfeier Schillers wie ein Strohwiſch in 
Flammen aufflackern und dann die Welt wieder gehen laſſen, wie ſie gehen 
mag, allenfalls geradewegs in den Sumpf hinein. Sondern ihm iſt es bleibend 
ernſt mit der Andacht zum Schönen und Hohen in Poeſie und Künſten. And 
allerdings greift er gern auf die großen Erſcheinungen der deutſchen klaſſiſchen 
Zeit zurück, um für die Gegenwart Bilder und Beiſpiele zu gewinnen, an denen 
ſie ſich aufrichten und innerlich erneuern kann. Das geſchieht aber nicht in der 
Manier der Literarhiſtoriker, die alten Plunder hervorſuchen, nur weil er alt 
iſt und ſie daran ihre Gelehrſamkeit beweiſen können; ſondern Lienhard ſpricht 
nur von dem, was ſeine eigene Seele bewegt, und ſtellt daher, gleichviel, ob 
er uns von Friedrich dem Großen oder von Sean Paul oder von der Amadis- 
dichtung Gobineaus ſpricht, ſtets lebendige Beziehungen zur Gegenwart her.“ 

So darf ich hoffen, daß dieſe Blätter für den verſtehenden Mitwandrer 
zugleich eine Einſchau und Emporſchau geworden find. Wir haben die Tat ⸗ 
ſachen nicht vernachläſſigt; einiges — wie die Amadis-Studien, die ſeeliſche 
Beleuchtung Friedrichs des Großen, das vielfache Heranziehen des vordem 
wenig beachteten Heinrich v. Stein — iſt auch dem Weſen nach neu. Aber 
der Hauptwert darf wohl allerdings in unſrer Beleuchtungsweiſe erblickt 
werden; beſonders auch in den knappen Bemerkungen des Tagebuchs. Zahl- 
reich eingeſtreute Proben und wechſelnde Aufſätze haben unſre Hefte, wie ich 
annehmen darf, vor Eintönigkeit bewahrt. 

Mir war dieſe ſtille Wanderung eine Selbſtbeſinnung. Es galt, abſeits 
von den Parteien, etwas Verlorenes zu ſuchen: die hoheitvolle Weihe, die 
ernfte Sammlung, die reine Anbefangenheit. Dies bedingte eine andre Sprech · 
weiſe und einen ruhigeren Rhythmus, als fie jetzt rund um uns her üblich find. 
Wir ſchauten dabei auf geiſtige Burgen, auf die Schlöſſer derer vom Herzens - 
adel, und hatten manchen erhebenden Ausblick in das Anvergängliche der Poeſie 
und Kunſt. Der Menſch in uns faßte wieder Mut. 

Heinrich v. Stein erzählt in feiner „Aſthetik der deutſchen Klaſſiker“ 
folgende Erinnerung an Richard Wagner: 

„Anſer Meifter wies einmal im Geſpräche von allen dieſen einzelnen 
weltbeglückenden und weltverbeſſernden Gedanken hinweg auf das Eine, 
womit in der Tat zu wirken und woran alles Ernſtes zu ſchaffen fei. Nach⸗ 
dem er mit tief wohlwollender Beachtung von allen jenen Beſtrebungen ge- 
ſprochen hatte, ſagte er mit jenem faſt lautloſen Stimmton, welchem er einen 
fo ergreifenden Nachdruck zu geben vermochte: ‚Unfre Sache iſt es — wie ſoll 
ich doch ſagen — für die ethiſche Seele der Zukunft zu ſorgen.“ — Wie aber 
kann dies geſchehen? Nicht durch fofortige praktiſche Anderungen der Tages 
wirklichkeit. Sondern die Stimmung, aus welcher dann von ſelbſt die zu · 
künftigen Wirklichkeiten ſich beſtimmen, wird ſozuſagen in einer Welt für ſich 
zu ſchaffen und auszubilden ſein.“ 

Anabhängig von dieſem Worte bemächtigte ſich des Herausgebers dieſer 
Blätter eine ähnliche Empfindung. Was ſoll uns, ſagte ich mir, dieſe ganze 
Literatur, wenn ſie uns die weſentliche Kraft nicht mehr gibt: wenn die 
inneren Glocken nicht mehr läuten? Dieſe Empfindung verdichtete ſich zum 


Rene Bücher 263 


Entſchluß. Ich zog mich in eine mehrjährige Waldeinſamkeit zurück und ließ 
die „großen Toten“ meine Geſellſchaft ſein. 

Dort entſtand, neben einigen Dichtungen, der größere Teil dieſer „Wege 
nach Weimar“. ö 

Hiſtoriſches und Modernes, Ethik und Afthetit, Betrachtung und Ge ⸗ 
ſtaltung durchdringen ſich alſo in dieſen Blättern und ſuchen ein Ganzes zu 
bilden, wie jene große Zeit das Ganze geſucht hat. Denn, um jene Zeit mit 
Rudolf Euckens Worten zu kennzeichnen („Lebensanſchauungen großer Denker“): 
„Es erſcheint jene literariſche Bewegung zunächſt als eine kräftige Abweiſung 
und gründliche Aberwindung der Aufklärung, wenigſtens der Geſtalt, in welche 
fie auslief. Gegenüber dem verflandesmäßigen Räſonnement erhebt fid ein 
Verlangen nach durchgreifender Belebung und unmittelbarer Bewegung des 
ganzen Menſchen, gegenüber dem Streben nach Nützlichkeit die Forderung eines 
Selbſtwerts des Tuns, gegenüber der praktiſch⸗moraliſchen eine künſtleriſch · 
univerſale Geſtaltung des Lebens, gegenüber der Spaltung von Welt und 
Menſch ein Verlangen nach innerer Einigung mit dem All. Aber die 
bürgerliche Welt mit ihren Zweckmäßigkeiten und Notwendigkeiten ſtrebt hier 
der Menſch an der Hand der Kunſt hinaus zu einer neuen Wirklichkeit: einem 
Reiche innerer Bildung, einer Welt von reinen Geſtalten und lauterer Schönheit!“ 

Als einen Verſuch, dieſe rein menſchlichen Grundlagen wieder klar zu 
ſtellen, bewerte man die „Wege nach Weimar“. 

Indem ich hiermit dieſes groß angelegte und prächtig durchgeführte 
Werk empfehle, würde ich ſehr bedauern, wenn Lienhard nicht zum Entſchluß 
käme, ihm eine Fortſetzung zu geben in der Form einer ſtändigen kleinen Zeit ⸗ 
ſchrift, in der ja dieſe Bücher erſchienen find. Er iſt berufen zu dieſem Weg ⸗ 
weiſeramt, das eine ſtets „gegenwärtige“ Führung bedingt. 


G 


Neue Bücher 


Hermann Löns, „Mein braunes Buch“. Heidebilder. (Hannover, Adolf 
Sponholz. Geb. Mk. 3.50.) 

Das Buch gehört zum Beſten, was an Skizzenbüchern in unſerer Sprache 
erſchienen tft, und ſteht an Wert hinter den berühmten „Geſchichten eines Jägers“ 
Turgenjews nicht zurück. Dabei iſt auch dieſer Mann ein Jäger. „Hinter den 
ſchwarzen Kanten der hohen Föhren verſchwand die rote Sonne; ein Weilchen 
noch war alles Glut und Glanz, Feuer und Flamme, jetzt iſt es abgeblaßt in 
des Ringeltaubers Farben, in Blaugrau und Hellweinrot. Ich habe dieſe 
Stunde ſo lieb, und faſt noch lieber das weiche, warme, tieftönige Wort, das 
unſere Bauern dafür erdichteten. Alenflucht nennen ſie die Zeit, wenn der Tag 
müde hinter ſchwarze Wälder finkt und die Nacht heraufſchwebt, in den grau- 
blauen, hellweinrot geſäumten Mantel gehüllt, den ein einziger großer, funkeln · 
der Diamant zuſammenhält, der Abendſtern 

Wenn die Alenflucht naht, dann werde ich immer anders in der Stim- 
mung; Heiterkeit wandelt ſich in Ernſt, Verdruß in Friedſeligkeit, beengtes 
Denken in unbegrenztes Ahnen. Nie bin ich im Geiſte da, wo ich bin um 
dieſe Zeit. Aus ſchwarzen Dachfilhouetten werden dunkle Baumwipfel; den 


264 Neue Bücher 


Kauz höre ich rufen aus dem Geheul der Fabrikſirenen, und heimliches Blätter. 
geflüſter erklingt aus dem Geräuſch der Großſtadt. Bin ich aber draußen im 
ſtillen Holz, im einſamen Moor, dann wandelt ſich die ferne Waldeswand zur 
Stadt um; des Kauzes Ruf klingt mir wie das gellende Jauchzen der Fabrik; 
pfeifen, die eines ſchweren Arbeitstages Ende verkünden, und im Blätter 
geruſchel höre ich Seufzer von Menſchen, die der ſchwarzen Nacht entgegenbangen. 

Seltſamen Zauber übt dieſe Stunde auf mich aus. Geſtern um dieſe 
Zeit, zwiſchen frohen Gefichtern im feſtlichen Saal, da waren meine Augen 
auf einmal weit weg. Ich hörte die Maus im Fallaub pfeifen, ſah die weißen 
Motten tanzen und die ſchwarzen Fledermäuſe taumeln, hörte es um mich herum 
riſpeln und raſcheln, kniſtern und knirren. 

Da, wo ich heute bin, waren meine Gedanken, in dieſen ſtillen Wald 
zogen ſie, wo die Schummerſtunde nahte mit leiſem Tritt und Tag und Nacht 
die Hände gab, die eine heranziehend, den andern mit ſich fortnehmend, beide 
verbindend und trennend. 

Nicht der Sonnentod ift es, der mir dann das Herz weit machte; die 
Viertelſtunde nachher, die blaßgraue, liebe ich mehr, mit ihren leiſen, lang · 
famen Abergängen, wenn alle Amriſſe fic) verwiſchen, alle Einzelheiten ver- 
gehen, wenn die Kleinigkeiten die Augen nicht mehr ſtören und das Herz dem 
großen Eindrucke ſich öffnen kann. 

Nur deshalb liebe ich die Jagd ſo. Nichts bringt uns der Natur ſo 
nahe, wie dieſe Viertelſtunde zwiſchen Tag und Nacht, und nur die Jagd iſt 
es, die uns dazu erzieht, dieſe kurze Spanne Zeit zu verſtehen in ihrer großen 
Feierlichkeit, in ihrer geheimnisvollen Andacht.“ 

Es war das beſte, was ich tun konnte, um dieſes Buch zu empfehlen, 
daß ich eine Stelle daraus hier niederſchrieb. Denn ſo fühlt man am deut⸗ 
lichſten die prächtige Naturempfindung des Verfaſſers und feine herrliche Sprach · 
gewalt, das Empfundene uns nachleben zu laſſen. Ich brauche dann nur hin⸗ 
zuzufügen, daß in dem Buche nicht bloß Naturbilder enthalten find, daß aus 
der Natur und in entſprechendem Zuſammenhang mit ihr die Schilderung eigen; 
artiger Menſchen, packende Neubelebung von Sagen und Geſchichten entſteht. 
Hier iſt ein wahres Dichterwerk. 


Artur Seewett: „Die Eisroſe“. Novellen. (Egon Fleiſchel & Ko., Berlin. 
Mk. 2.—.) 

Die Novellen find brauchbare Anterhaltungslektüre. Als ſolche um fo 
empfehlenswerter, weil ein kräftiger, ſittlicher Kern in ihnen ſteckt und die Art 
der Erzählung einfach, die Sprache gut behandelt iſt. Mehr kann ich den Ge- 
ſchichten nicht nachrühmen, fie wirken zu ſtark als Exempel für beſtimmte An · 
ſchauungen, die Rechnung geht zu glatt auf. 


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y Bildende Kunst. 


Aber hiſtoriſche Malerei 
Bei Peter Janſſens Tode 


Von 


Dr. Karl Storck 


it Peter Janſſen iſt am 19. Februar zu Düſſeldorf der ſtärkſte 
E deutſche Geſchichtsmaler unſerer Tage geſtorben. So ge— 
5 waltig der Einfluß war, den er als Lehrer ausgeübt hat, — 
gerade auf dem ihm ureigenſten Gebiete des geſchichtlichen 
Wandbildes hat nach meinem Gefühl das Beſte in ihm noch nicht volle Wir- 
kung getan. Es iſt das ja gerade bei derartiger Malerei ſehr ſchwer, weil 
ſie ſich nicht gleich Staffeleibildern zu Ausſtellungen zuſammentragen läßt, 
ſondern an den Platz gefeſſelt iſt, für den ſie geſchaffen wurde. Ich glaube 
aber, daß es überhaupt unſerer Zeit ſchwerfällt, gerade das Stärkſte, das 
Arlebendigſte in Janſſens Bildern herauszufühlen. Das ift um fo bedauer- 
licher, als es auch bei Janſſen erſt ein Anfang iſt, der noch einer weiten 
Entwicklung bedarf, bevor die geſchichtliche Malerei das werden kann, wozu 
ſie berufen iſt. 

Janſſens geſchichtliche Malerei iſt aus dem Geiſte, der Deutſchland 
vor dem 1870er Kriege belebte, hervorgegangen. Wohl verſtanden, vor 
1870; aus jenem Geiſte eben, dem wir die Taten von 1870 zu verdanken 
haben. Das war ein Geift der Kraft, des männlichen Bewußtſeins un- 
geheuren Vermögens, gebändigt durch großartige Selbſtzucht, durch den 
feierlichen Ernſt in der Erwartung der großen kommenden Stunde; erhellt 
durch den tiefgründigen Humor, der aus der Freudigkeit des Nechtsgefühls 
erwächſt und die glückliche Morgengabe der Geſundheit iſt. Von dieſem 
Geiſte iſt nach den Siegen der großen Kriegsjahre wenig lebendig geblieben. 
Der Krieg war ein Abſchluß, kein Anfang; er war die Krönung der lang— 
fam anſteigenden Pyramide, die wir als deutſches Staatsbewußtſein be— 
zeichnen können, deren Fuß die Erweckung Preußens durch Friedrich den 
Großen und ſeinen Vater bildet. Die Notwendigkeit der Neubildung eines 
deutſchen Staates wurde innerlich gefühlt, und am 18. Januar 1871 fand 


266 Storck: Über hiftorifme Malerei 


dieſes Gefühl, dieſe Sehnſucht die Erfüllung. Dieſes nationale Staats- 
bewußtſein wird nicht eher wieder eine eigentlich ſchöpferiſche Kraft werden, 
bevor nicht ein anderes großes nationales Ziel, etwa der Zuſammenſchluß 
der deutſchſprachlichen gegenüber den flavifchen und romaniſchen Völkern, 
als eine Zukunftsnotwendigkeit innerlich gefühlt wird. Denn das ſcheint 
mir ſicher: wir find zu ſehr Feſtlandsvolk, als daß die ausgeſprochen folo- 
niale Tätigkeit jemals in einem Maße zum inneren Nationalwerte werden 
könnte, wie ſie es für England und auch für Frankreich längſt iſt. Nicht 
als ob nun nach der Erfüllung eines lange gehegten, langſam angewach⸗ 
fenen nationalen Gedankens das nationale Bewußtſein ſchwächer werden 
müßte. Im Gegenteil, es hat ja jetzt die feſte Grundlage der Tatſachen. 
Aber es bekommt eine andere Richtung. Die Kriegstat erwächſt als Not⸗ 
wendigkeit nationaler Betätigung nur aus der Verteidigung des eigenen 
Beſitzes oder aus dem Zwang, dieſen Beſitz zu vergrößern; das letztere 
aber nur dann, wenn uns etwas fehlt, was aus inneren Gründen zu uns 
gehört. Für den erſten Fall haben wir keine Furcht; der zweite, den ich 
oben andeutete, iſt noch nicht ins Volksbewußtſein gedrungen. Nach mei⸗ 
nem Gefühl werden ſie beide gleichzeitig erwachen, d. h. die Bedrohung 
durch die fremde Naſſe wird zuerſt das Gefühl wachrufen, daß der Zu⸗ 
ſammenſchluß der verwandten Völker notwendig ſei. 

Ich habe nicht die Abſicht, hier eine politifche Abhandlung zu ſchrei⸗ 
ben, ſondern will nur mit dieſen Ausführungen die Tatſache erklären, daß 
die Empfindungseinſtellung eines Volkes für feine Geſchichte Verſchiebungen 
unterworfen iſt. Es hat tiefe innere Gründe, wenn in den letzten Sabre 
zehnten in ſteigendem Maße der Schwerpunkt der geſchichtlichen Darſtellung 
von der Aufzählung der großen Kriegsgeſchehniſſe auf die Ergründung der 
inneren Entwicklung, der Betätigung der fozialen Volkskräfte ver- 
legt worden iſt. Hinzu kommt die Tatſache, daß der nach 1870 ſo üppig 
ins Kraut geſchoſſene Hurrapatriotismus bei vielen Menſchen ein gewiſſes 
äſthetiſches Unbehagen gegenüber der lauten Betonung derartiger nationaler 
Taten hervorgerufen hat. Hinzu kommt endlich — und das iſt ein großes 
Anglück — daß die für die nationale Entwicklung zweifellos notwendige 
Bewegung, die für Millionen unſeres Volkes eine Beſſerung der ſozialen 
Verhältniſſe und die kräftige Mitwirkung an der politiſchen Geſtaltung an- 
ſtrebt, zu jener Sozialdemokratie geworden iſt, die bei uns in Deutſchland 
das geſchichtliche Nationalgefühl bekämpft. Daß das bei dieſer Bewegung 
nicht unbedingt notwendig wäre, zeigt nicht nur die dem Jahre 1848 vor⸗ 
angehende geiſtig ähnliche Bewegung, ſondern auch das Verhalten der 
Sozialdemokratie in Frankreich und England. Als Rückwirkung gegen dieſe 
von unten herauf kommende Entwicklung haben wir bei den Regierenden 
die völlige Verkennung dieſer Verſchiebung im nationalen Empfinden, ſo 
daß dieſe Regierenden nun einſeitig jene (mehr kriegeriſchen oder dynaſtiſchen) 
Betätigungen des deutſchen nationalen Lebens der Vergangenheit betonen, 
für die eben heute kein lebendiger Empfindungsboden vorhanden iſt. 


Store: Aber hiſtoriſche Malerei 267 


Dieſe zwieſpältige Tätigkeit iſt deshalb fo außerordentlich ſchädlich, 
weil dadurch die Entwicklung eines ſtarken und geſunden geſchichtlichen 
Fühlens unmöglich gemacht wird. Ohne die Stützung des Nationalgefühls 
durch die Geſchichte, durch den von der Vergangenheit ererbten Beſitz an 
Betãtigungen nationaler Kraft und Tüchtigkeit, iſt eine ſtarke nationale 
Kultur unmöglich. Für ein Volk bedeutet dieſe nationale Vergangenheit 
dasſelbe, was für den einzelnen Menſchen die Herkunft aus tüchtiger und 
guter Familie, wie für dieſen einzelnen Menſchen die Erinnerung an einen 
nach irgendeiner Richtung hin wertvollen Vorfahren. Schädlich wird dieſes 
überkommene Gut nur dort, wo man ſich auf die Leiſtung der Vergangen- 
heit ſo viel zugute tut, daß man daraus Rechte für ſich, ſtatt Pflichten 
ableitet. Das iſt eben das Verhängnisvolle des Hurrapatriotismus. Im 
Verein damit hat die Entwertung der geſchichtlichen Vergangenheit, wie ſie 
die Sozialdemokratie betreibt, dahin gewirkt, daß wir ſeit 1871 an natio- 
naler Kultur zum wenigſten nicht gewonnen haben. 

Das bedeutet eine ſchwere Schädigung nicht nur für unſer polis 
tiſches Leben, fondern vor allem auch für das Leben unſerer Kunſt. 
Daß wir ſeit dem Zuſammenſchluß zum Reiche in unſerer Kunſt mehr 
Fremdherrſchaft gehabt haben als in dem ganzen Jahrhundert zuvor, 
wo die Fremde künſtleriſch für uns faſt nichts bedeutete, oder wo wir das, 
was wir der Fremde entnahmen, fofort einzudeutſchen wußten, iſt von nieder⸗ 
ſchmetternder Beredtſamkeit. Ich weiß, daß man da noch auf andere Kräfte 
hinweiſen kann; aber die auf „nationaler“ Seite vielberufene außerordent⸗ 
liche Erſtarkung der Bedeutung des Judentums in unſerem Kunſtleben ſcheint 
mir weniger Urfache dieſer Zuſtände als bereits Wirkung derſelben, info- 
fern fie nur durch dieſe Abſchwächung nationalen Fühlens ermöglicht 
worden iſt. 

In unſerer Kunſt, vor allem in der bildenden, iſt es heute dahin 
gekommen, daß alle jene Kunſtbewegungen verteidigt werden müſſen, in 
denen ſich das Deutſchtum ſtark kundgibt. Es kann dabei dahingeſtellt 
bleiben, ob es jeweils gerade die beſten Kräfte des Deutſchtums ſind, die 
ſich hier bewähren. Jedenfalls haben wir die Tatſache, daß ein großer 
Teil — bei der Tagespreſſe tft es zweifellos der größere — unſerer Kunſt⸗ 
kritik und Aſthetik jede bewußte Betätigung deutſcher Kräfte grundſätzlich 
bekämpft; daß ſie, wo nicht überhaupt die Internationalität, was in dieſem 
Falle für uns Nationalloſigkeit bedeutet, gepredigt wird, einem Artiſten⸗ 
tum huldigt, aus dem ſich keinesfalls nationale Werte entwickeln können. 

Ich ſchiebe es dem Zuſammenwirken aller dieſer Verhältniſſe zu, 
wenn bei uns gegenüber der Geſchichtsmalerei bei Kunſtkritik und 
Kunſtäſthetik eine unfreundliche Einſtellung herrſcht, wie ſie in den Ländern 
mit älterer nationaler Kultur nicht vorhanden iſt. Es ſcheint mir wichtig, 
dieſe Zuſtände etwas näher zu beleuchten. 

Wie ſehr gerade die oben gekennzeichneten Gefühlsſtrömungen nach 
dem Jahre 1871 hier mitwirken, beweiſt das Bekenntnis, das Kornelius 


268 Storck: Aber hiſtoriſche Malerei 


Gurlitt in ſeiner „Deutſchen Kunſt des 19. Jahrhunderts“ ablegt. „Ich 
bin ganz eingeſtändig des Fehlers, daß, wo ein Aufſtand loshebt, ich am 
liebſten meines Weges ziehe; daß ich, wo einer, ſei er Held oder Verräter, 
erſchlagen wird, wenn ich nicht nützen kann, mich lieber beiſeite drücke. Die 
Heldentaten, die mit der Fauſt und mit der Kraft der Kehlen getan wer- 
den, ſehe ich im Leben und ſehe ich in der Kunſt nicht gern. Als alter 
Soldat und als ſolcher, der oft genug im Feuer ſtand, wage ich es, mich 
dieſer Schwäche zu zeihen. Ich wehre mich meiner Haut, wenn's nötig iſt; 
aber am liebſten dadurch, daß ich fern vom Hieb bleibe. Die großen Schlage⸗ 
tode der Geſchichte ſind es nicht, die mich begeiſtern: nicht etwa weil ich 
ein Freund des Rufes bin: Die Waffen nieder! Nein, ich halte es für 
einen Segen für unſer Volk, daß jedem jungen Manne gelehrt wird, ſich 
zu verteidigen, und halte das Heer für eine Seele und Körper ſtählende 
Anſtalt, die zur Volkserziehung eigens geſchaffen werden müßte, wenn ſie 
noch nicht da wäre. Aber die Generalſtabsberichte lauten doch etwas 
anders als die Ilias, die Nibelungen oder die Dichtungen der Noman⸗ 
tiker. Der ſtille, friedfertige und nur geiſtig tapfere Ubland freute ſich noch 
des Schwaben, der den Türken in zwei Hälften und noch durch den Sattel 
in den Pferderücken hineinhieb, und anderer ſolcher Schwabenſtreiche; die 
Franzoſen lieben es noch heute, ſich gegenſeitig mit ſolchen Taten graulich zu 
machen. Die deutſchen Offiziere werden aber einen ſolchen Helden vielleicht 
für den Stärkſten, nicht aber für den Beſten in ihrem Kreiſe halten. Der Mut 
fordert heute andere Betätigung als Zuhauen! Wer im Kugelregen klar zu 
denken und der wachſenden Gefahr gegenüber ſich ſelbſt opfernd das Rich- 
tige zu tun und zu befehlen weiß, der iſt unſer Held. Leider iſt dies Helden ⸗ 
tum nicht wirkſam darzuſtellen durch die Kunſt. Denn man ſieht im Bild 
nicht die bekämpfte Gefahr in ihrer ganzen Größe und Eindringlichkeit. Mit 
dem Armausſtrecken iſt's nicht getan! So führt die Darſtellung geſchicht⸗ 
licher Taten nur zu leicht zum romantiſchen Schwulſt. Vielleicht iſt unſere 
Zeit zu weichherzig und kommt man ſpäter wieder zur vollen Anerkenntnis 
des Wertes eines gewaltigen Schwertſtreiches? Zunächſt ſtraft aber das 
Geſetz und ſtraft die Geſellſchaft noch jede Maulſchelle als Robeit, gilt 
ſelbſt den Gegnern der Abrüſtung der Krieg als ein notwendiges Abel. 
Es iſt alſo ſchlechtes Wetter für Darſtellung von Krafttaten. Ich wenig⸗ 
ſtens bin verdorben für gewiſſe Heldenbilder, verdorben durch den Krieg, 
die größte, ſchönſte, entſcheidendſte Erinnerung meines Lebens. Denn auch 
dort ſah ich nicht die maleriſche, die romantiſche Schlacht!“ 

Dieſes perſönliche Bekenntnis des hochverehrten Kunſtgeſchichtlers ver⸗ 
diente ausführliche Erwähnung, weil ſicher die Abneigung ſehr vieler gegen 
hiſtoriſche Malerei auf dem gleichen Grunde beruht, nur daß ſie ſich nicht 
fo genau Rechenfchaft geben wie dieſer Gelehrte, bei dem die Erforſchung 
des jeweiligen pſychologiſchen Verhältniſſes zur Kunſt ein Hauptverdienſt 
ſeiner Arbeiten ausmacht. Trotzdem kann ich auch dieſe Ausführungen 
nicht unwiderſprochen hinnehmen. So gewiß in der heutigen Schlacht 


Stord: uber hiſtoriſche Malerei 969 


andere Eigenſchaften maßgebend geworden find als ehedem, fo wird trotz⸗ 
dem auch beim heutigen Menſchen das Gefühl der Tapferkeit wachgerufen 
durch jene Art Handlungen, wie fie Ubland in feinem Schwabenſtreich 
feierte. Denn ſchließlich war bereits mit der Erfindung des Schießpulvers 
eine ſtarke Verſchiebung des Wertes der perſönlichen Tapferkeit, vor allem 
der körperlichen Kraft im Kriege eingetreten gegenüber dem Rittertum. 
Das halbe Sabrtaufend hat aber doch nicht vermocht, in uns das Gefühl 
zu ertöten, daß durch die Heldenkampfberichte der Ilias oder des Nibe⸗ 
lungenliedes in uns Bewunderung und Mitfreude für dieſe Tapferkeit er⸗ 
weckt wird. Und fo iſt es auch mit den hiſtoriſchen Bildern. Mag für die 
moderne Schlacht nur felten der Fall eintreten, daß die perſönlichen Kraft⸗ 
proben und Tapferkeitsleiſtungen des Einzelnen von hohem Werte werden, 
ſo entſcheidet doch in tauſend anderen Fällen des Lebens ein derartiges 
perſönliches Eingreifen. Und das trägt dazu bei, in unſerem inneren Vor⸗ 
ſtellungsleben jene meinetwegen halb romantiſche Vorſtellung von Kraft 
und Mut wachzuhalten. Übrigens gibt ja Gurlitt ſelber zu, daß hier wieder 
ein Wandel des Empſindens eintreten kann. So würde dieſer Grund gegen 
die Geſchichtsmalerei wenig bedeuten. Es müſſen noch andere in der Sache 
ſelbſt begründete Einwände vorhanden ſein, um unſer ſtrittiges Empfinden 
gegenüber der Geſchichts malerei zu erklären. Man höre auch hier wieder 
Gurlitt: „Durch tauſendfältige Erfahrung iſt bewieſen, daß wir uns niemals 
in den Geiſt der Zeiten zu verſetzen vermögen, ſondern daß es ſtets der 
Herren eigener Geiſt ift, in dem die Zeiten fich beſpiegeln. Ich ſehe tüch⸗ 
tige Maler bemüht, etwas darzuſtellen, was einfach nicht darſtellbar iſt. 
Wenn Shakeſpeare und wenn Schiller alte Zeiten ſchildern, ſo ſind ſie 
dabei ſo modern, daß die Verſetzung in eine Vergangenheit nicht ſtört. Je 
wiſſenſchaftlicher dieſe wird, deſto härter ſtößt die Echtheit des Außern ſich 
mit der Anechtheit des Innern. Wie im hiſtoriſchen Roman geht der ge⸗ 
ſchichtliche Wert nicht über den Satz hinaus: Seht, ſo lebten die Men⸗ 
ſchen damals, ſolche Lebens bedingungen hatten ſie, inſofern dachten ſie anders 
als wir: Aber im Grunde find fie doch uns gleich! Die Moderniſierung 
iſt im geſchichtlichen Berichte das Störende, der unwillkürliche und unbeil- 
bare Zwieſpalt, der eine einheitliche Kunſtbetätigung unmöglich macht. Hier 
iſt's, wo mich die Wiffenfchaft ſtört, nicht in dem Naturalismus derer, die 
ein Stück Natur in aller Sorgfalt wahrheitlich darſtellen. Denn hier ſehe 
ich die Wiſſenſchaft als außerhalb der Kunſt ſtehend; hier will mir ſcheinen, 
als dränge ſie ſich der Kunſt als Herrin auf. Der Maler möchte den Ge⸗ 
danken frei geſtalten, aber der Gelehrte in ihm ſagt: Mein Sohn, das 
geht nicht; ſiehe Webers Weltgeſchichte, Band und Seite ſo und ſo viel! 
Vergleiche Weiß Koſtümkunde oder Grimms Deutſche Mythologie. 

„Hier ſtört gerade die Nichtigkeit dieſer Bilder, die geſchichtliche Täu⸗ 
ſchung. Der maleriſche Realismus iſt geſtiegen, Barbaroſſa wie Karl V. 
erſcheinen im modernen Helllicht; doch hat er die Künſtler nicht fähiger 
gemacht, geſchichtliche Gegenſtände zu bewältigen. Immer noch malt man 


270 Storck: fiver hiſtoriſche Malerei 


in Deutſchland rieſige Wände voller Bilder, ohne daß dadurch irgend ein 
tieferes künſtleriſches Ergebnis erzielt wird; denn immer noch ſitzt über dem 
Künſtler der Auftraggeber, der dieſem auferlegt, Dinge zu verwirklichen, 
zu denen er in keinem ſeeliſchen Verhältnis ſteht; die er nicht körperlich 
und noch viel weniger geiſtig erlebte, ſondern die er auf kaltem Wege 
ſchmelzen und gießen ſoll, um aus Leſefrüchten in Büchern, durch Zu⸗ 
ſammenſtellen hier und da gemachter Naturſtudien ein Ganzes zu fchaffen. 
Er erlangt nie den hellen Glockenklang wahrhaft innerlicher Eingebung.“ 

Es iſt zuzugeben, daß, was Gurlitt hier ausführt, auf den größten 
Teil unſerer Geſchichtsmalerei zutrifft. Aber das hat nichts zu ſagen. Es 
handelt ſich hier um die grundſätzliche Frage. Da iſt zunächſt zu betonen, 
daß es in der Kunſt natürlich niemals darauf ankommen kann, objektive 
Geſchichtsdarſtellung anzuſtreben. Dieſe Objektivität iſt ja über⸗ 
haupt ſelbſt in der Wiſſenſchaft unmöglich, ſobald man über die gröbſte 
ſtatiſtiſche Arbeit hinausgeht. Ich meine aber, das Geſchichtsdrama 
und das geſchichtliche Bild, die beide auf das augenblickliche, lebendig 
ſinnliche Erfaßtwerden durch den Beſchauer rechnen müſſen, die nicht auf 
die Mithilfe langer geſchichtlicher Erklärungen zählen ſollen, ſtänden da noch 
in einem ganz anderen Verhältnis zur geſchichtlichen Tatſache als etwa der 
geſchichtliche Roman. 

Ich halte es im Gegenſatz zu Gurlitt für möglich, daß man ſich in den 
Geiſt vergangener Zeiten zu verſetzen vermag. K. F. Meyer iſt deſſen 
Zeuge, und am glänzendſten vielleicht Enrica Handel- Mazzetti. Ich glaube, 
daß gerade der Dichter, geſtützt auf umfaſſende Kenntnis des Materials, 
in erſter Reihe imſtande iſt, pſychologiſche Geſchichtsdarſtellung 
zu geben, d. h. vergangener Zeiten Handeln und Fühlen aus den geſchichts⸗ 
politiſchen und ſozial⸗ökonomiſchen Bedingungen der betreffenden Zeit heraus 
zu erklären. Ich brauche nur den Namen Georg Ebers zu nennen, um auf 
einen Mann hinzuweiſen, der das gar nicht vermochte, obwohl er das ganze 
Material beherrſchte. Daß dabei etwas Ahnliches herauskommt, wie 
Gurlitt ſagt, daß wir nämlich einſehen, daß die Menſchen von damals uns 
gleich waren, iſt gerade das Wertvolle. Darin, daß wir ſo erkennen können, 
daß es im weſentlichen die Lebensbedingungen (im weiteſten Sinne des 
Wortes und aufs Geiſtige und Seeliſche ausgedehnt). waren, die bewirkt 
haben, daß dieſe Menſchen anders handelten und fühlten als wir heute, 
darin liegt ja gerade das Große der geſchichtlichen Erkenntnis und des 
geſchichtlichen Fühlens. Darin liegt der Ewigleitswert der Ge 
{hic te. 

Während es ſo ſicher die eigenartigſte Aufgabe des geſchichtlichen 
Romans ausmacht, pſychologiſch die Gründe für das anders Geartete in ver- 
gangenen Zeiten aufzudecken, liegt für den Dramatiker und für den 
Geſchichts maler der höchſte Reiz darin, das uns Lebens und 
Weſens verwandte in der Vergangenheit zu betonen. Denn dieſe ver- 
ſchiedenen Künſte haben grundverſchiedene Lebensbedingungen. Alles iſt 


Storck: fiver hiſtoriſche Malerei 271 


relativ, und aus dieſen relativen Beziehungen ergeben fich die Geſetze. Ich 
leſe in einſamer Stube einen geſchichtlichen Roman. Willig laſſe ich mich 
führen in weite Vergangenheiten. Dieſe Welten bauen ſich vor meinen 
Augen auf. In ihren ganzen äußeren Verhältniſſen ſind tauſenderlei Wir⸗ 
kungen für die Menſchen jener Zeit, die ihnen als liebenswertes Ideal 
erſcheinen laſſen, was mir verwerflich iſt, als ſündhaft, was mir als höchſtes 
Recht erſcheint. Und der Dichter zwingt mich zu fühlen in der Art der 
Menſchen jener Zeit. Das iſt nur zu erreichen dadurch, daß mich der 
Dichter ſelber zum Dichter macht, daß er meine Phantaſie ſo anſtachelt, 
daß ich mit ihm gemeinſam dieſe vergangene Welt wieder aufbaue. Das 
Theater dagegen iſt eine Kunſt der Offentlichkeit. Es iſt auch im höchſten 
Maße Kunſt der Sinnlichkeit, inſofern ein Werden außerhalb meiner 
Perſon ſich abſpielt, nicht von meiner Phantaſie geſchaffen, ſondern vor 
meine Sinne ſich hinſtellend, ſo daß es durch dieſe Sinne nun erſt auf meine 
Phantaſie wirkt. Das iſt etwas himmelweit Verſchiedenes. Und darin, 
daß dieſes Theater in fo hohem Maße ſoziale Kunſt ift, von einer Ge- 
ſamtheit zu erfaſſen, auf dieſe wirkend, den Einzelnen in dieſer Geſamtheit 
anpadend, müſſen in uns lebendige Werte ergriffen und gepackt werden, 
müſſen alſo aus dieſem Drama Kräfte ausſtrömen, die jetzt für uns Heu⸗ 
tige lebensfähig, lebenſpendend find. 

Man müßte blind ſein, wollte man nicht bekennen, daß gerade das 
geſchichtliche Drama dieſe Kraft in ganz außerordentlichem Maße beſitzt. 
Gewiß find, wie Gurlitt ſagt, Schiller und Shakeſpeare in ihren geſchicht⸗ 
lichen Dramen modern; eben deshalb, weil fie aus irgendeinem geſchicht⸗ 
lichen Geſchehen jene der darin wirkſam geweſenen Kräfte heraus fühlen, 
die heute noch zu zünden vermögen. Ich bin vielleicht für dieſe Seite be⸗ 
ſonders empfänglich durch das ſchweizeriſche Blut, das in meinen Adern 
rollt; aber es iſt doch auch ein ungeheurer nationaler und geiſtiger Kultur- 
wert, wenn einem Volke ſo die Geſchichte ſtets lebendiger Gegenwartswert 
iſt wie dem Schweizer die ſeinige. Welch erhebende und zündende Kraft 
geht von den großen geſchichtlichen Volks ſchauſpielen der Schweiz aus für 
dieſes Volk. Und da halte ich gerade das Gewand des Geſchichtlichen 
für ſo außerordentlich wertvoll, weil dieſes Vorſichgehen in der Ver⸗ 
gangenheit ſo außerordentlich günſtig iſt für die Steigerung 
eines vielleicht nur durchſchnittlichen Geſchehens zur Monu- 
mentalität. 

Ich weiß, es iſt heute keine Zeit für Monumentalität. Selbſt die 
Gefunden und Starken verlangen nach „intimen“ Reizen. Die anderen 
gieren nach den Senſationen „differenzierter“ Empfindungen. Sie genießen 
mit den Nerven, nicht mit den Sinnen. Und da winden fie ſich voll Ent⸗ 
zückens unter den Peitſchenhieben einer Perverſität, die dem Nichtmodernen 
qualvolle Folterung iſt. Aber im allgemeinen lebt Gott ſei Dank noch 
heute in uns die Sehnſucht nach der Monumentalität. Wir brauchen ſie 
immer mehr. Sie muß uns Hilfe und Troſt ſein in einem Leben, das ſo 


272 Storck: Aber hiſtoriſche Malerei 


ſchwer geworden iſt, daß es im Kampfe mit den Kleinigkeiten den Men⸗ 
ſchen ſchier zerreibt. 

Die volkstümlichſte Kraft zur Monumentalität aber iſt zweifellos neben 
der Religion die Geſchichte. Die Geſchichte wirkt auf das geſamte 
Empfinden in einer dem Mythos und der Sage verwandten Art. Man 
drückt ſich vielleicht beſſer dahin aus, daß man ſagt: die in uns unter den 
gewöhnlichen Verhältniſſen brachliegenden Kräfte zum großen Wollen und 
großen Tun, — brachliegend deshalb, weil die ſtets lebendige Kritik der 
Tatſachen dieſes Große durchquert, erniedrigt — vermögen ſich bei allem 
Vergangenen auszuleben, weil ihnen gegenüber die kritiſche Einengung weg⸗ 
fällt. Shakeſpeares „Romeo und Julia“ iſt bei gleicher Liebefähigkeit der 
Beteiligten, bei gleicher Opferfähigkeit für dieſe Liebe und derſelben Kraft 
zu ſterben um ſo viel monumentaler, als Gottfried Kellers „Romeo und 
Julia auf dem Dorfe“, als das von Shakeſpeare geſchilderte Geſchehen für 
uns aus dem Bereich des unter die Kritik fallenden Alltagslebens gerückt 
iſt. And es iſt nicht wahr, daß der fremdartige Schauplatz, die fremden 
Koſtüme ablenken von der Monumentalität und der Tiefe des Geſchehens, 
ſondern ſie wirken erhöhend. 

Hier liegt der ungeheure Wert der ſogenannten „Echtheit“ der 
Koſtümierung und des Schauplatzes. Freilich muß man dieſe Echtheit 
recht verſtehen. Auch hier tötet der Buchſtabe und nur der Geiſt belebt. 
And ich gebe zu, daß dieſer Buchſtabe heute zu mächtig iſt und gar oft 
den Geiſt ertötet. 

Ich durfte ſo viel über das geſchichtliche Drama ſagen, weil für die 
geſchichtliche Malerei dasſelbe gilt. Das Geſchichtsbild iſt die 
Feſthaltung des Höhepunktes in einemgeſchichtlichen Drama. 
Es braucht natürlich keine Tragödie zu ſein. Freilich aber muß es ein 
Geſchehen ſein, das in ſich Dauerwerte trägt. Ich glaube, die Geſchichts⸗ 
malerei hat deshalb ſo viel an geiſtiger Wirkungskraft eingebüßt, weil 
gegen dieſes innerſte Geſetz in der Tat furchtbar geſündigt worden iſt. 

Allerdings ſcheint mir auch hier das Verhalten unſerer Kritik viel 
fach ſehr widerſpruchsvoll zu fein. Denn die ſchroffſten Bekämpfer aller 
geſchichtlichen Malerei ſind jene, die die Gleichgültigkeit des Stoffes 
für die bildende Kunſt lehren; die ſagen: alles iſt maleriſch, weil es eben 
da iſt. Man ſollte meinen, daß dieſes „alles“ dann auch ſich auf jeden 
geſchichtlichen oder Phantaſieſtoff erſtrecken müßte; daß es für die Be⸗ 
urteilung eines ſolchen Werkes dann lediglich darauf ankomme, ob dieſer 
Vorgang wirklich „durch ein Temperament geſehen“ ſei, und ob das Werk 
in ſich maleriſche Werte trage. Aber freilich iſt jene zunächſt ſo weitherzig, 
ſo weltumfaſſend klingende Auffaſſung das ganz nüchterne Bekenntnis eines 
ſehr engen Materialismus. Tür die Leute iſt alles maleriſch, aber nur 
inſoweit, als es für den Sinn des Auges da iſt. Was ſie nicht ſehen 
können, iſt nicht da. Die Phantaſie, die Kraft zu ſchauen, ſchöpferiſch 
zu geſtalten, und dieſes innerlich Geſtaltete in die Welt der Sinnlichkeit 


Store: Aber Hiftortide Malerei 273 


hineinzubannen, ſo daß es nun auch geſehen werden kann, iſt aus dieſem 
Lande verbannt. Alſo dieſe Leute, die eigentlich gegenüber dem geſchicht⸗ 
lichen Gemälde den rein artiſtiſchen Standpunkt zu vertreten hätten: „Wie 
iſt es gemacht?“ ſchalten hier von vornherein aus. Wir können nur mit 
jenen reden, denen das „Was“ über dem „Wie“ nicht gleichgültig ge⸗ 
worden iſt. Gurlitt ſagt: „Schon die Vorgänge, die der geſchichtlichen 
Malerei geſtellt werden, ſind zumeiſt langweilig. Ich bin mir ja durchaus 
bewußt, daß meine Kenntniſſe aus der Weltgeſchichte lückenhaft find, fo daß 
ich ſehr oft vor ſolchen Bildern nicht weiß, was da eigentlich vorgeht. 
Ohne dies Wiſſen aber hat man den halben Genuß. Ich urteile alſo be⸗ 
reits aus halbem Genuß heraus. Ja, das Mißverſtehen oder Nichtoer⸗ 
ſtehen hebt mir den Genuß zumeiſt ganz auf. Ich ſehe Janſſens Bilder 
im Nathaus zu Erfurt. Sie ſind freilich für die Erfurter gemalt, die ihre 
Geſchichte beſſer kennen als ich. Denn auf den Kopf danach gefragt, was 
denn im Tollen Jahr dort geſchah, müßte ich, wollte ich ehrlich ſein, ein⸗ 
geſtehen, daß ich mein ganzes Wiſſen in zehn Zeilen niederſchreiben könnte.“ 

Daß bei der Wahl der Stoffe für unſere großen geſchichtlichen Wand⸗ 
malereien zahlloſe Mißgriffe gemacht worden ſind, habe ich ſchon betont. 
Ich möchte nicht mit meinen Ausführungen dahin mißverſtanden werden, 
als ob ich in der geſchichtlichen Malerei, die wir haben, etwas Großes oder 
gar das Erſtrebenswerte ſähe. Mir kommt es nur darauf an, daß man 
nicht um ſchlechter Leiſtungen der Einzelnen willen die Gattung ver⸗ 
damme. Es ſcheint mir aber ein falſcher Standpunkt, wenn Gurlitt ſagt, 
daß er deshalb vor dieſen Bildern nur den halben Genuß habe, weil er 
nicht wiſſe, was da eigentlich vorgeht. Ja, du lieber Gott, dann kann er 
es ja erfahren! Ich bin ſicher, daß Gurlitt in dieſe Verlegenheit um die 
Bedeutung des Stofflichen gegenüber der antiken oder deutſchen Mytho⸗ 
logie niemals gerät, vermutlich auch ſo gut wie niemals gegenüber irgend⸗ 
welchen Vorführungen aus der Legende. Er wird alſo die ganze religiöſe 
Malerei der Vergangenheit ohne dieſes Anbehagen genießen können. Das 
ſtoffliche Gebiet, das Gurlitt ſo beherrſcht, iſt aber ſicher viel größer, als 
das der Mehrzahl der anderen Beſchauer dieſer Bilder. Streng genom⸗ 
men braucht einer nicht einmal von Chriſtus etwas zu wiſſen und ſtände 
damit einem Rieſengebiete wertvollſter Kunſt verſtändnislos gegenüber. 
Aber er wird ſich eben belehren über den Stoff. Und dieſe Notwendig⸗ 
keit, ſein Wiſſen zu vermehren, iſt doch nichts Schmerzliches und braucht 
nicht ſtörend zu ſein für den künſtleriſchen Genuß. Vorbedingungen dieſer 
geiſtigen Vorbereitung haben wir aller jener Kunſt gegenüber zu erfüllen, die 
nicht Darſtellung eines Naturausſchnittes iſt. Ich meine, es kommt lediglich 
darauf an, ob uns ein ſolches Kunſtwerk durch irgendwelche Eigenſchaften, 
die in ihm liegen, oder durch äußere Amſtände fo zu packen vermag, daß 
wir dieſe geiſtige Vorbereitung übernehmen. Gurlitt weiſt ſelbſt darauf hin, 
daß die von ihm genannten Bilder für die Erfurter gemalt ſind. Gewiß! 


ſie ſind als monumentale Malerei ja auch an den Ort dort gebannt. Es 
Der Türmer X, 8 18 


274 Storck: der hiſtoriſche Malerei 


iſt anzunehmen oder ſollte wenigſtens ſo ſein, daß jene Menſchen, die ſo 
oft zu dieſen Bildern gelangen, von vornherein die Vorbedingungen des 
geiſtigen Verſtändniſſes erfüllen. Der volle künſtleriſche Eindruck monumen⸗ 
taler Werke iſt, wie für alle Kunſt, nur vom Original zu gewinnen. Man 
wird alſo dieſe Werke Janſſens nur in Erfurt voll genießen können. Ich 
glaube doch, daß bereits ein derartiger Aufenthalt in einer Stadt uns dafür 
einſtimmt, etwas von ihrer Geſchichte kennen zu lernen. Es iſt ja auch 
ſonſt ſo vieles an einem derartigen Orte, bis in die ganz ſinnfällige Archi⸗ 
tektur hinein, was nur aus einer Art geſchichtlichen Miterlebens her⸗ 
aus genoſſen werden kann. Und wo es nicht geſchichtlich iſt, iſt es ein 
Miterleben ſozialer Vorbedingungen, bei Zweckarchitektur z. B., die ich 
doch auch nur dann voll bewerten kann, wenn ich um dieſe mir vorher 
vielleicht unbekannten Zwecke weiß, die das betreffende Bauwerk zu er⸗ 
füllen hat. Mit dieſer Zweckerfüllung ſteht aber auch die künſtleriſche 
Schönheitslöſung in engem Wertverhältnis. 

Aber allerdings, wenn wir dieſen Bildern künſtleriſchen Wert zu- 
erkennen ſollen, ſo muß etwas in ihnen ſein, was unſere Teilnahme wach⸗ 
ruft, durch die in dieſem Bilde ſelbſt lebenden Kräfte. Sie müſſen ſich von 
der Urkunde unterſcheiden, die uns lediglich des geſchichtlichen Wertes wegen 
intereſſiert; wodurch das Bild das vermag, das ſind einerſeits geiſtige, 
andererſeits rein künſtleriſch maleriſche Eigenſchaften. 

Ich finde, daß das von Gurlitt als Beiſpiel angeführte Bild Janſſens 
— die Leſer finden es in dieſem Hefte — in hohem Maße ſolche Eigen- 
ſchaften in ſich trägt. Auch ohne daß man genauere Kenntnis der dar⸗ 
geſtellten Vorgänge beſitzt, erfaßt man beim erſten Blick, daß es ſich hier 
um eine Art Revolution handelt, um den Zuſammenprall des unteren Volkes 
mit den herrſchenden Geſchlechtern. Die Fülle von Bewegungsmöͤglich⸗ 
keiten in dieſer erregten Szene, vor allem aber die Vorführung zahlreicher 
Menſchentypen im gleichen Augenblicke höchſter Aufregung bietet doch an 
fic) bereits einen Vorwurf von hohem Reize, eine ganz prächtige „Ge⸗ 
legenheit“ zu künſtleriſcher Charakteriſtik. Und fo haben alle dieſe Bilder 
im Erfurter Nathausſaale in ſich packende Kräfte: der wilde Jubel bei der 
Vernichtung des Napoleon errichteten Triumphobelisken im Befreiungs⸗ 
jahre; die packende Charakteriſtik in der Geſtalt des heldenhaften Boni- 
fazius bei der Fällung der Wotanseiche; die pſychologiſch ſehr feine Be; 
handlung des Zuſammentreffens des Kaiſers Barbaroſſa mit feinem Ab⸗ 
bitte leiſtenden machtvollen Gegner Heinrich dem Löwen; der ausgelaſſene 
Abermut der von einer Plage befreiten Bürgerſchaft bei der Gefangen⸗ 
nahme der Raubritter durch Rudolf von Habsburg. 

Ich meine, eine ſolche Darſtellung des Volkes bei ſtarken Lebens 
kundgebungen fei ein ganz bedeutender Wert. Natürlich hat dieſe Lebens 
und Menſchendarſtellung nicht Anſpruch auf geſchichtliche Wahrheit. Aber 
die dargeſtellten geſchichtlichen Vorgänge find nicht nur ein äußerlich glänzen ⸗ 
der, fondern auch ein pſychologiſch günſtiger Rahmen für ein ſtarkes Her⸗ 


Storck: Aber hiſtoriſche Materel 275 


vorbrechen dieſer Empfindungen, die von den heutigen Menſchen vollauf 
miterlebt werden können. Es gibt Hunderte von berühmten und bewun⸗ 
derten weltlichen und kirchlichen Gemälden, die hinſichtlich der Wirkung 
durch den Inhalt keine ſo günſtigen künſtleriſchen Vorbedingungen haben, 
wie dieſe Geſchichtsbilder. Und zwar, wie betont werden muß, bildneriſch 
künſtleriſche. Denn nur die bildende Kunſt vermag dieſe Darſtellung des 
Volkes zur Anſchauung zu bringen. Ich gebe zu, daß die Verhältniſſe 
nicht überall fo günſtig find, wie hier im Erfurter Nathausſaale. Aber 
gerade Peter Janſſens Lebenswerk erbringt den Beweis, daß es einer ſtarken 
Künſtlernatur wohl gelingt, auf die Auftraggeber Einfluß zu gewinnen. 
And zwar auch, wenn es noch kein berühmter Künſtler iſt. Denn das ſteht 
in Janſſens Anfängen. 1867 hatte der Kunſtverein für die Rheinlande 
und Weſtfalen einen Wettbewerb eröffnet für die Ausmalung des Rate 
hausſaales zu Krefeld. Die Gegenſtände ſollten aus der Geſchichte und 
der „Herrlichkeit“ der Stadt Krefeld entnommen fein. Da war es der 
junge Akademieſchüler Peter Janſſen, der, weil er in dieſer Krefelder Ge⸗ 
ſchichte das Malenswerte nicht fand, Entwürfe aus der Geſchichte Her⸗ 
manns des Cheruskers einſchickte. Die Wirkung war, daß ein neuer Wett⸗ 
bewerb veranſtaltet wurde, aus dem er ſiegreich hervorging. Wie einſt 
Kleiſt den Hermannſtoff aufgriff, um die Volksſtimmung gegen Napoleon 
auszulöſen, ſo bewährte er auch jetzt ſeine Kraft gegen die welſche Welt. 
Alſo ſo ſchlimm ſteht es noch lange nicht um die Tyrannei der Auftrag⸗ 
geber, wenn nur die Künſtler Männer ſind. 

Ich ſprach bislang vom Stoff, um darzutun, daß es nicht am 
Hiſtorienbild als ſolchem liegt, wenn wir hier wenig wertvolle Kunſtwerke 
haben, ſondern daran, daß wir keine Künſtler beſitzen, die fähig ſind, darin 
Großes zu ſchaffen. Denn über dieſen Stoff hinaus beſitzt der Künſtler 
auch hier jene Mittel der künſtleriſchen Wirkung, durch die die Großen 
auch dort zu feſſeln wußten, wo der Stoff eher hinderlich war: die rein 
maleriſchen. Oder gibt es hinſichtlich des Inhalts unglücklichere Vorwürfe, 
als die Niederländer ſie in ihren Gruppenbildniſſen behandelt haben, als 
etwa der Stoff in Nembrandts „Nachtwache“ oder „Anatomiebildern“? 
War etwa in Menzels Bildern von Hoffeſtlichkeiten der Stoff günſtiger 
als für die Bilder Anton v. Werners? 

Daß Janſſen hier zu den ganz Großen gehörte, wage ich nicht zu 
behaupten. Für die Forderung, daß das monumentale Wandgemälde einen 
beſonderen Stil erheiſche, bietet ſein Werk manche wertvollen Anſätze, aber 
nicht die Erfüllung. Seine Wandgemälde ſind im Grunde doch rieſige 
Staffeleibilder, nicht genug ineins mit der Architektur aus Raum geſtaltender 
Kraft geſchaffen. Einmal freilich hat er hier mehr geboten: in der Aula der 
Düſſeldorfer Akademie. Da iſt wenigſtens die Innenausſtattung des Raumes 
mit den Gemälden zuſammengebracht. Aber der große Stil monumentaler 
Malerei muß uns noch gebracht werden. Ich glaube, wir werden ihn 
einem Allkünſtler des Raumes zu danken haben, der für die bildenden 


276 Altſchweheriſche Daukunſt 


Künſte eine ähnliche Einheitskraft bewähren wird, wie Ricard Wagner 
für die redenden Künſte. Wenn uns dieſer „Allkünſtler“ erſtehen wird, 
wird gleichzeitig die Berechtigung der Hiſtorienmalerei dargetan ſein: denn 
auf die große Stoffwelt der Geſchichte wird eine monumentale Kunſt ſo⸗ 
lange nicht verzichten können, als das nationale Volksbewußtſein ein wirk⸗ 
ſamer Wert unſeres Lebens iſt. 

a 


Altſchweizeriſche Baukunſt 


Mit 7 ſtark verkleinerten Abbildungen aus Anheiſſer, „Altſchweizeriſche Baukunſt“. 
Verlag von A. Francke, Bern 


rar. as Grundübel unferer heutigen Baukunſt iſt der Mangel an Voden- 
22. ſtändigkeit. Unfere Baukunſt iſt heimatlos, vaterlandslos, infolge 


deſſen charakterlos. Es gibt keine andere Kunſt, die fo mit dem 
Orte ihres Entſtehens verwächſt wie die Baukunſt. Sie wächſt aus einem 
Boden heraus, muß mit ihm verwachſen; fie ſteht in einer beſtimmten Land- 
ſchaft und bildet, ſobald fie da iſt, einen Teil von ihr. Der Baukünſtler ge- 
ſtaltet Raum, einen an ganz beſtimmter Stelle liegenden Raum, einen Raum 
im Raum. And dieſe feſtſtehenden Geſamtverhältniſſe find Weſenskräfte feines 
Kunſtwerkes, wider die er keines falls ſündigen darf, die er, ein je größerer 
Künſtler er iſt, in um ſo höherem Maße zunutze zu machen weiß. Aus den 
gleichen Gründen iſt Baukunſt verwachſen mit dem Volkstum. Ja, man 
muß bier auf viel engere Verbände zurückgehen: den einzelnen Stamm, die 
Gemeinde, die Familie. Es gibt nur ganz vereinzelte baukünſtleriſche Auf- 
gaben, die ſo gewaltig ſind, daß in ihnen die Welt den Ausdruck von etwas 
ihr Gehörigem finden kann; nur wenige auch, in denen ein ganzes Volk zur 
Sprache kommen will. And das ſind gewaltige Monumentalbauten. 

Weitaus der größte Teil deſſen, was die Baukunſt zu geſtalten hat, iſt 
aber ausgeſprochenermaßen Zweckarchitektur. Wir bauen, damit wir 
wohnen können. Vielleicht gerade deshalb, weil hier vor allem für Lebens ⸗ 
bedürfniſſe geſchaffen wird, für das zum Leben Notwendige — alſo etwas, 
was ſtreng genommen mit Kunſt, die ja Lebensüberfluß iſt, nichts zu tun hat 
— offenbart ſich nirgendwo mehr, ob ein Volk künſtleriſche Kultur hat oder 
nicht, als in der Architektur. Denn in dieſem Falle iſt Kunſt Lebensbetätigung, 
mit unſerem ganzen Leben aufs innigſte verwachſen. 

Ein niederſchmetternderes Zeugnis für unſere Kultur kann es nicht geben, 
als der Suftand unferer Baukunſt es iſt. Wir dürfen das um fo ruhiger ein- 
geſtehen, als wir heute wenigſtens fo weit find, daß wir dieſe Tatſache ein · 
ſehen; und mit der Erkenntnis des Abels hat auch die Beſſerung bereits ein ⸗ 
geſetzt. Es iſt unmöglich, im vorliegenden Zuſammenhange auf die Arſachen 
dieſer Entwicklung näher einzugehen. Gerade weil die Baukunſt ſo durchaus 
mit dem Leben der Geſamtheit verwachſen iſt, iſt durch einzelne große Künſtler, 
durch das weltüberragende Genie auf dieſem Gebiete nicht ſo viel zu wirken 
wie auf anderen Kunſtgebieten. Es hilft uns nichts, wenn einzelne großartige 
Monumentalbauten hingeſtellt werden; eine wirklich baukünſtleriſche Kultur 
kann nur von der Geſamtheit geſchaffen werden: wenn dieſe Geſamtheit 


Altſchweizeriſche Baukunſt | 277 


das Bedürfnis fühlt, künſtleriſch zu wohnen, wenn das Empfinden dieſer Ge- 
ſamtheit echt iſt. 

Es iſt bekannt und an dieſer Stelle ſchon oft ausgeführt worden, daß 
unſer Volk als Ganzes mit dem Beginn des 17. Jahrhunderts feinen Kultur- 
beſitz verloren hat. Nur langſam hat es ſich als Volk wieder emporgearbeitet. 
Zu einer künſtleriſchen Kultur haben wir es inzwiſchen nur auf dem Gebiete 
der Muſik vorübergehend gebracht. Auf dem Gebiete der Literatur haben wir 
wenigſtens einen rieſigen Beſitz an Kunſtwerken. Für die Baukunſt iſt in 
nationalem Sinne eigentlich faft alles erſt zu tun. Jedenfalls find hier geſunde 
Entwicklungs linien, die ihre Höhe im ſtädtiſchen Bürgerhaus gegen Ende des 
18. Jahrhunderts erreicht hatten, durch die Entwicklung wieder abgebrochen 
worden. Die monumentale Baukunſt hat einige hervorragende Leiſtungen ge— 
zeitigt, aber im weſentlichen unter Ausnutzung fremder Stilarten. Doch haben 
ſich hier auch Perſönlichkeiten Geltung zu verſchaffen gewußt. Furchtbar aber 
iſt der Zuſtand auf dem Gebiete des bürgerlichen Hausbaues. Eitle Nach- 
ahmung, Verwendung fremdwüchſiger Formen an einer Stelle, wo ſie niemals 
echt werden können, hat hier alles zerſtört. Dazu jene unheilvolle Entwicklung, 
die der Kapitalismus im Bürgertum vollzogen hat, infolgedeſſen man mehr 
ſcheinen will, als man iſt, ſo daß man die Schönheit des Hausbaues in dem 
aufgeklebten Schmuck, in der Nachahmung von monumentalen Vorbildern ſieht. 
Anſere Städte ſind erſchreckende Zeugniſſe dieſer Entwicklung. Wie geſagt, wir 
ſehen heute das ein, wir ſtreben nach Beſſerung. Wir wiſſen heute, daß das 
Haus ein Ausdruck ſeines Bewohners ſein ſoll, dieſem angepaßt, was dadurch 
geſchieht, daß es für eine geſunde Lebensführung dieſes Bewohners gedacht, 
ihm entſprechend gebaut iſt. Wir erkennen als ein Geſetz, daß ein in ſeinen 


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Grundlinien häßlicher Gegenftand nicht ſchön wird, wenn ihm mit ihm inner 
lich zuſammenhangloſe Kunſtformen, Kunſtgegenſtände irgendwie verbunden 
werden. Wir haben erkannt, daß das Bauwerk in künſtleriſcher Hinſicht or- 
ganiſcher Teil iſt der Natur, in der es ſteht. Allerorten ſehen wir Baumeiſter 
bemüht, Löſungen dieſes künſtleriſchen Problems zu ſchaffen. Es iſt aber natür 
lich, daß der einzelne Künſtler nur Löſungen geben kann, in denen ſeine Per; 
ſönlichkeit Ausdruck findet. Darin liegt die große Schwierigkeit. Vollendete 
Baukunſt iſt das Erzeugnis der Erfahrung, der Überlieferung einer lang- 
fam erſtarkten, {chin berangereiften Kultur. Die Erfahrungen des Einzelnen 
reichen nicht aus, es gehören die der Geſchlechter dazu. 

Wie wir oben beklagt haben, iſt es in Deutſchland ſeit dem Dreißig · 
jährigen Kriege zu dieſer ſteten Aberlieferung, zu dieſem langſam ſicheren Auf- 
bau nicht gekommen. Aber noch ſchlimmer: auch der Zuſammenhang mit der 
früheren Baukultur iſt lange vollkommen unterbrochen geweſen. Gott ſei Dank 
iſt es noch nicht zu ſpät, dieſen Zuſammenhang wiederherzuſtellen. 

Das deutſche Volk hat es auf keinem Gebiete zu einer ſo hohen fünft- 
leriſchen Kultur gebracht, wie im Bauernhaus und im Bürgerhaus, und damit 


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Altſchweizeriſche Baukunſt 279 


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REUSSUFER IN LUZERN 


zuſammenhängend in der Anlage des Bauerndorfes und der Städte. Der 
Gipfel dieſer Baukultur liegt von etwa 1480 bis 1600. Glücklicherweiſe hat 
die bürgerliche Baukultur wenigſtens in einigen deutſchen Gegenden noch durchs 
ganze 17. Jahrhundert ausgehalten und ſich auch in der erſten Zeit des 18. Jahr- 
hunderts einigermaßen bewährt. Die bäuerliche Baukultur hat überhaupt 
bis ins erſte Drittel des 19. Jahrhunderts keine ſchwere Anterbrechung erlitten. 
Denn das Bauerntum hat unter ſchweren Schlägen von außen am wenigſten 
zu leiden. And noch weniger unter ſchweren geiſtigen Strömungen. Das 


280 Altſchweizeriſche Baukunſt 


Bauerntum hält von Natur zäh feſt am alten Aberkommenen und wahrt die 
Aberlieferung. Für das Bauernhaus im einzelnen hat die Gefahr erſt ein ⸗ 
geſetzt, als von den Städten aus der üble Einfluß aufs Land drang; als dieſes 
Bauerntum anfing, die Städte nachzuahmen, in dem, was die Städte beſaßen, 
das Beſſere und Vornehmere zu ſehen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts hat 
dieſe Vernichtung der Aberlieferung im Bauernhausbau, hat die Verderbnis 
unheimliche Fortſchritte gemacht. Da hat allerlei mitgebolfen. Der Staat mit 
vielen ſeiner Bauvorſchriften, bei denen er jede künſtleriſche Erwägung, die ſich 
ſehr leicht mit den geſundheitlichen und feuerpolizeilichen vertragen hätte, außer 
acht ließ; die Induſtrie durch das Angebot charakterloſer Baumaterialien und 
dergl. mehr. Heilloſe Schäden haben die Baugewerkſchulen angerichtet, die 
eine ſchablonenhafte, meinetwegen ganz „richtige“, aber jedenfalls nirgendwo 
bodenwüchſige Bauweiſe aufs Land hinaus verpflanzten, und ein gut Teil haben 
auch jene Architekten geſündigt, die Kirchen und andere größere Bauwerke auf 
dem Lande zu errichten hatten und hier ihre gotiſchen, romaniſchen Schulbei⸗ 
ſpiele in der Wirklichkeit erſtehen ließen an Orten, wo ſie, als Fremdkörper, 
felber fragenbaft emporragen und obendrein die Einheit des Dorfbaues zer- 
reißen und die ganze Landſchaft verſchandeln. Aber nichts deſtoweniger: hier 
braucht vor allen Dingen nur der Serftdrung, dem Weiterumſichgreifen der 
Seuche Einhalt getan werden. Noch ſind in ſchier allen Gegenden Deutſchlands 
Beiſpiele genug für eine ſchöne bäueriſche Baukultur vorbanden, an die man 
unmittelbar anknüpfen kann. Denn das iſt klar: wie dieſes Bauernhaus, ſo 
wie es da ſteht, das Zeugnis iſt der Erfahrungen langer Zeit, wie es fteter 
Verbeſſerung in der Geſamtanlage und in Einzelheiten unterzogen wurde; wie, 
folange das Bauerntum wirklich ſchöpferiſch war, allen auftauchenden Bedürf ⸗ 
niſſen Genüge geſchafft wurde, — fo wollen auch wir jetzt keineswegs Nach- 
ahmungsſklaven eines nun einmal Vorhandenen werden. Es muß verwertet 
werden, was wir an baulichen Verbeſſerungen für Geſundheit und Sicherheit 
errungen haben. Die Amwandlung, die der bäuerliche Betrieb vielfach durch ⸗ 
gemacht hat, erheiſcht auch bauliche Vorrichtungen, die natürlich geſchaffen 
werden müſſen. Jedoch keine dieſer Forderungen erheiſcht Preisgabe eines 
künſtleriſchen Schönheitsgefühles. Trotzdem vergeht kein Tag, an dem nicht 
irgendwo in deutſchen Landen ein ſchönes Stück Bauernbaukunſt vernichtet 
wird, kein Tag, an dem nicht ein häßliches Stück einer ganz nüchternen, ge- 
ſchmackloſen Bauerei erſtellt wird. Hier kann nicht raſch genug eingeſchriiten 
werden. Die Arbeit iſt nicht ſo ſchwer. Vernichtet wird heute hauptſächlich, weil 
die Leute ihren Beſitz nicht ſchäzen. Man erwecke das Gefübl, daß hier Werte 
ſind, und ſie werden geachtet werden. Daß das neu zu Schaffende gut werde, 
das ſei die Zukunftsaufgabe unſerer Bauſchulen und damit unſerer Architekten. 

Vtel ſchwieriger ſteht dieſe Frage in den Städten. Zn künſtleriſcher 
Hinſicht ſind unſere neueren Städte nicht nur vollkommen charakterlos, ſondern 
von einer ſchier unſagbaren Häßlichkeit. Darüber ſind ſich wohl alle einig. 
Einig aber auch darüber, daß die geſamten ſozialen Verhältniſſe, die Entwid- 
lung der Großſtädte und der damit verbundenen Bodenſpekulation, des Maſſen · 
miethauſes, uns vor eine lange Reihe von Aufgaben ſtellen, von denen frühere 
Zeiten keine Ahnung hatten. Hier kann natürlich nur in langſamer zielſicherer 
Arbeit Gutes entſtehen. 

Aber für unendlich vieles findet man doch auch da reiche Vorbilder in 
der eigenen deutſchen Vergangenheit. And zwar für die Anlage des geſamten 


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282 Altſchwetzeriſche Baukunſt 


Straßenbildes, die Anlage zumal der Plätze, und im höchſten Maße für die 
Art der Schönheitsgeſtaltung der Außenſeite der Häuſer, für den Faſſadenbau. 
Auch hier wollen wir ja keinen Augenblick an ſklaviſche Abernahme des einmal 
Geſchaffenen denken. Nicht die Stilform wollen wir von den alten Bauten 
lernen, ſondern ihren harmoniſchen Aufbau im ganzen. Vor allem aber die 
Echtheit des Ausdrucks, das Nichtprotzenwollen mit falſchem Schein, das Ver- 
meiden jeder Anehrlichkeit. 

Damit unſere alte Baukultur für uns fruchtbar werden kann, müſſen 
wir ſie vor allem kennen. Wie beſchämend wenig iſt dafür geſchehen, wenn 
wir die unendlichen Bücherreihen betrachten, die über antike Baukunſt, über 
alle möglichen fremden Stilarten vorliegen. Aber es kommt ja glücklicherweiſe 
nicht bloß auf die Maſſe, ſondern auch auf die Güte an. And was da ein 
einzelner friſch zugreifender Mann in einem einzigen Werke leiſten kann, dafür 
haben wir ein ganz köſtliches Beifpiel in einem Mappenwerke: „Altſchweize⸗— 
riſche Baukunſt“. Von Dr. R. Anheiſſer, Architekt. Das im Verlage 
von A. Francke in Bern erſchienene Werk bringt auf 110 Folioblättern Feder- 
zeichnungen nach Motiven aus Stadt und Land der Weſt und Zentralſchweiz. 
Die Zeichnungen bringen neben zuſammenfaſſenden Anſichten von Geſamt— 
anlagen als Straßendurchnitten und Plätzen, Bauern-, Bürger-, Rathäuſer, 
Schlöſſer, Kirchen und daneben eine Fülle von Einzelheiten an Portalen, Ge— 
fimfen, Säulen, Erkern, Kaminen auch Brunnen und Standbilder. Eine un- 
erſchöpfliche Fülle tut ſich vor uns auf. Ich habe laut gejubelt, als mir ſchier 
auf jedem Blatte Bilder entgegentraten, die mir von meinen weiten Fuß— 
wanderungen her in der Erinnerung leben. And zwar ſo, wie ſie mir leben. 


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284 Altſchweizeriſche Bautunft 


And das haben wir der Federzeichnung zu verdanken. Ich habe zahlloſe 
Photographien, eigene Aufnahmen und fremde; längſt iſt mir gerade für dieſe 
Zwecke die Anſichtskarte (von mir mit den zugehörigen Bemerkungen be ⸗ 
ſchrieben) ein lieber Sammelgegenſtand geworden. Aber wie wenige brauch- 
bare Anſichtskarten gibt es, wie ohnmächtig zeigt fic hier wieder die Photo; 
graphie gegenüber der Künſtlerhand. Gerade hier kommt es ja darauf an, die 
maßgebenden Linien herauszuarbeiten, alle per ſpektiviſchen Serfiörungen der 
Photographie zu vermeiden. Anheiſſer verbindet mit beneidenswerter Sicher ⸗ 
beit des Blickes unbedingte Zuverläſſigkeit der Hand. And dann — er weiß 
ſeiner boben Aufgabe zu dienen. Das iſt kaum hoch genug anzuerkennen. Er 
hat vollkommen der Verſuchung widerſtanden, das alles als Motive für „ver- 
ſönliches“ Schaffen zu verwenden; ſein ganzes Streben war, den Charakter 
dieſer fo verſchiedenartigen Bauwerke möglichſt klar und ſprechend herauszu- 
arbeiten. Der Verlag hat ſich mit dieſem Werke ein großes Verdienſt er- 
worben, beſonders da er es zu dem verhältnismäßig ſehr geringen Preiſe von 
28 Mk. in den Handel bringt. 

Wir können unſeren Leſern einige Bilder verkleinert vorführen, einige 
Koſthappen von der hochgehäuften Schüſſel künſtleriſcher Leckerbiſſen. Der Raum 
verſtattet nur wenige Worte, wo ſich an jedes einzelne Bild eine Fülle von 
Beobachtungen und Nutzanwendungen knüpfen ließe. Da iſt das ſtattliche 
Bauernhaus aus Langnau im Emmental, meiſterhaft in der Sufammen- 
ſtimmung der ſelbſtändigen Einzelteile zum Ganzen. Es iſt ein ganz hölzerner, 
reiner Ständerbau. Prächtig tft hier die „Ründi“ unter der Abwalmung am 
linken Giebel. Wie groß wirkt dieſer Bogen, der dadurch zuftande kommt, 
daß die Anterſicht des vorſtehenden Daches gewölbeartig mit Brettern ver- 
ſchalt wird. Der Leſer muß ſchon die Lupe zur Hand nehmen, wenn er die 
ſchöne Sopfarbeit an den Kopfbändern, die reiche Zierart an den Galerien er ⸗ 
kennen will. — Dagegen nehme man als Herrſchaftshaus im flachen Lande 
Schloß Pratteln. Ic habe das Haus, das heute Armenanſtalt iſt, im 
Innern geſehen und kann danach beſtätigen, daß es prächtig den Raum für 
ein großes Herrſchaftshaus von heute bietet. Wo aber findet ſich ähnlich Groß ⸗ 
zügiges und doch echt Wohnliches bei unſern ländlichen Herrſchafts bauten? 
Gleich dahinter ſehe man die beiden großen Bürgerhäuſer vom Reuß⸗— 
ufer in Luzern. Das iſt doch eine Aufgabe, wie ſie der heutige Städtebau 
tauſendfach bietet. Und da betrachte man dieſen Hausſchmuck! Wie klar und rein 
bleibt die Form gewahrt! Wie organiſch verwachſen die Erker mit der Faſſade, 
wie wirkt beim anderen Haus die reichgeſchmückte Gliederung der Horizontal- 
geſimſe als Steigerung der Gefamtform! Und wie gediegen und vornehm, frei 
von aller Protzerei iſt das Ganze. Da fällt mir dann immer, wenn ich an unſere 
mit Stuck und Steinplaſtik überladenen Bauten etwa am Berliner Kurfürften- 
damm denke, das böſe Wort Per Hallſtröms ein, dieſe Häuſer hätten eine archi⸗ 
tektoniſche Hautkrankheit. — Die wundervolle Geſchloſſenheit des „Ringes in 
Biel“ bei der ſo eigenwilligen Stilverſchiedenheit der hier nebeinander ſtehenden 
Bauten iſt von packender Kraft. Beſchämt nicht der Rathaushof im kleinen 
Rheinfelden durch Vornehmheit die meiften teuren Nathaus bauten unferer 
Großſtädte? Den ſtolzen Stockalperpal aſt aus Brieg zeige ich gern als Bei ⸗ 
ſpiel glücklicher Verwendung fremder Kunſt. Hier am Nordende der Gimplon- 
ſtraße überraſcht dieſe Vorahnung Italiens nicht. Sie ſtört aber auch architek⸗ 
toniſch nicht das Geſamtbild der Stadt, ſondern fügt ſich unaufdringlich, in 


Altſchweizeriſche Baukunſt 285 


ſtolzer Vornehmheit dem Ganzen ein. — And endlich der Blick auf Leuk im 
Wallis. Mancher Leſer wird auch ſchon hier durchgewandert ſein, wenn er 
an der „erſchrecklichen“ (Seb. Münſter) Gemmiwand heruntergeklettert war. 
Es find arme Häuschen, dieſe Blockbauten aus dem an der Luft ſchwarz ge- 
wordenen Lärchenholz. Aber wie ſie ſich um die Kirche ſcharen, wie hier der 


Turm als Nichtlinie gegen die Felſen geſtellt iſt, das wirkt ungemein maleriſch 
und — natürlich. 


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Ich wünſche Anheiſſers Werk in die Hände aller Bauleute, aber auch 
möglichſt vieler Männer und Frauen. Sie ſollen daran auch Architektur, die 
Baukunſt ſchauen lernen; das verbindet ſich herrlich dem Naturgenuß auf 
Reijen, ja beides muß ineinander verwachſen. And dann noch eins. Hier iſt 
ein glänzendes Beiſpiel geboten. Nun gehet hin und tuet desgleichen. So 
reich, wie die Schweiz, iſt wohl keine andere Gegend in deutſchen Landen an 
derartigen baukünſtleriſchen Reizen. Aber überraſchend viel iſt überall vor- 
handen. Sammelt es und machet es bekannt. Es iſt nicht möglich, daß die 
Gegenwart taub bleibe gegenüber dieſer beredten Schönheitsſprache unſerer 


Vergangenheit! 
Karl Storck 


286 Delorative Künfte 


Dekorative Künſte 


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&) Un der letzten Theaterrundſchau iſt von einer neuen Bühne geſprochen 
A) worden, dem Hebbel- Theater. 

CE) Nach der dramaturgiſchen Bewertung lohnt ſich feine architel- 
toniſch dekorative. 

Dieſer neue Theaterbau hat Qualität und erfreut durch die ſichere und 
materialgerechte Verwendung der Ergebniſſe moderner Innenkunſt. 

And die gute Phyſiognomie erweiſt ſich auch in der Außenarchttektur. 
Der Lieblingsbauſtoff unſerer Zeit iſt hier verwandt worden, der Muſchelkalk⸗ 
ſtein, der durch Meſſels Bauten wieder eingeführt wurde. Die rauhkörnigen, 
wittrigen, porigen Flächen dieſes Steins haben etwas ungemein Lebendiges, 
eine Art von Hautcharakter, ſie ſind ein dankbarer Antergrund für das Spiel 
von Licht und Schatten und in ihrer bewegten Struktur von immer wechſelndem 
Reiz. Beſonders gut wirkt der Kalkſtein an den breiten Rampenpfoften, die 
als Begrenzung der Aufgangstreppe links und rechts wuchtig ſich vorſtrecken 
und die als Bekrönung große Laternen in Form kräftiger Tonnenzylinder aus 
milchig ⸗opaliſierendem Glas in der kräftigen Amſpannung blanker Metallbänder 
tragen. Die Faſſade des Hauſes, das an der Ecke der Röniggräger- und Groß ⸗ 
beerenſtraße liegt, hat eine dreifache Längsteilung, zwei ſchmale Seitenpfeiler 
bahnen und eine ſich halbrund nach außen wölbende Mittelbucht, deren Füllung 
eine Fenſteranlage, in weiße Holzſproſſengitterung gefaßt, bildet und die ein ſehr 
ſchmuckhafter Faſſaden⸗ Ausdruck des hinter ihr liegenden ovalen Foyerfaals tft. 

Die Innenarchitektur hat ſich als gutes Vorbild den Kammerſpielraum 
genommen und ſeine Wirkung durchaus auf das Holz geſtellt. Das reizvolle 
Wechſelſpiel der gelb leuchtenden Birke in ihrer wolkigen, zuckenden Maſerung 
mit tiefſchwarz gebeiztem Nußholz bewährt ſich hier. And zu vollendeter Stim- 
mung kommt fie in den Eckbildungen links und rechts vom Bühnenrahmen. 
Sie ſind nicht rechtwinklig mit ſchroffen Kanten, ſondern ſie haben tiefe und 
weitausgerundete Voutenführungen, und auch die Borde der Ränge ſchwingen 
in ſolchem ſchmiegſamen Rhytbmus. Dadurch ergibt ſich in den ausgewölbten 
Holzflächen ein nuanciertes Spiel des Lichts. Fein eingeſtimmt iſt dazu das 
ſamtige Grau der Seſſel und des Gardinen Vorhangs mit feinem Ton in Ton 
ſchattierten Blütenmuſter, das an japaniſche Vorſatzpapiere erinnert. 

In der Anordnung und Gliederung des Zuſchauerraums find die vor- 
bildlichen Beſtrebungen der jungen Münchner Theaterarchitektur maßgebend 
geweſen, wie fie ſich in Littmanns Prinz Regenten ⸗Theater und im neuen 
Weimarer Hoftheater ausſprechen. Die Proſzeniumlogen fallen ganz fort, die 
breitgeſchwungenen Nampenbaftionen der Ränge werden direkt aus der Wand 
entwickelt. 

Nur in der Hintergrundsmitte des erften Ranges öffnen ſich, über den 
Sitzreihen, in der Wand die viereckigen Fenſterausſchnitte einiger Logen, und 
dieſe Rahmen in der warmgetönten Holzeinfaſſung mit grünen Seidenvorhängen, 
mit eingelaffenen Lichtkörpern in der oberen Leifte, einem leuchtenden Ornament. 
fries, find Schmuckſtücke des Raumes. 

Von unfruchtbarer Schönheit iſt hier ganz abgeſehen. Die Sierat- 
Wirkung kommt hier immer aus der dekorativen Ausbildung der fachlich not 
wendigen Raumteile. 


Dekorative Rünfte 287 


Eines der gelungenften dieſer Naumſchmuckſtücke ift das medaillonförmige 
Foyer im erſten Nang, das durch jene ausgewölbte Fenſterbucht der Faſſade 
nach außen betont wird. 

Ein hohes mattgelbes Holzpaneel bekleidet ſeine Wände und wird durch 
ſchmale ſchwarze Felderungen des Nußholzes gegliedert, dazu die tonige Har ⸗ 
monie eines grauvließigen Teppichs, mit hellgrünen Ovalen gemuſtert, und die 
feſtlich klingende Beleuchtung von lang herab im Kranzrund ſchwebenden Ge- 
hängen aus Kriſtall⸗Perlketten. 

Zu dieſen dekorativen Kompoſitionen kommt eine intereſſante bühnen⸗ 
techniſche Neuerung, die ſehr geſchickt in den Rampenrand der Bühne ein ⸗ 
gegliederte Anlage dreier, den Zuſchauern unſichtbaren, dem Schauplatz zuge ; 
wandten Guckkäſten, einem mittleren für den Souffleur, die ſeitlichen für den 
Inſpizienten und den BeleuchtungsIlluſioniſten mit feiner Klaviatur der 
Lichtregiſter. 

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Feſſelnde kulturelle Schauſpiele gab es in letzter Zeit. In den Salons 
des RNunfigewerbehaufes von Friedmann und Weber wurde ein dekoratives 
Ausftattungsftüd abgeſpielt über das Thema des gedeckten Tiſches. Künſtler 
und Liebhaber hatten ſich vereinigt, und eine Fülle intereſſanter Löfungen kam 
dabei heraus. 

In dieſen Behandlungen der feſtlichen Tafeldekoration überwog die Nei- 
gung, ſich an ältere Stile anzulehnen, die Verſuche in der neuen Weiſe waren 
in der Minderzahl. 

Das iſt ſymptomatiſch für die wieder erwachte Freude am lebendigen 
Ausmünzen der Tradition, die jetzt nicht mehr wie in geiſtesarmen Zeiten 
ſtumpf nachgeahmt, ſondern wirklich mit neuem Blut erfüllt wird —, erwirb 
es, um es zu beſitzen. Es iſt aber auch nach anderer Richtung charakteriſtiſch. 
Es hat feinen beſonderen Sinn, daß gerade auf dieſem Gebiet des Feftlich- 
Geſellſchaftlichen die Vergangenheit ſich ſtärker erweiſt als die Gegenwart. 
Anſere modernen Tendenzen im Kunſtgewerbe geben nämlich entſchieden mehr 
auf die ſachlich zweckſchöne Ausgeſtaltung des Alltags als auf das Feiertäg⸗ 
liche. Anſere beſten Errungenſchaften find im Bereich des Arbeits zimmers und 
der hygieniſch⸗äſthetiſchen Schlaf. und Toilettenräume mit Kacheln, Kriſtall und 
Meſſing zu ſuchen. 

Das Neu - Feſtliche, das freilich auch nicht vernachläſſigt blieb, hat dagegen 
einen merkwürdig weltfremden Zug; es ſchillert mit dumpfem, düſterem Prunk 
in die Tempelgattung, in das Sanktuarium, in das Mpfterien- Heiligtum hin ⸗ 
fiber und gerät dabei häufig peinlich geſpreizt. Das Natürliche im Feierlichen 
auszubilden mißlang. And es dokumentiert ſich dabei, daß wir im techniſchen, 
im Ingenieur⸗Jeitalter leben. | 

And das ſcheinbar Paradoxe begibt ſich dabei, daß der Feftftil der Ver- 
gangenheit uns näher und verwandter wirkt als künſtliche Neuver ſuche. Sm 
Grunde iſt das ganz verſtändlich. Man genießt in dieſen Aberlieferungen das 
Organifh-Gewordene und empfindet dabei auch noch die feinen kulturellen 
Reize, das Echo du temps passé. Solche Stimmung voll Mitſchwingung und 
voll des Parfüms alter Seit kam aus vielen dieſer Tiſch Stilleben. 

Man fühlte ſie in dem gedämpften Raum mit den rotbrokatenen Wänden 
und den weißſproſſigen Pfeilerfenſtern, in dem der Maler Otto Haas - Heye 
einen Nundtiſch voll Sans ſouei · Kultur aufgebaut hatte. Ganz in weiß, in einer 


288 Dekorative Minfte 


harmonie blanche erſchimmerte er. Das Porzellan zeigte den feinen ODurdbruc- 
rand mit Gittermufter der Berliner Manufaktur. Aus der Mitte wuchs ein 
Rofenparterre, in zarten weif-rofa Nuancen abgetönt, und um dies Beet 
ſtanden im Rund die Grazien des Rokoko Olymps mit Guirlanden und Glatter- 
ſchleier aus glafiertem Porzellan. 

Behaglich-zopfig, voll breiterer Gemütlichkeit wirkte die Tafel im Ge; 
ſchmack Friedrich Wilhelms III. von Emil Leſſing. Es war eine Schadow- 
Stimmung um dieſen von weißen ovallehnigen Stühlen umgebenen Tiſch mit 
der farbig unterlegten Filetdecke, den Alt. Berliner Tellern, den Champagner 
kelchen in Form zierlicher Säulen, den Empire Römern und den breiten, dick⸗ 
wandigen Freund ſchaftsgläſern. 

Voll erlauchter Haltung und einer fabelhaften Diſtinktion erſchien dann 
der Nundtiſch, auf dem im Wachskerzenſchein der tiefe matte Goldton des Biron- 
Kurlandſchen Familienſervices leuchtete, mit den zierlich geſtochenen Allianze⸗ 
Wappen und der ſchmalen Flechtwerkbordüre am Nand von Teller und Beſteck. 

Liebliche Biedermeiereien blühten in einem Interieur mit geblümten 
Tapeten, gelbem Birkenholz und dem ovalen Teetiſch mit der Häkeldecke und 
hochhenkligen Kaffeekannen und Taſſen. 

Eine andere Liebbaberei unſerer Zeit klang in dieſen Variationen noch an, 
die weſt-öſtliche. Graziöſe Japonnerien gaukelten. Aber einen Teetiſch breitete 
ſich eine orangegelbe Dede; fie ward nuanctert durch einen Läufer aus ſchwarzem 
Schleierſtoff, der in das Gelb ein feines Geäder zeichnete, und davon hoben 
ſich nun ab weißes perlrandiges Porzellan, hellgrüne Fayence, grauweißes 
Steinzeug, braunes Holz der Tablette. And aus den Vaſen flatterten an lang 
und weit verzweigten Stielen Schwärme von weißen und roſa Blüten auf. 

Sehr aparte Beleuchtungskörper ſah man, die Lampignonleuchter der 
Frau Cucuel-Tſcheuſchner. Es find, auf ſchlanken, kurvig aufſtrebenden Drei- 
beinigen lackfarbigen Stativen, Ballons aus Seidengaze, ſilbergrau und lila 
mit dem wie Silhouetten fic) darüber ſchattierenden Dekor von Blütenzweigen, 
huſchenden Wolkenzügen, Spinnennetzgeweben. 

Solche exotiſche Magie ſchwebte auch um jenen Gartentiſch, den man ſich 
auf einer ſüdlichen Terraſſe unter blauem Frühlings abendhimmel vorſtellen 
könnte. Von einem Zeltdachſchirm war er überſpannt; unter ſeiner Wölbung 
ſchwebten phantaſtiſch grünleuchtende Lampignon Monde, und an feinem Schaft 
hingen an farbigen Bändern geflochtene Fruchtkörbe und dunkle Weintrauben. 

Aus dieſen Stimmungen laſſen ſich viel Anregungen gewinnen für die 
feinere Nuancierung gerade des Teetiſches, der in der heutigen Geſelligkeit 
eine fo weſentliche Rolle ſpielt. 

Neben den Variationen im hiſtoriſchen und exotiſchen Geſchmack fehlten 
neue Löſungen nicht ganz. Von Frauen ſtammten fie. 

Die eine von Fia Wille erſchien als ein heiteres Rondo mit Blumen 
und Bändern. Von der über dem Nundtiſch hängenden Krone flatterten weiß · 
ſeidene Bänder lang herab zu dem blühenden Noſenbeet der Tafel. In dieſe 
feſtliche Helle klang ein Akkord von Dunkellila und Gold hinein. Er kam aus 
dem Dekor des Geſchirrs, der Gläſer und aus den Stickerei Ornamenten der 
Decke, die nach unten in langfranſige, ftolaartige Schärpenenden ausfiel. 

Streng und feierlich, und jenem vorher charakteriſterten Pathosſtil zu · 
neigend, war das andere Arrangement von Elfe Oppler-Legband. Hier ſpannte 
ſich die lila Decke als feft angepaßter Aberzug über die Tafel. And dieſes 


Dekorative Künſte 289 


Feld wurde ornamental durch radiale Bahnen von Früchten und Blättern ein 
geteilt, und in der Mitte rundete ſich um einen wie eine Opferſchale wirkenden 
Blumenaufſatz ein Kranz ſteiler Leuchter. 

Einen „Schmaus“ kann man ſich an dieſem Tiſch nur ſchwer vorſtellen, 
höchſtens ein gemeſſenes Liebesmahl einer neuen Gralsbrüderſchaft zu Klängen 
aus dem Parſifal. 

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Wir ſuchen heut aus der Vergangenheit mit Vorliebe die kleinen Künſte 
auf. Sie können uns mehr als die offiziellen und repräſentativen vom Alltags 
leben verfloſſener Kulturen verraten, ſie führen uns auch intimer in die Mei⸗ 
nungen, Vorſtellungen, in die Sympathien und Antipathien einer früheren Ge- 
neration hinein. 

Ein wenig gekanntes Gebiet wurde durch viele Beiſpiele neulich illuſtrativ 
erläutert, die Tapetenkultur im erſten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts. 
Aus den Bildern der Seit, aus den Interieur Anſichten konnte man eine in⸗ 
direkte Kenntnis davon gewinnen, doch die Originale waren in ihrem vergäng- 
lichen Papierſtoff längſt zugrunde gegangen. Ein merkwürdiger, faſt roman- 
hafter Zufall hat es gefügt, daß Proben mannigfachſter Tapetenarten, völlig 
friſch in den Farben, unverbraucht, lebendiges Zeugnis von jener Wandkultur 
geben konnten. 

Gleichſam aus einem Sarg, nach einem faſt hundertjährigen Schlaf find 
dieſe Tapeten auferſtanden. Im Katalog zu ihrer Schauſtellung, die bei Fried-; 
mann und Weber ſtattfand, wird darüber erzählt: Auf dem Boden eines alten 
Lübecker Handelshauſes, einer noch heute beſtehenden Tapetenhandlung, haben 
dieſe Muſter, einer Teſtamentsbeſtimmung gemäß, jahrzehntelang in einer Lade 
verpackt und verſchloſſen gelegen. And als die Enkel ſie eröffneten, da waren im 
Wechſel der Zeiten, aus den Tapetenproben, aus den Muſtern kaufmänniſcher 
Handelsware, Kulturdokumente geworden, einzig und unvergleichlich, weil ſie 
unabgenügt die Friſche ihrer jungen Zeit bewahrt hatten. 

Die Herkunft dieſer Vorbilder war Frankreich, und eine liſtige Spekula- 
tion hatte fie bei günftiger Gelegenheit zuſammengebracht. Politiſch war dieſe 
Gelegenheit, es war die Feier der Erhebung von Napoleons Sohn zum König 
von Nom. Zur Huldigung waren die Vertreter aller Nationen nach Paris 
berufen. Unter den Abgeſandten der deutſchen Stände erſchien auch der Bürger- 
meiſter von Lübeck. Da er neben dem Haupt. und Staats amt noch eine andere 
gewinnbringende Beſchäftigung hatte, nämlich eine Tapeten ⸗Manufaktur, wollte 
er aus der offiziellen Reife privates Kapital ſchlagen und ſich aus der Kapitale 
der Mode und des Lebens das Neueſte an Muſtern mitbringen. 

Er betraute als Jagd- und Spießgeſellen feinen erſten Angeſtellten mit 
der Aufgabe, auf ſolche dekorative bunte Beute auszugehen. 

Der aber dachte noch etwas weiter als ſein Meiſter, er ſammelte für 
ſich ſelbſt und gründete, auf fein Vorbilder ⸗ Material geſtützt, ſelbſt in Lübeck 
eine Fabrik. Dies Vorbilder⸗Material aus den Tagen des Königs von Rom 
bildet nun den Grundſtock der Ausſtellungs Sammlung. 

Ihrer Betrachtung iſt vorauszuſchicken, daß man bei den Tapeten dieſer 
Zeit nicht an unſere gleichförmig gemuſterten Rollenpapiere zu denken hat. Viel ⸗ 
mehr handelt es ſich hier um die auf den einfarbigen Fond der Wand auf- 
geklebten Zierſtücke, die Mittelfüllungen, die ſogenannten Panneaux, die Frieſe 
und Borten, die Supraporten. 

Der Türmer X, 8 19 


290 Rene Bucher 


In dieſen Schmuckblättern — die von gefchnittenen eingefärbten Formen 
in mehrfachem Aufdruck ihr Muſter erhielten, zuerſt das Deſſin in weiß, dann 
in der zweiten Prägung die Mitteltöne, ſchließlich mit Stempeln die Licht. und 
Schattenwirkungen — in dieſen Schmuckblättern begegnet man der dekorativen 
Vorſtellungs⸗ und Ausdruckswelt ihrer Zeit. 

Und intereſſante Zuſammenhänge mit anderen Kleinkünſten entdeckt man, 
mit dem Dekor der Porzellane, der Fächer, der Buchvignetten, der Glück⸗ 
wunſchkarten (dies Gebiet iſt eben in reicher Fülle durch die von G. Pazaurek 
herausgegebene Mappe „Biedermeier ⸗Wünſche“ [Stuttgart, Julius Hoffmann] 
erſchloſſen worden). In dieſer ornamentalen Handſchrift iſt vor allem beliebt 
das Klaſſtziſtiſch· Mythologiſche. Die pompejaniſche Wanddekoration wird nach · 
geahmt mit ihren braunen und roten Flächen, die Illuſionsperſpektiven auf den 
Wänden römiſcher Villen mit ihren Proſpekten, den gemalten Laubengängen, 
den täuſchenden Architektur Pilaſtern, Blumenvaſen, Hermen, den Trophäen ⸗ 
ſtilleben von Köchern, Leiern, Bogen, Pfeilerbündeln, Masken, Guirlanden, 
Füllhörnern, Chyrfosftaben. 

’ Die Motive der gefchnittenen Steine, der Kameen und der Wedgewood- 
Medaillons erſcheinen: Amor auf dem Pantherwagen, Herkules mit dem Ser- 
berus, Puttenreigen, anakreontiſche Szenen als Frieſe. 

Dieſes Reich der griechiſchen Anthologie, dieſe poésie fugitive findet fid 
ja überhaupt vorwiegend in den dekorativen Künſten der Zeit, ganz beſonders 
im Porzellan. 

And dem Porzellandekor ſehr nahe verwandt iſt noch ein anderer 
Ornamentalzug der Tapete, die Ausſchmückung der Panneaux mit Vaſen, 
Jardinieren und Körben voll üppiger Blumen und Fruchtſtilleben und belebt 
mit der exotiſchen Staffage ſchillernder Wundervögel, mit indianiſchen und 
kalekuttiſchen Hähnen, Perlhühnern und Papageien. 

Ein Kulturſchauſpiel zwiſchen den vier Wänden. 


Felix Poppenberg 
N 


Neue Bücher 


Otto Grautoff: Die Gemäldeſammlungen Münchens. Ein kunſt⸗ 
geſchichtlicher Führer. (Leipzig, Klinkhardt & Biermann. In biegſamem 
Leinenband Mk. 3.—.) 

Es iſt ein glücklicher Gedanke, der hier ſeine Verwirklichung erfährt. 

Die Muſeumskataloge find in der Regel ziemlich teuer und überdies außer 

beim Beſuche der Galerien wenig benutzbar. Hier iſt der Verſuch gemacht, 

die Aufgabe des Katalogs mit der eines kunſtgeſchichtlichen und äſthetiſchen 

Führers zu vereinigen. Für die Benutzung wird es ſich empfehlen, den Band 

vor dem Beſuche raſch durchzuarbeiten und nachher ihn häufiger als Hilfe zur 

Riiderinnerung zu benutzen. So wird man ſich leicht die Eindrücke lebendig 

erhalten. Im vorliegenden Bändchen find die ältere und neuere Pinakothek, 

die Gemäldeſammlung des Maximilianeums und die Privatſammlungen des 

Freiherrn v. Lotzbeck und des Grafen Schack beſprochen. Ein Künſtlerregiſter 

ermöglicht ein ſchnelles Nachſchlagen. Was Grautoffs Behandlungs weiſe be- 

trifft, ſo iſt die Abhandlung über die ältere Pinakothek mir am liebſten; bei 


Neue Bücher 291 


der über die neuere tritt die ſehr ſubjektive Stellung des Verfaſſers für einen 
ruhigen Führer manchmal zu ſtark hervor. Geradezu ſtörend habe ich bei der 
Beſprechung der Schack Galerie dieſe ſcharfe Stellungnahme empfunden. Ge ⸗ 
rade ein Führer kann nach meinem Dafürhalten nicht genug die Aufgabe der 
Kritik im Aufweiſen von Werten ſehen und muß ſich möglichſt davor 
hüten, den zu Führenden gegen Bilder einzuſtimmen. Es ſchadet viel weniger, 
wenn an einem zum Teil ſchwachen Werke Gefallen gefunden wird, als wenn 
man mit einer überkritiſchen Stimmung durch die Sammlung geht. Damit ſoll 
nicht eine einſeitige Lobrednerei befürwortet werden, ſondern nur jene höchſte 
Aufgabe des Führers verlangt ſein, die danach trachtet, einen möglichſt reinen 
Genuß zu finden. Die Schwächen der Werke, vor allem einzelne Richtungen, 
brauchen dabei nicht verſchwiegen zu werden. Aber hier macht erſt recht der 
Ton die Muſik, und gerade dieſer Ton hat mir nicht immer gefallen. Sonſt 
aber wünſchte ich recht ſehr, daß die Sammlung ſolcher Führer fortgeſetzt und 
allmählich auf alle bedeutenden e ausgedehnt würde. St. 


Deutſche Leinenhd mer. (Verlag Hans v. Weber, München.) 

Das „Problem des Anzerreißbaren“ gegenüber den kleinſten Forſcher⸗ 
geiſtern iff hiermit wohl gelöſt, obwohl ja die Leiſtungs fähigkeit der kleinen 
Patſchhändchen gewöhnlich unterſchätzt wird. Immerhin dürfte das Zerreißen 
dieſer bei aller Weichheit fehr feſten Leinwand zu den ſchwerſten Aufgaben 
des jungen Daſeins gehören. Ein anderer Vorzug iſt, daß dieſe Büch lein 
waſchbar find; denn ſonſt pflegte ſich das jugendliche Händchen für den Wider⸗ 
ſtand gegen Reißgelüfte durch ſolche Handgreiflichkeiten zu rächen, daß das 
Unzerriffene wenigſtens im Laufe der Zeit unanfaßbar wurde. Da nach der 
Verſicherung des Verlags nun obendrein die Farben unſchädlich ſein ſollen, 
wäre ſoweit alles in Ordnung, falls nicht das Hervorheben der letzteren Eigen ⸗ 
ſchaft das Eingeſtändnis in ſich ſchließt, daß die Farben ausgehen; denn in 
dieſem Falle hätte ja dann das Waſchbarſein nicht allzuviel Zweck. Doch 
auch Bilderbücher ſollen ja nicht ewig halten. — Es liegen aus der Sammlung 
bis jetzt drei Bändchen vor, alle in das gleiche Gelb gekleidet, ſonſt aber in 
der Größe wie Orgelpfeifen aufeinanderfolgend. Mit dieſer Größe halten ſie 
dann Schritt in der Verwendbarkeit für die Kleinen. „Babys Lieblinge“ 
— daß wir dem dummen engliſchen Wort in unferer gerade für den Aus druck 
der Mutterliebe zum Kind fo unendlich reichen deutſchen Sprache Eingang ge- 
währen, iſt einfach eine Schande — führen in Zeichnungen von Maria Langer- 
Schöller allerlei Getier vor: Kuh, Pfau, Papagei, Hahn und Henne, Hunde, 
Storch uſw. Sehr charakteriſtiſch aufgefaßt und durchweg günftig in der Farbe. 
(80 Pfg.) — Die beiden anderen Bändchen find von Walter Caspari und 
empfehlen fic damit von ſelber. Er hat echten Humor, und die leichte Kari⸗ 
kierung bleibt doch immer wahrhaft kindlich. Die „Lieben alten Reime“ 
(Mk. 1.50) find mir willkommener als „Das luſtige ABC“ (Mk. 3.—), 
denn dort find's liebe alte Reime und hier teilweiſe ſehr dumme neue Reime. 
Doch mag das abemäßige Dichten recht ſchwer ſein, zumal wenn dem Genius 
durch die Notwendigkeit, zu Bildern Stoff zu geben, noch beſondere Feſſeln 
angelegt werden. Ich glaube, auch dieſes Buch wird den Kindern fehr viel 
Freude machen und hat ja dann ſeine Aufgabe erfüllt. St. 


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| 2 ER RD 


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— 


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Peter Cornelius’ „Gunlöd“ 


Von 


Dr. Karl Storck 


| N 8 och immer iſt jenes Kapitel, das den Namen Richard Wagners 
VIVAL an der Stirne trägt, das letzte in der Geſchichte des deutſchen Mufit- 
2 dramas. Allenfalls daß man eine Art Nachwort unter der Auf- 
ſchrift „Neues Sehnen“ anhängen könnte; aber es wäre doch kaum von einer 
Erſcheinung zu berichten, die nicht im Schatten jenes Gewaltigen ſtände. Wo 
aber von dem Verlangen die Rede iſt, das am lauteſten nach Erfüllung heiſcht, 
bei dem ſich ein Weg zeigt, den Wagner noch nicht geſchritten iſt, bei der 
komiſchen Oper nämlich, wird immer deutlicher auf einen Mann hin⸗ 
gewieſen, der allzulang beſcheiden im Dunkel blieb, auf Peter Cornelius. 
Daß ſein „Barbier von Bagdad“ neben den Werken Mozarts und Nicolais 
„Luſtigen Weibern“ die beſte deutſche komiſche Oper iſt, wird heute wohl 
allgemein zugegeben. Weniger beachtet wird, daß in dieſem Werke Cornelius 
ein Jahrzehnt vor Nichard Wagners „Meiſterſingern“ die Grundſätze muſik ⸗ 
dramatiſcher Geſtaltung auf die komiſche Oper anwendete; nicht genug wird 
erkannt, wie bedeutſam es gerade für die komiſche Oper iſt, daß Cornelius 
dabei die Geſchloſſenheit der muſikaliſchen Form nicht völlig aufopferte. Ge- 
wiß gehört gerade deshalb zum vollen Genuß dieſes Werkes eine ſo hohe 
formale Muſikkultur, daß kaum zu hoffen iſt, der „Barbier von Bagdad“ werde 
jemals Volksgut im Sinne von Maſſenbeſitz werden. Aber als koſtbares Juwel 
in unſerem muſikdramatiſchen Beſitze wird er wohl immer mehr bewundert 
und geliebt werden; in ſteigendem Maße wird man ferner erkennen, welche 
anregenden Kräfte dieſes Werk für die Bildung eines Stils der komiſchen 
Oper in ſich birgt. 

Aber noch mehr: die ganze Perſönlichkeit von Peter Cornelius tritt 
immer bedeutſamer hervor. Wir wollen nicht zur Größe aufbauſchen, was 
gerade durch die ſichere Wahrung der gezogenen Grenzen ſeinen eigenartigen 
Wert behauptete. Denn das ſteht feſt: von den zahlreichen Muſikern, die 
Wagners Bahn betraten, iſt Cornelius der einzige geblieben, der nicht ſeine 
perſönliche Eigenart preisgab. Dieſer fo beſcheidene Mann führte einen hart. 
näckigen, oft ſchier verzweifelten Kampf, um die deutlich gefühlte Sonderart 


72 


Storck: Peter Cornelius ,Sunldd° 293 


ſeiner Perſönlichkeit gegenüber der überragenden des von ihm als Künſtler 
und Menſch bewunderten und geliebten Meiſters zu behaupten. Das Leben 
hat ihm dieſen Kampf furchtbar erſchwert. Nur wenige haben ſo lange um 
die Erfüllung der Bedingungen eines ganz beſcheidenen äußeren Daſeins 
kämpfen müſſen; und ſie koſtete ihn ſo viele Arbeit, daß ſein künſtleriſches 
Schaffen ſchwer darunter litt. Schlimmer aber noch war, daß dieſer einfache, 
ſchlichte, ſo ganz und gar nicht für den Ellbogenkampf ausgerüſtete Mann am 
ſchwerſten einen Schlag aushalten mußte, der eigentlich dem ſtarken Kämpfer 
Liſzt galt. 

In der Geſchichte der deutſchen Oper iſt jener 15. Dezember 1858, an 
dem im Weimarer Hoftheater „Der Barbier von Bagdad“ durch eine ganz 
niederträchtige Kabale zu Fall gebracht wurde, wahrhaftig ein dies nefastus. 
Nicht nur, daß er die deutſche Bühne auf ein Menſchenalter um das Daſein 
eines koſtbaren Werkes betrog, es wurde auch ein für das Mufifdrama ganz 
eigenartig veranlagter Künſtler dauernd an der vollen Entfaltung ſeines hohen 
Könnens verbindert. In Peter Cornelius waren ganz hervorragende dichteriſche 
und muſikaliſche Schöpfergaben vereinigt. Er war wohl nicht ein Dichtermuſiker 
von der Art Wagners; Dichter und Muſiker lagen in ihm nebeneinander, 
waren nicht eine Einheit. Aber ſie vertrugen ſich ſo gut miteinander, wie es 
bei einem Getrenntſein der beiden Fähigkeiten in zwei verſchiedenen Individuen 
kaum möglich werden kann. Dieſer Künſtler fühlte ſich mit allen Faſern ſeiner 
Natur zur Oper hingezogen. Die widrigen Lebensſchickſale haben ihn aber 
nur noch zwei muſikdramatiſche Werke ſchaffen laſſen. Das eine, „Der Cid“, 
gelangte am 21. Mai 1865 in Weimar zur Uraufführung. Nach dem großen 
Erfolge meinte die herrliche Roſa v. Milde, die Darſtellerin der Ximene: 
„Jetzt haben wir ihn durch.“ Sie hat ſich getäuſcht. Nach zwei Aufführungen 
iſt das Werk von der Bühne verſchwunden. Ein Vierteljahrhundert lang hat 
ſich keine der deutſchen Opernbühnen, die inzwiſchen hundert geringwertigere 
fremdländiſche Werke aufgeführt hatten, dieſer Schöpfung wieder erſchloſſen. 
Wir wollen freilich zugeben: der „Cid“ iſt kein Theaterwerk, das großen Raffen- 
erfolg verſpricht; aber es iſt ein ſo ſchönes und vornehmes Kunſtwerk, daß 
ein Theater, das etwas auf ſich hält, es zu den Ehrenpflichten rechnen müßte, 
dieſe Oper eines deutſchen Komponiſten ebenſo im Spielplan zu haben, wie 
etwa Verdis „Falſtaff“. 

Den Komponiſten ſchlug die geringe Wirkung ſeiner Schöpfung nicht 
nieder; er wußte jetzt, wie viel er konnte. So machte er ſich an ſeine dritte 
Oper. Er hat von „Gunlöd“ nur die Dichtung ſchaffen können. Ein allzu⸗ 
früher Tod nahm ihm die Feder aus der Hand, lange bevor die Kompoſition 
vollendet war. Aber dieſe Vollendungsarbeit iſt jetzt getan; Waldemar 
v. Baußnern hat ſie geleiſtet. Das Werk hat ſich in dieſer Geſtalt be⸗ 
währt; unſere Opernliteratur iſt um eine großzügige, edle, durch und durch 
deutſche, wahrhaft erhebende Schöpfung reicher. Eine „Geſchäfts“. Oper iſt 
„Gunlöd“ freilich kaum; Senſation wird fie nie machen. Aber es tft hier ein 
ſo wertvolles Mufikdrama, daß das deutſche Volk nicht darum betrogen werden 
darf. Wir haben es allmählich eingeſehen, daß von denjenigen, die unſere 
Theater leiten, nirgendwo Förderung dieſer edlen, geſunden und kerndeutſchen 
Operndramatik zu erwarten iſt. So wollen wir von ihnen verlangen und 
ertrotzen, was anzubieten ihre Pflicht wäre. Aus dieſem Grunde erſcheint es 
uns als Pflicht, nach Kräften unſer Volk darüber aufzuklären, was es an 


294 Storck: Peter Cornelius’ ,SunlSd* 


diefem Muſikdrama „Gunlöd“ befist, das ihm noch immer von unfern Theatern 
vorenthalten wird. 


1. Die Entſtehungsgeſchichte der Dichtung „Gunlöd“ 


In den letzten Tagen des Jahres 1864 war Cornelius von Wien nach 
München gekommen, wo ihm Richard Wagner beim König ein Gnadengehalt 
erwirkt hatte. Nur mit Widerſtreben folgte Cornelius dem Nufe, obwohl er 
dadurch von der ſchweren Lebensnot befreit wurde. Aber er fürchtete um ſeine 
Selbſtändigkeit. „Wagner konſumiert mich. .. Seine Atmoſphäre hat eine 
große Schwüle; er verbrennt und nimmt mir die Luft“, ſchrieb er ſeinem 
Bruder. Es wurde wirklich eine ſchwere Zeit. Man weiß ja, von welchen un- 
erquicklichen Begleiter ſcheinungen Wagners Tätigkeit in München umringt 
und allmählich erſchüttert wurde. Für Cornelius war der innere Zwieſpalt 
ſchlimmer. Nach der Aufführung des „Cid“ in Weimar war Cornelius klar 
geworden, „daß er in der Produktion nicht die Wege des Schöpfers von 
„Triſtan und Iſolde“ nachtreten konnte, ſondern im Innerſten frei feinen eignen 
Weg gehen mußte.“ Erſt ſpät kehrte er von Weimar zurück; er hatte ſogar 
die erſte Aufführung von „Triſtan und Iſolde“ gemieden. Die Spannung 
allerdings zwiſchen Wagner und ihm wurde echt männlich überwunden. 

Für Cornelius als Künſtler bedeutete es dann ſicher eine gewiſſe Er⸗ 
löſung, als Wagner am 10. Dezember 1865 München verließ. Und auch eine 
andere Vorbedingung für ſein künſtleriſches Schaffen war erfüllt: Peter war 
wieder einmal verliebt. Dieſes Mal endlich in die Rechte; mit Bertha Jung, 
die er in ſeiner Vaterſtadt Mainz gefunden, verlebte er eine ſelige — nur ach 
fo lange — Brautzeit und eine glückliche — leider viel zu kurze — Ehe. So 
konnte er, der nach eigenem Geſtändnis zum Dichten vor allem Liebe brauchte, 
mit dem neuen Schaffen beginnen. Wir können alles treulich in ſeinen Briefen 
verfolgen, die gerade hier in den zahlreichen Schreiben an ſeine Braut ihre 
Höhe erreichen. 

Es galt zunächſt einen Stoff für die neue Oper zu finden; daß ſein 
eifriges Suchen ſich immer wieder als vergeblich erwies, brachte ihn ſchier zur 
Verzweiflung. Mitte März 1866 ſchreibt er der Braut: wenn er ſie erſt ſein 
Weib nenne, „dann muß auch erſt Erfindung und Poeſie wieder in mich 
kommen. Sie ſcheint jetzt ganz vertrocknet; ich ſtürze mich immer leidenſchaft 
licher in die Stoffwogen, aber ich finde die Perle nicht.“ Aber fo ſehr er 
unter dieſer Lage litt, ſein Verantwortungsgefühl war zu groß. „Ich kann 
nach dem noblen Cid zu keinem untergeordneten Stoff mehr greifen.“ Da wird 
er durch die Lektüre von Ohlenſchlägers Dramen angeregt, auch einmal zu 
einem tieferen Studium der Edda zu ſchreiten. Ende Juni erfahren wir, 
daß er „nach dem Leſen in der Edda von Simrock ganz verſunken war in die 
Anſchauungen dieſer Sagenwelt“. Und am 29. Juni preiſt er fie als „eine wahre 
Bibel, deren genaue Kenntnis mir jedenfalls in Herz und Gemüt wachſen wird“. 

Damit war es dann auch mit allem Schwanken vorbei. Aus der trüben 
Zeit des preußiſch ⸗öſterreichiſchen Krieges heraus, der ihn ganz betäubte, ſchreibt 
er am 30. Zuni 1866 an die Braut: „Mein Croft iſt die Edda, das ſchöne, 
heilige Buch, ſtrotzend von allem Nektar der Poeſie. Das macht mich wieder 
völlig zum Wagnerianer, ich find' es eine große dichteriſche Tat von ihm, zu ⸗ 
erſt wieder eine große Dichtung aus dieſem unerſchöpflichen Arquell heraus · 


Stord: Peter Cornelius „Gunidd- 295 


gehoben zu haben. Hier an dieſer göttlichen, goldenen Wiege unferer Dichtung, 
an ihrer heiligen Quelle lege ich denn auch den Wanderſtab nieder, in der 
ſeligen Gewißbeit, daß ich neues Leben aus ihr ſchlürfe. Tag für Tag habe 
ich jetzt die Göttergeſänge durchleſen, es iſt ein Jubel, wie herrlich das alles 
iſt! Den von Wagner und Hebbel zuerſt betretenen Weg, den auch beide erſt 
am Schluß ihrer Laufbahn fanden, darf ich voll Hoffnung und Sieges ahnung 
nachwandeln. Alles lädt mich dazu ein. Deutſch ſollte mein dritter Stoff ſein, 
und was iſt deutſcher als dies. And in dieſem Reich der Mythe, einer ſchönen 
Naturſymbolik, liegt ja doch die eigentliche Beſtimmung und rechte Anwendung 
ber Muftk: Götter, d. h. ſagenhafte, herrliche Menſchen, in welche die Eigen ⸗ 
ſchaften und Vorgänge der Natur hineingedichtet wurden — reden zu laſſen, 
das bleibt die höchſte Aufgabe der Kunſt. Beruhige Dich alſo von jetzt an 
mit mir über meine dichteriſche Zukunft. Hier ſteckt fie, wenn ich noch etwas 
zu leiſten fähig bin, und ich glaube es. Dieſe Tage ſind eine Markſcheide in 
meinem Leben. Nun weißt Du gewiß, daß ich nicht länger ſuchen werde 
Und Herz! keine Angſt, daß ich zum eitlen Nachbeter Wagners werde! Hier 
iſt eine ſolche Fülle von Poeſie, daß viele daraus ſchöpfen können, ohne dem 
andern Tropfen wegzunaſchen. Ich habe ſchon meine Gedanken und bin ſchon 
aus beſtimmter Abſicht auf eine gewiſſe Sage an das Studium des Ganzen 
gegangen. Hier iſt aller Humor und aller göttliche Ernſt beieinander! Ja, 
gibt es noch eine Poeſie für die Deutſchen, ſo iſt es dieſe, und ſie iſt nur auf 
dem Weg der Wagnerſchen Oper zu finden. So wächſt mir die vollſte Lebens ⸗ 
berechtigung und Liebeskraft! Gott ſei Dank! — And gelänge mir nicht, das 
Erfaßte in ſchönen Werken zu verherrlichen, ſo nähme ich doch jetzt die Edda 
wie eine Bibel mit durchs Leben.“ 

Einige Wochen ſpäter berichtet er, daß er drei Opern aus der „Edda“ 
gewinnen wolle. Er packte zunächſt den „Gunlöd“ Stoff an, den er am 5. Wuguft 
ſchon zum zweitenmal ſkizziert hatte; Mitte November war der erſte Akt fertig. 
Die Arbeit geſtaltete ſich ihm immer reicher: „Schon fing’ ich am Klavier ein- 
zelne Sätze oder wenn ich abends ſtill für mich hingehe.“ Mit der Vollendung 
ging es allerdings doch nicht ſo raſch, wie er gehofft. Es gab viel äußere 
Hemmung, und auch die Aufgabe erwies ſich als ſchwer. „Doch ift eine Haupt ⸗ 
ſache gewonnen, daß ich durch meine neue Manier der Textanlage viel beſſer 
als ſonſt der Muſik in die Hände arbeite. Was unſereins in der Art tut, iſt 
Studie für die ganze Welt. Wie oft habe ich nicht früher gedacht, ob es 
nicht beſſer wäre, nach gemachter Szenenanlage zuerſt die muſtkaliſche Stim⸗ 
mung wirken zu laſſen und aus dem ſo gewonnenen Muſikaliſchen dann den 
Text nachträglich auszuarbeiten. Nun lege ich aber den Text fo an, daß ich 
frei damit ſchalten und walten kann; wo mir etwas nicht in den muftkaliſch⸗ 
dramatiſchen Fluß paßt, mich hemmt, ſetze ich hinterher einige Zeilen anders, 
oder es kommt ganz Neues hin.“ (22. November.) 

Noch hoffte er auf Weihnachten die Vollendung. Aber vielerlei Hem- 
mungen brachten es mit ſich, daß er erſt Anfang März ſich mit dem 3. Akt 
im reinen war. Dafür war aber auch das Ganze vertieft und der Gegenſatz 
zwiſchen der Lichtwelt, der Gunlöd zuftrebt, und der Nachtwelt Suttungs immer 
ſchärfer herausgekommen. Des Dichters Zuverſicht wuchs: „Die Gunlöd kann 
nur auf der Bühne wirken mit einer glänzenden Ausſtattung; ein Dichter muß 
Koſtüme und Dekorationen erfinden — aber ich habe gelernt, dieſe Anſprüche 
zu machen, es iſt ſehr gut, ſie zu machen; ich hab' meinen Barbier für zwei 


296 Storck: Peter Cornelius’ „Sunlöd- 


Stuben geſchrieben und den Cid auf das bißchen Gartenfeld und Triumph ⸗ 
marſch beſchränkt. Die Gunldd ſoll Geld koſten, aber fie ſoll's einbringen. 
Partitur und Klavierauszug werden vervielfältigt, ehe ich den erſten Schritt 
in die Welt damit tue, keine Note wird geändert, und ich werde mir die Leut 
bezahlen, die alles revidieren und korrigieren.“ (3. März 1867.) 

Endlich am 10. April kann er aufjubeln. Die Dichtung war vollendet. 
„Mit meinem fertigen Gedicht in der Hand kann ich überall hintreten und 
fagen: Der bin ih... O Liebchen, viel, viel ſchöner iſt es als der Cid, gar 
kein Vergleich. Hier hab' ich mich zum erſtenmal ganz von früheren, dichte⸗ 
riſchen Vorlagen emanzipiert, habe ganz aus eigener Seele und Phantaſie 
geſchöpft, hier war nichts vorher, das auch Gunlöd hieß! Nun und nimmer 
werd' ich nach dieſem Gedicht einen früheren Plan ergreifen, etwa die Juſtine 
nach Calderons wundertätigem Magus, das iſt eine ganz brillante Sache für 
Leute, denen ſonſt nichts einfällt. Immer und immer wiederkäuen, den alten 
Sauerteig kneten? Wer wird neuen Wein in alte Schläuche füllen! Nein, 
die beiden erſten Opern waren mein Schwimmen an der Stange, jetzt kann 
ich's.“ Voll freudigen Stolzes heißt es am 5. Mai: „Sei nicht bang', die 
Gunlöd iſt da, ſie iſt ſehr ſchön; mit der Gunlöd in der Hand erfleh' ich 
mir eine Vorleſung beim König von Preußen, beim Kaiſer von Oſterreich, 
wer es ſei — und bitt' um Anterſtützung für die Kompoſition. Mit meinem 
fertigen Werk iſt Kraft und Zutrauen wieder gewachſen. — Ich hab' in die 
Kopie geſchrieben: In Wort und Ton Ricard Wagner gewidmet. Das durft' 
ich tun, denn es war von Anfang im erſten Plan Wagner, als notwendige 
Konſequenz meines Lebens, gewidmet, wo ich's auch komponiert hätte. Ach, 
mein Werk iſt ſchön, in jedem Moment reißt mich's wieder hin, die Muſtk wird 
herrlich. — Du wirft geheirat't und die Gunlöd komponiert, fo wahr mein 
Stern leucht't.“ 


2. Von der Art der germaniſchen Mythologie 


Ich habe die Entſtehungsgeſchichte der „Gunlöd“ ſo ausführlich aus 
den Briefſtellen von Peter Cornelius dem Leſer vorgeführt, nicht nur, weil 
dieſe Briefe uns den prächtigen Menſchen und reinen Künſtler ſo greifbar 
nabebringen, ſondern auch, weil fie die hinreißende Macht kennzeichnen, die 
die Edda und in weiterem Sinne die germaniſche Mythologie auf 
urdeutſche Künſtlernaturen auszuüben pflegt. 

Es geht ja eigentlich jedem Deutſchen ſo, daß er verhältnismäßig erſt 
in ſpäten Jahren zur germaniſchen Mythologie vordringt. Das wird auch ſo 
bleiben, trotzdem ſich in den letzten Jahren in den Kreiſen der Schulmänner 
die Stimmen mehren, die die Aufnahme der germaniſchen Mythologie unter 
die Anterrichtsgegenſtände der Schule verlangen. Es wird mich niemand un ; 
deutſcher Geſinnung zeihen wollen, und ſo wage ich es ruhig, dieſes Verlangen 
als undurchführbar zu bezeichnen. Darüber, daß wir eine eigentlich deutſche 
Mythologie nicht haben, daß ſicher die religiöſen Vorſtellungen der alten Be 
wohner Deutſchlands ſich durchaus nicht mit denen der Nordländer gedeckt 
haben, wäre noch hinwegzukommen. Denn die nordiſchen religiöfen Vorſtel 
lungen ſind zum mindeſten germaniſch und ſtoßen in unſerem Empfinden auf 
eine Empfänglichkeit, die ſicher darauf beruht, daß urſprünglich Verwandtes 
ſich hier begegnet. Die Art der religiöſen Sehnſucht, das Streben aus der 
Verſenkung in die Natur, die Löſung für das ſeeliſche Verlangen zu finden, 


Storck: Peter Cornelius’ ,Gunldd° 297 


find gleich, obwohl man keinen Zweifel hegen kann, daß die Natur Deutfch- 
lands zu anderen Löſungen hätte führen müſſen, als die Natur Skandinaviens 
oder Islands. Aber da für die Bewohner des heutigen Deutſchlands die Ent- 
wicklung durch das Eindringen des Chriſtentums allzu früh abgebrochen wurde, 
müſſen wir uns an die Nordländer halten, die einige Jahrhunderte länger ihre 
urſprünglichen Vorſtellungskreiſe aufbauen durften. Aber was die Aufnahme 
auch dieſer nordiſchen Mythologie in den Unterricht der Schulen fo ſehr er- 
ſchwert, iſt, daß auch ſie nicht bis zur Ausgeſtaltung eines Syſtems gediehen iſt. 
Die ganze nordiſche Mythologie befindet ſich in einem Zuſtande, den 
man am beſten jenem vergleicht, den ein ungeheurer Stoff, wie etwa der „Fauſt“, 
beim Dichter in der Zeit zwiſchen der erſten Aufnahme des Stoffes und ſeiner 
endgültigen Inangriffnahme zur Geſtaltung durchmacht. Einige Grundlinien 
erweiſen ſich als feſtſtehend. Der äußere Nahmen gewiſſermaßen iſt geſpannt; 
innerhalb desſelben aber iſt alles im Fluſſe. Stets tauchen neue Beziehungs 
möglichkeiten auf, allerlei Zuſammenhänge ergeben ſich, die im urſprünglichen 
Stoff gar nicht vorhanden ſind, die aber jetzt geradezu nach der Verbindung 
verlangen. Das Verbundene wirkt dann wieder auf neue Vorausſetzungen 
zurück und dergleichen mehr. Nun muß man bedenken, daß bier ein ganzes 
Volk der Dichter iſt, genauer, daß die dichteriſchen Naturen eines ganzen 
Volkes ſich auf dieſen einen Stoff verwieſen ſahen und an ihm ihre Phantaſie 
und ihre Geſtaltungskraft erprobten. Dazu daß ein ganz gewaltiger Dichter 
gekommen wäre, der dieſe Hunderte von nebeneinander laufenden Aberliefe 
rungen genommen hätte und aus ihnen unter Weglaſſung von Seitenwuche⸗ 
rungen, unter Hinzufügung letzter Bindeglieder den großartigen Bau geſtaltet 
hätte, iſt es nicht gekommen. Alles drängt zu dieſer Geſtaltung hin. Das 
Verlangen nach dieſer endgültigen künſtleriſchen und darum innerlich logiſchen 
Geſtaltung muß jeden überkommen, der die zahlreichen Stoffteile kennen lernt. 
Aber die Erfüllung iſt nicht geworden. Wir haben fie nur für einzelne Stoff- 
kreiſe der Heldendichtung. Aus zahlloſen Liedern von Siegfried, Brünnhild, 
Krimhild, von den Nibelungen, dem Frankenkönig, von Etzel und den Hunnen 
geſtaltete einer die fertige Dichtung des Nibelungenliedes. Nicht mit jener 
höchſten formalen Künſtlerkraft, daß man die Zuſammenfügung nicht mehr ge- 
wahr würde, aber doch mit einer ſo ſtarken ſeeliſchen Erfaſſung des Stoffes, 
daß das Ganze als Löſung großer Charakter. und Seelenprobleme erſcheint. 
Wie ſtark für die germaniſche Mythologie ein ſolches Bedürfnis 
iſt, wie hier alles auf dieſe endgültige Geſtaltung hindrängt, dafür haben wir 
den ſchlagenden Beweis in der ungeheuren Bedeutung, die Richard Wagners 
Blühnenfeſtſpiel: „Der Ring des Nibelungen“ gewonnen hat. Es iſt uns gar 
nicht mehr möglich, heute unſere Vorſtellung von dieſer Geſtaltung des mythi - 
ſchen Stoffes freizumachen, und mit den Namen tauchen für uns die Geſtalten 
auf, die Wagner geſchaffen hat. Ja gewiß iſt jenes oben gekennzeichnete Ver ⸗ 
langen, unſerer Jugend die germaniſche Mythologie nahezubringen, zum großen 
Teil auf die Wirkungen der Kunſtwerke Richard Wagners zurückzuführen. 
Gerade auf dieſem halb chaotiſchen Zuſtand, in dem fic die ger- 
maniſche Mythologie befindet, beruht die wunderbare Lockung, die fie auf 
dichteriſch veranlagte Menſchen ausübt. Man kann als einen der Haupt- 
grundzüge der germaniſchen Mythologie die außerordentliche Hochſchätzung 
des „Wiſſens“ anſehen. Daher die ungeheure Bedeutung der Runen; daher 
vielleicht die Erklärung für die Tatſache, daß die jüngere Gottbildung „Odin“ 


298 Storck: Peter Cornelius’ „Sunlbd: 


als „Wiſſer der Runen” allmählich zum höchſten Gotte wird. Andererſeits 
iſt die Verbindung des „Wiſſens“ mit den „Runen“ wieder ein Charafte- 
riſtitum dafür, daß man das Wiſſen auffaßte als ein Eindringen in Ge⸗ 
heimniſſe, als ſeeliſches Erkennen oder Erfühlen innerſter Zuſammen ; 
hänge; nicht als Wiſſenſchaft der Erfahrung von einer Summe von Tatſachen. 
Es offenbart ſich hier jene Einſtellung zur Welt, die noch heute für die ger ⸗ 
maniſche Kunſt charakteriſtiſch tft gegenüber der romaniſchen. Nicht finn- 
liche Erfaſſung und damit formale Bezwingung der Erſcheinungs⸗ 
welt, ſondern ſeeliſche Aufnahme derſelben; in der Kunſt dann Aus- 
druck dieſer fo geweckten ſeeliſchen Empfindungen durch die Formen der Er- 
ſcheinungswelt. So iſt leicht erklärlich, daß für den Germanen Wiſſen gleich- 
bedeutend war mit Dichter fähigkeit, das beißt auch mit Schöpferkraft, 
mit dem Vermögen, Neues zu geſtalten. Alſo nichts von dem, was wir heute 
unter Wiſſenſchaft verſtehen, was zum Beiſpiel das ganze klaſſiſche Römertum 
darunter verſtand: nicht Kenntnis der bereits erforſchten Dinge, im letzten 
Sinne ſogar Kaſuiſtik. So kommt es, daß alles, was uns als Wiſſen von 
Göttern, von ihrem Tun von der Welt überliefert iſt, niemals den Charakter 
der Erfabrung an ſich trägt, niemals fyftematifche Zuſammenfaſſung von Er- 
kenntniſſen darſtellt, ſondern immer als künſtleriſcher Ausdruck eines perſön 
lichen Empfindens vor uns tritt. 

Darum iſt denn alles, was wir als germaniſche Mythologie 
empfangen, Dichtung. Aber alles wirkt leider auch bloß als Bruch ſtü ck 
einer Dichtung, gewiſſermaßen als dichteriſch angeſchautes Material, 
das noch der endgültigen Bearbeitung bedarf. 

Hierin liegt für den Künſtler das ungemein Lockende dieſer geſamten 
Welt. Wer an die griechiſche Mythologie geht, der hat nicht nur eine fertig 
geſtaltete Weltanſchauung, ſondern auch eine fertige Kunſt vor fid. Alles, 
was ein Heutiger aus ſeinem Perſönlichen hier hinzutun will, iſt ſubjektive 
Geſtaltung, wirkt faſt notwendigerweiſe als Vergewaltigung dieſes durchaus 
fertigen Stoffes. Germaniſche Mythologie umgekehrt iſt für uns Heutige gar 
nicht genießbar als Kunſtwerk, wenn nicht ber Künſtler von heute hingeht und 
dieſes Kunſtwerk erſt ſchafft. And wir verlangen nach der Herſtellung dieſer 
Zuſammenhänge, die wir überall ſpüren; wir ſehen in zahlreichen Liberlie- 
ferungen lauter Aſte und Zweige. Wir ſpüren dabei, daß fie alle an einen 
Baum gehören, und wir verlangen nach dem Dichter, der uns den Stamm 
dieſes Baumes aufweiſt, ja, daß er nun bis zur Wurzel, in die Tiefe des ur 
menſchlichen Empfindens hinabdringt und uns dieſen menſchlichen Beſitz, aus 
dem heraus all das gewachſen iſt, mitteilt. Was Richard Wagner an 
der germaniſchen Mythologie getan hat, das war keine Vergewaltigung, 
wie man es oft geſcholten hat, fondern die höchſte künſtleriſche Er- 
füllung, die notwendige Endgeſtaltung. Daher auch die ungeheure menſch 
liche Wirkung, die ſein Werk zu üben vermochte. 


3. Cornelius Verhältnis zur Mythologie 


Auch die Beſchäftigung unſeres Cornelius mit der „Edda“ gehört in 
den Bereich dieſer Wirkung Richard Wagners. An deſſen rieſenhafter Per- 
ſönlichkeit gemeſſen, war Cornelius Kleinkünſtler; eine mehr beſchauliche, idylli- 
ſche und vor allen Dingen eine durchaus lyriſche Natur. Wir wiſſen, wie er 


Storck: Peter Cornelius’ „Sunlsd⸗ 299 


fic bei aller Verehrung des Meiſters dagegen zu wehren verftand, feine Per- 
ſönlichkeit preiszugeben; wie er fühlte, daß in ihm etwas durchaus Eigenes 
ſtecke, etwas, was die anderen nicht beſaßen. Aus dieſer ureigenen Perfönlich- 
keit, deren vornehmſter künſtleriſcher Ausdruck die Liebe zum Kleinen, die forg- 
ſame Ausbildung der Einzelheit, in geiſtiger Hinſicht die Verſchönerung und 
Verklärung des Alltags war, — er iſt wohl der finnigfte Gelegenheits · und 
Tagebuchdichter, den wir beſitzen — ſchuf er auch jenes Bühnenwerk, das ihm 
ſeine eigenartige Stellung innerhalb der deutſchen muſikdramatiſchen Literatur 
gewährt: den „Barbier von Bagdad“. Wir haben kein zweites Werk ſeit 
Mozart erhalten, in dem eine ſolche überlegene Durchgeifligung eines alltäg⸗ 
lichen Vorganges zu einem köſtlichen und dabei ſtets bewußten Spiel vor- 
handen wäre. Nicht umſonſt ſtammt Cornelius vom Rhein, wo durch die ſtete 
Berührung mit romaniſcher Kultur, durch den wunderbaren Reichtum der Natur 
und den freudigen Lebensgenuß, der damit in Verbindung ſteht, etwas von 
dieſer feinen Lebenskultur dauernd lebendig geblieben iſt. Es iſt aber der 
ſprechendſte Beweis für die überwältigende, ja man muß wohl ſagen, für die 
vergewaltigende Macht, die Richard Wagners aufs Angeheure gerichtete 
Künſtlerſchaft gegenüber feiner Umgebung ausübte, daß Cornelius dieſes 
Areigenſte, was er in ſeinem Barbier gegeben hatte, nicht mehr für voll nahm, 
ja wohl gar nicht mehr recht erkannte. 

Es iſt bekannt, daß ſein „Barbier“ nachher erſt wieder in einer Be⸗ 
arbeitung, die doch eigentlich eine Wagneriſierung feines Orcheſterſpiels dar- 
ſtellt, auf der Bühne erſchien; erft jetzt in einer Zeit, die im Nückſchlag gegen 
die rieſenhafte Feſtſpielkunſt Wagners nach einer intimen Kunſt verlangt, iſt 
die urſprüngliche Geſtaltung des „Barbiers“ uns als die Erfüllung einer Stil ⸗ 
ſehnſucht erſchienen. Sprechender noch als die Tatſache, daß Cornelius den 
ihm fo ganz eigenen Muſikſtil preis gab, iff die Tatſache, daß er nachher nur 
noch nach dem großen Drama ſtrebte. Das iſt ja fo natürlich. Ein fo feiner 
Aſthetiker wie Robert Schumann hat fi) aus feiner fo ganz eigenartigen Klein 
kunſt in die Sinfonie hineintreiben laſſen. Bis zu einem gewiſſen Grade darf 
man ein Ähnliches von einem Brahms behaupten, der doch gewiß nicht zur 
Anklarheit über ſeine Fähigkeiten aufgelegt war. Es liegt dieſes Abernehmen 
in der Form im Weſen des deutſchen Kiinfilertums, gerade, weil dieſes nicht 
in jener Weiſe formale Kultur bedeutet, wie etwa das romaniſche. 

Aus dieſem Streben nach dem großen Inhalt, nach dem Kunſtwerke, 
womit man fein Volk im Innerſten ergreifen und erſchüttern kann, hat Cor- 
nelius erſt die große hiſtoriſche Oper geſchaffen im „Cid“ und iſt ſodann, dem 
von Wagner gebahnten Wege folgend, zur „Edda“ gelangt. Wir haben es 
ja in den oben angeführten Briefſtellen erfahren, wie er hier das Ardeutſche, 
ja das ewig Geltende, weil Armenſchliche gefunden zu haben vermeinte. 

Gerade in dieſer Hinſicht für die innere Bedeutung, den ſymboliſchen 
Antergrund der einzelnen Aberlieferungen der nordiſchen Mythologie, pflegt 
man ſich aber folgende Tatſache nicht ſcharf genug klarzumachen. Es iſt wahr · 
ſcheinlich, daß für die urſprünglichſten Mythen jedesmal die entſpre · 
chende Deutung aus dem Leben der Natur gefunden werden kann. In anderen 
Worten: dieſe urſprünglichſten Mythen ſind die dichteriſche Einkleidung eines 
Naturvorganges, eines Naturzuſtandes. Gegenüber dieſer urſprüng⸗ 
lich ſten erſten dichteriſchen Arbeit gibt es nun aber eine zweite fpätere, 
für die der unmittelbare Zuſammenhang mit dem in der Natur Erſchauten 


300 Storck: Peter Cornelius „Sunlsd 


wegfällt, die alſo auch nicht mehr naturſymboliſch gedeutet werden darf. Dieſe 
zweite Dichtertätigkeit hält ſich nämlich an das bereits Gedichtete, ſieht in 
dieſem nicht mehr die Geſtaltung eines Naturerlebniſſes, ſondern ſchon den 
Mythos, die Erzählung von Gott. Was dieſe fpäteren Dichter tun, iſt ein 
Weiterdichten dieſes Stoffes. Was in der urſprünglichen mythiſchen 
Erzählung rein als Erzähltes nicht ganz klar wird oder weitere Neugier weckt, 
wird nun mit mehr oder weniger fruchtbarer Phantaſie hinzugedichtet. Für 
dieſe Hinzudichtung fehlt aber die Beziehung zur Natur. 
Deshalb vermögen uns auch die zahlreichen Deutungen der germaniſchen 
Mythologie felten zu befriedigen, weil fie zu ſyſtematiſch eine Art der ſym⸗ 
boliſchen Auffaſſung durchführen wollen, die doch das ſo ſtark vorhandene, 
unabhängige Phantaſieren, das einfache Erzählen von Mären und Märchen 
nicht verträgt. Wir werden das gerade an unſerem Stoffe ſehr ſchön ver- 
folgen können. 


4. Der Mythos von Gunlöd 


Der Inſtinkt der Dichternatur von Peter Cornelius hat ſich bei der Wahl 
ſeines Stoffes aufs beſte bewährt. Er griff mit glücklicher Hand zu einem eng 
umgrenzten Geſchehniſſe, das ſich in verhältnismäßig kleinem Rahmen darſtellen 
ließ. Während Wagner im „Ring des Nibelungen“ den Weltſtoff aufgriff, 
der ſchließlich die ganze Frage des Daſeins löſen mußte, begnügte fic Corne- 
lius mit einem einzelnen Erlebniſſe Odins, das eine Vorbedingung ſeiner 
bedeutſamen Stellung im germaniſchen Götterhimmel bildet. Daß ſo der Stoff 
trotz ſeines kleineren Amfanges nicht bloß eine Epiſode in der germaniſchen 
Mythologie war, wie ſo manche anderen der mythologiſchen Muſikdramen, die 
das Wagnerianertum hervorbrachte, war vor allen Dingen auch des halb wert ⸗ 
voll, weil dieſe weſentliche Zugehörigkeit zur germaniſchen Mythe das Zu- 
grundeliegen eines ewigen Menſchheitsgehaltes geradezu verbürgt. 
Dieſen Inhalt zu heben, ihn für das heutige Geſchlecht fruchtbar zu machen, 
war des Dichters Aufgabe. Wie faſt in allen derartigen Fällen galt es für 
ihn dabei: einmal weit auseinander liegende Steine zum einheitlichen Bau zu · 
ſammenzufügen, daneben aber auch viel Schutt hinwegzuräumen. 

Im „Hamaval“ der älteren Edda fand Cornelius das Wichtigſte 
für feinen Stoff. Aus dem „Bragaroedhur“ der jüngeren Edda trat man- 
ches ergänzend hinzu. Es war der Mythos, wie Odin ſich in den Beſitz 
des Dichtermetes ſetzte. Zum Verſtändnis aller germaniſchen Mythen tft 
Vorbedingung, zu wiſſen, daß der Germane in ſeinen Göttern keine ewigen 
Weſen ſah; fie find nach Anfang und Ende begrenzt, letzterdings nur die ge- 
waltig emporgehobenen Verwalter der Erde. 

Odin iſt der Vertreter des jüngſten Göttergeſchlechts. Die anderen 
Mächte der Welt: die alten Götter, die Riefen, die Zwerge, auch die zahl · 
reichen feindlichen Mächte der Erde, befinden fic bei feinem Auftreten im Beſitz 
von Kräften, gewiſſermaßen von den Arkräften. Will Odin die Macht über 
die Welt gewinnen, ſo muß er ſich dieſe Kräfte entweder erwerben, oder ſie 
fic) dienſtpflichtig machen, oder fie durch Verträge binden, oder endlich, wenn 
ihm das alles nicht gelingt, ſich gegen dieſe feindliche Macht rüſten. 

Den Dichtermet, und damit die hö ch ſte Weisheit hat er ſich ge- 
wonnen: und zwar laut dem altgermaniſchen Mythos durch Liſt und Trug. 


Storck: Peter Cornelius’ „Sunlöd⸗ 301 


Die altgermaniſche Mythologie tft aber durchweg Verherrlichung des Grund. 
ſatzes, daß der Zweck die Mittel heilige. 

Als die Grundſtützen der dichteriſchen Faſſung dieſes Mythos können wir 
folgendes erkennen: Bei Odins Auftreten ſind im Beſitz des Dichtermetes die 
Riefen; als die gewaltigſten Söhne der Erde und älteſten Zeugen der Ge- 
ſchichte find fie die natürlichen Väter der Dichterkunſt. Von den zahlreichen 
Riefen iſt es Suttung, der den Trank innehat. Suttung heißt: der vom 
Sud beſchwerte, alſo der Berauſchte. Wir erkennen hier, daß die Germanen 
ebenſogut die dichteriſche Macht des Beraufchtfeins empfanden wie die Griechen 
in ihrem Dionyfosdienfte. In einem Felſen hütet Suttungs Tochter, Gun- 
löd, den köſtlichen Met. Odin verſucht, in den Beſitz des Trankes zu kommen. 
Er ſchlüpft in der Geſtalt eines Wurmes durch ein Loch, einen Spalt in die 
im Innern der Felſen liegende Nieſenhalle und nennt ſich Hawi, der Hohe. 
Mit Lift gelingt es ihm, das Vertrauen des Riefengreifes zu gewinnen. Leichter 
noch hat er es mit dem Herzen der Tochter. So wird der verſteckte Gott als 
Freier aufgenommen und die Verbindung zwiſchen den Liebenden vollzogen. 
In Suttungs Saal wird das Hochzeitsmahl gerüſtet. Auf goldenem Stuhle 
figend reicht Gunlöd ihm den koſtbarſten Met. Aber noch in der Hochzeits. 
nacht entweicht der Gott, nachdem er alle Gefäße geleert, und bringt den Met 
zum Himmel in die Wohnung der Götter. Am Tage nach der Hochzeit kommen 
die Rieſen, um nach dem Bölwerkr, das iſt dem Abeltäter zu fragen; denn fie 
haben von der Entweichung des Freiers Hawi gehört. 

So die urſprüngliche Form. Man hat dieſen Mythos als Regenmythos 
gedeutet. Man kann noch weitergehen und unter Hinzuziehung überall ver- 
breiteter Sagen im Naube des Trankes den allgemein menſchlichen Beſitz des 
Waſſers erkennen. Dieſes Waſſer tft im Innern der Erde in den Felſen feft- 
gehalten. Um es zur Oberfläche, zu den Menſchen zu bringen, muß es von 
da unten befreit werden. Man kann fic denken, daß bei Völkern, die unter 
Waſſermangel zu leiden haben, ſchon der Erwerb des Waſſers allein den In⸗ 
halt des Mythos ausmacht. In anderen Gegenden, wo es an Waſſer nicht 
fehlt, muß dieſes natürlich eine beſondere Bedeutung haben. Das Märchen 
kennt ein ſolches Waſſer in dem in einem fernen Felſen verborgenen Waſſer 
des Lebens. In der germaniſchen Mythologie iſt dieſes koſtbare Waſſer der 
Trunk der Weisheit, der Dichtertrank. 

Dieſe urſprüngliche Geſchichte wurde nun weiter ausgedichtet. Vor allen 
Dingen mußte eine Zeit, die gar kein Gefühl mehr für die Bedeutung des 
Dichtertrankes als Naturerſcheinung des Waſſers hatte, ſich nach der Her- 
kunft dieſes Dichtertrankes fragen. Dafür wurde nun eine lange Vor. 
geſchichte erſonnen. Als die Wanen (die alten Götter) und die Aſen (das 
jüngere Göttergeſchlecht) nach langem Kampfe Frieden ſchloſſen, hatten ſie ihren 
Speichel in ein Gefäß geſpieen und daraus einen Mann gebildet, Kwaſir. 
Dieſer vereinigte alſo in ſich die Kräfte der beiden Göttergeſchlechter (da der 
Speichel aus dem Innern des Menſchen fließt und ſich hier langſam abſondert, 
kann er einer naiven Anſchauungsweiſe als etwas beſonders Koſtbares, ge- 
wiſſermaßen als der Ausfluß der ganzen Kraft des betreffenden Weſens er ⸗ 
ſcheinen), war ſomit der Weiſeſte von allen. Ihn aber töteten heimlich zwei 
Zwerge und fingen ſein Blut in dem Keſſel Odröri auf. Dann miſchten ſie 
dieſes Blut mit Honig, und dieſe Flüſſigkeit hieß ſeitdem Met. Jeder, der 
davon trinkt, erhält die Gabe der Dichtkunſt, alſo der Weisheit. Vielleicht 


302 Der Kaiſer und Meperbeer 


daß man auf diefe Art die Weisheit der Zwerge erklären wollte, und es mag 
der Mythos für ſich allein ſo gedichtet worden ſein. Nachber verſuchte man 
ihn wieder mit dem anderen Mythos zu verbinden und mußte alſo den Ader ⸗ 
gang des Beſitzes dieſes Trankes von den Zwergen an den Niefen Suttung 
erklären, was ganz einfach dadurch geſchah, daß Suttung den Trank als Wer⸗ 
geld für ſeinen von den Zwergen erſchlagenen Vater erhielt. 

Hier wird nun auch die Art, wie Odin ſich in den Beſttz des Trankes 
fest, genauer geſchildert. Als Schlange dringt er durch ein in den Felſen ge · 
bohrtes Loch in Suttungs Halle. Hier nimmt er feine göttliche Geſtalt an, ver ⸗ 
führt das Mädchen und ſchlürft den Met aus. Dann entflieht er in Adlers - 
geſtalt. Suttung, der ihn als Adler verfolgt, findet den Tod. Der Adler 
Odin aber hatte einiges von dem Mete hinten von ſich gegeben, und das iſt 
der Dichterlinge Anteil. Der Met ſelber aber iſt für die beſtimmt, die gut zu 
dichten verſtehen. Man erkennt an der witzig ſein ſollenden Schlußwendung 
die ſpätere Zutat. Die Vorſtellung aber von der Flucht als Adler, wie über- 
haupt die Vorſtellung von dieſem berauſchenden, Anſterblichkeit verleihenden 
Göttergetränke, geht in die indogermaniſche Urzeit zurück. Wir haben in 
Indien den den Soma raubenden Adler Indras, und auch dem griechiſchen 
Zeus bringt ein Adler den göttlichen Nektar. 

(Ein zweiter Artikel folgt) 


W 
Der Kaiſer und Meyerbeer 


Num Ofterfonntag ſtanden auf dem Spielplan der Berliner Königlichen 
Oper „Die Hugenotten“. Dreißig franzöſiſchen Studenten, die auf 
einer mit allzuviel Brimborium inſzenierten Studienreiſe durch 
Oeutſchland begriffen ſind, ſollte eine Vorſtellung deutſcher Opernkunſt gegeben 
werden; dazu auserſehen war Meyerbeer mit feinen „Hugenotten“. Die Geeignet. 
heit dieſes Werkes zur Feier des hohen chriſtlichen Feſtes hat offenbar bereits 
Friedrich Wilhelm IV. vorausgeahnt, als er von den „Hugenotten“ urteilte, 
es ſei eine Oper, in der Katholiken und Proteſtanten aufeinander ſchießen und 
der Jude die Muſik dazu macht. Beim zweiten Fall vergeht einem doch der 
Humor. Nun hat uns Nichard Wagner nach langem, ſchwerem Kampfe das 
deutſche Mufikdrama gebracht; alle Welt iſt ſich einig, in dieſem Muſikdrama 
den höchſten künſtleriſchen Ausdruck, den deutſches Weſen in der Muſik der 
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gefunden hat, zu ſehen. (Ich wählte abſicht · 
lich die Worte der Einſchätzung nicht allzu hoch.) Da kommen franzöſiſche Stu- 
denten nach Deutſchland, doch offenbar um Deutſchland kennen zu lernen. Sie 
werden in das erſte Opernhaus der Hauptſtadt des Oeutſchen Reiches geführt. 
Doch offenbar, um hier deutſche Muſik zu hören!? J bewahre! Man ſtellt 
ihnen ein Werk vor, das der Jude Meyerbeer vor ſiebzig Jahren auf einen 
franzöſiſchen Text des Franzoſen Seribe für die Pariſer Oper geſchaffen hat. 

Ich traue unſeren Opern- Intendanten alles zu, außer einer kräftigen 
Betätigung nationalen Kunſtempfindens. Wenn es innerhalb eines Berufs ⸗ 
ftandes Vererbung gibt, fo find fie erblich belaſtet. Die deutſche Kunſt — 
deutſches Drama und Oper voran — haben ſich von jeher gegen unſere großen 


Der Ratfer und Meyerbeer 303 


Hoftheater durchſetzen müſſen. Aber daß von einem dieſer Hoftheater 25 Jahre 
nach Richard Wagners Tod eine ſyſtematiſche Pflege der unglückſeligſten aller 
Operngattungen ausgehen würde, durfte man doch nicht annehmen; daß wir 
auf dem Gebiete des Muſikdramas, wo wir mit Gluck, Mozart, Weber, 
Wagner die Größten ſind der Welt, nochmals einer grundſätzlichen Pflege des 
Ausländertums verfallen würden, hätte auch ein Schwarzſeher nicht voraus - 
ſagen dürfen. 

Ich halte es für Pflicht, es ruhig aus zuſprechen, daß ohne die Geſchmacks⸗ 
richtung unſeres Kaiſers dieſe Entwicklung nicht möglich geweſen wäre; d. h. 
genau genommen erſt dadurch, daß unſere Hoftheater Intendanten ſich als 
Diener des Kaiſers und nicht als Diener der deutſchen Kunſt betrachten. Es 
fällt mir nicht ein, mit dieſen hohen Beamten über die Auffaſſung ihrer Pflichten 
zu ſtreiten; noch viel weniger, dem Kaiſer das Recht feiner perſönlichen Ge- 
ſchmacksrichtung zu beſtreiten. Ich ſtelle nur Tatſachen feſt und ziehe daraus 
die Folgerung, daß dem deutſchen Volke allmählich klar werden muß, daß es 
die Lebensintereſſen feiner Kunſt unabhängig machen muß von jenen Ein ⸗ 
richtungen, die vom perſönlichen Geſchmack eines Regierenden beſtimmt werden. 
Hoftheater nützen uns nichts, wir brauchen Staats theater, wobei es freilich 
fraglich bleibt, ob unſere Volksvertretung charaktervoll genug wäre, zu erreichen, 
daß dieſe Staatstheater auch Volkstheater wären. 

Der Kaiſer hat keine Liebe für Wagner; er iſt ihm „zu geräuſchvoll“. 
Ans andern gilt Meyerbeer für den „wüſteſten“ Lärmmacher in der Geſchichte 
der Oper. Der Kaiſer ſagte aber von den „Hugenotten“, er „liebe dieſe Muſik 
ſehr und ziehe ſie den meiſten Opern der modernen Produktion vor“. Die 
Neueinſtudierung dieſes auf dem letzten Provinztheater abgeſpielten Werkes 
wurde als ſo wichtiges Ereignis behandelt, daß die Direktoren der Pariſer 
„Großen Oper“ dazu eingeladen wurden; daß der Kaiſer ſelber an Proben 
teilnahm und dem erkrankten Intendanten nach jedem Akt Bericht ſandte über 
den Verlauf dieſer epochemachenden Aufführung. Dabei war es, nebenbei be- 
merkt, die 312. Aufführung dieſes Werkes an unſerer Hofbühne. 

Dieſe Berliner Hofoper iſt einer Prunkſucht verfallen, die zum Kunſt ⸗ 
verhängnis werden muß. Einmal weil bei den Opernbeſuchern einſeitig die 
Sch auluſt großgezogen wird, ſodann weil rieſige Mittel für unkünſtleriſche 
Zwecke vergeudet werden. Denn die Schönheit der Bühnenbilder wächſt keines ⸗ 
wegs mit ihrem Reichtum. Was die Ausftattung der „Hugenotten“ gekoſtet 
hat, weiß ich nicht; es wird kaum weniger ſein, als was für die der „Aida“ 
‚angelegt wurde, die 80 000 Mark verſchlang. Das war die andere „Großtat“ 


_, unferer Hofbühne in dieſer Spielzeit. Ich verehre und liebe Verdi, den ich 


nie in einem Atemzuge mit Meyerbeer nennen würde. Aber gerade ſeine 
„Aida“ zeigt den Fluch der „großen“ Oper. Verdis dramatiſche Kraft iſt ſo 
ungeheuer, daß es nachträglich möglich wäre, aus dieſer Prunkoper, die für 
ein Prunkfeſt geſchaffen wurde, das Drama herauszuſchälen. An der Berliner 
Hofoper wird das Werk ſtatt deſſen nach Möglichkeit zum Ausſtattungs ſtück 
erdrückt. Dann wurden auch zwei Neuheiten herausgebracht: des Italieners 
Puceini „Madame Butterfly“, die ſich dank der Ausſtattung und der guten 
Geſangsleiſtungen trotz der künſtleriſchen Minderwertigkeit bislang auf der 
Bühne behauptete; und des Franzoſen Maſſenet „Thereſe“, die trotz aller 
Liebes müh in den Fluten der eigenen Wäſſerigkeit ertrank. Allenfalls wäre noch 
eine Wiederaufführung von Leon cavallos „Roland von Berlin“ zu nennen. 


304 Neue Bücher 


Maſſenets Werk war eine Nachwirkung des Montecarlo -Gaſtſpiels un- 
ſeligen Angedenkens, Leoncavallos Werk iſt die einzige Oper, die bislang im 
Auftrag des Kaiſers geſchaffen wurde. Es gibt Leute, die ſagen, das alles 
ſei Politik, Friedenspolitik. Mag ſein. Herr von Schoen hat uns ja im 
Reichstag fo viel von den eigenen Lebensgeſetzen der höheren Diplomatie ver- 
raten, daß ich keine Luft verſpüre, in die Geheimniſſe dieſer Wiſſenſchaft ein- 
zudringen; mir fehlt's ohnehin an Schmiegſamkeit. Aber ſoviel weiß ich in 
dieſem Galle beſtimmt: der Franzoſe oder Italiener, der dieſe Ciebenswiirdig- 
keiten ſo auffaßt, wie ſie der Kaiſer meinen mag, iſt ebenſo ſchwer zu finden 
wie der Mann, den Diogenes mit der Laterne ſuchte. Unendlich groß iſt aber 
die Zahl jener Ausländer, die in alledem nur Eingeſtändniſſe der Minder ⸗ 
wertigkeit deutſcher Kultur ſehen; täglich wachſend iſt die Zahl der Deutſchen, 
die darin eine ſchwere Schädigung deutſcher Kunſt und deutſchen Volkstums 


beklagen. 
Karl Storck 


Neue Bücher 


Joachim Gedenkbüchlein. Von Lothar Brieger Waſſervogel. 
(Berlin, W. Nagel & Durſthoff. 75 Pfg.) 

Ein äußerlich doch wohl etwas zu beſcheidenes Gedenkbüchlein, das zu 
leicht vom Strome der Neuerſcheinungen der Bücherwelt hinweggeſchwemmt 
wird. An ſich bringt es eine ganz gute Würdigung und ausreichende Lebens ⸗ 
beſchreibung Joachims. Aber ſein Spiel finde ich eine feine Bemerkung: 
„Joachim will vergeſſen machen, daß er eine Geige in der Hand hat, er will 
die Kompoſition vom Inſtrumente befreien, dem Klange eine ſcheinbare Gelb- 
ſtändigkeit geben.“ In dieſer Befreiung der Kompoſition vom Inſtrumente war 
Joachim in der Tat als reproduzierender Künſtler die Erfüllung Beethovens. 
Widerſpruch dagegen ruft es hervor, wenn Joachim als Führer der abjolut 
mufitalifchen Partei gefeiert wird. Beethoven iſt unter dieſen Begriff nicht 
unterzubringen. Noch ſchlimmer iſt dann das Wort: „Der letzte große Idealiſt 
der deutſchen Muſik“, oder was das gleiche iſt: „Der letzte typiſche Deutſche 
in der Muſik.“ Im Anhang ſind einige Briefe von und an Joachim mitgeteilt, 
darunter die bekannte Abſage an Liſzt. Vielleicht daß wir bald den Grief: 
wechſel zwiſchen Joachim und Brahms erhalten; da werden dann wohl manche 
Offenbarungen bejahenden Muſikempfindens enthalten ſein, in denen gerade 
bei Joachim viel Wertvolleres liegen muß, als in ſeiner doch recht anfechtbaren 
Kritit. Von den beigegebenen Abbildungen iſt die der Titelſeite vorgeſtellte 
ausgerechnet eine der ſchlechteſten unter den zahlreichen Bildniſſen Joachims. 


Verantwortlicher und Chefredakteur: Jeannot Emil Frhr. v. Srotthuß, Bad Oeynbauſen l. BS 
Literatur, Bildende Kunſt und Mufik: Dr. Karl Storck, Berlin V., Lands uterſtraße 3. 
Druck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart. 


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Die Anabhängigkeit des preußiſchen Richters 


Von 


J. E. Frhrn. v. Grotthuß 


furt a. M. die Wahrnehmung machen müſſen, daß bei der 
N G Feſtnahme und gerichtlichen Vorführung von Perſonen die 
zum Schutze der perſönlichen Freiheit erlaſſenen geſetzlichen Beſtimmungen 
von der Polizeibehörde nicht beachtet wurden. And zwar ſei das „all— 
täglich“ geſchehen. Die gleiche Wahrnehmung wurde ihm von Kollegen 
beſtätigt und hinzugefügt, daß dieſerhalb ſchon früher wiederholt an die 
Juſtizverwaltung berichtet worden ſei, — aber vergeblich! 

Als die Fälle ſich häuften, die Feſtgenommenen, ſtatt auf ihr geſetz⸗ 
liches Verlangen ſofort dem Richter zugeführt zu werden, immer wieder 
gegen den klaren Wortlaut des Geſetzes in Haft behalten wurden; als auch 
wiederholte Hinweiſe auf die Beſtimmungen des Geſetzes fruchtlos blieben, 
entſchloß ſich der Amtsrichter endlich auf Grund ſeiner perſönlichen Er— 
fahrungen und der Ausſagen der Feſtgenommenen durch Anzeige bei der 
Staats anwaltſchaft dieſem Willkürzuſtande pflichtgemäß ein Ende zu machen. 

Er ſtützte ſich dabei auf den § 341 des Strafgeſetzbuches: „Ein Ve- 
amter, der vorſätzlich, ohne hiezu berechtigt zu ſein, eine Verhaftung oder 
vorläufige Ergreifung und Feſtnahme oder Zwangsgeſtellung vornimmt 


oder vornehmen läßt, oder die Dauer einer Freiheitsentziehung 
Der Türmer X, 9 20 


306 Grotthuß: Die Unabhängigkeit des preußiſchen Richters 


verlängert, wird nach Vorſchrift des § 239, jedoch mindeſtens mit Ge 
fängnis von drei Monaten beſtraft.“ 

Dieſen Tatbeſtand erkannte der Amtsrichter als vorliegend und er⸗ 
ſtattete demgemäß Anzeige. Die widerrechtliche Freiheitsentziehung, erklärte 
er, könne auch dadurch nicht wohl gerechtfertigt erſcheinen, daß die in Frage 
ſtehenden Perſonen (Proſtituierte uſw.) infolge ihrer moraliſchen Verkommen⸗ 
heit minderwertig ſeien. Das Geſetz unterſcheide in dieſer Beziehung nicht. 
Es liege in allen Fällen offenbar ein Vergehen gegen den 8 341 St. -G. -B vor. 

Die Folge war ein Strafverfahren gegen — den Amtsrichter, 
das ihm die ehrenrührigſten Herabſetzungen ſeiner Perſon, moraliſche, wirt⸗ 
ſchaftliche, geſellſchaftliche Schädigungen aller Art einbrachte, ſchließlich 
mit feiner Strafverſetzung nach einem kleinen Neſt (Baumholder) und 
dauernder Kaltſtellung als Beiſitzer an einem Kollegialgericht endete! 

Wie das möglich war? Nur der bare Anverſtand des „Laien“ 
kann fo fragen. Nur wer ſich die fromme Einfalt, den keuſchen Kinder- 
glauben feines preußifchen Antertanengemüts trotz aller Anfechtungen böfer 
Zweifler und Nörgler unberührt erhalten, nie hinter die Kuliſſen geſchaut 
hat, kann ſich noch in dem Wahne wiegen, daß von dem preußiſchen Richter 
ausſchließlich und als oberſte Aufgabe Wahrnehmung des Geſetzes 
und nur des Geſetzes unter allen Umftänden gefordert wird. Gewiß, 
das Geſetz ſoll — auch nach dieſen Anforderungen — hoch für den Richter 
ſtehen. Aber das Höchſte iſt es nicht. Höher ſoll ihm die Rückſicht auf 
die Solidarität des Beamtentums, die Empfindlichkeiten, Intereſſen 
und Wünſche der Verwaltungsbehörden und nicht zuletzt der eigenen 
Vorgeſetzten gelten. Aber das anzuwendende Geſetz mag der Richter 
entſcheiden, über Art und Umfang feiner Anwendung befindet die vorgeſetzte 
Behörde. 

Landgerichtsrat Theiſen hat ſeine Erlebniſſe und Beobachtungen in 
einer Schrift von 147 Seiten niedergelegt: „Anwürdig und unfähig? 
Ein Kampf um die Ehre und die Unabhängigkeit der Juſtiz“ (Elberfeld, 
A. Martini & Grüttefien). Sie liegt nunmehr — nach kaum Sabresfrift — 
in zweiter Auflage vor! Ein erfreuliches Zeichen, daß er nicht vereinzelt 
in ſeinem Stande die von ihm geſchilderten Zuſtände als entwürdigend 
empfindet. Denn ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, daß die meiſten 
Abnehmer des Buches Amtsgenoſſen des Verfaſſers waren. Aber was 
das Buch — für die große Mehrzahl der „Anberührten“ — enthüllt, das 
gehört in die weiteſten Kreiſe, das geht weit über den Nahmen irgend eines 
Standesintereſſes hinaus. Es iſt nationale Angelegenheit, Volks ſache! 
Tua res agitur! Um dein Recht handelt es ſich, du gläubigſtes und lang: 
mütigſtes Geſchöpf unter den Völkern! 

Der Verfaſſer behauptet nichts, was er nicht durch Akten belegt und 
beweiſt. Er unterdrückt auch ſolche Tatſachen und Schriftſtücke nicht, die 
ihn ſelbſt, wenn auch nur in nebenſächlichen Dingen und bei voreingenommenen 
Leuten, kompromittieren könnten. Seine Flucht in die Offentlichkeit iſt alſo 


Grotthuß: Die Anabhängigkeit des preußiſchen Richters 307 


eine reft- und rückhaltloſe, ohne jede Hinterhältigkeit oder Zweideutigkeit. 
So haben wir es denn hier nur mit Tatſachen und ſolchen Schlüſſen zu 
tun, deren Folgerichtigkeit jeder nachprüfen kann. 

Ich kann hier nur Streiflichter auf das Verfahren fallen laſſen, die 
das für die Allgemeinheit Weſentliche beleuchten und kennzeichnen. 

Mit Aberraſchung erfährt man ſchon aus einer „Beſchwerdeſchrift“ 
des Polizeipräſidenten von Frankfurt a. M. über die ihm überwieſene An⸗ 
zeige des Amtsrichters, daß das gegen die feſtgenommenen Perfonen ges 
übte Verfahren lange Jahre nach „Vereinbarungen“ gehandhabt 
wurde, die zwiſchen dem Polizeipräſidium und dem Oberlandesgericht ge- 
troffen worden waren! Der „p. Theiſen“ habe ſich eine unerhörte Be: 
ſchuldigung herausgenommen“, indem er dem Polizeipräſidium fort- 
geſetzte Vergehen der Freiheitsberaubung und ſchweren Rechtsbeugung vor⸗ 
werfe. Abgeſehen von der Grundloſigkeit „dieſer — gänzlich unbefugten 
Kritik“ (die amtliche, pflichtgemäße Strafanzeige eines Richters: — eine 
„gänzlich unbefugte Kritik“ !! —), feien dieſe „Vorwürfe“ formell „derart 
beleidigend, daß Remedur zu erfolgen habe“. Der Polizeipräſident müſſe 
daher „ergebenſt bitten, den Herrn Amtsrichter, welcher ſich über ſeine 
Stellung einer anderen Behörde gegenüber gänzlich im unklaren zu be⸗ 
finden ſcheint, gehörig in feine Schranken zurückzuweiſen“. 

Amtsrichter Theiſen beantragte daraufhin Beſtrafung des Verfaſſers 
dieſes ihm vorgelegten beleidigenden Schriftſatzes, wurde aber von dem Ober⸗ 
landesgerichtspräſidenten dahin zurechtgewieſen, daß er feine Anträge „in 
ſachlicher (?) Weiſe“ bei dem ihm zunächſt vorgeſetzten Landgerichtspräſi⸗ 
denten hätte ſtellen ſollen. Der Oberlandesgerichtspräſident erteilte dann 
dem Anhöflichen eine „Mahnung“ und ſprach noch die Erwartung aus, 
daß er ſich „in Zukunft vor einer ähnlichen Pflichtverletzung hüten 
und der Pflichten, welche ihm ſein Amt auferlege, ſtets eingedenk 
fein werde!“ 

Nun beantragte der Amtsrichter die Einleitung der Diſziplinarunter⸗ 
ſuchung gegen ſich. Dieſer wurde ſtattgegeben, zugleich aber das Verfahren 
weiter ausgedehnt. Theiſen ſollte ſich durch einige unpaſſende Bemerkungen, 
ferner durch „Beteiligung“ an einem Artikel der „Frankfurter Zeitung“ 
ſtrafbar gemacht haben. Die unpaſſenden Bemerkungen beſtanden in der 
erweislich wahren Behauptung, daß die Staats anwaltſchaft ſich „auffallender⸗ 
weife” durch Ablehnung der Verfolgung in Widerſpruch zu ihrer bis⸗ 
herigen Praxis geſetzt habe, und daß er, der Amtsrichter, nicht einzuſehen 
vermöge, wieſo dieſer Fall anders liege als andere: „es ſei denn, daß 
auf hohe Staatsbeamte die Strafgeſetze keine Anwendung 
finden“. Dieſe logiſch abſolut einwandfreien, eigentlich doch — und erſt 
recht für einen Richter! — nur ſelbſtverſtändlichen Sätze könnten „nur als 
grobe und ehrverletzende, eines preußiſchen Beamten“ unwürdige 
Inſinuationen“ aufgefaßt werden. Zugegeben wurde, daß „einige“ 
Perſonen „anſcheinend“ () über das Bedürfnis im Polizeigefängnis ge⸗ 


308 Grotthug: Die Unabhängigkeit des preußiſchen Richters 


ſeſſen haben. Es entziehe ſich indeſſen der Prüfung, „aus welchen 
adminiſtrativen Gründen () das geſchehen iſt“. Alſo „admini⸗ 
ſtrative“ Gründe — wie in Rußland! Wo ſolche vorliegen, „entzieht ſich“ 
die Geſetzlichkeit des Verfahrens der „Prüfung“. Wie ſchweres Anrecht 
fügt man doch dem ruſſiſchen Erbfreunde zu, wenn man ihn immer wieder 
als den alleinigen Inhaber des durch Sprengbomben geläuterten „admini⸗ 
ſtrativen Verfahrens“ hinſtellt. Bitten wir ab und tun wir's nie wieder! 

„Beteiligung“ war für das Verhältnis, in dem der „p. Theiſen“ zu 
dem Artikel der „Frankfurter Zeitung“ ſtand, ein ſehr — gut gewählter 
Ausdruck. Ein ſo gut gewählter, daß er ſcheinbar unerſetzlich war, da er 
in allen Anklageakten durch alle Wandlungen hindurch in altem und doch 
ewig jungem Glanze wiederkehrt. Die von der Polizei fortgeſetzt verübten 
Angeſetzlichkeiten wurden allmählich Stadtgeſpräch und kamen natürlich auch 
zu Ohren der „Frankfurter Zeitung“. Ein Redakteur des Blattes, Liftowsty, 
begab ſich zu Theiſen und erſuchte ihn um nähere Auskünfte. Theiſen 
lehnte zunächſt ab. Erſt nachdem er ſich überzeugt hatte, daß der Redakteur 
im weſentlichen bereits orientiert und zur Veröffentlichung entſchloſſen war, 
verſtand ſich Theiſen zu einigen weiteren Mitteilungen, erſuchte den Re 
dakteur aber dringend, keinen Gebrauch davon zu machen und über⸗ 
haupt von einer Veröffentlichung abzuſehen. Bei dieſer Gelegenheit 
hat er ihm dann noch einiges aus ſeiner Diſziplinarſache erzählt, was er vor⸗ 
ſichtigerweiſe beſſer für ſich behalten hätte. Ebenſo hat er ſpäter vor Gericht 
die Unterredung mit dem Verfaſſer des Artikels verſchwiegen, was dann 
weidlich gegen ihn ausgenutzt wurde und ihm nicht zuletzt den Vorwurf der 
„Feigheit“ eintrug. Anbedacht war es von ihm, in der Verhandlung ein 
„Bekenntnis“ abzulegen, das nur pſychologiſch richtig gewertet werden 
konnte, ihn juriſtiſch aber auf den groben Buchſtaben feſtlegen mußte. „Ja, 
Feigheit, meine Herren“, ſo erklärte er, „mag es geweſen ſein, welche mich 
veranlaßte, zuerſt dieſe Unterredung zu verſchweigen. Sie, meine Herren, 
wiſſen aber nicht, was mich feige und nervös gemacht hat! Ich will den 
Grund auch nicht anführen, um die ganze Angelegenheit nicht auf das Ge⸗ 
biet des Perſönlichen hinüberzuleiten ..“ 

Jedenfalls hat der Diſziplinarſenat des Oberlandesgerichts ſel bſt feſt⸗ 
geſtellt, daß der Angeſchuldigte den Redakteur wiederholt gebeten hat, 
nichts zu veröffentlichen. Dieſer hat unter Eid ausgeſagt, daß er 
an der Aufrichtigkeit und Dringlichkeit der Bitten keinen Zweifel habe. 
Dennoch kommt der ſelbe Senat zu dem Ergebnis, daß Theiſen die Ver⸗ 
öffentlichung „nicht nur geduldet, ſondern auch gebilligt“ habe! 
And das ausgerechnet aus dem Grunde, weil er, als Liſtowsky ſich ſtand⸗ 
haft weigerte, von der Veröffentlichung abzuſehen, dieſe alſo von 
Theiſen auf keine Weiſe mehr verhindert werden konnte, 
„einige Bemerkungen über feine Perſon und Angriffe auf den Po 
lizeipräſidenten ſtreichen ließ“! So finden wir denn auch in einem 
kurzen Abſatze von wenigen Zeilen in holder Eintracht nebeneinander 


Srotthuß: Die Anadhangigtett des preußiſchen Richters 309 


die gerichtlichen „TFeſtſtellungen“: Er hat den Redakteur „nochmals ge: 
beten, nichts zu veröffentlichen“ und: „Er war mit der Veröffentlichung 
einverſtanden!“ And zwar, „„weil es feiner Eitelkeit ſchmeichelte“ oder 
weil er hoffte, „daß der Artikel ... ihm in dem Diſziplinarverfahren 
nützen werde”. Dabei hatte Theiſen dem Redakteur gerichtskundig erklärt, 
daß ihm die Veröffentlichung furchtbar ſchaden werdel | 

Wie in amtlichen Schriftſtücken, aber auch ſonſt, mit einem königlich 
preußiſchen Richter umgeſprungen werden kann, davon hat man im großen 
Publikum wohl kaum die richtigen Vorſtellungen. Was wir bisher ge: 
ſehen haben, ſind indes nur Koſthäppchen: auf den rechten Geſchmack kommen 
wir erſt mit dem weiteren Eingreifen des (inzwiſchen verſtorbenen) Ober⸗ 
ſtaatsanwalts Woytaſch. 

Der Diſziplinarſenat erkannte gegen Theiſen auf einen Verweis, eine 
Geldbuße von 275 Mark und die Koſten. Und zwar entgegen dem Antrage 
des Oberſtaatsanwalts auf Dienſtentlaſſung oder Verſetzung in ein anderes 
Richteramt: „denn nir gend hat der Angeſchuldigte ein unehrenhaftes 
Verhalten oder böſe Abſicht an den Tag gelegt“. 

Gegen dieſes Urteil wurde von beiden Parteien Berufung eingelegt. 
In der Berufungsrechtfertigungsfchrift der Staats anwaltſchaft wird dem 
Angeklagten u. a. vorgeworfen, daß er „abſichtlich gelogen“, ein un⸗ 
ehrenhaftes Benehmen“ an den Tag gelagt habe, „das ibn amt— 
lich und kollegialiſch unmöglich“ mache. Sein furchtbarſtes Ver— 
brechen iſt aber das „Zuſammenwirken (I) mit der Redaktion der Frankfurter 
Zeitung in Redigierung eines grob aufreizenden Artikels“. Die Tendenz 
des Frankfurter Blattes fei „darauf gerichtet“ — im Jahre 1894! — „die 
Verſchmelzung des Frankfurter Gebiets mit dem preußiſchen Königreiche zu 
verhindern, das königliche Beamtentum zu verunglimpfen“ uſw. Nun ſei 
der Artikel auch noch von der ſozialdemokratiſchen — Verderben, nimm 
deinen Lauf! — „Volksſtimme“ abgedruckt worden und babe fo der ſozial⸗ 
demokratiſchen Agitation Vorſchub geleiſtet, „was dem Angeſchuldigten nicht 
unbekannt ſein konnte“! Wenn er „trotzdem die Behandlung der Frage in 
dem Hetzartikel (eine mehr als zahme Kritik!) öffentlich wählte (ö), fo war 
dies eine böswillige Abſicht“. Es kann, heißt es dann wörtlich weiter, 
„einem Zweifel nicht unterliegen, daß der Angeſchuldigte ſeine Kaſſation 
als Offizier zu gewärtigen hat. Iſt ſchon ſein Amgang für jeden 
anſtändigen, patriotiſch geſinnten preußiſchen Beamten aus geſchloſſen, 
fo kann fein Verbleiben im Richteramt und namentlich in Frankfurt a. M. 
nur als unmöglich erſcheinen. Seine weitere Zugehörigkeit zum 
Richterſtande kann für denfelben nur herabwürdigend wir 
ken“. Auch die Vorſtrafen des — Redakteurs Liſtowsky werden dem Amts⸗ 
richter Theiſen angerechnet! Sei doch jener ſogar wegen Majeſtäts belei⸗ 
digung zu 2 Monaten Feſtung verurteilt worden und dazu habe er noch 
— nämlich — Liſtowsky! — vier andere Preßbeleidigungsſtrafen auf dem 
Kerbholz. „Die Entfernung eines ſolchen — jetzt iſt's wieder der „p. Theiſen“ — 


310 Grotthuß: Die Auabhängigkeit des preußiſchen Richters 


taktloſen, lügenhaften Beamten, der ſich ſelbſt als feige bezeichnet, 
heimlich und verſteckt den Gegnern ſeines Heimatlandes 
Waffen... in die Hand liefert, dürfte geboten fein.“ 

Das ſind aber — keine Beleidigungen! Beileibe nicht! Gegen ſolche 
phantaſtiſchen, willkürlichen Anſchuldigungen, die aber jeder Privatmann 
ohne die ſtrikteſten Beweiſe unweigerlich mit Monaten Gefängnis wegen 
Verleumdung büßen müßte, — gegen eine ſolche „amtliche“ Vergewaltigung 
ſeiner Ehre, ſeiner ganzen moraliſchen Perſönlichkeit iſt ſelbſt ein königlich 
preußiſcher Richter wehr und waffenlos. Erſtattet er aber gegen einen hohen 
Beamten pflichtgemäß Anzeige, die doch nicht erfolgen kann, ohne daß die 
Strafbeſtimmung herangezogen, der Tatbeſtand bezeichnet und begründet 
wird, ſo muß er ſich wie ein Schuljunge abkanzeln laſſen, wird abgeſtraft 
und darf obendrein noch ſolche Ergüſſe über ſich ergehen laſſen wie den 
dieſes Oberſtaatsanwalts. 

Der große Diſziplinarſenat des Königl. Kammergerichts zu 
Berlin als letzte Inſtanz erkannte gegen Theiſen unter Abänderung des 
erſten Arteils auf Strafverſetzung. In Abereinſtimmung mit dem erſten 
Gericht hatte es nicht die Aberzeugung gewonnen, daß der Angeſchuldigte 

„aus unlauteren und unehrenhaften Motiven“ gehandelt habe. Es hat viel- 
mehr feiner Verſicherung „Glauben geſchenkt, daß er... von der 
Abſicht geleitet worden, in den nach feiner Meinung vorgekommenen 
Geſetzwidrigkeiten Abhilfe herbeizuführen“. Nur habe er 

„einen gänzlich unrichtigen Weg eingeſchlagen“ und in ſtarker Aber⸗ 
bebung und Verkennung feiner Stellung (I) völlig ungehörige 
Mittel angewendet“. 

Abweichend von der Annahme des erſten Richters hat die höchſte 
Inſtanz „als erwieſen erachtet, daß die Vorführung der vorläufig 
feſtgenommenen Perſonen vor den Amtsrichter in Frankfurt a. M. im 
Jahre 1894 in einer großen Zahl von Fällen nicht dergeſtalt 
ohne Verzug ſtattgefunden hat, als dieſes der Vorſchrift der 
Strafprozeßordnung entſprochen haben würde“. Es wird in 
dem Arteil ſogar feſtgeſtellt, „daß die Vernehmung der Feſtgenommenen 
durch den Amtsrichter ſehr oft erſt drei oder mehr Tage nach der 
Feſtnahme erfolgt iſt“ J! 

Tatſächlich hat denn auch Theiſen durch ſein tapferes und energiſches 
Vorgehen erreicht, daß die Frankfurter Polizeibehörde ihren ungeſetzlichen 
Betrieb einſtellen mußte. Und man wird einen Nachklang feines verdienſt⸗ 
vollen Wirkens in der Verfügung finden, die der jetzige Polizeipräſident 
zu Frankfurt a. M. 1906 erlaffen hat: „Ich werde fortan die Dienſtſtellen⸗ 
vorſteher perſönlich mit für jede vorkommende, geſetzlich un- 
gerechtfertigte Siſtierung oder Feſtnahme verantwortlich 
machen und jeden Polizeibeamten mit Arreſt beſtrafen, der 
ſich durch eine ungerechtfertigte Feſtnahme oder Siſtierung einen Abergriff 
zuſchulden kommen läßt. Außerdem werde ich fortan auf das ſchärfſte 


Grotthuß: Die iinabhängigtett des preußiſchen Richters 311 


gegen jeden Abergriff in der Behandlung der Feſtgenommenen, 
insbeſondere auch auf den Polizeiwachen, unnachſichtlich ein- 
ſchreiten.“ 

Refpelt vor einer ſolchen Auffaſſung der Amtspflicht, vor dem 
Beamten, der das wahre Intereſſe des Staates begriffen hat, ſich der 
hohen Aufgabe bewußt iſt, zu allererſt Hüter des Rechtes und Geſetzes zu 
ſein. Wäre aber mit einem ſolchen Polizeipräſidenten ein Theiſen je in 
Konflikt gekommen? — Das iſt freilich eine andere Tonart als die des 
damaligen, des Herrn v. Müffling, der noch 1893 in einem Schreiben aus: 
führte, daß bei der Feſtnahme gewiſſer Perſonen von einer Beachtung 
des Geſetzes abgeſehen werden müſſe — aus Zweckmäßig⸗ 
keits gründen! 

Die letzte Inſtanz hatte geſprochen, der unbotmäßige Richter war 
nach Baumholder ſtrafverſetzt. Von dort richtete er unter dem 6. Januar 1896 
ein Schreiben an den Juſtizminiſter. Darin berichtet er u. a. auch über 
eine Unterredung mit dem Oberſtaatsanwalt Woytaſch, die fo außerordentlich 
bezeichnend für gewiſſe Anſchauungen und Zuſtände in unſerem Rechts 
leben iſt, daß wir ſie geradezu als ein kulturhiſtoriſches Aktenſtück, ein 
document humain „ erſtklaſſiger“ Moral betrachten dürfen. 

„Wäre mir wirklich der Vorwurf der Feigheit zu machen, wie 
dies der Herr Oberſtaatsanwalt getan,“ ſo ſchreibt der preußiſche Richter 
an den Miniſter der preußiſchen Juſtiz, „ſo würde ich nach dieſer Anter⸗ 
redung meinen Antrag auf Einleitung des Diſziplinarverfahrens zurück⸗ 
gezogen haben. Denn daß dieſes Verfahren eine ganz andere 
Richtung nehmen würde, war unzweifelhaft, wenn ich auch noch 
nicht wußte, wohin dasſelbe geführt werden ſollte 

Der Herr Oberſtaatsanwalt dankte mir zunächſt für meine Be⸗ 
mühungen um die Ermittelung eines Ferienaufenthaltes in Berncaſtel 
a. d. Moſel. Er hege dieſerhalb freundſchaftliche Gefühle für mich, 
und in Betätigung derſelben erteile er mir den Rat, den Antrag auf Ein- 
leitung des Diſziplinarverfahrens, ſowie den Strafantrag gegen Herrn 
Regierungsrat Steffens (den Verfaſſer der beleidigenden „Beſchwerdeſchrift“ 
vom Frankfurter Polizeipräfidium) zurückzunehmen. Denn der von mir 
dem Polizeipräſidium gemachte Vorwurf ſei ſo beleidigend, daß die von 
Herrn Steffens gebrauchten Ausdrücke in der Beſchwerde über mich als ſehr 
milde bezeichnet werden müßten. Freiheitsberaubung liege nicht vor. Was 
liege auch daran, ob ſolche Perſonen, wie die feſtgenommenen, länger 
in Haft bleiben. Wenn er in dem Diſziplinarverfahren gegen mich auf- 
treten müſſe, werde er mit allen ihm zu Gebote ſtehenden Mitteln 
gegen mich vorgehen. 

Ich erwiderte, ich hätte als Richter in Ausübung des Geſetzes 
gehandelt, und dafür verdiente ich keine Strafe. Ich fei der feſten Aber⸗ 
zeugung, daß der Tatbeſtand des § 341 Stgb. vorliege, um fo mehr, als 
ſchon früher ſeitens der Amtsrichter Verſuche gemacht worden ſeien, den 


312 Grotthuß: Die Inabhängigteit des preußiſchen Rimters 


ungeſetzlichen Zuſtand zu befeitigen, jedoch vergebens. Ich hätte auch durch 
mein Schreiben an die Amtsanwaltſchaft vom 24. Auguſt 1894 die Polizei⸗ 
behörde auf die ungeſetzlichen Zuſtände nochmals hinweiſen wollen, damit 
ſofortige Abhilfe geſchaffen würde. Dieſe ſei indes nicht eingetreten. Als 
Richter dürfte ich keinen Anterſchied zwiſchen Arm und Reich 
machen; ich dürfte auch keine Rückſicht darauf nehmen, daß der Täter 
ein Beamter ſei. 

Der Herr Oberſtaats anwalt entgegnete: Gewiß müſſe man 
als praktiſcher Richter einen Anterſchied zwiſchen Arm und 
Reich, zwiſchen Beamten und Nichtbeamten machen. Auch die 
in meiner Beſchwerde aufgeführten Beiſpiele träfen nicht zu; denn ein 
Rechtsanwalt könne nicht wie ein Beamter geſchützt werden. Ein ſchwerer 
Vorwurf treffe mich auch dadurch, daß ich nicht im Inſtanzenzuge die ver⸗ 
meintlichen Beſchwerden angebracht hätte. Ich ſei auch deshalb um ſo 
ſtrafbarer, als ich ſeitens des Polizeipräſidiums auf die Vereinbarungen 
zwiſchen dieſem und der Juſtizverwaltung hingewieſen worden wäre. 

Ich erklärte, ich hätte eine ſolche Vereinbarung bei dem Amts⸗ 
gerichte vorgefunden; dieſe beſage nur, daß die Vorführung feſtgenommener 
Perſonen vor den Richter durch Vermittelung der Staatsanwaltſchaft zu 
erfolgen habe. Dieſe Vereinbarung ſei auch geſetzlich. Die Polizeibehörde 
gebe aber die Anzeigen über die Feſtnahmen zu ſpät an die Staatsanwalt⸗ 
ſchaft ab; zudem handele es ſich auch um ungeſetzliche Feſtnahmen. Es 
veranlaſſe mich ferner die Einleitung des Diſziplinarverfahrens zu beantragen 
das mir von einem Kollegen mitgeteilte Gerücht, der Herr Oberlandes⸗ 
gerichtspräſident habe dem Herrn Polizeipräſidenten ſchriftlich 
ſein Bedauern ausgedrückt, daß ein Richter, welcher ſolche 
Vorwürfe gegen ihn erhoben habe, unter ihm angeſtellt ſei. 

Der Herr Oberſtaatsanwalt erwiderte: Ich will Ihnen,, diskretionär“ 
den Inhalt des Schreibens des Herrn Oberlandesgerichtspräſidenten an den 
Herrn Polizeipräfidenten mitteilen, Sie werden daraus erſehen, daß der 
Herr Präſident ſolches nicht geſchrieben hat. 

Der Herr Oberſtaatsanwalt las dann für ſich jenes Schreiben durch 
und ſtutzte plötzlich. 

Ich bat darauf, mir Diskretes nicht mitzuteilen. Ich wolle auch den 
Inhalt jenes Schreibens nicht erfahren. Es genüge mir die Erklärung, 
daß eine ſolche oder ähnliche Bemerkung darin nicht enthalten ſei. 

Der Herr Oberſtaatsanwalt hat mir dieſe Erklärung nicht abgegeben. 

Er ſuchte mich darauf nochmals zur Zurücknahme meines Antrages 
zu veranlaſſen. Als ich erklärte, dann würde auch keine Anderung in der 
Feſtnahme und Vorführung geſchaffen, ſuchte er mich einzuſchüchtern. 
Er würde in dem Diſziplinarverfahren auf das ſtrengſte gegen mich 
auftreten. Ich würde mein ganzes Leben lang unter dieſem zu 
leiden haben. Er würde auch auf alles, was ich vorgebracht hätte, 
nicht eingehen. 


Grotthuß: Die Unabhängigkeit des preußifchen Richters 313 


Dann müßte ich, war meine Erwiderung, in meiner Difziplinarfache 
die Einleitung einer Vorunterſuchung beantragen. Denn zur Beurteilung 
meiner Strafbarkeit ſei doch Vorausſetzung, daß ich auf Grund der 
mir amtlich zur Kenntnis gekommenen Fälle annehmen mußte, daß 
vorſätzliche Freiheitsberaubung vorliege. 

Der Herr Oberſtaatsanwalt bemerkte, darauf würde nicht ein 
gegangen werden; er würde ſofort die Hauptverhandlung 
beantragen. 

Dann bin ich gezwungen, Privatklage gegen Herrn Steffens zu er— 
heben, damit wenigſtens in dieſem Verfahren ich die Vorſätzlichkeit nach— 
weiſen könne. 

Das wird ſchon verhindert werden, erwiderte der Herr Ober— 
ſtaatsanwalt; dann wird das „Verwaltungsſtreitverfahren' erhoben 
werden 

Der Herr Oberſtaatsanwalt begann darauf wieder mir in ſcharfen 
Worten die Folgen meines Tuns zu ſchildern. Hierbei wurden 
ſeine Worte durch die Zähne geſprochen; er ſah mich ſtets durchbohrenden 
Blickes an. 

Ich erklärte, daß ich mir bis morgen überlegen werde, ob ich den 
Antrag auf Einleitung der Disziplinarunterſuchung zurückziehen werde. 
Er erwiderte: Nein, alles müſſen Sie zurückziehen. 

Auch die Anzeige wegen Freiheitsberaubung? 

Alles, alles, entgegnete er. 

Ich erklärte, das könne ich nicht, dann würden die Angeſetzlichkeiten 
nicht ſofort beſeitigt werden. Was könne aber die Zurückziehung dieſer 
Anzeige nützen, da die Staatsanwaltſchaft doch amtlich davon Kenntnis 
genommen hätte? 

Alles werden Sie zurückziehen, oder Sie werden Ihr 
Leben lang darunter zu leiden haben. 

Herr Oberſtaatsanwalt, entgegnete ich, ich bin kein Streber; ich habe 
das getan, was ich für meine Pflicht gehalten habe. Ich kämpfe für Recht 
und Geſetz. Ich bin infolge davon ſchon hochgradig nervös geworden. 

Sie werden noch nervöſer werden, es wird Ihren Kopf ane 
greifen, wenn Sie die Sache nicht zurücknehmen. Ich will 
Ihnen ſogar bis Montag Zeit zur Aberlegung geben. Tun Sie es nicht, 
„dann werden Sie die Angeſetzlichkeiten treffen“. 

Herr Oberſtaatsanwalt, erklärte ich, nach dieſen Worten kann ich 
nichts zurücknehmen. Ich muß auf Durchführung der Difziplinarunter- 
ſuchung beſtehen, da ich mich keiner Angeſetzlichkeiten ſchuldig gemacht habe.“ 

Wie ſehr der Herr Oberſtaatsanwalt — Wort gehalten hat, 
haben wir ja ſoeben geſehen. Und er hat fic) auch ſonſt als richtiger Ve- 
urteiler der Sachlage, als wahrer Prophet erwieſen: Theiſen hat in der 
Tat ſein „ganzes Leben lang“ darunter leiden müſſen, daß 
er nicht „alles, alles zurückgenommen“. 


314 Grotthuß: Die Unabhangighett des preußiſchen Richters 


Seine Bitte an den Juſtizminiſter, dieſer möge die Angelegenheit 
doch nochmals prüfen, damit Theiſens Geſuche um Verſetzung Berüdfich- 
tigung fänden, wurde natürlich zurückgewieſen. Auch ein perſönlicher Vor⸗ 
trag beim Juſtizminiſter blieb erfolglos: von einer Verſetzung könne zurzeit 
keine Rede fein, da Theiſen „die Suftig zu ſehr kompromittiert“ 
habe! Alle weiteren Verſuche hatten dasſelbe todſichere Schickſal. Ja, ihm 
wurde mitgeteilt, der Juſtizminiſter habe ihm ſchon wegen einer ſeiner Ein⸗ 
gaben eine Rüge erteilen wollen. Vergebens berief er ſich darauf, daß 
feine Richter „auf alle Aus führungen und Anträge, welche den 
Nachweis des Vorliegens der Tatbeſtandsmerkmale des § 341 Strgb. 
zum Gegenſtande hatten, nicht eingingen“ — wie es ja auch der Ober⸗ 
ſtaatsanwalt mit ſeinem untrüglichen Prophetenblick vorausgeſagt hatte. 
„Der Diſziplinarſenat zu Frankfurt a. M. hat ... nicht anerkannt, daß die 
Feſtnahme und Vorführung ungeſetzlich ſeien. Dagegen hat der große 
Diſziplinarſenat ‚abweichend von der bezüglichen Annahme des erſten Rich- 
ters als erwieſen erachtet, daß die Vorführung der vorläufig feſtgenommenen 
Perſonen vor den Amtsrichter zu Frankfurt a. M. im Jahre 1894 in einer 
großen Anzahl von Fällen nicht dergeſtalt, ohne Verzug, ſtattgefunden hat, 
als dieſes der Vorſchrift des § 128 St.⸗P.⸗O. entſprechen würde“. Er 
führt aber weiter aus: es habe fic ‚in keinem Falle der geprüften Straf⸗ 
fälle aus den Akten entnehmen laſſen, daß die polizeiliche Feſtnahme 
von Perſonen oder deren längere Feſthaltung im Polizeigewahrſam vor⸗ 
ſätzlich und nicht bloß objektiv, ſondern bewußt rechtswidrig ſtattgefunden 
hat '. Daß dies ſich nicht aus den Akten ergeben konnte, iſt felb ft- 
verſtändlich. Aber warum wurden meine Beweisanträge nicht 
berückſichtigt und diejenigen Anträge, welche ich in Verfolg meiner 
Anzeige bei der Staatsanwaltſchaft geſtellt hatte?. 

In der Entſcheidung des großen Diſziplinarſenates, welche mir den 
Nachweis der Tatbeſtandsmerkmale des § 341 Strgb. auferlegt, 
kommt übrigens der Grundſatz zum Ausdruck: si duo faciunt idem, non 
est idem. Denn das Diſziplinargericht muß andernfalls jeden Richter, 
der eine Perſon wegen dringenden Verdachts einer ſtrafbaren Handlung, 
z. B. eines Meineides, der Staatsanwaltſchaft anzeigt, diſziplinieren, 
wenn er dieſer Perſon die Straftat nicht nachweiſt.“ 

Verlorene Liebes müh'! Herr Theiſen hätte ſich Zeit und Arbeit ſparen 
können. Für jeden, der ſehen wollte, lag ja die Sache klar genug und 
wurde fie auch im vertraulichen Geſpräch als eine gute und gerechte an⸗ 
erkannt. Sowohl der Oberlandesgerichtspräſident Dr. Struckmann als 
auch der Oberlandesgerichtspräſident Dr. Hamm ließen ihn, als er ſie 
perſönlich um feine Verſetzung erſuchte und dabei entgegenkommend aus ⸗ 
drücken wollte, daß er in der Frankfurter Angelegenheit in der Form ge- 
fehlt haben möge, nicht erſt ausreden, ſondern unterbrachen ihn gleich- 
lautend mit den Worten: „Nein, Sie haben darin durchaus recht 
gehabt!“ Dritten Perſonen gegenüber ſollen ſich beide Herren aller⸗ 


Srotthuß: Die Unabhängigkeit des preußiſchen Richters 315 


dings geäußert haben, wie er nur ſo etwas hätte tun können, bei 
ſeinen Fähigkeiten hätte er große Karriere machen können. 
Auch im Miniſterium iſt ihm dieſe Sache niemals offen vorgehalten worden, 
dagegen hörte er allerdings, daß gerade ſie ihm nachgetragen werde. 

Aber er hat ſich noch eines anderen Verbrechens ſchuldig gemacht. 
Der Anſelige hat zu allem noch eine Broſchüre „Staatslotterie und Reichs- 
gericht“ geſchrieben, in der er den Intereſſen des Fiskus nicht in dem 
Maße Rechnung trägt, wie man das von einem königlich preußiſchen 
„Beamten“, der nicht „unwürdig“ und unfähig“ fein will, höhere Richter: 
ſtellen zu bekleiden, füglich erwarten dürfte. „Als ich“, erzählt er, „am 
25. Februar 1905 Herrn Geh. Oberjuſtizrat Dr. Frenken meinen Wunſch 
um Verſetzung von Elberfeld vortrug und auf ſeine Frage, wohin ich denn 
wolle, erwiderte: „Wenn ich Ausſicht auf Beförderung habe, nach Düſſel⸗ 
dorf, ſonſt nach Bonn oder Koblenz', erklärte mir Herr Dr. Frenken: 
„Ausſicht auf Beförderung haben Sie nicht; ein Richter in Ihrem 
Alter, der nicht einmal weiß, daß der Fiskus als Vermögens⸗ 
ſubjekt nicht auf Unterlaffung verklagt werden kann, iſt nicht fähig 
zu höheren Richterſtellen.“ 

In jener Broſchüre habe ich die Anſicht vertreten, daß die Entſchei⸗ 
dungen des Reichsgerichts über die Gültigkeit der landesgeſetzlichen Lotterie- 
verbote weder mit den Grundſätzen des Reichsſtrafgeſetzbuches noch mit 
denjenigen des Deutſchen Bürgerlichen Geſetzbuches in Einklang zu bringen 
ſind. Ich habe dann vorgeſchlagen, im Wege einer Zivilklage eine Ent⸗ 
ſcheidung durch die Zivilſenate des Reichsgerichts herbeizuführen, da 
dieſe nach meiner Wnficht, falls fie nicht die Entſcheidung des II. Senates 
vom 11. Mai 1901 (Bd. 48 Seite 175) für unrichtig erklären, den Ent⸗ 
ſcheidungen der Strafſenate entgegentreten müſſen. Die Zuläſſig⸗ 
keit der vorgeſchlagenen Klage, insbeſondere auch des Anterlaſſungs⸗ 
anſpruches, habe ich in der Broſchüre an der Hand der Entſcheidungen 
des Reichsgerichts in Zivilſachen darzutun verſucht. Der mir gemachte 
Vorwurf trifft alſo gleichzeitig die Richter des Reichsgerichts, welche die 
von mir angeführten Entſcheidungen über die Zuläſſigkeit des Unterlaffungs- 
anſpruches gegen den Fiskus erlaſſen haben. 

Aber wenn ich meine Anſicht nicht durch Bezugnahme auf Ent- 
ſcheidungen des Reichsgerichts, ſondern aus mir ſelbſt und ſogar gegen 
die Rechtſprechung des Reichsgerichts zu begründen verſucht hätte, 
iff man deshalb unfähig? Sind die Anſichten des Reichs⸗ 
gerichts denn immer zutreffend? Nimmt man nur einige Bände 
der Entſcheidungen des Reichsgerichts hervor, ſo ſtößt man in ihnen wieder⸗ 
holt auf die Erklärung: „Der Senat hat ſeine frühere gegenteilige 
N nach nochmaliger Prüfung der Frage nicht aufrechterhalten 

nnen.“ 

Es iſt alſo wohl nicht die in der Broſchüre vorgeſchlagene Klage 
auf Anterlaſſung — ich habe ſchon Herrn Geheimrat Dr. Frenken darauf 


316 Grotthuß: Die Unabhängigkeit des preußiſchen Nichters 


hingewieſen, daß ich verſchiedene Klageanſprüche vorgeſchlagen hätte, weil 
superflua non nocent, — ſondern die Tatſache, daß ich durch die Ve 
gründung meiner Rechtsanficht über die Angültigkeit der landesgeſetzlichen 
Lotterieverbote den Intereſſen des preußiſchen Fiskus ent gegen: 
gehandelt habe. 

Iſt dieſe meine Rechtsanſicht unrichtig, und iſt der Richter, welcher 
eine den Intereſſen des Fiskus widerſtreitende Anſicht vertritt, unfähig?“ 

Im Abgeordnetenhauſe erklärte der Herr Juſtizminiſter Schönſtedt 
ſelbſt Theiſens Broſchüre als „ſehr ſcharfſinnig“ und „eingehend begründet“, 
— im Miniſterium wird er ihretwegen für unfähig erklärt. 

Als er einzelnen Kollegen von ſeiner Abſicht, in einer Schrift der ſtän⸗ 
digen Rechtſprechung des Reichsgerichts entgegenzutreten, Mitteilung machte, 
rieten dieſe, ohne daß ſie auch nur den Inhalt der Broſchüre kannten, 
davon ab, „weil er ſich dadurch wieder ſchädigen würde“. 

And ſie haben recht behalten. 

Wie ein Märchen aus uralten Zeiten rührt da an unſer Ohr eine 
allgemeine Verordnung zur Verbeſſerung des Juſtizweſens aus dem Jahre 
1713. Darin wird den Gerichten ausdrücklich zu Gemüte geführt: „daß 
dieſelben in allen Dingen und rechtlichen Handlungen zwiſchen dem Fiskus 
an einer und den Vaſallen oder Untertanen an anderer Seite, infonder- 
heit wenn das landes herrliche Intereſſe auf einerlei Weiſe dabei 
obwaltet, ſich an dasſelbe nicht binden, ſondern lediglich die 
Juſtiz, auf welche ſie geſchworen haben und beeidet ſind, zum Augen⸗ 
merk haben ſollen, ohne an dawiderlaufende Verordnungen, 
als welche allezeit vor erſchlichen und mit dieſer ernſtlichen 
Willensmeinung des Königs ſtreitend zu halten, im min 
deſten ſich zu kehren und ohne ſich dadurch vom Wege der Gerechtig⸗ 
keit ablenken zu laſſen, maßen ihnen ſolche Verordnung ſo wenig, als 
das vorgeſchützte landesherrliche Intereſſe zu keiner Ent⸗ 
ſchuldigung dienen ſoll in dieſem und jenem Leben, und werden 
dergleichen Entſchuldigungen ohnerachtet ſolche ungerechten 
Richter mit aller Strenge beſtraft werden.“ 

And der Kodex Fridericianeus aus dem Jahre 1748: 

„Sie müſſen aber allen Menſchen ohne Anſehen der Per 
ſonen, Großen und Kleinen, Reichen und Armen, gleich unpar- 
teiiſch adminiſtrieren, ſo wie ſie gedenken, ſolches vor dem gedachten 
Richterſtuhl zu verantworten, damit die Seufzer der Witwen und Waiſen, 
auch anderer Bedrängten, nicht auf ihr und ihrer Kinder Haupt kommen 
mögen. Sie ſollen auch auf keine Reſkripte, wenn fie ſchon aus 
dieſem Kabinette herrühren, die gering ſte Reflexion machen.“ 

Siebzehnhundertunddreizehn! Siebzehnhundertundachtvierzig! — O 
alte Preußenherrlichkeit, wohin biſt du geſchwunden! 

Begeiſtern kann ich mich für dieſes — alte Preußentum, für dieſen 
Geiſt unbeſtechlicher Rechtlichkeit und Geradſinnigkeit, der dem Ganzen ſeine 


GrotthuB: Die Anabhängigteit des preußiſchen Richters - 317 


fchlichte, tapfere, mannhafte Größe verlieh; der ſich von oben herab in 
das ganze Gefüge ergoß, es mit eherner Kraft erfüllte. Begreifen darum 
auch, wie ſchwer ſich das heutige Preußen daran gewöhnen will, daß es 
eben das heutige und nicht mehr das alte iſt! Begreifen, daß es 
unwillig aufbrauſt, wenn es von rauher Wahrheit daran gemahnt wird. 
And doch kann der gute alte preußiſche Geiſt erſt wieder mächtig werden, 
wenn ſich das heutige Preußen — und ſei's ihm noch ſo ſchmerzlich, und 
brenne auch Nöte der Scham auf mancher ſtolz erhobenen Stirne — klar 
bewußt wird, daß dem ſo iſt, daß es ehrliche, mühſame Arbeit an ſich 
ſelbſt verrichten muß, wenn es ſich mit jenem Geiſte wieder erfüllen ſoll. 
Welche in Stein gemeißelte Sprache reden doch dieſe ſo ſchlichten, an ſich 
ſo nüchternen Verfügungen aus den Jahren 1713 und 1748! Hier ſpricht 
der rauhe Ernſt redlichen Willens unmittelbar zu uns. Hier bedarf es 
nicht der vielen prunkenden Worte, die uns „Modernen“ ſo leicht und ſo 
reichlich von den Lippen und der Feder fließen, und die uns doch ſo leer 
und kalt laſſen; die nur die Luft erſchüttern, nicht die Herzen. Wer glaubt 
daran? Wer ſucht auch nur Tieferes, die flüchtige Stunde Uberdauerndes 
darin? Wo ſind die „Erlaſſe“ und „Verfügungen“ von oben, die auch nur 
einen Hauch jenes unerſchütterlich auf Recht und Wahrheit gerichteten 
Willens atmen? 

Treitſchke durfte — vielleicht! — noch ſchreiben: „Das lebhafte per⸗ 
ſönliche Selbſtgefühl, das dem Oeutſchen im Blute liegt, und die Aber⸗ 
lieferung aus der Zeit des Kollegialſyſtems haben den preußiſchen Beamten 
noch immer eine ſtarke Unabhängigkeit der Geſinnung erhalten, auch nach: 
dem die rechtliche Sicherheit ihrer Stellung durch die neuen 
Diſziplinargeſetze ſchwer geſchädigt wurde. Nur grobe Unkenntnis 
kann den deutſchen Beamtenſtand auf eine Linie ſtellen mit dem fran⸗ 
zöſiſchen, der ja in feiner ungeheueren Mehrheit aus Subalternen, Em- 
ployés beſteht und darum allerdings eine willenloſe Herde bildet. Wer war 
jener preußiſche Landtagspräſident, der in den bewegteften Tagen der Kon- 
fliktszeit mit dem Kriegsminiſter perſönlich zuſammenſtieß? Ein aktiver 
königlicher Regierungsrat! Eine Tatſache, die in Italien oder Frankreich 
rein undenkbar wäre. Als der Welfenkönig einſt ſeinen Beamten das 
zyniſche Wort: „Wes Brot ich eß, des Lied ich finge’ einfchärfen ließ, da 
ging ein Nuf der Entrüſtung durch die deutſche Beamtenwelt. Die Mei⸗ 
nung, daß der Beamte nur innerhalb der Schranken des Ge- 
ſetzes zum Gehorſam verpflichtet ſei, ſteht in Deutſchland uner⸗ 
ſchütterlich feſt; drum kann auch das Beamtentum in den Tagen der Not 
eine Stütze des Thrones werden.“ 

Ja, fie — waren, jene tapferen Männer, die bei aller Abhängig- 
keit ihrer Stellung auch vor dem Kampfe mit den herrſchenden Mächten 
nicht zurückſchreckten! Gewiß gibt es auch heute noch ſolche, aber — wo find 
ſie? Stehen ſie an ſichtbaren, ragenden Stellen? Können ſie überhaupt, 
mehr als nur vereinzelt und dann wohl auch nur in Verkennung ihres 


318 Grotthuß: Die Anabhängigreit des preußiſchen Nich ters 


wahren, beſſeren Weſens, hinaufgelangen? And wie mancher, der auf der 
unteren Stufe noch er ſelbſt war, iſt längſt ein anderer geworden, wenn 
er die obere erreicht hat? And weiß vielleicht nicht einmal ſelbſt, welche 
Wandlung — „höhere Fügung“ mit ihm vorgenommen hat? — 

„Die Anabhängigkeit der Geſinnung“, ſo Landgerichtsrat Theiſen, 
„bat bei dem preußiſchen Richter infolge fortgeſetzter Unter 
drückung von oben her, infolge ſyſtematiſcher Subalter 
niſierung des Richterſtandes ftarb gelitten. Die Diſziplinar⸗ 
geſetze geben dazu der Regierung ein geeignetes Mittel an die Hand. 
Durch ſie wird den Richtern zur nachdrücklichen Kenntnis gebracht, daß 
nur die vollſte Anterwürfigkeit unter den Willen der vor 
geſetzten Behörde ihn würdig zu den höchſten Nichterſtellen macht. 
Kein Verbrechen wird ſo ſchwer als Dienſtvergehen beſtraft, als das 
Selbſtbewußtſein, welches ein Richter nach oben zu zeigen wagt. 
Die ſchlimmſten Verfehlungen ſind nichts gegen ein ſelbſtbewußtes Han⸗ 
deln, wenn es nicht nach unten gerichtet iſt.“ 

Theiſen hat Vorſitzende kennen gelernt, die einen jüngeren Kollegen 
deshalb für unfähig hielten, weil er nicht ihrer Anſicht beitrat: „Als ich 
einmal — vorübergehend — bei der Strafkammer beſchäftigt war und mich 
der Anſicht des jüngeren Kollegen von der Nichtſchuld des Angeklagten 
anſchloß, ließ der vorſitzende Direktor nicht nach, bis der jüngere 
Richter feinem Schuldig zuſtimmte. Nach der Sitzung fragte ich 
dieſen, ob er ſich denn wirklich von der Richtigkeit der Anſicht des Direk⸗ 
tors überzeugt habe. Er erwiderte: Wenn er dem Drängen des Direk⸗ 
tors nicht nachgegeben hätte, würde dieſer ungünſtig über ihn berichtet 
haben 

Andere, die ich ſpäter in gleicher Weiſe fragte, gaben als Grund 


zu der nachträglichen Anderung ihrer Anſicht im Sinne des Direktors an, 


daß der letztere kraft ſeines Alters und ſeiner Praxis größere Erfahrung 
beſäße, und ſie deshalb Zweifel in die Richtigkeit ihrer Anſichten geſetzt 
hätten. Das hinderte aber die ſelben Richter nicht, über die Fähigkeiten 
des ſelben Direktors ſich bald darauf abfällig zu äußern. 

Wieder andere wagen es nicht einmal, gegen Erinnerungen der 
Ober⸗Nechnungskammer anzugehen, aus Furcht, die vorgeſetzte Be 
hörde werde ihnen dieſes übelnehmen. Wer empfindet es heute noch, welche 
Herabſetzung der vorgeſetzten Behörde in dieſer Annahme ge⸗ 
legen iſt?“ 

Theiſen führt alles dies nur zum Beweiſe dafür an, daß von einer 
Unabhängigkeit der Gerichte dann nicht die Rede fein könne, wenn, wie an 
feiner Perſon erſichtlich, „ſtets das Damoklesſchwert der Zurück⸗ 
ſetzung über dem Haupte des Richters ſchwebt. Es führt dies in Wirklich⸗ 
keit dazu, daß in gewiſſen Fällen, insbeſondere in ſolchen, an denen die 
Regierung intereſſiert iſt, der Richter nicht „nach feiner ge 
wiſſenhaften Überzeugung‘, wie er geſchworen hat, feines Amtes 


Grotchuß: Die unabhängigkeit des preußiſchen Richters 319 


waltet, fondern auf einen „geheimnisvoll durch die Lüfte nahen- 
den“ Befehl hin 

Man pflegt auch heute noch im Land- und Reichstage vom Minifter- 
tiſch zu betonen, daß niemand beabfichtige, die Unabhängigkeit und Gelb- 
ſtändigkeit der Gerichte und der Richter anzutaſten. Allein was nützen 
Erklärungen, die mit den Tatſachen im Widerſpruche ſtehen? 
Wenn vor allem der Artikel 4 der auch von den Miniſtern be⸗ 
ſchworenen Verfaſſung (‚Die öffentlichen Amter find, unter Einhal⸗ 
tung der von dem Geſetze feſtgeſtellten Bedingungen, für alle dazu Be⸗ 
fähigten gleich zugänglich“ völlig außer acht gelaſſen wird, wenn bei Be⸗ 
ſetzung der maßgebenden und für die Anabhängigkeit der Gerichte bedeutungs⸗ 
vollen Stellen nicht auf die Fähigkeit, ſondern auf die ‚Zuver⸗ 
läſſigkeit' der Richter das größte Gewicht gelegt wird? 

In richterlichen Kreiſen iſt es allgemein bekannt, und der Abgeord⸗ 
nete Kirſch, Amtsgerichtsrat in Düſſeldorf, hat dem ſeinerzeit im Abgeord⸗ 
netenhauſe Ausdruck gegeben, daß bei der Beſetzung der höheren Richter⸗ 
ſtellen, insbeſondere auch beim Reichsgericht, nicht (ſagen wir: nicht in 
erſter Reihe. D. T.) auf die juriſtiſche Fähigkeit geſehen wird. Vor 
Jahren machte ich eine gleiche Bemerkung einem Reichsgerichtsrate 
gegenüber, der gleichfalls ſein Bedauern über dieſes Syſtem aus⸗ 
ſprach und hinzufügte, das Reichsgericht ſei aus ſich heraus nicht imſtande, 
dieſe, das Anſehen des höchſten Gerichtshofes in jeder Weiſe beeinträch⸗ 
tigenden Berufungen ungeeigneter Richter zu verhindern 

Wenn bei Beſetzung der höheren Richterftellen nur die Suverlaffig- 
keit in Rüdficht gezogen wird, fo iſt es natürlich, daß das Anſehen unferer 
Gerichte untergraben wird. Zuverläſſigkeit erzeugt Rückgratloſigkeit, Rück⸗ 
gratloſigkeit wieder Unfähigkeit. Und fo ſehen wir denn, daß manchmal die 
unfähigſten Richter in die höchſten Stellen einrücken, nur weil fie ‚zuver- 
läſſig“ find, mit anderen Worten, weil fie nicht, wie es der Dienſteid vor- 
ſchreibt, nach eigener gewiſſenhafter Aberzeugung ihren Beruf ausüben, 
ſondern nach den ſtets wechſelnden Anſichten der wechſelnden Regierung. 
Ich frage aber: Zeigen dieſe zuverläſſigen Richter der Achtung, des An⸗ 
ſehens und des Vertrauens, die der richterliche Beruf erfordert, ſich würdig? 
Wo bleibt bei ſolchen Richtern die Anklagebehörde, die bei Verletzung der 
Form ſofort mit der Anklage bei der Hand iſt? 

Im Abgeordnetenhauſe und im Reichstage iſt von feiten der Re 
gierung wiederholt die Erklärung gefallen, die Gerichte ſtänden gegenüber 
den gegen ſie erhobenen Angriffen viel zu hoch, als daß ſie dadurch leiden 
könnten. Dann aber behauptet die ſelbe Regierung, das Anſehen der Richter 
habe gelitten und bedürfe einer Aufbeſſerung. Solche Erklärungen fallen 
aber nur dann, wenn ſie nötig find zur Durchführung von Geſetz⸗ 
entwürfen, die bezwecken, zuverläſſige Richter zu erhalten... 

Das Anſehen der Gerichte hat gelitten. Das läßt ſich leider nicht 
beſtreiten. Die Schuld daran trifft aber nicht den preußiſchen Richter, 


320 Srotthuß: Die Lnabhingtigtett des preußiſchen Richters 


der im großen und ganzen ſich noch die von Treitſchke gekennzeichnete 
‚unabhängige Geſinnung, die dem preußiſchen Beamten eigen iſt', bewahrt 
hat, ſondern die Regierung, die den preußiſchen Traditionen 
zuwider darauf bedacht iſt, fic) „zuverläſſige“ Richter zu beſchaffen.“ 

Alle Vorſchläge zur Hebung des Anſehens der Gerichte können 
nichts nützen, ſolange dem Richter nicht die beſchworene Unabhängigkeit 
verbürgt wird: 

„Man hat auf die engliſchen Richter verwieſen, auf das Anſehen, 
welches in England die Richter genießen, und man hat daraus entſpre⸗ 
chende Vorſchläge zur Beſſerung der Verhältniſſe bei den deutſchen Ge⸗ 
richten gemacht. Man erwägt dabei aber nicht, daß der Deutſche kein Eng⸗ 
länder iſt, daß die ſtaatlichen und politiſchen Zuſtände in 
Deutſchland ganz andere ſind wie in England. Man überſieht 
vor allem, daß die Unabhängigkeit der Richter in England von der eng: 
liſchen Regierung nicht angetaſtet wird. Man unterläßt bei allen 
dieſen Vorſchlägen die Prüfung, ob denn den Richter ſelbſt an der ‚Recht: 
ſprechung', wie fie in den letzten Jahren vielfach mit Recht bemängelt worden 
ift, in erſter Linie die Schuld trifft, oder ob die Richter nicht ein em 
äußeren Zwange folgen. 

Ich bin weit davon entfernt, ſolche Richter in Schutz zu nehmen. 
Lm aber gerecht zu fein, muß ich erklären, daß manche Richter nicht anders 
handeln können, wollen ſie nicht ſich und ihre Familie dauernd 
für ihr Leben unglücklich machen oder doch wenigſtens durch Zurück⸗ 
ſetzung vor anderen Richtern ſich benachteiligt ſehen.“ 

Nicht durch Übernahme ausländifcher, rein äußerlicher Einrichtungen 
und Zuſtände, die für das Deutſche Reich nicht paſſen, ſei eine Beſſerung 
zu erzielen, ſondern allein aus dem deutſchen Innern heraus, aus dem deut⸗ 
ſchen Weſen und den deutſchen Tugenden, die eingeſchlafen ſind —, aus 
dem Richterſtande ſelbſt: 

„Erforderlich iſt hierzu vor allem, daß jeder Richter beſtrebt iſt, 
weniger Selbſtbewußtſein nach unten, aber mehr Selbſt⸗— 
bewußtſein nach oben zu gewinnen. 

Ich meine natürlich nicht jenes Selbſtbewußtſein, welches ſich über 
die Geſetze wegſetzt, oder das Gelbfibewußtfein, welches jenem Kammer⸗ 
gerichtsrat eigen war, der die Worte des Geſetzes: „Paragraph ſo und ſo 
findet entfprechende Anwendung“, auslegt: „Der Paragraph findet nur An⸗ 
wendung, wenn er mir entspricht‘, ſondern das Bewußtſein, zu allen Seiten 
und in allen Lagen nach eigener gewiſſenhafter Überzeugung fo zu handeln, 
wie es die Pflicht gebeut, ohne auf die Überzeugung anderer zu achten, 
wenn man ſie für unrichtig hält. 

An dieſem Selbſtbewußtſein gebricht es ſo manchem preußiſchen 
Richter. Dies iſt erklärlich, wenn man die Diſziplinarerkenntniſſe 
gegen Richter in Rückſicht zieht, die jedes Selbſtbewußtſein als des 
Richters unwürdig erklären. Bezeichnend iſt die Begründung, die der große 


GrotthuB: Die Anabhangigheit des preußifchen Richters 321 


Difgiplinarfenat in dem auf Amtsentſetzung des Amtsgerichtsrates Seidler 
erkennenden Urteile für dieſe Strafe anführt. Sie lautet: 

„Bei ſeinem hochgradig geſteigerten und ſtarren Selbſtbewußt⸗ 
fein (!) liegt die Gefahr nahe, daß er auch in Zukunft jederzeit bei 
beliebigem, geringfügigem Anlaß ſich wiederum zu einem ſolchen mit den 
Pflichten der Subordination (ö) durchaus unverträglichen Verhalten 
hinreißen laſſen wird. Damit iſt die Unmöglichkeit, ihn in ſeiner 
amtlichen Stellung zu belaſſen, dargetan.“ 

Hält man dieſer Begründung noch die Tatſache gegenüber, daß ein 
Mitglied des Diſziplinarſenates auf die Frage, wie es denn zur Entlaſſung 
des Amtsgerichtsrates Seidler habe kommen können, erwidert hat: Recht 
hat er ja überall gehabt; entlaſſen iſt er nur wegen der Schärfe feiner 
Ausdrücke, fo ſteht man nicht vor einem Rätfel, wie ſolches Urteil möglich 
iſt, ſondern man weiß damit in einer jeden Zweifel ausſchließenden Weiſe, 
daß die „maßgebenden Richter’ ihre Kollegen der unteren Inſtanzen des 
hohen Richterberufes nur für würdig halten, wenn fie ſich jede unwürdige 
Behandlung von oben her gefallen laſſen, wenn ſie ihr eigenes Ich ver⸗ 
leugnen. 

Alſo allein die Gefahr, daß ein Richter in Zukunft ſich abermals 
gegen eine nach ſeiner Anſicht ungehörige Behandlung durch den vor⸗ 
geſetzten Landgerichtspräſidenten wenden könne, beſtimmt den großen Diſzi⸗ 
plinarfenat, die Amtsentſetzung auszuſprechen .. Wie wird der große 
Diſziplinarhof erſt einen Richter verurteilen, der feine Amts pflichten 
verletzt? 

Ein Amtsrichter, deſſen Benehmen gegen das Publikum allgemein 
als rohes bezeichnet wurde, der das Wort Ochſe oder halten Sie das Maul 
wiederholt anwandte, der alte und junge Leute, die als Zeugen vor ihm 
ſtanden, anfuhr uſw., der die Aus ſage eines nicht vernommenen 
Zeugen erdichtete und ins Protokoll aufnahm, der wurde nur 
zur Strafe der Zwangs verſetzung verurteilt! 

Und der Amtsgerichtsrat Seidler, der das böchite Vertrauen der Ein⸗ 
geſeſſenen feines Amtsbezirks genoß, wurde amtsentſetzt, weil er es ge 
wagt hatte, ſich gegen die nach ſeiner Meinung ungehörige Behand⸗ 
lung durch einen Vorgeſetzten zu beſchweren und dabei vielleicht, 
d. h. nach der Anſicht ſeiner Richter, im Ausdruck zu ſcharf geweſen iſt. 

Daß unter ſolchen Verhältniſſen bei den Richtern eine Furcht be⸗ 
ſteht, bei Betätigung ihres Berufes, wie es die Verfaſſung 
und der geleiſtete Dienſteid vorſchreibt, ſich zu ſchädigen, 
darauf habe ich ſchon in meiner Eingabe an den Herrn Juſtizminiſter vom 
4. Oktober 1906 hingewieſen. Um aber die Folgen des Syſtems zu kenn⸗ 
zeichnen, muß ich noch auf einige Fälle hinweiſen. Nur ‚zuverläſſige“ 
Menſchen werden mir entgegenhalten, alles, was ich anführe, ſeien nur 
vereinzelte Fälle, die keinen Grund zur Verallgemeinerung gäben. Es 


find nur einzelne Fälle, die ein einzelner Richter een, die er 
Der Türmer X, 9 


322 Grotthuß: Die Unabhängigkeit des preußiſchen Richters 


aus einer Reihe von anderen Gallen berausgreift, weil zu ihrem Beweiſe 
die Zeugen gegeben ſind. Jeder Richter — ich meine natürlich nicht die 
zuverläſſigen Richter, da dieſe gewöhnlich eines der Verwaltung unan⸗ 
genehmen Falles ſich nicht mehr zu erinnern pflegen, um ſich nicht zu fchä- 
digen, — der noch zu denken wagt, wird zu dieſem Kapitel ſeinen Beitrag 
liefern können, fo daß die „vereinzelten Galle’ die Regel bilden.“ 

Der Direktor, fol er zu höheren Stellen geeignet fein, muß es ver- 
ſtehen, ſeine Anſicht bei den Beiſitzern durchzudrücken: „Einem Direktor 
wurde ſogar daraus ein Vorwurf gemacht, daß er ſeine Beiſitzer in Schutz 
nehme. Er dürfe, ſo wurde ihm geſagt, die Beiſitzer ſelbſt dann 
nicht in Schutz nehmen, wenn ſie recht hätten. Man kann daraus 
entnehmen, welche Bedeutung ſo mancher beiſitzende Richter 
in der deutſchen Gerichtsorganiſation hat. Und es laſſen ſich ſo manche 
Urteile, an denen die Regierung ein Intereſſe hat, erklären. 
Ein Regierungsrat, der als Referendar unter dem bekannten Direktor 
v. Brauſewetter gearbeitet hat, erzählte mir, daß die damalige adlige“ 
Kammer, wie ſie genannt worden ſei, weil die Mehrheit unter einem adligen 
Direktor aus adligen Richtern beſtanden hätte, niemals ein felbftän- 
diges, von der Anſicht des Direktors (des längſt geiſtes⸗ 
kranken, an fortſchreitender Gehirnerweichung geſtorbenen 
Brauſewetterl! G.) abweichendes Urteil gehabt habe. 

Ein Kollege, ein Amtsgerichtsrat, bemerkte mir, er möchte nicht Land⸗ 
richter ſein. Er habe vertretungsweiſe einmal bei der Strafkammer in der 
Strafſache gegen X., einer Strafſache, an deren Ausgang die Regierung 
intereſſiert war, mitgewirkt, und es ſei ihm die Angſtlichkeit und die 
Sucht der Richter, alles Material, welches den Angeklagten zu belaſten 
geeignet war, herauszukehren und ſofort hervorzuheben, aufgefallen. Unter 
ſolchen Verhältniſſen ſei es keine Ehre, am Landgericht tätig zu ſein. 

Kann man bei dieſer Furcht des Richters noch von 
un abhängiger Juſtiz reden? Kann eine unabhängige Nechtſprechung 
beſtehen, wenn ein Landgerichtsdirektor Schmidt in Berlin, der ſtändig Vor⸗ 
ſitzender einer Strafkammer war, plötzlich wegen des in der Sache Harden 
wegen Majeſtätsbeleidigung unter ſeinem Vorſitze erlaſſenen Arteiles ſich 
an eine Zivilkammer ‚verfegen ließ“, fei es auch nur auf den kaum verſtänd⸗ 
lichen Druck ſeiner Kollegen hin? 

Gibt es wohl ein treffenderes Beiſpiel für die Tatſache, daß ein 
Direktor ſeine Anſicht bei den Beiſitzern durchdrücken müſſe? Nicht der 
Direktor Schmidt hat jenes Urteil gefällt, ſondern die Strafkammer, 
welche aus 5 Richtern beſteht oder doch nach dem Geſetze beſtehen 
ſoll, und nicht aus dem Vorſitzenden allein. Aber der Direktor gilt der 
Juſtizverwaltung als der verantwortliche Redakteur. Sind auf dieſe 
Weiſe nicht ſo manche Arteile verſtändlich, und iſt auch nicht die Höhe ſo 
mancher Strafen erklärlich, namentlich wenn man noch die Tatſache in 
Rückſicht zieht, daß ein Direktor bei der Beratung über eine Majeſtäts⸗ 


Grotthuß: Die Unabhängigkeit des preußiſchen Richters 323 


Beleidigung den Beiſitzern erklärt, er müſſe über den Fall nach oben 
berichten, und es würde dort gerne geſehen, wenn ſolche An⸗ 
geklagten ſcharf beſtraft würden? 

Naturgemäß muß die Verwaltung, um zu dem Material ‚zuverläf- 
figer’ Richter zu gelangen, nicht auf die Fähigkeit ſehen; ein fähiger Richter 
iſt in den meiſten Fällen kein zuverläſſiger Richter, da ihm zu viel Selbſt⸗ 
bewußtſein eigen iſt. So ſehen wir denn, daß mancher Staatsanwalt, der 
nicht mehr die Fähigkeit zu höheren Stellen in der Staatsanwaltſchaft hat 
oder wegen irgendwelcher Begebenheiten nicht mehr würdig iſt, Staats- 
anwalt zu ſein, immer noch fähig und würdig iſt, Richter zu ſein. Man 
darf ſich deshalb darüber nicht wundern, daß der Herr Juſtizminiſter 
Schönſtedt darin nichts fand, daß der Ginangminifter von Miquel in 
der Budgetkommiſſion vom 3. Februar 1897 erklärte, die Gleichſtellung 
der Amts- und Landrichter mit den Regierungsräten fei eine 
Degradation der Verwaltungsbehörden. (ö) 

Ein Staatsanwalt, der häufig betrunken in der Straßenrinne gefunden 
wurde, wird von der Suftigverwaltung nicht mehr für würdig gehalten, 
Staatsanwalt zu fein, — als Amtsgerichtsrat iſt er aber noch gut 
genug, bis er auch dieſer Stelle ſchließlich für unwürdig gehalten worden iſt. 

Ein Oberſtaatsanwalt war trotz ſtändiger Beſchäftigung mit dem 
Strafrecht ſo wenig mit deſſen einfachſten Grundſätzen vertraut, daß er 
in öffentlicher Sitzung des Strafſenates die Umwandlung mehrerer Geld— 
ſtrafen in eine Geſamtſtrafe unter Ermäßigung der Einzelſtrafen beantragte. 
Er wurde ſpäter Senats präſident und damit unter ‚die Blüten der 
Juſtiz“, wie einmal im Landtage die Senatspräſidenten vom Miniſtertiſche 
aus genannt wurden, verſetzt. Welche Blüten ſolche Blüten wieder 
hervorbringen, das liegt auf der Hand. 

Man ſendet in die Rheinprovinz manchmal Direktoren, oft frühere 
Staatsanwälte, die von den rheiniſchen Richtern als Muſterdirektoren 
bezeichnet werden, weil ſie angeblich dem rheiniſchen Richter zeigen ſollen, 
wie die Nechtſprechung gehandhabt werden muß. Von ihnen kann man 
lernen, wie ſie nicht gehandhabt werden ſoll. Mit einem vielfach durch 
keine Sachkenntnis getrübten Blick führen fie zum Gaudium der Re 
ferendare und zum Nachteil des Anſehens der Juſtiz den Vorſitz, und 
manche Unglaublichkeiten werden von ſolchen Muſterdirektoren in Richter⸗ 
kreiſen erzählt. 

Wenn von der Zentralinſtanz das Anſehen der Gerichte in dieſer 
Weiſe unterdrückt wird, ſo iſt es erklärlich, daß in dem ſelben Geiſte die 
Provinzialinſtanzen fortſchreiten und die Subalterniſierung des 
RNichterſtandes durchführen. 

Ein Gerichtsaſſeſſor hatte das Anglück, gerade zu der Zeit, als ein 
ihm übertragenes Kommiſſorium an einem kleinen Orte zu Ende ging, ſich 
eine Verletzung der Knieſcheibe zuzuziehen. Er meldete dies unter Bei⸗ 
fügung eines ärztlichen Atteſtes der vorgeſetzten Behörde mit dem Berichte, 


324 Grotthuß: Die Anabhängigkeit des preußiſchen Richters 


daß er infolge ſeiner Erkrankung nicht imſtande ſei, ſeine Tätigkeit bei dem 
Amtsgericht, dem er zur unentgeltlichen Beſchäftigung überwieſen war, 
augenblicklich anzutreten. Nach einiger Zeit erſcheint in ſeiner Wohnung 
ein Polizeidiener und erkundigt ſich eingehend nach ſeinem Befinden. 
Der Aſſeſſor, erſtaunt über die Teilnahme der Polizeibehörde, fragt, was 
denn dieſe veranlaſſe, über ſein Befinden ſich zu erkundigen. Da erfährt 
er denn zu ſeiner Verwunderung, daß der Polizeidiener von ſeiner Be⸗ 
hörde hierzu beauftragt fei, weil die Suftigverwwaltung angefragt habe, ob 
der Aſſeſſor wirklich ſo krank ſei. 

Ein Landrichter hatte um einige Wochen Urlaub gebeten, weil er 
dieſer Zeit zur Regelung einer Nachlaßangelegenheit bedürfe. Der Vor⸗ 
geſetzte forderte eine Beſcheinigung des Bürgermeiſters des Nach⸗ 
laßortes, daß der Landrichter dieſen Urlaub auch wirklich nötig habe. Der 
Bürgermeiſter erklärte, daß er ja nicht beurteilen könne, ob zur Regelung 
des Nachlaſſes wirklich die geforderte Zeit notwendig ſei; wenn aber der 
Landrichter ihm die dahingehende Verſicherung abgebe, wolle er die Be⸗ 
ſcheinigung ausſtellen. Dies geſchah. Warum aber begnügte ſich der Vor⸗ 
geſetzte der Juſtiz nicht mit der dienſtlichen Verſicherung des Richters? 

Solche Behandlung der Richter durch die vorgeſetzte Behörde zeigt 
ſich weiter auch bei Beſchwerden über dieſe, insbeſondere wenn ſie von 
der Regierung erhoben werden. Die Regierung weiß ganz genau, 
daß ihren Wünſchen ſtets Rechnung getragen wird, wenn 
auch der Richter noch ſo ſehr im Rechte iſt, und wenn die 
Wünſche der Regierung noch ſo ſehr gegen die Verfaſſung 
verſtoßen. Ein alter erfahrener rheiniſcher Senatspräſident, eine wirk⸗ 
liche Blüte der Juſtiz, erklärte einmal in einer Unterredung: Ich verſtehe 
nicht, wie die Juſtizverwaltung ſich noch der Einſicht verſchließen kann, daß 
das Anſehen ihrer Beamten ſowohl dem Publikum wie den anderen Be- 
hörden gegenüber immer mehr zurückgeht. Dies hat nicht allein in der Art 
und Weiſe, wie die Rang- und Gehaltsfrage geregelt iſt, feine Begrün⸗ 
dung, ſondern nicht zum wenigſten in der Tatſache, daß unſere Be⸗ 
hörde ihre Beamten bei der geringfügigſten Veranlaſſung 
fallen läßt und darum jede andere Behörde glaubt, ſich an 
den Beamten der Juſtiz reiben zu können.“ 

Die Regierung beſchwert ſich über einen Richter, weil dieſer eine 
ſachliche Kritik des Verteidigers über ein Gutachten von Regie 
rungsbeamten in der Schöffengerichtsſitzung nicht zurückgewieſen, 
auch den Angeklagten freigeſprochen habe, weil er dem Gutachten der von 
der Verteidigung geladenen Sachverſtändigen, nicht aber demjenigen der 
Regierungsbeamten beigetreten ſei. Am Schluſſe der Beſchwerde drückt dann 
der Regierungspräſident den Wunſch (0 aus, daß der Richter 
bei der Geſchäftsverteilung an eine andere Abteilung verſetzt werde, 
weil es den Regierungsfachverftändigen nicht angenehm () fein 
könne, in anderen Verhandlungen wieder vor jenem Richter zu erſcheinen. 


Grotthuß: Ote Unabhängigkeit des preußiſchen Richters 325 


Es kann danach nicht weiter auffällig erfcheinen, daß die Regierung, 
wie ſchon im Landtage hervorgehoben wurde, ſich auch anderwärts einen 
Einfluß auf die Geſchäftsverteilung bei den Gerichten verſchafft und dafür 
Sorge trägt, daß ein Richter nicht weiter in Sachen tätig 
iſt, welche nicht nach dem Gutdünken der Regierung erledigt 
werden, daß in der Öffentlichkeit und in Richterkreiſen behauptet wird, 
es wäre ſelbſt bei einem Senate ein Richter beſeitigt worden, 
auf deſſen geiſtige Arheberſchaft die Aufhebung fo mancher ungültigen 
Polizeiverordnung zurückgeführt wird. 

Wenn die Regierung ſelbſt ſich in einer mit der Verfaſſung nicht 
zu vereinbarenden Weiſe in die Unabhängigkeit der Juſtiz miſcht, dann iſt 
es endlich nicht verwunderlich, daß ſogar ein Landrat an die Richter 
ſeines Kreiſes das Erſuchen richtet, auf eine ſtrenge Ahndung be— 
ſtimmter Geſetzesübertretungen bedacht zu ſein. Noch weniger kann es 
dann auffallen, wenn ein Richter auf die Frage, weshalb er ſolche Er- 
ſuchen nicht auch zurückweiſe, erwidert: „Man wiſſe nicht, wie der Land- 
rat einem ſchaden könne, wenn er einmal zum Bericht über 
uns (I!) aufgefordert werde. 

Die Folge iſt, daß den Richtern jedes Selbſtbewußtſein verloren 
geht, daß insbeſondere vielfach bei Rollegialgerichten die beiſitzenden Richter 
nur dekorativ wirken. Denn viele Beiſitzer fürchten ſich, ihre eigene Lber- 
zeugung in der erforderlichen Weiſe zum Ausdruck zu bringen, namentlich 
dann, wenn der Vorſitzende ſogar der Vorgeſetzte iſt. Nur junge Aſſeſſoren, 
welche noch den nötigen Idealismus in ihren Beruf bringen, zeigen zu- 
weilen, wenn ſie etwas leiſten, die erforderliche Selbſtändigkeit des Arteils. 
Sie nehmen aber bald davon Abſtand, da fie die Gefahren er- 
kennen, welche ſolche ‚ideale‘ Auffaſſung ihres Berufes mit ſich führt. 
Manche Vorſitzende können keinen Widerſpruch vertragen, und wenn der 
Beiſitzer ſich nicht fügt, ſo kann er verſichert ſein, daß die Perſonalakten 
ihn als ftarren, ſelbſtbewußten oder eigenſinnigen Menſchen, als ‚einen 
Richter, der ſich Anordnungen von oben nicht fügt‘, bezeichnen. 

Man ſieht, es iſt nicht angenehm, Richter bei einem Kollegialgericht 
zu ſein, wenn man auf den Dienſteid etwas hält und nicht zu 
allem feine Zuſtimmung gibt oder, wie mir einmal erklärt wurde, ,fid auf 
die Lippen beißen muß, um den törichten Anſichten der älteren 
Herren beim Oberlandesgerichte nicht widerſprechen zu miiffen’. 

So gelangen wir dazu, daß der Richter vielfach ſich als Schul. 
knabe behandeln läßt. Ein Beiſpiel hierfür iſt die Art und Weiſe, wie 
manche Vorſitzende, getreu dem Grundſatze der Juſtizverwaltung, daß der 
Vorſitzende feine Anſicht bei den Beiſitzern durchdrücken müſſe, die Ure 
teile der Beiſitzer, wie deutſche Aufſätze, verbeſſern, obſchon 
ſie wegen mangelnder Fähigkeiten dazu manchmal nicht imſtande ſind. In 
Richterkreifen heißt dieſe Arteilsverbeſſerung durch den Direktor: ‚Das 
Urteil wird irrevifibel gemacht.“ Ich habe mich dem von vornherein ſtets 


326 Grotthuß: Die Unabhängigkeit des preußiſchen Richters 


widerſetzt und jedem Direktor die Verbeſſerung ausdrücklich unterſagt mit 
der Erklärung, daß ich andernfalls nachträglich meine Anterſchrift ſtreichen 
würde. Ich habe mich vor allem deshalb dem widerſetzt, weil zuweilen von 
nicht fähigen Direktoren Tatſachen in das Arteil hineinverbeſſert 
werden, die nach dem Ergebniſſe der Hauptverhandlung nicht zutreffen und 
nur in der Vorunterſuchung aktenmäßig feſtgeſtellt find. . . 

Das Reichsgericht hebt zuweilen ein Urteil wegen ſolcher ‚Ver- 
beſſerungen“ durch den Vorſitzenden auf, ‚weil die von fremder Hand her⸗ 
rührende Abänderung unverftändlich fei in Hinblick auf die weiteren Aus⸗ 
führungen“. Aber ſolche Aufhebung verbeſſerter Urteile durch das Reichs⸗ 
gericht erfolgt nicht immer, obſchon dieſe meiſt nicht den Vorſchriften 
der Strafprozeßordnung entſprechen, da die Verbeſſerung nachträglich 
ohne Wiſſen des Arteilsverfaſſers einſeitig durch den Vor 
ſitzenden vorgenommen wird, nachdem die übrigen Beiſitzer das Arteil 
ſchon unterſchrieben haben. 

Wie die Richter ſubalterniſiert werden, ergibt ſich auch daraus, daß 
z. B. in einem Bezirke die Gerichtsſchreiber Anweiſung hatten, dem Land⸗ 
gerichtspräſidenten alltäglich einen Reſtezettel einzureichen, auf welchem die 
Anzahl der vom Richter bis zum Ablaufe des Tages nicht erledigten 
Sachen verzeichnet ſind. Ein ſolches Verzeichnis kann nur aufgeſtellt wer⸗ 
den, wenn der Gerichtsſchreiber die Tätigkeit des Richters 
kontrolliert.“ 

Alle dieſe Verhältniſſe, legt Theiſen an anderer Stelle dar, haben 
naturgemäß zur Folge, daß die Beſtimmung des Gerichtsverfaſſungs⸗ 
geſetzes: „die richterliche Gewalt wird durch unabhängige, nur 
dem Geſetze unterworfene Gerichte ausgeübt“, immer mehr außer 
Anwendung kommt. „Es iſt eine allgemeine menſchliche Schwäche, zwecks 
beſſeren Fortkommens feine eigene Überzeugung hintanzuſetzen. Und was 
unter ſolchen Umftänden das Urteil eines Gerichts in gewiſſen Fällen für 
einen Wert hat, das liegt auf der Hand“. Die Furcht des Richters vor 
der Zurückſetzung nehme infolgedeſſen immer mehr zu. Dieſe Furcht habe 
in der Praxis dazu geführt, daß das, was durch die Vorſchriften des Ge⸗ 
richtsverfaſſungsgeſetzes (SS 62, 63) verhindert werden ſollte, daß nämlich 
„eine tendenziöſe Einwirkung der Landesjuſtizverwaltung auf die Bildung 
und Beſetzung der Kammern und Senate ſowohl in Einzelfällen wie auch 
im allgemeinen ausgeſchloſſen werden ſollte“, in Wirklichkeit Geltung hat. 

And dazu allgegenwärtig und allmächtig das drohende Geſpenſt der 
Diſziplinierung! Nach § 8 des Reichsgerichtsverfaſſungsgeſetzes vom 7. Mai 
1851 können zwar Richter „wider ihren Willen nur kraft richterlicher Entſchei⸗ 
dung und nur aus den Gründen und unter den Formen, welche die Ge⸗ 
ſetze beſtimmen, dauernd oder zeitweiſe ihres Amtes enthoben oder an eine 
andere Stelle oder in den Ruheſtand verſetzt werden“. Das Geſetz ver⸗ 
langt alſo: 1. richterliche Entſcheidung; 2. bei Fällung dieſer Entſcheidung 
die Beachtung der Gründe und der Formen, welche die Geſetze beſtimmen. 


Grotthuß: Die Inabhängigkeit des preußiſchen Richters 327 


Diefe „Gründe“ und „Formen“ aber find in dem Diſziplinargeſetz vom 
7. Mai 1851 enthalten. § 1 dieſes Geſetzes lautet: „Ein Richter, welcher 
1. die Pflichten verletzt, die ihm ſein Amt auferlegt, oder 
2. ſich durch ſein Verhalten in und außer dem Amte der Achtung, des 

Anſehens oder des Vertrauens, die ſein Beruf erfordert, unwürdig zeigt, 

unterliegt den Vorſchriften dieſes Geſetzes.“ 

„Wie leicht“, bemerkt Theiſen, „kann bei dieſer Faſſung des Ge- 
ſetzes jeder Richter, der es wagt, ohne Anſehen der Perſon feinen Beruf 
auszuüben, unter Anklage geſtellt werden! Wie leicht kann mit irgend- 
welchen Behauptungen erkannt werden, daß der Angeſchuldigte ſich 
des Anſehens uſw., das der richterliche Beruf erfordert, unwürdig ge⸗ 
zeigt habe 

Es wird ein ſchriftliches Verfahren eingeleitet; der Angeſchuldigte 
und die Zeugen werden darin vernommen, und es wird dann dem Ange⸗ 
ſchuldigten eine Anklageſchrift zugeſtellt, aus der er entnehmen kann, was 
ihm eigentlich zur Laſt gelegt wird, oder richtiger, er erfährt jetzt erſt, wie 
ſeine Handlungen von der Anklagebehörde ausgelegt werden. 

Dann wird ein ſogenanntes mündliches Verfahren eröffnet. Ein 
Berichterſtatter hält einen je nach feinem Temperament und feinen Fähig⸗ 
keiten mehr oder weniger eintönigen und objektiven Vortrag über das Er- 
gebnis des ſchriftlichen Verfahrens. Darauf wird dem Staatsanwalt und 
dann dem Angeklagten das Wort erteilt. Eine Frageſtellung, d. h. eine 
Anterbrechung des Berichterſtatters bei der Vorleſung der ſchriftlichen 
Zeugenausſagen iſt nicht geſtattet, jedenfalls mir vor dem Kammergericht 
nicht erlaubt worden. 

Nun betrachte man die Stellung des Angeklagten! Auf Grund eines 
ſolchen eintönigen Vortrages ſoll er aus dem ihm vorgeleſenen Ergebniſſe 
der von der Anklagebehörde ‚für nötig befundenen“ Beweisaufnahme ſofort 
das Weſentliche zu ſeiner Verteidigung herausſuchen. Er iſt nicht in der 
glücklichen Lage wie die Staatsanwaltſchaft, vorher die Einſicht der Akten 
zu haben und ſich das zu ſeiner Verteidigung dienende Material zuſammen⸗ 
zuſtellen 

Trotzdem wird dem Angeklagten zugemutet, daß er beim Verleſen 
des Alteninhalts ſofort das Erhebliche von dem Anerheblichen, das ihm 
Vorteilhafte von dem ihn Belaſtenden erkennen ſoll. Eine Frageſtellung 
iſt ihm während des Vortrages des Berichterſtatters ja nicht erlaubt; er 
fol fic alles bis zur Beendigung des Berichtes aufſpeichern 

In der mündlichen Verhandlung, wenn man ſie als ſolche überhaupt 
bezeichnen darf, werden die Zeugen nicht gehört. Der Angeklagte iſt auch 
nicht imſtande, irgendwelche Fragen an die Zeugen zu richten und Irr⸗ 
tümer richtigzuſtellen oder Erhebliches zu eruieren. Wie ſehr ein münd- 
liches Verfahren nötig iſt, das hat doch der Königsberger Hochverrats⸗ 
prozeß gezeigt! 

Trotzdem wird aber geurteilt. 


328 Grotthuß: Die Anabhängigkeit bes preußtfchen Richters 


Und dann die Richter! 

Die Juſtizverwaltungsbehörde erhebt die Anklage, ein Beamter der 
Juſtizverwaltung, der Präſident des Gerichts, der nominell auch Richter iſt, 
führt den Vorſitz. Untergebene von ihm find ihm zugeteilt. Welche 
Richter haben ſich aber ſoviel Selbſtbewußtſein bewahrt, daß ſie mit der 
erforderlichen Energie ihre eigene Aberzeugung gegenüber der des Vor⸗ 
geſetzten zu vertreten wagen. Wenn die Richter jede Art Selbſtbewußtſein 
gegenüber dem Vorgeſetzten für ſtrafbar halten, dann wird eine energiſche 
Vertretung ihrer Anſicht ſchwerlich ſtattfinden, zumal wenn erwogen wird, 
daß die Juſtizverwaltung von einem Vorſitzenden verlangt, daß dieſer feine 
Anſicht bei den Beiſitzern durchdrücken müſſe. 

So entſteht eine gerichtliche Entſcheidung im Sinne des § 8 des 
Reichsgerichtsverfaſſungsgeſetzes!“ 

Der Verfaſſer richtet dann an die Herren, die vom deutſchen und 
preußiſchen Volke auserkoren find, die verfaſſungsmäßigen Rechte des Vol⸗ 
kes zu wahren, die Frage: „Darf ein Geſetz, wie das Geſetz betreffend 
die Dienſtvergehen der Richter, vom 7. Mai 1851, noch einen Augenblick 
weiter befteben, wenn die Anabhängigkeit der Gerichte nicht bloß 
eine Phraſe ſein ſoll?“ 

Nach alledem kann es auch nicht mehr wundern, daß den Verhand⸗ 
lungen, die Theiſen in Frankfurt a. M. als vorſitzender Richter leitete, ſtets 
zwei Kriminalſchutzleute in Zivil beiwohnten. Ein Recht 
ſprechender königlich preußiſcher Richter bei der Aus⸗— 
übung feines Amtes unter Polizeiaufſicht! Auch ein preußiſches 
Kulturbild! Eine prachtvolle, eine glorioſe Beleuchtung des Simpliziſſimus⸗, 
— pardon, Kanzlerwortes: „Preußen in der Welt voran!“ Wer möchte 
danach Theiſen noch der Abertreibung zeihen, wenn er in einer Eingabe 
feſtſtellt: „Ich ſtehe im Vergleich zu einem Schutzmann rechtlos dal” 

And das alles, weil er als Richter es „gewagt“ hatte, „den Schutz 
des Geſetzes Arm und Reich in gleicher Weiſe, den Verkommenen, wie 
den manchmal nur äußerlich Ehrbaren zuzuwenden“ 

Das mit erſtaunlicher Konſequenz durchgeführte Syſtem zielbewußter 
Unterdrückung der Unabhängigkeit des preußiſchen Richterſtandes, wie des 
preußiſchen Beamten überhaupt, war eines jener heimtückiſchen Mittel, mit 
denen die preußiſche Reaktion die freiheitlichen Beſtrebungen und Errungen⸗ 
ſchaften des Volkes wieder wettzumachen ſuchte. Je lebhafter ſich das Volk 
feiner angeborenen Rechte bewußt ward, je weiter der Abſolutismus äußer- 
lich vor ihm zurückweichen mußte, um ſo hartnäckiger verſteifte ſich die 
Reaktion im Innern, um ſo rückſichtsloſer gebrauchte ſie die, trotz aller 
formellen Konzeſſionen, ihr nach wie vor zu Gebote ſtehenden tatfad- 
lichen Machtmittel. And was konnte ihren Zwecken beſſer dienen als 
ein durch Peitſche und Zuckerbrot gefügig gemachtes, zu unbedingter „Zuver- 
läſſigkeit“ zermürbtes Richterkorps, das feine Ehre nicht mehr in altpreußiſcher 
Anabhängigkeit und Annahbarkeit auch gegen Einflüſſe der Höchſtſtehenden 


Srotthuß: Die unabhängigkeit des preußiſchen Richters 329 


ſehen ſollte, ſondern in der unbedingten Anpaſſung an die Wünſche und 
Intereſſen der jeweils maßgebenden Faktoren? 

Was immer auch Geſetz und Verfaſſung dem Volke an Rechten ein- 
räumen mochten: — eine „zuverläſſige“ Rechtſprechung neben einer noch 
„zuverläſſigeren“ Verwaltung konnte alles wieder ausſchalten, tatſächlich 
außer Kraft ſetzen. Mochte ſich der Untertan immerhin in dem Bewußtſein 
fonnen, in einem „Rechts- und „Verfaſſungsſtaate“ zu leben: — man konnte 
ihm das harmloſe Vergnügen ruhig gönnen. Es ſchadete ja nicht, nützte nur, 
ſtopfte dem Antertan den Mund und erhielt ihn in gehorſamer Zufriedenheit. 

Wir haben es hier alſo weder mit den ſo beliebten „Einzelfällen“, 
noch auch mit einer neuen Erſcheinung zu tun, ſondern mit einem ſtraffen, 
zielbewußten Syſtem und zwar mit einem recht alten Syſtem. Schon im 
Jahre 1845 brandmarkte ein Richter, der Stadtgerichtsrat Heinrich Simon 
zu Berlin, die Korrumpierung der Juſtiz von oben her: „Er wird fallen, 
der bisher fo edle preußiſche Richterftand, auf den der Preuße mit fo hohem 
Stolze blickt; man wird nicht mehr ungläubig lächeln, wenn Fälle eines 
höheren Einfluſſes auf preußiſche Richterkollegien geflüſtert werden, und die 
Trümmer dieſer Inſtitution werden auf den preußiſchen Thron ſtürzen und 
auf die bürgerliche Freiheit des preußiſchen Volkes.“ 

Im Jahre 1865 war die Korruption bereits ſo weit gediehen, daß 
der Abgeordnete Stadtgerichtsrat Tweſten am 20. Mai im Abgeordneten⸗ 
hauſe die ſchwerſten Anklagen gegen die Handhabung der preußiſchen Juſtiz 
erheben konnte. Er erinnerte daran, daß eine meiſt aus Richtern beſtehende 
Juſtizkommiſſion in ihrem Berichte — ſchon damals! — feſtgeſtellt hatte, 
daß „der Glaube an die Anabyängigkeit der Richter im Volke erſchüttert“ 
ſei. Wiederholte herbe Urteile über die Gerichte ſeien nicht erſt heute in 
dieſem Hauſe gefallen, ſie hätten ſich in letzter Zeit ſogar ſehr häufig wieder⸗ 
bolt. And weiter — ganz wie in unferen Tagen: 

„Der Herr Juſtizminiſter pflegt ſich in ſolchem Falle zu erheben und 
gegen dergleichen Außerungen zu proteſtieren, wie gegen Angriffe auf das 
Heiligtum der Gerechtigkeit. Meine Herren, in früheren Zeiten hörten wir 
auch von Mitgliedern dieſes Hauſes, von ſehr verehrten Mitgliedern dieſes 
Hauſes es als konſtitutionelle Theorie aufſtellen, daß wir uns jeder Vee 
merkung über die Gerichte enthalten müßten. Ich habe dieſe 
Theorie in dieſer Ausdehnung immer für eine unrichtige Abſtraktion aus 
der unrichtigen Theorie von der Teilung der Staatsgewalten betrachtet 
Jch glaube aber, meine Herren, wenn wir auch gewiß in der Kritik 
einzelner Fälle eine gewiſſe Zurückhaltung üben müſſen, ... fo find wir 
doch nicht bloß berechtigt, ſondern verpflichtet, hier eine Kritik des Ver⸗ 
fahrens der Gerichte eintreten zu laſſen, wenn ſich ſchwere Mißbräuche in 
der ganzen Handhabung der Juſtiz herausſtellen, wenn ſich die Mißbräuche 
nicht mehr auf einzelne Fälle beſchränken, ſondern große Dimenſionen an- 
nehmen, wenn die Kritik ſchwere Mißſtände, tief eingreifende Schäden in 
der ganzen Verwaltung an das Licht zu bringen hat. Meine Herren! 


330 Grotthuß: Die Unabhängigkeit des preußifchen Richters 


Ich glaube, wir find nicht dazu da, um Illuſionen aufrecht zu 
erhalten, deren Behauptung allmählich zur Heuchelei wird! 
Die Zeiten, in denen man fagte: Il y a des juges a Berlin, in denen man 
mit Stolz — und vom Auslande her mit beſonderer Hochachtung — auf 
das Berliner Kammergericht hinwies, die Zeiten ſind ziemlich lange her. 
(Schon damals! D. V.) 

Bei dem Rücktritte des Juſtizminiſters Simons äußerte ein preußiſcher 
Miniſter — es find Zeugen der Äußerung in dieſem Haufe anweſend — 
ein preußiſcher Miniſter äußerte, Herr Simons habe viele Sünden 
begangen, aber eine fei unverzeihlich: das fei die ſyſtematiſche Korrup⸗ 
tion des Obertribunals. Meine Herren! Der Graf zur Lippe ſetzt 
dieſes Syſtem fort; er dehnt es immer weiter aus, auch auf die Appellations: 
gerichte, durch Ernennungen lediglich nach politiſchen Rid: 
ſichten, lediglich mit Rüdfiht auf die politiſche Geſinnung oder Ge⸗ 
fügigkeit der Beförderten — in einem Maße, meine Herren, welches 
bereits die Achtung vor der preußiſchen Jurisprudenz ernſtlich gefährdet. 

Ich weiß vollkommen, man hört dieſe Dinge nicht gern öffentlich aus⸗ 
ſprechen, ſelbſt ſolche, die unter vier Augen vollkommen zuſtimmen, materiell 
mit dem ausgeſprochenen Urteile einverſtanden find; aber ich glaube, es iſt 
allmählich zur Notwendigkeit geworden, an dieſem Orte, wo noch das Wort 
in Preußen frei iſt, ſolche Dinge zur Sprache zu bringen. Meine Herren! 
Die Kreuz⸗Zeitung triumphierte kürzlich, daß die Entſcheidungen des 
Obertribunals jetzt ſämtlich einen ſtreng konſervativen 
Charakter tragen. 

Ich glaube, das dahin interpretieren zu dürfen, daß die Kreuz ⸗Zeitung 
ſelbſt meinte, die Entſcheidungen des Obertribunals ſind der 
unverfälſchte Ausdruck einer politiſchen Richtung. 

Meine Herren! Die Anabhängigkeit der Gerichte iſt von ſehr ge⸗ 
ringer Bedeutung, wenn es ſich darum handelt, ob ein Dieb freigeſprochen 
oder verurteilt wird: wenn es ſich darum handelt, ob in einem Prozeſſe 
Hinz oder Kunz hundert Taler gewinnt; wo aber ein politiſches In⸗ 
tereſſe der Regierung in Betracht kommt, da wird jetzt nicht mehr 
nach der ſtrikten Auslegung der Geſetze erkannt, ſondern nach po- 
litiſchen Rückſichten, nach den Intereſſen und Tendenzen der 
regierenden Parteil 

Schon vor einer Reihe von Jahren erreichte der Fall eine traurige 
Berühmtheit, als bei der Anklage gegen den Grafen Reichenbach das Ober- 
tribunal gegen die ausdrückliche Beſtimmung des Geſetzes, welches ſeine 
Kompetenz ausſchloß, die Sache dennoch vor fein Forum zog und aus all- 
gemeinen Erwägungen in die klare Beſtimmung des Geſetzes ein ‚nicht‘ 
hineininterpretierte, ſie auf dieſe Weiſe in ihr Gegenteil verwandelnd. 
Neuerdings, meine Herren, hat aus ähnlichen allgemeinen Erwägungen 
das Obertribunal die Geſetze, welche unter dem Titel „Widerſtand gegen 
die Staatsgewalt“ zum Schutze der preußiſchen Staatsordnung, zum Schutze 


Grotthuß: Die Unabhängigkeit des preußiſchen Richters 331 


der preußiſchen Obrigkeiten gegeben find, angewendet auf preußifche Anter⸗ 
tanen, die ſich an dem Aufſtand gegen Rußland beteiligten. (Schon 
damals! D. V.) 

Es gibt ausdrückliche Beſtimmungen im Strafgeſetzbuche für Ver⸗ 
gehen gegen befreundete Regierungen; darunter fallen aber die Beſtimmungen 
über Aufſtand nicht. Die Beſtimmungen über Aufſtand und Tumult find 
für Preußen gegeben zum Schutze der preußiſchen Staatsordnung, nicht 
zum Schutze der Obrigkeiten in Rußland oder etwa in China, für deſſen 
Beunruhigung man mit demſelben Rechte die Beſtimmungen in Anwendung 
bringen könnte. Daran habe ich ſchon neulich erinnert, wie das Dber- 
tribunal, ebenfalls um der Autorität einer polizeilichen Verfügung zu Hilfe 
zu kommen, „bis auf weiteres’ für gleichbedeutend erklärt mit ‚auf un- 
beſtimmte Zeit‘. 

Meine Herren! Das find nicht mehr Auslegungen, ſondern Vers 
drehungen der Geſetze, nicht Anwendung, ſondern Mißbrauch derſelben. 

Ich gebe zu, unſere Geſetze ſind nicht überall ſcharf und beſtimmt 
genug gefaßt; ſie geben zu mißbräuchlichen Auslegungen hin und wieder 
Anlaß; aber gegen böſen Willen ſchützt keine Klarheit der Ge 
ſetze, und als böſen Willen, meine Herren, betrachte ich es, wenn für 
eine gerichtliche Entſcheidung nicht die ſtrikte Auslegung der Geſetze maß⸗ 
gebend iſt, ſondern irgend welche andere Rückſicht — verhülle fie ſich 
auch unter dem Gedanken des Staats wohles. 

Machiavelli ſagte einmal: ,Gefege allein helfen nicht; fie bedürfen, 
um ſich zu halten, der guten Sitten.“ Nun, meine Herren, die erſte gute 
Sitte, der erſte Grundſatz der Sittlichkeit, den ich von dem Richter ver⸗ 
lange, iſt das: nach dem Geſetze zu richten, und dieſe Sitte kommt dem 
preußiſchen Richterftande abhanden.“ 

Der Redner kennzeichnet dann die Behandlung des Preßgeſetzes in 
einer Reihe von Fällen: „And, meine Herren, an dieſem traurigen Bilde 
der Juſtiz trägt ohne Zweifel einen großen, einen hervorragenden Teil der 
Schuld der verantwortliche Miniſter, der Herr Graf zur Lippe. 

Unter feiner Autorität, nach feinen Weiſungen werden die Ab- 
en der Gerichte komponiert, an deren Verfahren der Regierung ge⸗ 

gen iſt. 

Nach ſeinen Weiſungen werden die Abteilungen auch wieder ge⸗ 
ſäubert, wenn Erkenntniſſe erfolgen, die der Regierung miß⸗ 
fällig ſind. 

Der Herr Juſtizminiſter hat die Ver fügung wiederhergeſtellt, nach 
welcher die Präſidenten der Gerichtshöfe Bericht erftatten ſollen über 
das politiſche Wirken der richterlichen Beamten, über das für 
oder wider die Regierung. 

ie Der Herr Miniſter erteilt die Anweiſungen zur Handhabung der 
Diſziplinargeſetze gegen die Mißliebigen, er belohnt auch die Wohl⸗ 
geſinnten, ſehr prompt ſogar. 


332 Grotthuß: Die Unabhängigkeit des preußiſchen Richters 


Ich will aus der Reihe der Prozeſſe, welche über die Stellvertretungs⸗ 
koſten der Abgeordneten gegen den Fiskus geſchwebt haben, nur die Fälle 
anführen, welche hier in Berlin fic) ereignet haben. Drei Gerichts- 
abteilungen haben in dieſem Prozeſſe für den Fiskus erkannt. Eine war 
eine Abteilung des hieſigen Stadtgerichts, aus drei Mitgliedern beſtehend. 
Die Kläger wurden abgewieſen. Wenige Wochen darauf wurde der Vor⸗ 
ſitzende dieſer Abteilung, nachdem das Probeſtück geliefert war, gum 
Kammergerichtsrat ernannt. 

In zweiter Inſtanz ging die Sache an das Appellationsgericht in 
Frankfurt. Referent war ein bei dieſem Gericht beſchäftigter Hilfsarbeiter, 
der Kreisrichter Michaelis. Unmittelbar nach dem Erkenntnis wurde der 
Referent zum Appellationsgerichtsrat ernannt. 

Zum Dritten waren einige dieſer Prozeſſe anhängig vor dem Bagatell⸗ 
kommiſſar des hieſigen Stadtgerichts. Als ſolcher fungierte der Aſſeſſor 
Koehn mit einer Anciennität aus dem Jahre 1862. Er wies die Klage ab. 
Kurze Zeit darauf ernannte ihn der Herr Miniſter, trotz der Mitbewerbung 
mehrerer älterer Kollegen, zum Rechtsanwalt. 

Meine Herren! Ich werde kein Wort über die Entſcheidung der 
Sache ſelbſt verlieren. Ich halte die Bemerkung aber für gerechtfertigt: die 
Schnelligkeit und die Regelmäßigkeit dieſer Belohnungen 
verſtieß gegen den öffentlichen Anſtand. 

Meine Herren! Parteiregierungen ſuchen allemals die Gerichte ihren 
politiſchen Tendenzen dienſtbar zu machen, und ein Berufsbeamtentum 
hat auf die Länge niemals die Kraft, dem konſequenten 
Drucke der Regierungsgewalt zu widerſtehen. Es iſt eine 
Täuſchung, zu glauben, daß Gerichte und gerichtliches Verfahren an 
ſich ſchon eine Schutzwehr für das Recht des Landes und für die per⸗ 
ſönliche Freiheit der Staatsbürger ſeien. Die Sternkammer der Stuarts 
war kein Schutz des Rechts und der Freiheit, ſondern ein ſerviles Werk 
zeug der Unterdrückung. Ein wirklicher Schutz für die perſönliche Freiheit 
und das Recht liegt nur in Geſchworenengerichten für politiſche Vergehen 
und Preßvergehen. 

An Geſchworenengerichten brachen ſich in der traurigen Reaktions-, 
periode Englands unter Georg III. die Reaktionsverfude. Man zeigt noch 
heutigen Tags das Grab eines liberalen Schriftſtellers jener Zeit. Die In⸗ 
ſchrift lautet: Dieſen Mann wünſchte Pitt hängen zu laſſen; aber der Ver⸗ 
ſuch ſcheiterte an dem Wahrſpruch einer ehrlichen engliſchen Jury... . 

In dem Diſziplinarſenate des Obertribunals ſetzen ſich Mit⸗ 
glieder des Herrenhauſes und auserwählte Anhänger der Regierung zu 
Gericht über die Mitglieder dieſes Hauſes, über uns und unſere Wähler. 
Wir werden in dieſen Diſziplinarerkenntniſſen niemals einen Rechts- 
ſpruch achten. Wir werden ſie nur als eine Verfolgung einer poli⸗ 
tiſchen Partei gegen die andere anſehen. 

Meine Herren! Wenn in früheren Jahren wegen politiſcher Oppoſition 


Grotthus: Die Unabhängigkeit des preußiſchen Richters 333 


gegen die Regierung Strafen verhängt werden follten, da fuchte man die 
Strafbarkeit keineswegs in der Oppoſition an ſich, man ſuchte Vorwände 
für die Verurteilung in Nebenumſtänden des oppoſitionellen Auftretens. 

Ein Erkenntnis gegen ein verehrtes Mitglied dieſes Hauſes machte 
vor Jahren ein erhebliches Aufſehen. Da wurde ausgeführt, es ſei eine 
Wahlrede gehalten in einem öffentlichen Lokale, in einem Lokale zweiten 
Ranges, das ſchicke fic) nicht für einen Präſidenten; es fei vor einer ſehr 
gemiſchten Verſammlung geſprochen; das ſei unſchicklich für einen hoch- 
geſtellten Beamten. Es waren noch ein paar Gründe ähnlicher Art, .. 
und aus dieſen Gründen wurde ein Verweis erteilt. Jetzt wird ohne 
weiteres jede öffentliche Oppoſition gegen die Staatsregierung für 
ſtrafbar erklärt. Das verſtößt gegen das Geſetz und ſeine Geſchichte. 
Nach dem Geſetze, meine Herren, ſind die Beamten im Diſziplinarwege 
ſtraf bar, wenn fie ſich des Vertrauens, der Achtung und des Anſehens, 
welche ihr Amt erfordert, unwürdig zeigen. Nach dieſer Beſtimmung ſtand 
in einem früheren Entwurfe des Diſziplinargeſetzes gegen nichtrichterliche 
Beamte des ferneren „die feindſelige Parteinahme gegen die Regierung“. 
Die ſer Satz wurde geſtrichen, und nun, meine Herren, nun interpretiert 
man dieſe geſtrichene Beſtimmung in die danebenſtehende vorhergehende 
Beſtimmung der Anwürdigkeit hinein. 

Anfangs wurde von den Diſziplinargerichten dafür geltend gemacht 
das Intereſſe der Anparteilichkeit des Richterſtandes, das durch deren 
ſchroffes Auftreten in politiſchen Dingen gefährdet werde. Als man ſich 
nachher erinnern mußte, daß auch Beamte, die auf ſeiten der Regierung 
ſtanden, ſich ſehr heftig in die politiſche Agitation warfen, genügte dieſer 
Grund nicht. Er ließ ſich offenbar auch nicht auf Rechtsanwälte anwenden. 
Nun ſtellte man den einfachen, klaren Grundſatz hin: jede öffentliche 
Oppoſition gegen die jeweilig regierende Partei verlegt die Treue und 
den Gehorſam gegen die Krone. Meine Herren! Dieſe Auslegung des 
Geſetzes ſtimmt ungefähr überein mit der Deduktion, mit welcher Richelieu 
ſeine Gegner traf: „Wer den Miniſter bekämpft, beleidigt die Majeſtät'. 
— Aber wiſſen Sie, was Montesquieu von dieſer Lehre ſagte? ‚Wenn 
die Knechtſchaft in Perſon auf die Erde käme, ſo würde ſie 
keine andere Sprache reden'. 

Meine Herren! Sit es jemals erhört worden, daß man die Ad- 
vokatur und die frei gewählten Kommunalbeamten ſtraft wegen Beteiligung 
an der politiſchen Bewegung des Landes, wegen Teilnahme an politiſchen 
Wahlen! And ich frage, meine Herren, warum iſt man denn erſt jetzt zu 
dieſer Auslegung gekommen, warum hat 12 Jahre lang auch hier niemand 
an dieſe Auslegung und dieſe Anwendung des Geſetzes gedacht? Die Ge⸗ 
ſetze haben ſich nicht geändert, nur die Richter und die rechtswidrigen Zu⸗ 
mutungen der Regierung. Meine Herren! Ich glaube, wir können das 
Wort wiederholen, welches einſt Herr v. Vincke in dieſem Hauſe ge⸗ 
ſprochen: Das Anrecht hat alle Scham verloren‘. 


334 Grotthuß: Die Anabhängigkeit des preußiſchen Richters 


Als der König Ernſt Auguſt im Jahre 1837 das hannoverſche 
Staatsgrundgeſetz kaſſierte und eine zuſtimmende Erklärung ſeiner Beamten 
verlangte, der Königlichen Diener, wie man ſie im Welfenlande nennt, da 
erklärte ein hannoverſcher Beamter: Ich unterſchreibe alles, Hunde ſind 
wir ja doch. 

Es wird Ihnen (zur Miniſterbank gewendet) vielleicht gelingen, mit 
Ihren Strafen und mit Ihren Belohnungen den preußiſchen Beamtenſtand 
in feinem Durchſchnitte zu einem ähnlichen erhebenden Bewußtſein herab- 
zudrücken: Hunde ſind wir ja doch. 

Aber wenn Sie es erreicht haben, werden Sie vielleicht nicht, aber 
andere erkennen, daß die alten Fundamente des preußiſchen Staates aus; 
einandergewichen ſind.“ 

Der Regierungsabgeordnete Graf v. Vethufy-Huc fühlte ſich gee 
drungen, eine Ordnungsſtrafe gegen den Redner zu beantragen. Der Präſident 
lehnte dies ab und zwar mit der vorbildlichen Begründung: Der Herr Ab⸗ 
geordnete Tweſten hat in feiner ganzen Rede nur Schäden aufdecken und 
auf ſolche Schäden aufmerkſam machen wollen, die wir in allen Verwaltungs⸗ 
zweigen in dieſer Sitzungsperiode ſchon aufgedeckt haben. Ich begreife nicht, 
wie ſolche Schäden, wenn fie ſich auch in der Zuſtizverwaltung finden, 
davon ausgeſchloſſen fein ſollen .. Möglich wäre es ihm vielleicht ge⸗ 
weſen, einzelne mildere Ausdrücke zu finden; aber einen Ordnungsruf zu 
erlaſſen — nein, dazu fühle ich mich von dieſer Stelle aus nicht bewogen.“ 

Die Mehrheit des Hauſes lehnte die beantragte Gehaltserhöhung 
des Oberſtaatsanwalts beim Obertribunal ab. Deutlicher als durch ein 
ſolches Mißtrauensvotum konnte fie ſich zu den Ausführungen Cweftens 
nicht bekennen. Der bekannte Staatsrechtslehrer und Abgeordnete Dr. Gneiſt 
trat dieſem „Urteil über den Charakter der heutigen Juſtizverwaltung 
Sr. Maſeſtät“ „unverhüllt und unbedingt“ bei und erklärte die Anklage 
für „wohlbegründet und wohlverdient“. 

Das Obertribunal ſelbſt aber fühlte ſich verpflichtet, die Berechtigung 
der Anklage auf das prompteſte und eklatanteſte zu — beſtätigen, in⸗ 
dem es Tweſten — gegen den Schutz des § 84 der preußiſchen Ver⸗ 
faſſung — durch Beſchluß der vereinigten Abteilungen des Senates für 
Strafſachen vom 29. Januar 1866 unter Anklage ſtellen und ver⸗ 
urteilen ließ! Daß es ſich mit einer Geldſtrafe begnügte, erklärt ſich 
wohl aus der allgemeinen Entrüſtung der geſamten geſitteten Welt über die 
Erhebung der Anklage. GForderte doch damals die „Kölniſche Zeitung“ 
ſogar, daß ſämtliche Mitglieder des Obertribunals gehängt werden ſollten! 
Man vergleiche dieſe ganze Haltung und Sprache des damaligen Bürgertums 
und feiner Organe mit dem Hexeneinmaleins und den konvulſiviſchen Saud: 
tänzen auf dem „Blocksberg“ der heutigen „Paarungspolitik“! 

Am der Wahrheit die Ehre zu geben, dürfen wir an der ſchmerz⸗ 
lichen Tatſache nicht vorübergehen, daß leider auch kein geringerer als unſer 
großer Bismarck vor dem kleinlichen Mittel einer unloyalen Beeinfluſſung 


Srotthuß: Die Unabhangigtett des preußiſchen Richters 335 


der Juſtiz, eines unter allen Umftänden verwerflichen Drucks auf materiell ab- 
hängige Beamte nicht zurückſcheute, daß er dadurch zu ihrer Abdrängung von 
dem geraden Wege des ſouveränen Rechtes beigetragen und ſo die Majeſtät 
des Geſetzes ſchwer geſchädigt hat. Der verſtorbene Kultusminiſter Dr. Boſſe 
erzählt darüber in einem Bericht über den Miniſterrat vom 20. Oktober 1878, 
dem Tage vor Erlaß des Sozialiſtengeſetzes, in ſeinen Erinnerungen: 
„Zunächſt brachte Bismarck die Ausführung des Sozialiſtengeſetzes 
zur Sprache; Annahme im Bundesſtaat, dann ſofort Vorlage an den Kron⸗ 
prinzen, ſchleunige Publikation ... Als richterliche Mitglieder (der Be⸗ 
ſchwerdekommiſſion) ſeien ihm die Mitglieder des Obertribunals von Grävenitz, 
Clauswitz, Hahn und Delius als politiſch vollkommen zuverläffig 
bezeichnet worden. Der Juſtizminiſter ſchlug noch den Obertribunals- 
rat v. Holleben vor und benutzte den Anlaß, um — wie mir ſchien, wenig 
taktvoll und geſchickt — die preußiſchen Richter überhaupt als 
politiſch zuverläſſig herauszuſtreichen. Fürſt Bismarck meinte, 
wenn die preußiſchen Richter alle fo wären wie der Staatsanwalt Teſſen⸗ 
dorf, dann wären fie in der Rekursinſtanz zu gebrauchen. Aber die 
preußiſchen Staatsanwälte fühlten fic) meiſt nicht als Regierungsbeamte, 
ſondern als ſouveräne Richter. Den badiſchen Oberſtaatsanwalt Kiefer 
bezeichnete er als abſchrecken des Beiſpiel. An badiſche Richter 
könne man alſo in der Kommiſſion nicht denken 
Preußiſche Richter werden ſich durch das ihnen hier gezollte „Lob“ 
kaum gehoben fühlen, dagegen iſt wohl anzunehmen, daß ihre badiſchen 
Kollegen an dem gegen ſie ergangenen ſcharfen „Tadel“ nicht allzu ſchwer 
tragen werden. — 3 
Iſt der preußiſche Nichterſtand, fo fragt Theiſen am Schluß feiner 
Schrift, noch imſtande, bei allen Anterdrückungen feiner Unabhängigkeit ſich 
aufzuraffen? „Vermag er aus ſich heraus wieder die ihm verfaſſungsmäßig 
gewährte Unabhängigkeit und Selbſtändigkeit zu erreichen? Wird die preußi⸗ 
{hen Richter, insbeſondere die Richter, welche zu den entfcheidenden und maß⸗ 
gebenden Stellen gelangen, wieder Selbſtbewußtſein erfaſſen, das ſie aus dem 
Niveau des politiſchen Beamten wieder zum richterlichen Beamten erhebt?“ 
Es iſt beängſtigend, welche Antworten man da oft aus den Kreiſen 
der Wiſſenden erhalten kann. Bei der Feier ſeines 101. Dozentenjubiläums 
erklärte Profeſſor Immanuel Bekker in Heidelberg: „Gerade die jungen 
Juriſten ſeien berufen, in ſolchen Zeitläuften Diener des Vaterlandes und 
Führer mindergeſchulter Volksklaſſen zu fein.” Aber auf eine Frage der 
„Frankfurter Zeitung“: „Warum gerade die Juriſten?“ antwortete er: 
„Weil ein ordentlicher Juriſt Beſcheid weiß über alle Verhältniſſe, 
die ſich rechtlicher Ordnung fügen, gewöhnt iſt, vorurteilsfrei die Dinge zu 
ſehen, wie fie find (ſoweit dies menfchenmöglich), und gelernt hat, logiſch 
gu denken. Der Zweifel der verehrlichen Redaktion kommt wohl daher, 
daß bei uns viele unordentliche Juriſten ſogar auf den 
Bänken des Reichsgerichts zu finden ſind.“ 


336 Grotthuß: Die Anabhängigkeit des preußtfchen Richters 


In ihrer Schrift „Am Wahrheit und Recht“ (Berlin 1907, Hermann 
Walther) erzählt Helene Wolff, ein ihr bekannter, jetzt verſtorbener Profeſſor 
und Geheimrat, Mitglied der juriſtiſchen Prüfungskommiſſion an einer 
preußiſchen Univerfitat, der ſchon vor Jahren ſehr peſſimiſtiſch über die 
Verhältniſſe unſerer Rechtſprechung urteilte, ſchwere Bedenken über die 
immer mehr um ſich greifende Streberei nicht verhehlte, habe dem allen dann 
noch hinzugefügt: „Ich werde es ja nicht mehr erleben, wenn ich aber das 
Material betrachte, das wir jetzt bekommen, jedes idealen Strebens bare, 
nur nach Gehalt und Karriere“ trachtende junge Menſchen, die von dem 
praktiſchen Grundſatz ausgehen, daß „der Wille des Vorgeſetzten 
das Gewiſſen des Antergebenen' iſt; wenn ich ferner bedenke, daß 
wir genötigt ſind, in den Vorleſungen wie in den Prüfungen 
unſre Anſprüche ſtetig herabzuſetzen, dann graut mir förmlich vor 
der Zukunft.“ 

Nur an den „maßgebenden“ Stellen, an den Stellen, von denen 
man eine energiſche Initiative mit Fug erwarten dürfte, die von Amtes 
wegen dazu berufen ſind, dafür beſoldet werden, läßt man alle dieſe Dinge 
mit unbeſchreiblicher Gelaſſenheit an ſich herantreten, als gingen ſie einen 
kaum noch was an, lebt man andauernd und unentwegt im unerſchütterlichen 
Glauben an dieſe herrlichſte aller Juſtizwelten. Si illabatur orbis, Impa- 
vidum ferient ruinae — und wenn der Erdkreis zuſammenſtürzt, unerſchüttert 
tragen die Trümmer den preußiſchen Juſtizminiſter. Schon am 16. März 1906 
beeilte ſich der neu ernannte Dr. Beſeler im preußiſchen Abgeordnetenhauſe 
zu erklären: 

„Was im Reichstag in letzter Zeit (Febr. 1906) gegen die preußiſche 
Rechtspflege und ſpeziell gegen die Gerichte geſagt worden iſt, das war 
zum Teil ſehr übertrieben, zum Teil unrichtig. Ich habe der Sache 
ſehr kühl gegenübergeſtanden, weil alles von Abertreibung ſtrotzte, und 
ich habe gedacht: Es iſt kaum der Mühe wert, darauf zu er 
widern, denn die dort gefallenen Äußerungen find fo, daß fie ſich ohne 
weiteres ſelbſt richten. Es ijt auch eine große Erörterung in der Tages- 
preſſe entſtanden über alles dieſes; ich habe auch das ganz kühl hin⸗ 
genommen. Denn alle die Vorwürfe ſind ganz unberechtigt. Wir 
haben in Preußen alljährlich etwa 100 000 Strafurteile zu fällen. Laſſen 
Sie hierbei einige (I) Fehler oder Anrichtigkeiten vorgekommen fein; iſt 
das zu verwundern? Es wäre wunderbar, wenn es anders wäre. Nun 
find im Reichstag und auch ſonſt Fälle aufgeführt, in denen einzelne Richter 
nicht ſo verfahren ſein ſollten, wie die Herren meinten, daß es ihre Pflicht 
geweſen wäre. Sollte das wirklich wahr fein, was wollte das denn be 
deuten, dieſe paar (0 Fälle, die fic) außerdem über zehn Jahre erſtrecken? 
Ich möchte doch für mich auch in Anſpruch nehmen, daß ich von den Dingen 
einiges erfahren habe. Ich habe mich länger mit dieſer Sache befaßt als 
alle die Herren, die die Vorwürfe ausſprachen. Ich bin lange Richter 
geweſen und rechne mich immer noch zu den Richtern; und im Namen der 


Dir: Pfingſten 337 


Richter (2) kann ich ausſprechen, daß alle die Vorwürfe falſch find. Anſre 
Nechtſprechung ſteht ebenſo hoch, wie fie immer (vgl. Tweſten! D. V.) 
geſtanden hat, und wird ſo bleiben, trotz der Angriffe, die wir hören müſſen. 
Auf die Angriffe, die hier ausgeſprochen find, habe ich nichts zu er- 
widern. Das meiſte iſt mir unbekannt.“ 

Eine ernſthafte Widerlegung dieſer Manifeſtation wird man wohl kaum 
von mir erwarten. Das hieße ja für die Türmerleſer Waſſer ins Meer 
tragen. Den Herrn Miniſter etwa zu überzeugen, muß ich vollends nach 
dieſer miniſteriellen Weisheit letztem Schluß als gänzlich ausſichtsloſes 
Unternehmen erachten. Dem Herrn Miniſter wird ja wohl auch von dem 
Material, das ich nun in drei aufeinanderfolgenden Heften und weiter in 
den neun zurückliegenden Türmer⸗Jahrgängen beigebracht, — das „meiſte 
unbekannt“ ſein. And er wird es deshalb „ganz kühl hinnehmen“ oder „alle“ 
Vorwürfe für „gänzlich unberechtigt“ erklären. Auf eine derart fundamen⸗ 
tierte Auseinanderſetzung kann ich wohl ohne Bedauern verzichten. Ich be- 
merke nur, daß dies Material noch nicht den hundertſten Teil des in 
Wirklichkeit vorliegenden darſtellt, und drücke mich dabei noch vorſichtig aus. 

Aber Theiſen hat recht: auch der einzelne Miniſter vermöchte nichts 
gegen ein zur Herrſchaft erhobenes Syſtem. Zumal er naturgemäß in 
der Regel ſelbſt ein Geſchöpf dieſes Syſtems ſein muß, durch dies Syſtem 
an die Spitze gelangt iſt, ſo daß eine Auflehnung dagegen ſelbſtmörderiſches 
Beginnen, ſozuſagen Vater⸗ und Muttermord wäre. Und das kann man 
doch von einem Miniſter der Juſtiz nicht gut verlangen. Das einzige, was 
helfen kann, iſt Selbſthilfe. Selbſthilfe des einzelnen wie des Volkes 
zu jeder Zeit und an jeder Stelle. Und in dieſem Beginnen werden fie 
fic) mit allen im deutſchen Richterftande, die mit ihnen das Anhaltbare und 
Entwürdigende dieſer Zuſtände empfinden, ſolidariſch fühlen. Daß ihrer 
nicht wenige ſind, des dürfen wir gewiß ſein. Dieſen Glauben habe ich noch. 


82 
Pfingſten 


Von 


Anna Dix 


Geiſt Gottes, der mit Feuerzungen O ſchüre du das zage Glimmen 

Die Jünger Chriſti einſt geweiht Des heil'gen Feuers neu zur Glut. 

Zu hehren Zeugen, unbezwungen Laß tönen deine Heimatſtimmen 

Von ſtolzer Feinde Widerſtreit — Gewaltig in des Lebens Flut. 

Laß wirken deine heil' gen Mächte, Es webt ein Fragen, — bebt ein Klagen 
Daß deine Saat zur Ernte reift, — Durch Kampf und Irrſal unfrer Zeit - 
Daß ihre großen Kindſchaftsrechte Verleih' uns Schwingen, die uns tragen 
Die Menſchenſeele neu begreift. Zum großen Sieg der Ewigkeit! 


. 


Der Türmer X, 9 22 


Der Waldpfarrer am Schoharie 
Kulturhiſtoriſche Erzählung aus dem deutſch-amerikaniſchen Leben 


des achtzehnten Jahrhunderts 


von 
Friedrich Mayer 
(Fortſetzung) 
Zehntes Kapitel 


Auf Oſtern habe ich zum erſtenmal gepredigt. Der Gottes dienſt 
ſollte in Gerlachs Scheune abgehalten werden, weil ſie die 
größte iſt in der Gegend. Es hat ſich ſchnell herumgeſprochen, 
> daß ich hier bleibe und meine Arbeit mit Oftern allen Ernſtes 
beginnen würde. Weil ich nun wohlbekannt bin unter den Leuten, fo er- 
warten ſie auf den Feſttag eine große Beteiligung an dem Gottesdienſt. 

Damit die Feier doch ein wenig gottesdienſtliches Ausſehen bekomme, 
traf ich ſeit etlichen Tagen die nötige Vorbereitung. Mein Schreibtiſch 
mußte als Altar dienen, das ſchöne Amſchlagtuch, welches der Jude Jona— 
than Schmul an die Frau Gerlach verkauft hatte, wurde geſchmackvoll drauf— 
geheftet; ein Kruzifix habe ich ſelber geſchnitzelt aus Tannenholz. Es iſt 
drei Fuß hoch, weil ich befürchtete, ein zu kleines möchte der leichteſte Wind- 
ſtoß umwerfen. Der junge Nicholavs Herkimer hat zu Weihnachten eine 
kleine Kiſte mit Politur erhalten, welche er brachte. So haben wir das 
Kruzifix geſchliffen, ſchwarz angeſtrichen und poliert. Der kleine Nicholavs 
iſt ein kluger Junge, er kennt die Fußſpuren von jedem Wild im Walde. 

Wie ich am Samstag das Kruzifix aufſtellen will, da ſchlägt die 
Frau Gerlach die Hände zuſammen und ruft: 

„Was machen Sie, wir ſind ja reformiert?“ 

Ich habe zuerſt ein dummes Geſicht gemacht. Als Württemberger 
bin ich ja freilich lutheriſch, während die Pfälzer reformiert ſind, aber wir 
haben bei dem allgemeinen Verderben Wichtigeres zu tun als Gilben- 
ſtecherei zu treiben, ſo ſage ich: 

„Das Kreuz iſt nicht lutheriſch und nicht reformiert. Es ſoll dazu 
dienen, die Chriſtenſeele zu erbauen. Da habe ich gedacht, in der Scheune 
iſt Heu und Stroh, es ſoll uns an Bethlehem erinnern, machen wir das 
Kruzifix dazu, ſo haben wir Bethlehem und Golgatha. Die Oſterpredigt 


Maver: Der Waldpfarrer am Schoharie 339 


muß von dem auferſtandenen Heilande handeln, ſo haben wir alſo den 
ganzen zweiten Artikel des chriſtlichen Glaubens beieinander. Iſt das re⸗ 
formiert oder lutheriſch? Ich ſage, es iſt das heilige Evangelium.“ 

„Weib“, ſagt darauf der Gerlach, „laß dem Herrn Pfarrer ſeinen 
Weg, wir haben nicht ſtudiert!“ 

Am Abend beriet ich mit dem Schulmeiſter Heim die Gottesdienſt⸗ 
ordnung. Er ging darauf mit mir in der mondhellen Nacht durch die An⸗ 
ſiedlung. Aberall find die Weiber noch im Garten, hacken und ſäen. 

„Was machen Sie denn?“ rief ich über den Gartenzaun. 

„Still!“ ſagt der Schulmeiſter. „Sie ſäen Blumenſamen in der 
Oſternacht, dann blühen aus ein und demſelben Samen den ganzen Som⸗ 
mer hindurch die Blumen in tauſenderlei verſchiedenen Farben. Man darf 
aber kein Wort ſprechen dabei.“ 

„Das iſt mir neu!“ 

„Stammt aus der Pfalz!“ 

„Im Schwarzwald gucken die Jungfrauen in der Oſternacht ins Waſſer, 
dann ſchauen ſie das Bild des Zukünftigen darin.“ 

„Sit am Schoharie nicht nötig, hier im Urwald find die Mädchen 
rar, bekommen einen Mann, noch ehe ſie recht flügge ſind.“ 

Heller Sonnenſchein lag auf Feld und Wald am Oſtermorgen! Viel 
zu frühe für den Gottesdienſt kamen die Waldleute, die Holzhauer und 
Pechner. Der rote Peter hatte ſich gewaſchen, freilich ſah und roch man 
den Teer noch. Den Anſatz nimmt einmaliges Waſchen nicht ganz hinweg. 
Nun ſteht er vor Gerlachs Scheune, geſtikuliert und behauptet mit lauter 
Stimme, er habe es mit eigenen Augen geſehen, wie die Sonne, gerade als 
ſie über dem Walde emporſtieg, drei Hüpferl und Sprünge gemacht habe. 

„Was dann?“ 

„Das bedeutet, daß der Teeranſatz in dieſem Jahr beſonders reich 
ſein werde“, rief er. 

„Eine gute Weizenernte meint's“, ſprach der Kreiskorn, denn er iſt 
ein Farmer. 

„Nein, die Franzoſen ſind nach Kanada hinein gejagt worden, drüber 
freut ſich auch die Sonne“, rief ein dritter. 

„Sir Johnſon hat die fieben holländiſchen Partner befucht, die einen 
neuen Angriff auf unſere Farmen planen, und ſprach, deutſch“ mit ihnen, 
daß ihnen die Augen überliefen !“ 

Nun lachten alle. 

So ſind die Menſchen; jeder will die Oſterſonne in ſeine enge Stube 
einzwängen, er fürchtet zu kurz zu kommen, wenn ſie auch in des Nachbars 
Herz und Haus ſcheine. 

Nun aber zogen die Leute von allen Seiten herbei. Die Frauen 
kamen größtenteils geritten, die Männer zu Fuß, Wagen waren wenige 
da, dieweil ſie in der Anſiedlung noch ſelten ſind, und die Wege in dieſer 
Jahreszeit kaum fahrbar. 


340 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 


And dieſe Feſtkleider! Wohl die Hälfte trugen die Felle der von 
ihnen ſelbſt erlegten Hirſche und Bären; andere mehr Bemittelte hatten 
ſich auf der Höhe der Zeit gehalten und ſtanden mit der Mode auf ver⸗ 
trautem Fuße. Friſche Geſichter, kräftige Geſtalten, kein Kranker war heute 
unter ihnen! 

Wie die Feier ihren Anfang nehmen ſollte, ſtellte ſich's heraus, daß 
die Scheune nur einen kleinen Teil der Leute faſſen konnte, darum ſchlug 
ich vor, auf dem Schoharie⸗Hügel, wo unter den Bäumen unſere Toten 
ſchlafen, den Gottesdienſt abzuhalten. Mit dem Schulmeiſter Heim zog ich 
dann voran. „Was ſollen wir ſingen?“ Nur wenige haben ein Geſangbuch. 

„Das Lied ‚vom wunderlichen Krieg“ können fie auswendig“, ſagte Heim. 

So fingen wir denn an unter Begleitung der Geiger und Pfeifer 
(auch des Branntweiners große Trommel hörte man manchmal hindurch) 
das Lied zu ſingen: 

„Es war ein wunderlicher Krieg, 
Da Tod und Leben rungen! 

Das Leben, das behielt den Sieg, 
Es hat den Tod verſchlungen!“ 


Das war ein Geſang! Eine große Einleitung zu dem erſten Gottes⸗ 
dienſt, den wir am Schoharie feierten. Wie einſt bei den Juden, als ſie 
den Eckſtein zum zweiten Tempel legten, ſo rannen den Alten die Tränen 
über Wangen und Bart, während die Geſichter der Jungen vor Freude 
ſtrahlten, weil wir nun auch am Schoharie Oſtern feiern konnten. 

Dann habe ich das Evangelium geleſen. Das wirkt ganz anders 
hier im Freien als zwiſchen Kirchenwänden! Ich las von dem Sonnen⸗ 
aufgang, dem Erdbeben, von dem Herabſteigen eines Engels, ſein Kleid 
weiß wie der Schnee, fein Angeſicht und feine Geſtalt feurig wie der Blitz, 
von den Soldaten, welche zu Boden fielen vor Schrecken, als wären ſie 
tot; und dann, wie nach Erdbeben und Sturm und Feuer der Auferſtandene 
erſcheint mit den Worten: „Friede ſei mit euch!“ 

Und weil den Bauern an dieſem ſommerhellen Sonntagmorgen der 
Himmel ſo nahe ſchien, als könnten ſie ihn mit den Händen faſſen, ſo ging 
es wie ein heiliger Schauer durch ihre Reihen; fie ſchauten um ſich, ob 
Chriſtus nicht zum Gottesdienſt komme und ſpreche: „Friede ſei mit euch!“ 

Oſtern ſollte man im Freien feiern, begann ich meine Rede, fo wie 
am erſten Oſtertage. Die Wiege der Menſchheit war ein Garten, der 
Garten Eden. Durch der Menſchen Sünde iſt dieſer Garten zu einem 
Kirchhof geworden. Jetzt aber, ſeit Chriſtus in dem Garten des Joſeph 
auferſtanden iſt von den Toten, ſind unſere Kirchhöfe wieder zu Gärten 
geworden. 

Auch hier liegen Steine auf den Gräbern eurer Lieben. Wißt ihr, 
was die Steine am Oſtermorgen reden? Der Stein über Jeſu Grab ſagt: 
Recht iſt doch Recht, Gott vergißt fein Volk nicht, darum erhalten fie doch 
den Sieg! Auch uns hat Gott nicht vergeſſen im Urwalde. Wenn unfere 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 341 


Feinde und Widerſacher meinten, es ſei mit den Deutſchen zu Ende, da 
öffnete flugs der liebe Gott jedesmal ein neues Fenſter am Himmel und 
ſchickte Hilfe, er gab Brot und Kleider, Sonnenſchein und frohen Mut. 

Dann habe ich freilich in der Hauptſache gepredigt über den zweiten 
Artikel, von dem „Herrn, der mich verlorenen und verdammten Menſchen 
erlöſet hat, erworben und gewonnen von allen Sünden, vom Tod und der 
Gewalt des Teufels, nicht mit Gold oder Silber, ſondern mit ſeinem hei⸗ 
ligen teuren Blute und feinem unſchuldigen Leiden und Sterben“! Das 
haben die Leute faſt noch beſſer verſtanden, als was ich vom täglichen Brot 
geſprochen habe. Wie ich das hier aufſchreibe, muß ich an einen Pfarrer 
in Deutſchland denken, der ſich zu den Aufgeklärten rechnet, und der 
in der Predigt das Daſein Gottes beweiſen will und von Oſterviſionen 
und ähnlichen Dingen predigt. Er und ſeinesgleichen ſollen Gott danken, 
daß ſie nicht Waldpfarrer in Amerika geworden ſind. Das Daſein Gottes 
beweiſen? Dieſen Bauern, die geflohen ſind aus der Heimat, die auf dem 
Ozean dem Tod jeden Tag ins Angeſicht geſchaut haben, die in Gefahr 
waren vor Menſchen und den Beſtien des Waldes, die mit einem Wort 
das Leben kennen mit ſeiner Mühe und Arbeit? Viſionen? Sie würden 
den, der ſolche Sachen redet, einfach für verrückt halten. Jeden Augenblick 
iſt ein Dutzend von ihnen bereit, ſich für ihre Bibel und ihren Katechismus, 
die einzigen Freunde, welche ihnen auch in der Wildnis treu geblieben ſind, 
totſchlagen zu laſſen. 

Hätte ich doch alle jene an dieſem Morgen bei mir, die an den Auf⸗ 
erſtandenen nicht glauben können, damit fie dieſem Bauerngeſang zuhörten. 

Ich habe gepredigt, die Sonne hat dreingeſchienen, das zarte Früh⸗ 
lingslaub hat der Wind ſachte bewegt, und Herz und Seele hat Gottes 
Geiſt angefaßt. Ich habe zum Schluß geſagt: Das Schönſte an jenem 
Stein in Joſephs Garten ſei aber, daß er abgewälzt wurde. Heute feiern 
wir zum erſtenmal Oſtern im Walde, noch liegen die Steine auf den Grä⸗ 
bern der Eurigen. Ihr habt ein Kreuz hineingemeißelt und ihre Namen. 
Wenn man zum letztenmal Oſtern feiert am Schoharie, dann werden Gottes 
Engel herabſteigen und dieſe Steine alle hinwegwälzen. Die Toten wer⸗ 
den auferſtehen, alle dieſe Felder werden lebendig werden, auch das Meer 
wird feine Toten wiedergeben. Anſere Brüder, die dort verſenkt, und unſere 
Brüder, welche von den Indianern und den wilden Tieren getötet wurden, 
und deren Leichname wir nicht fanden, ſie alle werden dann auferſtehen 
und leben. Keiner wird dann unter uns fehlen! 

Nun ſangen ſie: „Jeſus meine Zuverſicht und mein Heiland iſt im 
Leben“, und ſie wiſchten ſich die Tränen aus den Augen und ſangen und 
wollten nimmer aufhören, ſangen das ganze Lied auswendig aus dem Herzen. 

Dann habe ich Kinder getauft, wir haben darauf das heilige Abend⸗ 
mahl gefeiert, und wer die Hunderte von Kommunizierenden näher ane 
ſchaute, der las in jedem dieſer Geſichter: „Der Heiland lebt, er iſt wahr⸗ 
haftig auferſtanden und auch uns Leuten am Schoharie erſchienen.“ 


342 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharte 


Bis jetzt hatte ich geklagt über die Opfer und Entſagung, welche mir 
auferlegt ſeien. Dieſer eine Gottesdienſt wiegt alles auf. 

Der Branntweiner und Schankwirt ſoll mich nur noch den Stein⸗ 
pfarrer heißen. 


Sie ſprechen in der Anſiedlung von dem Bau einer Kirche. Wenn 
nur die Anſicherheit nicht wäre wegen der Beſitzurkunde ihres Landes. 
Hunter und die ſieben holländiſchen Partner verhalten ſich augenblicklich 
ſtill, weil ſie von London her einen Wink bekommen haben. Die Reiſe 
des alten Weiſers war alſo nicht ganz vergeblich, wie er gemeint hat. 
Allein fie werden ihre vermeintlichen Anſprüche doch nicht aufgeben. Darum 
hält es ſchwer, die Leute zu bewegen, ein ordentliches Gotteshaus zu bauen. 

So mußten wir denn vorliebnehmen mit dem Angebot von Karl 
Herkimer. Er hat ſeine erſte Blockſcheune uns zur Verfügung geſtellt; 
wir haben dieſe, ſoweit es möglich iſt, kirchlich umgeſtaltet und eingerichtet, 
wobei mein Kruzifix doch zu Ehren kam und feinen Platz einnimmt auf 
dem Altar. Die weißen Kalkwände habe ich mit paſſenden Bibelſprüchen 
bemalt. Aber dem Altar ſteht das Wort: „Der Herr iſt in ſeinem heiligen 
Tempel, es fei vor ihm ſtille alle Welt!“ Es foll zur Lehre dienen, die ⸗ 
weil Holzer und Pechner ſchlecht ſtillſitzen können. Der Kreiskorn wollte 
eine große Kirchweihe veranſtalten. Ich ſagte aber: 

„Nichts da, ſolange die Lade Gottes in einer Hütte wohnte, war 
keine Urfache zur Freude in Sfrael; erſt als der Tempel fertig war, gab 
es Tempelweihe, und dann erfüllete die Herrlichkeit Gottes das ganze Haus, 
ſo daß die Prieſter nicht ſtehen konnten und des Opfers pflegen. Warten 
wir, bis eine würdige Kirche daſteht. Dann wollen wir uns freuen und 
Gefte feiern!“ 

Ich muß fie auch auf dieſem Gebiet vorantreiben. Hoffentlich be- 
kommen wir bald ein würdiges Gotteshaus. 


Elftes Kapitel 


Nun fing ich an, Gemeinden zu organiſierrn. Auf fünfundzwanzig 
Meilen im Umkreis iſt kein ordinierter deutſcher Pfarrer. Es find lauter 
Wanderpfarrer, von denen der Jonathan Schmul geſagt hat, „find ſchlechte 
Leite”. Solange ich im Walde umherſtreifte, hat fic keiner unter ihnen 
um mich bekümmert, ſobald ſie aber merkten, daß ich einen Zulauf bekam, 
ſuchten ſie die Leute abwendig zu machen. Ich hätte nicht die reine Lehre, 
das war ihr Hauptargument. Sie ſagten, ich bete das Vaterunſer ver: 
kehrt, denn es heiße nicht: „Unfer Vater“; dann hätte ich ja freilich bei 
der Austeilung des Sakraments die Einſetzungsworte geſprochen, aber ge⸗ 
glaubt hätte ich ſie nicht. In alle Hütten ſind ſie gedrungen mit ihrem Läſtern. 

Da war vor allem ein gewiſſer Schneps. Dieſer trieb es am lauteſten. 
Der Mann war über ſechzig Jahre alt, hatte Frau und Kinder in Deutſch⸗ 


Maver: Der Waldpfarrer am Schoharie 343 


land figen laſſen und ſich hier verlobt mit einer Witwe in Mittelburg, da- 
neben verklagte ihn hier ein junges Mädchen, daß er der Vater ihres Kin⸗ 
des ſei. Als er in Shenectady letztes Frühjahr Gottesdienſt hielt, war er 
ſo betrunken, daß die Vorſteher ihm die Bäffchen umbinden mußten. Auch 
habe er beim Singen des Liedes: „O Gott, du frommer Gott“ immer den 
erſten Vers wieder von vornen angefangen. Wie er, ſo ſind ſeine Genoſſen. 

Mir iſt es klar, daß es nicht meine Aufgabe iſt, mich mit dieſen 
Leuten herumzuſtreiten und die Gemüter zu verwirren. Mit einem Schlag 
habe ich ihre Umtriebe vereitelt. Ich machte nämlich bekannt, daß für 
Taufen, Krankenbeſuche und die hl. Kommunion bei mir nichts zu bezahlen 
ſei. Daraufhin fanden ſie keinen Käufer mehr, und ſie verziehen ſich in 
andere Gegenden. 

Schwierigkeit verurſachte das Anlegen eines Kirchenbuchs. Die Leute 
haben in dem harten Kampf um das tägliche Brot die wichtigen Ereig⸗ 
niſſe in der eigenen Familie vergeſſen. Manche haben allerdings eine 
Familienbibel, dort iſt alles fein ſäuberlich eingetragen, ſo der Gerlach und 
Kreiskorn; aber ſelbſt bei Herkimers iſt nichts aufgeſchrieben, von den 
Pechnern gar nicht zu reden. Die Hälfte der hier geborenen Kinder ſind 
nicht getauft, und frage ich dabei nach dem Geburtstag des Kindes, dann 
weiß meiſtens niemand Beſcheid. In dem ewigen Wandern haben ſie ihre 
Bibeln verloren. Viel öfter trifft man Arnds Paradiesgärtlein; weil es 
Heiner tft als die Bibel, fo haben fie das mit ſich getragen.) 

Ich will die Perſonalien feſtſetzen und beginne in einem Hauſe mit 
der Frage: 

„Wie alt iſt der Jakob?“ 

„Er muß fünfzehn ſein“, ſagt der Vater und kratzt ſich das Haar. 

„Mann, wo denkſt du hin, wir find erſt vierzehn Jahre verheiratet, 
er iſt dreizehn.“ 

„Wann iſt ſein Geburtstag?“ 

„Es war in der Nacht, da die Indianer dem van der Haide ſein 
Haus angezündet haben“, antwortet der Mann. 

WMôWie du ſchwätzeſt,“ ruft fein Weib, „Herr Pfarrer, mein Mann 
bringt alles durcheinander. Als die Flamme gen Himmel ſchlug, bin ich 
dran aufgewacht und ſo erſchrocken, daß ich nach dem Nacken fuhr; davon 
hat er zeitlebens das Muttermal. Geboren iſt er aber erſt in der Weizen⸗ 
ernte.“ 

Das genaue Datum läßt ſich nicht mehr feſtſtellen. Ich trage alſo in 
das Kirchenbuch ein: „Jakob Klingler, geboren zu Anfang Juli uſw.“ 

Andere ſagen: „Der Johann iſt noch in der Zwangskolonie am Hudſon 
geboren, die Anna dagegen an dem Tag, als der Sheriff die Anſiedler 
vom Schoharie vertreiben wollte, und die ſchwarze Grete ihm ſein Auge 
ausſchlug. Der Nikolaus wurde im Herbſt geboren in dem Jahr, da mein 
Mann den ganzen Sommer am Fieber daniederlag.“ 

Wie viele Lauferei habe ich allein mit dieſer Sache. 


344 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 


Am ſchlimmſten war es aber doch bei den beiden Weißdorns. Ich 
fragte ihn: „Wie viele Kinder haben Sie?“ 

„Da muß ich erſt zählen“, antwortet er. „Von der Lieſe, was meine 
erſte Frau war, habe ich zehn, von der Barbel, meiner jetzigen, ſind es 
— laßt ſehen“ — er zählt an den Fingern und bringt endlich neun her⸗ 
aus, alſo zuſammen neunzehn. Dann ſetzt er ganz ernſthaft hinzu: 

„Möchten leicht mehr ſein, aber ſind's eben nicht, leben wenigſtens alle!“ 

Seine Barbel kommt darüber zur Tür herein, und da ſie nicht recht 
weiß, um was es ſich handelt, wettert ſie darauf los: 

„Was gehen Sie unſere Sünden an, lieber zehn auf dem Kiſſen, 
als eins auf dem Gewiſſen!“ 

Ich mach' ein einfältiges Geſicht, da ſagt ihr Mann: 

„Was ſchreiſt ſo, Alte, er weiß von nichts!“ 

Das erregt meine Aufmerkſamkeit und ich ſtelle Fragen. 

„Drum ſind wir nicht verheiratet,“ fährt er fort, „wir hatten kein 
Geld und Pfarrer war auch keiner in der Nähe. So oft ein Kind kam, 
habe ich ihr 's Heiraten verſprechen müſſen.“ 

„Wir ſind rechte Leute, Herr Pfarrer, geben Sie uns den Segen“, 
ruft die Barbel. 

Sie zieht einen ſchwarzen Rod an, er legt die Pfeife aus der Hand, 
wäſcht ſich das Geſicht, dann ſtehen beide vor mir, und ich erteile ihnen 
den Segen. Sie war überglücklich. 

Ich ſetze mich und fange an, das Geburtstagsregiſter der neunzehn 
Kinder aufzuſchreiben, werde aber an dieſem Tag nicht fertig und muß 
übernachten. 

Vielerlei Streitigkeiten waren zuerſt zu ſchlichten, ehe wir eine Ge⸗ 
meindeordnung entworfen hatten. Wie findig doch die Köpfe ſind, wenn 
es gilt, für andere Geſetze zu machen! Da hatte der alte Heim eine Ge⸗ 
meindeordnung ausgearbeitet, weitſchweifig alles nur Denkbare hereinziehend, 
an die hundert Paragraphen; jeder Paragraph zerfiel in Unterabteilungen 
und Erklärungen. Man meinte, es gelte ein Grundgeſetz zu entwerfen für 
das türkiſche Kaiſerreich. 

Das Geſetz richtet Zorn an. Ordnung iſt heilſam; zu viele Geſetze 
ſind aber in einer Gemeinde eine beſtändige Quelle des Haders. 

So halte ich denn in der Gemeindeverſammlung eine Rede, lobe die 
fleißige Arbeit und die ſchöne Handſchrift, warne aber vor dem Zuviel. 
„Eine Hoſe müſſen wir machen für einen kleinen Jungen,“ ſage ich, „nicht 
aber für den Riefen Goliath.“ Sie lachen alle und find für meine An⸗ 
ſicht gewonnen. „Wenn ein Kind geboren iſt, was braucht es dann? Einen 
Namen.“ Nun wurden Namen vorgeſchlagen von faſt allen Heiligen im 
Kalender. Der eine wollte lutheriſch, der andere reformiert, wieder andere 
vereinigt proteſtantiſch und ähnliches mehr. Ich ſprach für einen kurzen 
Namen, und man einigte ſich auf: „Deutſch⸗evangeliſche St. Paulsgemeinde.“ 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 345 


Dann kam das Bekenntnis. „Wir bekennen uns zu Gottes Wort und deſſen 
Auslegung durch die Väter der Reformationszeit.“ Sie wollten das viel 
ausführlicher. „Das genügt“, ſagte ich und gab nicht nach. 

Dann kam ein dritter Paragraph über die Mitgliedſchaft. „Jeder 
ift gehalten, die Gottesdienſte fleißig zu beſuchen und das heilige Gafra- 
ment zu gebrauchen, einen chriſtlichen Lebenswandel zu führen und die Ge⸗ 
meinde mit feinem Geld zu unterſtützen.“ Folgte noch eine Vorſchrift über 
die Wahl der Vorſteher, ihre Amtsdauer und Amtspflichten. Dann ließ 
ich die Männer dies unterſchreiben, und die Gemeindeordnung ward an⸗ 
genommen. 

Der alte Heim hat gejammert: „Das iſt keine Kirchenordnung, die 
hat ja Platz auf einer Seite Briefpapier.“ 

„Iſt wahr,“ antwortete ich, „wächſt die Gemeinde, dann erweitern 
wir auch die Kirchenordnung. Schüttelt nicht zu ſtark an einem neuge⸗ 
borenen Kinde, ſonſt ſtirbt es euch unter den Händen.“ 

Dieſe Gemeindeordnung habe ich jetzt in ſieben Gemeinden eingeführt; 
ich predige jeden Sonntag an zwei Plätzen. Nur, wenn ich nach dem 
Dunkelwald gehe zu den Holzern und Pechnern, predige ich bloß einmal. 
Weil der Wald dort voll iſt von Wölfen, ſo begleiten mich jedesmal etliche 
Männer dorthin. 


— — — — . — — — — — — — — — — — 


In jeder Gemeinde halte ich mit den Kindern Religionsunterricht. 
Sie kommen gerne von wegen den bibliſchen Geſchichten, welche ſie da 
hören. Junge Männer und heirats fähige Mädchen ſitzen mit den Kleinen 
durcheinander. Dieſe Mädchen! Manche blicken mich mit heißen Augen 
an! Ich kann doch niemand wegſchicken. 

Erzählte ich heute die Geſchichte von Jakobs Flucht und der Himmels⸗ 
leiter! Gleich ſuchen ſie alles zu deuten. Der junge Gerlach ſoll die Ge⸗ 
ſchichte nacherzählen, und er tut es auf folgende Weiſe: 

„Wie Jakob auf dem Steine ſchlief, da wurde die Nacht auf einmal 
lichterhell, wie es wird über den Catskillbergen, wenn die Indianer ihren 
Kriegstanz abhalten, und er fürchtete ſich, wie dann die Leute am Schoharie.“ 

Ein anderer fragte: „Wo nahm Jakob das Ol her, das er auf den 
Stein träufelte?“ 

Ehe ich antworten konnte, rief der junge Herkimer: 

„Aus ſeiner Laterne, welche er brennen ließ, damit die Wölfe ihm 
nicht zu nahe kamen.“ 


Meine Mutter fragte bei mir an, was ſie mit meinem väterlichen 
Vermögen tun ſoll. Ich habe geantwortet, ſie ſolle eine gute Landkarte 
von der Pfalz mir zuſchicken. Ich muß mich beſſer über jenes Land in⸗ 
formieren, ſonſt wird aus dem Kirchenbuch nichts Ordentliches. Für das 
übrige Geld möge ſie Bibeln und Geſangbücher für mich anſchaffen. Geld 
gebrauche ich im Walde keines. 


346 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 


Zwölftes Kapitel 


Das iſt ein rauher Winter, ſelbſt die alten Leute wiſſen ſich keines 
ähnlichen zu erinnern. Drüben im Dunkelwald haben Wölfe Menſchen 
angegriffen. Die Tiere ſollen ſchrecklich aufräumen mit den Hirſchen und 
Reben. Ich bin ganz eingeſchneit. Nur der Rauch, der von den Häuſern 
aufſteigt, zeugt davon, daß hier Menſchen leben. Aber dem Walde ſtand 
ein großes Feuer letzte Nacht. Entweder hat ein Haus gebrannt oder ſie 
haben wieder eine wüſte Nacht im Holzſchlag. 

Wenn wir doch eine Kirche hätten! Bei Herkimers geht das noch 
an mit dem Gottesdienſt, aber an den andern Plätzen iſt es nicht möglich, 
ihn zu halten. Die Scheunen ſind nirgends dicht, durch alle Spalten treibt 
der Schnee hindurch. Dann kann bei dieſer bittern Kälte niemand dort 
figen. So bin ich denn ganz allein in meiner Blockhütte. Ich denke an 
vergangene Zeiten und ſchreibe an meiner einfachen Geſchichte. 

Die alte Arſchel liegt ſeit Wochen krank an der Lungenentzündung 
bei Gerlachs. Einen Doktor kann man bei dieſem Schnee nirgends her⸗ 
bekommen, ſo habe ich aus meinen Büchern allerlei herausgeleſen, was ihr 
gut tut. Sie iſt wohl über das Schlimmſte hinweg, aber das Fieber plagt 
ſie immer noch. 

Was ſollte ich anfangen allein in dieſer Wildnis? Ob ich heirate? 
Warum ſollte ich nicht? Ich habe genug und verdiene auch etwas, um 
Weib und Kinder zu ernähren. Wenn ich ſchon einmal zu dem Leben 
im Walde verurteilt bin, weshalb ſollte ich nicht, wie andere auch, eine 
Familie um mich haben? — Wenn nun geheiratet werden ſoll, dann iſt 
die zweite Frage, wo willſt du eine Frau finden für dich? 

Am Arzneien einzukaufen, war ich neulich nach Albany gegangen 
und habe dort auch die Katherine Weiſenberg aufgeſucht. Sind das ſtolze 
Leute, die van der Heids, bei denen ſie arbeitet! Der Alte wollte mich 
einfach nicht ins Haus hereinlaſſen. Ich beſtand aber darauf, daß mich 
niemand abhalten dürfe, als Pfarrer hier den Beſuch zu machen. Das 
balf. Van der Heid rief die Katherine ins Zimmer. 

Seither erfuhr ich, warum die Betonung des Wortes Pfarrer bei 
dem Holländer ſolch eine günſtige Wirkung für mich hervorbrachte. Der 
Pfarrer Joſua von Kochertal nämlich, der mit den erſten einundſechzig 
Pfälzern, die überhaupt nach New Vork auswanderten, nach Amerika kam, 
ſei einmal hinter dem van der Heid mit ſeinem Wagen nach Albany ge⸗ 
fahren. Dieſer hatte keine Eile und fuhr gemächlich den ſchmalen Weg 
vor dem Pfarrer her. Da habe der Pfarrer ihm zugerufen und ihn höf⸗ 
lich gebeten, er möge ihn vorbeilaſſen, denn ſeine Arbeit habe Eile. Allein 
der ſtolze Holländer bekümmerte ſich nicht um den einfachen deutſchen Pfarrer, 
ſondern fuhr langſam weiter, wodurch der Staub ſeines Wagens dem 
Pfarrer ins Geſicht flog. Da lief dem Pfarrer die Galle über; er ſprang 
vom Wagen, riß den dicen Meen Herrn‘ aus dem Buggy und erteilte ihm 


— a. 2— — 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 347 


mit den Fäuften eine Lektion über Höflichkeit gegen deutſche Paſtoren. So 
danke ich's meinem Vorgänger, daß ich Zutritt zu van der Heids Haus erhielt. 

Die Katherine hat mich ſofort gekannt und iſt mir ſehr freundlich 
entgegengekommen. Ich konnte mich faſt gar nicht bei ihr zurechtfinden. 
Vor fünf Jahren war ſie noch faſt ein Kind, jetzt dagegen ſtand eine 
ſchlanke, aber volle Figur vor mir, ein großes, herrlich gebildetes, ſchönes 
Weib. Aus ihren Augen blickte ein ungewöhnliches Maß von Einſicht 
und Verſtand, ihr ganzes Weſen war fanft und weiblich. Vorfichts halber 
war die Frau des Herrn van der Heid im Zimmer geblieben, und die 
Unterhaltung war darum ganz kurz und auf allgemeine Redensarten be⸗ 
ſchränkt. Es gehe ihr gut. Fünf Jahre habe ſie gedient und müſſe noch 
zwei weitere Jahre hier bleiben. Ob ſie dann nach dem Schoharie komme? 
Das fet ihre Abſicht, zumal dort ihre einzigen Verwandten ſeien. 

Ich bin wieder fortgegangen. Hat mir das Mädchen den Kopf ver- 
wirrt? Das nicht, aber wenn ich an den Eheſtand denke und die Reihen 
der heiratsfähigen Mädchen aus meiner Bekanntſchaft muſtere, dann bleiben 
meine Gedanken zuletzt immer wieder bei ihr ſtehen. 

Aber dein Stand, Herr Pfarrer Relig! Du wirft eine Torheit be- 
gehen! Wer frägt nach Stand und Herkommen in den Wäldern Amerikas? 
Hier ſiegt der Mutige, der vorandrängt, der nie an geſtern denkt, ſondern 
nur an heute und morgen. Sie iſt nur eine Dienſtmagd. Das iſt ein 
Vorteil, ſie verſteht drum das Haushalten. 

Sei vernünftig, Peter, willſt du eine Frau oder eine Haushälterin? 
Eine Frau natürlich! Sie ſoll teilnehmen an meinen Freuden und Leiden. 
Nicht auch an deinem Denken und Schaffen? Der Anterſchied in der 
Bildung iſt zu groß. Du biſt ein Studierter, ſie eine Dienſtmagd. Ich 
entgegne: Das Mädchen hat Verſtand, ſie wird ſich weiterbilden! Peter, 
mache dich nicht unglücklich, Gleiches paßt zum Gleichen! Was, fahre ich 
auf: Gleiches zum Gleichen? Erkläre mir dann den Widerſpruch der Natur. 
Der ſanfte Gerlach und die zornige, laute Frau Gerlach, der rote Peter 
und die pechſchwarze Grete, der großmaulige Branntweiner und ſeine ſanfte 
Maria, der gelehrte Franzoſe, welcher fünf Aniverſitäten beſucht hat, und 
ſeine kupferfarbige Squaw, die weder leſen noch ſchreiben kann. 

Gleiches paſſe zu Gleichen, nein, Ungleiches paart ſich am beſten mit 
Ungleichem. Der Schwarze und die Note, die Zarte und der Grobknochige, 
der Kluge und die Dumme, die Fleißige und der Faule. Sie kratzen ſich, 
aber ſie laſſen nicht voneinander. Eins ergänzt das andere. Aus lauter 
Gegenſätzen werden die beſten Ehen geſchmiedet. Iſt es im Juli heiß, dann 
wartet der Bauer auf das Gewitter. Die Gegenſätze halten das Natur⸗ 
reich zuſammen, ſie machen das menſchliche Leben angenehm und heiter. 
In der Ehe vertragen ſich die Gleichgearteten nicht, das iſt zu langweilig 
und eintönig. 

So habe ich den Winter hindurch mit mir ſelber unzählige Male 
räſoniert und kam immer wieder zu dem einen Schluß: 


348 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 


„Die Katherine wäre fo übel nicht, noch zwei Jahre hat fie zu dienen, 
dann kommt ſie nach dem Schoharie. Ich werde mir die Sache noch weiter 
überlegen.“ 

Der Kreiskorn hat mich beſucht. Es gehe das Gerücht, daß ich ge⸗ 
ſtorben ſei, weil ich nicht der Beerdigung im Lumber Camp (Holzſchlag) 
beigewohnt hätte. Die Leute haben von der Krankheit der Arſchel gehört 
und, wie das ſo geht, uns beide miteinander verwechſelt. 

„Wer iſt denn im Holzſchlag geſtorben?“ fragte ich ihn. 

„Wegen einem jungen Indianerweib entſtanden Händel, wobei ein 
Franzoſe erſchlagen worden iſt“, antwortete er. 

„Das iſt ja ſchrecklich!“ 

„Am den Franzoſen trauert niemand, aber die Sägmühle und etliche 
Ställe ſind infolge des Streites in Brand geraten, und die engliſchen und 
holländiſchen Eigentümer des Lumber Camps ſind wie närriſch über den 
Schaden.“ 

„Dieſe Herren ſind doch mit verantwortlich für das Luderleben in 
dieſen Lumber Camps; die ganze Kultur, welche England den Indianern 
bringt, beſteht in Schnaps, Treubruch und Ehebruch!“ 

„Iſt wahr“, ſagt der Kreiskorn. 

„Wer hat denn dem Franzoſen die Leichenrede gehalten?“ 

„Niemand, der rote Peter hat ſehr laut geſprochen, als ſie den Sarg 
niederließen. Wie ich aber nähertrat, habe ich gemerkt, daß der Peter 
wütend war, weil bei dem gefrorenen Boden faſt kein Grab konnte ge⸗ 
macht werden. Es hat denn auch einer ihm vorgeworfen, das Grab ſei 
nicht tief genug; da hat der Peter laut gewettert und geflucht. Sonſt iſt 
nichts bei der Beerdigung geredet worden.“ 

„Was iſt denn mit dem Mörder geſchehen?“ 

„Ein ſogenannter Friedensrichter hat den Fall unterſucht. Weil aber 
bei dem Streit die meiſten betrunken waren, das Indianermädchen auch be⸗ 
reits mit einem andern Mann auf und davon war, konnte er den wirklichen 
Tatbeſtand nicht einmal feſtſtellen. Seine einzige Sorge war die, ob er 
auch für die Anterſuchung bezahlt werde. Der weiſe Kadi entſchied: „So⸗ 
wohl der Totſchläger wie der Tote ſind beide gleich ſchuldig und bezahlen 
gemeinſam die Gerichtskoſten.“ 

Das nennen ſie hierzulande Gericht im Namen Seiner Majeſtät des 
Königs von England. Kein Wunder, daß die Deutſchen ſeinerzeit den 
Sheriff einfach aus der Anſiedlung hinausjagten. 

Bin froh, daß die Arſchel wieder beſſer iſt. — 

Der Branntweiner hat mir eine Flaſche Whisky geſchickt und ſagen 
laſſen, ich ſolle mich recht warm halten bei dem kalten Wetter. 


Dreizehntes Kapitel 


Es iſt ein großes Anglück geſchehen auf Herkimers Farm. Beim 
Holzfällen fiel ein Baum gerade auf den Platz, wo Herr Herkimer ſtand. 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 349 


Es war der letzte Tag, an welchem fie noch im Walde arbeiten wollten, 
ehe das Frühjahrsgeſchäft anfangen würde. Es iſt überaus traurig, daß 
der treue Mann auf ſolche Weiſe ſterben mußte. Die Frau Herkimer hatte 
eine böſe Vorahnung. Sie will in der Nacht zuvor ein dreimaliges Klopfen 
im Hauſe ganz deutlich gehört haben, und obgleich die wackere Frau ſonſt 
nicht abergläubiſch und ängſtlich iſt, fei ihr die Angſt auf die Nerven ge- 
fallen, daß ſie eine Zeitlang kein Glied rühren konnte. Ihr Mann, den 
fie aufgeweckt habe, hätte fie aber bloß geneckt und geſagt, fie hätte ſich das 
Abendeſſen zu gut ſchmecken laſſen und werde dafür jetzt durch unruhige 
Träume büßen müſſen. 

Sie haben gleich nach mir geſchickt. Obwohl das Leben nicht ent⸗ 
flohen war, als ich hinkam, ſo ſtarb er wenige Minuten darauf, ohne noch 
einmal zum Bewußtſein gekommen zu ſein. Das war ein Jammer. Anſere 
Deutſchen verſtellen ſich nicht, ſondern geben ihren Gefühlen freien Lauf. 

Herkimers jüngſter Sohn, Nikolaus, iſt nicht einmal zu Hauſe. Der 
Junge hat Soldatenblut in ſich und iſt in die Armee eingetreten, er iſt in 
der Gegend des Champlainſees, wo ein Krieg auszubrechen droht zwiſchen 
Franzoſen und Engländern. So haben wir ſeinen Vater begraben, ohne 
daß man ihm hätte Nachricht ſchicken können. Konrad Weiſer iſt auf dem 
Wege dorthin, da er im Auftrage Englands mit den Indianern einen Ver⸗ 
trag abſchließen fol. 

Dieſe Leichenfeier! Ich habe nicht gedacht, daß fo viele Deutfche 
in dieſer Gegend wohnen. Von allen Richtungen waren die Männer her⸗ 
beigekommen, viele brachten Schaufeln mit ſich, womit ſie ſich den Weg 
bahnen mußten durch die Schneewälle. Ebenſo hatten faſt alle ihre Flinten, 
als Waffe gegen die Aberfälle der hungrigen Wölfe. Wie ich über die 
Menſchenmaſſe hinüberſchaute, meinte ich faft, es fet eine Armee bewaffneter 
Krieger, welche zum Kampf ausziehen. Herkimer war einer der Anführer 
der Koloniſten. Ob ſeiner Ehrlichkeit und ſeines rechtſchaffenen, ruhigen 
Weſens allgemein geachtet und faſt wie ein Vater geliebt. Requiescat in pace! 

Wie ich die Volksmaſſe ſah, beſchloß ich aufs neue, daß am Scho— 
harie eine einzige, große Kirche ſolle gebaut werden, ein weithin ſichtbares 
Wahrzeichen und ein Mittel⸗ und Sammelpunkt aller Deutſchen in der 
Niederlaſſung. Die vielen kleinen Kirchlein, welche ſie in Pennſylvanien 
haben, wie mir Konrad Weiſer berichtet, zerſplittern unſer Volk in un⸗ 
zählige, zum Teil ſich gegenſeitig bekämpfende Parteien. Das ſoll hier 
nicht ſein, wenn Gott mir Kraft und Leben erhält. 

Wie notwendig wäre mir dabei der Einfluß Herkimers! Auch der 
junge Weiſer gehört nur noch halb zu uns. Er iſt mit ſeiner Familie 
nach Tulpehooken in Pennſylvanien gezogen, zu ſeinem Vater, bei dem ſich 
die Beſchwerden des Alters immer mehr einſtellen. Allerdings hat er ſein 
Haus in Weiſersdorf noch behalten und kommt jedes Jahr auf einige 
Wochen an den Schoharie. Die Alten ſollen mir aber nicht wegſterben, 
ich habe ihre Dienſte nötig. f 


350 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 


Die Jungen ſind übrigens auch ein tapferes Geſchlecht. Art läßt 
nicht von Art. Was für Weiber dieſe Deutſchen haben! 

Ein Sohn des roten Peters heiratete, wie es ſo bitter kalt war, die 
Maria Illig. Es war ein böſer Wintertag, Feld und Wald ſtarrten in 
Eis und Schnee, als das Brautpaar vor meiner Blockhütte vorfuhr und 
ich ihnen den Segen der Kirche erteilte. 

Sie konnten an ihrem Hochzeitstag aber nicht an dem Branntweiner 
vorbeikommen. Der geſprächige Wirt ſetzte ihnen einen guten Imbiß vor, 
die Kameraden von Jungpeter leerten manches Glas auf das Wohl des 
neuen Ehepaares, und ehe man ſich's verſah, brach die dunkle Winter⸗ 
nacht herein. 

In einem Schlitten fuhren fie endlich durch den Urwald ihrer Block⸗ 
hütte zu. Man war noch nicht weit gekommen, als Braut und Bräutigam 
die ſchrillen Pfiffe und das hungrige Bellen einer Meute wütender Wölfe 
vernahm. Die Pferde ſauſten in wildem Lauf durch den einſamen Wald. 
Immer näher kamen die Wölfe, ſie fühlten ſchon den heißen Atem des 
Anführers. Da verſetzte ihm Jungpeter einen Schlag, daß die Beſtie in 
den Schnee torkelte. Aber nur einen Augenblick, und die Wölfe waren 
wieder dicht hinter ihnen. Schon verſuchen ſie in den Schlitten zu ſpringen. 
Jungpeter wirft ſeiner Braut die Zügel zu und greift zu den Piſtolen. 
Er führt eine ſichere Hand, jeder Schuß trifft. Aber kaum ſind die Piſtolen 
aufs neue geladen, da beginnen die hungrigen Wölfe einen neuen Angriff. 
Maria leitet am ſtrammen Zügel mit kurzem Zuruf die dampfenden Pferde. 
Pfeilſchnell fliegt der Schlitten dahin, Schnee⸗ und Eiswolken hüllen das 
Gefährt ein und erſchweren die Verfolgung der Wölfe. Schon ſehen ſie 
die Blockhütte, aufs neue krachen die Schüſſe. Noch eine halbe Meile 
und die mit Schaum bedecklen Pferde ftehen ſchnaubend und an allen Glie- 
dern zitternd vor dem Hauſe. Ein Satz und die Haustüre fährt hinter 
der Maria ins Schloß. Jungpeter ſchießt die friſchgeladenen Piſtolen ab, 
und das Blut der Wölfe färbt den Schnee. Jetzt aber iſt die ganze 
Meute zur Stelle, es bleibt keine Zeit mehr, um die Piſtolen zu laden; 
mit der Peitſche ſchlägt er auf die wilden Tiere ein, noch ein Augenblick 
und er muß fallen. 

Da öffnet ſich die Haustür. Anſere Frauen am Schoharie fallen 
wegen zwanzig oder dreißig wütender Wölfe nicht in Ohnmacht, ſie ſind 
an die Kämpfe gewöhnt. Zur Türe heraus ſpringt die junge Braut, in 
den Händen hält ſie den Beſen, welcher lichterloh brennt. Sie haut auf 
die Wölfe, und es wird ſelbſt dieſen Beſtien zu heiß. Heulend vor Schmerz 
und Schrecken flüchten ſie in den Wald. Jungpeter und ſeine Maria fallen 
ſich jetzt in die Arme, ſie gehen nach der Hütte und feiern vergnügt die 
Brautnacht. 

Mir iſt etwas Schweres widerfahren. Ich weiß nicht, wie ich das 
aufſchreibe. Mir iſt das Herz ſo ſchwer, ſeit zwei Tagen bin ich ein anderer. 


Mayer: Der Waldpfarrer am Gcheharie 351 


Ob ich das je überwinde! Am liebſten ſchwiege ich für immer! Wegen 
des Abſchluſſes ſoll und muß ich aber dieſes doch berichten. Nachher will 
ich ſchweigen, ich habe nichts mehr zu berichten. O Peter Reſig, warum 
kommt auch das noch über dich? Beinahe glaube ich, wie die Brahminen 
Indiens, an ein früheres Daſein, denn in dieſem Leben habe ich doch alle 
meine Leiden nicht verſchuldet. 

Nach Oſtern kam der Jonathan Schmul wieder in die Niederlaſſung. 
Er hat mich beſucht und ohne zu merken, wie weh' er mir tat, ganz trocken 
erzählt: 

„Die Katherine Weiſenberg hat ein groß Glück gemacht in Amerika, 
hat geheiratet den Sir Wm. Johnſon, was iſt der reichſte Mann, weſtlich 
von der Stadt New Vork.“ 

„Iſt nicht möglich“, ſage ich und zwinge mich, ruhig zu bleiben. 
„Reihe Damen und hochgebildete find für einen Johnſon da, nicht arme, 
deutſche Dienftmädchen.“ 

„Iſt recht,“ ſagt der Schmul, „aber die ſind ſchlecht. Sie haben ſich 
an den Sir Wm. Johnſon weggeworfen. Er will haben ein Weib, nicht 
ein geputztes, bemaltes Frauenzimmer, die man ſich kaufen kann für Geld. 
Drum hat er nachgeſtellt der Katherine und geſagt zu mir: „Jonathan 
Schmul, iſt das ein Weib, gibt eher ihr Leben dran, als daß ſie verletzt 
ihre Ehre.“ And weil er ſie auf keine andere Weiſe erlangen konnte, hat 
er geheiratet das Mädchen.“ 

„Sie muß noch beinahe zwei Jahre dienen!“ 

„Iſt recht, aber die Geſetze ſind gemacht für die Armen, nicht für 
den reichen Sir Wm. Johnſon.“ 

„Man wird ihn verklagen!“ 

„Verklagen koſtet mehr Geld, als der van der Heid will bezahlen 
für ein Dienſtmädchen.“ 

„War ſie's denn zufrieden?“ 

„Gewiß. Johnſon iſt reich, iſt ein großer Mann, iſt ein guter Mann, 
achtet das Mädchen, wird's tragen auf Händen.“ 

Ich ſaß allein den ganzen Abend. Mit ſtoiſcher Ruhe wollt' ich 
mich in das Anvermeidliche fügen. Wie ich mich ſchon ausgezogen hatte, 
um ins Bett zu gehen, überfiel es mich in ſeiner ganzen Bitte rkeit und 
Herbe. Mit den Armen auf den Tiſch geſtützt, ſtand ich zwei Stunden 
lang da. Mir graut vor dem öden, liebeleeren, Gott und Menſchen hohn⸗ 
ſprechenden Leben eines Hageſtolzen. Ich muß mich anſchließen an ein 
Hausweſen, ich will Kinder um mich haben. Wie ich das überwinden ſoll, 
o Gott, o Gott! 

Ich ſitze und warte, derweilen reißen andere das Reich an ſich! 


(Fortſetzung folgt) 


Ein Prüfling für die Sexta 


Gon 


Günther v. Vielrogge 


Fur Mannhaftigkeit will Profeſſor Ludwig Gurlitt die 


7 

Sy ~ deutfche männliche Jugend erzogen wiſſen. And welcher auf: 
VO richtige Freund des Vaterlandes follte ihm nicht aus vollem 
ö Herzen beiſtimmen? Hat er doch in ſeinem dieſes Thema 
behandelnden, viel geleſenen Buch nur ausgeſprochen, was ernſte, treue 
Männer ſchon ſeit langer Zeit bewegt. Das deutſche Volk befindet ſich in 
ſeinem führenden Teile, d. h. in ſeinen Gebildeten, unverkennbar in einem 
Niedergang, der Schlimmes befürchten läßt, wenn ihm nicht noch recht— 
zeitig Einhalt getan wird. Es fehlt hier an Männern, die noch einen 
eigenen Willen haben und die im Vertrauen auf die eigene Kraft vor— 
wärts zu kommen trachten. Wer ſich im Deutſchen Reiche heute ein Ziel 
geſteckt hat, glaubt es nur vermittelſt des Verzichtes auf die eigene Aber— 
zeugung zugunſten der Meinung der Mächtigeren, durch unbegrenzte Füg— 
ſamkeit und endlich durch tadelloſe, loyale Haltung erreichen zu können, bei 
der jeder Schritt vom Wege des Vorſchriftsmäßigen und des Herkömm— 
lichen ausgeſchloſſen iſt. Seit zwei Jahrzehnten ſtehen bei uns Streber— 
und Lakaientum in höchſter Blüte. 

Schuld an der beklagenswerten Entwickelung ſind die Schule und der 
Militarismus, wie er ſich in der Ara nach Bismarck hat breit machen 
können: die Schule, weil ſie in unſeren Jungen die Regungen des eigenen 
Willens ſofort gewaltſam unterdrückt und ſie glauben macht, ſie wären nicht 
auf die Welt gekommen, um zu leben, ſondern nur um denen zu gehorchen, 
die eine göttliche Vorſehung über ſie geſtellt habe; der heute herrſchende 
Militarismus, weil er das von der Schule begonnene Werk fortſetzt und 
noch ſchärfer als dieſe zwiſchen wenigen Befehlenden und zahlloſen zum 
unbedingten Gehorſam Verpflichteten unterſcheidet. Kernige Naturen, die 
ihren Stolz darin ſuchen, ihr eigenes Ich zur Geltung zu bringen, ob ſie 
dabei gewinnen oder verlieren mögen, gibt es nur noch in den älteren 
Generationen. Aber ſie ſind auf ihre Volksgenoſſen ohne jeden Einfluß. 
Von dem unwürdigen Streber- und Lakaientum angewidert, halten fie ſich 


— — —— — — 


Btelrogge: Ein Prüfling für die Serta 353 


gefliſſentlich vom öffentlichen Leben fern. Um aber zu feben, wie weit es 
Schule und Militarismus in der Entmannung der Gebildeten unſeres 
Volkes bereits gebracht haben, bedarf es nur eines flüchtigen Blickes in 
unſere illuſtrierten Zeitungen und Wochenſchriften. Dort iſt das Konterfei 
aller derer zu ſchauen, die abermals einen Schritt vorwärts getan haben 
auf dem Wege zu Macht und Einfluß. Kein höherer ſtaatlicher Beamter, 
kein Bürgermeiſter einer größeren Stadt, kein Abgeordneter der ſogenannten 
ſtaatserhaltenden Parteien, der nicht nach ſeiner neuen Beförderung, ſeiner 
Anſtellung bzw. ſeiner Wahl ſein Bild zur möglichſt weiten Verbreitung 
bereitwillig zur Verfügung ſtellte. Korrekt iſt aber auf dieſem der Scheitel, 
korrekt der Sitz des nun einmal unvermeidlichen Kneifers auf der Naſe, 
korrekt die Schleife der Kravatte, korrekt der Nock, korrekt auch der Aus⸗ 
druck des Gefichts, der genau erkennen läßt, daß ſich im Gehirn des Dar⸗ 
geſtellten nicht einmal dann ein illoyaler Gedanke hervorwagt, wenn er mit 
ſich allein iſt. Alle ohne Ausnahme haben ſie ſich die Lebensregel des ver⸗ 
ſtorbenen Reichskanzlers, des Fürſten Hohenlohe, zu eigen gemacht, ſtets 
einen guten Nock anzuziehen und ſtets den Mund zu halten. Kritiſche 
Stunden ſind dem deutſchen Volke bisher nicht erſpart geblieben. Sie 
werden es auch in Zukunft nicht ſein. Wie uns aber der alte Hohenlohe 
über ſolche Stunden ſicherlich nicht hinweggeholfen haben würde, ſo läßt 
ſich dies auch nicht von denen erwarten, die nach ſeiner Faſſon hier auf 
Erden ſelig zu werden ſuchen. Den großen Gefahren, die uns aus dem 
überhandnehmenden Streber⸗ und Lakaientum drohen, kann nur vorgebeugt 
werden, wenn den beiden Hauptſchuldigen, der Schule und dem heute herr⸗ 
ſchenden Militarismus, auf den Leib gerückt wird. Ob der Militarismus 
nachgeben wird, iſt freilich ſehr fraglich. Es will ſcheinen, als wenn er im 
Eindämmen jeder individuellen Betätigung noch weitere Fortſchritte machen 
wird. Um fo kräftiger ift die Schule anzupacken. Ihr muß eine Erziehungs- 
methode aufgezwungen werden, die den Willen, das Selbſtbewußtſein und 
das Selbſtvertrauen nicht nur weckt, ſondern auch in dem Maße befeſtigt, 
daß ſie ſich auch allen abſolutiſtiſchen Anfechtungen gegenüber behauptet. 

Daß die Schule ſehr vieles wieder gutzumachen hat, dem verſchließt 
ſich jetzt eine große Zahl unſerer Lehrer nicht mehr. Gerade in ihren Kreiſen 
hat das Buch des Profeſſors Ludwig Gurlitt beſonders freudigen Wider⸗ 
hall gefunden. Trotzdem ſind die Ausſichten auf eine Wendung zum 
Beſſeren noch ſehr gering. Einmal hat der Staat in der Schulfrage ein 
ſehr wichtiges Wort mitzuſprechen, und an ſeiner Spitze ſtehen faſt überall 
Männer, die meinen, ihr Weizen blühe deſto beſſer, je mehr die Unter- 
tanen in Antertänigkeit erſtürben. Sie erblicken in der unbegrenzten Loyalität 
gegen ihre eigenen geheiligten Perſonen die höchſte aller menſchlichen Tu⸗ 
genden. Seit faſt zwei Jahrzehnten arbeiten ſie vermittelſt der Schule eifrig 
an der Entmannung unſerer männlichen Jugend. Andererſeits ſtößt die 
von Profeſſor Gurlitt eingeleitete Bewegung auf heftigen Widerſtand bei 


älteren Schulmännern, die befürchten, ſich in ihrem Berufe nicht mehr 
Der Türmer x, 9 23 


354 Vielrogge: Ein Prüfling für die Gerta 


zurechtzufinden, wenn ihre Schüler nicht mehr jederzeit vor ihnen erzittern, 
ſich nicht mehr täglich mit dem Gefühl eines unverbeſſerlichen Sünders auf 
den Weg zur Schule machen. Sie können gar nicht anders, als auf die 
Nerven unferer Jungen losſtürmen. Erſt wenn die Schule dem unmittel- 
baren Einfluß ſchlecht beratener ſelbſtſüchtiger Machthaber entrückt und deren 
kräftigſte Stützen, die Schultyrannen, beſeitigt worden ſind, erſt dann ſteht 
zu hoffen, daß die deutſche männliche Jugend zur Mannhaftigkeit erzogen 
werden wird. Wie weit wir aber hiervon noch entfernt ſind, das lehrten 
mich die letzten Monate. 

Ein Gefängnis iſt für unſere Jungen allmählich die Schule gewor- 
den. Harmlos ſoll die Jugend dahinleben. In einem Gefängnis vermag 
fie dies nicht. Aber nur auf einer harmloſen Denkungsweiſe, bei der des 
Kindes Nerven in Ruhe gelaſſen werden, kann ſich eine Erziehung zur 
Mannhaftigkeit aufbauen. And wie leicht läßt ſich dieſe Denkungsweiſe 
unſerer Jugend erhalten! Liebevolles Entgegenkommen der Lehrer, reiches 
Lob bei nur annähernd guten Leiſtungen, vorſichtiger Gebrauch des Tadels 
bei unbefriedigenden, ſchnelles und vollſtändiges Vergeben und Vergeſſen 
auch ärgerer Angezogenheiten nach ihrer Ahndung, das ſind die Zauber⸗ 
mittel, mit denen wir ihr den Aufenthalt in der Schule glücklich geſtalten 
und ſie dadurch an ſie feſſeln können. Ein jüngerer Lehrer mit reichen 
Gaben des Verſtandes und Gemüts wandte ſie mit großem Erfolg an. Er 
unterrichtete diejenige Klaſſe einer höheren Volksſchule, die unmittelbar zum 
Beſuch der Sexta eines Gymnaſiums hinüberleitete. Nur Frohſinn herrſchte 
in ſeiner kleinen Gemeinde. Mit demſelben heiteren Geſicht, mit dem dieſe 
um die Mittagsſtunde die Schule verließ, kehrte ſie am nächſten Morgen 
hierher zurück. And dabei lernten die Kinder ſo gut wie in keiner andern 
Klaſſe. Staunenswerte Fortfchritte machte namentlich die Entwickelung des 
Verſtandes. Zu der Gemeinde gehörte auch ein Kerlchen, das ich ganz 
beſonders in mein Herz geſchloſſen habe. Der Frohſinn, den es aus der 
Schule mitbrachte, übertrug ſich auf die ganze Familie; und alle ihre Mit 
glieder freuten ſich auf die gemeinſamen Mahlzeiten, bei denen der Junge 
von den in der Schule getriebenen Späßen erzählte oder kleine Vorträge 
über das im Anterricht Beſprochene zum beſten gab. Nicht einmal die 
weniger gute Senfur eines deutſchen Aufſatzes noch der weniger befriedi⸗ 
gende Ausfall eines Diktates ließen in ihm trübe Gedanken über die Schule 
aufkommen. Anter Lachen und Scherzen begann mein kleiner Freund ſein 
Tagewerk. Anter Lachen und Scherzen beſchloß er es. Völlig harmlos 
ſtanden er ſowohl wie ſeine Kameraden der Schule gegenüber; und Eltern 
wie Lehrer waren nur auf das eine bedacht, in dieſen glücklichen Zuſtand 
nicht ſtörend einzugreifen. So lag ein poetiſcher Hauch über den erſten 
Schuljahren des Jungen, dank der hervorragenden Beanlagung des Leh⸗ 
rers, der ſich bewußt iſt, daß er den Grund zur Erziehung von Männern, 
die einmal von ihrem eigenen Werte durchdrungen ſein werden, aber nicht 
von Memmen zu legen hat. 


Bielrogge: Ein Prüfling für die Serta 355 


Vorbei war es aber mit der Harmloſigkeit, vorbei auch mit der Poeſie 
in dem Augenblick, wo unſer kleiner Freund die Bekanntſchaft mit dem 
Leiter des Gymnaſiums zu machen hatte, das er nach der höheren Volks⸗ 
ſchule beſuchen ſollte. Wie hatte er ſich auf dieſen Augenblick gefreut! 
And wie bitter wurde er enttäuſcht! Seine letzte Zenſur hatte er mitzu⸗ 
bringen. Was würde der Herr Rektor wohl ſagen, wenn er ſie läſe? Nur 
die Eins und Zwei A wechſelten in ihr ab; und beſonders ſtolz war er 
auf die „Zwei A im Gedankenaustauſch“. Ich ſehe ihn noch vor mir, wie 
er ſie mit ſtrahlenden Augen einem Kameraden zeigte, der mit ihm gemein⸗ 
ſam die breite vornehme Treppe des Gymnaſiums hinaufſtieg und eben⸗ 
falls angemeldet werden ſollte. Als er aber nach zehn Minuten das Sprech- 
zimmer des Leiters der Anſtalt verließ, lag Traurigkeit auf ſeinem Geſicht, 
und auf der Straße angelangt, bekannte er mir, der Herr Rektor gefalle 
ihm ganz und gar nicht. Kein Wunder, er hatte ſich ihm von einer ſehr 
rauhen Seite gezeigt und ihm in ſehr unfreundlichem Tone die „Zwei A 
im Gedankenaustauſch“ vorgehalten. Da müſſe er denn doch mehr ver- 
langen. 

Der Verlauf der Anmeldung hatte für mich nichts Aberraſchendes. 
Erſt kurze Zeit vorher hatte der Rektor die Leitung des Gymnaſiums über⸗ 
nommen. Bei der offiziellen Feier, mit der ſich dies vollzog, war auch ich 
zugegen geweſen. Was ich aber in der an die Schüler gerichteten An⸗ 
ſprache des Rektors zu hören bekommen, das hatte mich nur zum Teil 
befriedigen können. Wohl war es mir aus der Seele geſprochen, daß nicht 
Kenntniſſe, ſondern der Charakter den Mann ausmachen. Ich wollte aber 
meinen Ohren nicht trauen, als ich hörte, daß den Schülern gegenüber nur 
das Geſetz angewandt, und daß jeder, deſſen Leiſtungen ſich als un- 
zulänglich erwieſen, rechtzeitig vom Gymnaſium entfernt werden ſolle, damit 
er noch Gelegenheit finde, ſich auf einer anderen Schule weiter zu bringen. 
Was ließ ſich von dem Leiter einer Schule erwarten, der gegen die ihm 
von den Eltern anvertraute Jugend das Geſetz ausſpielt, in deſſen Wort⸗ 
ſchatz die Wörter Güte, Liebe und Nachſicht nicht zu finden ſind! Was 
hat die Jugend ſich um das Geſetz zu kümmern? Zunächſt kommt es doch 
nur darauf an, daß ſie ihres Daſeins froh wird und es auch möglichſt 
lange bleibt. Wie hirnverbrannt, Charaktere durch Androhung der ne 
wendung des Geſetzes heranbilden zu wollen! Dieſem Schuldeſpoten iſt es 
ſicherlich ſtets verſagt geblieben, einen Blick in das Herz eines deutſchen 
Jungen zu tun. And daß er in ſein neues, mit Verantwortung ſchwer 
belaſtetes Amt berufen werden konnte, ſpricht gerade nicht für die Menſchen⸗ 
kenntnis der Behörde, welche ihn berief. 

Faſt täglich kam unſer kleiner Freund auf die liebloſe Begrüßung 
durch den Rektor bei der Anmeldung zurück, zu der ſich der Vater trotz 
aller entgegenſtehenden Bedenken aus örtlichen Gründen entſchloſſen hatte. 
Stets äußerte er die Befürchtung, daß er am Ende die Aufnahmeprüfung 
nicht beſtehen würde, da ja die Zenſur als nicht ausreichend bezeichnet worden 


356 Vielrogge: Cin Prüfling für die Serta 


wäre. Dazu kam noch, daß fein Lehrer auf der höheren Volksſchule auch 
unruhig wurde. Was konnte der Rektor in der Prüfung nicht alles ver- 
langen! Daß die Schüler nach dem Beſuch feiner Klaſſe für die Sexta 
eines Gymnaſiums vollkommen reif ſind, das wußte er freilich. Werden 
in die Gerta des Gymnaſiums doch ſchon Jungen aufgenommen, die erſt 
die vorhergehende Klaſſe durchlaufen haben. Ja, wenn noch auf dem Wege 
der Verordnung feſtgelegt worden wäre, wie eine ſolche Aufnahmeprüfung 
zu verlaufen hat, und welche Anforderungen in ihr zu ſtellen ſind! Aber 
ganz nach Belieben kann ſie leicht und ſchwer gemacht werden. Das iſt 
ein großer Abelſtand. Denn er verleitet viele vorbereitende Schulen zu 
einem Hinübergreifen in das Penſum der Sexta und damit zu einer ge⸗ 
fährlichen Anſpannung der geiſtigen Kräfte der kleinen Aſpiranten für das 
Gymnaſium. Indem aber der liebevolle Lehrer mit unſerem kleinen Freunde 
den Ausfall der ſpäteren Aufnahmeprüfung erwog, ſteigerte er unbewußt 
noch erheblich deſſen innere Unruhe, die doch wahrlich ſchon groß genug 
war. Bald erſchien ihm der barſche Rektor auch im Traum; und in der 
Nacht vor der Prüfung ſchlief er nur in Unterbrechungen. And dieſe Prü⸗ 
fung ſelber war wahrhaftig nicht dazu angetan, das bedrückte kleine Herz 
wieder fröhlich zu ſtimmen. 

Nicht wie liebe kleine Menſchenkinder mit klopfendem Herzen wurden 
die einberufenen Prüflinge behandelt, ſondern wie lebloſe Nummern. Kein 
Wort der Ermunterung aus dem Munde des Rektors vor Beginn des 
Examens. So kurz und angebunden wie bei der Anmeldung war er auch 
jetzt. Nachdem er ſich überzeugt hatte, wer anweſend war, nur die geſchäft 
liche Eröffnung, daß die Prüfung zwei Stunden dauern und nach aber⸗ 
mals zwei Stunden das Ergebnis mitgeteilt werden würde. And wie der 
Herr Rektor ſchienen auch die Lehrer, die die Anfertigung der Prüfungs- 
arbeiten zu beaufſichtigen hatten, nicht zu wiſſen, wie den kleinen Kerlen 
zumute war, die innerhalb zwei Stunden drei ſchriftliche Arbeiten 
zu leiſten hatten: die Löſung verſchiedener Rechenaufgaben, ein deutſches 
Diktat und einen kleinen deutſchen Aufſatz. 

Anerhörte Anforderungen an das kleine Gehirn der Prüflinge! Aber 
wie trugen die Lehrer dem Rechnung? Angſtliche Fragen wurden ſchroff 
zurückgewieſen; und wenn ein Junge in ſeiner Verzweiflung ausrief: „das 
kann ich noch nicht, das habe ich noch nicht gelernt“, ſo gab es nur ein 
kalt ablehnendes Achſelzucken. In der Tat, alles ſchien darauf angelegt zu 
ſein, ein befriedigendes Ergebnis der Prüfung in Frage zu ſtellen. Wie 
konnte z. B. der Aufſatz, in welchem eine kleine vorgeleſene Erzählung 
wiederzugeben war, an letzter Stelle ſtehen? Gehörte er als diejenige Arbeit, 
die die größte Anſpannung der geiſtigen Kräfte erforderte, nicht an die 
erſte? Das menſchliche Gehirn nutzt ſich doch nicht ſo langſam wie eine 
Maſchine ab. And nun erſt die Faſſung des Diktates! Dies beſtand nur 
aus einer Zuſammenſtellung von Wörtern, über die auch gebildete Cr: 
wachſene ſich noch den Kopf zerbrechen können. „Das hieß ja den kleinen 


Bielrogge: Ein Prüfling für die Serta 357 


Jungen Fallen ſtellen“, meinte ein gewiegter Schulmann mit warmem 
Herzen, als ihm das Diktat gekennzeichnet wurde. Nichts anderes hatte 
erwartet werden können als das Niederſchreiben mehrerer Sätze mit Wore 
tern, deren Orthographie den Prüflingen unter allen Amſtänden geläufig 
ſein mußte. 

In gedrückter Stimmung kehrte unfer kleiner Freund aus der Prü⸗ 
fung heim. „Ich hatte“, berichtete er, „geglaubt, den Aufſatz recht ſchön 
ſchreiben zu müſſen; und deshalb ſchrieb ich langſam. So kam es, daß ich 
noch nicht fertig war, als es zehn Ahr ſchlug und ich den Aufſatz abgeben 
mußte, ohne daß ich ihn noch auf die Rechtſchreibung hatte durchſehen 
können.“ Auf alles Mögliche hatte ſich der Vater nach dem bisher Wahr⸗ 
genommenen gefaßt gemacht. Aber darauf hätte er ſchwören wollen, daß 
in dem unter den gefchilderten Amſtänden verfaßten Aufſatz der Recht⸗ 
ſchreibung keine große Bedeutung beigemeſſen werden würde. Wie kann 
man von einem zehnjährigen Jungen verlangen, daß er in der ſchriftlichen 
Entwickelung eigener Gedanken auch orthographiſch auf der Höhe iſt? Das 
an ihn geſtellte Anſinnen, eigene Gedanken in richtiger Folge nieder. 
zuſchreiben, iſt doch wirklich ſchon groß genug. „Aber die Rechtfchreibung 
in deinem Aufſatz brauchſt du dir keine Sorgen zu machen“, beruhigte der 
Vater aufs neue den Sohn. Er hatte aber die vom Rektor ſelber geleitete 
Prüfungskommiſſion falſch taxiert. Als ihm zwei Stunden ſpäter das 
Ergebnis mitgeteilt wurde, hörte er nicht nur, daß das Diktat nichts weniger 
als befriedigend ausgefallen ſei, ſondern auch, daß der Aufſatz, deſſen Stil 
übrigens ganz gut wäre, Fehler in der Rechtſchreibung aufweiſe. Den 
hieran geknüpften Bedenken hielt der Vater die vorzüglichen Leiſtungen 
ſeines Jungen auf der bisherigen Schule entgegen. Nur ein Blick in die 
mitgebrachten Aufſatz⸗ und Diktathefte würde genügen, um die Herren 
davon zu überzeugen, daß er nicht zu rofig ſchildere. Ferner wies er auch 
noch darauf hin, daß ſein Sohn eigentlich ſchon vor einem Jahr für die 
Sexta reif geweſen ſei, daß er ihn aber erſt jetzt angemeldet habe, weil er 
gewünſcht habe, daß er die unterſte Klaſſe des Gymnaſiums mögliüchſt leicht 
bewältige. Aber er führte nur ein Selbſtgeſpräch. Die Kommiſſion blieb 
ſtumm, und anſtatt zu antworten, zeigte der Rektor, unverbindlich nach jeder 
Hinſicht, mit dem Finger auf das Diktat mit den zahlreich geſtellten „Fallen“. 
Natürlich zog der Vater nunmehr den Aufnahme⸗Antrag zurück und pries 
ſeinen Jungen und ſich glücklich, ihn vor der Erziehung durch Männer be⸗ 
wahrt zu haben, denen bis heute noch entgangen zu ſein ſcheint, daß auch 
ſchon der zehnjährige Prüfling ein Individuum iſt. Seit Jahrzehnten wird 
auf allen Gebieten der Unterweifung ihre Individualiſierung als unerläßliche 
Forderung hingeſtellt. Selbſt der Anteroffizier, deſſen geiftige Fähigkeiten 
doch nur in ſehr beſcheidenem Maße ausgebildet find, darf feine Rekruten 
nicht mehr über einen Kamm ſcheren. Hier ſahen wir aber Männer der 
Wiſſenſchaft den bereits als ſelbſtverſtändlich geltenden Grundſatz aufs 
rückſichtsloſeſte verleugnen, dieſelben Männer, die ſich anheiſchig machen, in 


358 Bielrogge: Ein Prüfling für die Serta 


unferen Jungen deutſchen Idealismus zu wecken und namentlich Charaktere 
heranzubilden. Nur einen Aufſatz, nur ein Diktat der mitgebrachten Hefte 
hätten ſie durchzuſehen brauchen, um ſich ein zutreffendes Bild von dem 
geiſtigen Können unſeres kleinen Freundes zu verſchaffen. Kaum eine 
Minute hätte dies gekoſtet. Aber ſie verzichteten hierauf, trotzdem ſie nach 
den auf dem Tiſche vor ihnen liegenden Heften nur zu greifen brauchten. 
Unter allen Amſtänden follte der Junge für fie eine Nummer bleiben, ein 
Weſen, das innerhalb zweier Stunden unter ihrer Aufſicht drei ſchriftliche 
Arbeiten hatte anfertigen müſſen. 

Schwer war das liebe Kerlchen zu tröſten. And wie ſein Vater noch 
jetzt von den Stunden träumt, in denen er auf dem Schlachtfelde im bef: 
tigſten Feuer verwundet gelegen hatte, ſo durchlebt ſein Junge im Schlaf 
immer wieder die Qualen der Aufnahmeprüfung. And das widerfährt 
einem Kinde, deſſen vortreffliche Beanlagung es vor jeder Beſorgnis um 
ſein Fortkommen auf der Schule bewahren ſollte! Wird der Junge in 
dieſer jemals wieder harmlos und unbefangen ſein können? Wird er ſich 
von nun an nicht jedesmal einen Rud geben müſſen, um das Unbehagen 
zu überwinden, das ihm der Gedanke an ſie bereitet? Wird nicht die Angſt 
vor ſeinen Lehrern, vor dem Ausfall des unglückſeligen Extemporale und 
vor den zahlreichen anderen mit ihm vorzunehmenden Prüfungen das aus⸗ 
ſchließliche Gefühl ſein, mit dem er ſeine Mappe packt und ſich nach dem 
Marterhauſe begibt? Gelingt es nicht, aus ihm einen aufrechten, ſeines 
Wertes ſich bewußten deutſchen Mann zu machen, wer trägt die Schuld 
hieran? Doch einzig und allein die Schule, die zum großen Teile noch in 
den Händen ebenſo kurzſichtiger wie herrſchſüchtiger Pädagogen iſt, und die 
von den Regierenden abſichtlich in dieſen Händen gelaſſen wird, auf daß 
auch in Zukunft die geiſtigen Führer des Volkes jederzeit in unterwürfiger 
Antertänigkeit erſterben. 

Profeſſor Ludwig Gurlitts Buch enthält manche Anſicht, die ich 
nicht teilen kann. So feiert er das Heer als eine gute Schule zur Mann⸗ 
haftigkeit. Ach, er weiß nicht, daß hier ſchon ſeit Jahrzehnten nur über⸗ 
aus gefügige Militärs gezüchtet werden, denen mannhaftes Weſen viel⸗ 
fach fremd iſt. Darum bleibt das Buch aber doch eine nicht hoch genug 
anzuſchlagende Tat. Gerade in der letzten Zeit hat ſich die Notwendigkeit 
ergeben, mit der Erziehung des deutſchen Volkes zur Mannhaftigkeit 
Ernſt zu machen. Siebzehn Jahre hat dieſes ein Regiment über ſich 
demütig ergehen laſſen, das ihm täglich Verdruß bereitete, da es ſich ſo 
gebärdete, als wenn die Rechte nur bei ihm lägen und die Pflichten nur 
bei den Regierten. Mitte November 1906 ſchien ja der Regierenden Maß 
voll zu ſein. Von allen Seiten, in der Preſſe ſowohl wie im Reichstag, 
ſcholl ihnen der Ruf entgegen: „So wollen wir nicht weiter regiert werden!“ 
Und es machte in der Tat den Eindruck, als wenn die Herrlichkeit des 
Fürſten Bülow zu Ende ginge. Allen Kredit, ſogar bei ſeinen treueſten 
Freunden auf der Rechten, ſchien er verloren zu haben, als er am 14. No- 


Bielrogge: Ein Prüfling für die Gerta 359 


vember 1906 den Sitzungsſaal verließ. Sicherlich hatte er dies felber im 
Gefühl; und in feiner Not ſann er auf einen Trick, der ihn retten konnte. 
Er fand ihn auch. Bisher hatte er feine ganze Politik zum Wrger aller 
ehrlichen Deutſchen auf die Anterſtützung des Zentrums gegründet. Jetzt 
warf er dieſen aus guten Gründen treu ergebenen Freunden den Fehde⸗ 
handſchuh hin und erklärte fie für Reichsfeinde, indem er gleichzeitig die 
Nation aufforderte, an der nationalen Politik, die er nunmehr treiben wolle, 
mitzutun. Mit einem Schlage wandte ſich das Blatt. Der Reichskanzler, 
dem auch ſehr einſichtsvolle Politiker nach jenem 14. November nur noch 
einige wenige Wochen bis zum Ende hatten geben wollen, wurde der 
nationale Bannerträger, hinter dem die deutſchen Wähler bei der neuen 
Wahl zum Reichstag herzogen, und heute iſt aus der Erinnerung aller, die 
vor noch nicht anderthalb Jahren mit drohender Fauſt verlangt hatten, 
anders als bisher regiert zu werden, dieſe Forderung bereits geſchwunden. 
Jetzt haben ſie nur den einen Wunſch, ſich den Regierenden zu Füßen zu 
werfen, damit dieſe auch ihnen die Negierungsfähigkeit bezeugen können. 
Anmännlicher als in dieſem Falle kann ſich ein gebildetes 
Volk unmöglich benehmen. Aber die Hoffnung, daß die gegenwär⸗ 
tige Nation ſich noch einmal auf ihre Würde beſinnen wird, iſt trügeriſch. 
Heilung von dem Abel kann nur die Zukunft und auch dieſe nur dann 
bringen, wenn es uns gelingt, unſere Jungen zu wirklichen Männern zu 
erziehen. Nervenſtark haben wir ſie zu machen, indem wir ihnen die 
Harmloſigkeit, die ſie aus der Kinderſtube in die Schule mitbringen, auf 
dieſer mit allem Fleiß erhalten und ſo ihre zarten Nerven vor vorzeitiger 
Beunruhigung bewahren, und indem wir ſie gleichzeitig ſteifnackigen Leh— 
rern anvertrauen, die an jedem Schüler, der da ſtrebt ſich durchzuſetzen, 
ihre helle Freude haben. Loyal ſollen die deutſchen Männer auch in Zu— 
kunft ſein, aber nur im eigentlichen Sinne des Wortes, alſo gehorſam gegen 
das Geſetz, nicht loyal in ſeinem heutigen Sinne, worunter lediglich eine 
des freien Mannes unwürdige Anterwürfigkeit gegen die Mächtigen ver- 
ſtanden werden kann. 


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Pr TH Us: if 1 il Ih 


Unjer Lehrer 


Gon 
Edmondo de Amicis 
(+ 11. März 1908) 


uch mein neuer Lehrer gefällt mir diefen Nachmittag. Während 
C feines Eintrittes und als er ſich ſchon auf feinen Platz gefest 
J batte, zeigten ſich an der Türe der Klaſſe einige Schüler des 
vorigen Jahres, um ihn zu grüßen. Sie näherten ſich, gingen 
— und grüßten ihn: Guten Tag, Herr Lehrer, — Guten Tag, Herr 
Perboni; — einige traten ein, drückten ihm die Hand und gingen wieder 
davon. Man ſah, daß ſie ihn gerne hatten, und daß ſie wieder zu ihm 
hätten zurückkehren mögen. Er antwortete: — Guten Tag, — drückte die 
dargereichten Hände, ſah aber niemand an. Bei jedem Gruß blieb er ernſt, 
mit einer Falte auf der rechten Seite ſeiner Stirne. Gegen das Fenſter 
gewendet, betrachtete er das Dach des Hauſes gegenüber und, anſtatt ſich zu 
freuen über den Gruß der Schüler, ſchien er darunter zu leiden. Dann 
erſt muſterte er uns aufmerkſam, einen nach dem andern. Während des 
Diktierens ſtieg er vom Katheder herab, um zwiſchen den Bänken umber- 
zugehen, und als er einen Knaben ſah, der das Geſicht ganz rot von 
Bläschen hatte, hörte er auf zu diktieren, nahm deſſen Geſicht in ſeine 
Hände und betrachtete ihn; dann fragte er den Knaben, was ihm fehle, 
indem er ihm eine Hand auf die Stirne legte, um zu fühlen, ob ſie heiß 
ſei. In dieſem Augenblick ſtellte ſich ein Knabe hinter ihm auf die Bank 
und machte Poſſen. Der Lehrer wandte ſich plötzlich, der Knabe ſetzte ſich 
ſchnell und verblieb ſo, um mit geſenktem Kopfe die Strafe zu erwarten. 
Der Lehrer legte ihm eine Hand auf den Kopf und ſagte zu ihm: Tue es 
nicht mehr! — Nichts weiter. Er wandte ſich zur Tafel und beendete 
das Diktat. Als er aufgehört hatte zu diktieren, betrachtete er uns einen 
Augenblick ſtillſchweigend, dann ſagte er ganz langſam mit feiner groben, 
doch gutmütigen Stimme: — Hört, wir haben ein Jahr miteinander zu— 
zubringen. Wir wollen ſehen, daß wir es gut zubringen. Lernt und ſeid 
brav. Ich habe keine Familie. Ihr ſeid meine Familie. Voriges Jahr 


König Oskar II.: Ein Augenblick 361 


hatte ich noch meine Mutter, fie iſt mir geſtorben. Ich bin allein zurück ⸗ 
geblieben. Ich habe niemand mehr als euch in der Welt, ich habe kein 
andres Gefühl als für euch, keinen andern Gedanken als an euch. Ihr 
müßt meine Kinder ſein. Ich will euch wohl, ihr müßt mich auch gern 
haben. Ich will keinen beſtrafen. Zeigt mir, daß ihr Knaben ſeid, die ein 
Herz haben; unſere Schule wird eine Familie, und ihr werdet mein Troſt 
und Stolz ſein. Ich verlange nicht von euch ein Verſprechen; ich bin gewiß, 
daß euer Herz es mir ſchon gegeben hat. Und ich danke euch. — In dieſem 
Augenblick trat der Schuldiener ein, um das Zeichen zu geben. Wir gingen 
alle ganz leiſe aus den Bänken. Der Knabe, der ſich auf die Bank geſtellt 
hatte, näherte ſich dem Lehrer und ſagte mit zitternder Stimme: — Herr 
Lehrer, verzeihen Sie mir! — Oer Lehrer küßte ihn auf die Stirne und ſagte 
zu ihm: — Geh, mein Sohn! Aus dem Stalieniſchen von Otto Agnes 


1 


SL CS So WY 


Ein Augenblick 
Von 
König Oskar II. von Schweden + 


Du trauſt des Zukunftstraumes Luftgebilde, 
Das, heiß erwartet, licht und frühlings milde 
Gemach Geſtalt gewinnt vor deinem Geiſt. 
And jeden Zweifel heißt du ſtille ſchweigen: 
Wie herrlich muß ſich die Erfüllung zeigen, 
Wenn dir die Hoffnung ſchon ſo viel verheißt! 


Die Stunde ſchlägt — ach, und iſt auch verklungen! 
Ein Knöſplein, in dem Garten „Zeit“ entſprungen 
And von des Schickſals Herrſcherhand gepflückt; 
Ein Augenblick, der dir bereits entſchwunden, 

Eh’ feine volle Wonne du empfunden, 

And nun für immer deinem Aug' entrückt. 


Hinfort entreißt die ſelige Sekunde 
Dir gleichwohl keine Macht im Erdenrunde; 
Sie war einſt dein und bleibt nun dein beſtändig. 
In tiefſter Seele wohnt ſie als Erinnern, 
Erweckt ein hold Gedankenblühn im Innern 
And wird ſo jeden Tag dir neu lebendig. 
Deutſch von Sophie Charlotte v. Sell 


Goswina v. Berlepſch 


BY) )n der Stille einer Frühſommernacht hörte ich weither einen 
Hund bellen, nicht heftig, es war der ruhige Ton eines 
Wächters, der ein einſames Beſitztum hütet und nur Stand» 


Nichts als dieſes Bellen aus unbekannter Ferne in der tiefen Stille 
der Mitternacht. Es heimelte mich ſeltſam an, und ich trat ans Fenſter, 
um hinauszulauſchen in das große Schweigen, in dem dieſer eine Laut 
etwas eigentümlich Trautes hatte, etwas Erzählendes, — wie eine abge— 
riſſene Weiſe aus einem Volkslied. Es rief allerlei Vorſtellungen in mir 
wach — Erinnerungen — Träume — Melodien. 

Der Himmel ſtand in klarer Nachtbläue über mir, ganz ohne Wol- 
ken, unendlich fern und klein darin die Sterne. Nur einzelne tiefer am 
Horizont funkelten ſtärker, blinkten und winkten, eine vage, ſüße Sehnſucht 
weckend nach unbekannten Stätten des Glücks, nach erträumten Ländern — 
Erlebniſſen — ſchönen Tagen. Lau war die Luft, voll Wohlgeruch. Düfte 
von weißer Akazienblüte, von Holunder und friſchgemähten Wieſen, vom 
Odem der Wälder dort drüben an den Bergen, wehten leiſe herüber. Ich 
ſog ſie ein mit wonnigen Atemzügen. And ein Gefühl kam über mich von 
wunderbar geheimnisvoller Größe, von Anendlichkeit, — ein beſeligendes 
Daſeinsgefühl. 

Horch! wieder das ferne Bellen — — 

Nun zauberte es mir Bilder vor, Geſtalten, Geſchichten. Eine mond— 
beglänzte Landſchaft ſah ich, ſtille Wälder, Auen, dämmernd in nächtlicher 
Helle, — einen Wieſenpfad dem Bach entlang. Da blinkt es ſilbern auf, 
kleine, eilige Wellchen, und huſcht und murmelt und kichert weiter ins 
Schattendunkel hinein. Dann kommen blühende Holunderbüſche am Wege, 
ſchimmernd vom Reichtum der ſchneeigen Blütenſträuße. Wie das duftet, 
ſüß und ſchwer! And hinter den Büſchen windet ſich der Pfad ſachte 
empor, einer Hecke entlang, die einen ſcharfumriſſenen Schatten wirft, zu 
einem Häuschen, halb verſteckt unter Obſtbäumen. Der Giebel ragt hell 
in den Mondſchein, aber was darunter iſt, liegt in lauſchig bläulichem 


Berlepſch: Traum 363 


Dunkel. Da und dort nur ein Lichtſtreif, leuchtende Flecke, durch Laub 
und Gezweige ſich ſtehlend. Doch auf den Steinſtufen, die zu der ſchmalen 
Haustür führen, da liegt das volle Mondlicht, ſo recht wie eine Nacht⸗ 
wache: Schlaft ruhig da oben! Ich bin da! 

Sie ſchlafen aber nicht alle im Haus. Aus einem der Fenſter blinkt 
noch ein ſpätes Lichtchen. Das Fenſter ſteht offen, und ein weißer Vor⸗ 
hang bläht ſich leicht in der Nachtluft. 

Wer mag da noch wachen, arbeiten, ſinnen? 

Still, ſtill! 

Heimliche Liebe harrt Einem entgegen, der durch die laue, ſchweigende 
Sommernacht kommt — dort den Bach entlang. 

Hier iſt's gewiß, wo der Hund bellte — — 

Nun ſchweigt er! 5 

Im Herbſte desſelben Jahres begruben ſie mir den teuerſten 
Menſchen. 

Ich ging dann oft hinaus nach dem Friedhof. Er liegt auf einer 
ſchönen Höhe, von wo man rings in die Ferne ſchauen kann. Das tut 
wohl an ſolcher Stelle. Es weitet die Gedanken, lenkt ſie ins Große. 
Wolkenherrlichkeiten ſieht man hier oft, Abendröten flammen, grandios wie 
Weltbrand. Die Seele wird ſtill dabei, vergißt ſich ſelbſt. 

And dann das erſchweigende Dunkelwerden — das Abendläuten fern 
und nah —: Herr, bleib bei uns — | 

Man hört das bange, ungewiſſe Leben beten. — 

In dieſer Stimmung vernahm ich eines Abends unweit dort oben 
das Bellen eines Hundes. 

Woran erinnerte mich das nur? Dieſer gelaſſene Wachlaut? 

So hatte ich ihn einmal aus der Ferne gehört — im Frühſommer — 
in einer lauen, wundervollen Nacht. 

And plötzlich fiel mir alles von damals wieder ein — der ganze 
Zauber jener Nacht — ihre wonnig tiefe Ruhe — ihre ſchimmernden Ge⸗ 
dankenbilder — das Daſeinsglück — die Zeit, wo ich noch nichts von 
Schmerz und Tod geahnt — — 

Langſam wanderte ich über die dämmernden Fluren heimwärts, un⸗ 
willkürlich nach dem Bellen horchend. 

Ja, ja, es war derſelbe Laut, kam aus derſelben Richtung wie damals. 

Alſo ein Wächter der Toten, des ewigen Friedens — nicht heimlich 
irdiſchen Glückes, wie ich geträumt! 

Vor mir, im Oſten, ging groß und kalt der Vollmond auf. 

Mich ſchauerte. 


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Die neue Kolonialzeit 


r erſte Staatsſekretär des neugeſchaffenen Reichskolonialamts hat 
mit klugem Geſchäftsſinn ſeine Tätigkeit mit keinen überſtürzten und 
zuſammenhangloſen Maßnahmen begonnen, ſondern an die vor- 
handene Entwicklung angeknüpft, deren bisherige Fehler ihm nicht entgangen 
ſein werden. Aber dieſes praktiſche Beſtreben kann leicht zu einer milden Be · 
urteilung von Vorgängen führen, deren tatkräftige Anderung von feiner früher 
gerühmten Rückſichtsloſigkeit erwartet werden muß, fofern fie das ftaatliche 
Intereſſe gebietet. Rohrbach, als Naumannjünger ein Freund des Groß; 
kapitals, beweiſt mit ſchlagenden Gründen, daß nicht das angeblich aus 
beuteriſche Händlertum des ſüdweſtafrikaniſchen Schutzgebietes trotz einiger 
Ausfchreitungen, fondern die Ablehnung von Landabgaben ſeitens der großen 
Gerechtſamengeſellſchaften, beſonders der rein engliſchen South West African Co. 
Scharlachiſcher Gründung den Hereroaufftand verurſacht haben, die einfach 
Landwucher treiben wollten. Dadurch wurde die Regierung mangels ge- 
nügenden Regierungslandes gezwungen, das Hererogebiet aufzuteilen und 
damit die Eingeborenen zum Teil ihres Landes zu berauben, was jedoch ihr 
gutes Recht war, da ſie einen Entgelt für den Reichsſchutz verlangen mußte. 
(Rohrbach, Deutſche Kolonialwirtſchaft. 1. Bd. Südweſtafrika, Berlin 1907, 
Buchverlag der Hilfe. Ein ſachkundiges Buch mit wertvollen Anregungen für 
die Erſchließung dieſer einzigen Siedlungskolonie.) 

Die Landgeſellſchaften haben jedoch ſämtlich die ihnen bei der Verleihung 
ihrer Gerechtſame auferlegten Bedingungen nicht erfüllt. Die gedachte engliſche 
Geſellſchaft hat ſogar beim Bau der durch den Krieg notwendigen Staatsbahn 
für Aufgabe ihrer Eiſenbahnberechtigung eine weitere Bergwerksgerechtigkeit 
im Ambolande herausgeſchlagen, obwohl ſie ohne die Dämpfung des Aufſtandes 
durch die Reichsmacht niemals innerhalb der Verleihungsdauer von zehn Jahren 
die erforderlichen Eiſenbahnen hätte fertigſtellen können. Die engliſche Gefell- 
ſchaft beſitzt das beſte, ſogar das ſo ſeltene Ackerland der Kolonie. Wenn man 
ihr den Landbeſitz als durch Nichterfüllung der Verleihungsbedingungen verwirkt 
abnimmt und ihr den höchſt wertvollen Bergwerksbeſitz läßt, ſo macht ſie noch 
ein gutes Geſchäft. Ich kann mich der Vermutung nicht verſchließen, daß die 
unwürdige Angſt vor England hierbei eine Rolle ſpielt und der Staatsſekretär 
als früherer Bankdirektor ſolche Spekulationsgeſellſchaften zu ſchonend be 
handelt, da er ihren Nutzen überſchätzt. 


Die neue Kolonialzeit 365 


Sicherlich tft es dankenswert, daß er ein vorläufiges Abkommen mit der 
größten ausländiſchen Sünderin geſchloſſen hat, daß fie unter Staatsvermitt- 
lung ein Drittel ihres Gebietes für Anſiedlungszwecke zu einem angemeſſenen 
Preiſe nach Bedarf abgibt. Der ausbedungene Geldſatz nützt aber ſchon die 
günftigere Seitlage aus, die erſt die kriegeriſche, an Gut, Blut und Reichs · 
mitteln ſo verluſtreiche Herſtellung der Ruhe und Ordnung im Schutzgebiet 
geſchaffen hat, ohne daß die Geſellſchaft irgend etwas dafür aufgewendet hat. 
Vorausſetzung der Verleihung ohne entſprechende Entſchädigung des Reiches 
war aber der Ausſchluß einer finanziellen Belaſtung des Reiches, das den Ge- 
ſellſchaften die Erſchließung des Landes und damit auch die Tragung der ent- 
ſprechenden Koſten überließ. Die engliſche Geſellſchaft als Ableger der De Beer ⸗ 
Geſellſchaft beſitzt noch eine abſichtlich nicht ausgebeutete Gerechtſame auf einen 
Blaugrund mit Diamantenvorkommen im Süden neben ihrem nördlichen Be⸗ 
fig, um durch Vermeidung oder richtiger Unterdrückung eines Wettbewerbes 
die ſüdafrikaniſchen Diamantenpreiſe dauernd hochzuhalten. Dadurch entgeht 
dem Reich eine beträchtliche Steuer für den Gewinn und die Bergwerksabgabe 
für die Ausbeute, ſo daß an dem Fortfall dieſes auch höchſt zweifelhaften 
Bergwerkseigentumes der Reichsſäckel erheblich beteiligt iſt. 

Die deutſche Kolonialgeſellſchaft für Südweſtafrika hat mehr durch 
dauernde Anterlaſſung ihrer Pflichten aus tatſächlicher Geldnot, denn aus ge- 
winnſüchtiger Abſicht geſündigt, muß aber auch für die Säumnis durch Be⸗ 
ſchneidung ihres ungeheuren Land beſitzes jetzt haftbar gemacht werden. Kayſers 
und Nordenflychts als der damals verantwortlichen Miniſterialbeamten Ge ⸗ 
danke, daß dieſe bevorzugten Geſellſchaften dem kolonialunluſtigen Reiche die 
Koſten der Erſchließung erſparen würden, iſt gründlich fehlgeſchlagen, wogegen 
die Anſetzung von Viehzüchtern vor und nach dem Kriege guten Fortgang 
nimmt. Warum man die Höfe dieſer Anſiedler irrigerweiſe Farmen nennt, iſt 
wohl der deutſchen Ausländerei zuzuſchreiben, die dort unten auch in holländiſchen 
Bezeichnungen, aber nicht germaniſcher Herkunft, wie Rivier und Fontein 
törichterweiſe ſchwelgt. 

Das Anſiedlungsgebiet der Geſellſchaften befindet ſich in den Landſtrichen, 
die überhaupt nicht durch die Eingeborenen gefährdet waren, alſo jetzt auch 
keines kriegeriſchen Schutzes bedürfen. Hätte die Beſiedlung folgeridtiger- 
weiſe hier begonnen, ſo wäre die Ermordung zahlreicher Weißer vermieden 
worden, was daher auf das Schuldkonto der Geſellſchaften fällt. Hält die jetzt 
durch die früheren Fehler gewitzigte und auch ſonſt verſtändige Kolonial- 
verwaltung die Angehörigen der Schutztruppe durch Landgeſchenk und Geld- 
beihilfe im Lande auch nach ihrer Dienſtzeit feſt, ſo iſt eine geſunde Entwicklung 
durch Viehzucht im Großbetrieb auch mit Woll- und Fleiſchſchafen und Ziegen 
und die erforderliche Handwerkeranſetzung in den größeren Plätzen gewährleiſtet. 

Vielleicht gelingt es auch Amerika Auswanderer ihrem Ziele abſpenſtig 
zu machen, wofür ſich die Hanſaſtädte intereſſieren möchten, die freilich viel 
von nationaler Tatkraft reden, aber internationalen Gewinn bevorzugen. Die 
Landſpekulanten und Benützer unſerer kolonialen Nöte ſitzen recht zahlreich an 
der „Waterkant“. Der Reichstag muß endlich die Zähne zeigen, nachdem er 
fo oft mit Recht über die kolonialen Mißſtände gejammert hat. Er hat die 
Pflicht, Erſatz für die ungeheuren Kriegskoſten von den wahren Schuldigen zu 
verlangen. Der Weg iſt oben gewieſen. Die Aufhebung des intereſſierten 
Kolonialrats iſt eine gute Vorbedeutung, doch müſſen jetzt die Folgerungen 


366 Die neue Kolonialzeit 


aus dem berechtigten An mut der Volksvertretung gezogen werden. Oftafrifa 
hat das Anglück gehabt, außer Soden keinen irgendwie zulänglichen Gouverneur 
beſeſſen zu haben. Jetzt iſt endlich wieder einmal ein tüchtiger Beamter an 
die Spitze getreten, der jedoch im Konſulardienſt den Kolonialdingen wohl 
etwas fremd geworden iſt. Der letzte Gouverneur verfügte als Vorbildung 
über nichts, als daß er Leutnant geweſen war, im Schutzgebiet Löwen ge ⸗ 
ſchoſſen und eine Durchquerung des ſchwarzen Erdteils von Oſt nach Weſt auf 
übrigens bekannten Wegen gemacht hatte, wobei ihm im Kongowald ein Drittel 
der ſchwarzen Begleitung infolge ungenügenden Proviants einging, was einem 
Expeditionsführer nicht paſſieren darf. (Paaſche, Im Morgenlicht, Berlin 1907, 
Schwetſchke & Sohn. Das Feuilleton zu dem kolonialwirtſchaftlichen Buche 
des Vaters über Oſtafrika, belehrend und unterhaltſam zugleich.) Es wurde 
ihm nachgeſagt, daß er den Kolonialdienſt lediglich als Sprungbrett zum Ge- 
fandten benutzte, was ihm auch gelungen iſt, ſogar in Hamburg. Dorthin 
gehört jedoch ein Kolonialkenner, der er kaum iſt, da er ja faſt immer zur 
Winterszeit im Weißen Saal des Berliner Schloſſes in ſeiner ſchönen weißen 
Aniform zu ſchauen war. Er war freilich glücklicherweiſe kein Peters, ſein 
Zug erfolgte ohne einen Schuß. Man behauptet aber, daß an den Seen die 
Schwarzen nachher beſonders frech geweſen wären, was eine zu große Nach⸗ 
giebigkeit des Grafen Goetzen vorausſetzt. 

Der Staatsſekretär verriet in feinem Programm, daß er in dieſer zur- 
zeit wertvollſten Kolonie den Ratfchlägen des verfloſſenen und des gegen- 
wärtigen Gouverneurs folgen wolle, die nach engliſchem Muſter, aber nur, wo 
es den Briten paßt, eine beſondere Schonung der Eingeborenen wünſchen, 
während die Buren ſie ſtreng, aber nicht hart behandeln. Sicherlich iſt die 
Arbeitskraft der Farbigen ein koſtbares Gut, ohne deſſen richtige Behandlung 
die Erſchließung des Landes unmöglich iſt. Die Regierung verkennt jedoch die 
natürliche Trägheit und Bedürfnisloſigkeit der Schwarzen, denen ja bei leichter 
Arbeit alles in den Mund wächſt. England verfährt auch ganz anders. Es 
führt ſofort eine gar nicht unbeträchtliche Hüttenſteuer ein und ſtellt eine ſtarke 
Polizeitruppe auf. Es zehntet ſofort die Eingeborenen für den Staatsſchutz 
und wahrt die ſtaatliche Macht nachdrücklich. Ich ſchlug bereits 1890 amtlich 
in einer Denkſchrift die Hüttenſteuer als erſtes Erfordernis der kolonialen 
Regierungsweiſe vor. Erſt viel ſpäter bequemten ſich die Kolonialabteilung 
und die Herren Gouverneure dazu, dieſer gebotenen Anregung Folge zu leiſten. 
Dieſe Abgabe bedeutet einen heilſamen Arbeitszwang, und der Staatsſekretär 
irrt, wenn er glaubt, man könne ſich wirtſchaftlich auf die Eingeborenenkulturen 
verlaſſen, ſoweit ſie über deren Nahrungsbedürfnis hinausgingen. 

Die Panganizuckerfabrik iſt neben der ſchlechten Leitung auch an der 
unzureichenden Lieferung des von den Arabern und ihren ſchwarzen Sklaven 
gebauten Zuckerrohrs zugrunde gegangen. Alſo ſelbſt der arabiſche Gebieter 
hat die angeborene Arbeitsſcheu ſeiner Leute nicht überwinden können, und dazu 
an der Küſte, wo der Bezirksamtmann und die deutſche Macht dem Neger 
auf dem Nacken ſitzen. Der Händlerſtandpunkt der Regierung iſt verfehlt. 
Der erfreulicherweiſe belehrbare Leiter des Kolonialamtes hat auch in der 
Preſſe die angedeutete Eingeborenenverhätſchelung wieder abgeſchwächt. Nur 
eine verſtändige Mittellinie führt zum Ziel. Arbeitszwang in tunlichſt milder, 
aber nachhaltiger Form und deutſche Pflanzungen in großem Maßſtabe mit 
farbigen Arbeitern, ohne den heimiſchen Ackerbau auszuſchalten. Das tropen- 


RKultusminifier Holle 367 


kolleriſche weiße Abermenſchentum muß auf eine gerechte Herrenſtellung der 
Pflanzer und Betriebsleiter gebracht werden. 

In der Indierfrage ſpielt die Rückſicht auf England auch wieder eine 
bedenkliche Rolle. Während das engliſche Transvaal den Indier den Schwarzen 
gleichſtellt, behandeln wir ihn als Engländer, was unzuläſſig iſt. Er iſt ein 
ſchlimmer Wucherer auch gegenüber den Europäern, bedarf alſo ſcharfer Auf- 
ſicht und keiner beſonderen Schonung, da er bloß ein wirtſchaftlicher Schmarotzer 
iſt, der vielleicht noch unentbehrlich iſt, aber deſſen allmählige Beſeitigung die 
Regierung erftreben muß. Das Wirtſchaftsleben läßt ſich nicht einfeitig be- 
einfluſſen. Alle nützlichen Zweige der wirtſchaftlichen Betätigung haben ein 
Anrecht auf die obrigkeitliche Förderung. Daher iſt der Wunſch der Pflanzer, 
daß die Regierung ihnen die ſchwarze Arbeitskraft zwangsweiſe zur Verfügung 
ſtelle, wohl zu weitgehend. Aber ohne einen leiſen Druck wird es nicht abgehen. 

Auch die Steuerſchraube muß kräftiger angezogen werden, woraus ſich 
ſchon das Aufſuchen des fremden Dienſtes ergibt, um die Steuer erlegen zu 
können. Durch bloße öffentliche Arbeiten, wie Wegebau, wird der Schwarze 
nicht genügend beſchäftigt. Straßen in unſerm Sinne gibt es auch nicht und 
find in den Tropen überhaupt nicht möglich. Höchſtens der Eiſenbahnbau 
dürfte trotz des Privatunternehmens infolge der Reichsgarantie Anlaß zur 
Zwangsheranziehung der Schwarzen gegen Entgelt geben. Von dem Schienen- 
netz hängt überhaupt die Entwicklung aller Kolonien ab. Schon hat uns England 
von Oſt und Weſt überflügelt und den Verkehr abgeleitet. Aber die engliſche 
Agandabahn reifen unſere Beamte an die Seen, obwohl dieſes alte Emin 
Paſchareich uns letztwillig vermacht war und daher unanfechtbar gehörte. 
Caprivi hat freilich bloß halb Deutſch⸗ Afrika verſchenkt, hätte aber am liebſten 
das ganze Albion überlaſſen, was wir bei unſerm Kolonialkleinmut nicht ver. 
geſſen wollen. 

Der Reichstag und das deutſche Volk haben dieſe Verſchleuderung von 
Reichsbefis geduldet, obwohl der alte deutſche Kaiſer in feinem Titel auch 
„Mehrer des Reiches“ hieß. Wir wollen nicht hoffen, daß noch einmal die 
ſchlechte geſchichtliche Aberlieferung des alten Reichsoberhauptes wieder auf- 
genommen wird, das unſre ganze Weſtmark Frankreich und den unabhängigen, 
aber dorthin neigenden deutſchen Außenlanden in den Alpen und an der 
Rhein- und Scheldemündung ließ. Die Walfiſchbucht in Südweſt wird auch 
noch als engliſches Einſprengſel geduldet, obſchon ſie unſerem Nachbarn bloß 
Geld koſtet und für ihn völlig wertlos iſt. Eine geſchickte Diplomatie hätte 
beim Samoaabkommen uns mit Leichtigkeit von dieſem Pfahl im deutſchen 
Fleiſch befreien können. Kurd v. Strantz 


I 
Rultusminijter Holle 


Vi 

rit einem mehr als gewöhnlichen Sntereffe ſah man im Volk und 
in der Lehrerſchaft dem Programm des „neuen“ Kultusminiſters 
8 2 entgegen. Dieſes Intereſſe iſt erklärlich, wenn man bedenkt, daß 
unter der Ara Studt alles aufgeboten wurde, dem bureaukratiſchen Abfolutis- 
mus die Alleinherrſchaft zu ſichern. Was dieſem Syſtem zuwider war, fand 
überhaupt keinerlei Beachtung, und als dieſe Tätigkeit des Konrad v. Studt 


368 Kultusminifter Holle 


ſchließlich noch mit der höchſten preußiſchen Ordensauszeichnung bedacht wurde, 
war des Kopfſchüttelns kein Ende. Das Staunen der ganzen modern emp- 
findenden deutſchen Kulturwelt war übergroß, obgleich uns die beiden letzten 
Jahrzehnte der politiſchen Entſcheidungen und Aberraſchungen ein vollgeſtrichen 
Maß beſchert haben. 

Es ging wie eine Erlöſung durch weite Volkskreiſe, als es dem Kanzler 
endlich gelang, die Krone von der ferneren Anmöglichkeit Studtſcher Kultur; 
arbeit zu überzeugen. Abrigens iſt es bezeichnend, daß dieſe Aberzeugung nicht 
längſt an entſcheidender Stelle vorhanden war. Es iſt leider ein offenes Ge- 
heimnis, wie wenig ſich der Kaiſer um Volksſchulangelegenheiten kümmert. 
Die Volksſchule iſt unſtreitig das wertvollſte Kleinod eines Staates. Der 
Kaiſer hat die Konſequenzen aus dieſer ſchwerwiegenden Wahrheit nicht ge ⸗ 
zogen, und fo interefftert ihn die Schule beſtenfalls inſofern, als er in ihr eine 
ſtaatliche Organiſation ſieht. Aber auch als ſolche ſteht fie hinter den Denk ⸗ 
mälern, Kanonen, Kriegsſchiffen, Schauſpielern, Automobilen und Aus ländern. 
Man wird das bedauern, aber es iſt eine Tatſache, die überhaupt den oberen 
Zehntauſend nicht unbekannt iſt. 

Wir würden dieſe Tatſache nicht regiſtrieren, wenn wir nicht wüßten, 
daß ſie für die Beurteilung der Arbeit eines Kultusminiſters weſentlich ins 
Gewicht fiele. Ein preußiſcher Kriegsminiſter erfreut fic einer ſtarken Rücken · 
deckung; ein preußiſcher Anterrichtsminiſter hat mit ihr nicht zu rechnen. 
Zweifellos hat auch Herr Holle dieſe Wahrheit an ſich ſelbſt verſpürt. Der 
gänzliche Bankerott der Studtſchen Mißwirtſchaft ergibt ohne weiteres, daß 
man ſich ſeinen Nachfolger nicht als ſeinen Nachbeter und Nachtreter gedacht 
hat. Holle ſollte ein Blockminiſter ſein. Bülow hätte ſeine Blockpolitik und 
feine klaſſiſchen Zitate Lügen ſtrafen müſſen, wenn er an die Stelle Studts 
einen anderen mittelalterlichen Finſterling geſetzt hätte. Man weiß aus be- 
zeichnenden Äußerungen Holles, daß ihm der Gedanke einer Kopie der Studt. 
ſchen Kulturpolitik bei ſeinem Eintritt ins Amt fernlag. 

Alle Parteien billigten dem neuen Miniſter eine reichlich bemeſſene Ein ⸗ 
arbeitungsfriſt zu, und was in dieſer Zeit etwa als Zeichen reaktionärer Ge ⸗ 
ſinnung des Miniſteriums hätte ausgelegt werden können, ſetzte man getroſt 
auf das Konto des Mißgriffs infolge Nichtunterrichtetſeins. Man hatte ja 
vorher Studt über ſich ergehen laſſen müſſen und erfreute ſich deshalb jetzt 
ſogar des allerkleinſten Fortſchritts. Allerdings betonten wir damals ſchon, 
wie überaus traurig es doch ſei, daß man für den hochwichtigen Poſten eines 
Anterrichtsminiſters immer nur einen Mann auswähle, der einer monatelangen 
Einarbeitung in ſein Fach bedürfe. In Dänemark iſt man weiter fortgeſchritten. 
Dort wurde ein Landſchullehrer Kultusminiſter und darauf ſogar Minifter- 
präſident. In ſolchen Fällen iſt ein langes Einarbeiten nicht notwendig. Die 
Aufgabe eines Chefs kann ja weniger darin beſtehen, ſich in Akten zu ver- 
graben, als die Seele ſeines Reſſorts zu fein, großzügige Direktiven zu geben 
und die Kleinarbeit den nachgeordneten Inſtanzen zu überlaſſen. 

Iſt Herr Holle dieſem Grundſatz gerecht geworden? Hat er die auf ihn 
geſetzten Hoffnungen erfüllt? Es gibt nicht wenige, die ihrer ganzen Stellung 
nach berufen ſind, eine Antwort auf dieſe Frage zu geben. And ſie haben ſie 
beantwortet durch die Gegenfrage: „Biſt du, der da kommen ſoll, oder ſollen 
wir eines andern warten?“ Man kann dieſem vorläufig ſich noch etwas ab- 
wartend verhaltenden Peſſimismus feine Daſeinsberechtigung leider kaum ab- 


Rultusminifter Holle 369 


ſprechen. Holle ift kein Studt, ganz gewiß nicht; aber ob er je ein Falk oder 
ein Boſſe wird, wagen wir nicht zu bejahen; denn ſo manches ſpricht dag egen 
was nicht mit dem Mangel an Anterrichtetſein gedeckt werden kann. 

Dieſes Ergebnis aus der bisherigen Amtsführung Holles muß namentlich 
die Lehrerſchaft um fo mehr enttäuſchen, als fie den neuen Minifter mit offenen 
Armen und offenen Herzen empfangen hat. Es iſt in der Politik nicht gut, 
einen kühl abwartenden Standpunkt früher zu verlaſſen, als man ſeiner Sache 
ganz gewiß iſt. Dem Laien in der Politik iſt dieſe eine Gefühlsſache. Nach 
jahrelangen Zweifeln, Verkennungen und Verdächtigungen hatte die Lehrer- 
ſchaft das Bedürfnis, das Banner des Vertrauens zu entfalten und dem 
Minifter zu huldigen, der ihr noch unbekannt war. Allerdings wird man 
den Vertretern der Schule mildernde Amſtände nicht abſprechen können. Der 
neue Miniſter ließ es ſich angelegen ſein, den Lehrern zwar nicht als Menſch, 
wohl aber als oberſter Anterrichtschef näher zu treten. Das erſchien als etwas 
Anerhörtes! Herr Studt lehnte bekanntlich jede Audienz ab. Den Vertretern 
der Lehrer blieb die Tür des Kultusminiſteriums verſchloſſen. Man verwies 
die Lehrer auf den Inſtanzenweg, hielt es aber nicht für nötig, Eingaben, die 
auf dieſem Wege gemacht wurden, überhaupt zu beantworten, obwohl 80 000 Lehrer 
dahinter ſtanden. Das wurde unter Holle anders. Er hat es ſich, wie es ja 
auch ſeine Pflicht war, nicht verdrießen laſſen, eine Lehrerabordnung nach der 
andern zu empfangen, deren Wünſche anzuhören und ſich nach Möglichkeit zu 
informieren. Im großen und ganzen iſt es aber — wenigſtens bis jetzt — bei 
der „wohlwollenden Prüfung“ und „tunlichen Berückſichtigung“ geblieben. 

Es iſt nicht mehr zu bezweifeln, daß dem Kultusminiſter bei allem guten 
Willen die Gabe einer großzügigen Direktion fehlt. Seine Reden und Ent⸗ 
ſcheidungen tragen den Stempel des Angewiſſen. Studt zeigte eine eiſerne 
Konſequenz in der Verwirklichung reaktionärer Pläne, und deshalb hat er bei 
aller Anbeholfenheit viele feiner Ziele erreicht; daß Holle mit derſelben Energie 
in fortſchrittlichem Sinne arbeitet, kann man nicht behaupten. Allgemein 
wurde ihm bei feinem Amtsantritt das Zeugnis des vielſeitigen Beamten aus- 
geſtellt, dem es gegeben ſei, ſich auf völlig neuen Gebieten überraſchend ſchnell 
zu informieren. Das hat Holle durch eine raſche Karriere bewieſen, und ſo 
bleibt zur Erklärung feiner bisherigen unentſchloſſenen Tätigkeit nur der Um- 
ſtand zu erwähnen übrig, daß ihm entweder das verworrene Anterrichtsgebiet 
weniger „liegt“, oder daß Mächte tätig ſind, die ihm eine Betätigung ſeiner 
Ideen aufs äußerſte erſchweren oder gar unmöglich machen. Wir neigen nach 
allem, was wir darüber erfahren haben, mehr der letzteren Auffaſſung zu. 
Der den Poſten eines Kultusminiſters übernehmende Holle war ein anderer 
als der Kultusminiſter von heute. Herr v. Studt muß in dieſen Dingen ſehr 
erfahren geweſen ſein; denn als ihn das Schickſal ereilte, das ihn aus einem 
Oberpräfidenten von Weſtfalen in einen preußiſchen Kultusminiſter verwandelte, 
ſprach er beim Abſchied von der Provinz die vielſagenden Worte: wenn die 
Weſtfalen ſich manche Amtshandlung des Miniſters Studt nicht erklären 
könnten, ſollten fie deſſen eingedenk fein, daß ein Miniſter vielerlei Rüdfichten 
zu nehmen habe. 

Wer heute Miniſter iſt, muß damit rechnen, daß die Ungnade über ihn 
kommt, wie ein Dieb in der Nacht, wie ein Blitz aus wolkenloſem Himmel. 
Daher das ängſtliche Bemühen, fic die Gnade zu fichern, deren Verdunklung 
das Ende der Winiſterherrlichkeit bedeutet. Auch Herrn Holle wird ee 

Der Türmer X, 9 


370 Stehen Tiere einander bet? 


daß er die Blicke häufig nach oben richtet, wo man die Schule nur als ein 
Inſtitut kennt, das berufen iſt zur Pflege der offiziellen Vaterlandsliebe, 
Gottes furcht und Königstreue. Herr Holle unterſtrich in feiner Rede, die er 
als neuer Miniſter gelegentlich der Grundſteinlegung des Berliner Lehrerheims 
hielt, dieſe drei Kardinaltugenden dreimal. Es war eine kräftige, nicht mif- 
zuverſtehende Mahnung Holles zwiſchen den Zeilen, gerichtet an die ob ihres 
Liberalismus in Angnade gefallene Lehrerſchaft. Man hat dieſe Rede damals in 
Lehrerkreiſen nicht öffentlich kommentiert; aber verſtanden hat man ſie um ſo beſſer. 
Seit der Zeit iſt manches geſchehen, was ernüchternd auf die blinde Be- 
geiſterung eines großen Teils der Lehrerſchaft für den Nachfolger des Herrn 
v. Studt wirken mußte. Daß Herr Holle den konſervativen Schwartzkopff nicht 
entbehren will, kann man verſtehen, auch ohne den Miniſter reaktionärer Ge- 
lüſte zu zeihen; daß er aber in der Frage der geiſtlichen Schulaufficht verſagt 
hat, iſt weit bedenklicher. Ein orthodoxer Miniſterialdirektor bedeutet noch kein 
Programm, wohl aber iſt die Stellung zur Schulaufſicht der Paſtoren ein 
untrüglicher Prüfſtein der politiſchen Geſinnung. Verſagt hat Herr Holle auch 
in der Frage der Lehrerbeſoldung, in der er Herrn v. Rheinbaben völlig freie 
Hand ließ, dem Manne, der als Herrn v. Studts Freund noch ftets jeden Vor ⸗ 
wand benutzt hat, den Volksſchullehrern ſein junkerliches Wohlwollen zu be⸗ 
zeigen. Gegenüber dieſem Wohlwollen wäre es Holles Pflicht geweſen, die Schule 
und ihre Lehrer mit ſeinem Leibe zu decken. Das hat er nicht getan! M. 


SN 


Stehen Tiere einander bei? 


ei einem Spaziergange bot ſich mir kürzlich folgendes kleine Schaufpiel. 

Ein recht unverfroren dreinſchauender Spitz, ein richtiger Straßen ⸗ 
DI lümmel, traf mit einem noch jungen ſchwächlichen Terrier zuſammen. 
a erblickte ihn der erſtere, fo benutzte er feine körperliche Überlegenheit, um 
ihn recht nachdrücklich anzurempeln, ſo daß der Terrier heulend davonlief. Der 
Spitz war nicht wenig ſtolz auf ſeine Heldentat, er hatte aber ſeine Rechnung 
ohne den Begleiter des Mißhandelten, einen braunen Jagdhund gemacht. Kaum 
hatte dieſer den Vorfall bemerkt, ſo ſtürzte er ſich auf den Flegel, warf ihn zu 
Boden und ftand zähnefletſchend über ihm. Ein Glück war es für den Anter 
legenen, daß der Sieger einen Maulkorb trug, ſonſt wäre die Sache wohl noch 
ſchlimmer abgelaufen. Aber auch ſo war die Wut des Jagdhundes derartig, 
daß ſein Herr, der inzwiſchen hinzugekommen, mit Gewalt den Sieger von 
feinem Opfer losreißen mußte. Dieſer Fall iſt um fo merkwürdiger, als Jagd- 
hunde in der Regel keine raufluſtigen Geſchöpfe ſind. 

Dabei fiel mir ein ähnlicher Vorfall ein. Auch Pudel find in der Regel 
gutmütige Geſchöpfe. Trotzdem ſtürzte ſich ein ſolcher, wie ich deutlich ſah, mit 
allen Zeichen großer Wut auf einen Hundefänger, der einen maulkorbloſen Hund, 
mit dem der Pudel geſpielt hatte, vermittels einer Schlinge gefangen hatte. 

Ahnliche Fälle find von andern Tierbeobachtern wiederholentlich wahr ⸗ 
genommen worden. Schon im Altertum hatte man derartiges beobachtet. Eudemus 
erzählt folgende Geſchichte. Ein Freund der Jagd hielt ſich einen Hund, einen 
Bären und einen Löwen. Alle drei waren jung von ihm aufgezogen und ganz 


Stehen Tiere einander bei? 371 


zahm. Eines Tages fpielte der Hund mit dem Bären und trieb allerlei Neckerei. 
Da wurde der Bär boshaft und zerriß den Hund. Der Löwe aber nahm ſich 
des armen Hundes an, ward zornig und riß den Bären in Stücke. 

Bei den Herdentieren ift das gegenfeitige Beiſtandleiſten etwas ganz Alltäg- 
liches. Von den Affen ſei hier nur folgender Fall mitgeteilt, den Brehm erzählt: 

Ein großer Adler hatte eine kleine Meerkatze angegriffen. Augenblick⸗ 
lich entſtand ein wahrer Aufruhr unter der Herde, und im Nu war der Adler 
(Spiza&tos occipitalis) von vielleicht zehn ſtarken Affen umringt. Dieſe fuhren 
unter entſetzlichem Geſichterſchneiden und gellenden Schreien auf ihn los und 
hatten ihn auch ſofort von allen Seiten gepackt. Jetzt dachte der Gaudieb 
ſchwerlich noch daran, die Beute zu nehmen, ſondern gewiß bloß an ſein eigenes 
Fortkommen. Doch dieſes wurde ihm nicht ſo leicht. Die Affen hielten ihn 
feſt und hätten ihn wahrſcheinlich erwürgt, wenn er ſich nicht mit großer Mühe 
freigemacht und ſchleunigſt die Flucht ergriffen hätte. Von feinen Schwanz ⸗ 
und Rüdenfedern aber flogen verſchiedene in der Luft umher und bewieſen, 
daß er ſeine Freiheit nicht ohne Verluſt erkauft hatte. Daß dieſer Adler nicht 
zum zweiten Male auf einen Affen ſtoßen würde, ſtand wohl feſt. 

Auch die Schweine halten nach demſelben Autor feſt zuſammen. Er 
ſchreibt darüber folgendes: 

In ebenſo mißliche Lage gerät Iſegrim, wenn er verſucht, in den Wal⸗ 
dungen Spaniens oder Kroatiens ſich einen Schweinebraten zu holen. Ein 
vereinzeltes Schwein wird ihm vielleicht zur Beute; eine größere, geſchloſſene 
Herde dagegen bleibt, wie man mir in Spanien und Kroatien übereinſtimmend 
verſicherte, regelmäßig von Wölfen verſchont, wird von ihnen ſogar ängſtlich 
gemieden. Die tapferen Borſtenträger ſtehen mutig ein für das Wohl der 
Geſamtheit, alle für einen, und bearbeiten den böſen Wolf, der ſich er⸗ 
frechen ſollte, unter ihnen einzufallen, mit den Hauzähnen ſo wacker, daß er 
alle Räubergelüfte vergißt und nur daran denkt, fein aufs höchſte bedrohtes 
Leben in Sicherheit zu bringen. Verſäumt er den rechten Augenblick, ſo wird er 
von den erboſten Schweinen unbarmherzig niedergemacht und dann mit demſelben 
Behagen verzehrt, das ein Schweinebraten bei ihm erwecken mag. So erklärt 
es ſich, daß man da, wo Schweine im Walde weiden, faſt nie einen Wolf ſpürt. 

Der Wafenmeifter Bühler von Aſchi am Thunerſee — erzählt Perty — 
hatte immer eine Koppel Hunde an der Fütterung, die er oft ſehr ſchonungs⸗ 
los behandelte. Auf einer Heimfahrt von Thun 1870 ſchlug er einen ſeiner 
kleinen Hunde arg, worauf ein größerer ſich auf ihn ſtürzte und ihn trotz ſeiner 
und ſeines Weibes Gegenwehr durch wiederholte Angriffe ſo verwundete, daß 
er drei Tage darauf ſtarb. In Hamburg wollte der Fronknecht eben einen 
Hund in ſeinen Sack ſtecken, als deſſen Hausgenoß, ein ſchwarzer Kater, wütend 
auf den Knecht zuſprang und ihn derart kratzte, daß er den Hund losließ, 
der eiligſt floh. Als der Knecht dafür die Katze einſtecken wollte, widerſetzten 
ſich die Amſtehenden, da er nur Hunde zu jagen das Recht habe. Ein Förſter 
des Grafen von Schlitz ſchoß an einem Oktoberabende einen Dachs kaum einen 
Schritt weit von feiner Röhre entfernt. Der Dachs wälzte ſich klagend, und 
ehe noch der Schütze hineilen konnte, ſtieg ein zweiter Dachs herauf, packte den 
Klagenden und zog ihn in die Tiefe. Der große rote Ara (Psittacus macao) 
heißt in Paraguay von ſeinem Geſchrei: Guaca mayo. Ein Jäger ſchoß nach 
Azaras Bericht eine Stunde von der Hauptſtadt einen Vogel dieſer Art und 
band ihn hinter ſich auf das Pferd. Ein anderer Guaca mayo folgte in die 


372 Stehen Tiere einander bei? 


Stadt und ſtürzte fih im Hofe auf den toten Kameraden, ſaß neben ihm 
mehrere Tage, ließ ſich dann fangen und blieb nachher gezähmt im Hauſe. 
Streithorſt erzählt von einem Kanarienmännchen, das ſich aller Jungen in 
ſeiner Hecke annahm, ſie fütterte und pflegte, ſo daß die ganze Schar ſich ſtets 
um es ſammelte. Kerner teilt die Geſchichte einer Gans mit, die das Bein 
gebrochen und der immer von anderen Geſellſchaft geleiſtet wurde. Auf einer 
der ganz waſſerloſen Inſeln des großen Salzſees bei Atah, die von Möven, 
Pelikanen und anderen Schwimm und Sumpfvögeln wimmeln, fand Stans- 
bury einen alten, fetten, ganz blinden Pelikan, der offenbar von anderen er⸗ 
nährt werden mußte. And zwar müſſen die Fiſche, von denen dieſe Pelikane 
allein leben, aus Flüſſen, die 30 und mehr engl. Meilen entfernt find, herbei⸗ 
geholt werden, fo daß die Vögel wenigſtens 60 Meilen zurücklegen müſſen, 
um Futter für ihre Jungen zu holen. Der See hat nichts Lebendiges, und 
die Inſeln dienen nur zum Brüten. Der Verfaſſer der Vestiges of Creation 
teilt mit, daß die Inſaſſen eines Dohlenneſtes abwechſelnd für die Bedürfniſſe 
einer verwaiſten Familie ſorgten. — Wir ſahen, ſchreibt Fee, einſt zu Paris 
eine Schwalbe am Giebel des Inſtitutspalaſtes angekrallt; ein Kind, das ſie 
gefangen, hielt ſie mittelſt einer an einem Fuß angebundenen Schnur. Auf ihr 
Angſtgeſchrei ſammelten ſich, laut zwitſchernd, Tauſende von Schwalben am 
Gebäude. Eine Anzahl von ihnen beſchrieb im Fluge Kreiſe, wobei ſie bei der 
Gefangenen vorbeikamen und dieſe jedesmal mit dem Flügel zu liebkoſen ſchienen. 
Nach kurzer Zeit zeigte ſich der Zweck dieſer Bewegungen zum großen Erſtaunen 
der Zuſchauer. Die Schwalben hatten mittels des Schnabels die Schnur durch- 
gebiſſen, die Gefangene floh frei davon und die übrigen zerſtreuten ſich. 

Ein ähnlicher Fall, wie der letztgedachte, ereignete ſich vor einigen Jahren 
in Berlin. Dort hatte ſich eine Krähe in Telephondrähten verfangen, und auch 
hier gelang es ihren Genoſſinnen, die auf ihr Geſchrei ſie umflatterten, ſie aus 
der Verſchlingung zu befreien. 

Bei Herdentieren ift, wie ſchon vorhin hervorgehoben wurde, das Bei- 
ſtehen die Regel. Selbſt die ſo ſtumpfſinnig ausſchauenden Büffel leiſten ſich 
Hilfe, ſo z. B. der gefährliche Kafferbüffel. Ein berühmter Jäger in Natal, 
namens Kirkmann erzählt, daß er einſtmals auf der Büffeljagd einen Bullen 
verwundet hatte und eben im Begriffe war, ihm den Reft zu geben, als dieſer 
eine laute Wehklage ausſtieß. Gewöhnlich geht der Büffel ſtill, und ſelten 
hört man einen Ton von ihm, ſelbſt dann nicht, wenn er verwundet iſt; dieſes 
Klagen aber war jedenfalls ein Zeichen, und wurde auch ſo verſtanden von der 
Herde, zu welcher der Verwundete gehört hatte. Denn augenblicklich endete 
dieſe ihren Rückzug und kam zur Hilfe ihres Gefährten herbei. Kirkmann warf 
fein Gewehr weg und eilte auf ein paar Bäume zu, deren unterfte Aſte glück. 
licherweiſe tief herabgingen. So war er gerettet, als die wütende Herde an- 
kam und ſeinen Baum umlagerte. Als ſie ſahen, daß der Gegenſtand ihres 
Zornes in Sicherheit war, zogen ſie ſich zurück. 

Auch die nicht in Herden lebenden großen Wieſel ſtehen ſich in Gefahren 
bei. Ein Mann, ſo erzählt Wood, der in der Nähe von Cricklade ſpazieren 
ging, bemerkte zwei Hermeline, die ruhig auf ſeinem Pfade ſaßen. Aus 
Abermut ergriff er einen Stein und warf nach den Tieren, und zwar ſo ge⸗ 
ſchickt, daß er eines von ihnen traf und es durch den kräftigen Wurf über 
und über ſchleuderte. In demſelben Augenblicke ſtieß das andere einen eigen: 
tümlichen, ſcharfen Schrei aus und ſprang ſofort gegen den Angreifer ſeines 


Stehen Tiere einander bei? 373 


Gefährten, kletterte mit einer überraſchenden Schnelligkeit an feinen Beinen 
empor und verſuchte, in ſeinem Halſe ſich einzubeißen. Das Kriegsgeſchrei 
war von einer ziemlichen Anzahl anderer Hermeline, die ſich in der Nähe 
verborgen gehalten hatten, erwidert worden, und dieſe kamen jetzt ebenfalls 
herbei, um dem mutigen Vorkämpfer beizuſtehen. Der Mann raffte zwar 
ſchleunigſt Steine auf, in der Hoffnung, jene zu vertreiben, mußte ſie aber bald 
genug fallen laſſen, um feine Hände zum Schutze feines Nackens frei zu bekom- 
men. Er hatte gerade hinlänglich zu tun, denn die gereizten Tierchen ver- 
folgten ihn mit der größten Ausdauer, und er verdankte es bloß ſeiner dicken 
Kleidung und einem warmen Tuche, daß er von den boshaften Geſchöpfen nicht 
ernſtlich verletzt wurde. Doch waren ſeine Hände, ſein Geſicht und ein Teil 
ſeines Halſes immer noch mit Wunden bedeckt, und er behielt dieſen Angriff 
in ſo gutem Andenken, daß er hoch und teuer gelobte, niemals wieder ein 
Hermelin zu beleidigen. 

Ebenſo ſind einzeln lebende Tiere zum Beiſtande ihrer Spielgenoſſen 
bereit, wie es der Löwe nach Eudemos getan hat. Hier ſei z. B. des grauen 
Bären gedacht, von dem Palliſer ein junges Exemplar gefangen hatte und nach 
Europa brachte. Von ihm erzählt ſein Herr folgendes Erlebnis. 

Dieſes Tier war eine merkwürdige Freundſchaft mit einer kleinen Anti⸗ 
lope eingegangen, die ein Reifegenoffe von ihm war, und verteidigte fie bei 
einer Gelegenheit in der ritterlichſten Weiſe. Als die Antilope vom Schiffe 
aus durch die Straßen geführt wurde, kam ein gewaltiger Bulldogg auf ſie 
zugeſtürzt und ergriff fie, ohne fic) im geringſten um die Zurufe und Stock⸗ 
ſchläge der Führer zu kümmern, in der Abſicht, ſie zu zerreißen. Zum Glück 
ging Palliſer mit feinem Bären denſelben Weg, und kaum hatte letzterer ge- 
ſehen, was vorging, als er ſich mit einem Nude befreite und im nächſten Augen- 
blicke den Feind feiner Freundin am Kragen hatte. Ein wütender Streit ent- 
ſpann ſich; der Bär machte anfangs keinen Gebrauch von ſeinen Zähnen oder 
Krallen und begnügte ſich mit einer Amarmung des Bullenbeißers, nach der 
er ihn mit Macht zu Boden ſchleuderte. Der Hund, darüber wütend und durch 
den Zuruf feines Herrn noch mehr angeregt, glaubte es nur mit einem ziem- 
lich harmloſen Gegner zu tun zu haben, und verſetzte dem Bären einen ziem⸗ 
lich ſtarken Biß. Doch hatte er ſich in ſeinem Gegner getäuſcht. Durch den 
Schmerz wütend gemacht, verlor Ephraim — ſo nennt der Amerikaner ſcherz⸗ 
haft den grauen Bären — ſeinen Gleichmut und faßte den Hund nochmals 
mit ſolcher Zärtlichkeit zwiſchen ſeine Arme, daß er ihn beinahe erdroſſelte. 
Zum Glück konnte ſich der Bullenbeißer noch freimachen, ehe der Bär ſeine 
Zähne an ihm verſuchte, hatte aber alle Luſt zu fernerem Kampfe verloren und 
entfloh mit kläglichem Heulen, dem Bären das Feld überlaſſend, der ſeinerſeits 
nun, höchlich befriedigt über den ſeiner Freundin geleiſteten Schutz, weiter tappte. 

Zum Schluſſe ſei noch des Fiſchotters gedacht, von dem ein gezähmtes 
Exemplar mit einer ſchönen Angorakatze warme Freundſchaft geſchloſſen hatte. 
Als ſeine Freundin eines Tages von einem Hunde angegriffen wurde, eilte er zu 
ihrer Hilfe herbei, ergriff den Hund bei den Kinnbacken und war ſo erbittert, daß 
ſein Herr die Streitenden trennen und den Hund aus dem Zimmer jagen mußte. 

Bei einer ſolchen Fülle übereinſtimmender Berichte wird man nicht gut 
daran zweifeln können, daß auch die Tiere ihren Artgenoſſen, oder fremden 
Geſchöpfen, die ſie gern haben, Beiſtand leiſten. Dr. Th. Zell 


% 


5 — ‘7 
* u 2 


Ay, Pliny 2 


Die bier veröffentlichten, dem freien Memungsaustauſch dienenden Cinjendungen find unabgangig 
mm _ vom Standpunkte des Herausgebers ZZ 


Falſche Achtung 


Inläßlich des Falles Eulenburg wird in einem großen Teil der rechts 
ſtehenden Preſſe der Beſorgnis Ausdruck gegeben, daß durch der- 

N artige Vorkommniſſe im Volke die Achtung gegenüber hochgeſtellten 
Perſonen, führenden Geſellſchaftskreiſen und maßgebenden Ständen unter- 
graben werden muß. Dieſe Beſorgnis iſt nicht unbegründet, darum nicht, weil 
unſer ganzes Volksleben von unten bis oben allzuſehr auf falſcher Achtung 
beruht. Jedermann iſt geneigt, den Wert des anderen nach Stellung und 
Vermögen zu ſchätzen. Wer alſo Geld hat oder Grund und Boden beſitzt 
oder eine bedeutende Stellung einnimmt, kann ſicher ſein, allgemein ge- 
achtet zu werden, wenn auch feine moraliſche Lebensführung nicht immer ein- 
wandfrei iſt. Schon bei der Eheſchließung tritt die falſche Achtung deutlich zu- 
tage, indem beide Teile mehr Gewicht legen auf den äußeren Glanz als auf 
den inneren Gehalt. Da nun die Ehe oder die Familie die Grundlage von 
Gemeinde und Staat iſt, fo kann es nicht wundernehmen, wenn auch im Ge- 
meinde: und Staatsleben die Grundſätze beobachtet werden, die bei Gründung 
der Familie maßgebend geweſen ſind. So kommt es, daß Gemeindeämter nicht 
ſelten Perſonen übertragen werden, deren Ehrenſchild nicht mehr ganz flecken. 
los iſt. Geld und Gut allein geben den Ausſchlag. Wer nichts hat und nichts 
beſitzt, kommt für Ehrenämter nicht in Frage. Daher müſſen ehrſame ſolide 
Häusler zurückſtehen hinter reichen, aber wenig tugendhaften Grundbefigern. 
And der einfache Mann findet das auch ganz in der Ordnung, weil er es von 
Kindheit an nicht anders kennt. Es kommt wohl auch vor, daß er ſtutzig wird, 
wenn Würdenträger des Staates, Lehrer, Geiſtliche, Beanıte, Edelleute und 
Fürften einen Lebenswandel führen, der mit ihrer ſozialen Stellung im Wider 
ſpruch ſteht, aber ſein Bedenken iſt bald wieder dahin, denn die Macht der 
Gewohnheit und das Werturteil der Maſſe zwingt ihn zur Achtung aller, die über 
ihm ſtehen, ganz gleich, ob fie achtungs wert find oder nicht. Beſitz, Neichtum und 
Stellung erfordern die Achtung. And erſt dann, wenn die materiellen Güter 
gering geſchätzt und dekämpft werden, geht auch die Achtung vor den Inhabern 
verloren. Die Sozialdemokratie iſt ja nun beſtrebt, nach dieſer Richtung hin 
tätig zu ſein, und der Fall Eulenburg wird ihr dazu dienlich ſein, aber im 
Grunde genommen kann ſie ſich auch von der allgemein üblichen Achtung nicht 
logringen. Der Perſonenkultus, den fie ohne Rückſicht auf moraliſche Werte 


Falſche Achtung 375 


treibt, und die Bevorzugung von Genoſſen mit beflecktem Ehrenſchild, ſowie 
mannigfache Amſtände und Vorgänge im Parteileben beweiſen das zur Genüge. 
Die Sozialdemokratie iſt daher nicht in der Lage, die Menſchen von der falſchen 
Achtung zu befreien; dazu iſt eine ganz andere Macht nötig. And das iſt die 
ſittlich religiöſe Durchdringung des Lebens in freiheitlich chriſtlichem Sinne! 
Nicht das, was der Menſch kann und iſt, ſondern wie er iſt, darauf 

kommt es an: 

Nicht das, was einer kann, 

Auch nicht, was er erſann, 

And nicht, was er gewann, 

Nur der Charakter macht den Mann. 


Hermann Borkenhagen 


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Im Zeitalter des Verkehrs — National? — Ein Nörgler 
— Deutſcher Jammer — Eulenburg und Harden 


8 n anderen Zeiten wäre eine Aktion, wie die Huldigungsfahrt 


der deutſchen Fürſten zum alten Kaiſer Franz Joſeph, ein 
2 Ereignis geweſen. Heute ift es einer von den vielen „Marl: 
5 ſteinen“, mit denen die Heerſtraße unſerer „Weltpolitik“ ges 
pflaſtert iſt. Wenn dieſe Zeilen in die Hände des Leſers gelangen, wird 
der Sang verſchollen, der Wein verraucht ſein. Was lohnte es alſo, länger 
dabei zu verweilen? Das Wort, das der „Huldigung“ allein tiefere Be— 
deutung verleihen, ein Echo im deutſchen Herzen erwecken konnte, das 
Wort iſt nicht gefallen. Der gemeinſamen Geſchichte, des glei— 
chen Blutes, der gleichen Sprache iſt nicht gedacht worden, 
betont die „Nheiniſch-Weſtfäliſche Zeitung“. „Oſterreich wird als ein treu 
und ſeit langem verbündetes Land behandelt, mit dem uns nichts anderes 
verbindet als der Dreibundsvertrag, Franz Joſeph wird nicht gefeiert als 
der Nachkomme des alten deutſchen Kaiſergeſchlechts, als der ehemalige 
Präſident des Deutſchen Bundes, ſondern nur als ein ehrwürdiger, be— 
freundeter Monarch eines auswärtigen Staates und fremden Volkes. Etwas 
anderes durfte ja auch nicht vorgebracht werden. Das Anverfängliche 
trotzdem ſo auszulegen, werden ſich Tſchechen und Magyaren natürlich nicht 
nehmen laſſen. Angſtlich iſt in den Reden beider Kaiſer alles ver- 
mieden worden, was auf die Zuſammengehörigkeit der Deut: 
ſchen in Oſterreich und der Deutſchen im Reiche hinweiſen könnte. 
Ein Beſuch der Monarchen beim älteſten Monarchen, ſo iſt amtlich die 
Zuſammenkunft gekennzeichnet worden, eine Äußerung des monarchiſchen 
Prinzips, das in Deutſchland ſeine beſondere Blüte erlebt. Wenn hierbei 
beſonders die „Treue der öſterreichiſchen Völker“ wiederholt geprieſen wurde, 
fo wird man dieſe pia fraus gern dem Geburtstags- und Glückwunſch⸗ 
Charakter der Reden zugute halten. Die Magyaren, Tſchechen und Polen 
werden ſich ins Fäuſtchen lachen, wenn fie leſen, wie hoch ‚ihre Treue‘ ge: 


Zlirmers Tagebuch 377 


rühmt worden iſt. In Wirklichkeit beſteht ihre Anhänglichkeit an Kaiſer 
Franz Joſeph doch nur in der Aberzeugung, daß er der Monarch iſt, auf 
deſſen Nachgiebigkeit ſie ſtets rechnen können. In demſelben Augenblick, 
wo Kaiſer Franz Joſeph einer Forderung der Magyaren oder Tſchechen 
Widerſtand leiſtete, verwandelte ſich dieſe Treue in Angehorſam, Wut und 
Revolutionsgeift.. .“ 

So unterſcheidet fic das unzulängliche „Ereignis“ von andern höfiſchen 
Veranſtaltungen nur durch den größeren Pomp. Ob es die Monarchie in 
dem Maße „ſtärken“ wird, wie die Nächſtbeteiligten das nach ihren eigenen 
Erklärungen als Erfolg ihrer Bemühungen erwarten, wird ſich auch ſpäter 
kaum feſtſtellen laſſen. Die „Monarchie“ wird auf ſo vielfache Weiſe und 
an ſo vielen Stellen „geſtärkt“, daß ſich nicht gut abſehen läßt, auf welche 
Weiſe und an welcher Stelle ſie mehr oder weniger „geſtärkt“ wird. Bei⸗ 
läufig: manche unſerer Bundesfürſten mögen ſich in der von ihnen zu 
markierenden Rolle doch recht ſonderbar vorgekommen fein. 

Jedenfalls iſt das hier angewandte Mittel der perſönlichen Getati- 
gung an Ort und Stelle das heutzutage gebräuchlichſte. Nicht umſonſt 
leben wir im Zeitalter des Verkehrs. Wozu hätten wir auch unſere vor⸗ 
züglichen „neuzeitlichen Errungenſchaften auf dieſem Gebiete“, wenn wir ſie 
nicht ganz zuerſt in den Dienſt der hohen Politik und der Völkerver⸗ 
brüderung ſtellen ſollten? Darin ſieht ſich aber Kaiſer Wilhelm II., wie 
die „Augsburger Abendzeitung“ bemerkt, ſeit einiger Zeit durch ſeinen 
königlichen Onkel überflügelt. Nachgerade ſtehe doch aber auch König 
Eduard „vor der Gefahr, durch die Macht der Gewohnheit ſeine Zeit⸗ 
genoſſen gegen dieſe unaufhörlichen Reiſen abzuſtumpfen, ihnen die 
Aberzeugung einzuimpfen, daß ſie früher die tatſächliche Bedeutung 
dieſer Königsreiſen doch erheblich überſchätzt haben. Man 
konnte dieſe Beobachtung gerade in der jüngſten Zeit machen. König 
Eduard hat hintereinander die Könige Dänemarks, Schwedens und Nor- 
wegens beſucht. Welche Aufregung hätten dieſe gehäuften Begegnungen 
noch vor Jahresfriſt überall, beſonders aber bei uns in Deutſchland hervor⸗ 
gerufen! Welche erregten Kommentare hätten ſich daran in der Preſſe ge- 
knüpft! Jetzt hat man dieſe Beſuche äußerſt ruhig hingenommen und ſich 
nirgends darüber aufgeregt. Die Gewohnheit ſtumpft eben ab. 
Aber nirgends iſt vielleicht zu viel geſagt. In der Berliner Wilhelm⸗ 
Straße dürfte man doch wohl dieſe Reifen nicht ganz fo ſeelenruhig 
verfolgt haben. Dort muß es doch mindeſtens ſtark auffallen, daß König 
Eduard unmittelbar nach dem Abſchluß und dem Bekanntwerden des Ofte 
feeabfommens alle Unterzeichner dieſes nacheinander ſchleunigſt auffucht 
und an ihnen die Macht ſeiner beſtrickenden Perſönlichkeit und ſeiner diplo⸗ 
matiſchen Geſchicklichkeit erprobt. „Alle“ iſt freilich zu viel geſagt. Der 
Deutſche Kaiſer fehlt wieder einmal in dieſer Reihe. Es iſt noch nicht 
das mindeſte davon bekannt, daß der König ſeinen fälligen Gegen⸗ 
beſuch am Berliner Hofe angekündigt oder auch nur ſeine Abſicht 


378 Türmers Tagebuch 


irgendwie zu erkennen gegeben habe, ihn in abſehbarer Zeit ab: 
zuſtatten. Das muß um fo mehr auffallen, als fein offizieller An- 
trittsbeſuch, der nur in Berlin erfolgen konnte, überhaupt nie ſtatt⸗ 
gefunden hat, während Londoner Berichterſtatter im vorigen November 
während des Kaiſerbeſuchs verſicherten, der König habe ſeinen Gegenbeſuch 
in Berlin bzw. Potsdam für den Monat Mai oder Juni in Ausſicht ge⸗ 
ſtellt. Davon iſt es aber vorläufig noch ganz ſtill. König Eduard findet 
Kraft, Luſt und Zeit, in der ganzen Welt herumzureiſen und allen Monarchen 
Beſuche zu machen. Nur den Weg nach der deutſchen Reichs⸗ 
hauptſtadt hat er ſeit feiner Thronbeſteigung noch nicht finden kön— 
nen. Das gibt natürlich zu denken. Nur harmloſe Gemüter werden darin 
einen bedeutungsloſen Zufall erblicken mögen.“ 

Ja, es iſt immerhin verdrießlich. Aber auch darüber wird uns „die 
Macht der Gewohnheit“ hinüberhelfen. Und — ſeien wir ehrlich: hat ſie's 
nicht ſchon getan? Wer erwartet hüben wie drüben noch ernſtlich, daß 
Onkel Eduard ſeiner einfachſten geſellſchaftlichen Anſtandspflicht überhaupt 
jemals nachkommen wird? Eigentlich kann er's ja gar nicht mehr. Denn es 
geht doch nicht gut an, daß er jetzt noch einen „Antrittsbeſuch“ macht. 

Nach ſolchen Erfahrungen iſt es nur natürlich, daß wir Ausländern, 
die uns freiwillig mit ihrem Beſuche beehren, mit verdoppelter Liebens⸗ 
würdigkeit entgegenkommen. So ſind denn auch die franzöſiſchen Studenten, 
die kürzlich bei uns weilten, mit wahrhaft fürſtlichen Ehren bei uns auf- 
genommen worden. Behörden und offizielle Perſönlichkeiten ließen es 
ſich nicht nehmen, den ſeltenen Gäſten die Honneurs zu erweiſen, kurz, 
es war, wie der Wiener ſagt, „a Hetz und a Gaudi“. Aber Andank 
iſt der Welt Lohn, und immer muß es unſer teures deutſches Vater⸗ 
land ſein, dem ſolche Ernte in den Schoß fällt. Nachdem die franzöſiſchen 
Studenten Berlin verlaſſen haben, meint der Pariſer Korreſpondent der 
„Kreuzzeitung“, ſei es wohl angemeſſen, einmal zu ſagen, wie man dort, 
nämlich in Paris, von dieſen Feſten denkt. „Vielleicht könnte man be⸗ 
merken, daß die Reife dieſer 25—30 jungen Herren ein Privatunternehmen 
war, das die Öffentlichkeit gar nichts angeht. Die Veranſtalter der Emp- 
fänge und Bankette in Deutfchland haben es aber leider unmöglich ge 
macht, an dieſen Dingen ſchweigend vorüberzugehen, und wenn man uns 
vorwirft, daß wir durch froſtige Worte die ſchöne Erinnerung an dieſe 
Freundſchaftskundgebungen trüben, ſo möchten wir entgegnen, daß wir, 
gerade weil wir eine Annäherung der beiden Völker für wünſchenswert 
und in gewiſſen Grenzen auch heute ſchon für möglich halten, entfchieden 
davor warnen müſſen, auf dem Wege zu bleiben, den man jetzt in Berlin 
eingeſchlagen hat: man erreicht damit genau das Gegenteil von 
dem, was man erſtrebt. Es ſcheint, daß dieſe Studentenfeſte nur die 
Einleitung von einer Reihe ähnlicher Unternehmungen fein ſollen. Dann 
ändere man aber ſchleunigſt das Beſuchsprogramm, denn ſonſt macht 
man es anderen franzöſiſchen Reifegefellfhaften faft un 


Sürmers Tagebuch 379 


möglich, Einladungen in Berlin anzunehmen. Schon den jungen 
Akademikern wird jetzt hier ziemlich ſcharf vorgeworfen, daß ſie ſich auf 
ſolche ganz unangemeſſene Verbrüderungsfeiern eingelaſſen und ihre natio- 
nale Würde preisgegeben haben. Die Herren haben aber eine Entſchuldi⸗ 
gung: ſie glaubten eine kleine Studienfahrt zu machen und wurden zu 
ihrer Verwunderung in Berlin gefeiert, als wenn ſie der 
Lehrkörper der geſamten Hochſchulen von Paris oder die 
amtliche Vertretung der franzöſiſchen Aniverſitäten wären. 
Einmal im Kreiſe ihrer Wirte, konnten ſie ſich aber nicht gut den weiteren 
Einladungen entziehen. Diejenigen aber, die nach dieſen Studenten 
nach Berlin kommen werden, hätten keine mildernden Umftände und wür⸗ 
den daheim ernſtliche Anannehmlichkeiten haben, weil fie gewiſſe Dinge ver- 
geſſen haben, die nach der Meinung der heute maßgebenden Generation ein 
guter Franzoſe nicht vergeſſen darf. 

Die franzöſiſche Preſſe gibt in dieſem Falle nur ſehr unvollkommen 
und ſehr einſeitig das wieder, was man hier von dieſen Berliner Tagen 
denkt. In den Redaktionen, die ſich überhaupt kritiſch geäußert haben, 
ſtand das Urteil meiſt ſchon feſt, noch ehe die Reife angetreten war. In 
weiteren Kreiſen aber gab man zuerſt gar nicht acht auf dieſe Nachrichten 
— dann las man mit Genugtuung und Sympathie von dem glänzenden 
Empfang, den die jungen Landsleute da drüben gefunden haben, und es 
iſt hier viel und freundſchaftlich davon geſprochen worden. Dann aber 
ſchlug die Stimmung auf einmal um. Man glaubte zu erkennen, daß 
Deutſchland — das doch mit dem Berliner Komitee gar nichts zu tun 
hat — der ganzen Welt beweiſen wolle, daß Frankreich — das doch feiner- 
ſeits nicht im mindeſten durch dieſe paar Studenten vertreten war — zu 
dem großen „Verzicht“ bereit fei. Die vielen Reden von der An: 
näherung der Nationen fielen den Franzoſen auf die Nerven, 
und wir beobachteten, was wir ſchon ſeit Jahren immer wieder beobachten, 
daß der Franzoſe, der heute im allgemeinen ſehr geneigt iſt, ſich geſell⸗ 
ſchaftlich, geſchäftlich und geiſtig in freundſchaftliche Beziehungen mit uns 
einzulaſſen, ſofort ein anderes Geſicht bekommt, wenn das politiſche Thema 
auch nur geſtreift wird. Vielleicht iſt es heute ſchon die Mehrheit des 
franzöſiſchen Volkes, die den Gedanken an eine kriegeriſche Auseinander- 
ſetzung mit uns aufgegeben hat. Dieſe Mehrheit fühlt ſich aber ſchwach 
und unſicher gegenüber jener Minderheit, die auch heute noch die öffent⸗ 
liche Meinung beherrſcht und die jeden politiſchen Ausgleich ohne Re- 
vanche in der einen oder anderen Weiſe von vornherein unmöglich macht. 
Aber auch der friedliebendſte Franzoſe kann nicht ,vergeffen’, und wir wür⸗ 
den als Franzoſen ebenſo denken. Deshalb iſt aber jede, auch die leiſeſte 
Berührung dieſes Punktes im Verkehr mit Franzoſen ein gar nicht 
wieder gutzumachender grober Fehler — gerade ſo, als ob wir 
zu einem Kranken, den wir ablenken und in heiterere Stimmung verſetzen 
wollen, von den Symptomen ſeines Leidens ſprechen.“ 


380 Türmers Tagebuch 


Immer der arme, verkannte Michel! Und er hat's doch fo gut 
gemeint! In dem Maße er die nationalen Empfindungen und Empfind⸗ 
lichkeiten anderer Völker unterſchätzt, wird fein politiſches und natio- 
nales Selbſtgefühl von dieſen überſchätzt! So leiden wir in der Tat 
unter einer Aberſchätzung, an der wir völlig unſchuldig find! Ein Suftand, der 
auf die Dauer tragikomiſch wirkt. Aber doch ſchon mehr komiſch als tragiſch. 

* * 


* 

And dabei die Fiktion vom deutſchen „Nationalſtaat“ und die bis 
zur Bewußtloſigkeit oder — noch Schlimmerem geſchwungene „nationale“ 
Vokabel. „Man kann leſen,“ ſchreibt Otto Harnack über dieſes Kapitel 
im „März“, „daß Zigarrenhändler ihre Ware mit dem warmen Appell 
anpreiſen, daß man fie doch als „nationale“ jedenfalls der ausländiſchen 
vorziehen müſſe! Und wie viele Vereine mit Hinweis auf die ‚na- 
tionale“ Pflicht ſich Mitglieder zu gewinnen verſtehen, iſt bekannt. Ich 
hatte einmal das Vergnügen, einen Herrn zu kennen, der erklärte, aus 
nationalen Gründen ſeinen Namen nicht mit lateiniſchen Buchſtaben ſchreiben 
zu dürfen! Eben derſelbe bemühte ſich in angelegentlichſter Weiſe um einen 
ruſſiſchen Orden. Das arme Wort „national“ iſt im zwanzigſten Jahr⸗ 
hundert ebenſo herabgekommen wie im neunzehnten das Wort gebildet 
oder im achtzehnten das Wort aufgeklärt '. 

In dieſem Winter aber iſt es wieder prächtig aufgeputzt und gewaltig 
zum Dienſt herangenommen worden. Es ſollte dafür aufkommen, daß der 
Deutſche berechtigt ſei, polniſchen Grundbeſitz zu enteignen und den Polen 
den Gebrauch ihrer Sprache in öffentlichen Verſammlungen zu unterſagen. 
Die erſte Aufgabe hat es wirklich erfüllt, für die zweite hat es nur noch 
wenig Kraft übrigbehalten. Wie ſollte es auch, da es in ſo unnatürlicher 
Weiſe mißbraucht wird! 

Eines der ſonderbarſten Wortkunſtſtücke und eine der willkürlichſten 
Verdrehungen iſt es, daß man den Zuſtand, den man durch jene neuen 
Beſtimmungen herbeizuführen denkt, ſchon als vorhanden betrachtet und 
deshalb jene Beſtimmungen als ſelbſtverſtändlich bezeichnet. Das Deutſche 
Reich, ſagt man, ſei ein nationaler Staat, deshalb dürfe auch in Ver⸗ 
handlungen nur die deutſche Sprache gebraucht werden. Nun zeigt aber 
die völlig unangreifbare Statiſtik jedem, der ſeine Augen nicht in krampf⸗ 
hafter Leidenſchaft zuſchließt, daß Deutſchland nicht ein nationaler Staat 
in dem Sinne iſt wie etwa Schweden oder Norwegen, Holland oder Portugal. 
Im Jahre 1900 waren unter ſechsundfünfzig Millionen Reichsdeutſchen 
mehr als vier Millionen, alſo ſieben bis acht Prozent, deren Mutterſprache 
nicht das Deutſche war. Außer den Polen ſind Franzoſen, Dänen, 
Tſchechen, Wenden und Litauer mit beträchtlichen Zahlen vertreten. Deutſch⸗ 
land iſt ein vielſprachiges Reich, und patriotiſche Deklamationen ändern 
daran nichts. 

Es zeigt aber auch die Geſchichte, daß das gar nicht anders ſein kann. 
Preußen, der führende Staat, iſt erwachſen aus zwei Landſchaften, in denen 


Türmers Tagebuch 381 


ſich das Deutſchtum inmitten fremder Bevölkerung erobernd und koloni⸗ 
ſierend niedergelaſſen hat. Die Wenden der Lauſitz und die Litauer Oſt⸗ 
preußens zeugen noch heute davon. And auch als das einheitliche König⸗ 
reich Preußen entſtanden war, ſtrebte es nicht im mindeſten danach, ein 
Staat von einheitlichem Volkstum zu werden. Die Monarchie fühlte ſich 
ſtark genug, die heterogenſten Beſtandteile unter ihrer Herrſchaft zu ver⸗ 
einigen. Durch die polniſchen Teilungen verlegte ſie ihren Schwerpunkt in 
die öſtlichen ſlawiſchen Gebiete. Im Baſler Frieden 1795 verzichtete ſie 
ſogar auf ihre rheiniſchen Gebiete, um ſich in Polen bis über Warſchau 
hinaus auszudehnen. Freilich gab fie dieſe Erweiterung im Wiener Kon⸗ 
greß wieder auf, aber ſie behielt doch ſo viel polniſches Land, daß es ganz 
ſelbſtverſtändlich erſchien, den Staat nicht als einen rein deutſchen zu be- 
trachten. Nach der deutſchen Bundesverfaſſung gehörten die Provinzen 
Preußen und Poſen ebenſowenig zum deutſchen Bundesterritorium wie 
Galizien oder Ungarn. Erſt als Preußen 1866 den Norddeutſchen Bund 
gründete, der ja nicht viel mehr war als ein erweitertes Preußen, da wurde 
der bisherige Unterſchied zwiſchen deutſchen und nichtdeutſchen Provinzen 
fallen gelaſſen. Schon darin ſprach es ſich aus, daß durchaus nicht natio⸗ 
nale Gründe, ſondern Geſichtspunkte der politiſchen Machtſtellung die Ge⸗ 
ſtaltung des Bundesgebiets beſtimmen ſollten. Und dieſelbe Sinnesart 
bewies der Leiter der deutſchen Geſchicke auch in den anderen territorialen 
Fragen. Von dem Herzogtum Schleswig ſollte nach den Beſtimmungen 
des Prager Friedens der nördliche Teil an Dänemark zurückgegeben werden; 
aber Bismarck verzögerte die Ausführung von Jahr zu Jahr, bis endlich 
Oſterreich in die Aufhebung dieſes Punktes willigte. Es beunruhigte ihn 
nicht im mindeſten, daß Preußen dadurch einhundertfünfzigtauſend Dänen 
als Staatsbürger erhielt. Ganz ebenſo im Jahre 18711 Es wäre ein leichtes 
geweſen, die neue deutſch⸗franzöſiſche Grenze übereinſtimmend mit der Sprach⸗ 
grenze zu ziehen; aber die militäriſchen Forderungen überwogen, und ihnen 
zuliebe wurde das reinfranzöſiſche Metz mit feiner reinfranzöſiſchen Um- 
gebung dem Deutſchen Reich einverleibt. 

Gegen alle dieſe wohlbegründeten Maßregeln ſoll hier nicht etwa 
Kritik geübt werden; es gilt nur, aus ihnen zu erkennen, daß der Gedanke, 
das Deutſche Reich als ein Gebilde nationaler Reinkultur zu geſtalten, bei 
den wichtigſten Entſcheidungen gar nicht vorgewaltet hat. Und demgemäß 
hat auch ſein inneres Leben ſich faſt ein Menſchenalter lang vollzogen; erſt 
ſeit wenig Jahren hat ein wilder, nationaler Fanatismus eine Betrachtungs⸗ 
weiſe aufgebracht und Forderungen als angeblich ſelbſtverſtändliche erhoben, 
die zu ſchweren inneren Kämpfen führen müſſen und dem Deutſchen Reich 
eine Handlungs weiſe zur Pflicht machen, die wir gleichzeitig bei Ruſſen 
und Magyaren heftig verurteilen. Dem Reichskanzler und preußiſchen 
Miniſterpräſidenten iſt die plumpe Leidenſchaftlichkeit der nationalen Heiß⸗ 
ſporne oft genug unbequem und ſtörend; für ſeine Polenpolitik aber, auf 
die er ſich aus anderen Gründen feſtgelegt hat, bedient er ſich ihrer gern. 


382 Turmers Tagebuch 


Ans intereſſiert aber hier nicht die Frage, ob dieſer leidenſchaftliche Wahn 
der augenblicklichen Regierungspolitik hinderlich oder förderlich fei, ſondern 
das niederbeugende Bewußtſein, daß er die innere Entwicklung Deutſch⸗ 
lands aufs ſchwerſte ſchädigt und ſeine Stellung gegenüber dem Auslande 
noch ſchlechter geftaltet, als fic ohnehin ſchon iſt. Nationalitätenkämpfe find 
die hartnäckigſten und ausſichtsloſeſten, die es gibt. Sind ſie einmal aus⸗ 
gebrochen, ſo iſt ein nicht zu überwindendes Element der Zwietracht und 
inneren Schwäche in den Staat hineingetragen. Kein Volk, das nicht in 
ſeiner ganzen inneren Struktur zerſtört iſt, läßt ſich ſein Volkstum rauben. 
In früheren Zeiten entſchied man ſolche Kämpfe durch die Verpflanzung 
oder noch einfacher durch die Ausrottung ganzer Volksſtämme; da das 
heute nicht mehr angängig iſt, ſo ſollte ſchon die bloße Klugheit dazu raten, 
ſolche Kämpfe, in denen kein Erfolg zu ernten iſt, zu meiden. Glaubt man 
wirklich, die Stärke Deutſchlands für den Ernſtfall eines Krieges dadurch 
zu erhöhen, daß die nichtdeutſchen Reichsbürger im Frieden unter Aus⸗ 
nahmegeſetzen gelebt haben? Glaubt man, daß die Polen ſich im Kriege 
deshalb beſſer für Deutſchland ſchlagen werden, weil man ihnen im Frie⸗ 
den verboten hat, polniſche Verſammlungen abzuhalten? And auch das 
Urteil des Auslandes iſt hierbei nicht zu verachten. Der einzige Staat, 
auf deſſen Freundſchaft wir ernſtlich bauen dürfen, iſt Oſterreich; in dieſem 
völkerreichen Staat waren außer den Deutſchen früher die Polen noch die 
einzige Nationalität, die dem Bündnis mit Deutſchland wirklich innere 
Zuſtimmung zollten. Unfere Polenpolitik hatte es in den letzten Jahren 
fertiggebracht, in den öſterreichiſchen Polen denſelben Haß gegen uns zu 
entfachen, den die andern öſterreichiſchen Slawen ſchon immer gegen uns 
hegten. Und überhaupt — wenn ſich das Deutſche Reich und ſpeziell 
Preußen mit feinem militäriſch bureaukratiſch ſtaats kirchlichen Charakter 
niemals großer Sympathien im Auslande erfreute, ſo genoß es doch das 
Anſehen ſtrenger Nechtlichkeit und Gerechtigkeit. Die nationale Anter⸗ 
drückungspolitik hat ihm nun den Ruf verſchafft, daß Gewalt in ihm vor 
Recht gehe. Anſere nationalen Verfammlungs: und Preßhelden ſind freilich 
ſchon ſo weit gekommen, daß ſie dieſen Ruf für ehrenvoll halten, daß ſie 
im Rechtsſinn eine verächtliche Schwäche und in der Gewalt den Inbegriff 
des Staatslebens erblicken. Dieſe Leute vergeſſen, daß ein Staat, aus dem 
das Recht vertrieben wird, zu einer Hölle wird, der die Anarchie vorzu⸗ 
ziehen wäre. 

Dieſelben Leute aber geraten, wenn ſie eine abſolute, nationale Ge⸗ 
waltherrſchaft über alle Nichtdeutſchen fordern, in einen merkwürdigen Wider⸗ 
ſpruch mit ſich ſelbſt. Denn fie gerade find es ja auch, welche als All⸗ 
deutſche die weiteſte Ausdehnung deutſcher Macht über alle von Deutſchen 
bewohnten oder jemals deutſch geweſenen Länder als Zukunftsideal ver⸗ 
ehren und die Rolle einer weltbeherrſchenden Macht für Deutſchland 
erſehnen. Glauben ſie nun wirklich, daß die kleinliche und quäleriſche 
Politik, die fie gegen die nichtdeutſchen Reichsbürger verlangen, — daß 


Türmers Tagebuch 383 


dieſe Politik irgendeine Möglichkeit biete, ein Weltreich zu regieren, das 
die verſchiedenartigſten Gebiete und Völkerſchaften neben den Deutſchen 
vereinigen müßte? Anſere jetzige Nationalitätenpolitik richtet ſich nach den 
kleinſtdeutſchen und engſtdeutſchen Geſichtspunkten; eine ſolche Weltpolitik 
aber müßte nach den großzügigſten und freilaſſendſten Grundſätzen geübt 
werden. Man ſchaue doch auf die Engländer, die ſich in der Tat fähig 
erwieſen haben, ein Weltreich zu regieren. In Kanada iſt die franzöſiſche 
Sprache der engliſchen gleichberechtigt, in Kapland die holländiſche. Ja, 
ſogar in Transvaal iſt wenige Jahre nach Beendigung des haßerfüllten 
Krieges ein Parlament begründet worden, in dem die holländiſche Sprache 
volles Bürgerrecht hat, und ein parlamentariſches Miniſterium eingeſetzt, 
deſſen Präſident Botha, der Obergeneral der Buren, wurde. 

Vor ſolchen Tatſachen ſtand der deutſche Spießbürger, der eben noch 
geglaubt hatte, die Buren ſeien verpflichtet, bis zu ihrer völligen Aus- 
rottung gegen England zu kämpfen, ganz verdutzt und niedergedonnert da. 
Ob General Botha nicht doch im Herzensgrunde die Exiſtenz eines felb- 
ſtändigen Transvaals ebenſogern ſähe wie Herr von Koſcielski die eines 
ſelbſtändigen Polens? — Jedenfalls iſt England politiſch kühl genug, ſolche 
Herzenswünſche zu ignorieren. 

In Deutſchland ſind wir aber im Naſſenfanatismus ſoweit gelangt, 
daß, wenn Dernburg für eine wirtſchaftlich rationellere und darum menſchen⸗ 
würdigere Behandlung der afrikaniſchen Eingeborenen eintritt, ſchon dies 
angeblich kolonialfreundliche Zeitungen und deren Geldgeber in komiſche 
Wut verſetzt. Selbſt das Gefühl dafür, welch traurige Rolle man ſpielt, 
wenn man den beſchränkteſten Egoismus mit fo brutaler Offenheit hervor— 
treten läßt, iſt ſchon verloren gegangen. Oder ſollte es auch hier eine 
nationale Pflicht ſein, die den national geſinnten Deutſchen zwänge, 
arbeitende Neger deutſchen Plantagenbeſitzern ſchutz. und ſchonungslos 
auszuliefern?“ 

Warum ſollte auch das nicht „national“ ſein? „National“ iſt doch 
heute jedes Geſchäft. : ; 

* 

Nur Nörgler find nicht „national“. Dieſe find bekanntlich „vater 
landslos“. Auch Eduard Goldbeck wird unweigerlich „vaterlandslos“ wer⸗ 
den, wenn er feine durchaus ungehörigen „Briefe an den deutſchen Kron— 
prinzen“ im „Morgen“ nicht bald einſtellt. Vorläufig ſcheint er noch nicht 
die Abſicht zu haben, vielmehr behauptet er, daß „Nörgeln“ im Gegenteil 
eine allgemeine nationale Abung ſei. 

„Ich habe“, er iſt nebenbei Offizier, „in den letzten zwanzig Jahren 
in den verſchiedenſten Lebensſphären verkehrt, vom mediatiſierten Fürſten 
bis „hinab“ zum Journaliſten, und habe niemanden gefunden, der nicht ,ge 
ſchimpft“ hätte. Eines einzigen kleinbürgerlichen Parvenus entſinne ich mich 
unter den vielen ‚ſchwankenden Geſtalten, die früh ſich einſt dem trüben 
Blick gezeigt“, der immer den Segen von oben mit dankesfeuchtem Blick 


384 Turmers Tagebuch 


zu rühmen wußte, aber der war auch ein beſonders minderwertiges Exemplar 
der Gattung homo insipiens. Sonſt ſchimpften alle. Ich wähle gefliſſent⸗ 
lich dieſes vulgäre Wort, weil es leider die Manier, wie der Deutſche die 
ihm verfaſſungsmäßig verbürgte Freiheit in Wort und Schrift benutzt, 
treffend charakteriſiert. Seine Kritik iſt nicht der Zorn der freien 
Rede, nicht beſorgte Liebe, nicht heißer Haß, nicht wilde Empörung, 
fie ift faft immer das giftige Schimpfen des Lakaien, den ein Fup 
tritt getroffen hat. Im nächſten Augenblick wird er ſich mit demütigem 
Grimaſſieren unter dem zweiten Gubtritt des gnädigen Herrn krümmen. 
Ich kann Ihnen aber hier eine Beobachtung mitteilen, die für Sie gewiß 
nicht wertlos iſt: die nämlich, daß in den höchſten Ständen am meiſten, 
am gehäſſigſten geſchimpft wird. Je näher dem Throne, defto inten: 
fiver, deſto bitterer die Kritik. Die Bourgeoiſie iſt weit loyaler: 
fie hat viel zu tun, muß Geld machen und kennt die ‚dessous‘ der einzelnen 
Aktionen nicht, mit denen wir von Zeit zu Zeit geblufft werden. Die nächſte 
ſoziale Lagerung bildet eine Schicht, die entweder ſtumpfſinnig oder radikal⸗ 
demokratiſch iſt, und dann ſteigen wir auf die unterſte, breiteſte Stufe der 
geſellſchaftlichen Skala hinab. Hier wimmeln die Millionen von Arbeitern, 
die — genau wie in Frankreich — feſt davon überzeugt ſind, daß die ganze 
bürgerliche Politik nur eine question des gros sous, daß die kapitaliſtiſche 
Geſellſchaft bis ins Mark durchſeucht iſt, und daß jeder ſeinen Preis hat. 
Wenn ich einem dieſer peſſimiſtiſchen Idealiſten ſagte: „Der Kronprinz be⸗ 
fand ſich gerade in finanzieller Klemme, er hatte zu viel für den edlen Renn⸗ 
ſport angelegt, und da hat ihm der Herausgeber der Zukunft eine Million 
in die Hand gedrückt, damit er die Intrigue gegen den Fürſten Eulenburg 
unterſtützte, dieſe Million aber hat Harden vom Fürſten Bülow bekommen, 
der den Liebenberger unſchädlich machen wollte“, ſo würde er verſtändnisvoll 
nicken und nicht den leiſeſten Zweifel in meine Angaben ſetzen. Doch Scherz 
beiſeite! Ich bin bereit, unter dem Eide zu bekunden, daß ich ſeit langen 
Jahren zu Haus und auf Reifen, in der Stadt und auf dem Lande, ‚vom 
Fels zum Meer’, wie man in der guten alten Zeit ſagte, nicht eine Menſchen ⸗ 
ſeele angetroffen habe, die nicht bitter, verächtlich, gehäſſig, grimmig, ent: 
rüſtet oder mit reſignierter Verzweiflung von dem neuen Kurs geſprochen 
hätte. Anter vier Augen natürlich; in den Zeitungen lieſt man's 
anders. Vor kurzem begegnete ich in der Leipzigerſtraße einem höheren 
Beamten, den ich ſeit Jahren nicht geſehen hatte. Er blieb mit der ruhigen 
Autorität eines preußiſchen Würdenträgers, dem alle Dinge zum beſten 
dienen müſſen, mitten im Menſchenſtrom ſtehen, hielt mich am Rodfnopf 
feſt und begann zu ſchimpfen. Ich ſagte ihm endlich: ‚Sie wiſſen wohl 
nicht, daß ich immer eine Bombe bei mir trage; ich finde es gefährlich für 
Sie, hier, dicht an der Wilhelmſtraße, mit mir zu ſprechen“. Er lächelte 
etwas beklommen und empfahl ſich dann mit der Bitte: „Wenn Sie darüber 
ſchreiben .. . ohne meinen Namen ... Die Wertheimwoge verſchlang fein 
verſchämtes oder unverſchämtes Gemurmel. 


Zürmers Tagebuch 385 


Ich meine, die Tatſache, daß in den politifch intereſſierten Kreiſen 
der Nation auch mit der Diogeneslaterne niemand zu finden iſt, der das 
herrſchende Regime im vertraulichen Geſpräch verteidigt, die ſollte einem 
Monarchiſten — und Sie ſind ja von Hauſe aus Monarchiſt — doch zu 
denken geben. Wenn Sie aber glauben, dieſes Refümee ſei böswillige Ent⸗ 
ſtellung und ich trüge den Teufelsſcherben im Auge, ſo leſen Sie, bitte, 
im Zwiſchenakt des „Walzertraums“ das Büchlein „Vor der Flut‘, das der 
Reichsgerichtsrat Mittelſtädt vor zehn Jahren veröffentlicht hat. Er war 
ein ſtreng konſervativer Mann, einer von denen aus der alten Schule, der 
die ſtaatliche Zucht und die „Obedienz“ des Untertanen alles galt... und 
welche Anklagen hat er gegen den wilhelminiſchen Kurs geſchleudert! 

Die Regierungszeit Wilhelms II. zerfällt in drei Perioden. Die erſte 
Periode iſt die des Anlaufs, die zweite die der Umkehr, die dritte die des 
Stillſtandes. Erſt Sturm und Drang, dann Meeresſtille und glückliche 
Spazierfahrt. In der erſten Periode wurde die Schule reformiert, die 
Sozialpolitik auf den Schwung gebracht, die Wirtſchaftspolitik umgeſtülpt, 
die Polenpolitik revidiert. Alle dieſe Maßnahmen entkeimten der Aber⸗ 
zeugung, daß alles, was der alte Morphiniſt und Alkoholiſt im Sachſen⸗ 
walde getan und angeraten hatte, eo ipso falſch ſein müſſe. Dann, als der 
Frondeur zur Anſchädlichkeit ergreifte und ſtarb und als die erhofften Er- 
folge ſich nicht von heut auf morgen einſtellten, verſuchten die Manager 
des allerhöchſten Herrn es wieder einmal mit den alten Rezepten. Es wurde 
sub auspiciis imperatoris eine Umfturgvorlage, ein Zuchthausgeſetz aus⸗ 
gearbeitet, die Wirtſchaftspolitik wurde wieder im agrariſchen Sinne reſtau⸗ 
riert, die Polen wurden ganz koloſſal angehaucht. Waren die urſprüng⸗ 
lichen Reformen rettende Taten geweſen, ſo waren es die Reformen der 
Reformen nicht minder. Kein Menſch wußte mehr, wohin der Kurs am 
nächſten Morgen gehen würde, aber wir waren alle davon überzeugt, daß 
„Volldampf voraus!“ die Loſung bleiben werde. In dieſer Vorausſetzung 
haben wir uns ſehr getäuſcht. Wir traten nämlich in die Periode der 
Reſignation ein, die Graf Taaffe die des „Fortwurſtelns“ nannte. Von 
Reformen, von irgend welchen weitſchauenden Plänen iſt nicht mehr die 
Rede, und Fürſt Bülow, der ſelbſt im Siedekeſſel des Höllenfürſten ein 
tröſtliches Zitat finden würde, hat auch diesmal nicht verſagt. „Was iſt 
deine Pflicht?“ fragte er mit ſorgenvoll gefurchter Stirn und erwiderte, ſich 
raſch erheiternd und mit lehrhaft erhobenem Zeigefinger: „Die Forderung 
des Tages.“ Wie es gewiſſe Arzte gibt, die ganz glücklich find, wenn fie 
die Krankheit mit einem terminus technicus etikettiert haben, ſo iſt auch 
Fürſt Bülow ſeelenvergnügt, wenn er das Zitat gefunden hat, das eine 
prekäre Situation mit der Magie des Dichterwortes verklärt. Die Arzte 
find empört, wenn der Patient trotz ihrer Bemühungen ſtirbt, und Fürft 
Bülow, der viel zu ſehr Philoſoph iſt, um ſich zu entrüſten, zuckt die Ach⸗ 
ſeln, wenn der Staatskarren nicht von der Stelle will. Es geſchieht nichts 


mehr, und das iſt vielleicht ein Glück. Denn das, was im Reichs hauſe an 
Der Türmer X, 9 25 


386 Viirmers Tagebuch 


geſetzgeberiſchen Umbauten unternommen wird, ift immer ſehr bald reparatur. 
bedürftig. Wenn ein Geſetz ein Weilchen in Geltung iſt, ſo ſtellt ſich ſchon 
heraus, daß es einer Novelle bedarf und dann wieder einer und noch einer 
Novelle. Das ficht aber den Novelliſten im Kanzlerpalais nicht weiter an. 
Er ſchlägt den geliebten Ahland auf und lieſt: „Des Knaben Kleid war 
wunderbar vielfarb zuſammgeflickt“ oder er beſinnt ſich ſchmunzelnd auf 
Fauſtens moroſen Begleiter, der da ſagte: „Denn alles, was entſteht, iſt 
wert, daß es zugrunde geht; drum beſſer wär's, daß nichts entſtünde.“ 
Probatum est. 

Nun wäre es natürlich falſch, wenn ich Ihnen die innere Lage ſo 
darſtellen wollte, als lebten wir im Schlaraffenlande. Die geſetzgeberiſche 
Maſchine arbeitet unentwegt und erzeugt den Paragraphenhäckſel, auf den 
die adminiſtrative und parlamentariſche Bureaukratie ſo ſtolz iſt, aber das 
iſt doch im Grunde nur geſchäftiger Müßiggang. Die Glocke hat 
einen Riß, fie klappert, aber fie klingt nicht, und die eigentlichen, die tief- 
ſten Bedürfniſſe der Nation bleiben in dieſem mechaniſchen Treiben un- 
befriedigt. Wir brauchen auf dem Gebiete der Verfaſſung, der 
Armee, der Finanz, der Schule, der Rechtspflege durch⸗ 
greifende Neuordnungen. .. Schon bier. . . kann geſagt werden, 
daß die vornehmſte, die dringendſte Forderung des Tages lautet: Gebt 
uns Perfönlichleiten!... 

Unfere Miniſter — laſſen Sie fie einmal vor Ihrem geiſtigen Auge 
Revue paſſieren! — ſind keine Perſönlichkeiten. Fragen Sie einmal den 
Kanzler vertraulich, was er von Herrn von Studt gehalten hat. Er wird 
Ihnen, wenn Sie an ſeine Wahrheitsliebe appellieren, erwidern, Herr von 
Studt ſei ja perſönlich ſehr ſympathiſch, aber auch merkwürdig ungeſchickt 
und nicht gerade ein Geiſtesrieſe geweſen, indeſſen ſei die Miniſterernennung 
und Miniſterentlaſſung ein Vorrecht der Krone, dem auch der ‚große Kanzler 
ſich ſtets gebeugt habe uſw. Unfere Miniſter find mehr oder minder tüch⸗ 
tige Beamte, die außerhalb des engſten Kreiſes der Kollegen völlig un- 
bekannt ſind, ſie haben ſich redlich hinauf gedient und hinauf gedienert und 
mehr oder minder gründliche Fachkenntniſſe erworben. Der Gedanke, dem 
allerhöchſten Herrn mit ſelbſtändigen Anſichten, Plänen und Zielen, ſelb⸗ 
ſtändiger Kritik und, wenn es ſein muß, auch in pflichtmäßiger Oppoſition 
entgegenzutreten, dünkt fie ſakrilegiſch. Goffe, ein braver, tüchtiger und 
wohlintentionierter“ Mann, verzeichnete als hoher Beamter in feinem Tage⸗ 
buch die beſeligende Tatſache, daß der Miniſter ihm eine Zigarre verehrt 
habe; Onkel Chlodwig, der malitiöſe Zwergenbiſchof, notierte in fein Ver: 
brecheralbum, daß Seine Majeſtät ihm zugetrunken und er ſich vor Chr 
furcht den Frack bekleckert habe. Brefeld ſchlotterte vor der Abſchieds⸗ 
audienz und klammerte ſich, wie ein Ertrinkender an die Schiffsplanke, an 
die Hoffnung feſt, daß Seine Majeſtät ſie nicht bewilligen werde. Miquel 
ging, wie einige hintertreppenhaft geſtimmte Blätter ſchrieben, ‚aus die ſer 
Abſchiedsaudienz als ein gebrochener Mann hervor“. So iſt die Pſyche 


Sürmers Tagebuch 387 


ſtarker, ſchöpferiſch begabter Männer nicht geartet; dieſe Leute 
find allerdings nur Handlanger, beſtimmt, den erhabenen Willen ihres 
Herrn auszuführen. Wenn aber ſtets auf die Impulſe des Herrſchers ge⸗ 
wartet wird, dann erſchüttern ſchwere Störungen den Staatsorganismus oder 
es ſtellt ſich gar Arterienverkalkung ein, denn bisweilen ſind dieſe Impulſe 
unheilvoll und bisweilen bleiben ſie ganz aus. Es iſt aber bei uns eine 
zum Syſtem erhobene Gepflogenheit, zu Miniſtern Männer zu wählen, die 
keine ſind, die es wenigſtens nicht im vollen Sinne dieſes inhaltſchweren 
Wortes ſind. Wenn man die Verwaltungsjahre des Durchſchnittsminiſters 
überblickt, ſo fragt man ſich vergebens, wo und wie er denn eigentlich ſeine 
Zeugungsfähigkeit, ſeine Schaffenskraft bekundet habe. Heute ſagt ſich der 
miniſtrable Regierungsbeamte, daß es vor allem gilt, ein unbeſchriebenes 
Blatt und literariſch unbeſcholten zu bleiben. Wer ſich den höheren Rang⸗ 
klaſſen nähert, hat nur den einen Gedanken, ja nicht durch hypertrophiſch 
entwickelte Individualität aufzufallen und vor allem nicht in der Preſſe ge- 
nannt zu werden. Selbſt Veröffentlichungen in Fachblättern ſchaden mehr 
als ſie nützen. Dahingegen kann der Beamte bei guter Konduite, vor⸗ 
wurfsfreier Kirchlichkeit, erwieſenem Geſinnungsernſt, geordneten Verhält⸗ 
niſſen, angemeſſenen Familien verbindungen, Zugehörigkeit zu einem feudalen 
Korps und einem einflußreichen Stammtiſch wohl darauf hoffen, das höchſte 
Ziel zu erreichen. Freilich meiſt in einem Alter, in dem er, wie Herr 
Biehlolawek ſo treuherzig ſagt, bereits ein Tepp und ein Trottel iſt. Schadet 
nichts; ſeine Lebenskraft wird vermutlich noch hinreichen, um ſeinen Namen 
zu zeichnen und das „Material aufzuarbeiten“. Wie fagt doch der beamtete 
Lyriker Storm? 

„Da hab' ich den ganzen Tag dekretiert; 

And es hätte mich faſt wie ſo manchen verführt: 

Ich fühlte das dumme kleine Vergnügen, 

Was abzumachen, was fertig zu kriegen.“ 


Dieſes dumme kleine Vergnügen nennen die Deutſchen, die es lieben, 
ſich in ſelbſtgefälligen Illuſionen zu wiegen: das Bewußtſein treu erfüllter 
Pflicht. Anſere Miniſter haben dies Bewußtſein alle. Fürſt Bülow reibt 
mit Vorliebe den Volksboten unter die Naſe, welche kaum erträgliche Bürde 
auf ſeinen Atlasſchultern laſte, und Studt wurde ganz ſentimental, wenn 
er von ſeiner eigenen Arbeitsleiſtung ſprach. Er fing ſeinen Schweiß in 
Kübeln auf und präfentierte fie dem hohen Haufe. Uns aber wären Miniſter 
lieber, die weniger arbeiteten und mehr leiſteten. Wieviel ſie ſchwitzen, iſt 
uns gleichgültig. Sie ſollen andere für ſich arbeiten laſſen, ſie ſollen ſich 
nicht als Kärrner, ſondern als Könige fühlen, ſie ſollen Ideen haben und 
Direktiven geben. Wir wollen Männer, die ein eigenes Programm auf- 
ſtellen, eigene Ziele zeigen, eigene Bahnen weiſen. Wir wollen keine 
Kommisſtiefel, die — perinde ac cadaver — in dem aufgedonnerten Troupier- 
gehorſam, den der unſelige Caprivi in die Mode brachte, deklamieren: „Ich 
trete an die Stelle, auf die mich mein König ſtellt'. Sondern wir ver- 


388 Tiemers Tagebuch 


langen, daß der Erwählte dem König fagt: ‚Majeftät, dieſes Reffort kenne 
ich nicht, und ich würde Jahre brauchen, um mich in die Materie einzu⸗ 
arbeiten. Dieſe Jahre bedeuten eine ſchwere Schädigung des Staates und 
daher muß ich verzichten.“ Oder, wenn er annimmt: „Majeſtät, dies ſind 
die Pläne, die ich für mein Neffort habe; nach dieſen Grundſätzen will ich 
es leiten, dies iſt mein Ziel, dies ſind meine Wege.“ 

Nun könnte man ja einwenden, der Beamte kenne ſein Fach und ſei 
deshalb dem genialſten Outſider vorzuziehen. Aber dieſen Einwand ließe 
ſich immerhin diskutieren; bei uns aber wird der Beamte nicht als Fach⸗ 
mann, ſondern als Beamter ſchlechthin auf ſeinen hohen Poſten berufen. 
Er kann Kultusminiſter werden, auch wenn er ſich bisher vorzugsweiſe für 
Kanalbauten intereſſiert hat. Er kann die Poſtverwaltung übernehmen, 
wenn er eine Autorität in Schweinezucht iſt. Er kann mit einer Finanz⸗ 
reform betraut werden, auch wenn er nicht weiß, wie ein Wechſel ausſieht. 
Das iſt alles unter Kameraden ganz egal, alſo iſt der einzige Einwand, der 
gegen die Berufung von Unzünftigen mit einem Schein des Rechtes erhoben 
werden könnte, hinfällig. 

Solche Anzünftigen werden aber nicht berufen. Die Beiſpiele Miquel 
und Dernburg beweiſen nichts. Miquel wurde nicht in ſeiner Eigenſchaft 
als Verwaltungsgenie aus der kommunalen Niederung in den miniſteriellen 
Olymp entrückt, ſondern weil er ſich auf Schmeichelbäckerei wie kein zweiter 
verſtand und ſeine emperor-worship durch heftige Angriffe gegen Bismarck 
betätigt hatte. Es war das die Zeit, in der ſich die ganze ſachliche und 
perſönliche Politik am Verhältnis zu Bismarck orientierte. Dernburg ver⸗ 
dankt ſeine Berufung dem embarras, der jetzt immer entſteht, wenn ein 
ſchwieriger Poſten beſetzt werden ſoll. Man denke nur, welche Razzia auf 
Kandidaten veranſtaltet wurde, als der doch ſchon ſeit langem ſchwanke und 
dürre Stengel zerbrach. 

Es kann auf dem Gebiet der inneren Politik nicht beſſer werden, 
wenn Fürſt Bülow ſich wie bisher nur mit Leuten umgibt, die ſich von 
Caſſius dadurch frappant unterſcheiden, daß ſie nicht zuviel denken und des⸗ 
halb ungefährlich ſind. Schließlich ſind doch die Miniſter und Staats⸗ 
ſekretäre nicht nur zur Folie da. Es iſt ja ſehr reizvoll, wenn von dem 
grauen Hintergrunde intellektueller Monotonie ſich des Kanzlers bunt- 
farbiger Serpentintanz abhebt, aber unſere innere Politik bleibt der ben- 
galiſch beleuchtete Sumpf, den wir ſeit Jahren ſchillern ſehen. 

Nun fragen Sie vielleicht ungeduldig: Was wollt ibr Nörgler denn 
nun eigentlich? Wir wollen, daß an die leitenden Stellen Männer be⸗ 
rufen werden, die der Nation durch irgend eine großzügige, weithin ſicht⸗ 
bare Leiſtung bekannt ſind. Wir wollen, daß ſie uns über ihre Ziele 
und ihre Mittel Rechenfchaft geben. Wir wollen, daß der Berufene die 
ſelbſtverſtändliche Gentlemanpflicht erfüllt, ein Amt, dem er ſich nicht ge⸗ 
wachſen fühlt, auch nicht zu übernehmen. Wir wollen, daß er geht, wenn 
er einſieht, ſeine Arbeit ſei vergeblich, und daß er nicht wartet, bis er durch 


Viemers Tagebuch 389 


Lukanus aufs Pflafter geworfen wird. Deulſchland ift reich genug an In⸗ 
telligenz und Initiative, um alle Poſten Preußens und des Reiches mit 
wirklich hervorragenden Kapazitäten beſetzen zu können. Selbſtverſtändlich 
ſoll nicht etwa der Beamte, nur weil er Beamter iſt, von den höchſten 
Staatsſtellungen ausgeſchloſſen werden; auch fol nicht ein neuer Myſtizis⸗ 
mus herangezüchtet werden, als ſei nur der Kaufmann, nur der Finanz⸗ 
mann zum Regieren befähigt. Es ſoll eben nicht der Beruf, ſondern die 
Perſönlichkeit entſcheiden. 

Auf allen Gebieten geht es vorwärts. Das deutſche Volk darf in 
Kunſt und Wiſſenſchaft, Handel⸗ und Gewerbe, Induſtrie und Technik er⸗ 
hobenen Hauptes neben jede andere Nation treten, und wie kontraſtiert mit 
dem Tempo dieſes zielbewußten, unaufhaltſamen Fortfchrittes der Zickzack⸗ 
kurs und der Quietismus der Regierung! Alle, die arbeiten, haben das 
Gefühl, daß der ſtaatliche Apparat allzuoft als Hemmſchuh wirkt, daß die 
Tätigkeit des Tſchin mit dem Viertel an Kraft, Zeit und Geld geleiſtet 
werden könnte, daß unfere innere Politik, wenn fie auch in bezug auf Ge- 
ſetze und Verordnungen kaninchenhafte Fruchtbarkeit bekundet, doch im 
höheren Sinne eine Politik der Eunuchen iſt. Das iſt, wie ich glaube, die 
Stimmung derjenigen Volksſchichten, die ich nach ruſſiſchem Muſter die 
„Intelligenz“ nennen will...“ 


* * 
* 


Wahr iſt's: es fehlen uns die leitenden Perſönlichkeiten an den 
leitenden Stellen. Aber — ſehen wir einmal ganz vom „Inneren“ ab —: 
warum geht's denn bei anderen Völkern auch ohne Staatsmänner erſten 
Ranges, ohne Genies wie Stein oder Bismarck? Das iſt ein Kapitel, 
das wahrlich öfter und gründlicher durchforſcht zu werden verdiente, als es 
in noch ſo „ſtaatsmänniſch“ poſierenden Leitartikeln und Broſchüren geſchieht. 
Es muß ausgerechnet ein — ſozialdemokratiſches Organ ſein, in dem 
wir darüber neuerdings aufgeklärt werden. Und zwar von einem Stand— 
punkte aus, den man gemeiniglich in einem Blatte dieſer Richtung ganz 
zuletzt erwarten zu dürfen glaubt: nämlich — vom nationalen. In den 
„Sozialiſtiſchen Monatsheften“ gibt Karl Leuthner in einem Aufſatze: 
„Deutſcher Jammer“ ein Maß von national politiſcher Einſicht zu erkennen, 
wie es nicht nur auf ſozialdemokratiſcher Seite zu den feltenften Erſchei⸗ 
nungen gehört. Er ſchreibt: 

„Die zugeſpitzte perſönliche Form, die die auswärtige Politik Deutfch- 
lands unter Wilhelm II. angenommen hat, verhüllt es dem an der Ober⸗ 
fläche haftenden Blick, daß ihre Anfruchtbarkeit und Zielloſigkeit nicht in⸗ 
dividuell und momentan bedingt, nicht Wirkung und Erwerb der letzten 
Jahre, ſondern ein ſchlimmes Erbe iſt. Treitſchke hat Bismarck nach⸗ 
gerühmt, er erhebe ſich in dem einen Sinne über Napoleon, daß ſein Planen 
und Handeln im Rahmen einer großen nationalen Aufgabe ſtand, den es 
nicht überſchritt und darum in einem Werke von bleibender Dauer und 


390 Zürmers Tagebuch 


Größe ſich vergegenſtändlichen konnte. Aber nur im uneigentlichen Sinne 
kann man in Bismarck den Vollſtrecker und Erfüller nationaler Beſtre⸗ 
bungen ſehen, nur aus einer gewiſſen übergeſchichtlichen Perſpektive. Die 
geſchichtlichen, wirklichen Wünſche und Hoffnungen ſeiner Zeit ſetzten ſich 
ihm entgegen, im blutigen Kampfe mit der Mehrheit der Nation und 
gegen das Abelwollen aller wurde die entſcheidende Tat des Jahres 1866 
vollführt. Sie ſtellt ſich deshalb mit ihren Folgen als eine individuelle 
Leiſtung dar und zeigt die Schranken, die jeder Individualität geſetzt ſind. 
Bismarck war in einer Zeit reif geworden, die mehr als die vorangehenden 
und die ſeinem Tode folgenden Jahrzehnte ausſchließlich von europäiſchen 
Problemen bewegt wurde. So kam es, daß er in den Jahren der deut⸗ 
ſchen, ſeiner Vorherrſchaft wohl in einzelnen Handlungen und Verſuchen 
über den europäiſchen Umkreis hinausgriff, daß ſich aber feine Politik zu 
dem raſchen Wachstum der Volkszahl, zu der gewaltigen Expanſion der 
Induſtrie, zu den weltpolitiſchen Zielen des aufſtrebenden Handels niemals 
eigentlich ins Verhältnis ſetzte. Der beſtimmende Geiſt der Bismarckſchen 
Staatskunſt nach 1871 iſt ein durchaus anderer. Immer wird Deutſchland, 
eingeengt und gehemmt durch die geographiſche Lage, feine Politik vor. 
ſichtig auf Bündniſſe ſtützen müſſen; allein die Art, wie Bismarck mit der 
unerſchöpflichen Kunſt ſeines diplomatiſchen Genies das Gewebe ſeiner 
Allianzen und Rückverſicherungen flocht, Frankreich aus Europa heraus- 
führte, hat etwas von bedrängender Sorge, die wie ein Schatten auf ihm 
lag von jenen Jahren eines ungeheuren Ringens her, da jeder Tag und 
jeder Schritt mit der Gefahr des Untergangs drohte. 

Es war eine rein bewahrende Politik, mit der der Greis das Werk 
des Mannes behütete. And füglich mochte ſich der Gründer des Reichs 
keine neuen Ziele ſetzen. Aber hat die Nation, indem ſie gärte und ſchwoll 
in junger Kraft und mit ihrer wachſenden Volkszahl und wirtſchaftlichen 
Entwickelung alle anderen Völker des Kontinents hinter ſich zurückließ, ihm 
keine neuen Ziele entgegengehalten? Es beſtimmt das Schickſal der Deut- 
ſchen, daß ſie, wie ſie früher ſeiner Führung widerſtrebten, ſich ihr jetzt 
willenlos hingaben. Ihre Politik hatte ſich einſt in groß deutſchen Uto- 
piſtereien, in dem Angedanken eines Bundes der beiden Großmächte ver⸗ 
loren und verſchwand nun ganz in einem blinden Vertrauen. In dieſen 
Jahren, da der Aberſchwang des Sieges alle Blüten geſchmackloſer Selbſt⸗ 
überhebung trieb, da jene alldeutſche Phraſeologie der „Hochgefühle“ und 
„Großtaten“ geboren wurde, zeigt die Nation in ihren Begriffen und 
Träumen von auswärtiger Politik eine erſtaunliche Leerheit. Als hätte 
die ungeheure Tat von 1870 — 71 die Nation in Bewunderung vor ſich 
ſelbſt gebannt; ſie kommt über dieſes Erlebnis nicht hinaus, ſie mißt es 
faſt nur an der Vergangenheit, ſieht es immer wieder hell und heller auf 
dem dunklen Hintergrund der „ſchmachvollen deutſchen Zerriſſenheit“ auf. 
leuchten und reimt und redet von der Zeit der Erfüllung auch dann noch, 
als der Krach im ‚Reiche Gottes“ recht unheilig rumort hatte. 


Zürmers Tagebuch 391 


Das gebietende Anſehen, das Bismarck dem Reiche im Nate der 
europäifchen Staaten gab, deckte einſtweilen alle Mängel und Schwächen. 
Als er, um in Limanſcher Poeſie zu reden, ‚gebannt wurde in Nacht und 
Grauen“, ſtellte ſich überraſchend ſchnell das Gefühl von der unzulänglichen 
Leitung der RNeichspolitik ein. Doch wenn jetzt die Zeit gekommen war, 
wo Deutſchland, in den Sattel geſetzt, ſelbſt reiten ſollte, ſo würde man 
doch vergebens nach klaren Vorſtellungen und einem beſtimmten Wollen 
ſuchen. Was erſtrebt das deutſche Volk, was erhofft, was wünſcht es, 
wie begreift es ſeine Stellung unter den Nachbarn, wie erträumt es ſeine 
Zukunft im Verhältnis zu ihnen? Für England ließe ſich da faſt eine ge⸗ 
naue Antwort geben, für Frankreich, Italien und Rußland eine ungefähre, 
unter uns Deutſchen erſcheint ſchon die Frage wunderlich. Den ſonder⸗ 
baren Windungen und Wendungen, Luftſtößen und Komplimenten der 
nachbismärckiſchen Reichs politik folgen die einen noch immer gläubig, die 
anderen — und ſie in ſtets wechſelnder Zahl — kopfſchüttelnd und kriti⸗ 
ſierend. Allein Vertrauen und Tadel wächſt auf dem Grunde der ſelben 
Überzeugung, daß die hohe Regierung, der ‚allein verantwortliche“ Kanzler 
die Sache zu beſorgen habe. Iſt in einem Lande der herrſchenden und 
herrſchfähigen Demokratie der Leiter der auswärtigen Politik, was deren 
große Ziele und Linien betrifft, nur der Exponent der öffentlichen Mei⸗ 
nung: wo ſpricht ſie ſich in Deutſchland aus, welche weſentlichen Ge⸗ 
meinſamkeiten des deutſchen Denkens ließen ſich etwa anführen? Einige 
und zwar recht nützliche, warnende Regulative: nicht immer ſo voreilig, 
nicht überall ſich dreinmengen, weder zu gefällig noch zu tönend! Wie 
aber lautet das „Ja“ zu dem „Nein“? Wir hören es nicht. And ein An⸗ 
walt des herrſchenden Syſtems könnte ſogar fragen, ob gewiſſe redneriſche 
Plötzlichkeiten und gewiſſe phantaſievolle Viſionen einer urſachlos erwachſen⸗ 
den deutſchen Weltgröße nicht in den alldeutſchen Großſprechereien ebenſo 
ihr verzerrtes Gegenbild finden, wie andererſeits das vielgetadelte Liebes 
werben um Frankreichs und Englands Gunſt ſich wieder links zu einem 
Ton vergröbert und verdichtet, der die verächtlichſten Gewohnheiten deut⸗ 
ſcher Ausländerei unſerer Großväterzeit in fo manchem, demokratiſchen“ Leit- 
artikel wiedererſtehen läßt. Wie ließe ſich dieſe Fremdheit in den eigenſten 
Angelegenheiten, dieſe Unfruchtbarkeit politiſcher Ideen bei einer Nation, 
die ſeit 150 Jahren zu den drei geiſtig führenden Völkern gehört, irgend 
verſtändlich machen? Man pflegt die Jugend des Staates, die jugendliche 
Anausgebildetheit des öffentlichen Weſens zur Erklärung herbeizuziehen, 
und halb und halb haben wir alle dieſer Unficht beigepflichtet. Nun ſehen 
wir jedoch aus dem Feuer der ruſſiſchen Revolution ein völlig neues öffent⸗ 
liches Leben hervorgehen, und ſeine Entfaltungen widerlegen jene ſo plauſible 
Deutung. Sie zwingen uns, über die Gründe unſeres Elends umzulernen. 
Sicherlich zeigt ja wohl das ruſſiſche Parteileben und Parteidenken echt 
kindliche und kindiſche Züge, wie fie ſonſt nur dank einer krankhaft fort- 
dauernden Infantilität im politiſchen Daſein der Deutſchen wiedergefunden 


392 Türmers Tagebud, 


werden: kritikloſe Bewunderung des weſtlichen Auslands und hemmungs⸗ 
loſes Dahingegebenſein an „Grundſätze“, das aus tätigen und nach Gelegen⸗ 
heiten der Tat ausſpähenden Politikern trunkene Derwiſche des Prinzips 
und leider noch häufiger Gebetmühlen des prinzipiellen Schlagwortes macht. 
Man denke an das Schickſal der zweiten Duma, in der jugendlich brauſende 
politiſche Schaffensluſt erſtickt wurde im Hangen und Bangen zwiſchen der 


Gefahr der Auflöſung und der Drohung mit dem Vorwurf des Prinzipien ⸗ 


verrats, bis daß die geiſtleiblichen Hörigen der Grundſätze ſehend und doch 
unwiderſtehlich getrieben in die höhnend vorgehaltenen Netze der Staats⸗ 
ftreichhelden hineinrannten. Nur allmählich beginnt es ſich damit in Nuß⸗ 
land zu beſſern; dennoch wäre es ungerecht, den Ruſſen die Staats und 
Weltfremdheit der deutſchen Demokratie zuzuſchreiben. Was den erſten 
Atemzug, das erſte Lebenszeichen der handelnden, nach Macht und Herr⸗ 
ſchaft verlangenden Demokratie ausmacht, regt ſich unter ihnen ſichtbar: 
die ruſſiſchen Demokraten fangen an — beſonders ſoweit es die Beziehungen 
zum Auslande betrifft — ſich mit ihrem Staate, mit ihrem Volle zu identi⸗ 
figieren, fie fühlen ſich ſchon nach außen als Vertreter der Geſamtheit, 
rüſten ſich ſchon trotz einzelner Entgleiſungen mit dem Pathos des Volks⸗ 
ganzen. Man kann Tugenden am beiten an ihrem Schatten, dem Lafter, 
deutlich machen. Wer in den letzten Monaten das führende Kadettenblatt, 
die „Njetſch“, mit der Aufmerkſamkeit las, die fie als Anzeiger der geiſtigen 
Entwickelungen weiter Kreiſe der Intelligenz verdient, den mußte nichts 
mehr überraſchen als die vielfältigen Abereinſtimmungen zwiſchen der aus⸗ 
wärtigen Politik des Demokratenblattes und des leitenden Organs der Re 
aktion, der „Nowoje Wremja“. Dieſelben Urteile über den Vertrag mit 
England, dieſelbe Aufgeregtheit über die Sandſchakbahn, dieſelben Ver⸗ 
dächtigungen Deutſchlands, als ſpiele es den Einbläſer der öſterreichiſchen 
Balkanpolitik. Immer mengt ſich freilich die ‚liberale‘ Anſchauung ein, 
daß ein Bündnis mit den freiheitlichen“ Weſtmächten ſtets ehrenvoll iit 
und Gewinn bringt, und daß Bündniſſe mit demokratiſchen Staaten demo⸗ 
kratiſche Bündniſſe ſeien: eine Anſchauung, die weder hier noch bei den 
geiſtesverwandten deutſchen Staatsdenkern durch die franzöſiſche Allianz 
mit Nikolaj II. oder die zarenfreundliche Schwenkung der Greyſchen Politik 
erſchüttert wird; allein im Hintergrunde der parteigemäßen Torheit wirkt 
ein maſſiver, raſſenhafter Inſtinkt, der ruſſiſche Haß gegen 
den deutſchen Namen, der ſich mit Erörterungen über die deutſche 
Reaktion nur ganz oberflächlich motiviert — da man ſich ja in dieſem Ge 
fühl einig mit den ſchlimmſten Realtionären Rußlands weiß — und die 
Motivierung oft auch ganz abwirft, fo wenn die „Rjetſch“ alle verleumde⸗ 
riſche Tücke Suworins und feiner Leute überbietend nicht die deutſche Re 
gierung, ſondern das deutſche Volk in ſeiner Geſamtheit bezichtigt, daß es 
lüſtern noch einmal fünf Milliarden aus fremden Taſchen zu holen dem 
Herrſcher mit fröhlicher Willigkeit auf den Kriegspfaden ſeiner agreſſiven 
Politik folge. Die Miljukow, Heſſen uſw., die Macher der Rieti’, 


Türmers Tagebuch 393 


wiſſen ſehr wohl den Wert des Berliner Ruhmesjahrmarktes zu ſchätzen 
und zu nützen, aber fie wiſſen auch, daß ſelbſt die ſchlimmſten und gefähr- 
lichſten Hetzereien und Schmähungen ihnen das Geſchäft nie ſtören werden. 
Wer hätte ſich je dadurch in Deutſchland unmöglich gemacht, daß er die 
Deutſchen verunehrte oder ihre Sicherheit gefährdete? Da müſſen ſchon 
allgemein moraliſche oder ſentimentale Motive — wie bei der Achtung 
Chamberlains die Burenbegeiſterung — mitwirken. Allein auch hier zeigt 
ſich, daß Charakterſchwächen verderblicher ſind als Laſter; am ſchlechteſten 
behandelt wird überall nicht, der es verdient, ſondern der 
es duldend hinnimmt. Nächſt den Bülowſchen Schmiegſamkeiten und 
zuvorkommenden Höflichkeiten hat nichts den Reſpekt vor Deutſch⸗ 
land fo ſehr gemindertals jene dickfellige Anempfindlichkeit. 

Und am Reſpekt hat jede Nation ein gut Teil feiner Unverfehrbar- 
keit, feiner Friedens ſicherheit. Doch ſollte das nur nebenbei gejagt werden. 
Das Entſcheidende iſt hier, daß ſelbſt die „Kadetten“ in der kurzen Friſt 
ihrer Entwickelung — während des japaniſchen Krieges machte ſie wie faſt 
alle Freiheitlichen die erſte Glut der revolutionären Erregung zu Freunden 
des Feindes — dahin gelangt ſind, die Grundlagen einer nationalen, das 
heißt einer möglichen, für die Herrſchaft vorbeſtimmten Demokratie zu legen. 
Ja, fo ſeltſam dies klingen mag, dieſe „Weſtler“, angefüllt mit der national⸗ 
ökonomiſchen Weisheit deutſcher Univerfitäten und mit den parlamentari- 
ſchen Doktrinen Frankreichs und Englands, verraten dem, der durch die 
Hülle der Worte und Theorien die lenkenden Triebe zu ſehen vermag, daß 
unterirdiſche Kanäle aus den Quellen des Slawophilentums, ja des 
Achtomskijſchen Panaſiatismus, lebenſpendend Waſſer auf ihre Beete 
leiten. Die antideutſche, die balkaniſche Tradition der aus: 
wärtigen Politik Rußlands kann jeder in ihren redneriſchen und 
journaliſtiſchen Außerungen wiederfinden, und die Sorge um den fernen 
Oſten ſpricht ſich, wenn auch bloß negativ in einer ſcharfen Kritik der be⸗ 
hördlichen Unterlaffungen beim Schutz des Reiches gegen Japan und China, 
fo doch ganz unzweideutig aus. Es gibt eben in der Tat eine Über- 
lieferung ruſſiſcher Politik, von der jeder getragen wird, eine 
Volksüberlieferung, ideell und agitatoriſch ausgebildet in den dun⸗ 
kelſten Tagen der Zarenallmacht und ſchon damals die äußeren Geſchicke 
des Reiches mitlenkend. And indem allmählich jede, auch die aus vor- 
wiegend fremdländiſchen Gedankenelementen hervorwachſende Partei ſie in 
ſich aufnimmt, knüpft ſie an die Geſchichte des Geſamtvolkes an, erfüllt ſich 
mit ſeinen Hoffnungen, Strebungen, Vorſtellungen, ſeinem irrenden Wahn 
und wird fo ein Spiegel des Ganzen, fähig, einmal alle Strahlen des natio- 
nalen Lebens in ſich aufzufangen. 

Dieſer Ausblick auf die ruſſiſchen Entwickelungen verwehrt uns die 
Arſachen des zielloſen, traditionsloſen und ideenarmen Gebarens der Deut⸗ 
ſchen in Dingen der auswärtigen Politik an der Oberfläche zu ſuchen: ſie 
liegen tiefer, vielleicht völlig in der Tiefe und entſpringen einer Dis- 


394 Dürmers Tagebuch 


gregation der Inſtinkte. Wer ruſſiſche Revolutionäre kennen 
gelernt hat, weiß, daß ſich bei ihnen zu allem Haß, zu aller Empörung 
über die heimiſchen Zuſtände eine innige, rührende Liebe zum eigenen 
Volke geſellt, die meiſt von einer unverkennbaren Abneigung gegen 
alles deutſche Weſen ihr allgemein flawiſches, bei einigen durch das 
leiſe geringſchätzige Mißtrauen gegen das Polniſche ihr beſonderes mosko⸗ 
witiſches Relief erhält. Nicht Haxthauſens Irrtum über Urfprung und 
Geſchichte des „Mir“, die bloß die vermittelnden Vorſtellungen lieh, fondern 
jene Herzensſtellung zum eigenen Volke, der Drang, mitten in erbitterter 
Polemik am Heimiſchen ein Objekt der Verklärung zu gewinnen, hat zu 
der religiöfen Verehrung des „Muſchik“ geführt, zur Anbetung „des ab⸗ 
ſoluten Schafpelzes, des Schafpelzes der Zukunft, des kommuniſtiſchen, des 
ſozialen Schafpelzes“, die Herzen verſpottet, und für die er doch die Liturgie 
erſonnen hat, in der ſich von Chomjakow bis Tolſtoj alle vereinigen, und 
der in den Tagen der Revolution Maßlow ein marriftifches Erbauungs⸗ 
buch gewidmet hat. Die Bauernverehrung iſt indes nur die bald hiſtoriſch, 
bald myſtiſch, bald wirtſchaftsgeſchichtlich motivierte Liebeshuldigung für 
das Mütterchen Nußland, die jedem gefunden, zukunftsvollen, zur Lenkung 
feiner eigenen Geſchicke vorbeſtimmten Volke eigentümliche Selbſtvergötte⸗ 
rung der Nation. Die Verwandtſchaft der Herzen ermöglicht jene gleiche 
Richtung des Denkens, die in den großen Fragen der äußeren Geſchicke 
des Reichs den Volkswillen zur gebietenden Macht erhebt, erbaut alſo die 
tiefſten Fundamente der Volksherrſchaft. 

Takt in den Fragen, die die Beziehungen des eigenen Volles zu 
fremden Völkern betreffen, iſt alſo zuletzt Herzenstakt, entquillt dem ruhigen, 
hellen nationalen Selbſtgefühl. Wie vielen von uns Deutſchen dürfte 
man ihn zuerkennen? Was in dem Volke des ſchwächſten Nationalgefühls 
„Nationalismus“ heißt, das kommt meiſt mit viel Geräuſch und prunkenden 
Gebärden daher, hüllt ſich in abſtruſe Theorie. Man ſieht förmlich 
die Mühe, die der Deutſche hat, ſich zu beweiſen, daß er ſein 
Volk lieben dürfe und könne. Was follte bei dem ſchlichten Emp⸗ 
finden, daß ich zu meinem Volke ſtehe wie zu Weib und Kind, weil es eben 
mein Volk iſt, und zu dem tiefen Geiſtesdrange in der Kultur, der ich ein⸗ 
geboren bin, alle höchſten Güter liebend zu hegen, alle Tiefen, die meiner 
Begabung faßbar ſind, zu ermeſſen: was ſollte bei dieſer klaren und ſichern 
Stellung zum Eigenen und Mitgeborenen mich hindern, mit freiem und 
reinem Blick nach dem Fremden zu ſehen, den Formenadel der romaniſchen, 
die großen Linien der engliſchen, die volkstümliche Tiefe der ruſſiſchen 
Literatur und Geſittung zu bewundern? Die deutſchtümelnde und tüchtig⸗ 
keitsprotzende Uberhebung der ſiebziger Jahre, die auf Frankreich wie auf 
ein verrottetes und verfaulendes Land hinabſah, war nur der Amſchlag 
aus der bedientenhaften Bewunderung, mit der der Libera⸗ 
lis mus jungdeutſcher Abkunft über den Rhein geblickt hatte, 
und läuft heute bei einem guten Teil unſeres Literaturdandytums wieder 


Zürmerd Tagebuch 395 


in eine geckenhafte Unterfchägung der ihm, wie es ſcheint, zum größten und 
beſten Teile unbekannten deutſchen Kultur über. Doch knüpfen ſich an den 
Nationalismus überall die ihm typiſchen Entartungen. Die romantiſche 
Hohenſtaufentheatralik, die Realpolitit poſierende Bismarckvergöttlichung, 
der Chamberlainſche Germanenkultus iſt nicht aufdringlicher und aufgeputzter 
als Barres’ affektiertes Lothringentum und feine Sorge um die Reinheit 
des lateiniſchen Genies; das Alldeutſchtum mit dem anhaftenden Geruch 
von Antiſemitismus hat doch kaum irgendwo unſer Geiſtesweſen in den 
Tiefen angegriffen, dieweil Machar, der Führer der tſchechiſchen Moderne, 
und die Männer, die ſich um die „Tſchechiſche Revue“ ſcharen, bezeugen, 
daß der grenzenloſe Deutſchenhaß der tſchechiſchen Wiſſenſchaft und Kunſt 
lange verwehrt habe und noch heute erſchwere, zu irgend einem Problem 
unbefangen und ohne Seitenblick des Neides und Haſſes auf die deutſchen 
Leiſtungen Stellung zu nehmen. Dennoch hat die franzöſiſche Polemik gegen 
den Chauvinismus ſich niemals oder nur in einzelnen zur Verunglimpfung 
des eigenen Volkes und Landes verirrt, und Machar iſt ein glühender tſche⸗ 
chiſcher Patriot, und die erſten und ſchärfſten Bekämpfer der tſchechiſchen 
Germanophobie, die tſchechiſchen Sozialdemokraten, find nicht minder glü- 
hende tſchechiſche Patrioten. 

Nicht an oberflächlichen, dem Kontraſt entſtammenden Empfindungen 
hängt die nationale Inſtinktunſicherheit der Deutſchen und vornehmlich der 
deutſchen Demokraten; ſie wächſt aus der Wurzel, wo ſie mit den letzten 
Arſachen der Schwäche aller Demokratie in Deutſchland verflochten iſt. 
Man könnte es faſt als Geſetz ausſprechen, daß in der ruhigen Entwicke⸗ 
lung des geordneten Staatsweſens nur diejenigen Machtpoſten und Funk- 
tionen erobert werden können, zu deren Beſitz und Ausübung man ſich 
irgendwie im allgemeinſten Sinne intellektuell befähigt erwieſen. Um es 
immer und immer zu wiederholen: den Staat kann nur leiten, wer lernt 
für das Ganze des Volkes in ſeinen allgemeinſten, alſo beſonders aus 
den Beziehungen mit den Nachbarn ſich ergebenden Angelegenheiten zu 
denken und zu ſorgen. Und dazu iſt wieder die Vorbedingung, daß man 
die Stellung der eigenen unter den anderen Nationen richtig erkenne. Wie 
ſicher führt hierbei die meiſten Völker der Inſtinkt ihrer Liebe und ihres 
Haſſes! Man ſpottet gern über die Franzoſen, weil gelegentlich ein Pariſer 
Journaliſt Prag nach Angarn und Breslau nach Poſen verſetzt. Das 
ſind Sünden vor dem Schulmeiſter. Trotzdem findet die franzöſiſche, die 
ruſſiſche, die engliſche Preſſe meiſt mit intuitiver Sicherheit heraus, wie ſich 
die Völker und Völkchen im Gefühl zu ihnen verhalten; Vorgänge bei dem 
Nachbar wird der Franzoſe und der Nuffe niemals wie der Deutſche als 
bloßes Schauspiel, bei dem er zum Schluß ethiſch zu ziſchen oder Beifall 
zu klatſchen hat, anſehen, er erhebt immer die Frage des verantwortlichen 
Sachwalters ſeiner Nation: Was nützt, was ſchadet es uns? So 
hat die Ausgleichskriſe und der öſterreichiſche Sprachenkampf franzöſiſche 
Juriſten und Hiſtoriker zu Arbeiten bewogen, die auch rein wiſſenſchaftlich 


396 Sirmers Tagebuch 


einen unbeftrittenen Wert haben, bei denen aber offenbar die Neugier, was 
ſich bei ſolchen Kämpfen etwa zum Vorteil Frankreichs ändern könne, mit 
den Anſtoß gab, und die Tendenz aus der durchweg flawenfreundliden 
Färbung leicht erkennbar wird. Die Politik war hier Wegweiſerin der 
Forſchung, während umgekehrt in Deutfchland reine Wiſſenſchaft — man 
denke an Ratels unvergleichliche „Politiſche Geographie“ — ſich vergeblich 
bemüht, dem politiſchen Denken eine realiſtiſche Grundlage zu ſichern. And 
um bei dem öſterreichiſchen Beiſpiel zu bleiben: Man empfindet offenbar 
in London und Paris weit lebhafter als in Berlin, was eine 
Lockerung der Beziehungen der beiden Zentralmächte zu bedeuten hätte, 
wenngleich ſchon ein Blick auf die Geſtaltung der Grenzen und die Tat⸗ 
ſache, daß im Nachbarlande 11 Millionen Deutſche wohnen, 
jedem im Reiche ſagen müßte, wie viel da auf dem Spiele 
ftebt. Gleichwohl konnte man in einem deutſchen Blatte leſen, daß Deutſch⸗ 
land nicht würdig fei, mit Oſterreich⸗Angarn verbündet zu fein, ſolange in 
Preußen das allgemeine und gleiche Wahlrecht nicht eingeführt werde, als 
ob es in Ungarn beſtände und in Deutſchland etwa nicht oder in Oſter⸗ 
reich bis 1906 beſtanden hätte, vor allem aber, als ob Bündniſſe eine 
Prämie auf gute Verfaſſungen wären, und die Allianz mit dem Donau⸗ 
ſtaat für die 62 Millionen Reichsdeutſchen nicht eine Verſicherung dagegen 
bedeutete, in einen Strudel von Blut und Verwüſtung hineingezogen zu 
werden! Einer der angeſehenſten liberalen Publiziſten Deutſchlands predigt 
gerade jetzt das Bündnis mit England und Frankreich — natürlich aus 
Kulturgründen, die ihn über Oſterreich⸗Angarn ſchweigen laſſen —, gerade 
jetzt, wo ſich ein franzöſiſcher Admiral, der die Republik in Petersburg 
vertreten wird, nach ſeinem eigenen Bekenntnis anſchickt, die Entwickelung 
der ruſſiſchen Armee und Flotte mit ſcharfer Aufmerkſamkeit zu verfolgen, 
und jeder Tag mit neuen Niederlagen der engliſchen Liberalen das Kom⸗ 
men der konſervativen Herrlichkeit ankündigt. 

Von dem franzöſiſchen Gelehrten Eiſenmann lernen jetzt Oſterreicher 
und Ungarn die Details der Ausgleichsgeſchichte kennen. Der deutſche 
Gelehrte und Politiker Gothein hält im Reichstag eine Rede über die 
Rückwirkungen der Polenpolitik auf Oſterreich, das er — wie ſo viele 
Reichsdeutſche — als eine Einheit des Empfindens und Meinens auf 
faßt, ohne Ahnung davon, daß die verſchiedene Grundſtellung des 
Gefühls bei Deutſchen einerſeits Tſchechen, und Polen 
andrerſeits dem Reiche gegenüber für das Verhältnis beider 
Staaten viel wichtiger iſt als alles, was in Deutſchland 
geſchieht, ja daß dies auch jene Grundſtellung kaum merklich ändern 
kann. Darauf aufmerkſam gemacht, verſteht er nicht einmal, was man von 
ihm will; in der Tat hat er offenbar, wie es in Deutſchland und faſt nur 
in Deutſchland üblich, die auswärtigen Beziehungen bloß in dem fub- 
alternen Sinn einer agitatoriſchen Ausnutzung zitiert, an ſich ſind ſie ihm 
fremd und gleichgültig. Während des Sandſchakbahnrummels konnte in der 


Züirmers Tagebuch 397 


erzdemokratiſchen ‚Rjetſch“ Herr Bojantſchaninow Rußlands Inter- 
eſſen in Mazedonien ganz in dem geſchichtlich überlieferten 
Sinne vertreten und erörtern, unbekümmert darum, daß es in der erz- 
reaktionären ‚Nowoje Wremja“ Herr Menſchikow, deſſen bloßer Name auf 
jeden freiheitlich gefinnten Ruſſen wie ein rotes Tuch wirkt, ungefähr ebenſo 
tut; in Deutſchland aber fanden ſich einzelne Blätter, die frei nach dem 
Matin’ und den „Times“ die ſchwarzen Balkanränke der Reichsregierung 
‚enthüllten‘, im guten Glauben, daß der Freiheit alles gedeihen müſſe, was 
vom Weſten komme, und ohne zu bedenken, daß diesmal der Weg über 
den Welten nur ein Umweg Par, und das Gift, das fie in ihrer, nur noch 
in Deutſchland ſo rein blühenden Naivetät dem Leſer vorſetzen, zuerſt in 
der Küche der Herren Suworin und Stolypin Bruder, in der „Nowoje 
Wremja“, dem führenden Organ aller Panflawiften und Zarenfreunde, ge⸗ 
kocht worden war. Solche Beiſpiele aber ließen ſich zu dicken Büchern häufen. 

Seit den Tagen von Jena und Olmütz wurde Preußen noch von 
keiner ſo unfähigen Diplomatie geleitet wie diejenige iſt, die das Reich vor 
und nach Algeciras vertritt. Dennoch kann ſie ruhig und ungekränkt walten, 
aber weniger darum, weil es dem Reichstag an konſtitutioneller, als weil 
es den ſtimmführenden Politikern an geiſtiger Kompetenz 
und an pflichtgemäßem Intereſſe für die auswärtigen An- 
gelegenheiten des deutſchen Volkes fehlt. Zwei Grundmotive 
beherrſchen wie die innere, ſo bei dem ſchwachen Gemeinſinn auch die äußere 
Politik der Deutſchen: das Gegenſatzgefühl und die rein agitato- 
riſche Anſchauungs⸗ und Arbeitsweiſe, die hier aus einem Mittel 
zu dem einzigen Zweck der Politik erhoben iſt. Beide verblenden Politiker 
und Publiziſten nicht ſelten ſo ſehr, daß ſie der Reichsregierung — die 
immer unrecht haben muß — auch dann unrecht geben, wenn die auslän⸗ 
diſche Intrige von weitem zu ſpüren iſt. Doch wäre dies das Geringere; 
ſchlimmer iſt, daß dieſes Arbeiten mit bloßen Gegenſatzwerten und Gegenſatz⸗ 
worten in die Abhängigkeit von denen bringt, die man bekämpft, und ſo 
das geiſtloſeſte Regime, das Deutſchland je geſehen hat, geiſtesmächtig 
macht über das Handeln und Meinen der Oppoſition. Denn, wer immer 
„Nein“ ſagt, ahmt eben fo nach, wie wer immer „Ja“ ſagt. Da iſt denn 
unausbleiblich, daß eins auf das andere abfärbt. Nichts wirkt an dem 
jetzt herrſchenden Syſtem unausſtehlicher als die lärmende Art ſeiner Kund⸗ 
gebungen nach außen und feiner Regierungsweife im Innern nebſt dem, 
daß es auch ſeine alltäglichſten Aktionen mit der ethiſchen 
Salbung religiöſer und patriotiſcher Gefühle ausſtattet. 
Will man die Wirkung hiervon in die Ferne beobachten, ſo muß man ſich 
nur etwa an den Kampf um den Zolltarif erinnern. Auch in anderen 
Ländern wurden Zolltarife entworfen und durchgedrückt, ohne daß man 
jedoch dort die ganze Welt zum Zeugen des Angeheuren angerufen, und 
ohne daß man um dieſer 5 wirtſchaftlichen Dinge willen alle Tiefen 
der Ethik aufgeſtürmt hätte. 


* 


398 Zürmers Tagebuch 


Es fehlen uns noch immer die weiten Horizonte, der Blick für die 
großen Linien der Entwicklung um uns herum. Wir vegetieren, bei aller 
geiſtigen und wirtſchaftlichen Spannkraft, politiſch noch immer in der dumpfen 
Enge der alten deutſchen Kinderſtube. So iſt denn auch das Kleben am 
Perſönlichen das eigentlich Bezeichnende für unſere politiſche Anſchauungs⸗ 
weiſe. Iſt es da verwunderlich, wenn ein großer Teil von uns in Er⸗ 
mangelung anderer Erkenntnis quellen, deren ergiebigſte immer eine geſunde 
Reaktion auf die Regungen der Umwelt bleibt, feine Wiſſenſchaft von dem 
Gange unſerer national -politiſchen Entwicklung auf der Hintertreppe, in den 
Bedientenſtuben und Schlafzimmern unſerer Hochmögenden und Herrſchen⸗ 
den zu erlauſchen ſucht? And liegt nicht eine erheiternde Selbſtkritik darin, 
daß eine ſo ganz auf das Perſönliche geſtellte „öffentliche Meinung“ förm⸗ 
lich in Tobſucht verfällt, wenn einer aus dieſer landesüblichen Art, poli⸗ 
tiſche Dinge werten und meiſtern zu wollen, aus dieſer „Methode“ die 
Konſequenzen, allerdings die äußerſten Konſequenzen zieht? Gerade daraus, 
daß Harden den Schauplatz ſeines Kampfes gegen die „Liebenberger 
Kamarilla“ von dem politiſchen auf das perſönliche, das allzuperſönliche Ge⸗ 
biet verlegte, wird ihm — und ich ſage: objektiv mit Recht — die ſchwerſte 
Anklage geſchmiedet. War es aber nicht die ſelbe „öffentliche Meinung“, 
die ihm mit feuriger Hingabe auf dieſes Gebiet folgte, ja ſich viel, viel 
weiter auf ihm vorwagte als Harden ſelbſt, — bis — ja, bis er ihre heiße, 
fieberhaft zitternde Erwartung enttäuſchen zu müſſen glaubte, lächelnd 
erklärte, mit weiteren „Enthüllungen“ nicht dienen zu wollen? Es wirkte 
ſchon mehr grotest: dieſer kreiſchende Wutſchrei der in ihren patriotiſchen 
Erwartungen fo ſchmählich Enttäuſchten, mit der im Unterton ſchwingenden 
Note aus dem Erlkönig: „And folgſt du nicht willig, fo brauch' ich Ge- 
walt.“ Wenn es darauf angelegt war, ihn zu weiteren Enthüllungen zu 
zwingen, ſo konnten keine geſchickteren Mittel dazu gewählt werden, als 
die fortgeſetzten Herausforderungen: „Harden auf dem Rückzuge“, „Harden 
kneift“, „Harden hat überhaupt kein Material“. 

Eine Weile ſchien es faſt ſo. Aus der Nolle des leidenſchaftlichen 
Anklägers verfiel er — dem Fernerſtehenden völlig unbegreiflich und un⸗ 
vermittelt — in eine Paſſivität, die ſchon an Lethargie grenzte. Sein 
phyſiſcher und pſychiſcher Zuſtand während der Verhandlung vor der ge⸗ 
ſetzlich nicht zu definierenden, aber ſogenannten „Zweiten“ Inſtanz, mochte 
das zum Teil erklären. Aber eben doch nur zum Teil. Man hatte das 
Gefühl: in ſolcher Lage, unter ſolchen Stimulantien, wie ſie bei dieſem 
Stadium feines Prozeſſes (nicht nur an Gerichtsſtelle) auf ihn einpeitſchten, 
da würde auch ein Totkranker ſich noch aufraſſen und gegen feine Be 
dränger zum vernichtenden Schlage ausholen, — wenn er eine geeignete 
Waffe in der Hand hat. Da nichts Ühnliches geſchah, Angeklagter 
und Verteidiger vielmehr eine gegen ihr früheres Auftreten mehr als 
auffallende Ergebung zur Schau trugen, war das öffentliche Arteil leicht 
fertig und ja auch am nächſten liegend: Harden verfügt eben über kein 


— — — 


Viirmers Tagebuch 399 


irgendwie durchſchlagendes Geſchoß mehr. Die Pfeile, die er hatte, find 
vor der ſtahlblanken Rüftung der Gegner abgeprallt; weitere hat er nicht 
zu verſenden. 

Es iſt den vereinten Bemühungen eines großen Teils der „öffent⸗ 
lichen Meinung“, der Prozeßgegner Hardens und einer von den üblichen 
Normen abweichenden Juſtizgebarung gelungen, dieſe Annahme: daß 
Harden nämlich kein „Material“ mehr beſitze, als verhängnisvollen Irr⸗ 
tum, das Gegenteil als ſo überraſchende wie unerwünſchte Tatſache zu 
erhärten. Nun darf Harden triumphieren: „Im Mai 1907 war alles in 
Ordnung; endlich die Luft wieder rein. Schritt vor Schritt hat euer dum⸗ 
mes Wüten mich ſeitdem auf einen Weg gedrängt, den ich nicht gehen 
wollte. Ihr verſchriet mich, wolltet mich in den Kot zerren, ... trachtetet, 
das Werk harter Arbeit zu ſchänden, den Verhaßten hinter Eiſengittern 
morſch zu machen, und prieſet die ſüße Sippe wie eine Bruderſchaft hei⸗ 
liger Helden. Freut die Jahresbilanz euer Auge? Ging es nach mir, 
dann ſaßen die Kränkelnden an ihrem Herd, fern von Kaiſer und Reichs⸗ 
geſchäft, und trieben, was ihnen gefiel. Doch ihr ruhtet nicht; und die 
Staatsgewalt war wieder einmal zu ſchwach, euch in den Pferch zurück⸗ 
zuzwingen. Phili war euer Heros. Ihr jauchztet, als er ſich ſeines ur⸗ 
germaniſchen Freundſchaftsgefühles (für Fahrenheid und Nothſchild, Riedel 
und Ernſt und all die anderen) rühmte. Johltet dem Schänder deutſchen 
Weſens Beifall, als er, der glorreiche Komödiant, mit umflorter Stimme 
rief: „Ein Hieb iſt der deutſchen Freundſchaft verſetzt, in das Edelſte, was 
wir Germanen haben, ift Gift geträufelt!“ Und tatet, als glaubtet ihr den 
Eiden, die mich ins Gefängnis bringen ſollten; glaubtet ſeiner feierlichen 
Lazarettpantomime. Noch einmal wollte er ſchwören (weil's ihm gar ſo 
bequem gemacht ward); mich zu längerer Freiheitſtrafe verurteilen laſſen 
und den tapferen, ſauberen Mann, der mich verteidigt und in redlicher 
Empörung ein raſches Wort geſprochen hatte, um ſein Anſehen prellen. 
Nun war's genug. Der Tag des Gerichtes gekommen 

Man vergegenwärtige ſich, welchen Grad des Vertrauens Harden 
der Kammer, die in „zweiter“ Inſtanz über ihn aburteilen ſollte, entgegen⸗ 
bringen konnte, und man wird ſeine und ſeines Verteidigers Zurückhaltung 
vor dieſer Kammer nicht mehr ſo unbegreiflich finden. Ein im Namen 
des Königs geſprochenes Urteil war — nicht etwa auf geſetzlichem Wege 
angefochten und dann aufgehoben worden. Nein, es war vernichtet, annul⸗ 
liert worden, als ob die ganze Verhandlung vor dem Schöffengericht 
nie ſtattgefunden, nie ein anderes Urteil vorher gefällt worden. Der 
Wind hatte ſich plötzlich gedreht. Er blies nun aus der genau entgegen⸗ 
geſetzten Ecke. Das wußte Harden. Aber er wußte noch mehr. Er wußte, 
daß der Leiter und Vorſitzende der Kammer, vor der er ſich nun verant⸗ 
worten ſollte, ſchon lange vor der Verhandlung geſagt hatte: „Der Kerl 
muß verurteilt werden!“ And dann die Verhandlung ſelbſt! „Hebt 
vom Gedächtnis die Riegel!“ erinnert Karl Schnitzler im „Morgen“. 


400 Türmers Tagebuch 


„Denkt an die Rollenbefegung, an das Zuſammenwirken, an all die lieb⸗ 
lichen Einzelheiten, für die ſich keine Rüger fanden. Da wurde ein Kläger 
unter ſeinem Eide vernommen über ſeine Triebe und Empfindungen, durften 
Beſchuldigte Reinigungseide ſchwören, als wären wir in den Zeiten der 
Salier und Franken, konnten die confabulati ſich zu einträchtigem Han⸗ 
deln vor den unverbundenen Augen der Themis verbinden. Damals, 
erinnert euch, durften zwei Beſchuldigte ſich hinter verrammelten Türen 
weiß waſchen, und wurden dann, hac re optime gesta, der überraſchten 
Nation als ſittenreine Engel präſentiert, nachdem man eine bis dahin ehren- 
hafte Frau in den Kot zu treten, ihre Ausſage unter Bedrohung mit An⸗ 
griffen auf ihre Frauenehre vom Unbequemen zu reinigen verſucht hatte. 
Noch heute weiß die Offentlichkeit nicht, wie man die Frau behandelte, 
weiß nicht, daß Fürſt Phili, der enthuſiaſtiſche Sänger und Freund ..., 
es war, der ſeine Zeugenausſage mit einer halbſtündigen Schimpfrede wider 
fie begann. Willig ſaßen die fünf Leutchen, die Recht zu ſprechen hatten, 
auf ihren Seſſeln, und bewahrten alle Worte des Mannes, ‚den‘, nach 
eines Oberſtaatsanwalts Empfinden, ‚jeder lieben muß, der ihn ſieht', ge 
treulich bis zur Urteilsfällung in ihrem Herzen. Der kargte mit den Gaben 
nicht, die ihm die Natur verliehen, und hat ſicher in ſeinem Leben nie vor 
verſtändnisvolleren Ohren gepredigt; wider Satanas, der den ‚Geliebten 
ſeines Herzens“, feine „Seele“, in eines Weibes Maske verſucht hatte. 
Philipp Fürſt zu Eulenburg und Hertefeld war der Stratege des ganzen 
gegen Harden inſzenierten Feldzugs. Nun fällt er als erſter, wie ſich's 
gebührt. 

Suum cuique. Wie ſich's gebührt. Keiner hat je ſo mit ſeinem 
eigenen Schickſal gefrevelt, keiner ſo frech mit der Wahrheit geſpielt. Er 
zeihe doch ja keinen andern der Schuld an ſeinem Fall. Alles hat er, wie 
es kam, provoziert; und daß er in altersgrauen Kriminaliſten (ihres Tuns 
bewußte oder unbewußte) Helfer fand, entlaſtet ihn nicht. Er war der 
Schöpfer des Plans, der ſich in ſeiner ganzen Wucht nun gegen ihn ſelber 
kehrt. Er ſtand hinter dem „Geliebten“, lenkte jeden feiner Schritte. Er 
war der Vater des Gedankens, die von Reporterunverftand ins Maß⸗ 
loſe vergröberten Andeutungen Hardens als Prozeßbaſis 
feſt zuhalten, um ihn ſicher treffen zu können. So rächt ſich alle Schuld 
auf Erden 

Was an dem Prozeßverfahren auszuſetzen war, ſei, „daß nicht gegen 
Harden, ſondern gegen eine Frau verhandelt wurde; daß man Zeugen 
gegen ihr Zeugnis und ihre Perſon heranſchleppte (klaſſiſche: die Schweſter 
des Klägers, verärgerte Dienſtboten, einen Wiener Arzt, den wir hoffentlich 
noch einmal vor einem deutſchen Gerichtshof ſehen; er iſt heute ſchon aufs 
ſchwerſte kompromittiert) und alles, was über ſie Günſtiges ausgeſagt wurde, 
einfach ignorierte. (Geheimrat Schweninger, deſſen Frau, ihr langjähriger 
Hausarzt Dr. Korth: was ſie ſagten, exiſtierte nicht; denn Phili hatte ja 
einen Vortrag gehalten.) Daß Vismarck von den Herren Lehmann, Gohr, 


Sirmers Tagebuch 401 


Fritzſchen, Simonſon und Langes als Zeuge abgelehnt und zum Ver⸗ 
leumder gemacht wurde, um Phili zu retten. Und daß man den 
Herausgeber der „Zukunft“ belaſtete, auf Bismarck und Frau von Elbe 
gehört zu haben. Ihm wurde als beſonders erſchwerend vorgehalten, daß 
er, ehe er ſchrieb, ſich nicht ſorgfältiger erkundigt habe. Dabei war ſchon 
im Januar, trotz unglaublicher Knebelung der Verteidigung, mehr als wahr 
erwieſen, als Harden je behauptet hatte.“ 

So wird das Verfahren von einer Harden befreundeten Seite geſchildert. 
Aber auch der „Vorwärts“, der vom Jenaer Parteitage her einen intimen 
Haß gegen ihn hegt, der daraus auch während der ganzen Affäre keine 
Mördergrube gemacht hat, kommt von einem anderen Ende zum ſelben Ziel: 

„Der Verlauf des Münchner Hardenprozeſſes hat nicht nur die Art, 
wie in Preußen aus Gründen der Staatsraiſon politiſche 
Prozeſſe eingeleitet und nach einem beſtimmten Schema der 
Beweis aufnahme durchgeführt werden, vor dem Auslande bloß— 
geſtellt, ſondern er hat auch um das Denkerhaupt des Hauptakteurs im 
letzten Berliner Moltke⸗Hardenprozeß, um die Stirn des ſelbſtgefälligen 
Herrn Oberſtaatsanwalts Iſenbiel eine ſtrahlende Gloriole gewoben. 
Sein juriſtiſcher Scharfblick, ſein durch keine Effekthaſcherei, durch keine 
feuilletoniſtiſche Rhetorik beeinträchtigtes Eindringen in die Pſychologie der 
Kläger und Angeklagten hat ſich wieder, wie ſchon ſo oft, im glänzendſten 
Lichte bewieſen. 

Kaum erkannte man im Juſtizminiſterium, daß der erſte Prozeß 
Moltke: Harden einen Ausgang genommen hatte, der gewiſſen hochſtehenden 
Kreiſen unangenehm in die hoheitsvollen Naſen drang, als auch ſchon Herr 
Iſenbiel im „öffentlichen Intereſſe“ als rhetoriſcher Kämpe in die 
Arena trat und bewies, daß die Methode, nach der das Berliner Schöffen⸗ 
gericht die erſte Anklage geführt hatte, durchaus nicht den Anforderungen 
einer die preußiſche Staatsraiſon wahrenden würdigen Prozeßleitung 
entſpräche. Mit ſtrammer Hand wurde die Beweisaufnahme unter dem 
Beifall der wohlgeſinnten Preſſe, die im erſten Prozeß die altgewohnte 
Diſziplin ſo ſchmerzlich vermißt hatte, genau und wohlerwogen abgegrenzt; 
keinerlei Abtanz des Verteidigers von der vorgezeichneten geraden Linie ge⸗ 
ſtattet und ſchließlich mit jener mathematiſchen Exaktheit und Gründlichkeit, 
die ſchon ſeit der Zeit des alten Grigen eine der glänzendſten Vorzüge 
preußiſcher Strafrechtspflege iſt, die reine Wahrheit ermittelt, nämlich: daß 
weder Graf Moltke, noch der feinfühlige Aſthetiker Fürſt Phili zu Eulen- 
burg und Hertefeld jemals irgendwelche homoſexuellen oder perverſen Nei⸗ 
gungen bekundet hätten. 

Es war am 31. Dezember, als ſich, ausgerüſtet mit einem forgfaltig 
zuſammengeſtellten forenſiſchen Zitatenſchatz, Herr Iſenbiel prätentiös zu ſeinem 
Plädoyer erhob und bewies, daß der erſte Kanzler des Deutſchen Reiches, 
der ‚große Altreichskanzler'“, wie ihn Herr Sfenbiel mit ehrfurchts vollem 


Augenaufſchlag nannte, trotz ſeiner hohen Befähigung das SONI 
Der Türmer X, 9 


402 | Türmers Tagebuch 


Fremdwörterbuch nicht gekannt habe, da er das Wort ‚Rinäden’ mit Intri⸗ 
ganten’ verwechſelt habe. Und zugleich leiſtete fic) Herr Sfenbiel in der 
Rolle des feinen Pſychologen folgenden ſchön ausgearbeiteten, ſtilvollen 
Panegyrikus auf den Fürſten Phili, den einſtigen Freund S. Majeſtät: 

„Der Staatsanwalt ſoll ſich über nichts freuen und nichts ärgern, er 
ſoll nur ſeine harte Pflicht tun. Aber als Menſch freue ich mich aufrichtig 
und herzlich, daß es gelungen iſt, den Verdacht, der fo lange Sabre 
zehnte auf dem Fürſten Eulenburg ſchwer laſtete, im weſentlichen 
meines Erachtens vollſtändig zu beſeitigen. Der arme, kranke, viel: 
gequälte Mann, der ſich hierher geſchleppt hat, um Zeugnis abzulegen für 
ſeinen Freund und für ſich, der Mann gehört zu den glücklichen 
und beglückten Perſonen, die man lieben muß, ohne daß es 
einen erotiſchen Beigeſchmack hat.“ 

Doch Herr Iſenbiel fand ſich nicht nur dem Fürften Phili fo fon- 
genial, daß er ihn lieben mußte, er fand in ſeiner ſtaatsanwaltlichen Be⸗ 
ſcheidenheit auch alle Zweifel an der hehren Aſthetik des Eulenburgers zer- 
ſtreut. „Genügt's?“ fragte er ſpöttiſch den Verteidiger Hardens und er⸗ 
widerte dann ſelbſtgefällig darauf: 

„Dem Herrn Juſtizrat Bernſtein genügte es nicht; er fragte noch, ob 
damit nur Verfehlungen gegen § 175 abgeleugnet werden ſollten, oder ob 
dieſe Erklärung ſich auf andere Handlungen homoſexueller Natur beziehe, 
die nicht unter den § 175 fallen. Der ſagte darauf einfach und 
ſchlicht: ‚Sind das keine Schmutzereien? Ich glaube, das müßte ge⸗ 
nügen für jeden ehrlichen und anſtändigen Menſchen.“ 

And weiter: 

„Wir haben zwei Beamte des Fürften Eulenburg gehört, die lange 
in ſeinen Dienſten ſtanden, lange mit ihm unter einem Dach ſchliefen. Beide 
Zeugen haben geſagt: Niemals und nun und nimmer iſt etwas irgendwie 
Anſtößiges in dem Verhalten des Fürſten vorgekommen; im Gegenteil, wir 
verehren unſeren langjährigen Brotherrn. Kann man mehr verlangen? 
Ich hoffe, daß Zuſtizrat Bernſtein Abbitte leiſten wird. Ich kann 
ihn nicht zwingen; tut er es aber, dann darf er ſtolzeren Sinnes 
dieſen Saal verlaſſen, als damals, nach dem ſo ſchlechten 
Erfolg in der Schöffengerichtsverhandlung. 

And am 3. Januar erklärte der ſcharfſichtige Oberſtaatsanwalt Sfenbdiel: 

„Seit dem Prozeß Brand, in dem Fürſt zu Eulenburg unter ſeinem 
Eid erklärt hat, nie etwas mit einer derartigen Schmutzerei zu tun gehabt 
zu haben, iſt der Fürſt nun in die Lage verſetzt, zu ſagen: Jetzt habe ich 
geſchworen, nie eine derartige Schmutzerei getan zu haben, jetzt komme, 
wer da wolle, und behaupte, ich habe es doch getan. Ich ſtelle ihm 
frei, wegen Meineids gegen mich vorzugehen. Jeder Mann 
im ganzen Deutſchen Reiche und im Auslande kann ſich als Zeuge melden 
oder eine Anzeige gegen mich erſtatten. Ich ſehe abſolut ruhig der weiteren 
Entwickelung entgegen.“ 


Varmers Tagebuch 403 


Frenetiſch Hatfchte die hochanſtändige Preſſe Beifall. Dieſer Ober⸗ 
ſtaatsanwalt und dieſe Prozeßführung, ſie waren gleichermaßen Bekräfti⸗ 
gungen des gehaltvollen Bülowſchen Ausſpruchs: „Preußen in Deuſchland 
voran.“ Solche gründliche Wahrheitsermittelung und ſolche Staatsanwälte 
kennt man in München nicht. Allzu begreiflich, daß jetzt, nachdem die Ver⸗ 
handlungen eines ſimplen Münchener Schöffengerichts die ſchönen mühe⸗ 
vollen Ergebniſſe der Berliner Strafkammer über den Haufen geworfen 
und ihre Wahrheitsermittelung ſo glänzend gerechtfertigt haben, dieſelbe 
hochanſtändige Preſſe ganz verdutzt dreinſchaut und ſich grimmig über die 
Praxis der Beweiszulaſſung bei den Münchener Schöffengerichten beſchwert. 
Die Berliner Strafkammermethode liefert zwar falſche Ergeb⸗ 
niſſe, die Münchener richtige; aber auf die Richtigkeit der Er- 
gebniſſe kommt's nicht an, ſondern darauf, daß fie ſich im Rah- 
men der Staatsräſon halten.“ 

Mußte ſich Harden unter ſolchen Auſpizien — ſchon aus dem ein- 
fachſten Triebe der Selbſterhaltung heraus — nicht ſagen: „Nun halte ſtill, 
was auch kommen mag. Stelle keine weiteren Beweisanträge, die als neue 
Beleidigungen aufgefaßt werden und deine Lage nur verſchlimmern können. 
Beiß die Zähne zuſammen und warte ab, bis du vor ein Forum kommſt, 
das deine Zeugen nicht nur anhört, das ihnen auch die Zunge löſt“? 
Er hatte zwar die Zeugen geladen, aber ſie wurden vom Berliner Gericht 
abgelehnt. Und das war fein Glück! Denn wären fie vor der Leb- 
mann Kammer vernommen worden, fo hätte fie das ganze Milieu eher zum 
Schweigen und Leugnen beſtimmt, als zu Bekenntniſſen, die auch das 
Münchener Gericht nur mit der Zange aus ihnen herausholen konnte. 

Nötig war das alles nicht, und es iſt grauenhaft, daß es ſoweit 
gekommen iſt! Aber es mußte wohl ſein. And es gehört ein voll ge⸗ 
ſchüttelt Maß abgebrühter Heuchelei, ſich darüber ſittlich entrüſtet zu ſtellen, 
daß der Mann, hinter dem ſich auf vier lange Monate die Pforten des Ge⸗ 
fängniſſes ſchließen ſollen, der einen Verzweiflungskampf um feine mo- 
raliſche und phyſiſche Exiſtenz kämpft, daß dieſer Mann von 
den geſetzlichen Mitteln Gebrauch macht, die allein ihn vor der Ver⸗ 
nichtung retten können. Ich möchte doch den von den ſittlich entrüſteten 
Herren leibhaftig vor mir ſehen, der ſich in gleicher Lage vier Monate 
einkerkern, moraliſch und phyſiſch zertreten ließe, nur um den Herrn Gegner 
nicht zu kompromittieren, von ſeinem geliebten Haupte die Folgen von ihm 
geleiſteter — Eide abzuwenden. Eben der Eide, deren bereites Opfer 
der ſelbſtloſe Märtyrer nun werden will. Es läge wirklich chriſtliches 
Märtyrertum, antike Größe darin. Freuen wir uns, daß ſoviel heldiſche 
Geſinnung noch unter uns glüht. Leider wird ſie völlig verkannt, was aber 
nur daran liegt, daß ſie, wie alle wahre Größe, ſich beſcheiden zurückhält, 
— ſich „beherrſchen“ kann. ö 

„Als Juſtizrat Bernſtein,“ erzählt Harden, „die Zumutung, dem edlen 
Fürſten zu Eulenburg „Abbitte zu leiſten“, lächelnd abgelehnt hatte, wurde 


404 Virmers Tagebuch 


ich von dem Herrn Oberſtaatsanwalt erfucht, Seiner Durchlaucht eine Ehren⸗ 
erklärung zu geben. Das konnte ich nicht; verſprach aber, nach beſter Kraft 
an der Aufhellung des Tatbeſtandes mitzuwirken; und fügte hinzu: Ich 
rechne dabei auf energiſche Unterftiigung durch die Königliche Staatsanwalt. 
ſchaft.“ (Herr Dr. Sfenbiel nickte eifrig.) Deutlicher konnte ich an dieſer 
Stelle die Abſicht, die Eide des Fürſten anzufechten, nicht ausdrücken. Faſt 
zehn Wochen mußte ich untätig in der Krankenſtube hocken. Die ſeit dem 
November immer wieder angekündigte Klage Eulenburgs kam nicht. Am 
zwölften März, als die Pleuritis endlich gemildert ſchien, fuhr ich nach 
Moabit und ließ mich bei dem Herrn Oberſtaatsanwalt melden. ‚Sch komme, 
um Sie, Herr Geheimrat, zu fragen, ob Sie die Abſicht haben, 
meinen Verteidiger und mich anzuklagen. Dieſe Anklage würde 
uns die erwünſchte Gelegenheit geben, die homoſexuelle Betätigung und die 
Meineide des Fürſten zu Eulenburg nachzuweiſen. Kommt es nicht dazu, 
ſo muß ich auf anderem Weg die Wahrheit feſtſtellen. Nur dieſer Zweifel 
hat mich bisher gehindert, mein Verſprechen vom zweiten Januartag ein; 
zulöſen.“ Antwort: Die Entſcheidung ſei noch nicht gefallen, weil der 
Wortlaut der von uns vor dem Schöffengericht geſprochenen Sätze nicht zu 
ermitteln geweſen ſei; ſie würde beſchleunigt werden, wenn ich mich 
entſchlöſſe, den in meinem Auftrag von Reichstagsſtenographen hergeſtellten 
Verhandlungsbericht für ein paar Tage der Anklagebehörde zu 
leihen. Natürlich ſei ich dazu nicht verpflichtet; denn das Stenogramm 
könne ja Waffen gegen mich oder gegen Bernſtein liefern. Ich bin nicht 
gewohnt, mich den Konſequenzen meines Tuns zu entziehen, und werde 
Ihnen deshalb ſehr gern das unkorrigierte Stenogramm ſenden; ich weiß, 
daß ich damit auch im Sinn meines Verteidigers handle.“ Am vierzehnten 
März lagen die fünfhundert Folioſeiten im Amtszimmer des 
Herrn Oberſtaatsanwaltes. Mit höflichem Dank für die Bereit⸗ 
willigkeit kamen ſie mir zurück. Noch keine Anklage.“ 

Dafür aber allerlei Lancierungen in der Preſſe und das Gerücht, 
Herr Harden werde ſehr froh ſein, wenn Eulenburg ihn in Ruhe laſſe. 
„Noch ärgere Mär kam auf... In der letzten Märzwoche ſtand in der 
Münchener „Neuen Freien Volkszeitung“, man munkle, der Liebenberger 
habe mir eine Million als Schweigegeld gegeben; wenn dieſes Gerücht 
falſch ſei, könne nur die Annahme, daß ich keinerlei Beweismittel gegen 
den Fürſten habe, mein Schweigen erklären. Da war eine Möglich⸗ 
keit, mein Handeln und (ergwungenes) Unterlaffen gegen 
Mißdeutung zu ſchützen. Ich reichte die Privatklage ein, das Amts⸗ 
gericht München eröffnete wegen Vergehens der öffentlichen Beleidigung 
und üblen Nachrede das Verfahren, die Hauptverhandlung wurde auf den 
21. April anberaumt, und der Gerichtshof ließ die Beweiserhebung über 
die Tatſache zu, daß ich die Homoſexualität des Fürſten Eulenburg nad: 
weiſen könne und nachzuweiſen verſucht habe. Kein gerechter Richter durfte 
dieſen Beweis abſchneiden. Behauptet war: Harden hat kein Belaſtungs⸗ 


Türmers Tagebuch 405 


material, hat nur damit geprahlt oder es aus Eigennutz verborgen. Zu 
beweiſen alſo: Er hat Material, ſehr ſtarkes, erdrückendes ſogar, und hat 
ſich bemüht, es ans Licht zu bringen.“ 

Man ſollte meinen, daß dies nur ſelbſtverſtändlich ſei. In welchem 
Lichte iſt nun aber das Verfahren des Münchener Gerichtshofes den Lefern 
mit Gott für König und Vaterland“ kämpfender Blätter dargeſtellt worden? 
Sichtlich erboſt, daß das Gericht die Intereſſen der Wahrheit, nicht die des 
Fürſten Eulenburg vorangeſtellt hat, iſt die „Kreuzzeitung“. Dem 
Gericht wäre es ja ein leichtes geweſen, alles dem Fürſten Nachteilige fern- 
zuhalten, wenn es ſich einfach auf den formaliſtiſchen Standpunkt geſtellt 
hätte, fo etwa nach dem Muſter der Berliner Strafkammer. And trotzdem: 

„Herr Harden verklagt einen Sozialdemokraten beim Schöffengericht, 
und das Verfahren kommt darauf heraus, den beim Prozeß überhaupt 
nicht vertretenen Fürſten Eulenburg auf die Anklagebank zu ſtellen. Man 
könnte dabei an ein Spiel mit verteilten Rollen denken... Zur 
Verhandlung ſtand allein der beleidigende Vorwurf, Harden habe von dem 
Fürſten Eulenburg eine Million Mark als Schweigegeld erhalten und habe 
darum mit ſeinem Belaſtungsmaterial zurückgehalten — und dazu dieſe 
Beweisaufnahme! Aber den erſten Vorwurf brauchte man nur den Fürſten 
Eulenburg zu hören; die Widerlegung des zweiten Vorwurfes ergab ſich 
aus der Konſtatierung der in dem Hauptprozeß abgelehnten Hardenſchen 
Beweisanträge. Wollte man aber gegenüber der gänzlich unſubſtantiierten 
Behauptung, Harden habe Belaſtungsmaterial unterdrückt, noch ein Wei⸗ 
teres tun, ſo konnte man allenfalls den Verteidiger Hardens über die von 
ihm mit ſeinem Mandanten gepflogenen Verhandlungen hören. Anſtatt 
deſſen find neue Belaſtungszeugen gegen Eulenburg vernommen... Der 
Münchener Prozeß iſt ein neues abſchreckendes Beiſpiel für 
das Verſagen der Prozeßleitung in Schöffengerichtsfachen, wenn 
in Angelegenheiten mit ſenſationellem Hintergrunde eine Partei nur über 
das nötige Maß von Dreiſtigkeit und Skrupelloſigkeit verfügt.“ 

Gewiß, gewiß, chriſtliche Kreuzzeitung: Zu machen war das Ding 
ſchon mit einigem guten Willen. Was damit zu machen iſt, das haben 
wir ja bei den Verhandlungen in Berlin unter der ſtrategiſchen Führung 
der Herren Lehmann und Sfenbiel geſehen. Aber eben an dieſem guten 
Willen fehlte es offenbar den Münchener Richtern. Sie fühlten ſich als 
Richter, alſo berufen, dem Rechte in feinem ganzen Umfange zum 
Siege zu verhelfen, nicht nur einem Zipfelchen des Rechtes, auf das fie 
ſich ja — immer bei einigem guten Willen — bätten zurückziehen können, 
ohne direkt gegen die Form zu verſtoßen. Die Münchener Richter hatten 
wohl von ihrem Amte und ihrer Aufgabe eine andere Auffaſſung als die 
„Kreuzzeitung“, wahrſcheinlich die niedrigere. 

Die Moral, die man aus gewiſſen Urteilen und Betrachtungen über 
den Fall Eulenburg herausleſen muß, läuft ſchließlich auf nichts anderes 
heraus, als daß Meineide zwar immerhin bedenklich ſeien, aber lange nicht das 


406 Zürmers Tagebuch 


ſchlimmſte. Schlimmer als Meineide leiften fei Meineide verfolgen. Der 
Meineid als folcher fcheint unter Amſtänden nicht einmal gar ſchlimm. Er 
wird es erſt, wenn er als ſolcher erwieſen und beſtraft wird. Wir haben 
es in unſerer Höhenkultur ſchon eine ziemliche Strecke weit gebracht, Gipfel 
erklommen, von denen ſich uns die wundervollſten Ausſichten eröffnen. 
And dabei brauchen wir nicht einmal erſt auf eine ferne Zukunft zu warten. 
Iſt doch die Gegenwart unſer! And — dem Tapferen gehört die Welt. 

„Wer in dieſen Tagen herumlauſchte, lefen wir im „Berl. Tagebl.“, 
„vernahm neben den einfachen Ausrufen des Mitgefühls ganze Plaidoyers 
zu Eulenburgs Gunſten. Gewiß, man gab zu, daß die Heiligkeit des Eides 
gehütet werden müſſe, aber man fuchte nach den mildernden Umftänden, 
ſchob ſie eifrig in den Vordergrund. Man fand es verzeihlich, daß ein 
grauhaariger Mann ſeine intimen Schweinigeleien nicht öffentlich eingeſtehen 
wollte, und man fand es empörend, einen Menſchen in eine ſolche Zwangs⸗ 
lage hineinzudrängen. Es ſprach aus dieſen Außerungen ſehr viel unan- 
gebrachte Sentimentalität, ſehr viel uneingeſtandene Vorliebe für das 
Fürſtliche. Aber es ſprach daraus auch die Abneigung gegen einen Haß, 
der faſt peinlicher ſein kann als die perverſeſte Liebe. 

Wie ein waghalſiger Schwimmer, der an einem unbekannten Strande 
ins Waſſer hineinſpringt, iff Philipp Eulenburg in den Gerichts ſaal ge 
gangen, und die Flut hat ihn immer weitergetragen, bis ſie ihm über dem 
Kopfe zuſammenſchlug. Er hätte beim Beginn des Skandals nach Agypten, 
nach Algier abdampfen können, hätte ſagen können, er ſei krank und brauche 
des Südens Sonnenſchein, hätte ungeſtraft unter Palmen wandeln, hätte 
neue „Noſenlieder“ dichten können. Er wies ſolche Gedanken verächtlich 
zurück, und weil er ſo oft im leichten Salongeplauder elegant und geiſtreich 
feine Gegner zu entwaffnen wußte, glaubte er, daß ihm das Fechter⸗ 
tunftftüd auch im Gerichtsſaal gelingen werde. Er vertraute 
auf feine Geſchicklichkeit, gedachte am Meineidsparagraphen ſich glatt 
vorbeizuwinden und geriet dann wohl doch in den Strudel, der ſchon manchen 
verſchlungen hat. Vor der nüchternen Frageſtellung verſagen die feinen 
Mittel dialektiſcher Redekunſt. Der Augenblick kommt, wo der Rückweg 
verſperrt ſcheint und wo man willenlos vorwärts treibt. 

Auch ſeinen Gegner, auch Herrn Harden hat die Flut mit fortgeriſſen, 
und auch er iſt weitergetrieben worden, als er ſelbſt es geahnt hatte. Mit 
einigen Andeutungen, einigen verſteckten Seitenhieben hat er das Spiel be⸗ 
gonnen, und er hat den Ruin eines Mannes verurſacht, dem urſprünglich 
nur krankhafte Verirrungen zur Laſt zu legen waren. Daß das alles ſo 
kam, iſt gewiß nicht nur Herrn Hardens Schuld: es iſt die Schuld der 
Gerichtsbehörden, die ihm den Freiſpruch nicht gönnen wollten. In einem 
ſeltſamen Verfahren verurteilt, mußte er ſich zur Wehr ſetzen, und als 
Verleumder hingeſtellt, mußte er ſich rein zu waſchen ſuchen. Er hatte den 
Fehler begangen, an fremden Türen zu horchen, fremdes Elend ans Licht 
zu zerren. Für den Reft iſt nicht er, oder doch nicht nur er, verantwortlich 


Tuürmers Tagebuch 407 


— auch für ihn kam der Augenblick, wo es nur noch ein Vorwärts zu 
geben ſchien. 

Warum bemüht man ſich kaum, Herrn Harden gerecht zu werden, 
und warum bürdet man ihm auf, was doch auch andere verſchuldet haben? 
Warum brechen große Kreiſe des Publikums heute über ihn den Stab, 
und warum läßt man ihm nicht das Verdienſt, das ihm doch tatſächlich zu⸗ 
kommt? Die öffentliche Meinung iſt gegen Herrn Harden, weil ein Anter⸗ 
nehmen wie das ſeinige nur durch die äußerſte Nobleſſe erträglich werden 
konnte, und weil der rückſichtsloſeſte Haß bei ihm dieſe Ritterlichkeit ver- 
drängt. Man iſt gegen Herrn Harden, weil Phraſen wie dieſe, die er 
einem feiner zahlreichen Interviewer eben noch geſagt hat: ‚Ich werde 
Deutſchland von dieſem Spelunkenkaglioſtro befreien“, in ſeinem Munde 
immer wiederkehren, und weil ſolch ein ſchlechtes Pathos jeden natürlich 
Empfindenden verletzt. Man iſt gegen ihn, weil er die verſchiedenen Arten 
‚aktiver Sexualleiſtung“ — um mit ihm ſelber zu ſprechen — allzu breit erörtert, 
und weil er es nicht vorzieht, leicht über dieſe Dinge hinwegzugleiten 

Geſiegt hat ja Harden ſchon heute. Denn um Eulenburg ban- 
delte ſich's, nicht um Moltke. Das muß den ſchamloſen, bewußten 
und gefliſſentlichen Fälſchungsverſuchen der Eulenburg⸗ 
Preſſe gegenüber immer wieder ins Land gerufen werden. Wer ſich des 
urſprünglichen Tatbeſtands noch entſinnen kann, ift fic nicht einen Augen⸗ 
blick im Zweifel, daß Moltke in der ganzen Aktion nur als Nebenſigur, 
nur dekorativ, als Staffage im Hintergrund wirken ſollte. Man muß doch 
ſchließlich auch mit den artiſtiſchen Bedürfniſſen des früheren Schauſpielers 
rechnen, der ſich gern in eine reiche ſzeniſche Amrahmung ſtellt: 

„Drum ſchonet mir an dieſem Tag 
Proſpekte nicht und nicht Maſchinen! 
Gebraucht das groß und kleine Himmelslicht, 
Die Sterne dürfet ihr verſchwenden; 

An Waſſer, Feuer, Felſenwänden, 

An Tier und Vögeln fehlt es nicht!“ 


Molkte hatte bei Harden nur eine Nebenrolle zu mimen. Er ſollte 
eigentlich nur das Relief für Eulenburg hergeben. Daß er dennoch zum 
Helden des ganzen Stückes gemacht wurde, geſchah aus ſehr naheliegenden 
Gründen — aber gegen Hardens Intentionen —, konnte von ihm trotz zäheſter 
Abwehr auch nicht verhindert werden. So wurde die ganze Sache von 
Anfang an gefliſſentlich aus ihrem urſprünglichen Geleiſe 
gehoben und in ein falſches geftellt Die Folgen find nicht aus- 
geblieben. Sie bleiben auf die Dauer nie aus, wo krumme Wege beſchritten 
werden, wo ein gerader da iſt. Denn dieſe krummen Wege enthüllen ſich 
am Ende als unheilvoller Kreis, aus dem es nach unendlichen Irrungen und 
Anfällen nur die eine Rettung gibt: den Übertritt auf den fo lange gemiede⸗ 
nen geraden Weg. Der Fall Eulenburg iſt ein Schulfall dafür, in welche 
verhängnisvollen Netze ſich die Juſtiz verſtricken muß, wenn ſie um ver⸗ 


408 Türmers Tagebuch 


meintlicher „höherer Intereſſen“ willen ihre eigentliche und einzige Aufgabe: 
die Wahrheit zu ſuchen und das Recht zu finden, einer ſogenannten „Staats⸗ 
räſon“ unterordnet. Möchte die barbariſche Lektion wenigſtens fruchten! 

Ob Harden jemals ſeines Sieges froh werden wird, iſt eine andere 
Frage. Ich glaube es nicht, und er wohl auch nicht. Es hieße die Robuft- 
heit der Pſyche eines ſolchen Mannes denn doch überſchätzen, wenn er von 
alledem und alledem nicht einen Stachel nachbehielte. Auch vor dem eigenen 
Bewußtſein. Ein Weh, das er vielleicht der Welt verbergen, das aber doch 
an ihm zehren wird. Seine „Methode“ iſt keine glückliche. Ich ſage: glückliche, 
weil ſie ihm von der Natur gegeben, nicht in ſeine Wahl geſtellt ſcheint. Aber 
auch er könnte von ſeinen Gegnern, ja von ſeinen intimſten Feinden lernen. 
Denn wenn ſie ihm auch ſchaden wollen, ſo können ſie ihm noch viel mehr 
nützen. Das iſt freilich eine Fibelweisheit, aber die am ſchwerſten erlernbare. 

Hardens „Widerſprüche“ bilden ſchon eine Spezialität, einen Sport 
gewiſſenhafter Sammler, die dann auch nicht verfehlen, den Segen ihres 
Fleißes öffentlich zur Schau zu ſtellen. So friſcht jetzt Joſeph Adolf 
Bondy, der Herausgeber der „Neuen Revue“, einige Sätze auf, die Harden 
noch unter dem friſchen Eindrucke des Selbſtmordes eines bekannten Ber⸗ 
liner Kommerzienrates niederſchrieb. Der hatte, ganz unter denſelben Um: 
ſtänden wie Fürſt Eulenburg, unter ſeinem Eide beſtritten, ſich homoſexuell 
betätigt zu haben oder auch nur ſo veranlagt zu ſein. Damals meinte Harden: 

„Nach moderner Auffaſſung iſt der Urning nicht ein Verbrecher, ſon⸗ 
dern ein Kranker; wäre es anders, dann müßten viele Diplomaten, Höf⸗ 
linge, gekrönte Herren ſogar ihre Häupter in Schande betten. Iſt es nötig, 
den Kinäden in den Tod zu hetzen? — Kranke Menſchen, Märtyrer eines 
verirrten Sexualtriebs werden beſtraft und geächtet. Wer in Angſt um 
ſein bißchen Ehre, in dem Bewußtſein, keines Menſchen Rechte gekürzt 
und keinen Schaden geſtiftet zu haben, die zu beeidende Zeugenausſage 
färbt, kommt ins Zuchthaus. Vor der Leiche des Selbſtmörders hält der 
Korrekte ſich in frommem Schauder die Naſe zu.“ 

„Hardens Methode“, analyſiert ſie Bondy in ſeiner „Neuen Nevue“, 
„wurzelt Joſef Adolf in ſeinem ganzen Weſen, in ſeinen letzten Vorzügen 
und Fehlern. Er ſtrebt nach der Sache und bleibt immer am Perſönlichen 
haften. Bei allem geſchichtlichen Werden ſieht er nur Menſchengeſichter, 
Menſchenpoſen, hört nicht den Amſchwung der ehernen Räder, fühlt nicht 
die heißen Kräfte, die den einzelnen fortreißen. Er vernimmt zufällig in 
einem Geſpräch, daß Kaiſer Wilhelm ſich mit dem franzöſiſchen Botſchafts⸗ 
rat Lecomte über Kunſt unterhalten habe: Sofort wird dieſer Herr Lecomte 
für ihn der Träger furchtbarer Völkerſchickſale, er kann dieſe Wahnvorſtellung 
nicht mehr los werden und erzählt bis an ſein Lebensende, ſooft dieſer 
Name erklingt, von den wildeſten politiſchen Abenteuern, die nur in ſeiner 
Phantaſie lebendig ſind. 

Er wittert überall Intrigen. Und fo wurde Fürſt Eulenburg für ihn 
ein Heros der RNänke. Als ob er den Kaiſer je hindern könnte, fic außer 


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Ziiemers Tagebuch 409 


mit feinem Kanzler auch mit Freunden, denen er vertraut, zu beraten? Als 
ob das nicht in der ganzen Welt fo wäre? Als ob nicht Harden ſelbſt 
ſich jede Woche als unverantwortlichen Ratgeber anböte, heute höflich wer⸗ 
bend, morgen eine aus dem Innerſten ſeines monarchiſchen Herzens geholte 
Bosheit von der Sehne feines Witzes ſchnellend? Von Holitein, der ihm 
jetzt manchen Brei einrührt, glaubte man lange, er ſpiele dieſelbe Rolle, 
die Harden dem Fürſten Eulenburg zugemutet hat. In den Hohenloheſchen 
Denkwürdigkeiten erſcheinen Spätzle (Herr von Kiderlen⸗Wächter), Trouba- 
dour (Graf Philipp Eulenburg) und der Auſternfreund (Herr von Holſtein) 
zu einer „Kamarilla“ vereinigt. Wie leibeigen Harden dem Perſönlichen 
iſt — das beweiſt die ſchnelle Verwandlung Holſteins aus einem ſchwarzen 
in einen weißen Bock, ſeitdem der Wirkliche Geheime Rat dem Heraus- 
geber der „Zukunft“ einen reſpektvollen Brief geſchrieben hat. 

Bernhard Dernburg wird ins Kolonialamt berufen. Harden iſt be⸗ 
geiſtert: „Endlich eine politiſche Nachricht, der man ſich freuen darf.“ Dern⸗ 
burg wird mit Chamberlain verglichen, ſeine kühnen Transaktionen bei der 
Darmſtädter Bank werden entſchuldigt. „Sein Auge kann wie das eines 
Apoſtels leuchten, wie das eines Amfortas feucht ſchimmern“. „Das Stärkſte 
in ihm ſcheint die Fähigkeit zu raſcher Ronftruftion’. In Haltung und 
Rede keine Spur von Poſe“. „Ein moderner Geſchäftsmann im Bundes⸗ 
rat! Manche Dummheiten find unwahrſcheinlich geworden.“ 

Nach dem Moltkeprozeß erſcheint eine Zeitungsnotiz: Exzellenz 
Dernburg legt Wert darauf, öffentlich von Herrn Harden abzurücken.“ 
Harden bleibt die Antwort nicht ſchuldig: „Der Herr, dem die Erben noch 
heute die ganze Miſere der Darmſtädter Bank zuſchreiben.“ Die Afrika⸗ 
reife — ‚ein ekles Poſſenſpiel.“ ‚Unfer Genie hatte kaum ins Land hinein- 
gerochen: da war ſchon ein neues Programm fertig.“ „Ließ bei allen höfi⸗ 
ſchen Veranſtaltungen feine Orden glänzen.“ „Jedes Parvenuvergnügen 
ſei ihm gern vergönnt.“ „Wir wollen hoffen, daß die neue Gloria nicht 
wie anno Heldburg und Luxemburg einſt die alte ende.“ „Der Bureau⸗ 
kratismus hat auf dem Kolonialamt nie ſchwerer gelaſtet als jetzt.“ Und 
ſo geht es weiter. Jedes Wort mit Galle getränkt. 

Hier hat man den ganzen Harden. Dieſer ſcharfe Intellekt taucht, 
ſowie der perſönliche Nerv berührt wird, in Dunkelheiten, in trübe Ur- 
ſprünge zurück. Wer ſich von Sympathie und Nachſucht ſo übermannen 
läßt, kann ſich trotz aller Kenntniſſe und Erfahrung aus dem Gewoge poli⸗ 
tiſcher Kämpfe kein objektives Urteil retten. Ein folder Perſönlichkeits⸗ 
fanatismus überſieht in der Hitze des Anſturms die Linie, wo die Wah⸗ 
rung berechtigter Intereſſen aufhört und der moraliſche Hausfriedensbruch 
beginnt, und findet ſogar in verborgenſten Sexualwinkeln noch c 
Angriffs möglichkeiten. 

Gerade die Erfahrungen der letzten Prozeſſe verlangen, daß das 
Privatleben mit einem dreifachen Gitter aus Stacheldraht umzäunt werde, 
an dem ſich lüſterne Finger und Schnüfflernaſen blutig kratzen ſollen. Das 


410 Siirmers Tagebuch 


Geſetz, das anderwärts auch die Veröffentlichung erweislich wahrer, aber 
ehrenrühriger Vorgänge des Privat- und Familienlebens verbietet, und die 
Gemeinbürgſchaft der anſtändigen Leute müſſen dieſen Stachelzaun pflanzen. 

Iſt ein homoſexueller Staatsmann ein Schädling, dann iſt es Pflicht, 
feine Unfähigkeit, feine ſchlechte Politik, nicht aber feine Männerliebe zu 
erweiſen. Es ziemt ſich nicht, dem politiſchen Gegner, den man beſeitigen 
will, Kriminalſpione an die Ferſen zu heften, um ihn in verbotenen Schlupf⸗ 
winkeln des Geſchlechtslebens zu ertappen .“ 

Solcher Betrachtungen laſſen ſich gut und gerne noch manche anſtellen. 
Sie haben nur den einen Fehler, daß ſie nicht zur Verhandlung ſtehen, 
ja daß ſie geeignet ſind, die Sachlage zu verdunkeln, das Thema auf 
ein anderes Gebiet hinüber zu ſpielen. Es braucht auch nicht notwendig 
ein Widerſpruch darin zu liegen, daß Harden einerſeits für die Strafloſigkeit 
der Homoſexuellen plaidiert, andererſeits im gegebenen Falle eine ſolche 
Veranlagung oder Betätigung gegen Perſonen verwertet, die er aus 
dem Rate des Monarchen, überhaupt von der politiſchen Schaubühne ent 
fernt wiſſen will. Er würde ſich dann nur eines unlauteren Mittels für 
Zwecke bedient haben, die er für gute und nötige gehalten hat. Man kann 
das moraliſch verurteilen, — ein logiſcher Widerſpruch liegt aber darin noch 
nicht. Selbſt dann kann er ſich — wie er das ja auch tut — immer noch 
auf den Standpunkt ſtellen: ich mache ja den Leuten aus ihrer abnormalen 
Veranlagung oder Betätigung perſönlich keinen Vorwurf. Aber ſolche 
Leute gehören nicht an einflußreiche und leitende Stellen. And da ſie auf 
keine andere Weiſe aus dieſen Stellungen zu entfernen ſind, ſo muß ich 
mich zu meinem Bedauern eines Mittels gegen ſie bedienen, das ich unter 
anderen Amſtänden als ein untaugliches anſehen würde. — Ja, iſt es denn 
etwa nicht über die Maßen beſchämende geſchichtliche Tatſache geworden, 
daß es erſt durch öffentlichen Gebrauch dieſes Mittels möglich wurde, 
einen jahrzehntelang — nicht einmal ſo ganz im Verborgenen — glimmenden 
Seuchenherd auszutreten? „Hohenau und Lynar, Eulenburg und Lecomte: 
das, Herr Oberſtaatsanwalt, iſt das Ende der „Hardenſchen Mär“. Vier 
Häupter ſanken bleichend vom Rumpf!“ So zieht Herr Harden die Bilanz 
ſeiner Affäre. Ich finde nun dieſes theatraliſche Pathos nichs weniger als 
geſchmackvoll, kann mich auch ſonſt vielfach mit den Geſten und Waffen 
ſeiner Kampfführung ganz und gar nicht befreunden; geſtehe ſogar offen, 
daß ich einen Gegner, dem ich nicht auf andere Weiſe beikommen könnte, 
lieber ungeſchoren ließe. Das alles hindert aber nicht, daß Harden objektiv 
in der Hauptſache recht behalten, daß er objektiv ſich ein poſitives Verdienſt 
erworben und daß vor ihm kein anderer den Mut gefunden hat, mit ge⸗ 
ſchmeidiger Klinge in das an ſo hoher Stelle niſtende Weſpenneſt zu 
ſtechen. Wenn Leutchen, die kaum einen Satz zu ſchreiben wagen, ohne 
mit ihren Fühlhörnern zu ertaſten, ob er nicht vielleicht bei ihrem Verleger 
oder Annoncenpächter Anſtoß erregen könnte, wenn ſolche komiſchen 
Vayards ohne Furcht und Tadel Harden der Feigheit bezichtigten, ſo war 


Türmers Tagebuch 411 


das von fo überwältigendem Humor, daß es geradezu ein verſöhnliches Element 
in die ſo ernſte und überaus peinliche Sache hineintrug. Was es bedeutete, 
mit einem Eulenburg auch nur von ferne anzubinden, darüber iſt ſich wohl 
keiner weniger im unklaren geweſen, als gerade der ſo gewiſſenhaft „be⸗ 
diente“ Harden. Noch jetzt, nachdem Eulenburg des Meineids ſo gut wie 
überführt, bereits die Unterfuchungshaft über ihn verhängt iſt, findet 
er an zahlreichen Stellen eifrige Anwälte, ſickert aus verborgenen Kanälen 
immer wieder Beſchwichtigungsöl und Reinigungswaſſer für ihn auf das 
Zeitungspapier. 

„Seit Fürſt Eulenburg verhaftet und in die Berliner Charité über⸗ 
geführt worden iſt,“ ſchreibt der „Vorwärts“, „leiftet ſich ein Teil der ſo⸗ 
genannten anſtändigen Preſſe ein ebenſo unverſchämtes wie erbärmliches 
Gaukelſpiel. Mit einer Syſtematik, die es ſchwer macht, nicht an ein vorher 
wohlüberlegtes Verfahren glauben, tauchen bald da, bald dort in ſogenannten 
unparteiiſchen und konſervativen Blättern, meiſt ſolchen, die bei jeder Ge⸗ 
legenheit über die Anſittlichkeit und das ſchwindende Rechtsgefühl der un⸗ 
teren Volksſchichten klagen, rührſelige Notizen auf, in denen über das zärt⸗ 
liche Familienleben des Fürſten Philipp von Eulenburg, ſeine angebliche 
Milde und Leutſeligkeit, ſeine Beliebtheit bei den Bewohnern Liebenbergs, 
die aufopfernde Pflege, die ihm ſeine Gattin angedeihen läßt, uſw. berichtet 
wird. Und nachdem auf dieſe Art an die Sentimentalität nnd die 
Gedankenloſigkeit der Leſer appelliert worden iſt, folgen dann unter 
frecher Entſtellung des Tatbeſtandes allerlei wehmütige Betrachtungen dar⸗ 
über, daß ſelbſt dann, wenn der Fürſt Eulenburg einen Meineid geleiſtet 
haben ſollte, er eigentlich gar nicht als Meineidiger betrachtet werden dürfe, 
denn er fei ja zum Eid gezwungen worden und habe nur, um feine heiß⸗ 
geliebte Familie vor einem Makel zu retten, falſch geſchworen uſw. uſw. 

Wer die Mache kennt, weiß, was hinter derartigen Notizen ſteckt. 
Sie kehren regelmäßig wieder, wenn irgendeiner aus den ſogenannten höch⸗ 
ſten Schichten etwas ausgefreſſen hat. Als die Fürſtin Wrede Silber⸗ 
ſachen geſtohlen und als in Allenſtein der Hauptmann von Göben den 
Gatten ſeiner Geliebten erſchoſſen hatte, tauchten ganz in gleichem Stil 
gehaltene, auf das gute Herz ſpekulierende Notizen in einem 
Teil der ſonſt für Verſchärfung der Strafgeſetzeplädierenden 
Preſſe auf; nur daß diesmal, da es ſich um einen Gefürſteten handelt, ſolche 
Notizen noch aufdringlicher auftreten.“ 

Das gleiche iſt der „Nationalliberalen Korreſpondenz“ aufgefallen: 
„Fürſt Philipp zu Eulenburg weilt feit drei Tagen als Anterſuchungs⸗ 
gefangener, der körperlich leidend iſt, in der Charite. Und nun begibt ſich 
etwas, was auf den erſten Blick ſchwer faßbar iſt; was nur verſtändlich 
wird als die reife Frucht einer durch viele Monate irre⸗ 
geleiteten öffentlichen Meinung. Eine weiche Rührſeligkeit iſt im 
Aufkommen, für die die Begriffe gut und böſe gar nicht mehr 
zu eriftieren ſcheinen. Was Eid, was Meineid! Man ſieht nur noch 


412 Zlirmers Tagebuch 


den Mann (wie es mit ſchleimiger Sentimentalität im Berl. Tagbl. heißt), 
deſſen Blicke zu ſagen pflegten: „Was kann ich für Sie tun?“ und man 
empört ſich an Stammtiſchen und auf allzu geduldigen Zeitungspapieren 
über den andern, der den Fürſten Philipp in dieſe Zwangslage hinein⸗ 
gehetzt hätte. 

Demgegenüber ſcheint es uns doch nützlich, an den wirklichen Verlauf 
der Dinge zu erinnern.. .. Ob Fürft Philipp Eulenburg falſch geſchworen 
oder nicht: Wir wiſſen es nicht. Obſchon die Verdachtsgründe gegen ihn 
ſich in beängſtigender Weiſe mehren. Aber das wiſſen wir, daß kein 
Menſch ihn zu ſeinen Eiden gezwungen hat. Ihn ſelbſt 
drängte es aus dem Auslande zum Zwecke der Eideshilfe 
wiederzukehren. Trieb es — ganz ohne Not — im Prozeß Brandt 
eine Gaſtrolle vor Gericht zu geben und dort jenen erſten, ein wenig 
zaghaften Eid zu ſchwören, der ſo merkwürdig von den eid⸗ 
lichen Bekundungen des Kanzlers abſtach. Dann, als der Ober⸗ 
ſtaatsanwalt Herrn Harden den zweiten Prozeß machte, ſchwor er ſchon 
weſentlich reſoluter. Und errötete nicht, als Herr Iſenbiel, unter dem Ein⸗ 
druck dieſes Schwurs eines äußerlichen Gentleman, ihn eine Idealgeſtalt 
nannte, die man lieben müßte; hatte nichts dagegen, daß der Un: 
geklagte auf vier Monate ins Gefängnis geſchickt werden 
ſollte; daß alle Welt den einen Erfinder und Verbreiter haltloſer Lügen ⸗ 
geſchichten faſt einen Ehrloſen nannte. 

So iſt doch der wirkliche, der nüchterne Verlauf der Dinge, und in 
ihm bedauern wir lebhaft, kaum ein Moment zu finden, das den Skalden 
von ehedem rührſamen Mitleids würdig machte. Gewiß gibt es Meineide, 
die aus altruiſtiſchen Motiven, im tiefſten Grunde aus anſtändigen Regungen 
heraus geſchworen werden. Im Fall des Fürften Eulenburg aber, wofern 
der Verdacht ſich bewahrheitete, würde es ſchwer werden, ſolche Motive 
feſtzuſtellen. Ein Mann, der auf ſein Glück, ſeine Stellung, ſeine Ver⸗ 
bindungen pocht. Der zum Schluß, als kein Entrinnen mehr möglich ſcheint, 
noch die Farce mit dem Bittgottesdienſt in der Schloßkirche ver: 
anlaßt: ein Spieler und ein Romddiant.” 

Fürſt Eulenburg mag ſich bei ſeiner Preſſe oder — deren Einbläſer 
bedanken, wenn ſo ſcharfe Worte gegen ihn fallen. Sie hätten bei dem, 
was ihn nun doch getroffen hat, vermieden werden können, wären auch ver⸗ 
mieden worden, wenn nicht ein Teil der Preſſe bei feiner Reinigungswäſche 
alle ethiſchen Begriffe in ſo dreiſt herausfordernder Weiſe auf den Kopf 
ſtellte, daß Schweigen geradezu Beihilfeleiſten zu einer ſolchen 
Korruption der ſittlichen Empfindungen unſeres nur allzu ſuggeſtibeln 
Volkes hieße. Intereſſant iſt die Beobachtung, wie auch hier wieder der 
angeſtammte Lakaienſinn ſich zugunſten des Hochgefürſteten im Anterbewußt⸗ 
ſein vieler zu regen beginnt. Können wir nicht faſt täglich viel tragiſchere 
Fälle erleben? Aber wir achten kaum auf ſie. Sind doch nur ganz ge⸗ 
wöhnliche Bürger, oft „nur“ Arbeiter die — nicht einmal immer ſchuldigen 


Türmers Tagebuch 413 


Opfer. Wenn Männer wegen irgendwelcher politiſchen „Verbrechen“ 
durch Schrift oder Wort — ſubjektiv alſo doch nur ihrer ehrlichen Aber⸗ 
zeugung wegen — auf Monate und Jahre ins Gefängnis oder gar ins 
Zuchthaus müſſen und die darbende Familie, die hungernden Kinder ohne 
Ernährer zurücklaſſen; wenn Töchter armer und wie oft auch „guter“ 
Familien nach langem, nutzloſem, zermürbendem Kampfe um das tägliche 
Brot ſich der Schande in die Arme werfen, an Körper und Seele proſti⸗— 
tuieren müſſen, wo doch ihr ganzes Innere in einem einzigen Aufſchrei 
dagegen revoltiert hat, bis die Gewohnheit den Gottesfunken in der Goſſe 
erlöſchen ließ: — wo, frage ich, iſt da das herzzerreißende „Mitleid“, wann 
hat da jemals ſpaltenlanges Gewimmer die Zeitungen gefüllt? Mit eiſiger, 
oft Entſetzen erregender Kälte werden ſolche Fälle in zwei Zeilen gebucht. 
Mitleid allen Leidenden, allen Opfern perſönlicher und ſozialer Notſtände, 
menſchlicher Fehlbarkeit, rätſelhafter Geſetze, die ſich nach Jahrtauſenden 
oft über dem einzelnen und den Völkern in furchtbarer Kataſtrophe ger: 
malmend entladen. Mitleid mit jedem tiefen Fall, Mitleid auch dem 
Fürſten Eulenburg. Aber kein falſches Mitleid; kein Mitleid, das 
an unſere Herzen nur rühren zu können glaubt, wenn es, um den einzelnen 
geſund zu bitten, das ſittliche Lebensblut der Geſamtheit vergiftet. Die das 
wahre Mitleid im Herzen tragen, das große Leid aller Kreatur mitleiden, 
die brauchen auch für den Fürſten Eulenburg nicht erſt um Mitleid ane 
gegangen zu werden. And tritt das Anliegen gar mit der frechen Forde⸗ 
rung an fie heran, ihre Begriffe von Gut und Böſe, Recht und Anrecht 
für den einzelnen Fall über Bord zu werfen, ſo weiſen ſie ſolchen falſchen 
Apoſteln energiſch die Türe. 

Was ſteht denn heute zur Anklage? Die ſexuellen Verfehlungen 
des Fürſten? Die ſtehen auf einem andern Blatt. Hier wird die Anklage 
erhoben, daß Eulenburg zu ſeinem Nutzen, ohne Rückſicht auf Freiheit und 
Geſundheit, phyſiſche und moraliſche Exiſtenz anderer Menſchen, Eide ge⸗ 
ſchworen hat, von denen er wußte, daß fie den Ruin eben dieſer Menſchen, 
wenn nicht allein verſchulden, fo doch mit herbeiführen mußten. Und — von 
denen er gleichzeitig wußte, daß ſie Anwahres bekräftigten. Wer die 
auf der Tagesordnung ſtehende Schuldfrage anders ſtellt, der fälſcht ſie eben 
um, und zwar zu keinem anderen Zweck, als durch den Appell an die 
menſchlichen, allzu menſchlichen Inſtinkte, Stimmung für ſeinen Klienten 
zu machen. 

Was an mildernden Umſtänden für den Geſtürzten geltend gemacht 
werden kann, das faßt im weſentlichen die — ſozialdemokratiſche „Münchener 
Poſt“ zuſammen: „Eulenburg erleidet das Schickſal nicht weniger Anglück⸗ 
licher aus den verſchiedenſten Geſellſchaftsklaſſen, die vor die Wahl geſtellt, 
ihre Schande zu entblößen oder einen falſchen Eid zu leiſten, die Gefahr 
einer ſtrafgerichtlichen Verfolgung wegen Meineids der unmittelbar drohen⸗ 
den Vernichtung vorzogen. Daran, daß er das tat, trifft nicht ihn allein 
die Schuld. Hätten die Behörden nicht jahrelang das ſchamloſe 


414 Türmers Tagebuch 


Treiben der hochgeborenen Arninge ſehend geduldet, hätten 
die Eulenburg und Genoſſen aus der Nachſicht, mit der man ſie behandelte, 
die Hilfe ſogar, die man ihnen in ſchwierigen Situationen leiſtete, nicht 
folgern dürfen, daß ihnen nun alles erlaubt ſei, ſo hätte Philipp 
Eulenburg niemals den Eid geſchworen, der ſein Schickſal beſiegelte. Laſtete 
auch nur ein geringer Verdacht auf ihm — aber die Polizei wußte alles 
oder ſo gut wie alles —, ſo durfte er niemals zur Vereidigung 
zugelaſſen werden. Als Meineidiger iſt er das Opfer der Rid 
ſichten, die man ihm, dem Freund des Kaiſers, dem Fürſten, dem Bot⸗ 
ſchafter entgegenbrachte.“ 

Ruhig die Majeſtät des Rechtes walten laſſen: das war hier wie 
immer und überall das einzig Wohltätige und Heilſame. Und das wenigſt 
Schmerzhafte. Hätten die Behörden von Anfang an mehr Reſpekt vor 
dieſer Majeſtät, weniger Reſpekt vor gewiſſen Durchlauchten und Hoheiten 
gehabt, — es wäre uns alles erſpart geblieben. Schrieb doch ſchon Gentz 
zur Thronbeſteigung Friedrich Wilhelms III. an dieſen: 

„Die Verwaltung des Rechts iſt ſeit einem halben Jahrhundert eine 
der glänzendſten Seiten, der wahre Stolz der preußiſchen Ziviladminiſtration 
geweſen. Ein Geſetzbuch, welches der Vollkommenheit nähergerückt iſt als 
irgend ein anderes der ältern und neuern Zeit; einfache, regelmäßige, ver ⸗ 
ſtändliche, von der Vernunft gebilligte Formen; Gerichtshöfe, deren Aus⸗ 
ſpruch ein langes unbeflecktes Vertrauen faſt zum Range eines Ausſpruchs 
der Gerechtigkeit ſelbſt erhob: — das find die Grundpfeiler dieſes wohl ⸗ 
erworbenen Ruhmes. Am der Zeit zu trotzen, um ſich immer tiefer in ihr 
Fundament zu ſenken, bedürfen ſie nichts weiter als Schutz und 
Ruhe. Es iſt ein glorreiches Attribut des Monarchen, das Geſetz felbit- 
in ſeiner unverletzlichen Heiligkeit zu repräſentieren. Alles, was das An⸗ 
ſehen des Geſetzes untergräbt, Willkür in den Nechtsgang bringt und in 
der furchtbaren Geſtalt eines Machtſpruches den erſchrockenen Bürger aus 
der letzten Verſchanzung ſeiner Sicherheit zu vertreiben droht: alles das 
iſt für den Monarchen Selbſtentheiligung, Selbſtverletzung ſeiner eigenen 
höchſten Würde, und als ſolche nicht bloß aus den Maximen, ſchon aus 
den Neigungen eines großen und guten Königs verbannt.“ 

Vom Königtum ſelbſt droht uns auch heute noch zuletzt die Gefahr 
eines Nechtsbruchs. Aber die Könige herrſchen, fie regieren nicht. Darum 
kommt alles darauf an, daß der ganze Regierungsapparat, vom größten 
bis zum kleinſten Rade, auf dieſe Erkenntnis eingeſtellt wird. Sie ift in 
der Tat aller Regierungsweisheit letzter Schluß. And fo einfach! 


Goethes „Fauſt“ auf der Bühne 


Von 


Dr. Karl Storck 


In den Oſterfeiertagen dieſes Jahres wurde in Weimar der Ver— 
C {ud unternommen, Goethes Fauſtdichtung in möglichſt treuem 
N Anſchluß an die im Buche vorliegende Geſtalt des Werkes 
ON auf die Bühne zu bringen. Rarl Weifer übernahm den 
a geh Hermann Müllers, der die Fauſtdichtung in ein Viertage- 
werk zerlegte, und bietet nun das geſamte Werk in je zwei Aufführungen 
an zwei aufeinanderfolgenden Tagen. Das geht inſofern ſehr günſtig, als 
dann die Nachmittagsaufführungen mehr die gedankenhaften Teile, die 
Abendvorſtellungen das Dramatiſche im gewöhnlichen Sinne des Wortes 
umſchließen. Danach bringt alſo der erſte Tag in zweimal fünf Aufzügen 
den erſten Teil, und zwar am Nachmittag das Vorſpiel im Himmel und 
dann die Szenen bis zu Fauſts Verjüngung in der Hexenküche. Die Abend— 
vorſtellung umfaßt die Gretchentragödie einſchließlich der Walpurgisnacht. 
Der zweite Teil iſt fo geteilt, daß die erſte Szene in der anmutigen Alpen— 
gegend mit Ariel und Fauſts Erwachen als Vorſpiel behandelt iſt, dem 
der erſte und zweite Akt der Dichtung (auf drei Akte zerteilt) folgen. Von 
der Helenaepifode bis zum Schluß bildet dann im Anſchluß an die drei 
Aufzüge der Dichtung auch wieder ein dreiaktiges Bühnendrama. 

Bei dieſer Einteilung erkennt man ſofort die außerordentliche Schwierig— 
keit, der vor allen Dingen die Aufführung des erſten Teiles begegnen muß. 
Wir ſind von je her gewöhnt, die Gretchentragödie ſo als das Weſentliche 
des erſten Teiles behandelt zu ſehen, daß die der Verjüngung in der Heren- 
küche vorangehenden Szenen meiſtens möglichſt zuſammengeſtrichen werden. 
Nun füllen ſie hier ein ganzes Drama, das mit ſeinen fünf Aufzügen und 
dem Vorſpiel einen neunmaligen Szenenwechſel bedingt. Nur ausgezeich- 
nete Sprecher werden dieſen Teil auf der Bühne wirklich feindructs- 
voll zu geſtalten vermögen. Ich mache nun immer wieder, zumal wenn ich 
außerhalb Berlins einer Erſtaufführung beiwohne, die Beobachtung, daß 


416 Storck: Goethes „Zaufl auf der Bühne 


unſer Volk außerordentlich empfänglich ift für gedankenreiche und wort: 
ſchöne Dichtung, die ihm von der Bühne herab vorgetragen wird, daß es 
darüber gern ein weniger an Handlung in Kauf nimmt. Gelingt es dann 
noch, durch ſchöne Bühnenbilder dem Auge jenen Genuß zu verſchaffen, 
der gleichzeitig Beruhigung der Sinne bedeutet, ſo iſt mir um die Wir⸗ 
kung einer ſolchen Dichtung niemals bange, ſolange die Regiffeure darauf 
verzichten, mit Gewalt „Dramatiſches“ hineinzubringen, was heutzutage 
meiſtens dadurch geſchieht, daß Einzelheiten möglichſt ſcharf realiftifch 
unterſtrichen werden. In dieſen Fehler iſt man auch in Weimar verfallen 
und hat dadurch die Szenen in der Hexenküche in den Worten faſt un⸗ 
verſtändlich gemacht, während dann doch das Ganze zu lange dauerte, um 
durch die ſpukhafte Geſamterſcheinung nachhaltig zu wirken. Bei der Zer⸗ 
legung des zweiten Teiles wirkte als Widerſpruch die Trennung des 
Helena⸗Aktes von der klaſſiſchen Walpurgisnacht. Nach meinem Gefühl 
gehört die Helena⸗Epiſode unbedingt zu dieſer, auch bühnentechniſch, wo 
mit der Helena⸗Epiſode die vollkommen ſonnige Klarheit des antiken Lebens 
erſcheint nach den vorangehenden Zuſtänden, die von der düſteren Finſternis 
der Welt der Sphinxe, Sirenen, Greifen und Lamien über die allmäblich 
ſich aufklärende Welt der Flußgötter bis zur mythiſchen Schönheitsgeſtal⸗ 
tung der Galathea ſich fteigern. 

Doch es kommt mir hier weniger darauf an, die Aufführung in 
Weimar in ihren Einzelheiten zu beſprechen; ich benutze gerade dieſe Auf⸗ 
führung mehr als „Gelegenheit“ wegen der „allgemeinen“ Werte Weimars. 
Weimar iſt für uns geheiligter Boden. Es gibt keinen Ort in Deutſch⸗ 
land, der für unſer Drama ſo leicht den Charakter der Feſtſpielſtadt er⸗ 
halten könnte wie Weimar. Inſofern iſt der Gedanke von Bartels glück⸗ 
lich, gerade hierher die Jugendfeſtſpiele zu verlegen, gegen die ich ſonſt 
ſehr viele Bedenken auf dem Herzen habe. Nun hat Weimar ein neues 
Theater erhalten, einen ſehr ſchönen Bau, deſſen äußere Geſtaltung eine 
monumentale Erhöhung echt bürgerlicher deutſcher Bauweiſe bedeutet, deſſen 
Zuſchauerraum zwar etwas kühl vornehm wirkt, aber den großen Vorzug 
hat, daß von allen Plätzen vorzüglich geſehen werden kann, und daß der 
einzelne keine Störung durch die Mitbeſucher erfährt. Sicher iſt doch nun 
auch die Bühne mit den neueſten Maſchinen ausgeſtattet. Da aber iſt es 
notwendig, daß Leute an der Spitze ſtehen, die dieſe Einrichtungen auch 
wirklich fruchtbar zu machen wiſſen. Das iſt leider nicht der Fall. Es 
ſind für dieſe Bühneneinrichtung des Fauſt große Summen verausgabt 
worden; leider aber iſt alles im herkömmlichſten Schlendrian ſtecken ge⸗ 
blieben. Die ſzeniſchen Bilder waren Theaterbilder ſchlimmſter Art, ohne 
irgendwelchen perſönlichen künſtleriſchen Charakter. Warum hat man da 
nicht einige Künſtler mit dem Entwurf der ſzeniſchen Bilder beauftragt? 
Was hat z. B. gerade für eine Fauſtdichtung („Fauſts Verdammung“ 
von Berlioz) die in ihren Bühnenverhältniſſen ſo beſchränkte „Komiſche 
Oper“ in Berlin an herrlichen Bühnenbildern geſchaffen! Auch die Licht. 


Storck: Goethes „Gaufl“ auf der Bühne 417 


effekte arbeiten in abgebrauchteſter Art. And in den Koſtümen war zwar 
einzelnes gelungen, es wurde aber nicht der Verſuch gemacht, ihre Geſamt⸗ 
heit harmoniſch zuſammenzuſtimmen. 

Weiſers Beſtreben, die Szenenfolge Goethes beizubehalten, über⸗ 
haupt die „Bearbeitung“ lediglich als Kürzung aufzufaſſen, verdient gewiß 
volle Anerkennung. Aber man muß doch auch bedenken, wie furchtbar 
ſtörend ein fo raſch aufeinanderfolgender Szenenwechſel wirken muß, und 
deshalb den Verſuch machen, wenn irgend möglich, Bühnenbilder zu ſchaffen, 
die unter Amſtänden mehrere Szenen gleichzeitig umfaſſen können. Das 
iſt z. B. der Fall bei den drei Szenen: Spaziergang vor dem Stadt⸗ 
tore, Unter der Linde des Dorfes und Felſige Anhöhe. Bei geſchickter Ver⸗ 
wendung des Raumes muß es unſchwer gelingen, die Szene unter der Linde 
in den Vordergrund des Mittelteiles der Bühne zu ſtellen, während rechts 
ſeitwärts etwa in Mittelhöhe das Stadttor zu ſehen iſt; links ganz im 
Hintergrunde möglichſt hoch auf die Bühne geſtellt jene felſige Anhöhe, 
auf der Fauſt mit Wagner ſein Abendgeſpräch führt. Es bleibt das Ver⸗ 
hängnis unſerer meiften Bühnenregiſſeure, daß fie immer jeden Vorgang 
in der Mitte der Bühne ſpielen laſſen wollen. Das iſt zweifellos durch 
den älteren Bau unſerer Theater herbeigeführt worden, wo nur die Mitte 
von allen Plätzen aus einigermaßen zu ſehen iſt. Aber gerade das Wei⸗ 
marer Theater verbindet den Rang- und Logenbau fo glücklich mit der 
anſteigenden Parkettgeſtaltung, daß hier die ganze Bühne überſichtlich wird. 
Das nur als ein Beiſpiel, wie die Abernahme modernſter Bühnentechnik 
auch eine hohe Förderung des rein dichteriſchen Eindrucks bedeuten kann. 
Auf grundſätzliche Fragen, wie die Verwendung der Drehbühne, will ich 
mich hier nicht einlaſſen; daß man die von Devrient eingeführte Dreiteilung 
der Bühne preisgegeben hatte, kann ich nicht bedauern, — fie wirkte fremd⸗ 
artig und war doch auch ſehr gewaltſam für die Dichtung. Daß das 
Weimarer Schauſpieler⸗Enſemble vielfach einer Auffriſchung bedürfte, daß 
es gerade um die ſprachliche Kultur dieſer Schauſpieler recht ſchlecht be⸗ 
ſtellt iſt, ſo daß man eigentlich auf dieſer Bühne Anklänge an ſämtliche 
Mundarten unſeres lieben Vaterlandes hören kann, ſei nur aus dem Wunſche 
heraus bemerkt, daß Weimar eine Muſterbühne unſeres klaſſiſchen Dra⸗ 
mas bleiben muß, weil es berufen iſt, der ruhende Pol in der Flucht der 
Erſcheinungen unſeres allzu aufgeregten Literaturlebens zu ſein. 

Frägt man nach dem Geſamteindruck des zweitägigen Feſtſpiels, fo 
hat unbeſtreitbar der zweite Teil einen ſtärkeren Eindruck gemacht als 
der erſte. Ich meine natürlich als Ganzes; die Gewalt der Gretchen⸗ 
ſzenen iſt ja nicht zu überbieten. Aber als wirklich erfreuliches Ergebnis 
dieſer Aufführung tft feſtzuhalten, daß auch bei einer keineswegs über⸗ 
wältigenden Darſtellung, ſofern man nur den Dichter nicht zu verdeutlichen 
ſtrebt, ſondern ruhig die Dichtung wirken läßt, der zweite Teil, wenn 
er im nahen Zuſammenhang mit dem erſten dargeboten wird, freudige 
Aufnahme und ſicheres Verſtändnis findet. Man hat ja lange 

Der Türmer X, 9 27 


418 Storck: Goethes ,Fauft auf der Bühne 


Zeit hindurch dieſen zweiten Teil überhaupt für unaufführbar gehalten. 
Dagegen halte man die Tatſache, daß Eckermann — doch zweifellos auf 
die Einwirkung Goethes hin — dieſen zweiten Teil für bühnengerechter 
hielt als den erſten, wie denn auch die ganze äußere Einteilung der Dich⸗ 
tung im Buche beim zweiten Teil mehr der Bühne gemäß ift als im erſten. 

Dieſe Scheu vor dem zweiten Teil des Fauſt, die ja ſeltſamerweiſe 
in weiten Kreiſen auch gegenüber dem Buche beſteht, iſt ſicher eine Folge 
jener Erklärungswut der Goethephilologen, die Fr. Th. Viſcher ſo er⸗ 
götzlich verſpottet hat. Es iſt das Verhängnis der Kleinarbeit dieſer 
Männer, daß ſie den Blick vom Ganzen immer mehr aufs einzelne gelenkt 
haben, daß ſie jedem Worte, jeder kleinſten Beziehung nachſpürten, dieſe 
vorlegten und ſo den Leſer ſchließlich mit einer Anmaſſe von Material 
überhäuften, gegen das er ſich nicht mehr wehren konnte. Es entſteht dann 
eine ähnliche Einſtellung wie in der Schule etwa bei der Homerlektüre, 
wenn ungeſchickte Lehrer einen dahin peinigen, daß jede kleine Füllfilbe mit 
befonderen Namen bezeichnet wird, und nun jedesmal der Schüler feſt⸗ 
ſtellen ſoll, um welche Art der Verwendung dieſer Silbe es ſich in dieſem 
Falle handelt. Aus lauter Angſt vor den Fußangeln der tiefſinnigen Be⸗ 
ziehungen in den Einzelverſen dieſes zweiten Teiles des Fauſt, aus Furcht, 
irgendeine Einzelheit nicht zu verſtehen, verbohrt ſich der Leſer ins ein- 
zelne, verliert darüber den Zuſammenhang und gibt am Ende das Ganze 
auf. Mir iſt oft von anderen die eigene Erfahrung mit dem zweiten Teil 
der Fauſtdichtung beſtätigt worden, daß man ihn erſt als Gymnaſiaſt mit 
den Erläuterungen von Düntzer oder irgend einem anderen mühſelig durch⸗ 
ackerte, dabei im günftigften Falle ſich eine Reihe einzelner Schönheiten 
rettete; nach einiger Zeit dämmerte allmählich aus der Wirrnis dieſer Emp⸗ 
findungen doch jene große Linie der Geſamtentwicklung auf, an der man 
ſich dann zum tiefen Lebensevangelium dieſer Dichtung hindurchfand. Nach⸗ 
her kam man dahin, eine Ausgabe zu wählen, die überhaupt keine An⸗ 
merkungen hatte, und freute ſich nun, daß man auch ohne ſolche Anmer⸗ 
kungen alles Weſentliche ſehr gut verſtand. Zuletzt wurde man dann auch 
noch des Altersſtils der Goethiſchen Sprache Herr. Man erkannte, daß die 
ſinnliche Anſchauungs kraft dieſes Dichters nicht nachgelaſſen hatte. 
Mit außerordentlicher Plaſtik ſtehen einem nun ſelbſt die Vorgänge der 
klaſſiſchen Walpurgisnacht vor Augen; mit genialer RNaumkunſt iſt das 
alles geſtaltet, und je weniger man ſich um das einzelne Wort kümmert, 
um ſo lebendiger treten alle dieſe zuerſt ſo ſchemenhaften Geſtaltungen aus 
dem Dunkel hervor zu lebendiger, lebenſprühender Sinnlichkeit. Dieſe Arbeit 
der Verſinnlichung hat die Bühne zu leiſten. And ſie kann ſie leiſten. 

Schier gleichzeitig mit der Aufführung in Weimar hat Alfred 
Freiherr von Berger in Hamburg den zweiten Teil des Fauſt auf 
die Bühne gebracht. Er hat über die Art ſeiner Bearbeitung im „Tag“ 
berichtet. Was er hier fagt, ſcheint mir fo bedeutſam, daß ich es auszugs⸗ 
weiſe hier mitteilen möchte. 


Storck: Goethes „Fauſt“ auf der Bühne 419 


„Wenn der zweite Teil des „Fauſt“ von der Bühne herab Geift und 
Gemüt des Publikums ergreifen ſoll, ſo heißt es vor allem die eigentlich 
dramatiſchen und menſchlichen Elemente und Motive, die den labyrinthi⸗ 
ſchen Organismus des Gedichts wie verborgene Nervenſtränge durchziehen, 
kräftig zur Geltung bringen. Das kann nur gelingen durch lebendigſte 
Darſtellung der Geſtalten und Vorgänge in ihrem nackt⸗buchſtäblichen Sinne. 
Der Regiſſeur muß an das Stück, der Schauſpieler an feine Rolle heran— 
treten, als ob er von einer ſymboliſchen oder allegoriſchen oder ſonſtwie 
uneigentlichen Bedeutung des ganzen Werkes und ſeiner Einzelheiten nie 
etwas gehört hätte 

„Fauſt“ muß inſzeniert und geſpielt werden, fo naiv wie nur irgendein 
Wirklichkeitsdrama oder wie ein dramatiſiertes Volksmärchen, freilich mit 
Aufgebot aller verſinnlichenden und beſeelenden Kräfte und Künſte, über 
welche das Theater verfügt. Wenn die märchenhaften Geſtalten lebendig 
werden, wenn die Begebenheiten rein durch ſich ſelbſt intereſſieren und 
ſpannen, dann werden ſie auch in der Seele des Zuſchauers Gedanken 
ſchwingen laffen, die über das unmittelbar Geſchaute und Miterlebte hinaus- 
reichen und ihm die Stimmung des Chorus mysticus mitteilen, in dem das 
Gedicht aushallt: „Alles Vergängliche iſt nur ein Gleichnis.“ Nicht ein⸗ 
treten aber wird dieſe höchſte und zarteſte Wirkung, wenn Regiſſeur und 
Schauſpieler ſich bewußt bemühen, die tiefſinnigen, geheimnisvollen Ideen 
durch die fie angeblich ſymboliſierenden Geſtalten und Vorgänge bindurch- 
ſcheinen zu laſſen; denn dann dürfen fie dieſen keine Realität verleihen, 
keine leuchtenden Farben, keine entſchiedenen Amriſſe, ſondern fie müſſen 
ihnen eine gewiſſe Durchſichtigkeit belaſſen, die Verſchwommenheit, Bläſſe 
und Weſenloſigkeit, durch welche ſich unwirkliche Abſtrakta von lebendigen 
Geſchöpfen unterſcheiden. Das praktiſche Ergebnis aber wird, allem ver- 
ſchwendeten Geiſt und künſtleriſchen Prunk zum Trotz, dann doch nur 
höhere Langeweile ſein. Denn auf der Bühne intereſſiert ein und für alle⸗ 
mal nur das Lebendige; der normale Zuſchauer erfaßt nur Gedanken, die 
ihm durch feine ſchauenden Augen und durch fein mitfühlendes Herz un- 
bewußt eingeflößt werden, und lehnt die Zumutung ab, die dramatiſchen 
Vorgänge wie eine Hieroglyphenſchrift angeſtrengt zu entziffern und zu ent⸗ 
rätſeln. 

Iſt es aber überhaupt möglich, den zweiten Teil des ‚Fauft‘ fo auf⸗ 
zuführen, daß er wie ein gewöhnliches dramatiſches Märchendrama (etwa 
wie die „Verſunkene Glocke“ rein durch ſich ſelbſt, ohne jeden Seitenblick 
auf den philoſophiſchen Tiefſinn, der ſich hinter der Dichtung verſteckt, leb⸗ 
haft intereſſiert? 

Ich glaube, ja. Die Vorarbeit für dieſe Leiſtung wird der Drama⸗ 
turg vollbringen müſſen. Dieſer wird das Märchendrama, das der ver- 
wickelten, weitläufigen und unüberſichtlichen Kompoſition des problematiſchen 
Ganzen zugrunde liegt, klar zu erfaſſen und mit energiſcher Hand, unter 
Beſeitigung alles verwirrenden Beiwerls, freizulegen haben. Ein ſolches 


420 Storck: Goethes ,Fauft? auf der Bühne 


Drama mit zuſammenhängender Fabel iſt im zweiten Teil des „Fauſt“ in 
der Tat vorhanden. Der allgemeine Umriß dieſer Fabel läßt ſich mit 
wenigen Worten erzählen. Der zweite Teil ſchildert die ſtufenweiſe Be⸗ 
freiung einer großen Menſchenſeele von ſataniſcher Amſtrickung durch eigene 
Kraft und höhere Hilfe, während der erſte Teil des Gedichts darſtellt, wie 
dieſe große Menſchenſeele in die Gewalt des Satans gerät und, von den 
hölliſchen Mächten immer feſter und enger umſchnürt, ihnen zum Schluß 
hoffnungslos verfallen ſcheint. 

Iſt einem einmal dieſe Urfabel des zweiten Teils des ‚Fauft‘, groß 
und leuchtend in ihrer menſchlichen Tiefe und Schönheit, aufgegangen, dann 
vollzieht ſich bei aufmerkſamem und wiederholtem Studium des Goetheſchen 
Gedichtes der Prozeß der „Bearbeitung“ des Textes wie halb von ſelbſt. 
Als unweſentlich fällt alles weg, was nicht auf fie Bezug hat, und macht⸗ 
voll treten die entſcheidenden Wendepunkte in der Entwicklung des inneren 
Verhältniſſes von Fauſt zu Mephiſtopheles hervor. Von Szene zu Szene, 
von Akt zu Akt läßt ſich dann verfolgen, wie die Macht, die der Teufel 
über Fauſt gewonnen hat, Stück für Stück abſtirbt und fic von ihm löſt, 
bis Fauſt im Moment ſeines Sterbens mit dem Geiſt, der ſtets verneint, 
mit dem Verlocker zu niedrigem Genuß, mit dem Verſucher zu mannig⸗ 
faltigem Verbrechen, ſooft er ihm auch erlegen iſt und noch immer erliegt, 
und obwohl er ſich ihm vorzeiten mit Leib und Seele verſchrieben hat, nichts 
mehr gemein hat. 

Wer dieſen dramatiſchen Grundgedanken feſthält, der wird dem 
Drama, das der zweite Teil in ſich verbirgt, mühelos zu klarer Anſchau⸗ 
lichkeit und folgerichtigem Zuſammenhang verhelfen können, denn er befist 
in ihm das Prinzip, nach welchem die Ausleſe der verbleibenden Beſtand⸗ 
teile von dem zu Streichenden erfolgen muß. Sache des Regiffeurs iſt es 
alsdann, die entſcheidenden großen Momente im Verlauf der ffiggierten 
Grundfabel mit höchſter Prägnanz herauszuarbeiten, fo daß fie dem Zu⸗ 
ſchauer den Entwicklungsweg, den Fauſt durchmißt, ſinnfällig bezeichnen.“ — 

Bergers Einrichtung hat nach den Hamburger Berichten dort ſehr 
großen Eindruck gemacht. Leider ſagt uns der erprobte Dramaturg nichts 
über die Art, wie er ſich die Verwertung der Muſik denkt. Wir wiſſen 
von Goethe, daß er der Muſik in ſeinem Fauſt eine ſehr große Aufgabe 
zuwies, daß er für Fauſt und Helena ſogar an je zwei Darſteller dachte, 
weil der Fall zu ſelten ſei, daß Schauſpieler genügend ſingen könnten. 
Wir werden unſererſeits kaum an ein ſolches Übergehen aus Schauſpiel in 
Oper denken; wohl aber ſcheint mir Goethes Fauſt die größte melo⸗ 
dramatiſche Aufgabe zu ſein, die es überhaupt gibt. Das in über⸗ 
zeugender Weiſe dargetan zu haben, iſt das Verdienſt Felix Wein 
gartners, der zur Aufführung in Weimar eine ganz neue Muſik ge 
ſchrieben hat. Wohl verſtanden, ich kann mich für dieſe Muſik ſelbſt nicht 
begeiſtern, aber die Art ihrer ſtiliſtiſchen Verwendung im Ganzen ſcheint 
mir von erlöſender Bedeutung zu ſein. Sie iſt dramaturgiſch meiſterhaft. 


Storck: Goethes ,Fauft’ auf der Bühne 421 


Weingartners tonſchöpferiſche Kraft iſt niemals von ſtarker Arſprünglichkeit 
geweſen und ſcheint mir im Laufe der Zeit ſich immer mehr abgeſchwächt zu 
haben. Es iſt vielfach unbegreiflich, mit welcher Unbefangenbeit er das 
thematiſche Material aus ganz bekannten Werken verwendet, wobei dann 
Mendelsſohn und Richard Wagner in holdeſter Eintracht nebeneinander 
aufmarſchieren. In der Hinſicht iſt es nun in dieſer Fauſtmuſik ſehr ſchlimm. 
Am ſchlimmſten vor der großen Brockenſzene, wo man denken könnte, es 
handele ſich nicht um den Ritt der Hexen, ſondern um das Heranmarſchieren 
von Turnvereinen bei allerlei Regimentsmuſik. Schön ſind von aus⸗ 
geführten Stücken eigentlich nur einzelne Chorſätze, zumal unter denen für 
Frauenſtimmen. Ganz hervorragend aber iſt die Stimmungskunſt durch 
einzelne Töne und Akkorde. Vor allem meiſterhaft, wie die Muſik einſetzt 
und verklingt. Gerade in dieſer Hinſicht ließen alle bisherigen Fauſt⸗ 
muſiken ſehr viel zu wünſchen übrig. 

Mir will nun überhaupt ſcheinen, als ſollte man von nun ab weniger 
daran denken, eine neue Fauſtmuſik zu ſchaffen, als aus den vorhandenen 
Kompoſitionen das auszuwählen, was am beſten der Dichtung dient. Wir 
wollen nicht vergeſſen: es ſoll ja kein Muſikdrama „Fauſt“ entſtehen. 
Die Muſik ſoll hier dienen, ſie ſoll dazu dienen, die Dichtung Goethes zu 
verſinnlichen, unſerem Empfinden näherzubringen. Damit das erreicht werde, 
muß die Muſik mehr aus der Szene herauskomponiert werden; auch die 
umfänglichſte ſinfoniſche Einlage muß ſo wirken wie das einzelne kleine Lied, 
etwa vom „König in Thule“: als etwas in ſich Fertiges, in ſich Ge⸗ 
ſchloſſenes, das hier verwendet wird, das nicht eben erſt entſteht. Die 
Muſik darf nur Gelegenheitsmuſik ſein, wenigſtens, ſobald ſie mit dem 
Worte verbunden auftritt. Da der Dichter ſeinen Fauſt ſo geſchaffen hat, 
daß er hier im Worte alles ſagt, was zu ſagen iſt, darf die Muſik nie 
mehr ſein als eine Erhöhung, als die naturgemäße Deklamation des 
Wortes. Die naturgemäße Deklamation eines Liedes iſt die Melodie. 
Der geſprochene „König von Thule“ iſt ſinnwidrig; Gretchen ſingt das 
Lied, fie fpricht es nicht. Und fo muß es nun auch mit den anderen Teilen 
ſein. Die Sprache der Geiſter ſteht über der irdiſchen Sprache, iſt anders 
als Menſchenrede. Darum laſſe man ſie irgendwie von Tönen begleitet, 
irgendwie geſungen oder rezitiert fein. Darüber hinaus iſt Gelegenheit vor- 
handen für ſelbſtändige Muſikſtücke. Der Tanz unter der Linde iſt eine 
ſolche. In höherem Maße noch das Feſt am kaiſerlichen Hofe. Ich fand 
das hier ganz geſchickt, wie man in Weimar dieſen bunten Maskenaufzug 
ganz als Ballett behandelte. Nur ſchien man mir inſofern zu weit zu 
gehen, als nun jedes dichteriſche Wort wegblieb. Wozu hat Mephiſto ſich 
in die Heroldsmaske geſteckt, wenn er nicht, wie das ja ſo oft bei alten 
Balletts der Fall war, die erklärende Deutung für die auftretenden Masken 
übernimmt? Das ließe ſich ſehr leicht ohne jegliche Behemmung des ge⸗ 
ſamten, in der Pantomime recht lebendig wirkenden Bildes machen. Zu 
großer muſikaliſcher Charakteriſtik gibt ferner Anlaß die romantiſche Wal- 


422 Storck: Goethes ,Fauft? auf der Bühne 


purgisnacht, vor allen Dingen das Heranbrauſen der Hexen und der Schluß, 
wenn Mephiſto und Fauſt zur Rettung Gretchens davonjagen. And end⸗ 
lich muß muſikaliſch verklärt ſein der Schluß des ganzen Werkes. 

Ich meine nun, man ſollte hier einmal ganz dramaturgiſch vorgehen 
und aus der vorhandenen Muſik das Beſte herüberholen, wonach es dann 
eines fo geſchickten Mannes wie Weingartners Aufgabe wäre, die Su- 
ſammenſchmelzung dieſer verſchiedenen Teile zu ſchaffen. Die Oſtermuſik 
des Fürſten Radziwill iſt ſehr ſchön. Hübſcher als Laſſen die Tanz⸗ 
ſzene bei der Dorflinde gemacht hat, iſt ſie ſeither auch noch nicht wieder 
geſchaffen worden. Zelters Melodie vom „König in Thule“ hat auch 
Weingartner übernommen. Weniger freiwillig iſt er in rhythmiſcher und 
melodiſcher Hinſicht bei Mephiſtos Ständchen in der Formgebung von 
Berlioz ſtecken geblieben. Ach, hätte er uns nur bei der Brockenſzene 
die ganze Muſik von Berlioz gebracht! Dämoniſcher als dieſer kann ja 
doch keiner ſchreiben. Und gerade der Ritt vom Blocksberg nach Gretchens 
Gefängnis iſt eine der genialſten Eingebungen des Franzoſen. Für den 
Schluß denke ich vor allen Dingen an Schumann. Was ich hier aus⸗ 
führe, klingt natürlich ſehr ſtilwidrig. Aber es käme doch auf den Verſuch 
an. Ich glaube, er würde ſich lohnen. Das jetzt immer ſo unglaublich 
wirkende Sprechen des Homunculus ließe ſich mit Hilfe des Grammophons 
ſehr ſchön bringen. Der Apparat käme in die Flaſche; durch elektriſche 
Verbindung läßt ſich das Abrollen der Walze regeln. So kommt die 
Stimme wirklich aus der Flaſche hervor. 

Es ſteht ein ſo herrliches Ziel vor, daß man auch vor zunächſt etwas 
gewaltſam ſcheinenden Mitteln nicht zurückſchrecken ſollte, um es zu erreichen. 
Goethes ganzer Fauſt muß Volksgut werden. Daß er es mit Hilfe der 
Bühne werden kann, ſcheint mir zweifellos erwieſen. Von den genannten 
Komponiſten wollte ein jeder an ſeinem Teile dieſem Ziele zuarbeiten. 
Es iſt ja nicht ausgeſchloſſen, daß es einem einzelnen Muſiker gelingt, die 
große Aufgabe zu löſen; ich fürchte nur immer, er wird der Verlockung 
nicht widerſtehen können, aus den Stücken, die zu ſchaffen ihn die Dichtung 
beruft, ein Ganzes machen zu wollen, wodurch die Dichtung als ſolche 
wieder zurückgedrängt werden muß. So wäre einmal der Verſuch zu wagen, 
aus dem Vorhandenen das Geeignete auszuwählen und der Dichtung die 
Kraft des Zuſammenhaltens zuzutrauen. Denn ſtärker gehen auch die ge⸗ 
nannten muſikaliſchen Beſtandteile ſtiliſtiſch nicht auseinander, als die ein⸗ 
zelnen Teile der Dichtung. Hier freilich mit vollem Willen des einen 
gewaltigen Schöpfers, der in ſich die Kraft wußte, durch die Größe des 
Grundgedankens und der innen liegenden Entwicklung das Auseinander- 
ſtrebende wieder zuſammenzuzwingen. 


Prinz Emil zu Schönaich⸗Carolath + 423 


Prinz Emil zu Schönaich⸗Carolath + 


4 L ls ich zum 8. April des Jahres 1902, dem 50. Geburtstage Schön- 
Jaich ⸗Carolaths, an eben dieſer Stelle dem Dichter und dem 
Menſchen meine Huldigung darbrachte, ahnte ich nicht, daß ich fo 
bald ſchon in die Lage verſetzt werden würde, ihm den Nachruf zu halten. 
Daß der „Kranz aus Lenzes tagen“, von dem der Dichter in feinem „Abſchied“ 
ſingt, ſo bald ſchon in letzten Liedern heimwärts getragen werden ſollte — zu 
Gott empor! Als ich im Januar des genannten Jahres in Haſeldorf weilte, 
fand ich den Prinzen anſcheinend in voller körperlicher und geiſtiger Friſche 
und Geſundheit. Ein Zug tiefen Ernſtes und die ſtrenge Enthaltung von den 
Tafelfreuden, die er ſeinen Gäſten ſo liebreich zu gönnen pflegte, fielen mir 
nicht ſonderlich auf, da ſie mir im Einklang mit ſeinen Lebensanſchauungen zu 
ſtehen ſchienen. Und doch waren es wohl damals ſchon beginnende körperliche 
Leiden, die ihren Schatten auf die freundlichen Züge warfen. Prinz Schönaich⸗ 
Carolath iſt nie von ſehr robuſter Geſundheit geweſen. Schmerzliche Er- 
fahrungen im Liebesleben, die in den ergreifenden „Liedern an eine Ber 
lorene“ ihren dichteriſchen Niederſchlag gebildet haben, rüttelten an der 
zarten Geſundheit des Jünglings. Die leidenſchaftliche Ausübung des Jagd- 
und Reiſeſportes, in denen er Vergeſſen ſuchte, mag das ihre dazu beigetragen 
haben, die Wurzeln ſeiner Lebenskraft zu lockern. Jahrelanger Aufenthalt im 
Süden, in Davos, in Gries bei Bozen, in Italien war erforderlich, um die 
erſchütterte Geſundheit wieder herzuſtellen. Eine große Empfindlichkeit gegen 
Witterungseinflüſſe und eine Dispoſition zu Erkrankungen der Luftwege blieben 
indeſſen zurück. Zu dieſen allgemeinen Bedingungen des Schwankens der Ge- 
ſundheit geſellte ſich ein wahrſcheinlich unbemerkt ſchon längere Zeit beſtehendes 
örtliches Leiden, das im verfloſſenen Jahre wiederholte Operationen notwendig 
machte. Zu dieſem Zweck befand ſich der Dichter längere Zeit im „Helenen 
ſtift“ in Altona. Was ärztliche Kunſt vermochte, das Leiden zu beſeitigen, 
und als ſich dies als unmöglich erwies, es doch zu lindern, iſt geſchehen. Mit 
welcher Geduld und Faſſung Prinz Schönaich ⸗Carolath fein langes und qual- 
volles Leiden ertragen hat, iſt wahrhaft bewundernswert. Obwohl ich beinahe 
bis zu ſeinem Ende in brieflicher Verbindung mit ihm geblieben bin, wüßte 
ich doch von keinem einzigen Wort der Klage zu berichten, das ſeiner Feder 
entfloſſen wäre. Wie er ſein Leben als ſittliche Aufgabe erfaßte, ſo war ihm 
auch das Sterben die Erfüllung einer gottgewollten Beſtimmung. Ein ernſter, 
notwendiger Übergang zu höheren Daſeinsformen, an die er glaubte. And in 
großartiger Beſtätigung dieſer feiner religidfen Weltanſchauung blieb er bis 
zuletzt, ſozuſagen bis zum letzten Atemzuge, dem Grundſatz treu, an andere zu 
denken, an fremden Leiden Anteil zu nehmen und für deren Linderung beſorgt 
zu ſein. Ergreifend und zugleich erhebend war es, zu ſehen, wie der Sterbende 
noch ſeiner zahlreichen Schützlinge gedachte, und wie es ihm ſchwer fiel, nicht 
mehr die volle Kraft zum Wohltun zu beſitzen, die er ſo lange geübt hatte. 
Gleich einem frommen chriſtlichen Ritter aus der glorreichen Zeit der Kreuz ⸗ 
züge ſteht Prinz Emil zu Schönaich ⸗Carolath in der blanken Rüſtung feines 
tapferen Geiſtes vor uns, auf dem weißen Mantel das Kreuz, die Blicke zum 
heiligen Grabe gerichtet. Nun darf er * mit Augen ſchauen: Jeruſalem, die 
hochgebaute Stadt 


424 Pring Emil zu Schönaich Carolath + 


Am 27. April des Jahres noch ſandte mir der Sterbende ein letztes 
„herzliches Gedenken“. Am 30. April ſchloß er die gütigen, ſonnigen Träumer 
augen zum letzten Schlaf. 

Nicht ohne Abſicht verweilte ich bei der edlen Art dieſes Sterbens, das 
die natürliche Krönung eines edlen Lebens iſt. An der Art, wie der Dichter 
aus unferer Mitte ſchritt, bewährt ſich die Einheit feiner fittliden und künſt⸗ 
leriſchen Perſönlichkeit. Die blaſſen, kühlen Hände des Schmerzes waren es, 
die uns in feinen „Liedern an eine Verlorene“ die erſten tauigen Blüten 
feiner Dichtkunſt boten. Der Schmerz ſtand am Eingang zum Leben Schönaich ⸗ 
Carolaths, und er geleitete ihn auch zum Ausgang. And an der Seite des 
Schmerzes, ihm nahe verwandt, ſtand der heilige Ernft. Mit blendenden for- 
malen Mitteln ausgerüftet, entglitt der Dichter nie in die ſchillernden, lockenden 
Niederungen der Formſpielerei. Davor bewahrten ihn die Genien des Lebens 
ſchmerzes und des Lebensernſtes, die ihn durch ſein Leben geleiteten. Frei 
von jenem Üfthetentum und Hyperäſthetentum, das feine Tempel außerhalb 
der ſittlichen Welt aufzubauen trachtet, glänzende, trügeriſche Bauwerke, die 
zu Schutt zuſammenſinken, deren Trümmer mahnend und warnend im Inſelreich 
des Schönen verwildern, hat Schönaich ⸗Carolath ſtets tief die Einheit der ethi 
ſchen und äſthetiſchen Welt, die Einheit von Kunſt und Leben und den herben, 
zwingenden Ernſt der ſittlichen Poſtulate in ſich empfunden. Bewahrte ihn 
dies einerſeits vor den Fallſtricken der Artiſtik, die gerade zu ſeiner Zeit ihre 
höchſten Triumphe in der Weltliteratur feierte, ſo bedingte es andererſeits auch 
feine Treue gegenüber dem Tatſächlichen, feinen objektiven Sinn, jene ſpezifiſche 
Miſchung von Romantik und Realismus, die für ihn charakteriſtiſch iſt. Der 
Lebensernſt erweiſt fic hier als Quell auch des künſtleriſchen Ernſtes, den wir 
faſt bei allen namhaften ſchleſiſchen Dichtern antreffen: Joſeph v. Eichendorff, 
Strachwitz, Guſtav Freytag, Gerhart Hauptmann. In dieſer Beziehung iſt 
Schönaich ⸗Carolath, der neben Eichendorff der größte ſchleſiſche Lyriker iſt, ein 
treuer Sohn der ſchleſiſchen Erde. 

And da ich hier gerade von der nationalen Note rede, ſo ſei auch gleich 
der Stellung Schönaich ⸗Carolaths zum Deutſchtum gedacht. Was ich ihm, 
zumal wegen ſeiner engen Familienbeziehungen in Dänemark, hoch anrechne, 
iſt feine ſtramm deutſch⸗ nationale Geſinnung, die allerdings den Auswüchſſen 
des Alldeutſchtums ablehnend gegenüberſtand. Deutſchland war ſeinem Herzen 
über alles teuer, nicht nur in ſeinem bürgerlichen Frieden, für den er ein ſo 
tiefes poetiſches Empfinden hatte, nein auch als das kämpfende Deutſchland, 


von dem er einſt ſang: 
„Du lebſt und ſchwärmſt und dämmerſt 
In tiefer Seelenruh’, 
Wenn du dein Eiſen hämmerſt, 
Erklingt ein Lied dazu.“ 


Das Deutſchland, deſſen ländliche Jungmannſchaft er im Gedicht 
„Schleswig :- Holſtein“ mit den Worten begrüßt: 
„Ihr Auge blitzt, die Wange lacht 
So friſch wie Milch und Noſen. 
Wenn's einmal unten im Weſten kracht, 
Dann dreſchen wir die FranzoſenC 
Heimat und Vaterlandsliebe atmen auch feine wundervollen, fehn- 
ſüchtigen Heimwehlieder, die einem das Herz ſo weh und ſo weit machen. 
Anter den Dichtern des Heimwehs nimmt er eine der erſten Stellen ein. 


Pring Emil zu Schönaich - Carolath + N 425 


In der Lyrik und im lyriſchen Epos ruht die Hauptbedeutung des 
Dichters Schönaich ⸗Carolath. Seine Lyrik iſt voll Leidenſchaft, Schwung und 
formaler Pracht. Voll köſtlichen Stimmungszaubers, aber auch ſtrotzend von 
Wirklichkeit und Wahrheit. Die Grundſtimmung iſt oft romantiſch, nicht ſelten 
phantaſtiſch, aber der im Wahrheitsdrange und in der Lebenstreue wurzelnde 
Realismus ritzt ſcharfe Linien in die bewegten Bilder und bewahrt fie vor 
Verſchwommenheit. Was Upland von Dante ſagt: Poeſie, die der Blitz in 
den Felſen geſchlagen hat: — das kann auch von Schönaich ⸗Carolaths Dichtung 
geſagt werden. Stil, Material, alles iſt bei ihm ſtreng und groß. Selbſt in der 
Entſagung, die fi) ſonſt gern in Tränenſchleier hüllt, iſt bei ihm nichts Weich⸗ 
liches, nichts Sentimentales. Im „Feldweg“, dieſem pſychologiſch bedeutſamen 
Gedicht, in welchem der Dichter mit ſeinem Lebensglück abrechnet, heißt es: 

„Ich aber will mit leergebliebner Sand 
Dich ſegnen, Glück, das einem andern reifte, 
And will die Stirn, die finftre, blisgeftreifte, 
Aufrichten ſtill zum ewigen Ernteland.“ 

Der objektive Ernſt, der die Tatſachen als ideale Notwendigkeit hin- 
nimmt, ſchlicht und ohne alle Poſe, und fie ebenſo auch getreulich wieder. 
zuſpiegeln beſtrebt ift, das iſt der eine große Pol der menſchlichen und Hinft- 
leriſchen Perſönlichkeit Schönaich ⸗Carolaths. Und der Hinblick auf das ewige 
Ernteland, das iſt der andere. Der Glaube an ein ſolches ewiges Ernte- 
land, zu dem wir unſere Garben tragen, ſtand felſenfeſt in ihm. Ich erinnere 
mich, daß einmal von einem Menſchen zwiſchen uns die Nede war, der ſeinem 
Leben, um peinvollen Verwicklungen aus dem Wege zu gehen, gewaltſam ein 
Ende machen wollte. „Ach Gott,“ ſagte er da, „das wird ihm gar nichts helfen 
und feine Lage nur verſchlimmern“. Das fagte er wie etwas ganz Gelbft- 
verſtändliches. So feſt war er davon überzeugt, daß man die Kette der 
moraliſchen Verantwortlichkeiten, den Gang der fittlichen Entwicklung, der zur 
Höhe führen muß, nicht willkürlich abbrechen dürfe noch könne. 

So ſehen wir denn, daß die Lyrik Schönaich ⸗Carolaths ernſt, wahr, 
herzwarm und prunkvoll zugleich iſt. Im Liede teilt er ſich mit Eichendorff 
in den Lorbeer; in der Ballade — man gedenke der prächtigen Landsknechts⸗ 
lieder! — zeigt er die Gedrungenheit und Wucht C. F. Meyers; im Land ſchaft⸗ 
lichen — es ſei nur an die meiſterliche Koloriſtik in „Fatthüme“ erinnert — 
übertrifft er Lenau und Freiligrath; in den Sonetten ſtellt er ſich neben die 
Klaſſtker und neben Platen. And wenn er ſich auch in den größeren epifd- 
lyriſchen Dichtungen, wie „Don Juans Tod“, vielleicht durch Byron be- 
einflußt zeigt, fo gilt das wohl nur in formaler Beziehung. In der Ideen ⸗ 
welt zeigt ſich Schönaich Carolath auch hier vollkommen ſelbſtändig. 

In der Entwicklung des Dichters iſt eine ſtetig aufſteigende Linie wahr · 
nehmbar. Das gilt nicht nur für feine Lyrik, ſondern auch für feine Er- 
zählungskunſt. Von den „Geſchichten aus Moll“, die ein „Stück ver- 
ſteinter Herzensgeſchichte“ genannt worden find, über die ſoziale, ſtark an- 
klagende Novelle „Bürgerlicher Tod“ hinweg bis zum Meiſterwerk, der 
Novellenſammlung, enthaltend die drei Erzählungen „Der Freiherr“, 
„Regulus“ und „Der Heiland der Tiere“, kann man dieſe Linie ver- 
folgen. Hier ſehen wir Schönaich ⸗Carolath auf feiner Höhe angelangt. Hier 
iſt die letzte, die große Garbe, die er fürs ewige Ernteland gebunden hat. 
Wer feine ganze Ernte, alle feine Garpen kennen lernen will, dem iſt dazu 


426 Helden 


jetzt gute Gelegenheit geboten. Die letzte Tat des fterbenden Dichters war 
die Veranſtaltung der ſiebenbändigen Ausgabe ſeiner „Geſammelten Werke“, 
die ſeinen Namen in die fernen Zeiten tragen werden. Daß es ihm noch ge⸗ 
gönnt war, dieſe Herausgabe ſelbſt zu beſorgen, war nicht nur ein Troſt für 
ihn, ſondern auch ein Glück für uns alle. Mag dieſer Schatz von Geiftes- 
hoheit und Güte recht vielen deutſchen Herzen zugänglich werden! Wer die 
Geſamtausgabe ſich nicht anzuſchaffen vermag, dem wird auch die neue Aus- 
wahl mit dem Titel „Fern ragt ein Land“ ... gute Dienfte tun. (Sämtliche 
Schriften erſchienen in der Göſchenſchen Verlagshandlung in Leipzig.) 

Wir haben viel an Schönaich Carolath verloren, der unſer Stolz und 
eine Zierde unſeres deutſchen Schriftſtellerſtandes war. Aber an der Wende 
dieſes ſtolzen und ſchönen Lebens ziemt uns keine Klage, ſondern Dank und 
Freude, daß wir es unſer nennen durften. Dieſer Dank wird von vielen 
von uns nicht nur als eine objektive, ſondern auch als eine perſönliche Pflicht 
empfunden werden, was ihn nicht ſchmälert. Was Schönaich ⸗Carolath Gutes 
unter uns gewirkt hat, das hat kein Geſchichtsſchreiber feſtgehalten, aber es 
wird nach innerer Geſetzmäßigkeit Gutes weiterwirken in alle Zeit hinein. 
Tapfer, treu und unabhängig von Haß und Begierde, unabhängig auch vom 
gedankenloſen, oberflächlichen Urteil des Tages, ſtand er allzeit wie ein ge 
panzerter und ſchwertgegürteter Wächter da, wo es galt, Angerechtigkeit zu 
hindern, Grauſamkeit zu lindern, wo es galt, ein Leben zu ſchützen, das vom 
gedankenloſen Alltag zertreten zu werden drohte. — — — 

Zum Abſchied rufen wir ihm ſeine eigenen Worte an Arnold Böcklin nach: 


„Ein Grabmal — dir? Du fchufft es ſelber weiland. 
Wer ſah es nicht im Wachen und im Traum, 

Dem Meer entſteigt ein dunkles heil'ges Eiland, 

Vom Sturm umraunt, umkoſt von Wellenſchaum. 
Dort flüſtert ihr, ſchwarzſchattende Zypreſſen, 

Dem Schläfer zu: Geſtorben — nicht vergeſſen. 
Dort wird die Welt, wo Sehnſuchtsländer blaun, 
Von Jo's Meer in ew'gem Lenz umtrieben, 

Dir Tempel weihen, die nur jungen Lieben 

And großen Toten wir erbaun.“ 


Vale princeps poeta! 
Maurice v. Stern 


2 
Helden 


0 n ſeinen „Wegen nach Weimar“ erinnert Friedrich Lienhard einmal 
an eine Legende im Koran. „Als Gott den Menſchen geſchaffen 
SS hatte, waren alle Engel voll Verwunderung, nur einer ſtand höhniſch 
abſeits. Gefragt, warum er Bewunderung verſage, antwortete er: Ich weiß 
ja doch, daß du ihn aus gemeiner Erde gemacht haſt. — Dieſer Eine war 
Satan; ob ſeines böſen Blickes wurde er aus dem Himmel verbannt.“ 
Daran anſchließend fährt Lienhard fort: „Es gibt einen Blick für das 
Häßliche, wie es einen Blick für das Gute gibt. Der Blick für das Häßliche, 
der böſe Blick, der das Verſtimmende überall herausfindet und andre mit 
Verſtimmung anſteckt, iſt beſonders heute und überhaupt immer verbreitet.“ 


Helden | 427 


Als das Weſen des chriſtlichen Idealismus, wie des Idealismus an fic, er- 
kennt er den Blick für das Gute, das Schöne, das Hohe, das Stolze. „Was 
dieſen höheren und reineren Zuſtand, zu dem man durch Entwicklung und 
Arbeit an ſich ſelbſt gelangt, ſtärkt, das heiße ich willkommen, ob uns Franz 
von Aſſiſi hilft oder Friedrich Schiller. Soweit ich mir dieſe und andere 
Lebenserſcheinungen aneignen kann, ſoweit ich den Lebensgehalt der Großen 
menſchlich verarbeite und meine eigene Seele aufbaue, ſoweit ſind ſie mein 
eigen. Das gilt nicht nur von den Großen, den ſichtbarſten Beiſpielen; das 
kann von jedem Kinde gelten, das mir über die Straße läuft. Wer dieſe Kraft 
des Seelenaufbauens, wer dieſe Wärme in ſich entfaltet und ſchöpferiſch zu 
betätigen ſucht, der iſt Kind der ſchöpferiſchen Gottheit, iſt Idealiſt.“ 

Dieſe Worte ſchlagen eine Brücke zu Emerſons „Repräſentanten der 
Menſchheit“ und insbeſondere zu dem Aufſatz vom Wert und von der Be— 
deutung großer Menſchen. Dieſer beginnt mit dem wichtigen Satz „Der Glaube 
an große Menſchen iſt uns angeboren“. „Die Welt“, heißt es dann weiter, 
„wird durch die Wahrhaftigkeit guter Menſchen erhalten: ſie ſind es, die die 
Erde geſund und heilſam machen“. Der Glaube an ſolche großen Sterne der 
Menſchheit erleichtere und verſüße uns das Leben. Helden ſeien Partituren 
einer himmliſchen Muſik: laßt uns die Melodien ableſen. 

„Ihre Geiſter ſteigen empor vor uns, 

Anſre herrlicheren Brüder, doch eins im Blut, 
Bei Tiſch und Bett ſtehn ſie herrſchend vor uns, 
In den Blicken ſtrahlende Schönheit, 

In den Worten das höchſte Gut!“ 

„In den Blicken ſtrahlende Schönheit.“ So ſind denn alſo Helden ſelber 
Männer mit dem Blick für das Edle und Gute, das nur der begreift, der 
ihnen ähnlich oder gleich iſt. Denn „nur von Gleichen kann das Gleiche er. 
kannt werden“. 

Lienhard hat nun ein ganzes, faſt 200 Seiten ſtarkes Heldenbuch heraus 
gegeben („Helden“, Bilder und Geſtalten, Verlag Greiner & Pfeiffer, 
Stuttgart, geh. Mk. 3.—, geb. Mk. 4.—). Dies Proſabuch war unter dieſem 
Titel ſchon früher da, iſt jetzt aber in zweiter, ſtark vermehrter Auflage ein 
geradezu neues Werk geworden, geziert mit neuem und reichem Buchſchmuck 
von Kurt Jäckel. 

Es geht eine große Lichtgeiſtigkeit durch dieſes Buch, ein tiefes und 
ſtolzes Bewußtſein innerlichfter Aberlegenheit über die Leiden und Qualen des 
Erdenlebens. 

Da ift, in einem Stil unmittelbarer Anſchauung gehalten, zuerſt die Er- 
zählung „Der Dichter“. Wir ſehen ihn im niederen Dachſtübchen der Groß⸗ 
ſtadt Berlin trotzen und weinen um die Wahrheit ſeines Weſens, um die 
Neuſchöpfung und Auswirkung des Arſprünglichen in ſeinen verborgenen 
Tiefen: ein wehes Ringen um die Reinheit feines Herzquells, und doch auch 
ein verzücktes Schauen einer inneren Klarheit, die über ſeine Beſtimmung in 
ihm aufleuchtet. 

„O meine Kraft, halt aus! 

An deinem Werk halt aus, Halt aus! 

Hier iſt dein Beruf, dein Weib, dein Haus! 
Meine Kraft, halt aus!“ 


Aber dieſes Weinen um unſere eigene Weſenheit und innere Beſtimmung 
ift ein Gnadengeſchenk des Schickſals. Selig der, in dem eine fremdartige 


428 Selden 


Seekönigin „Taramatvira“ lebt, dieſe „Klage im Wind“, dieſer „Seufzer am 
Meer“, dieſer „Funke von Gott“. „Deine Seele wandert wie die meine“, 
ſagt ſie. „Ich ſuche wie du. Wir ſind wie Begegnende und grüßen uns durch 
die Räume der Nacht“. 

In ihrer glutverhaltenden Sprache mutet uns dieſe Dichtung wie ein 
Sang Oſſians an. Sie erinnerte mich an die ſchöne Aberſetzung „Colma“ von 
Goethe oder an Herders Wiedergabe des erſten Teils von „Fillians Er. 
ſcheinung“. Von den Saiten Stimmen wie Totengeſang, „fie ſchlüpfen von 
Hauch zu Hauche auf dem dunklen Antlitz der Nacht voll Laut“: ſo verzaubert 
iſt der Klang dieſes Proſagedichtes. Träumeriſch und doch nicht ſchattenhaft 
iſt die Geſtalt der ruheloſen, friedeſuchenden Königin, aus dem Anbewußten 
heraufſchimmernd in ſtrahlender Schönheit, wie jene Göttin aus dem Schaum 
des Meeres. Helldunkel-elegiſch jedes Wort; ein Lied, das bei Lienhard zwei 
Gegenſtücke hat: die Traumdichtung „Das Hindumädchen“ in ſeinen „Gedichten“ 
und das wundervolle Märchen „Meluſine“ im „Thüringer Tagebuch! 

Nicht aber ſoll es im bloßen Sehnen nach unſerem Werden, nach unſerer 
„Geſtalt“, wie Schiller ſagen würde, bleiben. Der Weinende wird zum „Prome⸗ 
theus“ werden, der mit der Gottheit um den Lebens funken tapfer kämpft, damit 
er, im Beſitz desſelben, zum wirklich Geſtaltenden, zum Beſeelenden wird. 
Aus dem Schmerz muß unerſchrocken die heroiſche Tat ſich recken; aus des 
Suchens heiliger Luſt muß erwachſen der Wille zur Pflicht; aus Odhin, dem 
Grübelnden, der ſich in die Rätfelrunen feines tiefſten Weſens verſenkt, muß 
Odhin der Tatenfrohe werden, der kein höheres Glück kennt als die Entfaltung 
ſeines Wertes. „Werde, der du biſt!“ 

Hier eine kurze Anterbrechung: in einem Blatt, das fic mit Seelen ⸗ 
kultur beſchäftigt, war kürzlich — allerdings im Briefe eines Kranken — eine 
Bemerkung über mangelnden Bergpredigtgeiſt in den Bänden der „Wege nach 
Weimar“ zu leſen. Nun, falls man hierüber Worte machen ſoll: das Helden ⸗ 
buch Lienhards, darin viel von dem Geiſte „Weimars“ zu ſpüren iſt, iſt eine 
Melodie zu Jeſu Wort: „Selig find die Leidtragenden, denn ſie ſollen getröſtet 
werden“. Selig aber und noch ſeliger die, welche das Leid in ihren Willen 
aufgenommen und überwunden haben; die ihres Weſens Selbſterfüllung auch 
zu den Brüdern bringen, die Barmherzigkeit, Werke üben! „Wo du flogſt“, 
ſagt Lienhard, „ſei eine Lichtbahn für alle folgenden Geſchlechter!“ („Prome- 
theus“.) Iſt das nicht das ſelbe, wie wenn die Schrift die Treue bis in den 
Tod rühmt, der die Krone des Lebens zuteil werden ſoll? 

Schwer iſt die Aufgabe; aber eines Helden würdig! 

So arbeitet ſich — in der „Sintflut“ — Noah, der Mann Gottes, aus 
ſeinem irren Volke heraus; „bei ihm batte ſich die Kraft der Zeit in die Seele 
zuſammengedrängt. Mit demſelben Aberdrange klammerte ſich der Edle an 
die Aberſchauung der Dinge, an den göttlichen Gedanken, an den ewigen Gott. 
Wer verſtand den Mann? Wer hörte auf den Einſiedler aus den armeniſchen 
Bergen? Sie lachten; ſie haßten ihn, ſofern ſie vor Seelenſchwäche überhaupt 
zu haſſen imſtande waren.“ 

Wird ein Menſch — denn auch der Held iſt einer — nicht da manchmal 
feiner Sendung überdrüſſig werden? Wie z. B. „Moſes auf dem Mebo*? 
Wird eine ſolche Stimme Gottes, „eingebaut in dieſe Hülle von Erde, ſprechend 
zu ihnen mit Schall und Zeichen der Menſchen“, nicht manchmal mißmutig 
verſtummen? Oder wie Jeſus in der „Kreuzigung“ ſogar ausrufen: „Mein 


— — — — — 


Selden 429 


Gott, mein Gott, warum haft du mich verlaſſen?“ Aber nein, es iſt nicht 
Ruhe, bis er ſagen kann: „Es iſt vollbracht!“ 

Wie können wir das ſagen? Wenn ſich unſerem Streben herniederſtreckt 
die Hand der Gnade. Der Strebende allein erlöſt ſich nicht! Die „Liebe von 
oben“ muß ihm entgegengehen, „die ſelige Schar mit ihrem freudigen Will 
kommen“. Engel müſſen zu ihm treten und ihm dienen. „Der Genius der Kraft“, 
wie Lienhard im „wilden Heer“ ſagt, „der Atem der Gottheit“ darf ihn 
nicht verlaffen! ... 

„Mein Los war Leid, folang’ ich gelebt“, beginnt Brunhild ihre tief- 
ernſte Erzählung („Brunhilds Todesfahrt“). Und der „Königsbarde Merlin“ 
muß erft das Elend der Verbannung ſchmecken, im Walde von Kelidon ver ⸗ 
kümmern, ehe er reif wird für feine letzte Heldentat. Auch Ragdans Bruder 
in dem rhythmiſch und inhaltlich wie ein Eddaſang anmutenden „Trauerlied“ 
muß durch Schmerz zur Tat geſpornt werden, die in dieſem Falle im Sinne 
nordiſcher Blutrache vollführt wird. Ebenſo fieht „Widukind“ feine bisherige 
Welt in Trümmer fallen, um in ſeiner Bruſt die ſchönere aufzubauen. Und 
Tauler muß erſt in einem ſtillen Geſpräch durch den Cinftedler belehrt werden, 
daß der Sterbende fein Reinftes nicht ſich ſelber verdankt, ſondern „vielmehr 
der Gnade“, die durch alle Tiefen des Schmerzes führt, durch Hölle und Fege⸗ 
feuer zum Paradieſe. Es liegt danteske Stimmung über dieſer Dichtung. 

So iſt alſo die Qual des Suchenden, des Helden, notwendig. Es iſt 
aber ebenſo notwendig, daß er ſie als höheren Willen durchkoſtet, bewußt auf 
ſich nimmt — wie „Wieland der Schmied“ oder „Die heilige Eliſabeth“. 

Wer ſich dadurch auf reife Höhe gerungen hat, ein ſolcher Held wird 
ſich bei der Wahl ſeiner Mittel zum Aufbau der neuen Welt, die er zu ſchaffen 
hat, nicht mehr vergreifen. Nicht wie Ragdans Bruder wird er zum Schwert 
der Rade greifen; nicht wie Napoleon wird er einen gewiſſenloſen Krieg 
heraufbeſchwören; nicht wie Byron wird er die Welt, die ihm weh getan, ver- 
achten und ſich in ein zukünftiges Lichtland flüchten, anſtatt mit der Fülle ſeiner 
Innenſonne die Welt zu beſtrahlen; nicht wie Voltaire wird er beißenden 
Spott und ätzende Satire zu ſeinen Helfern gegen die Widerwärtigkeiten des 
Lebens herbeirufen. 

Hier geht das Buch in eine Reihe dramatiſcher Geſpräche über. Gegen- 
über dem korſiſchen Vernichter ſtellt ſich Königin Luiſe mit ihrer Menſchlichkeit; 
gegenüber Byron entfalten Shakeſpeare oder Burns ihre Weſensart; gegen- 
über Voltaire ein Friedrich der Große. Sie geſtalten mit dem „Genie in uns“, 
wie Lienhard dieſe Seelenkraft einmal nennt, das Daſein künſtleriſch. And wie 
Friedrich der Große, ſo auch Gordon, der tapfere Gouverneur von Chartum, 
und zuletzt der ernſte und herzensgerade „Dorfſchmied“ in ſeinen „Grenzen und 
Bereich“. Durch gewiſſenhafte Ausübung einer entſagungsvollen Pflicht geben 
dieſe beiden ein Beiſpiel von der Aberwindung des Lebens; fie find Helden 
innerer Freiheit 

Sollten wir das nicht auch können? Oder ſollte uns der tapfere Knabe 
in der ſchönen Erzählung „Der Pandurenſtein“ beſchämen müſſen? 

Anſer beſtes Teil iſt, wie bei dieſem Hirtenjungen, die Tapferkeit, die 
im Gemüte lebt. 

And ſo kommen wir zuletzt wieder zu dem Ausdruck „Ehriſtlicher Idealis· 
mus“, von dem Lienhard in ſeinen „Wegen nn Weimar“ dem Wiener Kralik 
gegenüber ſprach, und wovon ich hier ausging 


430 Selden 


Aber all dem Ethiſch⸗Erhabenen, das aus dem Heldenbuche ſpricht, 
wollen wir aber das Aſthetiſche nicht vergeſſen. Bei einigen Dichtungen habe 
ich ſchon auf die Sprache Lienhards hingewieſen. Der Geiſt, der ſte erfüllt, 
die innere Schönheit, formt bei ihm auch die äußere. Sein Stil iſt groß, oft 
feierlich, von einer wundervollen Tiefe und Klarheit des Eindrucks, den jedes 
ſtarkgeſagte Wort haben muß, wie Herder ſpricht, als er den freien Wurf der 
nordiſchen Lieder bewundert. Dieſe Kunſt, zu ſprechen, iſt Lienhard eigen- 
tümlich und unterſcheidet ihn von der gebrochenen Sprache der Naturaliſten 
und von der überfeinen der Neuwiener. Bei dieſen taſten wir fortwährend 
zwiſchen Halbideen, die ſie Symbole nennen, und inhaltsarmen Künſteleien. 
Bei Lienhard dagegen ſind alle Dinge, auch die verborgenſten des Herzens, 
unmittelbar, ſicher und lebendig geſchaut, als ob ſie in das ſcharfe, aber doch 
warme Freilicht eines Frühlingstages hineingeſtellt wären. Er hat, um noch 
einmal ein Wort Herders zu gebrauchen, Seele und Mund in feſten Bund 
gebracht, fo daß fie einander nicht verwirren, ſondern unterftügen. Die Dicht ⸗ 
kunſt iſt auch bei ihm „die ſicherſte Tochter der menſchlichen Seele“, nie lahm, 
ungewiß, wankend, ſondern immer lebendig, wahr und „an dringlich“. Er ſpricht 
mit dem Geiſt der Natur. Inſofern gleicht ſein künſtleriſches Schaffen dem 
des Homer und Oſſian. Wie finnlich-finnig, mächtig und ſtark ift z. B. der 
Gedanke des „Prometheus“ ausgeführt. Dazu in einem Wurfe wieviel 
Bilder! Man mache einmal den Verſuch und ſpreche ſich Teile einer Dichtung 
Lienhards laut vor; etwa die Anterredung zwiſchen Brunhild und Hel oder 
Brunhilds Monolog oder den dritten Teil der „Königin Luiſe“, wo er den 
durchbrochenen Blankvers anwendet: man wird merken, ſein Ton iſt prachtvoll 
elaſtiſch, flugfrei und geſchmeidig — aber auch ſchneidig wie eine Stahlklinge. 
Es iſt Heldenſprache ohne Pathos und auch nicht burſchikos in Liliencrons 
Art, innerlich gefeftigt, kernig, eindringlich, treffficher, aus dem Bewußtſein und 
Gefühl ſeeliſchen Ariſtokratentums geſtaltet. Eine Sprache voll Licht und Glut, 
Klarheit, feſter Beſtimmtheit und herzlichen Verſtehens. Naſche Hingebung 
und doch dabei ein feines Zurückdrängen der Gefühle. Gleichgewicht und Gelbft- 
beherrſchung. 

Der dieſe Helden mit ſolcher Sprache ſchuf, die „geheimnisvoll offenbar“ 
aus ihrem und aus feinem Empfinden hervorquillt wie ein kühler, aber er 
friſchender Waldborn, muß ſelbſt ein Held ſein. Was er aus den Seelen 
ſeiner Helden ſpendet, iſt etwas von dem Notſchatz ſeines eigenen Weſens, mit 
dem er ſich „vor ſeiner eigenen Macht verteidigen“, ſich und uns befreien und 
neue Empfindungskräfte wecken will. 

Die „Helden“ find zur Kenntnis Lienhards ein unumgänglich wichtiges Buch. 

Karl Engelhard 


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Bildende Kunst. 


Zur Ausſtellung der Berliner Sezeſſion 
Allerlei Grundſätzliches 


Von 


Dr. Karl Storck 


Delch merkwürdige Ideenverbindungen es gibt, die man nicht 
loswerden kann, obwohl für den erſten Blick ſo gar keine 
Beziehungen vorhanden ſind. So muß ich jedesmal bei 

. a den Eröffnungsfeierlichkeiten der Sezeſſion an die der Großen 
Berliner Kunſtausſtellung denken, als in dieſer Anton von Werner 
noch der tonangebende Mann war. And das Gelungene iſt, daß daran juſt 
Max Liebermann ſchuld iſt. Denn alles andere iſt ja reichlich ver— 
ſchieden. Die Berliner Sezeſſion hat bis auf den heutigen Tag ſo etwas 
wie ſozialdemokratiſchen Beigeſchmack. Das iſt und war ja immer lächerlich; 
denn die Berliner Sezeſſion hat ihr getreueſtes Gefolge für ihre Feſte an 
den dickſten Geldſäcken; auch iſt der Berliner Kurfürſtendamm ſowie das 
ganze WW- Viertel kein Boden, auf dem das Gewächs Demokratie gut 
gedeihen kann. Nichtsdeſtoweniger bleibt dieſe eigentümliche Stimmung 
beſtehen, und auch das Dutzend Offiziersröcke, die bei dieſen Eröffnungs— 
feierlichkeiten zu ſehen ſind, ändert nicht den Geſamteindruck, überraſcht 
einen höchſtens. 

Ich bin weit davon entfernt, daraus der Sezeſſion einen Vorwurf 
zu machen, geſtehe ſogar gern ein, daß mir jede demokratiſche Luft viel 
beſſer zuſagt, als die mit Anterwürfigkeit und vorſchriftsmäßiger Geſinnung 
angefüllte Hofluft, die einem bei den Eröffnungsfeſten unſerer „Großen“ 
den Atem einpreßt. So führe ich die Tatſache auch nur als charakteriſti— 
{chen und für das Kunſtleben in Preußen ſehr wichtigen Umftand an. Sie 
zeigt, welch ſchwere abſolutiſtiſche Stimmung gerade auf dieſen Gebieten 
bei uns laſtet. Denn ſicher beruht dieſe ganze Einſtimmung darauf, daß 
des Kaiſers ganz perſönlicher Kunſtgeſchmack für der Sezeſſionsrichtung feind— 
lich gilt. Ich ſage abſichtlich „gilt“, nicht „iſt“; denn nach den verfchieden- 
artigen Außerungen und Betätigungen unſeres Kaiſers in Kunſtdingen iſt 


432 Stord: Zur Ausſtellung der Berliner Segeffion 


es ſehr ſchwierig, ein klares Bild von feinem wirklichen Kunſtgeſchmack zu 
bekommen. Er hat deutſchen Innenarchitekten engliſche Innenausſtattungen 
als Muſter hingeſtellt; und es iſt doch nicht zu leugnen, daß dieſe kunſt 
gewerbliche Richtung durchweg ſich den Sezeſſionen angeſchloſſen hat. Er 
hat dem Freilichtmaler Borchardt Sitzungen für ein Bildnis gewährt; er 
hat jetzt dem Entwurf für das Virchowdenkmal von Klimſch feine Zuſtim⸗ 
mung verſagt. Freilich iſt Klimſch Mitglied der Sezeſſion; aber fein Virchow; 
denkmal iſt doch eigentlich gerade in der allegoriſchen Figur, die beim Kaiſer 
Anſtoß erregt haben ſoll, ſehr bös akademiſch, dabei in der Ausführung ſo 
glatt, wie es nur ein Akademieprofeſſor hätte machen können. Ich freue mich 
alſo über die Ablehnung dieſes Denkmalsentwurfs, den ich von vornherein 
bekämpfte (vgl. Türmer, 8. Jahrg., Heft 11), da in der Tat etwas ge⸗ 
ſchaffen werden kann, was in viel engerem Zuſammenhange mit der zu 
feiernden Perſönlichkeit ſteht, als dieſes hundertfach verwertete, hundertfach 
mißbrauchte Symbol des kämpfenden Herkules, der doch ohnehin mit gei- 
ſtigen Kämpfen nie etwas zu tun hatte. Auf einem andern Blatte ſteht, 
ob es wirklich angeht, daß die öffentliche Aufſtellung von Denkmälern vom 
perſönlichen Geſchmack des Kaiſers abhängt. Es iſt alſo Tatſache, daß 
dieſe Sezeſſionsausſtellungen etwas Antikaiſerliches haben, was ja auch ſeiner⸗ 
zeit in dem Plakat von Th. Th. Heine zum Ausdruck kam. Dieſer Name 
bringt uns auf das richtige Wort: es herrſcht in dieſen Räumen etwas von 
Simpliziſſimusgeiſt. Das iſt keineswegs bei allen Sezeſſionsausſtellungen 
ſo. Andere deutſche Bundesfürſten, auch der gewiß vor jedem Verdacht 
der Modernität ſichere Prinzregent von Bayern, fehlen bei den Ausſtellungen 
der Sezeſſionsgruppen nicht; in dieſen Städten handelt es ſich hier eben 
um verſchiedene Kunſtrichtungen, die mit der nationalen, politiſchen oder 
gar dynaſtiſchen Geſinnung der betreffenden Künſtler gar nichts zu tun haben. 

In Berlin iſt das anders. Wir haben alle gerade in Berlin das 
Entſtehen einer Sezeſſion jubelnd begrüßt. Denn dieſe Sezeſſion behaup- 
tete: „Wir wollen ein Sammelort fein für unabhängige Perfönlichteiten. 
Anſere Ausſtellungen follen ſich um keine Richtung, keine Künſtlerclique 
kümmern; wir wollen eben Freiland ſein zur Betätigung künſtleriſcher Eigen 
art.“ Aus dieſer Auffaſſung heraus wurden damals Männer wie Böcklin, 
Leibl, Oberländer, Thoma, neben Meunier, Rodin, Hildebrand, Israels 
Ehrenmitglieder der Sezeſſion. Es gibt heute niemand mehr, der nicht 
findet, daß Bilder von Böcklin oder Thoma in den Ausſtellungen der 
Berliner Sezeſſion fehl am Ort find. Es iſt gerade gegenüber der jetzigen 
Ausſtellung von einem Freunde der Sezeſſion, Georg Hermann, in der 
„B. 3. am Mittag“ ausgeſprochen worden, daß ihm auch Leibl nicht hierher 
zu gehören ſcheine. Daß dem ſo iſt, liegt nicht an der ſehr bedauerlichen 
Zurückhaltung, oder ſagen wir ſchon geradezu Gegnerſchaft, die unſer Kaiſer 
und alle offiziellen Kreiſe dauernd der Sezeſſion gegenüber an den Tag 
gelegt haben, ſondern liegt an der Perſönlichkeit ihres Vorſitzenden Mar 
Liebermann. Und damit komme ich auf den Ausgangspunkt zurück, denn 


Storck: Sur Ausftelung der Berliner Segeffion 433 


deshalb muß ich an diefer Stelle immer an Anton von Werner denken. 
Liebermann iſt eine genau ſo herrſchſüchtige, ſo tyranniſche, ſo einſeitige 
Natur wie Anton von Werner. Ich kenne ſeine Perſon nicht genau genug, 
um hinzufügen zu dürfen: und ein ebenſo guter Diplomat. Zur Diplomatie 
rechne ich es, daß es gelungen iſt, Namen wie Böcklin und Thoma zum 
Aushängeſchild dieſer Ausſtellungen zu gewinnen, wo aus dem Verbande 
ſelbſt faſt alle jene lebenden Mitglieder ausgeſchieden ſind, die irgendwelche 
inneren Beziehungen zu der Art dieſer beiden Künſtler haben. And die 
anderen, die noch dringeblieben ſind, wirken, wie ſchon geſagt, als fehl am 
Ort. Sie ſcheinen das auch ſelbſt zu fühlen, denn mit jedem Jahre treten 
ihre Bilder mehr zurück. Ob von Werken dieſer Künſtler in der für Ver⸗ 
käufe ſehr günſtigen Sezeſſion jemals etwas verkauft worden iſt, möchte ich 
bezweifeln. Liebermann hat es verſtanden, trotz dieſen immer hinzugezogenen 
Künſtlern anderer Art, die Berliner Sezeſſionsausſtellungen ganz jenen Kunſt⸗ 
richtungen dienſtbar zu machen, die wir unter dem Namen Impreſſionis⸗ 
mus zuſammenfaſſen können, obwohl dieſer Name nicht alles deckt. Von 
Jahr zu Jahr find die kurzen Reden, mit denen Liebermann dieſe Aus- 
ſtellungen zu eröffnen pflegt, ſchroffer, einſeitiger geworden. Dieſe Ein⸗ 
ſeitigkeit tritt trotz der nie vergeſſenen Sätze von Perſönlichkeit und Frei⸗ 
heit der Kunſtbetätigung, Freiheit von jeder Schulüberlieferung allmählich 
ſo ſcharf hervor, daß ſich jetzt auch jene Kritik, die ihm bislang treue Ge⸗ 
folgſchaft geleiſtet hat, auf Widerſpruch beſinnt. Es wäre aus der dies⸗ 
jährigen Aufnahme der Sezeſſionsausſtellung ſehr leicht, ein langſames 
Abrücken oder doch Bedenklichwerden der Kritik feſtzuſtellen. Es würde 
das wohl noch ſchroffer geſchehen, wenn man Liebermanns Rede ſelbſt genau 
vorgenommen hätte. Ich will die wichtigſten Stellen dieſer Rede hier 
anführen. 

„. . . Man hat Leibl Mangel an Phantaſie vorgeworfen, und freilich, 
ſtatt Götter und Helden hat er nur einfache Menſchen gemalt. Aber gerade 
in dieſer Einfachheit der Naturauffaſſung, in dieſem gänzlichen Verzicht auf 
die Anekdote, in dieſem Sichverſenken in die Natur zeigt ſich die Tiefe 
ſeiner maleriſchen Phantaſie um ſo ſchöner. Wie er die Wange einer jungen 
Bäuerin malt oder das durchfurchte Geſicht eines Jägers, die ſchwielige 
Hand eines Bauern oder den zarten Teint einer Dame: dazu iſt höchſte 
maleriſche Phantaſie erforderlich. Immer noch exiſtiert die irrige Mei⸗ 
nung, als ob intime Naturnachahmung einen Mangel an Erfindung be⸗ 
deute, und noch gilt bei vielen, was Leſſing im Laokoon“ ſchreibt: „Der 
Maler, der nach der Beſchreibung eines Thompſons eine ſchöne Landſchaft 
darſtellt, hat mehr getan, als der ſie gerade von der Natur kopiert.“ 

„Für uns, die wir den Inhalt in der bildenden Kunſt nur inſoweit 
gelten laſſen, als er geeignet iſt, die Qualitäten des Künſtlers zu zeigen, 
kann die Erfindung nur in der Ausführung beruhen. Alle Malerei baſiert 
auf Nachahmung der Natur, der ſie ihre Stoffe entlehnt, alſo nur in der 
Art, wie die Natur nachgeahmt wird, kann die Kunſt beruhen. 77 ein 

Der Türmer X, 9 


434 Storck: Zur Uusfledung der Berliner Sezeſſion 


jeder Künſtler aus der Natur herausholt, macht ſeine Künſtlerſchaft aus, 
und wir müſſen Jahrhunderte weit zurückgehen, um auf einen Maler zu 
ſtoßen, der gleich Leibl all ſein erſtaunliches Können nur dazu verwandte, 
um das Weſen der Dinge uns ſichtbar vor Augen zu führen. Was aber 
heißt maleriſche Phantaſie anders als die Tätigkeit, uns durch den male⸗ 
riſchen Schein das innere Weſen dem Auge vorzuſpiegeln? Gerade in 
unſeren Tagen, wo eine allerdings äußerſt geſchmackvolle und im hohen 
Grade dekorative Kunſt, wie fie ſich auch in den Porträten des 18. Jahr⸗ 
hunderts zeigt, als vorbildlich uns hingeſtellt wird, haben wir geglaubt, 
Ihnen in Leibls Arbeiten Werke vorführen zu ſollen, die aus dem ewigen 
Jungbrunnen der Natur geſchöpft ſind. Von Leibls Werk will uns ſcheinen, 
als ob Talent und Charakter gleichbedeutend ſeien. And gerade in der 
heutigen Zeit der Kompromiſſe und des Eklektizismus ſollen wir in Leibl 
neben dem großen Künſtler den aufrechten Mann ehren, der ſich von niemand 
Geſetze vorſchreiben ließ als von ſeiner Kunſt, der keinem anderen Ziele 
nachſtrebte als feinem eigenen Ideale. In der Bewunderung der Meifter- 
werke, die uns überkommen find, ſtehen wir niemand nach, aber es erſcheint 
uns als verderblicher Irrtum der Wfthetit, ein feſtſtehendes Ideal, dem jeder 
Künſtler nachſtreben ſoll, hinſtellen zu wollen. Nur vorausſetzungsloſes 
Studium der Natur — die Kunſtgeſchichte aller Zeiten lehrt es uns — 
kann zu einer Renaiffance der Kunſt führen.“ 

Ich möchte den Ausführungen dieſer Rede nichts hinzufügen; ſie 
ſprechen für ſich ſelbſt. Vor allem durch die vollkommene Hilfloſig⸗ 
keit des Redners gegenüber dem Weſen der Phantaſie. Das 
fcheint mir vor allem charalteriſtiſch zu fein. In der Biographie über Max 
Liebermann, die der Jude Georg Hermann in dem im jüdilchen Verlag 
zu Berlin herausgegebenen Sammelwerke „Jüdiſche Künſtler“ veröffent 
licht, ſteht der Satz: „Ich weiß, daß der deutſche Künſtler eine Reihe 
bedeutſamer Eigenſchaften aufweiſt, die dem jüdiſchen Künſtler mangeln 
und mangeln müſſen; fo z. B. eine ſtarke organiſch ſchaffende Phantafie, 
die ſich in runden und reinen Bildern ausſpricht.“ Mit anderen Worten: 
die Fähigkeit des inneren Schauens und ein innerlich Erſchautes nun 
ſchöpferiſch zu geſtalten, mit den Mitteln natürlich der ſinnlichen Natur⸗ 
erſcheinung, aber nicht bloß mit dem, was bereits in der Natur vorhanden 
if. Der Satz: „Alles Malerifche baſiert auf Nachahmung der Natur, der 
ſie ihre Stoffe entlehnt“ erinnert etwas an Dürers Wort: „Alle Kunſt 
ſteckt in der Natur; wer ſie daraus mag reißen, der hat ſie.“ Aber wo 
bleibt da bei dieſer oberflächlichen Anſchauung, wie fie Liebermann vet: 
kündet, ein Werk wie Dürers „Ritter, Tod und Teufel“? Wo iſt dieſer 
Tod und dieſer Teufel irgendwo in der Natur, ſo daß ſich nun die Dürerſche 
Kunſt in dieſen Geſtalten nur inſoweit zeigen könnte, als dabei die Natur 
nachgeahmt wird? Wie arm an ſeeliſcher Kraft auch die Auffaſſung, daß 
der Inhalt der bildenden Kunſt nur inſoweit gelte, als er geeignet it, die 
Qualitäten des Künſtlers zu zeigen. Liebermann meint offenbar die male · 


Storck: Zur Ausftellung der Berliner Sezeffion 435 


riſchen Qualitäten. Ja, danach iſt es mir begreiflich, daß er zwei neben ⸗ 
einander geſtellte Akte als „Samſon und Delila“ bezeichnen konnte. Und 
was heißt das: „Die Erfindung kann nur in der Ausführung beruhen.“ 
Danach wäre Technik Erfindung, während ſie doch höchſtens ein Finden iſt, 
wie etwas Erfundenes ausgedrückt werden kann. Allerdings auch, wie 
etwas Geſehenes ausgedrückt werden kann. 

Man mißverſtehe mich nicht. Es liegt mir nichts ferner, als Lieber⸗ 
manns maleriſche Bedeutung anzugreifen. Ich halte ihn für einen 
ganz bedeutenden Könner, und darüber hinaus für einen echten Künſtler. 
Nur wollen wir uns ja nicht darüber hinwegtäuſchen, daß ſein künſtleri⸗ 
ſches Gebiet außerordentlich eng iſt. Ich erkenne Liebermann auch eine 
große Bedeutung zu für die Entwicklung unſerer Malerei, und zwar eine 
vorwiegend ſegensreiche, ſoweit ſein Schaffen in Betracht kommt. Aber 
ſoweit er als äſthetiſcher und theoretiſcher Anxeger gewirkt hat, hat er heil⸗ 
loſen Schaden uns zugefügt, und unter dem jüngſten Künſtlergeſchlecht, das 
ihm Gefolgſchaft leiſtet, eine unglaubliche Verwirrung angerichtet. Ebenſo 
auch bei weiten Kreiſen unſeres Publikums. Daß er nicht erkennen will, 
daß es nationale und Naſſenunterſchiede gibt, darin liegt das Verhängnis; 
vor allem aber in feiner Unfähigkeit, etwas feiner Natur nicht Gleichendes 
zu verſtehen. Darüber hinaus in der Rückſichtsloſigkeit, mit der er feine 
Anſchauung vertritt. Dieſe Rückſichtsloſigkeit wäre als Offenheit und Klar⸗ 
heit der Stellungnahme zu begrüßen, ſolange er nicht eine öffentliche Gtel- 
lung zu bekleiden ſtrebte, die ihrer ganzen Art nach die Fähigkeit voraus- 
ſetzt, denkbar verſchiedene Standpunkte gelten zu laſſen. In dieſer Hinſicht 
iſt er genau ſo einſeitig, genau ſo unduldſam und darum genau ſo ver⸗ 
engend, hemmend und ſchädigend, wie es Anton von Werner auf ſeiner 
Seite geweſen iſt. Des ferneren iſt nicht zu leugnen, daß gerade bei ſeinen 
öffentlichen Anſprachen ſehr viel als Rabulifterei wirkt. Ich meine hiermit 
vor allen Dingen jenen Satz: „Immer noch exiſtiert die irrige Meinung, 
als ob intime Naturnachahmung einen Mangel an Erfindung bedeutet.“ 
Faſſen wir das Wort Erfindung ganz ſcharf an, ſo gehört allerdings zu 
dieſer genauen Naturbeobachtung und Naturnachahmung keine Erfindung, 
ſondern eben ſcharfe, liebevolle Beobachtungsgabe. Durch die Stellung 
und die Perſon des Sprechers bekommt alles, was hier geſagt wird, die 
Spitze gegen die betont deutſche Kunſtauffaſſung. Da heißt es aber dann 
doch die Dinge auf den Kopf ſtellen, wenn man hier ſo vorgaukeln will, 
als ob dieſe deutſche Kunſtauffaſſung eine intime Naturbeobachtung als ihr 
nicht gemäß hingeſtellt hätte. Es kommt aber darauf an, welche Richtung 
dieſe intime Naturbeobachtung annimmt, aus welchem Geiſte heraus ſie 
getrieben wird. Es iſt vielfach von uns Deutſchen der Impreſſionismus 
als undeutſch abgelehnt worden, wenigſtens als doch nur für wenige Fälle 
zutreffend und keineswegs als eine Regel der Ausdrucksweiſe geltend. Ich 
meinerſeits habe niemals beſtritten, daß der franzöſiſche Impreſſionismus 
eine ſehr genaue Naturbeobachtung voraus ſetze. Aber eine Beobachtung, 


436 Storck: Zur Ausftelung der Berliner Segeffion 


die fo ganz auf die finnliche Erſcheinung gerichtet iſt, der dieſe finnliche 
Erſcheinung fo das Weſen der Dinge bedeutet, daß fie dem vollkommen 
widerſpricht, was wir Deutſche als intime Naturbetrachtung verſtehen. Gerade 
das Beiſpiel Leibl ſpricht bier gegen Liebermann. Nein, dieſes Verbohren 
eines Leibl in die Erſcheinung, dieſer Glaube, durch die reſtloſe Hingabe 
an dieſe Erſcheinung in das Weſen der Dinge einzudringen, das iſt ur⸗ 
deutſch; von Jean Paul an immer wieder als die andere Seite unſeres 
Doppelweſens gekennzeichnet. Gerade das Geiſtige in Leibl iſt aber himmel⸗ 
weit verſchieden von allem, was Liebermann bei den Franzoſen uns zeigen 
kann, von denen ſich Leibl die Technik geholt hat. 

In der bereits angeführten Schrift Georg Hermanns über Lieber⸗ 
mann ſteht ein anderer Satz: „Nehmen wir eine weitgeführte Arbeit Leibls 
und eine bis zur gleichen Vollendung gebrachte Arbeit Liebermanns. Beide 
mögen die gleiche Treue des Detailſtudiums verraten, ſo wird doch zwiſchen 
ihnen ein Unterfchied beſtehen, den man nicht beſſer ausdeuten kann, als 
daß man ſagt: „Das eine wäre mit den Muskeln, das andere mit den 
Nerven gemalt.“ Ich habe ſchon betont, daß Hermann ſelbſt Jude iſt, und 
ſo muß man es ihm zugute halten, daß er zwar die Anterſchiede fein heraus⸗ 
fühlt, aber für das Deutſche nicht den zutreffenden Ausdruck findet. Nein, 
es find nicht die Muskeln, die hier gemalt haben, ſondern es iſt das Gee- 
liſche in Leibl gegenüber dem Nervenmenſchen Liebermann, was den Anter⸗ 
ſchied ausmacht. Darum denn auch wir gegenüber den Bildniſſen Leibls 
das Gefühl haben, den betreffenden Menſchen ganz, wie er war, vor uns 
geſtellt zu erhalten, während wir von Liebermann immer einen höchſt geiſt⸗ 
voll erfaßten, leidenſchaftlich hingeſtellten Augenblickseindruck bekommen, 
niemals aber ein wirklich treues Bild des Geſamtmenſchen. Man ſtelle 
eines der berühmteſten Bildniſſe Liebermanns, das von Bode, neben deſſen 
Büſte von Hildebrand, und man hat denſelben Anterſchied. 

Ich meinesteils glaube, daß es nach dieſer Richtung hin in der Kunſt⸗ 
entwicklung überhaupt kein feſſelnderes Problem gibt, als gerade die Frage, 
wie ſich das Judentum heute in fo großen Künſtlern betätigt, wie Lieber- 
mann zweifellos einer iſt. Wit der landläufigen Art, wie ſie hüben und 
drüben beliebt iſt, kommt man da nicht aus. Wenigſtens nicht für wirklich 
bedeutende Naturen. And, ſoweit die künſtleriſchen Arbeiten in Betracht 
kommen, bin ich weit davon entfernt, vor allem auf dem Gebiete der bil- 
denden Kunſt, dem Judentum ſtarke Anregungswerte abzuſtreiten. Für uns 
aber kommt es darauf an, daß wir uns klar deſſen bewußt ſind, daß wir 
uns vor allen Dingen in kunſtpolitiſcher Hinſicht nicht in dieſer verhängnis⸗ 
vollen Weiſe von der außerordentlich leidenſchaftlich vorgetragenen einſei⸗ 
tigen Kunſtanſchauungsweiſe des Judentums über unſer Eigenſtes hinweg⸗ 
täuſchen laſſen. Das ſcheint mir das allein Wichtige. Die außerordent⸗ 
liche Stellung, die ſich die jüdiſche Schriftſtellerwelt gerade auf äſthetiſchem 
Gebiete errungen hat, kann gefährlich werden, zumal man dann immer bei 
der Hand iſt, jeden von der andern Seite, der in aller Ruhe und Sachlich⸗ 


Storck: Zur Ausſtellung der Berliner Sezeſſton 437 


keit dieſe Unterfchiede feſtlegt, als verbohrten Antiſemiten hinzuſtellen. Je 
ruhiger wir anderer Leute Werte und Kräfte und auch unſere Schwächen 
zugeben, um ſo beſſer haben wir doch das Recht, unſere Eigenart zu be⸗ 
tonen, haben wir das Recht, in unſerer Sonderart einen Wert zu ſehen, 
den wir nicht preisgeben wollen. Jämmerlicher, als es in der Hinſicht 
gerade bei der öffentlichen Kunſtſchriftſtellerei in Deutſchland beſtellt iſt, kann 
es überhaupt nicht mehr werden. Sobald irgendein Ausländer, der bei uns 
auftritt, die Sonderheiten ſeiner Nationalkunſt betont, wird das mit aller 
Zuſtimmung und Hochachtung verkündigt. Sobald wir Deutſche auf dem 
gleichen Rechte beſtehen, wird das von derſelben in deutſcher Sprache ges 
ſchriebenen Preſſe als Rückſtändigkeit lächerlich gemacht. Es iſt die ver⸗ 
hängnisvolle Folge der vielen Einſeitigkeiten und Lächerlichkeiten, die in 
der antiſemitiſchen Bewegung vorgekommen ſind, daß es nun viele Deutſche 
in der ihnen ja leider nun einmal eigentümlichen fluchwürdigen Schwäche 
für alle nationalen Dinge für ihre Aufgabe halten, gegenüber jüdiſchen 
Erſcheinungen ins Gegenteil zu verfallen. So hat gerade Bode, der be- 
rühmte Direktor unſerer Berliner Muſeen, Liebermann als den „deutſcheſten 
Maler der Gegenwart“ bezeichnet. Es iſt nur ſchade, daß er nicht hervor⸗ 
gehoben hat, worin das ausgeſprochen Deutſche Liebermanns beruhe, was 
denn in ſeiner Kunſt vorhanden iſt, das ſich nicht in niederländiſcher oder 
franzöſiſcher Kunſt auch findet. Wir haben doch aber Maler, bei denen 
das vorhanden iſt. Gerade deshalb freue ich mich, daß ein ſtarker Teil 
gerade unter den jüdiſchen Künſtlern immer bewußter auf jüdiſche Werte 
im Schaffen jüdiſcher Künſtler hinweiſt. Noch iſt dieſe Bewegung wohl 
zu jung, trotz des Alters des Volkes, als daß man ganz greifbare Ergeb- 
niſſe haben könnte. Aber daß ſie vorhanden oder doch zu erzielen ſind, 
daran zweifle ich keinen Augenblick, und bin auch der feſten Überzeugung, 
um das noch einmal zu wiederholen, daß hier wertvolle Kräfte vorhanden 
ſind, die im geſamten Kulturleben um ſo eher in fördernder Weiſe wirkſam 
werden können, je klarer fie als Sondereigenſchaften dieſer Raffe auftreten. 
Ich halte Liebermann — und es iſt mir eine Genugtuung, daß ich mich 
dafür auf Urteile feiner Raffegenoffen berufen konnte — für einen Vollblut⸗ 
juden auch als Künſtler. Worin ich die Schädlichkeit feiner Stellung er- 
blicke, habe ich betont. Mit ſeiner Kunſt als ſolcher hat das gar nichts 
zu tun, ſondern lediglich mit der Art, wie er die Machtſtellung, die er ſich 
durch ſeine Kunſtwerke errungen hat, in unſerem öffentlichen Kunſtleben 
ausnutzt. 

Es ſchien mir notwendig, dieſes einmal deutlich auszuſprechen, ſo 
ungern ich ſonſt Perſönliches in den Bereich ſchriftſtelleriſcher Betrach⸗ 
tung ziehe. 

2 a * 

Muß ich meinen Geſamteindruck von der diesjährigen Berliner 
Sezeſſionsausſtellung in einen Satz zuſammenfaſſen, ſo ſind mir zwei Dinge 
noch ſtärker aufgefallen als bisher: Einmal die Schwäche des Nachwuchſes, 


438 Storck: Zur Ausftellung der Berliner Gezeffion 


zweitens die zunehmende Geſchmacksverrohung. Es war Hans Rofenhagen 
oder Meier⸗Graefe, jedenfalls einer der Bannerträger der Sezeſſion, der vor 
etlichen Jahren, als man durch Aufwerfen eines „Falles“ Böcklin den Ge⸗ 
waltigen fällen zu können glaubte, die Anſicht vertrat, daß die Bedeutſam⸗ 
keit und Größe der Künſtler daran abzumeſſen ſei, wie ſie Schule gemacht 
haben. Ich ſtimme dem nicht bei. Aber jedenfalls hat in dieſer Hinſicht 
in Deutſchland noch kaum eine Bewegung ſo klägliche Ergebniſſe gehabt, 
wie gerade die von Liebermann inſzenierte. Es iſt ja ſicher wertvoll, daß 
der Sinn für Farbigkeit ſich entwickelt hat, daß die Anſprüche an das rein 
Malerifche geſteigert worden find. Aber ich glaube nicht, daß dieſes an den 
Impreſſioniſten geſchulte Geſchlecht nun wirklich beſſer malen kann als die 
unmittelbar Vorangehenden. Die impreſſioniſtiſche Technik riecht mehr nach 
Farbe. All dieſes Pleinair, Pointilismus, Japonismus, und wie die ismen 
alle heißen, betonen die Farbigkeit. Dieſe Bilder ſchreien uns an: Siehe auf 
die Farbe, auf ihren Auftrag; ſieh her, wie das gemacht iſt! Bei drei 
Viertel aller Land ſchaften in den Sezeſſionsausſtellungen ſehen wir uns vor 
ein Farbenproblem geſtellt. Die Natur wird uns in einer Beleuchtung 
vorgeführt, daß in uns zuerſt die Frage auftaucht: Stimmt das auch? Farbe 
und Beleuchtung fallen uns auf. Angenommen, es ſtimme immer. Sit 
das dann wirklich ein ausgeſprochen Künſtleriſches, daß wir zunächſt gerade 
vor dieſes Sehproblem uns geſtellt ſehen? Ich glaube, für den Franzoſen 
in weitem Maße, für den Deutſchen nicht. Daß die Franzoſen uns in 
ſinnlicher Kultur über ſind, gebe ich ohne weiteres zu. Daß ſie für ihr 
Innenleben von der Natur nicht ſoviel erhalten wie wir Deutſche, iſt aber 
ebenſowenig zu beſtreiten. Ein Blick auf die Literatur der beiden Länder 
beweiſt das zur Genüge. Nun gut. Wir brauchen an unſerem ſeeliſchen 
Verhältnis zur Natur nichts einzubüßen und können doch unſer Sinnliches 
ſteigern. Aber ich muß offen geſtehen, daß mir dieſe ſinnliche Augenkultur 
des unter der Einwirkung des Impreſſioniſten herangewachſenen Maler⸗ 
geſchlechtes keineswegs ſo hoch entwickelt zu ſein ſcheint. Als ich vor zwei 
Jahren die Kölner Ausſtellung beſuchte, wirkte Liebermann in der Am⸗ 
gebung jüngerer Sezeſſioniſten ganz altmeiſterlich. Niemand wird ihm eine 
ſcharfe Naturbetrachtung abſtreiten wollen: keiner der Jüngeren hat ihn 
darin erreicht. Ich empfinde einen großen Teil des heutigen Landſchafter⸗ 
Impreſſionismus als Ateliermalerei ſchlimmſter Art. Du lieber Gott, die 
Rezepte dafür find doch ſchließlich genau fo billig wie die für die ältere 
Art der Landſchaftsmalerei. Bloß, daß das Malen hier noch viel ſchneller 
geht, da es auf eine genaue Zeichnung nicht ankommt, die immerhin doch 
auch ein ſcharfes Auge, eine ſichere Hand und Arbeit vorausſetzt. 

Von den Landſchaften in dieſer Ausſtellung wirken am ſtärkſten die Bilder 
von Walter Leiſtiko w. Und wenn darunter das beſte ein Motiv aus dem 
ihm ureigenen Gebiete der Mark ift („Trüber Tag in Grünheide“), fo be 
währt fic feine Kunſt doch auch bei dem Motiv aus Tirol und Italien. 
Ich zitiere wieder einmal, und zwar abermals Georg Hermanns Bericht 


— — Ä— iñ6—ÄUñ — — 


Storck: Zur Ausfielung der Verliner Sezeſſion 439 


aus der B. 3. am Mittag. Es handelt ſich um das genannte Bild 
Leiſtikows: „Er beweiſt mir etwas. Nämlich: daß Malenkönnen gar nicht 
ſo wichtig iſt, wie man uns glauben machen will — durch die Bäume 
Leiſtikows kann man z. B. mit der Hand durchgreifen, und ſeine Landſchaft 
ſchmeckt immer ein wenig nach Kuliſſen —, ſondern, daß es viel mehr auf 
ſignifikante Vorſtellungen von dem Weſen der Dinge, der Landſchaften, 
auf Empfindung für die Seele einer Stimmung ankommt ... viel mehr, 
als man es uns glauben machen will. Und deshalb wird zum Beiſpiel 
ſolch Leiſtikow einen Eindruck zurücklaſſen, und ſolch Trübner trotz ſeiner 
ſchönen Farbſchicht weit weniger ſagen; weil uns die beſte Malerei zum 
Schluß doch nicht über Geiſtloſigkeit und Härten hinwegtäuſcht.“ Man darf 
es mir nicht verargen, daß ich hier ſo gern andere ſprechen laſſe. Es iſt 
mir eine gewiſſe Genugtuung, von dieſer Seite Meinungen vortragen zu 
hören, mit denen ich ſeit Jahren immer ziemlich allein ſtand. Es iſt ſchade 
um Trübner. Gerade bei ihm zeigte ſich mir mit beſonderer Schärfe, daß 
hervorragende Technik, wo ſie allein am Werke iſt, nur dann Erfreuliches 
zuſtande bringt, wenn ſie im Dienſte einer feinen Geſchmackskultur ſteht. 
Das bringt mich auf ein anderes. Der ungeheure Erfolg, den die 
Ausſtellung von engliſchen Bildniſſen in Berlin hatte, ſcheint gerade den 
Größen unſerer Sezeſſion einen Schrecken eingejagt zu haben. Man fürch⸗ 
tete wohl um die treue Gefolgſchaft von Berlin W. Ja, dieſes brauchte 
eben wieder einmal neue Senſation! Max Slevogt meint in den „Süd— 
deutſchen Monatsheften“, es ſei vielleicht nur ein „Triumph des Geſchmacks“ 
geweſen. Einige Sätze aus dem Artikel möchte ich hier herausheben. „Die 
Kunſt dieſer Engländer iſt Kunſt aus zweiter Hand, die ſich mit Kompro⸗ 
miſſen begnügt, und die nicht wirklichem Leben, ſondern nur einem Be⸗ 
dürfnis des Lebens, der Schönfärberei, dient. ‚Geſchmack“ iſt immer ein 
eingeſchränkter Begriff. Rembrandt iſt deshalb geſchmacklos — für die 
„Geſchmackvollen'. Mit ihm, oder Velasquez, oder anderen müßten wir 
dieſe Engländer vergleichen können, um in der ungeheuren Wirkung der 
Ausſtellung eine natürliche, geſunde Erſcheinung zu ſehen! Aber nein — 
Velasquez würde verſagen, er, der zufällig keine ſchönen Frauen im heu⸗ 
tigen Sinn, und dieſe horriblen Koſtüme malte. Es zeigt uns ſolcher 
glühende Enthuſiasmus für eine Kunſt zweiter Hand doch noch einen eigenen 
Untergrund, den Wunſch nach einem zeitgemäßen Bildnis der eleganten 
Frau ... Geſtehen wir es uns nur ein: die Kunſt, die — im Porträt! — 
ſo ſelten für ihre Aufgabe eine reine Löſung findet, darf erſetzt werden durch 
eine, die das eigentlich ins Unkünftlerifche abgeänderte Verlangen relativ 
künſtleriſch löſt ... Es iſt begreiflich, daß da nun einmal in der geſamten 
Kunſt ſo verzweifelt wenig wirklich gute Frauenporträts ſind, wir, die wir 
nun einmal gerade dafür eine beſondere Sehnſucht haben, uns mit einer 
Kompromißkunſt zu begnügen geneigt ſind. Für Berlin ſind außerdem die 
Engländer ſozuſagen neu! In München hat man noch eher engliſche Porträt⸗ 
kunſt geſehen — durch Lenbach! — d. h. an Lenbach, der auch ſie eifrig 


440 Storck: Zur Ausſtellung der Berliner Gezeffton 


nachahmte, wobei zu geſtehen ift, daß er die richtige Schlußfolgerung ge⸗ 
zogen und noch den Schuß Pſychologie dazu getan hat, den die feinen 
Kenner der Menſchenſeele heute verlangen — während ſeine Schneiderei 
den Originalen gegenüber etwas litt.“ 

Ich ſtimme im großen und ganzen mit dieſen Ausführungen überein. 
Nur glaube ich nicht, daß Nembrandt oder Velasquez neben dieſer Aus ⸗ 
ſtellung gelitten hätten. Auch nicht bei den „Geſchmackvollen“. Was aber 
jene beiden ſo weit über die Engländer hinaufhebt, iſt doch keineswegs 
Technik, ſondern das, was Slevogt bei Lenbach betont: das Seeliſche und 
Geiſtige. Alſo etwas, von dem die Sezeſſion im allgemeinen nicht viel 
wiſſen will. Nein, dieſe Engländer arbeiteten vielmehr mit Mitteln, die 
denen durchaus gleich ſind, durch die der Impreſſionismus dem Bilde bei⸗ 
zukommen ſucht, nämlich durch maleriſche Technik. Wenn die alten 
Engländer ſo unendlich höhere Ergebniſſe erzielten, ſo danken ſie das dem 
kultivierten Geſchmack. Ein Hauptmerkmal dieſes iſt es, Grenzen 
deutlich zu erkennen, das Wechſelverhältnis herauszufühlen, in dem Inhalt 
und Ausdruck, bei der Malerei alſo Inhalt und Technik, ſtehen; zu fühlen, 
daß für ein Bildnis andere Forderungen zu erfüllen ſind, als bei der Dar⸗ 
ſtellung einer Landſchaft. Gerade Slevogt iſt ein Beiſpiel dafür, wie ver⸗ 
ſucht wird, durch Mittel, die außerhalb des Weſens des Bildniſſes liegen, 
dieſes für eine maleriſche Kultur zu gewinnen. Slevogt ſieht dieſe Kultur in 
der Farbigkeit. Für die bedeutenden Bildniſſe, die er bisher geſchaffen hat, 
brauchte er deshalb immer Koſtüme, man möchte beinahe ſagen, Theater. 
D' Andrade malte er uns als Don Juan, einmal weiß, einmal ſchwarz. 
Hier führt er uns die Schauſpielerin Tilla Durieux als Kleopatra vor. 
Gerade das Kleid ſcheint mir farbig nicht beſonders gelungen. Es wirkt 
nicht als Stoff, ſondern metallen. Man mag ſagen was man will, vom 
Standpunkt des Bildniſſes aus ſteckt in alledem Anekdote; dieſe arg ver- 
pönte Anekdote oder auch das Genre. Wie arg hat darum auch Slevogt 
in ſeinem Hamburger Senatorenbildnis verſagt, wo er auf dieſe äußere 
Zugabe verzichten mußte. Wie ſchlimm iſt's, wenn wie hier für eine ſo 
flott hingeworfene Impreſſion „der Piqueur“ ein Bildformat gewählt iff, 
das die höchſten Anſprüche ſtellt, einen großen Raum völlig beherrſcht, 
wobei nun vier Fünftel der Bildfläche verſchwendete Leinwand ſind. Da 
offenbart ſich Mangel an Kultur, Mangel auch an Geſchmack. And wenn 
in dieſer Hinſicht unſere Künſtler von den alten Engländern lernen würden, 
ſo könnte man ſich darüber nur freuen. Jedenfalls aber finde ich es be⸗ 
greiflich und erfreulich, wenn unſer Publikum in Zukunft ſich nicht mehr ſo 
ſehr durch die Redensarten von Modernität darüber hinwegtäuſchen läßt, 
daß es an Bildnismalerei andere Anſprüche ſtellen darf, als an irgendeine 
Improviſation von einer Naturanſicht. Im übrigen iſt es eine auffallende 
Erſcheinung, daß unter den bereits recht zahlreichen Verkäufen dieſer 
Sezeſſionsausſtellung faſt nur ſolche Bilder ſind, die ſich durch ſorgfältige 
Arbeit auszeichnen. Daß dieſe wieder zu Ehren kommt, daß man wieder 


— — — — — 


Storck: Zur Ausſtellung der Berliner Sezeſſion 441 


mehr auf die Durchführung der Bilder gibt, iſt eine der wenigen recht er⸗ 
freulichen Erſcheinungen dieſer Ausſtellung. Vielleicht hat dazu am aller⸗ 
meiſten die erhöhte Pflege des Interieurs beigetragen. 

Von den übrigen Bildniſſen ſind die drei Bildniſſe Liebermanns 
packend durch die ſichere Erfaſſung eines ſtark belebten Augenblickes, ent 
täufchen aber etwas in der maleriſchen Behandlung des Fleiſches, das 
auffallend leblos iſt. Am ſtärkſten wirkt Kalckreuth in ſeinen beiden ſehr 
liebevoll erfaßten Bildniſſen, die auch vom Innenleben der Dargeſtellten 
künden. 

Es kommt mir hier natürlich nicht auf eine Beſprechung aller Bilder, 
ſondern auf die Betonung charakteriſtiſcher Erſcheinungen an. Da habe 
ich mich vor allen Dingen zu wenden gegen die Geſchmacks verrohung, 
die in dieſer Ausſtellung wüſte Orgien feiert. Es iſt ſehr ſchwierig, über 
dieſe Dinge klar zu ſprechen, ohne in jenen Teil unſeres Sprachſchatzes 
hineinzugreifen, den man aus Rückſicht auf guten Geſchmack und gute Sitte 
verſchloſſen zu halten pflegt. Da iſt zunächſt die Aktmalerei. Ob man 
Akte malt, um die Schönheit der Formen des menſchlichen Körpers dar⸗ 
zuſtellen oder an ihnen das Spiel der Farben aufzuweiſen, iſt lediglich ver- 
ſchiedener Standpunkt und ſpielt alſo keine Rolle; nur daß ich nicht ein⸗ 
ſehe, weshalb man nun nicht ſchöne Körper wählen ſoll, um an ihnen die 
Farbenwirkungen zu zeigen. Was hier widerwärtig wirkt, iſt die ſteigende 
Betonung des Geſchlechtlichen. Man verſtehe, es handelt ſich um die Be⸗ 
tonung. Man merkt die Abſicht und wird erſt recht in einem ſolchen Falle 
verſtimmt. Am wüſteſten gehabt ſich Louis Corinth. Muther hat von den 
Fleiſcherläden eines Rubens geſprochen. Ich möchte wiſſen, wie er dann 
dieſe Krafthubereien Corinths bezeichnen will. Ich kann mir nicht helfen, 
ich finde das einfach roh. And ſo furchtbar geiſtlos! In Corinth ſteckt 
dabei eine akademiſche Natur. Er ſucht immer zu komponieren und hat ſeine 
Freude dran, in bekannten Vorgängen die rohe Note zu betonen. Dieſes 
Mal zeigt er neben anderem „Die Verſuchung des heil. Antonius nach 
Guſtave Flaubert“. Ich kann mir eigentlich keinen „literariſcheren Titel“ 
denken, und das im Haufe Liebermann und von einem Mitglied der Aus- 
ſtellungsleitung! Ich muß übrigens offen geſtehen, daß mir das Verdienſt 
des heil. Antonius, dieſer Verſuchung durch Fleiſchausſtellung widerſtanden 
zu haben, nicht allzuviel Achtung abnötigt, zumal der Antonius bei Flau⸗ 
bert ein Mann von äſthetiſchem Geſchmack iſt. Corinth wird aber noch 
übertrumpft. Einmal von Benno Berneis, deſſen Aktkompoſition als 
Illuſtration zu einem der ſchlimmſten Paragraphen des Strafgeſetzbuches 
geeignet wäre. Übertrumpft ferner durch Charlotte Behrend, im Privat: 
leben Corinths Frau. Ihr Bild betitelt ſich „Schwere Stunde“. Ich mag 
mit dem Gemütszuſtand einer Frau, die ſelber Kinder hat, nicht rechten, 
wenn ſie es über ſich bringt, den Vorgang der Geburt vor der breiteſten 
Offentlichkeit zu proſtituieren. Aber Liebermanns Programmrede verkündigte 
ja, daß der Inhalt nur inſoweit gelten zu laſſen ſei, als er geeignet iſt, die 


442 Storck: Zur Ausftelung der Berliner Sezeſſion 


Qualitäten des Künſtlers zu zeigen. Es ſoll natürlich nicht heißen, die 
künſtleriſchen Qualitäten, ſondern die Beherrſchung des Malhandwerkes. 
Nun, Frau Corinth malt genau wie ihr Mann in ſeinen ſchwächeren 
Stunden; ſie iſt Schülerin ihres Lehrers, durchaus unſelbſtändig und un⸗ 
perſönlich. Was alſo da für ein Grund vorliegt, eine ſolche an ſich gewiß 
tüchtige Schülerarbeit auszuſtellen, vermag ich nicht einzuſehen. — Dann 
hat man Max Beckmann für 4 große Bilder Naum gegeben. Das eine, 
„Die Schlacht“, mag etwa 3: 4 Meter Größe haben und behandelt einen 
Vorwurf, dem ſelbſt Rubens in feiner höchſten Kraftfülle nur ſchwer bei⸗ 
gekommen wäre. Will man dem Bilde das beſte nachſagen, was ſich dabei 
finden läßt, ſo wäre es, daß an einigen ſtark bewegten Akten ein kräftiger 
Malauftrag wahrzunehmen iſt. Zweifellos handelt es ſich hier um ein 
Talent, das ſich aber jetzt, wie übrigens auch im vergangenen Jahre, ſo 
roh gebärdet, daß dieſem Manne entweder aller künſtleriſche Geſchmack 
abgehen oder die Robeit Abſicht fein muß. In beiden Fällen wirkt die 
Bevorzugung, die er in dieſer Ausſtellung erfährt, ſehr ſeltſam. 

Ich könnte ſo noch lange weiterfahren. Es ſteht ja in der Berliner 
Sezeſſion um alles ſehr ſchlimm, was wie große Rompofition ausſehen ſoll. 
Otto Hettners „Aufbruch“ iſt ſchlimmſte Abhängigkeit von Hodler; 
Rudolf Treumann hat aus den wahnwitzigſten Traumgebilden von 
Eduard Munch einen Extrakt gebraut und den in zwei engen Rahmen vor 
uns hingeſtellt, die er mit den uns heiligen Worten „Mutter“ und „Fa⸗ 
milie“ zu bezeichnen kühn genug iſt. Harmlos gegenüber dem allen, aber 
nicht minder charakteriſtiſch für die Geſchmacksverbildung, iſt der Brunnen 
von Auguſt Krauß, bei dem ein Knabe das Waſſer durch jene Verrich⸗ 
tung ſpendet, die im Verborgenen oder doch jedenfalls der Offentlichkeit 
abgekehrt zu tun, Auguſt Krauß ſelber ſicher auch von ſeinen Kindern ver⸗ 
langt. Natürlich hat das nichts mit Sittlichkeit oder Anſittlichkeit zu tun; 
dieſe Worte ſind dafür zu groß. Es iſt eben lediglich Geſchmackloſigkeit 
und Mangel an künſtleriſcher Selbſtzucht, einen Einfall, der für irgendeine 
kurze Spielerei angebracht ſein mag, in großer Ausführung vor die breite 
Offentlichkeit hinzuſtellen. 

Ich hätte lieber von dem Schönen geſprochen, das in dieſer Aus⸗ 
ſtellung doch auch reichlich vorhanden iſt. Aber ich hielt es für meine 
Pflicht — eine Pflicht, die ich als ſehr unangenehm empfinde —, einmal 
deutlich und klar auf dieſe Mißſtände hinzuweiſen. Es iſt allmählich ſo 
weit gekommen, daß man aus lauter Scheu vor dem Verruf, philifterhaft 
oder blöde zu ſein, alle dieſe Ausſchreitungen oder, wie ich es lieber nenne, 
Geſchmackloſigkeiten ſtill hinnimmt. Natürlich gefallen die Sachen keinem 
Menſchen; unreifes Volk mag ſich daran erregen. Aber man wird ſich 
hüten, das öffentlich zu bekunden, man wäre ja nicht mehr modern und 
ſtände nicht auf der Höhe. Denn das alles ſoll ja Kunſt ſein, und Kunſt 
ſoll frei ſein! Nun, auf dieſe Weiſe wird die Kunſt vogelfrei, ſo daß 
jeder jene trüben oder ungeklärten Inſtinkte, die er im wirklichen Leben ver: 


Zu Frig v. Uhdes 60. Geburtstag 443 


hüllt, in ihr austoben zu dürfen glaubt. And könnten dieſe Maler zehn⸗ 
mal mehr als fie können, — fie find ſolange keine Künſtler, als fie nicht 
ihr Menſchentum bedeutender, edler, größer und ſchöner zu geſtalten ver⸗ 
mögen. Mögen ſie hören auf Schillers Wort: 


„Der Menſchheit Würde iſt in eure Hand gegeben, 
Bewahret fie! 
Sie finft mit euch! Mit euch wird fie ſich heben!“ 


2 
Zu Fritz v. Whdes 60. Geburtstag 


6) Gie deutſche Verlagsanſtalt hat in ihrer hier ſchon oft empfohlenen 
Sammlung „Klaſſiker der Kunſt“ als neueften Band Fritz v. Ahdes 
5 Gemälde in 285 Abbildungen heraus gebracht. Sicher das ſchönſte 
Geburtstagsgeſchenk, das fie dem Künfller darreichen konnte; ebenſo ſicher das 
ſchönſte, was ſie aus der Gelegenheit dieſes Geburtstages heraus unſerem 
Volke ſchaffen konnte. Ich bin erſt durch das Vorwort zu der von Hans 
Noſenhagen gut geſchriebenen Einleitung des Bandes darauf aufmerkſam ge- 
worden, daß es eigentlich recht auffällig iſt, dieſen noch in voller Schaffen®- 
friſche unter uns lebenden Künſtler hier in einer Sammlung „Kaſſiker der Kunſt“ 
zu ſehen. Aber obwohl dieſer Mann zu den Vorkämpfern der ſogenannten 
„Moderne“ unſerer Malerei gehörte, obwohl er noch vor gar nicht langen 
Jahren vielfach recht heftig befehdet wurde, dürfte heute doch kaum ein Wider- 
ſpruch ſich erheben gegenüber der Einordnung in dieſe Sammlung. Oder 
mögen es Pedanten tun, die auf dem einen Wort „Klaſſiker“ herumreiten. 
Wir, die dafür einfach „Meiſter“ leſen wollen, freuen uns, das reiche Lebens. 
werk des unermüdlichen Mannes ſo geſchloſſen genießen zu können. 

Dieſe Einflimmung iſt doch wohl nur dadurch möglich, daß ein großer, 
der wichtigſte Teil in Ahdes Schaffen aus dem Bereich des Meinungsſtreites 
hinausgerückt iſt. Ahdes religiöſe Malerei, die einſt als Entheiligung 
dieſer Stoffe vielfach bekämpft oder als Geſchmacksverirrung angegriffen 
wurde, hat heute ihren unbefirittenen Ehrenplatz. Auch von jenen unbeſtritten, 
denen dieſe Art nicht die richtige zu ſein ſcheint. Denn auch ſie geben zu, daß 
hier eine ſtarke Perſönlichkeit einen durchaus wahrhaften Ausdruck für das 
Lebendigſte in jenen religiöſen Stoffen gefunden hat. Sie mögen die Form- 
gebung vielleicht nicht immer ſchön finden, aber alle müſſen zugeben, daß dieſer 
Ausdruck Lebenskraft beſitt. Zugeben ſogar, daß vielleicht nur auf dieſem 
Wege die religiöfe Malerei, ſagen wir genauer, die Darftellung bibliſcher Be⸗ 
gebenheiten, eine wirklich lebenſpendende, lebenfördernde Kraft unſerer Kunſt 
ſein kann. 

Wir haben erſt kürzlich im Türmer (Aprilheft) dieſe Seite in Ahdes Schaffen 
betont. Wir haben dabei vernommen, daß der Künſtler keineswegs im ge 
wöhnlichen Sinne als religiöſer Maler, womöglich gar als Kirchenmaler, ein ⸗ 
geſchätzt werden möchte. Wir haben dort die verſchiedenen Mißdeutungen, 
denen all das ausgeſetzt ſein kann, zurückzuweiſen geſucht, und Geſagtes ſoll 
heute nicht wiederholt werden. Die ungeheure Bedeutung Ahdes in der Ent- 


444 Zu Fritz v. Ahdes 60. Geburtstag 


wicklung der neueren Malerei beruht gerade darin, daß er dem Bilde vor 
allen Dingen auch Inhalt gegeben hat, und zwar ſeeliſchen Inhalt; daß er 
jene Werte des geiſtigen Lebens durch ſeine Werke in uns anzuregen ſuchte, 
die nicht im Bereiche der Sinnlichkeit ſtehen. So abſichtlich braucht das 
natürlich nie geweſen zu ſein; er brauchte eben nur ſeine urdeutſche, tief 
religiöſe Natur auszuleben, rein maleriſch auszuleben, um doch fo ein ganz 
anderer zu werden als etwa Max Liebermann, mit dem er als Maler viel 
gemein hat, dem er ſelber viel verdankt. Gerade weil Ahde als Maler ſo 
durchaus modern iſt, iſt es ſo außerordentlich wertvoll, daß er ohne alle Auf⸗ 
dringlichkeit, ſondern lediglich naturnotwendig in dieſer Malerei ſo viel Geiſtiges 
und Seeliſches gab. Es iſt dabei unverkennbar, daß ihn gerade in den letzten 
Jahren rein maleriſche Probleme in erhöhtem Maße angezogen haben. Er 
iſt in den Bildern ſeit fünf, ſechs Jahren viel mehr Impreſſioniſt als jemals 
früher, malt viel mehr als früher aus der Freude an rein maleriſchen Pro- 
blemen heraus, und es mag ſogar ſein, daß ihm die religiöſe Malerei nicht 
mehr ſo viel bedeutet wie einſt. Auch das hat ſeine guten Gründe. Er iſt 
eben heute ein ſechzigjähriger Meiſter, der ſeine geiſtigen und ſeeliſchen Kämpfe 
hinter ſich hat, der heute aus dem Vollbeſitz der künſtleriſchen Technik heraus 
ſich gern an Aufgaben verſucht, die auch für ihn etwas Neues, Aberraſchendes 
haben, während er den bibliſchen Stoffen doch wohl alles abgewonnen hat, 
was ihm beſonders am Herzen lag. Denn Ahde iſt auch in dieſen bibliſchen 
Malereien niemals Hiſtoriker, kaum einmal Erzähler, ſondern immer Lyriker. 
And ſo hat er ja auch keineswegs verſucht, die Anzahl maleriſcher Vorwürfe, 
die die Bibel bietet, nun in feiner Weiſe darzuſtellen. Viel lieber hat er den: 
ſelben Vorwurf immer wieder behandelt: Stoffe, die eben ſein perſönliches 
Empfindungsleben in ſtarke Erregung verſetzten, bei denen er ſeine gütige, 
liebevolle, von inniger Nächſtenliebe erfüllte Seele ausleben konnte. 

Daß Ahde in ganz ruhiger Selbſtverſtändlichkeit ſein Innenleben in 
jener Malweiſe zum Ausdruck brachte, die von den Apoſteln des nur Malens 
um des Malens willen verkündet wurde, findet ſeine Erklärung darin, daß 
er erſt als reifer Mann dem Künſtlerberuf ſich vollkommen widmen konnte. 
Wenn einer erſt Offizier geweſen iſt, einen Feldzug mitgemacht hat, in dem 
er oft dem Tod ins Auge geſehen hat; wenn er vorher auf verſchiedenſte 
Art verſucht hat, feine künſtleriſche Neigung mit dem praktiſchen Leben zu 
verbinden, und ſich dann doch vollkommen der Kunſt widmete, ſo muß ihm 
dieſe Kunſt auch das Mittel werden, ſein ganzes Menſchentum auszuſprechen. 
Ein ſolcher Mann wird nicht Techniker — das Wort ganz ohne üblen Bei⸗ 
geſchmack hier gebraucht —, es kann ihm nicht genügen, das wiederzugeben, 
was er in der Natur ſieht; ſondern er ſucht in der Kunſt jene Erfüllung, 
jene Ausſprache ſeines Lebens, die er bislang nicht gefunden hat. And ſo haben 
wir bei Ahde den merkwürdigen Fall, daß ihm gerade der Gewinn jenes tech⸗ 
niſchen Ausdrucksmittels, das von den Nur - Malern uns wiedergewonnen 
worden iſt, die Erlöſung des Geiſtigen brachte: das Licht. 

Sein erſtes, 1884 entſtandenes Bild mit religiöſem Stoffe: „Laſſet die 
Kindlein zu mir kommen“ (vgl. unſ. Abb.), verdankt folgender Begebenheit die 
Entſtehung: „Ahde gelangte einmal in eine Dorfſchulſtube, in deren Mitte 
auf einem Stuhl ein freundlicher Pfarrer ſaß, dem von Eltern und Geſchwiſtern 
die Kleinen zugeführt wurden. Die Art dieſes Mannes, ſein anmutiges Plaudern 
mit den Kindern und deren Zutraulichkeit zu dem ihnen bis vor wenigen 


~~. ~~ ... 


Zu Fritz v. Apdes 60. Geburtstag 445 


Augenblicken gänzlich Fremden, gab ihm plötzlich die Idee, daß hier das 
Bibelwort zur Wirklichkeit geworden ſei: Laſſet die Kindlein zu mir kommen 
Chriſtus wandelt noch immer unter den Menſchen. Man muß ihn nur erkennen 
können. Ahde empfand es als Gewiſſenszwang, die Szene ſo zu malen, wie 
er ſie geſehen hatte. Nur daß er an Stelle des jungen Geiſtlichen den ſetzte, 
den er in jenem erkannt hatte. Es ſchien ihm ſelbſtoerſtändlich, daß der Chriſtus, 
der unter dieſe Dörfler trat, nicht der ſchöne, impoſante, ſich pathetiſch be⸗ 
wegende Gottes ſohn der Italiener fein dürfe, ſondern daß er ihm etwas geben 
müffe von dem Ausſehen jenes ſchlichten Dieners der Kirche.“ Als dann aber 
Ahde im Jahre 1905 zum erſtenmal dazu kam, für eine Kirche ein großes Bild 
zu malen, — das Altarbild der Lutherkirche in Zwickau — knüpfte er an die 
Worte des Evangeliums Matthäi an (Kap. 4, Vers 16): „Das Volk, das im 
Finſtern ſaß, hat ein großes Licht geſehen, und die da ſaßen am Ort im 
Schatten des Todes, denen ift ein Licht aufgegangen.“ Das Licht iſt hier 
Chriſtus ſelbſt. 

Bevor Ahde das ihm ureigenſte Gebiet entdeckte, hatte er ſchon eine 
reiche Entwicklung hinter ſich. Am 22. Mai 1848 in Wolkenburg im Königreich 
Sachſen geboren, ſollte er, der Sohn eines Juriſten, auch Jura ſtudieren. Aber 
was beim Vater nur nebenher betriebene Liebhaberei war, hatte ſich beim Sohn 
ſo ſtark entwickelt, daß er den Wunſch hegte, Maler zu werden. So kam er 
denn auch 1866 auf die Akademie in Dresden. Hier aber fand der Jüngling 
nichts von dem, was er, der ſich an den Zeichnungen Menzels begeiſtert und 
geſchult hatte, ſich erhoffte. Darum ergriff er bereits nach einem Vierteljahr die 
militäriſche Laufbahn. Mir ſcheint immer der Soldatenſtand ganz beſonders 
günſtig für die Entwicklung zur Kunſt. Jedenfalls kann auch dem für Malerei 
Begabten das vielfache Draußenſein, das ſtete Anfüllen des Auges mit farbigen 
Bildern, nur zuträglich ſein. Ahde verwandte denn auch bald alle Muße⸗ 
ftunden für feine Kunſt. Auch nach dem Krieg, aus dem er unverwundet zurück⸗ 
kehrte, begann das Doppelleben wieder. Jetzt aber gewann der Künſtler 
immer mehr die Oberhand, ſo daß der Dienſt bald als läſtige Feſſel empfunden 
wurde. Ahde ging zu Makart nach Wien, um bei ihm Schüler zu werden. 
Der verwies ihn an Piloty. Aber auch da fand der immerhin Dreißigjährige, 
der jetzt ſeinen Abſchied genommen hatte, keinen Platz. So mußte er ſich, wie 
bisher, ſelber weiterhelfen. Es ſind in jener Zeit eine ganze Reihe von Bildern 
entſtanden, die von einem richtigen Makartſchüler gemacht ſein könnten und 
den ſpäteren Ahde in gar nichts ahnen laſſen, außer vielleicht in einer von 
vornherein inſtinktiv ſicheren Handhabung des Malhandwerkes. Da erhielt er 
1879 die erſte wertvolle Anregung durch Munkaczy, der ihn mit nach Paris 
nahm. Hier gewann ÜUhde feinen erſten Erfolg. Bilder wie „die gelehrten 
Hunde“ (ogl. unſ. Abb.), die „Chanteuſe“, das „Familienkonzert“, bezeugen in 
ihrer ſtarken Farbenwirkung, der lebendigen Erfaſſung charakteriſtiſcher Typen 
die wertvollen Anregungen des ungariſchen Meiſters. Auch der äußere Erfolg 
ſtellte ſich ſoweit ein, daß Ahde ſich einen eigenen Hausſtand gründen konnte, 
den er Ende 1880 in München aufſchlug. In der Art der damaligen Atelier⸗ 
malerei hat Uhde eine große Zahl von Werken geſchaffen, bis ihn Max 
Liebermann, der damals auch in München war, auf das Arbeiten in und 
vor der Natur hinwies und ihn veranlaßte, nach Holland zu gehen, um dort 
fo recht Luft und Licht zu ſtudieren. Die reifſten Früchte dieſer Freilicht 
malerei ſind das Bildnis ſeiner Gattin im Freien („In der Sommerfriſche“, 


446 Su Fri v. Ahdes 60. Geburtstag 


vgl. unſ. Abb.) und die berühmte „Trommelübung“, die heute eines der wert: 
vollſten Stücke in der neuen Abteilung der Dresdener Galerie iſt. Dann kam 
jene Auslöſung des geiſtigen Menſchen, die wir oben geſchildert haben. Dieſes 
Bild „Laſſet die Kindlein zu mir kommen“ zeigt uns gleichzeitig den herrlichen 
Kinderſchilderer, der Ahde iſt. Ein Malerpſychologe des Kindeslebens iſt er, 
der glückliche Vater, dem für zahlloſe Bilder und Skizzen die in feinem glüd- 
lichen Heim heranwachſenden Kinder als Modelle gedient haben. Das nächſte 
Jahr 1885 brachte dann „Die Jünger von Emmaus’ und eines der berühm- 
teften Werke des Meiſters: „Komm Herr Jeſu, fet unſer Gaſt!“, in dem es 
ihm gelang, ohne jede Aufdringlichkeit, ohne jedes falſche Pathos ſeinem 
Glauben vom lebendigen Gegenwartswerte Chriſti einen ergreifenden Aus druck 
zu verleihen. Ein Jahr darauf entſtand das große „Abendmahl“. 

Es wird heute ſich wohl kaum mehr jemand finden, der angeſichts dieſer 
ſchlichten, aus dem unteren Volke entſtammenden Apoſtel das verächtliche 
Wort von einer Räuberbande gebraucht, wie es damals geſchehen iſt. Da⸗ 
gegen fühlen wir uns heute abgeſtoßen, wenn ein Maler uns die Apoftel als 
jene Schar ſchön gelockter, körperlich ſorgfältig kultivierter Männer vorführt, 
als die fie in der von der Renaiffancezeit abhängig gebliebenen Malerei er · 
ſcheinen. Darin offenbart ſich vielleicht am ſtärkſten die überzeugende Macht 
der Kunſt Ahdes, der auch auf das geſchichtliche Ausfluchtsmittel Gebhardts 
verzichtete, ſeinen Chriſtus in eine deutſche Vergangenheit hineinzuſtellen. 
Nein, bei ihm iſt alles Gegenwart, nur für Chriſtus ſelbſt hat er es verſtanden, 
eine an keine Zeit gebundene, über den Zeiten thronende Geſtaltung zu finden. 
Aber auch das mehr durch eine beſcheidene Geſtaltung des Körperlichen, durch 
eine großartige Selbſtzucht in der Behandlung der Farben und durch die Ver · 
wendung des Lichtes als geiſtiger Kraft, wodurch nun für den Beſchauer ſelber 
der Schwerpunkt aller dieſer Geſchehniſſe ins Geiſtige und Seeliſche ge 
rückt wird. 

Im gleichen Jahre erlebte er den ſchweren Verluft feiner jungen Gattin. 
Es mochte ihm ein Troſt ſein, das Andenken an die Hingeſchiedene durch die 
Verklärung der Mütterlichkeit zu feiern. Jetzt ſetzen ſeine Marienbilder ein 
mit der „Heiligen Nacht“, der „Flucht nach Agypten“, dem „Empfang der 
Könige aus Morgenland“, die alle mehrfach gemalt wurden. Vor allem aber 
mit jenen Bildern, in denen der Künſtler ſein tiefes Mitgefühl mit dem jungen, 
ſeiner ſchweren Stunde entgegengehenden Weibe bekundet. Der Künftler hat 
gerade dieſes Bild immer wieder in neuen Abarten gemalt und als „Gang 
nach Bethlehem“, „Der heilige Abend“ oder „Schwerer Gang“ und „Nach kurzer 
Raft” bezeichnet (ſiehe Abbildung). Immer wirkt es gleich ergreifend in der 
tiefen ſchlichten Empfindung, in dem wunderbaren Zuſammenſtimmen der 
ſorgengebeugten Geſtalt und der ernſten trüben Natur. 

Die bibliſchen Bilder der Folgezeit zeigen dann vielfach den Verſuch, 
aus dem Lyriſchen ins Dramatiſche zu gelangen, nicht zum Vorzug der Innerlich · 
keit, wenngleich auch dieſe Bilder durch die Kraft des maleriſchen Vortrags 
künſtleriſch höher ſtehen als das meiſte, was an monumentaler Malerei in 
dieſer Zeit geleiſtet worden iſt. Das künſtleriſch Wertvollere aber ſeit der 
Mitte der neunziger Jahre liegt in jenen Werken, die auch künſtleriſch neue 
Aufgaben bieten, in manchen Bildniſſen, vor allen Dingen in den immer wieder 
kehrenden Bildern von feinen Töchtern, die er uns in allen möglichen Lebens 
lagen zeigt. Wie mancher alte Meiſter an Selbſtbildniſſen, ſo hat Ahde an 


Buder von Whde 447 


Diefen Bildern feiner Kinder die Probleme des Maleriſchen, des Lichtes 
ſtudiert und immer neu abgewandelt. Denn er iſt ein Junger, dieſer Sechziger, 
den es nicht gelüſtet, bei dem einmal Crrungenen ſich zu beruhigen, der viel ⸗ 
mehr den „Kampf“ braucht, d. h. das Einſetzen ſeiner ganzen Perſönlichkeit 
zur Bewältigung der Aufgaben. 

So haben wir von ihm noch vieles zu erwarten. Er iſt bislang unab- 
hängig von den Modeſtrömungen ſeinen Weg gegangen und wird ihn ebenſo 
unbekümmert um das Drumherum zu Ende gehen. Wohin aber auch dieſer 
fernere Teil ſeines Weges noch führen möge, eines bleibt gewiß, daß wir in 
ihm eine der kernhafteſten Perſönlichkeiten unſerer Zeit beſitzen, daß wir in 
ihm für die Entwicklung der neuen Malerei gerade den ausgeſprochen deutſchen 
Meiſter ſehen dürfen, der, mochten ihn noch ſo ſehr die Sinnenprobleme der 
Welterſcheinungen reizen, ſie doch immer nur als Ausdrucksmittel eines 
Seeliſchen und Geiſtigen benutzte. 

Karl Storck 


3 
Bilder von Ahde 
TO, 


175 1 zie Bilder dieſes Heftes ſind dank dem freundlichen Entgegenkommen 
Qe der Deutſchen Gerlagganftalt, Stuttgart, der bei ihr erſchienenen 
und im vorangehenden Aufſatze bereits erwähnten Veröffentlichung 


G4 
von 285 Abbildungen nach Uhdes Gemälden entnommen, die in der Sammlung 
„Klaſſiker der Kunſt“ als zwölfter Band erfchienen iſt. Die Auswahl ftrebt 
an, Ahdes künſtleriſche Tätigkeit in den verſchiedenen Zeiten und nach verfchie- 
denen Richtungen zu charakteriſieren. Das 1880 gemalte Bild „Die gelehrten 
Hunde“, das des Künſtlers Erfolg in Paris entſchied, zeigt den Munkaczy⸗ 
Schüler. Der Einfluß des Angarn zeigt ſich vor allem in der Farbengebung. 
Das ganze Bild iſt auf einen dunklen Ton eingeſtimmt und durch den ſcharfen 
Gegenſatz von ſchwarz⸗weiß erhöht. Für die außerordentlich lebendige Typen ⸗ 
ſchilderung hat dem Künſtler das Studium der Niederländer, das der ganzen 
damaligen Richtung in München voll entſprach, ſehr genutzt. Drei Jahre ſpäter 
wurde das Bild „In der Sommerfriſche“ gemalt, das im Vordergrund 
des Künſtlers Gattin und Töchterchen, im Hintergrunde ihn ſelber beim Malen 
darſtellt. Der Schritt aus dem Atelier in die freie Natur iſt vollzogen. Die 
bedeutſame Stellung des Bildes „Laſſet die Kindlein zu mir kommen“ 
in Ahdes Geſamtlebenswerk iſt bereits im vorangehenden Aufſatz gebührend 
hervorgehoben. Bei dieſem Bilde kann man ſehr gut die Art beobachten, 
wie Ahde das Licht ausnutzt. Der Brennpunkt liegt auf den Köpfchen der 
beiden Kleinen, die ſich am zutunlichſten an den Heiland anſchmiegen, in- 
dem das eine ſein Köpfchen ihm ruhig in den Schoß legt, das andere, deſſen 
Händchen er hält, mit rührendem Vertrauen dem ernſten Manne ins Geſicht 
blickt. Von da ſpielt es abſtufend über alle die Köpfe und Gewänder hin, 
hält das Ganze zuſammen und macht aus der im Äußeren alltäglichen Szene 
einen ſchier überirdiſchen Vorgang. And das alles dank unſerer lieben guten 
Sonne, die durchs offene Fenſter hineinſchaut. Das Bild — wir führen hier 
eine zweite Faſſung aus dem Jahre 1885 vor — iſt aber auch ein glänzendes 
Zeugnis für den Kinderpſychologen Ahde, der niemals, wie ein großer 


448 Neue Bücher 


Teil der Genremaler, die Kinder zu irgendwelchen Witzen oder Rührſzenen 
mißbraucht hat, ſondern fie in ihrer ganzen naiven Haltung, ihrer Anbeholfen ; 
heit und doch ſo unvergleichlichen Anmut, als Welt für ſich darſtellt. Man 
kann dieſe ganze Kunſt der Kinderdarſtellung in höchſtem Maße dann auf dem 
zwei Jahre ſpäter entſtandenen Bilde „Kinderprozeſſion“ beobachten, 
deſſen Motiv der Münchner Fronleichnamsprozeſſion entnommen iſt. Wie der 
unglückliche Zufall, daß die Prozeſſion verregnete, benutzt iſt, kennzeichnet den 
vornehmen Maler, der jeglicher, hier ſo naheliegenden Gelegenheit, Witze oder 
Anekdoten anzubringen, aus dem Wege geht und in großen Zügen das Geſamt⸗ 
bild feſthält. In dieſem Bilde zeigen ſich verwandte Züge mit Menzel. — In 
dem 1890 entſtandenen Bilde „Schwerer Gang“ können wir eines der ſchönſten 
Werke aus jener Gruppe vorführen, die die junge Mutterſchaft Marias fo voll 
menſchlich und tiefergreifend darſtellt. — Anſer Bild „Hundefütterung“, 
entſtanden im Jahre 1900, zeigt uns den Künſtler bei der Löſung eines weſent 
lich maleriſchen Problems, der Darftellung eines im hellſten Sonnenſcheine fid 
abſpielenden Vorganges. And im Selbſtbildnis Ahdes zeigen wir dann noch 
den Porträtiſten, der leider nicht genug zur Wirkſamkeit gelangt iſt, ſo daß 
außer einem wundervollen Frauenbildniſſe eigentlich nur feine packenden Dar ⸗ 
ſtellungen des Münchener Schauſpielers Wohlmuth in weiten Kreiſen bekannt 
geworden find. — Erwähnen will ich noch, daß der Türmer bereits im dritten 
Jahrgang eine Wiedergabe nach dem Bilde „Komm, Herr Jeſus, ſei unſer 
Gaft” brachte und daß im letzten Jahrbuch „Am Webſtuhl der Zeit“ fünf 
Bilder Ahdes (Die Flucht nach Agypten, Drei Kinder, Kuhhirtin, Weihnachts · 
abend und Stille Nacht, heilige Nacht) enthalten ſind. 

Der Ahde gewidmete Band „Klaſſiker der Kunſt“ bedarf nach allem einer 
beſonderen Empfehlung nicht mehr. 


SIEB 
Neue Bücher 


Karl Eugen Schmidt: „Der perfekte Kunſtkenner“. Vademekum 
für Kenner und ſolche, die es werden wollen. (Berlin, Spemann. Mk. 2.40.) 
Es ſcheint, daß ſolche Büchlein immer wieder geſchrieben werden müſſen. 

Vor fünfzig Jahren gab Detmold feine ſatiriſche Anleitung zur Kunftkenner · 
ſchaft heraus. Vor einem Vierteljahrhundert wieder iſt Leixners köſtliches 
Schriftchen „Anleitung in 60 Minuten ein Kunſtkenner zu werden“ erſchienen. 
Das vorliegende Büchlein hält nicht ganz, was einige Abſchnitte des erſten 
Teiles verſprechen, worin von den allgemeinen Regeln und Erforderniſſen der 
Kennerſchaft die Rede iſt. Die Satire dürfte mit ſchärferen Waffen arbeiten. 
Jetzt tft es nicht ganz ausgeſchloſſen, daß harmloſe Gemüter die ganzen Be ; 
lehrungen für ernſt nehmen, was ja allerdings für die wirklichen Kunſtfreunde 
unter Umftänden recht ergötzlich wirken könnte. Aber es iſt eigentlich heute 
ſchon fo ſchlimm mit unferer Kunſtſchwatzerei, daß es an der Zeit wäre, dem 
Abel mit gründlichen Prügeln beizukommen. Sonſt iſt da keine Beſſerung zu 


erwarten. 
AYN 


3, BD. \ * 


wt 2 
7 Ar 7 * 
— TE D Jaa 


Die Genoſſenſchaft konzertierender Künſtler 
mit Penſionsanſtalt 


Von 


Dr. Karl Storck 


A 7 ein im Aprilheft des Türmers erſchienener Aufſatz „Soziale 
N N Nöte im deutſchen Muſikleben“ ift von einer ſehr großen 
8 0 5 Zahl Tageszeitungen abgedruckt worden, durchweg unter 
Y lebhafter Zuſtimmung. Zahlreiche Zuſchriften von Künſtlern 
beweiſen, was übrigens jedem im öffentlichen Muſikleben Stehenden längſt 
bekannt war, die große Unzufriedenheit der konzertierenden Künſtler mit 
den gegenwärtigen Verhältniſſen, gleichzeitig aber die Ohnmacht, in der ſie 
fic) fühlen, den vorhandenen Abelſtänden entgegenzutreten. Wenn ich aber 
die jetzige lebhafte Teilnahme der Tagespreſſe mit der reichlichen Gleich— 
gültigkeit vergleiche, der ich früher mit ähnlichen Aufſätzen (3. B. im Türmer 
Februar 1903 „Muſikpflege und Muſikinduſtrie“ und zuvor in zahlreichen 
Einzelartikeln in der „Deutſchen Zeitung“) an gleicher Stelle begegnet bin, 
ſo erhalte ich dadurch aufs neue den Beweis, daß in der geſamten Ein— 
ſtimmung ein Wandel eingetreten iſt. Man fühlt das Anerträgliche der 
gegenwärtigen Zuſtände immer mehr; das Konzertagentenweſen tritt immer 
unverhüllter als bloße Geſchäftsmache hervor; die Muſikkritik erkennt es 
immer mehr als ihrer Stellung unwürdig, lediglich als Berichterſtatterin 
für die Unternehmungen dieſer Konzertinduſtriellen aufzutreten. So iſt es 
deshalb wohl jetzt auch an der Zeit, es nicht an Klageartikeln genügen zu 
laſſen, ſondern zu handeln. N 
Unmittelbar nach dem Erſcheinen meines Artikels hat der Dürerbund 
ein Rundfchreiben „Wider die Konzertagenten“ erlaſſen. Die Einführung, 
die dieſes Schreiben im „Kunſtwart“ findet, enthält folgende Sätze: „Am 
durch eine Klärung über die Frage ein tatkräftiges Handeln vorzubereiten, 
hat der Arbeitsausſchuß des Dürerbundes die folgende Anregung ſchon 


vor längerer Zeit als vertrauliches Manuſkript an unſre hervorragendſten 
Der Türmer X, 9 29 


450 Storck: Die Genoſſenſchaft konzertierender Künftler mit Penſionsanſtalt 


Tonkünſtler und Konzertdirigenten verſchickt. Die eingegangenen Antworten 
lauteten durchweg zuſtimmend, wir behalten uns vor, einige davon zu 
veröffentlichen. Es ſtellte ſich aber heraus, daß wir auf dem Wege privater 
Anterhandlungen nur ſehr langſam vorwärts kommen, außerdem ſcheinen 
unſere Ausführungen da und dort doch nicht als ſtreng vertraulich betrachtet 
worden zu ſein.“ Ich führe dieſe Sätze nur an, um hier zu betonen, daß 
mir von dieſer Vorarbeit des Dürerbundes nichts bekannt geweſen iſt. Ich 
bin zur erneuten Behandlung des von mir bereits ſehr oft aufgegriffenen 
Themas angeregt worden durch den im Aprilheft wiederholt zitierten Auf: 
ſatz aus der „Deutſchen Muſikerzeitung“ (1908 No. 8), deſſen Verfaſſer, 
Julius Edgar Schmock ſich nicht genannt hatte. Und zwar griff ich 
dieſen Aufſatz auf, weil mir der darin gemachte Vorſchlag einer Genoſſen⸗ 
ſchaft konzertierender Künſtler als der gangbare Ausweg erſcheint. 
Im übrigen kämpfen ja ſeit Jahr und Tag verſchiedene Schriftſteller, allen 
voran der hochverdiente Paul Marſop, für die Beſeitigung dieſer ſchwer 
ſchädigenden ſozialen Zuſtände in unſerem Muſikleben. | 
Man kann ſich diefe in der Tat nicht traurig genug vorftellen. Und 
zweifellos iſt gerade das Konzert⸗Agentenweſen unter allen der ſchlimmſte. 
Unter den mir infolge meines Aufſatzes zu Geſicht gekommenen Schrift: 
ſtücken befindet ſich auch ein vor Jahresfriſt in der „Neuen Muſikzeitung“ 
pſeudonym erſchienener Aufſatz „Das Ende der Schreckensherrſchaft“, aus 
dem ich den einleitenden Abſchnitt hier abdrucke: „Die Anſtöße mehren 
ſich von Jahr zu Jahr, die Armee der enttäuſchten aber mittelloſen Ve 
gabten wird immer größer und entſchloſſener; ſie muß bei mutigem und 
energiſchem Vorgehen eine Breſche in die Ringmauer legen! Es iſt ja 
durchaus nicht nötig, die Managers ganz von der Bildfläche verſchwinden 
zu laſſen; wohl aber ſoll ihre dünkelhafte Macht gebrochen und ſie zu der 
Erkenntnis gebracht werden, daß ſie der Künſtler wegen da ſind, 
nicht umgekehrt. Sie ſollen dem Künſtler als beratende, vermittelnde In⸗ 
ſtanzen zur Hand gehen, nicht aber mit diktatoriſcher Willkür auf ihnen 
herumtreten und ſich aus ihrer Haut Riemen ſchneiden, fie zu peitfden.... 
Im ganzen läuft die Miſere wieder auf die träge Gutmütigkeit des Künſtler⸗ 
tums und die Macht des Kapitals hinaus. Im Anfange war der Manager 
in der Tat das, was ſein Name beſagt: ein Vermittler zwiſchen Angebot 
und Nachfrage; er bezog dafür gleich dem ehrlichen Makler der Börſe 
ſeine Proviſion. Allein die Vermittlung machte ihn bekannt mit den 
Wünſchen der Nachfragenden und den Schwächen des Anbietenden. Unter 
geſchickter Ausnutzung beider arbeitete er ſich bei gutem Gewinn herauf 
über den Künſtler und die Konzertgeſellſchaften; er machte ſie von ſich und 
ſeiner „Autorität“ abhängig, ſeine Empfehlung entſcheidet in rein künſtleri⸗ 
ſchen Fragen über Qualitäten, für deren Wertbemeſſung die Kenntniſſe 
eines gediegenen Fachmannes, in dieſem Falle mithin eines exquiſiten 
Muſikers und muſikaliſchen Aeſthetikers, notwendig ſind. Nun ſehe man 
ſich einmal vom Standpunkte ſolch unerläßlich notwendiger Vorbedingung 
unſere Konzertdirektionen und Agenturen an. Die allerwenigſten zählen zu 


Storck: Die Genoſſenſchaft konzertierender Künſtler mit Penflonsanftalt 451 


ihren Firmenmitgliedern einen künſtleriſchen Beirat, die meiſten ſind Geſchäfts⸗ 
leute alltäglichſten Kalibers, Proviſions⸗ und Spekulations⸗Menſchen, Bör⸗ 
ſianer und Zinſeszinsrechner, die nur beim Amſatz der Kunſtleiſtung in klingende 
Münze in Betracht kommen, im übrigen aber Techniker und Routiniers 
äußerlichſter Art ſind. Das iſt alles kein Geheimnis und die Herren ſelbſt 
machen laum irgendwelchen Hehl daraus. Warum ſoll der, welcher bislang 
in Buxkins, Wein oder Spirituoſen reiſte, dieſe etwas materiellen Artikel 
nicht gegen künſtleriſche eintauſchen? Weshalb kann ein Grundſtücks⸗ und 
Hypotheken -Vermittler nicht ebenſogut vom Trödel mit Sängern, Pianiſten, 
Geigern leben? Wer bei dem Vermittlungsgeſchäft die fetteſte Proviſion 
abwirft, iſt bevorzugtes Objekt.“ 

Was iſt nun zu tun? Das Rundfchreiben des Dürerbundes macht 
folgenden Vorſchlag: „Die tonangebenden Muſiker großer Städte bilden 
Künſtlergenoſſenſchaften zum Zweck der Künſtlervertretung und treten mit⸗ 
einander in enge Verbindung, um Arbeits ausſchüſſe zu ſchaffen. And zwar 
je einen für Nord» wie für Süddeutſchland, am beiten auch einen für 
Mitteldeutſchland. Dies iſt deshalb notwendig, weil ein einziges Zentrum 
entlegene Orte nicht ſo leicht bedienen könnte, und auch aus anderen Gründen. 
Es verſteht ſich ſo gut wie bei den Kunſtausſtellungen von ſelbſt, daß eine 
ſolche Künſtlervertretung keine Künſtler vertritt, die dieſes Namens nicht 
würdig find. Hier ſpringt fofort der ideelle Vorteil einer derartigen Ver: 
tretung in die Augen. Es wird jedem Künſtler ſofort zur Empfehlung ge⸗ 
reichen, wenn er von einem Künſtlerausſchuß vertreten wird, der untüchtige 
Elemente ausſchließt. Einer ſolchen Vertretung wird es vor allem endlich 
möglich ſein, jungen und unbemittelten, aber tüchtigen und vielverſprechen⸗ 
den Künftlern den ſchweren Weg in die Offentlichkeit bahnen zu helfen. 
Ferner wäre, zum erſten Male, die Möglichkeit gegeben, dem Nichtkünſtler⸗ 
tum in entſchiedener Weiſe entgegenzutreten. Welche Unmenge durchaus 
wertloſer Soliſtenkonzerte bietet die Konzertſaiſon einer jeden großen 
Stadt! Sie rühren alle daher, daß jeder, der einem Agenten den Saal ab⸗ 
mietet, Konzerte geben kann. Aber ſo allgemein hierüber die Klagen ſind, 
ſo ſelten denkt man daran, daß den größten Teil der Schuld die Agenten 
tragen, weil ſie jedem Zahlenden die Veranſtaltung von Konzerten kinder⸗ 
leicht machen. Was wäre der Erfolg einer „Künſtlervertretung“? Die Zahl 
der Konzerte würde ſich verringern, ihr Wert würde ſteigen. 

„Auch eine Frage, die in großen Städten für die Tages⸗ und Muſik⸗ 
zeitungen, für die Referenten und für das Publikum geradezu brennend 
geworden iſt, würde dadurch eine ſehr einfache Löſung finden. Es könnte 
ja jedem unbenommen ſein, Konzerte zu geben, ohne daß er der Künſtler⸗ 
vertretung angehört, wie es Ausſtellungen der Zurückgewieſenen gibt — 
aber mit gleichen Folgen. Weiter: Konzert- und Theateranſtalten, die 
Künſtler engagieren, hätten von andern Künſtlern die Bürgſchaft, wirklich 
tüchtige Kräfte zu erhalten, ſolche, die ihnen keine Enttäuſchungen bereiten. 
Es ſei an Gaſtſpiele auf Engagements an Operntheatern erinnert. Wie oft 
ſind dieſe derart minderwertig, daß der ganze Theaterabend in Frage ge⸗ 


452 Storck: Die Genoffenfchaft konzertierender Künſtler mit Penſionsauſtalt 


ſtellt wird und von einem Engagement auch nicht die Nede ſein kann! Wer 
die Verhältniſſe kennt, weiß, daß es ſich dann um Empfehlungen von Agenten 
handelte, die dabei ihre Geſchäfte machen. All dies nur zur Andeutung, 
um zu zeigen, worin die Hauptvorteile einer künſtleriſch geleiteten Ver: 
tretung beruhen würden. „Die rein gefchäftlichen Arbeiten müßten wie bisher 
und wie bei den Kunſtausſtellungen kaufmänniſchen Leitern anvertraut werden. 
Die die Künſtler vertretenden Muſiker müßten einzig die Aufficht führen 
und über die Aufnahme ſich anmeldender Künſtler entſcheiden, die, wenn ſie 
noch unbekannt find, Proben ihrer Kunſt abzulegen hätten uſw.“ 

Ich halte dieſen Weg für ungangbar. Er iſt nicht nur viel zu 
umſtändlich, ſondern ſcheint mir vor allem in dem einen Punkte, daß nunmehr 
die Konzertierenden ſich erſt noch einer Prüfung vor den von den „ton⸗ 
angebenden Muſikern großer Städte“ gebildeten Künſtlergenoſſenſchaften zu 
unterziehen hätten, geradezu verhängnisvoll. O nein, wir wollen unſer 
öffentliches Kunſtleben nicht noch unter mehr Zwangsſchrauben ſtellen, als 
es ſchon iſt. Wenn ein Kunſtjünger ſeine Studien gemacht hat, ſei es an 
einem Konſervatorium, ſei es bei einem einzelnen Meiſter, und er glaubt 
vor die Offentlichkeit treten zu können, ſo laſſe man ihn das ruhig tun und 
ſehe zu, ob er Erfolg gewinnt oder nicht. Es werden ja auch die Konſer⸗ 
vatorien, hauptſächlich dank dem Einſchreiten des Muſikpädagogiſchen 
Verbandes, immer ſtrenger; ſie erteilen ihrerſeits Abgangszeugniſſe. 
Aber ſchließlich werden ſolche Zeugniſſe ja auch niemals mehr beweiſen, 
als daß der Betreffende ſein Handwerk gelernt hat. Ob er nun als Künſtler 
der Offentlichkeit etwas zu geben hat, das iſt eine ganz andere Frage, die 
weder vom Prüfungsausſchuß am Konſervatorium, noch auch von einer 
Künſtlervertretung entſchieden werden kann. Der Hinweis auf die Aus · 
ſtellungsjury zeugt nicht für, ſondern gegen die Sache. Alle dieſe Aus⸗ 
ſtellungsjurys haben nicht verhindert, daß auf unſeren großen Ausſtellungen 
eine Fülle wertloſes Zeug iſt, daß umgekehrt viel Wertvolles zurückgewieſen 
wird. Außerdem ſteht für die bildende Kunſt durch die große Moͤglich 
keit der Privatausſtellungen noch eine Maſſe anderer Wege offen, vor das 
Publikum und vor die öffentliche Kritik zu kommen, die dem Konzertgeber 
fehlen. Alſo von Einſchränkungen hier wollen wir nichts wiſſen, ganz ab 
geſehen davon, daß da die erſten Grundlagen geſchaffen wären für eine 
Maſſe von Zank der Künſtler untereinander, von dem wieder niemand mehr 
Gewinn haben würde, als gerade der Konzertagent. Es iſt ſchon voll- 
kommen genug erreicht, wenn die Künſtler nicht ausgebeutet werden, 
d. h. wenn man ihnen ihr erſtes Auftreten nicht zu teuer macht, wenn man 
dann den Eindruck, den fie bei der Kritik erweckt haben, forgfam regiſtriert 
und ohne perſönliche Begünſtigung dieſe öffentliche Kritik den Konzert⸗ 
inſtituten zugängig macht, ſo daß dieſe danach wählen können. Man kann 
fo tief eingeriſſene Schäden, wie das Übermaß unſeres heutigen Konzert⸗ 
angebots, nicht von einem Tag auf den andern heilen. Ganz von ſelbſt 
wird ſich die Fülle der Konzerte vermindern, wenn die Antreiber dazu 
fehlen, alſo die heutigen Konzertagenten; wenn ferner für jene vielen, die 


Storck: Die Genoſſenſchaft tongertiecender Kunſtler mit Penſions anſtalt 453 


lediglich für ihre Unterrichtszwecke Kritiken haben wollen, die auf dieſem 
Gebiete völlig ausreichenden Zeugniſſe des Muſikpädagogiſchen Verbandes 
als überall gültige Befähigungsnachweiſe bekannt ſind. 

Nach meinem Gefühl muß die Neuordnung der Verhältniſſe 
möglichſt an das Vorhandene anſchließen. Das Konzertagenten⸗ 
weſen hätte nicht dieſe ungeheure Ausdehnung und dieſe rieſige Bedeutung 
gewonnen, wenn nicht ſehr viel Gutes daran wäre. Der Hauptſchaden 
liegt zweifellos darin, daß ſich jetzt einige wenige Anternehmer auf 
Koſten der Künſtler bereichern. Wenn es uns gelingt, dieſe 
Summen, die das Auftreten vor der Offentlichkeit unbe: 
dingt immer koſten wird, denen wieder zuzuführen, die ſie 
aufbringen, ſo iſt nach meinem Gefühl alles getan, was hier getan 
werden kann. 

Der Weg dazu ſcheint mir einfach. Es wird, ähnlich wie bei der 
Bühnengenoſſenſchaft, eine Genoſſenſchaft konzertierender Künſtler 
gebildet, der jeder Muſiker beitreten kann, der ein Abgangszeugnis von 
einem Konſervatorium oder einem anerkannten Meiſter beibringt. Er wird 
ordentliches Mitglied dieſer Genoſſenſchaft, ſobald er fein erſtes Kon⸗ 
zert gegeben hat. Damit iſt er „konzertierender Künſtler“ geworden. Wie 
das Konzert von der Offentlichkeit aufgenommen worden iſt, geht die Ge⸗ 
noſſenſchaft ebenſowenig an, wie ſich etwa die Bühnengenoſſenſchaft darum 
kümmert, ob der Schaufpieler X. am Theater in V. Erfolg gehabt hat oder 
nicht. Die Möglichkeit des erſten Auftretens vermittelt jedem Anfänger dieſe 
Genoſſenſchaft konzertierender Künſtler unter ähnlichen Bedingungen wie heute 
der Konzertagent. Aber mit dieſer Genoſſenſchaft aufs engſte verbunden 
iſt eine Penſionsanſtalt. Eine ſolche iſt für unſere konzertierenden 
Künſtler von höchſter Notwendigkeit. Man macht ſich keinen Begriff da- 
von, wieviel Elend hier unter oft glänzender Hülle ſich verbirgt. Eine der 
Haupteinnahmen dieſer Penſionsanſtalt wird außer den Beiträgen ihrer 
Mitglieder in den Ergebniſſen der Vermittlungsgebühren ihrer Konzert: 
agentur beſtehen. So kommen die hier von den hundert Einzelnen 
aufgewendeten Koſten wieder der Gemeinſamkeit zugute. Da⸗ 
für, daß man bedürftigen Künſtlern mit Stipendien oder ſonſtigen Erleichte⸗ 
rungen für das öffentliche Auftreten unter die Arme greifen kann, finden 
ſich nachher Wege genug. 

Es gibt bereits verſchiedene große Mufilerverbände. Dennoch halte 
ich die Gründung eines ganz neuen für notwendig. Die konzertierenden 
Künſtler haben ganz für ſich ihre Intereſſen, die etwa der „Allgemeine 
deutſche Muſikverein“ nicht wahrnehmen kann. Dieſer iſt haupt⸗ 
ſächlich für die ſchöpferiſchen Muſiker da und hat für dieſe reichlich genug 
zu tun, ganz abgeſehen davon, daß zurzeit wohl ziemlich alle Konzert- 
agenten Mitglieder dieſes Mufikvereins find. Danach wundere ich mich 
nicht, daß die ſehr beherzigenswerten Vorſchläge, die Dr. Marſop 1906 in 
Eſſen dem Allgemeinen deutſchen Muſikverein unterbreitet hat, indem er 
auch ein Unternehmen empfahl, „das den ausübenden deutſchen Tonkünſtlern 


454 Robert Schumann über die „Hugenotten“ 


der öffentlichen Muſikpflege gegenüber als Vermittlungsſtelle zu dienen hätte“, 
trotz „eingehender Debatten“ dauernd unter den Tiſch gefallen ſind. 

Der Weg, der einzuſchlagen iſt, ſcheint mir einfach der: Ein deut⸗ 
{her Fürſt übernimmt das Protektorat über die zu gründende Genoſſen ' 
ſchaft deutſcher konzertierender Künſtler. Der Fürſt, der dieſes tut, wird 
ſich um die ſoziale Hebung unſeres Muſiklebens ein unvergängliches Ver: 
dienſt erwerben. Sein Name bürgt dem zerſtreuten Künſtlervöllchen für 
die Gediegenheit des Unternehmens. Es ſteht dann zu hoffen, daß dieſes 
Protektorat reiche Kunſtfreunde veranlaſſen wird, für den erſten Grund: 
ſtock der Penſionskaſſe namhafte Beiträge zu zeichnen. Es wäre dann wohl 
auch zu erreichen, daß, wie Paul Marſop vorſchlug, eine Lotterie zugunſten 
dieſer Genoſſenſchaft genehmigt würde. Im übrigen müßte dieſe Genofien- 
ſchaft auch außerordentliche Mitglieder aufnehmen, die durch ihre Bei ; 
träge die unbedingt notwendige ſtarke finanzielle Grundlage des ganzen 
Anternehmens ſchaffen hülfen. Dieſen außerordentlichen Mitgliedern könnte 
als Entgelt eine weſentliche Ermäßigung bei allen durch die Genoſſenſchaft 
vermittelten Konzerten in Ausſicht geſtellt werden, indem einfach die Vor⸗ 
zeigung der Mitgliedskarte zu einem geringeren Kaufpreiſe der Eintritts 
karten berechtigen würde. Das iſt immer noch viel geſunder und viel 
einträglicher als das heutige Freikartenunweſen. Steht fo die Genoflen- 
ſchaft auf ſicherer finanzieller Grundlage, ſo wird ſich wohl ganz von ſelbſt 
jeder anſtändige Konzertvorſtand verpflichtet fühlen, die Soliſten für feine 
Konzerte von einer Stelle zu beziehen, die im Dienſte der mufikaliſchen All: 
gemeinheit arbeitet und nicht für die Bereicherung einzelner Unternehmer. 
Ich glaube nicht, daß es für unſer Muſikleben zurzeit eine wichtigere Aufgabe 
gibt, als die im vorangehenden dargeſtellte. Mögen ſich alle Berufenen zu 
ihrer Löſung vereinigen! 

2 


Robert Schumann über die „Hugenotten“ 
N WM 


eine begeifterte Würdigung Mendelsſohns folgt. 

„Oft möchte man ſich an die Stirn greifen, zu fühlen, ob da oben alles 
noch im gehörigen Stande, wenn man Meyerbeers Erfolge im gefunden mufi⸗ 
kaliſchen Deutſchland erwägt, und wie fonft ehrenwerte Leute, Mufiter ſelbſt, 
die übrigens auch den ſtilleren Siegen Mendelsſohns mit Freude zuſehen, von 
feiner Muſik ſagen, fie wär' etwas. Mit welchem Widerwillen uns das 
Ganze erfüllte, daß wir nur immer abzuwehren hatten, kann ich gar nicht 
ſagen; man wurde ſchlaff und müde vor Arger. Nach öfterem Anhören fand 
ſich wohl manches Günſtigere und zu Entſchuldigende heraus, das Endurteil 
blieb aber Dasjelbe ... 


Robert Schumann über die ,Sugenotten’ 455 


Ein geiftreiher Mann hat Muſik wie Handlung am beiten durch das 
Arteil bezeichnet, daß ſie entweder im Freudenhauſe oder in der Kirche ſpielten. 
Ich bin kein Moraliſt; aber einen guten Proteſtanten empört's, ſein teuerſtes 
Lied auf den Brettern abgeſchrieen zu hören, empört es, das blutigſte Drama 
feiner Religionsgeſchichte zu einer Jahrmarktsfarce heruntergezogen zu ſehen, 
Geld und Geſchrei damit zu erheben, empört die Oper von der Ouvertüre an 
mit ibrer lächerlich gemeinen Heiligkeit bis zum Schluß, nach dem wir eheſtens 
lebendig verbrannt werden ſollen. Was bleibt nach den Hugenotten übrig, 
als daß man geradezu auf der Bühne Verbrecher hinrichtet und leichte 
Dirnen zur Schau ausſtellt. Man überlege ſich nur alles, ſehe, wo alles hin- 
läuft! Im erſten Akt eine Schwelgerei von lauter Männern und dazu, recht 
raffiniert, nur eine Frau, aber verſchleiert; im zweiten eine Schwelgerei von 
badenden Frauen und dazwiſchen, mit den Nägeln herausgegraben für die 
Pariſer, ein Mann, aber mit verbundenen Augen. Im dritten Akt vermiſcht 
ſich die liederliche Tendenz mit der heiligen; im vierten wird die Würgerei 
vorbereitet, und im fünften in der Kirche gewürgt. Schwelgen, morden und 
beten, von weiter nichts ſteht in den Hugenotten: vergebens würde man einen 
ausdauernd reinen Gedanken, eine wahrhaft chriſtliche Empfindung darin ſuchen. 
Meperbeer nagelt das Herz auf die Haut und fagt: ‚Seht, da iſt es, mit 
Händen zu greifen.“ Es iſt alles gemacht, alles Schein und Heuchelei. Und 
nun dieſe Helden und Heldinnen — zwei, Marcell und St. Bris, ausgenommen, 
die doch nicht gar fo elend zufammenfinten. Ein vollkommner franzöſiſcher 
Wüſtling, Nevers, der Valentine liebt, fie wieder aufgibt, dann zur Frau 
nimmt, — dieſe Valentine ſelbſt, die Raoul liebt, Nevers heiratet, ihm Liebe 
ſchwört und ſich zuletzt an Raoul trauen läßt, — dieſer Raoul, der Valentine 
liebt, ſie ausſchlägt, ſich in die Königin verliebt und zuletzt Valentine zur Frau 
erhält, — dieſe Königin endlich, die Königin all dieſer Puppen! And dies 
läßt man ſich alles gefallen, weil es hübſch in die Augen fällt und von Paris 
kömmt, und ihr deutſchen ſittſamen Mädchen haltet euch nicht die Augen zu? — 
And der Erzkluge aller Komponiſten reibt ſich die Hände vor Freuden! Von 
der Mufik an ſich zu reden, fo reichten hier wirklich keine Bücher hin; jeder 
Takt ijt überdacht, über jeden ließe ſich etwas ſagen. Verblüffen oder kitzeln 
iſt Meyerbeers höchſter Wahlſpruch und es gelingt ihm auch beim Janhagel. 
Was nun jenen eingeflochtenen Choral anlangt, worüber die Franzoſen außer 
ſich find, fo geſteh' ich, brächte mir ein Schüler einen ſolchen Kontrapunkt, ich 
würde ihn höchſtens bitten, er möcht' es nicht ſchlechter machen künftighin. 
Wie überlegt⸗ſchal, wie beſonnen oberflächlich, daß es der Janhagel ja merkt, 
wie grobſchmiedmäßig dieſes ewige Hineinſchreien Marcells „Eine feſte Burg“ zc. 
Viel macht man dann aus der Schwerterweihe im vierten Akt. Ich gebe zu, 
ſie hat viel dramatiſchen Zug, einige frappante geiſtreiche Wendungen und 
namentlich iſt der Chor von großer äußerlicher Wirkung; Situation, Szenerie, 
Inſtrumentation greifen zuſammen, und da das Gräßliche Meyerbeers Element 
ift, fo hat er hier auch mit Feuer und Liebe geſchrieben. Betrachtet man aber 
die Melodie muſikaliſch, was iſt's als eine aufgeſtutzte Marſeillaiſe? And dann, 
ift’3 denn eine Kunſt, mit ſolchen Mitteln an fo einer Stelle eine Wirkung 
hervorzubringen? Ich tadle nicht das Aufbieten aller Mittel am richtigen 
Orte; man ſoll aber nicht über Herrlichkeit ſchreien, wenn ein Dutzend Poſaunen, 
Trompeten, Ophyfleiden und hundert im Aniſono fingende Menſchen in einiger 
Entfernung gehört werden können. Ein Meyerbeerſches Raffinement muß ich 


456 Su unferer Rotenbeilage 


hier erwähnen. Er kennt das Publikum zu gut, als daß er nicht einſehen 
ſollte, daß zu viel Lärm zuletzt abſtumpft. And wie klug arbeitet er dem ent 
gegen! Er ſetzt nach ſolchen Praſſelſtellen gleich ganze Arien mit Begleitung 
eines einzigen Inſtrumentes, als ob er ſagen wollte: ‚Seht, was ich auch mit 
Wenigem anfangen kann, ſeht, Deutſche, ſeht!“ Einigen Eſprit kann man ihm 
leider nicht abſprechen. — Alles Einzelne durchzugehen, wie reichte da die Zeit 
aus! Meyerbeers äußerlichſte Tendenz, höchſte Nichtoriginalität und Sul 
loſigkeit ſind ſo bekannt, wie ſein Talent geſchickt zu appretieren, glänzend zu 
machen, dramatiſch zu behandeln, zu inſtrumentieren, wie er auch einen großen 
Reichtum an Formen hat. Mit leichter Mühe kann man Roffint, Mozart, 
Herold, Weber, Bellini, ſogar Spohr, kurz die geſamte Muftl nachweiſen. 
Was ihm aber durchaus angehört, iſt jener berühmte, fatal mekkerude, un 
anftändige Rhythmus, der faft in allen Themen der Oper durchgeht; ich hatte 
ſchon angefangen, die Seiten aufzuzeichnen, wo er vorkömmt, ward's aber zu · 
letzt überdrüſſig. Manches Beſſere, auch einzelne edlere und großartigere 
Regungen könnte, wie geſagt, nur der Haß wegleugnen; fo iſt Marcells Schlacht · 
lied von Wirkung, fo das Lied des Pagen lieblich; fo intereſſiert das Meiſte 
des dritten Aktes durch lebendig vorgeſtellte Volksſzenen, fo der erfte Teil det 
Duetts zwiſchen Marcell und Valentine durch Charakteriſtik, ebenſo das Sextett, 
ſo der Spottchor durch komiſche Behandlung, ſo im vierten Akt die Schwerter · 
weihe durch größere Eigentümlichkeit und vor allem das darauf folgende Duett 
zwiſchen Raoul und Valentine durch muſikaliſche Arbeit und Fluß der Gedanken: 
— was aber ift das alles gegen die Gemeinheit, Verzerrtheit, Unnatur, Lnfitt 
lichkeit, Unmufit des Ganzen? Wahrhaftig, und ber Herr fet gelobt, wir flehen 
am Ziel, es kann nicht ärger kommen, man müßte denn die Bühne zu einem 
Galgen machen, und dem äußerſten Angſtgeſchrei eines von der Zeit gequälten 
Talentes folgt im Augenblicke die Hoffnung, daß es beſſer werden muß.“ 


Sar 
Zu unſerer Notenbeilage 


5 ; 

Ach komme gern in unferer Notenbeilage in größeren Abſtänden immer 
(NM) wieder einmal auf Karl Loewes Werke zurück. Gewiß, je ein 
gehender man ſich mit der geſamten Muſikliteratur befaßt, um fe 
mehr muß man erkennen, daß Loewe nicht zu den großen originalen Cor 
ſchöpfern gehört. Seine Melodiebildung iſt in ihren weſentlichen Veſtand 
teilen nur ſelten von urſprünglicher Kraft, und ſeine Eigenart liegt mehr in der 
Art des Vortrages. Aber dem ungeachtet bleibt Loewe einer der wertvollſten 
und gerade für das Haus anregungsreichſten aller Muſiker. Dabei iſt daf, 
was er uns binterlaffen hat, fo umfangreich, daß wohl nur wenige fic in der 
Geſamtbeſitz ſeiner Werke zu ſetzen vermögen. So bringen wir auch heute zwei 
nur wenig bekannte Tonſchöpfungen Loewes, die den Meiſter der Ballade auf 
anderen Gebieten zeigen. Das erſte Lied „Spirito santo“ iſt eine Art 
oder naturſymboliſcher Pfingſthymne. Es iſt wahrſcheinlich Loewet legte Kon 
pofition und tft 1864 entſtanden. Dagegen weiſt das zweite, friſch zugreifendt 
Liedchen „Liebesgedanken“ auf Loewes Frühzeit und iſt bereits 1823 fomponiert. 
Verantwortlicher und Chefredakteur: Zeannot Emil Frhr. v. Stotchuß, Dad Depnpaufen |. U. 


eiteratur, Bildende Kunſt und Muſir: Dr. Kart Storck, Berlin W., Lands duterſtraße 3 
Druck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart. 


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Derausgeber- Aeannot Emil freihermerroſuss NG 


X. Jahrg. Juli 1908 Heft 10 


Der gebildete Laie und die Naturphiloſophie 


Von 


Dagobert v. Gerhardt-Amyntor 


n keiner Zeit iſt ſoviel über die Perſönlichkeit geſagt und ge— 
ſchrieben worden, wie in der Gegenwart. Jeder ſtrebende 
Menſch möchte ſich zu einer Perſönlichkeit herausbilden, und 

dazu gehört in erſter Linie, daß er ſich eine Weltanſchauung 
erkämpft. Ohne Kampf mit andern und mit ſich ſelbſt wird eine Welt— 
anſchauung nicht erworben. Es gibt zwar heute zahlloſe Verkünder von 
Weltanſchauungen, und beſonders die Verfaſſer der anfechtbareren Welt— 
anſchauungen hauſieren mit ihrer Ware in allerlei Büchern, Traktaten und 
Zeitſchriften; wer aber auch eine ſolche fertig gelieferte Weltanſchauung 
auswendig lernen und ſich ſo zu eigen machen wollte, wäre deshalb noch 
lange nicht in ihrem Beſitze, denn eine Weltanſchauung muß durch eigenes 
Nachdenken ſelbſttätig und ſelbſtändig errungen werden. 

Die Faktoren, welche die Mittel zur Bildung einer Weltanſchauung 
liefern, ſind einerſeits die Philoſophie, andererſeits die Naturwiſſenſchaft. 
Eine Philoſophie, die ihre Baſis bloß in Abſtraktionen hat und allen fon- 
kreten Tatſachen den Rücken wendet, iſt keine Philoſophie mehr, ſondern 
ein ödes Akrobatentum, das mit Ideen Kunſtſtücke macht und unfruchtbare 
Phantaſterei treibt, und eine Naturwiſſenſchaft, die ohne jede philoſophiſche 
Veranlagung ihr eigenſtes Gebiet verläßt und auf geſammelten und ver- 


meintlich erklärten Tatſachen nun den Makrokosmos der Gedankenwelt kon— 
Der Türmer X. 10 30 


458 Gerhardt-Amypntor: Der gebildete Laie und die Naturphilofophte 


ftruieren will, ift keine Naturwiſſenſchaft mehr, ſondern der Eislauf eines 
Eſels, dem es auf dem feſten Lande zu wohl wurde. Die ſeltenen Köpfe, 
die philoſophiſches Genie mit erſchöpfender naturwiſſenſchaftlicher Kenntnis 
verbinden, darf man Naturphiloſophen nennen, die den ſonſt recht anrüchigen 
Namen der Naturphiloſophie wieder zu Ehren bringen. 

Jeder Naturphiloſoph bildet ſich ſeine eigene Weltanſchauung. Der 
Laie, der weder Naturwiſſenſchaftler noch Philoſoph von Beruf iſt, könnte 
ſich ja nun eine dieſer Weltanſchauungen, wenn ſie ihm gerade zuſagt, an⸗ 
eignen und ſich ſo zu einer Perſönlichkeit zu entwickeln verſuchen, und es 
gibt in der Tat gedankenſchwache und geiſtesträge Philiſter genug, die 
z. B. Häckels „Welträtſel“ mit Fleiß und Mühe durchſtudiert haben, auf 
des Profeſſors Behauptung, daß dies Werk ein „Glaubensbekenntnis der 
reinen Vernunft“ fei, ſchwören und ſich nun im Beſitze einer ſturm⸗ und 
wetterfeſten Weltanſchauung wähnen. Der vornehmere Laie, der ſelbſt 
arbeiten, ſelbſt prüfen und ſelbſt erringen will, wird aber verſuchen, von 
dem gegenwärtigen Stande der Naturphiloſophie eingehendere Kenntnis zu 
nehmen und die Führer der verſchiedenen Richtungen anzuhören, um aus 
den geſammelten Kenntniſſen und Anregungen die Fähigkeit zum Aufbau 
einer ſelbſtändigen Meinung zu gewinnen. 

Wir haben nun heute eine Aberfülle naturphiloſophiſcher Schriften, 
und nicht jeder ſtrebende Gebildete hat die Zeit, alle dieſe Schriften zu 
ſtudieren. Es iſt daher verdienſtlich, wenn man ſich hier und da der Mühe 
unterzieht, die bedeutenderen Werke dieſer Art namhaft zu machen und 
fo dem Laien die Auswahl zu erleichtern. Unter anderen hat Dr. Wilhelm 
Stekel („Die Naturphiloſophie der Gegenwart“, „Nord und Süd“, Juni 
1906) dem Wißbegierigen einen Ariadnefaden geboten, der das Sich⸗ 
hindurchfinden durch das Labyrinth der einſchlägigen Richtungen und Werke 
weſentlich erleichtert. Freilich iſt dieſe Orientierung nicht durchaus objektiv, 
Stekel verrät gelegentlich feine eigene Parteinahme und zieht z. V. in 
Zweifel, ob Dubois⸗Reymond, wenn er heute noch lebte und die „Allgemeine 
Biologie“ von Kaſſowitz geleſen hätte, es noch wagen würde, ſein be⸗ 
rühmtes und ſo vielfach angefeindetes Ignorabimus zu wiederholen. Wenn 
ich nun verſuche, in möglichſt objektiver Weiſe die einander bekämpfenden 
Richtungen der Naturphiloſophie zu bezeichnen, ſo will ich Bedenken, die 
mir perſönlich aufgeſtoßen ſind, zwar nicht gänzlich verſchweigen, ſie ſollen 
aber keine Parteinahme bedeuten, und ich überlaſſe es dem Leſer, ſelbſtändig 
Stellung zu nehmen und ſich für die eine oder andere Seite zu entſcheiden. 

Im großen und ganzen können wir zwei Lager unterſcheiden, die 
gegeneinander im Felde ſtehen, und wenn hier oder da eine Stimme laut 
geworden iſt, die nach einer ganz neuen, dritten Seite hin die Kämpfer 
abrufen wollte, ſo handelte es ſich bei genauer Prüfung meiſt nur um eine 
neu geprägte Bezeichnung für die alte Sache. Die beiden großen Gegen 
ſätze, die ſo alt ſind wie das menſchliche Denken, heißen Dualismus und 
Monismus. Der Dualismus arbeitet mit zwei Begriffen, mit dem Stoff 


Gerhardt-Amyntor: Der gebildete Late und die Naturphiloſophie 459 


und der Seelenkraft; der Monismus hebt dieſen Gegenſatz auf und läßt 
alles Leben auf einer beſonderen Verbindung phyſikaliſch⸗chemiſcher Kräfte 
beruhen. Der Monismus ſucht daher die einſchlägigen Vorgänge durch 
Mechanismus zu erklären, während der Dualismus eine beſondere Lebens⸗ 
kraft annimmt und ſich fo zum Vitalismus, in neueſter Zeit zum Neo⸗ 
vitalismus ausgebildet hat. 

Oſtwald, der Chemiker, verwirft nun jede mechaniſtiſche Welt⸗ 
anſchauung, denn man könne Wärmeſtrahlung, Elektrizität, Magnetismus 
und Chemismus unmöglich rein mechaniſche Erſcheinungen nennen. Man 
mache ja vielfach den Verſuch, fie durch irgendein mechanifches Syſtem dar⸗ 
zuſtellen, immer aber bleibe ein unerklärlicher Reſt übrig, der es alſo ver- 
bietet, alle Dinge nur als Maſchinen anzuſehen. 

Dieſelbe Richtung vertritt Mach, der Prager Profeſſor der Mathe⸗ 
matik und Phyſik („Die Mechanik“). Man hat ſeine Energetik, wie er 
ſeinen Vitalismus nennt, als Wortſpielerei angefeindet; man gibt zwar zu, 
daß uns die Energetik manches beſſer verſtehen lehre, verwirft ſie aber auf 
gegneriſcher Seite als eine unerwieſene Hypotheſe. 

Auch Reinke leugnet, daß man alle Lebens vorgänge reſtlos auf 
ſyſtematiſche Beziehungen mechaniſcher Kräfte zurückführen könne. Wir 
verdanken ſeiner neovitaliſtiſchen Anſchauung manch treffendes und geiſtreich 
geprägtes Wort. Es ſei ein Irrtum der Biologie, im Organismus und in 
der Zelle nur die Verwirklichung eines chemiſchen Problems ſehen zu wollen. 
„Tier⸗ und Pflanzenkörper iſt ſo wenig ein chemiſches Problem, wie die 
Madonna della Sedia es iſt oder eine Sonate von Beethoven ein mecha⸗ 
niſches Problem iſt.“ Chemismus und Mechanik beziehen ſich nur auf die 
Außenſeite der Dinge; die Innenſeite werde aber durch die geiſtige Arbeit 
des Körpers dargeſtellt. Kohlenſtoff, Waſſerſtoff und Stickſtoff beſitzen noch 
lange nicht die Kraft, einen Organismus zu bilden, und wenn ſich die Eigen⸗ 
ſchaften auch in den Verbindungen ändern, fo kommt doch den Eiweiß- 
ſtoffen und Kohlenhydraten ebenſowenig die Fähigkeit zu, eine einfache 
Zelle, oder gar ein Auge, einen Magen, ein Kniegelenk aufzubauen. Es 
müſſen nach Reinke noch andere Kräfte zu den chemiſchen Affinitäten und 
den katalytiſchen Einflüſſen hinzutreten, um einen Organismus zu bilden. 
„Das Leben iſt weder eine Eigenſchaft von Elementen, noch von Verbin- 
dungen, fo wenig wie eine Taſchenuhr einer ubrenbildenden 
Kraft des Meſſings und Stahls zugeſchrieben werden darf.“ 
Das Leben iſt ein Fremdling, der ſich auf dieſem chemiſch⸗phyſikaliſchen 
Felde angeſiedelt hat und von ihm zehrt, wie eine Pflanze vom Acker⸗ 
boden. Am den Stoff zu organiſieren, müſſen beſondere Kräfte hinzu⸗ 
treten, und wenn dies zugeſtanden werden muß, ſo ſind alle Hypotheſen 
des Materialismus und Hylozoismus, d. h. der Lehre von einer urſprüng⸗ 
lichen Lebenskraft der Materie, hinfällig. 

Alle Welt weiß, welch beſtimmenden Einfluß der Darwinismus auf 
die Weltanſchauungen der meiſten Gebildeten gewonnen hat, und ſo iſt 


460 Serhardt⸗Amyntor: Der gebildete Laie und die Naturphlloſophie 


auch Reinke gezwungen, ſich mit Darwin auseinanderzuſetzen. Er hält es 
in folgerichtiger Entwicklung ſeiner Ideen für ausgeſchloſſen, daß Darwins 
„Selektion“ jemals poſitiv Zweckmäßiges habe ſchaffen können, er nimmt 
nur in Abereinſtimmung mit Ed. von Hartmann an, daß ſie imſtande fei, 
Anzweckmäßiges zu beſeitigen. Den Atheismus hält er aber nur dann mit 
der modernen Biologie für vereinbar, wenn es keine Evolution gegeben 
hätte, an der aber niemand zu zweifeln wage. „Denn aus dem Kohlen- 
ſtoff, Sauerſtoff, Stickſtoff uſw. konnten ſich keine Zelle, keine Pflanzen und 
Tiere, geſchweige denn geiſtesbegabte, vernünftige Menſchen entwickeln.“ 

Dieſer Anſchauung ſind natürlich zahlreiche Gegner erſtanden, deren 
Einwände wir ſpäter ebenfalls unparteiiſch hören wollen. Vorweg aber 
fet {chon darauf hingewieſen, daß man dem Vitalismus vorwirft, er liefere 
mit ſeiner Abkehr vom Atheismus nur dem Theismus und Klerikalismus 
Vorſchub und fertige ſo die Waffen an zur Bekämpfung der modernen 
Wiſſenſchaft. Hier nun iſt es, wo ich meine Zurückhaltung als unbefan- 
gener Berichterſtatler einmal aufgeben und auch meine Meinung zu jenem 
Einwande freimütig herausſagen möchte. Der Vorwurf ſcheint mir nämlich 
ungereimt, denn vom rein wiſſenſchaftlichen Standpunkt aus würde es doch 
ganz gleichgültig fein, ob ein durch exaktes Denken gewonnenes Refultat 
dem Gabriel oder dem Luzifer zu dienen ſcheint; nur der Wahrheit hat die 
Wiſſenſchaft zu dienen; nicht auf Bekämpfung des Theis mus oder Klerika⸗ 
lismus darf es dem Naturphiloſophen in erſter Linie ankommen, ſondern 
allein auf Erforſchung der Wahrheit, und wer eine Theorie nur des halb zu 
widerlegen verſucht, weil ſie den Atheismus entkräften könnte, der iſt kein 
Philoſoph und kein Naturwiſſenſchaftler mehr, ſondern ein wiſſenſchaftlich 
verlarvter, aber tatſächlich unwiſſenſchaftlicher und durch die Brille der 
Voreingenommenheit ſchauender Parteimenſch. 

Reinke erklärt E. von Hartmanns transzendentalen Realismus als 
die einzige metaphyſiſch haltbare Theorie des Erkennens, aber Stekel warnt, 
es nicht wie die Theologen zu machen, die mit der Anhaltbarkeit gewiſſer 
Lehren Darwins den ganzen Darwinismus und Mechanismus über den 
Haufen werfen wollen. Er ſtellt die beachtenswerte Frage, ob denn der 
Mechanismus deshalb eine falſche Weltanſchauung ſei, weil Darwins 
Prinzip von der natürlichen Ausleſe und ſeine Anſchauung vom Kampfe 
ums Oaſein falſch ſeien. 

And hier müſſen wir nun auf Kaſſowitz („Allgemeine Biologie“) 
hinweiſen, der da behauptet, man könne auch, ohne ſich auf das als falſch 
erkannte Darwinſche Selektionsprinzip zu ſtützen, eine durchweg mechaniſche 
Weltanſchauung vertreten, denn wenn auch die natürliche Ausleſe und die 
Anſchauung vom Kampfe ums Dafein Irrtümer ſeien, fo werde doch kein 
vernünftiger Forſcher mehr das Evolutionsgeſetz und die Deſzendenzlehre 
noch zu leugnen wagen. 

Auch Ed. von Hartmann („Das Problem des Lebens“) verwirft 
den Darwinismus mit Ausnahme der Abſtammungslehre und beweiſt, daß 


Gerhardt⸗Amyntor: Der gebildete Late und die Raturphilofophte 461 


die Selektion, die nur imſtande ſei, ausſchaltende Wirkungen zu üben, etwas 
Poſitives nicht leiſten könne; das Beſtreben Darwins, zweckmäßige Reſul⸗ 
tate aus rein mechaniſchen Urfachen zu erklären, fei geſcheitert. Man könne 
keine Allmacht der Naturzüchtung annehmen, aber ebenſo falſch ſei es, dieſe 
zur Ohnmacht zu verdammen, denn auch die vernichtenden Wirkungen der 
Naturzüchtung fallen in das Geſetz. Stekel meint, daß der Hauptſatz der 
Hartmannſchen Naturphiloſophie: „Zweckmäßige Ergebniſſe im Organismus 
entſpringen nur zweckmäßig wirkenden Kräften“ — als Neovitalismus die 
allgemeine Anſchauung der Biologie werden wird, wenn auch vielleicht erſt 
in ſpäterer Zeit. And dieſe Äußerung Stekels, der ſonſt unmittelbar ſtark 
zum Mechanismus hinneigt, hat mich eigentlich überraſcht, da E. von Hart- 
mann, meiner Anſicht nach, jedem Mechanismus mit feinem „Lebens 
prinzip“, das allerdings als immateriell, unbewußt und ſupraindividuell 
aufzufaſſen fei, einen tödlichen Schlag verſetzt. Wer ſich der Hartmann: 
ſchen Anſicht, daß ein Geiſtiges die Herrſchaft über alles organiſche Ge- 
ſchehen ausübt, überhaupt anſchließt, für den muß eigentlich jeder Mecha⸗ 
nismus als abgetan gelten. 

Ein entſchiedener Gegner Neinkes und Ed. von Hartmanns iſt 
Kaſſowitz, der trotz der auch von ihm geteilten Anſicht, daß der Darwinis⸗ 
mus hinfällig ſei, doch die von Darwins Gegnern vertretenen Anſchauungen 
„myſtiſch“ nennt. Darwins Anſichten wertet er als „wiſſenſchaftliche 
Märchen“, aber er bekreuzt ſich auch vor jedem Neovitalismus und erklärt 
in ſeinem Aufſatz „Der alte und der neue Vitalismus“ unbeirrt: „Bis 
jetzt hat ſich noch jeder Vorgang im lebenden Organismus, den wir ver- 
ſtehen gelernt baben, als zur Ordnung der chemiſch⸗phyſikaliſchen Prozeſſe 
gehörig erwieſen, und wir haben keinen Grund zu glauben, daß diejenigen, 
die wir noch nicht verſtehen, zu einer andern unbekannten und undefinier⸗ 
baren Ordnung gehören.“ 

Hier ſtieg in mir nun die Frage auf, ob wir jemals einen Vorgang 
im lebenden Organismus wirklich verſtanden, ob wir nicht immer ſeine 
Erklärung nur verſucht haben? Denn was verſtehen wir überhaupt 
funditus? Führt uns nicht jede Bemühung um das volle Verſtändnis eines 
organiſchen Vorgangs immer bis zu einem letzten unerklärlichen Grunde, 
bis zu einem durch keine rechneriſche Gleichung aufzulöſenden X? Haben 
wir jemals einen organiſchen Vorgang, auch wenn wir ihn noch ſo völlig 
zu verſtehen behaupten, nachahmen können? Verſagen bei ſolchem Ver⸗ 
ſuche nicht hartnäckig alle Mittel der Wiſſenſchaft? Es bleibt immer ein 
letzter ſturmfreier Urgrund beſtehen, dem wir mit keiner Philo ſophie und 
keiner Naturwiſſenſchaft beikommen und wie einem überwundenen Feinde 
das Geſetz geben können, und ſo gehört vor dem Tribunale des unbe⸗ 
ſtochenen exakten Denkens jeder Vorgang, auch der rein chemiſch⸗phyſika⸗ 
liſche, doch wohl in eine in letzter Inſtanz unbekannte und unzugängliche 
Ordnung. Auch Dr. Stekel, deſſen Ausführungen ich als Leitfaden benutze, 
kann meine Anſicht nicht erſchüttern, wenn er im Hinblick auf Kaſſowitz 


462 Serhardt⸗Amyntor: Der gebildete Late und die Naturphiloſophie 


lobpreiſend ſagt, daß dieſer der Wiſſenſchaft endlich den Weg vorgezeichnet 
habe, den ſie gehen müſſe; die Wiſſenſchaft müſſe immer mehr Verſtändnis 
gewinnen für die einzelnen mechaniſchen Vorgänge, um von dieſen aus die 
Brücke zu ſchlagen zum Verſtändnis der komplizierten Prozeſſe, und ſie 
müſſe hier vor allem die Frage löſen: Wie entſteht das Bewußtſein? Auf 
welcher Schwelle des organiſchen Lebens erhebt ſich zum erſten Male eine 
bewußte Vorſtellung? 

Gewiß, das iſt die große Frage. Weil ſie bisher aber noch jedes 
Verſuches einer nur annähernd befriedigenden Beantwortung geſpottet hat, 
trotz alles ſogenannten „Verſtändniſſes“ einzelner mechaniſcher Vorgänge, 
ſo erſcheint es mir doch recht zweifelhaft, ob jene heiß erwünſchte Brücke 
zum Verſtändnis der viel komplizierteren Prozeſſe mit den der menſchlichen 
Wiſſenſchaft zu Gebote ſtehenden Mitteln jemals wird geſchlagen werden 
können, und ob auch Stekels Hoffnungen nicht allzeit unerfüllte fromme 
Wünſche bleiben werden. 

Max Verworn erklärt ſich in ſeinem Werke „Naturwiſſenſchaft 
und Weltanſchauung“ ebenfalls für den Mechanismus, indem er eine neue 
Hypotheſe, den „Pſychomonismus“, aufſtellt. Seine Gegner nennen dieſe 
Hypotheſe mehr ein Spiel mit Worten; ſie erinnere an Häckels ſogenannte 
moniſtiſche Weltanſchauung, die aus dem wirklichen Monismus herausfalle. 

Wenn Stekel die Häckelſchen Anſchauungen gar nicht erörtert, weil 
er annimmt, daß ſie aller Welt zur Genüge bekannt ſeien, ſo will ich 
meinerſeits, um meine Unvoreingenommenbeit zu wahren, es doch nicht 
unterlaſſen, dem Verfaſſer der „Welträtſel“ hier wegen der Tülle ſeiner 
empiriſchen Kenntniſſe und wegen ſeiner unverkennbaren Tapferkeit mein 
Kompliment zu machen, andererſeits aber auch nicht verſchweigen, daß 
mir ſeine ſpekulative Methode nicht als „eine reife Frucht vom Baume 
der Erkenntnis“, als welche er ſie wertet, erſchienen iſt, da er unbewußt gar 
zu oft den Monismus verleugnet, indem er die Natur als eine Vielheit 
von getrennten Subſtanzen auffaßt und indem er in jeder Einzelſubſtanz 
zwei verbundene metaphyſiſche Prinzipien annimmt. Ed. von Hartmann, 
mit dem ich einmal Gelegenheit hatte, über den Häckelſchen ſogenannten 
Monismus längere Zeit zu plaudern, nannte daher den Jenaer Profeſſor 
einen metaphyſiſchen Dualiſten und ontologiſchen Pluraliſten, und die 
Richtigkeit dieſer Bezeichnungen wird kein ehrlicher Denker beſtreiten können. 
And wenn es, wie Häckel verſichert, wirklich wahr iſt, daß der einzige Weg, 
der zur Wahrheit führt, der Weg der empiriſchen Naturforſchung und der 
darauf gegründeten moniſtiſchen Philoſophie ſei, ſo will es mir ſcheinen, 
als ob Häckel dieſen Weg recht oft verlaſſen und weit abzweigende Seiten ⸗ 
wege eingeſchlagen habe. 

Profeſſor Dr. Roux vertritt in feinem Werke „Die Entwicklungs⸗ 
mechanik, ein neuer Zweig der biologiſchen Wiſſenſchaft“, den Gedanken, 
daß der Organismus aus vielen eins und mehrzelligen Individuen zufammen- 
geſetzt ſei, die alle untereinander einen Kampf ums Daſein führen, nämlich 


Gerhardt⸗Amyntor: Der gebildete Laie und die Naturphilofophte 463 


einen Kampf um Naum und Nahrung. Whnlich wie die äußere Zuchtwahl 
zum Untergange der Schwachen und Unpaffenden führe, entſcheide die innere 
Zuchtwahl über das Schickſal der einzelnen Gewebeteile. Die einzelnen 
Teile des Organismus kämpfen fortwährend um Naum und Nahrung, wobei 
unter dem Einfluß des Funktionsreizes die Gewebe ſich verſtärken, anderer⸗ 
ſeits mangels dieſes Reizes verkümmern. Einer der wichtigſten Geſtaltungs⸗ 
faktoren im organiſchen Leben fei die Oberflächenſpannung. Dieſe 
Tatſachen der Selbſtregulation werden als Stützen der mechaniſchen Theorie 
benutzt. 

Dieſelbe Theorie vertritt auch Profeſſor Dr. Ludwig Rhumbler 
(„Zellenmechanik und Zellenleben“). Anwiderleglich erſcheint fein Satz, daß 
ein mechaniſches Syſtem, das von einem unmechaniſchen Ausgangspunkte 
aus in Gang geſetzt wird, allen wiſſenſchaftlichen Erfahrungen widerſpreche; 
wobei es mir freilich ebenſo unwiderleglich erſcheint, daß, wenn der Aus- 
gangspunkt dennoch richtig wäre, dann eben das Syſtem falſch ſein müßte. 
Nhumbler nennt die Ungleichheit der Oberflächenſpannung das Movens 
für die Bewegung membranloſer Zellkörper; er hofft, daß, wie man die 
Oberflächenſpannung phyſikaliſch beeinfluſſen kann, man auch gegebenenfalls 
die Bewegung der Zellkörper werde beeinfluſſen können; denn es ließen 
ſich ja auch der Chemotropismus, der Thermotropismus und andere Tro- 
pismen mit verſchiedenen nicht lebenden Subſtanzen nachahmen. Das Ober: 
flächenſpannungsgeſetz ſei daher höchſt bedeutſam für die Biologie; gewiſſe 
Bewegungen der Amöben laſſen ſich mit ihm zwanglos erklären. Rhumbler 
benutzt alſo dieſes Geſetz als Sprungbrett, um mit deſſen Hilfe mitten in 
den Mechanismus hineinzuſpringen. Wenn er voll Siegesbewußtſein be- 
hauptet, daß er die Form, die eine verletzte Foraminiferen⸗Schale während 
der Regeneration annimmt, aus phyſikaliſchen Geſetzen im voraus berechnen 
könne, alſo aus Faktoren, von denen keiner ſeinen ſpezifiſch vitalen, nur an 
Lebendes gebundenen Charakter trägt, ſo iſt damit doch noch keine Erklä⸗ 
rung des Zellenlebens gegeben und wir ſtehen nach wie vor erkenntnisbar 
vor dem Wunder der Fortpflanzung. Rhumbler gibt auch ſelbſt zu, daß 
der Übergang vom Mechaniſchen zum Pſychiſchen, zur bewußten Swed: 
mäßigkeit, noch immer der Zellenmechanik unbekannt ſei, hofft aber, daß 
man die Lücken der Rechnung ſchon noch ergänzen werde. 

Wenn ich ſchließlich noch Benedikt („Kriftallifation und Morpho⸗ 
geneſis“) erwähne, fo dürfte ich die bedeutenderen Gegner des Neovitalis- 
mus genannt haben. Auch er widmet der Oberflächenſpannung feine Wufe 
merkſamkeit, indem er zeigt, daß in jeder wäſſerigen Löſung eines Salzes 
dichtere ölartige und weniger dichte Teile nebeneinander vorhanden find 
und daß an den Grenzen dieſer verſchieden dichten Teile der Löſung Span⸗ 
nungen herrſchen, eben jene ſchon mehrfach erwähnten Oberflächenſpannungen. 
Dieſe ſpielen bei der Bildung von Kriſtallen eine hervorragende Nolle. 
Quinke bezeichnet die Kriſtalle als Schaumkammern mit erſtarrten Schaum- 
wänden aus dem waſſerarmen Teile der Salzlöſung mit dem erſtarrten 


464 Gerhardt⸗Amyntor: Der gebitdete Late und die Naturph'loſophie 


Inhalt des waſſerreichen Teiles der Löſung, und ſo prägt uns Benedikt 
unter Anwendung dieſer Bezeichnung das hübſche Wort, daß nicht nur die 
Göttin der Schönheit ſchaumgeborentſei, ſondern auch der Kriſtall, die 
Zelle, die Pflanze, das Tier und auch der Menſch. Eine Schaumzelle ſei 
eben nichts anderes als eine Zelle in einem gewiſſen Oberflächenſpannungs⸗ 
zuſtand, und ſo erkenne man dieſe Spannung als Grundbedingung des 
ganzen organiſchen Lebens. In geiſtreicher Weiſe bezeichnet er den Anter⸗ 
ſchied zwiſchen einem Kriſtall und einem Lebeweſen alſo: „Der Kriſtall iſt 
die erſtarrte Leiche z. B. eines Salzes, die durch neuerliche Löſung phönix⸗ 
artig eine Auferſtehung feiert; eine tieriſche oder pflanzliche Leiche kann 
ebenfalls konſerviert werden, aber nicht auferſtehen. In dieſem Sinne wäre 
das einzige Leben, das den Tod nicht kennt, gerade das als tot betrachtete 
Mineral.” Gezwungen muß er annehmen, daß ſich wenigſtens in der erſten 
geologiſchen Periode unter beſonderen Stoff- und Energieverhältniſſen Lebe: 
weſen aus unorganiſchen Subſtanzen entwickelt haben, daß aber für unſere 
Zeit jede Generatio spontanea ausgeſchloſſen ſei. Aber die Entſtehung von 
Zellen und kernartigen Gebilden aus dem anfangs formloſen Plasma bei 
der Kriſtalliſation gebe uns wenigſtens ein „optiſches Bild einer Generatio 
spontanea“. Die Scheidewände zwiſchen Tier: und Pflanzenreich feien 
gefallen; die Sinnesorgane, die beide Reiche zu trennen ſchienen, ſind längſt 
zur Brücke geworden, die ſie verbindet. 

Stekel meint, man ſei auch ohne eine Lebenskraft, ohne das wiſſen⸗ 
ſchaftliche Mäntelchen des Vitalismus bis zu einem „gewiſſen Verſtändnis“ 
der Lebensvorgänge gekommen. Wenn er auch zugeben muß, daß es ſchein⸗ 
bar nie gelingen werde, die Entſtehung des Bewußtſeins auf mechaniſche 
Weiſe zu erklären und die Stufe zu finden, wo ſich Spannung und Ent⸗ 
ſpannung in Bewußtſein verwandelt, ſo verwirft er doch jeden Vitalismus, 
den er als einen Verſuch wertet, ein Rätfel durch ein anderes zu löſen, 
und ſogar das „Dekadententum der Biologie“ nennt. Ich ſelbſt enthalte 
mich hier jedes Urteils in dieſem Streite. Ich glaube, daß beide Parteien 
recht und unrecht haben, fühle mich aber als Eklektiker jeder Partei zum 
Danke verpflichtet für die mancherlei durch ihre Bemühungen auch mir 
gewordenen Anregungen. Ich denke, daß auch jeder gebildete Laie das 
hier gebotene Material in einer oder der anderen Richtung weiter verfolgen 
und ſchließlich fo zu einer Weltanſchauung gelangen kann, die in Fühlung 
bleibt mit den geiſtigen Strömungen und wiſſenſchaftlichen Ergebniſſen 
unſerer Tage. 

Das aber ſoll niemand vergeſſen, daß eine nur auf wiſſenſchaftlichen 
Fundamenten aufgebaute Weltanſchauung den Menſchen niemals völlig 
befriedigen und ihm in der Unraft und dem Kampf des Lebens niemals 
jenen inneren Frieden und jene Zuverſicht geben kann, nach der wir uns 
alle ſehnen. Ohne einen religidfen Einſchlag zerreißt das Gewebe einer 
Weltanſchauung bei jedem Sturmwind, der verderbenbringend in unſer 
Leben fährt. Nicht bloß unſer Kopf, auch unſer Herz verlangt gebieteriſch 


Baehr: Nefpekt vor der Arbeit! y 465 


nach Nahrung; nicht nur der Erkenntnistrieb, auch die Sehnſucht des Her- 
zens will geſtillt werden. Die Polarität der menſchlichen Natur ſchreit 
nach Wiſſen und Glauben. Was einer glauben will und zu glauben ſich 
gedrängt fühlt, davon ſoll hier nicht geſprochen werden; wohl aber ſei es 
betont, daß ein religiöſer Glaube, der ſich mit wiſſenſchaftlich erhärteten 
Tatſachen in Widerſpruch befindet, ein gar zerbrechlicher Stab iſt und in 
den allerſchwerſten Stunden, wo er uns am feſteſten ſtützen müßte, gerade 
am leichteſten in Stücke geht. Achtung aber vor jedem Glauben, der eine 
ehrliche, auf ſubjektiv zureichende Gründe geſtützte und der wahren Wiſſen⸗ 
ſchaft Rechnung tragende Überzeugung iſt! Ohne allen Glauben eriftiert 
kein menſchliches Weſen, und auch die pſychologiſchen und kosmologiſchen 
Probleme der Naturwiſſenſchaft, die ſchließlich alle in Hypotheſen enden, 
müſſen im Glauben angenommen oder fleptifch verworfen werden. Der 
gebildete Laie, der die Verſuche des naturwiſſenſchaftlichen Forſchers nicht 
ſelbſt anſtellen kann, muß deren Ergebniſſen ſchon Glauben ſchenken; wenn 
er aber anderen, die ebenfalls Menſchen und dem Irrtum unterworfen ſind, 
bedenkenlos Glauben entgegenbringt, wie ſollte er dem eigenen Herzen nicht 
glauben, das ihn in den geweihten Stunden beſeligender Ahnungen aus 
den Niederungen des kämpfe⸗ und ſchmerzenreichen irdiſchen Lebens auf 
Flügeln der Sehnſucht und Zuverſicht emportragen will zu den morgenrot⸗ 
erhellten Höhen, auf denen wir keines Mikroſkops und keines Reagens⸗ 
glaſes bedürfen, um inneren Frieden zu gewinnen? 

Wer mit Kopf und Herz rüſtig fortarbeitet, um immer höher und 
höher zu klimmen, der wird ſchließlich eine ſelbſtändig errungene Welt⸗ 
anſchauung ſein eigen nennen und freudig bekennen, daß es ſich nirgends 
behaglicher ruhen läßt, als im eigenen Bette, und daß es zu unſerem 
Wohlbefinden durchaus nicht beiträgt, wenn wir dieſes Bett mit un⸗ 
gebetenen Gäſten teilen follen. 


N 
Reſpekt vor der Arbeit! 


Von 


Paul Baehr 


Wenn ehrliche Arbeit 

Auch ehrliche Achtung ſtets fände, 
Dann wäre ſo ſchroff nicht 

Die Scheidung der Klaſſen und Stände. 
Was nützen Verſorgung 

And andere edele Taten? 

Die Nichtachtung ſchafft uns 

Die meiſten Sozialdemokraten. 


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Der Waldpfarrer am Schoharie 


Kulturhiſtoriſche Erzählung aus dem deutſch-amerikaniſchen Leben 
des achtzehnten Jahrhunderts 
von 
Friedrich Mayer 
(Fortſetzung) 
Vierzehntes Kapitel 


FI iele Sabre find verftrichen, feitdem ich das vorige Kapitel 

| yp ſchrieb. Neue Ereigniffe bewogen mich, die alten Papiere 

9 IP, einmal wieder durchzuleſen, und dabei durchlebte ich deren 
— Inhalt noch einmal. 

Wie hat ſich am Schoharie alles verändert! Selbſt mein Titel Wald— 
pfarrer will nicht mehr recht paſſen. Im Tale iſt der Wald verſchwunden, 
die Pechner find hinweggezogen, nur die Lumber Camps“ mit ihrem wüſten 
Treiben ſind noch auf den Bergen. Die Wildnis iſt durch den Fleiß der 
Bauern in ein Paradies verwandelt worden. 

Auch die Neider ſind zurückgeblieben und haben uns viel Schweres 
zugefügt! Ich habe in meinen alten Tagen noch eine Familie um mich 
bekommen, dieſer bin ich die Fortfegung meiner Geſchichte ſchuldig. 

Zwiſchen den Engländern und den Franzoſen iſt der Krieg ausge— 
brochen. Schon etlichemal befürchteten wir den Einfall der Franzoſen und 
der mit ihnen verbündeten Indianer. Wilde Gerüchte dringen ins Tal 
über allerlei Greueltaten, welche die Wilden verübt hätten. Es iſt eine 
böſe Zeit, in der wir leben. 

Am ſo mehr erfreute mich im Frühjahr ein Beſuch meines Freundes 
Konrad Weiſer. 

„Sie ſind ein Fremdling in meiner Hütte“, rief ich und ſchüttelte ihm 
beide Hände. 

„Glaub's wohl, Herr Pfarrer, aber ich bin auch fremd bei den andern 
Freunden und Bekannten im Tale, fremd ſogar in meinem eigenen Hauſe.“ 

„Sie ſind doch kein Kain geworden, unſtet und flüchtig auf Erden?“ 


— — — — — —ꝓ— — — — — — — — 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schobarie 467 


„Beinahe bin ich's, nur iſt's ein befferer Geift, der mich in die 
Wälder treibt.“ 

„Bitte, erzählen Sie!“ 

„Ich will, ich will, aber ich habe zuerſt eine Bitte an Sie. Drüben 
in den Catskillbergen habe ich einen alten Bekannten, deſſen Weib krank 
iſt; ich glaube wahrhaftig, ſie iſt beſeſſen. Nun möchte ich gerne, daß Sie 
dieſe Kranke beſuchen würden. Ich habe zwei Pferde mitgebracht, wenn 
wir gleich in den Sattel ſteigen, erreichen wir das Lumber Camp noch 
vor Nacht.“ 

Naſch ſteckte ich etliche Medikamente zu mir, ſowie das Neue Teſta⸗ 
ment, und in kurzer Zeit trappen wir das Tal aufwärts, den Bergen zu, 
welche aus der Ferne zu uns herüberwinken. 

„Anſtet iſt freilich mein Leben“, begann endlich Weiſer. „Ich bin 
auch darin meinem Vater ähnlich. Was hat der Mann nicht alles er⸗ 
duldet? Man kann's faſt nicht glauben, daß ein Menſch ſo viel durch⸗ 
machen kann. Friede ſeinem Andenken! Sein Lebensabend, den er bei mir 
verlebte, war ſchön und milde, wie der Sonnenuntergang an einem gewitter⸗ 
reichen Sommertage. Er ruht neben der kleinen Kirche, die auf unſerer 
Farm gebaut wurde. 

Mir, ſeinem Sohne, geht es nicht viel beſſer! Der Streit der Völker 
läßt mir keine Ruhe. Der Gouverneur will, daß ich ihn ſchlichten ſoll.“ 

„Iſt es nicht wunderbar,“ ſagte ich darauf, „daß wir ſelbſt hier, am 
Ende der Welt, in den Streit der Völker mit hineingezogen werden? Von 
Deutſchland ſind wir nach dem Schoharie geflohen, um unter anderem den 
Erpreffungen und Plünderungen der Franzoſen zu entgehen, und nun haben 
wir von dem deutſchen Nationalfeind womöglich noch grauſamere Unge- 
bühr zu erdulden.“ 

„So iſt es,“ ſagte Weiſer, „der Menſch kann ſich nun einmal nicht 
den höchſten Intereſſen und Kämpfen feiner Zeit entziehen. Die Menſch⸗ 
heit bildet ein Ganzes. Darum, Herr Pfarrer, lehrt die Kirche die Exiſtenz 
der Erbſünde. Fehlt ein Teil, ſo trifft die Strafe das ganze Volk. Wie 
die Glaubenskriege der Reformation am St. Lorenz und St. Johns ihren 
Widerhall fanden, ſo werden die deutſchen Bauern in der Anſiedlung in 
den Kampf gegenwärtig verwickelt, wodurch, wie ich hoffe, für immer 
die Franzoſen von den Germanen aus der Herrſchaft Amerikas vertrieben 
werden.“ 

„Dann ſollte man auch nicht mehr vom wilden Weſten reden, denn 
wir ſtehen der Kultur ſo nahe wie Paris, London oder Berlin“, ant⸗ 
wortete ich. 

„Vor den Preußen habe ich allen Reſpekt. Dort ift ein junger 
Fürft auf den Thron feiner Väter geſtiegen, Friedrich II., und hat Helden⸗ 
taten vollbracht, wodurch der Deutſche wieder Vertrauen in ſeinen Stamm 
und die Zukunft ſeines Volkes faſſen darf.“ 

„Gott gebe es! Aber ein Sieg preußiſcher Waffen tut's noch nicht, 


468 Mayer: Der Waldpfarrer am Scho harte 


wir brauchen eine deutſche Literatur, wir müſſen ein Volk werden, das Geiſt 
und Gedanken hat, wenn wir andere Völker leiten wollen.“ 

„Wohl! Aber auch davon haben wir Anzeichen. Ich war über dem 
Chriſtfeſt in New Vork, da nahm mich der Gouverneur in ein Theater 
oder etwas Ähnliches. Es wurde die ganze Geſchichte geſungen von dem 
Leiden und Sterben des Herrn. Ich habe geweint und gejubelt dabei. 
So ſchön muß es im Himmel fein. Da fang zuerſt ein Mann: ‚Tröftet, 
tröſtet mein Golf’, dann nahm eine Frauenſtimme das Lied auf, und wie 
fie an die Stelle kamen: „Ans iſt ein Kind geboren“, da fiel auf einmal der 
ganze Chor und das Orcheſter ein in das „Wunderbar, Nat, Kraft, Held, 
Ewigvater, Friedefürft. Dann kam eine andere Stelle, bei der die An⸗ 
weſenden alle aufſtanden, und der Gouverneur erklärte mir, das ſei das 
‚große Halleluja“. Ich kann dieſes Singen nicht beſchreiben, aber ich habe 
nachts darauf nicht geſchlafen. Ein deutſcher Mann, Namens Haendel, 
habe dieſe Muſik ausgedacht und aufgeſchrieben. Er lebe heute noch in 
England. Da haben wir den Anfang zu einer deutſchen Literatur.“ 

„Wie denkt der Gouverneur über die Anſiedler?“ 

„Er iſt ein falſcher Mann, ich traue ihm nicht. Freilich bin ich in 
feinem Dienſt, weil er mich gebraucht als Unterhändler mit den Indianern. 
Ich habe ſchon erwähnt, daß die Preußen mit den Franzoſen einen Krieg 
führen. Aus irgendeinem Grunde ſympathiſieren die Engländer mit den 
Deutſchen. Deswegen iſt der Krieg auch in Amerika ausgebrochen. Ich 
ſoll verſuchen, die ſechs Nationen der Indianer auf unſere Seite zu be⸗ 
kommen. Das hält ſchwer, weil die Indianer die Franzoſen lieber haben 
als die Engländer. Die Franzoſen mögen nicht arbeiten und nehmen den 
Indianern darum ihr Land nicht weg, wie Engländer und Deutſche das 
tun. Sie heiraten Indianerweiber und ſinken mit dieſen auf dieſelbe Stufe 
herab. Ich traue den Wilden diesmal nicht und habe dem Nikolaus Her⸗ 
kimer geraten, das Pulver trocken zu halten. Denn es wird zum Kampfe 
kommen, ehe das Jahr um iſt.“ 

„Er iſt ein tüchtiger Mann, der Herkimer; wenn ich daran denke, 
wie er mir half, den erſten Altar zu zimmern, dann merke ich, daß ich 
alt werde.“ 

„Vor dem Gouverneur haben wir zunächſt Nuhe, denn er hat die 
Hilfe der Deutſchen nötig. Sobald er aber ſiegreich aus dem Kampfe here 
vorgeht, wird er uns wieder Schwierigkeiten machen. Warum jagen wir 
nicht Franzoſen und Engländer aus dem Lande und regieren uns ſelber?“ 

„Ein großer Gedanke! Die Deutſchen ſind bereit, ihn durchzuführen, 
aber wir ſind zu ſchwach. Mein Gott, wenn ich das noch erlebte!“ 

„Wer weiß, was die Zukunft uns bringt? Doch wir müſſen den 
Pferden die Sporen geben, ſonſt ereilt uns die Nacht, ehe wir ans Ziel 
gelangen!“ 

Schon von weitem bemerkten wir eine ungewöhnliche Aufregung auf 
den Bergen: Lagerfeuer brannten und gellend tönten Kriegsſignale durchs Tal. 


Mayer: Der Waldpfarrer am Scheharie 469 


„Iſt's ein Überfall, der uns droht?“ fragte ich. 

„Geben Sie dem Pferd die Sporen, gleich ſind wir dort!“ 

Man hatte uns von den Bergen aus bemerkt. Ein großer, ſelbſt⸗ 
bewußt auftretender Mann trat an Weiſer heran und unterhielt ſich mit 
ihm in engliſcher Sprache. Es war Sir Wm. Johnſon, der Mann, der, 
ohne es zu wiſſen, mir in Amerika die ſchwerſte Enttäuſchung bereitet hatte. 
Hunderte mit Flinten bewaffnete Bauern waren verſammelt und immer 
noch ſtrömten neue Ankömmlinge hinzu. Sir Johnſon erklärte den Sach— 
verhalt. Zwei Kinder ſahen heute mittag etliche bewaffnete Indianer durch 
den Schoharie ſchwimmen, welche dann mit lautem Geheul gegen ihr Haus 
geſprungen ſeien, worauf die Kinder zu ihren Eltern auf das Feld flohen. 
Man fürchtete darum einen Aberfall der Wilden, wie ſolche in letzter Zeit 
von verſchiedenen Orten gemeldet worden ſind. Während Johnſon dieſes 
erzählte, trat plötzlich ein Indianer unter den Bäumen hervor und redete 
Weiſer an: 

„Warum verſammelt der weiße Häuptling ſeine Krieger und gräbt 
die Streitaxt aus dem Boden?“ 

„Rote Krieger find über das Waſſer gekommen mit dem Kriegsruf 
der roten Männer! Wir wollen den Frieden“, antwortete Weiſer. 

„Nicht Krieger, arme Indianer, zuviel Feuerwaſſer, keine Streitaxt“, 
erklärte der Häuptling. 

Alſo betrunkene Indianer haben die Aufregung verurſacht. Sofort 
löſte ſich die Spannung, unbändiges Gelächter und lauter Jubel brach aus. 
Aus dem Lumber Camp kamen die geputzten Weiber heraus, und ſofort 
begann unter dem leichtfertigen Volk ein ausgelaſſener Tanz. 

Drinnen in einer Erdhöhle lag die Kranke, die ich beſuchen ſollte. 
Ich habe als Waldpfarrer mancherlei erlebt, aber dieſe Szene werde ich 
doch nie vergeſſen. Es war noch ein junges Weib, nicht ohne Schönheit, das 
ſich da auf dem elenden Lager wälzte. Sobald die Kranke meiner anſichtig 
wurde, ſchrie ſie wild auf: „Hier kommt der Pfarrer, helft mir, ich bin 
beſeſſen, ich habe ſieben Teufel, hier — hier — hier — ſind ſie!“ Die 
Rafende packte mich krampfhaft am Arme und wollte, ich ſolle die Teufel 
betaſten. Hilf⸗ und ratlos ſchaute ich mich um. Es war kein Menſch in 
der Höhle, die eine rauchende Fettlampe etwas erhellte. 

„Mein Mann iſt draußen,“ ſchrie fie, „der ,Srifd Murphy’, jube, 
das iſt er, juhe, ſchon wieder, das iſt feine Stimme, er tanzt mit den 
Weibern. Da ſind die Geiſter, hier — hier“ — ſie riß ihr zerlumptes 
Kleid vom Leibe. „Verflucht, verloren — verflucht vom eigenen Vater! 
Hier — hier ſind ſie ſchon wieder. Herr Pfarrer, beten Sie, treiben Sie 
die Teufel aus!“ Sie weinte und ſchluchzte; nach etlichen Minuten ſchlief 
ſie vor Ermattung ein. 

„Sie iſt beſeſſen!“ Es war Weiſer, der ſo ſprach. Ich fragte ihn 
über das Vorleben des Weibes. Er wußte wenig. Als Knabe ſei er mit 
dem Jriſch Murphy bei den Indianern geweſen. Der habe ihm einmal 


470 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 


das Leben gerettet, und er hätte aus Dankbarkeit ihm gerne einen Dienſt 
getan. Darum habe er mich hiehergebracht. 

„Sie iſt ohne Zweifel beſeſſen“, damit ſchloß er ſeine Erzählung. 

„Die Geſchichten über Beſeſſene in der Bibel in Ehren,“ entgegnete 
ich, „aber ich glaube, wir haben es hier mit einer einfachen, phyſiſchen 
Krankheit zu tun. Eine junge Mutter, vernachläſſigt in der wichtigſten 
Stunde ihres Lebens, und deshalb eine Krankheit, welcher wirkſam zu be⸗ 
gegnen es im Walde bei uns kein Mittel gibt. Das kann nicht mehr lange 
währen, und ſie hat ausgelitten!“ 

Plötzlich fuhr die Kranke in die Höhe, ſchaute mich wild an und 
rief: „Sechs Teufel ſind ausgefahren, aber einer iſt noch hier — hier!“ 

Um fie einigermaßen zu beruhigen, fimulierte ich Schwerhörigkeit, 
ſie müſſe darum langſam und laut mir ihre Geſchichte erzählen, ehe ich ihr 
helfen könne. Das half; ruhig und verftändlich erzählte ‚fie: 

„Mein Vater hat gemeinſchaftlich mit einem reichen Manne ein Ver⸗ 
brechen begangen; um es zu verheimlichen, zwang der mächtige Mann 
meinen Vater zum Selbſtmord. Anbemerkt war ich ein Zeuge des Her⸗ 
gangs. Die beiden Männer ſtritten ſich heftig, aber mein Vater unterlag; 
unter Flüchen und furchtbaren Verwünſchungen ſtarb er. Das Schreckliche 
verließ mich nie! Ich verlor allen ſittlichen Halt. Erſt ſechzehn Jahre alt, 
lernte ich in New Vork den Srifeh Murphy kennen. In einer Schlägerei, 
der ich zuſah, blieb er der Sieger. Wie ich ihm meine Bewunderung 
zeigte, hat er mich gepackt: „Komm mit mir, ich habe ſtarke Arme und 
werde dich verforgen’, fagte er. Ich ging mit ihm in den Urwald, in dieſe 
Hölle. Der Fluch des Vaters — o mein Kind!“ Sie ſank wieder zurück. 

Ich habe mit ihr gebetet und verſprach, für ihr Kind zu ſorgen. Sie 
ſchaute nach der Tür, ob ihr Mann nicht nach ihr ſehe. Man vernahm 
ſein Juherufen, wobei die Kranke jedesmal zuſammenfuhr. Er kam nicht. 
Ich betete den Glauben und die Beichte; ihre Lippen bewegten ſich. Sie 
wurde ſchwächer; ich ſegnete ſie, indem ich ihr die Hände auflegte. Neben 
mir kniete Konrad Weiſer. So ſtarb ſie. 

Wir gruben neben der Höhle ein Grab, dann wickelten wir den Körper 
in ein Tuch und begruben ihn. Es war eine mondhelle Nacht. 

Wie wir zurückkamen, war ihr Kind aufgewacht und weinte und ver- 
langte nach ſeiner Mutter. 

„Wie heißt du?“ 

„May!“ 

„Willſt du mit mir gehen?“ 

„Ich will Mama“, weinte ſie. 

„Deine Mama iſt weit fort und wir gehen auch dorthin.“ 

Ich ſchlug meinen Mantel um das Mädchen und hob ſie auf mein 
Pferd. Die Tanzmuſik war verſtummt, am Boden lagen Betrunkene; wir 
ritten ohne Abſchied von ihnen hinweg. 

Nach einer Weile unterbrach Weiſer die Stille: 


Maper: Der Waldpfarrer am Schoharie 471 


„Herr Pfarrer, ich ziehe das Mädchen auf.“ 

„Laſſen Sie es mir, ich bin ein Kinderfreund und will es behalten.“ 
Wieder ſchwiegen wir und ritten raſch durch die Nacht hin. 

„Wird der Jriſch Murphy morgen fein Weib vermiſſen?“ 
„Kaum!“ 

Im Oſten ſtieg die Morgenröte auf. 


Fünfzehntes Kapitel 


Nach einigen Tagen ritt Weiſer nach ſeiner Heimat in Pennſylvanien. 
Den Sommer hindurch waren die Leute zu ſehr mit ihrer Farmarbeit be 
ſchäftigt, als daß ſie viel auf die Gerüchte achteten, welche von blutigen 
Kämpfen erzählten, die zwiſchen Franzoſen und Engländern in Kanada 
ſtattgefunden hätten. Heiß und ſchwül war der Sommer, und ich konnte 
das Gefühl der Anſicherheit nicht los werden. 

Schon färbte der Herbſt die Blätter, die Eichhörnchen ſammelten 
früher als andere Jahre die Waldnüſſe in ihre Neſter: deutliche Vor⸗ 
zeichen eines rauhen Winters. Da trat ganz aufgeregt Jonathan Schmul 
eines Tages in mein Zimmer. Es litt ihn nicht im Stuhl. Auf und ab 
gehend in der Stube, ſprach er: 

„Wir find verraten und verlaſſen. Die Nothäute find im Anzug, 
und was Jahrzehnte aufgebaut, wird in einer Nacht vernichtet und zerſtört!“ 

Ich machte Einwendungen: „Den Häuptling Brant habe ich geſehen 
im Lumber Camp. Sein Mund floß über von Verſicherungen ewiger Freund⸗ 
ſchaft gegen Weiſer und Sir Johnſon.“ 

„Is ſich ein falſcher Menſch, hat gelebt unter den weißen Leuten, 
gebraucht die Schulung der Europäer und die Verſchlagenheit der Wilden 
gegen uns!“ 

Als ich weitere Zweifel äußere, ſagt Schmul: 

„Sie wollen nicht glauben, was geſehen hat ein Sud’ mit feinen 
Augen, ſollen ſelber ſehen und auch hören. Morgen nacht halten die 
roten Teufel Kriegsrat, ſobald aufgehen wird der Mond im Walde; müſſen 
diesmal hingehen! Ich ſind' Weg und Steg und will ſein Ihr Führer.“ 

Auf feinem Geſicht waren nur zu deutlich die Sorgen um unſer Wohl. 
ergehen zu leſen. Sollte der Mann ſich getäuſcht haben? Sicher iſt ſicher, 
ich gehe mit ihm. — 

Nördlich vom Mohawkfluß, manche Meile von der nächſten Anſied⸗ 
lung entfernt, ſianden wir in der folgenden Nacht. Aber dem Waldes⸗ 
dunkel lag ein leichter Herbſtnebel. Nur da und dort ſah man durch den 
Nebel hindurch einen vereinzelten Stern am Himmel. 

Die Stille unterbrachen die Eulen des Arwaldes. Es klang ihr Rufen 
faſt geiſterhaft. Mir bangte! Ob Schmul wirklich von Sinnen iſt, wie 
manche Leute in der Anſiedlung behaupten? Im Dunkel einer Tanne ſtand 
er; nach vorn gebeugt, horchte er auf jeden Laut. Ich trat neben ihn: 


472 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 


„Kein Menſch hier, man will uns narren!“ 

Blitzſchnell legte er ſeine Hand über meinen Mund: 

„Still, ein lautes Wort wird uns töten, ſobald der Mond aufgeht“, 
flüfterte er. Mit der Linken zeigte er nach der leichten Nöte, welche am 
Horizont das Aufgehen des Mondes ankündete, in ſeiner Rechten blitzte 
ein langes Meſſer. 

Eine Viertelſtunde vergeht, eben zeigt ſich die Mondſcheibe, da be⸗ 
wegt fic) das Unterholz. Wie Schlangen ſchleichen geräuſchlos gegen 
dreißig Geſtalten über das Moos. Es waren bemalte, mit Adlerfedern ge- 
ſchmückte Mohawkkrieger. Sie ſtießen einen kurzen Laut aus als Gruß 
oder Erkennungszeichen. So weit von einer menſchlichen Anſiedlung ent: 
fernt, halten es die Indianer für unnötig, Wachen auszuſtellen, zumal bei 
Friedenszeiten. 

Eben war der Mond voll über dem Walde aufgeſtiegen, als ſchwei 
gend ein Häuptling unter die Indianer trat. Eine große, ſchlanke Geſtalt, 
ein klein wenig nach vorn gebeugt, mit feſtgeſchloſſenen Lippen und un 
beimlihem Auge, ftand er da, während die Indianer ſich ſchweigend im 
Halbkreiſe um ihn lagerten. Praſſelnd ſchlug jetzt eine Flamme über einem 
Reiſighaufen empor und beleuchtete die ganze Gruppe. Kein Wort war 
bis jetzt gewechſelt worden. Stumm fchauten die Wilden auf ihren Haupt: 
ling. Es war Brant, der Häuptling, welcher jetzt das Wort ergriff. Er 
war nicht nur geiſtig der bedeutendſte unter ihnen, ſondern auch der beſte 
und eindrucksvollſte Redner. Seine Stimme zitterte, als er anfing: 

„Der große Geiſt hat geſprochen, daß die tapfern Mohaweks aus⸗ 
gerottet werden und kein Sohn aus ihrem Stamme die Aſche ſeines Vaters 
ſuchen ſolle!“ 

Bei dieſen Worten, in welchen Religion und Patriotismus ſchlau 
verwertet waren von dem klugen Brant, ſprangen die Indianer auf von 
ihren Sitzen; ſie ſchlugen die Streitäxte gegeneinander, die im Mondlicht 
grell aufleuchteten, und ihre Augen funkelten. 

„Das iſt der Spruch, den die Bleichgeſichter ihren Kindern lehren, 
und den ich gelernt habe auf ihrer Schule. Mein Herz iſt hart geworden 
wie Stein, mein Arm ſtark wie Eiſen. Wer ſoll ausgerottet werden, die 
Mohawks oder die Blaßgeſichter? Wem gehört das Land, den Mobarwts 
oder den Blaßgeſichtern?“ 

Nun erzählte er die Leiden der Indianer, er nannte jeden der An 
weſenden mit Namen, rühmte ihre Heldentaten und die ihrer Väter. Seine 
Stimme wurde weich. Er ſprach in jenem feierlichen Ton, der ſo leicht 
das Herz der Zuhörer ergreift. Die Indianer ſtöhnten! 

„Was haben die Deutſchen getan? Das Mohawk. und Schoharietal 
nahmen ſie uns weg! Dort graſen ihre Herden auf dem Lande der Mohawks. 
Sie bauen große Wigwams mit den Bäumen, die den Mohawks gehören, 
ſie holen die Fiſche aus unſeren Waſſern und Flüſſen. Sie ſchmälern 
unſere Jagdgründe, ſie drängen uns nach der untergehenden Sonne. Wit 


| 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 473 


wollten ihre Squaws und ihnen geben unſere Squaws. Aber die Deut- 
ſchen ſchütteln die Köpfe. Sie wollen uns ausrotten! Nach den großen 
Seen der ſinkenden Sonne treiben fie uns. Wollen die Mohawks dort 
ſterben? Wer vergräbt die Aſche ihrer Krieger?“ 

Aufs neue ſprangen die Wilden in die Höhe und ſchlugen an die 
Streitaxt. „Mohawks, hört,“ fuhr Brant fort, „was der große Vater von 
Kanada (Gouverneur des Königs Louis XV. von Frankreich) tun will. Ich 
war in ſeinem Wigwam und habe gegeſſen aus dem Teller ſeiner Squaw. 
Der große Vater ſchickt Krieger, Flinten und Pulver, auch Brot und Reit- 
pferde. Dann überfallen wir die Blaßgeſichter, löten ſie oder jagen ſie in 
das Waſſer der aufgehenden Sonne (Atlantiſchen Ozean).“ Er entwickelte 
ſeinen Plan. Sie wollten in die Täler ſchleichen, morden und plündern. 
Die Franzoſen ſind im Anmarſch. „Ehe die Sonne ſich zum ſechſtenmal 
ſetzt, erfolgt der Kriegszug.“ 

Schmuls Hand legte ſich auf meine Schulter, er winkte mir, ihm 
zu folgen. „Sie beſchließen den Einfall und ſtellen dann ſofort Wachen 
aus, darum müffen wir beizeiten uns zurückziehen. Wir haben genug gehört.“ 

Es galt nun, die Anſiedler zu alarmieren. Schmul ſollte nördlich 
vom Mohawk dieſe Arbeit beſorgen, während ich durch das Schoharietal 
ziehen wollte. Beſonders fiel mir die Aufgabe zu, Sir Wm. Johnſon, 
den Vertreter der engliſchen Regierung, zu benachrichtigen, damit beizeiten 
Soldaten nach den Tälern geſchickt würden. 

Das Herz klopfte mir doch, als ich in Johnſons Haus trat. Hier 
alſo waltet die Katherine Weiſenberg. Jeden Augenblick kann ſie aus einer 
Tür treten, und ich vor ihr ſtehen. Ein Sohn Johnſons — er mochte 
etwa zwölf Jahre alt ſein —, mit den Augen ſeiner Mutter, trat mir 
höflich entgegen und führte mich zu ſeinem Vater. Er litt an einem hef⸗ 
tigen Gichtanfall und lag im Bett. Wie das Blut des Ritters kochte, 
wie er ſich verwünſchte, daß er gerade in dieſer Zeit auf keinem Fuße ſtehen 
konnte! Auf der Stelle diktierte er einen Brief an den engliſchen General 
und fertigte in meiner Gegenwart den Boten ab, ihn nach Albany zu 
tragen, noch an demſelben Tag. Dann befahl er, Herkimer ſolle die zwei 
alten Kanonen auffahren laſſen und fic ſüdlich vom Mohawk aufitellen, 
bis Verſtärkung durch engliſche Truppen erfolge, mit dieſen vereint dann den 
Mohawk überſchreiten und die Feinde in ihrem Lager aufſuchen und angreifen. 

„Wir wollen den roten Teufeln einen Denkzettel erteilen, daß ihnen 
nicht mehr lüſtert nach unſerem Gut“, ſprach er. 

Er iſt doch ein Mann von altem Schrot und Korn, dachte ich, als 
ich wegging. Seine Familie ſei wohl; ſeine zwei Söhne traten herzu und 
gaben mir die Hand. Ihre Mutter aber zeigte ſich nicht. 


Sechzehntes Kapitel 


Mittlerweile war Schmul durch die Anſiedlung geeilt nördlich vom 


Mohawk. Zum Anglück glaubten die Leute dem aufs höchſte erregten 
Der Türmer X, 10 31 


474 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharte 


Manne nicht. Man habe neulich die Leute an den Catskillbergen genarrt, 
ſagten ſie. Warum der Pfarrer nicht ſelber komme? Wäre etwas Wahres 
an der Sache, ſo würde Reſig ſich gewiß zeigen. Alle Erklärungen des 
Juden halfen nicht. Allerdings unterſuchten die Männer Flinte und Pulver 
und hielten ſich bereit, aber von einem geſchloſſenen Widerſtand war keine 
Rede. Sie gingen ihrer Feldarbeit nach. 

Südlich vom Mohawk hatte Nikolaus Herkimer ſeine Leute ge⸗ 
ſammelt, ſo raſch es bei der kurzen Zeit ging, aber er wartete vergeblich 
auf die engliſchen Truppen. 

Am 11. November 1757 rückten die Franzoſen und Indianer ohne 
jegliches Hindernis bis in die unmittelbare Nähe der Anſiedlung jenſeits 
des Mohawks. Sie verbargen ſich im Walde. Morgens um drei Abr 
überfielen ſie die nichtsahnenden Deutſchen. Mit wildem Kriegsgeſchrei 
ſtürzten die Indianer in die Häuſer, riſſen die noch Schlafenden aus den 
Betten und ſkalpierten Weiber und Kinder. Es war eine graufame 
Schlächterei. Anfangs wehrten fic) die Männer tapfer, aber aller Wider- 
ſtand war bei der Übermacht der Feinde vergeblich. Der franzöſiſche Kapitän 
Belletre befahl die Häuſer und Scheunen niederzubrennen. Von meiner 
Blockhütte aus ſah ich, wie die Flammen gen Himmel aufſchlugen, ich 
hörte das Schreien der Schlachtopfer und der gefangen hinweggeführten 
Weiber. O Gott! 

Das Mohawktal, dieſe Brotkammer des Staates New Vork, in einer 
Nacht in einen Aſchenhaufen und in eine öde Wildnis verwandelt! 

Wie der Feind ſiegestrunken den Mohawk überſchreiten wollte, ver 
trat ihm Herkimer mit ſeinen Mannen den Weg. Er hatte ſeine wenigen 
Getreuen nahe dem eigenen Hauſe aufgeſtellt, das gut befeſtigt iſt, und 
die feige Franzoſenbande wagte nicht einen Kampf aufzunehmen. 

Wo blieb aber der engliſche General? Er ſoll geſagt haben: 

„Den deutſchen Dickköpfen ſchadet ein Aderlaß nicht!“ Darum blieb 
er ruhig in Albany. Das iſt der Lohn, den vierzigjährige treue Arbeit 
in der Kolonie von England erhält. Ob ſie am Ende dieſem General einen 
Orden geben? Kaum, denn Johnſon hat gerechte Beſchwerde gegen ihn 
in London geführt. Ans Deutſche beachtet man dort nicht, aber einen Sir 
Johnſon darf man nicht ignorieren. | 

Das Elend der Anſiedler ift nicht zu beſchreiben. Nach manchen 
darf man gar nicht fragen, weil ſie in Gefangenſchaft geraten ſind, das iſt 
ſchlimmer als der Tod. Vierzig Tote, einhundertundzwei Gefangene! Der 
Geldverluſt iſt ungeheuer, denn die Leute haben durch Fleiß und Spar⸗ 
ſamkeit es zu Wohlſtand gebracht. 

Sir Johnſon kam etliche Tage nachher nach dem Rampfpla geritten, 
ich konnte nicht an mich halten und habe die engliſche Antätigkeit bitter gee 
tadelt. An Homer erinnernd rief ich: 

„Einſt wird kommen der Tag, da die heilige Ilios hinſinkt, 
Priamos ſelbſt und das Volk des lanzenkundigen Königs!“ 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 475 


„Sie ſind doch nicht aus Boſton,“ ſagte ernſt Johnſon, „dort führen 
ſie ſolche verräteriſchen Reden. Aber einem Pfarrer ziemt ſich das nicht, 
die Bibel führt eine andere Sprache.“ 

Ich entgegnete ihm kühn: „Unfer Herr ſagt: wenn das Salz dumm 
wird, dann iſt es zu nichts mehr nütze, als daß man es hinaus wirft, damit 
es von den Leuten zertreten wird. Das gilt auch von der Regierung.“ 

Er wollte antworten, aber wir waren an einen Leichnam hingetreten, 
es war ein Weib. Wie wir genauer nachſchauten, lag ſie auf zwei Kindern. 
Sie hatte ſich in das Gebüſch flüchten wollen, als das Skalpiermeſſer des 
Wilden ſie traf. Noch im Sterben wollte ſie ihre Kinder ſchützen mit ihrem 
eigenen Leibe. Das Mädchen war tot, aber der Knabe hatte noch Leben 
in ſich. Sir Johnſon flößte ihm Wein über die Lippen, nach etlichen 
Minuten ſchlug er die Augen auf, aber er konnte nicht ſprechen. Es fehlte 
ihm ein Teil der Zunge. Mich packte aufs neue die Wut. Ob es jetzt paſſend 
fet oder nicht, ich ſchrie auf: „Das nennt der Obergeneral ‚deutfchen Aderlaß“. 
So hat Ihre Regierung uns behandelt feit den Tagen des alten Weiſers!“ 

Johnſon ſagte nichts! 

Ich ſagte jedoch: „Es iſt ein deutſcher Knabe, ich habe ihn vor et⸗ 
lichen Jahren getauft und will ihn aufziehen, er heißt Adam Bauer.“ 

So habe ich noch eine Familie bekommen zum Lebensabend: ein ver⸗ 
laſſenes Mädchen, ein ſtummer Knabe — dazu ein Waldpfarrer, und wir 
haben das Leben im Urwald, an dieſen drei Perſonen illuſtriert in einem Haufe. 

Immer weitere Nachrichten laufen ein von Aberfällen einzelner Farmen. 
Jedes Haus hat ſeine eigenen Heldentaten, aber am tapferſten haben ſich 
doch die Schells geſchlagen. 

Seitdem der Jonathan Schmul bei ihrer Hochzeit den hübſchen 
Segensſpruch getan, galt er bei den Eheleuten als beſonderer Hausfreund. 
Zu ihnen eilte er darum mit der Nachricht von dem Anrücken der Feinde. 

Chriſtian Schell beſchloß, es auf einen Kampf ankommen zu laſſen. 
Sein Blockhaus iſt ſtark gebaut und recht zur Verteidigung gegen Aber⸗ 
fälle der Wilden eingerichtet. Die untern Balken haben keine Offnung, 
außer einer maſſiven Türe und den nötigen Schießlöchern, durch welche die 
Belagerten auf ihre Angreifer feuern können. Der zweite Stock iſt über 
den erſten herausgebaut und hat im Boden Schießlöcher, wodurch man 
einen Feind hindern kann, nahe genug an das Haus heranzukommen, um 
es in Brand zu ſtecken oder die Türe zu erbrechen. Schell war allezeit 
mit Waffen und Schießbedarf verſehen, um einen gewöhnlichen Angriff ab- 
zuſchlagen. Er befand ſich mit ſeiner Familie nichts Böſes ahnend im Felde, 
als plötzlich der Feind aus dem nahen Wald hervorſtürzte. Bei ſeiner 
ſchnellen Flucht nach dem Hauſe gerieten die zwei Knaben Schells, die 
Zwillinge, die am Waldesſaum ſpielten, in Gefangenſchaft. Es find ihre 
kleinſten Kinder. 

Der Feind beſtand aus 48 Indianern und 16 Franzoſen unter der 
Anführung Kapitän McDonalds. Es war etwa 2 Ahr, als der Feind 


476 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoherte 


einen Sturm gegen das Haus unternahm. Während Schell und feine 
vier Söhne ſchoſſen, lud die Frau Schell die Flinten. Kein Schuß ging 
daneben, und der Feind wurde mit blutigen Opfern abgewieſen. Aufs neue 
ſtürmten ſie, aber jedesmal holten ſie ſich blutige Köpfe. 

Endlich ſprang McDonald tollkühn gegen das Blockhaus, mit 
einem Hebebaum verſuchte er die Haustür zu ſprengen. Aber während er 
an dieſer Arbeit war, traf ihn eine Kugel in den Fuß. Geſchwind wie 
der Wind entriegelte Schell die Tür und zog den verwundeten Anführer 
ins Haus. Dieſer Erfolg rettete die Belagerten von Feuersgefahr, denn 
der Feind hätte ja dabei ſeinen Kapitän mitverbrannt, er brachte zugleich 
ihnen neue Munition. Der Feind wurde für einen Augenblick ſtutzig, aber 
dann ſtürmte er mit dem Mut der Verzweiflung gegen das Haus. 

Schells hatten ſich auf den letzten Sturm gerüſtet. Während Vater 
und Söhne ihre Gewehre in Ordnung brachten und jeden Augenblick auf 
den Angriff warteten, ſtimmte die Mutter jenes Siegeslied der Reformation 
an, das man ihnen auch zur Hochzeit geſungen hatte. In den ſtillen Abend 
trug der Wind die Töne hinaus zu dem Feind: 

„Mit unſerer Macht iſt nichts getan, Wir ſind gar bald verloren, 

Es ſtreit't für uns der rechte Mann, Den Gott hat ſelbſt erkoren, 

Fragſt du, wer er iſt? Er heißet Jeſus Chriſt, Der Herre Sebaoth, 

And iſt kein andrer Gott, Das Feld muß er behalten!“ 

Noch war das Lied nicht verklungen, als der Feind in langen Sätzen 
gegen das Haus heranſprang und ſeine Flinten durch die Schießlöcher den 
Belagerten entgegenhielt. Aber Frau Schell ließ ſich nicht verwirren. Sie 
war gleich mit der Axt bei der Hand und verbog durch ein paar kräftige 
Schläge fünf der Gewehre. So gewannen die Männer Zeit, die Feinde 
aufs Korn zu nehmen und zurückzutreiben. 

Der Feind zog ab; 23 Tote und Verwundete bedeckten den Kampf; 
platz. Die Schells hatten keinen Schaden genommen. Die beiden acht ⸗ 
jährigen Knaben werden gegen den gefangenen McDonald ausgetauſcht 
werden. — 

Mit der franzöſiſchen Herrſchaft geht es im Weſten zu Ende. Sichere 
Nachricht ift angekommen, wonach fie überall zurückgeſchlagen worden find. 
General Wolff ſoll bei Quebeck ſeinen Sieg mit dem Tode bezahlt haben. 
Beſonders rühmen unſere Leute einen jungen Virginier auf unſerer Seite, 
namens Georg Waſhington. 

Hatten die Scharen Melacs einſt unſer altes Vater land zerſtört, ſo 
leiden wir von denſelben Menſchen in der neuen Welt. Darum freuen ſich 
die Anſiedler über die franzöſiſche Niederlage, und ich muß einen Dank 
gottesdienſt halten. Lieb wäre mir, wenn die Engländer ebenfalls aus 
dem Lande wären. 

Letzten Sonntag kamen die Männer zum erſtenmal in langer Zeit 
ohne Gewehre zur Kirche! (Fortſetzung folgt) 


wer 


Aus dem Liebesleben eines Fürſten 


Von einer Badenerin 


ie auf den Höhen des Lebens ſtehen, zahlen die Ehren ihres 
I Daſeins mit ihrer Perſon, die der Öffentlichteit zugehört. Den 
ACH Vorzügen ihrer Geburt danken fie Ehrenbezeugungen von der 
— ertſten Stunde ihres Lebens an, die keine verdienten fein können. 

Das phyſiſche Leben der Fürſten intereſſiert die Maſſen, die geiſtige 
Entwickelung aber jene, die am Kompaß des Volkes ſtehen, für das es nur 
einen Weg und nur ein Ziel geben ſollte. 

Die erſteren tragen flüſternd von Mund zu Mund, von Ohr zu Ohr, 
Anerkennung und Spott ſteht nahe beieinander im Volke, die anderen hoffen 
und fürchten, was der Mann einſt halten werde an Erwartungen und Er- 
gebniſſen, die ſich an ſeine Perſon knüpfen. 

Solange ein Souverän lebt, werden die kritiſchen Stimmen ihn wie 
ein verdecktes Orcheſter begleiten. Mögen auch einzelne Töne das Ohr 
ſchärfer herausfordern, zu einer vollſtändigen Diſſonanz, wie im Jahre 48 
des vorigen Jahrhunderts, kommt es ſelten. Die Regierungen haben Ge— 
ſetzesparagraphen geſchaffen, beſtimmt, die Auswüchſe der Kritik, ſtörende 
Töne zur erwünſchten Harmonie zurückzuverweiſen oder im Entſtehen zu 
unterdrücken. 

Dem Liebesleben eines Fürſten gilt von Anfang an das Intereſſe 
eines Volkes, das ſoviel Leichtſinn verzeiht, wenn er liebenswürdig ſich gab, 
das mit naiv zutreffenden Gründen ihr Handeln zu entſchuldigen weiß. 
Außerdem ſchließen die Männer in bezug auf ihre Sexualvorrechte auch 
die Fürſten mit ein. 

Der verſtorbene Großherzog von Baden kam in ſeiner Jugend als 
zweiter Prinz in das Allgemeinintereſſe. Seinem älteren Bruder fiel die 
Thronfolge zu, und ſchon damals hieß es: „Die Thronfolger treiben es am 
tollſten.“ Der badiſche Erbgroßherzog von damals war nicht der einzige, 
der deshalb dem nachfolgenden Bruder ſeinen Platz an der Sonne ab— 
treten mußte. 


478 Cine Badenerin: Aus dem Liebesleben eines Fürſten 


Der Erſtgeborene zahlte die Sünden ſeiner ungebändigten Sinne nicht 
nur mit ſeiner Geſundheit, mit ſeinem jungen Leben. An dieſen Geſcheh⸗ 
niſſen hat das herrſchende Hofzeremoniell den ſchwerſten Schuldtitel. Strenges 
Pflicht⸗ und Rechtsbewußtſein, Selbſtſucht und Willenstraining ſollte auch 
bei Fürſtenſöhnen der Erziehung ernſteſter Teil ſein, nicht nur bei einer 
ſorgſamen Geiſtespflege der heranwachſenden Jugend im Volke. Ein Thron⸗ 
folger bedarf ein höheres Maß an Charakterfeſtigkeit und an Zuverläſſig⸗ 
keit der Geſinnung. Eine ſcharfe Grenze müßte verhindern, daß Herrſucht, 
Eigenſinn, Selbſtüberhebung als Konterbande in das Erziehungsſyſtem Ein⸗ 
laß fänden. Man ſage doch nicht immer: Der Menſch iſt und bleibt ſo, 
wie er veranlagt iſt, keine Erziehung wird ihn dauernd ändern. Das find 
Ausreden, die ein denkender Menſch nicht ausſprechen ſollte, wenn auch ein 
Teil Wahrheit an dieſer Theſe nicht beſtritten werden ſoll. Wenn ſchlechte 
Anlagen, verwerfliche Geſinnung ſich zeigen, die bei einem Fürſtenkinde, den 
frühen Ehrenbezeugungen entſprechend, eigentlich gar nicht denkbar ſein ſollten, 
da müßte eben das Verantwortungsgefühl, der Ehrbegriff in verſchärftem 
Maße beigebracht werden und dahingehend, daß ein Landesfürſt heute nicht 
nur den Augen, auch der Kritik ſeines Volles, ja der ganzen Kulturwelt 
ausgeſetzt iſt. Daß er nicht nur ergebene Untertanentreue zu erwarten hat, 
auch Staatsbürgerrechte zu achten verpflichtet iſt. Ferner, daß das Volk 
die geforderten Ehrenbezeugungen nur dem vollkommenern 
Menſchen willig und gerne darbringt, nicht einem in ſeiner 
Geſinnung Degradierten und Degenerierten. 

Durch die längere und als unheilbar bezeichnete Krankheit des badi- 
ſchen Erbgroßherzogs trat der letztverſtorbene Großherzog, nach dem Ableben 
Leopolds, feines Vaters, in Vertretung feines älteren Bruders, die Regent: 
ſchaft des Landes an. Schon damals regte ſich der Wunſch, daß Friedrich 
an der Spitze der Regierung bleiben möge. Die edle, ſchöne Männlich ⸗ 
keit, die ſo früh ſich bei ihm entwickelte, verriet eine große Seele. Seine 
ganze Denkweiſe ſchien getragen von dem hohen Streben, der Menſchheit 
ſchönſte Güter zu verkörpern. Nie fand fic Widerſpruch in feinen zwin⸗ 
genden Worten, noch in feinen Handlungen. Und das iſt das Große 
an ihm geweſen als Fürſt und als Mann. Nie hat er verſprochen, 
was er nicht halten wollte oder konnte. Außergewöhnliche Geiſtesgaben 
können im Leben eines Fürſten verhängnisvoll werden. Er gab ehrlichen 
Willen und eine hohe Auffaſſung ſeiner Pflichten als Landesfürſt und — 
als Menſch. Daß ein von ſolcher Lauterkeit des Weſens erfüllter Mann 
ſich nie im Sumpfe niederer Sinnen ⸗ und Naturtriebe verlieren würde, war 
ſelbſtverſtändlich. Er beftätigte in feinem ganzen ferneren Leben, daß wahr: 
haft vornehme Geſinnung jeden Mann und in allen Lagen des 
Lebens vor Entwürdigung zu ſchützen vermag (und gleichviel, 
weſſen Standes er zugehört, kann man ruhig beifügen). 

Die Liebe eines ſolchen Mannes iſt ein echtes — Gottesgeſchenl. 
Auch das Herz Friedrichs von Baden hatte geſprochen: in ſeiner Weiſe. 


7 


Eine Badenerin: Aus dem Liebesleben eines Fürſten 479 


Keine Prinzeſſin war's und keine Fürſtin, der das reichſte Geſchenk galt, 
das er als Mann zu vergeben hatte. In gleicher Kraft und Reine loderte 
des Mädchens Liebe ihm entgegen. Wenn die Flammen eines ſeeliſchen 
Gleichklangs über den beiden jungen Menſchen zuſammenſchlugen, geſchah 
es unter der feſten Zuverſicht, fürs ganze Leben einander anzugehören. Eine 
morganatiſche Ehe ſchien ihm ſelbſtverſtändlich, und Prinz Friedrich be» 
kannte ſich offen zu ihr, ohne Rüdficht auf feine Ausnahmkſtellung. So 
adelte ihn ſeine Geſinnung und paarte ſich mit dem ſeiner Geburt. Die 
Erwählte war feiner würdig, was fie bis zu ihrem Tode zu beweiſen ver- 
ſtand. Was an Qual und Wehe, was an Schmerz dieſe zwei Menſchen 
miteinander getragen haben mögen, da er zur Regentſchaft gelangte und 
bald darauf durch den Tod des Thronfolgers den Thron der Zähringer 
beſtieg, iſt unſchwer nachzufühlen. 

Eine legitime ebenbürtige Ehe ward zur Forderung des Geſetzes. 

Drei Kinder, die er öffentlich anerkannte und mit freiherrlichem Range 
bedacht hatte, erſchwerten die Trennung, die vollſtändig, nicht nur dem 
Scheine nach, durchgeführt wurde, da er ſich um Luiſe von Preußen be— 
warb. Die gegenſeitige Hochachtung verlangte das ganze Opfer. Als 
Friedrich die legitime Gattin heimführte, war ſicher der Gedanke in ihm 
lebendig, ihr in reichem Pflichtleben zu erſetzen, was an Liebe er nicht 
mehr geben konnte. Auch da hat er ſein Wort gehalten und könnte er 
ſo ein leuchtendes Beiſpiel ſein für die tauſende unter ähnlichen Verhält⸗ 
niſſen geſchloſſenen Ehen. 

Die Mutter ſeiner vorehelichen Kinder lebte fortan ſtill und zurück⸗ 
gezogen ihrem Schmerz, ihrem entſchwundenen Glück als Penſionärin in 
einem katholiſchen Krankenpflegeorden der badiſchen Hauptſtadt. Ob ſie 
geborene Katholikin war oder erſt nach der Trennung übertrat, entzieht ſich 
meiner Kenntnis. In tiefer, hingebender Religioſität fand ſie den einzigen 
Troſt in dem ſchweren Leid ihres Herzens. Ihr Orgelſpiel in der Kapelle 
der Anſtalt ſoll ergreifend zu hören geweſen ſein. 

Der Großherzog beſuchte die einſtige Geliebte in größeren Unters 
brechungen. Keine beißende Zunge wagte es, dieſe Begegnungen zu be⸗ 
geifern, zu beſchmutzen. Ich meine, die hohe Selbſtachtung, die jedes in 
ſich trug und dem andern entgegenbrachte, machte es ihm nicht ſo ſchwer, 
ihre Liebe, vielleicht auch ihre Leidenſchaft, in achtungsvolle Freundſchaft 
hinüberzugeleiten, Gefühle, in denen das Weib viel erhabener iſt als der 
Mann. | 

Der Schmerz mag in der verlaffenen Frau wohl größer geweſen fein 
als der Wille, die Kraft zum Leben. Das in ihrem Glück, ohne die Schuld 
des Mannes, getäuſchte Weib wankte dem Grabe zu. Während ihrer letzten 
Leidenstage war der Großherzog öfters an ihrem Lager. 

Es gibt Verſionen, die beſagen, ſie wäre in ſeinen Armen verſchie⸗ 
den, was nicht den Tatſachen entſprechen kann, weil die Hochachtung, die 
eines dem anderen bot, und der Lebensernſt, die Gewiſſenhaftigkeit andere 


480 Eine Badenerin: Aus dem Liebesleben eines Fürſten 


Geſetze kannten. Die ſchwergeprüfte Frau vergaß nie, daß „er“ der Gatte 
einer andern war, daß er ſich nicht vergeben dürfe, aus Achtung für fie. 

Auf dem Wege zur letzten Nuheſtätte, prunklos gegangen, wie ſie 
es gewünſcht hatte, begleitete ſie der Großherzog. Lange ſtand er am 
offenen Grabe in tiefem Weh! Der Sarg da unten umſchloß das hoch⸗ 
geklungene Lied ſeiner Jugendliebe, den Inhalt ſeines Mannesherzens, ſie, 
mit der er ſich in großer, tiefer Liebe geeint in irdiſcher Seligkeit. Die ihm 
den ſtolzen Weg der Pflicht gewieſen und entſagend ihn vorangegangen! 

Er hatte ein neues Leben in Pflicht beginnen müſſen. Die da unten 
lag, hatte der Gram aufgezehrt und der Schmerz, eine andere an ſeiner 
Seite zu wiſſen, ohne ſeine Schuld. Der Großherzog konnte ſich kaum vom 
Grabe trennen. Niemand wagte den Schmerz zu ſtören, um, wie ſonſt 
üblich, polternd die Erde hinabzuſchaufeln. 

Da legte ſich eine Hand ſchwer auf ſeinen Arm. „Fritz, komm!“ 
ſprach es neben ihm. Er hatte gar nicht bemerkt, daß eine weibliche Ge⸗ 
ſtalt, die Großherzogin, {chon länger neben ihm geweilt hatte. Willenlos 
folgte der gequälte Fürſt, fuhr mit ihr zurück ins Schloß. 

Ein Wagen rollte leer des gleichen Weges. 

Schon im Anfang ihrer Ehe war die Großherzogin von der Ver⸗ 
gangenheit ihres Gatten genau unterrichtet worden. Für ſolche Dienſte 
gibt es in einem Schloſſe erſt recht gefällige Leute. Alle Ausfahrten des 
Großherzogs ſtanden unter der Mitwiſſenſchaft ſeiner Gemahlin. Sie war 
und blieb von allem unterrichtet. Wenn die Reportermitteilungen wahr: 
ſcheinlich nicht perſönlich erfolgten, ſo wird doch manche Frau die Empfin⸗ 
dung feſthalten: „Das könnte ich meinem Manne nicht antun!“ 

Ob die kaiſerliche Mutter der einzigen Tochter den Rat gab, den 
Gatten keine Nacht allein aus dem Schloſſe zu laſſen? Stets ihn zu be⸗ 
gleiten, auch ohne feine Aufforderung? Oder geſchah es aus eigenem Im⸗ 
puls, daß ſie über des Gatten Perſon und Koffer verfügte, ihn zwang, 
fie zu begleiten, wenn fie reifen mußte? Alle feine Hinweiſe auf unauf- 
ſchiebbare Regierungsgeſchäfte wurden ignoriert. Erſt das Anſchwellen der 
Zornader an der Stirn befreite den Fürſten von weiterem Zwang. Nicht ſelten 
nahm der Großherzog Regierungsalten mit, erledigte fie unterwegs im Suge. 

Derartige Vorkommniſſe wurden zur Arſache, daß man der Groß⸗ 
herzogin mehr aufbürdete, ſie für mehr verantwortlich machte, als recht⸗ 
lich möglich war. Es heißt den Einfluß der Fürftin ſehr überſchätzen, 
wenn ſie ganz mittelbar für den landesherrlichen Verzicht der Hoheitsrechte 
gegenüber der badiſchen Armee verantwortlich gemacht wird. Ebenſo iſt 
es mit der Anklage weit über das Ziel hinausgeſchoſſen, ſie habe veran⸗ 
laßt, daß die Poſt dem Reich ausgeliefert und fo Baden eine ſtarke Ein⸗ 
nahmequelle entzogen wurde. Es wurde damals gemunkelt, der damalige 
badiſche Finanzminiſter hätte perſönlich eine Million von Preußen erhalten. 

Bei genauer Verfolgung der damaligen Verhältniſſe wird man zu 
anderer, gerechterer Beurteilung kommen müſſen. 


Eine Badenerin: Aus dem Liebesleben eines Für ſten 481 


Der Großherzog ſtand zu ſeinem kaiſerlichen Schwiegervater in aller⸗ 
beſten Beziehungen. 

Die badiſche Begeiſterung durchflutete Land und Volk. Seine Grenze 
war auch die des feindlichen Gegners. Deſſen Einfall in das Land wäre in 
ſeinen Folgen unabſehbar geweſen. Noch gab es Menſchen, die von dem 
Durchzug und den Plünderungen franzöſiſcher und ruſſiſcher Truppen in 
den Freiheitskriegen zu erzählen wußten. An der Landſtraße bei Bühl 
— wenige Stationen ſüdlich von Baden-Baden — ſteht noch ein Denkſtein 
für Turenne, und nicht nur die Heidelberger Schloßruine, noch manch andere 
reckt ihr Gerippe zum Himmel als Wahrzeichen franzöſiſcher Greueltaten 
von einſt. 

Vorwiegend badiſche Truppen unter preußiſchem Kommando hatten 
im letzten Kriege Wache gehalten, mit ihren Leibern die heimatliche Grenze 
gedeckt. Der große deutſche Einheitsgedanke brach jubelnd durch den En⸗ 
thuſiasmus jener unvergleichlichen Tage. Land und Volk hätte damals den 
Fürſten mitgezwungen, wenn er nicht ſelber als der erſten einer die Be⸗ 
wegung geführt hätte: aus ehrlicher, innerer Aberzeugung heraus. 
Die Brandung elementaren Volks jubels, geſchürt durch den Segen der 
franzöſiſchen Kriegskontribution — die uns unterdeſſen faſt zum Fluche ge⸗ 
worden iſt —, drang auch in die badiſchen Landſtände hinein, da ſie zum 
erſten Male nach dem großen ſieggeendeten Kriege wieder zuſammentraten. 

In einem ſtreng konſtitutionell geleiteten Staate, wie Baden dank 
feinem Landesfürſten ſich nennen kann, liegt die letzte Entſcheidung über fein 
Geſchick bei den Landſtänden. Und keine Macht hätte dieſe zwingen können, 
ihre Zuſtimmung zu geben oder zu verweigern. 

Die ſchon damals ausſchlaggebende nationalliberale Partei konnte 
ſich in patriotiſchen Reden nicht genug tun und ſtimmte alle Bedenken von 
anderer Seite als unpatriotiſch nieder. So war der Pakt perfekt geworden, 
und die Militärkonvention mit Baden. 

Später ſtellte Preußen an Baden den Antrag zur Übernahme der 
Staatsbahnen. Ein glattes „Nein“ war die Antwort des Landtags. Dieſes 
„Nein“ wäre auch im Jahre 71 möglich geweſen trotz landesfürſtlicher 
Wünſche, trotz landesfürſtlichem Verzicht, der ſicherlich dem Großherzog 
nicht leicht geworden iſt. 

Wer ihn ſchärfer beobachtete, mußte zu der Erkenntnis kommen, daß 
er ſeine Souveränitätsrechte ebenſo beachtet wiſſen wollte, wie er ſeinerſeits 
Volks⸗ und Verfaſſungsrechte niemals antaſtete, und ohne jede Komplika⸗ 
tion hat er dies Programm fürder durchzuführen verſtanden. Es bleibt 
einem die Vermutung, daß er ſich vielleicht einem „Nein“ der Landſtände 
ohne Schwierigkeiten gefügt hätte. Aus alledem iſt zu entnehmen, daß die 
Großherzogin in jenen Fällen nicht die ſubjektiv Schuldige ſein kann, wenn 
auch „den Willen zur Tat“ ihr niemand abfprechen wird. Einzelne national⸗ 
liberale Führer jener denkwürdigen Zeit geben in ſtillen Stunden der Gelbft- 
vorwürfe die eigene Schuld zu, ohne natürlich um Beſchönigungen verlegen 


482 Eine Badenerin: Aus dem Liebesleben eines Fürſten 


zu ſein. Die Anterſtrömung aller Abſichten war, das katholiſche Oſterreich 
aus den Bundesſtaaten ganz und für immer auszuſchalten. 

Die Art, wie Großherzog Friedrich über alle die ſpäteren Nadel⸗ 
ſtiche und Reibereien mit dem Kommandierenden ſeiner Landtruppen hin⸗ 
weg den deutſchen Einheitsgedanken als nationale Errungenſchaft hochhielt 
und bei jeder Gelegenheit feierte, beweiſt, daß er das Opfer aus eigener, 
wenn auch beeinflußter Aberzeugung gebracht hat. Daß er ſich und ſeine 
Rechtsnachfolger nicht genügend gegenüber den Nechtsnachfolgern feines 
damals ſchon bejahrten kaiſerlichen Schwiegervaters geſchützt hat, mag ihm 
manche trübe Stunden bereitet haben. 

Der badiſche Aradel kam durch die Entſchlüſſe des Landtags, durch 
die Selbſtloſigkeit des Landesherrn in großen Zwieſpalt. Deren Söhne 
hatten bis jetzt ausſchließlich der öſterreichiſchen Armee angehört, wie die 
badiſchen Prinzen auch. Das neue militäriſche Geſetz preußiſcher Ober⸗ 
hoheit beſtimmte jeden männlichen und tauglich befundenen Staatsbürger 
zur Militärpflicht. Das frühere Recht des Loskaufens der Wohlhabenden 
und Gebildeten war dadurch aufgehoben und bot das Einjährigenjahr als 
Erſatz. 

Die jungen Träger althiſtoriſcher Geſchlechter, wie Baden 
und das übrige Süddeutſchland mehrere aufweiſt, fanden im preußiſchen 
Heere keine gleichwertigen Genoſſen. Was wollen die vielen 
preußiſchen Adelstitel und Namen, bei denen das 14. Jahrhundert zu den 
Seltenheiten im Stammbaum gehört, gegen die Nepräſentanten des badiſchen 
Aradels beſagen, wie z. B. die „Bodmann“, die „Seldenek“, deren Ge⸗ 
ſchlechter ſchon im 7. Jahrhundert ihre Machtſtellung nachweiſen können. 
Sie dienten ihre einjährige Zeit ab und traten wieder aus der Armee aus. 
Nur wenige alte Namen der badiſchen Ariſtokratie ſind in der preußiſchen 
Armee enthalten. Sie blieben ſo in der Machtſphäre ihres Landes. 

Dieſe Ab⸗ und Weitſchweifung mußte gemacht werden, um Schuld 
und Arſache auseinanderzuhalten, denn ein Schwächling war Groß— 
herzog Friedrich nicht. Kein Zug feines Geſichts verriet Anmännlich⸗ 
keit, wohl aber edle Ritterlichkeit, vornehme Zurückhaltung. Eigenſchaften, 
die der heutige Geiſt überflüſſig nennt. Und doch zieren fie den mächtigſten 
und einflußreichſten Mann, haben keinen Zuſammenhang mit der mit Recht 
verpönten Schwäche, willenloſem Nachgeben, das von den Modernen durch 
Brutalität erſetzt wird. 

Luiſe von Preußen und Friedrich von Baden waren die Pole zweier 
ganz verſchiedener Raſſen. War es ein Wagnis, ſolch entgegengeſetzt ge⸗ 
artetete Völker politiſch einen zu wollen, ſo war es ein noch viel größeres 
geweſen, zwei ſo verſchieden geartete Menſchen in eheliche Gemeinſchaft zu 
bringen! Steht ſchon der genial veranlagte Mann nicht ſelten verftändnie- 
los vor einer fein differenzierten Frauenſeele, nun erſt Friedrich gegen: 
über der nordiſchen, d. h. preußiſchen Prinzeſſin mit der ſtark geprägten 
Stammesart! 


Cine Badenerin: Aus dem Liebesleben eines Fürſten 483 


Friedrich von Baden, der die Verbindung von Nord und Süd in 
ſeiner Ehe vorauslebte, hat gezeigt, daß es geht, wenn man will. Er 
gab nach, wo er nicht immer Verſtändnis für die Urfachen fand. Er be⸗ 
wertete eine harmoniſch gelebte und ſo nach außen wirkende Ehe ſowie die 
Erhaltung feines ſeeliſchen Gleichgewichts höher als durchgeführte Recht⸗ 
haberei. Anfriede verzehrt! 

So manches könnte eingeſchaltet werden, das ihm den Vorwurf zu 
großer Nachgiebigkeit gegen die Gattin eintrug. Auch vieles, daß die Deu- 
tung von Popularitätsſucht hervorrief. Ob der nicht beſſer auf den weib⸗ 
lichen Teil dieſes fürſtlichen Ehepaars paßte? Vielleicht auf beide. Jeden⸗ 
falls war das Erſcheinen auf dem entlegenſten Dorfe aus unbedeutendem 
Anlaſſe, das zu ſtundenlangen Wagenfahrten zwang, weit über das Maß 
der landes väterlichen Verpflichtung hinausgehend. 

Wie ſagt doch Hansjakob fo fein ironiſch in feinen Schriften irgend⸗ 
wo: „Mir imponiert ein Fürſt, der mit verhängten Wagenfenſtern an ſeinen 
ſich tief verneigenden Untertanen ſtumm vorbeijagt.“ 

Das Vaterherz Friedrichs I. erlitt manch harten Stoß. Die Ehe 
ſeines älteſten Sohnes und Thronfolgers blieb kinderlos. Mit ihm erliſcht 
der direkte Mannesſtamm, da der zweite Sohn Ludwig und Liebling der 
Mutter den Folgen eines Duells erlag. Die Vertuſchungsparole 
von einer ſchweren Lungenentzündung, der er erlegen ſei, ließ ſich nicht 
durchführen. Die behandelnden Arzte mußten ſich ihrer angegriffenen Be⸗ 
rufsehre erwehren. 

Noch einmal erſtand die ganze Liebeskraft des badiſchen Landes⸗ 
fürſten in veredelter Art, ohne den ſinnlichen Einſchlag, der ſoviel Liebe 
entweihen kann, in der ſtarken Zuneigung zu ſeiner einzigen legitimen Tochter, 
der Prinzeſſin Viktoria. 

Sie war ſein treuer Kamerad bei ſeinen oft weiten Spaziergängen. Mit 
großen Schritten ging ſie neben ihm, von den Sprüngen der Hunde begleitet. 

Wenn ich nicht irre, war es in Königſtein i. T., in der Villa der 
Großherzogin von Luxemburg und Herzogin von Naſſau, wo die Zukunft 
der Prinzeſſin feſtgelegt wurde. Man ſagte damals, ſie bevorzuge den 
ruſſiſchen Vetter, deſſen Mutter eine Schweſter des Großherzogs geweſen. 
Jedenfalls mußte ſie entſagen und die Werbung des Kronprinzen von 
Schweden, des heutigen Königs, annehmen. Mit dieſer Verbindung ver⸗ 
einigten ſich die Linien der alten Wafa-Dynaftie und der neuen von Berna⸗ 
dotte. Das ſchwediſche Land blieb vor Spaltungen bewahrt. 

Der Großherzog verfiel nach der Trennung von ſeiner Tochter in 
ſchwere, lange Krankheit. „Aus Sehnſucht nach ſeiner Tochter“, war der 
allgemeine Kommentar. 

Nichts iſt bezeichnender für die inneren Beziehungen zwiſchen Friedrich 
und Luiſe, als daß es ihr, der Gattin, nicht gelang, die fehlende Tochter dem 
Gatten zu erſetzen oder aber, wie es hätte ſein müſſen, von vornherein den 
erſten Platz in ſeinem Herzen zu behaupten. 


484 eine Badenerm: Aus dem Liebesleben eines Fürſten 


Die zarten, feinen Fühler eines ſüddeutſchen Herzens, die unſer Leben 
ſo ſchwer, aber auch ſo reich machen, kennt norddeutſche Art eben nicht 
immer. 

Eines möchte ich von Luiſe von Baden wiſſen, ob ſie in ihrer langen 
Ehe die ſüddeutſche, ſpeziell die badiſche Naſſenart einzuſchätzen verſtand, 
ſich Mühe gab, ſie verſtehen zu lernen? Ich wage daran zu zweifeln. Das 
Hofzeremoniell, die Servilität der Amgebung, auch die beſtrickende Liebens ⸗ 
würdigkeit der Fürſtin, die kein leeres Gerede, ſondern Tatſache iſt, die 
auch mich ſchon bezwungen hat und der gegenüber jeder höfliche Menſch 
wehrlos iſt und wird, haben tieferes Eingehen in unfere Stammesart bei ihr 
überflüſſig gemacht. Aber nicht gegenüber dem Gatten! Dies alles er⸗ 
ſchließt die Herzen der Gatten nicht und führt und fügt ſie nicht zuſammen 
zu innigſtem Verſtehen, das Worte überflüſſig macht; wo ein verſtehender 
Blick mehr ſagen kann als die ſchönſt klingenden Worte. Wo jedes fühlt 
und weiß, was es dem anderen bedeutet, wo nicht nur äußere Intereſſen 
binden, ſondern die Kraft gegenſeitiger Wertſchätzung, der Gewinn gegen⸗ 
ſeitiger Ergänzung zur erhabenen Vollendung der ehelichen Gemeinſchaft. 
Der ritterliche, wahrhaft vornehme Sinn Friedrichs hat trotzdem ſeiner Ehe 
den Stempel höchſter Pflichterfüllung aufgedrückt. Wohl niemand wird 
die Reinheit dieſes Ehebundes antaſten wollen, der ſo oft als eine Muſter⸗ 
ehe im Fürftenfchloß genannt wurde. „Eine Muſterehe im Muſterländle.“ 
| Sie könnte auch lehrreich fein für die Differenzen, die ſich z. B. 
zwiſchen Nord» und Süͤddeutſchland durch die Provokation im Präfidium des 
Deutſchen Flottenvereins gegenüber dem bayriſchen Landesverband „heraus 
entwickelt“ haben. 

Es wäre nun endlich höchſte Zeit dazu, wenn Preußen ſich ſeine 
ſüddeutſchen Bundesgenoſſen etwas näher beſehen, beſſer kennen und ere 
kennen würde. Vielleicht käme es dann zu der Einſicht, daß Süddeutſchland 
juſtament das überreich beſitzt, was Preußen fehlt: die Dokumente 
einer hohen, alten Kultur, überreich ausgegoſſen über Länder, deren 
Bewohner ſtarke Selbſtändigkeit mit politiſcher Reife verbinden, deren 
Fürften ſich die erſten des Volkes nicht nur nennen, ſondern ſich auch fo 
geben. Wo die Fürften ruhig legen können „ihr Haupt in jedes Unter: 
tanen Schoß“. N 

Bevor die Seelen fic nicht erkannt haben, die „Geiſter erkennend 
ſich begegnen“, kann von keiner vollen Vereinigung die Rede ſein: weder 
in einer Ehe noch im Leben der Nationen. 

In den Volks⸗ und Mittelſchulen muß angefangen werden, und zwar 
in Preußen vorweg. Weniger preußiſche Geſchichte und mehr deutſche. 
Weniger Hohenzollernkult und mehr füddeutfche Gefchichte, mehr Hinweiſe 
auf den ſelten künſtleriſchen und kulturellen Nachlaß und Erbſchaft füd- 
deutſcher Frühintelligenz. Es ſchadete gar nichts, wenn man den hell 
äugigen Preußenjungen in der Schule erzählen würde, im Süden unſeres 
geeinigten großen Vaterlandes leben Volksſtämme, die ſchon auf hoher 


eme Badenerin: Aus dem Liebesleben eines Fürſten 485 


Kulturſtufe ſtanden, da wir Preußen noch in Bärenpelzen herumſpazierten! 
And wenn man den aufhorchenden Jungen den ethiſchen Wert alter 
Kultur, der herrlichen Bauten und Kunſtſchätze auseinanderſetzte im Gegen⸗ 
ſatz zu der nervenzerreibenden, induſtriellen Entwickelung Preußens. Sich 
näher kennen lernen, ſich beſſer ſchätzen lernen! Laſſe einer dem andern die 
ſchuldige Anerkennung, dann wird aus der bindenden Vernunft die bindende 
gegenſeitige Achtung entſtehen, das ſicherſte Fundament für wachſende Zu⸗ 
neigung. Sich gegenſeitig ergänzen, einer dem andern die Vorzüge ſeiner 
Raffe leihen. Wie erſt Mann und Weib zuſammen ein ganzer Menſch 
iſt, nach Kant, fo könnte Nord und Süd, die einen durch ihre raſche Emp⸗ 
fänglichkeit, die anderen durch ihre Beharrlichkeit, ein vollendetes Ganzes 
bilden, eine auf gegenſeitiger Wertſchätzung aufgebaute harmoniſche Ehe, 
die jedem Teil zu feinen Rechten verhilft, wo jeder Teil zur rechten 
Zeit ſich beſcheidet, wenn es zum Wohle der Geſamtheit, der 
Nation, zum Anſehen nach außen erforderlich iſt. Immer nur 
ſeinen Willen vorſchieben, ihm Geltung zu ſuchen ohne Rückſicht auf den 
andern Teil, das erſtickt jede erſtehende Regung. Das ſchadet dem nötigen 
innigen Zuſammenſchluß ſowohl im Ehe⸗ wie im Völkerbunde, ſchafft Zwie⸗ 
fpälte, die die Einigkeit bedrohen und den gemeinſamen wirtſchaftlichen Auf⸗ 
ftieg hindern. — — — 

Welche Monotonie lag einſt in den Straßen von Berlin. Welche 
Langeweile an den Faſſaden ſeiner Häuſer, die wie aufgeſtellte uniformierte 
Soldaten die Karrees der Stadt bildeten. In den älteren Straßen Berlins 
iſt's noch heute ſo. Seit aber geniale Architekten den ſüddeutſchen Bauſtil 
nach Berlin und ſeinen anſtoßenden Vorſtädten, die ſich mit Berlin inein⸗ 
anderſchieben, übertragen haben, welche augenerfreuende Abwechſlung, die 
das Straßenbild ſo verſchönt! 

Vom Charlottenburger Knie aus zieht ſich links die alte neuangelegte 
Bismarckſtraße. Gegenüber dem neuen Schillertheater erhebt ſich ein Ge⸗ 
bäudekomplex ſüddeutſchen Stils, bis ins kleinſte durchgeführt. Gierige und 
ſtaunende Blicke haften ſtändig an den Häuſern. Kaum daß ein Menſch 
vorübergeht, ohne zu raſten und wenn auch noch ſo kurze Betrachtung zu 
halten. Aber noch viel Packenderes birgt die Bleibtreu⸗, Niebuhr⸗ und 
Mommſenſtraße, ſüdlich vom Savignyplatz. Hier iſt auch die leiſeſte An⸗ 
deutung an theatraliſchen Effekt vermieden. Eine reinere „Stilfreude“ iſt 
mir wenigſtens noch nie geworden, als jene Häuſer mir ſie bieten konnten. 
Wie oft ging ich an der andern Seite entlang, um mich wieder daran ſatt⸗ 
zuſehen. 

So gäbe es noch viele Dinge, die ſich nach Norddeutſchland, nach 
Preußen übertragen ließen. Schon der innere Aus bau ſolcher Häuſer zeigt 
den Anterſchied von nord» und ſüddeutſchem Weſen. Wir lieben lauſchige 
Winkel, intimes perſönliches Leben in unſerem Heim, das jeden anderen 
ſchlicht und ruhig abgeſtimmt in ſich aufnimmt, mit Ehrfurcht am Alten 
hängt, das uns ſoviel erzählen kann. Die Hausfrau hat ihr eigen Bereich 


486 Maffe: Verklärt 


für die Bedürfniſſe der Küche und des geordnet und ftill geführten Haus⸗ 
haltes. 

Was ſich auf der Wohnungsſuche in Berlin einem offenbart, damit 
könnte ich Bände füllen. Was bedeutet überhaupt die ſicherlich nicht kleine 
Ziffer Süddeutſcher für Berlin! Man kann nur wünſchen, daß die ſtets 
zunehmende Zahl ſich möglichſt aus der Intelligenz rekrutieren möchte, die 
weiß, was ſie ſich und dem engeren Heimatlande ſchuldig iſt. Damit ſich die 
Achtung erzwingend, wo ſie nicht freiwillig gewährt wird. 

Wohl ſchafft die Neuzeit Menſchen, die keine Achtung zu vergeben 
haben. Man laſſe ſolche am Wege liegen. Sie dürfen für uns keine Be⸗ 
deutung haben. Wir haben Pionierdienſte zu erfüllen, heute noch wie vor 
dreißig und mehr Jahren. Aber man fordere nicht immer von uns, daß 
wir ewig die Gebenden ſein ſollen, wie Friedrich von Baden es war. Das 
erwärmt nicht, ſondern kältet und ſtellt die Höflichkeit und die Phraſe in 
den Verkehr, von denen das Herz des Mannes nichts weiß, auch das Herz 
des Volkes nicht. And das iſt nicht deutſche Art! Wenigſtens nicht von 
einſt, da „unfere Art“ die Gegner bezwang! 


W 


Verklärt 


Von 


Grete Maffé 


Jetzt biſt du mir erſt ganz geworden, 
Biſt erſt in Wahrheit mir geſchenkt, 
Da ſchon die Nacht die dunklen Borden 
Auf deines Bildes Helle ſenkt. 


Im Leben biſt du mir geſtorben, 

And in der Welt biſt du mir weit. 

Doch zart vom Sehnſuchtsruf umworben, 
Steigſt du mir aus der Dunkelheit. 


And ſtrahlend gehſt du mir zur Seite 
And meine Seele ſtrömt dir zu. 

In eine wunderblaue Weite 

Gehn ſtill verſonnen ich und du. 


And jeder Herzſchlag tönt jetzt reiner, 

Es klingt dein Schritt durchs blüh'nde Land. 
Ich wähne, daß der Seligen einer 

Wich führt an ſeiner weißen Hand. 


vir 


Ein Mutterwort 


Von 


Käte Damm 


/rühfommer war's. Alles drängte zum Blühen, Duften und 
Reifen. Wie ein ſtiller, erwartungsvoller Frieden lag es 
über der Natur, die auf den Hochſommer wartete. 
< Hochſommer! Auch für die zarte Frau, die am weit: 
geöffneten Fenſter am Nähtiſch ſaß, war es faſt Hochſommer geworden, 
achtzehn Ehejahre lagen hinter ihr, glückliche und friedliche, wenn auch nicht 
immer ſorgenloſe. Sie hatte ſo viel von unglücklichen Ehen geleſen, von 
gefeſſelten Frauenſeelen und falſch verſtandenen Frauenherzen und von der 
unwürdigen Sklaverei der Ehe, aber auf ſie war das alles nicht anwendbar. 
Wie ſeit jenem Tage, da ſie die Seine geworden, hatte der ſtarke treue Mann 
ſie mit zarter Liebe umgeben, und wie gern, ach wie gern hatte ſie ihm ſein 
Heim lieb und traut gemacht. Sie lächelte manchmal, wenn ſie moderne 
Novellen und Romane von unverſtandenen Frauen las, und kam ſich mit 
ihrem Glück ſo ſchrecklich unmodern vor. Als ſie ſich verheirateten, da 
hatten ſie auch hin und wieder mit Sorgen zu kämpfen, ſie hatte auch nur 
die eben nötige Kaution gehabt und mit den Zinſen und dem Hauptmanns— 
gehalt reichen, das war oft nicht leicht, beſonders ſeit die Kinder da waren. 
Kordula, die älteſte, die ſchon Oſtern konfirmiert war und ſiebzehn Jahre 
zählte, und Frank und Alrich, die vierzehn- und elfjährigen Kadetten. Jetzt, 
da Friedrich Major war und einen wohlhabenden Oheim beerbt hatte, 
waren auch dieſe Sorgen verflogen, und die Sommerſonne ſchien ſo freundlich 
in Thereſes Leben, dieſe ruhige, gleichmäßige Sommerſonne. Aber nun 
war es wie ein Schatten darüber hingegangen, ſie hatte ſich ſo der er— 
wachſenen Tochter gefreut, wie wollte ſie mit ihr und in ihr leben, ihr eine 
Freundin ſein, eine zweite Jugendzeit in der Erinnerung heraufbeſchwören 
— da legte ihr das Schickſal die zarte Sorge für ein viertes liebes Kind 
ans Herz! And die Zeit nahte, wo es zum Licht erwachen würde, wo 
neben der erwachſenen Tochter ein zarter Säugling da ſein würde. 
Die feine Näharbeit hatten Thereſens Hände ſinken laſſen, nicht, daß 
ihrem Herzen, in dem die Mütterlichkeit, ſeit ſie zum erſten Male Mutter 


488 Damm: Ein Mutterwort 


geworden, den weitaus größten Teil einnahm, die Hoffnung unbequem war, 
aber — was hatte ſie doch ſeither im Laufe der Jahre alles über die 
„Aufklärung der Jugend“ geleſen! Stets mit und in der Gegenwart lebend, 
hatte ſie, die Mutter heranwachſender Kinder, dieſer Frage, die jetzt ſo ſehr 
alle Welt beherrſchte, größte Aufmerkſamkeit geſchenkt. Aber — noch keinen 
Vorſchlag, den fie geleſen, hätte fie in die Praxis umſetzen mögen! And 
Kordula war erwachſen — war kein Kind mehr, war ein kluges und gutes 
Mädchen, das mit offenen Augen durch die Welt ging. Sie hörte ſie 
unten im Garten ſprechen und lachen und verfolgte die Gruppe luſtiger, 
junger Mädchen, die dort unten Tennis ſpielten. Auf ihrem Nähtiſch 
— dicht vor ihr — lagen mehrere Zeitſchriften und Frauenzeitungen, die 
ſich mit dieſem Problem beſchäftigten, ſie blickte hinein, las mehrere Stellen 
— dann legte ſie die Blätter kopfſchüttelnd beiſeite. Sie würde ſich gar 
nicht mehr mit dieſer „Frage“ beſchäftigt haben, wenn nicht, ja wenn nicht 
die nächſte Zeit geweſen wäre, die ihr, der im Zenith des Sommers ſtehenden 
Frau, die eine erwachſene Tochter hatte, noch eine verſpätete Hoffnung er⸗ 
füllen würde. 

Ihre Augen verfolgten Kordula drunten auf dem Naſenplatz, und gleich ⸗ 
ſam als hätte der Mutter Blick ſie magnetiſch angezogen, ſchlug Kordula 
die ihrigen auf und grüßte zur Mutter hin. And Thereſe meinte zu be 
merken, daß es ein fragender, beſorgter Blick war, mit dem die Tochter ſie 
ſtreifte. War's Einbildung oder hatten der Tochter Augen ſeither öfter ſo 
auf der Mutter Erſcheinung geruht? 

Nein — Kordula war kein Kind mehr, und das Mutterherz meinte 
es nicht länger tragen zu können, wenn ſie von anderer Seite, vielleicht 
weniger zart, die Wahrheit erfuhr, wenn die gleichalterigen Gefährtinnen 
ſie necken würden: „der Klapperſtorch wird dir ein Geſchwiſterchen bringen“. 

Die Gartentür fiel ins Schloß — die Stimmen drunten waren ver⸗ 
ſtummt, leichte Schritte kamen über den Kiesweg und über die Veranda⸗ 
treppe. Dann wurde die Tür nach Thereſens Zimmer geöffnet und Kor⸗ 
dula flog geradeswegs auf die Mutter zu. 

„Kleine Mutter, ich muß wieder ſchelten, das Wetter war fo köſilich 
und du kamſt nicht hinunter. Wozu haben wir den Garten, wenn nicht 
für dich?“. 

„Ich ſitze hier ebenſogut am offenen Fenſter“, ſagte Thereſe. Dabei 
bemerkte ſie, wie ſie das Jäckchen, deſſen Stickerei ſie erneuerte, noch in der 
Hand hielt. Sie wußte es wohl, ihre eigene Mutter würde es ſchnell fort: 
gelegt und den Augen der Tochter entzogen haben. 

Aber ihr Mutterherz hatte es klar erkannt, nicht das Kind Kordula, 
ſondern das Weib Kordula ſtand heute vor ihr, das Weib in Kordula ahnte 
die Hoffnung der Mutter und — wenn ſie die Tochter zur Freundin haben 
und halten wollte, ſo durfte ſie ſie nicht mehr zum Kinde machen mit 
Märchen und reizenden Erzählungen, die für Kinder gut paſſen. 

Kordulas Augen hafteten auf der Arbeit in der Mutter Hand, dann 


Scharrelmann: In der Abendſtille N 489 


hoben ſie ſich und blickten zaghaft und faſt ſcheu in das liebe, ſchmale Antlitz, 
in dem ein früher nicht darin gekannter Leidenszug ſtand. 

Und Thereſe ſenkte die Augen nicht vor dem fragenden Blick Kordulas, 
ſondern nahm ihre Hand und zog ſie neben ſich. 

„Ja, Kordula — es iſt ſo — Gott legt mir noch einmal — auf der 
Sonnenhöhe der Jahre, die der Frau beſtimmt ſind, die Sorge für ein 
kleines, liebes Kind ans Herz — und ehe es Fremde dir ſagen, und ehe 
du ahnend und dieſe Ahnung vor mir, deiner beſten Freundin, verbergend, 
unwahr neben mir hergehſt, ſollſt du das aus meinem Munde erfahren, 
damit du ſiehſt, daß ich dich nicht mehr für ein unmündiges Kind halte, 
ſondern für ein treues, tapferes Mädchen, welches in dieſer Zeit mir die 
Sorgen des Haushalts abnehmen, für den lieben Vater ſorgen und — ſpäter 
in der Pflege unſeres Hochſommerkindes mir beiſtehen ſoll. Ich kann doch 
da auf dich rechnen, Kordula?“ 

Das blonde Mädchen ſchaute voll der Mutter ins Angeſicht, in tiefer 
Liebe ſtrahlten ihre Augen, ihre Lippen küßten die ſchmalen Hände. 

„Mutter — Mutter — wie ſoll ich dir danken, daß du mir das 
ſagſt — wie habe ich die letzten Wochen gelitten unter der unbewußten 
Ahnung, was dir bevorſtand? Es war ſo viel Halbes — ſo wenig Wahrheit 
und etwas Fremdes zwiſchen uns.“ — Sie lächelte faſt triumphierend und 
kindlich — „und die andern — wenn fie mich wichtig fragen werden: ‚haft 
du gar nichts gewußt, Kordula?“ dann werde ich ſtolz antworten: Ja, ich 
habe es gewußt, meine Mutter hat es mir geſagt.“ 

Thereſe ſtand auf, ging zum Kamin, in dem trotz der ſommerlichen Luft 
ein kleines Feuer entzündet war, und warf die Zeitungsblätter in die Flammen. 

Das war alles Theorie — graue, leere Theorie, das fie da ge- 
leſen hatte. 

Nein — Fremde konnten nicht raten in ſo heiligen Dingen zwiſchen 
Mutter und Kind. Hier muß das Mutterherz reden zum Frauenherzen, 
das in der Bruſt des Heranwachſenden ſchlägt. 

And ſie fühlte, mit dieſem Siege heute hatte ſie einen Siegespreis 
errungen: eine liebe treue Freundin in der Tochter für alle Zeiten. 


22 
In der . 


H. Sai crstnians 


Taſtend ſucht die Hand, die müde, 
In der Abendſtille 

Ein paar Töne, 

Daß nach harter Arbeit ſich auf ihnen 
Meine Seele ſchwinge 

In das Land der Schöne. 


Der Türmer X, 10 2 32 


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Irem 


Ballade in Stanzen 
Von 


Ewald Gerhard Seeliger 


2 Was Wort des Herrn geſchah zu dem Propheten: 
2 Auf, gürte dich und zäum die Eſelin! 
Nimm deinen Dattelſack! Vor Schaddad treten 
Sollſt du, dem König der Aaditen, hin! | 

Mit meinem Wort ſollſt du fein Herze kneten, 

Daß er mir beuge ſeinen trotz'gen Sinn! 

Hud, der Prophet, durchritt die ſiebzehn Wüſten, 

Bis ihn die Zinnen des Palaſtes grüßten. 


Dem Zorn des Höchſten leih' ich meine Stimme, 

Der Welt und Himmel in den Händen hält. 

Zum Adler ſagt er: Flieg! Zum Walfiſch: Schwimme! 
And: Stirb! zum Menſchen, und er ſtirbt und fällt! 

Du ſollſt dich beugen! Daß er nicht im Grimme 

Dein Haupt, dein Haus, dein Reich in Trümmer ſpellt! — 
Wer iſt der Höchſte? Siehe mich ihn höhnen! 

And Schaddad lacht, daß hundert Säle dröhnen. 


Er iſt der Herr der Zeit, der allen Jahren, 

Dem Tag, dem Monat ſeine Stunde wägt; 

Der Herr, der ſeine Gläub'gen durch Gefahren, 
Durch Not und Trübſal auf den Flügeln trägt; 
Er iſt der Herr unzähl'ger Engelſcharen, 

Von denen jeder tauſend Krieger ſchlägt; 

Er thront in Wolken, Regen, Blitz und Wettern: 
Beug dich vor ihm, ſonſt wird er dich zerfchmettern! 


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Seeliger: Srem 491 


Doch Schaddad fährt der Sarras von der Seiten, 
And ſauſend durch die Lüfte flitzt der Stahl: 

Du Tropf, ruf deinen Herrn, auf daß wir ſtreiten! 
Und lebend läßt nur einer dieſen Saal! 

Doch iſt er feig! So laß ich ihn erreiten 

Und nagle ihm die Ohren an den Pfahl! 

Herbei mit deinem Herrn, daß ich ihn ſchröpfe! 
Er haut, es fallen ſiebzehn Sklavenköpfe. 


Noch hat die Hand des Herrn dich nicht getroffen! 
Halt ein! Sonſt frißt dich der Gehenna Pein! 
Beug dich vor ihm! Noch kannſt du Gnade hoffen! 
Noch will er dir die Läſterung verzeihn! 

Noch ſtehn des Paradieſes Pforten offen, 

Noch darfſt du gehn zur Stadt der Freude ein! 

In goldnen Hourigärten ſollſt du wohnen, 

And tauſendfält'ge Wonne wird dich lohnen! 


And das iſt alles? Hund, du wagſt zu mucken? 
Lacht' ich nicht dein, ſpießt' ich dich an die Wand! 
Er winkt. Ein eilend Heer von Mamelucken 
Durchwirbelt den Palaſt, den Hof, den Strand. 
Er ſteigt vom Thron. And tauſend Völker ducken 
Sich vor den Tritten feige in den Sand: 

Hallo, Veziere! Auf, wir wollen reiten! 

And du, Prophet des Herrn, ſollſt mich begleiten! 


Weit in die Wüſte wie auf Sturmes Schwingen, 
Wo der Samum wie freſſend Feuer weht, 

Wo Sand und Fels im Todkrampf ſich umſchlingen, 
Schaddad voran, zuletzt Hud, der Prophet, 

So flogen ſie, die Klippe zu erringen, 

Die wie des Teufels Fauſt im Sande ſteht; 

Tief unten, öd', fo weit das Auge ſuchte, 

Redt fi die Stumme, die der Herr verfluchte. 


Und Schaddad winkt. Auftauchen Millionen, 

Von allen Seiten wimmeln ſie herbei; 

Die weiß und ſchlank am Meer des Nordens wohnen, 
Die gelb und braun und ſchwarz, ein Völkerbrei 

Aus allen Ländern und aus allen Zonen, 

Bis an den Himmel ſchwillt ihr wüſt Geſchrei; 

Mit Schaufeln fronen ſie, mit Spaten, Hacken 

Und kneten Lehm und Sand zum Ziegelnbacken. 


Seeliger: Irem 


And Schaddad winkt. Es hebt ſich eine Mauer, 
An Amfang vierzig Pharaſangen weit, 

Hart werken dran zehntauſend Steinehauer, 

Zehn Klaftern wächſt ſie hoch und zwanzig breit. 
And Schaddad winkt. Zehntauſend hurt' ge Bauer 
Erheben ſich, daß Tor an Tor ſich reiht: 

Die Bogen ſind ein Netz von Perlenſchnüren, 
Rubine glühn im Gitterwerk der Türen. 


And Schaddad winkt. Stolz kommt ein Strom gezogen, 
Er tränkt die Wüſte, daß ſie grünt und blüht; 


Er ſpaltet ſich, die Flut der blauen Wogen 


In zehn Kanälen durch die Mauer ſprüht, 

Sie winden, ſchlingen ſich in ſanften Bogen, 
And wo ſie ziehn, der Sand von Blüten glüht: 
Aufduften Wundergärten, Palmen ſtreben, 

Die ihre Kronen in den Himmel heben. 


Und Schaddad winkt. Zehntauſend Prachtpaläſte 
Enttauchen ſteil und ſchnell der Blütenflut; 

Und jeder — tretet ein, ihr werten Gäſte! — 
Auf tauſend diamantnen Säulen ruht, 

Die Silberdecken ſtützen Zedernäſte, 

Und von den Dächern prunkt des Goldes Glut; 
Aufwölben ſich die Kuppeln, Türme ſteigen, 
Darüber tanzt ein froher Flaggenreigen. 


Und Schaddad winkt. Zehntauſend Karawanen, 
Mit allem Reichtum dieſer Welt beſackt, 
Zehntauſend Schiffe aus den Ozeanen, 

Den Strom zerfurchen fie im Rudertakt; 

Es drängt ſich, ſtaut ſich, drängt auf allen Bahnen 
And ladet aus Pelz, Weihrauch und Smaragd, 
Teppiche, Ambra, Aloe; den Küchen 

Entſtrömt ein Meer von tauſend Wohlgerüchen. 


And Schaddad winkt. Zehntauſend ſchlanke Weiber, 
And ſchönre Mädchen trug die Erde nie, 

Kein Schleierfaden hüllt die weißen Leiber, 

And taumelnd hebt zum Tanze ſich das Knie, 
Sklavinnen, Waſſerträger, Eſeltreiber 

Ziehn ſtrudelnd ſtadtwärts, Hirten mit dem Vieh; 
Die Straßen glänzen, bunte Lampen blühen 

And tauſendfält'ge Erdenlüſte glühen. 


Seeliger: Seem 493 


Huds Augen ſtarrn hinab, und ſenken, fenten 

Will er die Lider, ſie gehorchen nicht, 

Er muß die Blicke immer wieder lenken 

Zur Wonne hin, fie blüht im Rofenlicht: 

Hör mich! Was ich erſchuf, will ich dir ſchenken 

Mit Reichtum, Gut und Glanz und Weib und Wicht! 
Du ſollſt die Stadt als Fürſt und Herr betreten, 

So du hier niederfällſt, mich anzubeten! 


And heißer loht die Luſt aus allen Gaſſen, 

In Strömen rinnt der Reben edles Blut, 

Weiß blinkt's von Leibern auf den Goldterraſſen, 
Und in die Knie ſinkt Gottes Bote Hud: 

Herr, Herr, ſo haſt du deinen Knecht verlaſſen! 
Verdirb, verdirb Schaddad und ſeine Brut! 
Herr, Herr, errette mich aus ihren Klauen! 
Stürz fie in Nacht hinab und ew'ges Grauen! 


Da hob der Engel Gabriel die Schwingen 

And ſchrie und ſchrie und fuhr herab im Sturm; 
Vor ſeinem Zorn die Völker Aads vergingen 

And König Schaddad ſchrumpfte wie ein Wurm; 
Ein Sandſamum ſtand auf, um zu verſchlingen 

Die goldne Stadt mit Kuppel, Haus und Turm. — 
Hud, der Prophet, ritt einſam durch die Wüſte, 
Bis ihn der Schatten ſeiner Hütte grüßte. 


And Stadt und Strom und Tanz und Luſt verſchwanden. 
Tauſend um tauſend zogen ſuchend aus, 

Durch alle Weiten kreuzten ſie und fanden 

Nicht einen Stein des überſtolzen Baus; 

So ſchwärmten ſie hinaus, um fern zu ſtranden, 

Nur wen'ge wählten ihren Weg nach Haus; 

Sie welkten raſch, nichts mochte ihnen taugen: 

Tief ruht Irem verſteckt vor Menſchenaugen. 


Nur wenn der Gläub'ge durch die Wüſte ſchmachtet 
And niederſinkt am Felſen lebensſatt, 

And wenn der Krieger, den der Tod umnachtet, 

Das Schlachtfeld küßt, von Blut und Wunden matt: 
In ihrem letzten Blicke prunkt und prachtet 

Irem empor, die ſäulenreiche Stadt; 

Sie lockt und winkt mit ihren goldnen Zinnen, 

And lächelnd ſchläft er ein und geht von hinnen. 


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Die Reform des Strafrechts 


eeit etwa 1½ Jahrzehnten ſchon und noch länger erſchallt laut in den 
\ 4G) Parlamenten und in der Preffe, in Volksverſammlungen wie auf 
den Zuſammenkünften der Fachjuriften der Ruf nach einer gründ- 
lichen Reform des Strafrechts. Es mehren ſich die Klagen über feinen kapi 
taliſtiſchen und antiſozialen Geift von Tag zu Tag, kurz, über feine Reform: 
bedürftigkeit iſt man ſich einig. Anſer heutiges Strafgeſetzbuch vom 15. Mai 1871 
iſt eine der erſten geſetzgeberiſchen Gaben des Deutſchen Reichs. Zu raſch und 
ohne gründliche, namentlich rechts vergleichende Vorarbeiten griff man, lediglich 
von dem Beſtreben geleitet, möglichſt ſchnell die Rechtseinheit auf dieſem Ge⸗ 
biete herbeizuführen, nach dem preußiſchen Strafgeſetzbuch vom 14. April 1851, 
als dem beſten aller damaligen deutſchen Strafgeſetzbücher, um es im weſent ; 
lichen unverändert als Strafgeſetzbuch für den norddeutſchen Bund, ſpäter für 
das Deutſche Reich einzuführen. Da das preußiſche Strafgeſetzbuch im weſent · 
lichen auf dem Code penal Napoleons aus dem Jahre 1810 beruht, fo trägt 
unſer heutiges Strafrecht einen nur ſehr ſchwach ausgeprägten ſelbſtändigen 
Charakter, es iſt im ganzen und großen ſeit ſeiner Einführung unverändert 
geblieben, mit der Zeit nicht recht fortgeſchritten und in ganz weſentlichen 
Partien veraltet. Sein hohes Alter allein erklärt zum großen Teil ſeine 
Reformbediirftigteit. Entſtanden aus ſehr einfachen wirtſchaftlichen Verhält. 
niſſen und für dieſe zugeſchnitten, iſt es überholt durch den Gang der Ent · 
wickelung, überflügelt durch die Verbrecherwelt ſelbſt, durch ihre Individualität 
und ihre ganze Art, zu „arbeiten“. Die Methoden der Verbrechensbegehung 
haben ſich verfeinert, unſer Verbrechertum hat einen gewiſſen Zug in das 
Große angenommen, ein Hang zum Internationalen macht ſich immer mehr 
bemerkbar, man denke nur an den internationalen Hochſtapler, den inter 
nationalen Einbrecher und Hoteldieb u. dgl. m.; der allgemein hyſteriſch : nervöſe 
Grundzug unſerer Zeit hat ſich auch dem Verbrechertum aufgeprägt. 

Eine Zeitlang ſchien es, als ob der klaffende Gegenſatz der beiden „Straf. 
rechtsſchulen“, der klaſſiſchen und der modernen, dieſe namentlich von dem genialen 
Kriminalpolitiker v. Liſzt in Berlin geführt, das Zuſtandekommen einer Reform 
ernftlich gefährden würde. Die klaſſiſche Schule erblickt in den zwei Begriffen 
Schuld und Vergeltung die Grundpfeiler des ganzen Strafrechts. Die Be 
rechtigung des Staates zu ftrafen fteht und fällt alſo mit der Haltbarkeit 
dieſer beiden Vorausſetzungen, die ihrerſeits wieder in dem Glauben an eine 


Die Reform des Strafrechts 495 


menſchliche Willensfreiheit verankert find. Sie läßt die Strafe eintreten, weil 
der Verbrecher das Recht negiert, im Verbrechen felbft und nur in ihm liegt 
der Rechtsgrund der Strafe, dieſe iſt, um den Jargon Hegels zu gebrauchen, 
„die Negation der Negation des Rechts“. Anders die moderne Schule, die 
ſeit etwa zwei Jahrzehnten ihr Programm immer klarer dahin ausgearbeitet 
hat, daß es eine völlig neue Grundlegung des Strafrechts erſtrebt. Die Be⸗ 
griffe Schuld und vergeltende Gerechtigkeit exiſtieren für ſie nicht, der Menſch 
iſt das Produkt ſeines Milieus, und ſeiner ganzen Natur nach willensunfrei. 
Die Rechtfertigung des Strafrechts ergibt ſich ihr aus ſeinem Zweck der 
Sicherung des Staates und der Geſellſchaft; nicht weil der Verbrecher eine 
Schuld auf ſich geladen hat, ſondern weil er den Rechtsfrieden gebrochen und 
durch fein antiſoziales Verhalten die allgemeine Rechtsſicherheit gefährdet, iſt 
er ſtrafwürdig. Die Strafe iſt Sicherungs⸗ und Zweckſtrafe, nicht Vergeltungs 
ftrafe. Ein genaueres Eingehen auf den Gegenſatz dieſer beiden Schulen er- 
ſcheint bei dieſen Ausführungen, die praktiſchen Zwecken dienen ſollen, nicht 
am Platze. Nur das eine ſei wenigſtens geſagt, es iſt immerhin recht mißlich, 
Zweck und Rechtfertigung der Strafe in einem dem Strafrecht als ſolchem ganz 
fremden Gebiete, nämlich dem der Philoſophie, zu verankern, deren erlauchteſte 
Vertreter wie Kant und Schopenhauer inſonderheit eine menſchliche Willens. 
freiheit, die nicht dem unerbittlichen allwaltenden Kauſalitätsgeſetze unter- 
worfen wäre, mit vollem Recht entſchieden ablehnen. Hier bietet eben die 
moderne Schule bei der immer mehr um ſich greifenden Anerkennung des 
„Determinismus“ feſte Tragbalken für die Notwendigkeit und die ſittliche Recht. 
fertigung des Strafrechts. Nur im Vorbeigehen ſei noch darauf hingewieſen, 
daß dem ganzen klaſſiſchen Altertum der Begriff einer ſittlichen Schuld, ſo 
wie ihn die Heutigen verſtehen, ſtets vollkommen fremd geblieben iſt. Doch 
genug hierüber, Prinzipien werden von einem modernen Geſetzbuch nicht aus⸗ 
getragen, ſie hat die Wiſſenſchaſt zu entſcheiden, der Geſetzgeber kann nichts 
Verkehrteres tun, als ſich auschließlich auf der einen oder der anderen Theorie 
feſtzulegen, er darf weder das Alte ganz verwerfen, noch auch wahllos und 
unbeſehen alle zum Teil praktiſch noch nicht bewährten Forderungen der neuen 
kriminaliſtiſchen Schule unbeſehen ſanktionieren. So hat ſich denn auch die 
feindliche Spannung zwiſchen den beiden Schulen gelöſt, und es herrſcht in der 
Wiſſenſchaft wie in der Praxis des Strafrechts eine realpolitiſche verſöhnliche 
Stimmung vor, welche die Hoffnung auf ein Gelingen der Reform ganz 
weſentlich verſtärkt. In einer Reihe der wichtigſten Reformpunkte iſt heute 
bereits Abereinſtimmung erzielt. 

Anſer Strafgeſetzbuch zerfällt in zwei dem Amfang nach ungleiche Teile: 
der erſte und kürzere ſogenannte allgemeine Teil behandelt das Strafenſyſtem, 
alſo die Arten und die Dauer der zu verhängenden Strafen, die allgemeinen 
Erſcheinungs formen des Verbrechens als Verſuch und Vollendung, Mittäter- 
ſchaft, Anſtiftung und Beihilfe, die „Strafausſchließungsgründe“ als Un- 
zurechnungs fähigkeit, Notwehr und Notſtand, Strafmündigkeit und Verjährung. 
Der zweite und umfangreichere „beſondere“ Teil befaßt ſich mit den einzelnen 
Verbrechen. | 

Ein ganz beſonderes Intereſſe im allgemeinen Teil bildeten drei Probleme: 
die Strafarten, die Strafmündigkeit und damit eng zuſammenhängend die 
Behandlung der jugendlichen Verbrecher, und endlich die Beſtrafung der rück ⸗ 
fälligen und der Gewohnheitsverbrecher. 


496 Die Reform des Strafrecht# 


Als Hauptſtrafen, d. h. als ſolche, die ſelbſtändig verhängt werden 
können, kennt unſer Strafgeſetzbuch: Todesſtrafe, Freiheitsſtrafen, nämlich 
Zuchthaus, Gefängnis, Haft und Feſtungshaft, Geldftrafe und bei Jugendlichen 
zwiſchen zwölf und achtzehn Jahren bei beſonders leichten Vergehen den Ver 
weis. Als Nebenſtrafen, d. h. ſolche, die nur neben einer Hauptſtrafe verhängt 
werden können, ſind vorgeſehen die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, 
die Stellung unter Polizeiaufſicht und für gewiſſe Fälle, namentlich bei hart 
näckigem Vettel und bei gewerbsmäßiger Anzucht, Verweiſung an die Landes ⸗ 
polizeibehörde, die dadurch die Befugnis erhält, den Sträfling in ein Arbeits · 
oder Beſſerungshaus zu überweiſen und ihn darin zu gemeinnützigen Arbeiten 
anzuhalten. 

Der Streit um die Berechtigung der Todesſtrafe iſt ſehr alten Arſprungs, 
ſchon in der Mitte des 18. Jahrhunderts fest der Kampf gegen fie auf das 
lebhafteſte ein, Führer im Streit ſind der berühmte italieniſche Juriſt Beccaria 
und der Vertraute Maria Thereſias, der Ritter Leopold von Sonnenfels. In 
Deutſchland wurde ſie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer 
Reihe von Bundesſtaaten, ſo Oldenburg, Anhalt, Bremen und 1868 in Sachſen 
aufgehoben. Auch der deutſche Reichstag trat bei der Beratung unſeres heutigen 
Strafgeſetzbuches in ſeiner berühmten Sitzung vom 1. März 1870 mit großer 
Mehrheit für die Beſeitigung der Todesſtrafe ein. Es iſt bekannt, wie unter 
dem ſtarken Einfluß Bismarcks er ſich ſchließlich der widerſprechenden Meinung 
der verbündeten Regierungen fügte und mit der äußerſt ſchwachen Mehrheit 
von nur acht Stimmen bei der dritten Beratung ihre Wiedereinführung beſchloß. 
Sie iſt auf ein ſehr kleines Gebiet beſchränkt und findet Anwendung bei Mord, 
Mordverſuch am Kaiſer und Landesherrn, ſowie bei Eintritt des Kriegs- 
zuſtandes bei acht weiteren ſchweren Verbrechen, fo namentlich Hoch · und 
Landesverrat. In einer ganzen Reihe von Staaten, fo in Rumänien, Portu- 
gal, Holland, Italien und in den meiſten Staaten der nordamerikaniſchen Anion 
und ebenſo in den Schweizer Kantonen tft fie ſchon ſeit Jahren abgeſchafft. 
Ich bekenne mich als entſchiedenen Gegner der Todes ſtrafe. In keinem ein ⸗ 
zigen Falle ihrer Anwendung iſt die Möglichkeit eines Juſtizmordes prinzipiell 
ausgeſchloſſen, das Anheil iſt dann uneinbringlich und die Vernichtung der 
ſittlichen Perſönlichkeit nicht wieder gutzumachen. Nur dann wäre dieſe 
völlige Vernichtung gerechtfertigt, wenn mit unumſtößlicher Gewißheit für den 
Richter fic feſtſtellen ließe, der Verbrecher iſt für fein ganzes Leben befferungs- 
unfähig, alle in ihm ſchlummernden ſittlichen Keime find ganz erſtickt — dann 
würde allerdings jede andere Strafe zwecklos ſein —, aber das zu ermitteln, 
ob ein Menſch überhaupt aufhören könne, ein ſittliches Weſen zu ſein, entzieht 
ſich der menſchlichen beſchränkten Einſicht ſchlechtweg, nur ein abſolutes Weſen, 
d. h. Gott kann dieſes wiſſen. Der Befehl des Alten Teſtamentes, „wer 
Menſchenblut vergießt, des Blut foll wieder vergoſſen werden“, tft rein zeit 
geſchichtlich bedingt und zu erklären, er entſpricht dem altjüdiſchen Rache · und 
Vergeltungsprinzip „Aug' um Auge und Zahn um Zahn“ und iſt mit einem 
geläuterten chriſtlichen Gottesbegriff und mit einem hoch entwickelten ſittlichen 
Empfinden nicht recht in Einklang zu bringen. 

„Die Freiheitsſtrafen werden — darüber beſteht im weſentlichen Aberein · 
ſtimmung — den Schwer- und Mittelpunkt unſeres Strafenſyſtems bilden müſſen; 
Thon mit Rückſicht auf ihre Teilbarkeit läßt ſich die Freiheits ſtrafe am leich · 
teſten der Verſchiedenheit der Tat und der Individualität des Täters anpaſſen, 


Die Reform des Strafrechts 497 


fie erſcheint außerdem wenigſtens bei ſachgemäßem Vollzuge am geeignetſten, 
zu beſſern, zu erziehen, wo überhaupt noch etwas zu beſſern iſt, ſie dient aber 
auch am beſten der Sicherung“, fo mit Recht Reichsgerichtsrat Eber- 
mayer in feinem Gutachten „Das Strafmittelſyſtem für das künftige Straf- 
geſetzbuch“ Seite 289, erſtattet dem 29. Deutſchen Juriſtentag. Die wahre Fülle 
der Arten der Freiheitsſtrafen erſcheint freilich unhaltbar, Haft und Feftungs- 
haft haben keine Daſeins berechtigung. Die Haft läßt ſich in ihrem Vollzug 
und auch in ihrem ganzen Weſen kaum von der Gefängnisſtrafe unterſcheiden, 
auch nach der volkstümlichen Auffaſſung bedeuten beide das ſelbe. Bei ihrer 
Kürze (die Höchſtdauer beträgt 6 Wochen) haften ihr alle Mängel der kurz 
zeitigen Freiheitsſtrafen überhaupt an. Die Feſtungshaft iſt wenigſtens dem 
praktiſchen Refultat nach die Strafe für privilegierte Stände — Haupt- 
anwendungsfall iſt bekanntlich der Zweikampf —, ſchon deshalb empfiehlt ſich 
in unſerem Staate der Rechtsgleichheit ihre Abſchaffung. Wir brauchen zwei 
ihrem ganzen Weſen und ihrem Vollzug nach ſcharf geſchiedene Freiheits- 
ſtrafen: die ſtets entehrende Zuchthausſtrafe für ehrloſe, d. h. einer ehrloſen 
Gefinnung entſtammende Verbrechen ſowie für alle Zuſtands⸗ und Gewohnheits⸗ 
verbrecher einerſeits, und für alle anderen Fälle die Gefängnisſtrafe. 

Anſere kurzzeitigen Freiheitsſtrafen, d. h. ſolche unter zwei Monaten, 
ſchreien förmlich nach ihrer Beſeitigung, ſie verfehlen vollſtändig ihren Zweck, 
bei ihrer Kürze können ſie weder eine Beſſerung der Verbrechers bewirken, 
noch eine nachhaltige erzieheriſche Einwirkung auf ihn ausüben, noch feine Ab- 
ſchreckung vor weiteren Verbrechen erreichen. Als ihren Erſatz hat man Zwangs- 
arbeit in öffentlichen, ſtaatlichen und kommunalen Betrieben, Hausarreſt und 
Verbot des Wirtshausbeſuches auf beſtimmte Zeit vorgeſchlagen. Die beiden 
letzten Vorſchläge ſcheitern, ſo ſympathiſch ſie an ſich ſchon unter dem Ge⸗ 
danken der Bekämpfung der entfeglichen Trunkſucht des deutſchen Volkes er- 
ſcheinen mögen, an der Anmöglichkeit der Überwachung des Vollzugs, wenigſtens 
in den großen Städten. Ein Heer von Poliziſten würde nicht ausreichen, und 
für eine genügende Aberwachung des Verurteilten durch ſeine Ehefrau (falls 
eine ſolche vorhanden) iſt, ausreichende Garantie in allen Fällen auch nicht ge- 
geben. Dagegen möchten wir der öffentlichen Zwangsarbeit, wie ſie heute 
ſchon das preußiſche Forſtdiebſtahlsgeſetz kennt, warm das Wort reden. Das 
beſſernde und zugleich züchtigende Moment der Strafe iſt hier erreicht, auch 
ſchafft der Sträfling hier wirklich nützliche Werte. Freilich wird der Vollzug 
ſtets auf gewiſſe Schwierigkeiten ſtoßen; den landwirtſchaftlich Berufstätigen 
wird man ja verhältnismäßig leicht auf Staatsdomänen und in den Forſten 
beſchäftigen können, aber wo ſollen alle die zahlreichen gewerblichen Arbeiter 
unter den Beſtraften untergebracht werden? Staatswerkſtätten ließen ſich doch 
nur in einigen wenigen Großſtädten einrichten. Gemeinſame Arbeit mit freien 
Arbeitern wird gewiß, wenn dieſe nur etwas auf ſich halten, deren heftigſten 
Widerſtand hervorrufen. Verrichtung der Zwangsarbeit aber im Gefängnis 
würde nur zu leicht den Anterſchied zwiſchen Gefängnisſtrafe und Zwangs- 
arbeit ganz verwiſchen. Gegen die Zeitdauer der nach unſerem Vorſchlage 
beizubehaltenden Freiheitsſtrafen, bei Zuchthaus 1 Jahr Minimum und 15 Jahr 
Maximum, bei Gefängnis 1 Tag bis zu 5 Jahren im Höchſtmaße laſſen ſich 
meines Dafürhaltens gewichtige Bedenken nicht geltend machen. 

Die Geldſtrafe eignet ſich richtig ausgebaut ausgezeichnet als aus- 
ſchließliche Strafe für tibertretungen und leichte Vergehen, auch müßte dem 


498 | Die Reform des Strafrechts 


Richter die Befugnis eingeräumt werden, felbft bei ſchwereren Straffällen bei 
nicht ehrloſer Geſinnung des Täters anftatt auf Gefängnis ausnahmsweiſe 
auf Geldſtrafe zu erkennen. Auch wird ſie in dem Strafgeſetzbuch der Zukunft 
als ein treffliches, vielleicht ſogar als das beſte Erſatzmittel für die kurzzeitigen 
Freiheitsſtrafen Platz finden müſſen. Freilich bedarf es zu ihrer erweiterten 
Anwendung ihrer gründlichen Amgeſtaltung. Schon 1904 führte ich in der 
Freiſtatt Seite 25 aus: „So wie ſie heute leider meiſtens von den deutſchen 
Strafgerichten trotz einzelner rühmlicher Ausnahmen gehandhabt wird, bedeutet 
fie bei aller Wahrung der formellen Gleichheit vor dem Geſetz materiell eine 
ſchreiende, die arbeitenden Schichten unferer Bevölkerung notwendig verbitternde, 
ja aufreizende Nechtsungleichheit zwiſchen reich und arm. Was bedeutet dem 
Reichen eine Geldſtrafe von 100, ja 1000 Mark wegen Beleidigung oder eines 
ſonſtigen Deliktes? Eine kaum ſpürbare Belaſtung ſeines Geldbeutels. Für den 
Proletarier find ſolche Summen — ja noch viel geringere — ganz un- 
erſchwinglich ... Er kann unmöglich zahlen, und während er die „hilfsweiſe 
für den Fall der Anbeibringlichleit (fo lautet das ſchöne Juriſtendeutſch) der 
Geldſtrafe“ verhängte Freiheitsſtrafe abbüßt, geraten feine Frau und feine 
Kinder in Not und Elend.“ Schon damals ſchlug ich vor und tue es auch heute 
wieder, die Geldſtrafe einfach nach der Höhe des Vermögens, und wo ein 
ſolches, wie ja in den allermeiſten Fällen, nicht vorhanden, nach der des Ein- 
kommens abzuſtufen. Zu meiner großen Freude hat jetzt auch Ebermayer in 
feinem oben erwähnten Gutachten für den Deutſchen Juriſtentag ſich dieſem 
Vorſchlag angeſchloſſen. Man vermeide alſo im neuen Strafgeſetzbuch jedes 
zahlenmäßige Maximum der Geldſtrafe — der Höchſtbetrag von 15 000 Mark 
bei gewerbs- und gewohnheitsmäßigem Wucher, bei Beleidigung find es nur 
1500 Mark, iſt viel zu gering — und beſtimme einfach, die Geldſtrafe kann (über 
die Höhe des Prozentſatzes ließe ſich ja ſtreiten) bis zu 20% des Vermögens 
und wo ein ſolches nicht vorhanden, des Einkommens betragen. And dem 
Armen, der nicht zahlen kann, ermögliche man es, und wenn er ſich nicht frei · 
willig dazu bereit findet, fo zwinge man ihn dazu, feine Geldſtrafe in öffent. 
lichen Betrieben abzuarbeiten. Man geſtatte auch dem ärmeren Verurteilten 
grundſätzlich, ſo wie es auch heute ſchon manche einſichtige Staatsanwälte hand · 
haben, ſeine Strafe ratenweiſe je nach Fälligkeit ſeines Lohnes abzutragen. 

Mit der Mehrheit der ſtrafrechtlichen Schriftſteller möchte ich weiter die 
Ausdehnung des heute leider nur bei Jugendlichen zuläſſigen Verweiſes auf 
Abertretungen und leichtere Vergehungen auch von Erwachſenen empfehlen. 
So namentlich bei einfachem Hausfriedensbruch, Beleidigung harmloſer Art, 
leichter Körperverletzung, Bedrohung und Sachbeſchädigung erſcheint er uns 
wahlweiſe durchaus am Platze. Er bewahrt den Verurteilten vor dem Ge 
fängnis und iſt doch bei nur etwas entwickeltem Ehrgefühl des Straffälligen 
durchaus imſtande, wenn in würdiger Form und in öffentlicher Gerihtöfigung 
erteilt, empfindlich zu treffen. 

Die oben erwähnten „Nebenſtrafen“ könnten beibehalten werden; nament · 
lich die Unterbringung der Gewerbedirnen und der wegen wiederholten Bettelns 
Beſtraften in Arbeits und Beſſerungs häuſern hat ſich bewährt. Freilich muß 
die Handhabung der „Polizeiaufſicht“ in einem ganz anderen Geiſte erfolgen, 
als ſie heute meiſtens geſchieht. Sie muß möglichſt diskret, vorſichtig und ganz 
unauffällig erfolgen, denn ſonſt ſchädigt ſie den Erwerb und das Fortkommen 
des Entlaſſenen in der empfindlichſten Weiſe und ſchafft in der Arbeits · und 


Die Reform des Strafeechts 499 


Verdienſtloſigkeit unfehlbar wirkende Bedingungen für den Rückfall, man denke 
an den „Hauptmann von Köpenick“ warnenden Angedenkens. Auch wäre es 
durchaus erwägenswert, die unmittelbare Auffiht und Ausübung der Polizei 
aufſicht anderen Perſonen als den untergeordneten und mitunter hierfür ganz 
ungeeigneten Polizeibeamten (Schutzleuten) zu übertragen, etwa Vorſtänden 
von Vereinen der Fürſorge für entlaffene Sträflinge, Arbeitsämtern, Gewerk. 
ſchaftsbeamten oder ähnlichen. Deren planmäßige Tätigkeit wird in erſter 
Linie einſetzen müſſen, um den Strafentlaſſenen der bürgerlichen Geſellſchaft 
wieder zu gewinnen und ihn zu einer geordneten Beſchäftigung zurückzuführen, 
ihm eine feſte und dauernde Arbeitsgelegenheit zu verſchaffen. 

Ob die „Deportation“, die ich an ſich für ein ganz vorzügliches Straf 
mittel halte, nach dem ganzen Stande und namentlich nach dem Klima unſerer 
Kolonien für Deutſchland durchführbar iſt und wie bejahendenfalls die Durch- 
führung techniſch zu geſtalten ſein würde, entzieht ſich meiner Sachkenntnis und 
Beurteilung. Die große Mehrzahl der Schriftſteller, die ſich mit der Frage 
befaßt haben, verneint die Möglichkeit der Durchführung. 

Die Prügelſtrafe kann als Strafmittel für ein modernes Strafgeſetzbuch 
nicht in Betracht kommen. In der Strafrechtswiſſenſchaft iſt man ſich über 
ihre Verwerflichkeit einig. Sie verſtumpft und vertiert den Delinquenten, raubt 
ihm den letzten Reft feiner Menſchenwürde und verroht ebenſo den, der fie 
ausübt. Ihre Wiedereinführung würde zudem eine Standesjuſtiz der ſchlimm⸗ 
ſten Art herbeiführen, denn es kann angenommen werden, daß ſie doch nur 
bei den ſogenannten „unteren Volksſchichten“ exekutiert werden würde. Auch 
würde ihr Vollzug je nach der Laune und den Körperkräften des Büttels, 
ſowie nach der verſchiedenen Widerſtands fähigkeit des Züchtlings höchſt un ⸗ 
gleichmäßig wirken und empfunden werden. Kaum ſelbſt bei Erfindung einer 
Priigelmafdine würden ſich dieſe Angerechtigkeiten beim Vollzug ganz be- 
ſeitigen laſſen. Auch mögen ſich die Anhänger der Prügelſtrafe doch einmal 
die Frage vorlegen, weshalb ſie im Mittelalter ebenſo wie verſtümmelnde 
Leibesſtrafen jahrhundertelang mit der größten Grauſamkeit und im weiteſten 
Amfange ausgeübt nicht das Geringſte zur Eindämmung der Verbrechen bei- 
getragen hat? Im Gegenteil war bekanntlich am Ausgang des Mittelalters 
die Anſittlichkeit und Kriminalität in Deutſchland ärger denn je zuvor. 

Im Zuſammenhang mit dem Strafenſyſtem ſteht auch die Frage der 
„bedingten Verurteilung“. Mit v. Liſzt gebe ich ihr gegenüber der von 
manchen anderen lebhaft verteidigten „bedingten Begnadigung“ entſchieden den 
Vorzug. Nur ſie gibt dadurch, daß die Entſcheidung über die Ausſetzung der 
Strafvollſtreckung dem erkennenden Gerichte übertragen wird, das ſich durch 
die Hauptverhandlung über die Vergangenheit, den Charakter und die Beweg · 
gründe des Täters ein genaues Arteil hat bilden können, die Gewähr dafür, 
daß nur rein ſachliche und nicht etwa ſonſtige Geſichtspunkte, wie namentlich 
politiſche bei der Strafaus ſetzung den Ausſchlag geben. Bei der Begnadigung 
aber, wie fie auf Grund der Vereinbarungen der deutſchen Regierungen ſeit 
dem 1. Januar 1903 geregelt tft, liegt die Entſcheidung über die Straf- 
ausfegung lediglich bei den Juſtizverwaltungsbehörden. Dieſe beftimmen ganz 
nach freiem Ermeſſen, Rechts kontrollen irgendwelcher Art über ihre Ver⸗ 
fahrensweiſe beſtehen nicht. Der größte Vorzug der Verurteilung mit be⸗ 
dingter Strafvollſtreckung liegt, um mit v. Liſzt zu reden, darin, „daß dem Erft- 
verurteilten eine Friſt gewährt wird, ehe die Geſellſchaft ihn preisgibt, noch 


500 Die Reform des Strafrechts 


einmal fein Schickſal in feine Hand gelegt wird, damit er ſich zu bewähren, 
ſich zu retten in der Lage ſei“. Dieſer von Liſzt herrührende Gedanke der 
bedingten Verurteilung hat in England und ſeinen Kolonien, in den Vereinigten 
Staaten von Nordamerika und in einer großen Zahl der Schweizer Kantone, 
in Frankreich und Belgien, in Portugal und Norwegen wie in den Nieder 
landen ſeine Verwirklichung gefunden, ſelbſt die ruſſiſche Regierung hat ſich 
neuerdings für ihn ausgeſprochen. So wird man nach alledem, ohne eines all ⸗ 
zu großen Optimismus geziehen zu werden, doch noch die Hoffnung nicht auf- 
zugeben brauchen, daß auch die deutſchen Regierungen ihr endlich ein freund- 
licheres Geſicht als bisher zeigen möchten. 

Eine beſondere Behandlung im Strafrecht verdienen die ſogenannten 
„Jugendlichen“. Nur unvollkommen iſt ihnen dieſe bisher zuteil geworden. 
Strafmündigkeit läßt unſer Geſetz ſchon mit dem vollendeten zwölften Lebens 
jahre eintreten, wenn der Täter „die zu der Erkenntnis der Strafbarkeit ſeines 
Tuns erforderliche Einſicht beſeſſen hat“. Iſt das der Fall, ſo wandert das 
12½ jährige Schulkind, das ſich vielleicht ein Spielzeug im Werte von 10 Pfg. 
geſtohlen hat, erbarmungslos in das Gefängnis, das erkennende Gericht kann 
gar nicht anders handeln. Nur zu leicht wird fo das Kind dem Laſter firm: 
lich in die Arme getrieben, denn nicht mit Anrecht hat man manche Gefängniſſe 
als wahre Hochſchulen des Laſters bezeichnet. Aberfüllt und in alten unzu- 
länglichen Gebäuden untergebracht, wie heute noch leider viele unſerer Ge⸗ 
fängniſſe ſind, läßt ſich nur ſchwer eine ſo dringend nötige völlige Trennung 
des jugendlichen von dem alten im Gefängnis oder gar Zuchthaus ergrauten 
Verbrecher durchführen. Nach Verbüßung ſeiner Strafe wird dann das Kind 
wieder der Schule zugeführt, unverbeſſert in vielen Fällen, ein Herd der An ⸗ 
ſteckung für ſeine Schulgenoſſen. Was für eine große Gefahr die Kriminalität 
der Jugendlichen bedeutet, erhellt die eine Tatſache mit grauenerregender 
Deutlichkeit, daß in dem einen Jahre 1905 wegen Verbrechens und Vergehens 
gegen Reichögefege (die bloßen Abertretungen, wie Vettel u. dgl. m. und Ver- 
gehen gegen die ſehr zahlreichen Landesſtrafgeſetze bleiben alſo ganz außer 
Anſatz) nicht weniger als 51 498 jugendliche Perſonen zwiſchen 12 und 18 Jahren 
beſtraft wurden. Schulpflichtige Kinder gehören nicht in die Gefängniſſe, 
ſondern in die Fürſorgeerziehung. Deshalb iſt es eine ſelbſtverſtändliche und 
auch faſt allgemein anerkannte, ſo u. a. von dem 27. deutſchen Juriſtentag zu 
Innsbruck im Jahre 1904 mit großer Mehrheit vertretene Forderung: Erhöhung 
der Strafmündigkeit auf das vollendete 14. Lebensjahr. Ferner räume man 
in Zukunft dem Strafrichter die Befugnis ein, auch bei Vorhandenſein der 
vollen Einſicht in die Strafbarkeit ſeines Tuns den Jugendlichen kriminell zu 
beſtrafen oder ihn zur Fürſorgeerziehung zu überweiſen. Denn wie oft ſtrauchelt 
er, ſchon früh dem ſittigenden und hemmenden Einfluß des Elternhauſes ent 
zogen, in ſehr frühen Jahren durch gewerbliche Lohnarbeit relativ unabhängig 
geworden, durch böſe Geſellſchaft verführt; wie oft treiben ihn zerrüttete häus 
liche Verhältniſſe, Trunkſucht des Vaters oder Liederlichkeit der Mutter, 
Wohnungsnot und Schlafburſchentum mit all ihren niedrigen, ekelhaften und 
entſittlichenden Begleiterſcheinungen auf die Bahn des Laſters. Hier trägt 
Staat und bürgerliche Geſellſchaft entſchieden einen Teil der Schuld mit. 
Gerade im Kampfe gegen das jugendliche Verbrechertum kann das Strafrecht 
ſelbſt nur ſehr ſchwache Dienfte leiſten, den eigentlichen Quellen des Ver 
brechens kann es überhaupt nicht beikommen. Hat der Jugendliche einmal mit 


Die Reform des Strafrechts 501 


dem Strafgeſetzbuch Bekanntſchaft gemacht, fo ſchreite man, um hier ausnahms⸗ 
weiſe auch die ſtrafprozeſſuale Seite kurz zu berühren, ſo raſch als nur irgend 
möglich zur Hauptverhandlung, verſchone den Jugendlichen vor der Unter- 
ſuchungshaft, bilde zur Aburteilung beſondere Jugendgerichtshöfe, aus dem er⸗ 
fahrenſten Vormundſchaftsrichter als Vorſitzenden, dem Hauptlehrer des 
Jugendlichen und einem ſonſtigen erfahrenen Kenner der Kindes ſeele. Man 
ſchließe weiter grundſätzlich in allen Fällen der Aburteilung von Jugendlichen 
die Offentlichkeit aus. Jedes Aufſehenerregende und Senſationelle iſt bei der 
Aburteilung der Jugendlichen auf das ſtrengſte zu vermeiden. Gute Anfänge 
in der Verwirklichung dieſer Forderung bietet der unlängſt in Frankfurt a. M. 
auf Veranlaſſung des dortigen Oberlandesgerichtspräſidenten errichtete Jugend- 
gerichts hof. 

Neben der Behandlung der Jugendlichen verdient noch ein beſonderes 
Intereſſe die der Rüdfälligen und der Gewohnheits verbrecher. Der Rüdfällige 
bildet das Gegenbild zum Gelegenheitsverbrecher, der einmal bei beſonders 
günſtiger Gelegenheit einem unwiderſtehlich ſtarken äußeren Anreiz zum Ver- 
brechen unterliegt, man denke etwa an den Meſſerſtecher aus Jähzorn, die 
Kindesmörderin und den Ehemann, der die Gattin beim Ehebruch in flagranti 
ertappt und ſie ſamt dem Liebhaber niederſchießt. Das Verbrechen bildet in 
ſeinem Leben eine einmalige Entgleiſung, ein vorübergehendes Straucheln, eine 
bitter bereute Epiſode, der Kern ſeines ſittlich intakten Weſens wird dadurch nicht 
berührt. Ganz anders der Rückfällige, bet ihm genügt oft nur ein äußerſt gering- 
fügiger äußerer Anlaß, um ihn von neuem ein Verbrechen begehen zu laſſen. 
Falſch wäre es, die Rüdfälligen als eine einheitliche, in ſich geſchloſſene Kategorie 
von Verbrechern anzuſehen. Sie ſetzen ſich zuſammen aus verhältnismäßig 
harmloſen Naturen, die oft nur bittre Not zum Rückfall treibt, wie aus dem 
unverbeſſerlichen gewerbs⸗ oder gewohnheitsmäßigen Verbrecher. Bei dieſen 
find alle der Begehung des ODeliktes entgegenſtehenden ſittlichen, ſozialen und 
religtdfen Vorſtellungsreihen niedergeriſſen, die Begehung von Verbrechen dient 
zur Gewinnung des Lebensunterhalts, das durch die verbrecheriſche Tätigkeit 
Gewonnene wird als regelrechter und normaler Arbeits verdienſt betrachtet. 
Eine ſtark antiſoziale und allgemein rechtsverachtende Geſinnung kennzeichnet 
dieſe Elemente. Eine heftige Intenſität des verbrecheriſchen Willens ſchlummert 
in ihnen, die ſich leicht nur zu oft bei einem ganz geringfügigen Anlaß in der 
gemeingefährlichſten Weiſe entlädt. In der Behandlung dieſer Schädlinge 
verſagt unſer geltendes Strafrecht vollkommen. In ganz widerſinniger Weiſe 
behandelt es den Rückfall nicht als allgemeinen Strafſchärfungsgrund, ſondern 
beſchränkt ihn auf Raub, Diebſtahl, Betrug und Hehlerei. Wer alſo aus ein- 
gewurzeltem verbrecheriſchen Hange auch noch fo viele Anterſchlagungen be- 
geht, wird an ſich nicht härter beſtraft als der Anfänger in dieſer edlen Kunſt, 
wer dagegen zum dritten Male, ſei es auch nur eine Kleinigkeit, ſtiehlt, der 
hat das Zuchthaus verwirkt und nur bei Annahme mildernder Amſtände, deren 
Zuerkennung ganz in das Belieben des Gerichtes geſtellt iſt, kommt er mit 
einer Minbdeftftrafe von 3 Monaten Gefängnis davon. And dabei bedenke 
man, wie ſchwierig oft die begriffliche Scheidung zwiſchen Diebſtahl und Unter- 
ſchlagung ſich darſtellt und von welchen ſubjektiven Anſichten und Stimmungen 
mitunter bei der Beratung und Abſtimmung des Gerichts das Schickſal des 
Angeklagten abhängt. Man führe alſo im neuen Strafgeſetzbuch ganz allgemein 
den Rückfall als Strafſchärfungsgrund ein. Denn den eigentlichen und rich ⸗ 


502 Die Reform des Strafrechts 


tigen Maßſtab für die Schwere der verwirkten Strafe muß in Zukunft nicht 
der oft nur rein zufällige Umfang des Erfolges, der Schaden abgeben, ſondern 
die gemeingefährliche, rechtsverachtende Geſinnung des Täters. Beim einfach 
Nückfälligen erſcheint deshalb eine Erhöhung der Strafe bis zum Doppelten 
der für die einfache Begehung angedrohten Höchſtſtrafe, beim gewerbs- ober 
gewohnheitsmäßigen Verbrecher bis zum Dreifachen durchaus angezeigt. Jedoch 
wäre zur Vermeidung von ſonſt eintretenden großen Härten die Beſtimmung 
in das Geſetz aufzunehmen, daß dann, wenn das Delikt in und aus echter Not 
begangen wurde, — die arme Mutter ftiehlt zum wiederholten Male Gelder, 
um den Kindern davon Lebens- und Anterhaltsmittel zu beſchaffen — die 
gewöhnliche Beſtrafung einzutreten hätte. Aberhaupt muß im Strafgeſetzbuch 
der Zukunft die Begehung eines Delittes im Falle der echten Not ſtets einen 
beſonderen Strafmilderungsgrund abgeben. 

Einer beſonderen Fürſorge bedürfen die Heimatloſen auf der Landſtraße, 
die in einer wahren Riefenarmee von mehr als zwei Millionen Köpfen fechtend 
auf der Walze herumziehen und die Nefervearmee, ſowie das ſtets zum Aber · 
laufen volle Nekrutierungsbecken des Verbrechens bilden. Ein dichtes Netz 
von Arbeiterkolonien, viel engmaſchiger als bisher, muß zu ihrer Aufnahme 
ganz Deutſchland überziehen. Wer die ihm hier angebotene Arbeit grundlos 
ablehnt, wäre ohne weiteres als ftrafbar in einem Arbeits hauſe unterzubringen. 

Nun die ſpeziellen Delikte. Hier tritt beſonders in die Erſcheinung, wie 
ſehr unſer heutiges Strafgeſetzbuch an einer übertriebenen Wertſchätzung und 
Beſchützung der materiellen Güter krankt; das Vermögen ſteht ihm höher als 
die ideellen Güter, als Anverſehrtheit der Ehre, Geſundheit und Willens⸗ 
entſchließung. Während der Diebſtahl, auch in der größten Notlage ausgeführt, 
heute ſtets nur mit Gefängnis beftraft werden kann, iſt die Körperverletzung. 
bei Zubilligung mildernder Umftände ſelbſt die gefährliche, etwa mit einem 
Stock oder Bierſeidel zugefügte, wahlweiſe mit Gefängnis oder mit Geldſtrafe 
(im Minimum 3 Mk.) bedroht. Während die verſuchte Körperverletzung, auch 
die gefährliche wie z. B. das Zücken eines Dolchmeſſers auf einen Angefallenen, 
ſtets ſtraflos bleibt, iſt der verſuchte Diebſtahl ſtets und zwar mit Gefängnis zu 
beſtrafen. Während der § 240 des Str. -G. B., der die freie menſchliche Willens · 
betätigung zu ſchützen bezweckt, die widerrechtliche Nötigung zu einer Handlung, 
Duldung oder Anterlaſſung mit Gewalt oder Bedrohung mit Gefängnis bis zu 
einem Jahre oder mit einer Geldſtrafe von höchſtens 600 Mark beſtraft, ſieht 
§ 253 Str. G. B. für die gewaltſame rechtswidrige Verſchaffung eines Ver · 
mögensvorteils (Erpreſſung) Gefängnis bis zu 5 Jahren vor. Noch eine weitere 
Gegenüberſtellung diene als Beleg für dieſen kapitaliſtiſchen, man kann 
ſagen materialiſtiſchen Geiſt unſeres jetzigen Strafrechts. Be 
ſtraft § 242 Str.-G.-B. den einfachen Diebſtahl mit Gefängnis bis zu 5 Jahren, 
fo erblickt der Geſetzgeber im § 185 für die Beleidigung in einer Geldſtrafe 
bis zu 600 Mark oder Gefängnis bis zu einem Jahre eine ausreichende Sühne. 
Mit Recht erklärt der bekannte Berliner Strafrechtslehrer Profeſſor Kahl in 
feinem vortrefflichen Vortrag auf dem 13. Evangeliſch- ſozialen Kongreß 1903 
in Darmſtadt die Ehre für das vom heutigen Strafgeſetzbuch ſo ziemlich 
am geringſten bewertete Rechtsgut. Hier muß unbedingt Wandel 
geſchaffen werden, viel härtere Strafen müſſen in Zukunft für den Beleidiger, 
insbeſondere aber für den frivolen Verleumder vorgeſehen werden. Nur dann 
wird es möglich ſein, das Standesdelikt des Zweikampfes, wenn auch nicht 


Die Reform des Strafrechts 503 


völlig zu befeitigen — fo optimiftifch denke ich nicht — (Wir aber! D. T.), 
ſo doch nicht unweſentlich einzudämmen. Die ernſteſte Erwägung verdiente es, 
ob nicht für den Zweikampf überhaupt die ihn privilegierenden ehrenvollen 
Feſtungsſtrafen in Zukunft ganz allgemein wegfallen müſſen und durch die 
Normen über gemeine Tötung und Körperverletzung zu erſetzen ſein werden. 
(Dies Aus nahmegeſetz für gewiſſe, gebildete“ Klaſſen dürfte nicht 
einmal von den Anhängern des Duellunfugs vertreten werden. Wer um 
ſeiner „Ehre“ willen glaubt töten oder morden zu müſſen, ſoll auch die Strafe 
auf ſich zu nehmen den Mut haben. D. T.) Anbedingt aber muß das für 
denjenigen Duellanten gelten, der durch ſein eigenes ehrenrühriges Verhalten, 
z. B. Ehebruch, ſchuldhaft den anderen Teil zum Zweikampf gereizt hat und 
ſich fo „ehrlich“ (12) ſchießen wollte. . 

Einer Ausdehnung und Ausgeftaltung bedürfen aud die Beſtimmungen 
über den „Mundraub“, welche die Entwendung von Nahrungs- oder Genuß⸗ 
mitteln von unbedeutendem Werte oder in geringer Menge auch aus einem 
Gebäude oder ſonſt umſchloſſenen Raume durch Einſteigen oder Erbrechen von 
Behältniſſen nicht als Diebſtahl, ſondern als bloße Abertretung mit Haft oder 
Geldſtrafe bis zu 150 Mark ahnden. Danach erhält die Mutter, die für ſich 
und ihre Kinder zur Stillung des Hungers oder Durſtes Brot, Kaffee, Bier 
oder auch Wein entwendet, die milde Strafe für Mundraub, vergreift ſie ſich 
an Kohlen, um im Winter die kalte Stube zu heizen, oder an Kleidungsſtücken, 
um ihre Blöße zu decken, ſo wird ſie wegen gemeinen Diebſtahls mit Ge⸗ 
fängnis, im zweiten Rückfall mit einem Jahr Zuchthaus und nur bei Zu- 
billigung mildernder Amſtände mit einer Mindeſtſtrafe von 3 Monaten Ge- 
fängnis beſtraft. „Vernunft wird Unfinn, Wohltat Plage.“ Logik wie Ge⸗ 
rechtigkeit erfordern gleich gebieteriſch die Ausdehnung der privilegierenden 
Strafbeſtimmungen über den Mundraub auf Entwendung von Feuerungs ; 
materialien, Bekleidungsgegenſtänden und Arzneimitteln. 

Wir ſehen: die Reform des Strafrechts iſt eine dringende und nicht 
länger aufſchiebbare Notwendigkeit. Aber der Einfluß des Strafrechts auf 
die Bekämpfung des Verbrechens iſt nur gering im Verhältnis zur Sozial- 
politik. Mehr oder weniger kann es nur repreſſiv wirken, die ſozialen Keime 
des Verbrechens vermag es nicht zu erſticken, und die Wälle, die es in eigener 
Arbeit, auf ſich ſelbſt angewieſen, aufwirft, können nur ſchwach den trüben 
Fluten des Verbrechens wehren. Es gilt das Abel an der Wurzel zu faſſen, 
und das vermag durchgreifend nur die Sozialpolitik und die Hebung und 
Stärkung des ſittlichen Empfindens der weiteſten Volkskreiſe. Eine geſunde, 
wahrhaft volkstümliche und arbeiterfreundliche Sozialpolitik, geſunde, billige 
Wohnungen, im Notfalle in ſtädtiſcher Regie aufgeführt und auf Erbbaurecht 
vergeben, eine tiefgreifende und großzügige Bodenreformpolitik von Staat und 
Gemeinde, wohlfeile Getreide ⸗ und Fleiſchpreiſe, Sicherheit und Stetigkeit der 
Arbeitsverhältniſſe verbunden mit auskömmlichen Löhnen, ſind beſſere Waffen 
zur Bekämpfung des Verbrechens als das ſchönſte und trefflichſte Strafgeſetz · 
buch. So mündet die Frage der Reform des Strafrechts und der beſten Be- 
kämpfung des Verbrechens letzten Endes aus in die Forderung einer guten und 
anhaltenden, zielbewußten Sozialpolitik. Eine gute Sozialpolitik iſt die beſte 
Kriminalpolitik, denn das Verbrechen iſt ſchließlich doch eine ſozialpathologiſche 
und nicht eine individuelle Erſcheinung. Dr. jur. Bovenſiepen 


Sor 


504 Die Ausdehnung des Vogelſchutzes 


Die Ausdehnung des Vogelſchutzes 


weifellos würden ſich die zahlloſen Inſektenarten, die unſerm Ge 
N treide, unſern Obft- und Waldbäumen gefährlich werden, in einer 

für die menſchliche Ernährung bedrohlichen Weiſe vermehren, wenn 
ihnen nicht von den hundertundfünfzig bei uns brütenden Singvögelarten un- 
ermüdlich nachgeſtellt würde. Ja, ohne Übertreibung kann man fagen, daß der 
Menſch der gemäßigten Zone Hunger leiden müßte, wenn ihm nicht die In ⸗ 
ſektenfreſſer unter den Vögeln zu Hilfe kämen. Trotzdem hat es erſchreckend 
lange gedauert, bis aus der Erkenntnis der Notwendigkeit eines energiſchen 
Vogelſchutzes der Wille ſich emporrang. Jedenfalls ſo lange, daß inzwiſchen 
eine ſehr fühlbare Abnahme der meiſten Vogelarten eintreten konnte. 

Aber die wichtigſten Arſachen war man fic in der Mitte der achtziger 
Jahre des vorigen Jahrhunderts noch nicht völlig klar. Hieß es doch in einem 
Gutachten der Deutfchen Allgemeinen Ornithologiſchen Geſellſchaft, daß eine 
Abnahme nützlicher Vögel, wo ſolche ſicher erwieſen ſei, nicht durch vermehrte 
Nachſtellung ſeitens der Menſchen, ſondern nur durch Maßnahmen der Land; 
und Forſtwirtſchaft bedingt ſei. Heute urteilen wir anders. Wir wiſſen, daß 
die Wirkungen ſich ſummieren und daß die fürchterlichen Nachſtellungen, denen 
unſere Singvögel während des Winteraufenthalts in ſüdlichen Ländern aus. 
geſetzt find, febr ſchwer ins Gewicht fallen. Anhaltspunkte für eine ſichere 
Schätzung der Vogelmengen, die im Süden Europas alljährlich vernichtet wer · 
den, ſind nicht vorhanden. Man wird aber wohl wenig von der Wirklichkeit 
abirren, wenn man an eine ſiebenſtellige Zahl denkt. Nun muß man weiter 
rechnen: wenn tauſend Paar einer einzigen Art nicht in das Gebiet zurück · 
kehren, das fie im Sommer bei uns bewohnen, dann fehlt ſchon im Herbſt die 
vier- bis fünffache Zahl. 

Aber auch in deutſchen Landen werden nach ziemlich ſicherer Schätzung 
jährlich etwa drei bis vierhunderttauſend Singvögel mit Leimruten und Netzen 
gefangen. Das bedeutet ſchon allein eine recht fühlbare Verminderung unſerer 
gefiederten Bundesgenoſſen, abgeſehen von den ſcheußlichen Grauſamkeiten, die 
dabei ausgeübt wurden. Man wollte doch nur die Männchen ihres Geſanges 
wegen fangen und konnte es nicht verhindern, daß ebenſoviel oder noch mehr 
Weibchen auf die Leimruten gingen. Sie wurden einfach fortgeworfen und 
hilflos dem Hungertode preisgegeben, wenn nicht ein Raubtier ſie von ihren 
Leiden erlöſte. 

Schon 1895 wurden zwar auf einer internationalen Konferenz in Paris 
allgemeine Grundſätze für einen gemeinſamen Vogelſchutz aufgeſtellt und 1902 
durch die Pariſer Konvention feſtgelegt. Aber man kann wohl ohne Aber · 
treibung ſagen, daß ſie völlig ergebnislos geblieben iſt. Selbſt in Deutſchland 
hat es noch ſechs Jahre gedauert, bis die Verbote erlaſſen wurden, die wir 
ſehnſüchtig von unſern Nachbarn erwarteten. Ebenſo hat ſich in Frankreich 
bis auf den heutigen Tag nicht das geringſte geändert. Die franzöfiſchen 
Landleute wetteifern im Herbſt mit den maſſenhaft aufs Land ſtrömenden 
Städtern im Fang der Zugvögel. And wer nicht gar zu faul ift, legt ſich noch 
für den Winter einen großen Steintopf der gerupften und ſauber gereinigten 
Vögelchen als Vorrat ein. Am traurigſten iſt es, daß Stalien der Pariſer 
Konvention nicht beigetreten iſt. Traurig genug ſchon, daß der Vogelfang für 


— — — — 1 — — = 


Die Ausdehnung des Vogelſchuzes 505 


Italien eine wirtſchaftliche Notwendigkeit tft. Von der Armut der italieniſchen 
Landbevölkerung macht man ſich bei uns gewöhnlich keinen rechten Begriff. 
Die Krankheiten, die auf ungenügender Ernährung beruhen, hören dort in 
manchen Gegenden nie auf. And dieſer Zuſtand würde durch eine völlige 
Anterdrückung des Vogelfangs ſicher noch eine Verſchärfung erfahren. 

Das kann uns aber nicht abhalten, von unſerm Bundesgenoſſen den 
Beitritt zur Pariſer Konvention und die Beſeitigung des Vogelmordes den ; 
noch mit allem Nachdruck zu verlangen. Das Bündnis mit Italien hat für 
uns wahrlich nur ſehr geringen Wert, dagegen für Italien nicht nur eine poli- 
tiſche, ſondern auch eine ſo hohe wirtſchaftliche Bedeutung, daß die leitenden 
Staatsmänner trotz entgegengeſetzter Neigungen an dem Bündnis feſthalten. 
Das gibt uns doch wohl das Recht, in einer ſo wichtigen Frage, wie es 
der Vogelſchutz nun einmal iſt, von unſerm Bundesgenoffen die Berückſichtigung 
unſerer Forderungen zu verlangen. Bisher indes verlautet noch nichts, daß von 
Deutſchland nach dieſer Richtung Schritte unternommen worden find. Wir 
möchten ſie ganz energiſch befürworten. Wir haben jetzt, nachdem der Reichstag 
ein durchgreifendes Vogelſchutzgeſetz beſchloſſen, auch ein moraliſches Recht dazu. 

Das neue Geſetz erſtreckt fic auf das Verbot aller Arten des Vogel ⸗ 
fangs mittels Vogelleim oder Schlinge und wird wirkſam durch Beſtimmungen 
ergänzt, die für die Zeit vom 1. März bis zum 1. Oktober den Verkauf leben ⸗ 
der und toter Vögel, ja ſogar die Ein- und Durchfuhr der unter Schutz ge- 
ſtellten Vögel unterſagen. Für die wenigen Inſektenfreſſer, die im Winter 
bei uns bleiben, für Meiſen, Kleiber und Baumläufer iſt der Schutz auf das 
ganze Jahr ausgedehnt. Zu billigen iſt es auch, daß der Handel mit lebenden 
Vögeln dem § 35, Abſ. 2 der Gewerbeordnung eingereiht werden ſoll, damit 
unzuverläſſigen Händlern der Gewerbebetrieb gänzlich unterſagt werden kann. 

Wie ſteht es nun des ferneren mit der von der Ornithologiſchen Gefell- 
ſchaft aufgeſtellten Behauptung, daß Maßnahmen der Land und Forſtwirt⸗ 
ſchaft am meiften auf die Abnahme unſerer Singvögel eingewirkt haben? Die 
Landwirtſchaft wird ja dazu gedrängt, im Intereſſe der Volksernährung jedes 
Stückchen Erdboden auszunutzen. In dieſem Beſtreben iſt ſie aber zu weit 
gegangen, indem fie alle Feldgebüſche, alle Hecken an den Ackerrainen be- 
ſeitigte. Das Feld iſt allerdings „klar“ geworden, aber nicht mit Anrecht hat 
man dafür den Ausdruck Kulturſteppe gefunden, denn fie wirkt tatſächlich auf 
die Verminderung der Vogelarten wie die baum- und waſſerloſe Steppe. 

Mit den Gebüſchen und Hecken verſchwinden die Grasmücken, Rot. 
kehlchen, Goldhähnchen, Hänflinge, Goldammern uſw. Manche Arten haben 
dem undankbaren Lande den Rüden gekehrt und ſich den Gärten der Grof- 
ſtädte zugewandt, wie die gepflegten Anlagen in den Großſtädten und Badeorten 
beweiſen, bei denen eine ſehr erfreuliche Zunahme aller Vogelarten feſtgeſtellt 
iſt. Dort kann man auch beobachten, wie dankbar die Vögel für menſchliche 
Fürſorge ſind, indem ſie alle Scheu vor dem Menſchen ablegen. 

Glücklicherweiſe hat die Landwirtſchaft den Irrweg bereits erkannt 
und ſich davon abgewandt. Dieſe erfreuliche Wandlung haben wir ohne 
Zweifel dem Weidwerk zu verdanken, das bei ſeiner großen wirtſchaftlichen 
Bedeutung von den Landwirten die Berückſichtigung ſeiner Intereſſen ver⸗ 
langt und erzwungen hat. Sie gehen dahin, daß dem Niederwild nicht nur 
Futterſtellen, ſondern auch Zufluchtsſtätten geſchaffen werden müſſen. Das 
von einem Raubvogel bedrohte Rebhuhn, der von Krähen * Haſe 

Der Türmer X, 10 


506 Die Ausdehnung des Vogelfhuses 


kann fic nur dann retten, wenn er in einer dichten Hecke Zuflucht findet. Die 
für dieſen Zweck angelegten Dornhecken, die Anpflanzung von Obſtwildlingen 
bieten auch dem Singvogel wieder Niſtgelegenheit und Anterſchlupf. 

Genau ſo ſchädlich hat in den Forſten die Ausrottung aller hohlen 
Bäume gewirkt. Man begreift eigentlich nicht, wozu das geſchehen iſt. Die 
Bäume ſtanden doch keinem im Wege, und die Gefahr, daß ſie Brutſtätten 
ſchädlicher Inſekten bildeten, war wirklich verſchwindend klein. Trotzdem geht 
die Forſtwirtſchaft unentwegt in dieſer Richtung vorwärts. Sie hat mit großen 
Koſten ſeit etwa zehn Jahren alle von einem Schwamm befallenen Bäume 
mit weißen Ringen kennzeichnen laſſen, um fie nach und nach niederzuſchlagen. 
Es ſind wohlberechtigte Zweifel vorhanden, daß auf dieſe Weiſe die von der 
Natur beſchloſſene Lehnsgemeinſchaft zwiſchen Pilz und Baum beſeitigt wer- 
den kann. Der Halimaſch, ein gelbrötlicher Pilz, den man für den größten 
Störenfried hält, exiſtiert jedenfalls ſchon ſo lange wie der Wald, und er wird 
nach wie vor Bäume finden, auf denen er ſich anſiedeln kann; es ſtehen ja 
ihrer genug in deutſchen Forſten. Man kann alſo die Maßregel der Baum- 
ausmerzung ruhig als verfehlt bezeichnen! Sie wird nur den einen Erfolg 
haben, daß die Höhlenbrüter, wie Spechte und Meiſen, völlig aus dem deut ⸗ 
ſchen Walde verſchwinden. Doch nein! Die Forſtverwaltung läßt es ſich ja 
etwas koſten, künſtliche Niſtkäſten in den Wäldern aufzuhängen. Muß man 
da nicht bitter werden? Man raubt tauſend nützlichen Vögeln die natürliche 
Niſtgelegenheit, um einem Dutzend einen künſtlichen Notbehelf zu bieten! 

Noch ſchlimmer hat die einſeitige Richtung unſerer Forſtwirtſchaft gewirkt, 
die das Laubholz verdrängte, um es durch den ſchneller wachſenden Nadelwald 
zu erſetzen. Das bedeutet die Verdrängung vieler nützlicher Vogelarten, die im 
Nadelwald weder eine Niſtgelegenheit noch ausreichende Nahrung finden. 
Kiefernwälder mit dichtem Anterholz ſind äußerſt ſelten zu finden. Es wird ja 
von der Forſtverwaltung nicht geduldet! Aber die Natur hat ſich ſchon gerächt. 
Die Kiefernraupe und die Nonne haben ſeit den fünfziger Jahren des vorigen 
Jahrhunderts in den deutſchen Forſten ganz entſetzliche Verwüſtungen ange 
richtet, denen gegenüber der Menſch völlig machtlos bleibt. Dieſe ſchmerr 
lichen Erfahrungen haben es ſchließlich zuwege gebracht, daß die Forſtwirt⸗ 
ſchaft von der Schaffung reiner Nadelbeſtände abzugehen beginnt und zu den 
gemiſchten Beſtänden zurückkehrt, wie ſie der Schöpfer hat entſtehen laſſen. 

Die wichtigſte Beſtimmung des neuen Vogelgeſetzes iſt das Verbot des 
Krammetsvogelfangs. Es war nicht in dem Entwurf der Reichsregierung ent 
halten. Der Reichstag hat es mit ziemlich geringer Majorität in das Geſes 
eingefügt. Dabei konnte man die merkwürdige Beobachtung machen, daß poli- 
tiſche Geſinnungsgenoſſen über dieſe Frage in heftigen Zwieſpalt gerieten. 
Die einen vertraten einen nüchtern praktiſchen Standpunkt, meinten, die Vögel 
ſeien nicht ſelbſt Zweck, es ſei vielmehr die Frage zu ſtellen, ob der Nachteil 
ihrer Tötung den Vorteil ihrer Nutzung übertrifft. Das müſſe entſchieden 
verneint werden, weil weder Italien noch die nördlichen Küſtenländer Afrikas 
der Vogelſchutzkonvention beigetreten ſind. Was wir nicht wegfingen, käme 
ſomit nur dieſen Staaten zugute. Ja es wurde ſogar das geforderte Verbot 
für eine unberechtigte Sentimentalität erklärt. Die Mehrheit vertrat zum Glück 
einen anderen Standpunkt: Erſtens ermangeln wir der moraliſchen Berechti· 
gung, von unſern ſüdlichen Nachbarn Vogelſchutz zu verlangen, wenn wir die 
aus dem Norden bei uns durchziehenden Krammetsvögel hinmorden. Zweitens 


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Deutiche Lehrerverſammlungen 507 


werden neben den Krammetsvögeln fieben bis acht Arten von Singvögeln mit- 
gefangen. Im Weſten namentlich beſtand der Fang, wie aus genauen Auf- 
zeichnungen zu erweiſen iſt, meiſtens zu zwei Dritteln aus Singdroſſeln, die 
wir zu den nützlichſten aller Vögel rechnen müſſen. 

And ſchließlich iſt der Widerwille gegen die Anwendung der Schlinge 
zum Fang von Vögeln keine übertriebene Sentimentalität. Da ich von meiner 
Kindheit an einen Dohnenſtrich von zwei deutſchen Meilen Länge täglich durch 
laufen bin, ſo darf ich mir wohl ein Arteil darüber erlauben. Der halbrunde 
Bügel, der mit beiden Enden feſt in einen Baumſtamm eingefügt iſt, erwies 
ſich zwar als wenig grauſam. Er ſchließt es meiſtens aus, daß die Vögel 
ſich an einem Ständer oder Flügel fangen und ſtundenlang in gräßlichen 
Qualen abzappeln. Trotzdem kam es häufig genug vor: ich ſchätze, daß von 
hundert Vögeln etwa zwei ſich in dieſer unglücklichen Weiſe fingen. Viel 
ſchlimmer dagegen find die dreieckigen Bügel, die mit einem Ende in den 
Stamm gebohrt werden, und am allerſchlimmſten die freihängenden. Sie wer- 
den von dem Vogel beim Aufflattern mitgeriſſen und ziehen ihn zur Erde, wo 
dann ein Zerren und Quälen beginnt, das manchmal erſt nach Stunden endigt. 

Das Geſetz enthält leider noch eine ſehr bedauerliche Lücke, weil es die 
Einfuhr toter Vögel aus dem Auslande nach dem 1. Oktober nicht unterſagt. 
Das iſt eine ganz unverſtändliche Rückſichtnahme auf den Gaumenkitzel der⸗ 
jenigen Leute, die fic den Leckerbiſſen eines Krammets vogels nicht verſagen 
wollen. Denn als Nahrungsmittel kommt doch ſolch eine kleine Vogelleiche 
nicht in Betracht. Die Folge wird aber fein, daß wir den ſüdlichen und weft- 
lichen Nachbarn erhöhten Anreiz zum Droſſelfang ſchaffen, wenn ſie die Vögel 
zu ſchweren Preiſen in Deutſchland verkaufen können. Es iſt deshalb allen 
Ernſtes zu verlangen, daß dieſe Lücke ſobald wie möglich ausgefüllt wird. 

Immerhin bedeutet das neugeſchaffene Vogelſchutzgeſetz einen weſentlichen 
TFortſchritt, einen Merkſtein der Kultur, den ſich die deutſche Bildung geſetzt hat. 

Dr. Fritz Skowronnek 


Deutſche Lehrerverſammlungen 


ein Geringerer als der Finanzminiſter Miquel hat darauf hingewieſen, 
Yr. W der Deutſche Lehrerverein ſei das bewundernswerte Muſter einer 
SBeamtenorganiſation, das im höchſten Grade vorbildlich fel. Aber 
fo ſehr ſich andere Beamtenkategorien auch bemüht haben, es dieſer Organi- 
fation gleichzutun, fo blieben ihre Bemühungen doch mehr ein bloßes Nach- 
ahmen der äußeren Formen. Gewiß ſind ſie von großem Werte, doch umfaſſen 
ſie nicht das Weſen der ganzen Organiſation. Es iſt eben der Geiſt, der ſich 
den Körper baut. And dieſer Geiſt der deutſchen Lehrerſchaft iſt ein ganz 
eigenartiger. Er iſt nicht etwa mit gewaltigem Pfingſtbrauſen über die Lehrer⸗ 
welt gekommen; er iſt nicht ein Aus fluß moderner Zeitſtrömungen: ſchon in 
Peſtalozzis Tagen lebte er in der Bruſt des einzelnen deutſchen Schulmeiſters 
und hat ihn getragen in feinem Tun und ihn vorwärts getrieben und auf- 
wärts. Woher kam dieſer Geiſt, der den Dorf. und Stadtſchulmeiſter ſchon 
vor hundert Jahren gegen den Stachel der geiſtlichen Schulaufſicht löcken ließ? 
Waren es Standes einflüſſe? Waren es die beſonderen ſchulpolitiſchen Ver⸗ 


508 Deutſche Ledrerverſammlungen 


hältniſſe, von denen die Lehrerſchaft ſtets umgeben geweſen iſt? Es muß wohl 
ſein. Wer in der Geſchichte der Pädagogik blättert, der wird finden, daß die 
Lehrerſchaft in ihrem Handeln und Verhalten von viererlei getragen war: 
von hohem Idealismus, von ſcharf ausgeprägtem Berufsbewußtſein, von Haß 
gegen die Inſtitution der geiſtlichen Schulaufſicht und von der bleichen Sorge 
um des Leibes Nahrung und Notdurft. 

Dieſe Dinge, die das Herz des einzelnen bewegten und auch heute noch 
bewegen, find mit der Zeit zu Standes fragen geworden. Das Berufsbewußt · 
ſein des einzelnen hat ſich zum Standesbewußtſein fortentwickelt, und heute 
umfaßt der Deutfche Lehrerverein ein einig Volk von 120 000 Brüdern! Welch 
ein Werden und Wachſen! Es war leicht und ſchwer zugleich, den breitkronigen 
Baum zu dieſer Entfaltung zu bringen. Leicht war es inſofern, als, wie wir 
eben geſehen haben, alle Grundbedingungen zu einer großzügigen Organiſation 
gegeben waren; ſchwer war es inſofern, als es nach dem bekannten Sprichwort 
nur ſelten gelingt, ein Dutzend, geſchweige denn 120 000 Erzieher unter einen 
Hut zu bringen. Nun, es tft gelungen! Peſtalozzi, Wander, Harniſch, Diefter- 
weg, Zahn, Landfermann, Lüben, Harms, Falk, Boſſe, Horn und andere haben 
das Feuer gemeinſamer Begeiſterung gehütet und genährt, jeder in ſeiner Art 
und nach feiner Überzeugung. Vor allem aber denke ich dabei an den großen, 
beſcheidenen Clausnitzer, den Bismarck der Lehrerorganiſation in ihrer jetzigen 
Geſtalt. Nur einem Vollblutpeſtalozzianer und einem organiſatoriſchen Genie 
konnte ein ſolcher Wurf gelingen. 

Welche Verſchiedenheiten dieſe Führer der deutſchen Lehrer auch auf 
weiſen — ein Merkmal iſt ihnen allen gemein: die amtliche Welt hat ihnen 
dieſe Lehrerfreundlichkeit ſchwer vergolten. Sogar über die Minifter Falk und 
Boſſe hat ſich das Füllhorn der Intrigen, Verkennungen und Verleumdungen 
reichlich ergoſſen. Von Boſſe erzählt man ſich in eingeweihten Kreiſen, daß 
man ihm ſeine intime Stellung zu den Lehrern ſchwer verdacht hat, und ſein 
Nachfolger war ſo ausgewählt, daß von ihm ähnliches nicht brauchte befürchtet 
zu werden. Wenn es nun zutreffend iſt, daß ein Freund der Lehrer im all- 
gemeinen kein Begnadeter der Regierungswelt iſt, fo dürfte dieſer Umftand 
mehr als alles andere ein ſprechender Beweis ſein für das Vorhandenſein 
tiefgehender Differenzen zwiſchen den Gefühlen, Anſchauungen und Zielen der 
Lehrerſchaft und ihrer niederen und höchſten Vorgeſetzten. Worin liegt dieſe 
Erſcheinung begründet? In mancherlei! Die Schickſale des Lehrerſtandet 
waren mit denen der Volksſchule von jeher aufs engſte verknüpft. Zur Ehre 
der Lehrer muß geſagt werden, daß ſie es nicht anders wollen. Hebung der 
Volksſchule durch Hebung des Lehrerftandes! lautet einer der oberſten pro · 
grammatiſchen Grundſätze des Deutſchen Lehrervereins. Welches Anſehen nun 
die Volks ſchule in den Kreiſen der Machthaber genießt, weiß jeder Staatz · 
bürger. Die hohen Behörden find für fich ſelbſt faft durchgehends nur amt 
lich oder offiziell fromm. Perſönlich ſteht man den religiöfen Dingen fo fern 
wie nur möglich. Aber man muß „vorbildlich“ wirken, wenn es das Volk be- 
trifft. Anter ſich macht man ſich weidlich luſtig über Dogmen und ſonſtige 
kirchliche Dinge. Aber was ſollte aus der Plebs werden, wenn ihr nicht die 
Religion erhalten würde! Man „macht“ deshalb in dieſem Fach und iſt lieber 
ein unaufrichtiger Heuchler als ein ehrlicher Diſſident. Staatsreligion! Dieſes 
Ungeheuer graſſiert nicht bloß in unſeren Negierungskreiſen, ſondern es hat 
auch die ſchulpolitiſche Tätigkeit des Kulturblocks vergiftet. Ob deutſchkonſer⸗ 


Deutiche eehrerverſammlungen 509 


vativ, freikonſervativ, nationalliberal, antifemitif oder agrariſch — man zog 
an demſelben Strick, als es galt, die Konfeſſionsſchule geſetzlich feſtzulegen. 
Dieſe Junker, Induſtriemagnaten, Kommerzienräte, Profeſſoren und ſonſtigen 
Geiſteshelden leſen vielleicht in keiner Bibel, fingen aus keinem Geſangbuch, 
ſchicken ihre eigene Jugend in die ſimultanen höheren Schulen; aber ſobald 
es ſich um das „Volk“ handelt, macht man ihm zuliebe in elendeſter Schul ⸗ 
verpfaffung. And das iſt es, was die deutſche Lehrerſchaft immer wieder 
empört und was die Wogen ſo mancher Lehrerverſammlung hoch gehen ließ. 
Mit Herzen, Mund und Händen ſträuben ſich die Lehrer gegen die Zumutung, 
die Religion zum Polizeibüttel zu erniedrigen und ſich fo zu Handlangern 
derer zu machen, die durch Verquickung religiöſer und politiſcher Dinge unſer 
Vaterland einem Suftand der Verrottung entgegenführen. Dieſer Proteſt der 
Lehrerverſammlung fällt den Gebietern ſchwer auf die Seele. Um fid rein- 
zuwaſchen, bleibt ihnen kein Mittel als das, die religiöſe und politiſche Ge- 
finnung der Jugenderzieher jedesmal zu verdächtigen. Ich bin weit davon 
entfernt, den Lehrerſtand mit beſonderer Engelhaftigkeit umkleiden zu wollen. 
Es ſoll ſogar zugeſtanden werden, daß viele Lehrer an ihrem religiöſen Glauben 
gänzlich Schiffbruch gelitten haben. Aber was trägt daran die Hauptſchuld? 
Iſt es nicht die aller Pädagogik und aller Menſchenwürde hohnſprechende 
Erziehung der zukünftigen Lehrer in der Moderluft der Seminarklöſter? Iſt 
es nicht die durch und durch verlogene Art der Religions methode, die viel zu 
niedrig ſteht, als daß man ſie für pietiſtiſch oder orthodox ausgeben könnte? 
O dieſe Seminarien! Dieſe theologiſchen Ableger einer charakterloſen Staats- 
religion! Will man ſich wundern, wenn ſich der blutjunge Lehrer ſofort nach 
feiner Entlaſſung im Abermaß des Ekels dem Nadikalſten unter den Radikalen 
in die Arme wirft und nun alle Sterne erlöſchen ſieht! Andererſeits ſind es 
nicht minder die religiöſen Lehrer, die auf den Lehrerverſammlungen die Su- 
mutung zurückweiſen, ihr Heiligſtes aus politiſchen Gründen zu profanieren. 
Der moderne Lehrerſtand hat keine geſchichtliche Vergangenheit, keine 
aus alten Jahrhunderten überkommene Tradition. Darin liegt eine Gefahr 
inſofern, als dieſer Stand nicht in der Lage iſt, ſeine Ziele und Forderungen 
in das Licht hiſtoriſcher Vergleiche und Prüfungen zu rücken. Es liegt jedoch 
darin auch ein Vorteil. Wohin ein zu ſtarkes Betonen von Traditionen führt, 
lehrt die Entwicklung der innerpolitiſchen Verhältniſſe Preußens. Ohne die 
nötigen Familien - und Standestraditionen iff hier nichts zu machen. Wo keine 
Gegenwart war, hat man von jeher die Vergangenheit ſtark hervorgehoben. 
Das kennt der Lehrerſtand nicht. Er hat keine Ahnengalerie; er trägt ſeine 
Ahnen in ſeiner Bruſt. Daher auch die freie politiſche Stellung der Lehrer. 
Die Zukunft iſt ihnen alles. Es mußte unſchwer gelingen, einen Monarchen 
wie Kaiſer Wilhelm II. gegen einen ſolchen Stand einzunehmen. Unter dem 
Kronprinzen und nachmaligen Kaiſer Friedrich war es anders. Er hatte enge 
Fühlung mit der Lehrerſchaft, wußte ihre Grundſätze und Beſtrebungen zu 
würdigen und zählte die Lehrer bei feierlichen Empfängen auch dann zu den 
„Spitzen“, wenn man ſie in den Hintergrund plaziert hatte. Sein Sohn beachtet 
fie in keiner Weiſe. Als „Vertreter der Schule“ fungieren bei Empfängen 
Schulräte und Kreisſchulinſpektoren, und auch fie zeichnet Jupiters Huld ſelten 
oder nie aus. Kaiſer Wilhelm führt das kaiſerliche und königliche Zepter nun ; 
mehr ſeit 20 Jahren. Er hat aber in dieſer langen Zeit nie ein anerkennendes 
Wort für die Volksſchule und ihre Lehrer ausgeſprochen, auch nicht im Jahre 


510 Deutfche Lehrerverſammlungen 


1902, wo man auf zwei Jahrhunderte preußiſchen Königtums zurückblickte. Was 
wäre Preußen ohne die Volksſchule Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs des 
Großen? Nichts! Sie ſahen in der Volksſchule das ſchönſte Kleinod ihrer 
Krone. Friedrich Wilhelm I. war nicht minder Schul- als Soldatenkönig, und 
Friedrichs des Großen pädagogiſche Schriften ſind noch heute eine Fundgrube 
für jeden Erzieher. Im Zeitalter des Schulunterhaltungsgeſetzes iſt es anders 
geworden. Der große Haufe deſſen, was ſich ariſtokratiſch und akademiſch nennt, 
ſieht in der näheren Berührung mit dem „Volk“ und mit ſeiner Schule eine 
Verunreinigung. So ift es natürlich nur in Preußen. Welcher Art fein Libera; 
lismus vielfach iſt, erkennt man an dem Gebaren der gebildeten Liberalen 
gegenüber der Forderung einer allgemeinen Volksſchule. Man weigert fic, die 
eigenen Kinder für die erſten Schuljahre in ihr unterzubringen! Papier- und 
Dekorationsliberalismus! Sollte nicht ein Kaiſer mit allen Machtmitteln die 
allgemeine Volkschule begünſtigen? Statt deſſen dieſe Nichtachtung! 

And dann die kaiſerlichen Antworttelegramme auf den Gruß und das 
Gelöbnis der Lehrerverſammlungen! Sie repräſentieren über 100 000 Volks- 
ſchullehrer, die es wohl zu beanſpruchen hätten, eines vom Monarchen perſön 
lich abgefaßten Telegramms gewürdigt zu werden. Statt deſſen antwortet das 
Zivilkabinett! And wie iſt die Antwort beſchaffen? Geradezu beleidigend in 
der Form. Man merkt es ihr an, daß man geſchwiegen hätte, wenn es mit 
den Gepflogenheiten irgendwie zu vereinbaren geweſen wäre. Wie anders ſind 
die perſönlichen Telegramme an Regimenter, Offiziere, Schiffahrtsgeſellſchaften, 
Großinduſtrielle, Automobilklubs, Flottenvereine und Katholikenverſammlungen 
gehalten! Alſo auch hier wieder Nichtachtung! Biswarck handelte einſichts· 
voller! Er dankte dem preußiſchen Schulmeiſter, der den Sieg von Königgrätz 
ermöglicht hatte, im Jahre 1871 als dem Glied eines Standes, „der an unſeren 
gemeinſamen Erfolgen ſo hervorragenden Anteil und an den Dank des Vater. 
landes ſo berechtigte Anſprüche hat“, und einige Jahre ſpäter pries er die 
Teilnehmer an der Breslauer Lehrerverſammlung als „meine treuen Kampf. 
genoſſen“. Ich frage immer wieder: „And heute?“ In Dortmund begrüßte 
Oberregierungsrat Bickendorff die vielen tauſend Lehrer namens der Staats · 
regierung mit dem Wunſche, „daß Pflichttreue und Diſziplin auch ferner hoch · 
gehalten werden mögen und alles vom Standpunkt des Geſamtwohls aus ge- 
ſchehe“. Hier heißt es zwiſchen den Zeilen leſen! Solche amtlichen Natſchläge 
werden nur dort erteilt, wo die Antergebenen das Gegenteil beobachten, wenig · 
ſtens in den Augen der Vorgeſetzten. Die Lehrerſchaft bedarf folder Ermah · 
nungen nicht! Sie iſt pflichttreu aus Idealismus und Verantwortlichkeit, trotz 
materieller Sorgen! Sie iſt von einer ſtraffen Diſziplin beſeelt, die, mit Selbft- 
bewußtſein gepaart, gleich weit entfernt iſt von hündiſcher Kriecherei und revolu · 
tionärer Betätigung. And daß die Lehrerſchaft alles vom Standpunkt des 
Geſamtwohls aus beſieht und beurteilt, beweiſt ihr jahrzehntelanges Verhalten. 
Prof. Dr. Ziegler ſagt darüber in einer Juni Nummer der Münchener Allge- 
meinen Zeitung: „Es find Standesverſammlungen, und gewiß werden daher 
auch Standes fragen, wird die äußere Stellung des Lehrers hier beſprochen. 
Aber nie ausſchließlich, nie allein und nie als Hauptſache. Nicht nur, daß die 
Verſammlungen jederzeit eingeleitet werden durch einen allgemeinen und von 
weiten Geſichtspunkten beherrſchten Vortrag, über den nicht diskutiert wird: 
auch die eigentlichen Verhandlungsgegenſtände ſind im beſten Sinne des Wortes 
pädagogiſcher Natur ... Die Auswahl der Themata zeigt aber noch eins: den 


Aber den „Lärm“ 511 


idealen Sinn der deutſchen Lehrerſchaft. Natürlich iſt die Begeiſterung, die fich 
auf den Verſammlungen beim Anhören der Reden und nach dieſen aus- 
löſt, Maſſenbegeiſterung. Schon in ihr ſteckt jedoch ein gut Teil echter Idea⸗ 
lismus. Er ſteckt aber noch mehr in jedem Abſehen von Standes fragen im 
engeren Sinne und in der lebhaften Anteilnahme dieſer Männer an allgemeinen 
— oder ſagen wir getroft: an nationalen Fragen und Aufgaben. Es gibt 
Schwärmer — auch ich gehöre dazu —, die wirklich glauben, die Frage unſerer 
Volkserziehung ſei noch viel wichtiger als die der Finanzreform, und von ihr 
hänge wirklich fo etwas wie die Zukunft Deutſchlands ab. Die Volksſchul⸗ 
lehrer glauben das auch und handeln danach und erzwingen durch ihre großen 
Verſammlungen für dieſe Aufgabe die Aufmerkſamkeit der Preſſe und durch 
fie die des ganzen deutſchen Volkes.“ 

Auch die impoſante deutſche Lehrerverſammlung in Dortmund iſt ihren 
altbewährten pädagogiſchen und vaterländiſchen Grundſätzen treu geblieben. 
Weil das der Fall geweſen iſt, ſo mußten die Verhandlungen und Beratungen 
in der Stadt der Femlinde, auch ohne daß es direkt beabſichtigt war, zu einem 
folgenſchweren Femgericht über die preußiſche Politik im allgemeinen und die 
Studtſche Schulpolitik im beſonderen werden. K. M. 


OY 


Aber den „Lärm“ 
Ju- eit Schopenhauers Philippika iſt keine Schrift erſchienen, die dieſes 


ve 
8 R429) \ wirklich zeitgemäße Thema auf ihre Fahne geſchrieben hätte. Hier 

— ſpringt Theodor Leſſing in die Breſche. In ſeiner „Kampfſchrift 
gegen die Geräuſche unſeres Lebens“ (Der Lärm, Wiesbaden, J. F. Berg- 
mann, Mk. 2.40) rechnet er mit einer Reihe von Erſcheinungen ab, die vielen 
Kulturmenſchen — ſei es bewußt, ſei es unbewußt — längſt ein Dorn im 
Auge und jedenfalls einer beſonderen Unterfuchung wert find. 

Im Eingangskapitel ſeiner Schrift, das die pſychologiſchen Wurzeln des 
Lärmbedürfniſſes behandelt, kommt Leſſing zu dem Schluß, daß man dieſes 
Bedürfnis, dieſen Trieb als eine Art von Selbſtnarkoſe, von wohltätiger 
Betäubung unſeres geiſtigen Weſens auffaſſen müſſe. Wohltätig darum, weil 
ſie einer Erſchöpfung unſeres pſychiſchen Organismus vorbeugt und einen allzu 
raſchen Verbrauch der Lebenskraft hintanhält. 

„Wie nach der Vorſtellung der heutigen Phyſik alle kosmiſchen Energieen 
ſich in eine einzige Energieform umſetzen, nämlich in die Form der Wärme, 
um in dieſer ſchließlich zum Aufbrauch, ja zum erſtarrten Stillſtand der Lebens- 
bewegung, zur ſogenannten „Entropie“ des Kosmos zu führen, — fo ſcheinen 
auch alle Regungen der Seele zuletzt in eine einzige Energie zu münden, 
nämlich in die intellektuelle Energie, d. h. in die Form der „Bewußtheit“, um 
in ihr zur Ruhe zu kommen. Somit wird der „Geiſt“ zum nagenden und zer- 
ſtörenden Paraſiten des „Lebens“.. .. So bedroht der Fortſchritt menſchlicher 
Weltbewußtheit die Lebenskraft, die dieſen Fortſchritt tragen muß. So ſcheint 
unſer Aufſtieg zur Geiſteskultur zugleich Abſtieg des „Lebens“ zu werden.“ 

Hieraus eben ergibt ſich das Bedürfnis nach Selbſtbetäubung, nach 
Bewußtſeinsnarkoſe, d. h. nach zeitweiliger Verengerung, Zurückdrängung der 


512 Über den „Lärm” 


intellektuellen Funktionen der Seele als lebenserhaltende Notwen- 
digkeit. a 

Der Lärm, den Leſſing als „karikierendes Afterbild der Muſtk“ bezeichnet, 
dient dieſem Bedürfnis in ganz ähnlicher Weiſe wie etwa Haſchiſch, Opium, 
Kola oder Nikotin. Ja, noch mehr: „Die ſchönſte Muſik wie der ſchrecklichſte 
Lärm, die reinſte Religioſität wie die krauſeſte Myſtik, die poetiſch verklärte 
Liebe, wie gemeine feruelle Obſzönität, fie wurzeln an ganz derſel ben Stelle, 
in derſelben unterſten Tiefe der menſchheitlichen Seele.“ 

Auch die Arbeit iſt in vielen Fällen ganz ebenſo aufzufaſſen. „Das 
Leben gerade der tüchtigſten „Pflichtmenſchen“ hat keinen anderen Sinn als 
den, ſechs Tage lang das individuelle Bewußtſein mit Arbeit gu betäuben, 
um dadurch die Möglichkeit zu gewinnen, am fiebenten eben das ſelbe mit 
Mitteln des „Amüſements“, oder vermittelſt Muſik oder Religion zu tun.“ 

Infolge dieſer Verankerung im tiefſten Weſensgrunde des Menſchen 
wird fi denn auch der Lärm niemals durch irgend welche polizeilichen Ver 
bote oder Maßnahmen wirkſam bekämpfen laſſen. Anſere ganze Kultur ſteht 
zu ihm in den vielgeſtaltigſten, innigſten Beziehungen. Ja, dem oberflächlichen 
Blick ſcheint es faſt, als ſei eine Kultur ohne Lärm ein Ding der Anmöglichkeit. 

„Begib dich in das tiefſte, weltfernſte Alpental,“ klagt Leſſing, „du wirſt 
mit Sicherheit einem Grammophon begegnen. Fliehe in eine Oaſe der Wüſte 
Sahara, du wirft einen Unternehmer finden, der dort einen Muſikautomaten 
mit Glockenſpiel und Trommelſchlag ſoeben aufſtellt. Du biſt nicht auf den 
Halligen, nicht in den pontiniſchen Sümpfen davor ſicher, daß unvermutet „Ich 
komme vom Gebirge her“ dir entgegendröhnt. Es gibt für Menſchen auch in 
heiligſter Gottesnatur kein Glück ohne Geſchrei und lärmende Entäußerung! 
In manchen Gegenden Deutſchlands, wo neuerdings ſtarke Hotelinduſtrie er · 
blüht, z. B. in Oberbayern, in Tirol, in der ſächſiſchen Schweiz ift die Lärm · 
verſeuchung ſo furchtbar, daß ein ganzes Tal, hügelauf, hügelab vollgeſtopft 
iſt mit Marterinſtrumenten, wie Schlagzithern, Gitarren, Mandolinen und 
ſchlechten Klavieren.“ — 

Hierin liegt ſelbſtverſtändlich viel Wahres. Für all dieſe Geſchmack 
loſigkeit und Abertreibung dürfen wir aber die Kultur als ſolche, wie 
Leſſing ſehr richtig ausführt, nicht verantwortlich machen. Es handelt 
ſich vielmehr um ein Stadium kultureller Anreife, äſthetiſchen Übergangs, das 
unſere Seit augenblicklich durchſchreitet. Ein Stadium, das der wahren Kultur 
vor aufgeht. 

„Kultur iſt Entwicklung zum Schweigen“, und alle rechte Er- 
ziehung will eben zum Schweigen erziehen. „Der wohlerzogene kultivierte 
Menſch wird ſich (ganz gleich welcher inhaltlichen, objektiven, materialen Kultur 
er angehöre und auf welcher Kenntnis- und Bildungsſtufe er verharre) immer 
und überall durch Schweigen und durch Feindſchaft gegen undiſziplinierte, laute 
Lebenshaltung auszeichnen.“ 

„An ſchweigender Würde find uns manche Völker des Oſtens, mit alter 
Kultur, weit voraus, und erſt ein Anfang iſt es, „wenn die ſicherſte und edelſte 
Kultur, die Europa heute hat, die Kultur der engliſchen Gentlemen, auch die 
knappſte, ſchlichteſte und leiſeſte Sprache redet.“ 

Recht intereſſant iſt, was Theodor Leſſing nun weiterhin über „bie 
Empfindlichkeit des Ohrs ſagt. Anſere Entwicklung zur Lautheit, fo meint er, 
iſt mit einer entſchiedenen Verfeinerung des Gehörs zufammengegangen. 


Aber den „Lärm | 513 


„Stumpfheit gegen Lärm und Empfänglichkeit für Muſik, große Lärmhaftigkeit 
des Volkslebens und qualitative Verfeinerung des Gehörs bilden durchaus 
keinen konträren Gegenſatz. Vielleicht find die feinſten muſikaliſchen Ohren in 
Stadtvierteln zu Hauſe, vor deren Getöſe ein unmufikaliſcher Kannibale die 
Flucht ergreifen würde.“ 

Auch die Entwicklung der modernen Muſik, von Richard Wagner an, 
gibt hier manches zu denken. Nur für ganz zarte oder für ganz laute Ge ⸗ 
räuſche iſt der nervöſe Moderne empfänglich. „Sinneseindrücke auf ſozuſagen 
mittlerer Linie übergeht er in gewohnheitgewordener Stumpfheit.“ 

Im vierten Kapitel denunziert uns Leſſing nun eine Reihe von Ge- 
räuſchen, die ſich feiner beſonderen Minderſchätzung erfreuen; leider ſchießt der 
geiſtvolle Autor hier zweifellos übers Ziel hinaus. 

Zugegeben, daß ein peitſchenknallender Kutſcher, falls er allzu ſchonungs⸗ 
los lärmt, ein Mandat wegen groben Unfugs verdient. Zugegeben, daß die 
Geräuſche der Haus wirtſchaft, wie beſonders das Teppich · „ Polfter- und Betten · 
klopfen ein „grauenhaftes Gelärm“ find, dem allein durch Anlage eines be⸗ 
ſonderen gemeinſamen Klopfplatzes und Anſtellung beſonderer „Klopfer“ ab- 
geholfen werden kann. Zugegeben auch, daß die Klavierſeuche heutzutage einen 
polizeiwidrigen Umfang angenommen hat. 

Aber wenn Leſſing unſeren Hunden das Bellen, unſeren Hähnen das 
Krähen abgewöhnen möchte, weil vielleicht ein nervöſer Zeitgenoſſe dadurch 
keinen Schlaf findet; — wenn er das Geläute der Kirchenglocken in den Städten 
auf das alleräußerfte, etwa auf wichtige nationale Anläſſe, auf Fürſtenbeſuche 
oder auf gewichtige Gedenktage befchräntt wiſſen will, fo iſt das unbedingt zu weit 
gegangen. Gerade dem haſtenden Getriebe der großen Städte ſollte der Feier⸗ 
klang der Glocken, als Ruf zur Höhe, als verklärendes Symbol einer über- 
geordneten Gefühlswelt, erhalten bleiben. Und ſchmerzlich würde ein Ver 
ſtummen des Glockenſpiels von St. Marien zu Lübeck einen jeden berühren, 
der unter ſeinen Klängen von Erz und Silber ſeine Kindheit verlebt. — 

Auch Leſſings unbedingte Abneigung gegen das in Deutſchland (und 
anderswo?) fo allgemeine Reftaurant- und Kaffeehauskonzert mag ich nicht 
teilen. Es hat nicht jeder die Mittel, ernſthafte Konzerte zu beſuchen; und 
wer ſich tagsüber fo recht müde gearbeitet, dem bietet abends im Sommer⸗ 
garten eine populäre Muſikkapelle oft bekömmlichere Erholung, als die ſeriöſen, 
anſpruchsvollen Darbietungen, die im menſchenwimmelnden Konzertſaal den 
Ermiideten noch mehr ermiiden. 

Nicht eines gewiſſen derben Humors entbehrt, was Leſſing über das 
Automobil ſagt. „Dieſe Entvölkerungsmaſchine“, ſo meint er, „die das Ziel 
der Malthusſchen Theorien auch ohne Hungersnöte erfüllt, verändert voll ⸗ 
kommen das Straßenbild der modernen Städte. Vierhundertpfündige Kraft- 
bolzen rülpfen roh daher im tiefften Tone der Aberſättigung. Schrille Pfeifen · 
töne gellen darein. Nieſenautos, Achthundertpfünder, die ‚jeden Nekord nehmen‘, 
ſtöhnen, ächzen, quietſchen, hippen und huppen. Motorräder fauchen und 
ſchnauben durch die ſtille Nacht. Blaue Benzinwolken rollen mit grauenhaftem 
Geſtank über die Dächer. ... Niemals hat ſich der Menſch mit mehr Gelärm, 
unter ſchrecklicherem Geruch über die Erde bewegt.“ 

Das iſt alles ganz richtig, aber doch ſehr einſeitig geſehen. Seit langem 
geht ja das Streben moderner Technik eben dahin, möglichſt geräuſchloſe Motore 
zu bauen, und die Kraftfahrzeuge, die wir etwa in zwanzig Jahren erleben 


514 fiber den „Lärm“ 


werden, mögen ſich von den heutigen unterſcheiden wie der ſtumme Adler vom 
geſchwätzigen Sperling. Alſo warum das ganze Syſtem verurteilen, wegen 
eines zu überwindenden Mangels! 

Sogar ſeine Toten rechnet Leſſing dem neuen Sport nach. Aber hat 
nicht noch jeder Fortſchritt, hat nicht die Eiſenbahn, das Fahrrad ſeine Opfer 
gefordert, und wird das jemals, ſolange die Menſchheit neue Gebiete der 
Technik, der Herrſchaft über die Naturkräfte erobert, anders ſein können!? — 

Wie geſagt, Leſſings Buch malt allzu ſchwarz in ſchwarz. Vielleicht 
mußte das fein, um eine ſcharfe Durchführung des Grundgedankens zu ermög- 
lichen. Im ganzen aber bedeutet dieſe gedankenreiche und außerordentlich 
originelle Schrift doch eine nützliche Tat, die ihre Rechtfertigung in ſich ſelbſt 
trägt. Ein Hornruf iſt ſie über die banauſiſche Welt, zur Verfeinerung der 
Aſthetik, zur Schönheit des Lebens! And im Geiſte drückt man wohl dem 
Manne die Hand, der da in die gequälten Worte ausbricht: — 

„Kaum vermag der denkende Geiſt ohne Verzweiflung zu faſſen, wie 
dieſe Milliarden dahinleben, Milliarden, die ihr armes, kurzes, unwiederbring⸗ 
liches Leben nur dazu bekommen haben, um ſich in zahlloſen kleinen Privat- 
höllen zwiſchen viele überflüſſige, geſchmackloſe und häßliche Dinge einzuſperren 
und ihre Ehre, ihre geſamte Lebenskraft darein zu ſetzen, nur ja korrekte Ge- 
ſinnungen und korrekte Kleider zu tragen. Ach, ſo vorſichtig, ſo mittelmäßig, 
beſchämt, bequem und unſelbſtändig. And in aller Feigheit und Sehnſucht⸗ 


loſigkeit ſo laut und ohne Ehrfurcht!“ 
Dr. Georg Lomer 


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Die bier veröffentlichten, dem freien Memungsaustauſch dienenden Cinjendungen find unavpyangig 
—— VOM Standpunkte des Herausgeder ———— 


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Schule und Haus 


| 1. an hat in den ſich häufenden Fällen von Schülerſelbſtmorden Zeichen 
U N der Entartung ſehen wollen. Mit Anrecht. Zeugt denn das „Harakiri“ 

oon einer Dekadenz der Japaner? Noch leichter entſchließt ſich 
ehe Chinefe dazu, mit feinem Daſein vorzeitig Schluß zu machen, und aud 
ihm kann man gewiß nichts weniger als Feigheit im Kampf ums Daſein vor- 
werfen. Vor weſſen Tür im Lande des Himmelsſohnes am Morgen die Leiche 
eines Selbſtmörders vorgefunden wird, deſſen Lebensfreude iſt verwirkt. Im 
Ort und in der ganzen Umgegend wird er wie ein Peſtkranker gemieden; 
denn die Leute ſagen ſich: Wieviel Anrecht muß der ſeinem Nebenmenſchen zu— 
gefügt haben, daß dieſer das Leben nicht mehr tragen mochte. Weil in China 
das Juſtizweſen noch barbariſch iſt, bedient ſich das Volk eines barbariſch— 
plumpen Mittels, um feinem Rechtsempfinden Genüge zu tun. Der Gelbft- 
mörder iſt deswegen zu bedauern, nicht weniger aber auch der durch ihn Ge— 
brandmarkte. Warum ſollten nun bei uns nicht die Selbſtmorde von Schülern 
Beweiſe dafür fein, daß es noch Refte barbariſcher Zuſtände in unſerm Schul— 
weſen gibt? Dieſer Schluß liegt näher als der auf Entartung. Wer fragt 
denn als Erwachſener noch nach den Rechten der Schüler? Sie haben keinen 
Naum in unſerm öffentlichen Leben. Kaum daß es den Lehrern ſelbſt gelingt, 
ihrem Verlangen nach einem Anteil an den Freiheiten der modernen Menfch- 
heit Gehör zu verſchaffen. Der Lehrer wird von ſeinen Vorgeſetzten geknechtet, 
und er knechtet wieder feine Untergebenen, die Schüler. In der Schule friftet 
ein Stück Selbſtherrſchertum ein idylliſches Daſein. Kein Wunder, wenn jetzt 
der Ruf nach einer beſchränkten Offentlichkeit für den Schulunterricht laut 
wird, aber in den Kreiſen der „Jugendbildner“ nur dort Billigung findet, wo 
ſich ſchon die Erkenntnis Bahn brach, daß man nicht nur Anterricht erteilen, 
d. h. wohl Antere richten, zurechtrichten, drillen, ſondern auch erziehen 
ſoll. Es wird vorgeſchlagen, nach Pariſer Vorbilde einen Tag in der Woche 
den Eltern zu geſtatten, dem Schulunterricht beizuwohnen. Es ſoll dadurch ein 
Hand- in- Hand- arbeiten von Schule und Haus gefördert werden. Die Sache 
hat ihre Schwierigkeiten, aber die ſind bei gutem Willen leicht zu überwinden. 
Jedenfalls gibt es nichts, was gerechtfertigter wäre als dieſe Forderung. Die 
Eltern vertrauen der Schule das Koſtbarſte an, was fie beſitzen, und können 
daher verlangen, den Lehrern mit eigenen Augen, nicht, wie bisher, bloß mit 


516 Nochmals: Zum „Schuldkonto der Grav’ 


denen der Kinder, auf die Finger ſehen zu dürfen. Zu verwundern braucht 
man ſich gar nicht, wenn ſolche Lehrer, denen noch der alte ſchulmeiſterliche 
Zopf anhaftet, gerade die Augen der Eltern bei ihrer Tätigkeit fürchten und 
daher Einwände gegen den Vorſchlag machen wie den, daß ihre Unbefangen- 
heit und der Schüler Aufmerkſamkeit durch fremde Zuſchauer leiden müſſen. 
Davon kann nur im Anfang die Rede fein. Wer lange im Dunkeln weilte, 
muß ſich auch erſt an grelles Tageslicht gewöhnen, wenn es plötzlich auf ihn 
einſtrömt. Womit noch nichts gegen die Helle bewieſen iſt. Der Lehrer wird 
aber nur dann anweſenden Eltern Achtung einflößen, wenn er im Verkehr mit 
den Schulkindern den Phariſäismus Erwachſener abſtreift, wenn kein Hoch 
mut, keine gelehrſame Vielwiſſerei ſich wie kalter Reif auf das friſche Grün 
ſproſſender Triebe in die jungen Menſchenſeelen legt, wenn feine Tätigkeit er · 
zieheriſch wirkt und nicht bloß unterrichtend. Vernünftige Lehrer werden froh 
ſein, wenn ſie Gelegenheit bekommen, durch ihren Anterricht unmittelbar auf 
die Eltern Eindruck zu machen; die Anannehmlichkeiten, die ihnen jetzt durch 
Klatſchereien der Schüler von manchen Eltern bereitet werden, bleiben ihnen 
dann erſpart. Gegen den Tadel unvernünftiger Eltern wird den Lehrer bei 
durchgeführter Offentlichkeit der Widerſpruch der vernünftigen von ſelbſt 
ſchützen. Den Schülern aber mag ſich die Gewißheit beruhigend aufs Gemüt 
legen, daß der Willkür ihrer Lehrer ein Riegel vorgeſchoben iſt. 
Otto Corbach 
2 


Nochmals: Zum „Schuldkonto der Frau“ 


(Vgl. Okt. 1907 u. Jan. 1908 d. Türmers.) 


. ch habe mit großem Intereſſe die Ausführungen der beiden tüchtigen 
Frauen Marie Diers und Grete Rommel geleſen und freue mich 


vorgeworfenen Mängeln — ſolch tatkräftige, wahrhaftige Frauen haben. Recht 
haben beide! Marie Diers, indem ſie das Gewiſſen mancher läſſigen Frau 
ſchärfen will — noch viel mehr Recht aber hat Grete Rommel, indem fie von 
dem Schuldkonto gegen die Frau ſpricht. Ja —: „Wo waren der Hausarzt, 
die Brüder, die Freunde?! / 

Man fol darüber nur einmal gewiſſenhafte Arzte ſprechen hören, in 
welche Gewiſſensbedenken ſie ihren Patienten gegenüber kommen, wenn ſie 
warnen möchten, — wo ſie nicht dürfen! Selbſtverſtändlich warnen ſie den 
Patienten felbft, aber wie wenig das hilft, wiſſen die Arzte, fie verlieren dann 
oft ſtillſchweigend dieſen Patienten, der zu einem andern Arzte übergeht, der 
ihn weniger ſkrupulös weiterbehandelt und ſich um feine demnächſtige Heirat 
nicht kümmert. — Daß ein Arzt mehr nicht tun darf, ſcheint Grete Rommel 
ebenſowenig zu wiſſen wie viele Laien; daß der Arzt hier unter einem Geſetzes 
paragraphen ſteht, der es „Ärzten, Pfarrern und Rechtsanwälten“ verbietet, 
die ihnen in ihrem Berufe anvertrauten Dinge einem dritten weiterzuſagen. 
Sogar vor Gericht dürfen fie die Ausſage verweigern, ja, müſſen fie es, — 
ſobald der Klient ſelbſt ihnen nicht die Erlaubnis dazu gibt. Daß das mit 
der Wahrung des „ärztlichen Geheimniſſes“ zuſammenhängt, iſt klar und hat 
fein unbedingt Gutes ... Aber es hat ſchon manchem Arzt böſe Stunden 


Nochmals: Zum „Schuldkonto der Grau’ 517 


gemacht. Man denke ſich nur einmal in Fälle hinein, in denen er zwei Menſchen 
einen Ehebund ſchließen ſieht, — in deren beiden Familien er womöglich Haus- 
arzt iſt, — einen Bund, der nur Ruin nach ſich ziehen kann, und bei dem er 
tatenlos mit zuſehen muß, da das Geſetz ihm eine Ausſage verbietet. Aber 
dieſes Kapitel hat mir ein alter, erfahrener Arzt ſchon ſchier ergreifende Zweifel 
und Erfahrungen mitgeteilt, alſo: den Arzt trifft die Schuld hier nicht 

— — Auch ich bin mit Marie Diers der Meinung, daß die wichtigſte 
Aufgabe der Frau darin liegt, ſoviel wie möglich um die Kinder zu ſein. Auch 
ich halte das Verhältnis bei der ärmeren Familie, wo die Mutter gezwungen 
iſt, immer die Kinder um ſich zu haben, für ungleich idealer als das der 
ſtädtiſchen „beſſeren“ Familie, in der man ſie mit zum Teil unreifen, oft ganz 
verdorbenen Mädchen ſpazieren ſchickt. Ich ſelbſt hier, an einem kleinen Orte, 
beobachte oft mit Vergnügen die meiſt ſehr kärglich ſituierten „armen“ Frauen, 
wie fie die Winternachmittage und abende an der Nähmaſchine ſitzen, für 
ſtädtiſche Geſchäfte Bluſen nähen, um wenigſtens noch etwas zu verdienen, 
und um fie herum ſitzt mäuschenſtill und artig die meiſt recht anſehnliche Kinder. 
ſchar. Wohl fallen für dieſe Kinder leider die ſo ſehr geſunden Spaziergänge 
in der friſchen Luft ganz weg, — aber ſie ſind dafür unter dem Auge der 
Mutter in guter Hut; — wer weiß da, was von größerem Wert für die Ent- 
wicklung der Kinder iſt: der ſtetige Einfluß einer verſtändigen Mutter oder die 
tägliche friſche Luft und viele Stunden lange „Beaufſichtigung“ zweifelhafter 
Dienftboten, von deren „Beaufſichtigung“ fic jeder Spaziergänger in den An- 
lagen der Großſtadt ein oft empörendes Bild machen kann! — And im Sommer, 
da nehmen dieſe ärmlichen Eltern ihre Kinder, ſobald ſie nur laufen können, 
mit auf Feld und Wieſen, wo fie wieder immer unter ihren Augen find. Es 
iſt nicht wahr, daß Kinder der armen Stände — wenigſtens auf dem Lande — 
verdorbener ſind als die Kinder der ſogenannten „beſſeren“ Stände. Angleich 
lieber ſollte man ſeine Kinder Beſuche bei dieſen armen Familien machen laſſen 
(natürlich, wenn ſie reinlich und achtungswert ſind) als in den „feineren“ 
Familien, die Räume genug beſitzen, fo daß die Kinder ſtundenlang, ſich ſelbſt 
überlaſſen, allein ſpielen können, und man oft erſtaunt fein muß, was ſchlechte 
Dienſtboten und unbeaufſichtigte Stunden bei dieſen Kindern ſchon für Anheil 
angerichtet haben, oft ohne daß die betreffenden Eltern es ſelbſt wiſſen! Da 
iſt man ungleich beruhigter, wenn die Kinder in einer ganz ärmlichen, aber 
reinen Stube eine Stunde verbringen, mit den anderen Kindern um den Tiſch 
figen und jedenfalls immer unter Aufſicht verſtändiger Menſchen find. Denn 
zum Alleinſein hätten dieſe Leute ſchon gar keinen Platz für die Kinder! Dieſe 
ärmliche Einfachheit dünkt das Kindergemüt oft reicher als der eleganteſte 
Salon, — ganz abgeſehen von dem Wert, den die dort verbrachten Stunden 
für ihren fpäteren ſozialen Blick haben.. Doch das nebenbei... 

Alſo das oberſte und auch eigentlich das Naturgeſetz für die Mutter 
iſt das, die Kinder ſo viel wie möglich ſelbſt um ſich zu haben, in ſich eine ſtete, 
feine Beobachtungs gabe ihren Kindern gegenüber wachzuerhalten, daß ſie immer 
genau weiß, was in den Seelen der Kinder vorgeht. Das kann ihr auch der 
Mann nicht abnehmen, der gar nicht das feine Spürtalent für die Kinder be⸗ 
figt, und nicht die Schule und erſt recht nicht die Dienſtboten können es ihr 
abnehmen; — höchſtens die ſeelenvolle, gute, feine, altmodiſche „Tante“, die 
leiſe Miterziehende im Haus, — die könnte ihr dabei mithelfen. Aber das 
iſt eine Kategorie in der modernen Geſellſchaft, dem modernen Haushalt, die 


518 Nochmals: Zum „Schuldkonto der Grau“ 


ganz fehlt. Ein Stück Poeſie, das von jenen ſtillen, ſelbſtloſen Weſen ins 
„Kinderland“ ausging, das unſre heutige Zeit nicht kennt, deſſen ſtillen, feinen 
Segens aber noch mancher der Alteren unter uns ſich gerührt und dankbar aus 
ſeinen erſten Kinderjahren erinnert. 

„Tanten“ in diefem Sinne gibt's alſo nicht mehr. Ich urteile darüber 
nicht, ich ſtelle nur die Tatſache feft... 

Es bleibt ſomit die ganze Verantwortung auf der Mutter allein liegen, 
die hohe Aufgabe der Seelenpflege des Kindes, nicht nur der körper 
lichen 

Hier fest nun Grete Rommel wieder folgerichtig ein: Wie kann die 
unter den Verhältniſſen, wie fie heute nun einmal find, überbürdete, viel 
beſchäftigte Mutter in den beſſeren Mittelſtänden dies alles durchſetzen? Wo; 
her die Kraft, die Zeit, — ſoll nicht der Haushalt, der doch einer fortwähren 
den Beaufſichtigung ebenſogut bedarf wie die Kinder, nicht halb zugrunde 
geben? — — 

Eine wichtige Frage. 

Für fie gibt es nur eine Löſung: Vereinfacht euer Leben. 

Was ich damit meine, weiß jeder ernſt Nachdenkende. 

Es gilt ein kaltes, energiſches Prüfen: Was iſt abſolut notwendig, — 
was nicht? 

Fort mit jedem unnötigen Tand und Luxus an der Kinderkleidung, der 
nur Arbeit und Mühe macht, und den man nur anwandte, weil die Kinder 
hinter „anderen nicht zurückſtehen“ ſollten. 

And wenn ſie darin nun zurückſtehen? Was ſchadet das? Sauber und 
hübſch können auch die allerprimitivſten Sachen fein... 

Fort mit jedem unnötigen Verkehr, der uns nur Zeit raubt und unſer 
Inneres leer läßt; mit jeder Geſelligkeit, die dieſelbe Wirkung hat. Fort da⸗ 
mit unter dem einfachen, wahrhaftigen Motto: Man habe eingeſehen, daß man 
ſich ſeiner Familie intenſiver widmen müſſe. 

And im Haufe ſelbſt! Man ſollte durch ſtete vereinfachende Selbſt 
erfindungen feinen Haushalt nach und nach zu einer geradezu genialen Ein- 
fachheit zwingen können. Ich meine hier durchaus nicht, daß wirklich ver · 
ſchönender Komfort, all das Feine und Schöne, was uns das Leben fo ange- 
nehm, ja „poetiſch“ machen kann, wegfallen ſoll, wir ſollen im Gegenteil Zeit 
gewinnen durch Vereinfachung in dem Haupthaushaltungs gang, der ganzen 
Lebensführung, uns gerade dem edleren Aus bau unſres Familienlebens und 
der Pflege der uns anvertrauten Kinderherzen zu widmen 

Ich kann hier nicht allgemeine Regeln aufftellen, jeder Haushalt, jede 
Familie iſt anders, überall, in der Stadt, auf dem Lande wieder andre Ver · 
hältniſſe. Ich habe auch das gute Zutrauen, daß mit jeder vernünftigen Ver · 
einfachung der Lebensführung (die mit dem ſo viel geprieſenen modernen Be 
griff „Kultur“ durchaus nicht im Widerſpruch zu ſtehen braucht) die Männer 
ungleich leichter und williger einverſtanden fein würden als leider — der Durch- 
ſchnitt der Frauen. Sie ſelbſt bauen ſich Geſetze auf von dem, was „man 
tut“ oder was man in ſeiner Stellung tun „muß“ oder was „modern“ iſt. Es 
gilt aber den Mut zu haben, gegen den Strom zu ſchwimmen, es gilt die tapfere 
Aberſicht zu behalten: Was iſt nötig, was nicht? Was iſt von wahrem Wert, 
und was tuſt du nur der Konvention, dem Herkommen zulieb? 

Dieſe Selbſtprüfung muß ſich bis auf den kleinſten Teil unfrer täglichen 


Nochmals: Zum „Schuldkonto der Frau’ 519 


Lebensführung erfireden, — nur dann werden wir wahrhaft Zeit gewinnen 
für „idealere Güter“. 

Die Zeit, bis „elektrifches Licht, Zentralheizung, Telephon, Aufzüge, 
Lieferung fertiger Speiſen u. dgl.“ in Stadt und Land gang und gäbe ſein wird, 
liegt leider noch recht fern. Aber mit unbarmherziger Selbſtkritik, Energie 
und klarem Blick kann es jede Frau dahin bringen — in normalen Verhält. 
niſſen —, ſich mehr Zeit für die Ideale des Lebens zu erobern, deren Hüterin 
fie nun einmal fein ſoll. 

Ob dazu, zu dieſem energiſchen Kampf, unſre Frauen allerdings „er- 
zogen“ genug find, — das muß ich auch mit den beiden Verfaſſerinnen leider 
dahingeſtellt fein laſſen .. Doch, wirke jeder an feinem Teil! — — — 

* * 


* 

Am Schluſſe geftatte ich mir noch auf ein Problem einzugehen, das 
Marie Diers aufwirft, Grete Rommel, ſcheint's, als ſelbſtverſtändlich anerkennt, 
und das in der heutigen Zeit der „Schulreformen“, der Debatten über den 
„Religionsunterricht in den Volksſchulen“ immer wieder aufgeworfen wird, 
und das auch gewiß einige Berechtigung hat. Aber in der hier geſagten Form 
iſt es mir doch nicht ganz verſtändlich. Marie Diers unterſtreicht: „Die Aus- 
bildung unſerer Kinder muß dem Stand unſerer heutigen Kultur entſprechen.“ 

Was verſteht fie darunter? Sie fährt allgemein fort: „Ihnen die ab- 
gelegten Lappen einer überwundenen Weltanſchauung autorativ in der Schule 
vorzulegen und deren Annahme zu erzwingen, heißt: ſie zum Lügen erziehen.“ Aſw. 

Das iſt ſtark, wenn auch nicht neu. Derartige Beſchuldigungen des 
bibliſchen Religionsunterrichts hört man eben ſozuſagen auf Schritt und Tritt. 

Erſtens einmal iſt im Religions unterricht bei dem naiv aufnehmenden, 
unverdorbenen Kinde überhaupt von „erzwingen“ noch keine Rede. Das Kind 
glaubt einfach, treuherzig und ehrfürchtig, was es gelehrt wird. (Falls es 
die Eltern daheim nicht eines andern belehren, was ſie natürlich „auf eigene 
Rechnung und Gefahr“ tun müſſen.) 

And iſt denn das ſo ein Anglück? Daß es dies alles ſo ſchlicht und 
herzlich glaubt, find das nicht vielmehr Gemüts werte, von deren ſpäterer 
Wirkung im Leben, ſelbſt wenn ſie längſt „überwunden“ ſind, wir gar nichts 
vorher wiſſen können? 

Goethe hat als Knabe mehr in der Bibel und beſonders im Alten Tefta- 
ment geleſen, ja darin gelebt, als irgendein moderner Menſch. Ich glaube 
nicht, daß er das ſpäter im Intereſſe ſeiner kindlichen Gemütsbildung bereut 
bat... And auch er hat ſich ſchließlich in gewiſſer Beziehung darüber „hin- 
ausentwickelt“, auch ſo weit und hoch, wie nur irgendein moderner „entwickelter“ 
Menſch es fertig bringt. Aber es iſt mir nicht bekannt, daß er des halb feine 
Lehrer, Eltern und Erzieher ſpäter ſchmerzlich als „Lügner“ erkannt hätte, als 
unlautere Perſonen. Welch ehrfürchtige, eingehende Betrachtungen er gerade 
über die Geſchichten des viel umſtrittenen Alten Teſtaments noch in feinem 
Alter angeſtellt hat, das leſe man nur im vierten Buch von „Dichtung und 
Wahrheit“ nach, — doch allerdings, es gibt heutzutage ja ſchon ſo „moderne“ 
Menſchen, daß fie auch Goethe für unmodern und „überwunden“ halten. 
Ich ſage das hier ganz im allgemeinen 

Zur Sache. 

Wenn wir nun aber umgekehrt fragen, was wohl in der Seele eines 
nicht zu Haufe irregemachten, kindlich gläubigen heranwachſenden Knaben vor- 


520 Nochmals: Zum „Schuldkonto der Gran 


geht, wenn ein freireligiös gerichteter Direktor plötzlich ſchonungs los, ja er- 
barmungslos dem Knaben für ihn unerhörte Sachen ſagt, ohne Rückſicht auf 
ſeine ſeeliſchen Bedürfniſſe ihm Heiligtümer — oft fürs ganze Leben — zer⸗ 
ſtört, an die er noch felſenfeſt geglaubt mit der ganzen Glut ſeiner kindlichen 
Seele? Wenn er bei aller „Kultur“ und „Bildung“ ſozuſagen mit roher Fauſt 
an die leicht verletzliche Kindesſeele greift und im Intereſſe der „Aufklärung“ 
in religiöfen Dingen plump Zerſtörungen anrichtet, die vielleicht nie mehr im 
Leben gut gemacht werden können? Ich kenne ſolche Fälle. — Jungen Herzen 
leichtſinnig Heiligtümer zerſtören, iſt aber mehr als Mord, — man ſollte da 
vorſichtiger ſein. Das große Wort fällt mir ein: „Wehe dem Menſchen, durch 
welchen Argernis kommt“, — das gerade in bezug auf die Kindes ſeele ge 
ſagt ift... | 

And dann: Können wir dem Kinde Kämpfe um feine fpätere Welt 
anſchauung überhaupt auf irgendeinem Wege erſparen? 

Wenn wir heute ein gläubiges Kind (denn der Materialismus erfordert 
auch Glauben) in einem etwa von Haeckel verfaßten Katechismus unter · 
richteten, wer bürgt uns, daß nicht ſpäter, in Jahren tiefer, ſeeliſcher Not und 
Lebenskämpfe das Kind zufällig ein Pſalmenbuch in die Hand bekäme und 
die Kämpfe nun umgekehrt begönnen, — ein Widerſprechen des Gemiits, der 
Seelenſehnſucht dem von Kindheit an gelehrten „Haeckel“ katechismus gegenüber? 

Was heißt denn das überhaupt: „überwundene Weltanſchauung“? 

Was haben wir denn ſchließlich „überwunden“ ſeit Sokrates oder 
Plato? — Ich ſehe nichts Weſentliches, in dem wir auf dem Gebiet weiter 
gekommen wären, — abgeſehen von dem Moment der göttlich großen chrift 
lichen Nächftenliebe, die allerdings einen neuen Faktor in der Weltgeſchichte 
bedeutete 

Solange das Kind jünger und unbefangen iſt, ſoll man es ruhig den 
Glauben der Bibel, der Wunder und meinetwegen auch der Dogmen in Gottes 
Namen annehmen laſſen, da die heutigen Schulverhältniſſe nun einmal ſo 
liegen; es wird ihm ganz gewiß nichts ſchaden und im Gegenteil ſein Gemüt 
bilden und ſeine Phantaſie veredeln wie kein andres Anterrichts fach. 

Iſt es aber größer und reifer und ſtellen ſich ſpäter unvermeidliche, an 
es von außen herantretende Zweifel, Bedenken und Fragen ein, ſo muß die 
Mutter allerdings vorbereitet fein. Das find Dinge, die mit einem einfachen 
„Das iſt ſo und jenes ſo“ nicht zu beantworten ſind. Damit wird ſich ein 
ernfter, werdender junger Menſch nicht zufriedengeben. Die Mutter muß 
ſorgen, daß ſie ſelbſt eine Perſönlichkeit iſt, nur dann kann ſie ihre Kinder 
in entſcheidenden Lebensmomenten leiſe richten, führen, zart beeinfluffen, vet 
ſtehend an ſich ziehen, unmerklich ftügen... Jedes Kind, jedes Leben und 
jede Situation ſind anders, da muß jede Mutter ſehen, wie ſie im rechten 
Moment das Rechte trifft! 

And wohl der Mutter, an die ſich ihre Kinder in fold entſcheidenden 
Momenten Überhaupt wenden, — die das ungemeſſene Vertrauen ihrer Kin 
der befigt! 

Sie wird es ſchon recht machen. 


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Meta Schneider⸗Weckerling 


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Im Zuge der Nörgler — Der Heroismus der Dummheit 
— Preußiſcher Wahlſumpf 


Jer die Blätter der verſchiedenen Parteien auch nur ober— 
flächlich verfolgt, dem müßte ſchon ſeit Jahr und Tag eine 
bemerkenswerte Erſcheinung aufgefallen fein: die Wand— 
lung, die ſich in der Haltung der bürgerlichen Organe auf 
der einen, der ſozialdemokratiſchen auf der andern Seite zur Monarchie 
und zu der Perſon des Monarchen vollzogen hat. Sie läßt ſich kurz in 
die Beobachtung zuſammenfaſſen, daß die Sozialdemokratie ſich ſchon ſeit 
geraumer Zeit damit begnügt und begnügen kann, derartige Äußerungen 
bürgerlicher Blätter einfach zu regiſtrieren. Aller landesübliche, vorfchrifts- 
mäßige Byzantinismus iſt nicht imſtande, die wachſenden Gefühle pein— 
lichen Anbehagens dauernd und ftändig zu unterdrücken, und fo kehren die 
unbewachten Augenblicke immer häufiger wieder, wo dieſe Gefühle zum 
offenen und öffentlichen Durchbruch gelangen. 

„Mit ſchmerzlichem Bedauern“, ſo können wir z. B. leſen, „ſtellen 
die aufrichtigen Freunde des Vaterlandes, mit grinſendem Behagen die 
Reichsgegner und Reichsnörgler den tiefen Gegenſatz feſt, der zwiſchen 
den romantiſchen Grundanſchauungen des Kaiſers und dem 
bitteren Ernſte der Gegenwart aufklafft. Von der beängſtigenden 
Vielſeitigkeit und Wandlungsfähigkeit des Trägers der Krone geben allzu 
deutlich ſprechende Bilder uns Woche um Woche Bericht. Bald be— 
wundern wir die anmutig hoheitsvolle Stellung des kaiſerlichen Herrn in 
der ſeltſamen Gewandung des Ehrendoktors einer engliſchen Llniverfität, 
bald zeigt ihn uns ein Kirchenfenſter der alten Stadt Lüneburg mit er— 
hobenen Händen auf einem Brokatkiſſen vor dem Betpulte kniend, angetan 
mit der Rüſtung und dem Mantel Kaiſer Heinrichs II., der als „Vater 
der Mönche‘ von der dankbaren Kirche dem myſtiſchen Chore der Hei— 
ligen eingereiht wurde. Leider iſt nur allzu wahr, daß in der geſchicht— 
lichen Auffaſſung des Kaiſers der ſchöne Schein ſelten der grauen Wirklich: 


keit entſpricht, und daß ſeine perſönliche Vorliebe ſich ee oft an 
Der Türmer X, 10 


522 Slirmerd Tagebuch 


geſchichtliche Perſönlichkeiten heftet, die ihrerſeits auf glanzvollen Schimmer 
höheren Wert gelegt haben als auf die Stillung der Unzufriedenheit der 
Geiſter ihrer Seit... 

Inzwiſchen tanzt das buntbewimpelte Schiff der deutſchen 
Prachtliebe gleich Wadderſteds Prunkjacht Friedrichs I. von Spiel zu 
Spiel anmutig dahin, und als Nachgeſchmack aller dieſer rauſchenden Feſt⸗ 
lichkeiten bleibt für den ernſthaften Vaterlands freund nur das herbe Urteil, 
das über den erſten preußiſchen König deſſen großer Geſchichtsſchreiber ge⸗ 
fällt hat: „Es war die Summe ſeines Lebens, daß die anderen Mächte ſich 
daran gewöhnten, daß man Preußen nicht zu fürchten und nicht zu ſcheuen 
brauche, daß man es mißachten und mißbrauchen dürfe.“ 

Es iſt das konſervative offizielle Organ des Bundes der Landwirte, 
die „Deutſche Tageszeitung“, die das ſchreibt. And nur als eines neben 
vielen anderen, gutbürgerlichen Blättern regiſtriert es — auch — der „Vor⸗ 
wärts“! 

Von der „Selbſteinſchätzung der Monarchie“ und der „byzantiniſchen 
Amhudelung des Monarchen“ ſpricht der gutbürgerlich⸗liberale Eduard Gold⸗ 
beck (in ſeinem Militärverhältnis preußiſcher Leutnant) in dem letzterſchienenen 
der „Briefe“, die er in der Wochenſchrift „Morgen“ (Berlin W., 35) „an 
den deutſchen Kronprinzen“ richtet. „Ich habe“, betont er, „abſichtlich nicht 
gefagt, daß ich von der „‚Selbſteinſchätzung des Monarchen“ ſprechen würde. 
Dieſe Wendung habe ich nicht etwa deshalb vermieden, um auf einem 
Seite nweg der unliebſamen Begegnung mit einem patrouillierenden Geſetzes⸗ 
wächter auszuweichen (ich brauche ihn nicht zu fürchten, denn meine Kritik 
ijt weder in der Tendenz deſtruktiv noch in der Form beleidigend), ſondern 
weil die Reden des Kaiſers, auf die ich mich ja allein beziehen kann, ſtets 
den Eindruck erwecken, als glorifiziere hier die Inſtitution ſich ſelbſt. Der 
Monarch und die Monarchie, das iſt eins. Die längſt dahingegangenen 
Ahnen, die jüngſt verſtorbenen und die noch lebenden Mitglieder des Hohen⸗ 
zollernhauſes, fie alle bilden eine Einheit. And die Fürſten anderer Ge 
ſchlechter finden zum mindeſten noch in den Vorhof dieſes myſtiſchen Kreiſes 
Einlaß. Alle Geſalbten, alle Gekrönten werden in beſtändiger Janitſcharen⸗ 
muſik des Wortes gefeiert. Ich mußte alſo hier von der Selbſteinſchätzung 
der Monarchie ſprechen, die meinem Empfinden nach eine Aberſchätzung iſt, 
und zwar eine ſo maßloſe Aberſchätzung, daß von einer Kongruenz oder 
auch nur von einer Ahnlichkeit zwiſchen der Wirklichkeit und ihrem redne⸗ 
riſchen Konterfei überhaupt gar nicht mehr die Rede fein kann. Zunächſt 
aber möchte ich einige präludierende Sätze aus einem Brief Friedrichs des 
Großen an Voltaire zitieren; ſie lauten: „Die meiſten Fürſten haben eine 
eigentümliche Leidenſchaft für ihre Stammbäume; das iſt eine Art Eigen- 
liebe, welche ſich bis zu den früheſten Vorfahren erſtreckt, nicht nur in 
gerader Linie, ſondern auch noch auf die Seitenverwandten. Wagt man 
ihnen zu ſagen, daß unter ihren Vorfahren eben nicht ſehr tugendhafte 
und deshalb ſehr verächtliche Menſchen ſich befunden haben, ſo fügt man 


Zürmers Tagebuch 523 


ihnen eine Beleidigung zu, welche fie nie verzeihen; und wehe dem pro- 
fanen Schriftſteller, der die Verwegenheit gehabt hat, in das Allerheiligſte 
ihrer Geſchichte einzudringen und die Schande ihres Hauſes ruchbar zu 
machen! Wenn dieſe Feinfühligkeit ſich nur darauf erſtreckte, den guten 
Ruf ihrer Vorfahren von der mütterlichen Seite zu verteidigen, fo könnte 
man noch triftige Gründe finden, die ihnen einen fo brennenden Eifer ein— 
flößen. Aber behaupten, daß fünfzig oder ſechzig Ahnen ſämtlich die recht— 
ſchaffenſten Leute von der Welt geweſen ſeien, das heißt die Tugend auf 
eine einzige Familie beſchränken und dem menſchlichen Geſchlechte eine große 
Beleidigung zufügen.“ Bei dieſer Gelegenheit bitte ich, Ihnen die Briefe 
dieſes wunderbaren Mannes empfehlen zu dürfen, der bei aller ſeiner ſcho— 
nungsloſen Härte ſoviel Kultur und Anmut des Geiſtes beſaß. Sie ſollten 
fie aber nicht in einem Prachtband, ſondern in der Reklam⸗Ausgabe leſen: 
das wäre der erſte Schritt zum Verſtändnis ... 

Schon am 17. Dezember 1880 ſagte Wilhelm II. in der Schluß— 
gung der Schulreformkonferenz: „Meine Herren, wir befinden uns in einem 
Zeitpunkt des Durchgangs und Vorwärtsſchreitens in ein neues Jahr— 
hundert, und es iſt von jeher das Vorrecht Meines Hauſes geweſen, ich 
meine, von jeher haben Meine Vorfahren bewieſen, daß ſie, den Puls der 
Zeit fühlend, voraus erſpähten, was da kommen würde. Dann ſind ſie an 
der Spitze der Bewegungen geblieben, die ſie zu leiten und zu neuen Zielen 
zu führen entſchloſſen waren.“ Gerade dieſe Charakteriſtik paßt auf keinen 
einzigen Hohenzollern, ſelbſt auf Friedrich den Großen nicht, den einzigen 
wirklich genialen Regenten dieſes Hauſes. Manche von ihnen waren kluge, 
zähe, willens ſtarke Erwerber; manche waren reiche Erben, die ſich's wohl 
fein ließen; manche ſuchten ſich ſchlecht und recht mit' einem Beruf abzu— 
finden, dem ſie nicht gewachſen waren: alle aber waren der Forderung des 
Tages untertan. Seheriſches Erkennen iſt nicht Hohenzollernart. Ihr 
Beſtes iſt die Nüchternheit. 

Beim Feſtmahl des brandenburgiſchen Provinziallandtages vom 
24. Februar 1894 ſagte der Kaiſer: „Daß Meine Vorfahren imſtande 
waren, ſo Großes für ihr Vaterland zu leiſten, beruht auf der Erkenntnis 
vor allem, daß das Hohenzollernſche Herrſcherhaus mit einem Pflichtgefühl 
ausgerüſtet iſt, das es aus dem Bewußtſein ſchöpft, daß es von Gott an 
dieſe Stelle geſetzt iſt und ihm allein und dem eigenen Gewiſſen Rechen— 
ſchaft zu geben hat für das, was es tut zum Wohle des Landes.“ Zus 
nächſt muß auf dieſe apodiktiſche Behauptung erwidert werden, daß das 
monarchiſche „Pflichtgefühl' überhaupt erſt von Friedrich dem Großen in 
den Tiefen ſeiner heroiſchen Seele entdeckt und als kategoriſcher Imperativ 
ſtabiliert worden iſt. Dies war die größte, die folgenreichſte Tat ſeines 
Lebens. Gewiß hatte es vor ihm wohlwollende, gerechte, tugendhafte 
Herrſcher gegeben, aber ſie identifizierten ſich durchweg mit dem Staate. 
Das Wort Ludwigs XIV.: „Der Staat bin ich!“, das uns heut wie eine 
unerhörte Herausforderung klingt, war, als es geſprochen wurde, eine ſtaats⸗ 


524 Türmers Tagebuch 


rechtliche und pragmatiſche Trivialität. Friedrich der Große beugte ſich 
unter eine von ihm ſelbſt erzeugte Macht. Er iſt es, der den Moloch 
Staat, den Rader Staat, den allmächtigen, allwiſſenden, allgegenwärtigen, 
allgütigen Staat geſchaffen hat. „Noch nie hatte die Welt das Schauſpiel 
geſehen, daß eine im höchſten Sinne geniale Perſönlichkeit ihre Neigungen 
völlig einer täglichen, mühſeligen und in ihren Ergebniſſen kaum ſichtbaren 
Berufstätigkeit opferte. Daß der Gutsherr von Sansſouei einem Müller 
fein angeſtammtes Beſitztum aus Refpelt vor dem Kammergericht nicht 
nahm, das hätte ſchließlich auch an mancher Anekdote von Karl dem Großen 
oder Harun al Naſchid, von Salomo oder Titus feine Analogie finden 
können; dagegen daß der Freund Voltaires, der Flötenſpieler von Rheins 
berg, der Sieger in hundert Schlachten, ſich Tag für Tag an den Schreib 
tiſch bannte, mühſelige Amtsreiſen unternahm, jede Rechnung nadpriifte, 
und all dies lediglich um der ‚Pflicht‘, um des abſtrakten „Staates“ willen 
— dies war das Anerhörte! (Rich. M. Meyer, Deutſche Charaktere.) — 
Vor Friedrich dem Großen konnte von monarchiſchem Pflichtgefühl nicht 
die Rede ſein — nur von weiſem und törichtem, von weitſchauendem und 
kurzſichtigem landesherrlichen Egoismus — und nach ihm kam Friedrich 
Wilhelm II. zur Regierung, dem Pflichtgefühl gänzlich fremd war. Sein 
eigener Onkel, Prinz Heinrich von Preußen, ſagte von ihm: „Mein dicker 
Neffe iſt ein Schwachkopf, der Anſtand und Sitte verachtet und ſich ab; 
wechſelnd von Weibern, Günſtlingen und Scharlatanen an der Naſe her⸗ 
umführen läßt. Er ſcheut jede Arbeit und wird nur den Haufen gekrönter 
Müßiggänger vergrößern.“ Und hier muß ich nun einige ganz offene Worte 
ſprechen, denn wenn ich's unterließe, wären dieſe Briefe ohne Sinn und 
Zweck, und ich kann nicht durch Darſtellungskunſt oder Wiſſensprunk, ſon⸗ 
dern nur durch Aufrichtigkeit wirken. Wie, glauben Sie, klingt wohl dem 
Volke dies in jeder Rede wiederkehrende Lob der Dynaſtie, das ja doch 
in gewiſſem Sinne Eigenlob iſt, aus dem Munde ſeines Herrſchers? Viel 
leicht verſuchen Sie einmal, ſich die Empfindungen zu vergegenwärtigen, 
mit denen wir bürgerlichen Männer ſolche Reden leſen. Wir wiſſen aus 
der Geſchichte ganz ebenſo genau wie der Kaiſer, wie die Hohenzollern be · 
ſchaffen waren, und kennen die zahlreichen, tiefeingegrabenen Male der 
Menſchlichkeit, die ſelbſt den beſten und bedeutendſten unter ihnen an⸗ 
bafteten. Wir kennen auch die Schwächlinge, die Genüßlinge, die Nullen. 
Wir wiſſen, daß es ſehr viele adlige und bürgerliche Familien 
gibt, die von fünf oder ſechs Vorfahren behaupten können, daß ſie ſich 
mit den Hohenzollern an Begabung und Charakter getroſt 
meſſen durften, und die Geſchichtsſchreibung zeigt uns tauſendfach, me 
Regenten, die in Wirklichkeit nur von ſchmächtigem Wuchs waren, ins 
Heroenmaß gereckt wurden. Dieſe Prokruſtes⸗Pathetik iſt uns längſt zum 
Etel geworden. Kein gebildeter Menſch in Deutſchland glaubt mehr an 
dieſe Hohenzollernlegende. Gewiß, es iſt ein tüchtiges Geſchlecht, und 
töricht wäre es, etwa den robuſten Soldatenkönig — ſo abſtoßend er als 


Türmers Tagebuch 525 


Menſch wirkt — nicht anerkennen zu wollen, aber eine Geſchichtsklitterung, 
die allen dieſen Herren, ohne Nückſicht auf ihre individuelle Erſcheinung, 
das Diadem des Genies um die bisweilen recht enge Stirn legt, können 
wir nur noch belächeln und kaum noch belächeln. 

Das Zweite, das ich ſagen muß, iſt dies. Die Hohenzollern ſind 
vielleicht inſofern ‚von Gott an ihre Stelle geſetzt“, als bekanntlich ohne 
Gottes Willen kein Sperling vom Dach fällt, ihre Anfänge aber ſind ja 
nicht ins mythiſche Alter entrückt, ſondern Kaiſer Sigismund er- 
nannte im Jahre 1411 Friedrich den Sechſten von Hohenzollern, Burg⸗ 
grafen von Nürnberg, zum Statthalter der Mark Brandenburg. Es war 
ein ganz proſaiſcher Vorgang. Jetzt aber liegt die Sache ſchon ſeit 
ungefähr ſechzig Jahren fo, daß der König von Preußen nicht, Gott allein 
und dem eigenen Gewiſſen“ Rechenſchaft zu geben hat, mit anderen Wor⸗ 
ten, daß er unumſchränkt und unkontrolliert regiert, ſondern daß ſeine Macht 
überaus wohltätigen — auch für die Monarchie wohltätigen — Einfchrän- 
kungen unterworfen iſt. Dieſe Minderung der monarchiſchen Rechte war 
notwendig, weil das Volt im Laufe der Jahrhunderte zu der Überzeugung 
gelangte, daß keineswegs alles, was der König tat, zum Wohle des Lane 
des’ geſchah. Die Betonung des Gottesgnadentums iſt heut der über⸗ 
wiegenden Mehrheit des Volkes tief unſympathiſch; ſie widerſpricht den 
Tatſachen, zeigt, daß der König nicht auf dem feſten Boden der Wirklich- 
keit ſteht, und ein Parlament, das Würde und Mut beſäße, müßte gegen 
ſolche Außerungen unverzüglich in einer Adreſſe proteſtieren, fo energiſch 
und unzweideutig proteſtieren, daß über die wahre Sachlage und über die 
Auffaſſung der Nation auch nicht der geringſte Zweifel entſtehen könnte. 
Das Gottesgnadentum iſt unſerer rationaliſtiſch geſinnten und hiſtoriſch 
geſchulten Zeit nur noch eine Nomantikerphraſe; wer ſie braucht, beweiſt 
nur, daß er mit dem Geiſtes leben der Nation jede Fühlung verloren hat. 
Hiſtoriſch ſehen wir in dieſer Wendung eine Fiktion, die der tat⸗ 
ſächlich beſtehenden unumſchränkten monarchiſchen Macht ein moraliſches 
Fundament geben ſollte, — ſolche Fiktionen glaubten die Machthaber nie 
entbehren zu können — praktiſch iſt ſie ein Nonſens. 

Am 6. Auguſt 1900 ſagte der Kaiſer in Bielefeld: „Woher iſt es 
wohl möglich geweſen, daß bei dem kurzen Rückblick auf die Geſchichte 
unſeres Landes und Hauſes dieſe wunderbaren Erfolge unſeres Hauſes zu 
verzeichnen ſind? Nur daher, weil ein jeglicher Hohenzollernfürſt ſich von 
Anfang an bewußt ift, daß er nur Statthalter auf Erden ift, daß er Rechen- 
ſchaft abzulegen hat von ſeinen Arbeiten vor einem höheren König und 
Meiſter, daß er ein getreuer Arbeitsführer fein muß im Allerhöchſten Auf⸗ 
trage. Daher auch die felſenfeſte Überzeugung von der Miffion, die jeden 
einzelnen meiner Vorfahren erfüllte. Daher die unbeugſame Willenskraft, 
durchzuführen, was man ſich einmal zum Ziel geſetzt hat.“ Nun, ich rate 
Ihnen zu dem ſchweren Verſuch, die Geſchichte Ihres Hauſes einmal voraus. 
ſetzungslos, und als ob Sie Müller oder Schulze hießen, zu leſen und 


526 Türmers Tagebuch 


dann feſtzuſtellen, ob wirklich jeden einzelnen Hohenzollern die felſenfeſte 

berzeugung von ſeiner Miſſion erfüllte und wieviele von ihnen die un⸗ 
beugſame Willenskraft beſaßen, die der Kaiſer rühmt. Und ferner rate ich 
Ihnen, wenn einſt die Zeit erfüllt ſein wird, nicht als Rhapſode des Hohen⸗ 
zollernruhmes aufzutreten, ſondern dieſe Aufgabe anderen zu überlaſſen, 
aus deren Munde die Hymne überzeugender klingt. An Weitbewerbern 
wird es nicht fehlen. 

Nein, wir glauben nicht mehr daran, daß wir den Hohenzollern allein 
das „wundervolle Gebilde“ des preußiſchen Staates verdanken. Wir wollen 
die erzieheriſchen Verdienſte einzelner unter ihnen nicht verkennen, aber 
gegen den uſurpatoriſchen Verſuch, jede nationale Leiſtung au 
ſchließlich auf das Konto dieſer einen Familie zu ſetzen, müſſen 
wir uns verwahren. Wir ſehen ja an der Vergewaltigung der jüngſten 
Geſchichte nur zu deutlich, wie ſolche Legendenbildung entſteht und wie ſie 
fortwuchert. 

Wilhelm der Erſte war gewiß ein vortrefflicher Menſch und ein Mann 
von wahrhaft königlichen Eigenſchaften. Die ſchönſte von ihnen war die 
Hobe Sachlichkeit“, die Bismarck an ihm rühmt. Durch dieſe hohe Sachlich⸗ 
keit wurde er zur Perſönlichkeit, und in dieſem Zuge verbindet er ſich dem 
ihm fo völlig weſensfremden großen Friedrich. Er war aber weder ein 
Intellekt erſten Ranges noch ein Willensgenie, und die Darſtellung, die 
der Kaiſer von ſeinem Wollen und Wirken gibt, iſt grundfalſch und mußte 
es ſchon deshalb ſein, weil ſie ſich nicht um Objektivität bemühte, ſondern 
nur der Offenſive gegen Bismarck dienen ſollte. Am 28. Februar 1859 
ſagte der Kaiſer noch mit ſchmuckloſer Herzlichkeit: „Mein Großvater war 
der älteſte unter den Kollegen, fein Wort und fein Rat wurde geſucht, 
und man tat ihm viel zuliebe.“ (Wäre an die Stelle dieſes ruhigen, burger: 
lichen, dem Zeitempfinden entſprechenden Tones nicht der herausfordernde, 
archaiſtiſche Pomp getreten, es ſtände manches anders!) Im Jahre 1897 
aber hielt der Kaiſer bei dem Feſtmahl des brandenburgiſchen Provinzial“ 
landtages jene Nede, in welcher das Bild Wilhelms des Schlichten zum 
höheren Ruhme der Monarchie völlig umgedichtet wird. (Heine bat viel 
leicht recht, wenn er ſagt, daß Scott den Geiſt der engliſchen Geſchichte 
beſſer wiedergebe als Hume, aber eine ſolche Amdichtung fest intuitive 
poetiſche Kraft voraus, und dieſe beſitzt Wilhelm der Zweite nicht.) „Wir 
können“, ſagte der Kaifer, ‚ihn verfolgen, wie er langſam heranreiſte von 
der ſchweren Zeit der Prüfung bis zu dem Zeitpunkt, wo er als fertiger 
Mann, dem Greiſenalter nahe, zur Arbeit berufen wurde, ſich jahrelang 
auf ſeinen Beruf vorbereitend, die großen Gedanken bereits in ſeinem Haupte 
fertig, die es ihm ermöglichen ſollten, das Reich wiedererſtehen zu laſſen. 
Wir ſehen, wie er zuerſt fein Heer ſtellt aus den dinghaften Bauern— 
ſöhnen feiner Provinzen, fie zuſammenreiht zu einer kräftigen, waffenglan- 
zenden Schar; wir ſehen, wie es ihm gelingt, mit dem Heer allmählich eine 
Vormacht in Deutſchland zu werden und Brandenburg⸗Preußen an die 


— — ——— — . ͤ àùäl¶ô— 


Türmers Tagebuch 527 


führende Stelle zu ſetzen. And als dies erreicht war, kam der Moment, 
wo er das geſamte Vaterland aufrief und auf dem Schlachtfeld der Gegner 
Einigung herbeiführte. 

„Meine Herren, wenn der hohe Herr im Mittelalter gelebt hätte, er 
wäre heilig geſprochen, und Pilgerzüge aus allen Ländern wären hinge— 
zogen, um an ſeinen Gebeinen Gebete zu verrichten. Gott ſei Dank, das 
iſt auch heute noch ſo! Seines Grabes Tür ſteht offen, alltäglich wandern 
die treuen Untertanen dahin und führen ihre Kinder hin, Fremde gehen 
hin, um ſich des Anblickes die ſes herrlichen Greiſes und feiner Standbilder 
zu erfreuen. Wir aber, meine Herren, werden beſonders ſtolz ſein auf 
dieſen gewaltigen Mann, dieſen großen Herrn, da er ein Sohn der Mark 
war.“ And weiter: „Das Gefecht aber können wir nur ſiegreich durchführen, 
wenn wir uns immerdar des Mannes erinnern, dem wir unſer Vaterland, 
das Deutſche Reich verdanken, in deſſen Nähe durch Gottes Fügung fo 
mancher brave, tüchtige Ratgeber war, der die Ehre hatte, ſeine Gedanken 
ausführen zu dürfen, die aber alle Werkzeuge ſeines erhabenen Wollens 
waren, erfüllt von dem Geiſte dieſes erhabenen Kaiſers.“ Nun wiſſen wir 
ja alle, daß Wilhelm der Erſte nie daran gedacht hat, das Reich wieder— 
erſtehen zu laſſen. Er war durch und durch Preuße, betrachtete den Kaiſer— 
titel als „FCharaktermajor“ und war fo verſtimmt darüber, daß dieſer Titel 
ihm aufgedrängt wurde, daß er den Grafen Bismarck am Tage der Krö- 
nung zu Verſailles oſtentativ ignorierte. Er war auch keineswegs ein ‚ges 
waltiger Mann“, ſondern trotz hohen perſönlichen Mutes in allen Stunden 
der Entſcheidung zaghaft und unentſchloſſen. Er hätte im Jahre 1862 
abgedankt, wenn Bismarck ihn nicht am Portepee gefaßt hätte. Und auch 
politiſchen Weitblick kann man ihm nicht zuſprechen, da er ſich nach dem 
Siege über Oſterreich ohne Landerwerb nicht zufrieden geben wollte und 
die wirklich nicht ſehr fernliegenden Gründe des Miniſters, der zu weiſer 
Mäßigung riet, nicht zu würdigen vermochte. Auch die Indemnität wollte 
er nicht nachſuchen, die doch die unerläßliche Vorausſetzung jeder fruchtbaren 
gemeinſamen Arbeit war. Immer war es Bismarck, der ihn fortriß 
und dann wieder zurückhielt, ihm die Kraft zu Entſchluß und 
Verzicht gab und ihn an ſeiner ſicheren Hand vorwärts führte. 

Aber nicht allein Wilhelm der Erſte gilt dem Kaiſer als ‚groß‘. Auch 
die leidverklärte Königin Luiſe wird mit dieſem Beiwort geſchmückt, auch 
die Kaiſerin Auguſta wird auf dies Piedeſtal erhöht. Dem Prinzen 
Friedrich Karl, der ohne Zweifel ein begabter Heerführer war, wird ein 
‚eiferner, gewaltiger Charakter, mächtiger Wille und ſtrategiſches Genie“ 
nachgerühmt. Kurz, jeder, der der regierenden Familie angehört, iſt eo ipso 
‚groß‘, und alle dieſe Figuren werden allmählich fo konventionell und ſehen 
einander ſo gleich wie die Puppen der Siegesallee. Wie unendlich viel 
verlieren Perſönlichkeiten, wie die Königin Luiſe und die Kaiſerin Auguſta, 
der „Feuerkopf“, der dem Kanzler das Leben fo ſchwer machte, durch dieſe 
uniformierende Verherrlichung.“ 


528 Türmers Tagebuch 


Der Kaiſer ſpreche gern von ſeiner ſchweren, opfervollen Arbeit: 
„Als er im Oktober 1888 von Wien und Rom zurückkehrte, ſagte er der 
Deputation des Berliner Magiſtrates, er habe ‚feine Geſundheit und alle 
Kräfte eingeſetzt, um durch Anknüpfung von Freundſchaftsbanden den Gries 
den und die Wohlfahrt des Vaterlandes zu ſichern . Dieſe Außerung ber 
fremdet. Wie viele Kaufleute unternehmen ganz andere Reifen, um Ge 
ſchäftsverbindungen anzuknüpfen, und der Monarch, der auch unterwegs 
jeden denkbaren Komfort genießt, behauptet, bei einem Ausflug nach Wien 
und Rom feine Geſundheit eingeſetzt zu haben? Ja, was hat denn 
dann Wilhelm der Erſte getan, als er mit vierundſiebzig 
Jahren in den Krieg zog? Die Palette hat keine Farben mehr, um 
dieſen Opfermut zu ſchildern. Der Kaiſer ſpricht von den „ſchweren flich⸗ 
ten, den niemals endenden, ſtets andauernden Mühen und Arbeiten“. Dazu 
muß ich bemerken, daß wir bürgerlichen Arbeiter zwar keineswegs die 
Verantwortung unterſchätzen, die auch in der konſtitutionellen Monarchie 
noch auf dem Herrſcher laſtet, daß wir aber nicht den Eindruck haben, daß 
der Kaiſer ſo übermäßig viel arbeitet. Wir können ja ſeine Arbeitsleiſtung 
im Hofbericht ziemlich genau verfolgen. An Erholung fehlt es ihm wahrlich 
nicht; Jagden, Neiſen, Theater, Ausſtellungen, Koſtümfeſte, Prunkdiners 
bieten hinreichende Gelegenheit, Atem zu ſchöpfen. Im Volke ſagt man 
ſich: Wir arbeiten anders. Härter, anhaltender, unter um 
günſtigen Bedingungen und meiſt mit dürftigem Ergebnis. 
Vor kurzem brachte die hieſige „Neue Geſellſchaftliche Korreſpondenz“ die 
folgende Aberſicht über die Zeitverwendung des Kaiſers vom 7. Mai bis 
zum 7. Juni: „Beglückwünſchung des öſterreichiſchen Kaiſers mit den deut 
ſchen Bundesfürſten in Wien, Beſuch beim Fürften Fürftenberg in Donau- 
eſchingen zur Jagd, Einweihung der Hohkönigs burg, Aufenthalt in Wies⸗ 
baden zu den Feſtſpielen, Beſuch des Regiments 116 in Gießen, Jagd⸗ 
beſuch in Pröckelwitz, Teilnahme an der Jahrhundertfeier der Leibhuſaren; 
brigade in Danzig und Beſuch der Marienburg, Abhaltung der Paraden 
in Potsdam und Berlin, verſchiedene Truppenbeſichtigungen, Teilnahme 
an der Jahrhundertfeier des Leibregiments in Frankfurt an der Oder.“ 

Nun kann man ja fagen, Repräfentation fei auch Arbeit, allerſchwerſte 
ſogar. Aber das iſt individuell; dem einen iſt ſie eine Bürde, dem anderen 
ein Bedürfnis. Dem Kaiſer iſt ſie — denn ſie ließe ſich ſehr einſchränken — 
ſicher ein Bedürfnis. Aktivität ſoll ihm nicht abgeſprochen werden, aber 
von Arbeit haben wir — wir Volk, wie Dehmel ſagt — einen anderen 
Begriff. . 

Ja, es geht wahrlich ein Geiſt „finſterer Anbotmäßigkeit durch die 
teutſchen Lande. Was treugehorſamen Antertanen noch unlängſt heiß 
erſehnte Ehr und Auszeichnung war, will fie heute ſchier unvereinbar 
mit männerſtolzer Würde „freier Bürger“ bedünken. Statt ſich mit ihrem 
ſtädtiſchen Oberhaupte hochgeehrt darob zu ſpreizen, daß es ihm noch immer 
geſtattet wird, am Brandenburger Tor mit dem Hute in der Hand den 


Türmers Tagebuch 529 


Gäften des Kaiſers aufzuwarten, daß es ihm ſogar nicht unterfagt wird, 
an den Wagenſchlag der hochfürſtlichen Equipage heranzutreten und den 
Inſaſſen das unverbrüchliche Gelübde grenzenloſer Ergebenheit und Dank⸗ 
barkeit der geſamten Berliner Bürgerſchaft abzulegen, — ſtatt ſolch einzig 
wahrer patriotiſcher Geſinnung äußern unbotmäßige Elemente beſagter 
Bürgerſchaft frivole Zweifel an der Würdigkeit fotaner Aufwartung. Und 
gar der allweil noch rüſtige Barde des „Kladderadatſch“ ſchlägt alſo trauer- 
harfend die Saiten: 

Es ſteht ein Mann im Sonnenbrand 

Am Brandenburger Tor. 

Er ſteht da wie er oft ſchon ſtand 

And hält den Hut in ſeiner Hand, 

Blickt ſelten nur empor. 


Er denkt, nicht immer war's ſo heiß 
An dieſem ſchönen Ort. 

Oft ſtand ich hier in Schnee und Eis, 
Den Bart vom Reife puderweiß, 
And fror und konnt nicht fort. 


Da horch! Mufik und Trommelſchlag, 
Der fremde Fürſt zieht ein! 

Der Mann tritt an den Wagenſchlag 
And ſpricht, ſo ſchön er es vermag, 
Sein Willkomms ſprüchelein. 


And iſt das Sprüchlein endlich aus, 
Dann hebt der Feſttag an; 

Der Mann geht wieder ſtill nach Haus, 
And keiner fragt beim Königsſchmaus 
Mehr nach dem guten Mann. 


Vom Fenſter freundlicher Leute hat ein Mitarbeiter des „Berliner 
Tageblatts“ der Begrüßungsſzene beim „Einzug“ des Königs von Schweden 
und ſeines kaiſerlichen Gaſtgebers am Brandenburger Tor beigewohnt 
— unter einem bleigrauen Himmel, in einer ſchwülen Gewitterluft. „Ich 
überlaſſe es“, fo ſchreibt er, „den Feftberichterftattern, die Farbenpracht der 
Aniformen zu ſchildern, und das Embonpoint des neuen Polizeipräſidenten, 
und die Anmut der grünbekränzten Ehrenjungfrauen, die diesmal aus der 
jüngeren Nachkommenſchaft gewählt waren und noch kurze Tanzſtunden⸗ 
Heidchen trugen. Das gemeine Volk war, wie ſich das von ſelbſt verſteht, 
überall vom Erdboden vertilgt oder weit zurückgedrängt, und auf dem Pariſer 
Platz wurden außer einigen Schweden und den Magiſtrats familien nur 
Gardeuniformen geduldet. Von Zeit zu Zeit wankte ein Küraſſier zur 
Ambulanz, weil ihm die tropiſche Hitze auf die Nerven gefallen war. Die 
Mitglieder des Magiſtrats hielten ſich unter ihren Zylindern wie Männer, 
und die Ohnmacht unſerer Stadtverwaltung ward äußerlich nicht ſichtbar. 


530 Türmers Tagebuch 


Herr Kirſchner und die Seinigen waren frühzeitig zur Stelle 
geweſen, und da ſie zu früh erſchienen waren, mußten ſie lange warten. 
Die Hofequipagen, die dicht an ihnen vorüberjagten, wirbelten 
ihnen den Staub in die Naſen, und ihre Geſichter glänzten wohl 
mehr im Schweiß, als aus innerer Zufriedenheit. Dann kam endlich der 
Moment, wo die ſchwediſche Nationalhymne ertönte, die treuen Krieger⸗ 
vereinsbrüder in der Charlottenburger Chauſſee ihr Hurra brüllten und die 
Schweden mit den Taſchentüchern winkten. Der Oberbürgermeiſter von 
Berlin trat, mit dem Hute in der Hand, an den Wagen heran und ſprach, 
während Kaiſer Wilhem an ihm vorüberblickte, ſeinen Willkommensgruß. 
Eine leiſe Furcht mußte bei dieſer Szene den Zuſchauer beſchleichen. Die 
Furcht, daß einmal ein fremder Monarch, nicht gewohnt an ſolche Auftritte, 
dem Redner auf dem Straßenpflaſter einen Groſchen in 
den Hut werfen könnte. 

Es iſt viel über dieſe Empfangsmethode geſprochen und geſchrieben 
worden und alles Reden und Schreiben hat leider nichts genützt. In keiner 
anderen Hauptſtadt wartet der Oberbürgermeiſter wie ein 
Portier am Tore, und nur der Berliner Oberbürgermeiſter 
ſcheint zu einer ſolchen Rolle verurteilt. Die Londoner City hat 
den Deutfchen Kaiſer in ihr Haus, in die Guildhall, gebeten, aber der 
Magiſtrat der deutſchen Reichs hauptſtadt wirft ſich faſt 
unter die Hufen der Pferde“. 

Daß der Empfang fremder Fürſtlichkeiten durch die ſtädtiſchen Be⸗ 
hörden nur dann einen Sinn hätte, wenn die hohen Herrſchaften der Stadt 
einen Beſuch zu machen gedächten, das — bedarf nur für deutſche Bürger 
einer Begründung. Denn nirgends, bei keinem aller der bisherigen Fürſten— 
beſuche in Berlin, hat auch nur entfernt der Schimmer einer Abſicht ob- 
gewaltet, der bürgerlichen „Rotüre” eine ſolche Aufmerkſamkeit zu erweiſen. 
„Die hohen Herren“, fo hilft die „B. Z. a. Mittag“ dem etwas ſchwer⸗ 
fälligen Begriffs vermögen gewiſſer Leute auf die Sprünge, „beſuchen den 
Kaiſer, der in Berlin wohnt, und kümmern ſich ſonſt um Berlin 
weniger als irgend ein Fremder, der die Gelegenheit eines freund— 
ſchaftlichen Beſuches in Berlin meiſt auch dazu benutzt, allerlei Studien 
an dem großen Kommunalweſen zu machen, das bei allen Mängeln doch 
immer noch vorbildlich für tauſend belangreiche Gebiete des öffentlichen 
Lebens iſt. Bei Fürſtenbeſuchen am Berliner Hofe wird alle für die Gäſte 
verfügbare Zeit auf Hoffeſtlichkeiten, Paraden und eventuell diplomatiſche 
Verhandlungen verwendet, ſo daß ſchlechterdings für eine Anknüpfung von 
Beziehungen zur Stadt Berlin, ſofern überhaupt der Wunſch dazu 
vorhanden wäre, nichts übrig bleibt. Die Stadt Berlin braucht ſich 
darüber nicht zu beklagen, zumal bei ihr alltäglich illuſtre Gäſte, Männer 
von Weltruf und hoher Sachkenntnis, aus und ein gehen, um zu feben und 
zu lernen. Aber ebenſowenig hat die Stadt Grund, Beſuche zu ‚empfangen‘, 
die ihr gar nicht zugedacht ſind. 


Siirmers Tagebuch 531 


Wm allerwenigiten darf fie die Gäſte des Hofes am Brandenburger 
Tor ablauern, um ihnen eine Empfangsrede zu applizieren. Wenn fremde 
Fürftlichleiten den Wunſch haben, außer bei Hofe auch bei der Stadt einen 
Beſuch zu machen, ſo müſſen ſie dieſem Wunſche deutlichen Ausdruck geben; 
alsdann wird ihnen ein Empfang auszurichten ſein, wie er der Würde der 
Stadt und der Wertſchätzung entſpricht, die Berlin dieſem Beſuche entgegen- 
bringt. Dabei würde von vornherein die Zylinderparade am Kutſchen— 
ſchlage, wie überhaupt die ganze Wallfahrt nach dem Brandenburger Tor 
wegfallen. Wenn die Stadt den Einzug eines ſiegreichen Heeres begrüßt, 
ſo empfängt ſie ihre eigenen Söhne, die aus ſchwerer Kriegsgefahr heim— 
kehren. Ihnen darf ſie wiederſehensfreudig ein gut Stück Weges entgegen— 
gehen, um fie ins alte Heim zu geleiten. Fremde Fürftlichleiten, wenn fie 
ausdrücklich der Stadt Berlin einen Beſuch machen wollen, werden an der 
Stätte zu empfangen ſein, wo die offizielle Vertretung Berlins ihren Sitz 
hat, oder wo ſie im Einvernehmen mit den Bürgern eine beſondere Stätte 
für feſtliche Empfänge bereitet. Auf dem Fahrdamm einer Straße im 
Sonnenbrand und Regen vor dem Kutſchenſchlag eines fremden Fürften, 
womöglich eines noch ganz jungen Mannes, mit entblößtem Haupte zu 
ſtehen, das ziemt ſich nicht für die ernſten und ehrbaren Männer, die ein 
Gemeinweſen von der Bedeutung Berlins leiten. Ein ähnliches Empfinden 
haben wohl auch ſehr häufig die fürſtlichen Perſonen, die in dieſer 
Weiſe empfangen werden und daheim ſolche Symptome des Byzan- 
tinertums nicht kennen gelernt haben. So erklärt es ſich, daß ſie 
die feierlichen Akte der Begrüßung meiſt ins Gemütliche, Harmloſe und 
Einfach⸗Menſchliche hinüberzuleiten verſuchen, weil ihnen das innerlich näher 
liegt als die ſteife Offiziöſität der Selbſtdemütigung ſo alter und 
ergrauter Männer. 

Daß eine Begrüßung fremder fürſtlicher Gäſte im RNathauſe der 
Stadt durchaus nicht dem geltenden Hofzeremoniell widerſpricht, erſieht man 
daraus, daß auch der Deutſche Kaiſer in London zu Guild-Hall der Stadt 
feinen Beſuch gemacht hat.“. 

Spaßhaft wäre es ja, wenn ſich beſtätigte, daß es u. a. dieſe Aufwartung 
am Brandenburger mit ihrem Drum und Dran iſt (die Berliner nennen's 
„Klimbim“), die den wohl am heißeſten erſehnten Beſuch von Berlin fernhält. 
Der „Germania“ wird nämlich zu der deutſchen Frage: weshalb König Eduard 
nicht nach Berlin kommt, von angeblich unterrichteter Seite geſchrieben: 
„König Eduard iſt ſeiner ganzen Veranlagung nach ein Freund bequemen 
Verkehrs und Gegner aller geſchraubten Förmlichkeiten, er liebt 
es nicht, gleich einem „weißen Elefanten von Siam“ durch das Branden— 
burger Tor einzuziehen und vom Oberbürgermeiſter, Bürgermeiſter, den 
ſtädtiſchen Vertretern, vielen Hundert von Ehrenjungfrauen und Tauſenden 
von Schulkindern begrüßt zu werden. Ebenſowenig gefällt ihm das mili- 
täriſche Aufgebot und ſonſtige Gepränge, welches ihm zu Ehren 
unerläßlich wäre, wenn er einen offiziellen Beſuch in Berlin machen wollte. 


532 Türmerd Tagebuch 


Auf ihn, als gereiften Mann und Regenten, der feinem Lande eine politifche 
Stellung, wie es ſie vielleicht noch nie zuvor beſeſſen hat, durch ſeine kluge 
Diplomatie ohne jeden Tamtam zu ſchaffen wußte, machen die pomphaften 
Außerlichkeiten einen unangenehmen Eindruck, er weiß ſeine Zeit beſſer zu 
benutzen, als ſich ſolchen ihm unerwünſchten Ehrenbezeigungen auszuſetzen. 
Man würde deshalb wohl fehlgehen, wenn man König Eduards Fernbleiben 
von Berlin als einen unfreundlichen Akt gegen Deutſchland anſehen wollte. 
Viele andere, die derartige „Feierlichkeiten“ aktiv oder paſſiv mitzumachen 
genötigt ſind, würden vielleicht am liebſten ſeinem Beiſpiel folgen, 
wenn ſie nicht glaubten, ſich ihnen unterziehen zu müſſen. In manchen 
anderen europäiſchen Staaten hat man für derartige geräuſchvolle prunkhafte 
Ehrenbezeigungen, die für den Gefeierten des Tages mehr eine Laſt als 
eine Annehmlichkeit bilden, kein rechtes Verſtändnis mehr; ſelbſt im 
Orient, wo doch die Wiege des Byzantinismus geſtanden hat, kommt man 
allmählich davon ab. Vielleicht kommt auch für das Deutſche Reich ein⸗ 
mal die Zeit, wo Monarchen ſich ihre Beſuche in einer Form abſtatten, 
bei denen die Außerlichkeiten ſich einfacher, dafür aber die inneren Sym⸗ 
pathien ſich um ſo aufrichtiger und herzlicher geſtalten.“ 

Berliner liberale Blãtter glauben zwar in ihrem ahnungsvollen Ge⸗ 
müte nicht, daß der Hof leichten Herzens auf dieſe Huldigungszeremonien 
verzichten werde. Warum aber entſchließe ſich das Bürgertum ſelbſt nicht 
zu einem ſolchen Verzicht? Sei doch in der Berliner Stadtverordneten 
verſammlung ſchon einmal die Rede davon geweſen, wie man ſich bei 
Fürftenbefuchen ein Weniges „würdiger“ verhalten könne. Warum mache 
man nicht mit der Abſchaffung der Kutſchenſchlaghuldigung auf offener 
Straße den Anfang? Warum nicht vor allem dieſe erſte dringende „Re 
form“? 

Warum? Nun, weil die große Mehrheit der Berliner Stadt 
verordneten ein „Bedürfnis“ hiefür „nicht vorliegend“ erachtete und die 
„Frage“, als fie im Stadtparlament befcheiden angeſchnitten wurde, ſchlen · 
nigſt von ihrer Tagesordnung abſetzte. 

Hiernach hätte nur eine ſolche „Reform“ Ausſicht auf Erfolg. Die 
nämlich, daß das Stadtoberhaupt gleich bei der Abfahrt vom Bahnhof auf 
der fürſtlichen Equipage „hinten auffigt’. Dann brauchte er wenigſtens 
ſeinen Zylinder nicht bis zur Erlahmung hinzuhalten, riskierte alſo auch 
nicht, daß ihm irgendeine ſchalkhaft veranlagte Fürſtlichkeit — King Eduard 
möchte es ſchon fertig bekommen! — einmal doch eine Münze „aus Ver⸗ 
ſehen“ hineinwirft. Nein, er könnte, er müßte ſogar den Hut während der 
ganzen Fahrt aufbehalten und die Arme bequem verſchränken. 

Am die „Volksſtimmung“, die Stimmung „da unten“, ſcheint man 
ſich bei uns herzlich wenig zu kümmern. Sonſt würde man gerade die 
gegenwärtige nicht für günſtig halten, eine Aktion für Erhöhung der kailer- 
lichen Einkünfte aus den Mitteln der Steuerzahler einzuleiten. Es geht 
eben auch ohne „Stimmung“. „Kaum ſind ein paar Wochen ſeit der 


Zlirmerd Tagebuch 533 


offiziöfen Ableugnung der erſten Mitteilung ins Land gegangen,“ fchreibt 
die Berliner „Volkszeitung“, „und ſchon werden Einzelheiten des Gre 
höhungsplanes bekanntgegeben. Danach find wegen der Erhöhung Gee 
ſprechungen zwiſchen dem Oberhofmarſchallamt und dem Miniſterium des 
Inneren eingeleitet worden. Angeblich handelt es ſich dabei „nur“ um 
eine Mehrforderung von etwa 1 ¼ Million, die ausſchließlich der Er⸗ 
höhung der Gehälter der von der Krone beſoldeten Beamten zugute 
kommen ſoll. 

Das klingt ſo, als bewege ſich die Forderung lediglich im Gleis des 
unvermeidlich Notwendigen, zumal dabei Bezug genommen wird auf die 
Erhöhung der Gehälter der Staatsbeamten. Nicht erörtert aber wird da⸗ 
bei in der offiziöſen Preſſe, ob nicht eine große Zahl von oberen, mittleren 
und unteren höfiſchen Beamten entbehrlich wäre, wenn der Zuſchnitt der 
Hofverwaltung den vorhandenen Mitteln in Zukunft mehr angepaßt würde. 
Als Friedrich Wilhelm I. zur Regierung kam, ſchränkte er die Zahl der Hof⸗ 
beamten in koloſſalem Umfange ein und ließ eine große Einfachheit Platz 
greifen. Und es ging auch fo. Ferner wird in der offiziöſen Mittei- 
lung, die für die Mehrforderung Stimmung zu machen ſucht, die Frage 
nicht unterſucht, ob nicht jetzt ſchon die Hofbeamten weit höhere Einkünfte 
haben als diejenigen Beamten der Zivilverwaltung, die ihrer Arbeit nach 
als mit ihnen gleichgeſtellt zu erachten ſind. 

Von dieſen Momenten aber abgeſehen: Nicht lange nach dem Re- 
gierungsantritt des jetzigen Kaiſers iſt erſt die Zivilliſte um 31/2 Millionen 
— geſchrieben drei und eine halbe Million Mark — erhöht worden. Da⸗ 
mit iſt für lange Zeit den weiteſtgehenden Anſprüchen auf alle Erforder⸗ 
niſſe einer glanz, pracht⸗ und prunkvollen Hofhaltung Rechnung getragen 
worden. Wenn wirklich für die Erhöhung der Hofbeamtengehälter mehr 
als eine Million aufgewendet werden müßte, ſo würde es der umſichtigen 
Hofverwaltung ſicher gelingen, durch eine Einſchränkung der Aus: 
gaben für eigentliche Prunkveranſtaltungen an ſolchen Stellen 
und bei ſolchen Gelegenbeiten Erſparniſſe zu machen, an und bei denen 
ohne die geringſte Schädigung des Anſehens der Krone mit weniger Auf⸗ 
wand auszukommen iſt. Der alte Kaiſer Wilhelm hatte von 1861 
bis 1868 ‚nur‘ 9 Millionen Mark, von da bis zu feinem Tode „nur“ 
12¼ Millionen Mark Zivilliſte; gleichwohl hatte er eine Summe von 
etwa 52 Millionen Mark in dieſer Zeit zu ſparen vermocht, und niemand 
wird ſagen, daß er nicht genügend ‚repräfentiert oder daß das Deutſche 
Reich unter ihm nicht im höchſten Anſehen geſtanden habe. 

Von anderer Seite wird behauptet, dem Kaiſer ſolle von Reiches 
wegen eine Jahresdodation von etwa 10 Millionen Mark gezahlt werden. 
Es würden Verſuche gemacht, maßgebende Parlamentarier für dieſe Idee 
zu gewinnen. Wir zweifeln nicht, daß, wenn man an gewiſſe Parteien 
mit dieſer Forderung herankäme, man dabei auf ein willfähriges Entgegen ; 
kommen ſtoßen würde. Namentlich würden die freiſinnigen Block⸗ 


534 Sürmers Tagebuch 


bülowianer gewiß nicht nein fagen. Gie haben die Forderungen 
für die Hohkönigsburg erft abgelehnt, und zwar unter ſehr fcharfen 
und deſpektierlichen Redewendungen. Später haben fie, als der Block ihnen 
die bekannten ‚anderen Grundſätze“ beibrachte, mit Hurra für die Forde⸗ 
rungen geſtimmt. Das gibt eine gute Gewähr für andere Forderungen. 
Es iſt ja auch überdies ungeheuer einfach, zu ſagen: Bei einem Defizit 
von einer halben Milliarde kann es auf zehn kleine Millionen nicht 
ankommen. Was zu beweiſen war.“ 

In dem Kranze der ſchönen Dinge, die uns die neue Reichsherrlich⸗ 
keit unter dem Zeichen des Blocks ſchon beſchert habe und noch beſcheren 
werde, habe die Erhöhung der Zivilliſte „gerade noch gefehlt“! 

Auch die „Kölniſche Volkszeitung“ zweifelt nicht an der Annahme 
des Planes: „Die Konſervativen und die Nationalliberalen ſagen ſo leicht 
nicht ‚nein‘, wenn es ſich um einen Wunſch des Kaiſers handelt, außer⸗ 
dem liegen verſchiedene Gründe vor, die uns mutmaßen laſſen, daß auch 
die „Freiſinnigen“ ganz beſtimmt dafür zu haben ſein würden. 
Im „Tiergartenviertel' iff man an einen großen Luxus gewöhnt 
und ſucht einen ſolchen Luxus auch am kaiſerlichen Hofe um 
ſo mehr zu fördern, weil dann der in beſcheidenen Verhältniſſen lebende 
Land adel gleich der ‚Krähwinkeler Landwehr“ nicht mitkommen kann. 
Am fo mehr hat alſo die Finanzariſtokratie Ausſicht, den Monarchen für 
ſich mit Beſchlag zu belegen. Man erkennt hieraus die weiſe Voraus⸗ 
ſicht, welche der Kanzler zeigte, als er den Freiſinn hof- und re⸗ 
gierungsfähig machte. Sollte Fürſt Bülow einmal feinen Poſten quit 
tieren müſſen, ſo kann er dieſen Politikern folgendes ins Dienſtbuch ſchreiben: 
„Die Freiſinnige Partei hat mir von Anfang des Jahres 1907 bis heute 
als Mädchen für alles treu und fleißig gedient. Allen Arbeiten, auch den 
ſchwerſten und unbequemſten, unterzog ſie ſich mit Hingebung und Geduld. 
Ihre Lohnforderungen waren freilich oft unmäßig, doch begnügte ſie ſich 
ſchließlich auch mit den geringſten Vergütungen, ſo daß ich ſie meinem 
Nachfolger dringend empfehlen kann. Gez. Bülow.“ 

Dem „monarchiſchen Gedanken“, meint mit anderen nationalgeſinnten 
Organen das „Deutſche Blatt“, werde mit dieſer Aktion „kein Liebesdienſt 
erwieſen“. Das iſt noch ſehr beſcheiden ausgedrückt. Man muß nur die 
von vielen Hunderttauſenden, ja Millionen geleſene ſozialdemokratiſche und 
ſonſt radikale Preſſe daraufhin durchblättern, um einen Begriff davon zu 
bekommen, welche ätzende, freſſende Säure damit auf den „monarchiſchen 
Gedanken“ ausgeſpritzt worden iſt. Der nächſte Erfolg iſt natürlich eine 
intenſive Beſchäftigung mit den Finanzverhältniſſen der preußiſchen Krone, 
nicht zuletzt auch mit ihrer Finanzgebarung. So leſen wir in der „Welt 
am Montag“: 

„Angefähr 15 Millionen ſind es, die die Geſamtheit der preußiſchen 
Steuerzahler für den Unterhalt des herrſchenden Hauſes zahlen muß, und 
zwar Jahr für Jahr. Daran ändert der Umftand nichts, daß dieſe Summe 


Türmers Tagebuch 535 


in faſt zwei gleiche Hälften mit verſchiedenen Bezeichnungen zerfällt, nämlich 
eine fog. Zivilliſte und einen fog. Dispoſitions fonds. Letzterer wurde 
ſeinerzeit genehmigt, um dem Könige die Möglichkeit zu geben, „Gnaden“ 
in Geſtalt von Unterftügungen, Geſchenken, Stiftungen zu machen. Er war 
alſo gewiſſermaßen als ein großer Anterſtützungsfonds gedacht; der König 
von Preußen war nominell der Geber und hatte ihn zu verwalten, der 
wirkliche Geber aber war die Menge der Steuerzahler. Bei der Schaffung 
des Fonds vergaßen leider die Vertreter der eigentlichen Geber, die fo» 
genannten Volksvertreter, ſich den Einblick in die Rechnungslegung 
dieſer immerhin doch nicht gerade unbedeutenden Summe vorzubehalten, 
ſie wollten dem Veilchen gleichen, das im Verborgenen blüht und ſich ſelbſt 
genügt. Die Verwaltung des Fonds hat dementſprechend niemals etwas 
ũber ihre Prinzipien bei Verteilung der Anterſtützungen oder anderweitige 
Verwendung der Summe verlauten laſſen, geſchweige denn wäre jemals 
irgendwie öffentlich oder in den geſetzgebenden Körperſchaften Rechnung 
gelegt worden. Nach Lage der augenblicklich geltenden Geſetzesbeſtimmungen 
iſt die Verwaltung auch nicht hierzu verpflichtet ... 

Daß täglich Tauſende ein Geſuch an die perſönliche Adreſſe des 
Kaiſers, der ja als ſolcher keinerlei Zivilliſte erhält, ſondern nur in ſeiner 
Eigenſchaft als König von Preußen, richten, dürfte allgemein bekannt ſein. 
Weniger ſchon, daß der Kaiſer dieſe, vorläufig wenigſtens, gar nicht zu 
ſehen bekommt. Sie werden nämlich ausnahmslos im Geheimen Zivil— 
kabinett eröffnet. Das Geheime Zivilkabinett iſt keine Staatsbehörde, ſon— 
dern eine höfiſche Einrichtung. Seine Tätigkeit kann demnach auch nicht 
in den geſetzgebenden Körperſchaften einer Kritik unterzogen werden. Dieſe 
niemandem verantwortliche Dienſtſtelle hat die Entſcheidung darüber, ob 
ein Geſuch nun auch wirklich dem Adreſſaten, nämlich dem König, vor— 
gelegt werden ſoll. Aber, dies iſt doch der Zweck jedes Geſuches, denkt 
der Leſer, was iſt da noch zu entſcheiden? Nun, nach Anſicht des 
Zivilkabinetts eignet ſich eben nur eine verſchwindende Minderzahl von Ge— 
ſuchen zur Vorlage beim König. Warum eignen ſich die anderen dazu 
nicht? Da hat das Papier ein Waſſerzeichen, bei einem anderen Schreiben 
iſt der Bogen nicht richtig gebrochen, bei anderen fehlt die zweizeilige 
ſchmeichleriſche Anrede oder die „Erſterben Redensart am Ende. Ja, ſelbſt 
Handſchrift oder Typenart der Schreibmaſchine ſpielen eine Nolle. Höchſtens, 
wenn einmal eine beſonders originelle Bitte oder ſehr freie oder auffallende 
Angaben im Schreiben enthalten ſind, wird eine Ausnahme gemacht. Solche 
Geſuche aber werden auch nicht etwa ſofort vorgelegt, ſondern immer erſt 
gewiſſermaßen die Richtigkeit der Angaben durch eingeforderte Berichte der 
Staats behörden feſtgeſtellt. 

Zu den wenigen Geſuchen, die überhaupt eine Beachtung im Zivil⸗ 
kabinett finden, rechnen diejenigen der Witwen und Waiſen von Beamten 
und Offizieren, die um Erhöhung ihrer Bezüge bitten, ebenſo diejenigen 
von penſionierten Beamten, die Zulagen wünſchen. Sie werden immer an 


536 Dürmers Tagebuch 


die zuſtändigen Staatsbehörden abgegeben, finden alſo gewiſſermaßen eine 
amtliche Erledigung, die aber deswegen noch nicht den Wünſchen des An⸗ 
tragſtellers zu entſprechen braucht. 

Dieſen verſchwindend wenigen glücklichen Geſuchsſtellern ſteht die 
große Maſſe derjenigen gegenüber, die vielleicht das letzte Markſtück dazu 
verwendet haben, um ſich von irgend einem ‚Sachverftändigen’ ein Gnaden⸗ 
geſuch machen zu laſſen. Daß fie alle nicht den oben nur geſtreiften An⸗ 
forderungen entſprechen dürften, welche das Zivilkabinett natürlich un- 
geſchrieben und nirgends bekannt gemacht als Norm aufgeſtellt hat, iſt ohne 
weiteres klar. Sie bekommen daher alsbald im Zivilkabinett einen ein⸗ 
zeiligen Aufdruck mit einem Gummiſtempel, der einzig und allein beſagt: 
„An den Herrn Miniſter des Innern (bzw. des Krieges uſw.). Berlin, 
den Man nimmt ſich alſo nicht einmal die Mühe, die Dienft- 
ſtelle zu bezeichnen, welche dieſen Stempel aufdrücken läßt, noch findet ſich 
irgend eine Anterſchrift unter dem Stempel. Würde eine derartige Über 
ſendungsverfügung von einem Minifterium an das andere anzuwenden ver- 
ſucht werden, ſo würde das empfangende Miniſterium ſicherlich dieſe un- 
gewöhnliche Form monieren; hier aber iſt das Zivilkabinett der Abſender, 
eine höfiſche Einrichtung, die als über dem Miniſterium ſtehend angeſehen 
wird; iſt doch der Chef des Kabinetts derjenige, der mißliebig gewordene 
Miniſter zum Verſchwinden auffordern muß, alſo ja nicht reizen! 

Das Miniſterium weiß trotz fehlender Anterſchrift ſchon, wer der Ab⸗ 
ſender iſt, ohne jede Verfügung weiß es auch, was es nun zu veranlaſſen 
hat. Zunächſt wird aus dem privaten an den König gerichteten Schreiben 
ſchleunigſt eine amtliche Eingabe, indem es zum erſten Male in Journale 
eingetragen wird. Der Miniſter, bzw. der Vorſteher des Zentralbureaus 
oder einer ſeiner Hilfsbeamten vermerkt den zuſtändigen vortragenden Nat 
darauf oder auf dem Amſchlag, ein Buchſtabe des Miniſters oder eines 
Direktors bekundet deſſen Einverſtändnis, und nun beginnt die amtliche See 
handlung. Daß das Zivilkabinett in dem vorliegenden Falle nichts tun 
will, folgt aus dem obenbeſchriebenen Aufdruck, es kann ſich alſo nur darum 
handeln, ob die ſtaatlichen Behörden etwas tun ſollen oder köͤnnen. Bei 
der zugunſten reichlicherer Ausſtattung des Diſpoſitionsfonds nur dürftig 
erfolgten Dotierung anderer ſtaatlicher Anterſtũtzungsfonds muß fic) der be 
arbeitende Nat von vornherein darauf beſchränken, nur die allerdringendſten 
Sachlagen zu prüfen. Nur dieſe gibt er zur Berichterſtattung an die nächſt 
untergeordnete Behörde ab. Alle anderen aber zur ‚Prüfung und Be 
fcheidung‘. Aus letzterer Verfügung folgt ohne weiteres, daß das Mini ⸗ 
ſterium nicht mehr mit dieſer Angelegenheit befaßt werden will, vielmehr 
ſoll die untergeordnete Behörde nach eigenem Gutdünken den Antragſteller 
beſcheiden. Nun haben aber die nachgeordneten Behörden keine ſelbſtändigen 
Fonds für dieſe Anterſtützungszwecke, alſo auch wenn fie wollten, können 
ſie beim beſten Willen keinen zuſtimmenden, ſondern nur einen ablehnenden 
Beſcheid geben. Wozu denn dann noch die ‚Prüfung‘? Daß dieſe lediglich 


Türmers Tagebuch 537 


Formſache bleiben muß, wird ſchon äußerlich durch die ſtereotype, mitunter 
in den Konzepten vorgedruckte Redewendung dokumentiert, welche im Be⸗ 
ſcheid ſeitens vieler Ober⸗ bzw. Regierungsprafidenten angewendet wird: 
Das unter dem ... an des Kaiſers und Königs Majeſtät gerichtete Im⸗ 
mediatgeſuch iſt an den Herrn Miniſter des Innern gelangt und von dieſem 
an mich zur Prüfung und Beſcheidung abgegeben worden. Dieſe Prüfung 
hat ſtattgefunden, und ſehe ich mich nach dem Ergebnis derſelben nicht in 
der Lage, Ihrem Geſuch ſtattzugeben. 

Derjenige alſo, der ſich an den König gewendet hat, bekommt eine 
Ablehnung von einem Präſidenten oder Landrat. Er ſoll durch dieſen Vee 
ſcheid in den irrigen Glauben verſetzt werden, daß die Ablehnung ein Er⸗ 
gebnis der Prüfung geweſen iſt, während es ſchon vor Eintritt in dieſe 
Prüfung beſchloſſene Sache war und mangels Fonds ſein mußte, das 
Geſuch abzulehnen. Und nun dieſe Prüfung! Wie oft werden uniformierte 
Schutzleute anſtelle der zu dieſem Dienſt ausdrücklich verpflichteten Revier⸗ 
vorſtände verwendet, wie oft wird der vor Mitbewohnern des Hauſes oder 
ſelbſt vor Familienmitgliedern verborgen gehaltene Notſtand durch rauhe 
Hand an die Oberfläche gezerrt. Was gibt es für ein Gerede, wenn ſich 
die Polizei beim Hauswirt noch nach einem Familienvater erkundigt, der 
den auf rückſtändige Miete wartenden Wirt kaum noch vertröſten kann! 
And dies alles doch nur, um einen Schein zu wahren. — 

Wo bleiben denn nun die vielen Millionen, wenn ſie 
nicht zu Anterſtützungszwecken verwendet werden? Das wird 
man erſt erfahren, wenn ſich die Volksvertretung ein Kontrollrecht geſichert 
haben wird. Wenn ſich die Umwandlung des Fonds in einen Reichs⸗ 
unterſtützungs fonds nicht ermöglichen läßt, an den alle die bisher an den 
König gerichteten Geſuche um Geſchenke und Anterſtützungen zur amtlichen 
Erledigung abgegeben werden müſſen, dann ſollten wenigſtens diejenigen 
Zwecke geſetzlich feſtgelegt werden, denen die Millionen des Dispofitions- 
fonds dienſtbar gemacht werden dürfen. 

Vor allem aber iſt unter allen Amſtänden eine öffentliche Rechnungs⸗ 
legung über das Geld der Steuerzahler in dieſem Falle wie in jedem anderen 
unumgänglich nötig; will der Träger der Krone auf dieſe Bedingung nicht 
eingehen, ſo kann keine Volksvertretung einer erneuten Bewilligung des 
Dispoſitionsfonds zuſtimmen, ohne ſich dem Vorwurf auszuſetzen, mit den 
ſauer zuſammengebrachten Pfennigen des kleinen Mannes Verſchwendung 
zu treiben.“ 

Wie ſtolz das klingt! In Wirklichkeit läßt ſich „der Träger der 
Krone“ in Preußen ⸗Deutſchland keine „Bedingungen“ ſtellen, und er hat es 
auch — unter ſotanen Umftänden — gar nicht nötig. In Wirklichkeit wird die 
ſogenannte „Volksvertretung“ alles anſtandslos bewilligen, was die Krone 
für gut befindet — ohne „öffentliche Rechnungslegung“, ohne irgendwelche 
ſonſtige „Kontrolle“. And — die „liberale“ Preſſe wird nicht die letzte 
fein, die ihr Sa und Amen dazu gibt. Denn wirklich: man kann ihr, wie 

Der Türmer X, 10 35 


538 Virmers Tagebuch 


auch der Londoner Korreſpondent der „Kölniſchen Volkszeitung“ bereitwillig 
anerkennt, nicht den Vorwurf machen, daß ſie gegen „höhere Wünſche“ ein 
taubes Ohr habe oder ſich gegen die „Großen“ im Reiche ungezogen be⸗ 
nehme. In der „North American Review“ oder auch ſonſt in der ausländifchen 
Preſſe werde ihr vielmehr der entgegengeſetzte Vorwurf gemacht. 

„Die deutſche Preſſe ſoll byzantiniſcher und liebedieneriſcher ſein als 
die engliſche, amerikaniſche, franzöſiſche, italieniſche uſw., auch als die 
öſterreichiſche und ungariſche. Ein Journaliſt kann darüber nicht gut urteilen; 
ſeine Meinungsäußerung würde leicht als parteiiſch betrachtet werden. Die 
maßgebende Inſtanz ſind in dieſem Falle die Leſer. Nun gibt es aber 
auch Leute, die behaupten, heutzutage ſeien die Deutſchen in ihrer Mehrheit 
überhaupt Byzantiner geworden, nicht nur die Zeitungsſchreiber, ſondern 
auch die Zeitungslefer. . .. Natürlich darf man weder alle Zeitungsleſer 
noch alle Zeitungen in einen „Topf“ werfen. Wahr iſt aber, daß man bei 
gewiſſen Berichten des „Berliner Lokalanzeigers“ förmlich empfindet, wie 
der Reporter ſchon bei dem Anblick der Livree eines prinzlichen Hoflakaien 
von Schauern der Ehrfurcht durchrieſelt wird, und wenn er ſich gar mit 
einem Wirklichen Geheimen Nat telephoniſch unterhält, ſo ſcheint er vor 
dem Telephon als dem Organ des hohen Herren fortwährend Bücklinge 
zu machen. And das „Berliner Tageblatt“ wurde vor einigen Jahren von 
einer geſinnungsverwandten italieniſchen Zeitung charakteriſiert als ‚ein demo⸗ 
kratiſches Blatt, das jeder Prinzeſſin zu ihrem Geburtstage gratuliert‘. 

Oft miſcht ſich der Byzantinismus mit dem Senſationalismus. Am 
„ſenſationelle“ Nachrichten zu erhalten, möglichſt aus „hohen“ Kreiſen, vor 
denen der arme ſtaatsbürgerliche Erdenwurm im Staube kriecht, wird man 
Byzantiner. And das Bemerkenswerteſte dabei iſt, daß gerade „feudale 
Organe, wie die ‚Kreuzzeitung“,, viel mehr Rückgrat und auf 
rechten Sinn zeigen, als Organe des Freiſinns, die förmlich 
gerührt werden, wenn ſich einmal ein hoher Herr huldvoll zu ihnen herab⸗ 
läßt. In Blättern niederſten Ranges tritt hier noch die Degeneriertheit 
hinzu und dann wird allerdings eine Preßſuppe gekocht, vor der ſich jeder 
Deutſche ſchämen muß. So wird natürlich die öffentliche Atmoſphäre von 
ſchlimmen Bazillen förmlich durchſeucht, aber was kümmert das die Bericht ; 
erſtatter und ihre Auftraggeber, die mit einem Auge nach ,Pifanterien’, 
mit dem andern nach der Abonnentenliſte ſchielen?! 

Alle dieſe Abelſtände hängen auch damit zuſammen, daß heute die 
Geſinnungsloſigkeit in der Preſſe eine fo große Rolle ſpielt. 
Wenn das nur in der Senfations- oder parteilofen Preſſe der Fall ware, 
ſo würde es ſich ja von ſelbſt verſtehen. Was ſoll man aber dazu ſagen, 
daß ſelbſt zwei führende Parteiblätter, die nationalliberale „Nationalztg.“ 
und die freikonſervative „Poſt“ ,fufioniert’ werden ſollen?! Es geſchieht 
natürlich nur im Intereſſe finanzieller ‚Profperität‘, denn die „Nationalztg. 
iſt nicht mehr lebensfähig. Aber es iſt doch unerhört, daß ſie ſich jetzt mit 
einem freifonfervativen Gaul vor dieſelbe Droſchke ſpannen laſſen will. ... 


Türmers Tagebuch 539 


Die Klage über den zunehmenden politiſchen Indifferentismus hat 
wirklich Grund. So wirken Byzantinismus, Senſationshaſcherei und po- 
litiſcher Indifferentismus zuſammen, um die deutſche Preſſe immer mehr 
herunterzubringen.“ ö 

Iſt unſeren Leitartiklern bei höfiſchen Feſten und ſonſtigen „Ereig⸗ 
niſſen“ der Schnabel in ſeiner Art nicht immer noch ebenſo „hold“ gewachſen, 
wie weiland Adolf Glaßbrenners „Hofpoeten bei der Geburt eines Prinzen“: 


Heil uns! 

Heute Morgen gegen drei Viertel auf Elfen, 
Heil uns! 

Einem längſt gefühlten Bedürfniſſe abzuhelfen, 
Heil uns! 

Iſt dem Volke ein Prinz geboren, 

Zu Glück und Segen erkoren! 
Heil uns! 

Eine Kanone verkündet's durchs ganze Land: 

Ein Prinz tft geboren von Zicke ⸗Zacke-Zuckerkant! 
Heil uns! 


Heil uns! 

Seine Durchlaucht geruhten bereits zu ſchreien, 
Heil uns! 

And der Natur Höchſtihr erſtes Opfer zu weihen, 
Heil uns! 

Höchſtſie ſind bereits zum Major ernannt, 

And tragen das breite Würdenband! 
Heil uns! 

Sie haben Höchſtſelbſt an der Bruſt ſchon geſogen, 

Und bleiben dem Reiche in Gnaden gewogen. 
Heil uns! 


Doch wir tun den Zeitgenoſſen Glaßbrenners unrecht. So weit, wie 
wir, hatten ſie's denn doch noch nicht gebracht. Sie hielten immer noch auf 
„Geburt“ und „Stand“. Wir aber haben uns weiter entwickelt. In unſerem 
„demokratiſchen Zeitalter“ darf der „Berliner Lokalanzeiger“ ſeinen Leſern 
ein Interview unter dem faſzinierenden Titel „Beim Multimillionär Armour“ 
vorſetzen: 

„Wir ſaßen in einer Ecke des Hotels. ‚Und — womit kann ich 
Ihnen dienen?“ „Mr. Armour, Milliardäre ſind in Deutſchland etwas 
Angewöhnliches. Und da wollte ich einmal aus eigener Anſchauung er- 
zählen, wie ein amerikaniſcher Milliardär ausſieht. Was er tut, wie er 
ſpricht, kurz, was für ein Menſch er iſt.“ Armour lachte. ‚Na — dann 
ſehen Sie mich mal genau an!’ meinte er. „Ich hoffe, Sie werden finden, 
daß ich ausſehe, wie jeder andere Menſch. Und fo wie jeder andere Menſch 
lebe ich auch und — o, überhaupt“, unterbrach er ſich wieder lachend. „Sie 
haben verkehrt angefangen. Sie hätten mich fragen ſollen, wie mir Berlin 


540 Zürmers Tageduch 


gefällt? Da hätte ich gleich beſſer antworten können. Es gefällt mir näm⸗ 
lich ausgezeichnet.“ — And fo geht es weiter, ſtets mit dem gleichen Auf 
wand an Eſprit und Tiefſinn. Schließlich kommt noch eine Pointe, die 
geradezu überwältigend iſt. Laſſen wir dem Herrn Interviewer wieder das 
Wort: „Ein Hotelboy überreichte eine Karte. Ich ſtand auf. Nach ameri⸗ 
kaniſcher Art drückte mir Herr Armour die Hand. „Hat mich ſehr gefreut.“ 
„Eine Frage noch‘, unterbrach ich. ‚Eine perſönliche, nach amerikaniſcher 
Art: wieviel — wieviel Geld haben Sie augenblicklich bei ſich?“ Der Ge⸗ 
fragte blickte mich verdutzt an; vielleicht meinte er, ich wollte ihn zum Schluß 
— anpumpen. „Geld? — Wieviel Geld?“ — „Nun, erklärte ich, ‚ich möchte 
erzählen, wieviel Geld ein Milliardär im gegebenen Moment bei ſich trägt. 
Mr. Armour lachte herzlich. „Gemütlicher Menſch ſind Sie! Doch — 
meinethalben! Sehen wir nach!“ Alle Taſchen ſuchte er durch. In der 
Billettaſche des Rodes fand fic ein — Zehnmarkſtück. „Da — ſehen Sie!“ 
Er hielt es zwiſchen Daumen und Zeigefinger in die Höhe. Das iſt alles!“ 

Was mag der alfo Angepöbelte wohl für Begriffe von „deutſcher 
Kultur“, „deutſcher Bildung und Sitte“ in ſeine Heimat mitgenommen 
haben? 

Am Ende iſt es ja kein Anterſchied, ob einer ſich für die Windeln 
eines neugeborenen Prinzen begeiſtert oder für das Portemonnaie eines 
„Multimillionärs”. Wer die Macht als ſolche anbetet, handelt ja nur 
folgerichtig, wenn er auch vor der Macht des Goldes kniet. Iſt doch die 
Plutokratie die wahre Herrſcherin unſerer Zeit. Wie lange noch, — und 
auch die Monarchien werden durch ihr vergoldetes Joch gehen müſſen? Iſi 
es nicht zum Teil ſchon heute an dem? 

Man fälſcht nicht ungeſtraft die grundlegenden Werte, man opfert 
nicht ungeſtraft falſchen Göttern. „In beängſtigender Weiſe“, ſo mahnte 
Otto Corbach im „Blaubuch“, „wird heute von berufenen und unberufenen 
Hütern des öffentlichen Wohles der Anterſchied zwiſchen polt 
tiſchen und wirtſchaftlichen Werten verwiſcht. Das Streben 
nach ſicherem, behaglichem, auskömmlichem Daſein überwuchert alles 
Streben nach Selbſtändigkeit. Dieſer Zug der Zeit ſchwellt die 
Segel der politiſchen Machthaber. Die Patrizier im alten Rom kauften 
ſich das Volk mit ‚Brot und Spielen“ und hielten fo die Zügel der Macht 
in der Hand. Die modernen Herrenkaſten verfügen über ähnliche, aber 
weniger plumpe Mittel. Beamtenſtellen, Orden und Ehrenzeichen gehören 
dazu. Politiſche Vorrechte bewirken eine unnatürliche Konzentration der 
Produktionsmittel, eine allgemeine Korruption der politiſchen Inſtinkte be 
wirkt es aber, daß das Volk über ungleiche Verteilung der Verbrauchs⸗ 
güter ſchreit, wo es ſich um ungleiche Verfügungsgewalt über 
Produktionsmittel handelt. Der Marxismus hat die deutſche Arbeiter» 
bewegung verdorben, weil die Gleichung Eigentum = Genuß ökonomiſcher 
Anſinn iſt. Marxismus iſt ein Kampf gegen Windmühlen. Beſitz gibt 
Macht, Güter zu vernichten, aber der Magen eines Millionärs iſt doch 


DTürmers Tagebuch 541 


nicht größer als der eines Arbeiters. Die Fähigkeit, Güter zu vernichten, 
iſt gering. Beſitz, der unter ſtaatlichem Schutze übertragbar iſt, bietet aber 
auch die Möglichkeit, Einfluß auf den Prozeß der Güterproduktion zu er- 
langen, d. h. Verfügungsgewalt über Produktionsmittel. Jede Konzen- 
tration dieſer Verfügungsgewalt, wie fie unter dem Einfluß politiſcher Macht- 
faktoren vor ſich gehen muß, verringert die Bewegungsfreiheit der großen 
Maſſe des Volkes. Wer nun die Aufmerkſamkeit eines Arbeiters einſeitig 
auf ſein Intereſſe an größerem Konſumanteil richtet, vernachläſſigt ſein 
Freiheitsbedürfnis. Das Verlangen, zu genießen, wird auf Koſten des 
Verlangens zu ſchaffen geſtärkt. Die herrſchenden Kreiſe haben nur das 
größte Intereſſe daran, die Volksführer in dieſem Beſtreben zu beſtärken. 
Denn es iſt leichter, über Sklavenſeelen, die zufrieden ſind, wenn ihren 
materiellen Bedürfniſſen Genüge geleiſtet wird, zu gebieten, als über freie 
Menſchen 

Die Umwertung politiſcher in wirtſchaftliche Werte, fo etwa ſchließt 
Corbach feine nur zu zeitgemäße Betrachtung, — dieſe Umwertung, die 
unſer materialiſtiſches Zeitalter auf dem Gewiſſen hat, macht es erklärlich, 
warum im deutſchen Volke der Wille zur Freiheit ſo ſehr 
geſchwächt iſt, warum es das Elend geiſtiger Knechtſchaft kaum 
noch fühlt. Komfort und Faſhion, womit der deutſche Geiſt von Eng— 
land aus angeſteckt iſt, ſind die Götzen, unter deren betäubender, entman⸗ 
nender Herrſchaft auch das Streben nach geiſtiger Freiheit und Selbſtändig⸗ 
keit immer mehr erſchlafft. 


* 
* 


Gott ſei Dank ſtoßen wir hie und da doch noch auf Männer (und 
erſt recht Frauen!), die nicht nur den Mut der eigenen Meinung haben, 
ſondern dieſe Meinung auch friſch und fröhlich durchzuſetzen wiſſen — 
zum kreideweißen Entſetzen aller ſchlotternden Angſtmeier und Leiſetreter. 
Herzerquickend war da das „Verfahren“ des Geheimen Regierungsrats 
Sch.⸗V., der, wie „Dr. Froſch“ in der „W. a. M.“ ſich ausdrückt, „den 
Mut hatte, an feinen perſönlichen Wert zu glauben und die Unterwerfung 
unter das Urteil anderer, vom Klaſſen-⸗, Ehren⸗ und Duellpips Beſeſſener 
abzulehnen. Der alte Herr (er iſt fünfundfechzig!) geriet als Gutsvorſtand, 
alſo in amtlicher Eigenſchaft, unverſchuldet in einen Konflikt mit dem Haupt; 
mann K., in deſſen Verlauf der Offizier ihn erſt mit dem Ehrenrat und der 
Militärbehörde zu behelligen ſuchte und, da er damit kein Glück hatte, ihn 
endlich auf Piſtolen fordern ließ. Darauf ſchrieb der Geheimrat dem Über- 
ſender der Herausforderung, gleichfalls einem Hauptmann, einen Brief, 
den man wohl mit einigem Recht als ſaftig bezeichnen kann. Da das 
Schreiben einige perſönliche Beleidigungen enthielt, wurde der Geheimrat 
zunächſt zu vierhundert, in zweiter Verhandlung jedoch nur zu hundert Mark 
Geldſtrafe verdonnert. Das wird ihn nicht ſehr ſchmerzen; denn dadurch 
kam der Brief, den der Empfänger ſonſt wohl ſchwerlich hinter den Spiegel 
geſteckt hätte, in die Öffentlichkeit. Er enthält — die als beleidigend er- 


542 Zürmerd Tagebuch, 


achteten Stellen übergehen wir gänzlich! — wahrhaft goldene Worte. 
Herr Sch. ließ dem Beleidigten mitteilen, er hätte ſollen früher kommen, 
als er noch Primaner oder Student war, dann hätte er vielleicht die 
„Jugendeſelei“ gemacht; ſodann fährt er fort: „Wenn ich mich hätte ſollen 
mit jedem duellieren, der ſich in meiner vierzigjährigen Dienſtzeit durch eine 
amtliche Handlung von mir gekränkt fühlte, dann hätte ich in meinem Leben 
ſchon viel Löcher in die Luft ſchießen müſſen. Die Inſtitution des Ehren⸗ 
rats iſt der Gipfel des Lächerlichen. Der Ehrenrat umgibt nur für Narren 
eine Forderung mit einem Nimbus. Ich als alter Mann habe nur ein 
mitleidiges Lachen für derartige Jugendpoſſen und alle, die daran teil⸗ 
nehmen. 

Während der Handel des Geheimrats ſchwebte, wurde an ihn von 
der Militärbehörde die Anfrage gerichtet, ob er in irgendeinem militäriſchen 
Verhältnis ſtehe. Zu ſeinem Heile konnte er die Frage verneinen; ſein 
Koſtüm geriet alſo in keine Gefahr.“ 

And wenn ſchon! 

„Dr. Froſch“ knüpft nun an den Fall einige Betrachtungen, die ja 
nicht nach jedermanns Geſchmack fein mögen, dafür aber auch — nicht „von 
Pappe“ find. „Billigerweiſe“, fo meint er treu und bieder, „ift jedem 
Menſchen das weitgehendſte Verfügungsrecht über ſein Leben einzuräumen. 
Ebenſowenig wie man ihm verbieten kann, ſich ſelbſt umzubringen, ſollte 
man es ihm verwehren, ſich von einem anderen maſſakrieren zu laſſen. Jeder 
muß wiſſen, was er wert iſt. Iſt ein Menſch ſo völlig leer und dumm, 
ſo völlig von der Schätzung anderer abhängig, daß er entwertet zu ſein 
glaubt, wenn ein Rüpel ihn ſchief anguckt: ſo ſoll es ihm unbenommen 
bleiben, ſich niederknallen zu laſſen, falls der Partner ihm dieſen Gefallen 
erweiſen will. Wir haben ja doch nicht das geringſte Intereſſe daran, be⸗ 
rufsmäßige Schafsköpfe mit aller Gewalt dem Leben zu erhalten. Alſo, 
liebe Duellfreunde, ſolange ihr unter euch bleibt und nicht ernſthafte und 
wertvolle Menſchen mit euren Zumutungen behelligt: füttert euch mit blauen 
Bohnen, hackt euch zu Kochſtücken oder ſchlagt euch die hohlen Köpfe ein. 
Wir werden euch keine Träne nachweinen: denn wir glauben von Herzen, 
daß euer Daſein weder für euch, noch für uns, noch für die Geſamtheit 
von irgendwelcher Bedeutung ift... 

Ich werde mich nun und nimmer dazu überreden laſſen, daß es ver- 
nünftig fei, wenn ein zweibeiniges Nichts und ein Könner, ein Schafskopf 
und ein Genie, ein Faultier und ein ſtrammer Arbeiter, ein Anreifer und 
ein innerlich Erwachſener (wer iſt das mit zwanzig Jahren!), ein Nachbeter 
fremder und ein Produzent eigener Gedanken miteinander ums Leben würfeln, 
weil ſie ſich im Gedränge auf die Zehen getreten haben. Das heißt ein 
Königreich ſetzen gegen einen verſchimmelten Pfennig. Ich werde es nie 
für ſinnvoll halten, daß ſich ein Mann, von dem Wohl und Wehe anderer 
abhängt, ein Familienvater, ein Unternehmer beſonderer Art, ein Unent 
behrlicher, einem Burſchen vor den Piſtolenlauf ſtellt, der keine Verant⸗ 


Türmers Tagebuch 543 


wortung trägt oder gar ein Schmarotzer iſt, bloß weil dieſer ſich durch ein 
treffendes Wort verletzt fühlt. Ich halte es für anſtändig und richtig, ſich 
zu entſchuldigen, wenn man verſehentlich oder wiſſentlich einem andern Un- 
recht zugefügt hat; gute Manieren ſind im Intereſſe aller wünſchenswert; 
aber weder die Tatſache, daß man einen andern, noch die, daß ein anderer 
einen ſelbſt beleidigt hat, iſt ausreichend, zur Drangabe des Lebens zu ver- 
anlaſſen, wenn dieſes Leben einen beſtimmten, ſchwer zu erſetzenden Wert 
hat. Perſönliche Zuſammenſtöße ſind im Leben nicht immer zu vermeiden; 
aber ſie ſind nie das Weſentliche im Daſein eines tätigen 
Mannes. Der hat ſeine Arbeit, hat Intereſſen, die ihn ausfüllen, hat 
innere Nöte genug, mit denen es fertig zu werden gilt, und hat oft genug 
auch Pflichten gegen Dritte, denen er ſich nicht entziehen mag und darf. 
Damit hat er zu tun, ausreichend; und er huſtet auf den Unberufenen, der 
ſich mit ſeiner Schablonenauffaſſung von ritterlicher Ehre in ſeinen Kreis 
drängt und ihm zu Leibe will... 

Es wäre .. erträglich, wenn das Duell unter Leuten, die ſich frei- 
willig dazu hergeben, ſtraflos bliebe: Der Verſuch aber, den andern zum 
Zweikampf zu zwingen, indem man ihm offen oder verborgen droht, iſt 
eine moraliſche Erpreſſung, die die ſchwerſte Strafe heraus— 
fordert. Wenn jemand zu einem andern ſagt: „Falls du dich nicht 
ſchlägſt, haſt du von mir dieſe oder jene Schädigung zu erwarten“, dann 
unterſcheidet fic feine Methode in nichts von der Methode der zweifel. 
haften Elemente, die mit Mord, Brandſtiftung oder Denunziation drohen, 
falls man nicht auf dem Poſtamt X eine beſtimmte Summe für ſie hinter⸗ 
legt. Die Drohung mit geſellſchaftlichem Boykott, d. h. Deklaſſierung, iſt 
kein geringeres Abel als die Drohung, jemanden vor den Strafrichter zu 
bringen oder an Leib und Gut zu ſchädigen; und von jemand verlangen, 
daß er ſein Leben in die Schanze wirft, damit eine angeblich lädierte Ehre 
wieder zurechtgeſchuſtert werde, iſt eine ebenſo horrende Anforderung, wie 
wenn man ihm Geld für nichts und wieder nichts abzuknöpfen unternimmt. 
Da iſt keine Spur von Ritterlichkeit mehr, ſondern da iſt Niedertracht 
und Tücke. 

Der größte Witz indes, der in dem Duellproblem ſteckt, iſt der, daß 
eben die Leute, die ſo grimmig und um jeden Preis nach blutiger Genug⸗ 
tuung lechzen, ſelbſt nicht geſonnen ſind, ſelbſt um jeden Preis Genug⸗ 
tuung zu geben. Der Offizierſtand iſt ehrenwert. Aber der Stand der 
Dienftmänner ift das auch. Wie, wenn nun die Dienſtmänner das Prinzip 
der unbedingten Satisfaktion zu dem ihren machten? (Es iſt alles möglich; 
vor einer Reihe von Jahren gingen zwei Genoſſen dieſer Zunft in einer 
Heimen Univerfitatsftadt auf Säbel los.) Würde wohl ein Leutnant oder 
Student einem derart korrekten Dienſtmann mit der Waffe gegenübertreten? 
Er wird's nicht tun. And doch gähnt zwiſchen einem Bürſchchen von zwanzig 
Jahren, das nichts Beſonderes gelernt hat und vielleicht nie etwas Be⸗ 
ſonderes leiſten wird, und einem tüchtigen, gebildeten Mann, der ein Leben 


514 Türmers Tagebuch 


voll Arbeit und Wirken hinter ſich hat, ein weiterer und tieferer Abgrund 
als zwiſchen dem ſelben Bürſchchen und einem Dienſtmann. Wenn aber 
nicht die Geſinnung ausſchlaggebend iſt, ſondern der Stand, um jemanden 
zu einem würdigen Duellgegner zu machen, dann frage ich, ob der Stand 
und die Uniform wohl jemandem angewachſen iſt. Es iſt wohl möglich, 
daß ein Jüngling, der ſich heut im bunten Gefieder ſpreizt und einem Rauf: 
mann gegenüber als Halbgott auftritt, ein halbes Jahr ſpäter dem ſelben 
Kaufmann eine Offerte in ſaurem Wein macht oder ihm, falls er mal nach 
New Vork fährt, daſelbſt die Stiefel wichſt. Es kann fein, daß er als dann 
ein weit nützlicheres Mitglied der menſchlichen Geſellſchaft iſt als vorher: 
aber vielleicht betrachten ihn die ehemaligen Standesgenoſſen nicht mehr als 
ſatisfaktions fähig. 

Halte ſich jeder zu ſeinesgleichen. Wenn Menſchen freiwillig einen 
Selbſtmörderklub gründen oder ſich verſchwören, forthin Stiefelwichſe für 
Kaviar anzuſehen, wenn ſie darauf beſtehen, die Dummheit zur Pflicht zu 
machen oder einen uniformierten Götzen anzubeten: mögen ſie's tun, wir 
gründen, freſſen, verdummen und beten nicht mit. Wenn ein Verein, dem 
keiner beizutreten braucht, ſich darauf kapriziert, ſeinen Angehörigen die 
Lehre einzutrichtern, daß vor einem ſelbſt unbedachten Wort Arbeit und 
Genuß, Kultur, Kunſt, Intereſſen, Familie, kurz, jedes Leben und jeder 
Lebensinhalt als nichts zu achten ſind, dann mag er es tun, wenn er ſich 
ſtreng innerhalb feines Rahmens hält. Aber ein Stand, der für not 
wendig gehalten wird und nur dadurch exiſtiert, daß das Volk ihn bezahlt 
und ihm ſeine Söhne zuführt, darf ſich nicht den Luxus erlauben, törichte 
und verderbliche Prinzipien wie den Duellzwang zu den ſeinigen zu machen. 
Es gibt unter den Offizieren, wie unter jedem Stande, genug Anintelli⸗ 
gente und Anfähige; mögen die ſich gegenſeitig umbringen, wenn ihnen das 
‚feudal’ vorkommt — aber privatim. Wenn der Stand als ſolcher indes 
ſich anmaßt, alle feine Mitglieder, auch die geſcheiten und die leiſtungs 
fähigen, einem geſetz⸗ und vernunftwidrigen Zwange zu unterwerfen, und 
wenn er ſich vollends erlaubt, auch nach Außenſtehenden zu tappen, ſie zu 
beläſtigen und, falls ſie widerſtreben, zu ſchädigen: ſo ſollte man ernſthaft 
daran denken, ihn zu reformieren. Solange das nicht erreicht wird, möge 
ſich jeder nach Kräften feiner Haut wehren, wie der Geheimrat Sch. 
zur Freude feiner Mitbürger getan hat. Dann wird den Herren, die duper: 
lich und innerlich uniformiert ſind, einigermaßen zu Bewußtſein gebracht 
werden, daß der Wert des Mannes ſeine Arbeit iſt, nicht ſein Stand und 
nicht ſein Frack, und daß der Duellmut der Heroismus der Dummheit und 
Flachheit iſt.“ 

Warum geht's denn in England ohne diefen „Herois mus“? „Das 
alte „Gottesurteil durch den Kampf‘, eine Art gerichtlicher Entſcheidung“, 
ſchreibt der engliſche Generalmajor Sir Alfred Turner in der „Deutſchen 
Revue“, „beruhte auf der Auffaſſung, daß der Allmächtige der gerechten 
Sache Sieg verleihen würde, und war in England bis in die Regierung 


Turmers Tagebuch 545 


zeit der Königin Eliſabeth Brauch. Dieſer Kampf auf Befehl einer Ge— 
richtsbehörde beſtand in vielen andern Ländern bis in eine viel ſpätere Zeit 
in derſelben Weiſe, wie das moderne Duell, unter dem Einfluß von Haß, 
Race, Eiferſucht und wirklicher oder eingebildeter Ehrverletzung, noch immer 
in den meiſten Ländern ſich erhalten hat, mit Ausnahme der Länder eng- 
liſcher Zunge, in denen der Gedanke an ein Duell jetzt verſpottet und ver- 
lacht wird. Letzteres iſt den ſtrengen Maßregeln zu verdanken, mit denen 
Wilhelm III. und einige ſpätere Regierungen gegen das Duellieren vor- 
gegangen find. Das Ungeheuer ſtarb jedoch nur ſchwer, und das letzte 
Duell wurde in England im Jahre 1845, in Irland 1851 ausgefochten. 
Im Jahre 1844 ſetzte das engliſche Kriegs miniſterium ſolchen Kämpfen in 
der Armee, in der, wie man kaum hervorzuheben braucht, das Duellieren 
ſtets die zahlreichſten Anhänger gefunden hat, durch Vorſchriften ein Ende, 
nach denen alle Offiziere, die an Duellen teilgenommen haben, vor das 
Ktiegsgericht geſtellt und entlaſſen werden müſſen. 

In Frankreich wird das Fechten von den meiſten Perſönlichkeiten des 
öffentlichen Lebens und Journaliſten als ein weſentlicher Teil der Erziehung 
und zum Schutze betrieben. Duelle finden ziemlich häufig ſtatt, in den 
meiſten Fällen mit recht harmloſem Ausgang. 

In Belgien kommen Duelle kaum jemals vor, obwohl die geſellſchaft⸗ 
lichen Anſchauungen noch immer den Brauch in Geltung erhalten. Fran- 
zoſen und Angehörige andrer Nationen kommen gelegentlich über die Grenze, 
um dort einen Zweikampf auszufechten. 

Früher waren in den Vereinigten Staaten von Nordamerika Duelle 
häufig und wurden mit äußerſter Wildheit ausgefochten, die Kämpfenden 
gebrauchten ſogar Bowiemeſſer; jetzt iſt das Duellieren unbekannt, aus- 
genommen in ſeltenen Fällen in einem der äußerſten Hinterwäldlerſtaaten. 

Nach den Geſetzen der Vereinigten Staaten ſind der Aberlebende 
und ſeine Kampfzeugen in einem Duell des Mordes ſchuldig. 

In Deutſchland wird das Duell mit einigen Einſchränkungen noch ge- 
duldet, obwohl es mit Feſtungshaft beftraft wird... 

England hat ſicherlich aus der Abſchaffung des Duells Vorteil ge⸗ 
zogen, und man kann daraus die Folgerung ziehen, daß ein Geſetz mit ähn⸗ 
licher vorteilhafter Wirkung auch anderswo aufgeſtellt werden könnte. Es 
iſt oft geltend gemacht worden, daß dadurch, daß beide Duellanten bewaffnet 
ſind, des ſtarken Mannes phyſiſche Stärke auf das Niveau der Schwäche 
des ſchwachen Mannes herabgedrückt wird, aber anderſeits war die ſchänd⸗ 
liche Rotte der Schläger oder Raufbolde, nicht mehr und nicht weniger 
als Mörder, die von ihrem Degen lebten, ein Fluch und eine Peſt für 
die Geſellſchaft; ſie zählten ihre Duelle und die von ihnen erſchlagenen 
Opfer wie der nordamerikaniſche Indianer ſeine Skalpe und die wilden 
Kopfjäger auf Borneo ihre Köpfe. 

Niemand kann es ernſtlich bedauern, daß dieſe Zeiten vorüber ſind; 
ſolche Rohlinge würden heute in keinem Land mehr geduldet werden. Das 


546 | Türmers Tagebuch 


moderne Duellieren iſt ein verhältnismäßig milder Btauch; es iſt in der 
Tat nur ſelten von verhängnisvollen Folgen begleitet und iſt offenbar im 
Abnehmen begriffen; je eher es verſchwindet, deſto beſſer iſt es nach eng⸗ 
liſcher Anſchauung .. 

Zwiſchen den Jahren 1545 und 1563 ſcheint die Kirche ſich einiger⸗ 
maßen bemüht zu haben, dem Duell Einhalt zu tun, und das Konzil von 
Trient erließ ein Dekret, durch das es abgeſchafft wurde, dem aber weit 
mehr durch ſeine Außerachtlaſſung als durch ſeine Beobachtung Ehre zu⸗ 
teil ward. Das mag Staunen erregen angeſichts der großen Macht der 
Kirche und der peinlichen Gewiſſenhaftigkeit, mit der ihre Autorität in jenen 
Zeiten reſpektiert wurde. Die Welt kann nicht plötzlich durch die Kirche 
oder die Regierungen umgeſtaltet werden, die Ziviliſation und die beſſeren 
Eigenſchaften des Menſchen können nur in langſamem Fortſchreiten ent: 
wickelt werden; die frühere Roheit des Zweikampfs, durch die der Beſiegte 
das Eigentum des Siegers wurde, der den andern töten, zum Sklaven 
machen oder in Freiheit ſetzen konnte wie er wollte, iſt längſt verſchwunden, 
und die Spuren, die heute noch vom Duell übrig ſind, ſind ſo gering, daß 
wir annehmen dürfen, der Brauch werde in einer weiteren Generation ſo 
gründlich abgeſchafft fein wie die Geuerfteingewebre. Zweifellos wird es 
allerdings ſeine Leidtragenden haben; gibt es doch immer Leute, die be⸗ 
teuern, daß ſie ſich nach den guten alten Zeiten ſehnen!“ 

* * 


* 

Herbert Spencer ſagt: „Die Menſchen find nicht auf diejenigen Fähig · 
keiten und Gefühle ſtolz, die ſie als menſchliche Weſen auszeichnen, ſondern 
auf jene, die ſie gemein haben mit niedrigerſtehenden Weſen —: ſie ſind 
ſtolz darauf, dem Charakter der Bulldogge ſo nahe wie möglich zu kommen.“ 

Das Wort läßt ſich ſo gut auf unſere Duellfexe wie auf die Art 
unſerer politiſchen Raufereien anwenden. Tuhren nicht erſt kürzlich bei der 
preußiſchen Landtagswahl die Parteien wie die Bulldoggen aufeinander? 
Wenn es noch eines Zeugniſſes für die tiefe Anſittlichkeit der öͤffent⸗ 
lichen Wahl bedurft hätte, ſo reden die Erfahrungen der letzten Wochen 
mit all ihrer Volksvergiftung und Volksverwüſtung eine Sprache, die den 
Aushältern des erbärmlichen Syſtems noch recht lange in die Ohren Hin 
gen wird. 

Die Palme bei dieſem edlen Wettbewerb gebührt dem führenden 
Organ des Blockfreiſinns, Eugen Richters fel. Erben: der „Freiſinnigen 
Zeitung“. Sie hat aus den „anderen Grundſätzen“, zu denen ſich der 
Fraktionsfreiſinn ſeit ſeiner Ankettung an den Block emporgeläutert hat, 
den Mut geſchöpft, die im zwölften Berliner Wahlkreiſe zahlreich ver 
tretenen kleinen Beamten bei den vorgeſetzten Behörden zu 
denunzieren! Die Folge davon war denn auch, wie dem „Bor 
warts” gemeldet wurde, daß die Beamten namentlich in jenem Wahl 
kreiſe vielfach gezwungen wurden, geſchloſſen zur Abſtimmung 
anzutreten. 


Türmers Tagebuch 547 


„Dieſer unerhörte Terrorismus, dieſe ſkandalöſe Denunziationswut 
des Blockfreiſinns hat auch in Kreiſen aller noch wirklich Liberalen hellſte 
Entrüſtung hervorgerufen! 

In einer Verſammlung der Demokratiſchen Vereinigung“, die... über 
den Ausfall der Wahlen verhandelte, kamen die Redner des Abends, ins- 
beſondere die Herren Breitſcheid, Barth, v. Gerlach auf die ſchuftige De: 
nungiation der Berliner Beamten durch die Freiſinnige Zeitung‘ zu ſprechen, 
die ſie in den ſchärften Ausdrücken geißelten. Mit Recht legten ſie dar, 
daß es der ‚Freifinnigen Zeitung“ wohl weniger um einen Nacheakt zu tun 
ſei, als um einen Druck für die noch bevorſtehende Stichwahl. Es ſolle 
erreicht werden, daß die Vorgeſetzten der von der ,Greifinnigen Zei⸗ 
tung“ genannten Beamtenkategorien ſich ihre Untergebenen vor: 
nähmen und daß dieſe dann aus Angſt an der Stichwahl gegen die 
Sozialdemokratie, d. h. zugunſten des Freiſinns teilnähmen. Alſo Terro⸗ 
rismus der gemeinſten Art! 

Dieſe Ausführungen veranlaßten ein Mitglied der Freiſinnigen Volks⸗ 
partei, Herrn Zahnarzt Dr. Caro aus Charlottenburg, das Wort zu er- 
greifen. Er meinte, es ſei doch zweifelhaft, ob die maßgebenden Inſtanzen 
ſeiner Partei, ob ſpeziell die Parteileitung ſelbſt von der Notiz vorher 
etwas gewußt habe. Möglicherweiſe läge nur eine Entgleiſung eines unter- 
geordneten Berichterſtatters oder Redakteurs vor. Natürlich wurde ihm 
ſofort klargemacht, daß eine Notiz von derartiger Tragweite niemals ohne 
Wiſſen des leitenden Nedakteurs in ein Blatt hineinkommen könne. In 
dieſem Falle fei der leitende Redakteur Herr Müller⸗Sagan, der ſeiner⸗ 
ſeits in engſter Verbindung mit der Parteileitung ſtehe. Außerdem, wenn 
wirklich ein untergeordneter Angeſtellter ſich ohne Wiſſen der Leitung einen 
ſolchen Schurkenſtreich herausgenommen hätte, ſo hätte man ihn bereits 
Knall und Fall entlaſſen und eine bedauernde Erklärung veröffent⸗ 
lichen müſſen. Darauf erklärte dann Herr Dr. Caro: wenn wirklich die 
Denunziation mit Wiſſen und Willen der Parteileitung erfolgt ſei, dann 
würde allerdings auch er feine Stellung zur freiſinnigen Volkspartei re- 
vidieren müſſen. Vorher aber wolle er doch mal erſt bei Herrn Dr. Müller- 
Sagan anfragen. 

Es wird für die Offentlichkeit hochintereſſant ſein, zu erfahren, wie 
Herr Müller⸗Sagan ſich diesmal herausreden wird. Einen Vorgeſchmack 
davon gibt allerdings ſchon die ,Greif. Ztg.“ in ihrer geſtrigen Nummer, 
worin ſie ſich damit auszureden ſucht, daß bei öffentlicher Wahl jeder er⸗ 
fahren könne, wie abgeſtimmt wird. Außerdem fei es ihr ‚felbftverftändlich 
gar nicht einmal eingefallen“, die vorgeſetzte Behörde aufmerkſam zu machen 
und zum Einſchreiten zu animieren. Die Feſtſtellung, daß von den Poſt⸗ 
beamten nur ſehr wenige zur Wahl gegangen find, ſei ihr gutes Recht, 
das ſie ſich nicht ſtreitig machen laſſe! Alſo mit anderen Worten: 
weit entfernt, die Denunziation zu bedauern, wiederholte ſie ſie noch 
einmal!” 


548 Sirmers Tagebuch 


Man kann es danach verſtehen, wenn der „Volksztg.“ die Galle 
überläuft: 

„Gegenüber der Feſtnagelung der ſchmutzigen Denunziation, die ſich 
das Organ der Blockfreiſinnsvorſehung gegenüber den Beamten der ver⸗ 
ſchiedenſten Reſſorts hat zuſchulden kommen laſſen, ... ſucht ſich das in 
die Enge getriebene Organ des Zimmerſtraßenfreiſinns mit allerlei albernen 
Redensarten herauszureden. Schließlich, da es mit feinem Jägerlatein natür⸗ 
lich ſofort zu Ende iſt, ſchreibt das Blatt wörtlich: „Wenn wir daneben feft: 
geſtellt haben, daß von den Poſtbeamten nur ſehr wenige zur Wahl gegangen 
find, fo iſt das unſer gutes Recht, das wir uns nicht ſtreitig machen laſſen. 

Das Recht, die Beamten, die nicht zur Wahl gegangen find und 
die demgemäß die Sozialdemokratie nicht haben niederſtimmen helfen, das 
Recht, dieſe Beamten öffentlich in corpore zu denunzieren, 
wird hier alſo ausdrücklich als das gute Recht des Block— 
freiſinns in Anſpruch genommen! Das Recht auf Denum 
ziation! In der Tat, der Blockfreiſinn hat es herrlich weit gebracht! 
Am 4. Juni, am Tage nach den Berliner Niederlagen des Blockfreiſinns, 
ſchrieben wir von den Matadoren dieſes Scheinliberalismus: „Sie haben 
in den letzten Monaten die vergifteten Pfeile für ihre Schießübungen nach 
links lediglich aus den Köchern ihrer konſervativen Blockfreunde genommen; 
ſie werden vermutlich auch jetzt mit dieſen unſauberen Waffen kämpfen. 

Anſere Vorherſage iſt pünktlich und in weit ſchlimmerer Form ein- 
getroffen, als wir gefürchtet haben: Das Recht auf Denunziation, 
das bisher den Beamten gegenüber nur von reaktionärſter Seite ausgeübt 
wurde, iff nun auch in das Aktionsprogramm des Blockfreiſinns 
aufgenommen worden! Pfui Teufel!“ 

Zwei Dokumente aus dem „Vorwärts“. Das eine iſt das Schreiben 
eines hannoverſchen Fabrikbeſitzers an feine Angeſtellten und enthält u. a. 

Bei der Vertrauensſtellung, die Sie in meiner Fabrik einnehmen, 
nehme ich als ſelbſtverſtändlich an, daß Sie nicht etwa einer Partei 
zum Siege verhelfen wollen, die in ſo vielen Fällen ihre feindliche Geſinnung 
gegen uns betätigt hat. Dr. N. de Haén. 

Seelze, den 1. Juni 1908. (Eigenhändig unterfchrieben.) 

Das zweite Schreiben ſtammt aus der Provinz Brandenburg und 
hat folgenden Wortlaut: 

Forſt (Laufig), Datum des Poſtſtempels. 
Sehr geehrter Herr! 

Sie dürften ja ſelbſt zur Genüge wiſſen, in welcher unerhörten Art 
und Weiſe die Sozialdemokratie kämpft. Boykotterklärungen, Maßregelung 
bürgerlich geſinnter Arbeiter und Handwerker ſind an der Tagesordnung. 

Druck erzeugt Gegendruck! 

Wir erlauben uns heute, Ihnen einliegend zu überſenden: 

1. eine rote Liſte, enthaltend die Namen der Handwerker und Ge 
werbetreibenden, die rot gewählt haben; 


Tarmers Tagebuch 549 


2. eine rote Liſte, enthaltend die Namen derjenigen Werkführer und 
Meifter, die rot gewählt baben; 

3. eine weiße Lifte, enthaltend die Namen derjenigen Handwerker und 
Gewerbetreibenden, die bürgerlich gewählt haben; 

4. zwei blaue Liften, enthaltend die Namen der Arbeiter, die bürger- 
lich gewählt haben. 

Wir richten an Sie die Bitte, ſämtliche Liſten gut aufzubewahren, 
und empfehlen ganz beſonders die nationalen, treu geſinnten Arbeiter dringend 
Ihrer Fürforge. 

Treue um Treue! 

Gleichzeitig bitten wir Sie, unbedingt darauf zu achten, daß 
Ihre Beamten, Meiſter uſw. am 3. Juni ganz beſtimmt zur 
Wahl gehen. Hochachtungsvoll 

Der Wahlausſchuß der vereinigten bürgerlichen Parteien. 

Erlaß der Eiſenbahndirektion Elberfeld: 

„Sofort an ſämtliche Vorſtände der Inſpektionen der 
Bauabteilungen und an ſämtliche Dienſtſtellenvorſteher. Die 
nachgeordneten Beamten und Arbeiter ſind darauf hinzuweiſen, 
daß es ihre Pflicht iſt, das ihnen zuſtehende Wahlrecht für die 
morgige Landtagswahl auch tatſächlich auszuführen. Der Verbreitung 
von Flugblättern auf Bahngebiet, die zur Wahlenthaltung auffordern, iſt 
entgegenzutreten. Der Präſident. J. V.: St.“ 

Daß auch Anhänger des Syſtems ſich angelegen ſein laſſen, ſeine 
monſtröſen Ausgeburten öffentlich zur Schau zu ſtellen, wirkt recht erheiternd. 
So lieſt man in der „Nheiniſch⸗Weſtfäliſchen Zeitung“: „Ein Händler der 
Kolonialwarenbranche, der ſich um alles bekümmert, aber nicht um Politik, 
wurde von ſozialdemokratiſchen Getreuen an ſeine Pflicht gemahnt und 
ſchließlich ins Wahllokal geſchleppt. Da er glaubte, die Wahl ſei geheim, 
ſo wollte er den ihm in die Hand gedrückten Zettel ohne weiteres abgeben. Als 
aber der Wahlvorſteher ihn darauf hinwies, daß der Name des betreffenden 
Wahlmannes offen genannt werden müſſe, war der brave Wähler, der auch 
über ziemlich viel bürgerliche Kundſchaft verfügt, nicht mehr zu bewegen, 
ſeine Stimme abzugeben und verließ ſchleunigſt das Lokal. ...“ 

„Der Händler, der aus Angſt vor ſeinen bürgerlichen Kunden 
nicht wählte, hat in ſeiner Art recht wirkſam gegen die Offentlichkeit der 
Wahl demonſtriert,“ bemerkt der „Vorwärts“. „Das genannte Blatt 
ſchwärmt aber für die öffentliche Wahl, um eine freie Meinungs- 
bekundung zu verhindern, und zieht deshalb auch nicht die einzig richtige 
Konſequenz aus der von ihm erzählten Geſchichte. Das Blatt hat ſich in 
ſeinem Eifer, gegen die Sozialdemokratie zu hetzen, ein Kuckucksei ins Neſt 
legen laſſen. Hoffentlich ſtimmt es aber nun doch mit uns ein in den Nuf: 
Fort mit dem Wahlrecht des Terrors!“ 

And doch hat auch die Sozialdemokratie bei der Landtagswahl reich- 
lichen Gebrauch von dieſem Mittel gemacht. Es gibt aber, betont mit 


990 Zürmers Tagebuch 


Recht die „Frankf. Ztg.“, für diefes Syſtem eines parteipolitifchen Wabl- 
terrorismus keinerlei Entſchuldigung. Zwar ſei geſagt worden, es richte ſich 
gerade gegen die Anhänger der öffentlichen Abſtimmung; es ſei aber in 
Wahrheit ſpeziell gegen diejenigen angewandt worden, welche von jeher die 
geheime Abſtimmung verlangt hatten. „Ganz offen ſind diejenigen mit 
wirtſchaftlicher Schädigung bedroht worden, welche nicht ſozialdemokratiſch 
abſtimmen würden, ſogar mit Namen wurden Gewerbetreibende in ſozial⸗ 
demokratiſchen Blättern verwarnt, und ſchließlich hat man ſelbſt auf Wahl: 
männer durch dies verwerfliche Mittel in aller Offentlichkeit mit recht er- 
kennbaren Drohungen einzuwirken geſucht. So iſt um eines Machtgelüſtes 
willen das allerwichtigſte politiſche Prinzip der Freiheit des Wählers ver⸗ 
laſſen worden. And dieſelben Leute werfen dann anderen 
Prinzipienverrat vor! Wir kennen in der Politik kaum etwas 
Verwerflicheres als die Anterdrückung der freien Über 
zeugung, den Zwang zur Heuchelei, und wie wir das ſtets be⸗ 
kämpft haben, wenn es von oben herab, unter Mißbrauch amtlicher Gewalt, 
geſchah, fo müſſen wir ihm mit der gleichen Entſchiedenheit auch da ent: 
gegentreten, wo es von unten herauf geſchieht. Der Wahlterrorismus iſt 
nichts anderes als eine politiſche Erpreſſung, die „Nötigung eines 
anderen durch Gewalt oder Drohung zu einer Handlung, Duldung oder 
Unterlaffung,’ zwar nicht juriſtiſch faßbar, moraliſch aber nicht anders 
zu bewerten als die gewöhnliche Erpreſſung, und niemand, der 
auf politiſche Achtbarkeit hält, ſoll ihn anwenden — vor allem aber auch 
niemand, der ein Vertreter der Freiheit ſein will, denn es handelt ſich um 
eine Maßnahme gegen die politiſche Freiheit. Gleichzeitig aber iſt dies 
Mittel, von einer linksſtehenden Partei angewandt, eine unverzeihliche 
Dummheit; denn mag es auch für den Augenblick einige politiſche Vorteile 
bieten, am letzten Ende hat doch nur die Reaktion den Nutzen. Dieſe iſt 
in der brutalen Machtausnutzung immer noch um einige Pferdelängen 
voraus und bekommt nur einen neuen Anreiz, von ihrer Macht den rück⸗ 
ſichtsloſeſten Gebrauch zu machen, wenn ihr vom politiſchen Gegner ſo 
bequeme Argumente geliefert werden. 

Einſichtige Sozialdemokraten verſchließen ſich auch gar nicht den 
ſchweren Bedenken gegen die Kampfesweiſe ihrer Genoſſen, und gerade 
aus ſozialdemokratiſchen Kreiſen kommt ſo manche Bekundung der ſchärfſten 
Abwehr gegen dies Treiben, das man gerechterweiſe nicht der geſamten 
Sozialdemokratie zur Laſt legen darf. Wer Ausnahmegeſetze und Unter 
drückung verhindern will, darf nicht ſelbſt mit Mitteln ähnlicher Art ar 
beiten.“ Freilich darf „Fridolin“ im „Vorwärts“ mit einigem Recht fingen: 

Vom Staate haben wir gelernt 
Den Terror. 

Wie der auf Terror iſt erpicht, 

Das geht auf keine Kuhhaut nicht. 
O, Terror! 


Zürmers Tagebuch | 551 


Wählſt du bei zwei Mark Tagelohn 
And Terror 

Als fimpler Eiſenbahner rot, 

Dann kommſt du außer Lohn und Brot 
Durch Terror. 


Die Anternehmer überall 
Beim Terror! 
Da merkt man erſt als Sozialiſt, 
Wie ſehr man doch ein Stümper iſt 
Im Terror! 


„Sechzig Jahre“, ſchreibt das Sozialdemokratiſche Zentralorgan, „be: 
ſteht der preußifche Landtag. In dieſer langen Zeit hat er große Wand— 
lungen durchgemacht, aber nur zweimal hat das Proletariat an dieſem 
Gebilde des Verfaſſungsbruchs größeren Anteil genommen und beide Male 
in hiſtoriſcher Stunde. Als in den ſechziger Jahren der Konflikt zwiſchen 
der Regierung und der fortſchrittlichen Majorität ausgebrochen war, als 
es ſich um die Entſcheidung handelte, ob Preußen eine wirkliche Konſti⸗ 
tution erhalte, ein parlamentariſch regiertes Land werden ſollte, und als 
bei dieſer Entſcheidung die Fortſchrittspartei jämmerlich verſagte, da rief zur 
entſcheidenden Stunde Laſſalle das Proletariat Preußens zum Kampfe. 
Aber die Fortſchrittsmannen, die mitkämpfen follten, ließen die proletariſchen 
Kämpfer ſchmählich im Stich. Der preußiſche Landtag iſt kein modernes 
Parlament geworden, und der Abſolutismus der Bureaukratie ſiegte über 
die Zaghaftigkeit und Anentſchloſſenheit der Bourgeoiſie. Doch den Sieges 
preis trug das Proletariat davon, das in dieſem Kampfe ſich auf immer 
von dem Bürgertum trennte, ſeine politiſche Selbſtändigkeit gewann, den 
Klaſſeninſtinkt zum Klaſſenbewußtſein erhob und fic in der deutſchen Sozial⸗ 
demokratie die Partei gab, die, ſeitdem mit der deutſchen Arbeiterklaſſe 
völlig verſchmolzen, lange Zeit vorbildlich war für den Kampf der Arbeiter 
in aller Welt. Sind die Waffen des Geiſtes, die der Arbeiterklaſſe dienen, 
geſchmiedet worden in den großen Bibliotheken von Paris und London, 
wo Marx die bürgerliche Geſellſchaftswiſſenſchaft ſich aneignete, um ſie 
durch die Wiſſenſchaft des Sozialismus zu überwinden, ſo hat für das 
deutſche Proletariat die politiſche Praxis in jener Zeit begonnen, wo Laſſalle 
die Arbeiter zum Sturm gegen die verräteriſche Landtagsmajorität aufrief. 

Dann kam die Wendung. Der deutſche Reichstag wurde auf das 
allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht gegründet. In ihm ſich 
die ſtarke Vertretung ihrer Intereſſen zu erobern, war die Aufgabe des 
deutſchen Proletariats, die es immer glänzender gelöſt hat. Aber gerade 
die Benutzung der Waffe des gleichen Stimmrechts machte dem Bürgertum, 
das immer mehr in die Hände der junkerlichen Bureaukratie abgedankt 
hatte, den deutſchen Reichstag verdächtig. Langſam vollzog ſich eine Wand⸗ 
lung. Als der deutſche Reichstag gegründet war, da glaubte man, daß 
das Organ der deutſchen Einheit kräftig ſich entwickeln, daß die 


552 Dürmers Tagebuch 


hiſtoriſchen Trümmer aus den Zeiten der deutſchen Zerriſſenheit, die Bundes⸗ 
ſtaaten, ihre Parlamente und Fürſten langſam aber ſicher politiſch abdanken 
und zu Organen lokaler Verwaltung ſich umwandeln würden. Aber aus 
Angſt vor dem Proletariat hat das deutſche Bürgertum die deutſche Ein⸗ 
heit verraten, die Entwickelung der Verfaſſung zum Stillſtand gebracht und 
die junkerliche Bureaukratie hat den Parlamenten, vor allen Preußens und 
Sachſens, neues Leben eingehaucht. Immer mehr wurde dem Reichstage 
feine Wirkungsmöglichkeit genommen, immer größer wurde die paſſive Refi- 
ſtenz, die die preußiſche Bureaukratie, die den Bundesrat ebenſo wie die 
Reichsämter beherrſcht, dem Reichstage entgegenſetzte, und immer will: 
fähriger unterſtützte die Majorität des Reichstages ſelbſt die Preisgabe 
des Parlaments, das auf dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht ge- 
gründet war. Aber vollendet wurde die Abdankung erſt ganz unter der 
Herrſchaft der Blockmajorität, der die Konſervativen kommandieren, 
die immer Feinde des Reichstages geweſen ſind, weil ſie Feinde des gleichen 
Stimmrechts ſind, weil die Wurzeln ihrer Kraft nicht bei den breiten 
Maſſen, ſondern in den Herrſchaftsinſtitutionen über die Maſſen, 
in der Bureaukratie und im Militär liegen. Sie haben von jeher 
Preußen über Deutſchland geſtellt, den preußiſchen Landtag über 
den deutſchen Reichstag. And fo bedeutete die Blockmajorität des Reichs 
tags nichts anderes als die bedingungsloſe Anerkennung der Ober 
hoheit des preußiſchen Landtags. 

In klarer politiſcher Erkenntnis hat das preußiſche Proletariat die 
Konſequenzen dieſer Entwickelung gezogen. Wird der preußiſche Landtag 
zu eurem wichtigſten Herrſchaftsmittel, dann müſſen wir euch dieſes Herr 
ſchaftsmittel aus der Hand ſchlagen. Der Kampf gegen das Dreillafien- 
wahlrecht iſt der Kampf für die politiſche Integrität des gleichen Reichs 
tagswahlrechts. Wählt ihr einen andern Kampfboden, verſchanzt ihr euch 
nach 38 Jahren der deutſchen Einheit hinter eure partikulariſtiſchen Ruinen, 
nun wohl, wir folgen euch auch dorthin! 

So hat das preußiſche Proletariat zum zweitenmal in ſeiner Ge⸗ 
ſchichte den Kampf um den Landtag eröffnet. Doch die Zeiten haben ſich 
gewaltig geändert. Damals errang das preußiſche Proletariat im Kampf 
gegen den Landtag die eigene politiſche Selbſtändigkeit. Heute will es die 
politiſche Selbſtändigkeit des Landtages vernichten, um Deutſchland von der 
preußiſchen Herrſchaft zu befreien. ..“ 

Zum erſten Male, ſtellt das Blatt an anderem Orte mit Genugtuung 
feſt, haben ſich diesmal auch in einer Anzahl ländlicher Wahlbezirke die 
Landarbeiter in Oſtpreußen an der Landtagswahl, und zwar 
mit Erfolg beteiligt. Die Tatſache iſt bedeutſam genug. „Im Bezirk 
Rautenberg des Nagniter Kreiſes waren in allen drei Abteilungen ſozial 
demokratiſche Landarbeiter als Wahlmänner aufgeſtellt. Als einziger Wähler 
der erſten Abteilung dieſes Bezirkes erſchien unſer Parteigenoſſe Gutsbefiser 
Hofer und wählte zwei ſeiner als Wahlmänner aufgeſtellten Landarbeiter. 


Türmers Tagebuch 553 


. . . Von fünf in dieſem rein ländlichen Wahlbezirk zu wählenden Wahl- 
männern wurden drei ſozialdemokratiſche gewählt. Auch in einigen anderen 
rein ländlichen Wahlbezirken wurden ſozialdemokratiſche Wahlmänner ge— 
wählt. In einer Reihe Wahlbezirke erhielten die ſozialdemokratiſchen Wahl: 
männer dicht an die Mehrheit grenzende Stimmenzahlen. Dabei hatten die 
meiſten Landarbeiter oft ſehr weite Strecken bis zu ihrem Wahllokal zurüd- 
zulegen, fo daß viele Wähler, weil überall Terminswahl ſtattfand, erſt nach 
Schluß der Wahlhandlung eintrafen und nicht mehr wählen konnten. In 
unſeren ganz ländlichen Landtagswahlkreiſen war vom Zentralwahlkomitee 
die Parole ausgegeben, daß da, wo keine ſozialdemokratiſchen Wahlmänner 
aufgeſtellt werden konnten, Stimmenenthaltung zu üben ſei. Dieſe Parole 
iſt auch vielfach von den aufgeklärten Landarbeitern befolgt worden. In 
vielen ländlichen Wahlbezirken wartete man daher diesmal vergeblich auf 
das wie üblich von den Junkern herangetriebene konſervative Stimmvieh. 
In anderen ländlichen Wahlbezirken wären vielleicht ſozialdemokratiſche 
Wahlmänner und auch genügend Wähler vorhanden geweſen. Hier reichten 
aber Kräfte und Mittel nicht aus, um die komplizierte Wahlarbeit von der 
Zentrale aus genügend vorzubereiten.“ 

Der „Terrorismus der Junker und Junkergenoſſen“, die große poli⸗ 
tiſche Rückſtändigkeit und wirtſchaftliche Abhängigkeit der ländlichen und 
kleinſtädtiſchen Arbeiter hätten auch diesmal noch den „Geldſacksvertretern“ 
ihre Mandate gerettet. Aber auch hier in Oſtpreußen habe die Sozial— 
demokratie Breſche geſchoſſen in die konſervativen Junkerdomänen! 
Kleinſtädtiſche und abhängige Landarbeiter haben ſich als ſozialdemokratiſche 
Wahlmänner aufſtellen laſſen, haben ſogar trotz ihrer wirtſchaftlichen Ab⸗ 
hängigkeit öffentlich ſozialdemokratiſch gewählt! Sei ihre Zahl auch noch 
nicht imponierend groß, ſo ſei das Eis doch gebrochen und dem auch auf 
dem Lande vordringenden Sozialismus „der Sturm auf das Junkerparla⸗ 
ment“ erleichtert. 

Schon rüſten ſich die Herren im Hauſe gegen den kecken Eindringling, 
deſſen proletariſcher Arme⸗Leut⸗Geruch nun die vornehmen Räume des 
preußiſchen Landtagsgebäudes zum erſtenmal verpeſten wird. Schon ſtellt 
die „Kreuzzeitung“ eine energiſche Handhabung der Geſchäftsordnung in 
beſtimmte Ausſicht. Und wenn Herr Jordan v. Kröcher, der tapfere Ver⸗ 
fechter des „ſtarken, aber dummen Mannes“, wiederum den Vorſitz über⸗ 
nehmen ſollte, könnten wir noch allerlei Heiteres erleben. Denn Herr Jordan 
v. Kröcher hat aus feinen urwüchſigen Anſchauungen über die Sozial⸗ 
demokratie nie ein Hehl gemacht. Als vor mehreren Jahren Dr. Th. Barth 
noch ſelbſt Kollege des Herrn v. Kröcher im Abgeordnetenhauſe war, be- 
merkte eines ſchönen Tages der Abgeordnete Oktavio Freiherr v. Zedlitz in 
bezug auf Ausführungen Barths, dieſer ſcheine ihm „von der Gogialdemo- 
kratie angekränkelt“. 

Glocke des Herrn v. Kröcher, des Präſidenten: 


„Herr Abgeordneter, es iſt eine Beleidigung, wenn Sie von einem 
Der Türmer X, 10 3 


554 Türmers Tagebuch 


Mitgliede dieſes Hauſes behaupten, es fei ſozialdemokratiſch ange 
kränkelt. Ich rufe Sie deshalb zur Ordnung.“ 

Darauf Oktavio Freiherr v. Zedlitz: „Ich nehme dieſen Ordnungsruf 
an. Auch ich würde es für eine Beleidigung halten, wenn mir jemand nach⸗ 
ſagte, ich ſei ſozialdemokratiſch angekränkelt.“ 

Ja, was war denn dann aber der Aufruf, mit dem ſich vor etwa 
fünfzehn Jahren der konſervativ⸗agrariſche Bund der Landwirte zum erften- 
mal an die Offentlichkeit wandte: 

„Ich ſchlage nichts mehr und nichts weniger vor,“ hieß es da, „als 
daß wir unter die Sozialdemokraten gehen und ernſtlich gegen die 
Regierung Front machen, ihr zeigen, daß wir nicht gewillt, uns weiter ſo 
ſchlecht behandeln zu laſſen, wie bisher, und ſie unſere Macht fühlen 
laſſen ... Wir müſſen ſchreien, daß es das ganze Land birt, wir 
müſſen ſchreien, daß es bis in die Parlamentsſäle und Miniſterien dringt, 
wir müſſen ſchreien, daß es bis an den Stufen des Thrones ver- 
nommen wird.“ 

Nun müſſen auch die neugewählten ſozialdemokratiſchen Abgeordneten 
den Eid auf die preußiſche „Verfaſſung“ leiſten. Aus einer Äußerung der 
„Leipziger Volkszeitung“, die Sozialdemokratie werde ſich an dergleichen 
„Kindertrödel“ nicht ſtoßen, glaubte die „Konſervative Korreſpondenz“ den 
etwas abſchüſſigen Schluß ziehen zu dürfen, daß die Sozialdemokratie ſich 
nun nicht mehr darüber beſchweren könne, wenn auch den gerichtlichen 
Eiden ihrer Anhänger mit Mißtrauen begegnet werde. Und die „Deutſche 
Tageszeitung“ erhob die Frage: Warum denn einem waſchechten Genoſſen 
der gerichtliche Eid heiliger ſein ſollte als der Treueid? 

„Da die ‚Deutfche Tageszeitung“, erwidert hierauf der „Vorwärts“, 
„den Anterſchied zwiſchen erzwungenen Treueiden und gerichtlichen 
Eiden nicht kennt, iſt es auch erklärlich, daß ſie Verletzung der beiden Eide 
gleich wertet und daher auch die große Zahl der gerichtlichen Meineide in 
den Kreiſen, die der „Deutſchen Tageszeitung“ ſehr nahe ſtehen. Daß die 
Konſervativen, die Junker, genau ſo, wie ſchon Träger der Krone es getan 
haben, auf den geleiſteten Treueid pfeifen, weiß man aus der Geſchichte. 
Daß den Krautjunkern aber auch gerichtliche Eide keine Beſchwerden machen, 
beweiſt die Kriminalſtatiſtik. Nach dieſer wurden z. B. im Jahre 
1896 wegen Meineid 783 Perſonen verurteilt. Davon gehörten an 

der ſozialiſtenreinen . . . . . « 235 Perſonen, 

der Induſtrie . : ge. Se Go ws, 2204 „ 

dem Handel und Verkehr x te .. 93 5 

den freien Berufen, der Beamtenſchaft alas: . 4 „ 

dem ſozialiſtiſch infizierten Stande der Arbeiter und 

Tagelöhner. . 42 n 

dem ſozialiſtiſch infiaterten Stande der Dienftboten 29 

Die Frage, in welchen Kreiſen man es mit dem gerichtlichen Eide am 
wenigſten genau nimmt, iſt durch vorſtehende Zahlen einwandfrei beantwortet! 1— 


Türmers Tagebuch 555 


Die ‚Tageszeitung‘, die jetzt im 15. Jahrgang erſcheint, könnte ein- 
wenden, im Jahre 1896 ſei ihr ethiſcher Einfluß noch nicht ſtark genug ge- 
weſen, um die moraliſchen Qualitäten in den Junkerdomänen zu heben. 
Sehen wir deshalb zu, wie es ſpäter ausſah, nachdem das Dertelblatt 
ſchon eine Reihe von Jahren erzieheriſch gewirkt hatte. Die Kriminalſtatiſtik 
für 1904 erweiſt folgendes: In dieſem Jahre wurden 628 Perſonen wegen 
Meineid verurteilt. 

Von den Verurteilten gehörten an: 

der Landwirtſc hafte 181 Perſonen, 


der Snduftrie . . kr es. Ge Ges 4 a 
dem Handel und Verkehr „ Be 3s . 82 i 
dem Arbeiter- und Tagelöhnerſtande 48 7 
dem Dienftbotenftande. . . ee, JO a 
dem Hofdienft und den freien Berufen. ra | = 
ohne Berufsangabe (Rentner ufw.) . - . 31 


Unter den Verurteilten, die beruflich der Land wirtſchaft an: 
gehören, waren 31 Selbſtändige, 142 Gehilfen uſw., 8 Angehörige. Für 
die Induſtrie ergibt ſich folgende Verteilung: Selbſtändige 36, Gehilfen 188, 
Angehörige 18, von den dem Handel und Verkehr angehörigen Verurteilten 
ſind 44 als Selbſtändige und 36 als Gehilfen bezeichnet. 

Das ungünſtige Verhältnis für die Gruppe, die von der Deutſchen 
Tageszeitung“ ethiſch erzogen wird, ſpringt markant in die Augen. 

Damit das Bündlerblatt auch nicht den Ausflucht verſuchen kann, die 
hohe Kriminalziffer für die Landwirtſchaft dem demokratiſchen Süden aufs 
Schuldkonto zu ſchreiben, e wir zur Vorſicht auch noch folgende 
Aufſtellung: 

Wegen Meineid wurden verurteilt in Preußen 353 Perſonen, 
davon allein in den Provinzen Weſt und Oſtpreußen, Branden⸗ 
burg (außer Berlin!), Pommern, Schleſien und Poſen 181 
Perſonen. Legt man die Bevölkerung nach der Zählung vom 1. De- 
zember 1905 zugrunde, ergibt ſich folgendes Refultat: 

Auf je 100 000 Einwohner wurden wegen Meineid verurteilt: 

in Preußen . . 9,4 Proz., 
im Sündenpfuhl Berlin . . 8,8 „ 
in den öſtlichen Provinzen 115 „ 

Es hat bis jetzt noch keinen ſozialdemokratiſchen Abgeordneten 
gegeben, der einen Eid auf die Verfaſſung oder ſonſt einen Eid gebrochen 
hätte. Wohl aber haben unterſchiedliche Fürſten von Gottes Gnaden ge- 
zeigt, mit welcher Wurſtigkeit man einen ſolchen Schwur leiſten und — 
brechen kann. 

Aber den ‚mentalen Vorbehalt“, mit dem Friedrich Wilhelm IV. am 
31. Januar 1850 die preußiſche Verfaſſung beſchwor, ſollte vor allem die 
konſervative Preſſe unterrichtet fein. Ebenſo darüber, daß Bismarck wäh- 
rend des Verfaſſungskonflikts 1864 folgende reizende Erklärung zum beſten 


556 Slirmers Tagebuch 


gab: ‚Ein Eid auf die Verfaſſung kann nur bindend fein, wenn man es 
dem Vereidigten möglich macht, mit der Verfaſſung zu regieren. Wenn 
man es ihm aber unmöglich macht, mit der Verfaſſung zu regieren, ſo iſt 
ſelbſtredend der Eid auf die Verfaſſung weder für den Träger der Krone 
noch für feine Minifter bindend“. 

Gegen die Behauptung, die preußiſchen Wähler hätten fich durch das 
Ergebnis der Wahl für Beibehaltung des geltenden Wahlrechts und 
gegen die Einführung des Reichstagswahlrechts für den preußiſchen Landtag 
ausgeſprochen, wendet ſich ganz entſchieden das rechtsſtehende Berliner 
Zentrumsorgan, die „Germania“: „Abgeſehen davon, daß Zentrum, Polen, 
Sozialdemokraten und Freiſinnige hinter ihren etwa 153 Mandaten den 
weitaus größten Teil der Bevölkerung und der bei der Arwahl ab⸗ 
gegebenen Stimmen haben, iſt der Ausfall der Wahl, welcher den 
Wahlrechtsgegnern (Konſervativen, Freikonſervativen, Nationalliberalen) 
etwa 290 Mandate verſchaffen wird, lediglich der falſchen Taktik der 
Wahlrechtsfreunde zu verdanken. Dieſe falſche Taktik rührt daher, daß die 
freiſinnigen Parteien zwei Haſen jagen wollten: einerſeits das Wahlrecht, 
anderſeits den Kulturkampf, wie man wenigſtens nach der bekannten Rede 
des Abgeordneten Kopſch annehmen mußte. 

Die Freiſinnigen haben dabei ſehr kärglichen Lohn erhalten; denn die 
Konſervativen verſtanden es meiſterhaft, mit dem Zentrum gegen den 
Freiſinn und mit dem Freiſinn gegen das Zentrum und Polen zu gehen, 
wobei fie ſtets den Hauptgewinn einſteckten. Landräte und Negierungsräte 
arbeiteten mit lobenswertem Fleiß und Geſchicklichkeit an der Bekämpfung 
der freiſinnigen Kandidaten mit. 

Als weiterer Hauptfehler kommt hinzu, daß der Freiſinn mit ganz 
beſonderem Eifer die Sozialdemokratie von jeder Vertretung im preußiſchen 
Landtag auszuſchließen ſuchte, anſtatt ſich mit dieſer, ihm doch in wichtigen 
Fragen weit näher ſtehenden Partei auf gegenſeitigen Duldungsfuß zu 
ſtellen. Freiſinn Arm in Arm mit den Hochkonſervativen gegen die Sozial 
demokratie! Dieſes Bild war ſo recht bezeichnend für die Situation! Die 
alten freiſinnigen Führer hätten dies erleben müſſen! 

Das Refultat iſt denn auch ein entſprechendes: die 33 Mandate, 
welche beide freiſinnigen Parteien zuſammen allenfalls erhalten werden, ent 
ſprechen nicht der Bedeutung derſelben und ihrer Wählerſchaft; man kann 
mit Recht ſagen, daß der Freiſinn zu kurz gekommen iſt und im preußiſchen 
Landtag auch fernerhin bedeutungslos ſein wird. Ganz anders 
hätte der Ausfall der Landtagswahl werden können, wenn die Wahlrechts · 
freunde, anſtatt ſich gegenſeitig zu bekämpfen, nach großzügig angelegtem 
Plane ſich unterſtützt hätten..“ 

Am 28. März 1867 ſprach Bismarck im Reichstag des Norddeut: 
ſchen Bundes: . 

„Das allgemeine Wahlrecht ift uns gewiſſermaßen als ein 
Erbteil der Entwicklung der deutſchen Einheitsbeſtrebungen 


Türmers Tagebuch 557 


überkommen; wir haben es in der Reichsverfaſſung gehabt, wie fie in Frank⸗ 
furt entworfen wurde; wir haben es im Jahre 1863 den damaligen Ber 
ſtrebungen Oſterreichs in Frankfurt entgegengeſetzt, und ich kann nur ſagen: 
ich kenne wenigſtens kein beſſeres Wahlgeſetz. Es hat ja gewiß 
eine große Anzahl von Mängeln, die machen, daß auch dieſes Wahlgeſetz 
die wirkliche beſonnene und berechtigte Meinung eines Volkes nicht voll⸗ 
ſtändig photographiert und en miniature widergibt, und die verbündeten 
Regierungen hängen an dieſem Wahlgeſetz nicht in dem Maße, daß ſie 
nicht jedes andre akzeptieren follten, deſſen Vorzüge vor dieſem ihnen nach- 
gewieſen werden. Bisher iſt dieſem kein einziges gegenübergeſtellt worden. 
Ich habe nicht einmal kurſoriſch im Laufe der Rede ein andres Wahl— 
geſetz dieſem gegenüber rühmen hören; ich will damit nur motivieren, daß 
„verbündete Regierungen“, die gewiſſermaßen eine republikaniſche Spitze, die 
in dem Wort „verbündete Regierungen“ liegt, bilden, keineswegs ein tief 
angelegtes Komplott gegen die Freiheit der Bourgeoiſie in Verbindung mit 
den Maſſen zur Errichtung eines cäſariſchen Regiments beabſichtigt haben 
können. Wir haben einfach genommen, was vorlag und wovon wir glaub— 
ten, daß es am leichteſten annehmbar fein würde, und weitere Hinter⸗ 
gedanken dabei nicht gehabt. Was wollen denn die Herren, die das an: 
fechten, und zwar mit der Beſchleunigung, deren wir bedürfen, an deſſen 
Stelle ſetzen? Etwa das preußiſche Dreiklaſſenſyſtem? Ja, meine 
Herren, wer deſſen Wirkung und die Konſtellationen, die es im Lande 
ſchafft, etwas in der Nähe beobachtet hat, muß ſagen, ein widerſinni⸗ 
geres, elenderes Wahlgeſetz iſt nicht in irgend einem Staat 
ausgedacht worden. 

. . . Wenn der Erfinder dieſes Wahlgeſetzes ſich die praktiſche Wir⸗ 
kung desſelben vergegenwärtigt hätte, hätte er es nie gemacht. Eine ähn⸗ 
liche Willkürlichkeit und zugleich Härte liegt in jedem Senfus ... 

Auf ſtändiſche Wahlrechte zurückzugreifen, hat noch niemand vor⸗ 
geſchlagen, und ich erwähne ſie nur, um die Richtigkeit einer vorhin hier 
ausgeſprochenen Meinung zu beſtätigen, daß im ganzen jedes Wahlgeſetz 
unter denſelben äußeren Amſtänden und Einflüſſen ziemlich gleiche Reſul⸗ 
tate gibt 

Ich halte die Frage für offen, bis mir jemand überzeugend dartut, 
daß ein anderes Wahlgeſetz beſſer iſt und freier von Mängeln, als das 
im Entwurf vorgelegte, und im Beſitz beſonderer Vorzüge, die dieſes nicht 
hat 

Meiner Aberzeugung nach bilden die indirekten Wahlen an ſich 
eine Fälſchung der Wahlen, der Meinung der Nation. 

Denn ich habe ſtets in dem Geſamtgefühl des Volkes noch mehr 
Intelligenz als in dem Nachdenken des Wahlmanns bei dem Ausſuchen 
des zu Erwählenden gefunden, und ich appelliere an die ziemlich allgemeine 
Erſcheinung, und ich weiß nicht, ob die Herren meine Wahrnehmungen 
alle teilen, denn ich habe den Eindruck; daß wir bei dem direkten 


558 P Türmers Tagebuch 


Wahlrecht bedeutendere Kapazitäten in das Haus bringen 
als bei dem indirekten. Um gewählt zu werden bei dem direkten 
Wahlrecht, muß man in weiteren Kreiſen ein bedeutenderes Anſehen haben, 
weil das Gewicht der lokalen Gevatterſchaft bei dem Wähler nicht ſo zur 
Hebung kommt in den ausgedehnten Kreiſen, auf die es bei direkter Wahl 
ankommt.“ 

„Anwahr iſt alſo“, führt H. von Gerlach in der „Hilfe“ aus, „die 
Behauptung der „Hamburger Nachrichten“, Bismarck habe das Dreillaſſen 
wahlrecht weſentlich nur verurteilt, um zu einem Wahlgeſetz mit Intereſſen 
vertretung zu gelangen. In der ganzen Rede Bismarcks iſt auch nicht 
andeutungsweiſe der Wunſch nach einem Wahlgeſetz mit Intereſſenvertretung 
enthalten. 

Anwahr iſt ferner die Behauptung, die Regierung habe ſchon damals 
eine Gruppierung der Bevölkerung zur Löſung ſozialpolitiſcher Aufgaben, 
insbeſondere der Altersverſorgung, betrieben. Damals dachte Fürft Biss 
mard noch gar nicht an Sozialpolitik. Das fing erſt reichlich ein Jahr⸗ 
zehnt ſpäter an. | : . 

Anwahr ift auch die Behauptung, es habe fic) bei Bismarcks Auße⸗ 
rungen gegen die Dreiklaſſenwahl nur um einen ‚Zwifchenfag‘ oder um ein 
gelegentliches Argument in einer einzelnen Rede gehandelt. 

Wahr iſt vielmehr, daß Bismarck ſich grundſätzlich und mit Speziali⸗ 
fierung feiner Gründe gegen die Dreiklaſſenwahl gewandt hat. Und zwar 
nicht nur 1867, als es fic im Reichstag darum handelte, das gleiche Wahl 
recht durchzudrücken. Nein, 1869 wiederholte Bismarck ſeine Verurteilung 
der Dreiklaſſenwahl bei einer Gelegenheit, wo er gar keinen beſonderen 
Zweck damit verbinden konnte. Es handelte ſich damals um eine Regie 
rungsvorlage, die das preußiſche Wahlrecht von Geſetzes wegen in den annek⸗ 
tierten Provinzen einführen und die Wahlkreiseinteilung regeln ſollte. Zu 
der Regierungsvorlage hatte Herr v. Kardorff, der ſpätere Führer der Frei- 
konſervativen, nachſtehende Reſolution beantragt: 

„Das Haus der Abgeordneten wolle beſchließen: In Anbetracht, daß 
das Nebeneinanderbeſtehen der beiden großen parlamentariſchen Körper: 
ſchaften, des Preußiſchen Landtags und des Norddeutſchen Reichstags, 
nur als ein Proviſorium betrachtet werden kann: 

Der Königlichen Staatsregierung zur Erwägung zu geben, ob es ſich 
nicht im allgemeinen politiſchen Intereſſe empfehlen dürfte, die Zuſammen. 
ſetzung des Preußiſchen Abgeordnetenhauſes in bezug auf 
Abgrenzung der Wahlbezirke, Wahlmodus und Zahl der Abgeordneten 
mit der des Reichstags in Einklang zu bringen und ſomit eine 
nähere organiſche Verbindung der beiden Körperſchaften anzubahnen.“ 

Der Antrag Kardorffs, wie er von allen Rednern des Hauſes und 
auch von Bismarck interpretiert wurde, bezweckte einfach, die preußiſchen 
Abgeordneten des Reichstags als Preußiſches Abgeordnetenhaus zu konſti⸗ 
tuieren. So demokratiſch dachte man damals in denſelben konſervativen 


Türmers Tagebuch 559 


Kreiſen, die heute die Ubertragung des Reichstagswahlrechts auf Preußen 
überhaupt nicht diskutieren wollen! 

Bismarck ergriff am 28. Januar 1869 im Preußiſchen Abgeordneten⸗ 
hauſe das Wort und erklärte: 

„Wenn ich mich als Miniſter der Vorlage, welche Sie diskutieren, 
angeſchloſſen habe, ungeachtet der Abneigung, die ich gegen das 
Dreiklaſſenwahlgeſetz bekannt habe und noch hege, ſo bin ich 
dazu geleitet worden einmal in bezug auf die Einteilung der Wabltreife 
durch das Vorhandenſein der betreffenden Verwaltungskreiſe ...; außerdem 
hat mich ein anderes Motiv abgehalten und, wie ich aus der bisherigen 
Diskuſſion und aus der Stellung der Amendements entnehmen muß, ein 
allerdings ungerechtfertigtes: es war eine gewiſſe Scheu, tiefer in die Ver⸗ 
faſſungsbeſtimmungen einzugreifen, als abſolut notwendig wäre. Ich habe 
die Beſorgnis gehegt, Sie würden jede verfaſſungsmäßige, grundgeſetzliche 
Beſtimmung in höherem Grade als ein noli me tangere behandeln, und 
den Verſuch, das Wahlgeſetz zu diskutieren und zu reformieren, würde auf 
eine weniger günſtige Aufnahme in Ihrer Mitte ſtoßen. Ich habe mich 
darin getäuſcht und werde mir dieſe Belehrung in der Zukunft als Richt⸗ 
ſchnur dienen laſſen und annehmen, daß das beſtehende Wahlgeſetz von 
Ihnen nicht in dem Maße hochgehalten wird, wie ich es geglaubt habe; 
ich würde ſonſt vorgezogen haben, ſchon jetzt im Schoße des Miniſte⸗ 
riums Vorſchläge anzuregen, die das Wahlgeſetz der Mon: 
archie mit dem des Bundes mehr in Einklang brächten. Es 
hat der Königlichen Regierung und den Bundesbehörden ja von Anfang 
an nahe gelegen, auf eine Vereinfachung des ſeit 1866 geſchaffenen Räder⸗ 
werkes hinzuwirken, und die Frage, auf welche Weiſe dies zu geſchehen 
habe, auf welche Weiſe dies möglich ſei, hat uns vielfach auch vor dieſer 
heutigen Beratung beſchäftigt. Daß es im Wege einer einfachen JIdenti⸗ 
fizierung der Abgeordneten des Preußiſchen Staates in 
beiden Körperſchaften nicht tunlich iſt, will ich verſuchen nachzuweiſen, 
nicht um die Tendenz, die ſich darin ausſpricht, zu bekämpfen, 
ſondern nur um Ihnen die Schwierigkeiten klarzulegen, mit welchen die 
Regierungen zu kämpfen haben, um dieſem Ziele näher zu treten.“ 

Bismarck führte dann des näheren aus, weshalb es untunlich fei, 
einfach die für den Reichstag gewählten Abgeordneten Preußens als 
preußiſche Landesvertretung anzuſehen. Das hätte verfaſſungsrechtliche Be⸗ 
denken. Einmal wegen der Befugnis der preußiſchen Krone, das Ab⸗ 
geordnetenhaus aufzulöſen. Die Auflöſung würde ſich ja dann auch auf 
einen Teil des Reichstags beziehen. Dann, weil die Mitglieder des Herren- 
hauſes zwar für den Reichstag, aber natürlich nicht für die zweite Kammer 
Preußens wählbar ſeien. Vor allem aber macht Bismarck den praktiſchen 
Einwand, daß es für die meiſten Abgeordneten eine zu große Belaſtung 
ſei, wenn ſie gleichzeitig die parlamentariſche Vertretung des Reiches und 
Preußens wahrnehmen ſollten. 


560 Türmers Tagebuch 


Grundſätzlich aber hat er gegen den Antrag Kardorff nichts ein: 
zuwenden. Er erklärt ausdrücklich, ſeine Tendenz nicht bekämpfen zu wollen. 
Ja, er hätte ſogar ſelbſt eine Annäherung des preußiſchen Wahlrechts an 
das des Reiches vorgeſchlagen, wenn er nicht geglaubt hätte, daß der Land⸗ 
tag vor einer Verfaſſungsänderung zurückſcheuen würde. Er ſteht alſo noch 
genau wie 1867 auf dem Standpunkte, daß das Reichstags: 
wahlrecht weit beſſer ſei als das preußiſche. 

Niemals hat Bismarck ſeine feierlichen offiziellen Erklärungen 
gegen die Dreiklaſſenwahl zurückgenommen. Sie bilden noch 
immer eine ſchneidige Waffe im Arſenal der Wahlreformer.“ 

Das „ideale Wahlrecht“ iſt ein Problem etwa von der Lös barkeit des 
Perpetuum mobile oder der Quadratur des Kreiſes. Auch das uns ver⸗ 
führeriſch vorgegaukelte Pluralwahlrecht würde bei der Unbildung vieler 
„Gebildeten“ die heiterſten Uberraſchungen bringen. Dieſe politiſche 
Anbildung der Gebildeten, denen die Nationalliberalen mit ihrem 
Pluralwahlrecht Mehrſtimmen zuerkennen wollen, zeigte ſich, wie der 
„Volkszeitung“ aus dem Wahlkreiſe Teltow Beeskow geſchrieben wird, bei 
den Wahlmännerſtichwahlen eines Bezirkes in einem Berliner Vorort im 
hellſten Lichte. „Nachdem bereits verſchiedene Offiziere a. D. und höhere 
Verwaltungsbeamte in naivfter Weiſe den Wahlleiter um Auskunft 
über die zu wählenden Wahlmänner gebeten hatten, brachten es zwei 
Juriſten, ein Geheimer Oberjuſtizrat und ein königlich preu⸗ 
ßiſcher Staatsanwalt ſogar fertig, tros der Belehrung durch einen 
Liſtenführer, daß fie nur einem der beiden in Stichwahl ſtehenden Wahl 
männer des freiſinnig⸗nationalliberalen Blocks und der Sozialliberalen ihre 
Stimme geben dürften, dennoch zwei konſervative Herren zu nennen. 
Natürlich waren ihre Stimmen nun ungültig; aber die Herren ſchienen das 
nicht zu begreifen und gingen mit verblüfften Geſichtern davon. Dieſe 
Herren halten das Dreiklaſſenwahlrecht offenbar deshalb für fo „bewährt', 
weil es mit feiner öffentlichen Stimmabgabe das Herrentum der Privi⸗ 
legierten aufrechterhält, ohne daß ſie ſich im allgemeinen ſelbſt an den 
Wahltiſch zu bemühen brauchen. Wenn dies aber doch in den böſen Groß⸗ 
ſtädten einmal notwendig wird, dann zeigen die Herren, daß ſie nicht ein⸗ 
mal mit den einfachſten Beſtimmungen ihres ‚bewährten‘ Wahlrechts ver⸗ 
traut find! And dieſe ‚Bildung‘ fol dann mit einer oder gar mehreren 
Pluralſtimmen belohnt werden.“ 

Zur Empfehlung eines nationalliberalen Kandidaten heißt es in einem 
Blatte: „Außerdem gehört er mehreren Wohltätigkeitsvereinen an, ſo iſt 
er z. B. Mitglied des Vereins für Volksküche, gehört ſeit über 25 Jahren 
dem ‚Roten Kreuz“ an und iſt bei dem Jubiläum des ‚Roten Kreuzes“ 
ins Schloß geladen und Ihrer Majeſtät vorgeſtellt worden.“ 

Wer möchte wohl einer Pluralſtimme würdiger ſein, als ein Mann, 
der ins Schloß geladen und Ihrer Majeſtät vorgeſtellt worden iſt 

Bittere Tränen vergießt „Tante Voß“ ob den greulichen Gewalt 


Türmers Tagebuch 561 


taten der roten Brüder, welche die armen furchtſamen freiſinnigen Seelchen 
terroriſiert und dadurch allein ihre Erfolge erzielt hätten. „Für den, der 
die Verhältniſſe kennt,“ ſchreibt dazu die „Kölniſche Volkszeitung“, „ift dieſe 
Ausrede einfach lächerlich. Gewiß, einzelne ſolcher Fälle kommen vor; es 
kommt z. B. vor, daß einem Bäckermeiſter, der in einer Arbeitergegend 
lebt, von den Genoſſen geſagt wird: „Wenn du freiſinnig wählſt, kaufen 
wir dir kein Brot mehr ab.“ Es iſt aber albern, darauf die Wahlnieder- 
lage des Freiſinns zurückzuführen. Die freifinnige Partei geht den Krebs— 
gang, weil fie überall an Vertrauen und moraliſchem Kredit ein- 
gebüßt hat.“ 

So iſt es in der Tat. Nicht nur an Vertrauen und moraliſchem 
Kredit hat die freiſinnige Partei eingebüßt, ſondern auch an ganz gewöhn⸗ 
licher ſozialer Achtung. Man ginge nicht zu weit mit der Behauptung, 
daß gerade die Beſten in ihren Reihen von Ekel und Verachtung über das 
ſelbſtvergeſſene, aller Würde entblößte Gebaren gewiſſer freiſinniger Ol: 
götzen erfüllt ſind. Wie ſoll der Achtung von anderen beanſpruchen dürfen, 
der ſie vor ſich ſelbſt preisgibt? Die ihres Nichts durchbohrendes Gefühl 
offen zur Schau tragende Devotion, mit der freiſinnige Redner und Zeitungs- 
ſchreiber das ironiſche Lob ihrer ehemaligen ſchärfſten Gegner in Empfang 
nehmen, das Lob, daß ſie ſich zwar ſchon „gebeſſert“ hätten, aber noch 
artiger, ganz artig werden müßten, das wirkt ja zunächſt als ein Schau⸗ 
ſpiel für Götter, auf die Dauer aber doch Abelkeit erregend. Man kann 
das Gefühl ſeiner eigenen Minderwertigkeit und Proletenhaftigkeit nicht 
ſtolzer und glückſeliger zur Schau tragen, als es die „Fallſtaffgarde“ des 
Freiſinns tut. 

„Gib meine Jugend mir zurück!“ — in brünſtig ſehnendem Herzen 
müßte der Liberalismus dieſen Wunſch bewegen. Aber ach, Greiſentum 
und Jugend vertragen ſich nimmer! „Als der parlamentariſche Liberalismus 
altersſchwach zu werden begann,“ ſo wird der „Volkszeitung“ von einem 
jüngeren Wähler aus akademiſchen Kreiſen geſchrieben, „ſchwand ſeine 
Werbekraft bei der deutſchen Jugend. Sie zerſplitterte. Ein Teil ging zu 
den Sozialdemokraten hinüber. Ein anderer Teil hielt es für vorteilhafter, 
fördernder, korrekter“, zu den Konſervativen oder den Verſchämt⸗Konſer⸗ 
vativen abzuſchwenken. Der Reſt — und das war der weitaus größte 
Teil — bekannte überhaupt nicht Farbe: die jungen Leute 
ſtumpften ab, wurden teilnahmslos gegen Politik und Staatsleben, ſanken 
tief hinab zur charakterloſen Maſſe der Denkfaulen. 

Es gab eine Zeit, in der jeder deutſche Jüngling liberal war. Wäre 
der Liberalismus auf dem Poſten geblieben, ſo wäre ihm der Nachwuchs 
ſicher geweſen. Das Schreckensregiment einfältiger und philiſtröſer Epigonen 
bat in dieſem Punkte mehr Verwüſtung angerichtet, als ſich bisher im Un- 
gefähren überſchauen läßt. 

Das Gefährlichſte, was einer Partei, einer Weltanſchauung, einer 
Geſellſchaft paſſieren kann, ward von ihnen verſchuldet: für den offiziell be- 


562 Türmers Tagebuch 


triebenen Liberalismus trat keine friſche Generation mehr ein. Es war ein 
ausſterbender Kreis alter, grauer Männer, der den Mitgliederſtamm der 
Bezirksvereine bildete. Daß dort ſtatt der Begeiſterung, die die Jugend 
nun einmal verlangt, eine kleinliche Querköpferei und ein mißmutiges Herum⸗ 
kritiſieren den Grundton abgab, war kein Wunder. Eine Begeiſterung für 
die Fiſchbeck, Kopſch, Wiemer und Konſorten wagte ſelbſt der unverſchäm⸗ 
teſte Menſch nicht von der Jugend zu verlangen. 

Die Zeit war ohnedies liberalen Idealen nicht hold. Die Bismarck⸗ 
Ara mit ihrem kraſſen Erfolgsmenſchentum, mit der kaltblütig ge⸗ 
züchteten Geſinnungsheuchelei und Streberei pries ja gerade als einen 
Vorzug das FFreiſein“ von Idealen, den Mangel einer Welt⸗ 
und Lebensanſchauung. Die Lieblingsphraſen der Konſervativen, der Na⸗ 
tionalliberalen und nun auch der Blockliberalen hatten in dieſer Periode 
ihr Geburtsjahr: „RNealpolitik“, ‚Sinn für Tatſachen“, „Beſchränkung auf 
das Erreichbare“, ‚gefundes Denken“, ‚praktiſche Vernunft“: das waren die 
Schlagworte. 

Ein Teil der Jugend, und der akademiſchen Jugend vor allen Dingen, 
rannte blindlings dieſer neuen Philoſophie nach. Unter dieſer Jugend 
herrſchte eine geiſtige Ode wie nie jemals zuvor in irgend einer 
Periode der Geſchichte. Man wollte nichts weiter als Karriere machen, 
ein ‚patenter‘, korrekter“ Menſch fein. Referveoffigier werden, als Alter 
Herr zu einer feudalen Verbindung gehören, dem Flottenverein beitreten, 
feſte Manſchetten und Bindeſchlipſe tragen, in Antiſemitismus machen, 
‚unpolitifche‘ Klatſchblätter leſen. Man mußte liberale, demokratiſche, idea 
liſtiſche Anwandlungen, ſelbſt wenn ſie ſich hie und da durchwagten, ge⸗ 
waltſam niederhalten. 

Das war und iſt und wird für einige Zeit noch der Geiſt ſein, der 
in einem großen Teile der deutſchen Jugend ſein Weſen treibt. Aber eine 
leiſe Tendenz zum Amſchwunge iſt ſpürbar. Ein Rückſchlag auf die Zeiten 
der Brache war unausbleiblich. Es kam der Augenblick, wo man die 
Jugend zu organiſieren begann. 

Die Sozialdemokraten mit ihrem Talente zur Organiſation gingen 
voran. Ihre Erfolge machten die Leute am anderen Ufer ſtutzig. Die 
Nationalliberalen bildeten eine Gegengarde, die ſich ,jungliberal’ nannte. 
Das Zentrum erſchien mit den Burſchenvereinen und den katholiſchen Ver⸗ 
bindungen an den Aniverſitäten. Nur der Freiſinn verpaßte wieder die 
Gelegenheit, den merkbar werdenden Drang der Jugend zu beachten und 
ihm ſeinerſeits Anfachung zu geben. 

Die Jungliberalen fanden Anklang. Sie ſuchten in geſchickter Weiſe 
die rationaliſtiſche Philoſophie der Vismard: Ara mit gewiſſen neuen, un 
abwendbaren kulturellen ſozialen und wirtſchaftlichen Ideen auszuſöhnen. 
Man war feſt in den fogenanten ‚nationalen‘ Dingen, und das machte es 
ſelbſt für Negierungsreferendare und Regierungsrate ungefährlich, jung 
liberal zu fein. Man konnte ſich überdies im Notfalle auf das Untertanen: 


Türmers Tagebuch 563 


verhältnis zur nationalliberalen Partei beziehen. Andererſeits markierte 
man das Vorrecht der Jugend, radikaler geſinnt zu ſein als das Alter; 
man trat teilweiſe ein für preußiſches Reichstagswahlrecht, verwarf das 
nationalliberale Schulkompromiß, übte ſtrenge Kritik an den nationalliberalen 
Steuerreformen. 

Aber es lag in der Natur dieſes ſonderbaren nationalliberalen Mifch- 
maſchs, daß fic aus halbwegs hoffnungsvollen Keimen kein Ganzes heraus⸗ 
entwickeln wollte. Die radikale Seite der Sache ward jedesmal durch die 
„nationale“ Seite betört. Liſtigen Schönrednern aus den Reihen der alten 
Herren der nationalliberalen Partei gelang es bisher ſtets, Widerſpenſtige 
durch effektvoll ‚patriotifche Wendungen einzuſeifen. Dieſe Halbheit und 
Weichheit hat der jungen Gruppe nicht nur die Sympathien verſcherzt, die 
unzweifelhaft für ſie allerwärts beſtanden, hat nicht nur das politiſche Ver⸗ 
trauen auf ſie gelockert; ihre ewige Geneigtheit zum Anterkuſchen unter die 
nationalliberalen Parteiwünſche hat fie vollkommen einflußlos gemacht inner- 
halb der nationalliberalen Partei ſelbſt. Einfluß gewinnt man nun einmal 
nicht durch Kompromiſſe, ſondern nur durch charaktervollen Widerſtand. 
Nicht eine einzige Landtagskandidatur iſt den Jungliberalen eingeräumt 
worden. Das war der Dank dafür, daß ſie auf dem Parteitage zu Kaſſel 
darauf verzichtet hatten, in dieſem Wahlkampfe für das Reichstagswahl⸗ 
recht einzutreten. 

Auch jene Kultusgemeinde, die ſich aus den Kreiſen der akademiſchen 
Jugend einſt um Friedrich Naumann ſcharte, iſt arg ins Wanken ge⸗ 
raten. Dieſe vertrauensfähigen und vertrauensſeligen Leute ... begannen zu 
ſchwanken, als Naumann Stück für Stück ſeine Grundſätze oder das, was 
ſie dafür halten zu ſollen glaubten, auf dem Altare der Blockpolitik opferte, 
und fie ſtehen jetzt dieſem weichen, nachgiebigen, politiſch unheilbar ver- 
ſchwommenen Manne mit größter Skepſis gegenüber. 

Anzeichen ſeien ja da, daß die Jugend wieder politiſch denken und 
fühlen wolle. Noch aber fehlt es ihr an ehrlich hingebenden Beratern und 
Vorbildern. Rudolf Breitſcheid gar im „Blaubuch“ ſieht in dem Ausfall 
der preußiſchen Landtagswahlen bereits den Anfang vom Ende des Freiſinns. 

„Den Einzug von ſechs oder ſieben Sozialdemokraten in das Preußiſche 
Abgeordnetenhaus muß jeder ehrliche Freund des allgemeinen, gleichen, 
geheimen und direkten Wahlrechts, und der ſtaatsbürgerlichen Gleichberech- 
tigung überhaupt, mit großer Genugtuung begrüßen, nicht nur obwohl, 
ſondern bis zu einem gewiſſen Grade auch weil der Freiſinn die Haupt⸗ 
koſten zu decken hat: er trägt ſelbſt die Schuld an ſeinen Verluſten. Damit 
iſt aber auch ſchon alles geſagt, was ſich an Erfreulichem und was ſich an 
Bemerkenswertem über den Ausgang der Wahlen ſagen läßt, denn im 
weſentlichen iſt alles geblieben, wie es zuvor war. Hier und da iſt an die 
Stelle eines fonfervativen Regierungsrats ein konſervativer Landrat und an 
den Platz eines nationalliberalen Fabrikbeſitzers ein ebenſolcher Oberlehrer 
getreten, aber plus ga change, plus c'est la méme chose: an der Partei⸗ 


564 Türmers Tagebuch 


konſtellation ändert ſich nichts und von den zehn neugeſchaffenen Sitzen ſind 
nicht einmal alle von unbedingten Anhängern der Übertragung des Reichs. 
tagswahlrechts eingenommen. Die ſieben Sozialdemokraten werden zwar 
die Forderung der Reform rückſichtsloſer vertreten, als es am 10. Januar 
die Freiſinnsführer taten. Aber vielleicht wird gerade ihre Anweſenheit der 
Bülowſchen Regierung den Vorwand geben, die Anderung noch länger 
hinauszuſchieben, als ſie es ohnehin ſchon beabſichtigte. 

Die Freiſinnigen werden trotz einzelner Zufallserfolge ihre alte Ziffer 
kaum wieder erreichen; fie ſind zu derſelben abſoluten Einflußloſigkeit ver- 
urteilt wie bisher, und die Rechte wird über ihre Blockfreunde mit Gering- 
ſchätzung zur Tagesordnung übergehen. Mit noch mehr Geringſchätzung, 
als ſie ihnen in der vorigen Legislaturperiode hat angedeihen laſſen, denn 
die Art, wie von ſeiten des im Blockfreiſinn vereinigten und erſtarrten 
liberalen Bürgertums der Wahlfeldzug geführt worden iſt, hat den Konſer⸗ 
vativen den unwiderleglichen Beweis erbracht, daß dieſe Leute als Gegner 
nicht zu fürchten und daher auch als Bundesgenoſſen nicht zu äſtimieren 
ſind .. Man ſchloß die komprimittierendſten Kompromiſſe mit den 
ſchlimmſten Gegnern, wie mit den unzuverläſſigſten Freunden des 
Wahlrechts ab, man ging in Bündniſſe ein, die jeden Zweifel an der Auf. 
richtigkeit der freiſinnigen Begeiſterung für das Wahlrecht als begründet 
erſcheinen ließen, und dieſes Schauſpiel war ſo beſchämend, daß kurz vor 
dem 3. Suni ſelbſt die Kreuz⸗Zeitung', deren politiſche Freunde doch 
den Vorteil von den erbärmlichen Transaktionen hatten, den liberalen Block 
brüdern die folgenden Worte ins Stammbuch ſchrieb: 

„Nicht großzügige Parteipolitik liegt dem Wahlkampfe zugrunde, 
ſondern öde Mandatsjägerei. Der Liberalismus, der angeblich mit 
ſeinen heiligen Grundſätzen lebt und ſtirbt, kehrt ſich nur an taktiſche Ge⸗ 
ſichtspunkte. Er kennt nur ein Ziel: in die Höhe kommen, koſte 
es, was es wolle... Es kommt im Leben der Partei nicht allein auf 
Erlangung parlamentariſcher Mandate durch allerlei Locken und Liſten an. 
Derartige Errungenſchaften haben keine lange Dauer. Vielmehr liegt für 
die Parteien der Schwerpunkt jeder, auch der Wahlpropaganda in der Ver⸗ 
breitung und Vertiefung der Grundſätze, die die Lebens bedingungen jeder 
politiſchen Partei bilden.“ 

Dieſe Kritik trifft den Nagel auf den Kopf, denn von Grundſätzen 
war nur mit dem Vorbehalt die Rede, daß es den größten Mangel an 
ſtaatsmänniſchem Talent verrate, auf ihnen zu beſtehen. Vollendete Grund: 
ſatzloſigkeit war die Parole, und ein kümmerliches Mandat ſchien mit einem 
Prinzip nicht zu teuer erkauft. Allerdings berufen ſich die diverſen Partei⸗ 
leitungen und Führer darauf, daß in der Wählerſchaft ſelbſt ſo gut wie 
keine Kampfesſtimmung vorhanden geweſen ſei, und daß die Wahlrechts⸗ 
frage ſich nicht als zugkräftig erwieſen habe. Das iſt zum guten Teil 
richtig: in der Tat war von einer eigentlichen Bewegung im Volke wenig 
zu ſpüren, und nur in ganz vereinzelten Kreiſen machte ſich dank beſonderer 


Zürmers Tagebuch 565 


lokaler Umstände ein größeres Intereſſe bemerkbar. Im allgemeinen waren 
die Wahlverſammlungen nicht nur in den kleineren Städten und auf dem 
Lande durchweg kläglich beſucht, und die beredteſte Schilderung des Drei- 
klaſſenwahlunrechts brachte die Zuhörer ebenſowenig in Erregung wie der 
Nachweis der nachteiligen Wirkungen, die dieſes Wahlſyſtem auf die poli— 
tiſche, wirtſchaftliche und kulturelle Lage der unteren und mittleren Bevöl⸗ 
kerungsſchichten ausübt. Der deutſche und zumal der preußiſche Staats- 
bürger iff nun einmal von Haufe aus ein Philiſter, der an dem öffentlichen 
Leben nur in ſehr beſchränktem Umfang unmittelbaren Anteil nimmt. Aber 
diejenigen, die ſich für die Hüter des liberalen Gedankens halten, haben 
auch nichts getan, die Trägen aus ihrer Lethargie zu wecken, fie zu be- 
lehren und anzufeuern. Sie ſchloſſen ſich ſo weit als nur irgend möglich 
von der Offentlichkeit ab, und die Politik ward ihnen mehr und mehr eine 
Sache für kleine Konventikel von Auserwählten und Geſiebten. Viel Volk 
wird nicht mehr gern geſehen, denn je größer das Auditorium iſt, um ſo 
mehr Kritiker ſind vorhanden, und für die Wege, die der Freiſinn in den 
letzten Jahren gegangen iſt, können eben nur die Eſoteriker der Bezirksvereine 
ein genügendes Verſtändnis beſitzen. Als man — um mit Dr. Mugdan 
zu ſprechen — noch feine alten Grundſätze hatte, zeigte man ſich der er- 
ſtaunten Menge ja noch gern ohne Eintrittskarten, heute ſcheuen die Herren 
den offenen Markt, auf dem Neugierige ſich gar zu eindringlich nach den 
Motiven der Sinneswandlung erkundigen konnten. Daß unter ſolchen Am⸗ 
ſtänden an die Aufrüttelung des fog. liberalen Bürgertums in Stadt und 
Land nicht zu denken iſt, liegt auf der Hand. Ihm iſt ſeine eigene und 
der Arbeitermaſſen politiſche Entrechtung, ihm iſt die ganze reaktionäre 
Wirtſchaft Hekuba, wenn es nicht gar aus Furcht vor der roten Flut mit 
der Rechten ſympathiſiert und, und ‚um den ſozialdemokratiſchen Anſturm 
abzuwehren“, ... mit den Verteidigern der angeblich fo verhaßten Zwingburg 
von vornherein gemeinſame Sache macht — und auch dabei findet es ja nicht 
nur nachſichtiges Verſtehen, ſondern auch Billigung und Aufmunterung bei 
den leitenden Männern 

Die vollſtändige Einigung des Freiſinns in den beiden großen Parla- 
menten kann nur noch kurze Zeit auf ſich warten laſſen, aber allzulaut wer⸗ 
den die Jubelhymnen der Einigungsfanatiker wohl nicht ertönen, denn auch 
ſie müſſen einſehen, daß der Augenblick, in dem die Hinderniſſe für die 
Bildung der großen“ entſchieden liberalen Partei endgültig aus dem Wege 
geräumt ſind, mit dem Moment zuſammenfällt, wo die Agonie 
dieſes Freiſinns einſetzt. Der Anfang vom Ende datiert nicht vom 
3. Juni 1908, jedoch an dieſem Tage mußte auch das blödeſte Auge er⸗ 
kennen, was für jeden halbwegs Einſichtigen niemals zweifelhaft ſein konnte, 
daß ein Liberalismus, der ſo ſeiner ſelbſt vergeſſen hat, dem Antergang ge⸗ 
weiht. Nach links erlitt er Verluſte, weil er, demokratiſchen Willens bar iſt, 
nicht nur bei den Arbeitern die Konkurrenz mit der Sozialdemokratie nicht 
mehr aushalten konnte, und rechts machte er keine Eroberungen, obwohl 


566 Türmers Tagebuch 


er als Regierungspartei in den Kampf zog und ſich oft bewieſener Ge— 
neigtheit zu poſitiver Mitarbeit unter der Blockfahne rühmte. Selbſt die 
famoſe Kulturblockidee des Herrn Kopſch erlitt ein glänzendes Fiasko, noch 
bevor der Verſuch zu ihrer Verwirklichung gemacht war, da der Führer 
der Freikonſervativen, die, weil ſie ihre Anhänger nicht direkt nach ihrer 
Stellung zum Apoſtolikum fragen, von freiſinnigen Rednern als Kultur— 
liberale ausgeſchrien wurden, vor der Wahl noch ſchleunigſt einen neuen 
Bund mit dem Zentrum ſchloß. 

Am Gründe für den Verluſt find die betrübten Lohgerber nicht vers 
legen; aber ihr Jammern über die ſozialdemokratiſchen Boykottdrohungen, 
ihr Klagen über die die Roten ungebührlich bevorzugende Neueinteilung 
der Berliner Wahlkreiſe, ihre Bannflüche gegen die ſozialliberalen „Quer- 
treiber“ beweiſen, daß ſie die Wurzel des Abels nicht erkennen und nicht 
erkennen wollen, und daß alſo auf eine Umkehr keinerlei Hoffnung beſteht ... 

Die bürgerlichen Demokraten werden weiter organiſieren und weiter 
arbeiten, und eine ihrer weſentlichen Aufgaben ſcheint die zu ſein, den 
Todeskampf des Blockfreiſinns beſchleunigen zu helfen...“ 

Eine Weile kann ja der Liberalismus noch ſo weiter fortwurſteln. 
Der gebrochene Greis wird dann freilich nur noch auf den Krücken der 
Regierung und ſeiner intimſten ehemaligen Feinde in die Parlamentshäuſer 
humpeln können. Werden jene dann aber auf die Verpflegung und Er: 
haltung des armen alten Mannes, der zu nichts mehr nütze iſt, noch Wert 
legen: — „Was kannſt du armer Teufel geben?“ 


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ur 


Grundfragen der Literatur 


Gon 
Eduard Engel 
(Aus der foeben erſcheinenden dritten Auflage feiner „Geſchichte der deutſchen Literatur“) 


Höchſtes Glück der Erdenkinder 
Iſt nur die Perſönlichkeit. (Goethe.) 


W Cie wichtigſte aller Fragen iſt dieſe: Wie ſoll ſich der Lefer, der 
in der Aufnahme von Dichterwerken ſeelenfüllenden Genuß, 


XL) 


lung der Poeſie? Daß die Dichtung ſelbſt keine Wiſſenſchaft, ſondern 
gottlob eine Kunſt iſt, wird einſtweilen noch nicht beſtritten; die Beſchäftigung 
aber mit Dichterwerken droht mehr und mehr verwiſſenſchaftelt zu werden. 
Der Leſer, der nicht von Beruf Literaturgelehrter iſt, noch ſein will, müßte 
auf den Genuß auch nur eines großen Dichtungsgebietes verzichten, wollte 
er außer dem ſchlichten Leſen der Werke noch die Literatur über die Werke 
beherrſchen. Fordert doch die eindringende Beſchäftigung des Nichtfach— 
mannes mit jedem der Allergrößten, mit Goethe, Schiller, Shakeſpeare, ein 
Menſchenleben, und keiner von ihnen läßt ſich vollkommen begreifen ohne 
einige Kenntnis faſt der geſamten Weltliteratur des Bedeutendſten. So 
bleibt denn für den genußfreudigen Literaturfreund kein andres Mittel als 
ſtrengſte Auswahl des Wichtigſten und rückſichtsloſe Ablehnung alles deſſen, 
was nicht neben der Wegeweiſung zur Kunſt als Vertiefung des Genuſſes 
an der Kunſt dienen kann. i 
* 

Die ältere Literaturwiſſenſchaft hielt es nur für ihre Aufgabe, die 
Lebensverhältniſſe der Dichter, die Quellen ihrer Werke zu ermitteln und 
die zum Verſtändnis des Ganzen oder der Einzelheiten nötigen Sach— 
erklärungen zu liefern. Dieſe Zweige der Literaturwiſſenſchaft ſind berech— 
tigt, denn ſie erwachſen aus einem wirklich empfundenen Bedürfnis des 
kunſtfrohen Leſers. Seit etwa einem Menſchenalter jedoch, beſonders ſeit 
dem Auftreten Wilhelm Scherers, erfindet ſich die Literaturwiſſenſchaft — 


568 Engel: Grundfragen der Literatur 


bezeichnenderweiſe nur in Deutſchland, der Heimat jahrhundertelanger Aber⸗ 
hebung der Wiſſenſchaft über die Kunſt — eine Aufgabe, die aus keinem 
Bedürfnis begeiſterter Literaturfreunde entſprungen iſt: die gelehrte Er⸗ 
gründung der dichteriſchen Zeugung. „Die Erforſchung der dichteriſchen 
Phantaſie (durch) Nichtdichter!) iſt die naturgemäße () Grundlegung des 
wiſſenſchaftlichen Studiums der poetiſchen Literatur und ihrer Geſchichte“, 
ſo heißt es bei Dilthey, einem ſonſt verdienten Gelehrten der Gegenwart, 
in ſeinem Buche „Das Erlebnis und die Dichtung“ (1906). Goethe hat 
uns eine ganz andere und wohl auch „naturgemäße Grundlegung“ hinter⸗ 
laſſen, eine „Würdigungstabelle poetiſcher Produktionen“, worin ſich als 
Forſchungsziele nur verzeichnet finden: „Naturell, Stoff, Gehalt, Behand: 
lung, Form, Effekt“. Niemals iſt ihm in den Sinn gekommen, als Gegenſtand 
wiſſenſchaftlicher Beſchäftigung mit Dichtungswerken die „Erforſchung der 
dichteriſchen Phantaſie“, alſo das Geheimnis ihrer Zeugung zu benennen. 
Im Gegenteil, keiner war von der Anerforſchlichkeit des letzten Kunſt⸗ 
geheimniſſes tiefer durchdrungen als Goethe, der einmal an Schiller ge: 
ſchrieben hat: „Ich glaube, daß alles, was das Genie als Genie tut, un⸗ 
bewußt geſchieht.“ Wie Goethe denken alle Dichter, die ſich zu 
der Frage geäußert haben. Die Dichter aber haben bekanntlich in 
Deutſchland über Dichtung gar nicht mitzureden, ſondern einzig die ge⸗ 
lehrten „Germaniſten“, die nach Kellers Wort „beſſer wiſſen wollen, woher 
und wie die Oichter leben und ſchaffen, als dieſe ſelbſt“. Seit dem Bei⸗ 
ſpiel Scherers iſt es bei uns etwas Selbſtverſtändliches geworden, daß die 
Gelehrſamkeit, ſie allein, berufen und auch befähigt ſei, der Welt zu erklären, 
was den Dichtern ſelbſt unerklärlich ſchien: das Aufkeimen und Erblũhen 
ihrer Kunſtgebilde. 

Aus immer neu beſtärkter unverſöhnlicher, aber ſtrengſachlicher Feind 
ſchaft gegen dieſe neumodiſche anmaßliche Verirrung der Literaturwiſſenſchaft 
ſtehe hier die Aberzeugung: Es gibt ſo wenig eine Aufgabe der Wiſſen 
ſchaft, wie ein Bedürfnis des kunſtfrohen Leſers, das Argeheimnis des Dich 
tens zu entſchleiern. Und im Geſamtbereich der Wiſſenſchaft gibt es kein 
Mittel, auf den Seelengrund des Dichters zu tauchen. Der Zuſtand des 
Dichters in den Augenblicken künſtleriſcher Empfängnis iſt durch eine Welt 
geſchieden von jeglicher Forſchung des Gelehrten. Des Künftlere Schöp⸗ 
fungsrauſch kann vom nieberauſchten Denker nicht nachempfunden werden, 
ſo wenig wie der Liebesrauſch vom Nieverliebten, der Weinrauſch vom 
Nietrunkenen. Selbſt die gelegentlichen Aufzeichnungen von Dichtern über das 
erſte Aufſteigen ihrer Gebilde ſagen einem andern Künſtler gar vieles, dem 
Gelehrten nichts. Es iſt wohl die unwiſſenſchaftlichſte aller Bemühungen, 
das Dichten ergründen zu wollen, denn Wiſſenſchaft kommt von Wiſſen, 
und die Seele des nicht zugleich dichteriſchen Gelehrten weiß nichts von der 
Seele des Dichters. Im beſten Falle empfindet ſie, wie die Seele des kunſt⸗ 
frohen Laien, Genuß an dem Dichtungswerk; über deſſen innerſtes Werden 
vermag ſie, trotz der Fülle äußeren Wiſſens, nichts auszuſagen. 


Engel: Grundfragen der Literatur 569 


Die gerechte Strafe einer falſchen Aufgabeſtellung iſt die in allen 
ſolchen Werken LUnberufener ſofort währzunehmende bloße Wortmacherei. 
Klare Begriffe vom Niegefühlten fehlen und müſſen immerdar fehlen: ſo 
ſtellen ſich denn die gar tiefſinnig klingenden Worte oder Wörter ein, über 
die jeder Künſtler verächtlich lacht; begreiflicherweiſe zumeiſt die zur Ver⸗ 
ſchleierung von Gedankenunklarheit fo überaus nützlichen verblaſenen Fremd⸗ 
wörter. Man hat in Wahrheit gar nichts erforſcht, täuſcht aber ſich und 
andere mit hohlem Wortſchwall von der „gelungenen Analyſe der pſychiſchen 
Vibrationen“ oder „der Fixation impreſſioniſtiſchen Erlebens“, und will mit 
ſolcher bodenloſen Schaumſchlägerei eine Wiſſenſchaft vorgaukeln, die es 
nicht gibt noch geben kann. Ein kommendes Geſchlecht mit ſtärkerem Sinn 
für ſchlichte Wahrhaftigkeit, mit tieferer Abneigung gegen Wortgeklingel, 
wird auf die prahleriſche Literaturſcheinwiſſenſchaft unſeres Zeitalters mit 
noch größerer Verachtung zurückblicken, als die heutige Naturwiſſenſchaft 
auf die ſelbſtzufriedenen Welterklärungen des Nationalismus im Zeitalter 
Voltaires oder auf die Goldmacherkünſte der auch ſehr wiſſenſchaftlich 
tuenden und mit Fremdſprachen gaukelnden Alchemiſten. 

* * 


Bliebe diefe zum unfruchtbaren Spiel mit Worten verdammte Schein⸗ 
wiſſenſchaft im engen Kreiſe derer, die ſie berufsmäßig betreiben, ſo brauchte 
nicht vor ihr gewarnt zu werden. Bei der nahen Berührung jedoch unſerer 
Allgemeinbildung mit allem, was ſich Wiſſenſchaft nennt, droht aus dieſer Art 
des Betriebes einiger Geſchichte⸗ und Literaturforſcher eine ernſte Gefahr für 
die literariſche Bildung: die Vernichtung der Ehrfurcht vor dem Genius, 
alſo die Zerſtörung eines der unentbehrlichſten Ideale jedes Höhenvolkes. 
Gibt es kein Geheimnis der Kunſtſchöpfung mehr, ſo iſt es mit der großen 
Kunſt zu Ende, und es beginnt die Blütezeit des Dilettantismus, oder wie 
Schiller noch geringſchätziger ſagte: der Dilettanterei. Es iſt kein Zufall, 
daß ſeit dem Anſpruch der Gelehrten, das Weſen des Dichtens zu er- 
forſchen, die Schranken zwiſchen Kunſt und Pfuſcherei immer ſchwächer 
werden. In Deutſchland, dem Lande der Formloſigkeit, iſt ohnehin die 
Gefahr der Dilettanterei größer als in Ländern mit feinerem Sinn für alle 
Kunſtform. Wer in Frankreich in Verſen dichtet, muß Verſe machen 
können; wer Proſa ſchreibt, muß richtiges und formvolles Franzöſiſch 
ſchreiben. In Deutſchland kann man heute für einen großen Versdichter 
gelten, ohne Verſe zu machen, und von der Proſa als einer kaum minder 
ſchweren Kunſt als der gebundenen Rede weiß man in Deutſchland weniger 
als im 18. Jahrhundert. Man begnügt ſich heute mehr als je zuvor mit 
dem bloßen großwortigen Wollen, und viele berühmte Dilettanten, durch 
eine nachſichtige Kritik verwöhnt, empören ſich, wenn man von ihnen ein 
volles, rundes Kunſtwerk verlangt. Sie kleben am Stoff, erklären es ſchon 
für eine Großtat der Kunſt, wenn ſie einen an ſich bedeutſamen Gegen⸗ 
ſtand nur roh angepackt haben — man denke an Wedekinds Frühlings- 
erwachen —, und ſehen von der Kleinigkeit einer Kunſtform genigion ab. 

Der Türmer X, 10 


570 Engel: Grundfragen der Literatur 


Ganz vergeblich hat Goethe in feinen hingeworfenen Sätzen über den 
Dilettantismus die heute mehr als je beherzigenswerten Worte geſchrieben: 

„Was dem Dilettanten eigentlich abgeht, iſt Architektonik im höchſten 
Sinne, diejenige Kraft, welche erſchafft, bildet, konſtituiert. Er hat davon 
nur eine Art von Ahnung, gibt ſich aber durchaus dem Stoff dahin, an⸗ 
ſtatt ihn zu beherrſchen.“ 

Neu iſt an der Dilettanterei der Gegenwart, daß ſie nicht wie die 
früherer Zeiten beſcheiden neben dem Kunſtvollbringen hergeht, ſondern 
unverſchämt angreifend auftritt. Sie erklärt jeden für blind, der da, wo 
nichts iſt, nichts ſieht; der hochſtelzende Ohnmacht in der Ausführung großer 
Stoffe nicht bewundert, für „plattbürgerlich“ und „rückſtändig“; und fie 
erhebt gegen die Feinde der tiefſinnig tuenden Kunſtſtümperei den ärgſten 
modiſchen Vorwurf: den vom geſunden Menſchenverſtande. Der Leſer, 
dem es durchaus nicht gelingen will, irgendwelchen durch eine gefällige 
Kamaradenpreſſe auspoſaunten formloſen Unfinn zu verſtehen, laſſe ſich 
durch ſolche Vorwürfe nicht ſchrecken. Der rückſtändige geſunde Menfchen- 
verſtand des Hochgebildeten, der ausreicht, die Schönheiten und Tiefen 
Hölderlins, Goethes, Schillers, Kleiſts, Hebbels, Kellers zu erkennen und 
genießen, darf fic) lächelnd tröſten, wenn man feine gelangweilte Gleich⸗ 
gültigkeit gegen undramatiſche Dramatiker, versohnmächtige Lyriker, ſeil⸗ 
tänzeriſche Proſaſtilgaukler Philiſterei ſchilt. Die eiſige Anerſchütterlichkeit 
gegen alles bloße Wollen, gegen alle Möchtegernerei, wie man endlich derb- 
deutſch den Dilettantismus fortan nennen ſollte; die entſchiedene Forde⸗ 
rung: Stümper, wo iſt dein Kunſtwerk? — fie find die untrüglichen Leit ⸗ 
ſterne durch das Dickicht der Gegenwartliteratur. 

* * 


* 

Ehedem glaubte man, die großen Werke der Kunſt ſeien die Schöp⸗ 
fungen beſonders begnadeter Künſtler. Goethe und Schiller haben dieſen 
Glauben geteilt. Eine neumodiſche, aber eben eine modiſche, Lehre lautet: 
der Dichter und ſein Werk ſeien das Erzeugnis der jeweiligen Kultur, und 
nicht die Perſönlichkeit, ſondern die hinter ihr ſtehende Geſamtheit eines 
Volkes bringe die Kunſtwerke hervor. Eine der neueſten Literaturgeſchichten 
gipfelt in dem Satz: „Schließlich iſt ja doch die ganze Nation die Gchöp- 
ferin ihrer Dichter und ihrer Dichtung.“ Dies iſt tiefſinnig tuendes leeres 
Gerede; ebenſo gut und beſſer könnte man die Breiten- und Längengrade, 
die Bodenbeſchaffenheit, die Zahlen der Sonnentage und der Regenhöhe 
als die wahren Schöpfer der Kunſtwerke bezeichnen. Verteidigt wird dieſe 
Auffaſſung nur von einigen Gelehrten, die übrigens für ſich ſelbſt alle 
Ehrenrechte der neuſchöpferiſchen Perfönlichkeit beanſpruchen. Nie hat ein 
Künſtler dieſe Anſicht von der Stellung der Kunſt zur Geſamtkultur ge 
teilt. Sie wurde zuerſt und am eindrucksvollſten von dem Nichtdichter Taine 
gepredigt, und fie iſt bis heute das Mittel aller Nichtküͤnſtler geblieben, 
ſich gegen die weltbeherrſchende Gewalt des Genius aufzuleßnen. Diele 
Art der Darſtellung der Literatur als eines naturnotwetidigen und willen 


Engel: Grundfragen der Literatur 571 


ſchaftlich auszurechnenden Erzeugniſſes der Geſamtkultur ift Kunſtgeſchichte 
von Philiſtern für Philiſter, denen die umwälzende Perſönlichkeit ein 
Grauen iſt, eben weil ſie ſich durchaus nicht erklären läßt. 

Viel überzeugender wäre der Beweis zu führen, daß die Geſamt⸗ 
kultur durch einzelne Schickſalsmenſchen beſtimmt wird, und Paul Heyſes 


aa Männer, die über den Seiten ftehn, 
Willſt du als ihr Produkt erklären? 
Haſt du ſchon je einen Sohn geſehn 
Seine eigne Mutter umgebären? 


ſind ebenſo ſchlagend wie geiſtreich. Dieſe neumodiſche Scheinwiſſenſchaft 
wagt ihre Erklärerei auch nur an Künſtlern; Friedrich den Großen, Na⸗ 
poleon, Bismarck aus der „allgemeinen Kultur“, aus dem vielgeliebten 
„Milieu“ heraus zu erklären, würde Gelächter erregen. And doch haben 
die größten Feldherren und Staatsmänner mit bekannten und berechen⸗ 
baren Kräften ihres Volkes und ihrer Zeit gewirkt, wogegen der Dichter 
mit den jedem Nichtdichter unbegreiflichen Geheimkünſten ſeiner Phantaſie 

völlig neue Gebilde ſchafft. 
* : 

a 

Die wiſſenſchaftlich tuende Erklärerei mit den Kulturzuſammenhängen 
führt zu ſolchen Gaukelſpielen wie den von jedem nach eigener Willkür 
gezeichneten „Signaturen der Zeit“. Dieſe Signaturen paſſen natürlich 
ſtets, denn der Zeichner verfertigt fie ja, damit fie paſſen. Dieſe Wiſſen⸗ 
ſchaftelei iſt wie ein kindliches Geſellſchaftsſpiel, etwa ein Scheibenſchießen, 
wobei um jede Kugel in der Scheibe hinterher ein Kreis geſchlagen wird, 
ſo daß die Kugel unfehlbar im Zentrum ſitzt. Nichts iſt leichter für die 
bloße Wortmacherei, als z. B. das 14. und 15. Jahrhundert ſchwarz in 
ſchwarz zu malen, wenn man alle hellfarbigen Erſcheinungen aus läßt. Dieſe 
Art wiſſenſchaftelnder Spielerei hat es ſogar fertig gebracht, das klaſſiſche 
Jahrzehnt von 1871 bis 1881 mit der Signatur der greulichſten Verrottung 
und ddeiten Unfruchtbarkeit zu bekleben. Auch ſonſt iſt dieſes Signaturen⸗ 
ſpiel mit den Kulturzuſammenhängen „windſchaffen als ein Urmel“: für 
zwei durchaus gegenſätzliche, nebeneinander wirkende Dichter des gleichen 
Zeitalters werden je nach Bedarf zwei gegenſätzliche Signaturen erfabelt. 
Den Dichter „aus feiner Zeit heraus“ zu erklären, mag mit Erfolg vere 
ſucht werden an den Dutzenddichtern, die nicht aus ureigenem Recht, ſon⸗ 
dern aus einer ſchnell vergänglichen Mode der Zeit heraus ſchreiben. Für 
die großen Dichter kommt es weit mehr darauf an, zu zeigen, wie richtung⸗ 
weiſend ſie auf die Geiſteskultur ihrer Zeit gewirkt haben, als umgekehrt. 
Wo immer wir dem Verſuch begegnen, einen großen Künſtler aus dem 
Geiſt der Zeiten zu erklären, da können wir ſicher ſein, daß es einzig der 
Herren eigener Geiſt iſt. Wäre es möglich, aus den wiſſenſchaftlich er⸗ 
forſchten Kulturzuſtänden eines Zeitalters deſſen großen Künſtler zu erklären, 
ſo müßte der Kulturforſcher der ihm ja am beſten bekannten Gegenwart 


572 Engel: Grundfragen der Literatur 


uns mit hellſeheriſcher Beſtimmtheit den großen deutſchen Dichter der 
nächſten Zukunft prophezeien. In Wahrheit aber wird von dieſer Schein ⸗ 
wiſſenſchaft immer nur rückwärts prophezeit, und, o Wunder! derlei 
Prophezeiungen treffen alleſamt ein. Niemals wird es gelingen, zu erklären, 
wie um 1770 der Frankfurter Wolfgang Goethe eine neue deutſche Lyrik 
ſchaffen konnte, es ſei denn, man beſcheidet ſich zu ſagen: weil er Wolf. 
gang Goethe, der wunderſame Einzige, war. And noch nie iſt die wiſſen⸗ 
ſchaftelnde Erklärerei der Dichtung aus der Geſamtkultur über flimmerndes 
Wortgeflunker hinaus gekommen, wenn fie verſucht hat, Erſcheinungen wie 
Luther, Chriſtian Günther, Winckelmann, Hölderlin, Novalis, Kleiſt, Hebbel 
anders als aus ihren urſprünglich zeitwidrigen Perſönlichkeiten zu begreifen, 
oder gar einen ſo zeitloſen Dichter wie Grillparzer aus ſeinem Zeitalter zu 
erdeuten. Wer die Macht der Perſönlichkeit als oberſte aller Geiſtes⸗ 
mächte leugnet, der hat es leicht, willkürlich — und jeder anders! — die 
ſogenannten „inneren Linien“ zu ziehen, wie ein ſpaßiges Modewort lautet. 
Da wird von dem einen unverzagt die innere Linie von Storm über Keller 
nach Wagners Bayreuth gezogen, während ein anderer ſeine innere Linie 
von Biernatzki über Storm zu dem Franzoſen Pierre Loti zieht, der von 
jenen beiden keine Ahnung hat. Oder, wie Guſtav Falke ſo treffend ſcherzt: 
es werden für Frenſſens Jörn Ahl innere Linien nach zweiundſiebzig Ahnen 
gezogen, nämlich nach jedem früheren Schriftſteller, der auch mal von einer 
Kuh geſchrieben hat. 

Eine allerneueſte Abart dieſes wiſſenſchaftlich tuenden Geſellſchafts⸗ 
ſpiels iſt die Erklärerei der Dichtung der Gegenwart „aus der Entwickelung 
zum maſchinellen Großbetriebe“, und wir dürfen demnächſt tieffinnige Unter« 
ſuchungen der Zuſammenhänge zwiſchen der jüngſten Lyrik und der Ber: 
drängung der Kolbenmaſchine durch die Dampfturbine erwarten. Der 
ſtehende Sprachgebrauch aller dieſer ſich und andere täuſchenden GErllärer 
des Anerklärlichen iſt der mit „mußte“, z. B. in einem Satze wie „Die 
Literatur mußte fortan dieſen Weg einſchlagen“ (Lamprecht), der nur ge 
ſchrieben wurde, nachdem der Schreiber in einem Schulbuch geleſen, daß 
die Literatur tatſächlich „dieſen Weg“ eingeſchlagen hatte. In Wahrheit 
mußte die Literatur den Weg gehen, den ihr die Dichter vorſchrieben, und 
eine zu jeder Zeit mögliche kraftvolle Perſönlichkeit, die zufällig nicht ge⸗ 
boren wurde, hätte ihr einen durchaus andern Weg vorgeſchrieben. Es 
ſteht mit dieſer Scheinwiſſenſchaft der Literatur genau fo wie mit der bee 
rühmten tiefgründigen Geſchichtserklärung, daß Napoleon die Schlacht bei 
Waterloo verlieren „mußte“, welchen Beweis aber die behutſame Willen: 
ſchaft nur führt, nachdem ihre Vertreter als zehnjährige Knäblein ge 
lernt haben, daß die Schlacht bei Waterloo wirklich von Napoleon ver 
loren wurde. : ; 

* 

Kaum größeren wiſſenſchaftlichen Wert hat eine andre modiſche Art 

der Literaturgeſchichte: die nach Volksſtämmen. Auch ſie arbeitet faſt durch · 


Engel: Grundfragen der Literatur 573 


weg mit der Prophezeiung nach rückwärts. Sie „erklärt“ reſtlos Friedrich 
Hebbel aus feiner Zugehörigkeit zur ditmarſiſchen Raſſe, aber vorſichtiger⸗ 
weiſe erſt, nachdem der grundgelehrte Forſcher in einem Buche geleſen, 
daß Hebbel in Weſſelburen geboren wurde. Daß es eine Reihe anderer 
holſteiniſcher Dichter von durchaus nicht Hebbelſcher Art gibt, z. B. Storm, 
Klaus Groth, Timm Kröger, Liliencron, Falke, das ſtört dieſe Wiſſen⸗ 
ſchaftelei nicht, denn auch für ſolche Dichter macht ſie eine, ſelbſtverſtändlich 
immer paſſende, Erklärung aus dem Holſteinertum je nach der gewünſchten 
„Signatur der Zeit“ zurecht. Sie „erklärt“ Chamiſſo und Fontane fchla- 
gend aus ihrem Franzoſentum, weil ſie ihre Abſtammung kennt, und der 
polniſche Arſprung Nietzſches beunruhigt fie nicht in ihrem Erklärungsſpiel. 
All dies iſt Spiegelfechterei und Treppenwitz ohne den geringſten wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Wert. 

Bis zu welchen Ausſchreitungen die ſchrankenloſe Erklärungswut 
mancher Literaturgelehrten aus der Schererſchen Schule, ihre tiefe Ab⸗ 
neigung gegen die Arſchöpferkraft der Perſönlichkeit geht, das zeigt das 
klaſſiſche Beiſpiel eines Lieblingsſchülers Wilhelm Scherers, der jüngſt „eine 
vollſtändige Topographie (Ortsbeſchreibung) der Entſtehung von Goethes 
Dichtungen“ forderte, um nun endlich in das allerletzte Geheimnis des 
Goethiſchen Genius einzudringen! Ach, ſelbſt die vollſtändigſte Topographie 
oder ſonſt eine Graphie der Entſtehung aller großen Dichterwerke aller 
Zeiten würde uns über ihren Weſensgrund gar nichts ſagen; ja ſogar 
ſämtliche Küchenzettel des Goethehauſes und alle Barometerſtände in Wei⸗ 
mar, auf die doch Goethe ſelbſt als für ihn nicht unwichtig hingewieſen, 
würden uns über den Vorgang ſeines Schaffens im Dunkeln laſſen. 

* * 


Die Wiſſenſchaft erachtet es als ihre Pflicht, für alle gleiche oder 
ähnliche Erſcheinungen am Himmel und auf Erden zuſammenfaſſende Ge⸗ 
ſetze zu ſinden. Die Werke des Genius jedoch entziehen ſich ſolcher Zu⸗ 
ſammenfaſſung, denn ihrer jegliches iſt und ſoll ſein ein ewig Einzelnes. 
Werke, auf die ein wiſſenſchaftliches Geſetz zuträfe, wären eben Fabrik⸗ 
werke. Soll nun aber die Literaturwiſſenſchaft ganz verzichten, das Gemein⸗ 
ſame und Geſetzmäßige auch in der Welt der Geiſtesſchöpfung zu erfor⸗ 
ſchen? Wollte fie ſich nur demütig beſcheiden, das unerklärliche große Cingel- 
werk ſtill in ſich ruhen zu laſſen, ſo gäbe es für ſie der großen Richtlinien 
noch immer genug. Anſtatt ſich fruchtlos abzuquälen, die Kunſtwerke der 
ewig Einzelnen aus der Kultur der Maſſen abzuleiten, ſollte ſie ſich auf 
die offenſichtlich erkennbaren, immer wiederkehrenden Erſcheinungen be⸗ 
ſchränken. Da iſt alſo obenan das Weltgeſetz von der umwälzenden Macht 
der Perſönlichkeit, vor dem wir uns alle, auch die kühnſte Wiſſenſchaft, zu 
beugen haben. Dann gewahren wir ein anderes Argeſetz, allerdings erſt in 
zweiter Reihe: das Geſetz von der ſeeliſchen Ermüdung, dem die Ablöſung 
aller literariſchen Moden und Strömungen unterworfen iſt. Hierher ge⸗ 
hört das beſonders für die deutſche Literatur beſtimmende Geſetz, das keine 


574 Engel: Grundfragen der Literatur 


Ausnahme kennt, von der erneuernden Macht der Jugend, alfo von der 
Ablöſung der Dichtergeſchlechter. Für die neueſte Zeit mag dann noch 
unterſucht werden die eigentümliche Wirkung der gegen früher verzehn-, 
verhundertfachten „Berühmtheit“ jedes Literaturwerkes vermöge der riefen- 
haft angewachſenen Preſſe. Auch die noch immer im Aufſteigen begriffene 
Macht einer Neichshauptſtadt, die zugleich eine der Weltſtädte geworden, 
übt Einflüſſe, die der wiſſenſchaftlichen Unterfuchung wert find. Daß es 
daneben Zuſammenhänge zwiſchen Geſamtkultur und Zeitfärbung der Dichter 
werke gibt, daß ſich in der Wahl der Stoffe, in ihrer Auffaſſung, Form 
und Sprache Einwirkungen des geſamten übrigen Kulturlebens kundtun, 
das iſt ſo ſelbſtverſtändlich, daß es hier nur angedeutet wird. Nur ſoll 
man alle dieſe Einflüſſe zuſammengenommen nicht für das Entſcheidende 
halten zur Erklärung der Empfängnis und Geburt eines großen Kunſt⸗ 
werkes, ſondern ſoll ſich, gerade aus Achtung vor der wahren Wiſſenſchaft, 
mit dem Ignorabimus (Wir werden es nie wiſſen) ſtill beſcheiden. 
* * 


Das Schöpfen des Arteils über Dichterwerke der Gegenwart kann 
nicht gelehrt werden. Nur einige Warnungen und Winke mögen an dieſer 
Stelle ſtehen; die Beiſpiele werden ſich in reicher Fülle in der Folge er- 
geben. Sich durch kein noch ſo lautes Geſchrei eines Schriftſtellers und 
der Preſſe beirren zu laſſen, iſt der nie zu nachdrücklich erteilte vornehm⸗ 
lichſte Rat. Ja, man könnte faſt als allgemeine Regel aufſtellen: jedes 
Kunſtwerk, das von geſtern auf heut in die Mode kommt, iſt kernfaul und 
zur ſchnellen Vernichtung beſtimmt. Jakob Burckhardt rechnete es geradezu 
unter die Haupteigenſchaften des „großen Individuums, ſich durch keinen 
Lärm des Augenblicks betäuben zu laſſen“. Galt jedes „ſenſationelle Buch 
in hunderttauſend Abdrücken binnen zwei Jahren iſt wertlos und könnte 
unbeachtet bleiben; nach wenigen Jahren iſt es ſicher vergeſſen. 

Beſonders vorſichtig ſei man gegen den Lärm der großſtädtiſchen 
Kritik. Zum Weſen der Großſtadt gehört die vordringliche Übertreibung: 
ohne ſie würden ja die Anbedeutenden ſich nicht vernehmlich machen. Die 
heutige Kritik poſaunt immer neue Tagesgrößen aus, um als deren Gefolg⸗ 
ſchaft annähernd gleiche Geltung zu gewinnen. Das wahrhaft Große und 
Echte ſucht und findet ſolche Poſaunenbläſer niemals. Ginge es nach den 
vollbackigen Anpreiſungen der heutigen Kritik, ſo hätten wir in den letzten 
zehn Jahren mindeſtens 200 vom auf jedem der drei Hauptgebiete der 
Dichtung erlebt. 

Auch die meiſten Werke mit außerküünſtleriſchen Nebenabſichten, be 
ſonders aber alle Bücher zur Selbſtverherrlichung des Künſtlers, ſind ebenſo 
kunſtwidrig, wie ſie undeutſch ſind, denn „deutſch ſein heißt eine Sache um 
ihrer ſelbſt willen tun“. Daß man ſich ferner jedem Kunſtwerk, auch der 
älteren, ja der älteſten Zeit ganz unbefangen, unwiſſenſchaftlich und vor- 
bereitungslos nähern ſollte, iſt gerade angeſichts des ſich zwiſchen Leſern 
und Dichterwerken immer höher türmenden Rieſenwalles der Literatur über 


Engel: Grundfragen der Literatur 575 


die Literatur dringend anzuraten. Nicht wie, wann, wo „Fülleft wieder 
Buſch und Tal“ oder „Nicht ein Flügelſchlag ging durch die Welt“ ent- 
ſtanden ſein mögen, hat dauernden Seelenwert, ſondern einzig die Wirkung 
ſolcher Lieder auf das Menſchenherz. Wer ſich mit ihr durchaus nicht be⸗ 
gnügen will, der tauche in die Abgründe der Goethe⸗Philologie, oder der 
Keller⸗Forſchung, die auch ſchon zu einer Wiſſenſchaft für ein halbes 
Menſchenleben anzuſchwellen beginnt. Was immer jedoch die Gelehrten 
fagen mögen, keine wiſſenſchaftliche Erforſchung der Quellen, der Topo⸗ 
graphie, der Gaſtronomie oder Aſtronomie einer großen Dichtung wird 
jemals den reinmenſchlichen Genuß an einem gehaltvollen und formen⸗ 
ſchönen Kunſtgebilde ſteigern. Ja, es ließe ſich mit zahlloſen Beiſpielen 
der Beweis des Gegenteils führen. So wird der tiefe Eindruck eines Ge- 
dichtes wie „Der du von dem Himmel biſt, Alles Leid und Schmerzen 
ſtilleſt“ nur geſchwächt, die durch ein ſolches Menſchheitgedicht entriegelte 
Gefühlswelt verengt, wenn uns die Literaturforſchung belehrt, daß Goethe 
jenes Lied nicht aus der allgemein menſchlichen Unraft des bewegten Her: 
zens hinausgeſeufzt, ſondern daß es Goethes Sehnſucht nach Frieden aus 
den Wirren unſeliger Liebesleidenſchaft für eine beſtimmte verheiratete Frau 
geweſen iſt. Goethes Zeitgenoſſen, die von dieſer Veranlaſſung nichts wußten, 
haben das unſterbliche Lied reiner genoſſen als wir goethereif gewordenen 
gelehrteren Nachfahren. : 
1 

Wie die Modewiſſenſchaft alle Kunſtwerke aus der jeweilig herr⸗ 
ſchenden Kultur heraus zu erklären vorſpiegelt, ſo fordert ſie, daß der Leſer 
die Werke der Literatur nicht zeitlos einfach auf ſich wirken laſſe, ſondern 
ſie geſchichtlich, „aus der Zeit heraus“, verſtehe. Gewiß, es hat ſeinen 
wiſſenſchaftlichen Reiz, alle Geiſteserſcheinungen aus der Seele vergangener 
Zeiten zu begreifen. Indeſſen nur die wenigſten Leſer, die ſich mit der 
Literatur der Vorzeit befaſſen, tun dies zur Vermehrung ihres Wiſſens; 
vielmehr ſuchen ſie in einem Dichterwerk, gleichviel welcher Zeit, die ewige 
Kunſt, und es nützt ihnen nichts, wenn ihnen die Wiſſenſchaft zeigt, wodurch 
irgend ein berühmt geweſenes Buch ſo kunſtlos geraten iſt. Gerade das 
Anvollkommene läßt ſich am leichteſten aus der Zeit heraus erklären, aber 
— es lohnt die Mühe nicht. Sollen wir nicht das Recht haben, ſogar 
Wolframs Parzival mit all ſeinen ſchönen Einzelheiten, mit all ſeinem 
echtdeutſchen Bohren in die Gemütstiefe dennoch als Geſamtkunſtwerk ab- 
zulehnen, weil auch ſeine Schwächen aus der Zeit heraus begriffen werden 
müſſen? Aber hat nicht ſchon Wolframs Zeitgenoſſe Gottfried von Straß⸗ 
burg aus feiner Zeit heraus über den Parzival herb abgeſprochen, weil 
dieſer ihm nicht genug reine Menſchlichkeit zu enthalten ſchien? Der kunſt⸗ 
freudige Lefer laſſe ſich durch keine „hiſtoriſtiſche“ Mode, wie jetzt der gelehrt 
tuende Sprachgebrauch lautet, irremachen in ſeiner Verwerfung alles deſſen, 
auch des durch Alter noch ſo Geheiligten, was weder reine Menſchlichkeit 
noch reine Kunſt darbietet. Man kann ſicher ſein, daß, abgeſehen von den 


576 engel: Grundfragen der Literatur 


Minneſingern ſelbſt, die meiſten Lefer ihrer Gedichte ſchon im 13. Jahr: 
hundert das vernichtende Urteil ausgeſprochen oder empfunden haben, das 
Schiller ſehr unhiſtoriſtiſch, aber durchaus zutreffend, ſechshundert Jahre ſpäter 
über den „ſpatzenhaft“ armſeligen Minneſang niedergeſchrieben hat. Oder 
ſollen wir etwa des „Hiſtorizismus“ wegen Opitzens Gedichte ſchön finden, 
weil feine literariſchen Zeitgenoſſen — ſchwerlich die nichtliterariſchen — fie 
mit Schablonenlob überhäuft haben? Anſere Väter und Großväter haben 
Tiecks Novellen bewundert, oder fo getan; hindert uns das, fie für poeſielos 
und ſchlecht erzählt zu erklären? Es gibt die eine Art der Literaturbetrach⸗ 
tung, die nur das Wiſſen vermehren will; es gibt die andre, die zum Ge⸗ 
nuſſe des Wertvollen, zur Abweiſung des Wertloſen anleiten möchte; in 
dieſem Buche wird weitaus mehr der zweiten als der erſten Betrachtungs⸗ 
weiſe gedient. Nicht nur weil der Lebende recht hat, ſondern weil gerade 
alle lebendig gebliebenen Werke vergangener Jahrhunderte ſo gut wie zeitlos 
find, darum rechtfertigt fic eine Beſchäftigung mit Literatur, die nur das 
Allernötigſte an Zeitgeſchichte mitnimmt. Man kann die Odyſſee, das 
Nibelungenlied, den Robinfon mit höchſtem Genuſſe leſen, ohne auch nur 
zu wiſſen, daß es ein Griechenvolk gegeben, aus welchem Jahrtauſend das 
Nibelungenlied ſtammt, oder ob Defoe ein Engländer geweſen iſt. 

Es hat die Weltgeſchichte 

Auch einen Janus kopf, 

Allein ein alter Tropf 

Sieht nur ihr alt Geſichte. N 

Anvergleichlich wichtiger als die trügeriſche Scheinwiſſenſchaft von 

den Zuſammenhängen zwiſchen Kultur und Literatur iſt für den Leſer die 
wahre Wiſſenſchaft, nämlich von vielen Tatſachen, die über den wiſſen⸗ 
ſchaftelnden Vermutungen bisher vielfach vernachläſſigt wurden. Redens⸗ 
arten von Strömungen, Wirkungen, Erfolgen bleiben Redensarten, ſolange 
man ſich nicht geeinigt hat, wieviel Leſer eines Buches etwa nötig find, 
um eine Strömung, eine Wirkung, einen Erfolg zu beweiſen. Wie ſoll 
z. B. feſtgeſtellt werden, ob Geibel noch eine lebendige Dichterkraft iſt, 
wenn nicht auch durch die Kenntnis der jährlichen Verkaufszahl ſeiner 
Werke? Von der Wirkung z. B. der Redwigifchen Amaranth auf ihre 
Zeit erfahren wir etwas Sicheres durch die Angabe, daß in ſechs Jahren 
18 Auflagen von je mehren Tauſend verkauft wurden; und wenn wir leſen, 
daß von Herweghs Liedern eines Lebendigen in zwei Jahren 5 ſtarke Auf- 
lagen vergriffen wurden, ſo iſt auch dies Wiſſenſchaft. Sie mag heißen 
die Literaturgeſchichte der Tatſachen, und kann ſie auch nicht ſo bequem wie 
die ſogenannte kulturgeſchichtliche oder die ſoziologiſche, die pſychologiſtiſche 
oder hiſtoriſtiſche mit hochtrabenden allgemeinen Redewendungen getrieben 
werden, ſo iſt ſie doch zuverläſſiger und wahrhaft belehrender, wenn auch 
vielleicht weniger vornehm oder modiſch. Daß die letzten Werturteile über 
ein Buch nach andern Merkmalen als den Abſatzzahlen zu ſchöpfen ſind, 
iſt ſelbſtverſtändlich. 


* 
* 


Engel: Grundfragen der Literatur 577 


Zu der heute durchaus notwendigen rückſichtsloſen Abweiſung aller 
Dilettanterei gehört die Annachſichtigkeit gegen die Inform, alſo auch gegen 
die heilloſe Verwälſchung der ſchriftſtelleriſchen Sprache. Der in dieſem 
Buch auf vielen Seiten geführte Kampf gegen das lächerliche Harlekin⸗ 
Deutſch in Proſadichtung und Wiſſenſchaft iſt keine Schrulle, ſondern ein 
guter Kunſtkrieg, in dem ſich der Verfaſſer bei fortſchreitender Verbreitung 
ſeines Buches unterſtützt fühlt von Tauſenden gleichgeſinnter Leſer. Er 
geſteht ſeine planvolle Abſicht, die Leſer mit tiefem Widerwillen gegen jeden 
deutſchen Schriftſteller zu erfüllen, der nicht Deutſch ſchreibt, er ſei zurzeit noch 
ſo berühmt. Daß hierbei nicht kleinlich gegen jedes alteingebürgerte Fremd⸗ 
wort geeifert wird, ſondern nur gegen die neumodiſche Geckenſprache, verſteht 
jeder Leſer. Nur in Deutſchland konnte dem Verfaſſer ein Vorwurf daraus 
gemacht werden, daß er mehr als einen deutſchen Schriftſteller verwirft, der 
Deutſch weder ſchreiben kann noch will. Ein Klaſſiker iſt ganz gewiß nicht darunter. 
Der Leſer erfülle ſich gerade gegenüber der Literatur unſrer Tage mit der 
Überzeugung von der erprobten Grundwahrheit, daß kein Buch mit Fremd⸗ 
wörterdeutſch ein bleibendes Kunſtwerk ſein kann. Wo immer ihm ein 
Schriftſteller begegnet, der aus Zunft⸗ und Kaſtendünkel oder aus der Eitel⸗ 
keit der Unreife die einfachſten menſchlichen Grundbegriffe mit weither⸗ 
geholten halbgriechiſchen, küchenlateiniſchen, falſchfranzöſiſchen Wörtern aus⸗ 
drückt, da darf er ſicher ſein, daß es ſich um keine ganz ehrliche Arbeit, 
gewiß um kein Kunſtwerk handelt. 

An deiner Sprache rüge 

Du ſchärfer nichts als Lüge, 

Die Wahrheit fet ihr Hort! (uhland.) 
Es gibt kaum einen zuverläſſigeren Maßſtab des literariſchen Urteils als 
die Echtheit der Sprache, beſonders für wiſſenſchaftliche Bücher. Ein Deut⸗ 
ſcher, der von der Pſyche und ihren Nervoſismen, vom Pſychismus, von 
„Goethe intime“ und vom Oeuvre Goethes, vom pſychologiſtiſchen Hiſtori⸗ 
zismus, von der Egoität und ähnlichem Firlefanz ſpricht, der will mehr 
ſcheinen als er iſt; der will ſich, wie ſchon Gottſched mit Recht höhnte, 
„en parlant vor der Canaille diſtinguieren“; der iſt ein ganzer, halber oder 
viertel Flunkerer. Sollte er ſich ſeiner Flunkerei nicht bewußt ſein, ſo 
ſchließt ihn dennoch ſeine Sprachunform aus der Literatur aus und weiſt 
ihn der bloßen Büchermacherei zu. Denn Literatur iſt Kunſt, zu dieſer 
gehört die reine Kunſtform, und ſchlechtes oder gar fremdwörtleriſch ver- 
fälſchtes Deutſch iſt kunſtwidrig. Es müßte ſchon ein, nur ſprachlich fchlecht- 
erzogener, Genius erſten Ranges ſein, dem wir grobe ſprachliche Mängel 
verzeihen ſollten. Nach einer bald zweihundertjährigen Neublüte der reich⸗ 
ſten Literatur der Welt iſt jetzt endlich die Zeit gekommen, wo wie bei den 
vormals führenden Literaturvölkern keine Nachſicht mehr geübt werden darf 
mit ſprachlicher Stümperei oder gar mit lächerlich eitlem Fremdwort 


geprahle. 
2 


578 Francois Coppee + 


Francois Coppée + 


it Francois Coppée, der am 22. Mai nach langem Siechtum aus 
dem Leben ſchied, iſt einer der volkstümlichſten franzöſiſchen Dichter 
dahingegangen. Man halte Amfrage, und jeder Deutſche, der 
ranzöſiſchen Unterricht genoß, wird Coppée kennen, während ihm viel be- 
deutendere Lyriker Frankreichs gänzlich unbekannt find. Er fehlt in keiner An- 
thologie, und feine Contes en vers: „La Gréve des Forgerons“, „La Veillée“, 
„L’Un ou lP’Autre“ find ſogar hüben wie drüben zum eiſernen Beſtand der 
Schulbücher geworden. Leider jedoch nicht ſo ſehr um ihres poetiſchen Wertes 
willen, ſondern weil Coppée vor allem anſchaulich und deshalb leicht ver- 
ſtändlich iſt, weil er dramatiſch belebte Handlung gibt, zu ſpannen und des 
öfteren zu rühren weiß. Aber nicht nur mit dieſen ſtofflich feſſelnden Contes, 
auch mit kleineren lyriſchen Sachen hatte Coppée Glück. Schon die Ver⸗ 
öffentlichung ſeiner erſten Versſammlung „Le Reliquaire“ war von ſeltenem 
Erfolg begleitet, und längſt haben berufene franzöſiſche Kritiker nach der Ur- 
face dieſes ſtaunenswerten Erfolges geforſcht. Jules Lemattre gelangt in 
‘einem ausführlichen Aufſatz über den Dichter zu folgendem Urteil: ,Coppée 
beſitzt genug des Rührſamen und genug dramatiſches Leben, um der Menge 
zu gefallen, aber auch hinreichend Geſuchtheit, um den Dekadenten etwas zu 
geben.“ . 

Als Lyriker ſchloß ſich der 1842 geborene Dichter, der nach Abfolvie- 
rung des College St. Louis ins Kriegsminiſterium eintrat, wie faſt alle ſeine 
dichteriſch begabten Altersgenoſſen an die Parnaſſiens an, der letzten Gruppe 
der Romantiker, die von Reften der romantiſchen Stoffwelt zehrte und, indem 
fie „Part de ciseler des vers“ hochhielt, einer feelenlofen, rein formalen Vers. 
kunſt entgegenging. Der junge Coppée nun, der vermöge feiner großen Reim ⸗ 
geſchicklichkeit wie felten einer begabt war, die Tradition virtuofer Formen; 
gewandtheit fortzuſetzen, brachte einen friſchen Blick für die unmittelbare Wirk · 
lichkeit mit. Er beſaß große Vorliebe für das Volkstümliche, Familiäre, für 
die kleinen Freuden und Leiden kleiner Leute und wußte ſo der ſtofflich immer 
ärmer werdenden parnaſſianiſchen Oichtkunſt friſches Leben zuzuführen. Ihn 
verſtand man, während die formvollendeten Heraufbeſchwörungen der roman: 
tiſchen Welt kein Intereſſe mehr erweckten. Coppée alſo hat unſtreitig Ver · 
dienſte: er kann voll ſchlichter Innigkeit ſein, warme Herzenstöne anſchlagen; 
er kann auch den komplizierten Regungen der modernen Seele nachſpüren, 
ohne allerdings Tiefen zu berühren, die den ganzen Menſchen ergreifen. Weit 
höher als feine rhetoriſchen und rührſeligen „Contes po6tiques“ ſtehen fo manche 
Verſe der Sammlungen: „Les Humbles“, „Les Intimités“, „Le Cahier rouge“, 
„L’Exilee“, die in feingeſchliffener Form warmherzige Klänge von Heimatliebe, 
familiärem Leben, Aufopferung und Selbſtverleugnung beſcheidener Seelen 
geben. Später betonte Coppée gerade dieſe letztere Note immer mehr und 
wußte beſonders ſeinen längeren Dichtungen jene ſoziale Färbung zu ver · 
leihen, die ihnen den Erfolg der breiten Maſſe ſicherte; oft trat dabei ein rein 
äußerlich rhetoriſches Pathos an die Stelle des warmen Gefühls, das ſeine 
beſten lyriſchen Gaben auszeichnete. Er ſchrieb Sachen, die ſich vorzüglich zum 
„Deklamieren“ eigneten und auch dem mittelmäßigſten Rezitator Erfolg ein · 
trugen. Der bekannte „Streik in der Schmiede“ gehört zu den beſten der · 


Francois Coppee + 579 


artiger Werke; was ihm folgt, wird immer flacher. Als überzeugter Patriot 
und fpäter als eifriger Nationaliſt ſicherte ihm bald auch das Anſchlagen 
patriotiſcher Töne die Sympathien des breiteren Publikums, und man geht 
hie und da ſoweit, Coppée als nationalſten franzöſiſchen Dichter, als den 
„Beéranger der dritten Republik“ zu preiſen. Wieviel ſubjektive Zeitſtimmung 
hier mitſpricht, lehrt ſchon heute ein Blick in die ernſteren kritiſchen Werke 
unferer Nachbarn; fie weiſen Coppée, deſſen Produktion fic ſeit Jahren im 
gewohnten Geleiſe bewegte, eine Stelle als verdienſtvoller volkstümlicher, fami- 
liärer Dichter, als Poet der kleinen Leute, als ſehr gewandter Reimkünſtler 
an: zu den Großen, die neue Werte bilden, neue Bahnen erſchließen, zählen 
fie ihn nicht. 

Coppée gab noch in jungen Jahren die Beamtenlaufbahn auf und wurde 
zunächſt Archivar des Théatre francais. Als das Comité de lecture jedoch die 
Annahme eines ſeiner Dramen verweigerte, gab er ſeine Demiſſion und wurde 
dramatiſcher Kritiker der „Patrie“. 1884 zum Mitglied der Akademie ernannt, 
entſagte Coppée jeder verpflichtenden Tätigkeit, woran ihn auch bald zunehmende 
Kränklichkeit verhindert haben würde. Seine nahen Beziehungen zur Bühne 
hatten in ihm den Ehrgeiz erweckt, auch für dieſe zu ſchreiben und, feiner Ver- 
anlagung gemäß, gelang ihm das Drame lyrique, ein Genre, in welchem ſich 
ſpäter Edmond Noſtand auszeichnete, ganz vortrefflich. Die beſten feiner kleinen 
Dramen find die Einakter: „Le Passant“ und „Le Luthier de Crémone“. Aber 
er wagte ſich auch an die Tragödie großen Stils und gab „Severo Torelli“ 
und „Pour la Couronne“, die ihm, dank feiner Stellung als einflußreicher Kri- 
tier, großen äußeren Erfolg eintrugen. Die Literaturgeſchichte hat dieſe Dramen 
zu regiſtrieren als ſprechende Beweiſe für den Verfall der franzöſiſchen Vers⸗ 
tragödie. Das fog. „drame cornélien“ läuft zumeiſt nur auf eine ſchwache 
Nachahmung Victor Hugos hinaus; Coppée ſteht nicht höher als Parodi oder 
Sardou, und nur die glänzende Diktion der im klaſſiſchen Stil geſchulten Pariſer 
Schauſpieler vermag derartige Werke hohler Rhetorik eine Zeitlang zu halten. 
Auf anderen Bühnen oder gar in Aberſetzungen werden ſie unerträglich. 

Coppées Schaffen auf dem Gebiet des Romans iſt liebenswürdig, reicht 
aber nicht im entfernteſten an die Werke der führenden Nomanſchriftſteller 
Frankreichs heran. „Les vrais Riches“, „Le Coupable“ und „Toute une Jeu- 
nesse“ find die beften feiner Gaben. Wohl aber iſt ihm die kurze Erzählung 
zumeiſt trefflich geglückt. Unter feinen zahlreichen Contes en prose finden fich, 
da wo er das Rhetoriſche ſowie das allzu Rührſelige meidet, kleine Meifter- 
werke an Form und ſchlichter Innigkeit des Empfindens. 

Coppées Dichterlaufbahn iſt eine glückliche geweſen; Entbehrungen und 
bittere Enttäuſchungen hat er nie gekannt; dankbar für dieſes Geſchick und 
gütig von Natur, unterſtützte er gern junge bedürftige Kollegen. 

Eine lange, mit großer Ergebung getragene Leidenszeit hat feine Ge ; 
ſtalt verklärt und ihm immer wärmere Sympathien erworben, und daher fällt 
heute die Beurteilung ſeiner Werke in der Tagespreſſe günſtiger aus als die, 
die der Literarhiſtoriker zu geben vermag. Gewiß verdient Coppée als Dichter 
geſchätzt zu werden, nur darf es nicht auf Koſten jener Dichter geſchehen, die 
neue Werte erſchloſſen haben, der Menge aber nicht ſo leicht verſtändlich ſind 
wie er. Anna Brunnemann 


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580 Adolf E Arronge + 


Adolf L'Arronge + 
27 


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2 en Dichterworte, daß, wer den Beſten ſeiner Zeit genug getan hat, 
> Le für alle Seiten lebt, follte man ein anderes zur Seite ftellen können, 
GI das jene vor Geringſchätzung ſchützt, die den Anſpruchsloſeren ihrer 
Zeit Freude und Genuß bereitet haben. Wenn die Literaturgeſchichte, als 
Würdigung des Künſtleriſchen in den Literaturwerken, die höchſten Maßſtäbe 
anlegt, um aus der ungeheuren Fülle des Geſchaffenen das Dauergut zu ſichten, 
fo hat die Kulturgeſchichte einen anderen Standpunkt zu ſuchen. Die Volls⸗ 
kultur wird nicht entſchieden durch die Höhe der wenigen Gipfel, ſondern er ⸗ 
hält ihre wichtigſten Gradmeſſer einmal in der Maſſe der zu einer anſtändigen 
Lebenshöhe Geförderten, ſodann in der möglichſt vollkommenen Verdrängung 
des Niedrigen und Schlechten. Es verhält ſich mit der Kultur ähnlich wie 
mit dem Reichtum: Nicht jenes Land iſt das reichſte, in dem die größten 
Einzelvermögen ſtecken; ſondern jenes, in dem ein möglichſt großer Beſtandteil 
der Bevölkerung wohlhabend und möglichſt wenige arm find. Das Ideal frei 
lich iſt das Nebeneinander einer großen Maſſe Wohlhabender und der außer · 
ordentlich Reichen. 

Gerade für Deutſchland muß dieſe Tatſache oft betont werden. Wir 
beſitzen eine unvergleichliche Hochlandskunſt wenigſtens für die Gebiete der 
Literatur und Muſik; aber oft muß man denken, wir hätten glänzende Heer · 
führer ohne die großen ihnen folgenden Armeen, ohne die jene keine ſiegreichen 
Schlachten ſchlagen können. Anſere gewaltigen Allgenies haben ſich ja durch- 
geſetzt und find zu weitgreifender Wirkung gelangt; den Teilgenies und her: 
vorragenden Talenten dagegen wird die lebendige Wirkung ſehr erſchwert. 
Es fehlt die rechte Bebauung des Mittellandes. Man ſteht immer wieder 
erſtaunt davor, wie gering doch, trotz der andächtigen Verehrung, deren unſere 
Klaſſiker ſich erfreuen, im allgemeinen die literariſche Kultur unſeres Volles, 
auch ſeiner „Gebildeten“, iſt. 

Ich glaube, eine der wichtigſten Urſachen dieſes Zuſtandes liegt in der 
zu geringen Bewertung der literariſchen Arbeit für das Alltagsbedürfnis. 
Die einzelnen künſtleriſchen Feſttage reichen nicht zu, wenn das ganze übrige 
Jahr im Tiefland verbracht wird. Die Schuld trifft zumeiſt die Kritik, die 
nicht „relativ“ genug urteilt. Mir erſcheint da immer der Kritiker Goethe vor 
bildlich, der in ſeiner ganz im Leben ſtehenden Weisheit die Berechtigung der 
verſchiedenſten Bedürfniſſe anerkannte und in der gefunden und künſtleriſch 
würdigen Erfüllung eines beſcheidenen Bedürfens einen beſſeren Kulturwert 
ſah, als in den mit unzulänglichen Kräften unternommenen Anläufen zur Höhe. 
Anſere Kritik beſpottet leichtherzig, was ihr nicht „literariſch“ ſcheint. Die 
Wirkung auf die Schaffenden iſt zwiefach: Die einen verſuchen um jeden Preis 
das „Literariſche“ zu erreichen, übernehmen ſich und ſcheitern an dem zu hohen 
Wollen; die andern geben nun allen literariſchen Anſtand preis, werden Er 
folgsjäger und ziehen ihre Gefolgſchaft in jene Niederungen hinab, wo es der 
Maſſe von Natur aus am wohlſten iſt. Denn Kultur iſt ja eben Erziehung, 
Veredelung der natürlichen Anterhaltungsinſtinkte. 

Der am 25. Mai dieſes Jahres erfolgte Tod Adolf L Arronges 
führt auf ſolche Gedankengänge. Vor wenigen Wochen, an feinem 70. Ge. 
burtstage, wurde L' Arronge in allen Tönen als Volksdichter gefeiert. Das 


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Adolf e Arronge + 581 


war zuviel, erſt recht, wenn man ſich ins Gedächtnis rief, wie verächtlich von 
der eigentlichen Literatenzunft ſein Schaffen ſonſt gewertet worden, wie man 
fein literariſches Verdienſt lediglich in der Gründung des „Deutfchen Theaters“ 
als wirklich lebendiger Kunſtſtätte ſehen wollte, auf der bezeichnenderweiſe ſeine 
eigenen Stücke keinen Platz hatten. Ich finde es auch ſehr bezeichnend, daß 
ein auf dem Theater ſehr erfolgreicher Mann eine Bühne gründet, die erft- 
klaſſig im beſten Sinne des Wortes ſein ſoll, mit der ruhigen Erkenntnis, daß 
ſeine eigenen Stücke da gar nicht hingehören. Das iſt eine Einſtimmung, die 
uns Deutſchen, die wir Mann und Werk als eins ſehen wollen, nicht recht 
eingeht; in dieſem Zuge wird man leicht den Juden in L' Arronge erkennen. 
Im übrigen aber haben wir dieſer jüdiſchen Lebensklugheit, die die vorhandenen 
Verhältniſſe kühl und ſachlich abwägt und keinerlei phantaſtiſchen Idealismus 
bei der Aufſtellung der Rechentabellen mitwirken läßt, jene deutſche Schaubühne 
zu danken, die neben der Wiener Hofburg am meiſten für die neuere deutſche 
Schauſpielkunſt und doch auch für die deutſche Literatur getan hat. Anter 
L' Arronges Leitung (1883 — 1894) erfüllte das Deutſche Theater Laubes Forde ⸗ 
rung, daß der eifrige Beſucher nach Jahresfriſt einen tiberblid über die Welt. 
literatur in guten Aufführungen gewonnen hatte. 

Dieſer klugen Erkenntnis ſeiner Grenzen verdanken wir aber auch jene 
Theaterſtücke L Arronges, die man als ſtädtiſche Volksſtücke bezeichnen kann. 
Eigentlich find es ſogar Berliner Volksſtücke; aber das Bürgertum, das 
L' Arronge ſchildert, tft doch in ganz Deutſchland vorhanden, fo daß es nur 
äußerer Retufchen bedarf, um feine Stücke überall „ortsmöglich“ zu machen. 
— Wer einmal genötigt war, mehrere Stücke von L'Arronge zu leſen, wird 
leicht zu einem ſchweren Verdammungsurteil kommen: Nicht eine Szene zeige 
einen wirklichen Dichter; das Ganze fet Theater von einem Kenner jeder Kuliffen- 
wirkung zuſammengeſtellt; die Handlung ſei oft ebenfo unmöglich wie die Ent- 
wicklung der Charaktere; übertriebene Nührſeligkeit paare ſich mit dick auf- 
getragener Moral. Das alles iſt zuzugeben. Wer aber an Aufführungen 
von „Mein Leopold“, „Haſemanns Töchter“, „Doktor Klaus“, „Der Kompagnon“ 
zurückdenkt, vor dem erſteht eine Reihe von Geſtalten, die mit Sicherheit dem 
Leben abgelauſcht find; manches echt humoriſtiſche Geſchehnis lebt im Gedächt . 
nis, und die Geſamterinnerung hält Stunden feſt, in denen das Gute und 
Schöne, was wir empfingen, doch weit alles Angünſtige überwog. So darf 
auch das Arteil der Literaturgeſchichte ſein. Das bürgerliche Luſtſpiel hat in 
Deutſchland kaum Beſſeres erhalten, als L'Arronges gelungene Arbeiten. 
Wenn man aber im zeitgenöſſiſchen Schaffen Amſchau hält, findet man keinen, 
der fein Werk glücklich fortſetzte. And doch fehlt es ſicher nicht an ihm gleich 
wertigen Talenten. Nur daß dieſe ſich nicht ſo klar über ihre Grenzen ſind, 
nicht ſo ſicher in der Wahl des Weges, der gewiß nicht zu den Höhen ewig 
geltenden Schaffens, aber zum dankbaren Ziel heilſamer Wirkſamkeit für ge- 
ſunde Volkskultur führt. St. 


. 


582 Anthologien 


Anthologien 


s liegt in der Natur der Anthologien eine große Willkür und dod 
bleiben fie notwendig; notwendig ſelbſt für den, der fi) felber alle 
— Mühe gibt, mit der literariſchen Entwicklung Schritt zu halten, ge 
ſchweige denn für jenen, der nur eine beſchränkte Zeit für literariſche Be- 
ſchäftigung übrig hat. Wer will es dem verübeln, wenn er vor der ungeheuren 
Maſſe der Neuerſcheinungen des Büchermarktes zurückſchrickt; wenn er auch 
gegenüber den ſich widerſprechenden Arteilen der Tageskritik unſicher wird und 
darum in ſeinen Mußeſtunden immer wieder lieber nach dem bewährten „Alten“ 
greift? Aber das iſt dann doch ein ſchweres Anrecht gegenüber den „Jungen', 
gegenüber den heute Schaffenden. Da hilft uns die Anthologie; und wenn 
ihre Zuſammenſtellung auch noch ſo ſehr vom rein perſönlichen Geſchmack des 
Auswählers abhängt, man beſchäftigt ſich doch auf dieſe Weiſe wenigſtens 
mit Dichtern, deren Werke man ſonſt nicht zur Hand nimmt, man vernimmt 
neue Töne. Außerdem aber iſt eine Anthologie ein ausgezeichnetes Anreiz · 
mittel. Einer, der von den Gedichten eines ihm bis dahin noch unbekannten 
Dichters beſonders gepackt wird, wird ſich nun nach deſſen Werken umſehen, 
um nähere Bekanntſchaft mit ihm zu ſchließen. 

Anthologien find wie große Kunſtausſtellungen. Es ſchadet nichts, wenn 
man an vielen Proben unergriffen vorübergeht. Wenn man nur ein einziges 
wirkliches Kunſtwerk dadurch gewinnt, wenn man dadurch gar ein anderes 
Verhältnis zu einem Künſtler erhält, iſt man ja reich belohnt. Damit lyriſche 
Anthologien dieſen Dienſt erweiſen können, dazu gehört allerdings, daß ſie ſich 
nicht auf die Zuſammenſtellung von Gedichten beſchränken, die dem Heraus 
geber gut gefallen haben, ſondern daß ſie auch bibliographiſch gut gearbeitet 
find. Nur fo findet dann der Lefer leicht die Bücher jener Männer, zu denen 
er ſich hingezogen fühlt. In der neueren Zeit find im Verhältnis zu früher 
die Anthologien gerade in dieſer Hinſicht ſehr gut gearbeitet. 

Der verdiente Verlag von Max Heſſe in Leipzig hat u. a. in neuerer 
Zeit zwei derartige lyriſche Sammlungen herausgegeben, die warme Empfehlung 
verdienen. Eine ausgezeichnete Leiſtung iſt die Arbeit Hans Bethges, 
„Deutſche Lyrik ſeit Lilieneron“. (Kart. Mk. 1.80, in vornehmeren Aus- 
gaben 2 u. 3 Mk.) Eine ziemlich umfangreiche Einleitung führt in den Ent 
wicklungsgang der neueften Lyrik ein. Die verſchiedenen Richtungen und Be 
ſtrebungen werden gut gekennzeichnet, und wenn auch die ſcharf zugreifende 
Kritik nicht fehlt, fo verfügt Bethge doch über ein großes Genußvermögen. 
Bei der Auswahl im einzelnen kann man ja natürlich ſehr oft anderer Meinung 
fein; im allgemeinen aber find die Proben charakteriſtiſch und doch auch an und 
für ſich aus dem Beſtreben herausgewählt, nur wirklich Gutes zu bieten. 
Aber 80 Dichter find vertreten; manche freilich (3. B. Lienhard, Geiger, die 
gerade der Türmergemeinde ſicher beſonders wertvoll ſind) etwas gar zu ſpärlich. 
Acht Bildniſſe ſchmücken den Band, der wohl imſtande iſt, eine ziemlich deut 
liche Vorſtellung vom Zuſtande unſerer heutigen Lyrik zu verſchaffen. 

Von ganz anderer Art iſt die im gleichen Verlage zum gleichen Preiſe 
erſchienene Sammlung Ferdinand Gregoris: „Lpriſche Andachten. 
Natur und Liebes ſtimmungen deutſcher Dichter.“ Dieſe Anthologie iſt nach 
Stoffen geordnet, und der Sammler, der in der deutſchen Lyrik ſehr gut Be⸗ 


Anthologien 583 


ſcheid weiß, hat aus tauſenden Gedichten jene beibehalten, die ihm dauernd 
jene „Andacht“ weckten, die der Genuß der Kunſt in uns wachruft. Unter den 
Stichwörtern: Der Morgen, Der Wald, Das Meer, Die Liebe, Gott und 
Natur, Das Kind, Scheiden und Tod, Abend und Nacht, ſind ſo über 300 Ge⸗ 
dichte älterer und neuerer Liederſänger zuſammengeſtellt. Es iſt ein Buch, das 
man nicht hintereinander durchleſen ſoll, ſondern ſelber als eine Art Andachts⸗ 
buch benutzen müßte, aus dem man ſich zu Morgen und Abend, vor allem 
aber zwiſchen den Arbeitsſtunden des Tages hindurch Kräftigung, Anregung 
und Erhöhung der Lebensfreude ſchöpfen ſollte. In dieſem Buche fehlt leider 
ein genauer bibliographiſcher Nachweis. 

Erfreulich iſt auch „Das neue Wunderhorn“, das K. Henniger 
im Verlage von Fiſcher & Franke, Berlin, herausgegeben hat. Erfreulich be- 
ſonders darum, weil hier Wort, Bild und Muſik vereinigt wirken. Die volks- 
tümlichſten Lieder aus dem alten, nur zu üppig angefüllten Wunderhorn find hier 
zuſammengeſtellt, vermehrt um die lebendigſten Volksweiſen der ſpäteren Samm- 
lungen. Zu jedem Liede iſt nach den beſten Quellen die Melodie beigefügt. 
Man kann das Büchlein kaum an einer Stelle aufſchlagen, ohne auf ein zum 
Gedichte geſchaffenes Bild von Staſſen, Liebermann, Hein, Schmidhammer, 
Vollmann, Barlöſius, Müller: Münſter und anderen zu ſtoßen. Trotz dieſer 
prächtigen Ausſtattung koſtet das Buch gebunden nur Mk. 2.—. Es iſt ſehr 
zu wünſchen, daß bald eine Ausgabe erſcheint, die zu dieſen Liedern eine ein ⸗ 
fache Klavierbegleitung bringt. Dann iſt hier ein Mittel geboten, das wirklich 
dazu verhelfen kann, in unſeren Häuſern Volksgeſang wieder heimiſch zu machen. 

Dem religiöſen Sehnen unſerer Zeit kommt eine wertvolle Sammlung 
entgegen, die Rudolf Günther unter dem Titel: „Aus der verlorenen Kirche“ 
zuſammengeſtellt hat (Heilbronn, Eugen Salzer, geb. Mk. 3.—). Neben deut- 
ſchen Dichtern ſind hier vor allem auch die Pſalmen und Hymnen in beſter 
Weiſe ausgenutzt worden. Stichworte wie Propheten und Helden, Gott, 
Chriſtus, Blühen und Wachſen, Beichte, Erlöſung, Schickſal, Sonntag, Lebens. 
werk, können eine Vorſtellung von der Art der Sammlung geben, für die es 
vielleicht ein Vorteil wäre, wenn ſie noch etwas knapper gehalten worden 
wäre. Immerhin Spreu iſt nicht unter den Weizen geraten, und auch dieſes 
Buch kann ein wahres Andachtsbuch im beſten Sinne des Wortes werden. 

Ich bin ſchier verlegen, wenn ich in dieſem Zuſammenhange die Samm- 
lung „Das Luſtwäldchen, Geſammelte Gedichte aus der deutſchen Barockzeit“ 
(Münden, Hans v. Weber, Mk. 3.—) erwähne. Franz Blei gibt hier eine 
Sammlung von Liebesgedichten aus zum Teil ganz verſchollenen Sammlungen 
von der Wende des 17. Jahrhunderts. Mit Chriſtian Weiſe fängt das Büch. 
lein an, mit Chriſtian Günther hört es auf. Man hat nicht mit Anrecht die 
Liebesdichtungen dieſer Zeit unſerem mittelalterlichen Minnegeſang verglichen. 
Allerdings beſteht dieſer Vergleich nur vom rein artiftifchen Standpunkt aus 
zu Recht. Hier wie dort iſt Lyrik nicht eigentlich Bekenntnis wahrhaft tiefen 
Erlebens, ſondern bewußtes Kunſtſpiel. Auf beiden Seiten kann aber eine 
tatſächlich hohe Formbeherrſchung und eine große Fähigkeit, das Gewollte 
wirklich zu ſagen, über den Mangel innerer Lebens wahrheit hinwegtäuſchen. 
Der große Anterſchied zum Nachteil der Barockzeit liegt einmal in dem Tief. 
ſtand der deutſchen Sprache um 1700, die für uns rein klanglich genommen 
wohl den unangenehmſten Zuſtand der deutſchen Sprache darſtellt; dann aber 
vor allem in der „Galanterie“ der Barocklyrik, die doch vielfach einfach ſcham⸗ 


584 Anthologien 


los iſt. So kann ich auch dieſe Sammlung nicht empfehlen, fo wünſchenswert 
es vom literaturgeſchichtlichen Standpunkte aus wäre, wenn auch über dieſe 
Zeit unſerer Dichtung mehr nach wirklicher Kenntnis geurteilt würde, als nach 
überlieferter Schulweisheit. Freilich müßte für einen ſolchen literaturgeſchicht · 
lichen Zweck die Sammlung aus einem anderen Geiſte heraus zuſammengeſtellt 
werden, als er hier gewaltet hat. Der Herausgeber iſt ja Spezialiſt auf dem 
Gebiet der galanten und pretiöſen Literatur und hat auch hier einſeitig nach 
ſeiner perſönlichen Liebhaberei ausgewählt. Am die meiſten der vertretenen 
Dichter iſt das weiter ja nicht ſchade, aber Chriſtian Günther war doch ein 
ganz anderer, als er hier erſcheint. — Die Ausſtattung des Büchleins iſt 
ſeinem Inhalt angemeſſen. Das mit der Hand gefärbte Titelblatt nach Somoff 
dürfte das Entzücken aller „pretiöſen“ Kunſtliebhaber bilden. 

In höchſt feſſelnder Weiſe verbindet ſich die ausgeſprochen bibliophile 
Teilnahme mit der literar - pſychologiſchen bei der Anthologie „Zehn lyriſche 
Selbſtporträts“ (Dieterichſche Verlagsbuchhandlung Leipzig, Mk. 5.—). 
Dieſes eigenartige Buch bringt eine von den zehn Dichtern: Ferdinand v. Saat, 
Felix Dahn, Johannes Trojan, Martin Greif, Ernft v. Wildenbruch, Detlev 
v. Lilieneron, Guſtav Falke, Arno Holz, Richard Dehmel, Otto Julius Bier- 
baum jeweils ſelbſt beſorgte Auswahl von je zehn ihrer Gedichte. Voran geht 
dieſer Auswahl die fakſimiliert wiedergegebene Selbſtbiographie der Dichter. 
Außerdem find die von W. A. Stremel nach der Natur auf den Stein ge 
zeichneten Bildniſſe beigegeben. Dieſe letzteren machen durchweg den Eindruck 
höchſter Lebenswahrheit. Ergreifend iſt vor allen Dingen das Bildnis Ferdinand 
v. Saars, auf deſſen Geſicht bereits der nahe Tod ſein Siegel aufgeprägt 
hatte, als er dem Zeichner ſaß. Die Selbſtbiographien gehen von der fünf 
Zeilen umfaſſenden Angabe der notwendigen Daten bei Lilieneron bis zur 
mehrere Seiten umfaſſenden Plauderei Trojans, Felir Dahns, Falkes oder 
Bierbaums. Eigenartig berührt der Anfang der Darſtellung Wildenbruchs: 
„Ich bin zur Welt gekommen am 3. Februar 1845 zu Beirut in Syrien, wo 
mein Vater, Ludwig v. Wildenbruch, preußiſcher Generalkonſul war, und ge 
boren worden am 3. Juli 1866 bei Königgrätz in Böhmen. An jenem Tage 
kam mir die Ahnung, daß ich ein Lebeweſen, und dieſem das Bewußtſein, daß 
ich Angehöriger eines großen Volkes fei. Die Frau, die mir dazu verholfen, 
daß ich beide Tage ſah, meine Mutter, Erneſtine geb. v. Langen, hat den 
zweiten nicht mehr erlebt. Als ſie ſtarb, erfuhr ich, daß, wenn uns die Mutter 
ſtirbt, der heilige Menſch aus unſerem Leben geht. Weiter iſt nicht viel zu 
fagen“ ... Von nicht minderem pſychologiſchen Intereſſe find die Ausführungen 
von Arno Holz: „Die Lebensgeſchichte eines Künſtlers iſt die Geſchichte feiner 
geiſtigen Entwicklung. Arſprünglich in der Aberlieferung wurzelnd wie jeder, 
durchtränkt von den großen Einflüſſen der Vergangenheit, bin ich ſpäter bemüht 
geweſen, mich möglichſt auch von meiner eigenen Zeit zu befreien und um 
noch den Weg zu ſuchen, der in die Zu kunft führt. Der Punkt, von dem 
ich vor mehr als zwanzig Jahren ausging, verſchwand ſo weit hinter mir, 
daß ich von meinen Gleichaltrigen keinen mehr erblicken kann. Sie liegen alle 
noch im Kotau vor „Goethe“. Wie der Herr Verleger dieſer ‚Zehn lyriſchen 
Selbſtporträts“ hofft, fol die Gegenüberſtellung von fünf Alten“ und ebenſo 
viel „Jungen“ dem Publikum den Beweis erbringen, „daß unabhängig von 
allen Schlagworten ein weſentlicher Anterſchied zwiſchen dem Schaffen der 
beiden Generationen“ nicht beſtände; daß Anterſchiede zwar vorhanden wären. 


Anthologien 585 


daß dies aber nicht fo fehr Unterfchiede von ‚Richtungen‘, als vielmehr von 
Perſönlichkeiten ſeien. Mein Suchen wäre vergeblich geweſen, wenn es ſich 
herausſtellte, daß mein Beitrag dieſe erwartete Einheit nicht geſprengt hat. — 
Ich bin im Jahre 1863 geboren und glaube, erſt jetzt im annähernden Beſitz 
der künſtleriſchen Mittel zu fein, an deren Ausgeſtaltung ich fo lange ge- 
arbeitet habe.“ 

Aber das Wertvollſte iſt doch die Auswahl der Gedichte; denn die 
Dichter wollten damit den Umfang und die Art ihres Schaffens charak⸗ 
teriſieren. Das iſt bei keinem wohl genau mit jenen Mitteln geſchehen, die 
ein Literarhiſtoriker dazu wählen würde. Am fo wertvoller wirkt dieſe Er. 
gänzung. — Das Buch eignet ſich in feiner ſchönen Ausſtattung in ganz be- 
ſonderem Maße als Feſtgeſchenk für Literaturfreunde. 

Bei der Bedeutung, die das Stammestum nicht nur in unſerer Ge- 
ſchichte, ſondern auch für die Gegenwart hat, lag es nahe, auch literariſche 
Sammlungen von dieſem Geſichtspunkte zu veranſtalten. Das iſt wohl für 
die meiſten deutſchen Stämme bereits geſchehen. Kaum aber jemals ſo gut 
und erfreulich, wie durch Richard Dohſe für Schleswig ⸗Holſtein in 
ſeinem Buche „Meerumſchlungen“. (Hamburg, Alfred Janſen, 6 Mk.) Dieſer 
ſtattliche, mit land ſchaftlichen Heimatbildern von Hermann Linde geſchmückte 
Band iſt die kräftigſte Widerlegung des alten Spruches: „Frisia non cantat“. 
Freilich, der Literarhiſtoriker weiß ja längſt, daß Schleswig ⸗Holſtein ſeit 
einigen Jahrzehnten in unſerem Dichterchore laut mitſingt — und dieſe Stimme 
hat einen vollen Wohlklang. Wilhelm Jenſen, Liliencron, Heiberg, Voigt. 
Diederichs, Timm Kröger, Ilſe Frapan, Charlotte Nieſe, Guſtav Fehrs, Falke, 
Enking, Lobfien, Boy Ed und viele andere vereinigen ſich in dieſem Bande, 
ihr tiefes Heimatgefühl zu bekunden, uns zu ſagen, was ihnen ihre Heimat 
gegeben hat, was ſie auch denen bedeutet, die fern in der Welt ſind. Die 
Sammlung iſt mit großem Geſchick zuſammengeſtellt und durch viele Original- 
beiträge ausgezeichnet. 

Zum Schluſſe noch ein religiöſes Buch: „Die moderne Jeſusdich⸗ 
tung“. Mit einer religiöſen und literariſchen Einleitung herausgegeben von 
Karl Röttger. (Münden, R. Piper & Co., Mk. 2.50, geb. Mk. 3.50.) 

Es ſind hier Gedichte von 27 Dichtern vereinigt, von denen die größere 
Hälfte noch unter uns lebt. Mit Novalis, Brentano und der Droſte⸗Hülshoff 
ſetzt die Sammlung ein, mit Friedrich von Sallet, Mörike, C. F. Meyer, 
K. Gerok, Storm, Allmers, Polenz, Dehmel, Weitbrecht, Lilieneron, Weigand, 
Henckell, Knodt, Julius Hart und anderen klingt ſie aus. Es kann kein be⸗ 
redteres Zeugnis geben für die tiefe religiöſe Sehnſucht, die unſere Zeit durch- 
zieht, keinen ſtärkeren Beweis für das Bedürfnis nach dem Göttlichen trotz 
aller Naturwiſſenſchaft; aber auch keine deutlichere Mahnung dafür, daß nur 
das Selbſterleben uns Chriſtus zu eigen machen kann, als dieſes Buch. Was 
der „cherubiniſche Wanders mann“ Angelus Sileſius vor Jahrhunderten geſungen: 

„Ward Chriſtus tauſendmal in Bethlehem geboren, 

And nicht in dir, du bleibſt doch ewiglich verloren“, 
das tritt mit der ganzen Überzeugungstraft des perſönlichen Ringens uns 
hier entgegen. Gerade weil es fic) um ſolche perſönlichen Bekenntniſſe han ⸗ 
delt, wird man wohl manchmal widerſprechen, zuweilen ſich ſogar vielleicht 
abgeſtoßen fühlen. Aber niemand wird verkennen können, daß wirklich wahr 
für uns nur ſein kann, was in uns wahr geworden iſt. So iſt piel Büch⸗ 

Der Türmer X, 10 


586 Der Kultur ⸗Schraubſtoc 


lein ein echtes Andachtsbuch, mit dem ſich jenes ewige Oſtern feiern läßt, bei 
dem wir erkennen, daß die wahre Auferſtehung darin beruht, daß ein Ein- 
maliges immer neu, in neuem Geiſte der neuen Seele gemäß erlebt werden kann. 


K. St. 
“ter 
Der Kultur⸗Schraubſtock 


as iſt die neueſte Erfindung von — Auguſt Scherl. Wie erzieht man 
das Volk zur geiſtigen Kultur? Ganz einfach durch eine neuartige 

Verbindung von Entziehungs- und Maſtkur. Der Menſch iſt nach 
dieſer Theorie auch in kultureller Hinſicht ein „ſündhaftes“ Geſchöpf, das ſich 
am liebſten von Schmutz und Noheit nährt. Gebt ihm zunächſt dieſe Nahrung, 
ſo wird er euch treulich folgen. Nun entzieht ihr ihm langſam von dieſen 
ſchlechten Stoffen und erſetzt fie durch gute, durch echte Kunſt. und Kultur- 
werte. Das wird fo geraume Zeit fortgeſetzt, bis man auf einmal ganz un- 
vermiſcht die beſte Koſt erhält. So wird man unvermerkt auf die höchſten 
Höhen der menſchlichen Kultur emporgeſchraubt. Das Mittel aber iſt eine 
— Leihbibliothek. Die „Frankf. Zeitung“ unterrichtet über dieſe neueſte 
Blüte Scherlſchen Anternehmergeiſtes wie folgt. 

„Alle Wochen will Auguſt Scherl das deutſche Publikum mit neuen 
Büchern verſehen. Die Bücher werden durch Boten ins Haus getragen und 
nach acht Tagen wieder abgeholt und durch andere erſetzt. Für jeden Band 
ſind zehn Pfennig Leihgebühr zu zahlen; das Zuſtellen und Abholen erfolgt 
unentgeltlich. Nach jeder Benützung erhalten die Bücher einen neuen Amſchlag. 
‚Die Bibliothek läßt ferner eigens konſtruierte Maſchinen herſtellen, durch die 
nach ihrer Fertigſtellung eine Desinfektion der Bücher nach einem neu pater: 
tierten Verfahren (D. R. P. 189,109) ausgeführt werden ſoll.“ 

Dies die äußere Organiſation des neuen Unternehmens. Ihre Vorzüge 
werden in dem Scherlſchen Proſpekt durch die beiden Sätze ins rechte Licht 
gerückt: „Das Buch wartet nicht auf den Lefer; es kommt zu ihm.“ And: 
„Das Ideal, jedesmal ein friſches, ungebrauchtes Buch zu liefern, iſt nahezu 
erreicht.“ Man wird an dieſen beiden Vorzügen nicht zu mäkeln brauchen 
und doch finden können, daß fle zu irgendwelcher Begeiſterung keine Ver- 
anlaſſung geben. Daß Herr Scherl ein tüchtiger Organiſator iſt, weiß man, 
und es wird daher niemanden wundern, daß er auch dies Geſchäft, wie ſchon 
fo manches vorher, gut managet. Mag er alfo immerhin eine Leihbibliothel 
gründen und das Publikum mit ſeinen Büchern überſchwemmen; das iſt ſein 
Recht, und es wird ja niemand gezwungen, ſich zu beteiligen. 

Aber die Bibliothek Auguſt Scherl will mehr. Nicht auf ſchnöden Geld 
gewinn kommt es ihrem Herausgeber an. „Ihr Ziel iſt, dem ganzen Volt 
den Weg zu den geiſtigen Gütern der Kulturwelt zu bahnen“. Sie meint 
zwar nicht, ‚die Kulturfrage des Leſens für alle Zeiten gelöſt zu haben‘, wohl 
aber anſcheinend für ein paar Jahrhunderte. And welches iſt nun der erſte 
Band, mit dem dieſes volkspädagogiſche Unternehmen vor die Offentlich keit 
tritt? „Die Wahrſagerin' von Xavier des Monte pin, ein ſchlechter 
alter Schmöker, der jetzt wieder einmal auf allen Hintertreppen verſchlungen 
werden wird. Einer der nächſten Bände — die Verleihung erfolgt aus er ⸗ 


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Der Kultur · Schraubſtoc 587 


ziehlichen Gründen in beſtimmter Reihenfolge — wird der Kolportageroman 
‚Piftole und Feder’ von Ewald Auguſt König fein, mit dem fein Ver- 
leger Scherl anfangs der achtziger Jahre ſeinen erſten Erfolg errang. Der 
Verfaſſer dieſes Opus wird noch mit einem weiteren Werk „Die Tochter 
des Kommerzienrats“ vertreten fein; neben ihm gehören Georges Ohnet 
und Conan Doyle zu den bevorzugten Autoren. Daneben wird dann eine 
Menge Mittelgut in der Bibliothek erſcheinen, und ſchließlich werden auch eine 
Anzahl guter und hervorragender Werke aufgenommen werden. Für dieſe 
widerwärtige Miſchung von Gut und Schlecht gibt nun der Scherlſche Pro- 
ſpekt die folgende hochtrabende Begründung: ‚Lefen iſt eine Kunſt. Leſen 
können heißt, den Kulturwert des guten Buches ſich zu eigen machen. Jede 
Kunft muß gelernt werden. Auch zur Leſekunſt führt nur der eine Weg der 
Abung: mit dem Leichteren beginnen, zu dem Schwereren fortſchreiten, ſich 
emporlefen! Aber dieſer eine Weg der Übung iſt ohne Führung allzu 
ſchwer zu finden. Die Bibliothek Auguſt Scherl will der Führer ſein. Wer 
noch gar nicht oder nur Wertloſes lieſt, wer den einſt im guten Buch ge⸗ 
fundenen Genuß wieder vergeſſen hat, den führt ſie Stufe für Stufe empor. 
Sie bietet ihren Leſeſtoff in feſter, von Sachverſtändigen beſtimmter Reihen- 
folge: einen Weg zur Bildung.“ 

Man fragt ſich erſtaunt, ob jemals literariſcher Schund ungenierter als 
preiswerte Ware aufgeputzt worden iſt. Es iſt ſelbſtverſtändlich Anſinn, daß 
das Leſen ſchlechter Senſationsromane eine Vorbereitung für den Genuß eines 
Dichtwerks, eine Stufe auf der Leiter zu höherer künſtleriſcher Empfänglichkeit 
bilden könne. Zu Hunderttauſenden werden die deutſchen Leſer von dieſer faden 
Speiſe eſſen, und wenn ſie damit vollgeſtopft ſind, wenn ihr Geſchmack durch 
dieſe Kunſtſurrogate erſt recht korrumpiert fein wird, dann ſollen fie aufnahme 
fähiger geworden ſein für die ungefälſchten Erzeugniſſe einer feineren Kunſt? 
Der richtige Gedanke, daß man in der Erziehung vom Leichten zum Schweren 
fortſchreiten muß, konnte nicht ſchlimmer mißbraucht, nicht pfiffiger in den 
Dienſt eines Geſchäfts geſtellt werden, das die ſenſationshungrigen Maſſen 
zu ſich locken will, indem es ihrem Geſchmack huldigt. 

Leider iſt es Herrn Scherl gelungen, noch bevor er die Maſſen gewonnen 
hatte, eine auserleſene Schar von Vertretern der deutſchen Intelligenz um ſich 
zu ſammeln. Am Schluß des erſten Leihbandes veröffentlicht er Suftimmungs- 
äußerungen zahlreicher angeſehener und bekannter Perſönlichkeiten. Ferdinand 
Avenarius, Lujo Brentano, Adolf Harnack, Detlev v. Lilieneron, 
Friedrich Naumann, Friedrich Paulſen, Wilhelm Raabe, Prinz Heinrich 
zu Schönaich⸗Carolath, Adolf Wagner, Wilhelm Windelband und 
viele andere befinden ſich darunter. Daß eine Anzahl von Männern, vielleicht 
auf Grund einer allgemeinen Skizzierung des Projekts, ſich zu einer wohl⸗ 
wollenden Zeile über das Scherlſche Unternehmen bereit finden laſſen, würde 
nicht weiter wundernehmen. Wenn man ſich indeſſen die einzelnen Außerungen 
näher anſteht, fo ſtößt man ſtellenweiſe auf ein Maß von Enthuſiasmus, das 
vor Verwunderung ſtarr macht. Da iſt von einer heiligen Aufgabe die 
Rede, die Scherl übernehme; die neue Organiſation ift ‚aufrichtiger Liebe 
zum Volk und dem glücklichſten Verſtändnis der Volksſeele“ entſprungen; 
alle Schwierigkeiten, gute Bücher ins Volk zu bringen, find überwunden“ 
durch dieſen ‚großartigen Verſuch bewußter und methodiſcher Kulturarbeit‘, 
die Möglichkeiten eröffnet, ‚an die man bisher kaum zu denken wagte: eine 


588 Neue Glider 


wirkliche äſthetiſche Selbſterziehung des Menſchengeſchlechts von unten auf.’ 
Eine ſo große Anzahl bedeutender Männer in dieſem Stadium der Verzückt⸗ 
heit zu ſehen, — es iſt wirklich ein etwas peinliches Schauſpiel. 

Herr Scherl ſelbſt ſchließt ſich dieſen Lobrednern ſeines Anternehmens 
mit edlem Anftand an. Er appelliert gegenüber den „Verleumdungen“, die er 
von vornherein erwartet, an feine Freunde, die aus jahrelanger Erfahrung 
wiſſen, daß wir nicht Ideale zerſtören, ſondern fördern wollen‘. In der Tat, 
ſeine Gegner kennen dieſe Ideale: es ſind die Sparlotterie und die Nivellierung 

der deutſchen Zeitungs ·, Zeitſchriften ·, und nun auch Leihbibliotheksliteratur 
durch das Monopol Auguſt Scherl.“ 


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Neue Bücher 


Engel, Eduard: „Geſchichte der deutſchen Literatur des neun⸗ 
zehnten Jahrhunderts und der Gegenwart.“ Halblederband 
10 Mk. (Leipzig, G. Freytag.) : 

Das Buch iſt ein Sonderabdruck aus der 3. Auflage ber großen zwei · 
bändigen Literaturgeſchichte Engels, der ein ganz ungewöhnlicher Erfolg zuteil 
geworden iſt. Sicher iſt gerade der vorliegende Abſchnitt der wertvollſte des 
Werkes, das auch in unſerer Zeitſchrift warm empfohlen worden iſt. Der in 
dieſem Hefte abgedruckte Abſchnitt gibt eine gute Vorſtellung von der friſchen 
Art des Werkes, das in glücklicher Weiſe die Objektivität eines ausgiebigen 
Zahlenmaterials mit der freien Subjektivität des froh genießenden Kunſtfreundes 
verbindet. Engel hat an der Vervollkommnung ſeines Buches unermüdlich 
gearbeitet und vieles nachgetragen, was in der erſten Auflage fehlte. Etwas 
abſichtlich ſtark wirkt noch immer die Betonung der Werte des Jahrzehnts 
1870-80. Das iſt der Gegendruck gegen die ſonſt übliche Anterſchätzung dieſer 
Zeit. Auch ſonſt ſpürt man oft dieſen Gegendruck. Es geht offenbar gegen 
Bartels Judenſchnüffelei, wenn es bei Paul Lindau heißt: „Sohn eines Ge · 
richtsbeamten, Enkel eines proteſtantiſchen Predigers.“ Beim Arenkel offen · 
barte ſich dann beſtimmt der Jude, meines Wiſſens übrigens ſchon beim Enkel; 
was nur deshalb erwähnt ſei, weil doch unleugbar bei Lindau jüdiſche Eigen · 
ſchaften charakteriſtiſch hervortreten, die zu leugnen kein Grund vorliegt. 
Manche Perſönlichkeiten der ſiebziger Jahre ſcheinen mir überhaupt zu günſtig 
beurteilt; andere ſehr bös vernachläſſigt. Es geht doch nicht an, Otto von 
Leixner lediglich als Folie für Paul Lindau zu verwerten und dieſem hoch 
anzurechnen, daß Leixner als armer junger Redakteur mit ihm an der Gegen 
wart“ einige Jahre zufammengearbeitet hat. — Doch das ſind Eigenheiten, zu 
denen ein ſo ſcharf hervortretender Schriftſteller wie Engel das Recht hat, 
oder Lücken, die ſich ausfüllen laſſen. Als Ganzes verdient das Buch warm 
empfohlen zu werden, als zuverläſſiger Führer auf den verſchlungenen Wegen, 
die die deutſche Literatur in den letzten hundert Jahren gegangen iſt. 


® 
Karl Gjellerup: „Der Pilger Kamanita“. (Frankfurt, Literariſche 
Anſtalt Rütten & Löning. 5 Mk.) 
Nach dieſem Buch wird niemand mehr zögern, dem däniſchen Schrift · 
ſteller das Bürgerrecht in der deutſchen Literatur zuzuerkennen. Konnte man 


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Reue Yücer 589 


bet feinen früher zum Teil auch bereits deutſch geſchriebenen Werken vielfach 
noch den Eindruck einer vorzüglichen Aberſetzung haben, fo iſt das hier ganz 
überwunden, und nur ein allzu häufiger Gebrauch des Partizipiums wirkt 
etwas befremdend. Im übrigen kann dieſes Buch die außerordentlich wichtige 
Aufgabe erfüllen, weiten Kreiſen einen Begriff vom wahren Weſen des 
Buddhismus zu verſchaffen. Das hat ja ſchon der bedeutende Indologe 
K. E. Neumann geſagt, daß, trotzdem die letzten Jahrzehnte uns endlich den 
wahren Buddha und ſeine wirkliche Lehre kennen gelehrt haben, die Poeſie 
des Buddhismus, fein Innerſtes für uns immer noch ein Buch mit fünf Sie⸗ 
geln iſt. „Eins nach dem andern muß gelöſt werden, wollen wir fein Herz ver- 
ſtehen lernen. Nachdem die Gelehrten das Ihrige getan haben, komme 
nun der Dichter und tue das Seinige: Die Paliurkunden warten auf ihn; dann 
erſt wird die Buddhalehre auch bei uns zum Leben erwachen, wird ſie deutſch 
unter Deutſchen blühen.“ Gjellerup hat im vorliegenden Buche dieſe Aufgabe 
des Dichters in ganz glänzender Weiſe erfüllt. Wir bekommen ein reiches 
Bild aus dem wirklichen Leben des altindiſchen Volkes, erhalten auf ganz un- 
gezwungene Weiſe geradezu im Anſchauungsunterricht die Lehre Buddhas 
und überdies auch einen Einblick in ihre Verkehrungen. Vielleicht, daß die 
letzten Bilder, vor allem die kühne Darſtellung der Weltendämmerung, des 
Endes alles Entſtandenen, etwas ausführlicher hätten dargeſtellt werden können. 
Vielleicht, daß es doch ein zu kühnes Stücklein iſt, die kaſuiſtiſche Scholaſtik 
in die Kaliſutras hineinzutragen; aber es iſt nicht zu leugnen, daß das Ganze 
echt wirkt und jedenfalls als Folie des beglaubigten indiſchen Philoſophen⸗ 
lebens überzeugend wirkt. Ich wünſche dem trefflichen Buche, das trotz des 
ſo ernften Inhalts auch die Aufgabe der unterhaltenden Dichtung erfüllt, ſehr 
viele Leſer. Es wird dazu beitragen, daß eine Sache, über die jedermann 
ſprechen zu müſſen meint, doch wenigſtens einigermaßen wirklich bekannt wird. 
3 
Georg Hermann: „Jettchen Gebert“. (Berlin, Egon Fleiſchel & Ko. 
Mk. 6.) 

Ein Fontaneſcher Stoff, aber ohne die Art Fontanes behandelt. Als 
Lebenszeit Jettchens werden die Jahre 1812— 1840 angegeben. Der Roman 
wird alſo in der Mitte der dreißiger Jahre ſpielen, führt ins Berlin des Bieder⸗ 
meiertums. Die dargeſtellte Welt iſt faſt ganz jüdiſch; ein einziger Chriſt, 
und der als Liebhaber Jettchens, tritt auf. Die Zeit der ſpäteren Romantik 
und der erſten Tage des jungen Deutſchlands mit dem Glanz der jüdiſchen 
Salons iſt vorüber. Auch die Geberts, die ſo etwas wie jüdiſche Ariſtokratie 
darſtellen ſollen, bewegen ſich auf abſteigender Linie. Dafür kommen die 
Jacobys auf, die irgendwo aus einem ſchmutzigen Neſt im Oſten ſtammen und 
für nichts anderes Sinn haben als für Geld und Wohlleben. Die Geberts 
fallen ihnen allen zum Opfer, auch dieſes Jettchen, das von Natur aus wohl 
die Gabe hätte, eine Henriette Herz zu werden. Der Roman bietet in der 
Hinſicht ſicher ein ganz wertvolles kulturhiſtoriſches Bild, wertvoll auch in der 
Hinſicht, daß das Judentum ſchließlich früher doch mehr auf ſich ſelbſt be- 
ſchränkt blieb und nicht fic fo gewaltſam an das Deutfche hinan⸗ und in 
deutſche Kreiſe hineindrängte wie heute. Wahr und lehrreich auch darin, daß 
bei einem echten Judentum dieſe Jacobys immer über die Geberts ſiegen 
müſſen. Was man dem Buche beſonders nachgerühmt hat, hat es mir auf 
die Dauer faſt unerträglich gemacht. Das iſt die von Anfang bis zu Ende 


590 | Neue Bücher 


auf ſchier 500 Buchſeiten feſtgehaltene, etwas wehleidige Stimmung. Es iſt 
jene ganz beſonders gefärbte orientaliſche Sentimentalität, deren Eigenart 
darin beruht, daß der ihr zugrunde liegende Idealismus immer in jenen 
Augenblicken ausſetzt, wo es ſich um rein materielle Fragen des Lebens han 
delt. Es wäre natürlich zu viel, dieſe Sentimentalität als verlogen zu be 
zeichnen; aber wenn der Deutfche ihr glaubt und fie als der ſeinigen verwandt 
anſieht, ſo iſt er regelmäßig der Hereingefallene. Das wird ſchließlich, wenn 
auch wohl nicht in dieſer Abſicht, auch durch die Geſchehniſſe dieſes Buches 
bekräftigt. N 

Charlotte Knoeckel: „Schweſter Gertrud.“ Roman. (S. Fiſcher, Verlag, 

Berlin. Geh. Mk. 2.50, geb. Mk. 3.50.) 

Die Verfaſſerin hat durch ihr erſtes Buch: „Kinder der Gaſſe“, hohe 
Erwartungen geweckt, die ſie mit ihrem zweiten zwar nicht Lügen ſtraft, aber 
auch nicht recht erfüllt. Sicher iſt auch hier wieder die Schilderung des 
Ambildes. Das Krankenhaus, das Treiben der Krankenſchweſtern und der 
Kranken ſelber find offenbar dem wirklichen Leben abgeſehen, und dennoch durch 
die echte dichteriſche Begabung der Erzählerin über die Gültigkeit des Einzel 
falles hinaus geſteigert. Aber das ſchwierige Problem iſt nicht rein genug 
geblieben, ſondern durch eine Vermengung aus der grundſätzlichen Gültigkeit 
hinaus zu einem Fall gemacht. Das Problem wäre nämlich eigentlich die 
Frage, ob der Arzt, ob überhaupt der Menſch nicht das Recht oder vielleicht 
gar die Pflicht habe, ein Menſchenleben zu zerſtören, wenn er unbedingt weiß, 
daß die Krankheit körperlich und geiſtig unheilbar ſei, wenn er ferner ſieht, wie 
durch dieſe Krankheit andere geſunde, zum Schaffen fähige Menſchen mit ins 
Anglück geriſſen werden. Dieſe Frage iſt ſo ſchwierig, und bedeutet für den 
einzelnen, der ſie für ſeine Perſon in bejahendem Sinne beantworten will, 
einen ſo ungeheueren Kampf, daß es künſtleriſch verfehlt iſt, wenn man nun 
für dieſen einzelnen das Problem vermengt mit Erlebniſſen. And das iſt hier 
der Fall. Dieſe Schweſter Gertrud hat den Mann geliebt, ja ſie liebt ihn 
noch, deſſen unheilbar erkrankter Frau ſie nun die tödliche Morphiumſpritze 
gibt. Wenn fie nun nachträglich ſeeliſche Gewiſſensbiſſe bekommt, ſo iſt das 
natürlich nicht bloß deshalb, weil fie ſich zu dieſer Tat entſchloſſen hat, fon- 
dern weil ſie vor ſich ſelbſt nicht klar iſt, ob ſie wirklich rein aus lauteren 
Gründen dabei gehandelt hat. Jedenfalls iſt für dieſe erhöhte Entwicklung des 
ganzen Falles der Schluß dann zu übereilt, die glückliche Löſung zu wenig 
überzeugend. Hinterläßt ſo das Buch keinen ganz befriedigenden Eindruck, ſo 
iſt es doch erneut ein Zeugnis für den Ernſt des Strebens der Verfaſſerin 
und bezeugt ihre über den Durchſchnitt hinausragende Darſtellungsgabe. 


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Bildende Kunst. 


Heimſtätten für Menſchen 


Felix Poppenberg 


zu Wanderungen in die Mark wird man jetzt angeregt. Was an 
dieſer Stelle ſo oft ſchon betont wurde, daß unſere junge angewandte 

— Kunſt aus theoretiſchen Ausſtellungsprovinzen immer energiſcher in 
die werktätige Lebensluft ſtrebt, hat nun wieder eine Weiterentwicklung er- 
fahren. Statt der Interieure auf Ausſtellungen gibt es ganze Landhaus— 
kolonien draußen im Grünen zu beſichtigen, keine dekorativen Potemkinſchen 
Dörfer, ſondern gebrauchsfertige, gebrauchsbeſtimmte Anlagen, die vor ihrer 
Abernahme durch die beati possidentes der Beſichtigung freigegeben wurden. 

In Neu-Finkenkrug und am Wandlitzſee find dieſe Heimſtätten für 
Menſchen angeſiedelt. And was man hier ſieht, iſt eine Verwirklichung jener 
von der „Woche“ veranſtalteten Cottage-Konkurrenz, deren Vorprobe man in 
einer Schau der im Kunſtgewerbemuſeum aufgebauten Modelle vor einem 
Jahre ſah. 

Eine Ausleſe dieſer Modelle hat alſo nun im Gelände ihre Erſtehung 
gefunden. And das iſt nicht nur eine Ddeforativ-funftgewerblide, ſondern auch 
eine hervorragend wirtſchaftlich-ſoziale Angelegenheit. Denn hier kam es nicht 
darauf an, Luxuswerte zu ſchaffen, ſondern den Verſuch zu machen, für die 
niedrigſte Berechnung etwas Ehrliches und Gediegenes zu liefern. Das falſche 
Scheinweſen der Faſſaden⸗Maskerade, der ausgeputzte Villenſtil ſollte hier 
überwunden werden durch das wahrhafte Heimweſen, das von innen aus kom- 
poniert, mit einfachem, zweckmäßigem und raumgemäßem Mobiliar ausgeſtattet 
iſt, und das in feinem Außeren ein getreues Abbild der inneren Gliederung 
gibt, ohne durch Schnörkel und aufgepappte Ornamentmittel ſich putzſüchtig zu 
ſpreizen. Der Schmuck dieſer Häuſer iſt ihre Figur, ihre lebendige Silhouette, 
die reizvolle farbige Behandlung der Nutzteile, die zueinander abgeſtimmte 
Tönung der verſchiedenen Materialien. 

In zwei landſchaftliche Gruppen iſt dieſe Anfiedlungs-Ausftellung geteilt. 
Die eine findet man in Neu- Finkenkrug bei Spandau. Die andere, viel weiter 
abſeits von der Heerſtraße, am Wandlitzſee bei Bernau. 

Ein weſentlicher Anterſchied beſteht zwiſchen beiden. Die Finkenkrug— 
Kolonie, deren Häuſer faſt alle in feſten Händen find, beſteht aus „Eigen- 
heimen“, die zum dauernden Bewohnen, für Sommer und Winter, angelegt 


592 Poppenberg: Heimſtätten für Menſchen 


und zum Teil mit Zentralheizung verfehen find; die Wanbdlig-Kolonie entſpricht 
mehr dem urſprünglichen Plan des leichter und infolgedeſſen auch billiger ge- 
bauten Sommer. und Ferienhauſes. 

Die Wandlitz⸗Kolonie ſcheint mir, das fet gleich vorausgeſchickt, ge- 
lungener. Bei der Finkenkrug Reihe ſtört etwas, was bei der Erteilung der 
Konkurrenzaufgabe urſprünglich ein fruchtbarer Gedanke war. Es ſollte näm- 
lich die landſchaftliche, bodenſtändige Bauweiſe der verſchiedenen deutſchen 
Provinzen berückſichtigt werden. Die Lehren des alten deutſchen Bauernhauſes, 
das nie willkürlich aufgeſtellt, ſondern immer aus dem Gelände — Berg oder 
Ebene — entwickelt, immer materialgemäß dem Bauftoff der Gegend errichtet 
wurde, ſollten ſich für den Architekten fruchtbringend erneuen, daß wieder der 
Zuſammenhang des Aſthetiſchen in der Baukunſt mit den klimatiſchen und allen 
anderen fachlichen und Zweckmäßigkeits⸗ Bedingungen ſich aufhelle. 

So ſah man in der Modellſchau intereſſante Architekturgeographie in 
mancherlei Variationen: ein Riefengebirgshaus, ein Haus an der Meerküſte, 
ein Haus am See, ein Haus am Fluß. 

Nun hat man merkwürdigerweiſe auf dem Finkenkruger Terrain, auf 
dem märkiſchen Sandflachland, eng beieinander das Rieſengebirgs haus, das 
Inſelhaus vom Meer, den „Traum vom Bodenſee“, und das „Haus am Fluß“ 
zur Ausführung gebracht. Das wirkt ſehr widerſpruchsvoll und iſt eigentlich 
eine Negierung eigener beſſerer Abſichten. 

Durch dieſe mißverſtändliche Zuſammenſtellung kommt auch kein Gefamt- 
bild zuſtande, keine Enſemblewirkung von Landſchaft und eingebetteten, ihr zu · 
gehörigen Anweſen. In einer Rundung, vom Drahtzaun umſchloſſen, ſcheint 
das doch mehr eine Ausſtellungskollektion als eine für die lebendige Benutzung 
dauernd beſtimmte Siedelung. And gerade dies Neu Finkenkrug wird dieſen 
Sommer noch von ſeinen Beſitzern bezogen. 

Von ſolchem Kardinaleinwand abgeſehen gibt es im einzelnen manches 
Erfreuliche zu ſehen. 

Alle Bauten haben etwas Einladendes und Anheimelndes. Sie erreichen 
das durch ein ſehr legitimes Mittel. Man ſieht ihrer Gliederung ſofort an, 
wie gemütlich die Innenräume mit eingebauten Kojen und Fenſterplätzen ſein 
müſſen; man errät aus den in das bergende Dach eingeſchobenen Giebeln mit 
blanken weißſproſſigen Fenſterreihen die heimliche Traulichkeit der Stübchen. 

Die Veranden und Umgänge, von Pfoſten oder glatten Säulen getragen 
und von der breitgewellten Dachrampe überdeckt, mit ihrem Hintergrund der 
blinkenden Fenſterwände ſprechen es aus, daß ſich's hier an Sommerabenden 
gut ſein laſſe. 

Die großzügige Dachführung voll bewegter Silhouette, mit Hebungen, 
Senkungen, überſchneidenden oder herausſpringenden Giebelbildungen gibt ein 
charakteriſtiſches Geſicht, fie betont überſichtlich den Komplex des Ganzen, das 
von dieſem Dach kräftig zuſammengefaßt wird. Es iſt ſattelförmig, oft auch, 
wie es das Landhaus des achtzehnten Jahrhunderts liebt, pyramidal einem 
Würfelunterbau aufgeſetzt, aus der Spitze klettert dann als ein luſtiges Türm- 
chen der Schornſtein. Immer aber ſpringt der Dachrand breitwellig über die 
Grundſtücks mauer vor, entweder fo breit, daß er den umgang oder die Veranda 
bilden hilft oder doch mindeſtens einen ausgebuchteten Vorplatz, der dann 
wieder der Anterſtock für einen Balkon des Obergeſchoſſes wird. 

Die Hauswände innerhalb des Umgangs, meiſt in weißem, grauem oder 


Poppenberg: SHetmftdtten für Menſchen 593 


gelbkörnigem Putz, haben ihren natürlichen Schmuck durch die hübſch aus- 
gebildeten Nutzglieder der Türen und Fenſter. Die Fenſter immer in hölzernen 
Sproſſenrahmen, weiß, auch blau oder grünfarbig, liegen mit ihren bunten 
Läden in der geputzten Fläche wie koloriſtiſche Füllungen, und oft wölbt ſich 
eine ſolche Fenſteranlage weich geſchwungen nach außen und bringt in die 
ſtrenge Linie des Umgangs einen bewegteren Rhythmus. Ein beliebtes Zenfter- 
motiv iſt auch, es als viereckigen oder trapezförmigen Kaſten herausgeſtellt aus 
der Wand herausſpringen zu laſſen; Blumen ſtehen darin, nickende rote Ge- 
ranien, und das iſt nun wirklich der ſchönſte und natürlichſte Schmuck der 
Hauswand und einem ſolchem Gehäus angemeſſener als aufgeklebte Renaiffance- 
Masken. 

Die Verwendung von Nutzteilen der Hauskonſtruktion zugleich als 
Schmuckglieder kann man dann vor allem an den Treppenanlagen beobachten. 

Die Führung dieſer Treppen — ſie ſind den beſcheidenen Proportionen 
entſprechend ſchmal, es gibt hier keine prahleriſch heuchelnden Freitreppen, 
ſowenig als Palaſtfenſter oder Flügeltüren — iſt meiſt eine leicht geſchwungene, 
ſo daß aus der Diele oder auch dem Wohnzimmer, in das ſie bisweilen führt, 
ein behaglicher Raumwinkel herausgeſchnitten wird. Die Schmuckwirkung kommt 
aus dem Durchbruchmotiv des Geländers und aus der Farbe. 

Oft iſt dies Treppengeländer ein Leiſtenwerk, oft aus Rundſproſſen, 
queueartig, auch aus ausgeſägten Holzplatten. Sehr heiter und freudig iſt die 
Wirkung, wenn die Sproſſen z. B. weiß geſtrichen ſind und das Rahmenwerk, 
die Geländerkante und die kugelgekrönten Pfoſten blau. 

Zu ſolcher Zweckäſthetik gehört es auch, daß die Schutzbleche am unteren 
Rand der Haustüren, die ein Rüſtzeug des Holzes gegen ungeduldige Menfchen- 
füße find, eine Durchbruchsmuſterung erhalten haben, die durch das dunkle 
Eiſen ſchmale Streifen hellen Holzes als Füllung durch ſchimmern läßt. 

Sieht man ſich nun im Innern um, fo findet man die wohlüberlegte Tei- 
lung in Wohnräume zu ebener Erde und Schlafzimmer im oberen Stock, meiſt 
im Giebel, der dann durch ſeine Schrägungen allerlei klug ausgenutzte Winkel 
und Raummotive hergibt. So hilft er Wandſchrank Einbauten bilden, fo gibt 
er den Betten am Kopfende einen überwölbenden Abſchluß, ſo ſtellt ſich auch 
durch Wandſchiebung eine Koje her, die als ein Separatraum für die Wafch- 
toilette benutzt wird. 

Daraus kommt dann wieder die anheimelnde Wirkung, daß die Möbel 
in feſten, aus dem Raum ſich ergebenden Zuſammenhang ſich ordnen, ſtatt nur 
wie zufällig herumzuſtehen. 

Das Mobiliar iſt ausdrücklich für dieſe Landhäuſer entworfen und her ⸗ 
geſtellt. Bruno Paul und die Vereinigten Werkſtätten haben ſich dieſes Auf- 
trages angenommen. 

Rückhaltlos zu loben find die Formen. Bruno Paul, der in feinen koſt⸗ 
baren Interieuren bewies, daß fein Geſchmack raffinterteften Komfortanſprüchen 
und wertvollſten Materialien gewachſen iſt, zeigte hier den Takt und die Tugend 
der Schlichtheit. 

Er wählte dem Landhaus gemäß die einfachſte tiſchlermäßige Konſtruk - 
tion. Die Schränke als Kaſten in wohlerwogenen, den Räumen angepaßten 
Maßen, die Ecken abgerundet, lebendig gegliedert durch die Teilungsfächerung 
der Schübe und Käſten mit ihren mattblanken Meſſingknöpfen auf viereckiger 
Platte. Die Kredenzen haben ihren Schmuck in dem oberen Aufſatzteil, dem 


594 Poppenderg: Seimſtätten für Menſchen 


verglaſten Kaſten mit Leiſten und Karo ⸗Sproſſenteilung, der Gläſer, Zinn und 
Keramik zur Schau ſtellt. 

Der Tiſch iſt geräumig, rund, auf feſtpfoſtigem Antergeſtell, einem ener- 
giſchen Ausdruck des Stabilen, und gleichfalls iſt in den tiefen Stühlen ſicht ⸗ 
lich das Verhältnis von Tragen und Laſten zum Ausdruck gebracht und dabei 
wieder alles Schwerfällige vermieden durch die luftige Sproſſen⸗ und Raro- 
Durchbruchmuſterung. 

Die Möbel find farbig angeſtrichen, und hier kommt nun manches Be⸗ 
denken. Der Holzcharakter, der durch die Beize in feinem Maſerungsſpiel ge- 
ſteigerter ſich darſtellt, wird durch Anſtrich völlig gedeckt und neutraliſiert. 

Der Grund, daß ſtatt Beizung Anſtrich gewählt wurde, iſt gewiß ein 
wirtſchaftlicher. Das knappe Budget erlaubte nicht die ſorgfältige Auswahl 
ſchöngemaſerter Hölzer. Es galt ſich zu beſcheiden, und als ein dankbares 
Muſter kamen ja auch die farbig geſtrichenen und bemalten Bauernmöbel in 
die Erinnerung. 

Solche Truhen, Bettladen, Schränke, Ahrenkaſten mit altmodiſchen 
Blumen, mit Girlanden, Sprüchen, Herzen und verſchlungenen Namen von Hoch 
zeiter und Hochzeiterin ſind in ihrer farbendrallen Naivität als alter Hausrat 
hübſch, doch ein reſervierter Takt wird das heut' nicht wiederholen, das wäre 
ja eine Möbelmaskerade und ein Widerſpruch zu unſeren fachlichen An ⸗ 
ſchauungen. 

Bruno Paul iſt auch ſelbſtverſtändlich nicht in den Kirmes ſtil verfallen, er 
läßt ſeine Möbel nicht ſalontirolern. Im Vermeiden war er glücklich, was er 
aber tat, um die einförmig glatten Anſtrichflächen zu beleben, erſcheint etwas 
verlegen. Statt der alten Blumen nahm er die moderne Geometrie, Viereck 
einfaſſung, Karos. Als Intarſia iſt das ja ſehr holzgemäß, aufgepinſelt wirkt 
es dürftig. Es geht noch bei ruhigen Farbenzuſammenſtellungen, wie rot und 
weiß im blauen Felde. Aber recht fatal wirken die kanariengelben und himbeer 
getönten Flächen mit aufgemalten blauen Karos, die dann noch ein rotes Innen · 
karo tragen. 

Anſtrich iſt immer untergeordneter Gattung; wenn er verwendet wird, 
müßte es in einer gewiſſen Beſcheidenheit und Diskretion geſchehen, doch nicht 
ſchreiend und vordringlich auffallend. 

Angenehmer als die Karomuſterung der Finkenkruger Möbel wirken die 
Motive der Wandlitzer. Hier ſcheint die Beſcheidenheit der Natur mehr ge- 
wahrt. Man hat fic hier meiſt darauf beſchränkt, auf die farbigen Grund- 
flächen punktierte Randlinien zu ſetzen, die die Teilungsgliederung der Käſten 
und Schübe an den Schränken betonen und damit alſo auch eine Funktion 
ausüben. And ſolche rote Punktierung auf einer graublauen Fläche, eine Art 
Forellenmuſterung, hat etwas Leichtes und Heiteres. Die Wandlitzer Kolonie 
beſticht überhaupt mehr. 

Märkiſche Seelandſchaft mit Fontane Stimmung findet man abſeits des 
Weges an einer Klingelbahn. Flache Ufer mit feinen Baumſilhouetten, am 
Horizont ein Kirchturm und eine Windmühle. Hinter Wipfeln am Seeufer 
— das Waſſer heißt der heilige Pfuhl — tauchen die roten kletternden Dächer 
mit ihren Giebeln auf. Hier fühlt man den Einklang von Haus und Land - 
ſchaft reiner. 

And dies Enſemble der zehn Ferienhäuſer hat innere Einheit bei aller 
Vielſeitigkeit im einzelnen. Aus der Art ſchlägt nur das letzte mit ſeinem 


Poppenderg: Heimſtätten für Menſchen 595 


allzu bombaſtiſchen Giebeldach, das in einem prahleriſchen Hufeiſenbogen fich 
wölbt und das Haus mehr zu erdrücken als zu bedecken ſcheint, und die Veranda, 
die vor dem Vorplatz noch vorgeſchoben iſt, hat etwas Angeſtückeltes, Zuſammen⸗ 
hangloſes. 

In allen anderen Variationen erfreut aber die logiſche Anatomie des 
Baukörpers die mit lebendigen Architekturlinien zum Aus druck gebrachte Wechfel- 
wirkung aller Teile. 

Da erobert gleich das erfte Haus mit dem famoſen Dach, das zwei recht- 
winklig ſich ſchneidende Giebel hat und in ſeiner Konſtruktion ſich auf das über⸗ 
ſichtlichſte darſtellt mit den geſchloſſenen Teilen und dem breiten offenen Veranda ; 
platz, der faſt die Hälfte der Vorderfaſſade einnimmt. Das energifche und 
wuchtige Balkenwerk, ochſenblutfarben, erinnert an nordiſchen Blockhausſtil. 
Inwendig erfreut die Balkendecke und der kojenartig eingebaute Kaminplatz, 
der, was immer eine behagliche Raumwirkung gibt, niedriger gedeckt iſt als 
das Zimmer, und die Kaminwand ſelbſt hat links und rechts von der Feuer⸗ 
ſtätte eingelaſſene Vitrinenkäſten. 

Solch gebundenes, aus dem Naum entwickeltes Material, das nicht, wie 
in der Wietswohnung, nur hineingeſtellt, ſondern wirklich ſelbſt ein Raumteil 
iſt, trägt ungemein dazu bei, die Heimſtimmung zu ſtärken. And man findet 
das hier auch reichlich angewandt. 

Sehr gelungen ſchien mir auch jenes Gehäus, das mit feinen dunkel. 
räuchrigen ruſtikalen Balken, ſeinen Vorkragungen, niedrig gelagert, echten 
Bauernhaus ⸗Charakter hat. Das Dach, auf den vorgeſchobenen Balken breit 
vorſpringend, iſt rechts von dem kleinen eiſenbeſchlagenen Haustor lang nach 
vorn vorgezogen mit leichter Abſenkung und bildet mit braunen Holzpfoſten 
die Veranda. Sie iſt im Gegenſatz zu der gleichſam von Sonne und Luft ge⸗ 
bräunten Außenſeite innen heiter und hell mit ihrer lichten Decke, die weißes 
orangetupfiges Sparrenwerk teilt. Dieſe Kontraſtwirkung voll angenehmer Aber. 
raſchung iſt für das ganze Haus beſtimmend. Man empfängt ſie auch in dem 
Wohnzimmer, dem ich den erſten Preis von dieſen Interieuren geben möchte. 
Hellblau iſt ſeine Farbenſtimmung, die Holzdecke mit ihrer Viereckfelderung 
wirkt mit der Heiterkeit eines Frühlingshimmels; eine große Sitzbank, blau 
mit eingelaſſenen Matten in der Rüdlehne, zieht ſich unter den Fenſtern hin, 
angebaut an Eckſchränkchen und Eckpfoſtentiſch. Ein behaglicher Raum im Raum 
iſt fo gebildet, und feine eine Seitenwand wird akzentuiert durch das auf- 
ſteigende blaue Geländer der Treppe, die mit ihrer ausgeſägten Durchbruchs. 
muſterung einen Schmuck des Raumes und eine dankbare Raumgliederung 
darſtellt. Sie führt, das iſt den zierlichen Maßen des Zimmers angemeſſen, 
nur einige Stufen hoch zu einem Podeſt und ihre Fortſetzung zu dem oberen 
Geſchoß liegt dann jenſeits der Türe. 

Ein anderes Interieur iſt noch zu loben. Es iſt in ſeinem Mobiliar 
auch feſtgeſchloſſen. Sein Hauptfaktor iſt wieder die dreiſeitige, den Fenſter⸗ 
wandungen eingepaßte Sitzbank, fie wird von einer zuſammenhängenden Schrank. 
architektur flankiert. Dieſe liegt halb in der niſchenartig zurücktretenden Wand, 
die oberhalb dann wieder als Fries vorſpringt. Die Schrankarchitektur ſelbſt 
iſt eine Kompoſition aus dem holzumkleideten Kamin mit grauen Kacheln und 
Eiſenhelm und der Kredenz mit ihrem Obergeſchoß, dem Vitrinenkaſten. Die 
Tönung iſt hier eremegelb. 

Die Fenſterbildungen, die für die Außenwände immer ein Schmuck ſind, 


596 Hans Balufchet 


ſchmücken ebenfalls auch die Innenwände. Sie brauchen dazu keine Tapezierer 
draperien, die wie in den Mietswohnungen die Blöße ihrer mit Tapeten - 
papier ausgeklebten Leibungen, die öden Fenſterhöhlen, verkleiden. 

Dieſe Fenſterrahmen können ſich ohne Bemäntelung ſehen laſſen. Sie 
find ganz aus Holz, als ſchmucke weiße Holzkäſten in die Mauer eingelegt, 
helle, durch Sproſſenfelderung gegliederte Wandfüllungen, meiſt quadratiſch, 
keine gähnenden Wandlöcher. 

Sie brauchen keine ſchweren, Licht und Luft hemmenden Behänge. Sie 
brauchen nur das luftige Sommerkleid lichter, geblümter Scheibengardinen, an 
der Meſſingſtange hängend. 

Chriſtianſen hat für dieſe Vitragen ſowie auch für die Gedecke ſehr 
reizvolle Entwürfe gemacht, mattgrünes und blaues Nankenwerk in hellem 
Grunde; dazu farbenfröhliche Poterien mit Feldblumen, Zinngefäße und das 
ſchöngeformte glattwangige holländiſche Meſſinggerät für den Teetiſch 

Sonnenſchein durch blanke Scheiben: Beatus ille, qui procul negotiis... 


Felix Poppenberg 
“Sager 


Hans Baluſchek 


Sans Baluſcher 597 


klingenden Schildern, trotzdem man fic frägt: wie ſoll das gehen? Die Groß- 
ſtadt mit ihrem Genuß und ihrem Elend zeigt ſich hier in brutaler Nacktheit. 
Ich weiß, es iſt auch bei andern Städten ähnlich; nirgendwo ſo charakteriſtiſch 
wie in den Neuteilen der ärmeren Bezirke von Berlin O und N. 

Auch die Bewohnerſchaft dieſer Stadtteile hat einen eigenen Charakter, 
der ſich nur ſchwer beſchreiben läßt, aber ganz deutlich gefühlt wird. Der 
Raſſentypus des Geſichts iſt gemiſcht; ſehr viel ſlaviſches Blut, noch mehr 
jenes Miſchblut, das im unteren Volk der eigentlich preußiſchen Landesteile 
aus Alteingeborenen und Zugewanderten eine zähe, aber wenig anmutige Be⸗ 
völkerung geſchaffen hat. Aber alle dieſe in Berlin zuſammengewürfelten Ele⸗ 
mente haben hier im Geſicht einen Stempel erhalten: Großſtadt. Zumeiſt iſt's 
Hunger. Leiblicher Hunger auch, aber der iſt nicht ſo ſchlimm, wie der Hunger 
nach den Genüſſen der Großſtadt. Das Leben jagt hier raſcher, toller; es 
wirbelt an den weit geöffneten Sinnen dieſer meiſt vom armen Lande Su- 
gewanderten eine Fülle von blendenden und lockenden Erſcheinungen vorbei, 
die ſie früher gar nicht gekannt haben. Die meiſten werden von der Gier er⸗ 
faßt, hier mit zu genießen. Es bieten ſich Surrogate dar: Schäbige Eleganz 
der Kleidung; in muffigen Kneipen Tingeltangel; Tanzvergnügen mit dem An⸗ 
ſtrich vornehmer Bälle u. dgl. m. So ſieht man unter dieſen unteren Zehn-, 
nein Hunderttauſend, dieſelben Abſtufungen der genußſüchtigen Welt wie unter 
den oberen Zehntauſend, nur alles in ſchärferen Linien. 

Schärfer vor allem zeigt ſich hier unten das Geſcheitertſein am Leben. 
Laſter und Verworfenheit wird nicht durch Erziehung, noch auch durch gekaufte 
Kleidereleganz verdeckt. Und das Volk ſchaut nicht über alles hinweg, ſondern 
ſieht es ſich gründlich an, mitleidlos und hart. Bei vielen andern erzeugte die 
Enttäuſchung Gleichgültigkeit — man ſagt es am beften berliniſch — Wurfchtig- 
keit. Aber auch die Glücklichen fehlen nicht. Ich meine weniger jene, denen 
Geſundheit und Jugend jedes Vergnügen doppelt ſtrahlend macht — dieſes 
Glück vergeht ja bald —, ſondern die Genügſamen, die hier mitten im ſteinernen 
Meer der Großſtadt kleine grüne Glücksinſelchen finden und darauf dasſelbe 
idylliſche Leben weiterführen, wie auf dem Dorf. Nur daß ſie mehr zu ſehen 
bekommen: ihnen erweckt der Glanz der Großſtadt nicht Hunger, daran teil. 
zuhaben, ſondern Sattheit, weil fie ihn ſehen dürfen. Endlich erhält das ber. 
liniſche Bevölkerungsbild noch einen charakteriſtiſchen Zug durch das Klein- 
bürgertum, das ſich mit ſeiner philiſterhaften Solidität als Welt für ſich in 
der Millionenſtadt weiter behauptet; anſpruchslos aber ſelbſtbewußt, innerlich 
gutmütig, aber bewaffnet mit dem Spott, der die Aberzeugung von der eigenen 
Tugendhaftigkeit gegenüber allem „Schiefen“ erzeugt. 

Dieſe Berliner Welt hat ihren getreueſten Schilderer in dem Maler 
Hans Baluſchek gefunden, der dabei ſelber nicht einmal ein Berliner Kind, 
ſondern am 9. Mai 1870 in Breslau geboren iſt. Ein Berliner Kind hätte 
übrigens kaum dieſen merkwürdigen Standort für die Betrachtung dieſer Welt 
gewinnen können. Die naturaliſtiſche Literatur (Arno Holz, Schlaf, Kretzer) 
hat das Gebiet ja auch erobert. Aber da gab es immer noch einen beſonderen 
Ton, der nicht in der geſchilderten Welt iſt. Ob ſozialiſtiſche Anklage gegen 
dieſe Verhältniſſe, ob einſchneidendes Mitleid, ob verklärender Humor 
(man denke etwa an Seide, ob biſſige Satire, höhnende Karikatur oder 
biſſiger Ekel — das alles gehört nicht eigentlich hinein, und bei Baluſchek 
fehlt es. Dieſes Fehlen jedes Nebentones iſt das Charakteriſtiſche an Balu⸗ 


598 Zwei Jahrbücher 


ſchek. Er ſieht alles und ſtellt es genau ſo dar, wie er es ſieht. Dabei darf 
man ihn nicht einmal einen kühlen Beobachter nennen. Er iſt aufs lebhafteſte 
von allen dieſen Erſcheinungen intereffiert; gerade weil fie ihm ſo intereſſant 
ſind, ſtellt er ſie genau ſo dar, wie er ſie ſieht, ohne von ſich aus etwas in dieſer 
Lebenserſcheinung zu betonen. Er ſelber verſchwindet ganz, ſo daß man ganz 
überraſcht iſt, wenn man ihn perſönlich kennen lernt, wo dann gar nichts an 
die Welt ſeiner Kunſt erinnert. Derſelbe Geiſt herrſcht, wo er ſich ein anderes 
Gebiet für feine Kunſt erwählt. Am charakteriſtiſchſten find hier feine Eiſenbahn⸗ 
bilder. Man kann dieſe Welt größer erfaſſen, phantaſtiſcher, aber nicht echter. 
Baluſchek erſcheint mir als der eigentliche Naturaliſt unter unſern 
Malern. And wenn nach Zola Kunſt ein Stück Natur iſt, das durch ein 
Temperament geſehen wird, fo beruht Baluſcheks Eigenſtellung auf der merk. 
würdigen Tatſache, daß eines Künſtlers Temperament — Objektivität iſt. 


Karl Storck 
2 
Zwei Jahrbücher 


Nas von Willy Paſtor im Verlage von Fiſcher & Franke, Berlin, 
erſcheinende „Jahrbuch der bildenden Kunſt' iſt jetzt zum 
ſechſten Mal erſchienen. Es bringt wie bisher zunächſt eine Aber 
ſicht über das Kunſtleben und die wichtigſten Stätten Deutſchlands; danach 
eine Reihe von Auffägen mehr grundſätzlichen Inhalts, daran anſchließ end 
Verzeichniſſe über Muſeen, Akademien, Künſtlergenoſſenſchaften, Kunſtſalons, 
Kunſtzeitſchriften uſw. Gerade die letztere wäre einmal gründlich durch · 
zuſehen, ſie bedarf mehrfacher Ergänzung. Das Buch iſt mit einem halben 
hundert gut ausgeführter Bildertafeln geſchmückt. 

Ebenfalls im ſechſten Jahrgange iſt die von F. Matthies Maſuren 
im Verlage von Wilhelm Knapp zu Halle herausgegebene Jahresüberſicht 
über Die photographiſche Kunſt im Jahre 1907“ erſchienen (Mk. 8.—, 
geb. ME. 9.—). Dieſer Band ſteht im Zeichen der farbigen Photographie. 
Das Thema wird von verſchiedenen Seiten her beleuchtet. Nachdem Dr. R. Neu ; 
hauß uns über den gegenwärtigen Stand der farbigen Photographie unter- 
richtet hat, gibt Dr. M. Eiſig die wiſſenſchaftlichen Grundlagen der farbigen 
Photographie und folgert daraus das ganze Syſtem der Arbeitsweiſe. Der 
Grazer Kunſthiſtoriker Joſef Strzygowski grenzt das äſthetiſche Gebiet ab und 
unterfucht die Farben im Dienſt von Naum und Licht. Ernſt Schuhr ſpricht 
über Malerei und Zeichnung der modernen Porträtphotographie, während 
Dr. H. Bachmann aus Graz, von dem einige ausgezeichnete farbige Winter- 
landſchaften dem Heft beigegeben ſind, über die Bedeutung der Farben für 
die Kunſtphotographie aus der Seele des dieſe Kunſt Abenden heraus ſpricht. 
Eine Aberſicht über die Ausſtellung des letzten Jahres beſchließt das Buch, 
das wie alle dieſe Bände ausgezeichnet gedruckt und außer mit 22 Beilagen, 
mit einer großen Zahl vorzüglich ausgeführter Textbilder geſchmückt iſt. Ge ⸗ 
rade durch den ſyſtematiſchen Aufbau des Inhalts wird dieſer Band ſehr ge · 
eignet ſein, auch in weiten Liebhaberkreiſen Verſtändnis für dieſe wichtigen 
Fragen der farbigen Photographie zu wecken. 


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Ruſſiſche Opern 


Von 


Dr. Karl Storck 


K urch ein groß angelegtes und in vornehmem Maßſtabe durch: 
* geführtes „Gaſtſpiel des Enſembles der Kaiſerlich 
Ag, Ruſſiſchen Hofoper St. Petersburg und Moskau“ 
wes find wir in dieſen heißen Vorſommertagen durch ſchier all— 
abendliche Opernbeſuche inſtand geſetzt worden, die dramatiſche Muſik 
des ruſſiſchen Nordens kennen zu lernen. So groß die Rolle iſt, die die 
ruſſiſche Inſtrumentalmuſik ſeit bald zwei Jahrzehnten in unſeren Konzert— 
ſälen ſpielt, ſo wenig vermochte bislang eine ihrer Opern in unſerem Bühnen— 
ſpielplan feſten Fuß zu faſſen. Während jene Inſtrumentalmuſik durch den 
rückhaltloſen Ausdruck leidenſchaftlicher Empfindungen, die ſich in den 
ſchärfſten Gegenſätzen wildeſten Aufjauchzens, ſchier barbariſcher Kühnheit 
und troſtloſeſter Melancholie oder weichſter Empfindſamkeit bewegen, einen 
„dramatiſchen“ Eindruck macht, vermiſſen wir bei den ruſſiſchen Opern alles 
eigentlich Dramatiſche. Ihnen fehlt das wirklich ſtark dramatiſche Geſchehen, 
mehr noch die für die Muſik wichtigere bedeutſame Entwicklung des Innen— 
lebens. Bei allem leidenſchaftlichen Hin und Her iſt am Ende alles wie 
zu Anfang. So fehlt allen dieſen Opern auch in rein muſikaliſcher Hinſicht 
die eigentlich dramatiſche Kraft der Entwicklung von einem Seelenzuſtande 
zum andern. Wir erhalten nur die Ausſchöpfung der einzelnen Zuſtände: 
nicht Dramatik, ſondern Lyrik. 

Kann auf dieſe Weiſe niemals ein Muſikdrama entſtehen, ſo wäre 
dieſe Geſamteinſtellung der Muſik zum Texte noch kein Hindernis für das 
Erwachſen guter Opern. Freilich, an Mozart darf man dabei nicht denken. 
Denn in ſeinen Meiſterwerken iſt die Muſik nirgendwo Einlage in ein durch 
den Dialog bereits völlig erſchöpftes Geſchehen, ſondern es gelang Mozart, 
gerade das eigentliche dramatiſche Geſchehen zum Inhalt der wichtigſten 
Stücke ſeiner Opern zu machen, ja ſogar die entwickelten Formen der En— 


600 Storck: Ruffifcde Opern 


ſembleſätze rein dramatiſch entſtehen zu laſſen. Im übrigen aber iſt doch 
faſt die ganze italieniſche und der größte Teil der franzöſiſchen Spieloper 
ſo angelegt, daß vom Textdichter das Gerüſt einer Handlung zurechtgezimmert 
wird, die, ſoweit ſie nicht von den Augen aufgenommen wird, ihre Erklä⸗ 
rung und Vorwärtsbewegung durch den Dialog erhält. Bei geeigneten 
Punkten entwickeln ſich aus dieſem Dialog muſikaliſche Formen, ſeien ſolche 
rein lyriſcher oder auch mehr charakteriſierender Art. Es iſt alſo dann Auf. 
gabe des Handlungsgerüſtes, muſikaliſche Gelegenheiten zu bieten, ſo daß 
auch hier nicht die Muſik die Entwicklung bringen kann, ſondern ſich auf 
die Aufgabe beſchränkt, die einzelnen Zuſtände, in die die auftretenden Der 
ſonen durch das außer der Muſik ſtehende Geſchehen gebracht werden, aus⸗ 
zudrücken. Im großen und ganzen iſt die ruſſiſche Oper noch nicht über 
dieſen älteren Zuſtand hinausgekommen. Theoretiſch gewiß. Rußland hat 
Komponiſten, die nach ihrer Meinung die Grundſätze Richard Wagners 
bis ans Ende geführt haben, ſo daß ſie nur noch ein Rezitativ kennen. 
Aber das hat mit Wagner ja gar nichts zu tun. Der Kern des Wagneriſchen 
Dramas iſt im Gegenteil die große ſymphoniſche Entwicklung, alſo die mu⸗ 
ſikaliſche Darſtellung des Dramatiſchen. 

Ich glaube, daß ſich auch eine ſogenannte nationale Oper zunächſt 
gar nicht anders entwickeln kann, denn als Nummernoper — man verzeihe 
das häßliche, aber treffende Wort. Denn der Stoff als ſolcher kann nicht 
das eigenartig künſtleriſch Nationale in die Oper bringen, ſondern nur die 
Muſik. Ein Blick auf die Geſchichte der Oper, auf die noch heute im Spiel⸗ 
plan lebendigen Werke zeigt, daß fremdländiſche Stoffe niemals den natio⸗ 
nalen Grundgehalt einer Oper verhindert haben (Beethovens „Fidelio“, 
Webers „Oberon“ und „Euryanthe“, Marſchners meiſte Opern haben keine 
deutſchen Stoffe). Andererſeits verhilft noch nicht einmal eine ausgeſprochen 
patriotiſche Haltung von Handlungen und Worten zu einem nationalen Werke. 
Als die Italiener mit ihrer Oper die ganze Welt beherrſchten und an allen 
Höfen die Stellungen der Hofdichter und ⸗Komponiſten einnahmen, haben 
ſie alle „patriotiſchen Wünſche“ der kleinſten Duodezherren mit ihren Opern 
erfüllt. Aber auch wenn ſie dabei örtliche Sagen verwendeten, ſchufen ſie 
doch nur italieniſche Opern. 

Das Nationale in der Kunſt liegt eben im Geiſtigen, der Welt⸗ 
anſchauung, und im Seeliſchen, dem ganzen Empfindungsleben. Gerade im 
letzteren treffen wir das eigentliche Betätigungsfeld der Muſik; aber auch 
die Weltanſchauung wird ſich in Dichtungen, die ſich mit Muſik verbinden, 
faſt immer in der Beeinfluſſung des Gemütslebens offenbaren. Man denke 
an die Frauengeſtalten in Mozarts auf italieniſche Texte geſchaffenen Opern. 
Aber natürlich muß auch der Geiſt der Muſik dann national ſein. Es reicht 
nicht zu, eigenartige Volksmelodien und ⸗Rhytbmen als Vorratskammer für 
muſikaliſche Thematik zu benutzen. Jene Kompoſitionen Haydns, Beethovens 
und Schuberts, die Motive der Zigeunermuſik verarbeiten, ſind dadurch nicht 
zigeuneriſch, noch nicht einmal ungariſch geworden. Es gilt dann ſchon, in 


Storck: Ruſſiſche Opern 601 


den Geiſt dieſer Volksmuſik einzudringen und aus ihm heraus und ihm 
gemäß zu ſchaffen, ſo wie es ſein Biograph Weimar von Michael Glinka 
(1804 - 1857) rühmt: „Er faßt die Begriffe ruſſiſche Muſik und ruſſiſche 
Oper tiefer als ſeine Vorgänger. Er beſchränkt ſich nicht darauf, nur die 
Melodie der volkstümlichen Lieder mehr oder weniger genau nachzuahmen, 
nein, er erforſcht den ganzen Inhalt der ruſſiſchen Volksgeſänge in ihrer 
Ausführung durch das Volk, — dieſe Aufſchreie, dieſe plötzlichen Abergänge 
vom Getragenen zum Lebhaften, vom Leiſen zum Starken, dieſe wechſelnden 
Lichter und Uberraſchungen jeder Art. Endlich die beſondere, auf keinerlei 
hergebrachten Regeln beruhende Harmonie und muſikaliſche Periodenbildung, 
mit einem Worte, er deckt das ganze Syſtem der ruſſiſchen Melodik und 
Harmonie auf, wie er es aus der Vollsmuſik ſelber geſchöpft hatte, und 
wie es noch keine der ihm vorhergehenden Schulen zum Ausdruck ee 
hatte.“ 

Wahrſcheinlich dankt auch Glinka die ſtärkſte Anregung zu nationalem 
Schaffen einem Deutſchen. Das Wunderbare deutſcher Kunſtwirkung auf 
das Ausland hat ja immer darin beruht, daß es die Fremde nicht unter- 
jocht, ſondern zur Betätigung der perſönlichen Art der einzelnen gegen 
die allgemeine Kulturform anregt. Das wird dann immer in einem höheren 
Sinne national. Glinka war, wie die Mehrzahl ſeiner komponierenden 
Landsleute, zunächſt bei den Italienern in die Schule gegangen. Der lange 
Aufenthalt in Italien, den feine erſchütterte Geſundheit erheiſchte, beſtärkte 
ihn noch in dieſer Richtung, die ſeinem Innern aber natürlich nicht recht 
zuſagen konnte. Als er 1834 dann nach Berlin kam, beſtärkte ihn der 
Theoretiker Dehn in dem Gedanken, ruſſiſche Muſik, ruſſiſche Opern zu 
ſchreiben. Wie das zu erreichen war, zeigte der damals noch in voller 
Jugendfriſche ſtrahlende „Freiſchütz'. Das Nationale der Muſik liegt im 
Volkslied und tanz. Gelingt es, einen Stoff aufzugreifen, in den ſich Volks⸗ 
leben und empfinden natürlich einfügen, fo iſt die einfachſte Gelegenheit zu 
Volksmuſik geboten. Glinka fand dieſen Stoff in einer Begebenheit der 
ruſſiſchen Geſchichte, in der ein Bauer Iwan Suſſanin 1613 ſein „Leben 
für den Zar“ Michail Romanow opferte, indem er dieſen vor den Nach- 
ſtellungen der Polen rettete. Auch dieſer Stoff war bezeichnenderweiſe bereits 
1799 in einer italieniſchen Oper von Caterino Cavos behandelt worden. 
Der 9. Dezember 1836 aber, an dem Glinkas Werk in Petersburg die 
Erſtaufführung erlebte, wurde der Geburtstag einer nationalen ruſſiſchen 
Kunſtmuſik. Trotzdem die vornehmen „Liebhaber“ fie zunächſt als „Kutſchei⸗ 
muſik“ verhöhnten, bezwang ſie doch immer weitere Kreiſe. Die Wahl 
der ruſſiſchen Sprache war nicht das Entſcheidende, obwohl die Sprache 
durch Satzbau und Klang auch die Melodiebildung beeinflußt. Aber ſo 
weit kam Glinfa noch nicht. Bei ihm wirkt das Ruſſiſche als Einlage in 
ein doch weſentlich fremdes Ganzes. Nicht nur die Geſamtform ſeiner 
Oper iſt die herkömmliche der „großen“ Oper mit verhältnismäßig ein⸗ 


facher Orcheſtration (Roffini, Bellini, Spohr), die Arien zumal a ganz 
Der Türmer X, 10 


602 Storck: Ruffifhe Opern 


italienifchen Charakter. Aber wo es angeht, hat Glinka Volksmelodie in Lied, 
Tanz und Chorſatz eingeſchoben. Er erkannte, daß es nicht genügte, die 
ruſſiſche Harmoniſierung inſtinktiv zu treffen, daß man auch das dieſer Volte- 
muſik innewohnende Syſtem ergründen mußte, wenn man ebenfalls jene Be⸗ 
ſtandteile der Oper ruſſifizieren ſollte, für die die Volkskunſt keine unmittel- 
baren Vorbilder bot. Aber dem Studium der Theorie der ruſſiſchen Volks ⸗ 
muſik, dem ſich Glinka in Gemeinſchaft mit Dehn eifrig hingegeben hat, iſt 
er in Berlin geſtorben. 

Seither iſt das von Glinka begonnene Werk eifrig fortgeführt worden. 
Große Sammlungen ruſſiſcher Volksmuſik ermöglichten ein eindringliches 
Studium der harmoniſchen und rhythmiſchen Eigenart. In einer aus⸗ 
gedehnten Pflege der Inſtrumentalmuſik gewann man volle Freiheit in der 
Behandlung dieſer neuen Muſikmittel, ſo daß es nun auch nicht ſchwer 
fiel, die größten einſtimmigen Geſangformen ſowie das Rezitativ aus natio- 
nalen Elementen zu geſtalten. Trotzdem hat mir von allen aufgeführten 
Werken das Glinkas am meiſten einen volkstümlichen Eindruck gemacht. 
Das liegt zumeiſt am Stoff. Gerade hier herrſchen merkwürdige Verhält 
niſſe, die zu näherer Beleuchtung reizen. — Der Einfluß Alexander 
Puſchkins muß in Rußland viel größer fein, als wir nach der eigent- 
lichen Bedeutung ſeiner Werke ſchließen möchten. Denn genau genommen 
iſt in Puſchkin doch wenig vom ruffifchen Volkstum lebendig. Er ijt ſelber 
Erzeugnis des ruſſiſchen Salons und hat auch bloß für dieſen geſchrieben. 
Vielleicht aber iſt ſelbſt im Deutſchland vor Friedrich II. der Charakter der 
Geſellſchaft nicht ſo unnational, nicht ſo international geweſen wie in der 
ruſſiſchen Geſellſchaft der erſten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts. 
So ift eigentlich das Nuſſiſche bei Puſchkin bloß Würze. Es bietet ihm 
in gleicher Weiſe eigenartige Stoffe, beſondere Landſchaftsreize, wie wohl 
auch einem ganz Fremden. Ruſſiſch oder beſſer flawifch iſt die Abfärbung, 
die der byroniſtiſche Weltſchmerz erfahren hat. Die Satire hat hier ein 
weiteres Gebiet. Sie kann derber zufaſſen, weil der Stoff dafür im Aber⸗ 
maß vorhanden iſt. And gegenüber dieſen Mißſtänden entſteht nicht jene 
lachende Überlegenheit, die den Engländer auszeichnet, ſondern ein tiefer 
Ingrimm, der nur deshalb nicht zur eigentlich revolutionären Stimmung, 
zur Volksauflehnung wird, weil der byroniſtiſche Herrenmenſch ſich nicht 
von der Vorſtellung freimachen kann, daß mit dieſem Volke nichts anzu⸗ 
fangen iſt. Es iſt bezeichnend, daß die Menge bei Puſchkin einmal bekennt: 
„Wir find im Herzen kalte, verſtümmelte Hämmlinge.“ Freilich iſt ja auch 
bereits bei Puſchkin das Gefühl vorhanden, daß der Dichter gerade darum 
zum Propheten und Wegweiſer ſeines Volkes werden müſſe. Aber gerade 
er und die um ihn waren noch nicht auf dem Standpunkt, den dann Gogol 
für ſich und ſeine nächſten Nachfolger verkündete, daß die Literatur eigentlich 
überhaupt nur inſofern Wert habe, als ſie Volkserzieherin ſei. Man hatte 
nicht umſonſt gerade von Byron die ſtärkſten Anregungen empfangen, der 
mehr als irgend ein anderer die Poeſie in der Poeſie fand. 


Storck: Nuſſiſche Opern 603 


Es iſt doch wohl ein Beweis für die Tatſache, wie ſchwer die Oper 
eigentliche Volkskunſt wird, wie ſehr ſie durch ihren ganzen Zuſchnitt, durch 
die ſchier unüberwindliche Notwendigkeit, mit ſehr großem Aufwand zu 
arbeiten und darum teuer zu ſein, zur Kunſt der beſſeren Geſellſchaft vor⸗ 
herbeſtimmt iſt, wenn in dieſer Oper bis auf die neueſte Zeit hinein Puſchkin 
und die ihm verwandten Dichter wie Lermontoff die eigentlichen dramatiſchen 
Nährquellen ſind. Denn wirklich volkstümlich können doch dieſe Dichter 
unmöglich ſein. Wir Deutſche haben unſeren großen Dichtern gegenüber 
dieſes Verhältnis nie gehabt, daß wir ihre Werke zu Opern uns zurecht. 
ſtutzten. Freilich haben in unſerem Opernſpielplan einige Werke einen ftän- 
digen Platz, in denen deutſche Dichtungen nichts weniger als künſtleriſch 
verarbeitet ſind. Das Publikum hat alſo offenbar weniger Achtung und 
Scheu als die Künſtler. Ein deutſcher Dichter würde es eben nicht wagen, 
uns aus Goethes „Fauſt“, „Wilhelm Meiſter“ oder „Werther“ jene Zerr⸗ 
bilder vorzuſtellen, die unſere Theaterbeſucher in franzöſiſchen Opern be⸗ 
klatſchen. Andererſeits hat man bei uns, ſo nahe z. B. gerade beim „Fauſt“ 
die Verſuchung dafür liegt, es noch nicht gewagt, aus klaſſiſchen Dichtungen 
nur einige Szenen herauszuheben, die für muſikaliſche Behandlung beſonders 
günſtig ſind, und beim Zuſchauer das Ganze als wohl bekannt vorausſetzend, 
dieſem die Verbindung der einzelnen Szenen zu überlaſſen. Das ſcheint 
mir das zumeiſt Charakteriſtiſche bei dieſen ruſſiſchen Textbüchern. Darin 
liegt auch zweifellos der Grund, weshalb man in der Fremde mit ihnen 
ſo wenig anzufangen weiß. Man muß die Werke Puſchkins kennen, wenn 
man am Inhalt, am Geſchehen dieſer Opern eine rechte Freude haben ſoll. 
In Rußland iſt das, ſoweit überhaupt die Schulbildung reicht, zweifellos 
der Fall. Das ſieht man auch an den Darſtellern. Die kommen als ganz 
ſcharf individualiſierte Geſtalten auf die Bühne; in Bewegung, Koſtüm, 
in der ganzen Art des Auftretens fühlt man, daß ſie eine bekannte Geſtalt 
vorſtellen, die in ihnen viel ausgebildeter iſt, als aus den im Operntextbuch 
vorkommenden Zügen möglich wäre. Sie ſchaffen eben die Geſtalt aus der 
Erzählung Puſchkins. Ebenſo fehlen in der Oper die wichtigſten pfycho- 
logiſchen Entwicklungen. Es wird uns einfach das Geſchehen einer ſpäteren 
Szene vorgeführt, und wir müſſen uns alles das ergänzen, was zu dieſem 
Gehaben hingeführt haben kann. 

Es iſt ja ganz ſelbſtverſtändlich, daß auf dieſe Weiſe niemals ein 
Muſikdrama entſtehen kann. Ebenſo verſteht es ſich von ſelbſt, daß 
durch dieſe Eigenart der Wirkungskreis der Werke ſehr beengt iſt, eben auf 
die eine Nation, der die Stoffe gehören. Aber ſo unerhört neu iſt bei der 
Oper dieſes Verhältnis nun doch nicht. Die ganze altitalieniſche 
Opera seria, auch die nationale franzöſiſche Oper bis einſchließlich Gluck 
hat mit gleichen Verhältniſſen gerechnet. Antike Götter- und Heldenfagen, 
Stoffe aus der romantiſchen Heldengeſchichte, die jedermann bekannt waren, 
bildeten den Inhalt. Daraus erfolgte für dieſe ältere Oper eine vollkommene 
Gleichgültigkeit gegen den Stoff, und der Schwerpunkt wurde verlegt auf 


604 Stord: Nuſſiſche Opern 


das rein Muſikaliſche in Arie und Enſembleſatz. Glucks Reformwerk 
beruhte darin, daß er den altbekannten Stoffen dadurch Aufmerkſamkeit 
verſchaffte, daß er ſeine Muſik an die pſychologiſchen Entwicklungen 
knüpfte. So weit find die Ruffen noch nicht. Im Schlußakt des „Eugen 
Onegin“ vielleicht, obwohl auch da uns weniger die Entwicklung von einem 
Zuſtande zum andern als die Ausſchöpfung eines bereits in ſich geſchloſſenen 
Seelenzuſtandes vorgeführt wird. Den Ruffen gibt Erſatz für dieſes Mufik⸗ 
dramatiſche die Einfügung der ausgeſprochen ruſſiſchen Muſik, in Volkslied 
und Tanz. Alſo letzterdings doch etwas Muſikaliſch⸗Formales, genau 
ſo wie in der italieniſchen Oper. Nicht umſonſt lieben ſie es dann, dem 
Arvolkstümlichen reine Geſellſchafts bildchen gegenüberzuſtellen, mit franzö⸗ 
ſiſchen Chanſons, zierlichſten Geſellſchaftstänzen. 

Auch in Tſchaikowskys (1840 — 1893) „Eugen Onegin” (1879) 
und „Pique⸗Dame“ (1890) ſind die Genrebilder das, was dem Nichtruſſen 
am meiſten im Gedächtnis haftet. Das erſtere Werk iſt übrigens als 
„lyriſche Szenen“ bezeichnet. Beide Opern find in Deutſchland öfter auf 
geführt worden, ihrer dauernden Einführung ſteht die Schwerverſtändlich⸗ 
keit der Handlung und der Charaktere für eine nicht gut vorbereitete deutſche 
Zuhörerſchaft im Wege. Bei „Pique⸗Dame“ iſt das noch ſchlimmer als 
bei „Eugen Onegin“, da Puſchkins, von ihm ſelbſt recht gleichgültig be- 
handelte Novellen natürlich noch weniger bekannt ſind, als ſein epiſches 
Hauptwerk. Entgegen der allgemeinen Einſchätzung ſteht nur die Muſil 
zu „Pique⸗Dame“ höher, als die allerdings wundervoll gearbeitete Par⸗ 
titur des „Onegin“. Die Mannigfaltigkeit iſt in der „Pique⸗Dame“ größer, 
als in dem ſchier einſeitig ſchwerblütig lyriſchen „Onegin“. Die Vorgänge 
allerdings vermögen auch den, dem ſie aus der Novelle Puſchkins vertraut 
ſind, nicht im Innerſten zu ergreifen, ſondern nur aufzuregen. Ja, die 
Häufung des Schauerlichen in den vier letzten Bildern wirkt faſt abſtoßend 
und gefährdet das Ganze. Aus dieſem Gefühl heraus hat Tſchaikows ky 
in die drei erſten Bilder möglichſt viele helle Lichter zu bringen geſucht, 
und darin iſt er ja glänzender Meiſter. Vor allem ein köſtliches Muſi⸗ 
zieren im intimen Kreiſe junger Rokokodamen und dann ein reizendes 
Schäferſpiel bei einem Ballfeſte ſind Perlen anmutigſter Muſik. Auch 
ſchwere dramatiſche Wucht hat Tſchaikowsky gegeben, wie die groß ange⸗ 
legte und in prachtvollen Melodiebogen ſich aufbauende Szene der Liſa im 
ſechſten Bilde dartut. Voll packender Leidenſchaftlichkeit iſt das große Liebes⸗ 
duett im zweiten Akt; von einer unheimlichen Kraft der Schilderung des 
Bangen, Ungewiffen die Einleitung zum vierten Bilde, in das ein helles 
Licht fällt durch eine Grétrys „Richard Löwenherz“ entnommene Romanze, 
die die greife Gräfin, in der Rückerinnerung verſunken, vor ſich hinſummt. 

Während ich es bei Tſchaikowskys Opern bedauere, daß ſie ihrer 
ruſſiſchen Beſonderheit wegen wohl niemals bei uns heimiſch werden können, 
iſt die Beiſeiteſetzung Rubinſteins berechtigt. Sein Lermontoffs Did: 
tung entſtammender „Dämon“ gehört zu jenen Geiſtern, die in der Liebe 


2 


= 
of 
2 
4 


Storck: Ruffifde Opern 605 


eines Menſchenweibes Glück ſuchen. Die Beſonderheit dieſes ruſſiſchen 
Dämons liegt darin, daß er eigentlich die Seele Lermontoffs iſt. Im Grunde 
revolutionärer Weltſchmerzler, durch höhere Mächte (ob Himmel oder nifo- 


laitiſches Staatsregiment, bleibt ſich gleich) zur Untätigkeit verurteilt, wühlt 


¥ 


er fih in einen Haß gegen alles Beſtehende und fich felbft ein. Aber dem 


Haß fehlt die Größe, er iſt nur Mittel zur Selbſtbetäubung; trotz aller 
: großen Worte iſt das einzige Verlangen ein bißchen ganz gut bürgerlichen 


6 


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Erdeng lücks. Lermontoff iſt unter den bedeutenden Dichtern die unvermifch- 
teſte Verkörperung dieſes bei allem Lebensdurſt ganz in Lebensohnmacht ge 
ratenen Byronismus. Das beſtätigt auch dieſe Dichtung. In der Fürften- 


tochter Tamara, die am Vorabend ihrer Hochzeit ſteht, ſieht der Dämon 


das Weib ſeiner Sehnſucht. Findet ſie zunächſt gegen ſeine verführeriſche 
Schönheit, ſeine lockenden Verſprechungen Widerſtandskraft im Gedanken 
an den geliebten Bräutigam, ſo weiß ſie ſich, nachdem der Dämon den Ge— 


liebten in den Tod geführt, nur im Kloſter eine Zuflucht. Aber auch hierher 
‚ verfolgt fie der Dämon. Mitleid über ſeine Einſamkeit, feine ſeeliſche Zer- 
riſſenheit; ſinnliche Erregung über ſeine Schönheit, der Glaube, ein Er— 
löſungswerk vollbringen zu können, läßt fie endlich dem Verführer in die 


Arme ſinken. Des Dämons Kuß tötet ſie. And die guten Engel laſſen 
. Ihm nicht einmal feine Beute; gleich Gretchen wird fie „gerettet“ zum Himmel 


geführt, ohne daß man recht weiß, worauf fic) ihre Rettung gründet, es fei 
denn, um dem Dämon in ſeinem Weltſchmerz recht zu geben: „Ha, ſtets 
verwaiſt, o ſtets allein! — Weh!“ worauf ihm der gute Engel noch ver- 
ſichert, daß er nie Vergebung erlangen werde: „Ewig bleibſt du allein, 
fſündiger, ſtolzer Geiſt.“ — 


Sehr enttäuſcht hat mich Rubinſteins Muſik. Man muß ja bei 


Rihm immer mit den Dafen in weiten Wüſten vorlieb nehmen. Aber daß 
die Muſik gar ſo kraftlos, ſo — man verzeihe den Ausdruck — ſchleimig 
ſei, hatte ich doch nicht gefürchtet. Auch das Nuſſentum iſt hier Mache 
äußerliches Wirkungsmittel, nicht Herzensſache, wie bei den andern. In 
Deutſchland wird der „Dämon“ wohl nur in Dresden Scheidemantels wegen 


gegeben, der hier eine einzigartige Gelegenheit hat, ſeine Fähigkeit zu düſterer 
Sentimentalität zu zeigen. Aber Scheidemantel betont dabei, wo es an- 
geht, das furchtbar Sataniſche und macht damit die Geſtalt für den Deut- 
ſchen verſtändlicher. Der Ruſſe Tartakoff, der hier die Partie fang, 
war echter im Sinne Lermontoffs: ganz Weltſchmerzler, weich und nur zu⸗ 
weilen auffahrend in Leidenſchaft. Wir Deutſche verſtehen bei einer ſolchen 
Geſtalt dann nicht den Haß, die Sucht zur zerſtörenden Tat. Wie uns ein 
ſolcher unglücklicher Dämon erſcheint, hat bereits Klopſtock im Abbadonna 
feines „Meſſias“ geſtaltet. Seither wurde uns das Dämoniſche zur zer- 
ſtörenden Macht des „Mephiſtopheles“; von ihm, der bereits das Gute 
ſchafft, obwohl er ſtets das Böſe will, führt der Weg zu den ſchöpferiſchen 
dämoniſchen Mächten des Titanentums. 

Zwei andere Werke, beide wieder nach Dichtungen Puſchkins, waren 


606 | Stora: Nuſſiſche Opern 


für uns ganz neu. Alexander Dargomyſchkys (1813-1869) „Nuſſalka“ 
(die Waſſernixe) dürfte in Rußland eine ähnliche Stellung als romantiſche 
Volksoper einnehmen wie bei uns Lortzings , Undine“, an die das Werk 
durch die Verwandtſchaft des Stoffes und die Geſamthaltung der Muſik 
erinnert. Dieſe ruſſiſche Waſſernixe iſt zunächſt eine ganz normale hübſche 
Müllerstochter, die infolge des Treubruchs ihres Geliebten, eines Fürſten, 
ins Waſſer geht und dort zur Nixenkönigin wird. Wie Lortzings Andine 
greift fie ſtörend in des Treuloſen Hochzeitsfeſt ein und zieht ihn ſpäter auf 
den Grund in ihr Waſſerſchloß. Das 1856 entſtandene Werk ſteht in der 
Mitte von Dargomyſchkys Entwicklung, der als getreuer Jünger Noſſinis 
anfing und als Aber Wagnerianer endigte. Die „Nuſſalka“ hat ihr ſchönſtes 
in ſehr hübſchen Chorſätzen, bringt eine wirkungsvolle dreiteilige Arie und 
in einer wuchtigen Szene, die den wahnſinnig gewordenen Vater des un⸗ 
glücklichen Mädchens vorführt, ein wirklich dramatiſches Rezitativ großen Stils. 

Gegenüber dieſem älteren Werke bedeutet des als Hofkapellmeiſter in 
Petersburg wirkenden Eduard Naprawnik (geb. 1839) „Dubrowsky“ 
(1895) in dramatiſcher Hinſicht einen Nückſchritt. Naprawnik iſt nicht Nuſſe, 
ſondern Tſcheche. Gewiß iſt da Stammesverwandtſchaft, aber der Grund⸗ 
charakter der beiden Völker iſt doch vollkommen verſchieden. Smetanas 
Muſik zeigt nicht einen verwandten Zug mit der ruſſiſchen, und fo iſt auch 
Naprawniks Oper die am wenigſten ruſſiſche, die wir zu hören bekommen 
haben. Nicht daß es an nationalen Elementen darin fehlt; im Gegenteil, 
ſie ſind ſogar gehäuft und treten mit einer gewiſſen Aufdringlichkeit vor 
uns, wie ſich das faſt von ſelbſt ergibt, wenn etwas als Material und nicht 
als Ausdruck verwendet wird. So iſt von beſonderer Schönheit ein Trauer⸗ 
chor am Schluß des erſten Bildes, der in glücklichſter Weiſe an ruſſiſche 
Kirchenmuſik anklingt und die imitatoriſche Stimmführung in den Kirchen ⸗ 
tonarten aufs beſte mit der Stimmungsmalerei des modernen Orcheſters 
verbindet. Im übrigen iſt Naprawnik eine echt böhmiſche Mufikantennatur. 
Anbekümmert um Arſprünglichkeit, ebenſowenig verlegen um geſchmeidige 
und ſinnfällige Wendungen. Vor allem klingt ſeine Muſik ſehr gut. Von 
der Geiſtigkeit moderner Polyphonie dagegen, von der wirklich mufil- 
dramatiſchen Kraft des Orcheſters, die Beethoven erſchloſſen hat, hat Na⸗ 
prawnik keine Ahnung. Er ſieht überhaupt nur die einzelne Szene, ja den 
einzelnen Augenblick, und den komponiert er. Ein einziges Beiſpiel dafür: 
Auf das Gut des Vaters Dubrowsky kommt gerade, wenn dieſer am 
meiſten über deſſen Verluſt klagt, mit fröhlichem Schellengeläut im Wagen 
Troekurow, der ihm durch Betrug aller Art dieſes Gut geraubt hat. Bei 
dem furchtbaren Aufeinanderprall der beiden Männer ſtirbt der alte Du: 
browsky. Das Vor- und Abfahren Troekurows komponiert Naprawnil in 
der Art jener vielen Salonſtücke, bei denen das Herankommen einer Militar: 
kapelle und deren Wiederverſchwinden vorgeführt wird. Von der Tragil 
dieſes Verhältniſſes nimmt die Muſik gar keine Notiz, wo ſich doch eine 
wunderbare Gelegenheit bietet, bei der Abfahrt die Luſtigkeit des Wagen ⸗ 


— —— [1m — 


Donna Diana 607 


geläutes mit der ganzen trüben Stimmung kontrapunktiſch zu verbinden. 
Kaum iſt dann der Wagen verſchwunden, fo wird ein neues Regifter auf: 
gezogen und es beginnt der oben erwähnte prachtvolle Trauerchor. 

In dieſem Mangel einer tiefer aufgefaßten Polyphonie liegt über- 
haupt die Unfähigkeit der ruſſiſchen Muſik, vorläufig zum Muſikdrama zu 
gelangen. Die ruſſiſchen Opern aber haben ihr Publikum vorerſt auch nur 
in Rußland. Das hat übrigens niemand ſchroffer und ſtolzer ausgeſprochen 
als Borodin, einer der tapferſten Vorkämpfer der ruſſiſch⸗ nationalen Muſik, 
der meinte, die Nuſſen „feien zu lange für das Ausland nur Konſumenten 
geweſen, um ihm als Produzenten etwas gelten zu können“. So haben 
dieſe Muſiker die Beſchränkung des Wirkungskreiſes als nationale Not⸗ 
wendigkeit erkannt; ihr ſich zu beugen, iſt nach Turgenieffs Worten 
auch für den Künſtler oberſtes Geſetz. 


V 


Donna Diana 


2 nfere heutige Notenbeilage bringt eines der ſchönſten Geſangsſtücke 
aus C. N. von Rezniceks dreiaktiger Oper „Donna Diana“, auf 
die durch die Aufführung im Berliner königlichen Opernhaus die 
Aufmerkſamkeit erneut gelenkt wurde. Leider war die Aufführung nicht gut 
genug, um dem liebenswürdigen Werke nachhaltig nützen zu können. 

Ich hege immer große Hoffnungen vom ſpaniſchen Luſtſpiel, als ob es 
unſerer komiſchen Oper wenigſtens über die textliche Stoffnot hinweghelfen 
könnte. Die Muſik iſt wohl imſtande, jene Eigentümlichkeiten, die uns an dieſem 
Drama ſtören können, — die ſtarre Feſtlegung auf im voraus erſtarrte Cha- 
raktere und das unvermittelte Nebeneinander von Leidenſchaft und kalter Aber⸗ 
legung in der gleichen Perſon — zu überwinden. Sie kann die Abergänge und 
Zwiſchenſtufen der Stimmung vermitteln, die die ſpaniſchen Dichter ſo gern 
uns ſchuldig bleiben. Aber gerade die Oper ſchaltet ja — wie bereits Schiller 
hervorhob — jene Anſprüche auf Lebens wirklichkeit aus, die uns ſonſt fo leicht 
um den Genuß eines geiſtreich erfundenen Lebensſpiels bringen. Nun glaube 
ich überhaupt, daß zuerſt die komiſche Oper uns jenes bewußte Theaterſpiel 
bringen ſoll, ohne das das Theater die Aufgabe einer vornehmen Unterhaltungs- 
kunſt nicht erfüllen kann. Das iſt gewiß nicht die höchſte Form der komiſchen 
Oper, ſo wenig wie Anterhaltung das höchſte Ziel des Theaters iſt. Aber ein 
Ziel bleibt dieſe und vielleicht das ſicherſte Mittel zu einer künſtleriſchen Lebens ⸗ 
kultur. Wir haben allzu lange verſäumt, dieſe Aufgabe künſtleriſcher Anter⸗ 
haltung wichtig genug zu nehmen; haben uns zu wenig gegenwärtig gehalten, 
welche Fülle ſchöner Kunſt hier erblühen kann, wie diefe einem unbedingt und 
immer vorhandenen Lebensbedürfnis entgegenkommt. Bitter haben wir dafür 
gebüßt, indem wir neben unſerer gewaltigen Dramatik, unſerer herrlichen Feſt 
ſpielkunſt einer wirklich vornehmen und künſtleriſch feinen Anterhaltungskunſt 
im geſprochenen und geſungenen Drama verluſtig gegangen ſind. Zeit iſt's, 
daß hier die Beſſerung erfolgt. Gar traurig ſieht es um unſer Theater in 


Via) 


608 Donna Giana 


dieſer Hinficht aus. Einfuhr einer unferer getftigen und feelifchen Natur, unferer 
ſittlichen Lebensauffaſſung, unſerem Empfinden widerſprechenden Literatur, 
Maſſenpflege der Operette ſind die böſeſten Erſcheinungen unſeres Theaterlebens. 

So verfolge ich mit warmer Teilnahme alle Verſuche, uns eine komiſche 
Oper zu ſchaffen. Als größte Schwierigkeit ergibt ſich die Wahrung der hier 
wahrhaft goldenen Mittelſtraße zwiſchen großdramatiſchem Muſikſtil und Ope- 
rette. Mozart — vor allem auch in ſeinem köſtlichen Parodieſpiel „Cosi fan 
tutte“ —, Nicolai und Peter Cornelius, von Ausländern beſonders Verdis 
„Falſtaff“ — ſind die Leitbilder. Leider ſcheint vor allem die Kenntnis Mozarts 
nicht tief genug zu gehen; in ihr liegt das ſicherſte Schutzmittel gegen alle Ge- 
wöhnlichkeit, gegen die Operette. Auch Reznicek hat ſich nicht dieſem wunder⸗ 
baren Schutzengel anvertraut, trotzdem der Stoff ſeines Werkes mit „Cosi fan 
tutte“ innerlich verwandt iſt. Er hat zuviel nach Johann Strauß geſehen, und 
der Tanzrhythmus wird aller Oper ſehr gefährlich: als Würze unvergleichlich, 
iſt er als Grundnahrung immer vom Abel (die „Fledermaus“ beſtätigt als 
einzige Ausnahme die Regel). 

Moretos „Donna Diana“ iſt die ſpaniſche Ausgabe von der „Zähmung 
der Widerſpenſtigen“. Hier iſt nicht jungfräulicher Anabhängigkeitstrutz, fon- 
dern Philoſophie die gebrechliche Waffe gegen die Liebe. Zerbrochen wird ſie 
in Spanien vor der Ehe, und dem entſprechend nicht mit der Abergewalt mann: 
licher Kraft, ſondern mit der Scheinwaffe der Gleichgültigkeit gegen Liebe. 

Donna Diana, des Herrſchers von Barcelona Tochter, ſoll ſich vermählen. 
Drei Prinzen werben um ſie, mit der Leidenſchaft wahrer Liebe Don Ceſar. 
Aber Diana verlacht alle. Da rät der Hofnarr dem Liebenden, Donna Diana 
mit ihrer eigenen Waffe zu bekämpfen. So beginnt das Spiel zwiſchen den 
beiden; was Liebestrutz und gekränkter Stolz nicht vermag, vollbringt die Eifer · 
ſucht. Schließlich muß natürlich die Prinzeſſin der in ihr erblühten Liebe ſich 
beugen. Im Operntext ift das Nankenſpiel geiftreicher Rede, das im Drama 
üppig wuchert, abgeſchnitten und nicht immer vollwertig durch Vermehrung 
des rein Lyriſchen erſetzt. Immerhin der Text tut Genüge. 

Für die Muſik erweckt die geiſtſprühende Ouvertüre Hoffnungen, die 
nachher doch nicht ganz erfüllt werden. Die Thematik dieſer Ouvertüre iſt 
ſelbſtändiger als nachher in der Oper, wo manche böſen Anklänge ftdren oder 
doch ablenken. Dann wirkt die Orcheſtration hier ſo prächtig durchſichtig, ſo 
daß man ſich darauf freut, wie fi) das nachher mit den Singſtimmen fein 
vertragen muß. Aber die Verbindung heller Bläſerſtimmen mit gezupften 
Streichinſtrumenten wirkt zuweilen überraſchend ungünſtig für die Durchſchlags 
kraft der Singſtimme. Eine gewiſſe Einförmigkeit wird durch den ſteten Tanz ⸗ 
rhythmus hervorgerufen und es fehlt an packenden Höhepunkten. So will ſich 
die rechte Wärme nicht entzünden und es bleibt beim ſchönen Angeregtſein. 

Reicher, als bei der Bühnenaufführung iſt der Genuß, den das Werk 
dem perſönlichen Studium darbietet. Da genießen wir mit Behagen die zahl · 
reichen ſchönen Stücke des Werkes, die liebenswürdigen Melodien, die reizvollen 
Rhythmen, das geiſtvolle Linienſpiel der Stimmführung. So rate ich unferen 
Leſern ſehr angelegentlich, ſich den bei Schuberth & Cie. in Leipzig erſchienenen 
Klavierauszug aufs Pult zu legen. Er hat den Vorzug, günſtig ſpielbar zu ſein. 


Verantwortlicher und Chefredakteur: Jeannot Emil Frhr. v. Srotthuß, Bad Oeynbauſen . W. 
Literatur, Bildende Kunſt und Mufit: Dr. Karl Storck, Berlin V., eandshuterſtraße 3. 
Druck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart. 


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onatsſchrift für Gemüt und Geiſt = 
Derausgeber:Jeannot Emil Freier mon Broſſhuss 
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X. Jahrg. Auguft 1908 Befigil 


Im Sachſenwalde 


Von 


Franz Herold 


Im Sachſenwalde der Morgen graut, 

Da ſchreitet ein Mann durchs Heidekraut; 
Wie Siegfried hoch, doch filbergrau, 

Die Stirn verfinftert ob buſchiger Gran’. 
Das Eichhorn hüpft ihm vor den Fuß, 

Es pocht der Specht ihm den Morgengruß. 
Nun ſitzt er ſtill auf einer Bank 

And blickt den Weg im Wald entlang; 
Den Weg entlang auch durch die Zeit, 
Den er beſchritt in Sturm und Streit, 
Den er gehauen, Siegfried gleich, 

Durch Feindesheere dem deutſchen Reich. 
Ein greller Krähenſchrei ihn ſchreckt, 

Der treue Hund die Hand ihm leckt. 

Die hält umklammernd den Stock gefaßt, 
Darauf er beugt des Leibes Laſt. 

Da brauſen die Wipfel, ein Donner ſchallt, 
Herr Wodan reitet heim übern Wald. 
And hält den Sleipner im ſauſenden Lauf 
And winkt der Walküre: Den hol mir herauf, 
Den alten Reden; trag ihn im Schlaf. 
Dem ſitzt eine Todeswunde, die traf. 


Der Türmer X. 11 A 40 


Bismarcks Freundſchaften 


Von 


Herman von Petersdorff 


| en der Dichter genannt, der wandelt geſondert“, heißt es. 
4) pp 8 Aber auch dem, den der Genius der Freundſchaft gewür— 
5 8 Dy digt hat, fällt dies Los zu. Ein Freund Luthers, ein 

Freund Friedrichs des Großen, ein Freund des Freiherrn 
vom Stein, um von Poeten abzuſehen, erweckt ſtets das Intereſſe der ge— 
bildeten Welt. Nicht minder iſt das bei den Freunden Bismarcks der 
Fall. Noch liegt das gewaltige Lebensbuch des erſten deutſchen Reiche: 
kanzlers nicht aufgeſchlagen vor uns; ja, es wird wohl noch viel Zeit ver— 
gehen, ehe wir alles leſen werden können, was wir über ihn zu leſen be— 
gehren, und ſchon kennen wir eine Fülle von markigen Geſtalten, die dem 
größten deutſchen Staatsmann befreundet geweſen ſind. Bismarck iſt eben 
ein Mann geweſen, dem Freundſchaft ein Bedürfnis war. 

In allen Lebensabſchnitten Bismarcks treten uns Männer entgegen, 
mit denen ihn Freundſchaftsbande verknüpften, in ſeiner erſten Jugendzeit, 
in feinen Studentenjahren, in den Jahren, in denen er als einſamer Guts 
herr auf Kniephof hauſte, am Frankfurter Bundestag, auf der Höhe ſeines 
Schaffens als leitender deutſcher Staatsmann und auch in der Stille des 
Sachſenwaldes, als das Heldenepos ausklang. Einige der Freunde begleiten 
ihn auf ſeinem ganzen Lebenswege. Aber nur bei wenigen bleiben im Wechſel 
der Ereigniſſe die Saiten gleichgeſtimmt. Je weiter der Niefe fchreitet, deſto 
häufiger werden die ſchrillen Mißklänge, und man ſpürt tief die erſchütternde 
Tragik, die die einſame Größe eines ſolchen Mannes in ſich ſchließt. 

Freunde aus der Kinderzeit Bismarcks waren Moritz v. Blancken⸗ 
burg, deſſen Freundſchaft er, ſolange dieſer lebte, genoß und die für ihn 
in den Kniephofer Jahren von großer Bedeutung werden ſollte, ferner 
Alrich v. Dewitz aus Milzow in Mecklenburg, „ein tief gemütlicher, ebren- 
werter Freund“, wie ihn Bismarck ſpäter bei feiner Frau einführte, ſo— 
dann Karl v. Savigny, der nachmalige Bundestagsgeſandte, Sohn des 


Petersdorff: Bismarcks Freundſchaften 611 


großen Rechtslehrers, und auch Harry v. Arnim, der ſpätere Botſchafter 
und bittere Feind des Reichskanzlers. Das Kapitel Harry Arnim iſt 
zweifellos eins der merkwürdigſten Kapitel aus dem Freundſchaftsleben 
Bismarcks. Leider ſehen wir in dieſer Beziehung noch gar zu wenig klar. 
Der grimmige Haß, mit dem der Kanzler dieſen begabten, aber auch nur 
zu charakterloſen Nebenbuhler verfolgte, trübt den Einblick in das beider- 
ſeitige Verhältnis. Briefe Arnims an Bismarck ſind bisher nur in ge— 
ringer Zahl bekannt geworden, Briefe Bismarcks an Arnim, ſoweit ich 
febe, noch gar nicht. Wher fo viel ſteht doch auch ſchon feſt, daß dieſer 
Jugendbekannte von Bismarck von Anfang an mit einiger Ironie betrachtet 
worden iſt. Trifft das zu, was der Altreichskanzler über Arnims Jugend 
in feinen „Gedanken. und Erinnerungen“ erzählt hat — und das wird doch 
wohl anzunehmen ſein —, ſo lag ja auch ein Grund zu ſolcher Ironie vor. 
Denn wenn dieſer Sproß einer verarmten Adelsfamilie als Schüler des 
Neuſtettiner Gymnaſiums ſich von den Damen einer wandernden Schau— 
ſpielertruppe in die Lehre hat nehmen laſſen, ſo forderte das natürlich Sar⸗ 
kasmus und Spott heraus. Vermutlich war Bismarck durch Blanckenburg 
mit Arnim bekannt geworden. Durch die Verheiratung von Bismarcks 
Schweſter Malwine mit Oskar v. Arnim⸗Kröchlendorff wurden die Bee 
ziehungen zu Harry wohl noch enger. Wie ſpöttelnd Bismarck ihm ſchon 
1851 gegenüberſtand, zeigt ein Wort in einem Briefe an ſeine Gattin, als 
er ihr über das Befinden der Frau Arnims nach der Geburt eines Sohnes 
ſchrieb: „Harry ſoll in aufgeregter Ekſtaſe über ſeinen Sohn ſchweben.“ 
Aber das Verhältnis zwiſchen ihnen beiden war doch noch ſo, daß Arnim 
den damals in Paris weilenden Bismarck im Jahre 1857 zu der Feier 
feiner zweiten Vermählung in Boitzenburg einlud. Im Jahre darauf bee 
ſuchte Arnim nebſt Frau den Bundestagsgeſandten einen ganzen Tag in 
Frankfurt, und noch im Juni 1862 reiſten die beiden künftigen Nebenbuhler 
ſelbander von Paris nach London. Als Bismarck bald darauf Minifter- 
präſident geworden war, mag das praktiſch geworden ſein, was der wenig 
Wein vertragende Arnim dem alten Freunde einſt nach einem Frühſtücks⸗ 
glaſe verraten hatte: „In jedem Vordermann in der Karriere ſehe ich einen 
perſönlichen Feind und behandle ihn dementſprechend. Nur darf er es nicht 
merken, ſolange er mein Vorgeſetzter iſt.“ Mit einem andern Nebenbuhler 
von gleicher Bedeutung wie Graf Harry Arnim, mit dem Botſchafter Graf 
Robert Goltz, hat Bismarck urſprünglich auch in einem freundſchaft⸗ 
lichen Verhältniſſe geſtanden. Gelegentlich wohnte er bei ihm. Doch ſind 
wir über dieſes Verhältnis und ebenſo über das zu ſeinem Bruder, dem 
Generaladjutanten Grafen Karl v. d. Goltz, von Bismarck „Tarl“ Goltz 
genannt, noch allzuwenig unterrichtet. Wie die Freundſchaft mit Harry 
Arnim, hielt auch die mit Karl v. Savigny nicht ſtand. Sie nahm 
plötzlich ein Ende, als Savigny den Wunſch ſeines Ehrgeizes, das Prä⸗ 
ſidium des Bundes kanzleramtes, nicht erhielt und infolgedeſſen ins Lager 
des Altramontanismus hinüberſchwenkte. Bismarck hat freilich auch ihm 


612 Detersdorff: Bismarcks Freundſchaften 


wohl immer etwas ironiſch gegenübergeſtanden. Er hat zwar von ihm ge⸗ 
ſagt, er kenne Savigny ſeit ſeiner Jugend als einen braven, ehrlichen Men⸗ 
ſchen. Gleichzeitig ſchränkte er aber ſein Lob ein: „Savignys Geiſt be⸗ 
wege ſich nur in gewiſſen formellen Grenzen.“ Wohl hat er „Karlos“ 
oder „Charles“, wie er ihn nannte, noch in der Frankfurter Zeit freund: . 
ſchaftlich in Karlsruhe beſucht, hat mit ihm den Wolfsbrunnen bei Heidel⸗ 
berg erſtiegen und dabei gefunden, daß Savigny „politifch etwas vernünf- 
tiger geworden wäre“. Ja, er behauptete damals gelegentlich, er hatte ſich 
wieder „ganz mit ihm befreundet“. Aber daß Savigny für ihn etwas 
Komiſches an ſich hatte, merkt man überall durch. So ſchreibt er im 
Jahre 1859 aus Petersburg ſeiner Gattin: „Aber Deine Schilderungen 
Savignys habe ich heute krampfhaft gelacht, ich ſehe ihn von hier ſäuſeln, 
rollen und fletſchen.“ Bismarck wird es alſo nicht allzu ſchmerzlich emp⸗ 
funden haben, als der gekränkte Mann 1867 linksum kehrtmachte. Natür- 
lich vollzog ſich dieſe Trennung bei einem ſo feinen Diplomaten, wie Sa⸗ 
vigny es war, glatt und in aller Form. Die Gräfin Bismarck hat die 
Scheideviſite humorvoll geſchildert: „Geſtern erſchienen Savignys, ſo feier⸗ 
lich, förmlich, korrekt, daß wir ſämtlich kalte Hände bekamen von der regel⸗ 
rechten, eingerahmten, wohlerzogenen Unterhaltung, die man im Mittel. 
ſalon führte.“ Die zahlreichen freund ſchaftlichen Briefe Savignys an Bis ⸗ 
marck, die wir kennen — ſie ſtammen aus Bismarcks Frankfurter Zeit —, 
muten mit ihren zärtlichen Anreden etwas ſonderbar an, wenn man be⸗ 
denkt, wie ſchnell der Bruch fic) vollzog. Vielleicht lernen wir ſpäter etn- 
mal auch Bismarcks Briefe an Savigny kennen. Mit Alrich Dewitz ⸗, 
Milzow währte die Freundſchaft Bismarcks länger. Die beiden ſtudierten 
zuſammen in Göttingen. Dewitzens Glückwunſch zu feiner Verlobung be: 
rührte den Verlobten Johannas v. Puttkamer tief. Später, im Jahre 1851, 
beſuchte er als Bundestagsgeſandter mit ihm die Stätten früherer Tor- 
heiten in Wiesbaden „mit einem Gemiſch von Wehmut und altkluger Weis⸗ 
heit“. „Wo und wie mögen Sfabella Loraine und Miß Ruſſel jetzt leben; 
wie viele find begraben, mit denen ich damals liebelte, becherte und wür- 
felte.” Noch in den achtziger Jahren hören wir von Beſuchen dieſes 
mecklenburgiſchen Edelmanns bei dem Reichskanzler. 

Die mannigfaltigſten Freundſchaftsbündniſſe erblühten Bismarck auf 
der Aniverſität. Es liegt ein Zauber über dieſem Freundſchaftsleben des 
künftigen großes Mannes auf der Georgia-Augufta und der Berliner 
Friedrich Wilhelms ⸗Aniverſität. Vor allem waren es Ausländer, mit denen 
er dort in ein vertrautes Verhältnis kam, die drei livländiſchen Grafen 
Hermann, Alexander und Heinrich Keyſerling, und zwei Amerikaner, neben 
Amory Coffin namentlich John Lothrop Motley. Hermann Keyſerling 
und die beiden Amerikaner lernte Bismarck ſchon in Göttingen kennen. 
Hermann Keyſerling (+ 1880) führte bei den Freunden den ſchönen 
Spitznamen Fleſch, den er ſein ganzes Leben hindurch behalten hat. Er 
war ein Mann von lebhaftem Temperament, von Geiſt und ſprühendem 


Petersdorff: Bismards Freundſchaften 613 


Witz, dem alle beſonders wohlwollten und deſſen Nennung ſtets behagliche 
Gefühle bei den Freunden auslöſte. Viel wiſſen wir nicht über ihn. Er 
hing an Bismarck mit großer Treue und iſt nach der Studienzeit noch oft 
mit ihm in den verſchiedenſten Lebenslagen zuſammengetroffen. Als Bis⸗ 
marck ihm im Jahre 1857 ſeinen Beſuch in Kurland ankündigte, da be⸗ 
grüßte er dies, wie Bismarck ſeiner Frau ſchrieb, „mit Freudengeſchrei“. 
„Er hat“, ſo meldete Bismarck weiter heimwärts, „meine alten Freunde, 
ſeinen Bruder aus Eſthland, Fircks, Behr, Nolde, ſofort zitiert; ſie wollen 
mir bis Memel entgegenkommen und haben Jagden durchs ganze Feuer⸗ 
land arrangiert.“ Mit einem andern baltiſchen Freunde, von dem wir noch 
nichts Näheres wiſſen, mit dem Baron Adolf Behr in Edwahlen, der den 
ſchönen Spitznamen „lb Ah“ führte, ging Bismarck damals auf Elennjagd. 
Mit ihm reiſte er auch nach Deutſchland zurück. „Fleſch“ beſuchte Bismarck 
auch während deſſen Botſchafterzeit in Paris, zugleich mit ſeiner liebreizenden 
Tochter Wanda, die ebenfalls dem Bismarckſchen Hauſe befreundet wurde. 

Die Freundſchaft, die mit dem nachmaligen berühmten Hiſtoriker 
J. L. Motley, auch in Göttingen, erwuchs, ſollte die bemerkenswerteſte 
unter den ſtudentiſchen Freund ſchaften Bismarcks werden. Die recht tropfen- 
weiſe bekannt gewordenen Briefe, die die beiden gewechſelt haben, veran⸗ 
ſchaulichen uns dieſes liebenswürdige Verhältnis ſo recht. Als Motley 
feiner Mutter am 1. Juli 1832 ein Bild von dem Studentenleben in Göt⸗ 
tingen entworfen hatte, das recht kritiſch gehalten war, ſchrieb er zum Schluß: 
„Du wirſt wahrſcheinlich keine ſehr hohe Meinung von deutſchen Studenten 
aus dem von mir gezeichneten Bild eingeſogen haben; dennoch habe ich 
hier einige Freunde gefunden, die ich ſehr bewundere und mit denen ich 
ſchon Brüderſchaft getrunken habe.“ Ohne Frage war hiermit in erſter 
Linie Bismarck gemeint. Beide Freunde bezogen nachher auch gemein ſam 
die Berliner Univerfität, und hier fand fic der dritte zum Bunde in der 
Perſon des liebenswerten Grafen Alexander Keyſerling. Die drei 
wohnten zuſammen in „Logiers Hauſe“ in der verengerten Friedrich⸗ 
ſtraße Nr. 161, zwiſchen der Behrenſtraße und den Linden. Nach Vankee⸗ 
art hatte Motley die Gewohnheit, ſeine „ſchlanken“ Beine über eine Stuhl⸗ 
lehne zu legen oder die Füße, wie Bismarck berichtete, „gegen eine Wand 
von Gott weiß wie trüber Farbe“ oder zum Fenſter hinauszuſtrecken. Nie 
vergaß Bismarck den Anblick der roten Pantoffeln Motleys, die ihm von 
der Brüſtung ſeines Wohnſtubenfenſters auf der Straße entgegenſtarrten. 
In einer Wirtſchaft (Gerolt) gab es einſt einen Auftritt, als der Sohn 
des freien Amerika dieſe Gewohnheit auch dorthin verpflanzen wollte. In 
Logiers Hauſe ſpielten die Freunde zuſammen oft Schach. Sie ſtritten ſich 
dort auch wohl darüber, ob Byron oder Goethe in Vergleich zu ſtellen 
feien, wie Bismarck ſich noch ſpäter entſann, ja fie philoſophierten viel mit⸗ 
einander und ſprachen mancherlei über religibſe Dinge. Der Skeptizismus, 
von dem Bismarck damals beherrſcht war, haftete den Freunden ſehr in 
der Erinnerung. Bismarck liebte es auch, Keyſerlings Klavierſpiel zu lau- 


614 Petersdorff: Bismarcks Freundſchaften 


ſchen; beſonders gern hörte er Beethovenſche Muſik von ihm. And wie 
er ſich im Umgang mit Motley im Engliſchſprechen übte, fo machte es ihm 
Spaß, von Keyſerling lettiſche Lieder zu lernen. Nach Jahren wußte er 
fie noch bergufagen: „Puhsch, puhsch, Seemelwehsch.“ Oft herrſchte große 
Ebbe in den Börſen der drei, wie Keyſerling uns berichtet: „Wenn wir 
gern noch ein Beefſteak gegeſſen hätten, ſagte Bismarck wohl: Where shall 
we take money?“ Auch manchen Streich jugendlichen Abermutes voll ⸗ 
führten die Zeltgenoſſen miteinander. So ſchrieben ſie an die Tür eines 
jungen Barons v. d. Ropp, der ſich nachmittags eingeſchloſſen hatte, um 
ungeſtört zu arbeiten: „Hier ſind zwei junge Elefanten zu ſehen.“ „Dar⸗ 
auf“, ſo erzählt die Tochter Keyſerlings, „ſtetes Geklingel und Anfragen 
von Perſonen, die ſich die Elefanten anſehen wollten. Der unglückliche 
Ropp, der es gar nicht begreifen konnte, wie die Leute auf den ver⸗ 
rückten Einfall gekommen, Elefanten in ſeiner Stube zu ſuchen, geriet in 
Wut und Verzweiflung.“ Nach einer andern, allerdings nicht ganz be- 
glaubigten Erzählung hat Bismarck, als das Kleeblatt in Geldklemme ge⸗ 
raten war, den Grafen Keyſerling als Blinden Unter den Linden herum⸗ 
geführt und die Vorübergehenden um milde Gaben gebeten. Daß der 
nachmalige große Staatsmann es arg getrieben hat als Bruder Studio, 
was ja gemeinhin bekannt iſt, geht auch aus einer andern Wendung 
Keyſerlings hervor. Als dieſer von einem Nachruf berichtet, den er in 
ſehr viel ſpäterer Zeit dem Botaniker Griſebach widmete, bemerkt er 
nämlich: „Da habe ich auch der Jugendſtreiche Bismarcks gedacht, in 
mildeſter Weiſe freilich.“ Oft bewunderte Keyſerling die große Geduld, 
mit der Bismarck ſeine Neckereien ertrug. Studentiſche Erinnerungen mögen 
in dem ſpäteren namhaften Naturforſcher ebenfalls geweckt worden ſein, 
als er 1879 ſchrieb: „In Deutſchland hat Bismarck es dahin gebracht, daß 
alle Menſchen verdutzt ſind. So trieb er es eigentlich gern von jeher.“ 
Die Zeit dieſes Zuſammenlebens mit Motley und Alexander Keyſer⸗ 
ling ſchien Bismarck ſpäter traulich wie kaum etwas anderes. Motleys 
Bild hing über des Kanzlers Bette, und der von tauſend Sorgen um ſein 
Vaterland heimgeſuchte Staatsmann träumte ſich angeſichts der Züge des 
Jugendfreundes gern zurück in Auld Lang Syne, in längſt vergangene 
Zeiten. Als Motley ihn nach zwanzig Jahren in Frankfurt wieder auf- 
ſuchte, empfing er ihn mit offenen Armen. „Ich kann Dir nicht beſchreiben, 
wie herzlich er mich empfing“, ſchrieb Motley an ſeine Gattin; „wenn ich 
ſein Bruder geweſen wäre, hätte er nicht wärmere Zuneigung und mehr 
Entzücken zeigen können. Ich finde, daß ich ihn noch lieber habe, als ich 
ſelbſt glaubte, und doch weißt Du, welch eine hohe Meinung ich immer 
von ſeinen Talenten und ſeiner Gemütsart hegte. Allerdings ſind meine 
politiſchen Anſichten ſehr verſchieden von den ſeinen. Aber ich kann mit 
ihm fo frei herausſprechen wie mit Dir.“ Die Beſuche der beiden wieder · 
holten ſich in den ſpäteren Jahren. Als Motley Bismarck 1866 in Wien 
wiederſah, da glaubte er niederſchreiben zu können: „Wahrſcheinlich lebt 


Petersporff: Bismarcks Freundſchaften 615 


niemand, der ihn ſo genau kennt wie ich.“ Ofter lud Bismarck den Freund 
nach Varzin ein. Seine Beredſamkeit wurde bei ſolchen Einladungen uns 
widerſtehlich. Er ſetzte dem zu jener Zeit als amerikaniſchen Geſandten in 
Wien lebenden Studiengefährten auseinander, wie leicht es wäre, ſeinen 
„Wigwam in die pommerſchen Wälder zu verlegen“. „Du gibſt deiner 
Frau Gemahlin den Arm, beſteigſt mit ihr ein Cab, biſt in zwanzig 
Minuten am Bahnhof, in dreißig Stunden in Berlin und von dort in 
einem halben Tage hier. Ich bin ſo in den Gedanken ſchon eingelebt, daß 
ich krank werde, wenn du nein ſagſt, und das würde die übelſten Einflüſſe 
auf die ganze Politik haben.“ In der Tat fand ſich der Amerikaner wieder— 
holt in Varzin ein und verlebte dort ſchöne Tage im gaſtlichen Hauſe ſeines 
Freundes. Motley ſtarb ſchon 1877. Wenn der alte Kanzler an ihn zurüd- 
dachte, dann wurde es ihm ſchwer ums Herz, und die Melodie des Liedes, 
das er oft mit ihm geſungen: „In good old colony times, when we were 
roguish chaps (luſtige Schelme)“, ſummte ihm im Ohre. Noch in ſeiner 
großen Rede vom 6. Februar 1888 hat er das Lied im Hinblick auf Mot- 
ley zitiert. Für uns Deutſche iſt, wie Heinrich v. Treitſchke hervorgehoben 
hat, dieſe Freundſchaft des Begründers des Reiches mit dem Hiſtoriker 
der Niederlande inſofern von Bedeutung, als Motley ſicherlich die Bundes» 
ſtaatsgedanken Bismarcks indirekt beeinflußt hat. Auch ſonſt mögen ihre 
Gedanken öfter ineinander übergefloſſen ſein. Wen berührt es nicht in 
dieſem Zuſammenhange, wenn er Motleys an Bismarck gerichtete Worte vom 
11. Auguſt 1855 lieſt: „Du weißt ſehr gut, daß, ſeit die Geſchichte begonnen, 
niemals etwas wie Rechte in der Welt geweſen ſind, es gibt da nur Kräfte. 
Ebenſo könnte man dem Gravitationsgeſetz oder dem Streben des Waſſers, 
ſein Niveau zu finden, oder dem Abſcheu der Natur gegen einen leeren Raum 
ſich widerſetzen mit der beredteſten Beweisführung, die ſich auf unwiderſtehliche 
Moralprinzipien gründet: 's iſt wahr, 's iſt ſchade, — ſchade iſt's, 's iſt wahr.“ 

Ganz ähnlich wie mit Motley geſtaltete ſich nach den Studienjahren 
die Freundſchaft mit Alexander Keyſerling, einer tiefgebildeten, ane 
ziehenden Gelehrtennatur. Gerade fo wie bei Motley war es, als Vise 
marck und Keyſerling ſich nach 23 Jahren wiederſahen. „Sie klinkten in 
die alten Verhältniſſe mit einer harmloſen Heiterkeit und warmen Herzlich- 
keit ein, wie wenn fie nie getrennt geweſen wären“, ſchrieb Frau v. Bis⸗ 
marck darüber. Aber Keyſerling ſelbſt urteilt ſie in ihrer lebhaften Art: 
„Er iſt ein wahres Prachtexemplar innerlich trotz äußerer Anſcheinbarkeit. 
Er hat einen ganz ungewöhnlich ſcharfen Verſtand und richtiges Arteil 
nach jeder Richtung hin; er iſt nicht wie ein trockener Gelehrter, ſondern 
wie ein farben ⸗ und duftreicher Blumengarten — voll zarter Poeſie.“ Wie 
Motley war auch Keyſerling früh der Bewunderung für Bismarck voll. 
Er hat ihn vielleicht noch genauer beobachtet als der Amerikaner. Als 
Buſchs Buch „Bismarck und ſeine Leute“ erſchien, da ſchrieb Keyſerling: 
„Man hat ja den leibhaftigen Bismarck vor ſich, wenn auch nichts von 
ſeinen unter der Meeresfläche verborgenen etwanigen Vorausberechnungen 


616 Petersdorff: Bismards Freundſchaften 


und verwegenen Kombinationen, von denen andere nicht viel wiſſen können, 
da er ſelbſt ſo wenig davon weiß.“ Nach dem Attentat Kullmanns auf 
Bismarck in Kiſſingen, deſſen Zeuge der ſchon erwähnte Baron Behr war, 
ſchrieb Keyſerling an Behr: „Der tiefempfundene Ernſt bei dem einſamen 
Familiendiner, wie Du ihn geſehen und geſchildert haſt, tritt mir lebhaft 
vor Augen.“ Während der Petersburger Geſandtſchaft Bismarcks war 
Keyſerling viel mit ihm zuſammen und lernte ihn dabei wieder vielfach von 
ſeiner heiteren Seite kennen. Bei einer Mahlzeit im Hauſe Bismarcks 
wurde die Inſchrift des Katharinenordens zu deuten geſucht: Aequat munia 
comparis = „Tut auch Freundesdienſte“. Als ein Hauslehrer bei der 
Tafel nicht zu helfen wußte, überſetzte Bismarck friſch: „Sie reitet munter 
nach Paris.“ Als Mühler das Kultusminiſterium aufgab, da hat Bis⸗ 
marck ernſtlich daran gedacht, den Grafen Keyſerling mit der Nachfolge 
zu betrauen. Nur dadurch, daß Keyſerling ablehnen zu müſſen glaubte, 
weil er vor dem Zaren Alexander II., dem er kurz vorher einen Korb gegeben 
hatte, das nicht verantworten zu können glaubte, wurde nicht der baltiſche 
Graf, ſondern Adalbert Falk preußiſcher Kultusminiſter. Keyſerling er⸗ 
lebte noch den Sturz Bismarcks. Dieſer empfand damals alsbald Sehn⸗ 
ſucht nach dem alten Freunde und ließ ihn im April 1890 durch die Baronin 
Pilar — auch eine alte baltiſche Freundin — bitten, nach Friedrichsruh 
zu kommen. Niemand war glücklicher als die Lebensgefährtin des Vers 
bannten im Sachſenwalde, als Keyſerling ſich in der Tat aufmachte und 
ihren Gatten beſuchte. Das zeigt vor allem ein Brief von ihr, in dem ſie 
ihn um Verlängerung des Beſuches anflehte: „Schenken Sie uns noch acht 
Tägelchen! Einmal tun Sie das beſte Werk an uns Armen, die den 
Glauben an faſt alle Menſchen verloren und ſolchen Himmels⸗ und Her ⸗ 
zenstroſt Ihrer geliebten Liebe hatten und fic aufrichten an der über ⸗ 
mächtigen Liebe, mit der wir an Ihnen hängen. Alſo vor allem des 
halb müſſen Sie noch bleiben, lieber, teurer Graf, und dann erretten Sie 
mich von einer Reife, die ich machen müßte — d. h. für deren Anter⸗ 
bleiben ich keine Entſchuldigung hätte — als dieſe Ihres köͤſtlichen, be⸗ 
ſeligenden Hierſeins.“ Dieſe Wochen in Friedrichsruh waren, wie die 
Tochter Keyſerlings ſagt, der letzte Sonnenblick im Leben ihres Vaters. 
Der Aufenthalt weckte aber auch traurige Empfindungen in ihm. „Big 
marck iſt der Beſchäftigung, die nie ermattet’, beraubt worden“, ſchrieb er. 
„Schwerer iſt noch die Fügung zu ertragen, daß man ſeinen Webſtuhl 
verlaſſen muß in Jahren, wo man einen neuen Webſtuhl ſich herzurichten 
nicht mehr in der Lage iſt. Großartig tragiſch habe ich dieſen Wechſel an 
meinem alten Freunde Bismarck beobachtet. Man verſteht nur zu wohl, 
wie behaglich dem von Geſchäften überlaſteten Staatsmann die Auffriſchung 
des Verkehrs mit den geiſtig hochſtehenden Studienfreunden war und wie 
wohltuend auch dem geſtürzten Titanen, in deſſen Innern brennender Schmerz 
wühlte. Er hat uns ſelbſt verraten, was er dabei empfand. Das oft von 
ihm zitierte Fauſtwort klang dabei in ihm wieder: 


Petersdorif: Bismarcks Freundſchaften 617 


Wenn aus dem ſchrecklichen Gewühle Den Reft von kindlichem Gefühle 
Ein ſüß bekannter Ton mich zog, Mit Anklang froher Zeit betrog. 
Mit dem andern amerikaniſchen Studiengenoſſen, mit dem ihn außer 
mit Motley Freundſchaft verband, mit Amory Coffin, wettete er in 
Göttingen darauf, daß Deutſchland in 25 Jahren einig ſein werde. Coffin 
wettete dagegen. Wer verlor, follte übers Meer kommen. Als das Viertel ⸗ 
jahrhundert um war, beſann ſich Bismarck auf die Wette und wollte nun 
(1858), wie er erzählt hat, nach Amerika fahren, erfuhr aber, daß Coffin 
tot fet. Coffin lebte allerdings noch 1882 als Arzt in Aiken, einem Luft. 
kurort Südkarolinas. Das Merkwürdige an der Wette iſt, daß Bismarck 
ſich ſchon in jenen Jahren mit dem Einigungsgedanken beſchäftigte. Auch 
mit Motley ſcheint er ſich über dieſe Frage bereits in der Studienzeit unter- 
halten zu haben. Auch Motley war der Anſicht geweſen, ähnlich wie 
Coffin, daß bis zur Einigung Deutſchlands mehr oder minder ein Sabre 
hundert vergehen würde (Motley an Bismarck 16. Auguſt 1872). Ein 
dritter amerikaniſcher oder engliſcher Studienfreund ſcheint jener Aſtley ge⸗ 
weſen zu ſein, von dem wir einen an Bismarck gerichteten Brief aus dem 
Jahre 1836 beſitzen, über den aber ſonſt nichts bekannt zu ſein ſcheint. 
Die Deutſchen im engeren Sinne haben einen geringeren Raum in 
Bismarcks Studienzeit eingenommen. Sie waren zumeiſt von geringerer 
Bedeutung als die geiſtig hochſtehenden, in der großen Welt heimiſchen 
Ausländer, mit denen er bekannt wurde, ſo jener ſpätere lippeſche Miniſter 
Stietencron, der ſich im Juli 1853 an den alten Korpsbruder mit Klagen 
über ſeine renitente Beamtenſchaft wandte: „Die Dienerſchaft hat faſt all⸗ 
gemein in Jena ſtudiert, waren Mitglieder der Burſchenſchaft und ſuchten 
die Ideen dieſer Pflanzſchule des Satans hier ſeit dreißig Jahren praktiſch 
einzuführen.“ Ein anderer Studienfreund begegnete Bismarck in demſelben 
Jahre, 1853, in Norderney wieder. Welche ſeltſamen Gefühle in ihm da⸗ 
durch wachgerufen wurden, ſchildert er ſelbſt unübertrefflich: „Geſtern kam 
ein Göttinger Freund mit ſeiner Frau plötzlich an, um mich zu beſuchen. 
Ich habe den heutigen Tag mit ihm verlebt, und morgen früh geht er 
wieder. Ich habe es immer für ſchwer gehalten, nach zwanzigjähriger 
Pauſe eine verklungene Melodie wieder aufzunehmen. Ich hatte einen 
heitern Studenten voll Geiſt und Witz im Sinn und finde einen kränk⸗ 
lichen Beamten wieder, dem der langjährige Druck kleinſtädtiſcher Verhält⸗ 
niſſe die Spannkraft gelähmt und den Gefühlskreis verengt hat. Es iſt 
etwas Eignes um den deutſchen Kleinſtädter; mein Freund iſt noch immer 
ein klarer Kopf und eine ehrliche Seele, aber er hat etwas wie jemand, der 
viele Jahre im Gefängnis gelebt hat und deſſen Gedanken bei den Spinnweben 
weilen, die er dort beobachtet hat, oder bei dem einen grünen Baum, der vor 
feinem Fenſter ſtand. Es iſt mir beruhigend und wehmütig zugleich, daß er 
ſich dabei glücklich fühlt; er ſcheint feine Frau zu lieben und hat drei Kinder.“ 
Nach den Studienjahren freundete ſich der „tolle Junker“ mit dem 
Landadel in der Nachbarſchaft von Kniephof an. Ein Mitglied des ſelben, 


618 | Detersborff: Bismarcks Freundſchaften 


Moritz v. Blanckenburg auf Zimmerhauſen und Cardemin, der un⸗ 
zählige Male in Bismarcks und Roons Briefen begegnende „Moritz“, 
Bismarcks alter Schulfreund, trat ihm hierbei näher und näher. Als Guts⸗ 
nachbarskinder ſpielten die beiden gleichaltrigen Knaben ſchon in ihren 
erſten Jahren miteinander. Dann drückten ſie mehrere Jahre zuſammen 
die Schulbank im Gymnaſium zum Grauen Kloſter in Berlin. Blancken⸗ 
burg erzählte über dieſe Jugendjahre: „Er erſchien mir ſchon damals als 
ein rätſelhafter Menſch; nie ſah ich ihn arbeiten, oft ſpazieren gehen, und 
doch wußte er immer alles und hatte immer alle Arbeiten fertig.“ Blancken⸗ 
burg brachte Bismarck ſchon in frühen Jahren mit feinem Verwandten 
Albrecht v. Roon zuſammen, der in der Regenwalder Gegend topo⸗ 
graphiſche Aufnahmen zu machen hatte. Bei den Rebhühnerjagden auf 
der Sabower Heide in den dreißiger Jahren hat Bismarck ein näheres 
Verhältnis zu dem zwölf Jahre älteren ſpäteren Kriegsminiſter gewonnen, 
den er ſchon im Jahre 1848 als ſeinen Freund betrachtete und der nach⸗ 
mals das Meiſte tat, um Bismarcks Berufung ins Miniſterium zu be⸗ 
werkſtelligen. Der Gedanke an das „Verhör der Hühner auf der Sabower 
Heide“ bildete nachmals in den parlamentariſchen Kämpfen eine der trau ; 
lichſten Erinnerungen bei Bismarck. Viele der Genoſſen, die der Gutsherr 
auf Kniephof unter den Landjunkern fand, waren oberflächliche Naturen, 
mit denen er luſtig in Saus und Braus lebte, ſpielte und zechte. Das 
Beiſpiel dafür iſt jener Wilhelm v. Ramin. Als dieſer Bismarck nach 
deſſen Verlobung ſprach und das Kapitel des Bibelleſens berührt wurde, 
äußerte er: „Na, in Reinfeld (der Heimat Johannas v. Puttkamer) würde 
ich in deiner Stelle auch ſo ſprechen, aber daß du glaubſt, deinen älteſten 
Bekannten etwas aufbinden zu können, das iſt lächerlich.“ Man ſieht dar ⸗ 
aus, daß die Bekehrung des einſt ſo ſkeptiſchen Bismarck bei dem Gros 
ſeiner Bekannten einfach für unglaublich galt. Gerade jener Ramin ging 
ſpäter mit Hinterlaſſung von 200 000 Talern Schulden durch, wie Dis- 
marck, nun ſeinerſeits anfangs ganz ungläubig und völlig beſtürzt, ſeiner 
Gattin berichtete. Wie man weiß, gehörte Blanckenburg nicht zu den 
oberflächlichen Naturen. Er wie Noon waren ſtark von dem geiſtigen 
Ringen und Regen am Oſtſeeſtrande erfaßt, das ſich in der „pommerſchen 
Erweckung“ kundgab. Blanckenburg und noch mehr deſſen Frau Marie, 
geborene v. Thadden, waren es, die Bismarck in dieſe Kreiſe zogen. Bis⸗ 
marck fühlte in jener Zeit zum erſten Male ganz, was es bedeutete, einen 
wahren Freund zu haben. In ſeinem Werbebriefe hat er ſeinem künftigen 
Schwiegervater bekannt, daß er dieſen Freund in Blanckenburg gefunden 
habe. Und Moritz Blanckenburg ſelbſt war überglücklich, in feinem früher 
ſo ungläubigen Freunde den chriſtlichen Glauben erwecken zu helfen. Davon 
gibt uns ein Schreiben Blanckenburgs vom 17. Dezember 1846 Kunde, das 
in den Tagebüchern des Präſidenten Ludwig v. Gerlach veröffentlicht wor⸗ 
den iſt: „Ich möchte ſtets Gott loben für ſeine Barmherzigkeit, daß Er mir 
Otto Bismarcks Herz ſo recht geſchenkt hat in dieſen Trauertagen als Frucht, 


Petersdorff: Bismarcks Freundſchaften 619 


als erſte Freudenernte in Tränen ſaat. Ich habe einen Brief bekommen, 
daß gerade Mariechens Tod ihn eigentlich herumgeholt hat. Der Herr iſt 
ihm darin zu mächtig geworden. Er iſt niedergeſtürzt, hat ſeine Sünde 
bekannt und fpricht nun: Ich glaube, hilf meinem Anglauben. Nun iſt er 
freilich wie Nikodemus, der bei der Nacht kommt, und darum müſſen wir 
fchonend mit ihm verfahren; aber ich bitte auch Dich, dieſe Menſchenſeele 
nicht zu vergeſſen. Eine Glaubensſtärkung iff mir fein Bekenntnis ge 
weſen, wie noch nichts auf Erden.“ Erſt hatte der „tolle Junker“ von 
Kniephof die frommen Zirkel Blanckenburgs mit ironiſcher Stimmung auf⸗ 
geſucht. „Abermorgen zu einem äſthetiſchen Tee in Cardemin mit Lektüre, 
Gebet und Ananasbowle“, heißt es in einem ſeiner Briefe noch aus dem 
vorhergehenden Jahre. Er hatte bei ſeiner zweifelnden Stimmung in jener 
Zeit noch Rückhalt gefunden bei anderen geiſtig angeregten Standesgenoſſen, 
wie dem Grafen Wartensleben auf Schwirſen. Durch die Erlebniſſe im 
Hauſe Blanckenburg war in ihm die entſcheidende Anderung vorgegangen. 
Wenige Tage, nachdem Blanckenburg jenen Brief geſchrieben hatte, hielt 
Bismarck um Johanna v. Puttkamer an. Seinen über den Tod der ge⸗ 
liebten Gattin untröſtlichen Moritz hat er mit allen Kräften immer wieder 
aufzurichten geſucht. Wie ſchön ſind die Briefe an ſeine Braut und Gattin, 
in denen er von dem Leid des Freundes ſchreibt: „Wenn ich irgendetwas 
zu ſeinem Troſte tun oder ſagen könnte! Ich muß ihm, wenn ich wieder 
zu Dir gehe, doch ein oder zwei Tage abmüßigen; wenn Du auch ſchelten 
magſt, es iſt nötig.“ „Ein Brief von Moritz, ein recht niedergeſchlagener, 
ſo ſehr er ſich aufzuraffen ſucht, der arme Junge; der Brief macht mir 
den Eindruck, als ob ihn ein Todmüder geſchrieben habe, der ſich gewaltſam 
wachhalten will. Moritz iſt voller Dankbarkeit für unfere beiderſeitige Freund⸗ 
ſchaft; letztere wollen wir ihm bewahren, erſtere zu verdienen ſuchen.“ „Mein 
armer Moritz, hätte ich ihn doch einmal einige Zeit in der Nähe, um auf 
ihn zu wirken.“ Wie innig die beiden miteinander verwachſen waren, geht 
auch daraus hervor, daß Bismarck daran denken konnte, Blanckenburg den 
„allerdings rieſenhaften Freundſchaftsdienſt zuzumuten“, für ihn die Aber⸗ 
gabe von Kniephof zu leiten. Blanckenburg iſt zeitlebens Bismarcks innigſter 
Freund geblieben. Das hat der Kanzler oft bekannt. Am 7. Februar 1847 
ſchrieb er der Frau: „Blanckenburg, mein wärmſter Freund, dem ich Dank 
in alle Ewigkeit ſchulde.“ Ahnlich äußerte er ſich am 17. Oktober 1877 
zu Moritz Buſch: „Blanckenburg, mein älteſter und liebſter Freund.“ Eine 
ſelbſtloſe Natur von ungewöhnlicher Offenheit, die mit einer ſtarken Doſis 
Wirklichkeitsſinn, tiefem Gemüt und reichem Humor ausgeſtattet war und 
die ſich eine große Unabhängigkeit bewahrte, iſt der Zimmerhäuſer eine der 
anziehendſten Erſcheinungen aus dem Bis marckſchen Kreiſe. Eine gewiſſe 
halb proſaiſche, halb trocken humoriſtiſche Art, die Bismarck an ihm auf⸗ 
mutzt, gehört nur zur Vervollſtändigung des Bildes, das wir uns von ihm 
machen können. Als Bismarck das reizende Gaſteiner Tal mit ſeinen ſteilen, 
mit Wieſenmatten und Sennhütten bedeckten Wänden zu veranſchaulichen 


620 Petersdorff: Bismarcks Greundfchaften 


ſuchte, meinte er: „Moritz würde ſagen, daß es eine rieſige Schüffel mit 
Grünkohl, femal und tief, die Ränder mit weißen Falleiern ringsum be 
deckt.“ Fröhlich bemerkte der große Freund über den Zimmerhäuſer ge⸗ 
legentlich auch einmal: „Diplomat wird er nie, auch ein Vorzug von ihm.“ 
Der von der Leidenſchaft verblendete Dieſt⸗Daber hat ſpäter durch Klatſche⸗ 
reien das ſchöne Verhältnis zwiſchen den beiden Freunden empfindlich ge⸗ 
ſtört. Bismarck hat das nie verwunden, und auch Blanckenburg hat unter 
dem Zorn über jene Verſtimmungen ſchwer gelitten. Aber ganz iſt das 
Freundesband zwiſchen ihnen doch nicht zerriſſen, wie aus einem Worte 
Bismarcks in ſeinen „Gedanken und Erinnerungen“ hervorgeht. Es iſt 
jammerfchade, daß wir bisher fo wenig aus dem Briefwechſel zwiſchen den 
beiden wiſſen. Was wir aus zweiter und dritter Quelle über ihre Freund⸗ 
ſchaft erfahren, weckt den brennenden Wunſch nach näherer Kenntnis ihrer 
Briefe. Anzählige Stunden haben die beiden in gemeinſamer, vertrauter 
Arbeit geteilt. Als die Schleswig⸗Holſteinſche Frage ſich zuſpitzte, da 
ſchrieb Blanckenburg an den Präſidenten Gerlach: „Ich bin hier bis ins 
kleinſte Detail unterrichtet geweſen und habe unſerm langen Freund (Gis- 
marck) nicht wenig geholfen, — faft alle Abend bis tief in die Nacht. 
Der König wollte Aktion, und alle Hunde waren los; aber der Lange 
blieb feſt wie ein Koloß; und des Abends klagte er mir ſein Leid.“ In 
den Kulturkampfwirren vermochte Moritz ſeinem Otto nicht zu folgen. Aber 
auch da blieb er ſein getreueſter Berater und wußte ſich kaum zu laſſen 
vor Grimm über Quertreibereien anderer Freunde. Freilich vermochte er 
ſich nicht zu entſchließen, in das Miniſterium zu treten, als Bismarck nach 
dem Rücktritt Roons nach ihm langte. Am 3. März 1888 ſchloß der 
treue Mann die Augen. Den Sturz ſeines Otto ſollte er alſo nicht erleben. 

Durch Blanckenburg wurde Bismarck außer mit Noon noch mit zwei 
anderen Männern von Bedeutung bekannt, die gleichfalls in ſeinem Leben 
eine Rolle ſpielen ſollten, mit dem General Leopold v. Gerlach und 
deſſen Bruder, dem Präſidenten Ludwig v. Gerlach. Der Briefwechſel 
zwiſchen Bismarck und Leopold Gerlach iſt berühmt geworden. Es iſt ein 
Genuß, die politiſchen Auseinanderſetzungen dieſer beiden Männer in jenen 
Briefen zu verfolgen. Leopold oder, wie Bismarck mit Friedrich Wil- 
helm IV. von ihm ſagte, „Polte“ Gerlach iſt einer der genaueſten Kenner 
Bismarcks geweſen. Dafür gibt es zwei ſchlagende Beweiſe. Er war 
wohl der erſte, der erkannte, daß Bismarck ſich in Johanna v. Puttkamer 
verliebt hatte, wie eine Tagebuchnotiz Ludwig Gerlachs vom 8. Auguſt 1846 
verrät: „Leopold bemerkte, daß die Verlobung Bismarcks mit Fräulein 
Puttkamer bevorſtehe, und tadelte mich, daß ich es nicht bemerkt hätte.“ 
And General v. Gerlach iſt es auch geweſen, der Bismarcks Berufung nach 
Frankfurt durchſetzte und damit die diplomatiſche Laufbahn des künftigen 
Reichskanzlers einleitete. Bismarck hat dieſem Gönner — denn das war 
er mehr, als ein Freund, wenn ſich die beiden auch fo anredeten — ſtets 
ein gutes Andenken bewahrt. In feinen „Gedanken und Erinnerungen“ 


Petersdorff: Bismarcks Freundſchaften 621 


nennt er ihn „eine edle Natur von hohem Schwung, im gewöhnlichen Leben 
beſcheiden und hilflos wie ein Kind, in der Politik tapfer und hochfliegend, 
aber durch körperliches Phlegma gehemmt“. Dies günſtige Arteil des nicht 
gerade ſehr zur Anerkennung neigenden Kanzlers ſollte recht beachtet wer⸗ 
den. Manche negativ angelegten Forſcher, wie z. B. der Theologe Adolf 
Hausrath in Heidelberg, gefallen ſich leider in einer völlig ungerechten 
Kritik dieſes vornehm denkenden Freundes Friedrich Wilhelms IV. Weniger 
günſtig — und mit Recht — urteilt Bismarck über Leopold Gerlachs Bru- 
der, den übertrieben paradoxen Präfidenten Ludwig v. Gerlach, der mit 
ihm mehr in ein direktes Freundſchafts verhältnis trat als der General. Doch 
hat ihm der Präſident oft genug in ſeiner geiſtigen Bedeutung imponiert. 
So ſchrieb er feiner Frau über ihn am 11. März 1847: „In einer mebr- 
ſtündigen Geſchäftskonferenz hatte ich Gelegenheit, Gerlach wieder zu be- 
wundern, der nicht bloß geiſtreich wie immer, ſondern auch der praktiſche 
Juriſt in ſeltener Geſetz⸗ und Weltkunde war.“ Zu Zeiten konnte er fo- 
gar warm für ihn werden. Als er mit „Onkel Ludwig“, wie der Präſi⸗ 
dent allgemein bei den näheren Freunden hieß, im Sommer 1851 in Heidel: 
berg zuſammentraf, ſchrieb er über ihn: „Gerlach war liebens würdiger wie 
je; er ſtritt gar nicht, ſchwärmte, war poetiſch und hingebend.“ Aber ſchon 
damals durchſchaute er den ſpäteren Hoſpitanten der Zentrumspartei und 
„Styliten“, wie er ihn im Reichstage genannt hat, gar wohl. Er ſagte 
von ihm gelegentlich (1852): „Er hat ſchon Anlage, die Welt und ihr 
Regiment über ſeine eigene Anſchauung davon zu vergeſſen, aber die 
Kammerluft hat dieſe unpraktiſche Richtung in ihm gefördert, und über 
dieſem Turn- und Exerzierplatz von Geiſt und Zunge vergißt er oder ſchätzt 
gering, was zu tun notwendig iſt.“ Der Präſident gehörte wie ſein Bru⸗ 
der zu den genaueſten Kennern Bismarcks. „Er iſt ein edler karrariſcher 
Marmor, hat er von ihm ſchon 1853 geſagt, „ein fetter Biſſen für die Welt 
und den Satan.“ Der ſchrille Bruch zwiſchen dem Präſidenten und ſeinem 
politiſchen Zögling, als den er Bismarck wohl gern anſah, erfolgte, wie man 
weiß, im Mai 1866. Er iſt urkundlich bezeichnet durch den Artikel Gerlachs 
in der Kreuzzeitung: „Krieg und Bundesreform.“ Der Artikel war der 
Scheidebrief des alten Präſidenten an ſeinen jüngeren Freund. 

Zu den an Jahren älteren Freunden Bismarcks gehörten ferner der 
wackere Puritaner Adolf v. Thadden⸗Trieglaff, der Schwiegervater 
Blanckenburgs, den Bismarck als Fürſprecher benutzte, als er um die Hand 
Johannas v, Puttkamer anhielt, und der ſpätere Oberpräſident von Pommern, 
Ernſt v. Senfft⸗Pilſach, eine ſeltſame, problematiſche Erſcheinung, die 
wie Thadden eine Hauptrolle unter den pommerſchen Erweckten geſpielt hat. 
Mit Thadden hat ſich Bismarck ein freundliches Verhältnis bewahrt bis zu 
dem Pronunziamento der Kreuzzeitung gegen den leitenden deutſchen Staats- 
mann, das durch die Erklärung vom 26. Februar 1876 eingeleitet wurde. Am 
Schluß jener Erklärung ſtand zu leſen: „Mit tiefem Schmerz unterzeichnet 
A. v. Thadden⸗Trieglaff, jetzt in Batzwitz.“ Dieſe Anterſchrift machte von 


622 Petersdorff: Bismarcks Freundſchaften 


allen Unterfchriften jener Deklaranten damals den tiefſten Eindruck. Zwiſchen 
dem Oberpräſidenten Senfft⸗Pilſach und Bismarck vollzog ſich der Bruch ſchon 
vorher durch den denkwürdigen Schriftwechſel der beiden vom 20. März 1873, 
in dem Bismarck die Mahnung Senfft⸗Pilſachs, Buße zu tun, ablehnte. 

Blanckenburg vermittelte auch die Bekanntſchaft Bismarcks mit einem 
Manne, zu dem Bismarck durch feine Heirat in ein verwandtſchaftliches 
Verhältnis kam, mit Hans v. Kleiſt⸗Retzow, mit dem Bismarck jahre⸗ 
lang ein Junggeſellenleben in Berlin führte, das er in ſeinen Briefen 
reizend geſchildert hat. Es hat kaum weſensverſchiedenere Naturen als dieſe 
beiden gegeben. Aber fie vertraten in den Jahren 1849 — 1851 in enger 
Gemeinſchaft das Stockpreußentum in der Kammer, und Bismarck lernte 
den tieffrommen und grundehrlichen, vollkommen ſelbſtloſen, unermüdlichen 
und tapferen Kleiſt ſehr ſchätzen und lieben. Kleiſt wurde ihm auch ein 
treuer Freund, aber er war in ſteter Sorge um das Seelenheil feines an- 
geheirateten Neffen, vor deſſen geiſtiger Bedeutung er ſich allerdings von 
Anfang an beugte. „Du haſt freilich viel mehr menſchliche Weisheit, eine 
ganz andere menſchliche Höhe als ich“, ſchrieb er ihm einmal. Zwiſchen 
dieſen beiden engeren Freunden kam es bei Beratung des Schulaufſichts⸗ 
geſetzes im Jahre 1872 zum Bruch. Jeder von beiden trug daran die 
Schuld. Der Kanzler hat es Kleiſt nie vergeſſen, daß er ihm damals die 
Gefolgſchaft verſagte. Später haben ſich beide wieder genähert. Feſter 
hielt das Band der Freundſchaft zwiſchen Bismarck und Kleiſts Schwager, 
dem Grafen Eberhard Stolberg (F 1872), in dem Bismarck einen 
der beſten Patrioten verehrte. Im Hinblick auf ihn ſchrieb er an Kleiſt 
(1851): „Wenn doch alle unſere vornehmen Leute dieſem im beſten Sinne 
des Worts adligen Blut der Stolbergs ähnlich wären, dann ſollte der 
Kampf zwiſchen Ständen und Kopfzahlen bald entſchieden fein.” Durch 
den Blanckenburg⸗Kleiſtſchen Kreis wurde Bismarck ferner mit dem gleich 
falls von der pietiſtiſchen Richtung in Pommern berührten, in Oſtpreußen 
lebenden Alexander v. Below⸗Hohendorf (F 9. März 1882) gue 
ſammengeführt, der auch einer ſeiner nächſten Vertrauten wurde und mit 
dem er politiſch ganz beſonders harmonierte. In feinem Haufe in Hohen⸗ 
dorf lag er im Winter 1859/60 lange auf den Tod danieder. Junggeſelle 
wie Below war ein anderer Freund, Graf Albrecht v. Alvensleben⸗ 
Erxleben (+ 1858), ein altmärkiſcher Edelmann, der unter Friedrich Wil 
helm III. und Friedrich Wilhelm IV. lange Miniſter war und das beſondere 
Vertrauen Kaiſer Wilhelms I. beſaß, mit dem Beinamen „ der alte Lerchen ⸗ 
freſſer“. Mit feiner politiſchen Richtung und feinem köſtlichen Wirklich- 
keitsſinn ſympathiſierte Bismarck ähnlich wie mit der politiſchen Haltung 
Belows, „Onkel Alexanders“. Ein weiterer näherer Freund, den er in der 
Nachbarſchaft Schönhauſens erwarb, war der Graf Wartensleben 
Karow, über den wir noch nicht viel Näheres wiſſen. „Ihn habe ich 
auch recht lieb gewonnen“, ſchreibt Bismarck einmal über ibn. Zu den 
guten Freunden iſt ſodann noch der General der Infanterie Guſtav von 


Detersdorff: Bismarcks Freundſchaften 623 


Alvensleben zu rechnen, der Kommandeur des 4. Armeekorps im Feld- 
zuge 1870/71 und vorher langjähriger Generaladjutant König Wilhelms I., 
von Bismarck gewöhnlich „Juſtav“ genannt. 

Eine der herzlichſten Freundſchaften wurde der Verkehr Bismarcks 
mit dem Kreuzzeitungsredakteur Hermann Wagener, der wohl durch 
Kleiſt⸗RNetzow vermittelt wurde. Die bekannt gewordenen Briefe Bismarcks 
an dieſen bedeutenden Mann, deſſen ſozialpolitiſcher Beirat ihm von hohem 
Werte wurde und der ihm wahrſcheinlich auch die Idee der Einführung 
des allgemeinen Wahlrechts nahegebracht hat, gehören zu den urwüchſigſten 
und offenften, die wir von Bismarck beſitzen. Rührend iſt der Anteil, den 
Bismarck an dem Tod der geliebten Frau des Freundes, „rosa unica“, 
nimmt: „Die Wege des Herrn ſind über unſer Verſtehen, und nur Er 
weiß, warum Er den armen Wagener ſo ſchwer prüft. Vorgeſtern abend 
halb 6 iſt Rofe geſtorben.“ Bismarcks Größe tritt uns wieder in der Tate 
ſache entgegen, daß er nach dem Zuſammenbruch Wageners infolge der 
Laskerſchen Enthüllungen im Anfang der ſiebziger Jahre nicht mit ihm 
brach, ſondern in enger Beziehung zu ihm blieb. Gerade aus der Zeit 
nach der Verabſchiedung Wageners ſtammen einige wichtige Briefe des 
Kanzlers an den ſonſt von allen Gemiedenen. 

In der Zeit ſeines Wirkens am Bundestage fand Bismarck auch 
eine Reihe von Freunden, fo den Mecklenburger Jaſper v. Oertzen⸗ 
Leppin, den er einmal „unter Larven die einzige fühlende Bruſt“ (unter 
den Mitgliedern des Bundestages) nannte, ferner den Hannoveraner Frei- 
herrn v. Schele, auch wohl den niederländiſchen Vertreter v. Scherff. 
Am folgenreichſten wurde feine Bekanntſchaft mit dem Holſteiner Bern⸗ 
bard Ernſt v. Bülow (F 1879), dem fpäteren deutſchen Staatsſekretär 
des Auswärtigen und Vater des Reichskanzlers Bernhard v. Bülow. Für 
die freundſchaftliche Ergebenheit, die dieſer Diplomat für Bismarck hegte, iſt 
der frappierendſte Beweis jener Brief, den er ahnungsvoll nach Kiſſingen 
vor dem Kullmannſchen Attentat an Bismarck richtete, und der folgende, 
als der Mordverſuch ausgeführt war. Weiter war ein Freund Bismarcks 
ſchon aus früherer Zeit, mit dem er in den Frankfurter Jahren öfter gue 
ſammenkam, der Diplomat Karl Freiherr v. Canitz und Dallwitz. 
Ein Freundſchaftsidyll aus der Zeit vom Bundestage bildet der Verkehr 
mit der Familie des Frankfurter Malers Profeſſor Becker, mit dem 
Bismarck die Muſik zuſammenführte. Vor allem waren die Mitglieder 
der Familie in Mendels ſohn bewandert. Die Muſik war auch das Binde⸗ 
mittel zwiſchen Bismarck und einem ſeiner Getreueſten, Robert Keudell, 
dem er ſich wie wenigen erſchloſſen und der ſeiner begeiſterten Verehrung 
für den Kanzler durch ſein Buch „Fürſt und Fürſtin Bismarck“ ein ſo 
ſchönes Denkmal geſetzt hat. Die Bekanntſchaft ſtammte ſchon aus dem 
Jahre 1846. Sie iſt ſpäter intimer geworden. In den letzten Jahren hat 
ſich der Kanzler freilich dieſem Jünger etwas entfremdet. Ein treuer Haus⸗ 
freund wurde den Bismarcks ferner der Goetheforſcher Guſt av v. Löper, 
von den Bismarcks Gustavus dear oder Löporello genannt. 


624 Petersdorff: Bismarcks Freundſchaften 


Für die Freunde war es allemal ein Hochgenuß, den großen Mann 
in ſeinem Heim zu beobachten, der ſich mit einer Zwangloſigkeit ohnegleichen 
zu geben pflegte. „Mag er auch gelegentlich davon Vorteil gezogen haben, 
die Grundlage iſt dabei das rein menſchliche Bedürfnis, in Gemeinſchaft 
zu leben mit Perſonen, die er für ſeine Freunde, für ſeinesgleichen, wenn 
auch nur am Teetiſch, halten kann“, ſchrieb Alexander Keyſerling über die 
Abende bei ihm, noch ſchwelgend in der Erinnerung an ſolche Stunden. 
Und ähnlich wurde ein ganz anderer Mann von dieſem Zuſammenſein er- 
faßt, der Präſident Ludwig v. Gerlach (1864): „Er (Bismarck) friſch, heiter, 
vergnügt, nicht aufgeblaſen, vor allem ein Menſch, ein Mann, ſo daß man 
ſich erfriſchend berührt fühlt. Vor allen Anweſenden erzählte er rückhalt⸗ 
los, wie es feine Art war... Die Rückſichtsloſigkeit der Erzählung aller 
dieſer Details am Teetiſch ging über alles Maß hinaus.“ 

Die politiſch bedeutungsvollſte Freundſchaft unter der überreichen 
Menge von Freundſchaftsverhältniſſen wurde, wie ſchon angedeutet, die 
mit Albrecht v. Roon. Mit jenem Telegramm vom 18. September 1862: 
Periculum in mora, Dépéchez-vous, L’oncle de Maurice Henning, durch 
das Roon Bismarck von Paris herbeirief, um die Kriſis im Heereskonflikt 
zu beſchwören, wurde dieſe Freundſchaft von weltgeſchichtlicher Bedeutung. 
Elf Jahre haben die beiden kraftvollen Männer Schulter an Schulter im 
Kampfe geſtanden, Bismarck ſtetig wachſend, Noon allmählich ermattend 
und bewundernd, faſt verwirrt zu dem großen Zauberer aufblidend. „Ade- 
lante, adelantador atrevido“, rief er, dem vorwärts ſtürmenden Recken an⸗ 
feuernd, noch mit brechender Kraft zu. Der aber empfand das Abtreten 
ſeines bewährteſten Kampfgenoſſen vom Schauplatze mit bitterem Schmerze: 
„Durch Ihren Austritt bin ich vereinſamt, unter — Miniſtern — die ein⸗ 
zige fühlende Bruſt. Im gelben Sitzungszimmer werde ich die Lücke auf 
Ihrem Sofaplatz nicht ausgefüllt finden und dabei denken: Ich hatt' einen 
Kameraden.“ Im nächſten Jahre verſagte ſich Blanckenburg dem Eintritt 
ins Miniſterium. Seitdem fühlte der Kanzler ſich noch mehr verlaſſen. 

Einen Freund hatte er freilich noch, und das war ſein größter und 
mächtigſter Freund, er war auch zugleich ſein Herr — der alte Kaiſer. 
In den 359 Nummern, die den Briefwechſel der beiden darſtellen und ihre 
Freundſchaft bekunden, beſitzt die deutſche Nation einen köſtlichen literari ⸗ 
ſchen Schatz. Mit Wilhelms I. Tode war das Freundſchaftsleben Vis: 
marcks im weſentlichen beſchloſſen. 

Mancher hat ſeitdem wohl noch das Prädikat „Freund Bismarcks“ 
geführt oder empfangen: der gaftfreie Amtsrat Dietze Barby, mit dem der 
Fürft bereits in den ſechziger Jahren in nahe Berührung trat, der General: 
adjutant des alten Kaiſers Graf Lehndorff, der geniale Maler Lenbach, 
der eine oder der andere alte Parlamentarier, einige bevorzugte Nachbarn 
von Friedrichsruh. Sie ſpielen aber alle die Rolle der Pygmäen neben 
dem Riefen. Bismarck war zu gewaltig gewachſen. So erfüllte ſich auch 
an ihm das ſchwere Los ſo vieler Großen der Weltgeſchichte: in Einſam⸗ 
keit dahinwandeln zu müſſen. Die überſtrömende Dankbarkeit ſeines Volkes 


Bewer: Der deutſche Simmel 625 


mag ihm dabei ein Croft geweſen fein. Am meiſten ergreift uns angeſichts 
dieſer letzten Jahre des Einſiedlers im Sachſenwalde die Tatſache, die Alexander 
Keyſerling in die Worte gekleidet hat: „Die materielle Macht iſt Bismarck 
entzogen, — aber die pſychologiſche Macht iſt ihm geblieben, und in dieſer 
Hinſicht gibt es keine in Deutſchland, die ſo groß wäre wie die ſeinige.“ 


N 
Der deutſche Himmel 


Von 


Max Bewer 


Den hehren Sternen gleich am Himmelszelt 
Stehn große Geiſter über dieſer Welt, 

Ein jedes Volk hat ſo ſein eigen Licht, 

Doch ſchönre, als in Deutſchland, ſeh' ich nicht! 


Hier leuchtet Goethe wie im ew'gen Glanze, 
And Schiller grüßt ihn wie ein Himmelsfreund, 
Hier ſind mit Mozart wie zu einem Kranze 
Beethoven, Weber, Schumann hold vereint, 
And über ihnen wie vom heil' gen Gral 

Schickt Wagner der Erlöſung milden Strahl! 
Hier wandelt Luther, der aus düſtrem Zwang 
Befreiend zu des Nordens Völkern drang. 
And dort, gleich dem Polarſtern feſtgebannt, 
Lenkt uns zur Pflicht der Sittendenker Kant! 


Wie rührend tritt aus dunklem Wolkenflor 
In Demut nun der bleiche Mond hervor, 

So ſtrahlt aus Leiden wie ein holdes Licht 
Der duldenden Luiſe Angeſicht 

Doch fieh! ſchon bald führt Körners Heldentod 
Herauf des jungen Tages Morgenrot: 

Blau, wie des erſten Kaiſers Augenpaar, 
Wird rings der ſchwarze Ather wieder klar, 
Millionen Strahlen wie ein Heer von Speeren 
Sprüht Moltke ſiegreich aus den Heeren, 

And wunderbar vergoldend Tal und Firn 
Taucht hinter ihm das wirkende Geſtirn, 

Das Sonnenhaupt des großen Kanzlers auf! 


O, deutſcher Himmel, ſchön bei Tag und Nacht, 
Dankt Gott, der ihn zur Heimat euch gemacht, 
And betet, daß nach langen Wettern nun 

Er heiter mag auf euren Fluren ruhn! 


Doch Licht wird Nacht; dies iſt der Erde Lauf; 
And ziehen neue Höllenſchatten auf, 

Dann weck in uns den Feuergeiſt der Toten, 
Beſtirne wieder unſer Vaterland, 

Du Herr der Sterne, der den goldnen Boten 
Des Himmels einſt gen Bethlehem geſandt! 


Der Türmer X, 11 wy 41 


Gs ER al 110 N 


Der Waldpfarrer am Schoharie 


Kulturhiſtoriſche Erzählung aus dem deutſch-amerikaniſchen Leben 
des achtzehnten Jahrhunderts 
von 
Friedrich Mayer 
(Fortſesung) 
Siebzehntes Kapitel 


eute geriet die ganze Anſiedlung in nicht geringe Aufregung. 

Bei dem Überfall neulich wurde unter anderen auch Ewald 
Kayſer von den Indianern als Gefangener fortgefchleppt. 
Sie nehmen die gefangenen Männer gewöhnlich mit ſich nach 
ihrem Lager, dort wird dann eine Art Gericht über ſie abgehalten, und 
ſie werden zum Flammentod verurteilt. 

Der Kayſer hat nun Eigenartiges erlebt. Wie fie ihn in das Indianer⸗ 
lager brachten, ſprang mit wildem Geheul eine alte, dicke Indianerin auf 
ihn ein und ſchrie: 

„Mein Mann iſt nicht wiedergekehrt, die Blaßgeſichter haben meinen 
Mann getötet, dieſer muß darum mein Mann ſein.“ 

Sofort fielen die ſchmutzigen Indianerweiber über ihn her, riſſen 
ihm die Haare aus; nur den kleinen Skalpierbündel über der Stirne ließen 
fie ſtehen, wie das die Sitte der Nothäute verlangt, und er mußte das 
Weib heiraten oder ſterben. Nach Beendigung des Krieges hatte die 
Wachſamkeit der Indianer nachgelaſſen, und er ergriff eine paſſende Ge 
legenheit und floh. „Wo ſind die anderen Gefangenen?“ wurde er gefragt. 

„Die Peſt iſt unter den Wilden ausgebrochen und hat auch unter den 
Weißen ſchrecklich gehauſt“, war ſein Beſcheid. Gott fei Dank, fie werden 
den Tod als eine Erlöfung begrüßt haben. — — 

Neulich war mein ſechzigſter Geburtstag. Da fing bei den Alten 
der ,Sener’ an. Nun ſoll es noch ſchön werden, denn um den Abend 
wird es licht ſein. Geburtstage habe ich nie gefeiert, weil ich nie begriff, 
warum ſich jemand freuen ſollte, weil ich auf der Welt ſei. Ich habe ſo 
wenig geleiftet! Man hat mich zu meinem Sechzigſten arg überraſcht. 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 627 


Herkimer — er iſt ſeit den letzten Kämpfen zum General avanciert — kam, 
und von Pennſylvanien her Konrad Weiſer, und mit ihnen die halbe Ge⸗ 
meinde. Von Herkimer bekam ich ein junges Reitpferd zum Geſchenk, es 
iſt kohlſchwarz, und Weiſer überreichte mir einen Pelzmantel, den ſchönſten, 
den die dreizehn Kolonien beſitzen. Andere brachten andere Geſchenke; 
maſſenhaft ſind die Körbe in unſerer Küche, welche Eßwaren enthielten. 
Die alte Urfchel kam faſt aus dem Kopf, fie ſchoß ganz wirr im Haufe 
umher, es war lächerlich ſie anzuſehen. Die kleine May ſchlug vor Freude 
die Hände zuſammen und lief immer von dem einen zum andern; ſie iſt 
ein kleines Schmeichellägchen. 

Herkimer und Weiſer hielten Reden, in denen ſie mich lobten und 
meine Arbeit um die Anſiedler prieſen. Sie haben das zu arg gemacht, 
es war wirklich eine Qual für mich, das alles mitanzuhören. Zuletzt ſollte 
ich natürlich antworten. Aber mir ſtanden die Tränen in den Augen, und 
meine Stimme hatte keinen rechten Ton, ſo konnte ich nichts herauskriegen 
als die Worte: „Ich ſchäme mich mit Freuden.“ 

Es war eine dumme Rede, aber ich kann mich eben einmal nicht ver- 
ſtellen, und die Leute kennen ihren alten Pfarrer gut genug. Wenn die 
Kirche einmal fertig ſei, dann müſſe ſofort auch ein ordentliches Pfarrhaus 
gebaut werden, ſagten die Männer. Eigentlich ſei es eine Schande, daß die 
Gemeindeglieder beinahe alle jetzt in modern eingerichteten Häuſern wohnen, 
aber ihr Pfarrer immer noch in der elenden Blockhütte. Ein Steinhaus müſſe 
errichtet werden, dicht neben der Kirche. Ich durfte natürlich nichts dagegen 
ſprechen, aber in meinem Herzen regte ſich der Wunſch: „Hoffentlich er⸗ 
lebſt du das nicht mehr, du und die Blockhütte gehören beide zuſammen!“ 

Mein ſtummer Adam iſt ein eigener Knabe. Für gewöhnlich iſt er 
folgſam und gefällig. Sobald er aber von Indianern etwas hört, iſt er 
ganz umgewandelt. Wie er neulich aus der Schule heimkam, begegnete er 
dem Schwarzen Adler, einem ziviliſierten Indianer. Wie er den Mann 
ſah, hob er Steine auf und warf nach ihm, dabei hatte ſein Mund ge⸗ 
ſchäumt und ſeine Augen funkelten. Abends brachten ſie den Knaben tot⸗ 
matt ins Haus, und tags darauf mußte er das Bett hüten. Er iſt ſonſt 
ein begabter junger Menſch, aber er leidet unter einer Manie. Was kann 
ich dagegen tun? Neulich haben die Säger in der Mühle in ihrer Mittags- 
pauſe von dem Indianermaſſaker ſich miteinander unterhalten und der Adam 
hat zugehört. Plötzlich habe er ein Gewehr von der Wand geriſſen, ſei 
hinausgeſtürmt, um einen Baum herumgelaufen wie raſend und habe dabei 
verſucht, im Rennen auf den Baum zu ſchießen. Ohne Zweifel hat der Haß 
gegen die Wilden dem Anglücklichen den Verſtand genommen. Ich ſpreche 
in ſeiner Gegenwart nie über Indianer und habe ihn immer folgſam und 
wohlerzogen ſich aufführen ſehen. 

Die Frau von Sir Wm. Johnſon, alſo die Katherine Weiſenberg, 
ſei geſtorben. Schon als ich in ihr Haus kam, ſei fie nicht mehr recht ge- 


628 Mayer: Der Waldpfarrer am Sdobarie 


fund geweſen. Sir Johnſon habe nach mir ſchicken wollen, aber die Katherine 
habe mich nicht gewünſcht. Ein Geiſtlicher der Epiſkopalkirche habe an ihrem 
Sarg die Totengebete jener Kirche gelefen und dann fei fie in einer Familien⸗ 
gruft, die neben ihrem Hauſe gebaut wurde, beigeſetzt worden. 

Sie wollte mich alſo nicht mehr ſehen. Iſt nur gut, daß ich es weiß, 
die Lobreden von Weiſer und Herkimer neulich an meinem Geburtstage ſind 
mir doch ein wenig zu Kopf geſtiegen. Auch dem Waldpfarrer ſchadet ein 
kleiner Dämpfer nicht von Zeit zu Zeit. 

Abrigens hat Sir Johnſon ſich bald getröſtet und hat ſich mit Mollie 
Brant, der Schweſter des Indianerhäuptlings Brant, verheiratet, alſo einer 
vollblütigen Indianerin, deren Verwandtſchaft den Deutſchen den ſchwerſten 
Schaden in den Tälern zugefügt hat. 

Standesgemäß, dieſe Heirat? Gewiß! Johnſon erbt ganze Meilen 
Ländereien, die der Indianerin gehören. 

Wir leben in der neuen Welt, hier entſcheidet das Gold. Wie lange 
— und unſere Töchter kaufen europäiſche Prinzen, fo wie die indianiſche 
Squaw den Sir Johnſon gekauft hat. Es lebe der Fortſchritt! 


Achtzehntes Kapitel 


Endlich iſt die neue Kirche fertig; am Oſterfeſt haben wir fie ein ⸗ 
geweiht. Manches Jahr iſt verſtrichen, ſeitdem ich die erſte Predigt auf 
dem Schohariehügel gehalten habe. Damals war ich ein junger Mann, 
heute bin ich alt und grau. 

Wir hätten ſchon längſt eine Kirche, wenn es nicht mein Eigenſinn 
geweſen wäre, der darauf beſtand, entweder eine ordentliche Kirche, ein 
Denkmal von dem kirchlichen Geiſte der Väter an ihre Kinder, zu errichten 
oder gar keine. 

-Ringsum im Lande ſtehen kleine Gotteshäuſer. Ein paar Holgblode 
in den Boden getrieben, einige Stämme darauf geſtützt, dann ein Schindel · 
dach darüber, die Seiten mit Brettern vernagelt, und die Kirche iſt fertig. 

Der Branntweiner bemerkte richtig dazu: 

„Wenn ein Ackergaul am Sonntag vor der Kirche wiehert oder ein 
Hund laut bellt, dann zittert das ganze Gotteshaus!“ Solch eine Kirche 
iſt ſchnell gebaut, aber das ganze Anternehmen iſt ein verfehltes. Fünfzig 
oder noch weniger Familien halten ſich nachher zu einer ſolchen Gemeinde, 
nicht genug, daß ein tüchtig geſchulter und begabter Mann fein Leben zu- 
bringt im Dienſte von ſo wenigen. 

In unſeren Tälern wohnen gegen 4000 Deutſche. Sie ſollen ein 
Haus der Anbetung haben. Das habe ich ihnen gepredigt ſeit Jahren zur 
Zeit und zur Ungeit. Nur zu leicht ſpalten ſich die Deutſchen in kirchlichen 
Dingen. Ein Pfarrer, der viele Menſchen hier in eine einzige Kirche 
ſammeln will, muß ein großes Maß von Demut und chriſtlicher Beſcheiden⸗ 
heit beſitzen. Rechthaberet ift die Wurzel des Sektenweſens. 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 629 


Nachdem die Geldmittel zum Baue uns zur Verfügung geſtellt waren, 
entſtand zunächſt ein Streit über die Frage, wo die neue Kirche hingebaut 
werden ſollte. Der Chriſtian Schell und ſeine zahlreichen Verwandten 
wollten ſie nördlich vom Mohawk errichtet haben, die Herkimers dagegen 
ſtimmten für einen Platz zehn Meilen weſtlich von dort, die Holzer ſprachen 
von dem Schatten hundertjähriger Ahornbäume am Eingang in den Ur- 
wald, und der allezeit praktiſche Branntweiner meinte, gerade ſeiner Schenke 
gegenüber ſei der Mittelpunkt der Anſiedlung, dort der einzig richtige Platz 
für eine Kirche. 

„Dort, rief er in der Gemeindeverſammlung mit hochrotem Geſicht, 
„befindet ſich die größte Spezereienhandlung, ferner die einzige Brauerei 
und Brennerei in der Gegend, dort iſt die Apotheke und der Hufſchmied, 
dort der Gemeindearzt, und eine große Getreidemühle iſt bereits geplant, 
ein ganzer Häuſerzyklus befindet ſich dort. In deſſen Mitte ſollte die 
Kirche ſich erheben, und damit ihr ſeht, daß ich an Opferwilligkeit niemand 
nachſtehe, obwohl mein Geſchäft mir verbietet, die Kirche oft zu beſuchen, 
ſo ſchenke ich den Platz direkt neben meinem Wirtshaus. Er mißt einen 
halben Acker, genügt alſo allen Anſprüchen, die zu einer Kirche nötig find!” 

So ſprach der Branntweiner, holte tief Atem und ſetzte ſich. 

Die Kirche neben der Schenke, da fiele mancher Dollar in die großen 
Taſchen des Branntweiners. „Die Kinder dieſer Welt ſind klüger denn 
die Kinder des Lichts in ihrem Geſchlecht.“ 

Ein Pfarrer muß ſchweigen können in einer Gemeindeverſammlung. 
Ich habe in den vielen Jahren meiner Arbeit unter dieſen Bauern nie 
mich mit ihnen geſtritten und doch immer meinen Willen durchgeſetzt. Was 
manche meiner Amtsbrüder in Amerika ſo beklagen, die Dickköpfigkeit der 
Bauern, das iſt in Wirklichkeit die Hitzköpfigkeit und die Angeſchicklichkeit 
der Herren Pfarrer ſelber. Sie können nicht ſtill ſitzen, wenn jemand eine 
Anſicht ausſpricht, die ſie für die verkehrte halten, ſie ſprechen zu früh 
und haben nicht gelernt zu warten. Man erntet erſt den Weizen, wenn 
er reif iſt. Ich habe in der Verſammlung den Vorſitz abgelehnt, denn auf 
den Sitzen der Bauern und neben ihnen habe ich größeren Einfluß, als 
wenn ich den Ehrenplatz einnehme. Ebenſo wartete ich ſtundenlang und 
hörte geduldig und aufmerkſam jedem Redner zu. Mehrmals aufgefordert, 
das Wort zu ergreifen, lehnte ich immer wieder ab: 

„Ich möchte die Anſicht der Männer hören“, gab ich zur Antwort. 
Endlich war der Redeftrom verfiegt, der Vorſitzer ſprach: 

„Ehe wir abſtimmen, ſollte der Herr Pfarrer reden!“ 

Nun ſtand ich auf. Ich vermied es, als ob ich mit irgend einem 
der Anweſenden mich auseinanderſetzen wollte. Der Pfarrer darf in der 
Freikirche nicht neben dem Gemeindeglied ſtehen, keine Partei ſoll auf ſeiner 
Seite ſein, ſondern er muß über ihnen ſtehen. So ſagte ich ganz kurz: 
„Viele gute und auch paſſende Plätze für die neue Kirche ſind genannt 
worden. Die ganze Frage iſt eine ſo wichtige, daß ich mich gar nicht 


630 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 


wundere über die Tatſache, daß wir verſchiedene Meinung haben. Mich 
wundert nur eines, nämlich, daß niemand einen Platz genannt hat, an 
den ich unwillkürlich jedesmal denke, wenn die Platzfrage beſprochen wird. 
Das iſt die Stelle, an der wir vor mehr als fünfundzwanzig Jahren den 
erſten Gottesdienſt feierten, wo auch unſere Toten ruhen, und an dem ich 
nie vorübergehe, ohne das Gefühl zu empfinden: Wie heilig iſt dieſe Stätte, 
hier iſt nichts anders als Gottes Haus, hier iſt die Pforte des Himmels. 

„Eine Kirche auf dem Schohariehügel iſt weithin ſichtbar, der Schall 
der Glocken dringt noch weiter. Dort haben wir nicht bloß unſere Toten 
begraben, ſondern auch ein Stück unſerer Geſchichte, ja unſerer Herzen. 
Mit Ehrfurcht kommt es über meine Lippen, dort ruhen die Herkimer und 
Weiſer, die Gerlach und Kreiskorn, die Heims und Heyſes und hundert 
andere, deren Taten groß und heldenmäßig waren, die, wenn ſie im Dienſte 
eines Fürſten vollbracht worden wären, bis in den Himmel hinein gerühmt 
würden, die aber nichts an Wert verlieren, weil ſie im Dienſte um unſer 
Wohl und zum Beſten der Anſiedler vollbracht worden ſind. Vierzig Särge 
haben wir unlängſt dort eingeſenkt, noch ſind die Gräber friſch, wie die 
Blumen, die ihr auf ſie gelegt habt. Neben den Gräbern die Kirche, 
damit ſie rufe durch das Schoharietal: Wie gut iſt's, Chriſti ſein: Man 
ſieht den Himmel offen und nicht das Grab allein!“ 

Es war ganz ſtille geworden, niemand redete nach mir. Der junge 
Gerlach, der den Vorſitz führte, ließ die Stimmzettel austeilen. Als man 
nach einer halben Stunde zählte, ſtand auf 387 Zetteln „Schohariehügel“, 
und auf einem „Branntweiners Platz“. Es war ſein eigener. 

Nun ſchritten wir zum Kirchbau. Mehrere hundert Fuhrwerke fuhren 
wochenlang die Feldſteine herbei, fo daß der Schohariehügel in eine wahre 
Steinburg verwandelt wurde. Dann erhoben ſich nach und nach die großen 
Strebepfeiler und die Mauern. Bald merkte man, daß es nichts Schlechtes 
war, was meine Bauern hier aufführten. 

Der Menſch hat drei Fähigkeiten, nämlich Wiſſen, Wollen, Fühlen. 
Dieſen entſpricht im Reiche des Geiſtes das Wahre, das Gute und das 
Schöne. Darum gibt es die Wiſſenſchaft, das Wiſſen des Wahren, die 
Tugend, die Abung des Guten, und die Kunſt, die Darſtellung des Schönen 
oder die Abereinſtimmung des Idealen und des Nealen. Die Religion 
bringt alle dieſe Grundwahrheiten zum Ausdruck, fie gipfelt in ihrem höchſten 
Ziele, in der Harmonie des Menſchen mit Gott. 

Eine Kirche wollte ich bauen, die auch in ihrer äußeren Form das 
Göttliche verſinnbildlichen ſollte. 

So wählte ich zunächſt das Kreuzformat, dann den gotiſchen Stil mit 
einem hohen Turme, dem Fingerzeig gen Himmel. 

Das Kirchenſchiff ſelber iſt von drei Gängen durchzogen, die vom 
Eingangstor bis an den Altar führen. Der Altar iſt gegen Oſten, direlt 
über ihm die Kanzel, und hinter ihr die Orgel und der Chor. Es ent · 
ſpricht dieſe Bauart dem proteſtantiſchen Prinzip, nach dem im Gottes · 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 631 


baufe nicht der Altar, ſondern die Kanzel mit der Predigt des Wortes den 
Mittelpunkt bildet, Altar und Chor ſind das Gebet und der Geſang, die 
das Wort bekleiden. Nur eine kurze Galerie über dem Eingangstor iſt 
vorhanden. 

Die Malereien an den Fenſtern ſtellen lauter Vorgänge aus dem 
Leben Jeſu dar. Am beſten gefällt den Leuten das Bild des „ſinkenden 
Petrus“. Sie haben alle ſtarken Glauben, und mehr als einmal haben 
fie in ihrem Kampfe erfahren, daß mit Gottes Hilfe Anmögliches möglich ift. 

Mir ſagt am beſten das Bild zu „Chriſtus in Gethſemane“. Dunkle 
Nacht lagert über dem Garten, der Herr kniet auf dem Boden, ſeine Hände 
hebt er gen Himmel, von woher ein Lichtſtrahl niederfällt. Man erwartet 
jeden Augenblick die Erſcheinung des Engels. Auch der ſegnende Jeſus 
gefällt den Leuten; mir hat der Maler zu viel weibliche Züge hineingemiſcht 
in ſein Bild. Mein Heiland wanderte als vollkommener Mann auf Erden, 
der auch, wo es not tat, die Peitſche ſchwingen konnte. 

Sobald die Bauern eintreten, entblößen ſie das Haupt und Andacht 
liegt in ihren Zügen ausgeprägt. Der Bau erinnert in nichts an ein Theater, 
ſondern an die Wohnung Gottes. Alles ruft: 

„Der Herr iſt in ſeinem heiligen Tempel, es ſei vor ihm ſtille 
alle Welt!“ 

Wir haben zwei Jahre daran gebaut. Zu Oſtern war die Kirch- 
weihe. Eigentlich iſt eine Weihe unnötig. Der Himmel und aller Himmel 
Himmel können Gott nicht faſſen. Stein bleibt Stein; geweiht dagegen 
ſoll unſer Herz werden, dort kann man Gott einſchließen, aber nicht in ein 
Haus. Der Glaube, daß eine beſtimmte Stätte beſonders heilig ſei, beſagt 
nichts anderes als: „Ich glaube eine Gemeinſchaft der Heiligen!“ 

Wir hatten einige Wochen zuvor ein Schauſpiel hier geſehen, wie 
es nur in der Wildnis Amerikas vorkommen dürfte. Im März brach 
eines Abends ein furchtbares Schneewetter herein. Es blitzte und donnerte, 
und unweit von hier war eine Scheune durch einen Blitzſtrahl in Brand 
geraten. Nun ſchien es, als ob die ganze Gegend in Flammen ſtehe. 
Furchtbar prächtig ſtand die Kirche auf dem Berge. Wenn die Blitze durch 
die Schneeflocken zuckten, die die Luft erfüllten, dann meinte man, es 
fahren Feuerflammen von der Kirche auf gegen die Wollen. Anſere Kirche 
ſchien höher zu ſtehen als ſonſt, faſt als ſchwebe ſie zwiſchen Himmel und 
Erde. Weither kamen die Leute, um das Schauſpiel zu ſehen, und weil 
ſie meinten, die Kirche ſtehe in Flammen. Die Schneeflocken müſſen die 
Lichtträger geweſen ſein, denn mit dem Erlöſchen der Feuersbrunſt verſchwand 
das Phänomen. Der fromme alte Kreiskorn aber ſprach: „Es war das 
Bild von dem neuen Jeruſalem, von der Stadt Gottes, welche herabfahren 
wird vom Himmel auf die Erde, und in deren Grund eingegraben ſtehen 
die Namen der heiligen Apoſtel.“ 

Die Einweihung ſelber kann ich nicht beſchreiben. Ich war zu be⸗ 
wegt. Andern ging es kaum beſſer. Es war buchſtäblich wahr geworden: 


632 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 


„Viele des Volks und die Alteſten weinten laut (fie dachten an die 
Kirche im Heimatsdorf), daß das Volk nicht erkennen konnte die Töne der 
Freuden von den Stimmen des Weinens!“ 

Wir zogen vom Kirchhof herüber; ich ſchäme mich faſt es auf- 
zuſchreiben, jedermann wollte mir die Hand an dieſem Morgen drücken, ſie 
haben mich beinahe erdrückt. Selbſt Sir Wm. Johnſon war erſchienen, er 
ſtreckte beide Arme nach mir aus, als ich alter, gebeugter Mann den 
Schohariehügel heraufkam, und dann ſchloß er mich in die Arme und ſprach 
Worte, die ich nicht aufſchreiben will. Neben mir ging General Herkimer 
an Stelle des alten Schulmeiſters Heim, der geſtorben iſt, und unter der 
Kirchtür ſtand Konrad Weiſer, der mir die Schlüſſel überreichte. Er konnte 
nur die Worte hervorbringen: ö 

„Wenn das mein Vater erlebt hätte!“ Die Tränen liefen ihm über die 
Wangen. Er iſt alt geworden, der Konrad, ſie altern früh in dieſer Zeit 
der Not! 

Obgleich es Oſtern war, ließ ich zuerſt das Lied ſingen: „Ein' feſte 
Burg iſt unſer Gott!“ Am öfteſten wurden die zwei Lutherlieder am 
Schoharie geſungen: „Aus tiefer Not ſchrei' ich zu dir,“ und das andere mit 
der Antwort: „Er hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt hat betroffen!“ 

Dann begann ein Gottesdienſt, ſchöͤn und ergreifend; ich war bewegt 
und kann auch jetzt das nicht recht beſchreiben. Wir feierten zugleich das 
heilige Abendmahl, und die Zahl der Kommunikanten war groß. Es war 
darum längſt Nachmittag geworden, als wir das Gotteshaus verließen. 
Selbſt der Branntweiner war diesmal mit dem Steinpfarrer zufrieden. 


Neunzehntes Kapitel 


„Iſt der Kirchbau vollendet, dann biſt du am Ziele deiner Wünſche“, 
habe ich bisher immer wieder mir geſagt. Bin ich's? 

Am Schoharie ſaß ich unter einem Schattenbaum, mich umſpielte die 
warme Frühlingsluft. Ich las Platos Phädon. „Du räſonierſt nicht übel, 
Sokrates! Dieſes eine Werk gibt dir einen Platz in der Schar der Un- 
ſterblichen!“ — Was habe denn ich im Arwalde geleiſtet? Die Kirche 
gebaut, auch etliche Schulhäuſer! Lauter äußerliche Dinge; das Reich 
Gottes aber beſteht nicht aus Stein oder Holz, ſondern aus Kräften des 
Geiſtes, es iſt Leben und Wahrheit. Das Sichtbare iſt dagegen der Schein 
und der Irrtum. „Waldpfarrer, was haſt du aufzuweiſen als die Arbeit 
deines Lebens?“ Ich habe Händel geſchlichtet, Kranke beſucht und ihnen 
Medizin gegeben, denn ſie waren zu arm, um einen Arzt kommen zu laſſen; 
ich habe dem Anterdrückten oft zu ſeinem Rechte verholfen, dann habe ich 
auch die Wahrheit gepredigt und die Kinder den Katechismus gelehrt. 

Haſt du ihnen Gott gezeigt, ihnen die Augen geöffnet, daß ſie ſchauen 
die Erlöſung, die große Lebenstat Gottes, und ſie anbeten, und beten: 
„Gott, ſchaffe mich fromm wie du“? 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 633 


So ſann ich über mein Leben nach, als mein Blick an einer Primel 
hängen blieb. Ich pflücke den erſten Gruß, den der Frühling nach dem 
Tale geſchickt hat, und wie ich die Blume in der Hand halte, werde ich 
wieder nachdenklich. Anſterblichkeit? Verkündet ſie nicht der Sternen⸗ 
himmel, predigt ſie nicht der Tautropfen? Die wilde Waldblume in meiner 
Hand! Sagt ſie nicht, hinter der ſichtbaren Natur ſteht ein allumfaſſender 
Geiſt? Die Blume iſt ein Kunſtſtück, ein Gedanke. Wer hat ihn gedacht, 
wer das Gedachte in eine lebendige Tat umgeſetzt? Die Natur ſtirbt, aber 
der Herr der Natur, der ihr die Lebenskraft gibt, lebt und wirkt ohne 
Aufhören. 

Die Bauern in dieſen Tälern, die mit uns gekämpft haben und neben 
der Kirche ſchlafen den langen, geheimnisvollen Todesſchlaf, wo iſt ihr 
Geiſt? Dieſes, wie der alte griechiſche Weiſe es nennt, „unteilbare Ganze“ 
in dem Menſchen? Das ſtirbt ſo wenig wie der lebenſchaffende Gedanke 
hinter und über dem Naturreich. 

Woher kommt das Heimweh in meiner Bruſt? Wie viele Jahre 
ſind verſtrichen, ſeitdem ich nach dem Walde kam? Hier ſind meine Freunde, 
hier mein Ackerfeld. Warum bin ich nicht zufrieden? Warum träume ich 
immer wieder von dem Schwarzwald und den Neben des Neckartals? 
Wollte ich denn wieder dorthin, wenn ich könnte? Die Heimat wäre mir 
zur Fremde geworden, ich würde mich in dem Lande meiner Kindheit nicht 
mehr zurechtfinden. Woher das Heimweh? Es iſt die Sehnſucht nach dem 
verlorenen Paradies der Kindheit, nach dem Frieden und der Anſchuld der 
Kinderjahre. Wir ſuchen etwas Beſſeres, wir wollen das Leben und 
volles Genüge. 

Wie wenig habe ich davon bei meiner Vielgeſchäftigkeit das Volk 
gelehrt, wie wenig für das Ewige und Bleibende gearbeitet. „Heiliger 
Erlöſer, ſei mir gnädig!“ 

And dieſer neue Streit mit den Indianern! Wir werden nie zur 
Ruhe kommen. Zwar ich bin alt und meine Arbeit iſt getan, ich werde 
mich niederlegen und bald einen langen Schlaf tun. Aber es ſchmerzt mich, 
meine Gemeinde zur Kampfeszeit zu verlaſſen. 

Seit die Franzoſen aus der Kolonie vertrieben worden ſind, regen 
ſich unſere alten Widerſacher aufs neue. Der alte Livingſtone iſt tot, aber 
ſeine Kinder ſind nicht beſſer als er; denn der Apfel fällt nicht weit vom 
Stamm. Sie haben ein neues Bubenſtück geleiſtet, und die Wilden haben 
die Streitaxt ausgegraben und ſtehen drohend an unſerer Grenze. 

Man muß es dem Sir Johnſon nachrühmen, daß er ein Feind jeg⸗ 
lichen Landſchwindels iſt. Als Indianeragent hat er ſich erboten, zu den 
Rothäuten zu reifen und den Streitfall zu unterſuchen und womöglich zu 
ſchlichten. Als Dolmetſcher und Unterhändler begleitete ihn Konrad Weiſer, 
und ſie beſtanden darauf, daß ich ebenfalls mitgehe, denn die Indianer ſagen 
von mir: 

„Der weiße Medizinmann hat kein doppeltes Geſicht (lügt nicht).“ 


634 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharte 


Unfer Kommen war ihnen vorher angezeigt worden. Sie hielten die 
Sache für fo wichtig, daß alle ihre Häuptlinge anweſend waren und außer⸗ 
dem dreiunddreißig ihrer vornehmſten Weiber. 

Die Verhandlungen hatten etwas feierlich Ernſtes an ſich. Johnſon 
hatte vom Gouverneur vollkommene Machtbefugnis erhalten, in allen Streit: 
fragen die bindende Entſcheidung zu fällen. 

Es war ein maleriſches Bild! Anter einer alten Eiche ſaßen die 
Häuptlinge, lauter tapfere Männer, in deren Hütten jeder die Skalps ſeiner 
erſchlagenen Feinde dutzendweiſe zählte, in zweiter Reihe ſaßen ihre mit 
Amuletten reichlich geſchmückten Weiber, und hinter dieſen ſtanden im Halb- 
kreis gegen fünfhundert ihrer Krieger. 

Sir Johnſon war von acht Friedensrichtern umgeben. Außerdem 
waren die beiden jungen Livingſtone mit ihren Advokaten erſchienen und 
der Dolmetſcher Konrad Weiſer. 

Die Unterhandlung begann damit, daß Weiſer zwei Kaufbriefe vor⸗ 
legte und die Häuptlinge aufforderte, ſie zu prüfen und dann zu erklären, 
weshalb fie deren Richtigkeit beanſtandet und die Streitaxt ausgegraben 
hätten. Nachdem jeder Häuptling vorgetreten war und die Dokumente be: 
ſichtigt hatte, erhob ſich einer aus ihrer Mitte, der Sprecher, und begann 
eine längere Rede: 

„Die roten Männer ſind zahlreich gekommen, weil ſie vernahmen, 
daß Weiſer zu uns reden werde. Du Haft jedesmal ein gutes Wort für 
den roten Mann. Wenn du auch ein Blaßgeſicht biſt, fo gehört doch alle⸗ 
zeit die Hälfte deines Herzens den Mohawks und nur die andere Hälfte 
den Weißen. Wir haben erfahren, daß Tarachawagon“ (fo nennen die 
Wilden den Konrad Weiſer) Schnee auf dem Kopf habe (alt geworden 
fei), darum haben wir die Streitart in unſerem Wigwam gelaſſen und find 
gekommen, um noch einmal dein Angeſicht zu ſehen, ehe du in die Jagd⸗ 
gründe des großen Geiſtes gehſt (ſtirbſt)!). Wir haben die Papiere geprüft 
— fie ſagen, fünf Häuptlinge hätten fie unterſchrieben — hätten ver: 
kauft das Land gegen Mitternacht, ſo lang und weit, daß untergeht die 
Sonne viermal, ehe wir fertig werden mit Vermeſſen. Wer ſind die fünf 
Häuptlinge? Iſt's Brant, die kluge Schlange, iſt's Ura, der fliegende Pfeil, 
iſt's Quirago, das gute Gewehr, iſt's Mango, der kühne Adler? Site 
irgendeiner, der hier ſitzt?“ Er wandte ſich um und deutete auf die Gruppe 
der Häuptlinge, die aufmerkſam feiner Rede gefolgt war: „Nein, es iſt 
keiner unter ihnen. Ich habe geſprochen!“ 

Damit ſetzte er ſich. 

Nun ergriff Weiſer das Wort: 

„Die Herren Livingſtone behaupten, daß ſie den Kaufbrief erhalten 
haben von den fünf größten Häuptlingen der Mohawks. Die Häuptlinge 
des Stammes ſind alle hier verſammelt, darum fordere ich die Herren auf, 
jetzt vorzutreten und vor den Augen von Sir Johnſon uns die Häuptlinge 
zu nennen!“ 


Mayer: Der Walbpfarrer am Schoharie 635 


„Ein gutes Wort“, riefen die Indianer. 

Die beiden Livingſtone ſchüttelten die Köpfe. 

„Ich fordere Sie auf zur Antwort auf meine Frage: Sehen Sie die 
Häuptlinge unter den Anweſenden, die das Dokument unterzeichnet haben? 
Antworten Sie mit Ja oder mit Nein.“ 

„Nein, es waren andere Häuptlinge“, kam die Antwort. 

„Wer hat den Kaufbrief unterſchrieben?“ fragte Weiſer, ſich an die 
Indianer wendend. Der Sprecher der Rothäute ſtellte hierauf fünf junge 
Männer vor und ſprach: „Die Burſchen hier, die noch keine Skalpe 
haben und keinen Wigwam und keine Squaw, bekennen, daß Livingſtone 
ſie in ſein Haus gelockt habe, ihnen dann ſo viel Feuerwaſſer gab, daß 
fie gar nicht mehr wußten, was fie taten. Sie haben im Raufche Land 
verkauft, das ihnen nicht gehörte, und Livingſtone wußte es.“ 

Der Indianer fuhr fort: 

„Das Geſetz der Bleichgeſichter beſtimmt, daß nach einem Verkauf 
das Land vermeſſen werde im Beiſein des Verkäufers, und zwar, wenn 
die Sonne ſcheint (bei Tag). Livingſtone hat gemeſſen, als der Mond am 
Himmel war und die Mohawks in den Wigwans ſchliefen. Wir haben 
verpachtet von dem Lande an die Deutſchen im Tale, aber Livingſtone und 
der Gouverneur in New Vork wollen vertreiben die Deutſchen von dieſem 
Lande, darum haben wir die Streitaxt ausgegraben. Zwei Krüge Feuer⸗ 
waſſer an fünf junge Burſchen iſt kein Handel, darum machen die Mohawks 
ein böſes Geſicht.“ 

Das war im weſentlichen die Ausführung des Indianers. Die ſonſt 
ſo ſchweigſamen Wilden gaben durch allerlei Mienenſpiel kund, daß ſie 
dem Redner beiſtimmten. 

Die von Livingſtone mitgebrachten Rechtsanwälte verſuchten bei 
Johnſon mildernde Umſtände zur Geltung zu bringen. 

„In der Wildnis geht es nicht immer nach dem genauen Recht“, 
ſagte der eine. „Es iſt ſchwer, jedesmal feſtzuſtellen, wer der Eigentümer 
eines Stück Landes iſt. Sollten Sie aber finden, daß die Verkäufer nicht 
die rechtmäßigen Beſitzer der Ländereien waren, dann muß Livingſtone eine 
Entſchädigung erhalten und ebenfalls genügend Zeit, um die Ländereien 
wieder in den Beſitz der Indianer übergehen zu laſſen.“ 

Nachdem ihre Argumente beendigt waren, trat Weiſer vor: 

„Sir Johnſon,“ ſprach er, „es wäre ein Anrecht, wollten Sie die 
Entſcheidung aufſchieben. Die Indianer ſind nicht vertraut mit all den 
Wandelgängen des engliſchen Rechts. Ihnen iſt Anrecht geſchehen, und 
nicht ein Menſch im Bereich meiner Stimme wagt es, aufzuſtehen und 
meine Behauptung zu beſtreiten. Warum ſollten Sie, Sir, nicht auf der 
Stelle den erſchwindelten Kaufbrief zerreißen? Sie würden durch eine 
ſolche Tat allen Grund zur Unzufriedenheit mit einem Schlage entfernen, 
das Anſehen der engliſchen Krone unter den Deutſchen zugleich fördern, 
und Gott weiß es, wie notwendig auch dieſes im Lande iſt. Dieſer Kauf⸗ 


636 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 


brief iſt erſchwindelt! Daß Livingſtone bei Nacht die Vermeſſung vor⸗ 
nahm, was niemand beſtritt, iſt eine Niederträchtigkeit und ein Bubenſtück 
ohnegleichen. Ich weiß, daß meine Rede keinem der anweſenden Engländer 
gefällt. Allein ich habe nicht mehr als ſechzig Jahre gelebt, um im Alter 
durch ein Anrecht meinen Namen bei den Indianern zu beflecken und mein 
Gewiſſen vor Gott zu belaſten. Sir, gebrauchen Sie Ihre Autorität und 
vernichten Sie durch eine einzige mutige Tat für alle Zeiten das unſaubere 
Geſchäft der Landſchwindler.“ 

Einen Augenblick ſchien ſich Sir Sobnfon zu beſinnen, dann erhob 
er ſich, und in langſam feierlichem Tone ſprach er: 

„Meine Aufgabe iſt einfach. Es iſt mir perſönlich e daß 
ich konſtatieren muß, dieſer Kaufbrief iſt durch Schwindeleien gemeinſter 
Art erlangt worden. Aber mein Amt verlangt, daß ich niemandes Perſon 
als Richter anſehe. Darum erkläre ich den Verkauf für null und nichtig, 
das Land bleibt im Beſitz der Indianer, niemand unterſtehe ſich ferner, 
die deutſchen Pächter zu beläſtigen! Gerichtsdiener, vertagt das Gericht!“ 

Der Gerichtsdiener rief, wie das hierzulande Sitte iſt: 

„Das Gericht iſt vertagt: Gott ſegne den König!“ 

Die Engländer ſchauten mit böſen Blicken nach Weiſer, die Indianer 
dagegen drängten auf ihn ein, ſelbſt die dicken Squaws ließen's ſich nicht 
nehmen, ihm die Hand zu drücken. 

Sir Johnſon hatte ſein Pferd beſtiegen und war weggeritten. Er 
iſt ein rechtlicher Mann, aber eben auch wie die andern, zuerſt Engländer. 
Nur wenn es ihren Intereſſen nicht zuwider iſt, dann wird er der Freund 
der Deutſchen. Aber ſelbſt Weiſer gibt zu, daß in New Bork er der beſte 
Richter ſei. 

Die beiden Livingſtone konnten die Lektion, die ihnen Weiſer durch 
feine Rede erteilt hatte, nicht verſchmerzen. Wie Sir Johnſon weggeritten 
war, kamen ſie auf ihn zu: 

„Wir werden Ihnen dieſes gedenken,“ begannen dieſe ehrloſen Schufte, 
„der Gouverneur iſt unſer Freund, und das Land bleibt unſer, Johnſon hin, 
Johnſon her! Ihr Vater war ein Rebelle und Sie find noch ſchlechter!“ 

Ich habe Weiſer nie zuvor zornig geſehen. Wie aber ſein Vater 
genannt wurde, ſchwollen die Adern ſeiner Stirne, mit hochrotem Geſicht 
ſchaute er die beiden an, dann ſprach er: 

„Mein Vater hat von dem eurigen Schweres erduldet; der Name 
Livingſtone iſt ſeit den Tagen, da der deutſche Leisler in New Vork für 
den König von England ſein Leben ließ, gleichbedeutend mit dem einzigen, 
von dem wir gewiß find, daß fein Träger in die Hölle gefahren ijt, nam- 
lich mit Judas Iſchariot. Ich will nicht mit euch ſtreiten, aber eines euch 
im Vertrauen jetzt mitteilen.“ Sein Geſicht verriet mir den Schalk. „Ich 
bin zurückgeblieben, um heute von euch Rechenſchaft zu fordern für das An⸗ 
recht, das ihr meinem Vater getan, und für das unſchuldige Blut, das ihr 
unter meinen Landsleuten vergoſſen habt. Wie ſchändlich die Livingſtones 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 637 


leben, weiß ich ſchon lange. Heute will ich aber ſehen, wie tapfer fie fterben 
können. 

„Mohawks, dieſe beiden drohen mir mit Gewalt von ihrer Hand und 
mit Strafe von dem Gouverneur, weil ich dem roten Mann ein gutes Wort 
geſprochen habe! Wollt ihr zugeben, daß Tarachawagon ſterbe?“ 

Die Indianer hatten dem Auftritt zugeſchaut, da aber die Anter⸗ 
haltung in engliſcher Sprache geführt wurde, ihn nicht recht verſtanden. 
Jetzt aber ſtießen ſie den Kriegsruf aus. Mir graute; das Blut wollte 
mir gerinnen, mein Gott, find die Menſchen wahnſinnig? Die Pferde zer- 
reißen ihre Stricke und raſen in den Wald, die Squaws ſchreien auf und 
ziehen ſich zurück, ſtarke Arme packen die Livingſtones, und die jungen 
Männer, die den Kaufbrief unterſchrieben haben und unter den Vor⸗ 
würfen ſich ſeither ärgerten, verſuchen mit der bloßen Hand, ſich der Skalps 
der beiden zu bemächtigen. Andere hatten Stricke und verſuchten, die Living⸗ 
ſtones zwiſchen die Gipfel zweier junger Tannen aufzuhängen. Es ging 
das ſo raſch, daß man gar nicht den Hergang recht ſehen oder beſchreiben 
konnte. 

Nun zeigten ſie die ganze Feigheit der Verbrecher! Sie fielen auf 
die Knie; Totenbläſſe im Geſicht, baten ſie um ihr Leben, verſprachen alles 
nur Denkbare. Als Weiſer tat, als hörte er es nicht, wandten ſie ſich an 
mich, damit ich Fürſprache für fie einlege. 

Endlich hatte Weiſer genug. 

„Ich will dem Teufel nicht vorgreifen,“ ſprach er, „aber vergeßt nicht, 
wie ihr mir ein andermal begegnen ſollt. Geht heim und ſchämt euch, feige 
Schurken.“ 

Ich habe nie zuvor Menſchen ſo raſch ihre Pferde beſteigen ſehen, 
wie die beiden Livingſtones, dieſe Freunde des Gouverneurs. 


Zwanzigſtes Kapitel 


„Sie werden uns künftig in Ruhe laſſen!“ ſagte ich auf dem Heimwege. 

„Ich glaub' es nicht“, gab Weiſer zur Antwort. „Die Kolonial- 
ariſtokratie iſt die ſchlimmſte Blutſaugerin, die es gibt. Sie übertrifft noch 
jene deutſchen Fürſten, die ihre tapferſten Männer als Kanonenfutter an 
den König von England verkaufen.“ 

„Entſchuldigen Sie, aber die Weiſers ſind Schwarzſeher!“ 

„Vielleicht, Herr Pfarrer. Aber mein Vater hatte Arſache dazu. 
Auch ich habe im Dienſte für den Kolonialgouverneur Dinge mit ange⸗ 
ſehen, bei denen es mir mehr als einmal ſchwarz vor den Augen geweſen 
iſt. Wie ſchändlich wurden von Gouverneur Clinton nur die Herrnhuter 
behandelt? 

„Erzählen Sie, bitte, ich habe den Hergang nie richtig vernommen.“ 

„Das Wichtigſte iſt mit wenigen Worten geſagt. Es war im Jahre 
1736, da reiſte ich im Auftrage des Gouverneurs von Pennſylvanien zu 


638 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharte 


den Indianern, um durch perſönliche Verhandlungen dieſe zu bewegen, die 
Streitaxt zu begraben. Es war der Stamm der Stontenefen. Auf dieſer 
Reife von etwa 500 Meilen hatte ich unglaublich viel Ungemach auszu · 
ſtehen, indem ich bei hartem Winter durch tiefen Schnee, durch Bäche und 
Flüſſe und durch troſtloſe Wildnis mich mit Proviant auf dem Rücken 
durcharbeiten mußte. Zwei Indianer begleiteten mich eines Tages eine 
Strecke weit. Als dieſe mir anſahen, wie ich den Strapazen beinahe erlag 
und mir der Mut ſank, da tröſteten ſie mich, indem ſie ſagten: 

„Sei getroſt, Tarachawagon, durch Leiden an ſeinem Leibe wird dem 
Menfchen die Sünde abgewaſchen.“ 

Dieſes Wort aus dem Munde der Wilden drang mir ins Herz und 
ermutigte mich zu neuer Anſtrengung. 

Bald darauf traf ich den Biſchof Spangenberg von der Brüder⸗ 
kirche, dem ich den Vorgang erzählte. Er berichtete darüber nach Herrn⸗ 
hut. Sofort wurde dort beſchloſſen, zu dieſen zwar blinden, aber doch nach · 
denkenden Heiden Miſſionare mit der Predigt des Evangeliums zu ſenden. 

Es kam zuerſt Miſſionar Büttner, ein edler, frommer Mann; ihm 
folgten andere, und in wenigen Jahren hatten die Herrnhuter eine Ge⸗ 
meinde geſammelt aus Indianern zu Shekomeko. Dieſer Platz liegt etwa 
hundert engliſche Meilen von New Vork, unweit der deutſchen Nieder- 
laſſung Rheinbeck. 

Als nach etlichen Jahren der Graf Zinzendorf ſelber nach Amerika 
kam mit feiner Tochter Bettina, da wurde ſogar der Häuptling Tſhoop 
getauft in Gegenwart Zinzendorfs. Es machte das großes Aufſehen! 

Der Mann, der vorher ausſchaute wie ein Bär, war zu einem 
Lamme geworden, und man konnte ihn nicht anſehen, ohne über die ge⸗ 
waltige Kraft von Gottes Wort und Sakrament zu ſtaunen. Er hatte eine 
vorzügliche Gabe, das, was er ſagen wollte, recht deutlich zu machen, zu⸗ 
weilen auch durch Bilder. Wenn er ſein böſes Herz beſchreiben wollte, 
ſo zeichnete er mit Kohle ein Herz, aus dem aus allen Seiten Zacken und 
Stacheln herausgingen, und ſagte: 

„Sehet, ſo iſt das Herz, wenn der Satan darin wohnt, alles Böſe 
kommt von innen heraus.“ — Das macht einen ſtärkeren Eindruck als die 
künſtlichſte Rede.“ 

„Sind Sie ein Herrnhuter? Es gehen darüber Gerüchte.“ 

„Ich bin's nicht. Aber im Vergleich mit den Wanderpredigern ſind 
dieſe Herrnhuter die reinſten Engel. Ich will nicht leugnen, daß die ſelbſt 
loſe Arbeit, die geradezu kindliche Einfalt dieſer Miſſionare, mit der ſie 
unter Wilden lebten, auf mich einen tiefen Eindruck machte. Dann habe 
ich auch den Grafen Zinzendorf auf feinen Reifen zu den Indianern be 
gleitet, und obgleich ich die weitreichenden Pläne des Grafen nicht ver 
ſtehen konnte, hat mir doch die Wärme ſeines Glaubens wohlgetan. Wie 
ein Wunder Gottes aber ſteht die Geſchichte von der Bekehrung der In- 
dianer vor mir.“ 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 639 


„Sie hatten alſo in Shekomeko wirkliche Bekehrung von Indianern?“ 

„Jawohl! Ich kenne die Nothäute fo gut wie irgendeiner im Lande, 
die Amwandlung der Wilden war eine vollſtändige, eine radikale. In ihrem 
Leben war ein Wechſel eingetreten, wie der von Nacht und Tag. Wären 
dieſe Ubertritte zum Chriſtentum nur erheuchelt geweſen, beſtände heute 
die Miſſion noch, denn gegen Heuchelchriſtentum hat England noch nie 
Einwendung gemacht. Radikal war die Umwandlung des Volks, ebenſo 
radikal wie der Miſſionseifer der Brüder. Miſſionar Poſt heiratete ſogar 
ein getauftes Indianermädchen, um auf dieſe Weiſe dem Stamme noch mbes 
zu kommen und das Vertrauen der Wilden zu erlangen. 

Soweit war alles gut gegangen. Solange die Kolonialariſtokraten 
dachten, die Miſſionare würden von den Wilden ermordet werden, rührten 
fie die Hand nicht. Aber als auf einmal der Schnaps verbrauch unter den 
Indianern abnahm, man auch ihre Squaws nicht mehr kaufen konnte, er⸗ 
hob ſich der Sturm der Entrüſtung. 

Welche Frechheit, hieß es, dieſe Miſſionare wollen die Roten den 
Ackerbau lehren und ehrliche Handwerker aus ihnen machen? Anerhört, 
ſolche Frechheit. Wir gebrauchen das Land, wir betreiben die Induſtrien, 
wir leben zum Nuhme Gottes und des Königs! Die Herrnhuter? Aus⸗ 
länder, Fremde find fie im Lande, fie gehören nicht einmal zur Epiſkopal⸗ 
kirche! In allem Ernſte wurde behauptet, der Graf Zinzendorf ſei ein 
Katholik und wolle die Kolonien an den König von Frankreich verraten. 

Um es kurz zu machen, Herr Pfarrer, die Geſchichte vom Schoharie 
wiederholte ſich in Shekomeko. Alle Vorſtellungen der Miſſionare, alle 
Lehrdarſtellungen halfen nichts! Der Hinweis auf den rechtſchaffenen Lebens; 
wandel der Getauften erbitterte die Ariſtokraten nur. Wie einſt mein Vater 
mit Hunderten unſeres Volkes nach Pennſylvanien zog, vertrieben durch 
Gouverneur Hunter, ſo trieb jetzt Gouverneur Clinton die Herrnhuter aus 
dem Staate New Vork. In der Nähe von Bethlehem in Pennſylvanien 
bauten ſie ein kleines Indianerdorf. Aber nicht alle Getauften erreichten 
es, viele erlagen auf der Flucht, andere wurden überfallen von betrunkenen 
Indianern und getötet. Das alles wurde von Gouverneur Clinton und ſeinem 
Anhange ins Werk geſetzt im Namen der Ziviliſation und des Chriſtentums. 

Die Pfälzer und Schwaben verfolgten ſie, weil dieſe keine Heiden 
werden wollten, ſondern freie, ſelbſtändige Bauern und Koloniſten. Die 
Herrnhuter wurden vertrieben, weil ſie aus den Heiden ziviliſierte Menſchen 
machen wollten. 

Es iſt immer dieſelbe Geſchichte, überall Jakobs Stimme, aber Eſaus 
Hand! 

Zweimal wurden die Deutſchen aus New Vork vertrieben, zum erſten⸗ 
mal am Schoharie, zum zweitenmal aus Shekomeko. New Vork iſt darum in 
ſeiner Entwicklung zurückgeblieben, Pennſylvanien hatte dagegen den Vorteil, 
es übertrifft an Bevölkerung und Wohlſtand New Vork. Frieden erhalten 


wir erſt, wenn der freie Bauernſtand auch frei ſich ſelber regieren wird.“ 


640 Dörr: Bismarck 


„And Sie find kein Herrnhuter?“ 

„Wie ſollte ich? Meine älteſte Tochter iſt ſeit zwanzig Jahren ver⸗ 
heiratet mit dem Pfarrer Heinrich Melchior Mühlenberg, einem tüch⸗ 
tigen Mann, den feine Freunde in Pennſylvanien den Vater der lutheri⸗ 
ſchen Kirche“ nennen. Zwei ſeiner Söhne ſtudieren bereits Theologie; will's 
Gott, dann werde ich der Ahne einer lutheriſchen Pfarrfamilie werden. 
Das iſt mehr als der Titel: „Gouverneur von New Vork. Gott hat mich 
und meine Kinder reich geſegnet. Denke ich über mein Leben nach, dann 
rufe ich immer wieder: „Wenn das doch mein Vater noch erlebt hätte!“ 

Er ſchloß mich in die Arme, Tränen netzten ſeine Wangen, dann 
ritt er weg. Wir waren bewegt. Keiner ſprach ein Abſchiedswort! 

Bald danach erhielt ich einen Brief von ſeinem Schwiegerſohn, dem 
Pfarrer Mühlenberg: 

„Es war Vaters letzter Wunſch, ich ſollte Sie benachrichtigen, wenn 
er heimgegangen ſei. Er fühlte ſein Ende kommen. Mit ſeiner Frau ſuchte 
er den letzten Ruheplatz ſich aus wenige Tage vor feinem Tode. Eine Meile 
unterhalb Wommelsdorf, gegen Reading zu, auf einer Anhöhe ruht er und 
wartet auf den Oſtermorgen. Wir haben, wie er beſtimmte, einen Grab- 
ftein aus rotem Sand darauf anbringen laſſen mit der einfachen Inſchrift: 

„Konrad Weiſer, Württemberg 1696, geſtorben 1760.“ 

Mit dem Briefe ging ich zu General Herkimer. Als ich ſeinen In⸗ 
halt ihm vorgeleſen hatte, ging er hinaus. Als er eine halbe Stunde ſpäter 
wieder ins Zimmer trat, gab er mir die Hand: 

„Seinesgleichen gibt es keinen mehr im Lande“, ſprach er. Seine 
Augen waren gerötet. Er hatte geweint. 


(Schluß folgt) 
Bismarck 
Von 

Paul Dörr 
Aas du ſchiedeſt, riefen fie, Aus den fernſten Gaſſen klang's, 
Deine Treuſten, ſchmerzbekllommen, Von den bhöchſten Fenſterſcheiben: 
Tauſendſtimmig fort und fort: Bismarck, Bismarck, einziger du — 
Wiederkommen, wiederkommen! Wiederkommen, bleiben, bleiben! 
Als du kameſt, deinem Herrn Ach, noch heut ob deiner Gruft 
Neu die Hand in Treu’ zu reichen — Tönt die Klage ſchmerzbeklommen: 
O wie huldigte dein Volk Bismarck, Bismarck, einmal noch 
Dir dem Fürſten ohnegleichen! Wiederkommen, wiederkommen! 


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Die letzten Ziele der chriſtlichen Arbeiter— 
bewegung 


Von 


Robert Zaffe 


ie chriſtlichen Gewerkſchaften ſollen die großen Gegenſätze vor— 
wegnehmen, die, ſelbſt wenn das ſozialdemokratiſche Zukunfts- 


py 


By Ttaatsprogramm bis aufs legte Tüpfelchen erfüllt wäre, fich 

EG unter den Arbeitern felber mit Naturnotwendigkeit ergeben 
Müden. Zwiſchen den genußgierigen, hohlen Elementen und den kernfeſten, 
echt deutſchen, chriſtlichen. Feſtgemauert in der Erden müſſen die chriſtlichen 
Arbeiterverbände daſtehen in ihrem Trutz gegen die unfaßbaren Mächte 
des großen Kapitals; nichts wäre abſcheulicher und empörender, als wenn 
harmloſe, rührend gutmütige Arbeiterelemente von ſchlauen und gierigen Unter- 
nehmern ſollten ausgebeutet werden. Niemals dürfen ſie, die chriſtlichen 
Gewerkſchaften, ſich dazu hergeben, etwa bei den Reichstagswahlen die von 
ihnen organiſierten Arbeiter den extremſten Vertretern einſeitig kapitaliſtiſcher 
Parteien gleichſam als Stimmvieh zuzuführen. Sie müſſen, in beſonderen 
Fällen, wenn es den Kampf für unmittelbare Gegenwartsintereſſen der Ar— 
beiter gilt, auch bei den Wahlen den Mut haben, mit Sozialdemokraten 
zuſammenzugehen. So lange müſſen ſie Bedenken haben, der Sozialdemo— 
kratie Abbruch zu tun, als ſie fürchten müſſen, auf ihren Trümmern könnte 
eine volksfremde, glaubensloſe Plutokratie ihr Zwing-Ari aufrichten. Als— 
dann können ſie den natürlichen Gegenſatz zwiſchen der praktiſchen Arbeit 
der Gewerkſchaft und zwiſchen dem den wirklichen Intereſſen der Arbeiter 
vollkommen fremden Machtdurſte unredlicher ſozialdemokratiſcher Führer ganz 
für ſich ausnützen. Vertreten ſie mit Feſtigkeit den Kampfſtandpunkt gegen 
ein großkapitaliſtiſches, rückſichtsloſes Anternehmertum, fo entwickeln fie 
bereits all die Gegenſätze, die in der Arbeiterſchaft ſelber gegenwärtig unter 
dem Druck des gemeinſchaftlichen wirtſchaftlichen Kampfes unbemerkt 
ſchlummern. 

Damit ſoll die Aufgabe der chriſtlichen Gewerkſchaften nicht darauf 
beſchränkt werden, ſich gegenüber dem revolutionären Flügel der Sozial— 
demokratie zu dem umzubilden, wovon Nationalſoziale und Freiſinnige wie 

Der Türmer X, 11 42 


642 : Jaffs: Die legten Stele der chriſtlichen Arbeiterbewegung 


Naumann und Barth träumen: zu einer poſitiv reformeriſchen, liberalen 
Arbeiterpartei. Entwicklungstendenzen nach dieſer Richtung hin find nun 
freilich in der Sozialdemokratie ſelbſt unzweifelhaft mächtig. Auf jedem 
Parteikongreſſe ſeit der Aufhebung des Sozialiſtengeſetzes haben fie ſich 
bemerkbar gemacht. Schon 1891, in Erfurt, verlangten die „Jungen“, die 
Partei möge zu einer „rein proletariſchen“ werden und die „opportuniſtiſchen, 
poſſibiliſtiſchen Elemente“ ausſcheiden; 1893, in Köln, mußte Bebel zur 
Wachſamkeit raten gegenüber den Führern der Gewerkſchaftsbewegung, 
gegenüber einer „ſozialdemokratiſchen Wadenſtrümpfelei“; 1894, in Grant: 
furt, mußte er ſich wehren gegen den gemäßigten Standpunkt Vollmars; 
1898, in Stuttgart, 1899, in Hannover, 1901, in Lübeck, gegen den Re 
viſionismus Bernſteins; 1903, in Dresden, abermals gegen Bernſtein und 
ſeine Gefolgſchaft der Braun, Göhre, Bernhard uſw.; und auch auf 
dem Parteitage in Jena trat der Gegenſatz zwiſchen den beiden Rich⸗ 
tungen trotz all der ſorgfältigen Beſchwichtigungsverſuche deutlich genug her⸗ 
vor. Aber den chriſtlichen Arbeiter trennt doch auch von dem noch fo ge⸗ 
mäßigten, reformeriſchen Sozialdemokraten immer noch eine ganze Welt, 
eine ganze Weltanſchauung. Der nationalliberale Abgeordnete Hilbk er⸗ 
klärte einmal im Landtage, er ſehe keinen Anterſchied zwiſchen den Chriſtlich⸗ 
Sozialen und den Sozialdemokraten. Vom Standpunkte des Fabrikkontors 
aus braucht auch in der Tat kein Unterfchied zu beſtehen zwiſchen den beiden; 
an Elan in der Verteidigung der Arbeiter gegen ein unſoziales Unter: 
nehmertum brauchen die chriſtlichen Organiſationen in der Tat den ſozial⸗ 
demokratiſchen nicht nachzuſtehen. Wer aber zwiſchen einer gewerkſchaftlich 
noch ſo radikalen chriſtlichen und zwiſchen einer ſozialdemokratiſchen Arbeiter⸗ 
bewegung keinen Unterfchied wahrzunehmen vermag, beweiſt damit nur, daß 
für ihn einzig und allein die privaten Kapitalsintereſſen von Bedeutung 
ſind, aber nicht die unendlich wertvollen, kaum wägbaren Intereſſen des 
äußeren nationalen und inneren chriſtlichen Lebens. 

Die chriſtliche Arbeiterbewegung könnte dem deutſchen Arbeiter eine 
unbeugſame, gar nicht zu überbietende Vertretung ſeiner realen, gewerb⸗ 
lichen Intereſſen geben und noch ſo vieles dazu. Sie kann ibm erſt die 
volle Emanzipation beſcheren, von der die Sozialdemokraten ſo viel reden. 
Die ſozialdemokratiſch verhetzten Arbeiterburſchen glauben zwar, ſie hätten 
ſich Wunder wie zur Geltung gebracht, wenn ſie ein freches und unge⸗ 
bührliches Auftreten haben, an Straßentumulten teilnehmen, Latten von 
den Zäunen losreißen und damit und mit Steinen gegen Schutzleute vor⸗ 
gehen; damit, glauben fie, haben fie den Neſpekt vor ihrem Stande ge: 
ſteigert. Aber in Wahrheit machen ſie den Arbeiter bei den anderen nur 
geradezu verhaßt und verachtet. Die Achtung vor einem Stande läßt ſich 
nicht mit Gewalttätigkeit erzwingen, ſondern gerade im Gegenteil nur durch 
ein anſtändiges, ehrenwertes Streben. Die jungen Arbeiter, die ſich ein⸗ 
bilden, das Anſehen ihres Standes dadurch zu ſteigern, daß ſie ſich mit 
einer eingeredeten Macht auf der Straße breit machen und trotzig auftreten 


Jaffe: Die letzten Ziele der chriſtlichen Arbeiterbewegung 643 


gegen die anderen, ſind in einem völligen Irrtum befangen. Mit den Ar⸗ 
beitern, die nur ihr Einkommen zu ſteigern ſuchen, kann jeder Volksgenoſſe 
aus den anderen Ständen liebevoll ſympathiſieren: durch ein auffälliges 
Betonen ſeiner angeblichen Machtfülle macht der Arbeiter ſeinen Stand 
zum Schaden eben ſeiner ſelbſt bei den anderen nur unbeliebt. So flößt 
doch auch der reiche Jude, der etwa auf die Schuldverſchreibungen pocht, 
die in ſeinen Händen ſind und ihm eine gewiſſe Macht geben, dadurch den 
Chriſten nicht eine höhere Achtung ein vor ſeiner Gemeinſchaft, ſondern 
macht ſie nur verhaßt. In Wahrheit gibt ſich jeder ſeine ſoziale Stellung 
ſelbſt durch ſein ſittliches Verhalten. Zum Beiſpiel: ein Arbeiter, der 
ſeine Tochter ſo erzieht, daß ſie niemals ohne die Begleitung des Vaters 
oder der Mutter zu einem Vergnügen gehen oder, ohne daß fie die Er⸗ 
laubnis der Eltern eingeholt hätte, überhaupt nicht fortgehen darf — ein 
Arbeiter, der feine Tochter fo erzieht, hat ſich jedem Fabrikanten oder Pro⸗ 
feſſor gleichgeſtellt und wird von ihnen gewiß aufs höchſte geachtet werden. 

Zu dieſer echten wahren Emanzipation des deutſchen Arbeiters aber 
gehört es, daß er nicht wie der Sozialdemokrat feinen Blick von dem „ele⸗ 
ganten“, Iururidfen Leben der Reichen bannen läßt, ſondern ſich eine eigene 
Welt ſchafft mit eigenen Grundlagen, mit eigenen Maßſtäben. An dem 
„eleganten“ (in Wahrheit ſo hohlen und leeren) Treiben der Reichen mit 
ihren durch Geld zu vermittelnden, käuflichen Genüſſen wird der Arbeiter, 
auch wenn er ein noch ſo hohes Einkommen gewinnen ſollte, niemals zu 
ſeiner Befriedigung teilnehmen können. Die Reichen nicht einmal können 
von dem äußerlichen, anmutloſen, von Gott und der Natur verlaſſenen 
Genußjagen im Innerſten erquickt werden, ſondern ihr Gemüt bleibt zer- 
tiffen, ihre Nerven bleiben krank: der Arbeiter aber ſollte ihnen dieſes 
kümmerliche, glückloſe Genußleben neiden, anſtatt ſich ſelbſt eine höhere 
Welt der Schlichtheit und natürlichen Einfachheit zu ſchaffen, die ihm die 
Verſtändigeren und Tieferen unter den Reichen noch neiden müßten? Die 
Arbeiter könnten eher danach ſtreben, durch ein höheres Einkommen das 
ſchöne, anſtändige Gleichmaß und die ſchöne freiwillige Gebundenheit des 
alten Mittelſtandes für ſich möglich zu machen: dieſer alte Mittelſtand fühlte 
ſich immer den in ihrem üppigen Luxus erſtickenden reichen Großhändlern 
und Großunternehmern überlegen. Die Sozialdemokraten, die nach nichts 
anderem ſtreben als nach einer Vergrößerung ihres Geldverdienſtes, kommen 
damit doch nicht über die Fabrikanten, Händler und Bankiers, all die 
„Kapitaliſten“ hinaus. Wenn dieſe aber nichts Größeres kennen als den 
Gelderwerb, ſo müßten die Arbeiter ihnen etwas Höheres entgegenſtellen. 
Der Arbeiter, wenn er die alte, mittelſtändiſche Geſinnung und Ehrbarkeit 
gewinnt, kann dem reichen Unternehmer und Kaufmann genau fo überlegen 
gegenüberftehen wie der Edelmann von echtem Schrot und Korn: dieſen 
ganzen Lurusflitterram kann er unendlich gering ſchätzen und ſich feiner 
gediegenen, deutſchen Geſinnung als des bei weitem Höheren bewußt 
werden. | 


644 Jaffe: Die letzten Ziele der chriſtlichen Arbeiterbewegung 


Aus ſolch einer echten, rein deutſchen Sinnesart folgt nun für den 
Arbeiter mancherlei: ö 

Zum erſten könnten die einfachen Leute ebenſogut mit Vergnügen 
ſich deſſen bewußt werden, daß ſie keine Reichen ſind. Sie könnten ſagen: 
„Wir brauchen uns nicht das Leben mit „feinen“ Sitten unbequem zu 
machen; wir können ſprechen, wie uns der Schnabel gewachſen iſt.“ Aber 
viele leider wollen nicht einfache Arbeiter bleiben; ſie wollen, obgleich ſie 
Arbeiter oder Handwerker ſind, ſich auch ſchon die Sitten der ſogenannten 
vornehmen, reichen Leute aneignen. Sie ſagen: „Warum ſoll der feine, 
geſellſchaftliche Ton ein Vorrecht der Reichen fein? Warum ſollen wir 
ihn nicht auch anwenden dürfen?“ Ja, ſie dürfen es. Den Reichen nehmen 
ſie damit wenig: ein ſozialdemokratiſcher Arbeiter in Berlin darf auch (ſo 
lächerlich und unglaublich es erſcheint, ich habe es mit eigenen Ohren ge⸗ 
hört) zu der Frau eines Kameraden „Gnädige Frau“ ſagen. Aber ſich 
ſelber machen ſie damit das Leben unbehaglicher und ſchwerer. Es iſt doch 
ſchon ebenſoviel, daß einer ſauber und anſtändig, als daß er reich und ele 
gant gekleidet ſei. Die deutſchen Arbeiter könnten, indem ſie anſtatt zu 
den Geldmagnaten zu Gott und zu dem Genius ihres Volkes aufblickten, 
ihr Leben auf eine eigene, tiefe und ſchöne Weiſe zu verklären und aus⸗ 
zuſtatten wiſſen, ſo daß ſie ſagen dürften: „Kommerzienrat, komm her! Sieh 
zu, ob du es vermagſt, dein Leben ſo ſchön und harmoniſch und beſeligend 
zu geſtalten wie wir!“ — Zum zweiten könnten die Arbeiter frei bleiben 
von dem Genußjagen und der Genußgier der Reichen und darum lieber auf 
eine breite Behaglichkeit, als auf eine Verkürzung der Arbeitszeit ſehen. 
Die Arbeiter oder Handwerker oder Krämer, die den ganzen Tag hindurch 
in ſonniger Behaglichkeit ihrer Arbeit obliegen, ſchaffen nicht weniger als 
diejenigen, die drei Viertel des Tages in Hetze und Haſt arbeiten und dafür 
ein Viertel zur Erholung und zum Genuß in Anſpruch nehmen: aber der 
langſamere Arbeiter bewahrt ſich einen beſſeren Zuſtand ſeiner Nerven und 
feiner Geſundheit, die unerläßliche Vorbedingung jeglichen Glückes und Ge 
nuſſes; was frommt es dem intenſiveren Arbeiter, daß er nur eine verhält⸗ 
nismäßig kurze Zeit des Tages zu arbeiten braucht und die übrigen Stunden 
zum Genuſſe freibehält, wenn er dann nicht mehr die zum wahren Ge⸗ 
nießen unbedingt erforderliche Ausgeruhtheit mitbringt? Anſtatt für eine 
Verkürzung der Arbeitszeit könnten die Arbeiter lieber kämpfen gegen eine 
nervenzerrüttende, verderbliche Intenſität der Arbeit. Nirgends iſt, bei 
ſcheinbarem Wohlergehen der Arbeiter, ihre Ausbeutung ſchlimmer und 
raffinierter als in Amerika. Was nützt dem Arbeiter dort der relativ hohe 
Lohn, wenn er mit vierzig Jahren ſchon verbraucht iſt und unfähig, am 
Leben noch Freude zu haben? Dann können auch die kurzen 25 Jahre 
des Arbeitslebens trotz ſcheinbaren Wohllebens und Genießens nicht be⸗ 
glückend geweſen ſein; denn ſie ſind alsdann doch erfüllt geweſen von 
einer Verminderung und Zerſtörung der eingeborenen, holden Lebensfreu⸗ 
digkeit. — Zum dritten: die frohe und natürliche Geſundheit der unteren 


K . sna ong 


Jaffé: Die letzten Ziele der chriſtlichen Arbeiterbewegung 645 


Volksſchichten, der Arbeiter und Handwerker, rührte immer davon her, daß 
fie in einer ungetrübten Naivität und Harmloſigkeit und inneren Lieblich⸗ 
keit leben durften. Sie hatten gewiß weniger Sorgen als die geſchäfts⸗ 
ſchlauen Naturen, die es mit ihren Unternehmungen vielleicht zu vielem Geld 
und umfangreichen Geſchäftsbetrieben brachten: Gott hatte die beiden Loſe 
ſtets gerecht gegeneinander abgewogen. Die Arbeiter haben nun alle Ver⸗ 
anlaſſung, ſich dieſe Naivität, die ſie allein glücklich machen kann, nicht 
rauben zu laſſen. Nicht von den Anternehmern, die mit raffinierten Prak⸗ 
tiken bei den Arbeitern Mißtrauen und das Gegenteil von Harmlofigfeit 
geradezu erzwingen. Aber auch nicht von den Sozialdemokraten, die jede 
Harmloſigkeit und Gläubigkeit von vornherein ablehnen und dem Miß⸗ 
trauen ebenſo von vornherein den Vorzug geben. Diejenigen Arbeiter, die 
ſich in naiver Harmloſigkeit wohlfühlen, müſſen in den Sozialdemokraten 
ebenſo ihre Feinde ſehen wie in den unredlichſten Unternehmern. Denn 
wäre der bewußte Zukunftsſtaat erſt eingerichtet, fo würden die ſozialdemo⸗ 
kratiſchen Herren ihnen, den harmloſen und reinen Naturen, niemals Ge— 
rechtigkeit zuteil werden laſſen, ſondern ſie geradezu zu Arbeitsſklaven der 
ſchlaueren Arbeiter ſelber machen; die Umwälzung würde, wie ſtets bei 
ökonomiſchen Umwälzungen, allein den Geſchäftsſchlauen, Raffinierten, 
Selbſtſüchtigen in der neu aufſteigenden Klaſſe Vorteil bringen. Den chriſt⸗ 
lichen Arbeitern aber kann die Harmloſigkeit und Naivität ermöglicht werden 
durch ihre beſondere Bewegung. Niemand wird von ihnen, den chriſtlichen 
Arbeitern, verlangen, fie ſollten ſich ſchutzlos den Unternehmern preisgeben, 
unter denen doch viele unredlich fein und ſchimpfliche, aus beuteriſche Prak⸗ 
tiken anwenden könnten. Aber für den Schutz ihrer Intereſſen gegen die 
Abermacht des Unternehmers find alsdann beſondere Organiſationen da: 
Rechtsſchutzverbände; es wird immer kampfluſtige, praktiſche Naturen geben, 
die geeignet ſind, ſolchen Organiſationen vorzuſtehen. Durch ſie wird es 
den chriſtlichen Arbeitern in ihrer großen Maſſe ermöglicht, daß ſie ihr 
inneres Leben nicht zu ſchänden brauchen durch einen ununterbrochenen Haß 
und Streit um materielle Güter. — Zum vierten endlich: die Liberalen 
ſtehen auf dem Standpunkte, daß, wer das Geld habe, auch das Anſehen 
und die Macht haben müſſe. Das iſt der große Gegenſatz zwiſchen den 
kapitaliſtiſchen Liberalen und Demokraten und den deutſchen und chriſtlichen 
Bauern und Bürgern und Edelleuten. In deutſchen Landen iſt es glück⸗ 
licherweiſe dabei geblieben, daß die Edelleute auf ihren alteingeſeſſenen 
Burgen, auch wenn ſie weniger vermögend ſind, gegenüber den über Nacht 
reich gewordenen Schacherern und Händlern das größere Anſehen und die 
größere Macht im öffentlichen Leben bewahrt haben. Die Arbeiter nun 
können ihrerſeits doch niemals durch den äußeren Aufwand der Lebens⸗ 
führung zu Anſehen emporklettern: ſie müſſen es dankbar begrüßen, wenn 
etwas anderes als die Höhe des jährlichen Einkommens, als der Aufwand 
der äußeren Lebensführung, der Kleidung und Wohnung über das Anſehen 
entſcheiden ſoll; ſie müſſen lieber zu den chriſtlichen Edelleuten und Bauern 


646 Jaffe: Die letzten Ziele der chriſtlichen Arbeiterbewegung 


und Bürgern halten als zu den unchriſtlichen Repräfentanten des bloßen, 
traditionsloſen Reichtums. 

Das alles folgte für den Arbeiter aus einer wahren, echten Emanzi⸗ 
pation. Dieſe wäre vor allem eine Emanzipation von der unchriſtlichen 
Lebensanſchauung eines gewiſſen Händler- und Ausbeutertums. 

Wenn ein Arbeiter ſo viel verdient, daß er ſeine Familie genügend 
ernähren und kleiden kann, darf er dann nicht völlig zufrieden ſein? In 
dem Nahmen ſolch einer eingeſchränkten Exiſtenz iſt Raum genug für die 
Entfaltung des höchſten und reinſten menſchlichen Glückes: wenn einer dem 
anderen mit einem für einen Groſchen gekauften Stück Kuchen Liebes er- 
weiſt, iſt es dasſelbe, ja, noch ein bei weitem höheres Glück, als es dem 
Millionär vergönnt iſt, der Geſchenke für Tauſende kauft und austeilt. 
Wahrlich kann jeder in ſolch einem beſcheidenen Rahmen das höchſte menſch⸗ 
liche Glück erringen. Wenn die Frau nur auf eine anſtändige Sauberkeit 
in ihrer kleinen Wohnung oder in ihrer Kleidung hält, ſo iſt ſie mindeſtens 
ebenſo erquickend und liebenswert wie eine Dame in luxuriös ausgeſtattetem 
Boudoir; wenn fie ihre Kinder nur ſauber hält, find fie auch äſthetiſch dem 
Fremden die gleiche Augenweide wie Kinder von reichen Eltern. Fürwahr, 
der Arbeiter kann ſich in den beſcheidenen Grenzen einer kleinbürgerlichen 
Exiſtenz höchſt, ja überſchwenglich glücklich fühlen. Nur darf er freilich 
nicht — wie die Franzoſen immer den Blick auf das Loch in den Vogeſen 
gerichtet halten — unverwandt auf den Luxusflitterkram der Reichen ſtarren. 
Die Sozialdemokraten aber drehen ſeinen Kopf immerwährend ſo, daß ſein 
Blick gerade auf die luxuriöſe Lebensführung der Reichen fällt und ihm 
die Traulichkeit feines eigenen kleinen Heims als bemitleidenswerte Dürftig· 
keit erſcheinen läßt. Damit machen ſozialdemokratiſche Hetzer, die den Ar⸗ 
beiter nur als Werkzeug für ihre eigenen Machtgelüſte benutzen wollen, 
ihn, den deutſchen Arbeiter, direkt unglücklich. In Amerika ſelbſt, wo eine 
ungeheure Entwicklung der Induſtrie auch den Arbeitern eine verhältnis⸗ 
mäßig reiche Lebensführung gewährt, erſcheint die Exiſtenz der Arbeiter 
maſſen geradezu bemitleidenswert in ihrem Übermaß einer äußerft inten- 
fiven, geift- und gemütlofen und darum unbefriedigenden Arbeits leiſtung 
gegenüber der äußerlich glänzenden und blendenden Lebensführung der 
Reichen oder Wohlhabenden. Der deutſche Arbeiter aber, etwa im Harz, 
kann bei einer weit eingeſchränkteren Lebensführung glücklich werden durch 
die Schätze, die er aus den tiefen Schächten des eigenen Gemüts herauf 
zubefördern vermag. — Unter den beſſer bezahlten Arbeitern und Wert: 
meiſtern ſind ſo viele, die in ihrer äußeren Lebensführung längſt das Ni⸗ 
veau des kleinen, kleinſtädtiſchen Mittelſtandes erreicht haben: von ihnen 
kann man am eheſten ſagen: „Es tut mir in der Seele weh, daß ich euch 
in der Geſellſchaft ſeh'.“ Dabei iſt das ſozialdemokratiſche Bekenntnis dieſer 
ehrenfeſten Leute immer ein Wißverſtändnis. Sie wollen — berechtigter: 
weiſe — in der kulturellen Geltung ſteigen; aber ſie überſehen, daß ſie auf 
dem Wege der ſozialdemokratiſchen Weltanſchauung nicht vorwärts kommen. 


Jaffe: Die legten Ziele der chriſtlichen Arbeiterbewegung 647 


Je weiter fie in die kapitaliſtiſche Kultur der Siigellofigteit mit ihrem Größen- 
wahn des einzelnen, mit dem Erſatz des Glaubens durch den Kunſtgenuß, 
mit der maßloſen Aberſchätzung der Verſtandesbildung hineinſchreiten, um 
ſo größer wird nur der Abſtand zwiſchen den Bevorzugten der kapitaliſtiſchen 
Weltordnung, den Reichen, und ihnen; dieſes glänzende, flimmernde, elek⸗ 
triſch ſtrahlende „Glück“ der Reichen oder auch nur Wohlhabenden ſchwebt 
vor ihnen wie ein Falter, nach dem ſie doch immer vergeblich haſchen 
müſſen. „(Nicht in Rom, in Magna Gräcia) dir im Herzen iſt die Wonne 
da“; ſo formulierte es Goethe. Die unzähligen ehrenfeſten Naturen unter 
den Sozialdemokraten braucht man nur überzeugt zu haben, daß ſie ihre 
beſonderen wirtſchaftlichen Intereſſen und ihre ſoziale Geltung auch im 
Zuſammenhange mit einer echt deutſchen, echt chriſtlichen inneren Kultur ver⸗ 
treten können: ſo werden ſie ſogleich die beſſere Natur in ſich zum Durch⸗ 
bruch kommen laſſen. 

Indem der deutſche Arbeiter ſich dergeſtalt aber ſelbſt emanzipierte, 
rettete er auch allen anderen Deutſchen unerſetzlich wertvolle nationale und 
teligidfe Beſitztümer. Die chriſtliche Arbeiterbewegung könnte die wert⸗ 
vollen, unerſetzlichen lichten Keime der ſchönſten deutſchen und chriſtlichen 
Volksart durch all die Nachtfröſte der kapitaliſtiſchen Dekadenz ſorgſam ein- 
gehüllt hindurchtragen. Wenn die frieſiſchen Arbeiter oben in den nord⸗ 
deutſchen Werften oder die niederſächſiſchen Bergleute in Weſtfalen oder 
Hannover ſich im Streik fromm und ehrenhaft gegen ein ausbeuteriſches 
internationales Bank⸗ und Börſenkapital erheben, fo kann das ſogar eine 
ſittliche Erhebung für unſer geſamtes deutſches Volk ſein. Als in Württem⸗ 
berg unter dem Juden Süß oder in Berlin unter Friedrich Wilhelm II 
die oberen, vornehmen Stände ein Bild des äußerſten Sittenverfalles boten, 
blieb der eigentliche Bürgerſtand ganz unberührt von der allgemeinen Ver⸗ 
derbnis. Er glaubte es nicht den Vornehmen gleichtun zu müſſen dadurch, 
daß er etwa mit ihnen an Sittenloſigkeit wetteiferte — er fühlte wohl mit 
geſundem Inſtinkt, daß er fic) dadurch nur lächerlich machen könne —; ſon⸗ 
dern dazu hielt er ſich für zu gut, und er bewahrte das Gewand ſeines 
Standes rein inmitten der allgemeinen Entartung. So könnte heute, da be⸗ 
ſtimmte kapitaliſtiſche Kreiſe ganz verſunken ſind in einen gemeinen, ab⸗ 
ſtoßenden Materialismus und Profitgeiſt, der edle deutſche Arbeiterſtand 
ſich abſperren gegen den materialiſtiſchen, profitſüchtigen Geiſt der Reichen 
und ſeine Würde in einer höheren, chriſtlicheren, nationaleren Auffaſſung 
vom Daſein ſuchen. Das, was für andere Völker ein Element des Zer⸗ 
falles, der Auflöſung iſt, könnte für die Deutſchen ein Element der Kräfti⸗ 
gung und ein würdiger Gegenſtand nationalen Stolzes werden. Und daß 
ſolch eine Erneuerung der chriſtlichen Arbeiterbewegung vorbehalten wäre, 
würde ſich nur mit dem Ausſpruche decken, den Goethe (am 4. Februar 
1829) zu Eckermann tat: „. . . Die chriſtliche Religion iſt ein mächtiges 
Weſen für ſich, woran die geſunkene und leidende Menſchheit von Zeit zu 
Zeit ſich immer wieder emporgearbeitet hat..“ 


648 Wolf: Trag auf der Stirn die Wunden 


So können die letzten Ziele der chriſtlichen Arbeiterbewegung unend- 
lich, unermeßlich große ſein. Das deutſche Bürgertum hob ſich dem privi⸗ 
legierten Adel gegenüber zu voller Ebenbürtigkeit empor dadurch, daß es in 
der Goethe ⸗Schiller⸗Epoche bei großer äußerer Enge und Dürftigkeit ein 
vornehmeres inneres Leben entwickelte, an dem teilzunehmen die edleren 
Mitglieder des Adels ſich zur Ehre anrechneten. Die Bürger lebten 
ihre bürgerliche Kultur, unbekümmert um die Lebensführung der Vor⸗ 
nehmen; Neid konnten fie doch niemals empfinden, wenn fie den Luxus 
und die Verſchwendung der damaligen Großen ſahen; ihr verinnerlichtes, 
harmoniſches Daſein konnte ja eher die edleren Naturen unter den Großen 
mit Neid erfüllen. Heute, gegenüber einem in abſcheulichen Materialis⸗ 
mus, in Krämertum, flitterhaften, augenblendenden Luxus verſunkenen „Groß ⸗ 
Bürgertum“ könnten die Arbeiter auf chriſtlicher und nationaler Grundlage 
ein höheres ſittliches Volksleben entwickeln und ſich damit den international 
empfindenden, ſich nur in den Großſtädten wohlfühlenden Bankiers und 
Kommerzienräten gegenüber auf eine höhere Stufe des Anſehens ſtellen und 
die adligſten Mitglieder der Nation unter ſich locken. 


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Trag auf der Stirn die Wunden 


Von 


Paul Wolf 


Nicht feig verzag, wenn lächelnd das Glück 
Dir wie ein Traum entſchwunden. 

Ruft dich zum Kampfe dein Geſchick, 

Trag auf der Stirn die Wunden. 


And liegſt du am Boden, blutend, beſiegt, 
Dann hebe den Blick zu den Sternen, 
And frei aus Kerker und Banden fliegt 
Dein Geiſt in leuchtende Fernen. 


And eine Stimme, tief und klar, 

Grüßt dich aus goldenen Toren: 

„Dem drückt die Gottheit den Kranz ins Haar, 
Der nie ſich ſelber verloren!“ 


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Kindermund 


Von 


K. Bechſtein 


O du Kindermund, o du Kindermund, 
Anbewußter Weisheit froh, 
Vogelſprachekund, vogelſprachekund, 
Wie Salomo! 


ie der Vogel im Walde aus der Kehle hervorſchmettert, was 
ihm die kleine Bruſt erfüllt, ſo auch das Kind. 

Es weiß noch nicht, daß ſich in Worten auch ſagen 

läßt, was man nicht denkt und fühlt. Sein Innerſtes 
— dem klaren Bergſee gleich — liegt vor uns in ſeinen Worten, und wie 
wir ſo gern nach den hellen Kieſeln auf dem Grund des Sees ſchauen, ſo 
auch durch das Kindergeplauder hindurch in des Kindes Seele. 

Zwei Kinder unterhielten ſich über den Teufel, dem auf Buſchs Bilder— 
bogen ſo jämmerlich mitgeſpielt wird, und ich war unbemerkt Zuhörer. 

„Es gibt überhaupt keinen Teufel“, ſo unterwies das etwa neunjährige 
Mädchen den fünfjährigen Bruder, der andachtsvoll der Weisheit lauſchte, 
und dem die Schweſter mehr Autorität war, als der Profeſſor dem 
Studenten. 

„Der Teufel, das ſind nur die böſen Gedanken in uns. In jedem 
Menſchen ſind nämlich gute Gedanken und böſe Gedanken, die ſprechen 
drin und ſtreiten ſich immer miteinander. Wenn ich einen Liedervers lernen 
muß, da ſagen mir die böſen Gedanken: „Ach, du kannſt ihn gut genug, 
du kannſt nun hinunter auf die Straße gehen und ſpielen.“ Da ſprechen 
aber die guten Gedanken: „Nein, du kannſt ihn vielleicht doch noch nicht 
gut genug, es iſt beſſer, du lernſt ihn noch einmal.“ And ſo iſt das bei 
allen Menſchen, immer zanken ſich die Gedanken miteinander und ſprechen: 
„Tue es! oder „Tue es nicht!“ 

„Wir ſollen aber immer den guten folgen und nicht auf die böſen hören.“ 

So die kleine Lehrerin, und atemlos hatte der Junge zugehört, jedes 
Wort einzeln von den Lippen geleſen. War ihm die Schulgelehrſamkeit noch 
ein Buch mit ſieben Siegeln verſchloſſen geweſen, eines der Siegel war jetzt 
erbrochen; der Teufel hatte ſtark an Reſpekt bei ihm verloren. Das ſchien 
der Seufzer der Erleichterung zu ſagen, der endlich der Belehrung folgte. 


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650 Quandt: Anverſtanden 


Aber es konnte doch wohl crit in der Schule fo fein; denn nad 
kurzer Pauſe folgten dem Seufzer die Worte: „Ich habe noch nichts 
gehört.“ 

Nun zeige mir einer einen beſſeren Spiegel der reinen, ungetrübten 
Kindesſeele, als die paar Worte: „Ich habe noch nichts gehört.“ 

In ihnen liegt das ganze ſelige Glück der Kindheit. 


Anverſtanden 
Von 


Joh. Quandt 


Auer Leiden ſchwerſtes, 
Aller Leiden hehrſtes, 
Dünkt mich auf Erden: 
Nicht verſtanden werden! 


Wenn du ein andrer als andre biſt, 
Tief fühlſt, wo ſie nichts empfinden, 
Wunder ſiehſt, wo ſie keine ſehn, 
Weinen mußt, wo ſie lachen gehn, 
Perlen gewinnſt, wo ſie keine finden, 
Wenn du ein Herz wie ein Adler haſt, 
Wenn dich Gedanken erdrücken faſt, 
Wenn du all das ſprudelnde Leben 
Faſſen möcht' ſt und in deins verweben, 
Wenn du ein andrer als andre biſt — 
Haſt du es ſchwer in den Erdenlanden — 
Einſam biſt du und un verſtanden. 


And viele ſind es ihr Leben lang; 

Salben ihr Antlitz und wandern wie Fremde 
Unter dem lachenden ſchwatzenden Schwarm, 
Tragen ſchweigend den ſchweren Harm — 
Manchmal nur in die Kiſſen, bang, 
Weinen ſie ihre brennende Pein, 

Klagen ſie ihrem Gott allein, 

Wenn ſie ihn haben — — 


Wohl dir, wenn im Weltgewimmel 
Eine Seele doch der Himmel 

Dir auf wunderliche Weiſe 
Zuſchickt, ſanft und wunderleiſe; 


Quandt: Anverſtanden 651 


Der du's abfühlft, daß gelefen 
Sie in deinem tiefſten Weſen, 
Die dich Seltſamen verſteht, 

Wie ein Engel mit dir geht, 

And die dann, wie Menſchen ſind, 
Dich aus reinem Herzen minnt! 


Lege ſegnend deine Hände 

Auf dies Menſchenkind am Ende, 
Halte in dem Schwarm der Gäſte 
Feſt dies Herz, das allerbeſte! 

Tu ihm Liebes, wo du kannſt, 

Weil du ſeltnes Glück gewannſt; 
Hüte dich, es je zu kränken, 

Mußt ihm Lieb' um Liebe ſchenken — 
Weißt nicht, ob du wirſt auf Erden, 
Jemals noch verſtanden werden! 


Einſt wirſt du dann ſchlafen gehn! — 


In deinem Nachruf iſt zu leſen, ; 
Ein andrer wärſt du als andre geweſen! 

And plötzlich fangen ſie an zu loben — — 

Du hörſt ſie nicht in der Stille droben; 

Du trugſt hinüber ins neue Leben 

All dein Suchen, Sehnen und Streben, 

All deine Tränen, all deine Wunden, 

Die nun trocknen, die nun geſunden, 

In den fernen, den ſonnigen Landen 

Wirſt du verſtanden! 


Bismarcks Raffe und Herkunft 


Y ) N ir verſtehen Weſen und Wirkungsart eines Menſchen nicht ganz, 
e ebe wir nicht die körperlich-geiſtigen Wurzeln kennen, aus denen 
cer berausgewachſen ift; ehe wir nicht wiffen, aus welchen raffen- 
mäßigen Arelementen ihn Mutter Natur zuſammengeſchweißt hat. 

Aber nicht Vater und Mutter allein ſind als Bildner des jungen Kindes 
verantwortlich zu machen. Aus weiter Ferne, über Großeltern, Argroßeltern 
und entferntere Ahnen her, kommt das Erbe jedes neuen Menſchen gefloſſen, 
gleich einem Strome, der breiter und breiter wird, je weiter man ihn in die 
Vergangenheit zurück verfolgt. Sie alle, die blutsverwandten Aſzendenten, 
geben ihr Scherflein zu der Schaffung des neuen Individuums. Sei es im 
Keime verborgen, ſei es in lebendiger Erſcheinung, leben ſie alle in ihm fort 
und geben feiner Laufbahn bis zu gewiſſem Grade Ziel und Richtung. So 
kommt es, daß in jedem Neugeborenen nicht allein die Familie, ſondern auch 
die umfaſſendere Gemeinſchaft des Volkes, der Raffe wieder auflebt, daß die 
letztere ſich auch in den ſeltſamſten Ablegern, in den wunderſamſten aufwärts 
oder abwärts entwickelten Varietäten niemals verleugnet. — 

Es iſt ſicher eine reizvolle Aufgabe, wiſſenſchaftlich feſtzuſtellen, welche 
Raffenbeftandteile ſich in Erſcheinung und Weſensart unſerer geiſtigen Führer 
erkennen laſſen, aus welchen Arelementen ſich die beften der Guten zuſammenſetzen. 

Schneiden wir doch damit die alte Streitfrage an, ob reine Raffe eine 
unerläßliche Vorbedingung genialer Leiſtungen bildet, oder ob — wie dem- 
gegenüber eine Anzahl unſerer Fachgelehrten annimmt — erſt eine gewiſſe 
Vermiſchung gewiſſer Raffen es zu ſolchen Leiſtungen kommen läßt. So viel 
jedenfalls iſt ſicher: die in Europa anſäſſigen Hauptraſſen ſind in bezug auf 
kulturelle Begabung keineswegs etwa gleichwertig. Dieſe Hauptraſſen, 
drei an der Zahl, find die nordeuropäiſche: hochgewachſen, helläugig, blond, 
mit weißer Hautfarbe und länglichem Schädel; ferner die ſogenannte Mittel 
meerraſſe: kleiner, brünett bis ſchwarzhaarig, mit gelblicher Hautfarbe und 
dunklen Augen; und endlich — drittens — die ſogenannte „alpine“ oder 
mongoloide Raffe, ein weſtlicher Seitenzweig der großen mongoliſchen 
Völkerfamilie, mit allen mehr oder weniger aus geprägten Kennzeichen der letzteren. 

Aus dieſen drei Naffen ſetzen ſich die europäiſchen Völker im wefent- 
lichen zuſammen. Lediglich die verſchiedene prozentuale Verteilung dieſer 
Grundelemente bedingt ihre außerordentliche innere und äußere Verſchiedenheit. 


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Biemards Raffe und Herkunft 653 


Folgen wir den Anſchauungen Ludwig Woltmanns u. a., die fid 
heute mehr und mehr durchſetzen, ſo iſt in erſter Linie die nordiſche, in zweiter 
erſt die Mittelmeerraſſe imſtande, unter gewiſſen Umftänden aus ſich heraus 
geniale Anlagen zu entwickeln, während die kurzköpfige mongoloide Raffe mehr 
das beharrende, ſtabilere Moment vertritt. — 

In welchem Verhältnis zu dieſen Naſſen ftand nun Bismarck, welcher 
von ihnen verdankte er den Hauptbeſtandteil feines Weſens? Um hierauf eine 
befriedigende Antwort zu finden, müſſen wir die Raſſenzuſammenſetzung zu- 
nächſt ſeines väterlichen, ſodann die des mütterlichen Stammes unterſuchen. 

Die Bismarcks, ſich nennend nach dem gleichnamigen an der Bieſe ge⸗ 
legenen altmärkiſchen Städtchen, gehörten mit Beſtimmtheit zu den germaniſchen 
Koloniſatoren niederdeutſchen Stammes, die mit Feuer und Schwert den 
ſlawiſchen Völkerſchaften Oſtelbiens ihr Land nahmen, ſich — ſoweit ſie ſie nicht 
ausrotteten — mit ihnen vermiſchten und im Laufe der Jahrhunderte zu einer 
ſtarken germano-flawifden Raffe verſchmolzen. Daß beide Völker manches mit ⸗ 
einander gemeinſam hatten — beide waren hochgewachſen, blond, kriegeriſch —, 
erleichterte dieſen langwierigen Verſchmelzungsprozeß außerordentlich. 

Damals wurde der Grund gelegt zu dem zähen und eigenartigen Preußen 
typ, der die egoiſtiſch⸗herrſchſüchtige, ſtarr für fic) ſtehende germaniſche mit der 
ſchmiegſamen, ritterlichen, der Autorität zugänglichen ſlawiſchen Art verband 
und im Laufe der Zeit das geworden ift, was ihm ein für allemal die Führer. 
ſchaft in Neu-Deutfchland gefichert hat, die Raſſe der bewußten Diſziplin, 
die politiſche Raſſe Deutſchlands ar eSOZ Iv. | 

Aus ſolchem Holze war auch die Familie Bismarck geſchnitzt. Der Hang 
zur ererbten Scholle, der Stolz auf den Degen waren Tradition. Durchweg 
hochgewachſene, helläugige und robuſte Menſchen, — ſo ſtehen die Bismarcks 
in der Aberlieferung vor uns. 

Seinem Argroßvater, noch mehr feinem Großvater Karl Alexander ſah 
Otto Bismarck auffallend ähnlich. „Ich ſehe ihm wie aus den Augen ge⸗ 
ſchnitten aus“, ſagte er einmal. „Wie ich jung war, da war's, wie wenn ich 
mich im Spiegel ſähe.“ 

Karl Alexanders Gattin, Chriſtine Charlotte, eine geborene v. Schönfeld, 
galt allgemein als Schönheit, ſie war dunkelblond und beſaß blaugraue Augen. 
In beiden, ſowohl in Karl Alexanders wie auch in Chriſtine Charlottes Adern, 
floß von den Müttern her v. Dewitzſches Blut. So mag das körperlich⸗ 
geiſtige Erbe, das die Bismarckſchen Nachfahren von Dewitzſcher Seite emp- 
fingen, gar nicht unbeträchtlich geweſen ſein. And es war gewiß kein ſchlechtes 
Erbe. Beide Großeltern waren vortrefflich geartete Menſchen. Wiſſen wir 
doch von Karl Alexander, daß er ein Mann von feiner, beſonders literariſcher 
Bildung war, ſelber viel dichtete, daß er ſich franzöſiſche Zeitungen hielt und 


auf feine Sitte Wert legte, was in altpreußiſchen Adelskreiſen keineswegs die 


Regel war. Auch iſt uns von feiner Frau bekannt, daß fie mit ſchnellem Ver · 
ſtande einen angenehmen und natürlichen Witz verband und durch Wahr⸗ 
baftigfeit und Mäßigung, Menſchenliebe und echte Bildung ausgezeichnet war. 
Übrigens war fie eine Arenkelin des alten Derfflinger. 

Dieſer beiden Kind war Ferdinand Bismarck, Ottos Vater. Er entſprach 
ganz dem oben geſchilderten Geſamttypus, galt — was bei der Artung ſeiner 
Eltern, insbeſondere der Mutter, nicht verwunderlich iſt — als ein ſchöner 
Mann, war jedoch geiftig nach feinem Großvater geſchlagen, d. h. er war un- 


654 Bismards Raffe und Herkunft 


bedeutend und beſaß keinerlei tiefere Bildung oder Kenntniſſe. Nur eine Eigen- 
ſchaft, die er — wie viele leidenſchaftliche Jäger — beſaß, iſt einer beſonderen 
Erwähnung wert, — Phantaſie. 

So waren die Bismarcks eine Altpreußenfamilie von germanifch-flawifcher 
Abkunft, geſund geartet, ganz ihres Standes, ihres Lebenskreiſes Kinder, frei 
von allen ehrgeizigen Aſpirationen, die etwa das landesübliche Maß über ⸗ 
ſchritten, dabei von jenem ſelbſtverſtändlichen Konſervatismus, wie er noch 
heute den alten preußiſchen Adelsfamilien eigen zu ſein pflegt. 

In dieſes ſtabile, in ſich ſelbſt ruhende Geſchlecht trat mit Wilhelmine 
Mencken, Bismarcks Mutter, ein fremdartiges Element von anders gearteter 
Blutmiſchung. Zwar waren auch die Menckens urſprünglich niederſächſiſchen 
Stammes, möglicherweiſe mit frieſiſchem Einſchlag; ihre Heimat lag im Olden- 
burgiſchen. Spätere Sprößlinge jedoch wandten dem Kaufmannsberufe und 
der Heimat den Rücken, wanderten aus und brachten es als Gelehrte zu an- 
geſehenen Stellungen an den Aniverſitäten Helmſtedt und Leipzig. Sicherlich 
nahmen fie dort ein gut Teil oberſächſiſches Blut auf, das mit flawiſchen 
Elementen bekanntermaßen beſonders reichlich durchſetzt iſt. Noch in Wilhelmine 
Menckens, wie es heißt, „leicht vorſtehenden Backenknochen“ kommt dieſe ſtarke 
ſlawiſche Blutmiſchung deutlich zum Ausdruck. 

Zweifellos waren die Menckens von Hauſe aus von weit beweglicherer 
Art als die Bismarcks. Nur dieſer mit höherer Begabung einhergehenden 
Beweglichkeit verdankten ſie den ſozialen Aufſtieg, der ſich bei ihnen vom 
17. bis ins 19. Jahrhundert hinein vollzog. Der vorerwähnte Berufs- und 
Ortswechſel zweier Gebrüder Mencken war der erſte, der ſich in jungen Jahren 
vollziehende Berufswechſel von Anaſtaſius Mencken, Bismarcks Großvater, der 
zweite Hauptſchritt, den das Geſchlecht zur geſellſchaftlichen Höhe fat. 

War es doch Anaſtaſius Mencken, der — den profeſſoralen Aberlieferungen 
der Familie zum Trotz — das juriſtiſche Studium aus innerlicher Abneigung 
beiſeite warf, um ſich in Berlin ſelbſtändig zu machen und aus kleinen An - 
fängen heraus, durch Takt, Klugheit und Talent zur Stellung eines preußiſchen 
Kabinettsrates aufzurücken. Er hat drei Königen gedient. 

Abrigens muß auch ſeine Frau, Johanna Eliſe geb. Böckel — nach den 
vorhandenen Bildern zu urteilen — klug und intelligent geweſen fein. Jeden 
falls füllte fie die Stellung an feiner Seite voll und ganz aus. 

Leider war der Geſundheitszuſtand des Kabinettsrates kein einwandfreier. 
Ein angeſtrengtes, überarbeitetes Daſein, dem auch manche bittere Lebens 
enttäuſchung nicht erſpart geblieben, hatte ihn vor der Zeit körperlich hinfällig 
gemacht. So wurde der geſellſchaftlich⸗ſoziale Höhepunkt, den die Familie mit 
ihm erreicht, — wie das nicht felten der Fall ift — zugleich der See ihres 
phyſiſchen Abſtiegs. 

Auch im Weſen Wilhelmine Menckens, der Tochter, tan dieſe Ver- 
bindung großer Begabung mit einer gewiſſen Entartung unverkennbar zum 
Ausdruck. Wilhelmine war nicht nur ehrgeizig, prachtliebend, von ſchneller 
Auffaſſung, ſondern ohne Zweifel auch eine ſchöne Frau, der nur eines fehlte, 
aber das Wichtigſte von allem: Gemütswärme. Sie war, wie aus zahlreichen 
Zeugniſſen, darunter ſolchen des eigenen Sohnes, hervorgeht, eine herzens kalte 
Frau, die ſtets ihren Ehrgeiz höher ſtellte als ihre Mutterliebe. 

„Es ſchien mir oft, daß ſie hart, kalt gegen mich ſei,“ ſchrieb Bismarck 
von ihr; und wenn Buſch richtig beobachtet hat, ſo trat dieſer gefühlsarme 


Bismarcks Naffe und Herkunft 655 


Zug auch in ihrem Gefichte Deutlich hervor. Daß fie geiftreich, liberal und von 
feiner Bildung war, konnte doch nie dieſen Mangel wettmachen. Es war ein 
typiſches Zeichen ſeeliſcher Degeneration, das den Stamm dieſer äußerlich ſo 
in Blüte ſtehenden Familie an der Wurzel faulen ließ. 

Auch ſonſt war Wilhelmine keineswegs völlig intakt. Die Lebendigkeit 
ihres Geiſtes hatte allerhand nervöſe Reizerſcheinungen im Gefolge, fo eine ſehr 
läſtige Schlafloſigkeit, der abzuhelfen ihr Sohn Otto ihr ſtundenlang Vorlefer- 
dienſte leiſten mußte. N 

Alles in allem kann man ſagen: bei den Menckens hatte ein 
körperlich⸗ſeeliſcher Erſchöpfungsprozeß eingeſetzt, der mög⸗ 
licherweiſe bald zu ſchwereren Kataſtrophen geführt hätte, 
wenn fie ſich nicht in Wilhelmine Menden mit der kraft und 
ſaftſtrotzenden, noch nicht ſtädtiſch angekränkelten Land familie 
der Bismarcks verbunden und dadurch eine Geſundung ihrer 
Säfte herbeigeführt hätten, die ſich in Otto von Bismarck zum 
politiſchen Genius, zum Manne der hochkünſtleriſchen Konzep- 
tion und der elementaren Tat geſteigert und vollendet hat. 

In ihm feierten die beſten Eigenſchaften beider Geſchlechter ihre Auf- 
erſtehung. In ihm erreichte die Entwicklungskurve der Bismarcks wie der 
Menckens ihren Höhepunkt, um in feinen Nachkommen ſogleich wieder zur ge- 
wöhnlichen Norm abzuſinken. 

Geiſtig vorwiegend ein Nachkomme der Menckens, war Bismarck 
körperlich mehr nach dem väterlichen Stamme geartet. Insbeſondere waren 
es auf beiden Seiten die Großväter, denen er den Kern feiner Weſenheit ver. 
dankte. Großvater Bismarck gab ihm das Gemüt, den Sinn für die Fein⸗ 
heiten eines ariſtokratiſchen Lebens. Anaſtaſius Menden dagegen die eigentlich 
vorwärtstreibenden geiſtigen Eigenſchaften, die Initiative, die primäre 
Schöpferkraft. 

Von beiden Ahnenreihen aber hatte er gewiſſe oberſächſiſch⸗ſlawiſche 
Züge überkommen, welche innig mit dem niederſächſiſchen Grundſtock feines 
Weſens verwachſen waren. 

Von einer eingehenderen Darlegung dieſer Züge, ſoweit ſie auf geiſtigem 
Gebiete lagen, muß hier abgeſehen werden. Wir wären zu ihrer gründlichen 
Erläuterung auf die Betrachtung ſeines ganzen Lebens angewieſen, und das 
würde zu weit führen. (Wer ſich für eine ausführliche Behandlung dieſes 
Stoffes intereſſiert, fet auf mein Buch verwieſen: Bismarck im Lichte der 
Naturwiſſenſchaft, Halle a. S., Karl Marhold.) Hier ſoll uns nur Bismarcks 
äußere Erſcheinung mit ihren typiſchen Raſſemerkmalen noch ein wenig be- 
ſchäftigen. 

Bismarck war etwa ſechs Fuß hoch. Der Kopf war im Verhältnis zu 
dem mächtigen Körper klein, der Schädel, dem von einer Seite eine auffallend 
„ſlawiſche“ Form nachgeſagt wurde, war umfangreich und zeigte eine gewaltige 
Vorwölbung in der Gegend des Stirnhirnes, des Sitzes höchſter Gedanken; 
tätigkeit; er war durchaus von kurzköpfigem Typus. Das Geſicht war 
ziemlich breit, der Jochbeinabſtand — wie bei vielen Slawen — einiger- 
maßen groß. Zähne, Augen (dieſe wenigſtens in jüngeren Jahren) und Ohren 
waren gut. Der Bartwuchs war ebenſo ſtark, wie der übrige Haarwuchs 
mäßig. Die Haarfarbe war blond. Die Farbe des Auges blau oder blau- 
grau. Die Haut zeigte ein geſundes, roſiges Inkarnat. 


656 Friedrichsruß 


Den Hauptanteil an der äußeren Erſcheinung Bismarcks hatte demnach 
die nordiſche Menſchenraſſe, der — von dem Tropfen ſlawiſchen Blutes 
her — einige alpine Elemente beigemengt waren. Dieſe jedoch in ganz un- 
beträchtlichem Maße. : 

Der Hauptſache nach war Bismarck zweifelsohne ein kräftiger Typ der 
überlegenen Nordlandsraſſe, und als ſolcher, ſpeziell als Niederdeutſcher, hat 
er ſich auch ſein Lebtag in erſter Linie gefühlt. 

Intereſſant iſt dabei, daß er ſtets auch für das Slawentum eine gewiſſe 
Toleranz, eine Art von nachſichtigem Verſtändnis gezeigt hat. Ein Verſtändnis, 
wie es wohl der Starke dem Schwächeren erzeigt. Die Stimme des Blutes 
war es, die ihm dieſe Sympathie diktierte. Die Stimme des Blutes, über 
die von neuzeitlichen Skeptikern ſo viel geſpottet und gelächelt iſt, und die doch 
oft gerade da am entſcheidendſten ſich bemerkbar macht, wo wir Aberklugen mit 
dem Verſtande, mit logiſcher Spekulation den rechten Weg zu finden glauben. 


Dr. Georg Lomer 
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Friedrichsruh 


1% is marck war groß auch in feinem unverſöhnlichen Haſſen, und in diefer 
2 Rolle des immer Zürnenden und nie Vergebenden gemahnt er an 
ibdie germaniſchen Reckengeſtalten des Nibelungenliedes, namentlich 
an den grimmen Hagen. Aus feiner unfreiwilligen Verbannung im Sachſen⸗ 
walde ſchleuderte der Alte glühende Geſchoſſe gegen den Träger der Krone, 
gegen die Regierung und gegen alles, was zu ihnen ſtand. Wer Bismarck 
kennt, der weiß, daß dieſer ſein Haß nie erkaltete, ſondern ihm ſchließlich das 
Herz abbrannte. Auch der große Verſöhnungstag des Jahres 1895 hat an 
dieſem inneren Vorgang nichts geändert, ſondern ihn nur nach außen hin über 
tüncht. Bismarck iſt dahingegangen ohne das ſo ſehnſüchtig erwartete Wort 
der Anerkennung für den Enkel des „alten Herrn“. Der Enkel hat nichts un- 
verſucht gelaffen, ein Freundſchaftsverhältnis herzuſtellen. Er erſchöpfte fid 
in Aufmerkſamkeiten und ging den unterſten Weg. Man weiß aus intimen, 
alſo nichtoffiziellen Außerungen des Monarchen, daß ihm dieſe Verſöhnung 
eine Herzensangelegenheit war, die nichts zu ſchaffen hatte „mit der Furcht 
vor dem dereinſtigen Urteil der Geſchichte“. So ſah der Kaiſer in dieſer An- 
näherung etwas rein Menſchliches, eine Privatangelegenheit; Bismarck erblickte 
darin einen offiziellen Akt des Staatsoberhauptes, und noch die Inſchrift des 
Grabſteins, die nur einen „treuen deutſchen Diener Kaiſer Wilhelms J.“ kennt, 
iſt ein lebendiger Proteſt gegen jede nähere Vertrautheit. 

Wer heute nach Friedrichsruh hinauspilgert, gewinnt dort ſofort den 
Eindruck, als ſchwebe der Geiſt des Grollenden auch jetzt noch über dieſer 
Stätte. „Was wollen Sie in Friedrichsruh!“ ſagte mir im vorigen Jahre er- 
grimmt und verärgert ein Hamburger, dem ich die Abſicht kundgab, an einem 
ſchönen Aprilnachmittage einen Abſtecher dorthin zu machen. „Gehen Sie nicht 
hin, wenn Sie nicht um eine herbe Enttäuſchung reicher werden wollen! Das 
iſt ſchon vielen Tauſenden ſo ergangen. Bismarcks Nachkommen beobachten 
in dieſer Beziehung ganz beſondere Gepflogenheiten, die ſicher nicht im Sinne 
des Alten find. Man merkte ſchon gleich nach feinem Tode, daß dem be- 


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Friedrichsruh 657 


ſuchenden Publikum gegenüber eine andere Luft wehte. Herbert Bismarck hat 
auf ſolchen Beſuch ſo wenig Rückſicht genommen wie Dr. Chryſander, der 
etwaigen Wünſchen faſt ſtets mit Schroffheit begegnete. Ein beſonderes Miß⸗ 
trauen hegte er gegen die Zeitungsleute. Zugeknöpft bis oben. Herbert hat 
das nie abgeändert. Für das Publikum hatte er kaum einen Blick, wie er 
denn überhaupt den Eindruck machte, als ſei er allen Ernſtes bemüht, nicht 
populär zu werden. Was wir „Volksmund“ nennen, war für ihn eine wenig 
einladende Stätte. Man ſagt Herbert Bismarck nach, er habe dieſes Verhalten 
nur ſo an ſich gehabt; gemeint habe er es anders. Jedenfalls kenne ich niemand, 
der ihn hat leiden können. Anders war ſein Bruder Wilhelm, der z. B. bei 
Erntefeſten mit Mädchen des Gutsperſonals gern ein Tänzchen machte. Von 
Herberts Gemahlin kann man ein Verſtändnis für die ſchuldige Rückſichtnahme 
des Hauſes Bismarck auf das deutſche Volk nicht erwarten, denn fle ift Aus⸗ 
länderin. Wohl ſieht ſie hin und wieder Bekannte von früher her bei ſich, 
wie z. B. die Damen des Eiſenbahndirektionspräſidenten Junickel. Das breite 
Volk aber kennt ſie nicht. Gehen Sie nicht nach Friedrichsruh! Soviel ich 
übrigens weiß, ſteht das Schloß zurzeit ganz leer.“ Soweit mein Wirt, 
nebenbei geſagt ein glühender Bismarckverehrer. 

Ich bin doch hingegangen an die Stätte, die ſich das deutſche Volk als 
einen politiſchen Wallfahrtsort gedacht hatte, als eine geweihte Stätte der 
Pietät, wie wir ſie in der Wartburg und in Weimar beſitzen. Einmal war 
ich in Friedrichsruh etwa ein halbes Jahr nach Bismarcks Entlaſſung, und 
dann am 11. März 1893, dem Wiegenfeſt ſeiner Gemahlin. Beim erſten Be⸗ 
ſuch — es war ein klarer Septembertag — mußte ich mit noch andern Beſuchern 
geraume Zeit warten, bis der Fürſt heraustrat, um ſeinen gewohnten Spaziergang 
im Park zu unternehmen. Ich hatte ihn nie geſehen. Nur brieflich hatten wir 
uns berührt. Als ich ihm mit jugendlichem Feuer zu ſeinem 75. Geburtstage 
gratulierte, dankte er mir in einem eigenhändigen Schreiben „für den fo freundlichen 
Glückwunſch und deſſen anſprechende, hochpoetiſche Faſſung“. Nun ſtand ich ihm 
Auge in Auge gegenüber, dem Reden, der Jahrzehnte deutſcher Geſchichte ver- 
körperte. So etwas wie ein Karl der Große! Der markige Körperbau, die ſcharf 
geprägten, aber ſchon etwas verwitterten Züge, der ſcharfe Blick der unter 
buſchigen Brauen ſtark hervortretenden blau-grauen Augen verrieten Die geift- 
und kraftvolle Perſönlichkeit. Ich bin ein Feind jedes Perſonenkults; was 
jedoch beim Anblick dieſes Mannes in meiner Bruſt auf und nieder wogte, das 
iſt eine genügende Entſchuldigung für die nachfolgenden Augenblicke des Gelbft- 
vergeſſens, in denen des Deutſchen Reiches Schmied ganz von mir Beſitz nahm. 
Der Fürſt, ſich leicht auf einen Stock ſtützend, kam auf uns zu und gewahrte 
in der Gruppe eine liebreizende junge Dame von etwa ſiebzehn Jahren, die 
ihm einen Blumenſtrauß entgegenhielt. Wie eine ſtille Freude lag es auf 
ſeinem Geſicht, als er unſern Gruß erwiderte und den Strauß hinnahm, wobei 
er der vor Erregung zitternden Schönen einen herzhaften Kuß gab. Ans andern 
die Hand reichend, ſchritt er den Parkweg entlang. Einige von uns feierten 
dieſe Begegnung nachher in gebührender Weiſe. Der Fürſt war offenbar 
prächtig gelaunt geweſen. 

Mein zweiter Beſuch in Friedrichsruh wurde veranlaßt durch die Hul - 
Digungsfeier Hamburger und Schleswig ⸗Holſteiner Bürger. Das war ein froh; 
bewegtes Treiben. Nicht wie fonft bei Fürſtenhuldigungen mit ihrem Hurra- 
‘freien, ihren Abſperrmaßregeln, ihren Poliziſten und offiziell gemachten 

Der Türmer X. 11 43 


658 Friedrichs ruh 


Programm- Abwicklungen. Es war ein großes Familienfeſt. Der Fürſt er 
ſchien mit feiner Umgebung an dem Seitenpförtchen gegenüber dem Landhaus. 
Nachdem der Jubel ſich gelegt hatte, richtete der Altreichskanzler an die von 
Fackeln beleuchtete Menge eine Anſprache, der man es Satz für Satz anmerkte, 
wie warm und wohl es dem Sprecher ums Herz war. Er feierte die Er- 
ſchienenen als feine „engeren Nachbarn“, die ihm Liebe und Verehrung in be ⸗ 
ſonders reichem Maße entgegengebracht hätten. Bismarcks Stimme war im 
Verhältnis zu dem mächtigen Körper etwas dünn; auch näſelte der Fürſt. 
Aber dieſe Äußerlichkeiten überſah man bald angeſichts der inneren Wärme, 
mit der die Gedankenflut den Lippen entquoll, eine Flut, ſo mächtig, daß es 
dem Redner offenbar hier und da ſchwer wurde, im Augenblick den paſſendſten 
Ausdruck auszuwählen. 

And nun ſtand ich zum dritten Male vor Bismarcks Schloß und Land- 
haus Friedrichsruh. Alles war fo ganz anders, fo unfägli anders. Mit 
Gewalt zwangen mich die Erinnerungen von früher zu einem Vergleich mit 
dem traurigen Jetzt. Hätte ich doch auf die Warnung des Wirtes gehört: 
Der Eingang zum Herrenhaus ſowie zu dem umliegenden Park iſt geſperrt. 
Der Zutritt Anbefugter iſt ſtreng unterſagt, bei Strafe verboten. Herbert 
Bismarck traf dieſe Anordnungen bald nach dem Hinſcheiden ſeines Vaters. 
Dort jenſeits des Schienenſtranges erhebt ſich das Mauſoleum auf dem be- 
kannten Hügel als ein Mahnzeichen dereinſtigen Zwiſtes. Hier bei den Eichen 
des Sachſenwaldes wollte der Rede ruhen, und fo birgt der Berliner Dom 
nur den leeren Sarkophag. Nicht ein Oberhofprediger — ein einfacher Dorf. 
pfarrer kündete an dem ſchlichten Grabe die Verdienſte und Tugenden des 
Größten nach Luther. Schlicht und recht kennt die Inſchrift keinen Wilhelm 
den Großen, ſondern nur den Wilhelm I., der es mit feinem großen Diener 
der Geſchichte anheimgegeben hat, welcher Beiname ihn zieren fol. And un- 
weit vom Mauſoleum erhebt ſich kühn und ſtolz die Bismarckſäule. Mir zeugt 
ſie von verſchwundener Pracht, vom Fluch irgend eines Helden. Ferner der 
Spechtſche Bismarckturm, der Steinkoloß aus dem Teutoburger Wald, dem 
zweiten Hermann, dem Einiger und Befreier Deutſchlands geweiht. Auch die 
Hirſchgruppe iſt vorhanden, genau ſo wie früher. And doch iſt alles ſo anders. 
Die ganzen Anlagen machen den Eindruck, als ſeien ſie ſtark vernachläſſigt. 
Ein halbes Dutzend Gärtner würde für längere Zeit alle Hände voll zu tun 
haben. Hecken, Wege, Sträucher, Rafen — alles zeugt von einem Mangel 
an Pietät gegenüber dem einſtigen Schloßherrn. Leute, die immer rühmen. 
ſobald es fic) um hochgeftellte Perſonen oder gar Fürſtlichkeiten handelt, 
pflegen hervorzuheben, mit welcher peinlichen Pietät Herbert Bismarck beftrebt 
geweſen ſei, alle Anordnungen im Geiſte des verewigten Vaters zu treffen. 
Ich kann dieſe Anſicht keineswegs teilen. Wenn Herbert das kühne Begehren 
der Photographen, des toten Reichskanzlers Bildnis zu ſpekulativen Zwecken 
auszubeuten, gründlich vereitelte, ſo handelte er im Sinne ſeines Vaters, der 
nicht wollte, daß die Berliner „ſeine ſchöne Leiche“ bewunderten. Wenn der 
Sohn jedoch Schloß und Park von Friedrichsruh dem Publikum ſperrte, ſo 
würde niemand mehr als der Entſchlafene dieſe Maßnahme miß billigen. And 
auch ſonſt iſt manches verändert oder beſeitigt, was die Pietät in feiner ur 
ſprünglichen Form hätte können beſtehen laſſen. So iſt der rechte Seitenflügel 
des Schloſſes, in dem das geräumige Speiſezimmer lag, wo Fürſt Bismarck 
mit feinen zahlreichen Gäſten zu tafeln pflegte, und wo er bei Pfeife, Zigarre. 


Deutſche Erziehung 659 


Wein und Bier mit den Häuptern der Deputationen Erinnerungen austauſchte, 
durch den von Herbert angebrachten Anbau kaum wiederzuerkennen. Freunde 
hiſtoriſch denkwürdiger Gebäude werden dieſen Anbau um ſo mehr verurteilen, 
als ihm der bekannte Altan zum Opfer fiel, von dem aus Bismarck Be⸗ 
grüßungen entgegenzunehmen pflegte, die ihm das deutſche Volk aus Nord, 
Süd, Oſt und Weſt darbrachte und von wo aus er den grollenden Donner 
ſeiner Erwiderungsreden in die deutſchen Lande hinausſandte. And wenn er 
dann geredet hatte, pflegte er ſich wohl unter die nach Tauſenden zählende 
Volksmenge zu begeben, überall umdrängt und mit Tränen in den Augen be- 
grüßt. Ein Blick von ihm, ein Wort von ihm, ein Händedruck von ihm — wie 
hütete es jeder als ein koſtbares Gut, für wert geachtet, daheim auf Nachbarn, 
Freunde, Kinder und Kindeskinder vererbt zu werden! Daß Herbert Bismarck 
den kleinen Marſtall durch einen geräumigen Bau erſetzte, wird man ihm zu- 
gute halten, da bereits der Kanzler fic) mit ähnlichen Plänen beſchäftigt haben 
ſoll. Immerhin wirkt auch dieſe Veränderung befremdend. Abrigens hat auch 
Herbert die Vollendung des Marſtalls nicht mehr erlebt. Neben dieſem be- 
findet ſich jetzt ein Hühnerpark. Das Seitenpförtchen, von dem ich ſprach, ſuchte 
ich ebenfalls vergebens, da es durch den Neubau verdrängt worden iſt. So 
hat ſich das alte gewohnte Bild weſentlich verändert. Okonomiſche Prinzipien 
wirkten ſtärker als die pietätvolle Achtung vor dem Hiſtoriſchen. 
Friedrichsruh hat für den, der es früher zuzeiten Bismarcks beſucht hat 
und es nun heute wiederſieht, keinen ungetrübten Reiz mehr. Man betrachtet 
dieſe hiſtoriſche Stätte mit gemiſchten Gefühlen. Sie liegt einſam, verlaſſen 
und fremd da. In Gedanken verſunken wandere ich auf Reinbeck zu, wo 
prächtige Kolonien aus dem Boden gewachſen ſind. Auch das iſt neu. 
Friedrichsruh iſt mir eine Stätte erhebender Erinnerungen; aber ich werde es 
ſchwerlich jemals wiederſehen, es ſei denn, daß der Enkel des Alten vom 
Sachſenwalde, der des Großvaters Namen und Züge trägt, dem deutſchen 
Volke das Schloß und den Wald wieder freigibt, die einer der Größten dieſer 
Erde für alle Zeiten geweiht hat. Karl Müller 


Lup 
Deutſche Erziehung 


Tian die Forderung, daß die deutſche Erziehung von Grund aus 
neuzugeſtalten fet, feit 1870/71 in immer ſteigendem Maße er- 

< hoben worden ift, fo ift das nicht ein Zeichen davon, daß un- 
5 Neuerer ſich mit Dingen, die ſie nicht verſtehen und die nicht ihres 
Amtes find, in umſtürzleriſcher Weiſe befaßt haben; vielmehr ein deutliches 
Anzeichen dafür, daß doch wohl im Schulſtaate manches faul iſt. Die Be ⸗ 
wegung iſt, namentlich ſeit fünfzehn Jahren, erheblich angewachſen und hat 
ihren Hauptvertreter in der „Geſellſchaft für deutſche Erziehung“ 
(den Vorſtand bilden die Herren Prof. Dr. Paul Förſter, Prof. Dr. L. Gurlitt, 
Artur Schulz, Herausgeber der Blätter für deutſche Erziehung, Berthold Otto, 
Dr. med. G. Liebe, Paſtor Friedr. Stundel- Bremen, Dr. Ernſt Wadler, 
Kaufmann O. Lademann, Schriftſteller Joh. Nickol), die alljährlich zu Pfingſten 
in Weimar ihre Tagung abhält. Dazu kommen noch geiſtes verwandte Gefell- 


660 Deutſche Erziehung 


ſchaften wie der „Verein für Volksbildung“ und die „Comenius⸗ 
Geſellſchaft“; ferner Anftalten, die die neuen Gedanken in die Tat um- 
ſetzen, wie eine Reihe von „Land⸗Erziehungsheimen“. And der Gauer- 
teig durchdringt allmählich auch die Lehrerſchaft; er äußert ſeine Wirkungen in 
deren Verhandlungen und Beſchlüſſen und in den Zeitſchriften für Erziehungs⸗ 
weſen; ja auch die Anterrichtsbehörden verhalten ſich nicht mehr ablehnend, 
in dem preußiſchen Kultusminiſterium ſitzen Männer, die für die neuen Ge- 
danken und Forderungen Ohr und Sinn haben und dafür, wenn auch maßvoll, 
eintreten. 

So ſcheint, nachdem unter dem übermächtigen Einfluſſe der, Renaiſſance“ 
im 15. und 16. Jahrhundert das deutſche Weſen verkümmert iſt und nachdem 
die früheren Anſätze zur Befreiung keinen rechten Erfolg gehabt haben, doch 
endlich der Tag gekommen, an dem ſich das deutſche Volk auch in Hinſicht der 
Bildung, des Glaubens und der Erziehung auf ſich beſinnt und entſchloſſen iſt, 
fremden Göttern und „Idealen“ den Rücken zu kehren und ſelbſtherrlich auf 
eigener Spur einherzugehen. An Stelle jener einerſeits wohl befreienden, 
anderſeits aber auch blendenden und verwirrenden „Renaiſſance“ tritt eine 
Auferſtehung, eine „Reſurrektion“ und meinetwegen „Inſurrektion“ 
der ureigenen, lange zurückgedrängten und in die Irre geführten Art des 
deutſchen Volkes. Wohl uns, daß endlich wir fie erleben und an ihr mit- 
ſchaffen! Sie mußte ja kommen; fie ift nur ein Teil des vielfältigen Be. 
freiungskampfes, den wir unternommen haben, in dem wir freilich noch mitten 


drin ſtehen: 
Wagt's frei zu ſein, trotz alledem! 
Wagt's deutſch zu ſein, trotz alledem! 


And zwar iſt es ein dreifacher Trotz, den wir bieten: Trotz dem, wenn 
je zeitgemäßen, fo jetzt doch völlig überlebten „klaſſiſchen Humanismus“; 
Trotz der kirchlichen Buchſtabengläubigkeit, die ſich auch in der Schule 
zum Herrn aufwirft; Trotz endlich der die Freiheit der Lehrenden und Lernenden 
einengenden amtlichen „Bureaukratie“ — dem Buralismus, wie Freiherr 
vom Stein ſagte —, die hinter jenen beiden als Hüterin von Zucht un „Ord · 
nung“ und als Mutter des „bewährten Syſtems“ fteht. 

„Viel Feind’, viel Ehr'!“ Aber auch: „Viel Feind', ein Werk gar 
ſchwer!“ And in des Anbetracht ſind wir deutſchen Erzieher, die wir uns 
gegen die „praeceptores Germaniae“, die früher ſo genügſam ihres „idealen“ 
Amtes walteten, in bewußten, ſchärfſten Gegenſatz ſtellen, in kurzer Zeit doch, 
wie der Bruder Studio ſingt, „gar ſchnell emporgediehn“; wir ſcheinen „zur 
Herrlichkeit geboren zu fein“. Anſere Weimarer Tagungen erfreuen fid ſtarlen 
Zuſpruches aus ganz Oeutſchland: Männer und Frauen, Erzieher und Eltern, 
Menſchen jeglichen Standes, ſie finden ſich dort immer wieder zuſammen, und 
vortreffliche Vorträge beleuchten immer klarer nach allen Seiten hin, was wir 
empfinden, denken, wollen. Dazu eine fruchtbare Ausſprache und ber perjön- 
liche Verkehr — ſo gehen ſie neu geſtärkt und innerlich bereichert wieder in 
alle Welt hinaus, ſoweit die deutſche Zunge klingt; und die Gemeinde und 
ihre Lehre, ſie bilden nachgerade ſchon eine kleine, ſtetig wachſende Macht: „es 
gehet gen den Tag“. 

And was wollen wir denn? Das geht wohl am kürzeſten aus folgenden 
Fragen hervor, die Artur Schulz, dem das Hauptverdienſt an der Bewegung 
zukommt, in einem zu hunderttauſenden verbreiteten Flugblatte aufwirft: 


Deutfche Erziehung 661 


Iſt es recht, daß Kinder von 6 Jahren ſchon gezwungen werden, in die 
Schule zu gehen, und daß ſie in ſo zartem Alter mit Leſen, Rechnen und 
Schreiben gequält werden, obwohl ſie noch nicht ordentlich ſprechen können? 

Wie geht es zu, daß man für dieſe einfachen Fertigkeiten ſo viele 
Jahre braucht? 

Wie geht es zu, daß der Wiſſenstrieb, der ſich bei jedem Kinde vor den 
Schuljahren deutlich bekundet, bald nach dem Eintritt in die Schule ſo völlig 
ermattet? 

Wie geht es zu, daß die 800 — 1000 Religionsſtunden fo geringen Erfolg 
zeitigen, wo überdies zu Hauſe ſo viele Sprüche, Pſalmen, Lieder, Geſchichten, 
Gebete uſw. mit großer Qual und Mühe auswendig gelernt werden? 

Iſt es recht, daß die Ausbildung des Geiſtes derart angelegt iſt, daß 
dabei die Kraft und Geſundheit des Leibes gebrochen und die Schärfe der 
Sinne verkümmert wird? 

Iſt es recht, daß ein Kind von 9 oder 10 Jahren, das noch nicht einmal 
die Mutterſprache beherrſcht, gezwungen wird, eine fremde Sprache (franzöſiſch 
oder lateiniſch) zu lernen? 

Iſt es recht, daß man Sprachen nicht durch Sprechen lehrt? 

Iſt es recht, der ſogenannten „Formalen Bildung“ auf den Gymnaſien 
4 5000 Unterrichtöftunden zu opfern? 

Iſt es recht, daß der Naturunterricht erteilt wird in klöſterlicher oder 
gefängnisartiger Abgeſchiedenheit von der Natur? 

Iſt es recht, daß das Zenſurweſen den Eltern und Kindern die Weihnachts · 
und Oſterfeiertage verdirbt? 

Da wir auf dieſe Fragen nur eine ſchlechthin verneinende Antwort 
haben, ſo ſtellt das Flugblatt weiter folgende Grundſätze auf: 

Für die erſten Schuljahre ein Geſamtunterricht im Freien! (Ergänzt 
durch Klaſſenunterricht.) Nur der Anterricht im Freien macht es möglich, daß 
unſere Kinder umfaſſende Sachkenntnis und wahrhafte Anſchauung von der 
Natur erlangen, nur der befriedigt den Wiſſenstrieb der Kleinen; er lehrt 
denken, urteilen, ſprechen, er regt die Phantaſie an, erzeugt Achtung vor der 
Schöpfung und Ehrfurcht vor dem Schöpfer (Religion), er entzündet Natur., 
Heimats und Vaterlandsliebe. 

Zeichen ⸗Anterricht (nach der Natur) vor Schreibunterricht. Das Zeichnen 
nach einfachen natürlichen Gegenſtänden (leichter als Schreiben) verleiht der 
Hand Abung und Sicherheit, ſchärft das Auge, feſtigt und berichtigt die An⸗ 
ſchauungen, entwickelt Formen und Garbenfinn und bereitet das Runft- 
verſtändnis vor. 

Schreiben, Leſen und Rechnen werden um mehrere Jahre aufgeſchoben. 
Die Kinder erlernen, in obiger Weiſe vorbereitet, mühelos in einem halben 
Jahre das, was ſie heute unter Qualen in vier Jahren erlernen. 

Erziehung zur Kraft, Geſundheit und Schönheit! Sorgfältige Pflege 
des Körpers. Jeder Deutſche muß wehrhaft werden. (Schwimmen, Spiel, 
Turnen.) 

Ausbildung der Sinne! (Im heutigen Schulſyſtem völlig vernachläſſigt, 
die Sinne werden ſogar geſchädigt: Brille.) 

Religionsunterricht in Anlehnung an den Anterricht im Freien! Dieſer 
Anterricht ſoll vornehmlich im Herzen und Gemüt ſeine Wirkung ſuchen, nicht 
ſo ſehr im Gedächtnis und im Verſtande. 


662 £ Deutſche Erziehung 


Die deutſche Sprache — mit Einſchluß von Sage, Literatur und Kunſt — 
iſt Kernpunkt alles Anterrichts. (Fremdwörterunweſen, Verlotterung der Sprache.) 

Fremde Sprachen werden erſt gelehrt, wenn die Kinder ihre Mutter- 
ſprache beherrſchen. (Gewinn an Zeit.) 

Sprachen werden durch Sprechen gelehrt, Gewöhnung des Ohres. (Ab- 
ſchaffung des Grammatik. und Extemporalienunweſens.) 

Naturunterricht in der Natur! Eingehende Kenntnis alles Heimiſchen 
(Unterricht im Freien). Erſt Anſchauung, dann Syſtem! 

Der mathematiſche Unterricht zuerft in der Natur! (Bildung der Be- 
griffe, praktiſche Ausmeſſung von Flächen, Körpern uſw.) Syftembildung erſt 
in oberen Klaſſen. 

Begründung einer beſonderen Volkskunde! Erziehung zu deutſchen 
Staatsbürgern. (Jeder Knabe muß Einrichtung und Verwaltung von Staat, 
Regierung, Gemeinde, Heer, Flotte kennen, ebenſo unſere Sitten und Gebräuche, 
Handel, Gewerbe, Landwirtſchaft, die Schönheiten und Eigentümlichkeiten des 
deutſchen Landes und ſeine Geſchichte.) 

Ausbildung des Verſtändniſſes für Dichtung, Muſik, Malerei, Bild 
hauerei und Baukunſt. 

Notwendigkeit des Verkehrs zwiſchen Erzieher und Zögling (ſiehe Unter- 
richt im Freien.) 

Begründung der Einheitsſchule. Jeder befähigte deutſche Knabe muß 
die Möglichkeit haben, die oberſte Stufe der Bildung zu erreichen. Dadurch 
bleibt eine Anſumme von Geiftestraft unſerem Volke erhalten, die heute faft 
unrettbar verloren iſt; denn ein Volksſchüler, auch wenn er ſehr befähigt iit, 
vermag nur unter den größten Schwierigkeiten jenes Ziel zu erlangen. (Siehe 
Herder, Hebbel u. a.) 

Alles in allem alſo: 

1. Erziehung zu leiblicher, geiſtiger, ſittlicher Kraft und Geſundheit. 

2. Erziehung in und zur Freiheit. 

3. Bildung deutſcher Vollmenſchen. 

4. Erfüllung der von der neuen Zeit an die Erziehung und Bildung ge 
ſtellten Forderungen — neuzeitliche Weltanſchauung. 

Ein Kampf, wie wir ihn führen, hat doppelte Beweisgründe: Das 
Weſen der Sache und die damit gemachten Erfahrungen. 

Was das Weſen der heute gültigen Erziehung und Schule betrifft, ſo 
iſt der Bildungsſtoff ein überwiegend aus der Fremde hergeholter, eine 
bunteſt gemiſchte Geſellſchaft. Aus allen Zeiten, von allen Völkern iſt ein 
Abermaß uneinheitlicher Bildung zuſammengetragen worden: Der Glaube von 
Jeruſalem und Rom, das Humaniſtiſche von Athen und Rom, dazu 
die Taten, Werke und Werte der jüngeren Völker Europas. Wo aber bleibt 
das Heimiſche, Deutſche, Germaniſche, Eigene, von dem auch in 
Bildung und Erziehung das Wort zutrifft: „Es iſt nicht draußen, da 
ſucht es der Tor; Es iſt in dir, du bringſt es hervor“? 

Die geltende Bildung ift, da ein hohes Maß von Kraft und Zeit auf 
das Aberflüſſige, in zwiefachem Sinne Totd daraufgeht — man pflegt das, 
rechten Denkens bar, mit dem Worte „Ideal“ herauszuſtreichen —, durchaus 
unzulänglich hinſichtlich der Anſprüche der Neuzeit. 

| And verkehrt ift der Bildungsgang. Anftatt mit dem Anſchau⸗ 
lichen, Beobachteten, Selbſterlebten und Selbſtgeübten an 


Deutfche Erziehung 663 


zufangen und von dieſem Tatſächlichen dann, wenn der jugendliche Geift ge- 
reift iſt und die Frage ſelbſt aufwirft, zum Abſtrakten, zur Lehre, zum 
Beweiſe überzugehen, beginnt man mit dieſem und paukt in Religion, in 
Sprache, auch in den Naturwiſſenſchaften die fertige Lehre, das Geſetz ein: 
es herrſcht überall der geſchichtlich · philologiſch grammatikaliſche Anterrichtsgang. 

Verkehrt iſt ferner die Zerſplitterung der deutſchen Volts. 
ſchule — das Wort im ganzen genommen — in ſo und ſo viele „Nichtungen“ 
mit allen ihren verſchiedentlichen „Berechtigungen“. Wir fordern die Einheits⸗ 
ſchule in vier Stufen: Unter- oder allgemeine Volksſchule, Mittel. 
ſchule, Oberſchule, Hochſchule. Auf der Oberſchule, etwa zwiſchen dem 
16. und 18. Lebensjahre, iſt der eine Teil des Anterrichtes, der in der höheren 
„allgemeinen Bildung“, weſentlich der vaterländiſchen, noch allen gemein; 
nebenher aber beginnt bereits die Vorbildung auf den Lebensberuf und damit 
die Aberleitung zur Hochſchule. Das geſchieht jetzt viel zu ſpät; zwei Jahre 
an Lebenszeit etwa ſind durch richtigere Haushaltung dem deutſchen Jünglinge 
zu ſparen. Darum auf dieſer dritten Stufe viel weniger gemeinſame Pflicht- 
fächer, mehr Wahlfächer, größere Bewegungsfreiheit und Mannig- 
faltigkeit. Der Abergang aus der einen Bahn, im Falle eines Wechſels des 
Planes, in die andere iſt damit wohl vereinbar. 

Wir verlangen Durchbildung und Befähigung, nicht Berech— 
tigungen, die meiſt nur erſeſſen, nicht innerlich erworben werden; wir ver⸗ 
langen Lebenswiſſen, nicht Papierwiſſen; lebendige Menſchen, nicht Stuben- 
menſchen und Philiſter. 

And wir verlangen endlich gefeſtigte Perſönlichkeiten, leiblich 
und geiſtig geſunde, ſittlich reife, willensſtarke deutſche Vollmenſchen, die ein 
jeder einzelne für ſich, alle zuſammen als Volk, in dem wilden Kampfe ums 
Daſein, in dem immer unerbittlicher werdenden Wettbewerb ihren Stand finden 
werden. „Gebt uns Mütter!“ ſagte Napoleon, als man über das Wohl des 
Staates beriet. „Gebt uns Männer!“ rufen wir; die Mannhaftigkeit 
aber liegt nicht im höheren Lebensalter, ſondern im inneren Aufbaue und im 
rechten Werdegange der Bildung. 

Man hat ſeitens der alten Lehre des „Haffifchen Humanismus“ ge- 
meint, gerade in dem Zweckloſen der Bildung ihren Wert ſuchen zu müſſen; 
man ſpricht da vom „ewig Idealen“, von der geiſtigen „Gymnaſtik“, von dem 
nutzlos Schönen uſw. Dem gegenüber ſoll man endlich die Frage ſtellen: 
Wem iſt es zum Guten und zu welchem Guten gereicht es? Wir 
wollen eben den Nutzen nachgewieſen haben, d. h. den Sinn, die Zweck: 
dienlichkeit des Bildungsſtoffes und Erziehungsganges, einen Zweck nahe⸗ 
oder ferneftliegender, niederer oder höherer Art. Keine Vergeudung mehr mit 
Volkes Kraft und Zeit. Auch hier ſchreien die Kinder nach wahrhaftem Brot; 
ſo gebe man ihnen keine glitzernden, unnützen Steine! 

Die neue, dem Volksgeiſte und den beſonderen Anlagen des einzelnen 
angepaßte Schule wird auch eine Stätte wahrer Fröhlichkeit ſein, nicht 
des harten Zwanges, in dem mönchiſche „Pädagogen“ früher den rechten Geiſt 
der Erziehungskunſt erblickten; fie nannten das wohl „den natürlichen Menſchen 
brechen“. Anartig hieß ihnen der, der ſeine Art zu behaupten ſuchte, das 
Recht an ſich ſelbſt; der alſo gerade recht „artig“ war. Natur galt als 
Sünde, darum nur eine recht unnatürliche Erziehung! Wir aber wiſſen, daß 
alles Schöne, Große, Beglückende nur auf dem Boden der Freiwilligkeit 


664 Deutſche Erziehung 


und der Achtung der Perſönlichkeit erwächſt; der Zwang ſchafft Sklaven 
und Verächter. und Arbeit wird die neue Schule auch leiſten, um ſo mehr, 
als ſie freiwillig geleiſtet wird; kein Menſch von uns will ein verwöhntes, 
verweichlichtes Geſchlecht heranziehen, ganz im Gegenteil. 

Ich ſprach oben von den Erzeugniſſen der jetzigen Schulen 
als von einem Beweismittel gegen ihre gerühmte Vortrefflichkeit und gegen 
ihre „bewährte“ Bildung. Man ſehe ſich doch jene als „reif“ entlaſſenen 
Jünglinge in ihrem erſten Semeſter und jahrelang weiter, ja auch die Männer 
an, die aus ihnen hervorgehen; da iſt wenig innere Reife zu finden. And was 
ſie ſchließlich wert ſind, haben ſie durch die eigene Arbeit an ſich ſelbſt und in 
der Schule des Lebens zuſtande gebracht. And man höre dieſe „Reiflinge“ 
über ihre Schulen ſprechen! Wie wenig Freude und Dank, wieviel Spott 
und Verachtung und Haß, leider nicht unverdienten! And man ſehe ſich die 
Lobredner des alten Bildungsweſens ſelbſt an; ſind ſie etwa Muſterbilder 
von Menſchen, deutſche Vollmenſchen und Menſchen der Neuzeit, ſie, die 
von dem „klaſſiſch-humaniſtiſchen Ideale“ nicht genug zu fabeln und zu faſeln 
wiſſen? Nein, an ihren Früchten ſollt ihr ſie erkennen, auch unſere Schulen; 
fie beſtehen weder vor der „Kritik der reinen Vernunft“, noch vor der Er- 
fahrung und Wirklichkeit. 

Wenn dermaleinſt am deutſchen Weſen die Welt geneſen ſoll, wenn 
dieſes Wort mehr als nur ein ſchillerndes Schlagwort ſein ſoll, dann muß 
erſt dieſes deutſche Weſen von Bildungsſchlacken gereinigt und in ſeiner 
ganzen Schöne und Fülle entwickelt werden. An dieſer Wiedererweckung 
deſſen, was vor faſt 2000 Jahren unterbrochen und ſeitdem verpfuſcht worden 
iſt, nehme jeder mit höherem Rechte ſich deutſch Nennende kräftigen Anteil. 
Am die Frage recht zu verſtehen, iſt auch hier ein tiefer Einblick in den Werde ⸗ 
gang des deutſchen Volkes ſeit Beginn ſeines Auftretens in der Geſchichte 
nötig, und es gilt auch von der Frage „deutſcher Erziehung“ Goethes Wort 

„Wer nicht von zweitauſend Jahren 
Sich weiß Rechenſchaft zu geben, 


Bleibt im Dunkel, unerfahren, 
Muß von Tag zu Tage leben!“ 


Prof. Dr. Paul Förſter 


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Die hier veröffentlichten, dem freien Meinungsaustauſch dienenden Einſendungen find unabhängig 
K .. som Standpunkte des Herausgeber 


Die Schule und das Leben 
Ein Wort zur Abwehr und Verteidigung 


Wf 

er Verfaſſer des Aufſatzes „Die Schule und das Leben“ in Heft 5 
des T. ſcheint mir nicht genügend hervorgehoben zu haben, daß die 
Begriffe Schule und Lehrer nicht gleichen Inhalts ſind und daß der 
Lehrer durchaus nicht für alles verantwortlich gemacht werden kann, was 
man der Schule zur Laſt legt, wie das z. B. der Verfaſſer der kurzen Ub- 
handlung: „Ein Anmoderner über die moderne Bewegung“ im ſelben Februar- 
heft tut. Auch dieſer ſpricht ſcharf vom „Moloch“ Schule und behauptet u. a., 
daß „unſere Schulen voll Geſchwätz geworden ſind“; aber er fügt billigerweiſe 
hinzu: „Fragt mal die Lehrer, was fie heute alles den kleinen Köpfchen ein- 
pauken müſſen!“ 

Welche Schule meint nun Herr Kerner, die höhere Schule, in die 
nur fünf vom Hundert unſerer Kinder gehen, oder die Volks ſchule? Er 
ſpricht zwar von ſeinen Erlebniſſen in der Quinta und erklärt ferner, daß ihm 
„aller Streit über humaniſtiſches Gymnaſium, Real- und Reformſchule gleich- 
gültig“ ſei, denkt alſo hier an die höhere Schule; andrerſeits ſchreibt er aber 
wieder von den „Millionen Arbeitern, die Geſchichts- und Religionsunterricht 
gehabt haben und von unſerm Staat und von unſerer Kirche nichts wiſſen 
wollen“, hat alſo hier die Volks ſchule vor Augen. 

Wenn er ſagt: „Nicht nur Naturkunde lernt man im Freien beſſer, 
das wird ja ſchwerlich heut noch jemand beſtreiten, auch die Lehrer geben es 
zu. Sie tun äußerſt beleidigt, wenn man fie daran erinnert, und gehen trotz- 
dem hin, um in der Schulſtube an ausgeriſſenen Pflanzen und ausgeſtopften 
Bälgen Naturſinn zu wecken“, ſo weiß ich natürlich nicht, wieviel Lehrer Herr 
Kerner daran erinnert hat und wie viele beleidigt getan haben; nur das weiß 
ich, daß die neueſten Anregungen dazu, die Natur mehr in der Natur zu be— 
obachten, von Schul männern ausgegangen find. Ich nenne nur Junge und 
Schmeil. 

Wenn Otto Ernſt in der Schulkomödie „Flachsmann als Erzieher“ von 
einem rückſtändigen Schulmeiſter behauptet, er laſſe die prophetiſchen Bücher 
des Alten Teſtaments vor- und rückwärts lernen, ſo kann man eine der— 
artige ſcherzhafte Abertreibung allenfalls noch lachenden Sinnes hinnehmen. 


666 Die Schule und das Leben 


Wenn aber in einer ernften Anklageſchrift, wie es die Arbeit des Herrn Kerner 
doch fein will, behauptet wird: „Von den Millionen Arbeitern ... haben alle 
Luthers herrlichen Katechismus nach gründlicher Erklärung rückwärts und 
vorwärts auswendig gelernt“, fo liegt darin meines Erachtens für den an- 
gegriffenen Teil eine bittere Angerechtigkeit. 

Beiſpiele von ſchulmeiſterlichen Verkehrtheiten bringt der Herr Verfaſſer 
aus feinen Knaben jahren, die doch gewiß mindeſtens zwei Jahrzehnte zurück ⸗ 
liegen, und dann ſchließt er: „Was weiß die heutige Schule mit der Welt 
des Kindes anzufangen?“ 

Es iſt eben nach ſeinen Behauptungen keine geſunde Faſer mehr an 
dieſer Schule, wo die Hauptſache zu ſein ſcheint, daß der arme Schüler, den 
man „verkrüppeln“ laſſen will, „einen runter kommt und Schafskopf tituliert“ 
wird. — 

Iſt dieſes Bild von der Schule und der Lehrerarbeit wirklich zutreffend? 
Gibt es in der Schule nirgends eine Spur, daß auch hier die Liebe waltet, 
die den Schwachen willig ſtützt, dem Strauchelnden hilfreich beiſpringt, den 
Begabten freundlich fördert? Sind alle die Tauſende von Lehrern an höhern 
und niedern Schulen ſamt und ſonders armſelige Schablonenmenſchen, die ſich's 
zum tyranniſchen Vergnügen machen, den Kindesgeiſt langſam aber ſicher zu 
Tode zu martern? Mit ſolchen Schandbuben verglichen war der Kindes mörder 
Herodes ein unſchuldvoller Engel. 

Ich möchte wohl wiſſen, ob Herr Kerner, wenn er im Geiſte die Lehrer 
feiner Jugend an ſich vorüberziehen läßt, nicht den oder jenen Mann trifft, 
von dem er freudig ſagen kann: Der hat an mir und meinen Kameraden ge 
tan, was er als Lehrer und Erzieher zu tun ſchuldig war. Es wäre unſagbar 
traurig, wenn er das auch nicht von einem einzigen Lehrer bezeugen könnte, 
und dann ließe ſich allerdings ſein herbes Arteil über die Schule erklären. 

Ich bitte alle Leſer des Türmers, einmal in gleicher Weiſe ihre früheren 
Lehrer zu prüfen. Gibt es doch nicht unter ihnen einen und den andern, an 
den man ſich gern, vielleicht gar mit ſtillem Dank erinnert, weil er immer 
ſtrebend ſich bemüht hat, nicht bloß armſeliges Gedächtniswerk zu übermitteln, 
ſondern von Herz zu Herzen zu wirken und den Geiſt aufs Gute, Wahre und 
Schöne zu lenken? 

Daß auch wir trotz beſtem Wollen oft ſtraucheln und irren, wiſſen wir 
nur zu gut; und ſo lange ſelbſt die Wiſſenſchaft bei ſo manchem ſeeliſchen 
Vorgange noch im Finſtern tappt, wird es auch vom Lehrer ſelbſt beim red ⸗ 
lichſten Bemühen heißen müſſen: „Es irrt der Menſch, ſo lang er ſtrebt.“ 

Wenn ich an meine Lehrer zurückdenke, ſo kommen mir gewiß auch ſolche 
in den Sinn, die nur notdürftig das taten, was ſie tun mußten, auch einer, 
deſſen Treiben in mir nur Widerwillen und Grimm erregt; aber die Mehrzahl 
verpflichtet mich zu innigem Dank. Koſtbare Stunden der Freude und der 
Erinnerung genoß ich mit meinen ehemaligen Schulkameraden, als wir uns 
nach fünfund zwanzigjähriger Amtstätigkeit wieder ſahen und dabei auch noch 
zwei unſerer Lehrer unter uns begrüßten. Herzlich habe ich mich gefreut, als 
mir vor wenig Tagen ein anderer meiner Lehrer ſein Bild ſandte. Wie gern 
würde ich auch ihm und noch einem vierten Herrn noch einmal ins Auge 
ſchauen, ehe ihr und mein Leben endet! 

Faſt drei Jahrzehnte ſtehe ich im Schuldienſte, und ich denke gern an 
ſo manches Zeichen inniger Liebe und Anhänglichkeit, das ich von ehemaligen 


Die Schule und das Leben 667 


Schülern und Schülerinnen empfangen habe. Und doch habe ich nie um die 
Gunft der Jugend gebuhlt, und die Trägen oder Bösartigen wußten ſehr wohl, 
daß ſie ſich vor mir in acht zu nehmen hatten. Es ſei mir erlaubt, das 
rührendſte Zeichen freundlichen Gedenkens zu nennen, auf das ich mich be⸗ 
ſinnen kann. 

Vor Jahren wurde ich aus dem Klaſſenzimmer geklopft. Vor der Tür 
ſtand ein kleines Mädchen aus einer der unteren Klaſſen und ſagte in Find- 
lichem Tone: Meine Schweſter wird ſterben und läßt Sie grüßen. Noch an 
demſelben Tage ſtand ich am Bette der früheren Schülerin und legte ihr ein 
paar Nöslein in die kalte Hand. An den Zügen des abgemagerten Geſichts 
merkte ich, daß ſich die Sterbende freute, ibren Lehrer noch einmal zu ſehen. 
Wenige Tage darauf ging ich hinter ihrem Sarge her. 

Ob das Beweiſe dafür ſind, daß es um Schule und Lehrer ſo ſchlecht 
beſtellt iſt, wie Herr Kerner behauptet? — f 

Herr Kerner bemängelt ganz beſonders den naturkundlichen Unter- 
richt der Schule. Da er eingehender von den methodiſchen Verkehrtheiten 
ſeines Lehrers und von ſeinem eigenen Verfahren berichtet, ſo geſtatte mir der 
Leſer, mit einigen Strichen anzudeuten, wie ich zu Werke gehe. Ich will damit 
durchaus nicht zeigen, daß ich etwas ganz Beſonderes tue, ſondern beweiſen, 
daß doch noch anders verfahren wird, als in jener Quinta. Ich amtiere ſeit 
mehr als zwanzig Jahren an der Mädchenmittelſchule einer faft 50 000 Ein- 
wohner zählenden Stadt in einer durchaus nicht durch Fruchtbarkeit und Natur- 
ſchönheiten ausgezeichneten Gegend. An mehreren Nachmittagen des Sommer-. 
halbjahres oder des Herbſtes geht es hinaus in die Amgegend der Stadt. 
Da dieſe Ausflüge in meine freie Zeit fallen, wird niemand zur Teilnahme ge⸗ 
zwungen. Weil die Natur im Glanze der Morgenſonne viel friſcher erſcheint, 
hat ſich das Lehrerkollegium dahin geeinigt, daß jeder Lehrer das Recht hat, 
an zwei Schultagen des Jahres ſtatt des Vormittagsunterrichts mit der Klaſſe 
ins Freie zu wandern. Hin und wieder werden die anmutigen Anlagen der 
Stadt in einer Naturkundeſtunde beſichtigt. Freilich tut's das Hinauswandern 
in Feld und Wald allein noch nicht, wie unentbehrlich es ſelbſtredend iſt. 
Was draußen beobachtet worden iſt, muß in der Schulſtube näher beſprochen, 
auch — ſoweit das angeht — genauer betrachtet werden. Es iſt eben etwas 
ganz anderes, ob man als Hauslehrer mit 2, 3 oder 4 Kindern hinaus zieht, 
oder ob man eine Klaſſe von 40, 50 oder 60 Schülern um ſich hat. Zudem 
geben uns Wieſe, Feld und Wald doch nicht in jedem Falle fo genaue Aus- 
kunft, wie wir ſie zum Verſtändnis der Natur brauchen. Meiſter Reineke, 
der Erzſchelm, hat ſich noch nie vor uns ſehen laſſen; Freund Lampe ergreift 
auch vor uns das Haſenpanier; die Rehe bleiben allenfalls in ehrerbietiger 
Entfernung von den Herren der Schöpfung; felbft Gevatter Storch wandte 
der ihn mit Achtung begrüßenden Mädchenſchar den Rücken zu und ſchritt 
ſtolz fürbaß. So müſſen wir doch noch „ausgeſtopfte Bälge“ und Abbildungen 
zu Hilfe nehmen, nicht „um Naturfinn zu erwecken“, ſondern um eingehenderes 
Verſtändnis zu erzielen. Wir bringen im Frühjahr Getreidekörner, Bohnen, 
Erbſen u. dgl. in feuchte Sägeſpäne, laſſen ſie keimen und unterſuchen von Tag 
zu Tag. Das können wir auf dem Felde nicht. Bohnen werden auch in Nähr⸗ 
ſalzlöſungen gezogen. Ein großes Glasgefäß mit etwa 60 Liter Inhalt dient 
uns als „Teich“ für Pflanzen und Getier. Gartenblumen kommen in Töpfe 
und werden wochenlang beobachtet. Einige Zimmerpflanzen ſind jahraus, jahrein 


668 Die Schule und das Leben 


auf Schrank und Tiſch zu ſinden; Ableger werden gepflanzt, auch an Liebhaber 
abgegeben. Seit dem Oktober v. J. erfreut uns z. B. eine Zimmerlinde durch 
ihre zarten Blüten und gibt uns durch die Bewegung ihrer Blütenſtiele An- 
laß zum Nachdenken. Ihre ungemein zierlichen Staubgefäße haben wir be- 
wundert, nicht gezählt. Das Beobachtete hat uns Stoff zu einer kleinen 
ſchriftlichen Arbeit gegeben. Seit Juli v. J. iſt ein kleiner Platz des Schul - 
grundſtückes in ein Gärtchen umgewandelt, wo ſchon zahlreiche ausdauernde 
Pflanzen des neuen Frühlings harren, Gras für die „Wieſe“ geſät tft und 
Roggen und Weizen kräftig aufgegangen find. Hier wollen wir beobachten. 
Durch ein Mikroſkop, das uns bis ſechshundertfache Vergrößerung bietet, 
betrachten wir Pflanzenzellen, Blattgrün, Blut, Hefe u. a. Den älteren 
Schülerinnen habe ich bei günſtiger Beleuchtung ſchon die Strömungen des 
Zellinhaltes in den Haaren der Staubfäden von Tradescantia pilosa gezeigt. 
Für mich iſt das Beobachten dieſer Erſcheinung ſtets eine gewaltige Predigt, 
wie fie mir keines Menſchen Mund zu bieten vermag. Von den fo eigen ⸗ 
tümlichen fleiſchverdauenden Pflanzen haben meine Schülerinnen den Sonnen · 
tau (Drosera), das Fettkraut (Pinguicula) und den Waſſerhelm (Utricularia) 
genauer beobachten können. Eltern und Verwandte tragen mit zur Belebung 
des Unterrichts bei. Ein Zug- oder Lokomotivführer ſchickte mit der Tochter 
die hier ſehr ſeltene Moosbeere, die er weit weg von hier gefunden hatte. 
Die durchreiſende Tante eines Mädchens verſorgte uns mit blühenden Pflanzen 
aus den alpinen Teilen des Rieſengebirges. Eine ehemalige Schülerin ſandte 
wiederholt Zierden aus dem Vorlande der Alpen. Selbſt Pflanzen vom 
fernen Meeresſtrande haben ſchon den Weg in unſere Schulſtube gefunden. 
„In unſerm Klaſſenzimmer gibt es immer etwas zu ſehen“, hatte einſt eine 
Schülerin in einer Arbeit geſchrieben. 

Sft das „Totſchlagen“ der Liebe zur Natur, „Einzwängen der Seele in 
eine Schablone“, „Verkrüppelung“ des Kindes durch die heutige Schule? 

Wer heute noch ſo verfährt, wie Herr Kerner ſchildert, gilt bei ſeinen 
Amtsgenoſſen für rückſtändig oder — faul. — 

Auf einen Anterrichtszweig möchte ich noch ganz kurz zu ſprechen kommen, 
den Herr Kerner nur ſtreift, obwohl gerade er Veranlaſſung haben könnte, 
ihn lebendiger geftaltet zu wiſſen: auf den Religionsunterricht. 

Da Herr Kerner von ſeiner Tätigkeit als Hauslehrer redet, gehe ich 
wohl mit der Annahme nicht fehl, daß er Theologe iſt; denn wäre er aka- 
demiſch vorgebildeter Lehrer, dann würde er wohl nicht ſo einſeitig die Tätigkeit 
der Schule beurteilen. 

Was hat uns denn, als wir auf der Schulbank ſaßen, beſonders die 
Arbeit fauer gemacht? Vielleicht antworten die meiſten Türmerleſer in 
Abereinſtimmung mit mir: Die Menge des religiöſen Merkſtoffes! And wenn 
wir die Lehrer an Volks ſchulen fragen könnten: Was drückt euch denn in euerm 
Anterricht am meiſten? — dann würde von vielen die Antwort kommen: 
Der Merkſtoff in Religion, den wir unſern Kindern beibringen müſſen, wenn 
wir als brauchbare Lehrer gelten wollen. „Sitzt“ bei der „Reviſion“ der 
Religionsftoff gut, dann haben wir gewonnen; alſo heißt es: abhören und 
wieder abhören, wenn wir uns das Amtsleben nicht zur Hölle machen wollen. 

Meint Herr Kerner vielleicht, daß es einem Lehrer wirklich ein ſo großes 
Vergnügen bereitet, Luthers Katechismuserklärungen, die nach meiner und 
vieler Amtsgenoſſen Anſicht in den Konfirmandenunterricht und nicht in die 


Die Schule und das Leben 669 


Schule gehören, „rückwärts und vorwärts“ auswendig lernen zu laſſen und 
fortwährend zu üben, damit ſie ja „präſent“ bleiben? Der Geiſtliche hat in 
der Kirche das Buch aufgeſchlagen, wenn er nur den Text des Vaterunſers 
betet; unſere armen Kinder werden geſcholten, wenn ſie beim Herſagen der 
ſprachlich durchaus nicht leichten Lutherſchen „Erklärungen“ anſtoßen und ähn⸗ 
lich lautende Ausdrücke aus verwandten Stellen verwechſeln. Hier iſt ein 
Grund, warum „Millionen Arbeiter von unſerer Kirche nichts wiſſen wollen“. 
Die Religion iſt ihnen von klein auf durch die Menge von Gedächtnisſtoff 
verleidet worden. 

Wer trägt denn aber die Verantwortung? Gn erfter Linie nicht 
wir Lehrer, ſondern die, die uns zu Aufſehern und Reviſoren ernannt find, 
und das find zumeiſt die Geiſtlichen. Der Orts und der Kreisſchulinſpektor, 
auch der Regierungsſchulrat find — in Preußen wenigſtens — meiſtens Cheo- 
logen. Verallgemeinerte ich nun wie Herr Kerner, ſo müßte ich ſagen: An 
dem Unheil, das auf dem Gebiete des Religionsunterrichts die Schule an- 
richtet, iſt lediglich die Kirch e ſchuld. Ich erhebe einen ſolchen Vorwurf nicht, 
obwohl er einen ſtärkeren Schein des Rechts hätte als die Anklagen des Herrn 
Kerner. Ich weiß ſehr wohl, daß ein ganz bedeutender Teil der Geiſtlichen, 
beſonders der älteren Herren, in den Anforderungen an den Religionsunterricht 
der Schule mäßig iſt und einſieht, daß das Herplappern möglichſt zahlreicher 
Sprüche, Gebete und Lieder und dgl. noch lange nicht Herzens frömmigkeit iſt. 
Es iſt nur ſchade, daß dieſe Herren mit ihren Anſichten nicht entſchiedener vor⸗ 
treten und ihren Amtsbrüdern den Schaden vorhalten, den die große Menge 
der religiöfen Gedächtnisſtoffe anrichtet. Verführe ich jo wie Herr Kerner, ſo 
würde ich jetzt an recht draſtiſchen Beiſpielen zeigen, was zuweilen geiſtliche 
Herren den Lehrern zumuten, und würde dann feierlich erklären: „Was weiß 
die heutige Kirche mit der Welt des Kindes anzufangen? Sie zwängt die 
Seele in eine Schablone. Die Befreiung von dieſer Schablone ift die Aufgabe 
aller Eltern, die ihre Kinder nicht verkrüppeln laſſen wollen.“ An geeigneten 
Belegen aus meiner Amtszeit würde es auch mir nicht mangeln. Doch es ſei 
ferne von mir, ſolches zu tun. Ich richte vielmehr an Herrn Kerner, wenn er 
geiſtlichen Standes iſt, die herzliche Bitte: Treten Sie in Wort und Schrift 
unter Ihren Amtsbrüdern dafür ein, daß das Joch leichter wird, das noch ſo 
manche auf unſere und unſerer Schüler Schultern legen, und vieles wird beſſer 
werden! — Gewiß tut Beſſerung in der Schule auf gar manchem Gebiete 
bitter not, und wir Lehrer verkennen das nicht und tragen an unſerm Teile 
zur Abſtellung der Abelſtände bei. Man verſchaffe ſich irgend einen Jahrgang 
einer der zahlreichen pädagogiſchen Zeitungen und ſuche, ob darin nirgends 
die Forderung: Nicht für die Schule, ſondern fürs Leben! verfochten wird. 
Dadurch aber, daß man nicht gerade ſelten Schule und Lehrer in Bauſch und 
Bogen verdammt, wird nur Verbitterung erzeugt, doch nichts gebeſſert. — 

Jeder, der ein warmes Herz für die Schule hat, trete an ſeinem Teile 
für Beſſerung der äußern Exiſtenzbedingungen der Schule ein, alſo für freund ⸗ 
liche Schulräume, genügende Ausſtattung mit brauchbaren Lehrmitteln, Herab ; 
ſetzung der Schülerzahl einer Klaſſe, ausreichende Beſoldung aller, auch der 
Volksſchullehrer. Auch wir Lehrer leiden, wie ſchon die Sterblichkeitstafeln 
bezeugen, unter dem „häßlichen Geruche“ der Schulſtubenluft, die dem Quin⸗ 
taner Kerner ſo widerlich war, und mancher aus unſern Reihen würde mehr 
ſeine ganze Kraft in den Dienſt der Schule ſtellen, wenn ihn nicht die Sorge 


670 Erfüllen unſere Goltsbibltotheten ihre Aufgabe! 


ums tägliche Brot zwänge, allerhand gewinnbringende Nebenbeſchäftigung zu 
ſuchen. Jeder Volks- und Kinderfreund trete auf gegen Schablonenweſen und 
Bureaukratismus, die Schulſtube und Kaſernenhof verwechſeln. Man prüfe 
die Lehrbücher und Leitfäden, die in höhern und niedern Schulen eingeführt 
find, und weiſe nach, daß all der Wuſt von Jahreszahlen, geſchichtlichen, geo; 
graphiſchen und naturkundlichen Namen in keinem Kindes hirn Platz hat, ja, 
daß kein Lehrer das troſtloſe Zeug behalten kann. Man trete unerbittlich auf 
gegen die Mietlinge, die unſer Stand wie jeder andere — den der Geiſtlichen 
nicht ausgenommen — in ſeinen Reihen hat. Man wage es beſonders, den 
Allerweltsmenſchen unter unſern Gliedern das Handwerk zu legen, d. h. jenen 
Leuten, die Eitelkeit und Großmannsſucht dazu treibt, überall dabei zu ſein, 
wo etwas los iſt, die in den Vorſtänden zahlreicher Vereine zu finden find, 
um ihr Licht leuchten zu laſſen, die einträgliche Nebenämter betreiben, obwohl 
ſie ſo geſtellt ſind, daß ſie ſich ganz ihrem Berufe widmen könnten, und die 
nebenher noch Lehrer oder gar Schulleiter find. Gerade dieſe Leute ſchaden 
der gerechten Würdigung unſerer mühſamen Arbeit am meiſten. Sie, die zu 
allem Möglichen Zeit haben, nur nicht zur peinlichen Ausführung ihrer Berufs 
pflichten und zur Vervollkommnung ihres Wiſſens und Könnens, erzeugen nicht 
nur beim ſchlichten Mann aus dem Volke, ſondern auch bei vielen anderen 
die Anſicht, daß des Lehrers Arbeit leicht und gering, ja kaum als „Arbeit“ 
zu bezeichnen ſei. Dieſe Leute, die ſich nicht ſelten großen Einfluſſes erfreuen, 
tragen mit die Schuld, wenn die Schule nicht Schritt hält mit den Anforderungen 
des Lebens; denn je mehr der Schulwagen im alten, ausgefahrenen Gleiſe 
läuft, deſto bequemer iſt es für ſie. Daß ſolche Leute der Schrecken und die 
Qual ihrer regſameren und gewiſſenhafteren Mitarbeiter find, denen fie wo- 
möglich noch bei Gelegenheit ein Bein ſtellen, ſei nur beiläufig erwähnt. Es 
iſt ſelbſtverſtändlich, fei aber, um Mißverſtändniſſe zu verhüten, noch ausdrüd- 
lich angeführt, daß ich mit dieſen Ausführungen nicht treue und redliche Schul 
männer treffen will, die neben ihrem Berufe noch aus edler Nächſtenliebe un 
eigennützig auf irgend einem Gebiete der Volkswohlfahrt tätig find. — 

Zu ſolchem Kampfe um die Schule möge jeder, der es kann, die Waffen 
ſtählen; dann wird es „um die Schule wohl ſtehn und wohl ums Vaterland“. 


Karl Pohl 
or 
Erfüllen unſere Volksbibliotheken ihre Aufgabe? 


— 

Kg Leerr Dr. Alfred Möller beantwortet dieſe Frage in Heft 8 des Türmers 
2 yD verneinend und „glaubt fogar mit Rect, die vielgerühmten Volks 
(2, vibliotheten zu den Schädlichteiten unſeres Kulturlebens rechnen zu 
dürfen.“ Dieſe peſſimiſtiſche Anſchauung kann nur einer Ankenntnis unſeres 
modernen Volksbibliotheksweſens entſpringen, und ein Blick in die Kataloge 
der Charlottenburger und Berliner Volksbibliotheken (um nur dieſe zu nennen) 
würde genügen, um Herrn Dr. Möller von der Irrigkeit feiner Auffaflung 
zu überzeugen. — Aber mit der gediegenen Bücherauswahl allein iſt noch teine 
Gewähr gegeben für die Geſchmacksbildung des Leſepublikums. Im Gegenteil 
würde eine nur nach ſtreng literariſchen Grundſätzen aufgebaute Bibliothek 


i 


Die Möglichkeit einer internationalen Hilfsſprache 671 


ihren volksbildenden Aufgaben ſchwerlich gerecht werden können, weil fie die 
Kreiſe, an die fie ſich im beſonderen wenden will, verſcheuchen würde. Viel ⸗ 
mehr ſoll in der Volksbibliothek die Möglichkeit einer ſtufenweiſe ſich voll. 
ziehenden Höherentwicklung geboten werden. Das Wort vom „Hinaufleſen“ 
iſt in Fachkreiſen faft ſprichwörtlich geworden. Die Möglichkeit des ,, Hinauf- 
leſens“ hängt aber ſowohl von der Zuſammenſtellung der Bücherei wie von 
dem pädagogiſchen Scharfblick des Beamten ab, der die Bücherausgabe leitet. 
Die von Herrn Dr. Möller geſchilderten jungen Damen, die ſelbſt nur leſen, 
um die unfruchtbare Zeit totzuſchlagen, find allerdings für dieſe verantwort⸗ 
lichen Stellungen in hohem Grade ungeeignet, aber zum Glück bilden ſie nicht 
die Regel für den Beruf. 

Was nun die Hinweiſe auf billige Ausgaben unſerer Klaſſiker, ſowie 
wertvoller moderner Literatur betrifft, fo find das Ratichläge, die in allen 
mir bekannten Volksbibliotheken bereits befolgt werden, ebenſo wie es eine als 
notwendig erkannte Regel iſt, die wertvollſten Bücher in mehreren Exemplaren 
anzuſchaffen. Daß der äſthetiſche Standpunkt gewahrt wird, geht meiſt ſchon 
aus der Ausgeſtaltung der Räume hervor. Wo es die Mittel nicht erlauben, 
eigene, ſchöne Gebäude aufzuführen oder geeignete Baulichkeiten dem Zwecke 
anzupaſſen — wie in Charlottenburg, Jena, Görlitz, Dortmund — verſucht 
man es, die Mietsräume durch künſtleriſchen Wandſchmuck, geſchmackvolle 
Möbel und freundliche Tapeten behaglich zu geſtalten. Außerdem wird bei 
der Bücheranſchaffung nicht nur auf hübſch gedruckte Ausgaben geachtet, 
ſondern man wählt auch die Einbandſtoffe in lebhaften Farben und huldigt 
nur noch ſelten der ehemals ſo beliebten Regel, ſämtlichen Bänden den gleichen 
Einband zu geben. 

Auf einen ſehr wichtigen Punkt hat Herr Dr. Möller gar nicht hin⸗ 
gewieſen. Das iſt die hygieniſche Seite der Volksbibliothek. Die Vorſichts⸗ 
maßregeln, die man nach dieſer Richtung trifft, beſtehen neben gefunden, luf- 
tigen Räumen darin, daß man den abwaſchbaren Einbandſtoff Dermatoid 
zum Einbinden der Bücher verwendet, ſtark zerleſene Exemplare rechtzeitig aus · 
ſcheidet und bei Fällen von anſteckenden Krankheiten, die von den Leſern angezeigt 
werden müſſen, die Bücher unentgeltlich zwecks Desinfektion abholen läßt. 

Dieſe wenigen Hinweiſe mögen genügen, um den Peſſimismus zu ent- 
kräften, mit dem Herr Dr. Möller unſer Volksbibliotheksweſen ſchilderte. Wohl 
iſt in dieſer jungen Bewegung noch viel zu überwinden und die Erreichung 
mancher Ziele noch in weiter Ferne, aber das, was erreicht wurde, iſt der 
wahren Genugtuung und Freude eines jeden Volksfreundes wert. 


E. Kniſchewsky 
De 


Die Möglichkeit einer internationalen 
Hilfsſprache 


K. ra s ift gerade keine neue Tatſache, wenn ich ſage, daß an der Wiege 
D einer jeden großen geiſtigen oder techniſchen Errungenſchaft ein Ge ⸗ 
—tlleyrter ſtand, der ſich bemühte, die Unmöglichkeit dieſer Erſcheinung 
nachzuweiſen und ein prophetiſches „Niemals“ in die Welt hinaus zurufen. 
So ging es mit den Eiſenbahnen, mit dem Telephon, mit dem Kartoffelbau, 


672 Die Möglichkeit einer internationalen Hüfs ſprache 


mit der Stenographie, dem Turnen, mit der Bekämpfung des Kindbettfiebers, 
ſo ging es mit der Schiffsſchraube, mit dem Geſetz der Erhaltung der Kraft 
und mit tauſend anderen Einrichtungen und Entdeckungen, die heute den Stolz 
unſerer Kultur bilden, und ſo geht es auch jetzt mit der Einführung einer 
künſtlichen internationalen Hilfsſprache. 

Von der weitragenden Tribüne eines Rektors der Berliner Aniverſitäãt 
herab hat vor einiger Zeit der bekannte Philologe Prof. W. H. Diels dieſem 
Problem und namentlich dem jetzt ſehr weitverbreiteten Syſtem des Eſpe 
ranto“, in dem ſehr viele hervorragende Männer, wie die Gelehrten Ramſap, 
Oſtwald, Berthelot und viele andere eine gelungene Löſung des Problems der 
künſtlichen Weltſprache erblicken, das Todesurteil verkündet. Er ſagte: „Noch 
iſt die Zeit für die Erfindung einer internationalen Hilfsſprache nicht gekommen, 
ſie wird wohl überhaupt nicht kommen!“ Warum ſie nicht kommen 
wird? Der Philologe erklärt es uns folgendermaßen: „Die Sprache iſt keine 
bloße Funktion des Individuums, ſie wurzelt wie alle ſozialen Organiſationen 
der Menſchheit im tiefſten Grunde der Volksſeele und ſie entfaltet, wie alle 
übrigen Organismen dieſer Seele, Religion und Recht, Kirche und Staat, eine 
ſelbſtändige Kraft und ein Beharrungs vermögen, das die Kräfte der einzelnen 
Individuen der Gemeinſchaft an Energie und Dauer unendlich überragt. Alle 
Kunſt des Individuums, das ſich hier erdreiſten will, die Natur zu überliſten, 
iſt eitel.“ Man wird nun ſagen, daß dieſes Urteil über die Möglichkeit einer 
künſtlichen Hilfsſprache richtig ſein muß, da es ein hervorragender Fachmann 
ausſpricht. Wer anders als der Philologe ſoll in Dingen der Sprache ein 
Urteil beſitzen? Nur zu leicht wird man der ſpöttiſchen Überlegenheit des Prof. 
Diels beizupflichten verſucht fein, wenn er den Beifall eines Ramfay und 
Oſtwald für die neue Kunſtſprache „Eſperanto“ als das Arteil von Bön- 
haſen hinſtellt, die Anſchauung eines „Chemikers“, wie er ſich ausdrückt, „der 
die Naturgebilde künſtlich in ſeiner Retorte nachbildet“ und der nur „zu leicht 
geneigt“ iſt, „in der künſtlichen Herſtellung einer Sprache eine bloß wiſſen⸗ 
ſchaftlich techniſche Aufgabe zu ſehen.“ 

Man überſieht dabei nur eines, und Prof. Diels überſieht es in erſter 
Linie, daß es ſich bei der Herſtellung einer künſtlichen Hilfsſprache gar nicht 
um eine Sprache im philologiſchen Sinne handelt. Das was wir zur Ver 
ſtändigung, zur Aushilfe im internationalen Verkehr benötigen, braucht ja gar 
nicht dieſer natürliche Organismus zu fein, in dem ſprießendes Leben, Ent- 
wickelung, Tauſendfältigkeit und Volksgeiſt zu finden iſt. Dieſe Erſcheinungen 
ſind es ja gerade, die die Erlernung einer lebenden Sprache ſo ſchwierig, den 
meiſten unmöglich machen und die derjenige, der eine fremde Sprache erlernt 
hat, gar nicht benötigt, nicht benötigen kann, weil er gerade das Lebendige der 
fremden Sprache, wie deren Geiſt nur in den ſeltenſten Fällen ſich zu eigen 
zu machen vermag. Wenn einer franzöſiſch, engliſch oder deutſch lernt, um 
ſich in dieſer Sprache mit andern zu verſtändigen, ſo erſchwert zunächſt das 
Lebendige an dieſen Sprachen, ihre Tauſendfältigkeit, ihre fortwährende Ent- 
wickelung die Erlernung und Anwendung, und das, was den Geiſt der Sprache 
bildet, wird nie einer erfaſſen, ohne durch jahrelanges Zuſammenleben auch 
den Geiſt des Volkes erfaßt zu haben, das die betreffende Sprache ſpricht. 
Er wird ſich nur mit einem Sprachgerüſt begnügen müſſen und mit dieſem 
Sprachgerüſt wird er ſich verſtändigen. Der Fremde, der eine lebende Sprache 
erlernt, iſt ja auch gar nicht berufen, die Sprache fortzubilden, fie iſt ihm ja 


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Die Möglichkeit einer internationalen Stlfsfprache 673 


zeitlebens nur ein rein techniſches Hilfsmittel, falls er nicht gerade ein Neu- 
philologe iſt, der ſich das Studium des Weſens der Sprache zur Lebensaufgabe 
gemacht hat. 

Es iſt wahr: die künſtlich konſtruierte Sprache kann nicht leben, ſie kann 
ſich nicht entwickeln, der Geiſt irgend eines Volkes kann darin nicht zum Aus- 
druck gebracht werden, hingegen wird es möglich ſein, ſie praktiſch und für die 
leichte Verwendung ſo zu konſtruieren, daß man ſie in wenigen Tagen oder 
Wochen erlernen kann, denn ſie wird nicht tauſendfältig, nicht in fortwährender 
Bewegung ſein. Eben weil ſie ſo ſein wird, weil ſie einfach und unbeweglich 
ſein wird, wird ſie unendlich klar ſein, und wird es möglich ſein, eine Präziſion 
in ſie hineinzulegen, die man mit einer lebenden Sprache nie erreichen kann. 
Die künſtliche Sprache wird deshalb gar keine Sprache im philologiſchen Sinne 
ſein müſſen. Indem man ſie als Sprache bezeichnet, verleitet man zu Irrtümern, 
verleitet man namentlich die Philologen (nicht alle; bekannt iſt das günſtige 
Urteil des großen Philologen Max Müller über die Möglichkeit einer Runft- 
ſprache) dazu, ihr abfälliges Urteil abzugeben. Man nenne dieſe Syſteme ge- 
ſprochene und geſchriebene Signale, man nenne ſie Sprachſchlüſſel (nach dem 
Muſter der international verſtändlichen Telegraphenſchlüſſel)h, man nenne fie 
ein Syftem geſprochener und geſchriebener Zeichen, ähnlich den in der Mathe ⸗ 
matik und in der Chemie gebrauchten international verſtändlichen Zeichen, und 
man wird ſofort einſehen, daß die Beurteilung dieſer Einrichtung eher in das 
Gebiet des Technikers gehört als in das Gebiet des Philologen. 

Man denke ſich, daß ſich vor 150 Jahren ein Mann mit dem Gedanken 
getragen hätte, die damals einzige Fortbewegungsmaſchine, das Pferd, durch 
eine künſtliche zu erſetzen. Mit demſelben Rechte, mit dem heute Prof. Diels 
über die Verſuche einer künſtlichen Sprache lächelt, hätte ein Anatom dieſer 
Zeit lächelnd einwenden können, das Pferd ſei ein natürlicher Organismus, 
ſeine Energie entſpringe der Lebenskraft, die niemals künſtlich herzuſtellen ſei, 
nie werde es gelingen, ein ſolches Weſen in der Retorte zu ſchaffen, das feft 
auf ſeinen vier Beinen zu ſtehen vermöchte, und das dieſe Beine bald im 
wilden Galopp, bald im bedächtigen Trab, je nach dem Wunſche des Lenkers 
würde bewegen können. Ganz richtig! Aber der Menſch ging hin und ſchuf 
die Lokomotive, die Schiffsmaſchine, das Zweirad, das Automobil, lauter 
künſtliche Pferde, die doch keine Pferde find, die heute aber den Dienſt des 
Pferdes umfangreicher, ausdauernder, verläßlicher und vor allen Dingen in 
ungeahnter Erhöhung der dem lebenden Pferde eigenen Kraft ausüben und 
ſogar tage- und wochenlang durchs Waſſer ſchwimmen, was ein natürliches 
Pferd nicht vermag. Dieſe Maſchinen bewegen die Beine nicht, aber ſie drehen 
Räder und bewegen fo Menſchen und Frachten fort, was früher nur das 
Pferd vermochte. 

Ganz ſo geht es mit der künſtlichen Hilfsſprache! Sie wird keine Sprache 
fein, aber ein techniſches Gebilde, das für den eigentlichen Zweck viel voll 
kommener, viel zweckvoller ſein wird, als die natürlichen Sprachen, ſoweit dieſe 
als internationale Verkehrsmittel in Betracht kommen. Im übrigen iſt es ja 
abſolut nicht nötig, ſich in dieſer Beziehung mit Hypotheſen abzugeben. Wir 
haben ja dieſe Hilfsſprache ſchon. Hunderttauſende verwenden ſie heute, ihre 
Verbreitung nimmt von Jahr zu Jahr zu; nach Dutzenden zählen die Zeitungen, 
die in allen fünf Weltteilen in dieſer Sprache erſcheinen, darunter ernſte wiffen- 
ſchaftliche Fachblätter, in denen es den Gelehrten möglich wird, 1 als in 

Der Züirmer X, 11 


674 Die Möglichkeit einer internationalen Hllfsſprache 


irgend einer lebenden Sprache zu den Gelehrten aller Zungen gleichzeitig zu 
ſprechen; nach Hunderten zählen die Bücher in dieſer Sprache, nach Tauſenden 
die Beiſpiele, wo ſich Menſchen, die ſich ſonſt nicht verſtändigen könnten, mittels 
Eſperanto verſtändigen. Der in wenigen Wochen in Dresden ſtattfindende 
IV. internationale Eſperantokongreß wird in Deutſchland den großen Amfang 
der Eſperantobewegung und die Verwendbarkeit dieſes Syſtems deutlich vor 
Augen führen. 

Bei dem Aufenthalt der deutſchen Journaliſten in England war es mit, 
der ich die engliſche Sprache nur am Papier verſtehe, ein Labſal, als ich mich 
mit einem engliſchen Journaliſten und mit einem Profeſſor aus Cambridge 
leicht in Eſperanto verſtändlich machen konnte, zu deſſen Erlernung ich ungefähr 
drei Wochen gebraucht hatte. 

Herr Profeſſor Diels unterläßt es in feinem Kampfe gegen das Cipe 
ranto auch nicht, das nationale Regifter zu ziehen, indem er behauptet, die 
Konſtruktion des Eſperanto wäre „ein Schlag ins Geſicht des Germanen“. 
Tatſächlich iſt die Mehrzahl der Stämme dem Lateiniſchen entnommen und 
nur ein Bruchteil dem Deutſchen. Immerhin find Sätze möglich, die wie „La 
knabo lernas tri tagojn“ (drei Tage lernt der Knabe) ganz deutſch klingen. 
Wenn aber Eſperanto ein Schlag ins Geſicht des Germanen iſt, dann mochte 
ich aus dem Munde des gelehrten Berliner Philologen gerne erfahren, was 
dann unſere auf der Erlernung des Griechiſchen und Lateiniſchen baſierende 
Gymnaſialerziehung ift? Aberſieht denn der Herr Profeſſor, daß eine inter · 
nationale Hilfsſprache eben international fein muß, daß fie keine Sprache bevor · 
zugen darf, keine vernachläſſigen, um eben die verſchiedenſten Schläge ins Ge 
ſicht zu vermeiden, und daß es daher das klügſte war, ſich in erſter Linie an 
die lateiniſche Sprache, die heute noch ſtark alle lebenden Sprachen beeinflußt, 
zu halten? Wenn Herr Profeſſor Diels dann ſchließlich als Erſatz für die 
ihm unmöglich erſcheinende internationale Hilfsſprache einen Sprachendreibund 
vorſchlägt, in dem deutſch, engliſch und franzöſiſch gleichberechtigt ſein ſollen, 
fo überſieht er, daß die internationale Hilfsfprache dazu dienen ſoll, die all 
gemeine und leichte Verſtändigung zwiſchen den verſchiedenen Nationen zu er · 
möglichen, während eine ausreichende Beherrſchung der drei genannten Sprachen, 
namentlich für diejenigen Nationalitäten, die alle drei Sprachen erſt erlernen 
müßten, immer nur ein Privileg für einige Wenige wird bleiben müſſen, die 
Zeit, Geld und auch die Fähigkeit beſitzen, ſich dieſer Nieſenaufgabe zu unter 
ziehen. Zu einer allgemeinen und zweckmäßigen Verſtändigung in dem Maße, 
wie ſie heut der ſtets wachſende internationale Verkehr erfordert, wird es nach 
dieſem gewiß ſehr patriotiſchen Rezepte niemals kommen können. 

Wer Luſt und Fähigkeit und die materielle Möglichkeit beſitzt, lebende 
Sprachen zu erlernen und ſich ihrer Schätze zu erfreuen, wird es gewiß auch 
fernerhin tun. Das hindert aber nicht, daß nebenbei ein bequemeres und all 
gemeineres Auskunftsmittel für den allgemeinen Verkehr gefunden wird. Auch 
das Pferd iſt nicht abgeſchafft worden, trotz Eiſenbahn, Fahrrad und Auto- 
mobil. And wenn es in nicht zu ferner Zeit als Transportmittel ganz aus 
geſchaltet ſein wird, wird es noch zum Vergnügen und bei vornehmem Sport 
Verwendung finden. Man wird auch dann noch ſpazierenreiten; zur bequemen 
und raſchen Beförderung wird man aber doch die mechaniſchen „Pferde“ vor · 
ziehen, die heute den Weltverkehr vermitteln. Alfred H. Fried 


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Ein „demokratiſches“ Programm — Der Prozeß 
Bereit ſein 


aß wir „in einem Zeitalter der Demokratie“ leben, können wir 
2 1 W bis zum Aberdruß leſen. Vollends das Wort „Demokratie“ 
ex 2; fließt täglich — im freundlichen oder feindlichen Sinne — aus 
DI taufend Federn übers geduldige Papier. Was heißt nun aber 
„Demokratie“? Was wird darunter verſtanden? Was darf darunter 
verſtanden werden? 
„Demokratiſches Programm“ betitelt ſich ein Aufſatz von Gothus 


im „März“. Ein „demokratiſches“ Programm könnte er heißen, denn andere 


werden andere aufſtellen. And dann wird ſich immer noch die Frage er⸗ 
heben, inwieweit fie gerade — „demokratiſche“ find. 

Gothus glaubt, „daß zum Bekennen der großen Richtlinien für das 
politiſche Betragen einer Partei die hiſtoriſchen Widerſtände maßgebend 
ſein müſſen, durch welche ſie ins Daſein gerufen wurde, und im Kampf 
mit denen fie erſtarkte. Die freiere politiſche Denkweiſe, die den Abſolutis⸗ 
mus in Deutſchland abzulöſen bezweckte, führt bekanntlich auf eine gemein⸗ 
fame Wurzel zurück: den Zuſammenbruch des franzöſiſchen Privilegien- 
ſtaates. Am Rhein und in Süddeutſchland folgten die Geiſter den von 
dorther zuſtrömenden revolutionären Ideen ſchneller, in Norddeutſchland 
erſt, nachdem auch der friderizianiſche Staat bankrott geworden war. Un- 
mittelbar nach der Schlacht von Jena (Oktober 1806) bildete ſich im preußi⸗ 
ſchen Heer und Beamtentum der Kern einer politiſchen Oppoſition; ihm, 
der die ſogenannte Stein ⸗Hardenbergſche grundſtürzende, aber auch grund⸗ 
ſchaffende Geſetzgebung teils vorbereitete, teils kraftvoll durchführte, hat 
ſich das liberal werdende norddeutſche Bürgertum langſam angegliedert, 
bis es mit dem ſüddeutſchen Liberalismus in dem Wunſch nach Volks- 
vertretung und Kontrolle der Machthaber zuſammenfloß. Der linke Flügel, 
der fic) heute demokratiſch nennt, ... hat alfo feinen Arſprung ebenfalls 
in jenem Kampf, der einer Befreiung des Individuums von feudalen 
Feſſeln galt. Er wird nur ſich ſelber treu bleiben und politiſch ſeine 


676 Dürmers Sagedud 


beften Geſchäfte machen, ſolange er feine Front den gleichen Mißbräuchen 
zukehrt, gegen die feine geiſtigen Ahnen fic erhoben. Es find Standes 
vorrechte, altüberlieferte oder neu ſich bildende, Bevorzugungen irgendwelcher 
Kreiſe in Rechtſprechung, Steuerweſen, Militärdienſt oder ſonſtwo. Demo⸗ 
kraten ſollten darüber wachen, daß ein ſo böſer Krebs wie Klaſſenjuſtiz ſich 
nicht ins deutſche Leben einfrißt; wachen, daß nicht wie unter dem ancien 
régime der Adel ſich in bevorzugten Regimentern zuſammenballt und vom 
Bürgertum ſcheidet, ſo daß unſre Landesverteidiger gleich Ol und Waſſer 
nicht mehr zuſammenlaufen; wachen, daß die Beförderung in den Staat 
ämtern gerecht vor ſich gehe, der Bürgersmann nicht mit dem Poſten eines 
Majors oder Landgerichtsdirektors höchſtens (? D. T.) abgeſpeiſt werde. 

Der zweite große Widerſtand, gegen den ſelbſtändigere deutſche Köpfe 
ſich ſchon Jahrhunderte vor Steins Befreiungsedikt zu wehren hatten, hieß 
Gewiſſenszwang. Unfre Vorfahren find namenlos gequält worden durch 
Behinderung der Denkfreiheit; der Weg zu dieſer Freiheit iſt mit den Ge⸗ 
beinen von tauſend und abertauſend Märtyrern beſät. Demokraten müſſen 
alſo danach trachten, daß uns die ſchwer errungenen Refultate der Auf. 
klärungszeit wie die im vorigen Jahrhundert gewonnenen Garantien für 
freie Lehre, freie Meinungsäußerung in Wort und Schrift nicht wieder 
verkümmert werden. 

Von einem konſervativen Parlamentarier iſt vor fünfzig Jahren das 
Wort gefallen: Jawohl Preßfreiheit! Aber hinter jedem Schriftſteller 
einen Galgen!“ Dies Wort richtete ſich gegen die leider zuweilen be 
tätigte Auffaſſung, als ob Preßfreiheit ſoviel wie Verleumdungsfreiheit 
ſei. Auch hier haben Demokraten ein ſchönes Feld zur Betätigung, in- 
dem ſie den Schutz der Perſon gegen Willkür irgendwelcher Art, ſei es 
von ſeiten roher Beamter oder gewiſſenloſer Ehrabſchneider, auch vor den 
Gerichten ſelbſt zu mehren und zu ſtärken ſuchen. 

Hiermit im engſten Zuſammenhang ſteht ein beſſerer Schutz der 
Perſon überhaupt. Der entehrende Ausdruck ‚Untertan‘ muß ... be 
ſeitigt werden. Die Art, wie Staatsbürger heute auf gänzlich ungeprüfte 
Denunziationen hin aus ihrer Häuslichkeit geriſſen und in Anterſuchungs⸗ 
haft abgeführt, wie bei der geringſten Gelegenheit die Wohnungen um ⸗ 
gewühlt und durchſchnüffelt werden, verſtößt gegen die Anverletzlichkeit des 
Hauſes. Ebenſo ſollten der Notwehr viel weitere Grenzen gezogen fein. 
Die Auffaſſung, als ob Akte der Selbſthilfe ebenſo viele Wichtigkeits⸗ 
minderungen für die Behörden ſeien, muß lächerlich gemacht und ausgetilgt 
werden. Die Polizei möchte uns einbilden, daß jeder Inſultierte, ſtatt mit 
einer Ohrfeige zu antworten, ‚schriftlich einzukommen“ habe. Nächſt Ver⸗ 
leumdern haben deshalb aggreſſive Rohlinge viel zu viel Macht und Gel 
tung in Deutſchland. Dem Publikum aber wird die Bedientenhaftigkeit 
anerzogen, über die nachher, fobald fie ihren kläglichen Mangel an Selbſt 
achtung im Auslande zeigt, unſre Miniſter ſtöhnen. Daher ſollten Demo⸗ 
kraten das auf ihre Fahne ſchreiben, was in der engliſchen Welt habeas 


Qürmerd Tagebuch 677 


corpus heißt: Unantaftbarfeit von Perſon und Wohnung und größere Freie 
heit in der Abwehr von Eindringlingen. 

Es iſt mir immer unfaßbar geweſen, wie eine ernſte politiſche Partei 
ſich programmatiſch für gewiſſe wirtſchaftliche Forderungen feſtlegen konnte. 
Ob Schutzzoll oder Freihandel, das bleibt eine Zweckmäßigkeits⸗, nicht eine 
Gewiſſensfrage. Die Redensart: „Ohne wirtſchaftliche Freiheit keine poli⸗ 
tiſche Freiheit“ ſollte ja wohl bedeuten: keine bureaukratiſche Hemmung für 
Erzeugung und Ausfuhr von Waren! Aber erſtens iſt Nordamerika, das 
Land ausgeprägteſter Demokratie, zugleich das Land der ſtärkſten Schutz ⸗ 
zölle; und zweitens bedeutet Freiheit unter Starken längſt noch nicht das 
gleiche wie Freiheit von Starken gegen Schwächere. In Deutſchland ſcheint 
ſich für gewiſſe Gebiete der nationalen Arbeit der Schutzzoll vorläufig gut 
bewährt zu haben. Er kann morgen wieder falſch werden; dann wird er 
abgeſchafft. Aber dies zu entſcheiden, iſt Sache der Statiſtik, des zeit- 
weiligen Nutzens, des Aberblickes über die Konjunktur, nicht Sache eines 
Programms. 

Seit der deutſche Freiſinn bis auf weiteres Blockpartei geworden iſt, 
wird es ihm ferner liegen als je, die Vielköpfigkeit an leitender Stelle, dies 
ſchleichende, faſt unausrottbare Übel aller Demokratien, in unſre großen 
nationalen Organiſationen wie die Armee hineinzutragen. Noch ſind alle 
Heere, die mit vielköpfigem Kommando auszogen, geſchlagen worden. In 
der Armee iſt alſo die Kommandoſpitze brauchbar, vorausgeſetzt, daß der 
betreffende Purpurträger Verſtand genug hat, beſſere Leute herauszufinden 
und an ſeiner Stelle das machen zu laſſen, was er ſelbſt ſchlechter machen 
würde. Auf andern Gebieten, zumal auf rein geiftigen und in der Suftig, 
iſt perſönliches Regiment der Anfang vom Ende. Eine Nation von über 
60 Millionen Seelen darf nicht fortwährend auf zwei Augen geſtellt und 
durch Anbeſonnenheiten eines einzelnen hineingeritten werden. Wir brauchen 
uns nicht andrer Leute Hörner abzulaufen. Daher ſollten die Demokraten 
„Abgewöhnung vom Königtum“ auf die Fahne ſchreiben für ſolche Re 
gierungs⸗ und Verwaltungsgebiete, auf denen vom Volk gewählte Körper⸗ 
ſchaften und ihnen verantwortliche Miniſter ſicherer funktionieren, während 
mangelnde Garantie der Selbſtbeſchränkung des „Monarchen“ für die breiten 
Schichten von übergroßer Gefährlichkeit iſt. An Revolution wird kein Ver⸗ 
ſtändiger denken, ſolange genügende verfaſſungsmäßige Mittel zur Erreichung 
eines Zweckes vorhanden find. . . 

Am dieſe Mittel anwenden zu können, bedarf es einer freiheitlich ge⸗ 
ſinnten Mehrheit im preußiſchen Abgeordnetenhauſe; dazu wieder einer 
größeren Anziehungskraft auf die Wähler, der Einigung aller liberal und 
oppoſitionell empfindenden Männer zu einem wuchtigen Sturmbock. Des⸗ 
halb müßte das Zukunftsprogramm der Demokraten einfach und verſtändlich 
ſich mit wenigen Hauptpunkten begnügen, die leicht erfaßt ſind, ſich an den 
perſönlichen Stolz, das Freiheitsgefühl, aber auch an die Liebe zu Land 
und Heimat wenden. 


678 Türmers Tagedud 


Der Freifinn wie der Liberalismus haben in dem Beſtreben, fic eine 
breitere Baſis zu ſchaffen, mehrfach verſucht, auch das Gebiet der äußeren 
Politik für ſich zu belegen. Soweit ein unzeitiges Verlangen nach Weiß⸗ 
büchern damit gemeint iſt, wird kein Patriot unſerer Diplomatie dieſen 
Schaden antun wollen. Aber es bleibt richtig, daß eine Demokratie, wie 
ſie heute im Reichstage ſitzt, als bewußte und verantwortliche Mitvertreterin 
nationaler Intereſſen ihr Augenmerk auch nach außen richten muß. Denn 
Bismarck hat uns zwei böſe Erbſchaften hinterlaſſen, nämlich außer dem 
gänzlich unbefriedigenden Verhältnis zur Sozialdemokratie im eigenen Lande 
das nicht minder unbefriedigende zu unſern Stammesbrüdern in 
Oſterreich. Die deutſchen Regierungstreife mit ihrem Anhang fühlen 
ſich, fo ſcheint es, durch hundert Rüdfichten behindert; es wäre Sache einer 
weitſchauenden nationalen Demokratie, auf ſolchen Gebieten, wo eine Ver⸗ 
ſtändigung Ausſichten hat, jene Beziehungen zu pflegen und mindeſtens 
wirtſchaftlich an das Schlagen einer Brücke zu denken. 

Kein Politiker plant irgend etwas Gewaltſames. Die dumme Der 
leumdung, wir wollten dergleichen herbeiführen, in Europa auszuſtreuen, 
iſt Sache unfrer Feinde. Anſre Sache bleibt es, uns nicht eines Tages 
durch Tatſachen überraſchen zu laſſen. Die Ungarn wollen ſich vom habs⸗ 
burgiſchen Staat lostrennen; und da ſie verbohrt ſind, werden ſie es eines 
Tages vielleicht erreichen, wie ſchon manche durch Leidenſchaft Verblendete 
einen Wunſch zu ihrem Unfegen in Erfüllung gehen ſahen. Bis dahin 
ſtecken diesſeits der Leitha 9 Millionen fprach- und kulturtreuer Vluts⸗ 
verwandter zwiſchen Bork und Baum. Bismarck, der Mann des raſchen 
diplomatiſchen Notbehelfs, hat Oſterreich aus Deutſchland hinausgeſioßen; 
aber er hat ſchon vorher Oſterreich durch Zurückweiſung eines Zollverbandes 
nicht in Deutſchland hineingelaſſen. Es iſt ſehr die Frage, ob dieſe Maß⸗ 
regel, wenn in ihrer Zeit wohl angebracht, ſich nicht inzwiſchen zu einem 
ſchweren Fehler ausgewachſen hat. Die Idee einer großen europäiſchen 
Zolleinigung mag verfrüht ſein; aber partiell kann ſie in Mitteleuropa zur 
böchſten Zufriedenheit der Beteiligten gelingen. 

Auf ein Auseinanderfallen des habsburgiſchen Dualſtaates wie auf 
etwas unbedingt Gutes hoffen zu wollen, wäre überaus kurzſichtig. Selbſt 
wenn es jemals glückte, den tſchechiſchen Kloß aus der böhmiſch-mähriſchen 
Brühe zu iſolieren und ihn mit Homerule Europa vorzuſetzen, — was 
könnte er anders werden als eine ruſſiſche Dependenz im Herzen des Deutlſch⸗ 
tums, gerade wie ein wiederhergeſtelltes Polen niemals etwas andres wer ⸗ 
den könnte, als was es faſt ein Jahrhundert lang vor ſeinem Einſturz war: 
eine ruſſiſche Satrapie? 

Von den Sozialdemokraten genügt es zu ſagen: ſie haben unſere 
Wähler. Die Maſſen, mit denen wir etwas anfangen könnten, ſtehen in 
einem andern Lager. Die Sünden, die dazu geführt haben, find vom Ger 
liner Freiſinn unter Schulze⸗Delitzſch begangen worden und von Bismarck, 
der an dieſer Stelle mehr als an irgendeiner andern ſeiner Herkunft aus 


ten! 


1 


Türmers Tagebuch 679 


dem preußiſchen Junkertum den Zoll bezahlt hat. Seither wird „bekämpft“ 
etwa mit demſelben Erfolg, den ein Reiter erzielt, der ein ſtörriſches Pferd 
unausgeſetzt prügelt.“ 

Von rund dreizehn Millionen Reichswählern feien mehr als zwei 
klerikal, dreieinviertel international, weit über eine halbe polniſch. Etwa 
ſieben, wenig über die Hälfte des Ganzen, blieben für eine bewußt nationale 
Politik. Da habe denn die „liberale Demokratie“ die Miſſion: „mit den 
demokratiſchen Elementen des Zentrums wie mit den marxiſtiſch nicht völlig 
befangenen Sozialdemokraten Fühlung zu halten für Aufgaben, die auch 
dieſen Kreiſen am Herzen liegen müſſen: Niederhaltung von Privilegien, 
Sicherung der Gerechtigkeit, habeas corpus, Gewiſſens freiheit.“ 

Sind dieſe letzten Forderungen nun ſpezifiſch „demokratiſche“? Gibt 
es irgend eine deutſche Partei, die ſich gegen die Gleichheit vor dem Ge- 
ſetze, gegen die Unantaftbarfeit der Perſon, gegen die Gewiſſens freiheit — 
bekennt? Sind das nicht ſelbſtverſtändliche, nicht längſt erfüllte Aufgaben? 
And doch gibt es Tauſende, Millionen Deutſcher, die dieſe Güter erſt er⸗ 
kämpfen wollen? i : 

* 

Ob und wieweit wir in Deutſchland „in einem demokratiſchen Zeit⸗ 
alter leben“, mag zunächſt dahingeſtellt bleiben. Jedenfalls leben wir in 
einem Zeitalter höchſt populärer — Skandalprozeſſe. And der letzte iſt immer 
der ſaftigſte. Nach dem Eulenburg⸗Prozeß iſt freilich eine Steigerung kaum 
noch denkbar. „Das Anbeſchreibliche — hier iſt's getan.“ Anbeſchreiblich 
„im weiteſten Sinne“, wie Oberſtaatsanwalt Iſenbiel ſich auszudrücken pflegt. 

Den Ausgangspunkt der Affäre bildet bekanntlich eine Serie von 
Artikeln der „Zukunft“, durch die Harden angeblich den Fürſten Eulenburg aus 
feiner einflußreichen Stellung beim Kaiſer entfernen wollte. „Harden“, rekapi⸗ 
tulierte die „Frkf. Ztg.“, „warf, um das zu erreichen, dem Fürſten Eulenburg 
vor, daß er homoſexuell ſei und ſich deshalb zum Ratgeber des Kaiſers nicht 
eigne. Man muß — wie man auch über die ganze Aktion ſonſt denken 
mag — anerkennen, daß Harden feine Angriffe nicht in ſenſationeller Form 
erhob, ſondern ſie ſo verkleidete, daß ſie nur einem kleinen Kreiſe von Ein⸗ 
geweihten verſtändlich waren. Graf Moltke war in all dieſen Artikeln 
immer nur nebenher erwähnt, als einer derjenigen, die mit dem 
Fürſten Eulenburg befreundet waren und ihm politiſche Dienſte leiſteten. 
Die Artikel blieben zunächſt in der weiteren Offentlichkeit ganz unbeachtet, 
weil ſie da niemand verſtand, und veranlaßten erſt nachher einen ungeheuren 
Lärm, als im Mai vorigen Jahres die Angegriffenen plötzlich beim Kaiſer 
in ſichtbarſte Ungnade fielen. Jetzt erſt wurde auch gegen Harden vor⸗ 
gegangen, aber auffälligerweiſe war es nicht Fürſt Eulenburg, 
ſondern der von Harden in allerletzter Linie angegriffene Graf 
Moltke, der die Beleidigungsklage einreichte. Dieſer Umftand 
hauptſächlich hat dann Harden in eine prozeſſual ſehr ungünſtige Poſition 
gebracht. Zwar errang er in der erſten Verhandlung vor dem Schöffen⸗ 


680 Türmers Tagebuch 


gericht einen großen Erfolg: er wurde freigeſprochen, weil er den Beweis 
erbracht habe, daß Graf Moltke normwidrig“ veranlagt fei. Aber unmittelbar 
nach dieſem Urteil trat eine Wendung ein. Die Verhandlung hatte an febr 
einflußreicher Stelle verſchnupft; die Staatsanwaltſchaft, die ſich vorher für 
den Graf Moltke gar nicht intereſſiert hatte, griff plötzlich in den Prozeß 
ein; das erſte Verfahren wurde auf ihren Antrag einfach eingeſtellt und 
eine neue, öffentliche Klage vor der Strafkammer erhoben. Das neue Ver 
fahren wurde mit großer Schärfe gegen den Angeklagten geführt. Harden 
war krank und deshalb und aus andern Gründen in ſeiner Verteidigung 
außerordentlich zurückhaltend; wie es ſcheint, wollte er damals ſich zufrieden 
geben, wenn er mit einer Geldſtrafe davongekommen wäre. In die Offent 
lichkeit drangen nur Bruchſtücke aus der Verhandlung, die zum größten 
Teil hinter verſchloſſenen Türen geführt wurde. Das Ende war die Ver 
urteilung Hardens zu vier Monaten Gefängnis. Das Urteil ex 
achtete als feſtgeſtellt, daß Harden durch eine Reihe fortgeſetzter Hand 
lungen, die ein einheitliches Delikt bilden, dem Grafen Moltke den Vor: 
wurf bomoferueller Neigung und Betätigung gemacht habe und daß dieſer 
Vorwurf erweislich unwahr ſei. Den Schutz des § 193 hatte ihm das 
Gericht verſagt, weil — nach der bekannten Praxis des Neichsgerichts — 
der Kampf gegen allgemeine Mißſtände fein berechtigtes Intereſſe der 
Preſſe im Sinne des § 193 fet. 

Die Revifionsfchrift des Verurteilten enthielt zwei Hauptpunkte: 
ſie beanſtandete die Grundlage des ganzen zweiten Verfahrens und die 
rechtliche Begründung des zweiten Urteile. In keinem der beiden Punkte 
erachtete das Reichsgericht die Neviſion als begründet. Es beſteht ein 
Streit darüber, wie die Staatsanwaltſchaft zu verfahren hat, wenn ſie nach⸗ 
träglich die Verfolgung einer Sache übernimmt, in der ſie, wie im Prozeß 
Moltke⸗Harden, anfangs ihre Mitwirkung verſagt hat. Nach der Meinung 
faſt der geſamten Rechtswiſſenſchaft hat ſie dann einfach das 
Verfahren in dem Stadium weiterzuführen, in dem es ſich zur Zeit 
ihres Eingreifens befunden hat. Im Fall Moltke hätte fie danach ein: 
fach Berufung gegen das Arteil des Schöffengerichts einlegen müſſen. 
Statt deſſen wählte fie den anderen Weg, das Urteil einfach zu fal: 
ſieren und eine völlig neue Anklage zu erheben. Es ift... wieder 
holt dargelegt worden, daß dieſer Modus prinzipiell verwerflich iſt, weil 
der Staatsanwaltſchaft nicht die Möglichkeit gegeben werden darf, ein 
richterliches Urteil mit einem Federſtrich aus der Welt zu 
ſchaffen, und daß feine Anwendung außerdem zu den ungeheuer 
lichſten juriſtiſchen Abſurditäten führt. Indeſſen, das Reichs 
gericht hat bereits früher einmal in einem ähnlich liegenden Fall dieſen 
zweiten Weg für zuläſſig erklärt, und es hat auch jetzt das Vorgehen der 
Staatsanwaltſchaft mit einem Vorbehalt, auf den hier nicht eingegangen 
werden kann, ſanktioniert. Auch die Begründung des Arteils hat ihm 
keinen Anlaß zu Beanſtandungen gegeben. Es hat ſeine alte Auslegung 


Turmers Tagebuch 681 


des § 193 wiederholt und weiter erklärt, daß auch die übrigen rechtlichen 
Aus führungen des Arteils auf Grund ſeiner tatſächlichen Feſtſtellungen, 
die das Reichsgericht ja nicht angreifen kann, unanfechtbar ſeien. Wenn 
trotzdem der Reviſion ſtattgegeben und eine neue Verhandlung angeordnet 
wurde, ſo lag das lediglich an einer Ankorrektheit des Verfahrens, 
die in der Revifionsfchrift gerügt war. Ein Zeuge, der nach feiner Ver⸗ 
nehmung entlaſſen worden und nachher nochmals vernommen war, hatte 
bei dieſer zweiten Vernehmung ſeinen Eid nicht erneuert. Das iſt nach 
der ſtändigen Nechtſprechung des Reichsgerichts unzuläſſig und mußte zur 
Aufhebung des Arteils führen.“ 

Von einem Manne, der in der Öffentlichkeit eine Rolle ſpielt, fo ſtellt 
ſich das ſelbe Blatt zu dem gegenwärtigen Stadium der Affäre, dürfe man 
verlangen, nicht daß er fehlerfrei ſei, wohl aber, daß ſeine Fehler ein gewiſſes, 
erträgliches Maß nicht überſchreiten. Das gelte für Fehler aller Art, auch für 
ſexuelle, und es würde gar nicht ſchwer ſein, Fälle zu konſtruieren, von denen 
jedermann zugäbe, daß man berechtigt und verpflichtet wäre, fie an die Öffent- 
lichkeit zu bringen. Ob dies auch für den Fall Eulenburg zutreffe, darüber 
ſeien nun allerdings die Meinungen ſehr verſchieden, man könne aber doch 
auch hier die rechte Mitte finden: „Die Verfehlungen Eulenburgs, ſofern 
er ſie begangen hat und ſoweit man ſie kennt, liegen zeitlich ziemlich weit 
zurück. Das würde dafür ſprechen, daß es richtiger geweſen wäre, ſie nicht 
aufzudecken. Aber ſo ſteht eben die Sache gar nicht. Harden hat 
in den Artikeln, die zum Moltke ⸗ Prozeß geführt haben, nicht behauptet, 
daß Eulenburg oder Moltke ſich ſexueller Verfehlungen ſchuldig ge⸗ 
macht hätten, ſondern nur von einem normwidrigen Empfinden geſprochen. 
Man mag auch hierin etwas auszuſetzen haben; wenn aber dann die 
Sexualia der Herren Moltke, Eulenburg und anderer in ſo breitem Maße 
die Offentlichkeit beſchäftigten und noch beſchäftigen, ſo liegt die Schuld 
dafür in viel höherem Maße bei dem Angegriffenen. Angegriffen war in 
erſter Linie Eulenburg; ihm eigentlich galt Hardens Artikelſerie, Moltke 
war nur nebenbei erwähnt. Die beiden Moltke⸗Prozeſſe hätten daher leicht 
vermieden werden können, wenn nicht Eulenburg den Grafen 
Moltke vorgeſchoben, wenn er, um den es ſich handelte, gleich 
ſelbſt ſich geſtellt hätte. Und ferner: wer zwang denn den Fürſten 
Eulenburg, vor Gericht eine Ausſage zu machen, die ihn in den dringenden 
Verdacht des Meineids gebracht hat? Den jetzigen Prozeß hat er doch offen- 
bar ſich ganz allein zuzuſchreiben, und auch der bekannte Münchener Prozeß 
wäre wahrſcheinlich unterblieben, wenn nicht Eulenburg durch ſein Vorgehen 
Harden gezwungen hätte, feiner Wahrhaftigkeit in München den Pro- 
zeß zu machen. Die leidige Sache hätte alſo nicht entfernt die Ausdeh⸗ 
nung genommen, die ſie nun hat, wenn nicht die Winkelzüge Eulen⸗ 
burgs es bewirkt hätten. An Harden bleibt nur das eine haften, daß 
er in feinen Artikeln überhaupt vom Sexualempfinden Eulenburgs gefpro- 
chen hat. In vielen Fällen würde man das ohne Zweifel verurteilen müſſen, 


682 Birmers Tagebuch 


in dieſem Galle aber fehen wir keinen Grund zu befonderer Aufregung. 
Nicht nur deshalb, weil der politiſche Effekt, den Harden erzielt hat — 
den Sturz Eulenburgs und ſeiner Freunde — erfreulich iſt, ſondern weil 
ſich herausgeſtellt hat, daß Eulenburg, auch ganz perſönlich betrachtet, von 
einer Art iſt, daß man ſich nicht gerade verpflichtet fühlen muß, in Auße⸗ 
rungen über ihn rückſichtsvoll zu ſein. Wenn Fürſt Dohna an Eulenburg 
ſchreiben konnte: „Du biſt ganz einfach fo verlogen ..., und Fürſt Eulen⸗ 
burg das eingeſteckt hat, ohne daß man, wie es doch zum Ehrenkodex jener 
Kreiſe gehört, den Knall einer Piſtole vernommen hat — ſo darf man 
ſchon über Eulenburg auch noch was anderes ſagen. 

Dieſen Brief des Fürſten Dohna ſollte man auch bei der Wertung 
der politiſchen Rede, die Eulenburg ... dem Gericht gehalten hat, nicht 
vergeſſen. Eulenburg hat ausgeführt, daß er ſtets ein Gegner der Kleri⸗ 
kalen geweſen ſei, in dieſem Sinne auch als Geſandter in München ge⸗ 
wirkt und dadurch den Haß der Klerikalen ſich zugezogen habe, auf deren 
Einfluß es zurückzuführen ſei, wenn man nun verſuche, ihn zu verderben. 
Den klerikalen Blättern ſind dieſe Außerungen ein gefundenes Mahl, aber 
wenn es lächerlich ift, in der Aktion gegen Eulenburg klerikale Machen ⸗ 
ſchaften zu ſehen, fo iſt es nicht minder unbegründet, dem Fürften Eulen ⸗ 
burg den anderen Teil feiner Äußerungen zu glauben. Eulenburg hat nie 
eine ſelbſtändige Rolle in der hohen Politik gefpielt und tft nie, wie man 
zu ſagen pflegt, ein „Arbeiter“ geweſen. Der Fränkiſche Kurier“ ſtellt feſt, 
daß Eulenburgs Münchener Tätigkeit für die „proteſtantiſche Kaiſeridee in 
elf untergeordneten Fällen der Berührung mit der Nunziatur beſtand. Das 
mag wohl ſtimmen. Es tft ganz klar, daß dieſe Äußerungen Eulenburgs 
aus der Not des Augenblicks geboren worden ſind, und ſo hat ſie 
auch Miniſterpräſident v. Podewils im bayeriſchen Landtag gekennzeichnet. 
Der Einfluß Eulenburgs datiert aus ſpäteren Jahren, aber das iſt natür⸗ 
lich nicht ſo aufzufaſſen, als ob er der alleinige Natgeber des Kaiſers ge⸗ 
weſen fei...” 

Auch die „Frankf. Ztg.“ iſt im Gegenſatz zu anderen der Meinung, 
daß die Öffentlichkeit ein Recht hatte, zu wiſſen, was da vorging. Handelte 
es ſich doch nicht um gewöhnliche Sittlichkeitsprozeſſe, ſondern um Affären 
mit politiſchem Hintergrund. Was aber geſchah? „Mit wachſendem Er- 
ſtaunen“, ſchildert es die für Harden eintretende „B. Z. a. Mittag“, 
„blickt ein großer Teil des deutſchen Volkes (und nicht ſein ſchlechteſter 
Teil) auf das Kriminalgerichtshaus in Alt. Moabit. Mit einem Erſtaunen, 
das von Tag zu Tag beklommener wird. Zu hören iſt nichts; wenigſtens 
nichts Sicheres. „Die Öffentlichkeit iſt für die ganze Dauer der Verhand- 
lung ausgeſchloſſen.“ Warum? Weil die Berichte über die Verhandlung 
die Sittlichkeit gefährden könnten? Du lieber Himmel! Auch das un⸗ 
ſchuldigſte Gemüt hat im Lauf der letzten Jahre das Thema, über das da 
drinnen geredet wird, bis in die Einzelheiten hinein kennen gelernt 
Was die Hauptzeugen, der Fiſcher Ernſt und der Milchhändler Riedel, 


Sfirmers Tagebuch 683 


gegen den Fürften Eulenburg auszufagen haben, ift feit bald drei Monaten 
bekannt. Die wichtigſten Teile des Gerichtsprotokolls, das die Höchſten 
im Reich in extenso geleſen haben, ſind nach dem Münchener Prozeß 
Harden kontra Staedele in füd- und norddeutſchen Zeitungen veröffentlicht 
worden. Wir kennen die grauſigſten Einzelheiten der Verfehlungen (per⸗ 
verſer Geſchlechtsverkehr und Kuppelei), deren Fürſt Eulenburg angeſchul⸗ 
digt iſt. Schlimmeres könnten wir kaum noch hören. Wir waren trotzdem 
darauf gefaßt und hätten nichts dagegen geſagt, daß für einzelne Teile der 
Verhandlung die Offentlichkeit ausgeſchloſſen werde. Warum aber ſchließt 
man ſie für die ganze Dauer der Hauptverhandlung aus? Warum tut 
man, als ſei ein Schweigegebot ergangen, das die Strafprozeßordnung 
(8 175 II) doch nur bei Gefährdung der Staatsſicherheit geftattet? Warum 
wird nicht von der Vorſchrift des § 176 Gebrauch gemacht, der erlaubt, 
einem beſtimmten Perſonenkreis den Zutritt zu verſagen und einzelnen 
Perſonen“ ihn auch zu nicht öffentlichen Verhandlungen zu gewähren? 
Warum die ewige, in den wunderlichſten Formen fic) äußernde Angſt, 
irgendein Wörtchen könne durch die Mauern ſickern? Wäre es nicht viel⸗ 
mehr, gerade in dieſem Fall Eulenburg, ein Glück, wenn der Offentlichkeit 
das Recht auf Kontrolle der gerichtlichen Vorgänge nicht ganz und gar 
entzogen würde? : 

Daß der Angeklagte, der ſich doch mit hartnäckiger Emphaſe für voll- 
kommen unſchuldig ausgibt, gleichzeitig ſich mit Händen und Füßen gegen 
die Möglichkeit ſträubt, dieſe Unfchuld öffentlich zu erweiſen, iſt feine Sache. 
Wenn er auf Freiſprechung hofft, müßte er ſich, bei ſeiner allbekannten 
Schlauheit, ſagen, daß ein unter dieſen Amſtänden hinter verſchloſſenen 
Türen erzielter Spruch in den Augen des Volkes gänzlich entwertet wäre. 
Daß man ihn belächeln und höhniſch gloſſieren würde. Welchen Grund 
aber hatte die Anklagebehörde, dieſen hermetiſchen Verſchluß ſo dringend 
zu wünſchen? Wie uns ſcheint, konnte ſie nur eins erſehnen: die Gelegen⸗ 
heit, nach ſehr bedauerlichen Irrungen und Wirrungen im hellſten Licht 
ſich als eine objektive Behörde (die ‚objektivfte der Welt“ braucht's ja nicht 
gerade zu ſein) zu zeigen, die nach Stand, Namen, Gunſt nicht fragt, vor 
dem Bekenntniſſe eigenen Irrtums nicht zurückſchreckt und mit unbeug ſamer 
Energie nur die Rechtsgleichheit wahrt 

Einen Schwerkranken zur Hauptverhandlung über ein ihm zugeſchrie⸗ 
benes Kapitalverbrechen zu zwingen, wäre inhuman. Bezeugte das zuſtändige 
Medizinalkollegium, daß Fürſt Eulenburg fich jetzt nicht bewegen, nicht 
figen und ſtehen kann, wie normale Menſchen feines Lebensalters, fo war 
die Verhandlung aufzuſchieben, bis der Angeklagte geneſen iſt. 
And die Behandlung hatte dann der jedes anderen Unterfuchungsgefangenen 
zu gleichen. Aufs Haar. Gerade in dieſem Falle konnte man es damit 
nicht genau genug nehmen. 

Ein des Meineids oder eines anderen mit Zuchthausſtrafe bedrohten 
Verbrechens dringend verdächtiger Menſch kommt nach der bei uns geltenden 


684 Tirmers Tagebuch 


Vorſchrift in eine Straflingsgelle, in der er oft Monate lang von der 
Außenwelt gänzlich abgeſchloſſen iſt und mit ihr nur durch die Organe 
der Gefängnisverwaltung verkehren darf. Beſuche, auch der nächſten An⸗ 
gehörigen, werden ſelten geſtattet. Jede Möglichkeit zu unbewachten Ge⸗ 
ſprächen, zu Kolluſionsverſuchen irgendwelcher Art wird mit dem Aufwand 
äußerſter Sorgfalt vereitelt. Zur Hauptverhandlung wird der Angeklagte 
dann vom Gerichtsdiener vorgeführt. Er muß in dem ihm zugewieſenen, 
abgeſchloſſenen Raum ſitzen, darf auch unter Bewachung im Sitzungsſaal 
höchſtens einmal wenige Minuten mit ſeiner Frau oder ſeinen Kindern 
ſprechen und wird gewöhnlich ſchon in der erſten Stunde auch daran er 
innert, daß er nur mit einem Fuß noch auf dem feſten Boden des Beſitzes 
bürgerlicher Ehrenrechte ſteht. Väterliche Ermahnungen von der Art derer, 
„die Richter nicht für Narren zu halten,“ „das ſchamloſe Leugnen endlich 
aufzugeben“, ‚feiner verlorenen Sache durch das einzige Rettungsmittel eines 
reumütigen Bekenntniſſes noch die Milde des Gerichtshofes zu fichern‘, find 
alltäglich. Als der geringerer Verbrechen angeſchuldigte, durch die lange 
Anterſuchungshaft furchtbar heruntergekommene Auguſt Sternberg ſich auf 
das Geländer des Anklageraumes ſtützte, rief ihm der Vorſitzende mit zorniger 
Stimme zu: „Lehnen Sie ſich nicht fo leger an! Das gehört ſich nicht! 
Fürſt Eulenburg wurde, trotzdem die Ergebniſſe des Münchener 
Städeleprozeſſes dazu zu zwingen ſchienen, nicht ſofort verhaftet. Er be⸗ 
hielt reichliche Zeit zu Vorbereitungen und Dispoſitionen aller Art; ein 
Schuldiger konnte in dieſer Zeit alles Gefährliche wegſchaffen oder ver 
nichten. Die Anterſuchungszeit hat er in der Charité verlebt; ungefähr 
fo unbequem wie ein Gerienreifender in einem Dorfgafthof. Wir laſen, 
daß er einen Diener bei ſich habe (erlaubt das die Gefängnisordnung?) 
und täglich Frau und Kinder zu langen Beſuchen empfange. Dabei hatten 
drei Inſtanzen, obenan das preußiſche Kammergericht, feinen Haftentlaſſungs 
antrag trotz ungewöhnlich hoher Kaution abgelehnt, weil nach Lage der 
Sache die Gefahr der Tatbeſtandsverdunkelung zu fürchten ſei. Jetzt wird 
er täglich in einem Automobil vor das Gerichtshaus gefahren, auf einer 
Bahre in den Saal getragen, in weiche Kiſſen gebettet, vor und nach der 
Verhandlung und während der Pauſen von ſeiner Familie umringt; von 
Familienmitgliedern, die (unglaublich, aber wahr) in feiner Straf: 
ſache noch als Zeugen vernommen werden ſollen. Als er ſich 
während des Prozeſſes Moltke⸗Harden, auf Söhne und Krücken geſtützt, 
in den Saal ſchleppte, in dem er nachher tagelang munter plauderte, nannte 
ein kundiger Thebaner den geſchickt arrangierten Aufzug eine „Prozeſſion, 
von der die Darſteller des père noble-Faches viel lernen könnten . Wer 
jetzt auf den Eingang und in den Saal blickt, muß glauben, ein verwundeter 
Held ſei aus einer gewonnenen Schlacht heimgekehrt und erzählte den Colle 
repräſentanten nun feine Erlebniſſe. Alte Richter ſchütteln den Kopf und 
ſagen, ſo ſei noch nie ein wegen Meineids Verhafteter behandelt worden 
Mit großem Zeremoniell wird der Fürſt in den Gerichtsſaal getragen. 


Dürmers Tagebuch 685 


Die Fürftin zur Seite. Die Söhne folgen und der Liebenberger Hofſtaat. 
Der Fürft konferiert nicht nur mit feiner Familie, ſondern auch mit feinen 
Leuten, denen ein Wink, ein Augenzwinkern ihres Herrn Befehl iſt. Die 
Anweſenheit eines Kriminalſchutzmanns kann nicht verhindern, daß die Kon⸗ 
verfation in fremder Sprache geführt wird. Dann werden die edlen und 
erlauchten Zeugen, die ſchon ungeduldig draußen mit lackbeſchuhten Füßen 
ſtampften, hereinkomplimentiert. Rotbfchild hat bei Hofe in Wien zu tun. 
Schulenburg möchte wieder auf feinem Gut nach dem Rechten ſehen. Oberhof⸗ 
marſchall Graf Auguſt Eulenburg muß zum Kaiſer. Ein vages Leumunds⸗ 
zeugnis bildet den Inhalt ihrer Ausſage. Vor dieſen ließ er nie die Maske 
fallen. „Der angeklagt? Lächerlich. Habe nie etwas bemerft.. .’ 

Auf der anderen Seite die bürgerlich ⸗proletariſchen Zeugen, die Riedel, 
Dandl, Ernſt und Troſt uſw., argwöhniſch betrachtet von den exekutiven 
Subalternen, bevormundet, verwarnt und zurechtgewieſen. Gedrückte, reſig⸗ 
nierte Stimmung herrſcht in den Warteräumen. Das Zeugengeld reicht 
nicht zu auf dem teuren Berliner Pflaſter. Man macht Schulden. Der 
Wirt, den man nicht bezahlen konnte, läuft in den Gerichtsſaal. Man 
wird zur Rede geſtellt. Blamage. Dazu Exiſtenzſorgen. Daheim verliert 
man die Kund ſchaft und niemand iff da, der das Heu hereinbringt. Dann 
während der Vernehmung beſtändige Ermahnungen, Drohungen und De⸗ 
mütigungen. Der Juſtizrat muß aus dem Saale gehen. Man iſt aber 
nicht ſo dumm, als man angeſehen wird. Nur die leidigen Anterſchiede in 
Sprache und Geſtus ... Endlich die Vorhalte, man habe mit dem und 
jenem geſprochen. Und warum man im Tucherbräu mit dem liebenswürdigen, 
gewandten Herrn von der Preſſe zuſammengeſeſſen habe. Endlich eine Art 
Verbot, überhaupt noch mit jemandem zu ſprechen. Verbannung auf den 
Iſolierſchemel, Kontrolle und Vorwürfe überall. 

Mißt man dieſes Bild des Prozeſſes am Geſetz und an der Praxis: 
Wo bleibt der Schutz des Geſetzes gegen die Kolluſionsgefahr, gegen die 
Gefahr einer Verſchleierung des Tatbeſtandes, wenn der Angeklagte un⸗ 
gehindert mit jedem konferiert? Welcher kranke Anterſuchungshäftling wurde 
je im Tiergarten ſpazieren gefahren, weil er den Rundgang im Gefängnis⸗ 
hof nicht mitmachen konnte oder wollte 

Wo ſteht dagegen geſchrieben, daß ein Zeuge auf einen Sfolierfchemel 
geſetzt werden darf, daß er mit niemandem ſprechen, mit niemandem eſſen 
und trinken gehen ſoll? Es gibt kein Schweigegebot für Zeugen. Es iſt 
auch ſowenig ein Unglück wie ein Vergehen, wenn ein Zeuge nach der Ver⸗ 
nehmung mit Sournaliften verkehrt und dieſe von feiner Ausſage erfahren. 
Es mag ein Ausfluß der Sitzungspolizei ſein, daß einem bereits vernommenen 
Zeugen während der Vernehmung eines ſpäteren Zeugen der Saal ver⸗ 
ſchloſſen werden ſoll, weil ſeine Anweſenheit vielleicht den anderen irritieren 
könnte. Ausdrücklich aber beſteht eine ſolche Beſtimmung nur in Richtung 
gegen den Angeklagten (§ 246 St.⸗P.⸗O.). Der Zeuge Juſtizrat Bern⸗ 
ſtein mußte ſich während der Vernehmung Riedels entfernen, damit der 


686 DTürmers Tagebuch 


Zeuge nicht durch ihn beeinflußt werde, bewußt oder unbewußt. Welcher 
Affront gegenüber einem in Ehren grau gewordenen Anwalt und welche 
vorzeitige Minderbewertung des Zeugen Riedel. 

Zweifellos iſt das Verfahren, das dem Angeklagten, ſolange er noch 
nicht verurteilt ift, den weiteſten Spielraum zur Verteidigung läßt, muſter 
gültig. Aber der Ausgleich der ſozialen Gegenſätze ſcheint noch nicht ge 
lungen 

Daß auch der — „Vorwärts“ dieſer Anſicht huldigt, iſt ihm am Ende 
nicht zu verdenken. Iſt er doch in der Lage, aus eigener Erfahrung und 
Erinnerung manch Scherflein zu dem Kapitel zu ſteuern. Sozialdemo⸗ 
kratiſchen Redakteuren, die im Gefängnis erkrankten, ſeien trotzdem die 
kleinſten Vergünſtigungen verweigert oder erſt nach langem Zögern bewilligt 
worden. „Wer“, ſo ſchreibt er, „denkt angeſichts des Falles Eulenburg 
nicht an den Fall des Genoſſen Peus, deſſen Frau im Wochenbett ſtarb, 
nachdem ihr der gemütvolle Herr Staatsanwalt eröffnet hatte, ihr Mann 
könne zu ihrer ſchweren Stunde nicht beurlaubt werden, weil er eine ſchwere 
Strafe zu erwarten habe. Wer denkt nicht an den Fall des verſtorbenen 
Genoſſen Eichhorn zu Dresden, dem, da er wegen Boykottvergehens in der 
Anterſuchungshaft ſaß, das erbetene zweite Kopfkeilkiſſen rundweg verweigert 
wurde. Hätten er und andere Genoſſen, denen es nicht viel beſſer ging, 
beantragt, ihnen den täglichen Befuch von Angehörigen zu geſtatten, fie 
wären von den behördlichen Inſtanzen ſicherlich für geiſtig geſtört angeſehen 
worden. So ungeheuerlich wäre ihren Hütern das Verlangen erſchienen. 
And doch waren unſere Genoſſen nicht des Meineids und der Ver⸗ 
leitung zum Meineid beſchuldigt, ſondern weit weniger ſchlimmer 
Vergehen. Aber freilich, ſie waren auch nicht Durchlaucht und geweſener 
Botſchafter und einſtiger Freund des deutſchen Kaiſers 

Wir haben der preußiſchen Juſtiz nie ihr Unmögliches zugetraut 
And ſolange der Klaſſenſtaat ſteht, wird vor Gericht nie völlige Gleichheit 
ohne Anſehen der Perſon und des Standes vorkommen. Anbewußt mildert 
der Richter die herriſche Sprache, ſobald er nicht mehr einen im geflickten 
Rock gekleideten Proletarier, ſondern einen Mann aus ,befferen Rreifen’ 
vor ſich fiebt. Er kann gar nicht anders. Und ein Fürſt ift mehr als ein 
Mann aus ‚befferen Kreiſen'. 

And ſo kann man täglich und auch im Prozeß Eulenburg wieder 
ſehen, welche weitgehende Rüdficht auf die Wünſche hochgeſtellter Zeugen 
genommen werden, die ſchnell außer der Reihe abgefertigt werden möchten, 
weil ſie z. B. zu einer Hoffeſtlichkeit zu eilen haben. And dergleichen mehr. 
Nur naive Leute wundern ſich darüber 

Herr Landgerichtsdirektor Kanzow wandte ſich gegen die böſen Sei: 
tungen, die da behaupteten, er behandle den Fürſten Eulenburg beſſer als 
jeden anderen Angeklagten. Das iſt nach Herrn Kanzow nicht wahr. Er 
denkt gar nicht daran, eine Ausnahme zu machen und weiß genau, in welcher 
Weiſe der Angeklagte zu behandeln iſt. 


Türmers Tagebuch 687 


Wir entnehmen dieſer Erklärung mit Genugtuung, daß Herr Kanzow 
alle Angeklagten ohne Anterſchied, einerlei wes Standes und Ranges fie 
find, höflich behandelt. Daß er alle männlichen Angeklagten Herr An⸗ 
geklagter“ anredet. And daß, falls ein Proletarier einmal in ähnlicher 
Körperverfaſſung wie jetzt der Fürſt Eulenburg in Anterſuchungshaft ge- 
nommen wird und vor Gericht erſcheinen muß, Herr Kanzow ihm gern den 
fortwährenden Verkehr mit ſeinen Verwandten und Spazierfahrten im Tier⸗ 
garten geſtatten wird. 

Hoffentlich findet das gute Beiſpiel des Herrn Landgerichtsdirektors 
Nachfolge bei ſeinen Amtskollegen, bei allen Gerichtsvorſitzenden und Anter⸗ 
ſuchungsrichtern. Die haben nämlich bisher vielfach ſehr viel andere Amgangs⸗ 
formen im Verkehr mit Angeklagten und Anterſuchungsgefangenen gebraucht. 
And haben bisher über die Erlaubnis zum Verkehr mit Anverwandten und 
zu Spazierfahrten meiſt ſehr viel engherziger gedacht, als der Herr Land⸗ 
gerichtsdirektor Kanzow.“ 

Der „Vorwärts“ hofft demnach, daß Herrn Kanzows lobenswertes 
Beiſpiel recht viele Nachfolge findet. Dann werde ihn einſt die Geſchichte 
preiſen als den „Reformator“ preußiſcher Angeklagten und Anter⸗ 
ſuchungsgefangenenbehandlung. „Kanzow und Eulenburg! Den letzteren 
deshalb, weil — der Eulenburg⸗Prozeß erſt kommen mußte, um die allge 
meine Aufmerkſamkeit auf die humane Praxis des Herrn Landgerichts⸗ 
direktors Kanzow zu lenken.“ 

Sollte fürder, ſo meint Herr v. Gerlach in der „Welt am Montag“, 
noch jemand zweifelnd fragen: „Klaſſenjuſtiz“? fo werde ihm prompt die 
Antwort entgegenſchallen: ſiehe Fall Eulenburg! 

„Unmittelbar nach dem von dem Amtsrichter Kern ... geleiteten 
Berliner Schöffengerichtsprozeß gab es die erſte „Auffälligkeit“, der ſoviel 
weitere folgen ſollten. Das Harden freiſprechende Schöffenurteil wurde 
im Widerſpruch zum Geſetz ... für null und nichtig erklärt. Von 
neuem wurde in erſter Inſtanz verhandelt, und zwar vor jener Straf⸗ 
kammer, deren Vorſitzender Lehmann ſich noch immer nicht von dem DVor- 
wurf gereinigt hat, er habe ſchon vor der Verhandlung von Harden geſagt: 
„Der Kerl muß verurteilt werden.“ 

Das eigentlich Charakteriſtiſche bei jener Verhandlung ſei aber doch 
nicht das Verhalten des Gerichts, ſondern das der Staatsanwaltſchaft ge⸗ 
weſen. „Herr Oberſtaats anwalt Iſenbiel gerierte ſich mindeſtens in demſelben 
Maße als Anwalt Eulenburgs wie als Anwalt des Staates. 
Augenſcheinlich floſſen in ſeinem Gehirn Staatsintereſſe und Eulenburgs 
Intereſſe in eins zuſammen. Er heiſchte von Hardens Anwalt 
eine förmliche Entſchuldigung Eulenburg gegenüber — ein 
ſelbſt in preußiſchen Gerichtsſälen unerhörter Vorgang! Herrn Sfenbiel, 
ſeinem jetzigen Ankläger, hatte es damals Fürſt Eulenburg zu verdanken, 
daß er wie ein Triumphator die Gerichtsſtätte verlaſſen konnte. 

Vor dem Münchner Schöffengericht brach Eulenburgs Herrlichkeit 


688 Dürmers Tagebuch 


jäh zuſammen. Ein wahrhaft weifer Richter und zwei Männer aus dem 
Volke waren es, die dem ſchlichten Begriff der Juſtiz, d. h. der Gerech⸗ 
tigkeitspflege, zum Siege verhalfen. Die Münchener konnten ſagen: 
wir Süddeutſchen haben unſere Pflicht getan. Jetzt, Berliner, tut ihr 
die eure! 

Aber in Berlin zögerte man. Was, der eben noch von einem leib- 
haftigen Oberſtaatsanwalt ſo hoch geprieſene Eulenburg, eine lebende Durch⸗ 
laucht, der einſtige Vertraute und maßgebende Ratgeber des Kaiſers, ihn 
ſollte man ſo Knall und Fall wie einen ganz gemeinen Sterblichen in Haft 
ſtecken? Zwar jeder Tag des Zauderns konnte uneinbringlichen Schaden 
anrichten. Eulenburg hatte die mächtigſten Freunde und ſchier unbegrenzte 
Geldmittel. Sede Zeugenbeeinfluſſung, jede Vernichtung unbequemen Beweis⸗ 
materials war ihm möglich. Doch Woche um Woche mußte die Preſſe 
mahnen, bis man ſich endlich zur Hausſuchung und Verhaftung entſchloß. 

And nun dieſe Anterſuchungshaft! Gewiß, mit einem kranken Men- 
ſchen ſoll man fo ſchonend wie möglich verfahren. Aber welcher Unter 
ſuchungsgefangene iſt bisher fo behandelt worden wie Eulenburg? An⸗ 
beſchränkt konnte ſeine Familie mit ihm verkehren. Ja, er hatte ſeinen 
Diener ſtändig zu feiner Verfügung. Jede Durchſtecherei war möglich. 
Was blieb von dem Zweck der Anterſuchungshaft überhaupt noch gewahrt? 

Vor Gericht geht es in demſelben Stil weiter. Die Familien ⸗ 
angehörigen begleiten ihn, obwohl ſie ſelbſt als Zeugen vernommen werden 
ſollen. Eine Spazierfahrt erquickt ihn nach der Verhandlung. Sehr 
ſchön! Sehr menſchlich! Aber ſetzen wir einmal den Fall, ein krank 
licher Sozialdemokrat käme mit den ſelben Wüänſchen für Unter- 
ſuchungshaft und Verhandlung. Ob er wohl auch fo willige Ohren finden 
würde? And dabei ſoll man nicht vergeſſen, daß es ſich hier nicht um ein 
anſtändiges politiſches Delikt, ſondern um eine wenig ehrenvolle Meineids⸗ 
geſchichte handelt. 

Die Öffentlichkeit ift ausgeſchloſſen. Damit iſt dem Fürſten ein un- 
ſagbar großer Dienſt erwieſen. Das geht ſchon daraus hervor, daß er 
ſelbſt ſo dringend dafür plädiert hat oder doch plädieren ließ. Angeklagte, 
die ſich unſchuldig fühlen, haben ſonſt immer das Bedürfnis, durch eine 
öffentliche Verhandlung ihre Ehre wiederhergeſtellt zu ſehen. Dem deutſchen 
Volk iſt jede Möglichkeit entzogen, ſich ſelbſt über Schuld oder Anſchuld 
ein Urteil zu bilden. Die wichtigſte Bürgſchaft der Rechts ſicherheit, die 
Kontrolle der öffentlichen Meinung, fehlt in einem Falle, wo ſie gerade ſo 
dringend nötig wäre. And warum das alles? Um der Sittlichkeit 
willen. Daß ich nicht lache! Was bleibt nach den öffentlichen Verhand · 
lungen des Berliner und Münchener Schöffengerichts denn noch zu ent 
hüllen übrig? Wer ſich durch Gerichtsberichte zur Homoſexualität verführen 
läßt, der hat ſchon längſt genügend Gelegenheit dazu gehabt. Ob es auch 
nur einen ſolchen Menſchen gibt, möchte ich freilich bis zum Beweis des 
Gegenteils bezweifeln. Mir ſcheint viel eher, daß ſolche Berichte in gutem 


Türmers Tagebuch 689 


Sinne aufklärend und abſchreckend wirken. Sie erregen Ekel und Entrüſtung. 
Das ſchadet nichts, im Gegenteil. Am ſchlimmſten wirken die Abel, die 
im Verborgenen wuchern. .. Jedenfalls iſt die Tatſache nicht gerade förder- 
lich für das Anſehen unſerer Juſtiz: die einzige Perſon, die ſicher von 
dem Ausſchluß der Offentlichkeit profitiert, iſt der hohe Angeklagte ...“ 

Das könne man vom Publikum nicht verlangen, daß es mit blin⸗ 
dem Vertrauen dem Ausgang des Prozeſſes entgegenſehe. Allerdings 
werde ſchon jetzt gezetert: „Es handelt ſich ja um das ſo vielgeprieſene 
Volksgericht!“ „Mit Verlaub“, erwidert darauf Herr von Gerlach: „Wer 
find denn die Geſchworenen? ... Kein Arbeiter iſt darunter, kein Unter- 
beamter, kein Handlungsgehilfe, kurz, keiner aus den breiten Maſſen des 
Volkes. Wohl aber ſind genau die Hälfte Fabrikanten. Ja, du 
lieber Himmel, unſer Volk beſteht doch nicht zur Hälfte aus Fabrik⸗ 
befigern! Ein Volks gericht fol alle Schichten des Volkes ungefähr 
nach ihrem ziffernmäßigen Anteil umfaſſen. Die Fabrikanten, Rommer- 
zienräte und Hoflieferanten ſollen wahrhaftig nicht ausgeſchloſſen ſein. Aber 
ſie ſollen nicht dominieren. Denn ſie ſind zwar ein beachtenswerter Be⸗ 
ſtandteil des Volkes, aber nicht das Volk. Sie urteilen natürlich nach 
beſtem Wiſſen und Gewiſſen. Aber ihr Fühlen iſt nicht identiſch mit dem 
Fühlen der Maſſen da drunten. Sie urteilen natürlich aus ihrem Milieu 
heraus und unter dem Einfluß ihres Milieus.“ 

Nichts verſtärke fo ſehr den Glauben an die Exiſtenz einer Klaffen- 
juſtiz in Preußen als die Tatſache, daß nicht einmal unſere ſog. Volks⸗ 
gerichte den Maſſen des Volkes zugänglich ſind. Es liege an unſerer Juſtiz⸗ 
verfaſſung mit ihrem eigentümlichen Filtrierſyſtem, ſowie an der Nicht⸗ 
entſchädigung für den Schöffen⸗ und Geſchworenendienſt, daß gewiſſe Par⸗ 
teien und Volksſchichten bei der Berufung zum Laienrichtertum zurückgeſetzt, 
wenn nicht ganz ausgeſchloſſen werden. Von bewußter Rechtsbeugung könne 
ja auch da in allewege keine Rede ſein. Aber der Menſch ſei nicht zuletzt, — 
„was er lieſt“. Es ſei für den Durchſchnitt der Menſchen wahrlich nicht 
gleichgültig, ob einer ſtändig eine konſervative Zeitung lieſt oder eine libe⸗ 
rale. And ſchließlich beſtehe das Gros unferer Staatsanwälte, Richter, 
Geſchworenen „eben aus Durchſchnittsmenſchen“. 

Hören wir noch einmal in aller Ruhe die „B. Z. a. M.“: „Als Fürft 
Philipp zu Eulenburg die verhängnisvolle Reiſe von Liebenberg nach der 
Charité zu Berlin antrat, veranſtaltete er einen Familiengottesdienſt in der 
Kapelle ſeines Schloſſes. Dann verabſchiedete er ſich von den Seinen mit dem 
frommen Augenaufſchlag: „Gott wird alles zum Guten wenden.“ — Harmloſe 
glaubten hierin die Refignation eines Mannes zu ſehen, der nach Monaten 
energiſchen Trutzes wider alle Widerſacher reſigniert ſeine Rechnung mit 
dem Himmel machte; wer aber halbwegs die Artung der Perſönlichkeiten 
und die Zuſammenhänge der Dinge überſah, der erkannte in dem häus⸗ 
lichen Nührſtück die erſte Probe einer von dem Helden des Dramas felbft 
angelegten und im großen Stile geplanten Negie, die der nunmehr vor ſeine 

Der Türmer X, 11 45 


6% Zürmers Tagebuch 


Richter gerufene Angeklagte mit allen Feinheiten des erfahrenen Akteurs 
durchführt 

Der Angeklagte iſt als kranker Mann in den Prozeß hineingegangen, 
freilich nach dem Urteil der Arzte im vollen Beſitze feiner Geiſteskraft, 
denn ſonſt hätte man überhaupt nicht gegen ihn verhandeln dürfen. Aber 
der Angeklagte leidet an Zuſtänden der Erſchöpfung, der Schwäche, be⸗ 
kommt alle Augenblicke Schwächeanwandlungen, die mediziniſch nicht objeltid 
begründet, ſondern einfach geglaubt werden müſſen. Dadurch iſt er von 
vornherein in der Lage, allerlei peinlichen Erörterungen aus dem Wege zu 
gehen. Man darf ihn nicht zwingen, zu reden, nicht zu hart auf ihn ein: 
dringen, muß froh ſein, wenn er die müde Hand erhebt, zum Zeichen, daß 
er reden will. Tut er das, fo ſtockt der Gang der Verhandlungen fofort, 
als wenn alle dankbar wären, daß die Durchlaucht ihrerſeits geruhen, einen 
kleinen Beitrag zur Sache zu geben. Man läßt dann feinem Nedefluß 
freien Lauf, und es muß zugeſtanden werden, daß er, wenn das Thema 
ihm liegt, ganz ſchön vorzutragen weiß, wie... über den lieben, guten 
Kiſtler, der von der böſen Welt fo vielen Andank ernte. Will der Girt 
aber ſchweigen, ſo kann er das tun, ohne dadurch in den Verdacht zu kom⸗ 
men, daß er ſich nicht zu verantworten wiſſe, eine Situation, die ihn zum 
Herrn der ganzen Verhandlung macht und die er auch nach Kräften auf: 
nutzt. Ob er in feinem diplomatiſchen Beruf ſtets nach den Regeln der 
alten Schule agierte, wiſſen wir nicht, ſeine gegenwärtige Lage aber zwingt 
ihm gerade dieſe Regeln auf, zumal nachdem er bei der faulen Ausrede 
von den Intrigen des Zentrums und dem unklugen Angriff gegen den 
Fürften Dohna⸗Schlobitten gemerkt hat, daß in feiner Lage Schweigen Gold 
iſt, Reden aber nicht einmal Silber. 

So bleibt er nun dauernd in Poſe, ſcheinbar ernſtlich darauf bedacht, 
daß der Prozeß ſeinen Fortgang nehme, es den Verteidigern überlaſſend, 
die Sache immer weiter in die Länge zu ziehen. Dieſes Spiel mit ver⸗ 
teilten Rollen würde unter anderen Verhältniſſen nicht durchführbar ſein, 
aber gegenüber dem kranken, bemitleidenswerten Manne bemüht man ſich, 
auch den leiſeſten Schein einer Härte zu vermeiden. So werden denn 
immer neue Zeugen herangeſchleppt, die nichts davon wiſſen, daß der An⸗ 
geklagte perverſe Handlungen begangen hat, oder ſolche, die gegen die 
Hauptbelaſtungszeugen Ernſt und Riedel möglicherweife etwas vorbringen 
können. Jetzt hat man gar die Schöffen aus dem Staedeleprozeß ver 
nommen. Es iſt fraglich, ob dieſe Vernehmung noch ganz dem Geiſte 
unſerer Strafprozeßordnung entſpricht, denn ſie lief darauf hinaus, dieſe 
ehrenamtlichen Richter nach den Gründen ihrer Arteilsbildung 
zu fragen, drang alfo ſchon bis in das Geheimnis des Be 
ratungszimmers. Die Ausſagen der Schöffen waren ungünſtig für 
den Angeklagten.“ 

Es fehle nur noch, daß man die Schwiegermütter dieſer Schöffen 
über die Glaubwürdigkeit ihrer Schwiegerſöhne vernimmt. In der Tat hal 


— ———— — — 


Sirmers Tagebuch 691 


das Verfahren bereits den Berliner Volkswitz mobil gemacht. So wird 
ein völlig Ahnungsloſer mit der Frage beunruhigt: ob er denn noch immer 
nicht als Zeuge im Eulenburgprozeß vernommen ſei? „Ja, wieſo denn? 
Ich weiß doch über die Sache nichts!“ — „Na, eben deshalb!“ 

Es iſt dem Vorſitzenden wie auch dem Oberſtaatsanwalt aufs Wort 
zu glauben, daß ſie ihres Amtes nach beſtem Wiſſen und Gewiſſen ge⸗ 
waltet haben und auch fürder walten wollen; daß ſie redlich bemüht ſind, 
den gefürſteten Angeklagten nicht anders zu behandeln als andere auch. Die 
Kritik gründet ſich ja auch nicht auf den einzelnen Fall, ſondern auf den 
Vergleich dieſes Falles mit anderen, auf die Gegenüberſtellung 
der Behandlung, die dem Fürften Eulenburg als Anterſuchungsgefangenen 
zuteil wird, und der, die gegen andere, minder Hochgeſtellte allgemein üblich 
iſt. And dieſe Art der Betrachtung iſt auch die einzig gegebene. Denn 
wie wollte man ſonſt wohl feſtſtellen, ob Anterſchiede gemacht werden, wenn 
man eben nicht die verſchiedenen Fälle heranzieht und ſie miteinander ver⸗ 
gleicht? Man ſchämt ſich ja ſchon geradezu, ſolche platten Selbſtverſtänd⸗ 
lichkeiten erſt beweiſen zu müſſen! 

Wer denkt denn auch fo niedrig oder fo töricht, daß er einem An⸗ 
geklagten nicht die gründlichſte Anterſuchung feiner Sache gönnte! Wo 
aber wird ſonſt ſolche Gründlichkeit angewandt? Wo iſt es ſonſt vor⸗ 
gekommen, daß ein ſo ſchwer Belaſteter, in der Gerichtsſprache zu reden: 
ſo „hinreichend Verdächtiger“, ſo lange noch, wie Fürſt Eulenburg nach dem 
Münchener Prozeß, auf freiem Fuße bleiben durfte? Mit der Möglich- 
keit, Material beiſeite zu ſchaffen, Zeugen zu beeinfluſſen, den Tatbeſtand 
mit allen Liſten und Ranken zu verdunkeln? — Mit fo großem fubjel- 
tiven Rechte die ausübenden Organe der Juſtiz jeden Vorwurf der Partei⸗ 
lichkeit von ſich weiſen dürfen, — hier handelt ſich's doch nicht um ihre 
Perſonen, ſondern um Höheres: um das Anſehen der Rechtspflege im 


Volke. And im Volke — ja, da kann man heute Meinungen hören, daß 


einem die Haare zu Berge ſtehen. Höchſt ſtaatserhaltende Bürger, ge- 
ſchworene Feinde der Sozialdemokratie habe ich mit einem Peſſimismus 
über den Fall Eulenburg urteilen gehört, der eigentlich ſchon unverhüllter, 
grinſender Zynismus war. 

Was man bei früheren Fällen als zu wenig empfand, empfindet man 
hier als zu viel. Vielleicht iſt dieſes „Zuviel“ gerade das Richtige? Dann 
aber muß das ſonſt übliche als „Zuwenig“ erſt recht beanſtandet werden. 
Aus dieſem Dilemma kommen wir auf keine Weiſe heraus. 

Nun iſt das Verfahren wegen phyſiſcher Nichtverhandlungsfähigkeit 
des Angeklagten auf unbeſtimmte Zeit vertagt, kurz vorher eine beſchränkte 
Offentlichkeit hergeſtellt worden. Für beides war es die höchſte Zeit. 

* * 


Wir können Gott nicht genug danken, daß in dieſen Tagen, wo ſoviel 
Anrat aus mehr oder minder hohen Kreiſen die Goſſen der Offentlichkeit 
überſchwemmt, an der höchſten Stelle des Reiches eine ſo makelloſe, ſittlich 


692 Durmers Tagebuch 


durch und durch geſunde Perſönlichkeit ſteht, wie Kaiſer Wilhelm II. Das 
iſt ein wahrer Lichtblick in dieſen Zeitläuften und ein verſöhnender. 
Denn ſchließlich iſt der Kaiſer doch der erſte deutſche Edelmann für uns 
und das Ausland, und das Schild dieſes erſten Edelmannes iſt blank 
und fleckenlos. Des mögen ſich auch die „nationalen“ Klageweiber getröſten, 
die nicht etwa über den Unrat als ſolchen heulen, ſondern über feine 
Enthüllung vor der Offentlichkeit und namentlich dem „Auslande“. Als 
ob's darauf ankäme, dem „Auslande“ gegenüber den Schein zu wahren 
und nicht zu allererſt für Reinlichkeit im eigenen Hauſe zu ſorgen! Daß 
ſie mit ihren Tränengüſſen im „Auslande“ erſt den Glauben erwecken, als ſei 
nun ſchon das ganze deutſche Volk verſeucht, das ſcheint die Guten nicht 
weiter anzufechten. Mit die widerlichſte Erſcheinung in unſerem öffent: 
lichen Leben iſt jene weibiſche Sentimentalität, die ſtets bereit iſt, die ge 
ſchwollene Tränendrüſe an der unrechten Stelle zu entleeren. In der Eulen⸗ 
burg- Affäre hat fie wahre Orgien gefeiert. Fühlte ſich doch auch die „Frankf. 
Ztg.“ wiederholt gedrungen, nachdrücklich zu betonen, daß fie „an der ſenti⸗ 
mentalen und nervöſen Beurteilung dieſes Falles, wie fie von manchen 
Seiten beliebt wird,“ nicht teilnehmen könne: „Fürſt Eulenburg hat ſich 
den jetzigen Prozeß ſelbſt zuzuſchreiben. Und wenn ſich jetzt viele mitleidvolle 
Seelen über die Härte eines ſolchen Verfahrens erregen, ſo mögen ſie bedenken, 
daß die Strafjuſtiz überhaupt eine harte Sache iſt und daß dem 
Fürſten Eulenburg nichts widerfahren iſt, was nicht täglich kleineren 
Angeklagten widerfährt, von denen weniger Aufhebens ge 
macht wird. Fürft Eulenburg iſt übrigens nicht der einzige, der in dieſem 
Prozeß ,GFoltern’ zu erdulden hat. Die Zeugen Riedel und Ernſt, die 
doch ſchließlich in dieſer Verhandlung nicht auf der Anklagebank ſitzen, 
werden von der Verteidigung des Fürften einer peinlichen Anterſuchung 
unterworfen, die ihnen ſicherlich als die ſchlimmſte aller in dieſem Prozeß 
angewandten Torturen erſcheinen wird.“ 

Mit welchen unſäglichen Empfindungen mag wohl unſer Kaiſer ſo 
manche Einzelheit dieſes Prozeſſes verfolgt haben? So die Verſuche Eulen- 
burgs, immer wieder die Perſon ſeines ehemaligen, rückhaltlos vertrauenden 
kaiſerlichen Freundes und Gönners in die Debatte zu ziehen, um hinter ihr 
Deckung zu ſuchen! And ſo manches andere, was ſich — wenn die Berichte 
nicht geradezu erſtunken und erlogen find, — mit irgendwelcher Vornehm⸗ 
heit der Geſinnung ganz und gar nicht vereinbaren läßt. Von der Pflicht 
der Dankbarkeit wollen wir ſchon gar nicht erſt reden. Es laſſen ſich Fälle 
denken, wo ſelbſt ein ſonſt verkommenes Individuum unter ähnlichen Um- 
ſtänden doch davor zurückgeſcheut wäre, einen ſolchen Wohltäter in der 
Weiſe zu kompromittieren, wie es nach den Verhandlungsberichten Eulen 
burg verſucht haben ſoll. Es ſind aus dieſen (an Gerichtsſtelle und ſonſt) 
mancherlei nebenſächliche Dinge beanſtandet und zurechtgeſtellt worden: — die 
den Charakter des Fürften am ſchwerſten belaſtenden — nicht. Nun, 
er iſt ſicherlich ein ſchwerkranker, ein tief bedauernswerter Mann. Aber 


93 


Zürmerd Tagebuch 693 


menſchliches Mitleid kann doch — und ich meine: erſt recht — beſtehen, 
auch wenn man der Wahrheit die Ehre gibt. 

Daß Eulenburg ſo großen politiſchen Einfluß erringen und behaupten 
konnte, ohne doch recht eigentlich eine überragende politiſche Kraft zu ſein, 
mag wohl außer ſeinem perſönlichen „Charme“ auch tiefere Gründe haben. 
Vielleicht war ſeinem Aufſtiege auch der Mangel an großen produktiven 
Perſönlichkeiten in der Regierung Kaiſer Wilhelms II. günſtig. „Bis⸗ 
marck“, ſo leſen wir im „Freien Wort“ (Frankfurt a. M.), „hatte bereits 
alles um ſich öde gemacht, weil er ſelbſtändige Männer nicht um ſich dul⸗ 
dete. Die überragende Kraft und Gewalt ſeiner Perſönlichkeit hatte das 
nur nicht deutlich in die Erſcheinung treten laſſen. Das Vakuum machte 
ſich aber ſofort bemerkbar, als er von dem Schauplatz feines Wirkens ab- 
getreten war. Wilhelm II. wußte, was er ſagte, als er beim Moltke⸗ 
Jubiläum dem greifen Feldmarſchall ganz beſonders dafür dankte, daß er 
Schüler herangebildet habe. Bismarck hatte nur ſeinen Sohn Herbert 
herangebildet, und es wurde dem Kaiſer ſchwer, die wichtigſten Ämter zu 
beſetzen. Dieſe Kriſis wäre allmählich zu überwinden geweſen, wenn man 
entſchloſſen der Situation Rechnung getragen hätte, daß die moderne Ent⸗ 
wickelung von Induſtrie, Bankweſen, Handel, Wiſſenſchaft uſw. allen wert⸗ 
vollen Perſönlichkeiten ſo viele Möglichkeiten zu machtvoller Betätigung 
bietet, daß dieſe gar nicht mehr darauf angewieſen find, im Staats 
dienſte unterzukommen. Man behandelte aber die „Staatsdiener viel- 
fach noch ſo, daß moderne, aufrechtſtehende Menſchen lieber eine Laufbahn 
‚fern von Berlin“ wählten. Es trat ein fühlbarer Mangel an Kräften 
erſten Ranges ein, und wo ſolche doch noch — vielleicht aus Gründen des 
Ehrgeizes oder tiefer Vaterlandsliebe — nach Miniſterpoſten griffen, war 
ihre Behandlung oft ſo, daß andere abgeſchreckt werden mußten. Man 
denke nur daran, wie ein Miquel, wie ein Poſadowsky entlaſſen wurden. 
Die Folge iſt, daß ſich immer ſeltener ausgezeichnete Perſönlichkeiten zum 
Staats dienſte drängen. Man zieht es vor, den Norddeutſchen Lloyd und 
die Paketfahrtgeſellſchaft, eine große Bank oder ein großinduſtrielles Werk 
zu leiten an Stelle von einem Miniſterium oder Reichsamte, und die Mittel⸗ 
mäßigkeit macht ſich in den wichtigſten Ämtern breit... Alles ſteril. Es 
wird ſo weiter gewurſtelt mit dem Alten und dem Neuen Teſtamente und 
inzwiſchen geht die Zeit herum 

Eine intereſſante geſchichtliche Ergänzung erfahren dieſe Ausführungen 
durch einen Aufſatz, den Profeſſor Dr. Walter Schücking vor einiger Zeit 
im „Berliner Tageblatt“ veröffentlicht hat. 

„Trotzdem wir ſeit der Reichsgründung in einem Zeitalter nationaler 
Selbſtberäucherung leben, wird doch heute niemand wagen, unſerem Volke 
ſonderliche politiſche Talente nachzuſagen. Die ganze Geſchichte würde ihn 
Lügen ſtrafen. Man braucht bloß daran zu erinnern, wie nach der Völker⸗ 
wanderung einmal das Mittelmeer ſchon beinahe eine germaniſche See zu 
nennen war, und wie bald dann dieſe germaniſchen Stammesreiche von Oſt⸗ 


694 Türmers Tagebuch 


und Weſtgoten, Vandalen, Langobarden und Burgundern wieder zufammen- 
gebrochen find. Das weſtgotiſche Königtum in Spanien war zum Veifpiel 
ſchon bald ſo heruntergekommen, daß die Staats angelegenheiten auf den 
Konzilien erledigt wurden, und daß dieſe Konzilien damit anfingen, daß 
der König vor der Geiſtlichkeit erſchien und ein reumütiges Bekenntnis 
ſeiner Sünden ablegte. Die Tragödie des mittelalterlichen Kaiſertums iſt 
bekannt. Hätten die deutſchen Fürſten Notbarts Sohne, Heinrich VI., die 
Erblichkeit der Königskrone im ſtaufiſchen Hauſe zugeſtanden und nicht ihr 
Sonderintereſſe höher geſtellt als das des Reiches, die deutſche Geſchichte 
hätte eine andere und ruhmvollere Wendung genommen. 

Aber die einzelnen ſozialen Gruppen des alten Reiches haben ſich 
in dieſer Richtung nichts vorzuwerfen. Als es mit der Kaiſermacht bergab 
gegangen, ſchien es eine Zeitlang, als ſollte Deutſchland ſich in eine Reihe 
machtvoller Städterepubliken auflöſen; das war die Zeit des rheiniſchen 
und ſchwäbiſchen Städtebundes, als jegliche Kultur in den Städten blühte 
und der Reichtum deutſcher Kaufleute in der Welt ſprichwörtlich war wie 
etwa der der Kölner Tuchmacher. Aber die Städte trieben dieſelbe Kirch⸗ 
turmpolitik untereinander wie die Fürſten gegenüber dem Kaiſer. Die eine 
Stadt freute ſich, wenn die andere von irgendeinem Territorialherrn bee 
zwungen war. Man glaubte einen wirtſchaftlichen Nebenbuhler weniger 
zu haben, bis ſchließlich die fürſtliche Gewalt überall triumphierte und 
der ihr anhängende Landadel ganz allmählich zum Kulturträger wurde an 
Stelle des urſprünglich viel höher ſtehenden Patriziats in den Städten. 
Noch heute leiden wir darunter, daß damals die Kultur der Höfe und ihres 
Anhanges infolge der politiſchen Machtverſchiebung die Kultur der Städte 
erſetzt hat. 

Als im 19. Jahrhundert abermals die Städte aufblühten wie einſt 
auf der Höhe des Mittelalters, da zeigte ſich, daß das ſtädtiſche Bürger 
tum ohne die Traditionen alter Kultur war, die es ſich in anderen Ländern 
erhalten. Deshalb muß ſich noch heute der reichgewordene Bürger adeln 
laſſen und aufs Land ziehen, damit ſeine Enkel oder Urenkel einmal in 
Preußen Miniſter werden können (7 D. T.)! Auch die Hanſa, mit deren 
Namen ſich für die meiſten Deutſchen ſoviel Romantik verknüpft, hat in 
Wahrheit keineswegs immer eine großzügige Politik getrieben; ihre Blüte 
war febr bald dahin, als ihr die großen Handelsprivilegien im Auslande 
von der dortigen Staatsgewalt genommen wurden. 

So hatte es ſich mit dem Ausgang des Mittelalters entſchieden, daß 
Deutſchland weder beherrſcht werden ſollte von einem kraftvollen Königtum, 
das die Einheit des Volkes verkörperte, noch von der Kultur ſtädtiſchen 
Weſens, ſondern von fürſtlicher Laune und junkerlicher Anmaßung. Land 
und Leute waren Eigentum des Herrſchers. And wenn das Königtum der 
Hohenzollern ſich auch ſeiner Verantwortung vor Gott in ganz beſonderem 
Maße bewußt geweſen und nicht wie andere deutſche Fürſten die Koſten 
einer Maitreſſenwirtſchaft durch Verkauf von Landeskindern aufgebracht 


Tirmers Tagebuch 695 


hat: der Untertanblieb doch immer bloße8 Objekt der Staats⸗— 
gewalt. Erſt die Not der napoleoniſchen Zeit hat in Deutſchland dem 
Feudalismus ein Ende gemacht und dem Volke ein klein wenig Freiheit 
und Selbſtverwaltung gebracht. Als dann die Fortſchritte des Verkehrs 
im 19. Jahrhundert die politiſche Einigung Deutſchlands zu einem dringenden 
Gebot des ganzen Wirtſchaftslebens machten, konnte die Einheit doch nur 
durch Blut und Eiſen, im Bruderkrieg und auf auswärtigen Schlacht- 
feldern gewonnen werden. Ein troſtloſes Zeugnis! 

Immer wieder hat das politiſche Leben Deutſchlands ſtagniert. Warum 
eigentlich? Worin liegt jener Mangel an politiſchen Talenten des Volkes 
tiefer begründet? Man denkt bei der Beantwortung dieſer Frage ge— 
wöhnlich an die deutſche Querköpfigkeit, die große Schattenſeite des deutſchen 
Individualismus. Gewiß, wenn irgendwo, fo ift hier die Tugend gleich⸗ 
zeitig auch ein Fehler. Aber ein anderer Faktor kommt hinzu: wir Deutſche 
ſind nicht nur gar zu gern uneins, wir hängen auch zu ſehr am Alten, 
wir ſind zu konſervativ. Das iſt leicht zu beweiſen. Das typiſche Land der 
Beharrung iſt für uns Mecklenburg. And wenn viele Mecklenburger 
der oberen Schichten immer wieder auf die Gemütlichkeit der dortigen Ver⸗ 
bältniffe hinweiſen, fo beweiſen die furchtbaren Auswanderungsziffern, die 
Mecklenburg im 19. Jahrhundert gehabt hat, für die unteren Schichten das 
Gegenteil. Nun ſind vor Jahren auf Anregung von Virchow einmal 
Anterſuchungen veranftaltet worden, wo die Zeichen der deutſchen Naſſe am 
reinſten zutage treten, wo die meiſten Schulkinder blonde Haare und blaue 
Augen hätten. Das Neſultat war: Mecklenburg! Zunächſt gab das 
eine allgemeine AUberraſchung. Bei der oſtelbiſchen Lage des Landes hatte 
niemand dort fo „reines Deutſchtum“ vermutet. Dann aber beſtätigten die 
Hiſtoriker aus alten Chroniken, daß man nirgendwo bei der Koloniſations ; 
arbeit im Mittelalter ſo grauſam vorgegangen ſei wie in Mecklenburg. 
Man hat die Obotriten dort einfach totgeſchlagen. 

Alſo Mecklenburg iſt das typiſche deutſche Staatsweſen (? D. T.). 
Das ſollte ſich der deutſche Michel einmal hinter die Ohren ſchreiben, 
ſpeziell unſere Raffenfere. Der Grundfehler deutſcher Politik iſt eben der, 
daß wir in übertriebener Anhänglichkeit an das Aberkommene nicht recht 
zeitig mit den veränderten Tatſachen auch das Recht verändern. Und doch 
ſoll das Recht immer von den Tatſachen abſtrahiert ſein. Es ſoll 
den Tatſachen folgen, ſtatt ſie meiſtern zu wollen. Auch der Buren⸗ 
ſtaat iſt an dem Mangel dieſer Fähigkeit zugrunde gegangen, denn damit 
war England ein Grund zur Einmiſchung gegeben. 

Wenn wir in Preußen eine aufſtrebende Schicht von zehn Millionen 
Lohnarbeitern haben, ſo iſt es die allerhöchſte Zeit, ein Wahlrecht zu 
ſchaffen, das ihnen die Möglichkeit gibt, ihre legitimen Intereſſen im Parla- 
ment zu vertreten, und es ſollte in einem Staate des 20. Jahrhunderts 
keinen Mann geben von noch fo konſervativer Weltanſchau⸗ 
ung, der nicht ohne weiteres das beſtehende preußiſche Wahlrecht, das für 


696 Türmers Tagebuch 


die unteren Schichten doch offenſichtlich nur einen formellen Wert hat, preis⸗ 
gäbe und ſich bereit erklärte, an einer Wahlrechtsreform ehrlich mitzuarbeiten. 
Unfere Konſervativen tun das Gegenteil. Sie ſelbſt werden davon den 
größten Schaden haben. Dem Geift des Fortſchritts hat noch niemand un: 
geſtraft widerſtanden. Denn er iſt der Odem Gottes in der Weltgeſchichte.“ 

Den anthropologiſchen und politiſchen Behauptungen über das „typiſch 
deutſche“ Mecklenburg wird widerſprochen werden können. Das ändert in: 
deſſen nichts an den Grundgedanken, mit denen der Verfaſſer, ſoweit es in 
einer ſo knappen Darſtellung möglich iſt, der Wahrheit mindeſtens ſehr nahe 
kommt. Geſchichtliche Tatſache iſt, daß unſer Volk politiſch mehr als ein⸗ 
mal ein Volk der verpaßten Gelegenheiten war. Es geht uns oft, wie dem 
Huhn mit dem Kreideſtrich: über eingebildete Hinderniſſe kommen wir nicht 
hinüber. „Und inzwiſchen geht die Zeit herum.“ Aber wir haben doch 
ſoviel ſchöne „klaſſiſche“ Worte geprägt und den Kindern auf der Schule 
einprägen laſſen. Wenn wir nur das eine erſt recht begriffen hätten: — 
„Bereit fein!“ 


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— 1 
Die letzten Goethes 
Von 
Adelheid v. Schorn 


Cie Schicksale der drei Hinterbliebenen Goethes — feiner Schwieger⸗ 
tochter Ottilie und ihrer Söhne Walter und Wolf — leſen 
2 ſich wie ein Trauerſpiel, ſelbſt wenn die Berichte noch fo fach- 
Mrs lich gehalten find. Och ſelbſt, als die Tochter jenes Ludwig 
v. Schorn, der 1833 an Stelle des bekannten „Kunſtmeyer“ nach Weimar 
kam, habe die drei Menſchen, von denen im folgenden zu erzählen iſt, noch 
perſönlich gekannt. Im weſentlichen aber entnehme ich die Nachrichten aus 
drei Büchern, welche von Freunden der Familie geſchrieben ſind: „Aus 
Goethes Freundeskreiſe, Erinnerungen von Jenny v. Guſtedt, geborene 
v. Pappenheim, herausgegeben von ihrer Enkelin Lily v. Kretſchman.“ 
„Wolf Goethe, ein Gedenkblatt von Otto Mejer.“ „Ottilie v. Goethe 
und ihre Söhne Walter und Wolf, in Briefen und perſönlichen Erinne⸗ 
rungen von Jenny v. Gerſtenberg.“ Ich ſelbſt kann nur aus den letzten 
Lebensjahren Ottiliens und Walters von einigen eigenen Erlebniſſen berichten. 
Frau v. Guſtedt verkehrte als junges Mädchen viel im Goethehaus: 
„Nach der Geburt von Alma, Goethes reizender Enkelin, die meine leben⸗ 
dige, ſehr geliebte Puppe war, wurden meine Beziehungen zu der Familie 
ſehr innig.“ Walter und Wolf wurden von ihr mit mütterlicher Järtlich⸗ 
keit geliebt, und daraus entſpann ſich die Freundſchaft mit deren Mutter. 
„Ottiliens edler, poetiſcher Geiſt, ihre liebenswürdige Gabe, aus jedem 
Menſchen das Beſte und Klügſte, was in ihm lag, heraufzubeſchwöͤren, 
das Neidloſe, Klatſchloſe, geiſtig Anregende im Verkehr mit ihr übten 
einen unwiderſtehlichen Zauber auf mich aus; der Weg nach den Dach⸗ 
ſtuben zu dem „verrückten Engel’, wie fie meine Tante Egloffſtein, zu der 
„Frau aus einem andern Stern“, wie fie ihre Freundin, die Schrififtellerin 
Anna Jameſon, nannte, wurde nur zu gern von mir zurückgelegt.“ 
„Wolf war mit ſechs Jahren ein heiteres, ſehr geſprächiges Kind 
mit den wunderſchönen Goetheſchen Augen, voll Luſt zu jedem Spiel, der 


698 Schorn: Die legten Goethes 


Liebling feines Großvaters. Er wurde ein denkender, lernender Knabe, 
der mit Leidenſchaft auf- und erfaßte. Noch ein halbes Kind, fühlte er 
die Liebe eines Jünglings. So wie feine tiefen, dunklen, glühenden Augen 
alle Mängel in feinem Außeren überſtrahlten und ihn ſchön machten, fo 
war es eigentlich die Liebe, die ſein ganzes geiſtiges Ich durchſtrahlte und 
ihn zum Dichter ſtempelte. Als Zeugnis nenne ich ‚Erlinde‘, dies Werk 
eines Neunzehnjährigen, das die erſten Jugendwerke ſeines Großvaters ſehr 
übertraf. Das deutſche Volk nahm die Dichtung nicht auf, erkannte den 
Dichter nicht, wie deutlich er auch in die Fußſtapfen ſeines großen Ahn⸗ 
herrn trat. Niemand ſtaunte, niemand begriff, was in einem Menſchen 
liegen mußte, der mit neunzehn Jahren ‚Erlinde‘ ſchrieb. Humboldt und 
Varnhagen ſchienen es zu begreifen, ihr Lob war aber nicht mächtig und 
nicht nachhaltig genug, und ſo kam es, daß ſein ganzes Leben, durch Ent⸗ 
täuſchung, Uberreigung und Stolz vereinzelt, verloren ging.“ 

In Weimar waren damals viele junge Engländer, Ottilie verkehrte 
mit Vorliebe mit ihnen. Mit einem von ihnen, Mr. Noel, traf Jenny 
eines Tages bei Ottilie zuſammen. Im Laufe des Geſprächs fagte Frau 
v. Goethe: „Starke Liebe, ſtarker Haß, ernſter Kampf und keine Berech- 
nung, das iff es, was ich liebe. Der Irländer allein hat Herz, Feuer, 
Mut“ — „Auch Narrheit und Anbeſtändigkeit“, unterbrach fie Mr. Noel. 
Nach dieſem unerwarteten Einwurf trat ſie vor, war mit einem Schritt auf 
der Fußbank, mit dem nächſten auf einem Stuhl und warf, wie ein ver- 
zogenes Kind, ein Buch nach dem andern auf die Locken ihres Gegners. 
„Und doch war nichts Rohes in dieſer Kinderei; ich, das junge Mädchen, 
lächelte wie eine Großmama zu den Schülerſtreichen dieſer Frau und Mutter, 
die von Zeit zu Zeit zwanzig Jahre ihres Lebens vergaß. Alles war an 
ihr natürlich und ungeziert, aber ihrer Seele, ihrem Geiſt, ihrem Herzen 
fehlten die Zügel — wie ſchwer hat fie dieſen Mangel büßen müſſen . 
Nichts hatte Beſtand in dieſem Kopfe, in dem die Phantaſie Allein⸗ 
herrſcherin war. Da warf fie zwanzig verſchiedene Männerbilder, tauſend 
Lebenspläne, Gedanken, momentane Empfindungen durcheinander, bis die 
Bilder zerbrachen, die Gedanken ausarteten, — dann ſaß fie vor den Trüm- 
mern und weinte. Doch, wie bei kindlichen Schmerzen, tröftete fie die 
Blume, die ein Fremder ihr reichte, ſie lächelte, ſie berauſchte ſich an ihrem 
Duft und warf ſie ſchließlich in die allgemeine Anordnung zu Bildern und 
Gedanken. And doch waren edle unter ihnen, Gedanken von Pflicht, Barm⸗ 
herzigkeit und Hingebung, aber kein einziger entſprang einem Grundſatz. 
Der Urfprung war Liebe, das Ziel war Liebe, das Leben war Liebe, trotz⸗ 
dem dieſe Frau nicht mehr jung und nicht ſchön war. Die Strahlen der 
Schönheit, mit denen ihr Geiſt ſie oft zu verklären ſchien, warfen ſie nur 
noch tiefer in Gram und Neue, denn oft entzündete ſich die Leidenſchaft 
an dieſem Glanz, um, wenn er erloſch, ebenſo ſchnell zu vergehen; ſah ſie 
die Flamme matter und matter brennen, fühlte fie, daß ihr Atem ſie nicht 
mehr anzufachen vermochte, ſo weihte ſie die Stunden der Nacht ihrem 


Schorn: Die letzten Goethes 699 


wilden Schmerz, und dennoch entſagte ſie nicht dieſem Phantom der Liebe, 
ſie begehrte in der ganzen Welt nichts als ſie, inmitten brennender Tränen 
rief fie aus: „Immer nur die Leidenſchaft, niemals Liebe!“ Aber ſchon im 
nächſten Augenblick klammerte ſie ſich an die Leidenſchaft, die ihr in der 
Maske der Liebe nahte — und dann immer dasſelbe Trauerſpiel: Glück, 
Seligkeit, Verluſt und Reue. Trotzdem fehlte es ihr nicht an Freundinnen. 
Sie hatte alte und junge, fromme und kluge, Weltfrauen und junge Mädchen 
mit derſelben Einbildungskraft wie die ihre; Freundinnen mit gebrochenen 
Herzen und Prieſterinnen der Vernunft — ſie alle waren ihr ergeben, denn 
ſie war von Herzen liebenswürdig — liebenswürdig ſelbſt in ihrer Tor⸗ 
heit. Ja, fie hatte Freundinnen, doch dieſe hatten fie nicht! ...“ 

Jenny ſagte ihr eines Tages: „Du biſt zu müßig, Ottilie!“ Dieſe 
antwortete ihr: „Du ſagſt, ich ſei müßig, und weißt doch, daß ich ſechs 
Stunden des Tages dem Vater widme; oft kann ich nicht mehr und glaube 
ohnmächtig zu werden vor Schwäche, doch der Gedanke, daß ich ihm nüß- 
lich, ibm notwendig bin, daß ich feine alten Tage verſchöne und in der 
Welt zu etwas gut ſein kann: dieſer Gedanke gibt mir die Kräfte wieder. 
Neulich haben wir den Plutarch zu leſen angefangen, und ſchließlich las 
er mir aus dem zweiten Teil des Fauſt; es war ſchön und groß; als ich 
aber nach elf Ahr mein Zimmer betrat, fiel ich meiner ganzen Länge nach 
zu Boden.“ 

Jenny konnte darauf nur mit einer Amarmung antworten. „Ich 
liebte in dieſem armen Kinde der Phantaſie dieſes Gefühl, dieſe Pflicht, 
die ihrer Hingebung entſprang, dieſer ſtillen, gewiſſenhaften, rührenden Hin⸗ 
gebung mit all ihren kleinen, ſtündlichen Opfern, ihren verborgenen An⸗ 
ſtrengungen bis zur Entkräftung, deren nur eine Frau fähig ift...“ 

Jenny v. Pappenheim beſchreibt einen Geſellſchaftsabend in der Man⸗ 
ſarde des Goethehauſes und ſagt am Schluß, daß bei Ottilie Goethe kein 
Klatſch, keine Frivolität, keine Taktloſigkeit ſich breitmachen könne. Sie 
beſaß das Talent — wie kaum eine andere Frau —, jeden zu befriedigen, 
denn ſie ſprach mit jedem über das, was ihn am meiſten intereſſierte und 
wobei er ſich am wohlſten fühlte. Sie brachte aus allen Menſchen das 
Beſte heraus, weckte feine Geiſtesgaben und ſäete welche, wo fie keine ent⸗ 
decken konnte. 

„So war meine Freundin, als ich wußte, warum mein Herz ihr ent⸗ 
gegenſchlug; jetzt — — Sch will dieſe dunklen Myſterien des Schickſals 
und der Schuld nicht berühren. Dank dem Himmel, der mich nicht zum 
Richter dieſer unglücklichen Frau berufen hat. Ihre Seele war glänzend 
und liebenswürdig, doch für einen andern Planeten geſchaffen; ſie hatte 
ſich in ihrem Fluge getäuſcht, ſtatt der blühenden Gärten ihres Sterns fand 
fie die kalten Nebel des unſeren, ſtatt der Liebe fand fie die Vernunft auf 
dem Throne, ſtatt des heiteren Lebens fand ſie Arbeit und Sorgen, ſtatt 
der unendlichen Räume des Sterns ihrer geflügelten Brüder fand fie die 
kleinlichen Verhältniſſe unſerer Erde, wo man geht — oder kriecht. Mit 


700 Schorn: Die letzten Goethes 


jedem Schritt verſtieß ſie gegen ein irdiſches Geſetz, jedes Geſetz rächte ſich, 
jeder Irrtum koſtete ihr eine Feder ihrer Flügel, einen Strahl ihres Lichts, 
eine Blume ihrer Schönheit — fie weinte, doch fie lernte nichts!.“ 

Das war Ottilie v. Goethe, dieſe merkwürdige, bezaubernde Frau, 
die man liebte und tadelte in einem Atemzug. Sie hatte keine leichte 
Jugend gehabt. Ihre Mutter, Frau v. Pogwiſch, kam als geſchiedene Frau, 
in dürftigen Verhältniſſen, nach Weimar, wo ihre Mutter, Gräfin Henckel 
von Donnersmark, Oberſthofmeiſterin bei der Erbprinzeſſin Maria Pau- 
lowna war. Frau v. Pogwiſch erhielt die Stelle einer Hofdame, und ihre 
Töchter, Ottilie und Ulrike, wurden mit einer Dienerin in der Manſarde 
des Fürſtenhauſes untergebracht. Ottilie war am 31. Oktober 1796 gee 
boren, alſo faſt noch ein Kind, als fie in dieſe ungemütliche Exiſtenz ver- 
ſetzt wurde. In das Goethehaus wurde ſie frühzeitig eingeführt, man zog 
ſie wegen ihrer ſchönen Altſtimme zu den Muſikabenden heran. — Während 
der Freiheitskriege gründete fie mit andern jungen Mädchen einen Gund 
gegen undeutſches Weſen und gegen die Bedrückung durch Napoleon. Eines 
Tages hieß es, ein Lützowſcher Jäger verberge ſich im Park und würde 
von den Franzoſen verfolgt. Die jungen Mädchen ſuchten und fanden ihn, 
verbargen und retteten den Flüchtling. Daß Ottilie bei dieſer romantiſchen 
Epiſode ihr Herz verlor, war bei ihrem Temperament kein Wunder, aber auch 
der Held — der ſpätere Polizeipräſident Heinke und Kurator der Breslauer 
Aniverſität — war nicht kalt geblieben. Von einer Heirat mit dem bürger ⸗ 
lichen Manne konnte damals keine Rede ſein — ſo mußten ſie ſich trennen. 

Als Goethe Ottilie v. Pogwiſch zur Frau ſeines Sohnes erwählte, 
ſagte ſie Ja, trotzdem ihre Mutter gegen dieſe Heirat war, denn dieſe konnte 
Goethe nicht ausſtehen und ſprach beſtändig gegen ihn. Auguſt Goethe 
mußte auch eine Jugendliebe aufgeben — kein Wunder, daß die Ehe nicht 
ſehr glücklich wurde. 

Nach dem Tode ihres Gatten hatte Ottilie ihre Stütze in ibrem 
Schwiegervater gefunden; er, mit ſeinem weiten Blick und großen Herzen, 
hatte manche ihrer Verirrungen entſchuldigt, ſie hatte in der Sorge für ihn 
und in ſeiner Pflege einen Wirkungskreis. Nach ſeinem Tode trat eine 
Ode für fie ein, die entſetzlich geweſen fein muß. Die pekuniären Verhältniſſe 
waren klein, — wären aber bei vernünftiger Einteilung genügend gewefen — 
die Söhne ſchwer zu erziehen, mit den Vormündern gab es Streitigkeiten, ihr 
leidenſchaftliches, haltloſes Weſen brachte eine Verwirrung nach der andern. 
Bald nach Goethes Tode reiſte fie an den Rhein, zu Johanna und Adele 
Schopenhauer, die ſich in Ankel niedergelaſſen hatten. Johanna ſchreibt ſehr 
unglücklich über Ottilie; ſie liebte ſie, tadelte aber ihre Lebensführung auf 
das ſchärfſte. — In allen Schriften über Ottilie wird dieſe Zeit geheimnis⸗ 
voll berührt oder übergangen. Sie traf bald darauf mit ihren Kindern in 
Frankfurt a. M. zuſammen und kehrte mit ihnen nach Weimar zurüd, 
Hier gab fie 1833 die 2. Auflage der engliſchen Taffo-!berfegung heraus, 
ſowie die Romanzen und Gedichte von Schiller, Ahland und Eichendorff. 


Schorn: Die legten Goethes 701 


Um ihren Teetiſch im Goethehaus verſammelten ſich wieder Ein- 
heimiſche und Fremde. Der Schrififteller Guſtav Kühne, mit dem fie ſich 
ſehr befreundete, ſchreibt in ſeinen „Erinnerungen aus Weimar“: „Es wird 
nicht leicht einen Ort geben, wo man eine ſolche Menge bedeutender Der- 
ſönlichkeiten vereinigt ſieht. Aber freilich bleibt Ottilie Goethe unter allen 
die unerſchöpflichſte Geſtalt, die an der Seite des großen klaſſiſchen Mannes 
ihre romantiſche, abenteuerliche Natur zu einer ſeltenen Höhe des Herzens⸗ 
und Geiſteslebens erziehen konnte.“ 

* * 
* 

Otto Meier, fpäter Ronfiftorialrat in Hannover, fam 1836 auf feiner 
erſten Reife, die er als Achtzehnjähriger machte, nach Weimar. Zufällig 
wurde er von Freunden bei Frau v. Goethe eingeführt. Von da an datierte 
ſeine Freundſchaft mit Wolfgang, den er mit großer Liebe beurteilt. Mejer 
ſchreibt in feinem „Gedenkblatt“: 

„In ſpäteren Jahren habe ich Frau v. Goethe oft wiedergeſehen, 
aber der erſte Eindruck hat ſich dadurch nicht verändert: eine zarte Geſtalt, 
an beiden Seiten des feinen, energiſchen Geſichts, deſſen Züge bisweilen 
ſtreng erſcheinen konnten, reiche, im Geſpräche viel geſchüttelte Locken, da⸗ 
mals dunkelblond, dann frühe weiß; die Hände überaus ſchmal und fein, 
Bewegung und Rede ausdrucks voll, aber bei aller Lebendigkeit ſtets be. 
meſſen. Offenbar war die Frau, bevor ſie durch eine von einem Sturz 
mit dem Pferde herrührende Narbe entſtellt worden war, ſchön geweſen. 
Daß ſie ihre Erziehung von einer Hofdame, ihrer Mutter, und von einer 
ſcharfen Oberhofmeiſterin, ihrer Großmutter, erhalten hatte, verleugnete ſich 
nie; aber die ſo erzogene, mit reichen und liebenswürdigen Anlagen des 
Geiſtes und Gemüts ausgeſtattete Natur hatte eine ſolche Energie des Here 
zens und eine ſo heftige Offenheit im Ausdrucke ihrer Empfindungen und 
Gefinnungen mitgebracht, daß auch in der geſchulteſten Form deren Macht 
ungebrochen blieb und allenfalls keinen Anſtand nahm, das Konventionelle 
zu durchbrechen .. Sie konnte rückſichtslos fein und verſtand nicht, ſich 
unterzuordnen, aber ihr Weſen behielt immer den Zauber der Arſprünglich⸗ 
keit, der hinreißend wirkte, weil er mit geiſtiger Grazie verbunden war. 

Ottilie war gegen den jungen Meijer ſehr freundlich, unterhielt ſich über 
allerlei mit ihm, lobte Eckermanns „Geſpräche“, die eben erſchienen waren, 
und erzählte von Goethe, daß er oft laut mit ſich ſelbſt geſprochen habe, 
manchmal habe er geſagt: „Stille, ſtille!“ Mejer fügt hier eine Ergän⸗ 
zung zu Eckermanns Mitteilungen ein, die Frau v. Goethe ihm in ſpäteren 
Jahren gab: „Es war das Goethewort erwähnt worden, daß das Chriſten⸗ 
tum eine Kraft ſei, an der die krankende Zeit ſich immer wieder geſund 
lebe, und das Geſpräch, in welchem der Alte den Lehrpunkt ſeiner Gnade 
auseinanderſetzt. So ſei er auch einmal, erzählte ſie, auf die Herrlichkeit 
Chriſti zu reden gekommen und habe ſie immer ernſter, immer feuriger, mit 
immer wachſender Rührung gepriefen, bis er, in einen Tränenſtrom aus⸗ 
brechend, hinausgegangen fei. — 


702 Schorn: Ote letzten Goethes 


Dann ſprach Frau v. Goethe mit Mejer von ihren Söhnen, die er 
kennen lernen ſollte; Walter war nur einige Wochen älter als er, Wölfchen 
— wie die Mutter ibn nannte — zwei Jahre jünger. In dem Augenblick 
traten die beiden in das Zimmer, und Meijer beſchreibt fie: 

„Walter ſchon in der Geſtalt, die er dann behalten hat, zu klein für 
den großen, nicht ausdrucksvollen Goethekopf und älter ausſehend als er 
war, Wolf höher aufgeſchoſſen, mit langem dunklen Haar um das ſchmale 
Geſicht, deſſen Oberteil mit ſeinen mächtigen Augen ganz vom Großvater 
war, während der untere des Vaters zu ſtark hervortretenden Unterkiefer 
zeigte, doch mit einem freundlichen Zuge um den Mund. Walters Be⸗ 
wegung war zierlich, die von Wolf ſchnell und in dem langen, damals 
modigen Gehrocke, den er trug, eckig... Nachdem fich die jungen Leute 
angefreundet, ſchrieb Wolf in das Stammbuch Mejers: „Ein edler Menſch 
zieht edle Menſchen an.“ 

Wolf war ſeit März 1836 Oberſekundaner im Weimariſchen Gym⸗ 
naſium. Früher hatte ein Lehrer Rothe die Brüder im Hauſe unterrichtet, 
aber nicht erreicht, daß Fleiß und Pünktlichkeit herrſchte. Auguſt v. Goethe 
hatte den Geh. Referendar v. Waldungen und Regierungsrat Büttner zu 
Vormündern beſtellt, die Erziehung war aber — laut Ehevertrags — Sache 
der Mutter. Nach Goethes Tode wollten die Vormünder, daß die Knaben 
in die Schule kommen ſollten; Ottilie widerſetzte ſich dem aber und gab 
endlich nur zu, daß Wolf Oktober 1835 als Extraneus nach Schul⸗Pfotta zu 
Direktor Koberſtein kam. Weihnachten kam der Junge mißmutig und krank 
nach Haufe, es gab heftige Verhandlungen über feinen Wiedereintritt; Wal: 
dungen legte ſein Amt nieder, und der Hausarzt Hofrat Vogel übernahm 
die Vormundſchaft. Wolf beſuchte nun das Weimariſche Gymnaſium. Daß 
er nicht wegen der zu ernſten, anfirengenden Arbeit von Pforta fort wollte 
— was feine Vormünder geglaubt —, zeigte ſich hier, wo er ein vortrefflichet 
Schüler wurde; aber die Gleichheit, die Unperſönlichkeit, mit der man dort 
alle behandelte, hatte ihn immer ernſter und verſchloſſener gemacht. In 
dieſer Zeit fing ſchon feine Kränklichkeit an, die ihm das Leben fo vet 
bittern ſollte; trotzdem bekam er Oſtern 1838 und 1839 in allen Fächern 
die beſten Zenſuren. Am 18. September 1839, feinem neunzehnten Ge 
burtstag, beſtand er ſein Maturitätsexamen mit „Vorzüglich“. 

Im Sommer 1839 war Mejer in Jena und kam viel nach Weimar. 
Er erzählt von einem Abend bei Frau v. Goethe. Man las „Wehe dem, 
der lügt“ von Grillparzer mit verteilten Rollen. Das Stück war noch nicht 
gedruckt, der Dichter hatte Ottilie die ausgeſchriebenen Rollen gegeben. 
Frau v. Heygendorff las die „Editha“ meiſterhaft, natürlich ohne Dialekt. 
An einer Stelle, wo ihr Theaterblut rege wurde, rief fie im echteſten Thu 
ringiſch: „Das müßte mer nu ſchpielen.“ Ebenſogut las Dr. Ludwig Gre 
riep. Die Zuhörer waren aus dem Adelskreis, aber die Söhne des Hauſes 
fehlten; Wolf wohnte im Gartenhaus, Walter ſtudierte Mufit — wohl 
in Leipzig bei Felix Mendelsſohn. 


Schorn: Die legten Goethes 703 


Für Goethes Enkel waren das ſchwere Jahre, „fie waren zu Stücken 
des groß väterlichen Nachlaſſes geworden, zu literariſchen Reliquien”, und 
empfanden die Aufmerkſamkeit als Beengung, als unangenehm, ja ſchmerz⸗ 
haft. Wolf ſuchte dann die Einſamkeit. Eines Tages wurde er gerufen, 
als die Kaiſerin von Rußland bei ſeiner Mutter war; er antwortete: 
„Sagen Sie der Kaiſerin, ich ſei kein wildes Tier“ — und kam nicht. 
Die Brüder waren bedrückt von dem Namen, den ſie trugen; er war ihr 
Stolz, aber auch ihr Anglück, denn ſie verlangten Leiſtungen von ſich, die 
ihres Namens würdig ſein ſollten. 

Um dieſe Zeit kam Ottilie auf den Gedanken, Weimar zu verlaſſen. 
Walter war in Leipzig, Wolf wollte auf die Aniverſität, und für ſie gab 
es hier manch Schwerwiegendes, was ihr eine Trennung wünſchens wert 
machte. Nach einem kurzen Aufenthalt in Frankfurt a. M. zog ſie 1839 
nach Wien und kam nur ſelten nach Weimar, bis ſie in den letzten Jahren 
ihres Lebens doch die Heimat wieder aufſuchte. 

Daß dieſes Scheiden von dem Ort, wo ſie und ihre Söhne hin⸗ 
gehörten, für Ottilie im Augenblick das Richtige war, mag fein; aber daß die 
Abweſenheit ſolange dauerte, war ein Anglück für alle; ſie hatten in Weimar 
ein Heim, das durch die Tradition und die Pietät geheiligt war, wo ſie 
das Erbteil hüten ſollten, das Goethe ihnen — und der ganzen gebildeten 
Welt — hinterlaſſen hatte. Anſtatt deſſen zogen ſie von einem Ort zum 
andern und fanden keine Rube. Wenn fic auch in Wien ein Kreis um 
Ottilie bildete, in dem die anregendſten Elemente nicht fehlten, ſo empfand 
fie doch den Zwieſpalt, in dem fie lebte. Sie litten unter dieſen Verkehrt⸗ 
heiten, änderten ſie aber nicht. Jeder, der von Weimar kam, wurde mit 
Jubel empfangen, aber ſie behaupteten, es ſei ihnen in Wien eine freiere 
Bewegung möglich. 

Walter hatte ein hübſches Talent für Muſik, aber es fehlte ihm an 
der nötigen Arbeitskraft, denn auch er war kränklich von Jugend auf. Er 
ſtudierte bei Mendelsſohn, aber ermutigen konnte ihn ſein Lehrer nicht. 
Darunter litten Mutter und Sohn bitter. Am 10. Februar 1842 ſchrieb 
ſie aus Weimar einen rührenden Brief an Liſzt, wegen einer Oper ihres 
Sohnes. Aber Liſzt, der allzeit zur Hilfe Bereite, konnte hier nichts tun. 
Jenny v. Gerſtenberg ſchreibt: „Es ward Ottilie auf ihrem langen Weg 
keine Hoffnung mitgegeben, und damit begann jenes Drama, das Mutter 
und Sohn in unergründliche Leidenstiefen führte.“ 

So kam für Walter eine Enttäuſchung nach der andern; er fühlte 
Gaben in ſich, die er nicht verwerten konnte, das entmutigte ihn und machte 
ihn reizbar und verſchloſſen. Wie ſchwer beide Brüder an ihrem Namen 
trugen, iſt ſchon erwähnt; Goethe zu heißen und eine unbedeutend aus⸗ 
ſehende Perſönlichkeit zu ſein, die manche bittere Erfahrung und Verken⸗ 
nung ertragen mußte, das machte Walter mit ſeinem weichen Herzen, ſeiner 
ideal angelegten, mimoſenhaften Natur zu einem ſtillen, unglücklichen Manne, 
der ſich oft vor ſeinen beſten Freunden verſchloß, Fremde aber mied ſoviel 


704 Schorn: Die letzten Goethes 


er konnte. Und wie liebenswürdig, fein und verſtändnisvoll war er, wenn 
es ihm leidlich ging und er ſich ſympathiſchen Menſchen anſchließen konnte! 


Wolf ſtudierte von 1839 an in Bonn, Jena, Heidelberg und Berlin 
und machte 1845 in Heidelberg ſeinen Doktor. Schon damals dichtete und 
ſchrieb er; näheres über ſeine Arbeiten berichtet ſein Freund Mejer. — 
In demſelben Jahre wurde Walter mündig, Wolf 1841, nur Alma hatte 
noch einen Vormund. Seitdem verlangten die Brüder, daß die Samm⸗ 
lungen des „Apapa“ — ſo nannten ſie ihren Großvater — nicht mehr ge⸗ 
zeigt wurden, daß Kräuter alles Ausgeliehene wieder herbeiſchaffen ſolle 
und nichts mehr herausgeben dürfe. Kräuter, der Sekretär bei Goethe 
geweſen, ſtand unter dem Kanzler Friedrich v. Müller, dem Goethe die 
Aufſicht teſtamentariſch übertragen hatte. Müller hatte leider das Ver⸗ 
trauen der Brüder verloren, denn er hatte unbegreiflicherweiſe das Manu⸗ 
ſkript der Dichtung „Lila“ verſchenkt und auch Briefe waren abhanden ge⸗ 
kommen, die Mejer dann entdeckte, Abſchriften davon nahm und ſie 
Wolf anbot. 

1842 wollte der „Deutſche Bund“ das Goethehaus und die Samm⸗ 
lungen für 60 000 Taler kaufen. Müller glaubte dieſes Gebot in Almas 
Namen annehmen zu müſſen, aber die Brüder kauften Alma ihren Teil ab, 
um es nicht zum Verkauf kommen zu laſſen, und der Großherzog Karl 
Friedrich entſchied — als Müller ihnen den Vertrag zu erſchweren ſuchte — 
zu ihren Gunſten: „Weil ſie recht haben!“ 

Im Auguſt 1844 ließ der Erbgroßherzog Karl Alexander durch Hof: 
rat Vogel bei Wolf Goethe anfragen, ob er in weimariſche Staatsdienſte 
treten wolle. Wolf antwortete ausweichend. 

In demſelben Jahre ſtarb Alma in Wien am Typhus; ihre Mutter 
machte ſich die bitterſten Vorwürfe, denn das Kind war ihr ſehr ungern 
nach Wien gefolgt, ſie hing mit ihrem ganzen Herzen an Weimar und 
ihren Freundinnen, und Ottilie hatte keine Nückſicht darauf genommen. 
Das Vermögen von Alma, 70 000 Taler, fiel an die Mutter. 

Wolf ging nach feinem Doktorexamen nach Capri; er litt ſehr an 
Neuralgie — wie ſeine Mutter —, und bei jeder angeſtrengten Arbeit 
wurden die Geſichtsſchmerzen unerträglich; manchmal war es ſo arg, daß 
er nicht wagte, das Geſicht zu bewegen. Dieſe Starrheit liegt leider auch 
auf dem Porträt, das Eliſabeth Baumann ⸗Jericho in Rom von ihm malte 
— Ottilie hatte es beſtellt, weil ſie für ſein Leben fürchtete. Wolf ſprach 
von ſeinem Leiden als von „körperlicher Verzweiflung“. Selbſt gegen ſeine 
Mutter konnte er in ſolchen Momenten herb fein, während ſonſt das Ver: 
hältnis ein ſehr liebevolles war; es hatte die feſteſte Baſis, die des Ver 
trauens. Schon zehn Jahre früher hatte Frau v. Goethe zu Meier ge 
ſagt: „Nicht immer kann ich mit meinen Söhnen zufrieden ſein, aber wenn 
ſie dumme Streiche machen, ſo bin ich allemal die erſte, die es von ihnen 
ſelbſt erfährt.“ 


Schorn: Die legten Goethes 705 


Wie ſchwer das alles auf Walters Seele drückte, ſprach er in einem 
Briefe — vom November 1845 — an den getreuen Schuchardt (Chriſtian 
Schuchardt, geb. 1799 in Buttſtedt bei Weimar. Von Goethe bei der 
Oberaufſichtsbehörde für Wiſſenſchaft und Kunſt angeſtellt, zugleich Sekretär 
bei ihm und Lehrer ſeiner Enkel. Er führte ſpäter die Aufſicht über Goethes 
Sammlungen, gab 1849 die Stiche nach den Zeichnungen von Asmus 
Carſtens heraus und ſchrieb 1851 „Lukas Cranach d. N. Leben und Werke“. 
Schuchardt ſtarb am 10. Auguſt 1870 in Weimar) aus, den Verwalter 
der Goetheſchen Sammlungen, mit dem er befreundet war: 

„Wenn Sie ſo in den Sammlungsräumen oder dem Arbeitszimmer 
des Großvaters in unſerm Sinne ſchalten, wenn Sie Staub und böſe 
Geiſter bannen, da denke ich doch, es gereut Sie nicht, daß Sie treu an uns, 
den Aberbliebenen von Tantalus’ Haus, halten. Glauben Sie mir: das 
Reich der Eumeniden geht zu Ende, Wolfs beſtändiges Leiden, dazu der 
Mutter und unſer aller Schmerz um Alma, die übrigen Glieder der Familie 
in Deutſchland zerſtreut ... die große Laſt, die Haus und Sammlungen 
uns auferlegen — das alles ſind freilich Störungen für Geiſt und Streben. 
Für den Augenblick fehlt wirklich alles Gute, und bliebe nichts als Jammer 
und Klagen, hätte ich nicht den Mut und feſten Willen, durch Feuer und 
Waſſer durchzugehen. Die Taminoflöte hat jeder, wenn er nur will.“ — 

Ottilie wollte 1847 in Rom ein Denkmal für ihre verſtorbene Tochter 
machen laſſen, einen antiken Sarkophag, aus dem Blumen hervorwachſen. 
Warum dieſe Idee nicht ausgeführt wurde, weiß man nicht. Anſtatt deſſen 
machte Jens Adolf Jerichau die liegende Figur Almas, den Kopf nach 
der Totenmaske. Alma wurde in Wien beigeſetzt, und das Monument 
blieb verpackt, bis nach dem Tode Walters die Erben, Graf Leo Henckel 
v. Donnersmark und Dr. Vulpius, die Leiche überführen und ſie in dem 
Familiengrab hier beerdigen ließen. Die Statue hatte da keinen Plaͤtz und 
wurde deshalb in einem unteren Raum des Goethehauſes aufgeſtellt. 


Otto Meijer betont in feiner Charakteriſtik Wolf Goethes die ſchöne 
Liebe, die er zu der Menſchheit hatte, und führt folgenden Vers aus einem 
von Wolfs Gedichten an: 

„Oft faſſ' ich nicht, was Chriſti Lehren wollen, 
Wenn er von Gott, vom eignen Weſen ſpricht; 
Doch ſagt er, wie wir wandeln, lieben ſollen, 
Dann werf ich mich vor ihm aufs Angeſicht.“ 

Seine ſtarke Phantaſie führte ihn manchmal ſonderbare Wege; ſo 
ſpielte er mit dem Gedanken, ſeinem ſchwankenden Lebensweg ein Ziel zu 
geben, indem er katholiſcher Prieſter würde. 

Im Jahre 1847 wurden die Leiden ſo ſtark, daß Wolf von Nom 
nach Meran geſchickt wurde. Aber es wurde immer ſchlimmer, ſo daß 
Ottilie zu hören glaubte, „wie die Flügel des Todes um ihn rauſchten“. 


Sie war ſo unglücklich und entmutigt, daß nes an Walter e a 
Der Türmer X, 11 


706 Schorn: Die letzten Goethes 


Du mir nicht helfen, Walter, willſt Du nicht mit mir vereint verfuchen, 
ob wir uns nicht eine Exiſtenz zimmern können, wo wir weniger leiden? 
Auf mehr rechne ich nicht. Gönnt Ihr meiner Seele nicht bald Ruhe, muß 
ich Euch ſo unglücklich fortwährend ſehen, ſo wird mir bald der Friede, 
den Ihr meinem Alter verfagt... Ich tue, was ich kann, nehme jeden 
Morgen wie die Hauſierer mein Bündel auf den Rücken und ſchleppe es 
fort bis zum Abend, wo ich wie gebrochen dann binn 

Nicht nur Walter kam zur Hilfe nach dieſem Schmerzensſchrei, fon- 
dern auch Frau v. Pogwiſch und Ulrike ſcheuten die weite Reife nicht. 
Wolfs Zuſtand beſſerte ſich momentan, aber lange hielt das nie an. 

1849 ſchrieb Frau v. Goethe aus Freiwaldau: „Wolf iſt in dieſem 
Augenblick ſehr leidend, denn eine der ſchmerzlichen Kriſen, welche die 
Waſſerkur mit ſich bringt, iſt eingetreten. Was für eine Refignation und 
Beharrlichkeit zu dieſer entſetzlichen Kur gehört, iſt nicht zu beſchreiben; 
und es macht mich nicht heiterer, dieſe Qualen nun ſchon den dritten 
Sommer mit anzuſehen. Ich verſichere Sie, es iſt bewunderungswürdig, 
wie Wolf doch ſein ſchweres Schickſal trägt, wenn auch natürlich Tage 
oder Augenblicke der Verzweiflung nicht ausbleiben .. Bei den aller 
dings ungewöhnlichen Charakteren meiner Söhne und ihrer Scheu, daß 
man nicht von ihnen ſprechen ſoll, worin ſie auf manchen Punkten von 
meiner Natur, die ich eigentlich auch mit meinem Inneren auf offenem 
Markte gelebt habe, wie die Italiener, ganz abweichen, bin ich immer ver⸗ 
legen, ob ich und wie ich fie zu erwähnen babe... Wegen dieſer Be 
fangenheit alſo, mit der ich meine Söhne gar nicht oder wahrſcheinlich un⸗ 
geſchickt, zumal ſchriftlich, erwähne, ſollte es mich gar nicht wundern, wenn 
es einmal hieße, ich hätte mir nichts aus ihnen gemacht. Dann verteidigen 
Sie mich. — Wolf ginge gern nach Italien, glaubt es aber nicht möglich 
machen zu können, und muß auch im April, ebenſo wie Walter, nach 
Weimar reiſen 

Aber Politik ſchrieb fie: „Ich will weder ſchwarz ⸗weiß noch ſchwarz⸗ 
gelb ſein, ſondern mich immer als Deutſche fühlen; und komme, wie es 
wolle, ſo wird, und wäre es nach einem Jahrhundert, doch noch ein einiges 
Deutſchland ſich bilden 

Im Frühjahr 1850 kam Wolf nach Weimar und blieb den Sommer 
durch hier. Er ſchrieb an Mejer: „Ich hatte den Kopf voll Geſchäfte, 
das Herz voll Betrübnis, die Hände voll Arbeit bei meinem immer hem: 
menden und bedingenden Körper. Im ganzen bin ich geſunder, doch bleibt 
immer noch genug Störendes, was mich nicht eigentlich leben läßt. Etwas 
Eſoteriſches, Ekſtatiſches werde ich ſelbſt in den beſten Zeiten noch behalten, 
und am Ende kann ich es — als eine gute Gabe ſchätzen und benutzen 

1851 gab er ein Heftchen „Gedichte“ bei Cotta heraus. Die kranken 
Töne, die ſich ſchon in feiner „Erlinde“ fanden, erfüllten hier alles, die 
jungen, geſunden Gefühle waren in Not und Schmerzen untergegangen. 

* * 


* 


Schorn: Die legten Goethes 707 


Frau v. Goethe verlebte mit ihren Söhnen — deren Geſundheit fich 


etwas gebeſſert hatte — einige leichtere Winter in Wien. Um ihren Tee⸗ 


tiſch in der ſehr einfachen Wohnung ſammelten ſich wieder intereſſante 


Menſchen. Ihr beſter Freund war Dr. Romeo Seligmann, ein geiſtreicher 


Arzt und Schriftſteller. Aber auch Fürſt Schwarzenberg, der Dichter 
Freiherr v. Zedlitz, der Schauſpieler Laroche, Fürſt Lichnowsky gingen bei 
ihr aus und ein. Ottilie ſchreibt darüber: „Der Kreis der Freunde hat 
ſich wieder vergrößert, wobei ich mir freilich nicht das Lob geben kann, 
viel dazu beigetragen zu haben. Zwar habe ich keine chineſiſche Mauer 
aufgeführt, habe aber auch nicht gerade alles Gebüſch auseinandergebogen, 
damit man wie durch eine Triumphpforte ſchreite. Bei manchem tue ich 
es, wie bei Heinrich Gagern oder Feldzeugmeiſter Heß, und dann tragen 
die Triumphbögen ſogar Inſchriften.“ 

Ein großer Schmerz traf die Familie im Jahre 1851 durch den Tod 
der Frau v. Pogwiſch. Ottilie litt namenlos unter dieſem Verluſt der 
treueſten Mutter. Sie ſchrieb darüber: „Welch ein Verein großartiger 
Eigenſchaften bildeten den Charakter meiner Mutter, und welch tiefe Emp⸗ 
findung hatte ſie für alles! Wie liebte ſie, wie half ſie, wie wagte ſich 
wirklich das Kleinliche nicht in ihre Nähe. Ich komme mir wie ein heimat⸗ 
loſes Weſen erſt feit ihrem Tode vor..“ 

Alrike Pogwiſch lebte in Weimar, verbrachte aber von nun an die 
Winter mit ihrer Schweſter in Wien. Sie wurde fpäter Priorin des 
Damenſtiftes in Schleswig, aber auch dann vereinte ſie der Winter mit 
den Ihrigen. 

Wolf wurde in dieſer Zeit zum weimariſchen Kammerherrn ernannt; 


g man hatte auch von feinem Eintritt in den Staatsdienſt geſprochen, aber 
er hätte fein Staatsexamen machen müſſen, und das verbot feine Rränklich- 


keit. So bewarb er ſich um den Eintritt in die preußiſche Diplomatie. 
Der Prinz von Preußen verwandte ſich für ihn, wohl um ſeiner Ge⸗ 


e: mahlin willen, die ſich für alles, was von Weimar kam, warm intereffierte. 
; Auch Alexander v. Humboldt fprach dafür und zuerſt der Gefandte in 


* 


K er "TI. 


Rom, Herr v. Ufedom. Am 29. April 1852 wurde Wolfgang v. Goethe 
der römiſchen Geſandtſchaft attachiert und fchrieb 1853 darüber an Meier: 

„Wenn man dreizehn Monate nicht aus der Stadt Nom kommt, 
ein ziemlich fatiguierendes Leben führt, eine Geſundheit hat, die mehr von 
Blei als von Eiſen iſt, ein Herz hat, das da wackelt wie ein Lämmer⸗ 
ſchwanz, eine Seele, die einfältigerweiſe mitunter weint wie ein Kind, ſo 
muß man ſich einmal wieder lüften und die Nerven in ſtärkender Luft er- 
friſchen ...“ Er ging damals nach Wien und ſchrieb von dort über feinen 
Bruder: „. . . den Sie, wenn Sie ihn kennten, fo hochſchätzen würden, wie 


‘ Sie wenige Leute hochſchätzen. Punktum! ... Sie fragen, ob ich geſund 


bin? Nie! — Ob ich glücklich bin? Nie! — Ob ich ein Buch ſchreibe? 


1 „Ein immenſes!“ — Riefig wäre eine Zuſammenſtellung von den Titeln der 


whey die er „zu den Werken brauchen würde, die ich gern ſchreiben 


708 Schorn: Die legten Goethe 


möchte... Was mir dieſes große Buch an Zeit übrig läßt, was ich an 
Zeit nicht für die Geſandtſchaft und für die Geſellſchaft, oder für die Mutter, 
oder für den Haß verbrauche, das benutze ich, um mit Herz und Kopf 
— ich weiß nicht, mit welchem von beiden — über ein Problem zu philo⸗ 
ſophieren. Dies Problem klingt ſehr einfach. Es iſt: daß die Menſchen 
ein liebendes Herz ſo wenig hochſtellen und ſich doch alle danach ſehnen.“ 


Am 14. Auguſt 1853 ſchrieb Ottilie v. Goethe an den nunmehrigen 
Großherzog Karl Alexander (Karl Friedrich war am 8. Juli desſelben 
Jahres geſtorben) aus Albano: 

„. .. Walter hat im Namen Ew. Kgl. Hoheit die erhebende Nad- 
richt gegeben, daß der 28. Auguſt zur Huldigungsfeier von Ew. Kgl. Hoheit 
gewählt wurde, und mit Rührung, Stolz und Hoffnung für die Regie 
rung Ew. Kgl. Hoheit hat mich dieſe Wahl erfüllt. Es iſt ein ſymboli 
{ches Zeichen, daß Sie, gnädigſter Herr, die große Vergangenheit Weimars 
anerkennen und auf dem alten Grund, den Ihre Ahnen und die größten 
Männer Deutſchlands im Reich des Gedankens gelegt haben, nun auch 
die Neuzeit aufbauen wollen. Es iſt nicht der Bruch zwiſchen alt und 
neu, was, vergeben Ew. Hoheit, wenn ich es ſage, ſo oft der Fehler bei 
einem Regierunggantritt iſt, ſondern die harmoniſche Vermittlung von dem, 
was war und nun fein wird, was ſich Kgl. Hoheit zur Aufgabe geſtellt . 
Sie haben durch die Wahl des 28. Auguſt Ihre Regierung zu einer Ree 
gierung des Geiſtes erklärt.. Gott gebe Ihnen Beharrlichkeit in der 
Ausführung und treue Freunde und Diener . 

Im März 1855 ſchrieb Ottilie an den Großherzog: „Ew. Kgl. Hoheit 
bitte ich, durch dieſe Zeilen mir zu geſtatten, Ihnen zu ſagen, daß ich eine Sorge 
weniger im Leben habe, ſeit ich Sie wieder hergeſtellt weiß, und ich möchte, ich 
wäre in Weimar geweſen, während Sie, mein gnädigſter Herr, krank waren. 

Nun werden Ew. Kgl. Hoheit fragen: Was hätten Sie denn tun 
wollen? Was ich hätte tun wollen? Was Ew. Kgl. Hoheit getan in 
Rom, als ich krank war, — ich hätte einen jeden beiſeite geſchoben, det 
mir den Weg verſperrt hätte. Aber, ſagen oder denken doch Ew. Hoheit 
ich bin ein Fürſt, und was ich tue, dazu ſind die andern doch nicht bee 
rechtigt. Aber, ſage oder denke ich, ich bin eine Frau und überdies eine 
alte Frau, und ich darf hinzufügen, ſogar eine alte Freundin. Alſo fabre 
ich, energiſch in mich hineinſprechend, fort: And wenn er auch böſe ge 
worden wäre, ich hätte es doch getan 

* 

Im April 1854 wurde Wolf Goethe zum Legationsſekretär ernannt. 
Er vertrat den Geſandten und füllte feine Stellung geſchäftlich und geieli: 
vortrefflich aus. Aber er war nicht mehr gern in Nom. Seit drei Sabres 
war Pius IX. in die Hände der Jeſuiten geraten, welche die preußiſche 
Geſandtſchaft haften „und alle antirömiſchen Notizen aus Nom uns in die 
Schuhe ſchieben“. 


Schorn: Die legten Goethes 709 


Im November desſelben Jahres ſchreibt Wolf: „Unfere hieſigen Ver⸗ 
hältniſſe werden dunkler. Ich meinesteils bin wie immer zu alt und zu jung.“ 

1855 hatte er Urlaub, um zuerſt „unfere außerordentliche Mutter“ 
zu ſehen. Er war bei ihr in Wien, „mein Stümpfchen Mutter brennend“. 
— Mejer war dann mit ihm in Travemünde zuſammen, wo Wolf wohler 
und heiterer war als ſeit langer Zeit. Das ſchöne Olbild von Begas, das 
Sanitätsrat Vulpius beſeſſen und welches noch in der Familie iſt, zeigt ihn 
in jener Zeit. | 

Im Juni 1856 wurde er etatsmäßiger Legationsſekretär in Dresden. 
Seine Mutter zog mit ihm dahin, behielt aber ihre Wohnung in Wien 
bei. Sie fand in Dresden ihren alten Freund Guſtav Kühne wieder, ver⸗ 
kehrte viel mit dem bedeutenden Arzt Karl Guftav Carus und verfolgte 
mit dem regſten Intereſſe die Arbeit Ernſt Rietſchels, unter deſſen Händen 
das Goethe ⸗Schiller⸗Denkmal für Weimar entſtand. Für die eben ins Leben 
gerufene „Schillerſtiftung“ arbeiteten beide Schweſtern — Alrike brachte den 
Winter bei Ottilie zu — auf das eifrigſte und ſammelten bei ihren Freunden 
für die „Schiller⸗Lotterie“. 

Am 28. Auguſt 1859 wurde Wolfgang v. Goethe in den erblichen 
Freiherrnſtand erhoben. Er hatte darum nachgeſucht, vermutlich — wie 
Mejer ſagt — wegen einer projektierten Heirat. Da die Dame katholiſch 
war, ſo wurde ſchließlich doch nichts daraus. 

Wolf korreſpondierte in der Zeit viel mit Schuchardt in Weimar. 
Der Oberbibliothekar Dr. Ludwig Preller wollte — im Auftrage der Groß⸗ 
herzogin Maria Paulowna — ein Werk über Heinrich Meyer heraus; 
geben und brauchte dazu den Briefwechſel Goethes mit Meyer. Wolf 
ſchreibt an Schuchardt, daß an Preller 107 Briefe von Meyer an Goethe 
gegeben worden find, mit der Bitte, ſowenig als möglich daraus zu ent ⸗ 
nehmen, um Schuchardt nicht vorzugreifen, „weil wir wußten, daß Sie, 
teuerſter Herr Schuchardt, es ſich als eine Lebensaufgabe geſtellt haben, 
die Tätigkeit der Weimariſchen Kunſtfreunde ins klare zu fegen... Ganz 
abſchlagen konnten wir jeden archivariſchen Beitrag auch ſchon deshalb 
nicht, weil die Publikation dieſes Werkes ein beſonderer Wunſch der ver⸗ 
witweten Großherzogin war.“ 

Die Brüder lehnten ſonſt alle Geſuche, die wegen Verabfolgung 
von Papieren aus dem Goetheſchen Nachlaß an ſie kamen, ab. Mejer 
ſchreibt darüber: „Ich habe das Kapitel dieſer Ablehnungen mehr als ein- 

mal mit Wolf beſprochen. Er unterſchätzte den Anwillen, den fie veranlaßten, 
keineswegs; aber er hielt ſich für verpflichtet, ihn zu tragen. Einesteils 
wegen der ſonſt nicht abzuwehrenden Gefahr unzarter Veröffentlichungen, 
durch welche die Familie wiederholte Male tief widerwärtig berührt worden 
war. Dann weil er ſich und ſeinen Bruder als nicht ſowohl Eigentümer, 
wie vielmehr verantwortliche Verwalter, alſo auch Hüter des vom Groß- 
vater hinterlaſſenen Schatzes anſah. Er empfand das als ein ihm anver⸗ 
trautes Amt, für deſſen Führung ihm die Geſinnung des Großvaters zur 


710 Schorn: Dis legten Goethes 


Norm dienen müſſe. Danach aber fei er eine feiner eigenen Verantwort⸗ 
lichkeit auch nur tatſächlich ſich entziehende Benutzung jener Archivalien zu 
geſtatten, ſchlechthin nicht berechtigt. Man kann das eng finden, aber man 
muß es reſpektieren.“ 

1860 nahm Wolf Arlaub, war zuerſt bei den weimariſchen Herr⸗ 
ſchaften in Wilhelmstal und dann bei ſeiner Mutter in Wien. Was dieſe 
befürchtet hatte, geſchah: er verlangte ſeinen Abſchied — es war ihm un⸗ 
möglich, in den gegebenen Verhältniſſen auszuharren; die Geſelligkeit ver- 
trug er nicht — wahrſcheinlich trug auch die Heiratsgeſchichte dazu bei, ihm 
Dresden zu verleiden. Frau v. Goethe wurde der Abſchied von Dresden 
ſchwer, ſie ſchrieb in jenen Tagen: „Ich fühle, daß es mir nottut, ſtill in 
einem Winkel für einige Zeit zu ſitzen und mich ſelbſt wie ein halbverſtimmtes 
Inſtrument in Ordnung zu bringen.“ 

* 

Am 7. April 1861 ſchrieb Wolf Goethe an feinen Freund, daß er 
arbeite, aber aus Aberglauben nicht ſagen wolle, was. „Ein großes Hinder⸗ 
nis für die Vollendung aller meiner Arbeiten iſt der Amſtand, daß ich ſeit 
meinem langen Krankſein täglich nur ein beſtimmtes, ſehr eng bemeſſenes 
Quantum Arbeitskraft mit der Feder in der Hand habe. Iſt es ausgegeben, 
ſei es wofür es ſei, dann verſagt der Körper für den betreffenden Tag jede 
weitere ähnliche Tätigkeit. Dazu kommt ein innerer geheimer Widerwille 
gegen alles Veröffentlichen, gegen das Lob und den Tadel, die uns unſer 
Leben beſchränken und unſere Stellung mehr oder weniger verfälſchen, wenn 
wir etwas veröffentlicht haben. Ich kann eigentlich die Stellung eines 
Schriftſtellers nicht leiden, und auch der Ruhm eines ſolchen iſt mir anti» 
pathiſch; und ich kann hierfür nicht einmal zur Entſchuldigung anführen, 
daß mir das im Blute liege. Indem ich dabei doch fortwährend produziere 
und weiterarbeite, bin ich freilich in unbequemen Widerſprüchen, die mir 
viel zu ſchaffen machen. Eine geiſtreiche Frau ſagte mir einmal ſehr richtig, 
Gott behalte ſich in jedem Menſchen etwas vor, das nur er verſtehe. Dies 
mag dazu gehören.“ 

Im Sommer 1862 ſah Mejer die Familie Goethe in Eiſenach, wo 
Ottilie im Hotel zum Halben Mond wohnte, ihre Söhne waren in Wil⸗ 
helmstal zu Beſuch am Hofe. — Im Herbſt kehrten ſie nach Wien zurück, 
und am 4. Dezember ſtürzte Wolf auf dem Glatteis, zog ſich eine ſchwere 
Stirnwunde zu und mußte vier Wochen zu Hauſe bleiben. Er wohnte nicht 
mit ſeiner Mutter zuſammen, und da dieſe auch krank war, konnte ſie nicht zu 
ihm kommen. Das war ein ſchrecklicher Zuſtand, unter welchem alle ſehr litten. 
Von dieſem Sturz blieb Wolf eine Abſpannung „wie in den ſchwerſten Zeiten“. 

Er ſchrieb aus Wien an Mejer: „Was meine Geſchichte der Viblio⸗ 
thek des Kardinals Beſſarion betrifft, ſo können Sie ſich denken, daß ſie 
in den letzten dreiviertel Jahren nicht ſehr gerückt iſt. Immer aber habe ich 
jeden freien Tag benutzt; leider waren nur ſolcher Tage nicht viele. Am 
meiſten habe ich den Abſchnitt gefördert, welcher von der Geſchichte des 


— — — — 


——— Ü ee 


Schorn: Die legten Goethes 711 


Baſilianerkloſters S. Nikolaus bei Otranto handelt. Es wurde unter der 

Herrſchaft der Normannen 1099 gegründet und von den Türken 1450 zerſtört. 

Ein großer Teil der bedeutenden Bibliothek des Kloſters ſoll vorher von 

Beſſarion erworben worden fein... Es liegt ein großer, vielleicht zu großer 

Reiz darin, ſolch eine Geſchichte urkundlich aus der Aſche erſtehen zu machen.“ 
* * 


Im Jahre 1863 ſchreibt Frau v. Goethe an den Großherzog Karl 
Alexander: „. . . Sy will ich denn, wie Sie es wünſchen, denken, ich fäße 
Ihnen gegenüber und Sie befrügen mich, wie es uns ergangen? Ich habe 
viel Sorgen, viel Kummer, viel innere Unruhe gehabt, würde ich Ihnen, 
mein fürſtlicher Herr, antworten. Mir iſt von den vergangenen Jahren 
eine Müdigkeit geblieben, die ich eine Herzensmüdigkeit, noch mehr wie die 
des Geiſtes, nennen möchte. Ich bin ärmer geworden, denn mir iſt, als 
liebte ich die Menſchen viel weniger, und was mir oft als Güte, vielleicht 
als Schwäche ausgelegt wird, hat einen ganz anderen Grund: es entſpringt 
viel mehr aus Mitleiden, als aus Wohlwollen bei mir. Ich ſehe, wie die 
Menſchen die Liebe verſchwenden, die ihnen geboten wird, und die einen 
feſten Boden bilden könnte für einen Bau, der allen Zeiten trotzen würde. 
Sie verſchwenden ſie wie Staub, der unnütz iſt, der keine Beachtung ver⸗ 
dient, und werden einmal darben aus Mangel an Liebe, weil ja leider die 
Folge von allen Verirrungen Strafe iſt, die die Neue nicht immer ab⸗ 
wenden kann. Wer lebt, der irrt, aber in der Jugend ſieht man nur den 
Anfang, im Alter leider oft die Folgen 

In dieſer Zeit wurde Ottilie augenleidend, das fügte zu den vielen 
Prüfungen noch eine neue hinzu. Da ſie nun nicht mehr ſo viel leſen und 
ſchreiben konnte, ſo erfreute ſie ſich deſto mehr an den Kunſtſchätzen, Alter⸗ 
tümern und Andenken, die ſie in ihrer Wohnung in Wien um ſich herum 
aufgebaut hatte. Sie hatte einſt geſagt: „Die Kunſt iſt mir immer wie 
eine barmherzige Schweſter geweſen“, das bewahrheitete ſich jetzt. Walther 
erzählte von ihrem Heim in Wien: „Mamas Zimmer ſieht wie ein kleines 
Muſeum aus. Es iſt alles ſo harmoniſch und macht einen ſo wohltuenden 
Eindruck, weil man fühlt, wie die Beſitztümer wirklich aus der innerſten 
Neigung des Beſitzers entſprungen.“ 

An den Großherzog ſchrieb Ottilie: „Ich habe gehört, daß Ew. 
königl. Hoheit mit dem König von Sachſen den unteren Garten beſucht 
haben, der leider vermietet iſt. Das, wie dies gekommen, iſt ſchriftlich zu 
weitläufig. Nur das weiß ich, daß, wenn der Erzengel Michael oder 
Gabriel ihn künftig haben will, er ihn nicht erhält. ..“ 

Walter Goethe lebte indeſſen meiſt in Weimar, in den Manſarden 
des Goethehauſes, krankte daran, daß feine Kunſt keinen Anklang fand, und 
ſuchte Vergeſſenheit in treuer Arbeit und Pflichterfüllung. „Meine Tage“, 
ſo äußert er ſich einmal brieflich, „ſpinnen ſich in Geſchäften und Obhuts⸗ 
angelegenheiten ſehr gleichförmig ab — mein Streben iſt, dieſe treu zu 
erfüllen.“ 


712 Schorn: Die legten Goerhes 


Von Wolf find aus dem Jahre 1865 einige Heine Aufzeichnungen 
gefunden worden, die fein furchtbares Leiden ausdrücken: 
„Als ich mich an das Aniverſum anlehnte, fiel ich um, als ich mich 
an Gott anlehnte, blieb ich aufrecht.“ 
„Ich habe einſt geleſen, 
Daß Gott die Seinen ſchützt; 
Wo tft das denn geweſen? 
Was hat es denn genützt?“ 


„Man ſtirbt lange, ſelbſt wenn man einmal angefangen hat.“ 


Auch bei Wolf begann ſich ein Augenleiden zu entwickeln, ſo daß 
er diktieren mußte. 

Daß Ottilie mit ihrem deutſch empfindenden Herzen während des 
Krieges 1866 in Wien ſein mußte, kann man ſich gar nicht ſchrecklich genug 
denken; ſie litt ſo unter der Entfernung von Deutſchland, daß ſie im Herbſt 
mit Wolf nach Weimar kam, ſie blieben bis zum Juni 1867, und der arme 
Wolf ſchreibt: „Eine Zeit, die in jeder Beziehung zu den peinlichſten meines 
Lebens gehört hat.“ 

Nachdem Walter im Sommer 1868 todkrank in Dresden an einem 
Bruſtleiden gelegen hatte, ging die ganze Familie nach Jena, das wegen 
ſeiner milden Luft gerühmt wird. Nach dem Süden zu reiſen fehlten die 
Mittel, denn die pekuniäre Lage wurde von Jahr zu Jahr ſchlimmer. 
Ottilie hatte immer zu viel verbraucht, die Söhne gaben ihr, was ſie konnten, 
fie täuſchten fie aus Liebe; das merkte die Mutter wohl und litt nun ihrer- 
ſeits wieder darunter. In Jena lebten ſie faſt ganz einſam, trübe dahin. 
Wolf arbeitete, Walter war krank. Ottilie ſchrieb: „Solange ich lebe, 
habe ich nicht eine fo monotone Exiſtenz gehabt wie hier.“ Das Grom 
mannſche Haus und der Verkehr mit Profeſſor Kuno Fiſcher boten die etm: 
zigen Abwechſelungen. Auch der zweite Winter ſah Ottilie mit ihren 
Söhnen in derſelben Stille: „unſer Plätzchen noch einſamer.“ 

Aber Wolf konnte wenigſtens dort arbeiten. Mejer ſchreibt darüber: 
„In dieſer Zeit beendete er bis auf einen Reft die erſte Abhandlung ſeiner 
Studien und Forſchungen über das Leben und die Zeit des Kardinals 
Beſſarion ... Er ſchickte mir (11. Auguſt) fein Manuſkript und ſchrieb 
mir hierauf aus Bad Elſter (24. Auguſt) ausführlich. „Gefangene vollenden 
wohl mit geringem Material, mit den ſchlechteſten Werkzeugen allerlei Dinge, 
an denen man nicht ſowohl das Ding ſelbſt als die Energie bewundert, 
durch die es hervorgebracht iſt. In Weimar im Turm der Bibliothek be- 
wundert man aber das unter ſchwierigſten Bedingungen vollendete Wert 
ſelbſt: ich meine die kühne, kunſtvolle Wendeltreppe. Möge meine erſte 
Abhandlung Ihnen nicht wie ein Kegelſpiel in einem Kirſchkerne, mit einem 
kleinen Stückchen Eiſen geſchnitzt, erſcheinen. 

Mejer mußte von ihm verlangen, daß er die Arbeit vor der Drud: 
legung nochmals vornähme. Seine Gründe ſind zu weit ausladend, um ſie 


Schorn: Die legten Goethes 713 


hier wiederzugeben. Am 28. September ſchreibt Wolf aus Dresden: „Ich 
ſchrieb Ihnen, daß ich die erſte Abhandlung, ſoweit ſie jetzt vorliegt, nicht 
mehr ändern könne. Es iſt das in meinem gegenwärtigen phyſiſchen, morali- 
ſchen, geiſtigen und äußeren Zuſtande begründet und durch ihn bedingt. 
Meine ganze Hoffnung beruhte darauf, daß Sie mich in dem gegenwär⸗ 
tigen Stadium, wie es iſt, unterſtützen würden. Sie verlangen als Be⸗ 
dingung Ihrer Unterftüsung eine vollkommene Amwandlung dieſer erſten 
Abhandlung. Dieſe iſt mir unmöglich. Die Stellung, die Sie aus Aber⸗ 
zeugung nehmen, iſt ein ſo ſchwerer neuer Schlag für mich, daß ich ſeit 
Tagen ringe, ihn nur einigermaßen zu verarbeiten. Ich weiß, daß ich ſogar 
nicht imſtande geweſen wäre, meiner Arbeit eine andere Form zu geben, 
als ich ihr gegeben babe... Ich will dem Gorfcher die Möglichkeit geben, 
von dem gegenwärtigen Standpunkte aus einen großen Schritt weiter zu 
tun, nicht aber durch eine abgerundete Darſtellung des gegenwärtigen Gtand- 
punktes für eine gewiſſe Zeit ein gewiſſes Genügen auf dieſem Felde hervor⸗ 
zurufen. Ich mag kein Schriftſteller ſein, ich will kein Buch ſchreiben. Ich 
will nichts als die Wahrheit fördern. Ich will in den paar Fragen, in 
die ich mich hineingearbeitet, dazu beitragen, das hiſtoriſche Wiſſen bis an 
die äußerſte ihm erreichbare Grenze zu führen. So weit bin ich ſtark. Nun 
kommt meine Schwäche: ich weiß ſchließlich nicht, wie der Welt meine 
Arbeit beibringen, wie ihr begreiflich machen, daß ſie ihr nützen kann 
Wahrheit oder Schönheit? Wahrheit und Schönheit.. Ich habe 
mich nun zu folgendem entſchloſſen: Ich mache, wenn es Gottes Wille 
iſt, unter allen Umftänden dieſe erſte Abhandlung fertig ... ganz in bis⸗ 
heriger Weiſe arbeitend, was freilich nach Ihrem Briefe noch ſchwerer iſt. 
Ich tue das ſobald als möglich. Was dann weiter, überlaſſe ich der Zu⸗ 
kunft ... Freund! Profeſſor! Konſiſtorialrat! Examinator! Vater! Das 
Leben kennen Sie doch nicht!. .. Nochmals Dank für Ihre Ehrlichkeit.“ 
Ende Oktober forderte er fein Manuſkript zurück: „So muß einem Vater 
zumute fein, der feinen Sohn wohluntergebracht glaubte und dem der Prin- 
zipal ſchrieb, er möge ihn doch zurücknehmen.“ 

Bis Februar 1870 war Wolf mit ſeiner Arbeit nicht vorwärts ge⸗ 
kommen, weil unangenehme Gefchäfte ihn davon abgehalten hatten: „For 
ſchung und Bearbeitung rücken den Grenzen meines kleinen Reiches immer 
näher, ich werde immer mehr an die Mauer gedrückt, und werde wieder 
einmal, zum tauſendſtenmal, veraltet, ein Greis, werde geſtorben ſein, ehe 
ich nur geboren bin. Wiſſen Sie denn keinen hübſchen, heimlichen, wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Kirchhof für meine Arbeit? keine einſame Zeitſchrift im Walde, 
wo ich ſie, wenn auch nur wie eine alte Porzellankanne, auf ein Kanne⸗ 
rickchen ſtellen kann? Können Sie mir denn in keinen gelehrten Winkel 
hinein helfen? Andern kann ich jetzt freilich nicht. ich bin recht müde... 
Mama iſt in ihrer Energie und Liebe ſtets verehrungswürdig.“ 

Die Arbeit wurde bei Frommann in Jena als Manuftript gedruckt. 

* * 


714 Schorn: Die legten Goethes 


Im Jahre 1871, während der Jubel über die Siege Deutſchland 
beherrſchte, kehrte Ottilie nach Weimar — in ihre Manſardenwohnung — 
zurück. Ihr Enthuſiasmus war ſo groß, daß er alle kleinen und großen 
Schwierigkeiten des Lebens übertönte. Sie verfolgte die Kriegsereigniſſe 
mit einer Wärme, daß man an das junge Mädchen erinnert wurde, die 
einen Bund gegen Napoleon gegründet hatte. Ihrem Freund Dr. Selig 
mann dankt ſie, daß er mit ihr die Größe Deutſchlands empfindet: „Ja, 
lieber Freund, die Heldengräber von 1813 kränzen ſich alle wieder mit fri 
ſchem Grün, ſie wiſſen nichts Größeres, als dieſen Krieg wieder daran zu 
ſchließen und ihn wach zu rufen als einen heiligen Krieg. Alte Sugend- 
erinnerungen ſind mit doppelter Gewalt aus der Vergangenheit mir nahe 
getreten, und als die Glocken erklangen und die zwei Flaggen unſeres 
Hauſes ans Fenſter ſchlugen, da ſetzte ich mich auf einen kleinen Lehnſtuhl 
wie 1813 vor das Bild des Herzogs von Urbino, das mir immer Abnlich⸗ 
keit mit meinem Jugendfreund zu haben ſchien, und dankte Gott, daß ich 
zum Lebensſchluß Deutſchland auch in moraliſcher Größe wieder fic er- 
heben ſah. Es hat mir in letzter Zeit immer den Eindruck gemacht, als 
wenn die deutſchen Charaktere wieder wie aus einem Bade friſch herauf⸗ 
ſtiegen, als wenn die Schlacken abſielen, und der Gedanke, der Enthuſias 
mus wieder ſein Panier entfaltete. Sie konnten wieder für einen Gedanken 
ſterben, der ſich erhob, und ſetzten das Leben ein, ihn zu verwirklichen 
Ich habe meinen alten Franzoſenhaß noch friſch erhalten und ſchließe, wie 
ich begonnen: Gott dankend, es noch erlebt zu haben, und Ihnen, daß Sie 
meiner dabei gedachten. Wolf lebt in Jena nicht beſſer als ein Student, 
aber das Lazarett kennt ſeine Erſparniſſe, und Sie können denken, daß es 
mit Walter noch ſchwerer wird, ihn zu einer Ausgabe für ſich zu be⸗ 
wegen, und dennoch müßte es gewiß ſein 

Erſt im September 1871 ſchreibt Wolf Goethe wieder an Mejer: 
„Es iſt mir noch immer unerklärlich, iſt aber dennoch wahr, daß Sie nicht 
gefühlt haben, wie mein letzter Brief ein Hilferuf in extremis war. Daß 
Sie mir damals nicht halfen, hat auf mein Leben und meine Entſchlüſſe 
einen entſcheidenden Einfluß ausgeübt, und erſt aus Ihrer ſpäteren Unbe- 
fangenheit habe ich geſehen, daß Sie nicht wußten, was Sie mir angetan 

Er hatte Sorge um Mutter und Bruder, alle waren mehr oder 
weniger immer krank. Nach dem Tode von Mejers Vater ſchreibt er an 
dieſen „mit tiefſtem Verſtändnis, daß Sie das Ereignis getroffen hat, 
vor dem ich ſeit Jahren Tag und Nacht in Furcht lebe. Ich habe die 
Aberzeugung, daß man von dem Augenblick an, wo man aufhört, ein Kind 
zu ſein, d. h. keine Eltern mehr hat, in eine a in der Welt tritt, 


die man eigentlich nicht auszufüllen vermag. 


Von den letzten Lebensjahren der ER v. Goethe kann ich noch aus 
eigener Anſchauung berichten, denn ich gehörte zu dem kleinen Kreis derer, 
die von Zeit zu Zeit zum Tee zu ihr kamen. Es war mir jedesmal 


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Schorn: Die letzten Goethes 715 


feierlich zumute, wenn ich auf der engen Treppe an Goethes Zimmern 
vorbeiging, um die Frau aufzuſuchen, die ihm ſeine letzten Lebensjahre ver⸗ 
ſchönt hatte. Für mich waren die Fehler ihrer Jugend nicht vorhanden, 
ich kannte ſie nur als alte Frau, um die der Glorienſchein der Erinne⸗ 
rung floß. — 

In dem kleinen Durchgangszimmer machte die uralte Dienerin den 
Tee; in dem größten, dem Salon, der aber auch recht klein und ſehr ein- 
fach ausgeſtattet war, ſaßen die alten Damen, Frau v. Goethe und ihre 
Schweſter Ulrike, die Priorin, mit weißen Tüllhauben, die mit bunten 
Bändern ausgeputzt waren, darunter kamen die ſchneeweißen, glatt aufge⸗ 
ſteckten Locken hervor, die den beiden ein ehrwürdiges Ausſehen gaben. 
Ottilie war nicht ſchön, auch niemals ſchön geweſen, Alrike dagegen hatte 
ein reizendes, feingeſchnittenes Geſicht. Sie war nicht ſehr geſcheit, aber 
gut und ſelbſtlos. Ihre Unterhaltung konnte ſich mit der ihrer geiſtvollen, 
lebendigen Schweſter nicht vergleichen und wurde durch eine hohe, naſale 
Stimme und ſächſiſche Ausſprache nicht angenehmer, aber wenn ſie ruhig 
zuhörend da ſaß, war ſie anzuſehen wie ein ſchönes Bild. 

Wolf Goethe habe ich nur ein einzigesmal bei ſeiner Mutter ge⸗ 
ſehen, Walter faſt immer. Außerdem ſaß damals als ſtändiger Gaſt 
Alwine Frommann am Teetiſch. Sie ſtammte aus dem bekannten From⸗ 
mannſchen Hauſe in Jena, in welchem Goethe ſo viel verkehrt hatte. Sie 
war ebenſo häßlich als geſcheit, fein und liebenswürdig. Sie hatte ſich in 
ihrer Jugend auf die Kunſt der Blumenmalerei und der Randzeichnungen 
gelegt und in den dreißiger Jahren darin viel Anleitung und Rat von 
meinem Vater erhalten. Ich beſitze noch ein Blatt von ihr, das ſie ihm 
zur Hochzeit geſchenkt hat. In den vierziger Jahren ſiedelte ſie nach Berlin 
über, wo ſie auf Anregung in ihrer Kunſt hoffte. Olfers empfahl ſie der 
Prinzeſſin von Preußen als Lehrerin, ſpäter wurde ſie deren Vorleſerin und 
Vertraute. Als Alwinens Kräfte für Berlin nicht mehr ausreichten, kam fie nach 
Weimar und verbrachte ihren Lebens⸗ und Feierabend mit Goethes. Sie 
war mit jedem Glied der Familie befreundet — was ſie als junges Mädchen 
im Goethehaus an Anregung und Freundſchaft von dem Dichter empfan⸗ 
gen, gab fie den Seinen im Alter wieder. Sie wohnte in der Deinhardts- 
gaſſe in ein paar kleinen Stübchen, war alſo den Freunden ganz nahe. 

Von den ſonſtigen Intimen am Teetiſch bei Frau v. Goethe nenne 
ich noch Frau v. Groß, die Tochter des Oberſtallmeiſters v. Seebach, die 
unter dem Namen Amalie Winter einige Romane und Kinderbücher ge⸗ 
ſchrieben hat, mit ihrer Tochter Melanie; Frau v. Gerſtenberg mit ihren 
Töchtern Jenny und Thereſe und Frau Hardtmuth, geb. Völkel. 

Der Teetiſch war nur mit Zwieback und kleinen Butterbrötchen ver⸗ 
ſorgt, wenn man aber gegen zehn Uhr das Haus verließ, verbreiteten ſich 
oft verräteriſche Küchendüfte auf der Treppe — es war öffentliches Ge⸗ 
heimnis, daß Goethes erſt zu Nacht aßen, wenn die Gäſte fort waren. 
Das nahm niemand übel auf, es gab dieſer dahinwelkenden Familie des 


716 | Schorn: Die legten Goethes 


großen Mannes nur ein noch webmiitigeres Anſehen, denn man wußte, 
daß fie nicht Geld genug hatten, um ihre Gäſte reichlicher zu bewirten. 

Wenn man von den treuen Freunden der Familie Goethe ſpricht, ſo 
muß man zuerſt unſeres Großherzogs Karl Alexander und ſeiner Gemahlin 
gedenken, die von einer ſeltenen Treue und Ausdauer waren. Leicht haben 
die Brüder es ihrem Spielgefährten nicht gemacht, denn ſie behielten ihre 
Eigentümlichkeiten auch den Fürſten gegenüber bei, aber der Großherzog 
blieb derſelbe für ſie, ſie mochten ſein wie ſie wollten. Oft hat er an dem 
Teetiſch geſeſſen, er liebte dieſe Art der Unterhaltung, wo nicht alle durch⸗ 
einanderſchreien, ſondern eines ſpricht und die andern zuhören. Dann 
feſſelte ihn auch — wie Jenny v. Gerſtenberg ſchreibt — der Freimut 
Ottiliens und die Einfachheit, mit der ſie ſich auch den Höchſtgeſtellten 
gegenüber gab, denn ſie war, wie ſie ſich ſelbſt nach dieſer Nichtung einmal 
fo hübſch charakteriſierte, auch Fürſten gegenüber immer die „geborene Poſa!“ 


Im Sommer 1872 beſuchte Mejer Weimar; Wolf war in Franzens ⸗ 
bad. Mejer ſchreibt über feinen Befuch im Goethehaus: „Frau v. Goethe, 
jetzt faſt ſechsundſiebenzigjährig und zum Tode krank an Herzbeutelwaſſer⸗ 
ſucht, fand ich in den Manſardzimmern des Stadthauſes, wo ſie als junge 
Frau einſt gewohnt hatte. Die Vereinſamte begrüßte mich mit alter Güte, 
jedoch aus ihrem Lehnſeſſel aufzuſtehen vermochte ſie nicht mehr. Wolf 
hatte recht, ſie war wie ein Hauch. Aber ihre alte Lockenfülle umgab noch 
das ſchmale Geſicht, und auch im Anzuge war ihr Geſchmack der alte: ſie 
trug einen farbigen Amhang mit Heiner Goldborte. Jahre und Krankheit 
waren ihr ſehr anzuſehen; als ich aber ihr gegenüber ſaß, richtete ſich im 
Geſpräch das geſenkte Haupt nach wenig Minuten in die Höhe, und es 
gab Momente, wo man hätte meinen können, die Zeit ſei ſpurlos an ihr 
vorübergegangen, fo lebhaft waren Anteil, Auge, Rede, Handbewegung. 
Ihre Söhne und meine Kinder, alte und neue Freunde, Liebe und Haß, 
Bewunderung und Verwerfen, Kleines, Großes und Größtes bewegte das 
Geſpräch, nicht zum wenigſten die große Zeit des Kriegs, der eben vorüber 
war und das Eine Deutſchland, ihre alte Hoffnung, geſchaffen hatte. Schmerz, 
Freude, Erinnerung, Treue, noch immer Liebe zum Leben, alles Hang leb⸗ 
haft an. Mir war, als erlebe ich den Schlußſatz eines Beethovenſchen 
Muſikſtückes. Als ich nach einer Stunde Abſchied nahm und in der Türe 
einen letzten Blick zurückwarf, da war die alte Frau in ſich zuſammen⸗ 
geſunken wie der Aſchenhaufen vom lodernden Feuer. Ich wußte, ich werde 
ſie nicht wiederſehen. Es war der 5. September, und ſchon am 26. Oktober 
ging die Unruhige zur ewigen Rube ein.“ 

Im Jahr 1874 beſuchte Mejer die Brüder in Weimar. Sie wohnten 
in der Manſarde, Wolf hatte ſich das Zimmer ſeines Vaters mit allen 
Andenken an ihn zurecht gemacht. Die erſte Etage war vermietet, nur das 
Urbino= und das Deckenzimmer waren zurückbehalten worden, um die Samm⸗ 
lungen aufzubewahren. In Goethes Arbeitszimmer ſtand der kleine Schreib⸗ 


Schorn: Die legten Goethes 717 


tiſch am Fenſter, den Goethe einft für Wölfchen, feinen kleinen Liebling, 
hatte aufſtellen laſſen, damit er bei ihm arbeiten könne. Wolf erwähnte, 
wie ſchwer es für ſie ſei, die Zimmer zu erhalten: „Sehen Sie,“ ſagte er 
zu ſeinem Freund, „es iſt unmöglich, daß wir ſie den Fremden öffnen; wir 
haben keinen ſteinernen italieniſchen Palaſt, ſondern ein hölzernes Thüringer 
Haus, das es einfach nicht aushalten würde.“ Wolf hatte wohl recht, 
denn fpäter, bei der fo notwendigen Reftaurierung des ganzen Hauſes, 
fand man die Balken unter Goethes Arbeitszimmern verfault. 

„Wolf verhehlte nicht, daß zu notwendigen Bauten im Stadthauſe 
den Brüdern für jetzt die Mittel fehlten, und machte überhaupt kein Ge⸗ 
heimnis aus ihrer beſchränkten wirtſchaftlichen Lage .. Was Wolf nicht 
ſagte und niemals auch nur entfernt angedeutet hat, worin ich aber nicht 
zu irren glaube, war der Grund dieſer Enge. Frau v. Goethe konnte 
gänzlich nicht mit Geld umgehen, hatte darum ihr Vermögen ſorglos ver⸗ 
braucht und ſeitdem den Söhnen, die ihr niemals eine Beſchränkung hatten 
auflegen mögen, überaus viel gekoſtet. Erſt jetzt ließen ſich die Verhält⸗ 
niſſe überſehen und mit feſterer Hand leiten, und daß nur an bevorzugter 
Stelle die Erhaltung der für das Vaterland und für die Verehrung der 
Nachlebenden ihnen als Verwaltern überkommenen Nachlaßſchätze zu ver⸗ 
ſorgen ſei, war beiden Brüdern gewiß. Den hohen Geldwert dieſes von 
ihnen bewachten Beſitzes kannten fie in feinem vollen Umfange ſelbſt nicht; 
daß er ſehr bedeutend ſei, lag auf der Hand. Dennoch haben ſie, obwohl 
ſie, wenn man es mit den Gewohnheiten ihrer Jugend verglich, jetzt bei⸗ 
nahe darbten, niemals auch nur einen Augenblick an eine Veräußerung 
jenes Schatzes gedacht, die nicht ihre vaterländiſche Ehrenpflicht der Kuſtodie 
auf das gewiſſenhafteſte gewahrt hätte. Sie haben das zuletzt glänzend 
bewährt durch Walters letztwillige Verfügung, die, wie nach Lage der 
Sache ſchon vorauszuſehen war, aber von kundiger Seite ausdrücklich be⸗ 
ſtätigt wird, auf gemeinſamem Entſchluſſe der Brüder beruhte. Bei Wolf 
war fie vielleicht noch mehr als bei Walter ein Akt nicht allein des Pflicht⸗ 
gefühles, ſondern zugleich eines hochgemuten Stolzes. Wer mit treu ; 
bewahrter Erinnerung an das Leben und das Weſen der beiden jetzt das 
Goethehaus betritt, oder das unter die edelſte Obhut geſtellte Goethearchiv, 
oder die Schatten des alten Sterngartens, der möchte klagen, daß Walter 
und Wolf das heute nicht mehr ſehen. Es würde ihnen eine mit freu⸗ 
digem Danke empfundene Befriedigung gewähren.“ 

Beide Brüder wurden immer leidender. Wolfs rechter Arm und die 
Hand wurden von den rheumatiſchen Schmerzen ergriffen, ſo daß ihm das 
Schreiben ſehr ſchwer wurde. Tante Ulrike ſtarb im September 1875: 
„Ihr Tod war die andere Hälfte des größten Verluſtes, den wir noch 
machen konnten, der Tod der Mutter hatte ihn nur angefangen. Ich kenne 
das Leben ſeitdem nicht mehr“, ſchrieb Wolf an Meijer. 

Bis zum Herbſt 1879 lebten Walther und Wolf zuſammen in Wei⸗ 
mar. Wolf machte Abſtecher nach Wien, Jena, Franzensbad. Dann ent⸗ 


718 Schorn: Die legten Goethes 


ſchloß er fich, nach Leipzig überzuſiedeln; er litt an aſthmatiſchen Krämpfen, 
die ihn meiſt nachts befielen, ſo daß er nicht mehr ohne die Hilfe eines 
Dieners bleiben konnte. Im Goethehaus war das nicht einzurichten, denn 
Walter wollte die alte Dienerin, die faſt neunzigjährige, die ſeit ihrem 
ſechzehnten Jahre im Hauſe war und ihn von Kindheit an gepflegt hatte, 
nicht darunter leiden laſſen. Sie hatte viel Macht über ihn und er fügte ſich 
meiſt ihrem Willen. So bezog Wolf in Leipzig eine einfache Wohnung 
bei Bürgers leuten, deren Sohn ihn pflegte, für ihn ſchrieb 2c. Er konnte 
ſich dort unbemerkbar einſchränken, hatte doch die literariſchen Arbeitsmittel 
in der Nähe und war gut verſorgt. 

Er arbeitete an der „Einleitung zum erſten Bande der Verzeichniſſe 
italieniſcher Bibliotheken des Mittelalters, welcher die Kataloge von 
S. Antonius und Sa. Juſtina in Padua“ bringt. „Was Gott tut, iſt ja 
i mmer weiſe, aber oft ſehr ſchmerzlich und dunkel“, ſchrieb er am 3. März 
1881 an ſeinen Freund. 

Wolf ſchrieb niemand, wie ſchlecht es ihm ginge,] und arbeitete in 
jeder ſchmerzfreien Stunde. Am 19. Januar 1883 war er nicht kränker als 
ſonſt, ging noch aus, legte ſich wie gewöhnlich zu Bett und verſchied nach 
Mitternacht an einem Krampfanfall. Im Tode zeigten feine Züge tiefen 
Frieden. Am 23. Januar nachmittags wurde er auf dem weimariſchen 
Kirchhof beerdigt. 

Sein Freund ſchrieb über ihn: „And in dieſen ſechsund vierzig Jahren 
bin ich an Wolf Goethe niemals etwas Kleinliches oder auch nur Enges 
gewahr geworden. Er war ein groß angelegter Menſch, von umfaſſender 
Bildung, von weitem Geſichtskreiſe, von eigenen Gedanken, von vornehm⸗ 
ſtem Charakter, der allezeit geſinnt und geſtimmt war, zuerſt ſeiner Pflichten 
eingedenk zu fein und erſt nachher feiner Rechte, voll aufrichtiger Menſchen⸗ 
liebe, treu, wahr, arbeitſam, und wieviel Gutes ließe ſich noch ſagen. Wäre 
nicht die ſchmerzende Laſt ſeiner Krankheit und die glänzende ſeines Namens 
auf ihm geweſen, ſo würde er nach menſchlichem Ermeſſen ein bedeutender 
Mann geworden fein“... . 

Zwei Verſe von ihm, auf loſe Blätter geſchrieben, hat Walter in 
befreundete Hand gegeben. Sie lauten: 


„Alle Blumen ſind gepflückt, 
Alle Lieder ſind verſtummt, 

And ich geh' einher gebückt, 
And ich geh' einher vermummt.“ 


„Ich ſtehe ſtets daneben, 

Ich trete niemals ein. 

Ich möchte einmal leben, 
Ich möchte einmal fein! —“ 


* * 


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Schorn: Die letzten Bocthes 719 


Zwei Jahre noch lebte Walter Goethe in Weimar, man ſah ibn 

manchmal ſcheu und raſch über die Straße gehen, als wolle er nicht gerne 
geſehen ſein. Dick vermummt war er faſt immer, denn er ſcheute jede rauhe 
Luft. Der Großherzog beſuchte ihn fleißig und es verging keine feſtliche 
Gelegenheit, ohne daß er oder die Großherzogin Sophie Walter eine 
Freude zu bereiten ſuchten. Das erſieht man aus den Dankesbriefen, welche 
Jenny v. Gerſtenberg am Schluſſe ihres Buches bringt. Ein Satz daraus 
lautet: „Wer ſeine Tage von kleinen Dingen nur zerſtückelt ſieht, wem nur 
kleine Taten das Leben füllen, den mag wohl oft der Anmut befallen. Er 
denke aber — und das wird ihn tröſten — auch die Ahre beſteht aus — 
Körnern.“ \ 
Einige Monate vor feinem Tode habe ich Walter befucht, ich wollte 
den Letzten, der den Namen Goethe trug, noch einmal ſehen. Das Sim: 
mer, in dem ich oft bei ſeiner Mutter geſeſſen, war jetzt ſo mit Büchern 
vollgeſtopft, die auf dem Sofa, auf Tiſchen und Stühlen lagen, daß fak⸗ 
tiſch nur ein Stuhl für einen Beſuch freigehalten war. Walter ſaß — 
wie ein Häufchen Unglück — auf einem Rohrſtuhl am Ofen, vor ſich einen 
kleinen Tiſch, auf dem ein Glas Waſſer ſtand. Er war gut und liebens⸗ 
würdig wie immer, fein feines, weiches Weſen hatte etwas Rithrendes, 
man hätte ihn vor jeder harten Berührung ſchützen mögen. Er war ſo 
ſchwach, daß ich nach dem Austauſch einiger freundlichen Worte wieder 
fortging, weil ich ſah, daß er das Sprechen nicht ertragen konnte. 

Auch er ſtarb in Leipzig, wohin er nur für einige Tage gereiſt war, 
aber dort erkrankte, am 15. April 1885. Er wurde neben ſeinem Bruder 
auf dem Weimarer Friedhof beerdigt, wo ſchon ſeine Großmutter und 
Mutter die Ruhe gefunden hatten. Almas Leiche ließen die Erben ſpäter 
von Wien holen und neben Walter beſtatten, ſo daß jetzt fünf Gräber 
nebeneinander liegen. Nach Ottiliens Beſtimmung muß über jedem Grabe 
die Erde in der Form eines Sargdeckels aufgehäuft und Rafen darauf ge⸗ 
fät fein. So iſt keine Blume auf dieſer Grabſtätte zu ſehen, nur im Früh⸗ 
jahr blühen auf der ſchmalen Rabatte an der Mauer eine Menge Mai⸗ 
blumen — ſie haben ſich von dem daneben liegenden Erbbegräbnis der 
Familie v. Schorn von ſelbſt hereingezogen. 

Ein Brief, den der Großherzog Karl Alexander an Jenny v. Gerſten⸗ 
berg ſchrieb, möge den Schluß bilden: 

„Walter Goethe war eine Perſönlichkeit, welche aus dem Alltäg⸗ 
lichen und Gewöhnlichen vollkommen heraustrat. Wenn bei Beurteilung 
einer Individualität die Zeit, der ſie angehört, und die Erziehung, die gleich⸗ 
ſam der Ausdruck derſelben iſt, berückſichtigt werden muß, ſo iſt dies hier 
der Fall. Geboren zu der Zeit, wo der Ruhm ſeines unſterblichen Großvaters 
ſeinen Höhepunkt erreicht hatte und der Gegenſtand von nie geſehener Bewun⸗ 
derung und Verehrung vom In⸗ und Auslande, von der ganzen Welt war, 
genoß Walter Goethe von der Wiege an die ſchmeichelnden Töne der Be⸗ 
wunderung für den Großvater. In dem Familienkreiſe, in dem großen und 


720 Schorn: Oie letzten Goethes 


belebten Kreiſe der Bekannten und Freunde, von denen namentlich die geiſt⸗ 
reiche Mutter Walters, Ottilie v. Goethe, umgeben war, wurde er früh⸗ 
zeitig gewöhnt, die Welt von dieſem Zentrum aus kennen zu lernen, ohne 
ſich wohl bewußt werden zu können, daß dieſes Zentrum eine Ausnahme 
war. Dieſe Ausnahme wurde zwar von ſeiner Mutter und ihrem Kreiſe 
erkannt, aber es wurden Anſprüche an die Welt hieraus entwickelt, welche 

von dieſer nicht erfüllt werden konnten, denn die Welt bewundert wohl, 
aber fie räumt nie den Erben der bewunderten Perfönlichleit das Recht 
ein, hieraus Vorrechte für ſich ſelbſt, das heißt für die Erben, abzuleiten. 
Dieſe Umftände erſchwerten Walter ſowohl wie feinem Bruder den Lebens⸗ 
weg und erzeugten bei beiden oft eine Erbitterung gegen dieſe Welt, die 
von ihrem Standpunkt in mancher Hinſicht berechtigt war, nicht aber ihre 
Berechtigung in dem Standpunkt der Welt ſinden konnte. Dabei kannte 
der edle Charakter Walters abſolut keine Selbſtliebe. Das Wort Rück⸗ 
ſicht war gleichſam die Deviſe ſeines Lebens. Er dachte, er ſorgte immer 
für andere, aber er wachte über die Achtung, die der Erinnerung ſeines 
Großvaters gebührte. Das hat ihn auch verhindert, auf die vielfältigen 
und verlockenden Anerbietungen einzugehen, welche mehr als einmal den 
Enkeln Goethes gemacht wurden, ſich bei ihren keineswegs glänzenden Vers 
mögensverhältniſſen des groß väterlichen Erbes teilweiſe oder im Ganzen zu 
entäußern. Bei ſeiner zartbeſaiteten Seele ereignete es ſich dabei oft, daß 
er die harte Berührung der Welt in ihren Anſprüchen an ſeine und ſeiner 
Familie Perſon auf das tiefſte empfand, und dieſes Gefühl ſich faſt bis 
zum Haß fteigern konnte. Dieſes eigentümliche Verhältnis zwiſchen Ver⸗ 
ehrung für den Großvater und Rückſichtsloſigkeiten der Welt gaben und 
erhielten bei Walter eine Schüchternheit, zu welcher ihn ſeine geiſtigen 
Eigenſchaften keineswegs berechtigten. Auch ſelbſt der treuſten Freundſchaft 
gelang es nicht, ihn zu einer Hervortretung mit feiner Begabung zu be 
ſtimmen, aber er bot dem, der ihn nahe kannte, den Genuß treuſter Freund ⸗ 
ſchaft, und das in jeder Beziehung und zu allen Zeiten. So war Walter 
Goethe. 

Es iſt nicht die Parteilichkeit der Freund ſſchaft, welche dieſe Zeilen 
diktiert, wohl aber die Wahrheit in ihrer ſchlichten Form. Walter v. Goethe 
wie ſein Bruder wußten ihrem Leben den glanzvollſten Schluß zu geben, 
den man ſich nur erdenken konnte, denn fie vermachten ihren Beſitz der ge 
bildeten Welt, alſo dem Allumfaſſenden, für das ihr Großvater ſtets ge 
wirkt und für das er ſtets ein leuchtender Mittelpunkt bleiben wird. 

Dieſe Tat der beiden Brüder aber verbindet ihre Namen mit dem 
ihres Großvaters und mit der Dankbarkeit von allen denen, die in Wahr⸗ 
heit die Bildung erkennen und erſtreben. 

Karl Alexander. 


Wilhelmstal am 23. Juni 1897.“ 


2 


Goethe als Geſchäftsmann 721 


Goethe als Geſchäftsmann 
N 


m 3. Februar 1826 ſchrieb Goethe an Sulpiz Voifferée: „Was 
2 wollt' ich nicht geloben, mein Allerteuerſter, wenn ich Sie eine Stunde 
ſprechen könnte! Denn wie follte mir Blatt und Feder genügen! Ich 
muß mich nur ſogleich eines mythologiſchen Gleichniſſes bedienen: Sie erſcheinen 
mir wie Herkules, der dem Atlas, dem Prometheus zu Hilfe kommt. Wüßten 
Sie, was ich dieſes Jahr gelitten habe, Sie würden ſolche Bildlichkeiten nicht 
übertrieben finden.“ Die Arſache dieſer Leiden war geſchäftlicher Natur. Durch 
den fortgeſetzten Wiener Nachdruck ſeiner Schöpfungen betroffen, hatte er 
nämlich, um feiner Familie eine behagliche Zukunft zu ſichern, feinen „Aus-. 
tritt aus dieſen Zeitlichkeiten ſeinen Angehörigen ſo wenig als möglich fühlbar 
werden zu laſſen“, ſich im Jahre 1825 entſchloſſen, eine „kritiſch-grammatiſch 
geſäuberte“ Geſamtausgabe ſeiner Werke zu veranſtalten. Es wäre eine müßige 
Spielerei, wenn wir uns mit der Frage beſchäftigen wollten, ob dieſer Ent⸗ 
ſchluß Goethes, wenn er heute lebte, einen gewaltigen, ungeheuren Wettbewerb 
unter den Verlegern entfeſſeln und ſchwindelnde Kapitalien flügge machen würde. 
Genug, es ſteht feſt, daß jener Entſchluß für Goethe trotz der lebhaften Teil⸗ 
nahme der Nation und des Auslandes eine Quelle vielen Herzeleids wurde. 
Ein vollkommen klares, bis auf das minutiöſeſte detailliertes Bild der mannig- 
fachen Sorgen und Widerwärtigkeiten, die er für ihn im Gefolge hatte, ent- 
rollen die Briefe an Boifferée. 

Wohl liefen mehrere ſchöne buchhändleriſche Angebote ein, des Alt. 
meiſters Sinn aber ſtand nach Freund Cottas Verlag. „Sie können denken,“ 
ſchrieb er dem Freunde am 20. Mai 1825, „wie wehe es mir täte, ein ſo ge⸗ 
gründetes Verhältnis aufgeben zu müſſen .. Jede Annäherung des Herrn 
von Cotta zu meinem Sohn, jede abſchließliche Verbindung mit demſelben 
würde mir von höchſtem Werte, wenn ich noch ſelbſt Amen dazu ſagen könnte.“ 
And ſcherzhaft fügte er hinzu: „Dieſe vorliegende Maſſe literariſcher Pro- 
duktionen verehrte ich meinem Sohn als Kapital, kein Wunder, daß er das 
Reſultat meines Lebens höher ſchätzt, als ich von jeher auf meine Produk- 
tionen gehalten babe.“ Aber es wollte ihn bedünken, daß Cotta gegenüber 
feinen Plänen eine feltfame Lauigkeit an den Tag lege. Nach Boiſſerées 
Briefen zu ſchließen, mochte er jedoch hierin in einer Täuſchung befangen ſein. 
Als Cotta durch den beiderſeitigen Freund von den bedeutenden Anerbietungen, 
die Goethe gemacht wurden, erfuhr, erwiderte er, das ſei ihm recht, dadurch 
erhalte man einen Maßſtab, und er würde gewiß mehr tun, als ein anderer 
mit Gewißheit der Ausführbarkeit vorſchlagen könne. 

Es bereitete dem Altmeiſter eine große Befriedigung, daß der bewährte 
Freund ſich anheiſchig machte, die Rolle des ehrlichen, edlen Maklers zu über- 
nehmen. Es war ihm um eine raſche Entſcheidung zu tun, denn, wie er ſich 
einmal ausdrückte, die Schnepfe des Lebens ſchwirrt vorbei, und ein guter 
Schütze muß ſie eilig faſſen: „Ein ſchneller Entſchluß iſt mir in meinem hohen, 
ſehr oft bedrohten Alter ausdrücklich durch die Verhältniſſe geboten.“ Aber ⸗ 
dies waren die ihm gemachten Anträge, deren Geheimhaltung er verſprochen 
hatte, von der Art, daß er ſie in kurzem entweder akzeptieren oder ablehnen 
mußte. Cotta erbot ſich auf Boifferees Intervention zu einem Honorar von 
ſechzigtauſend Talern ſächſiſch. Goethes Sohn und deſſen Ratgeber glaubten 

Der Türmer X, 11 47 


722 Goethe als Geſchäfts mann 


hingegen den Preis der zu veranſtaltenden Ausgabe von vierzig Bänden auf 
wenigſtens hunderttauſend Taler ſächſiſch ſchätzen zu dürfen, und zwar der · 
geſtalt, daß ein bedeutender Teil der Summe in den erften Jahren nach Maß ⸗ 
gabe des abgelieferten Manuſkriptes gezahlt, das übrige aber auf die folgen 
den Jahre verteilt werde, ſo daß die Familie an dem fortdauernden Gewinn 
gleichfalls einigen Anteil hätte. Nach Ablauf von neun Jahren ſollten beide 
Teile zuſammentreten und eventuell den Kontrakt verlängern, wodurch gar 
manchen Anerquicklichkeiten vorgebeugt würde. Goethe legte großen Wert dar⸗ 
auf, daß Herr von Cotta, der die ſchwierigſten Unternehmungen mit einem 
Blick überſehe und vor allen imſtande fei, das gegenwärtige Geſchäft zu über⸗ 
ſchauen, da ihm ja das einzelne ſeit Jahren durchaus bekannt ſei, ſich beſtimmt 
erkläre, „denn ich darf verſichern, daß ich immerfort gewünſcht habe, das alte 
Verhältnis fortdauern, jeden dazwiſchengetretenen hindernden Aufſchub ent ⸗ 
fernt und den Abſchluß noch bei meinem Leben herbeigeführt zu ſehen“. Boiſſerée 
glaubte nicht, daß Cotta über die einmal angebotene Summe hinausgehen 
werde. Auf jeden Fall ſchien ihm der größte Vorteil der Familie darin zu 
beſtehen, daß ſie ſo viel als möglich ihre Anſprüche auf alle ferneren Auflagen 
ſichere. An dem guten Erfolg des Unternehmens, meinte er, fei nach menſch⸗ 
licher Berechnung freilich nicht zu zweifeln, aber es hänge viel von Zeit und 
Amſtänden, von einer mehr oder minder glücklichen Manipulation ab, man 
müſſe erſt ſehen, welche Wirkung die vierzig Bände in dem deutſchen Zuc- 
handel hervorbringen werden, und wie ſich das Publikum, auf das zuletzt alles 
ankomme, dabei benehmen werde. Deshalh wäre es vielleicht für beide Teile 
ratſam, den Weg der Subſkription einzuſchlagen und nach Maßgabe der Gub- 
ſkribentenzahl das Honorar zu erhöhen oder herabzumindern. In der Tat 
war Cotta zu einer Sinnesänderung nicht zu bewegen; er erklärte aufs ent- 
ſchiedenſte, daß die Rüdfichten, die er fic) und feiner Familie ſchuldig fei, ihm 
eine Aberſchreitung der fixierten Summe verbieten, zumal trotz der höchſt ſchätz 
baren Privilegien des Deutſchen Bundes und des Kaiſers von Öfterreich eine 
große Gefahr des Nachdruckes beſtehe, indem man in der Schweiz, im Elſaß 
und in den Niederlanden immer mit außerordentlichem Vorteil eine ſchönere 
und wohlfeilere Ausgabe als die von ihm hergeſtellte veranſtalten könne. Er 
kam bei dieſer Gelegenheit auf die bisherige Ausgabe zu ſprechen und zeigte 
in ſeinem Inventarienbuche, daß ſie noch lange nicht ausverkauft ſei, zum Teile 
fogar ſehr bedeutende Nefte noch vorhanden ſeien; er war indeſſen bereit, durch 
das Mittel der Subſkription die Hand zur Erhöhung des Honorars zu bieten. 
Ferner meinte er, daß die Subſkription gar mächtig gefördert würde, wenn 
man in der Ankündigung ſagte, daß je größer die Subſkription, deſto größer 
auch der Vorteil fein würde, den die Familie des Dichters aus feinem litera- 
riſchen Eigentum ziehen würde. Zugleich gab er zu bedenken, daß er für den 
Fall, als die Familie anderweitige Verbindlichkeiten eingehen ſollte, das un ⸗ 
bedingt erworbene Eigentumsrecht der bisher erſchienenen Goetheſchen Werke 
nicht aufgeben könne, weil es ein zu großer Nachteil für ſeine Familie ſein 
würde. Auf das Arteil gemeinſchaftlicher vertrauter Freunde geſtützt, riet der 
Freund dem Altmeiſter, ſich mit den feſtgeſetzten Bedingungen zufrieden zu 
geben. Wenn unterdeſſen jedoch noch von anderer Seite günſtigere Bedin- 
gungen geſtellt werden, ſo ändere das allerdings die Sachlage, nur müßte dann 
um ſo ſchärfer auf die Zahlungsfähigkeit des neuen Verlegers geſehen wer. 
den, denn unparteiiſche Geſchäftsmänner ſeien der Meinung, daß Cotta bei der 


Geethe als Gefhäftsmann 723 


Summe, die er als feſtes Honorar zugefichert habe, noch große Gefahr laufe, 
da eine Auflage von zwanzigtauſend Exemplaren zu vierzig Bänden und zum 
Preiſe von zwanzig Gulden nicht ſo leicht unterzubringen ſei. Goethe zögerte, 
und der Verleger wurde empfindlich, Boifferee aber war wie früher Schiller 
unermüdlich im Vermitteln. Er faßte das Refultat feiner Bemühungen in den 
Worten zuſammen: „Nachdem ich alles dieſes wohl erwogen, ſchien mir, daß für 
die Ihrigen in dem Verhältnis mit Cotta kein weiterer Vorteil errungen werden 
kann, als wenn von beiden Seiten nachgegeben würde; von Ihrer Seite müßte 
auf die beſchränkende Zeit verzichtet und bloß auf Ausgabe von einer gewiſſen 
Zahl kontrahiert werden, dann dürfte man Freund Cotta zumuten, alle durch Gub- 
ſkription geſicherten Exemplare nach demſelben Maßſtab, wie die erſten zwanzig ; 
tauſend Exemplare, alfo jede zehntauſend mit dreißigtauſend Talern zu Hono- 
rieren. Die nach der Subſkription nötig werdenden Editionen, jede von zehn⸗ 
tauſend, aber nur nach einer näher zu beſtimmenden Stufenfolge des Abſatzes, 
in dem Verhältnis von zwanzigtauſend Talern für die zehntauſend. Durch 
dieſe Abänderung erhielte Ihre Familie, im Fall die Subſkription auf vierzig⸗ 
tauſend Exemplare ſtieg — ftatt der gewünſchten hunderttauſend — die Summe 
von hundertzwanzigtauſend Talern. Cotta hingegen würde für dieſe Minde⸗ 
rung das gewinnen, gegen den Nachteil bedeutender Reſte geſichert und durch 
die Ausſicht auf längeren Beſitz des Verlags einigermaßen entſchädigt zu wer⸗ 
den. Ich habe die Geſinnung des Freundes hierüber etwas erforſcht und glaube, 
beſonders wenn det Zahlungstermin nicht zu kurz geſtellt würde, daß er ſich 
vielleicht dazu verſtehen könnte.“ 

Wir können Goethes Zaudern gar wohl nachfühlen und mitempfinden, 
wie ſchwer er zu einem feſten Entſchluſſe kam, da er „den geſamten Schatz 
eines operoſen Lebens einem Dritten übertragen und ſich deſſen gewiſſermaßen 
entäußern“ ſollte. Es iſt ein goldenes Wort, daß der Verleger jederzeit genau 
weiß, was ihm und ſeiner Familie frommt, der Autor dagegen völlig im 
dunkeln iſt, „denn wo ſollte er in dem völlig geſetzloſen Zuſtande des deutſchen 
Buchhandels Kenntnis nehmen, was darinnen Rechtens iſt, was Herkommens 
und was nach ſonſtiger Konvenienz Buchhändler ſich einander verzeihen und 
gegen die Autoren erlauben? Daher kommt es denn, daß, der Verleger ſich gar 
bald, auch in den wichtigſten Fällen, entſchließt, der Autor hingegen ſchwanken 
und zaudern muß“. 

Erſt nach und nach wurde man im Buchhandel die hohe Bedeutung des 
von dem Dichter geplanten Unternehmens gewahr und es erfolgten von zwanzig 
ſichern Häuſern Angebote von ſiebzig und achtzigtauſend Reichstalern unter 
Beibehaltung des Termins von zwölf Jahren. Gleichwohl war der Dichter 
vornehm genug, auf Zureden des Freundes dem alten Verleger nach einigen 
Modifikationen feines Vertragsvorſchlages treu zu bleiben. Von feiner be- 
wunderungswürdigen Vornehmheit zeugt auch die Ruhe, die er bewahrte, als 
Cotta für ſich das Recht in Anſpruch nahm, in die höheren Angebote anderer 
Verleger Einſicht zu nehmen. Ein unglaubliches Mißtrauen ſpricht ſich darin 
aus. Mit wahrhaft olympiſcher Ruhe entgegnete Goethe: „Bin ich nun aber 
gewiß, daß Herr von Cotta in wahrer Neigung für meine Perſon und in Be- 
tracht eines alten geprüften Verhältniſſes ſo viel getan, als er gegen ſich und 
die Seinigen verantworten konnte; ſo geht aus dem Geſagten und aus dem 
Erfolg hervor, daß ich in gleicher Geſinnung jene lockenden Anträge ſtandhaft 
aͤbwies und das aus dem ganzen Geſchäft fic entwickelnde Gute meinen Nach⸗ 


724 Sarah Bernhardts Erinnerungen 


kommen zuwendete. Ich darf alſo kaum wiederholen, daß ich die Arheber, be- 
ſonders dieſes letzten Antrags, zu nennen nicht wagen darf; denn was ſollten 
edle, ſchon durch Ablehnung ihrer wohlwollenden Vermittlung gekränkte Freunde 
wohl empfinden, wenn auf irgend eine Weiſe auch nur eine Andeutung trans- 
ſpirieren könnte, daß ich das im größten Vertrauen Behandelte nicht voll- 
kommen bei mir verſchloſſen und verſiegelt hätte. Aber dieſes und Verwandtes 
mehr erlauben Sie noch ein und das andere Wort. Die Hauptſache iſt ſo 
glücklich geſtellt, daß ich nun auch in dem ganzen Verhältnis nur Klarheit und 
Zufriedenheit wünſchen kann.“ Dies wirkte, und die zarte Saite wurde nicht 
mehr berührt. 

Als Honorar für fein opus super erogationis, wie er das Manuftript 
der Helena nannte, erbat ſich Goethe ein Dutzend Exemplare des neueſten Fauſt. 
Der Verleger lohnte ihm dieſe Anſpruchsloſigkeit damit, daß er im Jahre 1828 
die Anterhandlungen wegen der Veröffentlichung des Briefwechſels zwiſchen 
Schiller und Goethe nicht in einwandfreier Weiſe führte. Er ſchlug in einem 
Briefe an den Altmeiſter einen ſolchen Ton an, „daß man mit Ehren darauf 
nicht antworten kann“. Der Verlag hatte ihm die an die Familie Schillers 
geleiſteten Vorſchüſſe und Abſchlagszahlungen verheimlicht und ihn dadurch in 
dem Irrtum gelaſſen, daß er ihr wegen des ganzen Betrages ihres Anteils 
am Honorar „verpflichtet und reſponſabel“ fei. Er hielt daher das Manu 
ſtript des Briefwechſels zurück, bis er nicht ſowohl ſich als vielmehr die Familie 
des verewigten Freundes befriedigt wußte. Cotta war über dieſen begreif 
lichen Akt der Vorſicht höchſt indigniert, er gebärdete ſich ſehr unanſtändig und 
mußte ſich doch zugleich eingeſtehen, daß er ſelbſt durch jene Verheimlichung 
an der ganzen Verzögerung die Schuld trage. Auch bei dieſer Gelegenheit 
feierte des Altmeiſters Sophroſyne einen glänzenden Triumph. Er ließ keine 
Empfindlichkeiten aufkommen, konzipierte einen Vertragsvorſchlag, der alle Teile 
zufrieden zu ſtellen geeignet war, und gab der zuverſichtlichen Erwartung Aus · 
druck, daß die Korreſpondenz künftig in einem ſchicklicheren Geſchäftsſtile ge 
führt werden würde. 

So war Goethe als Geſchäftsmann, als Mann der Tat ein guter Geiſt, 
der mit klarem Bewußtſein das ungeſchickt Verſchobene wieder ins Gleiche 
brachte. Dr. Bernh. Münz 


OY 
Sarah Bernhardts Erinnerungen 


AS 
Nj Gd habe trotz allem den 450 eng gedruckte große Oftavfeiten um- 
PAG ) faffenden Band (Mein Doppelleben. Memoiren von Sarah Bern · 
TE, Hardt. Leipzig. Schulze & Ko. Geh. Me. 10.—) hintereinander durch 
geleſen. Trotz allem. Trotzdem ich mir immer wiederholte, daß die erzählten 
Ereigniſſe reichlich dekorativ aufgeputzt ſeien, womit ich keineswegs die fubjel- 
tive Wahrheitsliebe der Erzählerin anzweifeln möchte. Trotz des Anbehagens 
auch, das mir immer wieder die Selbſtverſtändlichkeit verurſachte, mit der dieſe 
Perfon ſich in den Mittelpunkt aller Geſchehniſſe ſtellt. Das heißt, vielleicht 
liegt gerade in dieſer Selbſtverſtändlichkeit der Höchfte Reiz des Buches. Dieſe 
Selbſtſucht iſt naiv; ſo wenn ſie ſich über alle Widerwärtigkeiten einer im 
Feldzug 1871 unternommenen Reife aufhält, ſich immer wieder wundert, nicht 


Sarah Bernhardts Erinnerungen 725 


als große Dame behandelt zu werden und nicht bedenkt, daß alle anderen 
ebenſo leiden; oder wenn ſie über die Schauluſt und Senſationsluſt der Menſchen 
eifert, die einer Hinrichtung beiwohnen, ohne zu bedenken, daß alle ihre Be⸗ 
merkungen ſich auch gegen ſie ſelber, die viermal dieſem ſchauerlichen Schauſpiel 
beiwohnte, richten, wenn fie bei ihrer amerikaniſchen Gaſtſpielfahrt darauf be- 
ſteht, daß ihr Extrazug über eine unſichere Brücke geführt wird, und dann als 
Hauptſache ihre ſeeliſche Erregung ſchildert, die ihr der Gedanke an die vielen 
Menſchenleben verurſacht, die ſie dabei gefährdet. 

Dieſes Buch iſt ein Wirrſal von Launenhaftigkeit, Nervoſität, aber auch 
verzehrender Tatkraft, edlem Inſtinkt, das einen unwiderſtehlichen Zauber aus- 
übt. Dieſes Weib hat Naſſe. And wenn man vielleicht nicht ſagen darf, daß 
es ſich um eine große Frau handelt, ſo iſt ſie doch jedenfalls immer un⸗ 
gewöhnlich. Sie hatte auch die Angewöhnlichkeit des Erlebens. Man mag ja 
etwas ſkeptiſch lächeln, wenn fie ſich geradezu als ein Opfer der Reklame 
— anderer hinſtellt, obwohl man ſchließlich ſelber daran glaubt; denn unſere 
Zeit iſt ja ſo ſenſationslüſtern, daß ſie eine ſo ungewöhnliche Erſcheinung, die 
immer etwas nicht Vorzuahnendes tut, ſich überhaupt rückhaltlos den Ein ⸗ 
gebungen des Augenblickes hingibt, förmlich umgiert und dann ſelber jede 
Kleinigkeit aufbauſcht. Ein beſonderer Reiz liegt auch darin, daß man immer 
das Gefühl hat, dieſe Frau folge rückhaltlos ihrem innerſten Temperament, 
der Eingebung des Augenblickes, und dann doch die Erfahrung macht, daß 
alles, was ſie tut, gleichzeitig das Ergebnis eines ſehr ſcharfen Verſtandes, 
einer angeborenen Klugheit ſei. Auch ihre Kunſt zeigt ja dieſe Miſchung. 
Ihre Stimme klingt wie das biegſame Inſtrument einer ganz naiv ſich aus- 
lebenden Seele. Dabei iſt doch nicht zu leugnen, daß ihre Darbietungen die 
Aneinanderreihung von hundert erdachten, erklügelten, fpisfindig herausgeholten 
Einzelheiten ſind, die dann doch wieder durch die Leidenſchaftlichkeit des 
Temperaments zur Einheit zuſammengeſchmolzen werden. So war wohl die 
Sarah Bernhardt die erſte modern nervöſe Schauſpielerin, und zwar noch 
auf jener glücklichen Grenzlinie, wo dieſe Nervofität noch gar nicht pſycho⸗ 
pathiſch wirkt, ſondern ſehr fein kultivierte Reizbarkeit bleibt. Durch dieſe 
Reizbarkeit gewinnt auch ges, was fie erlebt, den Anflug des Abenteuer 
haften. Hundertmal ſchwebt fie in Gefahren, hundertmal begegnet fie merk. 
würdigen, unheimlichen Menſchen, und ihr eigenes Erleben häuft die merk ⸗ 
würdigſten Zufälle. Daneben findet ſich eine Fülle ſcharfer Beobachtung und 
manche Bemerkung, die von einem guten Herzen zeugt. 

Raffe und Erziehung mag viel zur Entwicklung dieſer eigenartig feſſelnden 
Perſönlichkeit beigetragen haben. Aber beides berichtet das Buch nicht gerade 
ſehr klar. Daß Sarah Bernhardt einer jüdiſchen Familie entſtammt, ſollte 
man danach kaum meinen. Denn die meiſten ihrer Verwandten, von denen 
die Rede tft, find überzeugte Katholiken oder ſtrenge Proteſtanten. Nur an 
einer ſpäteren Stelle heißt es von der Großmutter, daß ſie ebenſo ſtreng jüdiſch 
war. Die Mutter, die Tanten, alle ſind merkwürdig aufgeregte Leute, die alle 
ſehr jung geheiratet hatten, ſo daß nun in Wünſchen und Begierden zwei 
Generationen dicht nebeneinanderſtehen. Die kleine Sarah muß ein rechtes 
Nervenbündel gewefen fein. Sie litt an furchtbaren Zornausbrüchen, und die 
Kloſterfrauen von Grand- Champs müſſen beſonders gütig geweſen fein, daß 
ſich der kleine widerſpenſtige Trotzkopf bei ihnen ſo wohl gefühlt hat, daß 
Sarah als junges Mädchen allen Ernftes daran dachte, felber den Nonnen 


726 Sarah Bernhardts Erinnerungen 


ſchleier zu nehmen. Manche dieſer Kloſtererlebniſſe wären recht luſtig, wenn 
nicht alles einen leichten Beigeſchmack von Aberſpanntheit und Aberreizung 
hätte. In dieſem ſchmächtigen, überſchlanken Körper wirkte eine unbändige 
Lebensluſt. Man hat manchmal das Gefühl, als ob dieſe innere Lebendigkeit 
in dem allzu zerbrechlichen körperlichen Gefäße nicht recht Platz gehabt habe. 
Daher dann auch die ſtete Kränklichkeit; andererſeits jene ſolchen Nerven ⸗ 
naturen eigene Zähigkeit, die bei allen Ohnmachts fällen und Schwächezuſtänden 
ſchließlich dauerhafter iſt als mancher geſunde Körper. Als Sarah vierzehn 
Jahre alt war, wurde über ihre Zukunft beraten. Sie verlangte nach dem 
Kloſter, ein Freund der Familie riet zur Theaterlaufbahn. Für die letztere 
entſchied man ſich im Familienrat, trotzdem das Kind bis dahin kaum ein 
Theater von innen geſehen hatte. 

Die Erlebniſſe am Konſervatorium bringen viele gelungene Einzelheiten. 
Bezeichnend iſt, wie ſie gerade durch den Vortrag einer kleinen Fabel von 
La Fontaine die Aufnahme erreichte, während die meiſten der Angemeldeten 
natürlich mit großen Monologen aus Dramen aufwarteten. Hier, wo ſie über 
die Prüfungskommiſſion berichtet, findet ſich eine jener klugen Bemerkungen, 
die durch das ganze Buch hingeſtreut ſind. Einer der Prüfenden hatte einen 
Witz über den verſchüchterten Prüfling gemacht. „Ich fand es erbärmlich von 
dieſen Leuten, vor dieſem armen kleinen zitternden Weſen, das ihnen an Händen 
und Füßen gebunden ausgeliefert war, zu lachen. Ich fühlte, ohne mir es 
recht erklären zu können, eine leiſe Verachtung für dieſes unbarmherzige Tribunal. 
Sehr oft habe ich ſeither an dieſe Prüfung gedacht, und ich habe mir Rechen · 
ſchaft darüber abgelegt, daß gute, verſtändige und rückſichtsvolle Menſchen 
minderwertiger werden, wenn ſie ſich zu Gruppen vereinigen. Das Gefühl der 
perſönlichen Anverantwortlichkeit erweckt die ſchlechten Inſtinkte. Die guten 
Menſchen treibt dabei die Furcht, durch Ernſthaftigkeit lächerlich zu wirken.“ 
Bei der fteten Aufgeregtheit ihrer Natur find zwei Eigenſchaften für Sarah 
Bernhardt beſonders wertvoll geworden. Einmal, daß jeglicher Widerſtand 
ihre Kraft weckte; „quand mème“ war ihr Leitſpruch. Das andere war die 
ihr zeitlebens verbliebene Eigenſchaft, zu jeder Zeit unter den ſcheinbar un- 
günſtigſten Verhältniſſen — ſchlafen zu können. Ind zwar, wie fie verfidert, 
eine ganz von ihrem Belieben abhängige Zeit lang. 

Sie war von der Schule weg ans Théatre-Francais gekommen und ſtand 
als Sechzehnjährige am 1. September 1862 zum erſtenmal auf der Bühne. Es 
war kein Erfolg, den ſie als Iphigenie errang. Doch begegnete man ihr in 
der Kritik mit Wohlwollen, ſo daß ſie wohl in dem altberühmten Theater 
langſam aufgerückt wäre. Ein heftiger Streit mit einer alten Schauſpielerin 
führte aber raſch zum Austritt aus dem Théatre-Francais, und auch am Gym - 
nase-Théatre hielt fie es nicht lange aus, ſondern brannte nach Spanien durch. 
Danach kam fie zur erften bedeutenderen Wirkſamkeit ans Odéon. Im „Vorüber 
gehenden“ des bis dahin völlig unbekannten Francois Coppée gewann 
ſie ihren erſten ſtarken Erfolg. Dieſen kleinen Einakter ſollte ſie dann auch 
vor Napoleon in den Tuilerien ſpielen. Sarah Bernhardt hat viel Sympathie 
für Kaiſer Napoleon III., während ſie an der Kaiſerin, deren Schönheit ſie 
ſonſt bewundert, die häßliche Stimme hervorhebt. Eine Feuersbrunſt ver- 
nichtete ihren ganzen Beſitz, ſo daß es ihr, deren Hausſtand ſich durch einen 
kleinen Sohn vermehrt hatte — von deſſen Vater wird nicht geſprochen —, 
zugute kam, daß fie jetzt das von ihrem Vater für fie ſichergeſtellte Vermögen 


Sarah Bernhardts Erinnerungen 727 


erhielt. And zwar um fo mehr, als fie ihre neuen Erfolge am Odéon nicht 
lange aus nützen konnte, da der Krieg ausbrach. a 

Sarah Bernhardt entwickelt ein ſehr lebendiges Bild vom Leben in 
Paris während dieſer Kriegszeit, zumal während der Belagerung. Sie hatte 
im Odéon-⸗Theater ein Lazarett eingerichtet und widmete ſich mit Hingebung 
dem Berufe der Krankenpflege. Daß manches in ihren Erzählungen etwas 
theatraliſch aufgebauſcht iſt, ſoll uns nicht für die Tüchtigkeit blind machen, 
mit der fie in dieſer Zeit ihre Tatkraft in den Dienſt des Vaterlandes ſtellte. 
Einzelheiten wirken gelungen, ſo, wenn ſie von der Kriegserklärung berichtet, 
daß fie die Wut der Pariſer gegen Deutfchland wohl begriff, „denn dieſes 
Volk, die Deutſchen, hatte uns ohne triftigen Grund herausgefordert“. Sarah 
Bernhardts Angehörige hatten ſich geflüchtet und waren geborgen im Lande 
der ſiegreichen Feinde. Im Februar unternahm es dann Sarah Bernhardt 
auch, nach Homburg zu fahren. Die elftägige Reife iſt recht abenteuerlich ver- 
laufen. Im allgemeinen ſtellt ſie den deutſchen Offizieren das Zeugnis aus, 
daß ſie höflich und ritterlich geweſen ſeien: ebenſo grob und ungeſchliffen 
dagegen die Antergebenen, die Beamten und die Soldaten. Gerade in dieſen 
Kapiteln wirkt es zuweilen recht komiſch, wie Sarah Bernhardt alle die Müh. 
ſeligkeiten einer derartigen Reife während des Krieges geradezu als perfin- 
liche Beleidigung auffaßt und ſie dem verhaßten Feinde aufhalſt. Sicher 
wäre hier manches noch gehäſſiger geſchildert worden, wenn die Memoiren 
früher geſchrieben worden wären. Aber inzwiſchen hat ſich ja auch dieſe 
Künſtlerin, die früher keine Gelegenheit vorübergehen ließ, ihren Patriotismus 
etwas theatraliſch einzukleiden, dazu bequemt, in Deutſchland Ehren und Geld 
einzuheimſen. Nach ihrer merkwürdigen Auffaſſung über den Beginn des 
Krieges wundern wir uns nicht, wenn ſie den Deutſchen auch eine ſtarke Be⸗ 
teiligung bei der Bewegung der Kommune zuſchreibt. 

Nach dem Abſchluß des Friedens wurden die Theater wieder eröffnet. 
„Und das war eine allgemeine Erleichterung. Eines Morgens erhielt ich vom 
Odéon eine Aufforderung zu einer Probe. Ich ſchüttelte meine Haare, ſtampfte 
mit den Füßen und zog die Luft ein wie ein junges ſchnaubendes Pferd. 
Die Rennbahn wurde wieder geöffnet. Man ſollte von neuem durch die Ziele 
galoppieren. Die Schranke war geöffnet. Der Kampf begann ... Ich wartete 
auf das Ereignis, das mich zu einem Stern machen ſollte. Ich konnte mir 
ſelbſt nicht recht Rechenſchaft ablegen, was ich erwartete; aber ich wußte, daß 
mein Meſſias kommen würde.“ Mit der Erſtaufführung von Victor Hugos 
Ruy Blas“ am 26. Januar 1872 wurde ihr die Erfüllung zuteil. An dem Tage 
„zerriß der leichte Schleier, der meine Zukunft noch umhüllte; ich fühlte: du 
wirft und mußt berühmt werden. Bis zu jenem Tage war ich nur die kleine 
Fee der Studenten geweſen, jetzt wurde ich der erkorene Liebling des Publikums.“ 
Victor Hugo war damals gerade aus der Verbannung zurückgekommen. 
Sarah Bernhadt hatte bald Gelegenheit, ſich von den Vorurteilen zu befreien, 
die ihr gegen ihn eingeredet worden waren. „Es war bezaubernd, das Un- 
geheuer, und ſo geiſtreich, ſo fein und galant: von einer Galanterie, die ehrt 
und nicht beleidigt. Und er war fo gut gegen die Armen und immer in fröh⸗ 
licher Stimmung. Er war gewiß nicht das Ideal der Eleganz; aber in ſeinen 
Bewegungen lag etwas ſo Maßvolles, in ſeiner Art und Weiſe zu ſprechen 
etwas ſo Zartes, daß man an einen alten franzöſiſchen Pair erinnert wurde. 
Er war lebhaft im Entgegnen und hielt an feinen einmal gemachten Be⸗ 


728 Sarah Bernhardts Erinnerungen 


obachtungen, wenn auch mit angenehmer Nuhe, feſt. Er ſprach ſelbſt ſchlecht 
Verſe, aber er liebte es leidenſchaftlich, ſie von anderen gut ſprechen 
zu hören.“ 

Der große Erfolg, den Sarah Bernhardt als Königin in Ruy Blas er- 
rungen, bewirkte, daß das Théatre-Francais fie wieder für ſich gewann. Zehn 
Jahre nach ihrem erſten Auftreten kehrte ſie nun wieder an dieſe glänzendſte 
Stätte franzöſiſcher Schauſpielkunſt zurück. Sie gab ſich keinen Täuſchungen 
hin. „Meine erſte Zugehörigkeit zur Comédie- Francaise hatte ein ſchlimmes 
Ende genommen. Ich wußte, daß ich in die Löwengrube kam.“ In der Tat 
herrſchten auch an dieſem vornehmen franzöſiſchen Theater Kabalen, Rollenneid 
und Willkürlichkeiten der Direktion. Vor allen Dingen konnte der Tatendurft 
Sarah Bernhardts keine rechte Befriedigung finden. Man gab ihr keine neuen 
Rollen. Damals warf fie ſich auf die Bildhauerei, hauptſächlich um ſich aus 
zutoben. Sie hat übrigens auf dieſem Gebiete, wie auch als Malerin, ganz 
hübſche Erfolge gehabt; und wenn dieſe beim kaufenden Publikum wohl auch 
hauptſächlich darauf zurückzuführen ſind, daß man ein Bildwerk gerade von 
der Tragödin haben wollte, ſo muß man doch auch vom rein künſtleriſchen 
Standpunkt aus zugeben, daß ſie über den Dilettantismus hinausgekommen 
iſt und vor allen Dingen durch außerordentlichen Fleiß auch eine beträchtliche 
Technik erworben hat. Beim Theater entwickelte ſich inzwiſchen ein richtiger 
Kampf. Worauf ſich dieſer erſtrecken kann, davon ſei wenigſtens ein für den 
Außenſtehenden ergötzliches Beiſpiel angeführt. Es handelt ſich dabei um einen 
Kampf um den — Mondſchein. „Es war bei den letzten Proben zur ‚Sphinz' 
von Octave Feuillet. Der dritte Akt ſpielte in einer Waldlichtung. In der 
Mitte der Bühne erhob ſich ein großer Fels, auf dem Blanche (Croizette) meinen 
Gatten Savigny (Delaunay) küßte. Ich (Bertha von Savigny) mußte über 
einen Steg kommen, der über einen Bach führte. Die ganze Lichtung war 
vom Monde beſtrahlt. Die Croizette hatte eben ihre Szene geſpielt. Ihr 
Kuß, eine kühne Neuerung für die damalige Comédie-Francaise, hatte Beifall 
entfeſſelt. (Wie weit iſt man ſeitdem gegangen!) Da brach der Beifall 
plötzlich von neuem los ... Darüber ſtummer Schreck auf einigen Geſichtern. 
Perrin (der Direktor) richtete ſich entſetzt auf. Ich kam über die Brücke, das 
Geſicht blaß und vom Schmerz zerwühlt, mein Amhang war von meinen 
Schultern geſunken und ſchleifte, ſchlaff an meinem Arm hängend, am Boden; 
vom Mondlicht übergoſſen, machte ich, ſcheint es, einen ergreifenden und 
packenden Eindruck. Da rief eine näſelnde, gellende Stimme: ‚Eine einmalige 
Mondbeleuchtung genügt! Für Fräulein Bernhardt keine Beleuchtung! 
Ich ſtürmte vor auf die Bühne: „Verzeihung, Herr Perrin, aber Sie dürfen 
mir mein Mondlicht nicht nehmen! Im Manuſkript fteht: „Bertha kommt 
vor, blaß, zuckend, vom Mond beleuchtet.“ Ich bin blaß, ich zucke, ich will 
mein Mondlicht!“ „Das geht nicht!“ brüllte Perrin. „Fräulein Croizettes 
Frage: Du liebſt mich alſo? und ihr Kuß müſſen vom Mond beſtrahlt werden. 
Sie ſpielt die Sphinx, die Hauptrolle, ſie muß alſo die Haupteffekte haben!“ 
„Nun, fo geben Sie Fräulein Croizette eine volle und mir eine ſchwache Mond ⸗ 
beleuchtung; das iſt mir gleich, aber ich will mein Mondlicht!“ Alle Künſtler, 
alle Arbeiter ſteckten den Kopf durch die Spalten der Bühnendekoration. Die 
Croizettiſten und Bernhardtiſten erörterten den Fall. Octave Feuillet, feiner- 
ſeits befragt, erhob ſich und ſagte: „Ich muß geſtehen, daß Fräulein Croizette 
im Mondlicht ſehr ſchön wirkt, und daß Fräulein Bernhardt in ihrem 


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Sarah Bernhardts Erinnerungen 729 


Mondenſtrahl ein idealer Anblick iſt. Ich möchte alſo das Mondlicht für 
alle beide!“ 

Der Kampf zog ſich noch mehrere Tage hin, bis es ſchließlich zum 
Waffenſtillſtand kam, da der Mond in der Tat beiden leuchtete. Es iſt übrigens 
nach Sarah Bernhardt bemerkenswert, daß beim Theater „die Männer viel 
mehr die Frauen beneiden, als die Frauen ſich untereinander“. Sie macht 
dabei eine recht beachtenswerte Bemerkung über die Schauſpielkunſt. „Meiner 
Meinung nach iſt die dramatiſche Kunſt eine zum weſentlichen Teile weibliche 
Kunſt. Sein Geſicht ſchminken, feine wahren Gefühle verbergen, die Sucht 
zu gefallen und die Blicke auf ſich zu lenken, ſind das in der Tat nicht die 
Fehler, die man oft uns Frauen vorwirft und gegen die man bei uns ſehr 
nachſtchtig iſt? Bei einem Manne wirken dieſelben Fehler abſtoßend. And 
doch muß der Schauſpieler ſo anziehend als möglich erſcheinen, wäre es auch 
mit Hilfe von Schminke, falſchem Bart und künſtleriſcher Friſur. Iſt er 
Republikaner, ſo muß er gegebenenfalls die Grundſätze des Königtums mit 
Wärme und Aberzeugung vertreten, und iſt er Konſervativer, die des Anardis- 
mus, wenn es dem Dichter fo beliebt. Am Théatre-Francais war damals der 
arme Maubant, der ſich zur äußerſten Linken der Nadikalen rechnete; aber 
ſeine hohe Geſtalt und ſein ſchöner Kopf verurteilten ihn zu den Rollen der 
Könige, Kaiſer und Tyrannen, und ſo hörte man auf den Proben in einem 
fort Karl den Großen oder Cäſar gegen die Tyrannen toben, die Eroberer ver- 
fluchen und die härteſten Strafen für ſie fordern. Ich verfolgte dieſen Kampf 
zwiſchen dem Menſchen und dem Schauſpieler mit großem Vergnügen. Viel⸗ 
leicht verleiht dem Schauſpieler dieſe beſtändige Verleugnung ſeines Ichs ein 
weiblicheres Weſen. In jedem Falle iſt der Schauſpieler auf die Schauſpielerin 
eiferſüchtig. Seine männliche Ritterlichkeit ift vor dem Rampenlicht zu Ende.“ 

Es kam beim Théatre-Francais zu keinem Frieden. Gewiß hatten die 
Mitglieder dieſer Bühne recht, wenn ſie mit dem exzentriſchen Weſen ihrer 
Kollegin nicht einverſtanden waren. Und wenn Sarah Bernhardt betont, daß 
ihr bei allen ihren Streichen niemals darum zu tun geweſen fei, die Aufmerk- 
ſamkeit auf ſich zu lenken, ſondern daß ſie eben nur ihr Recht behauptete, nach 
ihrem Gefallen zu leben, ſo wird man es ihr glauben müſſen, aber dabei doch 
der Meinung ſein, daß ſie es in der Tat recht toll getrieben hat. Jedenfalls 
paßt eine ſolche Natur nicht in ein ſorgſam zuſammengeſtelltes, wechſelſeitig 
fein abgetöntes Enſemble hinein. Und fo entwickelte ſich denn auch bei Sarah 
Bernhardt vor allem nach den großen Erfolgen, die fie beim Londoner Gaft- 
ſpiel der Comédie errungen hatte, bald das Verlangen, mit einer eigenen Truppe, 
deren allbeherrſchender Stern fie fein konnte, ihr Glück zu verſuchen. Sie löfte 
alſo wieder ihre Beziehungen zum Théatre-Francais und unternahm dann jene 
von amerikaniſchen Impreſarios geleitete ſieben Monate lange Schauſpielfahrt 
durch Amerika, durch die ſie zur Weltberühmtheit wurde. 

Auf dieſen Rundfahrten trat fie in acht verſchiedenen Rollen 156 mal auf. 
Es war eine wilde Hetzjagd nach Ruhm, Geld, geſpickt mit Abenteuern aller 
Art, ein tolles Bild der nervöſen Kunſtbetätigang, wie fie ſeither von fo vielen 
Schauſpielern und Virtuoſen geübt worden iſt. Etwas Packendes behält das 
Ganze in jedem Fall. Und man begreift es, wenn in dieſem Strudel alle ruhige 
Aberlegung mit fortgeriſſen wird, verſteht es, daß ſolchen Künſtlern gerade 
dieſes Leben ſchließlich die Höhe zu ſein ſcheint. In jedem Fall gibt gerade 
dieſer Abſchnitt, den die Bernhardt ſehr lebendig ſchildert, ein feſſelndes Kultur- 


730 Das Gebet in der Literatur 


bild unferer Tage. Mit dieſer Amerikafahrt ſchließt der erſte bisher allein 
erſchienene Band dieſes Erinnerungswerkes, das in der immer mehr an- 
wachſenden Memoirenliteratur eine hervorſtechende Stelle behauptet. 
Hans Murbach 
yy 


Das Gebet in der Literatur 


Gs . den Zeichen des wiedererwachenden religiöfen Lebens gehört es, 
228 daß immer häufiger Nichttheologen zu Fragen des inneren Lebens 
mündlich und ſchriftlich das Wort ergreifen. Solche Zeugniſſe haben 
ihren beſonderen Wert. Sie find nicht von vornherein in theologiſche Ge- 
dankengänge eingezwängt, ſondern aus dem praktiſchen Bedürfnis und Leben 
hervorgegangen. Was ihnen an methodiſcher Behandlung des Stoffes mangelt, 
erſetzen fie reichlich durch Anmittelbarkeit der religiöfen Empfindung. Sie weiſen 
darauf hin, welche Fragen Geiſt und Gemüt unſerer Laien, um dieſen Ausdruck 
zu gebrauchen, beſchäftigen. In Niehls „Religiöſen Studien eines Weltkindes“ 
und Roſchers, „Geiſtlichen Gedanken eines Nationalökonomen“ haben wir z. B. 
zwei derartige Schriften von bleibendem Werte. Einen engeren Kreis hat ſich 
ein leider ungenannt gebliebener Literarhiſtoriker geſetzt, der bei Steinkopf in 
Stuttgart Gedanken und Betrachtungen über das Gebet veröffentlicht. Kleine 
feine Skizzen, die ihren beſonderen Reiz durch zahlreiche eingeſtreute Beiſpiele 
aus der Literatur erhalten. Es wäre in der Tat eine dankbare Aufgabe, 
einmal die Schöpfungen unſerer Dichter daraufhin durchzuſehen, wie ſich in 
ihnen nicht nur allgemeine religiöſe Gedanken, ſondern auch beſtimmte Einzel ⸗ 
gebiete, z. B. die Welt des Gebetes abspielen. Es iſt geradezu erſtaunlich, 
wie intuitiv richtig der wahre Dichter das Gebetsleben erſchaut. Anſer Literar- 
hiſtoriker weiſt hierfür beſonders auf die lebenswahre Schilderung des Franz 
Moor in den Räubern hin, der in ſeiner Todesangſt beten möchte und doch 
nicht beten kann. Man kann ihm den König im Hamlet an die Seite ſtellen, 
der kein Gebet fertig bekommt, obwohl „die Neigung dringend wie der Wille“ 
iſt. Verzweifelt bricht er ab: 
Die Worte fliegen auf, der Sinn hat keine Schwingen: 
Wort ohne Sinn kann nicht zum Himmel dringen. 

Goethe hat im Fauſt ebenſo lebenswahr die Art des Gebetes beobachtet 
und geſchildert. An Gretchens Angſtgebet: „Ach neige, du Schmerzens reiche“ 
iſt es bezeichnend, daß Anfang und Ende einander gleich find. Darin drückt 
ſich nicht nur ihre Herzensnot aus, ſondern auch die Tatſache, daß ſie mit ihrem 
Gebet nicht vorwärts gekommen iſt. Noch geht als leiſer, verborgener Grundton 
durch das ganze Gebet: Denn alles, was mich dazu trieb, war ach ſo gut, 
ach, war ſo lieb. Noch iſt ihr Hauptwunſch: Hilf! rette mich vor Schmach 
und Tod! Alſo die Abwendung der äußeren Folgen des Fehltritts. Darum 
muß ihr Gebet unerhört bleiben. Erſt als fie im Kerker mit dem Ruf: Heinrich, 
mir graut vor dir! ſich von dem liebſten, was ſie auf Erden hat, abwendet 
und fi) dem Gerichte Gottes ergibt, erſchallt die Stimme von oben: Sie in 
gerettet! Ahnliche Beobachtungen ließen ſich bei unſern Dichtern viele machen; 
vielleicht erzählt unſer Literarhiſtoriker gelegentlich davon. 

Chr. Rogge 


22 


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8 — — — ——— 


Neue Bücher 731 


Neue Bücher 


O. Wittſtock, „Der ſechſte Tag“. Aus den Briefen einer ſächſiſch · ſieben · 
bürgiſchen Lehrerin. Verlag von Karl Curtius, Berlin 1907. Geb. 2,50 Mk. 
Der ſechſte Tag — iſt gekommen, der Tag der Menſchenſchöpfung, der 
Tag, wo unter dem Anhauch des göttlichen Geiſtes ſtaubgeborene, erden · 
ſchwere Menſchenſeelen wiedergeboren werden zu ſelbſtändigen, freien Per⸗ 
ſönlichkeiten, denen dieſer kurze Erdentag ein Arbeitstag iſt, ein Tag heißer 
Arbeit an ſich ſelbſt, ein Tag hingebenden Dienens im ſelbſterwählten Beruf. 
And zu dieſem ſechſten Tag, zu dieſer inneren Wiedergeburt gelangt man nur, 
wenn man ſich unter die Gewalt Jeſu begibt, der nicht ein „bequemer Erlöſer“, 
nicht ein durch Himmelsweiten von uns getrennter Götterſohn iſt, wie die 
Alten ihn ſchauten, ſondern der große Menſchheits führer, der Lebenskämpfer 
und überwinder, mit uns auf demſelben Boden ſtehend und ringend mit den 
ſchweren Wirklichkeiten des Lebens. — Das iſt der Grundgedanke des präch- 
tigen Buches, das ein ſiebenbürgiſcher Pfarrer in der Form von „Briefen 
einer fächfifch-fiebenbürgifchen Lehrerin“ uns darbietet. Ich muß geſtehen, ich 
habe ſeit Jahren kein Buch geleſen, das mir, was Gedankenreichtum und geift- 
volle Beurteilung moderner religiöſer und politiſcher Bewegungen anbetrifft, 
ſoviel gegeben hätte wie dies äußerlich ſo anſpruchslos auftretende, auf alle 
Kunſt der Darſtellung verzichtende Büchlein. 

Auf die darſtelleriſche Form kommt es dem Verfaſſer auch offenbar gar 
nicht an, obgleich das Buch auch in dieſer Beziehung glänzende, eindruds- 
volle Stellen hat, z. B. die ergreifende Szene am Himmelfahrtstag, S. 100 ff., 
und die letzten Briefe der Sterbenden. Die vom Verfaſſer gewählte Form 
loſe zuſammenhängender Briefe und Tagebuchblätter läßt allerdings den 
äußeren Lebensgang der Heldin nicht ſcharf und klar genug hervortreten; 
auch nehmen die Geſpräche mit dem Oſtſee⸗ Pfarrer zuweilen die Geſtalt 
theologiſcher Vorträge an, die das Intereſſe des Leſers, wenigftens des nicht. 
theologiſchen, vielleicht ermüden könnten. Aber um dieſer theologiſchen Exkurſe 
willen hat der Verfaſſer ſein Buch auch gar nicht geſchrieben. Er will in 
erſter Linie Intereſſe erwecken für den inneren Entwicklungsgang, für den leiden ⸗ 
ſchaftlichen inneren Kampf ſeiner Heldin um Selbſtändigkeit und Freiheit der 
Seele. Mit warmer Sympathie des Herzens und pſychologiſch feiner Ein- 
fühlung in das Ringen einer zwiſchen Mut und Verzagtheit, Entſagungskraft 
und Schwäche hin und her geworfenen Frauenſeele zeigt der Verfaſſer, wie 
es für eine alleinſtehende Frau auch unter entſagungsreichſten Verhältniſſen 
und trotz körperlichem Leiden dennoch ein beglückenderes Los iſt, einen Beruf 
zu haben, als ein inhaltloſes, in Nichtigkeiten zerflatterndes Daſein zu führen. 
In dieſem Nachweis, in der oft überraſchend treffſicheren Beurteilung deſſen, 
was des Lebens wahren Wert ausmacht, in der durch Leiden errungenen Lebens 
weisheit, die in dem Buche ſteckt, liegt fein Hauptreiz. Um dieſes inneren Ge- 
haltes willen möchte ich dem Buche trotz mancher Anklarheit in der Form doch 
recht viele Leſer wünſchen, vor allem auch unter Lehrern und Lehrerinnen. 
Freudige Begeiſterung für den Beruf, der uns den ſtärkſten Halt gibt gegen · 
über den inneren und äußeren Anfechtungen des Lebens, klingt durch die oft 
recht ſchwermütige Stimmung der Lehrerin immer wieder ſiegreich hindurch. 

Im Vowort erfahren wir, daß die Lehrerin erſt vor kurzem als voll ⸗ 
wertige Hilfskraft in den Dienſt der ſächſiſch⸗ſiebenbürgiſchen Schule getreten 


732 Neue Bücher 


iſt. Der Verfaſſer verſetzt nun feine Heldin in eine Umgebung, in der fie mit 
beſonders großen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Die Schattenſeiten und 
Fehler der ſächſiſchen Bevölkerung, die dort in einem Dorfe am Fuße der 
Karpathen inmitten von Rumänen lebt, werden ſtark hervorgehoben. Doch 
handelt es fic) bei dieſer Schilderung offenbar nicht um eine generelle Dar ⸗ 
ſtellung des ſächſiſchen Volkscharakters in ſeiner Geſamtheit, zumal an anderen 
Stellen die zähe, jahrhundertelang bewahrte Anhänglichkeit dieſes verſprengten 
deutſchen Stammes an das Mutterland hervorgehoben wird. Sondern es handelt 
ſich nur um einen Volksteil, der den zerſetzenden Einflüſſen einer fremdſprachlichen 
Amgebung beſonders ſtark ausgeſetzt iſt. Der Verfaſſer iſt ſtolz auf fein Volk, 
ſeine Lehrerin nennt ſich ſelbſt „eine rechte, echte, durch und durch nationale 
Sächſin“, und ich meine, gerade durch das Lebensbild dieſer tapferen, geiſtes⸗ 
ſtarken ſächſiſchen Frau hat der Verfaſſer zugleich der Tüchtigkeit des ganzen 
Stammes das ſchönſte Denkmal geſetzt. 

Sehr intereſſant find die Schlaglichter, die von den dortigen Kirchen · und 
Schulverhältniſſen ((vgl. die Revifion durch den magyariſchen Schulinſpektor) 
auf unſre heimiſchen Schulkämpfe, auf den Kampf um den Anterricht in der 
Mutterſprache in unſrer Oſtmark und auf den Streit um die geiſtliche Schul 
aufſicht fallen. 

Die ganze zweite Hälfte ſeines Buches verwendet der Verfaſſer dazu, 
zu zeigen, wie in der nach zehnjähriger aufreibender, geſegneter Wirkſamkeit 
zuſammengebrochenen Lehrerin unter dem Eindruck der Perſönlichkeit Jeſu eine 
innere Wiedergeburt, ein Sichhindurchringen zum Frieden zuſtande kommt. 
Ein theologiſch freidenkender Pfarrer, den ſie in einem Oſtſeebade kennen lernt, 
wird ihr ein Führer zu Jeſus. Auch Leſer, die nicht auf dem theologiſchen 
Standpunkt des Verfaſſers ſtehen, werden dem Eindruck ſich nicht entziehen 
können, daß dieſer Jeſus, wie der Verfaſſer ihn ſchaut, und den er durch eine 
oft überraſchend gelungene Aberſetzung der evangeliſchen Geſchichten in unfre 
heutige Welt uns nahebringt, ſuchenden Menſchenſeelen wirklich etwas zu ſein 
vermag: der Erlöſer und Befreier, der Schöpfer eines neuen, über das arme 
Erdendaſein ſich erhebenden göttlichen Lebens. Ein ſchöner Abglanz dieſes 
neuen Lebens in Freiheit und Frieden liegt über den letzten ergreifend ge- 
ſchilderten Lebenstagen der Lehrerin, die bald nach ihrer Heimkehr in ihre 
ſiebenbürgiſche Heimat ſtirbt. 

Das gedankenreiche Buch macht den Eindruck, als ob der Verfaſſer uns 
damit ein Stück ſeiner eigenen Seele gibt. Ich wünſche dem ernſten Buche 
viele ernſte Leſer. Paſtor Voigtel, Dallmin 


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Kunſt und Gemüt 


Von 


Arthur Dobsky 


Kunſt üben kann nur der Erkorne, 
Kunſt lieben jeder Erdgeborne. 
Anaſt. Grün 


va uſt im felben Moment, da ein kecker Impreſſionismus, ein noch 
kühnerer Neoimpreſſionismus und Pointillismus die Kunſt 
nur noch nach Farbflecken einſchätzt, im Augenblick, da fort- 
ſchrittsbegeiſterte Theaterreformatoren die Bühne der Tradition 
in ein Meer neuer Probleme und Neformen untertauchen, um fie gereinigt 
von konventioneller gemütvoller Romantik nur mehr als eine mehr oder 
minder nüchterne Improviſation neu erſtehen zu laſſen — von Kunſt und 
Gemüt zu reden, mag beinah paradox klingen. Aber in einer Zeit, da 
die Nacht in Parodien auf den Tag ſchwelgt, kann ja beinahe nichts mehr 
ernſthaft überraſchen. And wenn auch heute bei einem großen Teile der 
Künſtler die Parole lautet: Heraus mit dem gedanklichen Inhalt aus euren 
Gemälden, ſtreicht und malt feſte drauf los, macht die gewagteſten Farben— 
kunſtſtückchen, nur laßt um Gottes willen nicht erkennen, daß ihr dabei etwas 
gedacht habt, ſo iſt das ja, Gott ſei Dank, nur eben die Parole eines Teiles 
und zwar eines kleinen, dem bei aller angenommenen Ernſthaftigkeit ſeines 
künſtleriſchen Beſtrebens das Beſte, der innere Halt, verloren gegangen iſt. — 
Aber wie geſagt, was einzelne Gruppen als Loſung auf ihr Panier ge— 
ſchrieben, wird ja noch lange nicht von der ganzen Künſtlerſchaft unter— 
ſchrieben. Denn die größten unter ihnen, mögen ſie auch noch ſo ſehr eine 
neuartige — „moderne“ Kunſt kultivieren, der gefeiertſten einer der Gegen— 
wart, Fritz von Ahde, fie find ja noch alle dafür, daß ein Bild etwas ent- 
halten muß. „Es muß etwas dabei ſein, was die Leute innerlich packt, 
ſonſt kann man ja keinen Hund hinterm Ofen hervorholen mit ſeinen Bildern. 
Die Impreſſioniſten ſuchten nur eine neue Formel, ich ſuchte ſo etwas wie 
Seele.“ Dieſes ſchöne, in urkräftigen Worten abgefaßte Bekenntnis eines 
„Impreſſioniſten“, mögen wir es als eine deutſche Parallele zu des großen 
Engländers Frederie Watts präziſem Grundſatz „ich male Gedanken, nicht 


734 - ~*~ Dobsty: Kunſt und Gemit 


Dinge“ auffaſſen oder nicht, kann für uns ein Croft fein. Eine Vers 
gewiſſerung deſſen, daß wahrhaft große Künſtler ſich noch lange nicht darüber 
erhaben fühlen, ihre Kunſt in den Dienſt ihrer Empfindungen, ihrer Seele, 
zu ſtellen. — 

Aber freilich, ſo ſchön die Künſtlerworte auch klingen mögen, wir, der 
Kunſt ernſthaft nachſpürende Menſchen, ſind wir immer verpflichtet, ſie als 
lautre, unverfälſchte Wahrheitsdokumente anzuſehen? Wohl nicht! 

Mit dieſem Zweifel ſetzten eigentlich meine Betrachtungen erſt ein, 
die mir vor Wochen, Monaten das Thema „Kunſt und Gemüt“ aufgedrängt 
haben. And kein wahrhaft großer Künſtler wird ſich ob dieſes Zweifels 
und der daraus reſultierenden Folgerungen entrüſten und voll heiligem 
Zorn durch die mehr oder minder dichte Schutzdecke ſeines Künſtlerhauptes 
fahren. Nein — er wird ehrlich genug ſein und bekennen, daß der Zu⸗ 
ſammenhang zwiſchen ihm und feinem Werke oft dünner iſt als ein Geiden- 
faden, und am dünnſten da, wo er äußerlich am ſtärkſten erſcheint. Dem 
Laienauge natürlich. Daß es unmöglich iſt, immer und in unumſtößlicher 
Sicherheit einen in einem Gemälde in ſtereotype Form gebrachten Gedanken⸗ 
gang mit dem ureigenſten Empfinden des Künſtlers in Einklang zu bringen. 

Freilich es gibt Menſchen, die darauf ſchwören, daß der Schöpfer 
eines Kunſtwerkes im innerſten ſeeliſchen Zuſammenhang mit dieſem ſteht, 
ja ſtehen muß. Aber das ſind liebe, gute, leichtgläubige Menſchen, die 
vergeſſen, daß dieſer Zuſammenhang logiſch gar nicht begründet iſt. Die 
die tauſendmal nachgewieſene Tatſache verkennen, daß ein Künſtler ſeinem 
Werke intellektuell ferner geſtanden haben kann, als der fernſtehendſte An⸗ 
befangene, deſſen geiſtige Regſamkeit ja weit größer ſein kann, als die 
des Schöpfers. 

Denn nicht immer deckt ſich die Vorſtellung unſeres körperlichen Auges, 
das Schöne oder Schlechte, was wir ſehen, mit der gleichzeitigen Regung 
unſerer Seele. And die ethiſche Schwere eines Kunſtwerkes iſt oft das 
Produkt leichteſter Begriffe. — Wenn die Künſtler, deren Werken eine 
oft unglaubliche Gedankenfülle entlockt wird, in denen der Laie erſchüt⸗ 
ternde Dokumente einer bis zur höchſten Potenz geſteigerten Gemüͤts⸗ 
tätigkeit erblickt, alles das vor dem Entſtehen ihrer Bilder im Geiſte ver- 
arbeitet haben ſollten, was man ihnen mit bewundernswerter Freigebigkeit 
andichtet, wie ſchlimm müßte es manchmal um ſolch ein Kunſtwerk aus- 
ſehen, wollte man es auf ſeinen wirklichen Kunſtwert prüfen. Auf den 
Wert, der tiefer geht, als daß er uns ſchöne Geſchichtchen erzählt oder mit 
hochdramatiſchen Illuſionen umgaukelt. Ich weiß, daß unter den großen 
bekannten Werken der Malerei, bei deren Nennen allein ſchon ſich im 
Laien eine Menge mehr oder weniger bewegter Vorgänge abſpielen, viele 
entſtanden ſind, ohne daß der Schöpfer ſich der inhaltlichen Seite ſeines 
Werkes überhaupt recht bewußt wurde. Daß ihn wohl die Kompoſition, 
die Licht. und Schattenſpiele, wohl Perſpektive und Anatomie beſchäftigten 
und ihm das weitaus wichtigſte waren, und er das pſychologiſche Moment 


1 Dobsty: Kunſt und Gemüt 7335 


großmütig dem Laien herauszufinden überließ. Wobei natürlich zugeſtanden 
, werden muß, daß ein Künſtler uns durch die konſequente Kultur feines 
Talentes eben weit mehr imponieren kann als durch den ſtofflichen Umfang 
ſeiner Produkte und deren geiſtige Potenz. Das was über die Geneſis 
eines Kunſtwerkes in tauſenderlei Variationen geſchrieben und gefagt wurde, 
_ ft alles ganz ſchön und nett. Aber viel mehr als das iſt es eben nicht. 
Der große bedeutungsvolle Vorgang, der geiſtige Prozeß, der ſich im 
Inneren des Schaffenden abſpielt, der aus wirren Vorſtellungen, aus einer 
Fülle dramatiſcher — ideal ſentimentaler oder frommgläubiger Gedanken, 
die feſte Form, das Bild entſtehen läßt, iſt eben auch nur bis zu einem 
gewiſſen Grade da. Gewiß — fo wie zu jeder vernünftigen Tätigkeit be- 
ſtimmte Vorausſetzungen nötig find, die es erfordern, daß eine Tat über: 
legt ſein will, ſo iſt es auch durchaus anzunehmen, daß ein Künſtler nicht 
ganz gedankenlos drauflosmalt. — Aber der wirkliche Maler, und ſei er 
ein noch ſo gemütstiefer Menſch, wird immer zuerſt ſich mit dem „Wie“ 
beſchͤftig en, mit der rein künſtleriſchen Seite, und in zweiter Linie erſt mit 
dem „Was“. And wenn auch das „Was“, der Vorwurf als zuerſt feſt⸗ 
zulegend ſich gebieteriſch in den Vordergrund drängt — — es iſt ja ſchnell 
abgetan. Das „Wie“ aber nicht. — 
| Und denkt man daran, daß erwieſenermaßen inhaltlich ganz hervor: 
| ragende Werke der Malerei oft das Gegenteil des urſprünglichen Gedanken⸗ 
entwurfes ihres Schöpfers darſtellen, fo haben wir ja den eklatanten Be⸗ 
weis, daß es keineswegs eine unumgängliche Notwendigkeit iſt, im Kunſt⸗ 
werk das Spiegelbild der Künſtlerſeele zu erblicken, denn öfter als man 
meint, ſchlägt das maleriſche Problem das pſychologiſche Moment zu Boden. 
— Freilich kommt auch der umgekehrte Fall vor. „Ich finde nicht die Spur 
von einem Geiſt und alles iſt Dreſſur,“ wollte man die Fauſtiſchen Worte 
auf die Kunſt anwenden — vielleicht — nein — es wäre hart —. Ver⸗ 
ſuchen wir nur immer das Kunſtwerk als das anzuſehen, was es wirklich 
iſt — was es fein will und fol —, fo werden wir ja doch zum zufrieden- 
ſtellenden Genuß kommen. Als Betrachtende, Genießende — als Laien 
dürfen wir ja auch die Flügel unſerer Empfindung viel weiter ſpannen, 
als wenn wir der Kunſt als Richter, Mäkler, Ausklügler gegenübertreten. — 
Angeſichts eines wogenden Kornfeldes, das reich geſegnet von Erde, 
Luft und Waſſer uns wie der feierliche Moment eines elementaren Kraft 
ausbruches der Natur anmutet, umſchwängert von traulicher Sonntags: 
nachmittagsſtimmung und dem reinen, würzigen Duft der heimatlichen 
Scholle, was fragen wir da noch nach Geiſt. Was fragen wir danach, was 
ein Künſtler, der dies ſo herrlich darſtellte, dabei gedacht, was kümmert uns 
feine Begeiſterung. Wir empfinden — wir fühlen — wir, die Betrach- 
tenden, Genießenden. — 
Und fern vom wogenden Kornfeld ein gewaltiges Brauſen, ein 
Hämmern und Toſen, ein Achzen und Krachen gewaltiger Maſchinen, die 
erſchaffen von Menſchenhand und Menſchenkraft jeden Augenblick bereit 


736 Dobsty: Kunſt und Gemüt 


find über dieſelbe Menſchenkraft zu triumphieren, wenn man fie nicht be: 
wacht! Dazwiſchen ſchwitzende, keuchende Menfchen — Männer — Ge: 
noſſen — Kollegen der Maſchinen. Im Schweiße deines Angeſichts ſollſt 
du dein Brot eſſen. Ob du es mühſam der Erde abringſt, ob du es 
im Verein mit tot⸗lebendigen Maſchinen verdienſt — es iſt ja gleich. Das 
wogende Kornfeld, das Eiſenwalzwerk — beide geben ja Lohn und Brot. 

And beide, wer habe ſie nicht erkannt auch ohne „nähere Angaben“, 
welche Anſummen von Empfindungen und Vorſtellungen vermögen fie aus⸗ 
zulöſen. Das eben iſt der Dienſt, den nur der Künſtler, das Kunſt⸗ 
werk tut. — 

Wenn Joh. H. Wichern angeſichts der antiken und chriſtlichen Kunſt 
in die Worte ausbricht: „Ich kann all die Herrlichkeit nicht ſehen und ge⸗ 
nießen ohne ein Gefühl davon, daß die Frage nicht beantwortet iſt, wie 
die Kunſt zu ſolchem Grade der Vollendung kommen konnte, ohne zugleich 
eine Tochter oder doch eine Schweſter der höheren ſittlichen Weltanſchauung 
zu ſein, die allein die wahre Weihe verleiht,“ ſo wird man unter höchſter 
Anerkennung der guten Meinung des kunſtbegeiſterten Miſſionsmannes 
ihm bedauernd erklären müſſen, daß die Frage nie beantwortet werden kann. 
Die ſittliche Weltanſchauung hat mit dem Kunſtwerk nichts zu tun, alſo 
auch nicht der Künſtler mit ihr. And wer mir über meine Behauptung 
zürnt, dem kann ich nicht belfen. Man beweiſe mir, daß der fromme 
Dominikanermönch Angelico da Fieſole bei all ſeinen ſchönen, von der 
Kunſthiſtorik hocheingeſchätzten Darſtellungen mehr empfand oder auf einer 
höheren Stufe ſittlicher Weltanſchauung geſtanden hat, als der junge Eng⸗ 
länder Gordon Craig mit ſeinen das Theater einfach über den Haufen 
ſtürzenden Reformideen. Sind wir ſchon großherzig genug, bei beiden ein 
Gefühl der inneren Beſtimmung gelten zu laſſen, im Prinzip gipfelt die 
Kunſt des weihrauchumſchwängerten Quattrocentiſten genau da, wo auch 
die umſtürzleriſche Betätigung des Sohnes des 20. Jahrhunderts endigt 
— in der Senſation. Das Wort Senſation im guten Sinne zu verſtehen. 
Jener ſah, es liegt nichts näher als die Möglichkeit, fein Licht mit inten 
fiofter Kraft leuchten zu laſſen, am eheſten in dem ihm zufällig vor 
geſchriebenen Kreiſe, der Kirche. Dieſer, der Engländer in der ihm eben⸗ 
falls per Zufall überkommenen Sphäre der Bühne. 

Ein anderer Beweis für die Haltloſigkeit jener den Geiſt, die Seele 
und ihr Produkt zuſammenſchmiedenden Doktrin: Ein Künſtler findet ein 
Modell auf der Straße. Ein Weib — eine Dirne — eine Hetäre —, vor 
der „uns“ anſtändig empfindenden Menſchen graut. Aber ſchön iſt ſie. 
Er nimmt ſie heim — das Vorrecht des Künſtlers —, er berauſcht ſich an 
ihrer Schönheit — ihrem Wuchs — allem — und malt ſie. And nach 
wenigen Wochen — hat der geiſtige Prozeß, der ſich in der Seele des 
Künſtlers abſpielte, aus der Hetäre eine „Madonna“ erzeugt. Der Zweck 
iſt erreicht, das Mittel mußte ſich willenlos fügen. Ob hier ein Konner 
zwiſchen Seele und Künſtlerwerk beſteht? Zu Ehren des Schaffenden fei 


Dodsty: Kunſt und Gemüt 737 


es glattweg verneint. Und wenn dem Mann vielleicht auch innerlich 
graute, das künſtleriſche Moment war ausſchlaggebend, und die Moral 
— ein ſtarkprozentiger Anteil des Gemütes mußte unterliegen. Freilich, man 
kann ja auch gerade hierin eine Stärke der Moral erblicken — wenn man 
nur will. — Das kommt eben auf die Auffaſſung an. — — 

Wie intereſſant wäre es in dieſen Tagen, wo ein eigenartiger Fund die 
Augen der geſamten Kunſtwelt wieder von neuem auf das ſchönſte Bild⸗ 
werk, die Venus von Milo, lenkt, all die Forſchungen, die nunmehr wieder 
in Fluß kommen werden, darauf auszudehnen: „Wen ſtellt dieſe Venus, 
dieſes Ebenbild der Gottheit, vor? Wes Geiſteskind mag dieſes Mädchen 
geweſen ſein, das die Hand eines begnadeten Menſchen zu ſolcher Tat 
anregte? Ich weiß es, die Forſchung wird hier elend zum Teufel gehen. 
And wenn der eine uns glauben machen will, daß dieſes heute als Inbegriff 
aller Schönheit vergötterte Bild unbedingt die Züge einer hochedlen auf 
höchſter ſittlicher Weltanſchauung ſtehenden Frau tragen muß, die wir 
gleichſam als eine zuſammengeſchmolzene Perſonifizierung edelſter Schönheit 
des Körpers und der Seele anzuſehen haben — können wir unbedingt den 
andern einen Narren ſchelten, der uns das Gegenteil erzählt? Nein! Wir 
können's nicht. 

Und können wir für die geiſtigen Qualitäten eines äußerlich höchſt 
chriſtlich dreinſchauenden Menſchen bürgen, der während ſeines ganzen Lebens 
dem Kultus der Kirche diente? Auch nicht. — 

Erwägt man nun noch, daß analog dem Maler es auch Dichter 
gab, deren Werke keineswegs immer in innerem Zuſammenhange mit ihrem 
eigenen Gefühlsleben ſtanden, ſo ſind wir wohl bald auf dem Standpunkt 
der effektiven Trennung des Kunſtwerkes von der Perſon des Schöpfers 
angelangt. Mir wurde einmal von ſolch einem Dichter erzählt. Ob ſein 
Name je in einer Literaturgeſchichte verzeichnet war, ich weiß es nicht, es 
ſpielt auch keine Rolle. Er war ja kein großer Dichter — aber er war 
einer. Der ausgezeichnete Literarhiſtoriker Adolf Stern kannte den Mann. 
Begabt mit einer formvollendeten, tiefempfindenden Dichterfprache, die die 
edelſten Regungen in die erhebendſten Worte zu kleiden fähig war, fo 
kam dieſer Mann aus irgend welchem Grunde ins Gefängnis. Eben noch, 
je nach Stimmung und Laune, war er Dichter, begeiſterte und entzückte ſeine 
Genoſſen — und dann wieder, ſchlug die Stimmung um, wurde er zum 
widerlichſten, roheſten Patron, vor dem ſelbſt die an nichts Gutes gewöhnten 
Gefängnisbrüder Grauen und Ekel empfanden, ſo daß ſie ſchließlich um 
ſeine Entfernung aus ihrem Abteil baten. 

Ein tieftraurig Lied von der Menſchenſeele. — Kunſt und Gemüt. 
So losgelöſt voneinander! — 

Wenn ich jetzt vielleicht mit meinen Ausführungen mir den Zorn 
manches Leſers zugezogen habe, wenn ich vielleicht mit unbeabſichtigter Kalt ⸗ 
blütigkeit Illuſionen zerſtört habe, jene Illuſionen, die hinter einem ſchönen 


Werke auch eine ſchöne Seele ſahen — fo verzeihe man mir. Auch is babe 
Der Türmer X. 11 


738 Dobsky: Kunſt und Gemüt 


ſchon Menſchen mit ſehr beſcheidenen Gaben erfreut, begeiftert, wo ich felbft 
gar nichts empfunden, auch ich habe Großes, Schönes verſucht und Lachen 
— und Verſtändnisloſigkeit gefunden. 

Nicht nur der Künſtler — nein der Menſch im allgemeinen erreicht 
ja oft das Gegenteil von dem, was er gewollt. 

And wenn ich ehrlich genug bin zu geſtehen, daß mich — natürlich 
rein gegenſtändlich betrachtet — kein Bild ſo kalt gelaſſen hat, wie Naffaels 
Sixtiniſche Madonna, die ich allerdings, vielleicht zu oft — allzu oft — 
geſehen habe, ſo wird man mich keinen gefühlsrohen Menſchen nennen können. 

Dafür aber habe ich ſo auf meinen Muſeumsgängen gar manches 
entdeckt, was abſeits hing — faſt verborgen, kaum beachtet — was mir ſo 
viel gegeben hat. So viel. Wo ich mich nicht lange erſt mußte auf meine auf 
der Baſis des zwanzigſten Jahrhunderts ruhende Weltanſchauung beſinnen. 

Das brauche ich auch nicht erſt, wenn ich in meiner Erinnerung 
eine Ausſtellung von Bildern Vincent v. Goghs erſtehen laſſe, die ich mit 
dem Gefühl verlaſſen habe, als ſeien Peitſchenhiebe auf mich herniedergeſauſt. 
Ein von mir trotz prinzipieller Gegenſätze hochgeſchätzter Kunſtſchriftſteller 
behauptet, es ſei unmöglich, den Reichtum an künſtleriſchen Werten, den das 
Oeuvre v. Goghs enthält, mit Worten zu geſtalten. Vincent v. Gogh wurde 
verrückt, beſagter Kunſtſchreiber hat alle Ausſicht, es zu werden, und mir 
iſt es ziemlich ſicher — weil ich nicht verſtehe, was der erſte malt und der 
zweite ſchreibt. Für mich ein erdrückendes Dokument geiſtiger Armut. 
Aber ich kann es nicht ändern. „Die Impreſſioniſten ſuchten nur eine neue 
Formel, ich ſuchte fo etwas wie Seele.“ Dieſe Worte Ahdes klingen mir 
immer in den Ohren — und der Mann, der ſie ſprach, ſteht vor meinem 
geiſtigen Auge. Man ſpricht ſogar ſchon von mißverſtandenem „Vangogb⸗ 
ismus“. Alſo ſchon ein feſtgeprägter Begriff, eine Formel! Für eine 
Kunſt, die ſo bejammernswert leer und elend war, daß man den, der ſie 
übte, bedauern muß, daß er nicht ſchon Hand an ſich legte, ehe er zum 
erſten Male einen Pinſel ergriff. Wenn noch zehn Van Goghs erſtänden — 
man müßte die Kunſt als Peſt bezeichnen. 

Aber friedlich, wie ſie begonnen, ſo ſoll dieſe Betrachtung auch 
ſchließen. — 

Die Geſetze, die Jahrhunderte für die Kunſt gegolten haben, werden 
vom 20. Jahrhundert nicht einfach ungültig gemacht. Und das oberſte Ge: 
ſetz für die Kunſt heißt „Schönheit“. 

Schönheit, an der ſich der Künſtler, der Beſchauer, der Menſch 
erfreut. And die Freude iſt ja doch ſchließlich immer der ſchönſte Teil 
unſeres Gemüts- und Seelenlebens. Und wie die Freude am Schönen 
niemals zu trennen fein wird von uns, fo wird auch die Kunſt — trotz 
allen Widerſpruches, trotz Pointillismus und Vangoghismus — niemals zu 
trennen ſein — vom Gemüte. 

wer 


Religidfe Bilder 5 739 


Religiöſe Bilder 
— s, 


7 i AS ir haben im Oktoberheft dieſes Jahrgangs eine verkleinerte Nach- 
ui 2 bildung nach dem „Jüngling zu Nain“ von Albert Haueiſen 
gebracht. Inzwiſchen iſt dieſes Bild gleichzeitig mit zwei andern 
religidfen Blättern desſelben Künſtlers als große (100 * 70 cm) farbige Litho- 
graphie im Verlage von R. Voigtländer in Leipzig erſchienen (Preis je 6 Mk.). 
In dieſer Größe wirkt das Bild mit geradezu ungeheurer Wucht. Die groß- 
artige Einfachheit in Aufbau und Linienführung, die elementare Charakteriſtit, 
die doch auch die weichen Gefühlstöne nicht unterdrückt, erheben dieſes Werk 
in die Reihe des Großartigſten, was die deutſche religiöſe Kunſt ſeit Jahr. 
zehnten geſchaffen hat. Immer wieder muß man dabei an Mantegna denken, 
und doch iſt das Ganze ſo urdeutſch. 

Von ausgeſprochen perſönlicher Eigenart iſt auch der „Sturm auf 
dem Meere“. Der Künftler läßt uns hier die Gefährlichkeit des Augen⸗ 
blickes mitfühlen. Es find wirklich verängſtigte Männer, die in dem Kahn ſitzen. 
Für den erſten Augenblick überraſchend iſt der Ausdruck im Geſichte Chriſti. 
Chriſtus iſt gerade von den geängſtigten Jüngern aufgeweckt. Ihr Schrei: 
„Wir gehen zugrunde“ gellt ihm noch in den Ohren. Sich wie mühſam aus 
ſchwerer Ermüdung aufrichtend, ſtützt er mit dem einen Arm ſich noch auf die 
harte Lagerſtatt und wendet das Antlitz gegen die erregten Wogen. And da 
muß man ſich des bibliſchen Berichtes erinnern, daß er dieſe Wogen „be- 
dräuete“ (com minatus est bzw. increpavit der Vulgata). Ich habe mich ſchon 
in frühen Jahren immer an dieſem Worte geſtoßen. Warum ſchilt Jeſus 
gegen die See? Warum bedroht er oder bedräut er den Sturm, bevor er die 
Wogen beruhigt? Iſt es, um ſie zur Ruhe zu weiſen? Ich habe mich bei der 
Stelle niemals der Erinnerung an das „Quos ego!“, das der erzürnte Neptun 
feinen Untertanen zuſchleudert, entſchlagen können, obwohl fonft jede Parallele 
fehlt. Denn eher gewährt dieſer kleine Zug vielleicht einen tiefen Einblick in 
den damaligen Seelenzuſtand Jeſu. Es liegen unmittelbar zuvor in der Bibel 
zwei ſehr ſtrenge Worte: „Folge du mir, und laſſet die Toten ihre Toten be- 
graben“, ruft er dem einen Jünger zu, der Urlaub heiſcht, um feinen ver- 
ſtorbenen Vater zu beerdigen. And jenen anderen, die ihm ſagten: „Deine 
Mutter und deine Brüder ſtehen draußen und wollen dich ſehen“, antwortete 
er: „Meine Mutter und Brüder find dieſe, die Gottes Wort hören und tun“. 
Das iſt ja von wunderbarer Troſteskraft für jene, die ihm folgen, bezeugt aber 
ein hartes und ſchweres Sich⸗losreißen von allen Feſſeln irdiſcher Natur. War 
ihm das Gewoge des aufgepeitſchten Meeres ein Sinnbild der eigenen Kämpfe? 
War es das Zürnen gegen die Natur, die die ihr Anterworfenen nicht einmal 
ruhen läßt, wenn fie ermüdet find von ſchwerem feelifchen und geiſtigen Schaf ⸗ 
fen, und fic durch die Naft zu neuer Arbeit ſtärken wollen? Ich weiß nicht, 
wie die berufsmäßige Bibelexegeſe dieſe Stelle deutet. Jedenfalls zeugt es 
für den tiefen innerlichen Ernſt des Künſtlers, wie er in der Geſtalt Chriſti 
von dieſem Kampf ſpricht. 

Das dritte Bild trägt mehr idylliſchen Charakter und zeigt uns das 
Auseinandergehen von „Abraham und Lot“, für deren große Herden das 
beſetzte Land nicht mehr ausreicht. Hier ſcheint mir in den Geſtalten der beiden 
Männer der Altersunterſchied nicht genug betont zu ſein, denn Lot war doch 
Abrahams Neffe. Ich mache eindringlich alle Freunde religiöſer Kunſt auf 


740 Religiöfe Bilder 


die drei Blätter aufmerkſam, die auch in hohem Maße zum Wandſchmuck für 
Schulen und Vereinszimmer geeignet find. — 

In dieſem Zuſammenhang ſei noch auf einige andere Veröffentlichungen 
hingewieſen. Der Verlag von Hans Kohler & Co. in München bringt eine 
Sammlung von Karten in den Handel unter dem Titel: „Die Heilige 
Schrift in Bildern“. Nach Originalentwürfen von Robert Leinweber. 
Es ſind zehn Serien zu je zwölf Bildern beabſichtigt, von denen die zwei erſten 
„Aus der Argeſchichte und der Zeit der Erzväter“ und „Aus der Zeit Joſephs 
und Moſes“ mir vorliegen. (Je Mk. 1. 50.) Ich kann nicht verhehlen, daß 
mir die Verwendung bibliſcher Bilder zu Anſichtskarten nicht gerade ge- 
ſchmackvoll vorkommt. Allerdings iſt wenigſtens die ganze Fläche der Karte 
für das Bild ausgenutzt, ſo daß der weiße Papierausſchnitt zum Schreiben, 
der früher alle Bildwirkung ſolcher Karten zerſtörte, vermieden iſt. Davon 
abgeſehen aber würden die Bilder bei einer Wiedergabe in größerem Format 
ſicher weſentlich gewonnen haben. Denn des Künſtlers eigentliche Begabung 
liegt in der Kompoſttion des Hiſtorienbildes; das innerlich Religiöfe geht ihm 
dagegen ab. Er mag aus der Pilotyſchule, vielleicht auf dem Amwege über 
Löfftz oder Gyſis ſtammen. Die ſtarke Farbigkeit, die ganze Art der Behand- 
lung des Hintergrundes ſtreift häuſig das Theater. Beim Druck wirkt vor 
allen Dingen ein grelles Weiß, das vielfach zur Erhöhung verwendet wird, 
ſtörend und hart. Abrigens iſt die zweite Serie in jeder Hinſicht anſprechender, 
als die erſte, und manche der Bilder ſind zweifellos bedeutende künſtleriſche 
Leiſtungen. So aus der erſten Serie „Der Sintflut Ende“ und „Joſephs Der- 
kauf“. Bei dem ſonſt ſehr charakteriſtiſchen „Iſaak ſegnet Jakob“ ſtört mich 
das bläuliche Theaterlicht. In der zweiten Abteilung regt ſich kaum gegen 
ein Bild Widerſpruch. Prächtig in der Farbe und der Bewegung tft „Joſeph 
gibt ſich ſeinen Brüdern zu erkennen“. Dann aber iſt vor allen Dingen in 
Maſſenſzenen wie „Iſrael zieht nach Agypten“, „Iſraels Dienſtbarkeit in 
Agypten“ und „Moſes ſchlägt Waſſer aus dem Felſen“ in Anbetracht des 
knappen Raumes ganz Hervorragendes geleiſtet. Ich würde es ſehr begrüßen, 
wenn neben dieſer Poſtkartenausgabe eine wenigſtens doppelt ſo große in einem 
ſchönen Sammelbande veranftaltet würde. Dann könnte auch der Begleittext 
mehr geben als dieſe kümmerlichen Andeutungen, die jetzt auf einem beſonderen 
Blatte beigegeben ſind. 

Zwanglos ſchließen ſich hier an: „Bilder aus dem heiligen 
Lande“, nach Aquarellen von F. Perlberg (C. Andelfinder & Cie., Viün- 
chen. 2 Mk.). Das Büchlein, das dreißig Anſichten vereinigt, wird beim 
Anterricht in der bibliſchen Geſchichte gute Dienſte leiſten können, auch ſonſt 
wohl vielfach Teilnahme finden. Ein eigentlich perſönliches Gepräge tragen 
die Bilder kaum und farbige Photographien nach der Natur hätten wohl den 
ſelben Dienſt geleiſtet. Warum hier nicht ein kurzes Begleitwort gegeben 
wird, iſt mir unverſtändlich; das hätte ſich doch ſo ſchön machen laſſen und 
würde den Reiz der Veröffentlichung ſehr erhöhen. 

Gerade um des ganz eigenartigen und hier geradezu muſterhaften Textes 
willen weiſe ich auf ein Bilderbuch hin: „Vom göttlichen Heiland“ 
(München, Allgemeine Verlagsgeſellſchaft, geb. 4 ME). Die Bilder dieſes 
Werkes find dem Kunſtfreunde nicht neu; fie entſtammen dem auch an dieſer 
Stelle ſeinerzeit warm empfohlenen „Leben Jeſu“ von Philipp Sau 
macher. Auf ſehr geſchickte Weiſe find hier die fiebzehn farbigen Tafeln 


Bismard und Lenbach | 741 


von den im Original durch das Breitformat gebotenen Rahmungen losgelöſt 
worden, ſo daß man nirgendwo die Abtrennung merkt. Ebenſogut machen 
ſich die Schwarzdrucke der einſt farbig gegebenen Randleiften. Schumachers 
Bilder find, wie ſeinerzeit hervorgehoben wurde, ohne irgendwie neuerungs- 
ſüchtig zu ſein, doch frei von aller Schablone in der Kompoſition, weil ſie 
wahrhaft empfunden find. Dann find ſie von einem tief gläubigen Gemüt 
geſchaffen, was ſich beſonders in den gewählten Symbolen finnig ausſpricht. 
Es iſt nun ſehr zu begrüßen, daß man aus jener großen Veröffentlichung 
dieſes Buch für die Jugend geſchaffen hat, und gerade in dieſer Hinſicht iſt 
der Text von Franz Xaver Thalhofer geradezu meiſterhaft. Dieſer auch 
ſonſt auf dem Gebiete der Jugendliteratur durchaus eigene Wege gehende Mann 
verzichtet auf die herkömmliche Erzählung des Lebensganges Jeſu. Durch 
innige Betrachtung der Bilder gewinnt er vielmehr eine ganz eindringliche 
Beſchäftigung mit dieſem Leben, die zumal in pſychologiſcher Hinſicht viel tiefer 
geht als das, was man ſonſt Kindern als bibliſche Geſchichte zu geben pflegt. 
Er frägt ſich mit den Kindern: warum hat der Künſtler das fo und fo dar- 
geſtellt? Was will er damit ſagen? So gewinnt er geiſtige Ausblicke und 
lehrt gleichzeitig ſeine Zuhörer Bilder ſehen. Auf dieſe Weiſe vermag das 
ſchöne Buch in zwiefacher Richtung ſegensreich zu wirken. Der Text ift fo 
gehalten, daß ein zehnjähriges Kind ſehr gut allein damit fertig wird. Be⸗ 
ſonders erfreulich aber wäre es, wenn Väter und Mütter gemeinſam mit ihren 
Kindern ſich in das Buch verſenken würden; denn, weiß Gott, den Alten tut 
das Sehen lernen oft mehr not, als den Jungen. St. 


is 
Bismarck und Lenbach 


N ſtehen mußte, fo verftand es ſich von ſelbſt, daß dieſes Bildnis von 
der Hand Lenbachs ſtammen müßte. Kaum in einem zweiten Falle — denn 
Rembrandt als Maler ſeiner ſelbſt kann man nicht nennen — gehören ein 
großer Mann und fein Darfteller fo zuſammen, wie im Falle Bismarck Len 
bach. Die Zahl der Bildniſſe, die Lenbach von ſeinem Helden geſchaffen, iſt 
kaum überſehbar. Das von uns vorgeführte hat neben feinen hohen künſt. 
leriſchen Eigenſchaften den Vorzug, vielen Lefern ficher ganz neu zu fein. 

Lenbach hat es, wie ja auf dem Blatte ſelbſt zu leſen, ſeinem lieben 
Freunde W. Wyl (d. i. Dr. Wilhelm Nitter von Wymetal) zugeeignet. In 
den „Geſprächen und Erinnerungen“, die aus Wyls Nachlaß unter dem Titel 
„Franz v. Lenbach“ bei der deutſchen Verlagsanſtalt in Stuttgart erſchienen 
ſind, wurde dieſes Bild zum erſtenmal veröffentlicht. 

Dieſes Buch, das um der außerordentlich lebendigen Schilderung v. Len- 
bachs Leben und Meinungen weitefte Verbreitung verdient, bringt auch manche 
Bemerkungen des Künſtlers über ſein Verhältnis zu Bismarck, die in der 
jetzigen Gedenkſtimmung beſonders willkommen ſein dürften. 

Lenbach ließ ſich durch ſeine Begeiſterung für den Fürſten nicht darüber 
käuſchen, daß zwiſchen ihnen nicht das beſtehe, was man im gewöhnlichen Leben 
„ein freundſchaftliches Verhältnis“ zu nennen pflegt. 


742 Bismarck und Lenbach 


„Er umarmt und küßt mich zwar, wenn ich ankomme oder abreiſe, und 
ich lebe wie das Kind im Haufe, was daher kommt, daß ich mit allen Mit- 
gliedern der Familie befreundet bin. Was aber den Fürſten anbelangt, ſo 
beſchränkt fic) fein Verhältnis zu mir darauf, daß ich nach feiner Anſicht ge- 
rade kein Dummkopf und diskret bin, ihn auch ſonſt in keiner Weiſe geniere. 
Für meine Art und die Bilder, die ich produziere, intereſſiert er ſich nicht im 
mindeſten, richtet auch kaum jemals eine Frage an mich, während ich, wenn 
das anginge, ihn ohne Anterlaß ausfragen und ihm Tag und Nacht zuhören 
könnte. Denn er iſt mir intereſſanter als irgend etwas auf der Welt, ſo wie 
mich Shakeſpeare mehr intereſſiert als ganz England, und Nembrandt mehr 
als ganz Holland. Obwohl ich ſonſt ein ziemlich ſchlimmes Raubtier bin, 
fühle ich mich in ſeiner Nähe wie ein Kaninchen. Oder um ein andres Bild 
zu brauchen: er iſt eben wie glühendes Eiſen gegen Eis, man fühlt ſich neben 
ihm zerfließen.“ — — — „Freunde im gewöhnlichen Sinn hat Bismarck 
meiner Anſicht nach überhaupt nicht, und ich glaube nicht, daß Männer von 
folder Größe je dergleichen gehabt haben. Er hauſt ſozuſagen in ſich; er er- 
lebt ſich, er blickt gedankenvoll zurück auf die ungeheure Summe ſeines Lebens. 
Sein Gehirn arbeitet unabläſſig, ſo daß ich ihn einmal fragte, ob dieſe ewige 
Arbeit ſeines Kopfes ihm nicht Beſchwerden verurſache. Darauf ſagte er: 
„Allerdings, ich kann manchmal des halb nicht ſchlafen.“ Bismarck iſt einſam, 
er kümmert ſich nicht viel um das, was um ihn vorgeht, feine Geſpräche find 
mehr Monologe als ſonſt etwas. Dabei übt er doch auf alle, die ihm nahe 
kommen, einen wahrhaft unſäglichen Zauber aus. So z. B. war einmal 
Wilbrandt mit ſeinem Sohne bei ihm zum Eſſen, und die beiden blieben 
dann auch den Abend über, bis der Zug nach Hamburg wieder weiterging. 
Auf dem Bahnhofe kamen beiden die Tränen, ſo waren ſie ergriffen. 

„Bismarck hat jetzt eine milde Würde, die er früher nicht hatte. Das 
ift auch das einzige Zeichen hohen Alters, das fic an ihm entdecken läßt, denn 
ſonſt find feine Sinne, beſonders Gehör und Geſicht, ausgezeichnet, und er geht 
kerzengerade einher. Ich bin, wie ich Ihnen ſchon geſagt habe, wie das Kind 
im Hauſe; das ift viel und iſt wenig. Ich geyöre eben zu denen, um die der 
Fürſt fic nicht zu kümmern und vor denen er fic nicht zu genieren braucht. 
Ja, wenn ich ein großer Politiker wäre, ein alter Diplomat, ein Parteiführer, 
das wäre etwas andres, da gäbe es direkte Berührungspunkte zwiſchen uns. 
Man muß ihm etwas zu bieten haben, damit er ſich mit einem beſchäftige. 
Meine Kunſt intereſſiert ihn, wie ich Ihnen wiederholt geſagt, nicht im ge 
ringſten. Er hat keine Freunde im gewöhnlichen Sinn: er nimmt die Menſchen 
für das, was ſie ihm bieten, iſt aber gegen alle freundlich, gut und leutſelig.“ 

„Er macht nicht den Eindruck eines abnormen Menſchen, ſondern ein- 
fach den der Spitze der Geſcheitheit.“ 

Im übrigen teilt Lenbach mit, daß Bismarck für Bilder, die von ihm 
gemacht wurden, nicht die geringſte Teilnahme übrig hatte. „Wäre er nie 
gemalt, modelliert oder photographiert worden, ſo würde er in dieſer Hinſicht 
nicht das geringſte Bedürfnis empfinden. In dieſer Beziehung war Moltke 
ſein vollſtändiges Gegenteil.“ 

Ein wahres Glück, daß Lenbach ſo unaufdringlich mit den Augen, dem 
Geifte und dem Herzen den Riefen zu betrachten wußte und fpäteren Zeiten 
ſo wenigſtens wahrhaft treue Bildniſſe des Herrlichen erhalten blieben. 


22 


Neue Bücher und Bilder 743 


Neue Bücher und Bilder 


72 

CF in großartiges Prachtwerk veröffentlicht der Kunſtverlag von Franz 
4 © JB Hanfſtaengl in München. Nachdem die Neuaufnahmen beendigt 
— ſid, beginnt jetzt in vierzehn Lieferungen zu je ſechs Blatt zum 
Subſkriptionspreiſe von je 50 Mark die „Gemäldegalerie des Prado 
in Madrid“ zu erſcheinen. Es werden hier alſo 84 Photogravüren (62: 79 cm 
Blattgröße) die Hauptwerke dieſes herrlichen Muſeums vereinigen. Velasquez 
beherrſcht natürlich die Sammlung. Von dieſem großartigſten „Hofmaler“ 
aller Zeiten hat Philipp IV. ja eine ſonſt von der ganzen Welt nicht wieder 
aufzubringende Maſſe von Werken vereinigt. Neben ihm tritt Tizian beſon⸗ 
ders hervor, dann Raffael, Murillo und Goya; auch Dürer iſt gut vertreten. 
Dieſes herrliche Werk wird ja natürlich nur ganz wenigen zugänglich ſein. 
Wir gewöhnlichen Sterblichen wollen es dankbar begrüßen, daß 560 Werke 
des Pradomuſeums von Hanfſtaengl dann auch in die Sammlung ſeiner 
Galeriepublikationen aufgenommen worden find, fo daß fie alfo hier in den be- 
kannten guten Pigmentdrucken für eine Mark das Blatt zu haben ſind. Da 
wird mancher Kunſtfreund gern die Gelegenheit benutzen, ſeine Schätze mit 
Hilfe dieſer ausgezeichneten Aufnahmen zu bereichern. 

Vielen Beifall haben mit Recht ſodann die farbigen Aquarelldrucke 
Hanfſtaengls gefunden, von denen jetzt dreißig zum Preiſe von je 4 Mark er- 
ſchienen find. Ich habe ſchon im letzten Jahrgange empfehlend auf dieſe aus- 
gezeichneten farbigen Wiedergaben hingewieſen. Auch jetzt liegen mir wieder 
ſechs Blätter vor, die alle vortrefflich reproduziert ſind, während ich mich nicht für 
alle Bilder an ſich erwärmen kann. So hebe ich nur drei der Blätter hervor. 
„Der lachende Kavalier“ von Franz Hals zeigt vielleicht am deutlichſten die 
hervorragende Arbeit dieſer Reproduktionstechnik. Wie die vom Maler mit 
echt holländiſcher Peinlichkeit dargeſtellten Spitzen und die Stickerei auf dem 
Wams hier in der Wiedergabe herausgekommen find, iſt ſchlechthin meiſter ⸗ 
haft. Hermann Kaulbachs „Madonna“ wäre mir noch viel lieber, wenn der 
Heiligenſchein fehlte. Die Erhöhung jeder Mutter mit ihrem Kinde zur Madonna 
iſt ein ſeeliſcher Vorgang, den ein tiefes Empfinden gern mitmacht. Die rea- 
liſtiſche Darſtellung der Mutter Jeſu kann, wie Ahdes Bilder zeigen, tief er. 
greifen. Aber Ahde hat auch in glücklichſter Weiſe den Heiligenſchein als 
Lichtwirkung benutzt, beziehungsweiſe ihn aus natürlichen Lichtquellen entſtehen 
laſſen. Die Vermengung dagegen von rein ſakraler Darftellung mit realer 
Auffaſſung hinterläßt für mein Gefühl immer einen inneren Widerſpruch. 
Voll echten Behagens endlich iſt das Bild „Bekränzt mit Laub den liebevollen 
Becher“ von H. G. Jentſch. Sie wußten zu leben in der Biedermeierzeit. 
Solche Hausmuſik im Spiel zu dreien, die nicht mehr ganz vollen Becher 
daneben, war ein köſtlicher Beſitz, den uns wieder zu eigen zu machen wir uns 
alle Mühe geben ſollten. 

Den künſtleriſchen Farbendruck in echt volkstümlicher Weiſe ausgenutzt 
zu haben, iſt das Verdienſt des Verlages E. A. Seemann, Leipzig. Nimmt 
man ſeine verſchiedenen Illuſtrationswerke zuſammen, ſo beſitzen wir heute ein 
im Grunde ausreichendes farbiges Bildermaterial für die Geſchichte der älteren 
und der zeitgenöſſiſchen Malerei. Die Seemannſchen Farbendrucke ſind ja 
allgemein bekannt. Was mit dem Vierfarbendruck zu erreichen iſt, iſt hier 
gegeben. Ein beſonderer Vorzug dieſer Veröffentlichung iſt die Art, wie die 


744 Neue Bücher und Bilder 


Anleitung, in ein Bild hineinzuſehen, neben das Bild tritt. Dieſes ſelbſt tritt 
ungeſtört von allem Beiwerk, leicht auf eine in der Farbe möglichſt ruhig ge- 
haltene Pappe geheftet, vor uns. Auf einem Blatte für ſich ſpricht dann 
irgend ein Fachmann über den Künſtler und das Bild. So iſt für jedes ge- 
ſorgt; für das völlig ſelbſtändige Sich -einſehen und für die Belehrung. Daß 
Seemann dann in den neueren Verlagswerken ihr Erſcheinen in Lieferungen 
immer dazu ausnutzt, wertvolle Aufſätze allgemein kunſtgeſchichtlicher oder kunſt 
theoretiſcher Art beizulegen, verdient um ſo höhere Anerkennung, als dieſe Werke 
an ſich ſehr billig ſind. Zur Zeit der Vollendung nahe iſt das Lieferungswerk 
„Die Galerien Europas“, das in 25 Heften 200 farbige Wiedergaben der Haupt- 
werke unſerer älteren Malerei vorführt. Hier koſtet jede Lieferung 3 Mark, 
das einzelne farbige Blatt kommt alſo noch nicht auf 40 Pfg. zu ſtehen. 

| Es iſt doch von ganz befonderem Reize, dieſe Werke, die einem jeden 
aus Photographien oder aus den autotypiſchen Wiedergaben in Büchern be- 
kannt ſind, nun in ihrer farbigen Pracht kennen zu lernen. In vielen Fällen 
hat die Möglichkeit der farbigen Wiedergabe auch dazu geführt, daß ſonſt 
ſelten reproduzierte Werke dargeſtellt ſind, eben ſolche, die in der einfarbigen 
Wiedergabe zu wenig von ihren Werten enthüllen. Es wäre müßig, hier ein- 
zelne Bilder aufzuzählen. Für den, der die Muſeen Europas kennen gelernt 
hat, iſt hier ein prachtvolles Erinnerungswerk, für den anderen ein Erſatz ge⸗ 
ſchaffen, ſoweit das überhaupt möglich iſt. Nur nebenbei ſei bemerkt, daß viele 
dieſer Bilder auch gerahmt ſehr gut ausſehen, und jedenfalls ſchon, weil es 
ſich durchweg um Wertvolles handelt, als Wandſchmuck unſerer Häuſer eine 
verdienſtvolle Aufgabe erfüllen können. St. 


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Peter Cornelius' „Gunlöd“ 


Von 


Dr. Karl Storck 


II. 
5. Die Dichtung 


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Sq Ven Operngedicht, das Cornelius auf der Grundlage dieſes Mythos 
PAAR geidhaffen hat, iſt in der geſamten Opernliteratur hinſichtlich der 
RES Schönheit der Sprache, der Fülle dichteriſcher Werte außer Wagners 
Opernbüchern nichts an die Seite zu ſtellen. Cornelius hat dem Mythos keine 
Gewalt angetan, nicht daran gedacht, die Geſchehniſſe fo mit ſymboliſcher Be⸗ 
deutung zu belaſten, bis Perſonen und Handlung ſchließlich nur noch ge- 
dankenhafte Allegorien wurden. Es ſind lebensvolle, mit ſtarkem, echtem 
Empfinden erfüllte Geſtalten, die vor uns hintreten; ihre Schickſale ſind, 
wenngleich über irdiſche Maßſtäbe hinauswachſend in die Welt des Wunder- 
baren, doch logiſch aus den Charakteren entwickelt; die Symbolik ergibt ſich 
als Weſensgehalt eines wahrhaften, nicht gekünſtelten Geſchehens. „Du wirſt 
Dich freuen,“ ſchreibt er der Braut, „zu ſehen, wie ich die Klippe überwunden 
habe, nicht zu viel Sagentechnik in den Ausdruck zu bringen, ſondern alles 
faſt unvermittelt ans Gefühl anklingen zu laſſen, wenn einmal die erſten 
Vorausſetzungen: Kwaſir — Göttermet — verſtanden ſind.“ Dieſe Symbolik 
tritt bei der Aufführung klarer hervor als beim Leſen. Cornelius war ein 
Schauſpielerkind und es floß echtes Theaterblut in ſeinen Adern. Seine 
Theatralik — im guten Sinne des Wortes — liegt allerdings nicht in der 
Behandlung des Geſchehens, ſondern in der ſinnlichen Anſchauung des ſzeniſchen 
Bildes. Auch in dieſer Einſtellung zur Bühne zeigt ſich ſeine eigenartige for⸗ 
male Kultur, die doch wohl auch mit dem ſtarken romaniſchen Einſchlag zu- 
ſammenhängt, der dem rheiniſchen Leben ſeine eigenartige Formenſchönheit 
verleiht. Angeſichts des Bühnenbildes prägt ſich dem Sinne lebhaft ein, wie 
es ſich hier um einen Elementarkampf zwiſchen Licht und Finſternis handelt. 
Aber den Menſchen, der dem Lichte Treue hält, kann die Finſternis nicht 
dauernd Macht gewinnen. Aber andererſeits bedarf es auch dieſer Treue des 
Menſchen, es liegt gewiſſermaßen in ſeiner Hand, ob die guten oder die böſen 


746 Storck: Peter Cornelius ,Sunl5d° 


Mächte die Weltgewalt erlangen: denn es ift das Menſchenkind Gunldd, 
die einzige Menſchengeſtalt zwiſchen Götter ⸗ und Naturmächten, das den An⸗ 
ſterblichkeit verleihenden Trank hütet und ihn allein ſpenden kann. Dieſer letzte 
Gedanke hätte in der Dichtung etwas ſchärfer betont werden müſſen. Er iſt 
in ihr enthalten und geht aus dem ganzen Geſchehen hervor — da es ſonſt 
ja Suttung oder Odin ein leichtes wäre, ſich in den Beſitz des Trankes zu 
ſetzen, wenn nicht eben Gunlöd ihn freiwillig ſpenden müßte — aber er tritt 
nicht klar genug hervor. Wenige Worte würden genügen, hier eine Ver. 
deutlichung zu ſchaffen, die zur raſchen Erfaſſung des ſymboliſchen Ge⸗ 
halts beim Zuhörer weſentlich beitragen und damit die geiſtige Schlagkraft 
es Werkes erheblich erhöhen würde. Doch wenden wir uns der Dichtung 
elber zu. 

Die Szene ſtellt Suttungs Höhle in der Tiefe des Huitbergs dar; 
im Hintergrunde ſteigt eine in den Felſen gehauene Treppe hoch, hoch hinauf 
zur Erde. Ihr Licht erhält die Höhle von einem mächtigen Karfunkelſtein; in 
den Wänden glühen Adern edeln Geſteins. Gunlöd iſt allein. Traurig 
denkt ſie der Zeit, da ſie in der Eltern Hut auf Erden an Sternen und Blumen, 
Wald und Wogen und am blauen Himmelsgewölbe ſich freuen durfte. In 
wilder Sturmesnacht hat Suttung ihre Eltern erſchlagen, ſie ſelber geraubt 
und in die Tiefe des Berges entführt. In dunkler Einſamkeit verbrachte hier 
die Maid traurige Tage, bis einſt Kwaſir, der wandernde Wane, in des Rieſen 
Behauſung kam und dem lauſchenden Mädchen Kunde gab von Erde und 
Himmel, von Menſchen und Göttern. Doch zu übler Tat hatte der Rieſe den 
Wanen in die Tiefe zu Gaſt geladen. Suttung wußte von Kwaſirs Weisheit 
und Kraft; ſein Blut wollte er genießen, um des einzigen Macht ſich ſelber 
zu eigen zu machen; ſo ſchlug er Kwaſir mit tödlicher Wunde. Verzweifelt 
über dieſe neue Gewalttat wollte Gunlöd den Tod ſuchen. Da ermahnte 
Kwaſir fie zu leben und vertraute ihr ſterbend die Runen an, die allein die 
Wunderwirkung auszulöſen imſtande find des Metes, den Suttung aus feinem 
Blute zu bereiten ſich anſchickt: 


„Ströme, mein Blut, aus der Todes wunde, 
Funkle, du Welle, jauchze, mein Herz. 
Weine nur, Mädchen, miſche nur Tränen, 
Balfam der Liebe, dem Trank des Geſangs. 
Anverſiegbar ſchufen ihn Wanen, 

Ewig hat ihn die Wala genannt. 

Blut des Sanges iſt Gottbegeiſterung, 
Kuß der Liebe, Sieg in der Schlacht, 
Wonne in Weh, erlöſende Schönheit, 
Lenzesblüte und Heimatluft, 
Traumeswehen, Reigen der Freude, 
Heldenehre, Frauenpreis 

O d in allein darfſt die Schale du reichen, 
Odin allein weiß die Runen des Mets, 
Odins Liebe wird Gunlöd lohnen, 

Hüte den Trank und die Seele dem Gott.“ 


Dieſe Vorgeſchichte erfahren wir bei dem Totenopfer, das Gunldd in 
Gemeinſamkeit mit den Bergflämmchen Kwaſtr darbringt; deſſen Leichnam 
hat Suttung in den Abgrund geſchleudert, der die Höhle von der gegenüber 
liegenden Felswand trennt. Sie beendet die Feier, als fie Suttungs Heran · 
nahen merkt. Ihn begleitet ſein Knecht Bölwerk. Dieſen Winter lang dient 


Storck: Peter Cornelius’ „Bunidd“ 747 


er ſchon dem Riefen. Während dieſer die reiche Jagdbeute ausbreitet, bietet 
der Knecht Gunlöd einen Zweig dar: ; 

„Rofen nennen's die Menſchen, 

Zierde die Zwerge, 

Nieſen nennen es Tand. 

Bei Hel heißt es Waldesblut, 

Wonne ſagen die Wanen, 

Lieb' iſt es Göttern genannt.“ 


Hört Gunlöd nur die letzte Bezeichnung? In Eiferſucht ergrimmt Suttung 
und entreißt Gunlöd den Zweig, den ſie um die Stirne ſich winden will. Heftig 
brauſt Bölwerk auf; er heiſcht den bedungenen Lohn: einen Trunk von dem 
teuren Met. Wütend verlacht ihn der Niefe; mit dem Tode will er ihn 
lohnen. Während Suttung in die Nebengrotte eilt, Waffen zu holen, verbirgt 
Gunlöd den Knecht in einer andern Kammer; dem Rieſen täuſcht ſie vor, 
Bölwerk fet entflohen. Höhnend fteht der Niefe von der Verfolgung ab und 
wendet ſich an Gunlöd. Sie ſoll dem Knechte nicht nachtrauern, denn ſie ſei 
zur Herrin beſtimmt. And er ſchmückt ſie mit koſtbarem Geſchmeid und reichem 
Gewand. Suttungs Gattin ſoll Gunlöd werden; dann will er mit ſeinen Sippen 
Kwaſirs Blut trinken: „weis, allmächtich von dem Trank, ſtürzen wir die Götter 
nieder, herrſchen wir ſtatt Frigg’ und Odin, Suttung, Gunlöd hoch in Wal. 
hall“. Er eilt von dannen, feine Sippen aus Nähe und Ferne zum Hochzeits- 
fefte zu laden. — Als Gunlöd nun mit Bölwerk allein iſt, geſteht fie ihm ihre 
Liebe. Aber fie will dem Gotte Treue halten. 

„Eh' ich im Taumel ans Herz dir ſinke, 
Treuloſe Magd, die ſich Odin geweiht, 

Eh' ich den Trank, den ich Odin gehütet, 
Suttung, dem Anhold, reiche zum Mahle, 
Nehm' ich vom Schrein die köſtliche Schale, 
Opfre mein Leben den Schickſalsmächten, 
Stürze hinab in Kwaſtrs Gruft.“ 

Sie ſtürzt dem Abgrund zu, da hält Bölwerk ſie zurück. Die Geiſter 
der Tiefe, die ſie emporrufen, ſollen ſein Gebot hören. Die flackernde Hülle 
ſollen ſie abwerfen, in trauten Geſtalten ſich zeigen und ihn mit ſeinem wahren 
Namen nennen. „Ob ſte die Götterſchale ihm reicht, ob ſie ihn grüßt mit dem 
Kuß ihres Mundes!“ And aus dem Geiſtermunde tönt es ihr entgegen, was 
der Traum ihr ankündete, was ihr jetzt ſelber der hehre Jüngling im Knechts - 
gewand dadurch beſtätigt, daß er Kwaſirs Runengefang anſtimmt: Bölwerk 
iſt Odin. In lautem Jubel bietet dem Geliebten ſie den Trank. 

Der zweite Akt zeigt uns Odin und Gunlöd in trauter Zwieſprache. 
Sft es die Schönheit der Maid, iſt es der Trank, der ihn fo verjüngt und 
ſtark macht? Aber ſchon naht ihrem Bunde das Ende. Gunlöd ſelbſt muß 
ihm feinen Namen zurufen und mit dem Namen ihn an feine Pflicht ge- 
mahnen. Denn dem Göttergeſchlecht ſollte er dieſen Trank gewinnen, um ſie, 
die Hehren und Reinen, die Lichtweſen zu ſtärken in ihrem Kampfe gegen die 
Finſternis. So muß er Gunlöd verlaſſen. Odin muß fort auf die Bahnen 
des Weltgeſchicks, muß Gunlöd, die er in der Gewalt des Riefen laſſen muß, 
ihrem böſen Geſchick anheimſtellen. „Denn herber als Tod zehrt Scheiden dein 
Herz.“ Die Trennung aber droht, da Walhall nur Helden das Tor erſchließt. 
Doch Gunlöd ſcheut nicht den Tod. Iſt es denn nicht ein Heldentod, wenn 
fle für ihre Treue zu Odin ftirbt? So reicht fie dem Gotte die Schale, er 


748 Storck: Peter Cornelius’ „Sumlöd“ 


fol den Trank mit fortnehmen, fie will hier ihres Geſchickes harren. Noch 
kündet ihr Odin die Zauberrune Alfadur, mit der ſie die Lichtalfen ſich zur 
Hilfe rufen kann, dann verſenkt er ſie in tröſtenden Schlaf und ſteigt zur 
Höhe. Kaum iſt er nach oben entſchwunden, als Suttung mit ſeinen Sippen 
hinabkommt. Eine Reihe phantaſtiſcher Geſtalten, denn fie find nichts anderes 
als die Naturgewalten: die Winde, die Kratergeſellen, das Erdbeben und 
andere. Mit einem dröhnenden Ständchen wecken ſie die träumende Braut. 
In wildem Triumph verlangt Suttung den gewaltigen Anſterblichkeitstrank. 
„Wollt ihr ewig keuchend fröhnen nimmerſatter Herrſchergier? Nieder mit 
den neid'ſchen Göttern, fort die Feſſel, die uns band! Auf zum Sturme, auf 
nach Walhall! Nieder mit der Göttermacht!“ Ruhig weigert Gunldd den 
Trank zu reichen. Da will Suttung ihn ſelber holen und findet zu ſeinem 
Entſetzen den Schrein leer. Furchtbar höhnen ihn die Sippen. Er aber ver- 
langt von Gunlöd Rechenſchaft. Jubelnd ſchleudert fie es ihm entgegen: 

„Mein Gott Odin, mein Gott hat geſiegt. 

Sink in dein Nichts zurück, dräuender Wurm 

Odin ſelbſt kam in Suttungs Haus, 

Odin hat dir als Knecht gedient. 

Odin hab' ich die Schale gebiitet, 

Odin haft du die Braut geſchmückt! 

Odin umfängt mich, du quälender Traum 


Töte nun Gunldd, du weckſt fie zum Heile, 
Lächelnd erwacht fle an Odins Bruſt.“ 


In furchtbarſter Wut wollen die Sippen ſich auf ſie ſtürzen, um ihr 
Blut zu genießen, wo das des Gottes ihnen verſagt bleibt. Doch Suttung 
ſchreckt fie zurück: „Mein die Halle! mein dieſes Weib! Mich traf der Frevel. 
mein tft die Rachel Zurück, der Hela weih' ich fie” Mit dieſen Worten 
wirft er feinen ſchwarzen Mantel über die finfende Gunldd. 

In ſchauriger Felſeneinſamkeit ſehen wir Suttung, der die in ſchwarzes 
Gewand gehüllte Gunlöd als Opfer zu Hel geleitet. Im Hintergrunde, wo 
es aus dunklem Schlunde ſchaurig aufleuchtet, iſt der Eingang ins Schatten · 
reich. Mit graufigem Hohn überſchüttet Suttung fein Bräutchen, der er den 
Brautkranz zu winden geht aus giftigen Blumen. Doch Gunlöd wank nicht 
in ihrem Vertrauen. Gierig ſchlürft ſie den tödlichen Saft der Tollkirſchen, 
die Suttung ihr reicht: 

„Dem Helden Heil, der vor dir mich ſchützt, 
Dem Gotte Gruß, der von dir mich heilt! 
So ſchlürf ich mir Tod, ſo weckt mich der Gott.“ 

And während Suttung Hel ruft und ihr bleiches Geſinde, ſich das Opfer 
zu holen, jubelt die ſterbende Gunlöd die Lichtalfen herbei. Vor ihrem Glanze 
muß die Finſternis weichen, fie tragen die tote Gunlöd empor nach Walhall, 
wo Odin die Treue zu ewigem Leben erweckt. 


6. Die Muſik 


So abgeſchloſſen die Dichtung in ſich ſelber iſt, ſie gehört doch zu den 
wenigen Operndramen, die in jeder Zeile für Mufik gedacht, die eben aus echt 
muſikaliſchem Geiſte herausgefloſſen ſind. Dieſes muſikaliſche Denken iſt von 
beſtimmendem Einfluß auf die Formgebung geworden. Aber das Versmaß 
ſchreibt Cornelius ſelbſt: „In meinem Text iſt beides vermieden: der deutſche 


Storck: Peter Cornelius’ „Bunldd“ 749 


(romantiſche) Reim und der Wagnerſche Stabreim — der ja doch nur einen 
neuen Zwang bildet und ſchuld daran iſt, daß man wieder rein dichteriſch ge- 
wiſſe Kunſtſtückchen ſucht, die dann in der Mufik völlig verloren gehen; im 
Gegenteil die Mufik hindern, da ſie für ſich eine formelle Mufik bilden, die 
mit der eigentlichen geſungnen einen Widerſpruch bildet, wie ſo manchmal 
im Triſtan und in den Nibelungen.“ (Mitte November 1866.) Dieſe Be⸗ 
merkung verdient jedenfalls auch für die Wagnerſchen Werke Erwägung; für 
Cornelius war dieſe Erkenntnis um ſo wertvoller, als ſie ihm nicht nur ſeine 
dichteriſche Eigenart ſchützte, ſondern auch ſeiner muſikaliſchen Natur entgegen- 
kam. Dieſe Natur hatte ihre Stärke in der Lyrik. Die Lyrik aber drängt 
in der Muſik zum geſchloſſenen Gebilde, wie ja das Lied ihr höchſter Ausdruck 
tft. Es iſt dann die Aufgabe des Dramatikers, muſikaliſch eine ſolche Ver⸗ 
bindung zwiſchen den einzelnen geſchloſſenen Sätzen herzuſtellen, daß dieſe die 
Höhepunkte abgeben: dichteriſch und muſikaliſch. Gerade in dieſer Hinſicht iſt 
„Gunlöd“ ein Meiſterwerk und läßt uns doppelt bedauern, daß dem Künſtler 
nicht ein längeres Schaffen beſchieden geweſen iſt, weil ſicher ſeine muſikaliſche 
Sprache noch ſelbſtändiger geworden wäre, ſich noch mehr von dem Vorbilde 
des Wagnerſchen Sprachgeſangs befreit hätte, als es hier bereits geſchehen 
iſt. Immerhin wahrt ſich auch jetzt ſchon „Gunlöd“ die eigenartige Stellung 
neben Wagners Dramen. Ganz zwanglos ergeben ſich die mehr geſchloſſenen 
Geſänge und Enſembleſätze aus der Handlung, ſo daß ſie nicht Wiederholungen 
des bereits im Dialog Geſagten ſind, wie in der älteren Nummernoper, aber 
doch andererſeits auch ohne Gewaltſamkeit aus dem Ganzen herausgeſchält 
werden können. Das wäre in muſikdramatiſcher Hinſicht nur dann eine Schwäche, 
wenn es dem Komponiſten nicht gelungen wäre, die mehr ſprachgeſangliche 
Mufik zwiſchen den Hauptmuſikſtücken fo zu geftalten, daß fie in ihrem thema 
tiſchen Material als Aberleitung oder Vorbereitung und Verbindung jener 
Höhepunkte wirkte. So ſchließen ſich doch die Stücke zu prächtiger Einheit 
zuſammen. 

Es ift zuzugeben, daß die Art, wie Cornelius feine „Gunlöd“ muſikaliſch 
anlegte, nur für ein Drama zutrifft, in dem die lyriſchen Ruhepunkte, das 
Ausleben einzelner Stimmungen von entſcheidender Bedeutung ſind, daß eine 
derartige Arbeitsweiſe nicht einem Mufifdrama entſprechen würde, das eine 
ſtete innere dramatiſche Weiterentwicklung bringt. Hier iſt eben der Wagneriſche 
Sprachgeſang in ſeiner ſymphoniſchen Entwicklung des muſikaliſchen Stoffes 
die ideale Form. Aber es zeugt auch hier nur wieder für die gewiß viel be⸗ 
ſcheidenere, aber doch durchaus eigenwillige und eigenartige Perſönlichkeit von 
Peter Cornelius, daß er fühlte, die eigene Art erlaube ihm nicht, mit Wagner 
bis ans Ende mitzugehen. Er hatte ſchon beim „Cid“ am 6. Januar 1865 
bekannt: „Ich bin ſtolz auf meine Form: bei dem gefchloffenften dramatiſchen 
Gang dennoch alle Rede und Gegenrede zu feſten Muſikſtücken zu geſtalten, 
wobei durchgehend die wirkende Melodie in den Mund des Sängers gelegt 
iſt — nicht die uferloſe Allmelodie aus Triſtan, die ich nimmermehr nachahmen 
werde.“ Und am 13. Juni, als er ſich, allerdings doch wohl mehr aus Geld. 
ſorgen, von der erſten Triſtanaufführung in München fernhielt, ſchreibt er an 
ſeine Braut: „Aber wie ſollte ich auch nach München zurück und dort auf den 
Triſtan ſchwören? Ich, der ich fühle, daß ich in meinem Cid“ ſchon zu weit 
gegangen, zu wenig Melodie in den Mund der Sänger gelegt. Ich fühl's, 
ich kann nicht mehr mit vollem Herzen Wagnerianer ſein.“ Es gibt viele 


750 Storck: Peter Cornelius’ ,Gunldd° 


Leute, die Cornelius dieſe perſönliche Kraft übelgenommen haben. Auch 
Richard Wagner war zuweilen über den Freund erboft, wurde wohl gar 
vorübergehend irre an ihm. Aber im Grunde ſeines Herzens wird der Meiſter 
jene Meinung bewahrt haben, der er am 9. Februar 1862 von Biebrich aus 
an ſeine Frau, Minna, Ausdruck gegeben hat. „Ich habe mich in Wien erſt ſo 
allmählich ihm genähert, ſchließlich aber gefunden, daß Peter Cornelius in 
jedem Betracht ein wirklich höchſt ſeltner, ungewöhnlicher Menſch iſt, ſowohl 
was Charakter als geiſtige Fähigkeiten betrifft. Es iſt wirklich der einzige 
von allen Jüngeren (wiewohl er auch ſchon hoch in die Dreißig ift), dem 
ich wirkliche Genialität zuſprechen kann. Seine Mäßigkeit, Beſcheiden 
heit, Genügſamkeit und große ſittliche Würde ſtellen ihn aber ganz einzig hin. 
Ich könnte nur wünſchen, dieſer liebenswürdige Menſch möchte auf immer zu 
uns ziehen: doch verfolgt er feinen eigenen ſelbſtändigen Lebens- 
plan, den ich reſpektiere.“ 

Wenn Richard Wagner, der als durchaus neuartiger ſchöpferiſcher 
Künſtler das Recht hatte, feine künſtleriſchen Anſchauungen für die allein rich 
tigen zu halten, die andere Artung ſeines Freundes „reſpektierte“, ſo haben 
wir Empfangende alles Recht, über ſie glücklich zu ſein. Gewiß hat Cornelius 
ſein Eigenartigſtes im „Barbier von Bagdad“ gegeben, in dem ſeine Per⸗ 
ſönlichkeit eben noch viel unberührter von allen zeitgenöſſiſchen Kunſtſtrömungen 
erſcheint. Aber es iſt für die Entwicklung mindeſtens ebenſo wichtig, daß aus 
„Gunlöd“ hervorgeht, daß auch im großen muſikaliſchen Drama, ja ſogar im 
Mufikdrama mythiſchen Inhalts neben Richard Wagner weite Entwicklungs 
möglichkeiten beſtehen. Darin liegt die große muſikgeſchichtliche Bedeutung 
der Gunldd: denn daß der Organismus dieſes Werkes durchaus lebens fähig 
und lebenskräftig iſt, dürfte niemand beſtreiten; ebenſowenig, daß das Mufit- 
drama noch ruhig eine Weiterentwicklung auf dieſer Linie zum Lyriſchen ohne 
Schaden verträgt. Freilich nur dann, wenn eine Dichtung entfteht, die dieſe 
Geſtaltung erheiſcht. Darin beruht aber gerade der Kern der Wagnerſchen 
Forderung für das Mufitdrama: Einheit von Dichtung und Muſik, daß die 
Formgebung erwächſt aus der dichteriſchen — nicht im Sinne von Wort: 
dichtung, fondern von innerer Schöpfung eines chaotiſchen Materials — Ge: 
ſtaltung des Inhalts. 

Wir haben bei der Erzählung der Entſtehung der Dichtung zu „Gunlöd“ 
bereits erfahren, wie Cornelius ſich nur ſchwer die Muße zu ſeiner Schöpfung 
gewinnen konnte. Das mag noch dazu beigetragen haben, daß die Geſtaltung 
des Stoffes jeweils von den lyriſchen Brennpunkten ausging, ſo daß ſich dann 
immer dieſe in ſich geſchloſſenen Situationen zuerſt ihm geſtalteten, und er 
nachher nur die Verbindung herzuſtellen brauchte. So kann man aus der Did- 
tung ſelber viel deutlicher, als es unſere Nacherzählung des Inhalts ahnen läßt, 
die einzelnen Gedichte herausſchälen. Man erhält dann eine große Reihe von Ge · 
ſängen: den Runengefang Gunlöds, das blütenreiche Waldroſenterzett Gunlöd 
Odin Suttungs, den Metdreigefang, den Werbegeſang Suttungs, die Braut · 
werbung Odins, Gunlöds Verzweiflung, Odins Gottesbekenntnis und die Hul- 
digung der Geiſter mit ihrem prachtvollen dichteriſchen Schwung. Dann im 
zweiten Akt das holde Liebeszwiegeſpräch zwiſchen Odin und Gunlöd, die Rune 
des Alfenrufs, Odins Schlummerlied, das Ständchen der Sippen und Suttungs 
Aufruf, ſowie den grandioſen Schluß des Aktes, den Nacheruf der Sippen und 
Suttungs Arteilsſpruch. And im dritten Aufzug: Suttungs Spottgeſang und 


Storck: Peter Cornelius’ ,Gunl5d° 751 


fein Lied an den Widerhall, Gunlöds Schickſalsfrage, Suttungs Giftblumen- 
lied, Gunlöds und Suttungs Runenruf, den Kampf des Helgeſinde mit den 
Lichtalfen, Walhall, Odins Wecklied und Gunlöds Erwachen. 

Dieſe Art der Dichtung war auch außerordentlich günſtig für den 
Muſiker Peter Cornelius. Es verſteht ſich das ja eigentlich von felbft, da 
Dichter und Muſiker in ſeiner Perſönlichkeit ſo eng miteinander verbunden 
waren. Aber ſelbſt bei der äußeren Lebensgeſtaltung des ſo wenig vom Glück 
begünſtigten Mannes war gerade dieſe Anlage am günſtigſten. Denn Cornelius 
konnte ſich nicht die Möglichkeit ſchaffen, in geſchloſſener Arbeit ſein Werk zu 
vollenden, ſelbſt wenn ſeine künſtleriſche Natur eine ſolche Arbeit hergegeben 
hätte. Er mußte ſich zwiſchen Anterricht und ſchwerer Brotarbeit für ſeine 
junge, raſch anwachſende Familie die Stunden zu eigenem künſtleriſchen Schaffen 
geradezu ſtehlen. And da war es natürlich, daß es ihm viel leichter wurde, 
ſich in die Stimmung eines in ſich geſchloſſenen kleineren Kunſtgebildes völlig 
hineinzuleben, als eine weitumſpannende große ſymphoniſche Entwicklung über 
lange Zeit hinweg in ſich lebendig zu erhalten. Nur dank dieſer Anlage des 
Werkes iſt es noch ſoweit gefördert worden, daß es ſorgſam nachhelfenden 
Händen nunmehr gelungen iſt, ein Ganzes daraus herzuſtellen. Denn ſelber 
ift Peter Cornelius nicht über Skizzen und die Ausarbeitung einzelner Teile 
hinausgekommen. Am 14. September 1869 hatte er mit der Kompoſition be ; 
gonnen, die er in den Jahren 1870 — 1872 und 1874 Stück um Stück erweiterte. 
Als Cornelius am 26. Oktober 1874 ſeine fröhlichen Augen für immer ſchloß, 
lag in dieſen Skizzen der erſte Aufzug bis auf wenige Bindeglieder vollkommen 
da. Es iſt ſehr lehrreich zu erfahren, welche Bindeglieder hier noch eingeſchoben 
werden mußten. Da iſt zunächſt ein kleiner Orcheſterſatz, während die von 
Gunlöd hervorgerufenen Bergflammen die Maid umgeben. Dann ihre An- 
ſprache an dieſe Bergflammen. Sodann ein kurzes Orcheſterzwiſchenſpiel, wäh · 
rend deſſen Gunlöd die Schale mit dem Mete holt und enthüllt, und ihr Geſang 
bis zum Beginn des Runengefanged. Danach mußte wieder dieſe Szene ge- 
ſchloſſen werden, um die Verbindung zwiſchen der Beendigung der Opfer. 
zeremonie Gunlöds und dem Herannahen von Odin und Bölwerk herzuſtellen. 
Alſo lauter Stücke, die für den inneren Gehalt unweſentlich ſind, die lediglich 
verbinden. Vom zweiten Aufzug hatte Cornelius das Liebesgeſpräch zwiſchen 
Odin und Gunlöd bis zum Höhepunkt geſchaffen, außerdem die Chöre der 
Sippen; aus dem dritten Aufzug das Hochzeitslied und Giftblumenlied Suttungs. 

Dieſe Skizzen übergab die Witwe des Meiſters einem jungen Freunde 
des Verſtorbenen, Karl Hoffbauer (1850 — 1889), der fie zu einer Partitur 
zuſammenzuſchweißen verſuchte. Im Jahre 1879 war er mit dieſer Arbeit zu 
Ende. Weimar, wo auch die anderen Werke Cornelius’ ihre erſte Auffüh⸗ 
rung erlebt hatten, nahm ſich dann nach Hoffbauers Tode dieſer Partitur an. 
Eduard Laſſen inftrumentierte die Arbeit des jungen Muſikers um, ohne noch- 
mals in die Originalſkizzen von Peter Cornelius Einſicht zu nehmen, und diefe 
Hoffbauer⸗Laſſenſche „Gunlöd“ erlebte dann am 6. Mai 1891 ihre erſte Auffüh⸗ 
rung in Weimar. Ich habe ein Jahr darauf als junger Student in Straßburg 
die dortige Aufführung dieſer „Gunlöd“ gehört und gewann einen bis heute 
nachhaltenden Eindruck, unter dem ich immer wieder die Aufführung dieſes 
Werkes von unſeren erſten Bühnen gefordert habe. Meine Einſchätzung der 
„Gunlöd“ wuchs aber außerordentlich, als ich 1894 die von Max Haſſe beſorgte 
Ausgabe der Gunlödfragmente in ihrer Originalgeſtalt in die Hand bekam. 


752 Wagner · Bildniſſe 


And nun endlich hat das Werk die Geſtalt erhalten, in der es zu einer der 
ſchönſten Schöpfungen unſerer geſamten muſtikdramatiſchen Literatur geworden 
ift, durch die hingebende Arbeit Waldemar v. Baußnerns. Es ſcheint mir 
für dieſe Bearbeitung kein Wort des Lobes zu hoch gegriffen. Was Cornelius 
ſelber vollendet hat, iſt fo gut wie völlig unangetaſtet geblieben. Und Baußnern 
hat ganz aus dem Geiſte, aus der Arbeitsweiſe von Peter Cornelius heraus 
ſich ſelbſt das Geſetz gegeben: „Geſchloſſene Sätze und Szenen in ihrem drama⸗ 
tiſchen Gehalt ſo vorzubereiten, daß der Moment, in dem Cornelius ſelbſt zum 
erſtenmal mit ſeinem Thema einſetzt, als natürlicher Höhepunkt erkannt werden 
muß.“ Auch bei den von ihm hinzukomponierten Teilen war er ſtets „beftrebt, 
das ſymphoniſche Gebilde aus den von Cornelius gefchaffenen Motiven er · 
ſtehen zu laſſen“. 

Es liegt nicht im Rahmen dieſes Aufſatzes, eine muſikaliſche Analyſe 
des Werkes zu geben, noch weniger, die Art der Ergänzung in jeder Einzel ⸗ 
heit nachzuprüfen. Ich kann mir denken, daß hier Meinungsverſchiedenheiten 
entſtehen können. Im ganzen wird jeder zugeſtehen müſſen, daß dieſe Er ⸗ 
gänzung kongenial iſt. In dieſer neuen Geſtalt hat das Werk ſich auch bereits 
erprobt. Schon iſt es an einigen Bühnen aufgeführt worden, und bei einer 
Konzertaufführung in Düffeldorf hat die Muſik durch ihre Schönheit begeiſterten 
Jubel geweckt. Wären ſich unſere Bühnen bewußt, daß ſie Pflichten haben, 
ſo brauchten wir auf die Aufführung dieſes Werkes nicht lange zu warten. 
Seine Aufführung iſt eine Pflicht gegenüber dem Schöpfer, dem von unſeren 
Bühnen, unſerem Volke zu Lebzeiten ſo ſchlecht mitgeſpielt worden iſt, wie 
kaum einem anderen; iſt eine Pflicht gegen das Werk ſelbſt, das ſo reich an 
muſikaliſcher und dichteriſcher Schönheit iſt, fo edel in der Gefinnung, fo ur- 
deutſch in ſeinem Gehalt, wie kaum eine der nach Wagner entſtandenen Opern. 
Sie iſt aber vor allen Dingen auch eine Pflicht gegen das deutſche Volk, dem 
die beſten Arbeiten ſeiner eigenen Söhne nicht immer wieder vorenthalten 
werden dürfen zugunſten einer minderwertigen, ungeſunden oder doch wenigſtens 
weſensfremden Einfuhr aus dem Auslande. 


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Wagner ⸗Bildniſſe 


(oe in ſehr hübſches Büchlein ift in Bruckmanns Verlagsanſtalt zu München 
( J exſchienen. Es bringt — reichlich gefördert durch Haus Wahnfried 
— mm Bayreuth — 34 photographiſche Bildniſſe Richard Wagners aus 
den Jahren 1860 — 1882. Gerade bei der ungemeinen Lebhaftigkeit des Mienen 
ſpiels Wagners, dem lebhaften Wechſel feines Geſichtsausdrucks iſt eine fo 
lange Reihe von Bildniſſen geeignet, eine gute Vorſtellung von feiner Er- 
ſcheinung zu vermitteln. So bildet das ſchmucke Büchlein 3 Mk.) eine wert · 
volle Ergänzung für jede große und kleine Wagnerbücherei. 


Verantwortlicher und Chefredakteur: Jeannot Emil Frhr. v. Srotchuß, Gad Oepndaufer .. W. 
Literatur, Bildende Kunſt und Mufik: Dr. Karl Storck, Berlin V., Landeputerfiraße 3 
Druck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart. 


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X. Jahrg. | een 1908 Heft 12 


Tolſtois Weltanſchauung 


Von 


Heinrich Meyer-Benfey 


Inter allen unſern Zeitgenoſſen zieht wohl niemand in ſolchem 
Z Grade die Aufmerkſamkeit der ganzen gebildeten Welt auf ſich, 
wie der greiſe Prophet in dem entlegenen Jasnaja Poljana, 
S der am 9. September (28. Auguſt a. St.) 80 Jahre alt wird. 
Aber ſo allgemein das Intereſſe iſt, ſo ſehr ſchwankt das Arteil über ihn. 
Noch immer beſteht Tolſtoi für die meiſten aus zwei Perſonen, die man 
ſchwer vereinigen kann und zu denen man eine verſchiedene Stellung ein— 
nimmt. Aber den Dichter Tolſtoi iff man einig: daß er einer der wunder: 
barſten Künſtler aller Zeiten, vielleicht der größte unter den lebenden iſt. 
Aber zu derſelben Zeit, wo fein Dichterruhm über die Grenzen Ruß: 
lands hinausdrang und die Welt eroberte — im Anfang der 80er Jahre 
des vorigen Jahrhunderts —, da war bei ihm jene überraſchende Wand— 
lung eingetreten, die für ſo viele ein Stein des Anſtoßes geworden iſt. 
Der Künſtler war zum Denker, zum Grübler geworden, und die Weiter- 
entwicklung ſeiner Gedanken führte ihn allmählich dazu, über ſein ganzes 
bisheriges Leben und faſt über ſein geſamtes Dichten ſelbſt das Verdam— 
mungsurteil auszuſprechen. Hier ſcheiden ſich die Meinungen: während er 
den einen als Heiliger und Prophet einer neuen Sittlichkeit, Führer zu einer 
glücklicheren Zukunft erſcheint, iſt er für die andern ein Schwärmer, ein 
Asket, ein halber Narr. Jene ſind beſonders in Rußland vertreten; hier 
Der Türmer X. 12 49 


754 Meper-Venfey: Tolſtois Weltanſchaumg 


iſt ſeine Lehre nicht nur mit Begeiſterung aufgenommen, ſondern ſie iſt eine 
praktiſche Lebensmacht von weitreichender Bedeutung, und er ſelbſt ein Vor: 
bild, dem man nachlebt, ein Berater und Netter in allerlei Gewiſſensndten. 
Außerhalb Rußlands hat Tolſtoi gewiß nur wenig wirkliche Jünger, die 
auch ihr Leben nach ſeiner Lehre geſtalten; doch fehlt es auch bei uns nicht 
an Stimmen, die hierin ſeine eigentliche Bedeutung erblicken, den Prediger 
über den Künſtler ſtellen und von der allgemeinen Annahme ſeiner Moral 
das Heil der Menſchheit erwarten. Sehr viel größer iſt allerdings die Zahl 
derer, die für dieſe nur Achſelzucken oder entſchiedene Ablehnung haben. 
Sie werfen ihr unklaren Myſtizismus, finſtern Peſſimismus, kulturfeind⸗ 
liches Asketentum vor, oder ſie ſtellen ſie als ein an ſich zwar ſchönes und 
wünſchenswertes, aber unerreichbares und praktiſch unverwendbares Ideal 
hin. Beide Parteien aber ſtimmen darin überein, daß ſie den Künſtler 
und den Prediger voneinander trennen und zwiſchen beiden eine tiefe Kluft 
ſehen. Sie können ſich dafür auf Tolſtoi ſelbſt berufen, der ebenfalls in 
ſeinem Leben einen vollſtändigen Bruch empfindet und von dem neu ge⸗ 
wonnenen Standpunkte aus über den alten Adam vor der Bekehrung den 
Stab bricht. Dennoch dürfen wir nicht hoffen, zum Verſtändnis des heu⸗ 
tigen Tolſtoi zu gelangen, wenn es uns nicht glückt, ſein Werden aus dem 
alten, dem Künſtler, aufzuzeigen, und die beiden ſcheinbar fo entgegen ⸗ 
geſetzten Charaktere in einer zuſammenhängenden Entwicklung, in der Ein 
heit der Perſönlichkeit zu vereinigen. 

Wenn wir von Tolſtois Weltanſchauung reden, fo empfinden wir, 
daß das Wort für feine Gedankenwelt eigentlich nicht recht paßt. Welt: 
anſchauung im vollſten, eigentlichſten Sinne und im größten Stil, das geben 
ſeine Dichtungen: in ihnen lebt die große, unermeßliche Welt des ruſſiſchen 
Reiches in ihrer bunten Fülle, in einem Bilde von einziger Wahrheit, 
Reinheit und Innigkeit. Dagegen ſeine theoretiſchen Schriften wollen nichts 
weniger als etwa ein Gedanfenbild, eine beſondere Auffaſſung der Welt 
mitteilen; ſie dienen keinem Erkenntnisintereſſe und haben es überhaupt nicht 
mit der Welt zu tun. Sie behandeln alle nur die eine Frage: Wozu 
lebe ich? Was hat mein Leben für einen Sinn? Wie ſoll ich leben? 
Was muß ich tun, damit ich lebe, d. h. damit mein Leben einen Sinn 
habe? Dieſe Grundfrage der Sittlichkeit iſt der eigentliche Gehalt all dieſer 
Schriften. 

Wir können deutlich verfolgen, wie dieſe Eine Frage Tolſtoi durch 
ſein ganzes Leben verfolgt und immer ausſchließlicher von ihm Beſitz ge⸗ 
nommen hat. Denn da bei ihm, wie bei Goethe, die meiſten feiner Dich⸗ 
tungen zugleich Selbſtdarſtellungen und Beichten ſind, ſo liegt die Geſchichte 
ſeiner Seele klar ausgebreitet vor uns. Die Helden ſeiner Erſtlingswerle, 
Irtenjew und Nechljudow, von denen der letztgenannte uns in Tolſtois 
Roman „Auferſtehung“ wieder begegnet, ebenſo wie die Geſtalten feiner 
andern großen Epen, Pierre Beſuchoj und Ljowin, ſie alle ſind unter 
durchſichtiger Maske der Dichter ſelbſt und geben Zeugnis von ſeiner innern 
Entwicklung. Wir ſehen einen Menſchen, der von klein auf mit ernſtem 


Meyer Benfey: Tolftots Weltanſchauung 755 


Bemühen nach dem Guten ſtrebt und, da er mit einem ungewöhnlichen 
Talent zur Selbſtbeobachtung und pſychologiſchen Analyſe ausgeſtattet iſt, 
ſtreng mit ſich ins Gericht geht; wir ſehen, wie ihn die Welt, die Am⸗ 
gebung, die Kameraden, die herrſchenden Anſchauungen von dem rechten 
Wege, deſſen er in ſeinem dunkeln Drange ſich wohl bewußt iſt, abwendig 
machen und auf die breite Straße, die alle wandeln, herüberziehen; wie er 
ſich nun von der allgemeinen Strömung treiben läßt, an allen Genüſſen, 
Laſtern, Eitelkeiten, der geſchäftigen Müßigkeit der ſogen. großen Welt teil- 
nimmt, während die mahnende Stimme in ſeinem Innern ihn doch niemals 
Rube finden läßt; wie er verſucht, ſich aufzuraffen, fic aus dem ſinnloſen 
Treiben in ein anderes, gutes, vernunftgemäßes Leben zu retten, aber dieſe 
Verſuche am Widerſtande der Welt ſcheitern; wie er ſich wieder in den 
Strudel der Welt ſtürzt, ruhelos von einem zum andern getrieben wird und 
überall vergebens einen Halt ſucht, bis er endlich in einem glücklichen Fami⸗ 
lienleben und in der Betätigung ſchlichter Herzensgüte, helfender Menſchen⸗ 
liebe Frieden findet. 

Wir ſehen alſo — und ſchon der flüchtigſte Blick in die früheren 
Werke des Dichters zeigt es —, daß die große Kriſis ſeines Lebens durch⸗ 
aus nicht unvorbereitet, ſondern von Anfang an in ihm angelegt war, daß 
ſchon in dem Knaben der ſpätere Tolſtoi drin ſteckte. Wir werden ſie daher 
nicht mehr überraſchend finden, uns eher darüber wundern, daß ſie erſt ſo 
ſpät zum Ausbruche kam. Doch auch dafür laſſen fic) die Gründe auf⸗ 
zeigen. Zunächſt war es die äußere Welt, die ihn von dem innern Zwie⸗ 
ſpalt erlöſte. Das Untertauchen im Leben und Treiben der Welt, die Ent⸗ 
deckung ihrer unend lichen Mannigfaltigkeit, die Teilnahme an ihren Be⸗ 
ſchäftigungen und Genüſſen, der beſtändige Wechſel der äußeren Lage, alles 
das nahm ſeinen Geiſt gefangen und lenkte ihn ab von dem Brüten über 
dem Problem des eigenen Lebens. And er hat dieſe Welt nach allen Rich- 
tungen durchmeſſen: Rußland und Weſteuropa, Stadt und Land, die gute 
Geſellſchaft und jeunesse dorée der Hauptſtadt, wie die ungebildeten Bauern 
und die wilden Bergvölker des Kaukaſus; Krieg und Frieden, öffentliches 
und häusliches Leben, Beamte und Soldaten, alles kennt er aus eigener 
Erfahrung, aus unmittelbarer lebendiger Berührung. And wir verſtehen, 
wie dies für ihn nötig war. Man kann ſich nicht über die Welt erheben, 
ſie weder überwinden noch geſtalten, ohne ſie zu kennen. Die Wanderjahre 
von 1847 bis 1862 ſind Tolſtois eigentliche Lehrjahre geweſen. Weder das 
gewaltige Weltbild feiner monumentalen Dichtungen noch die tief einſchnei⸗ 
dende Geſellſchaftskritik ſeiner ethiſchen Schriften wäre denkbar ohne die um⸗ 
faſſende Welt⸗ und Menſchenkenntnis, die er in dieſen Sturm: und Drang: 
jahren erworben hat. 

Aber in all dem Treiben blieb die Frage in feinem Bewußtſein be⸗ 
ſtändig wach und ließ ſich nicht beſchwichtigen, auch nicht, als er ſeine Kraft 
ganz dem Dienſte ſeiner Mitmenſchen, ſeinen geliebten Bauern widmete, 
als Begründer und Leiter der originellen freien Schulen für die Bauern⸗ 
kinder auf Jasnaja Poljana und als Friedensvermittler in den Streitigkeiten 


756 Meyer-Benfey: Tolftois Weltanſchauung 


zwiſchen den Gutsbeſitzern und den Bauern bei der Landverteilung nach Auf⸗ 
hebung der Leibeigenſchaft. In dieſer Bedrängnis, wo er ſchon der Verzweif⸗ 
lung nahe war, rettete ihn die Liebe einer edlen Frau, die nun faſt ein halbes 
Jahrhundert die treue Genoſſin ſeines Lebens, die unermüdliche Helferin 
bei allen feinen Arbeiten und Unternehmungen, die ſorgfältige Hüterin feiner 
Werke iſt. Vielleicht möchten manche aus Stellen ſeiner ſpätern Schriften 
und aus dem Umftande, daß die Gräfin Tolſtoi die jetzigen Anſchauungen 
und Gewohnheiten ihres Mannes nicht teilt, auf ein nicht glückliches oder 
geſtörtes Familienleben ſchließen; aber dieſer Schluß wäre durchaus irrig. 
Was ſie ihm geweſen iſt, dafür legt eine Tatſache beredtes Zeugnis ab: 
die beiden gewaltigen Romane, die in den Jahren 1864 —78 entſtanden 
ſind. Daß ſie dem unſtet Schweifenden eine Heimat und bleibende Stätte 
geſchaffen, daß ſie ihm äußere Ruhe und innere Befriedigung gegeben, ihm 
die zu grandioſem Schaffen nötige Sammlung und Konzentration ermög⸗ 
licht hat, daß ſie für 15 Jahre ſeinen fauſtiſchen Drang beſänftigt und die 
nagende Pein der ungelöſten Frage zum Schweigen gebracht hat, das iſt 
ihr ſchönſter, unvergänglicher Ruhmestitel. 

Aber während dieſer ganzen Zeit ſchläft auf dem Grunde ſeiner Seele 
die alte böſe Frage, und kaum iſt Anna Karenina vollendet, ſo erwacht ſie 
mit erneuter Wut. Und er, der Mann, dem alle Güter und Ehren der 
Welt in vollſtem Maße zu Füßen liegen, der vornehme Graf, reich, ge⸗ 
ſund, berühmt, der erſte Dichter ſeines Landes, umgeben von einer innig 
geliebten und liebenden Frau und von einer ſtattlichen Schar lieber, wohl⸗ 
geratener Kinder, er fühlt ſich tief unglücklich, und ſein Leben erſcheint ihm 
ohne Sinn und Zweck. Er hat uns die Geſchichte dieſer ſchlimmen Zeit 
und der nun folgenden Bekehrung eingehend erzählt in feinen „Vekennt⸗ 
niſſen“. Er wendet ſich an die Wiſſenſchaft, aber fie redet nur von der 
Erklärung des Lebens aus mechaniſchen Urfachen; von Sinn und Zweck des 
Lebens weiß ſie nichts zu ſagen. Er fragt die Weiſen aller Zeiten, und 
ſie kennen kein anderes Ziel des Lebens als den Tod. Er ſieht um ſich 
herum, und das Leben aller Menſchen feiner Umgebung erfcheint ihm ebenſo 
leer und ſinnlos wie ſein eigenes. Schon will die Verzweiflung ihn über⸗ 
mannen, und oft denkt er daran, ſich zu töten. Da fällt ſein Blick nach 
unten, und hier ſieht er eine Schicht von Menſchen, die, anſcheinend im 
größten Elende, doch glücklicher find als er, weil fie über den Sinn ihres 
Lebens nicht im Zweifel ſind, weil ſie den Glauben haben, der ihnen dieſe 
Frage beantwortet, und weil ſie ohne Beſinnen dieſer Antwort gemäß leben. 
And er ſieht ein, daß nur die Religion dem Leben einen Sinn geben kann. 
Mit heiligem Eifer ſucht er nun ſeinen Kinderglauben, den er früh zum 
alten Eiſen geworfen hatte, und die Gemeinſchaft mit der orthodoxen Kirche 
wieder zu gewinnen, und ſcheut dabei keine Mühe und keine Demütigung. 
Aber mit dem ehrlichſten, heißeſten Bemühen will es auf die Dauer nicht 
gehen. Seine Vernunft ſträubt ſich gegen den blinden Köhlerglauben und 
den bunten Aberglauben des niedern Volkes und ſucht in den endloſen Jere 
monien des offiziellen Kirchentums vergebens nach einem Sinne. Er ſiebt 


Meyer-Benfey: Tolſtois Weltanſchauung 757 


die Vielheit der Bekenntniſſe, die ſich gegenſeitig verdammen und verfolgen, 
und ſchließt daraus, daß keins im Rechte iſt. And ſchlimmer als das trifft 
ihn die Einſicht in die Anwahrheit des Kirchenchriſtentums, in den ſchneiden⸗ 
den Widerſpruch zwiſchen ſeinen Worten und Werken, da es in ſeiner Lehre 
das Gute, die Nächſtenliebe, die Barmherzigkeit, das Verzeihen predigt und 
daneben das Böſe, die Gewalt und Grauſamkeit, den Mord im Kriege und 
im Gericht nicht nur duldet und anerkennt, ſondern ſogar ſegnet und fördert. 
Wiederum verſank er in Zweifel und ſchwere Kämpfe. Da wandte er ſich 
zu den urſprünglichen Quellen des chriſtlichen Glaubens; er verwandte Jahre 
darauf, um die heiligen Schriften im Urtert zu ſtudieren und ihren Sinn 
zu erforſchen, und hier fand er endlich, was er brauchte. In den Evan⸗ 
gelien, in der Lehre Chriſti, zumal in der Bergpredigt, da ſprudelte der 
friſche Quell lebendigen Waſſers, nach dem ſeine Seele dürſtete, und der 
in der offiziellen Lehre ſeiner Kirche ſo trübe und ſchlammig geworden, 
unter allerlei fremden Beimengungen erſtickt war. Hier fand er den Grund, 
auf dem er feſt und ſicher ſtehen konnte, die Löſung aller Fragen und Zweifel, 
die ihn quälten, den Frieden für feine Seele. 

Welches iſt die Antwort, die ihm hier zuteil wurde? Der Sinn 
unſers Lebens iſt nicht unſer individuelles, ſinnliches Wohl, denn wir wiſſen 
nicht, was dazu dient, und es ſteht nicht bei uns, es zu erreichen; und wenn 
wir es erreichen, ſo macht es uns doch nicht glücklich, und über dem allem 
ſchwebt das drohende Geſpenſt des Todes, der es vernichtet. Ebenſowenig 
das Wohl einer Geſamtheit, zu der wir gehören, der Familie, des Staates, 
ſelbſt der Menſchheit; auch das iſt nur ein erweiterter Egoismus. Sondern 
wir leben, damit wir den Willen Gottes erfüllen, der uns ins Leben ge⸗ 
ſandt hat, oder, mit andern Worten, damit wir das Reich Gottes begrün⸗ 
den helfen. Dieſes Reich aber iſt das Reich der Liebe, der Eintracht und 
des Friedens. Wir erfüllen daher den Willen Gottes, wenn wir in allen 
Beziehungen unter den Menſchen die Liebe zu verwirklichen ſuchen, und 
das können wir nur, indem wir in uns ſelbſt die Liebe mehren und zur 
höchſten Vollkommenheit ausbilden. 

Wenn ſomit die Liebe die Richtſchnur all unſrer Handlungen fein 
ſoll, ſo müſſen wir unbedingt alles vermeiden, was böſe und lieblos iſt. 
Wir dürfen unter keinen Umftänden andern Anrecht oder Schmerz zufügen. 
Auch dann nicht, wenn ſie ſelbſt uns unrecht tun. Als der eigentliche Kern 
der Lehre Chriſti erſcheint Tolſtoi daher der Satz: „Ich ſage euch, daß ihr 
nicht widerſtreben follt dem Abel“ (Matth. 5, 39), die Mahnung, nicht Böſes 
mit Böſem zu vergelten, ſondern das Böſe geduldig zu ertragen und zu 
verzeihen, ja auch den Feind zu lieben und Gutes zu tun denen, die uns 
beleidigen und verfolgen. Das Böfe kann man nicht mit Böſem bekämpfen, 
wie man Feuer nicht mit Feuer löſchen kann. Denn alle Vergeltung, Rache 
oder Strafe hebt das einmal begangene Anrecht nicht auf, ſondern fügt nur 
noch ein neues Unrecht hinzu; indem fie aber auf der andern Seite wiederum 
Erbitterung und den Wunſch nach Rache hervorruft, vermehrt fie das Un- 
recht ins Anendliche. Sondern, wenn wir das Böſe vermindern und feine 


758 Meper-Benfep: Tolftots Weltanſchauung 


Herrſchaft brechen wollen, fo müſſen wir vor allem uns felbft vor allem 
Böſen hüten und es durch Liebe zu überwinden fuchen. 

Nur eine notwendige Folge dieſes Satzes, ſeine Anwendung auf das 
öffentliche Leben iſt die bekannte ablehnende Haltung Tolſtois gegenüber 
dem Staate und ſeinen Funktionen. Wenn der Mord das abſcheulichſte 
Verbrechen iſt, dann gibt es auch für den Maſſenmord im Kriege und für 
die Hinrichtung eines Verbrechers keine Entſchuldigung; dann iſt auch der 
Militarismus überhaupt zu verdammen und ebenſo der Patriotismus, der 
den Haß unter den Völkern ſchürt und ſie zum Kriege aufſtachelt. Wenn 
es unter allen Amſtänden verboten iſt, andern Menſchen ein Leid zuzufügen 
und Gewalt gegen ſie zu gebrauchen, wenn man Beleidigungen verzeihen 
ſoll, dann ſind auch alle Gerichte zu verwerfen und alle Regierungen, denn 
fie beruhen auf Gewalt und tun VBöſes denen, die ſich ihnen nicht fügen. 

Alle Beſſerung und alles Heil kann nur von innen kommen, aus der 
liebevollen Geſinnung. Nur indem wir ſelbſt beſſer werden und in uns 
die Liebe mehren, können wir zum Fortſchritte in der äußeren Welt bei⸗ 
tragen. Das ſetzt voraus, daß in uns eine Kraft zum Guten vorhanden 
iſt, daß es in unſrer Macht ſteht, der göttlichen Vernunft, der Stimme des 
Gewiſſens in uns zu folgen. Der Glaube an die Freiheit des Menſchen 
iſt daher auch für Tolſtoi die Grundlage aller Sittlichkeit. Daher verur⸗ 
teilt er alle Lehren, die dieſen Glauben untergraben, ſowohl die Lehre der 
Kirche, daß der Menſch nicht aus eigner Kraft zum Glauben gelangen und 
das Gute tun könne, ſondern dazu äußerer Unterftiigung, der Mitwirkung 
der Kirche, der Vermittlung der Sakramente uſw. bedürfe, wie auch den 
Materialismus der Ungläubigen, der alles menſchliche Handeln als abfolut 
unfrei und durch natürliche Kauſalität beſtimmt und bedingt erkennt und 
den Menſchen dadurch von der ſittlichen Verpflichtung und Verantwortlich⸗ 
keit entlaſtet glaubt. 

Aber dieſe Freiheit iſt zugleich eine Aufgabe; wir müſſen fie uns 
erkämpfen und in beſtändigem Kampfe behaupten. Denn ſie wird gefährdet 
von den Begierden in uns, dem ſelbſtiſchen Streben nach dem individuellen 
Wohle. Hierin liegt eine vierfache Gefahr. Zunächſt irren wir damit auf 
einen falſchen Weg ab und verlieren das einzige Ziel aus den Augen, das 
die Vernunft uns aufſtellt. Ferner geraten wir unter die Herrſchaft dieſer 
Begierden, verlieren unſre Freiheit und werden unfähig, den Willen Gottes 
zu erfüllen. Drittens entziehen wir alles, was nur unſerm perſönlichen 
Wohlſein dient und über die unerläßliche Notdurft hinausgeht, andern 
Menſchen und machen uns dadurch mitſchuldig an ihrer elenden Lage. 
Endlich bringt uns dies egoiſtiſche Streben in Gegenſatz zu andern Men 
ſchen, vermindert die Einigkeit und erzeugt den Haß und alle Laſter, die 
daraus entſpringen. Im alſo die Herrſchaft des Böſen zu brechen, müſſen 
wir vor allem das Böſe in uns felbft, d. h. unſre ſelbſtiſchen Begierden 
überwinden. Alle ſittliche Beſſerung muß mit der Selbſtzucht beginnen. 

Daher iſt Enthaltſamkeit und Mäßigkeit in allen Dingen notwendig, 
ſowohl an ſich wie als Schule zur Selbſtbeherrſchung. Zunächſt Mäßigkeit 


—— —M— — — . — — 
— — — — —— ein, 


Meyer-Benfey: Tolftois Weltanſchauung 759 


u im Effen. Appige Ernährung macht den Eifer ſelbſt träge und ungeſchickt 


und ſchadet den andern, indem ſie ihnen unnötige Arbeit auferlegt, ihnen 
das tägliche Brot verkürzt und ihren Neid erregt. Bekanntlich iſt Tolſtoi 
ſpeziell Antialkoholiker und Vegetarianer. Auch Tolſtois Verurteilung der 
ſinnlichen Liebe wird von hier aus verſtändlich: ſie iſt ein egoiſtiſches Ver⸗ 
langen, das uns im Dienſte Gottes hindert, und fie iſt ein Unrecht gegen 
den andern Teil, indem ſie ihn zum Mittel des Genuſſes herabwürdigt. 
Aber auch die komplizierten und verfeinerten Begierden des Kulturmenſchen, 
aller Reichtum und Luxus, werden in gleicher Weiſe verworfen. Der Reich⸗ 
tum der wenigen iſt eine Beraubung derer, die ihn durch ihre Arbeit ge⸗ 
ſchaffen haben, und eine Urfache des Elends der vielen. Tolſtoi geht noch 
weiter und verwirft überhaupt den Begriff des Eigentums, der ganz auf 
dem unchriſtlichen Streben nach dem Wohle der eignen Perſon beruht und 
die Hauptwurzel alles Haſſes und Streites unter den Menſchen, aller Laſter 
und Verbrechen iſt. Wo die allgemeine gegenſeitige Liebe herrſcht, da kann 
es lein Sondereigentum geben. Alles gehört allen in gleicher Weile an, 
und jeder hat Anſpruch auf das Notwendige. Im übrigen ſoll man nicht 
danach ſtreben, möglichſt viel zu beſitzen und zu nehmen, ſondern möglichſt 
viel zu geben und andern zu nützen. Unter den Begriff des Luxus fällt 
für Tolſtoi aber auch faſt alles, was wir Bildung nennen, beſonders Kunſt 
und Wiſſenſchaft. Auch ſie gelten als unnütz, da ſie nicht zur Vermehrung 
der Liebe beitragen, ſondern nur dem Genuß und Behagen der einzelnen 
dienen, und im allgemeinen als ſchädlich, da ſie nur ein Vorrecht weniger 
ſind, dieſe daher von der Maſſe des Volkes abſondern und für die letztere 
wiederum unnötige Arbeit und Entbehrungen zur Folge haben. Nur die 
Kunſt, die allen zugänglich iſt und der Erweckung religiöſer Gefühle oder 
der Vereinigung der Menſchen dient, findet Gnade vor Tolſtois Augen. 

Wenn dieſe Lehren von allen Menſchen befolgt werden, dann wird 
damit das Glück für alle erreicht ſein. Denn die meiſten Leiden der Men⸗ 
ſchen, eigentlich alle außer Krankheit und Tod, ſtammen nur aus dem Egois⸗ 
mus, dem Haß, der Gewalt und was ſich darauf gründet. Aber auch der 
einzelne, der ſo lebt inmitten einer Welt, die ſich von der Selbſtſucht re⸗ 
gieren läß, auch er wird fo am glücklichſten fein. Zwar iſt er auch der 
Schwäche der menſchlichen Natur unterworfen, von Krankheiten und Tod 
bedroht, auch er wird von der Bosheit der Menſchen und der Grauſam⸗ 
keit der auf Gewalt gegründeten geſellſchaftlichen Ordnung zu leiden haben, 
vielleicht wird er gar wegen ſeines Lebens Anfeindung und Verfolgung 
dulden; aber allen dieſen Leiden würde er auch nicht entgehen, wenn er nach 
der Weiſe der Welt lebte. In allen Leiden aber wird in ſeiner Seele 
Friede ſein und die freudige Gewißheit, daß er den Willen Gottes erfüllt 
und daß ſein Leben einen Sinn hat und ſo, wie es iſt, gut iſt. Aber ſelbſt 
für ſein äußeres Wohl wird er am beſten ſorgen: denn, wer alle liebt und 
allen dient, hat auch von den andern am wenigſten Anfeindung zu erfahren, 
und wer ſich bemüht, ſich ſo nützlich zu machen wie möglich, wird am ſicherſten 
überall ſeine Nahrung und Notdurft finden. 


760 Meper-Benfey: Tolftois Weltanſchaunng 


Da dieſes Leben der dienenden Menſchenliebe, wie es Tolſtoi ver- 
kündet, ſich alſo in jeder Beziehung als das beſte erweiſt, ſo iſt es gar nicht 
anders möglich, als daß alle Menſchen es annehmen, ſobald ſie zur Ein⸗ 
ſicht gekommen ſind. Woran liegt es, daß ſie nicht ſchon längſt ſeine Vor⸗ 
züge begriffen haben? Zwei Umftände find es, die der Erkenntnis der 
Wahrheit im Wege ſtehen. Einmal die herrſchenden Vorurteile und die 
falſchen Lehren, die von der Kirche einerſeits, von der materialiſtiſchen 
Wiſſenſchaft andrerſeits verbreitet, von allen, die aus der Aufrechterhaltung 
der beſtehenden Ordnung Vorteil ziehen, mit Gewalt in Geltung erhalten, 
den Menſchen ſchon in früheſter Jugend eingeprägt und von ihnen unbe⸗ 
ſehen als unzweifelhafte Wahrheit angenommen werden. Sodann die haſtende 
Vielgeſchäftigkeit und Genußſucht unſrer Zeit, die den einzelnen niemals zur 
Ruhe und Einkehr in ſich ſelbſt kommen läßt, und all die Zerſtreuungen 
und Betäubungen, die die Menſchen erfunden haben, um ſich die Wahr⸗ 
heit zu verbergen, die Stimme des Gewiſſens und das Gefühl der Sinn⸗ 
loſigkeit ihres Daſeins zu erſticken. Solche Mittel ſind der Alkohol, das 
Rauchen, aber auch das geräuſchvolle, raſtloſe Getriebe des Geſellſchafts⸗ 
lebens überhaupt und oft ſelbſt die Arbeit. Tolſtoi hält dieſe nicht für 
eine unbedingte, unter allen Amſtänden empfehlenswerte Tugend. Sie iſt 
dem Menſchen vielmehr ein natürliches Bedürfnis, deſſen Befriedigung zu 
ſeinem Leben notwendig, daher ſelbſtverſtändlich und kein Verdienſt iſt. Sie 
iſt aber geradezu ſchädlich, wenn wir fie benutzen, um die warnende Stimme 
im Innern zu übertäuben und der Frage auszuweichen, wie wir leben und 
was wir tun ſollen. 

Der Weg zu einem ſittlich guten Leben hat alſo folgende Stufen: 
Zuerſt müſſen wir auf unſerm bisherigen Wege Halt machen, uns beſinnen 
und den rechten Weg ſuchen. Dann müſſen wir uns vom falſchen Wege 
abkehren, indem wir unſre Begierden überwinden, das Ich⸗Leben und Ich⸗ 
Streben aufgeben, damit wir niemand unrecht tun und frei und ganz dem 
Willen Gottes und dem Dienſt unſrer Brüder leben können. Selbſtbeſin⸗ 
nung, Selbſtbeherrſchung, Selbſtentäußerung, endlich eine nutzbringende 
Tätigkeit im Dienſte der Geſamtheit. Als ſolche gilt in erſter Linie die 
Arbeit der Hand, deren Nutzen unzweifelhaft iſt: Landbau, Bereitung von 
Nahrung, Kleidung und Wohnung; ſie verdient daher den Vorzug vor 
den feinern Kulturarbeiten, die in den meiſten Fällen unnütz, wo nicht gar 
ſchädlich ſind. Damit iſt das, was wir können und ſollen, erſchöpft. Nur 
unſre Geſinnung und deren Betätigung im Leben ſteht bei uns; deren 
Folgen in der äußeren Welt dagegen können wir weder überſehen noch 
lenken, ſie müſſen wir Gott anheimſtellen. Er allein kennt das Ziel, dem 
wir zuſtreben; wir wiſſen nur die Richtung, in der wir zu gehen haben. 


* * 
* 


Zunächſt wird man dieſe Lehren ſchwerlich unklar, verworren oder 
myſtiſch nennen können: was Tolſtoi will, iſt faſt immer äußerſt klar und 
einfach; die Art, wie er es vorträgt, nicht minder; es klingt uns nur ſo 


Meyer-Benfey: Tolſtois Weltanſchauung 761 


ungewohnt und überraſchend, daß wir es zunächſt nicht glauben und durch⸗ 
aus etwas anderes hören wollen, als er ſagt. Auch einen Asketen kann 
man ihn nicht ſchelten; werktätige Nächſtenliebe hat nichts gemein mit Gelbit- 
quälerei, die doch auch aus einem ſelbſtiſchen Begehren entſpringt und nie⸗ 
mand nützt. Endlich iſt auch der Vorwurf eines finſtern, lebensfeindlichen 
Peſſimismus oder greiſenhafter Moroſität durchaus unberechtigt. Wer die 
Menſchen ſo ehrlich und herzlich liebt, wie könnte der verdroſſen oder gar 
lebens feindlich fein? Tatſächlich iſt auch die Stimmung des alten Tolſtoi 
genau die entgegengeſetzte, nämlich eine ruhige, ſichere Freudigkeit und eine 
friede- und vertrauensvolle Gelaſſenheit, — die Grundſtimmung jedes wahr⸗ 
haft religiöſen Menſchen. Wenn Tolſtoi jemals Peſſimiſt war, fo war 
er's in der Zeit vor feiner Amwandlung, zur Zeit, als ihm das Leben ſinn⸗ 
los ſchien, er ſich mit Selbſtmordgedanken ſchlug und Schopenhauer für 
den größten Denker feines Jahrhunderts erklärte; namentlich feine Jugend- 
dichtungen, die ſo eindringlich die Ohnmacht des Menſchen, ſein Leben zu 
geſtalten, das Scheitern der beſten Abſichten vor Augen führen, ſie mögen 
mit Recht dieſe Bezeichnung führen. Dagegen, welch ein freudiger, felſen⸗ 
feſter, ſiegesſichrer Glaube an die Macht des Guten ſpricht aus Werken 
wie „Die Macht der Finſternis“ und namentlich aus der „Auferſtehung“. 
Wie auch in dem verkommenſten Menſchen noch ein Fünkchen des gött⸗ 
lichen Geiſtes und damit eine Möglichkeit, ſich zu erheben und zu erneuern, 
verborgen iſt, wie in dem ernſten, aufrichtigen Streben nach dem Guten 
eine Kraft der Amwandlung für das eigne Selbſt und für andre liegt, das 
iſt vielleicht niemals machtvoller und überzeugender dargeſtellt. Und der 
gleiche Seelenzuſtand ſpiegelt ſich in den andern Schriften: der ruhige, 
nüchterne, rein fachliche Ton, das Fehlen aller Aufregung und Ungeduld, 
aller unmittelbaren Appelle an das Gemüt zeugt von einer befriedeten, ihrer 
Sache gewiſſen Seele. 

Aber freilich, es iſt vieles in dieſen Gedanken, was uns nicht nur un⸗ 
gewohnt, ſondern auch unannehmbar erſcheint, wogegen ſich unſer Gefühl 
ſträubt. Nun, es iſt nicht nötig, daß wir Tolſtoi in all und jedem folgen, 
und er ſelbſt würde am wenigſten verlangen, daß wir irgend einem Satze, 
der uns nicht ganz einleuchtet, auf ſeine Autorität hin zuſtimmen. Aber 
das ſind wir ihm und den aufgeworfenen Problemen wohl ſchuldig, daß 
wir ſeine Gedanken ernſthaft erwägen und darüber ſelbſt Klarheit zu ge⸗ 
winnen ſuchen. Auch wenn wir dann ſeine Auffaſſung ablehnen, werden 
wir dabei an Einſicht und Verſtändnis gewonnen haben: denn in ihm ſind 
dieſe wichtigſten aller Lebensfragen in einer Wucht und Anmittelbarkeit er- 
lebt und in einer Tiefe und Arſprünglichkeit durchdacht, wie ſelten in der 
Weltgeſchichte. And auch die Irrtümer eines Genies ſind allemal unendlich 
lehrreicher und fruchtbarer als alle richtigen Anſichten aller Durchſchnitts⸗ 
menſchen. Auch das ſei nicht überſehen: Tolſtoi gibt ſeine Lehre nicht als 
eine neue, ſelbſterfundene, ſondern als die wiederentdeckte und gereinigte 
Lehre Jeſu. Jedoch auch das ſoll nicht die Richtigkeit ſeiner Lehre be⸗ 
weiſen (auch nicht nach Tolſtois eigner Meinung), aber es ſollte doch uns, 


762 . Meyer-Benfey: Tolſtots Weltanſchaunng 


die wir uns Chriſten nennen, veranlaſſen, daß wir fie ernft nehmen, fie nicht 
mit naheliegenden Einwürfen und billigen Redensarten beifeite ſchieben und 
an ihnen vorbeigehen, als gingen fie uns nichts an. 

Ich will nun Tolſtoi weder widerlegen noch auch unterfuchen, wie 
weit er recht hat und worin nicht. Ich möchte nur einige Eigentümlichkeiten 
ſeiner Moral hervorheben, ſie aus den inneren Motiven erklären und da⸗ 
durch Anhaltspunkte für die Würdigung dieſer Lehre gewinnen. 

Zunächſt, ſehen wir, iſt dieſe Ethik durchaus religiös fundiert. Wir 
wiſſen, daß das keineswegs ſelbſtverſtändlich iſt, denn wir ſind ſeit Kant 
gewohnt, die Moral als eine Welt für ſich, unabhängig von der Religion, 
zu betrachten. Dieſer Meinung tritt Tolſtoi ausdrücklich entgegen („Re 
ligion und Moral“), und gerade der Vergleich mit einer rein philoſophiſch 
entwickelten Moral, wie der Kantiſchen, zeigt die Beſonderheit Tolſtois. 
Hier wird nicht die Tatſache des Gewiſſens auf ihre Vorausſetzungen ge⸗ 
prüft, wird die Moral nicht aus der Eigentümlichkeit des ſittlichen Arteils, 
dem Begriffe eines unbedingt verpflichtenden Sollens in dieſer ſo allſeitig 
bedingten Welt hergeleitet, ſondern ihr Fundament iſt der Wille Gottes. 
Aber was iſt dieſer Gott? Nicht irgend ein Weſen außer oder über uns, 
nicht ein Weltſchöpfer oder Weltrichter. Sondern wir kennen ihn nur in 
uns, als das Licht, das in uns leuchtet und unſern Weg erhellt, die Ber 
nunft, die uns innewohnt und unfer Leben leitet, die Stimme des Gewiſſens. 
Dieſes Göttliche in uns gehört aber nicht einem jeden beſonders an, ſondern 
es iſt dasſelbe in allen, die Eine, ungeteilte, allgemeine Vernunft. Sie iſt 
das allein wahrhaft Seiende in uns, während unfre individuelle Sonder: 
exiſtenz nur ein Trugbild iſt, das der Tod auflöſt; das wahre Leben iſt 
ewig und unendlich, es iſt ein grenzenloſer Ozean, aus dem wir kommen 
und in dem wir wieder verſinken, aus dem wir uns während dieſes kurzen 
Daſeins erheben und doch in ihm befangen bleiben wie eine Welle im 
Meere, in dem wir ſind und bleiben immerdar. Daher iſt es Verblendung, 
wenn wir unfer Weſen und den Zweck unſres Lebens in dieſe nichtige, ver 
gängliche Sonderexiſtenz ſetzen, anftatt in das große, ewige, gemeinſame 
Leben, das Gott iſt. Die Schranken unſres Einzeldaſeins, die uns von 
unſern Mitmenſchen trennen, find alſo zugleich das Ungöttliche in uns. In: 
dem wir ſie vernichten und in Liebe mit den andern Menſchen eins werden. 
nähern wir uns zugleich dem Urgrunde alles Seins und dem Vater aller, 
erfüllen wir den Willen Gottes und die Beſtimmung unſers Lebens. Die 
Liebe führt zu Gott. Die Liebe iſt Gott. So ergibt ſich aus der religiöſen 
Begründung der Inhalt dieſer Moral: die Liebe. 

Ein weiterer Zug erſcheint nunmehr ſelbſtverſtändlich: daß dieſe Moral 
für alle Menſchen gilt und keinen Anterſchied unter ihnen anerkennt. Sie 
wendet ſich nur an den Menſchen als ein Weſen, das an der göttlichen 
Vernunft teilhat, und iſt daher für alle unmittelbar und in gleicher Weiſe 
verbindlich. Ebenſowenig kennt fie natürlich einen Unterfchied bei den Den: 
{chen als Objekten der Sittlichkeit, Gegenſtänden der Liebe. Wir ſollen fie 
alle lieben, denn fie find alle unſre Brüder und Schweſtern, weil wir alle 


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Meyer-Benfey: Tolftois Weltanfhauung 763 


Kinder eines Vaters find. Was uns unterſcheidet, das betrifft nur die 
nichtige, ſinnliche Scheinexiſtenz. Das wahre Sein iſt in uns allen ein und 
dasſelbe, nämlich Gott ſelbſt. Daher kämpft Tolſtoi unermüdlich gegen 
alles, was die Menſchen trennt und unterſcheidet, die Standesunterſchiede, 
den Gegenſatz der verſchiedenen Völker, die Unterfchiede in Beſitz und Bil⸗ 
dung. — Dieſen Zug finden wir bei allen großen Ethikern wieder: bei Jeſus 
und Buddha wie bei Kant. Jede Ausnahmemoral, jede Standesmoral iſt 
ein Unding und liegt nicht jenſeits, ſondern diesſeits von gut und böſe. 

Dieſes moraliſche Geſetz gilt unbedingt und für alle Lebensverhält⸗ 
niſſe. Es iſt ein eifriger Gott, der keine fremden Götter neben ſich duldet. 
Dieſer Anſpruch folgt unmittelbar aus dem Begriff des Sittengeſetzes, das 
ohne ihn nicht zu denken iſt. Wenn nun nach Tolſtoi alle Formen unſers 
geſellſchaftlichen Lebens dieſer Forderung nicht genügen, wenn ſie nicht in 
Liebe gegründet ſind und Liebe wirken, ſondern das Gegenteil, ſo liegt darin 
eine vernichtende Kritik, die Beachtung verlangt; ſie zeigt mindeſtens, daß 
die heutigen Zuſtände nicht find, wie fie fein follten, und einer gründlichen 
Erneuerung bedürfen, wenn wir auch nicht ganz dieſelbe Folgerung ziehen 
wie Tolſtoi. 

And weiter: Nur die eigne Anſtrengung kann den Menſchen zum 
Heile führen. Keine äußere Macht, kein Gott, kein Engel, kein Heiliger, 
kein Prieſter, keine Kirche, kein Sakrament kann ihn erlöſen und von der 
Sünde freimachen, nur der göttliche Geiſt, der in ihm lebt und wirkt. Auch 
das iſt ein charakteriſtiſcher Zug, den wir überall finden, wo urſprüngliche 
Sittlichkeit ſpontan in einem Menſchen entſteht, und der ſtets vergeſſen oder 
verdunkelt wird, wenn dieſe Sittlichkeit zur konventionellen Formel erſtarrt 
iſt und nun als Tradition weitergegeben wird. Nur die Sittlichkeit, die 
ganz frei und von innen heraus aus den Tiefen der Seele wächſt, iſt wahre 
Sittlichkeit; alles Erzwungene, von außen Eingepflanzte und Angelernte iſt 
wertloſes Surrogat. Daher iſt Tolſtoi jede Proſelytenmacherei gründlich 
verhaßt. Nie verſucht er jemand zu bekehren, zu überreden. Auch die 
Nächſtſtehenden läßt er vollkommen frei gewähren. Es iſt bekannt, daß die 
Gräfin Tolſtoi mit ſeinen jetzigen Anſchauungen nicht einverſtanden iſt, ſeine 
Lebensweiſe nicht teilt und ſein privates und geiſtiges Eigentum, das er 
ſelbſt nicht anerkennt, zuſammenhält und verwaltet; daß auch die Kinder 
alle ihre eignen Wege gehen, daß nur die eine Tochter unbedingte An- 
hängerin des Vaters iſt, und ein Sohn eine Gegenſchrift gegen die Kreutzer 
ſonate verfaßt hat, ohne daß das einträchtige Zuſammenleben und das häus⸗ 
liche Glück dadurch getrübt würde. Gewiß ein herrlicher Beweis für die 
hohe, freie und reine Geſinnung Tolſtois. Aber auch in ſeinen Schriften 
und Briefen meidet er aufs ſtrengſte jeden Verſuch, zu überreden, das Ge⸗ 
fühl zu überrumpeln; ſtets ſucht er nur durch ruhige, ſachliche Darlegung 
und die unentrinnbare Kette ſeiner Logik den Verſtand zu überzeugen und 
die richtige Einſicht hervorzurufen. Ja, auch ſeine ganz einzige Erziehungs⸗ 
methode, wie er ſie bei ſeinen eignen Kindern und in den Bauernſchulen 
angewendet hat, beruht ganz auf dieſem Grundſatze: Kein Zwang, keine 


764 Mever-Benfey: Tolſtois Weltanſchauung 


Disziplin, keine Strafen. Die Kinder ſelbſt beſtimmen, was ſie lernen 
wollen, und haben in allem freien Willen. Aufgabe des Lehrers iſt es, ihnen 
die Luſt zum Lernen zu erregen und ihr Intereſſe zu feſſeln. Auch die 
Bildung und das Wiſſen follen nicht aufgezwungen, ſondern aus innerm 
Bedürfnis und freiwillig aufgenommen werden. 

Endlich: Tolſtoi lehnt es entſchieden ab, unſerm Leben irgend ein 
beſtimmtes Ziel zu ſtecken, er weiſt ihm nur die Richtung, in der es ſich 
bewegen ſoll. Nicht irgend welche Glückſeligkeit kann das Ziel ſein, weder 
das Wohl der einzelnen Perſon, noch das Wohl irgend einer Geſamtheit, 
der Familie, des Volkes oder auch der Menſchheit. Denn das hängt nie⸗ 
mals von uns ab, wir können es nicht herbeiführen, können nicht einmal 
wiſſen, was dazu dient. Wir überſehen nicht, welchem Ziele unſer Leben 
zuſtrebt, ſo wenig wie der Waſſertropfen etwa den Lauf des Fluſſes über⸗ 
ſieht. Nur Gott, die allgemeine Vernunft, kennt das Ziel unſers und alles 
Lebens. Außerdem, hätten wir ein Ziel, ſo müßte es erreichbar ſein, und 
dann wäre das Leben aus. Statt deſſen weiſt uns Tolſtoi ein Ideal, das 
feinem Weſen nach unendlich und unerreichbar iſt. Tolſtoi erklärt den Unter: 
ſchied im Nachwort zur Kreutzerſonate durch ein ſchönes Gleichnis: „Dem 
Seeſchiffer unweit vom Strande konnte man zurufen: Halt dich an jene 
Erhöhung, an jenes Kap, an jenen Turm“ uſw. Es kommt aber die Zeit, 
wo die Seeſchiffer ſich vom Strande entfernt haben, ſo daß ſie ſich nur nach 
den unerreichbaren Geſtirnen und dem Kompaß richten können. Der Strand 
ſchiffer ſteuert auf ein Vorgebirge, einen Turm zu, den er erreichen kam 
und erreichen wird. Der Befahrer der offenen See kann die Sterne nicht 
erreichen und will es nicht, aber fie weiſen ihm die Richtung feiner Fabtt. 
Ein ſolcher Richtungsſtern iſt das Ideal.“ 

Damit iſt zugleich klar, daß das Ideal ſich nicht unmittelbar im Leben 
verwirklichen läßt und daß aus ihm nicht einzelne praktiſche Vorſchriften und 
Verhaltungsmaßregeln für die Lebensverhältniſſe fic ergeben. Die Rid 
tung iſt für alle gegeben; aber der Weg iſt bedingt durch die Natur des 
Bodens, auf dem wir ſchreiten, und ihn muß ſich jeder ſelbſt ſuchen. Der 
Wandrer in dunkler Nacht kann nicht geradewegs drauf los marſchieren, 
das Auge ſtarr auf den Stern gerichtet, der ſeine Schritte lenkt, oder er 
wird in den nächſten Graben fallen und gegen die nächſte Mauer antennen; 
auch wenn er die Richtung weiß, muß er forſchen, wo ein gangbarer Weg 
ſich bietet, der zu ſeinem Ziele führt. Ebenſo muß unſer Handeln im Leben 
ſich zugleich nach den Verhältniſſen richten, in denen wir ſtehen, nicht in 
dem Sinne, daß wir uns allein von ihnen beſtimmen laſſen, ſondern ſo, daß 
wir fie zu beſtimmen und in der Richtung des Ideals umzubilden ſuchen. 
So beſtimmt Tolſtoi dieſen Unterfchied herausſtellt, fo entſchieden und um 
ermüdlich er die Anerreichbarkeit des Ideals einſchärft und es ablehnt, fr 
krete Vorſchriften zu geben, fo iſt doch dies vielleicht der Punkt, den et 
ſelbſt zuweilen überſieht. Die allzu direkte unmittelbare Abertragung det 
idealen Forderung auf die einzelnen Lebensgebiete ſcheint mir die wein“ 
liche Arſache aller jener radikalen Konſequenzen, die uns unhaltbar erihen- 


Mevyer-Venfey: Tolſtois Weltanſchauung 765 


Freilich ſoll und muß das Ideal im Leben ſich betätigen; freilich liegt in 
ihm die Forderung und die Kraft, alle Verhältniſſe des Lebens von Grund 
aus umzugeſtalten und zu erneuern; freilich ergeben ſich daraus für unſer 
Tun überall greifbare Ziele, aber dieſe haben nur bedingte und proviſoriſche 
Geltung, reſultieren aus dem Ideal und den gegebenen Bedingungen und 
ſind für jeden einzelnen Fall verſchieden und beſonders zu beſtimmen. 
Aus der Anerreichbarkeit des Ideals folgt aber auch, daß die Ein⸗ 

teilung der Menſchen in gute und böſe nur bedingt gültig und im Grunde 
hinfällig iſt. Es gibt keinen Menſchen, der unbedingt gut iſt, d. h. der 
das Ideal vollkommen erreicht hätte. Auch für den Beſten gilt das Wort 
des Dichters: 

„Wenn ihr in der Menſchheit traur'ger Blöße 

Steht vor des Geſetzes Größe, 

Wenn dem Heiligen die Schuld ſich naht, 

Da erblaſſe vor der Wahrheit Strahle 

Eure Tugend, vor dem Ideale 

Fliehe mutlos die beſchämte Tat. 

Kein Erſchaffner hat dies Ziel erflogen.“ 


And auch der Niedrigſte und Verworfenſte iſt nicht ſo ſchlecht, daß 
ihm die Möglichkeit zur Beſſerung benommen wäre; wenn auch ſchwach 
und verſchüttet, glimmt doch in ſeiner Seele der göttliche Funke, der in 
jedem Augenblick zur hellen Flamme auflodern kann. Es gibt nur eine 
allmähliche Annäherung an das Ideal, einen Weg, der unendlich iſt und 
auf dem die Menſchen ſtehen, alle an verſchiedenen Punkten, die einen vorn, 
die andern weiter zurück, aber doch alle in unendlicher Entfernung. Und 
für den einzelnen gibt es einen Punkt, wo in feinem Leben die klare Ein- 
ſicht durchbricht, die entſchiedene Hinwendung zum Guten ſich vollzieht und 
nun ein ſtetiges Fortſchreiten möglich wird. 

Auch Tolſtoi ſelbſt iſt kein Heiliger. Immer wieder betont er, daß 
er nur ein ſchwacher Menſch ift und nicht ein Zehntauſendſtel von dem er- 
füllt, was er fordert. Wir wiſſen ja, wie er für ſeine eigne Perſon ſich 
bemüht, fein Leben gemäß feiner Lehre zu geſtalten, wie er auf alle Vor: 
teile ſeines Standes und Reichtums verzichtet, ſich mit dem Einfachſten und 
Notdürftigſten begnügt, die körperlichen Arbeiten des gewöhnlichen Volkes 
verrichtet und ſtets bemüht iſt, allen, die zu ihm kommen, zu helfen. Aber 
indiskrete Geſchwätzigkeit hat uns auch verraten, wie ihm der Kampf mit 
manchen Gewohnheiten, namentlich des Fleiſcheſſens und Rauchens, an⸗ 
fangs ſchwer gefallen iſt und ſich nicht ohne Rückfälle entſchieden hat. Aber 
wir ſollen uns doch hüten, deswegen zu denken: Aha, er iſt alſo auch nicht 
beſſer als wir andern. Denn wenn wir bedenken, wie ſchwer es für einen 
Mann zwiſchen 50 und 60 Jahren iſt, alle feine Lebensgewohnheiten. von 
Grund aus zu ändern, ſich alle gewohnten Genüſſe und Bequemllichkeiten 
zu verſagen, wie heftig die Forderungen eines ſo geſunden und kraftvollen 
Körpers ſind, und was alles Tolſtoi zu überwinden hatte, ſo werden wir 
aus jenem Straucheln nur auf die Schwere des Kampfes ſchließen und vor 


766 Meyer ⸗Benſey: Tolſtois Weltanfchauung 


der Selbſtüberwindung, die aus dem verwöhnten Sohn des Neichtums jetzt 
den ſchlichten Greis gemacht hat, der wie ein Bauer lebt und arbeitet, vor 
dieſer eminenten ſittlichen Leiſtung nicht weniger Bewunderung und Ehrfurcht 
empfinden, als vor ſeinen künſtleriſchen Werken und ſeiner Gedankenarbeit. 

Noch ſind einige Worte über Tolſtois Stellung zum Chriſtentum zu 
ſagen. Chriſtentum heißt für ihn überall die Lehre Chriſti, wie ſie in den 
Evangelien, namentlich in der Bergpredigt, überliefert iſt. Was darüber 
iſt, alſo beſonders die Dogmen und Zeremonien der Kirche, das verwirft 
er durchaus; es iſt im beſten Falle überfläffig und ſelbſt ſchädlich, weil 
es die Hauptſache verbirgt und verdrängt; es iſt aber in den meiſten 
Fällen der Lehre Chriſti direkt entgegengeſetzt. Mit der Lehre Chriſti fühlt 
ſich Tolſtoi durchaus einig. Wir können hier nicht unterſuchen, ob mit 
Recht. Aber zwei Punkte müſſen wir hervorheben. Erſtens iſt dieſe Lehre 
für Tolſtoi nicht deswegen richtig oder göttlich, weil Chriſtus fie verkündigt 
hat, ſondern weil fie an ſich vernünftig !ift, weil fie der Forderung feines 
eignen Gewiſſens entſpricht, weil ſie allein imſtande iſt, dem Leben einen 
Sinn zu geben. And Chriſtus iſt für Tolſtoi wiederum nichts als der 
Menſch, der dieſe Lehre verkündigt und durch ſein Leben beſtätigt hat. 
Darin allein beſteht ſeine Bedeutung für uns. Jede Zutat, jede andre 
Würde und Autorität würde der reinen Wirkung und unbedingten Gel⸗ 
tung dieſer Lehre nur Eintrag tun. Zweitens aber beſteht für Tolſtoi kein 
Gegenſatz zu andern Religionen. Neben Chriſtus zitiert er gern Konfuzius, 
Buddha, Moſes, Sokrates; fie alle wollen und meinen im Grunde das⸗ 
ſelbe, nur daß die Verkündigung Chriſti klarer, reiner und umfaſſender ift. 
And geradezu irreligiss würde es Tolſtoi vorkommen, wenn man zwiſchen 
Chriſten und Nichtchriſten einen Unterfchied machen und jenen einen Vor ⸗ 
zug zuerkennen wollte. Iſt doch der Kern feiner Religion eben die Über: 
zeugung, daß alle Menſchen in Gott eins ſind. 

And nun kehren wir zum Schluſſe zu der Frage zurück, von der wir 
ausgingen: Iſt der Denker, der Geſellſchaftskritiker und Sittenprediger Tolſtoi 
von dem Künſtler Tolſtoi wirklich ſo grundverſchieden, wie es gewöhnlich 
angenommen wird, oder laſſen ſſich beide vereinigen? Wir haben bereits 
geſehen, daß fie ſich nicht chronologiſch voneinander ſondern laffen, daß alle 
die Fragen, die den heutigen Tolſtoi beſchäftigen, bereits in feinen früheſten 
Werken aufgeworfen ſind; und wir wiſſen auch, daß ſeine dichteriſche Kraft 
keineswegs erlahmt iſt und uns auch ſeit ſeiner Bekehrung mit herrlichen 
Gaben beſchenkt hat. Ich nenne nur die erſchütternde Tragödie „Die Macht 
der Finſternis“, die meiſterhafte Erzählung „Herr und Knecht“, die Reibe 
ſeiner Volkserzählungen, unter denen Juwelen ſind, wie „Wovon die Men: 
chen leben“; endlich das grandioſe Werk des Siebzigjährigen, die „Auf 
erſtehung“, die wohl alle Zweifel an feiner künſtleriſchen Vollkraft wider: 
legt hat. Wir bemerken auch leicht die Ubereinftimmung des Dichters und 
Denkers in den allgemeinen Charakterzügen, in der unbedingten Ehrlichkeit 
und Aufrichtigkeit, in dem heiligen Ernſt, in der ruhigen, nüchternen Cad: 
lichkeit, dem Verſchmähen alles äußeren Aufputzes und ſchönen Scheins, 


Meyer - Benfey: Tolſtois Weltanſchauung 767 


aller Aberredungskünſte und Wirkungen auf das Gemüt. Aber damit iſt 
die Frage noch nicht erſchöpft. 

Tolſtoi iſt ein wunderbarer Schilderer der Natur; ohne übermäßige 
Breite und Detailhäufung erreicht er durch die Klarheit und Reinheit ſeines 
Schauens, das tiefe Erfaſſen der Stimmung einer Szene, das Zuſammen⸗ 
wirken aller Sinne Naturbilder von unvergleichlicher Schönheit. Aber das 
eigentliche Hauptſtück ſeiner Kunſt iſt doch die Darſtellung menſchlichen 
Seelenlebens, die allumfaſſende Weite und Tiefe ſeiner Pſychologie, die 
kaum ihresgleichen hat. Woher kommt ihm dieſe Gabe? Wir haben kein 
Mittel, um fremdes Seelenleben unmittelbar zu erfaſſen, wir können es nur 
durch die Analogie unſres eignen erſchließen. Niemand kann daher ein 
großer Pſychologe ſein, der nicht ſelbſt ein reich entwickeltes Seelenleben 
hat und dies beſtändig beobachtet und genau kennt. Aus derſelben Grund- 
lage, aus dem ſtarken Triebe und Talent zur Selbſtbeobachtung und Selbſt⸗ 
kritik ſtammt die eigentümliche Kraft des Künſtlers und die Neigung zu dem 
tiefbohrenden Grübeln über die Probleme des Lebens. Wir ſahen, wie 
dieſe Neigung bereits in dem Knaben am Werke war. Sie wird dann 
abgelenkt auf die Umwelt; dieſe gilt es zu entdecken, ſich zu eigen zu machen. 
nd mit demſelben ſichern Scharfblick und Tiefblick, derſelben unbeftech- 
lichen Wahrhaftigkeit, mit der er ſich ſelbſt prüfte, überſchaut der Dichter 
nun die Menſchen rings um ſich herum und ſchaut ihnen bis auf den Grund 
ihrer Seele. Und überall ſieht er, daß das Leben widerſpruchsvoll und 
ſinnlos iſt. And es iſt ja gewiß wahr, daß unſer ganzes Leben voll Wider⸗ 
ſprüche ſteckt; hat man doch mit Recht als das eigentliche Charakteriſtikum 
des Lebens genannt, daß es ſich widerſpreche; eben die Verbindung und 
der Kampf widerſtrebender Elemente bringt das unendlich mannigfaltige und 
ewig wechſelnde Schaufpiel des Lebens zuwege. Und es iſt auch wahr, daß 
unſer Leben an ſich ſinnlos iſt, denn es wird beſtimmt durch Geſetze, die 
ſich unſrer Erkenntnis und unſrer Kontrolle entziehen, und allein durch unfer 
ſittliches Wollen und Handeln können wir ihm einen Sinn geben. And 
ſein nicht irrendes Auge dringt durch alles Schein⸗ und Gaukelwerk, womit 
die Menſchen die innere Leere ihres Lebens verhüllen. So findet ſein 
Forſcherdrang, fein Sinnbedürfnis auch hier keine Ruhe. Und nachdem er 
die ganze Weite feiner Welt durchmeſſen und für fein Schauen fund feine 
Kunſt erobert hat, am umfaſſendſten in den großen Epen ſeiner Lebens⸗ 
mitte, nachdem die höchſte extenſive Spannung erreicht iſt, wendet ſich der 
Trieb wieder nach innen, in die Tiefe des eignen Lebens, um deſſen Grund 
und Weſen zu finden. Der Geſtalter der Welt wird zum Grübler über 
das Lebens problem. 

Auch der religiöfe Charakter feiner Ethik iſt aus dem Künſtler zu 
verſtehen. Dieſer Ton klingt ebenfalls ſchon in ſeinen frühen Dichtungen 
an, vielleicht am vernehmlichſten am Schluſſe der Skizze „Luzern“. Aber 
mehr. Tolſtoi ſtellt Menſchen vor uns hin, unzählige Menſchen jeder Art, 
in voller Lebendigkeit, im Tiefſten ihres Lebens erfaßt. Dazu muß er ſich 
ganz in ihre Seele hineinverſetzen, in ihr Leben, ihre Lage, ihre Eigenart 


768 Meyer-Benfey: Tolftois Weltanſchaunng 


hineinleben, hineinfühlen, muß ganz mit ihnen eins werden. Dadurch ſchon 
ijt jede wahre, große Kunſt rein als ſolche religiös. Aber beſonders ſtark 
empfinden wir es bei der Kunſt Tolſtois, wie ihre Seele recht eigentlich die 
Liebe zu allen Menſchen, das innige Mitempfinden und Mitleiden mit 
feinen Geſtalten iſt. Sie iſt für ihn tatſächlich die Erfüllung feiner fittlichen 
Beſtimmung, des Willens Gottes, und fie kommt nur zum Haren Bewußt⸗ 
ſein ihrer ſelbſt, indem ſie entdeckt, daß das wahre Weſen der Menſchen 
ihre innere Einheit in Gott, dem gemeinſamen Urgrunde, daß Sinn und 
Ziel ihres Lebens die Liebe, das Streben nach der Vereinigung in Gott iſt. 

Freilich ſcheint mit dieſer Selbſtbegreifung zugleich eine Selbſttäuſchung 
verbunden zu ſein; eine Täuſchung, die wir ſo oft beobachten, wo das re⸗ 
ligiöſe Gefühl ausſchließliche Macht über einen Menſchen gewinnt: daß es 
ſich nämlich nicht begnügt, das Leben in allen ſeinen Erſcheinungen zu 
tragen, zu erhellen, zu vereinigen, ſondern daß es überall ausſchließlich herr⸗ 
ſchen will und alles andre zurückdrängt. So ſehen wir, wie Tolſtoi ein 
Stück Leben nach dem andern entwirft, weil es nicht direkt und unmittelbar 
dem religiöſen Ziele dient und fein eignes Recht, feine eigne Geſetzlichkeit 
behauptet. Wir ſehen, wie er ſogar ſeine Dichtung verwirft, die doch ſicher⸗ 
lich ſeine größte Leiſtung auch im religiöſen Sinne, ſein unvergleichlicher 
Beitrag zum Bau des Reiches Gottes unter den Menſchen iſt. 

Wir haben geſehen, wie der Künſtler und der Denker aus derſelben 
Wurzel gewachſen find und ſich in derſelben Perſönlichkeit vereinigen. Wir 
werden nun nicht mehr den einen vom andern trennen, gegen den andern 
ausſpielen oder über ihren Vorrang ſtreiten. Beide gehören zu den größten 
Erſcheinungen in ihrer Art, die die Weltgeſchichte kennt; über alles groß 
und verehrungswürdig aber erſcheint uns der Menſch, der beide in ſich ver⸗ 
einigt und in beiden noch nicht erſchöpft iſt. Was in feinen Gedanken ver: 
fehlt und vergänglich iſt, was ſich dagegen einwenden läßt, das habe ich, 
ſoweit ich's verſtehe, nur leiſe angedeutet, denn es ſcheint mir unweſentlich 
gegenüber dem unzweifelhaft Wahren und bleibend Wertvollen. Es iſt 
viel wichtiger und fruchtbarer, daß wir von ihm lernen, als daß wir ibn 
widerlegen. And es ſind ganz wenige Menſchen, die uns ſo viel zu ſagen 
und zu geben haben. Die Erhebung unſrer Seele und die Deutung der 
Welt durch die wundervollen Gebilde feiner Kunſt, die Offnung unſtes 
Verſtändniſſes für die Menſchen und ihr Leben, das wuchtige Aufwerfen 
der letzten und wichtigſten Fragen, des Problems des Lebens ſelbſt, endlich 
das ergreifende Vorbild ſeines eignen Lebens, — das alles kann uns Leo 
Tolſtoi geben, wenn wir nur willig ſind zu empfangen. 


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Der Waldpfarrer am Schoharie 
Kulturhiſtoriſche Erzählung aus dem deutſch⸗amerikaniſchen Leben 


des achtzehnten Jahrhunderts 


von 
Friedrich Mayer 
(Schluß) 
Einundzwanzigſtes Kapitel 


as iſt eine Unruhe im Lande, ein ängſtliches Auf- und Ab— 
W gehen im Tale; man weiß nicht mehr, wer Freund iſt oder 
Feind. Es wettert und blitzt an allen Orten und Enden! 

> Wink uns endlich die Freiheit und das Recht, oder fallen 
wir alle unter dem Skalpiermeſſer? 5 

Der alte Weiſer und feine Seitgenoffen haben vor ſechzig Jahren 
untertänigſt mit entblößtem Haupte gezittert vor Gouverneur Hunter! 

Ihre Söhne und Enkel, im freien Walde aufgewachſen, ſtehen auf— 
recht wie die Eichbäume vor dem Gouverneur; ihre Fäuſte ſind geballt, 
ihre Augen blitzen vor Zorn und Ingrimm; ſie trotzen ſelbſt dem Könige 
von England! | 

Einmal zu oft hat der Gouverneur das Recht gebeugt, als er den 
Arteilsſpruch in Sachen der Deutſchen gegen die beiden Livingſtones, den 
Sir Johnſon gefällt, kurzer Hand aufhob. 

Nun zieht ſich das Gewitter über der Kolonialariſtokratie zuſammen. 
Vieljähriges Anrecht, unmenſchliche Vergewaltigung, lang verhaltener In— 
grimm kommt vulkanartig zu gewaltſamem Ausbruch. 

Das Schoharietal iſt zu einem Feldlager geworden! Wir haben die 
Revolution vor der Türe mit all ihren Schrecken, mit all ihren Hoffnungen! 

„Freiheit oder Tod“, dieſes Wort von Patrick Henry im Staats— 
hauſe von Virginien geſprochen, iſt unſer Schlachtruf geworden. 

Mit lautem Beifall begrüßten wir am Schoharie die Erklärung der 
Anabhängigkeit von der engliſchen Gewaltherrſchaft, welche die Vertreter 
der dreizehn Kolonien an den König ſandten. Niemand verſteht ihre Be— 
deutung beſſer als wir Deutſchen. 

Der Türmer X, 12 50 


770 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 


Der Sturm entladet ſich, Blut iſt gefloffen, es donnern die Kanonen, 
die Unterdrüder beben. Gleiche Rechte für alle, Vorrechte für keinen! 

Zuerſt waren es nur unverbürgte Gerüchte, die ins Tal eindrangen. 
Boſton habe fic) empört, hieß es, dann wieder ſoll in New Vork oder in 
Philadelphia und Germantown der Ausbruch toben. 

Endlich kam der Jonathan Schmul nach dem Schoharie. Er iſt wohl⸗ 
habend geworden, ſtatt mit feiner Kiſte auf dem Rücken fährt er jetzt mit 
Pferd und Wagen durch das Land. 

Er war in Boſton, als die erzürnten Bürger die Teekiſten ins Wafſer 
ſchleuderten. Er hörte in Faneuil Halle die begeiſterten Freiheitsredner 
John Hankock und Dr. Warren; er ſah, wie der Doktor als einer der erſten 
in der Schlacht fiel für die Freiheit des Landes. 

Der alte Schmul iſt ſeither wieder jung geworden. 

„Keine verkauften Katherine Weiſenbergs mehr, keine vertriebenen 
Weiſers, keine ſkalpierten Weiber und Kinder mehr, Herr Pfarrer, ſo wahr 
ich bin ein armer Sud’, welcher macht ein ehrlich Geſchäft“, rief er und 
war zur Türe hinaus. Noch einmal kam er zurück und ſchrie: „Haben 
unſere Arme nicht verwandelt die Wildnis in ein Paradies, warum können 
deitſche Leit' nicht regieren ſich ſelber? Deitfchen Richter, deitſchen Sheriff 
— wir kriegen's!“ 

Die Bevölkerung im Tale ift in zwei Heerlager geſpalten. 

Die Kinder der ſieben holländiſchen Partner ſtehen zu England, mit 
ihnen alle jene, die ſeit ſechzig Jahren die Deutſchen knechten wollten. 

Wehe tut es mir, daß auch Sir Wm. Johnſon zum Verräter ge⸗ 
worden iſt. Er iſt der einflußreichſte Engländer im Tale, verwandt wit 
mehr als zweihundert Familien. Er hat die weſtliche Seite des Tales 
vollſtändig abgeſchloſſen von jeder Verbindung mit Albany und dem sit 
lichen Teile des Landes. Dadurch verhindert er die Zufuhr von Pulver 
und Kriegsmaterial, das uns ſo not tut. Auch ſein Schwager, der 
Mohawkhäuptling Brant, ſteht auf Johnſons Seite. O ſie ſind klug, die 
Tories, die Verräter, fie ſchickten Brant nach England. Durch perſönliche 
Rückſprache mit dem Wilden hat Georg III. die Indianer für ſich gewonnen. 
Ans Deutſchen droht aufs neue das Skalpiermeſſer! 

Pulver bekamen wir doch! Der Jude Schmul hat es mitten durch 
die Wachen Sir Johnſons hindurchgefahren. Sie hielten die Ladung für 
Hauſierwaren. Es iſt doch gut, daß der Schmul vorankam und ſich einen 
Wagen anſchaffen konnte. Er hatte nicht nötig, ſo oft zu gehen. Jeder 
opfert ſein Hab und Gut. Morgen opfern viele ihr Leben! 

Doch Gott will das Recht, darum werden wir fiegen! 

Eine große Volksverſammlung fand ſtatt, die den entſcheidenden 
Schritt tat. Die Ariſtokraten, die Tories waren vollzählig erſchienen, bald 
zeigten ſie die alte Judashand. Mit Geld oder andern Verſprechungen 
konnten ſie nichts mehr ausrichten unter den Deutſchen. Darum ſollten 
die reichen Ariſtokratentöchter unſere jungen Männer an ſich locken. Vis 


Bie — — —ä 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 771 


jest hatten dieſe Damen vornehm und mit Verachtung auf uns herab⸗ 
geſchaut. Dieſes Mal jedoch brachten die edlen Väter ihre Mädchen hübſch 
geputzt in die Volksverſammlung. Sie hatten nicht ganz vergeblich ge— 
rechnet. Es war nur gut, daß ich diesmal auch anweſend war und meine 
ſiebzig Jahre mich nicht zurückhalten konnten. 

War das ein Zuſammenlauf der Menſchen! Da die große Halle 
die Gekommenen nicht alle faſſen konnte, waren die Ariſtokratinnen be- 
ſonders draußen in den Straßen beſchäftigt, ihre Netze für den König von 
England auszuwerfen. In der Halle kam es inzwiſchen zu einer Redner— 
ſchlacht. Schon glaubte ich, meine Anweſenheit ſei ganz unnötig, als die 
Tories ihr ſchwerſtes Geſchütz vorführten. Sir Johnſon, alt und grau, 
meldete ſich nämlich zum Wort, ein Mann, der jederzeit auf die Auf- 
merkſamkeit ſeiner deutſchen Nachbarn rechnen durfte. 

Mit beweglichen Worten erinnerte er ſeine Freunde und Mit— 
bürger daran, wie er immer ein Freund der Deutſchen geweſen ſei, wie 
er ſelbſt eine Deutſche zur Frau gehabt und in den Adern ſeiner Söhne 
deutſches Blut fließe, ſeinem Haus und ſeinem Familienleben fehle nicht 
die deutſche Gemütlichkeit. Der König würde uns ewig dankbar ſein, wenn 
wir jetzt ihm treublieben. Wir ſollten als Nachbarn nicht gegeneinander 
kämpfen! 

Mich litt es nicht länger auf meinem Stuhle; ich trete auf das 
Podium, von allen Seiten begrüßt mit den Worten: 

„Der Waldpfarrer vom Schoharie! Hört, hört!“ 

„Mit Sir Johnſon“, begann ich, „ließe ſich unterhandeln. 

Mitbürger, mit wem kämpfen wir, wer hat uns unterdrückt? Nicht 
Sir Johnſon, ſondern der Gouverneur, der engliſche Obergeneral, der König 
von England! 

Soll ich unſere Geſchichte erzählen? Iſt das nötig? Ihr kennet ſie 
auswendig. Es iſt eine lange Kette von Unterdrüdungen, von Schandtaten, 
die im Namen des engliſchen Rechts und des Königs von England an 
uns begangen worden ſind. 

Soll ich noch einmal erinnern an den alten Weiſer? Es ſind Leute 
hier, die vor vierzig Jahren der Bauernverſammlung in Weiſerdorf bei- 
gewohnt haben, die dem Manne ins Auge geſchaut haben, der verfolgt 
wurde, geſchlagen, an den Maſtbaum eines Piratenſchiffes feſtgebunden, 
in den Schuldturm zu London geworfen und endlich aus Weiſerdorf 
hinausgejagt wurde. Warum? Hat er nicht treu für den König ge⸗ 
arbeitet, nicht auch im Kriege gegen die Franzoſen und Rothäute unter 
der Fahne Englands als Kompanieführer der Deutſchen tapfer gekämpft 
und dem Feinde ins Auge geſchaut? 

Was wurde ihm dafür? Seine Heimat wurde ihm genommen; als 
er alt und grau geworden war, hat man ihn vertrieben! 

Euer Gouverneur hat es getan, die Livingſtones, die holländiſchen 
Partner, die Kolonialariſtokratie zwangen Hunter dazu! Dieſelben Leute, 


772 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 


deren Töchter heute nacht draußen auf der Straße verſuchen, unfere Söhne 
zu Judaſſen an ihrem Volk und ihrem Glauben zu machen! 

Sir Johnſon hat eben den Namen feiner verſtorbenen Gattin ge 
nannt. Er wird wiſſen, daß ich ſie vor der Nachſtellung eines fremden 
Fürften beſchützt habe. Wer, fo frage ich, hat fie beſchützt vor amerikani⸗ 
ſcher Sklaverei? Hat je ein Deutſcher Recht erlangt unter eurem Geſetz? 

Wer hat uns den Beſitztitel auf unſer Land verweigert, wer uns die 
Wilden mit der Brandfackel ins Haus geſchickt? 

Gott will Recht, wir werden es erlangen. Ihr habt es uns vor: 
enthalten, Gott gibt es uns! 

Ich war Zeuge, wie erſt vor einem Jahrzehnt unſere Männer von 
den Indianern meuchlings ermordet, unſere Weiber und Kinder in die 
Gefangenſchaft geſchleppt, wie unſere Häuſer und Ernten verbrannt wurden! 
Warum? Weil der engliſche Obergeneral in Albany geſagt hat: Den 
Deutſchen kann ein Aderlaß nichts ſchaden!“ — 

Ohne es zuerſt zu beachten, war in dieſem Augenblick mein ſtummer 
Adam Bauer neben mich hingetreten. Sein Geſicht zuckte, er trug alle Yn: 
zeichen eines neuen Ausbruchs der Tobſucht zur Schau. Ich packte ihn und rief: 

„Mitbürger, ſehet dieſen Mann! Das iſt das Werk Englands!“ 

Nun brach ein Sturm los, den ich nicht beſchreiben kann. 

Als ich endlich fortfahren konnte, ſagte ich ruhig: — 

„Sir Johnſon ſtand neben mir, als ich dieſen jungen Mann unter 
dem erſchlagenen Leichnam ſeiner Mutter, die ihr Kind im Sterben 
noch ſchützen wollte, hervorzog. Ich habe den Knaben großgezogen, war 
Zeuge ſeiner Not und ſeines namenloſen Elends. So bezahlt England für 
deutſche Treue! 

Siegt der König von England auch dieſes Mal, dann weiß ich wohl, 
was unſer wartet. Steht nicht neben Sir Johnſon ſein ſauberer Schwager, 
der Indianerhäuptling Brant, der Mörder unſerer Männer, der Schänder 
unferer —“ 

Ich konnte nicht mehr weiterreden. Es brach ein Lärm aus, der jenen 
Vorgang in des alten Weiſers Scheune noch in Schatten ſtellte. Ein 
Schreien vor Schmerz und Wut; man drängte auf Brant ein, und die 
wütenden Deutſchen hätten ihn in dieſem Augenblick in Stücke geriſſen, 
hätte nicht General Herkimer ihn mit ſeinem Leibe geſchützt. Die Tories 
zitterten, die feige Brut fürchtete um ihr Leben. Sie kannten vorher nicht 
den Zorn beleidigter und in ihren heiligſten Gefühlen ſchwer gekränktet 
deutſcher Männer. 

Endlich drang meine Stimme durch: 

„Keine Gewalt heute! Nur Klarheit wollen wir uns verſchaffen 
über die Frage: Halten es die Deutſchen des Mohawk und Schoharietals 
mit Georg Wafhington oder mit Georg III. von England? Ich ftelle den 
Antrag, folgenden Beſchluß als unſern Willens aus druck an den amerikani · 
ſchen Kongreß und an Georg Wafhington zu ſenden: 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 773 


Wir Deutſche am Mohawk und im Schoharietal verſchmähen die ung 
angedrohte Sklaverei, und auf uns angewieſen durch die Bande der Re- 
ligion, Nationalität, Gerechtigkeit und Vaterlandsliebe beſchließen wir, für 
unſere Freiheit zu kämpfen mit Gut und Blut!“ 

Ich hatte kaum das letzte Wort ausgeſprochen, als der Vorſitzer über 
den Antrag abſtimmen ließ. Die Tories wagten nicht einmal Nein zu 
fagen. General Herkimer wurde beauftragt, den Beſchluß an die zuſtän⸗ 
dige Behörde zu übermitteln. 

Draußen wogte die Volksmenge auf und ab. Die Erregung war eine 
außer ordentliche, ſelbſt die Stimmen waren trocken, keiner wagte laut zu ſprechen. 

Seit Wochen hatten die Tories die Drohung ausgeſprengt, daß im 
Falle die Volksverſammlung ſich für die Freiheit entſcheide, man auf der 
Stelle ein Blutbad anrichten werde. Es ſchien, als huſchten die Todes⸗ 
ſchatten durch die Straßen. Ein einziger Flintenſchuß mußte den Straßen⸗ 
kampf entfachen. Es war eine unheimliche Stille. 

Plötzlich erſchien auf dem Dach der Halle mein Adam Bauer. In 
der Hand ſchwenkte er die eben erſt aufgekommene amerikaniſche Fahne, die 
Sterne und Streifen. Man hielt den Atem an, ob der Tollkühnheit des 
jungen Menſchen. Seine Bruſt hob und ſenkte ſich, und unter großer An⸗ 
ſtrengung begann der bis dahin Stumme en ftotternd, dann aber laut und 
glockenhell zu ſingen: 

„Schlachtgetön 
Brauſet über Tal und Höh'n! 
Hört ihr der Trompeten Schmettern? 
Friſch hinein in Kampf und Wettern, 
Gott wird uns den Sieg gen! 
Für das Recht 
Kämpfen Männer, treu und echt! 
Für die Sterne und die Streifen 
Mutig wir das Schwert ergreifen! 
Für die Freiheit und das Recht!“ 


Die Wirkung des Liedes ſtreifte ans Wunderbare! Die Männer 
entblößten ihre Häupter vor dem Sternenbanner und ſangen mit: 


„Gott und Herr! 

Schau herab vom Himmelszelt! 

Laß in dieſem Kampf uns ſiegen 

And verleihe bald uns Frieden, 

Gott der Schlacht, zieh mit ins Feld.“ — 


„Gott hat an uns ein Wunder getan“, ſagte ich zu Herkimer. „Ich 
kann es mir nicht anders erklären.“ 

Oder hat vielleicht die allgemeine Erregung das Band der Zunge 
bei dem ſtummen Adam gelöſt? Noch in der Nacht ſtürmte er hinaus in 
den Wald. Ich habe ihn ſeitdem nicht wiedergeſehen. 


774 Maver: Der Waldpfarrer am Schoharte 


Wir ftehen am Vorabend der Entſcheidungsſchlacht! Ich habe meine 
Sachen geordnet. Die May, die ſeit dem Tode der alten Arſchel meine 
Haushaltung führt, hat ſich mit dem John Kreiskorn verlobt, einem tüch⸗ 
tigen jungen Manne. Sie iſt gut und ſehr ſchön. Es iſt beſſer ſo; falls 
ich wegſterbe, hat ſie einen Beſchützer. Es haben ihr zu viele nachgeſtellt, 
ſo daß mir manchmal um das Mädchen bangte. Die Geſchichte ihrer Mutter 
babe ich ihr nicht erzählt, wozu ſoll ich fie damit beunruhigen? 

Der Adam, wer weiß, ob er noch lebt? Ich befehle meine Gemeinde 
der Gnade und dem Erbarmen Gottes! 


Zweiundzwanzigſtes Kapitel 


Wie ſchwül liegt die Auguſtnacht über dem Tale! Ob's nimmer 
Morgen werden will? 

Weſtlich von hier, da, wo der kleine Driskafluß in den Mohawk 
fällt, ſtehen unſere Soldaten und horchen in die Nacht hinaus, ob ſich kein 
Feind rege und aus dem Walde heranſchleiche. 

Endlich iſt die lange Nacht vorüber, ſtrahlend ſteigt die Sonne über 
dem Walde empor. Es wird ein heißer Tag werden! 

General Herkimer formiert feine Truppen. Es find lauter Frei- 
willige, lauter Deutſche! 

Da ſtehen die Söhne und Enkel der Pfälzer und Schwaben, keiner 
mißt weniger als ſechs Fuß, in der Rechten das Gewehr mit Bajonett, 
die Reiter haben Büchſen. Männer, ſchlank, kräftig, nervig! Selbſt das 
Auge des tapfern Preußenkönigs würde an dieſen Geſtalten fein Wohl ⸗ 
gefallen haben. 

Der engliſche General St. Leger ift vom Welten her ins Mobawk⸗ 
tal gefallen; er hat den Befehl, die Indianer unter ihrem Häuptling Brant 
und die Tories des Sir Johnſon an ſich zu ziehen, die Deutſchen zu ſchla⸗ 
gen, das Tal, dieſe Kornkammer Amerikas, zu verwüſten und bei Alban 
ſich dann mit General Burgoine zu vereinigen, mit dieſem gemeinſam den 
Hudſon hinunterzuziehen und Waſhington, der dort im Felde ſteht, mit 
ſeinem Heere zu vernichten. 

Der erſte Teil dieſes Kriegsplans ſollte im Mohawktal zur Aus: 
führung kommen. Darum ſtehen die deutſchen Anſiedler hier, um mit den 
Waffen die Eindringlinge zurückzuweiſen. Es handelt ſich nicht nur um 
Recht und Freiheit, ſondern um unſere Heimat, unſere Familie, um Haus 
und Kirche. 

Man weiß, daß im Walde der Feind auf das Vorrücken der Anſern 
wartet. Nikolaus Herkimer zaudert; unter ſeinem Befehle ſtehen bloß 
achthundert Mann, während die Schar unter St. Leger, die Tories und 
Indianer, ihm mehr als dreifach an Zahl überlegen iſt. Er hatte einen 
Boten, Adam Helmer, nach dem ſechs Meilen entfernten Fort Stanwir 
zu Oberſt Gansvoort geſchickt, mit der Weiſung, dieſer ſolle gleichfalls 


Maver: Der Waldpfarrer am Schoharie 775 


einen Ausfall aus dem Fort machen. Er folle die Eröffnung der Feind: 
ſeligkeiten durch drei Kanonenſchüſſe anzeigen, worauf die Deutſchen ſofort 
zum Angriff übergehen würden. 

Nun warten die Deutſchen auf das Signal. Der Bote wurde, wie 
wir nach der Schlacht erfuhren, auf feinem Umwege aufgehalten und kam 
erſt gegen den Nachmittag nach dem Fort. 

Unfere Soldaten werden unruhig, manche wittern Verrat. Sollen 
fie hier warten, bis der Feind fie unverhofft überfalle? Die Weiber machen 
Lagerſtätten zurecht, um die Verwundeten darauf verpflegen zu können. 
Sie beten: 

„Nur nicht in die Hände der Indianer laß uns geraten, lieber 
Herrgott!“ 

Warum bin ich über ſiebzig Jahre alt? In Pennſylvanien hat der 
Enkel von Konrad Weiſer, der Pfarrer Peter Mühlenberg, ſeiner Ge— 
meinde im Gottesdienſt angekündet: 

„Es iſt eine Zeit zum Predigen, eine Zeit zum Kämpfen und eine 
Zeit zum Beten; die Zeit zum Kämpfen iſt gekommen“, damit legte er den 
Ornat ab und ſtand in der Aniform eines Obriſten vor ſeiner Gemeinde, 
die in voller Begeiſterung das Lied: „Ein' feſte Burg iſt unſer Gott“ zu 
ſingen begann. Vor der Kirche wurde die Trommel gerührt, und kaum 
war eine halbe Stunde vergangen, ſo hatte Peter Mühlenberg aus ſeiner 
Gemeinde einhundertundzweiundſechzig Mann, die mit ihm zogen. 

Die Offiziere und Soldaten werden ungeduldig, Herkimer kann ſeine 
Leute nicht länger zurückhalten. Immer noch keine Nachricht von Fort 
Stanwix! Heiß brennt die Sonne, aber noch heißer glüht deutſcher Zorn. 

Endlich gibt der General den Befehl zum Vorrücken. Ich will mich 
neben ihn ſtellen, da ſagt er: 

„Herr Pfarrer, Sie ſetzen ſich unnötig der Gefahr aus, gehen Sie 
nach Howes Höhle, dort ſind unſere Kranken und Kinder, ſie bedürfen 
Ihres Dienſtes.“ Dann ſtieg er von ſeinem Schimmel herab, kniete nieder: 
„Segnet mich!“ Ich legte ihm die Hände aufs Haupt. 

Ein Augenblick — da bricht das Wetter herein. Es donnern die 
Geſchütze, es gellt der Kriegsſchrei der Indianer. General Herkimer gibt 
feinem Roß die Sporen und ſprengt allen voran gegen den Feind. Der 
Wald wird lebendig, es tobt der furchtbare Kampf! 

In der Höhle liegen ſie auf den Knien. O unſere Felder, unſere 
Häuſer! Immer näher rückt die Schlacht, die Unfrigen weichen der Über- 
macht, laut flehen wir in der Höhle: 


„Aus tiefer Not ſchrei ich zu dir, 
Herr Gott, erhör mein Flehen!“ 


Neben mir vernehme ich ein Stöhnen. Es iſt Jonathan Schmul, er 
liegt in den letzten Zügen, er kennt mich, langſam kommt es über ſeine 
Lippen: „Ich habe die Stellung des Feindes auskundſchaftet, ſie haben alle 


776 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 


Höhen im Walde beſetzt; auf dem Rückweg ſchoß ein Wilder nach mir, hier 
traf's.“ Er öffnete die Bruſt, aus einer Wunde ſickerte fein Blut hervor. 

„Anter meinem Lager iſt mein Geld, ſchickt es an Georg Wafhington, 
er gebrauche es für unſere gute Sache. Keine verkauften Katherine Weifen- 
bergs mehr.“ — Es ging zu Ende. Nach einer Weile ſagte er: 

„Begrabt mich, ich bin geweſen ein ehrlicher Mann, mein Haupt 
nach Often!“ 

Ich betete: „Herr Gott, du biſt unſere Zuflucht für und für“ und 
den ganzen Pſalm Moſes, des Mannes Gottes. 

Seine Lippen bewegten ſich, ich halte mein Ohr an ſeinen Mund — 
er wollte reden, ich verſtand ihn aber nicht mehr recht, es klang wie: 
„Jeruſalem!“ 

Die Geſchütze donnerten, immer näher zieht die Schlacht. Es duldet 
mich nicht länger in der Höhle, ich eile hinaus. 

Mitten im Walde tobt der Kampf. Bunt wie Teufel bemalt, faſt 
nackend, ſtürzen die Indianer mit wildem Geheul hinter den Bäumen her · 
vor. Der Häuptling Brant felber erteilt die Befehle. Sie find viel ſtärler 
als die Anſern. 

Herkimer erkannte fofort feine gefährliche Lage. „Es gibt nur eine 
Rettung, den Kampf und den Widerſtand bis aufs äußerſte“, rief er feinen 
Offizieren zu. Er ſelbſt kämpft in der vorderſten Reihe. Ein erbittertes 
Handgemenge zwiſchen Deutſchen und den Wilden iſt im Gange. Der 
Deutſche fest dem Tomahawk des Indianers fein Meſſer oder den Gewehr 
kolben entgegen. Am Abend nach der Schlacht fand man ſie noch, die 
Hand des einen in den Haaren des andern, die andere nach dem Meſſer 
greifend, mit welcher der Obenliegende die Bruſt des Antenliegenden durch⸗ 
bohrt hatte. 

Unfere Not wird immer größer, die Abermacht erdrückt uns! Schon 
ſteigen über unſern Häuſern verzehrend die Flammen gen Himmel. Die 
Saaten brennen! 

Dicke ſchwarze Wolken bedecken den Himmel, als ob die Sonne vor 
dem grauſigen Gemetzel ihr Angeſicht verhüllen wollte. 

Immer lauter tobt die Schlacht. Das Kyrierufen der Verwundeten, 
das Stöhnen und Fluchen der Ringenden, das alles iſt entſetz lich. 

Dazu die Hitze und das Getdfe der mit furchtbarer Gewalt aus 
unſeren Saatfeldern zum Himmel aufſteigenden Feuerflammen! 

In der Höhle liegen ſie auf den Knien. Sie alle glauben, der 
Jüngſte Tag ſei gekommen. Mit lauter Stimme beten ſie Pſalmen und 
Liederverſe. Soll auf dieſe Weiſe die Arbeit unſerer Anſiedler vernichtet 
werden? Ich eile aufs neue auf den Kampfplatz. Gehen wir zugrunde, ſo 
will ich es mit anſehen, will mit meiner Gemeinde fterben! 

Es wird immer dunkler im Walde. In den Wollen zucken grelle 
Blitze, des Himmels Donner überbrüllt den Lärm der Kanonen, das Schreien 
der Soldaten, das Getöſe der Feuersbrunſt! 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 777 


Mit erneuter Anſtrengung ſtürmen Tories und Indianer auf uns 
ein. Sie wollen den Sieg erringen, ehe das Anwetter hereinbricht. Die 
Rothäute entdecken Herkimer! Ihr Häuptling Brant, Johnſons famoſer 
Schwager, zeigt den Wilden unſern Anführer. Mit gellendem Schlachtruf 
ſtürzen ſie auf ihn zu. Ich ſelber werde in den Streit hineingezogen. Ich 
ergreife eine Streitaxt, um Herkimer zu ſchützen. Doch meine braven Deut- 
ſchen haben die Gefahr, in welcher der General ſchwebt, bemerkt und ſcharen 
ſich um ihn. O Gott, wie die braven Jungens fallen, dort ſinkt unter dem 
Tomahawk Jung Peter, er hinterläßt ſeine junge Frau mit fünf kleinen 
Kindern. Dort fällt Gerlachs jüngſter Sohn, dort — — O, ich möchte 
die Augen ſchließen! Wie Verzweifelnde wehren ſich die Deutſchen. Aber 
immer neue Streiter fallen unter den Hieben des Tomahawk. Schon iſt 
Herkimer von einer Kugel in den Fuß getroffen! Wir ſind verloren! 

In dieſem Augenblick ſtürzt mein Adam Bauer wie ein Wahn- 
ſinniger aus dem Anterholz hervor, gerade auf Brant dringt er ein, mit 
dem blanken Säbel haut er zur Rechten und zur Linken die Nothaute 
nieder. Sie werden für einen Augenblick ſtutzig und weichen zurück. Da 
hört man Brants Stimme, der ſeinen Scharen das Vorrücken befiehlt. 
Aufs neue erheben die Wilden ihr Kriegsgeſchrei, mein Adam fällt unter 
dem Tomahawk — mir vergehen die Sinne! 

Ein furchtbarer Donnerſchlag — und das Gewitter bricht herein. Der 
Himmel öffnet die Fenſter und in Strömen ergießt ſich der Regen. Er⸗ 
mattet raſten die Kämpfenden, die Feuersbrunſt erliſcht, und neue Hoffnung 
kehrt in unſere Reihen. Endlich verzieht fic) der Regen. 

Herkimer, obgleich verwundet, weigert ſich, das Schlachtfeld zu verlaſſen. 
Er ließ ſich ſeine Wunde verbinden, dann den Sattel von ſeinem Pferd ab⸗ 
ſch nallen und an einen Baum bringen. An dieſen lehnte er. „Ich will dem Feind 
ins Geſicht ſehen“, gab er mir zur Antwort, als ich ihn bat, ſich beſſer zu ſchützen. 

Auf ſeinen Befehl wurde nun eine andere Kampfweiſe anberaumt. 
Herkimer hatte am Morgen beobachtet, wie die Indianer dadurch den Vor⸗ 
teil errangen, daß ſie keinem Soldaten, der hinter einem Baum ſein Ge⸗ 
wehr abfeuerte, Zeit ließen, es zum zweitenmal zu laden, ſondern, ehe er 
wieder laden konnte, ſofort auf ihn losſtürzten und ihn mit dem Tomahawk 
nie derſchmetterten. Er ſtellte darum jetzt immer zwei Mann hinter einen 
Baum. Dieſe Taktik wirkte, die Wilden fielen jetzt maſſenhaft. 

Furchtbar wüteten unſere Waffen, die Rothäute beginnen zu weichen. 
Mit lautem Hurra dringen die Anſern auf ihren Feind. Schon meinte ich, 
wir ſeien die Sieger. 

Da erhielten plötzlich die Wilden Anterſtützung. Es erſchienen nämlich 
auf ihrer Seite die von Sir Johnſon organiſierten Regimenter der Tories, 
genannt „Royal Greens“, von der grünen Verzierung und Einfaſſung ihrer 
Uniform. Getreu ihrem Charakter hatten die Falſchen und Treuloſen ihre 
Mäntel umgekehrt, ſo daß das „Royal Green“ nicht ſofort wahrnehmbar 
war. Wir hielten ſie im Anfang auch für unſere eigenen Leute. 


778 Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharte 


Das waren feit mehr als einem halben Jahrhundert unfere Nac: 
barn im Mohawk. und Schoharietal, es waren die Söhne der Katherine 
Weiſenberg und Sir Wm. Johnſons darunter, ebenſo der Livingſtones und 
die Nachkommen der ſieben holländiſchen Partners — es war die ganze 
Meute unſerer bisherigen Anterdrücker und der jetzigen Verräter im Tale — 
es war die Ariſtokratie und doch zugleich das Unglück der Koloniſten — 
alſo unſere Nachbarn traten uns endlich offen entgegen, und zwar mit den 
Waffen in der Hand, im Bunde mit den Wilden. Da mußte es etwas 
Beſonderes geben, das war mir klar! 

Kaum erblickten unſere Deutſchen dieſe Verräter, als ſich ihrer die 
höchſte Wut bemächtigte. Hatte es vorher gegolten, den Indianern gegen⸗ 
über ſein Leben ſo teuer wie möglich zu verkaufen, ſo entbrannte dieſen 
Verrätern gegenüber der ganze Zorn der ſeit mehr als einem halben Sabr- 
hundert von ihnen Anterdrückten. Die Indianer waren die wilden Beſtien, 
die man aus Notwehr erlegt; der ehemalige Nachbar war ein Gegenſtand 
des Haſſes und des Abſcheus, weil er mit dem Feinde gemeinfchaftliche 
Sache machte. 

Das Zielen dauerte den Anſern zu lange, fie warfen bei dem ln: 
blick dieſer Verräter ihre Gewehre weg, ſie huben Steine auf und Knittel 
und ſchlugen mit dieſen auf Johnſons Regimenter ein. Sie packten ſie an 
der Gurgel und erwürgten die Nachbarn im buchſtäblichen Sinne des 
Wortes. Ein gräßlicherer Kampf, ein erbitterteres Handgemenge hat viel⸗ 
leicht nie zuvor ſtattgefunden, als hier am Oriskany. Wir ſiegten, der 
Feind iſt vollſtändig vernichtet, ihr Anführer getötet, Johnſons eigener 
Schwager ſchwer verwundet, der Reft in die Flucht geſchlagen. 

Der Schlachttag war zum Tage der Abrechnung und zu einem Tage 
der Vergeltung geworden. Fünf engliſche Fahnen und alle die für die 
Indianer beſtimmten Geſchenke waren in die Hände der Anſern gefallen. 

Wir haben geſiegt, keine ſkalpierten Weiber und Kinder mehr, keine 
Halsabſchneider vom Schlage der Livingſtones und der holländiſchen Part: 
ners mehr. Anſer Land iſt es, dem Urwald abgezwungen durch deutſchen 
Fleiß, vor dem Feinde geſchützt mit deutſchem Blut! 

Aber die Toten! Es gibt kein Haus am Schoharie, das nicht wenig: 
ſtens einen Toten hat. Der vierte Teil unſerer Männer bedeckt das 
Schlachtfeld. Die Schells haben ſogar neun, die Wohllebens, Kreis lorns, 
Baumanns, Gerlachs je zwei Tote! 

Unter den Toten iſt General Herkimer. Er erlag etliche Tage nach 
der Schlacht ſeinen Wunden. Erfreut wurde er durch einen Brief von 
George Wafhington, in welchem dieſer ihm und feinen braven Truppen die 
wohlverdiente Anerkennung zu ihrem Siege zollt. 

Als er fein Ende herannahen ſah, bat er um die Bibel. Um ihn 
waren ſeine Brüder und Schweſtern verſammelt; auf ſeinen Wunſch las 
ich, da ihm die Stimme verfagte, den 38. Pfalm: „Herr, ſtrafe mich nicht 
in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm!“ Als der 


Mayer: Der Waldpfarrer am Schoharie 719 


Todeskampf eintrat, beteten wir: „Chriſte, du Lamm Gottes, der du trägſt 
die Sünden der Welt, erbarme dich über uns!“ Dann ſchlief er ein. 

Am ſiebzehnten Auguſt 1777 bewegte ſich ein langer Leichenzug nach 
dem Schohariehügel. Mehr als zweihundert Särge wurden hinaufgetragen, 
jeder Mann in der Gemeinde war ein Leichenträger geworden. Die Särge 
wurden nebeneinander hingeſtellt, jeden ſchmückte eine amerikaniſche Fahne 
und ein Kranz von Eichenlaub. Ich habe geredet über die Worte: 

„Die Edelſten find auf deinen Höhen erſchlagen! Wie find die Streit: 
baren umgekommen!“ Auf Herkimer anſpielend las ich die Worte: 

„Es iſt mir leid um dich, mein Bruder, ich habe große Freude und 
Wonne an dir gehabt.“ 

Anſere Muſikkapelle ſpielte den Choral: 

„Jeſus meine Zuverſicht!“ 

Singen konnte heute niemand, wir ſind voll Klagens und Weinens. 


Dreiundzwanzigſtes Kapitel 


Es iſt heiliger Abend! Die May iſt mit andern jungen Leuten 
nach der Kirche gegangen, um ſie für das Feſt zu ſchmücken. 

Das Schreiben hält ſchwer, meine Augen wollen nicht mehr, auch 
ſtellt ſich Atemnot bei mir ein. Morgen will ich meine letzte Predigt halten. 

Eine neue Zeit iſt angebrochen, ein anderes Geſchlecht herangewachſen; 
meine Arbeit iſt getan, ich will mich zurückziehen. Nach Oſtern ſoll meine 
Map ſich verheiraten, dann will ich bis zu meinem Tode bei den jungen 
Leuten wohnen. Ich bin arm, ſelbſt die Blockhütte gehört der Gemeinde. 
Doch iſt's hart, ſein Amt aufzugeben. 

Es ſoll noch ein ſchöner Gottesdienſt werden morgen; wir haben 
auch den Troſt des Chriſttagsevangeliums recht nötig bei all der Trauer 
um unſere Toten. Da hab' ich mir aus Deutſchland ein neues Lied ſchicken 
laſſen von einem gewiſſen Gellert, das fängt an: 

„Dies iſt der Tag, den Gott gemacht, 
Sein werd' in aller Welt gedacht! 
Ihn preiſe, was durch Jeſum Chriſt 
Im Himmel und auf Erden iſt.“ 

Das laſſe ich ſingen, und dann die Predigt! Mich überkommt ein 
wohlig Gefühl. Friede auf Erden, Friede im Lande, Friede und Freiheit 
unſerem Volke! Wir haben alles erlangt, wofür wir ſtritten. Waſhington, 
der Präſident, iſt unſer Freund; dem General Herkimer fol auf Regierungs- 
koſten ein Denkmal geſetzt werden; der Richter und der Sheriff am Scho— 
harie ſind beide ehemals meine Schüler und Konfirmanden geweſen. Der 
Paſtor Mühlenberg, der Enkel und Urenkel der beiden Weiſer, iſt der 
Präſident des amerikaniſchen Kongreſſes, alſo neben Waſhington der mächtigſte 
und einflußreichſte Mann im Lande. Wenn ich daran denke, wie der Konrad 
Weiſer zum letztenmal von mir hinwegritt, muß ich immer wieder rufen: 

„Wenn das doch Konrad Weiſer noch erlebt hätte!“ 


780 Lang: Wenn die Blätter fallen 


Sir Wm. Johnſon iſt geſtorben, manche ſagen: an gebrochenem 
Herzen. Wir haben gleiche Rechte mit jedem. Heil unſerem Volk! 

Nun ſterbe ich gerne, fremd bin ich immer in der neuen Heimat ge⸗ 
blieben. Kein Tag, an dem ich nicht an die alte Heimat gedacht habe. 
Ich warte auf das rechte Vaterhaus. Einmal ſoll auch der Waldpfarrer 
nach Hauſe kommen! Doch wir Männer am Schoharie haben's nicht 
ſchlecht gemacht. Ehre ſei Gott in der Höhe. — — 

s 


: * 

So weit hatte der Pfarrer am heiligen Abend geſchrieben. 

Als die May nach Hauſe kam mit ihrem Bräutigam, gegen zehn 
Ahr abends, fand ſie den Pfarrer am Tiſche ſitzen. 

„O Onkel, morgen feiert Ihr das ſchönſte Chriſtfeſt von allen; wir 
haben die Kirche prächtig geſchmückt“, ſprach ſie. 

Er antwortete nicht. Als ſie näher traten, ſahen ſie, wie die Feder 
ſeiner Hand entfallen war, ſeine Hände leicht gefaltet, ſein Antlitz wie betend 
nach oben gerichtet, ein Bild tiefſten Friedens. Das Leben war entflohen. 

Noch wehte auf dem Kirchturme die Fahne vom Friedensfeſte her. 
Man zog ſie auf Halbmaſt. Am nächſten Tag ward jede Haustür im 
Tale mit einem ſchwarzen Trauerflor geſchmückt. Die Weiber weinten laut 
auf bei der Trauernachricht, die Männer ſchauten ernſt darein. Dieſen 
Chriſttag hat man am Schoharie nicht vergeſſen. 

Zwei Tage nachher trug man ihn zu Grabe. Die Vorſteher der 
Gemeinde, der Kreisrichter und die Beamten des Countys waren die Träger. 
Die Schulkinder fangen fein Lieblingslied: „Chriſtus, der iſt mein Leben!” 

Es fehlte nicht einer aus der Gemeinde. Als der Sarg langſam 
in die kühle Gruft hinabſank, da begrub man mit dem Waldpfarrer ein 
Stück der Leiden und Arbeiten, ja der Geſchichte deutſcher Anſiedlung am 


Schoharie! 
2 


Wenn die Blätter fallen... 


Von 
Martin Lang 


Frühſchauer ſtreifen den Buchenſchlag, 
Wird's noch einmal ein ſonniger Tag? 


Wie Schneegewebe hängt die Luft, 
Erzittern die Blätter im Nebelduft. 


Sie flüſtern ſcheu einander zu: 
Biſt du noch da? And du? And du? 


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Arbeitsteilung und menſchliche Kultur 


Von 


Mathieu Schwann 


n der Natur gibt es einzellige Lebeweſen, deren eine Zelle bald 
% dieſe bald jene Funktion übernehmen muß. Bald muß fie der 
Ernährung dienen, bald der Abwehr, bald der Fortpflanzung, 

= BD bald der Erkenntnis. Alles liegt da noch nahe beieinander, und 
manches blieb ja auch bei den höher entwickelten Organismen noch nahe 
genug beieinander. So dient dem Wolf und Hund das Maul mit ſeinen 
Zähnen nicht nur zur Ernährung, ſondern auch zur Abwehr und Vertei— 
digung. Aber nehmen wir nur einmal an, dieſes Maul wäre zugleich 
Magen, der verdaut, nachdem es in Empfang nahm, es wäre zugleich Auge, 
fo müßte die Funktion der Abwehr ausſetzen, folange die Funktion des 
Verdauens dauert, es müßte ebenſo die Möglichkeit des Erkennens auf— 
gehoben werden, ſolange die Energie von der Verdauung in Anſpruch ge— 
nommen wird. Ein ſolches Maul könnte alſo nur nacheinander die 
einzelnen Funktionen verrichten, der Organismus wäre die längſte Zeit mit 
ſich ſelbſt beſchäftigt, und nur ſehr kurze Zeit, in der Zeit des Hungers und 
der Nahrungsſuche, würde er ſeine Aufmerkſamkeit der Außenwelt widmen 
können. And auch dieſe Aufmerkſamkeit würde ſich wieder nur auf die eine 
Betätigung der Nahrungsſuche erſtrecken können, denn ſowie die Nahrung 
aufgenommen wurde, hätte er wieder vollauf mit ſich ſelbſt zu tun. Es iſt 
wohl klar, daß es bei dieſer einſeitigen und kurzen Betätigung nach außen 
niemals zu einem Aberſchuß oder gar zu einer „Kapitaliſierung der Er— 
kenntnis“ kommen könnte. 

Was alſo war hier dringende Notwendigkeit? Für das Nach— 
einander der einzelnen Funktionen einen Erſatz zu ſchaffen, eine Möglich— 
keit des „Zugleich“ zu erfinden. Einen Organismus aufzubauen, der zu— 
gleich eſſen, verdauen konnte, der zur Abwehr gerüſtet, zur Fortpflanzung 
bereit, zur Erkenntnis in jedem Augenblick ausgeſtattet geweſen wäre. 
Schloß fic der Freß⸗ und Fangzelle eine Verdauungszelle an, teilten ſich 
beide in die Erhaltung des ganzen, fo war ſchon etwas erreicht, etwas ſehr 
Großes. Zwei Zellen teilten ſich in die Arbeit, die ihrem Zuſammenleben 
erſte Notwendigkeit war. In einer Stufenreihe von Verſuchen baute die 


782 Schwann: Arbeitsteilung und menſchliche Kultur 


Natur dieſen Weg allmählich aus. Immer mehr Zellen traten zu einem 
Ganzen zuſammen, und mit ihrer Zahl wuchs die Möglichkeit der Differ 
renzierung und Nuancierung der einzelnen Funktionen. Bleiben wir noch 
einen Augenblick bei der Stufe Wolf oder Hund, ſo ſehen wir ſchon eine 
koloſſale Vervollkommnung des Organismus, die durch Arbeitsteilung er 
reicht wurde. Denn da dienen nicht nur einzelne Zellen dieſem oder jenem, 
ſondern ganze große Zellanſammlungen dienen allein der Fortbewegung, 
andere der Ernährung, andere der Verdauung, andere der Erkenntnis. And 
ſelbſt dieſe großen Zellenvereinigungen richteten fic) auf die Elementar 
erſcheinungen der Außenwelt ein: es bildete ſich der Taſtſinn für das Feſte, 
der Geſchmacksſinn für das Flüſſige, der Geruchsſinn, die Witterung für 
das Luftförmige, der Geſichtsſinn für die Atherbewegungen des Lichtes aus. 
And der Gehörſinn? Sogar da gab es noch eine Doppelteilung. Während 
der Geruchsſinn ſich gewiſſermaßen dem „Inhalt“ des Luftförmigen widmete, 
ergriff das Gehör für ſich das „Dynamiſche“ in der Luftbewegung. 
Jener ging auf Erkenntnis der Beimiſchungen der fogenannten „geruch⸗ 
loſen“ Luftwellen aus, dieſer auf deren Stärke, auf den Ton. 

And noch weiter ging die Arbeitsteilung, ſie überſchritt das Indi⸗ 
viduum. Den wichtigen Akt der Fortpflanzung übertrug fie auf zwei Indi⸗ 
viduen, indem fie hier die Organe der Befruchtung, dort die der Empfäng ⸗ 
lichkeit ausbildete. Denn hier lag der größte Gewinn, und hier drohte 
die größte Gefahr; der größte Gewinn, indem ein ſo hoch Vollendetes auch 
in ſeinem Fortbeſtand geſichert werden ſollte, die größte Gefahr, indem 
die Schwangerſchaft die Kraft des Individuums für eine ganze Zeit derart 
in Anſpruch nahm, daß die Funktionen, die die Außenwelt betrafen, Nah- 
rungsſuche, Abwehr, Verteidigung, dadurch behindert wurden und in die 
zweite Linie zurücktreten mußten. Den Schutz des gegenwärtigen und ju 
künftigen Individuums aber dem einen geſchwächten Individuum zu über 
laſſen, war äußerſt gefahrvoll. So teilten ſich die Funktionen in männlich 
und weiblich, und doppelter Schutz erwuchs daraus der Art. Hier aber if 
auch ſchon die Stufe erreicht, wo zwei getrennte Individuen eigentlich ert 
ein Ganzes bilden. Der weibliche Hund allein wäre ein armes Tier, det 
männliche Hund allein hätte nicht einmal das tröſtende Bewußtſein, Zölibatät 
im Dienſte eines „höheren Berufes“ zu ſein; er würde wahrſcheinlich die 
„perverſeſten“ Dinge tun, um wenigſtens durch Täuſchungen ſeine Qualen 
loszuwerden. 

Nun aber — außer den hochentwickelten Sinnen hat der Hund ein 
Gehirn. Aber fo groß es iſt, im Vergleich zu dem anderer Organismen, 
fo klein ift doch dieſe Anlage noch, vergleichen wir fein Gehirn mit feinet 
Körpermaſſe. Da iſt das Gehirn jedes Kindes ſchon größer. Welche 
Funktionen vollzieht nun das Hundegehirn? Zu allererſt einmal vermittelt 
es dem Individuum das Gefühl der Einheit aller jener großen Sell 
organiſationen, die ſeinen Körper ausmachen. Hier fließen alle Empfin⸗ 
dungen, alle Erregungen zuſammen und löſen die individuelle Aktion der 


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Schwann: Arbeitsteuung und menſchliche Kultur 783 


einzelnen Sinneswerkzeuge aus. Und das — die Vermittlung des Einheits 
gefühles — iſt der erſte und oberſte Beruf aller Gehirnanlagen. Erſter 
Beruf aber jedes Zellenzuſammenſchluſſes war, aus dem „Nacheinander“ 
der Funktionen der Einzelzelle ein „Zugleich“ zu machen. Die Zeit ſpielt 
alſo hier herein. Inwiefern aber dient das Hundegehirn der Zeitempfin— 
dung? Greift dieſe Empfindung der Zeit nun auch ſchon im Hunde über 
den Augenblick, über den Tag, über Wochen und Monate und Jahre, 
über die Zeit des einzelnen Individuums gar hinaus? Schwer ſind dieſe 
Konſtatierungen. Aber einiges wiſſen wir da doch. Der Hund erkennt 
manchmal nach Jahren noch ſeinen ehemaligen Herrn und die Orte wieder, 
in denen er einſt gelebt. Eine Erinnerung liegt alſo vor. Zudem wiſſen 
die Züchter, daß eine höher entwickelte „Intelligenz“ der Vorfahren auf die 
Nachkommen übergeht, ſo daß dieſe leichter und ungemein viel ſchneller zu 
dreſſieren ſind, als andere „gewöhnliche“ Hunde, die noch in der Hunde— 
maſſe ſtecken blieben und deren Vorfahren noch nicht eindrangen in das 
kompliziertere Leben „individueller“ Kultur. Alſo findet auch hier ſchon 
eine Art Aufſpeicherung von Erfahrungen ftatt, die es der folgen- 
den Generation leichter machen, zu einer höheren Daſeinsführung empor— 
zuſteigen. Aber darüber hinaus dürfen wir es wohl ganz und gar ver- 
neinen, daß das Tier überhaupt außer ſolchen Anlagen von früher her eine 
Empfindung für die Geſchichte ſeiner Vorfahren habe. Die Empfindung 
des Zeitſinns geht über das Individuum ſelbſt nicht hinaus: das Tier iſt 
für ſich Anfang und Ende. Sein Gehirn dient lediglich der Funktion, ſein 
eigenes Daſein zu empfinden. And doch liegen ſelbſt im Tierempfinden 
die Keime des „Prometheus“, des „Vorherſehers“ vorgebildet. Man denke 
nur an die Bienen oder Ameiſen, die gleich dem Joſeph in der Bibel die 
magere Zeit kommen ſehen und Vorräte für ſie anlegen. 

Ganz und gar aber treten wir aus dieſem engen Kreiſe des Bewußt⸗ 
ſeins und der Betätigung heraus, überſchreiten wir die Grenze zum Men- 
ſchen. Auf Vorrat ſammeln, Erſparniſſe machen, die Erfahrungen der Ver- 
gangenheit zu Rate ziehen, die Zukunft und ihre Möglichkeiten bedenken — 
das treffen wir da alles im großen. Im Menſchenhirn haben ſich im Laufe 
der Generationen derartige Zellſammlungen vollzogen, daß wir auch hier 
von einem „Aberfluß“ reden können. And ſo ſicher es iſt, daß bei den aller 
meiſten Menſchen dieſer „Aberfluß“ nie in Verwendung tritt, daß ſich ihre 
Gehirntätigkeit auf das Notwendige und Naheliegende beſchränkt, daß ſelbſt 
bei ſehr vielen die Gehirnfunktion nicht über die eigene Daſeinsempfindung 
hinausgeht, fo ſicher ift es auch, daß zu einer Verwendung jenes Überfluffes, 
zu einer unendlichen Bezugſetzung der Zellinhalte und zu einer regſten 
Spekulations⸗ und Phantaſietätigkeit zum mindeſten die abſtrakte Möglich: 
keit bei faſt allen vorhanden iſt. Aber auch hier drohte eine Gefahr: die 
Gefahr des Vergeſſens. Ich ſtelle mir den phyſiologiſchen Vorgang des 
Vergeſſens fo vor, daß infolge von Nichtverwendung einzelner Gebirn- 
partien eine Verkümmerung und Anterernährung dieſer Partien eintritt, daß 


784 Schwann: Arbeitsteilung und menſchliche Kultur 


ſomit die Bilder, die hier aufgeſpeichert waren, verblaffen und vergehen, jo 
daß, treibt höchſte Erregung wieder einmal einen kräftigen Blutſtrom durch 
Diefe-verlaffenen Partien unſeres Bewußtſeinsgartens, keine greifbaren Bilder 
mehr vor unſerem Erkennungsvermögen erſcheinen, ſondern Schemen, die 
ganz und gar außerhalb unſeres kauſalen Empfindens herumſchwirren und 
darum die Möglichkeit ſcheinbar willkürlicher Bezugſetzungen geſtatten. 

Der Gefahr des Vergeſſens aber baute der Menſch wiederum vor, 
indem er ſeine Erfahrungen ſammelte. Er verließ ſich da nicht einſeitig auf 
die Inſchriften, die die Geſchehniſſe in ſeinen Gehirnzellen hervorbrachten, 
ſondern er ſchrieb ſie mit der eigenen Hand auf Pergament und Papier. 
So erhielten wir das große Magazin menſchlicher Erfahrungen, wie es in 
den Büchern der Geſchichte vorliegt. And das wieder war gleichbedeutend 
mit einer Entlaſtung des Gehirns, ſo daß hier wieder Kräfte frei wurden 
zu neuer Tätigkeit, zu der Tätigkeit verſtandesmäßiger Sichtung der ein- 
zelnen Erfahrungen zu Erfahrungstypen, zu ſubjektiver Verwertung des 
außerhalb aufgeſpeicherten objektiven Tatſachenmaterials in der Arteilsbildung 
der Vernunft. 

An dieſem objektiv vorhandenen Vorrate menſchlicher Erfahrungen 
kann nun jeder Menſch teilnehmen. Er kann durch Studium der Ver 
gangenheit die trüben Bilder ſeiner Gehirnzellen auffriſchen und übermalen, 
er kann ſich alfo die pofitive Unterlage zu feiner eigenen Arteilsbildung ver 
ſchaffen und er kann zugleich teilnehmen an der Arteilsbildung anderer, ſie 
erweitern, zurückſchrauben, wo fie phantaſiemäßig ſich zu weit vorwagte, kurz, 
eine eigene Kontrolle iſt ihm ermöglicht. Das Individuum ſchreitet nicht 
nur zeitlich über ſich hinaus, ſondern die Erfahrungen aller Vorfahren wachſen 
ihm zu ſeiner Erfahrung zuſammen, und in ſeinem Bewußtſein erwacht der 
Geſamtorganismus Menſchheit über alle Einzelindividuen hinũber zu 
Leben und Wirklichkeit. Aus einer Anzahl wird ein Ganzes. 

Fragen wir nun einmal, was wir im eigentlichſten Sinne unter „Menſch“ 
verſtehen, ſo iſt es ſicher, daß Menſch das Weſen iſt, das in vollem Be⸗ 
wußtſeinskonnex mit der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft ſtebt, 
das weit über feinen eigenen Anfang hinaus die ganze Menſchwerdung 
bis zu ſich herauf als ſein eigen betrachtet, das weit über ſein Ende hinũber 
die Zukunft dieſer Menſchwerdung als ein Etwas betrachtet, das im höchſten 
Grade ſein Intereſſe erfordert und unbedingt ſichergeſtellt werden muß. 
Das Wörtlein „Zeit“ — „Augenblick“, fo wichtig und wertvoll der Augen⸗ 
blick auch im einzelnen erſcheint — ſpielt hier keine Rolle. Es verknüpft 
ſich fofort den unzähligen Augenblicken der Vergangenheit, den unzähligen 
der Zukunft, kurz, praktiſch mag das Zeitbewußtſein, das Zuratehalten det 
Zeit immer ſein, aber es ſteht nicht mehr allein. Wie zu der Gehirntätig⸗ 
keit des Tieres die Möglichkeit verſtandesmäßiger Ordnung und vernünf⸗ 
tiger Erkenntnis trat, ſo zu ſeinem Daſeinsempfinden die Ewigkeitsabnung 
des Menſchen, ſo zu der noch ganz und gar in der Artempfindung ein 
geſchloſſenen Individualempfindung des Tieres die nuancierteſte Ichempfin⸗ 


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Schwann: Arbeitsteilung und menſchliche Kultur 785 


dung des Menſchen, verbunden mit der das letzte Staubatom wie die leuch⸗ 
tenden Weltkörper des Aniverſums umfaffenden Alleinsempfindung des 
gleichen Menſchen. Weit über die bloße Artempfindung des Tieres dehnte 
ſich die Empfindung des Menſchen aus, und Familie, Geſchlecht, Stamm, 
Volk, Menſchheit, Erde, Sonne, Welt find die gewaltig erweiterten Ringe, 
in denen ſich ſein Denken bewegt nach der einen Seite, nach der andern 
ſteigt es über alle Artempfindung hinaus bis zum Mitleid mit dem Wurm, 
bis zur Freude an der blühenden Pflanze. Aberall fühlt ſich das Ich eve 
griffen wie von einem Teile ſeiner ſelbſt, wie von irgend einer Möglichkeit 
zu feiner Ergänzung und Vervollkommnung. Antrennbar ſteht im höchſt⸗ 
entwickelten Menſchenbewußtſein das Ich verbunden mit dem All. And 
wo wir ein ſolches Individuum ſehen, ſagen wir: das iſt ein Menſch. 

Nun aber die Arbeitsteilung! Da gibt es Kaufleute, Fabrikanten, 
Arzte, Juriſten, Künſtler, Arbeiter uſw. uſw. And unter den Arbeitern 
gibt es ſolche, die nur das Gewinde der Schraube machen, andere machen 
die Köpfe, andere ſchmelzen das Eiſen, andere fördern das Eiſen, andere 
fördern die Kohlen, die zum Eiſenſchmelzen nötig find andere drehen nur 
eine Kurbel — tagaus, tagein, jahraus, jahrein. Als hätten ſie nur ein 
ganz kleines Stückchen Gehirn, das ſie lediglich zu dieſer einen Funktion 
befähigte, jo ſtehen fie im Getriebe der Weltkräfte. Die Spezialiſierung 
— wir wiſſen es — erhöht die Fertigkeit im einzelnen. Höchſte Fertigkeit 
im einzelnen kann eine volle Befriedigung gewähren, wenn entweder eine 
gänzliche Stumpfheit gegenüber allen andern Betätigungen des Menfchen- 
geiſtes vorliegt, oder wenn ich mich bei der Anfertigung des Einzelwerkes 
ſtets im vollen Zuſammenhang mit dem Ganzen fühle, wenn ich die Not ⸗ 
wendigkeit und Nützlichkeit meines Werkes überſehe und wenn ich durch 
dieſes Bewußtſein mein Tun, und wäre es das einſeitigſte, zu adeln ver⸗ 
mag. Wo aber dieſes Bewußtſein nicht vorhanden iſt, wo ich das Ge⸗ 
bundenſein an dieſes Einzelwerk nur als Hindernis empfinde, als Hindernis 
und Laſt, die mich abhält, mir jenes menſchliche Ganzbewußtſein zu ver⸗ 
ſchaffen, wo ich es am eigenen Leibe ſpüre, daß dieſe Gebundenheit mich 
nur zur Abſtumpfung gegen meine höchſte und heiligſte Sehnſucht führen 
kann, da legt ſich anftatt erlöſenden Menſchempfindens ein tief niederdrückendes 
Sklavenempfinden über mich, das mir zuerſt nur zuſchreit: Du kommſt um 
dein Recht! And trotzdem: vor meinem Recht ſteht meine Not und hält 
mich feſt bei dieſer hundertmal verfluchten Arbeitseinſeitigkeit. Als wäre 
ich zurückgeſunken auf jenen Zuſtand der Einzelle, die nur arbeitet, um zu 
eſſen, und ißt, um wieder arbeiten, d. h. leben zu können, ſo fühle ich mich, 
nur daß es in mir kein Einzellenbewußtſein zu befriedigen gilt, ſondern daß 
ein Millionenzellenempfinden in mir rumort und Sehnſüchte erweckt, die ich 
nie werde befriedigen können. 

Die Not ſchuf die Arbeitsteilung. Nun ſchuf die Arbeitsteilung neue 
Not. Denn ſehen wir doch hinaus: der Kaufmann iſt und bleibt einfei- 


tigſter Ellenmeſſer — bis er die Not überwand. Nun erſt, i ihn 
Der Türmer X, 12 


786 Schwann: Arbeitsteilung und menſchliche Kultur 


die Not nicht ab, taut er auf. Kunſt, Wiſſenſchaft, Literatur traten in 
ſeinen Geſichtskreis. Erſt wenn die Not gebrochen iſt, kann der Kaufmann 
dem Künſtler, der Fabrikant der Wiſſenſchaft, der Arbeiter den andern 
Lebensfunktionen, die jener Uberfluganlage des menſchlichen Gehirns ent: 
ſprechen und entſtammen, ſeine Teilnahme und Aufmerkſamkeit widmen und 
ſich an ihrem Fortfchritte erfreuen. Erſt wenn der Augenblick, die Zeit mit 
ihren Forderungen vor ihm zurücktrat, ward die Bahn zur „Ewigkeits⸗ 
empfindung“ in ihm frei. Nun erſt kann er werden, was er als ſeine ur⸗ 
anfänglichſte Beſtimmung in ſich walten fühlte: Menſch. 

Wir ſehen: mit der Arbeitsteilung allein iſt das Werk und die 
Vollendung der Menſchenkultur nicht ſicher geſtellt. Einem Fabrikanten 
ſagte ich das einmal. Da war er der Meinung: Doch, einen andern Weg 
gebe es nicht. Es müſſe dahin kommen, daß im Laufe einiger Generationen 
durch Vererbung und fortgeſetzte einſeitige Abung ganze Menſchenarten und 
Menſchenklaſſen gebildet würden, die zu gar nichts anderem mehr fähig 
ſeien, als zur Verrichtung einer und derſelben Arbeit, die infolgedeſſen auch 
niemals die Empfindung haben könnten, daß ihnen etwas fehle. Der ganze 
Menſch müſſe gleichſam zum Träger einer Funktion umgebildet werden, 
wie z. B. Ahrfederfingermenſch, Schraubenfingermenſch, Kurbeldrehhand⸗ 
menſch uſw. Die Luſt und Freude dieſer Menſchen werde ſich dann nur 
auf dieſe Fertigkeit und die Möglichkeit, ſie einzig fortzupflanzen, beziehen. 
Eine „großartige Perſpektive“! Nur bleibt mir die Frage beſtehen: Was 
dann, wenn die Spezialiſierung der Art bis in die phyſiologiſchen Funktionen 
hinein ausgebildet und entwickelt wurde? Solche „Menſchen“ brauchen 
dann doch nicht mehr leſen und ſchreiben zu lernen, fie brauchen über: 
haupt nichts mehr zu lernen, ſelbſt das Sprechen iſt dann überflüſſig, ſie 
brauchen nur noch die Kurbel zu drehen, und je weniger fie „Menſch“ find, 
je weniger ſie denken und „Allotria“ treiben, um ſo mehr werden ſie wie die 
maſchinenmäßigen Automaten ihr Werk mit Präziſion und Sicherheit ver 
richten. Das mag für das Auge eines Technikers und Fabrikanten ein groß⸗ 
artiges Schauſpiel ſein, für uns iſt es eine gleich ſchauderhafte Empfindung. 
wie ſie uns bei dem Eintritt in ein Idiotenheim überfällt. Dieſe „dementierten? 
Menſchen — eine gräßliche Vorſtellung! Da müſſen wir denn doch lieber darauf 
warten, bis uns ein Erfinder den Weg zeigt, wie unſere Frauen dahin zu 
bringen ſind, Hände ohne Köpfe und ohne Gehirne zu gebären. Denn Kopf 
und Gehirn nur noch als Anhängſel von Händen — das iſt einfach ſcheußlich. 

Die Frage iſt doch die: Wollen wir die Auflöſung des Menſchen 
weſens, die Vernichtung feiner Kultur, oder wollen wir deren höchſte Vollen⸗ 
dung? Wenn das erſte, ſo wäre es richtig, daß wir begönnen, den Menſchen 
wieder in feine einzelnen Funktionen aufzulöſen, wie er ehedem aus mäch⸗ 
tigem Erlernungsdrange zum Zuſammenraffen aller möglichen Funktionen 
getrieben wurde. Wenn aber das zweite, ſo heißt es feſthalten an dem 
errungenen Beſitz, und aus ihm und feinem Weſen heraus den paffenden 
Weg zur Zukunft ſuchen und meißeln. 


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Schwann: Arbeitstellung und menſchliche Kultur 787 


Arbeitsteilung allein tut's nicht. Vorbedingung der menſchlichen Kultur 
iſt ein „Menſchengehirn“, das Bewußtſein der Menſchheit, inſtalliert in 
jedem einzelnen. And weil dies ſo und jenes ſo iſt, iſt es auf die Dauer 
unmöglich, eine Arbeitsteilung ins Unendliche weiterwachſen zu laſſen, ohne 
zugleich die Bewußtſeinserweiterung des einzelnen Individuums forte 
ſchreitend zu entwickeln und auszubilden. Familien-, Art-, Klaffen-, Standes-, 
Stammes-, Volksbewußtſein — Ringe find es in dieſem Entwicklungsgange, 
an deſſen Ende das Ich mit feinem Alleinsbewußtſein ſteht: der Menſch. 
And weil dies das Ziel iſt, an dem wir nicht vorbei können, darum iſt jede 
Feſtlegung bei einem jener Entwicklungs ringe gleichbedeutend mit Verzicht 
auf das Ziel und der Verzweiflung, ferner an der Wegbahnung zu jenem 
Ziele mitarbeiten zu können. 

Die Not rief die Arbeitsteilung hervor. Dieſe ſollte zur Wende der 
Not werden. Statt deſſen wurde ſie zur neuen Gefahr. And ſie wurde es 
und mußte es deshalb werden, weil der Arbeitslohn die Exiſtenznot des 
einzelnen nicht beſeitigte, weil die Arbeitslaſt bis zur vollen Erſchlaffung 
auf den einzelnen niederſank. Er erhält wohl ſo viel, um morgen wieder mit 
der gleichen Arbeit einzuſetzen, die er geſtern verrichtete, aber er erhält nicht 
ſo viel, um zugleich für die ebenſo notwendige Erweiterung und Stärkung 
feines Menſchenbewußtſeins ſorgen zu können. Nicht der Menſch wird be- 
zahlt, ſondern die Hand. And aus dieſer Erkenntnis heraus entſprang die 
Lohnbewegung, aus ihr die Arbeit ſozialer Fürſorge auf allen Gebieten. 
Es reicht aber immer noch nicht. Denn was not tut, iſt klar: lebendigſte 
Einſicht in alle menſchlichen Beziehungen muß nun den einzelnen wieder 
in den Zuſammenhang, zur bewußten und ermutigenden Fühlungnahme mit 
dem ganzen Leben bringen, aus der die Arbeitsteilung ihn herausriß. 

Indem wir dieſe geſellſchaftlichen Anſammlungen als eine einfache 
Fortſetzung der natürlichen Vorgänge erkannten, denen die Natur bei dem 
Aufbau und der Veredlung ihrer Organismen folgte, ſo können wir nun 
auch dieſe organiſchen Vorgänge als Vorbilder unſrer geſellſchaftlich not⸗ 
wendigen Maßregeln betrachten. Wie aber wirkt der Organismus, wie 
waltet er? Muß einmal eine Partie ſeiner Zellſammlungen mehr angeſtrengt 
werden, ſo ſendet er auch kräftigere und beſchleunigte Blutwellen zu dieſen 
Partien. Er mehrt die Ernährung, er wehrt der Erſchlaffung, er arbeitet 
als Ganzes an der Stärkung dieſer Partien. Denn ermüdeten ſie, ehe 
das Ziel erreicht iſt, ſo droht dem Ganzen die Gefahr des Erliegens. And 
wenn es trotzdem durch verfehlte Zielſetzung oder infolge falſcher, weil ſchon 
nervöſer Diagnoſe des Gehirns zur totalen Ermüdung einzelner Nerven⸗ 
oder Muskelpartien kommt, wenn die Füße verſagen oder die Hände, ſo ſind 
es eben nicht nur die Füße oder Hände, die das Unglück allein fühlen und 
tragen, ſondern das Gehirn fühlt ſie mit, das Gehirn ſinnt auf Abhilfe, 
das Herz arbeitet an der Erhaltung, an der Geneſung und an neuer Kräf⸗ 
tigung: der ganze Organismus tritt in Aktion, die einzelnen Partien ihrem 
Erſchlaffungszuſtand zu entreißen. Warum? Weil hier ein Ganzempfinden 


788 Scharreimann: Ave Maria 


waltet. Trotz einfeitigfter Arbeitsleiſtung der einzelnen organiſchen Partien 
ſtehen ſie in ſo innigem Zuſammenhange mit dem Ganzen, daß das Ganze 
leidet, leidet der einzelne Teil. Wohl gibt es Vermittlungen im Organis- 
mus, aber „Mittelbarkeiten“ gibt es nicht, denn in den Gehirnzellen hat 
jede Muskel- und Nervenpartie ihre „unmittelbare“ Vertretung. 

And in einem Volksleben kann es nicht anders fein. Nur daß da. 
noch vielfach die Meinung obwaltet: wenn es nur der einzelnen Partie 
gut gehe, wenn nur ſie geſund ſei, ſo liege an der Not der andern nicht viel. 
Aber wie verkümmerte Zellgebilde Rebellionen im ganzen Körper anrichten, 
ſo im Volkskörper verkümmernde Klaſſen, die ſich vom Leben des Ganzen 
vernachläſſigt oder gar ausgeſchloſſen fühlen. Im Gegenteil, gerade hier 
tut intenſivſte Bewußtſeinsentwicklung not. Gerade hier muß jenes einige 
Menſchempfinden herangezogen und entwickelt werden, das wir als einzig 
mögliches Korrelat und Korrigens der Arbeitsteilung erkannten. Eine inten: 
five Arbeit hätte hier einzuſetzen, die Arbeit der organiſchen Zuſammen⸗ 
faſſung aller bisherigen Anfangsbildungen zur Erzeugung eines einheitlichen 
und alle nationaliſtiſchen, ſtändiſch, konfeſſionell oder ſonſtwie ſeparatiſtiſchen 
Beſchränkungen und Beſchränktheiten überſteigenden menſchlichen Kultur: 
gewiffens, 

Und die deutſche Schule?! — Hoffen wir, arbeiten wir, daß wieder 
einmal jener große Geift des Humanitätszeitalters in neuer ſchöpfe⸗ 
riſcher Form, mm aber getragen und herbeigerufen von dem nationalen 
Bewußtſein ſelbſt, zum Spiritus rector unfrer ganzen Volkserziehung werde! 


2 
Ave-Maria 


Bon 
H. Scharrelmann 


Nun hebt der Abend die milde Hand, 
Streckt weit ſie aus, weit über das Land, 

Er ſchreitet gemeſſen den Weg am Korn, 

Im Schlafe fingt noch ein Vogel im Dorn — 
Ave Maria! 


Ein wohliges Wogen im ÜÄhrenfeld — 

In lautloſer Stille lauſcht die Welt; 

Da faltet der Abend fromm ſeine Hände, 
Schaut friedevoll über das reiche Gelände — 
Ave Maria! 

In fernen Fenſtern Lampenſchimmer, 

Am Himmel filbernes Sternengeflimmer, 

In langen Zügen atmet die Erde, 

Im Traume noch ſegnend des Tages Beſchwerde — 


Ave Maria! 
LYS 


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Zwiſchen Tag und Dunkel 


Von 


Phil. Schneider 


Y feine grauen Flöre in die nackten Zweige des alten Holun- 
S ders, der an der Seitenwand eines abſeits vom Dorfe liegen- 
den Häuschens emporkletterte und oben mitleidig durch das 
ſchmale Genfter ſah. Mühſam kämpfte das Ollämpchen vor dem glas- 
umkuppelten Kruzifixe auf der Kommode gegen die Dämmerung im Zimmer, 
in deſſen Mitte auf zwei Stühlen ein kleiner Sarg ſtand. Wie ein fchla- 
fendes Engelchen, mit halboffenem Munde, lag das kleine Mädchen im 
weißen Totenmantel, um den braunen Lockenkopf einen Kranz lebender 
Blumen, die letzten Kinder des Herbſtes, die weißen Händchen wie im 
Gebet auf der Bruſt geſchloſſen. 

In der darunterliegenden Stube war's noch dämmriger, denn in das 
einzige Fenſter lehnte ſich der alte Holunder mit der teilnehmenden Zu- 
dringlichkeit eines alten Freundes. Eben wuſch die alte Bauernfrau Rar: 
toffeln aufs Feuer und ſetzte einen Keſſel mit Waſſer hinten auf die Trommel 
des altmodiſchen Ofens, in deſſen hellem Scheine die Katze lag. Von fallen⸗ 
den Funken aufgeſcheucht, ſtrich das Tier heimelnd um die rauhe Arbeits- 
hand der Frau, die nun noch Holz ins Feuer nachlegte. 

Es war jetzt ſchon faſt dunkel im Zimmer. 

Sollte fie Licht anzünden? ... Nein, lieber wollte fie noch etwas 
auf der Ofenbank ſitzen und zum Troſte der Abgeſchiedenen einen Nofen- 
kranz beten; beſonders zum Troſte aller derer, die aus dieſem Haufe ſchon 
den Weg zur ewigen Heimat gefunden hatten. 

Ihr im Schoße ſchnurrte die Katze, und der Topf auf dem Feuer 
begann leiſe zu ſingen. 

Ob ſie auch alle den Frieden gefunden hatten? Auch der, der vor 
nunmehr ſiebzehn Jahren da oben an der kleinen Billa Stelle gelegen? Mit 
gebrochenem Genick hatten ſie ihr den heimgebracht — wie's gekommen, 
wußte keiner —, ihn, der ſo viel Unglück über die Seinen gebracht hatte. 
Denn Frau und Kinder hatte er darben laſſen, hatte fie in Schulden ge- 
fest und alles, alles durch die Kehle gejagt. And in einer Stunde der 


790 Schneider: Zwiſchen Tag und Dunkel 


Verzweiflung hatte ſie, die heißen Herzens war, den lieben Gott um Er⸗ 
löſung gebeten. Aber was danach gekommen war, hatte ſie das denn ge⸗ 
wollt mit ihrem Beten? Hatte fie die Erlöſung gemeint? ... O, fie 
wußte es nicht! „Herr, gib ihm die ewige Ruhe!“ Tür ihn wollte ſie 
das erſte Geſetz des Noſenkranzes beten. 

Die Perlen waren langſam durch die harte Hand niedergeglitten. 

O ihr aufbegehrend Herz! Wenn ſie ihres Annchens dachte, das 
einſt auch, fo alt wie Billa, droben gelegen hatte, überſchlich fie das Ge: 
wußtſein alter Schuld ... Die drei hungrigen Kinderſchnäbel hatte fie 
nach ihres Mannes Tode ja gerne verſorgt. Aber die Zinſen, die Zinſen 
für die zweitauſend Mark, die er auf ihr Haus gehangen, und die Ab⸗ 
zahlung! Wenn ſie noch an jenen Termin dachte: kein Geld, ſo viel ſie 
geſchafft! And ohne einen Funken von Mitleid mit ihrer und der armen 
Würmer Not hatten ſie ihr einen von ihren paar Ackern verkauft, den 
beſten, Erbgut von ihren Eltern! Da hatte ſie des Toten gedacht in 
bitterem Zorne und ihm einen unſeligen Wunſch in die Ewigkeit nad: 
geſchickt. Aber der Herr hatte ſie heimgeſucht dafür: einige Tage darauf 
mußte ſie ihr Jüngſtes, Annchen, ihr Liebſtes auf Erden, in den Sarg 
legen. Es hatte ſterben müſſen um der Sünde der Mutter willen. Wie 
hatte ſie bereut! Nun war ihr Kindchen ein kleiner Engel, der wohl beim 
lieben Gott für ſie bitten würde. Annchen bedurfte keines Gebetes, und 
drum wollte ſie auch das zweite Geſetz für ihres Mannes Seelenruhe beten. 

Wieder murmelten die Lippen die frommen Worte. 

Das Fenſter war nun kaum mehr von der dunkeln Wand zu unter: 
ſcheiden, und nur der Schein des Ofens zeichnete auf dem Boden einen 
hellen Streifen. 

Auch über die Seelenruhe des dritten, der tot im Zimmer da oben 
gelegen hatte, durfte fie ruhig fein, wenn er auch ohne Beichte und Weg: 
zehrung hatte hinübergehen müſſen. An ſeinem Tode wenigſtens hatte ſie 
keine Schuld. Darum aber war ſie auch an einem gerechten Gotte ver⸗ 
zweifelt, der zugelaſſen, daß Franz, ihr braver Franz, von einem Spreng: 
ſchuſſe auseinandergeriſſen worden war... Er hatte ihr, die ſich im Tag⸗ 
lohn bei den Bauern und nach Feierabend auf ihren eigenen paar Acker⸗ 
ſtücken abplagte, helfen wollen, ihr Eigentum von der Schuld freizumachen, 
um einen Notgroſchen für das Alter der Mutter ſorgen wollen. Drum 
war er, gerade aus der Schule entlaſſen, in den Steinbruch auf Arbeit 
gegangen, während Sophie, die Ulteſte, den Haushalt beſorgte. Ihr braver 
Junge! Alles hatte er ihr heimgebracht und nur wenige Groſchen für 
ſich genommen, und auch davon gar hatte er noch geſpart, wie ſie ſpäter 
gefunden. Und fortgemüßt hatte er auf ſo ſchreckliche Weiſe, fo jung und 
fo brav! ... Auch er ſollte zwei Geſetze des Roſenkranzes haben; und 
brauchte er ſie nicht, mochten ſie ſeinem Vater zugute kommen. 

Die abgegriffenen Perlen glitten in gleichen Zwiſchenräumen an der 
Schnur hinab, die welken Lippen murmelten, die Katze ſchnurrte, das Feuer 


Schneider: Zwiſchen Tag und Dunkel 791 


kniſterte, die Keſſel brodelten und ſummten, die Ahr tickte: und das alles 
klang zuſammen in eine leiſe, ſchwermütige Totenklage. 7 

Die Frau erhob ſich und legte den RNoſenkranz beiſeite. Die Katze 
war zur Erde geſprungen und blinzelte, ſich ſtreckend, ins Feuer. Um Licht 
zu haben, hatte die Alte die Ofentüre geöffnet. Nun goß fie die Kar⸗ 
toffeln in einen Eimer ab, ſetzte ſie auf den Deckel der Trommel und den 
fingenden Waſſerkeſſel nach vorne. 

So, nun blieb noch das letzte Geſetz zu beten. Dafür hatte ſie keinen 
Toten, aber eine, die für ſie ſo gut wie tot war, deren Kind es war, das 
da oben im Sarg lag... Nein, mit der hatte fie nichts mehr zu ſchaffen; 
und ſo wollte ſie denn das eine Geſetz zur Erlangung einer glücklichen eigenen 
Sterbeſtunde beten. 

Und fie begann halblaut: „Vater unfer, der du biſt in den Himmeln, 
geheiligt werde dein Name, zu uns komme dein Reich, dein Wille geſchehe 
wie im Himmel, ſo auch auf Erden! Anſer täglich Brot gib uns heute; 
vergib uns unſere Schuld, wie auch wir vergeben unſern Schuldigern ...“ 

Hier hielt ſie an. 

Was betete fie denn da? „ .. vergib uns unſere Schuld, wie auch 
wir vergeben unſeren Schuldigern ...“ Als fie es bei den vorhergehenden 
Geſetzen gebetet hatte, hatte ſie dieſe Worte wohl nicht ſo recht bedacht. 
Alſo Vergebung fremder Schuld verlangte der Herr, wenn er uns unſere 
eigene vergeben fol. Und wenn man nicht vergab? ... O, er hatte Mittel, 
ſtörriſche Herzen gefügig zu machen! Das hatte ſie wohl erfahren, da⸗ 
mals, als ſie im Zorn ihres toten Mannes gedacht hatte. 

Aber in dieſem Falle, würde Gott da nicht einmal eine Ausnahme 
machen? ... „Sophie, bleib brav und mach mir keine Schande!“ hatte fie 
zu ihrer Tochter geſagt, als dieſe in der Stadt Dienſt nahm. In die Hand 
hatte die es ihr verſprochen; und dennoch, dennoch! Von ihr hatte ſie den 
allerbitterſten Schmerz erfahren. Wenn ſie noch jenes Tages gedachte, da 
Sophie heimgekommen war mit einem kleinen Kinde, ihrem Kinde, der 
armen Billa! Da hatte ſie gemeint, vor Schimpf und Schande vergehen 
zu müſſen. Das hatte ihr ihre Tochter antun können; die Tochter ihrer 
Mutter, die für ihre Kinder gedarbt und geſchafft, die ſie in Sitte und 
Gottesfurcht erzogen hatte! Vergeblich waren der Gefallenen Tränen und 
reuigſte Bitten. Zum Anglück noch die Schande: das war zu viel! Des 
Nachts hatte ſie auf den Knien gelegen und zum Himmel um einen Strahl 
Lichtes in die Nacht und Not ihres Herzens gerufen. Eine Erleuchtung 
ſchien ihr endlich der Gedanke: Das unſchuldige Kind ſoll bei mir bleiben, 
feine Mutter aber hat hier kein Herz und kein Heim mehr... Das war 
ihr Recht, das durfte fie! 

And doch und doch: ... „vergib uns unſere Schuld, wie auch wir ver⸗ 
geben unſern Schuldigern .. Wo ſtand da etwas von einer Ausnahme, 
war da ein Vorbehalt? ... Nur von Vergebung redete das Gebet. 
Herr, was verlangſt dul... Ihrem Manne, fo hart es ihr angekommen, 


792 Schneider: Zwiſchen Tag und Dantel 


hatte fie ja verziehen. Aber da trug fie vielleicht wohl ſelber ſchwere 
Schuld ... Ob der liebe Gott ihr die wohl vergeben hatte?. Dem 
Schächer am Kreuze, ja ſeinen Mördern hatte der Heiland Verzeihung 
gewährt; dann ihr... Seinen Mördern fogar!... And fie und ihre 
Tochter? ... Immer vergeben, vergeben!... Lieber Gott, fie kann es 
ja nicht! 

Früher, wenn ſolche Gedanken angepocht hatten, waren ſie bald ab⸗ 
gewieſen geweſen. Warum nur heute nicht? ... Ach, heut hatte der Tod 
ja wieder angeklopft, dann kommen eigene Gedanken. And die kleine Tote 
war ja auch das Kind der Verſtoßenen. . .. Biſt du es denn nicht zu⸗ 
frieden, lieber Gott, daß ſie das Kind aufgezogen, daß ſie es bald von 
Herzen gern gehabt hat? ... Aber es war ja auch ein fo liebes Ding! 
Alles, was in den Jahren der Einſamkeit Licht und Freude in ihrem Leben 
geweſen war, war ja von Billa gekommen. Das erſte Lachen, das erſte 
Wort, der erſte Schritt: bei ihren eigenen Kindern war ihr Entzücken dar⸗ 
über nicht größer gewefen... Und nun war das Kind tot, und fie war 
wieder allein, allein mit all den trüben Gedanken. Warum nur hatte der 
Herr ihr nun dieſen letzten Troſt genommen? Warum ... warum? 

Brennende Tränen tropften aus den alten Augen. 

Warum? 

Da kam es über ſie: 

Nein, das alles wollte der liebe Gott nicht von ihr. Verzeihung 
forderte er, Vergebung fremder Schuld, wie ſie ſich auch ſträubte. Sein 
iſt die Rache, unſer die Verzeihung. Was fie dem Kinde getan, war ihm 
nicht genug, ſwar ihm nicht einmal angenehm, da er es ja wieder zu ſich 
genommen. Strafen wollte er ſie, wie auch einſt durch Annchens Tod. 
Klar ſtand's vor ihrer Seele: Vergeben mußte ſie, wie der Heiland; und 
fie hatte es ſich verhehlen wollen; und einzig ſelber trug fie die Schuld... 
Herr Gott, deine Wege ſind rauh! 

Stichdunkel war's im Zimmer. 

Sie ſtöhnte auf. Es litt ſie nicht länger mehr allein. Sie ſtieg hin⸗ 
auf in die Totenkammer, und die alte Treppe ſtöhnte mit ihr. Wie eine 
zitternde kleine Seele flackerte das ſchwache Flämmchen im Luftzuge. Die 
Großmutter kniete hin, und milde Tränen liefen über die rauhen Wangen. 

„Meinetwegen haſt du ſterben müſſen, Billa, weil mein Herz ſo hart 
war. Aber gelt, du biſt mir nicht böſe, denn beim lieben Gott iſt's ja ſo 
viel ſchöner. Bald wird auch deine Mama kommen; der will ich ſagen, 
was du für ein lieb Mädchen geweſen biſt. Und dann wollen wir zu⸗ 
ſammen an dein Grab kommen und beten.“ 

And dann ſprach die Großmutter das letzte Geſetz des Noſenkranzes 
für ſich, ihre Tochter und alle armen Sünder. Darauf ſtand ſie auf mit 
ſteifen Knien, nahm den geweihten Palmzweig von der Türe und beſprengte 
den ſchlafenden Engel des Friedens fromm mit Weihwaſſer. 


ep 


— — ASE Emr ——— .— re —-— 


Der Beamte als Staatsbürger 


zie Amwertung aller Werte, wie wir fie nicht bloß auf materiellem, 
ſondern auch auf fozial-ethifchem Gebiete zu beobachten Gelegenheit 
5 haben, iſt auch an dem mittelbaren und unmittelbaren Beamtentum 
nicht ſpurlos vorübergegangen. Es dauerte eine geraume Zeit, bis dieſer neu- 
zeitliche Amſchwung die dicken Mauern der Beamtenſchaft durchdrungen und 
ſie hatte teilnehmen laſſen an dem Werden und Wachſen der gegenwärtigen 
Strömungen. Den Behörden ſind ſie ſtets ein Anſtoß geweſen. Es war ja 
ſo bequem und außerdem für den Staat ſo wohlfeil, Beamte zu haben, die 
vor jedem Vorgeſetzten in eitel Knechtsſinn erſtarben, denen die „Treue bis 
auf die Knochen“ ein vollgültiger Erſatz war für den mageren Geldbeutel, den 
hungrigen Magen und den unbekannten perſönlichen Ehrbegriff. Die Ehre des 
Antergebenen war in den Augen des Vorgeſetzten ein vogelfreies Gut. Anter 
Friedrich Wilhelm I. gedieh dieſes Beamten verhältnis zu höchſter Blüte. Daß 
der Beamte auch ein Staatsbürger mit entſprechenden Nechten war, kam ihm 
nicht in den Sinn. Er vermißte dieſe höchſten Güter nicht, denn er hatte ſie 
nie beſeſſen. Bis in die Zeiten Friedrich Wilhelms IV. hinein gefiel ſich der 
Vorgeſetzte dem Antergebenen gegenüber in dem ſprichwörtlich gewordenen 
„Er“. Selbſt der aufgeklärte König war ganz in den Anſchauungen vergan- 
gener Tage befangen, wenn er bei feierlichen Empfängen Lehrer unbeachtet 
ließ, die einen Bart trugen, oder wenn er ſie gar unwirſch anfuhr. 

Es ſei ferne von uns, dem Typus des altpreußiſchen Beamten jeglichen 
Vorzug abzuerkennen. Er war als Erſcheinung ſeiner Zeit berechtigt und muß 
auch aus dieſer heraus gewürdigt werden. Was wir aber entſchieden ver⸗ 
urteilen, das iſt der Verſuch, dieſen „altpreußiſchen Beamten“, der nach 
Treitſchke den preußiſchen Staat geſchaffen hat und der im Publikum ein Ding 
ſah, das lediglich für ihn da war, in die heutige Zeit hinübernehmen zu wollen, 
in der er jede Daſeinsberechtigung verloren hat. Da muß er zur Karikatur 
werden, zu einem Anrecht gegen ſich ſelbſt und gegen ſeine Mitmenſchen. Der 
moderne Beamte weiß längſt, daß er nicht bloß Pflichten, ſondern auch Rechte 
hat; auch iſt er davon durchdrungen, daß der von oben herab gewährte gnä- 
dige Blick oder das von oben herab gewährte gnädige Wort zwei Dinge dar- 
ſtellen, die ſtark im Kurſe geſunken ſind, ja, die unter Amſtänden eine Be⸗ 
leidigung und Herabwürdigung in ſich ſchließen, da fie nicht felten den Anter⸗ 
gebenen zum Almoſenempfänger degradieren. Dem nüchtern denkenden Be- 


794 Der Beamte als Staatsbürger 


amten iſt eine ſeiner Lebensſtellung entſprechende Beſoldung und eine von 
Demütigungen freie Behandlung lieber als gnädiges Geruhen. Wer ſeine 
Pflicht tut, bedarf der Gnade nicht. 

Ein großer Teil von Beamten in höheren Stellungen bringt es auch 
heute noch nicht über ſich, den neuen Verhältniſſen Rechnung zu tragen. Ich 
entſinne mich von meiner Prüfung her des Themas, welche Pflichten gegen 
ſeine Gemeinde dem Lehrer ſein Amt auferlege. Ich junger Dachs wagte es, 
am Schluß der langen Abhandlung auf die aus den Pflichten ſich ergebenden, 
aber im Thema nicht erwähnten Rechte hinzuweiſen und erregte dadurch den 
Zorn des allgewaltigen Provinzialſchulrats, der die Mitkollegen vor dieſen 
modernen Geiſtern mit paſtoraler Eindringlichkeit warnte. Dieſer Rat — im 
übrigen ein ſehr jovialer Herr! — ſteht nicht vereinzelt da. In den Miniſterien 
und in den Bezirksregierungen findet man Scharen ſolcher Geſtalten. Sie zer · 
fallen in zwei Hauptgruppen: Beamte der Pflichten und Beamte der Rechte: 
Die erſte Kategorie iſt ſehr fleißig und in ihrer Art ſtreng gewiſſenhaft. Sie 
würde es niemals über ſich gewinnen, wider beſſeres Wiſſen und Gewiſſen un ⸗ 
recht zu tun. And doch verübt ſie es ſo häufig; denn ihr Arteil nimmt keine 
Rückſicht auf die Erforderniffe modernen Lebens, ſondern es wird gefällt auf 
Grund ſtaubdedeckter Paragraphen, nach denen ſchon unſere Argroßväter ge 
richtet haben. Wir erinnern nur an die rheiniſche Landgemeindeordnung, die 
bald das hundertjährige Jubiläum ihres Beſtehens feiert und die der Schrecken 
manches modernen Beamten iſt. Aber ſelbſt da, wo dieſer Beamte der Pflicht 
an der Hand neuerer Geſetze Entſcheidungen trifft, gehen dieſe nicht ſelten da 
neben, denn fie find mit altpreußiſchen Anſichten durchtränkt. O dieſe Geheim. 
rate! Schon Bismarck konnte ihrer nicht Herr werden. Wie manche frudt- 
bare Idee warf er zwecks näherer Verarbeitung in die Reſſorts hinein; aber 
wenn ſie die bureaukratiſche Mühle verließen, waren ſie bis zur Ankenntlichkeit 
und Anbrauchbarkeit entſtellt. Es hat etwas Tragiſches an ſich, daß dieſe pflicht 
treuen Beamten vom Morgen bis zum Abend auf ihrem hölzernen Drehſtuhl 
zubringen und ſo manches Anbrauchbare ſchaffen. Sie kennen das Leben nicht. 
Sie ſind nicht praktiſch. Deshalb verderben ſie ſoviel. Ihre Kollegen Maſſow, 
Martin, Gurlitt und Schücking mögen hundert Bücher über Reform oder Re- 
volution ſchreiben — fie ſtört das nicht. Mit ſteigender Beſorgnis müſſen fie 
wahrnehmen, wie der Modernismus auch vor den Mauern der Bureaukratie 
nicht haltmacht, wie namentlich die mittleren und unteren Beamten Wege des 
Verderbens wandeln. Wenn man im konſervativen Leibblatt leſen muß, wie 
ſich dieſe Leute zu großen Vereinen zuſammenſcharen, um eine Macht zu bilden, 
dann muß einem angſt werden um das kommende Beamtentum. Da hat der 
Chef recht, wenn er die Verſammlungsberichte mit Kopfſchütteln lieſt. Nament · 
lich die Lehrer und Poſtbeamten fordern es in rückſichtsloſer Weiſe heraus. 
Weit weniger Kopfzerbrechen machen fic) die Beamten der Rechte. Es handelt 
ſich bei ihnen um die Wahrnehmung von Standesrechten. Womöglich von 
gutem Adel, bekleidet man den Beamtenpoſten, weil es nun einmal der Tradi⸗ 
tion entſpricht und weil man doch wenigſtens dem äußeren Schein nach eine 
Art Beſchäftigung haben muß. Avancieren iſt nicht unter allen Umftänden die 
Hauptſache, und da die obere Beamtenkategorie ſelten an beſtimmte Dienf- 
ſtunden gebunden ift, fo werden an die Tragkraft des Drehſtuhls keine über- 
mäßigen Anforderungen geſtellt. Man tut das Notwendigſte, leiſtet Anter · 
ſchriften, erteilt Anordnungen, erkundigt ſich, ob Nachfragen vorliegen, und 


Der Beamte als Staatsbürger 795 


überläßt die ſonſtigen Regierungsgeſchäfte den nachgeordneten Beamten. Dieſe 
recht oberflächliche Erfüllung der Beamtenpflicht hält einen nicht ab, mit Em- 
pörung zu konſtatieren, daß die Betonung der Rechte ſeitens der großen Be⸗ 
amtenvereine „einfach toll“ geworden iſt. Als Referveoffizier findet man die 
Snfubordination dieſer Beamten in untergeordneten Stellungen doppelt rück: 
ſichtslos. Man begreift den Chef nicht, daß er nicht mit eiſerner Fauſt da- 
zwiſchenfährt. So finden ſich die beiden Beamtenkategorien der Pflichten und 
der Rechte, ſobald es ſich um den Anerkennungskampf der breiten Beamten. 
maſſen handelt, im Schifflein derſelben Anſchauungen und Gefühle wieder. 

Es war notwendig, die Quellen zu kennzeichnen, aus denen der Wider⸗ 
ſtand gegen die modernen Beſtrebungen der Beamten fließt. Was ſie erreicht 
und errungen haben, das haben fie im Kampf mit dem foſſilen Ungetüm er- 
langt, das den Namen Bureaukratismus führt. Es find weniger die Per- 
ſonen als die Syſteme und Weltanſchauungen, die miteinander zu Felde liegen. 
Beſonders in gegenwärtiger Zeit. Das Beamtentum hat länger geſchlafen 
als der deutſche Michel; denn das durch den Treueid in beſonderer Weiſe 
geftaltete Verhältnis zum Staat ſowie die Ausſichten auf Titel, Orden, Be- 
förderungen und außergewöhnliche Zuwendungen — das alles bildete einen 
feſten Turm, an dem das Geltendmachen bürgerlicher Rechte abprallte. Der 
moderne Beamte hat dieſen Turm verlaſſen; er iſt Bürger unter Bürgern 
und lacht darüber, wenn man ihm die jedem Gefühle hohnſprechende Zumu- 
tung ſtellt, in erſter Linie Beamter und erſt in zweiter Menſch und Staats. 
bürger zu ſein. Ferner ſieht er nicht ein, daß der Zweck des Beamteneides 
der fein fol, ihn auf Gnade und Angnade den Willkürlichkeiten feiner Vor- 
geſetzten auszuliefern. Der Eid bedeutet vor allem keine politiſche Feſſelung, 
und wenn er auch nicht daran denkt, ihn in unbequemer Lage nach dem Vor⸗ 
bild gekrönter Häupter für null und nichtig zu erklären: daß der Eid lediglich 
eine treue, gewiſſenhafte Ausübung der Berufspflicht verlangt, iſt ihm um ſo 
gewiſſer. 

Dieſen und ähnlichen „umſtürzleriſchen Ideen“ der Beamten hat man 
ſeit längerer Zeit zu begegnen verſucht. Schon damals, als ſich im „tollen 
Jahr 48“ die Geiſter vieler Beamten regten, griff man zu drakoniſchen Mitteln 
der Unterdrückung, um die Bewegung im Keime zu erſticken. Aus der Tat- 
ſache, daß der Beamte den Dienſteid leiſtet und vom Staat beſoldet wird, hat 
man von jeher ganz beſondere Pflichten des Beamten dem Fiskus gegenüber 
fonftrutert, häufig genug auf dem Wege knifflicher Beweisführungen. Man 
hat ſich nie ſonderlich dabei aufgehalten, daß dieſer Beamte auch ein mit 
Rechten ausgeſtatteter Staatsbürger ſei. Bismarck, der gewiß nichts kannte 
als ſeinen eigenen Willen, hatte doch einen viel zu geſunden Sinn und eine 
viel zu reiche Lebenserfahrung, als daß er kein Verſtändnis beſeſſen hätte für 
die in jeder Beziehung heilſamen Wirkungen einer vernünftig abgeſteckten 
Grenzlinie zwiſchen Beamtenpflicht und Bürgerrecht. Dieſes Verſtändnis 
ſcheint heute verloren gegangen zu ſein, und daher erleben wir ſo manches, 
was befremden muß. Wie hat der Poſtbeamtenverein mit verſchiedenen Chefs 
ringen müſſen, um obzuſiegen! And erſt der Lehrerverein! Wie fo ganz ver- 
ſtändnislos ſtand Herr v. Studt dieſer mächtigen Organiſation gegenüber, die 
er bekämpfte, anſtatt ſie ſich und ſeinen Plänen wenigſtens im engen Rahmen 
des Möglichen dienſtbar zu machen. And der Finanzminiſter v. Rheinbaben! 
Er gilt allgemein als der unverfälfchte Typ eines altpreußiſchen Beamten mit 


796 Der Beamte als Staatöbärger 


Kreuzzeitungsanſichten, als der Verlängerer der Studtſchen Herrlichkeit, als 
das Haupt der preußiſchen Fronde, die den Block haßt, als der überaus ſchnei⸗ 
dige Bureaukrat. Sein Erlaß an die Beamten wird noch in aller Erinnerung 
fein, wo er im Tone eines alten Generaliffimus den Antergebenen bei An- 
drohung ſchärfſter Diſziplinarſtrafen das Einreichen von Sammelpetitionen an 
das Abgeordnetenhaus unterfagt. Früher war ein folder Ton nichts Ungewöhn- 
liches; diesmal löſte er hellſte Empörung und tieffte Erbitterung aus. And 
dann wundert man ſich, daß ſich immer wieder Beamte finden, die das Be 
dürfnis haben, ab und zu mit der Sozialdemokratie eine Extratour zu tanzen, 

wo „fie doch wiſſen ſollten, daß die Sorge für des Leibes Nahrung und Not ⸗ 
durft“ laut Tradition „lediglich Sache der Vorgeſetzten iſt“. 

Man hat an hoher Stelle in Berlin das Wort geprägt, der Geiſt des 
Angehorſams gehe durch die Beamtenſchaft. Deshalb ſollen die Zügel ſtärker 
angezogen werden. Namentlich die Lehrer will man treffen. Als im Jahre 1897 
die Neuregelung der Lehrergehälter vorgenommen wurde, äußerte ein Mini- 
ſterialbeamter, dieſe Maßnahme ſei zugleich eine Probe darauf, ob die Lehrer · 
ſchaft nunmehr ihrer radikalen politiſchen Geſinnung entſagen und in Zu; 
friedenheit den Pflichten des Berufs nachgehen werde. Bekanntlich fiel das 
Geſetz unter jeder Kritik aus, und ſo kämpfte die Lehrerſchaft weiter um Brot 
und Waſſer. Das Schulunterhaltungsgeſetz war die erſte Antwort dararf. 

Der Staat hat ſich der Schule ſo liebevoll angenommen, daß die Schulgemeinde, 

die dem Lehrer Licht und Luft gewährt, faſt nichts mehr zu ſagen hat. Die 
zweite Antwort ſoll gegeben werden bei der Schaffung der fog. „Lehrerlauf 
bahn“. Sie iſt eine klug angelegte Falle, die ſogar mancher Freund der Schule 

nicht als ſolche erkennen wird, wenn er nicht genauer zuſieht. Die Regierung 

und die Mittelparteien kommen nämlich damit den uralten Wünſchen der Lehrer 

nach Aufhebung der geiſtlichen Schulaufficht ſcheinbar entgegen. Gewiß, dieſe 
Einrichtung fol fallen. Aber weshalb? Aus zweierlei Gründen! Ein Re 
gierungsrat hat fie mehreren Rektoren verraten, indem er bemerkte: „An der 
Erhaltung der geiſtlichen Schulaufficht haben wir fein Intereſſe mehr. Sie tit 

uns ein Hindernis geworden inſofern, als der Pfarrer uns gegenüber ganz 
ſelbſtändig daſteht. Er fragt nur nach ſeinem Konſiſtorium. Wir können ihm 

mit Diſziplinarmitteln kaum oder gar nicht beikommen. Früher fühlte ſich der 
Geiſtliche in ſeinem pädagogiſchen Nebenberuf als Staatsbeamter und als | 
Vorgeſetzter des Lehrers. Dieſes Gefühl ift vielen abhanden gekommen, und 

fie gefallen ſich mehr darin, ihre Schullehrer zu verteidigen als mit uns Hand 

in Hand zu gehen. Wir find des halb beſtrebt, nach und nach, aber doch in beſchlen · 
nigtem Tempo, die geiſtliche Schulaufſicht durch das Rektorat zu erfegen. Wir 
miiffen einen Mann haben, an den wir uns halten! And das kann nur der 
Rektor fein. Man fpricht ja wohl davon, daß in abſehbarer Zeit die Pfarrer 

vom Staat ernannt werden und als Staatsbeamte wirken ſollen. Das wird 
ernſtlich erwägt, und im Oſten dürfte die Verwirklichung dieſes Plans großen 
Schwierigkeiten nicht begegnen. Aber im Weſten! Alſo der Weg iſt nod | 
weit! Der Geiſtliche als Staatsbeamter wäre uns für die Schulauffiht ſchon 
genehm. Lieber iſt uns jedoch der Rektor; denn auch von dem verſtaatlichten 
Geiſtlichen müßten wir eine beſſere pädagogiſche Durchbildung fordern, und 
für dieſe Mehrarbeit findet man bei den Pfarrern geringes Intereſſe. Wo 
genügend Rektoren vorhanden find, werden wir mit der Reform nicht zögern; 
außerdem wird die Regierung, um im Abergangsſtadium die nötige Zahl von 


— . —ñ—ñ— .. 


Zur Erinnerung an Otto Pfletderer 797 


Schulleitern zu beſchaffen, für ältere bewährtere Lehrer gänzlich oder teil- 
weiſe Befreiung von den vorgeſchriebenen Examina erwirken. Eine einheitliche 
ſtraffe Zucht wird ſowohl für die Lehrer wie für die Leiſtungen der Schule zweck; 
dienlich fein.” Soweit der Regierungsrat! Alſo darauf geht's hinaus! Wird 
dieſer Plan verwirklicht, dann kommt die Lehrerſchaft vom Regen in die Traufe. 
Die Regierung will „einen Mann haben, an den fie ſich hält“! Uniformie- 
rung! Schablone! Drill! Der Bureaukratismus wird mit einem Säbel aus- 
gerüſtet. Man hofft ſich, da man die geſamte Lehrerſchaft nicht hat bändigen 
können, in den Rektoren gefügige Werkzeuge behördlicher Intentionen zu ſichern. 
Das bekundet eine ſehr niedrige Meinung vom Lehrerſtand. Die Anfragen, 
die an ihn herantreten, ſind ganz dieſer Meinung entſprechend. Studts letzte 
Leiſtung beſtand in der Verſendung einer Rundverfügung, die zehn Anfragen 
enthielt; eine davon erkundigte ſich nach dem Einkommen des Lehrers aus 
literariſcher Beſchäftigung. Der Zweck war recht durchſichtig. Die Verfügung 
verfehlte ihren Zweck. Viele Lehrer ſind mit ihr überhaupt nicht beläſtigt 
worden. Man ſah wohl rechtzeitig ein, daß niemand verpflichtet iſt, ſich ſelber 
ans Meſſer zu liefern, und ſo ſind die gemachten Angaben gänzlich unbrauchbar. 
Weit umfangreicher iſt eine Verfügung, die vor einem halben Jahre umging. Sie 
fragte nach tauſend Dingen, u. a. nach den Strafen, die der Lehrer auf ſein 
ſchuldiges Haupt geladen hat! Man bedenke, daß dieſe peinlichen Angaben 
nachher durch die Hand des Geiſtlichen, des Schulleiters, des Kreisſchul - 
inſpektors, des Landrats und der Bezirksregierung gehen! Der Kaiſer hat 
bekanntlich auf das ftrengfte unterſagt, in den Vorſtrafen eines ſonſt pflicht ⸗ 
getreuen Ofſiziers herumzuwühlen. And hier? Hier handelt es ſich auch bloß 
um Lehrer! Dieſe gänzliche Nichtachtung des Ehrgefühls iſt ein Symptom, 
das zu denken gibt. Der neue Kultusminiſter hätte im Intereſſe der beteiligten 
Faktoren beſſer getan, ſolche zweckloſen Fragen zu verhindern. Solche Dinge 
treffen den Staatsbürger höchſtens vor Gericht, und der Miniſter ſollte in 
feinem Reffort nicht einführen, was noch in der Rechtſprechung N 
K. M 


werden ſoll. 
Ss 
Zur Erinnerung an Otto Pfleiderer 


8 ie Zeiten liegen hinter uns, wo die Verneinung der Religion zunächſt 
als etwas Großes, dann aber als ſelbſtverſtändlich galt, und wo 
Eodeer armſeligſte Witz geiſtvoll zu werden ſchien, wenn er fic nur 
gegen die Religion richtete; unſere Zeit bedarf anderes, und im Grunde will 
ſie auch anderes. Alles läßt vermuten, daß im Geiſtesleben der folgenden 
Epoche die Religion weit mehr bedeuten wird als in der ſpezifiſch modernen 
Welt. Wir leben in einer gottſuchenden Zeit, die deutlich zeigt, daß in allen 
Verwirrungen und Gärungen beſſere Keime verborgen liegen, die nach Ent- 
faltung und Geſtaltung ſtreben. Kein Wunder, wenn daher mit der Philo- 
ſophie überhaupt auch die Religionsphiloſophie einen neuen Aufſchwung zu 
nehmen begonnen hat, und daß die tüchtigſten Philoſophen ihr Syſtem mit 
der Religion in irgendeiner Weiſe zu verknüpfen ſuchen. Dieſer Tüchtigſten 
einer hat leider im Juli dieſes Jahres feine Augen für immer geſchloſſen. Ob ⸗ 
wohl Anhänger der alten Tübinger Schule, die Hegels Gedanken bis heute 


798 Sur Erinnerung an Otto Pfleiderer 


am treuſten bewahrte, hat Otto Pfleiderer ſich doch niemals gegen die neueren 
Richtungen verſchloſſen, ſondern fic) immer aufs neue mit ihnen auseinander 
geſetzt. Es iſt ein arbeitsreiches Leben, das hier abgeſchloſſen vor uns liegt. 
Pfleiderer hat ſich ſtets die volle Freiheit vor jeder bloß äußerlichen Autorität 
gewahrt, wie fie fic) die Neuzeit im heißen Kampfe erſtritten hat, aber den- 
noch iſt er ein unermüdlicher Apoſtel und Apologet des Chriſtentums geweſen. 
Der „Türmer“ kann daher nicht ſtillſchweigend an ſeinem Tode vorübergehen. 

Otto Pfleiderer wurde am 1. September 1839 zu Stetten bei Cannſtatt 
geboren. Er ſtudierte in Tübingen unter Ferdinand Chriſtian Baur Philo- 
ſophie und Theologie, war dann eine Zeitlang in Eningen bei Reutlingen als 
Vikar tätig, worauf er viele Studienreiſen durch Norddeutſchland, England 
und Schottland unternahm. Von 1864 —68 wirkte er als Repetent und Privat · 
dozent in Tübingen, wurde 1868 Stadtpfarrer in Heilbronn, 1870 Oberpfarrer, 
ordentlicher Profeſſor und Superintendent in Jena, 1871 Kirchenrat und 1875 
ordentlicher Profeſſor der Theologie in Berlin, wo er bis zu ſeinem Tode 
wirkte. Seine Hauptwerke find: „Moral und Religion nach ihrem gegen ⸗ 
ſeitigen Verhältnis“, „Die Religion, ihr Weſen und ihre Geſchichte“, „Der 
Paulinismus“, „J. G. Fichte, Lebensbild eines deutſchen Denkers und Patrioten“, 
„Neligionsphiloſophie auf geſchichtlicher Grundlage“, „Luther als Begründer 
proteſtantiſcher Geſittung“, „Grundriß der chriſtlichen Glaubens- und Sitten 
lehre“, „Das Archriſtentum“, „Die Entwicklung der proteſtantiſchen Theologie 
in Deutſchland ſeit Kant und in Großbritannien ſeit 1825“, „Geſchichte der 
Religionsphiloſophie von Spinoza bis zur Gegenwart“, „Die Entſtehung des 
Chriſtentums“ (neuerdings noch in 2. unveränderter Auflage bei J. F. Lehmann, 
München, erſchienen), „Religion und Religionen“, uſw. Da Pfleiderers Haupt 
bedeutung eine religionsphiloſophiſche iſt, führen wir ſeine Grundgedanken nach 
den genannten Hauptwerken hier vor. 

Pfleiderers Neligionsphiloſophie geht vom menſchlichen Bewußtſein aus. 
Am zu einer Geſamtanſchauung der Welt zu gelangen, ſuchen wir die Be 
wußtſeinserſcheinungen zu erklären, indem wir den anſichſeienden Grund zu 
ihnen hinzudenken. Haben wir in unſerem eigenen wollend-fühlenden Ich das 
weſentliche Sein als die für ſich ſeiende Kraft erkannt, ſo kann uns nichts 
hindern, nach eben dieſer Analogie auch die übrige Welt aus ſolchen Sub- 
ſtanzen beſtehend zu denken, die als für ſich ſeiende Kraftmittelpunkte Sub 
jekte des Wirkens und Leidens find. Indem wir auch die Erſcheinungen der 
Körper auf ſolche Kräfte zurückführen, verſchwindet der ſcheinbare Gegenſas 
von Leib und Seele, ſofern der Leib zu einem Syſtem ſeelenartiger Kräfte 
wird. Die Frage iſt dann nicht mehr, wie ſo Entgegengeſetztes wie Leib und 
Seele, Materie und Geiſt aufeinander wirken können, ſondern nur, wie eine 
Vielheit an fic) immaterieller Kräfte zueinander in einer beftändigen, geſes 
mäßigen Wechſelwirkung ſtehen und der beherrſchenden Einheit der Seele als 
Werkzeug dienen können. Dieſe geſetz und zweckmäßige Wechſelwirkung der 
Kräfte untereinander, wie ſie nicht bloß innerhalb des Einzelorganismus, jen- 
dern im ganzen Amfang des Seienden anzunehmen denknotwendig ift, iſt nicht 
denkmöglich ohne die Vorausfegung eines gemeinſamen Grundes, der als Quelle 
der Sonderkräfte Urkraft und als Quelle ihrer logiſchen Beziehungsgeſetze Ur- 
denken ſein muß. Die Gottesidee tritt demnach nicht als ein theoretiſch über- 
flüſſiges und nur aus praktiſchen Gründen erforderliches Anhängſel zu einer 
in ſich abgeſchloſſenen Welterklärung hinzu, ſondern bildet die Voraus ſetzuns, 


Zur Erinnerung an Otto Pfleiderer 799 


ohne die überhaupt kein Wiſſenwollen im eigentlichen und ſtrengen Sinne dent- 
bar iſt. Sie geht über die gegebene Erfahrung nach keiner andern Richtung 
hinaus als jeder Verſuch, das Gegebene zu begreifen. Mit demſelben Recht, 
mit dem wir in den einzelnen Subſtanzen und ihren Kräften ein geiſtiges Reich 
als den Grund der Erſcheinungen aufbauen, gedrängt von demſelben Triebe, 
das Serftreute zur Einheit zuſammenzufaſſen, machen wir auch den weitern 
Schritt zur letzten Erklärung der Welt nach den Forderungen unſeres Denkens. 
Dort ſowenig wie hier iſt ein Beweis im ſtreng logiſchen Sinne möglich, 
weil Realität außer uns überhaupt nicht bewieſen werden kann. 

Pfleiderer iſt mit dieſen Gedanken im vollſten Recht. Was iſt denn 
ſtreng genommen in der Erfahrung gegeben? Doch wohl nichts weiter als 
die Empfindungen und Vorſtellungen, die ich jeweils gerade in meinem Be⸗ 
wußtſein vorfinde. Was darüber hinaus iſt, das kann ich durch keine Er. 
fahrung haden, ſondern vermag ich nur von meinen Bewußtſeinserſcheinungen 
aus zu ſchließen. Daß z. B. meinen Vorſtellungsbildern anderer Perſonen 
wirkliche Weſen entſprechen und dieſe ein Innenleben gleich dem meinigen 
haben, iſt eine meine Erfahrung gänzlich überſteigende Annahme, in der ich 
durch einen Kauſalſchluß zu meinen Vorſtellungen die Dinge an fic felb- 
ſtändig hinzudenke. Soweit dieſe Schlüſſe die nächſten Objekte der äußern 
Welt betreffen, vollziehen wir ſie ſo geläufig und unwillkürlich, daß wir uns 
ihrer gar nicht beſonders bewußt werden. Erſt wenn wir durch die Erfah- 
rung von Sinnestäuſchungen auf die Differenz zwiſchen unſern Vorſtellungen 
und den Dingen felpft aufmerkſam gemacht werden, oder wenn wir veranlaßt 
find, zu den nddften Urfachen unſerer Vorſtellungen die fernerliegenden hin ⸗ 
zuzuſuchen, beginnen wir auf unſer Schlußverfahren mit Bewußtſein zu re- 
flektieren. Setzen wir dieſes Verfahren in regelrechtem Zuſammenhang fort 
und erweitern unſere Schlüſſe in ſtetigem Fortſchritt vom Näheren aufs Fer- 
nere, ſo reden wir von wiſſenſchaftlicher Anterſuchung, und wenn wir dann 
endlich in der Fortſetzung desſelben Verfahrens die einzelnen urſächlichen Zu⸗ 
ſammenhänge in einen allgemeinen Zuſammenhang zu bringen und in der all- 
gemeinen Arſache zugleich den Berechtigungsgrund für dieſes ganze Verfahren, 
die gemeinſame Grundlage aller gedachten und ſeienden Kauſalzuſammenhänge 
überhaupt zu erfaſſen ſuchen, fo nennen wir das metaphyſiſches Denken. Natür- 
lich werden bei dieſem letzten Verſuch unſere Schritte noch unſicherer werden, 
als fie es auf dem früheren Wege find, aber dieſer Anterſchied iſt nur ein 
gradueller; prinzipiell iſt das Verfahren und feine Berechtigung ſtets das⸗ 
ſelbe, es gibt nirgends einen Grenzpunkt, wo die Welt des Erkennbaren mit 
einem Bretterzaun vernagelt wäre, vor dem wir hoffnungslos haltmachen 
müßten. Wenn wir den ſtolzen Anſpruch auf ein abſolutes Wiſſen auch überall 
aufgeben müſſen, fo iſt's darum doch noch lange nicht an dem, daß der ge- 
funde Verſtand abzudanken und das Feld den Wünſchen des Herzens zu über · 
laſſen hätte. Wenn auch der Menſch nicht die allwiſſende Vernunft Gottes 
beſitzt, ſo hat er darum doch einige Vernunft, und wo Vernunft iſt, da iſt 
nicht nur der Trieb nach Einheit des Erkennens, ſondern auch die innere Norm, 
die trotz endloſen Irrens doch immer wieder unſer Irren zurechtweiſt und unſere 
taſtenden Schritte ſo leitet, daß wir der einen allgemeinen Wahrheit, wie ſie 
Gott beſitzt, uns wenigſtens zu nähern vermögen. 

Was nun dem ſtets nur annähernden theoretiſchen Wiſſen zur abſoluten 
Gewißheit fehlt, das wird nach Pfleiderer ſehr richtig zur vollen Aberzeugung 


800 Zur Erinnerung an Otto Pfleiderer 


von praktiſcher Seite her ergänzt. Dieſe Konkurrenz beider Seiten findet nach ihm 
bei den elementarſten wie bei den höchſten Erkenntnisgegenſtänden ſtatt. Jeder 
iſt von der Realität der Außenwelt überzeugt. Warum? Wenn der thes⸗ 
retiſche Grund, der in der Anentbehrlichkeit dieſer Annahme für die vernänf- 
tige Erklärung der Bewußtſeinserſcheinungen liegt, zum zwingenden Beweis 
nicht ausreichen ſollte, ſo wird er ergänzt durch die von jedem empfundene 
praktiſche Nötigung, bei feinem Wollen und Handeln von der Voraus ſſesung 
jener Realität auszugehen. Nicht anders verhält es ſich auch mit der Aber ⸗ 
zeugung von der Realität Gottes; fie iſt „das gemeinſame Refultat aus dem 
Zuſammenſtimmen theoretiſcher Gründe und praktiſcher Motive“. Theoretiſch 
iſt die Gottesidee die notwendige Hypotheſe zur Erklärung des Weltzuſammen 
hangs, nicht ſo, als ob eine im übrigen befriedigend vollzogene Welterklärung 
nur zum ornamentalen Abſchluß des Gebäudes noch dieſer Spitze bedürfte, 
ſondern fo, daß unſer ganzes logiſches Weltbild des tragenden Fundaments 
entbehrte und alſo dem nach Einheit und Notwendigkeit ſtrebenden Erkenntnis 
trieb nicht genügte, wenn nicht jener gefeg- und zweckmäßige Zuſammenhang, 
der das Veränderliche und Viele zur Einheit des geordneten und ſtetigen 
Ganzen verbindet, in einer allbeherrſchenden Macht feinen Einheitsgrund hätte; 
praktiſch aber iſt die Gottesidee das notwendige Poſtulat, um unſerem Wollen 
und Fühlen die höchſte Zweckbeziehung und das höchſte Gut zu geben, nicht 
fo, als ob ein im übrigen ſelbſtgenugſam in ſich beruhendes ſittliches Bewußt · 
fein nur zur Nachhilfe feines teilweiſe beſtehenden Anvermögens der Aus icht 
auf tranſzendentale Ergänzung bedürfte, ſondern ſo, daß unſer ganzes Wollen 
ſeines höchſten allbeſtimmenden Zieles und unſer Herz ſeines befriedigenden 
Ruhepunktes entbehren würde, wenn das vollkommene Ideal ein bloß fubjettives 
Vorſtellungsbild ohne objektive Realität wäre. Dieſes praktiſche Motiv und 
jener theoretiſche Grund dienen fic gegenſeitig zur Stütze wie die zwei Seiten 
eines Gewölbes, die nur in ihrem Zuſammenſtreben die Feſtigkeit des Ganzen 
ergeben. 

Dieſe theoretiſch ⸗praktiſche Gotteserkenntnis führt Pfleiderer auf das 
Verhältnis von Religion und Wiſſenſchaft überhaupt. Beide entſpringen einem 
unabweisbaren Bedürfnis des menſchlichen Geiſtes und berühren ſich in ihrem 
höchſten Gegenſtande, der Gottesidee, aber ſie gelangen auf verſchiedenen 
Wegen an dieſes Ziel. Die Wiſſenſchaft entſpringt dem logiſchen Erkenntnis 
trieb unſeres Geiſtes, ſie geht von den gegebenen Bewußtſeinserſcheinungen 
aus, ſucht dieſe in Zuſammenhang zu bringen und aus ihren Urfachen zu er · 
klären und kommt fo zuletzt auf Gott als vorauszuſetzenden Grund der Welt: 
erklärung, die Religion dagegen will nicht die Welt theoretiſch erklären, ſon · 
dern das Verhältnis des fühlenden und wollenden Ichs oder des Herzens zur 
Welt richtigſtellen, und fie vollbringt dies dadurch, daß fie das eigene Leben 
mit allen es bewegenden Eindrücken der Welt unmittelbar auf die welt 
beherrſchende Macht ſelbſt bezieht, daß ſie nach einer Lebensgemeinſchaft mit 
Gott ſtrebt, oder nach einer ſolchen Verbindung mit der weltbeherrſchenden 
Macht, wodurch unſer Leben zu einem göttlichen Ideal erhoben und von der 
bedrückenden Weltabhängigkeit befreit wird. Die Mittlerin zwiſchen Religion 
und Wiſſenſchaft iſt die Religionsphilofophie, welche die pofitive Verſtändi · 
gung beider dadurch herbeiführt, daß fie an der Religion zwiſchen Form und 
Inhalt, Vergänglichem und Bleibendem, Buchſtaben und Geiſt unterſcheiden 
lehrt, indem fie die Religion im ganzen Umkreis der menſchlichen Geſchichte 


Zur Erinnerung an Otto Pfleiderer 801 


genau unterſucht, fie in ihrem Werden in der Geſchichte der Religionen ver- 
folgt, die verſchiedenen Religionen vergleicht und auf allgemeine Geſetze zurück- 
führt. Wenn wir nun da ſehen, wie die außerchriſtlichen Religionen, Brah⸗ 
manismus und Buddhismus, Judentum und Islam, zwar eine zähe Lebens. 
kraft und teilweiſe weite Verbreitung, aber von beſtimmten Zeitpunkten an 
keine Weiterentwicklung, ſondern jahrhundertelangen Stillſtand zeigen, wie ſie, 
unfähig, in das geſchichtliche Leben der Völker einzugehen und durch Aufnahme 
neuer Ideen ſich ſelbſt zu verjüngen, vielmehr durch ihre ſtarre Unveränderlich- 
keit auch die Völker, die ſich zu ihnen bekennen, zur Erſtarrung, zur Unfähig- 
keit geſchichtlichen Fortſchritts, zum ſtumpfen Hinſiechen verurteilen, ſo ſpricht 
nach Pfleiderer die Geſchichte damit ſelber das Urteil, daß das in dieſen Re- 
ligionen liegende Wahrheitsmoment zu einſeitig und beſchränkt iſt, um wirklich 
dauerhafte Lebensfähigkeit zu beſitzen. Wenn dagegen die von den bibliſchen 
Propheten und Apoſteln ausgegangene chriſtliche Religion von Anfang an 
nicht bloß den unbeſchränkteſten Aus breitungstrieb, ſondern auch die Fähig⸗ 
keit zeigte, in das Leben der verſchiedenen Völker ſo einzugehen, daß ſie in 
und mit ihnen weiterwuchs, daß ſie die beſten Elemente ihres geiſtigen Lebens 
in fic) ſelber aufnahm, ſich aſſimilierte, dadurch ſelbſt immer reicher an frucht 
baren Ideen und lebenskräftigen Motiven wurde, und daß ſie infolge dieſer 
innern Lebensfülle auch Mängel, Mißbildungen und Erkrankungen immer wie⸗ 
der zu überwinden und zu heilen vermochte, ſo daß ſie aus jeder Kriſis nur 
immer neu verjüngt und geſtärkt hervorging, ſo iſt dies nach Pfleiderer die 
glangendfte und unwiderleglichſte Apologie für die einzigartige Aberlegenheit 
des Chriſtentums über die andern Religionen. Freilich erklärt er offen, daß 
es eine ſehr willkürliche Annahme wäre, die Entwicklungs fähigkeit des ChHriften- 
tums ſchon für erloſchen zu erklären; „vielmehr ſpricht alles dafür, daß das- 
ſelbe Entwicklungsgeſetz, nach welchem das Chriſtentum in der Vergangenheit 
neuen Zeitbedürfniſſen zu entſprechen und ſich anzupaſſen vermochte, auch dem 
Bedürfnis der Gegenwart gegenüber ſich fernerhin wirkſam erweiſen werde“. 
So gewiß es iſt, daß das Chriſtentum in der Reformation den gewaltigſten 
Entwicklungsfortſchritt gemacht hat, ſo gewiß iſt es auch, daß es „in dem 
kirchlichen Proteſtantismus feine höchſte und letzte Entwicklungs form noch nicht 
gefunden hat“. Dieſe Aberwindung des Gegenſatzes zwiſchen Katholizismus und 
Proteſtantismus iſt nach Pfleiderer von einem „künftigen johanneiſchen Chriften- 
tum“ zu erhoffen, in dem „der poſitive Glaube und die poſitiven Werke ihre 
höhere Syntheſe und Erfüllung finden werden in der freimachenden Erkenntnis 
der Wahrheit, welche die Gewiſſen auf ſich ſelbſt ſtellt, und in der bindenden 
Macht der Liebe, welche den einzelnen als dienendes Glied dem Ganzen ein ⸗ 
ordnet“. 

Möchte dieſe Skizze dazu dienen, die Lefer zum Studium der Pfleiderer · 
ſchen Hauptwerke zu leiten, fie werden fie nicht ohne reichen geiſtigen und geiſt 


lichen Gewinn verlaſſen! 
Otto Siebert ⸗Fermersleben 


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Der Türmer X, 12 52 


802 Dankbarkeit 


Dankbarkeit 


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(AACS ift klar, daß die moraliſche Bewertung des Wohltuns ausſchließlich 
6 JB im wohlwollenden Motiv liegt und daß es nichts Preiswürdiges 
Vit, das Glück anderer aus ſelbſtiſchen Erwägungen zu fördern. 
Konfuzius lehrte, daß das Selbſt überwunden fein muß, ehe ein Mann voll 
kommen tugendhaft fein kann. Nach Lao⸗Tze tft Selbſtverneinung die Haupt: 
tugend für den Herrſcher wie für das Volk. Selbſtverleugnung iſt die Haupt: 
forderung des Evangeliums und wird auch vom Islam als die höchſte Pflicht 
hingeſtellt. Ganz allgemein ausgedrückt: das Verdienſt, das einer guten Hand- 
lung beigelegt wird, entſpricht der Selbſtverleugnung, die ſie den Betreffenden 
gekoſtet hat. Dies folgt aus der Tatſache, daß der Grad der Dankbarkeit 
gegen einen Wohltäter von dem Maße der Entbehrung abhängt, die er ſich 
bei ſeiner Wohltat auferlegt. Eine Wohltat zu vergelten, oder gegen den, der 
ſie uns erwieſen hat, dankbar zu ſein, gilt wahrſcheinlich überall als Pflicht, 
wenigſtens unter beſtimmten Amſtänden. 

Die Pflicht der Erkenntlichkeit ſetzt die Fähigkeit zur Dankbarkeit voraus. 
Doch ſoll dies Gefühl nach den Berichten verſchiedener Reiſenden bei vielen 
unziviliſierten Völkern fehlen. Lyon ſchreibt über die Eskimos auf Igloolik: 
„Dankbarkeit iſt unter ihnen nicht bloß ſelten, ſondern völlig unbekannt; fie 
zeigt fic) weder in Taten noch in Worten noch in Blicken, wenn wir von dem 
erſten Aufſchrei der Befriedigung abſehen. Man mag ihre Kranken pflegen, 
die Toten begraben, den ganzen Stamm kleiden und nähren, den Männern 
Waffen ſchenken und Frauen und Kinder mit Schmuck verſehen, Dankbarkeit 
wird man damit nicht erwecken. Ja, dieſelben Menſchen, die in Zeiten ber 
Not ihr Elend lindern, werden, wenn wieder Aberfluß herrſcht, ausgelacht, daß 
fie ſoviel Nahrungsmittel, quantitativ wie qualitativ, in Wohltätigkeit ver 
geudet haben.“ Von einigen ſüdamerikaniſchen wilden Völkern wird uns er- 
zählt, daß ſie keine Dankbarkeit für die Geſchenke an den Tag legen, die man 
ihnen macht. Von den Fidſchianern ſchreibt Th. Williams: „War einer von 
ihnen krank und erhielt Medizin von mir, ſo glaubte er mich auch verpflichtet, ihn 
mit Nahrung zu verſorgen; hatte er Nahrung erhalten, ſo glaubte er damit 
auch ein Recht auf Bekleidung erlangt zu haben, und war ihm dies alles ge 
ſichert, ſo hielt er ſich auch für berechtigt, alles zu erbitten, was er brauchte, 
und beſchimpfte mich, wenn ich ſeine unvernünftigen Forderungen zurückwies. 
Lumholtz hat bei den Eingeborenen am Herbertfluſſe in Nordqueensland die 
gleiche Erfahrung gemacht: „Gibt man einem Schwarzen ein Ding, ſo findet 
er zehn andere, die er gleichfalls begehrt, und er iſt unverſchämt genug, alles 
zu fordern, was man beſitzt und noch mehr, er iſt nie befriedigt. Dankbarkeit 
gibt es für ihn nicht.“ In verſchiedenen Sprachen gibt es kein Wort, das 
dem entſprechen würde, was wir Dankbarkeit nennen, oder keinen Ausdruck, 
der unſerm „Danke“ gleichkommt. Auf dieſe Tatſache wurde viel Gewicht ge: 
legt, da man annahm, daß die Unvollkommenheit der Sprache eine entſprechende 
Anvollkommenheit des Gefühlslebens bedeute. 

Wir müffen hier von neuem die wirkliche Erfahrung eines Reifenden 
und die Schlüffe, die er daraus gezogen hat, von einander unterſcheiden; es 
ſcheint, daß unſere Autoritäten in vielen Fällen zu raſch Naturvölkern einen 
völligen Mangel an Dankbarkeit vorwerfen, wo es ſich nur um Andankbarkeit 


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Dankbarkeit 803 


in beſtimmten Fällen handelt. Man darf nicht erwarten, daß ein Wilder ſich 
gegen jeden Fremden, von dem er ein Geſchenk erhalten hat, erkenntlich er- 
weiſen wird. Mit Bezug auf die Ahts (Britiſch⸗Kolumbien) bemerkt Sproat, 
daß der Argwohn des Indianers ihn an der Dankbarkeit hindert, da er ge⸗ 
neigt iſt, in jeder Freundlichkeit, die ihm erwieſen wird, einen verſteckten ſelbſtiſchen 
Beweggrund zu ſehen. „Bei ſeinem eignen Volke iſt er an Gaben gewöhnt, 
hinter denen ſich eine liſtige Abſicht verbirgt, und ebenſo an Geſchenke, die 
lediglich die Macht und den Reichtum des Gebers dartun ſollen; doch nehme 
ich an“, fährt unſer Autor fort, „daß der Aht dankbar iſt und wahrſcheinlich 
dankbar im Verhältnis zu der Mühe, die aufgewendet wurde, ihm zu dienen, 
wenn er einmal aufhört, ſolche Beweggründe zu vermuten, wenn er nicht mehr 
auf Hochmut, Lift, Sorgloſigkeit ſtößt.“ Die Andankbarkeit der Eingeborenen 
von Nordqueensland iſt z. B., wie Lumholtz ſelbſt einräumt, darauf zurück- 
zuführen, daß „ſie ſtets vorausſetzen, die Gabe erfolge aus Furcht“; und ebenſo 
die der Neuſeeländer auf die Tatſache, „daß kein Neuſeeländer einem Menſchen 
eine Freundlichkeit erweiſt oder etwas verſchenkt, ohne ſeinen eignen Vorteil 
im Auge zu behalten“. Aberdies verlangt oft das Gefühl der Dankbarkeit 
beim Wohltäter nicht bloß die Abweſenheit eines ſelbſtiſchen Beweggrunds, 
ſondern auch noch einen gewiſſen Grad von Selbſtaufopferung. „Man kann“, 
ſagt Sproat, „einen Indianer den ganzen Winter hindurch vor dem Der- 
hungern bewahren — wenn der Sommer kommt, wird er für ſeinen Beſchützer 
wahrſcheinlich nicht einen Schritt ohne Entgelt machen wollen. Der Wilde 
kennt keine Verpflichtung in dieſer Hinſicht, im Gegenteil, er findet, daß ein 
Menſch, der ſoviel mehr hat, als er ſelbſt verbrauchen kann, ſehr wohl mit 
einem andern, der in Not iſt, teilen kann, ohne daß ihm hieraus Anſprüche 
auf ſpätere Dienſte erwachſen.“ Powers macht eine ähnliche Bemerkung be⸗ 
züglich der Eingeborenen von Kalifornien. „Weiße“, fagt er, „die mit Sn- 
dianern zu tun hatten, beſchuldigten fie im Geſpräch mit mir oft bitter der Un- 
dankbarkeit: „Man mag alles mögliche tun,’ ſagen fie, ‚und fie werden es an⸗ 
nehmen als die natürlichſte Sache der Welt; aber für den kleinſten Dienſt, um 
den man ſie bittet, verlangen ſie Bezahlung.“ Dieſe Männer begreifen den 
Ideengang eines Indianers nicht. Die „‚Andankbarkeit“ iſt in Wirklichkeit ein 
unbewußtes Kompliment, das ſie unſerer Stärke machen. Der Wilde fühlt 
unklar den unüberbrückbaren Abſtand zwiſchen ſich und dem Amerikaner. Er 
fühlt, daß wir viel hatten und er wenig, und daß wir ihm ſelbſt dieſes Wenige 
fortgenommen haben. In feinen Augen macht uns die Gabe nicht ärmer 
und die Anterlaſſung der Gabe nicht reicher. Dankbarkeit iſt nicht am Platze, 
wo es ſich um Herren und Sklaven handelt, ſie iſt ein Gefühl für Gleiche. 
Antereinander find die Indianer denn auch dankbar.“ Ebenſowenig find die 
Menſchen geneigt, für Wohltaten dankbar zu fein, auf die fie ein Recht zu 
beſitzen glauben. So folgt nach Howitt bei den ſüdauſtraliſchen Kurnais der 
Mangel an Dankbarkeit für Dienſte und Freundlichkeiten, die ihnen die Weißen 
erweiſen, aus dem Prinzip der Gemeinſchaft, das ein ſo bezeichnender Zug 
des häuslichen und ſozialen Lebens dieſer Eingeborenen iſt. „Der Kurnai 
empfindet keine Dankbarkeit für ſeine Familiengruppe, wenn ſie ihn mit Nahrung 
verfieht, fobald er deren bedarf, oder ihn im Krankheits falle pflegt. Es iſt 
allgemeine Pflicht bei ihnen, Nahrungsvorräte zu teilen und einander perfön- 
liche Hilfe und Beiſtand zu leiſten. Dieſes Prinzip kommt auch bei ihrem 
geringfügigen perſönlichen Eigentum in Anwendung, und ſo wird auch das, 


804 Dankbarkeit 


was die Kurnais von den Weißen an Nahrungsmitteln, Kleidung, ärztlicher 
Hilfe empfangen, in der gewohnten Weiſe angenommen; außerdem dürfen 
wir nicht vergeſſen, daß die Hilfsquellen der Geber als unerſchöpflich gelten. 
In den Augen der Kurnais können die Weißen nicht anders als von ihren 
Aberfluß abgeben.“ Guppy fand das gleiche Prinzip bei den Bewohnern der 
Salomonsinſeln. „Wenn ich während meiner Expedition auf einen Mann 
ſtieß, der für ſich und ſeine Familie ein Mahl bereitete, war ich oft über die 
freigebige Art erſtaunt, mit der er die Nahrung unter die hungrigen Ein ⸗ 
geborenen meiner Gruppe verteilte. Weder wurde gegen den Geber Dank: 
barkeit gezeigt, noch ſchien ſie von ihm erwartet zu werden.“ Es wurde auch 
beobachtet, daß der Mangel an Dankbarkeit, den Europäer häufig den Arabern 
vorwerfen, eine Folge des ſehr verbreiteten Brauchs der Gaſtfreundſchaft 
und Freigebigkeit iſt; dieſe Tugenden werden von der vorherrſchenden Meinung 
als abſolute Pflichten anerkannt, deren Vernachläſſigung ſündhaft und ſchimpf 
lich wäre. 

Wir dürfen auch nicht vergeſſen, daß viele Wilde bemüht find, ihre 
Gefühle nicht offen zur Schau zu tragen. Nach Codrington iſt es unter den 
Melaneſiern „nicht Sitte, etwas zu ſagen, was Dankbarkeit ausdrückt; es iſt 
eher unſchicklich, Gemütsbewegung zu zeigen, wenn ein Geſchenk gemacht wird 
oder Freunde ſich treffen; Schweigen mit geſenkten Augen iſt das Anzeichen 
des inneren Bebens oder der Schüchternheit, die ſie empfinden oder unter den 
gegebenen Amſtänden empſinden zu müſſen glauben. Es fehlt nicht an einem 
Wort, das ſich gut mit „Danke“ überſetzen läßt, und ſicherlich wird niemand, 
der dazu Gelegenheit bot, von den Melaneftern ſagen, daß fie undankbar feien; 
andere werden wahrſcheinlich in ihrem Arteil voreilig genug fein, es zu de 
haupten.“ Aber die nordamerikaniſchen Chippewas ſchreibt Strickland: „Nacht 
ein Indianer ein Geſchenk, fo wird ſtets erwartet, daß ein gleichwertiges als 
Gegengabe erfolgt. Was immer man ihnen geben mag, oder wie wertvoll 
oder reich das Geſchenk auch fei, fo werden fie doch ſelten das geringfte Ge 
fühl oder den Anſchein der Dankbarkeit zeigen, da es als unvereinbar mit 
der Würde eines roten Mannes gilt, feine Gefühle zu verraten. Trotz diefet 
ſcheinbaren Gleichgültigkeit ſind ſie ebenſo dankbar und meiner Meinung nach 
ſogar dankbarer als unfere eigene Landbevölkerung.“ Auch die Aleuten, ob- 
gleich ſie mit ihren Ausdrücken der Dankbarkeit ſehr ſparſam find, „vergeſſen 
keine Freundlichkeit und verſuchen ihre Dankbarkeit durch Taten auszudrücken. 
Wenn jemand einem Aleuten hilft und ihn ſpäter verlegt, fo vergißt dieſer 
nicht das früher erwieſene Wohlwollen, das für ihn die Beleidigung oft wieder 
aufhebt“. Deshalb bemerkt Sproat: „Die Ahts haben allerdings kein Wort 
für die Dankbarkeit, aber ein Sprachmangel bedeutet nicht mit abſoluter 
Sicherheit einen Herzensmangel, und der Indianer, der als Antwort für eine 
erwieſene Wohltat feinem Wohltäter mit glänzenden Augen ſagt, daß fein 
Herz gut fei’, drückt feine Dankbarkeit vielleicht ebenſo gut aus wie der Eng: 
länder, der „danke“ ſagt.“ 

Es iſt nicht überraſchend, daß verſchiedentlich das gleiche Voll, das dem 
einen Reifenden aller Dankbarkeit bar erſcheint, von dem andern als die ſes 
Gefühls durchaus nicht entbehrend beſchrieben wird. Mitunter werden ſogar 
von dem gleichen Schriftſteller einander widerſprechende Berichte gegeben. 
So erzählt Lumholtz, der uns ein ſo düſteres Bild von dem Charakter der Ein · 
geborenen von Nord- Queensland entwirft, nichtsdeſtoweniger von einem Ein ⸗ 


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Dantbarteit 805 


geborenen, der, obgleich er felber ſehr hungrig war, einem alten Manne, dem 
fie begegneten, die Tiere hinwarf, die der Reifende für ihn geſchoſſen hatte, 
nur weil der Alte der Onkel ſeines Weibes war, und er dem Menſchen, von 
dem er ſein Weib erhalten hatte, einen Beweis ſeiner Dankbarkeit geben 
wollte. Von den Fidſchi⸗Inſulanern bemerkt Williams felber, daß der Dank 
für Geſchenke „ſtets mit lauter Stimme ausgedrückt wird, gewöhnlich mit einem 
freundlichen Wunſch für den Geber“. 

Wollen die Feuerländer ihren Dank ausdrücken, ſo gebrauchen ſie das 
Wort Chapakouta, das ſoviel wie froh, zufrieden, zugetan oder dankbar 
bedeutet. Jemmy Button, der junge Feuerländer, der an Bord des Beagle 
nach England gebracht wurde, gab Beweiſe von aufrichtiger Dankbarkeit, und 
Admiral Fitzroy erwähnt einen Patagonierknaben, der für erwieſene Freundlich⸗ 
keiten dankbar ſchien. Von den Mapuchés (Chili) bemerkt E. R. Smith: 
„Was immer für Geſchenk gemacht oder was für Gunſt auch erwieſen wird, 
die Rüderftattung erſcheint dem Indianer ſelbſtverſtändlich und er wird nie 
verfehlen, gewiſſenhaft ein entſprechendes Äquivalent für das empfangene 
Ding wiederzugeben, mögen auch Monate und Jahre darüber vergehen.“ Die 
Botokuden wie die Guyana - Indianer vergeſſen gütige Behandlung nicht leicht, 
und die Tupis „ſind ein dankbares Volk und erinnern ſich noch erhaltener 
Gaben, wenn der Geber ſelber fie längſt vergeſſen hat“. Die Navahos (Neu- 
Mexiko) haben ein Wort für „danke“ und gebrauchen es überall dort, wo wir 
ſelbſt es am Platze finden. Die Sioux „bekunden die wärmſte Dankbarkeit 
für jeden Menſchen, der jemals freundliche Gefühle für ſie an den Tag gelegt 
hat“. In ſeinen „Neiſen von Montreal nach dem Eismeer und dem Stillen 
Ozean“ ſpricht Mackenzie von der Dankbarkeit eines jungen Indianers, dem 
er eine böſe Wunde behandelte. Als der junge Mann wieder wohl genug 
war, um an einem Jagdzug teilzunehmen, brachte er ſeinem Arzt die Zunge 
eines Elentiers. Ebenſo bezeugten er und ſeine Verwandten beim Abſchied 
die herzlichſte Anerkennung für die ihm zuteil gewordene Pflege. Erhält ein 
Aleute eine Gabe, ſo empfängt er ſie mit dem Worte „Ach“, das ſoviel wie 
„danke“ bedeutet. 

Von den Tunguſen heißt es: „Macht man ihnen ein Geſchenk, ſo danken 
ſie kaum, aber trotz dieſer Anhöflichkeit ſind ſie außerordentlich dankbar.“ „Die 
Jakuten vergeſſen nie eine erwieſene Wohltat; fie leiſten nicht nur Erſatz, 
ſondern empfehlen noch ihrer Nachkommenſchaft Freundſchaft und Dankbarkeit 
gegen ihre Wohltäter.“ Die Veddahs auf Ceylon werden als ſehr dankbar für 
jede erwieſene Gefälligkeit oder Hilfe bezeichnet; „eine kleine freundliche Sym⸗ 
pathiekundgebung macht ihn zum anhänglichen Freund, und für ſeinen Freund 
. . . gibt er leicht fein Leben“. Bennett hatte einft eine Zuſammenkunft mit 
zwei Veddah Dorfbewohnern und machte ihnen bei dieſer Gelegenheit Ge⸗ 
ſchenke. Zwei Monate fpäter fand ein Paar Elephantenzähne des Nachts den 
Weg zu ſeiner vorderen Veranda, doch die Veddahs, die ſie gebracht hatten, 
gaben ihm nie Gelegenheit, fie zu belohnen. „Welch ein Beiſpiel von Sart: 
gefühl und Dankbarkeit“, ruft er aus, „kann ſelbſt ein Veddah geben!“ 

Die Alfura von Halmahera, die Bataks auf Sumatra, die Dajaken auf 
Borneo und das Motuvolk auf Neu-Guinea werden wegen ihres dankbaren 
Gemits gelobt. Chamiſſo ſpricht im höchſten Grade anerkennend von der Dank⸗ 
barkeit der Eingeborenen von Alea auf den Karolinen-Infeln. „Irgend ein 
Ding, ein nützliches Inſtrument z. B., das ſie von einem Freunde als Geſchenk 


806 Dankbarkeit 


erhalten haben, behält und trägt unter ihnen zum dauernden Angedenken den 
Namen des Freundes, der es gegeben hat.“ Als Moſeley auf der Dentre 
cafteaur-Infel (Admiralgruppe) feinem Verſprechen gemäß feinem Führer ein 
Beil als Entlohnung gab, ſchien der Führer dankbar und machte ihm ein an- 
gemeſſenes Gegengeſchenk. Obgleich die Tahiter ſich nie bedanken und auch 
in ihrer Sprache kein Wort für Dankbarkeit zu haben ſcheinen, fehlt ihnen doch 
nicht das Gefühl dafür. Badhoufe erzählt uns von einem Eingeborenen auf 
Tasmanien, der vielfache Beweiſe von Dankbarkeit zeigte, nachdem er während 
einer Krankheit gepflegt worden war, und er fügt hinzu, daß Dankbarkeit oft 
unter dieſem Volke ausgeübt wird, ein Urteil, das durch die Berichte anderer 
Reifenden beſtätigt wird. Aber die Eingeborenen Auſtraliens ſchreibt Ridley: 
„Ich glaube, ſie ſind den Eindrücken, die eine gütige Behandlung hervorruft, 
ſehr zugänglich. Sie erkannten in mir einen Menſchen, der ihnen wohlgeſinnt 
war, und waren offenbar froh und dankbar, als ſie ſahen, daß ich es der 
Mühe wert fand, mich um fle zu bekümmern.“ Aber die Stämme Sentral: 
Auſtraliens bemerken Spencer und Gillen, daß ſie zwar, wenn ein Weißer 
ihnen Geſchenke macht, nicht die Gewohnheit haben, durch Gebärden oder 
Worte etwas auszudrücken, was einer beſonderen Dankbarkeit entſpricht, daß 
fie aber dieſes Gefühls durchaus nicht unfähig find; und andere Schriftſteller 
bringen Beiſpiele von Dankbarkeit bei den Eingeborenen von Weſtauſtralien 
und Queensland. 

Aber die Einwohner von Madagaskar ſchreibt der Miffionar Ellis: „Es 
iſt bezweifelt worden, ob das edle und großmütige Gefühl der Dankbarkeit 
unter den Malagaſy viel Platz hat. Obgleich ſie oft außerordentlich apathiſch 
ſcheinen, ſo ſind ſie ſicherlich zärtlicher Gefühle fähig; und ihre Gebräuche 
weiſen verſchiedene Formen auf, die ihren Sinn für erwieſene Freundlichkeiten 
bezeugen; auch enthält ihre Sprache viele Ausdrücke für Dankbarkeit. Die 
folgenden find die gebräuchlichſten: Mögen Sie alt werden — mögen Sie 
lange leben — mögen Sie heilig leben — mögen Sie die Gerechtigkeit des 
Fürſten erleben.“ Aberdies wird neben all ihren wörtlichen Aus drücken der 
Dankbarkeit noch eine augenfällige Handlung geübt: mitunter werden beide 
Hände offen ausgeſtreckt, wie um ein Geſchenk zu machen, oder der Betreffende 
bückt ſich zur Erde nieder und umſchlingt die Beine oder berührt die Knie 
und Füße der Perſon, der er dankt. Andankbarkeit dagegen wird durch viele 
draſtiſche Gleichniſſe ausgedrückt, z. B.: „Sohn des Blitzſtrahls“, oder „Nach · 
komme eines Wildſchweins“. Die Buſchmänner find nach Burchell der Dant- 
barkeit nicht unfähig. Der Behauptung mancher Reiſenden und Koloniſten, 
daß die Zulus dieſes Gefühls ganz bar find, wird von Tyler widerſprochen, 
der verſichert, daß „viele Beiſpiele herangezogen werden können, in denen fich 
ein dankbarer Geiſt zeigte und für erhaltene Gunſtbezeugungen Gegengaben 
gereicht wurden“. Caſalis erwähnt, daß die Baſutos Worte haben, um das 
Gefühl der Dankbarkeit auszudrücken. Unter den Bakongo, ſagt Ward, „find 
Beweiſe von Dankbarkeit allerdings ſelten, obgleich man mitunter ſonderbaren 
Ausdrücken dieſes Gefühls begegnet. Ich rettete einmal durch einen glüd- 
lichen Zufall das Leben eines Säuglings. Die Mutter brachte mir das Kind, 
das von Konvulſionen befallen war, und ich war fo glücklich, in meinem Arznei 
faften ein Mittel zu finden, das eine faſt augenblickliche Heilung zur Folge 
hatte. Doch der Dienſt, den ich der Frau erwies, trug mir keinerlei An⸗ 
erkennung ein, ſondern brachte mich nur in den Geruch eines Zauberers.“ Aber 


Dankbarkeit 807 


zwanzig Monate ſpäter, um Mitternacht, als alles Volk ſchlief, kam das 
Weib zu Ward und gab ihm einige Vogeleier als Bezahlung. „Ich komme 
in der Dunkelheit,“ ſagte ſie, „damit meine Leute es nicht wiſſen, denn ſie 
würden mich verhöhnen, wenn ſie von der Gabe wüßten.“ Auch Monrad, der 
über die Eingeborenen von Accra berichtet, ſagt, daß Dankbarkeit eine Tugend 
der Neger iſt, und verſichert weiter, daß ſie ſogar bereit ſind, ihr Leben für 
erwieſene Wohltaten zu opfern. Die Feloop an der Grenze Gambias „ent. 
falten die äußerſte Dankbarkeit und Liebe gegen ihre Wohltäter“. Die Maſſai 
und Wadſchagga „haben die ſonderbare Gewohnheit, auf Dinge und Menſchen 
zu ſpucken, um ihnen ein Kompliment zu machen oder ein Zeichen der Dank. 
barkeit zu geben“ — urſprünglich wohl mit der Abſicht, „ihnen einen Segen 
zu übermitteln“. Nach Palgrave iſt „Dankbarkeit nicht weniger eine arabiſche 
als eine europäiſche Tugend, was immer die Anwiſſenheit oder die Vorurteile 
einiger Fremder an gegenteiligen Urteilen auch verbreitet haben“; und Burck⸗ 
hardt ſagt, daß ein Araber nie eine ihm gezeigte Großmut vergißt, ſelbſt 
wenn ſie von ſeinem Feinde ausgeht. 

In anderen Berichten wird Dankbarkeit direkt als ein Gegenſtand des 
Lobes, ihre Abweſenheit als ein Gegenſtand der Mißbilligung dargeſtellt. 
Unter den Atcha⸗Aleuten wurde nach Pater Jakob Dankbarkeit gegen Wohl⸗ 
täter als Tugend betrachtet. Wenn bei den Omaha ein Mann eine Gunft- 
bezeugung erfährt und ſeine Dankbarkeit nicht ausdrückt, rufen die anderen: 
„Er ſchätzt die Gabe nicht! Er hat keinen Anſtand.“ Die Kamtſchadalen 
ſind nicht nur dankbar für erwieſenes Wohlwollen, ſie erachten es auch als 
unbedingt nötig, ein gegebenes Geſchenk zu erwidern. Der Chineſe ſagt: „Güte 
iſt bindender als Darlehen.“ Nach dem „Göttlichen Panorama“, einem wohl. 
bekannten tauiſtiſchen Werk, werden die, welche Guttaten vergeſſen und der 
Andankbarkeit ſchuldig find, nach dem Tode gequält werden und nicht einem 
Jota ihrer Strafe entrinnen. In einem der Pahlaviſchen Texte wird die 
Dankbarkeit als ein Mittel bezeichnet, in den Himmel zu gelangen, während 
die Undanlbarfeit als eine verruchte Sünde gebrandmarkt wird. Nach Ammian 
wurden im alten Perfien undankbare Menſchen fogar von Geſetzes wegen be- 
ſtraft. Das gleiche ſoll nach Seneca in Mazedonien der Fall geweſen fein. 
Die Pflicht der Dankbarkeit wurde von den griechiſchen und römiſchen Moraliſten 
aufs ſchärfſte betont. Ariſtoteles ſtellt als allgemeine Regel auf, daß wir 
eher unſerm Wohltäter eine erwieſene Gunſtbezeugung erwidern, als einem 
Waffenbruder eine freiwillige Gunſt bezeugen ſollen, genau ſo wie wir eher 
einem Gläubiger eine Schuld bezahlen, als einem Freunde die gleiche Summe 
zum Geſchenk machen ſollten. Nach Xenophon iſt die Vergeltung von Wohl- 
taten durch ein göttliches Geſetz geboten. „Es gibt keine unerläßlichere Pflicht 
als die, Wohlwollen zu erwidern,“ ſagt Cicero; „alle Menſchen haſſen den, 
der eine Wohltat vergißt.“ Seneca nennt die Andankbarkeit ein ſehr ver⸗ 
abſcheuenswertes Laſter, das zwar ſchwerlich durch das Geſetz beſtraft werden 
kann, das wir aber dem Arteil der Götter überlaſſen. Die alten Skandinavier 
fanden es unehrenhaft, einen Feind ſelbſt in Blutrache zu töten, wenn man 
einmal eine Wohltat von ihm empfangen hatte. 


Prof. Dr. Eduard Weſtermarck 


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808 Die Zukunftsſchlacht in den Lüften 


Die Zukunftsſchlacht in den Lüften 


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) x „Pall Mall Magazine“ hat der Engländer Wells eine abenteuer 
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liche Schilderung der erſten Schlacht in den Lüften veröffentlicht. 
— dDeutſchland hat unerwartet den Vereinigten Staaten den Krieg er- 
klärt, und die ganze deutſche Flotte von 18 Schlachtſchiffen mit einem Heer 
von Kohlendampfern und von großen Handelsſchiffen, die zur Anterſtützung 
der Operationen der Luftflotte dienen ſollen, kreuzt die Enge von Dover am 
Pfingſtmontag und ſteuert hinaus in den Atlantiſchen Ozean, der amerikaniſchen 
Flotte entgegen. Die verfügbare Seemacht der Amerikaner im Atlantiſchen 
Ozean beſteht nur aus vier Schlachtſchiffen und fünf geſchützten Kreuzern. Die 
Flotten ſtoßen bereits vor dem Bekanntwerden der Kriegserklärung aufein- 
ander. Die Mehrzahl der amerikaniſchen Schlachtſchiffe befindet ſich im Stillen 
Ozean, und die wenigen Kampfeinheiten, die den Vankees an der Oſtküſte zur 
Verfügung ſtehen, werden ſofort ausgeſandt, um die deutſche Invaſion wenig ⸗ 
ſtens auf kurze Zeit aufzuhalten, bis Panama und Newport ſich in den Ver⸗ 
teidigungszuſtand geſetzt haben. Von der Höhe eines Luftſchiffes, das 6000 
oder 7000 Fuß hoch überm Meeresſpiegel ſchwebt, verfolgt der erfindungs⸗ 
reiche Schriftfteller die Seeſchlacht. Als für die Luftflotte der geeignete Augen ; 
blick da iſt, um in die Schlacht der Seeſchiffe einzugreifen, ſenkt ſich das Flagg · 
ſchiff der deutſchen Luftflotte langſam hernieder; in anſehnlicher Höhe, aber 
faſt unmittelbar ſenkrecht über der amerikaniſchen Schlachtordnung, ſtockt die 
Bewegung des Sinkens und das Luftſchiff hält nun mit der Geſchwindigkeit 
der Amerikaner gleichen Schritt. Die Amerikaner find dem Angriff aus den 
Lüften gegenüber fo gut wie wehrlos; fie befigen keine Mittel, um dieſem 
furchtbaren Feind zu ſchaden. Nur ein Mann von der Beſatzung des Flagg: 
ſchiffs der deutſchen Luftflotte wird durch einen Gewehrſchuß getötet. Das iſt 
der einzige Verluſt. And nun beginnt der Angriff. Von dem Luftſchiff löſt 
ſich eine Anzahl „Drachenflieger“ los, kleine flinkgehende Weroplane mit 
breiten, flachen Schwingen und einem großen viereckigen, kaſtenartigen Vorder. 
teil, die je von einem Mann geſteuert werden. Sie ſchweben hernieder wie ein 
Schwarm Vögel und beftreuen die Schiffe in der Tiefe mit Bomben von außer 
ordentlicher Exploſionskraft. Nach dieſem einleitenden Angriff der Drachen. 
flieger übernimmt es ein Dutzend Luftſchiffe, in einer Höhe von 2000 Fuß die 
Amerikaner zu verfolgen. Sie überholen die Schlachtflotte, ſenken ſich etwas 
und überhäufen nun das ſchwachgeſchützte Verdeck der Panzer mit Bomben, 
bis alles in einem Meer von Feuer, Rauch, giftigen Gaſen und umherſplit ⸗ 
ternden Eiſenteilen verſinkt. Die amerikaniſche Flotte iſt zerftört und nun 
nehmen die Luftſchiffe geradewegs Kurs auf Newyork. „So war Bert Small. 
ways (der Held der Erzählung) Zeuge der erſten Schlacht in den Lüften und 
zugleich der letzten Schlacht jener ſeltſamen Erzeugniſſe der Kriegsgeſchichte: 
jener ſtahlgepanzerten eiſenbeladenen Schlachtſchiffe, deren Geſchichte begann 
mit jenen ſchwimmenden Batterien, die Napoleon III. zuerſt im Krimkrieg an- 
wandte und die viele Jahrzehnte, ſiebzig Jahre lang von der Menſchheit mit 
einem gewaltigen Aufwand von Kraft und Opfer entwickelt und erhalten wurde. 
In dieſem Zeitraum hat die Welt mehr als 12 500 dieſer ſeltſamen Ungeheuer 
hervorgebracht in Formen und Typen, von denen jede den Vorgänger übertraf 
und jede ein furchtbareres, tödlicheres Zerſtörungsmittel war. Nur fünf von 
hundert dieſer großen Zahl kamen je dazu, im Kampfe ſich zu erproben. Einige 


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Die moderne Türkin 809 


ſanken, die anderen ſcheiterten, andere explodierten, andere ſtießen durch Zufall 
zuſammen und gingen unter... All dem aber machten nun die kleinen Dinger 
aus Korbgeflecht und Gas ein Ende, die aus den Lüften herniedergehen und 


alles vernichten. 
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Die moderne Türkin 


Cas Geheimnis, das die türkiſche Frau umgibt, die mancherlei Ge- 
ſchichten, die über das Leben und Treiben im Harem umlaufen, 
ise haben der Türkin in der Literatur des Weſtens und beſonders in 
der Phantaſie des Europäers eine Sonderſtellung angewieſen. Gerne möchte 
man mehr erfahren, aber welcher Europäer hätte Gelegenheit, ſich ihnen zu 
nähern? Eunuchen, hohe Mauern und die Furcht vor den ſo oft geſchilderten 
Tiefen des Bosporus bilden meiſt unüberwindliche Hinderniſſe. And dann, 
wer fände gleich unter ihnen die eine, die genügend Verſtand und Bildung 
hätte, um eine Schilderung ihres Seelenlebens zu geben? 

Der Zufall ſtellte nun einen Mitarbeiter der „Frankfurter Zeitung“ einer 
modernen Türkin gegenüber. „Einer jungen Frau von wenig über dreißig 
Jahren, ſchlank und graziös, wie die Märchen das orientaliſche Weib ſchildern. 
Von einem Ebenmaße der Glieder, das klaſſiſchen Anforderungen entſpräche. 
Die Geſichtszüge, ohne gerade ſchön zu ſein, von jener Vornehmheit, die von 
keiner Schönheit erſetzt werden kann. And das Antlitz von einem Augenpaar 
erleuchtet, fo ſchwarz, fo feurig, fo tief ... wie man fie fo oft hinter dem 
Jaschmak hervorleuchten ſieht und die ſelbſt die proſaiſchſten Europäer auf 
gefahrvolle Abwege romantiſcher Abenteuer zu verlocken pflegen. Sie gehörte 
einer nicht allzu reichen, auch nicht allzu vornehmen Familie an und war im 
Begriffe, mit ihrem Manne eine ‚escapade’ nach Europa zu machen. So er- 
zählte ſie mir im korrekteſten Franzöſiſch, während ſie einen Benediktiner 
ſchlürfte. Indem ich auf dieſe Sünde neckend anſpielte, meinte ſie ganz ruhig, 
die größere Sünde habe ſie ja begangen, als ſie mit mir zu ſprechen anſing. 
Sie trug ja keinen Jaschmak; fie hatte ihn abgelegt, als fie die Türkei ver- 
laſſen und wird ihn nicht mehr anlegen, bevor ſie den heimatlichen Boden 
wieder betritt. Ob ſie ihn für notwendig hält? Durchaus nicht. Ob er eine 
Forderung der Religion ſei? Keinesfalls. Es handle ſich um eine wörtliche 
Auslegung eines ſymboliſch gemeinten Ausſpruchs des Korans: „Du ſollſt mit 
dem Manne nur hinter dem Vorhange der Keuſchheit ſprechen!“ Dieſe Roran- 
ſtelle, die urſprünglich nur ein Keuſchheitsgebot enthält, wird, wie das uns bei 
rückſtändigen Völkern in ähnlichen Fällen ja meift begegnet, grob ſinnlich aufgefaßt. 

Denſelben Zweck wie der Jaschmak verfolgen auch die hölzernen Gitter 
an den Fenſtern des Harems. Es iſt — meint die Dame — das Anbekannte, 
das den Fremden zu allerlei phantaſtiſchen Vermutungen über das Harems- 
leben veranlaßt. Würde man hinter die hölzernen Gitter, die übrigens immer 
häuſiger ſchweren Vorhängen weichen, ſchauen können, man würde kaum noch 
glauben, fi in Konſtantinopel und dazu noch in einem Harem zu befinden. 
Staunend würde man gewahr, wie in einem ganz europäiſch eingerichteten 
Raum eine franzöſiſche oder engliſche Lehrerin Kindern Anterricht erteilt, 
während in irgend einer Ecke oder Niſche die Hausfrau in eleganter „robe 


810 Die moderne Tirta 


d' intérieur“ ſich mit einer Handarbeit oder mit der Lektüre des neueſten Romans, 
Dramas oder Gedichtbandes die Zeit vertreibt. 

Ob die türkiſche Frau recht unglücklich iſt? Subjektiv geſprochen: 
nein. Sie iſt übrigens nicht mehr, was die Türkin von einſtens war. Vor 
allen Dingen duldet ſie die Polygamie nicht mehr. Allerdings kommen 
auch die Männer davon ab, nicht allein die gebildeten und nicht allein aus 
moraliſchen Gründen. Die Moral ift hier eben eine ganz andere. Aber es 
gibt nur noch ſehr wenige Männer, die wirtſchaftlich kräftig genug wären, 
zwei Frauen jenes Minimum an Luxus zu bieten, welches das Haremsleben 
nun einmal erfordert; denn der Koran ſchreibt vor, daß der Mann alle ſeine 
Frauen gleich gut behandle, daß er keinen Anterſchied zwiſchen ihnen mache. 
Im allgemeinen gilt der Türke ſogar für treuer als der Europäer, vielleicht 
gerade weil bei ihm der Seitenſprung keine verbotene Frucht iſt oder vielleicht 
auch weil das Regime der Vielweiberei mit feinen häßlichen Auswüchſen noch 
friſch in ſeiner Erinnerung lebt. Das meiſte tut wohl die europäiſche 
Bildung, die immer mehr vordringt, beſonders bei den Frauen. Die Männer 
beſuchen die Schulen, die einer ſcharfen Kontrolle unterſtehen, während die 
Mädchen im Haufe erzogen werden und von ausgezeichneten europäiſchen 
Lehrerinnen uneingeſchränkt mit den Schätzen europäiſcher Bildung und Kultur 
bekannt gemacht werden. Dafür iſt die Dame, die alle dieſe Dinge ausplaudert, 
ſelbſt ein beredter Beweis. 

Wir kommen natürlich auf Pierre Lotis Roman ‚Les Désenchantees 
zu ſprechen. Sie hat ihn geleſen und ſindet ſeine Tendenz lobenswert, aber 
die Pſychologie der Türkin unrichtig geſchildert. Der Verfaſſer kenne kaum 
die Wirklichkeit und ſeine Türkinnen gehörten zu jenen phantaſtiſchen Figuren, 
die Romantiker gerne ſchilderten, die vielleicht auch einmal exiſtiert hätten, 
jetzt aber ganz gewiß nicht mehr zu finden ſeien. Abrigens iſt Pierre Loti 
ebenſowenig wie Marcel Preveft der Lieblingsſchriftſteller der modernen 
Türkin. Prevoſt wird viel geleſen, weil man glaubt, durch ihn die Pſpche der 
modernen Franzöfin kennen zu lernen. Das tft alles. Man lieſt auch Bourget, 
aber man ſindet ihn zu gekünſtelt und ſchwerfällig, während Zola noch immer 
als der größte unter den Meiſtern gilt und in keinem Harem fehlen dürfte. 
Jetzt lieſt und bewundert man ſehr viel Anatole France. Die deeutſche 
Literatur wird in neuerer Zeit immer mehr genoſſen. Jedenfalls kennt die 
Dame die großen Klaſſiker, die gleichfalls alle Harembibliotheken ſchmücken. 

Aber nicht nur Literatur treibt die moderne Türkin. Sie ſchwärmt auch 
für Muſik, die fie zumeiſt ſelbſt ausübt. And dann intereffiert fie ſich auch 
für Malerei und Bildhauerei und iſt ganz ſtolz auf die Schätze, die der 
kunſtſinnige und tüchtige Hamdi Bei in dem kaiſerlichen Muſeum von Stambul 
aufgeſtapelt hat. Die Pleureuse, der angebliche Sarkophag Alexanders des Großen 
und dann ein Epheb rufen ganz beſondere Bewunderung bei der Dame hervot. 

Ob eine Frauenbewegung in der Türkei vorhanden fei? Sie glaubt 
es nicht oder weiß es wenigſtens nicht. Auch iſt die Möglichkeit der Organi . 
ſierung einer ſolchen Bewegung nicht vorhanden. Aber ohne daß eine Partei 
vorhanden wäre, bricht ſich die Idee der Frauenemanzipation doch Bahn. 
allerdings nicht im europäiſchen Sinne, denn hier gilt es zuerſt, die Frau aus 
dem Banne alter Vorurteile zu befreien, die in Europa längſt überwunden 
ſind: ihre Stellung als Gattin von Grund aus umzuändern. Die Ver 
ehelichung erfolgt ſchon nicht mehr in der alten Weiſe. Keine moderne 


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Die moderne Türtin 811 


Türkin würde ſich entſchließen, einen Mann zu ehelichen, den fie noch nie ge- 
ſehen hätte. Die Dame erzählte mir, daß ſie ihren Mann vorher genau ge⸗ 
kannt habe, gleichwie auch er noch vor der Verlobung Gelegenheit gehabt, ſie 
zu ſehen und zu ſprechen, es habe ſich bei ihnen um eine Zuneigungsehe ge- 
handelt, genau wie es „‚manchesmal' auch in Europa der Fall fei. Daß über 
die Mitgift in der Türkei nicht verhandelt wird, iſt gewiß ein Vorteil und 
geſtaltet die Ehe viel weniger zu einer Verſorgungsanſtalt als in Europa. Man 
kennt nämlich in der wilden Türkei die Einrichtung der Mitgift noch 
gar nicht! Der Mann ſchließt ſich zumeiſt der Familie feiner Frau an; 
er heiratet zumeiſt ein und wird von den Schwiegereltern ausgehalten. Wenn 
dieſe ſterben und keine Söhne hinterlaſſen, wird er Alteſter der Familie. 

Einen großen Nachteil bietet die leichte eös barkeit der Ehe. Der 
Mann kann durch eine einfache Erklärung, mündlich oder ſchriftlich, die Ehe 
auflöſen. Aber man muß zugeſtehen, daß Mißbrauch kaum getrieben wird, 
beſonders wenn Kinder vorhanden ſind. Denn auch der ſchlechteſte Ehegatte 
iſt ein vorzüglicher, zärtlicher Vater. 

Sehr religiös iſt die moderne lürkiſche Frau nicht. Ja fie iſt ſogar 
minder religiös als der Mann, denn fie unterliegt viel weniger der Aufficht. 
Der Mann muß in die Moſchee, ſie darf ihre Gebete im Hauſe verrichten und 
kann alfo auch darauf verzichten. Abrigens iſt ja ihre Religion äußerſt tolerant. 
Das Bethaus iſt nicht obligatoriſch und nicht erflufiv. Man darf ebenſo⸗ 
gut in der chriſtlichen Kirche wie in der jüdiſchen Synagoge 
ſeine Andacht verrichten. Ja dies wird ſogar als eine Allah be⸗ 
ſonders genehme Tat betrachtet! Ein beſonderes Zeichen der Emanzi⸗ 
pationsbeſtrebungen der modernen Türkin ift die Tendenz, ihren Kindern 
weiblichen Geſchlechts einen Beruf zu geben. Die Dame hofft ihr aller ⸗ 
dings noch kleines Töchterchen zu einer tüchtigen Ärztin und Geburtshelferin 
ausbilden zu können. Dabei will ſie nicht gegen den Strom ſchwimmen und 
unnützerweiſe die öffentliche Meinung herausfordern. 

Viele Frauen des Volkes fühlen ſich äußerſt glücklich, obſchon ſie noch 
den alten Vorurteilen ergeben ſind und unterliegen. Auch für ſie wird die 
Zeit der Erlöſung kommen! Wozu ſie unnützerweiſe vorzeitig aus ihrem Traume 
aufſcheuchen? Wozu in ihnen das Bewußtſein ihrer Lage wecken, ſolange dies 
nur zu unheilbaren Schmerzen führen kann? Das Licht der Kultur und Zivili- 
ſation läßt ſich nicht verhängen und die Zeit iſt nicht mehr fern, wo den Jasch- 
mak der feine europäiſche Schleier erſetzen wird, wie die Holzgitter der ge- 
wöhnliche Vorhang. Schon wagt es die Türkin in den Straßen Konſtantinopels 
den Jaschmak aufzuſchlagen und ihr Geſicht jedem zu zeigen. Männer, die 
indiskret ſind, — werden auch anderswo als in Konſtantinopel als ungezogen 
gelten. Was die moderne Türkin aber braucht, iſt, was der ganzen Türkei 
fehlt: mehr Luft! Freiheit! 

Dies die Äußerungen einer modernen Türkin, die, wie fie ſelbſt wieder. 
holt betonte, gar keine Ausnahme unter ihren Gefährtinnen bildet, ſondern 
den Durchſchnittstypus darſtellt. Vielleicht zerſtören ſie die Illuſionen vieler 
Menſchen, die fo gerne in den phantaſtiſchen Haremsbeſchreibungen ſchwelgen, 
— dafür ſchildern fie aber die Wirklichkeit. And in dieſer find Eunuch, Viel ⸗ 
weiberei, Sklavinnen, hermetiſche Abſperrung der Frau nur noch eine große 


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Die hier veröffentlichten, dem freien Meinungsaustaufch dienenden Etrnjendungen find unappangig 
2 — db Standpunkte des Herausgebers === === === 


Zu dem Artikel der Badenerin 


7) Lieber Türmer! 
eit Jahren ſchon freue ich mich immer auf das Erſcheinen deiner fo 
reichhaltigen und gediegenen Monatshefte, die in der Tat von hoher 
— Warte aus ins weite Land geſchickt werden; beſonders auch über 
be echt deutſchen Mannesftolz und Wahrheitsmut, der fic) in deinem Tagebuch 
ausſpricht. Nun erſchien aber in einer deiner letzten Nummern (Juli 1908) ein 
Artikel: „Aus dem Liebesleben eines Fürſten“, der nicht unwiderſprochen bleiben 
darf, zumal die Verfaſſerin nicht mit ihrem Namen, ſondern als Badenerin 
ſich unterzeichnet, alſo gewiſſermaßen ſich das Recht nimmt, im Namen des 
badiſchen Volkes zu reden. 

Ich bin auch ein Kind dieſes Volkes, ein Kind des Markgräflerlandes, 
das wohl zu den älteſten Beſtandteilen Badens gehört. Dem Hofleben und 
dem fic) ihm leider auch nur zu reichlich anhängenden Klatſch habe ich zeit · 
lebens zu fern geſtanden, um beurteilen zu können, wie weit ſich die in dem 
erwähnten Aufſatz enthaltenen Mitteilungen über das Liebes- und Eheleben 
unſeres geliebten verſtorbenen Großherzogs mit der Wirklichkeit decken; aber 
fo viel ſagt mir mein natürliches Empfinden, daß Dritte hier ehrfurchtsvoll zu 
ſchweigen hätten — nicht weil es ſich hierbei um fürſtliche Perſonen handelt, 
ſondern aus jenem echt menſchlichen und echt chriſtlichen Zartgefühl heraus, 
das wir jedem unſerer Mitmenſchen ſchuldig ſind, und das uns verbieten müßte, 
die intimſten und heiligſten Vorgänge in ſeinem Leben vor das grelle Licht 
der Offentlichkeit und die oft ſo ſeichte und liebloſe Kritik der Welt zu ſtellen. 
Auch hier könnte man ſagen: Das möchte ich keinem meiner Mitmenſchen antun. 

Was in aller Welt, möchte ich die Verfaſſerin fragen, hat fie damit be 
zweckt, daß fie Dinge fo durchaus privater Natur, deren Kenntnis oder Un- 
kenntnis für das allgemeine Wohl oder Wehe doch abſolut keinen Wert bat, 
vor der Allgemeinheit aufwühlte? Mein erſter Gedanke, als ich den Auffas 
las, war: Wie weh müßte Großherzog Friedrich eine ſolche Preisgabe ſeiner 
innerften Herzens angelegenheiten tun, wenn er noch lebte! And wie ſchmerzlich 
muß ſie die berühren, die ihm ſein ganzes, reiches Leben hindurch eine treue, 
hochgeſinnte Gefährtin und Gehilfin geweſen; denn das kann ſelbſt der Haß 
Großherzogin Luiſen nicht abſprechen: Sie hat allezeit eine hohe Auffaſſung 
ihrer Pflichten als Frau und als Fürſtin bewieſen, und erſt einer ſpäteren 
Zeit, vor deren Auge ihr Bild nicht mehr ſchwankt, von der Parteien Gunſt 


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Su dem Artikel der Badenerin 813 


und Haß verwirrt, mag es vorbehalten ſein, das Leben und Wirken dieſer 
fürſtlichen Frau gerecht zu beurteilen. 

Die Verfaſſerin ſpricht auch von „vielem, das die Deutung der Popu- 
laritäts ſucht hervorrief“; fie findet, das Erſcheinen auf dem entlegenſten Dorfe 
aus unbedeutendem Anlaſſe, das zu ſtundenlangen Wagenfahrten zwang, ſei 
weit über das Maß der landes väterlichen Verpflichtung hinausgehend, und 
führt ein Wort von Hansjakob an: „Mir imponiert ein Fürſt, der mit ver- 
hängten Wagenfenſtern an ſeinen ſich tief verneigenden Antertanen ſtumm 
vorbeijagt.“ —! — Gott fei Dank, daß die Zeiten vorüber find! Gerade 
das hat uns unſern alten Großherzog ſo lieb gemacht, ſo menſchlich nahe ge⸗ 
bracht, daß er ein Landesvater war in des Wortes wahrſter und vollfter Be⸗ 
deutung, daß er in und mit ſeinem Volke lebte, ſeine Leiden und Freuden 
teilte. Ja, er hätte ſein Haupt ruhig legen können in jedes Antertanen Schoß; 
auch der letzte war ihm ergeben um ſeiner Vatertreue, ſeiner herzgewinnenden, 
echten Güte willen. And ſie, die ihn auf all dieſen Gängen zu ſeinem Volke 
begleitete, ift fie uns nicht auch eine echte Landesmutter geworden? Hat fie 
ſich nicht redlich bemüht, den Wahrſpruch der Treue „Dein Volk iſt mein Volk“ 
ins Leben umzuſetzen? Die Heimat ihres Gatten zu der ihrigen zu machen? 
Sollte ſie darum der Heimat ihrer Jugend nicht auch noch Treue bewahren 
dürfen? And — muß man ſeine Weſensart ändern, um der Weſensart eines 
andern gerecht werden zu können? Wir Süddeutſche werfen dem Norddeutſchen 
ſo oft vor, daß er unſere Eigenart zu wenig verſtehe, unſere Vorzüge zu wenig 
anerkenne; aber prüfen wir uns einmal ganz ehrlich, ob wir uns dem nord- 
deutſchen Bruder gegenüber nicht des gleichen Anrechts ſchuldig machen? 
Klingt es nicht auch ein wenig hochmütig, wenn z. B. die Verfaſſerin ſagt: 
„Der badiſche Aradel kam durch die Entſchlüſſe des Landtags, durch die Gelbft- 
lofigfeit des Landesherrn in großen Zwieſpalt. — — — Die jungen Träger 
althiſtoriſcher Geſchlechter, wie Baden und das übrige Süddeutſchland mehrere 
aufweift, fanden im preußiſchen Heere keine gleichwertigen Genoſſen. Was 
wollen die vielen preußiſchen Adelstitel und Namen, bei denen das 14. Jahr- 
hundert zu den Seltenheiten im Stammbaum gehört, gegen die Reprafen- 
tanten des badiſchen Uradels beſagen, wie z. B. die Bodmann, die Seldenek, 
deren Geſchlechter ſchon im 7. Jahrhundert ihre Machtſtellung nachweiſen können.“ 

Gft es denn die Länge des Stammbaums, möchte man da fragen, welche 
den wahren Adelswert eines Mannes ausmacht? Was wäre aus der Einheit, 
aus der Machtſtellung der Deutſchen geworden ohne Männer wie Freiherr 
vom Stein und Bismarck, deren Stammbaum doch überdies auch nicht von 
geſtern iſt. 

Die Verfaſſerin hat recht, wenn ſie ſagt: „Laſſe einer dem andern die 
ſchuldige Anerkennung, dann wird aus der bindenden Vernunft die bindende 
gegenſeitige Achtung entſtehen, das ſicherſte Fundament für wachſende Zuneigung.“ 

Ja, ſuchen wir doch endlich einmal wechſelſeitig das hervorzukehren, 
was uns eint, was wir aneinander zu {dagen haben. Sehen wir doch endlich 
in der Verſchiedenheit der Weſensart von Nord und Süd gerade das, was 
uns fähig macht, einander zu ergänzen. Hat denn der Deutſche immer noch 
nicht gelernt, was gerade ſeine Geſchichte ihn lehrt, daß Einigkeit ſtark macht? 
Artikel wie der oben erwähnte ſcheinen mir nicht zur inneren Einigung, ſondern 
eher zu gegenſeitiger Erbitterung und Zerſplitterung beizutragen. Beſonders 
die deutſche Frau ſollte der Miffion eingedenk bleiben, die ſchon vor mehr als 


814 pRatholtides’ 


zwei Sabrtaufenden ein edler Dichter-Seher dem Weibe zuwies: „Nicht mit 
zu haſſen, mit zu lieben bin ich da.“ 

Das iſt meine Meinung. Es mag fein, daß nicht alles gut für uns ift, 
was ſich neuerdings vom Norden her uns aufdrängen will; aber iſt es nicht 
unſere Schuld, wenn wir nicht ſtark genug ſind, abzulehnen, was nach unſerer 
Aberzeugung nicht für uns und unſere Verhältniſſe paßt? 

Es iſt wahr, wir haben Opfer gebracht für die Macht und Größe unferes 
deutſchen Vaterlandes; aber haben wir wirklich nur gegeben, nicht auch emp 
fangen? Freilich hat nur der das Recht, „ſich bis aufs Hemd auszuziehen“, 
der ſo göttlich ſorglos geben kann, wie das Kind im Märchen; denn nicht 
jedem fallen die Sterne des Himmels in den Schoß; aber wer verlangt dem 
von uns, daß wir „ewig die Gebenden ſein ſollen“? And iſt es vornehm, ift 
es deutſche Art, die Opfer, die man einmal gebracht hat, ewig vorzurechnen? 

Ich bitte dich, lieber Türmer, um der Billigkeit willen, auch dieſen 
Zeilen in einem deiner nächſten Hefte Aufnahme zu gewähren. 

N * Auch eine Badenerin 


„Katholiſches“ 


Ger Türmer brachte in ſeinem Februarheft einen Artikel des Herrn 
72 UG A Dr. Sofeph Müller über Katholiſches unter der nämlichen Spitzmarke. 

Ree Rrantheit ift der Grund, warum es mir jetzt erſt möglich iſt, auf 
dieſen Artikel zurückzukommen. Es iſt und kann nicht meine Aufgabe ſein, 
die rein theologiſchen Anſchauungen des Herrn Verfaſſers, die in den 
betreffenden Artikel zum Ausdruck kommen, zu widerlegen. Es wäre Sache 
der Theologen, ſich darüber mit dem Herausgeber der nun geräuſchlos ent · 
ſchlafenen „Nenaiſſance“ auseinanderzuſetzen. Ein Moment möchte ich aber 
auch hier herausgreifen. 

Vor mir liegt die Nr. 351 des „Bayer. Kurier“ vom 17. Dezember 1907. 
Ich leſe da auf der erſten Seite: 

„Die ,Renaiffance’ eingegangen! 

Herr Dr. Gof. Müller läßt, auch infolge Weiſung von kirchlicher Stelle, 
feine reformkatholiſche Zeitſchrift einſtellen. In der Dezembernummer vet“ 
abſchiedet ſich der Gründer und Herausgeber von ſeinen Leſern und ruft ihnen 
ein „Auf Wiederſehen' zu. In einer Beſprechung der neuen Enzyklika 
ſagt Dr. Müller: ‚Da aber die höchſte Stelle geſprochen hat, miiffen wir und 
als loyale Katholiken fügen und ſchließen hiermit unſer Blatt, der 
Reformagitation völlig entfagend.— — — - — = —- — — 7 

Der Schritt Müllers beftätigt uns aufs neue, daß Herr Dr. Müller das 
ernſtliche Beſtreben hat, den Konner mit der Kirche aufrecht zu erhalten. Für 
ſeine neueſte Tat gebührt ihm Anerkennung. Es iſt zu wünſchen, daß er feinen 
Vorſatz getreu beobachtet — mit feiner Neformeret hat der fähige Kopf ſeine 
beſten Kräfte verpufft mit Nabuliſtereien und Verkehrtheiten.“ 

So weit der „Bayer. Kurier“. Mein Erftaunen war infolgedeſſen febr 
groß, als ich im „Türmer“ Dr. Müllers Artikel las. Von völliger Entfaguas 
der Reformagitation kann man dort beim beſten Willen nichts bemerken. Det 
Wunſch des „Bayer. Kurier“, Dr. Müller möge feinen Vorſat getreu be 
obachten, iſt alſo — ich ſetze hinzu: bedauerlicherweiſe — nicht in Erfüllung 


‚„Ratholifches“ 815 


gegangen. Wenn ein katholiſcher Prieſter ſchreibt, „heute habe das Sefuiten- 
regiment die Individualitäten aufs Kerbholz geſchrieben“, und wenn er weiter 
meint, daß „Index und Proſkription zu ſtumpfe Waffen gegen den Geiſt“ 
ſeien, ſo gewinnt doch ſicher jeder kühl denkende Leſer den Eindruck, daß der 
Autor zum mindeſten der Neformagitation nicht völlig entſagt und ſich als 
„loyaler Katholik“ der „höchſten Stelle“ gefügt hat. 

Herr Dr. Joſef Müller begibt ſich ſodann auf politiſches Gebiet. Und 
das iſt's, was mich zur Feder greifen ließ! Gewiſſermaßen als Aberleitung 
läßt er ſich zu den Worten hinreißen, daß „an Anduldſamkeit der Ultramon- 
tanismus dem Evangeliſchen Bunde ebenbürtig“ ſei. Mit Verlaub! Wo find 
die Beweiſe? Für die Anduldſamkeit des Evangeliſchen Bundes hingegen 
möchte ich ein Beiſpiel anführen. Bekanntlich hatte der Eſſener Katholikentag 
im Jahre 1906 die Loſung ausgegeben: Zuſammenſchluß der Gott und 
Chriſtusgläubigen aller Konfeſſionen zum Kampf wider den 
Anglauben und Amſturz. 

Aus dieſen Worten ſpricht wahre, unverfälſchte Toleranz und alles eher 
als Unduldfamleit. Beſehen wir uns nun die Erklärung, welche die Grau- 
denzer Generalverſammlung des Evangeliſchen Bundes im nämlichen Jahre 
einſtimmig angenommen hat: 

„Der Eſſener Katholikentag hat die Lofung ausgegeben: Zuſammenſchluß 
der Gott. und Chriſtusgläubigen aller Konfeſſionen zum Kampfe wider den 
Unglauben und Amſturz. Demgegenüber geben wir, die zur 19. Tagung des 
Evangeliſchen Bundes verſammelten Proteſtanten, folgende Erklärung ab: 
Mit den Chriften aller Kirchen und Konfeſſionen, die in dem Herrn Chriſtus 
allein das Heil ſehen, fühlen wir uns im Geiſte eins; jene Eſſener Loſung iſt 
indeſſen nur eine Wiederholung der ſeit Gründung der konfeſſionellen Zentrums 
partei ſtets von ihr erlaſſenen Aufforderung zum politiſchen Zuſammenſchluß 
der „gläubigen ChHriften. Dieſes Anſinnen weiſen wir als ver ⸗ 
hängnisvoll für unſer Vaterland und für unfere evangeliſche 
Kirche zurück; wir erachten es vielmehr als eine Gewiſſens pflicht, 
unſere evangeliſchen Volksgenoſſen und insbeſondere die von jener 
Seite als gläubig angeſprochenen Kreiſe vor einem Eingehen auf das 
angebotene Bündnis zu warnen. Denn bei aller Anerkennung der 
Ehrlichkeit, mit der viele fromme Katholiken meinen, uns auf dieſe Weiſe die 
Hand zu bieten, können wir doch in jener Tendenz des Katholikentages 
nichts anderes erkennen als einen geſchickten Verſuch, die Macht der die 
römiſchen Intereſſen in erſter Linie vertretenden Zentrumspartei zu ſtärken und 
jene Freiheit der Kirche‘ erobern zu helfen, die unvereinbar iſt mit den 
Grundlagen des ſouveränen nationalen Staates und eine be ⸗ 
ſtändige Bedrohung des konfeſſionellen Friedens bedeutet. 
Anſere evangelifche Loſung dagegen iſt: Freie Entfaltung der Lebens kräfte der 
Reformation, welche ſich von jeher als volks- und ftaatserhaltend erwieſen 
haben, Zuſammenarbeiten mit allen Schaffens freudigen, welche dem Vaterlande 
dienen wollen, auf allen Gebieten der chriſtlichen Geſittung und der Volks. 
wohlfahrt, aber kein Bündnis mit dem Zentrum und keinerlei politiſche Anter 
ſtützung dieſer parlamentariſchen Intereſſen vertretung der römiſchen Kirche; 
denn die römiſche Kirche iſt kein Bollwerk gegen Revolution 
und Amſturz und noch jeder politiſche Verbündete mit dem Ultramontanis- 
mus war ſchließlich der Betrogene.“ 


816 „Kath oliſches · 


Sehr richtig bemerkte der Abgeordnete Dr. Jäger Speyer in der All 
gemeinen NRundſchau“ (Nr. 46 bzw. 47) zu dieſer Antwort, die ein klaſſiſches 
Beiſpiel für evangeliſch⸗bündleriſche Anduldſamkeit iſt, wie folgt: 

„Die Graudenzer Erklärung gegen die Eſſener Katholikenverſammlung 
iſt eine wunderbare Miſchung von Friedens verſicherung und Kriegserklärung. 
Am aufrichtigſten gemeint ift jedenfalls die Grobheit am Schluſſe.“ 

Selbſt der „Kreuz Zeitung“ — gewiß eine in dieſer Sache einwandfreie 
Zeugin — war dieſe Erklärung zu ſtark; denn fie äußerte fich damals folgender · 
maßen: 

„Die fo ſcharfe Erklärung des Evangeliſchen Bundes wird den 
Tatſachen nicht ganzgerecht. Auch iſt es im Kampfe der Parteien keine 
gute und empfehlenswerte Gepflogenheit, dem Gegner als allgemein die bona 
fides abzuſprechen und von einer ganzen Partei zu ſagen, daß ſie noch jeden 
politiſchen Verbündeten betrogen habe. Scharfe Worte ſind unvermeidlich, 
aber beleidigende Worte rächen ſich ſtets an dem, der ſie gebraucht. 
In dieſem Falle kann ſich aber nicht nur die Zentrumspartei beleidigt fühlen, 
ſondern auch die Parteien, die gelegentlich mit ihr zuſammen in ehrlichen 
Streben nach der Wohlfahrt des Staates und der Kirchen gearbeitet haben.“ 

Ich finde es unbegreiflich, wie ein katholiſcher Prieſter, der im 
Dezember 1907 der ſtaunenden Menſchheit zu wiſſen tut, daß er der Reform · 
agitation völlig entſagen wolle, im Februar 1908 dem „Altramontanismus 
Anduldſamkeit vorwirft, ja dieſe „Anduldſamkeit“ des „Altramontanismus“ der 
tatſächlich beſtehenden des Evangeliſchen Bundes für ebenbürtig erklärt, ohne 
auch nur die Spur eines Beweiſes zu erbringen. Der „Türmer“ wird von 
ſehr vielen gläubigen Proteſtanten geleſen. Ich kann nicht finden, daß es zur 
Förderung des konfeſſtonellen Friedens beiträgt, wenn Herr Dr. Müller ſo 
auf ſeine eigenen Glaubensbrüder Steine wirft. 

Dann geht der Artikelſchreiber zum offenen Kampfe gegen das Zentrum 
über. Sft das keine Verquickung von Religion und Politik? Die „fogenannten 
Katholikentage“ ſtänden „ganz unter Leitung des Zentrums“. 

Nun folgt ein Perſonenkultus, der mir ein Lächeln ablockte, und wohl 
nicht mir allein. Ich denke auch all denen, die mit den Tatſachen etwas ein- 
gehender vertraut find. Die Idealgeſtalt ift „ein katholiſcher Pfarrer, Gran · 
dinger von Nordhalben in Oberfranken“. Herr Müller hat dem nunmehrigen 
Landtagsabgeordneten einen ſchlechten Freundes dienſt erwieſen. Wenn man 
Müllers Artikel lieſt, könnte man es faſt für unglaublich halten, daß dieſer Mann 
— Herr Grandinger nämlich — ſich überhaupt noch unter den Lebenden befindet. 
Dieweilen figt er noch immer im bayeriſchen Landtage. Herr Dr. Müller muß es 
ſich ſchon gefallen laſſen, daß ich ſeine Idealgeſtalt einer Würdigung unterziede, 
auf daß die Leſer ein objektives Bild von dieſem „kühnen Theologen“ erhalten 

Anter der Aberſchrift der „Heilige von Nordhalben“ brachte kurz vor 
den bayeriſchen Landtagswahlen, die bekanntlich am 31. Mai 1907 ftattfanden, 
der „Nordhalbener Grenzbote“, der laut „Bayer. Kurier“ (No. 150/51) all- 
gemein als das Organ des Herrn Pfarrers Grandinger gilt, einen Artikel. 
der ſich in Lobeserhebungen über deſſen Perſon — des „Heiligen von Nord · 
halben“ ergeht. Dazu ſchrieb der proteſtantiſch ⸗konſervative „Bayer. 
Volksfreund“ No. 120 vom 25. Mai 1907 wie folgt: 

„Ans iſt dieſer Artikel nur deshalb intereſſant, weil er den Liberalik 
mus des kath. Pfarrherrn in einem ganz eigentümlichen Lichte 


— — 


1 


6 
af 


„Katholiſches⸗ 817 


erſcheinen läßt. Zwiſchen den Zeilen kann man nämlich herausleſen, daß an 
der Wandlung des Herrn Gr. zum Liberalismus hin die nicht genügende 
Beförderung im Amte und die Verkennung ſeiner Talente 
ſchuld fet. Man habe ihn an den äußerften Nordpol Bayerns geſchickt und 
zur Antätigkeit verdammt; er aber habe ſich in ſeinem Tatendrang — wie 
weiland Alexander — ein größeres Königreich ſchaffen müſſen. ‚Unfer Pfarr- 
herr“ — fo heißt es in dem erwähnten Artikel (des Nordhalbener Grenzboten) — 
‚Hat ſich in den letzten Wochen einen ungewöhnlich populären Ruf verfdafft. 
Es geſchieht der geiſtlichen Oberbehörde ganz recht, wenn all 
das eingetreten iſt. Hätte dieſe den Mann an den richtigen 
Poſten geſtellt, an welchen er gehört, ſo hätte wohl die Welt 
länger auf einen mutigen offenen geiſtlichen Bekenner des 
Liberalismus warten können. Dieſe Auslaſſung tft ungemein deutlich 
und naiv und politiſch eigentlich unklug. Sie läßt ſchließen, daß der Liberalis- 
mus und die Kandidatur des genannten Herrn ein Produkt des Urgers über 
ſeine vorgeſetzte Kirchenbehörde iſt, die ihn nicht genügend befördert habe. 
Falls das zutreffen ſollte, dürfte man doch wohl die Frage ſtellen: Welchen 
Grund hat die proteſtantiſche Wählerſchaft, der Stimmung eines etwa verärgerten 
katholiſchen Prieſters Rechnung zu tragen, der bei beſſerer Beförderung 
vielleicht ein tatkräftiger Vertreter der Zentrumspartei geworden wäre?“ 

Ich identifiziere mich mit dem „Bayer. Kurier“, der den Auslaſſungen 
des konſervativen Organs hinzufügt: 

„Anſere Meinung deckt ſich mit dem „Volksfreund“ inſoweit, daß auch 
wir geſtehen müſſen: Einen ſchlimmeren Bärendienſt hätte das durch un- 
gewöhnliche Ruppigkeit bekannte liberale Blatt, der „Grenzbote“ feinem Schütz ⸗ 
ling nicht erweiſen können, als durch die oben zitierte drollig⸗ naive Auslaſſung.“ 

Das iſt Pfarrer Grandinger! Das iſt der „vorzügliche Kopf und ſchlag⸗ 
fertige Redner“, der „den Gegnern heimzahlt“ und ſich „gewandt aus der 
Schlinge zog, welche man ihm vom Domberg, wo Schädler reſidiert, werfen 
wollte“. Die Antwort auf die Frage, warum ein katholiſcher Geiſtlicher nicht 
Mitglied einer liberalen Partei fein könne, einer Partei, deren Führer erft 
kürzlich im bayer. Landtage „die Dogmen der katholiſchen Kirche — alſo die 
Glaubenswahrheiten — ein Gefängnis“ nannte (Bayer. Kurier No. 44 
vom 13. Febr. 1908), hat ebenfalls vor nicht langer Zeit der Bamberger Erz- 
biſchof Dr. v. Abert gegeben, ſo daß es ſich wohl erübrigt, hier näher darauf 
zurückzukommen. 

„Es war ein erhebendes Bild, als man den katholiſchen Kandidaten 
(Grandinger) mehreren proteſtantiſchen Kollegen die Hände reichen ſah.“ Nun, 
die ftreng gläubigen proteſtantiſchen Kreiſe ſcheinen doch mit der Kandidatur 
des „verärgerten katholiſchen Prieſters“ nicht ſo ganz einverſtanden geweſen 
zu fein, wie die oben angeführten Äußerungen des „Volksfreund“ beweiſen. 
Doch Herr Grandinger bot noch ganz andere erhebende Bilder. In einem Vor⸗ 
trage in München fagte Grandinger, „die Phariſäer ſeien die erſten Zentrums. 
leute geweſen“. (Augsburger Poſtztg.“ No. 11. 18. Januar 1908.) Bezug⸗ 
nehmend auf feine geiſtlichen Mitbrüder im bayr. Landtage äußerte ſich in 
Germersheim Grandinger folgendermaßen: „Das iſt ja in München gerade, 
wie wenn großer Buß und Bettag wäre oder Prozeſſion und dgl., fo 
marſchieren junge und alte, dicke und dünne zu den Pforten des Landtags“ 
(„A. P.“ wie oben). Die katholiſche Preſſe verhöhnt er dort mit den Worten: 

Der Türmer X, 12 f 53 


818 Noch einmal gum „Schuldkonto der ran 


„Die Geſellſchaft, die Preffe, ich würde gerne ein Wort von Buſch zitieren — 
aber die Geſellſchaft iſt mir zu dumm.“ („A. P.“) Herr Abg. Pfarrer 
Grandinger ſagte ferner ſeinen geiſtlichen Mitbrüdern nach, daß keiner von 
ihnen beim Tode ſeiner Frau Mutter bzw. bei der Aberführung der Leiche 
nach Amberg trotz Erſuchen ſich bereit erklärt habe, ihn zu vertreten. Dagegen 
legte das Dekanat Teuſchnitz Verwahrung ein. Nach Grandingers Verteidigungs 
rede in Germersheim erließ das obengenannte Dekanat folgende Erklärung: 

„Nach den Äußerungen des Herrn Pfarrers Grandinger in der Wahl ⸗ 
verſammlung zu Germersheim ſehen wir uns genötigt, wiederholt und be 
ſtimmt zu konſtatieren: 

„Es iſt unwiderlegbare Tatſache, daß Herr Pfarrer Grandinger 
beim Ableben ſeiner Frau Mutter keinem ſeiner Amtsbrüder Tag und 
Stunde der Aberführung der Leiche nach Amberg bekannt gegeben, noch viel 
weniger um Stellvertretung bei derſelben erſucht hat. Er konnte 
ſomit auch in Wahrheit nicht erklären: „Keiner war bereit, meine Stelle zu 
vertreten.’ Die Geiſtlichen des Dekanates Teuſchnitz.“ 

Das alſo iſt der „kühne Theologe“, von dem Müller behauptet, daß er 
„noch viele Geſinnungsgenoſſen im katholiſchen Klerus“ habe. Ich glaube 
meiner Schilderung des liberalen Pfarrers nichts mehr hinzufügen zu müflen. 
Die Lefer des „Türmers“ werden fi) an der Hand des oben angeführten Tat · 
ſachenmaterials ſelbſt ein Arteil bilden. 

Herr Dr. Müller hat in ſeinem Artikel verſucht, dem Zentrum Knüppel 
zwiſchen die Beine zu werfen. Das Zentrum wird darüber nicht ſtolpern. 
Ich möchte aber meine Betrachtung in eine Frage ausklingen laſſen. 

Die Grundſätze der Zentrumsfraktion, wie ſie bei ihrer Gründung im 
Jahre 1871 niedergelegt wurden, lauten: 

„Der Grundcharakter des Reiches als eines Bundesſtaates ſoll gewahrt, 
demgemäß den Beſtrebungen, welche auf eine Anderung des föderativen 
Charakters der Reichsverfaſſung abzielen, entgegengewirkt und von der Gelbf- 
beſtimmung und Selbſttätigkeit der einzelnen Staaten in allen inneren An 
gelegenheiten nicht mehr geopfert werden, als das Intereſſe des Ganzen un- 
abweislich fordert. Das moraliſche und materielle Wohl aller Volksklaſſen 
iſt nach Kräften zu fördern, für die bürgerliche und religiöſe Freiheit aller 
Angehörigen des Reiches iſt die verfaſſungsmäßige Feſtſtellung von Garan- 
tien zu erſtreben und insbeſondere das Recht der Religionsgefellichaften gegen 
Eingriffe der Geſetzgebung zu ſchützen.“ 

Wann hat die Zentrumspartei jemals ſeit ihrem Beſtehen gegen 
dieſe ihre Grundſätze verſtoßen? Grimmhagen 


2 
Noch einmal zum „Schuldkonto der Frau“ 


Vgl. Heft 1 Seite 77, Heft 4 Seite 541 und Heft 10 Seite 516, Jahrgang X 


Huch ich möchte mir erlauben, einige Worte zu den Artikeln über 
das Schuldkonto der Frau zu bemerken. Die unnötige Empörung 

der Verfaſſerin des zweiten Artikels veranlaßt mich dazu. Grete 
Rommel wirft Frau Marie Diers von vornherein vor, das Leitwort ihren 
Aufſatzes ſchlecht gewählt zu haben, weil die wenigſten der Leſerinnen das 


Noch einmal zum „Schuldkonto der Frau“ 819 


lateiniſche „Mea culpa, mea maxima culpa“ verſtünden. Ich möchte das doch 
einigermaßen bezweifeln — es wäre ebenſo, als wenn man „Ave Maria“ nicht 
verſtehen würde. Ferner ſcheint mir, daß die Verfaſſerin des Gegenartikels 
von der Sache abweicht, wenn ſie in edlem Zorn von einem Schuldkonto der 
Männer ſpricht. Das gehört in eine ganz andere Rubrik. Frau Diers ſpricht 
ja von den Müttern, die ſich zu wenig ihren Kindern widmen und dadurch 
eine Generation von Männern ſchaffen, in deren Schuldkonto es allerdings 
recht viel zu buchen gibt. Es wäre aber unbillig von einem Familienvater, 
der für den Unterhalt der Seinigen ſorgt, zu verlangen, daß er auch noch die 
Pflege ſeiner Sprößlinge überwacht. Es gibt gewiß auch ſolche Väter, und 
ein rechter Vater kümmert ſich auch, ſoweit feine Berufspflicht es ihm geſtattet, 
um das ſeeliſche und körperliche Wohlbefinden ſeiner Kinder. Aber doch ge⸗ 
hört die Kinderpflege vor allem anderen in den Pflichtenkreis einer Mutter. 
Auch dann, wenn die Frau ihrem künſtleriſchen oder praktiſchen Beruf außer 
dem Haufe nachgeht, läßt fic dies mit ihrer Sorge für ihre Kinder (mit Aus- 
nahmen natürlich) ganz gut vereinigen. Es braucht alſo — was Grete Rommel 
anführt — durchaus keine „wohlhabende Witwe mit zwei Kindern zu ſein“, 
die ihre Mutterpflichten ganz und voll erfüllt. Außerdem bedingt nicht nur 
die Vererbung den Werdegang, die innere und äußere Entwicklung eines 
Menſchen, ſondern hauptſächlich die grundlegende Erziehung der Mutter. Sie 
iſt es, die eine gute oder böſe Saat ſtreut; in der Mutterhand liegt das Heil 
der Kinderſeele .. Das vergeſſen eben fo ſehr viele Frauen. Kinder von 
leichtſinnigen, haltloſen, verkommenen Vätern, ja von Verbrechern, find ſtolze, 
edle und ſtarke Menſchen geworden — weil eine ſorgende, zärtliche, aufopfernde 
Mutterliebe über ihrem Seelenleben gewacht hat. Das Schuldkonto der Frau 
iſt unendlich groß (das läßt ſich auch mit Entrüftung nicht wegleugnen), und 
den Männern alle Schuld in die Schuhe zu ſchieben, iſt ebenſo leicht wie 
bequem. Man kann auch die Mütter jener beklagenswerten jungen Frauen, 
die eine Ehe mit einem verſeuchten Manne eingingen, ohne eine Ahnung 
von ſolchen Dingen überhaupt zu beſitzen, nicht abſolut von einer Schuld frei ⸗ 
ſprechen mit dem Hinweis, daß ihre eigene Unwiffenbeit — eine Folge alt- 
fränkiſcher Erziehungsmethode — ſie daran verhindert habe, ihre Töchter vor 
Elend und moraliſcher Erniedrigung zu behüten. Es gibt aufgeklärte Frauen, 
die den Sumpf genau kennen, die, wenn nicht anders, ſo durch ſchlüpfrige 
Romane orientiert worden find — und die dennoch in frevelhaftem Gott. 
verſuchen ſprechen: Arzte find nicht der liebe Gott — er allein kann jede Krank 
heit heilen und abwenden. Solche Frauen in ihrer Selbſtüberhebung und dabei 
blöden Kurzſichtigkeit wiſſen eben alles beſſer. Oft wiegt auch das Geld des 
Freiers in den Augen einer Mutter viel mehr als fein laſterhafter Lebens ⸗ 
wandel. Sie drückt dann in gewiſſer Hinſicht gern beide Augen zu. Nein, in 
unzähligen Fällen iſt die Mutter für das Unglück ihrer Tochter verantwortlich 
zu machen, darin hat Frau Diers vollkommen recht. 

And wie könnten wohl je Repräfentationspflichten einer Mutter als Ent- 
ſchuldigungsgrund dienen, um ihrem Kinde gegenüber der heiligen, natürlichen 
Pflicht als Ernährerin nicht nachzukommen? Hiervon entbindet nur körperliche 
Schwäche, der Umftand, daß dem Kinde der Genuß der Muttermilch mehr 
ſchaden als nützen könnte. 

Es würde beſſere Ehegatten, beſſere Väter, beſſere Söhne geben, wenn 
die Mitter ihren Pflichten in dem Sinne, wie Frau Marie Diers ſie auffaßt 


820 Noch einmal zum „Schuldkonto der Fras’ 


und den Frauen klarzumachen fucht, erfüllen wollten. Wäre die Handlungs- 
weiſe einer Mutter nicht geradezu kläglich, wenn ſie, obwohl davon überzeugt, 
daß der Anterricht, wie er in der Schule, die ihr Kind beſucht, gehandhabt 
wird, letzterem ſchädlich iſt, dennoch zu allem ſchweigt? Auch wenn das Kind 
ſelber mit Fragen und Zweifeln zu ihr kommt? Soll ſie etwa ausweichen? 
(Die Verfaſſerin des zweiten Artikels hält jedenfalls Schweigen für das Klügſte.) 
Soll ſie die Wahrheit umgehen aus lächerlicher Menſchenfurcht? Oder ſoll 
ſie ihrem Kinde erwidern: „Lerne nur gewiſſenhaft die Buchſtabenweisheit, 
ſo wie man ſie dich lehrt, damit du um Gottes willen deine Eltern und dich in 
keinen Konflikt mit deinen Lehrern bringſt.“ Wenn — um ein Beiſpiel anzu · 
führen — in einer höheren Mädchenſchule den Kindern von einer Lehrerin 
erzählt wird, daß der Tee in China, bevor er in den Handel gelangt, als 
Emballage von Leichen dient — ſo möchte ich doch die törichte Mutter ſehen, 
die dieſen Blödſinn nicht berichtigen würde. Es gibt doch, Gott ſei Dank, in 
Deutſchland Schulen, in denen gewünſcht wird, daß Lehrer und Eltern fogu- 
ſagen Hand in Hand gehen. Mein eigener Sohn beſucht ſolch eine Schule, 
in der ein edler, feiner und reicher Geiſt herrſcht, in der die Mitwirkung 
der Eltern gern geſehen wird. Käme ich je in die Lage, ein Wörtchen mit 
reden zu wollen, ſo würde ich mich im vollſten Vertrauen, Verſtändnis und 
Entgegenkommen zu finden, an die Lehrer meines Kindes wenden, denn die 
Seele meines Kindes ſteht mir höher als die Furcht vor eventuellen Mißver⸗ 
ſtändniſſen und Mißhelligkeiten. Ich meine, daß kein Lehrer ein vernünftiges 
Wort oder eine Bitte einer Mutter übel vermerken würde. Ich habe hierbei 
ſelbſtredend nicht ſolche Mütter im Sinn, die mit lamentablen, überflüſſigen 
Beſchwerden die Lehrer beläftigen und ermüden. 

Nur um alles in der Welt keine kriechende ſchweigende Heuchelei; wenn 
ich aber meinem Kinde ſagen würde: ſchweige — frage nicht — denke nicht — 
lerne, was man von dir fordert, aus Klugheit, aus Berechnung, um 
vorwärts zu kommen, auch wenn du ſelber nicht an das glaubſt, was du deinem 
Verſtande aufzwingen mußt — fo würde ich ihn zu einem Streber und feigen 
Heuchler erziehen. Man ſoll danach trachten, feine Kinder ſolchen Lehran 
ſtalten anzuvertrauen, in denen die Widerſprüche zwiſchen Schule und Haus 
ausgeſchloſſen find. Aber wenn dies unmöglich iſt und ein Konflikt unver · 
meidlich, dann fol die Mutter mehr an ihr Kind denken als an den even · 
tuellen Zorn der Lehrkraft. 

Frau Marie Diers tritt für ein edles, freies, wahres, hochſinniges 
Menſchentum ein. Am das zu fördern, bedarf es der mütterlichen Pflicht 
erfüllung. In den Händen der Frauen ruht mehr oder weniger das Wohl 
und Wehe der Menſchheit. Gäbe es weniger nervöſe, faule, entartete Mütter, 
ſo gäbe es keine greiſenhafte, laſterhafte Jugend. Die Mutter ſoll vor keiner 
Arbeit und Schwierigkeit zurückſchrecken. Sie braucht wahrlich nicht ihre Kinder 
den Dienſtboten zu überlaſſen, auch wenn ihre Zeit vollauf durch viele andere 
Dinge beſetzt iſt. Ich kenne eine junge Frau, die Gattin eines vielbeſchäftigten 
Arztes, welche die Aſſiſtentin ihres Mannes iſt, einem großen Haus weſen vor- 
ſteht, beſtändig durch geſellige Verpflichtungen in Anſpruch genommen iſt, nur 
zwei Dienſtboten hat, felber viel im Haufe mithilft und dabei die pflicht 
getreueſte, ſorgſamſte Mutter iſt. „Meinen Jungen beſorge ich ſelber,“ fagte 
fie mir, „das Mädchen laſſe ich ungern zu meinem Kinde.“ Es tft das ent ⸗ 
zückendſte, ruhigſte und beſtgepflegte Kind, das man fic) vorſtellen kann. 


Noch einmal zum „Schuldkonto der Frau⸗ 821 


Dabei findet dieſe Frau und Mutter noch Zeit, ſich auf ſchriftſtelleriſchem Ge- 
biet zu betätigen. Ihr letztes Buch iſt ebenſo klar und feſſelnd wie das Weſen 
ſeiner Verfaſſerin. Warum ſollte es nicht noch mehr ſolcher Frauen und 
Mütter geben? Es kommt faft immer nur auf den Willen und eine awed. 
mäßige Zeiteinteilung an. Eine Frau, die zuviel auf ihre eigene Schönheits- 
pflege, auf ihre geſellſchaftlichen Erfolge bedacht iſt, wird ja immer an Seit- 
mangel leiden und nicht viel für ihre Kinder übrig haben. Sie ſollten doch 
zuſehen, die Frauen, ihr Schuldkonto felber abzutragen — es tft ganz über ⸗ 
flüſſig, daß andere den Fehdehandſchuh hinſchleudern und ſich zu ihren An⸗ 
wälten machen. Und nun zu den Proletarierfrauen. Alle ſtehen ja nicht am 
Waſchfaß. Viele würden auch eine ſichere Pflege für ihre Kinder finden, 
während ſie ſelber auf Arbeit ſind, wenn ſie dazu das Geld ſparen und 
lieber auf die Sonntagsgans auf dem Tiſch und irgendeine neue Bluſe ver- 
sichten wollten. Ich habe Gelegenheit gehabt, Mütter aus dem Arbeiter- 
ſtand zu beobachten. Zeit zum Schwatzen mit der Nachbarin hatten ſie faſt 
immer — die Kinder ſcheinen Nebenſache — die Hauptſache, daß alljährlich ein 
armes Wurm in die Welt geſetzt wird. Sonntags werden die Gören angeputzt, 
an den Wochentagen wühlen ſie wie kleine Ferkelchen auf der Straße, ſtets 
in Gefahr, durch ein Fuhrwerk zu Schaden zu kommen. Statt einer freund- 
lichen mütterlichen Ermahnung ſetzt es Püffe, Gezeter, regnet es Klagen über 
den Eigenſinn der mißleiteten kleinen Weſen. 

Frau Marie Diers hat recht und tauſendmal recht, wenn fie den pflicht. 
vergeſſenen Müttern ihre Schuld klipp und klar vorhält. Und fie will ja mit- 
helfen, das Schuldkonto der Frauen abzutragen, ſie hält ihren Mitſchweſtern 
den Spiegel vor und ruft ihnen in einer überzeugenden Weiſe zu: „Seht, ſo 
ſeid ihr — geht hin und beſſert euch.“ 

Die Wahrheit wollen natürlich die wenigſten hören. Ich ſehe aber keinen 
Grund, die Handlungsweiſe ſo vieler Frauen zu beſchönigen, zu entſchuldigen 
oder totzuſchweigen. 

Nicht jede Frau hat das Glück, Mutter zu ſein, aber der mütterliche 
Inſtinkt lebt doch in jeder. Iſt etwa nicht recht und billig, daß Frau Diers 
an alle Frauen fich wendet, fie ergreifend an das Elend armer, ſchutzloſer, ge- 
quälter Kinder erinnert, ihnen die Not dieſer Kleinen an das Herz legt? Wahr. 
lich, fo manches einſame, ſpäte Mädchen hat ſich an vernunftloſes Getier ge- 
klammert und gibt ihm Pflege und Zärtlichkeit und fagt ſich nicht, daß un- 
zählige Kinderherzen darben. Eine jede Frau kann und ſoll mütterlich fühlen 
und mütterlich handeln. 

Wir deutſchen Mütter, die wir fo häufig unferen ſlaviſchen Schweſtern 
und den Frauen noch anderer Völker als Vorbilder hingeſtellt wurden (ob mit 
vollſtem Recht, entzieht ſich meinem Urteil), müßten Frau Marie Diers“ Worte 
gern aufnehmen, ſie weitertragen, ſie beherzigen, ſie in die Tat umſetzen, auf 
daß jedem Kinde ſein Recht werde und auf daß der Name Mutter dem 
Kinde heilig bleibe fein ganzes Leben hindurch. 

Die Mütter aber, die es verabſäumt haben, ihren Kindern etwas zu 
ſein, und die ſich darüber vielleicht erſt dann klar werden, wenn es zu ſpät iſt, 
die verſpielte Pflicht nachzuholen, müſſen die denn etwa nicht an ihre Bruſt 
ſchlagen mit dem reuevollen, beſchämenden Bekenntnis: „Mea culpa, mea 


maxima culpa ?“ g Hedda v. Schmid 


a 


822 gur Frage: Erfüllen unfere Voltsbiblioth eken ihre Aufgaben 


Mein Aufſatz: „Aus dem Schuldkonto der Frau“ hat eine kleine Polemik 
entfeſſelt, und ich habe mit Erſtaunen geſehn, daß es nicht nur Frauen gibt, 
die von fich ſelbſt jede mächtigere Lebensform abſchieben, ſondern die dies Ab⸗ 
ſchieben ſogar noch predigen. Ja, wenn wir bei jeder ſtarken Forderung, die 
an uns ergeht, bei jedem bitterernſten Tadel, der uns trifft, gleich ſchreien 
wollen: Ich bin nicht ſchuld, der Mann iſt es, der Arzt, der Staat, die Geſell 
ſchaft — dann wird von uns, den Frauen, nicht viel zu erwarten ſein. 

And dann die Frage nach der religiöſen Erziehung der Kinder! Ich 
kann die Gegnerin, die mich hier angreift, kaum verſtehn, wie ſie mich auch 
wohl nicht verftanden hat. Die Leferinnen aber, die mich ſchon länger kennen, 
werden wiſſen, daß ich nie einer ſeichten Aufklärung, die ja doch ewig unzu- 
reichend bleiben müßte, das Wort geredet habe, ſondern eben grade: einer 
größeren Ehrfurcht, einer wahrhaftigeren Behandlung dieſer heiligen Frage. 
Das Argernis, das mit Wehe bedroht wird, entſteht dann, wenn der Rell- 
gionsunterricht hinter der Kultur zurückbleibt und das Göttliche in den Kreis 
menſchlicher Zänkereien und Spöttereien gezogen wird. Wer aber Argernis 
an dieſer höheren und ehrfürchtigeren Anſchauung Gottes nimmt. die nicht ſteht 
und fällt mit menſchlichen Bildern und Gleichniſſen, der fei an das Ärgernis 
erinnert, das Luther, das Jeſus brachte. Die Methode des Stillſtehens, des 
Proteftes gegen jede ſtarke Forderung tft bequem — aber wahrhaftig, ehrlich, 
reif und mütterlich iſt fie nicht. Auch wir Frauen, wir Mütter haben ein 
heiliges und ſtarkes Amt, das ſeiner nicht ſpotten, das ſich nicht abſchieben laßt. 

Marie Diers 
OY 


Zur Frage: Erfüllen unſere Volksbibliotheken 
ihre Aufgaben? 
| (Bgl. Heft 8, S. 255) 


— 
= J. Nenn jemand zufällig in eine ſchlecht eingerichtete, dazu nicht fach 
IS 46 } männiſch bediente Anſtalt kommt, follte er nicht gleich über alle 


5 


SOAPS derartigen Inſtitute abfällig ſchreiben. Stände der Wuffag Dr. A. 
Möllers „Erfüllen unſere Volksbibliotbeken ihre Aufgaben?“ nicht im „Türmer“, 
hätte ich einfach — ſicherlich mit vielen meiner Herren Fachkollegen — gelacht. 
So jedoch treibt es mich, dem Verfaſſer, dem viele meiner Leſehallebeſuchenden 
nicht ſchmeichelten, als ſie mich zum Aberfluß auf die Seiten 255-257 des 
Mai- „Türmers“ aufmerkſam machten, zu zeigen, daß feine Auslaſſungen in 
der gegebenen Allgemeinheit nicht berechtigt ſind. Da gerade die 
Heidelberger Städtiſche Volks bibliothek zudem eine Anzahl Fachneuheiten auf- 
weiſen kann, dürfte es an ſich nicht unangebracht erſcheinen, einiges darüber 
zu veröffentlichen. Mein unlängft erſtatteter amtlicher Bericht mag bierzu 
wohl am geeignetſten ſein. Vorher will ich noch bemerken, ſpeziell auf Herrn 
Dr. Möllers Fräulein ⸗Erlebnis hin, daß meine entſprechend ausgebildete Affi 
ſtentin, ebenſo die Aufſeherin und der Hausmeifter nicht in die Verlegenheit 
kommen, „unfruchtbare Zeit totzuſchlagen“. Der anſtrengende, aber mit Luſt 
und Liebe zur Sache getane Dienſt geſtattet keine anderweitige Beſchäftigung. 
Das Empfehlen der Bücher geſchieht vorwiegend in dem ſtädtiſchen Sekretariat 


Zur Frage: Erfüllen unfere Volksbibliotheken ihre Aufgaben? 823 


für Volksbildungsweſen von dem Bibliothekar ſelbſt, der es als wichtigſte 
Aufgabe anfieht, Volks bücher verwalter im wahren und weiteſten Sinne 
des Wortes zu fein. And nun zu der „vielgerühmten Volksbibliothek“, die 
ich nicht „zu den Schädlichkeiten unſeres Kulturlebens“ rechne. 

* = 


% 

Mit Büchern, Zeitſchriften und Zeitungen allein kann eine Volksleſe⸗ 
halle, die ihren Zweck vollkommen erfüllen ſoll, in der gegenwärtigen viel- 
verlangenden Zeit nicht mehr der Offentlichkeit übergeben werden. In dieſem 
Gedanken ging ich im Frühjahr 1906 im ſtadtratlichen Auftrage an die Ein- 
richtung der mir ſeitdem in Verwaltung gegebenen Städtiſchen Volts. 
leſehalle, Volksbibliothek, ſowie des Städtiſchen Sekretariates 
für Volksbildungsweſen in Heidelberg. Bei voller Verwertung 
der Erfahrungen eines fünfjährigen ſtaatlichen und ſtädtiſchen Bibliothekdienſtes 
war mein ganzes Beſtreben auf perſönliche Arbeit unter beſonderer Be⸗ 
achtung der örtlichen Verhältniſſe gerichtet. und was war das Ergebnis? 
Keine Schablonenanſtalt, ſondern ein mit zahlreichen Neuerungen ausgeſtattetes 
Inſtitut, das fic allerhöchſter Dankſagungen, einer Reihe guter Kritiken von 
erſten Fachleuten und zunehmender Beachtung in den Volksbildungszeitſchriften 
erfreuen darf. 

Heidelberg! Was drängt ſich bei deſſen Nennung nicht alles in unſere 
Vorſtellung? Jeder denkt doch ſicherlich an eine reiche geſchichtliche Ver⸗ 
gangenheit und ſchaut im Geiſte ein herrliches Stück Natur. Wie nahe liegt 
es doch da, immer wieder und alle auf dieſe beiden hinzuweiſen. Alſo herbei 
mit den Mitteln des Anſchauungsunterrichtes, der nicht allein in die Schulen, 
ſondern erweitert auch in die hier behandelten Anſtalten gehörte. So kam eine 
ſtattliche Heimatbücherei, welche ſtets ergänzt wird, in die Leſezimmer. 
Daneben zeigt ein Wechſelrahmen Bilder aus der Geſchichte Heidelbergs und 
der ehemaligen Kurpfalz. Feſtſchriften , Gedentprägungen-, hiſtoriſche Feftpoft- 
kartenſammlungen (die Sammlungen ſind größtenteils Privateigentum des 
Bibliothekars) mahnen, wenn auch nicht ausſchließlich, fo doch vorwiegend an 
die örtlichen Geſchehniſſe. Das eine kurze Chronik und ſämtliche Ortsſtatute 
enthaltende Adreßbuch, das neben Notizpapier auf beſonderem Wandbrett 
ausliegt unter großem Stadtplan, kann auch hier angeführt werden. Dem 
engeren Vaterlande und dem Reiche find gewidmet: eine Gedächtnis zuſammen⸗ 
ſtellung für den beliebten verewigten Großherzog Friedrich von Baden, eine 
Handſchriften-, eine Siegel, eine Wappenſammlung. Hierher gehören auch die 
Sammelbände, enthaltend diejenigen Nummern der bedeutendſten deutſchen 
Tageszeitungen, welche gelegentlich der badiſchen Jubelfeier im Jahre 1906, 
des Ablebens von Kuno Fiſcher und des verehrten Landesherrn Friedrich 1. 
entſprechende Beiträge brachten. Dem allgemeinen Intereſſe dienen die inter- 
nationalen Erinnerungsvereinigungen. Für die Naturfreunde ſtehen ein Mikroſkop 
mit wechſelnden Pflanzen ⸗ und Tierpräparaten, eine Gefteine-, ſowie eine Hölzer ⸗ 
ſammlung zur Schau, werden täglich die amtlichen Wettervoraus ſagen an- 
geſchlagen und eine Sternkarte eingeſtellt. Auch beſteht die Vergünſtigung, daß 
Eintritts karten zum Kaiſerpanorama in den Leſezimmern zu Vorzugspreiſen ge · 
kauft werden können. Die Geſelligkeit ſoll durch die Sammlung aller hieſigen 
Vereins ſatzungen ihre Berückſichtigung finden. Auch liegen Karten und Führer für 
die nächſte Umgebung nebft Fahrplänen aus. In das Gebiet der Kunſt und 
Wiſſenſchaft zählen die akademiſchen Reben unſerer „Nuperto Carola“, Teub- 


824 Zur Frage: Erfüllen unſere Volksbibliotheken ihre Aufgaben? 


nerſche Künſtlerſteinzeichnungen, die zeitweiſe umgetauſcht werden, Kunſtwart ⸗ 
bilder und Abbildungen aus der Seemannſchen Sammlung: „Meiſter der 
Farbe“, ſowie die Ausſtellungsmarken⸗, Reklamedrucke ⸗ und Exlibris ſamm - 
lungen. Ferner als eigentliche Neuheiten das Theaterpult, welches regelmäßig 
unter den Spielzetteln des Mannheimer Hof. und hieſigen Stadttheaters die 
betreffenden Stücke, bei Opern den Text zum Leſen bereithält, und die Gedenk⸗ 
tafel, die alltags anzeigt, weſſen Geburts. bzw. Todestag von den Großen 
aller Nationen wiederkehrt, um gleichzeitig Lebensbeſchreibungen, Abhand- 
lungen oder die Werke ſelbſt zur Benützung in der Leſehalle empfehlend dar ⸗ 
zureichen. Bei Gelegenheiten finden hieran anſchließend vollſtändige Aus- 
ſtellungen ſtatt, z. B. die Großherzog Friedrich-, die Weihnachtsbücher⸗, die 
Buſch-, die Menzelausſtellung, die Kaiſer Wilhem I. Gedenk- Ausſtellung x. 
Die Bücherfreunde finden eine ſtattliche Zuſammenſtellung alter Bild- und 
Bücherdrucke vor, antiquariſche und andere Angebotsliſten neben Probebogen 
der in der Preſſe liegenden Werke auf beſonderem Auslagebrett. Am wohltätige 
Veranſtaltungen zu fördern, hängen eine Flotten ⸗ und eine Wohlfahrtsmarken⸗ 
ſammlung bei einer Reihe bezüglicher Flugſchriften zur Schau. Den Politikern 
kommt die neueſte Parteikarte von Deutſchland mit dem beigefügten Kürſch 
nerſchen Reichstagsbüchlein und den fortlaufend eingeſpannten Verhandlungen 
der badiſchen Kammern, ſowie des Reichstages zugut. And ſo umrahmt, wenn 
ich ſo ſagen darf, hängen in ordnungsgemäßer Bedienung 50 Tageszeitungen 
aller Parteien aus, und zwar um intenſiver ausgenützt zu werden, auf 100 Halter 
verteilt, liegen 150 der verſchiedenſten Zeitſchriften auf und ſteht eine reichhaltige, 
alle Wiſſensgebiete beachtende Nachſchlagebibliothek mit den angegliederten 
Wiesbadener und Dichtergedächtnisſtiftung⸗Volksbüchern bereit. Die Pracht 
werke „Weltall und Menſchheit“ und „Das 19. Jahrhundert“ find beſonders 
aufgelegt. Zum Schluſſe noch die Mitteilung, daß nach der amtlichen Statiſtik 
(trotz aller Konkurrenz) durchſchnittlich 100 Leſende am Tag gezählt werden, und 
die zu ebener Erde gelegenen, nach Witterung und Hygiene behandelten bilder⸗ 
geſchmückten beiden Leſezimmer, die aus neun Fenſtern bzw. ebenſovielen 
grünbeſchirmten Gasglühlichtlampen gut belichtet werden, über 50 bequeme Sitz 
plätze an vier Tiſchen in getrennter Anordnung, für Herren einer , Damen und 
Jugendliche (14— 18 Jahren) andererſeits, und einen befonderen zur Abgabe 
von Briefpapier eingerichteten Schreibtiſch verfügen. Lefeftunden (völlig un- 
entgeltlich) find Wochentags von 11—1 Ahr vor- und 5—10 Ahr nachmittags, 
Sonntags von 4—7 Ahr nachmittags. Kurzſichtigen hängen Leſegläſer zur 
leihweiſen Benützung bereit. 

Die 5000 Bände zählende Aus leihebibliothek iſt in zwei zweckmäßig 
eingerichteten, mit Schnellfeuerlöſcher ausgeſtatteten Parterreſälen getrennt 
nach Büchergruppen und Zeitſchriften, ſowie in der Folge der Inventarnummern 
bzw. Jahrgänge und alphabetiſchen Wegweiſer aufgeſtellt. 44% ſind ſchöne 
Literatur, 37% wiſſenſchaftliche Werke, 3% Jugendſchriften und 16% Zeit 
ſchriften. Hier wurde vor allem darauf geſehen, jede Schalter oder Schranken · 
wand zu vermeiden, um einen engen Verkehr zwiſchen dem vollſtändig koſtenlos 
benützenden Leihpublikum und den Beamten möglichft zu fördern. Zweitens 
wurde der Geſchäftsgang ſo ausgearbeitet, daß der Entleihende (vom 14. bis 
18. Lebensjahr und bei Studenten, ſowie Nichtdeutſchen iſt Bürgfchein nötig) 
nur einmal, bei feiner Anmeldung, und zwar als Anerkennung der Be⸗ 
ſtimmungen der Benützungs ordnung feinen Namen ſchreiben muß. Dies iſt 


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Zur Frage: Erfüllen unſere Volksbibliotheten ihre Aufgaben? 825 


ſozuſagen die einzige Beläſtigung, alles andere geſchieht mit Hilfe von Leih- 
und Buchkarten und fällt in den Regiftraturdienft, der fo vereinfacht tft, daß 
eine halbe Stunde nach jeder Ausleihe alles wieder an Ort und Stelle iſt. 
Ein gedrucktes Bücherverzeichnis wird käuflich abgegeben mit dem Erſuchen, 
zu Hauſe einen ſogenannten Wunſchzettel auszufüllen und dieſen bei den Aus- 
leihen jeweils dem Ausgabeperſonal zur Auswahl zu überlaſſen. Auf den 
neueſten Stand gebrachte Kataloge und ein Generalinhalts verzeichnis zu den 
Zeitſchriftenbänden liegen aus. Auch wird an einer Anſchlagetafel monatlich 
der Zugang bekanntgemacht. Da jedoch erfahrungsgemäß alle ſchriftlichen Hin⸗ 
weiſe, ſelbſt in der Lokalpreffe, die Auswahl nicht ſo erleichtern können wie 
eine bloße Zuranſichtgabe, wurde als weitere Neuheit eine Auswahlſtaffelei 
aufgeſtellt, die leihabendlich die neueſten — und zugleich die beſten, darin liegt 
eine unauffällige Leitung der Leſenden — Buchwerke zur Schau hält. Am 
durch entſprechende Hinweiſe auf billige Kaufgelegenheiten zur Freude am 
eigenen Beſitze guter Bücher anzuſpornen, ſtehen auf einem beſonderen Wand; 
geſtell die Preisverzeichniſſe der Lahrer, Meyerſchen, Reelamſchen und ähnlicher 
Volksbücher auf. Ausleihen finden Montags, Mittwochs und Freitags von 
7-9 Ahr abends ſtatt. Im Winter werden durchſchnittlich 200, ſonſt 150 Bücher 
leihabends entliehen. Die Leihfriſt beträgt 14 Tage, dann erfolgt Mahnung 
durch Druckſachekarte und nötigenfalls amtliche Beitreibung. Zu erwähnen 
bleibt noch, daß ſeit Ende Juni 1907 auch Muſikalien für Geſang und Snftru- 
mente angegliedert wurden. Dieſe Noten werden gebunden und wie Bücher 
behandelt. Alle Bände ſind in Schutzumſchlägen, für deren Sauberhaltung 
die Entleiher aufzukommen haben. Auch das Ausleihezimmer enthält eine 
Sammlung zur Anſchauung, nämlich von Leſezeichen, wie ſolche nicht ſein ſollen, 
Nägel, Haarnadeln zc. Für die Heimat und jeweilige Feſtliteratur finden be- 
ſondere Anſchläge ſtatt. Das neu angegliederte Sekretariat für Volks⸗ 
bildungsweſen (ebenfalls ein friſch entdecktes Arbeitsfeld des Bericht 
erſtatters) tft wochentags von 11—12 Ahr vormittags für jedermann unent- 
geltlich geöffnet. Es gibt mündliche Auskunft in allen Fragen der allgemeinen 
und angewandten Volksbildung und iſt mit zahlreichen aufliegenden Fach ; 
zeitſchriften, Lebenswinken, Ratgebern in Erziehungsfragen, Muſterkatalogen, 
Literaturverzeichniſſen und Zuſammenſtellungen empfehlenswerter Feſtgeſchenke 
(Weihnachts., Konfirmanden ꝛc.⸗Gaben in Form von Büchern, Bildern und 
Noten) ausgeſtattet. Auch ſind die Modelle einer Volksleſehalle und einer 
Volksbibliothek, welche alle hier genannten Neuerungen den Intereſſenten im 
kleinen vors Auge führen, zur Anſicht geſtellt. 

Dies wäre eine flüchtige Führung durch die Anſtalt, die am 23. April 1908 
zwei Jahre alt geworden iſt. Möge ihr die Zukunft hold ſein, damit der Be⸗ 
völkerung dieſe ſegensreiche Einrichtung allezeit erhalten bleibt, und ſich ſowohl 
die Stadtverwaltung, als auch jene hochherzige Perſönlichkeit, die ungenannt 
den Grundſtein zu dieſem menſchenfreundlichen Werke legte, einer edlen Tat 
vollauf erfreuen darf. Das walte Gott! 

Georg Zink, Bibliothekar der Stadt Heidelberg 


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Ein moderner Held — Griffe kloppen! — Erziehung zur 
Mannhaftigkeit 


3 war Zeit! — Daß wir nach all der wüſten Partei- und Klaſſen⸗ 
hatz uns endlich darauf beſinnen durften, daß wir Deutſche, 
daß wir Menſchen und Brüder ſind. In Schmerz und Freude 
fühlten wir uns eins; es war, wie die „Kreuzzeitung“ ſchrieb: 

wir Deutſche hatten einmal einen einzigen Mann unter uns, den wir alle 

bewundern und lieben durften, unſeren Zeppelin. „Nicht einmal die Sozial ⸗ 
demokraten benörgeln ihn, obwohl ſie ſo kritiſch ſind, daß ſelbſt ihre eigenen 

Parteigrößen bei Lebzeiten nicht allzuviel Dank und Anerkennung finden. 

Wer (am Tage der Kataſtrophe) fic die Deutſchen anſah, der fand nur 

traurige Geſichter. And der ſicherſte Beweis für Zeppelins Popularität: 

jedermann iſt bereit, ihm gerade im Anglück eine freiwillige Steuer zu ent 
richten, während meiſt nur die Freude zum Geben willig macht. Aller 
dings ging hier die Freude der Trauer voraus. Aber die Kataſtrophe von 

Echterdingen bewies auch dem größten Optimiſten, daß die Freude verfrüht 

geweſen war: das Luftſchiff, das einem Sturme ſtandhalten könnte, iſt eben 

noch nicht erfunden, auch nicht vom Grafen Zeppelin. Ein Mann, der 
nicht perſönlich das Herz des ganzen Volkes gewonnen hätte, wäre von 
den ſleptiſchen Zeitgenoſſen nach einer ſolchen Erfahrung im Stiche gelaffen 
worden. Woher kommt es nun, daß der erſte Entſchluß aller Deutſchen 
war: dem Manne müſſen wir zu einem neuen Luftſchiffe verhelfen? Hat 
die Freude am Sport alle Welt ergriffen? Iſt Graf Zeppelin nur dei 
halb der Held des Tages, weil er trotz ſeines Mißgeſchickes die Luftſchiff 
bauer der anderen Nationen übertroffen und die championship of the world 
erworben hat? Ein wenig nationale Eitelkeit dieſer Art mag ſowohl unſerem 

Enthuſiasmus wie unſerer Hilfsbereitſchaft beigemiſcht ſein. In der Haupt 

fache aber gilt unſere Sympathie doch dem Charakter des Mannes, 

den ganz offenſichtlich nicht die Erfindermanie, ſondern ein klarer und wahrer 

Gedanke 17 Jahre lang an ſein Werk bannte, ihn den Zweifel, den Spott, 

die mancherlei Fehlſchläge überwinden und im Glück den Ruhm nicht über 


Zürmers Tagebuch 827 


fchägen ließ. Alles, was man von ihm hörte, ftimmte in jedem Zuge zu 
dem Bilde eines modernen Helden der Wiſſenſchaft und der 
Tat, das uns als Ideal vorſchwebt. Wir finden eine Genugtuung be⸗ 
ſonderer Art darin, uns an ſeinem Werke beteiligen zu dürfen. Es tröſtet 
uns ſelbſt, wenn wir ihn über ſeinen Verluſt tröſten. Und nach langer 
Zeit zum erſten Male wird ſich das ganze Volk in dieſer gemeinſamen Emp⸗ 
findung wieder ſeiner Einheit vollkommen bewußt. Hoffentlich iſt dieſes 
Bewußtſein von Dauer! Nichts tut uns gegenwärtig mehr not, als die 
klare Erkenntnis deſſen, was uns eint. Es iſt gewiß kein Zufall, daß ein 
Mann der Technik uns dieſe Erkenntnis ſchenkt. In der Politik ſind wir 
trotz der ſtaatlichen Einigung ſo zerfahren und verfeindet, wie kaum ein 
anderes Volk, da wir auch die religiöſen Anterſchiede zum Parteiſchiboleth 
machen; für die Geiſteswiſſenſchaften und die Künſte ſind unfruchtbare 
Zeiten hereingebrochen, in denen ſtets das Unkraut der Parteiungen am 
üppigſten wuchert; auf dem neutralen Gebiete der Technik finden wir uns 
noch am leichteſten zuſammen, und auch dort iſt Raum für das Genie und 
für Charaktergröße. Die weithin ſichtbare Geſtalt des Grafen Zeppelin 
beweiſt es uns, und wenn er ſich auch nicht zum Gegenſtande eines ſchwäch⸗ 
lichen Heroenkultus eignet, ſo macht er uns doch allen das Herz warm, 
und wir fühlen uns wieder als ein blutsverwandtes Volk. 

Zu wünſchen wäre, daß ſich bei der ſpontan in allen Teilen des 
Reiches ganz gleichzeitig und ohne jede Verabredung begonnenen Samm- 
lung für das Volksgeſchenk an den Grafen Zeppelin nicht die deutſche Ver⸗ 
einsmeierei einmiſchte. Die Gründung eines Luftflottenvereins, die wir 
einſt im Scherz vorausſagten, iſt bereits zur Tatſache geworden. Das 
„Deutſche Reichskomitee zur Aufbringung einer Ehrengabe des geſamten 
deutſchen Volkes für den Grafen v. Zeppelin zum Bau eines neuen Luft- 
ſchiffes iſt zunächſt inſofern von erfreulicher ſymptomatiſcher Bedeutung, 
als ſeine Gründung zeigt, daß ſelbſt die offiziellen Kreiſe von der ſtürmi⸗ 
ſchen Bewegung des Volkes alsbald ergriffen worden ſind und mit unge⸗ 
wöhnlicher Schnelligkeit mobil gemacht haben. Es wird auch ſicher ſolche 
heranziehen, die gern auf eine amtliche Anregung warten. Am erfreu⸗ 
lichſten iſt es aber deshalb, weil es eine Form ſchuf, die auch dem Kron⸗ 
prinzen des Deutſchen Reiches die Bezeugung ſeiner herzlichen Sympathie 
durch poſitives Mitarbeiten ermöglicht. Man darf aber nicht überſehen, 
daß die bisher geſammelten Spenden, die die Koſten eines einzelnen Luft⸗ 
ſchiffes bereits weit überholt haben, und auch ſicherlich die meiſten neu ein- 
gehenden Gelder, der Abſicht der Geber entſprechend, dem Grafen Zeppelin 
zur freieſten Verfügung geſtellt werden. Der verehrte Mann ſoll 
ohne jede Vorſchrift damit ſchalten und walten können. Findet 
er etwa ſelber, daß fein bisheriges Syſtem verfehlt war, wie die Ver⸗ 
teidiger des unſtarren Luftſchiffes behaupten, ſo wird er ſchon davon ab⸗ 
gehen. Das muß aber ſeine Sache ſein; denn wir Laien können uns 
darüber kein Urteil erlauben; wir wiſſen nur, daß Graf Zeppelin die meiſte 


828 Turmers Tagebuch 


Erfahrung, den ſchärfſten Blick und die größten Charaktereigenſchaften hat, 
und darum ſoll ihm kein anderer mehr dreinreden dürfen.“ 
Man kann dieſe Forderung nicht dringend genug unterſtützen. Frage 
ſich doch ein jeder ſelbſt, ob er ſein Scherflein wohl erſt mit irgendwelchem, 
auch nur innerlichem Vorbehalte beigeſteuert und nicht vielmehr dem Manne 
ganz perſönlich und zur unbeſchränkten Verfügung geſtellt hat. Die Ab. 
ſicht, eine Art Kuratorium für die Verwendung der Zeppelinſpende einzu⸗ 
ſetzen, hat denn auch eine ſelten einmütige und entſchiedene Zurückweiſung 
erfahren. And diefe Einmütigkeit zeigt, wie die „Frankf. Stg.“ treffend be⸗ 
merkt, „daß das Volk in ſeiner Geſamtheit viel feiner empfindet und viel 
taktvoller ſich zu verhalten weiß, als es dem einen oder andern bisher 
ſcheinen mochte, daß es aber auch nicht gewillt iſt, eine Aktion ſich ver 
pfuſchen zu laſſen, auf die ſtolz zu fein es ein Recht hat. In der ſpon⸗ 
tanen Begeiſterung, die Zeppelin ſchon auf ſeinem Fluge begleitete und die 
nach der Echterdinger Kataſtrophe alle Schichten ohne Anterſchied des 
Ranges und Standes in geradezu beiſpielloſer Weiſe ergriff, äußerte ſich 
viel mehr als die bloße Sympathie für den ſchaffensfrohen Mann und ſein 
Werk das unbegrenzte und unerſchütterliche Vertrauen in 
feine Perſon. And das äußerte ſich in der beiſpielloſen Hilfsbereit ⸗ 
ſchaft, die im Augenblick des Belanntwerdens der Kataſtrophe faſt an allen 
Orten des Reiches ſich kundgab und die nicht ängſtlich danach fragte, was 
mit dem vielen Gelde nun geſchehen werde, weil ſie wußte, daß niemand 
beſſer und zweckmäßiger darüber verfügen könne als der, den man mit dieſer 
Spende ehren wollte — Graf Zeppelin ſelber. Das allein hätte genügen 
müſſen, den Gedanken, eine Art Aufſichtsinſtanz für die Verwendung der 
Spende zu ſchaffen, gar nicht aufkommen zu laſſen. Die großen und die 
kleinen Beträge — ſie alle wurden vorbehaltslos gegeben. Kein ein⸗ 
ziger der Geber hat wohl daran gedacht, daß das geſammelte Geld nun | 
der Verwaltung oder wenigſtens der Beaufſichtigung einer Art Obervor ' 


8 — — — — — 


mundſchaftsbehörde unterſtehen ſollte. Die Nation hat aus ſich heraus, 
ohne Zuhilfenahme irgendeines amtlichen Apparates dieſen Fonds geſchaffen, | 
und fie will keine behördliche oder irgendſonſtwie geartete Kontrollinſtanz, f 
weil ſie in der Sache, um die es ſich hier handelt, zu dem Grafen Zeppelin 
mehr Vertrauen hat als zu ſämtlichen preußiſchen Geheimräten zufammen- 
genommen. Die Einſetzung eines Kuratoriums, wie es von Herrn Rathenau | 
angeregt worden ift, würde von der Nation wie ein Schlag ins Geſicht | 
empfunden werden. Graf Zeppelin muß frei fchalten und walten können. 
Das Geld iſt von dem Volke ihm zu freier Verfügung übergeben worden, 
und niemand darf das Recht beanſpruchen, ihm dreinzureden. Wenn 
andrerſeits Graf Zeppelin ſelber den Reichskanzler um Einſetzung eines 
Kuratoriums erſucht hat, fo haben dabei gewiß Empfindungen und Er- 
wägungen mitgeſprochen, die überall verſtanden und gewürdigt werden. 
Graf Zeppelin ſoll aber wiſſen, daß das deutſche Volk in feiner 
Form eine Kontrolle will, und Fürſt Bülow, fo hoffen wir, wird 


— . 


Türmers Tagebuch 829 


dieſen Willen, der der Spende erft den vollen Wert verleiht, zu reſpektieren 
wiſſen. Die Nation hat in dieſen Tagen gezeigt, daß ſie, wenn es darauf 
ankommt, auch aus ſich heraus das Richtige zu treffen weiß und daß ſie nicht 
immer und überall eine Bevormundung braucht. Es geht zuweilen auch 
ohne Protektorat und Ehrenpräſidium, und es geht ſogar beſſer.“ 

In der offiziellen Sozialdemokratie beginnt's inzwiſchen ſauer zu re⸗ 
agieren. Der begeiſterte Raufch über den neuen gewaltigen Triumph des 
Menſchengeiſtes laſſe ganz vergeſſen, meint der „Vorwärts“, daß das lenk⸗ 
bare Luftſchiff des Grafen Zeppelin „nicht ein Kulturwerkzeug, ſondern ein 
Kriegsinſtrument, eine Art Luftkreuzer“ ſei. Man vergeſſe, „daß die 
künftige Luftflottille, deren erſtes Fahrzeug das Zeppelinſche Luftſchiff dar⸗ 
ſtellt, nicht Friedens-, Verkehrs⸗ oder Fortſchrittszwecken dient, ſondern 
militariſtiſchen Aufgaben“! 

Und doch fei der Jubel der großen Maſſe nur zu verſtändlich: „Seit 
je beneideten die Menſchen den Vogel wegen der ſpielenden Beherrſchung 
des unbegrenzten Reiches der Lüfte. Der moderne Menſch, der ſich alle 
Naturkräfte dienſtbar gemacht hat, deſſen Rieſenſchiffe mit Eilzuggeſchwindig⸗ 
keit das Meer durchpflügen, der meilentiefe Schächte durch die Gebirge ge- 
ſtoßen, um einen Schienenſtrang an den andern zu knüpfen, der mit der 
geheimnisvollen Kraft der Elektrizität in Sekundenſchnelle das chiffrierte 
Wort über Ozeane hinweg Tauſende von Meilen weit ſendet, dieſer All⸗ 
bezwinger der Natur erſchien hilflos an die Erdoberfläche gebannt, ſtatt 
auf dem geradeſten Wege, durch die Lüfte, die Entfernungen durchmeſſen 
zu können. Denn der unlenkbare Luftballon war ja nur ein Mittel, 
ſich vom Erdboden zu erheben. Einmal im freien Raume ſchwebend, war 
er ein Spiel der Winde, deren Strömungen ihn launiſch vor ſich her trieben. 
Erſt die Erfindung des lenkbaren Ballons gibt dem Menſchen die Mög⸗ 
lichkeit, Weg und Ziel der Fahrt zu beſtimmen. Allerdings iſt das lenk⸗ 
bare Luftſchiff noch immer ein ungefüger, ſchwer zu dirigierender Koloß. 
So brillant auch der Zeppelinſche Rieſenballon manövriert haben ſoll, fo 
iſt Har, daß er den Kampf gegen ſtarke Luftſtrömungen, gegen heftigen 
Wind oder gar gegen Sturm nicht aufzunehmen vermag. Vielmehr ſcheinen 
die rechtzuhaben, die die Löſung des Flugproblems nicht den lenkbaren 
Ballons, ſondern den eigentlichen Flugmaſchinen zuweiſen, die ohne Ballon 
durch Luftſchrauben, Flügel und Segelflächen gerade den Widerſtand der 
Luft zum Fluge auszunutzen vermögen. Doch ſcheint die Löſung dieſes 
Problems, namentlich ſofern die gefahrloſe Möglichkeit des Sicherhebens 
zu größerer Höhe in Frage kommt, noch in ziemlicher Ferne zu liegen. 

Bei alledem iſt die Erfindung Zeppelins ein Triumph des Menfchen- 
geiſtes. Und nur das eine muß Verwunderung erregen, daß die Menſch⸗ 
heit unſeres Maſchinenzeitalters dieſen Triumph ſo ſpät erlebte! Aber 
gerade das Schickſal Zeppelins zeigt uns, weshalb wir ſolange auf das 
lenkbare Luftſchiff warten mußten. Zeppelin ſoll ja, wie die Zeitungen 
melden, einen minder glücklichen Vorgänger gehabt haben, der die Prin⸗ 


830 Türmers Tagebuch 


zipien ſeines ſtarren Syſtems bereits für ein lenkbares Luftſchiff nutzbar 
machen wollte. Aber dieſer Vorgänger erlebte nicht den Sieg feiner Er 
findung, weil es ihm an materiellen Mitteln zur Realifierung feiner 
Ideen fehlte. Graf Zeppelin war in der glücklichen Lage, über ein ſehr bedeu- 
tendes Vermögen verfügen zu können, das er mit dem Wagemut des ſeiner 
Sache ſicheren Erfinders an die Ausführung ſeiner Ideen ſetzte. Nach 
manchem Fehlſchlag gelang es ihm endlich, den Beweis für die Richtig · 
keit ſeines Syſtems zu erbringen und jene beträchtlichen Mittel flüffig zu 
machen, die ihm den Bau ſeines neuen großen Luftſchiffes ermöglichten. 
Wäre Zeppelin kein reicher Mann geweſen, fo wäre auch dieſer Fortſchritt 
der Aeronautik noch nicht erreicht! Und ſtänden nicht militariſtiſche 
Intereſſen auf dem Spiel, fo würde Zeppelin ſchwerlich jene Förderung er- 
fahren haben, die ihm die Konſtruktion feines zweiten koſtſpieligen Luft: 
fahrzeuges möglich machte. 

Eine geradezu ungeheuerliche Tatſache eigentlich iſt es, daß man 
für ein Problem, das die ganze Kulturmenſchheit aufs lebhafteſte 
intereſſieren ſollte, bis jetzt ſo relativ unendlich geringfügige Mittel 
zur Verfügung geſtellt hat. Ein paar mehr oder minder gut fituierte Er 
finder und Sportsleute, eine Handvoll kapitaliſtiſcher Gönner — das iſt 
alles, was ſich bisher für die Luftſchiffahrt und das Flugproblem inter 
eſſiert hat. Man vergleiche damit die ungeheuerlichen Summen, die all 
jährlich die ſogenannten Kulturſtaaten für den Militarismus ausgeben. 
Die Koſten dafür belaufen ſich auf Milliarden! ... Aber ſo lohnend 
auch die Aufgabe war, den Menſchen endlich zum Beherrſcher des Luft: 
meeres zu machen, fo wenig reizte dieſes Problem unſeren Kapitalis⸗- 
mus, ſolange das Problem eben nur ein kulturelles war, nicht aber 
auch Profit verſprach oder unſerem Militarismus neue Machtmittel 
in die Hand zu geben ſchien. Erſt als der Militarismus ſich für den Bau 
von Luftkreuzerflotten zu intereſſieren begann, fanden die privaten Verſuche 
materielle ſtaatliche Unterſtützung! 

Nun hat man den Grafen Zeppelin zum Ehrenbürger gleich meh 
rerer Städte gemacht. Nun iſt ihm gleich en masse von einer Reihe von 
Aniverſitäten der Titel eines Ehrendoktors verliehen worden. Nun jubelt 
ihm alles zu, als ob feine Erfindung eine neue Ara der Menſchheits 
entwickelung einleite. Der Jubel iſt ... pſychologiſch ja nur zu begreiflich, 
aber leider viel zu verfrüht! Denn der Kapitalismus und fein Lieb lings; 
kind, der Militarismus, werden ſchon dafür forgen, daß die Luftſchiffahrt 
nicht in den Dienſt der Kultur, ſondern in den des maſſenmörderiſchen, 
kulturzerſtörenden Militarismus geſtellt wird. Man wird ſogar alles auf 
bieten, um die Ausbeutung der Erfindung für andere als militariſtiſche 
Zwecke möglichſt zu verhindern. Denn das freie Vagieren durch die Lüfte, 
wo man ja keine Schutzleute zu Fuß und zu Pferde poſtieren kann, müßte 
ja unſerem Polizei- und Militärſtaat geradezu als die Löſung aller Bande 
frommer Antertanenſcheu erſcheinen. 


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Virmers Tagebuch 831 


Schon die Entwickelung des Automobilismus beweift ja, wie 
wenig eine an ſich glorreiche Erfindung der Maſſe des Volkes zu⸗ 
gute kommt. Von den Motoromnibuſſen und Motordroſchken der Groß⸗ 
ſtädte abgeſehen, dient der Automobilismus heute noch faſt ausſchließlich 
dem Sport der Reichen, die ebenſoviel Aberfluß an freier Zeit haben 
wie die frondende Maſſe Mangel daran. Das Automobil iſt gewiß ein 
wunderbares Verkehrsmittel. Statt dem Schienenſtrange folgen zu müſſen, 
kann der ſich feiner bedienende Touriſt und Reiſende feinen Weg durch die 
landſchaftlich reizvollſten Gegenden nehmen, kann halten, wo er will, kann 
alle Annehmlichkeiten dieſer neuen Touriſtik nach Herzensluſt auskoſten. 
Aber was hat die große Maſſe des Volkes von dem WAutomobilis- 
mus? Nichts als den Staub und den Benzingeſtank, den die 
häufig im tollwütigſten Tempo vorbeikutſchierenden oberen Zehntauſende den 
auf des Schuſters Rappen wandernden Nichtbeſitzenden zurücklaſſen! 

Noch weniger wird die Erfindung Zeppelins und ſeiner Nachfolger 
dem Volke ſelbſt zugute kommen, ſolange das kapitaliſtiſche Syſtem 
die Herrſchaft behauptet! Sie wird ein Mittel des Militarismus 
ſein, ſie wird beſtenfalls ein Sport für die oberen Zehntauſende 
werden! Das arbeitend e Volk wird aber nach wie vor die Vögel um 
ihre Schwingen beneiden können.“ 

Wir können das Wahre in dieſen Ausführungen beſtehen laſſen und 
doch den Wunſch hegen, daß nicht allzufrüh Waſſer in den Wein gegoſſen 
werde, endlich einmal eine ehrliche Begeiſterung ſich ſo nachhaltig als mög⸗ 
lich auswirke. Man hat faſt das Gefühl, als ſchäme ſich der „Vorwärts“ 
feiner erſten natürlichen Wallungen, feiner notgedrungenen Gefinnungs- 
gemeinſchaft mit der „verrotteten reaktionären Bourgeoiſie“, dieſer „Stütze 
des brutalen kapitaliſtiſchen Syſtems“. Ein paar Tage ſpäter bläſt er dann 
auch ſchon ganz offen zum Rückzug: „Das deutſche Proletariat hat alle 
Arſache, den luftigen Veitstanz gewiſſer Elemente nicht mitzumachen! 
Das Proletariat hat wahrhaftig Grund genug, ſich um ſeine Intereſſen, 
ſeine Rechte zu kümmern; der Luftmilitarismus wird ſchon dafür ſorgen, 
daß Zeppelins Erfindung nicht verloren geht!“ 

Der „Vorwärts“, urteilt die „Frankf. Ztg.“, der dem Luftſchiff als 
Verkehrs und Transportmittel kühn jede Bedeutung abſpricht, habe ja vom 
Standpunkt ſeiner Partei aus in gewiſſem Sinne recht: „Was geht das 
klaſſenbewußte Proletariat eine Kulturtat und ein Kulturfortſchritt an? 
Kümmert es ſich um ſolche Dinge, fo kann es höchſtens von den ſozial⸗ 
demokratiſchen Zielen abgedrängt werden, und es muß dann natürlich mit 
harten Worten wieder in den Parteipferch zurückgetrieben werden. 

Wir erinnern uns keiner Gelegenheit, bei der durch einen privaten 
Vorgang eine ähnlich ſtarke und einheitliche Volksſtimmung ausgelöſt wor⸗ 
den iſt. Es wäre nun aber ganz falſch, wollte man glauben, daß dieſes 
Intereſſe eine Folge der ſo vielfach einſeitig betonten militäriſchen Be⸗ 
deutung des Lenkballons ſei. Die große Menge unterſucht nicht, ob und 


832 Tuürmers Tagebuch 


inwieweit der Zeppelinſchen Erfindung auch kriegeriſche Bedeutung zu⸗ 
kommt, ihr iſt es um die Kulturtat, um den menſchlichen und 
techniſchen Fortſchritt, um die Eroberung der Luft für das 
Menſchengeſchlecht überhaupt zu tun. And dabei wirkt allerdings 
die Einſicht mit, daß mit der Löſung dieſes Problems unabſehbare Zu⸗ 
kunftsperſpektiven verknüpft ſein können, die weitab von Krieg und 
Völkermorden führen; denn die Entwicklung, die mit der Eroberung 
der Luft einſetzt, trägt den Zwang in ſich, aus den verſchiedenen Nationen 
mehr und mehr eine Völkerfamilie zu geſtalten, da die Luft die geographi⸗ 
ſchen Grenzen überwindet.“ 

Verlorene Liebesmühe, meint der „Hannoverſche Kurier“, wär's, dem 
„Vorwärts“ auseinanderzuſetzen, „daß eine Ehre die andere wert iſt und 
die kerndeutſche Treue, mit der Graf Zeppelin, um feine Er 
findung dem deutſchen Vaterland zu erhalten, ein amerika⸗ 
niſches Angebot von 20 Millionen ausſchlug, nur mit einer 
ebenſo entſchloſſenen Gegentreue gelohnt werden kann. Seine 
Redaktion hat für eine Charaktergröße, die ſich in patriotiſcher Selbſtloſig⸗ 
keit äußert, kein Organ, zumal wenn der Zufall fie in eine Generals⸗ 
uniform geſteckt und mit einer neunzackigen Krone geſchmückt hat. Dem 
deutſchen Volk aber muß klar werden, wie wert Zeppelin der allgemeinen 
Teilnahme nicht bloß als Erfindergenie, ſondern auch als Menſch iſt. 

„Man muß dieſen Mann“, ſchreibt Geheimrat Lewald, der mit ihm 
die Verhandlungen als Reichs kommiſſar zu führen hatte, perſönlich kennen, 
um zu wiſſen, mit wem man es zu tun hat. Ich kenne keinen edleren Cha⸗ 
rakter. Was er verſpricht, das führt er durch. Im Verkehr mit der Reichs⸗ 
regierung hat er ſich in ritterlichſter Weiſe eigentlich ſelbſt die Bedingungen 
geſtellt. And was ſich dieſer bewunderungswürdige Starrkopf in ſeinen — 
Starrkopf geſetzt hat, das bringt ihm kein vorſichtiger, Nat“ mehr ab. Einem 
ſolchen Mann muß jeder die Treue halten. Man muß es geſehen haben, 
wie er dem letzten ſeiner Arbeiter ein guter Kamerad iſt, wie er mit ihnen 
in der Kantine ſpeiſt, wie er fie in der Arbeit anfeuert und wie er, wenn 
alle zagen, den Mut nicht verliert.“ 

Nie dächte ein Mann, der aus ſolchem Kernholz geſchnitzt iſt, daran, 
ſich durch eine Nationalſpende bereichern zu laſſen! Anfangs wollte er die 
Annahme verweigern. Später, als die Bewegung ins Rieſenhafte wuchs, 
erklärte er ſich bereit, dafür, ſoweit die Mittel langen, Luftſchiffe zu bauen 
und fie dem Reiche zur Verfügung zu ſtellen. Eine Weſenheit von dieſer 
Seelengröße imponiert jedem, der ſich eine begeiſterungsfähige Seele be: 
wahrt. So haben ſich auch zahlreiche Arbeiter durch das grämliche 
Kritteln des „Vorwärts“ nicht anfechten laſſen. Das Perſonal des 
Kabelwerks Rheydt hat aus eigener Initiative eine Sammlung begonnen. 
Tauſend Mark waren im Fluge zuſammen; keiner hatte ſich ausgeſchloſſen. 
Gott ſei Dank, unſere als materiell, als eigenſüchtig und herzlos verſchriene 
Zeit hat immer noch offene Seele und offene Hand für einen Mann, der 


Zürmerd Tagebuch 833 


ſich hohe Ziele ſteckt und mit mutvoller Zähigkeit erſtrebt. Der nicht nur 
‚erledigt‘, wie die Dutzendmenſchen bei ihrem beſchaulichen Tagewerk tun, 
ſondern ſein ganzes Wollen, Können, Hoffen, der ſein ganzes Sein und 
Vermögen auf die Glückskarte einer kühnen, einer verwegenen Tat ſetzt. 
Ob es ein techniſches, ein politiſches Ziel, was liegt am Ende daran? Die 
Hauptſache iſt der Mann. Graf Zeppelin wäre vom deutſchen Volk mit 
einer Nationalſpende von fünf Millionen nicht zu teuer bezahlt, auch wenn 
feine Erfindung nie praktiſchen Wert gewinnen ſollte: als Perſönlichkeit, 
als Vorbild, als Begeiſterer. Vergegenwärtige man ſich doch, welchen 
Eindruck die feurige Aufwallung des deutſchen Volkes, deren Anlaß und 
Gegenſtand er war, auf das Ausland machen muß. Wird es ſich nicht ſagen, 
daß eine Nation, in der eine ſolche Begeiſterung, ſolche Opferfreude, kurz 
ein ſolcher Raketenſatz ſteckt, allen Einkreiſungen jederzeit Trotz bieten muß?“ 

And doch konnte ſich's der „Militarismus“ nicht verſagen, dem 
„Vorwärts“ noch in letzter Stunde zu Hilfe zu eilen und für feine anti- 
militariſtiſchen Tendenzen Stimmung zu machen. Die „Schwäbiſche Tag⸗ 
wacht“, das Stuttgarter ſozialdemokratiſche Organ, das im Gegenſatz zu 
ſeinem „umgefallenen“ Berliner Bruderblatt dem Grafen und ſeinem Werke 
rückhaltloſe Huldigung zollt, behauptet auf Grund der Darſtellungen vieler 
Augenzeugen, daß an der Kataſtrophe zu Echterdingen der „Militarismus“ 
inſoweit ſchuld fei, als es in feiner Macht gelegen habe, das Anglück zu 
verhüten. Nur etwas mehr Einſicht und Verantwortlichkeitsgefühl, dafür 
aber etwas weniger Schneidigkeit und Eitelkeit der zur Hilfe⸗ 
leiſtung abkommandierten Herren Offiziere habe dazu gehört. Schon die 
Behauptung, es ſeien 80 Soldaten zum Feſthalten des Ballons verwendet 
worden, fei falſch. „Es wurden nicht 80, nicht einmal 40, ſondern höch⸗ 
ſtens 30 Soldaten zum Feſthalten des Ballons verwendet. Die übrigen 
mehr als 100 Mann hatten nach ſchneidigem Kommando den Abſper⸗ 
rungsdienſt zu verſehen. Die wenigen Leute, die an die Stricke und 
Seile geſtellt waren, ſtanden unter dem allerungenügendſten Rom: 
mando. Einige lagen auf dem Stroh, das zugleich der vorderſten Gondel 
als Ruhepunkt diente. Den ganzen Vormittag ſtieß der ſchwache Wind 
auf die Spitze des Ballons und ließ das freiſtehende hintere Teil ſanft 
hin und her ſchweben. Schon zu dieſer Zeit, wo nahezu Windſtille herrſchte, 
hatten die Ingenieure alle Mühe, die Soldaten zum Nachlaſſen der Stricke 
zu bewegen, wenn der Wind den Ballon hinten ein wenig zur Seite ſchob. 
Die Soldaten glaubten, fie dürften dem federleichten Nieſenkörper, der nur 
vorne befeſtigt war, hinten keinen Spielraum laſſen. Die Offiziere aber 
verſtanden ihre Aufgabe offenbar auch nicht beſſer, ſie hatten andererſeits 
freilich auch keine Zeit, fic) der heiligen Miſſion zu erinnern, die ihnen 
übertragen war, denn ſie mußten, zum Teil mit Damen, in abſtoßender 
Geſpreiztheit auf dem abgeſperrten Platze einherſtolzieren, ſich mit dem 
Ballon als Hintergrund photographieren laſſen und immer aufs neue 


die Soldaten zum Zurückdrängen der Menſchenmaſſen anfeuern. 
Der Türmer X, 12 54 


834 Sürmers Tagebuch 


Es ift nicht wahr, daß der Wind fih ganz plötzlich gedreht 
habe. Mindeſtens eine halbe Stunde vor der Kataſtrophe 
hat man die veränderte Windrichtung wahrgenommen, dem 
Ballon wurde aber nicht die Freiheit gelaſſen, feine Lage der neuen Wind⸗ 
richtung anzupaſſen. Den Ingenieuren Zeppelins iſt kaum ein Vorwurf 
daraus zu machen, daß ſie nicht energiſcher auf die Hilfsmannſchaften ein⸗ 
wirkten. Sie waren ermattet und abgeſpannt, einige von ihnen hatten 
mehrere Nächte nicht geſchlafen. Aber wenn die Offiziere, ſtatt ihrer Eitel⸗ 
keit ſich hinzugeben, ihrer ernſten Aufgabe ſich gewidmet hätten, ſo würde 
der Ballon nicht künſtlich in einer Lage gehalten worden ſein, der 
die ganze 136 Meter lange Längsſeite dem nahenden Sturme 
preis gab. Ihre Hauptaufgabe mußte fein, für genügend Mannſchaften 
zu ſorgen, die an der Spitze den Ballon feſthielten. Dann konnte er hinten 
hin und her ſchlagen, aber entfliehen konnte er ſo leicht nicht. Man mußte 
erkennen, daß die nur ganz wenig tief in den Boden eingedrungenen Anker⸗ 
zacken nicht genügend Halt hatten. Der Anker konnte beſchwert, an das 
Ankertau konnten doppelt und dreimal ſoviel Kräfte geſtellt werden, als 
tatſächlich feſthielten. Von alledem geſchah nichts, obgleich Kräfte genug 
zur Verfügung ſtanden. Mehr als 100 Soldaten ſperrten zwecklos ab 
und wurden, als die entrüſtete Menge nicht weichen wollte, vorwärts ge: 
trieben mit den Worten eines Vorgeſetzten: „Wozu habt ihr denn 
eure Gewehre!“ Aus der Maſſe des erregten Publikums boten ſich 
Dutzende von Männern an, die halten wollten, aber als Antwort erſcholl 
ihnen ein ſchneidiges „Zurück!“ entgegen. Der Geiſt der Pickelhaube, das 
Soldätlesſpiel iſt verantwortlich zu machen für das Ereignis in Echter⸗ 
dingen.“ 

Die Stimmung, die ſich der Maſſen angeſichts der Haltung der Offi⸗ 
ziere bemächtigte, ſchildert eine Zuſchrift an das ſelbe Blatt: 

„Als das fürchterliche Anglück im Entſtehen war, ſtürzten die wohl 
Zehntauſende von Menſchen nach einem Augenblick ſtarren Entſetzens dem 
Luftſchiff nach. Durch Krautäcker, Kartoffeläcker, durch Noggenfelder, über 
Gräben und Hürden. And als die züngelnden Flammen zu dem weißen 
Leib herausſchlugen, ſtand alles ſtill und ſtumm. And dann ſchrien die 
Zehntauſend eine Anklage zum Himmel; eine fürchterliche Anklage gegen 
den Geiſt, der uns regiert und lenkt, der unſer ganzes öffentliches Leben 
vergiftet und der überall ſich nach vorn drängt und ſich breit macht, alles 
andere erdrückend. Eine ſo über alle Maßen gräßliche Anklage, daß es 
faſt vermeſſen iſt, ſie zu wiederholen. Eine Anklage gegen den Geiſt, den 
die Aniform verkörpert. Schauervoll, entſetzensvoll; doch man muß die 
Zehntauſende begreifen und wird ſie entſchuldigen; die Anklage war 
ſicher ungerecht; das muß der Beſonnene ſich ſagen, denn wenn man 
alles bedenkt und abwägt, kommt man zum mindeſten immer zu einem non 
liquet (Es iſt nicht klar.) Doch die Worte, die da gerufen, gebrüllt 
wurden, gehen durchs Volk, pflanzen ſich fort von Mund zu Mund und 


Turmers Tagebuch 835 


deshalb muß man darüber ſprechen. Es gab dort droben auf dem Un- 
glücksfeld mancherlei, das die Anklage ſtützt. Zuerſt die Abſperrung. 

Weshalb abſperren? Keiner von den Tauſenden wagte ja doch, an 
den Koloß heranzugehen und ihn zu betaſten; und wenn's einer gewagt 
hätte, das Volk hätte Juſtiz geübt; das Volk, das in dem Koloß ein 
Heiligtum verehrt und dem er ein Rührmichnichtan war. Die halbe Rom: 
panie brauchte man zur Abſperrung. An den beiden Gondeln lagen je 
zehn oder zwölf Soldaten an den Stricken. Es ging faſt den ganzen 
Morgen ohne Abſperrung, und es wäre wohl weiter ſo gegangen. Zur 
Aufrechterhaltung der Ordnung waren ja Landjäger genug da. And der 
Wind blies immer ſtärker und den Wirbelſturm ſah man faſt eine 
Viertelſtunde lang kommen. Doch der Meiſter war nicht da. Ein 
zweites Moment. Eine Kompanie Soldaten rückt zur Ablöſung an. Der 
Offizier, der ſie führt, läßt nach dem Halten Griffe üben; denn das 
erſte, Gewehr ab“ klappte nicht. Griffe üben angeſichts dieſes Koloſſes, 
den keiner von den Soldaten noch geſehen hat, und der die Löſung eines 
Welträtſels bedeutet, von deſſen Ruhm die Welt voll iſt, 
von dem jedes Kind ſpricht in ſchöner Bewunderung! Gewehr ab, Ge— 
wehr über! Das iſt der Geiſt! And gegen dieſen Geiſt ſchleu— 
derten die Zehntauſende die Anklage, daß er das Anglück ange⸗ 
richtet habe; man hätte die ganze Kompanie an die Stricke legen ſollen 
und hätte, als der Sturm herantobte, von den Tauſenden einige Hundert 
helfen laſſen ſollen. Vielleicht wäre es geglückt. Vielleicht. Wer weiß 
es, wer will es ſagen, wer will ſich vermeſſen, dem Geiſt der Uniform dieſe 
Anklage ins Geſicht zu ſchleudern. Denn fie iſt untragbar und iſt fürchter- 
lich. And fürchterlich verzerrten ſich die Geſichter; Blitze ſchoſſen aus den 
Augen und die Fäuſte ballten ſich drohend und die Arme reckten ſich gen 
Himmel. Stoßen, drängen und drücken. Ein Dragonerunteroffizier will 
ſeinen Gaul in die Menge hineindrängen. Das Tier bäumt ſich, ſteht 
einen Augenblick kerzengerade auf den Hinterbeinen und dann wirft es ſich 
zurück; es will nicht in die Menge; kein Sporn hilft und keine Kandare. 
And das Stoßen, Drängen und Drücken wird härter, lauter fallen die 
Worte glühenden Haſſes, wütenden Grimmes voll. Ein Soldat faßt ſein 
Gewehr beim Lauf. „Schlagt mit dem Kolben drein!“ ſchrie er. Ja, das 
könnt ihr; und abſperren, das könnt ihr auch,“ ſchreit es hundertſtimmig 
zurück. Ein junger Leutnant kommt hinzu. „Der iſt's, der hat die 
Griffe üben laſſen,“ brüllten alle. Und ein Toben geht los gegen die 
unſchuldigen Opfer des Aniformgeiſtes. Ein Toben und Schreien. Eine 
Sekunde noch, dann wäre die Schlacht losgegangen. Entſetz⸗ 
liches Schauſpiel. Doch da kam Zeppelin im Automobil; ſtarren Auges 
ſah er den Trümmerhaufen, und da löſte ſich die entſetzungsvolle Spannung. 
Was kümmerte die Zehntauſende die Uniform, wenn er, der Held und 
Meiſter da iſt! And von zehntauſend Kehlen ſchallt es ihm entgegen, un⸗ 
vergleichlich, begeiſtert: Troſt und Hoffnung für ihn, den Gebeugten, der 


836 Türmers Tagebuch 


da fein Werk in Fetzen und Stücken umherliegen fab, rauchend und ſchwelend. 
Es war ihm ein Troſt, denn er dankte und dankte, neigte fic) und dantte 
wieder. And die feuchten Augen leuchteten in Hoffnung. — Vergeſſen 
war der Lärm 

„. . . Tief ergriffen,“ ſchreibt ein anderer Augenzeuge, „Itand die 
Menge vor ihm, und kein Auge blieb in dieſem Moment trocken. Da er- 
ſcholl ein Kommando von einem Dragoneroffizier: ‚Leute, zurück“. Deret, 
die noch eben in tiefſter Erſchütterung geſtanden, bemächtigte ſich eine tiefe 
Erbitterung. Mit Gewehrkolben wurde geſtoßen, laute Entrüftunge 
rufe ertönten, und es fehlte nicht viel, die Offiziere wären angegriffen worden. 

Wenn man Kritik üben will, fo drängt ſich einem der Gedanke mehr 
und mehr auf, daß die Offiziere ſich der Größe der Aufgabe 
nicht bewußt waren, der ſie gegenüberſtanden. Es mag wohl ſein, daß 
durch ihre bloße Anweſenheit die Menſchen eingeſchüchtert werden, abet 
die Elemente laſſen ſich durch das ſchneidige Auftreten eines Offiziers nicht 
einſchüchtern. Sich mit den Damen in ſolch einer Situation 
photographieren zu laſſen, das zeugt ſchon davon, daß das Be 
wußtfein der Verantwortung nicht da war. In welcher Stim: 
mung die Offiziere ſich befanden, bezeugt noch ein kleines Vorkommnis. 
Ein allerdings nicht im Dienſt befindlicher Artillerieoffizier trat an einen 
Stuttgarter Hauſierer mit der Aufforderung, ihn zu photographieren, heran. 
Er hatte den Hauſierkaſten für einen Photographenapparat angeſehen!“ 

* * 


* 

Griffe kloppen! In einem Augenblicke, wo die Menſchheit fid an- 
ſchickt, das Reich der Lüfte zu erobern, einen Traum zu verwirklichen, der 
noch vor kurzem nur in der Mythe und in kühnen Dichterphantaſien lebte; 
wo eine Welt in atemloſer Spannung ſchauernd „das Wunder“ erlebt, der 
Menſchengeiſt über ſich ſelbſt hinauswächſt, zu „des Geiſtes Flügeln der 
körperliche Flügel ſich geſellt“! Griffe kloppen! Iſt eine genialere Gatyre 
denkbar? — Laſſe dich begraben, „Simpliziſſimus“ 

Es ift ja etwas Schönes und Großes um „des Dienſtes ewig gleich 
geſtellte Ahr“. Wenn ſie nur des Dienſtes Vertreter auch an geeigneterer 
Stelle immer „im Gleiſe“ hielte. Wenn das „Griffe kloppen“ nur am 
toten Material und nicht auch an lebenden und fühlenden, wehrloſen Mere 
ſchen geübt würde! Und wie geübt! 

Es ſcheint, daß wir dieſes Brandmal, dies Schandmal der Sol: 
datenmißhandlungen, gar nie los werden follen, daß es ſich nur 
immer tiefer in unſer Fleiſch gräbt. Wenn man noch an eine allmähliche 
Abſchwächung und Linderung glauben könnte! Ich muß mit Beſchämung 
bekennen: ich ſelbſt war vertrauensſelig genug, daran zu glauben. Zu 
glauben, daß hinter den „mannhaften“ Erklärungen des Kriegsminiſters 
und anderer Größen im Militärſtaat mehr ſteckte als ſchönes Pathos und 
edle Geſte; daß, wenn ein Mann an folder Stelle erklärt, ihm ftiege jedes 
mal bei Erwähnung diefer erbärmlichſten und ſchändlichſten aller 


Türmers Tagebuch 837 


feigen Schurkereien die Rite der Scham ins Geſicht, — er auch ent⸗ 
ſchloſſen und imſtande wäre, die Peft mit Feuer und Eiſen aus zu⸗ 
tilgen. Den guten Willen mag ich ihm auch heute nicht aberkennen. Aber die 
Macht! And ob an allen anderen Stellen, insbeſondere nachgeordneten, 
auch nur der gute Wille durchweg in genügendem Maße vor- 
handen iſt, — dieſe Frage ſchlankweg zu bejahen, wäre angeſichts der 
auch nur in jüngſter Zeit ans Tageslicht geförderten und erwieſenen 
nackten Tatſachen mehr als leichtfertig. Was allein in den letzten Wochen 
davon enthüllt wurde, kann nur ein wahrhaft „ruchloſer Optimismus“ 
noch als „vereinzelte Ausnahmen“ zu iſolieren verſuchen. Es ſind 
Maſſenſchindereien, Schindereien en gros, und zwar ſyſte⸗ 
matiſche und gewohnheits mäßige. And nicht ſelten ſolche, daß 
man auch für diejenigen, die ſich dergleichen williger, als nur irgend ein 
halbwegs raſſiger Hund, gefallen laſſen, nur die eine Entſchuldigung 
findet: es müſſen eben bedauernswerte Kretins fein. Für fo bodenloſe 
Schurken aber, die ſich an ſolchen, ſchon von der Natur wehrlos 
gemachten unglücklichen Opfern vergreifen, wäre Zuchthaus die 
einzige unſern herrſchenden Rechtsbegriffen angemeſſene Strafe. 

Nur wem das klare und ſtarke Empfinden für das, wor um es ſich 
hier eigentlich handelt, in der mehr oder minder umſichgreifenden Knochen⸗ 
erweichung unſerer ethiſchen Ehr⸗ und Rechtsbegriffe geſchwunden iſt, 
wird dem „Vorwärts“ unrecht geben, wenn er angeſichts eines dieſer — 
euphemiſtiſch ſogenannten — Militär⸗„Mißhandlungsprozeſſe“ ſchreibt: 

„Wenn Soldatenſchinder, die Soldaten in der infamſten Weiſe be⸗ 
ſchimpfen, in der unmenſchlichſten Weiſe mißhandeln, ohrfeigen, daß ihnen 
das Trommelfell platzt, daß ſie ohnmächtig werden, daß ihnen das Blut 
aus Mund und Naſe ſpritzt, die ſolche Mißhandlungen gewohnheits— 
mäßig verüben und ſich ſogar zu der perverſen Beſtialität hinreißen 
laſſen, Untergebene an den Geſchlechtsteilen zu reißen, alſo ders 
artig zu behandeln, wie ſich das ſelbſt ein roher Fleiſcherknecht Tieren 
gegenüber nicht geſtattet — wenn ſolche Soldatenſchinder nicht einmal 
degradiert werden, ſo kann man ſich nicht darüber wundern, daß 
in Anteroffizierskreiſen die ſeltſamſten Anſichten darüber herrſchen, wo eine 
Mißhandlung anfängt und ein freundſchaftlicher, erziehlich gemeinter Rippen- 
ſtoß gegen das Bauchfell oder Fauſtſchlag in die Zähne aufhört! 

Wir haben uns in unſerem Bericht über die Schiebereien des Ball, 
Holzapfel und Konſorten gehütet, an dem Bericht, ſoweit die Entlaſtungs⸗ 
zeugen, — zu denen ſchon diejenigen gehörten, die bekundeten, es ſei 
mit der Prügelei nicht ‚ganz ſchlimm“ geweſen — zu retouchieren. Wir 
haben objektiv gemeldet, daß mehrere Zeugen bekundeten, daß ſie ſelbſt 
nicht ſo häufig geſchlagen worden ſeien und ſich auch nicht entſinnen 
könnten, „daß die Sache fo ſchlimm geweſen“ ſei. ‚Etwas ſtark“ hatten 
dieſe Zeugen — die Entlaſtungszeugen! — die Prügelei und Schinderei 
ſchon gefunden, aber ſie erklärten nichtsdeſtoweniger, daß ſie keine Em⸗ 


838 Türmers Tagebuch 


pörung darüber empfunden hätten — im Gegenſatz zu einer Reihe 
anderer Zeugen! | 

Und die Ausſagen dieſer ‚Ent'laſtungszeugen genügten dem 
Oberkriegsgericht, um die Strafen, die die erſte Inſtanz gefällt hatte, ſel bſt 
für die am ſchwerſten belaſteten Soldatenſchinder herabzuſetzen! 
Nicht nur, daß bei den ärgſten Schindern der ‚Söhne des Volkes“ die 
Freiheitsſtrafen ermäßigt wurden — das Angeheuerliche des Arteils lag 
darin, daß die von der erſten Inſtanz verhängte Strafe der Degra: 
dation aufgehoben .. , diefen Schändern des doch ſonſt ſo geprieſenen 
„Ebenbildes Gottes’ die Möglichkeit gegeben wurde, auch ferner 
Soldaten zu Krüppeln zu ſchlagen und moraliſch unters 
Vieh herabzuwürdigen! 

Selbſt wenn den famoſen „Ent'laſtungszeugen keine Belaſtungs⸗ 
zeugen gegenübergeſtanden hätten, die unerſchütterliche Tatſachen der 
ſcheußlichſten Art bekunden konnten: was hatten ihre Ausſagen be⸗ 
wieſen? Daß geprügelt, gemißhandelt wurde; nur nicht „ganz ſchlimm', 
nur nicht ſo ſchlimm, daß die Gemütsmenſchen, die nicht ſelbſt die Opfer 
regelmäßiger Mißhandlung waren, das als empörend empfanden? 
Was beweiſt denn aber ſolches teils negatives, teils völlig ſubjektives 
Zeugnis feſtſtehenden Tatſachen der grauenhafteſten Art gegenüber?! 
Daß es Menſchen gibt, die ſich nicht über unerhörtes Unrecht empören, 
fofern es nur andere trifft, iſt ja leider eine nur allzu bekannte Tatſache! 
And daß es Soldaten gibt, die ſogar ihnen perſönlich zuteil gewordene 
brutalſte und ſchmachvollſte Behandlung nicht als etwas 
„Empörendes“ empfinden, ja, das iſt doch ebenfalls militärgerichts⸗ 
notoriſch! Am menſchenunwürdige Behandlung in ihrer vollen Schwere 
empfinden zu können, muß man eben ein Gefühl für Menſchenwürde be⸗ 
ſitzen l. 

Außerdem aber ließ fic) durch dieſe Ausſagen minder empfänglicher 
oder mit minderer Beobachtungsgabe ausgeſtatteter „Ent laſtungszeugen 
nicht eine der furchtbaren Tatſachen erſchüttern, die durch eine ganze 
Reihe poſitiver Zeugenausſagen feſtgeſtellt waren! Daß Ball ſich 
hunderte brutaler Mißhandlungen hatte zuſchulden kommen laſſen, daß 
er einen Soldaten durch Zertrümmerung des Trommelfells zum 
Krüppel machte, daß er den zum Krüppel gemachten obendrein zwang, 
falſche Meldung zu machen — das ſtand doch unwiderlegbar feit: 

Ebenſo, daß die Holzapfel und Biermann gewohnheitsmäßige 
und bösartigſte Soldatenſchinder waren! And trotzdem wurden thre 
ohnehin un verhältnismäßig milden Strafen noch weiter gemil: 
dert, weil ihnen ‚eine Luft der Quälerei“ nicht nachgewieſen ſei?! Nach 
dieſer Jurisdiktion müßte künftig jeder Mörder den Nachweis verlangen 
können, daß er ‚aus Luft’ gemordet habe! 

Erſt recht aber jener andere Milderungsgrund des Oberkriegsgerichte 
iſt in dieſem Falle ungeheuerlich: daß die Mannſchaftsſchinder geſchunden 


Zürmers Tagebuch 839 


und gewütet hätten, um aus den viehiſch Mißhandelten ‚tüchtige Soldaten“ 
zu machen! Danach dürfen alſo ſowohl die hier beſtraften wie alle künf— 
tigen Soldatenſchinder glauben, daß man durch Beſtialiſierung, 
durch Ertötung alles Selbſt- und Ehrgefühls (tüchtige Sol— 
daten“ erziehen kann! 

Welche Herabſetzung des Militarismus durch ſeine eifrigſten 
Verteidiger! | 

Darwin, deſſen hundertſten Geburtstag die bürgerliche Geſellſchaft im 
nächſten Jahre mit großem äußeren Gepränge feiern wird, erzählt einmal, 
daß er auf einer feiner Reifen mit einem Neger, der ganz ungewöhnlich 
dumm war, auf einer Fähre überſetzte; bei den Verſuchen, ſich mit dem 
Neger zu verſtändigen, machte Darwin lebhafte Bewegungen mit der Hand, 
hinter denen der Neger die Abſicht vermutete, Darwin wolle ihn ſchlagen; 
denn ſofort ließ er mit einem erſchreckten Blick und mit halbgeſchloſſenen 
Augen die Hände herabſinken. Ich werde niemals mein Gefühl von Aber⸗ 
raſchung, Widerwillen und Scham vergeſſen,“ ſchreibt Darwin, wie ich 
ſah, daß ein großer, ſtarker Mann ſich fürchtete, einen ſeiner Meinung 
nach nach ſeinem Geſicht gerichteten Schlag auch nur zu parieren. 
Dieſer Mann war in einem Zuſtande der Erniedrigung erzogen wor— 
den, tiefer als die Sklaverei des allerhilfloſeſten Tieres.“ 

In dieſem erbärmlichſten Zuſtande der Erniedrigung 
werden heutzutage dauernd Hunderttauſende von deutſchen 
Jünglingen erzogen, und Millionen deutſcher Männer haben 
durch dieſen unerhörten Zuſtand der Demütigung hindurch⸗ 
gehen müſſen. Was dem freierzogenen, militäriſch nicht befangenen 
Engländer gegenüber einem einzelnen unkultivierten Neger ſchon vor einem 
halben Jahrhundert die Scham in die Wangen trieb, das iſt in Deutſch⸗ 
lands muffigen Kaſernen nicht nur bis zur Stunde löblicher Brauch, fon- 
dern eine durch grauſame Geſetze und fürchterliche Drohungen ſtabilierte 
Selbſtverſtändlichkeit. Kein deutſcher Soldat darf nur mit der Wimper 
zucken, wenn irgendein Flegel von Vorgeſetzter ihm ins Geſicht ſchlägt 
oder gar ſpeit. Dieſe zum flammenden Zorn aufpeitſchende, zur ſofortigen 
leidenſchaftlichen Vergeltung geradezu herausfordernde Beleidigung der 
menſchlichen Würde muß zunächſt geduldig ertragen werden, ſelbſt dann, 
wenn der vorgeſetzte Schinderknecht zur empörenden Roheit noch den 
kalten Hohn über die Wehrloſigkeit des Mißhandelten fügt. 

Freilich darf der Soldat ſich beſchweren. Nach 24 Stunden darf 
er feierlich den Helm aufſetzen und unter Beachtung ſonſtiger abſonder⸗ 
licher Zeremonien eine hochnotpeinliche Anklage beim Feldwebel einreichen. 
Aber wehe ihm, wenn er dabei irgendeine der Formalien außer acht 
läßt. Dann geht es ihm ſelbſt zuvor an den Kragen. Außerdem fürchtet 
der Soldat die vielen ſtillen und unfaßbaren Quälereien, denen er aus⸗ 
geſetzt iſt, wenn ihn ſeine Vorgeſetzten erſt aufs Korn genommen haben. 
Wer Soldat geweſen iſt, weiß genau, wie viele kleinlichen und dabei doch 


840 Türmers Tagebuch 


ärgerlichen, zermürbenden Mittel, gegen die es keine Beſchwerden 
gibt, ein gehäſſiger Vorgeſetzter gegen ſeine Untergebenen ausſpielen kaun. 

Man bleibe uns mit der albernen Redensart von der Diſziplin vom 
Leibe. Natürlich muß in einem großen Organismus Diſziplin herrſchen. 
Das weiß niemand beſſer zu würdigen als die Sozialdemokratie, die von 
ihren Anhängern auch eiferne Diſziplin fordert. Aber welch ein Unter: 
ſchied beſteht zwiſchen der gern geübten Difziplin, die der denkende Menſch 
aus Überzeugung und aus Einſicht in die Notwendigkeit freudig ausübt, 
und der erzwungenen, aller Menſchenwürde ins Geſicht ſchlagenden 
Diſziplin, die in unſeren Kaſernen herrſcht! Und nun gar noch die un: 
erhört freche Aberſpannung ſelbſt dieſer Zwangsdiſziplin 
durch beſtialiſche Vorgeſetzte, die aus ſadiſtiſchen Neigungen 
oder aus falſch gerichtetem militäriſchen Ehrgeiz heraus die ihnen wehr⸗ 
los preisgegebenen Opfer des ſoldatiſchen Kadavergehorſams wie 
gefühlloſes Vieh prügeln!“ 

Dabei habe ſich der Ehrbegriff des ſogenannten gemeinen Mannes 
im Laufe eines Jahrhunderts weſentlich geändert. Früher hätten angeblich 
nur die „Junker und Junkergenoſſen“ Ehre gehabt, der gewöhnliche Menſch 
aber ſich ſolchen Luxus nicht leiſten dürfen: „Und Prügel gar gingen nicht 
gegen die „Ehre“ des Untertanen, fie gehörten zum unentbehrlichen Haus⸗ 
gerät jeder Erziehung. Im Hauſe prügelte der Vater, in der Schule herrſchte 
der Bakel, und auf dem Kaſernenhof tanzten der Korporalſtock oder die 
Spießruten auf den Rücken der unfreien Landeskinder. Noch bis in die 
zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein, ſolange in der Arbeiterklaſſe 
kein Selbſtbewußtſein wach war, nahm der gemeine Mann die Prügel mit 
gottergebener Miene oder höchſtens mit lautloſem Zähneknirſchen hin. Seit⸗ 
dem aber die Arbeiterſchaft zum Klaſſenbewußtſein erwacht iſt, ſeitdem der 
Arbeiter ſeine Menſchenwürde erkannt hat, ſeitdem er ein leuchtendes Ideal 
einer freien, ſonnigen Zukunft vor ſich her trägt, ſeitdem empfindet auch der 
einfachſte Mann aus dem Volke die Prügelſtrafe in ihrer beſtialiſchen Rob: 
heit, in ihrer menſchenſchändenden Gemeinheit. And er lehnt ſich gegen 
ſie auf, wo immer nur er kann; flammenden Auges wendet er ſich gegen 
jeden, der ſeiner Menſchenwürde mit dem Stocke in der Hand zu nahe zu 
treten wagt. 

Nur in der Kaſerne muß ſich der Arbeiter alles widerſtands los ge: 
fallen laſſen! Muß er? Nein, er muß nicht! Er ſoll und er wird ſelbſt 
die geringen Mittel, die ihm das Beſchwerderecht läßt, bis zum letzten Ende 
ausnützen, um ſeine Ehre reinzuhalten. Aber trotzdem bleibt für jeden, 
der die ſtaubige Kaſernenluft atmen muß, ein ekler Reft übrig. Und wer 
ſich ſelbſt vor dem Prügeln zu ſchützen weiß, dem geht es doch mindeſtens 
wie Darwin, wenn er täglich ſehen muß, wie andere ſchwächere Naturen 
von rohen Vorgeſetzten widerſtandslos geprügelt und geſchunden werden. 

In einem Kriege der Gegenwart iſt mehr als früher der einzelne 
Mann auf ſich geſtellt, ſowohl in bezug auf Difziplin als auf ſelbſtändiges 


Türmers Tagebuch 841 


Handeln, als auf militäriſches Geſchick. Die Verantwortlichen in der Heeres⸗ 
verwaltung ſollten deshalb ſchon in ihrem Intereſſe bedenken, welche 
Früchte aus der Drachenſaat aufgehen müßten, die Tag für Tag 
durch ruchloſe Vorgeſetzte in den Herzen ſelbſt harmloſer Bauernjungen, 
die noch nicht ſozialdemokratiſch ,verfeucht’ find, geſät wird. Selbſt einem 
frommen, ſanftmütigen Kandidaten der Theologie entriſſen einſt die gering⸗ 
fügigen Schurigeleien, denen eine Einjährigenabteilung auf einem Leipziger 
Kaſernenhofe ausgeſetzt war, die grauſige Verwünſchung: „Da möchte 
man ja Sozialdemokrat werden!“ 

Es fei die Pflicht des klaſſenbewußten Proletariats, innerhalb und 
außerhalb der Kaſerne „durch mannhaftes Auftreten die deutſche Ehre und 
den echten deutſchen Stolz zu wahren, die in den Kaſernen aufs gröblichſte 
und niederträchtigſte beſudelte Menſchenwürde aufzurichten und Schand⸗ 
buben unmöglich zu machen, die in hundert Tagen ſechshundert und mehr 
Soldatenmißhandlungen zuwege bringen“. | 

Sollte das wirklich nur Pflicht des „klaſſenbewußten Proletariats“ 
fein? Iſt das nicht eigentlich eine ehrverletzende Unterftellung für die ehr⸗ 
liebenden, ſich ihrer Menſchenwürde bewußten Angehörigen aller übrigen 
Stände? Faſt möchte man ja daran verzweifeln, daß unſere bürgerliche 
Geſellſchaft der Peſtilenz noch Herr wird! Nur ein rückſichtsloſer, gebie⸗ 
teriſcher, vor den ſchärfſten Mitteln nicht zurückſcheuender Wille ſcheint 
ſie noch zertreten zu können. 

„Wochen-, monate-, ja jahrelang,“ ftellt die „Berliner Volkszeitung“ 


feſt, „nicht gelegentlich, nicht zufällig; nicht aus provozierter Erregtheit, 


nicht nur von einem Peiniger; nein: mit kalter, gefühlloſer Grau: 
ſamkeit, mit diaboliſcher Wohlüberlegtheit, ſyſtematiſch find 
in der 1. Batterie des 1. Gardefeldartillerieregiments hundertfach die 
ſcheußlichſten Mißhandlungen verübt worden, von Vorgeſetzten an 
Untergebenen, von dienſtälteren Kameraden an dienſtjüngeren Kameraden. 
Eines der unglücklichen Opfer dieſer ſyſtematiſchen Mißhandlungspraxis 
hat ſich nicht anders zu helfen gewußt, als daß der arme Menſch den 
freiwilligen Tod einem Leben voller Demütigungen und raffiniert er⸗ 
ſonnener Qualen vorzog. Erſt das hat den Stein ins Nollen gebracht 

„Warum beſchweren fic die Leute nicht?!“ Jeden Tag Peitſchen⸗ 
hiebe, Fußtritte, blutige Striemen über den ganzen Körper, 
teufliſche Schikanierereien, das läßt man ſich doch nicht gefallen? 
Naive Seelen! Es iſt ein alter Witz: Wodurch kann der Soldat ſchon 
im Frieden feinen Mut beweiſen? Antwort: Dadurch, daß er ſich be- 
ſchwert. Ein alter Witz, aber ein bitterer Witz. „Kerls, wenn ihr euch 
beſchwert, dann ſetzt es doppelte Keile!“ Das war das Rezept, nach dem 
der Anteroffizier Thamm, der Chef der Mißhandlungskohorte, die er zu 
organiſieren wußte, die unglücklichen, eingeſchüchterten, geſchundenen, zer⸗ 
prügelten und gequälten Soldaten zum ſtummen Erdulden ihrer Qualen 
veranlaßte. In dieſer ſtummen Ergebenheit in das Walten ihrer Peiniger 


842 Türmerd Tagebud, 


bewieſen die gemißhandelten Soldaten eine gewiſſe Logik: Wenn fein 
Menſch es verhindert, daß wir jetzt täglich und ſtündlich gequält werden, 
wie wird es dann verhindert werden, daß wir hinterher noch 
mehr gepeinigt werden? 

And das führt uns auf den Kardinalpunkt der Fragen, die ſich im 
Hinblick auf dieſen Prozeß von neuem unerbittlich aufdrängen. 

Das Beſchwerderecht des Soldaten iſt ungenügend. Die Bürg⸗ 
ſchaft, daß für ihn die Anwendung dieſes Rechts nicht größere Nach: 
teile hat, als wenn er ſich nicht beſchwert, iſt zu gering. Zunächſt iſt 
die Gefahr, daß er wegen ſeiner Beſchwerde beſtraft wird, wenn ſie ſich 
als nicht gerechtfertigt erweiſt, größer als die Ausſicht auf Erfolg. Denn 
ein Vorgeſetzter, der ſich gegen feine Untergebenen in der gemeinſten Weiſt 
durch raffinierte Mißhandlungen vergeht, wird ſelten Bedenken tragen, ſich 
nach Möglichkeit herauszuſchwindeln. Gelingt ihm das, ſo liegt der Be⸗ 
ſchwerdeführer in der Patſche und — im Kaſten. Aus den Kameraden 
iſt ſelten viel herauszubringen; die Furcht vor ſpäteren Nachteilen, Schika⸗ 
nierereien, Mißhandlungen macht ſie zurückhaltend. Man hat's ja vor dem 
Militärgericht geſehen, wie ſchwer es iſt, die Mannſchaften zum 
Bekenntnis der Wahrheit zu bringen, obwohl ihnen der Eid 
auferlegt, nichts zu verſchweigen. Nur wenn der Soldat das Recht 
hat, unmittelbar hinter jeder Mißhandlung, noch mit der geſchwollenen 
Backe, oder mit den friſchen Striemen, oder der blutenden Wunde vom 
Fleck weg dem erſten beſten Vorgeſetzten die Brandmale der 
Frevel des Soldatenſchinders vorzuweiſen, um eine Anterſuchung des Falles 
herbeizuführen, nur dann iſt Ausſicht vorhanden, daß den Mißhandlungen 
endlich mit Erfolg entgegengetreten wird. 

Freilich muß auch dann in entſchiedenſter Weiſe dafür Sorge ge: 
tragen werden, daß ihm dieſe Beſchwerde nicht zur Quelle neuer Quale: 
reien werde. Es muß die ftrengfte Überwachung des Dienſtes Plas 
greifen. And damit kommen wir zu der andern Frage, die immer wieder 
brennend wird, ſo oft ein Soldatenmißhandlungsprozeß das Voll in ſeinem 
tiefſten Rechtsempfinden zu heller Empörung aufwühlt: 

Wo war in der 1. Batterie des 1. Gardefeldartillerie: 
regiments die Aufſicht? Wie war es möglich, daß die Schand⸗ 
taten der nun Verurteilten fo lange und fo ſyſtematiſch verübt wer 
den konnten? In der Kaſernenſtube? Im Stall? Auf dem Reithof? 
Der Wachtmeiſter hatte durch den Vater eines der Gepeinigten von den 
Quälereien und Schindereien gehört. Sie hörten trotzdem nicht auf. 
Mußten von den Peinigungen, wenn fie dem Wachtmeiſter bekannt ge⸗ 
worden waren, nicht die Offiziere erfahren? Wußte der Hauptmann nichts 
davon? Wie hat man es angeſtellt, daß die fortgeſetzten, man mochte 
fagen bei Tag und Nacht verübten niederträchtigen Schindereien das, Dienſt⸗ 
geheimnis“ der Peiniger und der Gepeinigten bleiben konnten??“ | 

Wenn aber, fragt das Blatt weiter, in einem Regiment derartige 


| 


Tiirmers Tagebuch 843 


entfegliche Zuſtände wer weiß wie lange möglich waren, dergleichen ſyſte⸗ 
matiſche Schindereien wer weiß wie lange unbeachtet und ungerügt verübt 
wurden: — „woher ſoll man die Zuverſicht nehmen, daß anders wo ſolche 
Dinge nicht möglich find oder nicht vorkommen? Die oberſte Heeres— 
leitung mag, ſchon um die Soldaten nicht für ihr ſpäteres Leben mit Ge— 
walt dem „Amſturz“ in die Arme zu treiben, die Ausrottung der Soldaten— 
mißhandlungen noch fo energiſch verſuchen; fie mag über dieſes ihr Vor- 
haben im Reichstage mit noch ſo ſchönen Worten Vortrag halten laſſen: 
Solange das Beſchwerderecht des Soldaten noch in den Windeln liegt 
und ihn mit Gefahren umlauert, die für ihn oft ſchlimmer ſind als das 
Abel, das er abſtellen will; ſolange es um die Aufficht über die unter⸗ 
geordneten Vorgeſetzten durch die oberen Vorgeſetzten ſo miſerabel ſtehen 
kann, wie es nach den Ergebniſſen der Beweisaufnahme in dem vorliegen- 
den Falle konſtatiert werden mußte, ſolange wird bald hier, bald da 
hinter den Kaſernenwänden und Rafernenbofmauern die Mißhandlungs⸗ 
wut ungeratener Elemente ihre Orgien feiern. 

Das deutſche Volk aber, das ſeine Söhne in die Kaſernen ſchicken 
muß, hat nicht die geringſte Veranlaſſung, auch nur an einem 
ſeiner Söhne derartige Schandtaten zu dulden. Deshalb darf 
die öffentliche Meinung, darf die unabhängige Preſſe, darf die Volksver⸗ 
tretung nicht eher ruhen, als bis endlich wirkſamere Maß— 
nahmen als bisher gegen die Soldatenmißhandlungen ergriffen werden! 
Man muß ſich vor dem Auslande ſchämen, daß fo haarſträubende, ſchand— 
bare Dinge ... in der deutſchen Armee möglich find! Der Parade— 
marſch der Garderegimenter ſoll, wie man ſagt, erſtklaſſig ſein. Wichtiger 
und nicht einmal ſo zeitraubend wie die Erzielung gut durchgedrückter Kniee 
und ausreichend hochgeſchmiſſener Stiefelſpitzen oder einer tadelloſen 
Parallelgaloppade iſt es, daß jeder Soldat die abſolute Sicherheit 
hat, nicht ſyſtematiſch geprügelt, geſchunden und gepeinigt zu werden.“ 

Es muß weit gekommen ſein, wenn ſelbſt ein Militär wie der Ge— 
neralleutnant z. D. Litzmann in der „Täglichen Rundſchau“, einem Blatte, 
das wohl alles andere eher iſt als militärfeindlich, nicht umhin kann, das 
Gewohnheits mäßige, alſo das Syſtematiſche der Mißhandlungen 
zu erhärten. Bei allen Vorbehalten gegen angebliche „Verallgemeinerun⸗ 
gen“ und „maßloſe Angriffe“ fühlt er ſich doch gedrungen zu erklären: 
„Dem Vaterlandsfreund ſteigt die Zornröte ins Antlitz, wenn er — zum 
zweitenmal binnen acht Tagen! — Gerichtsverhandlungen leſen muß, aus 
denen ihm die gemeinſten Soldatenſchindereien als Gewohnheit gewiſſen— 
loſer Unteroffiziere entgegentreten. Handelt es ſich dabei auch nur um eine 
einzelne Batterie und Kompagnie unter Tauſenden ſolcher Einheiten im 
deutſchen Heere: ſolche Dinge dürfen ſich überhaupt nicht ereignen; ſie 
find häßliche Flecken auf unſeres Heeres ſonſt fo glänzendem Ehrenſchild ... 

Auf den Vergleich mit ‚anderen Heeren der Welt' lege ich ... kei 
Gewicht. Mögen in ihnen Soldatenmißhandlungen häufiger vorkommen 


844 Zürmers Tagebuch 


oder feltener fein als bei uns, das iſt gleichgültig. Wären fie anderswo 
auch noch fo ſehr an der Tagesordnung — aus dem deutſchen Heere 
müſſen die ‚ſyſtematiſchen gemeinen Quälereien“ verſchwinden. Meinet⸗ 
wegen mag hierzu auch die von demokratiſcher Seite empfohlene Ver⸗ 
ſchärfung der Strafen eintreten, — ſowohl für gewohnheitsmäßige 
Mißhandlung wie für den Verſuch, Antergebene vom Beſchwerdeweg ab- 
zuhalten. Ich habe kein Mitleid für Schufte, die ihre Leute zwingen, 
unter die Betten zu kriechen, Staub zu lecken und fremden 
Speichel zu ſchlucken, und würde ſie kaltblütig ins Zuchthaus wandern 
ſehen. Aber ich meine, daß größere und dauernde Sicherheit vor ſolchen, 
die Armee ſchändenden Vorkommniſſen durch eine verbeſſerte, zeitgemäße 
Erziehung der Anteroffiziere wie der Offiziere zu erreichen iſt. 
Dieſes Mittel iſt nicht nur wirkſamer, als es ſelbſt härteſte Strafen ſein 
können, ſondern auch edler geartet und vor allem: es entſpricht der hohen 
Friedensaufgabe des Heeres, eine Schule zu ſein, in der unſere Jünglinge 
zu charaktervollen, ehrenfeſten Männern herangebildet werden ſollen. Anter⸗ 
offiziere, die nur durch Androhung ſtrenger Strafen von der Ausübung 
gemeiner Nobeiten abgehalten werden, können keine guten Erzieher fem; 
Offiziere, denen ſoziales Empfinden abgeht, ebenſowenig. Der Vorgeſetzte 
muß bei aller militäriſchen Strenge und höchſter Anforderung ein war mes 
Herz haben für feine Untergebenen, Verſtändnis für deren Denkweiſe 
und — für die Wahl angemeſſener Erziehungsmittel. Der Offizier bedarf 
jener echten, begeiſterten Liebe zu ſeinem Beruf, die auf dem Verſtändnis 
für deſſen höchſte Ziele gegründet iff. Auch der Menſchenkenntnis 
bedarf er, um ſo mehr, je größer ſein Verantwortungskreis iſt. Es berührt 
in hohem Grade peinlich, wenn man lieſt, daß der ehemalige Kompagnie⸗ 
chef von den verurteilten Anteroffizieren ausſagt, fie ſeien 
vorzügliche Soldaten und hätten auf ihn ſtets einen guten Eindruck 
gemacht. Jeder Kompagniechef könne ſtolz fein, wenn er ſolche Unter 
ofſiziere habe! f 

Gelegentliche Verſtöße in der Behandlung LUntergebener werden 
immer vorkommen; ſie ſind, wenn auch nicht zu rechtfertigen, ſo doch zu 
erklären. Sie werden auch leicht den verantwortlichen Offizieren verborgen 
bleiben. Aber gewohnheits mäßiges Leuteſchinden darf ihnen nicht 
entgehen und braucht es nicht, weil Ausſehen, Haltung und Stimmung der 
Leute dadurch beeinflußt werden. Eine friſche und fröhliche Mannſchaft ift 
nicht denkbar, wo die Mißhandlung auch nur von einigen Unteroffizieren 
zum Syſtem gemacht wird. Ein Offizier, der ein warmes Herz für feine 
Antergebenen hat, weiß in deren Augen zu leſen; er erkennt mit Beſtimmt' 
heit, ob etwas auf dieſem Gebiet nicht in Ordnung iſt. And darum witit 
es wieder peinlich, wenn ein zweiter Offizier ausſagt, die 1902 und 1903 
gemißhandelten Leute hätten ihm ſolchen Eindruck gemacht, daß nie 
mals das geringſte vorgekommen ſein könne. | 

Der Einfluß des Offiziers ift bei uns ein ſehr großer. Wenn die 


Siiemers Tagebuch 845 


Anteroffiziere erſt wiſſen, daß der Offizier es felbft wie einen körperlichen 
Schmerz empfindet, wenn ſeine Inſpektion oder ſeine Kompanie durch ge⸗ 
meine Noheiten geſchändet wird, dann werden fie es nicht fo leicht wagen, 
derartiges zu begehen, auch wenn ſie ſonſt dazu neigen ſollten. 

Die lange Friedenszeit iſt für die Armee an ſich kein Vorteil. Es 
iſt nur zu menſchlich, daß mit der Zeit der äußeren Abrichtung des Sol⸗ 
daten ein zu hoher Wert beigelegt wird, im Vergleich zu ſeiner inneren 
Förderung. Die Erziehung darf aber hinter der Ausbildung nicht zurück⸗ 
treten, wenn das nationale Intereſſe in Krieg und Frieden gewahrt bleiben 
fol. Sind unſere Offiziere und Anteroffiziere für ihren Er- 
zieherberuf genügend geſchult? Abermals muß es peinlich be- 
rühren, wenn ein dritter Offizier vor dem Kriegsgericht klagt, es ſtünden 
nur außerordentlich geringe Erziehungsmittel zur Verfügung!“. 

Man erziehe alſo den Nachwuchs an Offizieren und Anteroffizieren 
in zweckentſprechender Weiſe und bringe ihnen bei, wie ſie ihre Mannſchaft 
zu erziehen haben, damit, ſo meint der Verfaſſer offenbar, werden auch die 
Mißhandlungen ganz von ſelbſt wegfallen. 

Das iſt nun ſicher ein ſehr richtiger Gedanke und eine ſehr ſchöne — 
Aufgabe. Aber ſollen wir warten, bis ſie im Sinne des zweifellos ſehr 
wohlmeinenden Herrn Generalleutnants erfüllt fein wird? Und bis dabin 
an unſerer mannbaren Jugend die bekannten „Griffe“ ruhig weiter 
„kloppen“ laſſen? Mit Verlaub, das Hemde liegt einem doch allemal 
näher als der Rock, und ohne durchgreifende Maßnahmen gegen die Schinder⸗ 
knechte in der Armee bleiben die trefflichen Vorſchläge des Herrn Verfaſſers 
vorläufig und praktiſch eben nur eine ſchöne Zukunftsmuſik. — 

„Man hat,“ fo führt der ehemalige Oberſt Gaedke im „Berl. Tagebl.“ 
aus, „für die Roheiten und ſyſtematiſchen Quälereien, die aus dem Heere 
noch immer nicht verſchwinden wollen, den Antimilitarismus eines Teils 
unſerer wehrpflichtigen Jugend mit verantwortlich gemacht. Leute, die mit 
eingeſogener und bewußter Feindſeligkeit den Rock des Königs anzögen, 
peinigten durch ihre offene Anluſt, ihren paſſiven Widerſtand, ihren böfen 
Willen den Vorgeſetzten bis aufs Blut, reizten und erbitterten ihn, ſtellten 
ſeine Selbſtbeherrſchung auf die höchſte Probe und verdürben den guten 
Geiſt der Truppe. Sei es ein Wunder, wenn jüngere, von ihrem Eifer 
hingeriſſene Vorgeſetzte, denen noch die Reife und Ruhe längerer Erfahrung 
fehle, ſolchen offenen Böswilligkeiten gelegentlich mit Ausbrüchen der 
Heftigkeit und ſelbſt der Roheit begegneten? Um fo mehr, als fie eine gee 
ſetzliche Strafgewalt nicht beſäßen und häufige Meldungen im allgemeinen 
nicht gern geſehen würden? 

Es beſteht darüber gar kein Zweifel, daß gerade die aus. 
geſprochenen und bekannten Antimilitariſten, daß die über⸗ 
zeugten Sozialdemokraten vor Mißhand lungen und vor Brutali⸗ 
täten der Vorgeſetzten am allerſicherſten ſind. Man wird ſie ſorg⸗ 
fältig beobachten, ihnen im Dienſte nichts ſchenken, ſie bei Ausſchreitungen 


846 Sirmers Tagebuch 


mit der vollen Wucht des Geſetzes treffen: man wird fie aber unter keinen 
Amſtänden ſchlagen, fie auch nicht böswillig ſchikanieren. Denn dieſe Leute 
laſſen ſich das nicht jahrelang ruhig gefallen, ſie beſchweren ſich ſofort 
und wiſſen auch Mittel und Wege, jeden Mißbrauch der Dienſtgewalt 
ihnen gegenüber vor die Offentlichkeit zu bringen. Auch der roheſte Anter⸗ 
offigier hütet ſich ſchwer, ſich ihnen gegenüber etwas zu vergeben. Neben; 
bei geſagt gehören dieſe Leute im allgemeinen zu den intelligenteren Sol⸗ 
daten, denen der Dienſt leicht wird, und die leicht lernen, ihn ſich noch 
leichter zu machen. 

Man muß das Problem denn doch tiefer faſſen, wenn man die Ar⸗ 
ſache der Mißhandlungen erkennen und beſeitigen will. Man darf nicht 
vergeſſen, daß man es hier mit eingerotteten Gewohnheiten und Mißbräuchen 
zu tun hat, die aus dem überkommenen Verhältnis zwiſchen Vorgeſetzten 
und Antergebenen hervorgehen, in der Auffaſſung über militäriſche Rechte 
und Pflichten ihren Urfprung finden, von dem herrſchenden Gedanken der 
Manneszucht und dem ganzen Geiſte militäriſcher Erziehung getragen werden; 
fie wurzeln in dem Verlangen paffiven Gehorſams, der willenlofen Unter 
werfung unter alles, was der Vorgeſetzte tut, dem geringen Raume, den 
das Rechtsleben im Heere gegenüber Befehl und Gewalt gewonnen hat. 
Geſchlagen worden iſt in der preußiſchen Armee, fo lange ſie beſteht; ge 
ſchlagen auch in dem Heere, das die ſiegreichen Kriege von 64, 66, 70/71 
geführt hat, geſchlagen, lange ehe es einen Antimilitarismus gab, ja ehe 
der Name Antimilitarismus aufgekommen war. Geſchlagen worden iſt in 
dem Heere früher zweifellos mehr als jetzt. Nur daß man es früher nicht 
ſo demütigend empfunden hat, daß das Volk und die öffentliche Meinung 
der Rauheit und Roheit militäriſchen Weſens milder, faſt möchte ich ſagen 
verſtändnisvoller, gegenüberſtand. Man nahm es hin als etwas Anab⸗ 
wendbares; war doch das Schlagen überhaupt allgemeiner verbreitet und 
nahm in der ganzen Erziehung, ſelbſt der gebildeteren Stände, einen 
weiteren Raum ein. 

Dem Wandel der Zeiten iſt man im preußiſchen Heere, das im Grunde 
genommen im ſtarrſten Konſervativismus verharrt, nicht gefolgt; der Geiſt 
militäriſcher Erziehung ſtellt ſich vielfach fremd, ja feindſelig dem Geiſte 
gegenüber, der gerade in den breiten Schichten, in der Maſſe des Volkes 
ſich mehr und mehr ſiegreich hindurchdringt, und dieſer Widerſpruch zwiſchen 
dem Geiſte des Heeres und dem Geiſte der Zeit iſt gerade eine der Quellen 
des Antimilitarismus — ich werde mich meinerſeits nicht der Abertreibung 
ſchuldig machen, zu ſagen, er ſei die Quelle des Antimilitarismus. Aber 
diejenigen, die den Antimilitarismus mit verantwortlich machen für die Miß⸗ 
handlungen, verwechſeln denn doch Arſache und Wirkung.“ 

Als eine kleine Probe der tieferen Gründe, die trotz aller wohl. 
gemeinten Verſuche die Mißhandlungen aus der Armee nicht verſchwinden 
laffen, zitiert Gaedke eine vom „Vorwärts“ ans Licht gezogene Kundgebung 
des „Reichsboten“ vom 6. Januar 1907: 


Türmers Tageduch 847 


„Wenn ein Unteroffizier einem Untergebenen in der Erregung einen 
Schlag verſetzt, zum Beiſpiel einen ſogenannten Rippenftoß oder auch einen 
Backenſtreich, ſo kann man das vom militäriſchen erzieheriſchen und 
menſchlichen () Standpunkte nie und nimmer eine Mißhandlung 
nennen. Das Gericht denkt allerdings anders darüber, und das iſt heute 
ein ſchwerer Krebsſchaden in der Armee. Von Jahr zu Jahr tritt 
der Gegenſatz zwiſchen Militärrichter und militäriſchem Vorgeſetzten immer 
deutlicher in die Erſcheinung.“ 

Ohrfeigen ſind alſo keine Mißhandlungen, weder vom militäriſchen, 
noch auch vom menſchlichen Standpunkte! And es iſt „ein ſchwerer 
Krebsſchaden“, daß es Militärrichter gibt, die das nicht anerkennen 
wollen. Ja, was ſagt denn Eduard Goldbeck in ſeiner Schrift „Henkerdrill“ 
(Berlin, Marquardt & Ko.)? Er ſagt: Mißhandlungen gelten in der 
Armee nicht als infam. „Der Offizier ſieht in ihnen nicht die Ver- 
gewaltigung eines Wehrloſen, ſondern die wohlwollende Züchtigung eines 
unbotmäßigen Dieners, der womöglich noch dankbar dafür ſein muß, daß 
ihn keine härtere Strafe trifft. Wie oft laſſen die Anteroffiziere, um ſich 
zu ſichern, die Mannſchaften zwiſchen einer Meldung und einer Züchtigung 
wählen, und faſt immer wird die Körperſtrafe gewählt. Früher erblickte 
man hierin eine Betätigung des ſoldatiſchen Ehrgefühls; heute denken wir 
anders. Wie oft bedanken ſich Mannſchaften bei Vorgeſetzten dafür, daß 
fie nicht gemeldet, ſondern „nur“ mit Schlägen beftraft worden ſeien? Nun 
alſo, höre ich einwenden, wenn es die Leute ſelbſt nicht anders wollen, 
warum deklamieren Sie dann? Ich deklamiere deshalb, weil die Leute zur 
Selbſtachtung erzogen werden müſſen, weil der unwürdige 
Knechtsſinn, der uns jahrhundertelang eingebläut worden iſt, in jedem 
Deutſchen ausgerottet werden muß und weil gerade dies eine Aufgabe 
der höheren Stände iſt, wie denn überhaupt den höheren Ständen die Pflicht 
zufällt, die unteren Klaſſen zu erziehen, auch auf die Gefahr hin, ſie gegen 
ſich zu erziehen. Die Mißhandlungen erben ſich in der Armee als eine 
ewige Krankheit fort, weil ſie nicht als unehrenhaft gebrandmarkt 


werden. Offiziere, die wegen einer Mißhandlung beſtraft worden ſind, ver⸗ 
> bleiben im Dienſt, fie werden nicht einmal vor ein Ehrengericht geſtellt. 


Anteroffiziere, die wegen Mißhandlung verurteilt werden, werden nicht ein- 
mal in allen Fällen degradiert. („Nicht in allen Fällen“ iſt gut! Nur 
in den ſeltenen Ausnahmefällen geſchieht's! Vgl. oben. D. T.) Ehe es 
aber nicht in der ganzen Armee bekannt iſt, daß Offiziere und Anteroffiziere, 
die ſich eine Mißhandlung zuſchulden kommen laſſen, unverzüglich unter 
Verluſt aller Anſprüche aus dem Heere entfernt werden, eher wird dieſes 
Abel nicht entwurzelt werden. Gewiß wird die Armee durch ein fo dra: 
koniſches Vorgehen manche tüchtige Kraft verlieren, aber der tüchtigſte Vor⸗ 
geſetzte, der ſeine Untergebenen mißhandelt, ſchadet unendlich mehr, 
als er durch alle ſeine Qualitäten zu nützen vermag. And 
gewiß wird mancher einzelne ſchwer betroffen werden, aber Humanität, die 


848 Türmers Tagebuch 


dem einzelnen gegenüber auf Roften der Geſamtheit geübt wird, ift verderb⸗ 
liche Schwäche. Es genügt nicht, daß der allerhöchſte Kriegsherr die 
Mißhandlungen mißbilligt; es wird aber genügen, wenn er fie für 
eine irreparable Verletzung der eigenen Ehre erklärt und befiehlt, 
daß alle ſolche Schädlinge aus der Armee ausgemerzt werden ſollen. Es 
muß eine neue Tradition geſchaffen werden, die die Tradition der 
Fuchtel erſetzt. 

Natürlich werden angeſichts ſolcher energiſch durchgreifenden Vor⸗ 
ſchläge ſofort Ankenrufe vernehmbar. Die Diſziplin des Heeres würde 
untergraben werden, greinen die Ewig⸗Geſtrigen, die alles Beſtehende, mag 
es noch fo unſinnig fein, vernünftig finden. Die Diſziplin des Heeres 
wird durch nichts mehr geſchädigt, als eben durch die Soldaten⸗ 
miß handlungen. Die Mannszucht wird am ſtärkſten in einem Heere 
ſein, in welchem das Geſetz herrſcht, am ſchwächſten in einem Heere, in 
dem die Willkür waltet. Als der Griff „Faßt das Gewehr — an!“ fortfiel, 
da gab es auch eine Anzahl alter Kommisſtiefel, die das Ende der Welt 
und den Untergang der preußiſchen Armee propbezeiten. Wäre es nach 
dieſen Karikaturen konſervativer Geſinnung gegangen, fo fräßen wir alle 
heute noch Eicheln. Noch ſind Mittel genug vorhanden, um der Seuche 
Herr zu werden; man hat ſie nur nicht anwenden wollen. Warum 
verſucht man es denn nicht mit der Einführung der Beſchwerdepflicht, 
die der Erbprinz von Meiningen empfohlen hat? Wenn der Verſuch miß⸗ 
glückt, wenn ſich ſchädliche Nebenwirkungen einſtellen, fo kann ja die Ver⸗ 
ordnung zurückgenommen werden. Das Anglück iſt nicht ſo groß, als wenn 
gar nichts, das heißt gar nichts Wirkſames geſchieht. Man pethorreſziert 
ja ſonſt den Mancheſterſtandpunkt des laisser faire, laisser aller ſo in- 
grimmig; warum befolgt man die verachtete Doktrin auf dieſem Gebiet mit 
ſo peinlicher Gewiſſenhaftigkeit? Die Antwort iſt einfach: Man fürchtet, 
daß der demokratiſche Geiſt in das Heer eindringe. Ja, iſt es denn 
wünſchenswerter, daß die Armee eine Brutſtätte der Sozial 
demokratie ſei?“ 

Kein Mann ohne Backpfeifen. Goldbeck war ſieben Jahre Leutnant 
und er erklärt: „Daß ein Mann während feiner Soldatenzeit nicht ge 
ohrfeigt worden wäre, ift gewiß eine ganz ſeltene Ausnahme!“ 
Er entſinnt ſich eines Anteroffiziers, der ſich in einen engen Gang poftierte 
und jeden Soldaten, der mit der vorſchriftsmäßigen Meldung: „Ditte 
durchgehen zu dürfen,“ an ihn herantrat, ohrfeigte. Das gehört natür 
lich auch zur „Disziplin“. Ohne Backpfeifen muß unſere ruhmreiche Armee 
elend zuſammenbrechen. Nur mit Backpfeifen laſſen ſich in Deutſchland 
ehrenhafte, tapfere Soldaten erzielen. Nur gebackpfeifte Soldaten werden 
dem Feinde kühn ins Weiße des Auges ſchauen. And nur mit geſchwollenen 
Backen und ausgeſchlagenen Zähnen haben fie das erforderliche feldmarſch⸗ 
mäßige, martialiſche Ausſehen. Weiter entſinnt ſich Goldbeck u. a. auch 
einer Szene auf dem Kaſernenhofe, wo ein Rekrut dem andern auf 


Turmers Tagebuch 849 


Befehl des Anteroffiziers ins Geſicht ſpucken mußte. Zuver⸗ 
ſichtlich war das eine beſondere Art von „Griffe kloppen“. Ich habe ſchon 
früher einmal gefragt: „Was tut der deutſche Soldat nicht auf Befehl?“ 
Ich wiederhole heute dieſe Frage. 

„Der Einwand liegt nahe,“ bemerkt Goldbeck zu dieſen Erinnerungen, 
„daß es doch meine Pflicht geweſen wäre, ſolche Vorfälle zu melden.“ 
Aber er hatte eben bereits — „den militäriſchen Geiſt in ſich aufgenommen“. 

Die Mißhandlungen, die er anfangs empörend fand, betrachtete 
er ſchon nach einiger Zeit „als etwas ganz Selbſtverſtändliches“. 
Er hatte das Glück, in ein „bevorzugtes“ Regiment aufgenommen zu werden. 
„Wir hatten den Gardeſtern am Helm und nannten mit Stolz die meiſten 
fürſtlichen Chefs in der ganzen Armee unſer. Es war „beinahe Garde’, 
und alle Individuen und Korporationen, die „beinahe“ etwas ſind, ſind weit 
inniger von ihrem Werte durchdrungen als ſolche, die es ganz ſind. Es 
war eine neue Welt, in die ich eintrat. Ich entſinne mich noch eines Ge⸗ 
ſpräches, das ich als Fähnrich mit zwei Kameraden hatte. Sie behaupteten, 
wir gehörten zur ,erften Geſellſchaft“, und ich — ich hatte noch nicht fo 
völlig die Diſtanz zu mir ſelbſt verloren — vertrat die Anſicht, daß ein 
Infanterie ⸗Offizier von der Linie dieſe Behauptung nur mit einiger Cine 
ſchränkung aufſtellen könne. Als ich dann zum Offizier gewählt werden 
ſollte, traten die beiden Jünglinge, die inzwiſchen die Epauletten erhalten 
hatten, vor verſammeltem Offizierkorps vor und beſchuldigten mich roter 
Tendenzen. Glücklicherweiſe war der Oberſt vernünftig genug, den groben 
Unfug zurückzuweiſen. Die kleine Epiſode iſt aber für das Milieu und 
für die in ihm herrſchenden Anſichten charakteriſtiſch. Ich kannte eben den 
Geiſt noch nicht, den Geiſt, ‚der im ganzen Korps tut weben“. Ich hatte 
ſtudiert, war nicht ‚eingefprungen’ und ſomit ‚Dringend verdächtig“. 

Dieſen Geiſt, militäriſche Geſinnung genannt, lernte ich nun im Laufe 
der Jahre kennen und, was mir hier das Wichtigſte iſt, ich wurde ganz 
von ihm überwältigt. Sein vornehmſtes Dogma war, daß die Men⸗ 
ſchen in drei übereinander gelagerte Schichten zu rubrizieren ſeien. An der 
Spitze die allerhöchſten, höchſten und hohen Herrſchaften, dann die ,Gefell- 
ſchaft und endlich die ‚Leute‘... 

Ein junger Mann gewöhnt ſich nur allzuleicht in angeblich ariſto⸗ 
kratiſche Grundſätze ein, die ſeinem Selbſtgefühl ſchmeicheln. Die meiſten 
Kompaniechefs teilten den Standpunkt „Prügel macht luſtig!“ und wenn 
ein Leutnant ihnen ohne zwingenden Grund eine Mißhandlung gemeldet 
hätte, fo würden fie ihn nicht ſonderlich freundlich bewillkommnet haben. 
Manche hatten ſelbſt als Leutnants viel ‚gedrofchen‘, andere hatten die Ge- 
wohnheit auch als Hauptleute noch nicht gänzlich abgelegt — ſogar mein 
Bataillonskommandeur lief feinem Burſchen mit der Neitpeitſche bis auf 
die Straße nach — und fie ‚fanden eben nichts dabei. Natürlich gab es 
auch Herren, die ſtrenger und korrekter dachten. Ich entſinne mich des ge⸗ 


fürchteten Hauptmanns v. D., in deſſen Kompagnie meines Wiſſens nie⸗ 
Der Türmer X, 12 55 


850 Zürmers Tagebuch 


mals eine Mißhandlung vorkam. Er war eben in feiner Kontrolle uner- 
müdlich und gegen jeden Fehltritt unerbittlich. Aber ſchon als Major 
ging der ausgezeichnete Offizier um die Ecke ... die Wege der Herren 
Vorgeſetzten ſind bisweilen unerforſchlich und ihre Gerichte unergründlich. 
Vermutlich war er irgend einem hohen Herrn unſympathiſch; Männer von 
ſo hochgeſpanntem Pflichtgefühl und ausgeprägtem Charakter beſitzen ſelten 
die Gabe der Allerweltsliebenswürdigkeit. 

Wo Roheit in die Erſcheinung trat, war es gedankenloſe Robeit. 
Grauſamkeitszüge habe ich an Offizieren nicht wahrgenommen. Nein, die 
Routine brachte es fo mit ſich. Die Tradition der Fuchtel war ein⸗ 
mal vorhanden und fie wurde unter völlig veränderten Verhältniſſen fort: 
gepflegt. Im Anteroffizierkorps aber ſah ich ſehr häufig Schindereien, die 
ſadiſtiſcher Luft am Quälen entfprangen... 

Wir können annehmen, daß jeder, der im Regiment einmal ‚gezüc- 
tigt‘ worden iſt, als Antimilitariſt ins bürgerliche Leben zurücktritt. Zum 
erſtenmal vielleicht wird er ſich ſagen: ‚Sa, die Sozialdemokratie hat doch 
recht!“ Sein Glaube an die innere Berechtigung des Beſtehenden iſt er. 
ſchüttert. Er hat erfahren, daß die Willkür herrſcht, daß es eine Gerechtig · 
keit für die unteren, die dienenden Stände nicht gibt. Denn natürlich haben 
die Kameraden zu ihm geſagt: „Wenn du dich beſchwerſt, kriegſt du bloß 
noch mehr und das Leben wird dir zur Hölle gemacht.“ Von nun an iſt er 
gegen die ſozialdemokratiſche Anſteckung nicht mehr immun und ich bin da: 
von überzeugt, daß die mißhandelnden Unteroffiziere durch ihre Robeit, die 
läſſigen Vorgeſetzten durch ihre Indifferenz der Sozialdemokratie mehr An⸗ 
hänger zugeführt haben als alle Agitatoren und Wanderredner der Partei. 
Die Mißhandlungen in der Armee find ein politiſcher Anſchauungsunter 
richt, den die Partei aus eigenen Mitteln nicht gewähren kann. Hier 
kommt ihr der Staat freundlich zu Hilfe. 

Von Zeit zu Zeit erhebt ſich im Parlament der Kriegsminiſter und 
erklärt, die Zahl der Mißhandlungen nehme ſtetig ab. Dann find die Volks 
vertreter beglückt und ſtets zu einem Vertrauens votum bereit. Vielleicht ift 
man gegen die objektive Wahrheit der kriegsminiſteriellen Feſtſtellungen 
etwas ſkeptiſcher, ſeit wir konſtatieren mußten, wie ſchlecht Herr v. Einem 
informiert war, als er zu dem Reichstag über die Vergehen der Grafen 
Hohenau und Lynar ſprach. Was nützt uns auch ſeine Beſchwichtigungs⸗ 
ftatiftif, wenn nicht eine Woche verftreicht, ohne daß in der Preſſe — meiſt 
in unſcheinbaren Notizen — von den kraſſeſten Mißhandlungsfällen be · 
richtet wird, von Fällen, in denen nicht etwa ein junger Hitzkopf ſich 
einmal die Hand ausrutſchen ließ, ſondern in denen ein Syſtem zutage 
tritt, das eben nur als planmäßige Schinderei bezeichnet werden 
kann? Solange ſich ſolche Fälle immer aufs neue wiederholen, ſolange 
müſſen wir dem Kriegsminiſter entgegenrufen: Nichts, nicht das Aller⸗ 
mindeſte iſt bisher erreicht! Nach wie vor wird die preußiſche Armee durch 
jahrelang ſtraflos verübte Grauſamkeiten geſchändet, die unwiderleglich be 


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Kulturvolkes herrſchen ſollte.“ 


Türmers Tagebuch 851 


weiſen, daß die Aufſicht der Vorgeſetzten in vielen Fällen eine völlig unzu⸗ 
reichende iſt und daß in der Armee nicht der Geiſt herrſcht, der in dem 
Nationalheere eines chriſtlicher und menſchlicher Geſittung ſich rühmenden 


* 


* 

. . . „Anſer Bürgertum iſt eben verprügelt“, meint Goldbeck. „Die 
Erinnerung an die Hörigkeit wirkt durch Generationen fort, und die Zucht, 
die der Staat in allen ſeinen Inſtitutionen übt, iſt nicht dazu angetan, uns 


innerlich frei zu machen. 


Ja, man kann ſagen, daß wir noch immer im Zeichen des Krück⸗ 
ſtocks leben, und Friedrich Wilhelm I., dieſer große Bakelmonarch, muß, 
wenn er von den elyſiſchen Gefilden auf uns herabblickt, feine Freude 
daran haben, wie ſein Geiſt auch heute noch unter uns wirkſam iſt. Von 
der Wiege bis zur Bahre wird der Preuße gedrillt. (In Süddeutſchland, 
wo nach Anſicht unſerer Konſervativen vom Schlage Oldenburgs, die „fau⸗ 
lige Gärung der Zuchtloſigkeit' immer mehr um ſich greift, iſt's wohl nicht 
ſo ſchlimm.) Der Drill beginnt in der Familie, wo noch immer die patria 


potestas jede freie Regung des Heranwachſenden unterdrückt. Bedingungs⸗ 


loſer Gehorſam wird eingeprägt und gefordert, und das Kind wird vor 
allem angehalten, niemals nach dem Warum zu fragen. Die einzige Frage, 
die die Menſchheit zu dem gemacht hat, was ſie iſt, und die ihr täglich 
neue, ungeahnte Regionen erſchließt, die Frage, ohne die wir heute noch 


Mals Troglodyten in Höhlen haufen würden, die Frage, ohne die das Leben 
überhaupt nur ein dumpfes Vegetieren wäre, durch die das Daſein erſt 


wertvoll wird, dieſe Frage wird den Kindern als ein ſchweres Vergehen 
unterſagt. Das Kind wird darauf gedrillt, die Befehle der Eltern und 
der Alteren als unabänderliche Imperative eines allgewaltigen, unerbitt- 
lichen Schickſals hinzunehmen. Der Wiſſenstrieb, der Forſchungs drang 
wird ſo früh als möglich erſtickt. Warum? Nun, weil es den Eltern oder 
Erziehern zu unbequem iſt, ſich täglich, ſtündlich mit der geraden und ent⸗ 
ſchloſſenen Logik eines Kindergehirns zu meſſen. Weil die Kinderfragen 
uns ſehr oft unſere Anordnungen als völlig ſinnloſe Willkür erkennen lehren, 
dann aber auch, weil eben in Preußen ſeit Jahrhunderten der Gehorſam 
als das Fundament jeder Erziehung und als die ſchönſte Blüte der Gitt- 
lichkeit gilt. Selbſt Goethe hat in einem ſeiner geiſtig freieſten und groß⸗ 
artigſten Gedichte das Wort geſprochen, das mich immer verletzt und faſt 
empört hat: ‚Sit Gehorſam im Gemüte, wird nicht fern die Liebe fein.’ 
Er war eben auch ein Deutſcher und daher nicht frei von den Schlacken 
der Philiſtroſität. Es iſt in Deutſchland üblich, ſich über die unſittliche 
Fügſamkeit der Jeſuiten zu ereifern, die wir verächtlich Kadavergehorſam 
nennen. Haben wir wirklich das Recht zu ſolcher Verachtung? Iſt ſie 
nicht phariſäiſche Selbſtgerechtigkeit? Gerade dieſen jeſuitiſchen Gehorſam, 
der nicht nach dem Warum fragen darf, prägen wir ja dem heranwachſen⸗ 
den Geſchlecht von Kindesbeinen an ein. Iſt dieſe Erziehungsmethode 


852 Tuürmers Tagebuch 


teufliſch, wenn Romanen ſie zum höheren Ruhm der alleinſeligmachenden 
Kirche üben, göttlich, wenn Germanen fie zum Frommen des preußiſch⸗ 
deutſchen Staatsgedankens anwenden? Wir ſollten uns freuen, wenn die 
Kinder auch Anordnungen der Eltern den liebenswürdig⸗ naiven Skeptizis⸗ 
mus entgegenſetzen, der dem Kinde natürlich iſt. Wir ſollten dieſe dialo- 
giſche Schulung des werdenden Intellekts nie unmutig ablehnen und das 
Frageſpiel, das meiſt ſehr reizvoll iſt, nicht deshalb abbrechen, weil es auch 
einmal ausarten kann. Wir ſollten dem Kinde nicht unverſtandene Dogmen 
auflaſten und uns in jedem Augenblick und ſchon von den erſten Jahren 
an nach dem Worte Bacons richten, daß wahres Wiſſen nur das Wiſſen 
um die Arſachen fei. Daß wir mit dem Kinde nicht bis zu den „Müttern“ 
hinabſteigen können, iſt ſelbſtverſtändlich; es iſt auch gut, daß dat Kind 
früh erkenne, daß es Dinge gibt, die ſich dem Wiſſen entziehen. Statt 
ſich natürlich zu geben und, wo es nottut, einfach die eigene Anwiſſenheit 
zu bekennen, hüllen ſich die Eltern gern in den bergenden Faltenwurf un- 
nahbarer Überlegenheit und ſchneiden den Gedankengang des kleinen In- 
quiſitors mit einem brüsken Schweigegebot ab. Natürlich muß der Gr: 
zieher dem Zögling den Gehorſam zur Pflicht machen, aber von vornherein 
ſollten wir dahin ſtreben, daß dieſer Gehorſam ein freiwilliger werde, der 
aus der immer aufs neue beſtätigten Erfahrung hervorgeht, daß die Eltern 
das Beſte der Kinder wollen. Jeder Gehorſam, den ein werdender Menſch 
— und wir bleiben bis zum Tode werdende Menſchen — im Widerſpruch 
mit ſich ſelbſt leiſtet, iſt unſittlich. Er muß den Gehorſam wollen und 
darf nicht nur aus Furcht vor Strafe oder aus blöder Gewohnheit ge 
horchen. Gerade hier aber iſt die landläufige Erziehung ganz anderer Mei 
nung; der Gehorſam ſoll den Kindern ‚in Fleiſch und Blut übergehen“ ſie 
ſollen gehorchen, weil der Gedanke des Angehorſams ihnen überhaupt un ; 
faßbar erſcheint. And in neunhundertneunundneunzig Fällen von tauſend 
wird dies hehre Ziel auch erreicht, der Gehorſam geht uns in Fleiſch und 
Blut über, und wir ſtehen unſer ganzes Leben lang ſtramm. In keinem 
Lande der Welt befiehlt und gehorcht man ſo viel und ſo gern wie in 
Deutſchland. Es iſt vielleicht die intenſivſte Lebensfreude der Deutſchen, 
andere zu ducken und ſich ſelbſt zu ducken. Zwiſchen den Extremen des 
Sadismus und des Maſochismus, die ſich eng berühren, ſpielt ſich das 
öffentliche und private Leben in Deutſchland ab. Das Wort Bismarcks, 
er habe immer mehr das Bedürfnis empfunden, nicht gehorchen zu müſſen 
als befehlen zu können, klingt uns heute undeutſch. Für den Normalbürger 
unferer Lande gibt es keinen köſtlicheren Genuß als den, Antergebene an- 
zuſchnauzen, zu rüffeln und zu ſtrafen. Mit dieſer Geſinnung verbindet 
ſich meiſt eine verblüffende Wonne am Kotau vor den Höͤhergeſtellten. 
Das Bild des Nadlers (oben krummer Buckel, nach unten tritt er) iſt für 
Millionen von Deutſchen charakteriſtiſch.. 

Erzogen fol die männliche Jugend zur Mannhaftigkeit werden. 
Wenigſtens ſollte man das annehmen. Denn das ift doch wohl das ver: 


Shemers Tagebuch 853 


nehmſte Ziel, das Ideal aller männlichen Erziehung: ein ganzer Mann 
zu werden. Theoretiſch wird das ja auch kaum beſtritten. Aber — „grau, 
teurer Freund, iſt alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum“: da 
ſchnitt ſich ein alter Praktikus einen grünen Aſt vom goldnen Lebensbaum 
und droſch dem Jungen die „Mannhaftigkeit“ mit dem Prügel ein. Aber 
dieſes pädagogiſche Requifit iſt zwar ſchätzbar, doch nicht unentbehrlich. 
Eine gute „Handſchuhnummer“ tut's auch. And wie! 

„Julius Beez, der Sohn eines Ingenieurs,“ erzählt die „B. Z. a. 
M.“, „beſuchte im Jahre 1906 die Friedrich Werderſche Oberrealſchule 
als Schüler der Obertertia. Gleich hier ſei erwähnt, daß der Junge ein 
ſehr guter, von ſeinen Lehrern gelobter, wohlerzogener Schüler, und in 
Frankfurt a. M., dem früheren Wohnſitz feiner Eltern, Primus geweſen 
war. Am 20. Juni 1906 erteilte während einer Pauſe Prof. Dr. Wiüllen- 
weber, der in der Obertertia nicht unterrichtete, dem ihm unbekannten Beez, 
der ſich auf dem Korridor mit einem andern Schüler unterhielt, den Auf⸗ 
trag, ſich in das Klaſſenzimmer zu begeben. Der Junge kam dem Befehl nach, 
ging aber nach Anſicht des Profeſſors ſehr langſam, fo daß Dr. Wüllen⸗ 
weber darin Störrigkeit zu erkennen glaubte. Der Profeſſor ging dem 
Jungen in das Klaſſenzimmer nach und rief: „Schneller! Du follft ſchneller 
gehen! Dalli, dalli!“ 

Julius Beez, der als Frankfurter die Bedeutung des Wortes ‚Dali‘ 
nicht kannte, glaubte, der Profeſſor mache einen Scherz und ging langſam 
nach ſeiner Bank. Noch hatte er die letzte Bank, wo er ſeinen Platz hatte, 
nicht erreicht, als er plötzlich hinterrücks zwei heftige Schläge ins Ge- 
ſicht und auf den Kopf erhielt. Automatiſch wandte ſich der vor Schreck 
faſt beſinnungsloſe Junge um und ſah verblüfft auf den Profeſſor. Dieſer 
aber hielt für ſtörriſchen Trotz, was Schreck, Schmerz und Scham des vor 
der ganzen Klaſſe gezüchtigten Jünglings war, der bis zu dieſem Tage nie 
geſchlagen worden war. Der Jugendbildner und Erzieher erwies ſich als 
ſchlechter Pſychologe. „Den Trotz glaubte ich vor der ganzen Klaſſe brechen 
zu müſſen, das forderte meine Autorität und die Diſziplin der Schule,“ 
— fo äußerte fic) Prof. Dr. Wüllenweber. Er gab dem Jungen, der an 
das Fenſter gelehnt war, noch weitere Ohrfeigen, und als Julius 
Beez auf Befragen nach ſeinem Namen nicht antwortete, ſchlug der Profeſſor 
weiter auf den Knaben los, der mittlerweile bereits aus Mund und Naſe 
ſtark blutete. Aber auch dieſer Effekt feiner Erziehungsmethode genügte 
dem Profeſſor nicht. Aus dem Geſicht und der Haltung des ſchmächtigen 
Knaben, den der Schreck derart lähmte, daß er nicht einmal den Verſuch 
machte, die Schläge ins Geſicht abzuwehren, glaubte der Profeſſor zu er⸗ 
kennen, daß Julius Beez willens ſei, der Mißhandlung tätigen Wider⸗ 
ſtand entgegenzuſetzen. Der kräftige Mann ſah ſich von dem ſchwächlichen 
Knaben bedroht, und nun forderte es der Selbſterhaltungstrieb, weiter auf 
den Wehrloſen und ſich nicht zur Wehr Setzenden loszuſchlagen, bis er 
endlich ermüdet einhielt und den ſtark blutenden Jungen in das Warte⸗ 


854 Türmers Tagebus 


zimmer des Direktors führte, um dieſem Meldung von dem Vorfall zu 
machen. 

Da der Direktor beſchäftigt war, ging der Pädagoge in die Setunda, 
wo er feine Anterrichtsſtunde hielt, während der Junge von 11 bis 12 Ahr 
im Wartezimmer blieb, ehe er vom Direktor Nahrwold über den Vorfall 
befragt werden konnte. Der Direktor machte den Profeſſor darauf auf⸗ 
merkſam, daß feiner Meinung nach ein Mißverſtändnis obwalten müſſe. 
Es ſei dem Beez zu glauben, daß er dem Befehl Dr. Wüllenwebers keinen 
Widerſtand entgegenſetzen wollte, daß er die Aufforderung, ſchneller zu 
gehen, teils nicht gehört, teils nicht verſtanden habe. Julius Betz ſei ein 
wohlerzogener, geſitteter Junge, dem Ungeborfam und offene Auflehnung 
gegen die Autorität eines Lehrers nicht zugemutet werden könnte, wohl aber 
ſei er langſam in ſeinem Weſen, was einen Teil ſeines Auftretens bei dem 
Vorgange erklärt. Hier ſcheint Prof. Dr. Wüllenweber das Bewußtſein 
aufgedämmert zu ſein, daß er zu weit gegangen ſei, und er ſagte zu dem 
Knaben: „Junge, wenn das wahr iſt, wenn du tatſächlich meinen Befehl 
nicht gehört haſt, die Worte Dalli, Dalli nicht verſtanden haſt, dann be⸗ 
daure ich den Vorfall.“ 

Der Profeſſor erklärte ſich bereit, am nächſten Tage in der Ober: 
tertia eine Erklärung abzugeben. Das tat er auch, freilich nicht ohne 
die Bemerkung daran zu knüpfen, daß er in jedem andern Falle wieder 
genau ſo handeln würde, da er als Reſerveoffizier ein energiſches 
Vorgehen gewöhnt ſei. Diefe Äußerung beſtritt Prof. Dr. Wüllenweber 
vor dem Oberverwaltungsgericht, ließ aber im übrigen erkennen, daß er noch 
heute des feſten Glaubens ſei, das Züchtigungsrecht nicht überfchritten zu 
haben, und daß er gegebenen Falls heute genau ſo handeln würde. 

Die Folgen der Mißhandlung für den bedauernswerten Jungen 
waren ſehr ſchlimme. Wochenlang hindurch litt der bis dahin völlig ge: 
ſunde, aufgeweckte Junge an andauernden Schwindelanfällen und 
Benommenheit des Kopfes, Schlafloſigkeit und Angſtvorſtellungen. In 
ſeinen Träumen erſchien ihm Prof. Wüllenweber und mißhandelte ihn. Laute 
Schreie aus dem Schlafe verrieten der beſorgten Mutter den furchtbaren 
Sinn der Träume und lange ſchwebten die Eltern in der furchtbaren Sorge, 
daß ihr Julius, der ältere von zwei Knaben, dauernden Schaden an feinet 
Geſundheit genommen habe 

Nach rund zwei Jahren gelang es dem Vater des Mißhandelten end 
lich, ein richterliches Verfahren gegen den Profeſſor durchzuſetzen, nachdem 
er erſt die hartnäckigſten behördlichen Widerſtände zu überwinden hatte. 

Noch iſt der Selbſtmord des Gymnaſiaſten Walter Matheus wegen 
Vergewaltigung durch einen Lehrer in friſcher Erinnerung, da erſchießt ſich 
der Schüler Günther Stender im Grunewald. Auch dieſe Jugend ſtirbt 
an der Schule. Und was hatte er verbrochen? Sein Mathematitheft einem 
Mitſchüler zum Abſchreiben gegeben! „Eine mathematiſche Hausarbeit 
war ausgeliehen“, ſchreibt das „Berliner Tageblatt“. „Wichtigkeit! Hod 


Zürmers Tagebuch 855 


bedeutſamer Kriminalfall! Diebe und Mörder! Hochnotpeinliche Anter⸗ 
ſuchung. Die Schulſtube wird zum Tribunal. Der Herr Mathematit- 
lehrer iſt tief pſychologiſch, fungiert als beſſerer Staatsanwalt und ſagt 
dem Jüngling vor der ganzen Klaſſe: „Der Hehler iſt ſo gut wie der 
Stebler.’ 

Aber damit nicht genug. Die Sache zieht ihre Kreiſe. Cin fo 
ſchwerer“ Fall muß vor die höhere Inſtanz, und der Herr Direktor wird 
bemüht. And bei dieſem endlich Verſtändnis? Nein. Jetzt wird die 
Epiſode erſt recht aufgebauſcht. „Dieſer Mangel an ſittlicher Reife 
iſt bei einem Abiturienten nicht ohne Einfluß auf die Reifeprü— 
fung. Dies zur gefälligen Kenntnisnahme.“ Man fragt ſich 
vergeblich, weshalb der Herr Direktor dies noch acht Tage nach dem pein⸗ 
lichen Verhör in der Klaſſe, als alle ſchon die Sache begraben glaubten, 
an den Vater ſchrieb. Aber man kann ſich denken, wie dies auf einen 
Jüngling wirkte, der ein anerkannt tüchtiger Schüler war und ſeinen Ehr⸗ 
geiz hatte. 

Der beſorgte Vater begibt ſich zum Direktor. Hier wird er mit der 
den ‚Umftänden angemeſſenen“ Anhöflichkeit behandelt. Der Vater iſt zu 
jedem Opfer bereit. Wenn die unerlaubte Hilfe, die der Junge dem 
Kameraden lieh, ſo ſchwer wiegt, ſoll der Sohn lieber ein halbes Jahr 
zurücktreten. „Wenn Sie das tun, entlaſſe ich Ihren Sohn.“ Man 
glaubt, die Richtigkeit der bisher veröffentlichten Darſtellung vorausgeſetzt, 
einen Paſcha, nicht einen Direktor zu hören, der der Freund ſeiner Schüler 
ſein ſoll. 

And der allerletzte Anlaß? Es kommt zu einer Auseinanderſetzung 
zwiſchen dem Schüler, deſſen Erregung nun nach all dem Hin und Her 
wahrhaftig verſtändlich genug iſt, und dem Direktor, deſſen Erregung von 
Anfang an ganz unverſtändlich war. ‚Eſel!“ Der Herr Direktor hat es 
geſagt. Der Herr Direktor konſtatierte, daß das Ausleihen der Arbeit 
einen ſolchen „Mangel an ſittlicher Reife“ darſtelle, daß gleich das Abi⸗ 
turientenexamen gefährdet fei, und der Herr Direktor iſt fo „reif“, einen 
achtzehnjährigen Jüngling vor verſammelter Klaſſe einen Eſel zu nennen. 

Aber um dieſer liebloſen Behandlung willen gleich in den Tod? 
Das iſt übertrieben. Das iſt zu viel. Wo iſt die Leichtigkeit der Jugend? 
Wo ihr geſunder Frohſinn, der alle Tränen trocknet? Wo das Voll⸗ 
gefühl kommender Kraft, das an der Schwelle der Menſchwerdung ſelbſt 
ein verlorenes Semeſter nicht zählt, dem das Leben noch wie eine Anendlich⸗ 
keit dünkt? Täuſchen wir uns nicht. Der falſche, übertriebene, hohle, 
allzu äußerliche Ehrbegriff iſt's, den wir ſchon bei unſeren Jungen 
großpäppeln, und der auch hier wieder eine Schulkomödie zur Lebens— 
tragödie machte. „Die äußere Ehre iſt gekränkt.“ Wie eine erbliche Be⸗ 
laſtung iſt's. Das liegt im Blut. In der Luft des Klaſſenſtaates, in dem 
Beiſpiel der durch jede Wortkränkung ,beleidigten’ Väter. Das lebt im 
Elternhaus, wie es in der Schule und in der Offentlichkeit lebt. And das 


856 Dürmers Tagedad 


macht ſchon die Jugend hart und tötet den Humor, mit dem die Ver 
ſtändnisloſigkeit der anderen getragen ſein will. 

Auch die Rollen, die Lehrer und Direktor tragierten, ſtanden im 
Zeichen dieſes Ehrbegriffes, der Kleinigkeiten in Aberlebensgröße ſieht und 
für das Menſchliche blind if. „Mangel an fittlicher Reife!“ Hehler! 
Die Moral als äußerlichſtes ſittliches Pathos. Die Ehre als loſer Mantel, 
den man dem anderen beim geringſten Fehltritt einfach vom Leibe reißt. 
Und dazu die Philiſtröſität, die hier zu Gerichte ſaß, die Sugendfremd- 
heit, die mangelnde Milde. Es iſt allenfalls zu verſtehen, wie einer, der 
ſchon als Jüngling dieſen falſchen Ehrbegriff aufgeſaugt und ihn noch nicht 
in feiner Hohlheit zu bewerten gelernt hat, ſchließlich den Tod fucht, we 
er lachen ſollte. Aber es iſt nicht zu verſtehen, wie Menſchen, die ſo 
wenig das Verzeihen und die Liebe kennen, ſich danach drängen, Jugend- 
bildner zu ſein.“ 

Auch der „Vorwärts“ macht die geſellſchaftliche Eitelkeit verantivort- 
lich. „Mag fic nun die Schuld der Schule oder des jungen Selbſtmörders 
ergeben — am ſchuldigſten iſt und bleibt die Geſellſchaft. Auch dieſer 
traurige Fall iſt weiter nichts als die natürliche Folge der modernen Er⸗ 
ziehung. Er wurzelt am allertiefſten in den anerzogenen falſchen 
Ehrbegriffen. Solch ein leichtſinniges Verpuffen blühenden jungen 
Menſchenlebens kommt uns regelmäßig vor wie eine Art amerikaniſches 
Duell, in dem der hoffnungsvolle Jüngling ſtets das Todeslos zieht und 
die moderne Geſellſchaftsmaxime ſiegreich am Leben bleibt, um weiter un⸗ 
heilvoll zu wirken. Sit der eigene Vater gegenüber den ſittlichen Verfeh 
lungen feines Sohnes vielleicht noch fo nachſichtig, fo ftößt brutal die Ge 
ſellſchaft in die Verrufstrompete. Man betrachtet den im Examen Durch; 
gefallenen als einen halben Paria. Er zählt nicht mehr für voll mit, wird 
jahrelang über die Achſeln angeſehen. Er empfindet die Zurückſetzung, mag 
fie ſelbſtverſchuldet fein oder nicht, als einen Makel an feiner ‚Schülerehre‘, 
die doch nur ein eingebildeter Begriff iſt. Er glaubt den „Schimpf, der 
doch nur ein Tadel iſt, genau ſo mit Herzblut wegwaſchen zu müſſen, wie 
ein ſäbelraſſelnder Halbgott irgendeine lumpige Anrempelei. Und da er 
feinen Gegner nicht zur Strecke bringen kann, wütet er gegen fic ſelbſt. 
Mit dem jugendlich unreifen Kopf ſieht er nebenbei ganz ſicher noch ſo 
etwas wie eine Gloriole fein Dulderhaupt umſchweben. Alles das iſt menſch · 
lich verſtändlich. Der junge Hochſchüler, der das Leben noch ſo voll vor 
ſich hat und es faſt ſpielend von ſich wirft, verdient als Menſch unſer Dit- 
leid. Am ſo härter muß man die modernen Sittenanſchauungen anklagen. 
Die falſchen Ehrbegriffe, die in dieſen Köpfen großgepäppelt werden, müſſen 
in die Verſenkung fallen — fei es durch die eindringliche Arbeit der Schule. 
ſei es durch die Arbeit des Gefetzgebers. Denn der Schülerſelbſtmord if 
im Grunde genommen genau dasſelbe wie ein modernes Duell, nur in 
anderer Form. Er entwickelt ſich aus denſelben verrotteten Sitten 
anſchauungen, die ſchon ſo unendlich vielen jungen Menſchenleben den 


Türmers Tagebuch 857 


Tod gegeben haben. Was muß ſich der Arbeiter alles gefallen laſſen! 
And der hat doch auch feine Ehre.“ 

Zur Charakteriſierung des Direktors jener Schule wurde dem „Vor⸗ 
warts” noch geſchrieben: „Im verfloſſenen Winter nach reichlichem Schneefall 
vergnügte ſich ein Sextaner damit, feine Kameraden zu ſchneeballen, felbft- 
verſtändlich in der Pauſe. Ein gewiß harmloſes Vergnügen. Zu ſeinem 
Schrecken erſchien der wegen ſeiner Härte und Gründlichkeit gefürchtete 
Herr Direx mit dem Rohrſtock und rief den betreffenden Schüler zu ſich, 
und obwohl der betreffende Knabe vor Angſt auf den Knien lag, 
wurde er von dem Allgewaltigen höchſt eigenhändig und derbe durchge⸗ 
prügelt. Dieſes Prügeln iſt aber keine Ausnahme, ſondern eine beſtändige 
Einrichtung, da mir davon ſchon öfters Mitteilung gemacht wurde.“ 

Der „ſittlichen Reife“ des Abiturienten, als einem angeblich vor⸗ 
handenen, jedenfalls unerläßlichen Attribut dieſer ſublimen Entwicklungs- 
und Bildungsſtufe, widmet „Dr. Froſch“ in der „Welt a. M.“ einige 
derbe, aber nicht unebene Gloſſen. Sie ſei eine kurioſe Sache, dieſe „mo⸗ 
raliſche Neife des Abiturienten! „Er, der fic) brennend danach ſehnt, 
demnächſt ein paar Semeſter lang den Rüpel auszutoben! Man ſehe fo 
junge Leute, die das Zeugnis aller möglichen Reife, von einer pompöſen 
Behörde beftätigt, in der Taſche haben — wie fie ihre noch unausgegerbten 
Mägen abwechſelnd vollpumpen und entleeren, wie ſie vereinsmeiern und 
Komment reiten, brüllen und rempeln! Der übermäßige Wert, den die 
Schule auf die Anterdrückung aller Flegelinſtinkte legt, ſtaut ſie nur zurück; 
aber zum Vorſchein kommen ſie in der Regel ſpäter doch, und wie! Man 
kann es beim beſten Willen nicht verlangen, daß ein Burſche von achtzehn 
Jahren, dem noch nie ein Wind um die Naſe gepfiffen und die Feuchtig⸗ 
keit hinter den Ohren weggetrocknet hat, ‚moralifch reif“ fei. Reife kommt 
allenfalls in der Freiheit. Die Schule kann nur ſäen und aufziehen. Ihre 
ernſteſte Sorge ſollte es ſein, daß ſie nichts verdirbt, daß ſie nicht einen 
Charakter von natürlicher Liebenswürdigkeit durch törichten Drill verhunzt. 
Es iſt zweifellos beſſer, wenn ſich ein tüchtiger und begabter Junge einmal 
dazu herbeiläßt, dem hilfsbedürftigen Mitſchüler unter die Arme zu greifen, 
als wenn er, bloß der Diſziplin zuliebe und gegen ſein inneres Gefühl, 
den Beiſtand verweigert. Aus dem Muſterknaben, der das tut, wird kaum 
ein anſtändiger und ſympathiſcher Menſch werden, ſondern weit eher ein 
Angſthaſe und Geizkragen. Es iſt, weiß Gott, nicht nötig, den Werdenden 
eine beſondere Kümmerlichkeit der Seele anzuerziehen; dafür, daß der 
Menſch zahm wird, ſorgt ſpäterhin ſchon der Vater Staat, 
der den Allzuüppigen den Brotkorb höher hängt. 

Viel nützlicher, als einen jungen Mann durch Pieſacken tugendhaft 
zu machen, ſcheint es doch zu ſein, daß der Lehrer ſelbſt eine vorbildliche 
Perſon iſt. Den Herrn Direktor Markuſe als Vorbild hinzuſtellen, wage 
ich nicht. Nach dem Bekanntwerden des Falls Stender ſind noch weitere 
Klagen gegen ihn laut geworden, und namentlich eine davon zeigt, daß es 


858 Dürmers Tagebuch 


ſich bei dem böſen Vorkommnis nicht um eine einmalige Entgleiſung handelte. 
Es handelt ſich vielmehr offenbar um einen Mangel an ritterlicher Ge 
ſinnung. Wie im erſten Falle der Direktor erſt einen Abiturienten durch 
eine Drohung wehrlos machte und ihn dann vor den Mitſchülern aus 
geringfügigem Anlaß „Eſel' titulierte, fo hat er in einem andern Fall einen 
Knaben, der vor dem Einjährige nexamen ſtand, zu unrecht geohr⸗ 
feigt und darauf die Eltern durch einen Brief geſchreckt, in dem er dem 
Jungen ein ungünſtiges Prognoſtikon für die Prüfung ſtellte. In beiden 
Fällen alſo, wenn ſchon variiert, derſelbe Grundzug: man darf den be⸗ 
leidigen, den man in der Gewalt hat. Falſch, Herr Direktor! 
Das iſt es gerade, was man nun und nimmer darf. Die 
Tatſache, daß jemand von einem irgendwie abhängt, iſt ein zwingender 
Grund, ihn mit beſonderer Nückſicht zu behandeln. Das ſteht nicht in 
den zehn Geboten und auch nicht im ſtaatlich ſanktionierten Geſetz; aber 
es iſt eine unerbittliche Vorſchrift des Takts, und erſt der Takt macht das 
ungefiederte Zweibein zum Menſchen, während die Gebote allein es nur 
zum Phariſäer und die Geſetze allein nur zum Philiſter machen. Dieſe 
beiden Typen find reichlich geſät in der Welt, und man würde den Ge 
burtenüberſchuß manches Landes mehr als wett machen, wollte man fie er: 
würgen, wo man fie träfe. Aber unter keinen Amſtänden darf zugelaſſen 
werden, daß ſie ihrerſeits junges, blühendes, hoffnungsvolles Leben zu⸗ 
grunde richten. 

Ich meine, es müßte allen Eltern grauen, wenn ſie ſolche Fälle wie 
den des Walter Matheus und des Günther Stender vernehmen. Jedes 
Gefühl ſträubt ſich vor dem Gedanken, daß man ein Kind, deſſen Erziehung 
Jahre und Blut gekoſtet hat und das in jedem Falle ein Teil des eigenen 
Lebens iſt, auf dieſe Art verlieren könnte. And gerade in dieſen 
letzten Fällen handelte es ſich offenbar um Eltern, die an ihrem Kinde mit 
ganzer Liebe hingen. Bei dem Verſuch, mich in ihre Lage zu denken, 
wird mir heiß und kalt, und ſo, wie ich mich kenne, weiß ich genau, daß 
ein ſolches Vorkommnis böſe enden würde. Es müßte in einem Kultur: 
ſtaat ausgeſchloſſen ſein, daß einem halbwegs verträglichen Menſchen der 
Gedanke an Selbſthilfe überhaupt kommt. Wir haben doch Behörden für 
alles mögliche; Behörden, die die Dummheit privilegieren; Behörden, die 
einem bis ins Bett nachkriechen; Behörden, die myſtiſche und verworrene. 
verſtaubte und vor Altertum riechende Begriffe ſchützen; Behörden, die zu 
drei unter freiem Himmel verſammelten Waſſerpolacken ſagen: Gehen Sie 
auseinander! Aber es fehlt an Behörden, die unſere vitalſten 
Intereſſen ausgiebig ſchützen. Hat vielleicht der Fall Matheus 
eine ausreichende Sühne gefunden? Es fällt einem, der auch innerlich nie⸗ 
mals Staatsanwalt war, ſchwer, darauf zu plädieren, daß ein Mann um 
Amt und Brot gebracht wird. Aber, wenn die Darſtellung, die die Preſſe 
von dem Fall Stender gab, auch nur in den Grundzügen richtig iſt, ſo 
kann man nicht anders. Das Abgeben einer ſozialdemokratiſchen Wahl⸗ 


Turmers Tagebuch 859 


ſtimme genügt bei uns, einen treuen Warter ſeines Amts ſeiner Exiſtenz zu 
berauben; ein Redakteur, der — etwas zu heftig — einer offiziellen Ge— 
ſchichtsfälſchung entgegentrat, iſt reif für Gefängnis und Zuchthausarbeit; 
ein verdienter Offizier muß das Heer verlaſſen, wenn dem hohen Vor— 
geſetzten ſeine Naſe nicht gefällt; es wird ſchonungslos umgegangen 
mit Leben, Ehre und Freiheit von Männern, die das ge— 
ſamte Bewußtſein eines Volkes in Schutz nimmt. Da ſchämt 
man ſich doch der Weichherzigkeit und ſagt: hier, hier iſt ein Punkt, wo 
äußerſte Schärfe am Platze iſt; hier iſt ein Krebsſchaden, der nur mit dem 
Meſſer entfernt werden kann; hier brauchen wir einen Operateur, der flink 
und radikal ſeine Arbeit tut. Wir wollen nicht warten, bis ſich eine 
hohe Behörde gnädigſt über einen Fall zu ‚informieren‘ geruht, der uns 
ſelbſt betrifft und unſere Kinder.“ 

Das iſt die wahre Stimmung im Volke. Nicht nur in der 
immer wieder als Popanz vorgeſchobenen „Sozialdemokratie“, ſondern in 
den breiteſten Schichten des ſtaatserhaltenden Bürgertums bis in die Kreiſe 
der kleinen Handwerker hinein. Similia similibus: der Prügelgeiſt muß 
eben ſo lange von der öffentlichen Meinung aus dem Tempel hinaus— 
geprügelt werden, bis er das Wiederkommen vergißt. Anſer Volk hat bei 
der Zeppelinſpende mit erfreulicher Deutlichkeit bewieſen, daß es noch nicht 
von aller Initiative, allem ſelbſtändigen Fühlen und Denken verlaſſen iſt. 
Es wird, ſo hoffe ich zuverſichtlich, auch Manns genug ſein, einen anderen 
Geiſt in unſeren öffentlichen Einrichtungen zu ſtabilieren, den Geiſt auf— 
rechter, ſelbſtbewußter Mannhaftigkeit. Der Gott, der Eiſen wachſen 
ließ. der wollte keine Knechte! 


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Aus Tolſtois Ideenwelt 


Von 


Ludwig Holthof 


RE Aref Leo Tolſtoi, der große ruſſiſche Dichterphiloſoph, ift den 
0 DIN ME weiten Kreiſen des Publikums wohl nur durch feine {chin 
N wiſſenſchaftlichen und dichteriſchen Werke bekannt geworden. 
COS 2 Spiegeln ſich in dieſen auch deutlich die Ideen wieder, die 
ſich in dem Geiſte des merkwürdigen Mannes drängten, ſo erhalten wir 
ein getreues Bild von ſeinen reformatoriſchen Plänen doch nur durch die 
im ganzen wenig geleſenen Schriften, in denen er ſich rückhaltlos über das 
von ihm Erſtrebte ausgeſprochen hat, vor allem durch ſeine Selbſtbiographie 
„Meine Beichte und meine Religion“ und das vor etwa vierzehn Jahren 
veröffentlichte Buch „Das Reich Gottes iſt in Euch“. 

Das Idealbild, das feinem Geiſte vorſchwebte, zielte auf eine voll» 
ſtändige Amgeſtaltung der geſamten modernen Geſellſchaftsverhältniſſe ab, 
und zwar auf eine Umgeftaltung, fo radikal, wie fie fic wohl nur der ver- 
wegenſte ſozialiſtiſche oder anarchiſtiſche Atopiſt träumen kann, und doch 
war niemand weniger Revolutionär im herkömmlichen Sinne als der Cine 
ſiedler von Jasnaja Poljana. Die Grundlage, auf der das ganze Ge— 
bäude ſeiner reformatoriſchen Anſchauungen beruhte, war der Gedanke, daß 
jeder der Gewalt entgegengeſetzte Widerſtand nicht nur zwecklos, ſondern 
auch verwerflich ſei. Gewalt mit Gewalt zu vertreiben, war nach ihm ein 
Gedanke, der ebenfofehr dem Geiſte des Chriſtentums wie dem der ge— 
ſunden Vernunft widerſpreche. „Wer biſt du, der du dich gegen die Ge— 
walt auflehnſt? Du, der du in einem ſichern Hauſe wohnſt und dein Leben 
hinbringſt in Freude alle deine Tage? Waſche erſt ſelbſt deine Hände 
und reinige ſie von der Gewalt; gib deinen Wohlſtand auf, der über den 
des gewöhnlichen Arbeiters hinausgeht, und dann magſt du vielleicht da- 
von reden, die Gewalttat anderer zu unterdrücken.“ Nach ſeiner Anſicht 
ſtammt der Gedanke, Gewalttat gegen Gewalttat zu ſetzen, nicht aus dem 
Chriſtentum, ſondern aus dem Feudalweſen. Er meint, es ſei beſſer, ein 


A) 


SHolthof: Aus Tolſtois Ideenwelt 861 


Kind von einem brutalen Unmenfchen töten zu laffen, als ſich durch ge⸗ 
waltſames Einſchreiten dagegen in das Anrecht zu ſetzen. Wenn es galt, 
ſeine Anſichten zu verteidigen, konnte er manchmal bis zur Spitzfindigkeit 
gehen. So wurde er einmal darauf aufmerkſam gemacht, daß Chriſtus ſich 
vor ſeinem Zuge nach Jeruſalem erkundigt habe, ob Schwerter in ſeiner 
Gefolgſchaft vorhanden ſeien, und dann, als man ihm geantwortet, es ſeien 
zwei da, geäußert habe: „Das genügt.“ Tolſtoi wollte nicht in Abrede 
ſtellen, daß Chriſtus an Gewalt gedacht habe, um aber die Bibelſtelle in 
Einklang mit ſeiner Lehre zu bringen, gab er die folgende Erklärung ab, 
die an Gewagtheit der Deutung nichts zu wünſchen übrigläßt: „Chriſtus 
hat ſich allerdings nach den Schwertern erkundigt, und aus ſeinen Worten 
ſcheint mir nicht minder deutlich hervorzugehen, daß er an die etwaige Ab⸗ 
wehr eines räuberiſchen Angriffs in den auf dem Wege gelegenen Eng⸗ 
päſſen dachte. Allein darin fehlte er und handelte gegen ſeine eigenen Vor⸗ 
ſchriften. Daher die bittere Reue und Gewiſſensangſt in Gethſemane, die 
meiner Anſicht nach von dem auf ihm laſtenden Vorwurf herrührte, daß 
er, wenn auch nur zum Zwecke der Notwehr, daran gedacht hatte, zur An⸗ 
wendung der Gewalt zu ſchreiten.“ 

Es war nur eine Konſequenz ſeines leitenden Grundſatzes, wenn 
Tolſtoi ſich gegen alle Steuern und ſtaatlichen Abgaben erklärte, da dieſe 
nur mit Gewalt beigetrieben werden können, alle Gewalt aber von Chriſtus 
verboten iſt. Regierung und Staat find nach Tolſtoi nur Rauch und leerer 
Schall. „Es gibt gar kein Ding wie einen Staat oder eine Regierung. 
Es iſt ein Schwindel mit dieſem Staat. Was ſoll er denn ſein? Men⸗ 
ſchen kenne ich; Bauern und Dörfer ſehe ich vor mir; aber Regierungen, 
Nationen, Staaten, was find das anderes als fchöne Namen, erfunden, 
um damit die Ausplünderung anſtändiger Menſchen durch unanſtändige 
Beamte zu beſchönigen, wie mit den Phraſen von Mobilifierung und 
Krieg die Ermordung fried fertiger Menſchen maskiert werden ſoll?“ 

Wie Tolſtoi anfangs unter dem Banne der Ideen Nouffeaus gee 
ſtanden, fo geriet er fpäter unter den Einfluß Herbert Spencers und zuletzt 
unter den des amerikaniſchen Sozialpolitikers Henry George. In der von 
letzterem vorgeſchlagenen Nationaliſierung des Grundes und Bodens er- 
blickte er ein weſentliches Mittel zur Beſeitigung der Schäden der heutigen 
Geſellſchaftsverhältniſſe. „Ich bewundere in dieſer Hinſicht“, ſagte er ein- 
mal zu einem ſeiner Beſucher, „den Amerikaner George. Wie ſind ſeine 
Worte ſo chriſtlich, wie iſt ſein Stil ſo klar und wie ſind ſeine Bilder ſo 
zutreffend. Er hat auf den Schritt hingewieſen, der zunächſt unternommen 
werden muß. Seine Ideen werden ſich weiter verbreiten, ja fie find ſchon 
in allgemeiner Verbreitung begriffen. Während des Winters habe ich des 
Abends die Bauern zu einem Plauderſtündchen beim Samowar bei mir, 
und ich habe oft mit ihnen die Zukunft der Bodenfrage beſprochen. Ich 
fand zwei Anſichten bei ihnen vertreten. Ein Teil wollte jeder erwachſenen 
Perſon einen gleichen Anteil an dem Lande geben. Der andere wollte 


862 Holthof: Aus Tolſtois Ideenwelt 


alles Land der Gemeinde als Geſamtbeſitz zu gemeinſchaftlicher Beſtellung 
überwieſen wiſſen. Als ich ihnen aber Henry Georges Ideen auseinander ⸗ 
ſetzte, pflichteten ſie mir alle bei, daß dies das Beſte ſein würde. Erſt 
vorige Woche kam ein vierzig Werſt von hier wohnender Bauer zu mir, 
um mich um näheren Aufſchluß über den Land⸗Nationaliſierungsplan zu 
bitten. „And was ſagten Sie ihm?“ fragte der Beſucher. „Ich ſagte 
ihm, daß nach dieſem Plane alles Land an die Regierung fallen, daß wahr⸗ 
ſcheinlich eine Herabſetzung der jetzigen Grundſteuer um 20 Prozent ein: 
treten und ſpäter wohl die ſo reduzierte Grundſteuer an Stelle aller anderen 
Steuern treten werde. Er war ganz einverſtanden damit und will ſeinen 
Genoſſen von dem Plane berichten.“ 

Mit dem erwähnten Beſucher ging Graf Tolſtoi eines Tages ſpa⸗ 
zieren und kam mit ihm zu einer Stelle, wo eine Schar von etwa hundert 
Arbeitern an einem Eiſenbahnbau beſchäftigt war. Sie hatten gerade ihre 
Abendmahlzeit beendet und ſtanden im Begriffe, ſich nach ihren Lehm- 
hütten zu begeben, in denen ſie, je zehn rechts und links, auf einer bloßen 
Holzpritſche, ohne Matratzen, ja ſelbſt ohne Stroh, ihre Lagerſtätte hatten. 
Graf Tolſtoi verſprach, ihnen etwas Stroh zu ſenden, worüber ſie ſich ſehr 
zu freuen ſchienen. Es waren anſtändige, freundlich ausſehende Leute, ohne 
das grobe Weſen, wie man es ſonſt gerade bei Erdarbeitern findet; dabei 
waren ſie manierlich und wußten ganz gut ihr Wort zu führen. Das Er⸗ 
lebnis des Spaziergangs führte natürlich zu einer Diskuſſion. „Wir haben 
Chriſtus vergeſſen,“ ſagte der Graf, „wir wollen ihm nicht mehr gehorchen. 
Da haben Sie hundert Leute, von denen jeder täglich 50 Kopeken verdient, 
ohne des Nachts auch nur ein Strohlager zu haben. Wie können Sie 
und ich auf Matratzen und Federbetten ſchlafen, ſolange dieſe ſchwer an- 
geftrengten Arbeiter nicht einmal Stroh haben? Wenn Sie ein Chriſt 
wären, könnten Sie es nicht! Was für ein Recht haben Sie auf dieſes 
Zuviel, wenn Ihr Bruder nicht einmal das Nötige hat? Das erſte, was 
das Chriſtentum verlangt, das allererſte iſt, daß diejenigen, welche Gut und 
Land beſitzen, ſich alles deſſen entäußern, was ſie haben, und es den Armen 
zukommen laſſen.“ 

Der Graf beſaß damals einen jungen Freund und Schüler, den Guts 
beſitzer T., der wörtlich ſeinen Lehren gefolgt war und mit ſeiner jungen 
Frau auf einer Beſitzung zu Woroney das Leben eines Bauern führte. 
Graf Tolſtoi war damit aber noch nicht zufrieden; ihm genügte das Zurück ⸗ 
gehen auf den Bauernſtandpunkt und die Hingabe des ganzen Vermögens 
an den Nächſten noch nicht. Was für ein Recht haben Chriſten, ſich als 
Verwalter von Geld zu betrachten, das vom Abel, ganz und gar vom Abel 
iſt? Die Anſicht, daß man ein Recht habe, über fein Eigentum zu vet 
fügen, ſelbſt indem man es weggibt, iſt eine Anmaßung. Man hat kein 
Recht auf ſein Geld, nicht einmal ſo viel, daß man ſagen könnte, dieſet 
Mann verdient eher es zu bekommen als jener. Es gehört einem tatfadlid 
ganz und gar nicht an. Es iſt ein Schatz, den man zufällig in Händen 


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Holthof: Aus Tolftois Ideenwelt 863 


bat, auf den aber der erſte Beſte den gleichen Rechtsanſpruch hat. Daher 
iſt alles, was man zu tun hat, ſeine Hände von dem Gelde zu laſſen und 
es dem preiszugeben, der danach greift und das fluchbeladene Ding an ſich 
bringen will. 

„Meinen Sie,“ ſagte der Graf, „das Geld, das Arzte, Advokaten 
oder Buchhändler verdienen, werde auf eine weniger unanſtändige Weiſe 
erworben als dasjenige, das ein Dieb oder Räuber ſich aneignet? Es iſt 
ganz das gleiche: alles iſt das Ergebnis von Gewalt. Nehmen Sie hier 
mein eigenes Beſitztum; wie wurde es erworben? Durch Gewalt. Mein 
Urgroßvater war einer der Generäle Katharinas. Sie nahm das Land 
den Bauern, die es bearbeiteten, und gab es ihm für das Verdienſt, daß 
er ſo und ſo viele Leute im Kriege umgebracht hatte. So wurde die eine 
Hälfte meines Beſitztums erworben, die andere habe ich mir mit meinen 
literarifchen Arbeiten verdient. Aber auch fie iſt durch Gewalt an mich 
gekommen. Wer lieſt meine Romane? Reiche Leute. Woher haben ſie 
ihren Reichtum? Wiederum von der Gewalt. Es iſt nicht ſo viel Gut 
auf der Welt vorhanden, daß irgendeiner davon mehr beſitzen könnte 
als den auf ihn entfallenden Anteil. Man hat in Rußland ein Sprich— 
wort, das beſagt, derjenige, der anſtändig arbeite, komme niemals dazu, 
ſich ein ſchönes Haus zu bauen, und das iſt wahr. Der anſtändige Ar⸗ 
beiter kann ſich nur das Notwendigſte zu ſeinem Lebensunterhalt verdienen. 
Wo immer man ein großes Haus, Luxus und dergleichen erblickt, hat man 
das Ergebnis der Beraubung der Armen vor ſich. Und das Schlußreſultat 
iſt nicht nur Beraubung, ſondern auch Demoraliſation, denn der Dieb und 
des Diebes Kinder brauchen nicht zu arbeiten; fie werden faul, die Faul⸗ 
heit führt zur Nichtsnutzigkeit, und ihr Beiſpiel verdirbt und verführt zur 
Unzufriedenheit die Kinder derer, die zu arm find, als daß fie es fo machen 
könnten wie ſie. Wenn man Chriſtus ähnlich werden will, darf man kein 
Eigentum haben, man muß es nach allen Seiten austeilen, bis man nicht 
mehr hat als die übrigen.“ 

Beſitzt man alſo Geld, ein Haus oder Kleider, ſo muß man nach 
Tolſtoi bereit fein, es dem erſten beſten abzutreten. Es iſt das Fanatis-⸗ 
mus, ſicherlich, aber ein Fanatismus, in dem eine eiſerne Konſequenz liegt. 
Nur läßt die Konſequenz ſich trotz ihres eiſernen Charakters unter den jetzt 
obwaltenden Verhältniſſen nicht ziehen. Wer es verſucht, wird immer mit 
dem fehlerhaften Kreis enden. Hätte Graf Tolſtoi, ſelbſt innerhalb der 
nicht unbedeutenden Schranken, welche die Gräfin ihm gezogen hatte, ſtrenge 
nach ſeinen Worten leben wollen, ſo würde das Endergebnis wohl ein wenig 
zufriedenſtellendes geweſen ſein. Der falſche Arme, der Schwindler, der 
Herumtreiber, der Trunkenbold, alle würden herbeigeſtrömt ſein und Anter⸗ 
ſtützung begehrt haben. Die wirklich notleidenden Armen würden weg⸗ 
geblieben ſein. Warum aber den geſtohlenen Schatz der Reichen, wenn 
er wirklich geſtohlen iſt, als eine Prämie auf Anverſchämtheit, Verlogen⸗ 
heit und verwegene Selbſtſucht ausſetzen? Hätte Graf Tolſtoi ſeine Grund⸗ 


864 Holchof: Ans TolRols Ideenwelt 


ſätze bis zur äußerſten Konſequenz verwirklichen können, fo würde das End 
vom Liede geweſen fein, daß ſich ein paar Schurken in den Beſitz feine 
Gutes geſetzt und deſſen Einkünfte in der Schenke durchgebracht hätten, ftatt 
Propaganda für die Mäßigkeit und die Ideen zu machen, die des Grafen 
Geiſt erfüllten. 

Auf diefe Möglichkeit aufmerkſam gemacht, meinte Graf Tolſtoi: 
„Man ſollte ſtets dem Guten, das wirklich zu erreichen iſt, den Vorzug 
vor dem geben, was nur gut in der Möglichkeit iſt. In natürlichen Be 
ziehungen zu meinen Brüdern zu leben, mit ihnen den Acker zu beftellen, 
Korn zu bauen und mich und meine Familie in Einklang mit dem Willen 
Gottes zu ſetzen, der das von Chriſtus enthüllte Lebensgeſetz iſt, das if 
etwas wirklich poſitiv Gutes. Das Schreiben von Romanen iſt vielleicht 
nur Unfinn. Es kann fein, daß etwas Gutes in ihnen enthalten iſt, viel: 
leicht aber noch mehr Schlechtes. Wer kann das beurteilen? Angenommen, 
„Anna Karenin“ habe Tauſende dazu veranlaßt, ſich in wahrere und liebe 
vollere Beziehungen zu ihren Nächſten zu ſetzen — wie aber kann ich wiſſen, 
ob das Buch nicht auf eine viel größere Menge den entgegengeſetzten Ein ⸗ 
fluß ausgeübt hat? Es iſt das eben nicht zu beſtimmen. And ferner, 
wenn ich mit nur einem Worte die Hunderttauſende von Proſtituierten von 
den Straßen unſerer Großſtädte wegfegen könnte, ſo würde ich es nicht 
tun, wenn ich mich dadurch der Möglichkeit berauben müßte, mich und meine 
Familie als Bodenarbeiter in ein geſundes und natürliches Verhältnis zu 
meinen Mitmenfchen zu ſetzen, denn das letztere iſt etwas pofitiv Gutes. 
Das andere kann es, kann es aber auch nicht ſein.“ 

Intereſſant ift eine Bemerkung des Grafen aus der Zeit kurz vor 
der Veröffentlichung der fpäter fo vielumſtrittenen Novelle „Die Rreuger 
ſonate“. „Mein Wunſch“, fo ſagte er, „iſt, eine Novelle oder einen 
Noman zu ſchreiben, um darin die konventionelle Illuſion der romantiſchen 
Liebe darzulegen. Ich habe ihn bereits geſchrieben, aber er muß umge 
arbeitet und ganz und gar neu geſchrieben werden. So, wie er jetzt if, 
hat er zuviel von einer Abhandlung an ſich und enthält zu wenig Hand- 
lung. Meine Abſicht iſt es, den Leſer davor zurückſchrecken zu laſſen, die 
romantiſche Liebe au sérieux zu nehmen. Das Refultat, auf das die ganze 
Geſchichte hinauslaufen ſoll, ſoll die Ermordung einer Frau durch ihren 
Mann ſein. Ich möchte zeigen, wie das eheliche Leben dadurch in ſeinem 
Werte herabgeſetzt wird, daß die romantiſche Liebe, ein aus Leidenſchaft 
hervorgegangener Fieberrauſch, an Stelle der chriſtlichen Liebe, der auf 
der Gefühlsübereinſtimmung, der Ahnlichkeit des Ideals und der Seelen ⸗ 
freundſchaft hervorgegangenen Liebe geſetzt wird. Kann die fleiſchliche Liebe 
auf jene, auf die chriſtliche Liebe, auf die Bruder · und Schweſterliebe be: 
gründet werden, dann iſt es gut, doch iſt die letztere, nicht die erſtere die 
Hauptbedingung eines glücklichen Ehelebens. Hierin können wir von den 
Bauern lernen. Sie betrachten das, was uns als romantiſche Liebe gilt 
als eine Krankheit, die vorübergehend, ſchmerzhaft und gefährlich iſt. Be 


Bismarck als Künſtler des Wortes 865 


ihnen wird keine Ehe unter deren Einfluß abgeſchloſſen. Alles andere 
iſt beſſer. Jene Sektierer, welche die Ehe nach dem Ausfall des Loſes 
entſcheiden, ſeien vernünftiger als wir. Anſer Syſtem ift das denkbar 
ſchlechteſte, und das ganze Hochzeitszeremoniell, der Honigmonat, die Feſt⸗ 
luſt und die Aufſtachelung der Sinnenlüſte, das alles iſt geradezu dazu 
angetan, den Wert der Ehe ſinken zu laſſen. Unter hundert Fällen führt 
kaum in einem einzigen die romantiſche Liebe zu einer für das Leben vor⸗ 
haltenden glücklichen Verbindung. Junge Leute, deren Leben in ganz ver⸗ 
ſchiedenen Kreiſen wurzelt, werden durch dieſe vorübergehende Leidenſchaft 
zueinander herangezogen. Sie heiraten. Einen Monat lang ſind ſie glücklich 
— vielleicht ſogar ein bis zwei Jahre. Dann haſſen ſie ſich für die ganze 
übrige Lebenszeit und haben nichts anderes zu tun, als dem äußern Schein 
Opfer auf Opfer zu bringen, indem fie ihrer Umgebung den wahren Sach— 
verhalt verheimlichen. Es muß fo fein. Wenn Anna Karenin Levin ge- 
heiratet hätte, hätte fie auch ihn verlaſſen müſſen. Die romantiſche Liebe 
iſt wie Opium oder Haſchiſch. Der Gefühlsrauſch iſt überwältigend und 
entzückend, aber er geht vorüber. Es liegt in der menſchlichen Natur, Er- 
fahrungen nicht zum zweitenmal zu machen. So betrügt die Frau ihren 
Mann, der Mann wird ſeiner Frau untreu, und auf dieſe Weiſe greift 
Entſittlichung in der ganzen Welt Platz. Ich wünſche, allen die Augen 
zu öffnen über das, was wirklich eintritt, und was für traurige Folgen es 
hat, wenn an Stelle der chriſtlichen Liebe die romantiſche tritt. Ich ſehe 
klar, o ſo klar; und wenn man etwas ſieht, was kein anderer zu ſehen 
ſcheint, ſo fühlt man, daß man alle ſeine Kraft zuſammennehmen und ſich 
dem Werke widmen muß, die Wahrheit zu ſagen, wie man ſie ſieht. Zu 
dem Verfalle der Ehe iſt es nur gekommen, weil das Chriſtentum ein Wort, 
nicht aber etwas greifbar Vorhandenes geworden iſt. Es wird aber bald 
wieder etwas Wirkliches werden. — Man wird mir vielleicht ſagen: Ein 
ſchöner Glaube! Dann antworte ich: Ja, und wenn ich nicht ſähe, daß 
es mit dem Nahen des Reiches Gottes, wenn einſtweilen auch noch ſo 
lang ſam, vorwärts ginge, dann würde ich ſelbſt Hand an mich legen. 
Könnte ich aber das Reich in ſeiner ganzen Größe durch das bloße Drücken 
auf einen Knopf herbeiführen, fo würde ich ſehr unglücklich fein, weil ale- 
dann für mich nichts zu tun übrigbliebe.“ 


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Bismarck als Künſtler des Wortes 


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0.8 
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* ie wir unzählige Worte aus Goethes Werken zitieren, ſo leſen wir 

464 in Dr. Paul Limans Gedenkſchrift „Bismarck. Zum 10. Todestag. 

Ein Gedenkblatt auf ſein Grab“ (C. A. Schwetſchke, Berlin), ſo 

zitieren wir auch immer wieder Worte und Wendungen aus Bismarcks Reden, 

Worte der Weisheit, der Schönheit und der Kraft. Tragen ſie doch ſtets jene 
Der Türmer X, 12 56 


866 Bismarck ats Künftler des Wortes 


ſcharfe und klare Plaſtik, die das Wirkliche vor unſere Augen zaubert und 
durch Hervormeißelung des Charakteriſtiſchen unſerer Vorſtellung einprägt. 

„Wie viele Worte und Wendungen Bismarcks find Gemeingut geword en! 
Da zerſtört er, als er zuerſt als Miniſter ſeines Königs auftritt, alle Nebel 
des Doktrinarismus, die aus den Niederungen der deutſchen Geſchichte empor- 
fteigen, mit der Verkündung, daß nicht durch Reden und Majoritätsbeſchlüſſe, 
ſondern durch Eiſen und Blut die großen Fragen der Zeit geheilt werden, da 
formt er das Wort vom teutoniſchen Teufel wie von der allgemeinen Piep- 
meierei, vom Rüffel der Weltgeſchichte und von der Baſis der Phäaken, da 
zeichnet er den preußiſchen Leutnant, den keine Nation uns nachahmen kann, 
da ſpricht er von dem Patrimonium der Enterbten und dem Pfeifchen des 
kleinen Mannes. Lächelnd ſpricht er über feine alte Reputation von leicht ⸗ 
fertiger Gewalttätigkeit und er hört in ſtiller Kammerverachtung das endloſe 
Reden der Parlamente. Er ſpricht von der Aalglätte der Börſe und lehnt 
die Wünſche der Mancheſterleute mit der Wendung ab: ‚Auf das Eis trete ich 
noch nicht'. Er ſchildert die Bureaukratie als ſchreibſelig und ratlos und geißelt 
die Leute, die ſich nur den Luxus eines einzigen Gedankens geſtatten dürfen. 
Die mutigen Ziviliſten, die da meinen, keiner Verſtärkung des Heeres zu be- 
dürfen, Eugen Richter als betrübter Lohgerber und als König Saul, die Kau- 
ponokratie der Schankwirte erscheinen vor uns; dem alten Gegner Wind horſt, 
der ihn auffordert, in die Kommiſſton zu kommen, hält er die Worte entgegen: 
Ich hätte dort die Rolle gefptelt wie die Juden an den Waſſern von Babylon: 
Lieber, ſinge uns ein Lied von Zion, damit wir uns an deinem Kummer er- 
freuen‘. Das Ol auf die Lampe des Kulturkampfes, das Bild von den Drohnen 
und Bienen, von dem Anterkriechen bei Muttern, von den Steinen im Reichs · 
garten, von den fechtenden und geiſtlichen Päpſten, von Herodes und Pilatus, 
die ſich im Zentrum zuſammenfinden, nicht weil ſie einander liebten, ſondern 
um einem anderen Schaden zu tun, das Wort vom Staatsrentnertum — das 
alles tft das Eigentum Bismarcks. Er charakteriſiert eine ganze Menſchenklaſſe 
mit den Worten „Amüſant bei Tiſche, dann rausſchmeißen“, er weiſt alle 
Drohungen mit dem Worte zurück: „Dor lach ick öwer‘, und jede Mahnung 
zur Nachgiebigkeit mit der Wendung: „Dazu fehlt mir die chriſtliche Demut‘. 
Er prägt die Quinteſſenz einer konſervativen Weltanſchauung in die Worte: 
quieta non movere, und er will auch als Entlaffener, als er ſagen kann: „Ich 
bin ſchön raus“, doch fein ſtummer Hund fein’. Die ſozialen Verſuche des 
Jahres 1890 nennt er eine einzige Phraſeologie, den Landwirten gibt er das 
Motto: „Für Ar und Halm!“, und im Kampfe gegen die Polen ruft er zur 
Wacht an Warthe und Weichſel. 

Die Bilder, die reich in die Neden Bismarcks verwoben find, tragen 
ſtets den Charakter des Arſprünglichen, des Selbſtgeſchauten, fie find niemals 
auf dem Wege der Reflexion geboren, und ſie üben gerade deshalb eine ſo 
unmittelbare Wirkung und prägen gerade deshalb ſich ſo nachhaltig in die 
Seele des Hörers. Als er entlaſſen iſt, wehrt er ſich gegen den Glauben, als 
wenn er ‚ein grollender Brummbär wäre, der von dem Aſt des Baumes, auf 
dem er ſaß und dem man ihm meuchlings abgefägt hat, herunterßurzelte und 
von den Bienen arg zerſtochen wurde“. Ihn ſtächen bloß die Drohnen, und 
ihre Stiche gingen durch fein Fell nicht mehr durch. Da fand er das be- 
ziehungsreiche Bild von der Diplomatie, die kein Schuſterſtuhl ſei, ‚auf dem 
man ſitzt, den Knieriemen anſpannt und einen Fleck aufs Loch ſetzt; die Diplo- 


Bismard als Künſtter des Wortes 867 


matie ſei kein Handwerk, das man mit den Jahren erlernt und auf der Walze 
weiter ausbildet.“ 

Als er ſich gegen den Doktrinarismus der Parteiführer wendet, da er- 
wacht in ihm die Vorſtellung der Säulenheiligen aus der erſten chriſtlichen 
Zeit: „Jeder ſteht als Stylit auf feiner Säule und ſagt: hier müßt ihr ber- 
kommen, ich gehe nicht runter. Die Säule wird gebildet aus folgſamen Ge⸗ 
ſinnungsgenoſſen des Parteileiters, der fie beherrſcht, und aus einem Mörtel 
von Prinzipien, die in ihrer Allgemeinheit auf das praktiſche Leben durchaus 
unanwendbar ſind; und dieſe Art der Einteilung in ſtylitiſche Herrſchergebiete 
der Parteiführer, die iſt die Gefahr, die uns jetzt bedroht‘. Als Herr 
v. Boetticher ſich irrtümlich als das Ziel einer ſcharfen Außerung des ent 
laſſenen Kanzlers zu erkennen glaubt, da ruft Fürſt Bismarck unwillig aus: 
„Warum läuft er mir denn mutwillig in den Kugelſchuß, wenn nach ihm gar 
nicht geſchoſſen wird!“ Als die Angriffe gegen ihn bis zur Verletzung ſeines 
perſönlichen Ehrgefühls ſich ſteigern, da vergleicht er ſich mit dem ‚Auff’ vor 
der Krähenbütte, nach dem die Vögel ſtoßen und ſtechen“. Hier und überall 
iſt mit dem klugen und klaren Blick für das Wirkliche im Leben zugleich die 
Phantaſie am Werke; gepaart mit der Fähigkeit der Beobachtung und der 
Rezeptionskraft der empfindlichſten photographiſchen Platte, ſchafft fie eine 
unvergleichliche Plaſtik des Ausdrucks, der die Situation haarſcharf beleuchtet 
und die einzelnen Geſtalten mit treffſicherem Federſtrich zeichnet. So auch in 
den Schriften und Briefen. Aber hier offenbart ſich Bismarck noch tiefer. 
Denn obgleich dieſes letzte gewaltige Erzeugnis ſeines Geiſtes ſtückweiſe und 
zufällig entſtand und keineswegs, wie Goethes „Wahrheit und Dichtung“ die 
Wirklichkeit mit dem Pinſel der Phantaſie retouchiert iſt, ſo wirkt es doch nicht 
nur in den einzelnen Schilderungen und Charakter bildern literariſch, ſondern 
wir haben den Eindruck einer gewaltig dahinſtürmenden Epopde, eines Helden ⸗ 
geſanges aus der germaniſchen Vorzeit. Eiſern dröhnt es aus dieſem Buche, 
wie aus der Völuſpa, als die Götterdämmerung hereinbricht: ‚Brüder befehden 
ſich, fällen einander. Geſchwiſterte ſieht man die Sippe brechen. Beilalter, 
Schwertalter, wo Schilde krachen; Windzeit, Wolfszeit, Eh’ die Welt zerflürzt. 
Schwarz wird die Sonne, Die Erde ſinkt ins Meer, Vom Himmel fallen die 
heitern Sterne. Glutwirbel umwühlen den allnährenden Weltbaum, Die heiße 
Lohe bedeckt den Himmel.“ Da iſt nichts von der heitren Ruhe Goethes, auch 
nichts von der Selbſtbeſpiegelung eitler Künſtler, da iſt alles monumental, 
alles ohne Konvention und nichts nach Vorſchrift. And iſt es auch das Werk 
eines greifen Mannes, der von ſich fagen mochte: ‚Sch habe gelebt und ge ⸗ 
liebet’, dem alle Gaben zur Tat und zur Erfüllung reiften, fo ſpüren wir doch 
nirgends die Ruhe der Refignation: Alles bleibt Kampf. Nur die Gehäſſigkeit 
fehlt. Alles Kleinliche fällt herab und vor uns erhebt ſich ein Monument von 
der erdrückenden Wirkung des Moſes, den Michelangelo ſchuf. 

Iſt aber der Stil der Menſch, fo tritt uns auch hier in dem Stile Bis. 
marcks der ganze Mann entgegen, wie er geweſen iſt. Da zeigt alles in ſeinen 
Staatsſchriften wie in ſeinen politiſchen Briefen eine große Einheit, da drängt 
alles zwingend zum Ziele hin; da vernehmen wir aber auch eine eigene, durch- 
aus perſönliche, nicht nachzuahmende Proſa, nüchtern und doch plaſtiſch und 
mächtig in der Wirkung, einfach und ſcheinbar regellos und voll großen Klanges. 
Da ſchreitet die Geſchichte mit ehernem Schritt auch durch die Schriftzeichen. 
And doch — welch empfindliche und zarte Seele wendet ſich in ſeinen Briefen 


868 Bismarck als Künſtler des Wortes 


an die Schweſter, an die Gattin zum Leſer! Da wird er, der Mann von Blut 
und Eiſen, zum Poeten, zum künſtleriſchen Geſtalter. Da zeigt ſich vor allem, 
daß ihm der Sinn auch für das Detail nicht fehlt, daß er mit ſcharfem Auge 
alles erſchaut, was an ihn herantritt, und daß in der Tiefe ſeiner Seele auch 
die Goldſtufe des Humors ſich birgt. Ja, dieſer Humor, die Gemütlichkeit, 
wie wir es nennen, iſt die Grundſtimmung ſeines Weſens, in ihm vereinigt 
ſich ein tiefer Ernſt mit durchgebildeter Weisheit und der Kraft des heiteren 
Frohfinns. 

Während eine Welt mit ſtaunenden Blicken zufieht, wie auf den böh- 
miſchen Schlachtfeldern der Staatsmann die Theorie von Blut und Eiſen in 
Wirklichkeit umſetzt, ſchreibt er der treuen Gattin daheim von den ſchönen 
Tagen der jungen Liebe, da ſie faſt vor neunzehn Jahren dieſelbe Strecke 
durchfuhren, gibt er ein Bild der braven Soldaten, ohne deren Tapferkeit alle 
Politik zerſchellen muß, wie es eben nur der Künſtler zu zeichnen vermag: 
„Anſere Leute ſind zum Küſſen, jeder ſo todesmüde, ruhig, folgſam, geſittet, 
mit leerem Magen, naſſen Kleidern, naſſem Lager, wenig Schlaf, abfallenden 
Stiefelſohlen, freundlich gegen alle, kein Plündern und Sengen, bezahlen, was 
ſie können, und eſſen verſchimmeltes Brot; es muß doch ein reiner Fonds von 
Gottesfurcht im gemeinen Manne bei uns ſitzen, ſonſt könnte das alles nicht 
fein.’ Wie hebt ſich hier in liebevoller Zeichnung plaſtiſch und klar das Bild 
des ſchlichten Heldentums vom Hintergrunde der Geſchichte, jenes Heldentums, 
von dem niemals ein Lied und eine Säule zeugt! Am 3. September 1870, 
am Tage nach dem gewaltigſten Ereignis der deutſchen Geſchichte, ſchreibt 
Bismarck ‚an fein liebes Herz“ in der Heimat fo ſchlicht und demütig, fo einfach 
und rührend beſcheiden, als ob er ſelbſt keinen Anteil an den Erfolgen habe. 
Der Brief war in franzöſiſche Hände gefallen, der „Figaro“ hat ihn veröffent 
licht, und die ganze Welt ſtand vor ihm, vor dieſem Dokumente rührender 
Einfachheit, das auf der Höhe des Erfolges fo gar keine Spur von Gelbft- 
zufriedenheit zeigt, wie vor etwas Anbegriffenem. 

Wunderbar aber muten uns vor allem die köſtlichen Schilderungen des 
Naturlebens an, die freilich nur aus einer Seele quellen konnten, die auf dem 
Aſphalt der Großſtadt niemals heimiſch wurde, die es aus der Qual des amt- 
lichen Daſeins immer wieder zu den heimiſchen Buchen und Linden treibt. 
Nur der Sohn des Landes, der in der ungebundenen Friſche des Empfindungs · 
lebens aufgewachſen iſt, konnte jene Anſchaulichkeit, jene Kraft der Vergleiche 
beſitzen, die wir wie aus feinen Reden, fo auch aus feinen Briefen ahnen. Ich 
habe Freude am Waldleben, an Wald und Natur. Nehmen Sie mir den Zu⸗ 
ſammenhang mit Gott und ich bin ein Menſch, der morgen einpackt und nach 
Varzin ausreißt und feinen Hafer baut!“ And ſo durchſtreift er jetzt finnend 
und träumend den Wald und die ſonnigen Wieſen und ruht das Herz im An⸗ 
blick der herrlichen Schöpfung, jetzt erzählt er den Seinen, wie die Dohlen 
ihre Kinder das Fliegen lehren, wie ſie als vornehme Leute zum Winter in 
die Stadt, in die Türme von Stolp und Schlawe ziehen. Anübertroffen ſind 
die Schilderungen von dem Zuge durch die ſchwediſche Waldeinſamkeit, von 
den Fahrten durch die Puſta, von Biarritz und von der ruſſiſchen Steppe. 
So ſchreibt er aus Szolnok in Ungarn: ‚Um 5 kam ich hier an, wo ein buntes 
Gewühl von Angarn, Slovaken, Walachen die Straßen belebt und mir die 
wildeſten und verrückteſten Zigeunermelodien ins Zimmer ſchallen. Dazwiſchen 
ſingen ſie durch die Naſe mit weit aufgeriſſenem Munde in kranker, klagender 


Bismarck als Künſtler des Wortes 869 


Molldiſſonanz Geſchichten von ſchwarzen Augen und von dem tapfern Tod 
eines Räubers, in Tönen, die an den Wind erinnern, wenn er im Schornſtein 
lettiſche Lieder heult. Die Weiber find im ganzen gut gewachſen, einige aus- 
gezeichnet ſchön; alle haben pechſchwarzes Haar, nach hinten in Zöpfen ge- 
flochten, mit roten Bändern darin. Die Frauen entweder lebhaft grünrote 
Tücher oder rotſammetne Häubchen mit Gold auf dem Kopf, ein ſehr ſchönes 
gelbes ſeidenes Tuch um Schulter und Bruſt, ſchwarze, auch urblaue kurze 
Röcke und rote Saffianſtiefel, die bis unter das Kleid gehen, lebhafte Farben, 
meiſt ein gelbliches Braun im Geſicht, und große brennend ſchwarze Augen; 
im ganzen gewährt ſo ein Trupp Weiber ein Farbenſpiel, das dir gefallen 
würde, jede Farbe am Anzug ſo energiſch, wie ſie ſein kann.“ Hier hat nicht 
ein Schriftſteller von Fach die Striche gezogen, nur für das Auge der Gattin 
tft die Darftellung beſtimmt. Und doch zeigt ſich uns in kraftvoller Bildlichteit 
ein Kunſtwerk. Wir folgen Bismarck in die Einſamkeit des Nordens: ‚Reine 
Stadt, kein Dorf weit und breit, nur einzelne Anſiedler und bretterne Hütten 
mit wenig Gerſte und Kartoffeln, die unregelmäßig zwiſchen abgeſtorbenen 
Bäumen, Felsſtücken und Buſchwerk einige Ruten angebautes Land finden. 
Denke dir von der wüſteſten Gegend bei Viartlum etwa hundert Quadrat- 
meilen aneinander hohes Heidekraut mit kurzem Gras und Moor wechſelnd 
und mit Birken, Wacholder, Tannen, Buchen, Eichen, Ellern, bald undurch⸗ 
dringlich dick, bald öde und dünn beſetzt, das Ganze mit zahlloſen Steinen bis 
zur Größe von hausdicken Felsblöcken beſät, nach wildem Rosmarin und Harz 
riechend; dazwiſchen wunderlich geſtaltete Seen von Heidehügeln und Wald 
umgeben, fo haft du Smaland, wo ich mich dermalen befinde.. Reizende 
Gegenden hatten wir geſtern, große Seen mit Inſeln und Afern, Bergſtröme 
über Felsblöcke, Granitufer mit Tannen und weiten Felsmaſſen. Meilenweite 
Flächen ohne Häuſer und ohne Acker, alles wie es Gott geſchaffen hat, Wald, 
Feld, Heide, Sumpf, See.“ And ein Bild aus Bayonne: „Das Land, welches 
ich ſoeben durchfahren habe, verſetzt mich auf den erſten Anblick lebhaft ins 
Gouvernement Pffow oder Petersburg. Von Bordeaux bis hierher ununter- 
brochen Fichtenwald, Heidekraut und Moor, bald Pommern, wie etwa im 
Strandwald hinter den Dünen, bald Rußland. Wenn ich aber mit der Lorgnette 
hinſah, ſchwand die Illuſion; ſtatt der Kiefer iſt es die langhaarige See⸗ 
pinie, und die anſcheinende Miſchung von Wacholder, Heidelbeeren und dgl., 
welche den Boden deckt, löſt ſich in allerhand fremdartige Pflanzen mit myrtben- 
und zypreſſenartigen Blättern auf. Die Pracht, in der das Heidekraut hier 
feine violett · purpurnen Blüten entwickelt, iſt überraſchend; dazwiſchen eine ſehr 
gelbe Ginſterart mit breiten Blättern, das Ganze ein bunter Teppich. Der 
Fluß Adour, an dem Bayonne liegt, begrenzt dieſes B. Moll der Heide, 
welches mir in feiner weicheren Idealiſierung einer nördlichen Landſchaft das 
Heimweh ſchärfte. Von St. Vincent ſieht man zuerſt über Heide und Kiefern 
hinweg die blauen Umriffe der Pyrenäen, eine Art rieſigen Taunus, aber doch 
kühner und zackiger in den Amriſſen. 

Endlich noch eine Stelle aus dem Briefe, den Bismarck am 28. Juli 1863, 
als der Grimm am heftigſten gegen ihn tobte, als ihn einer der Göttinger 
Sieben, der ſonſt ſo maßvolle Eduard Albrecht, ingrimmig eine „frivole Beſtie“ 
nannte, von Gaſtein aus an die Lebensgefährtin ſchrieb: „Wie dieſer Tag — es 
war der Hochzeitstag — vor 16 Jahren Sonnenſchein in mein wüſtes Jung- 
geſellenleben brachte, ſo hat er heute auch dieſes Tal damit erfreut, und ich 


870 Bismarck als Künſtler des Wortes 


habe es auf einem reizenden Morgenſpaziergang zum erſten Male in feiner 
ganzen Schönheit geſehen. Moritz würde ſagen, daß es eine rieſige Schäffel 
mit Grünkohl iſt, ſchmal und tief, die Nänder mit weißen Falleiern rundum 
beſetzt. Steile Wände, einige tauſend Fuß hoch mit Tannen und Wiefengrün 
und eingeſtreuten Sennhlitten bis an die Schneegrenze bedeckt, und das Ganze 
von einem Kranze weißer Spitzen und Bänder umzogen, die der Schnee während 
der fünf Negentage reichlich bepudert hat und deren untere Grenze nun die 
Sonne allmählich höher rückt. Dutzende von filbernen Fäden durchziehen das 
Grün von oben, Waſſerbäche, die ſich herabſtürzen in eiliger Haſt, als kämen 
fie zu ſpät zu dem großen Fall, den fie mit der Ache zuſammen dicht vor 
meinem Hauſe bilden.“ 

Wie aber Bismarck ein Künftler iſt, fo iſt fein Leben, das gleich einem 
Atlas das Schickſal Deutſchlands auf den Schultern trug, ein Kunſtwerk von 
bezwingendem Reize. Es iſt ein Kunſtwerk in feinem ganzen Aufbau, in dem 
Werden, in der Durchbildung des politiſchen Genius, in der Tatenfülle, in 
dem Einfluß, den feine Geſtalt auf das Jahrhundert übte, das er nach feinem 
Willen geformt hat. Erich Marcks hat recht, wenn er auf den tragiſchen Ab⸗ 
ſchluß dieſer Laufbahn, auf die Widerſprüche des Genius in ſich ſelber, auf 
das Ringen der perſönlichen Souveränität mit den ſachlichen Mächten, den 
Ideen hinweiſt, die er doch anerkennt, und hinzufügt: „Alle dieſe inneren Gegen · 
ſätze hält die Nieſenkraft der Perſönlichkeit zuſammen, und dieſe Perſönlichkeit 
bleibt eine Zaubergewalt für alle Zukunft. Sie iſt ein Kunſtwerk, nicht abſichts · 
voll geglättet und ausgeglichen, aber ſtark wie die Menſchen Shakeſpeares, 
vielfeitig wie die Bildniſſe Lenbachs, großartig und beinahe mythiſch empor · 
ragend über die Gegenwart wie das Hamburger Denkmal Lederers. Sie bleibt 
eine Welt in ſich, durchſtrömt von den geheimnisvollen Seelenkräften, die wir 
als künſtleriſch empfinden, eine Offenbarung für künſtleriſches Nachempfinden 
und ein Gegenſtand für die künſtleriſche, die menſchliche Teilnahme jeder nahen 
und jeder fernen Zukunft.“ Zu ſeinem Verſtändnis brauchen wir nicht der 
Sphinxe und Sybillen am Königsplatz, zu ſeinem Verſtändnis brauchen wir 
nur in uns ſelbſt jenes künſtleriſche Empfinden, das in dieſem prachtvollen Mann 
eines von jenen Kunſtwerken ahnt, die der Herrgott in vielen Jahrhunderten 
nur einmal ſchafft, nur dann, wenn er, des ewig gleichmäßigen Schaffens müde, 
alle ſeine Kraft und alle ſeine Weisheit verneint, um mitten unter die Menſchheit 
einen Ragenden zu ſtellen, einen von denen, die dem geſchichtlichen Leben erſt 
den großen Inhalt verleihen. Zehn Jahre erſt umfängt der Mutterſchoß der 
Erde, was an Bismarck ſterblich war, aber ſchon heute iſt er uns zu einer 
Riefengeftalt der Vergangenheit geworden, und wer auf das Kunſtwerk dieſes 
Lebens ſchaut, das auf dem vornehmſten Platze in der Werkſtatt Gottes fleht, 
der fühlt ſein deutſches Herz zur Ehrfurcht geſtimmt und von Schauern der 


Andacht erfüllt.“ 


Hans v. Hoffensthal und fein neuefter Roman 871 


— v. Hoffensthal und ſein neueſter Roman 


EN. m Herbſt 1905 hat Hans v. Hoffensthal, damals ein völlig Un- 
AG) bekannter, feinen Erſtlingsroman „Maria-Simmelfahrt“ in die Welt 

Y geſandt, dem er zwei Jahre ſpäter ein zweites, „Helene Laaſen“ 
betiteltes Buch folgen ließ. Die Werke neu auftretender Epiker pflegen im 
günſtigſten Fall hoffnungsvolle Wechſel auf die Zukunft zu ſein, die jedoch 
verhältnismäßig recht ſelten auch wirklich eingelöſt werden. Anders bei dem 
jungen Tiroler Dichter Hans v. Hoffensthal, der als Arzt in Bozen lebt. Er 
zeigte ſofort eine unverkennbare ſichere Eigenart, die man als etwas Fertiges 
hinnehmen mußte, fet es in Zuneigung oder in Abneigung. Die Kritik ent. 
ſchied ſich in ihrer überwiegenden Mehrheit für die Zuneigung und ſchenkte 
ſeiner Kunſt warmen, teilweiſe begeiſterten Beifall. Nicht als ob nun etwa 
ein ſenſationeller Tageserfolg zuſtande gekommen wäre. „Maria ⸗ Himmelfahrt“ 
war und blieb ein ſtilles und inniges Buch für andächtige Leſer. Ein Buch, 
deſſen Wirkung weder auf eine ſpannende Handlung noch auf das Naffinement 
moderner Pſychologie geftellt war, ſich vielmehr durch ein ungewöhnlich tiefes 
und zartes Naturgefühl, durch wunderbare Beſeelung von Gebirge, Wald und 
Flur mit allem, was drinnen lebt und webt, durch reſtloſe Verſchmelzung der 
geſchilderten Menſchenſchickſale mit dieſem Stimmungsgehalt, durch eine mit 
dem allem rein zuſammenklingende edle, poetiſch gehobene Sprache in die 
Herzen ſchmeichelte. 

Ein ſo mächtiger und feierlicher Naturhymnus, der aus ſubjektivem 
Pathos geboren war, ließ eine Wiederholung nicht zu, und man durfte darum 
geſpannt darauf ſein, was Hoffensthal in ſeinem nächſten Noman bieten werde. 
Vom Gebirge zur fruchtbaren Bozener Ebene herabſteigend, nahm er auch in 
„Helene Laaſen“ die heimatliche Natur und die durch fie bedingten Lebens ⸗ 
formen zu getreuen Helfern, ſah ſich aber doch genötigt, mehr Gewicht auf die 
epiſche Erfindung zu legen. And es gelang ihm, für die Menſchen, die er 
zeichnete, und für die Leiden, in die er ſie verſtrickte, das warme Mitgefühl 
der Leſer zu gewinnen. In dieſem zweiten Buche lernen wir Peter Orgler, 
einen Dichter, kennen, der mit ſeinem Erſtlingswerke, dem „Buche vom Jäger 
Mart“, zu Ruhm gelangt. And dieſen in „Helene Laaſen“ bereits angekündigten 
und kurz ſkizzierten Roman hat nun Hoffensthal — freilich in weſentlich ver- 
änderter Form — ausgeführt und vor kurzem als dritte Gabe geſpendet. 
(Egon Fleiſchel & Ko., Berlin 1908. 281 S. Preis Mk. 4.—) 

Wiederum führt uns der Dichter in die Welt feiner geliebten Heimat; 
berge. Am Fuß des Ritten liegt der Inſamhof und unweit davon, mitten 
unter Bauerngütern, der Herrenſitz Nappersbühl, den im Sommer der welſche 
Graf Palla mit ſeiner Familie bewohnt. In der Kinderphantaſie des kleinen 
Mart Inſam wird das geheimnisvolle Schloß zum Symbol aller Glücksträume. 
And ſeine Pforten tun ſich ihm auf: eines Tages wirbt ihn die gütige Herrin 
zum Geſpielen ihres gleichaltrigen Sohnes Giulio. Nun geht Mart auf 
Rappersbühl ein und aus, in jungen Jahren wird ihm die Hut des gräflichen 
Waldes anvertraut, und er erhebt ſeine unſchuldigen Blicke zu dem ſchönen 
Grafenkinde Maria, das ſich doch freiwillig dem Himmelsbräutigam ver- 
ſchrieben hat. Aber ſchließlich wird die Schickſalsverkettung mit Nappersbühl 
ſein Verhängnis. Giulio iſt gleich ſeinem Vater ein unguter Geſelle, und nur 


872 Hans v. Hoffensthal und fein neuefter Roman 


durch Fügſamkeit hat Mart die Freundſchaft mit ihm geraume Zeit aufrecht 
zu erhalten vermocht. Bis das Gräflein die begehrlichen Hände nach Marts 
Verlobter ausſtreckt und dieſer den Dreiſten dafür züchtigt. Giulio vergißt 
die erlittene Demütigung nicht, aber er ſpart die Rade auf gelegene Zeit auf. 
Mart wird zum Militär einberufen: der gräfliche Herrſchaftsjäger wandelt 
ſich zum Tiroler Kaiſerjäger. And in der Innsbrucker Kaſerne findet er eines 
Tages Giulio als ſeinen Vorgeſetzten. Der bringt Mart durch die Zweifel, 
die er ihm an der Reinheit ſeiner Klara einflößt, zur Verzweiflung, ſo daß 
er die Herrſchaft über ſich ſelbſt verliert und ſich an feinem Gegner vergreift. 
Mit 21 Monaten Gefängnisſtrafe muß er büßen. Inzwiſchen hat ſich daheim 
das Schickſal des Inſamhofes erfüllt. Der Bauer iſt in Schulden geraten, 
und der alte Graf hat ſeine Verlegenheit benutzt, um den Hof ſamt dem dazu 
gehörigen Wald, den er längſt zur Abrundung des eigenen Beſitzes begehtt 
hat, an ſich zu reißen. Der unglückliche Inſambauer legt zur Sommerdürre 
heimlich Feuer in den Wald, der ſamt dem Inſamhofe niederbrennt. So fiebt 
ſich Mart, als ihm endlich wieder die Sonne der Freiheit ſcheint, ſeiner Heimat 
beraubt. Langſam richtet ſich an der Hand der Liebe ſein verwundetes Herz 
wiederum auf. Die Gräfin ſtiftet das äußere Glück des Paares. Der Haß 
der Rittnerbauern hat die gräfliche Familie aus der Gegend getrieben. Die 
edle Frau ſühnt nun, was ihr Gatte und Sohn an den Inſamleuten verbrochen 
haben. Mit dem von ihr geſpendeten Geld baut Mart den väterlichen Hof 
wieder auf, und am Tage, da das Haus fertig ſteht, hält er mit ſeiner Klara 
Hochzeit. Der jung ſproſſende Wald aber wird wachſen und groß werden mit 
dem neuen Geſchlecht. | 

Es ift eine tiefernſte Geſchichte, über deren ftrengen Weg nur ſpärlich 
ein paar ſchwache humoriſtiſche Lichter verſtreut ſind. And ſie wird mit einer 
gewiſſen Amſtändlichkeit vorgetragen, die vom Lefer geduldige Hingabe in nicht 
geringem Maß erfordert. Leiſe Zweifel, ob Hoffensthal in der Breite der 
Schilderungen und Motivierungen nicht doch zu viel getan habe, wollen an · 
fangs nicht zum Schweigen kommen. Je weiter man jedoch in dem Buche 
vordringt und je deutlicher man, rückſchauend und das Ganze überſchauend, 
des Dichters Abſichten erkennt, deſto mehr überzeugt man ſich, daß kaum etwas 
entbehrlich wäre, vielmehr jede Einzelheit einen notwendigen Bauftein zum 
feſtgefügten Geſamtgebäude bildet. Planvoll und folgerichtig iſt die ganze 
Handlung, eines geht unabänderlich aus dem andern hervor. Man ſpürt es 
förmlich bei der Lektüre, wie langen vertrauten umgang der Dichter mit den 
Geſchöpfen ſeiner Phantaſie gepflogen haben muß, und wie eng ihr inneres 
Leben mit ſeinem eigenen verwachſen iſt. And doch iſt es nur ein ſchlichter 
Sohn aus dem Volke, den ſich Hoffensthal diesmal zum Helden gewählt hat. 
Aber das Gefühl der Stammes gemeinſchaft und die Liebe zur ſelben Scholle. 
zur ſelben Natur überbrücken die Standesunterſchiede und Bildungsgegenſätz e 
— ein ſchöner Triumph der Heimatkunſt. Des Verfaſſers Mitleben und Mit · 
fühlen mit feinen Romanfiguren muß notwendig auch beim Lefer ähnliche Emp⸗ 
findungen auslöſen. Wir begleiten Mart mit wachſender Teilnahme durch 
Wald und Flur und dann durch die damit ſtark kontraſtierende Ode des 
Kaſernenlebens. Wir bangen und zagen mit ihm und freuen uns, wie er aus 
dem Elend wieder emporſteigt. Wir bewundern die Kunſt des Dichters, der 
den ehernen Ning dieſes Menſchenſchickſals mit ſo ſicherer Hand geſchmiedet 
bat. And wir dürfen auch feine zweckmäßigen Darſtellungsmittel rübmen: 


Neue Bücher 873 


mit Recht hat er dem volkstümlichen Stoff zulieb diesmal auf den feierlich 
gehobenen Stil feiner früheren Romane verzichtet und dafür eine einfach ⸗ 
natürliche, aber weder der Kraft noch der Poeſte entbehrende Sprache geſetzt. 


Rudolf Krauß 
yy 


Neue Bücher 


Guſtav Naumann, „Otto der Ausreißer“. Bruchſtücke aus einem 
Jungen Tagebuch. (Leipzig, Verlag C. G. Naumann.) — „Vom Lärm 
auf dunklen Gaſſen.“ (S. Fiſcher, Verlag, Berlin.) 

Man kann die beiden Bücher des Verfaſſers ruhig zuſammennehmen, 
denn fie find eigentlich beide Tagebücher. Das erſte das eines Hinaus- 
ziehenden in die Welt, der ſich dann heimfindet ins Vaterhaus; das zweite 
das Leben eines nach Stürmen in der Welt draußen Heimgekommenen. Nur 
daß dieſer Zweite nicht ins Vaterhaus kommt, ſondern die Heimat hier, wo 
fein Herz Wurzel ſchlagen kann, ſich erſt ſchaffen müßte. Das gelingt ihm 
dann nicht, weil auf den dunklen Gaſſen des Lebens widrige Einflüffe ihm ent- 
gegenarbeiten. Freilich, warum das gerade „Lärm auf dunklen Gaſſen“ heißt, 
das habe ich nicht verſtanden. Denn gerade das ſtille, heimliche Arbeiten iſt 
es, was ſo verderblich wirkt und dieſen tüchtigen Menſchen nicht zum Glücke 
gelangen läßt, trotzdem er zumeiſt mit tüchtigen und braven Menſchen zu tun 
hat. Das Buch löſt überhaupt keine rechte Befriedigung aus. Es iſt ja ge⸗ 
rade bei ſtark pſychologiſch angelegten Werken ein Verhängnis, wenn das 
zußere Geſchehen ſich der als notwendig erkannten Entwicklung gewiſſermaßen 
entgegenſtellt. Der Wert des Buches liegt in der ſtillen Entwicklung ſeeliſch er 
Zuſtände und der wirklich künſtleriſchen Sprache. 

Voller iſt die Freude über das an der erſten Stelle genannte Buch. 
Das Jungen Tagebuch hat ja den natürlichen Fehler, daß es von einem Manne 
geſchrieben iſt, der längſt nicht mehr Junge iſt, der mit einem viel größeren 
Wiſſen im Leben ſteht. Es find nicht ſeeliſche Erfahrungen und Beobach- 
tungen dieſes Knaben, die uns gelegentlich ſtören, ſondern gerade Bemerkungen 
aus dem Gebiet des Wiſſens. Im übrigen ſteckt hier viel braves Gefühl für 
das Werden und Reifen dieſes tüchtigen Buben, der aus Ehrgefühl und un- 
befriedigter Liebe daheim weggelaufen iſt und nun in der Fremde zum Pflicht. 
gefühl und zur verſtehenden Liebe für ſeinen Vater heranreift. So wird das ° 
Bud vor allen Dingen gerade der Sugend guttun. 

Jakob Waffermann, „Die Schweſtern“. Drei Novellen. (Berlin, 
S. Fiſcher. 2 Mk.) 

Jakob Waſſermann wird von vielen als höchſter Ausdruck der „modernen 
jüdiſchen Kultur“ geprieſen. Trotzdem ſein einer Roman „Die Juden von 
Zirndorf“ heißt, will das nichts nationaliſtiſch Jüdiſches oder etwa Zioniſtiſches 
bedeuten. Eher könnte man von den Einwirkungen des orientaliſchen Blutes 
innerhalb des äußeren Rahmens des „modernen“ Lebens ſprechen. Es begegnet 
ſich da mehr, als man gemeinhin annimmt, wenigſtens ſoweit das Leben der 
heutigen Großſtädte gemeint iſt, und zwar gerade dort, wo man es bewußt 


874 Reue Bader 


modern geftaltet. Man kann ja auch gerade den Einfluß des Judentums auf 
dieſes ſogenannte moderne Leben nicht leicht zu hoch anſchlagen. 

Was dieſen Büchern durchaus fehlt, iſt die Tat. Sie find ganz auf die 
Darlegung pſychiſcher Stimmungen begründet. Es widerſtrebt mir, unſer gutes 
deutſches Wort „Seele“ zu brauchen; eher Nerven. And zwar wird das pſychiſche 
Leben für dieſe Leute erſt dort der Teilnahme wert, wo es nervös, wo es alſo 
krankhaft oder doch wenigſtens nicht geſund und einfach iſt. Das beſte Wort 
iſt wohl: hyſteriſch. Auch alle germaniſche Kunſt hat ſich von jeher mit dem 
Problem des Seelenlebens abgegeben und hat da die Ausnahmeerſcheinung 
keineswegs gemieden, auch nicht die krankhafte. Aber es geſchah mit einem 
ganz anderen Empfinden. Selbſt jene Romantiker, auf die man fic hier viel: 
leicht berufen möchte, ließen in all dieſen Fällen dem Leſer keinen Augenblick 
das Gefühl für den Gegenſatz von krank und geſund verloren gehen. And dann 
waren die Kräfte, die in den Werken vorgeführt wurden, Ausnahmezuftände, 
die zur Größe oder zum Verderben führten, die aber als eine Einzeleigenſchaft 
in einem größeren Geſamtorganismus auftraten. Hier bei Waſſermann iſt es 
juft dieſe Krankhaftigkeit, unter deren Einwirkung alles geſtellt wird. Die Er- 
eigniſſe, die vorgeführt werden, ſind von den Geſetzen innerer Logik frei und 
ſtehen dafür unter der Tyrannei dieſer unberechenbaren hyſteriſchen Empfindungs- 
weiſe. Durch dieſe krankhafte Einſtellung des ganzen Empfindens find die ge- 
ſchilderten Menſchen natürlich für alle Wahnvorſtellungen zugänglich. Es drängt 
ſie auf die Nachtſeiten des Lebens, hin zum Grauenhaften, Anwahrſcheinlichen, 
Widernatürlichen. Sie verbeißen ſich dann ſo ſcharf in ihre Vorſtellungen, 
daß die Geſundheit und Stärke nicht dagegen anzukommen vermag und unter · 
tiegt, ja ſogar letzterdings das Ende herbeiſehnen muß, um nur ſelber von dem 
Druck dieſer völlig verzerrten Umgebung freizuwerden. 

Zweifellos find die drei Novellen, die Waſſermann hier unter dem Titel 
„Die Schweſtern“ vereinigt, weitaus das Wirkſamſte ſeiner oben geſchilderten 
Kunſt, indem hier in kleineren Rahmen die Kompoſttion viel einheitlicher und 
ſtraffer iſt als in feinen umfangreichen Romanen „Alexander von Babylon“, 
„Renate Fuchs“. Außerdem iſt aber hier die Vortragsweiſe von geradezu 
raffinierter Geſchicktheit, indem merkwürdige, ja geradezu unheimliche Ge- 
ſchehniſſe in einem faft kalten Ton vorgetragen werden, der bei ſcheinbarer 
Ruhe, aber höchſter innerer Erregtheit auch nicht den kleinſten Zug in der Ent 
wicklung dem Leſer ſchenkt. So ſtimme ich jenen gern bei, die in dieſen Er · 
zeugniſſen wertvolle Kundgebungen einer äußerlich überfeinerten, innerlich aufs 
Höchfte erregten, aber durch und durch ſchwächlichen modern · jüdiſchen Kultur ſehen; 
muß aber gerade deshalb die Wirkung für unſere Kultur als ſchädlich bezeichnen. 


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Bildende Kunst. 


Vom Geiſte deutſcher Plaſtik 
Dr. Karl Storck 


— Es pi in der Tat keine Kunſt, die für viele Deutſche ein fo 
ſchwieriges Problem darſtellt wie die Plaſtik. Wir dürfen uns überhaupt 
nicht verhehlen, daß die bildende Kunſt nicht fo leicht, nicht mit jener Selbſt⸗ 
verſtändlichkeit aus dem Boden des deutſchen Lebens erwächſt wie die 
anderen Künſte. 

Am das darzutun, muß ich weiter ausholen. Der Amweg wird ſich 
hoffentlich dadurch lohnen, daß uns ein Einblick in das Werden der Kunſt 
überhaupt gelingt. 

Als tiefſte Urfache des Erſtehens der Kunſt erſcheint mir die aus dem 
Verlangen des Menſchen nach „Glück“ erwachende Sehnſucht, über die 
Materie hin auszukommen. Auch jene darwiniſtiſche Auffaſſung des 
Entſtehens der Kunſt als Ausfluß höchſter Lebensbetätigung läuft ſchließlich 
darauf hinaus. Um bei den etwas kliſcheehaft gewordenen Worten zu 
bleiben, mußte man ſelbſt hier ſagen, daß der Kampf ums Daſein, das 
Ringen um die zum Beſtehen notwendige Materie keine Kunſt erzeugt. 
Dieſe entſteht erſt, wenn mehr Kräfte da ſind, als zu jenem roh materiellen 
Daſein notwendig ſind. Auch darin drückt ſich, wenn auch innerhalb der 
rein materialiſtiſchen Welt, eine Art von Herrſchaft über die Materie aus. 
Das wird klarer, lebendiger, ſobald die geiſtigen und ſeeliſchen Kräfte des 
Menſchen wirkſam hervortreten. Dann tritt Kunſt klar als ein Mittel auf 
zur Erfüllung der Sehnſucht nach Glück, und zwar wieder das vom 
grob Materiellen freie Mittel. Kunſt läßt ſich niemals im roh materiali- 
ſtiſchen Sinne genießen. Der Genuß iſt aber erſt die Befriedigung, alſo 
die Erfüllung der Sehnſucht nach Glück. 

Es mußte ſich ja dem Menſchen die Aberzeugung aufdrängen, daß 
alles Materielle ſo eng umgrenzt, ſo ſehr allen Bedingungen der Materie 


876 | Storck: Vom Geifte deutſcher Piakit! 


unterjocht iſt, daß in ihm alle Beglückung leicht geſtört werden kann. Irgend 
eine Krankheit des Körpers, eine Anvollkommenheit feiner Werkzeuge be 
grenzt in höchſtem Maße die Beglückungsmöͤglichkeit des Menſchen inner⸗ 
halb der materiellen Welt. Es verbindet ſich darum mit der Vorſtellung 
von Glück die der Freiheit von den Bedingungen des Daſeins. Ein Aber⸗ 
der ⸗Materie⸗Stehen iſt ſomit das Endergebnis. 

Das Bewußtſein der Beſeeltheit hat den Menſchen dahin geführt, 
in dieſer Seele, die ihm außerhalb der Bedingungen der Materie zu 
ſtehen ſchien, das Glücksmittel zu ſuchen. Der höchſte Ausdruck dieſer Er- 
kenntnis iſt die Religion. Sie hat den Menſchen dahin geführt, das 
Glück außerhalb der materiellen Welt zu ſehen. Sogar das mit ſo 
ſicherem Bewußtſein innerhalb dieſer Welt ſtehende Griechentum hatte die 
Geſtalt des Diogenes, kannte den Stoizismus. Beide bedeuten die Über- 
windung, die Verachtung der Materie. Das Weſen des Chriſtentums aber 
iſt der Tranſzendentalismus, die Verlegung des Schwerpunkts des ganzen 
Seins in ein immaterielles Jenſeits. Man weiß, wie man auf dieſem 
Wege zu einem Aſketentum gelangt ift, das den Körper als elende Feſſel 
des Daſeins betrachtete, in der Erde ein Jammertal ſah, in das der 
Menſch verbannt ſei, um in den in ihm unvermeidlichen Leiden ſich das 
Daſein des Himmels zu verdienen. Der Buddhismus aber ging einen 
Schritt weiter und erkannte als höchſtes Ziel des Seins das Nichtſein, die 
Auflöſung. In ihr liege das Glück. 

Gegenüber dieſer einſeitig ſeeliſchen Entwicklung hat es immer die 
einſeitig körperliche gegeben. Die materialiſtiſche Weltanſchauung iſt 
fo alt wie die Welt ſelbſt. Die Überzeugung, daß durch Befriedigung der 
von den verſchiedenen Sinnen des Menſchen aufſtellbaren Wünſche der 
geſamte Organismus Menſch beglückt werden könne, drückt ſich in naivſter 
Form im Märchen, ja in der Auffaſſung vom Weſen des Himmels aus. 

Es konnte dagegen einer ruhigen geiſtigen Betrachtung niemals ent: 
gehen, daß dieſe beiden Glücksauffaſſungen nicht nur einſeitig, ſondern in 
Wirklichkeit auch undurchführbar ſind. Der Menſch iſt eine Zuf ammen 
fegung von körperlichen, oder ſagen wir ſchärfer von ſinnlichen, ger 
ſtigen und ſeeliſchen Kräften. Es iſt klar, daß die wirkliche Weiterentwick⸗ 
lung dieſes Menſchen nur in der harmoniſchen Ausbildung aller 
dieſer Kräfte liegt. So ergibt ſich auf dem Wege einfacher Logik, daß 
ein wahres Beglücktſein nur bei Nichtverkümmerung irgend einer dieſer 
Kräfte möglich iſt. So unverkennbar es iſt, daß dieſe verſchiedenartigen, 
im Menſchen vereinigten Kräfte in ſich den ſteten Anlaß zur wechſelſeitigen 
Durchquerung, zur Aneinanderreibung, alſo zu Kämpfen und Konflikten 
bedeuten, ſo iſt doch ebenſo ſicher, daß ſie alle im Ideal zum harmoniſchen 
Ausgleich berufen ſind, daß ſie in dieſem Ideal nicht mehr als Gegner, 
ſondern als wechſelſeitige Steigerer auftreten müſſen, ſo daß alſo auch das 
höchſte Glücksideal der Menſchheit in der harmoniſchen Ausbildung, in der 
gleichzeitigen Befriedigung aller dieſer Kräfte liegen muß. 


“ 
Storck: Vom Geiſte deutſcher Plaſtit 877 


Es braucht nicht ausgeführt zu werden, daß die oben gekennzeich- 
neten einſeitigen Glücksbeſtrebungen dazu nicht imſtande ſind. Mögen ſie 
einem einzelnen Individuum zur vollen Befriedigung verholfen haben, ſo 
bleibt doch der Menſchheit das Gefühl, daß dieſe Einzelerſcheinungen nicht 
typiſche Geltung haben, ja daß ihre Beglückung nur durch eine nach einer 
Richtung verkümmerte Naturanlage möglich wurde. In der Praxis des 
Lebens ſehen wir auch alle dieſe Anſchauungen mit Kompromiſſen arbeiten. 

Freilich zeigt die Geſchichte der Menſchheit in jedem Falle, daß die 
Materie als Glücksbringer am engſten begrenzt iſt. Während wir bei den 
chriſtlichen Myſtikern des Mittelalters und auch bei einzelnen Geſtalten des 
Buddhismus ein hohes Beglücktſein durch rein ſeeliſche Mächte ſehen, 
braucht die Materie wenigſtens eine Verſchönerung oder Verklärung 
durch geiſtige und ſeeliſche Kräfte, um zu dieſem Glücke verhelfen zu können. 
In größtem Umfange und in ſchönſter Vollendung haben wir dieſen Su- 
ſtand im klaſſiſchen Griechentum. Das Mittel, das ihm dazu diente, 
ſein ganzes Daſein harmoniſch abzurunden und zu verklären, war die Kunſt. 
Auch ſeine Religion war eigentlich künſtleriſche Geſtaltung. Die rein 
tranſzendentalen Stimmungen des Menſchen, die natürlich auch dem Griechen⸗ 
tum nicht fehlten, wußte es in einer ganz eigentümlichen Art durch eine, 
geradezu als Reinigung wirkende zeitweilige Hingabe an dieſen Tranſzenden⸗ 
talismus in den „Myſterien“ abzufinden, und für ſein übriges Leben dadurch 
von dieſen Stimmungen frei zu werden. Tür dieſes geſamte Leben aber 
brachte die Kunſt den höchſten ethiſchen und ſittlichen Inhalt und gleich- 
zeitig die höchſte Verſchönerung des geſamten körperlichen Daſeins. 

Künſtler war auch der Menſch, in dem wir die wunderbarſte har⸗ 
moniſche Ausbildung aller körperlichen, geiſtigen und ſeeliſchen Kräfte be⸗ 
wundern: Goethe. 

Wie erklärt ſich dieſe Macht der Kunſt, die ſcheinbar unüberbrück⸗ 
baren Gegenſätze auszugleichen, ja, ſie ſo zu verbinden, daß ſie ſich wechſel⸗ 
ſeitig zu einem herrlichen Geſamtbilde erhöhen? 

Die Kunſt beſitzt die Fähigkeit, das innerſte Erleben des Men⸗ 
ſchen zur ſinnlichen Wahrnehmung, alſo in den Bereich der Aufnahme- 
fähigkeit durch die Sinne zu bringen. Das bedeutet, daß die Kunſt 
das Geiſtige und Seeliſche gewiſſermaßen zu materialifieren vermag. Am⸗ 
gekehrt vermag die Kunſt die Materie zu vergeiſtigen und zu be⸗ 
ſeelen durch höchſte Verſchönerung dieſer Materie, durch Beſeitigung oder 
doch Überwindung der in der Wirklichkeit auf dieſer Materie laſtenden Geſetze. 

Selbſt dort, wo die Kunſt denkbar weit in der Materie haften bleibt, 
für materielle Zwecke und Bedürfniſſe arbeitet, ſelbſt in der Architektur, 
erleben wir dieſen Triumph über das grob Materielle. Wenn der gotiſche 
Turm ſich zu ſchwindelnder Höhe emporreckt, ſo wird die Empfindung des 
Laſtens der Erdſchwere, der Steinmaſſen um ſo mehr aufgehoben, als dieſe 
Steinmaſſen in möglichſt durchbrochener und luftiger Weiſe emporgebaut 
werden. Wir ſehen ſchließlich beim Turm eines Straßburger Münſters 


9 
878 Storck: Bom Geifte deutſcher Piefi 


nicht mehr die Materie der Steinmaſſe, aus der der Turm beſteht, ſondern 
das Durchbrochenſein dieſer Maſſe, die Luftigkeit des ganzen Aufbaus. Am 
ſo mehr, als in Höhen, die dem Menſchen ſcheinbar unerreichbar ſind, dieſer 
ſeine höchſte Lebensluſt und Lebenskraft in künſtleriſchen Bildungen an 
dieſer Materie betätigt. Die anderen bildenden Künſte bringen dann geradezu 
eine Aberſetzung der Materie ins nicht mehr Materielle. Die Malerei zeigt 
uns, wie das durch die perſpektiviſche Kunſt lebendig materiell Wirkende in 
die Welt des Scheines hinübergebracht iſt. Bei den redenden Künſten ver 
flüchtigt ſich in ſteigendem Maße vom Tanz über Dichtung zur Muſik das 
Material, ſo daß wir in der Muſik ſchließlich überhaupt nichts Greifbares 
mehr haben, daß hier der ſinnlichen Welt nur der vorüberſchwebende, in 
ſeinem ganzen Weſen nicht haltbare Ton entnommen iſt. 

Alſo auf der einen Seite Hinüberholen des Nichtmateriellen in den 
Bereich des materiell Faßbaren; auf der anderen Seite Hinüberbringen 
der Materie ins Reich des Geiſtigen und Seeliſchen. So gibt die Kunſt 
ohne ein Jenſeits, ohne Vernichtung irgend einer Kraft, ohne Zurückſetzung 
irgend einer menſchlichen Fähigkeit die harmoniſche Ausbildung all dieſer 
Fähigkeiten zu einem wunderbaren Gebilde. So trägt fie in ſich die Mig: 
lichkeiten der Befriedigung des Menſchen in feiner Geſamtheit; fo iſt fie 
die wahre Beglückerin des Menſchen. 

* * 

Man erkennt nach dieſen Ausführungen, daß man auf zwei Wegen 
zur Kunſt gelangt, daß auf dieſen beiden Wegen die Menſchen alſo auch 
erreichen können, ſich auf dieſer Erde glücklich zu fühlen. Der eine bringt 
die Bereicherung dieſer Erde [durch die ſeeliſche Welt; auf dem anderen 
wird die Erde bis zu einer Stufe verſchönt und durchgeiſtigt, daß auch der 
vom Irdiſchen ausgehende und im Irdiſchen wurzelnde Menſch geiſtiger 
und ſeeliſcher Werte teilhaftig wird. 

Es geht uns hier nichts an, welche von beiden die höhere Kunſt, 
welcher von beiden Wegen der wertvollere fei. Man ſollte überhaupt nie 
mals in dieſer Weiſe rechten, ſondern ſich an die Ergebniſſe halten und 
ſeine Freude und Aufnahmefähigkeit nicht durch Erwägungen ſchmälern, 
die aus einer unharmoniſchen Weltanſchauung, in der die Einſeitigkeit einer 
mehr materialiſtiſchen oder mehr ſeeliſchen Auffaſſung herrſcht, erzeugt find. 
Im glücklichſten Falle — wir nannten oben den ſchönſten: Goethe — ver 
einigen ſich ohnehin beide Wege zur Einheit. 

Aber es iſt klar, daß in der Benutzung der beiden Wege ſich die 
Verſchiedenheit der einzelnen Menſchen, im weiteren Sinne der 
Völker und Naſſen offenbart. Wir ſtehen hier vor der letzten Erklärung 
der nationalen Verſchiedenheiten in der Kunſt. Auch hier wäre es ein 
Fehler, einſeitig vorzugehen, bis aufs letzte zu verallgemeinern. Ein Ver 
hängnis iſt es auch, in der Erklärung für die auffällige Tatſache des Wäb⸗ 
lens verſchiedener Wege nach einer einzigen Grundurſache zu ſuchen. Es 
iſt nicht die Raffenveranlagung allein, die das mit ſich bringt, ganz abge⸗ 


Storck: Vom Geihe deutſcher Plaſtit 879 


ſehen davon, daß wir fo ſelten Raffenreinheit finden. Es iſt aber auch nicht 
das ſogenannte Milien — wir wollen den in feiner eigentlichen Wort. 
bedeutung ja ſogar unzutreffenden Ausdruck der Kürze halber verwenden —, 
das die Erklärung für dieſe Tatſache abgibt. Es ſpielen hier auch die ge⸗ 
ſchichtlichen Erlebniſſe der Völker, die Wandlungen in den ſozialen und 
ökonomiſchen Verhältniſſen eine bedeutſame Rolle, erft recht natürlich für 
den einzelnen Künſtler. Alle diefe Kräfte zuſammen bewirken in Gemein- 
ſchaft mit der Macht der Aberlieferung, die ſich durch die Erziehung im 
höchſten Maße äußert, daß nicht nur der einzelne Künſtler, ſondern die 
größere Geſamtheit einzelner Völker von vornherein in verſchiedenartiger 
Einſtellung zur Kunſt ſtehen. 

Wir gewahren in unſerem heutigen Kunſtleben als die zwei hervor⸗ 
ragendſten Gegenſätze das romaniſche und das deutſche Verhältnis zur Kunſt, 
und um es roh auszudrücken, können wir als das Weſen der romaniſchen 
Kunſt das Herkommen von der Erde, von der Materie, — als das der 
germaniſchen den Urfprung aus den ſeeliſchen Trieben erkennen. Wir pflegen 
es auch ſo auszudrücken, daß dem Romanen die formale Kunſt, dem Ger⸗ 
manen die ſeeliſche vor allem eigne. Einzelne Ausnahmen gibt es hüben 
und drüben. Daß dabei ſicher oft Blutmiſchungen die letzten Urfachen find, 
hat Ludwig Woltmann am germaniſchen Bluteinfluß bei romaniſchen Künſt⸗ 
lern nachgewieſen. Wir haben dafür ſicher auch oft genug mit ſemitiſchem 
Blut zu rechnen. 

Im letzten Grunde find aber ſicher auch beſonders glückliche Amſtände 
des rein perſönlichen Lebens in früher Jugend imſtande zu bewirken, daß 
in der einzelnen Künſtlernatur von vornherein beide Kräfte am Walten ſind. 
Wenn wir Deutſche an Mozart und Goethe denken, ſo haben wir zwei 
wunderbar leuchtende Beiſpiele für das völlige Einswerden ſeeliſcher und 
formaler Kultur. Wir haben darüber hinaus in Mozart zweifellos jenen 
Künſtler hervorgebracht, dem die höchſte apolliniſche Verklärung des Irdi⸗ 
ſchen gelang, bei dem die Verſchönerung der Materie auf eine fo bobe 
Stufe gebracht worden iſt, daß wir ſie geradezu nur noch ſeeliſch mitzu⸗ 
erleben vermögen. Und wenn wir vom Olympiertum Goethes ſprechen als 
einem jupiterhaften Thronen über allen Widerſprüchen der Erde, fo haben 
wir durch Mozart auch das apolliniſche Olympiertum, das vermöge ſeiner 
göttlichen Glücksveranlagung aus allen Erſcheinungen heraus nur das Har⸗ 
moniſche erlebt, von dieſen Gegenſätzen alſo gar nicht mehr berührt wird. 
Aber dieſe beiden Künſtler ſind auch innerhalb der an Erſcheinungen ſo 
ungeheuer reichen deutſchen Kunſt Ausnahmeerſcheinungen; und nicht nur 
ihre Stellung in der Welt, ſondern auch unſer Empfinden gegenüber ihren 
Perſönlichkeiten und ihrer Kunſt kennzeichnet ſie uns als die univerſalſten 
Künſtler der Welt. 

Im allgemeinen iſt es eine unleugbare Tatſache, daß die deutſche 
Kunſt in der Kultur der Sinne, in der Kultur der Formen hinter der 
romaniſchen zurückſteht. Die deutſche Kunſt iſt ihrem ganzen Weſen nach 


880 Storck: Vom Geifte deutſcher Piatti 


Ausdruckskunſt, das heißt Verſuch, das ſeeliſche und geiftige Leben 
mitzuteilen, während die geſamte Richtung der romaniſchen Kunſt dahin 
geht, die Erſcheinungen der Welt ſich künſtleriſch zu eigen zu machen. Die 
romaniſche Kunſt zieht alſo ihre Nahrung aus der Umwelt, die deutſche 
aus der Innenwelt. Daß dieſe Anlage von vornherein im deutſchen Weſen | 
liegt, iſt unverkennbar. Sie zeigt fic) von den erften Anfängen unferer 
Kunſt, offenbart ſich am charakteriſtiſchſten dort, wo ſcheinbar ein Gleiches | 
angeftrebt wird wie in ausländiſcher Kunſt. Darin liegt im pſychologiſchen 
Sinne der unvergleichliche Wert der mittelalterlich ritterlichen Kunſt, weil 
dieſe im letzten Grunde Übernahme iſt romaniſcher Kunſt, z. B. bis zu 
einem gewiſſen Grade einfache Aberſetzungsliteratur, wobei ſich nun doch 
in tauſend Einzelheiten in der Einſtellung zu dieſer geſamten Welt das 
deutſche Weſen offenbart. Man denke auch in der Plaſtik etwa an die 
Geſtalten der „Kirche“ und „Synagoge“ am Straßburger Münfter, die 
„ſtiliſtiſch“ unverkennbar von Frankreich herkommen, in der Art, durch die 
Körperhaltung einen ſeeliſchen Inhalt auszudrücken, in der franzöſiſchen 
Plaſtik der Zeit aber kein Seitenſtück haben. 

Wir haben dann eine Zeit gehabt, in der unſere gefamte Lebens⸗ 
kultur ſich blühend entwickelte. Das fünfzehnte, und auch die erſten Zeiten 
des ſechzehnten Jahrhunderts zeigen den geſamten Lebensſtand des deut⸗ 
ſchen Volkes in einer hohen Pflege des äußerlichen, körperlichen Daſeins, 
in einer hohen Freudigkeit an den materiellen Genüſſen dieſes Daſeins und 
einer großen Fähigkeit, dieſes materielle Leben zu verſchönern. Zu unter: 
ſuchen, wie weit dieſe Entwicklung weiter zu führen geweſen wäre, ware 
müßig. Am fo mehr als jene ungeheure Geiſtesbewegung, die wiederum 
die ſeeliſche Frage in den Mittelpunkt des deutſchen Lebens rückte, ja feines 
wegs von außen aufgezwungen, ſondern höchſte Betätigung deutſchen Weſens 
war: Die Reformation ift letzterdings die deutſche Renaiſſance. Daß die 
durch die ganze Welt gehende Bewegung des Individualismus (das wer 
letzterdings die Renaiffance) in Deutſchland ſich fo ganz anders offen 
barte als in den romaniſchen Ländern, wo ſie ja vielfach zur höchſten Ent⸗ 
faltung körperlicher Kultur geführt hat, iſt ſchließlich ein erneutes Zeichen 
für die Abermacht dieſer ſeeliſchen Veranlagung im Deutſchen. N 

Der Dreißigjährige Krieg als Abſchluß langer, vorangehender Kampf. 
zeiten brachte dann nicht nur die Zerſtörung aller vorhandenen Lebens⸗ 
kultur, ſondern auf lange hinaus die Vernichtung aller ökonomiſchen Grund: 
lagen einer materiellen Kultur. Wenn man in ſo erbärmlichen Verbält- 
niſſen um die Bedingungen des nackten Daſeins zu kämpfen hat, denkt man 
gar nicht an die Schönheitsgeſtaltung dieſes Daſeins. So war es denn 
auch ſelbſtverſtändlich, daß, wer überhaupt an eine ſolche Erhöhung des 
Lebensgenuſſes denken konnte, ſich die Mittel aus jenem Auslande ver: 
ſchrieb, in dem fie zur höchſten Entwicklung gediehen waren. Damit gene: 
nicht nur die Lebensführung der vornehmeren deutſchen Schichten, ſondern 
auch deren Geiſt in die Abhängigkeit vom Auslande. Infolgedeſſen bedurften 


| 


Storck: Vom Geiſte deutſcher Plaſtit 881 


wir, um überhaupt wieder ein Volk zu werden, vor allen Dingen der 
geiſtigen Befreiung. Was damals den Deutſchen aufrechterhalten 
konnte, lag nicht innerhalb der ſinnlichen und materiellen Welt. Das waren 
nur geiſtige und vor allem ſeeliſche Mächte. 

In jener Zeit iſt die deutſche Religioſität im Volke wieder ſtark empor⸗ 
geblüht, wie ja auch vor allen Dingen die Religion geholfen hatte, die 
ſchwere Leidenszeit zu überſtehen. Die Kunſt aber, die jetzt erblühte, war 
ein Aufbäumen dieſer ſeeliſchen Kräfte gegen die Heimſuchungen durch die 
materielle Welt. In jener Zeit iſt die Muſik zur Kunſt des deutſchen 
Volkes geworden. Man betrachtet gewöhnlich die Entwicklung der Künſte 
zu einfeitig von der Entwicklung einer Kunſt aus. Und fo pflegt man auch 
den geiftigen Wiederaufſchwung des deutſchen Volkes von feiner literari« 
ſchen Erhebung zu datieren. Man überſieht dabei, daß Klopſtocks früheſtes 
Auftreten (1748) beinahe mit dem Todes jahre des Riefen Joh. Seb. Bach 
zuſammenfällt, in dem der deutſche Geiſt eine der gewaltigſten und tiefſten 
Offenbarungen aller Zeiten gefunden hat. Aber auch Bach war letzterdings 
nur die Krönung einer ihm vorausgehenden, mehrere Jahrzehnte blühenden 
muſikaliſchen Entwicklung. — Auf die Mufit, die ſeeliſchſte aller Künſte, 
folgte dann die Wiedererhebung der Dichtung, und erſt zuletzt die der bil- 
denden Künſte; ja wir können lange Zeit von einer wirklich bodenſtändigen 
und eigenwüchſigen deutſchen bildenden Kunſt nicht ſprechen. Und bezeich⸗ 
nenderweiſe hat auch hier ein Mann der Feder für das neue Verſtändnis 
an bildender Kunſt mehr gewirkt als die bildenden Künſtler ſelber. Winckel⸗ 
manns Arbeiten ſind für das Verſtändnis der Antike bedeutſamer geworden, 
als die Malerei eines Raphael Mengs, der ja auch ſelber als Wirkungs⸗ 
ſtätte das Ausland aufſuchte. 

Die Verhältniſſe haben ſich ſeither langſam gewandelt, und ſicher 
dürfen wir den unverkennbaren Aufſchwung in der Stellung der bildenden 
Künſte innerhalb des geſamten deutſchen Kulturlebens mit der geſamten 
Steigerung der nationalen und ökonomiſchen Wohlfahrt unſeres Volkes in 
Parallele ſetzen. Der Aberzeugung können wir uns aber nicht verſchließen, 
daß das deutſche Volk nach ſeiner Anlage, die durch ſeine Erlebniſſe noch 
verſtärkt worden iſt, in der Kunſt vor allen Dingen das Hilfsmittel 
zur Stärkung ſeines ſeeliſchen und geiſtigen Lebens beſitzt; 
daß es dagegen in der rein ſinnlichen Kultur im Bedürfnis ſowohl wie in 
der Fähigkeit, die Erſcheinungen des Lebens als ſolche zum Inhalt der 
Kunſt zu machen, hinter den romaniſchen Völkern zurückſteht. 

Betrachten wir von den oben entwickelten Geſichtspunkten aus die 
einzelnen Künſte daraufhin, ob ſie mehr jener Kunſtentwicklung dienen, die 
die ſeeliſchen Kräfte ins Irdiſche hineinzwingen oder die irdiſchen Mächte 
binaufentwideln zum Beſitz eines hohen geiſtigen Lebens, fo werden wir 
als das natürlichſte Gebiet, auf dem die Geiſtigkeit ſich betätigt, vor allen 
Dingen die Muſik und dann die Poeſie erkennen, während die bildenden 


Künſte dadurch, daß ſie ja die künſtleriſche Geſtaltung des von der Sinnen⸗ 
Der Zürmer X, 12 57 


882 Storck: Vom Geiſte deutſcher Pichi 


welt Dargebotenen ſind, mehr der Entwicklungslinie der Körperlichkeit an⸗ 
gehören. Das beſtätigt ja auch die geſchichtliche Entwicklung. And daher 
kommt es, und damit kehren wir zum Ausgangspunkt dieſer Ausführungen 
zurück, daß die bildenden Künſte nicht mit jener Naturnotwendigkeit aus 
dem deutſchen Leben hervorwachſen wie Muſik und Poeſie. Oder aber, 
dieſe bildenden Künſte müſſen für den Deutſchen etwas 
anderes werden, als ſie dem Nomanen ſind. Sie dürfen nicht bloß 
höchſter Ausdruck der ſinnlichen Kultur ſein, ſondern müſſen auch zu einem 
Werkzeug der ſeeliſchen Kultur werden können. 

Hier liegt in der Tat die Sonderſtellung der deutſchen bil⸗ 
denden Kunſt innerhalb derjenigen der geſamten Welt; hier ihr höchſter 
Wert. Hier allerdings auch der Grund dafür, weshalb die deutſche bildende 
Kunſt von ſchwereren Problemkämpfen über ihre Aufgabe erſchüttert worden 
iſt als jede andere; hier der Grund, weshalb unſere bildenden Künſtler ſchwerer 
haben ringen müſſen um die Ausdrucksmittel ihrer Kunſt als die der anderen 
Völker; hier die Urfache für die Zwieſpältigkeit, die im Leben der bildenden 
deutſchen Kunſt von je her bis auf den heutigen Tag geherrſcht hat. Es würde 
zu weit führen, in dieſem Zuſammenhange dieſe feſſelnden Probleme, die ſich 
ſchließlich auf die Frage „Form und Inhalt“ zuſpitzen, näher zu unterſuchen. 

Als Sehen und Schauen können wir in der bildenden Kunſt jene 
beiden großen Gegenſätze bezeichnen. Sie decken ſich nicht mit Realismus 
oder Naturalismus und Idealismus; vor allem nicht, wenn man den les: 
teren im Sinne von Schönheitsgeſtaltung auffaßt. Denn dieſe Schönheit 
offenbart ſich doch ausſchließlich im Körper. Idealismus und Naturalismus 
find im Grunde nur Berg und Tal in der Wellenbewegung, die die Auf- 
faſſung von körperlicher Schönheit im Laufe der Zeiten durchmacht. 
Diefe Bewegung geht von der möͤglichſt treuen Kopie der Einzelerſchei⸗ 
nung in der Natur bis zum Schaffen eines aus einer unendlichen Zabl 
dieſer Erſcheinungen abgeleiteten Kanons, wie ihn Polyklet und Lyſipp für 
das Altertum aufgeſtellt haben, wie ihn die Renaiffance wenigſtens an 
ſtrebte. Die ſeeliſche Kunſt dagegen bedarf keines ſchönen Körpers zum 
Ausdruck, und gar ein ſchöner Normaltypus würde ihr ihre Aufgabe nur 
erſchweren. Es iſt für dieſes Verhältnis bezeichnend, daß die griechiſche 
Kunſt dieſen Normaltypus aufgab, als fie Charakteriſtik anſtrebte. 

In der Natur der Bildhauerei liegt es nun, daß die Entwicklung 
fic) zumeiſt auf jener Linie zwiſchen getreuer Naturnachbildung und idea: 
liſtiſchem Typus bewegt, daß ſie das Körperliche faſt ausſchließlich betont, 
daß ſie im Grunde für freie, ſchweifende Phantaſie wenig Gelegenheit 
bietet. Lionardo da Vinci, der bekanntlich beide Künſte übte, hat auch auf 
dieſen Anterſchied zwiſchen Malerei und Bildhauerei hingewieſen und ge⸗ 
meint, daß jene mehr den Geiſt, dieſe mehr den Körper des Künſtlers an- 
ſtrenge, woraus natürlich auch eine Verſchiedenartigkeit der Ctoffgebiete 
folge. In der Tat müſſen Gedanken und Geſtalten der Phantaſie, muß 
die Verkörperung des im Grunde Körperloſen in einer Kunſt, die mit einem 


„ 
* 
wi. 
. 


Storck: Bom Geifte deutſcher Plaftit 883 


fo greifbaren, dreidimenſionalen Material arbeitet, ſeltſam berühren. Könnte 
man ſich Böcklins Gemälde, trotzdem einer ihrer Hauptvorzüge in ihrer 
glänzenden Raumgeſtaltung liegt, in der Plaſtik denken? Oder wem haben 
umgekehrt die Engelsköpfe auf der Stuhllene des Klingerſchen „Beethoven“ 
nicht zunächſt das etwas peinliche Gefühl wachgerufen, daß ſie ſich in den 
Körper Beethovens eindrücken müßten, ſobald er ſich zurücklehnen würde? 
Wäre das Ganze ein Gemälde, man hätte dieſen Engelsköpfen gegenüber 
niemals den Eindruck des Körperlichen gehabt, ſondern ſie als flatternde 
Gedanken aufgefaßt. Es zeigt ſich aber ſchon in ſolchen Kleinigkeiten, daß 
Klingers Beethoven eigentlich maleriſch, letzterdings als Radierung gedacht iſt. 

In der Bildhauerei ſteht an Stelle dieſer Phantaſiegeſtaltung die 
pſychologiſche Durchdringung des Körpers, die Geſtaltung der 
Seele in den Körperformen. Weil das ebenſo ſelten iſt wie die Böcklinſche 
Fähigkeit, mit den Kräften feiner Phantaſie aus dem Chaos der Phantafie- 
vorſtellungen nie geſehene Weſen lebensfähig zu ſchöpfen, weil dazu eine 
Art geiſtiger Sehſchärfe gehört, die an fic mit dem geſteigerten Sehen— 
können des Künſtlerauges nichts zu tun hat, ſind Bildhauer dieſer Art zu 
allen Zeiten fo ſelten geweſen. Deshalb behauptet die Maſſe der Bild— 
hauer im Gegenſatz zur Malerei heute noch wie ehedem, in der Theorie und 
mehr noch in der Praxis, daß ohne allegoriſche Zutaten nicht auszukommen ſei. 
In dieſen Beigaben ſtecken dann die ſogenannten Gedanken und Einfälle, hier 
iſt der Spielraum der Phantaſie, während in der Hauptgeſtalt ſelbſt nur die 
körperliche Erſcheinung wiedergegeben wird. Und man verträgt dieſes äußer- 
liche Verhältnis, einem Bildwerk ſeinen geiſtigen Gehalt durch Beigaben zu 
verleiben, der Bildhauerei gegenüber auch heute noch in weiten kunſtliebenden 
Kreiſen, die es bei der Malerei undenkbar und unerträglich finden würden. 

Es iſt aber kein Grund einzuſehen, weshalb es dem Bildhauer nicht 
möglich ſein ſollte, die menſchliche Perſönlichkeit ohne erklärendes Beiwerk 
geradeſo überzeugend darzuſtellen, wie dem Maler. Den Vorteil, der im 
ſinnlichen Ausdrucksmittel der Farbe liegt, gleicht das Plaſtiſche des Ma- 
terials, das völlig den Raumverhältniſſen des Körpers folgen kann, doch 
zum wenigſten aus. Was aber bei der Darſtellung des Individuellen 
erreichbar iſt, muß auch für die des Typiſchen gelten. Denn dieſes iſt ja 
nur gehobene Individualität. So gut es gelingen muß, eine eitle Frau 
zu charakteriſieren, ſo gut muß man auch die Eitelkeit durch eine Frauen⸗ 
geſtalt ausdrücken können, ohne daß man dieſer eine Pfauenfeder oder einen 
Spiegel in die Hand gibt. Niemand wird leugnen, daß es menſchliche Ere 
ſcheinungen gibt, in denen eine gewiſſe ſeeliſche Eigenſchaft ihres Trägers 
in geradezu augenfälliger Weiſe zum Ausdruck kommt. In einem ſolchen 
Falle würde alſo bereits eine ganz treffende naturgetreue Wiedergabe dieſer 
körperlichen Erſcheinung zum Ausdruck der betreffenden ſeeliſchen Eigen⸗ 
ſchaft ausreichen. Das Wählenkönnen, das Betonen des Weſemlichen gegen⸗ 
über dem Zufälligen, iſt für jede künſtleriſche Arbeit unerläßlich. Dieſe 
Arbeit in höchſtem Maße zu leiſten dadurch, daß er überhaupt nur ſolche 


884 Neue Bücher 


Individuen wählt, die ihrer körperlichen Erſcheinung nach die betreffende 
Eigenſchaft haben können, daß er ſodann alles dieſen Ausdruck Steigernde 
herausholt, das andere zurückdrängt, iſt die Aufgabe des Künſtlers, der in 
Körperformen Seelenleben geſtalten will. 

Ich glaube, in dieſen Worten das Weſen der deutſchen Plaſtik auf 
eine kurze Ausdrucks formel gebracht zu haben. 


N 
Neue Bücher 


Das Automobil 217 -U U. Text von Edmond Cuénoud. Zeichnungen 
von Carlégle. Aberſetzung von Gräfin Eckbrecht v. Dürdipeim-Montmartin. 
(Verlag Hans v. Weber, München.) 

Ich halte fie für „unverbeſſerlich“ — die Automobiliſten nämlich, fonft 

ſollte man ihnen dieſe ſchauerliche Geſchichte eines moraliſch veranlagten Kraft · 

wagens, der von einem unvernünftigen Fahrer gelenkt wird, in einer Taſchen 

ausgabe überreichen, die ſie ſtets bei ſich tragen müſſen. Aber, wie geſagt, ich 
halte ſie für unverbeſſerlich. And ſo werden ſie von dem Buche entweder gar 
keinen Eindruck haben, oder fie werden ſich an den keck hingeworfenen, mit un- 
gemein feinem Farbenſinn ausgetuſchten Zeichnungen ergötzen, die eine erleſene 

Probe echten franzöſiſchen Abermuts ſind. Das Schickſal des böſen Fahrers 

aber, der von ſeinem erzürnten Wagen abgeworfen wird, wird ſie ebenſowenig 

erſchüttern wie der Selbſtmord des Wagens, der von ſeiner Reue erſt durch 

die Welt getrieben wird und ſchließlich die letzten Benzintropfen dazu ver · 

wendet, um ſich noch ins Waſſer zu ſtürzen. Die Aberſetzerin hätte übrigens 

gut daran getan, wenn ſie ſich eine der letzten Nummern der „Zeitſchrift des 

Deutſchen Sprachvereins“ verſchafft Hätte, allwo fie eine lange Reihe von Ver⸗ 

deutſchungsvorſchlägen für das ſchreckliche Wort Automobil gefunden hätte. 

Das wäre um fo vorteilhafter geweſen, als’ dieſe Verdeutſchungsreihe für jed- 

wedes Empfinden einen paſſenden Ausdruck dargeboten hätte. Ich kann der 

Verſuchung nicht widerſtehen, zu allgemeiner Gemütsergötzung und Belehrung 

die betreffenden Strophen des Lohmeyerſchen Gedichtes hierherzuſetzen: 

„Seht, wie ein Engel naht der Nache, Der Höllenktutfher, der Tuthornlutſcher, 

Der Hachepachemachedrache: Der Schunkelunkel, der Grabenrutſcher. 

's Automobil, der Aberwagen Der Oünſtlerkünſtler, der Brodemſpucker. 

(Man kann aud Flutſchekutſche fagen); . Der Meilenſchlucker, der Wegſtaubſchnucker. 

Selbſtfahrer auch, Kraftwagen heißt es, Der Riehwart, Duftſchuft, Spring ins feld, 

And Menſch und Vieh zu Boden ſchmeißt es; Der Stinkſink, Fauchgauch, Rudindiewelt, 

Bisweilen um ſich ſelber Treift es, Der Obertober, der Schmettervetter, 

And ekles Fleckenwaſſer ſpeiſt es, Der Plogprog — halt, zum Donnerwetter 

And viel zerreißt es, oft entgleiſt es, Genug, genug! ich mache Schluß, 


Man ſieht und riecht mit Schrecken meiſt es; Weil alles mal ſich end' gen muß. 
Nur wer eins hat, der freilich preiſt es Hab' mir den Zorn geſchimpft vom Herzen 


Als „Weltrekord des Menſchengeiſtes. 
Doch ſeht, es ſteht, das Tufftufftuff, 

Das Höllenroß, genannt Muffmuff. 

And oben thront — horreur! malheur! — 
Der Redakteur, der Herr Chauffeur. 

Der Kraftner, Lenker, Fahrer, Führer, 
Der Fahrwart, Blis fritz, Staubaufrübrer, 
Der Stänkerlenker, der Mordſportdenker, 
Der Haſenhenker, der Naſenkränker, 


And — fühl’ nun faſt der Reue Schmergen. 
Drum eh' ich geb', ich gift'ger Tadler. 
Ruf ich: Verzeih, du Straßen - Adler: 
Was ich auch gegen dich erſann, 

Biſt doch vielleicht der Zukunftsmann. 
Was jugendwild feet in dir gärt — 

Sorg, daß ſich's fest, ſorg, daß ſich' klärt, 
Daß fic der Moft als Wein bewädrt. ö 
And — nenn dich deutſch und dein Geräbrt: 


3 


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‘ix! 


Richard und Minna Wagner 
Eine Tragödie 
Aus Richard Wagners Briefen dargeftellt 


von 


Dr. Karl Storck 


zm 3. Januar 1866 ſchreibt Wagner an ſeine Schweſter Louiſe 
Brockhaus, daß er an ſeiner Biographie diktiere. Er ſei nun 
bis zum einundzwanzigſten Jahre vorgedrungen. „Bis zu 
dieſer Lebenszeit konnte ich nur in heiterem Tone ſelbſt über 
alle meine Verirrungen berichten: von da ab wird mein Leben ernſt und 
bitter, und ich fürchte, der heitere Ton wird nun mich verlaſſen — es kommt 
meine Heirat! Von ihr weiß kein Menſch, was ich durch ſie ge— 
litten habe!“ . 

Doch heute wiffen wir es oder können es wenigſtens nachfühlen. 
In zwei Bänden von zuſammen ſechseinhalb hundert Seiten liegen uns 
die Briefe „Richard Wagners an Minna“ Wagner vor. (Berlin, Schuſter 
& Löffler, Mk. 10.—.) 269 Briefe ſind hier vereinigt; der letzte iſt vom 
28. September 1863. Warum die Briefe mit dieſem Tage abbrechen, 
wird uns nicht erklärt. Es wären natürlich die Briefe, die Wagner aus 
der Münchener Zeit an ſeine getrennt von ihm lebende Frau richtete, für 
uns beſonders wertvoll geweſen. Das iſt aber nicht die einzige Merk— 
würdigkeit dieſer Ausgabe, die in einer von jeglicher Herausgebertätigkeit 
fo baren Form vor uns hintritt, daß es etwas Auffälliges hat. Kein Re- 
giſter, keinerlei Anmerkungen über die angeführten Perſonen, keinerlei Mit- 
teilungen über die Art der Auslaſſungen in den Briefen; überhaupt nichts, 
als der nackte Text. So oft den Briefausgaben zu viel der Erläuterungen 
beigegeben werden mag — bier iſt zweifellos zu wenig geſchehen, was 
für die Wirkung der Veröffentlichung ſehr zu bedauern iſt. Denn dieſe 
Bände ſind berufen, endgültig und in den weiteſten Kreiſen Klarheit zu 
ſchaffen über das Verhältnis Wagners zu ſeiner erſten Frau. Ich habe es 


886 Storck: Nichard und Minna Wagner 


allen früheren Briefveröffentlichungen gegenüber betonen können, daß meines 
Wiſſens noch kein Künſtler ſo durch das Bekanntwerden ſeiner intimſten 
Lebenskundgebungen gewonnen hat, wie der Menſch Richard Wagner. 
And fo wächſt er durch dieſe Briefe, die an das ihm während dreier Zahr: 
zehnte am nächſten verbundene Weſen gerichtet ſind, am allerbedeutſamſten. 
Nirgends noch hat ſich die Gütigkeit, die das Grundweſen der Natur 
Wagners war, fo ſchön geoffenbart, wie hier. Nirgendwo iſt feine Liebe 
fähigkeit, die ganz ſelbſtlos iſt und darum zum Mitleiden mit den anderen 
wird, ſo leuchtend hervorgetreten. Daraus erwächſt die einzigartige Geduld 
dieſer fo leidenſchaftlich veranlagten Natur gegenüber einem anders ge 
arteten Weſen, das wie feine Frau ihn niemals verftand, ihn niemals er- 
kannte und ihn, allerdings gegen den eigenen Willen und zur Selbſtqual, 
faft durch jede Äußerung peinigte. Bewundernswert zeigt fic auch biet 
wieder Wagners einzigartige Lebenszähigkeit, ſein unvergleichlicher Mut. 
Nicht nur in der Art, wie er dieſe Jahre furchtbarſter äußerer Lebens not 
durchkämpfte, wie er aus jedem einigermaßen glücklichen Anzeichen neuen 
Anſporn gewinnt, ſondern daß er auch in ſeiner unglücklichen Ehegeſchichte 
immer wieder an die Möglichkeit der Beſſerung glaubte, und wo die Ver⸗ 
gangenheit trübe war, in elendeſter Gegenwart auf eine ſchöne Zukunft 
rechnete. Wie oft hat man dieſen Mann als ſelbſtſüchtig geſcholten. Ich 
kann mir eine ſelbſtloſere Natur nicht denken, als ſie ſich nun in dieſer 
ſtattlich gewordenen Reihe von Briefbänden offenbart. Selbſtſüchtig, ja, 
wenn man dem Irrtum verfällt, als ſuche er für ſeine Perſon, was er 
für die Sache erſtrebte. Es iſt etwas Wunderbares, wie dieſer Menſch 
früh ſeinen hohen Lebensberuf erkennt, wunderbar, wie er ihm treu bleibt, 
wie er für deſſen Erfüllung alles einſetzt, am wenigſten dabei ſich ſelber 
ſchont. And wo es dieſe Sache gilt, da iſt er rückſichtslos, da ſind ſeine 
Anſprüche fo hohe, daß wir es begreifen, wenn die im Bann des Gewöbhn⸗ 
lichen Stehenden unter ſeinen Zeitgenoſſen über dieſen Menſchen die Köpfe 
ſchüttelten. Da erſcheint es ihm ſelbſtverſtändlich, daß jeder, der ſich ſein 
Freund nennt, Opfer an jenem Materiellen bringe, das er ſelbſt jo ge 
ring achtete. 

Aber ſoweit ſeine eigene Perſon in Betracht kommt, da gibt er nur. 
Man muß es in ſeinen Briefen verfolgen, wie ſich je nach dem Adreſſaten 
ſeine Art ändert, wie er keinem ſich aufzwingt, ſondern jedem das zu ſein 
verſucht, was der begreifen kann. And von keinem verlangt er etwas; aber 
mit rührender Dankbarkeit erſchließt ſich die überquellende Fülle ſeines 
Herzens gegenüber jedem, der ihm Liebe und Freundſchaft entgegenbringt. 
Gerade wenn man neben dieſe Briefe an Minna jene an Mathilde Weſen⸗ 
donck hält, fühlt man dieſen Unterfchied. Er hatte früh erfahren müſſen. 
daß Minna für ſein innerſtes Künſtlertum das Verſtändnis abging. So 
unterhält er ſie denn von allen äußeren Erſcheinungen und Lebenserfahrungen 
ſeiner Kunſt, verweilt mit beſonderer Ausführlichkeit auf jenem einzigen 
Gebiete, wo ſie beide innerlich ſich begegnet zu ſein ſcheinen, in der Liebe 


Storck: Richard und Minna Wagner 887 


zu den Tieren. Erſtaunlich iſt es, wie Wagner bei aller Gehetztheit ſeines 
Lebens die Zeit zu dieſem ausführlichen Briefwechſel findet; wie er ſich 
über die Kürze von Briefen entſchuldigt, die uns Heutigen, mehr an den 
Telegrammſtil Gewöhnten, bereits lang erſcheinen. Unverwüſſtlich iſt auch 
der Humor dieſes Mannes, der ihm hier leider ſehr oft in der Form der 
Ironie als Waffe dienen muß gegen die ewigen Quälereien und Quängeleien 
einer kleinen Natur. Denn das iſt das Schlimme: dieſe Frau war nicht etwa 
bloß klein an Geiſt, ſondern klein an der Seele, klein am Herzen. Aber auch 
das war für dieſen Edelmenſchen nur ein Grund, um ſo gütiger gegen ſie zu 
ſein. Er hatte eben Mitleid für ſie, die durch eigene Schuld, oder genauer 
durch die eigene Veranlagung dort leiden mußte, wo ſie allen Grund hatte 
glücklich zu ſein. — 

Die Briefe ſetzen Mitte Juli 1842 ein, als Wagner in Dresden zur 
Einſtudierung feines „Rienzi“ eingetroffen war. Die Ehe, die der drei— 
und zwanzigjährige Richard Wagner am 24. November 1836 mit der vier 
Jahre älteren, durch Schönheit hervorragenden Schauſpielerin Wilhelmine 
Planer geſchloſſen hatte, war damals bereits hart geprüft. Nicht nur 
durch die äußeren Schickſale, die der allzu früh und unter den denkbar un- 
günſtigſten Verhältniſſen geſchloſſenen Verbindung auflaſteten. Es war 
auch bereits im erſten Jahre zu fo ſtarken inneren Mißverſtändniſſen ge- 
kommen, daß Minna ihren Gatten verlaſſen hatte und dieſer an die Scheidung 
der Ehe dachte. Wagner ſelber hat über dieſe Geſchehniſſe niemals ge⸗ 
ſprochen, und die Taktloſigkeit, mit der Wilhelm Tappert offenbar ver- 
ſtümmelte Berichte für feine kleine Studie („Muſik“ 1901/02) ausnuste, 
hat nur mehr Anklarheit gebracht. Um fo wertvoller iſt ein Brief dieſer 
Sammlung (No. 172), aus dem wenigſtens einiges Licht auf die damaligen 
Geſchehniſſe fällt. Nun, Minna war damals zu ihrem Gatten zurückgekehrt, 
und fie hat die entſetzlichen Notjahre von Königsberg, Riga und Paris 
treu mit ihm durchgehalten. Das hat ihr Richard Wagner nie vergeſſen, 
ſie allerdings auch nicht. Das Schlimme war, daß ſie in dieſen Zeiten der 
Not wohl überhaupt aus der ganzen Kleinlichkeit heraus, aus der ſie ſtammte, 
als höchſtes Lebensziel, das ein Mann ſich ſtellen, als höchſtes Lebensgut, 
das ihr der Mann, den ſie auf ihre Weiſe ſicher liebte, bieten konnte, eine 
gute äußere Stellung und einen äußerlich glänzenden künſtleriſchen 
Erfolg anſah. Sie hat es wohl kaum jemals geahnt, daß ihr Gatte ſich 
zu Höherem berufen fühle, oder jedenfalls dann kein Verſtändnis dafür haben 
können, weil ſie ja eben dieſes Höhere nicht einſah. Daß ſie um mehrere 
Jahre älter war als er, mag dazu beigetragen haben, wie auch die Kinder⸗ 
loſigkeit der Ehe. Aber ſie konnten nicht voneinander loskommen. Wo ein⸗ 
mal wirkliche Liebe vorhanden geweſen iſt, vermag ſie eben niemals zu 
ſterben. Sicher oft zum Unglüd der betreffenden Menſchen. Ein Unglüd 
war es in dieſem Falle für beide. Immer wieder hat man das Gefühl, 
daß die Scheidung eine Erlöſung hätte für ſie ſein müſſen. Aber nicht 
nur Richard Wagner dachte niemals an eine ſolche, ſah immer nur in zeit⸗ 


888 Storck: Richard und Minna Wagner 


weiliger Trennung des Aufenthaltsortes das Heilmittel, ſondern auch für 
Minna war dieſe Scheidung immer die ſchrecklichſte Vorſtellung, trotzdem 
ſie ſicher ſein konnte, daß Wagner für das äußere Behagen ſeiner ge⸗ 
ſchiedenen Frau ebenſo aufopferungsvoll geſorgt haben würde. And doch 
iſt das Beieinanderſein für beide eine ſtete Quälerei geweſen. Das fühlen 
wir trotz der vielen lieben Briefe durch, aus denen echte Herzlichkeit und 
wirkliches Gefallen immer wieder hervorbrechen. Was manchen aber ent: 
fernt hätte, band Wagner nur noch feſter an fie: ihre ſtete Kränklichkeit. 
Ein früh eintretendes Herzleiden zerſtörte in ſteigendem Maße Minnas 
Nervenſyſtem. Wagner hörte nie auf zu hoffen, daß durch die Beſſerung 
des körperlichen Zuſtandes doch noch einmal die Grundlage für ein glüd- 
liches geiſtiges Zuſammenſein geſchaffen werden würde. Denn ach, ihn ver⸗ 
langte ja nichts mehr als nach einer ſchönen, ruhigen Häus lichkeit. 
In dieſer hatte er die Grundlage ſeines künſtleriſchen Schaffens 
erkannt. Sie ſich zu ſchaffen, hat er keine Mühe geſcheut, hat er auch 
immer wieder mit Minna den Verſuch gemacht. Sie ſollte ihm erſt am 
Abend ſeines Lebens mit einer anderen Frau beſchieden ſein. — 

Dresden hatte 1842 die Erfüllung des Lebenstraumes von Minna 
Wagner gebracht. Ihr Mann war königlicher Kapellmeiſter. Sie genoß 
mit ihm den Rieſenerfolg des „Nienzi“. Der war und blieb ihre Oper. 
Sobald Wagner die Bahn des Gewohnten verließ, vermochte ſie ihm nicht 
mehr zu folgen; oder wohl beſſer, ſie wollte nicht. Sie fühlte ſich ſo wohl, 
in ihrer Geburtsſtadt in angeſehener Stellung zu leben, daß ſie vor allem, 
was das Erreichte irgendwie gefährdete, Scheu empfand. So begegnete ſie 
den weiteren Arbeiten ihres Mannes eigentlich mit verletzender Gleich 
gültigkeit. Er war nach Berlin geeilt, um dort der Aufführung ſeines 
„Fliegenden Holländers“ beizuwohnen. Seine Briefe an die zurückgebliebene 
Gattin ſind voll wahrer Sehnſucht. 

„Du haſt keinen Begriff, wie ſehr Du mich geftern durch Dein Nicht 
kommen betrübt haſt. Soeben komme ich wieder von der Eiſenbahn zurück, 
wo ich war, um Dich abermals zu erwarten: — auch da kamſt Du nicht!“ 
(7. 1. 1844.) 

And fie kam wirklich nicht zu der am nächſten Tag ſtattfindenden 
Aufführung, über die er ihr trotzdem ſofort in der Frühe des nächſten 
Morgens berichtete. 

„Gott, was erlebt man nicht alles an ſo einem Abende wie geſtern: 
was iſt nicht alles in mir vorgegangen! Es war einer der entſcheidungs· 
vollſten Abende für mich! — Denke Dir, — ich trete mit dieſer phantaſtiſchen 
(dem „Fliegenden Holländer“), gänzlich von allem jetzt Gehörten und Ge 
wöhnten verſchiedenen Oper, die von Anfang herein ſo wenig Verlockendes 
und Belohnendes bietet, vor ein mir wildfremdes Publikum! Ich empfand 
dies deutlich: da war mir kein einziger aus dieſem Publikum perſönlich be- 
freundet, niemand im voraus für mich eingenommen; — mit gewöhnlicher, 
kalter Neugier ſitzt alles da und denkt: na, was wird denn das für ein Ding 
ſein, der Fliegende Holländer? — Nach der Ouvertüre rührt ſich keine Hand, 


Storck: Richard und Minna Wagner 889 


— mit geſpannter Neugier und Verwunderung hört man dem melancholiſchen 
erſten Akte zu, ohne zu wiſſen, wofür man ſich entſcheiden fol: mit Mühe 
wird der Sänger hie und da ein wenig belohnt; — kurz, ich werde meiner 
Lage inne, verzweifle aber nicht, da ich ſehe, daß die Aufführung außerordentlich 
gut geht. Der zweite Akt beginnt und allmählich überzeuge ich mich, daß ich 
meinen Zweck erreicht habe: ich habe das Publikum umſponnen und durch den 
erſten Akt in die ſeltſame Stimmung verſetzt, die es fähig macht, mir nun überall 
hin zu folgen, wohin ich will. Die Teilnahme ſteigt, die Geſpanntheit geht in 
Aufregung, in Exaltation — in Enthuſiasmus über, und noch ehe der Vorhang 
zum zweiten Male fällt, feiere ich einen Triumph, wie er gewiß nur wenigen 
zuteil geworden iſt. Ich habe noch nie, ſelbſt in Dresden beim Rienzi nicht, 
einen ſolchen dauernden Ausbruch des Enthuſiasmus geſehen und gehört, wie 
er ſich hier kundgab, nachdem der Vorhang fiel: — man ſah und hörte es, 
daß von all den verſammelten Menſchen, vornehm und niedrig, Prinz, Fürſt 
und Bettler nicht ein einziger war, der nicht laut mitſchrie und tobte. Als ich 
endlich mit den Sängern erſchien, denke ich, das Haus bricht zuſammen! —“ 

Wir durften dieſen Bericht ausführlich mitteilen, es gibt ihrer nicht 
ſo viele in dieſen Bänden. Die rein künſtleriſchen Mitteilungen nehmen 
im Laufe der Zeit immer mehr ab. Jedenfalls beſchränken fie fic mehr 
auf die äußeren Erſcheinungen der Dinge. Minna ſelbſt glaubte offenbar, 
mit der körperlichen Fürſorge für ihren Gatten vollauf genug getan zu 
haben. Trotz ſeiner leidenſchaftlichen Natur ſuchte er auch hier ſich an⸗ 
zupaſſen und auf dieſer Grundlage ein Glück zu bauen. Zeuge deſſen iſt 
ein Berliner Brief vom 26. September 1847: 

„Tauſend Dank, mein gutes Weib, für Deinen guten Brief, der mir 
eine wahre Herzensfreude gemacht hat, wie ich ſie Dir gar nicht ausdrücken 
kann! Du glaubſt gar nicht, wie gut, wie liebenswürdig Du Dich in dieſem 
einfachen Briefe ausnimmſt! — Siehſt Du, das iſt doch recht ſchön, wenn wir 
uns ‚alte Minna“ und ‚alter Richard‘ nennen: was iſt eine junge Leiden- 
ſchaft gegen ſolch eine alte Liebe? Die Leidenſchaft iſt nur ſchön, wenn ſie 
endlich zur Liebe in dieſem Sinne wird, — an und für fich iſt fie ein Leiden; 
ein Genuß aber iſt eine Liebe wie die unſere, — und eine kurze Trennung zeigt 
dies immer erſt ganz deutlich, — vor einer langen Trennung bewahre ſie ein 
gütiges Geſchick! — Nicht wahr, Du Gute? — Auch Dein ganz klein wenig 
Zweifel vergebe ich Dir, — ich kann nur drüber lächeln, weil es mir wirklich 
zu drollig vorkommt, wenn ich mir denken ſollte, ich verdrehte hier in Berlin 
gleich ein bißchen die Augen, weil Du nicht da wäreſt — Du närriſcher Kerl! —“ 

Er fühlte ſich in der Fremde eben immer verlaſſen und kannte nur 
die eine Sehnſucht nach ſeinem Haus. 

„Mein Heimweh iſt ſo groß, als es nur irgend ſein kann: — meine 
Heimat aber, das biſt Du und unſer kleiner Hausſtand. Ich weiß nichts in 
der Welt, was da entſchädigen könnte!“ (3. X. 1847.) 

Die nächſten Briefe kommen aus Wien, wo er im Juli 1848 weilte. 
Die begeiſterte Anteilnahme an der demokratiſchen Bewegung daſelbſt läßt 
uns vorausfühlen, wie dieſer Mann nicht widerſtehen konnte, als nun die 
Revolution nach Sachſen überſchlug. Der nächſte Brief ſteht denn auch 
erſt nach der Kataſtrophe. Er ſtammt aus Zürich und iſt vom 11. Auguſt 1849: 


890 Storck: Nichard und Minna Wagner 


„Daß ich Dir noch einmal ſchreiben muß, tft mir ſehr unangenehm, erft- 
lich weil ich hoffe, Dich endlich bald ſelbſt wieder zu haben, und zweitens weil 
ich wohl verſtehe, daß all mein Schreiben nicht imſtande ſein wird, Dir nur 
einen Funken Lebensmut wiederzugeben. Es iſt das auch natürlich, und da 
ich Dir allerdings das eine, was Dir einzig angenehm und beruhigend ſein 
würde, jetzt gerade allerdings noch nicht ſchreiben kann, nämlich: daß ich eine 
feſte lebenslängliche Anſtellung wieder erhalten hätte, — ſo bleibt nichts übrig, 
als daß ich ſonſt durch die Tat Dich empfinden laſſe, daß ſo troſtlos Dein 
Schickſal an meiner Seite denn doch nicht ſein wird, als Dir es jetzt aus der 
Ferne erſcheinen muß. Das Troſtloſeſte iſt jedenfalls das Getrenntſein, wenigſtens 
für mich, weil es mich ſtündlich in die Angewißheit über Dich und Deine Ge- 
ſundheit verſetzt: nicht zu wiſſen woran man iſt, das iſt das Allerſchlimmſte, 
und verzeihe mir daher, daß ich, wenn ich nach Dresden denke, ich eben nur 
an Dich, nicht aber an die Tiere denke, fo lieb fie mir auch find. Hierin habe 
ich an mir gerade recht wieder erfahren, daß der Menſch die Hauptſache ift, 
daß er über alles geht: Dir ſcheinen leider Meubel, Häuſer uſw. oft faſt mehr 
Dein Herz — durch Gewohnheit — anzuziehen, als der lebendige Menſch.“ 


Je ſtärker ſeine Sehnſucht nach einem liebenden weiblichen Weſen 
in dieſen Tagen war, um ſo mehr begreifen wir den tiefen Schmerz, den 
es ihm bereiten mußte, daß Minna abſichtlich ihre Abreiſe immer ver 
zögerte. Sie kam dann endlich ja doch nach Zürich. Aber von jetzt ab 
hat fie nie wieder am Leben ihres Gatten wirklich fördernden Anteil ge: 
nommen. Da ſie alles nur nach dem äußeren Erfolge einſchätzte, empfand 
fie fein jetzt nach anderen Richtungen gehendes Schaffen geradezu als per- 
ſönliche Beleidigung. Andererſeits hetzte ſie ihren Mann, wo ſich irgend 
eine Ausſicht zeigte, und ſetzte ihm dann ſo zu, daß er auch wider eigene 
Aberzeugung lediglich des Friedens willen ſich in allerlei Anternehmungen 
ſtürzte. Man würde das alles eher verzeihen können, wenn Minna Not 
gelitten hätte. Aber davon iſt keine Rede. Wagner hat eigentlich ſehr 
viel Geld gehabt in all dieſen Verbannungs jahren. Die wirklich gräßliche 
Not hat erſt ſpäter eingeſetzt in den letzten Jahren vor ſeiner Erlöſung 
durch den König von Bayern. Aber ſelbſt damals hat es Minna niemals 
an einem reichlich bemeſſenen Auskommen gefehlt. Gewiß waren alle dieſe 
Einkünfte keine ſicheren, und in ihrer kleinlichen Beamtennatur mochte ge 
rade dieſe Anbeſtimmtheit Unruhe ſchaffen. Aber da ſie ihrerſeits doch auch 
nicht das geringſte getan hat, um die Verhältniſſe zu verbeſſern und doch 
ſicher von Hauſe aus zu keinen Anſprüchen berechtigt war, fällt es ſehr 
ſchwer, in jene Entſchuldigungen einzuſtimmen, die Wagner ſelber immer 
wieder für ihr Verhalten fand. So kam es denn auch gleich beim erſten 
längeren Auseinanderſein zu einem heftigen Zuſammenſtoß. Wagner war 
im Februar 1850 nach Paris gegangen. Natürlich waren die Aus ſichten 
trügeriſch. Aber damals begegnete ihm zum erſtenmal eine Frau, die 
ſein künſtleriſches Bedürfen wirklich verſtand und ihm infolgedeſſen wenig 
ſtens pekuniär die Grundlage für ein ſeiner Neigung entſprechendes kunt: 
leriſches Schaffen geben wollte. Es war Leſſie Lauſſot in Bordeaur. Wie 


Storck: Richard und Minna Wagner 891 


iſt auch dieſe Beziehung immer in Schmutz gezogen worden. Genau ſo, 
wie ſpäter das Verhältnis zu Mathilde Weſendonck, nur daß ich glaube, 
daß bei der Lauſſot nicht von einer Liebesleidenſchaft Wagners die Rede 
ſein kann. Auch daß Minna nicht gleich ihre Eiferſucht gezeigt hat, iſt 
nach den Briefen anzunehmen. Vielmehr kam ſie damit erſt viel ſpäter 
heraus und erfährt dann auch die entſprechende Zurückweiſung. Jetzt ſcheint 
ſie wohl mehr ihren Mann verhöhnt zu haben, daß er ſo von Wohltaten 
anderer leben wolle. Am 17. April 1850 ſchreibt er ihr von Paris, wohin 
er aus Bordeaux geeilt war, da ihn die Briefe ſeiner Frau von dort „ge— 
waltſam aus einer ſchönen, letzten Täuſchung über uns aufgeſchreckt“ hatten. 
Er verweiſt ſeine Frau darauf, wie von Anfang an immer wieder ſchwere 
Auftritte vorgekommen ſeien. 


„Was mich dennoch damals ſo unwiderſtehlich an Dich feſtband, war 
die Liebe, eine Liebe, die über alle Verſchiedenheit hinwegſah, — eine Liebe, 
die Du aber nicht teilteſt, mindeſtens gewiß nicht in dem Grade, als ſie mich 
beherrſchte. Meinem Drängen auf Vereinigung gabſt Du eigentlich nur not- 
gedrungen nach: Du empfandeſt vielleicht für mich alles, worauf es gerade 
ankam, und womit man jedes Leiden lächelnd erträgt, die unbedingte Liebe, 
die Liebe, mit der wir den anderen gerade ſo lieben und als den lieben, wie 
und welcher er iſt, — dieſe Liebe konnteſt Du nicht empfinden, denn Du ver. 
ſtandeſt mich ſchon damals nicht, da Du immer von mir annahmſt, ich ſolle 
ein anderer ſein, als der ich in Wahrheit bin.“ Seit der erſten Störung habe 
ſie ſich ihm gegenüber immer nur von der Pflicht leiten laſſen, nicht mehr von 
Liebe. Darum empfinde ſie auch das Ertragen aller Prüfungen ſo furchtbar 
ſchwer. „Seit meiner Anſtellung in Dresden tritt Deine wachſende Miß 
ſtimmung gegen mich genau mit der Zeit und in dem Grade ein, als ich 
— meinen perſönlichen Vorteil vergeſſend — im Intereſſe meiner Kunſt und 
meiner künſtleriſchen wie menſchlichen Unabhängigkeit den elenden Direftions- 
verhältniſſen jener Kunſtanſtalt mich nicht mehr zu fügen vermochte und mich 
dagegen auflehnte. In dieſer entſcheidenden Periode meines Lebens wird jeder, 
der mich genau beobachtete und zu verſtehen ſuchte, zugeſtehen müſſen, daß 
alles was ich tat, eine unausbleiblich richtige Konſequenz meines künſtleriſchen 
Weſens war, dem ich eben — trotz aller perſönlichen Gefahren — treu blieb. 
Daß ich endlich nicht nur als Künſtler, ſondern als Menſch auch mich gegen 
all die laſterhaften Zuſtände empörte, die — bei meiner leidenſchaftlichen 
Natur — niemand zu größerer Qual empfinden konnte als gerade ich, das 
muß demjenigen höchſt erklärlich und daher gewiß auch nicht tadelnswürdig 
erſcheinen, der mir genau gefolgt wäre, wie ich Schritt für Schritt — nicht 
ſprungweiſe — zu dem Standpunkte als Künſtler und als Menſch gelangte, 
den ich jetzt einnehme: er hätte erkennen müſſen, daß ich hierin nicht willkürlich 
und aus Eitelkeit verfuhr, denn er hätte beobachtet, wie ich darunter litt; er 
hätte mir demnach Troſt und Mut zugeſprochen, und mein Weib hätte dies 
getan, wenn ſie ſich Mühe geben wollte mich zu verſtehen, wozu ſie keineswegs 
der Büchergelehrſamkeit bedurfte, ſondern nur der Liebe! — Wenn ich von 
einem neuen Ärger, von einer neuen Kränkung, von einem neuen Mißlingen 
tief verſtimmt und erregt nach Hauſe kam, was ſpendete mir da dieſes mein 
Weib anſtatt des Troſtes und erhebender Teilnahme? Vorwürfe, neue Vor⸗ 


892 Storck: Nichard und Minna Wagner 


würfe, nichts als Vorwürfe! Häuslich gefinnt, blieb ich dennoch zu Haus, 
aber endlich nicht mehr um mich auszuſprechen, mich mitzuteilen und Stärkung 
zu empfangen, fondern um zu ſchweigen, meinen Kummer in mich hineinfreſſen 
zu laſſen, um — allein zu ſein! Dieſer ewige Zwang, unter dem ich ſo lange 
ſchon lebte und der mir nie erlaubte, nach einer Seite hin mich ganz geben 
zu laſſen, ohne zu den heftigſten Auftritten zu gelangen, laftete auf mir und 
zehrte an meiner Geſundheit. Was iſt alle körperliche Pflege, die Du mit 
allerdings reichlich angedeihen ließeſt, gegen die notwendige geiſtige für einen 
Menſchen von meiner inneren Erregtheit!“ Sein ganzer Schmerz bricht her · 
vor, wenn er des widerwilligen Abſchieds gedenkt, den ſie ihm bei der Flucht 
in die Schweiz gönnte. „Du verkündigteſt mir Deinen Entſchluß, zu mir nach 
Zürich zu kommen: ich durfte nun wieder hoffen! Ja ich hegte die Hoffnung, 
Dich endlich vollends ganz noch für mich gewinnen zu können, Dich von meinen 
Ideen zu überzeugen, Dich mit mir endlich näher vertraut zu machen. Außere 
Sorgen abzuwenden, war ich unabläffig bedacht. Du kamſt, — wie war ich 
glücklich! And doch — ich Anglücklicher! nicht zu mir warſt Du gekommen, 
um mit mir, wie ich war, nun Freud und Leid zu teilen, — ſondern zu dem 
Wagner warft Du gegangen, von dem Du annahmſt, er werde nun nächſtens 
eine Oper für Paris komponieren! In Dresden hatteft Du Dich geſchämt 
zu ſagen, Du gingſt zu mir nach der Schweiz, — ſondern Du gabſt vor, Du 
gingeſt nach Paris und Dein Mann habe — wie Du wahrſcheinlich ſelbſt 
glaubteſt — ſchon einen feſten Auftrag in der Taſche. O, der ungeheure Irr 
tum zwiſchen uns beiden mußte ſich mit jedem Tage nur mehr enthüllen! Alle 
meine Anſichten und Geſinnungen blieben Dir ein Greuel — meine Schriften 
verabſcheuteſt Du, trotzdem ich Dir deutlich zu machen ſuchte, daß fie mir jetzt 
nötiger wären als alles unnütze Opernſchreiben. Alle Perſonen, mit denen 
ich nicht gleichgeſinnt war, verteidigteſt Du, alle mir Gleichgeſinnten verdammteſt 
Du, — ich durfte ſie vor Dir nicht einmal entſchuldigen. Nur die früheren 
Verhältniſſe bereuteſt Du, — die Zukunft ſahſt Du nur in einer Wieder · 
verſöhnung mit ihnen, oder — in einem Pariſer Erfolge. Mein ganzes Weſen 
war Dir feindſelig und zuwider: jeden Augenblick, ach! faſt in jeder Dewegung 
mußte ich etwas tun, was Dir nicht recht war. — Kurz, jetzt erſt fühlte ich mich 
bei Dir grenzenlos allein.“ 

Wagner war dieſes Mal entſchloſſen, ſich endgültig von ſeiner Frau 
zu trennen. Aber auch da bedenkt er ſich noch, wie er für ſie der Geſell 
ſchaft gegenüber dieſe Trennung möglichſt ſchonungsvoll geſtalten könne 
Er wollte eine Reife nach Griechenland und dem Orient machen. Es it 
dazu nicht gekommen. Er wird Minnas Verſicherungen der Liebe Glauben 
geſchenkt haben; jedenfalls kehrte er nach Zürich zurück. | 

Es folgen nun die Züricher Jahre, in denen die alljährlich wieder 
kehrende Abweſenheit von Wagner oder Minna, vielfach zu Kurzwecken, 
immer Anlaß zum Schreiben bot. Man hat das Gefühl, daß bei Wagner, 
ſobald er von zu Haufe fort war, die Erinnerung an alles Störende. was 
er dort erfuhr, verſchwand, und daß er vor allem an jene Häuslichlei 
dachte, die Minna wirklich behaglich zu geſtalten wußte und die für ihn 
Vorbedingung eines ſegensreichen Schaffens war. Aberdies mochte er auch 
immer wieder auf Beſſerung hoffen. Es iſt bei dieſem Manne, der alt 


Storck: Richard und Minna Wagner 893 


Greis noch ſo jugendlich war, rührend zu ſehen, wie er bereits als Vierzig⸗ 
jähriger ſeine Frau aufs Alter vertröſtet, als auf eine Zeit der Ruhe und 
des behaglichen Sichvertragens. Jedenfalls ſchlagen dieſe Briefe öfter einen 
überaus herzlichen, ja zärtlichen Ton an. Allerdings ſorgte ſie dafür, daß 
die Harmonie nie zu lange dauerte. Sie war von böſeſtem Mißtrauen erfüllt. 

„Du arme Frau haſt ja nicht einmal das mindeſte Vertrauen, ſondern 
hinter jedem Schritt, hinter jedem Worte argwöhnſt Du etwas, ſiehſt etwas 
was gar nicht vorhanden iſt.“ (26. 7. 1853.) 

Schlimmer noch war, daß ſie gar keine Freude an ſeiner Arbeit hatte. 
Man kann denken, was das für einen Mann bedeutet, der wie Wagner 
von ſich ſagen konnte: 

„Mein Leben geht ja ganz nur innerlich vor ſich: und das berichtet ſich 
bei mir nun einmal am ſchicklichſten in meinen Arbeiten. Ich bin ein reines 
Arbeitsweſen: wenn ich nicht arbeite oder nicht arbeiten kann, fühle ich mich 
nicht wohl und denke und verlange immer nur wieder nach der Arbeit... 
Nun Du meinſt doch, daß ich das alles nur für mich aus führe: es kann auch 
ſo werden, — und doch möchte ich gar nicht mehr leben, wenn ich nicht gerade 
ſo etwas arbeitete. Somit mußt Du mir ſchon dieſe Art von Arbeit gönnen: 
für die Leipziger Meſſe und dergleichen komponiere ich nun einmal nichts 
mehr.“ (30. 9. 1854.) 

Er war damals am zweiten Akt der „Walküre“, und manche Worte, 
die Wotan an Fricka richtet, waren wohl eigentlich von Wagner für ſeine 
Frau gedacht. Sie hatte während ihres Sommeraufenthalts in Sachſen 
Wagners Freund, Röckel, im Zuchthauſe beſucht, den fie als Todfeind 
haßte, weil fie in ihm den Verführer ihres Gatten zur Revolution ſah. 
Wagner ſchreibt ihr nun am 6. Oktober dankbar, daß er ſich darüber gar 
nicht gewundert habe. Und nun folgt eine ſolche Fricka⸗Stelle: 

„Dein Herz iſt weiter und umfaſſender als Deine Einſicht in das Weſen 
von Charakteren, die Dir allerdings fremd und widerwärtig vorkommen müſſen, 
weil man euch Frauen nicht zumuten kann, die Dinge der Welt mit ſo weit 
reichendem und das Fremdartigſte verbindendem Blicke zu erfaſſen, als dies 
allerdings dem Manne — dem Dichter zukommt. Daß Dein nobles Herz 
(das Du dumm und ſchwach nennen zu müſſen glaubft!) endlich gerade Dich 
aber über viele gewöhnlichen Frauen erhebt, das habe ich genug bereits er⸗ 
fahren, um mich in dieſem Falle wundern zu ſollen. Daß Du aber dieſem 
edlen Zuge Deines Herzens andererſeits durch größere Einſicht nicht nachhilfſt, 
um Dir z. B. über manches in meiner Vergangenheit auch ein beruhigenderes 
Arteil zu verſchaffen, — das eben muß ich, wahrſcheinlich auch Deinetwegen, 
oft herzlich bedauern, denn Du bringſt Dich durch ſo vielen Widerſtreit gar 
zu ſehr um Deine Gemütsruhe.“ 

Oftmals bricht aber auch bei Wagner in dieſer Einſamkeit, zu der 
ihn die Verbannung verurteilte, die Sehnſucht nach Beteiligung am künſt⸗ 
leriſchen Leben hervor. Er konnte ja nicht „einmal ein einziges ſeiner 
Werke hören“. Freilich, in der Form, wie es ihm nun zunächſt zuteil 
wurde, konnte ihm dieſes öffentliche Muſizieren auch keine Freude machen. 
Von März bis Juni 1855 dirigierte er in London Konzerte. Er hat 


894 Storck: Ricard und Minna Wagner 


ſich nur ſchwer zur Abernahme diefer Aufgabe beſtimmen laſſen, die ihm 
ſo gar keine künſtleriſche Genugtuung verſprach und doch auch nicht ſo 
große pekuniäre Vorteile in Ausſicht ſtellte, daß ſich das Opfer wirklich ge⸗ 
lohnt hätte. Aber er brachte es, der Frau und den Freunden zuliebe. Er 
wurde ſich hier in London wieder recht klar, daß ihn ſeine Kunſt nie reich 
machen könnte. „Nur das Bewußtſein, wenige treue, ganz ergebene Seelen 
zu finden, kann meinen Reichtum ausmachen. Für fie allein auch kann ich 
in dieſer Welt noch tätig ſein.“ And deshalb ließ er ſich auch durch großen 
äußeren Beifall nicht täuſchen. Immer wieder verſucht er ſeine Frau zu 
dieſer Anſchauung zu erziehen. Es war leider umſonſt. Ihr, der früheren 
Schauſpielerin lag gerade an dem Beifall der Maſſe viel, wogegen ſie in 
ihrem hausfraulichen Stolz geſtört wurde bei dem Gedanken, den ihr Gatte 
nun mit aller Leidenſchaft verfolgte, daß irgend ein Fürſt oder ein reicher 
Mann durch ein auskömmliches Ehrengehalt ihn inſtand ſetzen ſollte, ſeine 
Werke zu vollenden. Darin fehlte ihr eben alles wahre Vertrauen, ſo daß 
ſie häufig dort Affektation ſah, wo Wagner gerade ſein Tiefſtes offenbarte. 
Da ſie ferner die unglückliche Eigenſchaft hatte, „Dinge, die bereits be⸗ 
richtigt und beſprochen waren, immer wieder auf das Tapet zu bringen“, 
jo wurde natürlich ein erbaulicher Briefwechſel immer bald unmoglich ge: 
macht. Abrigens warfen bereits hier kommende Ereigniſſe ihre Schatten 
voraus. In einem Briefe vom 4. Mai 1855, der durch die Mitteilung ſeiner 
Frau hervorgerufen wurde, daß einige ihrer Bekannten in Zürich Frau 
Weſendonck „in Verruf getan“ hätten, gibt Wagner darauf natürlich nicht 
viel, hofft von ſeiner Frau, daß ſie vernünftiger ſein würde als die anderen, 
und fährt dann fort: 

„Natürlich kann auch Dir damit kein Zwang angetan werden, und haſt 
Du eine wirkliche Antipathie gegen die Weſendonck, ſo würde ich ſelbſt den 
vermeintlichen ihr ſchuldigen Dank nicht für ſtark genug halten, Dich nötigen 
zu ſollen, einen Amgang fortzuſetzen, der Dir zuwider iſt. Beruht aber Deine 
Abneigung auf irgend einem Mißtrauen, das Dir an die Ehre zu geben 
ſchiene, fo glaube ich Dir die Verſicherung geben zu dürfen, daß dieſes Miß⸗ 
trauen vollkommen ungerechtfertigt und unbegründet ſei, und Du dagegen feft 
annehmen könnteſt, daß niemand Dein Vertrauen und Deine Freundſchaft mehr 
verdiene, wie die Weſendonck, ſo wie ich ebenfalls, bei aller Verſchiedenheit der 
Charaktere und der Fähigkeiten, ein feſtes und herzliches Vertrauen zu ihm habe, 
ein Vertrauen, wie er mit vollem Recht hoffentlich auch mir es zuwendet.“ 

Trotz der ſchönen äußeren Erfolge, die es dazu brachten, daß er, der 
in Deutſchland von der Polizei wie ein Straßenräuber verfolgt wurde, 
von der Königin von England vor dem ariſtokratiſchſten Hofe der Welt 
mit der ungenierteſten Freundlichkeit empfangen ward“, fühlte er ſich erlöſt, 
als dieſe Zeit der ihm widerwärtigen Tätigkeit zu Ende war. „Ja, es war 
eine verfluchte Hundezeit, die ich hier zugebracht habe, ich kann nicht anders, 
wie an eine Hölle daran zurückdenken.“ ; 

Aber die nächſten drei Züricher Jahre find durch den Briefwechſel 
zwiſchen Wagner und Weſendoncks die früher weit verbreiteten falſchen 


Storck: Nichard und Minna Wagner 895 


Vorſtellungen wohl allgemein zerſtreut worden. Bekannt iſt, wie dieſes 
hochherzige Ehepaar dem Künſtler ein Aſyl geboten hatte, in dem er nun 
ruhig feine Werke vollenden ſollte. Bekannt iſt auch, wie Wagner all- 
mählich von einer tiefen Leidenſchaft für die Frau ſeines Gönners erfaßt 
wurde, wie auch ſie ſich mit allen Faſern zu dem großen Künſtler hingezogen 
fühlte, wie aber beide in wahrhaft heldenhafter Weiſe ihre Leidenſchaft 
niederzwangen und dieſes Verhältnis zu einer wunderbaren Höhe läuterten. 
An dieſem Seelenbunde nahm als dritter Otto Weſendonck teil. Nicht im- 
ſtande aber, dieſe Höhe zu gewinnen, war Minna. Wir können es aus 
Wagners ſpäteren Briefen ſchließen. Es iſt uns aber auch von vielen 
anderen bezeugt, und iſt ja ſo natürlich, daß Wagner ſich in dieſen Jahren 
in einer ſteigenden Erregtheit befand. Gerade weil er wußte, wie treu er 
iede Pflicht gegen ſeine Frau erfüllte, weil er wußte, wie er Treue gegen 
alle jene wahrte, die an dieſem Kampfe beteiligt waren, und nur der un⸗ 
geheuerſte Aufwand aller Kräfte ihn zu dieſer Haltung inſtand ſetzte, mußte 
ihn das rohe und ungebildete Verhalten ſeiner Frau zur Verzweiflung 
bringen. Aber er kämpfte auch um ſein Aſyl. Hier war ihm die Mög⸗ 
lichkeit geſchaffen, der Welt das zu geben, wozu er ſich berufen fühlte. 
Durfte er ſich das von den roh zugreifenden Händen ſeiner allen höheren 
Aufgaben feines Lebens gegenüber blinden Frau zerſtören laſſen? Im Früh- 
jahr 1858, als ſeine Frau zur Kur weilte, begann der letzte Akt dieſes Dramas. 


„Liebe arme Minna! Nochmals rufe ich Dir zu und wiederhole es 
tauſendmal, hab' Geduld, und vor allem auch: hab' Vertrauen! Wenn Du 
wüßteſt, wie Du mich mit dem Mangel des letzteren quälft, Du würdeſt es 
gewiß bereuen. Kürzlich, als Du mir verſicherteſt, Du liebteſt mich doch wirk⸗ 
lich, beſchwor ich Dich, mir dies zu beweiſen, und jede Begegnung, jedes Recht. 
verlangen nach jen er Seite hin aufzugeben, mindeſtens bis nach Deiner Kur, 
wogegen ich Dir verſprach, alles, was Du zu Deiner Beruhigung wünſchteſt, von 
mir aus zu erfüllen. Der Verführer hat ſich aber zum zweiten Male Deiner 
bemächtigt, und diesmal haft Du mir offen Liebe und Glauben gebrochen. Ich 
verzeihe Dir dies zunächſt um des gräßlichen Geſundheitszuſtandes willen, der 
Dich faſt unzurechnungsfähig machte, und mehr: ich verzeihe es Dir für alle 
Zukunft. Aber nun beſchwöre ich Dich, biete alle Kraft Deines Gemütes auf, 
Dir des weiteren Deinen Glauben an meine innige und lebenslängliche Teil ⸗ 
nahme für Dich, an meinen herzlichen Wunſch, Dir Wohlergehen zu bereiten, 
an meinen feften Willen, keinen weiteren und anderen Hoffnungen auf das 
Leben Raum zu geben, feft und unverbrüchlich zu erhalten. Vermagſt Du das 
nicht, ſo machſt Du Dich und mich unglücklich!“ (23. 4.) Es war nichts zu 
wollen. „Schweige ich von gewiſſen Dingen, ſo mache ich Dich mißtrauiſch 
und argwöhniſch, ich wollte Dich hintergehen; ſchreibe ich dann ernſt und offen, 
und — wie ich Eſel eben glaubte — zugleich gründlich beruhigend, ſo erfahre 
ich, daß ich damit eine raffinierte Bosheit ausgeheckt, um Dich ſchnurſtracks 
unter die Erde zu bringen.“ (27. 4.) Amſonſt beſchwor er ſie: „Glaube feſt 
und ſicher, daß ich Dir nichts verſchweige, was Dir Grund zur Sorge über 
mich geben könnte; ſei meiner gewiß und ſei verſichert, daß ich nichts auf dieſer 
Welt und in dieſem Leben mehr hoffe und begehre, als Ruhe und Frieden, 


896 Storck: Richard und Minna Wagner 


um meine Aufgabe, die mich aufrecht erhält, erfüllen zu können. So tragen 
wir denn gemeinſam, was uns das Los beſchieden, haben wir Nachſicht mit 
unſeren Schwächen und helfen wir uns redlich, die ſchwere Lebensaufgabe 
heiter und ungetrübt zu erfüllen!“ (3. 5.) 

Der endgültige Bruch war nur aufgeſchoben. Im Auguſt kam es 
durch Minna zu jenem Zuſammenſtoß, der es notwendig machte, daß Wag⸗ 
ners ihr Aſyl aufgaben und von Zürich fortzogen. Wagners Brief von 
19. Auguſt kam aus Genf. | 

„O mein Gott! Hätte ich nur die Macht, Dich recht klar in mein Inneres 
ſehen zu laſſen: was ich in dieſem Jahre gelitten und gekämpft habe, um Ruhe 
für meine Lebensaufgabe zu gewinnen. Es war umſonſt; alles ſtürmte und 
rüttelte; Leidenſchaft und blinder Eifer tobte hinein, und alles, was ich mühe 
voll aufbaute, um Ruhe und Friede zu erhalten, ſtürzte immer wieder zu 
ſammen. — Du, mein liebes Kind, machſt es Dir leicht: Du hilfſt Dir mit 
Vorwürfen, erkennſt nur Dein Unglüd. Ich bin gerechter: ich mache niemand 
Vorwürfe, und — wahrlich — auch Dir nicht. Es war Dir zu viel zugemutet 
und für Deinen furchtbar gequälten Geſundheitszuſtand zu viel. Somit laß 
uns jetzt in Frieden und Verſöhnung ſcheiden, damit ein jeder eine Zeitlang 
ſeinen Weg gehe, auf dem er Beruhigung und Sammlung neuer Lebenskraft 
gewinne. Für mich iſt jetzt die Einſamkeit, die Entfernung von jedem Amgang 
ein unbedingtes Lebensbedürfnis: die liebſte Geſellſchaft, ſelbſt wie wir fie jes! 
im Haufe hatten, quält mich nur. Ich blute an vielen Wunden, und die herz 
liche Sorge um Dich iſt nicht die leichteſte.“ 

Wagner wandte ſich bekanntlich nach Venedig. Er war unter al 
dieſem Unglid fo groß und mild geworden, daß er faſt alle Schuld auf 
ſich zu nehmen ſuchte; jedenfalls nur danach trachtete, Minna zu beruhigen. 
In ihm wächſt jene Stimmung heran, die in dem Tagebuch an Mathilde 
Weſendonck fo ergreifend zum Ausdruck kommt, die auch hier wenigſtens 
einmal kurz ſich ausſpricht. 

„Auch Dir ſage ich, liebe Minna, daß Du Anrecht tuſt, das Mitleiden 
gering anzuſchlagen, was wohl nur darauf beruht, daß Du darunter etwas 
Falſches verſtehſt. Alle unſere Beziehungen zu anderen haben nur einen Grund, 
Witgefühl, oder entſchiedene Abneigung. Mitleiden und Mitfreude, das macht 
das Weſen der Liebe aus. Mitfreude iſt aber etwas ſehr Illuſoriſches, dem 
es gibt auf der Welt wenig vernünftigen Grund zur Freude überhaupt, und 
unſer Mitgefühl hat richtigen Beſtand nur, wenn es ſich dem Leiden des anderen 
zuwendet. Ich für mein Teil will nun in allen meinen Beziehungen zu irgend · 
welchen Menſchen nichts mehr, als daß ſie nicht um meinetwillen leiden; wo 
ich dies aber fühle, treibt es mich unabweislich zur Teilnahme. Mehr verlange 
ich auch nichts, als die Leiden anderer um mich lindern zu können. Nichts, 
nichts — ſonſt!“ (28. 9. 58.) . 

Aber erfchütternd iſt es doch, wie liebevoll er in dieſer ſchrecllichen 
Zeit für die in ihrer ſächſiſchen Heimat weilende Gattin ſorgt, wie er ib 
über alles berichtet, was ihre Teilnahme wecken kann, und auch die Hof, 
nung auf eine beffere Zukunft niemals einſchlafen läßt. Auch ihre, mie ei 
ſcheint, immer wiederholten Vorwürfe und Kränkungen bringen ihn nich 
aus der Ruhe. 


Storck: Richard und Minna Wagner 897 


„Gib doch nur den unſeligen Gedanken auf, als führte ich etwas gegen 
Dich im Schilde, als wollte ich unvermerkt von Dir loskommen oder der⸗ 
gleichen. Am unſerer beiderſeitigen beſſeren, gereinigten, ruhigeren Zukunft 
willen, hielt ich es für gut, daß wir uns jetzt eine Zeitlang trennten, gerade 
eben um das zu vermeiden, worin Du zu meinem Schmerze doch immer wieder 
verfällſt. In allem, was ich Dir ſagte und dafür anführte, iſt und war alles 
ehrlich und wahr gemeint. Auf das betrübendſte werfe ich mir vor, durch die 
Gereiztheit des Augenblicks verleitet worden zu ſein, Dir hart zu begegnen 
und kränkende und beleidigende Dinge geſagt zu haben. Dies eben iſt es, was 
Du mir zu verzeihen haſt, wie ich es herzlich bereue. Jetzt aber ſoll und wird 
mich nichts mehr in meinem Vorſatze erſchüttern, alles Kränkende und Ver . 
letzende von Dir fern zu halten. Damit ſage ich Dir, fordere mich nicht mehr 
heraus, es iſt umſonſt, Du fängſt mich nicht; ich werde Dir nur noch mild 
und gut begegnen. Das aber, worauf ich ſchweige, verſchweige ich nicht des 
wegen, weil ich Dich etwa damit zu hintergehen hätte, ſondern einzig, weil es 
nicht taugt zwiſchen uns, und durchaus nur ignoriert und vergeſſen werden 
muß.“ (14. 11. 58.) 

In der Arbeit am Triſtan richtet Wagner ſich wieder auf, ſo daß 
er auch hinſichtlich ſeines äußeren Lebens auf frohe Zukunft Pläne faßte, 
in denen Minna ſogar in ſeiner Nähe ein Plätzchen hatte. Dann heißt es 
wohl in den Briefen: „Der Abend Deines Lebens kann Dich noch reich 
für den heißen, ſchwülen Mittag desſelben entſchädigen, ſo hoffe ich auch 
für mich.“ (10. 12. 1858.) Daneben gibt es freilich auch, zumal wenn 
das körperliche Befinden übel iſt, ſchwere melancholiſche Stunden. 

„Wenn ich bedenke, zu welcher Berühmtheit ich jetzt gelangt bin, von 
wie manchen und vielen meine Werke bewundert und geliebt werden, und daß 
dennoch ich noch nicht ſo viel erreichen kann, um nur ſicher und ungeniert 
eigentlich exiſtieren und mich bewegen zu können, ſo liegt wohl die Frage nahe, 
was denn an dieſer ganzen Welt ſein könnte? Alles hat Worte, Worte, 
Bedauern, Tröſtungen — aber eine beflimmte, durchgreifende Hilfe fällt 
keinem ein.“ (16. 1. 1859.) Und noch ſchlimmer iſt es drei Wochen ſpäter. 
„Ich bin von Sorge über Sorge eingenommen und hab', weiß Gott! keinen 
frohen Tag mehr, um dieſem elenden Erdendaſein einen halbwegs ruhigen 
Abend abzugewinnen. Es wird mir ſchwer, ſehr ſchwer, den Lebensmut aufrecht 
zu erhalten, und mein Lebensüberdruß nimmt ſehr zu. Oft iſt es mir jetzt, 
als wäre es mir das beſte, dieſem ſteten Kampfe ein ewiges Ende zu machen! 
Woher fol ich auch nur eine Spur von Freude nehmen? In allem und jedem 
behindert, nur auf auswärtige Nachrichten angewieſen, bin ich ſoweit, jeden 
Brief nur mit Sagen und ſchlimmer Ahnung in die Hand zu nehmen, die ſich 
leider nur zu ſehr immer rechtfertigen.“ 

Dieſe Stelle iſt freilich wieder das Echo auf einen ganz böſen Brief 
ſeiner Frau, deren Gemütsverfaſſung ihn doch mit ſchlimmſter Sorge er⸗ 
füllte. Man ſieht immer deutlicher ein, daß dieſer Mann in allen ethiſchen 
und moraliſchen Lebensfragen genau dasſelbe ungeheure Verantwortungs- 
gefühl beſaß, wie in den künſtleriſchen. Nur ſo iſt es überhaupt zu be⸗ 
greifen, daß er dieſes entſetzliche Verhältnis in dieſer Weiſe durchhielt. Er 
hatte ſich einmal mit dieſer Frau verbunden; dafür, daß ſie ihm un folgen 

Der Türmer X, 12 


898 Storck: Richard und Minna Wagner 


konnte, konnte ſie nichts; ſo hielt er ſich für verpflichtet, ihr die Leiden, die 
fie nun als Folge der unglücklichen Verbindung tragen mußte, möglidit 
leicht zu geſtalten. Dazu diente natürlich vor allen Dingen auch eine gute 
äußere Verſorgung der nun in ihrer Heimat Weilenden. Wagner hat dafür 
dauernd ſehr viel, im Hinblick auf ſeine damaligen Verhältniſſe zweifellos 
zu viel getan. Um fie zu tröſten, ſpricht er auch immer von Zukunfts⸗ 
plänen, in denen dann der Erfolg des Triſtan eine große Nolle ſpielt. 
Es iſt gerade bei dieſem Werke nur ſchwer begreiflich, daß Wagner ſich 
einen ſo großen äußeren Erfolg davon verſprach. Es war ihm eben ſo 
naturgemäße Ausſprache, daß er die ungeheuren und ungeahnten Sch wierig · 
keiten dieſes Werkes, das für die damalige Welt in jedem Tone neu war, 
gar nicht mehr in Rechnung ſtellte. 

Ende März war er nach Luzern gekommen. Leider hatte er zumeiſt 
ſchlechtes Wetter, worunter er ſchwer litt. 

„Leicht und hell muß mir es aber jetzt zumute ſein, wenn ich gut arbeiten 
will; und das hat wohl ſeine ſehr natürlichen menſchlichen Gründe. Nächſten 
November, wo ich alſo auch den Triſtan ganz vollendet haben werde, find ef 
ſechs Jahre, daß ich wieder zu komponieren begann. In dieſen ſechs Jahren 
habe ich demnach vier, ſage vier große Opern geſchrieben, von denen eine 
einzige genügen würde, ihrem Reichtum, Tiefe und Neuheit nach, die Arbeit 
von ſechs Jahren zu ſein; gegen dieſe Werke ſind, was Fülle und Intereſſantheit 
des ganzen Details betrifft, meine früheren Opern flüchtige Skizzen, was dem 
Muſiker ein einziger Blick in die Partitur ſogleich zeigt. Dies habe ich alles aus 
mir innerlichſt herausgeholt, ohne die mindeſte äußere Anregung und Anter 
ſtützung aus meiner Kunſtſphäre, unter dem drückenden Gefühl, nichts davon 
aufführen zu können, immer nur auf mich und meinen innerſten Quell angewieſen. 
Wer dieſe Werke einſt hören wird, wird erflaunen, wenn man ihm fagt, dieſe 
vier ſind in ſechs Jahren geſchrieben! — Ich weiß es! — Aber — ich fühle 
mich auch — müde, ſehr müde; und ich bedarf einer ſchmeichelnden, ſtär kenden 
Pflege, um den ſehr angegriffenen inneren Saiten die gewollten Töne zu 
entlocken.“ (14. April 59.) 


Leider hörten die Mißverſtändniſſe bei ſeiner Frau nicht auf. And 
fo verſucht er einmal am 18. Mai in einem ſieben große Druckſeiten 
füllenden Briefe, ihr noch einmal alles klar zu machen. Es war natürlich, 
wie ſich in der Folge zeigt, umſonſt. Leider erwieſen ſich auch alle Hoff: 
nungen auf baldige Amneſtie als trügeriſch. And fo gewann der Plan, 
wieder in Paris Fuß zu faſſen, immer feſtere Geſtalt. Mitte September 1859 
liegt der erſte Brief aus Paris vor, wo im November dann auch Minna ein- 
traf. Natürlich haben wir infolgedeſſen aus dieſer Pariſer Zeit keine Briefe. 
Es waren das bekanntlich jene Jahre, in denen er mit Hilfe hochherziger 
Freunde mit aller Gewalt ſich in der franzöſiſchen Hauptſtadt durch ſetzen 
wollte, überzeugt, daß dann ganz Deutſchland folgen würde. Bekanntlich 
haben die drei großen Konzerte in der Salle Ventadour mit 10 000 Franken 
Fehlbetrag geendigt, und daß ſich die Tannhäuſeraufführung am 13. März 1561 
zu einem der wüſteſten Theaterſkandale ausgewachſen hat, iſt auch allgemein 


Storck: Richard und Minna Wagner 899 


bekannt. Auf das Verhältnis mit Minna in dieſer Zeit wirft ein ſpäterer 
Brief aus Wien vom 19. Oktober 1861 Licht. 

„Mit wahrhaftem Grauen blicke ich nun auf dieſe abermals durchlebte 
Pariſer Schreckenszeit zurück, wo Kummer, Gorge, Ärger, Anſtrengung und 
Leiden jeder Art mich ſchließlich in einen ſo elenden und überreizten Zuſtand 
brachten, daß ich mich nur wundere, wie ich es überhaupt ausgehalten und daß 
ich nicht irgend einmal völlig alle Faſſung verlor. Konnte es zu den zahlloſen 
Bekümmerniſſen, die ich täglich zu erfahren hatte, nun noch Schlimmeres 
geben, als auch noch unzeitige Erinnerungen an ewig von Dir mifverftandene 
frühere Vorgänge? Ich betrachte nun einmal Deine ganze Auffaſſung jenes 
Verhältniſſes als durchaus irrig, bin mir bewußt, daß alles ſich ganz anders, 
unendlich viel ruhiger und ſchicklicher verhält, als es vor Deiner Phantaſie 
ſchwebt: der leiſeſte Hohn, die kleinſte Anzüglichkeit Deinerſeits — war ich nun 
einmal ſchon ſo zermartert wie damals — mußte mich da endlich bis zur Wut 
reizen. Daß Du das nicht verſtehen willſt, und bei ſolchen Ausbrüchen meiner 
Heftigkeit ſtets nur verhaltenen Haß gegen Dich losbrechen oder glühende 
Leidenſchaft für eine andere aufſchießen ſehen willſt, das — bedenke doch! — 
kann mich ja eben nur noch wütender machen, ſo daß in ſolchen Augenblicken 
wirklich der Tod erſehnt erſcheinen muß, denn dem Elend ift kein Heil zu er- 
ſehen und Verwirrung ſteigt über Verwirrung.“ 

Es iſt ja auch in der Tat jetzt zu keiner längeren Wiedervereinigung mehr 
gekommen. Auf jene Pariſer Zeit folgen die traurigſten Jahre im Leben Richard 
Wagners, eine Zeit, in der es ihm tatſächlich häufig am Notwendig ſten zum 
Leben fehlte. Nichts gelang mehr. All die ungeheure Arbeit für den Triſtan 
in Wien war umſonſt. Aber auch dieſer Schlag vermochte ihn nicht zu beugen. 

„Ich bin entſchloſſen, nun auf nichts mehr zu hören, vorläufig den 
Triſtan und alles aufzugeben, mich in meinem Zimmer der öſterreichiſchen Ge- 
ſandtſchaft in Paris einzuſchließen und eine neue Oper zu ſchreiben, welche 
ſo beſchaffen ſein ſoll, daß ſie im nächſten Winter mit einem Schlage über alle 
deutſchen Theater geht. Es wird etwas ganz anderes, als ich je gemacht 
habe, erfordert weder einen bedeutenden Tenor noch eine große Sängerin, 
ſondern kann von jedem Opernperſonal mit Leichtigkeit beſetzt werden. Das 
Sujet iſt höchſt orgiginell und durchaus heiter, was es mir einzig möglich 
macht, jetzt damit mich zu beſchäftigen, wo eine ernſte, ſchwermütige Dichtung 
mich ruinieren würde.“ (22. 11. 61.) 

Am die „Meiſterſinger“ — ſie ſind im Vorangehenden gemeint — 
zu dichten, ging er wieder nach Paris. Die Hoffnung, im Botſchafter⸗ 
palais Metternichs zu wohnen, zerſchlug ſich. So ſuchte er die beſcheidene 
Zuflucht in Biebrich, und hier fühlte er ſich wohl. Er konnte hier arbeiten. 

„Arbeiten, was Neues ſchaffen: das iſt mein Element; aufführen — ſchön! 
ſobald ich darum gebeten werde und man mir mit allem entgegen kommt. Dann 
kürzere oder längere Ausflüge, aber immer mit der Ausſicht, ſofort nach der 
Anſtrengung an meinen ftillen Arbeitsherd zurückkehren zu können. Diefer iſt 
das Hauptſächlichſte; dieſen muß ich allein im Auge haben, denn dies hängt 
von mir ab. Alles Äußere iſt außer meiner Gewalt; das kann kommen oder 
nicht kommen; ich darf für meine Rube nicht davon abhängen. Dies hat mich 
denn das letzte Jahr wieder ſchmerzlich gelehrt!“ (9. 2. 62.) 


900 Stord: Richard und Minna Wagner 


Inzwiſchen hatte ſich Minna in Dresden eingerichtet. Seine Fürforge 
läßt nicht nach. Aber man fühlt doch, daß auch er jetzt die Hoffnung auf 
die Möglichkeit eines friedfertigen Zuſammenſeins aufgegeben hat. Er dachte 
es ſich jetzt nur ſo, gelegentlich bei ihr für kurze Zeit Zuflucht zu ſuchen. 

Es hat einen Anflug von Galgenhumor, wenn er ihr am 21. Mai 1861 
ſchreibt: „Wer Briefe von Dir bei mir vorfinden wird, wird darin geſchrieben 
leſen, daß meine Frau mich und mein Betragen gegen ſie herzlos, roh und 
gemein nennt. So wird denn dies wohl auch in meine Biographie kommen.“ 
Ein halbes Jahr ſpäter heißt es aus Wien: „Daß Du mein Tun und Laffen, 
ſowie meine Gründe dazu jedesmal auf das übelſte für meine Geſinnung 
deuteſt, iſt nun einmal Dein Anglück; ich aber bin es gewohnt. Nur wie Ou 
mich dadurch an Dich zu ziehen wähnen kannſt, müßte jeden wundern, der 
Dich nicht kennt.“ In der Tat war es ja trotz allem auch Liebe, aus der 
heraus dieſe Frau ihren Mann ſo ſehr quälte. 

Wir folgen dann Wagner noch nach Rußland zu jenen Konzerten, die 
ihm wenigſtens vorübergehend ſeine Lage erleichterten, und die letzten Briefe 
der Sammlung zeigen, welch großer Anteil des Gewinnes an Minna ging. — 

Ich meine doch, man hätte das Buch nicht ſo ausklingen laſſen ſollen. 
Das wirkt ein bißchen wie Rache der Glücklicheren, und Minna ſelber, die 
doch recht unglücklich war, hat keine Nachegedanken gehabt. Denn als nach 
dem ungeahnten Aufſtieg Wagners in München das ganze Heer ber Der: 
leumder über ihn herfiel und die ihm feindliche Preſſe dann auch noch das 
Gerücht verbreitete, er habe, während er in Praſſerei lebte, ſeine Frau aufs 
elendeſte darben laſſen, hat fie doch nicht gezögert, voll tiefſter Entrüftung 
in der Preſſe Berichtigungen zu veröffentlichen. Das war drei Wochen 
vor ihrem Tode (21. Januar 1866). — 

Es iſt eine merkwürdige Stimmung, in der man das Buch ſchließt. Etwas 
furchtbar Niederdrückendes und doch Erhebendes. Wir haben eine Tragödie 
erlebt. Sie war fo angelegt, als ob es eine „Schickſals“. Tragödie werden 
ſollte: alles Folgen einer übereilt in törichter Jugendleidenſchaft geſchloſſenen 
Verbindung. Die Größe des Mannes bringt es mit ſich, daß es eine echte 
Tragödie geworden iſt. Ein erhebendes Schauſpiel bei allen Qualen und 
Schmerzen, die es für die Beteiligten, für uns, die wir es jetzt nacherleben, 
mit ſich brachte. Es wird einſt der Tag kommen, wo man ſchwankend ſein 
kann, ob man den Menſchen oder den Künſtler Wagner für den größeren 
hält; doch wollen wir hoffen, daß es dann ſo weit iſt, daß man ſich an ſeiner 
Geſamtheit erfreue. Er iſt keine Künſtlernatur von jener wunderbaren Har- 
monie wie Goethe; er iſt eben Kämpfer als Menſch wie als Künſtler von 
Anfang bis zu Ende. And wie für ihn die höchſte Lebensaufgabe der Liebe 
nicht im Mitfreuen, ſondern im Mitleiden lag, fo iſt auch für uns, die wir 
dieſes Künſtlerſchickſal betrachten, ein Mitleiden dieſes Lebens Notwendigkeit. 
Aber dieſes Leiden muß uns gut machen, muß in uns das Lebensziel erwecken, 
an unſerem Teile dafür zu ſorgen, daß wir niemandem Leiden verurſachen. 


Verantwortlicher und Chefredakteur: Jeannot Emil Frhr. v. 3 Bad Oepnhaufen t. W. 
Literatur, Bildende Kunſt und Mufll: Dr. Karl Storck, Berlin V., Candshuterfirase 3. 
Druck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, 


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au | wenn sie das Elternhaus zum ersten Male 

ON ate stens verlassen haben, um selbstverantwortlich 
ins Leben hinauszutreten, sollte den 

Söhnen gebildeter Familien jenes epochale 

Wegenersche Jungmännerbuch in die Hand 
gegeben werden, das mit vornehmer Offenheit und freier Natürlichkeit vom 
sexuellen Problem des jungen Mannes vor der Ehe redet und (nicht nur in der 


deutschen Literatur) in seiner Kraft und Eigenart durchaus einzig ist. Das vor 
etwa 2 Jahren unter dem Titel: 


Wir jungen Männer! 


im Verlage von Karl Robert Langewiesche in Düsseldorf erschienene Buch liegt in 
allen guten Buchhandlungen zur Ansicht aus, und es darf ausgesprochen werden, 
daß zum mindesten eine ernstliche Prüfung des Buches als Pflicht eines jeden er- 
scheint, der sich für das Leben eines jungen Mannes mitverantwortlich weiß. 
Auch darf darauf hingewiesen werden, daß führende Männer aller Parteien und 
Richtungen die Verbreitung des Buches unterstützt und freudig begrüßt haben. 


Fünfundsiebzigsfes Tausend: 1. K 
N sn 


2 daß E. T. A. Hoffmann heute immer ent- 

Wer wei ſchiedener als einer der größten Erzähler aller 
Völker und Zeiten anerkannt wird, dem wird 

das Buch willkommen ſein, das, 538 Seiten ſtark, unter dem Titel Menſchen 
und Mächte als ſechſter Band der Bücher der Ah ſoeben erfchienen tft 


und die wertvollſten und intereſſanteſten Erzählungen Hoff- 
manns in ſich vereinigt. And wer's noch nicht weiß, dem wird es einleuchten, 
ſobald er ſich tiefer in dieſe alten, höchſt ſeltſamen Geſchichten hineinlieſt. Denn 
wenn das Buch auch ohne jedes literariſche Gepäck ſeine Fahrt antreten darf 
und nichts will als unterhalten — es iſt doch ein Künſtler geweſen, der 
dieſe Erzählungen geſchaffen hat, und darum wird der künſt⸗ 

leriſch empfängliche Lefer eine höhere, edlere Unter- 80 
haltung in ihnen finden, als der nur auf Zerſtreuung bedachte. 

Der ſtattliche Band, dem der Aufſchneider „Münch Mk. 
hauſen“ beiliegt, koſtet haltbar in Papier gebunden: 

und wird in den meiſten Buchhandlungen gern vorgelegt. 


Verlag: W. Langewieſche⸗Brandt, München⸗Ebenhauſen 


— ene SS ES” 


Cinbefaudte 


Alesander, Faul: Das Recht auf Liebe. 
Schauſpiel. Stuttgart, J. G. Cotta. 


Altſchul, tly: Zum Moralunterricht. 
Ausgewählte Rune aus engliſchen 
Lehrbüchern. Mk. Wien u. Leip⸗ 
zig, Hartlebens erlag. 


Anderſen, Friedr.: Anticlericus. Eine 
Laientheologie auf geſchichtlicher Grund⸗ 
lage. Geh. Mt. 250, gebdn. Mk. 3.60. 
Schleswig, Julius Bergas. 

Andrae, Johann Valentin: an ger 
der irrende ee vom Geiſt. 


Tübingen, v. Laupp. 
Anbeiffer, Dr. &. „Ar itekt: N 
a ft. appe - 2—. 
Francke. 


riſche e 
Bern, A 

Arendt, Schweſter Henriette: Menſchen, 
die den Pfad verloren. Mk. 2 —, geb. 
ME 2.60. Stuttgart, M. Kielmann. 


Arndt, A.: Ueber die 3 der Geſetze. 
Heidelberg, M. Arnd 


Aus Natur und 5 Sammlung 
wiſſenſchaftl. „ gemeinverſiändlicher Dar⸗ 
ſteuungen: 5. Müller, Techniſche Hoch⸗ 
Schule in Nordamerika; E. Steger, Shate- 
fpeare und feine Zeit; Fr. Tober, Kolo⸗ 
nialbotanik; X. Nit Das deutſche 
an G. Aichert, Philoſophie. Broſch 
a 19 15 —, geb. Mk. 1.25. Leipzig, 8. G. 

eu 


aentſch „B.: David und ſein Zeitalter. 
Sat 1.—, geb. Mk. 1.25 Leipzig, Quelle 
Sm Prinzeß Eliſa von Radgt 
aer, @swa rinzeß Eliſa von Radat- 
250 l Ein Lebensbild. geb 
Mk. 5.—. Berlin, E. S. Mittler & Sohn. 


Zaſſermann, Acint.:. Die Seligpreifungen- 


unſeres Herrn. Praktiſch l | von 
Ad. Schmitthenner. a en gebdn 
Mt. 3.80. Tübingen, J. C. B. Mohr 
(Baul Siebeck). 


Aandelalres Werke, deutſche Ausgabe von 
Max Bruns. 1. Band: Dichtungen in 
Proſa und Novellen; 4. Band: Aeſthetik 
der Miterie. Geh. je Mk. 2.50, gebdn. 
Mk. 3.50. 5. Bd. 2 Hälfte: Tagebücher. 
Mk. 1.75. Minden i. W., J. C. C. Bruns. 


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(Beſprechung einzelner Bücher vorbehalten) 
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Geſchichte einer 
a Mk. 450. Berlin, Leipzig. 
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zig, O. Mutze. 
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Berdrow, : Afrikas Herrscher und 
Voltshelden. Lebensbilder aus der He⸗ 
325 eit des dunklen Weltteils. Mk. 8.50, 
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.: Relig 8. 1 25 
Leſebuch. 6.60, geb. Mk. 8.— 
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Beh, B.: Unſere religiöſen Erzieher von 
Lutber bis Bismarck. Mt. 3 80, geb. 
Wk. 4 10 — Derſ.: Von Moſes bis Hus. 


8 
rar 7.60, geb. Mt. 8.80. Leipzig, Quelle 


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Bleistren. Hatt: 85 Ne Blavatz' y und die 
Geheimlehre. . 8.—. Leipzig. M. 
Altmann. 
Blennerhaffet, Charl. Lady: Maria Stuart, 
König von Schottland. Wk. 4.20 geb. 
2 20. Kempten und München, of. 


Köſel 
Blumenthal, Konrad von: Die Tochter 
Salomos. Ein dramatiſches acinar 


Mk. 1.—, geb. Mk. 2—. Leipzig, M 
Altmann. 
Borngak, F.: Die Fürſtinnen auf dem 


Throne der Hohenzollern. Mit 25 Bild⸗ 
niſſen. Mk. 10,—. Altenburg, St. Geibel 
Böttcher, Mazinilten: Erwachende Zeit. 
Boman. Mt 850. Berlin, K. Duncker 
Brandt, Alexander v.: Bom Materialis- 
mus zum Spiritismus Frankfurt a. M, 
Neuer Frankfurter Verlag, G mb. 9. 
sg ge deutſcher Frauen. Ausgewählt von 
Waſſer zieher. Buchſchmuck von H 
Bogen! Worpswede. 1 Mk. 5.—. 
Dresden, L. Eblerman 
Brüduer, Alexander: Rußlands geiſtige 
8. Wal Mr. 2.50. Tübingen, J. 
B. Mohr (Paul Siebeck). 


rud, Moeller v.: Die Deutſcher. 
ſcheidende Deutſche. Mk. 1—, 
Mk. 4 — altende Deutihe 5° 
geb. Mk. 4.50. Goethe. Me 1 
Mk. 4.—. Minden i. , J. C. C 
Verlag. 
Brunner, Dr. Georg: Die religit 5 
im Lichte der vergleichen den le 
Bach te. Mk. 1.80. Minder, 


Diane, Brof. Dr. 5 5 Nine 


. 1.30. Weimar, 


Rah Hans von: Briefe und > 
Herausg. von M. v. Bülow. DW 
Leipzig, Breitkopf & Härtel. 

Bulwer, ard: Das Geichlecht der 
kunft. Roman. Leipzig. N. 

Aursballer, Budell: Guru. d 
ao Goſe & Tetzlaw, G. 5.5 


Karl Alb.: Nater dez 


Eb inenſche dite. Metriſch 
von Adol 


Eliſſen. 10 8g. Le 
Volksbücher. 


% Dr. K.: Mutter — Rr = 
De a 0 — Ihr Leid. — fe 


gourad, Prof. ‚Dr. 9. : Leitfadenz E:: 
Br Volkswirtſchaftspolitik. Mt 
Mk. 840. Zum Studium der 
ſchen Nationalökonomie. MW 2- 
Mk. 2 50. Grundriß zum Sta zz 
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Schweizer Dichters kann man sehen, was für einen bedeutenden Schritt wir augenblicks in 
der Kunst der Erzählung tun. Wir lernen wieder groß und einfach zu erzählen. Biblisch. 
Homerisch... Es ist erstaunlich, wieviel Schicksal hier auf wenig Raum gestaltet wird. Wir 
dürfen von, Hermann Kurz noch etwas erwarten. 

Max Christlieb im Buchwart, Dezember 1907: Den Namen H. K. wird man sich merken 
müssen, denn ein vielversprechendes Talent hat einen großen Wurf gemacht... Wir dürfen 
froh sein, daß wir endlich so kerngesunde Dichtungen erhalten. 

Die Zeit, Wien: Hermann Kurz hat sich mit seinem Roman „Die Schartenmättler“ einen 
starken Erfolg geschaffen... Ein starkes Talent, ein bedeutendes Erzähler-Können spricht 
aus diesem Buche: (Stoffel Hiss). Hermann Kurz hätte vielleicht das Zeug, einer der besten 
zeitgenössischen Erzähler zu werden... 


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3 22. ... fernen] [7] 


©) ... eine Dichtung, die aus ernster Religiosität, tiefster Gefühls warme und 
Menschenliebe ihre Lebenskraft zieht, die sich aber nicht durch Grenzen der 
Dogmatik beengt fühlt, sondern frei und klar ins Leben und in die Welt 
sieht... Hamburger Nachrichten vom 8. März 1908 


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S... Über dem ganzen Buch weht ein Hauch keuscher Reinheit ind warmer 
Sinnlichkeit zugleich... Die psychologisch feine Entwicklung dieses Frauen- I 


u — 


lebens, das so voll Hoheit, so voll poetischer Liebesglut steckt, ist ohne allen 
szenischen Apparat und ohne allen Breignisaufwand der Verfasserin so meister- 
haft gelungen, daß man fühlt: sie spricht aus eigenem Empfinden und Erleben. 
Und das macht das köstliche Buch nur um so wertvoller. Basle r Ztg.v.2.März 1908 


| Cen fm Den fem Def Dan nf pn — fs — 


Mai 1908 


Der Türmer X. Jahrgang 


Inhalt: 


Seite 

Der größte Naturforſcher Deutſchlands im 19. Jahrhundert. Von J. Reinke 145 

Meinem Töchterlein. Gedicht von Charlotte Dittmann 163 
Der Waldpfarrer am Schoharie. Kulturhiſtoriſche Erzählung aus dem 
deutſch-amerikaniſchen Leben des 18. N Von Friedrich 


Mayer (Fortfegung) . . . E ee ee oe ee 164 
Dein Bild. Gedicht von Aug. H. Plinte a Gr cee ae eG . 
Die beiden Napoleon und das Nationalgefühl der Völker. Von Max Treu 179 
Die alten Bilder. Gedicht von Richard Schau kal 193 
Skat. Eine deutſche Tragödie. Von Paul Kellern 194 
Ideale. Gedicht von Joſefa Mehhuůuůͥͤůͤ k 199 
Nundſchau: 

Frühlingsſtimmen im Bücherwald. Von Marie Diers 200 

Ein Blick über den Graben. Von Chriſt. Rogge 206 

Vom Bauſchwindel. Von A. e E re re ah a 

Deutſche Wisblätter . . . . a N ee ee 213 
Offene Halle: 

Die Heimatlofen. Von Hermann Borken hagen 214 
Türmers Tagebuch: Justitia fundamentum. III... 216 
Literatur: 

Aſthetiſche Ankultur. Von Johannes Gaulle 250 


Erfüllen unſere Volksbibliotheken ihre Aufgabe? Von Dr. Ale Möller 255 


Johann Hinrich Fehrs. Von St. a a a 257 
„Erde“ von Karl Schönherr. Von Mar Morold e 258 
Wege nach Weimar . . . eas re asad 261 
CCC a 263 


Bildende Kunſt: 
Aber Hiftorifche Malerei. Bei Peter Janſſens Tode. Von Dr. K. Storck 265 
Altſchweizeriſche Baukunſt. Von Karl Storck. (Mit 7 Abbildungen) 276 


Dekorative Künſte. Von . ge N „ 286 

Neue Bücher ae ae oe oe ee 290 
Muſik: 

Peter Cornelius’ „Gunlöd“. Von Dr. Karl Store 292 

Der Kaiſer und Meyerbeer. Von Karl Storck 302 

Neue Bücher ben e A A 304 
Briefe und Neuigkeiten des Büchermarktes „ Anzeigenteil 


Kunſtbeilagen: Peter Janſſen: Feldarbeit — Erfurter Bürger verbrennen 1814 
den Napoleon-Obelisfen — Die Gefangennahme des Ober ⸗Vierherrn 
Heinrich Kellner durch die Bürgerſchaft. 

Notenbeilage: Zwei Lieder von Oskar Hieke. 1. Heimatklänge (J. E. v. Grotthuf). 
2. Nachtgedanken (J. E. v. Grotthuß). 


Der „Türmer“ erſcheint in monatlichen Heften von wenigſtens je 144 Seiten 
mit Runftblättern und Notenbeilage zum Preiſe von 16 Mk. jährlich (4 Mk. viertel · 
jährlich, einzelne Hefte 1 Mk. 50 Pfg.) und iſt durch jede Buchhandlung, Poft- 
anſtalt oder durch den Verlag von Greiner & Pfeiffer in Stuttgart zu beziehen. 


Alleinige Anzeigen-Annahme Berlin W. 30, Hohenſtaufenſtraße 26. 


DEI” Hierzu folgende Proſpekt⸗ Beilagen: Heintze & Blanckertz in 
Berlin NO.; „Lumen“ Geſellſchaft in Dresden; Hermann Meußer in Berlin W. 35; 
Xenien-Verlag in Leipzig. 


Briefe 


k. Th., St. 9. Wir bedauern ſehr, Ihnen die ge- N. C., D. D. (L.) — e. D.⸗ O., St. — E. ., BE. — 
ſchte Auskunft nicht geben zu können. Weder unſer | €. S., 9. — e. N., 8.3. — e. e., 8.8. — N. ., 8. 
‚es Suchen noch die Anfrage bei einer ganzen Reihe |. Ihre Ausführungen wollen wir gern in der Offenen Halle 
Goethe ⸗ und Jean Paul -⸗Forſchern hat zum Ziele ge- | gum Abdruck bringen, ſobald wir den Platz dafür ſchaffen 


Vielleicht Helfen die Türmerleſer ſuchen: Es handelt können. 


un die ehrenden und aufmunternden Worte von Goethe Dr. W. 3., A. Die Sonette haben uns intereffiert. Ob 
Jean Paul über die jungverftorbene deutſch⸗ruſſiſche] wir das eine oder andere werden bringen können, vermögen 
erin Ellſabeth Kulmann. Seit Goedeke wird in allen | wir noch nicht zu fagen. Ihre „deutſchen Gedanken eines 
ndlungen über die Kulmann angeführt, daß ſich Goethe | Ausländers“ ſcheinen, nach den acht Theſen Ihres Briefes 
Jean Paul warm anerkennend über die poetiſchen An⸗ zu ſchließen, doch etwas einſeitig zu fein, immerhin werden 


der jungen Dichterin ausgeſprochen hätten, nirgend | wir gern Einblick in die Handſchrift nehmen. 


wird angegeben, wann dieſe anerkennenden Worte ge- ©. Z. 88. Derartige Zuſendungen laſſen ſich bei ge- 
ven worden, gegen wen fle geäußert find und wo man | gebener Gelegenheit wohl verwerten. Aber anonym dürften 


ber fie unterrichten kann. ſte nicht ſein. 


CE III nIIIIIIII III 


‚Neue Gesichtspunkte 


eröffnet die neue, erweiterte Ausgabe von Poehlmanns preisgekrönter Gedächtnislehre. Wer in 
seinem Beruf vorwärts kommen, wer sich eine behagliche Lebensstelluug sichern will, der versäume 
nicht, Poehlmanns Gedächtnislehre durchzunehmen. Darin wird er den richtigen Weg zu Wohl- 
stand und Zufriedenheit finden. Hier nur ein paar Auszüge aus Zeugnissen: „Ich preise den Zufall 
glücklich, der mir Ihre Methode in die Hand spielte. L. T. — „Das entmutigende Gespenst ‚umsonst‘ 
hat einer hoffnungsfrohen Begeisterung, einem neuen Morgen weichen müssen. F. K.“ — „Ihre 
Methode, die ich mehr als 8 Jahre erprobt habe, ist so einfach, dass sie von jedermann verstanden 
werden kann, aber auch so wichtig, dass sie von jedem, der es in der Welt zu etwas bringen will, 
angewendet werden sollte. H. P.“ — „Die Vorteile, die das Studium Ihrer Lehre bietet, sind ebenso 
überraschend wie nutzbringend. G. T.“ — „Meine Arbeitslust hat zugenommen. E. L.“ — „Der 
Schüler gewinnt ein Interesse für die Natur und einen Eifer zum Studium. W. K.“ — „Ich verdanke 
den grössten Teil meiner Erfolge und Kenntnisse im praktischen Leben Ihrer Gedächtnislehre. B. M.“ 
— „Sie haben mir einen ganz enormen Dienst mit Ihrer Unterweisung geleistet. v. O. — „Ich ver- 
wende Ihr System jetzt bei jedem Schritt und Tritt. Dr. E. 8.“ — „Ihr Kurs hat auch den unschätz- 
baren Vorzug, dass jeder Schüler einen persönlichen Unterricht erhält; dadurch ist Misserfolg bei 
nur einigem Fleiss des Schillers so gut wie ausgeschlossen. M. M.* — „Ihre Gediichtnislehre hat alle 
meine Erwartungen weit übertroffen. W. P. — Verlangen Sie heute noch Prospekt (kostenlos) von 


L. Poehlmann, Prannerstr. 13, München A. 79. 


Poehlmanns Gedächtnislehre wurde ausgezeichnet mit 1 Ehrenkreuz, 3 Grand Prix und 
5 Goldenen Medaillen. 


8 . f. Teil: Die Formenlehre (im Vierfarbendruck) soeben 
Lateinisch leicht gemach erschienen. Ausser dem Vierfarbendruck sind auch die 
übrigen Grundsätze meiner Gedächtnislehre zur Erleichterung der Aufgabe mit herangezogen, weshalb 


dieses Buch nur an Schüler me ner Ged ichtnislehre abgegeben werden kann. Die Einprägung des ein- 
schlagigen Wortschatzes ist beigetigt. Preis M. 2. 50. 


1 nach Poehlmannschen Grundsätzen dargestellt vom einfachen Ton bis zur Harmonie- 
Musiklehre lehre. Vierfarbendruck zur Darstellung der Schlussel und Huhentagen. Preis M. 1.0. 
Die Musik- Blätter, Wien, schreiben: „Wenn je die Bezeichnungen ‚gemeinverständlich‘ and , leieht 
fasslich‘ Berechtigung hatten, so ist dies zweifelsohne bei Poehlmanus Musiklehre der Fall...“ 


os - des Deutschen Reiches, dargestellt nach Grundsätzen von Porhl- 
Das Bürgerliche Recht manns Ged ichtnislchre von Dr. Jar. Karl Otto. Jeder Gebildete 
kann sich mittels dieses Handbuches eine eingehende Keuntnis des Bürgerlichen Gesetzbuches verschaffen. 
Dureh den Vierfarbendruck ist eine bis jetzt unerreichte Uebersichtlichkeit geboten. Pruspekt mit Prube- 
seite kostenlos. — Allgemeine Rundschau, München: „Das Ei des Columbus kann man wohl das 
eigenartixe Unternehmen des genialen Gedächtnislehrers nennen, welches an praktischer Uebersichtlichkeit 
einzig dasteht.. — Allgemeine Zeitung, Chemnitz: „... Nun erleichtert uns Pueblmanns Ge- 
dichtnislebre gar noch die le dige Jurisprudentra. Den kleinen Juristen in der Westentssche möchte man 
das Buch nennen, das bei Pochimann in München erscheint. Pochlmanns Gediächtnislehre ist langst bekannt. 
Jedes Kind weiss, dass Pochlmann damit eine willkommene Hilfe für den Unterricht leistet...“ 


J. G., Bf. (W.) Leider für uns nicht recht verwendbar, 
ſchon wegen des Umfangs. Erdl. Gruß! 

e. 3., D. (Sch.) Noch völlig unreif. Nach den vor⸗ 
liegenden Proben ſcheint auch aller Liebe Müh' umſonſt. 

A. Fr. 8. Fr. Gut gemeint, aber in der Form doch 
wenig gelungen. 

. S., 8. a. R. Was Sie zu dem Artikel „Katho⸗ 
liſches“ in No. 5, Jahrg. X des Türmers ſchreiben, ſei hier 
wiedergegeben. „Sei jeder ehrlich in feinem Streben, ver- 
trete ſeine Aberzeugung mutig, ſei aber duldſam gegen 
jedes gleich ehrliche und tüchtige Streben feines Mitbürgers 
und halte ſich fern von jeder Art Verbegung und Ver⸗ 
leumdung, wie fie heute in fo erſchreckender Art unſer Volks⸗ 
leben verſeucht.“ So heißt's — mir aus dem Herzen! — 
am Schluſſe des Artikels; und vorher einmal redet der Ver⸗ 
faſſer von ‚ſchal“ ſchmeckenden , Waſſerſuppen eines 


ſelbſt erbauten, dann ſollte man dieſe, wohl auch von 


rn 


Johannes Müller, Artur Bonus, Meyer Deng 
Schriften der beiden letztgenannten kenne ich wh, 

aber einen großen Teil derjenigen von Dr. Johannes HZ N 
und ich meine, wenn man die Lebensanfhanmg we 
unferer deutſchen Geifteshelden toleriert, die enen, 
kenntnischriſtentum nicht ſklaviſch folgen’, ſonden 
„Männer aus eigenem Schrot und Korn.. ſich ihre t 
Welt... unter meift ſchweren Kämpfen und Erfahruge 


der Humanität, der doch nur erweitertes Chrikenten 
inſpirterten, aus der tiefen Libergeugung eines & 

Herzens geborenen Schriften nicht fo ‚mit bitteren d 
in der Polemik“ nennen. Wollen wir Toleram der 

dann laßt uns fie auch da fogar gewähren, we wat 
brückbare Klüfte uns von einem ehrlichen und ki 

Streben’ trennen!“ 


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. A. 660. Einiges kommt in Betracht. 

M. N., St. R. b. S. (K.) Es iſt leider vorläufig nicht 
möglich, Ihrem Wunſche nachzukommen. 

. Sch., N. So gut einzelnes herausgebracht iſt, als 
Ganzes ſcheint uns die B. doch verfehlt. Die beiden kleinen 
Sachen ſind ganz nett, aber nicht ſtark genug für unſere 
Anſprüche. Frdl. Gruß! 

Dr. J. N., ©. S. Sie wollen die Notiz auf Seite 810 
nicht unwiderſprochen laſſen. Die ganze Schilderung beſage 
für den Sachverſtändigen nichts weiter, als daß Zola in 
Dieſer Zeit ſtark nervös überreizt war und an Erſcheinungen 
litt, die wir bei einer großen Anzahl von klugen Menſchen 


rennen und als Zwangsvorſteltungen bezeichnen. „Es 


find dies die pathologiſchen Formen von dem, was wir beim 


Gefunden als die Macht der Gewohnheit kennen. A 
aber niemand an dem gefunden Verſtand eines 
zweifeln, weil er nicht eher ruhig einſchläft, als bis er, @ 
alle Abende gewöhnt, feine Ahr aufgezogen hat, und 
wenig tft es berechtigt, die Aus artung folder 
zu Zwangsvorſtellungen in Beziehung zu ſetzen u 
glauben. Warum ſollten Atheiften wohl übrigens ur gw 


nervöſen Erkrankungen dieſer Art neigen als andere Com 


liche, oder warum fol dies gar die Regel fen, re 
Artikel beſagt. Das iſt nicht einzuſehen, man müßte 
annehmen, daß unter den überanſtrengten 

darum die große Anzahl Atheiſten ſeien, weil ſich 
ihnen die große Mehrzahl der klaren Denker befinde | 
ein Atheiſt genau fo gut an Zwangs vorſtellungen mm 


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rkranken kann als andere Sterbliche, beweift vielmehr 
rene, daß dieſe Dinge mit der Ver ftandes tätigkeit 
chts zu tun haben. Dieſe Vorſtellungen und Befürch⸗ 
ı beſtehen nämlich in aller quälenden Heftigkeit, o b- 
die Kranken das Anſinnige derſelben in jedem Augen- 
lar erkennen. Die Verſtandestätigkeit hat alſo 
Nacht über dieſe Störungen des Empfindungslebens, 
tig wie fie über andere Empfindungen, über Glauben 
eben ꝛc. herrſcht, ſobald dieſe Erſcheinungen eine ge- 
ztärke angenommen haben. Es muß als ungerecht⸗ 
zurückgewieſen werden, wenn beſtimmte Formen des 
ſen Lebens auf fo unrichtiger Grundlage zu Aber- 


glauben in Beziehung gebracht werden. Aus Ihrem Aufſas 
wird jeder Anbefangene den Schluß ziehen können: alſo 
der Atheismus prädisponiert zu abergläubiſchen Furcht⸗ 
vorſtellungen.“ — Wiefo? ö 

3. W., 8. „In der Frühe käme vielleicht in Betracht, 
ſchwerlich aber noch für dieſes Jahr. 

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Einen intereſſanteren Stoff als die ſogenannten „Vor: 
eſchichten“, welche in geheimnisvoller Weiſe dem Menſchen 
n zukünftiges Ereignis, meiſt Tod oder Brand, im voraus 
ffenbaren ſollen, dürfte es wohl nicht geben. Anerſchütterlich 
ehauptet ſich im Volke ſeit vielen Jahrhunderten der Glaube 
nh die wunderſame Erſcheinung; zahlloſe Vorkommniſſe dieſer 
itt werden auch in der Gegenwart noch bald hier, bald da 
erichtet, und beſonders in Weſtfalen iſt die leberzeugung von 
er Wirklichkeit der Sache in den weiteſten Kreiſen verbreitet. 

In ſeiner vielgeleſenen Schrift: „Die Sage von der Völter 
hlacht der Zukunft am Birkenbaum“ (2. Auflage, Köln, 
P. Bachem. Geheftet M. 2), hatte derſelbe Verfaſſer die 
underſame Erſcheinung neuerdings wieder geſtreift, und 
un hat er die vorliegende beſondere Schrift darüber erſcheinen 
fen, die mit Spannung erwartet worden und die ohne 
weifel ein ganz ungewöhnliches Aufſehen hervorrufen wird. 


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iſſenſchaften, auf Kriegsgeſchichte und Biographien bezüglichen Auf- 9 


ſätzen, die allenthalben die Anforderungen eines Fachmanns befriedigen...“ 914 
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